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Full text of "Handwörterbuch der Staatswissenschaften"

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I 


■J 


Handwörterbuch 


I  r  ■■'  Ji-t 


Staatswissenschaften. 


Herausgegeben 


Dr.  J.  Conrad,  |         Dr.  W.  Lexis, 

Profeasor  der  StMtsirUMiiicb>ft«ii  in  Halles.  S.  I|  PiofeBwir  der  StaaUwuBBiuoLatl«n  In  Oöltlngen. 

Dr.  L.  Bister,  i      Dr.  Bdg.  Loeiiiug, 

Gefa.BesieronKnBt  a.  vortraReDderB&t  in  Berlin.  '  ProfeBeor  der  Recht«  In  Hnlle  a.  S. 


Zweite,  gänzlich  uiiiyearbeitete  Aaflage. 


Vierter  Band.  OaiiHni— v.  Justi. 


Jena, 

Verlag  von  Gustav  Fischer. 

1900. 


Inhaltsverzeichnis 


des  4.  Bandes  des  Handwörterbuchs  —  Zweite  Auflage. 


G. 


Seite 

1 
2 

9 


Von   Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des 

Kgl.  preiiss.  stat.  Bureaus,  Berlin        4 


5 
5 


Galiani,  Fernando 

Ganilh,  Charles 

Garnier,  Joseph  Clement 

Garnier,  Germain 

Gasser,  Simon  Peter 

Garve,  Christian 

Gebäudesteuer  (inkl.  Thür-  und  Fenstei-steuer).    Von  Dr.  K,  Th.  Eheberg,  Prof. 

an  der  Univ.  Erlangen 6 

Gebühren.    Von  Dr.  Max  von  Heckel,  Pmf.  an  der  Akademie  zu  Münster  (W.)      19 
Geburtenstatistik.    Von  Prhr.  von  Fircks,  Geh.  Reg.-Kat  und  Mitglied  des  Kgl. 

preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin 34 

Gefängnisarbeit.     Von  Dr.  Erohne,  Geh.  Reg.-Rat  inid  vertrag.  Rat  im  Ministe- 
rium des  Innern,  Berlin 38 

Geheimmittelwesen.     Von  Dr.  0.  Rahts,  Geh.  Reg.-Rat  und  Mitglied  des  Reichs- 
gesundheitsamtes, Berlin 54 

Gehöferschaften.     Von  Dr.  K.  Lamprecht,  Prof.  an  der  Tniv.  Leipzig ....      59 

Geisteskranke  s.  Irrengesetzgebung  und  Irrenwesen ; 00 

Geitzkofler  von  Gailenbach  und  Hannsheim,  Zacharias.    Von  Dr.  Lippert, 

Bibliothekar  des  Kgl.  preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin 60 

Geld.     Von  Dr.  Carl  Menger,  Pref.  an  der  Univ.  Wien 60 

Gemeindebesitz,  i-nssischer  s.  Mir 106 

(lemeindefinanzen.     Von  Dr.  K.  Th.  Eheberg,  Pref.  an  der  Univ.  Erlangen  106 

Gemeinheiten  s.  Gemeinheitsteilung 145 

Gemeinheitsteilnng 145 

I.  Allgemeines.  1  Von  Dr.  Friedrich  Grossmann,  Reg.- 

n.  Speolelle  Gesetzgebung.  )      Assessor,  Berlin 151 

Gemeinsinn.     Von  Dr.  B.  Heitz,  Prof.,  Hohenheim 162 

Gemein  Wirtschaft.    Von  Dr.  G.  Gross,  Dozent  an  der  Univ.  Wien 165 

Gemengelage  s.  Zusammenlegung  der  Grundstücke 169 

Genersdhufenschoss  s.  Hufenschoss 169 

Genossenschaft    Von  Dr.  G.  Gross,  Dozent  an  der  Univ.  Wien 169 

Genovesi,  Antonio |  173 

Gentz,  Friedrich  von [  Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  dos  Kgl.     174 

George,  Henry |      i)reuss.  stat.  Bureaus,  BorHn  .     .     .     175 

G^rando,  Joseph  Marie I  176 

Geschäftssteuer  s.  Börseusteuer 177 

Geschlechtsverhältnis  der  Geborenen  und  der  Gestorbenen.    Von  Dr.  W.  Lexis, 

Geh.  Reg.-Rat  und  Pref.  an  der  Univ.  Göttingen 177 


VI  Uebersicht 


Seite 

Gesellenverbände 182 

I.  Die  Q^sellenverbände  in  | 

n.  Dl?^seS^?erbknde-  in  P""  ""'■  ^"^^  Sohoenlaok.  Leipzig    l^^ 

Frankreich )  194 

Gesellenvereine  (katholische).     Von  Dr.  Andreas  BruU,   Pfänder  in  Godesberg- 

Plittersdorf 199 

GeseUschaft  nnd  Gesellschaftswissenschaft     Von  Dr.  E.  Gothein,  Prof.  an 

der  üniv.  Bonn 201 

Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung.    Von  Dr.  Eduard  Rosenthal,  Prof. 

an  der  Univ.  Jena 21G 

GeseUschaftsvertrag  (nacli  bfirgerlichom  Igelit).      Von  Dr.  Victor  Ehrenberg, 

Prof.  an  der  Univ.  Göttingen 224 

Gesetz  (im  gesellschaftlichen   und  statistischen  Sinne).    Von  Dr.  W.  Lexis,  Geh. 

Reg.-Rat  und  Prof.  an  der  Univ.  Göttingen 234 

Gesindeverhältnis.    Von  Dr.  von  Brünneok,  Prof.  an  der  Univ.  Halle  ....    241 
Gestutwesen.     Von  Dr.  Thiel,   Wirkl.  Geh.  Oberreg.-Rat  nnd  Ministerialdirektor 

im  Ministerium  für  Landwirtschaft  etc.,  Berlin 243 

Gesundheitspflege,  öffentliche.  Von  Dr.  Karl  Flesoh,  Stadtrat  in  Frankfurt  a.  M., 

und  Prof.  Dr.  M.  Flesoh  in  Frankfurt  a,  M 246 

Getränkesteuern.    Von  Dr.  K.  Th.  Eheberg,  Prof.  an  der  Univ.  Erlangen     .    .    269 

Getreidehandel 275 

I.  Die    ältere   Getreidehandelspolitik    und    Allge- 
meines.   Von  Dr.  W.  Lexis,  Geh.  Reg.-Rat  imd  Prof.  an  der 

Univ.  Göttingen 276 

IL  Technik  und   gegenwärtige  Gestaltung  des  Qe- 

treidehandels 283 

A.  Getreidehandel  in  Deutschland.     Von  Dr.  K.  Wieden- 

feld,  Assessor,  Berlin 283 

B.  Getreidehandel  in   den   Vereinigten   Staaten.    Von   Dr. 

M.  Sering,  Prof.  an  der  Univ.  Berlin 293 

C.  Getreidehandel   in   Russland.      Von   Dr.  Gregor  JoUos, 

BerUn 297 

m.  Statistik   des   Getreidehandels   in  der  neuesten 

Zeit.    Von  Dr.  von  Juraschek,  Hof  rat  und  Prof.,  Wien.    .    .    304 
Getreidepreise.    Von  Dr.  J.  Conrad,  Geh.  Reg.-Rat  und  Pi-of.  an  der  Univ.  Halle    320 
Getreideproduktion.    Nach  Dr.  A.  Wirminghaus,  Syndikus  der  Handelskammer 
Köln,  von  Dr.  I^aul  Kollmann,  Geh.  Reg.-Rat  und  Vorstand  des  Grossh.  stat. 

Biu^aus,  Oldenburg 326 

Getreidezölle.    Von  Dr.  J.  Conrad,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der  Univ.  Halle    333 

Gewässer.    Von  Dr.  Stoerk,  Prof.  an  der  Univ.  Gi*(;ifswald 348 

Gewerbe.     Von  Dr.  Karl  Bücher,  Prof.  an  der  Univ.  Leipzig 360 

Gewerbegerichte.    Von  Dr.  Wilhelm  Stieda,  Geh.  Reg.-Rat   und  Prof.   an   der 

[Tniv.  Leipzig 393 

Gewerbegesetzgebung 410 

L  Einleitung.     Von  Dr.  Edgar  Loening,   Geh.  .)ustiz-Rat  und 

Pix)f.  an  der  Univ.  HaUe 410 

n.  Die     Gewerbegesetzgebung     in     den     einzelnen 

Staaten 412 

I.  Die  Gewerbegesetzgebung  in  Deutschland.     Von  Dr. 
Georg  Meyer,  weU.  Geh.  Hof  rat  und  Prof.  an  der  Univ. 

Heidelberg 412 

n.  Die  Gewerbegesetzgebung  in  Oesterreioh.     Von  Dr. 

Frhr.  von  Call,  Ministeriali-at  im  Justizministerium,  Wien    440 
m.  Die  G^werbegesetzgebung  in  Ungarn.    Von  Dr.  Földes, 

Prof.  an  der  Univ.  Buchapest 458 

IV.  Die    Gtowerbegesetzgebung   in  Frankreich.     Von  Dr. 

Mataja,  Ministerialrat,  Wien 461 

V.  Die  Gewerbegesetzgebung  in  Grossbritannien.   Von  Dr. 

Stephan  Bauer,  Prof.  an  der  Univ.  Basel 468 

VI.  Die  G^werbegesetzgebung  in  Italien.     Von  Dr.  Carlo 

F.  Ferraris,  Prof.  an  der  Univ.  Padua 479 


üebersicht  Vll 


Seite 

VII.  Die  GewerbegesetEgebung  in  der  Schweiz.    Yon  Dr. 

J.  Schollenberger,  Prof.  an  der  Univ.  Zürich     .    .    .    482 
Vm.  Die    Gewerbegesetzgebung  in   Skandinavien  (Im   19. 
Jahrhundert).    Von  Hugo  Blomberg,  Prof.  an  der  üniv. 

Upsala 486 

IX.  Die   Gewerbegesetzgebnng  in   Bussland.     Yon   Otto 

MueUer,  Riga 490 

Uewcrbeinspektion.    Von  G.  Bvert,  Regieningsrat  im  Kgl.  preuss.  stat  Bureau, 

Berlin 494 

GewerbekamiuerD.   Von  Dr.  Thilo  Hampke,  Rat  bei  der  Gewerbekammer  Hamburg    499 
Gewerbestatistik  (Gewerbeaufnahme).     Von  Dr.  Paul  Kollmann,  Geh.  Reg.-Rat 

und  Vorstand  des  Grossh.  stat.  Biu-eaus,  Oldenburg 510 

Gewerbesteuer.    Von  Wilhelm  Burkhard,  Kgl.  Ministerialrat  im  Staatsministe- 

rimn  der  Finanzen  und  Kronanwalt,  München 535 

Gewerbe  vereine.     Von  B.   Berghausen,   Ingenieur,    Vorstand    des   Verbandes 

deutscher  Gewerbevereine,  Köln 558 

Gewerbliche  Anlagen.     Von  W.  Bommel,  weil.  Senatspräsident  am  Oberver- 
waltungsgericht, Berlin 574 

Gewerblicher  Unterricht    Von  Dr.  Carl  Boscher,  Geh.  Reg.-Rat  und  vertrag.  Rat 

im  Ministerium  des  Innern,  Dresden 581 

Gewerkschaft  s.  Bergbau  und  Gewerkvereine .    611 

Gewerkvereine 611 

I.  Die  Gewerkvereine  im  allgemeinen  (dogmatisch,  that- 
sächlich  und  kritisch).  Von  Dr.  Lujo  Brentano,  Geh.  Hofrat  und 

Prof.  an  der  üniv.  München 611 

H.  Die  Gewerkvereine  in  den  einzelnen  Staaten     .    .    623 
I.  Die  G^werkvereine  in  England.    Von  Dr.  Lujo  Bren- 
tano, Geh.  Hofrat  und  Prof.  an  der  üniv.  München      .    623 
n.  Die  G^werkvereine  in  Deutschland.     Von  W.  Kule- 

mann,  Landgerichtsrat,  Braunschweig 644 

m.  Die  Gewerkvereine  in  Oesterreioh.  Von  Dr.  H.  Herkner, 

Prof.  an  der  üniv.  Zürich 677 

IV.  Die  Gewerkvereine   in  Frankreich.     Von  Dr.  Emest 

Mahaim,  Prof.  an  der  üniv.  Lüttich 687 

V.  Die  G^werkvereine  in  Belgien.  Von  Dr.  Emest  Mahaim, 

Prof.  an  der  üniv.  Lüttich 694 

VI.  Die  Gewerkvereine  in  der  Schweiz.  Von  Dr.  H.  Herkner, 

Prof.  an  der  üniv.  Zürich 699 

Vn.  Die  G^werkvereine  in  anderen  europäischen  Ländern 
imd  in  Australien.  Von  W.  Kulemann,  Landgerichts- 
rat, Braunschweig 705 

vm.  Die  G^werkvereine  in  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika.  Von  Dr.  A.  Sartorius  Frhr.  von  Walters- 
hausen, Prof.  an  der  üniv.  Strassburg 710 

Gewinubeteili^ng.    A^on  Dr.  A.  Wirminghaus,  Syndikus  der  Handelskammer 

Köhi 716 

Gide,  Charles.    Von  der  Redaktion 724 

Gifte  s.  Gewerbegesetzgebung 724 

Gilbart,  James  William.     Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.  preuss.  stat. 

Biu-eaus,  Berlin 724 

Gilden.    Von  Dr.  Richard  Ehrenberg,  Prof.  an  der  üniv.  Rostock  .    .    .    725 

Gioja,  Melcbiorre.    Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.  preuss.  stat.  Biu^aus, 

Berlin 727 

Giroverkehr.     Von   Dr.  R.  Koch,   Exe,   Präsicient  des  Reichsbankdirektoriums, 

Berlin 728 

Glasversicherung  (auch  Spiegelglasvei*sicherung).     Von  Dr.   A.   Emminghaus, 

Direktor  der  Lebensversicherungsbank  für  Deutschland,  Gotha 745 

Glücksspiel  s.  Spiel  und  Wette 747 

Godin,  Jean  ßaptiste  Andr^ \  Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.    747 

Godwin,  William /     preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin  .    .    .    747 


VllI  Uebersicht 


Seite 

Gold  und  Goldwährung.    Von  Dr.  W.  Lexis,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der 

Univ.  Göttinnen 748 

Goldprämienpolitik  s.  Diskonto  tmd  Diskontopoiitik 764 

Gold-  und  SUberwaren  s.  Feingehalt  der  Edelmetalle 764 

Goschen,  Georg  Joachim.    Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.  preuss.  stat. 

Bureaus,  Berlin 764 

Gothein,  Eberhard.    Von  der  Redaktion 765 

Gothenburger  Ausschanksystem.    Von  Dr.  Bredo  Morgenstieme,  Prof.  an  der 

Univ.  Christiania 765 

Gonge,  William  M 

Graslin,  Jean  Joseph  Louis    .... 

Graswinckel,  Dirk  Janszoon  .... 

Graumann,  Johann  Philipp     .... 


Graunt,  John 


772 

772 
Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.  i-o 

'     preuss.  stat.  Biu'eaus,  Berlin    .    .    .  «ik 

774 


Grenznut^en.    Von  Dr.  Prhr.  von  Wieser,  Prof.  an  der  Univ.  Prag 775 

Griechische  Finanzen  s.  Finanzen,  griechische 786 

Grossbetrieb  und  Kleinbetrieb.     Von  Dr.  W.  Lexis,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof. 

an  der  Univ.  Göttingen 786 

Grundbesitz 793 

I.  Bodenrechtsordnung    (Die    volkswirtschaftliche   Principienfrage 
der  Rechtsordnung).    Von  Dr.  Adolph  Wagner,  Geh.  Reg.-Rat 

und  Prof.  an  der  Univ.  Berlin 793 

n.  Q^schiohte  des  Grundbesitzes.    Von  Dr.  K.  Lampreoht,  Prof. 

an  der  Univ.  Leipzig 823 

m.  Statistik  des  Grundbesitzes.  Von  Dr.  A.  Wirminghaus,  Syn- 
dikus der  Handelskammer  Köln,  ergänzt  von  Dr.  Faul  Koll- 
mann, Geh.  Reg.-Rat   und  Vorstand   des  Grossh.   stat.  Bureaus, 

Oldenburg 849 

Grundbuch.  Von  Dr.  Schollmeyer,  Geh.  Justizrat  und  Prof.  an  der  Univ.  Würzburg  862 
Grundgerechtigkeiten.  Von  Dr.  von  Brünneck,  Prof.  an  der  Univ.  Halle  .  .  865 
Grundrente.    Von  Dr.  Th.  Mithoff,  weil.  Prof.  an  der  üniv.  Göttingen,  und  Dr. 

W.  Lexis,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der  Univ.  Göttingen 870 

Gmndschuld  s.  Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 885 

Grundsteuer.     Von  Dr.  von  Lesigang,  k.  k.  Hofrat  und  Oberfinanzrat  im  Finanz- 
ministerium, Wien 885 

Grundsteuer  in  älterer  Zeit    Von  Dr.  G.  vonBelow,  Prof.  an  der  Univ.  Mar- 
burg      917 

Grundstücke,  Zusaiumenlegung  derselben  s.  Zusammenlegung  der  Grundstücke    925 

Gründung  s.  Aktiengesellschaften  und  Emissionsgeschäft 925 

Gruppenakkord  s.  Arbeitslohn 925 

Guerry,  Andr^  Michel \  Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.    925 

Guicciardini,  Francesco /    preuss.  stat.  ßui-eaus,  Berlin  .    .    .    925 

Gut.    Von  Dr.  Frhr.  von  Wieser,  Pix)f.  an  der  Univ.  Pi-ag 926 

Gutsherrschaft  (GrundhciTschaft,  Leibeigenschaft,  Eigenl>eh()rigkeit  und  Erbimter- 

tliänigkeit).  Von  Dr.  W.  Wittich,  Strassburg  i.  E 930 

Gfiterschlächterei.    Von  Dr.  H.  Faasche,  Geh.  Reg.-Rat  nnd  Prof.,  Berlin     .    .    987 

H. 

Häfen.     Von  A.  Regnöll,  Hafenkassierer,  Malmö 940 

Haftpflicht  nach  dem  Reichsgesetz  vom  7.  Juni  1871.    Nach  Dr.  Ludwig  Elster, 

Geh.  Reg.-Rat  und    voiii'ag.  Rat  im  Ministerium  der  geistlichen,  Unteirichts- 

und  Medizinalangelegenheiten,  von  Dr.  W.  Lexis,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof. 

jin  der  Tniv.  Göttingen 946 

Haftpflichtversicherung.     Von  Dr.  Alfred  Manes,  Gerichtsreferendar,  Blumenau 

(Hannover) 950 

Haftung  s.  Scliuldverhältnisse 9r)r> 

Hagelschädenversicherung.    Von  Dr.  A.  Emminghaus,  Direktor  der  fjoliensver- 

siclionnigsbank  für  Deutschland,  (iotlia 955 

Halbpacht  s.  Pacht 961 


üebersicht  IX 


Seite 

Haller,  Karl  Ludwig  von \ Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.    961 

Halley,  Edmund /     pi*euss.  stat.  Bureaus,  Berlin  .    .    .    962 

Maltekinder  (Kost-,  ZiehMnder).    Von  Dr.  E.  Loening,  Geh.  Justizrat  und  Prof. 

an  der  üniv.  Halle 963 

Mamilton,  Alexander \Yon  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  KgL    966 

Hamilton,  Robert /    preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin  .    .    .    967 

Hand-  und  Spanndienste  s.  Natiurdleistungen  und  Bauernbefreiung 968 

Handel.    Yon  Dr.  Mataja,  Ministerialrat,  Wien 968 

Handelsbilanz.     Yon  Dr.  H.  v.  Scheel,   Geh.  Ober-Reg.-Rat  und  Direktor  des 

kaiserl.  stat.  Amtes,  Berlin 980 

Handelsgehilfe.    Yon  Dr.  Georg  Adler,  Prof.,  Berlin 984 

Handelsgeschäfte.    Yon  Dr.  Eduard  Bosenthal,  Prof.  an  der  Univ.  Jena.  .    .    .    994 

Handelsgesellschaften 998 

I.  Die  Formen  der  Handelsgesellsohaften.    Yon  Dr.  F.  Laband, 

Prof.  an  der  üniv.  Strassburg 998 

n.  Volkswirtschaftliche  Bedeutung   der  Handelsgesellschaften. 

Yon  Dr.  Biohard  Ehrenberg,  Prof.  an  der  Univ.  Rostock     .    .  1019 
Handelskammern  (Handels-  und  Gewerbekammern).    Yon  Dr.  Rudolph  Maresoh, 

Begierungs-  und  Commercialrat,  1.  Sekretär  der  Handelskammer  Wien      .    .  1022 

Handelsmuseen  s.  Ausfuhrmusterlager 1034 

Handelspolitik.    Yon  Dr.  W.  Lezis,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der  Univ.  Göt- 
tingen   1034 

Handelsrecht   (Geschichtliche   Entw^ekelung).     Yon  Dr.  L.  Goldschmidt,  weil. 
Geh.  Justizrat  und  Prof.  an  der  Univ.  Berlin,  und  Dr.  Max  Fappenheim, 

Prof.  an  der  üniv.  Kiel 1047 

Handelsschulen  s.  Gewerblicher  Unterricht 1060 

Handelsstatistik.    Yon  Dr.  H.  v.  Scheel,  Geh.  Ober-Reg.-Rat  und  Direktor  des 

kais.  stat.  Amtes,  Berlin 1060 

HandelsTerträge.    Yon  Dr.  A.  Onoken,  Prof.  an  der  Univ.  Bern 1067 

Handfertigkeitsunterricht     Yon  Dr.  Götze,  weil.  Direktor,  Leipzig )084 

Handfeuerwaffen.    Yon  G.  Koch,  Hauptmann  a.  D.,  Sömmerda 1090 

Handwerk.    Yon  Dr.  Wilhelm  Stieda,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der  Univ.  Leipzig  1097 

Handwerksorganisation  s.  Gewerbegesetzgebung 1114 

Hanse.    Yon  Dr.  Dietrich  Sohaefer,  Prof.  an  der  Univ.  Heidelberg 1115 

Haussen,  Georg.    Yon  der  Redaktion 1119 

Harnngton.  James \  Yon  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  JJoo 

SlISsÄederick   !    !    '.    !    !    '.    !    !/      ^^''  P^"-  ^^*-   ^^^'^  ^'^^  ui 
Haubergswirtschaft.     Yon  Dr.  Th.  Frhr.  von  der  Goltz,   Geh.  Reg.-Rat  und 

Prof.  an  der  Univ.  Bonn 1123 

Häusersteuer  s.  Gebäudesteuer 1126 

Hausfleiss  s.  Gewerbe 1126 

Hausgenossen  s.  Münzwesen 1126 

Hanshaltung 1126 

I.  Die  Haushaltung  vona  wirtschaftlichen  und  sozialen  Stand- 
punkte.   Yon  Dr.  W.  Lexis,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der 

Univ.  Göttingen 1126 

n.  Haushaltungsstatistik.    Yon  Dr.  Friedrich  Zahn,  kais.  Reg.-Rat 

im  kais.  stat.  Amt,  Berlin 1130 

Haushaltnngsbudget  s.  Konsumtion 1138 

Haushof  er,  Max.    Yon  der  Redaktion    .    .    .    .  ' 1138 

Hausierhandel  s.  Wandergewerbe 1138 

Hansindustrie.    Yon  Dr.  Werner  Sombart,  Prof.  an  der  Univ.  Breslau     .    .    .  1138 

Hauskommunion  s.  Ansiedelung 1169 

Haxthausen,  August  Freiherr  yon.     Yon  Dr.  Lippert,   Bibliothekar  des  Kgl. 

preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin 1169 

Hebammen 1  Yon  Dr.  Georg  Meyer,  weil.  Geh.  Hof-  1170 

Heilanstalten /    rat  und  Prof.  an  der  Univ.  Heidelberg  1171 

Heilquellen  s.  Mineralquellen 1173 

Heimatrecht    Yon  Dr.  Hermann  Behm,  Prof.  an  der  Univ.  Erlangen   ....  1173 

Heimstattenreeht    Yon  Dr.  M.  Sering,  Prof.  an  der  Univ.  Berlin 1175 

Heimwerk  s.  Gewerbe 1184 


Uebersicht 


Seite 
Heiratsstatistik.     Von  Dr.  Friedrich  Zalm,  kais.  Reg.-Bat  im  kais.  stat  Amt, 

Berlin 1184 

Heitz,  Ernst  Ludwig.    Von  der  Redaktion 1192 

Held,  Adolf     . 1  Von  Dr.  läppert,  Bibüothekar  des  Kgl.  1192 

Hellerich,  Johann  AUons  Renatns   von  f    preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin  .    .    .  1193 
Herdsteuer.    Von  Dr.  M.  v.  Heokel,  Prof.  an  der  Akademie  Münster  (W.)     .    .  1194 

Herkner,  Heinrich.    Von  der  Redaktion 1195 

Hermann,  Friedrich  Benedikt  Wilhelm  y.  ^Von  Dr.  Lippert,    Bibliothekar  des  1196 
Herrenschwand /    Kgl.  preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin   .  1197 

Herrmann,  Emanuel Ivx«  /i^,.  ^?^/q«t♦:/^r,  11^^ 

Hertzka,  Theodor jVon  der  Redaktion ^^^^ 

Heuschling,  PhilippFranz  XavierTheodor  1  Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  Kgl.  1199 

Hildebrand,  Bruno . /    preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin  .    .    .  1200 

Hildebrand,  Richard.    Von  der  Redaktion 1201 

Hilfskassen.    Von  Dr.  Honigmann,  Rechtsanwalt  in  Breslau 1201 

Hill,  Rowland  s.  Porto 1207 

Hinterlegung  von  Wertpapieren.    Von  Dr.  Riesser,  Justizrat  und  Bankdirektor, 

Berlin 1207 

Hoards  s.  Banken 1212 

Hof.     Von  Dr.  W.  Wittich,  Strassburg  i.  E.  .    . 1212 

Hofacker,  Johann  Daniel.    Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  kgl.  preuss.  stat. 

Bureaus,  Berlin • 121S 

Hof  erecht    Von  Dr.  M.  Sering,  Prof.  an  der  Univ.  Berlin 1219 

HoferoUen  s.  Anerbenreoht 1227 

Hoffmann,  Johann  Gottfried Won  Dr.   Lippert,    Bibliothekar  des  1227 

Holzschuher,  Berthold /    Kgl.  preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin   .  1228 

Holzzölle  s.  Forsten 1228 

Hörigkeit  s.  Unfreiheit 1229 

Hom,  Eduai'd ]  1229 

Homick,  Friedrich  Wilhelm  von    .    .    .(Von  Dr.   Lippert,    Bibliothekar  des  1230 

Horton,  Samuel  Dana f    Egl.  preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin   .  1230 

Huher,  Viktor  Aim^ J  1230 

Hufe.    Von  Dr.  A.  Meitzen,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der  Univ.  Berlin  .    ,    .  1232 
Hufeland,  Gottlieb.    Von  Dr.  Lippert,  Bibliothekar  des  KgL  preuss.  stat  Bureaus, 

Berlin 1241 

Hufenschoss.    Von  Dr.  G.  v.  Below,  Prof.  an  der  Univ.  Marburg 1242 

Hufenverfassung.    Von  Dr.  A.  Meitzen,  Geh.  Reg.-Rat  imd  Prof.  an  der  Univ. 

Berün 1243 

Hüllmann,  Karl  Dietrich IVon  Dr.   Lippert,    Bibliothekar  des  1246 

Hume,  David /    KgL  preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin   .  1247 

Hundesteuer.    Von  Dr.  M.  v.  Heckel,  Pi-of.  a.  d.  Akademie  Münster  (W.).    .    .  1248 
Hypothekenbanken.    Von  Dr.  Felix  Heoht,  Geh.  Hofrat  und  Direktor  der  Rhei- 
nischen H^^pothekenbank  in  Mannheim 1250 

Hypothekenschulden  (Statistik).    Nach  Dr.  A.  Wirminghaus,  Syndikus  der  Han- 
delskammer Köln,  von  Dr.  Paul  Kollmann,  Geh.  Reg.-Rat  und  Vorstand  des 

Grossh.  stat.  Bm-eaus,  Oldenburg 1260 

Hypothekenversicherung.     Von  Dr.  A.  Emminghaus,    Direktor   der  Lebens- 

Versicherungsbank  für  Deutschland,  Gotha 1266 

Hypotheken-  und  Grundbuchwesen.    Von  Dr.  G.  Schollmeyer,  Geh.  Justizrat 

und  Pi-of.  an  der  Univ.  Würzburg 1268 

I  n.  J. 

Jagd.    Von  Dr.  M.  Endres,  Prof.  an  der  üniv. .  München 1299 

Jagdrecht     Von  Dr.  von  Brünneok,  Prof.  an  der  üniv.  Halle 1304 

Jahrmärkte  s.  Märkte  und  Messen 1313 

Jakob,  Ludwig  Heinrich  von       .    .    .    .)Von   Dr.   Lippfdrt,   Bibliothekar  des  1313 

James,  Edmund  Janes /    Kgl.  preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin    .  1314 

Identitätsnachweis.    Von  Dr.  W.  Lezis,  Geh.  Reg.-Rat  und  Prof.  an  der  Univ. 

Göttingen 1315 

Jevons,  William  Stanley.     Von    Dr.    Lippert,  Bibliothekar    des   Kgl.   preuss. 

stat.  Bureaus,  Berlin 1320 


Uebersicht 


Impfung  und  Impfrecht    Von  Dr.  C.  Fränkel,  Pr<  I 
Inama-Stemegg,  Karl  Theodor  von.    Yon-  der  Eec  \ 
Individualismus.    Yoq  Dr.  H.  Dietzel,  Prof.  an  dei 
Indnlt  (Moratorium).     Yen  Dr.   E.  Iioening,   Geh.   . 

Univ.  Halle 

Indnstrial-Partnership  s.  Gewinnbeteiligung .    .    . 
Indnstriesystem.    Yon  Dr.   W.  Lezis,  Geh.  Reg.- ' 

Gröttingen 

Ingram,  J.  Keils.    Yon  der  Hedaktion 

Inhaberpapiere  s.  Wertpapiere 

Innungen.     Yon  Dr.  Wilhelm  Stdeda ,  Geh.  Eeg.-  ! 

Leipzig 

internationale  s.  Sozialdemokratie 

Invalidenversichemng  (Invaliditäts-  und  Altersversic  i 

Dr.  von  Woedtke,  Wirkl.  Geh.  Oberreg.-Rat  ur  i 

Innern,  Berlin 

John,  Vincenz.    Yon  der  Redaktion 

Jonäk,  Eberhard )  ^      t^ 

Jones,  Richard #i 

JoveUanos,  Don  Gaspar  Melchor  de  .    .'     ^^^*  P  ' 
Irrenwesen  (einschliesslich  Irrenstatistik  und  Irrenge  ■ 

Laehr,  Zehlendorf  b.  Berlin 

Iselin,  Isaak.   Yon  Dr.  läppert,  Bibliothekar  des  Kgl 
Jugendliche  Arbeiter.     Yon  Dr.  Wilhelm  Stieda, 

der  üniv.  Leipzig 

Jnraschek,  Franz  von.    Yon  der  Redaktion .    .    . 
Jnsti,  Johann  Heinrich  Gottlob  von.     Yon  Dr.  Li| 

preuss.  stat.  Bureaus,  Berlin 

Nachtrage 


— -oKX3t>- 


Berichtigungen. 

Zu  Bd.  I      S.  142  Sp.  2  Z.  22  v.  u.  lies  Bd.  112  statt  110. 

Zu  Bd.  m  S.   1240  Sp.  2  Z.   12  v.  o.  lies   »die  aktiven  Wahlberechtigungen«    statt 
»die  Wahlberechtigungen <; . 
S.  1242  Sp.  2  Z.  14  V.  u.  lies  »Brüssel  (1897)<.  statt  »Brüssel  (1898)<<. 

Zu  Bd.  IV  S.  327   Sp.  2  unten.    Es  steht  hier:  Ernteertrag  in  1000  Tonnen.    Doch  sind 
von  1891  an  die  vollen  Tonnen  beziffert. 

S.  328  Sp.   1.      In  der  üebersicht  heisst   es:  Angabe  in  Tonnen;  es  muss 
heissen:  in  1000  Tonnen. 

S.  330  Sp.  1    unten.      Ueber   der  Nachweisung   steht:  in    1000  Dessätinen. 
Dies  bezieht  sich  nur  auf  die  zweite  Koliunne  (im  ganzen  Reiche  d.  h.  für 
die  72  Gouvernements),  während  für  die  ei-ste  Kolumne  (europäisches  Russ- 
land,  60  Gouvernements)  die  Angaben  in  vollen  Dessätinen  gemacht    sind.- 
S.  688  Sp.  1  Z.  5  V.  0.  lies  ^>Korporationen«  statt  »Staatskörper«. 
Z.  3  V.  u.  lies  »Compagnonnage«  statt  »Arbeitervereinigung«. 
Z.  1  V.  u.  lies  ^>Korporatiou«  statt  »Regierungsform«. 
S.  690  Sp.  2  Z.  26  v.  o.  lies  »der  Gegner^  statt  »die  Gegnerin«. 
S.  694  Sp.  1  Z.  33  V.  u.  lies  »Veunen«  statt  »Vem-enc 
Sp.  2  Z.  27  V.  u.  lies  )^Gewerkvereine<i  statt  »Vereine«. 
S.  695  Sp.  2  Z.  29  v.  il  lies  »Berufs vereinen«  statt  »Gewerkvereinen«. 


G. 


Oaliani,  Fernando^ 

sei,  am  2.  Xu.  1728  zu  Chiesi  in  Italien,  1765 
Inhaber  des  Eanonikats  zu  Amalfi,  1760  und 
folgende  Jahre  Gesandtschaftssekretär,  Ge- 
schäftsträger bezw.  stdlyertretender  neapolita- 
nischer Gesandter  in  Paris,  nnd  1777 — 1782 
Fiskal  der  kgl.  Domänenkammer  sowie  Mitglied 
anderer  höherer  FinanzbehÖrden  in  Neapel.  Er 
starb  als  infnlierter  Abt  am  30.  X.  1787  in 
Neapel. 

Von  den  itaUenischen  Nationalökonomen, 
die  in  der  Periode  kurz  Tor  dem  Auftreten 
Adam  Smiths  sich  als  selbständige  Volkswirt- 
schi^idie  Denker  hervorgethan  haben,  ist  Ga- 
liani  einer  der  bedeutendsten.  Mit  dem  Mer- 
kantilsjBtem  hängt  er  eigentlich  nur  noch  durch 
die  Handelsbilanz  und  den  Trugschluss  zusam- 
men, dass  der  Handelsgewinn  des  einen  den 
Handelsverlust  des  anderen  Landes  bedinge. 
Dass  Galiani,  gleich  den  Merkantilisten,  auf 
eine  starke  Bevölkerung  Gewicht  lefft,  beruht 
bei  ihm  auf  dem  wirtschaftlichen  Menschen- 
kultus, der  sich  aus  seiner  Lehre  vom  Werte 
(vgl.  sein  Werk  „Della  moneta*'  s.  u.)  entwickelt. 
Der  Wert  basiert  bei  ihm  auf  der  Arbeit,  und 
da  er  nur  menschliche,  nicht  eine  durch  die 
Natur  besorgte  Arbeit,  als  solche  anerkennt, 
erklärt  er  den  Menschen,  den  Arbeitsvollbrin^er, 
als  das  vornehmste  Beichtumsobjekt,  summiert 
also  in  diesem  Wertbegriff  Arbeit  und  Arbeits- 
produkt. Den  Wert  selbst  erkennt  er  in  der 
Güterwelt  als  Abstraktum  nicht  an,  d.  h.  er 
lässt  die  Wertbestimmung  stets  das  Produkt 
eines  Vergleichs  oder  eines  Verhältnisses  zur 
Nützlichkeit,  Seltenheit  oder  zum  Grade  der 
mühevollen  Herstellung  anderer  mess-  und  ver- 
g^leichbaren  Güter  sein.  Seine  Geldlehre  schwankt 
zwischen  dem  merkantilistischen  Festhalten  des 
Metallgeldes  im  Lande  und  der  neuzeitlichen 
Degradierung  des  Geldes  zum  blossen  Verkehrs- 
mittel. Letztere  Anschauung  ist  die  durchdrin- 
fende,  denn  Galiani  betont  einmal  sogar,  dass 
ie  Geldcirkulation  als  Signatur  des  YerKehrs- 
bedürfoisses  (vgl.  Della  moneta,  Buch  IV,  c.  2 
und  3)  wichtiger  als  das  Geld  selbst  sei,  wes- 
halb er  auch  gegen  die  Geldausfuhr  nichts  ein- 
zuwenden hat.  Seine  Preistheorie  stützt  sich 
auf  die  Produktionskosten  und  das  Gesetz  von 
An&febot  und  Nachfrage ;  die  hohen  Güterpreise 
sind   ihm   daher    ein   Beweis   wirtschaftlichen 

Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


Au&chwunges,  nicht  Niederganges.  Er  be- 
kämpft ferner  jede  BeschräiDcuncf  der  freien 
Gütercirkulation  durch  Zins-  und  Wuchergesetze. 
Zu  seiner  berühmten  Streitschrift  gegen  die 
Physiokraten:  Dialogue  sur  le  commerce  des 
bl6s  (s.  u.)  muss  zunächst  bemerkt  werden,  dass 
es  keine  doktrinäre  Tendenzschrift  gegen  den 
Freihandel  überhaupt,  sondern  eine  staatspoli- 
tische  Aktion  gegen  die  grossen  Getreidehändler 
war,  welche  aus  der  freien  Eomausfuhr,  die 
durch  das  Edikt  von  1764  gewährleistet  wor- 
den, den  ^össten  Gewinn  zogen,  einen  Gewinn, 
den  Galiani  der  Regierung:  dadurch,  dass  diese  den 
Getreidehandel  verstaatlichte,  zufliessen  lassen 
wollte.  Was  den  thatsächlichen  Inhalt  seiner 
Dialoge  betrifft,  so  macht  er  u.  a.  darin  geltend, 
dass  Frankreich  kein  Ajerrarstaat,  dass  vielmehr 
dessen  Getreideproduktion,  selbst  wenn  man 
sich  das  noch  brach  liegende  Land  als  bebaut 
vorstellte,  keine  überflüssigen  Eommengen  für 
die  Ausfuhr  erwarten  lasse  und  dass  es  eine 
grosse  Ungereimtheit  sei,  Getreide  zollfrei  aus- 
zuführen, ohne  sich  für  den  Notfall  vom  Aus- 
lande das  reciproke  Verfahren  durch  Verträ&fe 
gesichert  zu  haben.  Im  achten  Dialog  macht 
er  nun  als  Chevalier  Zanobi  den  Vorschlag,  das 
Edikt  von  1764  dahin  zu  modifizieren,  sowohl 
auf  die  Ausfuhr  von  französischem  Getreide  und 
Mehl  als  auf  die  Einfuhr  fremden  Getreides 
einen  Zoll  zu  le^en.  —  Die  ebenso  geistreiche 
als  witzige  Schnft,  welche  Galiani  auf  Grund 
eines  früheren  Entwurfs  von  1764  unter  stilis- 
tischer Beihilfe  der  Encyklopädisten  Diderot 
und  Grimm  verfasste,  verursachte  bei  der  phy- 
siokratischen  Klasse  der  Oekonomisten  grosse 
Bestürzung.  Von  ökonomischen  Gegensclu*iften 
sind  die  von  dem  Abbe  Morellet  und  von  Mercier 
de  la  Rivi^re  (s.  u.)  publizierten  die  bedeutend- 
sten. Voltaire,  übri&^ens  einer  der  besten  Hasser 
der  Physiokraten,  Mite  über  die  „dialogues" 
folgendes  Urteil:  „U  semble  que  Piaton  et 
Mou^re  se  soient  r^unis  pour  composer  cet 
ouvrafife."  Von  gekrönten  Häuptern  waren  es 
besonaers  Katharina  II.  von  Russland  und  Frie- 
drich II.  von  Preussen,  die  sich  für  den  Abb6 
Galiani  interessierten,  zumal  dieser  nicht  nur 
ein  grosser  Denker,  ein  genialer  Schriftsteller, 
sondern  auch  ein  Libertin  de  qualit6  war. 

Von  seinen  staatswissenschaftlichen  Schriften 
seien  zunächst  die  zwei  oben  besprochenen  hier 
aufgeführt:  Della  moneta  libri  quinque.  Neapel 

Auflage.    lY.  1 


2 


Gdiani — Garnier 


1749  (auf  dem  sofifen.  Schmntztitel  eines  Teils 
der  Aufl.  ist  1750  als  Erscheinungsjahr  ange- 
geben); dasselbe,  2.  Aufl.  1780.  —  Dialogues 
sur  le  commerce  des  bleds  (bles)  Londres  (Paris) 
1770;  dasselbe,  Neudruck,  2  Bde.,  Berlin  1795; 
dasselbe,  Neudruck  in  Bd.  V  und  VI  der  Cus- 
todischen  Sammlung,  Mailand  1803;  dasselbe, 
Neudruck  in  Bd.  X  v  der  CoUection  des  princi- 
paux  economistes,  Paris  1848;  dasselbe,  ins 
Deutsche  übersetzt  von  H.  L.  W.  Barkhausen, 
Lemgo  1777;  von  H.  W.  Berisch,  Laubanl778; 
von  D.  C.  W.  Beicht,  Glogau  1802 :  von  F.  Blei, 
Bern  1895.  —  Ausserdem  veröffentlichte  er: 
Dissertazione  suUe  stato  della  moneta  a'  tempi 
della  guerra  Trojana,  Neapel  1743.  —  Della 
nerfetta  conservazione  del  grano,  Neapel  1745, 
Neudruck  Mailand  1821 ;  französ.  Uebersetzung, 
Paris  1754.  (Vorstehende  Schrift  erschien  unter 
dem  Pseudonym  Bartolommeo  Intieri.)  —  Istioria 
vera  delle  controversia  de  grani  di  Marsiglia 
Bulla  giustizia  della  pretensioni  delle  parti  Bti- 
ganti,  Neapel  1757.  —  Den  Briefwechsel  Ga- 
Banis  mit  den  Damen  d'Epinay,  Necker  und 
Geoffrin,  mit  den  Häuptern  der  Encyklopädisten 
und  mit  einigen  Physiokraten  sowie  mit  dem 
Marquis  Bemardo  Tamuzzi  etc.  gaben  heraus 
Serieys,  Guinguen^,  Asse,  Bmnetiöre,  Perey, 
Maugras,  A.  Bazzoni. 

Vgl.  über  Galiani:  (A.  Morellet),  Refutation 
de  Touvrage  (de  Galiani)  qui  a  pour  titre :  Dia- 
logues sur  les  commerce  des  oleds,  London 
(Ärifi)  1770.  —  (P.  F.  J.  H.  le  Mercier  de  la 
Kiviöre),  L'int^r^t  gen^ral  de  T^tat  ou  la  li- 
berte  du  commerce  des  bl^s  etc.,  avec  la  r^- 
tation  d^un  nouveau  syst^me  publik  en  forme 
de  dialogues  etc.  (par  Galiani),  Amsterdam  et 
Paris  1770.  —  Diodati,  Vita  dell'  Abate  F.  Ga- 
liani, Neapel  1788.  —  Morellet,  M^moires,  2  vols., 
Paris  1818.  —  Tiraboschi,  Storia  della  lettera- 
tnra  italiana,  Bd.  VI,  X,  Mailand  1824.  — 
Pecchio,  Histoire  de  l'^onomie  polit.  en  Italie, 
trad.  p.  Gallois,  Paris  1830,  S.  116  ff.  —  Döh- 
ring,  Ualiani  (Ersch  u.  Gruber,  Encyklop&die, 
I  Sekt.,  Bd.  52,  Leipzig  1851,  S.  360ff.  —  Di- 
derot, Oeuvres,  Edit.  Assezat.  20  vols.  Paris 
1875  u.  77 ;  Band  3,  8,  11  und  18.  —  Mattei, 
Galiani  ed  i  suoi  tempi,  Neapel  1879.  —  Hous- 
sonville,  Le  salon  de  Mme.  Necker,  2  Bde., 
Paris  1882.  —  Alessio,  Studi  sulla  teorica  del 
valore  nel  cambio  intemo,  Turin  1890.  —  Jean 
Le  Boy,  Galiani,  in  Say  u.  Cbailley,  Diction- 
naire  d'economie  polit.,  Bd.  I,  Paris  1891,  S. 
1093  ff.  —  E.  Gftudemet,  L'Abb6  Galiani  et  la 
qnestion  du  commerce  des  bl^s  a  la  fin  du 
rfegne  de  Louis  XV,  Paris  1899. 

lAppert, 


Ganllh,  Charles, 

geb.  1758  in  Allanche,  französisches  Departe- 
ment Cantal,  war  vor  der  Revolution  Parla- 
mentsadvokat, wurde  am  14.  VII.  1789  von  der 
revolutionären  Permanenzkommission  des  Pariser 
Stadthauses  nach  Versailles  zur  Nationalver- 
sammlung deputiert,  um  dort  gesetzliche  Voll- 
machten zur  Bewaffnung  der  in  der  Bildung 
begriffenen  Pariser  National^arde  zu  erlangen, 
war  später  Mitglied  der  Pariser  Commune  vom 


10.  VIII.  1792,  welche  die  Revolution  dieses 
Tages  leitete ,  zog  sich  nach  den  September- 
morden von  der  Umsturzpartei  zurück,  wurde 
1794  als  verdächtig  angeklagt  und  zur  Depor- 
tation verurteilt,  von  der  ihn  der  9.  Thermidor 
errettete.  Vom  Dezember  1799  bis  1802  war 
Ganilh  Mitglied  des  von  Napoleon,  als  I.  Con- 
sul,  nach  dem  18.  Brumaire  errichteten  Tribunats. 
Er  starb  1836  in  Paris. 

Granilh  veröffentlichte  folgende  staatswis- 
senschaftliche Schriften  in  Buchform:  Essai 
politique  sur  le  revenu  public  des  peuples 
de  Tantiquit^,  du  moyen  äge,  des  si^cles 
modernes  et  specialem  ent  de  la  France  et 
de  TAngleterre,  Paris   1806,  neue  Aufl.  1823. 

—  Des  System  es  d'6conomie  politique,  de 
leurs  inconv^nients,  de  leurs  avantages,  de  la 
valeur  de  leurs  doctrines,  2  Bde.,  Paris  1809, 
2.  Auflage  1821;  hiervon  erschienen  2  Ueber- 
Setzungen  ins  Deutsche,  die  eine  Berlin  1811, 
die  andere  Wien  1814.  —  Im  ersten  Bde.  dieser 
Schrift  handeln  die  Seiten  97  ff.  von  der  „in- 
fluence  du  travail  sur  la  richesse",  und  Ganilh 
entwickelt  darin,  in  Uebereinstimmung  mit 
Smith,  dass  der  Arbeit  der  Gtttererzeugung 
nicht  in  jedem  Falle  die  Konsumtion  lolge, 
sondern  dass  letzterer  der  Absatz  der  bezüg- 
lichen Güter,  als  Nationalreichtumsvermehmngs- 
faktor  und  Regulator  des  Gleichgewi^ts 
zwischen  Produktion  und  Konsumtion,  vorher- 

fehen  müsse.  —  R^flexions  sur  le  budget  de  1814, 
aris  1814.  —  Theorie  de  T^conomie  politique, 
(ond^e  sur  les  faits  (statistiques)  recaeilUs  ea 
France  et  en  Angleterre,  Paris  1815,  2.  Aufl. 
1821.  (In  letzterer  Schrift  zeigt  er  sich  u.  a. 
als  Ge^er  des  Freihandels  und  Vertreter  der 
protektionistischen  Richtung.)  —  Considörations 

f§nerales    sur    la    Situation   financi^re   de   la 
rance  en  1815  et  1816,  2  Bde.,  Paris  1815—16. 

—  Opinion  sur  le  budget  de  1816,  prononcee  ä 
la  s^nce  du  15  mal  1816,  Paris  1816.  —  Dea 
droits  constitutionnels  de  la  chambre  des  d4pnt^ 
en  mati^re  de  finances,  ou  r^futation  de  M. 
le  comte  Garnier  dans  son  ranport  k  la  chambre 
des  pairs  sur  le  budget  de  lol5,  Paris  1816.  — 
Des  finances  de  la  France  depuis  la  restauration, 
Paris  1817.  —  Du  pouvoir  et  de  1 'Opposition 
dans  la  soci6t^  civile,  Paris  1824.  —  Dictionnaire 
analytique  d^economie  politique,  Paris  1826,  im 
nämlichen  Jahre  ins  Spanische  Übersetzt.  — 
Principes  d'^conomie  politique  et  de  finances, 
Paris  18a5.  

Vgl.  über  Ganilh:  Jochmanns  von  Pemau 
Reliquien,  Band  I,  Hechingen  1835,  S.  220  ff. 

—  Dictionnaire  de  l'economie  politique,  par 
Coquelin  et  Guillaumin,  2.  Aufl.,  Paris  1^, 
Bd.  I,  S.  819.  —  Röscher,  Gesch.  der  Nat, 
S.  597  u.  808.  —  Say  et  Chaillay,  Nou- 
veau dictionnaire  d'6conomie  polit.,  Bd.I,  Paris 
1891,  S.  1097.  Lippert 


Garnier,  Joseph  Clement, 

geb.  am  3.  X.  1813  zu  Breuil  im  franzö- 
sischen Departement  Seealpen,  .unterrichtete  an 
verschiedenen  höheren  Handelsschulen  in  Paris 
und  wutde  1846  Professor  der  Volkswirtschaft 


Garnier 


an  der  ^Ecole  des  ponts  et  chaussees".  1848 
wurde  er  Chefredakteur  des  1841  gegründeten 
Journal  des  Economistes,  welches  er  bis  zu  seinem 
Tode  redigiert  hat.  1867  wählte  ilm  sein  Hei- 
matswahl&eis  zum  Senator  in  die  Legislative, 
und  am  2b.  IX.  1881  starb  Garnier,  als  Mit- 
glied des  Instituts  in  Paris. 

Als  Anhänger  der  Say-Bastiatschen  Frei- 
handelsschule, befreundet  mit  Cobden  (vgl.  u  a. 
seine  Schrift  über  ihn),  p^ündete  er  zur  Be- 
kämpfung des  Protektionismus  mit  Bastiat  die 
^Association  pour  la  libert^  des  echanges"  und 
beteiligte  sich  femer  1842  an  der  Gründung 
der  „^i6t6  d^economie  politique",  welcher  er 
als  Vicepräsident  und  „secrötaire  perpetuel" 
bis  zu  seinem  Tode  angehörte.  —  Als  Bevöl- 
kenmgstheoretiker  war  er  ein  Anhänger  von 
Malthus  (vgl.  seine  Schrift:  du  principe  de  po- 
pvlation);  als  Grundrententheoretiker  stellt  er 
den  Sats  auf,  dass  der  landwirtschaftliche  In- 
dustriebetrieb eine  doppelte  Rente  abwerfe, 
erstens  vom  Boden,  zweitens  vom  Kapital,  wo- 
mit der  Betrieb  arbeitet. 

Er  veröffentlichte  an  staatswissenschaftlichen 
Schriften 

a)  in  Buchform:  Notice  statistique  sur 
les  houilles,  Paris  1887.  —  Introduction  k  l'^tude 
de  r^conomie  politiaue,  avec  des  consid§rations 
sur  la  statistique,  la  Kbert^  du  commerce  et 
l'organisation  du  travail  (ouvertnre  du  cours 
d'eeonomie  politique  k  TAthen^  royal  le  4  jan- 
Tier  1843),  Paris  1843.  —  Coup  d'oeil  sur  Tex- 
position  des  produits  dej'industrie  fran<^aise  en 
1844^  Paris  1844.  —  Elements   de  F^conomie 

rlitique,  1.  Ausg.,  Paris  1845;  2.  Aus^.  1848; 
Ausg.  1856;  (4.  Ausg.  s.  u.  Trait^  d'eoonomie 
polit.).  —  Bichkrd  Cobden.  Les  ligueurs  et  la 
ügae;  pr^s  de  Fhistoire  de  la  demi^re  r^vo- 
lution  economiqiie  et  financiire  en  Angleterre, 
Paris  1846.  —  Etüde  sur  les  profits  et  les  sa- 
laires,  Paris  1847.  —  Congr^s  des  amis  de  la 
paiz  universelle,,  röuni  k  Paris  en  1849.  Compte 
rendu  des  seances  des  S2,  23,  24  aoüt.  R^so- 
Intions  adoptees,  etc.,  pr6c^d6  d'une  notice  histo- 
riqne  sur  le  mouvement  en  faveur  de  la  paix, 
Paris  1850.  —  Trois  meetings  des  aniis  de  la 
paix  k  Londres,  Birmingham  et  Manchester,  les 
30  et  31  octobre  et  1  novembre  1849,  Paris  1850. 
—  Notes  et  petits  trait^s,  contenant :  Elements  de 
statistique  et  opuscules  divers,  faisant  suite  aux 
trait^s  d'6conomie  polit.  et  de  finances,  Paris  1857 ; 
2.  Aufl.  1865. — Du  principe  de  Population.  Energie 
de  ce  principe;  avantages  et  maux  qui  peuvent  en 
resnlter ;  obstacles  qu  il  rencontre  ou  qu'on  peut 
Ini  opposer;  remdde  pour  en  contrebaiancer  des 
effets;  theories  ^nomiques,  politiques,  morales 
et  socialistes  auxquelles  il  a  donne  lieu;  con- 
trainte morale ;  reformes  ^conomiques,  politiques 
et  sociales ;  Emigration,  charitE,  socialisme ;  droit 
an  travail,  Parw  1857 ;  2.  Aufl.  1885.  —  Abrege 
des  Clements  de  TEconomie  politique,  Paris  1858 ; 
neue  Aufl.  1864;  6.  Aufl.  1880  —  Tableau  des 
canses  de  la  mis^re  et  des  rem^des  qu'on  peut 
y  apporter,  Paris  1858.  —  Trait6  complet  d'arith- 
metique  theorique  et  appUquee  au  commerce, 
ä  la  banque,  aux  flnances,  ä  Tindustrie,  etc., 
cours  professE  ä  TEcole  superieure  du  commerce, 

Sar  F.  Wantzel  et  J.  Garnier  (r6dige  par  ce 
emier),  Paris  1858;  2.  Aufl.  1861 ;  3.  Aufl.  1880; 
4.  Aufl.  1887.  ~  Trait6  des  mesures  metriques. 
Expose  snccinet  et  complet  du  Systeme  fran^ais. 


metrique  et  dreimal,  avec  une  notice  historique, 
Paris  1858.  —  TraitE  d'Economie  politique,  ex- 
pose  didactique  des  principes  et  des  applications 
de  cette  science  et  de  l'organisation  economique 
de  la  soci6te,  4.  ^nü.^  Paris  1860  (die  1.  bis  3. 
Aufl.  s.  0.  unter  £16ments  de  FEconomie  polit.) ; 
5.  Aufl.  1863;  6.  Aufl.  1868;  8.  Aufl.  1879;  9. 
Aufl.  verbessert  und  vermehrt  von  Professor 
A.  Liesse,  Paris  1889.  — ■  Trait6  de  flnances. 
L'impot  en  ^^neral ;  son  assiette,  ses  effets  ^cono- 
miques,  politiques  et  moraux.  Categories  et  esp^ces 
diverses  d'impöts.  Les  emprunts,  le  credit  public 
et  les  dettes  dites  consolid^es.  Le$  d^penses 
publiques  et  les  attribntions  de  l'Etat.  Les 
reformes  financi^res.  L'impöt  dans  ses  rapports 
avec  le  progr^s  et  la  mis^re.  Notes  histonques 
et  documents  statistiques,  2.  Aufl.,  Paris  1862 
(1.  Aufl.  enthalten  in  „Notes  et  petits  trait^s", 
s.  0.);  3.  Aufl.  1872;  4.  Aufl.,  hrsg.  von  Courtois, 
Paris  1882.— Association,  extrait  du^  Dictionnaire 
g^n^ral  de  la  politique'',  Paris  1863.  --  Qu'est-ce 
que  Teconomie  industrielle?  (enthalten  in  Cours 
d'^conomie  industrielle,  recueilli  et  publik  par 
E.  Th6venin,   Ire   g^rie,  Paris  1866,  S.  1—80). 

—  Ce  qu'est  T^conomie  politique,  son  objet,  son 
caractöre,  son  utilit^  sociale  et  ses  rapports 
avec  les  autres  sciences.  Premi^res  le^ns 
d'6conomie  nolitique  profess6es  en  novembre  1877, 
Nancy  1878. 

b)  in  Zeitschriften   und   encyklo^ 

Eiädischen  Werken:  Journal  des  Economistes 
mit  Ausschluss  aller  seine  kritisierende  Th&tig- 
:eit  (comptes  rendus)  sowie  seine  Beteiligung 
an  den  Sitzungen  und  Verhandlungen  der  Sod^ti 
d'^conomie  politique  (opinions  exprim^es  et 
questions  discut^es)  betreffenden  Artikel,  femer 
aller  statistischen  Notizen],  I.  S6rie  (1841  bis 
1853). —B  oranger ,  ^conomiste,  Bd.  I,  S.  330. 

—  Etudes  sur  les  Economistes  financiers  du 
XVmiöme  si^cle,  Bd.  VI,  S.  82.  —  De  la  for- 
mule  phalanst^rienne :  association  du  capitaJ,  du 
travaü  et  du  talent,  Bd.  VI,  S.  356.  —  Pr61u- 
des  de  la  röforme  Economique  en  Angleterre, 
Bd.  XIII,  S.  250.  —  Association  centrale  pour 
la  liberte  des  echanges,  Bd.  XIV,  S.  305.  — 
De  Teconomie  politique  de  M.  Gay-Lussac,  k 
propo«  de  Fimpöt  du  sei,  Bd.  XIV,  S.  321.  — 
Position  du  problEme  de  la  misEre;  considErations 
sur  les  moyens  d 'Elever  les  classes  pauvres  a 
une  meilleure  condition  materielle  et  morale, 
Bd.  XV,  S.  105.  -  Sur  la  rEforme  douaniere 
proposEe  par  le  gouvemement  et  sur  ceUe  pro- 
posEe  par  TAssociation  pour  la  libertE  des  - 
echanges,  Bd.  XVII,  S.  142.  —  Notice  sur  la 
vie  et  les  travaux  d'EugEne  Daire,  Bd.  XVII, 
S.  430.  —  Etudes  sur  la  rEpartition  de  la  ri- 
chesse  et  sur  les  faits  qui  rEglent  les  rapports 
des  Profits  et  des  salaire«,  Bd.  XVIII,  S.  201 
und  Bd.  XIX,  S.  143.  —  PrEjugEs  mercantiles- 
et  protectionnistes  en  France,  Bd.  XIX,  S.  349. 

—  Sur  la  suppression  de  la  chaire  d'Economie. 
politique  au  CoUEge  de  France  et  des  curieuses 
chaires  destinEes  a  la  remplacer,  Bd.  XX,  S.  57. 

—  Causes  Economiques  de  Tinsurrection  de  juin 
1848,  Bd.  XX,  S.  261.  —  Quelques  mots  au 
sujet  des  principales  formules  socialistes,  Bd.  XX, 
S.  375  und  407.  —  Notice  sur  la  vie  et  les 
travaux  de  P.  Rossi,  Bd.  XXH,  8.  98.  —  RE- 
flexions  sur  le  premier  message  du  PrEsident 
de  la  REpublique,  Bd.  XXIH,  S.  286.  —  Sur  la 
sEance  du  Conseil  de  Tagriculture.  des  manu- 

1* 


Garnier 


factares  et  du  commerce  dans  laqnelle  les  pro- 
tectionnistes  ont  attaque  les  professenrs  d*^co- 
nomie  politique,  Bd.  XXVI,  S.  174.  —  L'ensei- 
gnement  de  M.  J.  Garnier,  attaqne  par  les  pro- 
tectionnist^,  Bd.  XXVI,  S.  179  und  187.  — 
De  la  discussion,  k  TABsembl^e  legislative,  de 
la  rMorme  donani^re  proposee  ^ar  M.  Sainte- 
Beuve,  et  du  discours  prohibitioniste  de  M. 
Thiers,  Bd.  XXIX,  S.  243.  —  Notes  critiques  k 
Tarticle  de  M.  de  Fontenay  sur  la  rente  fon- 
ci^re  Selon  Ricardo,  Bd.  XXX,  S.  93  und  206. 

—  Origine  et  filiation  du  mot  6conomie  poli- 
tique et  des  divers  autres  noms  donn^s  k  la 
science  4conomiqne,  Bd.  XXX IT,  S.  300  und 
Bd.  XXXIII,  S.  11.  —  Vie  et  Systeme  de  Fre- 
d^ric  List,  Bd.  XXXIII,  S.  309. 

n.  Serie  (1854—1866}:  L'6conomie  poli- 
tique et  Teconomie  sociale  definies  par  le  tribu- 
nai  de  premi^re  instance  et  la  cour  imperiale, 
Bd.  IV,  S.  468.  —  Analyse  du  pb^nom^ne  de 
la  production,  Bd.  V,  S.  161.  —  Observations 
sur  le  nom  donn4  a  la  science  4conomique,  Bd. 
VI,  S.  277.  —  Du  principe  de  propri6t6,  Bd.  IX, 
S.  66.  —  De  rutiüt^,  dans  la  langue  6conomi- 
qne,  des  termes:  productivit^,  ^cnangeabilite, 
produits-cboses,  produits-services,  industrie  im- 
materielle etc.,  Bd.  XV,  S.  161.  —  Exposition 
de  la  th^orie  de  la  valeur,  Bd.  XXXVII,  S.  369. 

—  La  question  des  paysans  en  Pologne  et  les 
ukases  du  2  mars  1864,  Bd.  XLII,  S.  230.  — 
Cr^ation  d*une  chaire  d'^conomie  politique  k  la 
facult6  de  droit  de  Paris,  Bd.  XLIV,  S.  5.  — 
Bichard  Cobden,  hommages  rendus  k  sa  memoire, 
Bd.  XLVI,  S.  98  und  269. 

m.  S  6  r  i  e  (1866—1877) :  Observations  sur 
Topinion  de  M.  Duval  sur  les  origines  du  mou- 
vement  coop^ratif,  Bd.  VIII,  8.  240.  —  Obser- 
vations sur  les  expressions  de  bour^eois  et  de 
travailleurs,  Bd.  X,  8.  461.  —  Keflexions,  en 
reponse  k  la  lettre  de  M.  J.  Duval,  sur  Antoine 
de  Montcbr^tien,  Bd.  XIII,  S.  301.  —  Observa- 
tions sur  Tarticle:  „L'id^e  de  justice  dans  la 
r^mun^ration  du  travail",  par  A.  Ott,  Bd.  XVI, 
S.  171.  —  L'impot  sur  les  riches,  Bd.  XXVI. 
S.  18.  —  L'^conomie  politique  et  Fopinion  pu- 
bliipe  en  monarcbie  comme  en  r^publique,  Bd. 
XXXII,  S.  349.  —  Les  nouveaux  6conomistes. 
Observations,  Bd.  XL,  S.  217.  •—  Concours  re- 
latif  au  mouvement  de  la  population,  Bd.  XLIV, 
S.  168.  —  La  discussion  des  lois  de  finances, 
Bd.  XLV,  8.  7. 

IV.  S6rie  (1878—1889):  Les  diverses  d6fi- 
nitions  du  socialisme,  Bd.  III,  S.  6.  —  Modi- 
fication  k  la  proposition  de  loi  sur  la  refonte 
des  monnaies,  pi^sentee  au  S6nat,  27  novembre 
1879,  Bd.  VIII,  S.  395.  —  La  profession  d'6co- 
nomiste,  Bd.  X,  S.  66. 

Garnier  war  der  Terf asser  der  im  „Journal 
des  Economistes"  allmonatlich  veröffentlichten 
pchronique  ^conomique"  für  die  Jahre  1845  bis 
Juli  1856  und  fttr  Februar  1866  bis  JuU  1881 : 
er  war  femer  als  Mitarbeiter  beteiligt  a)  an  den 
Sammelwerken:  Dictionnaire  du  commerce  etc. 
(Paris  1836—1839);  Dictionnaire  de  la  conver- 
sation  (1836);  Dictionnaire  de  T^conomie  poli- 
tique, 3e  ea.  (1854);  Nouveau  dictionnaire  du 
commerce  et  de  la  navigation  (1857—1862); 
Dictionnaire  de  politique  publik  par  Block  (1866) ; 
b)  an  den  Zeitschriften:  National  (1835-  1844): 
Patrie  (1844—1851);  Commerce  (1848);  Si^cle 
(1851).    Ausserdem  redigierte  er  die  Jahrgänge 


1847—1855  von  Blocks  Annuaire  de  T^conomie 
polit.  et  de  la  statistique  sowie  die  Jahrgänge 
1853—1860  des  Nouveau  Journal  des  connais- 
sances  utiles. 

Er  war  femer  beteiligt  als  Herausgeber 
oder  Mitkommentator  c)  an  folgenden  Werken: 
Malthus,  Population,  Edition  Prevost  (1845 
und  1852),  Le  droit  au  travail  k  l'Assembl^e 
nationale  (1848);  Fonteyrand,  Melanges 
d'^conomie  politi<}ue  (1853);  Smith,  Richesse 
des  nations,  Mition  Germain  Garnier,  neue, 
mit  den  Joseph  Gamierschen  Noten  versehene 
Auflage  (1860  und  5.  .Aufl.  1881).  —  Rossi, 
Cours  d'6conomie  politique,  4.  6d.  (1883). 


Vgl.  nber  Garnier:  Dictionnaire  d^^onomie 
politique,  par  Coquelin  et  Guillaumin,  Paris 
1854,  S.  824/25.  —  Molinari,  Joseph  Garnier 
(Jonmal  des  Economistes,  Jahrgang  1881,  Bd. 
III,  S.  1).  —  Biographie  de  Teconomiste  Joseph 
Garnier,  s^nateur,  membre  de  Tlnstitut  de 
France,  extraite  de  principaux  joumaux  par  son 
fr^re  J.  J.  Garnier,  Turin  1882.  —  (Ferrara) 
Esame  storico-critico  di  economisti  e  dottrine 
economiche  del  secolo  XVIII,  e  prima  meta  del 
XIX,  vol.  I,  parte  2  (in  der  Abhandlung:  Gar- 
nier, Elementi  di  economia  ^olitica),  Turm  1889. 
—  Say  et  Chailley,  Nouveau  dictionnaire 
d'6conomie  polit.,  Paris  1891,  Bd.  I,  S.  1097. 

lÄpperU 


tiamler,  Germaln, 

geb.  am  8.  XL  1764  zu  Auxerre,  franzö- 
sisches Departement  Yonne,  studierte  die  Rechte, 
war  1787  Prokurator  am  Pariser  Chfitelet, 
wurde  1789  zum  Deputierten  fttr  die  Versamm- 
lung der  Generalstände  gewählt,  ohne  an  deren 
Sitzungen  teil  zu  nehmen,  darauf  März  1792  durch 
das  Vertrauen  des  Königs  zum  Justizminister 
desigiiiert  und  lehnte  zu  Gunsten  Durantons  ab. 
Garnier  emigrierte  am  10.  VIII.  1792  und 
kehrte  1796  nach  Frankreich  zurück.  1799  war 
er  Präfekt  des  Seine-  und  Oisedepartements, 
1804  Graf  und  Senator  des  Kaiserreichs,  1809 
bis  1811  Senatspräsident,  1814,  unter  der  Restau- 
ration, Staatsminister  und  Pair  von  Frankreich. 
1815,  während  der  100  Tage  von  Napoleon  zum 
Grosssiegelbewahrer  ernannt,  war  er  politisch 
wetterkundig  genug,  wie  1791  den  Justizminister- 
posten, so  auch  jetzt  die  Würde  des  mit  diesem 
identischen  garde  des  sceaux  auszuschlap^n. 
Nach  Ludwig  XVIII.  Rückkehr  nahm  er  seinen 
Pairsitz  als  nomineller  Staatsminister  wieder 
ein.  Garnier  gehörte  dem  Institut  de  la  France 
seit  dessen  Reorganisation  (1796)  an.  Er  starb 
zu  Paris  4.  X.  1821. 

Er  veröffentlichte  folgende  staatswissen- 
schaftliche Schriften  in  Buchform:  De  la  pro- 
priete  dans  ses  rapports  avec  le  droit  pratique, 
Paris  1792.  —  Abr6g6  el^mentaire  des  principes 
de  l'6conomie  politique,  Paris  1796.  —  Adam 
Smith,  Recherches  sur  la  nature  et  les  causes 
de  la  richesse  des  nations,  traduction,  5  Bde., 
Paris  1802,  2.  Aufl.,  6  Bde.,  ebenda  1822.  (Gar- 
nier lieferte  damit  die  beste  französische  lieber- 
Setzung  des  Lehrgebäudes  des  berühmten  Schotten, 
welche  ausser  den  Noten  des  Uebersetzers  noch 
mit  solchen  von  Buchanan,  Mac  Culloch,  Malthus, 


Garnier— Garve 


a 


J.  Mül/  Hicardo,  Sismondi,  Storch,  J.  B.  Saj 
und  A.  Blanqui  versehen  ist.  —  Theorie  des 
banques  d'escompte,  Paris  1806.  — Rapport  snr 
la  loi  des  finances,  Paris  1816.  —  Memoire  sur 
la  valeur  des  monnaies  de  compte  chez  les 
penples  de  Tantiquit^,  Paris  1817.  —  Histoire 
de  la  monnaie,  depuis  les  temps  de  la  plus 
haute  antiqnite  jusqn'au  r^gne  de  Charlemagne, 
2  Bde.,  Paris  1819. 

Fast  alle  diese  Schriften  kennzeichnen  das 
Bestreben,  die  physiokratischen  Lehrsätze  mit 
dem  freien  Industriesystem  Smiths  in  Einklang 
zu  bringen,  an  welchem  letzteren  er  übrigens 
bemängelte,  dass  Smith  die  immateriellen  Güter 
bei  der  Produktivität  der  Arbeit  nicht  berück- 
sichtigt hatte.  Garnier  war  auch  auf  schön- 
S-eisti^em  Gebiete  thätig,  aber  sämtliche  seiner 
erartigen  Schöpfungen  hat  eine  meisterhafte 
Uebersetzung  des  Komans  „Caleb  Williams" 
tiberlebt,  worin  der  englische  Schriftsteller 
William  Godwin,  den  Garnier  mit  seiner  Ueber- 
setzung  in  Frankreich  einführte,  die  englische 
Kriminalgesetzgebung  zu  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts in  so  klassischer  Weise  gegeisselt. 


Vgl.  über  G.  Garnier:  Sandelin,  B,eper- 
toire  d'economie  polit.,  Bd.  IV,  Haag  1847, 
S.  141.  —  Blanqui,  Histoire  de  Teconomie 
polit.  en  Europe,  3.  Aufl.,  Bd.  II,  Paris  1848. 
—  Dictionnaire  d'economie  polit.,  2.  Aufl.,  heraus- 

fegeben  von  Coquelin  und  Guillaumin,  Bd.  I, 
ans  1854,  S.  823.  —  Röscher,  Geschichte 
derNat.,  S.  597und808.  —  Say  et  Chailley, 
Xottveau  dictionnaire  d'economie  polit.,  Bd.  I, 
Paris  1891,  S.  1097.  lAppert. 


Gasser,  Simon  Peter, 

fäb.  am  13.  V,  1676  zu  Kolberg,  preuss.  Regbez. 
Öslin.  studierte  1694—1699  in  Leipzig  und 
Halle  Jurisprudenz  und  wurde  am  9.  VII.  1710 
ausserordentlicher  und  1.  VII.  1720  ordentlicher 
Professor  der  Rechtswissenschaft  an  der  Uni- 
versität Halle.  1727  erhielt  diese  Universität 
eine  eigene  Lehrkanzel  der  Oekonomie,  das 
heisst  fiir  die  unter  die  ehemaligen  BegriflFe 
der  Kameralwissenschaften  fallenden  Staats-  und 
wirtschaftspolitischen  Wissenszweige.  Der  für 
Hebung  der  Landwirtschaft  und  Industrie  in 
Preusaen  nach  merkantil  istischem  Rezept  eifrigst 
bemühte  König  Friedrich  Wilhelm  I.  berief  den 
Merkantilisten  Gasser  am  24.  VII.  1727  auf  den 
neugeschaffenen  Lehrstuhl,  der  zunächst  eine 
Pflanzschule  kameralistisch  gebildeter  Landwirte 
und  Verwaltungsbeamten  werden  sollte.  Ein 
eigentliches  System  der  Wissenschaft,  zu  deren 
Lehrer  er  berufen  war,  hat  er  nicht  geschaffen, 
auch  der  höhere  Gesichtspunkt  von  der  civi- 
lisatorischen  Aufgabe  der  Nationalökonomie,  die 
Förderung  der  Staatskräfte  mit  der  des  ein- 
zelnen Individuums  in  Einklang  zu  bringen, 
tritt  nirgends  in  seiner  „Einleitung"  (s.  unten) 
hervor,  die  im  übrigen  von  doktrinärer  und 
scholastischer  Dialektik  sich  ziemlich  frei  hält. 
Als  Ansfluss  seiner  merkantilis tischen  Grund- 
sätze redet  er  darin  einer  progressiven  Steuer- 
erhöhnng,  behufs  Steigerung  des  preussischen 
National  Wohlstandes,  das  Wort,  ohne  Fälle  der 


ungerechten  Belastung^  des  einzelnen  Individuums 
abzuleugnen.  Er  beklagt  letztere,  räumt,  nach- 
dem er  zuvor  seine  Sympathie  für  den  Gross- 
grundbesitz zum  Ausdruck  gebracht,  die  Un- 
gleichheit in  der  Belastung  zwischen  dem  Lati- 
fandienbesitzer  und  kleinen  Landwirt,  zwischen 
dem  vermögenden  Städter  und  armen  Bauer, 
ein,  hütet  sich  aber,  mit  Vorschlägen  zur  Be- 
seitigung dieser  Missstände  hervorzutreten. 
Gasser  starb  in  Halle  am  22.  XI.  1745. 

Er  veröffentlichte  auf  Staatswissenschaft 
bezw.  öffentliches  Recht  bezügliche  Schriften  in 
Buchform :  De  jure  publico  Romanorum,  Halle 
1710.  —  De  feudo  sub  formula  Erbguth,  Halle 
s.  a.  (1720).  —  Einleitung  zu  den  ökonomischen, 
politischen  und  Kameralwissenschaften,  I.  (ein- 
ziger) Teil,  Halle  1729.  (Es  ist  dies  das  ein- 
zige von  ihm  in  deutscher  Sprache  erschienene 
Buch,  welches  in  dieser  ersten  Abteilung  Domänen- 
wesen, Regalien  und  Steuern,  Viehnutzung,  land- 
wirtschaftliche Nebengewerbe,  bäuerliche  Dienste 
und  Abgaben,  Anschläge  der  Aecker,  Wiesen 
und  Weiden,  Jagd,  Fischerei,  Forst  Verwaltung 
und  Rechnungswesen  behandelt).  —  De  rebus 
creditis  et  de  processu  executivo  secundum  jus 
Anhaltinum,  Halle  1743.  — 


Vgl.  über  Gasser:  Dreyhaupt,  Beschrei- 
bung des  Saalkreyses,  Bd.  II,  Halle  1756,  S.  619. 
—  Er  seh  und  Grub  er,  Encvklopädie,  I.  Sek- 
tion, Teil  64,  Leipzig  1852,  S.  204.  —  Röscher, 
Geschichte  der  Nat.,  S.  360,  372,  431.  —  All- 
gemeine deutsche  Biographie,  Bd.  VIII,  Leipzig 
1Ö78,  S.  401.  lÄppert. 


Garve,  Christian, 

feb.  am  7.  I.  1742  zu  Breslau,  studierte  in 
rankfurt  a.  0.,  Leipzig  und  Breslau  und  wurde 
1768,  nach  Gellerts  Tode,  ausserordentlicher 
Professor  der  Philosophie  in  Leipzifi^.  Bereits 
1772  bewog  ihn  körperliches  Siechtum^  sein 
dortiges  Lehramt  niederzulegen,  er  privatisierte 
fortan  in  Breslau  und  starb  daselbst  am  1.  XII. 
1798.  Als  Populärphilosoph  veröffentlichte  er 
auf  dem  Gebiete  der  Ethik,  Aesthetik  und 
praktischen  Weltweisheit  eine  Anzahl  Schriften, 
die  hier  nicht  in  Betracht  kommen.  Seine 
Arbeiten  staatswissenschaftlicher  Natur,  wozu 
ihn  hauptsächlich  das  Studium  Humes  anregte, 
sind  die  folgenden: 

a)  Selbständige  Werke :  Ueber  den  Charakter 
der  Bauern  und  ihr  Verhältnis  gegen  die  Guts- 
herren und  gegen  die  Regierung,  Breslau  1786, 
neue  Ausgabe  Breslau  1796.  —  Ueber  die  Lage 
Schlesiens  in  verschiedenen  Zeitpunkten  und 
über  die  Vorzüge  der  Hauptstadt  vor  Provinzial- 
städten,  Breslau  1788.  —  Abhandlung  über  die 
Verbindung  der  Moral  mit  der  Politik,  Breslau 
1788  (angeblich  hervorgerufen  durch  Kants 
Schrift  „zum  ewigen  Frieden");  dasselbe  ins 
Französische  übersetzt  von  Graf  F.  A.  v.  Zin- 
zendorf,  Berlin  1789.  —  Versuche  über  ver-  • 
schiedene  Gegenstände  aus  der  Moral,  der 
Litteratur  und  dem  gesellschaftlichen  Leben, 
5  Teüe,  Breslau  1792  1802  (Teil  IV  und  V 
nach  Garves  Tode  herausgegeben  von  Schneider 
und  Manso).  —  Fragmente  zur  Schilderung  des 
Geistes,    des    Charakters   und   der   Regierung 


Garve — Gebäudesteuer 


Friedrich  11.,  2  Teile,  Breslau  1798,  2.  Aufl. 
1791  (Die  Zeit  des  Erscheinens  dieses  Buches 
fiel  in  die  berüchtigte  Periode  Wöllner-Bischofs- 
werder,  und  es  gehörte  damals  immer  ein  ge- 
wisser Mut  dazu,  in  so  freimütiger  Weise,  wie 
Garve  es  bei  Behandlung  derB^gierungsmaximen 
Friedrichs  gethan,  die  Pflichten  der  Regenten 
zu  erörtern.) 

b)  üebersetzungen :  Adam  Smith,  Unter- 
suchungen über  Natur  und  Ursachen  des  National- 
reichtums, 3  Bde.,  Breslau  1794—96;  3.  Aufl. 
1810.  Ueber  die  vorzüglichen  Eigenschaften 
dieser  Verdeutschung,  welche  die  schwerver- 
ständlichsten Stellen  des  englischen  Originals 
in  freier  aber  klarster  Darstellung  übertragen 
hat,  vgl.  Smith  a.  a.  0.  (s.  u.)  —  Aristo- 
teles, Politik,  2  Bde.,  Breslau  1799—1802  (Bandll 
ist  von  G.  G.  FttUebom  herausgegeben).  — 
Ausserdem  übersetzte  Garve  Cicero,  De  officiis, 
4  TeUe,  Breslau  1783,  6.  Aufl.,  1819  und  Werke 
von  Macfarlan  und  Payley. 

c)  Briefwechsel:  Briefe  an  Christian  Felix 
Weisse,  2  Bde.,  Breslau  1803.  —  Briefwechsel 
mit  Zollikofer,  Breslau  1804.  —  Briefe  von 
Friedrich  Gentz  an  Garve  (aus  den  Jahren 
1789-98),  Breslau  1857.  — 

Vgl.  über  Garve  :Schlichtegroll,  Nekro- 
log auf  das  Jahr  1798,  Bd.  II,  Gotha  1798, 
S.  237  ff".  —  Schlesische  Provinzialblätter,  Jahrg. 
1799  (Nekrolog  von  Manso),  Breslau  1799.  — 
Seh  eil  er,  Briefe  über  Garves  Schriften  und 
Philosophie,  Leipzig  1800.  —  J.  C.  F.  Manso, 
Vermischte  Schriften,  Teil  I,  1801,  S.  146  if.  — 
S.  G.  Dittmar,  Erinnerungen  aus  meinem 
Umgang  mit  Garve,  Berlin  1801.  —  Hennings, 
Deutscher  Ehrentempel,  Bd.  VI,  Gotha  1824, 
S.  128  ff.  —  Er  seh  und  Gruber,  Encvklopädie, 
I.  Sektion,  Teil  64,  Leipzig  ia')2,  S.  90  ^von 
Ö.  Döring).  —  Röscher,  Gesch.  der  Nat, 
S.  603  ft*.  —  Allgemeine  deutsche  Biographie, 
Bd.  VIII,  Leipzig  1878,  S.  385 ff.  —  Daniel 
Jacoby,  Schiller  und  Garve,  eine  Untersuchung 
(enthalten  im  Archiv  für  Litteraturgeschichte, 
Bd.  I,  Heft  1),  1878.  lAppert 


Gebändestener 

(inkl.  Thür-  und  Fenstersteuer). 

I.  Einleitung.  1.  Begriff  und  Berech- 
tigung. 2.  Geschichte.  IL  Das  geltende 
Recht.  A,  Deutsche  Staaten.  3.  Preussen. 
4.  Bayern.  5.  Württemberg.  6.  Sachsen.  7. 
Baden.  8.  Hessen.  B.  Ausserdeutsche 
Staaten.  9.  Oesterreich.  10.  England.  11. 
Dänemark  12.  Frankreich  (Thür-  imd  Fenster- 
steuer).   III.  Beurteilung. 

I.  Einleitung. 

1.  Begriff  und  Berechtigung.  Die  Ge- 
bäudesteuer, aueh  Haus-  oder  Häusereteuer 
genannt  ist  in  ihrer  vorzugsweise  vorkom- 
menden Form  eine  Steuer  des  Eigentümers 
bezw.  des  dauernden  Nutzniessers  von  dem 
Ertrag  der  Gebäude  und  zählt  demnaeh  zu 
den  Ertragssteuern  (s.  d.  Art.  oben  Bd.  HI 
8.  728  ff.).    Die  Gebäudesteuer  ist  wohl  zu 


unterecheiden  von  der  Wohnungs-  oder 
Mietsteuer;  denn  diese  letztere  ist  in  ihrer 
reinen  Form  eine  auf  dem  Mieter  liegende 
Aufwandsteuer.  Allerdings  ist  ihr  steuer- 
mässiger  Charakter  nicht  immer  klar;  denn 
mitunter  gehen  die  Gebäudesteuer  und  die 
Miet-  oder  Wohnungssteuer  in  einander  über. 
Die  Berechtigung  der  Gebäudesteuer 
liegt  in  der  Ertragsfähigkeit  der  Gebäude. 
Da  aber  diese  bei  der  Verschiedenartigkeit 
der  Zwecke,  denea  die  Gebäulichkeiten 
dienen  können,  nicht  klar  und  unzweideutig 
bestimmt  wenlen  kann,  so  ist  es  erklärlich, 
dass  der  Umfang  der  Gebäudesteuer  sowolil 
in  der  Theorie  wie  in  der  Praxis  eine  ver- 
schiedene Begrenzung  erfahren  liat. 

Scheidet  man  nämlich  die  Gebäude  nach 
ihrer  Zweckbestimmung,  so  wird  man  finden, 
dass  sie  entweder  nur  als  Hilfsmittel  der 
Produktion,  d.  h.  als  landwirtschaftliche,  ge- 
werbliche, industrielle,  merkantile  Gebäulich- 
keiten für  bestimmte  Produktions-  oder  Er- 
werbszwecke benutzt  werden,  oder  eigent- 
liche Wohn-  und  Mietgebäude  sind. 

Wenn  das  Gebäude  nur  als  Gnmdlage 
und  Hilfsmittel  der  Produktion  dient,  so 
kann  es  eigentlich  nicht  selbständig  als  er- 
traggebend bezeichnet  werden;  denn  seine 
Wirkung  bei  der  Erziel ung  des  Ei-trages 
tritt  nicht  besondere  hervor,  sondern  ver- 
mischt sich  mit  dem  allgemeinen  Ergebnis 
der  mit  den  Gebäuden  verbundenen  Er- 
werbsgeschäfte. Streng  genommen  dürften 
also  Gebäude  und  Gebäudeteile,  welche  der 
Ijandwii'tscliaft  oder  irgendwelchen  Gew^erbe- 
betrieben  dienen,  nicht  Gegenstand  einer 
besonderen  Gebäudesteuer  sein,  sondern  nur 
bei  der  Besteuerung  der  betreffenden  Pro- 
duktionszweige berücksichtigt  werden. 

Anders  steht  es  bei  den  eigentlichen 
Miet-  und  Woluihäusern.  Sie  dienen  als 
Kapitalanlage  und  gewähren  einen  unmittel- 
baren Nutzen ;  sie  sind  bestimmt,  einen  selb- 
ständigen Ertrag  zu  erzeugen.  Und  es  wird 
nicht  zweifelhaft  sein  können,  dass  auch 
dieser  Ertrag  wie  jeder  andere  der  Besteue- 
rung zu  unterwerfen  ist.  Auch  der  Selbst- 
bewohner wird  mit  Recht  nach  dem  Miet- 
werte seiner  Wohnung  zur  Häusei*steuer 
herangezogen,  da  ja  das  Selbstbewohneu  nur 
den  sonst  in  der  Miete  hervortretenden  Er- 
ti-ag  darstellt. 

Aber  obwohl  sich  diese  Scheidung  in 
Wohnliäuser  und  gewerbliche  Räumlichkeiten 
mit  Rücksicht  auf  die  Natur  des  Ertrages 
nicht  bemängeln  lässt,  so  haben  doch  die 
sich  hieraus  für  die  Besteuerung  ergebenden 
Konseiiuenzen  noch  lange  nicht  in  den  Steuer- 
gesetzen Eingang  gefunden,  vielmehr  Lst  die 
Steuer  in  der  Regel  eine  ziemlich  allge- 
meine, indem  sie  Gebäude  aller  Art,  freilich 
in  vei-schiedenem  Masse,  erfasst.  Allerdings 
würde  eine  Ausscheidung  lediglich  der  Wohn- 


Gel>äudesteuer 


gebäude  zn  Steuerzwecken  auf  erhebliche 
Schwierigkeiten  stossen;  denn  in  vielen 
FMen  wird  nicht  nm*  dasselbe  Grebäude, 
sondern  auch  derselbe  Raum  zu  Wohn-  und 
gewerblichen  Zwecken  benutzt  (Landwirt- 
schaft, Hausindustrie,  Kleingewerbe  etc.). 
Vereinzelt  wird  neben  der  Gebäudesteuer 
noch  eine  Grundsteuer  von  dem  überhauten 
Areal  und  dem  zum  Gebäude  gehörigen  Hof- 
raum erhoben. 

2«  Geschichte.  Die  Entwickelnng  der  Ge- 
bäadeeteaem  (bei  deren  Schilderung  wir  nament- 
lich den  Ausführim&fen  v.  Myrbachs  folgen)  steht 
mit  der  wirtschaftlichen  Entwickelung  ihres 
Objektes  natnrgemäss  im  engsten  Zusammen- 
hang. Die  Hausrente  tritt  erst  dann  und  da 
als  selbständiges  Einkommen  hervor,  wo  Miet- 
Verhältnisse  häufiger  werden. 

Solange  die  Häuser,  wie  im  Altertum, 
lediglich  Mittel  zur  Befriedigung  des  eigenen 
Wohnungsbedürfnisses  waren,  dachte  man  an 
keine  Häusersteuer;  doch  entwickelte  sich  in 
der  späteren  römischen  Zeit,  als  die  Städte 
ausserordentlich  anwuchsen,  selbständige  Ge- 
werbe sich  ausbildeten  und  die  Vermögen  rasch 
zunahmen,  das  Miet Verhältnis  in  ausgedehnterem 
Masse,  und  es  scheinen  auch  zeitweilig  Haus- 
steuem  vorgekommen  zu  sein,  die  sich  aber  auf 
die  wirklich  vermieteten  Wohnungen  beschränkt 
haben  mögen. 

Im  Mittelalter  finden  wir  in  den  italieni- 
schen Republiken  eine  schon  weiter  entwickelte 
Besteuerung  der  Häuser;  sie  erscheinen  teils 
miter  den  Objekten  einer  allgemeinen  Vermögens- 
steuer, wie  in  Florenz,  Genua  und  Mailand,  teils 
als  besondere  Stenerobjekte,  so  bei  der  decima 
delle  case  in  Venedig. 

Auf  deutschem  Soden  wird  man  zwischen 
Wohnungs-  und  Häusersteuern,  d.  h.  Steuern, 
welche  lediglich  an  die  Thatsache  der  Wohnung, 
und  solchen,  welche  bestimmt  und  gesondert  an 
den  Ertrag  der  Gebäude  anknüpfen,  unter- 
scheiden müssen.  Bis  ^egen  das  Ende  des 
Mittelalters  wird  man  bei  dem  Mangel  an  ver- 
mieteten Wohnungen  in  den  Städten  von  einer 
eigentlichen  Ertr^sfähigkeit  der  Gebäude  und 
darauf  sich  stützenden  Besteuerungsversuchen 
nicht  sprechen  können.  Wohl  aber  wird  auch 
hier  schon  frühzeitig  die  Wohnung  als  ein  An- 
haltspunkt für  die  persönliche  Besteuerung  nicht 
nur  in  den  Städten,  sondern  auch  auf  dem 
Lande  erkannt. 

In  der  Form  des  Bauchhuhns  und  des  Herd- 
stattgeldes, in  Ungarn  der  Portensteuer,  erhielt 
sich  die  an  die  Wohnung  anknüpfende  Familien- 
Steuer,  in  gewisser  Beziehung  die  Vorläuferin 
der  modernen  Wohnungssteuem,  bis  zur  Gegen- 
wart. Es  muss  aber  ausdrücklich  bemerkt  wer- 
den, dass  es  sich  hier  nicht  um  eigentliche 
Hanssteuem,  sondern  um  Grund-,  Familien-, 
Vermögens-  und  Kopfsteuern  handelt,  auch  wenn 
der  Name  manchmal  irreführenderweise  auf  die 
erstere  hinweisen  möchte.  So  hiess  die  landes- 
fttrstliche  Abgabe  des  unterthänigen  Bauern- 
standes in  ^ederOsterreich  und  Kärnten  im 
16.  Jahrhundert  „Hausgulden^,  wobei  das  Haus 
aber  bloss  als  Biepräsentant  der  ^samten  An- 
sässigkeit diente.  Von  einer  eigenthchen  Häuser- 
steuer dagegen  kann  erst  mit  dem  rascheren 


Aufblühen  der  Städte  und  dem  Entstehen  der 
bürgerlichen  Wohnhäuser  die  Rede  sein.  Aber 
auch  diese  letzteren  haben  lange  keinen  anderen 
Zweck  als  den,  dem  Besitzer  als  Mittel  zur  un- 
mittelbaren Befriedigung  seines  Wohnungs- 
bedürfhisses  zu  dienen,  ihm  Schutz  gegen  die 
Witterung  und  die  räumliche  Unterlage  seiner 
gewerblichen  und  merkantilen  Thätigkeit  zu 
gewähren.  Der  neu  auftretende  Einzelwirt- 
Bchafter  gründete  für  sich  und  die  Seinigen  ein 
eigenes  Haus,  falls  er  es  nicht  ererbte.  Als 
aber  die  Bevölkerung  der  Städte  wuchs,  da 
musste  es  innerhalb  des  durch  die  Stadtmauern 
engbegrenzten  Gebietes  bald  an  dem  Baume  zur 
Errichtung  eigener  Wohnhäuser  gebrechen,  die 
Gärten  und  freien  Plätze  verschwanden  immer 
mehr,  und  das  wachsende  Wohnungsbedürfhis 
führte  zu  immer  intensiverer  Ausnutzung  des 
Raumes.  Ein  Teil  der  städtischen  Einwohner 
ist  auch  nicht  mehr  in  der  Lage,  die  durch 
höhere  Preise  der  Baugründe  etc.  vermehrten 
Kosten  zum  Bau  eines  eigenen  Hauses  aufzu- 
bringen, und  infolgedessen  darauf  angewiesen, 
in  fremden  Häusern  gegen  Entgelt  sich  nieder- 
zulassen, ein  anderer  Teil  ist  fluktuierend  und 
aus  diesem  Grunde  dem  Eigenbesitz  abgeneigt. 
So  entstehen  Mietwohnungen.  Das  Mieten  von 
Wohnungen  nimmt  immer  mehr  zu;  denn  auch 
vermögliche  Personen,  namentlich  auch  die  zu- 
nehmende Zahl  der  Beamten,  finden  es  wirt- 
schaftlicher und  bequemer,  in  fremden  Häusern 
sich  niederzulassen.  Aus  den  Mietwohnungen 
werden  Zinshäuser,  d,  h.  Häuser,  die  aus- 
schliesslich zur  Auinahme  von  Mietparteien  be- 
stimmt sind.  Und  in  steigendem  Masse  werden 
Häuser  als  Kapitalanlagen  und  Handelsobjekte 

febaut,  der  Hausbesitz  wird  immer  mehr  eine 
rage  des  wirtschaftlichen  Erwerbes,  des  Ge- 
schäftes, und  die  aus  der  Vermietung  des 
Hauses  erzielte  Einnahme  wird  ein  eigener 
Einkommenszweig. 

Auf  dem  Lande  freilich  bleiben  aus  nahe- 
liegenden Gründen  die  eigenen  Häuser  die  Regel, 
nur  dass  sie  auch  hier  allmählich  besser  werden 
und  eine  wachsende  Bedeutung  erhalten.  Die 
Regel  ist,  wie  v.  Myrbach  sagt,  dass  der  Land- 
bewohner sein  eigenes  Haus  allein  bewohnt, 
dass  es  für  ihn  die  Eigenschaft  eines  Nutz- 
objektes behalten  hat  und  dass  er  es  als  „ertrag- 
los*' ansieht. 

Während  also  auf  dem  Lande  die  Be- 
dingungen einer  Hausrentensteuer  fehlten  und 
das  Haus  lediglich  als  Grundlage  einer  Familien-, 
Kopf-  oder  Grundsteuer  benutzt  werden  konnte, 
war  mit  der  Entwickelung  des  städtischen 
Hauses  zum  Miethause  allmählich  der  Zeitpunkt 
eingetreten,  in  welchem  sich  aus  den  alten  Ver- 
mögenssteuern eine  Ertragssteuer  loslösen  und 
ausbilden  konnte.  Und  während  bei  den  früheren 
Stadtsteuem  die  Häuser  als  ein  Hauptbestand- 
teil der  Vermögen  der  Bürger  nur  der  allge- 
meinen Schätzung  unterlagen,  tauchen  schon  un 
Beginn  des  14.  Jahrhunderts  wenigstens  auf 
einzelnen  Gebieten  Anfänge  eigentlicher  Häuser- 
steuern  auf.  Freilich  scheint  es  mir,  als  ob  in 
dieser  Zeit  und  bis  in  das  16.  Jahrhundert  in 
den  von  v.  Myrbach  angeführten  Fällen  die  alte 
Auffassung  des  Hauses  als  Repräsentant  der 
gesamten  Ansässigkeit  noch  prävalierte.  Aber 
m  der  Schlussakte  einer  allgemeinen  Stände- 
versammlung  in   Prag  vom  11.  Januar  1642, 


8 


Grebäudesteuer 


welche  die  Steuerschuldififkeit  der  einzelnen 
österreichischen  Länder  feststellen  sollte,  ist 
ausdrücklich  hinsichtlich  der  Bürger  verfügt, 
dass  die  Bürgerschaft  ebenso  wie  ihre  Güter 
nnd  Gülten  anf  dem  Lande,  so  ihre  Häuser  in 
Städten  und  Märkten^  welche  Zins  tragen,  'in 
genauem  Anschlag,  die  anderen  aber,  die  keinen 
Zins  abwerfen,  in  ungefährem  Anschlag  schätzen 
und  demgemäss  yersteuern  solle.  In  Böhmen 
führte  der  Landtag  im  Jahre  1567  an  Stelle 
der  den  Adel  angeblich  stark  drückenden  Ver- 
mögenssteuer eine  Haussteuer  nach  Klassen  ein, 
die  aber  freilich  auch  nur  in  den  Städten  als 
rohe  Form  einer  eigentlichen  Haussteuer  an- 

fesehen  werden  kann.  Ungefähr  um  die  gleiche 
eit  kommt  im  Maf^eburgischen  eine  „gemeine 
Anlage  und  Steuer^  für  drei  Jahre  von  Hufen, 
Geldern,  Häusern,  Schafen,  Getreide  etc.  auf. 
Diese  Steuer  traf  insbesondere  den  Grundbesitz 
und  zwar  in  den  Städten  als  Gebäudevermögens- 
steuer  in  der  Art,  dass  für  jedes  Haus  über 
700  Gulden  Wert  1  Gulden  Steuer,  bei  Wert 
unter  700  Gulden  für  je  100  Gulden  Wert 
3  Groschen  Steuer  erhoben  wurden. 

Einer  weiteren  Entwickeiung  des  Steuer- 
wesens stellten  sich  in  Oestereicn  wie  ander- 
wärts die  misslichen  Zeitverhältuisse  entgegen, 
und  erst  zu  Ende  des  17.  und  im  Verlaufe  des 
18.  Jahrhunderts  wurden  da  und  dort  neue  An- 
läufe zu  einer  besseren  Ordnung  gemacht.  Es 
ist  bekannt,  dass  der  erste  Versuch  eines  ratio- 
nellen Steuerwesens  mit  Benutzung  der  durch 
die  Wissenschaft  inzwischen  gebotenen  Erkennt- 
nis in  der  Lombardei  zur  Zeit  Karls  VI.  unter- 
nommen und  später  von  Maria  Theresia  durch- 
geführt wurde.  Er  knüpft  an  den  censimento 
milanese.  Hinsichtlich  der  Besteuerung  der  Ge- 
bäude waren  die  ursprünglichen  Bestimmungen 
für  den  censimento  noch  nicht  genügend  klar, 
und  erst  die  1749  aufgestellte  Steuerkommissiou 
ging  an  die  Aufgabe  der  Schätzung  der  Gebäude 
nach  drei  Klassen:  1.  die  Miet-  und  Erbzins- 
häuser, die  vom  Eigentümer  gewöhnlich  selbst 
bewohnten  Landhäuser  und  afle  zum  Gewerbe- 
betriebe bestimmten  Gebäude^  zusammengestellt 
als  nutzbringende  Gebäude;  2.  die  rentenlosen 
Gebäude,  wie  die  Bauernhäuser,  die  landwirt- 
schaftlichen Gebäude,  die  Sommerwohnungen; 
3.  die  steuerfreien  Gebäude  der  Kirchen  etc. 
Die  erste  Klasse  steuerte  nach  dem  wirklichen 
resp.  möglichen  Ertrage,  wobei  jedoch  von  dem 
geschätzten  Rohertrag  bestimmte  Abzüge  ge- 
macht und  der  Rest  zu  4  ^j^  kapitalisiert  wurde ; 
die  zweite  Klasse  steuerte  nach  dem  Flächen- 
raume  und  zwar  mit  einem  Drittel  des  für 
gleichen  Acker^und  erster  Klasse  angenommenen 
Wertes.  Die  im  Jahre  1748  begonnene  Sieuer- 
rektifikation  brachte  in  der  Hauptsache  keine 
wesentliche  Entwickeiung.  Nur  in  Wien  wurde 
allmählich  eine  Haussteuer  nach  der  Richtung 
der  Ertragssteuer  ausgebildet.  Schon  im  Jahre 
1688  wurde  gefordert,  dass  die  Wiener  Stadt- 
steuer nicht  nach  dem  Anschlage,  sondern  nach 
dem  wirklichen  Erträgnis  eingefordert  werden 
solle.  Im  Jahre  1704  kam  hier  eine  neue  Miet- 
steuer auf,  wonach  die  Hausbesitzer  nach  dem 
Werte  der  Häuser,  die  Mieter  nach  der  Höhe 
des  Mietzinses  zu  steuern  hatten.  Eine  eigent- 
liche Hansertragssteuer,  wie  sie  in  den  Haupt- 
punkten heute  noch  in  Wien  Geltung  hat, 
wurde  dann  durch  die  Rektifikationspatente  von 


1750 — 54  aufgestellt.  Danach  wurden  die  bürger- 
lichen Häuser  der  Stadt  Wien  mit  einem 
Siebentel,  die  städtischen  Freihäuser  und  die 
übrigen  Häuser  in  den  Vorstädten  mit  einem 
Zehntel  des  jährlichen  Mietertrages  zur  Steuer 
herangezogen ;  die  Haussteuer  wurde  nach  dem 
Zinse  des  Vorjahres  bemessen,  auch  selbst- 
bewohnte oder  unentgeltlich  abgelassene  Woh- 
nungen mussten  angeschlagen,  die  Ausgaben 
durften  nicht  abgerechnet  werden;  Neubauten 
waren  3  Jahre  lang  steuerfrei.  Die  Josefinische 
Reform  der  Häusersteuer,  die  mit  der  Reform 
der  Grundsteuer  in  enger  Beziehung  stand, 
hatte  nur  kurzen  Bestand.  Eine  neue  Grnnd- 
steuerreform  von  1817  brachte  auch  eine  Reform 
der  Gebäudesteuer,  die  von  dem  Grundsatze 
ausging,  dass  die  Gebändesteuer  sowohl  nach 
dem  möglichen  Ertrage  des  dem  Gebäude  zu 
Grunde  liegenden  Areals  als  auch  nach  dem 
thatsächlichen  oder  möglichen  Zinsertrage  des 
Gebäudes  selbst  erhoben  werden  solle.  Immer 
aber  blieb  die  Gebäudesteuer  noch  ein  Teil  der 
Grundsteuer.  Erst  im  Jahre  1820  erfolgte  die 
Einführung  einer  selbständigen  Gebäudesteuer 
in  den  altösterreichischen  und  später  in  den 
südlichen  Landesteilen.  Die  Häusersteuer  be- 
stand danach  aus  einer  Hauszins-  und  einer 
Klassensteuer ;  die  erstere  wurde  auf  die  grösseren 
vermögenden  Orte,  die  Klassensteuer  auf  die 
übrigen  angewendet.  Für  die  Klassensteuer 
wurden  12  Klassen  gebildet  und  als  Merkmal 
für  die  Einreih  ang  in  dieselben  bloss  die  Zahl 
der  in  einem  Hause  enthaltenen  Wohnräume 
aufgestellt.  Häuser  mit  mehr  als  sechs  Wohn- 
räumen wurden  dann  in  die  nächsthöhere  Klasse 
eingereiht,  wenn  sie  Stockwerke  besassen.  In 
den  Jahren  1848  und  1849  wurden  infolge  ander- 
weitiger Aenderungen  im  Steuerwesen  auch 
solche  in  der  Gebäudebesteuerung  vorgenommen. 
Namentlich  wurde  die  Hauszinssteuer  auf  alle 
Gebäude  ausgedehnt,  die  entweder  in  Ort- 
schaften gelegen  sind,  in  denen  sämtliche  Ge- 
bäude oder  doch  wenigstens  die  Hälfte  derselben 
einen  Zinsertrag  durch  Vermietung  abwerfen, 
oder  welche,  ausserhalb  dieser  Ortschaft  gelegen, 
durch  Vermietung  benutzt  werden.  Auf  dieser 
Grundlage  beruht  auch  die  neue  österreichische 
Gebäudesteuer  v.  9.  Februar  1882,  von  der 
später  die  Rede  sein  wird. 

Wenn  schon  in  den  österreichischen  Landen, 
wo  die  Gebäudestener  früher  eine  selbständige 
Entwickeiung  erfahren  hat,  auf  dem  Lande  die 
Verbindung  von  Grund-  und  Haus-  oder  Ertrags- 
und Vermögenssteuern  vor  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts nicht  gelöst  werden  konnte,  so  war 
dies  noch  weniger  in  den  anderen  deutschen 
Ländern  der  Fall.  Allenthalben  treffen  wir  bis 
in  die  zwanziger  Jahre  dieses  Jahrhunderts, 
zum  Teil  in  noch  viel  späterer  Zeit,  die  Ver- 
einigung der  Haus-  mit  der  Grundsteuer  oder 
Haussteuern,  welche  nach  Art  der  Herdstatt- 
gelder mehr  Vermögens-  als  Ertra^steuem 
sind.  So  finden  wir,  um  nur  einige  Beispiele 
anzuführen,  in  Württemberg  eine  neue  Katastrie- 
rang  der  direkten  Steuern,  eingeleitet  durch 
eine  Instruktion  v.  24.  Januar  1713,  wonach 
als  steuerpflichtig  erklärt  wurden  unter  anderem 
sämtliche  Wohn-  und  Oekonomiegebäude.  Als 
allgemeine  Regeln  für  die  Einschätzung  werden 
bezeichnet:  der  Anschlag  nach  dem  „Ertrag, 
Kommodität,  Verdienst  und  Nutzen".    Also  ein 


Gebäudesteuer 


HitteLding  zwischen  der  Ertrags-  nnd  Ver- 
mOgensbesteuernng.  Erst  im  Jahre  1820  bewog. 
die  Man^lhaftigkeit  des  direkten  Steuerwesens 
die  Regiemng,  die  Trennung  der  Grund-,  Ge- 
bäude- und  Gewerbesteuer  ins  Auge  zu  fassen. 
Die  Neuregelung  erfolgte  durch  G.  v.  15.  Juli 
1821.  In  den  älteren  baverischen  Gebieten  be- 
stand  bis  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  in  der 
Herdstattenanlage  mit  25  Kronen  für  jeden 
Herd  ein  Mittelding  zwischen  Real-  und  Per- 
sonalsteuer. Zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
gab  es  in  Bayern  die  verschiedensten  Belegungs- 
normen, teils  Steuern  nach  dem  „Kurrentpreise" 
der  Häuser,  wiederum  mit  mannigfachen  Kombi- 
nationen —  so  z.  B.  in  den  ehemals  Fuldaischen 
Landesteilen  Schätzung  ganzer  Güter  Im  Kom- 

Slexe  und  Veranschlagung  der  Realgewerbe  mit 
en  Hänsern  — ,  bis  auch  hier  durch  G.  v.  15. 
August  1828  die  Häusersteuer  definitiv  als  Er- 
tragsstener  ausgebildet  wurde.  In  Preussen 
löste  erst  ein  G.  v.  21.  Mai  1861  die  Verbindung 
zwischen  Grund-  und  Häusersteucr;  im  vorigen 
Jahrhundert  war  hier  die  Hänsersteuer  völlig 
in  den  älteren  Vermögens-,  Personal-  und  Ein- 
kommensteuern untergegangen.  In  England 
hat  die  Haussteuer,  die  noch  zu  Anfang  dieses 
Jahrhunderts  in  Verbindung  mit  den  Luxus- 
steuem  vorkommt,  erst  1851  eine  Regelung  er- 
fahren, die  sie  einer  Ertragssteuer  näher  bringt ; 
in  Frankreich  hat  die  finanzielle  Not  allerdings 
schon  im  Jahre  1798  die  Thür-  und  Fenster- 
steuer, im  wesentlichen  nach  englischem  Muster, 
hervorgerufen;  aber  diese  hängt  auch  heute 
noch  ziemlich  lose  mit  dem  übrigen  Steuerwesen 
zusammen. 

II.  Das  geltende  Recht. 
A.  Deutsche  Staaten. 

3.  Preussen.  In  Preussen  wurde  erst 
durc-h  G.  v.  21.  Mai  1861  eine  allgemeine 
Gebäudesteuer  eingeführt,  die  an  die  Stelle 
der  verschiedenen  bis  dahin  von  den  Ge- 
bäuden erhobenen  Steuern  trat. 

Nach  diesem  Gesetz  unterliegen  der 
Steuer  die  Gebäude  und  dazu  gehörigen 
Hofräurae  und  Hausgärten.  Befreit  von  der- 
selben (§  3)  sind  Gebäude,  welche  öffent- 
Hchen  Zwecken  dienen,  einschliesslich  der 
Gebäude  für  den  öffentlichen  Unterricht,  der 
Kirchen  u.  dei^L,  der  Diensthäuser  der  Erz- 
bischöfe, Bischöfe,  Pfarrgeistlicheu,  Gymna- 
sial-, Seminar-  und  Schullehrer,  der  Armen-, 
Waisen-  und  Krankenhäuser,  Gebäude,  welche 
sich  im  Besitze  der  Mitglieder  des  könig- 
lichen Hauses  oder  eines  der  beiden  hohen- 
zoUernschen  Fürstenhäuser  befinden  oder  zu 
den  im  Besitze  des  Staates  befindlichen 
Gütern  gehören;  die  zu  den  Standesherr- 
schaften der  vormals  reichsunmittelbaren 
Fürsten  und  Grafen  gehörigen  Gebäude; 
endlich  diejenigen  unbewohnten  Gebäude, 
welche  nur  zum  Betriebe  der  Landwirt- 
schaft bestimmt  sind;  nicht  minder  solche 
zu  gewerbüchen  Anlagen  gehörige  Gebäude, 
welche  nur  zur  Aufbewahrung  von  Bau- 
materialien und  Rohstoffen  sowie  als  Stallung 


für  das  ledigUch  zum  Gewerbebetrieb  be- 
stimmte Zugvieh  dienen. 

Die  Veranlagung  der  Gebäudesteuer  er- 
folgt derart,  dass  jedes  der  Steuer  unter- 
liegende Gebäude  nach  Massgabe  seines  jähr- 
lichen Nutzungswertes  in  eine  der  in  dem 
Tarife  bestimmten  Steuerstufen  eingeschätzt 
wird  (§  54).  Die  Steuer  beträgt  (§  5)  für 
Wohn  gebäude  4  ®/o  des  Nutzungswertes,  für 
Gebäude ,  welche  ausschliesslich  oder  vor- 
zugsweise zum  Gewerbebetriebe  dienen, 
namentlich  Fabriken ,  Manufaktui*gebäude, 
Brauereien ,  Brennereien ,  Hammerwerke, 
Mühlen  etc.  2®/o  des  Nutzungswertes.  Es 
sollen  also  vorzugsweise  die  Wohngebäude 
von  der  Steuer  betroffen  werden.  Der 
Nutzungswert  der  Gebäude  wird  (§  6)  in 
Städten  und  in  denjenigen  ländUchen  Ort- 
schaften, in  denen  eine  überwiegende  Anzahl 
von  Wonngebäuden  regelmässig  durch  Ver- 
mietung benutzt  wird,  nach  dem  mittleren 
jährlichen  Mietpreise  der  letzten  10  Jahre 
abgemessen.  Der  Mietwert  wird  nach  den 
Angaben  der  Gebäudebesitzer,  nach  Auskunft 
der  Ortsvorstände  oder  der  Mitglieder  der 
Veraniagungskommission,  beim  Mangel  dieser 
Hilfsmittel  aber  diuxjh  Schätzung  festgestellt. 
In  ländlichen  Ortschaften,  in  denen  aus  wirk- 
lichen Mietpreisen  ein  zureichender  Anhalt 
für '  die  Feststellung  des  Nutzungs wertes 
der  Gebäude  nicht  gewonnen  werden  kann, 
sind  (§  7)  neben  der  Grösse,  Bauart  und 
Beschaffenheit  der  Gebäude  sowie  der  Hof- 
räume und  Hausgärten  auch  die  Gesamtver- 
hältnisse der  dazu  gehörigen  Gnmdstücke 
zu  berücksichtigen.  Da  Wohngebäude  mit 
4^/0,  Gebäude  zu  gewerblichen  Zwecken 
aber  mit  2®/o  des  Nutzungswertes  zu  be- 
steuern sind,  viele  Gebäude  aber  sowohl 
zum  Wohnen  wie  zum  Gewerbebetrieb  dienen, 
so  ist  nach  den  allgemeinen  Veranlagungs- 
grundsätzen für  die  Gebäudesteuer  vom  4. 
Mai  1867  dieser  doppelte  Zweck  bei  der 
Einschätzung  zu  beachten.  Für  jede  Provinz 
sind  (§  8)  nach  Vernehmung  des  Provinzial- 
landtages  die  Merkmale  zusammenzustellen, 
nach  welchen  die  steuerpfüchtigen  Gebäude 
mit  Berücksichtigung  der  in  der  Provinz 
obwaltenden  Verhältnisse  in  die  verschiedenen 
Stufen  des  Tarifs  eingeschätzt  werden  sollen. 

Die  Veranlagung  der  Gebäudesteuer  ge- 
schieht (§  9)  unter  Leitung  der  Bezirks- 
regierung durch  Kommissionen  unter  dem 
Vorsitz  besonderer  Ausführungskommissarien. 
Die  Mitglieder,  deren  Zahl  von  der  Bezirks- 
regienmg  bestimmt  wird,  werden  von  der 
kreisständischen  Versammlung  und  für  Städte, 
welche  einen  Veranlagungsbezirk  für  sich 
bilden,  durch  die  Stadtverordnetenversamm- 
lung gewählt. 

Die  Erhebung  der  Häusersteuer  geschieht 
(§  14)  nach  Massgabe  der  für  die  Gnmd- 
steuer  bestehenden  Bestimmungen.   Die  Ge- 


10 


Gebäudesteuer 


meinden  und  Besitzer  selbständiger  Gutsbe- 
zirke in  den  östlichen  Provinzen  sind  ver- 
pflichtet, die  Häusersteuer  von  den  einzelnen 
Steuerpflichtigen  einzuziehen  und  in  monat- 
lichen Beträgen  an  die  betreffenden^  Kassen 
abzuführen.  Im  übrigen  ist  für  das  Ver- 
fahren bei  der  Grund-  und  Häusersteuer- 
erhebung unterm  30.  November  1868  eine 
besondere  Anweisung  erlassen  worden. 

Um  die  SteuerroUen  bei  der  Gegenw^art 
zu  erhalten,'  müssen  (§  15)  darin  alle  Ver- 
änderungen nachgetragen  werden,  welche 
dadurch  entstehen,  dass  der  Eigentümer 
wechselt,  dass  bisher  steuerpflichtige  Ge- 
bäude in  die  Klasse  der  steuerfreien  tiber- 
gehen und  umgekehrt,  dass  Gebäude  durch 
Aenderung  ihrer  Bestimmung  in  anderem 
Masse  steuerpflichtig  werden,  dass  Gebäude 
neu  entstehen  oder  gänzlich  eingehen,  dass  Ge- 
bäude d  urch  Aenderung  ihrerSubstan  z,  nament- 
lich durch  Vergrösserung  oder  Verkleinerung, 
an  Nutzungswert  gewinnen  oder  verlieren. 
Bemerkenswert  ist  noch,  dass  (nach  §  19) 
neuerbaute  Gebäude  erst  nach  Ablauf  zweier 
Kalenderjahre  seit  dem  Kalenderjahr,  in 
welchem  sie  bewohnbar  bezw.  benutzbar  ge- 
worden sind,  zur  Häusersteuer  herangezogen 
w^erden  sollen,  dass  ebenso  Steuererhöhungen 
infolge  von  Verbessenmgen  der  Gebäude 
erst  nach  zwei  Kalenderjahren  seit  dem 
Kalenderjahr,  in  welchem  die  Verbesserung 
vollendet  worden  ist,  in  Kraft  treten  sollen. 

Die  Steuerveranlagung  wird  (§  20)  aUe 
15  Jalire  einer  Revision  unterworfen,  bei 
deren  Ausführung  die  in  dem  Gesetze  ent- 
haltenen Voi-schriften  ebenfalls  zur  Anwen- 
dung kommen,  und  es  mag  bemerkt  werden, 
dass  seit  Ablauf  der  ersten  15  jährigen  Pe- 
riode von  1865 — 1879,  nach  welcher  gesetz- 
lich eine  Revision  der  Veranlagimg  eintreten 
musste,  sich  der  Ei'ti'ag  von  ca.  21  auf  30,8 
3Iillionen  Mark  im  Jahre  1889  erhöht  hat. 
Durch  Gesetz  vom  14.  Juli  1893  ist  der  Er- 
trag der  Gebäudesteuer  den  Gemeinden  über- 
wiesen worden. 

4.  Bayern.  Die  gegenwärtige  Häuser- 
steuer beruht  auf  dem  G.  v.  15.  August 
1828.  Durch  G.  v.  19.  Mai  1881  wurde  eine 
Revision  vorgenommen,  die  aber  nichts  an 
den  Grundlagen  des  frülieren  Gesetzes  än- 
derte. 

Die  Häusersteuer  ist,  wie  das  Gesetz  (§  1) 
sagt,  eine  direkte  Staatsauflage,  durch  welche 
die  Nutzung  aus  Häusern  in  Städten,  Märk- 
ten und  auf  dem  platten  Lande  belegt  wird. 
Der  Massstab  für  die  Besteuerung  ist  f§  4) 
die  Mietertragsfähigkeit  der  Gebäude,  welche, 
soweit  möglich,  in  dem  jährlichen  wirklichen 
Mietsertrag,  d.  h.  den  thatsächlichen  Miet- 
zinsen, sonst  in  dem  möglichen,  also  ge- 
schätzten oder  angeglichenen  Mietertrag  ge- 
sucht wird.  Genauer  ausgedrückt,  wird  also 
der  zm'  Versteuerung  gelangende  Mietertrag 


gefunden  da,  wo  in  wirklichen  Mietbeständen 
noch  Anhaltspunkte  vorliegen,  durch  kontrol- 
lierte Einhebung  der  jährlichen  Mietzinse 
vermieteter  Häuser  oder  Hausteile  und  eine 
an  Mustern  abgleichende  !Mieteneinschätzung 
unvermieteter  Häuser  und  Hausteile,  da  da- 
gegen, wo  in  wirklichen  Mietbeständen  keine 
genügenden  Anlialtspunkte  der  Schätzung 
mehr  gefunden  werden  können,  durch  die 
Annahme  einer  Ertragsgrösse,  welche  sich 
aus  dem  Flächeninlialt  der  überbauten  und 
zu  Hofräumen  bestimmten  Plätze  berechnet. 
Die  erstere  Art  der  Versteuerung  heisst 
ffiethaussteuer,  die  zweite  Arealhaussteuer. 
In  die  letztere  Kategorie  sollen  insbesondere 
jene  Gebäude  gerechnet  werden,  welche  dem 
Betriebe  der  Landwirtschaft  gcAvidmet  sind, 
diinn  die  Schlösser  imd  die  Pfarrhöfe  auf 
dem  platten  Lande. 

Die  bayerische  Häusersteuer  setzt  (§  5) 
einen  niedrigsten  Ertrag  von  15  Itfark  für 
dm  Besteuerung  von  Gebäuden  fest,  15  Mark 
deslialb,  weil  bei  der  Ai^ealhaussteuer  als 
Minimum  der  steuerpflichtigen  Fläche  3  (als 
Maximum  derselben  25)  Ar  bestimmt  sind 
und  vom  Ar  einfadi  5  Mark  als  Steuer  er- 
hoben w^erden.  Das  Gesetz  bestimmt  näm- 
lich, dass  der  jährliche  wirkliche  oder  ge- 
seliätzte  Mietei-trag  der  nach  der  Miete  zu 
besteuernden  Gebäude  in  Mark  ohne  Bruch- 
teil ausgedrückt  wird  und  die  Haussteuer- 
verhältniszahl bildet,  dass  bei  den  Gebäuden 
nach  der  Area  das  Produkt  aus  dem  in  Aren 
olme  Bruchteil  ausgedrückten  Flächeninlialt 
des  überbauten  Grund  und  Bodens  /  sowie 
der  Hofräume  und  einem  Ertragsanschlage 
von  5  Mark  vom  Ar  die  Verhältniszahl  für 
die  Haussteuer  bilde  (§  6). 

Die  Befreiungen  von  der  Haussteuer  sind 
seit  der  Revision  vom  19.  Mai  1881  nicht 
unwesentlich  reduziert  worden.  Nach  dem 
G.  V.  15.  August  1828  bestand  eine  zeit- 
weise und  eine  ständige  Befreiung  von 
der  Haussteuer,  die  erstere  umfasste  bei  der 
Mietsteuer  für  Neubauten  fünf  Jahre,  für 
innere  Bauveränderungen  ein  Jahr,  bei  der 
Arealsteuer  dagegen  m  beiden  Fällen  zehn 
Jahre.  Nach  der  Revision  ist  lediglich  be- 
stimmt, dass  die  Steuerpflicht  für  neu  auf- 
geffihrte  Gebäude  nach  Ablauf  des  dem 
Jahre,  in  welchem  der  Neubau  vollendet 
wurde,  folgenden  Kalenderjahres  beginnt. 
Ständig  von  den  Steuern  befreit  sind  (§  2) 
beispielsweise  alle  Staatsgebäude,  Kirchen, 
Schulen  etc.,  überhaupt  Gebäude  des  Staates 
und  für  fromme  oder  wohlthätige  Zwecke, 
ferner  die  Standesherren  hinsichtlich  der 
Schlossgebäude,  welche  sie  besitzen  oder 
bewohnen. 

Einer  kurzen  Auseinandereetzung  bedarf 
noch  das  Verhältnis  der  Miet-  zur  Areal- 
steuer bezw.  die  Frage  der  Umwandlung 
der  Mietsteuer  in  die  Arealsteucr  und  um- 


Gebäudesteuer 


11 


gekehrt.  Diese  Umwandlung  kann  sowohl 
von  Seiten  der  Beteiligten  als  der  Steuer- 
behörden beantragt  werden,  wenn  die  Ver- 
hältnisse, unter  welchen  in  einer  Gemeinde 
entweder  lüe  Miet^  oder  die  Arealsteuer 
eingeführt  worden  ist,  sich  so  wesentlich 
veränderten,  dass  eine  andere  dieser  Gat- 
tungen an  die  Stelle  der  früheren  zu  treten 
hat  (§  30).  Einem  Antrag  auf  Einfühnmg 
der  Arealsteuer  an  Stelle  der  Mietsteuer 
kann  dann  stattgegeben  werden,  wenn  ausser 
Zweifel  steht,  dass  in  vorhandenen  Mietbe- 
ständen keine  ausreichenden  Anhaltspunkte 
für  die  Feststellung  des  Mietertrages  oder 
für  die  Einschätzung  desselben  nach  Miet- 
mustern mehr  vorhanden  sind,  einem  um- 
gekehrten Antrag  dann,  wenn  sich  aus  den 
gepflogenen  Erhebungen  ergiebt,  dass  ein  so 
grosser  Teil  der  örtlichen  Bevölkerung  wirk- 
lich in  der  Miete  wohnt,  dass  an  dem  Vor- 
handensein hinlänglicher  Mietmuster  nicht 
mehr  gezweifelt  werden  kann.  Dabei  sind 
verschiedene  Gutachten  zu  hören,  Anträge 
zu  stellen,  Behörden  zu  vernehmen  etc. 

5.  Württemberg.  Das  württembergische 
direkte  Steuerwesen  ist  aus  zwei  Gruppen 
zusammengesetzt,  aus  drei  Realsteuern  einer- 
seits und  aus  einigen  Steuern  auf  Kapital-, 
Eenten-,  Dienst-  und  Berufseinkommen  an- 
dererseits. Zu  den  Realsteuem  zählen  die 
(mmd-,  Grebäude-  und  Gewerbesteuer,  wel- 
che durch  das  G.  v.  28.  April  1873  betr. 
die  Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuer 
geregelt  worden  sind,  von  denen  die  Häuser- 
steuer in  ihren  Grundzügen  aber  heute  noch 
auf  dem  oben  genannten  Gesetz  von  1821 
beruht.  Demnach  unterliegen  der  Gebäude- 
steuer, wie  schon  bis  dahin,  alle  im  Lande 
vorhandenen  Gebäude,  einschliesslich  ihrer 
Grundflächen  und  Hofraiten  sowie  der  nicht 
unter  einem  Gebäude  befindlichen,  sondern 
für  sich  bestehenden  Keller. 

Von  der  Steuer  befreit  sind  neben  den 
zur  Ki-ondotation  gehörigen  Grebäuden  und 
den  ganz  oder  teilweise  vom  Staate  zu  unter- 
haltenden Anstalten  solche  Gebäude,  welche 
öffentlichen  Zwecken  dienen,  ohne  dem 
Eigentümer  einen  ökonomischen  Nutzen  ab- 
zuwerfen, z.  B.  Kirchen,  Pfarrgebäude,  Schid- 
lehrei-wohnungen  und  Lehrgebäude  für  Lehr- 
anstalten, Hospitäler,  Rathäuser,  Gebäude  zu 
Feuerlöschzwecken. 

Die  Gebäudesteuer  beruht  auf  dem  System 
der  Wertkatastrierung,  d.  h.  den  Massstab 
für  die  Besteuerung  bildet  (Art.  75)  der 
durch  Schätzung  zu  ermittelnde  volle 
Kapitalwert,  also  derjenige  Wert,  um 
welchen  ein  Gebäude  samt  Grundfläche  und 
Hofraite  nach  seiner  Lage,  Nutzbarkeit, 
seinem  Umfang,  Bauzustand,  nach  den  üb- 
rigen auf  den  Wert  einwirkenden  Verhält- 
nissen zur  2ieit  der  Gebäudekatastrierung 
von    dem    Besitzer   abgegeben    und    einen 


Käufer  flnden  würde.  Zur  Vornahme  des 
Einschätzimgsgeschäftes  in  den  einzelnen 
Oberamtsbezirken  und  Steuerdistrikten  wer- 
den (Art.  7)  Bezirksschätzungskommissionen 
bestellt,  in  welche  neben  dem  Steuerkoramissär 
drei  von  der  Katasterkommission  zu  er- 
nennende Bauverständige  als  Bezirksschätzer 
und  ein  von  dem  Gemeinderate  der  be- 
treffenden Gemeinde  zu  wählender  sach- 
verständiger Ortsschätzer  zu  berufen  sind. 
Gegen  die  Einschätzung  steht  den  Steuer- 
pflichtigen das  Recht  der  Reklamation  zu. 
Eine  vollständige  oder  teilweise  Abschreibung 
des  Steuerkapitals  muss  erfolgen,  wenn  ein 
Gebäude  oder  Gebäudeteil  ganz  oder  teil- 
weise niedergerissen,  ganz  oder  teilweise  zu 
Gninde  gegangen  oder  sonst  zur  Benutzung 
untauglich  geworden  ist:  ferner,  wenn  ein 
Gebäude  eine  Wertminderung  diu-ch  bau- 
liche Veränderung  erfahren  hat  oder  wenn 
es  einer  die  Steuerfreiheit  begründenden 
Bestimmung  zugeführt  worden  ist.  Ebenso 
wenn  analoge  Aenderungen  an  der  Hofraite 
vorgegangen  sind.  Dagegen  hat  eine  Ver- 
mehrung des  Steuerkapitals  einzutreten, 
wenn  ein  Gebäude  neu  aufgerichtet  oder  in 
die  Höhe  oder  dem  Flächenraum  nach  ver- 
grössert  worden  ist,  wenn  es  infolge  bau- 
licher Aenderung  eine  Werterhöhung  er- 
fahren hat,  wenn  bisher  steuerfreie  Gebäude 
oder  Gebäudeteile  infolge  anderer  Bestimmung 
die  Steueiireiheit  verlieren,  wenn  bisher  un- 
brauchbar gewesene  Gebäude  ganz  oder  teil- 
weise nutzbar  geworden  sind,  auch  wenn 
die  Hofraite  vergrössert  worden  ist.  Endlich 
hat  eine  Berichtigung  des  Steuerkapitals 
dann  einzutreten,  wenn  infolge  von  äusseren 
Verhältnissen,  welche  seit  der  neuen  Ein- 
schätzung der  Gebäude  eingetreten  sind,  in 
einem  Steuerdistrikt  der  Wert-  sämtlicher 
Gebäude  oder  eines  Teüs  derselben  um 
mindestens  20®/o  dauernd  erhöht  oder  ver- 
mindert worden  ist. 

Der  aufzubringende  Gesamtertrag  der 
drei  oben  genannten  Realsteuern,  der  nach 
den  Etats  Mitte  der  80er  Jahre  ca.  9  Mil- 
lionen Mark  betrug,  wurde  periodisch  kon- 
tingentiert und  nach  Quoten  auf  die  drei 
Steuern  repartiert,  so  dass  *^/2i  auf  die 
Grund-,  je  ^V24  auf  die  Gebäude-  und  Ge- 
werbesteuer entflelen.  Durch  G.  v.  14.  Juni 
1887  ist  nach  Beendigung  und  unter  Zu- 
grundelegung der  drei  Kataster  die  üeber- 
führung  dieser  drei  Steuern  aus  der  Repar- 
titions-  in  die  Quotitätsbesteuerung  erfolgt. 
Ein  G.  V.  6.  Juni  1887  bestimmte  als  steuer- 
bare Rente  den  Satz  von  3%  des  Steuer- 
kapitalwertes der  Gebäude.  Der  Steuerfuss 
ist  für  alle  drei  Steuern  der  gleiche  und 
beträgt  3,9  »/o  der  Rente. 

6.  Sachsen.  Nach  den  früheren  Steuer- 
gesetzen V.  30.  Oktober  1834  und  9.  Sep- 
tember 1843  waren  in  Sachsen  steuerpflich- 


12 


Gebäudesteuer 


tig  alle  Gebäude  mit  Ausnahme  deijenigen 
des  Staates  und  .einiger  anderer,  namentßch 
der  kirchlichen  Zwecken  dienenden  Gebäude. 
Die  Art  und  Weise  der  Besteuerung  war 
verschieden;  sie  erfolgte  teils  nach  dem 
wirklichen  oder  möglichen  Metzinse,  teils 
nach  der  Gnmdfläche.  Das  erstere  war 
der  Fall  insbesondere  bei  den  Wohngebäuden 
in  der  Stadt^  bei  den  gewerblichen  Gebäu- 
den und  bei  den  lediglich  zur  Bewohnung 
bestimmten  Gebäuden  auf  dem  Lande. 
Wohnungen  auf  dem  I>ande,  welche  mit 
landwirtschaftlichen  Wirtschaftsräumen  in 
Verbindung  standen,  wurden  ebenso  behan- 
delt, soweit  heizbare  Stuben  in  Betracht 
kamen,  landwirtschaftlichen  Zwecken  die- 
nende Gebäude  etc.  wurden  nach  der  Fläche 
besteuert,  wobei  die  beste  anstossende  Boden- 
fläche zu  Grunde  gelegt  wurde.  Die  zur 
Häusersteuer  herangezogenen  Gebäude  unter- 
lagen der  Grundsteuer  nicht. 

In  Sachsen  entbrannte  aber  seit  dem 
Ende  der  sechziger  Jahre  ein  langjähriger 
Kampf  um  die  Reform  der  direkten  Be- 
steuerung, der  damit  endete,  dass  im  Jahre 
187.4  zunächst  provisorisch  und  am  2.  Jidi 
1878  definitiv  ein  neues  Gesetz  über  die 
Einkommensteuer  imd  am  3.  Jidi  1878  ein 
Gesetz  über  die  direkten  Steuern  überhaupt 
erlassen  wiinle.  Seit  dieser  Zeit  liat  die 
Häusersteuer  in  Sachsen  als  selbständige 
Steuer  zu  bestehen  aufgehört  und  wird  der 
Ertrag  der  Gebäude  lediglich  nach  den  für 
die  Besteuerung  der  Einkommen  überhaupt 
gültigen  Yorschriften  besteuert.  §  17  des 
G.  V.  2.  Juli  1878  scheidet  vier  Haupt- 
quellen für  die  Einschätzung  des  Einkora- 
mens und  nennt  als  deren  erste:  Yerpach- 
timg  von  Grundstücken,  Vermietung 
von  Gebäuden  oder  Benutzung  der- 
selben zur  eigenen  Wohnung,  Be- 
trieb der  Land-  und  Forstwirtschaft  auf 
eigenen  Grundstücken.  Und  §  18  bestimmt 
imter  anderem  unter  2,  dass  für  die  Be- 
rechnung und  Schätzung  des  Einkommens 
aus  vermieteten  Gebäuden  oder  Teüen  von 
solchen  der  wirklich  erzielte  Mietertrag 
unter  Abrechnung  der  dem  Vermieter  ob- 
liegenden Lasten  massgebend  sei.  Im  übri- 
gen verweisen  wir  auf  den  Art.  Einkom- 
mensteuer (speciell  oben  Bd.  III,  S.  398  ff.). 

7.  Baden.  Die  Häusersteuer  ist  hier 
geregelt  durch  die  Ordnung  v.  18.  Septem- 
ber 1810  und  das  Häusersteuer-G.  v.  26. 
Mai  1866.  Der  Umfang  der  Haussteuer  ist 
sehr  weit  gezogen,  indem  ihr  nach  dem 
letzterwähnten  Gesetz  (Art.  2  und  5)  alle 
Gebäude  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Bestim- 
mung nebst  Hofraiten  und  bewohnbaren 
(rartenhäusern  unterworfen  sind.  Ausge- 
nommen von  der  Häusersteuer  shid  ausser 
den  zu  öffentlichen  Zwecken  dienenden  Ge- 
bäuden   nur  die  Pflanzen häuser  in   Gärten 


und  Weinbergen,  die  zum  Bergbau  dienen- 
den Betriebsgebäude  und  Vorratshäuser,  die 
schlechthin  unbrauchbaren  Gebäude  und 
Gebäudeteile  (Art.  3);  den  Massstab  der 
Besteuerimg  bildet  der  reine  Ertrag,  be- 
stimmt nach  dem  mittleren  Wert,  welcher 
als  Steuerkapital  benutzt  wird  (Art.  9). 
Dieser  Wert  wird  zu  ermitteln  gesucht  aus 
den  thatsächlichen  Kaufpreisen,  wenn  nötig 
unter  Heranziehung  einwandfreier  Ueber- 
nahmspreise  in  Erbfällen  einer  bestimmten 
Periode,  und  zwar  liegen  der  Besteuerung 
nunmehr  die  Ergebnisse  der  Katastrierung 
der  Gebäude  nach  dem  mittleren  Kaufwerte 
aus  der  Periode  1853  bis  mit  1862  zu 
Grunde.  Lasten  werden  kapitalisiert  und 
abgezogen,  jedoch-  so,  dass  zwar  die  Haus- 
besitzer das  voUe  Wertkapital  versteuern, 
aber  die  von  den  Berechtigten  erhobenen 
Gefällsteuern  unter  die  Verpflichteten  ver- 
teilt werden.  Nun  ist  die  unmittelbare  Er- 
mittelung der  Kapitalwerte  und  damit  der 
Steuerwerte  aus  naheliegenden  Gründen  nur 
für  einen  Teil  der  Häuser  möglich ;  deshalb 
muss  für  die  grosse  Masse  derselben  der 
Steuerwert  auf  dem  Wege  einer  angleichen- 
den Schätzung  an  die  als  Musterhäuser  auf- 
gestellten Gebäude  festgestellt  werden; 
dieses  Verfahren  hat  namentlich  bei  isolier- 
ten Gebäuden  auf  dem  Lande  zu  erfolgen, 
wobei  insbesondere  für  Sclüösser  nicht  der 
Bau  wert,  sondern  der  Verkehrsweg,  den 
sie  als  einfache  Häuser  haben  würden,  in 
Betracht  zu  ziehen  ist  (Art.  13—15).  Die 
EinSteuerung  wird  von  der  durch  G.  v.  7. 
Mai  1858  fi'u-  die  Katastrierung  des  land- 
wirtschafthchen  Gebäudes  gebildeten  Minis- 
terialkommission  geleitet  (Art.  31)  und  er- 
folgt durch  die  betreffenden  Behörden  miter 
Zuziehung  von  Bauverständigen  (Art.  32). 
Steuerpflichtig  ist  der  Eigentümer,  eventuell 
der  Nutzeigentümer  oder  Nutzniesser  ohne 
Rtlcksicht  auf  den  mit  dem  aUenfaUsigen 
Mieter  bestehenden  Vertrag.  Das  Ergebnis 
der  Einschätzung  wird  in  der  Gemeinde  zur 
Einsicht  der  Beteiligten  14  Tage  im  Ge- 
meindehause aufgelegt  und  sodann  vor  ver- 
sammeltem Gemeinderat  den  Gebäudeeigen- 
tümern verkündet,  worüber  ein  Protokoll 
aufzimehmen  ist  (Art.  36).  Auf  Vorlage  der 
Er(5ffnungsprolokolle  setzt  die  Ministerial- 
kommission  die  mittleren  Kaufwerte  der 
Gebäude  auf,  über  oder  luiter  die  in  den 
Vorverhandlungen  begutachteten  Beträge 
fest  (Art.  36).  Gegen  diese  Festsetzung 
steht  dem  Eigentümer  das  Recht  des  Re- 
kurses an  das  Finanzministerium  innerlialb 
4  Wochen  zu  (Art.  40). 

Eine  Aenderung  der  Steuerkapitalien 
tritt  ein  bei  entdeckten  Fehlern,  eine  gänz- 
liche oder  teilweise  Abschreibung  beim 
gänzlichen  oder  teilweisen  Nieden-eissen 
von   Gebäuden,  Verkleinenmg  der  Hofi-aite 


Gebäiidesteuer 


13 


etc,  (Art  26),  die  Büdung  neuer  bezw. 
höherer  Steiierkapitalien  bei  Errichtung 
neuer  Gebäude,  bei  baulicher  Umwandlung 
derselben,  Yergrösserung  der  Hofraite  (Art. 
27).  Wenn  durch  äussere  Verhältnisse  seit 
der  Einschätzung  in  einem  Steuerdistrikt 
der  Wert  sämtlicher  Gebäude  oder  eines 
Teils  derselben  um  20®/o  bleibend  erhöht 
oder  vermindert  worden  ist,  hat  eine  Be- 
richtigung einzutreten  (Art.  28). 

Steuerfreijahre  sind  nicht  zugelaßsen. 
Der  Grund  und  Boden  der  Gebäude  und 
der  der  Häusersteuer  unterliegenden  Hof- 
räume ist  frei  von  der  Grundsteuer. 

Bemerkenswert  ist^  dass  die  Gebäude- 
steuer von  jeher  einheitlich  mit  der  Gnmd- 
steuer  behandelt  wurde,  dass  namentlich 
gleicher  Steuerfuss  für  die  Steuereinheit 
galt  Die  Verschiedenartigkeit  der  Wert- 
bewegung von  städtischem  und  ländlichem 
Boden,  von  Miet-  und  Wirtschaftsgebäuden 
konnte  nur  bei  der  Eatastrierung,  wo  sie 
im  Werte  sich  ausdrücken  musste,  berück- 
sichtigt werden.  Wertverändernngen  mussten 
unbeachtet  bleiben,  was  naturgemäss  zu  er- 
heblichen Ungleichmässigkeiten  in  der  Be- 
lastimg führen  musste. 

Das  Katastrierungswerk  für  Grundstücke 
und  Gebäude  war  im  Jahre  1875  vollendet 
worden  und  bildete  zum  ersten  Mal  bei  der 
Erhebung  der  Steuer  für  das  Jahr  1877  die 
Grundlage  derselben.  Obwohl  sich  in  der 
Zwischenzeit  eine  wesentliche  Steigerung 
der  Grund-  und  Gebäudesteuerkapitalien  be- 
geben hatte,  wurde  der  Steuerertr^  doch 
nicht  erhöht,  sondern  einer  den  Ständen 
gegebenen  Zusage  entsprechend  wurde  der 
Steuerfuss  der  Grund-  und  Gebäudesteuer 
in  solchem  Mass  erniedrigt,  dass  trotz  der 
bedeutenden  Erhöhung  des  Gesamtsteuer- 
kapitals der  Steuererteig  der  gleiche  blieb. 
Waren  bisher  auf  1(X)  Mark  Steuerkapital 
44  Pfennig  Steuer  eriioben  worden,  so  wur- 
den vom  Jahre  1879  ab  nur  noch  28  Pfennig 
erhoben. 

8.  Hessen.  Massgebend  ist  hier  das  G. 
v.  13.  April  1824  betreffend  die  Vollendung 
des  Inmiobüienkatasters.  Danach  sind  der 
Aufoahme  in  den  Immobilienkataster  unter- 
worfen die  Gebäude  nebst  den  dazu  gehöri- 
gen Hofraiten  (Art  1).  Ausgenommen  von 
der  Steuer  sind  die  Schlösser  des  Gross- 
herzogs, dann  die  öffentlichen  Zwecken 
dienenden  Gebäude ,  als  Kirchen ,  Zeug- 
häuser, dann  die  Oekonomiegebäude,  welche 
sowohl  zur  Gewinnung  und  Aufbewahrung 
der  rohen  Erzeugnisse  des  Ackerbaues  als 
auch  zu  Stallungen  dienen  (Art.  2).  Für 
jedes  Steuerobjekt  wird  ein  Steuerkapital- 
ansatz gebildet,  welcher  den  mittleren  reinen 
Ertrag  derselben  darstellt  Dieses  Steuer- 
kapital  wird  bei  Gebäuden  und  den  dazu 
gehörigen    Hofraiten    aus    dem    mittleren 


Kaufwert  abgeleitet  in  der  Weise,  dass  bei 
Gebäuden  V25,  bei  Mühlen  und  Hammer- 
werken Vdo  des  abgeschätzten  lokalen  Kauf- 
wei-tes  das  Steuerkapital  bildet  (Art.  4). 

Diu-ch  Instruktion  v.  27.  August  1857 
hat  die  Obersteuerdirektion  zum  Zweck  ge- 
nauer Feststellung  der  Steuerkapitalien  für 
die  Gebäude  eine  neue  Einschätzung  der 
Gebäude  und  der  dazu  gehörigen  Hof- 
raiten nach  dem  mittleren  lokalen  Aauf werte 
angeordnet.  Danach  sind  die  Kaufwerte 
der  Gebäude  und  Hofraiten  zu  ermitteln 
aus  dem  Neubauwerte  der  Gebäude  mit 
Bei-ücksichtigung  der  Wertminderung  durch 
Abnützung  oder  andere  besondere  Ursachen 
und  aus  dem  Werte  des  Hofraitegrundes. 
Das  Verfahren  war  ein  ziemlich  umständ- 
liches. Zuerst  musste  der  Neubauwert 
der  Gebäude  abgeschätzt  werden.  Es  ge- 
schah dies  in  der  Weise,  dass  aus  den 
lokalen  Preisen  der  Baumaterialien  mit 
Rücksicht  auf  die  lokalen  Arbeitslöhne  der 
Preisanschlag  für  einen  Quadratfuss  über- 
bauter Fläche  je  nach  Baumaterial,  Zahl 
und  Höhe  der  Stockwerke  und  Bauart  aus- 
gemittelt,  sodann  der  Neubauwert  durch 
Multiplikation  dieses  Anschlags  für  einen 
Quadratfuss  mit  der  gesamten  in  Quadrat- 
fussen  ausgedrückten  Grundfläche  des  Ge- 
bäudes gefunden  wurde.  Von  diesem  so 
ermittelten  Neubauwert  musste  nun  die 
Wertmindening  diuxjh  Abnützimg  abgezogen 
und  deshalb  diese  Abnützung  in  Prozenten 
des  Neubauwertes  in  Abstufungen  von  5 
zu  5®/o  abgeschätzt  werden.  Daraus  ergebt 
sich  der  gegenwärtige  Wert  des  Gebäudes 
ohne  den  Hofraitegnmd.  Dieser  Wert  wird 
aber  mit  Rücksicht  auf  die  weitere  Wert- 
abnahme, welche  die  Gebäude  im  Laufe  der 
längeren  Reihe  von  Jahren,  für  welche  das 
Kataster  der  Besteuerung  zu  Grunde  liegen 
soll,  um  25®/o  ermässigt  und  so  endlich  der 
steuerpflichtige  Wert  der  Gebäude  gefun- 
den. Zu  diesem  billigen  mittleren  Wert 
der  Gebäude  kommt  sodann  noch  der  Wert 
des  Hofraitegrundes  derselben,  welcher  min- 
destens nach  dem  billigen  mittleren  Kauf- 
preise des  Ackerfeldes  1.  Klasse  der  be- 
treffenden Markung  abzuschätzen  und  für 
bessere  Ortslagen  entsprechend  höher  anzu- 
schlagen ist. 

Vor  Beginn  der  Einschätzung  mussten 
die  Verkaufspreise  von  allen  in  den  15 
Jahren  1840 — 54  unter  normalen  Verhält- 
nissen vor  sich  gegangenen  Häuserverkäufen 
ermittelt  und  zusammengestellt  werden, 
um  für  die  Einschätzung  einen  Anhalt  zu 
gewinnen. 

Wenn  durch  Zusammenrechnung  des 
mittleren  Gebäudewerts  und  des  Werts  des 
Hofraitegrundes  der  mittlere  lokale  Kauf- 
wert gefunden  ist,  so  wird  das  betreffende 
Gebäude   nach   einer  Klassentafel   in    die- 


14 


Gebäuclesteuer 


jenige  Wertklasse  eingereiht,  deren  Kauf- 
wertsumme jener  Einschätzungssumme  am 
nächsten  steht,  wobei  die  in  der  betreffen- 
den Klasse  enthaltene  Summe  als  Kataster- 
summe gilt 

B.  AuBserdeutsche  Staaten. 

9.  Oesterreich.  Die  heutige  öster- 
reichische Gebäudesteuer  beruht,  wie  oben 
bereits  bemerkt  wurde,  auf  G.  v.  9.  Februar 
1882,  V.  1.  Juni  1890  und  9.  Februar  1892. 
Sie  ist  eine  auf  den  Gebäuden  lastende 
Steuer  und  verschieden  bemessen  je  nach 
den  Eigenschaften  des  steuerpflichtigen  Ob- 
jekts. Steuerfrei  sind  die  Gebäude  ftlr 
öffentliche  Zwecke,  Staats-  und  Militärge- 
bäude, Kirchen,  Schulgebäude,  Wohlthätig- 
keitsanstalten  und  dergleichen,  dann  Hütten, 
Buden  und  Kramladen  von  nur  vorüber- 
gehender Bestimmung,  dann  (nach  G.  v. 
6.  Juni  1890)  Alpenhütten  und  Weingarten- 
häuser, sofern  sie  nur  zeitweise  für  das  Wirt- 
schaftspersonal des  Grundbesitzers  dienen. 
Im  übrigen  zerMlt  sie  in  eine  Hauszins- 
steuer, die  sich  auf  den  Vermietungsver- 
trag gründet,  imd  in  eine  Hausklassen- 
steuer,  welche  Wohngebäude  ohne  Zinser- 
trag l)esteuern  will.  Die  Zinssteuer,  wel- 
che überall  da  Platz  greift,  wo  wenig- 
stens die  Hälfte  aller  Wohnungen  ver- 
mietet ist,  besteuert  alle  Gebäude  und  Ge- 
bäudebestandteile, die  Klassensteuer  dagegen 
nur  die  eigentlichen  Wohngebäude. 

Bei  der  Hauszinssteuer  ist  das  Steuer- 
objekt der  Zinsertrag,  sei  es  der  wirkliche 
oder  der  durch  Vergleichung  gewonnene 
mögliche.  Dabei  dikfen  Garten-  und  Möbel- 
zinse,  Beleuchtungs-  und  Wasserleitungsbei- 
träge, Entschädigungen  für  Bedienimg  und 
dergleichen,  ausserdem  noch  15  resp.  20®/o 
zur  Bestreitung  der  Erhaltimgs-  und  Amor- 
tisationskosten in  Abzug  gebracht  werden. 
Der  Rest  bildet  den  sogenannten  reinen 
steuerbaren  Zinsertrag,  von  welchem  die 
Steuer  mit  26^/8  bezw.  20  ®/o  bemessen  wird. 
Die  Gnmdlage  der  Besteuerung  bilden  in 
erster  Linie  die  Fassionen,  dann  die  Ver- 
nehmung, eventuell  die  kommissarische 
Schätzung. 

Die  Hausklassensteuer  richtet  sich  nach 
der  Zahl  der  in  den  Gebäuden  enthaltenen 
Wohnräume,  so  dass  z.  B.  40 — ^36  Wohnimgs- 
bestandteile  mit  220  fl.  Steuer  in  der  ersten 
Klasse  Stehen,  35^^0  mit  180  fl.  in  der 
zweiten,  während  lediglich  1  Wohnraum  in 
der  16.  Klasse  1  fl.  50  kr.  bis  75  kr.  zahlt 
Bei  der  Klassifizierung  der  Wohnhäuser  ist 
hauptsächlich  die  Frage  zu  beantworten, 
welche  Häuser  als  Wohnhäuser,  welche 
Bäume  als  Wohnräume  anzusehen  sind. 
Das  Gesetz  erklärt  alle  jene  Gebäude  als 
Wohngebäude,  welche  solche  Bestandteile 
in  sich  fassen,  die  als  Wohnungen  -wirklich 


benutzt  werden  oder  zu  dieser  Benutzung 
bestimmt  sind,  und  als  Wohnräume  bloss 
Zimmer  und  Kammern,  die  wirklich  bewohnt 
werden  oder  zur  Bewohnung  bestimmt 
sind  ohne  Rücksicht  auf  die  Zeit,  durch 
welche  oder  in  welcher,  und  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Art,  nach  welcher  sie  benutzt 
werden.  Als  Wohnungsbestandteile  sind 
nicht  anzusehen  Küchen,  Keller,  Böden, 
Stallungen,  Scheunen  und  dergleichen,  Schul- 
zimmer, Werkstätten,  Amtszimmer.  Bei 
Häusern,  welche  ursprünglich  nach  der 
Zahl  ihrer  Wohnräume  in  eine  Tarifklasse 
eingereiht  wiuden,  bleibt  dieselbe  Haus- 
klassensteuer solange  in  Geltung,  als  nicht 
eine  Vergrösserung  oder  Verkleinerung  des 
Umfanges  des  Hauses  und  zugleich  eine 
Vermehrung  oder  Verminderung  der  Wohn- 
räume stattfindet  Nach  G.  v.  1.  Juni  1890 
sind  dem  Verkehr  entrückte  Gebäude 
(Schlösser^  Wirtshäuser)  ohne  nennenswerten 
Ertrag  mit  der  Hauszinssteuer  für  die  ver- 
mieteten und  mit  der  Hausklassensteuer  für 
die  nich  vermieteten  Wohnräume  zu  ver- 
anlagen, t  Bei  der  Hausklassensteuer  unter- 
worfenen Gebäuden,  welche  nicht  mehi*  als 
9  Wohnräume  enthalten  und  ein  Jahr  hin- 
durch ohne  Unterbrechung  vollständig  un- 
benutzt geblieben  sind,  kann  die  Haus- 
klassensteuer unter  gewissen  Bedingungen 
abgeschrieben  werden. 

Zeitliche  Befreiungen  finden  bei  Neu- 
bauten, Umbauten,  Zu-  oder  Aufbauten  statt 
und  zwar  unter  Umständen  bis  auf  12 
Jahre.  Nach  G.  v.  9.  Febiniar  1892  sollen 
Arbeiterwohnungen,  welche  entweder  von 
Gemeinden  und  gemeinnützigen  Vereinen  oder 
von  aus  Arbeitern  gebildeten  Genossenschaf- 
ten für  ihre  Mitglieder  oder  endlich  von 
Arbeitgebern  für  ihre  Arbeiter  errichtet 
werden,  auf  die  Dauer  von  24  Jahren  vom 
Zeitpunkt  der  Vollendung  des  Gebäudes 
an  von  der  Gebäudesteuer  befreit  sein. 
Weitere  Voraussetzung  ist  aber,  dass  die 
einzelnen  Wohnräume  den  Anforderungen 
des  Gesetzes  auf  Grosse  etc.  entsprechen 
und  dass  der  jährliche  Mietzins  einen  be- 
stimmten Betrag  nicht  übersteigt.  Das  Ge- 
setz soll  auch  nur  in  jenen  Ländern  und 
Königreichen  in  Kraft  treten,  in  welchen 
den  bezeichneten  Neubauten  im  Wege  der 
Landesgesetzgebung  durch  Befreiung  von 
allen  Landes-  und  Bezirkszuschlägen  sowie 
eine  Ermässigung  der  Gemeindezuschläge 
für  die  Dauer  der  staatlichen  Steuerbefreiung 
gewährt  wird.  Thatsächlich  haben  alle 
Kronländer  mit  Ausnahme  Dalmatiens  ent- 
sprechende Gesetze  erlassen. 

Lasten  des  Gebäudes  wie  die  Zinsen 
von  Passivkapitalien  gewähren  keinen  An- 
spruch auf  Verminderung  der  Steuer,  da- 
gegen ist  dem  Hausbesitzer  das  freilieh, 
wie   es   scheint,   illusorische   Recht    eingo- 


Gebäuflesteuer 


15 


räumt,  dem  Gläubiger  bei  Bezahlung  der 
Zinsen  von  Passivkapitalien  oder  der  Renten 
5®/o  derselben  in  Abzug  zu  bringen. 

10.  England.  Nachdem  schon  im  15. 
Jahrhundert  eine  Haus-  und  Familiensteuer 
versucht  wurde,  wurde  im  Jahre  1696  eine 
Art  Haussteuer  in  Form  einer  Fenstersteuer 
eingeführt,  zu  der  im  Jahre  1778  noch  eine 
besondere  Ertragssteuer  von  Wohnhäusern 
trat.  Beide  Steuern  waren  in  der  Haupt- 
sache vom  Inhaber  und  nicht  vom  Eigen- 
tümer zu  bezahlen  und  also  auch  die  letzten 
ihrer  Wirkung  nach  keine  Ertrags-,  sondern 
Wohnungs-  oder  Mietssteuem.  Die  Erti-ags- 
steuer  von  Wohnhäusern,  welche  in  den 
Kriegszeiten  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhun- 
derts bedeutend  erhöht  worden  war,  wurde 
bei  den  Eeformen  der  30  er  Jahre  aufge- 
hoben und  nur  die  Fenstersteuer  beibe- 
halten. Allein  diese  letztere  Steuer  war 
wegen  der  mit  ilir  verbundenen  Visitationen 
unpopulär,  hatte  manche  Nachteile  auch  in 
gesundheitlicher  Beziehung  und  wurde  im 
Jahre  1851  au%ehoben  und  an  ihre  Stelle 
eine  einzige  reformierte  Wohnungssteuer 
(14  und  15.  Vict.  c.  36)  gesetzt,  die  aber 
Hur  für  Grossbritannien,  nicht  für  Ir- 
land gilt 

Die  jetzige  Steuer  von  bewohnten  Häu- 
sern (inhabited  houses  tax)  bildet  einen 
Teil  des  als  Einkommensteuer  bezeichneten 
Steuersystems,  ti^igt  aber  den  gemischten 
Charakter  einer  Häuserertrags-  und  einer 
Wohnungssteuer.  Sie  ist  bei  geteilt  ver- 
mieteten Häusern  vom  Eigentümer,  sonst 
vom  Bewohner  bezw.  Mieter  zu  entrichten. 
Steuerfrei  sind  alle  Wohnhäuser  mit  weniger 
als  20  £  Jahresertrag,  leerstehende  Häuser, 
Hospitäler,  Armenschulen  und  technische 
Anstalten,  die  Häuser  der  königlichen 
Familie  und  unter  bestimmten  Voraus- 
setzungen auch  grössere  Arbeiterhäuser. 
Der  normale  Steuerfuss  der  eigentlichen 
Wohnhäuser  beträgt  9  d.  vom  £  —  3,75%, 
von  W^ohnhäusem,  welche  zugleich  für  ge- 
werbliche Zwecke  verschiedener  Art  dienen, 
6  d.  vom  £  =z  2,50%  des  geschätzten  Er- 
trags. Nach  den  Angaben  bei  A.  Wagner 
^inanzwissenschaft  3.  Teil,  Ergänzungsheft 
S.  19)  unterliegt  der  Steuer,  da  Häuser  un- 
ter 20  £  steuerfrei  sind,  nur  der  fünfte  Teil 
aller  Gebände  (1894 : 1 342 148  von  6  893  242, 
wovon  946275  bezw.  6019889  Wohnhäuser), 
so     dass     die    britische   Häusersteuer   im 

Lzen  wohl  als  ein  Zuschlag  zur  direkten 

^t^ueining  der  besser  sitmerten  Klassen 
angesehen  werden  kann.  In  neuester  Zeit 
haben  weitere  Ermässigungen  aus  sozialen 
Gesichtspunkten  stattgefimden.  So  wurde 
1890  der  Steuerfuss  für  Häuser  mit  nied- 
rigerem Mietwert  herabgesetzt,  nämlich  von 
6  und  9  d.  auf  2  imd  4  bei  Mietwert  von 
20—40  £  und   auf  4  und  6  d.  vom  £  bei 


Miet  wert  von  40—60  £,  wodurch  ein  Steuer- 
ausfall von  5—600000  £  zu  Gunsten  von 
800000  Steuerflichtigen  eintrat. 

Die  Veranlagung  geschieht  wie  bei  den 
direkten  Luxussteuem  durch  lokale  Steuer- 
einschätzer, welche  von  den  Kommissären 
der  Landsteuer  aus  den  Einwohnern  des 
Kirchspiels  ernannt  werden ;  die  Einschätzer 
sind  für  die  Vollständigkeit  der  Aufaahme 
der  Gebäude  verantwortlich.  Einzuschätzen 
und  also  steuerpflichtig  ist  der  voUe  Miet- 
wert, d.  h.,  wenn  der  Eigentümer  die 
Steuer  entrichtet,  der  Kohertrag.  Wenn 
dieser  nicht  im  Erhebungsbezirke  wohnt, 
haben  die  Mieter  die  Steuer  zu  entrichten, 
denen  es  aber  überlassen  bleibt,  den  Betrag 
der  Steuer  von  dem  Mietzinse  abzuziehen. 
Für  London  gelten  noch  besondere  Bestim- 
mungen. 

Der  Ertrag  der  Gebäudesteuer  ist  teils 
infolge  der  Bevölkenmgszunahme ,  noch 
mehr  aber  infolge  der  Anhäufimg  der  Be- 
völkerung in  den  Städten  und  der  indus- 
triellen Entwickelung  in  stetem  Steigen  be- 
griffen. Er  stellte  sich  1893  auf  1,412 
Millionen  £  und  beträgt  nach  dem  Voran- 
schlag von  1897/98  1,567  Millionen  £. 

11.  Dänemark.  Die  direkten  Steuern 
Dänemarks  beruhen  im  wesentlichen  auf 
der  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  vorge- 
nommenen Regelung.  Man  beabsichtigte 
damals  ein  ganzes  System  von  Steuern  ein- 
zurichten, so  dass  die  einzelnen  Steuern 
einander  ergänzen  sollten.  Die  eigentlichen 
bleibenden  direkten  Steuern  aber  waren 
teils  eine  Landsteuer,  teils  eine  Gebäude- 
steuer. Im  Jahre  1844  erfolgte  eine  neue 
El^hmg  der  Landsteuer,  und  zu  gleiche 
Zeit  wurde  auch  als  Ergänzung  zu  dieser 
Land-  oder  Hartkomsteuer,  welche  nach 
ihrer  Veranlagung  alle  Landwirtschaft  trei- 
benden Personen  treffen  sollte,  eine  Ge- 
bäude- oder  Haussteuer  ausgeschrieben,  die 
aber  den  Mieter  bezw.  den  Selbstbewohner 
eines  Hauses,  nicht  den  Eigentümer  treffen 
sollte.  Diese  Gebäudesteuer  bezieht  sich 
teils  auf  die  Häuser  in  den  Städten,  teils 
auf  solche  Gebäude  auf  dem  Lande,  welche 
nicht  direkt  zur  Landwirtschaft  oder  als 
Wohnung  für  Landarbeiter  dienen,  sondern 
als  Fabriken,  Gasthäuser,  Mühlen,  Land- 
häuser und  dergleichen  benutzt  werden. 
Der  Besitzer  soll  mir  dann  der  Steuerträger 
sein,  wenn  er  selbst  sein  Haus  allein  be- 
wohnt, sonst  aber  soll  der  Mieter  der  eigent- 
liche Steuerträger,  der  Besitzer  nur  der 
Steuerzahler  sein.  Sie  ist  also  mehr  Woh- 
nungs- als  Haussteuer. 

Die  Steuer  ist  eine  Arealsteuer,  d.  h.  sie 
wird  mit  einer  bestimmten  Summe  von  der 
Quadratelle  jedes  Stockwerkes  berechnet. 
Der  Betrag  ist  etwas  verschieden  in  Kopen- 
ha^n  und  in  den  anderen  Städten ;  in  Kopen- 


16 


Gebäudesteuer 


hagen  ist  er  auch  verschieden  nach  der 
La^  und  zum  Teil  der  Art  des  Gebäudes 
(ob  das  Gebäude  an  der  Strasse  oder  gegen 
den  Hof  liegt),  in  den  Provinzstädten  nach 
dem  Assekuran zweit  des  betreffenden  Hauses. 
Im  übrigen  kommt  die  Ijage  des  Gebäudes 
nicht  in  Betracht.  Um  die  unbemittelten 
Mieter  durch  die  Steuer,  die  in  der  Regel 
in  ganzer  Summe  auf  den  Mietpreis  ge- 
schlagen wurde,  nicht  zu  hart  zu  treffen, 
Hess  man  ursprünglich  in  Kopenhagen  alle 
Wohnungen  mit  weniger  als  64  Quadrat- 
ellen (=  ca.  25  qm)  von  der  Arealsteuer 
frei.  Als  sich  zeigte,  dass  diese  Befreiung 
zu  einer  nicht  glücklichen  Begrenzung  der 
Arbeiterwohnungen  führte,  hob  man  im 
Jahre  1857  die  Bestimmung  auf,  führte  sie 
aber,  sds  infolgedessen  die  Zahl  der  kleinen 
Wohnungen  abnahm,  1866  wieder  ein  und 
dehnte  sie  1873  auch  auf  die  Wohnungen 
mit  nicht  über  80  Quadratellen  (ca.  31,5 
qm)  aus. 

Der    Gesamtertrag   der  Haussteuer   ist 
immer  wachsend;  er  betrug: 

1867/68     I  525  000  Kronen 
1877/78     2  026  000 
1884/85     2417000 


n 
n 


12. Frankreich.  (Thür-undFenster- 
steuer.)  Eine  eigentliche  Gebäudesteuer 
gab  es  in  Frankreich  bis  1881—1883 
nicht.  Die  alte  Grundsteuer  war  nach 
dem  Plane  der  Revolutionszeit  imd  Napo- 
leons I.  eine  allgemeine  Ertragssteuer  vom 
gesamten  Grund  imd  Boden  einschliess- 
Bch  der  Area  und  des  Ertrags  der  Gebäude. 
Durch  die  Gesetzgebung  von  1881 — 1883 
wurde  die  alte  Grundsteuer  in  eine  eigent- 
liche Gnmdsteuer  von  dem  nicht  überbauten 
Boden  und  eine  Gebäudegnmdsteuer  von 
dem  überbauten  Boden  geteilt  und  damit 
ein  wesentlicher  Fortschritt  herbeigeführt. 
Durch  G.  V.  8.  August  1890  wurde  die  Ge- 
bäudegrundsteuer    von     der     allgemeinen 


Grundsteuer  losgelöst.  Sie  beruht  auf  einem 
ausgedehnten,  alle  10  Jahre  zu  revidierenden 
Kataster.  Sie  ist  eine  Quotitätssteuer  im 
Gegensatze  zur  Grundsteuer,  welche  Repar- 
titionssteuer  geblieben  ist;  ihr  Steuerfuss 
wird  durch  das  Finanzgesetz  bestimmt.  Die 
Bemessungsgrundlage  bildet  der  von  der 
Verwaltung  der  direkten  Steuern  ermittelte 
Mietwert  (valeur  locative)  unter  Abzug  von 
1/4  des  Wertes  bei  gewöhnlichen  (Jebäuden, 
Vi  bei  Fabriken  für  Abnutzung,  ünterhal- 
tungs-  und  Reparatiffkosten.  Der  Steuer- 
satz beträgt  zur  Zeit  3,20  **/o  im  Principal. 
Neubauten  sind  erst  vom  dritten  Jahre  nach 
der  Vollendung  an  steuerpflichtig.  Die 
Steuer  ertrug  für  den  Staat  1883  :  58,33, 
1888  :  63,43 ,  nach  dem  Voranschlag  von 
1896  :  80,04  Millionen  Francs. 

Neben  dieser  Steuer  besteht  in  Frank- 
reich als  eine  aus  alter  Zeit  überkommene 
eigentümliche  Form  der  Haussteuer  die 
Thür-  und  Fenstersteuer.  Sie  wurde 
neu  als  Ergänzung  der  Mobiliarsteuer  ein- 
geführt am  24.  November  1798  oder  4.  Fri- 
maire  VH.  An  diesem  Gesetz  sind  später 
einige  Modifikationen  vorgenommen  worden, 
so  durch  G.  v.  3.  Mai  1802  die  Umwand- 
lung aus  einer  Quotitäts-  in  eine  Repartitions- 
steuer,  am  26.  März  1831  die  Rückver- 
wandlung in  eine  Quotitäts-,  am  21.  April 
1832  die  abermalige  Umwandlung  in  eine 
Repartitionssteuer,  aber  diese  sowie  einige 
andere  spätere  Gesetze  haben  an  der  ur- 
sprünglichen Grundlage  nichts  Wesentliches 
geändert. 

Diese  Steuer  hat  ihren  Namen  davon, 
dass  Thüren  und  Fenster,  welche  nach  den 
Strassen,  Höfen  und  Gärten  der  Gebäude 
und  Fabriken  hinausgehen,  steuerpflichtig 
sind.  In  der  Gesetzgebune  ist  nun  ein 
Klassentarif  aufgestellt,  nach  welchem  die 
Veranlagung  vorgenommen  werden  soll,  der 
nach  dem  G.  v.  21.  April  1832  folgende 
Gestalt  zeigt: 


Ortsklassen 


Einwohner- 
zahl 


Häuser  mit  Oeffiiungen 


Häuser  mit  6  und  mehr  Oeffhungen  für 
jede  der  letzteren 


Thorwe^e, 

Magazin  thore 

u.  dergl. 


Gewöhnl.  Thore, 

Fenster  d.  unteren 

Stockwerke  bis  inkl. 

zweites  Stockwerk 


Fenster  d. 
3.  n.  höheren 
Stockwerkes 


Francs 


0,30 

0,45 

0,90 

1,60 

2,50 

0,40 

0,60 

1,35 

2,20 

3,25 

0,50 

0,80 

1,80 

2,80 

4,00 

0,60 

1,00 

2,70 

4,00 

5,50 

0,80 

1,20 

3,60 

5,20 

7,00 

1,00 

1,50 

4,50 

6,40 

8,50 

Unter  5000 

ö—  10000 

10—  25000 

25—  50000 

50—100000 

über  100000 


Der  Steuersatz  wächst  also  einmal  mit 
der   Grosse   der  Ortschaft,   dann   mit   der 


1,60 

3,50 

7,40 
11,20 

15,00 
18,80 


0,60 

0,75 
0,90 

1,20 

1,50 
1,80 


0,60 

0,75 
0,75 
0,75 
0,75 
0,75 


Grösse   des  Hauses   und  mit  der  Art   der 
Oeffnung. 


Grebäudesteuer 


17 


Bas  zu  besteuernde  Haus  muss  bewohn- 
\Är  sein;  steht  es  leer,  weil  die  Möglich- 
keit fehlt,  es  zu  vermieten,  so  bleibt  es 
■steuerfrei;  steht  es  leer,  weil  man  es  nicht 
vermieten  will,  so  ist  es  steuerpflichtig. 
"Was  die  Lage  des  Hauses  angeht,  so  wird 
es  nur  dann  zur  Stadt  gerechnet,  wenn  es 
innerhalb  der  Octroigrenzen  liegt.  Befindet 
es  sich  ausserhalb  derselben,  so  wird  es  als 
zimi  Lande  gehörig  betrachtet  und  in  die 
Orte  mit  unter  5000  Einwohnern  eingereiht. 

Was  die  Unterscheidung  der  Oeffnungen 
anlangt,  so  sind  nur  diejenigen  ThÜren  und 
Fenster  steuerpflichtig,  welche  nach  aussen 
auf  Wege,  Höfe,  Gärten  und  Felder  gehen; 
unverschlossene  Oeffnungen  dagegen  werden 
nicht  als  Thüren  oder  Fenster  angesehen. 

Steuerfrei  sind  die  Thüren  und  Fenster 
der  Scheunen,  Schäfereien,  Ställe,  Speicher, 
Keller  und  die  Dachluftlöcher,  dann  die 
Oeffnungen  nicht  ziu*  "Wohnung  dienender 
Räume,  endlich  die  Thüren  und  Fenster  der 
Gebäude,  welche  im  öffentlichen  Dienst 
verwendet  werden,  also  staatliche  Civil-  imd 
Müitärgebäude,  ünterrichtsanstalten,  Spitäler. 
Dagegen  haben  die  Beamten  von  Dienst- 
wohnungen und  Gebäuden  die  Steuer  zu 
entrichten. 

Die  Thür-  und  Fenstersteuer  hat  als 
Steuerart  einen  gemischten  Charakter.  Sie 
ist  als  Ergänzung  der  Mobiliarsteuer  ge- 
dacht und  soll  nicht  den  Eigentümer  des 
Hauses,  sondern  den  Mieter  bezw.  den  Be- 
wohner nach  der  Zahl  seiner  steuerpflich- 
tigen Thüren  und  Fenster  treffen.  Doch 
sdl  sie  der  Hauseigentümer,  freOich  auch 
der  üsufruktuar  und  Mieter  eines  ganzen 
Gebäudes,  entrichten,  der  sich  die  Steuer 
in  den  entsprechenden  Anteilen  von  seinen 
Mietern  wieder  vergüten  lassen  soll.  Dem- 
nach vollzieht  sich  die  endgültige  Austei- 
lung der  Steuer  in  der  Regelung  der  Miet- 
preise, und  so  erscheint  dieselbe,  da  sie, 
wie  es  scheint,  vom  Eigentümer  zunächst 
nicht  besonders  eingefordert  zu  werden 
pflegt,  zum  Teil  als  Hausertragssteuer,  zum 
Teil  als  Wohnungs-,  mithin  als  Aufwand- 
Steuer.  Inwieweit  sie  das  eine  oder  das 
andere  ist,  lässt  sich  freilich  bei  den  unbe- 
rechenbaren üeberwälzungsverhältnissen  die- 
ser Steuer  nicht  sagen. 

Die  Thür-  und  Fenstersteuer  ist  ferner, 
wie  oben  bereits  bemerkt  wurde,  dem  Ge- 
setze nach  keine  Quotitäts-,  sondern  eine 
Repartitionssteuer.  Das  Staatskontingent 
betrug  1802  16  Millionen  Francs,  im  Jahre 
1832  22  Millionen.  Ein  G.  v.  17.  August 
1835  bestimmte,  dass  die  neuen  Häuser  zur 
Steuer  herangezogen  und  die  Kontingente 
dementsprechend  vermehrt  werden  sollten. 
Das  G.  V.  14.  Juli  1838  sprach  dann  die 
Absicht  aus,  alle  zehn  Jahre  eine  neue 
Zählung  der  Oeffnungen  vorzunehmen,  die 

Haadwörterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


Übrigens  mit  der  Volkszählung  verbunden 
wurde.  Da  sich  ferner  nach  G.  v.  4.  Au- 
gust 1844  die  Departementalkontingente  ge- 
mäss der  von  der  wechselnden  Grösse  der 
Ortsbevölkerung  abhängigen  Steuertarifsätze 
veränderten,  d.  h.  in  der  Regel  erhöhten, 
endlich  fortwährend  Zuschläge  zum  Princi- 
pal der  Thür-  und  Fenstersteuer  für  die 
allgemeine  Staatskasse  erhoben  wurden,  so 
vermochte  man  dieselbe  im  Gegensatz  zur 
Gnmd-  und  Personal-  und  Mobiliarsteuer 
einigermassen  mit  den  fiskalischen  Interessen 
und  den  Fordenmgen  nach  einer  ent- 
sprechenden lokalen  Verteilung  in  Einklang 
zu  bringen.  Sie  betrug  mit  den  Zuschlägen 
für  den  Staat  1838  26,56,  1870  40,12,  1871 
ohne  Elsass  38,93,  1885  47,20  Millionen 
Francs,  stieg  also  um  77,7  %.  So  ist  sie 
ihrer  Wirkung  nach  entgegen  ihrer  gesetz- 
lichen Bezeichnung  eigenÖich  eine  Quoti- 
tätssteuer  und  zwar  eine  nach  einem  Klassen- 
und  Stufentarif  erhobene  Hausklassensteuer 
von  Wohnimgen  bezw.  Wohngebäüden  für 
die  Hauseigentümer  und  Hauptmieter  (A. 
Wagner). 

Obwohl  die  Thtlr-  imd  Fenstersteuer  in 
Bezug  auf  Technik  und  Veranlagung  kunst- 
voll ausgedacht  ist,  so  kann  sie  doch  in 
keiner  Weise  als  befriedigend  bezeichnet 
werden.  Sie  ist  durchaus  Hausklassensteuer 
und  steht  als  solche  hinter  der  Hauszins- 
steuer erheblich  zimick,  sie  vermag  den 
Örtlichen  Verschiedenheiten  der  Gebäude 
weder  nach  Seite  des  Ertrags-  noch  des 
Wohnungswertes  gerecht  zu  werden,  da  sie 
allzusehr  schabionisiert.  Auch  kann  die 
feinste  kasuistische  Bestimmung  die  Will- 
kür nicht  ausschliessen,  die  an  die  leicht 
dehnbaren  Begriffe  Oeffnung,  Thorweg, 
Thüre,  Fenster  etc.  anzuknüpfen  hinreichend 
Gelegenheit  findet.  Man  hat  dies  auch  in 
Frankreich  selbst  empfunden,  wenn  man  in 
Art.  10  des  Finanz-G.  v.  17.  März  1852  der 
Stadt  Paris  und  später  noch  einzelnen  an- 
deren Städten  erlaubte,  die  Thür-  und 
Fenstersteuer  nach  einem  eigenen  Tarif  zu 
erheben,  in  welchem  ausser  der  Zahl  der 
Oeffnungen  auch  noch  der  Mietwert  des 
Gebäudes  berücksichtigt  wird. 

Der  Ertrag  der  Thür-  und  Fenstersteuer 
stellt  sich  nach  dem  Budget  von  1899  auf 
61,200  Millionen  Francs. 

III.  Beurteilnng. 

Die  Betrachtung  der  Gesetzgebung  der 
einzelnen  Länder  zeigt,  dass  die  Gebäude- 
steuer in  verschiedenen  Formen  vorkommt. 
Wenn  wir  von  der  Thür-  und  Fenstersteuer 
absehen,  so  sind  es  im  wesentlichen  fol- 
gende : 

1.  Die  Hauszinssteuer,  wobei  die  Steuer 
nach    den    thatsäclüich    gewonnenen    oder 

Auflage  IV.  2 


18 


Gebäudesteuer 


durchschnittlichen  Zinserträgnissen  erhoben 
wird  (Preussen,  Oesterreich,  Bayern). 

2.  Die  EDausklassensteuer,  wobei  die  Ge- 
bäude nach  Massgabe  ihrer  Grösse,  Bauart, 
Beschaffenheit,  der  Zahl  der  Wohnräume 
und  dergleichen  in  bestimmte  Klassen  ein- 
gereiht und  danach  die  Steuer  bemessen 
wird  (Oesterreich  und  Preussen  bei  auf  dem 
Lande  gelegenen  Gebäuden). 

3.  Die  Gebäudewertsteuer,  wobei  die 
Steuer  nach  dem  Fapitalwert  der  Gebäude 
unter  Berücksichtigung  ihrer  Lage  und 
Nutzbarkeit,  üires  Umämges,  der  baulichen 
Einrichtung  und  der  sonst  den  Wert  be- 
stimmenden Umstände  in  Prozenten  des 
Kapitalwertes  erhoben  wird  (Württemberg). 

4.  Die  Arealsteuer,  bei  welcher  aus  dem 
Flächenraum  des  überbauten  Bodens  nebst 
Hofraum  unter  Annahme  eines  bestimmten 
Satzes,  etwa  der  höchsten  Bonitätsklasse 
der  Grundsteuer  in  der  Ortsflur,  eine  Steuer- 
verhältniszahl gebildet  wird,  von  der  die 
Steuer  in  Prozenten  bestimmt  wird  (Bayern 
bei  Gebäuden  auf  dem  Lande). 

Jede  dieser  Steuerarten,  mit  Ausnahme 
der  französischen^  englischen  und  dänischen, 
sucht  den  aus  dem  Gebäude  erzielten  Er- 
trag nach  Abzug  der  ünterhaltskosten  und 
einiger  anderer  bald  w^eiter,  bald  enger  be- 
messener Aufwendungen  zu  treffen.  In 
der  That  muss  ja  auch  die  Annäherung  der 
Besteuerung  an  den  wirklich  erzielten  Rein- 
ertrag als  das  Ziel  der  Ertrags-  und  folg- 
lich auch  der  Gebäudesteuerpolitik  bezeich- 
net werden.  Dieses  Ziel  kann  freilich  nur 
da  erreicht  werden,  wo,  wie  z.  B.  bei  der 
Hauszinssteuer  in  Preussen  und  Bayern, 
eine  thatsächliche  Vermietung  vorliegt  und 
der  Wechsel  der  Mietpreise  regelmässig 
verfolg  wird.  Hier  wini  der  Eigentümer 
verpfhchtet,  seine  jährliche  Mietrente  zu 
fatieren,  und  diese  Fassion  wird  dem  wahren 
Verhältnis  lun  so  mehr  entsprechen,  als 
dieselbe  leicht  bei  den  Mietern  kontrolliert 
werden  kann.  Die  Hauszinssteuer  ist  nicht 
nur  die  beste  Gebäudesteuer,  sondern  eine 
der  sichersten  und  am  leichtesten  zu  er- 
hebenden Ertragssteuem  überhaupt.  Wo 
diese  Steuerart  ohne  besondere  Schwierig- 
keiten durchführbar  ist,  also  in  den  Städten 
und  überhaupt  in  denjenigen  Orten ,  in 
denen  die  Mehrzahl  der  Wohnimgen  ver- 
mietet ist  und  die  nichtvermieteten  danach 
leicht  eingeschätzt  werden  können,  empfiehlt 
sie  sich  unbedingt.  In  vielen  iUllen  aber 
begnügt  man  sich  damit,  statt  des  mrk- 
lichen  Ertrages  die  Ertragsfähigkeit  der 
Gebäude  nach  dm'chschnittlich  erzielten 
Mieterträgen  oder  anderen  Anhaltspunkten 
zu  ermitteln.  Als  solche  benutzen  die  ver- 
schiedenen Steuergesetze,  wie  aus  der  oben 
gegebenen  Uebersicht  des  geltenden  Rechtes 
ersichtlich  ist,  bald  den  mittleren  Kaufwert 


der  Gebäude,  bald  die  Grösse,  Bauart,  Be- 
schaffenheit und  andere  Merkmale  der  Ge- 
bäude, bald  den  von  den  Gebäuden  und 
den  dazu  gehörigen  Hofräumen  eingenom- 
menen Flächenramn.  Bei  der  Wahl  der 
Veranlagungsform  entscheidet  auch  die  Rück- 
sicht auf  die  durch  die  Zweckbestimmung 
derselben  bedingte  Ertragsfähigkeit,  je  nach- 
dem also  die  Gebäude  städtische  oder  länd- 
liche, Wohn-  oder  Wirtschaftsgebäude  sind. 
Wo  die  Mietzinssteuer  nicht  angewendet 
werden  kann,  also  bei  Wohngebäuden  auf 
dem  platten  Lande  und  in  kleineren  Städten, 
da  mag  wohl  die  Hausklassensteuer  die  ge- 
eignetste Form  der  Häusersteuer  sein,  ob- 
wohl freilich  auch  sie  bezüglich  der  Wahl 
der  zu  Grunde  zu  legenden  Merkipale,  der 
Bildung  der  Steuerkla^n  etc.  beta^htliche 
Schwierigkeiten  bietet.  Die  sogenannte 
Arealsteuer  ist  allerdings  sehr  einfach,  aber 
doch  auch  sehr  roh  und  willkürlich  uad 
nur  bei  niedrigen  Steuersätzen  anwendbar; 
auch  die  Besteuerung  nach  dem  Kaufpreise 
steht  jedenfalls  hinter  der  Hauszinssteuer 
zurück,  da  die  Häuserpreise  nach  den  Kon- 
junktiu^n  und  konkreten  Verhältnissen  sehr 
schwanken  und  zutreffende  Mittelwerte  aus 
längeren  Perioden  mindestens  für  die 
städtischen  Gebäude  sich  schwer  ermittein 
lassen. 

In  der  Regel  kommen  verschiedene  Ver- 
anlagungsarten in  den  Steuergesetzen  neben- 
einander vor,  so  dass  die  Häuser  in  den 
Städten  mit  der  Hauszinssteuer,  die  auf 
dem  Lande  nach  irgend  welchen  anderen 
Bestinmiungen  veranlagt  werden.  Das  hat 
selbstverständlich  manches  MissHche;  es 
wird  namentlich  nicht  leicht  sein,  zwischen 
der  Besteuerung  der  städtischen  und  der 
ländlichen  Gebäude  die  richtige  Verhältnis- 
mässigkeit herzustellen,  dies  wird  sich  aber 
bei  der  verschiedenen  Natur  von  Stadt  und 
Land  nicht  umgehen  lassen. 

Hier  ist  übrigens  auf  die  oben  bereits 
gestreifte  principielle  Frage  hinzuweisen, 
ob  denn  alle  Gebäude  oder  ob  nur  gewisse 
Kategorieen  von  Gebäuden  der  Häusersteuer 
zu  unterwerfen  sind.  Prindpiell  und  rein 
theoretisch  lässt  sich  nun  wohl  der  Stand- 
punkt vertreten,  dass  die  Wohngebäude 
allein  der  besonderen  Steuer  zu  unterwerfen, 
die  wirtschaftlichen  Zwecken  dienenden  Ge- 
bäude dagegen  bei  der  Grund-  und  Ge- 
werbesteuer zu  berilcksichtigen  seien.  Aber 
man  darf  nicht  übersehen,  dass  bei  der 
Beurteilung  der  konkreten  Gesetzgebung 
immer  das  Vorliandensein  und  die  besondere 
Gestaltung  der  anderen  Ertragssteuem,  na- 
mentlich der  Grund-  und  Gew^erbesteuer, 
ihre  Höhe  etc.  beachtet  werden  muss. 
Auch  das  mag  zu  Gunsten  einer  allgemei- 
nen Häuserateuer  geltend  gemacht  werden, 
dass  es  sehr  schwer  ist,  die  zu  Wolui-  und 


Gebäiulesteuer — Gebühren 


19 


üie  zu  Gewerbezwecken  dienenden  Teile 
eines  Gebäudes  zu  trennen,  und  noch 
schwerer,  die  Steuer  da  richtig  zu  bemessen, 
wo  derselbe  Raum  {gleichzeitig  beiden 
Zwecken  dient.  Wo  die  Steuer  nicht  zu 
hoch  ist,  wo  bei  Bemessung  der  Steuer 
auf  die  Lage  der  Gebäude  und  deren 
Zweckbestimmung  Rücksicht  genommen 
wird  und  wo  die  übrigen  Ertragssteuem 
mit  der  Gebäudesteuer  ein  einheitliches 
Ganzes  bilden,  da  Ifisst  sich  eine  mehr 
oder  weniger  allgemeine  Steuer  wohl  recht- 
fertigen. 

Es  mag  hier  im  Zusammenhange  auch 
erwähnt  werden,  dass,  obwohl  die  Ertrags- 
Shigkeit  der  Wohnhäuser  nicht  bestritten 
werden  kann,  doch  die  Häusersteuer  viel- 
fach angefochten  wird.  So  hat  z.  B.  v.  Hel- 
ferich dias  Aufgeben  der  Häusersteuer  als 
Erbragssteuer  befürwortet,  iodem  er  sie  an 
dem  Beispiel  der  bayerischen  Häusersteuer 
als  auf  die  Benutzer  überwäJzt  betrachtet 
und  sie  nur  als  indirekte  Genusssteuer  bei- 
zubehalten wünscht,  welche  der  Eigentümer 
zahlt,  aber  der  Mieter  trägt.  Nun  ist  ja 
richtig,  dass  diese  Steuer  wie  viele  andei« 
überwälzt  werden  kann.  Aber  A.  Wagner 
hat  wohl  rediit,  wenn  er  sagt,  dass  es  in 
der  Praxis  von  dem  Einfluss  der  gerade 
obwaltenden  Konjunkturen  abhänge,  ob,  in 
welcher  Richtimg  und  in  welchem  Masse 
die  Steuer  überwälzt  wird,  und  dass  Miet- 
preis und  Steuerbetra^  zusammen  eine 
Grösse  bilden,  welche  sich  im  ganzen  nach 
den  Yerhältnissen  von  Angebot  und  Nach- 
frage ändern.  Jedenfalls  lässt  sich  durch- 
aus nicht  mit  Sicherheit  annehmen,  dass 
die  üeberwälzimg  der  Steuer  immer  oder 
auch  nur  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  ge- 
lingt und  aus  der  Furcht  vor  üeberwälzung 
ein  Grund  ableiten,  gerade  die  Hausrente, 
die  namentlich  in  den  Städten  in  erheb- 
lichem Masse  zur  Bildung  von  Wohlstand 
und  Reichtum  beiträgt,  von  der  Steuer  zu 
befreien. 

Litteratnr:  Die  bekannten  Lehr-  und  Hand- 
bücher, he»,  A,  Wtigner,  in  Schönberg  III,  S, 
Auß,,  S.  3^48  ff.  —  Derselbe,  Fin,  III,  8.  £56  ff., 
461  ff,  und  Ergämungshefi  zu  Teil  III,  S.  19  u. 
€Sff.  —  W,  Voeke,  Die  Abgaben,  Auflagen  und 
die  Steuer  etc,  1887,  S.  S71—S90.  —  E.  A, 
Seh&fftCy  Die  Grundsätze  der  Steuerpolitik,  1880, 
S.  SIQ — S^  und  die  Steuern,  S.  17 S.  —  JL,  v. 
Stein,   Fin,  S.  Aufl.  II,   2,  Abt.,   S.  107—128. 

—  Eheherg,  Grundriss  der  Finanzwieeenschafi, 
S.  Aufl.,  1898,  S.  172 ff.  —  Femer:  J.  v. 
Helferieh,  Reform  der  direkten  Steuern  in 
Bayern,  in  der  Zeitsehr.  f.  StaaUtw.  1878174-  — 
Vocke,  Ueber  Häuserateuer  mit  besonderer  Rück- 
^cht  auf  Bayern,  ebenda  1875.  —  v.  Philip^ 
pavich,  Art.  GtÄäudesteuer  in  Stengels  Wörter- 
burh  des  deutschen  Veraaltungsreehts.  —  So- 
üoffsky,    Besteuerung  der  Gebäude,  Riga  1892. 

—  An  SpeeiaUitteratMr  über  die  Häusersteuer 
und  Kammentare  ßr:  Preussen:  Steilberg, 


Die  Reform  der  direkten  Steuerte  1882.  —  Hen~ 
rieh,  Die  Reform  der  direkten  Steuern  in  Preussen, 
1889.  Dann  die  einschlägigen  Abschnitte  in 
Rönnes  Staatsrecht,  Bd.  IV.  —  Bayern:  Im 
Hoffmann,  Geschichte  der  direkten  Steuern  in 
Bayern,  1888.  —  Eheberg,  Revision  der  direkten 
Steuern  in  Bayern  etc.,  Jahrb.  f.  V.,  1882,  S.  57  ff. 

—  Hoelc,  HandJb.  der  ges.  fHnanzverwaltung 
im  Königrisich  Bayern,  1888,  Bd.  IL  —  Selsser, 
Die  Gesetze  Über  die  direkten  Steuern  in  Bayern, 
Bd.  I,  1882.  —  Seydel,  Staatsrecht,  Bd.  IV, 
1889,  S.  119ff.  —  Württemberg:  v.  Rieeke, 
Die  direkten  Steuern  in  Württemberg,  in  den 
württemb.  Jahrb.  1879.  —  Derselbe,  Die  neuen 
württemb.  Ste^ierkataster ,  im  Fin.-Arch.  1888, 
S.  820 ff.  —  V.  Hochstetter,  Grund-,  Gebäude- 
und  Gewerbesteuergesetz  für    Württemberg  1878. 

—  Sachsen:  Oensel,  Die  neueste  EntwickC' 
lung  dre  /^euergesetzgebung  in  Sachsen,  in  den 
Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  1879,  S.  445.  —  Walter,  Das 
sächsische  Einkommensteuergesetz,  1886.  —  Ltöbe, 
Der  Staatshaushalt  des  Königreichs  Sachsen,  1889. 

—  Baden:  Lewald,  Die  direkten  Steuern  in 
Baden,  im  Fin.-Arch.  1886,  S.  809  ff.  —  v. 
Philippovich,  Gesetze  über  die  direkten  Steuern, 
1888.  —  Hessen:  Schanz,  Die  direkten  Steuern 
Hessens  etc.,  im  Fin.'Arch.  1885,  S.  285 ff.  — 
Oesterreich:  CM/upp,  Handbuch  der  direkten 
Steuern.  —  Preiberger,  Handbuch  der  öster- 
reichischen direkten  Steuern.  —  Beer,  Staats- 
haushalt Oesterreich- Ungarns  seit  1868,  1881.  — 
V.  Lesigang,  Versuche  zur  Reform  der  direkten 
Steuern  etc.,  im  Fin.-Arch.  1889,  S.  588  ff.  — 
V.  Myrbaeh,  Die  Besteuerung  der  Gebäude  in 
Oesterreich  und  deren  Reform  1886.  —  Her- 
selbe,  Die  Reform  der  direkten  Steuern  in 
Oesterreich,  im,  Jahrb.  für  Gesetzgebung,  Ver* 
waUung  etc.  1898.  —  Q.  Gross,  Das  Gesetz, 
betreffend  Begünstigungen  für  Neubauten  mit 
Arbeiterwohnungen,  in  Zeitschrift  für  Volkswirt- 
schaft, Sozialpolitik  und  Verwaltung,  Bd.  I,  Wien 
1892.  —  England:  Vocke,  Geschichte  der 
britischen  Steuern.  —  Dowell,  History  oftaxation 
and  taxes,   4'  Dd.,   1884,   ^^'  Dd.  II  und  III. 

—  Dänemark:  Wilh.  ScharHng ,  Die 
Finanzverhältnisse  Dänemarks,  im  Fin.-Arch., 
S.  607 ff.  —  Frankreich:  v.  Kaufmann, 
Die  Finanzen  Frankreichs  1882.  —  Perroux, 
Die  französischen  direkten  Steuern  etc.,  deutsch 
von  Joppen,  1874.  —  Leroy^Beatilieu, 
Traiti  de  la  science  de  ßnances,  livre  II,  chap.  VII. 

K.  Th,  Eheberg. 


Gebühren. 


L  Allgemeines.  1.  Begriff  uod  Wesen 
der  G.  2.  ßegründmig  und  Grundsätze  der 
Bemessang  der  ü.  3.  Abgrenzung  der  G.  gegen 
andere  Einnahmearten.  4.  Arten  der  G.  5.  Er- 
hebung der  G.  H.  System  der  Gebühren- 
gesetzgebung. 1.  Charakter  der  Gebtlhren- 
^esetzgeoung  in  den  einzelnen  Ländern.  2.  G. 
der  Rechtspflege.  3.  G.  der  Verwaltung.  4.  Ge- 
bührenartige Einnahmen:  „Beiträge'^. 

I.  Allgemeines. 

1.  Begriff   und  Wesen  der  G.     Ge- 
bühren   sind    öffentlichi-echtMche   Abgaben, 

2* 


20 


Gebühren 


welche  als  specieller  Entgelt  für  die  beson- 
dei^e  Inanspruchnahme  der  Aratsthätigkeit 
öffentlicher  Behörden  nach  Massgabe  der 
veranlassten  oder  verechuldeten  Leistung 
in  von  der  Staatsgewalt  einseitig  festgesetz- 
ter Höhe  und  Ausdehnung  erhoben  werden. 

Für  das  Wesen  der  Gebühren,  welche 
nach  Charakter  und  Zweck  einen  Teil  der 
öffentlichen  Einnahmen  bilden,  ist 
entscheidend  einerseits  der  Anschluss  ihrer 
Erhebung  an  gewisse  Amtshandlungen 
öffentlicher  Organe  im  Rahmen  des  ihnen 
zugewiesenen  Wirkungskreises  und  anderer- 
seits der  Zusammenhang  der  Gebühren- 
leistung seitens  des  Pflichtigen  mit  einer 
entsprechenden  Gegenleistimg  der  in  An- 
spruch genommenen  Amtsstelle,  das  Princip 
der  speciellen  Entgeltlichkeit  Der 
oberste  Grundsatz  für  oie  Beurteilung  einer 
Abgabe  als  Gebühr  ist  demgemäßs  stets  die 
nachweisliche  Feststellung  eines  angemes- 
senen Verhältnisses  zwischen  dieser  und 
dem  Inhalte  des  geleisteten  Dienstes. 

Die  Inanspruchnahme  oder  VenuBachung 
der  behördlichen  Amtsthätigkeit  kann  eine 
doppelte  sein.  Entweder  ist  sie  eine  bloss 
mittelbare,  indem  der  einzelne  die  Mit- 
wirkung der  Staatsgewalt  zur  Förderung 
seiner  persönlichen  Interessen  nur  insoweit 
veranlasst,  als  er  zur  Sicherung,  Bestätigung 
und  Geltendmachung  der  ihm  durch  die 
allgemeine  Rechts-  und  Gesellschaftsordnung 
zuerkannten  Befugnisse  einer  besonderen 
Rechtsform  bedarf.  Hier  wird  ein  that- 
sächlich  bestehendes  Machtverhältnis  in  an- 
erkanntes Recht  verwandelt.  Das  Princip 
des  staatlichen  Eingriffs  durch  eine  Amts- 
handlung steht  von  vornherein  fest,  die  Ver- 
anlassung des  speciellen  Aktes  durch  das 
Individuum  ist  nur  für  den  Grad  der  öffent- 
lichen Thätigkeit  und  damit  für  die  Höhe 
der  zu  fordernden  Leistung  massgebend. 
Oder  sie  ist  eine  unmittelbare,  wo  von 
einzelnen  besondere  Vorteile,  die  Zuwendung 
positiver  Rechtsvorzfige  (Zugeständnisse) 
oder  die  Schaffung  einer  Ausnahmestellung 
in  gewisser  Beziehung  vom  gemeinen  Rechte 
—  Konzession,  Dispensation  —  durch  die 
Intervention  der  Staatsverwaltung  angestrebt 
werden  bezw.  durch  seine  Handlungen  ein 
Eingriff  behördlicher  Thätigkeit  veranlasst 
oder  verschuldet  ist. 

2.  Begriindoiig  und  GrandBätze  der 
Bemessnng  der  G.  Eine  ganze  Reihe 
von  staatlichen  Einrichtungen  pflegt,  unbe- 
schadet ihres  öffentlichen  Cliarakters,  doch 
thatsäclilich  vorwiegend  von  einzelnen  be- 
nutzt zu  werden,  so  dass  diese  wesentlich 
im  Interesse  gewisser  Personen  und  Be- 
vöikerungsklassen  bestehen.  Wenn  nun  die 
fraglichen  Amtsstellen  an  und  für  sich  der 
Gemeinschaft  wegen  errichtet  sind  und 
unterhalten    werden    müssten,    auch  wenn 


nur  selten  eine  Inanspruchnahme  an  sie  her- 
anträte, so  scheint  es  doch  andererseits 
wünschenswert,  diejenigen  Personen,  für  die 
und  auf  deren  Veranlassung  hin  die  einzelnen 
Handlungen  vorgenommen  werden,  speciell 
zur  Kostendeckung  heranzuziehen  und  die 
Gesamtheit  der  Steuerzahler  zu  entlasten. 
Die  Gebühren  erscheinen  so  als  Beiträge 
zur  partiellen  Bestreitung  öffentlicher  Ein- 
richtungen, und  ihre  principieUe  Berechti- 
gung beruht  daher  auf  den  ökonomisch 
differenzierenden  Einflüssen  vieler 
öffentlicher  Handlungen  auf  die  Privatwirt- 
schaften. Es  heischt  daher  die  Forderung 
einer  besonderen,  das  Eingreifen  des  ver- 
waltungslechnischen  Apparates  bedingenden 
Leistung  auf  der  einen  Seite,  eine  specielle 
Bezahlung  des  erlangten  Vorteils  auf  der 
anderen. 

Aus  den  eben  angeführten  Ursachen  muss 
das  leitende  Princip  für  die  Gebührenbe- 
messung stets  die  möglichst  scharfe  Gegen- 
überstellung von  Leistung  und  Gegenleistung 
in  ihrem  objektiven  Gehalte  sein.  Die  An- 
setzung  der  Gebühren  wird  nach  einem 
zweifachen  Gesichtspunkte  geschehen  können: 
derDeckung  der  verursachten  Kos- 
te n  (Kostenersatzmoment)  und  dem  Werte 
der  Leistung  (specielles  Entgeltlichkeits- 
moment).  Ersteres  erfolgt  regelmässig  in 
denjenigen  Fällen,  in  welchen  eine  mehr 
mittelbare  Mitwirkung  behördlicher  Thätig- 
keiten  zur  Förderung  von  Einzelinteressen 
vorliegt,  während  letzteres  dann  in  Frage 
kommt,  wenn  unmittelbar  besondere  Rechts- 
vorteUe  erreicht  werden.  Der  üebergang 
von  dem  einen  Bemessungsprincip  zum 
anderen,  von  dem  reinen  Kostenersatz  zur 
Bewertung  der  Dienstleistung  wird  sich  in 
dem  Masse  vollziehen,  als  die  betreffenden 
Staatsthätigkciten  sich  in  ihren  Wirkungen 
als  differenziale  Förderungen  des 
wirtscliaftlichen  Lebens  zu  Gunsten  einzelner 
verdichten,  sei  es,  dass  die  Förderung  im 
persönlichen  Interesse  desjenigen  liegt,  der 
die  Amtshandlung  veranlasst  hat,  sei  es, 
dass  sie  zu  Gunsten  Dritter  erfolgt,  die  den 
Schutz  ihrer  Interessen  diuxjh  die  Anrufimg 
einer  Behörde  zu  erreichen  suchen,  wobei 
der  Verletzte  eine  amtliche  Thätigkeit  ver- 
schuldet hat.  Immerhin  aber  muss  die 
Gebührenfähigkeit  des  einzelnen  Falles  nach 
dem  thatsächlichen  Umfange  und  der  be- 
sonderen Geartung  der  betreffenden  Amts- 
handlung beurteilt  werden.  Die  Herein- 
ziehung der  individuellen  Leistungsfähigkeit, 
als  Ausdruck  der  ökonomischen  Gesaratlage, 
ist  aber  für  die  Bestimmung  der  Gebülu^en 
grundsätzlich  auszuschliossen.  Hier  sind 
nur  objektive  Merkmale  des  einzelnen  Aktes, 
niemals  aber  die  subjektiven  des  Pflichtigen 
zu  berücksichtigen.  Damit  aber  ist  nicht 
gesagt,  dass  das  Gebührenwesen,  als  Ganzes 


(rebühren 


21 


betrachtet,  indirekt  ein  beachtenswertes 
Mittel  zur  Durchführung  des  sozialpolitischen 
Piindpes  der  Belastung  der  Einzelwirtschaft 
nach  dem  Grade  ihrer  besonderen  Beitrags- 
kraft darstellen  kann.  Der  Weg  aber,  dies 
zu  erreichen,  liegt  nicht  in  der  stärkeren  Be- 
lastung der  leistungsfähigeren  Wirtschaft  im 
einzelnen  Falle,  sondern  in  der  angemessenen 
Ausdehnung  oder  Verstärkung  der  Gebtihren- 
pflicht  auf  eine  grössere  Anzahl  von  Akten 
und  Amtshandlungen. 

Endlich  ist  hervorzuheben,  dass  im  Rah- 
men des  Gebührenbegriffes  aus  be- 
sonderen Rücksichten  eine  Steigerung  des 
Gebührenbetrages  über  die  Kosten  und  den 
Wert  der  Dienstleistung  eintreten  kann,  ohne 
dass  hierdm'ch  der  Gebührencharakter  der 
Abgabe  verloren  ginge.  Solche  Massregeln 
haben  meistens  einen  vorbeugenden  oder  er- 
zieherischen Charakter,  indem  man  in  ge- 
wissen Fällen  die  Benutzung  von  öffentlichen 
Thätigkeiten  möglichst  erschweren  will.  Dem 
steht  indes  der  Fall  gegenüber,  dass  die 
umgekehrten  Bestrebungen  zu  einer  Erleich- 
terung der  Abgabe  unter  teil  weisem,  ja 
völligem  Verzicht  auf  die  Erhebung  von 
Gebühren  führen  können. 

3.  Abgrenzniig  der  G.  gegen  andere 
Einnahmearten.  a)  Von  den  sogenannten 
privat  wir  tschaft  liehen  Staatsein- 
nahmen sind  die  Gebühren  dadurch  ^und- 
sätzlich  verschieden,  dass  beim  Privater- 
werb (Domänen,  Forsten,  Staatseisenbahnen, 
Lotterie-,  Bankuntemehmungen,  gewerbliche 
Staatsbeüiebe ,  werbendes  Vermögen)  der 
Staat  nach  den  allgemeinen,  auch  für  private 
Unternehmungen  im  wesentlichen  gütigen 
Bedingungen  im  privatwirtschaftlichen  Sys- 
tem arbeitet  und  daher  die  einzelnen  Er- 
werbsgeschäfte bei  einer  derartigen  Kapital- 
nutzung in  einer  der  freien  Konkiurenz 
ähnlichen  oder  nachgebildeten  monopolis- 
tischen Produktionsform  erfolgen.  Bei  den 
Gebühren  dagegen  wird  die  der  Amtshand- 
lung entsprechende  Gegenleistung  des  Ver- 
pflichteten lediglich  durch  die  einseitige 
J^ormierung  der  Staatsgewalt  bemessen. 

b)  Von  den  Einnahmen  aus  den 
öffentlichen  Staatsanstalten  (Post, 
Telegraphen,  Telephon,  Kanäle,  Strassen, 
Wege,  Brücken,  Münze,  Versicherungswesen) 
sind  die  Gebühren  gleichfalls  streng  zu 
scheiden.  Denn  es  handelt  sich  hierbei  um 
die  Inanspruchnahme  von  Dienstleistungen 
und  Kapitalnutzungon,  welche  sich  aus  dem 
Wirksamwerden  einer  Staatsanstalt  ent- 
wickeln. Die  öffentliche  Thätigkeit  be- 
schränkt sich  hier  auf  die  Sorge  für  die 
angemessene  Einrichtung  und  Verwaltung 
der  betreffenden  Veranstaltimgen ,  die  ein- 
zelnen Vorgänge  und  Funktionen  aber  lösen 
sich  vom  Kreise  der  Amtsthätigkeiten  los. 
Diese    Ausscheidung     der     behörd- 


lichen Leistung  aus  dem  Bereiche  der 
eigentlichen  Amtshandlungen,  aus  den  all- 
gemeinen Verwaltungsaufgaben ,  begründet 
einen  charakteristischen  Unterschied  zwir 
sehen  dieser  Gruppe  und  den  Gebühren. 

c)  Am  wichtigsten  ist  die  Abgrenzung 
der  Gebühren  gegen  die  Steuern.  Beiden 
ist  zunächst  gemeinsam,  dass  sie  auf  Gnmd 
von  Normen  des  öffentlichen  Rechts,  zwangs»- 
weise  mit  dem  Eintritte  des  vorgesehenen 
Ereignisses  erhoben  werden  und  Leistungen, 
Uebertragungen  aus  Sachgütern  (Vermögen, 
Einkommen)  der  Pflichtigen,  also  Zahlungen 
an  den  Staat  und  die  Selbstverwaltimgs- 
körper  darstellen,  regelmässig  mit  dem 
Zwecke,  diese  ihrerseits  zn  befähigen, 
Öffentliche  Dienstleistungen  vorzunehmen. 
Sodann  besteht  eine  weitere,  rein  äusser- 
liche  Aehnlichkeit  zwischen  beiden  darin, 
dass  bei  den  Gebühren  und  Steuern  das 
Streben  einer  richtigen  Tarifpolitik  dahin 
gehen  muss,  diuxjh  die  Aufstellung  einer 
Ober-  und  Untergrenze  (Maximum  und 
Minimum)  eine  gewisse  Abstufung  der  Sätze 
herbeizuführen  und  der  ansetzenden  Behörde 
einen  massigen  Bewegimgsspielraum  nach 
der  specieUen  Art  der  objektiven  Sachlage 
zu  gewähren. 

Hingegen  unterscheiden  sich  Gebühr  und 
Steuer  gnmdsätzlich  dadurch,  dass  bei  jener 
das  Princip  der  speciellen  Entgelt- 
lichkeit, bei  dieser  der  Gnmdsatz  der 
generellen  Entgeltlichkeit  massgebend  ist, 
dort  herrscht  eine  individuelle  Abrechnung 
von  Fall  zu  Fall  zwischen  dem  Pflichtigen 
und  dem  Fiskus  nach  dem  Inhalte  des  Ge- 
gebenen und  Empfangenen,  hier  liegt  das 
Aequivalent  für  den  ^hler  in  dem  Genüsse 
der  allgemeinen  Leistungen  des  Staates  auf 
dem  Gebiete  des  Rechts,  der  Kultur-  und 
Wohlfahrtsverwaltimg.  Die  Pflicht  zur 
Entrichtung  von  Gebühren  tritt  daher  nur 
dann  und  insoweit  ein,  als  der  besondere 
Fall  der  Inanspruchnahme  solcher  Handlun- 
gen vorliegt  Die  Zahlungspflicht  wächst 
also  sozusagen  nicht  schon  aus  der  That- 
Sache  der  Zugehörigkeit  zum  Staatsganzen 
als  solcher  heraus,  sondern  entsteht  nur  im 
Zusammenhange  mit  einem  bestinmiteu  Vor- 
fflmge  des  persönlichen  oder  Erwerbslebens. 
Der  CharaKter  einer  Abgabe  als  Gebühr 
wird  demgemäss  durch  das  Vorhandensein 
eines  besonderen  Falles  einer  beabsichti^en- 
freiwiUigen  oder  unbeabsichtigten-unfrei  wil- 
ligen Benutzung  einer  öffentlichen  Einrieb* 
tung  in  der  Erscheinungsform  der  amtlichen 
Thätigkeit  bezeichnet 

d)  Der  Uebergang  der  Gebühren 
in  die  Steuer  wird  herbeigefühlt  durch 
die  Auflösung  des  Zusammenhanges  zwi- 
schen einer  Leistimg  der  Staatsgewalt  durch 
eine  besondere  Amtshandlung  und  einer 
entsprechenden   Gegenleistung    seitens    des 


22 


Gebühren 


Abgabepflichtigen.  Mit  der  Aufhebung  des 
Bpeciellen  Entgeltlichkeitsmomentes  ver- 
schwindet auch  die  Eigenart  der  Gebühren 
als  solcher.  Die  Methode  des  üeberganges 
liegt  dann  in  der  immer  schärfer  hervor- 
tretenden  Tendenz,  neben  der  objektiven 
Geartung  des  einzelnen  gebührenpflichtigen 
Falles  auch  die  subjektiven  Beziehungen, 
die  individuellen  Vermögens-  und  Einkom- 
mensverhältnisse des  Abgabepflichtigen  bei 
Ansetzung  der  Gebühren  in  Betracht  zu 
ziehen.  Das  Hinüberwachsen  vom  Gebühren- 
gebiete in  das  Bereich  der  Besteuerung 
vollzieht  sich  dann  regelmässig  in  der  Form 
der  Verkehrssteuern  (s.  d.),  woneben 
machmal  auch  andere  Steuerarten  (z.  B. 
Vermögens-,  Einkommen-,  Rangsteuern)  vor- 
kommen. 

Die  Art  und  Weise  des  üeberganges 
kann  in  einer  zweifachen  Richtung  je  nach 
den  besonderen  Merkmalen  des  Gebühren- 
begriffes erfolgen.  Einmal  kann  der  innere 
Grund  einer  Amtshandlung  in  Wegfall 
kommen.  Dies  ist  der  Fall,  wenn  ohne 
sachliche  Motivierung  lediglich  im 
fiskalischen  lntei*esse  die  Inanspruchnahme 
behördliciier  Funktionen  angeordnet  und  die 
Unterlassung  derselben  mit  Rechtsnachteilen 
oder  Strafen  bedroht  wird.  Hier  handelt  es 
sich  häufig  um  Leistungen,  welche  der 
Staat  als  solcher  kraft  seiner  allgemeinen 
Staatsaufgaben  zu  bieten  hätte,  z.  B.  den 
Rechtsschutz  bei  Verträgen.  Aus  finanziel- 
len Gründen  wird  hier  die  Beweiskraft  im 
Prozesse  und  an  eine  Registrierung  mit 
Abgabeleistung  geknüpft ;  die  einzelne  Amts- 
handlung schliesst  demgemäss  für  den  Ab- 
gabepflichtigen gar  keinen  speciellen  Dienst 
ein,  der  besonders  zu  bezahlen  wäre.  Hier 
geht  die  Gebühr  in  die  Steuer  über.  So- 
dann aber  kann  die  Abgabe  von  vornherein 
so  hoch  bemessen  werden,  dass  zwischen 
beiden  Leistungen  das  angemessene  Ver- 
hältnis von  Kosten  und  Wert  aufgehoben 
ist,  also  mit  der  Beseitigung  der  speciellen 
Entgeltlichkeit  augenscheinlich  die  Absicht 
vorliegt,  in  Anknüpf img  an  eine  amtliche 
Thätigkeit  den  Benutzer  derselben  zu  einer 
Steuer  zu  veranlagen;  so  z.  B.  bei  einer 
5V2<>/oigen  Belastung  der  Kauf-  oder  Ver- 
steigerungssumme (Frankreich)  mit  einer 
Verkehrsabgabe. 

4»  Arten  der  G.  Nach  ihren  sachlichen 
Gnmdelementen  kann  man  folgende  typische 
Erscheinungsformen  der  Gebüliren  aufstel- 
len: 

L  Allgemeine  und  besondere  Ge- 
bühren (generelle  imd  specielle  Gebühren) 
nach  der  Bemessungsgrundlage.  Allgemeine 
Gebühren  sind  diejenigen,  bei  welchen  in 
formaler  Weise  lediglich  die  Gebührenfähig- 
keit einer  Amtshandhmg  festzustellen  ist 
(generalisierendes    Moment).      Sie    werden 


nach  Massgabe  der  verursachten  Kosten, 
d.  h.  nach  einer  annähernden,  auf  Gnmd  ge- 
machter Erfahrungen  festgestellten  Abschät- 
zung eines  Kostendurchschnittes  angesetzt. 
Die  Behandlung  erfolgt  in  Anknüpfang  au 
die  aktenmässigen  Träger  der  amtlichen 
Verhandlung,  an  die  Eingaben,  Protokolle, 
Vorladungen,  Verbeschiedungen  etc.  Zeigt 
sich  nun  im  einzelnen  FaDe  eine  specielle 
Gebührenfähigkeit  einer  Amtsthätigkeit  in- 
folge konkreter  Umstände  (specialisierendes 
oder  individualisierendes  Moment),  so  treten 
teils  konkurrierend,  teils  selbständig  beson- 
dere Gebühren  ein,  welche  das  bewegliche 
Element  des  Gebühren  wesens  zur  Darstel- 
lung bringen.  Hier  bildet  der  ungefähre 
Wert  des  Dienstes  den  Massstab  für  die 
Gebührenleistiing. 

Beispiele.  Allgemeine  Gebühren: 
Art.  1  des  G.  v.  13.  Brumaire  VH  (3.  Nov.  1798) : 
Die  Stempelabgabe  wird  auf  alle  bürgerlichen 
und  gerichtlichen  Urkunden  und  zu  Schrift- 
stücken, welche  vor  Gericht  vorgelegt  und  hier 
znr  Beweisfährang  gebraucht  werden  können, 
bestimmten  Papiere  gelegt."  Hier  liegt  der 
Uebergang  zur  Verkehrssteuer  schon  sehr  nahe. 
—  Besondere  Gebühren:  Bei  Besoldnngfs-, 
Pensions-  und  ähnlichen  Quittungen  wird  in 
Bayern  eine  verhältnismässige  Gebühr  erhoben, 
welche  sich  nach  der  abquittierten  Summe  richtet 
(Gebührenges,  v.  18.  August  1879  Art.  231 
und  232). 

Wie  aus  dem  ersten  Beispiele  ersichtlich 
ist,  kann  leicht  eine  solche  allgemeine  Ge- 
bühr einen  Steuercharakter  annehmen.  Hier- 
zu bedarf  es  nur  der  Ausdehnung  der  Ge- 
bührenpflicht auf  alle  gerichtlichen  und 
aussergerichtlichen  Urkunden  überhaupt,  wo- 
durch dann  das  Gebiet  der  Verkehrssteuern 
betreten  wird. 

2.  Einzel-  und  Bauschgebühren 
nach  der  Beziehung  der  Tarifaufstellun^. 
Bei  den  ersteren  macht  der  Gebührentanf 
die  einzelnen  Schriftstücke  namhaft  imd 
setzt  für  jedes  Stück  einen  besonderen  Ge- 
bührensatz fest.  Bei  den  letzteren  dagegen 
findet  für  den  Zweck  der  Gebührenerhebung 
die  Zusammenfassung  einer  ganzen  Reihe 
von  Amtsthätigkeiten ,  mitunter  mit  Zer- 
legimg in  einzelne  Hauptabschnitte,  statt.  In 
dem  Masse,  als  die  Bauschgebühren  die 
Einzelgebühren  verdrängen,  wird  der  Ge- 
bührentarif einheitlicher,  einfacher  und  ver- 
ständlicher. Die  Fortschritte  und  die  natur- 
gemässe  Entwickelung  der  Tarif politik  wird 
daher  auf  eine  allmäliUche  Ersetzung  der 
Einzelgebühren  durch  ein  System  von 
Bauschgebühren  hinarbeiten. 

Beispiele.  Einen  guten  Beleg  für  die 
Bauschgebühren  bildet  die  Bank  von  England, 
welche  ein  Stempelbauschale  von  60000  £  jähr- 
lich für  das  Recht  der  Banknotenanssabe  an 
den  Staat  entrichtet.  Ebenso  bezahlen  die  übri- 
gen Zettelbanken  an  Stelle  eines  Staifeltarifes 
nach  StückgrOsse  der  Banknoten  bauschalierte 


J 


Gebühren 


23 


Abfindnn^Qmmeii.  Bei  den  Gerichtskosten 
hat  sich  in  den  meisten  Staaten,  z.  B.  seinerzeit 
in  Prenssen,  der  Ueberganf  von  der  Einzel- 
geböhr  zur  Banschgebtthr  youzogen.  Vgl.  preass. 
G.  V.  10.  Mai  1851. 

3.  Feste  und  veränderliche  Ge- 
bühren nach  Art  der  Gebührensätze.  Feste 
oder  fixe  Gebühren  sind  solche,  welche 
überall,  wo  sie  zur  Anwendung  kommen,  in 
dem  gleichen  Betrage  eingezogen  werden. 
Dagegen  treten  die  veränderlichen  Gebühren 
in  nach  den  jeweiligen  Umständen  ver- 
schiedenen Sätzen  auf.  Unter  den  letzteren 
werden  ferner  unterschieden: 

a)  Rahmengebühren,  wenn  die  an- 
setzenden Behörden  einen  Spielraum  zwi- 
schen einem  Maximum  und  einem  Minimum 
haben,  und 

b)  Gradationsgebühreri,  wenn  in 
fester  Abstufung  nach  bestimmten  Merk- 
malen (Zeitdauer  des  gebührenpflichtigen 
Aktes,  Rauminhalt  des  zum  Protokollieren 
notwendigen  Papieres,  Wertsumme  etc.)  die 
Festsetzung  erfolgt.  Die  Unterarten  dieser 
Gnippe  sind  daher 

ff)  Zeit-  und  Raumgebühren,  bei 
vrelchen  die  Bemessung  nach  Raum- 
nnd  Zeiteinheiten  erfolgt,  und 

-«0  Wertgebühren,  wo  die  Wert- 
Bumme  nach  Weiteinheiten  der  ziu* 
Behandlung  stehenden  Gegenstände 
zu  Grunde  liegt.  Nach  der  Methode 
der  Ansetzung  kann  man  unterschei- 
den Klassengebühren,  wo  die 
Gebühr  nach  Klassenabstufungen  in 
festen  Sätzen  steigt,  und  Prozen- 
tualgebühren, wo  dies  in  Prozen- 
ten des  Wertes  geschieht. 

4.  Unmittelbare  (Kskus-)  und  mit- 
telbare (Diener-)  Gebühren  nach  der 
Persönlichkeit  der  zum  Bezüge  Berechtigten. 
Erstere  fliessen  aus  der  Hand  des  Gebühren- 
schuldners sofort  in  die  Staatskasse,  letztere 
werden  den  mit  den  öffentlichen  Funktionen 
betrauten  Beamten  als  Schadloshaltung  und 
meist  als  w^esentliche  Bestandteile  ihrer  Be- 
soldung für  ihre  Mühewaltung  überlassen. 

Finanztechnisch  hat  die  Ueberlassung  der 
Gebühren  an  Staatsdiener  wegen  der  Ein- 
^hheit  mancherlei  Vorzüge.  Dagegen  ent- 
zieht sie  dem  Staate  den  Ueberblick  über 
die  in  Gebührenform  erhobenen  Abgaben, 
sie  öffnet  der  Beamtenwillkür  Thür  und 
Thor,  sie  macht  (jfebührennachlässe  in  sozial- 
nolit^hem  Interesse  unmöglich  und  schafft 
Missverhältnisse  in  den  dienstlichen  Be- 
ziehungen, namentlich  dann^  wenn  die  Ge- 
haltsverhältnisse  der  mit  fixer  Besoldung 
allgestellten  Staatsdiener  weniger  günstig 
sind  £js  die  der  (}ebührenbezugsberechtig- 
ten  infolge  gewisser  örtlicher  Zustände 
(Richter  —  Geri<Atsvollzieher!).  Es  dürfte 
daher  de  le^  ferenda  die  thunlichste  Er- 


setzung der  mittelbaren  Gebühien  durdi 
unmittelbare  das  anzustrebende  Ziel  einer 
richtigen  Gebührenpolitik  sein. 

5.  Erhebung  der  6.  Die  Gebühren 
können  erhoben  werden 

1.  in  Stempelform.  Die  Einrichtung 
der  Gebühren  geschieht  hier  durch  die  Ver- 
wendung von  gestempelten  Formularen 
(Stempelblanketts)  für  die  gebührenpflichtig 
erklärten  Urkunden  bezw.  diuxjh  Auiklebung 
von  Stempelmarken  auf  die  betreffenden 
Schriftstticke.  Am  zweckmässigsten  ist  diese 
Erhebungsform  da,  wo  eine  specielle  Be- 
rechnung des  Wertes  der  Leistung  oder  der 
verursachten  Kosten  fehlen  kann  und  die 
Abgabe  den  Charakter  einer  gleichmässigen 
oder  nach  ein^hen  Merkmalen  abgestuften 
Vergütung  eines  öffentlichen  Dienstes  an- 
nimmt. 

Die  Erhebung  in  Stempelform  hat  den 
Vorzug,  dass  die  Mühe  der  Berechnung  und 
des  Ansatzes  von  der  Behörde  auf  den  Gte- 
bührenptiichtigen  übertragen  wird  und  die 
Kosten  der  Einziehung  durch  den  Verkauf 
der  Wertzeichen  ersetzt  werden  (Debit). 
Das  Rechnungs-,  Kassen-  und  Bucmmgs- 
wesen  wird  wesentlich  vereinfacht,  und  dem 
Publikum  bleiben  zeitraubende  (j^änge  zur 
Erhebungsbehörde  wegen  geringfügiger  Be- 
träge erspart.  Dagegen  muss  hier  eine 
nachfolgende  Specialkontrolle  über  die  wirk- 
liche und  richtige  Anwendung  der  vorge- 
schriebenen Stempel  stattfinden,  ferner  die 
böswillige  oder  fahrlässige  Nichtbeachtung 
der  Kontrollvorschriften  mit  Strafen  und 
Ungiltigkeitserklärungen  filr  das  Publikum 
bedroht  und  endlich  müssen  besondere  An- 
ordnungen über  Format  und  Beschreibung 
der  gebührenpflichtigen  Schriftstücke,  über 
die  Art  der  Benutzung  der  Stempelzeichen 
und  ihre  Unbrauchbarmachung  (Kassierung), 
über  Defraudationsstrafen  bei  Unterlassung 
und  über  Kontrollstrafen  bei  vorschrifts- 
widriger Verwendung  von  Stempeln  erlassen 
werden. 

Um  überhaupt  die  Erhebungsform  des 
Stempels  anwenden  zu  können,  muss  sich 
die  Fälligkeit  der  Verpflichtung  an  (Je- 
schriebenes,  Urkunden,  Eingaben,  Bescheide 
anschliessen.  Diese  ist  aber  nur  eine 
Form  der  Einziehimg  und  nur  anwendbar 
innerhalb  eines  begrenzten  Gebietes.  Sie 
fordert  ausserdem  Einfachheit  und  Niedrig- 
keit der  Gebührenansätze  und  gestattet 
immer  nur  eine  beiläuflge  oberflächliche 
Bemessung  der  Gebühren  nach  den  Kosten. 
Sobald  siÄ  aber  die  Gebühren  an  die  Amts- 
handlungen selbst,  nicht  an  die  mit  diesen 
zusammenhängenden  Urkunden  anknüpfen, 
lässt  sich  der  Stempel  nicht  verwenden. 
Im  ganzen  betrachtet  ist  die  Stempelform 
wohl  mit  die  einfachste  Erhebung  der  (Ge- 
bühren, kann  aber  der  Differenzierung  und 


24 


Gebühren 


fortschreitenden  Specialisierung  des  Gre- 
bührenwesens  nicht  folgen  und  bleibt  daher 
in  vielen  Fällen  doch  ein  mangelhaftes 
Mittel  für  die  Einziehung.  — 

2.  durch  direkte  Einziehung.  So- 
bald bei  den  gebührenpflichtigen  Handlungen 
ein  individuelles  Gepräge,  eine  Verschieden- 
heit des  einzelnen  Falles  an  die  Stelle  des 
Typischen  und  Gleichartigen  tritt  und  eine 
Bemessung  nach  dem  Inhalte  oder  Werte 
der  Leistung  erheischt,  muss  die  unmittel- 
bare Ansetzung  und  Erhebung  der  Ge- 
bühren durch  die  betreffenden  Behörden 
den  Stempel  ersetzen.  Die  direkte  Ein- 
ziehung tritt  daher  zumeist  bei  den  speciellen 
und  Bauschgebühren  ein. 

Die  Vorzüge  der  unmittelbaren  Ein- 
hebung sind  vor  allem  die  vollständige 
Sichenmg  der  Entrichtung  der  verfallenen 
Gebühren  und  die  Möglichkeit,  die  Wirkung 
der  Gebührensätze  in  den  einzelnen  Dienst- 
zweigen zu  überblicken.  Andererseits  aber 
gestattet  dieselbe  die  Beseitigung  aller  gegen 
das  Publikum  gerichteten  Kontroll-  und 
Strafmassregeln  und  macht  im  ganzen,  wenn 
auch  nicht  unbedingt,  den  Eingang  der  Ge- 
bühren von  dem  Willen  des  Pflichtigen  un- 
abhän^g.  Das  gleiche  wird  wenigstens 
teilweise  für  die  Zahlungsfähigkeit  des 
Schuldners  erreicht,  wenn  die  Bezahlung 
der  Dienstleistung  vorangeht.  Allerdings 
erfordert  die  direkte  Erhebung  auf  der  an- 
deren Seite  einen  grösseren  Verwaltungs- 
apparat, ein  zahlreicheres  Beamtenpersonal 
und  ein  umständlicheres  Kassen-  und  Rech- 
nungswesen. 

Am  einfeichsten  und  bequemsten  füi*  die- 
jenigen, welche  eine  öffentliche  Dienstleistung 
in  Anspruch  nehmen,  wäre  es,  wenn  An- 
setzung und  Einzug  von  derjenigen 
Amtsstelle  ^schähe,  deren  Thätigkeit  die 
Gebührenpflicht  begründet.  Allein  die  da- 
diuxjh  bedingte  Ausstattung  sämtlicher  Be- 
hörden mit  Kassen  und  Kassenbeamten  so- 
wie die  nicht  zu  vermeidende,  unverhältnis- 
mässige Zersplittenmg  des  Verrechnungs- 
wesens,  haben  es  empfehlenswert  erscheinen 
lassen,  die  Ansetzung  der  Gebühren  den  in 
Anspruch  genommenen  Organen  zu  über- 
tragen, mit  dem  Einzug  aber  die  Steuerbe- 
hörde oder  eine  andere  bereits  vorhandene 
Kassenstelle  zu  betrauen.  Letztere  werden 
dann  diux>h  sogenannte  Konferendenver- 
zeiclmisse  rüeksichtlich  des  voUständigen 
und  richtigen  Einzugs  der  ihnen  zur  Er- 
bung überwiesenen  Gebühren  überwacht. 

In  dem  Masse,  als  die  fortschreitende 
Entwickelung  und  Differenzierung  des  Ge- 
bührenwesens sich  verfeinert,  die  Gebühren 
aus  Gebüliren  von  Urkunden  zu  solchen  für 
die  feiniielnen  Amtsverrichtungen  werden, 
die  allgemeinen  zu  besonderen  imd  die 
Einzelgebühren  zu  Bauschgebühren  gestaltet 


werden,  wird  auch  die  Erhebung  in  Stempel- 
form der  direkten  Einziehung  mehr  und 
mehr  weichen  müssen.  Auch  mer  zeigt  der 
Werdegang  die  Tendenz,  von  der  typischen, 
schablonenhaften  Form  zur  Speciahsiening 
und  Individualisierung  fortzuschreiten. 

II.  System  der  Gebührengesetzgebniig. 

1.  Charakter  der  (rebührengesetz- 
gebung  in   den   einzelnen  Ländern.  — 

1.  Deutsches  Reich  (Reich  und  Bundes- 
staaten). Im  Deutschen  Reiche  hat 
der  Prozess  der  Ausscheidung  der  Verkehrs- 
steuern  aus  dem  Gebührengebiete  durch  die 
Erhebung  gewisser  Verkehrssteuem  als 
Reichssteuern  sowie  durch  die  einlieitliche 
Festsetzung  einzelner  Gebühren  durch  die 
Reichsgesetzgebung  begonnen.  So  werden 
als  eigentliche  Reichssteuern  erhoben  der 
Wechselstempel,  der  Spielkarten  Stempel,  die 
Stempelabgaben  von  Aktien,  Renten,  Schuld- 
verschreibungen, von  Schlussnoten  über 
Kauf-  und  sonstige  Anschaffungsgescliäfte 
und  Lotterielosen  u.  s.  w.  Dagegen  wurden 
von  den  Gebühren  einheitlich  festgesetzt: 
die  Consulatsgebühren  (R.G.  v.  1  Juli  1872 
und  vom  10.  Juli  1879  §  44),  die  Eichge- 
bühren (Taxe  V.  12.  Dezember  1869  mit 
Nachträgen  vom  30.  Juni  1870  und  6.  Mai 
1871),  die  mit  den  Standesregistern  zusam- 
menhängenden Gebühren  (R.G.  v.  6.  Februar 

1875  §  42),  die  Gebühren  betreffend  den 
Schutz  des  geistigen  Eigentums  an  Schrift- 
werken (R.G.  V.  11.  Juni  1870),  an  Werken 
der  bildenden   Künste   (R.G.   v.   9.   Januar 

1876  §  16),  an  Mustern  und  Modellen  (R.G. 
V.  11.  Januar  1876  §  12),  die  Gebühren  für 
Markenschutz  (RG.  v.  30.  November  1874 
§  7),  die  Patentgebühren  (R.G.  v.  25.  Mai 

1877  §  8),  die  Gerichtsgebühren  (Gerichts- 
kosten-G.  v.  18.  Juni  1878 ;  Gebührenordnung 
für  Gerichtsvollzieher  vom  24.  Juni  1878, 
R.G.  V.  16.  Juni  1879  betreffend  das  Reichs- 
gericht, §  2;  Nov.  vom  29.  Juni  1881;  G. 
betreffend  die  Gewerbegerichte  vom  29.  Juli 
1890  §  57),  Gebühren  für  Ausstellung  von 
Arbeitsbüchern  (Nov.  ziu-  Gew.-O.  vom  17. 
Juli  1878  §§  109  und  112),  Gebühren  für 
die  Statistik  des  Warenverkehrs  mit  dem 
Auslande  (R.G.  v.  20.  Juli  1879  §§  11—13), 
Prüfungsgebühren  für  Seeschiffer  (R.G.  v. 
30.  Mai  1870),  Gebühren  für  die  Approbation, 
als  Arzt,  Wundarzt  und  Geburtshelfer  (Be- 
kanntmachung des  Kanzlers  vom  25.  Sep- 
tember 1869)  und  die  Gebühren  für  Pässe 
und  Reisepapiere  (Bundes-G.  v.  12  Oktober 
1867  §  8). 

Viel  weniger  konsequent  und  im  ein- 
zelnen sehr  vei-schieden  hat  sich  die  Trennung 
der  Gebühren  von  den  Verkehrssteuern  in 
den  Bundesstaaten  des  Deutschen  Reichs 
voUzogen ;  zum  grossen  Teile  steckt  hier  die 
Entwickelimg  nur  in  den  ersten  Anfängen. 


InPreuBsen  hat  die  Ausscheidung  da- 
durch stattgefundeo,  dass  die  Gesetzgebung 
einerseits  tod  den  Gebühren  die  »Stemi)el- 
steuern.  (GG.  v.  7.  März  1822,  2.  September 
1862  u.  s.  w.,  besoDdere  G.  v.  31.  Juli  1895) 
lo6gel5et  UQd  andererseits  die  Erbscliafte- 
gteuer  verselbständigt  hat  (G.  v.  24.  Mai 
1891  und  G.  v.  31.  Juh  189Ü).  Für  die 
neuen  lAndesteile  sind  zaiilreiche  Sonder- 
bestimmungen  erlassen  und  diese  thuniichst 
mit  dem  Rechtsznstande  der  alteo  Provinzen 
in  Einklang  gebracht.  Kach  dem  Kriege 
1870.71  fand  infolge  der  günstigen  Finanz- 
lage die  Aufhebung  einej-  Keihe  von  Stem- 
pästeuem  statt  (G.  v.  21.  Februar  1872 
[Gesindebücher],  vom  26.  März  1873  (Ge- 
suche, Bescheide,  Geburts-,  Tauf-,  Aufge- 
bots-, Ehe-,  Trau-,  Toten-  Beei'digungs- 
Bcheine,  wo  der  Stem])el  eine  Erhebimgsforra 
der  Gebühren  war)).  Die  Gebühren  der 
nicht  sti-eiligen  Gerichtsbarkeit  sowie  die 
durch  das  GerichtskostengesetK  (E.G.  v,  18. 
Juni  1878)  nicht  geregelten  Gebühren  der 
streitigen  Gerichtsbarkeit  sind  neu  durch 
0.  V.  25.  Juni  189.T  geordnet  worden. 

lu  Bayern  hat  der  Ausscheidungspro- 
zess  der  ^  erkehrssteuem  aus  den  Gebühren 
nur  geringe  Fortschritte  gemacht,  üie  Ge- 
setzgebung hat  in  dem  Haupt-G.  v.  18. 
Auguiit  1879  (mit  verschiedenen  Nachträgen ; 
neue  Textierung  vom  Jahre  1890,  1892  und 
weitere  Aenderungen  der  Gebührensätze  vom 
Jahre  1899)  wesentüch  beide  Gruppen  zu- 
sammengefasst,  indem  sie  teUs  im  Anschluss 
an  das  R.G.  Ober  die  Gerichtekosten  vom 
18.  Jiuii  1878  die  älteren  Bestimmungen  in 
den  rechtsrheinischen  Gebietsteilen  und  in 
der  Pfalz,  in  welch  letzterer  grösstenteils 
soch  die  französischen  Gesetze  über  Stempel 
und  B^istnerung  in  Kraft  waren,  kodifi- 
zierte und  umänderte.  Eine  Ausnahme 
macht  die  Erbschaftssteuer,  die  durch  das 
G.  V.  18.  August  1879  besonders  geregelt 
nnd  als  eine  selbständige  Steuer  neben  den 
Abgaben  des  Gebflhrenwesens  eingerichtet 
wiude. 

Sachsen  hält  Gebühren  und  Urkunden- 
Stempel  auseinander  imd  hat  dtm:h  zwei 
GG.  V,  13.  November  1876  diesen  letzteren 
und  die  Erbschaftssteuer  geregelt.  Würt- 
temberg hat  seine  Gebühren  durch  das 
allgemeine  Sportelgesetz  v,  24.  März  1881 
geordnet  und  daneben  ein  besonderes  G.  v. 
24.  Mär?  1881  über  die  Erbschafts-  und 
Schenkungssteuer.  Dagegen  gehört  die 
Acciae  (G.  v.  18.  Juli  1824)  ganz  dem  Ver- 
kehrssteuergebiete an.  Die  Abschälung  der 
Veitehissteuem  von  den  Gebühren  hat  sich 
demgemfiss  in  'Württembe]^  ziemlich  voll- 
Etflndig  vollzogen ;  nur.  entliält  daa  Sportel- 
gesetz in  den  Wirtschaftssporteln,  Sportein 
.  Ton  Weinuiiunden,  vom  Erwerb  von  Liegen- 
schaften durch  Zwangsenteignung,  von  Ver- 


pachtun^D  und  Vermietungen  kommunaler 
Immobilien  etc.  verkehrssteueraräge  Bei- 
sätze. Auch  in  Baden  sind  nur  die  Erb- 
Bchafts-  und  Schenkungs-  sowie  die  Liegen- 
schaftsaccise  vom  Gebührenwesen  als  selb- 
ständige Steuern  abgelöst  (Äcciseordnung 
V.  4.  Januar  1812  mit  Abändeningen), 
während  im  übrigeu  in  den  Abgaben  für 
die  Geschäfte  dei-  Rechtspolizei verwaltimg 
(G.  v.  20.  Auglist  18Ö4  und  21.  Juni  1874} 
und  der  Civilstaatsverwaltimg  und  der 
Polizeisachen  (G.  v.  29.  Jidi  1S64  und  21. 
Juni  1H74)  beide  Gnippen  verschmolzen  sind. 
Desgleichen  hat  in  Hessen  der  Ablösungs- 
prozess  erst  durch  die  Einftihruug  einer  be- 
sonderen Erbschaftssteuer  (G.  v.  30.  August 
1884)  begonnen. 

2.  Frankreich  hat  sein  Gebühren- und 
Verkehresteuerwesen  auf  dem  Principe  der 
möglichsten  Ausdehnung  des  Systems  der 
Einzelgebühren  aufgebaut,  die  Bauschgebflh- 
ren  grundsätzlich  ausgeschlossen.  Neben 
den  nach  den  Kosten  der  veranlassten  Hand- 
lung bemessenen  allgemeinen  Gebühren  er- 
scheinen zahlreiche  specielle  Gebühren, 
welche  die  besondere  Gebührenfähigkeit  des 
einzelnen  Aktes  zu  würdigen  suchen.  Für 
die  ersteren  besteht  ein  nach  Grösse  des 
verwendeten  Papiers  abgestufter  Dimensions- 
stemjwl,  wälirend  die  letzteren  in  Form  der 
Enregistrementsgehühren  eingezo^n  werden, 
welche  teils  in  fixem  Betrage,  teils  als^ine 
prezeutiiale  Zuschlagstaxe  erhoben  weraen. 
Ausnahmsweise  treten  statt  des  Stempels  an 
die  Seite  der  Enregistrementsgehühren  die 
Gerichtsschrei  bereigcbflhreu  bei  streitigen 
Rechtssachen  für  gewisse  Urkunden  (z.  B. 
Urteilsausfeitigiuigen  für  Vormerkungen  der 
Streitsachen  in  den  Sitzungsberichten),  ferner 
die  H;^potheken gebühren  bei  den  rechts- 
polizeilichen  Förmlichkeiten  der  Hypotheken- 
eintragung und  schliesslich  die  Siegelge- 
bühren bei  Verleihung  besonderer  Reclite 
(z.  B.  Altersdispense,  Verleihung  oder  Er- 
neuerung von  Stadtwappen).  In  keinem 
Lande  ist  es  so  schwierig  wie  in  Frank- 
reich, eine  genaue  Ünterscheidimg  zwischen 
dem  Gebühren-  und  dem  Steuergebiet  fest> 
zulegpn,  da  beide  in  dem  fiskalisch  hoch- 
entwickelten Systeme  oft  unmerklich  in  ein- 
ander übergehen. 

3.0esterreich  besitzt  ein  ungemein  aus- 
gedehntes System  von  EinzelgebünreUj  durch 
welche  fast  jede  Handlung  von  u^nd- 
welcher  Erheblichkeit  im  amtlichen  oder 
bürgerlichen  Verkehr  erfasst  wird.  Hier 
treten  regelmässig  zunächst  allgemeine  Ge- 
bühren von  Urkunden,  Schriftstücken,  Doku- 
menten aller  Art  auf,  an  die  sich  alsdann 
besondere  Gebühren  für  die  einzelnen  ver- 
anlassten Ämtalianiilungen  schliessen.  Im 
Gegensatz  zur  französischen  Pi'axia  versucht 
die  tisterreichische,   die   Urkunden  gebühren 


26 


Gebühren 


selbst  thunlichst  nach  dem  verschiedenen 
Inhalte  derselben  zu  individualisieren  und 
zu  differenzieren.  Die  eigentlichen,  specieüen 
Grebühren,  welche  der  besonderen  Gebühren- 
fähigkeit des  vorliegenden  Aktes  Rechnung 
tragen,  beschränken  sich  im  wesentlichen 
auf  eine  Prozentualgebühr  von  gerichtlichen 
urteilen  imd  Erkenntnissen  und  auf  die 
Taxen  von  Gnaden  Verleihungen ,  Dienstbe- 
stellungen, Privilegierungen,  Verleihung  ver- 
schiedener Berechtigimgen ,  Zulassung  zu 
öffentlichen  Aemtem.  Gleichwie  in  Frank- 
reich, so  lässt  sich  auch  in  Oesterreich  die 
Ausscheidung  der  Verkehrsbesteuenmg  nicht 
mit  voller  Schärfe  und  Sicherheit  vornehmen. 
Die  geschichtliche  Entwickehmg  hat  in 
beiden  Staaten  durch  die  exorbitanten  Be- 
dürfnisse der  Finanzverwaltung  einen  der- 
artigen ParaUelismus  in  Ausbildung  beider 
Gebiete  erzeugt,  dass  eine  systematische 
GHedenmg  beider  Einnahmegruppen  nicht 
durchführbar  ist. 

Eine  Effektenumsatzsteuer  ist  durch  G. 
V.  18.  September  1892  neu  eingeführt  und 
durch  G.  v.  9.  März  1897  reformiert  w^orden. 
Yon  ausländischen  Aktien,  Renten-  und 
Schuldverschreibungen  vnrd  gleichfalls  nach 
G.  V.  18.  September  1892  eine  solche  erhoben. 

Ungarn  nimmt  auch  in  dieser  Beziehung 
Oesterreich  gegenüber  eine  selbständige 
Stellung  ein. 

4.  Grossbritannien.  Nach  dem  gel- 
tenden Hauptgesetz  über  Stempel  (Stamp 
Duties),  der  Konsolidationsakte  vom  Jahre 
1870  (33  u.  34  Viktoria  c.  97,  98)  hat  hier 
eine  Ausscheidung  der  Yerkehrssteuern  aus 
den  Gebühren  gar  nicht  oder  doch  nur 
stückweise  stattgefunden.  Durch  G.  v.  20. 
Juni  1899  wurde  das  Stempelgesetz  durch 
Stempel  auf  koloniale  und  fremde  Wert- 
papiere sowie  auf  Inhaberaktien  ausgedehnt. 
Einzelne  andere  Dokumente  wurden  teils 
neu  besteuert  oder  deren  Stempelsätze  er- 
höht. Nur  in  einem  Falle,  gleichwie  in  den 
meisten  Staaten,  hat  sich  der  Entwickelungs- 
prozess  ganz  vollzogen,  nämlich  bei  aer 
Erbschaftesteuer.  (Probate  Duty,  Legacy 
Duty,  Succession  Duty,  Estate  Duty  durch 
57  und  58  Vict.  c.  30  (1894)  mit  Erleich- 
terungen durch  die  Finance  Act  v.  1898). 
Ausserdem  ist  zu  beachten,  dass  die  grosse 
Mehrzahl  der  hierher  gehörigen  Abgaben 
wesentlich  steuerartigen  Inhalts  ist,  woneben 
Gebühren  laufen.  Häufig  lassen  sich  eigent- 
liche Gebühren  da  waSnrnehmen,  wo  im 
Principe  Verkehrssteuern  vorliegen,  die  aber 
durch  die  Niedrigkeit  des  Ansatzes  einen 
Gebührencharakter  annehmen,  z.  B.  bei 
Mietverträgen  von  Wohnhäusern  bis  zu  einer 
Jahresrente  von  10  £  der  Pennystempel. 
Im  übrigen  finden  sich  Gebühr  und  Steuer 
in  der  Gesetzgebung  gemischt. 

5.  Italien  und  Belgien  haben  ihre 


Gebührengesetzgebung  auf  dem  französischen 
Muster  aufgebaut  Ebenso  besitzen  die  Nie- 
derlande und  Russland  ein  reich  ge- 
gliedertes Gebühren-  und  Verkehrssteuer- 
wesen, bei  welchem  indes  das  Steuerprincip 
vorherrschend  ist.  Auch  die  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  boten  zur 
Zeit  des  Bürgerkrieges  manche  bemerkens- 
werte Erscheinung  im  Stempelwesen  und 
zeigen  auch  heute  uoch^  namentlich  in  den 
Erbschaftesteuern  der  Einzelstaaten,  manche 
Eigentümlichkeit. 

Der  Eindruck,  welchen  wir  aus  den  vor- 
stehenden üebersichten  der  Gebührengesetz- 
gebung gewonnen  haben,  lässt  sich  im  all- 
gemeinen dahin  zusammenfassen,  dass  der 
Ausscheidungsprozess  zwischen  den  ge- 
bühren- und  steuerartigen  Abgaben  noch  zu 
wenig  vorgeschritten  ist,  um  eine  klare  imd 
sichere  Abgrenzung  in  der  Praxis  zu  er- 
möglichen. Niu*  die  Erbschaftesteuem  sind 
in  den  meisten  Ländern  als  selbständige 
Verkehrssteuem  durchgängig  von  dem  öe- 
bührenwesen  losgetrennt,  was  sich  aus  der 
grossen  Bedeutung  dieser  Steuer  erklärt 
(England !).  Im  übrigen  hat  sich  im  Deutechen 
Reiche  die  Entwickehmg  am  reichsten  ent- 
faltet, indem  einesteils  gewisse  Abgaben 
vom  Gebührenwesen  losgelöst  und  in  Reichs- 
verkehrssteuem  umgewandelt  wurden,  wäh- 
rend anderenteils  einzelne  Bundesstaaten 
zwischen  Gebtihren  und  Stempelsteuern 
(Preussen,  Sachsen,  Württemberg)  unter- 
scheiden. Andere  Staaten,  wie  Bayern,  haben 
das  Gebühren wesen  und  die  Verkehrssteuern, 
ausschliesslich  der  Erbschaftssteuer,  ein- 
heitlich geordnet. 

2.  6.  der  Rechtspflege.  Gebühren  der 
Rechtepflege  sind  diejenigen  Gebühren,  wel- 
che aus  dem  Rechteverkehr  hervorgehen  und 
als  specieUes  Entgelt  für  die  Leistungen  der 
Rechteverwaltung  bei  der  Rechteprechung 
der  Gerichteorgane  zu  entrichten  sind.  Ihre 
Erhebung  erfolgt  einmal,  wenn  der  einzelne 
in  aktiver-freiwilliger  Bethätigung 
des  Rechtsverkehrs  den  Kechteschutz  der 
Gerichte  zur  Geltendmachung  seiner  Rechte 
in  Anspruch  nimmt;  sodann  aber  bei  pas- 
sivem -  zwangsweisem  Eintritt  der 
Rechteprechung,  wenn  die  Gemeinschaft 
oder  Gruppen  von  einzelnen  bei  Verletzungen 
der  Rechteordnung  oder  ihrer  Interessen 
gegen  den  Verletzer  von  Amtew^eu  oder 
auf  Antrag  durch  die  gerichtliche  Thätigkeit 
geschützt  werden.  Hier  erwächst  die  Ge- 
bührenpflichtigkeit teils  aus  einer  veran- 
lassten, teilsaus  einer  verschuldeten 
Leistung  der  Staatsgewalt  für  den  einzelnen. 

Man  unterscheidet 

1.  Gebühren  der  streitigen 
Rechtspflege  der  Civilgerichts- 
b  a  r  k  e  i  t.  Die  Begründung  einer  Gebühren- 
erhebung liegt  hier  in  dem  Schutze  und  der 


Gebühren 


27 


Obsoi^,  welche  die  Staatsgewalt  dem  ein- 
zelnen widmet,  um  seine  Person  und  sein 
Eigentum  g^en  die  -widerrechtlichen  Ein- 
und  üebergriffe  Dritter  zu  schützen.  Die 
GebührenfÖiigkeit  des  betreffenden  Aktes 
ist  nachgewiesen,  wenn  ein  offenkundiger 
Fall  der  Inanspruchnahme  einer  öffentlichen 
Anstalt  erfolgt  Eine  Forderung  der  Ge- 
rechtigkeit ist  es  daher,  dass  ein  specieller 
Entgelt  für  die  mit  Kosten  verbimdene  ge- 
richtliche Thätigkeit  bei  Behauptimg  oder 
Bestreitung  privater  Rechte  geleistet  wird. 
Dagegen  braucht  die  Deckung  der  Prozess- 
kosten durchaus  keine  vollständige  zu  sein, 
da  die  ganze  Institution  als  solche  zunächst 
im  Interesse  des  gemeinschaftlichen  Zu- 
sammenlebens besteht  imd  die  Rechtsord- 
nimg das  materielle  Substrat  der  gesell- 
schaftlichen Selbstentfaltung  ist.  Die  Ge- 
bühren sollen  im  voraus  möglichst  bestimm- 
bar sein  und  ihre  Höhe  von  der  grösseren 
oder  geringeren  Geschäftsgewandtheit  der 
amtierenden  Beamten  unabhängig  sein.  Es 
empfehlen  sich  daher  in  höherem  Masse  die 
Baiischgebühren  als  ein  System  von  Einzel- 
gebühren. Doch  hat  auch  das  Bauschsystem 
seinerseits  die  Schattenseite,  dass  ein  rich- 
tiges "Verhältnis  der  Gebührensumme  im 
Vergleich  zur  Verschiedenheit  der  Mühe- 
waltung in  den  einzelnen  Fällen  schwer  her- 
zustellen ist. 

Die  Gebühren  der  Civilgerichtsbarkeit 
stufea  sich  in  der  Regel  ab  nach  dem  un- 
gefähren Umfang  der  Prozesssache,  der 
Schwierigkeit  der  richterlichen  Thätigkeit, 
nach  Arten  der  Prozesse  und  nach  den 
verschiedenen  prozessualischen  Momenten, 
femer  nach  der  entscheidenden  Instanz  und 
endlich  nach  dem  Werte  des  Streitgegen- 
standes, unter  denselben  kann  man  zwei 
Gnippen  unterscheiden :  Gebühren  in  bürger- 
lichen Rechtsstreitigkeiten  und  Gebühren  im 
Konkursverfahren. 

DeatschesBeich:  Reichsgerichtskosten-G. 
V.  18.  Juni  imd  Nov.  v.  29.  Juni  1881  findet  An- 
wendung anf  aUe  bei  den  ordentlichen  Gerichten 
zuständigen  Rechtssachen  der  Civilprozess-  nnd 
Konkursordnnng.  Die  Landesgesetze  können 
die  Materie  nor  im  Anschluss  an  die  Grund- 
sätze des  Beichsgerichtskosteng.  regeln.  Die  Ge- 
bühren des  R.G.K.G. sind  ein  aus  Bausch-  nnd 
Einzel  gebühren  gemischtes  System  nnd  werden 
fdr  bürgerliche  Rechtsstreitigkeiten  verhältnis- 
mässig^ nach  dem  Werte  des  Streitgegenstandes  in 
verschiedenen  Klassenabstnfungen  mit  sinkender 
Skala  erhoben:  bis  20  M.  Wert  1  M.  Gebühr, 
20-60  M.:  2,40  M.;  60-120  M.:  4,60  M.;  120— 
200  M.:  7,ö0  M.;  200-300  M.:  11  M.;  300— 
450M.:15M.;  450-650  M. :  20  M. ; 650— 900 M. : 
26  M.:  900—1200  M.:  32  M.:  1200-1600  M.: 
38  M.:  1600—2100  M.:  44  M.:  2100— 2700  M.: 
50  M.;  2700-3400  M.:  56  M.;  3400-4300  M.; 
62  M.;  4300—5400  M.:  68  M.;  5400—6700  M.: 
74  M.;  6700—8200  M.:  81  M.;  82—10000  M.: 
90  M.;  für  je  20  000  M.  Wert  hnmer  10' M.  Ge- 


bühren  mehr  oder  ^1^%.  In  der  Berufungsin- 
stanz steigen  die  Sätze  nm  Vi*  in  der  Revisions- 
inst«nz  nm  V2;  die  Wertfindonff  ist  im  allge- 
meinen Sache  des  freien  richterhchen  Ermessens ; 
für  besondere  Fälle  sind  Vorschriften  für  die 
Wertberechnung  gegeben. 

Die  Erhebung  der  Gebühren  schliesst  sich 
an  die  einzelnen  Hanptmomente  nnd  Teile 
des  Verfahrens  an  nnd  erfolgt  regelmässig^  in 

t'edem  Falle  nach  den  oben  angeführten  Ein- 
leitssätzen  als  volle  Gebühr.  Diese  Hauptvor- 
gänge des  Verfahrens  sind  drei :  die  kontradik- 
torische mündliche  Verhandlung  —  Verhand- 
lungsgebühren ,  die  Beweisaufiiahme  —  Beweis- 
gebühren und  eine  andere  Entscheidung  — 
Entscheidungsgebühren.  In  diesen  drei  Formen 
erscheint  die  Gebührenleistunff  in  Form  der 
Bauscbgebühren.  Hieran  schliessen  sich  als 
Einzelgebühren  nnd  besondere  Gebühren,  Ab- 
gaben für  untergeordnete  prozessualische  Ange- 
legenheiten: beim  Mahnverfahren  für  den  Zah- 
lungsbefehl, für  den  Vollstreckungsbefehl; 
Schreibgebühren,  Portoauslagen,  Einzelgebtthren 
für  die  Thätigkeiten  des  Gerichtsvollziehers 
(Zustellungs-,  Seglaubigungs-,  Pfändungs-  etc. 
Gebühren). 

Die  Gebührenbefreiungen  sind  ent- 
weder sachliche  oder  persönliche.  Die 
sachlichen  Befreiungen  liegen  teils  in  der  Nicht- 
beachtung der  Einzelvorgän^e  zwischen  den 
Hauptvorgängen  nach  dem  Wesen  der  Bausch- 
gebühren, teils  in  der  Gebührenfreiheit  der 
Prozess-  und  Sachleitung  und  teils  in  einer 
Reihe  von  Ausnahmebestimmungen,  deren  In- 
halt und  Umfang  der  Art.  47  namhaft  hat. 
Die  persönlichen  Befreiunpfen  stehen  zu  dem 
Reiche  vor  den  Landesgerichten  und  den  Bun- 
desstaaten vor  dem  Reichsgerichte,  und  sodann 
eine  einstweilige  Gebtlhrenfreiheit  ^niesst  im 
Armenrecht  derjenige,  welcher  ohne  Beeinträch- 
tigung des  für  sich  und  seine  Familie  notwen- 
digen Unterhaltes  die  Kosten  des  Rechtsstrdtes 
nicht  trafifen  kann^  wenn  die  beabsichtigte 
Rechtsverfolgung  nicht  mutwillig  oder  aus- 
sichtslos ist.  Ausländer  gemessen  diese  Rechts- 
wohlthat  nur  bei  verbürgter  Gegenseitigkeit. 

Ein  Gebührenvorschuss  ist  von  der  kläge- 
rischen Partei  in  jeder  Instanz  zu  der  höchsten 
Gebühr,  die  für  emen  Akt  der  betreffenden  In- 
stanz angesetzt  werden  kann,  zu  entrichten  und 
bei  jeder  Erweiterung  der  Anträge  entsprechend 
zu  erhöhen.    Ausländer  als  Kläger  haben  unter 

fewissen  Voraussetzungen  den  dreifachen  Ge- 
ührenvorschuss  zu  erlegen. 

Die  Gebühren  hat  im  allgemeinen  derjenige 
zu  tragen^  welchem  durch  den  AusfaU  des 
Rechtsstreites  vom  Gerichte  die  Kosten  aufer- 
legt werden,  bezw.  derjenige,  der  durch  seine 
abgegebene  Erklärung  sicn  zur  Uebemahme 
verpnicht-et  hat. 

Die  Bestimmungen  über  die  Gebührenleis- 
tnng  bei  bürgerlichen  Rechtsstreitigkeiten  fin- 
den auch  im  Konkursverfahren  Anwen- 
dung; ihre  Höhe  richtet  sich  nach  der  Aktiv- 
masse und  nur  ausnahmsweise  nach  der  Schul- 
denmasse, wenn  sie  geringer  ist  als  die  Aktiv- 
masse. Im  übrigen  gelten  hier  ähnliche  Grund- 
sätze wie  bei  den  civilprozessualischen  Rechts- 
streitigkeiten. 

Bme  steuerartige  Höhe  der  Gerichtskosten 


28 


Gebühren 


ist  unbedingt  zu  verwerfen  und  steht  mit 
dem  Wesen  und  den  Aufgaben  der  gericht- 
liehen Amtsthätigkeit  im  Widerspruch. 

2.  Gebühren  der  eigentlichen 
Strafrechtspflege.  Der  Begriff  der 
Gebühren  schfiesst  nicht  unbedingt  einen 
wirtschaftlichen  Yorteil  für  den  Gebühren- 
pflichtigen selbst  in  sich,  sondern  wesentlich 
eine  amtliche  Handlung  imd  ein  derselben 
entsprechendes  specieUes  Entgelt  Daher 
kann  auch  mit  Recht  bei  passivem-zwangs- 
weisem  Eintreten  der  gerichtlichen  Inter- 
vention zu  Gunsten  der  Gemeinschaft  gegen 
einen  Rechts-  oder  Interessenverletzer  eine 
Gebühr  erhoben  werden.  Nur  liegt  alsdann 
die  differenziale  Förderung  des  wirtschaft- 
lichen Lebens  —  mittelbar  oder  immittelbar 
—  nicht  auf  selten  desjenigen,  wegen  dessen 
die  Inanspruchnahme  öffentlicher  Thätig- 
keiten  erfolgt,  sondern  bei  denjenigen,  welche 
gegen  das  Verschulden  des  Rechtsbrechers 
geschützt  werden.  Das  doppelte  Merkmal 
äer  Gebühren,  behördliche  Amtshandlung 
und  specielle  Gegenleistung,  ist  indes  liier 
gegeben.  Die  Höhe  der  Gebühren  ist  fest- 
zusetzen nach  den  Kosten  des  Verfahrens, 
der  Grösse  des  Vergehens  und  der  hierfür 
festgesetzten  Strafe.  Die  Erzielung  der 
vollen  Deckung  der  verursachten  Kosten 
wäre  hier  zwar  an  sich  zu  rechtfertigen, 
ist  aber  doch  praktisch  wegen  der  meist 
schlechten  Vermögenslage  des  Verui-teilten 
nicht  zu  erreichen.  Daher  findet  vielfach 
ein  Verzicht  auf  die  Erhebung  der  Gebühren 
statt. 

Deutsches  Reich:  R.G.K.G.  v.  18.  Juni 
1878  mit  Nov.  v.  29.  Juni  1881  findet  Anwen- 
dung auf  diejenigen  vor  die  ordentlichen  Ge- 
richte gehörigen  Strafsachen,  welche  der  Pro- 
zessordnnng  unterliegen.  £s  werden  erhoben: 
a)  für  die  £rhebnng  der  öffentlichen  An- 
klage im  Hauptverfahren  eine  verhältnis- 
mässige Gebühr  regelmässig  für  das  Verfahren 
der  ganzen  Instanz.  Massstab  der  Gebühren 
ist  die  rechtskräftig  erkannte  Strafe.  Die  Be- 
messung findet  statt  nach  der  Höhe  der  Strafe 
und  erfolgt  in  13  Abstufungen  von  5 — 300  Mark. 
Daneben  erscheinen  wiederum  £inzel gebühren 
für  abweisende  Entscheidnngfen,  Zurückweisung 
von  Beschwerden  etc.  In  der  Berufuiigs-  und 
Revisionsinstanz  werden  die  gleichen  Sätze  er- 
hoben, wenn  eine  Hauptverhandlnnc;  stattge- 
funden hat  und  das  Rechtsmittel  nicht  als  un- 
zulässig verworfen  wird;  bei  Mangel  einer  Be- 
weisaufnahme ist  eine  Reduzierung  der  Ge- 
bühren um  7io  statthaft.  Ermässigte  Gebühren 
bei  dem  Verfahren  mittelst  amtsrichterlichen 
Strafbefehls  =  */io  und  bei  Verwerfung  des 
Einspruchs  gegen  den  Strafbefehl  =  ^/iq.  b) 
Für  die  Erhebung  der  Privatklage,  wenn 
eine  Verurteilung  des  Beschuldigten  nicht  er- 
folgt. Privatkll^er  und  Beschuldigter  haben 
eine  gleich  bemessene,  feste  Bauschgebühr  nach 
dem  Umfang  des  Verfahrens  von  5— SiO  Mark 
in  jeder  Instanz  zu  entrichten.  Für  einzelne 
Arten  von  Entscheidungen  geringere  Gebühren. 


In  den  einzelnen  Bundesstaaten  werden 
femer  nach  landesgesetzlicher  Feststellung  Straf- 
Gebühren  eingezogen  in  Forstrügesachen, 
bei  Znwiderhandlnngen  gegen  die 
Zoll-  und  Steuergesetze  nnd  in  Poli- 
zeistrafsachen. 

Endlich  sind  neben  den  genannten  Fällen 
Geld-  nnd  Ordnungsstrafen  jeder  Art 
sowie  das  ganze  Gebiet  der  Bussen  hierher 
zu  rechnen,  welche  teils  allein,  teüs  neben  an- 
deren, besonders  Freiheitsstrafen  von  den  Ge- 
richten zuerkannt  werden. 

3.  Gebühren  der  nicht  streitigen 
Rechtspflege,  der  freiwilligen  Gerichts- 
barkeit. Bei  diesen  kommen  insbesondere 
Leistungen  öffentlicher  Behörden  zu  Gunsten 
von  Handlungsunfähigen  in  Betracht :  bei  Min- 
derjährigen, Entmündigten,  bei  Regulienmg 
von  Verlassenschaften,  bei  Kognition  gewis- 
ser Rechtsverhältnisse  imd  Thatsachen.  Die 
gerichtliche  Mitwirkung  erscheint  hier  ge- 
eignet, wo  es  sich  danim  handelt,  dui-ch 
eine  formale  Ordnung  ein  Privatrechtsver- 
hältnis nach  Umfang  und  Inhalt  gegen  jeden 
Zweifel  von  vornherein  sicherzustellen.  Die 
Leistungen  öffentlicher  Anstalten,  insonder- 
heit der  Gerichte,  stehen  hier  unmittelbar 
mit  Berechtigungen  und  Verpflichtungen  im 
Zusammenhange.  Es  ist  daher  zu  verlan- 
gen, dass  die  Gebühren  vollen  Ersatz  für 
die  den  Organen  der  Rechtspflege  erwachse- 
nen Kosten  bieten. 

Geschichtlich  und  thatsächlich  stehen 
hier  die  Gebühren  dem  Steuergebiete  sehr 
nahe.  Denn  liäufig  wird  ein  die  Kosten 
erheblich  übersteigender  Satz  erhoben,  öftei-s 
walten  sogar  steuerrechtliche  Motive  (Be- 
rücksichtigung der  Leistungsfähigkeit!)  ob 
und  haben  wir  es  daher  mit  demjenigen 
Punkte  zu  thun,  wo  die  Gebühren  in  die 
Verkehrssteuern  übergehen. 

Bei  dieser  Gruppe  ist  die  Lianspruch- 
nahme  einer  Behörde  oftmals  geboten,  oft- 
mals freigestellt.  Die  Unterlassung  wird  im 
einen  Falle  häufig  mit  Rechtsnachteilen  be- 
droht, im  anderen  die  Inanspnichnahme  mit 
Rechtsvorteilen  verbunden. 

Im  einzelnen  kommen  hier  in  Betracht: 

a)  Gebühren  in  Vormundschafts- 
und Pflegschaftssachen.  Solche  pflegen 
erhoben  zu  werden  bei  erster  Bestellung  eines 
Vormundes,  beim  Wechsel  in  der  Person  des 
Vormundes,  bei  Berufung  eines  Kurators  zu 
einzelnen  Handlungen,  bei  Vorlage  nnd  Durch- 
sicht von  Rechnungen  der  vor  mundschaft  liehen 
Vermögensverwaltung  etc. 

b)  Gebühren  oei  Nachlassre^ulie- 
rungen.  Das  Mass  der  Gebührenpflichtigkeit 
wird  dadurch  begründet,  ob  eine  gerichtliche 
Auseinandersetzung  der  Verlassenschaft  geboten 
ist  oder  ob  nur  einzelne  vorbereitende,  den 
Nachlass  sicherstellende  Handlungen  vorzuneh- 
men sind.  Hierher  gehören:  Gebühren  fürVer- 
willignng  der  Ausfolge  des  Vermögens  eines 
Verschollenen  gegen  Sicherheitsleistung  vor 
dessen  Todeserklärung,  Gebühren  für  Vornahme 


Gebühren 


29 


und  PTWfung  von  Teilungen,  Gebühren  für  die 
Kognition  über  zeitige  oder  gänzliche  Unter- 
lassung von  Teilungen;  Gebül5en  für  die  Vor- 
nahme des  amtlichen  Verschlusses  des  Nach- 
lasses (Obsignation),  für  Lösung  desselben  (Re- 
signation), Gebühren  für  Eröffnung  von  Testa- 
menten etc.  Das  leitende  Princip  ist  hier  ein- 
fache Kostendeckung  des  betreffenden  Aktes 
und  möglichst  niedrige  Bemessung  der  Ansätze. 
Bei  einiger  Höhe  schlagen  solche  Abgaben  leicht 
in  £rb3cnaftssteuern  um. 

c)  Gebühren  in  Fideikommissange- 
le^enheiten  bei  Errichtung,  Erweiterung 
und  beim  Besitzübergange.  Diese  Gebühren 
gehen  leicht  in  Steuern  über  oder  bilden  Be- 
standteile von  solchen. 

d)  Gebühren  von  Bechtsgeschäf- 
ten.  Der  Staat  hat  ein  Interesse  bei  einer 
Anzahl  von  Bechtsgeschäften,  dass  der  Ab- 
schluss  derselben  unter  Mitwirkung  staatlicher 
oder  vom  Staate  delegierter  Behörden  erfolge 
oder  doch  schriftlich  beurkundet  werde.  Daher 
wird  in  Verbindung  mit  dem  Formalismus  des 
geltenden  Privat-  und  Prozessrechtes  in  ver- 
schiedenen Bechtssystemen  und  Ländern  bei 
gewissen  Rechtsgeschäften  wegen  ihrer  beson- 
deren Wichtigkeit  oder  ihrer  allgemein  öffent- 
lich-rechtlichen Bedeutung  oder  zur  Wahrung 
und  Sicherung  der  Rechte  Dritter  die  amtliche  Be- 
stätigunfi;  und  Kognition  gefordert.  Dies  ist 
der  Fall  namentlich  bei  Liegenschaften,  bei 
Erbabferti^ungsverträgen  zur  Beseitigung  von 
Nachlasstellungen,  bei  Verträgen  über  die  Inter- 
cession  der  Ehefrau,  bei  Eheverträ^en,  bei  Le- 
gitimation unehelich  Geborener,  bei  Adoptionen 
und  Gleichstellungs vertragen  der  Nachkommen 
aus  verschiedenen  Ehen  (Vor-  und  Nachkinder)  etc. 

Gesellt  sich  aber  zu  dem  öffentlichen  Inte- 
resse noch  ein  fiskalischer  Gesichtspunkt  und 
wird  die  Gebührenpflicht  auf  alle  Verträge  von 
einiger  Erheblichkeit  ausgedehnt,  die  Unter- 
lassung der  Schriftlichkeit  mit  Rechtsnachteilen 
verknüpft  und  die  Befolgung  der  Vorschrift 
durch  Zwangsmittel  des  Prozessrechtes  ge- 
sichert, 80  w5d  die  Gebühr  zur  Verkehrssteuer. 
Gerade  hier  ist  es  besonders  schwierig,  ja  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  überhaupt  unmöglich, 
die  Grenze  zwischen  Gebühren  und  Steuern 
anzugeben. 

e)  Begistergebühren  werden  einge- 
zogen für  die  Führung  öffentlicher  Bücher  über 
persönliche  Verhältnisse,  Eigentum,  dingliche 
Kechte  an  Grundstücken  und  Gebäuden,  Pfand- 
rechte und  über  alle  an  solchen  Rechten  ein- 
tretende Veränderungen  (Grund-  und  Hypothe- 
kenbücher).  Femer  zählen  dazu:  Einträge  in 
Handels-  und  Genossenschaftsregister,  in  das 
Register  über  Autorrecht  an  schriftlichen  Wer- 
ken und  Schöpfungen  der  bildenden  Künste,  in 
die  Register  für  Modelle,  Muster,  Marken, 
Warenzeichen  und  Erfindungspatente,  Einträge 
in  Register  zur  Wahrung  von  Vorrechten  der 
Ehefrau  im  Konkurse  des  Ehegatten,  Einschrei- 
bungen von  Staatsschuldscheinen  auf  Inhaber, 
Einträge  in  die  Adelsmatrikel  und  in  Schiffs- 
register; endlich  Civilstandsregistereinträge. 

Auch  bei  diesen  Gebühren  muss  der  Grund- 
satz der  Niedrigkeit  der  Ansätze  streng  be- 
obachtet werden,  da  dieselben  Neigung  haben, 
sich  in  Verkehrssteuem  zu  verwandeln.  In 
einer  Reihe  von  Fällen  lässt  sich  diese  Erschei- 


nung wahrnehmen,  z.  B.  bei  Urheberrechten 
und  Patenten,  wo  häufig  der  Inhalt  des  ver- 
liehenen Rechtes  im  Zusammenhange  mit  dem 
zu  erwartenden  ökonomischen  Vorteile  für  die 
Bemessung:  zu  Grunde  g^elegt  wird.  Das  gleiche 
findet  nicnt  selten  beim  Mobiliar-  und  Immo- 
bDiarverkehre  statt. 

3.  G.  der  Verwaltuog.  Wenn  bei  den 
Gebühren  der  Rechtspflege  die  Gemeinschaft 
immer  mehr  oder  weniger  ein  unmittelbares 
Interesse  an  den  Amtshandlungen  hat,  sei 
es  an  der  Feststellung  gewisser  thatsächlicher 
Verhältnisse,  sei  es  an  der  Sicherung  der 
Rechtsordnung  und  des  ganzen  Rechtslebens 
als  solchem,  so  handelt  es  sich  bei  den  Ver- 
waltungsgebühren zunächst  immer  um  Son- 
derinteressen, um  die  Zuwendung  privater 
Vorteile.  Die  Gesamtheit  ist  am  einzelnen 
Falle  nur  mittelbar  interessiert,  insofern  das 
geförderte  EinzeUnteresse  in  seinen  Reflex- 
wirkungen auf  die  Entfaltungen  des  Ganzen 
befruchtend  wirkt.  Während  also  bei  den 
Rechtsgebühren  der  Venirsacher  einer  Amts- 
handlung nicht  unbedingt  eine  Fördening 
seiner  Individualsphäre  erhält,  vielmehr  das 
Eingreifen  der  Staatsgewalt  oftmals  den 
Schutz  der  Gemeinschaft  gegen  den  einzelnen 
bezweckt,  so  steht  bei  den  Verwaltungsge- 
bühren der  Gebührenleistung  des  Pflichtigen 
stets  eine  direkte  oder  indirekte  Förderung 
seiner  persönlichen  Interessen  durch  einen 
öffentlichen  Akt  gegenüber. 

Die  Verw^altungsgebühren  sind: 

1.  Allgemeine  Verw«ltungsge- 
b Uhren,  wenn  die  Gebührenerhebung  ent- 
weder im  Anschlüsse  an  Handlungen  des 
allgemeinen  Dienstbetriebes  der 
Behörden  erfolgt  oder  durch  die  Verlei- 
hung und  Bestätigung  besonderer 
Rechte  bedingt  ist.  Allgemeine  Verwal- 
tungsgebühren heissen  sie  um  deswillen, 
weil  sie  allen  Zweigen  der  Verwaltung  ge- 
meinsam sind  und  sein  können,  ohne  an 
eine  specielle  Organisation  des  technischen 
Betriebes  gebunden  zu  sein.    Sie  sind: 

a)  Anstellungs-,  Bestallungs- 
und Beförderungsgebühren.  Die 
Bestellung  von  Beamten  auf  Grund  eines 
vorgeschriebenen  Bildungsganges  und  einer 
besonderen  Vorbildung  erfolgt  aus  zwei  Ge- 
sichtspunkten:  einmal  im  öffentlichen  In- 
teresse und  sodann  aus  Gründen  der  Rück- 
sicht für  den  Bestellten.  Im  ei-steren  Falle 
will  man  die  freie  Konkurrenz  auf  gewissen 
Gebieten  des  Staatslebens  aufheben  oder 
doch  wesentlich  beschränken.  Die  Gebühr 
erscheint  dann  als  eine  Abgabe  zur  Kosten- 
deckung für  die  verursachten  Auslagen  der 
Bestallung.  Im  zw^eiten  Falle  will  man 
durch  zweckmässige  Einschränkung  des  rein 
privatwii-tschaftlichen  Systems  dem  Beamten 
eine  Erwerbsquelle  sicherstellen,  um  die 
Qualität  seiner  Leistungen  zu  erhöhen.  Hier 
ist  die  Gebühr  eine  thatsächliche  Vergeltung 


30 


Gebühren 


für  die  erfolgte  Uebertragung  eines  öffent- 
lichen Amtes.  Diese  letztere  Auffassung 
hat  indes  dazu  geführt,  den  Akt  der  Be- 
stallung nach  seinem  ökonomischen  Inhalte 
zu  würdigen  und  denselben  für  die  An- 
legung von  Sondersteuern  nutzbar  zu  machen. 

Zuweilen  wird  auf  die  Bestallimgsgebühr 
von  Seiten  des  Staates  auch  Verzicht  ge- 
leistet, wenn  die  öffentlichen  Diener  zwangs- 
weise einer  Witwen-  und  Waisenkasse  bei- 
zutreten haben,  und  insonderheit  dann,  wenn 
die  Einlagen  im  NichtbenutzungsfaÜe  für 
den  Einleger  verloren  gehen.  Zu  Gunsten 
solcher  Anstalten  kommen  dann  die  Ge- 
bühren in  Wegfall. 

Zu  den  hierher  gehörigen  Gebühren 
zählen :  die  Gebühren  für  die  Anstellung  als 
Staats-,  Gemeinde-  und  Korporationsdiener, 
sodann  bei  mittelbaren  öffentlichen  Beamten 
Gebühren  für  die  Immatrikulierung  der 
Notare  und  die  Zulassung  der  Rechtsan- 
wälte. 

Der  Uebergang  zur  Verkehrssteuer  lie^ 
vor,  wenn  die  Gebührenpflicht  auch  auf  die 
Privatbeamten  ausgedehnt  wird.  Es  liegt 
alsdann  unbedingt  ein  steuerrechtliches  Mo- 
tiv vor,  den  mit  der  uebertragung  einer 
Anstellimg  verbundenen  Wertverkehr  zur 
Leistung  heranzuziehen,  während  die  in  der 
Bestallung  von  Staatsbeamten  begründete 
Gregenleistung  einer  Amtsstelle  beim  Privat- 
beamten we^äUt  Hier  liegt  ein  gutes  Bei- 
spiel für  den  Fall  vor,  dass  durch  die  An- 
ordnung der  Benutzung  einer  öffentlichen 
Dienstleistung  ohne  sachliche  Begründung 
eine  gebührenartige  Abgabe  in  die  Steuer 
lunschlägt. 

b)  Gebühren  für  Prüfungen  und 
Befähigungsatteste.  Sie  werden  da  er- 
hoben, wo  die  Ausübung  eines  Benifes  zu- 
gleich mit  einem  Öffentlichen  Interesse  ver- 
knüpft ist.  Solche  Gebühren  werden  ent- 
weder sofort  dem  Prüfenden  überlassen  oder 
sie  werden  von  der  Staatkasse  vereinnahmt 
und  die  Priifenden  aus  der  Staatskasse  ent- 
schädigt Das  letztere  Verfahren  verdient 
den  Vorzug. 

c)  Gebühren  für  Verleihung  be- 
sonderer Rechte.  Sie  werden  erhoben, 
wo  einem  einzelnen  in  seinem  persönlichen 
Interesse  gewisse  Rechte,  namentlich  aus- 
schliessende  erteilt  werden.  Die  Bemessung 
erfolgt  hier  regelmässig  nach  dem  Werte 
der  verliehenen  Vorteile.  Solche  sind:  Ur- 
heber- und  Patentrechte,  Erteilung  der 
Rechte  einer  juristischen  Person,  Afarkt- 
gerechtigkeiten,  Apothekenberechtigungen, 
Bergwerksberechtigungen ,  Standeserhöhun- 
gen und  Nobilitierungen .  die  Verleihung 
von  Orden,  Titeln,  giademischen  Graden, 
Privilegien.  Auch  hier  liegt  das  Steuerge- 
biet sehr  nahe;  derartige  Gebühren  ver- 
wandeln sich  teils  in  Verkehrssteuern,  teils 


in    Auflagen     vermögenssteuerartigen    In- 
halts. 

d)  Gebühren  für  Exemtionen.   Sie 
sind  mit  der  eben  genannten  Gruppe  nahe  ver- 
wandt.   Sie  treten  da  ein,  wo  einzelne  eine 
Ausnahmestellung    vom     gemeinen  Rechte 
und   der   allgemeinen  Norm  beanspruchen. 
Sie  werden  in  ihrer  Höhe  passend  an  den 
Wert  des   erlangten  Vorteils  angeschlossen. 
Die  wichtigsten  FäUe  dieser  Art  sind :  Min- 
derjährigkeitsdispensatiouen,  Dispensationen 
in  Ehesachen,  Dispensation  vom  Verbote  der 
Gnmderwerbung  durch  die   tote  Hand,  Be- 
freiungen oder  Verkürzungen   der  Militäi'- 
dienstzeit,  Dispensen  in  Beerdigimgssachen. 
Zum  Teil  schlagen  diese  Abgaben  zur  Steuer 
um,  wie  bisweilen  die  Gebühren  bei  Miü- 
tärpflichtbefreiungen  in  die  Wehrsteuer. 

2.  Besondere  Gebühren,  insonder- 
heit der  Civilverwaltung  im  weiteren  Sinne, 
welche  bei  den  einzelnen  Zweigen  des 
öffentlichen  Dienstes  anfallen.  Sie  lunfassen 
im  Gegensatz  zu  den  allgemeinen  Ver- 
waltungsgebühren solche  Abgaben,  welche 
ihrem  Wesen  nach  aus  der  speciellen  be- 
hördlichen Organisation  der  Amtsstellen  ent- 
springen.   Diese  sind: 

a)  Gebühren  im  Gebiete  der  Ver- 
waltung der  auswärtigen  Angele- 
genheiten. Hierher  sind  vor  allem  die 
Consulatsgebühren  zu  zählen,  welche  von 
den  Consulaten  erhoben  werden  und  einer 
abgeschlossenen  Kreis  von  Rechts-  imd  Ver- 
waltungsgebühren im  Rahmen  der  consu 
laren  Amtsthätigkeit  darstellen.  Sie  bezie 
hen  sich  auf  die  duixjh  diese  Beamten  er 
langten  Förderungen  der  Handels-,  Ver 
kehrs-  und  Schi&hrtsinteressen ,  wie  di< 
Mitwirkung  bei  Rettungs-  und  Bergungs 
massregeln  nach  dem  Umfange  der  Arbeil 
für  Dispache  etc.  Für  die  Erhebung  gil 
im  allgemeinen  als  Regel,  dass  die  Beruf^^ 
oonsuln  (oonsules  missi)  diese  Abgaben  al 
Fiskusgebühren  für  ihren  Heimatsstaat,  di 
Wahlconsuln  als  Dienergebühren  für  sie 
persönlich  vereinnahmen.  Für  das  Deiitscli 
Reich  gut  hier  R.G.  v.  1.  Juli  1872  in 
Tarif. 

b)  Gebühren  im  Gebiete  der  in 
neren  Verwaltung.  In  dieser  Grui3j 
sind  zu  erwähnen: 

er)  Gebühren  der  amtlichen  Statin 
tik,  insbesondere  im  auswärtigen  Handel  ui 
Warenverkehr. 

„Statistische  Gebühren"  im  Deutsche 
Reiche  (R.G.  v.  20.  Juli  1879)  6  Pfennig  f 
je  100  kff  verpackte,  10  Pfennig  für  je  1000  1 
unverpackte  Waren;  10  Pfennig  für  10000  1 
bestimmter  Rohstoffe,  5  Pfennig  für  je  5  Stil 
Vieh.  Erhebung  erfolgt  in  Stempelform.  Aeli 
lieh  die  DeklaratioiiBgebilhr  in  Frankreie 

p)  Pass  geh  Uhren  für  AnssteUang:  v 
Pässen  und  Reisepapieren. 

/)    Gebühren    im    Auswanderung' 


Gebühren 


31 


wesen  für  Unternehmer  nnd  Agenten.  Neben 
der  allgemeinen  direkten  Landesbesteuerong 
nnterlie^en  diese  Gewerbe  einer  besonderen 
Konzessioniemn^.  Au  die  Seite  dieser  Abgaben 
tritt  zuweilen  eine  specielle  Gebührenerhebung 
beim  GeschlÜftsbetriebe.  Die  Einziehung  erfolgt 
hier  unter  dem  Gesichtspunkte  der  RontroÜe 
der  AuBwanderungsuntemehmer,  ihrer  Person, 
ihres  Gewerbes  und  ihrer  Geschäfte. 

Bayern:  Erlaubnis  zum  Geschäftsbetriebe 
eines  Auswandemngsexpedientenhauses  ÖO  Mark 
Gebühren,  in  Württemberg:  für  den  Unter- 
nehmer oder  Hauptagenten  100  Mark,  für  die 
Unteragenten  5—50  Mark,  für  eine  Aenderung 
in  der  Ermächtigung  des  Hauptagenten  20 
Mark  Gebühren. 

d)  Gebühren  für  Ausstellung  von 
Arbeits-  und  Dienstbüchern.  Die  Aus- 
stellung solcher  Dokumente  ist  meist  aus  so- 
zialpohtischen  Gründen  gebührenfrei;  eine  Ge- 
bühr wird  regelmässig  nur  bei  Herstellung  eines 
neuen  Dienstbuches  für  ein  in  Verlust  gerate- 
nes oder  unbrauchbar  gewordenes  („Duplikat") 
erhoben. 

f)  Gebühren  des  Gesundheitswe- 
sens für  Impfung,  Desinfizierung,  Untersuchung 
Prostituierter ,  Totenbeschau  etc.  Daneben 
werden  auch  Gebühren  erhoben  für  die  Be- 
nutzung öffentlicher,  mit  dem  Gesundheitswesen 
zusammenhängender  Einrichtungen  und  Anstal- 
ten für  Gebär-,  Kranken-,  Irren-,  S^italversor- 
gnngs-  und  Blindenhäuser,  wo  die  eigentlichen 
Kosten  durch  Staats-  oder  Gememdemittel 
bezw.  durch  Stiftungen  bestritten  werden,  wo- 
neben dann  die  Gebühren  ein  specielles  Entgelt 
für  eine  behördliche  Leistung  sind.  Diese  Ge- 
bühren erscheinen  wegen  ihres  lokalen  Charak- 
ters öfters  im  Finanzwesen  der  Selbstverwal- 
tnngskörper.  Teilweise  können  solche  Leistun- 
gen auch  „Beiträge''  sein  (s.  unten  sub  4). 

^)  Gebühren  des  Armen-  undWohl- 
thätigkeitswesens.  Es  herrscht  zwar  hier 
im  allgemeinen  das  Princip  der  Unentgeltlich- 
keit, und  die  Bestreitung  der  Kosten  ist  Sache 
des  Staates,  häufiger  aber  der  Kommunalkörper 
oder  wird  durch  Erträge  aus  Fundationen  her- 
beigeführt. Doch  treten  hie  und  da  für  die 
Auniahme,  für  Verpflegungskosten  Ersatzleis- 
tungen für  Unterstützungen  in  Armen-  und 
Waisenhäusern  ein,  insbesondere  dann,  wenn  in 
der  Heimatgemeinde  des  Betreffenden  keine 
entsprechend  Anstalt  Yorhauden  ist  und  eine 
Nachbargemeinde  die  Aufnahme  gegen  Entgelt 
gewährt. 

i7)Gebühren  für  die  Jagdausübung. 
Der  Besitz  oder  die  Pachtung  von  Jagdgründen 
berechtigt  an  und  für  sich  noch  nicht  zur  Aus- 
übung der  Jajgd,  vielmehr  wird  in  der  Regel 
die  I^sung  eines  Jagdscheines  gefordert.  Sie 
hierdurch  beschränkte  Ausübung  eines  im  Eigen- 
tum bezw.  durch  die  Pacht  begründeten  Rech- 
tes hängt  mit  der  Erlaubnis  des  Waffeutragens 
zusammen  und  hat  sich  aus  dem  älteren  landes- 
oder  grundherrlichen  Jagdregal  entwickelt. 

Preussen:  12  Mark;  Bayern:  15  Mark; 
Sachsen:  12  Mark  Jagdkarte,  B  Mark  Tages- 
karte; Württemberg:  20  Mark;  Baden  und 
Hessen:  12  Mark;  Elsass-Lothringen: 
20  Mark,  Zusatzjagdschein  für  fremde  Jagd- 
ffäste  ö  Mark.  Frankreich:  18  Francs  für  den 
Staat,  10  Francs  für  die  Gemeinde. 


c)  Gebühren  im  Gebiete  des  Kul- 
tus, des  öffentlichen  ünterrichts- 
und  Bildungswesens.  Diese  Abgaben 
sind  die  folgenden: 

a)  Kirchen-  und  Kultnsgebühren. 
Die  ersteren  werden  erhoben,  wenn  der  Staat 
oder  die  Gemeinde  als  solche  die  Kirche  und 
ihre  Diener  unterhalten,  für  die  Benutzung 
kirchlicher  Einrichtungen,  der  Kirche,  der 
Kirchhöfe  etc.;  die  letzteren  treten  ein  bei  Be- 
anspruchung kirchlicher  Amtshandlung,  der 
Taufe,  der  Beerdigung  etc.  und  heissen  meist 
Sportein  und  Stolgebühren  und  sind  Diener- 
gebühren. 

ß)  Schul-,  Unterrichtsgelder  nnd 
Kollegienhonorare  an  öffentuchen  Schulen 
jeder  Art  des  Staates  oder  eines  sonstigen 
Öffentlichen  Körpers.  Hierzu  gehören  des  wei- 
teren die  Einschreibe-(Inskription8-,  Immatriku- 
lation8-)Gebühren,  die  Eintritts-  und  Austritts- 

febühren  mit  ihren  Nebenabgaben.  Soweit  der 
chulzwang  durchgeführt  ist,  dürfte  ein  Ver- 
zicht auf  jedwedes  Schulgeld  am  Platze  sein. 
Dagegen  erscheint  die  Erhebung  eines  Schul- 
geldes bei  den  mittleren  und  höheren  Unter- 
richtsanstalten geboten,  namentlich  wenn  es 
sich  um  Fachschulen  handelt.  Das  Schulgeld 
stuft  sich  in  der  Regel  nach  der  Eigenart  der 
Schule  ab  und  steigt  mit  Ran^^  und  Zweck  der 
in  der  Schule  zugänglichen  Bildungsmittel  für 
das  Erwerbsleben.  Der  ganze  oder  teilweise 
Erlass  des  Schulgeldes  kann  auch  hier  bei 
nachgewiesener  Dürftigkeit  und  persönlicher 
Würdigkeit  erfolgen. 

Der  Charakter  der  Gebühren  steht  beim 
Schulgelde  unbedingt  fest.  Die  Unterrichts- 
und Bildungsanstalten  gehören  nicht  zu  den 
Staatsanstalten,  wie  die  Verkehrsanstalten, 
Münzwesen  u.  a.  Anstaltei^  etc.,  da  diesen 
letzteren  und  demgemäs»  auch  ihren  Einnahmen 
der  Erwerbscharakter  noch  immer  anhaftet, 
wenn  auch  nicht  so  ausschliesslich  wie  bei  den 
Grundlai^en  der  sogenannten  privatwirtschaft- 
lichen Einnahmen.  Bei  Schule  und  Unterricht 
aber  muss  ein  derartiger  Gesichtspunkt  un- 
weigerlich ausgeschlossen  werden. 

y)  Gebühren  für  Benutzung  und 
Besuch  öffentlicher  Kunst-  und  wis- 
senschaftlicher Sammlungen,  Museen, 
Bibliotheken.  Hier  ist  eine  Abgabe  an  sich 
berechtig  und  ihre  Erhebung  wohl  auch  öfters 
erfolgt  in  der  Form  von  Eintritts-  oder  Be- 
nutzun^geldem.  Doch  hat  im  allgemeinen 
diese  Einnahmequelle,  insbesondere  in  Deutsch- 
land, keine  erhebliche  Bedeutung  erlangt. 

d)  Gebühren  im  Gebiete  der 
volkswirtschaftlichen  Verwaltung. 
Wir  unterscheiden  dabei  zwei  Gruppen: 

a)  Die  Beglaubigungs gebühren 
werden  bei  denjenigen  Gelegenheiten  erhoben, 
wo  im  öffentlichen  Interesse  und  besonders  aus 
Rücksicht  auf  das  Verkehrsleben  die  Ingebrauch- 
setzung gewisser  Gegenstände  einer  obrigkeit- 
lichen Kognition  bedarf,  welche  zur  Einziehung 
einer  Abgabe  Veranlassung  giebt. 

Die  Eichgebühren  sind  Abgaben  für 
die  amtliche  Beglaubigung  der  Richtigkeit  der 
vom  Privatj^ewerbe  gelieferten  Masse  und  Ge- 
wichte. Die  Verkehrshandlungen  des  wirt- 
schaftlichen Lebens  erheischen  eine  solche  Vor- 


32 


Gebührea 


kehrung  nnbedinff't,  nm  vor  Betrug  und  lieber- 
vorteilung  zu  schützen.  Der  Gebrauch  unge- 
eichter Masse  und  Gewichte  ist  in  der  Regel 
unter  Strafe  gestellt.  Solche  Gebühren  haben, 
wenn  sie  nicht  sehr  niedrig  bemessen  sind,  das 
Bestreben,  zu  steuerartigen  Abgaben  zu  werden, 
und  bilden  dann  Bestandteile  der  Gewerbesteuer, 
ja  sogar  der  Verbrauchssteuern. 

Die  Gebühren  der  Punzierung 
kommen  zur  Anwendung  bei  amtlicher  Beglau- 
bigung des  Feingehalts  von  Ge&^enständen  aus 
edlen  Metallen.  Die  Prüfung  kann  entweder 
eine  obligatorische  oder  eine  fakultative,  eine 
ins  Belieben  der  Beantragenden  gestellte,  sein. 
Eine  massige  Gebühr  entoehrt  hier  keineswegs 
der  inneren  Berechtigung;  es  gehen  aber  diese 
Abgaben  nicht  selten  je  nach  Einrichtung  und 
Böhe  ins  Gebiet  der  Steuer  über. 

Endlich  die  Gebühren  der  Quali- 
tätsprüfung von  Produkten  und  Waren 
kommen  heutzutage  weniger  häufig  vor  als 
früher.  Die  meisten  älteren  Vorschriften  dieser 
Art  sind  in  Wegfall  gekommen.  Das  wich- 
tigste Beispiel  dieser  Art  bildet  die  sogenannte 
,, Schaugebühr ^  für  die  Fleischbeschau  in  den 
grösseren  und  grossen  Städten,  namentlich 
wichtig  wegen  der  Trichinengefahr  bei 
Schweinen. 

ß)  Die  Aufsichtsgebühren  werden 
da  zur  Verwendung  kommen^  wo  im  Interesse 
der  Gesamtheit  gewisse  pnvatwirtschaftliche 
Unternehmungen  der  fortwährenden  Aufsicht 
•durch  behördliche  Organe  bedürfen,  um  das 
Publikum  vor  Benachteiligung  zu  schützen, 
Oefahren  für  das  Arbeiterpersonal  zu  verhüten 
oder  eine  sonstige,  im  Interesse  des  Ganzen  zu 
erstrebende  technische  oder  haushälterische 
Ausnützung  von  Naturschätzen  durch  die 
Eigentümer  zu  gewährleisten.  Die  principielle 
Berechtigung  solcher  Gebühren  ist  nicht  zu  be- 
streiten ;  doch  hat  praktisch  in  manchen  Fällen 
die  Rücksicht  auf  nöhere  Interessen,  z.  B,  bei 
Fabrikinspektion,  zu  einer  Preisgabe  der  Ge- 
bühren veranlasst. 

Die  Gebühren  für  die  Apothe- 
kenrevisionen sowie  für  die  Revisionen 
von  Privatheilanstalten  werden  in 
den  meisten  Staaten  zur  Sicherung  von  Leben 
und  Gesundheit  der  Bevölkerung  erhoben. 

Die  Gebühren  für  Dampfkessel- 
proben und  -revisionen  sowie  Kontrolle 
lebensgefährlicher  Betriebe,  Besichtigungen  der 
Privateisenbahnen  verfolgen  den  gleichen  Zweck. 

Ebenso  werden  Gebühren  eingezogen  für 
die  Beaufsichtigung  von  Bergwer- 
ken von  Privaten  im  Interesse  der  Sicherheit 
des  Betriebes  und  der  Erhaltung  der  dauernden 
Betriebsfähigkeit  der  Werkes.  Das  Eingreifen 
der  Obrigkeit  hat  sich  hier  im  Laufe  der  Ge- 
schichte wesentlich  gemindert,  besteht  aber 
zum  Teil  heute  noch  und  ist  auch  principiell 
berechtigt.  Der  Uebergsng  zur  Steuer  ent- 
springt leicht  der  Höhe  der  Abgaben. 

Endlich  findet  eine  Gebührenerhebung  bei 
der  Beaufsichtigung  der  Privat-,  Ge- 
meinde-, Korporationswaldungen 
durch  die  staatlichen  Forstbeamten  statt.  Die 
Begründung  liegt  hier  auf  einem  ähnlichen 
Gebiete  wie  bei  den  Bergwerken;  man  mll 
die  Gefahr  eines  leichtfertigen  oder  gewinn- 
süchtigen   Abholzens    durch    die    Spekulation 


thunlichst  beseitigen.  Auch  die  sogenannten 
„Beförsterungsgebühren*'  als  Ent- 
gelt für  die  Mitbewirtschaftung  von  Gemeinde- 
und  Stiftungsforsten  durch  die  Staatsforstbe- 
amten ist  hierher  zu  rechnen. 

Weniger  als  der  Wirkungskreis  der  Civil- 
Verwaltung  giebt  die  Justiz-,  Militär-  und  Fi- 
nanzverwaltung. Bei  ersterer  fallen  die  beson- 
deren Verwaltungsgebühren  ohnehin  unter  die 
Gebühren  der  I^chtspflege,  bei  der  zweiten 
herrscht  allgemein  der  Grundsatz  der  Gebtthren- 
freiheit,  während  die  eventuell  vorkommenden 
Abgaben,  z.  B.  das  Wehrgeld,  Steuern  sind, 
und  endlich  auf  dem  Gebiete  der  Finanzver- 
waltung ist  nur  ein  sehr  beschränkter  Raum 
für  die  Erhebung  von  besonderen  Verwaltungs- 
gebühren. 

4.  Gebührenartige  Einnahmen:  ,3®i- 
träge".  Yon  den  Gebühren  im  erörterten 
Sinne  müssen  diejenigen  Erscheinungen  des 
wirtschaftlichen  Verkehrs  unterschieden  wer- 
den, welche  mit  jenen  nur  den  gleichen 
Namen  oder  die  homogene  Bezeichnung  ge- 
meinsam haben.  Infolgedessen  sind  vom 
Gebiete  des  Gebühren wesens  die  Fleisch-, 
Brot-,  Arzenei-  und  Ähnliche  Taxen 
auszuschliessen,  da  diese  lediglich  obrigkeit- 
lich angeordnete  Festsetzungen  der  Preise 
von  Waren  und  Leistungen  sind,  deren  Her- 
stellung jedoch  der  privaten  Erwerbsthätig- 
keit  überlassen  ist  Die  staatliche  Thätig- 
keit  ist  hier  nicht  die  Leistimg,  welche 
durch  eine  Gegenleistung  auf  selten  des 
Käufers  beglichen  wird,  sondern  sie  stellt 
nur  einen  autoritären  Eingriff  in  das  freie 
Spiel  der  bei  der  Preisbildung  wirksamen 
Kräfte  dar.  Diese  Taxen  sind  daher  auch 
keine  Abgaben,  welche  nach  Charakter  und 
Zweck  einen  Bestandteil  der  öffent- 
lichen Einnahmen  bilden.  In  die  gleiche 
Linie  sind  die  reglementären  Taxen  der 
Lohnfuhrwerke  (Droschken)  und  die 
Deserviten  der  Aerzte,  soweit  sie 
ohne  amtliche  Veriu-sachung  geleistet  werden, 
zu  stellen. 

Nicht  unbedingt  den  Gebühren  ist  aber 
noch  eine  Mehrzahl  anderer  öffentlichrecht- 
licher Abgaben  zuzuzählen.  Für  diese  Gruppe 
öffentlicher  Einnahmen  hat  man  neuerdings 
den  Ausdnick  Beiträge  oder  auch  Interessen- 
beiträge gewählt. 

Beiträge  sind  öffentlichrechtliche  Ab- 
gaben, welche  zur  Deckung  eines  entstan- 
denen Aufwands  von  solchen  Personen, 
Wirtschaften  oder  Wirtschaftsgruppen  zu 
reichen  sind,  welche  bestimmte  Einrich- 
tungen und  Anstalten  aussc^hliesshch  oder 
(loch  vorwiegend  in  Anspruch  nehmen.  Sie 
sind  Entgelte  für  Leistungen  von  obrigkeit- 
lichen und  öffentlichen  Instituten,  welche 
aber  keine  eigentlichen  Amtshandlungen  vor- 
nehmen. Diese  Beiträge  erscheinen  somit 
als  Steuerpräzipuen  oder  Prä  zip  u  al- 
leist ungen,  welche  in  durch  die  obrig- 
keitliche Gewalt  einseitig  bemessener  Höhe 


j 


Gebührea 


33 


festgesetzt  werden.  Ihre  Aufgabe  ist  wesent- 
lich die  Deckung  der  Kosten  dieser  Ein- 
richtungen in  der  verursachten  Höhe:  sie 
soUen  nicht  nur  ziu:  Bestreitung  dieser  sjpe- 
eiellen  Ausgaben  beitragen  —  wie  die  Ge- 
bühren — ,  sondern  den  Aufwand  in  der 
Hauptsache  decken.  Die  in  Anspruch  ge- 
nommenen Anstalten  sind  zun&chst  und  in 
erster  Linie  von  diesen  »Beiträgen«  zu  unter- 
halten, Zuschüsse  Dritter,  d.  h.  solcher,  für 
welche  jene  Institute  nicht  errichtet  sind 
(Staat,  Gemeinde,  Stiftungen),  haben  einen 
mehr  subsidiären  Charakter  und  treten  nur 
ergänzend  ein,  wenn  die  eigenen,  durch  Bei- 
träge gewonnenen  Einnahmen  sich  als  un- 
zulänglich erweisen. 

Die  wichtigsten  Arten  der  Beiti'äge  sind 
folgende : 

1.  Staatsverwaltungseinnahmen 
oder  Anfälle,  welche  aus  der  Thätigkeit  der 
Verwaltung  bezw.  der  verschiedenen  Yer- 
waltungszweige  erwachsen.  Sie  haben  meist 
einen  sehr  heterogenen  Charakter  und  sind 
häufig  mit  Bestandteilen  anderer  Einnahme- 
arten, namentlich  aber  mit  privatwirischaft- 
lichen  Elementen  unteimischt. 

2.  Einnahmen  der  öffentlichen 
Staatsanstalten,  wie  diejenigen  der 
Post-  und  Telegraphen  Verwaltung;  femer 
die  Strassen-,  Brücken-,  Weg-,  Fähr-  und 
Krahnengelder  imd  die  Niederlage-,  Markt- 
und  Messabgaben,  allenthalben  Einkünfte, 
welche  mit  der  Gestaltung  des  Verkehrs- 
wesens im  Zusammenhang  stehen. 

Mit  dieser  Gruppe  dürfen  aber  die  Ein- 
nahmen aus  den  grossen  'Transportunter- 
nehmungen des  Staates,  vornehmlich  aus 
der  Verwaltung  der  Staatseisenbahnen  so- 
wie aus  sonstigen  Staatsbetrieben  wie  Lot- 
terieen,  Bankwesen  u.  s.  f.  nicht  verwechselt 
werden.  Denn  bei  diesen  ist  die  ganze 
Wirtschaftsart  auf  die  Erzielung  von  ü  e  b  e  r- 
schüssen  gerichtet,  welche  z.  T.  ganz  er- 
hebliche Beiträge  für  den  Staatanaushalt 
bilden.  Diese  Staats-  bezw.  öffentlichen 
iänküufte  sind  daher  den  privat-(erwerbs-) 
wirtschaftlichen  Einnahmen  beizuzählen. 

3.Beiträge  des  Arbeiterversiche- 
rnngswesens.  Bei  öffentlichen,  nament- 
lich auf  Zwang  beruhenden  Kafisen  und  (öffent- 
lichen) Versicherungseiurichtungen  müssen 
die  Mittel  zur  Durchführung  des  Versiche- 
mngszweckes  durch  Beitragsleistungen  der 
versicherten  Arbeiter  und  Arbeitgeber  im 
wesentlichen  aufgebracht  werden.  An  dieser 
Sachlage  wird  grundsätzlich  nichts  geändert, 
wenn  auch  Dritte  (Reich,  Staat  etc.)  Zu- 
schüsse leisten. 

4  Beiträge  bei  Benutzung  von 
Spitälern,  Krankenhäusern,  Sana- 
torien. Neben  den  schon  früher  (s.  o. 
sub  n,  3.  2  b.  f.)  erwähnten  Gebühren  im 
Bahmen  aes  Gesundheitswesens  werden  von 

Handwörterbuch  der  StaatswineiiBchafteii.    Zweite  Auflage.     IV. 


den  Benutzem  dieser  Anstalten  überhaupt 
oder  von  einzelnen  Gruppen  (z.  B.  Wohl- 
habenden, Nicht-Stiftungsberechtigten)  noch 
besondere  Leistungen  verlaugt,  welche  zur 
Bestreitung  der  verursachten  Kurkosten  be- 
stimmt sind. 

5.  Beiträge  für  Benutzung  von 
(städtischen)Wasserleitungen,  Schlacht- 
häusern, Gas-  und  elektrischen  Lei- 
tuuffen  sowie  die  Kanal-,  Hafen-  und 
ähnlichen  »Gebühren«.  Auch  hier  kon- 
kiurieren  häufig  wirkliche  Gebühren  mit 
diesen  Beiträgen,  z.  B.  »Schaugebühren«  für 
die  Fleischbeschau  mit  »Beiträgen«  für  die 
Benutzung  des  Schlachthauses  und  seiner 
Einrichtungen. 

Lltteratur  S  Mau,  Grundsätze  der  I^humztjnasen' 
schoß  ii  227— 146.  —  Pfeiffer,  Staataeinnahmen, 
Stuttgart  1866,  1,  294 — S6L  —  v.  Hock,  Die 
öffentlichen  Abgaben  und  Schulden,  Stuttg,  186S, 
§^  4,  SS,  S4,  —  Utnpfenhaeh,  Lehrbuch  der 
Finanzwissenachaß,  2.  Aufl.,  Stuttg,  1887,  §§  42  ff, 

—  Stein,  Fin.  II,  1,  Ä  1S9,  248,   6.  Aufl,  — 
J^eumann,   Steuer,  Leipzig  1887,  I,  K,  4 — 5. 

—  SchaU,  Abh.  in  Schönberg  III,  4.  Auß.,  S* 
lOS,  Tübingen  1891,  S.  97,  —  Boscher,  System 
IV,  §§  22  ff.  —  Wagner,  Fin,  II,  2,  Aufl., 
Leipzig  1890,  S,  SS  ff,  —  Sax,  Grundlegung, 
Wien  1887,  S,  444 ff,  472 ff,  —  Vocke,  Ab- 
gaben, Auflagen  und  die  Steuer,  Stuttgart  1887, 
S.  22s,  565,  572,  —  Colvn,  Finanzwiszenschaft, 
Stuttgart  1889,  bez.  Buch  I,  Kap.  S,  —  Schäfße, 
Grundsätze  der  Steuerpolitik,  TiUnngen  1880, 
S,  62,  457,  496—607.  —  Beraelhe,  Steuern, 
Allg.  Teil,  Leipzig  1896  §§  2S  und  I4S  (Handb, 
der  StcuUsiüissensehaften).  —  Eheberg,  Finanz- 
wissenschqß,  6.  Aufl.,  Erlangen  1898,  S.  107.  — 
Ehlers,  Stellung  der  Gebühr  im  Abgabesystem, 
Schanz*  Fin.-Arch.  Bd.  XIII,  S.  489-619.  — 
Koczynshi,  Untersuchungen  über  ein  System 
des  österreichischen  Gebührenrechts,  ebenda  Bd. 
XV,  S,  1—124.  — ■  V.  Mayr,  Art.  »Gebührenvi 
in  Stengels  Wörterb,  des  deutschen  VerwaltwagS" 
rechtes;  Bd.  I,  S.  466  ff,,  mit  Zusätzen  in  den 
drei  Ergänzungsbänden.  —  v.  Hecket,  Artikel 
nGebührena  im  H.  d.  St.,  1,  At^,,  Bd.  III,  S, 
70Sff.  —  Derselbe,  Art,  »Gebührenn  im  n  Wörter* 
buch  der  Volkswirtschaf  tu,  Bd.  I,  S.  782  ff.  — 
Adann  Smith,  Wealth  of  Nations,  b,  V,  ch,  1, 
2.  u.  4.  Abt.,  ch,  2,  1.  Abt,  —  J.  Stuart  MiU, 
Principles  0/  PoUtical  Economy,  b,  V,  ch,  6.  — 
Eequirou  de  Parieu,  Traiti  des  impots,  Paris 
1888 ff.,  III,  166.  —  Leroy-BeauHeu,,  Traiti 
de  la  science  des  finances,  Paris  1888,  4*  ^^*  J* 
ch.  9,  —  Qarnier,  Traiti  des  finances  4  ^»t 
Paris  1882,  ch.  10.  —  Benia,  L'impot,  I,  Sirie, 
BruxeUes  1889,  p,  46  (die  einzige  französische 
Arbeit,  welche  eine  scharfe  Trennung  zwischen 
Gebühren  und  Steuern  durchführt),  —  Beeohra^ 
8of,  Impot  sur  les  a,etes,  in  den  MSmoires  de 
l'AccuUmie  de  St.  Petersbourg,  VII.  Serie,  Tome 
X,  Nr.  14  (1866).  —  Vergl.  auch  den  LUteratur' 
nachweis  beim  Art,  »  Verkehrssteuer«, 


Max  von  Hechel, 


34 


Geburtenstatistik 


Geburtenstatistik. 

1.  Aufnahme.  2.  Internationale  Vergleiche. 
3.  Gebnrtszififer.  4.  Schwankungen  der  Ge- 
burtsziffer. 6.  Eheliche  Fruchtbarkeit  6.  Un- 
eheliche Fruchtbarkeit.  7.  Geborene  nach  dem 
Geschlechte.  8.  Totgeburten.  9.  Uneheliche 
Geburten.     10.  Mehrgeburten.    11.  Geburtszeit. 

L  Anfnahme.  Die  Ee^isterführung 
liefert  die  Unterlagen  für  die  Geburten- 
statistik in  der  Form  von  Listen  oder  Zähl- 
karten, welche  die  erforderlichen  Angaben 
über  die  Geborenen  und  deren  Eltern  auf 
Grund  der  in  die  Geburts-  bezw.  Tauf- 
register (für  Totgeborene  in  die  Sterbe- 
register) erfolgten  Eintragungen,  zuweilen 
auch  über  den  Inhalt  der  Register  hinaus- 
gehende, für  Zwecke  der  Verwaltung  und 
Wissenschaft  verwertbare  Nachweise  ent- 
halten. Die  für  die  statistische  Verarbeitung 
bestimmten  Listen  oder  Zählkarten  ^eben 
in  der  Regel  Auskunft  über  die  Registeiv 
nummer  und  die  Geburtsgemeinde,  den  Vor- 
und  Familiennamen,  das  Geschlecht,  die 
Lebensfähigkeit  (ob  lebend  geboren  oder 
totgeboren),  die  Zeit  der  Geburt  nach  Tag 
und  Stunde,  sowie  ob  dieselbe  eine  ehe- 
liche oder  uneheliche  ist,  bei  Zwillings-, 
Drillings-  imd  anderen  Mehrgeburten  ausser 
der  betreffenden  Angabe  auch  den  Hinweis 
auf  die  Registemummem  der  übrigen  Mehr- 
lingskinder,  das  Religionsbekenntnis  der  Ge- 
borenen, das  Alter  und  Religionsbekenntnis, 
den  Stand,  Beruf  oder  Erwerbszweig  sowie 
die  soziale  Stellung  (Stellung  im  Berufe) 
des  Vaters  und  der  Mutter  (bei  unehelich 
Geborenen  nur  der  Mutter)  und  die  Angabe, 
das  wievielste  Kind  der  betreffenden  Ehe 
daß  geborene  ist,  Nachweise  über  Körper- 
länge, Brustumfang  und  Gewicht  der  Gebo- 
renen können,  so  wissenswert  diese  Angaben 
für  die  Anthropologie  auch  sind,  in  die  für 
die  amtliche  Statistik  bestimmten  Listen 
öder  Zählkarten  über  Geburten  nicht  aufge- 
nommen werden,  weil  im  allgemeinen  nur 
in  den  wenigen  Fäüen,  in  denen  die  be- 
treffende Geburt  in  einem  Krankenhause 
oder  einer  Entbindungsanstalt  stattgefunden 
hat,  zuverlässige  Auskunft  zu  erhalten  sein 
würde.  Auch  über  die  Abstammimg  der 
Eltern  bezw.  des  Kindes  lassen  sich  in  den 
europäischen  Staaten  brauchbare  Unterlagen 
für  die  Geburtenstatistik  nicht  beschaffen, 
weil  die  Rassenkreuzungen  so  mannigfaltig 
sind,  dass  sie  statistisch  nicht  mehr  erfasst 
werden  können;  man  kann  sich  indessen 
der  Angaben  über  das  Religionsbekenntnis 
der  Eltern  in  einzelnen  Ländern  bedienen, 
um  nach  bestimmten  Richtungen  (z.  B.  über 
die  eheliche  Fruchtbarkeit,  das  Vorkommen 
von  Mehrgeburten,  die  Lebensfähigkeit  der 
Geborenen)  für  einzelne  Rassen  (z.  B.  Polen, 
Juden,   Deutsche)   einige  Auskunft  zu  ge- 


winnen. In  Kolonialländem  sind  Angaben 
über  die  Abstammung  der  Geborenen  zu 
beschaffen,  und  namentlich  die  Geburten- 
statistiken von  Canada,  Honduras,  Britisch- 
Indien,  Australien,  Dänemark  und  der  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika  entiialten 
wertvolle  Nachrichten  über  die  Rassen- 
kreuzungen.  Die  amerilumische  Statistik 
unterscheidet  hierbei  vier  Rassen  —  Weisse,- 
d.  h.  Personen  europäischer  Abkunft  (white), 
Neger  (ooloured),  Indianer  (indian)  und 
Mongolen  (chinamen).  Von  Mischlingen 
kommen,  vereinzelte  Fälle  abgerechnet,  nur 
in  Betracht  die  Nachkommen  aus  Verbin- 
dungen weisser  Männer  mit  Ne^rinnen 
(Mulatten)  oder  Indianerinnen  (Mestizen),, 
zwischen  weissen  Männern  bezw.  Frauen 
mit  Mulatten  (Quarteronen),  zwisdien  Mu^ 
latten  und  Indianerinnen  (Sambos). 

2.  Internationale  Vergleiche.  Für  in- 
ternationale Vergieichungen  ist  die  Geburten- 
statistik nur  nach  wemgen  Richtungen  zu 
verwerten,  da  die  Art  der  Gruppierung  der' 
beobachteten  Thatsachen  in  den  verschiede- 
nen Staaten  nicht  übereinstimmt  Im  briti- 
schen Reiche,  Ungarn,  Portugal,  Serbien 
und  Japan  werden  z.  B.  Totgeburten  nicht 
registriert,  ebenso  im  europäischen  Russ- 
land seit  1884;  auch  werden  in  einigen 
Staaten  diejenigen  Geborenen,  welche  bis 
zur  Registnerung  der  Geburt  verstorben 
sind,  zu  den  Totgeborenen  gezählt.  Im 
Deutschen  Reiche  werden  als  totgeboren  in 
die  Sterberegister  alle  vor  oder  während 
der  Geburt,  d.  h.  bis  zur  Abtrennung  des 
Kindes  von  der  Mutter,  Grestorbenen  sowie 
leblos  aufgefundene  Neugeborene  eingetra- 
gen, sofern  dieselben  bereits  ihrer  sonstigen 
Entwickelung  nach  als  lebensfähig  anzu-* 
sehen  sind.  In  Preussen  und  den  meisten 
anderen  deutschen  Staaten  gelten  nur  Ge- 
borene, welche  mindestens  6  volle  Monate 
nach  der  Erzeugung  geboren  worden  sind, 
als  lebensfähig;  jüngere  werden  als  Früh- 
geburten (Fehlgeburten)  bezeichnet  und  zwar 
in  einigen  Landesteilen  registriert,  jedoch 
nicht  zu  den  Totgeborenen  der  amtiichen 
Statistik  gezählt.  Die  Mehrgeburten,  die 
eheliche  oder  uneheliche  Geburt,  das  Alter 
und  Religionsbekenntnis  der  Eltern,  deren 
Beruf  und  Erwerbsthätigkeit  bezw,  soziale 
Stellung  sowie  die  Geburtenfolge  werden 
ebenfalls  nur  in  einzelnen  Staaten  statistisch 
er£asst.  Am  weitesten  in  die  Vergangenheit 
zurückreichende  Nachweise  der  Geburten- 
statistik sind  für  Schweden  und  den  preussi- 
schen  Staat  vorhanden;  für  internationale 
Vergleichungen  enthalten  reichhaltige  An- 
gaben der  sdljährlich  erscheinende  Statistical 
abstract  for  the  priucipal  and  other  foreign 
countries  des  Registrar-general  of  England 
and  Wales,  Luigi  Bodios  Movimento  dello 
stato    civile,    confronti   intemationali ,    die 


OeburteD  statlBtik 


Statistique  de  la  France  (Paris  1875)  von 
Maurice  Block  und  die  von  mir  bearbeitete 
BevOUierungslclire  und  Bevölkeningepolitik 
(Leipzig  1898), 

3.  Gebnrtsüiffer.  Als  einfachster  ziffer- 
mSsmger  Ausdruck  für  den  durch  Geburten 
TeratuasBten  Zuwachs  der  Bevölkening  dieat 
die  Geburtaziffer,  d.  i.  die  Zahl  der 
wäfareud  eines  Jahres  auf  je  1000  PeiMneti 
inoertialb  eines  bestimmten  Gebietes  (Staat, 
Provinz,  Bezirk,  Gemeinde)  oder  bestimmter 
Gebiels^ruppen  (Städte,  Landgemeinden, 
Outsbezirke)  oder  bestimmter  Bevölkerungs- 
gruppen  (Rassengruppen ,  Religionsgemein- 
schaften, Beru^  und  Erwerbs-  bezw. 
Sozialgruppen)  vorgekommenen  Geburten. 
In  den  meisten  Staaten  wird  die  Geburts- 
ziffer aus  der  Veorgleichung  des  Standes  der 
Bev&lkerung  nach  den  Ereebnissen  der 
Volkszählungen  mit  der  Zahl  aller  (lebend 
und  tot)  Geborenen  bestimmt ,  wobei  die 
Zahl  der  Lebenden  för  die  zwischen  zwei 
Zählun^n  liegenden  Jahre  entweder  durch 
Interpolation  oder  unter  Berücksichtigung 
des  L'eberschuBsee  der  Geburten  und  Ein- 
wanderuDgen  über  die  Sterbefälle  und  Äus- 
'wandeningen  berechnet  wird.  Wo  es  an- 
gftngi^  ist  (z.  B.  in  Städten  mit  zweckmässig 
eii^erichletem  Meldewesen  für  Ab-  und 
ZuzQge),  wird  man  den  Stand  der  Bevöl- 
kerung filr  die  Jtonatsan  fange  feststeUen 
und  den  Kittelwert  aus  diesen  Zahlen  für 
das  Jahr  bestimmen;  doch  äussert  sich  der 
l'nterechied  gegen  die  Berechnung  mit  Hilie 
des  zu  Anfang  bezw.  Ende  des  .Mires  vor- 
handenen BevölkerungBstandes  nur  an  der 
ereten  Decimalstelle  der  Geburtsziffer  im 
Betrage  bis  zu  -|-  2.  Ueber  die  Geburts- 
ziffer der  wichtigsten  europäischen  Staaten 
gebt  für  die  Jahre  1879  bis  1888  folgende 
Tabelle,  in  welcher  die  Lebendgeburten  von 
den  Totgeburten  unterschieden  sind,  Aus- 
kunft 


Ge- 


Lebend- 


Staat 

bnns- 

ge- 

Toti 

ziffer 

boren 

Dentschea  Beicb 

38,7 

37,J 

I 

davon  Preossen 

39,4 

37,9 

„      Bajem 

38,8 

37,5 

1' 

„      Sachsen 

43.8 

42,1 

„    Württemberg  38,7 

37,3 

1, 

„      Baden 

35,» 

34,  [ 

Oesterreich-  Ungarn 

40,8 

davon  Oest«mach 

39,5 

38,4 

Ungarn 

44,1 

3",7 

Niederlande 

36^6 

34,8 

1'. 

Dinemark 

33,5 

32,5 

1.C 

Norwegen 
Schweden 

31,9 

30,4 

30,9 
29,6 

'4 

45ii 

45,0 

0, 

Brnnänien 

36,9 

36,5 

°f 

Bulgarien 

Seifien 

36,4 

36;3 

40,2 

luliea 

3»;» 

37,0 

1,3 

Ge-  Lebend-  rp„f„.._ 

Staat            bnrtB-           ge-  ™8^ 

Ziffer  bSren  '«"^ 

Schweiz  fnnr  1888)     27,8           26,7  1,1 
Frankteich                      ,             23,9 

Belgien                        32,2           30,7  1,5 
Portugal  (1886/87)          .             36,1 

4.  SchwanküDgen  der  Geburtaziffer. 

Wegen  der  Verechiedenheiten  in  der  Re- 
gistrierung der  Totgeburten  sind  nur  die 
in  der  mittleren  Spalte  (Lebendgeburten), 
enthaltenen  Zahlen  untereinander  ein^r- 
massen  vei'gleichuogsfähig.  Ueber  dieZahl, 
der  auf  1000  Personen  des  Standes  der  Be- 
völkerung jährlich  vorgekommenen  Lebend- 
geburten finden  sich  in  meiner  Bevölkenings- 
lehre  für  die  Jahrzehnte  von  1841  bis  1870 
und  die  Jahrfünfte  von  1871  bis  1895  An-, 
gaben  für  die  vorgenannten  und  einige 
andere  Staaten.  Die  Höhe  der  Oeburts- 
ziffer  hängt  zumeist  von  der  Zahl  der 
stehenden  Ehen,  deren  lYauen  gebärfähig- 
sind ,  ab ,  wird  also  namentlich  von  der 
Altersverteilung  der  Bevölkerung,  deren, 
durchschnittlichem  Heiratsalter  und  der. 
Heiratsziffer  beeinflusst  und  ist  deshalb  bei 
der  städtischen  und  ländlichen  Bevölkerung, , 
in  stark  gewerbetreibenden  und  vorwiegend 
von  der  Landwirtecliaft  lebendcQ  Landes- 
teilen, in  der  Ebene,  im  Hochgebii^  und" 
der  Eflste  sowie  bei  den  einzelnen  Be- 
rutsgruppen  sehr  verschieden.  Wo  reichlich . 
Gelegenheit  zum  Erwerb  und  zur  Begrün- 
dung eigener  Hauswirtschaft  vorhanden  ist 
und  die  Ansprüche  an  den  Genuss  materi- 
eller  Güter  bescheiden  gebUeben  sind,  ist, 
die    Gebmlsziffer   hoch     wo  diese  Bedin-' 

en  fehlen,  dagegen  niedrig, 

Fach  grossen  Kriegen,  verheerenden 
Seuchen  und  Jahren  des  Misswachses  oder 
wirtschafthcher  Krisen  sinkt  die  Geburts- ' 
Ziffer  unter  den  Mittelwert,  hebt  sich  jedoch 
selir  bald  danach  über  denselben.  In  Staaten, 
deren  männhche  Bevölkerung  der  allgemeinen 
Wehrpflicht  unterworfen  ist,  äussern  Kriege  . 
von  längerer  Dauer  einen  erheblich  stärkereu 
Einfluss  auf  die  Geburtsziffer  als  in  Staaten, 
deren  Heer  durch  Werbung  ergänzt  wird 
und  deshalb  verhäituismässig  weniger  Ver-  ■ 
heiratete  in  seinen  Reihen  zählt.  Reiche 
Ernten,  Aufschwung  des  Handels  und  der 
Gewerbe,  Oberhaupt  günstige  Veränderungen  , 
der  wirtschaftlichen  Lage  der  Bevölkerung, 
ja  sogar  politische  Verändenmgen ,  welche 
in  einem  grossen  TcUc  des  Volkes  die 
Hoffnmig  auf  baldiges  Eintreten  einer  Ver- 
besserung der  Wirtschaft  liehen  Lage  er- 
wecken, veranlassen  eine  Erhöhung  der 
Geburtsziffer.  Die  in  einigen  Staaten  ver- 
suchte Erhöhung  der  Gebluisziffer  durch 
besondere  Massnahmen  der  Gesetzgebung 
(z.  ß.  Junggesellensteuer,  teilweise  Steuer- 
befreiung kinderreicher  Männer,  Beschräa- 


36 


Geburtenstatistik 


kung  der  letztwilligen  Verfügung  über  den 
Nachlass  für  Personen,  welche  keine  oder 
nur  einen  Leibeserben  hinterlassen,  Befreiung 
kinderreicher  Männer  von  der  Dienstpflicht 
in  der  Reserve  und  Lwidwehr  etc.)  nahen 
sich  bisher  nicht  wirksam  erwiesen.  Die 
statistischen  Nachweise  einiger  Kulturstaaten, 
über  welche  weit  zurückreichende  Nach- 
richten vorhanden  sind,  scheinen  den  Be- 
weis dafür  zu  erbringen,  dass  mit  Zunahme 
der  Kultur  die  Geburtsziffer  sinkt,  und 
namentlich  in  dem  letzten  Jahrzehnt  sind 
eine  Reihe  von  Schriften  erscliienen,  welche 
—  in  der  Regel  anknüpfend  an  das  äusserst 
langsame  Anwachsen  der  Yolkszahl  und  die 
niedrige  Gebm-tsziffer  Frankreichs  —  eine 
derartige  Abhängigkeit  der  Geburtsziffer  von 
der  wirtschaftlichen  Entwickelung  und  dem 
Standard  of  lifo  zu  begründen  versuchen. 
Indessen  ist  die  Thatsache,  dass  die  Ge- 
burtsziffer gesunken  ist,  statistisch  keines- 
wegs einwandfrei  nachgewiesen.  Es  sind 
bei  allen  Kulturvölkern,  gleichviel  ob  die 
Ghöburten  durch  Kirchenbehörden,  Gerichte 
oder  besondere  Standesbeamte  registriert 
wurden,  die  Geburten  schon  in  den  ersten 
Jahrzehnten  dieses  Jahrhunderts  nahezu 
vollständig  zu  amtlicher  Kenntnis  gelangt, 
während  der  Stana  der  Bevölkerung  allent- 
halben früherhin  sehr  viel  weniger  vollstän- 
dig durch  die  Zählungen  erfasst  worden  ist 
als  in  neuester  Zeit  In  Deutschland  und 
Preussen  insbesondere  enthält  die  Zahl  der 
Geborenen  aus  der  Zeit  vor  1875  auch  die, 
wie  die  Aufnahmen  aus  den  folgenden 
Jahren  gezeigt  haben,  nicht  unbeträchtliche 
Zahl  der  in  vorhergehenden  Jahren  ge- 
borenen, aber  erst  nachträglich  getauften 
bezw.  angemeldeten  Kinder.  Für  die  Ver- 
gleichung  der  älteren  und  neueren  Geburts- 
ziffem  der  preussischen  Bevölkerung  tritt 
hierzu  noch  die  Erwägimg,  dass  die  öst- 
lichen, durch  hohe  Geburtsziffem  gekenn- 
zeichneten Provinzen  schon  zu  Beginn  der 
statistischen  Aufzeichnungen  dem  Staate  an- 
gehörten, während  die  Geburtsziffer  der 
neuerworbenen  Landesteile  eine  verhältnis- 
mässig niedrige  ist  SteUt  man  alle  diese 
Thatsachen  in  Rechnung,  so  ergiebt  sich, 
dass  in  Preussen  vom  Jahre  1820  bis  zum 
Jahre  1898  keine  nennenswerte  Abnahme 
der  Geburtsziffer  nachzuweisen  ist  Ob  und 
inwieweit  für  andere  Staaten  dieser  Nach- 
weis zu  führen  ist,  entzieht  sich  hier  der 
Beurteilung. 

5.  Eheliche  Fmchtbarkeit  Die  ehe- 
liche Fruchtbarkeit  ist  die  Zahl,  welche  an- 
giebt,  wie  viele  Kinder  diut^hschnittlich  auf 
jetle  Ehe  entfallen.  Man  berechnet  dieselbe, 
indem  man  die  Zahl  der  innerhalb  einer 
längeren  Reihe  von  Jahren  vorgekommenen 
Eheschliessungen  mit  der  Zahl  der  ehelich 
(auch  von  Witwen  und  geschiedenen  Frauen) 


Geborenen  vergleicht,  kann  sie  jedoch  auch 
durch  die  Yergleichung  der  vorhandenen, 
im  gebärfähigen  Alter  stehenden  Frauen 
bezw.  noch  nicht  9  Monate  lang  verwitweten 
und  geschiedenen  Frauen  mit  der  Zahl  der 
ehelich  Geborenen  alljährlich  bestimmen. 
Die  erstgenannte  Berechnungsweise  ist  ein- 
facher und  liefert  zudem  ein  zuverlässigeres 
Ergebnis,  sofern  die  Zahl  der  Eheschliessungen 
und  ehelich  Geborenen  für  einen  längeren 
Zeitraum  bekannt  ist;  für  einzelne  Jahre 
hingegen  ist  dieselbe  nicht  zu  empfelilen, 
weü  die  Zahl  der  Eheschliessungen  in  den 
einzelnen  Jahren  viel  stärkeren  Schwankimgen 
unterliegt  als  die  der  Geburten  und  der 
Einfluss  grosser  Kriege,  wirtschaftlicher 
Notstände  etc.  sich  bei  den  Eheschliessungen 
unmittelbar,  bei  den  Geburten  erst  in  dem 
folgenden  Jahre  oder  noch  später  äussert 
Die  eheliche  Fruchtbarkeit  hat  sich  in  den 
Staaten  von  Mittel-  und  Westeuropa  seit 
dem  Abschlüsse  der  napoleonischen  Kriege, 
soweit  hierüber  Nachrichten  vorliegen,  fast 
gar  nicht  verändert  und  lieg^  in  den  Grenzen 
von  4  bis  5  (einschliesslich  der  Totgeborenen). 
Nur  Frankreich  macht  eine  bemerkenswerte 
Ausnahme  hiervon.  Dort  stellte  sich  dieselbe 
von  1800  bis  1815  auf  3,93,  1816  bis  1830 
auf  3,73,  1831  bis  1845  auf  3,31,  1846  bis 
1860  auf  3,08,  1861  bis  1875  auf  3,01,  1876 
bis  1887  auf  3,05,  im  Jahrzehnte  1881/90 
durchschnittlich  auf  nur  2,90  und  ist  seit- 
dem noch  weiter  gesunken.  Die  romanische 
Rasse  zeigt  anderwärts  keine  auffällig  nied- 
rige eheliche  Fruchtbarkeit;  denn  in  Italien 
steUte  sich  dieselbe  z.  B.  für  1871/80  auf 
4,5,  für  1881/90  auf  4,4. 

Im  preussischen  Staate  entfielen  durch- 
schnittlich auf  jede  Eheschliessung  folgende 
Anzahl  ehelich  (lebend  oder  tot)  Geborener: 


Jahre       überhaupt 

1816—1820  3,8 

1821-1830  4,4 

1831—1840  4,1 

1841—1850  4,1 


Jahre      überhaupt 

1851—1860  4,2 

1861—1870  4,4 

1871—1880  4,2 

1881—1890  4,3 


Bis  zum  Jahre  1860  hin  war  in  Preussen 
die  eheliche  Fruchtbarkeit  der  Juden  etwas 
höher  als  die  der  Christen,  seitdem  ist  die- 
selbe jedoch  niedriger  als  bei  den  Christen. 
Ausserordentlich  niedrig,  nur  auf  1,70,  stellt 
sich  dieselbe  für  Mischehen  zwischen 
Christen  und  Juden,  wobei  es  keinen  unter- 
schied macht,  ob  der  Mann  oder  die  Fratl 
dem  Judentimic  angehört,  sehr  hoch  da- 
gegen für  Ehen  zwischen  Personen  polni- 
scher Abstammung  (5,42)  und  deswegen 
auch  bei  den  grossenteils  von  polnischen 
Eltern  stammenden  Katholiken  Preussens 
(5,28),  gegen  4,40  für  evangelische  und  4,39 
für  jüdische  Ehepaai*e  nach  den  Beobach- 
tungen seit  1875. 

6.  Uneheliche  Fmchtbarkeit   Die  un- 


(Jehurtenstatistik 


37 


eheUche  Fruchtbarkeit  wird  berechnet  aus 
der  Yergleichung  der  Zahl  der  im  gebär- 
fähigen Alter  stehenden,  jedoch  nicht  oder 
nicht  mehr  verheirateten  weiblichen  Per- 
sonen mit  der  Zahl  der  unehelich  gebend 
oder  tot)  Geborenen.  Sie  wird  stark  beein- 
flnsst  von  der  Verteilung  der  Bevölkenmg 
nach  dem  Geschlechte,  der  Dichtigkeit  des 
Zusammenwohnens ,  der  Heiratszirfer  und 
dem  durchschnittlichen  Heiratsalter,  der 
wirtschaftlichen  Lage  und  dem  Umfange, 
in  welchem  unverheiratete  weibHehe  Per- 
sonen ausserhalb  der  Hauswirtschaft  selb- 
ständig erwerbsthätig  sind. 

Weniger  geeignet  zu  Untersuchungen 
auf  dem  Gebiete  der  Moralstatistik,  aber  für 
manche  andere  Fragen  Einblicke  gewährend 
ist  die  Zahl,  welche  den  Anteil  der  unehe- 
lichen an  der  Gesamtzahl  der  Geburten  an- 
giebt,  und  allen  auf  den  Familienstand  der 
Geborenen  bezüglichen  statistischen  Zusam- 
menstellungen sowie  den  daraus  abgeleiteten 
Yerhältniszahlen  haftet  ein  nicht  wohl  zu 
beseitigender,   die  Zuverlässigkeit   der  Er- 

febnisse  nidit  unerheblich  beeinträchtigender 
ehler  an,  welcher  in  dem  Nichtbekannt- 
werden  der  2iahl  der  vor  der  Eheschliessung 
erzeugten  ehelichen,  der  nachträglich  legiti- 
mierten und  der  von  verheirateten  Personen 
unehelich  erzeugten  Kinder  begründet  ist. 
Auf  1000  im  Alter  von  20  bis  45  Jahren 
stehende  unverheiratete  weibliche  Personen 
entfielen  jährlich  im  Jahrzehnte  1881/90  in 
Deutschland  50,7,  in  Preussen  44,6,  in 
Bayern  70,5,  in  Sachsen  86,2,  in  Württem- 
berg 50,4,  in  Baden  37,4  unehelich  Lebend- 
feborene.  Am  höchsten  ist  die  uneheliche 
ruchtbarkeit  weiblicher  Personen  im  Alter 
von  20  bis  25  Jahren. 

7«  Greborene  nach  dem  Geschlechte. 
Das  Geschlecht  der  Geborenen  wird  am 
zweckmässigsten  in  der  Weise  berechnet, 
dass  man  feststellt,  wieviel  Knaben  und 
Mädchen  durchschnittlich  unter  je  1000  Ge- 
borenen vorgekonmien  sind.  Früherhin  war 
es  üblich,  anzugeben,  wieviel  Knabenge- 
burten auf  je  100  Mädchengeburten  ent- 
fielen, doch  ist  diese  Zahl  für  manche 
Bechnungen  nicht  unmittelbar  zu  verwerten. 
In  Preussen  waren  nach  langjährigen  Be- 
obachtungen (1816/95)  durchschnittlich  512,7 
Knaben  und  487,3  Mädchen  im  Tausend 
aller  Geborenen,  auch  zeigten  die  einzelnen 
J^ire  geringe  Schwankungen  gegen  diese 
Durchschnittswerte.  Die  Häimgkeit  der 
Knabengeburten  scheint  allmählich  etwas 
zuzunehmen,  auch  stieg  dieselbe  stets  nach 
Jahren  des  Misswachses,  allgemein  wirken- 
der wirtschaftlicher  Störun^n  sowie  nach 
Kriegen.  Unter  den  Mehrlingskindern  be- 
finden sich  weniger  (511,6),  unter  Zwillin- 
gen nur  510,6,  unter  Vierlingen  sogar  niu* 
438,1  Knaben,  bei  Drillingen  hingegen  511,6 


Knaben  im  Tausend,  und  Mehrlingsgeburten, 
bei  denen  alle  Kinder  gleichen  Geschlechtes 
sind,  kommen  weit  häufiger  vor,  als  nach 
der  mathematischen  Wahrscheinlichkeit  zu 
erwarten  ist.  Unter  den  ehelichen  Kindern 
befinden  sich  mehr,  unter  den  unehelichen 
weniger  Knaben  als  imter  allen  Geborenen. 

8.  Totgeburten.  Die  Totgeburtsziffer 
bezeichnet  die  Zahl  der  Totgeborenen  unter 
je  1000  Geborenen  und  stellt  sich  in  Preussen 
(seit  1816)  auf  37;  sie  erhöht  sich  nach 
Zeiten,  in  welche  wirtschaftliche  Störungen 
fallen,  ist  zu  internationalen  Yergleichungen 
nicht  geeignet,  nimmt  in  Preussen  und 
ebenso  wahrscheinlich  in  allen  Kulturstaaten, 
neuerdin^  infolge  der  Fortschritte  der  ge- 
burtshilfhchen  Wissenschaft  und  besseren 
Ausbildung  der  Geburtshelfer  und  Hebammen 
von  Jahr  zu  Jahr  ab,  wenn  man  in  Betracht 
zieht,  dass  die  Totgeburten  gegenwärtig 
sehr  viel  vollständiger  registriert  werden 
als  früherhin.  Unter  den  Knabengeburten 
sowie  den  unehelichen  Kindern  konunen 
Totgeburten  sehr  viel  häufiger  als  diuxjh- 
schnittlich  bei  allen  Geborenen  vor. 

9.  Uneheliche  Geburten.  Der  Familien- 
stand der  Geborenen  wird  durch  Angabe 
der  Zahl  der  unter  1000  Geborenen  vor- 
handenen ehelichen  und  unehelichen  Kinder 
gemessen.  In  den  Städten  machen  die  un- 
ehelich Geborenen  einen  weit  grösseren  An- 
teil der  Geborenen  aus  als  auf  dem  platten 
Lande,  und  namentlich  die  Grossstädte 
liefern  regelmässig  sehr  viele  uneheliche 
Geburten,  deren  Häufigkeit  überhaupt  zu- 
nimmt. Die  einzelnen  liUider  zeigen  be- 
züglich des  Famüienstandes  der  Geborenen 
grosse  Verschiedenheiten,  welche  indessen 
z.  T.  auf  Yerschiedenheiten  in  der  Art  der 
Registrierung  beruhen.  In  Preussen  kommen 
bei  der  katholischen  Bevölkerung  weniger 
uneheliche  Kinder  unter  den  Geborenen  vor 
als  bei  der  evangelischen,  am  seltensten 
finden  sich  dieselben  unter  den  von  jüdischen 
Müttern  Geborenen,  wobei  vielleicht  die 
äusserst  geringe  Fruchtbarkeit  geschlecht- 
licher Yerbindungen  christlicher  Männer 
mit  jüdischen  Frauen  von  entscheidendem 
Einflüsse  ist. 

10.  Mehrgeburten.  Die  Mehrgeburts- 
ziffer kann  auf  zwei  Arten  berechnet  werden, 
je  nachdem  man  angiebt,  wieviel  Mehrge- 
burten unter  je  1000  Entbindungen  oder 
wieviel  Mehrlingskinder  unter  je  1000  Ge- 
borenen sind.  In  Preussen  steigt  die  Mehr- 
geburtsziffer ;  von  1000  Entbindungen  waren 
in  den  Jahren  1824—1840  11,36, 1841—1857 
11,51  und  1858—1874  12,60  Mehrgeburten, 
1889  bereits  12,93  und  1891—1895  12,7. 
Im  Regierungsbezirke  Sigmaringen  und 
einem  grossen  Teile  Süddeutschlands  kommen 
Mehrgeburten  erheblich  häufiger  als  in 
Norddeutschland    vor,    und    am    seltensten 


38 


Geburtenstatistik — Gefängnisarbeit 


•sind  dieselben  im  nordwestlichen  Deutsch- 
land. Auf  das  Yorkommen  von  Mehrge- 
burten scheint  die  Stammeszugehörigkeit 
der  Eltern  starken  Einfluss  zu  äussern; 
doch  sind  die  Aufnahmen  noch  nicht  voll- 
ständig genug,  um  auf  dieselben  hin  inter- 
nationale Tabellen  aufzustellen.  Hier  wie 
bei  der  Verteilung  nach  dem  Geschlechte 
ändern  sich  die  verhältniszahlen  beträcht- 
lich, wenn  nur  die  Lebendgeburten  und 
nicht  die  Totgeburten  registriert  werden. 

11.  Gebniltszeit  Die  Zeit  der  Geburten 
wird  statistisch  auf  verschiedene  Weise  dar- 
gestellt. Man  giebt  an,  wieviel  von  je  1000 
Geborenen  in  den  einzelnen  Kalendermonaten 
■geboren  worden  sind  oder  verteilt  1200  Ge- 
borene auf  diese  Monate.  Empfehlenswerter 
ist  es,  für  jeden  Monat  unter  Berücksich- 
tigung der  Zahl  seiner  Tage,  sowie  etwaiger 
Schalttage,  die  Zahl  der  täglich  im  Dui-ch- 
schnitte  ehelich  und  uneheüch  Geborenen 
anzugeben,  da  hierdurch  die  ungleiche  Zeit- 
dauer der  Monate  mit  zum  Ausdruck  ge- 
langt. Die  ehelichen  Geburten  verteilen 
sich  der  Zeit  nach  anders  als  die  unehe- 
lichen, auch  äussert  die  Art  des  Wohnsitzes 
(Stadt  bezw.  Land)  auf  die  Yerteilung  beider 
merklichen  Einfluss ,  vielleicht  wegen  der 
verschiedenartigen  JErwerbsthätigkeit  der 
städtischen  und  ländlichen  Bevölkerung  in 
den  einzelnen  Jahreszeiten  und  der  dadurch 
mehr  oder  weniger  bedingten  gemeinsamen 
Beschäftigung  von  Personen  beider  Ge- 
schlechter. 

In  Preussen  kommen  die  meisten  ehe- 
lichen Geburten  im  Staate  und  auf  dem 
platten  Lande  im  September,  die  wenigsten 
hingegen  im  Juni  vor.  In  den  Grossstädten 
fällt  das  Maximum  in  den  Januar,  das  Mi- 
nimum in  den  Mai,  in  den  Mittel-  und 
Kleinstädten  das  Maximum  in  den  Februar 
imd  das  Minimum  in  den  Juni.  Das  Klima 
äussert  hierbei  auch  bei  der  ländlichen  Be- 
völkerung geringen  Einfluss;  denn  sowohl 
in  Ostpreussen  wie  im  Rheinlande,  in 
Schlesien  wie  in  Schleswig-Holstein  werden 
im  September  mehr  eheliche  Kinder  auf 
dem  platten  Lande  geboren  als  in  jedem 
der  drei  vorhergegangenen  oder  nachfolgen- 
den Monate.  Die  Sachsengängerei  verschiebt 
in  den  davon  betroffenen  östhchen  Provinzen 
Maximum  und  Minimum  der  Gebm1»n  (vgl. 
Zeitschr.  des  kgl.  preuss.  Statist.  Bureaus 
-1885,  S.  93  ff.). 

Uneheliche  Geburten  kommen  im  Staate 
wie  in  den  Grossstädten,  den  Mittel- 
imd  Kleinstädten  sowie  auf  dem  platten 
Lande  am  häufigsten  im  Februar  vor,  am 
seltensten  dagegen  im  August;  nur  für 
die  Grossstädte  fällt  das  Minimum  in  den 
Juli. 

Aehnliche  Angaben  lassen  sich  für  fast 
sämtliche  mittel-  und  westeuropäische  Staa- 


ten i)  aus  den  Nachweisungen  aufstellen, 
welche  seitens  der  amtlichen  Statistik  all- 
jährlich veröffentlicht  werden,  da  fast  über- 
all die  Zahl  der  ehelich  und  unehelich  Ge- 
borenen nach  Monaten  der  Geburt  mitge- 
teilt wird.  Nur  wo  die  Unterscheidung 
nach  dem  Familienstande  der  Geborenei 
fehlt,  lassen  sich  die  Zahlen  für  den  ange 
deuteten  Zweck  nicht  verwerten. 

A.  Prhr,  von  Fircks. 


Oefängnisarbeit. 

1.  Vorbemerkung.  2.  Geschichtliches.  J 
Forderungen  der  Strafpolitik  und  der  Wirl 
schaftspolitik  an  die  Organisation  der  Gefän^ 
nisarbeit.  4.  Organisation  der  Gefängnisarhei 
5.  Würdigung  der  verschiedenen  Systeme,  i 
Gefängnisarbeit  ausserhalb  der  geschlossene 
Anstalt.  7.  Ertrag  der  Gefängnisarbeit.  8.  Schlus 
bemerkung. 

^  1.  Vorbemerkung.  Strafpolitik  und  Wir 
Schaftspolitik  haben  an  der  Gestaltung  d^ 
Gefängnisarbeit  gleiches  Interesse.  \Vei 
sie  dabei  häufig  miteinander  in  Widerspru( 
geraten,  so  ist  es  Aufgabe  des  Slrafrech 
und  vielmehr  noch  des  Strafvollzugs,  d< 
Gegensatz  zu  überwinden,  um  die  Ansprücl 
beider  gei-echt  abzugrenzen,  muss  die  x'u 
umstrittene  Frage  nach  dem  Zwecke  d 
Strafrechts  und  der  auf  Grund  desselb 
verhängten  Strafe  benlhrt  werden. 

Das  Strafrecht  ist  nur  ein  Teil  des  a 
gemeinen  Hechts  und  hat  denselben  Zwc 
wie  dieses.  Der  Zweck  im  Recht  ist  c 
Schutz  der  Lebensinteressen  der  Gesellsch 
(Jhering);  der  Zweck  im  Strafrecht  ist  c 
verstärkte  Schutz  besonders  schutzwürdig 
und  schutzbedürftiger  Interessen  durch  I 
drohung  imd  Vollzug  der  Strafe  (v.  Lis 
Aufgabe  der  Strafpnolitik  ist  es,  diesen  Zw< 
so  vollkommen  wie  möglich  zu  erreich 
Schutz  und  Föi'derung  aer  wirtschaftlicl 
Interessen  ist  Aufgabe  der  Wirtschaftspoli 
Das  wirtschaftüche  Gedeihen  ist  ein  Lebe 
Interesse  der  Gesellschaft;  besondei-en  Schul 
bedürftig,  würdig  und  besonders  gefälu 
diuxjh  den  Rechtsbruch.  Somit  ste 
Strafpolitik  und  Wirtschaftspolitik  auf  d( 
selben  Boden  und  verfolgen  gemeins£ 
Zwecke.  Von  Strafpolitik  kann  erst 
Rede  sein,  nachdem  die  Gesellschaft  i 
staathch  soweit  organisiert  und  gefestigt 
dass  sie  die  plan-  imd  ziellose  Rache 
einzelnen,  der  Familie,  Sippe,  Geaossenscl 
den  »Gegenstoss  gegen  den  Angriff ss 
auf  eine  fremde  Rechtssphäre«,  in  die  si 
liehe  Strafe  umwandelte ;  in  die  zielbewu 
»soziale  Reaktion  gegen   antisoziale   11; 

')  Auch  für  Bulgarien  seit  1881,  für  Sei 
seit  1862,  für  Rumänien  seit  1870,  für  eim 
Jahre  auch  für  Spanien  und  Portugal. 


Gefängnisarbeit 


39 


lungen«  (v.  Liszt),  in  die  »soziale  Macht- 
äussenmg  im  Dienste  sozialer  Selbstbe- 
hauptung« (Merkel).  Auf  derselben  Stufe 
staatlicher  Entwiekelung  beginnt  auch  die 
Wirtschaftspolitik;  das  zielbewusste,  plan- 
mässiee  Abwägen  und  Fördern  der  wirt- 
schafuichen  Interessen  der  Individuen,  be- 
sonderer wirtschaftlicher  Kreise,  Verbände, 
Genossenschaften  unter  einander  und  des 
Staates  gegenüber  anderen  Staaten.  Von  da 
ab  schreiten  beide,  Straf politik  luid  Wirt- 
schaftspolitik, neben  einander  her,  eng  ver- 
bunden, die  eine  auf  die  andere  angewiesen. 
PrincipieUe  Gc^nsätze  zwischen  beiden 
können  daher  nicht  stattfinden;  geraten  sie 
trotzdem  in  Konflikt,  so  sind  es  Fehler  der 
Praxis,  deren  Grund  meist  darin  liegt,  dass 
sie  die  Fühlung  verloren  haben  und  jede 
ihre  eigenen  Wege  geht.  So  können  auch 
auf  dem  Teile  der  Strafrechtspflege,  welcher 
die  Gefängnisarbeit  umfasst,  principieUe  und 
darum  unüberwindliche  Gegensätze  zwischen 
Strafpolitik  und  Wirtschaftspolitik,  wie  so 
oft  behauptet  wird,  nicht  stattfinden;  treten 
sie  dennoch  hervor,  so  lassen  sie  sich  bei 
beiderseitigem  gutem  Willen  und  einigem 
praktischen  Geschick  unschwer  ausgleichen. 
2.  Geschichtliches.  Als  die  Umwand- 
lung der  Reaktion  gegen  den  Rechtsbruch 
aus  der  Privatrache  in  die  staatliche  Strafe 
sich  voUzog,  hat  die  Staatsgewalt  im  wesent- 
lichen die  Mittel,  welche  der  Befriedigung 
des  Rachebedürfnisses  gedient  hatten,  als 
staatliche  Strafmittel,  wenn  auch  in  anderer 
Form,  beibehalten.  Es  blieb  die  Vernich- 
tung der  Person  des  Rechtsbrechers  durch 
Tötung  als  Todesstrafe,  das  Quälen  als 
Leibesstrafe,  die  wirtschaftliche  Vernichtung 
durch  Zerstörung  des  Eigentums.  Neu  hinzu 
trat  die  Ausschliessung  des  Rechtsbrechers 
aus  der  Staatsgemeinschaft  durchVerbannung. 
Alle  diese  Strafen  schliessen  die  Zerstörung 
wirte^afüicdier  Werte  in  sich.  Da  nun  jeder 
Rechtsbruch  die  Schädigung  wirtschafthcher 
Interessen  einzelner  oder  der  Gesamtheit 
nach  sich  zieht,  so  wird  durch  solche  Straf- 
mittel der  durch  den  Rechtsbruch  angerich- 
tete wirtschaftliche  Schaden  noch  vermehrt 
Die  Wirtschaftspolitik  verlangt  daher  die 
Strafe  so  zu  gestalten,  dass  sie  nicht  nur 
neue  Rechtsbrüche  verhütet,  sondern  zum 
&8atze  des  angerichteten  Schadens  beiträgt 
Man  konfisadert  daher  das  Eigentum  des 
Rechtsbrechers,  statt  es  zu  zerstören;  man 
1^  auf  seine  Person  und  seine  Arbeitskraft 
Beschlag;  statt  ihn  durch  Tötung,  Ver- 
stümmelung, Verbannung  zu  vernichten, 
macht  man  den  Rechtsbrecher  zum  Privat- 
sklaven oder  Staatssklaven;  das  ist  die 
Freiheitsstrafe  mit  Arbeitszwang  in  ihrer 
rohesten  Form.  '  Das  älteste  wirtschaftlich 
entwickelte  Volk,  die  Eg^ter,  hat  zuerst 
zeitliche  .  oder  lebenslänglicne  Zwangsarbeit 


als  staatliche  Strafe  eingeführt;  Athen  und 
Rom  haben  die  Verbrecher  in  die  staatlichen 
Bergwerke  geschickt  (ad  metaUa)  oder  zum 
»opus  jjublicüm«  (Bau  von  Wegen)  angehalten; 
die  freien  Reichsstädte  Deutschlands  haben 
sie  in  die  »Springer  geschlagen«  und  die 
Gassen  kehren  lassen.  Die  Handelsstaaten 
am  Mittelländischen  Meere  verwandten  sie 
als  Ruderknechte  auf  den  Galeeren.  Die 
Stadt  Nürnberg  verkaufte  um  1570  eine  An- 
zahl Sträflinge  an  die  Republik  Genua  und 
machte  damit  ein  leidliches  Geschäft.  Oester- 
reich  ist  bis  in  die  Zeiten  der  Maria  Theresia 
diesem  Beispiele  gefolgt,  nur  waren  der 
Doge  von  Venedig  und  der  König  von 
Neapel  bereitwillige  Abnehmer.  England 
verkaufte  bis  gegen  das  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts die  zum  Galgen  Verurteilten  statt 
sie  zu  hängen  an  die  Kolonisten  Amerikas, 
erzielte  daßr  Preise  bis  zu  20  £  für  den 
Kopf  und  setzte  das  Geschäft  bis  in  die 
Mitte  dieses  Jahrhunderts  mit  den  nach 
Australien  Deportierten  fort. 

Eine  derartige  wii-tschaftliche  Ausnutzung 
des  Rechtsbrechers  stand  in  vollster  Ueber- 
einstimmimg  mit  der  Strafpolitik,  welche 
lediglich  von  dem  Gedanken  des  Abschreckens 
und  ünschädlichmachens  getragen  wurde, 
sie  vereinigte  in  sich  deren  Strafmittel  des 
körperlichen  Quälens  und  Vemichtens  und 
gab  noch  einen  wirtschaftlichen  Ertrag.  Mit 
dem  Verschwinden  der  Sklaverei  und  der 
Sklavenarbeit  kam  dieser  Handel  ausser  Ge- 
brauch und  man  kehrte  zu  den  unwirtschaft- 
lichen Strafmitteln  des  Vemichtens  und 
Quälens  zurück. 

Seit  dem  Ausgange  des  Mittelalters  wächst 
infolge  des  Mangels  jeder  Wirtschaftspolitik 
und  imter  dem  Drucke  verkehrter  wirtschaft- 
licher Massregeln  sowie  imter  den  Nach- 
wehen zahlloser  innerer  und  äusserer  Kriege 
die  Zahl  der  Besitzlosen,  Arbeitlosen,  Heimat- 
losen ins  Ungeheuerliche.  Als  Bettler,  Va- 
ganten, Gauner,  Diebe,  Räuber,  Brandstifter 
gefährden  sie  die  Rechtsordnung  und  die 
wirtschaftliche  Entwiekelung  der  kleinsten 
Staatengebilde  sowohl  wie  der  grössten  in 
ihren  Gnindlagen,  wovon  das  aus  dem  An- 
fange des  16.  JaJirhunderts  stammende  ȟber 
Vagatorum«  Zeugnis  giebt. 

Die  Strafpolitik  mit  ihren  Strafmitteln: 
G^gen,  Rad,  Henkerbeil,  Schandpfahl,  Staup- 
besen, Brenneisen  und  Kerker  ist  diesen  wirt- 
schaftsfeindlichen,  verbrecherischen  Massen 
gegenüber  machtlos j  ihre  Organe:  Rechtsge- 
lehrte, Richter,  Polizei  ratlos. 

Als  mit  steigender  Kultur  unter  dem 
Einflüsse  geläuterter  christlicher  und  humaner 
Bildung  weite  Volkskreise  gegen  die  nutz- 
lose Blutarbeit  der  Strafrechtspflege  sich 
empörten,  da  ist  von  den  Gemeinwesen,  in 
denen  damals  fast  allein  ein  Verständnis 
für  wirtschaftliche  Fragen   vorhanden   war 


40 


Gefängnisarbeit 


und  Wirtschaftspolitik  getrieben  vurde,  auch 
eine  Aenderung  der  wirtschaftswidrigen  Straf- 

Solitik  angegangen.  Die  vereinigten  Staaten 
er  Niederlande  nahmen  nach  Abschüttelung 
der  spanisch-katholischen  Herrschaft  einen 
mächtigen  Aufschwung  auf  allen  Gebieten 
wirtschaftlichen  Lebens.  Hier  machte  sich 
die  Störung  und  ffinderung  durch  jene 
Massen  unwirtschaftlicher  Elemente,  die 
teils  in  den  laugen  Kriegsjahren  auf  eigenem 
Boden  erwachsen  waren,  teils  aus  den  be- 
nachbarten Ländern  dem  aufblühenden  Ge- 
meinwesen zuströmten,  am  empfindlichsten 
bemerkbar;  auch  hier  versagten  die  Straf- 
mittel der  bisherigen  Strafpolitik.  So  viel 
man  von  jenen  Personen  auch  hängen  oder 
ausgepeitscht  aus  dem  Lande  jagen  mochte, 
sie  wuchsen  im  eigenen  Lande  nach  oder 
fluteten  an  anderer  Stelle  über  die  Grenze 
zurück.  Hier  ist  zuerst  ein  Verständnis 
dafür  aufgegangen,  dass  wirtschaftliche 
Schäden  der  Gesellschaft  und  unwirtschaft- 
liche Eigenschaften  der  Individuen,  körper- 
liche oder  geistige  Minderwertigteit  zur 
Arbeit,  gedankenloses  Verfügen  über  den 
Arbeitsertrag,  ohne  an  die  Zukunft  zu  denken, 
Faulheit  und  Müssiggang  die  Hauptquellen 
des  Verbrechens  sind  und  dass  aie  wohl 
organisierte  Zwangsarbeit  ein  geeigneteres 
Mittel  sei,  die  verbrecherischen  Elemente 
von  ihrem  wirtschaftsstörenden  Treiben  ab- 
zubringen, als  die  bisherigen  sinn-  und  nutz- 
losen Leibes-  und  Lebensstrafen.  Amster- 
dam, die  mächtigste  und  wirtschaftlich  am 
meisten  entwickdte  Stadt  der  Niederlande, 
gestaltet  den  neuen  Gedanken  praktisch  aus. 
Die  Bürgermeister  beschliessen,  »ein  EEaus 
zu  gründen,  in  welchem  man  alle  Vaga- 
bonden,  üebelthäter,  Spitzbuben  einsperren 
und  arbeiten  lassen  könne,  auf  so  lange,  als 
es  die  Richter  nach  ihren  Delikten  oder  Misse- 
thaten  für  angemessen  befinden  würden.« 
Ein  aufgehobenes  Eloster  wird  dazu  einge- 
richtet, für  männliche  Gefangene  bestimmt, 
mit  dem  den  Charakter  der  neuen  Strafe 
trefflich  bezeichnenden  Namen  »Zuchthaus« 
benannt  und  am  3.  Februar  1596  mit  den 
ersten  12  Ge&ngenen  belegt  Ein  ähnliches 
Haus  für  weibliche  Personen  und  ein  weiteres 
für  jugendliche  üebelthäter  folgten  in  den 
nächsten  Jahren  nach.  Zeitweiliges  Aus- 
scheiden der  gegen  die  Rechtsordnung  sich 
auflehnenden  Elemente  aus  der  freien  Ge- 
sellschaft, Erziehung  derselben  durch  Zucht 
und  Arbeit  zur  Achtung  der  Rechtsordnung 
und  zu  geordnetem  sozialen  Leben,  Steige- 
rung der  wirtschaftlichen  Kraft  des  Indi- 
viduums, das  ist  der  neue  Grundsatz,  den 
die  Wirtschaftspolitik  der  Strafpolitik  auf- 
zwingt und  den  Jolm  Howard  zwei  Jahr- 
hunderte später  in  den  Satz  gcfasst  hat: 
>Make  men  diligent,  and  they  wiÜ  be  honest« 
Die  Wirtschaftspolitik  hat  die  G^fÄngnis- 


arbeit  geschaffen  und  übt  auf  ihre  Organi- 
sation den  bestimmenden  Einfluss.  Bart 
und  schwer  soll  die  Arbeit  sein,  Aufbietung 
aller  Kräfte  fordern,  denn  auch  der  ehrliche 
Mann  muss  hart  arbeiten  im  Kampfe  ums 
Dasein.  Wenn  sie  um  einige  Grade  schwerer 
imd  unangenehmer  gestaltet  wird  als  die  des 
freien  Arbeiters,  so  ist  damit  dem  berech- 
tigten Gedanken  in  der  Strafpolitik,  der  Ab- 
schreekungj  gebührend  Rechnung  getra^n. 
Dagegen  wird  die  Forderung  der  Strafpohtik, 
durch  rücksichtslose  Ausnutzung  der  ij*beits- 
kraft,  durch  schlechte  Behandlung,  Vernach- 
lässigung der  Körper-  und  Geistespflege, 
durch  schlechte  Ernährung  den  Ge^ngenen 
leiblich  und  seelisch  zu  quälen  oder  wohl 
gar  zu  Grunde  zu  richten,  als  unwirtschaftr 
lieh  abgelehnt  Denn  die  wirtschaftpoli- 
tisch denkenden  Staatsmänner  der  Nieder- 
lande erkannten,  dass  die  durch  solche  Be- 
handlung körperlich  und  geistig  ausge- 
mergelten Existenzen  für  das  wirtschaftliche 
Leben  nach  ihrer  Rückkehr  in  die  Freiheit 
ebenso  wertlos  und  vielleicht  noch  gefähr- 
licher seien  als  vorher.  Sie  haben  daher 
darauf  gehalten,  dass  neben  der  Erziehung 
und  Gewöhnung  zu  harter  Arbeit  durch 
sorgsame  leibliche  und  ^isfige  Pflege, 
durch  gute  Wohnung,  Reinlichkeit,  gute 
Ernährung,  die  kaum  heute  den  Getogenen 
in  dem  umfange  gewährt  wird,  durch 
Unterricht,  Seelsorge  die  körperlichen  und 
geistigen  Kräfte  der  Gefangenen  gestählt 
würden,  um  sie  für  das  freie  wirtschaftliche 
Leben  wieder  brauchbar  zu  machen.  Sie 
haben  sich  darin  nicht  irre  machen  lassen 
durch  den  Spott  der  Strafpolitiker  alten 
Schlages,  welche  die  Stadt  wegen  ihres 
»Zuchthauspalastes«  verhöhnten,  um  den 
wirtsch^tlichen  Wert  des  Gefangenen  zu 
erhöhen,  haben  sie  namentlich  die  jüngeren 
bildungsfähigeren  Elemente  in  allerlei  Hand- 
werk unterweisen  lassen.  Ja  sie  haben  den 
Grundsatz  aufgestellt,  dass  bei  der  Ausw^ahl 
der  Arbeit  die  Individualität  des  Gefangenen 
(ingenium  vel  artus  cujusque  —  ac  robur) 
berücksichtigt  werden  solle.  Auch'  in  der 
Auswahl  der  Arbeit  zeigt  sich  der  wirt- 
schaftpolitische Blick  der  Amsterdamer 
Bürgermeister.  Indem  sie  das  Raspeln  der 
Farbehölzer  zur  Hauptarbeit  der  Männer  im 
Zuchthause  machte  (daher  auch  der  Name 
Raspelhaus),  sicherte  sie  dem  Amsterdamer 
Handel  den  Import  dieser  Hölzer  und  deren 
Verwertung  in  der  Industrie ;  und  da  dieser 
Arbeitszweig  von  freien  Arbeitern  noch  wenig 
betrieben  wurde,  sicherten  sie  ihn  durch  ein 
Monopol  für  das  Zuchthaus  und  vermieden 
dadiu-ch  den  unwirtschaftlichen  Wettbewerb 
der  Strafarbeit  mit  der  freien  Arbeit  auf 
lange  Zeit  hinaus.  Wo  er  sich  nicht  ganz 
vermeiden  lässt,  wie  z.  B.  bei  der  handwerk- 
lichen Ausbildung  der  Jugendlichen,  da  gaben 


Gefängnisarbeit 


41 


^e  den  Begenten  des  ZuchÜiauses  schon  im 
Jahre  1612  die  Weisung:  ne  usum  indus- 
triamque  ooUegiorum  opificum  impediant. 
Quod  absque  detrimento  rei  publicae  non 
fieri  potesL 

Mit  sicherer  Hand  sind  hier  die  Grund- 
zftge  für  die  Gest^dtung  der  Ge&n^isarbeit 
vorgezeichnet :  Ernste  Arbeit,  die 
Werte  schafft,  der  Eigenart  des 
Gefangenen  angemessen  ist  und 
ihn  wirtschaftlich  hebt,  die  Störung 
der  freien  Arbeit  vermeidet. 

Der  Erfolg  dieser  neuen,  auf  wirtschafts- 
politischem Grunde  aufgebauten  Strafpolitik 
war  geradezu  wunderbsur.  Wer  im  Amster- 
damer Zuchthaus  gesessen  hatte,  war  vom 
Betteln  imd  Stehlen  kuriert  Wie  ein  Lauf- 
feuer verbreitete  sich  die  Kunde  von  der 
neuen  Strafe  unter  dem  fahrenden  Volke 
und  Hess  sie  der  Stadt  mit  dem  Zuehthause 
weit  aus  dem  Wege  gehen;  die  Strassen 
wurden  frei  vom  Bettel  und  Va«uitenvolk, 
die  Sicherheit  von  Eigentum  imd  Leben  war 
grSsser  als  je  zuvor.  Wie  ein  wunderthätiger 
Heiliger  wurde  der  Geist,  der  in  dem  Zudit- 
und  Kaspelhause  waltete  (Sanctus  Raspinus), 
gepriesen. 

Von  da  an  ist  die  Freiheitsstrafe  ver- 
banden mit  wirtschaftlieh  organisierter  Ar- 
beit in  den  Kreis  der  Strafpolitik  getreten 
und  hat  mit  siegreicher  Gewalt,  allerdings 
nach  hartem  Kampfe  mit  den  Theorieen 
und  Gewohnheiten  einer  verknöcherten  Straf- 
politik, die  Leibes-  und  Lebensstrafen  bis 
auf  einen  kleinen  Ueberrest  verdrängt.  Am 
ersten  fand  die  neue  Strafart  Eingang  in 
den  Staaten,  die  für  wirtschaftliche  Fragen 
ein  Verständnis  hatten,  in  den  nieder&n- 
dischen  Städten  Brügge,  Gent,  in  den  deut- 
schen Seestädten  Danzig,  Bremen,  Hamburg, 
Lübeck,  wohin  durch  Schiffer  und  Kauf- 
leute die  Kunde  von  der  neuen  Einrichtimg 
gedrungen  war ;  sie  Hessen  sich  die  Amster- 
damer Zuchthausordnimg  kommen  und  er- 
richteten ähnliche  Häuser.  Der  Gedanke 
fand  Anklang  in  England  und  wurde  von 
WiUiam  Penn  hinüber  getragen  in  die  neue 
Welt, 

In  den  eim)päischen  Binnenstaaten  war 
während  der  Knege,  die  das  17.  Jahrhundert 
dnrchtobten,  ebensowenig  Platz  für  eine 
durchgreifende  Reform  der  Strafpolitik  als 
der  Wirtschaftspolitik.  Ge^en  Ende  des 
Jahrhunderts  wurde  allerdings  hin  und 
wieder,  um  der  verbrecherischen  und  un- 
wirtschaftlichen Elemente,  welche  der  Krieg 
geboren  hatte,  Herr  zu  werden,  mit  der 
Errichtung  von  Zuchthäusern  begonnen,  aber 
sie  haben  mit  den  Einrichtungen  der  Nieder- 
länder und  der  Hansestädte  nur  den  Namen 
gemein.  Die  alte  Strafpolitik  hat  diese 
Zuchthäuser  gegründet  und  beherrscht.  Das 
waren   nicht  Strafanstalten,  in   denen   der 


Rechtsbrecher  durch  die  Strafe  zu  geord- 
netem wirtschaftlichen  Leben  erzogen  wird, 
sondern  Quälanstidten,  wo  er  »in  Msen  und 
Banden  bei  geringer  Atzung  und  schlechtem 
Lebensunterhalt  mit  harter  Arbeit,  Karbatsch- 
und Rutenzüchtiguug  oder  in  anderem  We^ 
wohl  empfindlich  abgestraft  und  mortifi- 
cirt  wird«.  Leiblich,  sittlich  und  wirt- 
schaftlich zu  Grunde  richten,  das  war  der 
Erfolg  dieser  Häuser;  er  trat  in  die  Er- 
scheinung in  den  Räuber-  und  Mordbrenner- 
banden, die  bis  in  den  An&ng  dieses  Jahr- 
hunderts in  Deutschland  sowohl  wie  in  Eng- 
land und  Frankreich  die  öffentliche  Sicher- 
heit und  das  wirtschaftliche  Leben  ganzer 
Gegenden  gefährdeten ;  frühere  Insassen  der 
Zuchthäuser  stellten  dazu  das  Hauptkon- 
tingent 

Erst  seit  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
hat  die  Strafpolitik  auch  ausserhalb  der 
Niederlande  angefangen,  jenen  Grundsatz 
des  Vernichtens  und  Abschreckens  zu  ver- 
lassen, um  an  die  von  wirtschaftspolitischen 
Gedanken  getragene  Strafpolitik  der  Hol- 
länder und  Hansestädte  wieder  anzuknüpfen, 
und  heute  steht  die  Freiheitsstrafe  mit  wohl 
organisierter  Arbeit  im  Mittelpunkte  der 
Strsimittel  aller  Kulturstaaten;  Geldstrafen, 
die  nicht  beizubringen  sind,  werden  durch 
sie  ersetzt;  die  Todesstrafe  ist  bis  auf 
ein  verschwindendes  Mass  eingeschränkt, 
die  Leibesstrafen  sind  beseitigt  So  wurden 
z.  B.  1897  im  Deutschen  Reiche  über  463  585 
wegen  Verbrechen  und  Vergehen  gegen 
Reichsgesetze  verurteilte  Personen  verhängt: 
53  Todesstrafen,  270208  Freiheitsstrafen, 
155403  Geldstrafen,  9718  Verweise. 

3.  Forderangen  der  Straf  politik  nnd 
der  Wirtschaftepolitik  an  die  Ori^ani- 
sation  der  Gefängnisarbeit  Die  Gefäng- 
nisarbeit ist  ebensosehr  eine  wirtschafts- 
politische als  strafpolitische  Notwendigkeit. 
Wenn  aus  wirtschaftlichen  Kreisen  dem 
entgegengehalten  wird,  dass  die  Gefängnis- 
arbeit die  freie  Arbeit  schädige,  und  daran 
hin  und  wieder  sogar  die  Forderung  ge- 
knüpft ist,  sie  zu  beseitigen,  so  ist  zunächst 
darauf  hinzuweisen,  dass  die  Gefängnis- 
arbeit  sowohl  nach  der  Zahl  der  in  ihr  be- 
schäftigten Personen  als  der  durch  sie  ge- 
schaffenen wirtschaftlichen  Werte  gegenüber 
der  freien  Arbeit  eine  verschwindende  Rolle 
spielt 

Nach  der  Benifszählung  vom  14.  Juni 
1895  waren  in  Preussen  vorhanden  Erwerbs- 
thätige  im  Hauptberufe:  10807271,  denen 
etwa  30000  Gefangene  in  Strafonstalten, 
Gefängnissen  und  Korrektionshäusern  gegen- 
überstehen, deren  Arbeit  mit  der  freien 
Arbeit  in  Wettbewerb  tritt,  also  auf  360 
freie  Arbeiter  kommt  ein  Gefängnisarbeiter. 
In  Frankreich  wird  der  Ertrag  der  freien 
Arbeit  auf  mehrere  Milliarden  Francs  ge- 


42 


Gelängnisarbeit 


•schätzt,  dem  der  Ertrag  der  öefäagnisarbeit 
mit  etwa  3  Mülionen  Francs  gegenübersteht. 
In  England  bestätigt  die  vom  Minister  des 
Innern  1894  zur  Untersuchung  des  Qefäng- 
niswesens  eingesetzte  Kommission :  »that  the 
value  of  prison  labour  which  is  estimated 
at  from  111000  to  120000  £  pr.  annum 
induding  the  domestic  Services  of  the  prisons 
is  an  infinitesimal  proportion  of  the  money 
earned  by  free  labour  through  out  the 
country.«  —  Ist  trotzdem  eine  Schädigung 
der  freien  Arbeit  durch  die  öefängnisarbeit 
nachweisbar,  so  liegt  die  Ursache  nicht  in 
ihrem  Wesen,  sondern  in  ihrer  Organisation. 

Die  Strafpolitik  bedarf  einer  Differenzie- 
rung der  Freiheitsstrafen  nicht  nur  nach  ihrer 
Dauer,  sondern  auch  nach  ihrer  Art,  um  die 
Strafe  der  Schwere  des  Rechtsbruches  und 
der  Gefährlichkeit  des  Rechtsbrechers  ftlr 
die  Rechtsordnung  entsprechend  abzumessen 
und  zu  gestalten.  Zu  dieser  Unterscheidung 
muss  in  erster  Linie  die  Ai'beit  dienen. 
Freiheitsstrafe  mit  Arbeitszwang  und  ohne 
Arbeitszwang  ist  die  einfachste  und  kon- 
sequenteste Unterscheidung.  Die  Nieder- 
lande haben  auf  Grund  ihrer  Jahrhunderte 
alten  Erfahrung  diese  Scheidung  gewählt 
imd  in  ihrem  Strafgesetzbuch  von  1881  ge- 
setzlich festgelegt;  Gefängnis  mit  Zwang  zu 
der  auferlegten  Arbeit,  deren  Ertrag  dem 
Staate  gehört ;  Haft  mit  Arbeit  nach  eigener 
Wahl,  deren  Ertrag  dem  Gefangenen  zufällt. 
Beschafft  der  Gefangene  sich  keine  Arbeit, 
die  mit  der  Ordnung  und  Zucht  des  Ge- 
fängnisses verträglich  ist,  weil  er  nicht  will 
oder  nicht  kann,  so  wird  sie  ihm  von  der 
Gefängnisverwaltung  gegeben,  denn  nicht 
arbeiten  wäre  unwirtschaftlich.  Bis 
jetzt  ist  noch  kein  anderer  Staat  diesem 
Vorgange  gefolgt;  mehr  oder  w^eniger  ge- 
künstelt hat  man  Freiheitsstrafen  mit  un- 
bedingtem, bedingtem,  ohne  Arbeitszwang 
konstruiert  —  Zuchthaus,  geschärfte  Haft, 
Gefängnis,  Festungshaft,  einfache  Haft  in 
Deutschland;  travaux  forc6s,  r^lusion, 
emprisonnement  correctionel ,  emprisonne- 
ment  simple,  detention,  in  Frankreich;  oder 
man  hat  versucht,  durch  die  Nomenklatur 
die  Quälarbeit  vergangener  Zeiten  anzudeuten : 
Penale  servitude,  imprisonment  with  or 
without  hard  labour,  in  England. 

Die  Strafpolitik  verlangt  erstens,  dass  das 
Wesen  der  Freiheitsstrafe:  Abschliessung 
von  der  freien  Bevölkerung,  ernste  Be- 
schränkung der  Freiheit,  Zwang  unter  die 
Gefängnisdisciplin  durch  die  Arbeit  nicht 
verändert  werde,  das  lässt  sich  am  voll- 
kommensten nur  innerhalb  des  Gefängnisses 
erreichen  und  dadurch,  dass  nicht  andere  sds 
staatliche  Organe  auf  den  Strafvollzug  Ein- 
.fluss  gewinnen;  zweitens  dass  die  Arbeit 
die  körperliohen  und  geistigen  Kräfte  des 
Gefangenen   voll  ^  in  Anspruch  nehme  imd 


nicht  in  einen  Zeitvertreib,  um  die  Lange- 
weile des  Gefängnisses  zu  bekämpfen,  aius 
arte;  drittens,  dass  die  Arbeit  nicht  Lebei 
und  Gesundheit  des  Gefangenen  schädige 
weil  sonst  die  Freiheitsstrafe  in  eine  un 
gesetzliche  Leibes-  und  Lebensstrafe  ver 
wandelt  würde ;  viertens  dass  die  Arbeit  di 
erziehlichen  Zwecke  der  Strafe  fördere  un» 
dem  leitenden  Grundsätze  im  Strafvollzugs 
der  Lidividualisierung,  nicht  widersprecb 

Die  Wirtschaftspolitik  steht  ni: 
allen  diesen  strafpolitischen  Grundsätzen  i 
voUer  Uebereinstimmung,  sie  mussaberausso: 
dem  verlangen,  dass  die  Gefängnisarbeit  wul 
liehe  und  möglichst  hohe  Werte  schaffe  - 
nicht  Tretmühle,  Kanonenkugeln  von  d^ 
rechten  auf  die  Unke  Seite  und  umgekeh 
legen,  Gräben  aufwerfen,  damit  sie  wied 
zugeworfen  werden  — ,  dass  sie  aber  nie 
durch  ungerechtfertigten  Wettbewe 
den  Wirtschafts-  und  Arbeitsraarkt  d 
freien  Arbeit  störe. 

4.  Organisation  der  Gefängnisarbe 
Jede  Gefängnisverwaltung  bedarf  für  ihr 
eigenen  Betrieb  der  Arbeitskraft  der  (3 
fangenen;  alle  Arbeiten  der  Hauswirtsch; 
vom  Hausreinigen  bis  zur  Unterhaltung  c 
Gebäude  müssen  diutih  Gefangene  aus^ 
führt  werden.  Die  Zahl  der  dabei  1 
scliäftigten  Personen  schwankt  zwiscl: 
15  bis  30  ^/o  der  Gesamtzahl.  Die  Arl 
der  übrigen  Gefangenen  muss  anderw 
verwertet  werden  und  zwar  den  Forderung 
der  Strafpolitik  entsprechend  vorzugswe 
innerhalb  des  Gefängnisses;  ausserhalb  € 
dann,  wenn  der  Anstaltszwang  den  ] 
straften  soweit  unter  die  staatliche  Ordni 
gebeugt  und  zu  ihrer  Anerkennung 
bracht  hat,  dass  eine  Milderung  des  Zwan 
eintreten  kann,  und  wenn  die  Aussenarl 
den  Charakter  der  Freiheitsstrafe  nicht  i 
hebt. 

Die  Arbeit  im  Innern  des  Gefängnis 

kann  auf  dreierlei  Weise  organisiert  we« 

1.  Betrieb  durch  Unternehmer  für  d^ 

Rechnung. 
II.  Betrieb  durch  die  Anstalt  f  ilr  R< 
nun^  eines  Unternehmers. 

ni.  Betneb  für  eigene   Rechnung 
Anstalt. 

I.  a)  Die  einfachste  aber  auch  roheste  F 
dieser  Organisation  ist  die,  dass  der 
samte  Strafvollzug  einem  Unternehmer 
Wissermassen  in  Entreprise  gegeben  > 
Er  stellt  düe  Gefängnisgebäude,  gewölii 
Baracken,  bezahlt  die  Beamten,  oft  \ 
Gewährung  eines  Anteils  am  Gewinn, 
Unterhalt  und  die  Arbeitsbelohnungen 
Gefangenen  und  hat  dafür  das  Recht, 
Arbeitskraft  der  Getogenen  auszunii 
Je  nach  den  Umständen  zahlt  der  Staat 
Unternehmer  einen  geringen  Ziischuss, 
der  Unternehmer  zahlt  dem  Staate  nocla 


OefäDgaisarbeit 


43 


Enischftdigang,  oder  er  zahlt  nichts  und 
bekommt  nichts  (Pacht-  oder  Lease-System). 

b)  Eine  mildere  Form  des  Untemehmer- 
betriebes  ist,  dass  der  Staat  die  Gebäude 
und  deren  Einrichtung  beschafft,  die  Beamten 
anstellt  und  lohnt;  ein  Gteneraluntemehmer 
übemimmt  für  alle  Gefängnisse  die  Aus- 
nutzung der  Arbeitskraft  der  Gefangenen, 
als  Entölt  liefert  er  alle  wirtschaftlichen 
Bedürfnisse  für  den  Unterhalt  der  Ge- 
fengenen  und  zahlt  ausserdem  eine  Ent- 
schädigung an  den  Staat.  Im  Vertrage 
werden  die  Arbeiten  festgesetzt,  welche  der 
UnteiTiehmer  betreiben  darf,  die  dafür  zu 
zahlenden  Löhne,  der  Preis  für  den  Unter- 
halt der  Gefangenen  und  die  Entschädigung, 
welche  an  den  Staat  zu  zahlen  ist.  Der 
Generalunternehmer  vergiebt  die  Arbeit  der 
Gefongenen  in  den  einzelnen  Anstalten  weiter 
an  Einzeluntemehmer  (General-Entreprise). 

c)  Die  mildeste  Form  besteht  darin,  dass 
der  Staat  die  gesamte  Verwaltung  der  Ge- 
fängnisse in  der  Hand  behält,  in  den  ein- 
zelnen Grefängnissen  verschiedenen  Unter- 
nehmern eine  kleinere  oder  grössere  Zahl 
von  Gefangenen  zur  Beschäftigimg  mit  einer 
bestimmten  Arbeit  gegen  Zahlung  eines 
Stück-  oder  Tagelohnes  Überweist.  Die 
Gefängnisverwaltung  trifft  die  Auswahl  der 
Crefangenen,  bestimmt  die  Arbeitsleistung; 
der  Unternehmer  beschafft  das  Arbeits- 
materiai,  die  Arbeitsgeräte,  stellt  Werkmeister 
an,  um  die  Gefangenen  bei  der  Arbeit  an- 
zuweisen und  zu  überwachen  (Special- 
Entreprise). 

n.  Betrieb  durch  die  Anstaltsverwaltung, 
aber  für  andere  Rechnung. 

Der  Auftraggeber  liefert  das  Eohmaterial 
\md  allenfaUs  noch  die  Arbeitsgeräte  und 
Maschinen,  die  Gefängnisverwaltung  stellt 
fechkimdige  Werkmeister  an,  unter  deren 
Leitimg  die  Fabrikate  hergestellt  werden, 
sie  haltet  für  gute  Arbeit  und  leistet  für 
verdorbenes  Material  Ersatz.  Die  Auftrag- 
geber können  Private  oder  öffentlidie  Ver- 
waltungen sein  (Accord-System). 

in.  Betrieb  durch  die  Anstaltsverwaltimg 
für  eigene  Rechnung. 

Die  Geßlngnisverwaltung  beschafft  das 
Rohmaterial  und  Arbeits^räte  für  eigene 
Rechnung,  lässt  unter  Leitimg  ihrer  Werk- 
meister daraus  Fabrikate  herstellen,  die  sie 
an  Private  oder  öffentliche  Verwaltungen 
verkauft  (Regiebetrieb). 

Keines  der  vorgenannten  Systeme 
ist  in  irgend  einem  Staate  allein  und  bis  zur 
äOMersten  Konsequenz  durch^f&hrt.  DasPacht- 
Lease-System  findet  sich  heute  nur  noch  in  den 
Vereini^n  Staaten  von  Nord-Amerika  und  vor- 
zugsweise in  den  ehemaligen  Sklavenstaaten. 
Die  Gefangenen  werden  von  den  Unternehmern 
ZOT  Ausbentnng  von  Kohlenminen,  Bau  von 
Eisenbahnen,  znm  Betriebe  grosser  Farmen  ver- 
wendet.    Seine  Entstehung  und  eine  gewisse 


BerechtuFung   ist   darin   begründet,    dass  der 

frösste  Teil  der  Gefangenen  Farbiee  sind.  (In 
üd-Carolina  waren  z.  B.  von  844  männlichen 
Gefangenen  788  Farbige). 

Die  Generalentreprise  war  bis  zum  Jahre 
1882  in  Italien  allein  üblich,  in  Frankreich  bis 
vor  wenigen  Jahren  die  Regel;  letzt  beginnt 
man  es  aufzugeben  und  durch  die  unter  Ic, 
II  und  III  genannten  Formen  zu  ersetzen.  In 
Oesterreich  sind  die  Weibergefängnisse  weib- 
lichen Ordenskongregationen  in  einer  Art 
Generalentreprise  gegen  einen  vom  Staate  zu 
zahlenden  Pauschznschuss  Überlassen. 

Die  Specialentreprise  ist  am  weitesten  ver- 
breitet; sie  findet  sich  in  fast  allen  Kaltur- 
Staaten  in  geringerem  oder  grösserem  Umfange 
mit  den  beiden  folgenden  Formen  gemischt; 
ganz  besonders  ausgedehnt  ist  sie  in  Preussen, 
sowohl  in  der  Geftngnisverwaltung  des  Ministe- 
riums des  Innern  als  der  Justiz,  wo  sie  seit 
1850  auf  Grund  einer  vom  Landtage  ausge- 
sprochenen und  von  der  Regierung  gebilligten 
Forderung  das  Regiesystem  ersetzte. 

Das  Akkordsystem  hat  eine  grössere  Aus- 
dehnang  nur  gefunden  in  Dänemark  neben  der 
Specialentrepnse,  in  Belgien  in  den  grösseren 
Anstalten  neben  der  Regie  und  neuerdings  in 
Prenssen  in  der  Gefängnisverwaltnng  des 
Ministeriums  des  Innern  durch  die  Herstellung 
von  Bekleidungs-  und  AusrüstiuigsstUcken  für 
die  Heeresverwaltung. 

Das  Reffiesystem  ist  am  strengsten  durch- 

geführt  in  England,  Holland,  Norwegen,  Baden, 
Idenburg,  Württemberg  und  einigen  Schweizer 
Kantonen.  In  Italien  sollte  es  seit  1882  an  die 
Stelle  der  Genersdentreprise  treten ;  indessen  in 
den  Gefängnissen  mit  kurzen  Strafen  wird  nur 
wenig  gearbeitet  (auf  100  Hafttage  kommen 
nur8,2  Arbeitstage),  von  680  781  Arbeitstagen 
fallen  auf  Unternehmer  496541,  auf  Accord- 
arbeit  133  378,  auf  Rechnung  des  Staates  50  862. 
In  den  Strafanstalten  mit  langen  Strafen  ent- 
faUen  2 167  269  Arbeitstage  auf  den  Betrieb  fUr 
Rechnung  der  R^ierung  und  1855  463  für 
Rechnung^  der  Unternehmer  und  Accordarbeit. 
6.  Wm-digmiff  der  verschiedenen 
Systeme.  L  Das  Unternehmersystem. 
Vom  strafpolitischen  Standpunkte  aus  sind 
alle  Organisationen  der  G^fängnisarbeit,  bei 
denen  ein  privater  Arbeitgeber  selbst  oder 
durch  seine  Bediensteten  in  unmittelbare 
Berührung  mit  dem  Sträfling  tritt  oder  auf 
seine  Arbeit  Einfluss  gewinnt,  zu  verwerfen. 
Der  Strafvollzug  ist  ein  Rechtsakt  ebenso 
wie  die  Rechtsprechung ;  ein  Akt  der  Staats- 
hoheit, dessen  Ausübung  auch  nicht  einmal 
teilweise  einer  Privatperson  übertragen  wer- 
den darf,  mag  die  Aufsicht  des  Staates 
auch  in  weitgehendster  Weise  gesichert 
sein.  Die  Ar&it  des  Gefangenen  ist  ein 
wesentlicher  Teil  der  Freiheitsstrafe,  ihre 
Organisation  greift  so  tief  in  die  (Gestaltung 
der  Strafe  ein,  dass  ihr  Inhalt  und  ihre 
Wirkung  wesentlich  dadurch  bedingt  wird. 
Bei  dem  Pacht^Lease-System  wird  das  staat- 
liche Gefängnis  zum  Sklavenlager,  bei  der 
Oeomn^  und  Special-Entrepnse  eine  Fabrik 
mit  unfreien  Arbeitern,   in  beiden  ist  die 


44 


Gefängnisarbeit 


individualisierende  Behandlung  der  Ge- 
fangenen gehindert,  wenn  nicht  unmöglich 
gemacht.  Der  Strafzwang  wird  durch  den 
ungehinderten  Verkehr  mit  den  Unter- 
nehmern und  deren  Bediensteten,  die  die 
Verbindung  der  Gefangenen  mit  der  Aussen- 
welt  vermitteln,  aufgehoben.  Trotz  sorg- 
fältiger Auswahl  treten  diese  Privatpersonen 
den  erziehlichen  Einflüssen  der  Beamten 
entgegen;  sie  machen  häufig,  wenn  nicht 
offen,  so  doch  insgeheim  mit  den  Gefangenen 
gemeinsame  Sache;  um  sie  zu  höherer  Ar- 
beitsleistung anzuspornen,  stecken  sie  ihnen 
unerlaubte  Genussmittel  zu;  die  Disciplin 
wird  dadurch  untergraben.  Die  Interessen 
des  Unternehmers  und  des  Strafvollzuges 
treten  zu  einander  in  Gegensatz,  und  wenn 
man  überhaupt  Unternehmer  gewinnen  und 
behalten  will,  muss  oft  der  Strafvollzug  zu- 
rücktreten. Um  ihres  Vorteils  willen  suchen 
die  Unternehmer  die  Beamten  zu  beein- 
flussen, wobei  auch  unrechtmässige  Mittel 
versucht  werden;  dem  scharfen  Blicke  des 
Gefangenen  bleibt  dies  nicht  verborgen,  und 
die  Strafe  hat  seine  Achtung  vor  der  Staate 
liehen  Bechtsordnung  jedenfalls  nicht  ge- 
hoben. 

Vom  wirtschaftspolitischen  Stand- 
pimkte  wird  für  diese  Art  des  Betriebes  gel- 
tend ^macht,  dass  sie,  nach  den  statistischen 
Mitteilungen  zu  urteilen,  einen  verhältnis- 
mässig hohen  Ertrag  zu  bringen  scheint 
Der  Wert  dieser  Behauptung  wird  unten  sub  7 
klar  gestellt  werden,  aber  angenommen,  sie 
wäre  richtig,  so  würde  daß  allein  noch  kein 
Grund  sein,  den  Untemehmerbetrieb  für  die 
Organisation  der  Gefängnisarbeit  vom  Wirt- 
schaft spolitischen  Standpunkt  zu  empfehlen. 
Die  Wirtschaftspolitik  verlangt  Sicherung  der 
grossen  wirtschaftlichen  Interessen  gegen 
die  unwirtschaftlichen  oder  wirtschaftsfeind- 
lichen Rechtsbrecher  durch  die  Strafe;  sie 
muss  diejenige  Ausgestaltung  der  Strafe 
verlangen,  weiche  diesen  Zweck  am  besten 
erfüllt.  Wird  die  Wirkung  der  Strafe  aber 
durch  den  Untemehmerbetrieb  geschwächt 
oder  wohl  gar  vereitelt,  so  wäre  es  Krämer- 
politik, aber  nicht  Wirtschaftspolitik,  ihn  zu 
verlangen,  weil  dabei  eine  Million  mehr  ver- 
dient wird,  die  gegenüber  den  Milliarden, 
die  in  der  Gesamtwirtschaft  eines  Volkes 
stecken  und  durch  die  Rechtsbrecher  ge- 
fährdet werden,  keine  Rolle  spielt  — 

Aber  das  schwerste  wirtschaftspolitische 
Bedenken  gegen  den  Untemehmerbetrieb 
liegt  darin,  dass  er  durch  ungerechtfertigte 
Konkurrenz  fast  unvermeidlich  zu  Störungen, 
ja  sogar  Schädigungen  der  freien  Arbeit 
führt  und  meist  gerade  dann,  wenn  sie 
diese  Störung  am  wenigsten  vertragen  kann, 
in  Zeiten  wirtschaftlicher  Schwankungen 
oder  wirtschaftlichen  Niederganges.  Dafür 
spricht  die  Thatsache,  dass  die  Klagen  über 


ungerechtfertigten  Wettbewerb  der  Ge&n^- 
nisarbeit  mit  der  freien  Arbeit  gerade  m 
den  Staaten  laut  werden,  in  deren  Geföng- 
nifisen  der  Untemehmerbetrieb  vorwiegt, 
z.  B.  in  Frankreich,  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika,  in  Preussen; 
Klagen,  die  vielfach  übertrieben,  doch  immer 
in  irgend  einer  Richtung  einen  berechtigten 
Untergrund  haben.  Die  Klagen  sind  zu 
Zeiten  so  heftig  geworden,  dass  sie  zu  der 
Forderung  geführt  haben,  jede  Gefängnis* 
arbeit,  die  mit  der  freien  Arbeit  in  Wett- 
bewerb tritt,  zu  beseitigen,  und  dass  diesen 
Forderungen,  wenn  aucn  nur  für  ganz 
kurze  Zeit,  in  Franki'eich  imd  Nordamerika 
stattgegeben  ist 

Die  Unternehmer  müssen  die  Arbeit  in 
den  Ge^gnissen  in  der  Regel  fabrikmässig 
betreiben,  denn  nur  auf  diese  Weise  ist  es 
möglich,  die  Arbeitskraft  der  Gefangenen 
vorteilhaft  zu  verwerten,  welche  den  ver- 
schiedensten Lebens-  imd  Arbeitsverhält- 
nissen entstanunen  und  unter  denen  die 
ganze  Stufenleiter  vom  Künstler  und  durch- 
gebildeten Handwerker  bis  zum  einfachsten 
Arbeiter,  vom  Gebildeten  bis  zum  stupiden 
Kretin,  vom  Manne  in  der  vollsten  Kraft 
bis  ziun  Schulkinde  und  Greise  vertreten 
ist  Besonders  bevorzugt  werden  daher 
solche  Arbeitszweige,  in  denen  durch  ma- 
schinelle Einrichtungen  die  Unerfeüu^nheit 
oder  das  Ungeschick  der  Arbeiter  ausge- 
glichen werden  kann,  oder  solche,  bei  denen 
es  nicht  sowohl  auf  das  Geschick  und  lang- 
jährige Uebung  als  auf  die  einfache  Arbeits- 
kraft ankommt  Durchmustert  man  die  Ge- 
fängnisstatistiken der  verschiedenen  Länder, 
so  findet  man  fast  überall  dieselben  Fabri- 
kationszweige. Schneiderei  mit  Nähmaschi- 
nen; Schusterei  mit  Stanz-,  Pflöck-  und 
Nähmaschinen ;  Tischlerei  mit  Säge-,  Bohr-, 
Frais-  und  Hobelmaschinen*  Anfertigimg 
von  Eisenwaren :  Schlössern,  Nägeln,  Ketten 
u.  s.  w.  mit  Hilfe  von  Press-,  Bohr-  und 
Stanzmaschinen ;  Maschinenstrickerei ;  Fabri- 
kation von  Couverts  auf  der  Maschine,  An- 
fertigimg von  Kartonnagen  und  Bücherein- 
binden  mit  Schneide-,  Präge-  und  Heft- 
maschinen; von  Korsetts  und  Knöpfen,  bei 
denen  ebenfalls  die  Maschine  die  Haupt- 
rolle spielt.  Vielfach  werden  die  Maschinen 
durch  Dampf,  Gas  oder  elektrische  Motoren 
in  Bewegung  gesetzt  Daneben  finden  sich 
die  einfachsten  und  leicht  zu  erlernenden 
Handarbeiten:  Weberei  jeder  Art,  Korb- 
flechten ^  Bürsten-  und  Besenfabrikation, 
Netzestncken,  Mattenweben,  Federschleissen, 
Kaffee  oder  Hülsenfrüchte  verlesen,  Sack- 
iiähen,  Wolle-  und  Tauzupfen,  Dütenkleben 
u.  s.  w. 

Gelegentlich  findet  sich  in  kleinerem 
Umfange  auch  eine  kunstvollere  Arbeit,  z.  B. 
Holzschnitzerei,  Seiden-  und  Plüschweberei, 


Gefängnisarbeit 


45 


je  nachdem  der  Zufall  dafür  geeignete  Ge- 
fangene in  ein  Gefängnis  verschlägt  und  die 
lange  Dauer  der  Strafe  das  Anlernen  lohnend 
macht.  Schon  diese  fabrikmässige  Organi- 
sation der  Arbeit  an  sich  bietet  eine  wirt- 
schaftliehe Gefahr.  Der  Anteil  der  indus- 
triellen Bevölkening  an  der  Kriminalität  ist 
erheblich  grOsser  als  der  anderer  Berufe,  z.  B. 
der  Landwirtschaft,  der  Dienstboten  und  häus- 
liche Dienste  leistenden  (Beichskriminalstatis- 
tik  ffir  1894,  II  S.  28).  Dasselbe  trifft  zu  bei 
der  Bevölkerung  der  grossen  Städte  und  In- 
dnstriecentren  (R-Kr.-Stat  1895,  11  S.  29). 
Werden  nun  die  Bestraften,  die  nicht  der 
industriellen  Bevölkerung  angehören,  und 
die,  weldie  aus  ländlichen  Kreisen  und 
kleinen  Städten  stammen,  während  der  Straf- 
zeit industriell  beschäftigt,  so  liegt  die  Ge- 
fahr nahe,  dass  sie  nach  der  Entlassung 
in  die  Industrie  und  die  grossen  Städte 
drängen  und  ihrem  früheren  Berufe  sich 
entfremden.  Dadurch  werden  gerade  den 
Berufen  und  den  G^enden,  welche  am 
meisten  unter  Arbeitsnot  leiden,  die  Kräfte 
entzogen,  und  die  Entlassenen  sind  in  dem 
neuen  Benife  und  an  dem  neuen  Wohnorte 
erhöhter  Gefahr  des  Rückfalls  ins  Ver- 
brechen ausgesetzt. 

Ganz  besonders  aber  werden  gegen  den 
üntemehmerbetrieb  zwei  Vorwürfe  erhoben : 

a)  Die  für  die  Gefängnisarbeit  gezahlten 
Löhne  seien  so  gering,  dass  sie  den 
Lohn  der  freien  Arbeiter  herabdrückten. 

b)  Die  Unternehmer  Hessen  in  den  Ge- 
fängnissen minderwertige  Waren  her- 
stellen, mit  denen  sie  den  Arbeits- 
markt überschwemmten,  gute  Waren 
im  Preise  drückten  oder  wohl  gar 
verdrängten. 

Die  erste  Behauptimg  wird  mit  den 
Zahlen  der  Ge&ngnisstatistiken  begründet. 
Wenn  z.  B.  die  Ta^esarbeit  eines  männ- 
lichen Gefangenen  nut  einer  Strafdauer  von 
mehr  als  einem  Jahre  in  den  Centralanstalten 
Frankreichs  im  Unternehmerbetriebe  nur 
89  Pfennige  im  Durchschnitt  betrage  und 
in  den  einzelnen  preussischen  Strafanstalten 
zwischen  49  und  93  Pfennigen  schwanke, 
wenn  ausserdem  dem  Unternehmer  die  Ar- 
beitsräume erwärmt  und  erleuchtet  nebst 
den  erforderlichen  Lagerräumen  kostenlos 
von  der  Gefängnisverwaltung  gestellt  wer- 
den, so  seien  das  Löhne  und  Arbeitsbe- 
dingungen, mit  denen  der  Unternehmer^  der 
freie  ^beiter  beschäftige,  nur  konkiuneren 
könne,  wenn  er  die  Löhne  der  freien  Ar- 
beiter herabdrücke.  Es  wird  daher  ge- 
fordert, die  Gefängnisverwaltungen  sollen 
die  Arbeit  der  Ge&ngenen  dem  Unternehmer 
nur  unter  denselben  Lohnbedingungen  über- 
laden, die  der  freie  Arbeiter  auf  dem  Lohn- 
markte erzielt.  Diese  Forderung  haben  die 
Gc^Lngnisverwaltungen  sich  selbst  schon  ge- 


stellt, so  lange  der  Üntemehmerbetrieb  in 
den  Gefängnissen  besteht  Sie  haben  sie 
dadurch  zu  erreichen  gehofft,  dass  sie  die 
Gefängnisarbeit  ööentlich  ausbieten,  in 
Frankreich  werden  vor  Abschluss  der  Ver- 
träge die  Handelskammern  über  die  Löhne, 
welche  in  dem  betreffenden  Industriezweige 
dem  freien  Arbeiter  gezahlt  werden,  gehört ; 
in  Preussen  wird  in  der  Gefängnisverwaltung 
des  Ministeriums  des  Innern,  soweit  es 
immer  angeht,  ein  Stücklohn  mit  dem  Unter- 
nehmer vereinbart,  um  einen  Vergleich  mit 
den  Löhnen  der  freien  Arbeit  zu  gewinnen; 
aber  es  hat  noch  nie  gelingen  wollen,  für 
Gefängnisarbeit  auch  nur  annähernd  die 
Löhne  freier  Arbeiter  zu  erzielen.  Die 
Unternehmer,  welche  am  lautesten  gegen 
die  niedrigen  Löhne  der  Gefangenen  eifern, 
haben  sich  am  lebhaftesten  geweigert,  Ge- 
fangene auch  nur  zu  diesen  niedrigen  Löhnen 
zu  beschäftigen.  Die  Ursache  dafür  liegt 
einmal  in  der  Beschaffenheit  des  Arbeiter- 
materials und  dann  in  der  eigenartigen 
Organisation  des  Gefibignisuntemehmerbe- 
triebes. 

Unter  den  Ge&ngenen  befindet  sich  eine 
grosse  Anzahl  von  wirtschaftlich  minder- 
wertigen Existenzen,  die  verschuldet  oder 
unverschuldet  den  Wettbewerb  auf  dem 
Arbeitsmarkte  nicht  haben  aushalten  können 
und  darum  dem  Verbrechen  verfallen  sind. 
Diese  finden  sich  vorzugsweise  in  den  Straf- 
anstEdten,  in  denen  längere  Strafen  verbüsst 
werden;  wenn  es  überhaupt  gelingt,  sie  in 
der  Arbeit  wieder  vollwertig  zu  machen,  so 
bedarf  es  dazu  erst  längerer  Zucht  und 
Lemzeit  Die  Insassen  der  Geföngnisse 
verbüssen  meist  so  kurze  Strafen,  dass  vom 
Anlernen  zu  einer  neuen  Arbeit  kaum  die 
Rede  sein  kann.  In  Deutschland  z.  B.  über- 
steigt die  Haftstrafe  nur  ausnahmsweise  die 
Dauer  von  6  Wochen,  und  nach  der  Beichs- 
kriminalstatistik  für  1897  hatten  von  den 
auf  Grund  des  Strafgesetzbuches  erkannten 
Gefängnisstrafen  nur  5®/o  die  Dauer  von 
mehr  als  einem  Jahre,  14  %  von  drei  Monaten 
bis  unter  zwölf  Monate,  13%  von  einem 
Monat  bis  unter  drei  Monate;  der  Rest  be- 
rechnet sich  nur  nach  Tagen.  Dass  die 
Arbeitsleistung  derartiger  Personen  auch 
nicht  annähernd  mit  der  der  freien  Ar- 
beiter gleich  bewertet  werden  kann,  lie^ 
auf  der  Hand;  es  wird  sich  auch  kern 
Unternehmer  finden,  der  für  sie  dieselben 
Löhne  za^t  wie  für  freie  Arbeiter. 

Für  den  planmässigen  Strafvollzug  ist 
ein  stetiger,  festgeregelter  Arbeitsbetrieb 
eine  Notwendigkeit;  die  Verwaltung  muss 
daher  mit  dem  Unternehmer  auf  eine  Reihe 
von  Jahren  Vertrag  schliessen  —  in  Preussen 
auf  3 — 6  Jahre  — .  Damit  die  Gefilngnis- 
verwaltung  Herr  des  Strafvollzuges  bleibt, 
müssen  dem  Unternehmer  eine  solche  Menge 


46 


Gefängnisarbeit 


x'on  Beschränkungen  auferlegt  werden,  dass 
er  geschäftlich  nicht  frei  über  seinen  Betrieb 
disponieren  kann.  Der  Unternehmer  ver- 
pf hebtet  sich,  eine  Höchstzahl  von  Ge- 
fangenen zu  beschäftigen,  die  Gefängnisver- 
waltung ist  aber  nicht  verpflichtet,  sie  ihm 
zu  geben,  wenn  die  Zahl  der  Gefangenen 
herabgeht  oder  sie  selbst  ihrer  bedarf.  Die 
Auswahl  der  Arbeiter  steht  der  Verwaltung 
zu,  dabei  ist  natürlich  in  CTSter  Linie  der 
Strafvollzug  zu  bei'ückalchtigen,  in  zweiter 
der  Betrieb  des  Unternehmers.  Der  Zu- 
gewiesene muss  beschäftigt  werden,  ob  er 
für  die  Arbeit  geeignet  ist  oder  nicht,  ob 
er  gute  oder  schlechte  Arbeit  liefert,  ob  er 
viel  oder  wenig  Arbeitsmaterial  verdirbt. 
Ist  ein  Gefongener  mit  viel  Mühe  und 
mancherlei  Verlust  zu  einem  brauchbaren 
Arbeiter  ausgebildet,  so  wird  er  dem  Unter- 
nehmer entzogen,  weil  die  Strafe  abgelaufen 
ist  oder  Bücksichten  auf  den  Strafvollzug 
oder  die  Disciphn  seine  Entfernung  von  der 
Arbeit  fordern.  Der  Unternehmer  weiss 
nicht,  ob  er  eine  Konjunktur  ausnutzen 
kann;  hat  er  viel  Aufträge,  so  fehlen  ihm 
die  Arbeiter  —  denn  bei  günstiger  wirt- 
schaftlicher Lage  sinkt  die  Zahl  der  Be- 
straften —  und  er  kann  nicht  liefern;  hat 
er  wenig  Aufträge,  so  muss  er  die  volle 
Zahl  der  Arbeiter  nehmen,  muss  herstellen, 
ohne  verkaufen  zu  können.  Wird  ihm  Ar- 
beitsmaterial oder  Gerät  verdorben,  so  hat 
er  keinen  Anspruch  auf  Ersatz:  der  Ge- 
fangene wird  zwar  disciplinariscn  bestraft, 
aber  der  Unternehmer  muss  den  wider- 
wilügen,  ungeschickten  Arbeiter  behalten 
und  weiter  beschäftigen.  AUe  diese  Mög- 
lichkeiten muss  der  gewissenhafte  Geschäfts- 
mann berücksichtigen  und  kann  daher  nur 
einen  aussergewöhnlich  niedrigen  Arbeits- 
lohn bieten;  Konkurrenz  hat  er  kaum  zu 
fürchten,  denn  die  Zahl  der  Gewerbetreiben- 
den, welche  sich  auf  ein  so  unübersicht- 
liches Geschäft  einlässt,  ist  gering,  und 
ausserdem  sind  niu*  wenige  Geschäftsleute 
geneigt,  ihren  Betrieb  ins  Gefängnis  zu  ver- 
legen. Sind  alle  Verhältnisse  günstig,  dann 
kann  allerdings  der  Unternehmer  infolge 
des  billigen  Arbeitslohnes  die  Waren  billiger 
herstellen  als  sein  Konkurrent,  der  freie 
Arbeiter  bescliäftigt,  und  büliger  verkaufen. 
Ist  die  Menge  der  Ware,  die  er  auf  den 
Markt  bringt,  auch  nur  gering  in  Vergleich 
zu  der  von  freien  Arbeitern  hergestellten, 
so  drückt  sie  doch  auf  die  Preise  des  freien 
Fabrikats.  Der  Abschlag  muss  zunächst 
den  Arbeitslohn  treffen,  denn  Arbeitsmaterial 
und  Arbeitsgeräte  kosten  dem  Fabrikanten, 
der  mit  Gefangenen  arbeitet,  nicht  mehr 
als  dem,  der  freie  Arbeiter  verwendet 
Aber  auch  die  Fabrikanten  werden  ge- 
schädigt; denn  der  Arbeitslohn  allein  kann 
den  Abschlag  nicht  tragen,  auch  der  Ge- 


schäftsgewinn wird  vermindert  Schlimraei 
ist  jedoch  die  Einwirkung  auf  die  gauz( 
Geschäftslage  in  Zeiten  wirtschaftliche 
Schwankungen.  Leidet  ein  Arbeitszweii 
diux^h  UeberfüUung  des  Marktes  und  niedrig 
Pi^eise,  welche  dem  Arbeiter  nicht  meli 
einen  für  seine  Existenz  ausreichenden  Lok 
und  den  Fabrikanten  keinen  Geschäftsgewiu 
lassen,  so  kann  durch  Beschränkung  de 
Fabrikation  und  Räumung  des  Marktes  da 
Geschäft  in  kurzer  Zeit  gesunden;  bild( 
der  Arbeitszweig  aber  zugleich  eine  Ct( 
fängnisindustrie,  so  wird  der  Gesundung! 
prozess  gestört  oder  erheblich  verlängei 
Der  Gefängnisunternehmer  kann  seine  Fabi 
kation  nicht  einschränken,  er  muss  seii 
vertragsmässige  Zahl  von  Arbeitern  weit 
beschätigen,  muss  seine  Fabrikate  auf  d< 
Markt  bringen  und  zu  jedem  Preise  vt 
kaufen.  Er  kann  das  länger  aushalten  i 
die  freie  Arbeit,  weil  jedes  auch  noch 
minimale  Anziehen  der  Preise,  welches  dur 
Einschränkung  der  freien  Arbeit  bewii 
wird,  ihm  zunächst  zu  gute  kommt  ! 
einer  besonda?en  wirtschaftlichen  Gefa 
wird  der  Untornehmerbetrieb,  wenn  er  ii 
der  Hausindustrie  in  Wettbewerb  tiitt  u 
die  ohnehin  kläglichen  Löhne  der  in  die^ 
beschäftigten  Arbeiter  noch  weiter  hen 
drückt 

Dieser  wirtschaftliche  Schaden  des  Unt 
nehmerbetriebes    kann    d\uxjh    eine    un; 
schickte  und  unverständige  Oiganisation, 
lediglich    die    Höhe  des   Arbeitslohnes 
Auge  hat,  ins  Unerträgliche  gesteigert  -^ 
den.      Derjenige    Unternehmer    kia,nn 
höchsten  Löhne  für  Gefftngnisarbeit  zah] 
der   über    grosses   Kapital   verfügt,    da 
kann  er  jede  Konjunktur  beim  Einkauf 
RolLstoffe  ausnutzen,  die  besten  Masciiii 
durch  welche  die  Arbeitskraft  der  Gefange 
wertvoller  gemacht   wird,   beschaffen 
sich  eine   grosse   Anzahl    von    Gefange 
mit   möglichst   freier  Verfügung   über 
selben  sichern.    Das  ist  der  Gefängnisgr 
betrieb  des   Generalunternehmers,    der 
der   Uebermacht   jedes   Grossbetriebes 
beitskräfte,  die  nur  für  ihn  billiger  sind 
freie    Arbeit,   verbindet.     Der    Grossui 
nehmer  wählt  sich  für  die  Tausemle 
Gefangenen,    die    er    sich    gemietet,     < 
Rücksicht  auf  die  freie  Arbeit,   Indus 
zweige  aus,  welche  am  leichtesten  und 
teühaftesten  im  Gefängnisse  betrieben 
den  können;   er  verfügt  über  die  Arb 
kraft  der  Gefangenen  lediglich  im  Intoi 
des  Arbeitsertrages  ohne  Rücksicht  auf 
Strafvollzug,    er   koncentriert    seine     g 
Geld-  und  Arbeitskraft  auf   einige    ^^t 
Industrieen,    in    denen   er   den    Markt 
herrscht.    Das   ist   eine  ernste  CTefalii 
die  freie  Arbeit   Eine  umsichtige,  die    s 
und  wirtschaftspolitischen  Forderungen 


Gefängnisarbeit 


47 


Tüeksiclitigende  Organisation  wird  die  Ge- 
ämgenen  auf  eine  grössere  Zahl  von  Unter- 
nelunem  und  Arbeitszweigen  verteilen  und 
die  Arbeitszweige  auch  mit  Rücksicht  auf 
die  freie  Industrie  auswählen.  Sie  wird 
den  einzelnen  Arbeitszweigen  nur  so  viel 
Gefangene  zuweisen,  dass  deren  Zahl  gegen- 
über den  in  demselben  Zweige  beschäftigten 
freien  Arbeitern  nur  einen  geringen  Prozent- 
satz beträgt  und  das  in  dem  Betriebe  an* 
gele^  Kapital  und  die  darin  erzeugten 
Fabrikate  g^enüber  denen  der  freien  Arbeit 
fast  verschwinden,  sie  wird  die  Verwendung 
von  Kraftmaschinen  iigend  welcher  Art  bei 
der  Gefängnisarbeit  nicht  zulassen ;  sie  ^drd 
bei  der  Auswahl  von  Gefangenen  für  die 
Arbeit  auf  die  Zukunft  desselben  und  seine 
Retablierung  in  der  Gesellschaft  Rücksicht 
nehmen. 

unter  all  derarti^n  Beschränkungen  wird 
die  Störung  der  freien  Arbeit  durch  die  Ge- 
föngnisarbeit  auf  ein  kaum  fühlbares  Mass 
beschränkt,  aber  auch  der  Ertrag  aus  dem 
Untemehmerbetriebe  ganz  erheblich  herab- 
gedrückt. 


Diese  Grundsätze  sind  fttr  die  Organisation 
des  Unteruehmerbetriebes,  soweit  er  in  den  Ge* 
fängnissen  noch  zugelassen  ist,  immer  mehr  zur 
Anwendung  gekommen.  Am  strengsten  sind 
sie  wohl  durchgeführt  in  den  Strafanstalten 
und  Gefängnissen,  die  dem  preussischen  Ministe- 
rium des  Innern  unterstehen.  —  Zunächst  ist 
die  Zahl  der  für  Unternehmer  beschäftigten 
Gefangenen  von  Jahr  zu  Jahr  immer  mehr  ein« 
geschränkt,  seit  1869  ist  sie  von  78  ^/p  der  be- 
schäftigten Gefangenen  auf  49%  im  Jahre 
1897/9»  herabgegangen;  immerhin  sind  es  aber 
noch  9733  Männer  und  1190  Weiber.  Diese 
verteilen  sich  auf  17  Arbeitszweige  der  Männer 
und  4  der  Weiber,  in  denen  je  mehr  als  100 
Arbeiter,  und  eine  noch  fi^Ossere  Zahl,  in  denen 
weniger  Arbeiter  beschäftigt  werden.  Die 
höchste  Zahl  der  in  einem  Betriebe  beschäftigten 
Arbeiter  beträft  überhaupt  nur  1304.  ver* 
gleicht  man  die  Zahlen  der  in  den  einzelnen 
Arbeitszweigen  beschäftigten  Gefangenen  mit 
den  Zahlen  der  in  denselben  Betrieben  im 
Hauptberufe  beschäftigten  freien  Arbeiter,  wie 
sie  die  Berufszählun^  von  1895  fttr  Preussen 
aufweist,  so  ergieht  sich  folgendes  Bild: 


Freie  Arbeiter 

Gefängnisarbeiter 

männliche 

weibliche 

männliche 

7o    1  weibliche 

/o 

222901 

• 

I  290 

0,5 

« 

43603 

30481 

900 

2,0 

154 

0,5 

241  297 

* 

637 

0,2 

• 

5827 

■ 

557 

9,5 

• 

22856 

• 

678 

2,9 

• 

• 

10266 

• 

• 

187 

l,s 

23482 

• 

509 

2,1 

• 

Schreinerei 

C^arren-Fabrikation 

Schuhmacherei 

Bürstenfabrikation 

Korbmacherei  u.  Flechterei  v.  Rohr  etc. 

Tapifiserie  und  Stickerei 

Kaitonnage 


An  den  einzelnen  Arbeitszweigen  sind  eine 
ganze  Eeihe  von  Unternehmern  beteiligt,  indem 
es  möglichst  vermieden  wird,  einem  Unter- 
nehmer mehr  als  100  Gefangene  zuzuweisen. 

In  ähnlicher  Weise  wird  in  Frankreich  und 
Oesterreich  verfahren,  wo  die  Sträflinge  der 
grossen  Anstalten  auf  10 — 12  Betrieb  mit 
mehr  als  100  Arbeitern  verteilt  sind ;  auch  hier 
sind  selten  mehr  als  100  Arbeiter  einem  In- 
dustriezweige zugeteilt. 

Die  Behauptung,  dass  die  Gefängnis- 
Unternehmer  minderwertige  Fabrikate  her- 
stellten, ist  nicht  ganz  unzutreffend  und 
d»;au3  erklärlich,  dass  für  die  grosse  Menge 
von  ungeübten  Arbeitern,  die  fast  sämtlich 
erst  angelernt  werden  müssen  und  dabei 
Arbeitsinaterial  verderben,  der  Unternehmer 
wertvolles  Kohmaterial  nicht  heiigiebt ;  aber 
dasselbe  findet  auch  bei  der  Fabrikation 
mit  freien  Arbeitern  statt;  auch  hier  giebt 
es  Lehrlingsarbeit,  die  auf  dem  Markte 
verwertet  werden  muss,  in  solcher  Menge, 
dass  darunter  die  geringe  Menge  minder- 
wertiger Gefängnisarbeit  verschwindet.  Dazu 
kommt,  dass  der  heutige  Konsam  minderwer- 
tige Mafisenartikel  für  geringen  Preis  verlangt, 
ein  Verlangen,  dem  auch  die  freie  Arbeit  ent- 


sprechen muss.  Wenn  nun  die  Behauptung 
richtig  ist,  dass  durch  minderwertige  Waren 
die  besseren  verdrängt  werden,  so  ist  daran 
jedenfalls  nicht  die  uefängnisarbeit  schuld. 
Bei  der  Strenge,  mit  welcher  schon  im  In- 
teresse des  Strafvollzugs  und  des  zukünf- 
tigen Fortkommens  des  Gefangenen  auf 
gute  Arbeit  gehalten  wird,  kann  der  grösste 
Teil  der  im  Gefängnis  hergestellten  Fabri- 
kate, was  die  Güte  der  Arbeit  anbetrifft, 
sich  wohl  mit  gleichartigen  von  freien  Ar- 
beitern verfertigten  messen. 

Dass  diese  Art  des  Arbeitsbethebes  trotz 
all  ihrer  Mängel  und  der  gegen  ihn  gerich- 
teten, nicht  unberechtigten  Angriffe  sich  in 
seiner  Ausdehnung  erhält,  ist  einmal  Schuld 
der  Gefängnisverwaltung,  weil  er  für  sie  am 
bequemsten  ist  und  an  die  Leistimgen  der 
Ghefängnisbeamten  und  ihre  Verantwortlich- 
keit die  geringsten  Anforderungen  stellt. 
Die  grössere  Schuld  trägt  aber  die  "Wirt- 
scha&politik,  w^enn  sie  den  Staatsbetrieb 
grundsätzlich  bekämpfend,  ihn  auch  im  Ge- 
fängnisse nidit  zulassen  will. 

II.  Das  Accordsystem.  Das  Accord- 
system  entspricht  allen  Forderungen,  welche. 


48 


Gefängnisarbeit 


die  Straf  Politik  aa  die  Organisation  der  Gre- 
fängnisarbeit  stellen  muss.  Die  Qefängnis- 
verwaltung  ist  vollständig  frei  in  der  Aus- 
wahl der  Arbeitszweige,  welche  für  die 
Erreichung  des  Strafzwecks  am  geeignetsten 
sind;  sie  kann  bei  der  Zuweisung  zur  Ar- 
beit der  Individualität  der  Ghefangenen  in 
vollstem  Umfange  Rechnung  tragen;  Privat- 
personen kommen  mit  den  Gefengenen  nicht 
m  Berührung  und  gewinnen  keinen  Einfluss 
auf  die  Gestaltimg  des  Strafvollzugs.  Auch 
die  Forderun^n  der  "Wirtschaftspoli- 
tik lassen  sich  durch  diese  Organisation 
nach  allen  Richtungen  erfüllen.  Zunächst 
lässt  sich  eine  noch  grössere  Mannigfaltig- 
keit in  der  Arbeit  erzielen  und  damit  der 
Wettbewerb  der  Geföngnisarbeit  mit  der 
freien  Arbeit  auf  eine  noch  grössere  Zahl 
von  Arbeitszweigen  verteilen.  Die  für  die 
Arbeit  zu  zahlenden  Löhne  lassen  sich 
denen  der  freien  Arbeiter  —  wenigstens 
annähernd  —  gleich  bemessen,  dadiuxjh 
wird  der  Druck  auf  diese  Löhne  vermieden. 
Die  Zahl  der  Arbeitgeber  für  die  Gefäng- 
nisarbeit wird  sich  vermehren,  da  das 
Geschäft  ebenso  klar  und  übersichtlich  ist 
wie  bei  der  Beschäftigung  freier  Arbeiter ;  der 
Arbeitslohnertrag  wird  sich  steigern.  Dar- 
gegen  läuft  die  Gefängnisverwjdtung  durch 
die  üebemahme  der  Verpflichtung,  für 
schlechte  Arbeit,  verdorbenes  Material  und 
Gerät  Ersatz  zu  leisten,  eine  grössere  Ge- 
fahr, und  bei  ungeschickter  oder  nachlässiger 
Leitung  wird  der  zu  zahlende  Schadener- 
satz dfen  höheren  Lohnertrag  bedeutend 
schmälern,  wenn  nicht  ganz  verschÜugen. 
III.  Der  Regie-Betrieb.  Der  R^e- 
betrieb  ist  vom  strafpolitischen  Stand- 
punkte die  geeignetste  Organisation  des  Ar- 
oeitsbetriebes ,  weil  er  die  Gtefäugnisver- 
waltimg  am  wenigsten  hindert,  alle  die- 
jenigen Zwecke,  welche  die  Strafpolitik 
erstrebt,  zu  verfolgen,  soweit  die  Arbeit  zu 
deren  Erreichung  beiträgt.  Dagegen  liegt 
in  dieser  Art  des  Betriebes  eine  nicht  zu 
unterschätzende  wirtschaftliche  Gefahr,  wenn 
die  darin  hergestellten  Waren  auf  den 
freien  Markt  gebracht  werden.  Da  der 
Gefängnisverwaatung  das  Betriebskapital 
zinsfrei  oder  zu  massigem,  stets  gleicnem 
Zinsfusse,  die  Arbeitsräume,  &leuchtung, 
Aufsicht  kostenfrei  zur  Verfügung  stehen, 
kann  sie  billiger  herstellen,  verkaufen  und 
damit  sowohl  auf  die  Arbeitslöhne  sds  den 
üntemehmergewinn  der  Privatindustrie  eben- 
so schwer  drücken  wie  der  Untemehmerbe- 
trieb.  Da  die  Gefängnisbeamten  in  der 
Regel  nicht  kaufmännisch  geschult  und 
durch  die  bei  einer  staatlichen  Verwaltimg 
unvermeidlichen  Verwaltungs-  und  Rech- 
nungskontrollen in  ihrem  freien  Handeln 
beschränkt  sind,  so  lie^  die  Gefahr  nahe, 
dass   die  Konjunktur    nicht   richtig  ausge- 


nutzt und  das  Rohmaterial  zu  teuer  einge- 
kauft wird,  für  den  Geschmack  und  das 
Bedürfnis  des  kaufenden  Publikums  das 
richtige  Verständnis  fehlt  und  ungangbai*e, 
nur  unter  Wert  zu  verkaufende  &gen- 
stände  angefertigt  werden.  Diese  Gefahr 
ist  um  so  grösser,  als  in  den  einzelnen  Ge- 
fängnissen aus  strafpolitischen  Gründen,  um 
der  Eigenart  der  Gefangenen  gerecht  zu 
werden,  eine  ganze  Reihe  von  Arbeits- 
zweigen betrieben  werden  muss,  deren 
f*ündliche  technische  und  kaufmännische 
enntnis  auch  von  sehr  tüchtigen  Beamten 
nicht  erwartet  werden  kann. 

Nicht  mindere  Schwierigkeiten  bietel 
der  Verkauf  der  Waren;  die  Gefängnisver 
waltung  kann  sich  nicht  dirdct  an  das 
kaufende  Publikum  wenden,  sie  kann  nich 
unter  ihrer  Firma  Verkaufshallen  in  de; 
Stadt  oder  wohl  gar  im  Thorgebäude  dei 
Gefängnisses  errichten,  das  würde  die  frei 
Arbeit  am  Orte  des  Gefängnisses  besonder 
drücken;  sie  kann  auch  nicht  wie  de 
Fabrikant  Reisende  hinausschicken,  um  ihr 
Waren  zu  vertreiben.  Sie  wird  also  doc 
wieder  auf  Privat-Untemehmer  angewiese 
sein,  die  sie  durch  billiger  gestellte  Preis 
zur  Abnahme  willig  machen  muss  *  es  kam 
doch  wieder  auf  ein  Unterbieten  der  freie 
Arbeit  hinaus.  Ja  es  wäre  nicht  ausg( 
schlössen,  dass  die  Gefängnisse  desselbe 
Staates  oder  benachbarter  Staaten  sie 
unter  einander  Konkurrenz  machten.  1 
kleinen  Staaten,  deren  Gefängnisbevölkerur 
sich  auf  einige  hundert  beläuft,  lassen  si( 
diese  Schwierigkeiten  aDenfalls  überwinde 
oder  sie  treten  nicht  in  die  Erscheinun 
In  grossen  Staaten  dagegen,  wo  die  G 
fängnisbevölkerun^  nach  zehntausend^ 
zählt,  wo  das  in  diesen  Betrieben  angeleg 
Staatskapital  sich  auf  Millionen  und  die  d 
rin  hergestellten  Waren  auf  das  Doppe' 
beziffern,  würden  sie  sich  sehr  bald  unlit 
sam  bemerkbar  machen.  Eine  umsichti 
Wirtschaftspolitik  wird  daher  einen  d< 
artigen  Staatsbetrieb  nur  mit  Vorsicht  e 
pfehlen. 

Die  Erfahranjg^  hat  diese  Bedenken  voll) 
gerechtfertigt.  Bis  zum  Jahre  1848  war  in  c 
preussischen  Strafanstalten  ein  derartiger  ] 
trieb  vorherrschend;  die  geringen  finanziel 
Ergebnisse,  die  lauten  Klagen  über  Schädigt 
der  freien  Arbeit  haben  damals  zur  Auf  heb  i 
und  Ersatz  desselben  durch  den  Unternehn 
betrieb  geführt.  Auch  die  italienische  * 
fängnisstatistik  zeigt,  dass  ein  solcher  Beti 
zuweilen  mit  Verlust  tür  die  Staatskasse  arbei 
Der  Regie-Betrieb  hat  vom  wirtscha 
politischen  Standpunkte  nur  dann  volle  ] 
rechtigung,  wenn  er  sich  in  weitestera  I 
fange  mit  der  Anfertigung  von  Gegenstärn 
für  die  Bedürfnisse  öSentlicher  Verv 
tungen  beschäftigt  Dem  wird  entgegen 
halten,   dass   die  Gefängnisverwaltung" 


Gefängnisarl)eit 


49 


ihren  immerhin  minderwertigen  Arbeits- 
kräften gar  nicht  imstande  wäre,  die  Ge- 
genstände, welche  die  verschiedenen  Staats- 
verwaltungen bedürfen,  brauchbar  herzu- 
stellen, und  dass  ihre  Anzahl  nicht  genügen 
würde,  ausreichend  und  dauernd  Arbeit  für 
die  Gefängnisse  zu  schaffen.  Die  in  einer 
Reihe  von  (refängnisverwaltimgen  angestell- 
ten Versuche  haben  den  gegen  die  Güte 
der  Arbeit  gerichteten  Einwand  wi<lerlegt, 
eine  weitere  Ausdehnung  dieser  Versuche 
miiss  zeigen,  ob  damit  ausreichende  und 
stetige  Arbeit  für  die  Gefängnisse  gewonnen 
wird.  Jedenfalls  wird  dadurch  soviel  er- 
reicht, dass  die  Zahl  der  Gefangenen,  wel- 
che noch  im  Unternehmerbetriebe  beschäf- 
tigt werden  muss,  weil  anderweit  Arbeit 
für  sie  nicht  zu  beschaffen  ist,  sich  erheb- 
lich vermindert.  Der  internationale  Gefäng- 
niskoDgresR  in  St.  Petersburg  (1890)  hat 
ebenfalls  die  Verwendung  der  Gefängnis- 
arbeit für  die  Bedürfnisse  des  Staates  in 
weitestem  Umfange  als  notwendig  anerkannt, 
und  sie  findet  in  fast  allen  Kulturländern 
eine  immer  grössere  Ausdehnung. 

Unter  den  Staatsverwaltungen,  für  welche 
die  Gefängnisarbeit  ausgenutzt  weixien 
kann,  steht  natürlich  allen  voran  die  Ge- 
fengnisverwaltung  selbst;  alle  Gegenstände, 
welche  sie  gebraucht,  alle  Ghebäude,  welche 
sie  benutzt,  können  durch  Gefangene  her- 
gestellt werden.  Die  Heeres-  und  Marine- 
verwaltimg kann  die  Anfertigung  der  Be- 
kleidungsstücke, der  erforderlichen  leinenen 
und  baumwollenen  Gewebe,  die  Ausrüstung 
der  Kasernen  und  Lazarethe,  die  Eisenbahn 
die  Ausstattimg  der  Wartesäle,  die  Her- 
stellung der  Teppiche  und  Fussdecken,  die 
Post  die  Anfertigung  der  Postsäcke,  die 
Salinenverwaltung  die  Herstellung  der  Salz- 
säcke und  der  dazu  erforderlichen  Gewebe, 
die  Unterrichtsverwaltung  die  Ausstattung 
der  Schulräume  und  Höreäle,  der  Kranken- 
hänser  nebst  der  dafür  erforderlichen  Wäsche, 
alle  Verwaltungen  aber  die  Ausstattung  der 
Diensträume  mit  Möbeln,  Teppichen  und 
Fussdecken  der  Gefängnisverwaltung  über- 
tragen; und  bei  gutem  Willen  auf  beiden 
Seiten  werden  sich  noch  eine  Menge  anderer 
Gegenstände  finden. 

In  welchem  Umfange  derartige  Arbeiten 
schon  jetzt  ausgeführt  werden,  geht  ans 
folgendem  hervor.  Es  giebt  wohl  keine  Ge- 
fiü^isverwaltnng  des  In-  und  Auslandes  mehr, 
die  nicht  alle  ihre  Gebrauchs-  Bekleidungs-  and 
Wäsche-  Gegenstände  einschliesslich  der  dazu 
erforderlichen  Gewebe  selbst  herstellte;  ebenso 
wird  überall  die  bauliche  Unterhaitang  der 
Gebäude  ganz  oder  zum  grössten  Teil  durch 
Gefangene  bewirkt.  In  England  ist  das  grosse 
Gefängnis  zu  PentonviUe  durch  Gefangene  nm- 

febaut  und   erweitert,    Wormwood-Scmbs   für 
300    Gefangene    umgebaut:     für    Heer    und 
Marine,  Polizei  werden  Umformen  und   Aus- 


HandwÖrtorbueh  der  StaatswiaseiiBchafteii.    Zweite  Auflage.    lY. 


rüstungsstücke  gefertigt,  fttr  die  Post  die  Post- 
säcke, alle  Verwaltungen  mit  Matten  versehen. 
In  Schweden  werden  die  Gefängnisbauten  und 
Einrichtungen  niu*  dnrch  Gefangene  ausgeführt. 
In  Frankreich  wird  für  staatliche  Verwaltungen 
gewebt  I  im  Gefängnis  zu  Melun  ist  eine 
Druckerei  für  staatliche  Zwecke.  Besonders 
ausgedehnt  ist  die  Arbeit  für  Staatsbehörden 
in  Holland  und  in  Italien,  auch  hier  findet  sich 
eine  Staatsdruckerei  im  Gefängnis  Mantellate 
zu  Kom.  In  Preussen  ist  schon  seit  dem  Jahre 
1870  kein  grosser  Gefängnisumbau  oder  Neu- 
bau ausgeführt,  bei  dem  nicht  in  grosser  oder 
geringerer  Zahl  Gefangene  beschäftigt  wären. 
Aus  aen  letzten  Jahren  mögen  nur  folgende 
erwähnt  werden.  Für  den  Bau  des  grossen 
Zellengefängnisses  zu  Siegbnrg  sind  durch- 
schnittlich täglich  etwa  100  Gefangene  be- 
schäftigt fi^ewesen ;  sie  haben  den  Bauplatz  ein- 
geebnet, die  Fundamente  für  alle  Gebäude  ge- 
legt, Dienstwohnungen  für  Beamte  gebaut, 
Bauteile  und  Einrichtun^sgegenstände  vom  ein- 
fachen Fenstergitter  bis  zum  buntverglasten 
Kirchenfenster  angefertigt.  In  derselben  Weise 
ist  bei  dem  Neubau  des  grossen  Zellengefäng- 
nisses in  Breslau  verfahren.  Ein  früheres 
Kloster  ist  in  Gräfrath  lediglich  durch  Ge- 
fangene zu  einer  Erziehungsanstalt  umgebaut; 
der  Umbau  des  grossen  Gefängnisses  in  Köln, 
für  den  etwa  iS)  (XX)  Mark  ausgeworfen  sind, 
wird  nur  durch  Gefangene  ausgeführt.  Beim 
Neubau  des  Gefängnisses  in  Wittlich  sind  täfi;- 
lich  über  hundert  Gefangene  beschäftigt:  alle 
Bauten  bis  auf  die  grossen  Gefängnisgeoäude 
werden  durch  Gefangene  hergestellt,  und  beim 
nächsten  Neubau  wird  man  versuchen,  auch 
diese  dnrch  Gefangene  erbauen  zu  lassen. 

Bei  den  älteren  Anstalten  werden  Dienst- 
wohnungen für  Oberbeamte  und  Unterbeamte 
ohne  ]^lastung  der  Staatskasse  her&^estellt, 
weil  das  darauf  verwendete  Baukapital  durch 
die  wegfallende  Mietsentschädigung  verzinst 
wird;  ein  Akt  sozialer  Fürsorge  von  nicht  ge- 
ringer Bedeutung.  — 

Für  die  Heeresverwaltung  sind  im  Jahre 
1897/98  1  \'8  Million  grösserer  Bekleidungsstücke 
^fertigt,  Ausrüstungsstücke  für  Kasernen  und 
Lazarethe,  Geschosskörbe,  Bürstenwaren.  In 
der  Strafanstalt  Moabit  ist  eine  Druckerei, 
welche  nicht  nur  alle  für  die  Gefangnisver- 
waltung  erforderlichen  Drucksachen  herstellt, 
sondern  auch  für  andere  Staatsbehörden  arbeitet. 
Im  ganzen  waren  im  Jahre  1897  98  5160 
Männer  und  811  Weiber  für  die  Gefänffnisver- 
waltung  und  3806  Männer  und  426  Weiber  für 
andere  Staats-  und  Reicbsbehörden  beschäftigt. 

Aus  den  Kreisen  der  freien  Arbeit  wird 
geltend  gemacht,  dass  hierdurch  ihnen  eine 
grosse  Menge  Arbeit  und  Verdienst  entzogen 
und  daher  eine  unberechtigte  Konkurrenz 
gemacht  würde.  In  Bezug  auf  die  Anferti- 
gung von  Bekleidungsstücken  für  die  Heeres- 
und Marineverwaltung  trifft  dies  überhaupt 
nicht  zu;  denn  durch  die  Gefängnisarbeit 
wird  nui'  die  Zahl  der  auf  den  Oekonomie- 
werkstätten  beschäftigten  Heerespflichtigen 
eingeschränkt,  welche  dadurch  für  den  Dienst 
mit  der  Waffe  frei  werden  oder  auf  deren 
Einziehimg  die  Heeresverwaltung  verzichten 

4 


50 


Gefängnisarbeit 


kann.  Aber  auch  in  betreff  der  anderen 
Arbeiten  für  den  Staat  ist  diese  Klage  als 
unberechtigt  abzuweisen.  Aus  der  grossen 
Masse  der  Erwerbsthätigen  würde  nur  eine 
verschwindend  kleine  Minderheit  an  der 
Herstellung  dieser  Bedürfnisse  sich  beteili- 
gen und  (larin  ihre  Arbeit  verwerten  kön- 
nen. Diese  Minderheit  kann  aber  nicht  ver- 
langen, dass  der  Staat  seine  Bedürfnisse 
lediglich  in  der  Weise  deckt,  wie  es  ihren 
Interessen  entspricht.  Die  Staatsverwaltung 
hat  das  Interesse  der  gesamten  Staatsbüi'ger 
zu  vertreten,  und  w^enn  dieses  verlangt,  dass 
die  Arbeitskraft  derer,  welche  die  Rechts- 
ordnung gestört  haben,  für  die  Zwecke  des 
Staates  ausgenutzt  wird,  wirtschaftliche 
Werte  schafft,  die  der  Gesamtheit  zu  gute 
kommen,  so  müssen  die  Forderungen  dieser 
verschwindenden  Minderheit  zurücktreten. 
Für  die  Wirtschaftspolitik  fällt  aber  beson- 
ders ins  Gewicht,  dass  diese  Verwertung 
der  Gefängnisarbeit  die  Preisbildung  auf 
dem  Arbeitsmarkte  überhaupt  nicht  beein- 
flusst,  weil  die  Ai'beit  nicht  auf  dem  Ar- 
beitsmarkte in  Geld  umgesetzt  wird,  sondern 
nur  in  den  Büchern  der  Staatsbehörden. 
Wie  hoch  die  Staatsverwaltung  die  Arbeit 
der  Gefangenen  in  ihrem  Dienste  bewerten 
will,  ob  sie  dafür  überhaupt  Geldwert  in 
Rechnung  stellen  wül,  ist  eine  rechnerische, 
aber  keine  wirtschaftliche  Frage.  Diese 
Organisation  der  Gefängnisarbeit  ist  dem  alten 
vollberechtigten  »opus  publicum«  unserer 
modernen  Straf-  und  Wirtschaftspolitik  an- 
gepasst,  und  beide  haben  das  lebhafteste 
Interesse  daran,  sie  zur  Durchführung  zu 
bringen.  Dass  sie  noch  nicht  weiter  aus- 
gebildet ist,  liegt  an  dem  Widerstände  der 
einzelnen  Yerwaltungen  im  Staate,  denen 
daraus,  wie  nicht  zu  verkennen,  mancherlei 
Unbequemlichkeiten  erwachsen,  aber  auch 
an  dem  Widerstände  der  Gefängnisverwal- 
tungen, denen  sie  vermelirte  Arbeit  und 
Verantwortung  bringt.  Es  ist  Aufgabe  der 
Wirtschaftspolitik,  diese  Widerstände  über- 
winden zu  helfen. 

6.  Gefängnisarbeit  ausserhalb  der 
geschlossenen  Anstalt.  Wie  schon  oben 
angedeutet,  kann  bei  dieser  Arbeit  aus 
strafpolitischen  Gründen  nur  eine  verhält- 
nismässig geringe  Zahl  von  Gefangenen  be- 
schäftigt werden.  Alle  Beschäftigiuig  ausser- 
halb der  Anstalt  mildert  den  Strafzwang, 
der  in  der  Freilieitsstrafc  liegen  muss,  selir 
erheblich.  Sie  kann  daher  nicht  zur  An- 
w^endung  kommen  bei  den  zu  kurzen  Frei- 
heitsstrafen Verurteilten,  weil  vsie  den  Emst 
der  Strafe  nicht  empfinden  würden.  Es  ist 
daher  ein  straf  politischer  Fehler,  dass  sie 
bei  der  kurzen  Strafe  der  sogenannten  ge- 
schärften Haft  im  deutsehen  Strafgesetzbuche 
(§  362  Abs.  1)  gegen  Bettler.  Vagabonden 
u.  s.  w.  zugelassen  ist.  — 


Die  zu  laugen  Sti-afen  VenniÄÜten  kön- 
nen zu  Ausseuarbeiten  erst  verwendet  wer- 
den, wenn  sie  den  grössten  Teil  der  Strafe 
innerhalb  der  Anstalt  verbüsst,  tind  während 
derselben  gezeigt  haben,  dass  ihre  Neigung 
ziu*  Auflehnung  gegen  die  Rechtsordnung 
überwunden  ist,  und  wenn  der  Strafrest  so 
gering  ist,  dass  er  keinen  Anreiz  bietet,  sich 
der  Strafe  durch  die  Flucht  zu  entziehen. 
Die  Beschäftigimg  darf  nicht  stattfinden  in 
industriellen  Unternehmungen ,  Fabriken, 
Bergwerken  u.  s.  w.,  weil  nadi  der  heuti- 
gen Art  dieser  Betriebe  eine  Vermischung 
der  Gefangenen  mit  freien  Arbeitern  nicht 
zu  umgehen  wäre  und  dadurch  das  Wesen 
der  Freiheitsstrafe  aufgehoben  würde.  Der 
Entwurf  zu  einem  Gesetze  über  den  Vollzug 
der  Freiheitsstrafen  im  Deutschen  Reiche 
hatte  daher  diese  Art  der  Arbeit  gesetzlicli 
ausgeschlossen.  Auch  die  Wirtschaftspolitil; 
muss  sich  dieser  Verwendung  widersetzen 
weil  dadurch  der  Gefangene  dem  froiei 
Arbeiter  eine  ungerechtfertigte  Konkurren; 
macht.  In  neuester  Zeit  ist  aus  landwirt 
scliaftlichen  Kreisen  die  Forderung  gesteJll 
Gefangene  den  Landwirten  zu  Bestellung^ 
und  Erntearbeiten  zur  Verfügung  zu  stellet 
um  der  Arbeiternot  abzuhelfen.  Auch  dies 
Fordenmg  ist  aus  straf-  und  wirtschafte 
politischen  Gründen  abzulehnen.  Die  gc 
wohnliche  landwirtschaftliche  Arbeit  würd 
den  Gefangenen  mit  den  freien  Arbeiter 
und  Dienstboten  des  Landwirts  in  fast  ui 
kontrollierbare  Berührung  bringen  und  durc 
die  freie  Bewegung,  die  dem  Landarbeit* 
gewährt  werden  muss,  die  Freiheitsentzi 
hung  kaum  noch  während  der  Nacht  besti 
hen  lassen.  Die  Wirtschaftspolitik  niui 
dem  widersprechen,  weil  die  Arbeit  d 
Gefangenen  die  oluiehin  ungünstigen  Loh 
Verhältnisse  der  ländlichen  Arbeiter  no( 
weiter  verschlechtern,  jedenfalls  aber  ih 
Hebung  hindern  würde.  Vor  allem  ab 
würde  es  die  soziale  Stellung  des  Land^ 
beiters  schädigen,  wenn  er  in  der  Oeffoi 
lichkeit  neben  den  Gefangenen  arbeit 
müsste.  Unter  den  Ursachen,  welche  d 
ländlichen  Arbeiter  in  die  grossen  Stäc: 
und  die  Industriearbeit  treiben,  ist  cl 
dass  der  landwirtschaftliche  Arbeiter 
weiten  Volkskreisen  gegenüber  dem  städ 
sehen  und  Industriearbeiter  als  der  \m{ 
bildetere,  seine  Arbeit  als  eine  roli< 
gilt,  noch  lange  nicht  genug  gewürdi 
Dieses  Vorui-teil  wdrd  noch  dadurch  v 
stärkt,  dass  die  Not  die  Landwirtscb 
zwingt,  Arbeiter,  die  fremden,  auf  niedrige 
Kultui-stufe  stehenden  Nationen  angehr)r 
einzuführen  imd  neben  deutschen  Arbeit« 
zu  verwenden.  Würde  man  nun  auch  m 
Strafgefangene  neben  ihnen  ven^'enden,  e 
Massregel,  die  Industrie  und  städtische 
heiter  sofort  mit  Arbeitsniederlegung  hei 


Gefängnisarbeit 


51 


-worteten,  so  wtirde  das  Ansehen  der  länd- 
lichen Arbeiter  noch  weiter  sinken  und  ihre 
Flucht  vom  Lande  noch  befördert.  Der  vor- 
übergehende Vorteil,  den  die  Landwirtschaft 
aus  der  Arbeit  der  Gefangenen  zöge,  wtirde 
sich  schliesslich  zu  einer  schweren  Schädi- 
gung für  sie  selbst  gestalten  und  die  von 
einer  gesunden  Wirtechaftspolitü  zu  er- 
strebende angemessene  Verteilung  der  Ar- 
beiter auf  Landwii-tschaft  und  Industrie 
stören. 

Als  Aussenarbeit  für  Gefangene  können 
daher  nur  solche  Arbeiten  in  Frage  kommen, 
die  im  öffentlichen  Interesse  ausgeführt 
werden,  bei  denen  ein  Druck  auf  den  Lohn 
der  freien  Arbeiter  nicht  ausgeübt  wird, 
und  die  zugleich  die  Möglichkeit  bieten,  die 
Gefcmgenen  von  freien  Arbeitern  so  voll- 
ständig getrennt  und  unter  so  strenger  Auf- 
sicht zu  halten,  dass  der  Charakter  der  Frei- 
heitsstrafe gewahrt  bleibt.  Solche  Arbeiten 
sind  der  Bau  von  Festungswerken,  die  Her- 
stellung von  Uebungsplätzen  für  das  Militär, 
soweit  dazu  nicht  im  Interesse  der  militäri- 
schen Ausbildimg  Angehörige  des  Heeres 
verwendet  werden  müssen,  Bau  von  Kanä- 
len, öffentlichen  Wegen,  Entwässerung  von 
Mooren  und  Sümpfen,  Kultivierung  oder 
Aufforstimg  von  Oedländereien,  Aufräumung 
imd  Verbauung  von  Wildbächen  u.  a.  m. 

Da  erfahnmgsgemäss  die  bei  derartigen 
Arbeiten  beschäftigten  Arbeiter  den  land- 
wirtschaftlichen Betrieben  entnommen  oder 
aus  dem  Auslande  eingeführt  werden  (Rus- 
sen, Polen,  Galizier,  Italiener),  so  würde 
durch  die  Verwendung  von  Gefangenen 
der  Verminderung  der  ländlichen  Arbeiter 
entgegen  gewirkt,  dem  Zuströmen  fi*em- 
der,  auf  niedrigerer  Kulturstufe  stehen- 
der Volkselemente  gewehrt,  durch  Schaffung 
neue«  Kulturlandes  die  Neuansiedelung 
bäueiiicher  Besitzer  ermöglicht  und  durch 
Verbesserung  vorhandenen  Kulturlandes  die 
wirtschaftliche  Lage  des  ländlichen  Grund- 
liesitzers  gehoben. 

In  England  werden  ans  den  Strafanstalten 
zu  Borstal,  Portland,  Portsmouth  etwa  700  bis 
800  zu  Zuchthaus  (Penal-Servitude)  Verurteilte 
zur  Errichtung  nnd  Instandhaltung  von 
Festungswerken,  zum  Bau  von  Häusern,  Werk- 
stätten, Strassen  und  sonstigen  Anlagen  für  die 
Marineverwaltung  beschäftigt  Frankreich  hat 
auf  Korsika  und  in  Algier  je  zwei  für  Landes- 
kultur und  Ackerbau  bestimmte  Strafanstalten 
errichtet  (Castellucoio,  Chiavari;  Berrhoua^gbia 
und  Lambessa).  In  Italien  werden  etwa  «500  zu 
Zuchthaus  (Ergastolo  und  Reclusione)  Verur- 
teilte zu  landwirtschaftlichen  und  Landeskultur- 
arbeiten verwendet.  In  Oesterreich  führen 
etwa  600  Sträflinge  Strassenbauten  und  Auf- 
forstungen im  Karst  aus.  In  Preassen  ist  diese 
Arbeit  ttir  die  in  der  Verwaltung  des  Ministe- 
riums des  Innern  stehenden  Strafanstalten  und 
Gefängnisse  durch  den  Erlass  vom  14.  Januar 
1895  foigendermassen  geordnet:    Zuchthausge- 


fangene, die  wenigstens  ein  Jahr  ihrer  Strafe 
verbüsst  und  deren  Strafrest  höchstens  noch  ein 
Jahr  beträgt,  Gefängnisgefangene,  die  mindes- 
tens 6  Monate  ihrer  Strafe  verbüsst  haben  und 
deren  Strafe  höchstens  noch  2  Jahre  beträgt^ 
die  sich  tadellos  geführt  haben,  auch  nicht 
fluchtverdächtig  sind,  können  zu  Landeskultur- 
arbeiten für  den  Staat,  Genossenschaften  und 
Private  verwendet  werden,  wenn  diese  Arbeiten 
unterbleiben  müssten,  weil  freie  Arbeiter  dafür 
überhaupt  nicht  oder  nur  für  einen  Preis  be- 
schafft werden  können,  welche  die  Ausführung 
der  Arbeiten  unrentabel  erscheinen  lässt.  Die 
Arbeitslöhne  sind  so  zu  bemessen,  dass  der  An- 
staltsverwaltung nach  Abzug  der  Mehrausgaben 
für  bessere  Verpflegung,  stärkere  Bewachung 
und  Unterbringung  der  Gefangenen  ein  Lohn  von 
40  Pfennigen  für  den  Kopf  und  Arbeitstag  ver- 
bleibt. —  Infolge  davon  ist  die  Kultivierung 
des  Augstumalmoores  in  Ostpreussen  (5000  ha), 
des  Kehdingermoores  (700  ha)  und  des  Marcard- 
moores (1000  ha)  in  der  Provinz  Hannover,  des 
Bargstedtermoores  (250  ha)  in  der  Provinz 
Schleswig-Holstein  in  Angriff  genommen,  um 
daraus  Kenten^ter  kleinerer  und  mittlerer 
Grösse  für  Ansiedler  zu  bilden.  Für  die  An- 
siedelungskommission werden  in  Westpreussen 
grössere  Güter  für  die  Aufteilung  in  Kenten- 
güter  in  Stand  gesetzt;  für  die  Forstverwaltung 
werden  die  Wanderdünen  auf  der  kurischen 
Nehrung,  auf  der  Halbinsel  Heia  und  dem- 
nächst auf  der  frischen  Nehrung  durch  Auf- 
forstung festgelegt.  Für  Genossenschaften 
werden  in  der  Provinz  Ostpreussen,  der  Pro- 
vinz Westfalen  und  der  Kheinprovinz  Ent- 
wässerungsarbeiten, in  der  Provinz  Sachsen 
Deicbarbeiten  ausgeführt.  In  der  Provinz 
Schlesien  und  Brandenburg  werden  die  durch 
Ueberschwemmungen  angerichteten  Schäden 
ausgebessert,  die  Flussbetten  vom  Geröll  ge- 
räumt. In  der  Provinz  Westfalen  wird  ein 
Kanal  gebaut.  Die  Zahl  der  dabei  beschäf- 
tigten Gefangenen  beträgt  Über  1000.  Die 
Arbeitsstellen  liegen  fast  durchgehends  ausser- 
halb des  Verkehrs;  die  Gefangenen  sind  in 
Baracken  oder  eigens  dazu  hergerichteten  Ge- 
bäuden untergebracht  utid  kommen  mit  freien 
Arbeitern  nicht  in  Berührung. 

7.  Ertrag   der  Gefängnisarbeit    Die 

Zalilen  der  Gefängnisstatistiken  sind  nicht 
geeignet,  ein  klares  Bild  über  den  Ertrag 
der  Gefängnisarbeit  zu  geben ;  geradezu  falsch 
wird  das  Bild,  wenn  man  die  Zalüen  der 
verschiedenen  Länder  unter  einander  ver- 
gleichen will,  denn  die  ziifermässigQ  Dar- 
stellung des  Ertrages  wird  wesentlich  be- 
einflusst  durch  die  Rechnungsgebarung  in 
den  einzelnen  Ländern,  aber  das  Bestreben 
der  Gefängnisverwaltungen,  das  finanzielle 
Ergebnis  der  Arbeit  in  möglichst  günstigem 
Lichte  erscheinen  zu  lassen,  führt  zu  Grup- 
pierungen der  Zahlen,  die  bewussl  oder  un- 
bewusst  über  die  wahre  Sachlage  täuschen. 
Wenn  z.  B.  in  Frankreich  bei  den  grossen 
Centralmärmeranstalten  bei  einem  Gesamt-^ 
ertrage  der  Arbeit  von  2  601897  Francs  die 
Arbeit  für  den  Hausdienst  mit  324472  Francs 
im  Jahre  in  Rechnung  gestellt  wird,  während 

4* 


bz 


Gefäugnisarbeit 


sie  in  England  und  in  Prenssen  bei  den  An- 
stalten desMinisteriums  des  Innern  ganz  ausser 
Ansatz  bleibt,  wenn  ferner  bei  den  Convict- 
Prisons  in  England  der  Wert  der  für  staat- 
liche YerwaltiHigen  geleisteten  Ai*beit  schät- 
zungsweise ermittelt  wird  und  daftlr  Tage- 
löhne von  1 — 3  Mark  für  den  Tag  in  Rech- 
nung gestellt,  aber  nicht  bezahlt  worden, 
während  in  Preussen  in  der  Gefängnis  Ver- 
waltung des  Ministeriums  des  Innern  dafür 
nur  40  Pf.  berechnet  und  wirklich  bezalilt 
werden,  so  leuchtet  ein,  dass  die  Zahlen 
über  den  Ertrag  der  Arbeit  aus  den  ver- 
schiedenen Ländern  unvergleichbar  sind  und 
jeder  Versuch,   daraus  Schlüsse  zu  ziehen, 


verfehlt  ist.  Wie  aber  auch  die  Zahlen  der  Sta- 
tistiken gestaltet  sein  mögen,  eins  geht  daraus 
klar  hervor,  dass  der  Durchschnittslohnertrag 
eines  Gefangenen  in  den  Anstalten,  in  denen 
längere  Strafen  verbüsst  werden,  zwischen 
Vi  und  Vs  des  Lohnes  der  fi-eien  Arbeiter 
schwankt,  und  in  den  Gefängnissen,  wo 
Strafen  von  kurzer  Dauer  vollstreckt  weiden, 
auf  1.5,  1.6,  Vio  herabsinkt  o<ler  so  minimal 
ist,  dass  es  niclit  für  der  Mühe  wert  ge- 
halten wird,  ihn  ziffermässig  anzugeben. 

Der  Arbeitsertrag  in  den  grossen  Anstalten, 
in  denen  Strafen  von  längerer  Dauer  verbüsst 
werden,  beträgt  auf  den  Kopf  und  Arbeitstag 
berechnet  in 


Land 

Männer 

Weiber 

Bemerkungen 

Italien 

Frankreich 

England 

Oesterreich 

Norwegen 

Finland 

Prenssen :  Strafanstalten 

a)  für  Reichs-  u.  Staats- 
behörden   

b)  für  Unternehmer  .    . 

Pf. 

22,0 

97,8 

135,0 
42,0 

76,2 

32,0 

41,9 
66,3 

Pf. 
16 
68 

67 

71,0 
23,7 

35,8 
44,5 

üntemehmerbetrieb. 

geschätzt.    Regiebetrieb  für  den  Staat. 

Weiberanstalten  an  Kongregationen  vergeben. 

Regiebetrieb  znm  Verkauf. 

do. 

Regie  und  Accord. 

Wenn  in  den  preussischen  Anstalten  der 
Geldertrag  der  Gefängnisarbeit  für  die  Staats- 
und Reichsbehörden  geringer  ist  als  der  für 
Unternehmer,  so  kann  daraus  nicht  gefolgert 
werden,  dass  die  erstere  geringere  wirtechaft- 
liche  Werte  geschaffen  habe  jus  die  let^ztere. 
So  zahlt  z.  S.  die  Militärverwaltung  an  die 
Gefänguisver waltung  für  Anfertigung  eines 
Mantels  130  Pfennige,  einer  Litewka  105  Pfennige, 
einer  Hose  75  Pfennige;  nun  liegt  es  aber  auf 
der  Hand,  dass  diese  Arbeit  nach  dem  Masse 
des  freien  Arbeit5»genusses  einen  viel  höheren 
Wert  darstellt  und  dass  der  Preis  nur  deshalb 
80  niedrig  ist,  weil  grundsätzlich  von  der  Ge- 
fängnisverwaltung bei  der  Arbeit  für  Staats- 
nnd  Reichsbehörden  der  Arbeitstag  nur  mit 
40  Pfennigen  berechnet  wird.  Für  die  allge- 
meine Staats  Wirtschaft  würde  es  übrigens 
keinen  Unterschied  machen,  wenn  die  Gefäng- 
nisverwaltung überhaupt  keine  Entschädigung 
in  Geld  erhielte,  sondern  nur  die  geleisteten 
Arbeitstage  und  die  darin  hergestellten  Gegen- 
stände aufführte ;  so  ^schiebt  es  in  der  hollän- 
dischen Gefängnisstatistik. 

In  Holland  hat  man  auf  die  Darstellung 
des  Ertrages  der  Gefängnisarbeit  in  Geld  ver- 
zichtet und  statt  dessen  Zahl  und  Masse  der 
hergestellten  Gegenstände  angegeben. 

Zur  Steigening  des  Arbeitserti*ages  wird 
fast  überall  dem  Gefangenen,  um  ihn  zu 
fleissiger  und  sorgfältiger  Ai*beit  anzuspornen, 
ein  Teil  des  Ertrages  der  von  ihm  geleis- 
teten Arbeit  als  Lohn  oder  Geschenk  über- 
wiesen. Das  ist  straf-  und  wirtschaftspoli- 
tisch richtig,  um  ihm  den  Wert  der  Aroeit, 


für  dessen  Schätzung  er  häufig  das  Ver- 
ständnis verloren  liat,  zum  Bewusstsein  zu 
bringen.  Diese  Belohnung  darf  aber  nicht 
so  hoch  bemessen  werden,  dass  sie  die  Er- 
sparnisse, welche  ein  freier  Arbeiter  nach 
Abzug  seines  Lebensunterhalts  machen  kann, 
übei-steigt.  Verkehrt  ist  es,  dem  Gefangenen 
zu  gestatten,  diese  Belohnungen  in  grosserem 
Umfange  zur  Beschaffung  von  Genussmitteln 
zu  verwenden,  weil  dadurch  die  Gier  nach 
materiellem  Genuss,  die  so  manche  Gefangene 
ins  Verbrechen  geführt  hat,  gesteigert  und 
ihm  eine  Lebenshaltung  ermöglicht  wird, 
wie  sie  Tausende  von  fi-eien  Arbeitern  sich 
nicht  erringen  können.  Die  dadurch  erreichte 
Steigenmg  des  Arbeitsertrages  würde  weit 
tiberwogen  durch  den  Schaden,  welchen  der 
Ernst  dos  Strafvollzuges  erleidet.  Die  Arbeits- 
belohnung soll  dem  Gefangenen  bei  seiner 
Entlassung  helfen,  sich  in  das  geordnete 
soziale  Leben  wieder  einzufügen,  und  dadurch 
den  Zweck  der  Strafe  fönlern. 

Zur  Erzielung  höherer  Erträge  hat  man 
die  GefängTiisbeamten  am  Ertrage  der  Ge- 
fängnisarbeit beteiligt,  indem  man  ihnen 
geradezu  einen  prozentualen  Gewinnanteil 
oder  eine  mit  der  Höhe  des  Ertrages  steigende 
Remuneration  gewährte.  Dadiux^h  werden 
die  Beamten  zu  einer  vollständig  verkehrten 
Auffassung  ihrer  Aufgabe  beim  Strafvollzuge 
verleitet.  Sie  werden  die  grossen  straf-  und 
wirtschaftspolitischen  Ziele  der  Strafe  über 


Gefängnisai'beit 


53 


den  kleinlichen  Ziffern  des  Arbeitsertrages 
vergessen,  und  es  liegt  die  Gefahi*  nahe, 
dass  in  den  Augen  der  Gefengenen  Zweifel 
an  der  Integrität  der  Beamten  entstehen, 
die,  mögen  sie  berechtigt  oder  unberechtigt 
sein,  ihre  eigene  Autorität  und  damit  die 
des  Staates,  welche  sie  dem  Gefangenen 
gegenüber  verkörpern,  schädigen. 

Man  hat  den  Erti-ag  der  Gefängnisai-beit 
in  Vergleich  gesetzt  mit  den  Kosten  des 
Strafvollzuges  und  die  Gefängnisverwaltung 
vom  wirtschaftspolitischen  Standpunkte  für 
die  beste  gehalten,  welche  den  grössten  Teil 
der  Kosten  des  Strafvollzuges  aus  dem  Er- 
trage der  Arbeit  deckt.  Wäre  die  Auffassung 
richtig,  dann  stände  die  Gefängnisverwaltung 
der  ehemaligen  Sklavenstaaten  Nordamerikas, 
welche  die  sämtlichen  Kosten  des  Strafvoll- 
zuges durch  die  Arbeit  der  Gefangenen  deckt 
oder  wohl  gai*  noch  einen  üebei'schuss  er- 
zielt, an  ei-ster  Stelle. 

Je  zweckmässiger  der  Strafvollzug  organi- 
siert ist,  je  besser  er  seine  straf-  und  wirt- 
sehaftspoütische  Aufgabe,  die  Gesellschaft 
gegen  die  Rechtsbrecher  zu  schützen,  löst, 
desto  höher  sind  die  Kosten,  welche  er  er- 
fordert ;  mit  der  Zweckmässigkeit  der  Organi- 
sation steigert  sich  aber  keineswegs  in 
gleichem  Verhältnisse  der  Ei*trag  der  Arbeit. 

Gewiss  wird  jede  tüchtige  Gefängnisver- 
waltung danach  streben,  den  Ertrag  der  Ge- 
fängnisarbeit zu  steigern,  aber  sie  wird  dafür 
niemals  die  Lösung  der  straf-  und  wirt- 
schaftspoütischen  Aufgaben,  welche  ihr  ge- 
stellt sind,  verkaufen. 

Der  Ertrag  der  Gefängnisarbeit  spielt 
überhaupt  gegenüber  den  Kosten,  welche 
die  Gesellschaft  zum  Schutze  der  Rechts- 
ordnung aufwenden  muss,  eine  so  minimale 
Rolle,  dass  es  finanzpolitisch  verkehrt  wäre, 
um  einer  Steigerung  des  Eintrages  der  Ge- 
^gnisarbeit  willen,  die  sich  ftuch  in  Gross- 
staaten  nur  auf  einige  Hundeii;tausend  Mark 
belaufen  kann,  den  Effekt  der  Millionen, 
welche  jährlich  für  den  Rechtsschutz  ausge- 
geben werden,  auch  nur  im  geringsten  zu 
gefährden. 

Der  preussische  Etat  für  1899/1900  wirft 
ans  an  Ausgaben: 
für     die    Justizverwaltung     ein- 
schliesslich der  von  ihr  verwalte- 
ten Gefän^isse  112  Millionen, 
für  Polizei,  Landgendarmerie  und 
Gefängnisverwaltung  im  Ministe- 
rium des  Innern  51  Millionen. 

Diesen  163  MUIionen  steht  gegenüber  ein 
Ertrag  ans  der  Geföngnisarbeit  von  etwa  8 
Millionen;  eine  Steigerung  desselben  um  eine 
Million  würde  jene  Kosten  nur  um  0,6%  ver- 
mindern. 

Aber  gegenüber  den  wirtschaftlichen 
Gütern,  welche  durch  das  Verbrechen  ge- 
fährdet sind,  verschwindet  der  Ertrag  der 
Gefängnisarbeit  so  vollständig,  dass  eine  von 


grossen  Gesichtspunkten  ausgehende  Wirt- 
schaftspolitik auf  dem  Boden  stehen  muss: 
Wenn  der  Strafvollzug  niu*  seine  Aufgabe 
erfüllt,  die  wirtschaftlichen  Güter  der  Ge- 
sellschaft zu  schützen,  so  fällt  der  grössere 
oder  geringere  Ertra.g  der  Gefängnisarbeit 
demgegenüber  nicht  ins  Gewicht. 

8.  Schlnssbemerknng.  Die  W^irt- 
schaftspolitik  hat  vor  300  Jahren  die  Ge- 
fängnisarbeit in  die  Strafrechtspflege  der 
Neuzeit  eingefülirt;  ihre  Vertreter,  die 
Bürgermeister  von  Amsterdam,  haben  den 
Grundriss  für  deren  Ausbau  vorgezeichnet 
Nach  fast  300  jährigem  Kampfe  um  die  Ge- 
staltung der  Gefängnisarbeit  gegen  verkehrte 
sti-af-  und  wii-tschaflspolitische  Theorieen  und 
Massnahmen  haben  wiederum  Vertreter  der 
Wirtschaftspolitik,  die  vom  Ausschusse  des 
deutschen  Handelstages  eingesetzte  Kommis- 
sion, die  Frage  der  (iefängnisarbeit  geprüft 
und  haben  sich  auf  den  Standpunkt  ihrer 
Vorgänger  von  vor  300  Jahren  gestellt,  indem 
sie  zu  folgendem  Ergebnisse  gcKommen  sind : 

1.  Bei    Beschäftigung   von   Gefangenen   ist 

neben  dem  in  erster  Linie  stehenden 
Zwecke  des  Strafvollzugs  weder  dem 
Erwerbs-  noch  dem  fiskalischen  Stand- 
punkte ein  überwiegender  Einfluss  zu- 
zuerkennen. 

2.  Es  empfiehlt  sich  femer  eine  möglichste 
Vielgestaltigkeit  der  Betriebszweige  in 
jeder  einzeCien  Anstalt. 

3.  Es  erscheint  zweckmässig,  die  Her- 
steUung  von  Bedarfsartikeln  für  öffent- 
liche Zwecke  den  Gefangenenanstalten 
zuzuweisen.  Dahin  zählen  beispielsweise 
Lieferungen  füi-  Verkehrsanstalten,  Ge- 
richts- und  Verwaltungsbehörden,  Militär 
u.  8.  w. 

4.  Femer  ist  anzustreben  die  Schaffung 
von  selbständigen  Strafanstaltskollegien, 
in  welchen  neben  dem  Juristen,  dem 
Verwaltungs-  und  Finanzbeamten,  dem 
Arzte  und  dem  Geistlichen  auch  den 
Vertretern  von  Handel  und  Gewerbe 
Sitz  und  Stimme,  etwa  nach  dem  Vor- 
bilde Württembergs,  eingeräumt  wird. 
Endlich  ist: 

5.  die  Herausgabe  periodischer  emgehender 
Veröffentlichungen  über  Art  und  umfang 
der  Beschäftigung  von  Gefangenen  unter 
Anbahnung  einheitlicher  Grundlagen  über 
die  Principien  dieser  Veröffentlichungen 
in  den  verschiedenen  Bimdesstaaten  ge- 
boten. 

Littoratur:  Handbuch  des  Gefängniswesens  in 
Einzelbeiträgen  von  Fr,  v,  Holizentlorff  und 
E,  V,  tTagentann,  2,  Bd.,  Hamburg  1888; 
besonders  die  Abhandlung  über  Gefängnisarbeit 
von  E,  V.  Jagetnann,  Bd.  II,  S.  22Sff.  — 
Ä.  Krohne,  Lehrbuch  der  Gefängniskunde, 
Stuttgart  1889  ;  besonders  S.  387  ff.  —  Enquete  des 
deutschen   Handelstages   über    den  Einfluss    der 


54 


Gefängnisarbeit — Öeheimmittelwesen 


Gefängnisarbeit  auf  den  freien  Gewerbebetrieb, 
Berlin  1878.  —  P.  Falckmer,  I>i^  Arbeit  in 
den  Gefängnissen,  Jena  1888.  —  Verhandlungen 
der  internationalen  Gefängniskongresse  zu  Stock- 
holm, Bd.  II,  Rom  und  St.  Petersburg,  Bd.  I, 
S.  251—809,  S.  591— 59S.  —  von  Hippel, 
Beiträge  zur  Geschichte  der  Freiheitsstrafe.  Zeit- 
schHft  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschafi, 
Bd.  XVIII.  —  Tallacle,  PenologiccU  and 
preventive  Principles,  London,  II.  Aufl., 
1896,  S.  261.  —  Report  from  (he  D^artmental 
commitee  on  Prisons,  London  1896,  S.  18.  — 
nLaboura  (Enquete  im  Auftrage  des  Ministers 
des  Innern).  —  Proceedings  of  the  Annual 
congress  of  the  National  Prison  Association  of 
the  United  States  hcld  at  Toronto  and  Nashville, 
Chicago  1889, 1890.  —  Neueste  Gefängnisstatistiken 
von  England,  Frankreich,  Italien,  Oesterreich, 
Schweden,  Norwegen,  Finland.  —  Statistik  der 
zum  Ressort  des  kgl.  preuss.  Ministeriums  des 
Innern  gehörenden  Strafanstalten  und  Gefäng- 
nüse  für  1897198. 

Krohne. 


Geheimmittelwesen. 

1.  Begriffserläutening.  2.  Ursachen  des  G. 
3.  Kampf  gegen  das  G.  4.  Gesetzliche  Mass- 
nahmen gegen  das  G. 

1.  Begriffserlänternng.  Es  darf  als 
eine  offenkundige  Thatsache  bezeichnet  wer- 
den, dass  Jahr  fxir  Jahr  betiüchtliche  Sum- 
men Geldes  für  solche  Stoffe  und  Zuberei- 
tungen vergeudet  werden,  denen  im  Verkehr 
fälschlicherweise  geheimnisvolle  Heilwir- 
kimgen  zur  Beseitigung  körperlicher  Fehler 
oder  Krankheiten  oder  auch  vermeintlicher 
Fehler  (Schönheitsfehler)  beigelegt  wer- 
den, deren  Bestandteile  aber  nach  Art  und 
Menge  für  den  Käufer  nicht  erkenntlich  sind, 
meistens  auch  vom  Verkäufer  auf  Verlangen 
nicht  bekannt  gegeben  werden  können  oder 
sollen. 

Das  Gebiet  des  Geheimmittelwesens  ist 
hiermit  ganz  im  allgemeinen  bezeichnet, 
erschöpfend  im  Sinne  unserer  heutigen  Rechts- 
sprache lässt  sich  dasselbe  kaum  begrenzen, 
da  eine  für  aUe  Fälle  zutreffende  und  nach 
jeder  Richtung  befriedigende  Feststellung 
des  Begriffs  »Geheimmittel«  nicht  leicht 
möglich  ist;  wiixl  doch  sogar  eine  solche 
Feststellung  —  auf  gesetzlichem  Wege  — 
nach  Lage  der  Verhältnisse  von  erfahrenen 
Juristen  aufgegeben  (vgl.  Kronecker ;  s.  unten 
Litteratur).  Folgt  man  einer  Entscheidung 
des  preussischen  Kammergerichts  vom 
13.  April  1893,  so  ist  unter  einem  Geheim- 
mittel eine  angeblich  heilkräftige 
Zubereitung  zu  verstehen, derenNatur 
und  Bestandteile  dem  Publikum 
als  solchem,  also  der  Allgemein- 
heit, nicht  deutlich  erkennbar  ge- 
macht    werden    und    welche    auch 


staatlich  weder  anerkannt  noch 
genehmigt  worden  ist.  Die  Kenntnis 
einzelner  Behörden  oder  Personen  von  don 
Bestandteilen  oder  der  Zubereitung  der  an- 
gepriesenen Heilmittel  beseitigt  nicht  deren 
Eigenschaft  als  Geheimmittel«  (vgl.  u.  a 
Veröffentl.  des  Kaiserl.  Gesundheitsamtes 
Jalirg.  1893,  S.  797). 

Mittel  zum  Gebrauch  bei  Tieren  fallci 
gewöhnlich  nicht  unter  die  Geheimmitte 
im  engeren  Sinne,  sobald  es  sich  um  be 
hördliche  Massnahmen  handelt,  indessen  is 
als  bemerkenswerteAusnahme  hervorziihebei 
dass  ein  Preussischer  Ministerialerlass  vor 
14.  Februar  1895  den  Begriff  im  weitere 
Sinne  festsetzt  und  zwar  bei  Erläutenm 
der  durch  Bundesratsbeschluss  vom  18.  Nc 
vember  1892  genehmigten  Vorschriften,  dene 
zufolge  die  steuerfreie  Verwendung  vo 
undenaturiertem  Branntwein  zwar  im  al 
gemeinen  zu  heilwissenschaftlichen  und  g< 
werblichen  Zwecken,  nicht  aber  z.  B.  zi 
Herstellung  von  Geheimmitteln  zulässig  is 
Nach  dem  gedachten  Ministerialerlasse  sir 
als  Geheimmittel  zu  behandeln:  alle  zi 
Verhütung  oder  Heilung  kranl 
hafter  Zustände  jeder  Art  beiMei 
sehen  oder  Tieren  feilgebotene 
Arznei-  oder  Heilmittel,  deren  B 
standteile,  Gewichtsmengen  ui 
Bereitungsweise  nicht  gleich  b 
ihrem  Feilbieten  dem  Publikum 
gemeinverständlicher  Form  vol 
ständig  bekannt  gemacht  werde 
Die  blosse  Beigabe  emer  Herstellungsvi 
Schrift  bei  der  Verabfolgung  des  Mitte 
deren  Verständnis  besondere  technise 
Kenntnisse  voraussetzt,  geniS^  diesen  ] 
fordernissen  nicht.  Als  Geheimraittcl  vS 
nicht  anzusehen  alle  diejenigen  Arznei-  oi 
Heilmittel,  für  welche  in  dem  Arzneibm 
für  das  Deutsche  Reich  und  dessen  Erg 
Zungen,  sowie  in  den  Pharmakopoen  andc 
Länder  Vorschriften  enthalten  sind«  ( 
Reichsanzeiger  vom  23.  Februar  1895). 

Es  wird  ferner  empfohlen,  bei  gos 
liehen  Massnahmen  gegen  das  Geheimmit 
wesen  aUe  Desinfektionsmittel,   I 
geziefermittel    und   diejenigen    Mi 
welche    als    Nahrungs-    imd    Genii 
mittel   anzusehen   sind,   nicht    unter 
Begriff  der  Geheimmittel  fallen  zu  Lasj 
dagegen  dürfen,  um  diesen  Begriff  nicht 
zu  sehr  einzuengen,  die  zum  Schutze 
Gesundheit,   d.  h.   zur  Verhütung 
Krankheiten    in   Arzneiform    angepriesc 
Mittel  nicht  ausgeschlossen  sein.     Uebrij 
entspricht  eine  jede  den  modernen  Ansc^ 
ungen  angepasste   Begriffsbestimmung 
deutschen  Ausdruckes  »Geheimraittel«  ^' 
ganz  dem,  was  man  in  früheren  Zeitei 
auch     in     Deutschland    —    unter      ei 
arcanum  verstand,  noch  dem,    was 


Geheimmittelwesen 


55 


anderwärts  unter  einem  Reklamemittel, 
einer  Patentmedizin  oder  Specialität 
versteht.  Diese  verschiedenen  Ausdrücke 
decken  sich  nur  teilweise,  es  würde  aber 
zu  weit  führen,  auf  die  Veränderung  des 
Begriffes  nach  Zeit  imd  Ort  hier  näher  ein- 
zugehen. 

2.  Ursachen  des  G.  Das  Geheimmittel- 
wesen ist  so  tief  in  der  menschlichen  Natur 
begründet,  dass  man  wohl  behaupten  darf, 
seine  Geschichte  ist  ebenso  alt  wie  die  Ge- 
schichte der  Menschheit.  Der  Hang  zum 
Wunderbaren  und  Geheimnisvollen,  welcher 
uns  am  wenigsten  verhüllt  bei  den  Natur- 
völkern entgegentritt,  ist  auch  dem  Kultur- 
menschen in  hohem  Masse  noch  eigen ;  dem 
Kinde  wird  er  in  der  Regel  so  eindringlich 
anerzogen,  dass  der  Erwachsene  sich  nur 
schwer,  ja  vollständig  fast  nie  mehr  von  ihm 
befreien  kann.  Je  enger  dem  Einzelnen  die 
Grenzen  des  klaren^  verstandesgemässen  Er- 
kennens  gezogen  sind,  mn  so  ausgedehnter 
ist  ihm  das  Gebiet  des  ünbegreifüchen,  und 
um  so  mehr  ist  er  geneigt^  jede  alltägliche 
Erscheinung,  auch  das  Kommen  und  Schwin- 
den der  Krankheiten,  auf  die  Einwirkung 
mystischer  Kräfte  zurückzuführen  und  von 
ihuen  Genesung  und  Heilung  zu  erwarten, 
wenn  die  begriffenen  Naturkräfte  ihi'e  Wir- 
samkeit  zu  versagen  scheinen. 

Unstillbar  wohnt  dem  Menschen  die  Sehn- 
sucht inne,  auf  jede  mögliche  Weise  die 
Daner  des  Lebens  zu  verlängern  und  es 
ohne  Beschwerden  im  Vollgefühle  der  Kraft 
und  Rüstigkeit  dahinbringen  zu  können. 
"Was  ärztlichör  Wissenschaft  und  Kunst  nicht 
gelingt,  sieht  die  Phantasie  als  erfüllbar  an, 
zumal  wenn  krankhafte  Einflüsse  sie  be- 
herrschen. Je  unverständlicher  die  Wege 
sind,  welche  zur  Gesundheit  und  zum  Wohl- 
ergehen führen  sollen,  um  so  gläubiger  und 
be^eriger  lauscht  der  vei-zagende  Kranke 
denjenigen,  die  ihm  auf  solchen  Wegen  Hilfe 
verheissen.  Insbesondere  Kranke,  deren 
Nervensystem  imd  Gemütsstimmung  an- 
gegriffen ist,  —  mögen  sie  gebildet  oder 
ungebildet  sein  —  kaufen  und  gebrauchen 
erälhnmgsgemäss  alles,  was  mit  Sicherheit 
schnelle  Heilung  zu  bringen  ihnen  ange- 
priesen wird.  Die  gedruckten  Annoncen 
und  die  üeberredungskünste  bewusster  und 
unbewusster  Geheimmittelagenten  —  meist 
geschwätziger,  kuriersüchtiger  Nachbarn  — 
üben  auf  Personen,  deren  Urteils- und  Willens- 
kraft diu-ch  lange  dauerndes  Leiden  ge- 
schwächt ist,  eine  unwiderstehliche  Gewalt 
aus,  gegen  die  keine  Belehrung  des  Sach- 
verständigen hilft. 

Erkennt  man  in  solchen  Umständen  die 
Ursache  für  die  imgemein  verbreitete  Sucht 
nach  Geheimmitteln,  so  gewinnt  man  zu- 
gleich die  Ueberzeugung,  dass  an  eine  gänz- 
liche Ausrottung  des  Geheimmittel wesens 


nicht  zu  denken  ist.  Ebensowenig  wie  der 
Glaube  der  Menschen  an  unerforschte,  daher 
geheimnisvoll  wirkende  Kräfte  je  verschwin- 
den kann,  ebensowenig  wird  das  Vertrauen 
auf  Arzneimittel,  in  denen  solche  unbekannte 
Kräfte  vermutet  werden,  oder  auf  wunder- 
kräftige, neue  Heilverfahren  jemals  den 
Menschen  zu  nehmen  sein.  Dank  der  Mystik, 
welche  den  unsinnigsten  Zusammensetzungen 
anhaftet,  fällt  das  Publikum  nach  jeder  Ent- 
täuschung durch  ein  Geheimmittel  nicht 
etwa  einer  heilsamen  Ernüchterung,  sondern 
in  der  Regel  der  Ausbeutung  durch  einen 
anderen,  neueren,  womöglich  noch  frecheren 
Schwindel  anheim. 

In  früheren  Zeiten  waren  es  zudringliche 
Hausierer,  Marktschi^eier  und  Quacksalber, 
welche  den  Aberglauben  an  die  Heilwirkung 
geheimnisvoller  Arzneimischungen  ausbeu- 
teten, heutzutage  ist  es  haupteäclüich  die 
übermächtige  Pressreklame,  welche  die 
Leichtgläubigen  heranzieht.  Auf  dem  platten 
Lande,  wo  die  Wirkung  der  Tagespresse 
geringer  ist,  bedient  man  sich  daneben  auch 
heute  noch  besonderer  Agenten,  um  die 
wirtschaftlich  unmündige,  dem  Aberglauben 
besonders  zugeneigte  Bevölkerung,  eventuell 
mit  Hilfe  von  marktschreierischen  Flug- 
blättern, zum  Ankauf  von  allerlei  Specialitäten 
zu  verlocken.  Diesen  Versuchungen  durch 
Annoncen  und  Agenten  können  selbst  die 
intelligenteren  Bewohner  des  platten  Landes, 
Lehrer,  Geistliche,  Gutsbesitzer,  nicht  wider- 
stehen, und  oft  genug  müssen  die  natür- 
lichen Feinde  des  Geheimmittel  wesens , 
Aerzte  und  Apotheker,  die  Erfeihrung  machen, 
dass  höhere  Schulkenntnisse  und  höhere 
Lebensstellung  nicht  immer  mit  höherer 
Verstandesbüdung,  die  das  Unwesen  durch- 
schaut, verbunden  sind. 

3.  Kampf  gegen  das  6.  Gegen  die 
geschilderte,  weit  verbreitete  und  tief  in  der 
menschlichen  Natur  begründete  Neigung  zu 
Geheimmitteln  darf  man  von  einer  Beleh- 
rung des  Volkes  seitens  der  Behörden  und 
Aerzte  wesentlichen  Erfolg  nicht  erwarten, 
die  Aufgabe  der  staatlichen  Organe  kann 
vielmehr  niu:  darin  bestehen,  durch  strenge 
Beaufsichtigung  des  Heilmittel- 
verkehrs eine  übergrosse  Schädigung 
des  Publikums  zu  verhüten. 

Die  Frage,  ob  eine  erhebliche  Schädigung 
des  öffentlichen  Wohles  durch  den  Geheim- 
mittelhandel herbeigeführt  wird,  muss  be- 
jahend beantwortet  werden,  wenn  es  auch 
in  weiten  Kreisen  an  solchen  nicht  fehlt, 
welche  den  Kampf  gegen  das  Geheimmittel- 
wesen für  bedenklicher  als  dieses  selbst 
halten.  Die  Verfechter  der  letzteren  Ansicht 
stellen  die  Rücksichtnahme  auf  die  Neigun- 
gen und  Wünsche  des  Volkes  höher  als  das 
wohlerwogene  Streben  nach  dessen  Wohl- 
ergehen.   Das  Publikum  will  ja  allerdings 


56 


Geheiinmittehvesen 


die  Geheimmittel  und  sucht  sie  sich  auf 
alle  möglichen  Arten  zu  verschaffen ;  selbst 
wenn  das  angepiiesene  Mittel  nicht  hilft, 
glaubt  der  Kranke  die  durch  die  Anwendung 
desselben  in  ilun  angeregte  und  belebte 
Hoffnung  einiger  Tage  mit  etliclien  Mark 
nicht  zu  teuer  bezahlt  zu  liaben.  Wie  das 
Lotteriespiel  für  eine  grosse  Anzahl  von 
Menschen  der  Hoffnungsstern  ist,  dessen 
Strahl  die  öde  Dunkelheit  ihres  Daseins 
freundlich  erhellt,  so,  meinen  manche,  ge- 
währe auch  das  Geheimmittel  dem  unrett- 
bar Kranken  einen  Hoffnungsschimmer,  der 
ihm  den  Wert  des  verlorenen  Geldes  reich- 
lich ersetze. 

Was  daher,  abgesehen  von  finanziellen 
Gründen,  immer  ^\'ieder  gegen  die  völlige 
Beseitigimg  des  öffentlichen  Lotteriespiels 
vorgebracht  wird,  ist  auch  zur  Verteidigung 
des  Gelieimmittelwesens  herangezogen  wor- 
den: wie  ersteres  dem  Unbemittelten  Aus- 
sicht auf  Reichtum  und  Genuss  bietet,  so 
biete  das  Geheimmittel  dem  unheilbar 
Kranken  und  dessen  Angehörigen  wenigstens 
eine  Aussicht  auf  Rettung,  die  ihm  ohne 
Grausamkeit  nicht  genommen  werden  dürfe. 

Andere  erklären  diesen  Standpunkt,  von 
dem  aus  bekanntlich  auch  der  unbegrenzten 
Gewährung  von  Kurpfuscherei  aller  Art  das 
Wort  geredet  wird,  für  einen  unzulässig- 
sentimentalen  und  halten  es  im  Gegenteil 
für  grausam,  dass  der  Staat  die  betrügerische 
Ausbeutung  jener  Unglücklichen  zulässt  und 
einigen  wenigen,  gewandten  Geschäftsleuten 
gestattet,  aus  der  Urteilslosigkeit  armer 
Kranker  unverhältnismässig  hohen  Gewinn 
zu  ziehen. 

Bei  so  entgegenstehenden  Ansichten  ist 
es  erforderlich,  jedes  Vorgehen  gegen  das 
Unwesen  ausschliesslich  diut^h  Rücksichten 
auf  das  V  o  1  k  s  w  o  h  1  zu  begründen.  Weder 
einseitige  Interessen  der  staatlich  approbier- 
ten Modizinalpersonen  noch  andererseits  eine 
Rücksichtnahme  auf  die  Wünsche  der  am 
Verdienste  durch  Geheimmittel  stark  be- 
teiligten Presse  dürfen  bei  dem  beregten 
Vorgehen  aussclüaggebend  sein. 

In  den  Erläutenmgen  zu  einem  dem 
Bundesrat  vorgelegten  Entwurf  von  »Vor- 
schriften über  den  Verkehr  mit  Geheim- 
mitteln in  den  Apotheken« ,  welche  in  der 
Fachpresse  der  Juristen  und  Apotheker  be- 
reits öffentlich  besprechen  worden  sind, 
werden  als  Nachteile  des  Geheimmittelwesens 
bezeichnet : 

1.  Schädigimg  des  Volkswolüstandes , 
2.  GesundheitSvSchädigung  durch  Anwendung 
der  Mittel,  3.  Gesundheitsschädigung  dadiu'ch, 
dass  der  Käufer  bei  Anwendung  des  Mittels 
den  richtigen  Zeitpunkt  zur  Befragung  des 
Arztes  versäumt 

Eine  Gefährdung  des  öffentlichen  Ge- 
sundheitszustandes   und    des    Wohlstandes 


der  Bevölkerung  geht  aus  den  nachge- 
wiesenen Bestandteilen  der  meisten  Ge- 
heimmittel und  den  von  den  Fabrikanten  ge- 
forderten Preisen  zur  Genüge  hervor. 
Schwere  Gesundheitsscliädigungen  durch 
solche  Geheimmittel,  welche  heftig  wii*- 
kende  Stoffe  enthalten,  sind  oft  genug  be- 
obachtet worden;  sie  kommen  um  so  leich- 
ter vor,  als  der  Gebrauch  von  Geheim- 
mitteln gewöhnlich  sehr  bald  in  einen 
Missbrauch  derselben  ausiirtet. 

Mögen  sie  aber  kräftig  wirkende  oder 
gleichgiltige  Stoffe  enthalten,  so  ist  doch 
unter  allen  Umständen  der  Gebrauch  von 
Geheimmitteln  schon  deshalb  für  verderb- 
lich zu  erachten,  weil  die  Verwender  ihren 
Körper  zum  Opfer  bedenklicher  und  ge- 
fährlicher Experimente  machen  und  sich 
sachgemässen  ärztlichen  Ratschlägen  ver- 
sclüiessen. 

In  einer  Botschaft,  welche  der  schweize- 
rische Bundesrat  an  die  Bundesvei-sammlung 
vom  12.  November  1886  ergehen  licvss, 
heisst  es:  »Hunderttausende  von  Franken 
wandern  alljährlich  aus  den  Taschen  armer 
Leute,  die  kaum  ihren  kärglichen  Lebens- 
unterhalt aufbringen,  in  die  Kassen  schlauer 
Spekulanten.  Wir  wissen,  dass  Frankreich 
jährlich  an  105  Millionen  seiner  SpeciaU- 
täten  ausführt,  dass  England  jährlich 
60 — 70  Millionen  £  für  seine  Geheimmittel- 
patente einnimmt  und  dass  beispielsweise 
im  Jahre  1878  aus  Deutschland,  Frankreich, 
Oesterreich  und  Italien  mehr  als  1505  Cent- 
ner Geheimmittel  und  fertiger  Arzneimittel 
in  die  Schweiz  eingeführt  wurden,  weiche 
nach  Scliätzung  von  Sachverständigen  im 
]tfinimum  einen  Ankaufspreis  von  900000 
bis  1  000  000  Francs  und  einen  Verkaufswert 
von  mindestens  1,5 — 1,8  Millionen  Francs 
repräsentieren.« 

Der  ungemein  hohe  Gewinn,  welcher 
mit  dem  Verkaufe  von  Geheimmitteln  er- 
zielt wird,  ergiebt  sich  aus  folgenden 
(u.  a.  von  Schwartz  citierten)  Beispielen- 
Der  Pillenfabrikant  Halloway,  welcher  ein 
Vermögen  von  5  Millionen  £  hinterliess, 
verausgabte  jährlich  40000  £  für  An- 
preisungen, —  der  Geheimmittelfabrikant 
Richter  für  den  gleichen  Zweck  jäluiich 
125000  Mark.  In  England  existieren  En- 
groshäuser, die  sich  mu*  mit  dem  Vertriebe 
von  Geheimmitteln  befassen,  jälu'lich  ca. 
eine  Million  für  Inserate  ausgeben  und 
trotzdem  eine  Million  verdienen. 

Nach  dem  Grundsatze  der  (reheimmittel- 
fabrikanten  muss  das  Mittel  gegen  alle 
mögliche  Krankheiten  helfen,  doch  werden 
namentlich  solche  Kranke  ins  Auge  gefasst, 
welche  mit  chronischen  Ner\'enleiden,  Epi- 
lepsie, Ijähmimgen,  Stuhlverstopfung,  Ge- 
schlechtskrankheiten, Krebs  \ind  Lungen- 
schwindsucht  behaftet   sind.    Die  Reklame 


Geheimmittelwesen 


57 


für  den  Vertrieb  der  Geheimmittel  er- 
fonlert  grosse  schriftstellerische  Gewandt- 
heit und  muss  als  solche  belohnt  werden. 
Viel  teurer  als  der  Sold  des  Reklame- 
schreibers kommen  aber  die  Inserate  zu 
st<»hen.  Wenn  ii'gend  ein  Geheimmittel 
3  Mai'k  kostet,  so  betragen  die  wahren  Her- 
stellungskosten in  der  Re^el  10  Pfg.,  die 
Inserate  aber,  in  hinreichend  grossem 
Massstabe  angewendet,  kosten  mindestens 
die  Hälfte  der  Gesamteinnahme,  also  1  Mark 
rxj  Pfg. 

Dieser  grosse  Gewinn,  welcher  durch 
den  Verkauf  von  Geheimmitteln  bezw. 
Reklamemitteln  en*eicht  zu  werden  pflegt, 
reizt  zu  stets  neuen  Unternehmungen  an. 
(reeigrnete  Mittel  für  den  Geheimmittel- 
fabrikanten sind  besonders  diejenigen,  wel- 
che die  Darmentleerung  befördern.  Das 
Bedürfnis  nac^h  solchen  Mitteln  und  die 
nach  dem  Gebrauche  eintretende,  w^enn 
auch  vorübergehende  Erleichterung  sichern 
den  abführenden  Mitteln  stets  grosse  und 
nachhaltige  Verbreitung,  sie  werden  als 
Gesimdheitspulver,  Lebenselixire ,  Magen- 
tropfen etc.  dem  Publikum  angepriesen  und 
sind  besonders  beliebt  in  der  leicht  zu 
nehmenden  Form  der  Pillen.  Vor  40  Jahren 
beherrschte  Morison  mit  seinen  stark  abfüh- 
renden Pillen  den  Geheimmittelmarkt  und 
konnte  in  seinem  Testamente  über  eine 
stattliche  Anzahl  von  Millionen  £  vei-fügen, 
dann  wai'en  eine  Zeit  lang  die  Strahlschen 
Pillen  vielfach  im  Gebrauch,  neuerdings  ist 
eine  andere  diux^h  eine  geschickt  betriebene 
Reklame  angepriesene  Sorte  von  Abführ- 
pillen trotz  recht  hohen  Preises  beim  Pu- 
blikum beliebt  geworden,  deren  Hauptbe- 
standteil, die  Aloe,  in  zwei  Schachteln  der 
Pillen  kaum  1  Pfennig  kostet,  wälirend  der 
Verkäufer  für  jede  Schachtel  1  Mark  sich 
bezahlen  lässt  (vgl.  Wildermanns  Jahrbuch 
der  Naturwissenschaften).  Bei  so  enormem 
Gewinn  ist  es  kein  Wunder,  dass  aüe 
Mittel  der  Reklame  aufgew^endet  werden, 
um  den  Absatz  immer  ausgiebiger  zu  ge- 
stalten. 

Als  natürliche  Feinde  des  Geheimmittöl- 
wesens  sind  oben  die  Aerzte  und  Apo- 
jtheker  genannt  worden,  weil  sie  unzwei- 
felhaft diejenigen  sind,  welche  den  mit  Ge- 
heimmitteln getriebenen  Unfug  am  klarsten 
durchschauen;  damit  soll  indessen  nicht 
gesagt  sein,  dass  sie  auch  thatsächlich 
mmier  als  Feinde  desselben  aufgetreten 
sind.  Derjeüige  Apotheker  allerdings,  wel- 
cher seine  Stellung  zum  öffentlichen  Ge- 
sund heitsw^esen  als  die  einer  für  das  Volks- 
wohl mit  verantwortlichen  Medizinal- 
person  auffasst,  wird  stets  das  Geheim- 
mittelwesen bekämpfen,  derjenige  aber, 
dessen  Streben  einzig  und  allein  auf  Ge- 
schäftsgewinn  gerichtet  ist,   sieht  nur  zu 


oft  in  dem  Handel  mit  Geheimmitteln  einen 
besonders  lukrativen  Nebenerwerbszweig, 
dessen  Pflege,  wie  er  meint,  sein  Ge- 
schäftsinteresse erfordere;  von  dieser  letz- 
teren Seite  liat  man  daher  auf  Unterstützung 
im  Kampfe  gegen  das  Unwesen  nicht  zu 
rechnen. 

Den  Aerzten  steht  eine  Beteiligung  am 
Gewinne  diu-ch  Geheimmittel  so  selten  in 
Aussicht,  dass  die  unmittelbare  Föi-denmg 
des  Treibens  durch  einzelne  Aerzte  wenig 
ins  Gewicht  fällt,  dagegen  lässt  sich  nicht 
leugnen,  dass  mittelbar,  wie  u.  a.  Kratsch- 
mer  ausführt,  durch  die  Aerzte  bezw.  durch 
eine  gewisse  Richtung  in  der  wissenschaft- 
lichen Medizin  der  Absatz  der  Geheimraittel 
eine  Zeit  lang  nicht  unw^esentlich  gefördert 
worden  ist.  Als  die  Erfolge  der  Hydro- 
pathen, Homöopathen  und  der  sog.  l^atur- 
heilkünstler  den  Aerzten  die  —  nunmehr 
längst  wissenscliaftliches  Allgemeingut  ge- 
wordene —  Erf abrang  aufdrängten,  dass  viele 
Krankheiten  bei  zw^eckmässigem  (diäte- 
tischem) Verhalten  des  Kranken  ohne  jedes 
der  früher  für  erforderlich  gehaltenen  Medi- 
kamente (auch  ohne  Aderlass,  Schröpfen  etc.) 
in  Heilung  übergehen  können,  griff  in 
der  Medizin  eine  Zeitlang  ein  »tlierapeu- 
tischer  Nilülismus«  um  sich,  welcher  den 
Kranken  auch  solche  Arzneimittel  vorent- 
hielt, durch  welche  eine  Linderung  der  Be- 
schwerden herbeigeführt  und  der  günstige 
Verlauf  des  Leidens  erfahnmgsgemäss  ge- 
sichert oder  abgekürzt  wird.  Diese  negative 
Richtung  der  Therapie,  welcher  jetzt  die 
Lehrer  der  ärztlichen  Wissenschaft  mit 
Recht  entgegentreten,  war  unzweifelhaft 
den  Geheimmittelkrämern  indirekt  von  Vor- 
teil. Das  grosse  Publikiun  lässt  sich  ein- 
mal den  Glauben  nicht  nehmen,  dass  gegen 
jedes  Leiden  ein  besonderes  Heilmittel 
existiere,  dass  »gegen  jede  Krankheit  ein 
eigenes  Kraut  gewachsen«  sei;  die  Kranken 
also,  denen  der  vorsichtig  abw'artende  Arzt 
das  ersehnte  Arzneimittel  vorenthielt,  such- 
ten es  hinter  dessen  Rücken  und  öffneten 
bereitwillig,  zumal  beim  zögernden  Eintritt 
der  Genesung,  den  Einllüsterungen  der  Ge- 
heimmittelfabrikanten und  anderer  unbefug- 
ter Heilkünstler  ihr  Ohr.  Das  kranke 
Publikum  verlangt  von  dem  ersehnten  Rat- 
geber nicht  abwartendes  Zusehen,  w^ie  dieser 
es  oft  für  angebracht  halten  mag,  sondern 
handelndes  Eingreifen;  der  praktische  Arzt 
muss  darauf  Rücksicht  nelimen  und  be- 
denken, dass  er  diu'ch  eine  zur  Schau  ge- 
tragene Nichtachtung  des  wissenschaftlich 
erprobten  Arzneischatzes  dem  unbefugten 
Handel  mit  Arzneimitteln  Vorschub  leistet 
und  das  zu  bekämpfende  Geheimmittelwesen 
nur  fördert. 

Ist  es  schon  dem  einzelnen  Arzte  und 
dem  Apotheker   oft  schwer,   den   richtigen 


58 


Geheimmittelwesen 


Standpunkt  im  Kampfe  gegen  das  Greheim- 
raittehvesen  einzunehmen,  so  hat  noch  mehr 
die  medizinalpolizeiliche  Gesetzgebung  in 
dieser  lYage  einen  schweren  Stand.  Von 
einer  eini^ermassen  befriedigenden  Lösung 
derselben  ist  man  nicht  nur  in  Deutschland, 
sondern  auch  in  den  anderen  Kultiu^taaten 
noch  weit  entfernt.  Sieht  man  allerdings 
die  Aufgabe  der  Medizinalpolizei  bereits 
erfüllt,  wenn  in  dem  angezeigten  Mittel 
keine  giftigen  Stoffe  mitverkauft  wer- 
den, und  so  eine  unmittelbare,  grobe  Ge- 
sundheitsschädigung der  Käufer  vermieden 
wird,  so  wäre  die  Frage  der  Bekämpfung 
des  Geheimmittel  Wesens  sehr  vereinfacht, 
man  wiU  aber  die  Kranken  auch  davor  be- 
wahren, dass  sie  ihr  leibliches  Wohl  ge- 
wissenlosen Schwindlern  anvertrauen,  statt 
sich  sachgemässer  Behandliuig  zu  unter- 
ziehen, man  will  insbesondere  verhüten, 
dass  die  Anzeigen  der  Geheimmittelin- 
teressenten, in  denen  gewöhnlich  alle  er- 
denklichen Beschwerden  zu  beseitigen  ver- 
sprochen wird,  kranke  und  gesunde  Leser 
beunnihigen  und  habgierigen  Geschäftsleuten 
in  die  Arme  treiben.  Allen  diesen  im  In- 
teresse der  öffentlichen  Gesundheitsj)flege 
gestellten  Ansprüchen  gerecht  zu  werden, 
soll  das  Ziel  das  Kampfes  gegen  das  Ge- 
heimmittelwesen sein. 

4.  Gesetzliche  Massnahmen  gegen 
das  6.  Als  verfehlt  im  Sinne  der  Gesund- 
heitspolizei muss  man  denjenigen  Weg  be- 
zeichnen, den  man  in  England  gegen  das 
Geheimmittelwesen  eingeschlagen  hat.  Hier 
glaubte  man  durch  eine  hohe  Steuer  ein- 
greifen zu  können  und  hat  dadiu^ch  zwar 
eine  beträchtliche  Mehrung  der  Staatsein- 
ngthmen,  aber  nicht  im  entferntesten  eine 
Abnahme  des  Schwindels  erreicht.  Der 
Handel  mit  Patentmedizinen,  d.  h.  staatlich 
besteuerten  (gestempelten)  Geheimmitteln 
blüht  in  England  mehr  als  anderwärts,  und 
auch  eine  Kontrolle  der  Giftigkeit  der 
Mittel  konnte  bei  deren  wechselndem  Ge- 
halt an  giftigen  Bestandteilen  dort  so  wenig 
erzielt  weixlen,  dass  die  betreffenden  Mittel 
sogar  mit  Vorliebe  zu  Selbstmorden  benutzt 
werden  sollen  (Wernich). 

Wirksamer  sind  die  in  Frankreich 
bereits  am  Anfange  dieses  Jalirhunderts  er- 
lassenen Massregeln  gewesen.  Durch  die 
GG.  V.  21.  Germinal  des  Jahres  XI  und 
v.  29.  Pluviose  des  Jahres  XIII  wurden  alle 
gedruckten  Ankündigungen  und  Anschläge, 
welche  Geheimmittel  zur  Anzeige  bringen, 
streng  verboten,  die  Zuwiderhandelnden  im 
zuchtpolizeilichen  Wege  verfolgt  und  mit 
Geldstrafe  bis  zu  6000  Francs,  im  Rückfalle 
mit  Einsperrung  bestraft.  Man  scheint 
hierdurch  in  Frankreich  wenigstens  soviel 
erreicht  zu  haben,  das  die  französischen 
Specialitätenhändler   ihr    Hauptabsatzgebiet 


nicht  im  Inlande,  sondern  im  Auslande 
finden,  wohin  sie  für  500  Millionen  Franc« 
jährlich  exportieren. 

Im  Deutschen  Reiche  wird  nach 
§  367  Nr.  3  des  Str.G.B.  bestraft,  wer  ohne 
polizeiliche  Erlaubnis  Gift  oder  Arzneien, 
soweit  der  Handel  damit  nicht  freigegeben 
ist,  zubereitet,  feilhält,  verkauft  oder  sonst 
an  andere  überlässt.  Welche  Arzneien  frei- 
gegeben sind,  hat  gemäss  §  6  Abs.  2  der 
Gewerbe-Ordnung  die  kaiserl.  Verordnung 
V.  27.  Januar  1890  (ergänzt  am  25.  November 
1895)  bestimmt.  Darnach  dürfen  gewisse 
(in  einem  der  Verordnung  beigegebenen  Ver- 
zeichnis A.  aufgeführte)  Zubereitungen, 
ohne  Unterschied  ob  sie  heilkräftige  Stoffe 
enthalten  oder  nicht,  als  Heilmittel  nur 
in  Apotheken  feilgehalten  .  oder  verkauft 
werden,  ebenso  dürfen  bestimmte  (in  einem 
Verzeichnis  B.  aufgeführte)  Droguen  und 
chemischen  Präparate  niu:  in  Apotheken 
feilgehalten  oder  verkauft  werden.  Das- 
selbe gilt  somit  auch  von  Geheimmitteln, 
sofern  sie  in  einem  der  Formen  des  Ver- 
zeichnisses A.  dieser  Verordnung  auftreten 
oder  sofern  sie  Zusammensetzungen  aus  den 
Droguen  und  Präparaten  des  Verzeichnisses 
B.  enthalten.  (Der  Grosshandel  ist  von 
jenen  Bestimmungen  nicht  betroffen.)  — 
§  367  Nr.  5  des  Str.G.B.  bestraft  ferner 
denjenigen,  welcher  zur  Zubereitung  und 
zum  Feilhalten  von  Arzneien  berechtigt 
ist,  aber  hierbei  die  erlassenen  Verord- 
nungen nicht  befolgt;  eine  solche  Verord- 
nung lautet  hinsichtlich  der  Geheinmiittel 
(§  36  der  preussischen  Vorschriften  über  Ein- 
richtung und  Betrieb  der  Apotheken  vom 
16.  Dezember  1893):  »Geheimmittel  dürfen 
Apotheker  im  Handverkauf  nur  abgeben, 
wenn  ihnen  die  Zusammensetzung  derselben 
bekannt  ist,  die  Abgabe  der  Bestandteile  im 
Handverkauf  zulässig  ist  und  der  Gesamt- 
preis sich  nicht  höher  stellt,  als  das 
auf  Grund  der  Arzneitaxe  der  Fall  sein 
würde.« 

Was  die  öffentliche  Ankündigung 
und  Anpreisung  von  Geheimmitteln  be- 
trifft, so  bestehen  gesetzliche  Straf  Vor- 
schriften hiergegen  nicht,  doch  ist  man  im 
Deutschen  Reiche,  namentlich  seitens  meh; 
rerer  preussischen  Bezirksregierungen,  be- 
müht, durch  Polizei  Verordnungen  die  Re- 
klame für  Geheimmittel  in  den  Zeitungen 
mit  Strafe  zu  bedrohen  und  endlich  nach 
dem  Vorgange  des  Karlsruher  Ortsgesund- 
heitsrates amtliche  Mitteilungen  über  die  Zu- 
sammensetzung und  den  wahren  Preis  aller 
auftauchenden  Geheimmittel  zu  veröffent- 
lichen, um  wenigstens  das  einer  Belehrung 
noch  zugängige  Publikum  vor  der  Schädigung 
möglichst  zu  bewahren.  Nach  einem  neu- 
eren Sanitätsberichte  sind  in  Berlin  die  be- 
züglichen Massregeln  bei  verständnisvoller, 


GeheimmittelweseQ — Gehöferschaften 


59 


aber     rücksichtsloser     und    unermüdlicher 
Durchführung  recht  wirksam  gewesen. 

Eine  weitere  einheitliche  Regelimg  des 
Geheimmittel wesen  in  den  deutschen  Bundes- 
staaten nach  dem  Vorbilde  des  schon  er- 
w^nten,  dem  Bimdesrate  vorgelegten,  hier 
ev.  noch  abzuändernden  »Entwi^fs  von  Vor- 
schriften« ist  in  naher  Zukunft  zu  erwarten. 

Litt6ratlir:  ßichterf  Das  Geheimmiitclweaen, 
Dresden  187:ä,  —  SchwarUf  Gesetzliche  Hegelung 
des  Geheimmiüelwesens  (Deutsche  Vierteljahrs- 
schriß  för  öffentliche  Gesundheitspflege  1891).  — 
Krat^schmer,  Massregeln  gegen  den  Geheim- 
mitielschwindel  (VI.  internationaler  Kongress  für 
Hygiene).  —  Wemich,  Heklamemittel  (Dammers 
HandtcifTterbtich  der  Gesundheitspflege).  —  Kro- 
necker ^  Die  Geheimmittc{frage  (in  Nr.  15,  Jahrg. 
1S9S  der  Denischen  Juristen-Zeitung). 

Rahts, 


Gehöferschaften. 

Die  Gehöferschaften  sind  agrarische  Ge- 
nossenschaften mit  dem  Gesamteigentum 
ihres  ganzen  Gnmdbesitzes  an  Feldgärten, 
Aeckem,  Wiesen,  sog.  Wildländereien  und 
Waldungen  (mit  Lohhecken),  unter  perio- 
dischem Wechsel  der  Interessenten  an  der 
privaten  Nutzung  der  Ländereien  auf  Gnnid 
erneuter  Verlosungen,  soweit  nicht  eine  ge- 
meinsame Nutzung  derselben  stattfindet. 
Dabei  tritt  die  Gemeinschaft  gelegentlich 
noch  in  der  vollen  Form  der  Betriebsge- 
meinschaft auf,  und  die  ideellen  Eigentums- 
quoten der  einzelnen  Genossen  sind  frei 
veräusserlich  und  teilbar. 

Die  Grösse  des  den  einzelnen  gehöfer- 
schaftlichen  Betrieben  unterliegenden  Be- 
sitzes, der  jetzt  meist  nur  noch  aus  Wald 
und  Wildland  besteht,  schwankt  ziemlich 
stark ;  bisweilen  beträgt  er  einige  Dutzende, 
bisweilen  Tausende  von  Morgen.  Daher 
gibt  es  Dorffliiren,  in  denen  das  Gehöfer- 
schaftsland  nur  einen  kleinen  Bruchteil  der 
Gesamtfläche  einnimmt,  während  in  anderen 
sich  Gehöferschaftsland  und  Privateigen  un- 
gefähr die  Wage  halten;  ja  es  kommt  ver- 
einzelt sogar  der  Fall  vor,  dass  nach  Abzug 
der  unverteilten  Allmende  die  ganze  Mark 
niu"  aus  Gehöferschaftsland  besteht. 

Gehöferschaften  und  gehöferschaftsähn- 
liche  Institutionen  finden  sich  vereinzelt  im 
ganzen  Westen  und  Süden  Deutschlands; 
besonders  verbreitet  sind  sie  im  mittleren 
Westdeutschland,  vor  aDem  an  der  Mosel. 
Hier  betrug  der  Umfang  der  gehöferschaft- 
lichen  Waldungen  zu  Anfang  der  60  er 
Jahre  dieses  Jahrhunderts  in  den  drei 
meist  beteiligten  Kreisen  des  Reg.-Bez. 
Trier  noch  10973  ha;  im  Sommer  1883 
waren  für  den  Reg.-Bez,  Trier  noch  26  Ge- 
höferschaften,  davon  20  in  den  Kreisen 
Merzig  imd  Trier  Land,  bekannt. 


Die  Gehöferschaften  hat  man  bis  in  die 
neueste  Zeit,  vornehmlich  auf  Gnmd  der 
Forschungen  Hanssens,  als  letzte  Reste  der 
urgermanischen  Agrarverfassung  angesehen ; 
man  glaubte  ihnen  Momente  der  Erklärung 
für  schwierige  Stellen  bei  Cäsar  und  Tacitus 
entnehmen  zu  können.  Demgegenüber  ist 
von  Lamprecht  (Deutsches  Wirtschaftsleben 
I,  451  ff.)  nachgewiesen  und  auch  von 
Haussen  anerkannt  worden,  dass  die  Ge- 
höferschaften nicht  der  Verfassung  der 
freien  Germanen,  sondern  vielmehr  der 
grossgrundherrlichen  Verfassung  des  10. — 14. 
Jahrhunderts  ihre  Entstehung  verdanken. 
Die  Grossgrundherren,  deren  Eigentum,  an 
Grundholde  ausgethan,  vielfach  sehr  zer- 
streut durch  eine  Menge  von  Dörfern  hin 
lag,  liebten  es,  die  von  diesem  Eigen 
fälligen  Fi'onden  in  h'gend  einem  dieser 
Dörfer,  zumeist  da,  wo  der  Meier  seinen 
Sitz  hatte,  zum  Anbau  von  grösseren  Stücken 
Rottlandes  zu  koncentrieren.  In  den  Besitz 
des  Rottlandes  setzten  sie  sich  dabei  als 
Hufeninhaber  und  somit  Markgenossen  des 
betreffenden  Dorfes:  noch  galt  im  10.  und  11. 
Jahrhundert  das  fi'eie  Rottrecht  aller  Mark^ 
nossen  auf  der  Allmende.  Auf  diese  Weise 
entstanden  grundhörige  Betriebsgenossen- 
schaften auf  grundherrlichem  Kottlande. 
Als  dann  die  Grundherrschaften  mit  dem 
12.  Jahrhundert  zu  zerfallen  begannen,  in- 
dem sich  ihre  Inhaber  auf  die  blosse  Per- 
ception  von  Renten  zurückzogen  und  die 
Meier  sich  verselbständigten,  liess  sich 
auch  der  alte  Anbau  des  Rottlandes  wie 
die  Nutzung  grundherrUcher  Wälder  in  ab- 
gelegenen Meierhoforten  unter  unmittelbarer 
wirtschaftlicher  Teilnahme  des  Grundherrn 
nicht  mehr  aufrecht  erhalten.  Statt  dessen 
verzeitpachteten  oder  vererbpachteten  die 
Grundherren  jetzt  das  Areal  an  die  bisher 
grundhörige  Betriebsgemeinschaft.  Diese 
konnte  nun  entweder  teilen,  oder  aber  sie 
erhielt  den  bisherigen  Fronbetrieb  als  mm- 
mehr  freien,  aber  in  alter  Weise  gemeinsam 
bleibenden  Betrieb  aufrecht:  im  letzteren 
Falle  entstand  die  Gehöferschaft.  Der  kom- 
munistische bezw.  kollektivistische  Charakter 
der  Gehöferschaft  ist  also  nicht  urzeitlichen 
Verhältnissen,  sondern  der  besonderen  Ge- 
bundenheit der  grundherrlichen  Ver- 
fassung bei  im  allgemeinen  schon  weiter 
fortgeschrittener  wirtschaftlicher  Kultur  ent- 
sprungen. 

Dementsprechend  scheinen  schon  wäh- 
rend des  Mittelalters  sich  viele  Gehöfer- 
schaften durch  Auseinandersetzung  und 
Teilung  aufgelöst  zu  haben;  sicher  ist  das 
während  des  16.  bis  18.  Jahrhunderts  der 
FaU.  Eine  ausgedehntere  Aufteilungsperiode 
trat  aber  wohl  erst  mit  der  Wirkung  der 
französischen  Revolution  ein.  Von  Bedeu- 
tung waren  in  diesem  Simie  auf  preussischem 


60 


Gehöferschaften — Geld 


Gebiete  noch  später  die  Katastemiifnahme 
der  dreissiger  und  vierziger  Jahre  dieses 
Jahrhunderts ,  die  Gemeinheitsteiluugsord- 
nung  vom  19.  Mai  1851  und  neuere  Special- 
gesetze und  Verordnungen.  Im  ganzen  gab 
es  im  Jalire  1878  im  Reg.-Bez.  Trier  noch 
20  Gehöferschaften  mit  889  ha  Ackerbesitz, 
wovon  736  ha  in  Teihmg  begriffen  waren, 
sowie  81  Gehöferschaften  mit  74192,22  ha 
Waldbesitz,  wovon  1713,74  ha  sich  in 
Teilung  befanden. 

Litteratnr:  J.  N.  v.  Schwerz,  Beiträge  zur 
Kenntnis  der  Landwirtsr huft  in  der  Gebirgs- 
gegend des  Hunfrücks  (MÖgliner  Annalen  27, 
28/.,  18S1).  —  Baersch,  Statistik  des  Reg.-Bez. 
Trier  1,  14,  226 f.  (1849).  -  v.  HaureVy  Ein- 
leitung S.  72  (1854).  —  Beck,  Die  Teihing  und 
Zusammenlegung  der  gehöferschaftlichen  Lände- 
reien zu  Saarhölzbach  (1801).  —  v.  Briefen, 
Urkundliche  Geschichte  des  Kreises  Merz  ig,  S. 
249 f.  (186S).  —  Hanssen,  Die  GehöferschafUn 
(Erbgenossenschaften)  im  Reg.-Bez.  Trier,  Ab- 
handlungen der  Berliner  Akademie  der  Wissen- 
schaften, 186S,  PhiL-hisi.  Kl.  S.  75 f.  (=  AgrarhiM. 
Abh.,  1,  99  f.).  —  MeitzeUf  Der  Boden  und 
die  landwirtschafüichcn  Verhältnisse  des  preus- 
sischen  Staates  1,  348 f.  (1868).  —  Beck,  Be- 
sehreibung des  Reg.-Bez.  Trier,  1,  S45f.  (1868), 
2,  96.  —  Denkschrift  der  preussischen  Staats- 
regierung über  die  Verhältnisse  der  Gehöje.  - 
schafts^icaldungen  im  Reg.-Bez.  Trier  (Aktenst. 
des  Abgeordnetenhauses,  14'  LegisUiturp.,  JH. 
Session,  1878 — 79,  Nr.  54).  —  Lam/precht, 
Zwei  Notizen  zur  älteren  deutschen  Geschichte 
(Zeitschr.  des  Bergischen  GeschicJUsvereins  16, 
17 4  f.,  1880).  —  Hanasen,  in  Tübinger  Zeitschr. 
36,  4^'^ S'>  umgearbeitet  in  Agrarhist.  Abhandl. 
2,  If.  (1884).  —  Schroeder,  Ausbreitung  der 
Franken  (Farschungen  zur  deutschen  Geschichte 
19,  151  f.).  —  Lamprechtf  Deutsches  Wirtschafts- 
leben 1,  422 f.  (1886). 

K.  Lamprecht 


Geisteskranke, 

s.    Irrengesetzgebung    und    Irren- 
wesen. 


Oeltzkofler  von  Oailenbach  und 
Haanshelm,  Zacharlas, 

geboren  von  protestantischen  Eltern  1560  in 
Brixen,  studierte  in  Strassburg  und  Basel,  Hess 
sich  nieder  in  Augsburg,  wurde  königl.  Bat, 
Reichsritter  und  Freiherr  und  erhielt  von 
Rudolf  II.  den  Titel  eines  Generalproviant- 
meisters, für  die  kaiserliche  Armee.  1597  trat 
zu  dieser  Würde  noch  die  eines  Reichspfennig- 
meisters  und  1607  wurde  er  der  Stifter  des 
nördlich  der  Fasshöhe  des  Brenner  gelegenen 
Bades,  im  gleichnamigen  Doife  in  den  Tiroler 
Alpen.    Geitzkofler  starb  1617. 

Zu  seinen  Lebzeiten  veröffentlichte  er  keine 
auf  Staatswissenschaft  bezügliche  Schrift,  erst 
nach  seinem  Tode  erschien  in  Buchform: 

Ausführliches  in  den  Reichsconstitutionibus 
und  sonsten  in  der  Experientz  wolgegründetes 


Fundamental  Bedencken  über  das  eingerissene 
höchstschädliche  Müntz  Unwesen  und  stavefeniug 
der  groben  Geltsorten  von  Golt  und  Silber,  als 
dem  Kaiser  vorgelegtes  Gutachten,  nach  s.  t. 
Geitzkoflers  Tode,  von  einem  Liebhaber  der  Ge- 
rechtigkeit der  tentschen  Nation  zu  Besten  l(i22 
zum  Druck  befördert,  s.  1.  In  dieser  wissen- 
schaftlichen Bekämpfung  des  Münzunwesens  tritt 
Geitzkofler,  als  Verfechter  des  merkantilistiscben 
Princips,  den  Rohprodukt^nexport  aus  Staats- 
ökonomischen  Gründen  zu  erschweren,  für  da? 
Verbot  der  Ausfuhr  ungemünzten  Goldes  und 
Silbers  ein  und  folj^ert  aus  dem  Missverliältnii 
zwischen  der  relativ  wertvolleren,  weil  alli,ro 
meine  Bedürfnisse  deckenden  deutschen  Waren 
ausfuhr  und  der  vom  Auslande  dagegen  ein 
getauschten,  zum  grösseren  Teile  aus  Luxus 
waren  bestehenden  Einfuhr  eine  drohende  pro 
gressionsmässige  Verarmung  Deutschlands,  zi 
deren  Abwehr  er  strenge  Luxusgesetze  fordert 

Vgl.  über  Geitzkofler:  Adam  Woli 
Lukas  Geitzkofler  v.  Reiffenegg,  Wien  1873.  - 
Allgem.  deutsche  Biographie,  Bd.  VIII,  Lei^zi 
1878,  S.  529.  -  Röscher,  Gesch.  d.  Nat 
S.  176. 

Lippert. 


Geld. 

I.DerUrsprungallgemeingebräiul 
lieber  Tauschmittel.  —  1.  Einleitun 
2.  Aufgabe  der  Theorie  des  Geldes.  3.  L 
Schwierigkeiten  des  naturalen  Tauschhaudcv 
4.  Die  verschiedene  Gangbarkeit  (Marktgäniri 
keit)  der  Güter.  5.  Die  Entstehung  der  Tausc 
mittel.  6.  Die  Stellung  der  Tauschmittel  : 
Verkehre  (ihre  Eigenart  im  Kreise  der  übrip: 
Güter).  7.  Die  Unterscheidung  zwischen  „Gt  1 
und  „Ware"  in  der  Jurisprudenz.  8.  Der  Str 
der  Wirtschaftstheoretiker,  ob  das  Geld  ei 
W^are  sei.  II.DieEntstehung  des  Ede 
metallgeldes.  III.  Vervollkommnu^ 
des  Metallgeldes  durch  Ausmünzu 
derMetalle.  IV.  Die  Vervollkommnu 
des  Geldes  durch  den  Staat.  V.  1> 
Geld  als  Mittel  für  einseitige  und  sn 
sidiäre  Vermögensleistungen.  — 
Das  Geld  als  Vermittler  des  Kapit 
Verkehrs.  VII.  Das  Geld  als  Mittel  i 
Thesaurierung,  Kapitalisierung  u 
interloka.le  Vermögensübertr  aT^  11 
VIII.  Das  Geld  als  Preismesser.  IX.  I 
Geld  als  Massstab  des  Tauschwer 
derGüter.  1.  Einleitung.  2.  Ob  die  Schätzi 
der  Güter  als  eine  Messung  ihres  Tausch  we 
zu  betrachten  sei  ?  3.  Die  praktische  Bedeut 
der  Bewertung  der  Güter  in  Geld.  4.  Dass 
in  Geld  ausgedrückte  Tauschwert  der  (ti 
unter  verschiedenen  örtlichen  und  zeitli( 
Verhältnissen  kein  entsprechender  Massstab 
Mittel  und  Ergebnisse  der  Wirtschaften 
ö.  Das  Streben  nach  einem  Gute  von  uiii 
sellem  und  unwandelbarem  äusserem  Tau 
werte.  6.  Versuche  einer  Messung  der  örtli« 
Verschiedenheit  und  der  Bewegung  des  äuss 
Tauschwertes  des  Geldes;  a)  in  Rücksicht 
bestimmte  Güterarten  und  bestimmte  Gi 
komplexe;  b)  in  Rücksicht  auf  die  Güter  1 


Geld 


61 


banpt.  7,  Ueber  die  örtliche  Verschiedenheit 
und  die  Bewegung  des  sogenannten  inneren 
Tauschwertes  des  Geldes.  8.  Die  populäre  Auf- 
fassang über  die  Beständigkeit  des  inneren 
Tauschwertes  des  Geldes.  9.  Die  wissenschaftliche 
Auffassung  über  den  inneren  Tauschwert  des 
Geldes  und  seine  Bewegung.  10.  Die  Idee  eines 
universellen  und  unwandelbaren  Massstabes  des 
inneren  Tauschwertes  der  Güter.  11.  Die  Frage,  ob 
bestimmte  Preisbewegungen  (bezw.  örtliche  Ver- 
schiedenheiten der  Preise)  auf  Ursachen  zurück- 
weisen, die  im  Gelde,  oder  auf  solche,  die  in 
den  Kaufgütem  liegen.  12.  Ob  der  innere  Tausch- 
wert des  Geldes  und  seine  Bewegung  gemessen 
werden  können.  X.  Aus  seinerEntwicke- 
lung  und  seinen  Funktionen  sich  er- 
gebender Begriff  des  Geldes.  XL  Der 
Bedarf  der  Volkswirtschaft  an  Geld. 
—  Litteratur. 

I.  Der  Ursprung  allgemein  gebräuch- 
licher TanschmitteL 

1.  Einleitung.  Die  Erscheiming,  das8 
gewisse  Güter,  bei  fortgeschrittener  Kultur 
öold  und  Silber  in  gemünztem  Zustande, 
in  der  Folge  auch  diese  letzteren  vertretende 
Urkunden,  zu  allgemein  gebräuchlichen 
Tauschmitteln  werden,  hat  die  Aufmerksam- 
keit der  Sozialphilosophen  und  der  Praktiker 
auf  dem  Gebiete  der  Volkswirtschaft  seit 
jeher  in  besonderem  Masse  auf  sich  gezogen, 
bass  ein  Gut  von  seinem  Besitzer  gegen 
ein  anderes,  ihm  nützlicheres,  im  Austausche 
hingegeben  wird,  ist  ein  Vorgang,  welcher 
auch  dem  gemeinsten  Verstände  einleuchtet. 
Dass  aber  jedes  wirtschaftende  Subjekt  eines 
Volkes  bereit  ist,  seine  Waren  gegen  kleine, 
an  sich  nutzlos  erscheinende  Metallscheiben, 
oder  gegen  diese  letzteren  vertretende  Ur- 
kunden, einzutauschen:  dies  ist  ein  dem 
gemeinen  Laufe  der  Dinge  so  widersprechen- 
der Vorgang,  dass  es  uns  nicht  wunder 
nehmen  darf,  wenn  er  selbst  einem  so  aus- 
gezeichneten Denker,  wie  Savigny^),  ge- 
radezu als  »geheimnisvoll«  erscheint. 

Man  glaube  nicht,  dass  das  Rätselhafte 
der  obigen  Erscheinung  in  der  Münz-  oder 
in  der  ürkundenform  des  gegenwärtig  ge- 
bräuchlichen Geldes  liege.  Selbst  wenn 
wir  davon  absehen  und  auf  jene  Stufen 
volkswirtschaftlicher  Entwickelung  zurück- 
greifen, wo,  wie  noch  heute  bei  einzelnen 
Völkern,  Edelmetalle  in  ungemünztem  Zu- 
stande, ja  bestimmte  andere  Waren  (Vieh, 
Tierfeile,  Theeziegeln,  Salztafeln,  Kauri- 
schnecken  u.  s.  f.)  als  Tauschmittel  funktio- 
nieren, tritt  uns  die  nämliche,  der  Erkläning 
bedürfidge  Erscheinung  entgegen:  die  Er- 
scheinung, dass  die  wirtschaftenden  Menschen 
bereit  sind,  gewisse  Güter,  auchwenn  sie 
derselben  nicht  bedürfen,  oder  ihr 
Bedürfnis  daran  bereits  gedeckt 
ist,   im  Austausche  gegen   die  von   ihnen 


zu  Markte  gebrachten  Güter  anzunehmen, 
während  sie  rücksichtlich  derjenigen  Güter, 
die  sie  sonst  im  Verkehre  zu  erwerben 
beabsichtigen,  zimächst  doch  ihr  Bedürfnis 
befragen. 

Von  den  ersten  Anfängen  denkender  Be- 
trachtung der  Gesellschaftserscheinungen  bis 
auf  unsere  Tage  zieht  sich  denn  auch  eine 
ununterbrochene  Kette  von  Erörterungen 
über  die  Natm*  des  Geldes  und  seine  Eigenart 
im  Kreise  der  übrigen  Objekte  des  Verkeh- 
res. Was  ist  die  Natur  jener  kleinen  Metall- 
scheiben und  Urkunden,  welche  an  sich 
keinem  Gebrauchszwecke  zu  dienen  scheinen 
und  doch,  im  Widerspniche  mit  aller  sons- 
tigen Erfahrung,  im  Austausche  gegen  die 
nützlichsten  Güter,  aus  einer  Hand  in  die 
andere  übergehen,  ja,  gegen  welche  seine 
Waren  hinzugeben,  jedermann  so  eifrig  be- 
strebt ist?  Ist  das  Geld  ein  organisches 
Glied  der  Güterwelt  oder  eine  Anomalie 
der  Volkswirtschaft? 

2.  Aufgabe  der  Theorie  des  Geldes. 
Die  Aufgabe  der  Wirtschaftstheorie  ist,  auch 
in  Rücksicht  auf  das  Geld,  durch  die  allge- 
meine Natur  dieser  Wissenschaft  gegeben. 
Die  Theorie  des  Geldes  hat  die  Aufgabe, 
das  Wesen  desselben  (seine  Eigenart  im 
Kreise  der  übrigen  Güter),  seine  Funktionen 
und  den  Zusammenhaug  derselben  ^ihren 
Zusammenhang  imter  einander  und  mit  der 
Volkswirtschaft  überhaupt)  zu  erforschen 
und  darzustellen,  und  uns  solcherart  das 
theoretische  Verständnis  des  Geldes  und 
seiner  Funktionen  in  der  Volkswirtschaft  zu 
verschaffen.  Die  Wirtschaftsgeschichte  da- 
gegen hat  rücksichtlich  des  Geldes  die  Auf- 
gabe, die  Entwickelung  des  Geldes  aller 
Völker  und  Zeiten  im  einzelnen  zu  erfor- 
schen und  uns  ein  Bild  dieser  Entwicke- 
lung zu  bieten.  Die  Wirtschaftsgeschichte 
ist  eine  der  wichtigsten  Grundlagen  wirt- 
schaftstheoretischer Forschung  überhaupt 
und  der  Theorie  des  Geldes  insbesondere, 
die  Aufgabe  der  letzteren  indes  doch  eine 
wesentUch  andere  als  die  einer  Geschichte 
des  Geldes.  Auch  die  Theorie  des  Ursprungs 
des  Geldes  darf  mit  einer  Geschichte  des 
letzteren  nicht  verwechselt  wei*den.  Selbst 
der  Gedanke,  eine  Geschichte  des  Geldes 
(diesen  Zweig  der  Wirtschaftsgeschichte  als 
solchen !)  im  Systeme  der  Theorie  des  Geldes 
behandeln  zu  wollen,  muss  als  ein  irrtüm- 
licher, auch  als  ein  undmxjhführbarer,  zu- 
rückgewiesen werden.  1) 

Die  Meinung,  dass  die  Geldtlieorie  sich 
darauf  beschränken  solle,  die  »Entwickelungs- 
gesetze  des  Geldes«  (im  Sinne  von  »Paralleüs- 
men  der  Geschichte  des  Geldes  aller  Völker 


0  Obligationenrecht,  I,  §  40. 


*)  S.  meine  Unters,  über  d.  Methode  d.  See. 
W.  1883.  S.  2  ff.  und  K.  Bücher,  Entstehung 
der  Volkswirtschaft  1898,  S.  X. 


62 


aeld 


und  Zeiten«)  festzustellen,  ist  eine  einseitige. 
Eine  Darstellung  dieser  Art  wäre  nichts 
anderes  als  »schematische  Geschichte«, 
welche  (bei  der  komplexen  Natur  des  Geldes 
in  seinem  geschichtlichen  Auftreten  uud  der 
grossen  Verschiedenheit  seiner  geschicht- 
lichen Entwickelung  in  verschiedenen  Län- 
deni)  uns  Volkswirten  für  das  Verständnis 
des  Wesens  und  der  Funktionen  des  Geldes 
und  ihres  inneren  Zusammenhanges  kaum 
mehr  bieten  könnte,  als  etwa  die  Kenntnis 
der  Reihenfolge  der  Jalireszeiten  dem  Natur- 
forscher für  das  Verständnis  der  Natur  und 
ihrer  Prozesse.  Eine  Geldlehre  dieser  Art 
würde  mit  Rücksicht  auf  die  Zufälligkeiten 
bei  der  Ceberlieferung  geschichtlicher  That- 
bestände  oder  auf  zufällige  Parallelismen, 
welche  in  der  äusseren  Entwickelung  des 
Geldes  etwa  zu  beobachten  sein  würden, 
uns  zwai*  einzelne  Schemen  mehr  oder  min- 
der unwesentlicher  Erscheinungsfolgen  bieten, 
indes  die  Klarstellung  der  wesentlichsten, 
zumal  auch  der  psychologischen  Faktoren 
der  Entwickelung  des  Geldes  und  ihres  Ein- 
flusses auf  diese  letztere  vermissen  lassen. i) 
3.  Die  Schwierigkeiten  des  naturalen 
Tauschhandels.  Die  theoretische  Unter- 
suchung über  den  Ursprung  und  die  Ent- 
wickelung der  Tauschmittel  hat  auf  jener 
Entwickelungsstufe  der  mensclilichen  Ge- 
sellschaften einzusetzen,  wo  »die  verkehrs- 
lose  Naturalwirtschaft«    allmählich    in    die 


*)  Ueber  die  Methoden  der  Forschung, 
etwa  mit  specieller  Rücksicht  auf  die  verschie- 
denen Aufgaben  der  Geldlehre  zu  handeln,  kann 
hier  nicht  meine  Aufgabe  sein.  Nur  rtick- 
sichtlich  der  induktiven  Methode  sei  be- 
merkt, dass  dieselbe  nicht,  wie  manche  in  me- 
thodologischen Fragen  unerfahrene  Schriftsteller 
anzunehmen  scheinen,  in  der  Darstellung 
eines  ziellos  angehäuften  historischen  und  ethno- 
graphischen Materials  und  in  der  Feststellung 
der  Parallelismen,  die  sich  darin  etwa  vor- 
finden, bestehe.  Dies  letztere  ist  keine  In- 
duktion, sondern  „Abstraktion"  in  vorkan- 
tischem  Sinne.  Das  Wesen  der  Induktion 
besteht  in  den,  auf  Grund  einer  möglichst  um- 
fassenden Kenntnis  aller  hiebei  in  Betracht 
kommender  Thatbestände  und  ihrer  sorgfäl- 
tigen Analyse,  vorgenommenen  Schlüssen  (den 
Induktionsschlüssen!).  Die  Induktion  ist  nicht 
der  mechanische  Erkenntnisvorgang,  wie  ihn 
die  obigen  Autoren  sich  denken,  sondern  eine 
Methode,  deren  Anwendung  die  Fähigkeit  zur 
gründlichen  Analyse  der  Erscheinungen  und 
zu  richtigen  —  msofem  es  sich  um  realistische 
Probleme  der  Forschung  handelt  -  -  an  den  That- 
sachen  zu  erprobenden  Schlüssen  zur  Voraus- 
setzung hat  Man  kann,  um  nur  auf  das  neueste 
Beispiel  des  im  übrigen  sehr  verdienstvollen 
Ridgeway  hinzuweisen,  eine  grosse  Menge 
historischen  und  ethnographischen  Materials  zu- 
sammentragen und  doch  (infolge  irriger  Induk- 
tionsschlüsse!)  zu  unhaltbaren  Ergebnissen  ge- 
langen. 


»Naturalwirtschaft  mit  naturalem  Tauseh- 
verkehr« tibergeht.^)  Bevor  diese  Entwicke- 
lung sich  vollzogen  hatte,  sind  die  Menschen 
wohl  unübersehbare  Zeiträume  hindurch  im 
wesentlichen  in  verkehrsloser  Indivichial-, 
Stammes-  und  Familienwirtschaft  der  Befrie- 
digung ihrer  Bedürfnisse  nachgegangen,  bis, 
gefördert  durch  die  Entstehung  des  Privat- 
eigentums, zumal  des  persönlichen  Eigen- 
tums, allmählich  mannigfache  den  eigent- 
lichen Güteraustausch  vorbereitende  Fonneii 
des  Verkehrs  ^)  und  schliesslich  dieser  selbst 
als  Ergebnisse  allgemeiner  Kulturentwicko- 
lung,  zu  Tage  getreten  sind.  Ei-st  hiornü 
war  die  objektive  Grundlage  und  Voraus 
Setzung  für  die  Entstehung  des  Geldes  gc 
g"eben. 

In  der  Periode,  in  welcher  die  mensch 
liehe  Wirtschaft  bereits  zum  naturalen  Oüter 
austausche  vorgedrungen  war,  mussto  siel 
der  Entwickelung  des  Verkehrs  ein  (innei 
halb  der  Verkehrsformen  der  Natural wirl 
Schaft!)  nur  schwer  zu  überwindende 
Hemmnis  entgegenstellen.  In  den  Anfänge 
des  Verkehrs,  wo  die  Erkenntnis  des  ök( 
nomischen  Vorteiles,  welcher  mit  dei 
Tausche  verbunden  ist,  bei  den  wirtscha 
tenden  Subjekten  nur  allmählich  erwarb 
ihre  Zwecke,  wie  dies  der  Einfachheit  alb 
Kulturanfänge  entspricht,  vorerst  nur  ai 
das  Nächstliegende  gerichtet  sind  und  doi: 
gemäss  bei  Tauschgeschäften  auch  nur  d 
Gebrauchswert  der  zu  erwerbenden  Gut 
in  Betracht  kommt,  ist  jedermann  dara 
bedacht,  gegen  die  von  ihm  zu  Markte  '\)  g 
brachten  Güter  lediglich  solche  einzutauschc 
nach  denen  er  einen  unmittelbaren  Bedarf  li 
dagegen  diejenigen  zurückzuweisen ,  dor 
er  entweder  überhaupt  nicht  bedarf  od 
mit  welchen  er  bereits  ausreichend  versoi 
ist.  Es  ist  indes  klar,  dass  imter  solch 
Verhältnissen  die  Zahl  der  thatsächlieli 
Stande  kommenden  Tauschgeschäfte  nur  i) 
sehr  eng  begrenzte  sein  kann.  Wie  seil 
trifft  sich  nämlich  dor  Fall,  dass  für  ieniand 
ein  in  seinem  Besitze  befindliches  Gut  cii 


')  Vgl.  W.  Lexis  Art.  „Geld  wir  tschaft' 
Elsters  „Wörterbuch  der  Volkswirtschaft",  1^ 
I,  S.  805  ff. 

*)  Ueber  die  primitivsten  Erscheinun 
des  Güterverkehrs,  in  der  Form  einer  w 
gehenden  freiwilligen  oder  halbf  reiwilligeu  (i 
freundschaft,  gegenseitigen  Beschenkuiig-,  s 
Teile  wohl  auch  des  Raubes  u.  s.  f.  vgl.  B  ü  c  li 
Die  Entstehung  d.  Volkswirtsch.  1898,  S.  78,  8; 
H.  Schürt z,  Grundr.  einer  Entsteh un^Büe 
d.  Geldes,  1898,  S.  175.  Ein  sehr  charakt< 
tisches  Beispiel  für  die  ältesten,  bei  Voll 
primitiverer  Kultur  heute  noch  zu  beobach 
den  Formen  des  Güterverkehrs  bei  M  o  s  e  s  1, 

■^)  Ich  bezeichne  (in  einer  in  unserer  Wis 
Schaft  gebräuchlich  gewordenen  Weise)  mit 
Ausdrucke  Markt  jeden  Punkt,   in    dein 
Angebot  imd  Nachfrage  begegnen. 


Geld 


63 


geringeren  Gebrauchswert  hat  als  ein  an- 
deres im  Besitze  einer  anderen  Person  be- 
findliches, während  zugleich  für  diese  letz- 
tere gerade  das  umgekehrte  Verhältnis  statt- 
findet? Um  w^ie  viel  seltener  noch  der  Fall, 
dass  diese  beiden  Personen  einander  be- 
gegnen !  Man  denke  auch  an  die  besonderen 
Schwierigkeiten,  welche  sich  dem  unmittel- 
baren Austausehe  von  Gütern  in  denjenigen 
fMlen  entgegenstellen,  wo  Angebot  und 
^Nachfrage  sich  quantitativ  nicht  decken, 
wo  z.  B.  ein  unteilbares  Gut  gegen  ver- 
schiedenartige, im  Besitze  verschiedener 
Personen  befindliche  oder  wohl  gar  gegen 
solche  Güter  ausgetauscht  werden  soll,  wel- 
che nur  an  verschiedenen  Orten  und  in  ver- 
schiedenen Zeitpunkten  oder  nur  von  ver- 
schiedenen Personen  geleistet  werden  können. 
Man  erwäge  nun  gar  die  Schwierigkeiten, 
wel<*he  sich  für  diejenigen  ergaben,  die  dem 
ras(!hen  Verderben  ausgesetzte  Güter  gegen 
solche  umzusetzen  beabsichtigten,  deren  sie 
erst  in  einem  künftigen  Zeitpunkte  benö- 
tigten, oder  schwer  transportable  Güter  ^egen 
solche,  die  sich  auf  einem  entfernten  Markte 
befanden.  Selbst  in  dem  verhältnismässig 
einfachen  und  so  oft  sich  wiederholenden 
Falle,  dass  ein  wii-tschaftendes  Subjekt  A 
eines  Gutes  bedurfte,  welches  B,  dieses 
eines  solchen,  welches  C,  das  letztere  aber 
des  Gutes,  welches  A  zu  Markte  brachte, 
niu.<ste  unter  der  Herrschaft  des  blossen 
Tausclihandels  der  Austausch  der  beti'effen- 
den  Güter  regelmässig  unterbleiben*). 


*)  Die  beiden  Hauptrichtungen  der  dogmen- 
^scbichtlichen  Entwickelung  einer  Theorie  vom 
Ursprünge  des  Geldes  finden  sich  bereits  bei 
Aristoteles  angedeutet.  In  seiner  Politik  (1, 6) 
fuhrt  er  den  Ursprung  des  Geldes  auf  die  aus 
dem  Natural  tausche  sich  ergebenden  Schwierig- 
keiten (mit  besonderer  Hervorhebung  der  aus  dem 
interlokalen  GUterverkehre  entstehenden  Trans- 
portschwierigkeiten) zurück,  während  er  in  der 
>ikom.  Ethik  (V,  8)  den  Ursprung  des  Geldes 
aus  dem  Bedürfnisse  nach  einem  (gerechten) 
Wertmasse  beim  Güteraustausche  zu  erklären 
sucht.  Die  ökonomischen  Schwierigkeiten,  zu 
denen  der  Tauschhandel  führt,  werden,  über 
Aristoteles  hinausgehend,  vom  Juristen  Paulus 
:2.  Jahrb.  n.  Chr.)  dargestellt  (L.  1,  Dig.  XVHI,  1). 
Die  zahlreichen  mittelalterlichen  Kommentatoren 
und  Bearbeiter  des  Aristoteles  bilden  dessen 
Lehren  nur  in  geringem  Masse  aus;  sie  be- 
schränken sich  in  ihrer  Darstellung  zumeist 
darauf,  den  ökonomischen  und  den  ethischen 
Ges^ichtspunkt  des  Aristoteles  in  äusserlicher 
Weise  mit  einander  zu  kombinieren.  Vgl.  Aristo- 
teles, Ethic.  Hb.  X  cum  Averroes  (12.  Jahrh.'t 
comentar.  Lugd.  1542,  p.  72 ;  Aristoteles,  Politik 
Leonard!  Aretini  (1369 — 1444)  traductione. 
Ibid.  p.  187.  So  auch  noch  /ier  Aristoteliker 
N.  Oresmtua  (•}■  1383)  Tract.  de  orig.  et  jure 
monetamm  (Acta  publica  monetaria,  1691,  p.  247), 
indes  bereits  mit  Hervorhebung  der  wesent- 
lichen Schwierigkeiten    des    naturalen    Güter- 


4.  Die  yersehiedene  Gangbarkeit 
(Markt^ngigkeit)  der  Guter.  Diese 
Schwierigkeiten  ^vilrden  (trotz  mancherlei 
Einrichtungen  zur  Erleichterung  des  Ver- 
kehrs, die  bereits  der  natiiralwirtschaftlichen 
Epoche  eigentümlich  sind)  dem  Fortschritte 
des  Güterverkehrs  und  der  beruf  liehen  Arbeits- 
teilung, insbesondere  aber  dem  Fortschritte  zur 
Produktion  von  Gütern  für  den  ungewissen 
Verkauf,  geradezu  unflbersteigliche  Hinder- 
nisse entgegengestellt  haben,  hätte  nicht  in 
der  Natur  der  Dinge  selbst  ein  diese  Hinder- 
nisse beseitigendes  Hilfsmittel  gelegen:  die 
verschiedene  Gangbarkeit  (Marktgängig- 
keit) der  Güter  1). 

Auf   den    Märkten    des    Tauschhandels 


tausches;  in  dieser  Rücksicht  mit  seither  nicht 
übertroff  euer  Vollständigkeit :  G.  B  y  e  1 ,  Tractat. 
de  monetis.  (1490)  ibid.  p.  271.  Die  zahlreichen 
Schriftsteller  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  über 
Geld-  und  Münzwesen  neigen,  in  Verkennung 
der  wahren  Bestimmungsgründe  der  Preisbildung 
(sie  fassen  die  letztere  vielfach  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte einer  mechanischen  Messung  des 
Wertes  der  auszutauschenden  Güter  durch  den 
Wert  des  Geldes  auf),  wieder  dazu,  den  Ursprung 
des  Geldes  vorwiegend  auf  das  Bedürfnis  nach 
einem  Wertmassstabe  zurückzuführen.  Noch 
Boizard  (Traite  des  Monnoyes.  Nouv.  Ed.  1714, 
p.  4 ff]  kombiniert  lediglich  den  ethischen  und 
den  ökonomischen  Gesichtspunkt  des  Aristoteles. 
Die  richtige  Lehre  wieder  bei  J  Law,  Memoire 
sur  l'usage  des  Monnoies  (abgedruckt  bei  For- 
bonnais: Recherches  et  considerations  s.  1.  Fi- 
nances  de  France,  1758,  VI,  193 ff.^;  desselben 
Money  and  trade  considered.  1705.  (Ch.  I,  p.  6.  d. 
edit  17öp)  und  Consid^rat.  s.  1.  numeraire.  1 720. 
(Daire:  Econ.  financ.  du  XVIII.  Siecle.  p.  144  ff.). 
Desgleichen  bei  J.  Harris,  An  Essay  upon 
Money  and  Coins.  1707.  Part.  I.  Ch.  II.  1.  (Over- 
stone's  Collection  of  scarce  and  valnable  tracts 
on  monev,  1856,  p.  368 ff.  und  A.  Smith  (W. 
0.  N.  B.  I,  Ch.  IV,).  R.  Malthus  (Pr.  o.  P.  E. 
1836,  p.  52)  und  J.  B.  Say  (Traite,  I,  Ch.  21 
§  1)  folgen  im  wesentlichen  A.  Smith ;  die  neueren 
deutschen  Bearbeiter  (insbesondere  auch  Rau 
und  Röscher)  diesem  und  J.  G.  Busch,  (Vom 
Geldumlaufe;  1780,  I.  S.  36). 

^)  Die  meisten  Sprachen,  zumal  die  der 
Handelsvölker,  haben  zahlreiche,  vielfach  nuan- 
cierte Ausdrücke,  um  die  Absatzfähigkeit  der 
W^aren  zu  bezeichnen.  Im  Deutschen:  Gang- 
barkeit, Marktgängigkeit,  Absatzfähigkeit  (im 
Mittelhochdeutschen  gank(h)aftich) ;  im  Eng- 
lischen: saleableness,  saleability,  marketable- 
ness;  im  Holländischen,  Dänischen  und 
Schwedischen:  gaugbaarheid,  gangbarheet, 
bezw.  gangbarhet.  Die  Franzosen  sprechen 
von:  marchandises  de  bon  debit,  debitables,  de 
vente  facile;  die  Italiener  von:  merci  di  facile 
spaccio,  und  von  der:  vendibilitä  d'una  merce. 
Im  Lateinischen:  merces  qui  facile,  com- 
mode,  expedite  venduntur;  im  Griechischen: 
ayroyifioi^  =  gangbar.  Diese  Ausdrücke  w^erden 
in  der  geldwirtschaftlichen  Epoche  regelmässig 
im  Sinne  der  Absatzfähigkeit  einer  Ware  gegen 
Geld  umgedeutet. 


64 


Geld 


(wo,  infolge  der  Schwierigkeiten  des  natu- 
ralen Tauschverkehrs,  auf  die  oben  hinge- 
wiesen worden  ist,  selbst  derjenige,  welcher 
mit  Gütern  reichlich  versehen  zu  Markte 
geht,  doch  keineswegs  sicher  ist,  hierfür 
gerade  die  seinem  speciellen  Bedürfnisse 
entsprechenden  Güter  eintauschen  zu  können, 
auch  dann  nicht,  wenn  die  von  ihm  be- 
gehrten Güter  sich  thatsäehlich  auf  dem 
Markte  befinden)  muss  jedermann  die  gerade 
auf  dieser  Entwickelungsstufe  des  Verkehrs 
praktisch  bedeutsame  Beobachtung  machen, 
dass  nach  gewissen  Gütern  nur  eine  wenig 
umfangreiche,  oder  nur  eine  gelegentliche, 
nach  Gütern  anderer  Art  dagegen  eine  all- 
gemeinere und  konstantere  Nachfrage  be- 
steht und  demnach  derjenige,  welcher  Güter 
der  ersteren  Art  zu  Markte  bringt,  um  da- 
gegen Güter  seines  speciellen  Bedarfes  ein- 
zutauschen, aller  Regel  nach  geringere  Aus- 
sicht hat,  diesen  Zweck  zu  erreichen,  als 
derjenige,  welcher  mit  Gütern  der  letzteren 
Art  zu  Markte  geht.  Güter,  nach  denen 
eine  besonders  allgemeine  und  konstante 
Nachfrage  besteht  i),  gewinnen  auf  den 
Märkten  des  Tauschhandels  solcherart  einen 
exceptionellen  Charakter,  den  einer  beson- 
deren Gangbarkeit  (Marktgängigkeit). 

Also  insbesondere: 
1.  Güter,  in  deren  reichlichem  Besitz  sich 
das  Ansehen  und  die  Macht  der  Besitzer 
manifestiert,  Güter,  nach  denen  somit 
eine  dauernde  und,  praktisch  genommen, 
nahezu  unl^egrenzte  Nachfrage  der  tausch- 
ki-äftigsten  Marktgenossen  vorhanden  ist ; 
also  (nach  Massgabe  der  Verschiedenheit 
der  Verhältnisse  und  der  die  Bevölkerung 
eines  Territoriums  beherrschenden  Vor- 


')  Diejenigen  irren,  welche,  im  Gegensatze 
zu  den  ärf abrangen,  die  noch  heute  unter 
analogen  Verhältnissen  zu  Tage  treten,  an- 
nehmen, dass  auf  den  Märkten  des  Tausch- 
handelsgeradedie  Güter  des  allgemeinsten 
Bedürfnisses  und  Gebrauches  schlecht- 
hin die  marktgängigsten  (gangbarsten)  seien, 
oder  ohne  weiteres  annehmen,  dass  gerade 
die  obigen  Güter  Geld  werden  (vgl.  z.  B. 
Kidteway,  a.  a.  0.,  S.  11  und  48).  Auf 
den  Märkten  eines  Nomaden-  oder  eines  primi- 
tiven Ackerbauvolkes,  in  welchem  jeder  selb- 
ständige Volksgenosse  seinen  Eigenbedarf  an 
tierischen  bezw.  an  Bodenprodukten  aller  Regel 
nach  selbst  erzeugt,  sind  diese  Produkte 
(zumal  wenn  noch  keine  Gelegenheit  zur  Ver- 
wertung derselben  auf  dem  Wege  des  Aussen- 
handels  besteht),  obzwar  Gegenstände  des  all- 
gemeinsten Bedürfnisses  und  Gebrauches,  doch 
nichts  weniger  als  besonders  marktgängige 
Güter.  Nicht  schlechthin  die  Güter  des  relativ 
allgemeinsten  Bedürfnisses  und  Gebrauches, 
sondern  diejenigen,  nach  denen  die  umfang- 
reichst« und  konstanteste  Nachfrage  begüterter 
(tauschkräftiger)  Marktgenossen  besteht,  sind 
Güter  dieser  Art.  (Vgl.  meine  Grunds,  d.  V. 
W.L.  1871,  S.  51  ff.,  213  ff.) 


Stellungen)  z.  B.  Vieh,  oder  Vieh  ho 
stimmler  Art,  Sklaven,  auszeichnendo 
Schmuck  (Ringe,  Spangen,  Miischehi  \\m 
Muschelschmuck,  Glasperlen),Eclelmetalk 
zu  denen  vielfach  auch  Kupfer  um 
Kupferlegierungen,  Zinn  u.  s.  f.  gerecli 
net  werden,  Waffen,  übertragbare  Jagd 
und  Siegestrophäen,  Amulette  u.  8. 
Auch  Güter,  welche  mit  Vorliebe  thesai 
riert  werden,  sind  hierher  zu  roc^hnei 

2.  Güter  eines  verbreiteten  imd  konstante 
Bedarfes  und  Gebrauches,  insofern  sie  i 
einem  Territorium  nicht,  oder  nicht  i 
ausreichender  Menge,  erzeugt  werde 
und  infolge  dieses  ümstandes  Gegenstat 
des  Einfuhrhandels  sind, nach  dem 
somit  auf  den  Märkten  des  betreffend< 
Territoriums  eine  umfangreiche  und  ko 
staute  Nachfrage  bestellt ;  z.  B.  in  vioL 
Ländern  Salztafeln,  Ziegelthee,  Ed( 
metalle,  die  gebräuchlichsten  Nutzraeta 
(Kupfer,  Messing,  Blei  und  insbesonde 
Stangen  imd  Drähte  aus  diesen  Metalle 
Muscheln  und  Muschelschmuck,  unl 
Umständen  Getreide,  Reis,  Kakaobohne 
Baumwollzeuge  u.  s.  f. 

3.  Gegenstände  der  Ausfuhr,  welche  i 
den  Märkten  des  naturalen  Tauschhand 
bei  den  die  Ausfuhr  vermittelnden  Ka 
leuten  jeweilig  gegen  verschiedenart 
von  diesen  bereit  gehaltene  Güter  < 
allgemeinen  Bedarfes  oder  Wunsches  a 
getauscht  werden  können  (z.  B.  Tierfe 
Kabeljaus,  Benzoekuchen  u.  s.  f.). 

4.  Für  den  heimischen  Konsum  bestimi 
Landesprodukte,  insofern  sie  Geg 
stände  desallgemeinstenWunsches  und 
darfes  sind,  indes  in  den  Hauswirtschai 
zahlreicher  tauschkräftiger  Marktgenos 
nicht,  oder  nicht  in  ausreichender  Mei 
erzeugt  werden,  nach  denen  (zumal  n 
besonders  bevorzugten  Erzeugnissen) 
mit  eine  umfangreiche  und  konsti 
Naclifrage  besteht  (z.  B.  in  vielen  Läni 
noch  heute  Waffen,  Schmuck,  Baiimxs 
zeuge,  Tierfelle,  Getreide,  Reis,  Ka! 
bohnen). 

Güter  dieser  und  ähnlicher  Art  gewäl 
in  der  Periode  des  Tauschhandels  demjeni, 
der  sie  zu  dem  Zwecke  zu  Markte  bri 
um  sie  gegen  Güter  seines  speciellen 
darfes  auszutauschen,  nicht  nur  den  Toi 
dass  die  Aussicht  desselben,  seinen  Zv 
zu  erreichen,  überhaupt  eine  ungl 
grössere  ist,  als  wenn  er  mit  Güterc 
Markte  geht,  welche  den  Vorzug  der  M< 
gängigkeit  nicht,  oder  doch  in  geringe 
Masse,  aufweisen ;  er  kann  —  da  die  I^ 
frage  nach  den  von  ihm  zu  Markte 
brachten  Gütern  eine  umfangreichere, 
stantere  und  wirksamere  als  nach  Gi 
anderer  Art  ist  —  zugleich  mit  grösi 
Wahrscheinliclikeit  darauf  rechnen,  diese 


Geld 


65 


jeweilig  (in  jedem  voa  ihm  gewählten  Zeit- 
punkte!) zu  ökonomischen  (der  allgemeinen 
JJai'kÜage  entsprechenden)  Preisen  gegen  die 
ihm  speciell  erforderlichen  Güter  abzu- 
setzen*), da  gerade  bei  Gütern  der  obigen 
Art,  der  Natm-  der  Sache  nach,  von  der 
Wilikilr  der  einzelnen  Kontrahenten  in  ge- 
ringerem Masse  beeinflusste  Austauschver- 
hältnisse (in  der  geldwirtschaftlichen  Epoche 
^laufende  Geldpreise« !)  sich  bilden,  als  dies 
bei  Gütern  anderer  Art  der  Fall  ist,  und  sol- 
cherart Zufalls-,  Willkür-  und  Notpreise  mit 
ungleich  grosserer  Wahrscheinlichkeit  als 
bei  Gütern  anderer  Art  ausgeschlossen  sind. 
5.  Die  Entstehung  der  TauschmitteL 
Bei  dieser  Sachlage  lag  filr  jeden  ein- 
zelnen, welcher  Güter  zu  Markte  brachte 
(um  sie  gegen  Güter  seines  speciellen  Bedarfes 
umzusetzen),  der  Gedanke  nahe,  dieselben, 
wenn  sein  Zweck,  wegen  der  geringen  Gang- 
barkeit seiner  Güter,  unmittelbar  nicht 
erreichl>ar  war,  auch  gegen  solche  Güter  aus- 
zut.iuschen,  deren  er  selbst  zwar  nicht  be- 
nötigte, die  indes  beträchtlich  marktgängiger 
als  die  seinen  waren.  Er  erreichte  hier- 
durch das  Endziel  des  von  ihm  beabsich- 
tigten Tauschgeschäftes  (die  Erwerbung  der 
i  h  m  speciell  nötigen  Güter)  allerdings  nicht 
sofort  und  immittelbar.  Er  näherte  sich 
indes  doch  diesem  Ziele.  Er  gewann  auf 
dem  Umwege  eines  vermittelnden 
Tausches  (diu-ch  Hingabe  seiner  minder 
marktgängigen  Waren  gegen  marktgängigere) 
die  Aussicht,  seinen  Endzweck  sicherer  und 
ökonomischer,  als  bei  Beschränkung  auf  den 
direkten  Eintausch,  zu  erreichen.  Dieser 
Fortschritt  der  ökonomischen  Einsichten  ist 
nun  als  Ergebnis  allgemeinen  KultmHFort- 
sehrittes  allenthalben  thatsächlich  zu  Tage 
getreten.  Das  ökonomische  Interesse  der 
einzelnen  Wirtschaftssubjekte  hat  dieselben 
mit  der  fortschreitenden  Erkenntnis  dieses 
ihres  Interesses  —  ohne  Uebereinkunft,  ohne 
legislativen  Zwang,  ja  ohne  jede  Rücksicht- 
nahme auf  das  gemeine  Interesse  —  dazu 
geführt,  in  Verfolgung  ihrer  individuellen 
'wirtschaftlichen  Zwecke  solche  vermittelnde 
Tauschgeschäfte  vorzunehmen.  2) 


^)  Das  hohe  Mass  der  Absatzfähigkeit  einer 
Ware  änesert  sich  nicht  schon  darin,  dass  sie 
überhaupt  —  also  etwa  zu  Notpreisen,  oder 
erst  nach  langem  Zuwarten  —  sondern  dass  sie 
der  Regel  nach  jeweilig  zu  den  der  allge- 
meinen Marktlage  entsprechenden,  also  den 
normalen,  Preisen,  in  der  geldwirtschaftlichen 
Epoche  gegen  Geld,  veränssert  werden  kann. 

')  yg\.  meine  Grunds,  d.  Volkswirtschafts- 
lehre 1871  S.  2öOfF.  —  W.  Röscher:  „Die 
klugem  Wirte  geraten  allmählich  von  selbst 
darauf,  sich  in  der  jeweilig  umlauffähigsten 
Ware  bezahlen  zu  lassen"  (System.  I.  §  116 ;  seit 
d.  10.  Aufl.  1873);  Knies,  Geld  u.  Kredit,  I. 
Abteilung:    Das   Geld,   1873,   S.   67  ff.  —Die 


Mit  der  örtlichen  Ausbreitung  des  Güter- 
verkehi^s  und  mit  der  auf  immer  weitere 
Zeiträume  sich  ausdehnenden  Vorsorge  für 
die  Deckung  des  Güterbedarfs  musste  das 
eigene  ökonomische  Interesse  jeden  einzelnen 
dazu  führen,  auch  darauf  zu  achten,  für  seine 
minder  gangbaren  Güter  insbesondere  solche 
vermittelnde  Waren  einzutauschen,  welche 
(neben  dem  Vorzüge  einer  hohen  lokalen  Markte 
^ängigkeit)  zugleich  weite  örthche  und  zeit- 
Eche  Grenzen  der  Absatzfäliigkeit  aufwiesen, 
oder  Waren,  deren  Kostbai-keit,  leichte  Trans- 
portabilität  und  Konservierungsfähigkeit  dem 
Besitzer  nicht  nur  eine  lokale  und  augen- 
blickliche, sondern  zugleich  eine  räumlich 
und  zeitlich  mögüchst  uneingeschränkte 
Macht  über  alle  übrigen  Mai'ktgüter  sicherten. 

Mit  der  waclisenden  Erkenntnis  des 
obigen  ^wirtschaftlichen  Interesses,  insbe- 
sondere durch  überlieferte  Einsicht  und  die 
Gewohnheit  ökonomischen  Handelns,  sind 
denn  auch  auf  allen  Märkten  die  nach  Mass- 
gabe der  Örtlichen  und  zeitlichen  Verhält- 
nisse marktgängigsten  Waren  zu  solchen 
geworden,  welche  jedermann  im  Austausche 
gegen  seine  eigenen  minder  marktgängigen 
Tauschgüter  anzimehmen,  nicht  nur  das 
ökonomische  Interesse  hatte,  sondern  that^ 
sächlich  bereitwillig  annahm,  die  markt- 
gängigsten aber  deshalb,  weil  nur  diese  im 
Verhältnisse  zu  allen  übrigen  Waren  die 
absatzfähigeren  sind  und  somit  nur  sie  zu 
allgemein  gebräuchlichen  Tauschmitteln 
werden  konnten. 

Die  Geschichte  der  Tauschmittel  aller 
Zeiten  und  Völker  und  die  noch  in  der 
Gegenwart  in  Ländern  primitiver  Kultur  zu 
beobachtenden  Verkehrserscheinungen  be- 
stätigen das  obige  durch  die  ökonomische 
Natur  der  Menschen  und  die  Sachlage,  in 
die  sie  gestellt  sind,  begründete  Entwicke- 
lungsgesetz.  Wir  sehen  allenthalben  die 
nach  Massgabe  Örtlicher  und  zeitlicher  Ver- 
hältnisse marktgängigsten  Güter,  neben  ihrer 
Verwendung  flu*  Nutzzwecke,  zugleich  die 
Funktion  von  allgemein  gebräuchlichen 
Tauschmitteln  übernehmen. 


richtige  Doktrin  bei  E u g.  v.  Philippovich 
Grundriss  der  Pol.Oek.,  3.  Aufl.  1899.  ö.  218  ff. 
—  Die  neuesten  auf  ethnographischer  Grundlage 
unternommenen  Versuche  einer  Lösung  des 
obigen  Problems  gelangen  ebenfalls  zu  dem 
Ergebnisse,  dass  das  Geld  ursprünglich  weder 
durch  ausdrückliche  Uebereinkunft  der  Menschen 
noch  durch  Gesetz  entstanden  sei:  ...  „it  is 
aijparent,  that  tbe  doctrine  of  a  primal  Convention 
with  regard  to  the  use  of  any  one  particular 
article  as  a  medium  of  exchange  is  just  as 
false  as  the  old  belief  in  an  original  Convention 
at  the  first  beginning  of  Langnage  or  Law." 
(W.  Ridgeway,  The  Origm  of  metallic 
Currency  etc.,  1892,  p.  47.)  —  Aehnlich  H. 
Schurtz.  Grundriss  einer  Entstehung  des 
Geldes,  1898,  S.  176. 


HandwÖrterbnch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


66 


Geld 


Von  welch  hoher  Bedeutung  gei-ade  die 
Gewohnheit  für  die  Entstehung  solcher 
allgemein   gebräuchlichen  Tauschmittel   ist, 
liegt   auf    der  Hand.      Der  Austausch   von 
minder  absatzfähigen   Waren  gegen   solche 
von  höherer  Absatzfähigkeit  ist   im   ökono- 
mischen Interesse  jedes  einzelnen  wirtschaf- 
tenden Individuums  gelegen;  die  bereitwil- 
lige Annahme  des  Tauschmittels  setzt  indes 
die  Erkenntnis  dieses  Interesses  seitens  jener 
wirtschaftenden    Subjekte     bereits    voraus, 
welche  ein  ihnen  an  und  für  sich  vielleicht 
gänzlich  unnützes  Gut  im  Austausche  gegen 
ihre  Waren   annehmen   sollen.      Diese   Er- 
kenntnis   entsteht    sicherlich    niemals    bei 
^en  Gliedern  eines  Volkes  gleichzeitig;  es 
wird    vielmehr,   wie    bei    allen   Kulturfort- 
schritten,   zunächst    nur    eine   Anzahl   von 
wirtschaftenden    Subjekten    den    aus    dem 
obigen  Vorgange   für  ihre  Wirtschaft   sich 
ergebenden  Vorteil  erkennen  —  ein  Vorteil, 
der  an  und  für  sich  unabhängig  ist  von  der 
allgemeinen   Anerkennung   eiuer   Ware   als 
Tauschmittel,  weil  immer  und  unter  allen 
Umständen  ein  solcher  Austausch  das  ein- 
zelne   wirtschaftende    Individuum     seinem 
Endziele,  der  Erwerbung  der  ihm  nötigen 
Gebrauchsgüter,  um  eiu  beträchthches  näher 
bringt.     Da  es  nun  aber  bekanntlich  kein 
besseres  Mittel  giebt,   jemanden  über  seine 
ökonomischen    Interessen    aufzuklären,    als 
die   Wahrnehmung    der   ökonomischen   Er- 
folge derjenigen,  welche  die  richtigen  Mittel 
zur   Erreichung    derselben    zu   gebrauchen 
die   Einsicht   und    die  Thatkraft  haben,  so 
ist  auch  klar,  dass  nichts  so  sehr  die  Ent- 
stehung der  Tauschmittel   begünstigt  haben 
mag,  als   die    seitens   der    einsichtsvollsten 
und    tüchtigsten    wirtschaftenden    Subjekte 
zum   eigenen   ökonomischen   Nutzen  durch 
längere  Zeit  geübte  Annahme  eminent  markt- 
gängiger Waren  gegen  alle  anderen.  Solcher- 
art haben  üebung  und  Gewohnheit   sicher- 
lich nicht  wenig  dazu  beigetragen,  dass  die 
jeweilig  marktgängigsten  Waren  zu  allge- 
mein gebräuchlichen  Tauschmitteln,  das  ist 
zu  solchen  Waren  wurden,  welche  nicht  niu* 
von  vielen,    sondern    schliesslich  von   allen 
wirtschaftenden  Individuen    im  Austausche 
gegen   ihre   zu  Markte  gebrachten   (minder 
absiitzfähigen !)  Güter,  und   zwar  von  vorn- 
herein in  der  Absicht  angenommen  wurden, 
dieselben  weiter  zu  vertausclien. 

Zu  allgemein  gebräuchlichen  Tausch- 
mitteln gewordene  Waren  werden  im  wissen- 
schaftlichen Sprachgebrauche  (nicht  schlecht- 
hin im  gemeinen  Lel)en!)  als  Geld  (Vieh- 
geld, Musc'helgeld,  Salzgeld  u.  s.  w.),  rich- 
tiger wohl  als  Warengeld  bezeichnet.^) 

\)  Die  Untersuchung  Über  die  für  die  Be- 
griffsentwickelang  des  Geldes  wichtige  Frage 
nach  dem  Ursprünge  und  dem  wechselnden  Ge- 


Wenn eine  grosse  Anzahl  von  Schriftstellern 
(zumal   von    Geschichtschreibem    und    Ethno- 


brauche  des  Wortes  „Geld"  ist  bisher  eine  sehr 
zurückgebliebene.    Die  Bezeichnung  des  Geldes 
ist  bei  den  meisten  Völkern  erst  der  Mtinzform 
des  Geldes  entlehnt  worden ;  so  das  (dem  nach- 
klassischen   und    poetischen  Wortschatz    angfe- 
hörige)  lateinische  und  das  italienische 
moneta,  das  französische  monnaie,  das  eng- 
lische nioney,  das  spanische  mon^da^  das 
portugiesische    moeda,    das    arabische 
fulus  (Münzen)  u.  s.  f.   —  In  vielen  Sprachen 
hat  sofi^ar  die  (zumeist  pluralische)  Bezeichnung* 
der  gebräuchlichsten  Münzsorten  (Denare,  Pfen- 
nige u.  s.  f.)  die  Bedeutung  von  „Geld"  ge- 
wonnen; z.  B.  das  italienische  danaro.  das 
spanische  dinero(s),   das   portugiesische 
dmheiro,  das  russische  dengi  (=  halbe  Ko- 
peken), das  polnische  pienondze,  das  böh- 
mische  una  slovenische  penize,   das  dä- 
nische penge,  das  schwedische  und  nor- 
wegische   penningar,    das    magyarische 
penz,    das    neugriechische   aanga   (Asper: 
kleine  türkische  Münze).   (Beim  Worte  Pfennig 
ist   nicht   sicher,    ob   die   Bedeutung^   „Münze" 
nicht  die  ältere  ist.)  —  Manche  Völker  haben 
freilich    die   Bezeichnung   des    „Geldes"    schon 
dem  Namen  des  Geldstoffes,  bezw.  demjenigen 
der  zum  Tauschmittel  gewordenen  Ware  ent- 
lehnt :  Das  hebräische  Keseph (Silber),  die  alt- 
griechischen uQYvgtov  (Deminutiv  von  «pyt/pog 
=  kleines  Silber)  und  xQveiov  (Deminutiv  von 
Xifvnoq) ;  die  lateinischen  argentum.  aurum, 
aes ;  das  französische  argent,  selbst  das  lat. 
pecunia  u.  s.  f.  gehören  hierher.  —  Das  deutsche 
und  holländische  Wort  „geld"  (Verbalsub- 
stantiv von  „gelten"  =  zahlen,  eine  Gegengabe, 
oder  einen  Ersatz  leisten)  bedeutet  ursprüng- 
lich :  Leistung,  Vergeltung  jeder  Art.  (Gotisch : 
gild  =  Steuer,  Zins,  Abgabe;  altenglisch:  gild 
=  Ersatz,  Opfer ;  altnordisch :  gjald  —  Zalilung, 
Abgabe  n.  s.  f.)     Im   heutigen   Sinne   erst   im 
Mittelhochdeutschen   und  entsprechend  in   ein- 
zelnen anderen  germanischen  Mundarten.  (Nach 
Arnolds:    Zur  Geschichte  des  Eigentums  in 
den  deutschen  Städten,  S.  89.  —  schon  in  einer 
Urkunde  von  1327.)    Dieser  Sprachgfebrauch  hat 
insbes.  s.  d.  16.  Jahrhundert  (mit  dem  fortschreiten- 
den Durchbruche  der  Geld  Wirtschaft)  im  Deut- 
schen die  Oberhand  gewonnen  und  den  älteren  all- 
mählich nahezu  vollständig  verdrängt.    Die  ur- 
sprüngliche   naturalwirtschaftliche    Bedeutung 
des  Wortes  (=  Leistung,   Entgelt  überhaupt) 
ist  (ähnlich  wie  dies  bei  den  Worten  „Brücken- 
geld", „Dienstgeld",  „Strafgeld"  u.  s.  f.  der  Fall 
war)  in  die  neuere  geld  wirtschaftliche  („die  in  Geld 

—  im  heutigen  Sinne  —  bestehende  Leistung", 
bezw.    das   „Geld"   schlechthin)   übergegangen. 

—  Die  Meinung  Roschers,  (System,  L  §  116, 
N.  4),  dass  „Geld"  von  „gelten"  stamme  (weil  es 
tiberall  gilt),  ist  eine  irrige.  (Vgl.  schon  meine 
Grunds,  d.  V.L.  1871,  S.  263  ff.)  Interessant  ist  die 
Bemerkung  Tileman  Friesens  (Münzspiegel,  lö92, 
in  „Acta  publica  monetaria".  1692.  p.  3):  „Daher 
auch  die  Müntze  wird  Geld  genannt,  ab  effectu, 
dass  man  damit  geldet  und  kauffet.  An  etlichen 
Orten  wird  die  Müntze  auch  Hellerchen,  species 
pro  genere,  genannt,  d essgleichen  das  Wort 
Pfennige  vor  Geld  gebrauchet." 


I 


Geld 


67 


fraphen)  diejenigen  Güter,  welche  schon  vor  der 
n^tebung^  allgemein  gebräuchlicher  Tausch- 
mittel  zu  Thesaurierungszwecken  verwendet,  oder 
in  denen  Vermögensbussen  u.  s.  f.  festgestellt,  ins- 
besondere aber  auch  Güter,  in  denen  „Schätzungen'' 
vorgenommen  wurden,  als  „Geld"  bezeichnet, 
90  beruht  dies  auf  einer  unklaren  Auffassung 
aber  das  Wesen   des  Geldes.     Sicherlich  sind 
schon  vor  der  Entstehung  von  Tauschmitteln, 
ja  vor  der  Entwickelung  des  naturalen  Tausch- 
verkehrs, besonders  nützliche,  seltene  und  zu- 
gleich dauerhafte  Güter  in  den  einzelnen  Wirt- 
schaften angesammelt  (in  diesem  Sinne  thesau- 
riert),    sicherlich   auch   einseitige    Vermögens- 
leistnngen  (Zehnten,  Grundabgaben,  Vermögens- 
bussen,  Tribute  u.  s.  f.)  in   bestimmten   (den 
ortlich   gebräuchlichsten  und   dem   Empfänger 
er wüns'ih testen!)    Gütern    festgesetzt    und  ge- 
leistet worden;  ebenso  hat  sich  ohne  Zweifel 
bereits  vor  der  Entstehung  von  Tauschmitteln 
das    Bedürfnis    der   Wirtschaftssnbiekte    nach 
einer  Bestimmung  der  Grösse  des  Vermögens- 
besitzes, der  periodisch  wiederkehrenden  natu- 
ralen Zuflüsse  u.  8.  f.  geltend  gemacht,  ein  Be- 
dürfnis, dem  durch  Feststellung  der  für  die  Be- 
urteilung der  Vermögensverhältnisse   der  be- 
treffenden Personen  besonders  kennzeichnenden 
Güter  (durch  die  ziffermässige  Feststellung  der 
in  ihrem  Besitze  befindlichen  Viehstücke,  Land- 
güter, Sklaven  u.  s.  f.),  wohl  auch  durch  eine 
Schätzung  der  Güter  in  den  gebräuchlichsten 
Gütern    des    naturalen    Tauschverkehrs,    ent- 
sprochen wurde.    Die  Bezeichnung  der  obigen 
Güter  als  Geld  im  heutigen  Verstände  des  Wortes 
(als  Geld  in  einer  Epoche,  in  der  es  noch  keinen 
nennenswerten  Austausch  von  Gütern,  geschweige 
denn  Tauschmittel  gab)  ist  indes  unrichtig. 

Die  Institution  der  Tauschmittel,  im 
eminentesten  Sinne  des  Wortes  dem  Ge- 
meinwohle dienend,  kann,  wie  ich  später 
ausführen  werde,  gleich  anderen  sozialen 
Institutionen,  auch  durch  autoritative  (durch 
staatliche,  religiöse  u.  s.  f.)  Einflüsse,  ins- 
besondere auch  auf  legislativem  Wege  eiit- 
stehen  oder  in  ihrer  automatischen  Ent- 
'wickelung  gefördert  werden.  Diese  Ent- 
stehungsweise der  Tauschmittel  ist  indes 
weder  die  einzige  noch  auch  die  lu^prüng- 
lichste.  Es  liegt  hier  vielmehr  ein  ähnliches 
Verhältnis  vor,  wie  das  des  Gesetzesrechtes 
zimi  Gewohnheitsrechte:  Die  Tauschmittel 
sind  ursprünglich  nicht  durch  Gesetz  oder 
Konvention,  sondern  durch  »Gewohnheit«', 
«las  ist  durch  ein  gleichartiges,  weil  gleich- 
artigen subjektiven  Antrieben  und  Intelligenz- 
fortschritten entsprechendes  Handeln  gesell- 
whaftlich  zusanunenlebender  Individuen  (als 
das  unreflektierte  Ergebnis  specifisch-indivi- 
dueller  Besti-ebungen  der  Gesellschaftsglieder) 
entstanden  und  sclüiesslich  d\u:ch  fortschrei- 
tende Nachahmung  allgemein  gebräuchlich 
geworden.!) 


')  Ridgeway  sucht,  wie  dies  dem  wesent- 
lich metrologischen  Inhalte  seines  verdienstvollen 
Werkes  entspricht,  den  Ursprung  der  Münz- 
und  Gewichtssysteme  zu  erklären,  wobei 


6.  Die  Stellung  der  Tauschmittel  im 
Verkehre  (ihre  Eig:enart  im  Kreise  der 
übrigen  Güter).  Die  jeweilig  absatzfähigsten 
Grüter  (mit  den  Fortschritten  der  wii-tschaft- 
lichen  Kultiu*:  die  durch  ihre  weiten  quan- 
titativen, personalen,  örthchen  und  zeitlichen 
Grenzen  der  Absatzfähigkeit  sich  besonders 
auszeichnenden  Edelmetalle)  sind  zu  allgemein 
gebräuchlichen  Tausehmitteln  geworden  — 
zu  Gütern,  gegen  welche  jedermann,  der 
Güter  anderer  Art  zu  Markte  brachte,  diese 
letzteren  zunächst  umzusetzen,  und  die 
jeder,  der  andere  auf  dem  Maiite  befind- 
liche Güter  erwerben  wollte,  sich  zunächst 
zu  verschaffen,  ein  ökonomisches  Interesse 
hatte.  Die  edlen  Metalle  sind  infolge  der 
fortschreitenden  Erkenntnis  dieses  für  jeden 
einzelnen  vorhandenen  ökonomischen  Inte- 
resses —  infolge  allgemeinen  Kidturfort- 
schrittes, zu  dem  sich  Gewohnheit  und 
Nachahmung,  sowie  staatliche  Förderungs- 
mittel dieser  Entwickelung  gesellten  — 
zum  Gelde  aller  Völker  von  fortgeschrittener 
wirtschaftlicher  Kultur  geworden. 

Diese  Thatsache  hatte  allerorten  die  not- 
wendige Wirkung,  dass  die  schon  ursprimg- 
lich  relativ  hohe  Marktgängigkeit  der  Eclel- 
metaJle  an  und  für  sich  und  im  Verhältnisse 
zu  derjenigen  aller  übrigen  Marktgüter  noch 
wesentlich  gesteigert  wurde.  Wer  mit  einer 
Ware  zu  Markte  geht,  welche  zum  allgemein 
gebräuchlichen  Tauschmittel  geworden  ist, 
hat  nunmehr,  nicht  nur,  wie  schon  früher, 
eine  relativ  grosse  Wahrscheinüchkeit,  son- 
dern fortan  die  Gewissheit,  seinem  Besitze 
an  dieser  Ware  entsprechende  Quantitäten 
aller  übrigen  auf  dem  Markte  befindlichen 
Güter  nach  seinem  Belieben  und  seiner 
Wahl  zu  relativ  ökonomischen  Preisen  je- 
weilig erwerben  zu  können.  »Pecuniam 
habens  habet  omnem  rem,  quam  vult  habere«  i). 
Wer  dagegen  andere  Waren  zu  Markte 
bringt,  befindet  sich  nunmehr  aller  Regel 
nach   in  einer  noch  ungünstigeren  I^age  als 


für  ihn  nahezu  ausschliesslich  die  Funktion  des 
Geldes  als  Wertmassstab  (welche  er  offenbar 
für  die  primäre  hält)  in  Betracht  kommt.  Das 
Problem  des  Ursprungs  des  Geldes  als  Tausch- 
mittel behandelt  er  nur  gelegentlich  und  in 
einigen  ganz  allgemeinen  Sätzen  (a.  a.  0.,  S.  11 
u.  48).  Vgl.  hierzu  die  seltsamen  Ausführungen 
von  Lotz  i.  d.  Jahrbüchern  f.  Nat.-Oek.  u.  Stat, 
1894,  III.  Folge,  7.  Bd.,  S.  337  ff. 

^)  Schon  Aristoteles  sagt  (Nik.  Ethik,  V., 
8) :  „Für  Geld  muss  man,  was  man  braucht,  erhal- 
ten können.  **  Der  ältere  deutsche  Sprich wörter- 
schatz  ist  unerschöpflich  in  Ausdrücken  über 
die  Vorzüge  des  Geldes  vor  anderen  Waren : 
Bargelt  ist  gute  Waare;  rede  penge  es  beste 
wäre;  baares  gelt  ist  lachender  Kaut;  haar  gelt 
dingt  (kauft)  wolfeü;  haar  geld  macht  ange- 
nehmen markt;  haar  gelt  ist  die  (beste)  losung; 
haar  gelt  dingt  genaw.  (K.  F.  Wand  er 
Deutsches  Sprichwörter-Lexikon  I,  Sp.  1472.) 


/ 


68 


Geld 


vorher,  falls  er  dieselben  unmittelbar 
gegen  die  Güter  seines  speeiellen  Bedarfes 
austauschen  will.  Er  stösst  auf  den  Märk- 
ten bereits  auf  die  Gewohnheit,  sich  des 
Tauschmittels  zu  bedienen,  wodurch  ein  un- 
mittelbarer Austausch  von  Gütern  fortan  mehr 
und  mehr  erschwert,  schliesslich  aller  Regel 
nach  nahezu  unmöglich  wird,  zumal  auch 
manche  der  Epoche  des  naturalen  Austau- 
sches eigentümliche  Vorkelirungen  zur  Er- 
leichterung des  naturalen  Güteraustausches  ^) 
mit  dem  Entstehen  eines  allgemein  gebräuch- 
lichen Tauschmittels  mehr  und  mehr  ver- 
schwinden. Der  Umstand,  dass  eine  Ware 
zum  allgemein  gebräuchlichen  Tauschmittel 
wird,  steigert  somit  in  hohem  Masse  die 
schon  ursprünglich  grosse  Marktgängigkeit 
derselben,  während  derselbe  Umstand,  — 
die  Entstehung  und  Verallgemeinerung  des 
Gebrauches  von  Tauschmitteln  —  mehr  und 
melu'  die  der  Epoche  des  naturalen  Aus- 
tausches eigentümliche  Marktgängigkeit  der 
übrigen  Güter  —  die  Möglichkeit  ihres 
unmittelbaren  Umsatzes  —  mindert, 
um  dieselbe  in  der  Folge,  (bei  fortsclireiten- 
der  Entwdckelung  der  Geldwirtschaft!)  im 
wesentlichen  nahezu  vollständig  aufzuheben.^) 
Der  Umstand,  dass  die  relativ  markt- 
gängigsten Waren  auf  den  Märkten  des 
Tauschlfiindels  zu  allgemein  gebräuchlichen 
Tauschmitteln  werden ,  bewirkt  demnacli 
eine  gesteigerte  Differenzierung 
zwischen  der  Marktgängigkeit  der- 
selben und  derjenigen  aller  übri- 
gen Waren,  ein  Unterschied,  welcher 
nicht  mehr  lediglich  als  ein  gradueller,  son- 
dern in  gewissem  SiRne  bereits  als  ein 
essentieller  bezeichnet  zu  werden  vermag. 
Wer  in  einem  Volke,  in  welchem  bestimmte 
Güter  zu  Tauschmitteln  geworden  sind  und 
sich  im  allgemeinen  Gebrauche  befestigt 
haben,  zu  Markte  geht,  um  seine  Güter 
gegen  andere  umzusetzen ,  hat  nunmehr, 
will  er  diesen  Zweck  erreichen,  nicht  nur 
das  ökonomische  Interesse,  er  ist  fortan 
aller  Regel  nach  genötigt,  sie  zunächst  gegen 
Geld  zu  veräussern,  und  wer  auf  dem 
Mai'kte  Güter  erwerben  will,  befindet-  sich 
in  der  Zwangslage,  sich  vorher  »Geld«  zu 
verschaffen.  Hier  (in  seiner  eigenartigen 
Tauschmittelfunktion!)  lie^  die  ex- 
ceptionelle  Stellung  des  Geldes  wo.  Kreise 
der  Güter,  die  Eigenart,  welche  dasselbe 
von  allen  übrigen  Objekten  des  Verkehrs 
imterscheidet,  —  eine  Eigenart,  welche  wii* 
uns  am  klarsten  zum  Bewusstsein  zu  bringen 
vermögen,  indem  wir  uns  vergegenwärtigen, 
dass   auf  unseren  Märkten   der  Regel  nach 


*)  Vgl.  Bücher,  a.  a.  0.  S.  97 ff. 

*)  Die  zurücktretende  Bedeutung  des 
Tausches  hervorgehoben  bei  Dernburg,  Pan- 
dekten, §§  94  u.  103. 


alle  Verkehrsobjekte  gegen  Geld  veränssert 
oder  gegen  Geld  erstanden  werden,  nur  das 
(Wälirungs-)  Geld  weder  ein  Objekt  des 
Kaufes  noch  des  Vorkaufes  ist.^) 

Was  in  der  Theorie  als  imterscheidende 
Merkmale  des  Geldes  und  der  übrigen  Ol)- 
jekte  des  Verkehrs  angefühi-t  zu  werdcM: 
pflegt,  ist  zumeist  mir  eine  Hervorhebunii 
einzelner,  mehr  oder  minder  unwesentliche] 
Seiten  oder  Begleiterscheinungen  diesei 
Tauschmittelfunktion. 

Es  ist  richtig,  dass  in  der  geldwirtschaft 
liehen  Epoche  jeder  seine  Waren  gegen  Gel( 
zu  veräussern  sucht  und  zwar,  der  Rege 
nach,  nicht  mn  das  letztere  zu  behaltei 
sondern  um  dagegen  Güter  seines  Bedarfe 
zu  erwerben ;  es  ist  ebenso  richtig,  dass  \vi 
das  Geld,  der  Regel  nach,  nicht  wegen  de 
nützlichen  Eigenschaften  des  Geiclstoffei 
sondern,  zum  mindesten  zunächst  und  ui 
mittelbar,  um  seines  Verkehrs  wertes  wille 
gegen  die  von  uns  zu  Markte  gebrachte 
Güter  zu  erwerben  suchen ;  es  ist,  wie  raa 
hinzufügen  könnte,  nicht  minder  richti 
dass  deijenige,  welcher  Geld  gegen  Gut« 
seines  Bedarfs  hingiebt,  dies  zumeist  in  di 
sicheren  Voraussicht  thut,  demnächst  geg( 
Güter  seines  Uebei^flusses  Geld  wieder  z 
rückzuerwerben.  All  dies  sind  indes  do< 
nur  besondere  Seiten  der  Tauschmitteliun 
tion  des  Geldes,  oder  Begleiterscheinung 
derselben,  die  uns  indes  über  das  Wes 
des  Geldes  und  die  Ursachen  seiner  eigo 
artigen  Stellung  im  Kreise  der  Güter  i 
Unklaren  lassen.  Ja  sie  treffen  nicht  oi 
mal  das  wesentliche  Merkmal,  welcli 
das  Geld  von  den  übrigen  Waren  unt< 
scheidet,  denn  auch  der  Kaufmann,  insl 
sondere  aber  der  Spekiüant.  erworben  ( 
Waren  nicht,  um  sie  zu  behalten,  auch  ni( 
in  unmittelbarem  Hinblick  auf  deren  nü 
liehe  Eigenschaften,  sondern  um  sie  wio< 
zu  veräussern  und  um  ihres  Verkehrswor 
^isdllen,  und  auch  sie  veräussern  ilire  Wai 
in  sehr  zahlreichen  Fällen,  der  Kaufniü 
sogar  regelmässig,  in  der  sicheren  A^ora 
sieht,  Waren  gleicher  Art  demnächst  wie' 
zu  erwerben. 

Selbst  der  von  einigen  hervoiTa^enc 
neueren  Geldtheoretikern  als  unterscheid 
des  Merkmal  des  Geldes  und  der  übri| 
Verkehrsobjekte  bezeichnete  Umstand :  »tl 
eine  Ware,  um  ihre  Bestimmung  zu 
füllen,  d.  h.  um  gebraucht  oder  um  ^ 
braucht  zu  werden«,  vom  Markte  v 
schwinden  müsse,  das  »Geld«  aber  s( 
Dienste  leiste,  indem  es  ausgegeben  w^c 
und  auf  dem  Markte  bleibe-),  triät  n 

/)  Den  Versuch  einer  Theorie   der  Abs 
fähigkeit  der  Güter  habe  ich  in  Edsrewo 
j,Economic  Journal",  Vol.  II.,  1892,  p.  243  flf. 
öifentlicht. 

*)  S.  Na8se(-Lexi8)  in  Schönberg-s    H 


Geld 


69 


das  wesentliche  unterscheidende  Merkmal 
des  Geldes,  sondern  nur  eine  Begleiterschei- 
nung, und  zwar  eine  unwesentliche  Begleit- 
erscheinung, seiner  Tauschmittelfunktion. 
Es  giebt  ausser  dem  Gelde  Objekte  des 
Verkehrs,  z.  B.  gewisse  Spekulationspapiere, 
die,  gleichsam  als  eiserner  Bestand  der 
Spekulation,  dauernd  auf  dem  Markte  blei- 
ben ^),  während  umgekehrt  auch  edle  Metalle, 
welche  als  Geld  funktionieren,  gleichwohl 
in  den  Konsum  gelangen  können  und  ge- 
langen, somit  vom  Markte  thatsächlich  ver- 
schwinden. Dies  ^ilt  schon  für  unseren 
entwickelten  geldwirtschjiftlichen  Verkehr. 
Nun  vergegenwärtige  man  sich  aber  die 
Marktverhältnisse  derjenigen  Völker,  bei 
denen  noch  minder  entwickelte  Formen  von 
Tauschmitteln  bestehen,  bei  welchen  die 
dem  Tauschmittelzwecke  gewidmeten  Teil- 
quantitäten einer  Ware  von  denjenigen,  die 
dem  Konsimie  zu  dienen  bestimmt  sind, 
(selbst  äusserhch!)  noch  nicht  streng  ge- 
schieden sind  und  die  für  den  Tauschzweck 
bestimmt en  Güter  (Rinder,  Sklaven,  Schmuck- 
gegenstände u.  s.  f.)  inzwischen  thatsächlich 
genutzt,  oder  Güter  (Theeziegel,  Salz,  Kakao- 
bohnen u.  s.  f. !),  die  in  der  Hand  des  einen 
Marktgenossen  gestern  noch  Tauschmittel 
waren,  in  der  Hand  eines  anderen,  ja  des 
nämlichen  ^lai'ktgenossen,  heute  Konsumgüter 
sind!  Die  obige  Auffassung  ist  zugleich 
eine  unhistorische  2). 


buch  d.  Pol.  Oek.  I.,  1896,  S.  328;  vgl.  auch 
Schaf fle.  Für  internationale  Doppelwährung 
1881.  S.  22 ff.  und  R.  Hildebrand,  Theorie 
des  Geldes  S.  6  ff. 

')  Im  Effekten-Clearing,  wie  er  neuerdings 
an  einzelnen  Börsen  eingeführt  wurde,  kann  es 
vorkommen,  daäs  bestimmte  Quantitäten  von 
Effekten,  obzwar  sie  unablässig  den  Eigentümer 
wechseln,  doch  Dec«nnien  lang  in  den  Depots 
der  Clearing- Anstalten  verbleiben,  ohne  vom 
Anlage  suchenden  Publikum  aufgenommen  zu 
werden. 

*)  Es  liegt  bereits  im  Begriffe  eines  Tausch- 
mittels, ist  demnach  selbstverständlich,  dass  es 
der  Regel  nach  auf  dem  Markte  verbleibt,  die 
Tauschobjekte  (im  Gegensatze  zum  Tauschmittel) 
^ag^ß^  der  Regel  nach  sich  nur  vorübergehend 
auf  dem  Markte  befinden.  Es  ist  indes  durch- 
aufi  willkürlich,  hieraus  zu  folgern,  dass  das 
Geld  keine  Ware  sei.  "Viel  näher  läge  der 
Gedanke  (unter  dem  Gesichtspunkte  ökonomi- 
scher Betrachtung),  hieraus  den  Schluss  zu 
ziehen,  dass  das  Geld  dauernd,  die  übrigen 
Güter  nur  vorübergehend  den  Charakter 
Ton  Waren  haben  und  dass  das  Geld  schon 
als  eine  den  Güteraustausch  vermittelnde  Ware 
(schon  auf  dem  Markte!)  eine  wichtifi^e  volks- 
wirtschaftliche Funktion  versieht,  während  die 
übrigen  Waren  den  ihrer  Natur  entsprechenden 
Nutzen  rege^ässig  erst  dann  gewähren,  wenn 
sie  in  den  Gebrauch  übergehen,  also  aufhören, 
«Ware"  zu  sein. 


Was  das  Geld  von  allen  übrigen  Ob- 
jekten des  Güterverkehrs  unterscheidet,  sind 
dessen  Tauschmittelfunktion  und  die  Kon- 
sekutivfunktionen desselben;  was  uns  diese 
Eigenart  verständlich  macht,  sind  die  der 
Entwickelung  des  Güteraustausches  vor  Ent- 
stehung des  Geldes  entgegenstehenden  Hin- 
dernisse (s.  0.  S.  62;  63)  und  die  Beseitigimg 
derselben  durch  die  ursprünglich  relativ  hohe, 
schliesslich  nahezu  absolute  Absatzfähigkeit 
der  Tauschmittel  in  Rücksicht  auf  die  Markt- 
güter. 

Hier  in  diesem  praktisch  überaus  be- 
deutsamen Umstände  liegt  nicht  nur  das 
Wesen,  sondern  zugleich  die  Erklänmg  des 
Unterschiedes  zwischen  dem  Gelde  und 
allen  übrigen  Objekten  des  Güterverkehrs, 
der  Eigenart  des  Geldes  im  Kreise  der 
übrigen  Güter.  * 

7.  Die  Unterscheidung  zwischen 
„Geld"  und  „Ware"  in  der  Jurisprudenz. 
Diese  das  Geld  von  allen  übrigen  Verkehrs- 
objekten unterscheidende  Eigenart  (insbe- 
sondere die  an  sich  ausserordentlich  grosse, 
dm-ch  die  Ausmünzung  der  Geldmetalle,  in 
der  Folge  äxmih  Rechtsfiktionen,  welche  der 
Erleichterung  des  Verkehrs  dienen^),  noch 
wesentlich  gesteigerte  Vertretbarkeit 
des  Geldes,  sowie  seine  Bestimmung  als 
Tauschmittel  und  mit  möglichst  geringer 
Behinderung  des  Verkehrs  aus  einer  Hand 
in  die  andere  überzugehen  —  zu  cirku- 
lieren)  hat  sich  auch  im  bürgerlichen  Ver- 
kehre und  demgemäss  auch  im  bürgerlichen 
Rechte  in  augenfälliger  Weise  geltend  gemacht. 
Die  Erwerbung  und  die  Uebertragung  des 
Besitzes,  des  Eigentums  luid  der  zeitlichen 
Nutzung  von  Geldsummen,  die  Begründung 
und  Aufhebung  von  Geldfordenmgen  u.  s.  f. 
sind  vielfach  andere  als  diejenigen,  deren 
Objekte  Güter  anderer  Art  sind:  beispiels- 
weise die  rechtliche  Regelung  des  Kaufs 
(der  emptio-venditio)  eine  andere  als  die 
des  Tausches  (der  permutatio),  die  des  Dar- 
lehens (des  mutuum)  eine  andere  als  die 
der  Leihe  (des  commodatum)  u.  s.  f.  Es 
ist  keine  legislative  Willkürlidikeit,  sondern 
eine  Folge  der  Eigenart  des  Geldes  im 
Kreise  der  übrigen  Verkehrsobjekte,  dass 
die  Jurisprudenz  zwischen  dem  Preise 
(pretium)  und  .  dem  Kaufobjekte  (merx), 
zwischen  Kauf  und  Tausch,  zwischen  Dar- 
lehen und  Sachmiete  u.  s.  f.,  also  zwischen 
Geld   und    »Ware«    (im   engem,    das   Geld 


^)  Durch  die  Bestimmungen  über  die  Re- 
medien  in  Bezug  auf  Feinheit  und  Gewicht 
werden  die  Wirkungen  der  technischen  Mängel 
der  Ausmünzung,  durch  die  Bestimmungen  über 
das  Passiergewicht,  die  Wirkungen  der  Ab- 
nützung der  Münzen,  in  Rücksicht  aaf  den 
Zahlungszweck  (innerhalb  bestimmter  Grenzen) 
rechtlich  beseitigt. 


70 


Geld 


ausschliessenden  Sinne)  unterscheidet*)  nnd 
zum  Teile  verschiedene  Rechtsfolgen  an 
Rechtshandlungen  knüpft,  je  naclidem  sie 
einen  Geldbetrag  oder  Veikehrsobjekte  an- 
derer Art  zum  Gegenstande  haben.^) 

8.  Der  Streit  der  Wirtschaftstheore- 
tiker über  die  Frage,  ob  das  Geld  eine 
„Ware"  sei.  Die  Eigenart  des  Geldes,  die 
augenfällige  Besonderheit  seiner  Stellung  im 
Kreise  aller  übrigen  Objekte  des  Verkehrs, 
hat  seit  jeher  auch  die  Aufmerksamkeit  der 
Geldtheoretiker  in  besonderem  Masse  auf 
sich  gezogen.  Der  Umstand,  dass  das  Geld 
nicht  wegen  des  Nutzens,  den  es  uns  durch 
seine  Eigenschaften  bietet,  sondern  aller 
Regel  nach  (zum  mindesten  zunächst  und 
unmittelbar !)  nur  wegen  seines  Tauschwertes 
im  Verkehre  gesucht  und  angenommen 
wird,  —  die  Schwierigkeit  einer  beiriediggen- 
den  Erklärung  dieser  Tliatsaciie  — ,  hat  die 
Geldtheoretiker  vielfach  dazu  verleitet,  in 
dem  Gelde  eine  Anomalie  der  Volks- 
wirtschaft zu  erkennen.  Die  gerade  beim 
Gelde  zu  beobachtende  Möglichkeit  einer 
willkiirlichen  Regelung  seines  Verkehrs- 
werteö  durch  den  Staat,  auch  die  vielfach 
missverstandene  Erscheinung  der  ihrem 
Stoffe  nach  wertlosen  Geldsiurogate,  haben 
den  obigen  Irrtum  noch  wesentlich  geför- 

*)  üt  aliud  est  vendere  aliud  emere,  alius 
emptor  alius  venditor:  sie  aliud  est  pretium, 
aliud  est  merx,  quod  in  permutatione  discerni 
non  potest,  uter  emptor,  uter  venditor  sit  (L.  1 
Dig,  XVIII,  1).  Vgl.  Windscheid,  Pan- 
dektenrecht II,  §  385.  Aehnlich  die  neueren 
Juristen:  „Das  Metallgeld,  als  das  allgemeine 
Tauschgut  und  Zahlungsmittel,  bildet  den 
Gegensatz  zu  dem  speciellen  Tausch-  und 
Leistungsobjekt.  Auf  der  Erkenntnis  dieses 
Gegensatzes  beruht  die  Unterscheidung  des 
Kaufes  vom  Tausch,  des  Geldpreises 
(pretium)  und  der  Ware  (merx)  (Gold- 
schmidt,  Handelsrecht  I,  §  103;  H.  Dern- 
burg,  Pandekten,  §  103).  —  Nur  dort,  wo  Geld 
ausnahmsweise  thatsächlich  die  Bestimmung  er- 
hält, gegen  Geld  veräussert  zu  werden,  wo 
konkrete  Geldstücke  (species)  für  den  berufsmässig 
betriebenen  Verkauf  bereit  gehalten  werden,  ver- 
mögen dieselben  den  Charakter  von  Waren  im 
Sopulären,  nur  dort,  wo  dieselben  Objekte 
es  -Kaufvertrages  werden,  den  Charakter  von 
Waren  im  juristischen  Sinne  zu  gewinnen. 
'^)  Der  Eigentumserwerb  '  fremden  Geldes 
findet  aller  Regel  nach  durch  Vermischimg  mit 
dem  eigenen  statt  (H.  Dernburg,  Pandekten, 
I,  §  210;  Windscheid,  Pandekt.  II,  §  189); 
die  Vindikation  von  Geld  ist  vielfach  ausge- 
schlossen (Krainz,  Syst.  d.  öst.  Privatr. 
1894,  §  364,  S.  19),  die  Grundsätze  des  pericu- 
lum  und  des  commodum  finden  beim  Kaufe 
vielfach  auf  den  Geldpreis  keine  Anwendung; 
die  dem  Schuldner  vom  Gläubiger  (ökonomisch!) 
nur  zur  zeitlich  begrenzten  Nutzung  tiber- 
gegebenen Geldsummen  gehen  (im  (jcffensatze 
zu  den  Objekten  der  Sachmiete)  rechtlich  in  das 
Eigentum  des  Schuldners  über  u.  s.  f. 


dert  und  zahlreiche  Bearbeiter  der  Gekl- 
lehre  veranlasst,  das  Geld  geradezu  als  ein 
blosses  Zeichen  des  Wertes,  als  ein  blosses 
Pfand  der  erwarteten  Gegenleistung,  als 
etwas  an  sich  wertloses  (eine  blosse  Ver- 
kehrsmarke!) zu  bezeichnen,  deren  fak- 
tischer Tauschwert  lediglich  auf  die  üeber- 
einkunft  der  Menschen,  auf  Konvenionz 
oder  auf  staatliche  Anordnung  ziu^ckzu- 
führen  sei. 

Die  Opposition  gegen  diese  weitver- 
breitete, auch  für  cüe  Müuzpolitik  vielei 
Staaten  verderblich  gewordene  IiTlehre  fand 
in  dem  Satze  den  Ausdnick,  dass  da? 
Geld  eine  Ware  sei.  Dieser  Satz  hatte 
demnach  ursprünglich  einen  wesentlid 
anderen  Sinn  als  denjenigen,  welcher  dem 
selben  in  der  nationalökonomischen  Tlieori^ 
späterhin,  vielfach  noch  gegenwärtig,  beige 
legt  wird.  Die  saclikimdigen  Gegner  de 
obigen  Irrlehre  wollten  mit  diesem  Satz« 
nicht  etwa  den  flachen  Gedanken  aus 
sprechen,  dass  das  Geld  »ein  zum  Austauscl 
bestimmtes  Gut«  (eine  Ware  in  diesen 
Sinne!)  sei.  Ebenso  fern  lag  es  ihnen  in 
des  auch,  zu  leugnen,  dass  das  Geld,  ir 
Verhältnisse  zu  den  übrigen  Objekten  de 
Verkehrs,  bedeutsame  Besonderheiten  aui 
weise,  wohl  gar  zu  behaupten,  dass  da 
Geld  »eine  Ware  gleich  allen  anderen,  nichl 
mehr  und  nichts  weniger  als  eine  Wai 
sei«.  Es  sollte  durch  den  für  die  Geldlehi 
so  wichtig  gewordenen  Satz  lediglich  di 
oben  gekennzeichnete  Irrlehre  bekämp 
werden.  »Das  Geld  ist  ein  Verkehi-sobjek 
welches  seinen  Verkehrswert  zunächst  \w 
unmittelbar  aus  den  nämlichen  Üi^saclu 
herleitet^  wie  die  übrigen  Objekte  des  Ve 
kehrs :  das  Metallgeld  aus  dem  Werte  sein» 
Stoffes  und  seines  Gepräges,  das  Urkunde 
geld  aber  (wie  man  der  älteren  Doktr 
hinzufügen  könnte)  gleich  anderen  im  Vt 
kelire  befindlichen  Urkunden,  aus  dem  Woi 
der  Rechtsansprüche,  welche  an  seinen  K 
sitz  geknüpft  sind.«  »DasGeldistkeii 
Anomalie  der  Volkswirtschaft«.  U 
Satz,  »dass  das  Geld  eine  Wai^e  sei^,  hai 
bei  den  Geldtheoretikern  ursprünglich  n 
diese  Bedeutung  und  ist  in  diesem  Sin 
auch  heute  noch  wahr. 

Dass  das  Geld  im  Ki-eise  der   übrig 
Verkehrsobjekte     besondere    Eigentümli( 
keitcn   aufweist,    widei-spricht  dem    olä^ 
Satze   so  wenig ,     als   der  Umstand ,    dj 
bereits  die  römischen  Juristen  die  Eigen, 
des    Geldes    erkannt    und    den    Gegen s 
zwischen   Kaufpreis   und   Kaiifobjo 
durch   die    Worte    >> pretium«    und     >niei 
bezeichnet  haben.     Werden,   wie   dies 
den  Juristen  gesclüeht,  die  Kauf  guter 
Gegensatze  zum  Gelde  als  »Waren ^ 
zeichnet    (die    Begriffe    Geld    und     W 
einander   koordiniert),   so   bedarf    es    \v 


Geld 


71 


kaum  der  Bemerkung,  dass  das  Geld  keine 
--Ware«  in  diesem  technischen  Verstände 
des  Wortes  ist  Die  Lösung  des  ökonomischen 
.  Problems,  *ob  das  Geld  eine  Ware  sei?« 
wird  indess  hierdui'ch  in  keiner  Weise  pi-ä- 
judiziert.^)  ^) 

*)  Ueber  die  Litteratur  dieser  Frage  vgl. 
W.  Röscher,  System  1886,  I  §  316,  Note  6; 
meine  Grunds,  d.  V.L.  S.  255 flf.;  insbes.  R. 
Znckerkandl,  Zar  Theorie  des  Preises  S.  133  ff. 

-)  Welchen  wesentlichen  und  prak- 
tisch bedeutsamen  Unterschied  zwi- 
schen dem  Gelde  und  allen  übrigen 
Objekten  des  Marktverkehrs  der  obi^e 
Umstand  begründet,  wird  sofort  klar,  wenn  wir 
uns  vergegenwärtigen,  dass  die  Ueberwindung 
der  Schwierigkeiten,  welche  aus  der  geringen 
Absatzfähigkeit  einer  Ware  für  die  Veräusserung 
derselben  sich  ergeben,  nur  zum  geringen  Teile 
in  der  Hand  desjenigen  liegt,  welcher  minder 
absatzfähige  Waren  zu  Markte  bringt,  vielmehr 
gTossenteils  von  Umständen  abhängig  ist,  welche 
derselbe  nicht  beherrscht.  Je  weniger  absatz- 
fähig die  Waren  sind,  die  jemand  zu  Markte 
bringt,  um  sie  gegen  Geld  abzusetzen,  um  so 
sicherer  wird  derselbe  sich  entweder  eine  E  i  n  - 
busse  am  ökonomischen  Preise  gefallen 
lassen  oder  aber  den  Zeitpunkt  abwarten 
müssen,  wo  es  ihm  möglich  sein  wird,  den 
Umsatz  zu  ökonomischen  Preisen  zu  bewerk- 
stelligen. Man  denke  an  den  Besitzer  eines 
Lagers  von  astronomischen  Instrumenten,  wel- 
cher dasselbe,  durch  Not  oder  von  Gläubigern 
g^^iigt}  &:^6n  Geld  umsetzen  muss.  Die 
Preise,  welche  er  bei  diesem  Notverkaufe  —  und 
ein  gleiches  ^It  auch  von  allen  sonstigen  Um- 
sätzen, die  m  Rücksicht  auf  den  Zeitpunkt 
Zwangsverkäufe  sind  —  erzielen  wird,  werden 
höchst  zufällige,  bei  einer  so  wenig  absatz- 
ühigen  Ware  wie  die  obige,  von  vornherein 
^ersäezu  unberechenbare  sein.  Anders  der- 
jenige, welcher  die  zum  Gelde  gewordene 
Ware  gegen  andere  auf  dem  Markte  befindliche 
Waren  umsetzen  will,  sogar  wenn  er  genötigt 
ist,  diesen  Umsatz  sofort  zu  bewerkstelligen. 
Er  wird  diesen  Zweck  nicht  nur  mit  Sicherheit, 
sondern  gemeiniglich  auch  zu  den  der  allg^e- 
meinen  ökonomischen  Sachlage  entsprechenden 
Preisen  erreichen.  Ja  wir  sind  infolge  der  Ge- 
wohnheit wirtschaftlichen  Handelns  so  sieher, 
uns  für  Geld  alle  auf  dem  Markte  befindlichen 
Güter  zu  den  der  ökonomischen  Sachlage  ent- 
sprechenden Preisen  jeweilig  verschaffen  zu 
können,  dass  wir  uns  zumeist  des  Umstandes 
gar  nicht  bewusst  werden,  wie  viele  Käufe  wir 
tätlich  vornehmen,  welche  in  Rücksicht  auf  die 
Dringlichkeit  unseres  Bedarfs  und  den  Zeit- 
punkt des  Abschlusses  Zwangs  kaufe  sind, 
während  Zwangs  verkaufe  infolge  der  öko- 
nomischen Nachteile,  welche  mit  denselben  ver- 
bunden zu  sein  pflegen,  sich  der  Aufmerksam- 
keit der  Beteili^n  in  unverkennbarer  Weise 
aufdrängen.  Die  Eigentümlichkeit  der  zum 
Gelde  gewordenen  Ware  besteht  somit  darin, 
dass  ihr  Besitz  uns  jeweilig,  d.  i.  in  jedem  uns 
geeignet  erscheinenden  Zeitpunkte,  die  gesicherte 
Herrschaft  über  die  Marktlage  entsprechende 
Quantitäten  aller  auf  dem  Markte  befindlichen 
Waren  und  zwar  gemeiniglich  zu  den  der  je- 


IL  Die  Entstehung  des  Edelmetallgeldes. 

Die  nach  Massgabe  örtlicher  und  zeit- 
licher Yerhältnisse  absatzfähigsten  Güter 
haben  (neben  ihrer  bisherigen  Verwendung 
für  Nutzzwecke!)  die  Funktion  von  all- 
gemein ^bräuchlichen  Tausclimitteln  er- 
langt bei  den  nämlichen  Völkern  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  und  bei  verschiedenen 
Völkern  zur  nämlichen  Zeit,  Güter  sehr  ver- 
schiedener Art^).  Dass  gerade  die  edlen 
Metalle  in  so  lier\'orragender  Weise,  bei 
einzelnen  Völkern  schon  ehe  diese  in  die  Ge- 
schichte treten,  in  historischer  Zeit  bei  allen 
Völkern  von  fortgeschrittener  wirtscliaft- 
licher  Kultur,  als  Tauschmittel  benutzt 
wurden,  findet  in  ihrer  grossen  und,  zumal 
bei  entwickelter  Volkswirtschaft,  alle  übrigen 
Güter  übertreffenden  Marktgängigkeit  seine 
Erklänmg. 

Die  Edelmetalle  (zu  denen  in  den  altem 
Perioden  wirtschaftlicher  Ent^ickelung  auch 
das  Kupfer  zu  rechnen  ist)  sind,  um  ihrer 
Nützlichkeit  und  besonderen  Schönheit  willen, 
bei  Völkern  niederer  Kiiltiu*  an  sich  Schmuck, 
in  der  Folge  das  vorzüglichste  Material  für 
plastische  und  architektonische  Verzierung 
und  insbesondere  für  Schmuck  und  Gerät 
aller  Art.  Sie  sind  solcherart  überall  Gegen- 
stand eines  in  allen  Bovölkeningskreisen 
verbreiteten,  früh  schon  lebhaft  hervortreten- 
den Begehrs,  zumal  auf  Kulturstufen  und 


weiligen  ökonomischen  Sachlage  angemessenen 
Preisen  verschafft,  während  der  Besitz  anderer 
Waren  uns  —  um  den  gleichen  Erfolg  zu  er- 
zielen —  vorher  erst  noch  zum  Umsätze  der- 
selben £regen  Geld  nötigt  und  uns  solcherart 
eine  in  Ilücksicht  auf  den  Zeitpunkt,  auch  auf 
den  Preis  —  ungleich  minder  sichere  Herrschaft 
über  die  Marktgüter  gewährt. 

*)  Ueber  das  Geld  bei  Völkern  primitiver 
Kultur  und  die  ältesten  Formen  des  Geldes 
vgl.  insbesondere  Mommsen,  Gesch.  d.  röm. 
Mtinzwesens,  1860  (Einleitung  und  S.  169 flf.); 
V.  Carnap,  Zur  Geschichte  d.  Münzwissen- 
schaft u.  d.  Wertzeichen  (Tüb.  Ztschr.  1860, 
S.  348 flf.);  Kenner,  Die  Anfänge  des  Geld- 
wesens im  Altertume  (Wiener  Akad.  Schritten, 
Phil.-hist.  Sect.  1863,  S.  385 flf.);  Soetbeer, 
Forschungen  z.  deutschen  Gesch.  (I,  207 flf.); 
W.  Röscher,  System  (I,  §  118ff.);  Brandes, 
Das  Münz-,  Mass-  und  Gewichtswesen  in  Vorder- 
asien (S.  72  flf.);  Fr.  L  enorm  and,  La  monnaie 
dans  rantiquit6,  1878,  passim.;  A.  Delmar, 
History  of  monetary  Systems,  1894.  —  Auf 
wesentlich  ethnographischer  Grundlage:  Rieh. 
Andree,  Ethnographische  Parallelen,  1878  u. 
1889;  Fr.  1 1  w  0  f ,  Tauschhandel  und  Geldsurrogate 
1882;  Osk.  Lenz,  Ueber  Geld  bei  Naturvölkern 
(Virchow-Wattenbachsche  Sammlung  g.  v.  Vort., 
1893.  Heft  226);  W.  Rideeway,  The  oriein  of 
metallic  currency  and  wei^t  Standards.  1892  (vor- 
wiegend metrologischen  Inhalts);  H.  Schurtz, 
Grundriss  einer  Entstehungsgeschichte  des  Gel- 
des, 1898.  ' 


72 


Geld 


in  Klimaten,  in  welchen  die  Bekleidung  vor- 
zugsweise dem  Zwecke  der  Ausschmückung 
dient.  Obzwar  (zimial  das  Gold!)  in  der 
Natur  stark  verbreitet  und  (insbesondere  Gold 
und  Kupfer)  diu-ch  verhältnismässig  einfache 
.  Prozesse  zu  gewinnen,  ist  die  verfügbare 
Quantität  der  edlen  Metalle,  im  Vergleich 
zu  dem  Begehr  nach  denselben,  doch  eine 
so  geringe,  dass  die  Zahl  derjenigen,  welche 
einen  nicht,  oder  nur  unvollständig  gedeckten 
Bedarf  an  diesen  Gütern  haben  und  der 
Umfang  des  ungedeckten  Bedarfes  stets  ver- 
hältnismässig gross,  ungleich  grösser  als  bei 
anderen  wientigeren,  indes  reichlicher  ver- 
fügbaren Gütern  ist.  Der  (offene  und  latente) 
Begehr  nach  denselben  ist  ebenso  umfang- 
reich als  konstant.  Der  Kreis  von  Personen, 
welche  •Edelmetalle  zu  erw'erben  wünschen, 
ist  wegen  der  Natur  der  durch  die  Edel- 
metalle befriedigten  Bedürfnisse  zugleich 
ein  solcher,  welcher  ganz  besonders  die 
tauschkräftigsten  Glieder  des  Volkes  um- 
fasst;  der  umfangreiche  und  konstante  Be- 
gehr nach  Edelmetallen  ist  regelmässig  zu- 
gleicli  ein  wirksamer.  Die  grosse  Teilbar- 
keit der  Edelmetalle  und  der  Umstand,  dass 
auch  sehr  geringe  Quantitäten  derselben 
doch  eine  erfreuliche  Verwendung  in  der 
Wirtschaft  des  Einzelnen  gestatten,  erweitern 
indes  die  Grenzen  des  wirksamen  Begehrs 
nach  Edelmetallen  auch  auf  die  minder 
tauschkräftigen  Scliichten  der  Bevölkerung. 
Dazu  kommen  die  weiten  räumlichen  und 
zeitlichen  Grenzen  der  Absatzfäliigkeit  der 
Edelmetalle,  eine  Folge  der  räimilich  nahe- 
zu unbegrenzten  Verbreitung  des  Bedarfes 
an  denselben  und  der  im  Verhältnisse  zu 
ihrem  Werte  geringen  Transportkosten. 

Es  giebt  in  der  Verkehrswirtscliaft, 
welche  die  ersten  Stufen  ihrer  Entwicke- 
lung  überschritten  hat,  keine  Güter,  bei 
welchen  ebenso  weite  personale,  quantitative, 
räumliche  imd  zeitliche  Grenzen  der  Absatz- 
fähigkeit zusammentreffen,  wie  bei  den 
EdelmetaUen.  Lange  bevor  die  Edelmetalle 
bei  allen  wirtschaftlich  fortgeschrittenen 
Völkern  die  Funktion  von  Tauschmitteln 
gewonnen    hatten,   waren   dieselben    Güter, 


')  Wenn  Knies  (Geld  u.  Kredit,  1.  Abt., 
Geld,  188Ö,  S.  261)  die  Eigenart  des  Edelmetall- 
geldes im  Kreise  der  übrigen  Güter  auf  einen 
„speciellen"  Wert,  auf  einen  „specifischen  Edel- 
metallwert" zurückführt  und  daraus  folgert, 
„dass  die  Träger  eines  anders  gearteten  Wertes 
nicht  als  Geld  fungieren  sollen^' :  so  ist  dies 
eine  Konsequenz  jener  Auffassung,  welche  im 
Gelde  in  erster  Linie  nicht  ein  Tauschmittel, 
sondern  einen  „Wertmassstab"  erblickt  und  des- 
halb auch  die  Eigenart  des  Metallgeldes  im 
Kreise  der  Güter  —  nicht  aus  der  hohen  Markt- 
gängigkeit —  sondern,  aus  der  Eigenart  des 
„Wertes"  der  Edelmetalle  zu  erklären,  ge- 
neigt ist. 


welche  nahezu  allerorten,  zu  jeder  Zeit  und 
in  jeder  auf  den  Markt  gelangenden,  prak- 
tisch in  Betracht  kommenden  Menge  einem 
ungedeckten,  imd  zwar  einem  wirksamen 
Begehre  begegneten. 

Hiermit  waren  aber  die  Voraussetzung»»n 
für  die  Funktion  der  Edelmetalle  als  allge- 
mein gebräuclüiche  Tauschmittel,  auf  die  ich 
im  vorigen  Abschnitte  hingewiesen  habe,  in 
hervorragendem  Masse  gegeben,  für  die  Funk- 
tion der  Edelmetalle  als  Waren,  gegen  welche 
jedermann  seine  Tauschgüter  lunzusetzt-ii 
sucht,  —  regelmässig  nicht  aus  dem  Gnuule 
um  die  ersteren  für  den  Eigenbedai-f  zu 
verwenden,  sondern  im  Hinblicke  auf  ihr«- 
besondere  Marktgängigkeit  und  in  der  Ab 
sieht,  dieselben  in  der  Folge,  je  nach  Go 
legenheit  und  Bedarf,  gegen  andere  ihm  un 
mittelbar  erfoixierliche  Güter  auszutauschen 
Es  war  kein  Zufall,  auch  nicht  die  Folic^ 
staatlichen  Zwanges  oder  freiwilliger  IJeljer 
einkunft,  sondern  die  richtige  Erkonntni 
der  individuellen  Interessen,  welche  bewirkti; 
dass,  sobald  eine  ausreichende  Menge  voi 
Edelmetallen  angesammelt  und  in  den  Vei 
kehr  gelangt  war,  gerade  diese  letztere! 
die  älteren  Tauschmittel  allmälüich  vei 
drängten  und  zu  allgemein  gebnlucliliche 
Tausehmitteln  der  wirtschaftlich  foi-tu« 
schrittcnen  Völker  geworden  sind.  Aue 
der  Fortschritt  von  den  minder  kostbare 
zu  den  kostbareren  Metallen  führt  auf  am 
löge  Ursachen  zurück. 

Wesentlich  gefördert  wurde  diese  Eii 
Wickelung  dadurch,  dass  das  Austauscl 
Verhältnis  zwischen  den  edlen  Metallen  \u 
den  übrigen  Gütern  infolge  der  eigenartigi 
Produktions-,  Konsumtions-  und  Marktvr- 
hältnisse  der  Edelmetalle  ^)  ungleich  gerini^o 
Schwankimgen  aufweist,  als  das  Austausc 
Verhältnis  zwischen  den  meisten  ander» 
Waren  — für  jeden  ein  Grrundmehr,  seinen  d 
peniblen  Tauschgütervorrat  zunächst  (d.  i.  l 
zur  Verwendung  desselben  ziun  Austausc 
gegen  ihm  unmittelbar  erforderliche  Güt< 
in  den  relativ  »wertbeständigen«  Edelmetall 
anzulegen,  oder  in  solche  umzuwande 
Endlich  hat  auch  der  praktisch  bedoutsai 
Umstand,  dass  die  Edelmetalle  infolge  ( 
Eigenart  ihrer  Farbe,  ihres  Klause 
zum  Teil  auch  ihres  specifischeu  G 
wicht  es  bei  einiger  S^iclikunde  iinsehv 
erkennbar  sind,  ebenso  der  Umstand,  il; 
sie  infolge  ihrer  Widerstandsfähigkeit  ii 
Formbarkeit  ein  dauerhaftes  Gepräge  ; 
nehmen  imd  hierdurch  auch  für  die  l 
kundigen  in  Bezug  auf  Qualität  und  ( 
wicht  leicht  kontrollierbar  gemacht  werc 


*)  Mit  der  wachsenden  Bevölkerung'  i 
dem  steigenden  Reichtum  derselben  vernic 
sich  auch  der  angesammelte  Vorrat  der  E 
metalle ! 


Cielil 


73 


können,  ziir  Steigerung  ihrer  Absatzfähig- 
keit beigetragen  und  den  Prozess,  durch 
den  die  Edelmetalle  zu  allgemein  beliebten 
Tauschmitteln  fortgeschrittener  Wirtschafts- 
epochen geworden  sind,  nicht  unwesentlich 
gefördert. 

III.  Vervollkommniuig  des  Metallgeldes 
durch  Ausmünznng  der  Metalle. 

Es  sprechen  manche  Gründe  dafür,  dass 
die  Metalle  schon  vor  dem  Eindringen  der 
Wage  in  den  allgemeinen  Gebrauch,  nicht  nur 
in  der  Form  von  Gebrauchsgegenständen, 
( Waffen,Aexten,  Schmuck  u.  s.  f.),  sondern  auch 
in  unvei-arbeitetem  Zustande,  (als  gegossene 
Barren,  Stangen,  Drähte  etc.  von  usuellen, 
den  Bedürfnissen  des  Konsums  angepassten 
Formen  und  Dimensionen)  in  den  Verkehr 
gelangten.  Diese  je  nach  der  Art  der  Metalle 
und  ihrer  Gewiimungsstätteu  verschiedenen 
Stttcktypen  und  deren  gebräuchlich  gewor- 
denen Teile  mögen  zu  einer  Zeit,  in  der  das 
Wägen  der  Güter  im  Tauschverkehre  unbe- 
kannt oder  noch  nicht  allgemein  geworden 
war,  wie  bei  manchen  Gütern  vielfach  ja 
noch  heute,  in  gewissem  Sinne  die  Wage 
ersetzt  und  die  Metalle  in  dieser  Form  auf 
den  ältesten  ^lärkten  auch  bereits  als  Tausch- 
vermittler und  »Bewertungsmassstäbe«  funk- 
tioniert haben  1). 

Als  die  Wage  (zunächst  wohl  bei  den 
kostbarsten  und  solchen  Gütern,  die  beim 
Gebrauche  eine  besondere  Genauigkeit  er- 
foKlerten:  bei  Edelmetallen,  Specereien, 
Heilmitteln  u.  s.  f.)  im  Güterverkehre  all- 
gemeiner in  Aufnahme  gekommen  war,  sind 
die  minder  genauen  Stücktypen  und  Dimen- 
sionsmasse bei  zahlreichen  Gütern  allmäh- 
üch  durch  die  Wage  verdrängt  imd  insbe- 
sondere auch  die  Geldmetalle  nach  Gewicht 
zugeteilt  worden.  Noch  in  unserem  Jahr- 
hundert, selbst  in  der  Gegenwart  vermögen 
^ir  diesen  Zustand  des  (lüterverkehrs,  bei 
welchem  die  Geldmetalle  nicht  zugezählt, 
sondern  zugewogen  werden,  auf  zahlreichen 
Märkten  zu  beobachten. 

Bei  dem  Zuwägen  der  Geldmetalle  er- 
gaben sich  indes  einige  den  Güterverkehr 
schwer  beeinträchtigende  üebelstände.  Die 
verlässliche  Prüfung  der  Echtheit  und  der 
Feinheit  der  Metalle  vermag  nur  durch 
Sachverständige  zu  erfolgen,  welche  für  ihre 
Mühewaltung  entschädigt  werden  müssen; 


0  Nach  der  Ansicht  der  Alten  iet  oßoXog 
soviel  wie  oßtlog  (demin.  oßBlianog)^  was  man 
sich  damit  erklärte,  dass  das  älteste  (Eisen- 
oder £rz-)Geld  in  der  Form  von  kleinen  Stäb- 
chen oder  Spitzsänlen  nmlief,  deren  6  eine 
Drachme  (eine  Handvoll)  ansmachten.  (Vgl. 
hierzn  M  o  m  m  s  e  n ,  Gesch.  d.  röm.  Münzwesens, 
1860,  S.  169 ;  H  u  1 1  s  c  h ,  Metrologie.  1862,  S.  106, 
126,  133  flf.) 


die  Teilung  der  zähen  Metalle  in  die  im 
Verkehre  jeweilig  erforderlichen  Stücke  ist 
ferner  eine  Verrichtung,  die  bei  der  Ge- 
nauigkeit, mit  der  sie,  zumal  bei  den 
Edelmetallen,  vorgenommen  werden  muss, 
genaue  Instnimente  erfordert  und  einen 
nicht  unerheblichen  Stoffverlust  (durch  Ver- 
splitterung  und  wiederholte  Einsclimelzung !) 
im  Gefolge  hat.  Beide  ()perationen  sind 
überdies  mit  einem  für  den  Verkehr  überaus 
lästigen  Zeitaufwande  und  Unbequemlich- 
keiten mancherlei  Ai*t  verbunden. 

Die  Beseitigung  dieser  Hemmnisse  des 
Verkehrs  musste  um  so  dringlicher  erschei- 
nen, je  mehr  diese  durch  ihre  unablässige 
Wiederkehr  sich  allen  Marktgenossen  em- 
pfindlich machten.  Sie  erfolgte  auf  ein- 
zelnen Märkten  zunäclist  wohl  in  automa- 
tischer Weise,  indem  Metallstücke,  deren 
Gewicht  mit  der  Wage  festgestellt  worden 
war  (insofern  sie  handlich  waren  und  den 
im  Verkehre  gebräuchlichsten  Gewichts- 
mengen entsprachen)  in  Umlauf  kamen  und 
sich  in  der  Cirkulation  erlüelten.  MetaU- 
stücke  dieser  Art  mussten  unter  Umständen 
noch  nachgewogen  oder  auf  ihre  Feinheit 
geprüft  werden;  dagegen  entfiel  die  Mühe 
und  der  Stoffverlust  beim  Zersclilagen  der 
Barren^). 

')  Darauf  deuten  schon  manche  Stellen  in 
den  Schriften  der  alten  Hebräer  „Ich  habe 
noch  einen  silbernen  Viertelsekel  bei  mir,  den 
magst  du  dem  Gottesmanne  geben.''  (I.  Samuel, 
9,  8)  ...  .  „sie  schenkten  ihm  jeder  eine 
Kesita^'  (ein  Stück  Edelmetall  von  bestimmtem 
Gewicht)  (Hiob  42,  11),  eine  Stelle,  die 
nicht  leicht  anders  gedeutet  werden  kann,  als 
dass  es  sich  hier  um  ein  Metallstück  von 
bestimmtem  Gewichte  handelt  (nicht  um 
ein  solches,  das  erst  noch  von  einem  Barren 
abzuschlagen  und  nach  seinem  Gewichte  zu  be- 
stimmen war).  Vgl.  noch  I.  Moses  42,  25,  35, 
33,  19,  Jos.  24,  32  (Kautzsch,  Die  heilige 
Schrift  d.  a.  Test.,  1896,  Beil.  S.  107).  —  S.  auch 
Hultsch,  Metrol.  1862  S.  126,  126;  Böckh, 
Metrologische  Untersuchungen  S.  76;  Momm- 
sen,  Gesch.  d.  röm.  Münzwesens,  Vorrede 
S.  IX.  —  Auch  die  taXavza  Homers  scheinen  mir 
an  einzelnen  Stehen  die  Deutung  zuzulassen, 
dass  es  sich  um  Stücke  Goldes  von  bestimmtem 
Gewichte  handle,  die  nicht  erst  von  einem 
Barren  abzuschlagen  und  dem  (jewichte  nach 
zu  bestimmen  waren.  Auch  ist  nicht  notwendig 
vorauszusetzen,  dass  ihr  Gewicht  in  irgend 
einem  einfachen  Verhältnisse  zum  Handels- 
oder dem  usuellen  Goldgewichte  gestanden 
habe,  da  es  sich  hier  um  ein  Aequivalent- 
ge wicht  handeln  kann. 

Der  Gedanke,  dass  bei  einzelnen  Völkern 
des  Altertums  (bei  denjenigen  nämlich,  bei 
welchen  eine  Viehwährung  thatsächlich  be- 
standen hat  und  diese  unmittelbar  in  eine 
Metall  Währung  übergegangen  ist)  das  etwa 
usuell  gewordene  Metalläquivalent  eines  Vieh- 
stückes unter  besonderen  Umständen  (zuraal 
wenn    die    beiden    Währungen    längere    Zeit 


74 


Geld 


Auch  dürfte  schon  friilizeitig  die  Fein- 
heit der  Barren,  bezw.  der  in  den  Umlauf 
felaugten  Stücke  des  Ban-enmetaUs,  durch 
leine  auf  dieselben  geprägte  Stempel  kennt- 
lich gemacht  worden  sein.  —  (Anfangs,  wie 
noch  heute  vielfach  in  Ostasien,  wohl  durch 
Privatpersonen,  zumal  durch  Kaufleute,  für 
eigene  Zwecke  und  nur  den  Benifsgenossen 
verständlich,  um  durch  diese  Merkzeichen 
daran  erinnert  zu  werden,  dass  die  betref- 
fenden Barren  und  Metallstücke  bereits 
durch  ihre  Hände  gegangen,  geprüft  und 
nach  ihrem  Gehalte  für  gut  befunden  wor- 
den seien.   In  der  Folge  geschieht  dies  häufig 


nebeneinander  bestanden  hatten)  zur  Rech- 
nnngseinheit  der  nenen  Währung  geworden  sei, 
ipt  meines  Erachtens  nicht  schlechthin  zurück- 


eisen (vgl.  hierzu  schon  meine  Grundsätze  d. 
V.W.L.,  1871.  S. 


\' 


zuweisen 

262  u.  265).  Einzelne  geschieht 
lieh  beglaubi£^te  Thatsachen  stützen  die  obi^e 
Annahme.  Wenn  aber  R  i  d  g  e  w  a  y  (The  origm 
of  metallic  currency  and  weight  Standards 
p.  52  ff.,  124  ff.,  387  ff.  u.  passim.)  behauptet, 
1.  dass  in  den  Ländern  Asiens,  Europas  und 
Afrikas,  in  denen  dasjeuige  Gewichtssystem 
entstanden  sei,  auf  das  alle  Systeme  des  mo- 
dernen Europas  zurückzuführen  seien,  das  Rind 
ursprünglich  allenthalben  als  hauptsächliches 
Wertmass  gedient  habe  (the  cow  universally  the 
Chief  Unit  of  barter,  p.  387);  2.  dass  das  Rind 
über  diese  ganze  weite  Länderstrecke  nahezu  den 
gleichen  Wert  gehabt  habe  (we  may  fairly 
asaume,  the  ox  carried  much  the  same  value 
trom  Northern  India  to  the  Atlantic  Ocean, 
.  62  ff.);  3.  dass  in  der  Folge  aber  das  dem 
rVerte  eines  Rindes  entsprechende  (überall  nahezu 
gleiche!)  Goldäquivalent  (ca.  130 — 135  grains 
Troy)  zur  allgemeinen  Geldeinheit  geworden  sei, 
(every  where  from  India  to  the  shores  of  the 
Atlantic  the  cow  originally  had  the  same  value 
as  the  universally  distributed  gold  unit,  p.  387) : 
so  lie^t  hierin  eine  so  phantastische  und  mit 
zahlreichen  geschichtlich  beglaubigten  That- 
sachen (überdies  auch  mit  allen  wirtschafts- 
theoretischen Einsichten)  im  Widerspruch 
stehende  Generalisierung  der  obigen  Hypothese, 
dass  sie  in  der  Formulierung  Ridgeway's  (bei 
aller  Anerkennung,  welche  dem  anregenden  und 
interessanten  Werk  Ridgeways  in  mancher  Rück- 
sicht zu  teil  geworden  ist)  doch  notwendig  die 
entschiedenste  Zurückweisung  gerade  der  sach- 
kundigsten Altertumsforscher,  neuerdings  auch 
einzelner  mit  dieser  Frage  sich  beschäftigender 
Volkswirte  finden  musste.  (Vgl.  Hultsch  im 
„Litterar.  Centralblatt"  1893,  Sp.  121  ff.;  C.  F. 
Lehmann  in  der  „Philol.  Wochenschrift"  1895, 
S.  179 ff.;  J.  Taylor  in  „The  Academy"  1892, 
Nr.  1062,  p.  218 ff.;  Winthrop  M.  Daniels  in 
„Annais  of  American  Acad.  of  Pol.  and  Social 
Science",  Vol.  IH,  1893  (Jan.),  p.  133  ff. ;  William 
Warrand  Carlileim  Journal  of  Polit.  Economy, 
Chicago,  1899  (June),  p.  356  ff.)  —  Die  obigen 
gewagten  Hypothesen  Ridgeway's  haben  in  W. 
Lotz,  welcher  dieselben  für  Ergebnisse  eines 
mustergiltigen  induktiven  Verfahrens  hält,  einen 
eifrigen,  ziemlich  kritiklosen  Bewunderer  ge- 
funden. Vgl.  dessen  Ausführungen  in  den  J. 
f.  N.  u.  St.,  1894,  III.  F.,  VII,  S.  337  ff. 


in  allgemeinerer  und  vertrauenswtirdig;erer 
Weise  diu'ch  die  auf  den  Märkten  funktio- 
nierenden Essay ers,  welche  für  ihre  Probe, 
auch  für  die  Güte  des  Geldes,  den  Kon- 
trahenten, die  ihre  Dienste  in  Anspruch 
nehmen  und  entlohnen,  haften^). 

In  wie  unzulänghcher  Weise  indes  die 
mit  der  Cirkidation  ungemünzter  Metalle 
verbundenen  Uebelstände  durch  die  obic:^» 
automatische  Entwickelung  behoben  werden, 
lehren  uns  die  Erfahrungen,  welclie  auf  den 
Märkten  derjenigen  Völker,  die  bis  in  die* 
neueste  Zeit  zu  einem  geordneten  Münz- 
wesen noch  nicht  gelangt  waren,  gemaclit 
wurden.  Die  Gewichts-  und  insbesonden^ 
die  Feinheitsproben  der  auf  diesen  Märkten 
thätigen  Essayer  erweisen  sich  als  unver- 
lässlich  und  müssen  bei  der  grossen  Leich- 
tigkeit, mit  der  die  Stempel  dieser  Funktio- 
näre gefälscht  werden  können,  der  Kegel 
nach  bei  jedem  Verkehrsakte  wiederholt 
werden,  ein  Umstand,  welcher  das  Zah- 
hmgswesen  zu  einem  überaus  zeitraubenden 
und  kostspieligeu  macht.  (Die  Kommissions- 
gebühren in  Rangim  werden  z.  B.  zwisohei 
1  und  lV2^/o  des  Wertes  angegeben,  wozi 
noch  der  durch  die  häufigen  Proben  uik 
Stempelungen  hervorgerufene  Gewichtsvor 
lust  hinzutritt.^  -) 

Die  aus  der  Cirkidation  ungemünzte 
Metalle  sich  ergebenden,  zumal  für  doi 
Klein  verkehr  empfindlichen  Uebelstände  ver 
mochten  im  wesentlichen  erst  dadurch  ho 
hoben  zu  werden,  dass  eine  für  den  Voi 
kehr  ausreichende  Quantität  der  Geld 
metalle  von  vornherein  in  gleichartige  fü 
die  Cirkrüation  bestimmte  (den  Bedürfnisse 
des  Verkehres  angepasste)  Stücke  zert«'i 
und  mit  einem  ihr  Gewicht  und  ihren  Fcii 

fehalt  verbürgenden  (dieselben  auch  go^r- 
älschungen  und  Defi-aude  nach  Möglicihko 
schützenden)   Gepräge    versehen    wHirden- 


^)  Vgl.  Christ,  und  Friedr.  Nobacl 
Vollst.  Taschenb.  d.  Münz-,  Mass-  und  Gewicht 
Verhältnisse,  1850,  S.  394 ff.  (China);  Fried 
N  0  b  a  c  k ,  Münz-,  Mass-  und  Gewichtsbuch.  18*; 
S.  422  (Kanton);  ebend.  S.  753  (Bangan);  eboL 
S.  5  (Abessinien)  u.  s.  f. 

*)  Fr.  Noback,   Münz-,   Mass-    und    ( 
wichtsb.    1879    S.    753    (Rangun).      Vgl.    au 
ebend.  S.  52  (Annam);  S.  394  ff.  (Japan). 

®)  Der  Begriff  der  „Münze"  wird  zum  T 
zu    weit,    zum    Teü    zu    eng    definiert.      I 
Münzen  sind  nicht  „lingots.  dont  le  poids  et 
titre  sont  certifies,  rien  d'autre  et  rien  de  ph 
(M.  Chevalier,  Cours  d.^E.  P.,  III,  La  Monne 
1866  p.  39  ff.),  sie  sind  auch  nicht  lediglich 
Feingehalte    (Schrot   und   Korn)    staatlich 
glaubigte  Barren  (L.  Goldschmidt,    Hau 
d.    Handelsrechts   I,    2.  Abt.,    1868,    S.    101 
Wären    diese   Auffassungen    vom    Wesen 
Münze  richtig,  so  müssten  auch  die  von  Be 
werksverwaltnngen  (jedenfalls  die  von  ärariscl 
Gold-    und    Silberbergwerken)    für     technis 


Geld 


7ö 


Füi'  die  Vermittelung  des  Güteraus- 
tausches bestimmte,  oder  demselben  that- 
sächlich  dienende  Metallstücke  dieser  Art 
sind  Münzen.  Es  hat  diese  Form  der 
Tauschmittel  vor  der  Cirkulation  unge- 
münzter  Metalle  aber  den  Vorzug,  dass  sie 
die  litetige  und  mit  ökonomischen  Opfern 
verbimdene  Operation  des  Teilens  und  Zu- 
lagen s  der  als  Tausch  vermittler  fimktio- 
nierenden  Metalle  erspart  (dass  diese  letz- 
teren im  Verkehre  niclit  mehi-  zugeteilt  und 
zugewogen,  sondern  nur  zugezählt  zu  wer- 
den brauchen).  Sie  ersparen  oder  erleich- 
tern uns  bei  der  Uebernahme  der  Edel- 
metalle die  Prüfung  ihrer  Feinheit  \md 
ihres  Gewichtes,  bei  der  Begebung  den  Be- 
weis derselben. 

Hiermit  ist  die  Bedeutung  der  Aus- 
münzung der  Geldmetalle  indes  nicht  er- 
schöpft. Die  vertrauenswürdige  Feststellung 
des  Rauh^wichts  und  des  Feingehalts  ist 
entfernt  nicht  der  allein  wesentliche  Zweck 
derselben.  Man  vergegenwärtige  sich  das 
Geldwesen  eines  Landes,  in  welchem 
Münzen  cirkulieren  würden,  von  denen  jede 
einzelne  ein  verschiedenes  Gewicht,  eine 
verschiedene  Form  und  einen  verschiedenen 
Grad  von  Affinierung  hätte;  selbst  wenn 
das  Rauhgewicht  und  der  Feingehalt  aller 
einzelnen  Münzstücke  in  genauester  und  ver- 


Zwecke in  Handel  gebrachten  Edelmetallbarren 
—  insofern  das  Gewicht  und  die  Feinheit  der- 
selben in  vertrauenswürdiger  Weise  resp.  staat- 
lich beglaubigt  sind  —  als  Münzen  anerkannt 
werden.  In  Bezu^  auf  Feinheit  und  Gewicht 
b^lanbigte  Metaflstücke  können  (zum  Unter- 
schiede von  Metallbarren)  nur  dann  als  Münzen 
(im  ökonomischen  Sinne)  bezeichnet  werden, 
wenn  sie  für  den  Gddzweck  bestimmt  sind  oder 
diesem  Zwecke  thatsächlich  dienen  und  ihre 
Form  und  Bezeichnung  (Guss,  Stempelung,  Ge- 
präge u.  s.  f.)  den  Geldzweck  derselben  kennt- 
lich machen.  Dagegen  wird  von  denjenigen, 
welche  nnr  „die  vom  Staat  (in  seinem  Namen 
und  nach  seiner  Vorschrift)  für  den  Cirkulations- 
zweck  ausgeprägten,  in  Bezug  auf  ihren  Wert 
vom  Staate  garantierten  Münzstücke"  als 
Münzen  anerkennen  (W.  Lexis,  H.  d.  St.  IV 
1892  S.  1248),  der  Begriff  der  Münze  zu  eng 
bestimmt.  Die  von  Privatmünzstätten  ausge- 
brachten Münzstücke  sind  (wenn  allgemein  ge- 
bräncfalich  gewordene  Umlanfsmittel)  unzweifel- 
haft Münzen  im  ökonomischen  Sinne,  ebenso  die 
bei  vielen  Völkern  noch  heute  cirkulierenden 
fremden  Handelsmünzen.  Ich  erinnere  noch  aus 
neuester  Zeit  an  die  califomischen  Privatans- 
münzangen  in  den  50  er  Jahren  unseres  Jahr- 
hnnderts,  an  die  Ausmünzungen  der  beiden 
Bechtler  in  Rutherfordton  (Nordcarolina),  an 
diejenigen  der  Mormonen  u.  s.  f.  —  Der  ökono- 
mische Begriff  der  Münze  ist  in  der  Folge  bis- 
weüen  auch  auf  nicht  metaUische  Geldzeichen, 
welche  die  usuelle  Münzform  aufwiesen  (Leder- 
münzen!), und  selbst  auf  bestimmte  Gewichts- 
mengen von  Barrengeld  (Rechnungsmünzen!) 
ausgedehnt  worden. 


trauenswürdigster  Weise  bestimmt  und  be- 
glaubigt wäre,  vermöchten  dieselben  dem 
Verkehrsbedürfnisse  doch  nur  in  sehr  un- 
vollkommener Weise  zu  entsprechen.  Erst 
dadurch,  dass  bei  der  Ausraünzung  der 
Geldmetalle  dieselben  von  vornherein  in 
Stücke  zerlegt  werden,  welche  in  den  für 
den  Geldzweck  entscheidenden  Kücksichten 
(also  in  erster  Linie  in  Bezug  auf  Feinge- 
halt, überdies  auch  in  Bezug  auf  Rauhge- 
wicht, Legierung  und  Form)  innerhalb  der 
Grenzen  technischer  Möglichkeit  gleich- 
artig sind,  sind  wir  m  der  Lage,  be- 
stimmte Edelmetallmengen,  nicht  nur  aller 
Regel  nach  ohne  Prüfung  von  Rauhgewicht 
und  Feingelialt  der  einzelnen  Münzstücke, 
sondern  zugleich  ohne  lästige  und  zeit- 
raubende Berechnungen,  durch  blosses 
Zuzählen  der  Münzstücke  darzu- 
stellen und  zu  leisten.  Erst  hierdurch 
erlangen  die  Geldmetalle  die  Fähigkeit, 
mühelos  imd  kostenlos  aus  einer  Hand  in 
die  andere  überzugehen  (solviei*t  und  über- 
nommen zu  werden),  erst  hierdurch  das 
hohe  Mass  von  Cirkiüationsfähigkeit,  welches 
die  gemünzten  Geldmetalle  auszeichnet. 

Indes  wird  durch  die  Ausmünzung  der 
Geldmetalle  in  gleichartige  Münzstücke  noch 
ein  anderer  wichtiger  Erfolg  herbeigefülirt. 
Es  wird  hierdurch  ermöglicht,  bestimmte 
Mengen  gemünzten  (also  leicht  übertrag- 
baren, cirkulationsfähigen !)  Geldmetalls  in 
einfacher  und  genauer  Weise  (durchblosse 
Feststellung  von  Münzsorte  und 
Stückzahl!)  zu  bezeichnen,  ein  umstand, 
dessen  Bedeutung  für  den  Verkehr,  zumal 
für  den  Abschluss  von  Verpflichtungsver- 
h^tnissen,  welche  Geldmetalle  zum  Gegen- 
stande haben,  kaum  hoch  genug  veran- 
schlagt werden  kann.  Nicht  schon  dadurch, 
dass  bei  der  Ausmünzung  die  einzelnen 
Metallstücke  ihrem  Gewichte  und  ihi^em 
Feingehalte  nach  in  vertrauenswürdiger 
Weise  beglaubigt,  erst  dadurch,  dass  die 
Geldmetalle  hierbei  zugleich  in  gleicliartige 
Stücke  zerlegt  werden,  erlangen  sie  die 
Eignung,  zum  Gegenstande  ebenso  leicht 
zu  begründender  als  zu  solvierender  Ver- 
pflichtungsverhältnisse zu  werden,  deren 
Inhalt  bestimmte  Quantitäten  cirkulations- 
fähigen Geldmetalls  sind. 

Allerdings  hat  die  Ausmünzung  der 
Geldmetalle  für  den  Verkehr  auch  einen 
Uebelstand  im  Gefolge,  indem  gerade  hier- 
durch die  genaue  Anpassung  der  Geldpreise 
an  die  im  Verkelire  vorkommenden  Gegen- 
werte in  allen  denjenigen  Fällen  erschwert 
w4rd,  in  denen  die  Preise  durch  die  cirku- 
lierenden Münzen,  die  ihrer  Bestimmung 
nach  ja  unteilbar  sind  ^),  nicht  genau  darge- 
stellt werden  können. 


*)  lieber  Fälle,  in  denen  Münzen  im  Ver- 


76 


Geld 


Der  nächstliegende  Gedanke,  diesem  der 
Münzfonn  der  Geldmetalle  anhaftenden 
üebelstande  zu  begegnen,  ist  wohl  der,  die 
Geldmetalle  schon  bei  der  Ausmünzung  in 
Stücke  zu  zerlegen,  welche  den  im  Verkehre 
am  häufigsten  vorkommenden  Gegenwerten 
entsprechen.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich, 
dass  bereits  vor  der  Ausmünzung  der  Geld- 
metalle derartige  den  Bedürfnissen  des 
Verkehrs  angepasste  Metallstücke  bei  ein- 
zelnen Völkern  als  bevorzugtes  Tauschmittel 
cii'kuliert  haben  und  hierdurch  die  er- 
wähnte Schwierigkeit  (unter  primitiven 
Verkehrsverliältnissen !)  zum  Teile  beseitigt 
worden  ist.  Audi  in  den  Anfängen  des 
Mfmzwesens  mag  der  obige  Umstand  in 
einzelnen  Fällen  nicht  ohne  Bedeutimg  für 
das  Gewicht  der  Münzen  gewesen  sein.  Die 
eigentlidien ,  zumal  die  staatlichen  Aus- 
münzungen sind  indes,  der  Natur  der  Sache 
nach,  hauptsächlich  von  der  Rücksicht  be- 
herrscht worden,  durch  ein  abgestuftes 
System  von  Münzsorten  die  leichte 
und  möglichst  genaue  Darstellung  aller 
im  Verkehre  vorkommenden  Preise  in  ge- 
münztem Metalle  zu  ermöglichen.  Es  ist 
hierdurch  die  erwähnte  Schwierigkeit  in 
\mgleich  wirksamerer  Weise  behoben  worden. 
Die  Systeme  der  Münzsorten  haben  sich 
fast  durchaus  im  Anschluss  an  die  bestehen- 
den Handels-  bezw.  Metallgewichte  und 
deren  gebräuchliche  Teile  entwickelt.  Mannig- 
fache Einflüsse  (die  fiskalische  Ausnützimg 
der  Münzhoheit,  die  Verschiebung  der  Wert- 
relation der  Geldmetalie,  die  Bedürfnisse 
des  Aussenverkehrs,  die  notwendige  Rück- 
sicht auf  die  Bewertimgsgewohnheiten  der 
Bevölkenmg  u.  s.  f.)  haben  im  Laufe  der 
geschichtlichen  Entwickelung  zu  den  gegen- 
wärtigen Münzsystemen  geführt,  welche  im 
wesentlichen  die  Vorzüge  eines  aUe  Wert- 
stufen leicht  und  (innerhalb  der  Grenzen 
technischer  Möglichkeit)  genau  darstellenden 
Systems  von  Münzsorten  mit  denen  einer 
den  Verkehrsbedürfnissen  nach  Möglichkeit 
sich  anpassenden  Münzeinheit  und  Münz- 
stückelung  verbinden.^) 

kehre  thatsächlich  zerschlagen  werden,  vgl.  Fr. 
Noback,  Münz-,  Mass-  und  Gewichtsbiich  1879, 
S.  168  ff.  und  422  u.  s.  f. 

^)  Es  ist  zu  beachten,  wie  schwierig 
es  im  gemeinen  Verkehre  sein  würde,  die 
in  unseren  heutigen  Münzen  enthaltenen 
Edelmetallquanten  (z.  B.  7.96495  Gramm 
'^/looo  feinen  Goldes  —  das  deutsche  20-Mark- 
stück  — ,  oder  6.775067  Gramm  Gold  der  näm- 
lichen Feinheit  —  das  osterr.-ungar.  20-Kronen- 
stück  — )  mit  der  Wage  herzustellen,  während 
mit  der  usuellen  Handelswage  und  den  usuellen 
Handelsgewichten  leicht  darstellbare  Gold- 
quanten, z.  B.  von  1000,  100  oder  10  Gramm 
Gewicht,  wiederum  (man  denke  an  die  Gold- 
kronen des  deutsch-üsterr.  Münzvertrags  v.  21. 
Januar  1857,  die  im  internationalen  Verkehre 


Indem  solcherart  ein  System  von  Münz- 
sorten entsteht,  wird  zugleich  ein  für  den 
Verkehr  und  das  Privatrecht  überaus  wich- 
tiger Erfolg  herbeigeführt.  Es  wird  hier- 
durch (insbesondere  in  Verbindung  mit  den 
staatiichen  Massregeln,  von  denen  ich  im 
nächsten  Abschnitte  handle)  bewirkt,  da.ss 
bestimmte  Quantitäten  von  Münzeinheiten 
durch  Münzen  verschiedener  Münzsorten 
leicht  und  einfach  dargestellt  imd  geleistet 
werden  können.  Es  entsteht  die  Möglich- 
keit nicht  nm*  von  Schuldverhältnissen, 
deren  Inhalt  eine  bestimmte  Anzahl  von 
Münzen  bestimmter  Sorte  sind  (von  so- 
genannten Genusschulden!),  sondern 
auch  von  solchen,  deren  Inhalt  eine  be- 
stimmte (in  Münzen  verschiedener  Sorte 
darstellbare)  Quantität  von  Münz-  bezw, 
Rechnungseinheiten  ist  (von  Summen- 
schulden!),  deren  Wiclitigkeit  für  diit 
praktische  Leben  eine  so  überaus  gi-osse  ist.^ 

Fasse  ich  das  Gesagte  zusammen,  so  er 
giebt  sich,  dass  die  Ausmünzung  der  Geld 
metalle,  insbesondere  der  Edelmetalle,  füi 
das  Wirtschaftsleben  und  für  die  Rechts 
Ordnung  eine  ungleich  grössere  Bedeutunj 
hat,  als  ihr  gemeiniglich  zugeschrieboi 
wird.  Durch  die  Münzform  wird  nicht  nu 
das  lästige  und  mit  ökonomischen  Opfer; 
verbundene  Erproben  und  Zuwägen  de 
Geldmetalle  im  Güterverkehre  erspart.  Die 
selbe  hat  eine  weit  darüber  hinausgehend 
Bedeutimg.  Indem  der  dem  Geldzweck 
gewidmete  Teil  der  Edelmetalle  und  zw2 
in  solcher  Weise  ausgemünzt  wird,  dai 
einheitliche  Systeme  von  Münzsorten  en 
stehen,  erlangen  die  Geldmetalle  die  Fähi| 
keit,  leicht,  genau  und  nahezu  kostenlos  i 
jeder  den  Bedürfnissen  des  Verkelu^  ai 
gepassten  Quantität  dargestellt  und  \il>e 
tragen  zu  werden.  Sie  gewinnen  oii 
Cirkulationsfähigkeit ,  wie  sie  in  gleiche 
Masse  nur  sehr  wenigen  Gütern  ander 
Art,  insbesondere  aber  entfernt  nicht  ([< 
Edelmetallen  in  Barrenform  eigen  ist.-)     IJ 


nie  recht  in  Aufnahme  zu  gelangen  verraochtei 
nicht  notwendig  dem  Verkehrsbedürfnisse  ei 
sprechen. 

*)  Man  erwäge,  um  wie  viel  geringer  ( 
Umständlichkeiten  bei  der  Kontrahierun  fr  u 
insbesondere  bei  der  Solution  einer  Schuld  sii 
wenn  deren  Inhalt  —  nicht  eine  Gewichtsmen 
von  Barrenmetall,  sondern  eine  bestimmte  ^ 
zahl  von  Stücken  einer  bestimmten  (gleich  ar 
ausgeprägten)  Münzsorte,  oder  ^ar  ein 
stimmtes  Quantum  von  Münzeinheiten  ist. 

-)  Die  Edelmetalle  sind  als  Urstoife  ( 
Elemente)  gedacht,  wie  selbstverständlich  v< 
ständig  homogen.  Indes  dienen  sie  in  < 
Wirklichkeit  nicht  als  „Gattungen"  oder 
„Elemente"  —  es  dienen  vielmehr  individu« 
Stücke  der  Edelmetalle  als  Geld.  Diese  köin 
aber  in  Rücksicht  auf  Gewicht,  Feinheit  i 
Form  (also  in   den  für  die  Geldfunktioo  € 


Geld 


77 


gemünzten  Geldmetalle  erlangen  aber  zu- 
gleich innerhalb  der  einzelnen  Münzsorten 
(unter  Berücksichtigung  der  Legierung  und 
der  Gewichts  Verhältnisse  vielfach  auch  inner- 
halb verschiedener  Münzsorten)  einen  hohen 
Grad  ökonomischer  Vertretbarkeit, 
ein  Umstand,  welcher  ermöglicht,  diu'ch 
blosse  Bezeichnung  von  Münzsorte  und 
Stückzalil,  ja  durch  blosse  Bestimmung  einer 
Anzahl  von  Münzeinheiten  den  Inhalt  von 
Goldobligationen  in  ebenso  einfacher  Weise 
als  genau  zu  bestimmen.  Die  Geldmetalle 
werden  Infolge  ihrer  Ausmünzung,  wie  kaum 
ein  anderes  Gut,  geeignet,  zum  Inhalte  von 
Gattiings-  und  Summenschulden  zu  werden, 
deren  Inhalt  genau  bestimmt  ist  und  deren 
Solvienmg  (durch  gemünztes  Metall!)  in 
eben  so  genauer  als  einfacher  und  mülie- 
loser  Weise  zu  erfolgen  vermag.^) 

Allerdings  können  selbst  das  rationellste 
Münzsystem  und  die  •  technisch  fortge- 
schrittenste Ausmünzimg  der  Geldmetalle 
an  sich  die  oben  hervorgehobenen  W^irkungen 
in  ihrer  vollen  Strenge  nicht  bewirken. 
Es  muss  zu  diesem  Zwecke  noch  in  mannig- 
facher Rücksicht  der  staatliche  Emfluss  auf 
das  Geld-  und  Zahlungswesen  hinzutreten. 

scheidenden  Rücksichten)  überaus  verschieden 
sein.  Ja  es  giebt  wenige  Dinge,  welche  so 
grosse  Verschiedenheiten  aufzuweisen  vermöchten 
als  verschiedene  Stücke  des  nämlichen  edlen 
Metalles  in  Rücksicht  auf  den  Geldzw^eck.  Erst 
dadurch ,  dass  die  Edelmetalle  in  der  Weise 
ausgemünzt  werden,  dass  die  einzelnen  Münz- 
stücke bezw.  Münzsorten  in  Bezug  auf  Rauh- 
gewicht, Feinjf ehalt  und  Form  (innerhalb  der 
Grenzen  technischer  Leistungsfähigkeit)  gleich- 
artig sind,  werden  individuelle  Stücke  der  Geld- 
metalle für  das  praktische  Wirtschafts- 
leben vertretbar  (fungibel). 

*)  Generische  Obligationen  (im  Gegensatze 
zu  denjenigen  Obligationen,  deren  Inhalt  indi- 
viduell bestimmte  Leistungen  sind)  sind  solche 
Obligationen,  deren  Inhalt  nur  durch  Merkmale 
bestimmt  ist  (z.  B.  ein  Pferd  im  allgememen, 
ein  bestimmtes  Quantum  von  Usance -Weizen, 
von  Hektolitern  Wein  oder  von  Wein  einer 
bestimmten  Sorte).  Die  grosse  Bedeutung, 
welche  diese  Obligationen  für  den  Verkehr, 
zumal  für  befristete  Leistungen  haben,  bedarf 
keiner  Bemerkung.  Wohl  aber  muss  hier  hervor- 
gehoben werden,  dass  der  Inhalt  derselben,  der 
Natur  der  Sache  nach,  nicht  ganz  genau  be- 
stimmt ist.  Durch  die  nähere  Determination 
des  „genns*',  durch  Hinzufügung  von  Merk- 
malen, gewinnt  der  Inhalt  der  Obligationen  an 
Bestimmtheit.  In  letzter  Linie  hängt  die  Be- 
stimmtheit desselben  indes  zugleich  von  der 
mehr  oder  minder  strengen  Vertretbarkeit  der 
von  der  „Gattung'*  umiaasten  Individuen  ab. 
Was  nun  die  gemünzten  Metalle  in  ganz  be- 
sonderer Weise  auszeichnet  und  dieselben  zu 
Objekten  von  Genusobligationen  in  hervor- 
ragendem Masse  befähigt,  ist  die  (nach  Mass- 
^oe  der  technischen  Leistungsfähigkeit  der 
Münzstätten)   strenge  Vertretbarkeit  derselben 


IV.  Die  VervoUkomiiinniis  des  Geldes 
durch  den  Staat 

Den  Ansprüchen  der  entwickelten  Volks- 
wirtschaft an  das  Geldwesen  vermag  die 
automatische  Entwickelung  desselben  nicht 
zu  genügen.  Das  Geld  ist  nicht  durch  Ge- 
setz entstanden;  es  ist  seinem  Ursprünge 
nach  keine  staatliche,  sondern  eine  geseU- 
schaftliche  Institution.  Die  Sanktion  des- 
selben durch  die  staatliche  Autorität  ist  dem 
allgemeinen  Begriffe  des  Geldes  fremd.  Wolü 
aber  ist  die  Institution  des  Geldes  durch 
staatliche  Anerkennung  und  Regelung  in 
ähnlicher  Weise  vervollkommnet  und  den 
vielaiügen  und  wechselnden  Bedürfnissen 
des  sich  entwickelnden  Verkehrs  angepasst 
woi*den,  wie  das  Gew^ohnheitsrecht  durch 
die  Gesetzgebung. 

Vor  allem  hat  die  umfassendste  Erfah- 
rimg gelehrt,  dass  die  Ausmünzung  der 
Geldmetalle,  sobald  dieselbe  für  die  Volks- 
wirtschaft sich  als  notwendig  erweist,  das 
Eingreifen  des  Staates  mehr  und  melir  zu 
einem  imabw^eisbaren  macht.  Die  mit  öko- 
nomischen Opfern  verbundene  Versorgimg 
der  Märkte  mit  (nach  Art  und  Menge)  den 
Bedürfnissen  des  Verkehrs  entsprechenden 
gemünzten  Metallen,  liegt  wohl  im  Interesse 
der  Gesamtheit,  vermag  indes  von  den 
unter  dem  Drucke  der  Konkiurenz  stehen- 
den, auf  Gewinn  angewiesenen  und  be- 
dachten Einzelwirtschaften  im  Volke  nicht 
erwartet  zu  w^enlen.  Die  Privatausmttnzun- 
gen,  selbst  diejenigen  der  neuesten  Zeit, 
haben  denn  auch  dem  allgemeinen  Verkehrs- 
bedüi'fnisse  nur  in  sehr  unvollkommener 
Weise  entsprochen,  i) 


innerhalb  des  durch  die  Münzsorte,  in  letzter  Linie 
durch  die  Münzeinheit  gegebenen  „Genus".  — 
Es  dürfte  nicht  ohne  Nutzen  sein,  hinzuzufügen, 
dass  die  Logiker  je  nach  dem  Grade  der  Deter- 
mination :  Reich  (regnum) ,  Kreis  (orbis), 
Classe  (classis),  Ordnung  (ordo),  Familie  (familia), 
Gattung  (genus),  Art  (species),  Unterart  (sub- 
species)  u.  s.  f.  unterscheiden,  während  die 
Juristen  alle  obigen  Kategorieen  (bisweilen  selbst 
eine  begrenzte  Anzahl  von  Sachindividuen,  aus 
denen  nach  Wahl  des  Schuldners  oder  des 
Gläubigers  eine  Leistung  erfolgen  soll)  unter 
dem  Begriife  „genus"  zusammenfassen  und  die 
Individuen  (im  Gegensatze  zum  Sprachgebrauch 
der  Logiker)  als  „species"  bezeichnen.  (Vgl. 
Ueberweg's  System  der  Logik,  herausg.  v. 
J.  B.  Meyer,  1882,  §  58;  Dernburffs  Pan- 
dekten, I,  §  7ö;  und  Windscheid s  Lehrbuch 
d.  Pandektenrechts  I,  §  141,  insbes.  Note  1.) 

^)  Die  noch  im  Anfange  der  50  er  Jahre  von 
den  zahlreichen  Privatmünzstätten  Californiens 
in  Cirkulation  gebrachten  Münzen  zu  50,  1, 
Va  und  Vi  Dollars  erwiesen  sich  im  allgemeinen 
geringer  als  die  von  der  Eegieruncf  ausgeprägten, 
Tin  einzelnen  Fällen  bis  2  %)  und  wurden  durch 
oiejenigen  der  Nationalmünzstätte  in  San  Fran- 
cisco seit  1854  mehr  und  mehr  verdrängt  (Fr. 


78 


Gold 


Es  ist  klar,  dass  nur  der  Staat  ein 
interesse  daran  hat,  selbst  mit  ökonomischen 
Opfern,  die  Volkswirtschaft  mit  den  Ycr- 
kelirsbedürfnissen  entsprechenden  Münzen 
zu  versorgen,  wie  denn  auch  niu*  der  Staat 
die  Machtmittel  besitzt,  das  Münzwesen 
gegen  Falschmünzerei  und  die  in  Cirku- 
lation  gesetzten  Umlaufsmittel  gegen  Ge- 
wichtsminderung wirksam  zu  schützen. 
Die  Geschichte  bietet  uns  überaus  zahl- 
reiche Beispiele  von  Fällen,  in  denen  die 
Regierungen  die  ihnen  naturgemäss  zu- 
fallende Münzhoheit  in  ebenso  eigennütziger 
als  gemeinschädlicher  Weise  missbraucht 
haben.  Nichtsdestoweniger  ist  die  Yersor- 
gimg  der  Volkswirtschait  mit  vertrauens- 
würdig ausgeprägten  Münzen  allenthalben 
als  eine  berechtigte  Aufgabe  staatlicher 
Fürsorge  anerkannt  und  diese  Aufgabe 
in  einer  den  Yerkehrsbedürfnissen  allseitig 
entsprechenden  Weise  aller  Regel  nach  auch 
nur  vom  Staate  thatsäehlich  geübt  worden. 

Einen  noch  ungleich  wichtigeren  Einfluss 
auf  das  Geldwesen  übt  der  Staat,  indem 
er  innerhalb  der  staatlichen  Grenzen,  ja  in 
der  Folge  im  Wege  internationaler  Verein- 
barungen darüber  hinaus,  das  Geldwesen 
einheitlich  regelt.  Die  automatische 
Entwickelung  des  Geldwesens  führt  der 
Natur  der  Sache  nach  leicht  zu  einer  filr 
den  Verkehr  überaus  abträglichen  und 
lästigen  Vielgestaltigkeit  des  Geldes  in 
Rücksicht  auf  die  Geldmetalle,  ihre  Le- 
gierung, die  Gewichtseinheit  und  die  Teil- 
gewichte, nach  denen  gerechnet  wird.  So- 
bald die  Ausmünzung  der  Geldmetalle  ge- 
bräuchlich wird,  pflegt  die  Zersplitterung 
des  Münzrechts  die  nämlichen  Wirkungen 
zu    äussern    und   zu   einer   dem   Verkehre 


Noback,  Münz-,  Mass-  u.  Gewichtsbuch.  1879, 
S.  792).  —  Die  von  den  Bechtlers  in  Nord- 
carolina (in  Rutherfordton)  durch  längere  Zeit 
ausgeprägten  5-Dollarstticke  waren  zum  Teil 
bis  zu  Vji^jo  geringer;  die  im  Jahre  1849  in 
Philadelphia  untersuchten  ö-DoUarstücke  er- 
wiesen sich  4  Dollar  94  Cents  und,  wenn  die 
Silberlegierung  in  Anschlag  gebracht  wurde, 
doch  nur  4  Dollar  96  Va  Cents  wert.  Die  älteren 
C.  Bechtlerschen  ö-DoUarstttcke  waren  soffar 
1 — 6^0?  im  Durchschnitte  3**/o,  die  A.  Bechtler- 
schen 1 -Dollarstücke  2%  unter  ihrem  Nenn- 
werte ausgebracht.  Auch  die  von  den  Mor- 
monen im  Staate  Utah  geprägten  Goldstücke 
zu  20,  10,  ö  und  2V2  Dollars  erwiesen  sich  in 
Feinheit  und  Gewicht  sehr  unregelmässig.  Der 
Wert  des  lO-DoUarsttickes  war  im  Mittel 
8  Dollar  52  Cents,  derjenige  der  übrigen  Sorten 
im  Verhältnis  (ebend.  S.  647).  Vgl.  rücksicht- 
lich der  Privatausmtinzungen  in  anderen  Ver- 
kehrsgebieten auch  ebend.  S.  158 ff.  (Bogota); 
S.  169  (Bombay);  S.  620  (Montreal);  S.  754 
fHangun);  S.  82l  (Lokalmünzen  in  Siugapore); 
S.  860  (Australien) :  S.  866  (Tahiti)  u.  s.  f. ;  femer 
Chr.  und  Fr.  Noback,  Vollst.  Taschenb.  d. 
MünzTerhältnisse ,   1850,  S.  1620  (Califomien). 


nicht  minder  abträglichen  Mannigfaltigkeit 
des  Münxwesens  (in  Rücksicht  auf  dieMüuz- 
metaUe,  ihre  Legierung  mid  Stückelung,  die 
Münzeinheit,  die  Genauigkeit  der  Aus- 
prägimg, die  Münzform,  selbst  die  Benennung 
der  Münzsorten  u.  s.  f.)  zu  fülu-en.  Der 
Staat  erfüllt  eine  der  wichtigsten  Aufgaben 
der  Volkswirtschaftspflege,  indem  er  sich 
nicht  auf  die  vertrauenswürdige  Beglaubigung 
der  Rauhgewichte  und  der  Feingehalte  der 
für  den  G-eldzweck  bestimmten  Edelmetall- 
stücke beschränkt,  sondern  dui*ch  einheitliche 
Feststellung  des  Münzsystems  (der  Wäh- 
rungsmetalle und  ihrer  Legienmg,  des  Münz- 
grundgewichts, der  Münzeinheit,  des  Münz- 
fusses,  der  Münzstückelung,  der  Münzforineu 
der  Münznamen  u.  s.  f.)  das  Geldwesen  des 
Staates,  resp.  umfassender  Wirtschaftsge- 
biete, in  einer  den  Bedürfnissen  dei-selbei 
entsprechenden  Weise  einheitlich  regeli 
und  indem  er  Münzen  dieser  Art  in  der 
Yerkelir  setzt,  Münzen,  welche  diesen  An 
forderungen  nicht  entsprechen,  aus  den 
Verkehre  zieht,  ein  einheitliches  Staat 
liches  Münzwesen,  ein  Landesgeh 
(bezw.  eine  Landeswährung,  ein« 
Ijandesvaluta ,  in  diesem  weitesten  Shun 
des  Wortes  1))  schafft. 


^)  Währung  (mittelh.  werunge,  weiruugt 
auch  werschaft  —  seit  dem  13.  Jahrb.  in  Üi 
künden  und  stadtrechtlichen  Quellen  —  vo 
weren  =  leisten,  zahlen,  befriedigen;  spät€ 
noch  bisweilen:  „mit  etwas  gewähren'*  =  b( 
friedigen)  bedeutet  ursprünglich  so  viel,  wj 
Gabe,  Leistung,  in  der  Folge  (bei  fortschre 
tender  Entwickelung  der  Geld  Wirtschaft,  ähi 
lieh  wie  dies  bei  den  Worten  „gelten*'  un 
„geld",  „zahlen"  und  „Zahlung"  der  Fall  wa 
hauptsächlich  die  Geldieistung  resp.  d 
Leistung  (die  Zahlung)  in  gemünztem  Geld 
Daher  bei  älteren  Schriftstellern  „die  grewogei 
Mark"  im  Gegensatze  zur  „Mark  Wehnui^ 
(der  zugezählten  Mark),  („endlich  sind  al 
Marcke  zu  Wehrung  geworden,  dass  man  s 
zehlet,  und  nicht  wieget",  s.  Tileman  Friese  1 
Müuzspiegel  1592,  in  Thom.  ab  Hagelsteins  Ac 
publ.  monet.  I,  S.  6B).  Zugleich  hat  das  Wo 
,,werung"  aber  von  altersher  auch  die  E 
deutung:  Verbürgung,  Gutstehung,  Siehe 
Stellung,  Gewährleistung,  Gewährschaft.  Bei 
Begriffe  verschmolzen  zu  dem  Begriffe  des  (dur 
die  Ausprägungsnormen,  insbesondere  durch  d 
Münzfuss  eines  Landes  oder  einer  Münzstätte)  g 
währleisteten  Milnzwertes.  —  Bei  d 
grossen  Buntheit  von  Münzen  und  Münzfuss,  c 
namentlich  seit  dem  12.  und  13.  Jahrhundert 
den  meisten  Territorien  herrschte,  pfleg^te  m 
nicht  nur  einzelne  Münzsorten,  sondern  au 
bestimmte  Münzsysteme  durch  Anführung  d< 
jenigen  Prägestätten  oder  Länder  näher  zu  1 
zeichnen,  nach  deren  Norm,  insbes  nach  dei 
Fuss,  (häufig  auch  von  anderen  Münzstätte] 
die  Münzen  geprägt  worden  waren,  z.  B.  „Wiei 
Pfennige"  oder  „Pfennige  wiener  werung**  11 
in  ähnlichem  Sinne  von  der  Rotenburger,  1 
winger,  Swaebischen,  Augspurger  werung,   ,,< 


Geld 


79 


Indem  der  Staat  dem  Bedürfnisse  des 
Verkehrs  nach  einem  einheitlichen  Landes- 
gelde  entspricht,  schafft  er  die  Grundlage 
und  Voraussetzung  für  ein  überaus  verein- 
fachtes und  gesichertes  Rechnungs-  und 
Zahlungswesen,  ein  —  im  Verhältnisse  zum 
vielgestaltigen  Gelde  automatischen  Ur- 
sprungs—  in  hohem  Masse  vervollkommnetes 
(insbesondere  auch  den  Zweifeln  und  Streitig- 
keiten über  den  rechtlichen  Inhalt  der  Geld- 
schulden in  mannigfacher  Rücksicht  vor- 
beugendes) Verkehremittel. 

Immerhin  bleibt,  auch  nach  Einführung 
eines    einheitlichen    Systems    von    Landes- 


gewöhnlichen wermig  nach  unseres  landes  ge- 
wohnheit"  u.  s.  f.  zu  sprechen  (Lexers  Mittelh. 
Wörterb.  1878,  m,  Sp.  799).  —  Bei  der  grossen 
Wichtigkeit,  welche  (zumal  bei  mangelhafter 
Eegelnn^  und  geringer  Stabilität  des  Münz- 
wesens, insbesondere  auch  bei  Münzänderungen) 
die  Erklärung  bestimmter  Münzsorten  als  ge- 
setzliches Zahlungsmittel  für  das  Münzwesen 
erlangte,  gewinnt  das  Wort  Währung  vielfach 
neben  der  alten  auch  eine  neue  Bedeutung. 
Man  versteht  darunter  die  zu  einem  be- 
stimmten Nominalwerte  als  gesetz- 
liches Zahlungsmittel  erklärten  Lan- 
desmünzen. So  insbesondere  im  Art.  11  der 
vielfach  grundlegend  gewordenen  Reichsmünz- 
ordnnng  Ferd.  I.  von  1559.  (Hier  auch  bereits 
der  unterschied  zwischen  der  allgemeinen  „  Wehr- 
schaft"  der  Courantmünzen  und  der  einge- 
schränkten der  Teilmünzen.)  —  Sobald  das  Metall, 
ans  dem  die  Courantmünzen  eines  Landes  aus- 
geprä^  wurden  (das  Metall,  welches  bei  freier 
Aosprä^ng  für  Privatrechnung  zum  allge- 
meinen AVertmassstab  wird!),  zum  Gegenstände 
des  öffentlichen  Interesses,  zumal  auch  des- 
jenigen der  Gesetzgebung  und  der  Münz- 
theoretiker geworden  war,  werden  die  örtlich 
und  zeitlich  verschiedenen  Währungen  vielfach 
anch  durch  das  W^ährun^smetall  näher  be- 
zeichnet und  darnach  klassifiziert.  Man  spricht 
früh  schon  (Lex er  a.  a.  0.  III,  797)  von  Gold-, 
Süberw^ährung,  in  der  Folge  auch  von  Papier-, 
selbst  von  Vieh-,  Muschel-,  Pelzwährnnff  u.  s.  f. 
Daher  (offenbar  in  Verkennung  der  bloss  ad- 
jektivischen Bedeutung  der  W^orte :  Gold-,  Silber- 
n.  8.  f.)  neben  den  älteren  Auffassungen  des 
W^ortes  „Währung"  bei  manchen  neueren  Schrift- 
stellern noch  diejenige  des  dnrch  Gewohnheit 
oder  Gesetz  anerkannten  Geldgutes  oder  Geld- 
stoffes (in  diesem  Sinne  wohl  richtiger :  des  zum 
allgemeinen  Freismesser  und  Wertmassstabe 
gewordenen  Geldstoffes!).  —  Die  obigen  Auf- 
fassungen des  Be^iffes  „Währung"  sind  ins- 
gesamt auch  für  £e  Gegenwart  noch  von  theo- 
retischer und  praktischer  Bedeutung,  und  es 
mnss  als  eine  Einseitigkeit  bezeichnet  werden, 
wenn  eine  einzelne  derselben  ausschliesslich  als 
die  richtige  bezeichnet  wird.  —  Das  englische 
Standard  bedeutet  das  Hichtmass,  das Normal- 
mass,  den  Münzfuss  (twenty-florins  Standard); 
Standard  of  value  :  der  W^ertregulator,  die  Wäh- 
rung. Aehnlich  das  franz.  4talon  (de  mesure, 
de  poids)  das  Richtmass,  Eichmass,  Probe- 
gewicht, Währung. 


münzen  und  selbst  bei  rationellster  Aus- 
prägung der  letzteren,  eine  Reihe  von  üebel- 
ständen  des  Geldwesens  bestehen,  welche 
dem  Verkehre  abträglich  sind  und  durch 
blosse  münztochnische  und  die  vorher  ge- 
kennzeichneten münzpolitischen  Massregeln 
nicht  behoben  werden  können.  Solche 
Uebelstände  sind:  dass  (cirkulationsfähige !) 
Münzen,  in  denen  alle  im  Verkehre  vor- 
kommenden W^ertstufen  darstellbar  sind, 
nicht  aus  ein  imd  demselben  Geldmetalle 
ausgebracht  werden  können  und  insbeson- 
dere die  für  den  Kleinverkehr  bestimmten 
Münzsorten  zum  Teile  aus  andern  Geld- 
metallen als  die  Hauptmünzen  geprägt 
werden  müssen;  dass  in  vielen  Ländern 
selbst  die  Hauptmünzen  usuell  aus  ver- 
schiedenen GeldmetaUen  (aus  Gold  und 
Süber)  ausgebracht  w^erden ;  dass  die  Münzen 
verschiedener  Wertstufe,  selbst  wenn  sie 
aus  dem  nämlichen  Metall  (mehr  noch, 
wenn  sie  aus  verschiedenen  Metallen  her- 
gestellt werden !),  nicht  den  gleichen  Präge- 
aufwand erfoi-dern  und  somit  bei  gleichem 
Innern  Wert  verschiedene  Produktionskosten 
verursachen ;  dass  die  einzelnen  Münzstücke 
der  nämhchen  Münzsorte,  selbst  bei  fortge- 
schrittener Technik  und  sorgfältiger  Aus- 
prägung, schon  beim  Verlassen  der  Münz- 
stätte in  Bezug  auf  Feinheit  und  Gewicht 
Verschiedenheiten  aufweisen  (ökonomisch 
nicht  vollständig  vertretbar  sind!), 
ein  Mangel,  welcher  durch  die  Cirkulation 
derselben  noch  gesteigert  wird;  dass  neben 
den  Landesmünzen  vielfach  auch  Zahlungs- 
mittel anderer  Art  (Banknoten,  Staatskassen- 
scheine) im  Umlauf  sind  u.  s.  f. 

Das  Gemeinsame  dieser  durch  münz- 
technische Massregeln  und  selbst  durch  ein 
noch  so  rationelles  Münzsystem  nicht  voll- 
ständig zu  behebenden  Uebelstände  ist,  dass 
hierdurch  die  strenge  ökonomische 
Vertretbarkeit  der  Münzen  der  näm- 
lichen Münzsorte  und  Wertstufe  (mehr  noch 
die  strenge  Vertretbai-keit  entsprechender 
Quantitäten  von  Münzen  verschiedener  Wert- 
stufen untereinander)  genundert  wird  und 
infolge  dieses  Urastandes  die  Vorteile  eines 
einheitlichen  Systems  von  Landesmünzen,  ins- 
besondere diejenigen  eines  einheitlichen 
Rechnungswesens  nicht  vollständig  zur 
Geltung  gelangen  würden,  falls  diese  Uebel- 
stände, insoweit  sie  sich  im  Verkehre  geltend 
machen,  in  ihren  Wirkungen  nicht  beseitigt 
zu  werden  vermöchten.  Man  vergegen- 
wärtige sich  den  Zustand  des  Geldwesens 
eines  Landes,  in  welchem  die  Münzstücke 
der  nämlichen  Münzsorte  wegen  der  unaus- 
weichlichen Ungenauigkeiten  ilirer  Aus- 
prägung und  der  regelmässig  eintretenden 
Abnützungsverluste  verschieden  bewertet 
werden  könnten ;  einen  Zustand,  bei  welchem 
aus  verschiedenen  Geldstoffen  ausgebrachte 


80 


Geld 


Münzen  (insbesondere  auch  die  Scheide- 
münzen) wegen  der  Schwankungen  der 
Marktrelation  der  betreffenden  Geldmetalle 
gleich  Pamllelwähi'ungen  wirken  könnten 
u.  s.  f.  Es  ist  klar,  dass  hierdurch  die 
wesentlichen  Vorteile  eines  einheitlichen 
Landesgeldes  und  eines  noch  so  rationell 
abgestuften  Münzsystems,  zum  mindesten  in 
jenen  Fällen,  in  denen  die  obigen  Uebelstände 
sich  praktisch  geltend  machen  würden,  zum 
Teile  wieder  aufgehoben  werden  müssten. 
Ein  vollständig  gesichertes  einheitliches 
Rechnungswesen  ist  durch  blosse  münz- 
technische und  diu-ch  die  oben  erwähnten 
münzpolitischen  Mängel  nicht  erreichbai*. 

Die  obigen  Schwierigkeiten  können  in 
ihren  Wirkungen  nur  durch  ein  System  von 
staatlichen  Massregeln  beseitigt  werden, 
welche  sich  wesentHch  auf  die  Regelung 
der  Solution  der  Geldschulden  be- 
ziehen und  deshalb  nicht  nur  dem  Gebiete 
der  Münzpolitik,  sondern  auch  dem  des 
Privat  rechts  angehören  und  für  beide 
von  gleich  hoher  Bedeutung  sind. 

Massregeln  dieser  Art  sind:  dass  der 
Staat  den  Münzstücken  der  nämlichen  Münz- 
sorte (innerhalb  der  Grenzen  der  Remedicn 
und  des  Passiergewichts)  und  ebenso  den  aus 
dem  gleichen  Münzmetalle  ausgebrachten 
Ijandescourantmünzen  verschiedener  Sorte 
(nach  Massgabe  ihres  gesetzlichen  Feinge- 
halts) die  gleiche  Zahlkraft  in  Rücksicht  auf 
die  Solution  von  Geldschulden  verleiht;  dass 
der  vStaat  die  Zalükraft  der  aus  verschiedenen 
Edelmetallen  gepi-ägten  Münzen  (durch  Be- 
stimmung der  Wertrelation  bei  ihrer  Aus- 
prägiuig  oder  durch  Tarifierung  der  Münz- 
sorten) feststellt;  dass  er  die  Zahlkraft  der 
unterwertig  ausgeprägten  Scheidemünzen  in 
ein  festes  Verhältnis  zu  derjenigen  der  Münz- 
einheit bringt  u.  s.  f. 

Erst  liierdurch  ward  das  System  der 
Münzsorten  eines  Landes  zu  einem 
Systeme  von  streng  vertretbaren 
(fungiblen)  Rechnungseinheiten, 
ein  Umstand,  welcher  in  hohem  Masse 
zur  Vereinfachung  des  Rechnungs-  und 
Zahlimgswesens  beiträgt  und  es  selbst  dem 
in  den  Komplikationen  des  Geld-  imd  Münz- 
wesens Unerfahrenen  ermöglicht,  einerseits 
bei  Abschluss  von  Geldschulden  denselben 
durch  die  blosse  Bestimmung  der  An- 
zahl von  Rechnungseinheiten  (Mark,  Franc, 
Ki-onen)  einen  genau  bestimmten  Inhalt  zu 
geben,  und  andererseits  jeden  Zweifel  über 
die  zur  Erfüllung  von  Geldschulden  geeig- 
neten Zahlungsmittel  von  vom  herein  aus- 
zuschliessen. 

y.  Das  Geld   als  Mittel  für  einseitige 
und  subsidiäre  Vermögensleistungen. 

Wenn  in  einem  Volke  eine  Ware  als 
allgemein  gebräuchliches  Tauschmittel  —  als 


Geld  —  funktioniert,  so  ergiebt  sich  als 
weitere  Folge  dieser  Entwickelung,  dass: 
auch  einseitige  (d.i. aus  keinem  »Tausch- 
geschäfte« entstandene)  vermögensivchtlichc 
Leistungen,  ob  sie  nun  freiwillig  darge 
boten,  oder  zwangsweise  auferlegt  wei- 
den, der  Regel  nach  am  Ökonomischestoi 
in  Geld  erfolgen.  Wer  einer  anderen  Per 
son  ein  Vermögensquantum  in  unentgelt 
lieber  Weise  (als  Geschenk,  Legat,  Heirate 
gut  u.  s.  f.j  zuwenden  will,  wird  dies  unto 
umständen  iti  Gütern  thun,  welclie  de 
Erwerbs-  oder  Aufwandwirtschaft  des  Em 
pfängers  unmittelbar  zu  dienen  bestimn 
sind,  in  allen  übrigen  Fällen  aber  am  zwecli 
massigsten  in  demjenigen  Tauschgute,  we 
dies  dem  Empfänger  die  Herrschaft  übe 
alle  Marktgüter  gewährt  —  in  Goh 
Tauschgüter  anderer  Art  müssen  von  dei 
Empfänger  nämlich  ei*st  gegen  Geld  uuijr» 
setzt  werden,  was  für  denselben  mit Oj^fii 
mancherlei  Art,  was  die  Höhe  des  Erl(')s< 
betrifft  aber  mit  um  so  grösserer  ünsicho 
heit  verbunden  zu  sein  pflegt,  je  gering 
die  Absatzfähigkeit  der  betreffenden  War( 
ist.  Eine  in  Tauschgütem,  die  nicht  Go 
sind,  gewährte  Leistung  entbehrt,  im  Vc 
hältnisse  zu  einer  Geldsumme,  für  den  Ei 
pfänger  auch  der  Bestimmtheit. 

Aus  demselben  Gnmde  werden  in  <\ 
geldwirtschaftlichen  Epoche  auch  z  w  a  n  a- 
weise  auferlegte  Leistungen  (SU 
ern,  Vermögensbussen  u.  s.  f.)  übei-all  de 
wo  es  sich  nicht  um  Zwangsleistungen  v 
Gebrauchsgütern  (um  Requisitionen,  Na 
ralabgabcn  für  den  Eigengebrauch  des  E 
pfängers  u.  s.  f.),  sondern  schlechthin  i 
Vermögensquanten  handelt,  am  zwe» 
massigsten  in  Geld  normiert.  Sowohl 
allgemeine  Rücksicht  auf  die  Ökonom is( 
Zweckmässigkeit  als  auch  die  speci« 
Rücksicht  auf  die  Bestimmtheit  einseiti 
Vermögensleistungen,  führen  dazu,  dass  di 
letzteren  regelmässig  in  Geld  erfolgcni. 

Das  gleiche  gut  von  subsidiär 
Vermögensleistungen.  In  der  goldw 
schaftlichen  Epoche  wird  das  Geld  z 
Repräsentanten  des  Vermögens  üborha 
Es  ist  dasjenige  Vermögensobjekt,  de? 
Besitz  oder  Ei'werbung  bei  jedem  zu  ei 
vermögensrechtlichen  Leistung  Vorpflic! 
ten  schlechthin  vorausgesetzt  wenlcMi  ki 
Vermag  der  letztere  eine  anderweitigo  U 
bedungene  oder  ihm  auferlegte)  vei-niüg« 
rechtliche  Leistung  nicht  zu  orftillen, 
tritt  am  zweckmässigsten  die  Geldlei s1 
an  ihre  Stelle,  weil  zumeist  nur  dio  letz 
dem  Berechtigten  die  ökonomischeste  ¥ 
des  Ersatzes  für  die  entgangene  I^eisi 
zu  bieten  vermag,  i) 


»)  S.   B.  Windscheid,   Lchrb.    d. 
dektenrechU,  II.  §  256. 


Geld 


81 


Sobald  eine  Ware  als  allgemein  ge- 
bräuchliches Tauschmittel  funktioniert,  wird 
dieselbe  zugleich  zum  zwoc-kmässigsten 
Mittel  für  einseitige  (freiwillige  und  zwangs- 
weise auferlegte)  und  für  subsidiäre  Ver- 
mögensleistungen . 

VI.  Das  Geld  als  Vermittler  des 
Kapitalverkehrs. 

Sobald  ausgebildete  Tauschmittel  funk- 
tionieren, pflegt  in  jenen  Fällen,  wo  es  sich 
nicht  um  eine  blosse  Sachmiete  handelt, 
die  leihweise  Ueberlassung  von  Vermögen, 
aas  Gründen,  welche  sich  aus  dem  bereits 
Gesagten  ergeben,  am  vorteilhaftesten  in 
Quantitäten  des  allgemein  gebräuchlichen 
Tauschmittels  zu  erfolgen,  zumal  wenn  das 
letztere,  wie  dies  dem  Gelde  entwickelter 
Volkswirtschaften  eigentümlich  zu  sein 
pflegt,  einen  hohen  Grad  von  Vertretbarkeit 
aufweist.  In  der  geldwirtschaftlichen  Epoche 
erhält  der  Empfänger  eines  in  »Geld«  be- 
stehenden Konsumtionsdarlehens,  wenn  von 
der  Kreditierung  von  Konsumartikeln  abge- 
sehen w4rd,  das  ihm  übergebene  Vermö- 
gensquantum regelmässig  in  der  für  seine 
Aufwandwirtschaft  zweckmässigsten  Form; 
der  Entlehner  von  Geldsummen  für  Pro- 
duktionszwecke diuxih  die  Leihsummen  aller 
Eegel  nach  (abgesehen  von  der  Kreditierung 
der  Produktionsmittel)  die  für  ihn  zweck- 
mässigste  Form  des  ünternehmervermögens. 
Wo  tnereits  ausgebildete  Tauschmittel  funk- 
tionieren, pflegt,  einerseits  aus  dem  obigen 
Grunde,  andererseits  auch  um  der  Be- 
stimmtheit von  Leistung  und  Gegen- 
leistung willen,  dem  Entlehner  keine  Form 
des  Darlehens,  und  deshalb  auch  denjenigen, 
welche  aus  der  leihweisen  Ueberlassimg 
von  Gütern  an  andere  Personen  ein  Ein- 
kommen zu  ziehen  suchen,  keine  Form  des 
Stammvermögens  erwünschter  zu  sein  als 
die  des  Geldkapitals.  Das  Geld  wird  we- 
sentlich infolge  seiner  Funktion 
alsTauschmittel  zum  hauptsächlichsten 
Vermittler  des  Kapitalverkehrs,  zum  wich- 
tigsten Leihmittel.  Ja,  es  giebt  in  Wahr- 
heit, nächst  der  Funktion  des  Geldes  als 
Tauschmittel  (als  Vermittler  des  Waren- 
marktes!) und  als  Thesaurierungsmittel, 
keine  andere,  welche  so  beträchtliche  Quan- 
titäten von  Geld  in  Anspruch  nimmt  und 
eine  so  hohe  Bedeutung  für  die  Volkswirt- 
schaft aufweist  als  die  Funktion  des  Geldes 
als  Vermittler  des  Kapjtalverkehrs  (des 
»Geldmai'ktes«). 

VIL  Das  Geld  als   Mittel  für  Thesau- 

riernng,  KapitaUsierung  und  interlokale 

Vermögensübertragnng. 

Damit  ein  Gut  ein  zweckmässiges  The- 
saurienmgsmittel  sei,  muss  es  dauerhaft, 
kostbar,  mit  möglichst  geringen  Ökonomischen 


Opfern  und  Belästigimgen  zu  verwahren, 
überdies  gegen  eine  empfindliche  Älinderung 
seines  Wertes  gesichert  sein.  Diese  Eigen- 
schaften finden  sich  in  dem  erforderlichen 
Masse  nicht  notwendig  bei  den  zu  allgemein 
gebräuchlichen  Tauschmitteln  gewordenen 
Gütern.  Es  kann  vielmelir  ein  Gut  unter 
Umständen  das  geeignetste  Tauschmittel, 
dagegen  ein  melir  oder  minder  ungeeignetes 
Thesaurierungsmittel  sein.  Die  Geschichte  der 
Volkswirtschaft  bietet  uns  denn  auch  Bei- 
spiele von  Zuständen,  unter  welchen  bestimmte 
Wai*en  als  allgemein  gebräuchliche  Tausch- 
mittel funktionierten,andere(Edelsteine,Perlen 
und  sonstige  Kostbarkeiten)  bevorzugte  Mittel 
für  Thesaurienmgen  waren.  Nicht  das  Geld 
als  solches  gewinnt  den  Charakter  eines 
allgemein  gebräuchlichen  Thesaurierungs- 
mittels.  Es  ist  ungenau,  von  einer  Fimktion 
des  Geldes  (des  Geldes  schlechthin!)  als 
Thesaurierungsmittel  zu  sprechen.^) 

Dass  die  allgemein  gebräuchlichen  Tausch- 
mittel so  häufig  zugleich  zu  besonders  be- 
vorzugten (wo  gemünzte  Edelmetalle  cirku- 
lieren,  diese  und  ihre  Surrogate  aUer  Regel 
nach  zu  nahezu  ausschliesslich  gebräuch- 
liolien)  Thesaiuierungsmitteln  werden,  er- 
klärt sich  indes  nicht  nur  aus  dem  Um- 
stände, dass  einige  der  wichtigsten  Eigen- 
scliaften,  welche  dazu  beitragen,  bestimmte 
Waren  zu  allgemein  gebräuchlichen  Tausch- 
mitteln zu  machen,  auch  für  die  Wahl  der- 
selben zu  Thesaurierungsmitteln  von  grossem 
Einflüsse  sind.  Es  besteht  vielmehr  auch 
ein  innerer  Zusammenhang  zwischen  der 
Funktion  bestimmter  Waren  als  Geld  imd 
der  Wahl  derselben  für  den  Zweck  der 
Thesaurierung. 

Mit  der  fortschreitenden  Arbeitsteilung 
und  der  wachsenden  Abhängigkeit  der  ein- 
zelnen Wirtschaften  vom  Markte  gewinnen 
gerade  Tauschgüter  für  Thesaurierungs- 
zwecke  eine  wachsende  Bedeutung,  unter 
diesen  aber  ganz  vorzugsweise  die  Tausch- 
mitteL  Wer  Tauschgüter  anderer  Art  thesau- 
riert,  muss,  falls  er  zu  dem  angesammeltenVor- 
rate  die  Zuflucht  nimmt,  dieselben  gemeinig- 
lich erst  gegen  das  allgemeine  Tauschmittel 
imisetzen,  während  derjenige,  welcher  das 
letztere  thesauriert  hat,  die  Mühe,  die  Un- 
sicherheit und  die  allfälligen  ökonomischen 
Opfer  dieses  Umsatzes  vermeidet  oder  aber 
bereits  überwunden  hat.  Nur  Waren, 
welche  die  Eigenschaften  der  Dauerhaftig- 
keit, der  Kostbarkeit  und  der  Wertbestän- 
digkeit aufweisen  und  mit  relativ  geringen 
Kosten  und  Beschwerden  verwahrt  werden 
können,  eignen  sich  zu  Thesaurierungsmitteln, 
unter  den  Gütern  dieser  Art  indes  ganz 
vorzugsweise  die  allgemein  gebräuchlichen 
Tauschmittel.    Umgekehrt  ist  die  besondere 


^)  Knies,  Geld,  1885,  S.  224  ff. 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Anfla^e.     IV. 


82 


Geld 


Eignung  eines  Gutes  zu  Thesaurierungs- 
zwecken  imd,  als  Folge  hiervon,  die  ver- 
breitete Verwendung  desselben  für  den  obigen 
Zweck  eine  der  wichtigsten  Ursachen  ihrer 
relativ  grossen  Marktgängigkeit  (s.  oben  S. 
63  ff.)  und  somit  ihrer  Eignung  zum  Tausch- 
raittel.  Es  liegt  in  der  Natur  dieses  Verhält- 
nisses, dass  die  allgemein  gebräuchlichen 
Tauschmittel  regelmässig  zugleich  bevor- 
zugte Thesaurierungsmittel  sind. 

Das  Gesagte  gilt  nicht  nur  von  der 
Thesaurierung  im  engeren  Verstände  (der 
Ansammlung  von  Vermögen  für  die  Auf- 
wandwirtschaft), sondern  auch  von  der  mit 
steigendem  Verkehre  und  wachsender  Rechts- 
sicherheit zu  immer  grösserer  Bedeutung 
gelangenden  Ansammlung  von  beweg- 
lichem Produktivvermögen.  Bei 
entwickelter  Arbeitsteilung  ist  der  Produzent 
rücksichtlich  der  ihm  erforderlichen  Pro- 
duktionsmittel im  nämlichen  Masse  vom 
Markte  abhängig,  wie  der  Konsument  rück- 
sichtlich der  Genussgüter.  Auch  derjenige, 
welcher  Vermögen  für  produktive  Zwecke 
ansammelt,  wird  deshalb  die  ihm  in  Hin- 
kunft erforderlichen  Produktionsmittel  sich 
durch  einen  Vorrat  von  Tauschgütern,  am 
zweckmässigsten  und  ökonomischesten  durch 
einen  solchen  von  Geld  zu  sichern  trach- 
ten; all  dies  in  um  so  höherem  Masse, 
je  fortgeschrittener  die  Volkswirtschaft  ist. 
In  der  letzteren  wird  das  Geld  zugleich  das 
zweckmässigste  Mittel  für  die  Ansamrohmg 
von  beweglichem  Produktiv\^ermögen. 

Aus  den  nämlichen  Grfinden  und  unter 
den  nämlichen  beschränkenden  Voraus- 
setzungen findet  das  Geld  vorzugsweise  auch 
dort  Anwendung,  wo  es  sich  nicht  um  eine 
eigentliche  Thesaurierimg  oder  Kapitali- 
sienmg,  sondern  ledigUch  daiiim  handelt, 
minder  dauerhafte  oder  wertbeständige  Güter 
gegen  dauerhaftere  oder  w^ertboständigere 
umzusetzen,  um  das  durch  die  ersteren  dar- 
gesteDte  Vermögen  der  Wirtschaft  zu  er- 
halten; ebenso  dort,  wo  die  Absicht  der 
Wirtschaftssubjekte  auf  interlokale  Ver- 
mögensübertragmigen  mittelst  Tauschgütern 
gerichtet  ist. 

VIIL  Das  Geld  als  Preismesser. 

Wird  es  als  eine  Forderung  der  »aus- 
gleichenden Gerechtigkeit«  hingestellt,  dass 
beim  Güteraustausche  jeder  der  beiden 
Kontrahenten  Güter  von  gleichem  »Werte« 
—  ein  gleiches  »Wertquantum«  —  erhallen 
müsse,  widrigenfalls  der  eine  Teil  beim 
Tauschgeschäfte  ebensoviel  an  >Wert«  ver- 
liere, als  der  andere  an  »Wert«  gcA\anne, 
(quidquid  alicui  adjioitur  alibi  detrahitur): 
so  stellt  sich,  wie  seit  Aristoteles  un- 
zählige Male  wiederholt  worden  ist,  die 
Notwendigkeit  heraus,  den  Wei-t  der  im 
Verkehre  auszutauschenden  Güter   vor  Ab- 


schluss  des  Tauschgeschäftes  zu  messen, 
ihn  auszugleichen.^)  Dies  erfolgt  nach 
der  obigen  Lehre  in  der  Weise,  dass  der 
Wert  der  auszutauschenden  Güter  durch  das 
Geld  (die  Geldeinheit)  gemessen  und  hierauf 
Güter  von  gleichem  Tauschw^erte  (»gleiche 
Tauschwertc[uanten  umfassende  Güter«)  gegen 
einander  hingegeben  werden.  Das  Geld 
funktioniere  solcherart  im  Güterverkehre  als 
ein  Preismesser. 

Der  obigen  Lehrmeinung  liegt  der  Ge- 
danke zu  Grunde,  dass  die  beim  Tausch- 
geschäfte massgebende  Rücksicht  der  »gleiche 
Tauschwert«  der  auszutauschenden  Güter 
sei.  Dies  widerspricht  indes  den  wirklichen 
Absichten,  welche  die  wirtschaftenden 
Menschen  bei  Güterumsätzen  verfolgen.  Sie 
unternehmen  aller  Regel  nach  einen  Güter- 
austausch nur  dann,  wenn  hierdurch  jeder 
der  beiden  Kontrahenten  seine  ökonomische 
Lage  zu  verbessern  Aussicht  hat,  und 
nur  innerhalb  der  durch  diese  Rücksicht 
gebotenen  Grenzen.  Eine  »Wertgleicli- 
heit«  der  Tauschgüter  herzustellen,  in 
welchem  Sinne  dieselbe  auch  immer  aufge- 
fasst  werden  mag,  ist  nicht  das  Ziel  der 
Tauschenden.  Die  wirtschaftenden  Menschen 
haben  nicht  die  Absicht,  gleiche  »Nützlich- 
keiten«, gleiche  in  den  Gütern  enthaltene 
»Arbeitsmengen«  (Ricardo)  oder  »Produk- 
tionskosten« (J.  B.  Say),  »Güter  von  gleicher 
gesamtwirtschaftlicher  Nützlichkeit«  (G  o  1  d  - 
Schmidt)  oder  wohl  gar  »gleiche  Quanti- 
täten fungibeln,  von  den  Gütern  umschlosse- 
nen Gebrauchswertes«  (Knies)  auszu- 
tauschen ;  sie  tauschen  um  ihres  ökono- 
mischen Vorteils  willen,  —  nicht  um  Gleiches 
gegen  Gleiches  hinzugeben,  sondern  lun  ihre 
Bedürfnisse  so  vollständig,  als  unter  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  dies  zulässig  ist,  zu 
befriedigen. 2) 

Das  Streben  nach  Verbessenmg  ihrer 
ökonomischen  Lage  ist  indes  —  was  hier 
der  entscheidende  Punkt  ist  —  zugleich  für 
die  Preisbildung  massgebend.  Jeder 
der  beiden  Kontrahenten  gewährt  dem 
anderen  im  Austausche  gegen  dessen  Güter 

^)  „So  wenig  eine  Gemeinschaft  möglich  wäre 
ohne  Austausch,  so  weni^  ein  Austausch  ohne 
Gleichheit  und  eine  Gleichheit  ohne  gemein- 
schaftliches Mass"  (Ar ist,  Nik.  Eth.,  V.,  7 ff.; 
Polit.  I,  6);  s.  die  Litteratur  in  meinen 
Grunds,  d.  V.  L.,  S.  173. 

*)  Vgl.  meine  Grundsätze  d.  V.L.,  S.  leOfL; 
E.  v.  Boehm-Bawerk,  Grundzüge  der  Theorie 
des  wirtschaftlichen  Güterwertes  (Jahrb.  f.  Nat. 
u.  Stat.,  1886,  N.  F.  XIII,  S.  483ff.,  msbes.  489ff.); 
E.  Sax,  Grundlegung  der  theoretischen  Staats- 
wirtschaft, 1887,  S.  271  ff.  und  276  ff.;  Fr.  v. 
Wies  er,  Der  natürliche  Wert,  1889,  S.  3()0ff., 
:-i52fl',  Litteratur  ebend  S.  44 ff.,  88 ff.;  R. 
Zuckerkandl,  Zur  Theorie  des  Preises,  1889, 
passim;  E.  v.  Ph  ilippovich,  Grnndriss,  3. 
Aufl.,  S.  204  und  221. 


Geld 


83 


mir  eine  solche  Quantität  seiner  eigenen 
Güter,  dass  er  hierbei,  den  obigen  Zweck, 
die  Verbesserung  seiner  wirtschaftlichen 
Lage,  zu  erreichen,  die  Aussicht  hat.  Das 
Streben  der  Kontrahenten,  ihren  Gtiterbe- 
darf  so  vollständig  zu  decken,  als  dies  der 
Sachlage  nach  möglich  ist,  ist  nicht  nur  die 
Ursache  des  Güteraustausches  überhaupt, 
sondern  insbesondere  auch  die  mass- 
gebende Rücksicht  für  die  im  Aus- 
tausche hingegebenen  Gütermengen,  für  die 
Preisbildung. 

In  der  That  sehen  wir  denn  auch,  dass 
lange  bevor  Geld  eirkulierte,  also  schon  ehe 
das  Geld  überhaupt  als  »Preismesser«  (in 
dem  hier  massgebenden  Sinne)  funktionieren 
konnte,  Güter  (und  zwar  jedenfaUs  doch  be- 
stimmte Quantitäten  von  solchen)  im  Aus- 
tausche gegen  einander  hingegeben  wiuxlen, 
-wobei  die  wirtschaftenden  Menschen  aller 
Regel  nach  nur  ihre  Bedürfnisse,  die  ihnen 
verfügbaren  Gütermengen,  endlich  die  sub- 
jektive Bedeutung  der  betreffenden  Güter 
für  ihre  Wirtschaften  in  Betracht  zogen. 
Durch  den  Eintritt  des  Geldes  in  seine 
Punktion  als  Tauschvermittler  wurde  der 
Vorkehr  erleichtert  und  das  ökonomische 
Kalkül  ein  genaueres;  das  Wesen  des 
Tausches  ist  hierdurch  indes  kein  anderes 
geworden.  Auch  auf  den  Märkten  der 
geld wirtschaftenden  Epoche  ist  das  ökono- 
mische Streben  derKontrahenten  (das  Streben 
ihren  Güterbedarf  so  vollständig,  als  dies 
der  vorhandenen  Sachlage  nach  möglich  ist, 
zu  decken)  nicht  nur  für  Kauf  und  Verk  af 
überhaupt,  sondern  auch  für  die  Preis- 
bildung die  massgebende  Rücksicht.  Es 
bedarf  für  den  obigen  Zweck  (für  die  Fest- 
stellung der  beim  Gütertausche  den  ökono- 
mischen Interessen  der  Kontrahenten  ent- 
sprechenden Güterqiianten !)  keiner  vorher- 
gehenden Messung  des  »Tauschwertes«  der 
umzusetzenden  Güter  durch  den  »Tausch- 
wert« des  Geldes.^) 

*)  Die  Autoren,  welche  der  hier  bekämpften 
Lehre  folgen  oder  durch  dieselbe  doch  unbe- 
wnsst  beeinflüsst  werden,  sind  hauptsächlich 
durch  den  Umstand  irregeführt  worden,  dass 
auf  einigermassen  entwickelten  Märkten  die 
einzelnen  Kontrahentenpaare  bei  Feststellung 
der  Preise  nicht  ausschliesslich  durch  ihre  sub- 
jektive Bewertung  der  Güter,  sondern  zu- 
gleich durch  die  Konkurrenz  im  Angebote  und 
in  der  Nachfrage  der  übrigen  Marktgenossen 
(bezw.  durch  die  aus  der  Konkurrenz  im  An- 
gebote und  in  der  Nachfrage  sich  ergebenden 
Marktpreise)  beeinflüsst  werden.  (Vgl. 
meine  Grunds,  d.  V.L.,  S.  201  ff.).  Wer  z.  B. 
auf  einem  Markte  für  seine  Güter  von  einem 
Marktgenossen  selbst  solche  Güter  eintauschen 
kfmnte,  die  für  ihn  (subjektiv)  einen  höheren  Wert 
haben  s.U  die  ersteren,  weist  dies  Geschäft  (ob- 
zwar  er  hierdurch  seine  wirtschaftliche  Lage 
subjektiv  verbessern  könnte!)  doch  regelmässig 


Hätten  indes  die  Kontralienten  bei 
Tauschgeschäften  selbst  die  Absicht,  den 
Tauschwert  der  auszutauschenden  Güter 
vorher  (vor  dem  Abschluss  des  Gescliäftes) 
durch  den  Tauschwert  des  Geldes,  etwa  durch 
denjenigen  der  Geldeinheit,  zu  messen:  so 
wäre  doch  nicht  abzusehen,  wie  sie  diese 
Absicht  zu  verwirklichen  vermöchten,  da  der 
Wert  eines  Gutes  doch  nicht  mit  einem 
Geldstücke  gemessen  werden  kann,  jede 
Schätzung  des  »Güterwertes«  vielmehr  nur 
auf  der  Grundlage  von  Preisen  erfolgen 
kann,  also  bereits  die  Kenntnis  von  Preisen 
voraussetzt,  die  ohne  vorhergegangene 
»Messung  des  Tauschwertes«  der  betreffenden 
Güter  entstanden  sein  mussten.  Der  Ge- 
danke, dass  vor  jedem  Güteraustausche  eine 
Messung  des  Tauschwertes  der  auszu- 
tauschenden Güter  durch  den  Tauschwert 
des  Geldes  erfolgen  müsse,  oder  thatsäclüich 
erfolge,  und  das  Geld  ein  »Preismesser«  in 
diesem  Sinne  sei,  ist   ein   Miss  Verständnis. 

Soll  von  der  »Funktion  des  Geldes  als 
Preismesser«  (in  einer  den  thatsächlichen 
ökonomischen  Verhältnissen  entsprechenden 
Weise)  überhaupt  die  Rede  sein,  so  kaim 
dies  nur  in  einem  wesentlich  andern  Sinne 
geschehen.  Sobald  auf  einem  Markte  Tausch- 
mittel funktionieren,  finden,  als  Konsequenz 
dieser  Thatsache,  die  Gütenimsätze  aller 
Regel  nach  durch  Vermittelun^  des  Geldes 
statt.  Die  Güter  werden  gememiglich  nicht 
mehr  unmittelbar  gegen  einander  ausge- 
tauscht, sondern  gegen  Quantitäten  von 
Geld  veräussert  imd  erworben,  die  ver- 
schiedenen Güter  gegen  eine  verschiedene 
Anzahl  von  Masseinheiten  der  zum  Tausch- 
mittel gewordeneu  Ware.  Es  bestehen  so- 
mit auf  unseren  Mäi'kten,  als  Ergebnis 
des  Spiels  der  individuellen  ökonomischen 
Interessen,  für  alle  Waren  in  Emheiten 
des  Tauschmittels  (in  Geldeinheiten)  aus- 
gedrückte Preise,  welche  uns  eine  Yer- 
gleichung  der  Grösse  dieser  letzteren  ge- 
statten. Z.  B.  das  Gut  A  habe  einen  Ver- 
kaufspreis von  50,  das  Gut  B  einen  solchen 


zurück,  wenn  er  die  ihm  angebotenen  Güter 
für  ein  geringeres  Quantum  seines  Gutes  von 
einem  anderen  Markt^fenossen  zu  erwerben  ver- 
mag. Wir  berücksichtigen  bei  Güterumsätzen 
thatsächlich  nicht  nur  unsere  subjektiven  Wert- 
urteile, sondern,  in  Verfolgung^  unseres  ökono- 
mischen Interesses,  auch  die  (mfolge  des  Spiels 
der  individuellen  Interessen  der  übrigen  Marktge* 
nossen)  sich  bildenden  Marktpreise.  In  dieser  Be- 
rücksichtigung der  konkurrierenden  Interessen 
der  übrigen  Marktgenossen  liegt  indes  doch 
keine  „Messung  der  Güterpreise".  Es  ist  viel- 
mehr klar,  dass  auch  in  diesem  Falle  die  öko- 
nomischen Bestrebungen  der  wirtschaftenden 
Menschen  nicht  nur  für  den  Abschluss  der 
Tauschgeschäfte  überhaupt,  sondern  auch  für 
die  Grösse  der  ausgetauschten  Güterquantitäten 
(für  die  Preisbildung!)  massgebend  sind. 

6* 


84 


Geld 


von  30,  das  Gut  C  von  200  Mark.  Wenn 
in  diesem  einfachen  und  gemeinverständ- 
lichen Vorgange  eine  »^lessung  der  Gtiter- 
preise  durch  das  Geld«  gefunden  und  dem 
Gelde  aus  diesem  Grunde  diu^cliaus  »die 
Funktion  eines  Preismessers«  zugeschrieben 
werden  soll,  dann  ist  dagegen  nichts  ein- 
zuwenden. Niu'  muss  festgehalten  werden, 
dass  es  sich  hierbei  niclit  um  eine  der 
Preisbildung  vorangehende  Messung  emes 
»von  den  auszutauschenden  Gütern  um- 
fassten  Tauschwertes«  durch  den  »Tausch- 
wert des  Geldes«,  sondern  um  eine  ein- 
fache Vergleich ung  der  aus  dem  Spiel 
der  ökonomischen  Intei-essen  sich  ergebenden 
in  Geld  ausgedrückten  Preise  handelt. 

IX.  Das  Geld  als  Massstab  des  Tansch- 
wertes  der  Güter. 

1.  Einleitmig.  Die  Ermittelung  eines 
Masses  der  Mittel  und  Ergebnisse  der  Wirt- 
schaft, der  eigenen  sowohl  als  derjenigen 
von  Personen,  mit  denen  wir  durch  Verkehr 
verbunden  sind  oder  sonst  in  geselligen 
Beziehungen  stehen,  ist  in  überaus  zahl- 
reichen Fällen  des  privaten  und  öffentlichen 
Lebens  (bei  Erbteilungon  und  sonstigen 
Vermögensauseinandersetzungen ,  bei  Ehe- 
kontrakten, bei  Kreditgeschäften,  bei  Steuer- 
veranlagungen,  bei  der  Festsetzung  von 
Vermögensbussen  u.  s.  f.)  von  der  grössten 
praktischen  Wichtigkeit,  ja  die  Grundlage 
und  Voraussetzung  zweckentsprechenden 
Handelns.  Auch  die  Ermittelung  des  Masses 
der  Bedeutung  bestimmter  Güter  und 
Güterkomplexe  für  die  Wirtscliaft  gewisser 
Personen  oder  Personen\  erbände  ist  bei 
zahlreichen  Akten  des  Wirtschaftslebens 
(bei  Veräussenmgen ,  Vei-pfändungen,  Ent- 
schädigungen, Enteignimgen,  Versicheriuigen, 
JRentabilitätsberechnungen  u.  s.  f.)  die  un- 
entbehrliche Voraussetzung  zweckmässiger 
Wirtschaftsfühning. 

In  der  naturalwirtschaftlichen  Epoche 
vermag  man  zu  einem  urteile  über  den 
Vermögensbesitz  oder  über  die  periodischen 
Eingänge  einer  Person  nur  durch  die 
Aufzählung  der  natm*alen  Bestandteile  ihres 
Vermögens  oder  der  naturalen  Zuflüsse 
ihrer  Wirtschaft  zu  gelangen.  Die  ältesten 
Nachrichten  über  den  Vermögensbesitz  und 
die  Einkünfte  bestimmter  Personen  sind 
•  denn  auch  von  dieser  Art.  Es  wird  die 
Zahl  der  den  Vormögen sbesitz  derselben 
bilderden  Herden,  Liiiulgfiter,  Sklaven 
u.  s.  f.,  bezw.  die  Art  und  Menge  der  Güter 
(Ochsen,  Schafe,  Getreide,  Butter,  Käse, 
Wein,  Honig,  Flachs  u.  s.  f.)  aufgezählt, 
welche  den  betreffenden  Personen  innerhalb 
bestimmter  Zeitperioden  für  ihren  Verbrauch 
zu  Gebote  standen.  Auch  ein  Urteil  über 
die  Bedeutung  einzelner  Güter  und  Güter- 
komplexe  (insbesondere  auch  ein  Urteil  über 


die  relative  Bedeutung  derselben)  für  die 
Wirtschaft  des  Eigentümers  oder  Niitz- 
niessers  können  in  dieser  Epoche  nur  durch 
die  Kenntnis  der  natürlichen  Beschaffenheit 
der  Güter  und  ilirer  Stellung  in  der  Wirt- 
schaft der  obigen  Personen  gewonnen  werden. 

Die  UraständUchkeit  dieses  der  natural- 
wirtscliaftlichen  Epoche  eigentümlichen 
VerfaJu'ens  führt  bei  Ermittelung  und 
Daretellung  von  Vermögensverhältnissen 
dazu,  dass  man  sicli  aller  Regel  nach  auf 
die  Aufzählung  der  hauptsächlichen 
Bestandteile  des  Vermögens  oder  der  perio- 
dischen Zuflüsse,  insbesondere  aber  auf  die 
Aufzählung  derjenigen  Güter  beschränkt, 
welche  einen  Rückschluss  auf  die  allgemeine 
Wirtschaftslage  der  Personen  gestatten,  dercui 
Vermögen  und  Einkommen  in  Fiage  sind.  Eh 
ist  dies  ein  Mangel  des  obigen  Verfahrens, 
zu  dem  noch  der  grössere  hinzutritt,  dasj: 
selbst  die  aufgezälilten  Vermögensobjektc 
zumeist  nur  nach  Art  und  Zahl  bestimmt 
werden,  eine  genaue  Beschreibimg  der  ein- 
zelpen  Vermögensobjekte  dagegen  regel- 
mässig unterbleibt.  — 

Sobald  der  Güterverkehr  ein  regelmässi 
ger  wird  und  die  Entwickelimg  desselbei 
und  der  Geldwirtschaft  mehr  und  mehr  dazi 
fülu*t,  dass  die  Güter  aller  Kegel  nach  fü 
Geld  erworben  und  gegen  Geld  umgcsetz 
werden  können,  entsteht  ein  neues,  fib*  di 
Bedürfnisse  des  praktischen  Lebens  überau 
wertvolles  Mittel  zur  Gewinnimg  eines  üi 
teils  über  die  eigenen  und  fi-emden  Vei 
mögens Verhältnisse  und  über  die  relativ 
Bedeutung  bestimmter  Vermögensobjekte  f  i 
die  Wirtschaft.  Wer  ein  Urteil  diest^r  A 
gewinnen  will,  vermag  diesen  Zweck  fortii 
in  einer  wesentlich  vereinfachten  und  st»l 
übersichtlichen  Weise  zu  erreichen,  indt^ 
er  die  Geldbeträge,  für  welche  die  betivffo 
den  Güter  auf  dem  Markte  voraussichtlic 
veräussert  oder  erstanden  werden  könnr 
feststellt  oder  auf  dem  Wege  der  Mitteihii 
zur  Kenntnis  nimmt.  Es  bedarf  fortan 
zahlreichen  Fällen  des  Wirtschaft  siebe 
nicht  melir  einer  Aufzählung  aller  Hestaii 
teile  eines  Vermögens  oder  Einkommens,  i 
sich  über  die  Grösse  der  letzteren  zu  luitt 
richten,  ebenso  wenig  der  genauen  i: 
Schreibung  eines  Wirtschaftsobjektos ,  i 
sich  über  dessen  relative  wirtschaftliche  I 
deutung  ein  Urteil  zu  bilden.  Es  gern" 
nunmehr  in  mannigfacher  Rücksicht  < 
Kenntnis  des  in  Geld  ausgedrückten  Taus< 
wertes  (des  Geldwertes)  der  betroffene 
Güter  und  Güterkomplexe  für  diesen  Zwo 

2.  Ob  die  Sehätznng  der  Güter  in  G< 
als  eine  Messung  ihres  Tauschwertes 
betrachten  sei?  Die  Schätzung  der  Gi'v 
zmnal  eine  solche  in  Geld,  hat  eine  gowi 
äussere  Aehnlichkeit  mit  einer  M  o  s  s  u  i 
mit  einem  Verfalu-en,  durch  welches  die  i 


Geld 


85 


noch  unbekannte  Grösse  eines  Objektes  durch 
die  Vergleichung  mit  einer  bekannten,  als 
Einheit  angenommenen,  gleichartigen  Grösse 
festgestellt  werden  soll. 

Wird  im  Anschluss  an  den  wissenschaft- 
lichen Sprachgebrauch  die  Güterquantität^ 
welche  für  ein  Gut  im  Verkehr  erlangt, 
oder  diejenige,  für  welche  das  Gut  im  Ver- 
kehr erworben   werden  kann^)   (das    >Ver- 


^)  Die  meisten  Darstelluiigeu  der  Geldlehre 
gehen  Ton  der  Voraussetzung  aus,  dass  auf  dem 
nämlichen  Markte  und  im  nämlichen  Zeitpunkte 
alle  Waren  in  einem  bestimmten  Austauschver- 
hältnisse zu  einander  stehen,  auf  Grund  dessen 
sie  beliebig  gegen  einander  umgesetzt  —  eben- 
sowohl erstanden  als  veräussert  —  werden  können, 
z.  B.  X  Centner  Eisen  =  y  Centner  Steinkohlen 
=  z  Centner  Kupfer.  Diese  Meinung,  welche  ins- 
besondere  für  die  Lehre  vom  Gelde  als  „Preis- 
messer* und  „Massstab  des  Tauschwerts*'  eine 
^grundlegende  Bedeutung  gewonnen  hat,  ist  eine 
irrtümliche,  auf  einer  erfahrungswidrigen  Fiktion 
beruhende.  Der  „Tauschwert'*  der  Güter  ist 
keine  einheitliche  Grösse;  er  bewegt  sich  viel- 
mehr aller  Eegel  nach  zwischen  den  Grenzen 
eines  Angebot-  und  eines  Nachfragepreises,  z.  B. 
der  Tauschwert  der  Masseinheit  einer  Ware 
zwischen  9,50  Mark  und  10  Mark.  Zu  dem 
ersteren  Preise  wird  die  Ware  gesucht,  kann 
für  denselben  demnach,  insolange  die  Konjunktur 
keine  Aenderung  erfahren  hat,  in  jedem  Momente 
veranssert  w^erden;  zu  dem  letzteren  wird  sie 
angeboten,  kann  demnach  um  diesen  Preis  je- 
weilig erstanden  w'erden.  (S.  die  theoretische 
Begründong  in  meinen  Grundsätzen  d.  V.L, 
S.  172  u.  272 ff.)  Die  obige  Thatsache  ist  für 
die  Lehre  vom  Masse  des  Güterwertes 
von  grosser  Wichtigkeit,  da  diese  Lehre  durch- 
aus auf  der  Eingangs  erwähnten  irrigen  An- 
nahme aufgebaut  zu  werden  pflegt.  (lold- 
schmidt  schliesst  sich  (Handelsrecht,  11, 1883, 
S.  88,  Note  20)  meiner  Meinung  an,  dass  es  in 
Wirklichkeit  keine  „objektiven  Aeqnivalente** 
in  dem  von  der  Volkswirtschaftslehre  und  der 
Jurisprudenz  gemeiniglich  präsumierten  Sinne 
gebe.  „Immerhin,"  meint  er,  „beruhe  der 
Gesamttauschverkehr  auf  einer  Gleichstell ang 
eines  gewissen  Quantums  des  Gntes  x  mit  einem 
gewissen  Quantum  des  Gutes  y  hinsichtlich 
ihrer  gesamtwirtschaftlichen  Nützlichkeit  und 
insofern  sei  (beispielsweise)  100  x  gleichwertig 
(Aeqaivalent  von)  50  y."  Hiergegen  muss  ein- 
gewendet werden,  dass  eine  „gesamtwirtschaft- 
liche" (von  der  subjektiven  Beziehung  der  Güter 
zu  den  wirtschaftenden  Individuen  abstra- 
hierende!) Nützlichkeit,  wie  sie  von  Goldschmidt 
und  einzelnen  Wirtschaftstheoretikern  ange- 
nommen wird,  in  Wahrheit  ebensowenig  besteht, 
als  das  von  ihnen  präsumierte  Quantitätenver- 
hältnis 100  X  =  50  y  u.  s.  f.  Es  giebt  keinen 
Markt,  wo  IPO  x  gegen  öO  y  und  umgekehrt 
beliebig  umgesetzt  werden  könnten.  £s  ist 
dies  übrigens  eine  Fiktion,  deren  die  Jurispru- 
denz nicht  nur  nicht  bedarf,  sondern  die  sie, 
mit  Rücksicht  auf  die  hier  hauptsächlich  in  Be- 
tracht kommenden  Probleme  der  subsidiären 
Leistungen  überhaupt  und  des  Schadenersatzes 
insbesondere,  geradezu  zurückweisen  muss. 


kehrsäquivalent«  eines  Gutes  in  dem  oben 
definierten  Sinne),  als  dessen  »Tauschweii:«, 
und  die  betreffende  Geldquantität  (das  geld- 
wii-tsdiaftliche  »Verkehrsäquivalent«  eines 
Gutes)  als  dessen  »Tausehwert«  im  vor- 
zugsweisen Sinne  bezeichnet^):  so  stellt 
sich  der  Schätzungsakt  —  der  Vorgang, 
durch  welchen  im  konkreten  Falle  das  vor- 
her unbekannte  »Goldäciiiivalent«  eines  Gutes 
festgestellt  und  in  Geldeinheiten  ausgedrückt 
wird  — ,  in  der  That  als  eine  Art  von 
»Messimg  des  Tauschwertes«  desselben  dar. 
Wird  beispielsweise  der  uns  zunächst 
unbekannte  Geldwert  eines  Gutes  (und  zwar, 
wegen  der  Vereinfachung  des  Problems,  der 
V  e  r  k  a  u  f  s  w  e  r  t)  2)  auf  100,  derjenige  eines 
anderen  Gutes  (gleichfalls  der  Verkanfswert) 
auf  30  Mark,  der  uns  bis  dahin  unbekamite 
Geldwert  des  Vermögens  eines  Wtrtschafts- 
subjektes  auf  100000,  derjenige  eines  anderen 


Eine  wichtige  Konsequenz,  welche  sich  aus 
(fer  richtigen  Auffassung  der  Austauschverhält- 
nisse der  (jüter  ergiebt,  besteht  darin,  dass  bei 
Schätzungen  von  Gütern  diese  letzteren,  nicht 
losgelöst  von  der  Wirtschaft,  in  der 
sie  sich  befinden,  in  Geld  bewertet  werden 
dürfen,  sondern  der  obige  Umstand,  wie  dies 
in  der  fortgeschrittenen  Praxis  der  Güter- 
taxation auch  thatsächlich  geschieht,  berück- 
sichtigt werden  muss.  Es  besteht  z.  B.  ein 
Unterschied  zwischen  dem  Schätzungspreise 
(„dem  Geldäquivalente")  eines  Gutes,  je  nach- 
dem sich  dasselbe  im  Besitze  einer  Person  be- 
findet, welche  das  Gut  unmittelbar  für  ihre 
Konsumtion  oder  ihre  Produktion  benötigt,  oder 
aber  im  Besitze  einer  solchen,  für  welche  dasselbe 
nur  „Tauschwert*'  hat.  Die  einem  Gelehrten  zur 
Ausübung  seines  Berufes  nötige  Büchersammlung 
muss  auf  Grundlage  der  (höheren)  Angebot- 
preise,  die  nämliche  Bibliothek  in  den  Händen 
seiner  Erben  (aller  Regel  nach)  auf  Grund  der 
(niedrigeren)  Nachf ragepreise  bewertet  und  z.  B. 
im  Falle  eines  Schadenersatzes,  je  nachdem  der 
eine  oder  der  andere  Fall  eintritt,  das  demselben 
entsprechende  „Aequivaleut"  geleistet  werden. 
Man  erwäge  den  Schadenersatz,  welchen  der 
Besitzer  eines  für  den  Eigengebrauch  bestimmten 
künstlichen  Auges,  und  denjenij^en,  welchen  etwa 
der  Erbe  rücksichtlich  eines  im  Nachlasse  des 
ersteren  befindlichen  Objektes  dieser  Art  bean- 
spruchen kann. 

')  In  der  Sprache  des  gemeinen  Lebens  ist 
der  Ausdruck  „Tauschwert"  (bezw.  „in  Geld 
ausgedrückter  Tauschwert")  zur  Bezeichnung  des 
obigen  Begriffes  nicht  gebräuchlich.  Man  spricht 
im  Deutsclien  vom  „Geldwert  der  Güter", 
oder  vom  „Werte"  derselben  schlechthin.  In 
die  wissenschaftliche  Sprache  der  Deutschen  ist 
das  Wort  Tauschwert  hauptsächlich  durch 
den  Einfluss  der  nationalökonomischen  Litteratur 
der  Engländer  und  Franzosen  gelangt.  Ge- 
fördert wurde  die  Rezeption  dieses  Ausdrucks 
durch  den  Umstand,  dass  das  Wort  „Geldwert", 
und  zwar  gerade  in  Rücksicht  auf  Darstellungen 
der  Geldlehre,  einen  störenden  Doppelsinn  hat; 
ebenso  in  anderer  Rücksicht  das  Wort  „Wert". 
*)  Vgl.  oben  Spalte  1,  Note  1. 


86 


Creld 


auf  40000  Mark  geschätzt  und  werden  die 
solcherart  ziffermässig  festgestellten,  uns  eine 
Verglelchung  gestattenden  geldwirtschaft- 
lichen  Verkehrsäquivalente  als  »Tauschwort« 
der  obigen  Gtlter  und  Güterkoraplexe  bezeich- 
net :  so  mag  man  in  den  obigen,  im  gemeinen 
Leben  sich  unablässig  wiederholenden,  prak- 
tisch höchst  bedeutsamen  Schätzungsvor- 
gängen immerhin  eine  Messung  dos 
»Tauschwertes  der  (jüter«  und  in  dem 
Geldc  oder  in  der  Geldeinheit,  einen 
»Mass Stabe  des  letzteren  erkennen^). 

Selbst  gegen  diejenigen,  welche  den 
»Tauschw^ert«  der  Güter  (in  einem  von  dem 
obigen  abweichenden  Sinne !)  als  die  durch 
den  Besitz  der  Güter  uns  gewährte  ökono- 
mische Verfügimgsgewalt  über  die  auf  den 
Mäi'kton  befindlichen  Waren  und  über  die  ent- 
sprechenden »Geldä([uivalente«  insbesondere 
(als  die  »Tauschki^«  der  betreffenden 
Güter!)  auffassen  und  das  Geld  als  Mass- 
stab des  so  verstandenen  »Tauschwertes«  be- 
zeichnen, vermag  der  Vorwurf  einer  unrealis- 
tischen Betrachtungsweise  nicht  schlechthin 
gerichtet  zu  werden.  Wird  der  obigi^n,  gleich- 
falls dem  wissenschaftlichen  Sprachgebrauche 
der  Engländer  entlehnten  Ausdrucksweise-) 
kein  anderer  Sinn  unterlegt,  als  dass  in  der 
geld wirtschaftlichen  Ei)oche  die  Vermögen s- 
raacht  eines  W^ii-tschaftssubjektes  und  die 
Bedeutung  bestimmter  Güter  für  dasselbe 
ihren  hauptsächlichen  Ausdruck  und  ihr  Mass 
in  den  »Vorkehrsäcpiivalenten«  und  ins- 
besondere im  Geldwoi-te  seines  Güterl)Ositzes 
finde  (dass  wir  also  den  Tauschwert  der 
Güter  an  der  Grösse  des  in  Geldeinheiten 
ausgedrückten  »Verkehrsäqiuvalentes«  der- 
selben »messen«):  so  kann  auch  diese  Auf- 

*)  Der  Geldwert  des  Vermögens,  oder  des 
Eiükommens  einer  Person  ist  nur  ein  Mass  der 
Mittel,  oder  der  Ergebnisse  ihrer  Wirtschaft,  — 
nicht  schlechthin  ein  solches  ihrer  wirtschaft- 
lichen Wohlfahrt  (der  grösseren  oder  geringeren 
Vollständigkeit  der  Befriedigung  ihrer  Bedürf- 
nisse). Diese  hängt  auch  von  der  Art  und  dem 
Umfange  ihrer  Bedürfhisse  und  — -  selbst  unter 
den  nämlichen  örtlichen  und  zeitlichen  Verhält- 
nissen —  zugleich  von  ihrer  grösseren  oder 
geringeren  wirtschaftlichen  Tüchtigkeit  ab. 
Auch  ist  zu  beachten,  dass  nicht  jede  Ver- 
mehrung des  Vermögens  oder  des  Einkommens 
einer  Person  eine  streng  verhältnis- 
mässige Steigerung  ihrer  ökonomischen  Wohl- 
fahrt ermöglicht,  da  ja  jede  Vermehrung  des 
Güterbesitzes  fortschreitend  nur  die  Befriedigung 
minder  wichtiger  Bedürfnisse  der  wirtschaften- 
den Subjekte  sichert  (s.  meine  Grunds,  d.  V.L., 
S.  95  if.;  Fr.  v.  Wieser,  lieber  den  Ursprung 
und  die  Hauptgesetze  des  wirtschaftlichen 
Wertes,  1884,  S.  126 ff). 

*J  A.  S  m  i  t  h  definiert  „the  value  of  exchange 
of  an  objeet"  als  „the  power  of  purchasing 
other  goods,  which  the  possession  of  that  ob- 
jeet conveys-'  (W.  v.  N.,  B.  I,  eh.  IV.,  ed.  1776, 
p.  M). 


fassung,  obzwar  sie  in  mannigfacher  Rück- 
sicht noch  der  näheren  Bestimmung  und  Be- 
richtigimg bedarf,  doch  nicht  als  unrealis- 
tisch bezeichnet  werden.^) 


*)  Erst  dadurch,  dass  eine  Reihe  von  Wirt- 
schaf tstheoretikem    (in    Verkenn ung   des   üni- 
standes,  dass  der  in  Geld  ausgedrückte  Tausch- 
wert der  Güter  sich  als  ein  Austauschverhält- 
nis zwischen  den  KaufgUteru  und  dem  GeUle 
darstellt,  als  ein  wechselndes  Verhältnis,  welches 
im  wesentlichen  durch  das  Spiel  der  individuellen 
Interessen  der  Marktgenossen    bestimmt  wird) 
den    „Tauschwert"    der   Güter   als    etwas   den 
einzelnen  Gütern  (den  Waren  sowohl  als  dem 
Gelde)  Innewohnendes,  als  ein  denselben  innewoh- 
nend e.s  „Tauschwertquantum"   (und  nicht  etwa 
nur  bildlich,  sondern  in  vollem  Ernste,  als  eine 
„den  Gütern  innewohnende  Tauschkraft'')  und 
den  Schätzungsakt  der  Güter  in  Geldeinheiten 
als  eine  „Messung  dieses  Tauschwertquantums 
durch  das  dem  Gelde  oder  der  Geldeinheit  inne- 
wohnende Tauschwertquantum",  auffasste  (vi^l. 
noch  Knies,  Das  Geld,  2.  Aufl.  1885,  S.  146 ff. i: 
ist    die    Lehre    vom    Gelde    als   Massstab    des 
Tauschwertes  der  Güt^r  auf  eine  unrealistische 
(fiktive)  Grundlage  gestellt  worden.  —  Zu  unter- 
scheiden   von    dem    obigen    sachlichen   Irr- 
tume  ist  der  Gebrauch  des  Ausdrucks  „innerer 
Tauschwert"  im  technischenSinne.  Selbst 
diejenigen   Autoren,    welche    von    dem    obii>on 

I  sachlichen  Irrtum  nicht  beeinflusst  werden,  tre- 
brauchen  nämlich  den  Ausdruck  „innerer  Tausch- 
wert" vielfach  im  Gegensatz  zum  „äusseren 
Tauschwerte".  Sie  verstehen  unter  dem 
äusseren  Tauschwert  eines  Gutes :  das  in  (lütern 
irgend   welcher  Art,  insbesondere  aber  das  in 

iGeld  ausgedrückte  „Verkehrsäquivalent"  eines 
Gutes;  speciell  unter  dem  „äusseren  Tausch- 
werte einer  Geldsumme":  die  Quantität  von 
Kauf  gutem,  welche  im  allgemeinen  für 
diese  Geldsumme  eingetauscht  werden  kann. 
Man  spricht  in  diesem  Sinne  von  einem 
„grösseren  oder  geringeren  äusseren  Tausch- 
werte des  Geldes",  je  nachdem  (nach  Massgabc 
verschiedener  örtlicher  oder  zeitlicher  \>rbält- 
nisse!)  geo^en  gleiche  Geldbeträge  im  allge- 
meinen (im  grossen  und  ganzen)  grössere  oder 
geringere  Quantitäten  von  Kaufgütem  erstanden 
Averden  können.  In  diesem  Sinne  werden  aiidi 
die  Ausdrücke  „grössere  oder  geringere  Kauf 
beiähigung"  oder  „Kaufkraft"  des  Creldcs  i^e 
braucht.  Unter  dem  sogenannten  „innerei 
Tauschwerte"  eines  Gutes  versteht  man  da 
gegen  die  auf  scite  des  betreffendei 
Gutes  liegenden  BestimmungsgrUnd« 
des  Austauschverhältnisses  de sselbei 
mit  anderen  Gütern;  speciell  unter  dcMi 
„inneren  Tauschwerte  des  Geldes":  die  au 
Seite  des  letzteren  liegenden  Bes t immun  ij^.^ 
gründe  der  Preisbildung.  Man  spricht  in  diesei 
Sinne  von  der  „örtlichen  Verschiedenheit"  uu 
der  „Bewegung"  des  „inneren  Tauschwerte 
des  Geldes",  um  auszudrücken,  dass  die  örtlicb 
Verschiedenheit  und  die  Bewegung  der  Güte^ 
preise  (auf  verschiedenen  Märkten,  oder  ai 
dem  nämlichen  Markte  in  verschiedenen  Zv'i 
punkten)  in  Ursachen  begründet  sei ,  welcl 
nicht  in  den  Kaufgütem,  sondern  auf  sei 
des  Geldes  gelegen  sind.    Die  obigen  Aiisdi'üol 


Geld 


87 


3.  Die  praktische  Bedeutnn^  der  Be- 
wertung der  Güter  in  Geld.  Die  grosse 
praktische  Wichtigkeit  der  Feststellung  des 
m  Geld  ausgedrückten  Tauschwertes  der 
Güter  für  das  gesamte  Wirtschaftsleben, 
der  wesentliche  Fortschritt,  w^elchen  dieser 
Schat zu ngs Vorgang  gegen  das  natumlwul- 
schaftliche  Verfahren  bedeutet,  dessen  ich 
einleitend  gedacht  habe,  ergiebt  sich  be- 
reits aus  dem  Gesagten.  Es  wird  hier- 
durch ein  ungleich  übereichthcheres  und  ge- 
naueres Mass  der  Mittel  und  Erfolge  der 
Wirtschaft  ermöglicht  als  beim  naturalwirt- 
schiiftlichen  Verfahi-en  i).  Einer  der  fort- 
gesclurittensten  und  sorgfältigsten  unter  den 
neuein^n  Darstellern  unserer  Wissen scliaft 
charakterisiert  dies  in  folgender  Weise: 
„Erst  die  allgemeine  V'omahme  der  Güterwert- 
Schätzung  in  Geld  ermöglicht  genaue  Berech- 
nungen der  Produktionskosten  und  des  Ertrages 
in  den  einzelnen  Unternehmungen  und  dadurch 
ihre  genaue  Vergleichung  und  die  exakte 
quantitative  Beurteilung  des  Produktionser- 
folges für  das  Vermögen  des  Unternehmers. 
Die  Abschätzung  aller  in  die  Wirtschaft  ein- 
gehenden oder  von  ihr  ausgehenden  Güter  und 
Leistungen  in  Geld  ist  die  notwendige  Grund- 
lage jeder  Rentabilitätsberechnung  und  damit 
einer  genauen  Wirtschaftsführung.  Sie  trägt, 
gefördert  durch  den  Wettbewerb  der  einzelnen 
Unternehmungen,  wesentlich  dazu  bei,  das 
Princip  der  grössten  Wirtschaftlichkeit  bei 
Führung  derselben  zur  Herrschaft  zu  bringen. 
Sie  bewirkt  insbesondere  eine  genaue  Berech- 
nung der  Preise  und  mathematisch  genaue  Ver- 
anschiagiing  der  Gewinn-  und  Verlustgrenzen."  *j 

Es  ist  klar,  dass  die  Schätzung  der 
Güter  in  Geld  für  das  ^virtschaftliche  Denken 
und  Handeln  der  Menschen  eine  um  so 
höhere  Bedeutung  gewinnt,  je  allgemeiner 
das  Geld  seine  vermittelnde  Funktion  im 
Verkehre  übt,  je  grösser  mit  der  Ent- 
wickelung  der  Arbeitsteilung  und  der  Geld- 
wirtschaft die  Abhängigkeit  der  einzelnen 
Wirtschaften  vom  Markte,  je  grösser  end- 
lich die  Sicherheit  und  die  Stabilität  des 
Geldwesens  eines  Landes  sind. 

4.  Dass  der  in  Geld  ausgedrückte 
Tauschwert  der  Güter  unter  verschie- 
denen örtlichen  und  zeitlichen  Verhält- 


sind technische  und  für  die  Darstellung 
zahlreicher  ebenso  verwickelter  als  praktisch 
wichtiger  Probleme  der  Geldlehre  nahezu  un- 
entbehrlich, da  sie  nur  durch  weitläufige  Um- 
schreibungen und  Wiederholungen  vermieden 
werden  können. 

*)  „To  measure  easily  and  conveniently  the 
relative  values  of  all  commodities,  compared 
one  with  another,  and  to  enable  all  dealers  to 
estimate  the  profits  which  they  make  upon 
tbeir  sales :  this  purpose  is  completely  answered 
by  money"  (R.  Malt  hu  s,  Princ.  of  P.  E.,  2.  ed., 
1836,  p.  84). 

*)  E.  V.  Philippovich.  Grundriss  d.  P. 
Ock.,  I.,  §  96,  4  (3.  Aufl.  189i9,  S.  220). 


nissen  kein  entsprechender  Massstab 
der  Mittel  und  Ergebnisse  der  Wirt- 
schaften sei.  Unter  den  nämlichen 
örtlichen  und  zeitlichen  Verhält- 
nissen (auf  dem  nämlichen  Markte  und 
in  dem  nämlichen  Zeitpunkte)  ist  der  in 
Geld  ausgedrückte  Tauschwert  des  Yer- 
mogens  oder  Einkommens  einer  Pei-son  (ihi* 
Nominalvermögen  und  Nominaleinkommen) 
im  wesentlichen  auch  der  entsprechende 
Ausdruck  ihres  Kealvennögens  und  Real- 
einkommens. Sind  uns  der  elftere  und  die 
Marktverhältnisse  bekannt,  so  ist  es  uns 
möglich,  uns  ein  für  die  meisten  Zwecke 
des  praktischen  Lebens  ausreichendes  Urteil 
über  die  Vermögenslage  der  betreffenden 
Pei*son  zu  bilden.  Wir  können  auf  diesem 
Wege  auch  die  Vermögenslage  verschie- 
dener Personen,  welche  gleichzeitig  und 
am  nämlichen  Orte  leben,  mit  einander 
vergleichen.  Auch  der  Geldwei*t  be- 
stimmter Güter  bietet  uns  unter  gleichen 
Verhältnissen  eine  genügende  Grundlage 
zur  Beurteilung  der  i-elativen  Bedeu- 
tung derselben  füi'  eine  Wirtschaft.  Der 
Geldwert  des  Vermögensbesitzes  und  des 
Einkommens  einer  Person  ist  somit  unter 
den  nämlichen  örtlichen  und  zeitlichen  Ver- 
hältnissen in  der  That  der  richtige  Mass- 
stab für  die  ihr  verfügbaren  Mittel  und 
die  Ergebnisse  ihrer  Wirtschaft,  der  Geld- 
wert bestimmter  Güter  ein  solcher  der  rela- 
tiven wirtschaftlichen  Bedeutung  dieser  Güter. 

Nicht  das  gleiche  gilt  in  Rücksicht 
auf  verschiedene  Märkte  oder  auf 
verschiedene  Zeitpunkte.  Der  gleiche 
Geldbetrag,  ebenso  das  nämliche  Nominal- 
verm(")gen  oder  Nominaleinkommen,  sichern 
uns  auf  verschiedenen  Märkten  und  in 
verschiedenen  Zeitpunkten  nicht  notwendig 
die  Verfügung  über  den  nämUchen  Güter- 
besitz oder  (selbst  bei  gleichen  subjektiven 
Verhältnissen)  die  gleiche  "svirtschaftüche 
Lage. 

Wer  tlber  ein  Einkommen  von  5000 
Francs  verfügt,  wird,  selbst  wenn  von  der 
Verschiedenheit  subjektiver  Verhältnisse  ab- 
gesehen wird,  seine  Bedürfnisse  doch  nur 
mit  einem  sehr  verschiedenen  Grade  von 
Vollständigkeit  befriedigen  können,  je  nach- 
dem er  in  einer  Grossstadt  oder  in  einem 
kleinen  Marktflecken  (z.  B.  in  Paris  oder  in 
einem  rumänischen  Landstädtchen)  lebt. 
Ebenso  würde  derjenige  fehlgehen,  welcher 
aus  dem  Gnmde,  weil  zwei  Personen,  von 
denen  die  eine  im  15.,  die  andere  im  18. 
Jahrhunderte  lebte,  das  gleiche  Nominalein- 
kommen hatten,  den  Schluss  ziehen  würde, 
dass  denselben  hierdurch  der  gleiche  Lebens- 
fuss  ermöglicht  worden  sei. 

Der  Grund  dieser  Erscheinung  liegt  in 
dem  auf  verschiedenen  Märkten,  und  selbst 
auf  dem  nämlichen  Älarkte  in  verschiedenen 


88 


Geld 


Zeitpunkten,  zu  beobachtenden  verschiedenen 
Austauschverhältnisse  des  Geldes  und  der 
Kaufgiiter  —  in  dem,  was  man  liäufig  als 
die  »örtlich  und  zeitlich  verschiedene  Kauf- 
kraft des  Geldes«  oder  auch  als  »die 
örtliche  Yerschiedenheit  und  die  Bewegung 
des  (äusseren)  Tauschwertes  des  Geldes« 
bezeichnet  hat. 

5.Das  Streben  nach  einemGute  von  uni- 
versellem und  unwandelbarem  äusse- 
rem Tauschwerte.  Die  augenfällige  That- 
sache,  dass  die  nämlichen  Geldmengen  auf 
verschiedenen  Märkten,  und  selbst  auf  dem 
nämlichen  Markte  in  versclüedenen  Zeit- 
punkten, uns  nicht  die  gleiche  Yerfügimgs- 
gewalt  über  die  Marktgüter  gewähren,  dass 
in  dieser  Rücksicht  sich  im  Wirtschaftsleben 
vielmehr  sehr  empfindliche  Unterschiede 
und  Schwankungen  geltend  machen :  hat  zu 
dem  naheliegenden  Gedanken  geführt,  im 
Kreise  der  Verkelu-sobjekte  nach  einem  an- 
deren Gute  (oder  nach  Gütergruppen  und 
Gütcrkomplexen !)  zu  suchen,  welche,  ent- 
weder schlechtlün,  oder  doch  in  höherem 
Masse  als  dies  beim  Edelmetallgelde  der 
Fall  ist,  dem  obigen  Zwecke  zu  entsprechen 
vermöchten.  Es  ist  dies  das  Problem  der 
Feststellung  eines  Gutes  von  universellem 
und  unwandelbarem  (äusseren)  Tauschwerte.*) 

Die  Bedeutimg,  welche  ein  Gut  von  so 
beschaffener  »Wertbeständigkeit«  für  das 
praktische  Wirtschaftsleben  haben  würde, 
könnte  nicht  hoch  genug  veranschlagt  wer- 
den. Ein.  bestimmtes,  in  diesem  Gute  be- 
stehendes Einkommen  würde  uns  beispiels- 
weise aller  Orten  und  zu  allen  Zeiten  eine 
bestimmte  Lebensführung,  eine  bestimmte 
Quantität  des  betreffenden  Gutes  uns  über- 
haupt —  unabhängig  von  örtlichen  und  zeit- 
lichen Verhältnissen  —  die  Mittel  zur  Yer- 


^)  Ueber  die  Vorschläge,  die  Preisschwan- 
kungen der  Waren  aufzuheben:  Jos.  Lowe, 
The  present  State  of  England  etc.,  1822.  Uebers. 
V.  L.  H.  V.  Jacob  (1823).  S.  445  ff.,  insb.  486  ff. ; 
G.  Poulett  Scrope,  Princ.  of  P.  E.-,  1833,  Ch. 
XVI.,  S.  397  ff.,  405  ff.,  413, 421  ff. ;  St.  J  e  v  o  n  s ,  A 
serious  fall  in  tbe  value  of  gold,  1863,  insb.  Gh.  II 
u.  V;Derselbe,  Money  and  the  mechanism  of 
exchange  (1875),  insb.  Ch.  XXV  d.  ed.  1882; 
H.  S.  Foxwell,  Irregularity  of  employment 
and  fluctuations  of  prices,  1886,  p.  25ff.j  37 ff.; 
Alfr.  Marshall,  Remedies  for  fluctuations   of 

feneral  prices  (Contempor.  Rev.  1887  march,  p. 
55,  368  ff.);  L.  Wal  ras,  Theorie  de  la  mon- 
naie,  1889;  Aneurin  Williams,  A  „fixed  value 
of  bullion"  Standard,  Econ.  Journ.,  Vol.  IL,  1892, 
p.  280 ff.;  Vgl.  auch  J.Nicholson,  A  treatise 
on  money,  1888,  Part  L,  Ch.  IL,  §§  10-12  u. 
P.  IL,  Sect.  7;  Derselbe,  Princ.  o.  P.  E.,  L, 
1893,  p.  327,  337  ff. ;  (Ueber  einige  interess.  Er- 
scheinungen der  österr.-ungar.  Valuta;)  B. 
Földes,  J.  f.  N.  u.  St.,  1882,  N.F.  IV,  S.  141  ff. 
245  ff. ;  s.  hierzu  die  Litteratur  beim  Artikel 
Preis  (Statistische  Best.  d.  Preisniveaus). 


wirklichung  bestimmter  wirtschaftliclier 
Zwecke  sichern.  Ein  Gut  dieser  Art  wäre 
auch  in  Rticksicht  auf  langfristige  Kredite, 
unveränderlich  gedachte  dauernde  Leis- 
tungen u.  s.  f.  überaus  wichtig.  Gäbe  es 
ein  solches  Q-ut,  so  würde  es  möglich  sein, 
einen  nicht  geringen  Teil  der  gegenwärtig 
im  Wirtschaftsleben  herrschenden  Unsicher- 
heit aus  demselben  zu  eliminieren. 

Ein  Gut  dieser  Art  wäre  auch  noch  aus 
einem  anderen  Gnmde  von  grosser  Bedeu- 
tung für  die  Theorie  und  (lie  Praxis  der 
menschlichen  "Wirtschaft.  Das  Geld  und 
der  Geldwert  der  Güter  bieten  uns  nur  in 
Rücksicht  auf  die  nämlichen  örtUchen  und 
zeitlichen  Verhältnisse  eiü  richtiges  Mass 
zur  Beurteilung  der  Älittel  und  der  Erfolge 
der  Wirtschaft.  Gäbe  es  ein  Gut  der  obigen 
Art,  so  böte  uns  dasselbe  einen  für  alle 
Märkte  imd  die  entferntesten  Zeitpunkte 
gleich  verwendbaren  Massstab  für  tue  Re- 
Tuieilung  der  Veimögenslage  der  Wirt- 
schaftssubjekte. — 

Ich  möchte  der  Untersuchimg  über  das 
obige  Problem,  dem  vielfach  die  Bezeich- 
nung der  nationalökonomischen  Quadratur 
des  Zirkels  zu  teil  geworden  ist,  zunächst 
einige  Bemerkungen  voraussenden. 

Dass  auf  den  Märkten  der  Gegenwart 
kein  Verkehrsobjekt  vorhanden  ist,  dosseu 
Austauschverliältnis  zu  allen  übrigen  Gütern 
(zu  jedem  einzelnen  derselben 
oder  zu  beliebigen  quantitativ 
und  qualitativ  kombinierten  Gütor- 
koraplexen)  überall  das  gleiche  wäre 
und  im  Laufe  der  Zeit  unverändert  bliebe, 
ja  dass  ein  solches  imter  unseren  heuligoii 
Marktvorhältnissen  undenkbar  ist,  ergiebl 
sich  ebenso wold  aus  der  Erfahrung  ah 
aus  der  unbefangenen  Analyse  der  Markt 
erscheinungen.  Ein  Gut  dieser  Art  würde  di( 
Stabilität  des  Austauschverhältnisses  allei 
Güter,  auch  desjenigen  der  Marktgiite 
unter  einander  (bezw.  die  Identität  desselbei 
auf  allen  Märkten)  zur  notwendigen  Voraus 
Setzung  haben.  Nur  bei  staatlich  streiij 
geregelten  Preisen  (etwa  unter  Markt ver 
häJtnissen,  wie  sie,  rücksichtlich  der  haupl 
sächlichen  Bedürfnisse  des  täglichen  Leben 
und  der  Lohnarbeiten,  im  Edikte  Diocletian 
de  pretüs  rerum  venalium  vom  Jalire  'MV 
oder  in  den  Dekreten  des  französische 
Konvents  über  das  Maximum  v.  29.  Soj 
tember  1793  rücksichtlich  der  >\achtip:sto 
Waren  und  Dienstleistungen  beabsichtig 
waren)  i)  wären  Güter  von  einem  im  obige 
Sinne  stabilen  Tauschwerte  denkbar  (otb 
richtiger  gesagt,  jedes  Verkehrsobjekt,  - 
auch  das  Geld!  —  für  den  obigen  Zwo< 
verwendbar).  Unter  unseren  heutigen  Mark 

^)  Vgl.  A.  M enger,   Das  Kecht    auf    d 
vollen  Arbeitsertrag  1891,  S.  91  ff. 


Geld 


89 


Verhältnissen  ist  das  Streben  nach  Auffin- 
dung eines  Gutes  dieser  Art  schleciithin 
ein  irriges. 

Mit  Rücksicht  auf  die  heutige  Yolks- 
wirtschaft  vermag  es  sich  somit  nur  um  die 
Feststellung  eines  Gutes,  oder  eines  Güter- 
komplexes zu  handeln,  welchen  im  Ver- 
hältnisse zu  den  Gütern  überhaupt  (den 
Gutem  im  grossen  und  ganzen!),  eine  von 
örtlichen  und  zeitlichen  Verhältnissen  unbe- 
einflusste  Beständigkeit  des  äusseren  Tausch- 
wertes zukommen  ^ürde.  Das  Streben  der- 
jenigen Volkswirte,  welche  ernstlich  an  die 
Losung  des  obigen  Problems  schritten,  konnte 
nur  auf  die  Feststellung  eines  Gutes  oder 
Güterkomplexes  gerichtet  sein,  welche  uns 
aller  Oi-ten  und  zu  allen  Zeiten  die  gleiche 
Verfügungsgewalt  über  die  Marktgüter  im 
allgemeinen  oder  etwa  eine  solche  über 
gleiche  (beliebig  zusammengesetzte!)  Ge- 
samtheiten von  Gütern  zu  verschaffen 
vermöchten. 

Die  Losung  des  Problems  ist  in  ver- 
schiedener Richtung  unternommen  worden. 
Die  eine  Qiiippe  von  Bearbeitern  der  Geldlehre 
hat  es  versucht  das  Problem  —  nicht  etwa 
auf  ausreichender  preisstatistischer  Grund- 
lage, die  ihnen  ja  nicht  zu  Gebote  stand, 
auch  nicht  auf  derjenigen  einer  sorgfältigen 
Analyse  der  realen  Verkehrserscheinungen, 
sondern  auf  der  Grimdlage  mangelhafter, 
zum  Teile  irrtümlicher  Preistheoricen  zu 
lösen,  deren  Sätze  für  die  betreffenden  Unter- 
sudmngen  eine  axiomatische  Bedeutung 
gewannen.  Hierher  gehören  diejenigen, 
welche  in  der  Quantität  von  Arbeit^),  die 
jemand  mittelst  der  in  seinem  Besitze  be- 
findlichen Güter  einzutauschen  oder 
sonst  sich  zu  verschaffen  vermag,  ebenso 
diejenigen,  welche  in  der  auf  die  Güter  ver- 
wendeten Arbeit  einen  universellen  und 
imveränderlichen  Massstab  des  (äusseren) 
Tauschwerts  der  betreffenden  Güter  entdeckt 
zu  haben  glaubten.  Die  umfangreiche  Litte- 
ratur  über  diese  Frage,  welche  insbe- 
sondere die  Klassiker  und  Xachklassiker 
eifrig  beschäftigte,  hat,  wie  nach  dem  irr- 
tümlichen methodologischen  Standpunkte  der 
erwähnten  Autoren  bei  Bearbeitung  dieser 
Lehre  nicht  anders  zu  erwarten  war,  zu  keinem 
klaren,  abschliessenden  Ergebnisse  geführt. 
Ja,  es  haben  die  erfolglosen  Versuche  der 
obigen  Gelehrten gruppe,  zur  Lösung  des 
Problems  zu  gelangen,  mehr  vielleicht 
als  irgend  ein  anderer  Cmstand  dazu  bei- 
getragen, die  Wirtschaftstheorie  in  Verruf 
zu  bringen  2). 


Andere  haben  auf  die  Erfahrungsthat- 
sache  hingewiesen,  dass  das  Austauschver- 
hältnis zwischen  irgend  einem  bestimmten 
Gute  und  allen  übrigen  Gütern  auf  verschie- 
denen Märkten  im  einzelnen  zwar  regel- 
mässig Verschiedenheiten  aufweise,  auch  in 


*)  oder  (für  längere  Zeiträume)  von  Ge- 
treide, als  dem  hauptsächlichen  Unterhalts- 
mittel  der  Arbeiter. 

')  A.  Smith,  in  seinen  Ansichten  über 
..einen   allgemeinen  Massstab  des  Tauschwertes 


der  Güter"  unklar  und  schwankend,  hält  die 
Quantität  von  Arbeit,  welche  jemand  mittelst 
der  in  seinem  Besitz  befindlichen  Güter  einzu- 
tauschen oder  sich  sonst  zu  verschaffen  ver- 
mag (an  einzelnen  Stellen  seines  Werkes  auch : 
die  auf  die  Güter  verwendete  Arbeit!)  für 
das  wahre  von  örtlichen  und  zeitlichen  Ver- 
hältnissen nnbeeinflusste  Mass  des  Tauschwertes 
der  Güter;  an  Stelle  der  Arbeit  anch  das  in 
dem  hauptsächlichen  Unterhaltsmittel  des  Ar- 
beiters, dem  Getreide,  ausg^edrückte Verkehrs- 
äquivaleut  der  Güter  (W.  of  N.,  B.  I.,  Ch.  V.,  ed. 
1776,  pp.  35,  39,  43).  Er  motiviert  diese  der  Er- 
fahrung widersprechende  Ansicht,  zu  welcher 
er  durch  das  grundlegende  Axiom  seiner  Preis- 
lehre geführt  wurde,  überdies  noch  in  un- 
richtiger Weise  dadurch  „dass  gleiche  Quantitäten 
von  Arbeit  zu  allen  Zeiten  und  allerorten  von 
gleichem  Werte  für  den  Arbeiter  seien", 
„da  dieser  immer  das  nämliche  Opfer  an  Be- 
quemlichkeit, Freiheit  und  Glück  bringen 
müsse"  (a.  a.  0.,  p.  38),  während  es  doch  seine 
Aufgabe  gewesen  sein  würde,  den  Nachweis  zu 
führen,  dass  gleiche  Quantitäten  von  Arbeit 
uns  allerorten  und  zu  allen  Zeiten  die  näm- 
liche Herrschaft  über  die  Marktgüter  gewähren, 

—  eine  Meinung:,  welcher  er  indes  an  einzelnen 
Stellen  seines  Werkes  ausdrücklich  widerspricht. 
Er  hält  auch  das  Problem  eines  Masses  des 
sogenannten  „äusseren"  und  dasjenige  des  so- 
genannten „inneren"  Tauschwertes  der  Güter 
(von  dem  ich  im  nächsten  Abschnitte  handle) 
nicht  strenge  auseinander.  —  R.  Malthus  und 
J.  B.  Say  suchen  die  Lehre  des  A.  Smith  im 
einzelnen  zu  berichtigen  und  zu  vertiefen,  ver- 
wirren sie  indes  noch  mehr,  indem  sie  die  Lehre 
von  einem  allgemeinen  Massstab  des  Tausch- 
wertes der  Güter  mit  ihren  mangelhaften  Preis- 
theorieen  in  Einklang  zu  bringen  bemüht  sind. 

—  D.  Ricardo  neigt  infolge  der  ihm  eigentüm- 
lichen Preistheorie  dazu,  in  der  auf  die  Güter 
verwendeten  Arbeit  das  Mass  des  Tausch- 
wertes der  Güter  zu  erkennen.  Der  Streit, 
welcher  unter  den  hauptsächlichen  Vertretern 
der  klassischen  Nationalökonomie  über  die  obigen 
Fragen  sich  erhob,  hat  zu  zahlreichen  Wand- 
lungen und  Neuformulierungen  ihrer  Ansichten 
geführt  (s.  insb.  J.  B.  S  a  v  in  der  4.  Auflage  seines 
Traite  1819,  L.  II,  Ch.  1;  D.  Ricardo  in  der 
3.  Aufl.  seiner  Principles  of  P.  E.,  1821,  Ch.  I 
u.  XXX;  R.  Malthüs  in  der  2.  Aufl.  seiner 
Principl.  of  P.  E.,  1836,  Ch.  II,  p.  83  ff.  und 
in  dessen:  On  the  Meaning  which  is  most 
usually  and  most  correctly  attached  to  the 
Term  „Value  of  a  Commodity",  1827.  (In  den 
Transactions  of  the  Royal  Society  of  Literature 
of  the  U.  K.,  1829,  Vol.  I.,  Part  IL,  p.  74  ff.)  Die 
Ergebnislosigkeit  dieser  Untersuchungen  geht 
wohl  am  klarsten  aus  der  ebenso  absprechenden 
als  missverständlichen  Behandlung  der  Frage 
bei  J.  S.  M  i  1 1  (Princ.  of  P.  E.,  B.  lU.,  Ch.  XV) 
hervor. 


90 


Geld 


der  Zeit  Waadlung-en  erfahre,  indes  doch 
nicht  in  der  gleichen  Richtung,  vielmehr 
der  Verteuerung  der  einen  Ware  regelmässig 
eine  Verbilligung  anderer  Waren  gegenüber- 
stünde. Im  Austauschverhältnisse  zwischen 
einem  bestimmten  Gute  und  einer  Vielheit 
anderer  Güter  zusammengenommen,  ver- 
möchten fleranach  die  Schwankungen  der 
Austauschverhältnisse  im  einzelnen  sich  — 
zum  mindesten  im  grossen  und  ganzen  —  auf- 
zuheben: so  zwar  dass  wir  durch  den  Be- 
sitz einer  bestimmten  Quantität  des  ersteren 
—  trotz  der  Verschiedenheit  örtlicher  und 
zeitlicher  Verhältnisse  —  gleich wolü  auf 
allen  Märkten  und  zu  allen  Zeiten  im  wesent- 
lichen über  die  gleiche  Quantität  aller  üb- 
rigen Güter  zusammengenommen,  oder  einer 
Vielheit  von  Gütern,  zu  verfügen  ver- 
möchten. 

Die  obigen  Voraussetzungen  sind  indes 
willkürlich.  Die  Bestimmungsgründe  der 
Preisbiidimg  und  der  Prcisäuderungen  sind 
so  zahlreich  und  so  verschieden,  sie  machen 
sich  bei  den  verscliiedenen  Güterarten  in 
verschiedenen  Zeitpunkten  und  auf  ver- 
schiedenen Märkten  auch  in  so  ungleicher 
Weise  —  bei  der  überwiegenden  Mehr-zalil 
der  Güter  bisweilen  auch  nur  in  einer 
Richtung  —  geltend,  dass  die  Annahme 
einer  vollständigen  Kompensation  ihrer  Wir- 
kung im  Gesamtpreise  ausserhalb  jedes 
eiuigermassen  verlässlichen  wissenschaft- 
lichen Kalküls  liegt.  Die  Annahme  gm*, 
dass  es  irgend  ein  Gut  geben  könne,  dessen 
Besitz  ims  auf  allen  Märkten  und  zu  allen 
Zeiten  die  Verfügungsgewalt  über  gleiclie 
Quantitäten  beliebig  kombinierter 
Vielheiten  der  übrigen  Gtiter  sichern  würde 

ider    eigentlich    i)raktische   Kernpunkt   des 
i^roblems !),  müsste  geradezu  als  phantastisch 
bezeichnet  werden. 

Noch  andere  haben  die  Schwierigkeiten 
einer  befriedigenden  Lösung  des  obigen 
Pix)blems  dadurch  zu  überwinden  gesucht, 
dass  sie  nicht  einzelne  Güter,  sondern 
qualitativ  (bisweilen  auch  quantitativ)  in  be- 
stimmter Weise  zusammengesetzte  Güter- 
komplexe als  fixes  Mass  des  äusseren 
Tauschwerts  der  Güter  liinstellten.  Diese 
Versuche  beruhen  auf  dem  Princip,  dass 
eine  Vielheit  von  Gütern  in  ihrer  Gesamt- 
heit im  allgemeinen  eine  grössere  Stabilität 
des  äusseren  Tauschwertes  derselben  ver- 
bürge als  ein  einzelnes  Gut,  zumal  wenn 
bei  der  Wahl  der  Güter,  aus  denen  der  be- 
treffende Güterkomplex  besteht,  von  vorn- 
herein darauf  Bedacht  genommen  w^ird,  dass 
die  auch  hier  vorausgesetzte  Ausgleichung 
der  Preisbewegung  unter  allen  denkbaren 
Eventualitäten  (z.  B.  ebensowohl  bei  einer 
Aenderung  der  Arbeitslöhne  als  bei  einer 
solchen  der  Gnmdrente,  des  Kapitalzinses, 
der  ünternehmergcwinne,  der  Wohlhabenheit 


der  Bevölkerung  u.  s.  f.)  voraussichtlich  ein- 
träte. 

Auch  dieser  l^ösungsmodus  leidet  indes, 
was  die  Wahl  der  Güter  im  einzelnen  be- 
trifft, an  dem  Gebrechen  der  WLllkiu'lich- 
keit.  Was  sein  Princip  betrifft,  so  ist  liier- 
bei  unsere  mangelhafte  Kenntnis  und  die 
schwierige  Beherrschung  der  komplizierten 
statistischen  Sachlage,  ferner  der  schwieric^e 
Nachweis  des  präsumierten  Ausgleiclis  der 
Preisschwankungen  zu  beachten.  Auch  darl 
nicht  übersehen  werden,  dass  die  Stabilität 
des  äusseren  Tauschwertes  eines  Gütcrkoni- 
plexes  mit  der  Zahl  der  Güter,  aus  denen 
er  sich  zusammensetzt,  zumal  bei  richtigri 
Wahl  derselben,im  allgemeinen  zwai*  zunimmt 
man  auf  diesem  Wege  indes  mehr  und  melu 
zu  Ergebnissen  gelangt,  die  sich  (man  denke 
z.  B.  an  eine  Gütergesamtheit,  welche  alli; 
Konsumgüter  umfassen  und  als  ^LlSs  de; 
Tauschwerts  der  Güter  dienen  sollte)  als  theo 
retisch  und  praktisch  belanglose  Tau  toi  o 
gieen  darstellen. 

Auch  der  Gedanke,  bei  Feststellung  oin^i 
stabilen  Masses  des  äusseren  Tauschweil^^ 
Güter  von  relativ  grosser  Beständigkeit  d«:- 
»inneren  Tauschwerts«  (der  eigenen  Be 
Stimmungsgründe  der  Preisbewegung)  zi 
wälilen  ^),  leidet  an  principiellen  Gebre(*hoi 
Dass  es  Gilter  in  der  Volkswirtschaft  giebi 
deren  »innerer  Tauschwert«  eine  ivlati 
grosse  Beständigkeit  aufweist,  steht  au  ssr 
Zweifel;  ebenso,  dass  die  betreffenden  Güte 
infolge  dieses  Umstandes,  wie  selbstvei 
ständlich  auch  rüoksichtlich  ihres  äussere 
Tauschwerts  eine  grössere  Stabilität  aufweise 
als  Marktgüter,  bei  denen  die  obige  Vorauj 
Setzung  nicht  zutrifft.  Niemand  zweifelt  z.  1 
daran,  dass  Gold  oder  die  gebräuclilichstt- 
Baumwollstoffe  (infolge  der  relativ  grosse 
Beständigkeit  ilires  inneren  Wertes !)  \uis  zi 
gleich  auch  die  Verfügungsgewalt  über  d 
übrigen  Marktgüter  in  einer  von  zeitliclu: 
Verhältnissen  minder  abhängigen  Weil 
sichern,  als  etwa  Hopfen  oder  Modeartik< 
Der  Mangel  des  obigen  Verfahrens  beste 
indes  darin,  dass,  auch  durch  die  Wa 
von  Gütern,  deren  innerer  Tauschwert  eil 
i-elativ  gi'osse  Beständigkeit  aufweist,  do< 
nicht  der  Einfluss  der  auf  seite  all 
übrigen  Güter  sich  geltend  machend« 
Bestimmungsgründe  der  Preisbew^egiuig  an 
geschlossen  wird. 

Selbst  durch  eine  sinnreiche  Kombinati 
der  obigen  Methoden  vermag  man  sich  ein 
befriedigenden  Lösung  des  Problems  ii 
wenig  zu  nähern.  Das  Problem  der  Fei 
Stellung  eines  absolut  stabilen  Massstabes  d 
äusseren  Tauschwertes  der  Güter,  das 
viele  ausgezeiclmete  Geister  in  so  intensiv 


*)  J.  B.  Say,  Traite,  Liv.  I,  Ch.  27  (18 
II.,  p.  90  ff.). 


aeld 


91 


^Veise  beschäftigt  hat,  kann  als  ein  in  der 
Wissenschaft  theoretisch  klargestelltes,  indes 
unlösbares  bezeichnet  werden.^) 

6.  Versuche  einer  Messung  der  ört- 
lichen Verschiedenheit  und  der  Bewe- 
gung^ des  äusseren  Tauschwertes  des 
Geldes,  a)  in  Bücksicht  auf  bestimmte 
Güterarten  und  bestinmite  Güterkom- 
plexe. Seitdem  den  Geldtheoretikern  zum 
Bewusstsein  gelangt  war,  dass  das  Geld  mit 
Riicksicht  auf  verschiedene  örtliche  und 
zeitliche  Verhältnisse  einen  verscliiedenen 
und  wandelbaren  äusseren  Tauschwert  habe 
und  das  Streben  nach  anderen  Gütern  oder 
nach  Güterkomplexen  von  überall  gleichem 
und  unwandelbarem  äusseren  Tauschwerte 
aussichtslos  sei :  ist  das  Bestreben  dei-selben 
darauf  gerichtet,  die  örtliche  Verschieden- 
heit und  die  Bewegung  des  äusseren  Tausch- 
wertes des  Geldes  zifferraässig  festzustellen, 
dieselben  zu  messen.  Der  Gedanke  lag 
nahe.  Standen  die  Verschiedenheit  und  die 
Schwankungen  des  äusseren  Tauschwerts 
des  Geldes  fest  und  war  die  Unsicherheit, 
welche  sie  für  das  Wirtschaftsleben  im  Ge- 
fol^  haben,  nicht  durch  ein  Gut  von  alle- 
z*nt  und  überall  gleichem  äusseren  Tausch- 
werte zu  beheben:  so  sollten  dieselben 
doch  gemessen  werden,  damit  auf  diesem 
Wege  das  obige  Element  der  Unsicherheit 
im  Verkehrsleben  beherrscht  werde,  nicht 
uns  belien-sche. 

Das  Pi*c)blem,  welches  von  den  Geld- 
thooretikern  vielfach  mit  dem  Masse  der 
Bewcgxing  des  sogenannten  »inneren 
Tauschwertes«  der  Güter  zusammengeworfen 
worden  ist,  hat  den  Zweck,  die  allge- 
meine Kaufkraft  des  Geldes  (das  allge- 
meine Teuerungsverhältnis  zwischen 
dem  Gelde  tmd  den  Gütern,  mit  Rücksicht 
auf  verschiedene  Märkte  und  auf  ver- 
schiedene Zeitpunkte)  ziffermässig  festzu- 
steUen.  Es  wäre  gelöst,  wenn  wir  bei- 
spielsweise festzustellen  vermöchten,  dass 
auf  dem  einen  Markte  mit  der  nämlichen 
Geldsumme  im  allgemeinen  (imgrossen 
und  ^nzen)  etwa  um  Vs  mehr  Güter  als 
auf  einem  bestimmten  anderen  Markte  oder 
auf  dem  gleichen  Markte  mit  der  näm- 
lichen Geldsimime  im  allgemeinen  etwa 
um  ein  ^  g  weniger  oder  um  Vi  mehr  Güter 
ausgetauscht  werden  könnten  als  in  einem 
anderen  Zeitpunkte,  etwa  1  Jahrhundert 
früher  oder  später. 


')  Vgl.  schon  G.  Montanari,  della  moneta 
(1630),  Cap.  V.  (Custodia  p.  a.  III,  p.  84) ;  W.  P  e  1 1  y , 
Polit.  Anatomy  of  Ireland  (1631),  Ch.  X  (in 
Polit.  öurvey  bf  Ireland,  1719,  S.  66):  F.  Ga- 
liani,  Della  moneta,  (1749  u.  1780),  Lib.  II, 
Cap,  II  (Custodi,  p.  m.  III,  p.  152 ff.);  James 
S  t  e  u  a  r  t ,  Inqniry  mt.  the  Princ.  of  P.  Oec.  (1767), 
Book  in,  Ch.  in.  (Vol.  I.,  p.  535  ff.,  ed.  1767). 


Die  Schwierigkeiten,  zu  denen  jeder  Ver- 
such zur  Lösung  des  obigen  Problems  führt, 
dessen  grosse  praktische  Bedeutung  von 
selbst  einleuchtet,  sind  keine  geringen. 

Dass  bei  Berechnung  des  Teuerungsver- 
hältuisses  zwischen  dem  Gelde  und  den 
übrigen  Objekten  des  Verkehi-s  (diesen  Ob- 
jekten im  allgemeinen,  im  grossen 
und  ganzen !)  die  auf  verschiedenen  Märkten 
oder  in  verschiedenen  Zeitpunkten  be- 
stehenden Vei'schiedenheiten  der  Geldein- 
heit (also  insbesondere  Münzänderungen, 
eine  allfällige  Entwertung  des  Papiergeldes 
u.  s.  f.),  ebenso  der  umstand  zu  berück- 
sichtigen sei,  dass  Aenderungen  im  Me- 
tallgehalte der  Münzen  und  die  Entwertung 
der  Geldzeichen  nicht  sofort  und  sclüecht- 
hin  im  Austauschverhältnisse  des  Geldes 
und  der  Güter  zum  Ausdrucke  gelangen, 
bedarf  nicht  erst  der  Bemerkung.  In  der 
Berücksichtigung  der  Münzparitäten  und 
Valutenkurse  ist  die  Hauptschwierigkeit 
der  obigen  Berechnung  indes  nicht  zu 
suchen.  Diese  liegt  vielmelir  in  umständen, 
deren  ungewöhnliche  Komplikation  ihi'e  Be- 
rücksichtigung bei  der  obigen  Berechnung 
auf  das  äusserste  erschwert. 

Schon  die  in  Rücksicht  auf  verschiedene 
Märkte  oder  Zeitpunkte  vorzunehmende  Be- 
rechnung des  Teueningsverhältnisses  einer 
b  e  s  t  i  m  m t  e  n  G  ü  t  e r ar  t  (z.  B.  des  Weizens) 
setzt  nicht  nm-  die  Zurückführung  der  dieser 
Berechnung  zu  Grimde  liegenden  Preise  auf 
die  nämliciie  Mengeneiuheit,  sondern  auch 
auf  die  nämliche  Qualität  des  betreffenden 
Gutes  voraus,  ein  Umstand,  welcher  bei 
einer  nicht  geringen  Anzahl  von  Gütern 
(man  denke  an  Wohnräume,  Arbeitsleistungen, 
Nutztiere  u.  s.  f.)  zu  grossen,  bei  einzelnen 
Güterarten  zu  nahezu  unübe^^vind]ichen 
Schwierigkeiten  führt.  Hierzu  treten  überall 
dort,  wo  die  obige  Berechnung  nicht  rück- 
sichtlich einer  bestimmten  (jrütei'art,  son- 
dern aus  Gütern  verschiedener  Art  zusam- 
mengesetzter Güterkomplexe  (z.  B.  riick- 
sichtlich  des  Güterbedarfs  bestimmter  Haus- 
haltungen) vorgenommen  werden  soll,  aus 
der  Ungleichheit  der  Konsumgewohnheiten 
auf  verschiedenen  Märkten  und  in  verschie- 
denen Beobachtungsperioden  sich  ergebende 
Schwierigkeiten  besonderer  Art,  welche  selbst 
durch  die  Substituierung  sich  vikarierender 
Güter  und  Preise  nui*  in  unvollkommener 
Weise  überwunden  zu  werden  vermögen. 

Immerhin  kann  die  Feststellung  des 
Teuerungsverhältnisses ,  rücksichtlich  ein- 
zelner Güterarten,  ebenso  rücksichtlich  quali- 
tativ imd  quantitativ  in  bestimmter  Art  zu- 
sammengesetzter Güterkoraplexe  für  ver- 
schiedene örtliche  und  zeitliche  Verhältnisse, 
als  ein  theoretisch  klargestelltes  und,  soweit 
die  der  Berechnung  zu  Grunde  zu  legende 
statistische  Sachlage   bekannt  ist,  auch  als 


92 


Geld 


ein  praktisch  lösbares  Problem  angesehen 
werden.  Wir  vermögen  unter  den  obigen 
Voraussetzungen  beispielsweise  nicht  nur  zu 
berechnen,  dass  das  Teuerungsverhäitnis  der 
Mengeneinheit  eines  bestimmten  Gutes,  son- 
dern auch  dasjenige  eines  «pialitativ  imd 
quantitativ  bestimmten  Güterkomplexes,  z.  B. 
das  Teuerungs Verhältnis  des  Güterkonsums 
eines  bestimmten  Haushaltes  (auch  dasjenige 
einer  bestimmten  Güterproduktion),  auf  zwei 
verschiedenen  Märkten  im  gleichen  oder 
auf  dem  nämlichen  Markte  in  zwei  ver- 
schiedenen der  Vergangenheit  angehörigen 
Zeitpunkten  sich  wie  1 :  l±x  verhalten. 

In  der  That  sind  auch  zahlreiche  Be- 
rechnungen dieser  Art  mit  Rücksicht  auf  ver- 
schiedene Orte  und  Zeitpunkte  (z.  B.  Berech- 
nungen des  Verliältnisses  der  Preise  von  Ge- 
treide bestimmter  Art  für  verschiedene  Märkte 
oder  des  ^Verhältnisses  der  Kosten  der  einer  Ar- 
beiterfamilie bestimmter  Art  nötigen  Unter- 
haltsmittel für  Wien  und  Berlin),  ebenso  Be- 
rechnungen ähnlicher  Art  für  verschiedene 
Zeitpunkte  (z.  B.  des  Verhältnisses  der  Preise 
einzelner  Güter  oder  der  Kosten  der  einer 
Beamtenfamüie  bestimmter  Kategorie  nötigen 
ünterhaltsmittel  zur  Zeit  Maria  Theresias 
und  der  nämlichen  Güter  bezw.  der  näm- 
licnen  Unterhaltsmittel  in  der  Gegenwart) 
gemacht  worden. 

Aus  der  so  festgestellten  örtlichen  Ver- 
schiedenheit und  der  Bewegung  der  Markt- 
preise vermag  dann  —  durch  Umkehnmg  des 
Verhältnisses  ^)  —  die  örtliche  Vei-schieden- 
heit  imd  die  Bewegung  der  Kaufkraft  des 
Geldes  in  Kücksicht  auf  die  betref- 
fenden Güter  und  der  betreffenden 
(qualitativ  und  quantitativ  be- 
stimmten) Güterkomplexe  ermittelt 
zu  werden. 

Die  Feststellungen  der  letzteren  Art 
können  immerhin  als  eine  Messung  der 
örtlichen  Verschiedenheit  und  der  Bewegung 
des  (äusseren)  Tausehwertes  des  Geldes  — 
in  Rücksicht  auf  einzelne  Gütorarten  bezw. 
auf  qualitativ  und  quantitativ  bestimmte 
Güterkomplexe  —  bezeichnet  werden.  2) 

^)  Wenn  der  Geldpreis  von  Usanceweizen 
in  Odessa  und  London  sich  wie  x :  x  +  y  ver- 
hält, so  verhält  sich  die  Tauschkraft  (oder  der 
sog.  äussere  Tauschwert!)  des  Geldes  in  Odessa 
und  London  (in  Rücksicht  auf  den  obigen  Ar- 
tikel) wie  X  -|-  y  :  X,  mid  wenn  der  Geldpreis  der 
zum  Unterhalt  einer  Arbeiterfamilie  erforder- 
lichen Güter  zur  Zeit  Friedrichs  11.  und  des 
qualitativ  und  quantitativ  j^leichen  Güter- 
komplexes  in  der  Gegenwart  sich  wie  a :  a  -f-  z 
verhält,  so  verhält  sich  die  Tauschkraft  des 
Geldes  (in  Rücksicht  auf  die  nämlichen  Zeit- 
perioden und  den  nämlichen  Güterkomplex)  wie 
a  +  z :  a. 

*)  Dem  obigen  Probleme  ist  dasjenige  der 
Feststellung  veränderlicher  Geldsummen, 
welche  uns  aller  Orten  und  zu  allen  Zeiten  die 


b)  in  Bücksicht  auf  die  Güter  über 
haupt.  Die  Bedeutung,  welche  Berech 
nungen  der  obigen  Art,  trotz  mannigfache] 
Mängel,  die  ihnen  anhaften,  sowohl  für  dai 
praktische  Leben  als  für  die  Theorie  haben 
ist  klar.  Ebenso  sicher  ist  es  aber  auel] 
dass  jeder  Rückschluss  aus  den  Ergebnissei 
einzelner  dieser  Berechnungen  (z.  B.  aus  de 
örtlichen  Verschiedenheit  oder  derBewegiini 
der  Tauschkraft  des  Geldes  in  Rücksicht  an 
Weizen,  oder  den  Unterhaltsbodarf  eine 
Arbeiterfamilie !)  auf  die  örtliche  Versclüedeu 
heit  oder  auf  die  Bewegung  der  Tauscli 
kraft  des  Geldes  überhaupt  unstatthaft  is 

Der  äussere  Tauschwert  des  Geldes  kan 
rücksichtlich  gewisser  Artikel  (z.  ß.  de 
Weizens  oder  des  Fleisches)  auf  dem  eine 
Markte  grösser  als  auf  dem  anderen  bez\ 
auf  einem  bestimmten  Markte  gestiegen  soL 
während  doch  auf  den  nämlichen  "Mäikto 
rücksichtlich  anderer  Waren  das  umgekohri 
Verhältnis  stattzufinden  vermag.  Ebonj 
kann  der  äussere  Tauschwert  des  Geld« 
rücksichtlich  eines  bestimmten  Güterkonsun 
(z.  B.  der  Mittel  zum  Unterhalte  eines  kiudo 
reichen  Tagelöhners)  auf  einem  bestimmt! 
Markte  (z.  B.  in  einer  bestimmten  Gro-; 
Stadt)  geringer  sein,  als  rücksiclithch  d 
nämlichen  Güterkomplexes  auf  einem  anden 
Markte  (z.  B.  in  einem  Landstädtchei 
während  doch  rücksichtlich  eines  qualitat 
und  quantitativ  anders  zusammengesetzt* 
Güterkonsums  (z.  B.  rücksichtlich  des  Hau 
haltes  eines  reichen  Junggesellen,  seil 
desjenigen  eines  unverehelichten  Ai*beite: 
auf  den  nämlichen  Märkten  das  umgekelii 
Verhältnis  bestehen  kann. 

Es  ist  bei  dieser  Sachlage  klar,  dass  \ 
aus  der  örtlichen  Verschiedenheit  und  der  1 
wegung  des  sogenannten  äusseren  Tausi. 
wertes  des  Geldes  in  Rücksicht 
einzelne  Güterarten  oder  (quantitativ  u 
qualitativ)  bestimmte  Giiterkomplexe  koii 
Rücksclüuss  auf  die  örtliche  Voi-scliied« 
heit  und  die  Bewegung  des  (äusseren)  Tau^^t 
Werts  des  Geldes  überhaupt  ziehen  düii' 
Es  wäre  dies  eine  diu^chaus  unzulilss 
Verallgemeinerung,    ein    Induktionsschh 

gleiche  Verfügungsgewalt  über  die  Güter  > 
schaffen  würden,  anäog.    Auch  dies    Prob 
ist    selbstverständlich     nur    rücksichtlich 
stimmter  Güterarten  oder  in   quantitativ 
qualitativ  bestimmter  Weise  zusaramengeset: 
Güterkomplexe  —  nicht  aber  rücksichtlich 
Güter  überhaupt  oder  rücksichtlich  beliebig:  k 
binierter  Gütergesamtheiten  —  lösbar,  wobei  n 
die  Schwierigkeit  der  Voraussicht 
Preisbewegfung  m  der  Zukunft  (für  welche 
ja  die  preisstatistische  Grundlage  fehlt)  in  < 
jenigen   Fällen    in   Betracht   gezog-en    wei 
muss,    in   denen   die    Berechnung    sich     n 
nur  auf  die  Vergangenheit  oder  die  Gegen \\ 
sondern  auch  auf  die  Zukunft  bezieht.     ( 
d.  Art.  Preis.) 


Geld 


93 


welchem  in  zahli*eichen  Fällen  ebensoviele 
negative  Instanzen  entgegenstünden  als  die 
Zahl  der  ihn  stützenden  FäUe.  Die  Lösung 
des  obigen  Problems  ist  auf  induktivem 
Wege  nicht  erreichbar. 

WoUen  wir  zu  einer  wenigstens  im 
allgemeinen  richtigen  ziffermässigen 
Feststeilung  der  örtlichen  Verschiedenheiten 
und  der  Bewegung  des  äusseren  Tauschwertes 
des  Geldes  im  Verhältnisse  zu  den 
Gütern    überhaupt,  und    zwar    auf 

L reisstatistischer  Grundlage,  ge- 
ngen:  so  müssen  wir  zu  Durchschnitts- 
ziffern unsei-e  Zuflucht  nehmen,  deren 
Eigentüniliclikeit  ja  darin  besteht,  dass  sie 
zwar  nicht  in  Rücksicht  auf  die  einzelnen 
Fälle,  auf  die  sie  sich  beziehen,  wohl  aber 
»im  allgemeinen«  (»im  grossen  imd  ganzen«) 
richtig  sind. 

Indem  wir  zu  dem  obigen  Hilfsmittel 
CTeifen,  wird  das  uns  liier  beschäftigende 
Problem  indes  nicht  unwesentlich  verschoben. 
Wir  müssen  uns  gegenwärtig  halten,  dass 
es  sich  nun  nicht  mehr  um  die  Messung 
der  örtlichen  Verechiedenheit  und  der  Be- 
w(^ng  realer  einheitlicher  Aus- 
tauschverhältnisse, sondern  nur  um  eine 
ziffermässige  Feststellung  ihrer  Verschieden- 
heit und  Bewegimg  im  grossen  und 
ganzen  handelt.^) 

Gleichwohl  wird  niemand  den  Wert  und 
die  Bedeutimg  von  Durchschnittsziffern  der 
obigen  Art  und  der  auf  dieselben  begrün- 
deten Berechnungen  in  denjenigen  FäUen 
leugnen  wollen,  in  welchen  es  sich  nicht  um 
<lie  Erkenntnis  konkreter  Verhältnisse  oder  um 
logisch  allgemeine  Urteile,  sondern  um  Er- 
gebnisse der  Forschung  handelt,  welche  die 
ortliche  Verschiedenheit  und  die  Bewegung 
des  äusseren  Tauschwertes  des  Geldes  uns 
nur  in  allgemeinen  Zügen  (im  grossen 
und  ganzen)  zum  Bewusstsein  bringen  sollen. 

Was  die  verschiedenen  in  Vorschlag  ge- 
brachten Verfahnmgsarten  zur  Lösung  des 
obigen  Problems  betrifft,  so  scheint  mir  bei 
dem  gerade  hier  sehr  lebhaften  Methoden- 
ßtreit  vielfach  übersehen  worden  zu  sein, 
dass  sich  jede  Methode  wesentlich  nach 
der  Natur  und  Eigenart  der  angestrebten 
Eigebnisse  der  Forschung  zu  richten  hat 
und  demnach  auch  hier  von  einem  einheit- 
liehen  (etwa  allein  richtigen!)  Verfahren 
nicht  die  Rede  sein  kann. 

Soll  ein   Gesamturteil   über  die 


^)  Logisch  unterscheiden  sich  die  Ergeb- 
nisse des  obigen  auf  Durchschnitten  begründeten 
Verfahrens  von  den  Ergebnissen  der  Induktion 
dadurch,  dass  die  letzteren  allgemeine  Ür- 
teUe  sind,  welche  auch  im  besonderen  richtig 
zn  sein  beanspruchen,  während  die  ersteren  nur 
im  grossen  und  ganzen,  nicht  aber  im 
besonderen,  wahr  sind. 


örtliche  Verschiedenheit  und  die 
Bewegung  des  äusseren  Tausch- 
wertes des  Geldes  gewonnen  werden, 
so  werden  wir  wohl  am  zweckmässigsten 
die  Preise  der  Um  satzmengen  (nicht 
das  arithmetische  Mittel  der  Einheitspreise) 
einer  möglichst  grossen  Anzalil  von  Gütern 
für  die  betreffenden .  Märkte  und  Zeitpunkte 
unserer  Bei*ochnung  zu  Grunde  zu  legen 
haben,  da  ja,  in  Rücksicht  auf  den  obigen 
Zweck  (die  Feststellung  eines  Gesamturteils 
über  den  äusseren  Tauschwert  des  Geldes 
unter  verschiedenen  örtlichen  und  zeitlichen 
Verhältnissen !),  die  Preisbildung  jeder  Güter- 
art nicht  die  gleiche  Bedeutung  hat. 

Dagegen  werden  wir  überall  dort,  wo 
es  sich  um  die  Beantwortung  der  Frage 
handelt:  ob  ein  bestimmter  Geldbeti^ 
(oder  ein  bestimmtes  Nominal  vermögen  und 
Nominaleinkommen)  uns  auf  einem  be- 
stimmten Markte  oder  in  einem  bestimmten 
Marktgebiete  (im  grossen  und  ganzen!)  die 
Möglichkeit  der  Konsumtion,  der  Pro- 
duktion oder  der  Erreichung  anderer  Wirt- 
schaftszwecke in  höherem  oder  geringerem 
Masse  gewälirt  als  auf  einem  anderen 
Markte,  oder  um  die  Frage :  ob  dies  auf  dem 
nämlichen  Markte  in  einem  bestimmten 
Zeitpunkte  in  höherem  oder  geringerem 
MaSvSe  der  FaU  ist  als  in  einem  anderen 
Zeitpunkte,  — wohl  am  zweckmässigsten  daran 
thun,  unserer  Berechnung  die  durchschnitt- 
lichen Kosten  möglichst  vieler  gleichartiger 
Haushalte  bezw.  die  diu'chschnittlichen 
Kosten  •  möglichst  vieler  gleichartiger  Pro- 
duktionen u.  s.  f.  zu  Grunde  zu  legen. 

Ist  unsere  Absicht  z.  B.  darauf  gerichtet, 
ein  Gesamtiu-teil  über  die  Tauschkraft  des 
Geldes  auf  verschiedenen  Märkten 
rücksichtlich  der  Führung  eines 
Haushaltes  (eines  solchen  im  allge- 
meinen !)  zu  gewinnen :  so  werden  wir  zu- 
nächst ein  Schema  aller  wichtigeren  Arten 
von  Haushaltungen,  hierauf  den  durch- 
schnittlichen Aufwand  für  jede  Kategorie 
dieser  Haushaltungen  auf  dem  einen  Markte 
und  (unter  Zugrundelegung  einer  möglichst 
gleichen  Konsumtion  von  Gütern  innerhalb 
der  einzelnen  Kategorieen  von  Hauslialten) 
auch  für  den  anderen  Markt  festzustellen 
haben.  Durch  die  Summierung  der  obigen 
Kostenztffern  für  jeden  der  beiden  Märkte 
gelangen  wir  zu  Gesamtziffern,  deren  Ver- 
gleichung  uns  im  grossen  und  ganzen 
ein  Urteü  über  die  Verschiedenheit  der 
Haushaltungskosten  auf  den  beiden  Märkten 
und  mittelbar  ein  solches  über  die  ver- 
schiedene Tausch  kraft  des  Geldes  in  Rück- 
sicht auf  die  Fühnmg  eines  Haushaltes  (im 
allgemeinen !)  ermöglicht. 

Aehnliche  Berechnungen  der  verschiedenen 
Tauschkraft  des  Geldes  können  auch  rilck- 
sichtüch   der   Produktionskosten    und 


94 


Geld 


des  für  andere  wirtscliaftliclie  Zwecke  im 
allgemeinen  nötigen  Aufwandes,  desgleichen 
fiir  vei"schiedene  Zeitepochen  angestellt 
werden,  wobei,  wie  kaum  bemerkt  zu  werden 
braucht,  das  einzuschlagende  Verfahren  den 
durch  die  Verschiedenheit  des  Erkenntnis- 
zweckes gebotenen  Modifikationen  unterliegt. 

Auch  die  Kosten  der  in  verschiedenen 
Wirtschaftsgebieten  innerhalb  bestimmter 
Zeiträume  oder  auf  den  nämlichen  Märkten 
innerhalb  verschiedener  Zeiträume  von  den 
Aufwands>\nrtschaften  oder  von  den  Erwerbs- 
wirtschaften überhaupt  verwendeten 
Gütermengen  vermöchten  (wenn  richtig  mit 
einander  verglichen!)  die  preisstatistische 
Grundlage  für  theoretisch  und  praktisch 
nicht  schlechthin  wertlose  Gesamturteüe 
über  die  örtliche  Verschiedenheit  und  die 
Bewegung  des  äusseren  Tauschwertes  des 
Geldes  in  Rücksicht  auf  bestimmte  Erkennt- 
niszwecke zu  bilden. 

Eine  abstrakte  (allen  beliebigen  theo- 
retischen und  praktischen  Zwecken,  welche 
mit  Berechnungen  dieser  Art  augestrebt  wer- 
den können,  dienende)  Lösung  der  Probleme 
des  äusseren  Tauschwertes  des  Geldes  scheint 
mir  allerdings  uneiTcichbar  zu  sein. 

7.  lieber  die  örtliche  Verschieden- 
heit ninl  die  Bewegung  des  sogenannten 
inneren  Tauschwertes  desGeldes,  lieber 
den  sogenannten  äusseren  Tauschwert 
des  Geldes,  seine  örtlichen  Verschiedenheiten 
und  seine  Bew^egimg,  endlich  über  die  Ver- 
suche, ein  Mass  desselben  in  Rücksicht  auf 
verschiedene  örtliche  und  zeitliche  Verhält- 
nisse zu  finden,  habe  ich  in  den  voran- 
gehenden Abschnitten  gehandelt.  Wesent- 
lich verschieden  von  den  eben  behandelten 
Frj^en  (bei  denen  es  sich  hauptsächlich  um 
die  mit  dem  Besitze  von  Geld  auf  ver- 
schiedenen Märkten  oder  in  verschiedenen 
Zeitpimkten  verbundene  Verfügungsgewalt 
über  gi-össere  und  kleinere  Quantitäten  von 
Kaufgütern  handelte)  ist  das  Problem  des 
sogenannten  inneren  Tauschwertes 
des  Geldes. 

Ich  werde  zunächst  das  Problem  selbst, 
welches  häufig  mit  dem  des  »äusseren  Geld- 
wertes« zusammengeworfen  worden  ist,  klar 
zu  stellen  suchen. 

Die  Austauschverhältnisse  der  Güter  sind 
das  Ergebnis  (dieResultante)vonBestimmungs- 
gründen,  welche  auf  beiden  Seiten  der 
Tauschobjekte  wirksam  sind.  Es  ist  un- 
denkbar, das  Austauschverhältnis  zweier 
Güter  ausschliesslich  auf  Bestimmungsgründe 
zurückzuführen,  w^elche  nur  auf  der  einen 
Seite  der  beiden  Tauschobjekte  liegen.  Da- 
gegen können  bereits  bestehende  Austausch- 
verhältnisse der  (jüter  allerdings  durch  eine 
Aenderung  von  Bestiramungsgründen  modi- 
fizieili  werden,  welche  lediglich  auf  einer 
Seite    der    Tauschobjekte    hervortritt.     Die 


konstituierenden  Faktoren  der  Preishildun^ 
sind  in  ihrer  Gesamtheit  niemals,  die  um 
modifizierenden  unter  Umständen  allerdings 
nur  auf  einer  Seite  der  auszutauscliendei 
Güter  vorhanden. 

Das  Gesagte  gilt  auch  von  den  Markt- 
preisen. Auch  die  Austauschverhältnisse 
der  Kaufgüter  und  des  Geldes  sind  stol; 
das  Ergebnis  von  Bestimmungsgründen 
welche  sowohl  auf  der  Seite  der  ersteroi 
als  auch  auf  der  Seite  des  Geldes  liopreu 
Die  Schwankungen  im  Geldpreise  de 
Waren  können  dagegen  im  konkreten  Fall 
auch  durch  eine  Aenderung  der  Bestimmung^ 
gründe  der  Preisbildung  veranlasst  werdor 
welche  entweder  nur  auf  der  einen  odo 
nur  auf  der  anderen  Seite  der  hier  in  Red 
stehenden  Verkelirsobjekte  —  auf  Seite  dt 
Kaufgiiter  oder  des  Geldes  —  eintritt. 

Die  wichtige  Frage  nach  der  Natur  un 
dem  Masse  des  Einflusses,  welchen  di 
Aenderung  der  auf  seite  des  Gel  de 
liegenden  Bestimmungsgründe  der  Preii 
bildung  auf  die  Austauschverhältnisse  d( 
Geldes  und  der  Kaufgüter  (auf  die  Mark 
preise)  ausübt,  ist  das  Problem  des  sogi 
nannten  inneren  Tauschwertes  d< 
Geldes  und  seiner  Bewegung. 

8.  Die  populäre  Anffassnng  über  d 
Beständigkeit  des  inneren  Wertes  d< 
Geldes.  Es  ist  eine  dem  ökonomisclK 
Denken  der  grossen  Menge  eigentümlicl 
Ungenauigkeit,  welche  uns  in  zahlreich» 
Vorgängen  des  wirtschaftlichen  Lebens  ii 
ablässig  entgegentritt,  dass  die  Bewegunij:» 
des  inneren  Tauschwertes  des  Geldos  unl 
achtet  bleiben.  Die  Praktiker  auf  dem  G 
biete  der  Wirtschaft  sind  gemeiniglich  £ 
neigt,  jede  Aenderung  der  Marktpreise  d 
Güter  (jede  Verschiebung  im  Austausch v< 
hältnisse  des  Geldes  und  der  Kaufgüter!)  c 
Bestimmungsgründe  zurückzuführen,  welc 
rücksichtlich  der  Kaufgüter  wirksam  i 
woitlen  sind,  in  dem  Gel  de  aber  ein  von  d 
Bestimmungsgründen,  welche  das  obige  Ai 
tausch  Verhältnis  modifizieren,  unbeeinfluss 
Verkehrsobjekt,  eine  in  diesem  Sinne  i 
veränderliche  Wertgrösse«  zu  erkennen. 

Der  alte  Irrtum  macht  sich  im  praktiscl 
Wirtschaftsleben  noch  allenthalben  beme 
bar:  in  der  Sprache  des  gemeinen  Lebo 
in  dem  ökonomischen  Kalkül  des  Rontnt 
in  dem  populären  Werturteile  über  dauori 
Geldrenten,  selbst  in  der  Bilanz  des  Fal 
kanten  und  des  Kaufmannes.^)  Der  Umsta 


')  Nichts  ist  gewöhnlicher,  als  dass  ein  "\ 
mögen  oder  Betriebskapital  als  verdoppelt 
zeichnet  wird,  wenn  deren  äusserer  Tauscliv 
(deren  Geldäquivalent)  im  Laufe  der  Zeit  i 
verdoppelt  hat.  Das  gleiche  gilt  vom  1 
kommen.  Ebenso  spricht  man  von  dem  Stei 
oder  vSinken  des  Wertes  einer  Ware,   je   m 


Geld 


95 


dass  alle  Güter  regelmässig  in  Geld  summen, 
die  letzteren  aber  nicht  umgekehrt  in  Quanti- 
täten von  Kaufgiitem  bewertet  zu  werden 
pflegen,  der  Umstand,  dass  im  Gegensatze 
zani  eifrig  beobachteten  Wechsel  des  »Geld- 
wertes der  Kauf  guter«,  das  Korrolar 
desselben,  der  Wechsel  des  » Wa  renwertes 
des  Geldes«,  im  gemeinen  Leben  nahezu 
völlig  unbeachtet  bleibt,  ist  wohl  der  haupt- 
sächliche Grund  der  obigen  Erscheinung. 
Das  Geld,  welches  in  so  vieler  Beziehung 
thatsächlich  eine  eigenartige  Stellung  in  der 
Volkswirtschaft  einnimmt,  wird  im  öko- 
nomischen Denken  und  Handeln  der  grossen 
Menge  auch  in  der  obigen  Rücksicht  als 
eine  exceptionelle  Erscheinung,  ja  als  eine 
Anomalie  der  Volkswirtschaft  betrachtet. 

9.  Die  wissenschaftliche  Auffassung 
über  den  inneren  Tausehwert  des  Geldes 
und  seine  Bewegung.  Die  obige  popu- 
läre Auffassung,  welche  auch  von  den 
Schriftstellern  des  Altertums  und  den  Geld- 
theoretikern  des  Mittelalters  geteilt  wird, 
vermochte  sich  gegenüber  der  fortschreiten- 
den wissenschaftlichen  Untersuchung  nicht 
zu  behaupten.  Jede  unbefangene  Analyse 
der  Markterscheinungen  lässt  uns  den  tief- 
gehenden preisändernden  Einfluss  erkennen, 
welchen  die  wechselnde  Cirkulationsmenge 
des  Geldes,  der  wechselnde  Bedarf  der 
Volkswirtschaft  an  Cirkulationsmitteln,  die 
wachsenden  oder  sich  mindernden  Produk- 
tionskosten der  Geldmetalle,  der  mehr  oder 
minder  sich  ausdehnende  Gebrauch  geld- 
ersetzender Wertzeichen,  und  so  viele  andere 
lediglich  auf  der  Seite  des  Geldes  liegende 
Aenderungen  in  den  Bestimmungsgi-ünden 
der  Preisbildung,  auf  das  Austauschverhält- 
nis des  Geldes  und  der  Kaufgüter  ausüben. 
Die  Wissenschaft  ist  zu  der  obigen, 
durch  die  umfassendste  Erfahrung  seither 
bestätigten  Erkenntnis  gleichwohl  nur  sehr 
aUmähiich  vorgedrungen.  Erst  Bodin  hat 
(imter  dem  Einfluss  des  Zuströmens  von 
Edelmetallen  aus  Amerika  nach  dem  Westen 
Eiuropas  und  der  dadurch,  insbesondere  in 
der  Mitte  und  der  zweiten  HäJfte  des  16. 
Jahrhunderts,  bewirkten  Preisrevolution)  das 
der  richtigen  Einsicht  entgegenstehende 
populäre  Vorurteil  bekämpft  i);  die  strenge 


dem  ihr  geldwirtschaftliches  Marktäquivalent 
grösser  oder  geringer  geworden  ist,  ohne  die 
Bewegimg  im  sogenannten  inneren  Tauschwerte 
des  Geldes  zu  heachten.  (Vgl  A.  Mars  hall, 
Principles  of  Economics,  3.  ed.,  1895,  p.  673  if.) 
*)  Je  trouve,  que  la  chart6  que  nous  voyons, 
viens  qnasi  ponr  quatre  on  cmq  causes.  La 
principale  et  presqne  seule  (que  personne  ius- 
ques  icy  n*a  touchee)  est  l'abondance  d'or  et 
d'argent,  qni  est  aujourd'huy  en  ce  royaume 
plus  grande,  qn'elle  n'a  este  il  y  a  quatre  cens 
ans  ...  La  principale  cause  (de  la  Charte;,  en 
qnelque  Heu  que  ce  seit,  est  l'abondance  de  ce 


wissenschaftliche  Formulierung  der  ol)igen 
Lehre  war  erst  unserer  Zeit  vorbehalten^). 

10.  Die  Idee  eines  universellen  und 
unwandelbaren  MaHsstabes  des  ,anneren 
Tauschwertes*'  der  Güter.  Seitdem  auch 
das  Geld  als  ein  von  den  Bestiniraungs- 
grlinden  der  Preisbildung  beeinflusstes  Ver- 
kehi-sobjekt  erkannt  war,  macht  sich  unter 
den  Geldtheoretikern  das  Streben  geltend, 
irgend  ein  anderes  Marktgut  zu  entdecken, 
dessen  Austauschverhältnis  zu  allen  übrigen 
Giitern  nicht  durch  Bestimmungsgründe 
beeinflusst  werden  würde,  die  auf  seite 
dieses  Gutes  liegen  würden.  Sie  suchen 
nach  einem  Gute,  dessen  Austauschverhält- 
nis zu  allen  übrigen  Gütern  zwar  immerhin 
örtlichen  Verschiedenheiten  und  einem 
Wechsel  unterliegen  könnte:  indes  doch 
nur  solchen,  welche  die  Wirkung  von  Ur- 
sachen wären,  welche  auf  Seite  der  letzteren 
(der  übrigen  Güter!)  liegen  würden;  —  sie 
suchen  nach  einem  Gute  von  universellem 
und  unwandelbarem  »inneren  Tauschwerte«. 

Die  Bedeutung  der  Entdeckung  eines 
Gutes  dieser  Art  für  die  Theorie  und  die 


qui  donne  estimation  et  prix  aux  choses.  (Dis- 
cours de  Jean  Bodin  sur  le  rehaussement  et 
diminution  des  monnayes.  Paris,  chez  Jacques 
du  Pays,  1678  4^  fol.  f  if.;  in  der  lat.  Ueber- 
setzung  von  Herrn.  Conring:  Job.  Bodini  respons. 
ad  paradoxa  Malestretti  de  caritate  rerum, 
Helmstad.  1671,  p.  11  ff.) 

^)  There  has  been  no  more  fr.nitful  source 
of  error  in  the  very  Clements  of  political  eco- 
nomy,  than  the  not  distinguishing  between  the 
power  of  purchasing  generally  and  the  power 
of  purchasmg  from  mtrinsic  causes;  and  it  is 
of  the  highest  importance  to  be  fully  aware 
that,  practically,  when  the  rise  or  fall  in  the 
value  of  a  commodity  is  referred  to,  its  power 
of  pnrchasing  arising  from  extrinsic  causes  is 
alwavs  excluded  (R.  M  a  1 1  h  u  s ,  Princ.  of  P.  E., 
2.  ed.,  1836,  p.  60.)  —  A.  Smith  deutet  den 
Unterschied  zwischen  dem  äusseren  und  inneren 
Tauschwert  der  Güter  in  seiner  Untersuchung 
über  den  „real  price"  und  den  „nominal  price" 
der  Güter  und  der  Arbeit  an.  Er  meint 
mit  Rücksicht  auf  die  Schwankungen  im  Preise 
der  Arbeit:  „Equal  qnantities  of  labour  are 
always  of  equal  value  to  the  labourer  .  .  .  ." 
„In  reality  it  is  the  goods  (nicht  die  Arbeit!) 
which  are  cheap  in  the  one  case  and  dear  in 
the  other."  (W.  o.  N.,  B.  I.,  Ch.  V.,  1776,  p  39.)  Er 
hält  indes,  was  übrigens  zum  Teile  auch  von 
Malthus  gilt,  die  Probleme  der  örtlichen  Ver- 
schiedenheit und  der  Bewegung  des  sogenannten 
äusseren  Tauschwertes  und  diejenigen  des 
inneren  Tauschwertes  des  Geldes  nicht  streng 
auseinander.  —  Vgl.  hierzu  insbesondere  die  in  der 
obigen  Rücksicht  überaus  verdienstvolle  Ab- 
handlung von  W.  Lexis:  Ueber  gewisse  Wert- 
gesamtheiten und  deren  Beziehung  zum  Geld- 
wert (Tübing.  Zeitsehr.  f.  d.  ges.  Staatsw.,  44. 
B.,  1888,  S.  222ff.)  und  V.Hermann,  Staatsw\ 
Unters.,  1832,  S.  101  ff.  und  2.  Aufl.  1870,  S 
447  ff. 


96 


Geld 


Praxis  der  mensclilichen  Wirtschaft  wäre 
kaum  geringer  als  diejenige  eines  Gutes  von 
universellem  imd  unwandelbarem  äusseren 
Tauschwerte  (s.  oben  S.  88  ff.).  Mit  Hilfe 
desselben  vermochten  wir  die  örtlichen 
Verschiedenheiten  und  die  Bewegung  im 
Austauschverhältnisse  aller  Güter  unter 
einem  praktisch  überaus  wichtigen  Ge- 
sichtspunkte richtig  zu  beiuleilen.  Würde 
nämlich  das  Austauschverhältnis  zwischen 
dem  ersten  und  irgend  einem  anderen  Gute 
eine  Veränderung  erfahren :  so  wüssten  wir 
von  vornherein  und  ohne  jede  weitere 
Untersuchung,  dass  diese  Verschiedenheit 
oder  Veränderung  auf  Bestimmungsgründe 
der  Preisbildung  zurückweise,  die  auf  seite 
des  letzteren  hegen.  Rücksichtlich  der 
gegenwärtig  so  überaus  schwer  zu  ent- 
scheidenden Frage,  ob  die  Ursache  einer  zu 
beobachtenden  Verschiebung  des  Austausch- 
verhältnisses zwischen  dem  Gelde  und  einer 
Ware  in  dem  ersteren  oder  in  der  Ware 
liege,  wäre  dann  jeder  Zweifel  beseitigt. 
Ein  Gut  der  obigen  Art  wäre  ein  wahres 
fios  /not  noi)  OTM  in  der  uns  nirgends  einen 
festen  Stützpunkt  bietenden  Bewegung  der 
Preise. 

Ein  Gut  dieser  Art  wäre  auch  in  einer 
anderen  Rücksicht  von  gei-adezu  unschätz- 
barer praktischer  Bedeutung.  Wer  über 
eine  bestimmte  Quantität  desselben  (z,  B. 
als  jährliches  Einkommen  oder  als  Forde- 
rung an  einen  Schuldner)  verfügte,  wäre  in 
seiner  Wirtschaft  und  in  der  Herrschaft 
über  die  übrigen  Verkehrsobjekte  zwar 
auch  dann  noch  von  der  örtlichen  Verschie- 
denheit und  der  Bewegung  der  Austausch- 
verhältnisse der  Güter  abhängig;  indes 
doch  nur  insoweit,  als  die  Bestimmimgs- 
gründe  derselben  (z.  B.  eine  Verändenmg  von 
Angebot  imd  Nachfrage,  Aenderungen  in 
den  Produktions-  und  Konsumtionsverhält- 
nissen, Fortschritte  in  der  Technik  der 
Produktion  u.  s.  f.)  sich  auf  seite  der  mit 
dem  wertbeständigen  Gute  einzutauschenden 
Gtlter  geltend  mac'hen  würden.  Er  wäre 
aber  dagegen  gesichert,  dass  seine  wirtschaft- 
liche Lage  durch  eine  Aenderung  des  »inneren 
Tauschwertes«  der  »sein  Einkommen  bildenden 
(wertbeständigen)Güter,d erObjekte  seiner  For- 
denmg  u.  s.  f.  eine  Aenderung  erfahren  könnte. 

Die  Versuche,  die  zu  diesem  Zwecke 
unternommen  wurden,  laufen  bei  den  Klassi- 
kern luid  Nachkkissikern  vielfach  parallel 
mit  dem  Streben  nach  einem  Gute  von  uni- 
versellem und  unwandelbarem  äusseren 
Tauschwerte.  Diese  Schriftsteller  unter- 
suchen schlechtliin  das  Problem  eines  un- 
wandelbaren Massstabes  des  »Tauschwertes« 
oder  halten  in  üiren  Ausführungen  den 
Unterschied  zwischen  dem  »äusseren«  und 
dem  »inneren  Tausehwerte«  der  Güter  doch 
nicht    strenge    fest.      Sie    bezeichnen    die 


Arbeit,  das  Getreide,  den  Unterhaltsbedarl 
eines  gewöhnlichen  Arbeiters  oder  ähnliche 
Güterkomplexe  als  universellen  und  un- 
wandelbaren jyiassstab  des  Tauschwortes  dei 
Güter,  worunter  sie  ohne  strenge  Konsequen; 
bald  einen  Massstab  des  »äusseren«,  bah 
einen  solchen  des  »inneren  Tauschwertes 
verstehen.  Auch  die  späteren  Versuch 
bewegen  sich  zum  Teile  in  der  obige 
Richtung.  Vielfach  macht  sich  in  der  Litte 
ratur  auch  die  Meinung  geltend,  dass  es  sie! 
hier  um  ein  unlösbares  Problem,  ja  ur 
eine  besonders  abstrakte,  ja  niissverstäntl 
liehe  Formulierung  der  »nationalökonora 
sehen  Quadratur  des  Zirkels«  handle.  Di 
Lösung  der  überaus  verwickelten  Frci^j 
sei,  wo  .möglich,  noch  aussichtsloser  a 
die  analoge  des  Ȋusseren  Tauschwertes 
ja  undenkbar. 

Was  zunächst  die  Schwierigkeit  d( 
theoretischen  Klarstellung  des  obigen  Pro 
lems  betrifft,  scheint  mir  diese  Meimu 
jedenfalls  unrichtig  zu  sein. 

Dass  auf  unseren  Märkten  weder  e 
Verkehrsobjekt  vorhanden  ist,  dessen  Av 
tauschverliältnisse  zu  allen  übrigen  G 
tern  im  Laufe  der  Zeit  imverändert  bleibe 
noch  auch  ein  solches,  rücksichtlich  dess 
die  bei  den  übrigen  Objekten  des  V* 
kehrs  wii'ksamen  preismodifizierenden  E 
flüsse  sich  schlechterdings  nicht  gelte 
machen  (dass  es  somit  auf  unseren  Märk1 
weder  ein  Verkehrsobjekt  giebt,  dess 
»äusserer«,  noch  ein  solches,  dessen  »in 
rer  Tauschwert«  allerorten  und  zu  al 
Zeiten  der  nämliche  ist,  steht  all 
dings  gleicherweise  ausser  jeddm  Zwei 
Nichtsdestoweniger  besteht  zwischen  d 
Probleme  der  Feststellung  eines  Gutes  ^ 
stabüem  äusseren  Tauschwerte  imd  d( 
jenigen  der  Feststellung  eines  solchen 
stabilem  inneren  Tauschwerte  ein  wesc 
lieber  Unterschied.  Die  hauptsächli 
Schwierigkeit  einer  Lösung  des  erste 
Problems  liegt  in  der  notwendigen  Bert 
sichtigung  der  preisändernden  Einflüsse  a 
übrigen  Marktgüter,  während  diese  Seh'' 
rigkeit  bei  Lösung  des  letzteren  Probl 
von  vornherein  —  schon  durch  die  Probl 
Stellung !  —  ausgeschossen  ist.  Das  Prol 
der  Feststellung  eines  Gutes  von  bos 
digem  inneren  Tauschwerte  ist  ein  \\i\ 
gleichlich  einfacheres  als  das  analoge 
äussieren  Tauschwertes. 

Dcizu  kommt  ein  Umstand,  welcher, 
besondere  auch  für  die  Frage  der  praktis« 
Durclifühnmg  des  obigen  Gedankens, 
grösster  Wichtigkeit  ist.   Die  preisänderi 
Einflüsse  machen  sich  auch  rücksichtlicl 
nämlichen  Ware   teils  in  positiver, 
in    negativer  Richtung   geltend.     Diese 
vermögen  sich  demnach  bei  der  Pi-eisbii« 
der  betreffenden  Ware  aufzuheben. 


Geld 


97 


preisändernden  Einflüsse,  welche  aiif  seite 
eines  bestimmten  Verkehrsobjektes  sieh 
geltend  machen,  sind  auf  das  Austausch- 
verhältnis derselben  und  aller  übrigen 
Güter  (auf  die  thatsächliche  Preisbewegung) 
mu"  insofern  von  Einfluss,  als  diese  innere 
Ausgleichung  nicht  stattfindet.  Der  Weizen- 
preis wird  beispielsweise  weder  sinken  noch 
auch  steigen,  wenn  die  Steigerung  des  An- 
gebots durch  eine  solche  der  Nachfrage  in 
ihrer  Wirkung  aufgehoben  wiixi.  Eine 
solche  die  Stabilität  des  »inneren  Tausch- 
wertes« eines  einzelnen  Gutes  ermöglichende 
innere  Ausgleichung  der  positiven  und 
negativen  Bestimmungsgründe  der  Preis- 
bildung ist  nicht  undenkbar;  die  Möglichkeit 
eines  Gutes  von  stabilem  inneren  Tausch- 
werte ist  nicht  schlechthin  ausgeschlossen. 
Selbst  das  praktische  Streben  nach 
einem  Gut  von  stabilem  »inneren  Werte«, 
scheint  mir,  sollte  nicht  von  vornherein  zu- 
rückgewiesen werden.  Der  Umstand,  dass 
die  auf  den  Markt  gelangenden  Quantitäten 
gewisser  Güter  beliebig  regidiert  werden 
können,  bietet  uns  die  Möglichkeit,  die 
sonstigen  auf  seite  derselben  hervortreten- 
den, ihr  Austauschverhältnis  mit  anderen 
Gütern  modifizierenden  Einflüsse  wieder 
aufzuheben.  Es  giebt  keine  Güter,  deren 
»innerer  Tauschwert«  im  freien  Verkehre 
ein  unwandelbai-er  ist,  wohl  aber  vielleicht 
solche,  deren  »inneren  Tauschwert«  durch 
eine  auf  den  obigen  Erfolg  hinzielende  Re- 
gulierung der  zu  Markte  gelangenden  Quan- 
titäten imverändert  zu  erhalten,  nicht 
ausser  dem  Bereiche  der  Möglichkeit  liegt. 
Dies  gilt  insbesondere  von  jenem  Verkehrs- 
objekte, welches  bei  der  hier  in  Rede 
stehenden  Frage  in  erster  Reihe  in  Betracht 
kommt,  von  dem  Gelde,  dessen  Cirku- 
lationsmenge  (durch  Einschränkung  der  Aus- 
prägungen, l)ezw.  durch  Ausdehnung  oder 
Einscliränkung  der  Wirksamkeit  der  geld- 
ersetzonden  Institutionen !)  im  internen  Ver- 
kehre zu  regeln,  nicht  ausserhalb  der  Macht- 
sphäre der  Staaten  und  Staaten  Verbindungen 
hegt.  Selbst  rücksichtlich  des  internatio- 
nalen A'erkehrs  scheint  mir  die  Möglich- 
keit einer  Regelung  des  inneren  Tausch- 
wertes des  Geldes  nicht  schlechthin  ausge- 
schlossen zu  sein.  Die  Idee  eines  Verkehre- 
objektes,  dessen  »innerer  Wert«^ ,  um  im 
Bil<le  zu  bleiben,  stets  »auf  dem  nämlichen 
Niveau«  erhalten  bleiben  würde,  ist  gerade 
in  Rücksicht  auf  das  Geld,  bei  dem  sie 
sich  teilweise  ja  schon  gegenwärtig  in 
automatisc^her  Weise  vollzieht,  keineswegs 
in  sich  widerspruchsvoll,  keine  ökono- 
mische Quadratur  des  Zirkels.  Es 
ist  kein  undenkbares  Beginnen,  die  im  un- 
beeinflussten  Laufe  der  Dinge  auch  auf 
seite  des  Geldes  hervoi-tretenden  preismodi- 
fizierenden Einflüsse    durch  Beeinflussung 


der  Umlauß5menge  des  Geldes  und  dm'ch 
Massregeln  anderer  Art  in  ihren  Wirkungen 
auf  die  Güterpreise  aufzuheben  und  solcher- 
art ein  Umlaufsmittel  zu  schaffen,  welches  in 
dem  hier  dargelegten  Sinne  wertbeständig 
wäre,  ein  Ünuaufemittel,  welches  uns  be- 
fähigen würde,  in  der  Preisbewegung  die 
Wirkungen  der  ausschliesslich  auf  seite  der 
Kaufgüter  hervortretenden  preisändernden 
Einflüsse  zu  erkennen. 

Dass  die  Durchführung  des  obigen  Ge- 
dankens nicht  nur  eine  ausreichende  Kennt- 
nis der  hier  in  Betracht  kommenden  statis-. 
tischen  Sachlage,  sondern  auch  die  richtige 
theoretische  Einsicht  in  den  Zusammenhang 
der  Preiserscheinungen  und  der  Bestim- 
mungsgründe ihrer  JBewegimg  zur  Voraus- 
setzung haben  würde,  bedarf  nicht  der  Be- 
merkung. Auch  die  praktischen  Schwierig- 
keiten der  Verwirklichung  des  obigen  Ge- 
dankens können  nicht  übersehen  werden,  i) 
Die  Schwankungen  im  Weltpreise  der  Edel- 
metalle scheinen  mir  gegenwärtig  immer  noch 
geringere  Gefahren  in  sich  zu  schliessen  als 
die  Regelung  des  inneren  Tauschwertes  des 
Geldes  durch  Regienmgen  oder  politische 
Parteien.  Auch  die  Schwierigkeiten,  die 
mit  der  internationalen  Regelung  einer  An- 
gelegenheit von  solchem  Belange  verbunden 
sein  würden,  können  ebensowenig  über- 
sehen werden  als  die  Schädigung  des 
internationalen  Verkehrs  durch  die  autonome 
Regelung  der  obigen  Frage  seitens  der 
einzelnen  Staaten.  Immerhin  scheint  mir, 
dass  dem  Streben  nach  einem  (im  vorhin 
gedachten  Sinne)  stabilen  Masse  deß  soge- 
nannten inneren  Tauschwertes  der  Güter 
ein  Problem  zu  Gnmde  liegt,  dessen  theo- 
retische Lösung  nur  eine  Frage  der  fort- 
schreitenden wissenschaftlichen  Erkenntnis, 
und  dessen  praktische  Lösung,  zu  der  die  Welt- 
wirtschaft unter  Umständen  ja  gezwungen 
sein  könnte  (bei  der  es  sich  auch  nicht  um 
eine  absolute,  sondern  nur  um  eine  für 
praktische  Zwecke  ausreichende  Genauigkeit 
der  Feststellungen  handeln  würde),  nicht  an 
unerreichbare  A^oraussetzungen  geknüpft  ist. 

11.  Die  Fra^e,  ob  bestimmte  Preis- 
bewe^ngen  (bezw.  örtliche  Verschie- 
denheiten der  Preise)  auf  Ursachen 
zurückweisen,  die  im  Gelde,  oder  auf 
solche,  die  in  den  Kaufgütem  liegen. 
Das  grosso  praktische  Interesse,  welches 
sich  an  die  isolierende  Betrachtimg  der  Be- 
wegung des  »inneren  Tauschwertes«  des 
Geldes  und  an  diejenige  des  Einflusses 
dieser   Bewegung  auf   die   Gestaltimg   der 


^)  S.  W.  Ba^ehot,  A  new  Standard  of 
value  (Economist,  Nov.  1875  und  wieder  im  P^con. 
Journ.,  IL,  1892,  p.  472 fF.)  und  R.  Giffen, 
Fancy  monetary  Standards  (Econ.  Journ.,  ebeud. 
p.  4Ü3  fe.). 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV.  7 


98 


Geld 


Grüterpfeise  k.iüpft,  hat  —  insbesondere 
seitdem  das  Problem  der  Feststellung  eines 
stabilen  Massstabes  des  Güterwertes  in  den 
Hintergrund  des  wissenschaftlichen  Interesses 
getreten  war  —  zu  der  obigen  Frage  ge- 
führt Ihi*e  Lösung  ist  auf  dem  Wege  von 
WahrscheinUchkeitsschlüssen  aus  der  rreis- 
bewegung  (also  auf  preisstatistischer  Grund- 
lage) angestrebt  worden,  ohne  doch  zu  voll- 
ständig befriedigenden  Ergebnissen  zu 
führen.  Das  gleichmässige  Steigen,  oder 
Sinken  der  Geldpreise  alier  Kaufgüter  auf 
aUen  Märkten  würde,  falls  eine  statistische 
Sachlage  dieser  Art  sich  unserer  Beobach- 
tung darböte,  einen  im  Ergebnisse  der  Ge- 
•wissheit  nahekommenden  WahrscJieinlich- 
keitsschluss:  gestatten, .  dass  ^die  obige  Ver- 
schiebung des  Austauschverhältnisses  der 
Käufgüter  und  des  Geldes  auf  Ursachen 
zurückweise,  welche  rücksichtlich  des  Gel- 
des wirksam  geworden  sind  .(auf  ein  Sinken 
oder  Steigen  des  »inneren  Tauschwertes« 
des  Geldes.!);  doch  würde  selbst  in  diesem 
Falle  die  Möglichkeit  nicht  vollständig  ausge- 
schlossen sein,  dass  die  Preisyerschiebung 
in  Ursachen  begründet  sei,  welche  gleich- 
massig  rücksichtlich  aller  Kaufgüter  her- 
vorgetreten sind.  Die  in  gleicher  Richtimg, 
indes  in  ungleichmässiger  Weise  erfolgende 
Verschiebung  der  Geldpreise  aller  Kaufgüter 
auf  sämtlichen  Märkten  würde  den  nahezu 
ebenso  verlässlichen  Wahrscheinlichkeits- 
schluss  gestatten,  dass  der  Preiswechsel 
der  Kaufgliter  das  Ergebnis  einer  kombi- 
nierten Wirksamkeit  von  Ursachen  sei,  welche 
sich  zum  Teüe  rücksichtlich  des  Geldes, 
zum  Teile  (in  migleichmässiger  Weise !)  rück- 
sichtlich der  .  Kaufgüter  geltend  gemacht 
haben.  Auch  in  diesem  Falle  würde  indes 
die  Erklärung  der  Preisbewegung  aus  Be- 
stimmungM^ründen ,  welche  (in  ungleich- 
massiger  Weise)  lediglich  bei  den  Kaufgü- 
tern w^irksam  geworden  sind ,  keineswegs 
ausserhalb  des  Bereiches  der  Möglichkeit 
hegen.  Umgekehrt  gestattet  das  Steigen 
oder  das  Sinken  des  Geldpreises  einzelner 
oder  einer  verhältnismässig  geringen  An- 
zahl von  Kaufgütern,  während  die  Geldpreise 
der  übrigen  Güter  unverändert  bleiben,  den 
Wahrscheinlichkeitsschluss ,  dass  die  Be- 
stimmungsgründe der  Preisänderungen  auf 
Seite  der  betreffenden  Kaufgüter  eingetreten 
sind,  ohne  doch  die  Möglichkeit  einer  ent- 
gegengesetzten Erklärung  —  der  Erklärung 
der  betreffenden  Preisänderungen  aus  Ein- 
flüssen, welche  rücksichtlich  des  Geldes 
eingetreten  sind,  und  der  Erklärung  des 
BehaiTungszustandes  der  übrigen  Preise 
aus  einer  kombinierten  Wirksamkeit  der 
rücksichtlich  des  Geldes  und  der  (in  ent- 
gegengesetzter Richtung !)  rücksichtlich  aller 
übrigen  Güter  wirksam  gewordenen  Ein- 
flüsse —  völlig  auszuschliessen. 


■  Die  obigen  und  ähnliche  Schlüsse  be- 
ruhen auf  dem  Princip,  dass  imter  den  ver- 
schiedenen möglichen  Erklärungsarten  einer 
Verschiebung  der  Marktpreise  jene  den 
relativ  höchsten  Grad  von  Wahrscheinlich- 
keit für  sich  in  Anspruch  nimmt,  welche 
das  gleichzeitige  Eintreten  in  der  näm- 
lichen Richtung  wirksamer  preisändernder 
Einflüsse  bei  einer  möglichst  geringen, 
Anzahl  von  Verkehrsobjekten  voraussetzt. 
Ein  allgemeines  Steigen  der  Marktpreise 
vermag  z.  B.  in  ungleich  wahrscheinlicherer 
Weise  aus  dem  »Sinken  des  Geldwertes < 
als  aus  dem  (nicht  eben  so  leicht  vorauszu- 
setzenden) gleichzeitigen  Steigen  det^ 
»inneren  Wertes«  aller  Kaufgüter  erklärt 
zu  werden. 

Je  ungleichmässiger  die  Bewegung  de.- 
Preises  der  verschiedenen  Güter  nach  Rich- 
tung und  Mass  ist,  um  so  weniger  gestatt<.»i 
indes  die  statistische  Sachlage  einen  aiicl 
nur  einigermassen  verjässlichen  Schluss  de; 
obigen  Art.  Bestenfalls  niu*  ein  Wahr 
scheinlichkeitsschluss,  versagt  derselbe  ii 
zalilreichen  unserer  Beobachtung  vorliegen 
den  Fällen  nahezu  vollständig.  Die  prak 
tisch  so  wichtige  Frage,  ob  eine  beobachtet« 
Preisbewegimg  auf  einem  Wechsel  in 
»inneren  Werte«  des  Geldes  od.er  der  ein 
zelnen  Kaufgüter  oder  aber  endhch  an 
einer  kombinierten  Wirksamkeit  beider  l)c 
ruhe  —  in  Wahrheit  die  Frage:  ob  ii 
konkreten  Falle  die  Bestinmiungsgründ 
der  Preisbewegung  sich  auf  seite  des  Ge! 
des,  der  Kaufgüter  oder  beiderseits  gelten 
gemacht  haben  —  vermag  auf  dem  obige 
Wege  nie  mit  voller  Sicherheil 
in  zahlreichen  Fällen  nur  mit  einem  $?< 
ringen  Grade  von  Wahrscheinlichkeit,  l>ii 
weilen  überhaupt  nicht  beantwortet  zu  ^ve 
den.  Nun  gar  die  Frage  nach  dem  Mass 
der  Schwankimgen  des  »inneren  Wert<»? 
des  Geldes  und  der  einzelnen  Kaufgüte 
zumal  in  jenen  Fällen,  in  welchen  die  Prei 
bewegung  sich  als  das  Ergebnis  ein< 
kombinierten  Wirksamkeit  beiderseitig! 
preisändernder  Einflüsse  darsteDt !  WoIqIh 
Anteü  an  der  Preisbewegung  hat  in  d< 
Fällen  der  letzteren  Art  die  Aenderung  d 
»inneren  Geldwertes«  und  welchen  jene^  <1 
»inneren  Wertes«  der  Kaufgüter?  1) 
obige  Verfahren  vermag  uns  auf  diese  iii 
ähnhche  Fragen  keine  sichere  Autwort 
bringen. 

Aehnliche,  wenngleich  der  Natiu:  il 
Sache  nach  in  den  meisten  Fällen  nie 
gleich  grosse  Schwierigkeiten  ergeben  si 
(wenn  das  nämliche  Verfahren  angewen« 
wird)  bei  Untersuchung  der  praktii^ 
minder  belangreichen  Frage  nach  eleu  l 
Sachen  der  örtlichen  Verschicdo 
heiten  der  Preise  und  speciell  nacth  <l 
Anteile ,     welchen    eiue    allfäUige    örtlic 


Geld 


99 


Verschiedenheit  des  iiiDeren  Tauschwertes 
des  Geldes  an  denselben  hat. 

12.  Ob  der  innere  Tauschwert  des 
(leldes  und  seine  Bewegung  gemessen 
werden  können.  Der  Umstand,  dass  der 
innere  Tauschwert  des  Geldes  keine  von 
der  Yei-schiedenheit  örtlicher  und  zeitlicher 
Verhältnisse  unbeeinflusste  Bestfindigkeit 
aufweist,  hat  zu  dem  Streben  geführt,  die 
Bewegung  (auch  die  öilliche  Verschieden- 
heit!) desselben  zu  messen.  Dass  dies 
fast  ausnahmslos  auf  preisstatisfischer 
(irundlage  versucht  worden  ist,  konnte  auf 
den  ersten  Blick  als  ein  Missverständnis 
über  die  eigentliche  Natur  des  hier  in  Be- 
tracht kommenden  Problems  betrachtet 
werden.  Die  Bew^e^ng  der  Güterpreise  ist 
im  allgemeinen  die  Resultante  von  Be- 
fetimmungsgründen,  welche  ebensowolü  auf 
der  Seite  der  Kaufgüter  als  auf  derjenigen 
des  Geldes  wirksam  geworden  sind. 
"NVie  vermöchten  wir  demnach  aus  der 
örtlichen  V'erschiedenheit  oder  aus  der 
Bewegung  der  Güterpreise  die  Ver- 
sdüedenheiten  und  die  Wandlungen  des 
inneren  Tauschwertes  des  Geldes  zu 
erkennen  oder  denselben  auf  dieser  Grund- 
lage wohl  gar  zu  messen?  Yon  der  augen- 
fälligen Unzulässigkeit  einer  Lösung  dieser 
Frage  auf  preisstatistischer  Grundlage  be- 
steht indes  eine  mögliche  Ausnahme.  Die 
Bestimmungsgründe  der  Preisbewegung,  so- 
weit sie  auf  seite  der  Käufgüter  liegen, 
machen  sich  zum  Teile  in  positiver,  zum 
Teile  in  negativer  Kichtung,  bezw.  bei  einem 
Teile  der  Güter  in  überwiegend  positiver, 
bt»im  anderen  in  überwiegend  negativer 
Richtung  geltend  (zum  TeDe  preiserhöhend, 
zum  Teile  preisermässigend).  Es  ist  nun 
nicht  schlechthin  undenkbar,  dass  bei  ge- 
wissen rechnungsraässigen  Zusammenfas- 
sungen der  Preisbewegimgen  einer  Vielheit 
von  Kaufgütern  die  positiven  imd  negativen 
Kinwirkuugen  der  auf  seite  der  Kaufgüter 
liegenden  Bestimmungsgründe  der  Preisbe- 
wegung (sei  es  nun  überhauj)t  oder  doch 
im  wesentlichen !)  sich  gegenseitig  aufheben 
imd,  in  Fällen  dieser  Art,  die  rech- 
nungsmässigen  Zusammenfassungen  derPreis- 
Viewegungen  aller  oder  doch  einer  grossen 
Anzahl  von  Gütern  uns  solcherart  im  we- 
sentlichen niu-  die  Wirkungen  der  auf  seite 
<les  Geldes  liegenden  Bestimmungsgi-ünde 
der  Preisbewegung  (also  die  Bewegung  des 
inneren  Tauschwertes  des  Geldes)  nach 
Richtung  und  Mass  erkennen  Hessen.  Auf 
«lieger  Annahme  beruhen  alle  V^ersuche  zm* 
Lösung  des  obigen  Problems  auf  preissta- 
tistischer Grundlage^) 

^)  Einen  über  die  bisherigen  Methoden  hinaus- 
gehenden Versuch  zur  Feststellung  der  Be- 
wegung des   sogenannten   inneren   Geldwertes 


Die  obige  Voraussetziuig  (die  Voraus- 
setzung, dass  in  zusammenfassenden  Berech- 
nungen der  örtlichen  Verscliiedenheit  imd 
der  Bewegung  der  Pi*eise  nur  die  (negativen 
und  positiven)  auf  der  Seite  der  Kauf- 
gtlter  gelegenen  Bestimmun^gründe  der 
Preisbildung  sich  in  ihren  Wirkungen  auf- 
heben, die  Wirkung  der  auf  seite  des 
Geldes  liegenden  preisändernden  Einflüsse 
dagegen  rein  zum  Ausdnick  gelangen)  ist 
indes  eine  so  künstliche,  auch  so  schwer  zu 
kontrollierende,  dass  selbst  die  sinnreichsten 
Methoden  der  Diu'chführung  dieses  Gedan- 
kens zu  keinem  befriedigenden  Ergebnisse 
führen  können.  Alle  auf  der  obigen  V^or- 
aussetzung  fussenden  Methoden  zur  Be- 
stimmung der  örtlichen  Yerschiedenheit 
und  der  Bewegimg  des  inneren  Tausch- 
wertes des  Geldes  sind  schon  im  Principe 
willkürlich  und  imverbürgt 

Das  Problem  eines  Masses  der  örtlichen 
Yerschiedenheit  imd  der  Bewegung  des  so- 
genannten inneren  Tauschw^ertes  des  Geldes 
bezweckt  die  Sonderung  der  auf  seite 
des  Geldes  und  der  auf  seite  der  Kaufgüter 
wirksamen  Bestimmungsgründe  der  fteis- 
bildung.  Es  soll  überdies  die  Einwirkung 
der  auf  seite  des  Geldes  liegenden  Be- 
stimmungsgründe auf  die  Preisbewegung 
nach  Richtung  imd  Mass  festgestellt  werden. 
Ein  Problem  dieser  Art  ist  seiner  innersten 
Natur  zufolge  ein  analytisches;  es  ver- 
mag weder  ausschliesslich  durch  eine,  wenn 
auch  noch  so  genaue  statistische  Feststellung 
der  Preisschwankungen,  die  ja  eine  Resul- 
tante  der  auf  beiden   Seiten   wirksamen 


unternimmt  W.  Lexis.  Derselbe  stützt  sich 
wesentlich  auf  die  Beobachtung,  dass  die  Mengen- 
preise (der  Verkehrswert  der  Konsumqnanten), 
und  zwar  sowohl  diejenige  der  Einzelwirtschaft  als 
der  Volkswirtschaft,  eine  besondere  Stabilität 
aufweisen.  Indem  infolge  der  VerbüUgemng 
einer  Ware  die  Konsummenge  erfahrungsgemäss 
eine  Steigerung,  durch  die  Verteuerung  aber 
eine  Minderung  erfahre,  werde  die  Bewegung 
der  Einheitspreise  in  den  obigen  Mengenpreisen- 
zum  mindesten  zum  Teil  ausgeglichen;  auch 
finde  das  durch  Verbilligerung  der  einen  Ware 
ersparte  Einkommen  fftt  Konsume  anderer  Güter 
Verwendung,  so  zwar,  dass  auch  aus  diesem 
Grunde  der  Gesamtpreis  der  Mengen  verschiede- 
ner Waren,  die  in  einer  Volkswirtschaft  nach 
dem  wechselnden  Bedürfnisse  in  verschiedenen 
Beobachtungsperiodeu  konsumiert  werden,  eine 
verhältnismässig  grössere  Stabilität  aufweise 
als  der  Durchschnitt  der  Einheitspreise  derselben 
Waren.  Auch  die  Elasticität  des  Umlaufes  der 
Zahlungsmittel  trage  hierzu  bei.  lieber  die 
Verwertung  dieser  Beobachtungen  für  die  Fest- 
stellung der  Bewegung  des  inneren  Geldwertes 
s.  W.  L  e  X  i  s ,  Ueber  gewisse  Wertgesamtheiten 
und  deren  Beziehung  zum  Geldwert,  Tübinger 
Ztschr.  f.  d.  ges.  Staatsw.,  44  B.  1888.  S.  226  flf. 
Vgl.  auch  Nasse  (Lexis)  in  Schönbergs 
Handbuch,  4.  Aufl.  1896,  1.  B.,  S.  342  ff. 


i 


100 


Geld 


•  •  •  •  ^ 

•  ••  • 

••• 

•  • 

•  •• 

•  ••  • 

•  • 


••• 


Bestiramiingsgrilndp  der  Preisbildung  sind, 
noch  auch  ausschliesslich  mittelst  Durch- 
schnitten oder  sonstigen  zusammenfassenden 
Darstellungen  der  obigen  Preisbewegungen 
und  darauf  begründeten  Schlüssen  gelöst  zu 
werden.  Nur  eine  Preistheorie,  w^elche  uns 
die  wahren  Bestimmungsgründe  der  Preis- 
bildung und  Preisbewegung  zum  Bewusst- 
sein  bringen  imd  uns  zugleich  lehren  würde, 
die  Wirkungen  der  einzelnen  Einflüsse  auf 
die  Preisbewegung  nach  Richtung  uud  Mass 
zu  verfolgen,  vermöchte  das  obige  Problem 
theoretisch  klaraustellen.  Die  Beantwortung 
der  Frage,  ob  und  in  welchem  Masse  ge- 
gebenen Falles  eine  Bewegung  des  soge- 
nannten inneren  Tausch wei-tes  des  Geldes 
thatsächlich  stattgefunden  habe,  würde  fi^i- 
lich  auch  dann  noch  wesentlich  von  der 
Kenntnis  der  betreffenden  statistischen  Ver- 
hältnisse abhängig  sein,  indes  nicht  nur 
von  einer  sor^ältigeu  und  umfassenden 
Statistik  der  Preise,  sondern  ebensowohl 
von  einer  solchen  der  (statistisch  fassbaren) 
Ursachen  der  Preisbewegung. 

Bis  dahin  wird  jedes  Urteil  über  die  Be- 
wegung des  inneren  Tauschwertes  des  Gel- 
des das  Ergebnis  einer  freien  Würdigung 
der  Preisstatistik  auf  Gnmd  der  jeweiligen 
theoretischen  Einsicht  und  unserer  Kenntnis 
der  die  Bewegung  der  Güterpreise  verur- 
sachenden Thatsachen  und  ihres  Masses  sein. 

X.  Ans  seiner  Entwickelung  und  seinen 
Funktionen    sich    ergebender    Begriff 

des  Geldes. 

Die  ursprüngliche  (die  primäre)  und 
aJlen  Entwickeluugsstufen  des  Geldes  ge- 
meinsame Funktion  desselben  ist  die  eines 
(innerhalb  bestimmter  Wirtschaftsgebiete) 
allgemein  gebräuchlichen  Tausclmiittels. 
Zu  allgemein  gebräuchlichf^n  Tauschmitteln 
gewordene  Verkehi'sobjekte  (sowohl  solche 
von  originärem  als  von  abgeleitetem  Ver- 
kehrswerte) werden  denn  auch  in  der 
Sprache  des  gemeinen  Lebens,  zumeist  auch 
in  jener  der  Wissenschaft,  als  Geld  (z.  B. 
als  Viehgeld,  Muschelgeld,  Eisengeld,  Barren- 
geld, Papiergeld,  Kreditgeld  u.  s.  f.)  bezeich- 
net Dagegen  erkennt  der  Si)rachgebrauch 
Güter,  welche  sonstige  dem  Gelde  ent- 
wickelter Volkswirtscliaften  eigentümliche 
Fmiktionen  vereehen,  indes  nicht  zugleich 
allgemein  gebräuchliche  Tauschmittel  sind, 
von  einzelnen  Schwankungen  des  Sprachge- 
brauches abgesehen,  nicht  als  »Geld«  an.  Der 
Umstand,  dass  z.  B.  Edelsteine,  Perlen  uud 
sonstige  Kostbai'keiten  unter  Umständen  als 
Thesaurierungsmittel  verwendet,  ja  für  diesen 
Zweck  dem  Gelde  bisweilen  vorgezogen 
werden,  macht  dieselben  noch  nicht  zum 
Gelde,  wie  denn  auch  der  Umstand,  dass 
auf  ge>\issen  Kulturstufen  die  Bewertungen 
vielfach   in    Gütern   vorgenommen   werden. 


die  nicht  zugleich  Tauschmittel  sind,  diesen 
Gütern  noch  nicht  den  Charakter  des  Geldes 
verleiht.  ^) 

Dagegen  werden  allgemein  gebräuchliche 
Tauschmittel    als    Geld    bezeichnet,    auch 
wenn  nicht  sie,  sondern  Güter  anderer  Art, 
die  Funktionen  von  »Thesaurierungsmitteln« 
oder  »Wertmassstäben«   versehen.    Der  ur- 
sprüngliche  und  der  allen  Entwickeluugs- 
stufen des  Geldes  gemeinsame  Begriff  des- 
selben ift  der  eines  allgemein  gebräuchlich 
gewordenen   Tauschmittels.     Alle  Begi-iffs- 
bestimmungen  des  Geldes,  welche  die  dem 
Gelde  entwickelter  Kulturvölker  eigentüm- 
lichen Funktionen  dem  Gelde  als  solchem 
zuschreibeu,  im  wesentlichen  nichts  anderes 
als   eine   Zusammenfassung   aller    aus   der 
Beobachtung  des  Geldes  der  modernen  Kul- 
turvölker sich  ergebenden  Funktionen  (auch 
der  blossen  Konsekutivfunktionen  der  Tausch - 
mittelfunktion)   des  Geldes    sind-),  müssen 
demnach  als  irrig,  im  allgemeinen  auch  als  ge- 
scliichtswidrig  zurückgewiesen  werden. 

Sollen  die  Konsekutivfunktionen  und  die 
sonstigen  gebräuchlichen  Benutzungsarten 
des  Geldes,  mit  Rücksicht  auf  ihre  hohe 
praktische  Wichtigkeit,  der  Begriffsbestim- 
mung des  Geldes  beigefügt  werden-^),  so 
rnuss  dies  in  einer  iliren  konsekutiven  bezw. 
ihren  accidentiellen  Charakter  kennzeichnen- 
den Weise  geschehen.  »Geld«  ist  jedes 
Verkehrsobjekt,  welches  als  allgemein  ge- 
bräuchliches Tauschmittel  und  infolge  dieses 
Umstandes  aller  Regel  nach  auch  als  Mass- 
stab des  Tauschwertes  funktioniert,  Funktio- 
nen, mit  denen  sich  regelmässig  auch  die 
eines  Mittels  für  einseitige  und  subsidiäre 
vermögensrechtliche  Leistungen,  eines  Ver- 
mittler des  Kapitalverkehrs,  falls  der  Geld- 

M  Man  rechnete  (bei  den  alten   Griechen 
nach  Rindern  und  zahlte  in  zugewogenem  Metull 
(Hultsch  a.  a.  0.,  S.  124fF.). 

*)  Es  widerspricht  den  Grundsätzen  rich- 
tigen Denkens,  m  die  Definition  des  Wesen? 
einer  Erscheinung  die  Folgeerscheinungen  der 
selben  aufzuuehmen,  mit  den  wesentlichen  Merk 
malen  einer  Erscheinung  zugleich  abgeleitete 
welche  nur  in  der  Entwickelung  derselben  ihn 
Stelle  finden  dürfen,  anzuführen.  Es  ist  die; 
ein  Definitionsfehler  —  eine  defiuitio  abundans  - 
selbst  unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Kon 
sekutiverscheinnngfen  sich  aus  dem  Phänomen 
dessen  Wesen  definiert  werden  soll,  mit  Not 
wendigkeit  ergeben:  um  so  mehr  dann,  wem 
dieselben  mit  der  verursachenden  Erscheinuii« 
nicht  notwendig,  sondern  nur  regelmässig,  ode 
gar  nur  accidentiell  verknüpft  sind.  Der  alle 
Erscheinungsformen  und  Entwickelungastufe 
des  Geldes  allein  entsprechende,  der  Weseii.^ 
begriflF  desselben,  ist  der  eines  allgemein  irt 
bräuchlichen  Tauschmittels.  . 

^)  In  allen  Fällen,  wo  es  sich  nicht  ui 
eine  Definition,  sondern  um  eine  Beschreibnn 
(nicht  um  eine  „definitio",  sondern  um  ein 
„descriptiü")  des  Geldes  handelt. 


Geld 


lül 


Stoff  liierzu  geeignet  ist,  auch  die  eines 
Thesaiirierungsmittels  verbinden. 

Die  Meinung,  dass  zum  Begriffe  des 
Geldes  der  Zwangskurs  gehöre,  beruht 
auf  einer  Verkennung  der  normalen  Natiu: 
des  Geldes.  Sobald  ein  Yerkehrsobjekt  that- 
sächlich  die  Funktion  eines  allgemein  ge- 
bräuchlichen Tauschmittels ,  insbesondere 
aber  wenn  es  zugleich  die  Konsekutivfunk- 
tionen der  letzteren  erlangt  hat,  ist  dasselbe 
auch  ohne  Zwangskurs  Geld.  Umgekehrt 
weixlen  Dinge,  die  nicht  ohnehin  schon  Geld 
sind,  dadurch,  dass  ihnen  der  Zwangskiu« 
verliehen  wiitl,  nicht  schlechthin  Geld.  Die 
Geschichte  des  Geldes  bietet  uns  zahllose 
Beispiele  von  Fällen,  in  denen  Yerkehi*sob- 
jekte,  denen  kein  Zwangskurs  verheben 
wortlen  war,  die  Funktionen  des  Geldes  ver- 
sahen ;  umgekehrt  aber  auch  Beispiele  von 
solchen  Fällen,  in  denen  mit  Zwangskm^s 
versehene  Geldzeichen  (infolge  der  Unwirk- 
samkeit der  betreffenden  Anordnung,  insbe- 
sondere des  Widerstands  der  Bevölkerung) 
kein  Geld  im  ökonomischen  Sinne  geworden 
sind.i)  Wir  müssen  zwischen  dem  Begriffe 
des  Geldes  und  dem  eines  mit 
Zwangskurs  versehenen  Zahlungs- 
mittels unterscheiden.  Es  giebt  Geld  im 
eigentlichen  Verstände  des  Wortes,  das 
keinen  Zwaugskurs  hat,  und  umgekehrt  mit 
Zwangskure  versehene  Zahlungsmittel,  die 
nicht  >Geld«  sind.  Der  Zwangskurs  gehört 
vom  Standpunkte  der  ökonomischen  Be- 
trachtung jedenfalls  nicht  zum  Begriffe  des 
Geldes. 

Die  entgegengesetzte  Meinung  fiihrt  denn 
auch  zu  unlialt baren  Konsequenzen.  Danach 
würde  z.  B.  das  in  einem  Lande  frei  (ohne 
Zwangskurs)  cirkidierende  EdelmetaUgeld 
originären  Wertes,  auch  wenn  dasselbe  that- 
sächlich  alle  Funktionen  des  Geldes  vor- 
trefflich versehen  würde,  kein  »Geld«  oder 
doch  um*  »unvollkommenes  Geldc  sein.  Da- 
gegen wären  entartete,  mit  Zwangskurs  aus- 
gestattete Geldzeichen,  selbst  wenn  sie  ein- 
zelne* Funktionen  des  Geldes  überhaupt 
nicht,  andere  niu*  höchst  mangelhaft  ver- 
sehen, ja  im  freien  Verkehre  von  der  Be- 
völkerung überhaupt  zurückgewiesen  werden 
würden,  »Geld«,  wohl  gar  vollkommenes 
Geld,  was  vom  Standpunkte  ökonomi- 
scher Betraclitimg  unhaltbar  ist. 

Auch  die  imter  den  Juristen  2),  neuer- 
dings auch  unter  den  Volkswirten^),  viel- 


»j  Vffl.  Dernburg,  Pandekt,  III.  Buch, 
§26  (1894,  II.  Bd.,  S.  76);  Derselbe,  Prenss. 
Privatr.,  III.  Buch,  §  32,  insbes.  Note  2;  schon 
Savigny,  ObUg.-R.,  L,  S.  408. 

*j  J.  E.  Kuntze,  Die  Lehre  von  den  In- 
haberpapieren, 1857,  S.  431 ;  P.  L  a  b  a  n  d ,  Staatsr. 
d.  deutschen  Reiches,  II,  S.  163. 

*;  J.  Ch.  Ravit,  Beiträge  zur  Lehre  vom 


fach  verbreitete  Meinung,  dass  nur  mit 
Zwangskiu«  versehene  Umlaufsmittel  als 
»Geld  im  Rechtssinne«  bezw.  als 
»vollkommenes  Geld«  zu  betrachten 
seien,  ist  anfechtbar.  Es  wird  diese  An- 
sicht in  der  Weise  begründet,  »dass  jede 
Rechtsordnung  Bestimmungen  darüber  be- 
dürfe, was  (gesetzliches)  Zahlungsmittel  sein 
solle,  d.  h.  was  der  Gläubiger  als  Erfüllung, 
sei  es  einer  Geldschuld  oder  schliesslich 
einer  jeden  Obligation,  anzunehmen  genöti^ 
sei,  und  an  dessen  Mchtannahme  sich  die 
Folgen  des  (Annahme-)Verzugs  knüpften. 
Hiermit  ei'st  werde  die  letzte  Konsequenz 
jener  Begriffe  gezogen,  aus  welchen  sich 
der  Geldbegriff  zusammensetze.  Vollkom- 
menes Geld  sei  eben  nur  solches,  welchem 
durch  Gesetz  oder  Gewohnheitsrecht  jene 
Eigenschaft  als  gesetzüches  Zahlungsmittel 
beigelegt  sei«  ^). 

Nun  ist  vor  allem  unrichtig,  dass  Geld 
(oder  ein  Objekt  anderer  Art),  indem  ihm 
der  Zwangskurs  verliehen  wird,  zum  »G  e  1  d  e 
im  Rechtssinne«  werde.  Es  besteht 
kein  Zweifel  darüber,  dass  vom  Gelde  auch 
in.  einem  besonderen  juristischen  Sinne  die 
Rede  sein  kann,  z.  B.  bei  gesetzlicher  Be- 
stimmung dessen,  was  in  Testamenten,  Co- 
dicillen,  Urkunden  u.  s.  f.  unter  dem  Aus- 
dnicke  »Geld«  zu  vei^stehen  sei.  Hier  han- 
delt es  sich  in  der  Tliat  um  Geld  in  einem 
gewissen  dem  Recht  eigentümUchen  Sinne, 
im  Gegensatze  zum  Gelde  im  gemeinen, 
dem  (ökonomischen)  Verstände  des  Wortes. 
Ebenso  könnte  in  den  Fällen,  in  denen  der 
Staat  oder  eine  sonstige  Autorität  ein  Geld 
einführen  würden,  dessen  sich  infolge  recht- 
licher Satzung  jedermann  bei  Strafe  oder 
unter  Androhung  sonstiger  Rechtsnachteile, 
als  Tauschmittel,  als  Mittel  für  den  Kapital- 
verkehr, als  Thesaurierungsmittel,  als  Wert- 
messer u.  s.  f.  bedienen  müsste,  von  einem 
Zwangsgelde  (im  Gegensatze  zum  frei 
cirkulierenden  Gelde)  die  Rede  sein.  Indem 
der  Staat  einer  bestimmten  Ali;  von  Geld, 
oder  wohl  gar  von  Dingen,  die  überhaupt 
kein  Geld  smd^),  den  Zwangskiurs  verleiht, 

Gelde,  1862,  S.  8ff.;  L.  v.  Stein,  V.L.  1878, 
S.  107;  (mit  wesentlichen  Einschränkungen) 
A.  Wagner,  AUg.  0.  theor.  Volkswirtsch. 
L.,  1876,  S.  49;  E.  Nasse  in  Schönbergs  Handb. 
1896,  I,  S.  329. 

^)  R.  K  0  c  h  in  Endemanns  Handb.  d.  deutsch. 
Handelsrechts,  1882,  II,  S.  115;  vgl.  hierzu 
L.  Goldschmidt's  Handb.  d.  Handelsr.,  1868, 
II,  1.  Abt.  S.  1069  und  1079,  Anm.  28;  eben- 
derselbe, System  d.  Handelsr.  1889,  S.  126; 
G.  Hartmanu,  Ueber  d.  rechtl.  Begriff  des 
Geldes  etc.  1868,  S.  12  ff.;  Dernburg, 
Pandekt.,  III.  Buch,  §  26.  —  Einschränkungen 
der  obigen  Auffassung  bei  G  0 1  d  s  c  h  m  i  d  t  a.  a. 
0.  S.  1069  fi'.;  bei  Ko^ch  a.  a.  0.  S.  115;  F.  Re- 
gelsberger,  Pandekt.  L,  §  104,  Note  4. 

*)  Fr.  N  0  b  a  c  k  (Münz-,  Mass-  u.  Gew.-B. 


*? 


■  ij 


102 


Creld 


werden  dieselben  indes  wohl  »mit 
Zwangskurs  versehene  Zahlungs- 
mittel«, nicht  aber  »Geld  im  Reehts- 
sinne«.  Nur  der  Umstand,  dass  für  die 
Juristen  das  Geld  hauptsächlich  als  Zahlungs- 
mittel in  Betracht  kommt,  vermag  die  obige 
Begriffsverwechselung  bei  einem  Teile  der 
Juristen  zu  erklären. 

Dazu  kommt,  dass  ein  Zahlungsmittel 
nicht  erst  durch  den  Zwangskurs  zum  »Zah- 
lungsmittel im  rechtlichen  Sinne«  wird,  der 
Zwangskurs  somit  nicht  einmal  dem  Begriffe 
dieses  letzteren  wesentlich  ist.  Auch  dori, 
wo  usuell  cirkulierendes  Geld  besteht,  werden 
die  Geldschulden  aller  Regel  nach  auf 
dieses  gestellt;  das  usuelle  Geld  bildet  den 
ausdrücklich  oder  stillschweigend  »gewill- 
kürten« Inhalt  der  betreffenden  Fordenmgs- 
rechte.  Dasselbe  ist,  auch  ohne  dass  ihm 
der  Zwangskurs  verliehen  wird,  Zahlungs- 
mittel im  Rechtssinne,  ein  Zalüungsmittel, 
das  der  Berechtigte  (da  es  dem  Inhalte  der 
Forderung  entspricht)  annehmen  muss,  wi- 
drigenfalls für  ihn  die  Folgen  des  Annahme- 
verzugs eintreten.  Die  Leistung  des  ver- 
einbarten oder  sonst  »gewillkürten«  Inhalts 
der  Obligation  ist  an  sich  und  ohne  Erklä- 
rung des  usuellen  Geldes  zum  Zwangszah- 
lungsmittel eine  wirkliche  Solution  —  keine 
»datio  in  solutum«  ^).  Indem  dem  Gelde 
oder  irgend  einer  anderen  Art  von  Dingen 
der  Zwangskurs  verliehen  wird,  werden  sie 
zu  Zahlungsmitteln  —  nicht  zum  Gelde  — 
im  Rechtssinne;  in  zahlreichen  Fällen  wird 
indes  auch  usuelles  Geld,  ohne  dass  ihm 
der  Zwangskurs  verliehen  wird,  zum  ente- 
ren. Der  Zwangskurs  gehört  nicht  nur 
nicht  zum  allgemeinen  Begriffe  des  Geldes, 
sondern  auch  nicht  zu  dem  eines  Zah- 
lungsmittels, sei  es  im  ökonomischen, 
sei  es  im  Rechtssinne  des  Wortes. 

Auch  die  grosse  Wichtigkeit,  welche  in 
den  Untersuchungen  über  die  obige  Frage 
dem  Umstände  zugeschrieben  wird,  dass 
das  Geld  bei  subsidiären  Leistungen 
»also  in  letzter  Linie  bei  allen  Obligatio- 
nen rechtlich  Zahlungsmittel  sei«^),  scheint 


1879,  S.  166)  erwähnt,  dass  i.  J.  1852  den 
Staatsdienem  in  Bolivia  gestattet  worden  ist, 
ihre  Zahlungen  in  Chinarinde  zu  leisten. 

*)  Viel  eher  dürfte  in  denjenigen  Fällen, 
in  denen  die  Anordnung  eines  Zwangszahlungs- 
mittels thatsächlich  erfolgt,  die  erzwungene 
Annahme  des  von  dem  vereinbarten  Inhalt  der 
Obligation  etwa  verschiedenen  Zahlungsmittels 
durch  den  Gläubiger  nicht  als  eine  eigentliche 
J.Erfüllung"  der  Obligation,  sondern  als  ein 
durch  Gesetz  normiertes  „in  solutum  accipere" 
aufzufassen  sein.  Vgl.  AVindscheid,  Fand. 
I[,  §  342,  S.  294,  inshes.  Note  10. 

*)  Vffl.  R.  Koch  in  Endemanns  Handb  d. 
deutsch.  Handelsr.  1882,  II,  S.  115;  E.  Nasse 
in  Schönbergs  Handb.,  I,  1896,  S.  329. 


mir     nicht    durchaus    berechtigt    zu   sein. 
Es  ist  nicht  richtig,  dass  das  Greld  in  letzter 
Linie  das  Solutionsmittel  aller  Obligationen 
sei,   da  zum   mindesten   in    den   modernen 
Rechtssystemen    die  Leistung    des  Inhalts 
der  ObÜgaMonen,  soweit  dieselbe  rechtlich 
durchgesetzt  werden  kann,  auch  dann  er- 
zwungen wird,  wenn  der  Inhalt  der  Obliga- 
tion kein  Geld,  sondern  eine  Sache  anderer 
Art  ist^).     Darin  aber,  dass  dem  Gläubiger 
an  Stelle  einer  sonst  unmöglichen  oder  nicht 
durchsetzbaren     Leistung     (und     zwar    in 
dessen  eigenem  Interesse)  eine  Geldsumme 
zugesprochen  wird,  vermag  zwar  eine  zweck- 
mässige   Massregel    ziu*    Beseitigung   einer 
Schwierigkeit  der  Durchsetzung  von  Rechts- 
ansprüchen oder  ein  Ai'gument  für  die  be- 
sondere   Eignung    des    Geldes    fOr   diesen 
Zweck  (S.  80  ff.),  indes  doch  nicht  ein  Beweis 
dafür  erkannt  zu  werden,  d^s  der  Zwangs- 
kiu^  zum  Begriffe  des  Geldes  im  Reclits- 
sinne  gehöre-). 

Die  Frage  nach  dem  Begiif  fe  des  Geldes 
in  rechtlichem  Sinne  kann  nur  in  der  Weise 
gelöst  werden,  dass  zwischen  gesetz- 
lichemKurse  undZ  wangskurse  unter- 
schieden vdrd,  Mit  der  Ent Wickelung  des 
Verkehrs  äussert  sich  der  Einfluss  des 
Staates  auf  das  Geldwesen  insbesondere 
auch  in  der  Weise,  dass  der  Staat  bestimmte 
Arten  von  Geld  (bisweilen  selbst  Objekte,  die 
kein  Geld  sind)  zu  gesetzlichen  Zahlungs- 
mitteln erklärt.  (S.  80).  Der  wirtschafts- 
politische Zweck  und  die  ökonomische  AVir- 
kung  dieser  Massregel  (obzwar  die   letztere 

>)  §  883  (neue  Zählung)  der  Civilprozess- 
ordnung  für  das  Deutsche  Reich,  Abs.  1  lautet : 
„Hat  der  Schuldner  eine  bewegliche  Sache  oder 
von  bestimmten  beweglichen  Sachen  eine  Quanti- 
tät herauszug;eben,  so  sind  dieselben  von  dem 
Gerichtsvollzieher  ihm  wegzunehmen  und  dem 
Gläubiger  zu  übergeben."  §  884  (n.  Z.):  „Hai 
der  Schuldner  eine  bestimmte  Quantität  vertret 
barer  Sachen  oder  Wertpapiere  zu  leisten.  s( 
findet  die  Vorschrift  des  |  883,  1.  Aba.  ent 
sprechende  Anwendung."  —  Aehnlich  §  346  dei 
Ost.  Exekutionsordnung.  (Vgl.  v.  Schrutka 
Zeitschr.  f.  deutsch.  Civilproz.,  B.  11,  1887 
S.  164,  welcher  für  den  durch  die  obigen  Be 
stimmung^en  geregelten  Vorgang  den  Terra  in  u 
exekutorische  Surrogattradition  in  Vorschlai 
brinfft.) 

*)  Es  ist  charakteristisch  für  die  Entwicke 
lung  der  volkswirtschaftlichen  Anschauuntroi 
im  19.  Jahrhundert,  dass  die  vorwiegend  man 
ch esterlich-liberalen  Schriftsteller  der  erste 
Hälfte  desselben  in  dem  Zwangskurse  fast  4\\\^ 
nahmslos  ein  Symptom  der  Entartung  des  Gelde 
erkennen  (ein  Umstand,  welcher  auch  auf  di 
Geldlehre  der  Juristen  zurückwirkt),  wähieu 
die  Volkswirte  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahi 
hunderts  (unter  dem  Einflüsse  der  Juristen  I)  i 
dem  Zwangskurse  ein  Attribut  des  vollkommene 
Geldes  (des  vollkommenen  Geldes  überhaupt 
zu  erblicken  geneigt  sind. 


Geld 


1Ö3 


i'iiristisch  zumeist  in  ein  und  derselben 
^OTm  auftritt  und  die  Juristen  deshalb  ge- 
neigt sind,  dieselbe  unterschiedslos  zu  be- 
handeln) sind,  je  nach  der  Verschiedenheit 
der  FäDe,  doch  wesentlich  verschieden. 

Der  Z'weck  der  obigen  Massregel  ist  in 
gewissen  Fällen  lediglich  die  einheit- 
liche Gestaltung  des  Geld-  und  Rechnungs- 
wesens eines  Landes,  die  Einfühnmg  eines 
einheitlichen  Landesgeldes  (S:  77  ff.),  oder  die 
Beseitigung  der  aus  der  mangelhaften  Ver- 
tretbarkeit der  verschiedenen  Münzstücke, 
Münzsorten  und  anderer  Geldarten  für  den 
Verkehr  sich  ergebenden  üebelstande  (die 
Beseitigung  der  rechtlichen  Wirkungen,  die 
sich  aus  den  ökonomisch  thatsächlich  vor- 
handenen, w^enngleich  zumeist  ökonomisch 
irrelevanten,  geringfügigen,  im  Verkehre 
grossen  teils  gar  nicht  empfundenen  Ver- 
schiedenheiten der  hier  in  Betracht  kom- 
menden Geldstücke  und  Geldsorten  ergeben. 
S.  79ff.).  Der  Zweck  der  obigen 
Massregel  ist  in  diesen  Fällen 
demnach  die  Schaffung  eines  ein- 
heitliehen, normal  funktionieren- 
den Landesgeldes. 

In  einer  anderen  Gruppe  vpn  Fällen  er- 
klärt der  Staat  bestimmte  Arten  von  Geld 
oder  GeldsiuTOgaten  zu  gesetzlichen  Zah- 
lungsmitteln —  nicht  etwa  um  ein  einheit- 
liches oder  ein  normal  fimktionierendes 
Geldwesen  zu  schaffen,  sondern  (zumeist 
sogar  Tinter  Preisgebung  der  wesentlichen 
Zwecke,  denen  ein  normales  Geldwesen 
dient,  ni(*ht  selten  sogar  unter  Preisgebimg 
der  Stabilität  der  Rechtsverhältnisse)  ledig- 
lich zu  dem  Zwecke,  um  durch  diese  Mass- 
regel die  betreffenden  Geld  Sorten  oder 
Geld  Surrogate  (z.  B.  entwertete  Bank- 
noten und  Staatekassenscheine,  im  lieber- 
mass  herausgegebene  Scheidemünze,  unter- 
wertige  neben  dem  Goldcourant  cirkulie- 
rende  SUbercoiu^ntmünzen  u.  s.  f.)  zu  einem 
ihren  Kurs  im  freien  Verkehre  übersteigen- 
den Werte  zwangsweise  in  Umlauf 
zu  setzen  oder  in  demselben 
zwangsweise  zu  erhalten. 

Wir  haben  demnach  zwei  Gnipj)en  von 
Fallen  vor  uns,  in  denen  der  Staat  gewisse 
Geldsoi-ten  zu  gesetzlichen  Zahlungsmitteln 
erklärt.  In  den  Fällen  der  ersteren  Art  dient 
diese  Massregel  der  Schaffung  eines  ein- 
heitlichen, normal  funktionierenden  Geld- 
wesens, in  den  Fällen  der  anderen  Art 
dient  rlie  nämliche  Massregel  (unter  Preis- 
pebung  des  obigen  Zwecks)  dazu,  anormales 
fielet  durch  rechtlichen  Zwang  in  Umlauf 
zu  setzen  oder  in  demselben  zu  erhalten. 
Die  obige  Massregel  (obzwar  äusserlich  die 
nämliche)  ist  in  beiden  Fällen  somit  wesent- 
lich verschieden  —  verschieden  etwa  wie 
Schutzzoll  imd  Finanzzoll,  die  beide  glei- 
cherweise Zölle   sind,   regelmässig  auch  in 


derselben  Art  erhöben  werden,  indes  doch 
nach  Zweck  und  Wirkung  und  somit  auch 
begrifflich  wesentlich  verschieden  sind.  Niu* 
in  dem  letzteren  Falle  kann  von  einem 
Zwangskurse  (cours  forc6,  corso  forzoso) 
im  ersteren  (in  dem  die  betreffenden  G^d- 
sorten  aUer  Regel  nach  auch  ohne  die  Er- 
klärung zu  gesetzlichen  Zahlungsmitteln 
cirkulieren  würden  und  diese  letztere  ledig- 
lich den  Zweck  hat,  gewisse,  in  einzehxen 
FUllen  sich  praktisch  geltend  machende 
Uebelstände  des  Verkehrs  zu  beseitigen 
oder  die  Einführung  eines  einheitlichen  nor- 
malen Geldes  zu  beschleunigen)  lediglich 
von  einem  gesetzlichen  Kurse  im  engeren 
Sinne  (cours  legal,  corso  legale)  die  Bede 
sein. 

Die  Erklärung  zum  gesetzlichen  Zahlungs- 
mittel^) gehört  nicht  zum  ökonomischen  Be- 
griffe des  Geldes  (man  denke  an  frei  drku- 
lierende  Banknoten  und  Staatskassenscheine 
und  an  ustieU  cirkulierendes  vollwertiges 
Metallgeld);  sie  gehört  auch  nicht  zum  Be- 
griffe des  »Geldes«,  ja  nicht  einmal  schlecht- 
hin zu  dem  eines  »Zahlungsmittels«  im 
rechtlichen  Sinne.  (S.  102).  Wohl  aber 
giebt  es  eine  Reihe  von  Fällen,  in  denen 
gewisse  Geldarten  durch  die  ErWärung  der- 
selben als  gesetzliche  Zahlungsmittel  zu 
einem  bestimmten  Nominalwerte  in  ihrer 
Funktion  als  Geld  thatsäclilich  vervollkomm- 
net werden  imd  hierdurch  das  Geld-  und 
Zahlungswesen  eines  Landes  überhaupt  eine 
wesentliche  Vervollkommnung  erfährt. 

XL  Der  Bedarf  der  Volkswirtschaft 

an  Geld. 

Die  Meinung,  dass  die  Ansammlung 
möglichst  grosser  Quantitäten  von  Bar- 
mitteln flir  ein  Volk  besonders  vorteilhjrft 
sei,  ebenso  die  Meinung,  dass  die  Summe 
des  einem  Volke  erforderlichen  Geldes 
und  der  »Wert«  der  sämtlichen  zur  Ver- 
äusserung    ausgebotenen    Güter    sich    das 

')  Zahlen  (althochd.  zal6n,  mittelhd.  zaln, 
im  älteren  Sprachgebrauche:  in  Zahlen  dar- 
stellen, zählen,  etwas  Bemessenes  dem  Berech- 
tigten zur  Tilgung  einer  Verpflichtung  leisten) 
ist  in  dem  neueren  Sprachgebrauche  im  wesent- 
lichen auf  die  Zuzählung  (resp.  Leistunfi^)  einer 
Geldsumme  zur  Tilgung  einer  auf  Geld  lau- 
tenden Verpflichtung  eingeschränkt  worden. 
Zahlung,  sowohl  der  Akt,  als  das  Objekt  der 
Leistung.  (Ve;!.  Heynes  Deutsch.  Wörterb., 
Artikel:  Zählen,  Zahlen,  Bezahlen;  auch 
Sanders  Wörterb.  d.  deutsch  Sp.^  IL  3.,  S. 
1693,  Sp.  2,  Anm.)  —  Von  den  Juristen  wird 
der  Ausdruck  solutio  im  Sinne  der  Aufhebung, 
häufiger  in  dem  engem  der  Erfüllung  einer 
Obligatio,  auch  in  dem  noch  engem  der 
Zahlung,  (der  Erfüllung  einer  Geldooligation) 
angewandt.  (Vgl.  Windscheid  Lehrb.  d. 
Pandektenrechts  II,  1875,  §§  341,  Note  5  und 
342,  Note  1.) 


104 


Geld 


GHeichgewicht  halten  müssten,  sind  über- 
wundene Irrtümer.  Indes  auch  diejenigen, 
welche  den  Geldbedarf  einer  Volkswirt- 
schaft aus  den  innerhalb  einer  bestimmten 
Periode  imazusetzenden  Gütermengen  oder 
dem  Betrage  der  innerhalb  einer  Periode 
(gleichzeitig!)  zu  leistenden  Zahlungen 
einerseits  und  andererseits  aus  der  »Um- 
laufsgeschwindigkeit« des  Geldes  (aus 
der  grösseren  oder  geringeren  Zahl  der 
FäJle,  in  welchen  mit  den  nämlichen  Geld- 
stücken in  der  betreffenden  Periode  Zah- 
lungen zu  leisten  sind)  zu  berechnen  suchen^), 
verkennen  die  wahren  Bestimmimgsgriinde 
des  Geldbedarfs  einer  Volkswirtschaft.  Sie 
übersehen,  dass  die  Geldmenge,  welche  bei 
Zahlungen  jeweüig  zur  Verwendung  gelangt, 
mu:  einen  Teil  der  einem  Volke  nötigen 
Barmittel  büdet,  ein  anderer  Teil  dagegen, 
in  der  Form  von  Reserven  mancherlei  Art, 
für  die  Sicherstelhmg  imgewisser,  in  vielen 
Fällen  thatsächlich  überhaupt  nicht  statt- 
findender Zahlungen  (im  Interesse  der  un- 
gestörten Funktion  der  Volkswirtschaft!) 
bereit  gelialten  werden  muss.  Die  im  Me- 
tallschatzo  der  Zettelbanken,  in  den  Kassen 
des  Staates,  der  Si)arkassen,  der  Depositen- 
banken, der  Kreditinstitute,  der  Privatwirt- 
schaften etc.  befindJichen,  nur  für  einen 
ungewissen  Bedarf,  filr  seltene  und  unge- 
wöhnliche Gefaliren,  ja  zum  Teil  nur  für 
äusserste  Fälle  bereit  gehaltenen  Bestände 
von  Barmitteln  bilden,  obzwar  für  Zahlun- 
gen regelmässig  nicht  in  Anspruch  genom- 
men, doch  ebensowohl  einen  Teil  des  Geld- 
l^edarfs  einer  Volkswirtschaft  als  der  Be- 
darf an  Scheidemünzen,  welche  mehrmals 
im  Tage  aus  einer  Hand  in  die  andere 
übergehen.  Auch  die  von  den  Einzelwirt- 
schaften thesauriei'ten  Geldsummen  sind 
hierher  zu  rechnen.  Der  Geldbedarf  einer 
Volkswirtschaft  findet  ähnlich  wie  derjenige 
der  einzelnen  Privathaushalte  in  den  Zah- 
lungen, welche  innerhalb  einer  bestimmten 
Penode  thatsächlich  zu  leisten  sind,  ent- 
fernt nicht  den  lichtigen  Ausdnick. 

Ebenso  wird  in  der  klassischen  und  nach- 
klassischen Wii*tschaftstheorie  der  Einfluss 
der  Umlaufsgeschwindigkeit  des  Geldes  auf 
den  Bedarf  emes  Volkes  an  Barmitteln  viel- 
fach überschätzt.  Die  Umlaufsgeschwindig- 
keit des  Geldes  ist,  wie  schon  die  Abnützung 
der  Münzen  und  Geldzeichen  lehrt,  im  aU- 
gemeinen  bei  Geldsorten  von  geringem  Nenn- 
werte eine  besonders  grosse.  Ebenso  crrku- 
lieren  die  Barmittel  von  Aufwandswirt- 
schaften  mit  kurzer  Periodicität   der  Ein- 


')  Vgl.  A.  Smith,  W.  o.  N.,  B.  IV,  1 
passim ;  K  i  c  a  r  d  o ,  High  price  of  bnllion.  Works, 
1871,  S.  234 ;  J.  St.  Mi  1 1 ,  Princ.  of  P.  E.,  B.  lU, 
Ch.  Vin,  §  3;  ältere  Litteratur  bei  Koscher, 
System  I,  §  123,  5. 


nahmen  und  geringer  Kassenhaltung  (z.  B. 
der  Taglöhner- Wirtschaften)  und  von  Erwerbs- 
wirtschaften mit  raschem  Umsätze  des  um- 
laufenden Kapitals  ^  ungleich  schneller  als 
solche  von  Aufwands-  oder  Erwerbswirt- 
schaften, bei  welchen  das  Gegenteil  der 
Fall  ist.  Die  verschiedene  Umlaufsgeschwin- 
digkeit des  Geldes  gelangt  der  Hauptsache 
nach  bei  den  verschiedenen  Teüen  des  Geld- 
bestandes einer  Volks^virtschaft,  nicht  bei 
diesem  überhaupt  zur  Erscheinimg.  Indes 
selbst  dort,  wjd  in  einer  bestimmten  Zeit- 
epoche eine  allgemeine  Steigening  oder 
Mindening  der  Lebhaftigkeit  des  Verkehrs 
beobachtet  werden  kann  (z,  B.  bei  allgemein 
günstigem  oder  ungünstigem  Geschäftsgange), 
äussern  sich  dieselben  regelmässig  nicht 
etwa  nur  in  der  Weise,  dass  das  nämliche 
Geldstück  häufiger  oder  seltener  als  bisher 
aus  einer  Hand  in  die  andere  übergeht, 
sondern  zum  nicht  geringen  Teile  dadurch, 
dass  die  vorhandenen,  als  Reserven  dienen- 
den Barbestände  in  stärkerem  oder  in 
schwächerem  Masse  als  bisher  für  Zalüuugcn 
in  Anspruch  genommen  -werden. 

Zu  einer  der  realen  Sachlage  entsprechen- 
den Theorie  des  Barmittelbedarfes  einer 
Volkswirtschaft  vermag  nur  eine  Unter- 
suchung zu  führen,  welche  von  dem  Bar- 
mittelbedarfe  der  Einzel-  und  der  Gomein- 
mrtschaften,  aus  denen  Sich  die  »Volks- 
wirtschaft« zusammensetzt,  ihren  Ausgang 
nimmt. 

Sobald  in  einem  Yolke  eine  bestimmte 
Ware  zum  allgemein  gebräuchlichen  Tausch- 
mittel geworden  ist,  entsteht  in  jeder 
einzelnen  Wirtschaft,  neben  dem  bis- 
herigen Bedarf e  an  dieser  Ware  für  die 
Zwecke  der  Konsumtion  und  der  technisclien 
Produktion,  ein  weiterer,  hiervon  verschie- 
dener Bedarf  für  Tauschzwecke.  Jede  Wirt- 
schaft ist  fortan  genötigt,  einen  besonderen 
Vorrat  dieser  Ware  speciell  für  Tausch- 
zwecke, in  der  Folge  auch  noch  f  ih-  andeixi 
an  die  Tauschmittelfunktion  der  beti*effendeii 
Ware  sich  anschliessende  Zwecke  —  gleich- 
sam ein  kleines  Lager  der  beti-ef  fori  eleu 
Ware^)  —  bereit  zu  halten.    Ist  ein  Volk 

')  Rücksichtlich  des  Geldes  befinden  wir 
uns  alle  in  gewissem  Sinne  in  der  Lage  des 
Kaufmannes;  denn  wir  tauschen  regelmässig 
das  Geld  ein,  nicht  nm  es  zu  konsumieren  oder 
zu  verarbeiten,  sondern  um  es  wieder  zu  ver- 
äussem.  Unser  Barmittelvorrat  hat  somit  eine 
gewisse  Aehnlichkeit  mit  einem  Warenlaj^er. 
Der  Unterschied  zwischen  beiden  Fällen  besteht 
darin,  dass  wir  das  Geld  (als  solches)  nicht  nur 
infolge  des  Gewinnstrebens,  welches  in  der  geld- 
wirtschaftlichen Epoche  sich  ja  hauptsächlich  in 
Kauf  und  Verkauf  bethätigt,  sondern  zugleich 
um  der  Erleichterung  des  Guteraus- 
tausches willen  erwerben  und  veräussern. 
(Vgl.  dagegen  R.  Hildebrand,  Theorie  des 
Geldes,  S.  10.) 


Geld 


105 


ziir  Greldwirtschaft  v(M^dningen,  so  bedingt 
jede  einzelne  Aufwands-  imd  Erwerbswirt- 
scliaft  eine  gei^isse  Eassahaltung  (eine  Haus- 
haltungs-  bezw.  eine  Geschäftskasse),  deren 
Grösse  sich  nach  den  Aufgaben  und  den 
verfügbaren  Mitteln  der  betreffenden  Wirt- 
schaft und  ihrer  Stellung  in  der  Volkswirt- 
schaft richtet.  Der  bereit  zu  haltende  Bar- 
mittelTorrat  der  grosseren  oder  vom  Markte 
abhängigeren  Wirtschaft  wird  selbstveretänd- 
lich  regelmässig  ein  grösserer  als  derjenige 
der  kleineren  oder  vom  Markte  minder  ab- 
hängigen, die  Kassahaltung  einer  Aufwands- 
wirtschart mit  rascherer  Periodicität  der 
Eingänge  und  Zahlungen  (z.  B.  bei  täglich 
ausbezahltem  Lohne,  täglich  zu  entrichtender 
Wohnungsmiete  u.  s.  f.)  regelmässig  eine  ge- 
ringere sein,  als  unter  sonst  gleichen  um- 
ständen diejenige  einer  Aufwandswirtschaft, 
liei  welcher  das  entgegengesetzte  Verhältnis 
obwaltet  Der  bereit  zu  haltende  Barmittel- 
vorrat einer  Erwerbswirtschaft,  in  welcher 
das  umlaufende  E^pital  überwiegt,  wird 
unter  sonst  gleichen  Umständen  denjenigen 
einer  Erwerbswirtschaft  mit  grösserem,  in- 
des überwiegend  fix  angelegtem  Kapitale 
uljertreffen.  Auch  die  kleinere  Wirtschaft, 
welche  thesauriert  oder  gewerbsmässig  Kre- 
ditgeschäfte betreibt,  wird  leicht  mehr  Bar- 
mittel absorbieren  als  die  ungleich  grossere, 
in  welcher  das  Geld  indes  niu*  als  Tausch- 
mittel Anwendung  findet. 

Der  Geldbedarf  einer  Volkswirtschaft  ist 
der  Inbegriff  der  durch  dio  Einzel-  und 
Gemeinwirtschaften  eines  Volkes  beanspruch- 
ten Geldbestände,  in  dereu  Gesamtheit  er 
somit  sein  letztes  Mass  findet.  Er  ist  eine 
Grösse,  deren  Bedeutung  nicht  allein  in 
der  Gesamtziffer,  sondern  wesentlich  auch 
in  der  Verteilung  über  die  einzelnen  Wirt- 
schaften im  Volke  zum  Ausdrucke  gelangt. 

Die  Eigenart  des  Geldes  im  Kreise  der 
übrigen  Güter  bewirkt,  dass  mit  jeder  Aende- 
rung  in  der  Kaufkraft  des  Geldes  auch  der 
nominelle  Bedarf  der  einzelnen  Wirtschaften 
(somit  auch  der  Volkswirtschaft)  an  Geld 
wechselt,  dass  jede  Erhöhung  der  Kaufkraft 
des  Geldes,  den  nominellen  Geldbedarf  zu 
mindern,  jedes  Sinken  derselben,  ihn  zu  er- 
höhen, die  Tendenz  hat.  Die  steigende 
Wohlhabenheit  eines  Volkes  pflegt  den 
Geldbedarf  desselben  aus  einem  doppelten 
Gnmde  zu  steigern:  einerseits  dimih  den 
vermehrten  Güterumsatz,  die  vermehrten 
Zahlungen,  Thesaurieningen,  in  Geld  erfol- 
genden Kapitalansammlungen  und  den 
wachsenden  Umfang  des  »Geldmarktes« 
und  andererseits  durch  die  der  Bequemlich- 
keit und  Sicherheit  der  Wirtschaftsführung 
dienende  allmähliche  Gewöhnung  der  ein- 
zelnen Wirtschaften,  grössere  Geldvorräte 
verfügbar  zu  halten,  den  ökonomischen  Be- 
darf der  Wirtschaft  an  Barmitteln  vollstän- 


diger zu  befriedigen.  Dieser  Tendenz  wir- 
ken bei  entwickelter  Kreditwirtschaft  Kom- 
pensationsvorgänge mannigfacher  Ali;  (der 
Kredit  im  allgemeinen,  das  Giro-  und 
Clearingwesen)  und  das  Entstehen  von  In- 
stituten entgegen,  welche  mit  verhältnis- 
mässig geringer  Kassahaltung  einer  Mehrheit 
von  Einzelwirtschaften  die  Disponibilität  über 
eine  ungleich  grössere  Menge  von  Barmitteln 
ermöglichen  (Depositenbanken,  Zettelbanken, 
Sparkassen  u.  s.  f.).  Auch  die  Beschleunigung 
der  Zahlungsvorgänge  (infolge  der  dichter 
werdenden  Bevölkerung,  der  Vervollkomm- 
nung der  Transportmittel  und  der  Technik 
des  Zahlungswesens)  hat  die  Wirkung,  den 
Barmittelbedarf  der  Volkswirtscliaft  zu  ver- 
ringern. 

Litteratnr:  2>iV  LUteratvr  über  das  Geldwesen 
ist  eine  überaus  reiche.  Sic  umfasst  —  abgesehen 
von  den  Werken  über  Numismatik  —  (nach 
Scliätzumjen,  die  ich  im  Vereine  mit  J,  Stamm- 
hammerj  auf  Grund  umfassender  bibliogra- 
phischer CoUectaneen  für  den  gegenwärtigen 
Zeitpunkt  vorgenommen  habe)  5000 — 6000 
selbständige  Schriße^i  und  in  tcissenschaßliclien 
Zeitschriften  publizierte  Abhandlungen.  Eine 
vollständige  Bibliographie  des  Geldwesens  würde 
einen  Oktavband  von  ca.  300  Seiten  füllen.  Ich 
beschränke  mich  hier  darauf,  eine  Uebersicht  der 
bisherigen  auf  das  Geldwesen  sich  beziehenden 
wichtigeren  bibliographischen  Publikationen  und 
Sammelwerke  zu  geben. 

Bibliographische  Werke:  Philippu» 
LabbCf  Bibliotheca  numaria  ex  theohgis,  Juris- 
consultis,  medicis  ac  philologis  coneinnata, 
Parisiis  8  ^  1664,  «»«^  ^ß<^-  —  Anselm,  Ban~ 
duruSf  Bibliotheca  numismatica,  II.  Lutet. 
Paris.  1718,  fol.,  herausgegeb.  von  Fabricius, 
Hamburg.  1719,  4^.  —  F.  E.  BHUskmann, 
Bibliotheca  numismatica,  oder  Verzeichnis  der 
mehresten  Schrißen,  so  vom  Münzwesen  handeln 
was  hiervon  sowol  ffislorici,  Physici,  Chymici, 
Medici,  als  'auch  Juristen  und  Theologi  ge- 
schrieben,  Wolffenb.  1729,  8^.  Mit  Supplemen- 
ten aus  den  Jahren  1782  und  1741-  —  tfoh, 
Christ,  Hirsch  f  Bibliotheca  numismatica 
(omnium  gentium)  exhibens  catalogum  anctorum, 
qui  de  re  monetaria  et  numis  tarn  antiquis  quam 
recentiorihus  scripsere,  coUecta  et  indice  verum 
instmcta,  Norimbergae.  1760,  fol. — fT.Q.  Lipsitis, 
Bibliotheca  numaria,  sive  catalogus  auctorum, 
qui  usquc  ad  finem  seculi  XVIII  de  re  mone- 
taria aut  numis  scripscrunt,  II,  Lipsiae  1801,  8  ®. 
Traktatensammlungen:  Matti.  Boy 88, 
Tra^tatus  varii  atque  uiiles  de  monetis  earum- 
que  mutatione  ac  falsitate,  Colon.  Agripp.  1574, 
8^.  —  Rener,  Budelius,  Tractatus  varii  at- 
que utiles,  nee  non  consilia  singularesque  additio- 
nes  tarn  veterum  quam  neotericorum  authorum, 
qui  de  monetis,  earundemque  valore,  liga,  pondere, 
potestate  etc.  scripserunt.  (Im  Anhange  zu  seinen : 
De  monetis  et  re  nummaria  libr.  II,  Colon. 
Agripp.  1591,  4  ^O  —  ^^  monetarum  augmento, 
variationc  et  diminutione  tractatus  varii,  Augus- 
tae  Taur.  1609,  8^.  —  Zwanzig  Tractale,  das 
schlechte  Münzwesen  und  den  Wucher  hey  den 
Äippen  und  Wippen  betreffend,  1659,  4^'  — 
Hav.    Thom.    v.    Hagelstein,    Acta   publica 


106 


Geld — Gemei  ndefinan  z  en 


monetaria  (hier  auch  zahlreiche  TVaktatc,  unter 
anderen  die  von  Nie,  Oresmius,  Gab. 
Byel,  Joh.  Äquila),  Augspurg  169S,  fol.  — 
Lord  Oifergtone  und  JT.  jR.  Mc.  Cullochy 
A  select  coUection  o/  aearce  and  valuahle  tracts 
on  monney  (Vaughau,  Cotton,  Petty,  Lmcnd^^, 
Newton,  Prior,  Harris  and  others),  London  1856. 

—  Dieselbetif  A  »clect  coUection  of  scarce  and 
valnahle  tracts  and  other  publicatioru  on  Paper- 
Ourrenq/  and  Banking  (ffume,  W^altace,  Thom- 
ton,  Ricardo,  Blake,  Huskisaon  and  others), 
London  1857. 

Aeltere  wertvolle  Litteratur-  ü  eh  er- 
st cht  e  n :  Dictionnaire  de  VEcon.  Pol.  von  Coquelin 
und  Guillaumin,  JI,  1858,  Art.  Monnaie  (bis  gegen 
die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  reichend.)  — 
Mc  Cullochf  The  literature  of  polit.  economy, 
London  1845,  pp.  155 — 191,  (hauptsächlich  engl. 
Litteratur). 

Ne uere  Litteratur  •  Ue ber sichten: 
Dona  Hortonf  im  Appendix  zu  dem  International 
monetary  Conference  held  in  Paris  in  August  1878u, 
Washington  1879,  pp.  854— 77 S  (hauptsächlich 
Litteratur  des  19.  Jahrh.  bis  zum  Jahre  1879.  — 
H,  St.  fTevonSf  Bibliographie  ron  Büchern  und 
Abhandlungen  über  Geld-  und  Münzwesen  im 
Anhange  zu  seinen  ninvestigations  in  Currency 
and  Finance,  Ed.  by  IL  S.  Fojnrell,  London 
1884»,  PP'  ^^^ — 4H  (ziemlich  reichhaltige  An- 
gaben iit>er  die  Litteratur  des  Geldwesens  von  der 
Mitte  d.  16.  Jahrh.  bis  zum  J.  1882).  —  Ad,  Soet- 
beeVf  Litteratumachweis  über  Geld-  u.  Münzwesen, 
insbesondere  über  den  Währungsstreit,  1871 — 1891, 
Berlin,  1892.  —  R,  H.  Inglis  Palgrave, 
I>ictionary  pf  PblUical  Economy,  London  1896, 
Vol.  II,  p.  795 ff.  (Litteratur-Vehersicht  bis  1896). 

—  Fo rtla ufe nde  Berichte  über  die  das 
Geldwesen  betreffenden  neuen  Litteratur- Er- 
scheinungen (Werke  und  Abhandlungen)  und 
Gesetzgebungs-Arbeiten   in   den    Jahrbüchern 

für  Nat.-Oekonomie  u.  Statist.  (Jena); 
in  systematischer  Sondentng  seit  1882  {N.  F. 
Bd.  4)-  —  S.  auch  die  Litteraturangaben  bei  den 
Artikeln:  Gold-,  Silber-, Doppel-, Parallelwährung, 
Preis  —  in  diesem   Werke. 

C,  Menger, 


Gemeindebesitz,  mssiseher,  s.  Mir. 


Gemeindefinanzen. 

I.  Einleitung  1.  Betriff  der  G.  2.  Ge- 
schichtliches. 8.  Das  heutige  Verhältnis  der 
Gemeinden  zum  Staate.  4.  Die  moderne  Ent- 
wickelung  des  Gemeinde wesens  in  England, 
ö.'  Der  heutige  Zustand  in  Frankreich.  6.  Deutsch- 
land. 7.  Oesterreich.  II.  DieGemeindeaus- 
gahen.  8.  Allgemeines.  9.  Die  Zunahme  der  Ge- 
meindeaus^aben.  10.  Der  Personal-  und  Sachbe- 
darf. 11.  Die  Ausgaben  im  einzelnen  a)  Ausgaben 
für  Polizei ;  b)  Ausgaben  für  Schulzwecke :  c)  Aus- 
fifaben  für  Armenpflege ;  d)  Ausgaben  für  Gesund- 
heitspflege, Wohlfahrt«-  und  Annehmlichkeitsan- 
stalten. III.  Die  Gemeindeeinnahmen.  12. 
Allgemeines.  13.  Die  Erwerbseinkünfte  der  Ge- 
meinden. 14.  Gebühren  und  Beiträge.  15.  Die 
Gemeindesteuern  im  allgemeinen.  16.  Ver- 
gleichung  des   Gemeindesteuerwesens  in   Eng- 


land, Frankreich,  Deutschland  und  Oesterreich. 
17.  Die  Gemeindesteuerpolitik.  18.  Dotationen 
und  Subventionen.  IV.  DasSchuldenwesen. 
19.  AUgemeines.  20.  Arten  und  Höhe  der  Ge- 
meindeschulden. 

I.  Einleitung. 

1.  Begriff  der  G.  Das  Wort  Gemeinde- 
finanzen  (Gemeindehaushalt)  bedeutet  den 
Gesamtzustand  des  Finanzwesens  der  Ge- 
meinden, d.  h.  den  Inbegriff  aller  That- 
sachen,  die  sich  auf  ihre  Einnahme-  und 
Ausgabewirtschaft  sowie  auf  das  Schulden- 
wesen beziehen. 

Wir  denken-  dabei,  wenn  hier  von  Ge- 
meindefinanzen die  Rede  ist,  nicht  aus- 
scliliesslich  an  die  Gemeinden  im  engeron 
Sinne,  die  Ortsgemeinden,  sondern  auch  an 
die  anderen  Kommunalkörper,  d.  h.  die 
zwischen  dem  Staat  und  den  einzelnen 
stehenden,  auf  territorialer  Abgrenzung  be- 
ruhenden, zwangsgemeinwirtschaftlichen  Or- 
ganisationen. Freilich  wenden  wir  unsor 
Hauptaugenmerk  dem  wichtigsten  Gliprl 
derselben,  den  Ortsgemeinden,  zu;  aber  dio 
Darstellung  wäi*e  unvollkommen,  wollte 
man  nicht  auch  der  übrigen  Kommunal - 
körper,  d.  h.  der  sogenannten  Kommunal- 
verbände höherer  Ordnung,  die  uns  in  den 
verschiedenen  Staaten  als  Bezirke,  Distrikto. 
Kreise,  Departements,  Provinzen,  Graf- 
schaften etc.  entgegentreten,  einigermassen 
gedenken.  Allerdings  wird  hier  die  Darstel- 
lung einerseits  durch  die  unübersehbaix? 
Fülle  der  aus  gescliichtlichen  und  anderen 
Verhältnissen  erklärlichen  Verschiedenheiten, 
andererseits  durch  den  Mangel  an  aus- 
reichenden Vorarbeiten,  namentlich  in  finanz- 
statistischer Beziehung,  sehr  erschwert. 

Die  Notwendigkeit  der  Existenz  der  Ge- 
meinden imd  ihrer  Haushalte  zu  begin'in- 
den,  kann  nicht  hierher  gehören.  Diese 
Begründung  wie  die  Bestimmung  des  Um- 
fangs  und  der  Aufgaben  der  Kommunal - 
körper  muss  dem  Verfassungs-  und  Vor- 
w^altungsrecht  überlassen  bleiben.  Hier  sind 
niu»  die  finanziellen  Konsequenzen  zu  ziehen, 
welche  aus  dem  Nebeneinanderbestehen  der 
verschiedenen  öffentlichen  Körper  entstehen. 
Doch  mögen  die  folgenden  Ausfüluiingen 
über  die  Entwickehmg  der  Gemeinden  iintl 
deren  Verhältnis  zum  Staat  zum  besseren 
Verständnis  des  Gemeindefinanzw^esens  bei- 
tragen. 

Der  Staat  kann  nicht  alle  in  das  Gebiet 
der  öffentlichen  Aufgaben  gehörigen  Leis- 
tungen selbst  übernehmen.  Mag  die  Re- 
gienmg  auch  noch  so  ernstlich  besti-ebt 
sein,  ihre  Thätigkeit  den  wechselnden  Ver- 
hältnissen des  Lebens  anzupassen,  sie  ver- 
mag ihnen  doch  nicht  jederzeit  zu  folgen 
sich  von  den  Bedürfnissen  der  einzeln i>r 
Gemeinden  Rechenschaft  zu  geben  und   die- 


Gemeindefinanzen 


107 


seihen  zu  befriedigen;  sie  muss  dies  viel- 
mehr den  lokal  abgegrenzten  öffentlich- 
re<.htlicheii  Verbänden  zum  Zwecke  einer 
möglichst  entsprechenden  und  gerechten 
Diux-hfühnmg  der  zu  erfüllenden  Aufgaben 
überlassen  und  übertragen.  Es  wird  unver- 
meidlich sein,  dass  die  Gemeinden  etc.  die 
Durchführung  zahlreicher  öffentlicher  Auf- 
gaben übernehmen,  vornehmlich  solcher, 
(leren  Durchführung  besondere  Ortskenntnis 
oder  besondere  Rücksichtnahme  auf  lokale 
Interessen  und  lokale  Hilfsmittel  erfortlert. 
Die  finanziellen  Folgen  dieses  Verhältnisses 
äussern  sich  in  der  Bestreitung  der  not- 
wendigen Ausgaben  durch  die  Kommunal- 
kurper  und  in  der  Fürsorge  für  die  erfor- 
derli(»he  Deckung  derselben,  also  in  der 
Fühnmg  eines  wohlgeordneten  Haushalts. 

Sind  es  so  in  erster  Linie  politische 
Gründe,  welche  die  Heranziehung  der  Ge- 
meinden zur  Erfüllung  öffentlicher  Aufgaben 
veranlassen,  so  sprechen  doch  auch  finan- 
zit^Ue  Gründe  und  Rücksichten  auf  eine 
möglichst  gerechte  Lastenverteilung  mit. 
So  namentlich  die  Erwägung,  dass  bei  einer 
entsprechenden  Organisation  der  Selbs^'er- 
waltimg  die  durch  ihre  Thätigkeit  bedingten 
Listen  besser  auf  die  Bürger  verteilt,  die 
Ausgaben  genauer  gepnlft,  ihre  Vorteile 
augenscheinlicher  gemacht  weiden  können. 
Zudem  entbindet  die  Selbstverwaltung,  in- 
dem isie  das  Interesse  des  einzelnen  an  der 
sie  zunächst  umfassenden  öffentlichen  Orga- 
nisation weckt  und  nährt,  eine  Menge  tüch- 
tiger Arbeitskräfte,  die  freiwillig  und  unent- 
geltlich im  Gemeindedienst  thätig  werden, 
eine  Menge  materieller  Mittel,  die  in  Stif- 
tungen, Beiträgen  etc.  für  öffentliche  Zwecke 
dem  Gemeinwesen  zu  gute  kommen. 

2.  (Geschichtliches.  Vergleicht  man  den 
Umfang  der  Geraeindewirtschaft  in  der 
Gee:en wart  mit  dem  früherer  Zeiten ,  so 
winl  man  der  Wahrnehmung  sicli  nicht 
ontziolien  können,  dass  derselbe  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  bedeutende  Verandenmgen 
erfaliren  hat,  dass  er  seit  Anfang  dieses 
Jahrlnmderts  rasch  angewachsen  ist  und 
unzweifelhaft  die  Tendenz  zu  fernerem 
Wac-hsf^n  in  sich  trägt.  Das  hängt  zusam- 
men mit  der  Umgestaltung,  welche  in  dem 
Verhältnis  zwischen  Staat  und  Gemeinde 
durch  clen  Uebergang  von  der  mittelalter- 
lichen Rechtsordnung  zum  absoluten,  dann 
zum  modernen  Staat  eingetreten  ist,  und 
mit  der  damit  verknüpften  Umbildung  der 
(T<^nneinde  aus  einer  Rechts-  und  Interessen- 
genossen.schaft  in  eine  staatsähnliche  Kor- 
iK)ration  mit  öffentlich-rechtlichen  Aufga,ben. 
Fonier  mit  der  durch  die  Ausdehnung  vieler 
Staaten  und  die  Vermehnmg  der  öffentlichen 
Zwecke  bedingten  Notwendigkeit,  weitere 
Organe  der  Selbstven\''altung  zwischen  den 
Staat  und  die  Ortsgemeiride  zu  legen. 


Namentlich  muss  hier  daran  erinneii; 
werden,  dass  in  der  Auffassung  und  Be- 
handlung der  Ortsgemeinden  sich  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  grosse  Umwälzungen  voll- 
zogen haben.  Jedoch  wird  man  dabei 
zwischen  städtischen  und  ländlichen  Ge- 
meinden unterscheiden  müssen.  Die  Rechts- 
und Interessengemeinschaft  der  Gemeinde 
beruhte  lu^pnlnglich  allenthalben  auf  dem 
gemeinsamen  Eigentum  und  gemeinsamer 
Nutzung  der  Markgenossenschaft.  Während 
nun  in  den  Städten  dies  Gemeineigentum 
naturgemäss  verhältnismässig  früh  imd  fast 
vollständig  teils  in  individuellen  Besitz 
überging,  teils  zu  besonderen  öffentlichen 
Zwecken,  z.  B.  Strassen  und  Plätzen,  be- 
nutzt wurde,  hat  sich  die  gleiche  Bewegung 
in  den  Landgemeinden  wesentlich  später  und 
unvollkommener  voDzogen.  Doch  entwickelte 
sich  auch  hier  allmählich  aus  den  alten 
Gemeinheiten  individuelles  Eigentum  teils 
der  Genossen,  teils  der  Gemeinde  als  solcher, 
und  nur  Nutzungsrechte  am  Gemeinde- 
eigentum haben  sich  erhalten.  Hier  wie 
doli;  waren  es  zuletzt  dieselben  bekannten 
Faktoren,  die  in  diesem  Sinne  wirkten  und 
die  Auflösung  des  alten  Gemeinschaftsver- 
hältnisses  sich  zum  Ziele  setzten:  das  Ein- 
dringen des  römischen  Rechts,  der  Sieg  der 
Philosophie  und  Nationalökonomie  des  vori- 
gen Jahrhunderts.  Schon  seit  dem  dreissi^- 
jährigen  Kriege  verschwand  allmählich  die 
frühere  Selbständigkeit  der  Gemeinden.  Ein 
Eingreifen  der  allmählich  in  ihrer  Macht 
erstarkenden  Landesherren  wurde  häufig 
durch  die  schlechte,  indolente  Wirtschaft 
der  Gemeinden  geradezu  provoziert;  die 
Landesherren  begannen  die  Gemeinden,  die 
städtischen  wie  die  ländlichen,  zu  beauf- 
sichtigen, alle  wichtigeren  Handlungen  der- 
selben an  ihre  Erlaubnis  zu  binden,  ihren 
Haushalt  zu  kontrollieren.  Diese  im  17. 
Jahrhundert  beginnende  Bewegung  vol- 
lendete sich  im  18.  Jahrhundert.  Nament- 
lich im  Süden  und  Südwesten  Deutschlands, 
später  auch  in  Preussen  und  anderen  Staa- 
ten, begegnet  man  derselben  häufig.  Unter 
den  aussei-deutschen  Ländern  weist  insbe- 
sondere das  Ancien  Regime  in  Frankreich 
eine  analoge,  an  Eingriffen  noch  reichere 
Thätigkeit  auf. 

Ziu*  Zeit  des  absoluten  Staates  war  der 
Wirkungskreis  der  Gemeinden  ein  selir  eng 
bemessener.  Die  dem  Gemeindewesen  des 
Mittelalters  innew^ohnenden  genossenschaft- 
lichen Elemente,  die  den  einzelnen  fast  aus- 
schliesslich an  die  Orts^emeinde  banden, 
wurden  durch  die  centralisierende  Tendenz 
des  absoluten  Staates  zurückgedrängt;  an 
ihre  Stelle  trat  teilweise  ein  direktes  Ver- 
hältnis zwischen  dem  Staat  und  den  einzel- 
nen. In  demselben  Verhältnis,  in  dem  die' 
Macht-   und   Handlungssphäre   des   Staates 


108 


Gemeindefmaazen 


zunahm,  musste  die  Thäügkeit  und  Bedeu- 
tung der  Gemeinden  zurückgehen.  Die 
Gemeinde  bestand  zwar  äusserlich  vielfach 
in  ihrer  alten  Form  fort,  jedoch  ihre  Thätig- 
keit  bekam  inrnier  mehr  den  Cliarakter  einer 
vom  Staate  befohlenen.  Aber  der  absolute 
Staat  sorgte  doch  auch  wieder  für  wachsende 
Leistungen  der  Gemeinden,  indem  er  sich 
eine  Eeihe  neuer  Aufgaben  steDte,  zu  deren 
Durchführung  er  der  Mithilfe  der  Gemein- 
den bedurfte.  Der  moderne  Rechtsstaat 
mit  seinen  decentralisierenden  Bestrebungen 
liat  dann  den  Wirkungskreis  der  Gemeinden 
nicht  niu*  erweitert,  sondern  ihnen  auch 
eine  grössere  Selbstbestimmung  und  Selbst- 
verwaltung zurückgegeben.  Die  alte  Inte- 
ressen- und  Rechtsgemeinschaft  ist  bis  auf 
einige  Reste  begraben.  Obwohl  der  einzelne 
nun  wieder  in  höherem  Grade  mit  der  Ge- 
meinde verknüpft  ist,  bleibt  doch  die  eine 
Tliatsache  als  Resultat  der  neueren  ge- 
schichtlichen Entwickelung,  dass  die  Ge- 
meinde durch  den  Staat  Recht  und  Inhalt 
ihres  Lebens  empfängt,  ohne  dass  diese 
Bewegung  heute  schon  vöUig  abgeschlossen 
oder  in  allen  Staaten  in  gleichem  Grade 
zum  Durchbruch  gelangt  wäre. 

3.  Das  heutige  Verhältnis  der  Ge- 
meinden zum  Stifte.  Die  Gemeinden  und 
die  Kommunalverbände  höherer  Ordnung 
sind  nicht  souverän,  sondern  sind  nur  die- 
nende Glieder  des  souveränen  Staates;  sie 
sind  der  Oberaufsicht  des  Staates  unter- 
worfen. Sie  können  desloalb  ihre  Thätig- 
keit  nicht  auf  alle  öffentlichen  Angelegen- 
heiten ihres  Bezirks  erstrecken,  sondern 
nur  auf  jene,  welche  ihnen  vom  Staate 
übertragen  oder  überlassen  worden  sind. 
InQerhalb  dieses  letzteren  Gebietes  haben 
sie  in  wechselndem  Umfang  das  Recht  der 
Autonomie.  Da  die  den  Gemeinden  vom 
Staate  zugewiesenen  oder  überlassenen  Auf- 
gaben ziuneist  wirtschaftlichen  Inhalts  sind, 
so  wird  eine  geordnete  Finanzwirtschaft, 
die  in  den  grössten  Städten  einen  ausser- 
ordentlich grossen  Umfang  erreichen  kann, 
zur  unerlässlichen  Pflicht.  Es  äussert  sich 
aber  selbstverständlich  auch  hier  das  eben 
berührte  Verhältnis  der  Gemeinden  zum 
Staate.  Der  moderne  Staat,  mit  Aufgaben 
ungleich  schwerer  belastet  als  der  frühere, 
kann  nicht  dulden,  dass  die  Finanzen  der 
Gemeinden  und  der  übrigen  Kommunalver- 
bände eine  Richtung  annehmen,  die  die 
eigene  Leistungsfähigkeit  bedroht;  er  fühlt 
sich  verpflichtet,  kraft  seines  Oberaufsichts- 
rechts finanzielle  Operationen,  die  der  Zu- 
kimft  schaden  könnten,  hintanzulialten,  er 
behält  sich  z.  B.  Genehmigung  vor  für  alle 
Akte,  wodurch  rentierendes  Gemeindever- 
mögen veräussert,  die  Gemeindeangehörigen 
mit  Steuern  belastet  oder  Schulden  aufge- 
nommen werden  sollen.    Das  Verhältnis  der 


Gemeinden  zum  Staate  bringt  es  aber  auf 
finanziellem  Gebiete  auch  mit  sich,  dass  der 
Staat  den  Gemeinden  mit  positiven  Leis- 
tungen und  Zuwendimgen  an  die  Hand  geht. 

Aber  das  Verhältnis  des  Staates  zu  den 
Gemeinden  und  der  Gemeindewirtschaft  ist 
ein  verscliiedenes  in  den  verschiedenen 
Staaten.  Es  richtet  sich  nach  der  konkreten 
Entwickelung  derselben.  Da  es  massgebend 
für  die  Organisation  und  den  Wirkungskreis 
des  Gemeindefinanzwesens  ist,  so  muss  es 
wenigstens  für  die  bedeutendsten  Staaten 
kurz  erörtert  werden. 

4.  Die  moderne  Entwickelung  des 
Gemeindewesens  in  England.  In  Eng- 
land, wo  die  Verwaltung  überhaupt  und  die 
Kommunalverwaltung  insbesondere  keine 
fundamentale  Neugestaltung  erfahren  hat, 
haben  die  Reformen  vorwiegend  an  das 
praktische  Bedürfnis  angeknüpft.  Daher 
rührt  der  Mangel  an  Einheitlichkeit  nnd 
Planmässigkeit  der  kommunalen  Organisa- 
tion bei  relativ  hoher  Leistimgsfähii>keit, 
das  Auseinanderfallen  der  Verwaltung-  in 
eine  Reihe  von  Specialgemeinden.  Erst  in 
jüngster  Zeit  ist  mit  den  local  governmental 
AcÄ  v.  13.  August  1888  und  5.  März  isOJ 
der  Anfang  zu  einer  Zusammenfassung:  dei 
isolierten  Elemente  gemacht  worden. 

Die  wichtigsten  Glieder  der  ländlichei; 
Kommunalorganisation  in  England  bildei 
die  parish,  das  Kirchspiel,  die  Pfarrgemeinde 
welche  früh  an  die  Stelle  der  Gau-  unc 
Ortsgemeinde  trat,  und  die  meist  aus  einen 
ländlichen  Kirchspiel  oder  einer  Stadt  l>o 
stehende  Schidgemeinde.  Die  parish  bilde 
aber  nicht  eine  neue  einheitliche  Orts^^e 
meinde,  sondern  die  verschiedenen  Verwal 
tungsz wecke  wurden  durch  eme  Reihe  voi 
Specialgemeinden,  z.  B.  Deich-,  Entwässo 
rungs-,  Beleuchtungs-,  Wachtdienstverbänd 
übernommen.  Ziu:  Erreichung  gewisse 
Zwecke  wurden  grössere  Verbände  gebildet 
so  die  meist  aus  einer  Stadt  und  ländlichei 
Kirchspielen  zusammengesetzten  unions  fü 
Zwecke  der  Armenverwaltung.  Die  wic-h 
tigsten  Verbände  sind  die  aus  einer  Stad 
oder  mehreren  Kirchspielen  bestehen  de  i 
Distrikte,  die  das  Gesundheits-  und  Wege 
wesen  zu  besorgen  haben.  Der  Schwerpunk 
der  kommunalen  Lokalverwaltimg  und  de 
kommunalen  Finanzwesens  liegt  in  den  Spr 
cialgemeinden  und  in  diesen  grösseren  Yei 
bänden,  über  welche  die  Centralstaatsbohörd 
ein  weitgehendes  Aufsichtsrecht  führt.  Doc 
hat  sich  die  parish  in  einzelnen  Gel»iote 
einen  grösseren  Wirkungskreis  erLolten, 

Eine  begünstigte  Stellung  mit  Rücksirl 
auf  das  Mass  der  Befugnisse  stellt  do 
Städten  und  stadtähnlichen  Verbänden,  m 
mentlich  den  sogenannten  münicipalboronul 
oder  corporate  towns  zu,  d.  h.  den  nuu 
der   Städteordnung  von    1895    bezw.    ls> 


Gremeindefinanzen 


109 


stehenden  Wohnbezirken.  Freilich  macht 
sieh  auch  hier  die  lokale  Verschiedenheit 
geltond.  Gemein sam  ist  allen  diesen  das 
Bfc»cht,  ihre  eigenen  Angelegenheiten  durch 
ihre  gewählte  Obrigkeit  führen  zu  lassen, 
städtische  Steuern  bezw.  Zuschläge  zu  den 
Grafschaftssteuern  zu  erheben,  das  städtische 
Vermögen  zu  verwalten,  das  Strassenwesen 
und  andere  Anstalten  der  Gesundheitspflege, 
das  Kanal-,  Schlachthof-,  Friedhofwesen  etc. 
zn  besorgen,  Parks  anzulegen,  Museen  zu 
en-ichten;  sie  haben  ferner  wichtige  Auf- 
gaben auf  dem  Gebiete  des  Schidwesens; 
dagi^gen  keine  auf  dem  Gebiete  des  Armen- 
wr-$u?ns.  Ein  Teil  dieser  Städte  hat  auch 
eigene  Friedensrichter,  lieber  den  Distrik- 
ten stellt  die  Grafschaft  (country),  die  sich 
ans  Städten  und  Distrikten  zusammensetzt, 
während  die  grosseren  Städte  eigene  Graf- 
schaften bilden.  Die  Grafschaft  übt  sowohl 
wiclitige  Aufsichtsrechte  über  die  Kirchspiel- 
und  Distriktsbehörden  als  auch  umfangreiche 
direkte  Verwaltungsbefugnisse  aus. 

5.  Der  heutige  Zustand  in  Frankreich. 
Den   Gegensatz   zu   der  ausserordentlichen 
Vielgest^tigkeit   Englands   bildet   das   ein- 
förmige   Kommimalwesen   Frankreichs    mit 
den   zwei  Kommunalverbänden,  der  Ortsge- 
moinde  und  den  Departements;  die  ersteren 
Fortsetzungen  der  alten  Ortsgemeinden,  die 
letzteren  im  wesentlichen  Schöpfungen  der 
französischen  Revolution.    Die  zwischen  die- 
sen beiden  stehenden  Arrondissements  sind 
blosse    staatliche  Verwaltungsbezirke    ohne 
nennenswerte  eigene  Verwaltungsbefugnisse. 
AVährend  die  städtischen  Gemeinden  schon 
unter  der  absoluten  Monarchie  zu  einer  ge- 
wissen   Gleichai'tigkeit    gebracht    und    zur 
Unselbständigkeit     herabgedrückt     worden 
waren  und  in  den  ersten  Jahren  der  Revo- 
lution  die  Verdrängung  der  Ortsgemeinden 
dnn:h  die  Kantonsgemeinden  versucht  wor- 
den w^ar,  stellte  zwar  das  G.  v.  28.  pluv. 
des  Jahres  VIII  die  Ortsgemeinde  als  im- 
ten^tes  Ghed  der  administrativen  Organisa- 
tion wieder  her,  aber  in  einer  Weise,  dass 
allf  Besonderheiten  des  früheren  Zustandes 
lieseitigt  und  die  Form  der  Organisation  fiU- 
Stadt    und    Land    in    der  Haui)tsache    die 
.deiche  wurde.    Die  französische  Revolution 
konnte  unmöglich  das  Aufkommen  oder  die 
Erhalhmg  einer  nennenswerten  Autonomio 
lind   Selbstverwaltung   dulden,    an   welche 
rückläufige  Bestrebungen  wieder  anknüpfen 
konnten,  üirem  Egalisienmgstriebe  entsprach 
viehnehr  eine  möglichste  Beschränkimg  der 
Oemeindeautonomie,  möglichst  direkte   Be- 
ziehungen zwischen  Staat  und  Staatsbürger, 
Herabdrückimg  der  Gemeinden   und   ihrer 
Vorsteher  zu   Organen   des   Staates.     Erst 
neuere  Gesetze,  namentlich  das  G.  v.  5.  April 
1SS4,  haben  dem  Geraeinderate  die  Befugnis 
zur  Ernennung  der  Maires  überti'agcn.    Zu 


den  Aufgaben  der  Gemeinden  gehört  heute 
hauptsächlich  die  Polizeiverwaltung,  das 
Elementar-  und  zum  Teil  auch  das  mittlere 
Schulwesen,  das  Wegewesen,  die  Gesund- 
heitspflege, die  Besorgung  der  kirchlichen 
und  einzelner  volkswirtschafthcher  Veran- 
staltungen. Die  Armenpflege  lag  bis  vor 
kiwzer  Zeit  und  liegt  auch  heute  noch  in 
erster  Linie  den  Wohlthätigkeitsbureaus  und 
den  Hospitälern  ob.  Eret  dim;h  das  G.  v. 
15.  Juli  1893  sind  die  Gemeinden  und  De- 
partements auch  verpflichtet  worden,  armen 
kranken  die  nötige  ärztliche  Behandhmg, 
Arznei  und  Pflege  zu  gewähren.  Es  ent- 
spricht den  Centraüsationsbestrebungen 
Frankreichs,  dass  die  Beschaffimg  der  für 
solche  Leistungen  erforderlichen  Mittel  zum 
grossen  Teile  auf  den  Beihilfen  aus  Depar- 
temental-  und  Staatsmitteln  beruht  und 
dass  der  Staat  sich  einen  bedeutenden  Ein- 
fluss  auf  die  betreffenden  Verwaltungsan- 
gelegenheiten gesichert  hat. 

Was  die  Departements  anlangt,  welche 
die  französische  Revolution  enogültig  an 
Stelle  der  alten  Provinzialverfassung  setzte, 
um  die  decentralisierende  Selbständigkeit 
der  Provinzen  zu  beseitigen,  so  erfüllen 
diese,  namentlich  infolge  einer  glückhchen 
territorialen  Abgrenzung,  in  befriedigender 
Weise  die  Aufgabe,  die  Tliätigkeit  der  Ge- 
meinden teils  zu  ergänzen,  teils  zu  ver^^oll- 
ständigen.  Zu  ihren  Aufgaben  zählt  nament- 
lich die  Fürsorge  für  das  Departemental- 
und'  Vizinalwegewesen,  die  Waisen-  und 
Irrenpflege,  die  Unterhaltung  der  Departe- 
mentalgefängnisse  und  -gebäude  überhaupt, 
Förderung  von  Landwirtschaft  und  Industrie 
u.  dgl. 

Auch  die  DepartementalverwaJtung  ist 
dem  Einwirken  des  Staates  in  hohem  Grade 
unterworfen:  der  Präfekt  wird  vom  Staate 
ernannt,  er  ist  aber,  soweit  es  sich  um  An- 
gelegenheit des  Departements  handelt,  an 
die  Beschlussfassungen  des  Generalrates  und 
seit  einem  Gesetz  von  1871  auch  an  die 
fortlaufende  Mitwirkung  und  Kontrolle  einer 
Kommission  des  Generalrätes  gebunden. 

6.  Deutschland.  Deutschland  steht 
wie  auf  anderen  Gebieten  so  auch  hier 
z'vvischen  der  bunten  Vielgestaltigkeit  Eng- 
lands und  der  Einlieitlichkeit  Frankreichs. 
Die  Orts^meinde  bildet  wie  in  Frankreich 
so  auch  m  Deutschland  die  Grundlage  der 
Kommunalverwaltung  und  umfasst  mehr  oder 
weniger  vollständig  alle  auf  das  Gemeinde- 
wesen bezüglichen  Aufgaben.  Doch  kommen 
auch  Sp'ecial-  oder  Zweckgemeinden  in 
gi'össerem  Umfange  vor;  so  namentlich  in 
der  grossen  Mehrzahl  der  S*:aaten  die  Kirchen- 
gemeinden, dann  die  im  Osten  Preussens 
fast  allgemein  verbreiteten  Schulgemeinden. 
Neben  diesen  Specialgemeinden  giebt  es  auch 
noch  Interesseutengenossenschafien  zur  Aus- 


110 


Gemeimlefinanzeu 


Übung  gemeinsamer  Rechte,  so  die  Alt-  oder 
Nutzungsgemeinden  für  die  Verwaltung  des 
Büi;gervermögen8,  Genossenschaften  der  Jagd- 
berechtigten  sowie  für  landwirtschaftliche 
Schutz-  und  Meliorationsanlagen,  die  aber 
ihre  selbständige  wirtschaftliche  Verwaltung 
haben.  Was  den  Untersclüed  zwischen  Stadt- 
und  Landgemeinden  anlangt,  s^)  sind  zwar 
die  schon  früh  hervortretenden  Unterschiede 
zwischen  den  ackerbautreibenden  Land-  und 
den  auf  der  Verschiedenheit  des  Wii-tschafts- 
lebens  beruhenden,  gewerbereichen  Stadt- 
gemeinden durch  die  Auflösung  der  länd- 
lichen Rechts-  und  Nutzungsgemeinschaft 
sowie  der  städtischen  Korporationen  sehr 
abgeschwächt  worden,  doch  sind  bemerkens- 
werte Verschiedenheiten  vorhanden:  so  die 
Verschiedenheit  der  wirtschaftlichen  Ver- 
hältaisse  und  die  Verschiedenheit  der  Ver- 
fassung und  Vervs^altungsorganisation. 

Auch  insofern  ist  die  Entwickeluug  des 
Üemeindewesens  bemerkenswert  und  für  das 
Finanzwesen  folgenreich,  als  der  Wirkimgs- 
kreis  der  Gemeinden  seit  der  in  dieser  Be- 
ziehung massgebenden  Städteordnung  Preus- 
sens  von  1808  sich  fortwährend  erweitert 
hat  Zum  Teil  infolge  des  zunehmenden 
Umfanges  der  den  Gemeinden  vom  Staate 
übertragenen  Aufgaben,  zum  Teil  infolge 
der  gesteigerten  Anforderungen  an  die  im 
eigensten  Wirkungskreise  der  Gemeinden 
gelegene  Thätigkeit.  Zumeist  g-ehören  in 
Deutschland  dem  Wirkungskreise  der  Ge- 
meinden folgende  Gegenstände  an:  die  Hand- 
liabung  der  Ortspolizei  oder  die  Mitwii-kung 
bei  derselben,  das  örtliche  Strassen-  und 
Wegewesen,  das  Schul-  und  Armen wesen; 
dazu  tritt  in  den  grösseren  Städten  die  Ftir- 
sorge  für  die  kostspieligen  Anstalten  der  Ge- 
suodheits-  und  Wohlfahrtspflege. 

Die  Konununalverbände  höherer  Ordnung 
sind  in  Deutschland  ihrer  Mehi-zahl  nach 
aus  administrativen  Bezirken  hervorgegangen 
und  erst  in  neuerer  Zeit  entstanden;  sie 
hängen  aber  so  sehr  mit  der  gesamten  ad- 
ministrativen Organisation  der  einzelnen 
Staaten  zusammen,  dass  es  nicht  möglich 
ist,  hier  eine  Uebersicht  derselben  zu  geben. 
Nur  sei  bemerkt,  dass  unter  den  preussi  sehen 
Kommunalkörpern  namentlich  die  Provinzen 
und  Kreise,  in  Bayern  die  Kreise  und  Dis- 
triktsgemeinden, in  Sachsen  die  Bezirksver- 
bände, in  Württemberg  die  Aratskörper- 
schaften,  in  Baden  die  Kreise  einen  kommu- 
nalen Organismus  darstellen.  Daneben  giebt 
es  auch  Zweckverbände  auf  weiterer  terri- 
torialer Grundlage,  wie  vornehmlich  die 
Landarmen  verbände. 

7.  Oest erreich.  Unter  den  kommunalen 
Körpern  Oesterreichs  ragen  als  den  ver- 
schiedenen Ländern  Oesterreichs  gemeinsam 
hervor  die  Ortsgemeinde  und  das  Land; 
daneben  kommen  in  mehreren  Ländern  die 


Bezirke  vor.  Auch  hier  erstreckt  sich  wie 
in  Deutschland  die  Thätigkeit  der  Ortsge- 
meinden namentlich  auf  Polizei,  Armeu- 
wesen,  Volksschul-,  Wege-  und  Kommuni- 
kationswesen.  Aus  der  Zahl  der  Ortsge- 
meinden heben  sich  die  mit  einem  Gemeinde- 
Statut  versehenen  grösseren  Städte  durch 
eine  kompliziertere  Verfassung  undBeliürden- 
organisation  hervor. 

Das  »Land«  ist  ein  selbständiger  Fiuaiiz- 
mid  Verwaltungskörper  mit  einer  verhält- 
nismässig grossen  Autonomie  und  ausg:c 
dehnter  Zuständigkeit  Seine  Kompetenz 
die  es  durch  Landtag  und  Landesausschus: 
ausübt,  umfasst  diejenigen  Gegenstände,  hin 
sichtlich  deren  die  Leistungsfähigkeit  de 
Ortsgemeinden  der  Unterstützimg  bedarf 
besonders  aber  diejenigen,  deren  Bedeutuni 
über  die  Ortsgemeinden  hinausreicht,  sowei 
sie  nicht  dem  Gesamtstaat  vorbehalten  sine 
also  namentlich  die  Verwaltung  des  Ver 
mögens  und  der  Anstalten  des  Ijande: 
Hierher  gehört  die  Unterhaltung  der  lande.«- 
polizeiücnen  Anstalten,  dann  der  gi'össere 
Armen-,  Irrjn-,  Gebär-,  Findelanstalten,  eine 
Teils  des  Unterrichtswesens,  des  Strassei 
und  Bnlckenwesens  etc.  Eine  erhöhte  Wicl 
tigkeit  erhält  der  Landesausschuss  dadurcl 
dass  ihm  das  Recht  der  Kontrolle  gegenübt 
den  unteren  Selbstverwaltungskörpern  zi 
steht. 

Die  Bezirke  bilden  Zwischenglieder  z\v 
schen  den  Ortsgemeinden  und  dem  Land» 
ihr  Wirkungskreis  deckt  sich  mit  dem  th 
Gemeinden ;  sie  übernehmen  Leistimgeu  d« 
Gemeinden  oder  unterstützen  imd  ergänze 
dieselben. 

II.  Die  Gemeindeausgaben. 

8.  Allgemeines.  Man  kann  die  An 
gaben  der  Gemeinden  in  solche  für  staa 
liehe  Zwecke  und  Ausgaben  für  besoi 
dere  lokale  Wohlfahrtseinric  I 
tungen  oder  ^ieUeicht  noch  besser  (na* 
Röscher)  in  Ausgaben  für  staatlicJ 
Zwecke ,  Ausgaben  für  obligatoris( 
kommunale  Zwecke  und  Ausgaben  f 
fakultativ  kommunaleZweckegliedoi 
Diese  Scheidung  kann  aber  nicht  die  1 
deutung  einer  ausschliessenden  haben.  De 
infolge  der  engen  Beziehungen  zwit^t-li 
Staat  und  Komnmnalkörper  ist  die  Erf  filhi 
der  Staat  sauf  gaben  stets  auch  von  höh« 
Wert  für  die  im  KommunalkÖi-per  vereiniget 
Ki-eise  und  umgekehrt  die  Thätigkeit  < 
Kommimalkörper  von  erheblichem  Intere: 
für  den  Staat.  In  diesem  Sinne  schlies.- 
wu'  uns  der  Einteilung  Röschere  an  \i 
beginnen  mit  den  Ausgaben  für  stuatlu 
Zwecke. 

Es  ist,  ^^de  oben  schon  erwähnt   ^vlll■ 
unvermeidlich,    dass    die    Gemeinden 
Durchführung  mancher  eigentlich     di 


Gemeindefinanzen 


111 


Staate  zustehenden  Aufgaben  über- 
nehmen, nämlich  in  dem  Falle,  dass  ihre 
Durchfühnmg  besondere  Ortskenntnis  oder 
besondere  Rücksichtnahme  auf  örtliche  Id- 
tereesen  imd  Hilfsmittel  erfordert,  ffierher 
gehören,  um  nur  die  wichtigsten  zu  nennen, 
aus  dem  Gebiete  der  inneren  Verwaltung 
die  Sicherheits-,  Gesundheits-  und  Baupolizei, 
das  Civilstandswesen ,  die  Vornahine  von 
Volkszählungen,  die  Besorgung  politischer 
"Wahlen,  in  Deutschland  jetzt  auch  die  Mit- 
wirkung bei  den  verschiedenen  Arbeiterver- 
sicherung8gesetzen ;  aus  der  Finanzverw^al- 
tung  die  Bildung  von  Steuerkominissionen 
und  die  Erhebung  gewisser  Steuern;  aus 
dem  Gebiete  der  Militärverwaltung  die  Ver- 
quartierung  und  Verpflegung  der  Mann- 
schaften und  Pferde,  die  Vorspannleistuugen 
und  Naturalliefeningen.  In  welchem  Um- 
fange hier  die  Mitwirkung  der  Gemeinden 
erwünscht  oder  geboten  ist,  ist  freilich  nicht 
absolut  festzustellen.  An  sich-  geht  die 
Tendenz  sichtbar  dahin,  bei  der  Zunahme 
und  wachsenden  ünübersehbarkeit  der  staat- 
hchen  Verwaltungsaufgaben  einen  wachsen- 
den Teil  der  Ausfühi'ung  auf  die  lokalen 
<Drgane  und  Korporationen  zu  übertragen, 
die  infolge  der  grosseren  Bekanntschaft  mit 
ihren  verhältnismässig  engbegrenzten  Ge- 
bieten die  Einzelheiten  eher  zu  beherrschen, 
die  Angelegenheiten  zweckentsprechender 
zu  erledigen,  die  Lasten  besser  zu  verteilen 
in  der  Lage  sind.  Zugleich  wird  damit 
auch  die  in  der  Idee  der  Selbstver^^altung 
gelegene  Forderung  einer  tiefer  greifenden 
Beteiligimg  der  staatsbürgerlichen  Elemente 
bei  Ausübung  und  Kontrolle  der  Verwal- 
tung erreicht.  Es  ist  aber  mit  Recht  her- 
vorgehoben worden,  dass  der  Staat  nicht  zu 
viele  Lasten  auf  die  Gemeinden  abwälzen 
feüUe,  weil  ein  solches  erzwungenes  An- 
wachsen der  Ausgaben  immer  die  ärmeren 
Gemeinden  am  schwersten  treffe.  Es  er- 
klärt und  rechtfertigt  sich  hieraus  das  viel- 
fach wahrnehmbare  Strebeu  nach  Beteiligimg 
der  grösseren  Verbände,  eventuell  auch  des 
Staates  an  den  Kosten  der  Gemeindever- 
waltimg. 

Unter  den  obligatorisch  kommu- 
nalen Zwecken  werden  solche  verstanden, 
welche  jede  auf  der  Höhe  ihrer  Aufgaben 
fiteheude  Gemeinde  durchführt  und  deren 
Durchführung  eventuell  vom  Staate  er- 
zwungen w^iixl.  Hierher  zählen  die  Aus- 
gaben für  das  Schulwesen,  das  Armenwesen, 
das  Wegtv,  Brücken-  und  Feuerlöschwesen. 

Man  kann  die  für  staatliche  und  obliga- 
torisch kommunale  Zwecke  erfoixlerlichen 
Ausgaben  auch  als  Pflichtausgaben  be- 
zeichnen und  zusammenfassen.  Was  als 
Püichtausgabe  gelten  soll,  unterUegt  dem 
kookreten  Recht  und  ist  demnach  in  den 
einzelnen    Staaten    verschieden.      Bei    sol- 


chen Pflichtausgaben  ist  die  Selbstbestim- 
mung der  Gemeinden  ausgeschlossen,  ihre 
Erfüllung  kann  im  Verwaltungswege  er- 
zwungen wei*den.  Die  Form  der  Aiöübufig 
dieses  Zwanges  ist  regelmässig  die  mittelst 
Beschlusses  der  Aufsichtsbehörde  erfolgende 
Einstellimg  der  für  Pflichtausgaben  erforder- 
lichen Mittel  in  den  gemeindlichen  Voran- 
schlag. Nach  dem  Vorgange  des  belgischen 
Gemeinde-G.  v.  30.  März  1831  bezv.  des 
Proviuzial-G.  v.  30.  AprU  1836  und  insbe- 
sondere des  französischen  Municipal-G.  v. 
18.  Juli  1837  bezw\  des  Departemental-G.  v. 
10.  Mai  1838  pflegen  auch  die  deutschen 
Gesetzgebungen  dem  Staat  das  Kecht  der 
zw^angsweisen  Einstellung  der  Ausgaben  für 
solche  Leistungeu,  zu  denen  die  Kommunal- 
körper durch  die  Gesetzgebung  verpflichtet 
sind,  in  das  Budget  derselben  vorzubehalten. 
So  sagt  die  bayerische  Gemeinde-0.  v.  29. 
April  1869:  »"Unterlässt  eine  Gemeinde, 
die  ihr  gesetzlich  obliegenden  Verpflich- 
tungen zu  erfüllen,  gesetzlich  notwendige 
Ausgaben  in  den  Voranschlag  aufzmiehmen 
oder  erforderlichenfalls  ausserordentliche  zu 
genehmigen,  Gemeindedienste  für-  gesetzlich 
notwendige  Zwecke  anzuordnen,  so  ist  sie 
unter  Angabe  des  Gesetzes  aufzufordern, 
binnen  angemessener  Frist  die  zur  Erfüllung 
ihrer  Verpflichtungen  erforderlichen  Be- 
schlüsse zu  fassen.  Wu*d  innerhalb  der  an- 
gesetzten Frist  die  gesetzliche  Notwendig- 
keit, der  Umfang  oder  die  Art  der  Leistung 
bestritten,  so  hat  die  Behörde  hierüber  vor- 
behaltlich des  der  Gemeinde  zustehenden 
Beschwerderechts  Beschluss  zu  fassen,  w^o- 
bei  auf  die  Leistungsfähigkeit  der  Gemeinde 
besondere  Rücksicht  zu  nehmen  ist  ...  . 
Wird  die  endgültig  festgestellte  Verpflichtung 
innerhalb  emer  angemessenen  Frist  nicht 
erfüllt,  so  hat  die  Staatsbehörde  an  der 
Stelle  der  Gemeindebehörde  die  zum  Vollzage 
nötigen  Verfügungen  zu  treffen,  insbesondere 
auch  die  etwa  erforderliche  Umlage  anzu- 
ordnen und  deren  Erhebung  auf  Kosten  der 
Gemeinde  zu  veranlassen.«  Li  Preussen 
verfügt  nach  dem  Zuständigkeitsgesetz  in 
den  §§  19  und  35,  »wenn  eine  Stadtge- 
meinde unterlässt  oder  verweigert,  die  ilir 
gesetzlich  obliegenden  Leistungen  auf  den 
Haushaltsetat  zu  bringen  oder  ausserordent- 
lich zu  genehmigeQ,  der  Regierungspräsi- 
dent unter  Anführung  der  Gründe  die  Ein- 
tragung in  den  Etat  bezw.  die  Feststellung 
der  ausserordentlichen  Ausgabe«,  wogegen 
der  Gemeinde  die  Klage  beim  Oberverwal- 
tungsgericht zusteht.  Die  gleiche  Befugnis 
übt  unter  den  gleichen  Voi-aussetzungen  bei 
Landgemeinden  und  Gutsbezirken  der  Laud- 
rat  aus,  dessen  Verfügung  durch  Klage  beim 
Bezirksausschusse  angefochten  werden  kann. 
Aehnliche  Bestimmungen  kehren  in  fast 
allen  Landesgesetzgebungen  wieder. 


112 


Gremeindefinanzen 


Zu  den  fakultativ  kommunalen 
Ausgaben  zählen  diejenigen,  welche  über 
das  für  staatliche  und  kommunale  Zwecke 
erforderliche  Minimum  hinausgehen.  Hier 
lässt  sich  allgemein  mir  sagen,  dass,  soweit 
ihre  Mittel  reichen,  die  Gemeinde  berech- 
tigt ist,  nach  Erfordern  Anstalten  und  Ein- 
richtungen ins  Leben  zu  rufen,  welche  dem 
Gebiete  der  inneren  Verwaltung  angehören 
und  bestimmt  sind,  die  materieUe  und 
geistige  Entwickeln  ng  der  Gemeindeange- 
hörigen, die  Bequemlichkeit  und  Annehm- 
lichkeit des  Lebens  zu  fördern.  Hierher 
gehören  die  Ausgaben  für  den  höheren  Un- 
terricht, für  Kunst,  Wissenschaft,  Museen, 
für  Pflasterung,  Kanalisierung,  Reinigung 
der  Sti-assen,  für  Beleuchtung,  für  Strassen- 
erweiterung,  Promenaden  und  Parkanlagen, 
für  Wasserleitung,  Markthallen,  Schlachthöfe 
und  dergleichen.  Es  mag  übrigens  gleich 
hier  daran  erinnert  werden,  dass  geiude 
mit  den  zuletzt  genannten  Anstalten  wieder 
Einkünfte  verbunden  sind,  die  häufig  nicht 
nur  die  Kosten  decken,  sondern  auch  ganz 
erhebliche  Ueberschüsse  ergeben. 

Versucht  man  so  die  heute  von  den  Ge- 
meinden geleisteten  Aufgaben  nach  gewissen 
Kategorieen  zu  sondern,  so  können  diese 
Kategorieen  doch  niclit  als  absolute  be- 
trachtet werden.  Sie  sind  vielmehr  in 
mehrfacher  Beziehung  schwankend.  Sie 
werden  schwanken  je  nach  den  Ansichten 
der  Zeit  bezüglich  der  Rechte  und  Pflichten 
des  Staates,  der  Austeilung  der  öffentlichen 
Aufgaben  zwischen  Staat  und  kommunalen 
Korporationen,  den  Ideeen  über  Centralisa- 
tion  und  Decentralisation  eta 

Prüft  man  die"  Frage,  w-elches  von  den 
drei  obengenannten  Gebieten  der  Gemeinde- 
ausgaben zumeist  an  deren  Wachstum  be- 
teiligt ist,  so  lässt  sich  allgemein  nur  sagen, 
dass  bezüglich  des  Anteils  der  Gemeinden 
an  der  Erfüllung  der  Staat  sauf  gaben  eine 
den  verschiedenen  Gemeinden  und  Gemeinde- 
arten gemeinsame  Zunahme  konstatiert 
werden  muss.  Was  die  freiwilligen  Aus- 
gaben der  Gemeinden  anlangt,  so  ist  deren 
Zunahme  zumeist  nur  bei  der  bescltränktcn 
Anzahl  solcher  Gemeinden  zu  konstatieren, 
bei  denen  die  Notwendigkeit  solcher  Leis- 
tungen klar  zu  Tage  tritt,  nämlich  bei  den 
städtischen,  namentlich  den  grossstädtischen. 
Hier  allerdings  in  solchem  Masse,  dass  die 
Ausgaben  im  Laufe  der  letzten  Jahraehnte 
verhältnismässig  stärker  gewachsen  sind  als 
die  Ausgaben  des  Staates.  Hier  ist  die 
Einbeziehung  neuer  Aufgaben  eine  Frage 
der  Zweckmässigkeit.  Ist  heute  gerade  auf 
diesem  Gebiete  eine  bedeutende  Steigerung 
der  Gemeindethätigkeit  auf  Kosten  der  Pri- 
vatindustrie zu  bemerken,  so  ist  das  zwei- 
fellos bedingt  einei'seits  durch  den  Umstand, 
dass  die  private  Thätigkeit,  der  in  einfache- 


ren Verhältnissen  die  Befriedigung  mancher 
Bedürfnisse  der  Wohlfahrtspflege  überlassen 
werden  konnte,  heute  nicht  mehr  genügt, 
andererseits  durch  die  grösseren  Ansprüche, 
welche  die  grossstädtischen  Btirger  über- 
haupt in  hygienischer  Beziehung  und  in 
Bezug  auf  Komfort,  Bequemlichkeit  u.  s.  w. 
erheben. 

9.  Die  Zunahme  der  Gemeindeans- 
gaben. Diese  Zunahme  der  Gemeindeaus- 
gaben hat  zum  Teil  ein  Mass  erreicht, 
welches  die  Empfindung  des  Druckes  er- 
zeugt, namentlich  auch  das  Finanzwesen 
des  Staates  nicht  unbedenklich  beeinflusst. 
Allenthalben  wird  bemerkt,  dass,  wenn  im 
Laufe  der  letzten  Zeit  vielfach  Klagen  über 
den  zunehmenden  Druck  der  direkten 
Steuern  erhoben  w^orden  sind,  daran  nicht 
sowohl  die  Belastung  mit  Staatssteuern, 
sondern  vielmehr  die  üeberbürdung  mit 
Gemeinde-,  Kreis-  und  Provinzialabgabeii 
sowie  mit  Abgaben  für  Kirchen  und  Schu- 
len die  Schuld  trage  imd  zwar  nicht  nur 
wegen  der  allerdings  auch  vorhandenen  Un- 

ßichmässigkeit  in  der  Verteilung  der 
sten,  sondern  wegen  ihrer  absoluten  Hölie. 
Dies  trifft  besonders  da  zu,  wo  Staat  und 
Gemeinde  die  nämlichen  Steuerquelleu  zur 
Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse  benutzen. 
Deshalb  geht  die  Gemeindesteuerreform  mit 
Hecht  von  dem  Gedanken  aus,  den  Gemein- 
den besondere  von  dem  Staate  nicht  weiter 
in  Anspruch  genommene  Steuerquellen  zu 
eröffnen. 

Einige  Zahlenbeispiele  mögen  die  Zu- 
nahme der  Gemeindeausgaben  veranschau- 
lichen. 

Gegen  1869  ist  in  keiner  der  52  gross 
ten  Städte  Preussens  mit  mehr  als  200U( 
Einwohnern  eine  Vermindenuig  der  Hr'ilu 
der  Gemeindeausgaben  eingetreten,  sondori 
ausnahmslos  eine  Zunahme,  w^elche  bei  de 
Mehrzahl  derselben,  nämlich  bei  28,  moh 
als  140^/0  beträgt.  ' 

Während  sich  die  vom  Staate  erhobene) 
direkten  Steuern  von  1876  bis  1880/81  un 
ca.  15  Millionen  Mark  (0,42  Mark  pro  Ko]^i 
vermelirt,  dagegen  von  1880. 81  bis  1888.  s 
infolge  der  Aufhebimg  der  untersten  Klassen 
steuerstufen  um  16  2/3  Millionen  Mark  ((),(> 
Mark  pro  Kopf)  vermindert  haben,  sind  di 
Gemeindeabgaben  in  dieser  Zeit  unuutoi 
brochen  und  selii'  erheblich  gestiegen,  min 
lieh  von  1876  bis  1880/81  um  19^/ 1  Millic 
neu  Mark  (0,42  pro  Kopf),  von  1880/81  h 
1883/84  um  12^-1  MiUionen  (0,52  pro  Kopf 
Diese  Steigerung  trifft  naturgemäss  ai 
meisten  die  Stadtgemeinden,  in  welchon  si 
von  1876  bis  1880/81  151 3  Millionen  (1SS>'' 
oder  0,95  Mark  pix)  Kopf)  und  von  1880  ^ 
bis  1883/84  8^/4  Millionen  (8,8  ^Vo  oder  OS 
Mark   pro   Kopf)   betiiig;   in   den  Lands^^ 


Gemeindefinanzen 


113 


meinden  betrug  sie  in  den  beiden  Zeiträu- 
men nur  6,8^/0. 

Es  belief  sich  der  auf  den  Kopf  der 
städtischen  Bevölkerung  Preussens  entfal- 
lende Durchschnittsbetrag  an  Gemeindeab- 
gaben im  Jahre 

1849       auf  3,77  M. 
1869         „    6,47    n 
1876         „    9,58   „ 
1880/81    „  10,53   „ 
1883/84    „  11,46    „ 


Also  eine  Steigerung  der  Kopfl)etrage 
gegen  1880/81  um      Sfi% 
1876         „       19,6  „ 
1869         „      77,1  n 
1849         „    204,0  „ 


n 
n 


In  den  Landgemeinden  ist  die  Steige- 
rung naturgemäss  erheblich  geringer.  Die 
Kopfquoten  bctnigen  hier  1875  :  3,70, 
1880/81 : 3,76,  1883/84 : 4,02  Mark. 

Im  Jahre  1883/84  betrugen  die  Ausgaben 
der  Stadt-  und  Landgemeinden  in  1000 
Mark: 


Positionen 


Stadtgemeinden 
mit  Berlin 


gesamte  {ausserord. 
Ausgaben 


Stadtgemeinden 
ohne  Berlin 


gesamte  {ausserord. 
Ausgaben 


Landgemeinden 


gesamte  |  ausserord. 
Ausgaben 


Für  allgemein-staatliche  Zwecke 
„     Verkehrsanlagen      .... 
„    gewerbliche  Anlagen   .    .    . 
„    Wohlthätigkeit  und  Armen- 
pflege      

p    Unterrichtszwecke   .... 
^    allgemeine  Gemeindeverwal- 

.    ÄisnngWdTügnngVon 

Schulden 

Aus  nutzbarem  Vermögen .    .    . 
Sonstige  Ausgaben 


Summe 


17  814 

31  921 

33778 

35864 

6I9S6 

24073 

26923 

II  049 

3065 

272210 

895 

9288 

10283 

1487 

5247 
1049 

I  603 
I  623 


13  991 

24287 
32708 

27935 
52265 

19458 
25302 

10801 

2  819 


895 
8846 
7529 

I  480 
4506 

1049 

1597 

I  422 


7351 
18464 

873 

12  901 
92854 

13280 

7721 
10496 


396 

3989 
702 

407 
1818 

234 

786 
1677 


31477 


215  301  27327 


100882 


9613 


Die  Ausgaben  Berlins  betrugen  1883/84 
61,053  Millionen  Mark -der  Etat  für  1898/99 
ist  in  Ausgabe  und  Einnahme  auf  98,046 
^^üUionen  Mark  festgestellt. 

Für  Bayern  fehlt  eine  neuere  Statistik 
der  Gemeindeausgaben ;  doch  lässt  die  jähr- 
lich veröffentlichte  üebersicht  über  den 
Stand  der  Gemeindeumlagen  (direkte  Steuern) 
einen  Schluss  auf  das  Anwachsen  der  Ge- 
meindeausgaben zu.  Danach  betrugen  die 
Gemeindeumlagen  in  den 

unmittelb.       mittelb. 
Städten      Gemeinden 
in  1000  Mark 
1 1  1 10,3 
13  130,2 
17937,3 
oder  in  Prozenten  der  direkten  Staatssteuern 

1876  71  71  71 

1886  88  72  77 

1896  103  91  95 

Besonders  interessant  ist  die  Thatsache, 
<lass  die  Zunahme  des  Gesamtbetrages  der 
direkten  Gemeindesteuern  namentlich  in  dem 
Zeiträume  1886—1896  eine  beträchtliche 
war  und  dass  die  Gemeindesteuern  wenigs- 
tens in  den  unmittelbaren  Städten  den  Be- 
trag der  Staatssteuem  bereits  überschritten 
haben. 

Handwörterbuch  der  StaatswiSBenschaften.   Zweite 


1876 
1886 
1896 


3  056,0 

7515,0 
12613,4 


im 
Königreich 

14  166,3 
20  645,2 

30  550,7 


Eine  ganz  analoge  Entwickehmg,  zum 
Teil  ein  noch  erheblich  stärkeres  Anwachsen 
der  Gemeindeausgaben  zeigt  sich  in  aussor- 
deutschen  Ländern. 

In  Grossbritannien  stiegen  die  Aus- 
gaben in  den  Kommunalverbänden  von 
1867/68—1892,93  von  36,1  auf  81,3  Millio- 
nen £;  besonders  beträchtlich  war  die  Zu- 
nahme in  dem  kurzen  Zeiträume  von  1888/89 
bis  1892/93,  nämHch  von  66,2  auf  81,3  Mü- 
lionen  £.  Die  rapide  Steigerung  der  Aus- 
gaben in  dem  zuletzt  genannten  Zeiträume 
hat  eine  erheblich  stärkere  Ausnutzung  der 
direkten  Steuern  nötig  gemacht,  aber  auch 
eine  bedeutende  Vermehrung  der  Staatszu- 
schüsse und  deren  teilweise  Umwandlung 
in  überlassene  Staatssteuem  und  Anteile 
von  solchen.  Von  1867/68—1892/93  stiegen: 
die  Steuerlast  um  126,  die  Verschuldung 
um  132,  die  Staatszuschüsse  um  774  ®/o. 

In  Frankreich  betrugen  nach  Leroy- 
Beaulieu  die  für  Gemeindezwecke  bestimm- 
ten Zuschlagscentimes  zu  den  direkten  Staats- 
steuern 1803  nur  57  Millionen  Francs;  sie 
stellten  sich  1864  auf  206,  1869  auf  248, 
1878  auf  309,  1898  auf  384  Millionen  Francs, 
d.  h.  sie  stiegen  seit  dem  Anfange  dieses 
Jahrhunderts  um  573,  seit  1864  um  86%; 
die  Reineinnahmen  aus  dem  Octroi  stiegen 

AnllaRe.    lY.  8 


Oemeindeö  nanzen 


Ton  44  Mülionon  i.  J.  1823  auf  70  i.  J.  1843, 
143  i.  J.  1862,  296  i.  J,  1896,  sie  haben  sich 
also  in  73  Jairen  iingefilhr  versieben  facht, 
■während  die  Bevölkerang  der  Glemeinden 
mit  Octroi  Bich  kaum  vei-doppelt  liat.  Die 
Gesamtsumme  der  Ausgaben  der  französi- 
sdien  Gemeioden  betnig  1877  998.6  Mil- 
lionen FraiiCB,  1885  1060,8  MiUionen  Francs. 
Paris  hatte  1813  bei  6220Ü0  Einwoltnern 
ein  ordentliches  Budget  von  23  Millionen 
Francs  —  37  Francs  auf  den  Einwohner. 
unter  der  Restauration  stieg  das  Budget  auf 
32  Millionen  bei  713  000  Einwohnern  =  4ü 
Francs  pro  Kopf.  1869  auf  168  Millionen 
bei  1800  000  Einwohnern  =  94  Francs  pro 
Kopf,  1S98  auf  299  Millionen  Francs  =  119 
Francs  pro  Kopl.  Es  hat  sich  demnach  die 
AuBgabensumme  verdreizehnfacht,  während 
die  Bevölkening  sich  vervierfacht  hat. 

In  den  belgischen  Gemeinden  haben 
sich  die  Gesamteinnahmen  in  der  Zeit  von 
1865—1893  von  90,3  auf  179,3  Millionen 
Francs  gehoben.  Die  Gesamteinnahmen  der 
Gemeinden  Italiens  betragen  1863  264 
Millionen  Lire,  1874  371,  1897  554,  Iiaben 
sich  also  in  34  Jahren  mehr  als  verdoppelt. 
Im  Jahre  1897  betrugen  die  Ausgaben  Roms 
27,1,  Neapels  20,7,  Mailands  18,5,  Turins 
11,0,  Palermos  8,7,  Genuas  12,1,  Floren?.' 
9,5,  Venedigs  7,4  Millionen  Lire.  Allerdings 
hat  eine  grossere  Anzahl  dieser  Städte  deu 
enormen  Aufwand  auf  die  Dauer  nicht  er- 
tragen können  und  entweder  falliert  oder 
ihre  Verpfliditimgen  nicht  cinlialten  können. 
Die  Ausgaben  der  niederländischen 
Gemeinden  haben  sich  in  der  Zeit  von  1879 
bis  1894  verdoppelt;  sie  stiegen  von  55,9 
auf  107,1  Millionen  Qulden. 

Schliesslich  seien  noch  Angaben  über  die 
Ausgaben  der  grossen  Städte  Euroiws  nach 
Bereclinungen  von  Korösi  bezw.  Leroy- 
Beaulieu  bcigeffigt,  die  zwar  das  Jahr  lBy5 
betreffen ,  aber  bei,  der  Dürftigkeit  und 
Lflckenliaftigkeit  des  statistischen  Materials 
immer  noch  von  Wert  sind.    Es  betrugen 


Paria 

Wien 

München 


Lyon 

Petersburg 

Moskau 

Kopenhagen 

Mailand 

Turin 

Dresden 

Warschau 


die  Ausgaben 

insgesamt 

pro  Kopt 

(Frai 

DCS) 

29z  167654 

5647477s 

43,28 

56440914 

75,37 

3645688z 

27  798  698 

66,30 

27  289  546 

24  249  788 

"5,25 

18  245  140 

48,40 

20,23 

iz  973  285 

17,22 

45,25 

10  735 759 

30,50 

9950529 

9  497  S53 

8  697  793 

ao,i5 

IUI 

•3  M     S- 


:qp-liio6(«(i5rt^CJPSKis 


Gemeindefinanzen 


115 


10.   Der  Personal-  und   Sachbedarf. 

a)  Der  Personalbedarf.  Der  früheren 
Naturalwirtschaft  entsprach  es,  Dienste  wie 
Sachgiiter  von  den  Gemeindeangefiörigen  in 
natura  zu  fordern.  Erst  seit  dem  Cebergang 
zur  Geldwirtschaft  ira  16.  und  17.  Jalu*hun- 
dert  tritt  auch  in  den  Gemeinden,  allerdings 
in  erheblich  geringerem  Grade  als  beim 
Staate,  das  Bestreben  hervor,  Geldzahlungen 
an  Stelle  der  Dienste  treten  zu  lassen  und 
die  Dienste  selbst  gegen  Entgelt  im  Wege 
vertragsraässiger  Vereinbarung  zu  beschaffen. 
Diese  Entwickelung  ist  am  frühesten  und 
vollständigsten  in  England  zum  Abschlüsse 
gekommen.  Hier  sind  die  Naturaldienste 
der  Gemeindemitglieder,  abgesehen  von  den 
ehrenamtlichen  Verrichtungen,  überall  durch 
Geldzahlungen  ersetzt  worden.  Weniger 
vollkommen  geschah  dies  in  Frankreich  und 
Deutschland,  wo  die  unentgeltlichen  Leis- 
tungen der  Gemeindegenossen  auch  heute 
noch,  namentlich  in  den  Landgemeinden, 
eine  grossere  Rolle  spielen. 

Die  unentgeltlichen  Dienstleistungen  sind 
entweder  ehrenamtliche  oder  mechanische. 

Was  zunächst  die  ehrenamtlichen 
Leistungen  anlangt^  so  ist  ihre  Ausdehnung 
bekanntlich  am  grössten  in  der  englischen 
Kommunal  Verwaltung;  wenigstens  nominell 
niht  die  Ausführung  überall  auf  ehrenamt- 
Hehen  Organen.  Thatsächlich  ist  fi-eilich 
die  Bedeutung  derselben  wesentlich  gemin- 
dert, einmal  dadurch,  da*^s  die  Centralbe- 
hörden  sehr  weitgehende  Befugnisse  be- 
sitzen, dann  aber  namentlich  dadm*ch,  dass 
auch  hier  bei  der  Spedalisierung  der  Ver- 
waltung und  den  wachsenden  technischen 
Aufgaben  in  steigendem  Masse  das  Bedürf- 
nis sich  herausgestellt  hat,  die  eigentliche 
Arbeit  aiif  besoldete  und  benifsmässig  ge- 
bildete Beamte  zu  übertragen.  In  Frank- 
reich liegt  die  Departementsverwaltung  ganz 
in  den  Händen  von  Berufsbeamten;  die 
eigentliche  Gemeindeverwaltung  wird  da- 
gegen in  der  Hauptsache  von  unbesoldeten 
Behörden  geführt;  freilich  sind  diese  eben- 
falls in  zunehmendem  Grade  auf  Mitarbeit 
und  Unterstützung  eines  berufsmässig  vor- 
gebildeten \md  besoldeten  Personals  ange- 
wiesen. 

In  Deutschland  findet  sich  in  den  grösse- 
ren Städten  zumeist  eine  Verbindung  be- 
soldeter Aemter  mit  Ehrenämtern.  Während 
die  Bürgermeister,  die  Beigeordneten,  die 
technischen  Beamten  und  die  Unterbeamten 
aller  Art  besoldet  sind,  werden  die  übrigen 
von  diesen  nicht  zu  leistenden  Geschäfte 
durch  freiwillige  Arbeit  im  Ehrenamte  be- 
sorgt. Was  die  ländlichen  Gemeinden  an- 
langt, so  wird  hier  die  Verwaltung  fast 
ausschliesslich  durch  freiwillige  Thätigkeit 
geführt,  nur  dass,  wie  in  Frankreich  und 
sonst,  in  besoldeten  Gemeindesclireibem  die 


Anfänge  eines  Berufsbeamtentums  erschei- 
nen. Bei  den  Kommunal  verbänden  höherer 
Ordnung  wird  in  der  Regel  die  Verwaltung 
von  besoldeten  Kommunal-  oder  auch  von 
den  Staatsbeamten  geführt,  so  dass  der 
ehrenamtüchen  Thätigkeit  nur  die  Fassung 
der  als  Direktive  für  die  Verwaltung  nöti- 
gen Beschlüsse  und  eine  beratende  und 
kontrollierende  Mitwirkung  bei  der  Ausfah- 
rung zusteht. 

Die  mechanischen  Dienstleistimgen 
werden  in  den  Landgemeinden  Deutsch- 
lands, Frankreichs  und  andei-er  Länder  noch 
in  ausgedehntem  Masse  unentgeltlich  von 
den  Gemeindemitgliedern  geleistet,  oder 
müssen  eventuell  von  denselben  in  Geld  ab- 
gelöst werden;  in  England  wohl  nur  noch 
von  bezahlten  Arbeitern.  Diese  mechani- 
schen unentgeltüchen  Leistungen  finden 
sich  namentlich  im  Wegebau,  im  Wachte 
und  Botenwesen.  In  Bayern,  um  nur  ein- 
zelne Beispiele  anzuführen,  sind  dienst- 
pflichtig die  Bürger,  die  Besitzer  eines 
Wohnhauses  und  die  seit  sechs  Monaten  in 
der  Gemeinde  wohnenden  und  mit  direkter 
Steuer  angelegten  selbständigen  Einwohner ; 
in  der  Pfalz  können  den  Heimatberechtigten 
Dienste  ziu*  Sicherheitswache  imd  im  Wege- 
bau auferlegt  werden.  In  den  sieben  alten 
Provinzen  Preussens  können  die  selbständi- 
gen Einwohner  und  die  in  der  Stadt  be- 
steuerten Forensen  imd  juristischen  Perso- 
nen durch  Beschluss  der  Stadtverordneten 
zu  Diensten  verpflichtet  werden,  wobei  diese 
in  Geld  abgeschätzt  und  nach  dem  Mass- 
stabe der  direkten  Steuern  verteilt  werden. 
In  den  Ijandgemeinden  dieser  sieben  Pro- 
vinzen sind  die  Gemeindegüeder  bezw.  die 
Grundbesitzer  dienstpflichtig.  Die  Hand- 
dienste werden  wie  in  Bayern  nach  Köpfen, 
die  Spanndienste  nach  Verhältnis  der  Klassen 
verteilt,  in  welche  die  Ackerbesitzer  nach 
der  Zahl  ihrer  Gespanne  in  jedem  Orte  ein- 
geteilt sind.  Aehn liehe  Bestimmungen  fin- 
den sich  in  den  anderen  preussischen  Pro- 
vinzen wie  in  den  anderen  deutschen  Staaten. 

b)  Der  Sachbedarf.  Er  umfasst  die 
ziu-  Diu-clifühnmg  der  Kommunalauf  gaben 
erforderlichen  Verbrauchsgüter,  Grundstücke 
und  Kapitalien  bezw.  das  zu  ihrer  Beschaf- 
fimg erforderliche  Geld.  Eine  besondere 
Stellung  nehmen  dabei  diejenigen  Sachgüter 
(Immobilien  imd  Kapitalanlagen)  ein,  welche 
dauernder  und  produktiver  Natur  sind  imd 
infolgedessen  unten  noch  zu  besprechen  sind. 

Ueber  den  Unterschied  von  ordent- 
lichem imd  ausserordentlichem  Be- 
triebs- imd  Verwaltungsbedarf  s.  das  oben 
im  Art.  Finanzen  S.  929 ff.  Gesagte. 

11.  Die  Ausgaben  im  einzelnen. 
a)  Ausgaben  für  Folisei.  Wii-  verstehen 
hier  unter  Polizei  die  Sicherheits-,  (re- 
sundheits-  und  Baupolizei,  d.  h.  diejenige 

8* 


i 


116 


Gemeindefinanzen 


Thätigkeit,  welche,  sei  es  in  vorbeugender, 
sei  es  in  repressiver  Weise  die  Hindemisse 
und  Gefahren  zu  beseitigen  bestrebt  ist, 
welche  die  leibliche,  geistige  und  wirt- 
schaftliche Existenz  der  Bevölkerung  und 
ihre  Weiterentwickelung  gefährden  oder  be- 
drohen. Gemäss  dem  fast  allenthalben  zur 
Anerkennung  gelangten  Grundsatze,  dass  die 
Ortspolizei  Sache  der  Gemeindeobrigkeit  sei, 
ist  m  Deutschland  ihre  Verwaltung  dem 
Bürgermeister  bezw,  einem  eigens  hierzu 
bestellten  Mitgliede  des  Magistrates  über- 
tragen (in  Sachsen  nur  die  Sicherheitspolizei) ; 
ausnahmsweise  ist  in  den  grossen  Städten 
die  Polizei  Verwaltung  in  einer  Weise  ge- 
regelt, welche  den  Einfluss  des  Staates  mehr 
zur  Geltung  kommen  lässt,  so  z.  B.  in  der 
Weise,  dass  die  Behörde  seitens  des  Staates 
ernannt  wird,  der  dann  auch  die  hierdurch 
erwachsenden  persönlichen  Kosten  zu  tragen 
hat.  So  in  Preussen.  In  Bayern  wird 
wenigstens  der  grössere  Teil  der  polizei- 
lichen Funktionen  in  der  Hauptstadt  durch 
eine  königliche  Polizeidirektion  besorgt. 
Bezüglich  der  Kosten  der  Ortspolizeiver- 
waltung in  den  grössten  preussischen  Städten 
YgL  die  folgende  Tabelle. 

Kosten  der  Ortspolizeiverwaltung. 


Städte 


Summe  der  Ausgaben 


auf  Ge- 
meinde- 
kosten 


Pro  Kopf 

der 
Bevölke- 
rung 


Berlin 

7  984  148 

I  438  544 

Breslau 

588  142 

123084 

Köln 

351  909 

171  368 

Frankfurt  a.  M. 

542  080 

213785 

Königsberg 

338531 

48569 

Hannover 

328  405 

58236 

Düsseldorf 

167  842 

Danziff 
Magdeourg 

266  299 

47941 

292  685 

93  167 

Elberfeld 

204  995 

6,45 
2,17 

2,01 

4,41 
2,16 

1,98 
1,06 

2,47 
2,06 

1,62 


Die  Kosten  des  Feuerlöschwesens  nehmen 
in  grösseren  Städten  einen  wesentlichen 
Umfang  an,  wie  die  folgenden  Zahlen  be- 
weisen.   Sie  betrugen  für  1896/97: 


Berlin 

Hamburg 

Breslau 

Hünchen 

Dresden 

Leipzig 

Köln 

Frankfurta 


Mark 
I  708  527  1) 
167  907  *) 
264  159 

238  959 
178427 
252  979  ') 
207  400 
.M.236  966 


Königsberg 

Hannover 

Stuttgart 

Bremen 

Düsseldorf 

Nürnberg 

Magdeburg 


Mark 
117963 

133  930 
91  180 

211  176 

167  907 

62  160 

203  457 


^)  In  vielen  Städten  finden  sich  Zuschüsse 
aus  anderen  Fonds ;  besonders  hohe  in  Hamburg 
mit  747  956  und  Leipzig  mit  122 125  M.,  Berlin  s.  0. 


In  Oesterreich    hat  das  Gom.-G.  v.   5. 
März  1862  gewisse  Zweige  der  Ortspolizei 
dem  eigenen  Wirkungskreis  der  Gemeinden 
überwiesen,  nämJich  die  Fürsorge  für  die 
Sicherheit  der  Person  und  des  Eigentums 
sowie  des  Verkehrs,  die  Flur-,  die  Mai'kt- 
und   Lebensmittel-,   die   Gesundheits-,  die 
Gesinde-  und  Arbeiter-  und  die  Bau-  und 
Feuerpolizei  Ausserdem  sind  die  Gemeinden 
verpflichtet,  im  übertragenen  Wirkimgskreis 
bei  den  dem  Staate  vorbehaltenen  Zweigen 
der  Polizei  mitzuwirken.   Dagegen  kann  der 
Staat    aus    höheren    Staatsrücksichten   be- 
stimmte  Geschäfte   der  Ortspohzei  in  ein- 
zelnen Gemeinden  besonderen  Landesbehor- 
den  (Polizeidirektionen  in  Wien,  Prag,  Brünu 
und  anderen  Städten)  zuweisen. 

In  England  fällt  die  Polizeiverwaltung 
fast  ausschliesslich  der  Gi'afschaft  und  den 
grösseren  Stadtgemeinden  zu.  Ihre  Kosteu 
werden  durch  eine  besondere  Grafschafts- 
steuer,  county  police  rate  genannt,  gedeckt. 
Gewisse  grössere  Städte  haben  eine  selb- 
ständige Polizeiverwaltimg,  die  in  der  Haupt- 
stadt wieder  besonders  geregelt  ist.  Der 
Staat  trägt  zu  den  Kosten  derselben  ^/i  bis 
V2  des  Betrages  bei.  In  Frankreich  sind 
die  Hauptorgane  der  Polizei  die  Polizei- 
kommissäi-e,  welche  die  Fimktionen  der  all- 
gemeinen und  der  lokalen  Polizei  in  sich 
vereinigen  und  teils  dem  Minister  de.* 
Innern  und  den  Präfekten,  teils  den  Mairei! 
unterstellt  sind.  In  Paris  sind  die  Ver- 
hältnisse besonders  geregelt.  In  die  Koste  c 
teilen  sich  Staat  und  Gemeinde.  Für  189^ 
sind  die  Kosten  der  Pariser  Pohzeipräfektiu 
in  dem  Budget  der  Stadt  Paris  mit  31  790  TD' 
Francs  etatisiert.. 

b)  Ausgaben  für  Schulzwecke.  Ei 
ist  bekannt,  dass  seit  dem  17.  Jjihrhun 
dort  das  Schulwesen  in  steigendem  Mass- 
in  seiner  Wichtigkeit  für  die  Kultur  01 
kannt  und  in  den  Bereich  der  öffentliche 
Thätigkeit  einbezogen  wurde.  Dabei  wurde 
wenigstens  in  Deutschland,  die  Fürsorge  f  f  j 
den  Volks-  oder  Elementanmterricht  de 
Ortsgemeinden  oder  einzelnen  Specialf^<: 
meinden  übertragen.  Es  sind  also  zunäclii 
die  finanziellen  Mittel  der  Gemeindei 
welche  das  Erforderliche  zu  leisten  habei 
Doch  hat  auch  hier  das  Anwachsen  de 
Ausgaben  eine  zimehmende  Beteiligung^  de 
Kommunal  verbände  höherer  Ordnung  bez\ 
des  Staates  notwendig  gemacht. 

Was  das  mittlere  Schulwesen  aulanp 
so  befindet  sich  dieses  in  der  Regel  in  de 
Händen  des  Staates;  doch  kommen 
grösseren  Städten  auch  Mittelschulen  (Bilrge 
schulen,  Realschulen  und  dergleichen.)  vc 
deren  Unterhaltung  ganz  oder  teilweise  a 
Gemeindemitteln,  bezw.  aus  den  Mitteln  v< 
Kommunalkörpern  überhaupt,  bestritten  \^-ii 
Nicht  selten  sind  die  Kosten  zwischen,   de 


GeineindefinaD  zen 


117 


Staate  und  den  KommunaLkörpem  geteilt. 
Der  höhere  Unterricht  ist  allenthalben  aus- 
schliesslich Sache  des  Staates.  Es  muss 
ferner  erwähnt  werden,  dass  Fortbildungs- 
schulen, niedere  Fachschulen  und  ähnliche 
nicht  selten  von  Kommunalkörpem  errichtet 
nnd  unterhalten  werden.  Ueber  die  Aus- 
üben für  ünterrichtsanstalten  in  12  deutschen 
Grrossstädten  im  Jahre  1896/97  sielie  die 
folgende  nach  dem  Artikel  Sübergleits  über 
das  ünterrichtswesen  in  Neefes  statistischem 
J^rbuch  der  Städte,  1898,  zusammenge- 
stellte üebersicht,  in  welcher  nur  die  Zu- 
schüsse aus  städtischen  Mitteln  (ohne  den 
oft  recht  erheblichen  Bauaufw-and)  berück- 
sichtigt sind. 


Städte 


Kosten  für  das  Schul- 
wesen überhaupt 


in  Mark 


pro  Kopf 

des 
Schülers 


davon 

für 
Volks- 
schulen 


Berlin 

13  368  883 

59,8 

Breslau 

2  934  036 

54,7 

Uünchen 

2  380  792 

48,0 

Dresden 

2  077  746 

52,4 

Leipzig 

3  690  262 

54,8 

E91n 

I  677  888 

34,9 

Frankfurt  a.  M. 

2011  262 

72,9 

Hannover 

I  '»73  341 

48,2 

Stuttgart 

913078 

41,2 

Bremen 

I  505  430 

70,5 

Düsseldorf 

970  177 

34,4 

Magdeburg 

13965*3 

39,0 

10  523  537 
2  1 10  503 

1  875  850 

1  158976 

2  844  837 
1  386  580 
I  218610 

894  663 
444  959 

815  313 
740819 

I  102  165 


Auch  in  Oesterreich  fällt  die  Unterhal- 
tung der  Volksschule,  abgesehen  von  den 
Verpflichtungen  von  Patronaten  imd  Stif- 
tungen, der  Gemeinde  bezw.  der  Schul- 
gemeinde oder  dem  Schulbezirke  zur 
Last  Doch  hat  für  den  Fall,  dass  die  Be- 
lastung ein  bestimmtes  Mass  von  Steuerzu- 
Bchlägen  überschreitet,  für  den  Mehrbetrag 
das  Land  aufzukommen.  Auch  die  Kosten 
für  die  Gymnasien  haben  hier  teilweise  die 
kommimalen  Korporationen  zu  tragen. 

In  England  und  Frankreich  setzt  die 
Sorge  des  Staates  für  das  Volksschidwesen 
verhältnismässig  spät  ein.  In  England  ist 
die  ünterhaltimg  der  Elementarschiden 
heute  noch  den  Schulverbänden  überlassen; 
der  Staat  wirkt  nur  ein,  wenn  die  vor- 
handenen Schulen  ungenügend  sind.  D^'e 
Mittel  fliessen  zunächst  aus  Schulgeldern, 
Staatssubventionen,  Erträgen  von  Anlehen, 
event  aus  Steuern  der  bietreffenden  Kom- 
munalverbände. Die  mittleren  und  höheren 
Schiüen  wie  die  gewerblichen  Lehranstalten 
beruhen  auf  Stiftungen  oder  sind  Anstalten 
von  Privaten  oder  Vereinen.  Grosse  Lasten 
für  das  Schulwesen  liegen  in  Frankreich  auf 
den  Gemeinden,  namentlich  den  grösseren. 


Im  Princip  hat  jede  Gemeinde  wenigstens 
eine  eigene  Schule  zu  unterhalten,  wenn 
nicht  der  Departementalunterrichtsrat  er- 
laubt, dass  sie  mit  einer  Privatschule  oder 
einer  benachbarten  Gemeinde  ein  Abkommen 
trifft.  Auch  die  Unterhaltung  der  Mittel- 
schulen fällt  zum  Teil,  die  der  Colleges  ganz 
den  betreffenden  Gemeinden  zur  Last.  Die 
Mittel  fliessen  teils  aus  Zuschlägen  zu  den 
direkten  Staatssteiiern ,  teils  aus  anderwei- 
tigen Einnahmen  der  Gemeinden,  event.  aus 
Zuschüssen  der  Departements  imd  des 
Staates.  Nach  dem  neuesten  Budget  der 
Stadt  Paris  für  1899  verwendet  diese  Stadt 
auf  den  Volksschul-  und  allgemeinen  höheren 
Unterricht  28,3  Milhonen  Francs,  auf  das 
College  Rollin  1,6  Millionen,  zusammen  also 
rund  30  Millionen  Francs. 

c)  Ausgaben  für  Armenpflege.  Es 
sind  ausserordentlich  grosse  Summen,  wel- 
che Jahr  für  Jahr  zu  Zwecken  der  Ar- 
menpflege aufgebracht  werden.  Sie  er- 
scheinen freilich  nicht  alle  in  den  Gemeinde- 
budgets und  in  den  Budgets  der  anderen 
öffentlichen  Körperschaften,  sondern  sie 
verteilen  sich  zum  grossen  Teü  auch  auf 
die  Stiftungen  bezw.  die  Privatarmeupflege. 
Namentlich  ist  dies  der  Fall  in  Frankreich. 
Hier  lag,  wie  oben  erwähnt  wurde,  bis- 
lang nur  die  Fürsorge  für  das  Waisen-  und 
Irren  wesen  den  kommunalen  Korporationen, 
nämlich  den  Depai-tements  ob,  an  welche  die 
Gemeinden  Beiträge  zu  leisten  haben.  Mit 
G.  V.  15.  JuU  1893  sind  jedoch  die  Ge- 
meinden und  Departements  auch  verpflichtet 
worden,  armen  Kranken  die  nötige  ärztliche 
Behandlung,  Arznei  und  Pflege  zu  gewähren. 
Doch  ist  auch  heute  noch  das  meiste,  soweit 
nicht  Stiftungen  vorhanden  sind,  der  Privat- 
wohlthätigkeit  überlassen.  Immerhin  be- 
ziffern sich  die  Ausgaben  der  Stadt  Paris 
für  Assistance  publique,  Ali^nos,  Enfants 
assistes,  Etablissements  de  bienfaisance  1899 
mit  28  685186  Francs.  In  England  liegt 
die  ganze  Armenpflege,  mit  Ausnahme  der 
den  Grafschaften  überwiesenen  Irrenpflege, 
den  in  ünions  vereinigten  Kirchspielen  ob. 
In  Deutschland  beruht  wie  in  Oesterreich 
die  Pfhcht  zur  Armenunterstützung  auf  den 
Gemeinden,  sei  es  auf  den  Ortsarmenver- 
bänden, wie  in  dem  Geltungsgebiete  des 
Reichsg.  v.  6.  Juni  1870,  sei  es  auf  der 
Heimatsgemeinde,  wie  in  Bayern.  Bei 
solchen  Verarmten,  für  welche  der  Orts- 
armenverband bezw.  die  Heimatsgemeinde 
nicht  unterstützungspfhchtig  sind,  tritt  der 
Landarmenverband  bezw.  der  Staat  ein. 
In  Bayern  liegt  den  Distrikten  oder  Kreisen 
die  Errichtung  solcher  Anstalten  der  Wohl- 
thätigkeit  ob,  welche  einen  grösseren  Aufwand 
erfoiSem.  Ueber  die  Höhe  der  Ausgaben 
der  Ortsarmenverbände  in  Deutschland  siehe 
die  nachstehende  Tabelle. 


118 


Gemeindefinan  zen 


Die  Ausgaben  der  Ortaarmenverbände  für  die  unmittelbar  von  ihnen  Unterstützten  haben 

im  Jahre  1885  folgende  Höhe  erreicht: 

(Nach  den  Zusammenstellungen  Neefes  in  seinem  Statist.  Jahrb.  deutscher  Städte, 

Jahrg.  I,  S.  171  ff.) 


Im 
Deutschen 

Reiche 
überhaupt 

M. 

In  den  Städten  mit  über 

In  sämtl 

Ausgaben 

50  000 

bis 
100000 
Einw. 

M. 

100000 
Einw. 

M. 

60000 
Einw. 

M. 

Städten 

des 

Deutschen 

Reiches 

M. 

Ordentliche: 
in    barem     Gelde    verabreichte    Unter- 
sttitzungen     

in     Naturalien      verabreichte      Unter- 
stützungen im  Werte  von 

alle  übrigen  Kosten  der  Armenpflege 
Ausserordentliche: 
für  Neubauten  u.  dergl 

38  398  934 

13956711 
25  462  850 

2  999  837 

2  120  918 

1  153954 

2  190  129 

145  796 

8612693 

2  358  948 
10  961  262 

668071 

10  733  611 

3512902 
13  151  421 

813867 
28  211  801 

4,39 

22  741  320 

7254855 
20638  122 

I  799  156 

Summe : 

Durchschnitt    der    ordentlichen    Aus- 
gaben auf  einen  Einwohner 

80818332 
1,66 

5610797 
3,51 

22601  004 
4,69 

52  433  453 
2,98 

Es  betrugen  im  Jahre  1894  nach  den 
Zusammenstellungen  Flinzers  im  Jahi'b.  D. 
Städte  YI,  S.  201  ff.  die  städtischen  Zu- 
schüsse (in  Mark)  zu  den 


ni 


Berlin 

Hamburg 

München 

Leipzig 

Breslau 

Dresden 

Köln 

Frankfurt  a.  M. 

Magdeburg 

Hannover 

Düsseldorf 

Königsberg 

Nürnoerg 

Stuttgart 

Chemnitz 


Kosten,  d. 
offenen 
Armen- 
pflege 

5  827  187 

4096406 

848  941 

670  785 

551407 
388118 

320551 

472  566 

332  939 
410070 

469  359 
315468 
365  292 

337  550 
130419 


Kosten  d. 
allgem. 
Stadt. 
Kranken- 
anstalten 

I  547  485 
I  050  S 1 1 

515450 
440753 
341 965 

122528 

338  726 

267342 

283  196 

28277 

? 

79096 

30000 

60500 

105  620 


Nach  dem  bayerischen  statistischen  Jahr- 
buch für  1898  bezifferten  sich  in  Bayern 
die  Ausgaben  der  gemeindlichen  Armen- 
pflegen für  Unterstützungen  im  Jahre  1896 
auf  8106  220  Mark  (1887  :  6  649  080),  für 
Armenhäuser  547  484  (1887:796  419),  im 
ganzen  auf  9  948  802  Mark  (1887  :  8  079  982) ; 
die  Ausgaben  der  Distriktsgemeinden  1896 
auf  113  039  Mark  (1887:659404),  die 
der  Ki-eisgemeinden  auf  1 695  767  (bezw. 
1  731  222). 

Daneben  finden  sich  überall  erhebliche 
Ausgaben     für     Altersversorgungsanstalten 


(Hospitäler),  Siechenhäuser,  Waisenhäuser, 
Kinderpflege-,  Erziehungs-  und  Besserungs- 
anstalten, Irrenanstalten  u.  s.  w. 

d)  Ausgaben  für  Gesundheitspflege, 
WoUf ahrts  -  und  Annehmlichkeitsan- 
stalten. Auf  diesem  Gebiete  handelt  es  sich  in 
der  Hauptsache  um  die  Befriedigung  von  Be- 
dürfnissen, welche  erst  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten teils  unter  dem  Eindruck  der  durch 
das  engere  Zusaramenwohnen  und  die  Zu- 
nahme der  Bevölkerung  in  den  grossen 
Städten  bedingten  Gefahren,  teils  infolge  der 
Anforderungen  der  heutigen  medizinischen 
Wissenschaft  entstanden  sind.  Ein  nicht 
unwesentlicher  Grund  des  gerade  auf  diesem 
Gebiete  sich  kundgebenden  Steigens  der 
Ausgaben  liegt  ferner  in  der  Erhöhung  der 
Ansprüche,  wie  sie  durch  die  grössere  Ver- 
breitung von  Wohlstand  und  Bildung,  die 
Zunahme  des  gesellschaftlichen  und  gewerb- 
lichen licbens  hervorgerufen  wird.  Wii 
zälüen  hierher  den  Aufwand  für  Beleuchtung; 
für  Strassen-  und  Verkehrswesen  iinc 
Strassenerweiterung,  für  Promenaden  iinc 
Parkanlagen,  für  Wasserleitung,  für  Markt 
hallen,  Schlachtiiöfe  imd  dergleichen,  nameni 
lieh  aber  für  Abfuhr  und  Kanalisation.  Hie 
nur  ein  paar  Worte  über  die  Unter  ha  1 
tung  der  Strassen  und  die  Ausgabei 
für  Kanalisation. 

Die  Unterhaltung  der  Strassen,  d.  h 
Pflasterung,  Reinigung  imd  Bespren^mi 
derselben  verursacht  einen  erheblichen  Be 
darf,  der  freilich  bei  der  Pflasterung  teil 
weise  durch  Beiträge  der  Adjazenten  ge 
deckt  wird.  Die  Ausgaben  (Nettoaiis^abe 
nach  Abzug  etwaiger  Einnahmen)  für  Pari 
anlagen,  Strassenreinigung  und  Strassenbe 


G^meindefina  nzen 


119 


Sprengung  in  den  grössten  deutschen  Städten 
betrugen  nach  einer  Zusammenstellung 
Fhnzers    in    dem    Statistischen    Jahrbuche 


deutscher  Städte  Yll,  S.  197  ff.  für  die  Jahre 
1896  oder  1896/97  folgende  Summen: 


Städte 


Strassen- 
remigung^) 


Strassen- 
besprengung 


Parkanlagen 


Unter- 
haltung 


Neu- 
anlagen 


Berlin     .    .  . 

Hamburg    .  . 

München     .  . 

Leipzig  .    .  . 

Breslau  .    .  . 

Dresden .    .  . 
K51n  .... 

Frankfurt  a.  M. 

Magdeburg .  . 

Hannover    .  . 

Düsseldorf  .  . 
Königsberg 

Nürnberg    .  . 

Stattgart    .  . 

Chemnitz    .  . 


2842 
907 
260 
192 
276 

423 
204 

482 

132 

294 

140 

? 

155 
140 

113 


965«) 
920 

875 

020 
122 

28s») 

296 

647 

ooo') 

622 

100 

845 

100 

500«) 


300000 

95  777 

29345 

58395 

29755 
91678 

27540 

61  240 

-   ') 

11  865 

12  700 

• 

18920 
12987 
15  200 


302  500 

179000 
84322 
73662 

169  623 
61  200 

107  497 
79380 
96524 
59150 
57147 
17  000 

47080 
26763 
49472 


93800 

47000 

31655 

2450 

15970 

2220 

2419 

12690 

46980 

36415 
12304 

4249 

7265 


*)  Hier  ist  die  Ausgabe  für  Abfuhr  der  Haushaltungsabfälle  und  Wegschaffung  von  Eis 
und  Schnee  mit  enthalten.  *)  Ohne  Kosten  für  Abfuhr  der  Haushaltungsabfälle.  ')  In  Position 
Strassenreinignng  enthalten. 


Ein  hoher  Wert  wird  mit  Recht  seitens 
der  städtischen  Verwaltungen  auf  eine  den 
hygienischen  Anfordeningen  entsprechende 
Regelung  des  Abfuhrwesens  und  der  Kana- 
1  i  s  a  t  i  o  n  und  der  Rieselfelder  gelegt,  und  es 
sind  ausserordentlich  grosse  Summen,  welche 
hierfilr  aufgewendet  worden  sind  und  noch 
aufgewendet  werden,  wie  die  folgende  Ta- 
belle (s.  den  Quellennachweis  zur  vorigen 
Tabelle)  ausweist.    Es  betrugen: 


Städte 


Berlin      .    .    . 
Hamburg     .    . 
München  .    .    . 
Leipzig    .    .    . 
Breslau    .    .    . 
Dresden  .    .    . 
Köln    .    .    .    . 
Frankfurt  a.  M. 
Magdeburg  . 
Hannover 
Düsseldorf    .    . 
Königsberg  .    . 
Nürnberg     . 
Stuttgart 
Chemnitz     .    . 


die  Ausgaben 


für  Unter- 
haltung u. 
Betrieb 


099584 

165  724 

88024 

67616 

126320 

62000 

140000 

186845 

15000 

106060 

93200 

88500 

34216 

40000 

25555 


für  Er- 
weiterung 


2136959 
340691 

I  794831 
279715 
287317 
422  584 

I  176  700 
363  063 
399410 

I  181  742 
365  000 

1203715 
116  599 
235000 
173561 


In  diesem  Zusammenhange  erwähnen  wir 
noch  die  Ausgaben  der  bisher  in  Vergleich 
gezogenen  State  für  Hochbauten  und  Tief- 
bauten  (Neubauten,  bauliche  Unterhaltung 
und  Repüaraturen)  in  den  Jahren  1895  bezw. 


1895/96  nach  den  Zusammenstellungen 
Hasses  a.  a.  0.  S.  27  ff.  Dabei  sind  unter 
Hochbauten  solche  für  die  allgemeine  und 
Finan  z Verwaltung ,  für  Unterrichtszwecke, 
Armen-  und  Bessenmgsanstalten,  Kranken- 

Sflege,  Kirchen-  und  Begräbniswesen,  Theater, 
[useen,  Gas-  und  Wasserwerke  u.  s.  f.,  unter 
Tiefbauten  solche  für  Strassen  und  Wege 
aller  Art,  Wasserleitungen,  Kanäle,  G^as- 
leitungen  u.  s.  f.  zu  verstehen. 

(Siehe  die  an  erster  Stelle  stehende 
TabeDe  auf  Seite  120.) 

III.  Die  Gemeindeeinnalimeii. 

12.  Allgemeines.  Die  übliche  Unter- 
scheidung der  Staatseinnahmen  in  Erwerbs- 
einkünfte imd  öffentlichrechtliche 
Einnahmen  trifft  auch  hier  zu.  Auch  bei 
den  Gemeinden  fliesst  ein  Theil  der  Ein- 
künfte aus  privatwirtschaftlichen  Erwerbs- 
quellen, ein  anderer  wird  durch  Anwendung 
des  den  Gemeinden  zur  Durchführung  ihrer 
Aufgaben  seitens  des  Staates  gegebenen 
Zwangsrechtes  gewonnen. 

Auch  die  Geschichte  der  Gemeindeein- 
nahmen weist  eine  jener  der  Staatseinnahmen 
analoge  Entwickelung  auf,  eilt  jedoch  in 
mancher  Beziehung  der  der  Staatseinnahmen 
voraus.  Solange  die  Gemeinde  Rechts-  und 
Interessengemeinschaft  war,  flössen  die  zur 
Bestreitung  ihrer  allerdings  sehr  gering  be- 
messenen Aufgaben  erforderlichen  Mittel  aus 
dem  lu^prünglichen  Gemeindevermögen. 
Während  dieser  Zustand  bei  den  ländlichen 
Gemeinden  in  der  Hauptsache  bis  in  die 
Gegenwart  hineinreicht  und  auch  nach  Auf- 


120 


Gemeindefinanzen 


Städte 


Hochbauten 

Tiefbauten 

überhaupt 

davon  aus 
Anlagen 

überhaupt 

davon  aus 
Anlagen 

3  764  263 

452  684 

10  290  440 

2933351 

2  678  332 

787  785 

7  052  207 

2  185  149 

3  549  958 

2332  141 

5  544  739 

4  308  985 

I  538  358 

262200 

I  639  147 

358  925 

3  223  106 

I  279981 

— 

2575068 

2031  968 

3414330 

I  019  893 

3  072  234 

5  729  801 

— 

I  435  040 

693  170 

1550637 

287  188 

I  295  657 

981  602 

221  246 

798  943 

236461 

I  409  666 

7  334 

I  405  580 

I  119763 

1  178392 

953  065 

3  090  536 

2  784  752 

812  228 

313708 

I  069461 

? 

9 

306571 

125  120 

584  347 

136  560 

Berlin     .    .  . 

Hamburg    .  . 

München     .  . 

Leipzig  .    .  . 

Breslau  .    .  . 

Dresden .    .  . 
Köln  .... 

Frankfurt  a.  M. 
Magdeburg 

Hannover    .  . 
Königsberg 

Nürnberg    .  . 

Stuttgart    .  . 

Chemnitz    .  . 


lösung  der  alten  Gemeinschaft  in  den  meisten 
Gemeinden  noch  ein  erkleckliches  rentables 
Gemeindeeigentiim  namentlich  an  Wäldern 
bestehen  blieb  mid  die  Ausgaben  decken 
half,  haben  die  grösseren  Bedürfnisse  der 
städtischen  Gemeinden,  selbst  wo  ein  grösse- 
res Gemeindecigentum  vorhanden  war,  schon 
frühzeitig  auf  die  Benutzung  und  Erwerbung 
neuer  Einnahmequellen  hingewiesen.  Es  ist 
bekannt,  wie  die  im  11.  und  12.  Jahrhundert 
allmählich  sich  entwickelnden  Städte  von 
den  deutschen  Königen  Markt-  und  Münz- 
rechte, Zoll-  und  Brückengelder  sich  ver- 
leihen Hessen  mid  wie  bedeutende  Einnahmen 
sie  aus  diesen  sowie  aus  Kaufhausgeldern, 
Yerleihung  von  Allmendstücken  und  der- 
gleichen erzielten. 

Mit  dem  13.  Jahrhundert  finden  wir  aber 
in  den  Städten  die  ersten  Versuche  einer 
Besteuerung.  Die  wachsenden,  zumeist  frei- 
lich durch  Kriege,  Bauten,  äussere  Verwal- 
tung hervorgerufenen  Ausgaben  drängten  auf 
die  Erschliessung  anderer  Einnahmequellen. 
Hier  in  den  Städten  konnte  das  Steuerwesen 
zuerst  festen  Fuss  fassen  und  zu  einer  dau- 
ernden Einrichtung  werden.  Denn  das  Auf- 
kommen von  Steuern  ist,  abgesehen  von 
einer  gewissen  Entwickelung  des  Gemein- 
sinnes, an  zwei  Voraussetzungen  gebunden, 
nämlich  einmal  an  einen  höheren  Grad  der 
Geldwirtschaft  und  dann  an  einen  gewissen 
üeberschuss  der  einzelnen  Haushalte.  Für 
beides  findet  sich  die  Voraussetzung  am 
ehesten  in  den  Städten ;  sie  sind  bald  Sammel- 
punkte des  Geld  Verkehrs  und  gewinnreicher 
Geschäfte.  Hier  finden  yriv  denn  auch  zu- 
erst städtische  Steuern  zur  Befriedigung  der 
städtischen  Bedürfnisse,  Schätzungen,  Ver- 
mögenssteuern, aber  auch  indirekte  Steuern 
wieWein-,  Bier-,  Mahlumgeld  und  dergleichen. 
Dieser  Zustand  blieb  in  der  Hauptsache 
Jahrhunderte  lang,  bis  der  Absolutismus  auch 
liier  eingiiff  und  das  Steuerwesen  der  Ge- 
meinden auf  neue  Grundlagen   stellte,   na- 


mentlich in  dem  Sinne  einer  grösseren  An- 
näliening  desselben  an  das  Steuerwesen  des 
Staates.  Wir  haben  oben  bereits  gezeigt, 
wie  das  Verhältrös  des  Staates  zur  Ge- 
meinde in  unserem  Jahrhundert  dies  Be- 
streben begünstigen  musste,  wie  aber  anderer- 
seits auch  die  wachsende  Thätigkeit  der  Ge- 
meinden und  Kommunalverbände  im  Auf- 
trage und  in  Sachen  des  Staates  eine  Er- 
gänzung der  Gemeindemittel  durch  Sub« 
ventionon  und  Dotation  des  Staates  mit  siel 
brachte.  In  letzterer  Zeit  sind  den  Ge 
meinden,  namentlich  den  grossen  städtischer 
Gemeinden,  neue  Mittel  aus  dem  Betriel 
von  Gasanstalten  und  Wasserwerken,  Markt 
hallen,  Schlachthäusern  und  ähnlichen  Ein 
richtungen  erschlossen  worden. 

13.  Die  Erwerbseinkünfte  der  Ge 
meinden.  Es  zählen  hierunter  die  Einkunft 
aus  dem  Grundeigentum  imd  aus  Gewerl^e 
betrieb. 

Was  1)  die  Einkünfte  aus  dei 
Grundeigentum,  d.  h.  aus  rentierende 
Grundstücken  und  Häusern,  dem  sogenannte 
Kämmereivermögen  anlangt,  so  i? 
dieses  bekanntlich  unter  dem  Eirifluss  de 
physiokratischen  und  A.  Smithschen  Lel^e 
bedeutend  vermindert  worden;  denn  dt? 
Grundeigentum  ist  vielfach  diu-ch  Auf teUun 
in  das  Privateigentum  der  Gemeindegliod< 
übergegangen.  Doch  hat  dies  Bestrebe 
nicht  überall  gleichmässig  Verwirklichiir 
gefunden.  Hat  man  doch  in  Franki*eic 
selbst  während  der  Revolution  das  171 
erlassene  Gebot  der  Aufteilung  alles  Gemeii 
delandes  schon  im  Jahre  darauf  wieder  rnd 
gängig  gemacht  Auch  in  anderen  Ländei 
hat  man  die  Gefahr  einer  völligen  Aufteilui 
noch  bei  Zeiten  eingesehen  und  wenigste) 
einen  Teil  des  alten  Gemeindevermögens  j 
erhalten  gewusst  Röscher  hat  recht,  wer 
er  die  rücksichtslose  Tendenz  zur  Beseitigiu 
des  Gemeindeeigentums  beklagt  und  nieii 
dass   durch   die  Erhaltung   eines   gut    v€ 


Gemeindefinanzen 


121 


walteten  Kämmereivermögens  alle  Gemeinde- 
bediirfnisse  der  höheren  Kultur,  die  man 
den  Bauern  oft  so  schwer  einleuchtend  macht 
(z.  B.  Ausgaben  für  Schule  und  Armenpflege), 
ohne  Steuererhöhung  hätten  befriedigt  werden 
können.  Glücklicherweise  ist  der  Wald  am 
wenigsten  von  den  Aufteilungsbestrebungen 
erfasst  worden. 

Es  ist  bekannt,  dass  die  modernen  Ge- 
meindeordnungen die  Fehler  der  Vergangen- 
heit gut  zu  machen  nach  Kräften  bestrebt 
waren  und  wenigstens  das  zu  erhalten 
suchten,  was  noch  zu  erhalten  war.  Regel- 
mässig ist  die  Gemeinde  ohne  Staatsgeneh- 
migung  nicht  befugt,  den  Grundstock  ihres 
Termögens  zu  verändern.  Fast  immer  wird 
bei  der  Veräusserung  von  Gnmdstücken 
und  immobiliaren  Gerechtigkeiten  und  bei 
Abänderung  des  bestehenden  Genusses  der 
Gemeindenutzun^en  die  Staatsgenehmigung 
gefordert  Den  Immobilien  werden,  neben- 
bei bemerkt,  auch  bisweilen  gewisse  MobiUen 
gleichgestellt,  so  z.  B.  nach  den  preussischen 
Stadtordnungen  Gegenstände,  welche  einen 
besonderen  wissenschaftlichen,  historischen 
oder  Kunstwert  haben.  Besonderen  Be- 
schränkungen unterliegen  die  im  Kommunal- 
besitz befindlichen  Forsten;  allerdings  sind 
es  hier  nicht  ausschliesslich  Rücksichten 
auf  die  finanzielle  Bedeutung  der  Forsten 
für  den  Gemeindehaushalt,  sondern  auch 
Rücksichten  auf  die  wichtigen  öffentlichen 
Interessen,  die  mit  der  Erhaltung  der  Wal- 
dungen im  Zusammenhange  stehen.  Das 
Einwirken  des  Staates  bezweckt  namentlich 
die  Sicherung  der  Nachhaltigkeit  der  Nutzung ; 
es  äussert  sich  in  einer  weitgehenden  Kon- 
trolle über  die  Wirtschaftsfülirung  und  geht 
am  weitesten  da,  wo  der  Betrieb  der  Kom- 
munalforsten überhaupt  der  Leitimg  der 
Staatsforstbehörden  unterstellt  ist.  In  Preus- 
sen  ist  z.  B.  erst  neuerdings  durch  ein  G. 
V.  14.  August  1876  für  sämtliche  östliche 
Provinzen  bestimmt  worden,  dass  die  Be- 
triebspläne für  die  Oemeindeforsten  der 
Genehmigung  des  Regierungspräsidenten  be- 
dürfen. Die  finanzielle  Bedeutimg  der  Fors- 
ten für  die  deutschen  Gemeinden  geht  aus 
dem  Umfang  der  Gemeindeforsten  hervor. 
Es  ergab  sich  für  1893  ein  Bestand  an  Ge- 
meindeforsten in  Hektar: 


=  %  der 

m 

ges.  Forstfl 

Prenssen 

1  025  525 

12,5 

Bayern 

316752 

12,6 

Sachsen 

21861 

5,6 

Wärttemberg 

177  211 

29,5 

Baden 

254  570 

45,0 

Hessen 

87308 

36,3 

Elsass 

154412 

55,4 

Lothringen 

44082 

26,9 

Sachsen-Weimar 

15  163 

16,3 

Sachsen-Meiningen 

23367 

22,6 

Waldeck 

9684 

22,5 

Zusammen  in  allen  deutschen  Staaten  ein 
Gemeindewaldbesitz  von  2 180  584  ha  gegen 
2 109  913  ha  im  Jahre  1883,  so  dass  die  Ge- 
meindeforsten in  dieser  Zeit  um  70671  ha 
zugenommen  haben. 

Neben  den  Gebäuden  imd  Gnmdstücken 
finden  sich  auch  damit  zusammenhängende 
Gewerbe  wie  Kalkbrüche,  Ziegeleien,  Gruben 
etc.  Ihre  Bewirtschaftungsform  ist  zumeist 
die  Verpachtung.  Dagegen  werden  die 
Forsten  in  der  Eegel,  und  zwar  aus  ähn- 
lichen Gründen  wie  die  Staatsforsten,  in 
eigener  Regie  beüieben. 

Auch  aus  der  Vermietung  von  Plätzen 
und  Strassenterrain,  z.  B.  zur  Lagerung  von 
Baumaterialien,  aus  der  mietweisen  üeber- 
lassung  städtischer  Lagerräume,  Hallen  u. 
dgl.  werden  Einnahmen  gewonnen.  Die 
Einnahmen  aus  dem  rentierenden  Gemeinde- 
vermögen  sind  oft  von  ziemlicher  Höhe. 
Die  Stadt  Paris  vereinnahmte  (nach  Körösi) 
1886  aus  Grundvermögen  2871700  Fres., 
aus  Vermietung  von  öffentlichen  Plätzen 
10122701  Frcs.,  Berlin  978732  Frcs.  bezw. 
1076062  Frcs.,  Wien  4416861  Frcs.  bezw. 
426  608  Frcs.,  München  1 114792  Frcs.  bezw. 
234971  Frcs.,  Dresden  747  694  Frcs.  bezw. 
149  214  Frcs.,  Nürnberg  1 525  228  Frcs.  bezw. 
22398  Frc«. 

2)Einnahmen  aus  dem  Gewerbe- 
betriebe. Es  sind  namentlich  die  Gas- 
anstalten, die  Wasser-  und  die  Elektricitäts- 
werke,  welche  hier  in  Betracht  kommen. 
Es  gilt  allerdings  hier  das  gleiche,  was  man 
von  ähnlichen  Erwerbsanstalten  des  Staates, 
z.  B,  den  Verkehrsanstalten,  sagen  kann, 
sie  werden  nicht  ausscliiiesslich  oder  auch 
nur  vorwiegend  des  Gewinnes  willen  be- 
trieben, sondern  zumeist  deshalb,  weil  da- 
mit ein  öffentlicher  Zweck  erfüllt  wird ;  aber 
thatsächhch  werfen  sie  doch  so  bedeutende 
Einnahmen  ab,  dass  man  dieselben  kaum 
anders  denn  als  Erwerbseinkünfte  wird  auf- 
fassen können.  Die  Tendenz  geht  offen- 
kundig darauf  hin,  diese  früher  vielfach  der 
Privatindustrie  zur  Ausbeutung  überlassenen 
Unternehmungen  in  die  Hände  der  Gemein- 
den zu  übernehmen  und  mit  dem  öffent- 
lichen zugleich  auch  einem  finanziellen  Be- 
dürfnisse zu  dienen.  In  der  That  eignen 
sich  diese  Anstalten,  namentlich  nachdem 
nun  ihre  Technik  geordnet  und  die  Nach- 
frage nach  ihren  Leistungen  eine  ganz  all- 
gemeine geworden  ist,  auch  durchaus  für 
den  Selbstbetrieb  seitens  grösserer  Städte. 
Man  hat  mit  Kecht  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  der  Betrieb  dei'selben 
namentlich  auch  deshalb  für  die  Gemeinden 
geeignet  sei,  weil  er  grösstenteils  typisch 
und  reglementierfähig  sei,  weil  die  Be- 
schaffung des  Anlagekapitals  seitens  der 
Gemeinden  sich  häufig  leichter  bewirken 
lasse  als  seitens  Privater,  weil  die  Gemeinde 


122 


Gremeindefinanzeii 


Eigentümerin  des  Strassenkörpers  und  zahl- 
reicher Baulichkeiten  sei,  deren  Benutzung 
für  die  Ausführung  solcher  Anlagen  uner- 
lässlich,  weil  diese  Anstalten  häufig  die 
unentbehrliche  Grundlage  für  die  Erfüllung 
öffentlicher  Zwecke  (Wasserwerke  z.  B.  be- 
züglich des  Feuerlöschwesens)  bilden,  weil 
die  Vorzüge  eines  einheitlichen  Grossbe- 
triebes nur  auf  diese  Weise  vollkommen 
realisiert  imd  eine  die  Zwecke  schädigende 
monopolistische  Ausbeutung  des  Publikums 
seitens  einer  Privatunternehmung  so  ver- 
mieden werden  könne.  Die  thatsächlichen 
Verhältnisse  beweisen,  dass  eine  solche  Auf- 
fassung auch  in  der  Praxis  vorzuherrschen 
beginnt.  Von  den  44  gi'össten  in  Neefes 
Statist.  Jahrb.  D.  Städte  aufgenoiDmenen 
Städten  besassen  29,  also  zwei  Drittel, 
eigene  Gaswerke,  von  denen  die  grössten 
nach  der  Menge  des  erzeugten  Gases  die 
drei  städtischen  Anstalten  von  Berlin  waren 
mit  einer  Jahresproduktion  von  29,5,  29,3 
und  22,4  Millionen  cbm  Gas.  Auch  bezüg- 
lich anderer  ähnlic^her  Unternehmungen, 
namentlich  der  Tramway-  und  Sti-assenbahn- 
unternehmungen  fet  eine  gleiche  Ent^ücke- 
lung  nicht  ausgeschlossen.  Selbst  in  Eng- 
land, wo  der  Betrieb  solcher  Anstalten  durch 
die  städtischen  Korporationen  am  wenigsten 
verbreitet  ist,  begünstigt  die  Tramwayakte 
von  1870  die  Munizipalisienmg  des  Betriebes, 
der  seiner  Natur  nach  monopolistisch  ist, 
viel  Polizei  erfordert  und  bei  verhältnis- 
mässig geringem  Kapital  grosse  Gewinne 
abwirft 

Die  Eechnungsergebnisse  der  15  grössten 
deutschen  Städte  bezüglich  der  Gas-,  Wasser- 
\md  Elektricitätswerke  ergeben  1894  bezw. 
1894/95  nach  dem  Statist.  Jahrb.  D.  Städte 
VI,  S.  70  f.  und  276  ff.  folgendes  Büd: 

üeberschüsse  nach  Abzug  der  Auf- 
wendungen für  Öffentliche  Zwecke 

(in  K)00  Mark). 


Städte 


Berlin    .    .  . 

Hamburg    .  . 

München    .  . 

Leipzig .    .  . 

Breslau  .    .  . 

Dresden .    .  . 
Köln  .... 

Frankfurt  a.  M. 

Magdeburg  . 

Hannover   .  . 

Düsseldorf  .  . 

Königsberg  . 

Nürnberg   .  . 

Stuttgart   .  . 

Chemnitz    .  . 


2986 

535 
300 

348 
827 

138 
127 

82 

274 

379 
189 

328 

73 

— 

— 

5451 
1703 

887 

809 

737 
892 

866 

I  312 

458 

437 

413 
266 

238 

422 

322 


Dabei  ist  zu  bemerken,  dass  hier  nur 
die  Reingewinne  nach  Streichung  der  durch- 
laufenden Posten  etc.  luid  unter  der  An- 
nahme, dass  überall  die  Kosten  der  öffent- 
lichen Beleuchtung  von  dem  Gaswerk  zu 
tragen  sind,  Aufnahme  gefunden  haben. 

Auch  die  Einnahmen  aus  städtischen 
Markthallen,  Fleischbänken,  Schrannen  u.  dgl., 
die  in  den  Etats  einzelner  Städte  in  ziem- 
licher Höhe  erecheinen,  dürften  wohl  hier- 
her zu  rechnen  sein. 

14.  Gebühren  und  Beiträge.    Der  Be- 
griff   der    Gemeindegebühren    im 
engeren    Sinne    unterscheidet    sich    in 
nichts  von  dem  der  Staatsgebühren.    Auch 
hier  werden  wir  als  Gebühren  solclie  Ab- 
gaben   bezeichnen,   welche  als  Entgelt   für 
specieile  Leistungen   und  Handlungen  von 
Behörden  erhoben  werden,  die  vom  Gesetz 
einseitig  festgestellt  und  von  denjenigen  zu 
entrichten  sind,  welche  die  Leistung  oder 
Handlung  veranlasst  haben.   Der  Grund  dor 
Gebühren  liegt  in  der  Thatsache,  dass  ge- 
wisse Einrichtungen  der  Gemeinden  unbe- 
schadet ihres  öffentlichen  und  allgemeineri 
Charakters  doch  von  bestimmten  Personen 
benutzt  werden.    Während  daher  die  Her- 
stellung solcher  Anstalten  unzweifelhaft  von 
der   Gesamtheit,   also   durch   Steuern,    be- 
stritten werden  muss,  werden  die  diwch  die 
einzelnen  Handlungen  verursachten  Kosten, 
die  laufondon  Kosten,  passenderweise   ent- 
weder ganz  oder  teilweise  durch  besondere 
Abgaben,  d.  h.  durch  Gebühren,   gedeckt. 
Die  lebhaften  Wechselbeziehungen  und  das 
innigeit)  imd  fassbarere  Verhältnis  zwischen 
Ijeistungen  der  Verwaltung  und  Vorteilen 
und  Interessen  der  einzelnen  auf  dem  (Je- 
biete  des  Gemeindelebens  rechtfertigt  hier 
ebenso  eine  breite  Anwendung  des  Gebühren- 
wesens, wie  der  Mangel  solcher  Beziehunpren 
die  geringe  Anwendung  derselben  in    der 
Finanzwirtschaft     der     Kommunal  verbände 
höherer  Ordnung  erklärt. 

Fassen  wir  zunächst  nur  diese  Gebüliren 
im  engeren  Sinne  ins  Auge,  so  finden  wir 
solche    namentlich    auf   dem    Gebiete    dor 
Rechtspflege,    der   Polizeiverwaltung,     des 
Unterrichtswesens,  auch  auf  einigen  Gebieten 
der  inneren  Verwaltung.    Auf  dem  Gebiete 
der  Rechtspflege  nenne  ich  Gebühren    für 
Aufnahme   und   Entlassung   aus    dem    Oe- 
meindeverbande,  für  Erteilung  des  Bürgt^r- 
rechts,  für  Eintragung  etc.  in  das  Grund- 
buch, insofern  die  Gemeinde  mit  der  Führiing 
derselben  betraut  ist  (Baden),  Gebühren  für 
Beglaubigungen    und    Beurkundungen ,     für 
Handhabung  des  Civilstandswesens ;  auf  dem 
Gebiete    der  Polizeiverwaltung    namentlieh 
Gebühren  für  Erlaubniserteilungen  und  Kon- 
zessionen, dann  für  Benutzung  der  öffent- 
lichen Mass-  und  Wägeanstalten,  Gebühren 
im  Beertügungs-  und  Friedhofswesen;    auf 


Gremeindeünanzen 


123 


dem    Gebiete      der    ünterrichtsverwaltting 
namentlich  die  Schulgelder,  die  trotz  ihrer 
abnehmenden   Bedeutung  doch  auch  heute 
noch,  wie  die  oben  bezüglich  der  Ausgaben 
und  Einnahmen  im  ünterrichtswesen  mit- 
geteilten   Zahlen   beweisen,    einen   grossen 
Teil  der  Schidverwaltung  decken;  auf  dem 
Oebiete  der  Verwaltung  des  Innern  die  da 
und  dort  noch  in  grosser  Ausdehnung  vor- 
kommenden Wege-  und  Brückengelder,  dann 
Gebühren  für  Besorgung  der  Kehrichtabfuhr, 
der    Strassenbesprengung     und    -reinigimg 
seitens  städtischer  Arbeiter. 

Neben  diesen  Gebühren  im  engeren 
Sinne  kommen  nun  Abgaben  an  die  Ge- 
meinde vor,  von  den  neueren  Schriftstellern 
Beiträge  genannt,  die  in  vielen  Punkten 
Aehnüchkeit  mit  denselben  haben,  sich  aber 
darin  von  ihnen  unterscheiden,  dass  sie  zum 
ersten  ausschliesslich  auf  dem  wirtschaftlichen 
Gebiete  vorkommen,  dass  sie  zweitens  ihre 
Begründung  in  den  Vorteilen  finden,  welche 
durch  die  betreffenden  Gemeindeanlagen  für 
gewisse  Örtlich  abgegrenzte  Gruppen  von 
Grundstücken  entstehen,  nicht  selten  aber 
lediglich  in  der  Thatsache  des  Besitzes  eines 
Grundstückes  oder  Gebäudes,  dass  sie  drittens 
sehr  häufig  nur  in  einmaligen  Leistungen 
bestehen.  Wir  meinen  damit  die  Aufwen- 
dungen, welche  Haus-  und  Grundeigentümer 
für  Herstellung  und  Unterhaltung  der  öffent- 
hchen  Verkehrswege :  der  Strassen,  Trottoira, 
Plätze,  Kais,  Kanäle,  für  Beleuchtungs-,  Ent- 
und  Bewässerungsanlagen  zu  machen  haben. 
Die  Stadt  Berlin  hat  beispielsweise  für 
Pflasterungsmaterial  im  Jahre  1888  89 
1 35^3  356  Mark  eingenommen.  Gegenüber 
der  üblichen  Befürwortimg  dieser  Beiträge 
mag  aber  doch  daran  erinnert  werden,  dass 
das  Princip,  die  Kosten  der  Trottoirisierung, 
Strassenpüasterung,  Kanalisierung  ganz  oder 
zum  grossen  Teil  den  Adjazenten  aufzulegen, 
auch  nicht  übertrieben  werden  darf;  denn 
es  kann  nicht  in  Abrede  gestellt  werden, 
dass  an  den  Vorteilen  solcher  Einrichtungen 
nicht  nur  die  Besitzer  der  betreffenden 
Häuser  und  Grundstücke,  sondern  alle  Be- 
wohner participieren. 

15.  Die  Gemeindesteuern  im  allge- 
meinen.  Wir  haben  oben  bereits  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dass  mit  der  Zimahme 
der  Aufgaben  der  Gemeinden  die  alten  Ein- 
nahmequellen, namentlich  die  Erträgnisse 
des  rentierenden  Gemeindevermögens,  nicht 
gleichen  Schritt  zu  halten  vermochten.  Für 
eine  umfangreichere  Anwendung  des  Ge- 
bührenwesens fehlen  vielfach  die  Voraus- 
setzungen, so  dass  auch  dieses  der  gewünsch- 
ten Entwickelungsfähigkeit  ermangelt.  Des- 
halb griff  man  allenthalben  und  zum  Teil 
schon  fnihzeitig  zur  Besteuerung.  Wir  ver- 
stehen dabei  unter  Gemeindesteueni ,  ent- 
sprechend dem  Begriff  der  Steuer  überhaupt, 


Zwangsbeiträge,  welche  von  den  Gemeinden 
und  Kommunalverbänden  zur  Deckung  ihrer 
Ausgaben  nach  einem  generellen  Massstabe 
erhoben  werden.  Ohne  das  Mittel  der  Steuer- 
erhebung w^ären  weitaus  die  meisten  Ge- 
meinden nicht  in  der  Lage,  ihre  Aufgaben 
zu  erfüllen.  Die  gerade  in  diesem  Jahr- 
hundert und  wieder  besonders  in  den  letzten 
Jahrzehnten  zunehmenden  Ausgaben  für 
Polizei,  Armen-,  Schul-  und  Wegewesen, 
die,  weil  im  Interesse  des  staatüchen  Ge- 
meindelebens begründet,  für  Stadt  und  Land 
obligatorisch  wiu'den,  dann  die  Ausgaben 
für  Gesimdheits-  und  Annehmüchkeitszwecke 
haben  dazu  beigetragen,  dass  die  Steuern 
eine  wohl  noch  zunehmende  Bedeutung  er- 
langt haben. 

Wenn  nun  im  allgemeinen  in  Bezug  auf 
Begriff,  wirtschaftliche  Natur,  Terminologie 
etc.  kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
der  Staats-  und  der  Gemeindebesteuerung 
besteht,  so  ergiebt  sich  allerdings  ein  wesent- 
hcher  Unterschied  bezüglich  des  Steuer- 
empfängei-s.  Während  der  Staat  als  Steuer- 
herr die  Verhältnisse  der  Besteuerung  auto- 
nom regelt  und  keine  anderen  Beschränkungen 
zu  berücksichtigen  braucht  als  jene,  welche 
in  der  Rücksichtnahme  auf  die  Erhaltung 
dauernder  Leistungsfähigkeit  seiner  Unter- 
thanen  gelegen  sind,  ist  das  Besteuerung- 
recht  der  Gemeinden  sachlich  und  räumhch 
beschränkt.  Es  ist  sachlich  beschränkt, 
weil  das  Herrschaftsrecht  der  Gemeinde  ein 
beschränktes  ist ;  denn  die  Gemeinde  ist  dem 
Staate  untergeordnet.  Das  äussert  sich,  wie 
schon  wiederholt  betont  wurde,  vor  allem 
in  dem  Einfluss,  den  der  Staat  wie  auf  die 
Einanzwirtschaft  der  Gemeinden  überhaupt, 
so  besonders  auch  in  Bezug  auf  die  Ge- 
meindebesteuerung sich  vorbehält.  Das  Ge- 
meindesteuerwesen hat,  um  dem  Steuer- 
wesen des  Staates  keine  schädliche  Kon- 
kurrenz zu  bereiten,  sich  dem  System  der 
Staatssteuern  ein-  und  anzufügen,  es  ist 
durch  das  letztere  bedingt  und  je  nach  den 
die  Gesetzgebungen  beherrschenden  Ten- 
denzen mehr  oder  weniger  von  diesem  ab- 
hängig. Dieser  Zustand  der  Unterordnung 
des  Gemeinde-  unter  das  Staatssteuerwesen 
tritt  da  am  klarsten  zu  Tage,  wo  die  Ge- 
meinden und  Kommunalverbände  ihren 
Steuerbedarf  nicht  durch  Erhebung  eigener 
Steuern,  sondern  nur  diuxjh  Erhebung  von 
Zuschlägen  zu  Staatssteuern  ausüben.  Es 
ist  ferner  räumlich  beschränkt,  d.  h.  es 
umfasst  ein  kleuies  Territorium  und  eine 
beschränkte  Anzahl  von  Personen.  «Es  kann 
infolgedessen  der  Zusammenhang  zwischen 
den  Aufgaben  und  der  Mitlelbeschaffung, 
welcher  bei  dem  grösseren  Ganzen  des 
Staates  sich  leicht  verwischt,  in  mancherlei 
Abstufimgen  und  Richtungen  aufrecht  er- 
halten   werden.     Man    kann   deshalb   auch 


124 


Gemeindefinan  zen 


sagen,  dass  im  Gemeindesteuerwesen  die 
Besteuerung  im  Yerhältnis  zu  den  Interessen 
und  Vorteilen,  die  der  einzelne  vom  Ge- 
meindewesen bezieht,  in  grösserem  um- 
fange als  berechtigt  erscheint,  während  im 
Staatssteuerwesen  das  Princip  der  Be- 
steuerung nach  der  Leistungsfähigkeit  fast 
aussclüiessliche  Herrschaft  verdient. 

16.  Vergleichniigdes  Gemeindesteuer- 
Wesens  in  England,  Frankreich,  Deutsch- 
land nnd  Oesterreich.  Bevor  auf  die  wich- 
tigeren Erscheinungsformen  der  Gemeinde- 
steuern eingegangen  wird,  mag  es  angezeigt  er- 
scheinen, die  charakteristischen  Unterechiede 
im  SteuePÄ'esen  der  wichtigsten  Staaten 
hervorzuheben.  Zwei  Länder  stehen  in 
dieser  Beziehung  in  besonderem  Gegensatz 
zu  einander:  England  imd  Frankreich. 
Doli;  ein  Gemeindesteuerwesen,  das  mit  dem 
staatlichen  in  nichts  zusammenhängt,  hier 
ein  Steuerweseo,  das  in  erster  Linie  auf 
dem  des  Staates  aufgebaut  ist. 

I)  In  England  beruht  das  Steuerwesen 
der  Gemeinden  durchaus  auf  selbständiger 
Grundlage ;  das  Vorbild  hat  die  Ai-men  Steuer 
nach  dem  Armengesetz  der  Königin  Elisabeth 
von  1601  gebildet,  wonach  der  Ei-trag  von 
Land,  Häusern,  Zehnten,  Kohlengruben  und 
verkäuflichem  Niedei-wald  der  Steuer  imtor- 
lag.  Durch  die  Rating  Act  von  1874  ist 
auch  der  Eintrag  von  Hochwald  und  anderen 
als  Kohlenbergwerken  der  Steuer  unter- 
worfen worden.  Demnach  lastet  die  Kom- 
munalbesteuerung fast  ausschliesslich  auf 
dem  Ertrag  von  Immobilien.  SteuerqueUe 
ist  der  Reinerti'ag  der  fraglichen  Immobilien, 
nach  welchem  der  aufzubringende  Jahres- 
bedarf, ohne  Unterscheidung  der  Quellen, 
nach  gleichem  Verhältnis  umgelegt  wird. 
Steuerpflichtig  ist  an  sich  der  Benutzer  der 
Immobilien,  bei  kleineren  Wohnungen  der 
Yennicter,  der  dann  nur  mit  einem  geringeren 
Mietsertrag  angelegt  wird.  Die  Veranlagung 
der  Armensteuer  und  der  auf  der  gleichen 
Grundlage  erhobenen  anderen  Steuern  er- 
folgt innerhalb  der  unions  durch  die  Armen- 
behörden.  Nur  vereinzelt  kommen  Ver- 
brauchssteuern, so  in  der  City  von  London 
eine  Auflage  auf  Wein,  vor.  Nach  v. 
Reitzenstein  (Trildinger)  belief  sich  der  Ge- 
samtertrag aller  im  Finanzjahr  1893/ 94  er- 
hobenen Lokalsteuern  in  England  und  Wales 
auf  33  222  893  £,  welcher  sich  auf  23  ver- 
schiedene Kategorieen  von  Behörden  bezw. 
Korporationen  verteilte.  Die  erheblichsten 
Anteile  entfielen  auf  die  städtischen  Ge- 
sundheitsbezirke mit  8  793  108,  die  Armen- 
behörden mit  8160  588,  die  Schiüverwal- 
tungon  mit  3  619  168  und  die  Grafschafts- 
verwaltungen mit  2  289  265  £.  Alle  diese 
Ijokalsteuern  werden,  wie  erwähnt,  nach 
dem  bei  der  Armensteuer  geltenden  Princip 
erhoben,    jedoch    bedingen   die   besonderen 


Zwecke,  für  welche  die  Steuern  l>estimmt 
sind,  manche  Abweichungen  sowohl  bezüg- 
lich der  steuerpflichtigen  Objekte  wie  be- 
züglich    der    zur    Erhebung    gelangenden 
Quoten.      So    werden    zu    den    speciellen 
städtischen  Steuern,  ferner  zu  Beleuchtunj^s- 
und  Wacht-,  zur  Museums-  und  Bibhotheks- 
steuer,  zur  Wasserversorgungs-,  zur  haupt- 
städtischen   Kanalisationssteuer    das   unbe- 
baute Grundeigentum  sowie  Zehuten  nur  mit 
einem   Viertel   des  Ertrages   herangezogen, 
weil  es  bei  den  bezüglichen  Ausgaben  in 
sehr  viel  geringercm  Grade  interessiert  ist 
Die  Kommunalbesteuerung  Englands  ist  dem- 
nach    im     wesentlichen    eine    Einheitsbe- 
steuerung.    Sie   bietet  als  solche  zwar  in 
formeller    und    administrativer    Beziehung 
manche  Vorteile,  erweckt  aber  in  materieller 
Beziehung  schwere  Bedenken ;  denn  bei  der 
heute  üblichen  Gemeindebesteuerung  ruhen 
die  Ijasten,  die  ursprünglich  als  Belastung 
der  Eigentümer  landwirtschaftlich  genutzter 
Grundstücke  gedacht  waren,  auf  dem  Nutzer 
von  Immobilien,  der  mit  dem  Eigentümer 
in   weitaus   der   Mehrzahl   der  Fälle  nicht 
mehr  zusammenfällt ;  ausserdem  ist  das  l>e- 
wegliche  Vermögen,  das  doch  an  der  Er- 
füllung   der    kommunalen    Aufgaben    auch 
grosses  Interesse  hat^  fast  gänzlich  befreit. 
Die   englische   Gemeindebesteuerung  leidet 
an  einer  starken  Einseitigkeit,  die,  je  höher 
die  Steuern  gewoi-den  sind,  umso  drückender 
sich  fühlbar  macht.    Deshalb  hat  man,  um 
den  Steuerdnick  zu  ermässigen,  in  neuerer 
Zeit  die  Erträge  ganzer  Staatssteuern  oder 
Anteile   daran   der   Lokalverwaltung   über- 
lassen.   Davon  soU  weiter  unten  noch  die 
Rede  sein. 

II)  Ein  ganz  anderes  Bild  zeigt  das 
kommunale  Steuer wesen  in  Frankreich. 
Die  Politik  und  Gesetzgebung  der  grossen 
Revolution  mit  der  Tendenz,  einerseits  nir)g- 
lichst  nur  direkte  Stcmem  zuzulassen,  an- 
dererseits die  Autonomie  der  Gemeinden 
und  der  sonstigen  öffentlichen  Körper  nacli 
Mögliclikeit  zu  beschränken,  führte  dazu,  die 
Gemeinden  und  demnächst  die  Departements 
aUein  auf  Zuschläge  (Centimes  additionelles 
zu  den  direkten  Staatssteuern  anzuweisei 
imd  selbständige  Kommunalsteuern  auszu 
schliessen.  Die  Erfahrung,  dass  diese  Zu 
schlage  für  die  Bedürfnisse  der  städtischer 
Gemeinden,  namentlich  der  grösseren  unte 
denselben,  nicht  genügten,  nötigte  jedocl 
scihon  1798  ff.  das  Direktorium,  den  bereit 
früher  vorhandenen  Octroi,  wenn  auch  ii 
neuer,  einheitlich  geregelter  Form,  wiede 
zuzulassen,  unter  dem  ersten  Kaiserreicl 
verbreiteten  sich  die  Octrois  in  fast  allo 
etwas  bedeutenderen  Stadtgemeinden,  abt^ 
auch  in  vielen  kleineren  Gemeinden  uii 
bildeten  in  der  Folgezeit  eine  feste  Institn 
tion  der  Kommunalbesteuerung.    Auf  (liest 


Gemeindefinan  zen 


125 


Grundlage  steht  in  der  Hauptsache  noch 
heute  die  kommuDale  Steuerwirtschaft  Fi-ank- 
reichs;  die  daneben  vorkommenden  Anteile 
an  der  Jagdscheinsteuer  (10  Francs  pro 
Jagdschein),  an  der  Wagen-  und  Pferde- 
Bteuer  (5"/o),  der  Yelocipedsteuer  (25^/0)  und 
(he  Hundesteuer  fallen  finanziell  nicht  er- 
heblich ins  Gewicht. 

Was dieZuschläge  zu  den  direkten 
S  t  a  a  t  s  s  t  e  u  e  r  n ,  die  Centimes  additionolles, 
betrifft,  so  werden  dieselben  von  den  sämt- 
lichen  vier  direkten  Steuern:  der  Grund-, 
der  Thür-  und  Fenster-,  der  Personal-  imd 
Mobiliarsteuer    \md    der    Patent-(Gewerbe-) 
Steuer  erhoben.   Yon  den  Zuschlägen  treffen 
einzelne   nur   eine   oder  mehrere  der  vier 
Staatssteuem,  die  Mehrzahl  wird  von  sflmt- 
hchen   vier   Steuern  erhoben.     Es   werden 
oi-dentlicho  und  ausserordentliche  Centimes 
unterschieden,  femer  allgemeine  und  Spe- 
cialcentimes,  von   denen  die  letzteren  die 
Katur  von  Zwecksteuem   haben.    Die  Yo- 
tienmg  der  Centimes  erfolgt  durch  die  Ge- 
meinderäte bezw.  die  Generalräte  der   De- 
mrtements,    die   jedoch  rücksichtlich   ihrer 
Beschlüsse  an  bestimmte  Maxima  gebiuiden 
äud.    Eine  solche  Limitierung  ist  durchaus 
nötig,  lim  zu  verhindern,  dass  die  Leistungs- 
fähigkeit  der  Steuerzahler  in  einer  für  die 
ErfüDiing  der  Staatsaufgaben  bedenklichen 
Weise  in  Anspruch  genommen  werde.    Sie 
ist  teils  eine  feste,  d.  h.  durch  Gesetz  ein 
für  alle  Mal  geregelte,  teUs  eine  veränder- 
liche.   Das  erstere  ist  der  Fall  hinsichtlich 
der  Special- Wege-Centimes :    das  Maximum 
der  ordentlichen  Wege-Centimes  ist  für  die 
Gemeinden  auf  5,  für  die  Departements  auf 
7,  das  der  ausserordentlichen  Wege-Centimes 
für  die  Gemeinden  auf  3  festgesetzt.    Ein 
Maximum  von  10,  in  gewissen  Fällen  von 
20  Centimes  besteht  für  Zuschläge,  die  den 
Gemeinden     bei     verweigerter     Besclüuss- 
fassung   zur  Deckung   obligatorischer   Aus- 

Sben  auferlegt  werden.  Die  veränderliche 
mitienmg  gi-eift  in  der  Weise  Platz,  dass 
das  Maximum  jährlich  innerhalb  der  durch 
das  Finanzgesetz  geregelten  Grenze  durch 
die  GeneraLräte  festgelegt  wird.  Dieses 
Maximum,  innerhalb  dessen  die  Generalräte 
der  Departements  den  Höchstbetrag  der 
ausseroraentlichen  Gemeindezuschläge  be- 
stimmen können,  beträgt  zur  Zeit  20  Cen- 
times. Zur  Deckung  der  ordentlichen  Aus- 
gaben werden  in  aUen  Gemeinden  5  ordent- 
liche Zuschlagscentimes  von  der  Grund-  und 
Mobiliarsteuer  und,  soweit  deren  Erträgnis 
nicht  ausreicht,  weitere  Zuschlagcentimes 
von  allen  vier  Steuern  erhoben. 

Was  die  Departements  anlan^,  so  be- 
tragt das  Maximum  der  ordentlichen  Zu- 
schlagcentimes 25  auf  die  Grund-  und  die 
Personal-Mobiliarsteuer  und  1  auf  alle  Steuern, 


12  für  die  aussercrdentlichen  Zuschläge  auf 
alle  ner  Steuern. 

Die  zweite  wesentliche  Steuenjuelle  der 
Gemeinden,  namentlich  der  städtischen,  in 
Frankreich  ist  der  Octroi.  Er  besteht  zur 
Zeit  in  über  1500  Gemeinden  und  bildet  in 
den  Grossstädten,  insbesondere  in  Paris,  die 
weitaus  wichtigste  Steuer.  Die  Octroiartikel 
bilden  6  Klassen:  Getränke  und  Flüssig- 
keiten (Wein,  Branntwein,  Bier,  Essig, 
Limonaden,  nicht  mineralische  Oele  u.  s.  w.), 
dann  Esswaren  (Fleisch ,  Delikatessen^ 
Früchte,  Käse),  Brenn-  und  Beleuchtungs- 
stoffe, trockenes  Yiehfutter,  Baumatenal, 
verschiedene  andere  Objekte. 

Aus  der  Statistik  des  französischen 
Kommunal  Wesens  mögen  folgende  Zahlen 
Platz  finden. 

Der  Gesamtertrag  der  vier  grossen 
direkten  Steuern  verteilte  sich  (nach  Leroy- 
Beaidieu  a.  a.  0.  I,  787)  auf  Staat,  Departe- 
ments und  Gemeinden  wie  folgt 


Erträgnis  in  Francs 


des  Staates 

1838  293  037  ICK) 

1847  299  248  327 

1852  277  349  072 

1860  303812989 

1870  344573586 

1885  405  771  831 


der  De- 
partements 

60607  541 

76  883  782 

84471  251 

102  537  541 

135793063 

174206993 


der 
Gemeinden 

32  873  600 

46  489  335 
51  240827 

73  575  809 
104  777  856 

175  525  869 


Es  hahen  demnach  von  1838 — 1885,  also 
in  47  Jahren  die  Erträguisse  der  direkten 
Steuern  für  den  Staat  um  ungefähr  40  ^/o, 
die  der  Departements  um  191  ®/o,  die  der 
Kommunen  um  430  ^/o  zugenommen,  während 
das  Gesamterträgnis  um  ungefähr  96  %  sich 
erhöht  hat.  Nach  dem  Budget  von  1898 
haben  sich  inzwischen  die  Erträgnisse  für 
den  Staat  auf  471128  316  Francs,  für  die 
Kommunalkörper  auf  383  039  686  erhöht. 
Nach  diesem  Budget  stellt  sich  der  AnteU 
des  Staates  bei  der  Grundsteuer  auf 
190  638  038,  der  der  Kommunalkörper  auf 
205  371983  Francs,  bei  der  Personal-  und 
Mobiliarsteuer  auf  93  273 138  bezw.  75  094  065, 
bei  der  Thür-  und  Fenstersteuer  auf  59  717 140 
bezw'.  34  781523,  bei  der  Patentsteuer  auf 
127  V2  Millionen  bezw.  67  792115  Francs. 
Dabei  haben  die  Steuereinnahmen  der  De- 
partements etwas  abgenommen  (sie  betrugen 
1893  beispielsweise  171  228  815  Francs),  was 
mit  der  Aenderung  der  Finanzgesetzgebuog 
für  den  Primäninterricht  und  der  dadurch 
bewirkten  Entlastung  der  Departements  zu- 
sammenhängt, die  Steigerung  der  Ausgaben 
entfällt  also  ganz  auf  die  Gemeinden. 

üeber  Verbreitung,  Roh-  und  Reinertrag 
der  Octrois  und  die  Grösse  der  Belastung 
auf  den  Kopf  der  Bevölkening  unterrichtet 
die  folgende  TabeUe  (a.  a.  0.  I  S.  803). 


126 


Gemeindefinanzen 


Zahl  der 

Ertraer 

Er- 

Belastunff 
pro  Kopf 

M 

rd 

Gemein- 

d. Octrois 

hebungs- 

08 

den  mit 

kosten 

Octroi 

1000  Fr. 

1000  Fr. 

Fr. 

1823 

1434 

44674 

17  197 

10,32 

1833 

1448 

59693 

6244 

10,46 

1843 

M57 

70671 

12418 

11,40 

1863 

1435 

86764 

9699 

13,05 

18G2 

1  510 

143  341 

14098 

16,43 

1871 

I  510 

140  016 

16  571 

15,05 

1879 

1546 

244125 

21949 

24,43 

1887 

1525 

258  027 

24685 

22,97 

1896 

1513 

296  857 

29286 

25,27 

Die  am  Fusse  dieser  Seite  stehende  Ta- 
belle nach  dem  Bulletin  de  Statistique  (Mai 
1898)  zeigt  die  Verteilung  der  Octrois  auf 
die  einzelnen  Kategorieen  der  aufschlags- 
pflichtigen  Waren  in  Paris  und  den  anderen 
Gemeinden  für  1896  (in  Francs). 

Der  Ertrag  der  Octrois  mit  zusammen 
nmd  826  Millionen  Francs  ist  demnach  er- 
heblich grösser  als  der  Ertrag  der  zu  Gunsten 
der  Lokalgemeinden  erhobenen  Zuschläg'e  zu 
den  direkten  Steuern.  In  Paris,  wo  die 
Octrois  155,7  Millionen  Francs  ergaben, 
staute  sich  (1895)  das  Erträgnis  der  De- 
partements- und  Kommunalzuschläge  bei  der 

auf  Fr. 

43  739  299 
13684  195 

26  222  492 

52182533 


Grundsteuer 

Thür-  und  Fenstersteuer 

Personal-Mobiliarsteuer 

Patentsteuer 


bisher    ohne   praktischen   Erfolg    geblieben 
sind. 

III)  In  dem  Kommunalsteuerwesen 
Deutschlands  finden  sich  sowohl  Zu- 
schläge wie  selbständige  Steuern  und  beides 
sowohl  auf  dem  Gebiete  der  direkten  wie  der 
indirekten  Besteuerung. 

a)  Die  Kommunalverbände  höhe- 
rer Ordnung  decken  ilir  Steuerbedürfnis, 
sofern  sie  nicht  ihr  Besteuerungsrecht  nur 
mittelbar  durch  die  Ortsgemeinden  und 
Kommunalverbände  niederer  Ordnung  aus- 
üben, fast  ausschliesslich  durch  Zuscliläge 
zu  den  direkten  Staatssteuera,  In  Pi*eusson 
weisen  die  ordentlichen  Solleinnahmen  clor 
höheren  Kommunal  verbände,  ausschliesslich 
der  eigenen  Einnahmen  aus  dem  Landarnien- 
und  Korrigenden-  sowie  dem  Irren-,  Taub- 
stummen- und  Blindenwesen,  für  1897  98 
(nach  dem  Statist.  Handbuch  f.  den  preuss. 
Staat,  1898)  folgende  Ziffern  auf: 


zusammen  auf  135  828  521  Francs.  Die 
hohe  Belastung  der  Bevölkenmg  durch  den 
Octroi  —  ffir  eine  Familie  mit  4  Personen 
durchschnittlich  260  Francs,  davon  der 
grösste  Teil  von  Verzehrungsgegenständen 
—  hat  zu  einer  Reihe  von  Bestrebungen 
zur  Beseitigung  derselben  geführt,  die  aber 


Kommunal- 
verbände 

Dota- 
tionen 
M. 

Umlagen 
M. 

Sonst.  Ein- 
nahmen 
M. 

Ostpreussen  .    . 

2  873  640 

1  098  000 

477  360 

Westpreussen    . 

I  851  601 

I  148037 

149852 

Brandenburg     . 

2  897  072 

2  170000 

1415  158 

Pommern      .    . 

2  120  198 

1  143  001 

380  448 

Posen  .... 

2069  115 

I  478710 

I  137900 

Schlesien  .    .    . 

4149947 

2  750  000 

845  853 

Sachsen    .    .    . 

3  123629 

2014000 

627  489 

Schlesw.-Holst.  . 

1  820  539 

1  065  000 

409  262 

Hannover .    .    . 

4  131  559 

2  279  570 

494  791 

Westfalen     .    . 

3  246  397 

I  663000 

458  203 

Hessen-Nassau  . 

a)  Cassel   .    . 

I  286  513 

*  406  735 

b)  Wiesbaden 

I  416  945 

266000 

535  755 

Rheinland     .    . 

4  176832 

4  730  000 

I  169  921 

Hohenzollem     . 

162553 

68844 

Summe 

35  326  683 

21  805  318 

9577571 

Steuerpflichtige  Gegenstände 


Rohertrag 


Paris 


die  anderen 
Gemeinden 


Mittlere  Belastung 
auf  den  Kopf 


Paris 


die  ande- 
ren Ge- 
meinden 


Wein 

Cider  und  Obstwein     .    .    . 

Bier 

Alkohol  

Nicht  mineralische  Gele   .    . 
Andere  Flüssigkeiten  .    .    . 

Fleischwaren 

Andere  Nahrungsgegenstände 

Brennstoffe 

Viehfutter 

Baumaterialien 

Verschiedene  Gegenstände   . 
Nebeneinnahmen 


51  402084 

710061 

3  723  230 

15044407 

3  846  738 

841  826 

18  160336 

16  805  149 

22823315 

6015544 

13711056 

2077  139 

520  538 


29  926  804 

3  123  346 
13709289 

15374062 

561  374 

1  407  542 

37417044 
17  183907 
19457286 
11  808718 
18059  760 

2  135042 
298  154 


21,54 
0,29 

1,56 
6,30 
1,61 

0,35 
7,61 

7,05 
9,56 
2,56 

5,74 
0,86 
0,21 


2,84 

0,29 
1.36 

1,46 

0,05 

0,13 

3,55 
1,63 

1,84 

1,12 

0,20 
0J03 


Summe     155681428      170462328    |    65,24 


16,21 


Gemeindefinanzeii 


127 


In  Bayern  haben  die  Kreisgemeinden 
das  Recht  zur  Erhebung  von  direkten  Steuern, 
den  sogenannten  Kreisumlagen,  in  Form  von 
Zuschlägen  zu  den  fünf  staatlichen  Ertrags- 
ßteuern.  Steuerpflichtig  ist  jeder,  der  im 
Regierungsbezirke  mit  direkten  Steuern  an- 
gelegt ist.  Die  Kreiseinnahmen  betnigen  im 
ganzen  Königreich  (nach  dem  statistischen 
Jahrbuch  für  das  Königreich  Bayern  1898) 
für  das  Jahr  1898  14100586  Mark;  davon 
entfielen  9823143  Mark  auf  die  Kreisum- 
lagen, 3  295  878  Mark  auf  Zuschüsse  aus  der 
Staatskasse  (davon  3  246  229  Mark  für  deut- 
sche Schulen)  und  981 565  Mark  auf  sonstige 
Einnahmen.  Im  Jahre  1889  hatten  die 
Kreiseinnahmen  10849715  Mark  betragen; 
sie  sind  demnach  in  10  Jahren  um  3,3  Mil- 
lionen in  die  Höhe  gegangen.  Die  Kreis- 
umlagen hatten 

1889    7270071  =  25,6^/0  der  Staatssteuer 
1893    8  929  002  =  28,6  „     „  „ 

1898    9  823  143  =  29,4  „     n  n 

ertragen,  sind  also  in  dereelben  Zeit  um 
nahezu  4®/o  gestiegen.  Das  Besteuenmgs- 
recht  der  Distriktsgemeinden  beruht  auf 
denselben  Rechtsverhältnissen  wie  das  der 
Kreisgemeinden,  doch  ist  die  Einkommen- 
steuer nur  bei  jenen  Umlagen  mit  heranzu- 
ziehen, welche  für  Zwecke  der  Distrikts- 
armenpflege erhoben  werden.  Die  Einnah- 
men der  bayerischen  Distriktsgemeinden  be- 
trugen 1889  8  412  502  Mark,  davon  4781692 
Mark  aus  Umlagen,  1898  10546781  Mark, 
wovon  6003807  aus  Umlagen.  In  Prozent 
des  Staatssteuersolls  betrugen  diese  Umlagen 
1889  24,5,  1898  28,9  0/0 ,  so  dass  bei  den 
Distrikten  eine  ganz  ähnliche  Zunahme  der 
Umlagen  und  des  Umlagensatzes  wie  bei 
den  Kreisen  erfolgt  ist. 

In  Baden  betrugen  die  Einnahmen  der 
Kreisverbände  im  Diu-chschnitt  der  Jahre 
1885/94  2665045  Mark,  1894  3073028 
Mark,  davon  1 452  382  aus  Umlagen,  960  000 
Mark  aus  Staatsbeiträgen,  527378  aus  dem 
Strassenwesen. 

b)  Was  die  Gemeinden  im  engeren 
Sinne  und  die  Specialgemeinden  anlangt, 
so  haben  auch  hier  die  Zuschläge  zu  den 
Staatssteuem  ein  ausgedehntes,  wenn  auch 
im  einzelnen  verschieden  geregeltes  Gebiet; 
neben  diesen  bestehen  jedoch  teils  selb- 
ständige direkte  Steuern,  teils  indirekte 
Steuern,  auch  diese  in  mannigfaltiger  Weise 
ausgebildet.  Bezüglich  der  Verbrauchsbe- 
ßteuerung  sind  alle  Gemeinden  im  Deutschen 
Reiche  den  Einschränkungen  unterworfen, 
welche  der  Zollvereinsvertrag  v.  8.  Juli  1867 
anfgestellt  hat  und  die  dahin  gehen,  dass 
Gemeinden  und  Korporationen  derartige 
Steuern,  sei  es  im  Wege  von  Zuschlägen, 
sei  es  im  Wege  selbständiger  Besteuerung 
nur  von  Gegenständen  örtlicher  Konsumtion 


(Bier,  Essig,  Malz,  Cider,  die  der  Mahl-  und 
Schlachtsteuer  unterliegenden  Erzeugnisse, 
Brennmaterialien,  Markt viktualien,  Fourage, 
in  W^einländern  Wein  und  da,  wo  1867  be- 
reits ein  Branntweinaufschlag  bestand,  auch 
der  Branntwein)  erheben  können  und  dass 
die  mit  einem  Einfuhrzoll  von  mehr  als  3 
Mark  für  den  Doppelcentner  belegten  aus- 
ländischen Erzeugnisse  von  inneren  Ver- 
brauchssteuern frei  zu  lassen  sind;  doch 
findet  die  letztere  Bestimmung  nach  Reichs-G. 
V.  27.  Mai  1885  keine  Anwendung  mehr  auf 
Mehl  und  Mehlfabrikate,  Backwaren,  Fleisch- 
waren und  Fett  sowie  auf  Bier  und  Brannt- 
wein. 

Ueber  das  Gemeindesteuerwesen  in 
Preussen  siehe  den  besonderen  Artikel 
Kommunalabgaben.  Hier  soU  nur  er- 
wähnt werden,  dass  diu-ch  die  in  den 
Jahren  1885,  1891  und  1893  erfolgte  Gesetz- 
gebung das  Kommunalsteuerwesen  in  dem 
Sinne  geregelt  w^orden  ist.  dass  den  Ge- 
meinden nicht  nur  die  direkten  staatlichen 
Realsteuern  (Grund-,  Gebäude-,  Gewerbe- 
steuer) ganz  überwiesen,  sondern  auch  die 
Einführung  neuer  besonderer  Gemeindereal- 
steuem  begünstigt,  dagegen  die  Erhebung 
von  Gemeindeeinkommensteuern  beschränkt 
wurde.  Zur  Deckung  des  Gemeindebedarfs 
soUen  neben  den  Gebühren  imd  Beiträgen 
die  Aufv\'and-  und  Verbrauchssteuern,  eine 
Bauplatzsteuer  und  eine  Betriebssteuer  be- 
nutzt und  nur,  soweit  deren  Erträgnis  nicht 
ausreicht.  Real-  und  Personalsteuern  er- 
hoben werden.  Zuschläge  zur  Staatseinkom- 
mensteuer sollen  in  der  Regel  nur  dann  er- 
hoben werden  dürfen,  wenn  auch  die  vom 
Staate  veranlagten  Bealsteuern  herangezogen 
werden.  Eine  stärkere  Heranziehung  der 
Realsteuern,  ja  eine  ausschliessliche  Benut- 
zung derselben  namentlich  auch  in  der  Form 
besonderer  kommunaler  Realsteuern  zur 
Deckung  des  Gemeindebedarfs  wird  seitens 
der  Gesetzgebung  begünstigt.  Obwohl  die 
Reformbewegung  noch  keineswegs  abge- 
sclüossen  ist,  zeigt  sich  die  Wirkung  des 
Kommunalabgabengesetzes  von  1893  schon 
heute  darin,  dass  die  Realsteuern,  welche 
früher  Vi  des  Finanzbedarfes  gedeckt  liatten, 
jetzt  mehr  als  Vs  decken,  während  die  Zu- 
schläge zur  Einkommensteuer  um  etwas 
melir  als  Vi  zurückgegangen  sind.  (Weitere 
Einzelheiten  siehe  in  dem  Artikel  Kom- 
munalabgaben.) Trotz  dieser  Bewegung 
bestehen  auch  noch  heute  grosse  Verschie- 
denheiten in  den  einzelnen,  namentlich  den 
städtischen  Gemeinden,  wie  aus  der  weiter 
unten  S.  144  mitgeteilten  Statistik  des 
Steuerwesens  deutscher  Städte  erhellt. 

Im  rechtsrheinischen  Bayern  beruht 
wie  das  Finanzrecht  der  Gemeinden  über- 
haupt, so  auch  ihr  Steuerrecht  auf  derüe- 
meindeordnimg  v.  29.  April  1869.    Danach 


128 


Gemeindefinanzen 


dürfen  Steuern  erhoben  werden,  soweit  die 
Erträgnisse  des  Gemeindevermogens  und 
der  öemeindeanstalten,  die  für  besondere 
Zwecke  vorhandenen  Stiftungen,  die  Zu- 
schüsse des  Staates  und  anderer  öffentlicher 
Kassen  sowie  die  auf  besonderen  Rcchts- 
titeln  beruhenden  Leistungen  Dritter  nicht 
hinreichen.  Die  zur  Erhebung  gelangenden 
Gemeindesteuern  sind  Zuschläge  zu  den 
staatlichen  Ertragssteuern,  die  »Gemeinde- 
umlagen«, Verbrauchssteuern  und  besondere 
örtliche  Abgaben.  Die  Yerbrauchssteuem 
sind  jedoch  in  doppelter  Beziehung  be- 
schränkt ;  sie  dürfen  sich  1.  mu*  auf  Fleisch, 
Getreide,  Mehl  und  deren  Produkte,  Wein, 
Wildpret,  Gänse,  Obst,  Kaffee,  Hafer,  Futter- 
melil,  Kochgerste,  Kraut  und  Hülsenfrüchte 
sowie  auf  Zuschläge  zum  Lokalmalz-  luid 
Bieraufschlag  beziehen,  und  2.  ist  die 
äusserste  Höhe  des  Fleisch-,  Getreide-  und 
Mehlaufschlages  und  die  Art  der  Rückver- 
gütung durch  Y.  v.  27.  November  1875  be- 
stimmt. Unter  den  besonderen  örtlichen 
Abgaben  kommt  namentlich  der  Pflasterzoll 
in  dem  Einnahmewesen  der  grösseren 
Städte  in  Betracht.  In  der  bayerischen 
Pfalz  besteht  neben  den  Zuschlägen  in  den 
grösseren  Städten  noch  eine  dem  französi- 
schen Octroi  nachgebildete  Verbrauchsbe- 
steuerung. Durch  G.  V.  15.  Juni  1898  ist 
den  Gemeinden  das  Recht  erteilt  worden, 
mit  Zustimmung  des  Ministeriums  des  In- 
nern eine  Besitzveränderungsabgabe  als  Zu- 
sclüagssteuer  zur  staatlichen  Besitzverände- 
rungsabgabe im  Höchstbetrage  von  Vi  der- 
selben zu  erheben.  Diese  Abgabe  ist  nach 
ministerieller  Erklärung  nur  als  ein  sub- 
sidiäres Deckungsmittel  gedacht,  also  niu* 
anwendbar,  wenn  aus  den  Vermögens-  und 


Belastimgsverhältnissen  sich  ein  Bedürfnis 
ergiebt.  Bei  Erlass  des  Gesetzes  ist  die 
Erwägung  massgebend  gewesen,  dass  die 
Vorteile  der  gemeindlichen  Einrichtungen, 
besonders  in  den  Städten,  dem  Immobiliar- 
besitz in  hohem  Masse  zu  gute  kommen  und 
dass  es  daher  billig  erscheine,  dass  von 
solchen  Liegenschaften  bei  Besitzverände- 
rungen auch  an  die  Gemeinde  eine  Abgabe 
entrichtet  werde.  Dagegen  ist  es  nicht  in 
der  Absicht  des  Gesetzes  gelegen,  den  land- 
wirtscliaftlichen  Besitz  zu  belasten.  Die 
Zahl  der  politischen  Gemeinden,  welche  die 
Genehmigung  zur  Erhebung  des  örtlichen 
Zuschlages  erhielten,  betnig  Ende  1898  be- 
reits über  100. 

Die  folgenden  statistischen  Uebersichten 
zeigen 

1.  die  Höhe  der  Gemeindeumlagen  über- 
haupt nach  Gemeindegruppen; 

2.  das  Verhältnis  der  Umlagen  zum 
Staatssteuersoll ; 

3.  die  Einnalimen  der  Gemeinden  aus 
den  Verbrauchssteuern ; 

4.  die  Höhe  der  Kopfbelastung  bei  den 
Gemeindeumlagen  und  den  Verbrauchs- 
steuern ; 

5.  den  Ertrag  der  Verbrauchssteuern  in 
den  7  grössten  Städten  des  rechtsrheinischen 
Bayern. 

Diese  Uebersichten  sind  nach  dem  sta- 
tistischen Jahrbuch  für  das  Kcmigreich 
Bayern,  1898,  S.  226 ff.  zusammengestellt; 
die  5.  Tabelle  ist  der  Arbeit  Kaufmanns 
Gemeindebesteuerung  imd  Massenkonsum  ir 
den  7  grössten  Städten  des  rechtsrheinischer 
Bayern  (Finanzarchiv,  1897,  S.  321  ff.),  ent 
nommen. 


I.  Gemeindenmlagen  von  1876—1896  nach  Gemeindegruppen. 


Jahr 


1876 
1881 
1886 
1891 
1896 


Unmittelbare  Städte 


Gesamtbetrag  der 


direkten 
Staats- 
steuer 


Gemeindenmlagen 


überhaupt 


%  d.Staats- 
8t«uer 


Mittelbare  Gemeinden 


Gesamtbetrag  der 


direkten 
Staats- 
steuer 


Gemeindeumlagen 


überhaupti"'«!«'??'» 


Königreich 


Gesamtbetrag  der 


direkten 
Staats- 
steuer 


GemeindeumI  agen 


überhaupt 


%  d.  Staat 
Steuer 


1000  Mark 


4  2S8,8 
6  465,8 

8  572,9 
10  432,3 
12292,5 


3  056.0 

5  488,7 

7515,0 

10095,2 

12613,4 


71 

85 
88 

97 
103 


15  661,2 
17088,8 

18  337,5 

18  985,2 

19  774,7 


II  110,3 
1 1  222,2 
13  130,2 

15  536,3 
17937,3 


71 

19  950,0 

14  166,3 

71 

66 

23  554,6 

16  710,9 

71 

72 

26910,4 

20  645,3 

77 

82 

29417,5 

25631,5 

87 

91 

32  067,2 

30  550,7 

95 

Gemeindefinanzen 


129 


n.  Höhe  der  Gemeindeumlagen 

nach  dem  Ver- 1 

hältnis  zum  Steuersoll  1896. 

Zahl  der  G( 

imeini 
Umla 

len 

Kesfierungs- 
oezirk 

im 
ganzen 

ohne 
Umlagen 

mit 

gen 

in  «0  deg  Staats- 
Bteuersolls 

• 

«3^ 

1-50 

51  bis 
100 

101  bis 

850 

über 
250 

Oberbayem  . 

1239 

1 
15  1224 

306 

684 

232 

2 

Niederbayem 

956 

8   948 

294 

475 

176 

2 

Pfalz    .    .    . 

709 

8;  701 

48 

56 

341 

256 

Oberpfalz .    , 
Oberfranken . 

1088 

4<io84 

277 

511 

287 

9 

987 

53 

934 

200 

409 

310 

15 

Mittelfranken 

1023 

73 

950 

225 

396 

309 

20 

ünterf ranken 

1000 

263 

736 

122 

266 

322 

27 

Schwaben 

1017 

105 

912 

239 

409 

256 

8 

Königreich    . 

8019 

529 

7490 

I7II 

3206 

2233 

340 

1887 

8027 

768 

7259 

2620 

2819 

1578 

242 

III^  Einnahmen  der  Gemeinden  aus  den  Ver- 
brauchssteuern 1896. 


Begierungs- 
bezirke 


Oberbayem 
Niederbayem 
Pfalz .    .    . 
Oberpfalz   . 
Oberiranken 
Mittelfranken 
Unterfranken 
Schwaben  . 


Königreich 
1887 


rv.  Auf  1  Einwohner  treffen 


in  den  unmittel- 
baren Städten 


Zahl  d. 

erhe- 
benden 

Ge- 
meind. 


6 

4 

2 

5 
9 

4 
II 


Betrag 
der  Ein- 
nahmen 
M. 


in  den  mittel- 
baren Gem. 


IZahl  d. 

erhe- 
benden 

Ge- 
meind. 


41 
38 


2  527  472 
.  320519 

395  158 

536  199 

1  294  197 
596210 

1  247  053 


6916808 
5510316 


609 
192 
16 
264 
278 
190 

91 
122 


I  762 
I  408 


Betrag 
der  Ein- 
nahmen 
M. 


I  071  161 
334818 
770  356 
360844 
369  030 
385067 

179479 
291  185 


3  761  940 
2  509  132 


an  direkten 
Umlagen 

an  Verbrauchs- 
steuem 

Begiemngs- 
bezirke 

in  den 

un- 
mittel- 
baren 
Städten 

M. 

in  den 
ande- 
ren Ge- 
mein- 
den 
M. 

in  den 

nn- 

mittel- 

baren 

Städten 

M. 

in  den 
ande- 
ren Ge- 
mein- 
den 
M. 

Oberbayem    .    . 
Niederbayem 
Pfalz     .... 
Oberpfalz  .    .    . 
Oberfranken  .    . 
Mittelfranken 
Unterfranken 
Schwaben  .    . 

12,52 

5,54 

7,87 
7,46 
9,48 
8,50 
9,26 

3,68 

2,87 
8,05 
2,70 
2,60 

3,16 
2,80 

3,56 

5,48 
5,33 

6,41 

4,92 
4,62 
5,62 
7,68 

1,48 

0,55 
1,01 
0,74 

0,77 
0,84 

0,34 
0,55 

Königreich     .    . 
188 

7  * 

io,i6 
8,15 

3,92 
3,48 

5,57 
6,00 

0,82 
0,56 

V.  Verbrauchsbestenerung  in  den  7  grössten  Städten  des  rechtsrheinischen  Bayern  1895  in  M. 


^fS/l'fA 

Hahlsteuem  ^) 

Fleisch- 
aufschlag ^) 

Malz-  und  Bier- 
aufschlag 

dieseVerbrauchs- 
steuem  1894 

ciauxe 

Ertrag 

pro 
Kopf  *) 

Ertrag 

pro 
Kopf 

Ertrag 

pro 
Kopf 

•/o  der  Ge- 

samt- 

stenem 

pro 
Kopf 

München  .    .     . 
Stamberg     .    . 
Augsburg     .    . 
Würzburg    .    . 
Fürth  .... 
Begensburg  .    . 
Bamberg  .    .    . 

335  678 
361  416 
132096 
1 1 2  266 
76657 
47018 

37503 

0,83 
2,23 
1,98 

1,63 

1,64 

1,13 
0,96 

263869 

149  523 

56564 
98187 

26040 
39011 
39  359 

0,65 
0,92 
0,70 

1,43 
0,56 
0,94 
1,01 

I  593  161 

295  995 
335400 

178608 

51673 
150089 

75137 

3,91 
1,82 

4,13 
2,60 

1,11 
3,54 
1,93 

36,7 

32,7 

35 

47 
26 

38,4 
29 

8,53 
6,37 
6,95 
6,53 
3,83 
6,40 
3,70 

*)  Nach  Abzug  der  Rückvergütungen.    *)  Ohne  Schrannengebühr.    ')  Brattoertrag  nach 
Abzug  der  Btickvergütungen. 


Im  Königreich  Sachsen  lässt  die  ffir 
das  Gemeindesteuerwesen  massgebende 
Städte-  und  Landgemeinde-0.  v.  24.  April 
1873  selbständige  Gemeindesteuern  sowohl 
auf  dem  Gebiete  des  direkten  wie  des  in- 
direkten Steuerwesens   zu.     Doch  können 

Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


indirekte  Abgaben  für  Gemeindezwecke  nui* 
unter  besonderen  örtlichen  Verhältnissen 
mit  ministerieller  Genehmi^mg  erhoben 
werden.  Thatsächlich  wii-d  in  den  sächsi- 
schen Gemeinden  von  indirekten  Steuern 
nur   wenig  Gebrauch   gemacht.     Die   vor- 

Auflage.    IV.  9 


130 


GemeindefiDanzen 


kommenden  Verbranchssteuem  sind  Ver- 
zehrungssteiiem  und  die  Biersteuer.  In 
manchen  Gemeinden  besteht  eine  Miets- 
steuer; schon  seit  langem  bestehen  Abgaben 
bei  Immobiliarbesitzveränderungen  zur  Ar- 
men-, Kirchen-  und  Schiükasse,  bezüglich 
der  versicherungspflichtigen  Gebäude  auch 
ziu:  Feuerlöschgerätekaßse.  Sehr  verbreitet 
sind  auch  die  sogenannten  Lustbarkeitsab- 
gaben. In  jüngster  Zeit  ist  in  einer  grossen 
Anzahl  von  Slädten  eine  Umsatzsteuer  auf 
Detailgeschäfte  mit  1%  von  Umsätzen  im 
Betrage  von  über  30000  Mark  eingeführt 
worden,  die  neben  fiskalischen  Zwecken 
auch  die  sozialpolitische  Aufgabe  einer 
Höherbelastung  der  Grossbetriebe  zu  Guns- 
ten der  Kleinbetriebe  erfüllen  soll.  Weitere 
Einnahmequellen  bilden  die  Abgaben  von 
Wanderlagem  imd  Mobiliarauktionen,  die 
Wege-  imd  Brückengelder,  die  Hunde-  und 
Nachtigallensteuer.  Ueber  die  Bedeutung 
der  wichtigsten  dieser  sogenannten  indirek- 
ten Steuern  für  die  Gemeihdekasse  s.  die 
folgende  Tabelle  m. 

Was  die  direkten  Steuern  im  engeren 
Sinne  (Einkommen-  und  Ertragssteuem)  an- 
langt, so  kommen  auch  hier  selbständige 
und  Zuschlagssteuern  vor.  Von  einem 
Zwange  zu  Staatssteuerzuschlägen,  wie  er 
in  Frankreich  imd  bei  uns  in  Bayern,  Würt- 


temberg, Baden,  Elsass-Lothringen,  Hessen 
etc.,  bezüglich  der  Einkommensteuer  ancli 
in  Preussen  besteht,  ist  hier  nicht  nel  die 
Eede,  ebensowenig  von  einer  besonderen 
gesetzlichen  Regelung,  vielmehr  herrscht 
grundsätzlich  eine  weitgehende  Autonomie 
der  Gemeinden.  Es  kommen  demnach  auch 
in  der  verschiedenartigsten  Anwendung  so- 
wohl Realsteuem,  nämlich  Gnmd-  und  Cfe- 
werbesteuem,  wie  auch  Personalsteuern  vor. 
Die  letzteren  sind  fast  ausschliesslich  Ein- 
kommensteuern. Weitaus  der  bedeutendste 
AnteU  fällt,  wie  die  folgenden  Uebersichten 
zeigen,  den  Einkommensteuern  zu.  Es  be- 
tnig  z.  B.  in  den  10  höchst  belasteten 
Städten  Sachsens 


und  zwar 
in 


der  Ertrag  der 

a)  der 

Gemeinde 

M. 


Einkommensteuer 

b)  des      d.  h.  a)  ver- 
Staates    hält  sich  zu  b) 
M.  wie  100  zu 


Dresden    . 
Leipzig    . 
Chemmtz  . 
Plauen 
Meissen     . 
Reichenbach 
Freiberg  . 
Werdau    . 
Grossenhain 
Bautzen    . 


3988000 
6  762000 
I  931  000 
776000 
230000 
265000 
345000 
226000 
142000 
182000 


4405000 

4823000 

I  464000 

391  000 

121000 

177000 

210000 

118000 

92000 

179000 


90,5 
140,2 

131,9 

198,5 
190,1 

149,7 
164,3 
191,5 
153,0 
101,7 


I.  Die  direkten  und  indirekten  Steuern  im  allgemeinen. 


Gesamtbetrag  der 
Gern  eindestenem 

Hiervon 

7o -Verhältnis 
d  direkt  z  d 

direkte  Steuern      indir.  Steuern  *) 

Städte 

im 
ganzen 

M. 

Kopf- 
betrag 

M. 

indir.  Steuern 

im 

ganzen 

M. 

Kopf- 
betrag 
M. 

im 

ganzen 

M. 

Kopf. 

betrag 

H. 

dlrektej  aireicto 
Steuern 

überhaupt 
mit  mehr  als  10000  Emw. 
«       .      „     5000    „ 
„  weniger  als  5  000    „ 

28  145  248 

24  345  790 

26  852  254 

1  292  994 

17,69 
20,84 
18,92 

7,52 

24435265 

20  989  280 

23262  178 

I  173087 

15,30 

17,97 

16,39 

6,83 

3  709  983 
3356510 

3  590  076 
119907 

2,33 
2,87 

2,53 
0,70 

86,82 
86,21 
86,63 
90,73 

13,18 

13,79 

13,37 

9,27 

^)  Einschliesslich  der  Steuern  von  Lustbarkeiten  und  der  Erwerbs-  und  Besitzwechsel- 
abgaben. 


Diese  starke  Belastung  des  Einkommens 
erklärt  sich,  wie  oben  bereits  gelegentlich 
bemerkt  wurde,  aus  der  geringen  Entwicke- 
lung  der  anderen  direkten  sowie  der  in- 
direkten Steuern.  Die  sämtlichen  22  Städte 
mit  mehr  als  10000  Einwohnern  hatten  aus 
Steuern  überhaupt  eine  Einnalime  von 
24346000  Älark  und  davon  fielen  auf  die 
indirekten  rund  3,5  Millionen  =  13,79  ^/o, 
auf  die  direkten  etwa  21  Millionen  =  86,21  %, 
und  von  den  letzteren  auf  die  sogenannten 
Realsteuern  nur  ca.  3,8  Millionen  =  12,67  ^/o, 
so  dass  ca.  17,1  ^Millionen  Mark  —  71,43  ^/o 
auf  die  Einkommensteuern  entfielen.  Von 
den  Kealsteuern  kommen  eigentlich  nur  die 
sogenannte  Grund-,   d.  h.  Grund-  und  Ge- 


bäudesteuer mit  2,9  Millionen  jVfark  =-. 
11,98 ^/o  in  Betracht;  unter  den  Einkommen- 
steuern befinden  sich  auch,  wenn  schon  in 
verschwindenden  Beträgen,  Kopf-  iin<] 
Klassensteuern. 

Was  die  Frage:  selbständige  oder  Zu- 
schlagssteuem  anlangt,  so  kann  hiov  \oi 
einem  scharfen  Gegensatze  zwischen  An 
sclüuss  an  die  Staatsstcuer  und  selbstän<li 
ger  Veranlagung,  wüe  J.  Neumann  a.  a.  O 
S.  146 ff.  ausführt,  nicht  wolü  die  Rede  sein 
Denn  auch  Regulative  mit  nicht  selbstiindi 
ger  Steuer  weichen  von  den  YorscluiftcM 
des  Staatssteuergesetzes  regelmässig  ni(.:h 
nur  bezüglich  der  Höhe  der  einzelnen  Stevior 
Sätze,   sondern   auch   in   aUen    Fragen    de 


Gremeixidefinanzen 


131 


Forensenbesteuerung,  überhaupt  in  den  Fra- '  tem  Buche)  giebt  die  erste  eine  üebersicht 
gen  interkommunaler  Besteuerung  erheblich  i  über  die  direkten  und  indirekten  Steuern 
ab.  Doch  neigen  die  grösseren  Städte  fast  im  allgemeinen,  die  zweite  zeigt  das  Ver- 
äusnahmslos  dazu,  sich  der  Staatseinkommen- 1  hältnis   der  direkten  Steuern  zu  einander, 


Steuer  anzuschliessen.    Von  den  folgenden 
3  Tabellen  (nach  J.  Neimianns  unten  citier- 


die  dritte  das  der  indirekten  Steuern. 


n.  Die  direkten  Steuern  und  ihr  Prozentverhältnis  zu  einander. 


Persönliche,    insbes. 
Einkommensteuern 

Grund-  u.  Gebäude- 
steuer 

Gewerbesteuer 

Dir.Aufwandsteuem 
(Hundesteuer) 

Städte 

abso- 
lut  in 
1000 
M. 

Kopf- 
betrag 

M. 

% 

abso- 
lut 

1000 
M. 

Kopf- 
betng 

M. 

% 

abso- 
lut 

1000 
M. 

Kopf- 
betrag 

M. 

/o 

abso- 
lut 

1000 
M. 

Kopf- 
betrag 

M. 

/o 

überhaupt 
mit  mehr  alslOOOOEinw. 

r       r,        »      ÖOOO      „ 

mitwenigeralsdOOO  „ 

20470 
17  102 

19175 
997 

12,87 
14,89 
13,72 

5,85 

72,73 
71,43 
72,49 
77,70 

3155 
2917 

3055 
120 

1,98 
2,50 

2,14 
0,70 

11,21 

11,98 

11,30 

9,32 

221 
169 
206 

14 

0,14 
0,14 

0,15 
0,09 

0,79 
0,69 

0,77 
1,16 

348 

285 

324 

23 

0,22 
0,24 
0,23 

0,14 

1,24 
x,i7 

1,84 

m.  Die  indirekten  Steuern  und  ihr  Prozentyerhältnis  zu  einander. 


Indirekte  Aufwandsteuem 

Erwerbs- 

Indirekte 

Verbrauchssteuern 

Steuern  von 
Lustbarkeiten 

steuem,  insbes. 
Besitzwechsel- 
abgaben 

Steuern 
über- 
haupt 

Städte 

Biersteuer 

Andere  Ver- 
brauchssteuern 

überhaupt 

1000 

M. 

pro 
Kopf 

% 

1000 

M. 

pro 
Kopf 

Vo 

1000     pro 
M.     Kopf 

0/ 
/o 

1000 

M. 

pro      0' 
Kopf      10 

1000 

M. 

pro 
Kopf 

0- 

10 

1000 

M. 

% 

Oberhaupt 
aber  10000  Einw. 
,    5000     „ 

unter  5000     „ 

619 

523 

589 

29 

0,39 

0,45 
0,42 

0,17 

16,38 

15,57 
,16,42 

,24,40 

1290 
1290 
1291 

1 

0,81 
1,10 
0,91 

34,79 
38,44 
35,95 

1900 

1813 
1880 

29 

1,20 

1,55 

1,33 
0,17 

51,47 
54,01 
52,88 
24,40 

245 
179 
217 

28 

0,15 

0,15 

0,15 
0,16 

6,62 

5,35 
6,05 

23,48 

1478 

1289 

I417 

61 

0,93 
1,10 

1,00 
0,36 

39.86 

38,45 
39,49 

51,52 

3709 

3356 

3590 

119 

2,33 
2,87 

2,53 
0,70 

In  Württemberg  sind  die  Gemeinden, 
soweit  das  eigene  Vermögen  nicht  ausreicht, 
berechtigt,  den  »Gemeindeschaden«  in  erster 
Linie  auf  die  steuerpflichtigen  Gnmdstücke, 
Gefälle,  Gebäude  und  Gewerbe  in  der  Fonn 
von  Zuschlägen  zur  Staatssteuer  umzulegen. 
In  Ergänzung  der  Erträgnisse  dieser  Steuern 
dürfen  auch  Umlagen  von  Apanagen,  vom 
Kapital-,  Renten-,  Dienst-  und  Berufsein- 
kommen im  Maximum  von  1  ^/o  des  für  die 
Staatsbesteuerung  ermittelten  steuerbaren 
Jahresertrages  erhoben  werden.  Falls  der 
zur  Deckung  des  Gemeindebedarfs  erforder- 
liche Steuerbedarf  grösser  ist  als  der  Be- 
trag der  in  derselben  Gemeinde  erhobenen 
Staatssteuem  von  Grundeigentum,  Gebäuden 
und  Gewerben,  dürfen  noch  örtliche  Ver- 
brauchsabgaben von  Bier,  Fleisch  und  Gas 
mit  besonderer  staatlicher  Genehmigung  er- 
hoben werden.  Eine  besondere  Gemeinde- 
steuer Lst  die  Bürger-  und  Wohnsteuer. 

Schliesslich  soll  noch  das  Steuerwesen  der 
grösseren  deutschen  Städte  nach  denum- 
wssenden  Arbeiten  Würzburgers  in  dem  Sta- 
tistischen Jahrbuch  deutscher  Städte  einer  kurzen 
Betrachtung  unterzogen  werden.  Die  folgende 
Tebersicht  lässt  zunächst  die  Gesamterträge  der ; 
Gemeindesteuern  und  die  Anteile  der  Verbrauchs- 
abgaben an  denselben  sowie  das  Verhältnis  der ' 
St«Qerbeträge  zur  Einwohnerzahl  erkennen.  Die  | 


Auswahl  unter  den  von  Würzburger  berück- 
sichtigten Städten  ist  so  getroffen,  dass  sowohl 
die  Verschiedenheiten  im  Gemeindesteuerwesen 
Nord-  und  Süddeutschlands  als  auch  einige 
innerhalb  derselben  Staaten  vorhandene  Ver- 
schiedenheiten hervortreten.  Danach  wurden  in 
den  untenstehenden  nach  Staaten  und  Ein- 
wohnerzahl geordneten  Städten  insgesamt  an 
Gemeindesteuern  überhaupt  und  darunter  an 
Verbrauchssteuern  insbesondere  im  Rechnungs- 
jahre 1896/97  (bezw.  in  den  bayerischen  und 
sächsischen  Städten  sowie  Karlsruhe  im  Kalender- 
jahre 1896)  erhoben: 


Tabelle  I. 

Gemeindesteuern 

davon  Ver- 

in 

über- 
haupt 

• 

auf 
lEinw. 

brauchs- 
steuern 
®/oder    auf 

in 
lOOOM. 

M. 

Gem.-  lEinw 
St.       M. 

Berlin   .    .    .    . 

47  263,2 

28,04 

1,49      0,42 

Breslau.    .    .    . 

9  862,5 

26,26 

21,93      5,76 

Köln  a.  Rh.  . 

.    7646,6 

23,58 

4,42       1,04 

Frankfurt  a.  M 

.    9  557,9 

41,26 

0,95      4,29 

Magdeburg    .    , 

4  505,6 

20,92 

4,06      0,85 

Hannover  .    . 

.    4407,4 

20,76 

4,68      0,97 

Düsseldorf     . 

.    4665,8 

26,32 

3,44      0,91 

Königsberg    . 

.    3880,2 

22,54 

4,16      0,94 

Altona  .    .    .    . 

3  973,4 

26,58 

Stettin  .    .    . 

.    3  153,1 

22,11 

—         — 

Elberfeld   .    . 

■    3751,7 

26,73 

3,18      0,85 

Charlottenburg 

.    3860,1 

28,35 

9* 

J32 


Gemeindefmanzeti 


Gemeindesteuern 

dayon  Ver- 

• 

über- 

1   . 

auf 

brauchs- 
steuern 

m 

haupt 

lEinw. 

%  der 

auf 

in 
lOÖOM. 

M. 

Gem.-lEinw. 
St.       M. 

Bannen          .    . 

2954,5 

23,08 

2,70 

0,62 

Danzig .    .    .    . 

2575,1 

20,41 

Halle  a.  S.     .    , 

2  413,5 

20,67 

4,29 

0,89 

Dortmund .    .    . 

.  2641,1 

23,12 

Aachen.    .    .    , 

2  779,5 

25,02 

26,61 

6,66 

Krefeld      .    .    < 

2  265,^; 

21,03 

Essen    .    .    . 

,   2426,8 

24,70 

3,30 

0,82 

Kiel  .... 

►    1908,4 

22,22 

— 

Cassel   .    .    . 

.   2219,9 

27,13 

24,25 

6,58 

Erfurt  .    .    . 

.    1400,9 

17,43 

5,61 

1,01 

Wiesbaden     .    . 

.   2711,1 

36,31 

23,80 

8,62 

München    .    . 

.   9024,2 

22,10 

25,24 

5,58 

Nürnberg  .    . 

.   3  108,2 

19,06 

28,90 

5,51 

Augsburg  .    . 

■    W05,3 

20,79 

35,»9 

7,32 

Leipzig      .    . 

.   9  353,2 

23,34 

Dresden     .    . 

.   8708,4 

25,82 

21,07 

5,44 

Chemnitz  .    . 

■    3  934,4 

24,43 

2,72 

0,66 

Stuttgart  .    . 

.    4980,6 

31,17 

22,99 

7,17 

Karlsruhe  .    . 

.    1377,7 

16,35 

24,84 

4,06 

Mainz    .    .    . 

.    2434,4 

31,47 

21,97 

6,91 

Darmstadt 

.    1849,4 

28,75 

30,32 

8,72 

Braunschweig 

■    1903,3 

16,46 

Strassburg  i.  E 

■    3321,2 

24,32 

85,33 

20,75 

Mülhausen  i.  E 

.    2  056,0 

24,64 

78,99 

19,46 

Metz 

.    I  139,8 

19,05 

89,89 

17,12 

In  der  Tabelle  II  (S.  133)  findet  sich  eine 
Specialisierung  der  Erträgnisse  der  direkten  und 
der  Hauptgruppen  der  indirekten  Steuer  n  (e 
schliesslich  der  Verkehrssteuem). 

Die  Tab.  III  (S.  134)  weist  die  Erträ^isse  der 
Verbrauchssteuern  im  einzelnen  für  diejenigen 
Städte  nach,  welche  am  meisten  Verbrauchs- 
steuern erheben. 

Tabelle  IV  (S.  135)  giebt  eine  gedrängte 
Uebersicht  über  das  ErtJäcpiis  der  Verbrauchs- 
steuern in  Strassburg,  Mümausen,  Metz,  Darm- 
stadt und  Mainz. 

Im  Verhältnis  zur  Bevölkerungszahl  hatten 
von  den  erwähnten  Städten  den  höchsten 
Gesamtbetrag  an  Gemeindesteuern  Frank- 
furt a.  M.  (41,26  Mark  auf  1  Einwohner,  immer- 
hin noch  viel  weniger  als  beispielsweise  Wien 
.mit  42,10  Gulden  und  Paris  mit  77,30  Francs 
Kommunalsteuem  pro  Kopf  der  Bevölkerung), 
Wiesbaden  (36,21  Mark),  Mainz  (31,47  Mark), 
Stuttgart  (31,17  Mark),  Darmstadt  (28,75  Mark), 
Charlottenburg  (28,35  Mark),  Berlin  (28,04  Mark), 
Cassel  (27,13  Mark),  den  niedrigsten  Karls- 
ruhe (16,35  Mark),  Braunschweig  (16,46  Mark), 
Erfurt  (17,43  Mark),  Freiburg  i.  B.  (17,65  Mark), 
Mete  (19,05  Mark),  Nürnberg  (19,06  Mark).  Es 
ist  indessen  zu  berücksichtigen,  dass  den  säch- 
sischen Städten  sowie  Braunschweig  ausser  den 
eigenen  Steuereinnahmen  noch  ihnen  über- 
wiesene Beträge  von  im  Stadtgebiete  erhobenen 
direkten  Staatssteuem,  nämlich  die  den  Schul- 
gemeinden überlassenen  halben  Grundstener- 
erträ^e  im  Königreich  Sachsen  und  der  Anteil 
am  Ertrage  der  Einkommensteuer  in  Braun- 
schweig, zur  Verfügung  gestanden  haben,  wäh- 
rend in  Preussen  die  auf  Grund  des  G.  v.  14. 
Mai  1885  erfolgten  Ueberweisungen  aus  dem 
Ertrage  der  landwirtschaftlichen  Zölle  an  die 


Gemeinden  seit  dem  Rechnungsjahr  1895/96  in 
Wegfall  gekommen  waren;  nur  Berlin  und 
Danzig  haben  die  Ueberweisungen  aus  den  Zoll- 
einnahmen des  Etatsjahres  1894/95,  des  letzten, 
für  welches  das  erwähnte  Gesetz  wirksam  war, 
erst  in  den  Rechnungen  für  1896/97  gebucht. 

Besonders  auffällig  ist  die  sehr  verschiedene 
finanzielle    Bedeutung     der    Verbrauchs- 
steuern.   In  einer  Reihe  von  Städten,  näm- 
lich in  Frankfurt  a.  M.,  Leipzig,  Altoua,  Braun- 
schweig,   Charlottenburg,    Danzig,    Dortmund, 
Krefeld,  Kiel,  Liegnit^,  Stettin.  Zwickau  giebt 
es  überhaupt  keine  Verbrauchssteuern.  Dag^e^en 
deckten  sie  in  Breslau,  Aachen,  Cassel,  Wies- 
baden,  Posen,   Potsdam,  München,   Nürnberg, 
Augsburg,  Dresden,  Stuttgart,  Karlsruhe,  Frei- 
burg  i.  B.,  Mainz  und  Darmstadt  21 — 35®/«,  in 
den  elsass-lothringischen  Städten  sogar  79—90% 
des    ganzen    Steuerbedarfs.     Dementsprechend 
zahlte  ein  Einwohner  Strassburgs  durchschnitt- 
lich 20,75  Mark  Gemeindesteuern  im  Jahre  auf 
die   von  ihm   konsumierten   Lebensmittel  etc., 
in  Mülhausen  19,46  Mark,  in  Metz  17,12.  Dann 
folgen  Dannstadt  mit  8,72,  Wiesbaden  mit  8,62, 
Augsburg  mit  7,32,  Stuttgart  mit  7,17,  Mainz 
mit  6,91,  Potsdam  mit  9,60,  Aachen  mit  6,66, 
Cassel  mit  6,58,  Breslau  mit  5,76,  München  mit 
5,58,  Nürnberg  mit  5,51,  Dresden  mit  5,44  Mark 
städtischer  Verbrauchssteuern  pro  Kopf  der  Be- 
völkerung, während  in  Berlin  nur  42  Pfennige 
auf  einen  Einwohner  kamen. 

Die  abgabepflichtigen  Gegenstände  sind  sehr 
verschieden.  Ausschliesslich  in  Verbrauchsab- 
gaben von  Bier  bezw.  Zuschläj^en  zur  Brau- 
malzsteuer bestanden  die  städtischen  Konsum- 
Steuern  in  Berlin,  Köln,  Magdeburg,  Hannover, 
Düsseldorf,  Königsberg,  Elberfeld,  Barmen,  Halle, 
Essen,  Erfurt  und  Chemnitz.  In  den  übrigen 
in  Vergleich  gezogenen  Mittel-  und  Grossstädten 
wurden,  soweit  sie  überhaupt  Verbrauchsabgaben 
erhoben,  zu  solchen  gleichzeitig  mehrere  Gegen- 
stände herangezogen,  am  meisten  in  den  hessi- 
schen und  elsass-lothringischen  Städten. 

An  sonstigen  indirekten  Kommunalsteuern 
wurden  noch  Aufwand-  und  Verkehrs- 
steuern erhoben,  von  denen  jedoch  die  erstereii 
—  Hundesteuer,  Steuer  von  Vergnügung-en, 
Pferdesteuer,  Abgabe  von  Jagdscheinen,  rJacnti- 
gallensteuer  u.  s.  w.  —  für  den  Gemeindehaus- 
halt nur  von  geringer  Bedeutung  waren.  Von 
den  Verkehrssteuem  hat  in  den  meisten  nord- 
deutschen Städten  die  Steuer  vom  Grundbesitz- 
wechsel eine  immer  grössere  Bedeutung  erlangt. 
Eine  Steuer  von  Verträgen,  Testamenten,  Auk- 
tionen erheben  Kiel  und  Braunschweig.  In  den 
süddeutschen  Städten  spielt  der  Pflasterzoll  eine 
grosse  Rolle. 

Finden  so  die  indirekten  Gemeindesteuer! 
in  Süddeutschland  im  allgemeinen  eine  breiter« 
Verwendung  als  in  Norddeutschland,  so  ist  hier 
insbesondere  in  Preussen,  der  Anteil  der  direktei 
Steuern  an  der  Deckung  der  städtischen  Finanz 
bedürfnisse  entsprechend  grösser  als  dort.  Di< 
direkten  Kommunalsteuern  sind  entweder  Ge 
raeinderealsteuem  oder  Gemeindeeinkommen 
steuern.  Während  erstere  sowohl  als  Zuschlag* 
zur  staatlich  veranlagten  Grund-,  Gebäude-  un< 
Gewerbesteuer  wie  als  selbständige  von  Grund 
besitz  und  Gewerbebetrieb  erhobene  Kommunal 
steuern  vorkommen,  darf  letztere,  die  Gemeinde 
einkommensteuer,  in  der  Regel  nur  in  der  Fori 


Gemeindefinanzen 


133 


TabeUe  11. 


Ertragssteuem 

Allgem. 

Auf- 

Mer- 

Ver- 
brauchs- 
steuern 

" 

Steuer 

Städte 

Grund-  u. 

Gebäude- 

Btener 

Gewerbe- 
steuer 

V.  Lohn 

u.Beruf8- 

ein- 

Kapital- 
renten- 
steuer 

Ein- 
kommen- 
steuer 

Miet- 
steuer 

wand- 
steu- 
ern*) 

kehrs- 

steu- 

ern') 

Gesamt- 
betrag 

1 

kommen 

Berlin     .    .     . 

15847536 

6805021 

_ 

21834743 

13392 

461  308  I  596  168 

705051 

47263218 

Breslau  .    .     . 

2  255  532 

994  581 

3  956  508 

119927    362956 

2  163  020 

9  862  524 

Köln  .... 

2  064  677 

966  172 

3467351 

2134981    596737 

338  208 

7  646  643 

Frankfurt  a.  M. 

2  156  798 

925  142 

5  209  67 1 

354909231562    589308 

90559 

9  557  949 

Magdeburg .     . 

1  169923 

548  502 

' 

3  443  888 

—     1  42275     1:8085 

182903 

4  505  576 

Hannover    .    . 

1  133002 

404800 

1  938  459 

—        56678,   647963 

206451 

4407431 

r>üs>eldorf  .     . 

'i  117733 

466  938 

2454134 

—      102854 

363  501 

i6o  674 

4  665  834 

Königsberg 

944601 

374604 

— 

— 

2004653 

—        23  989 

370805 

161  477 

3  880  189 

.lltona     .     .     . 

2  307  657 

150687 

— 

— 

I  269  465 

—      132 189,    103359 

3  973  357 

Stettin     .     .     . 

1  039  426 

426  027 

1  371  987 

—        34585!   281  106 

3  153  130 

Eberfeld      .     . 

827  839 

470  570 

,     r 

2  224  228 

—     '  35501 

74264 

119271 

3751673 

Charlottenburg 

I  373  124 

170284 

1907417 

—     ,  47967 

361  349 

— 

3860141 

Barmen  .     .     . 

604  199 

327  777 



I  801  416 

—        31 565 

99869 

79654 

2  954  479 

Panzig    .     .     . 

676  878 

288  745 

___ 



1  251  139 

190931    15  115!    152270 

^^ 

2  575  078 

Halle  .... 

571  051 

281  967 

■ 

I  392  072 

—     i  64936      — 

103  437 

2413463 

P^rtmand    .     . 

495  676 

271  907 

I  670  945 

—        40  647     161  956 

— 

2641  131 

Aachen    .     .     . 

588  121 

245  437 

1  060  853 

—     '  57614!     87815 

739  646 

2779476 

Krefeld   .     .     . 

494088 

220  724 

1  369  963 

—        43220 

60  149 

2  265  756 

Essen .... 

530  896, 

319690 



I  330091 

—        46  880 

119149 

80063 

2  426  769 

Kiel    .... 

719396, 

131  980 

899  886 

—        61  503t     95  573 

— 

1  908438 

ra??el     .     .     . 

486  479 

215807 



887  738 

—     1  203171     71  123 

538421 

2219885 

Erfurt     .     .     . 

381  I37i 

136  614 

) 

695427 

—        45647      63385 

78654 

1  400  864 

Wiesbaden  .     . 

493  279 

126  725 

1 

1  089099 

—     ^  56652;   209199 

645380 

2  711  116 

München      .     . 

2  085  162 

1  434  340 

625551 

I  296  321 

—     ,132700 

I  005  879 

2  277  933 

9  024  207 

Nürnberg     .     . 

687  361 

660540 

212  061 

435  958 

— 

—     '  27  929I    144  256 

898  362 

3  108  182 

Au^burg    .     . 

268991 

301  445 

92766 

241  418 

—     1  25716    171844 

579  399 

I  705  343 

Leipzig  .     .     . 

1  557  170 

120*) 

— 

7017275 

—      201204    569473 

9  353  243 

I^rÄden  .     .     . 

667  748 

3898* 

— 

4947126*) 

—      190  878!  1  064083 

1834691 

8  708  424 

Chemnitz     .     . 

583  9o6| 

3213*) 

^.^ 

— 

2830  118 

62  289   68363«   279  411 

107065 

3  934  365 

>tnttgart     .     . 

I  461  858 

1  368  502 

125  294 

374  178 

148810   59083!   300470 

1  145  139 

4  980  624 

Karlsruhe    .     . 

308  083 

188416 

306980 

208  724 

— 

—        16336;  .  21  626 

342  287 

1  377  728 

Mainz     .    .     . 

448  018^ 

448  158 

918831 

146  782 

— 

—            1 1  620|        — 

534  726 

2  434  374 

I^armstadt  .     . 

293  278 

184458 

1  295  665 

166  363 

— 

—     1  10616 

1 

— ~— 

560  709 

I  849  379 

Braunscbwei^. 
^trassburg  ilE. 

I  400^) 

____ 

I  824  763 

—       41 091 

36053 

— 

1  903  307 

172  217 

183825 

— 

— 

68  955    62  099 

2  834  055 

3321151 

Mülhausen  L  E. 

168684' 

193004 

— 

— 

61354'  23787 

— 

1  624  124 

2  056  023 

Metz  ...     . 

38  657, 

1 

51  016 

11043 

14506 

1 024  534 

1  139757 

*)  Hund^teuer,  Steuer  von  Vergnügungen,  sonstige  Aufwandsteuern.  *)  Steuer  vom  Grundbesitz  Wechsel, 
Ton  VertrÄgen,  Testamenten,  Auktionen  und  Pflasterzoll.  •)  Hier  inbegriffen  231 550  Mark  Einwohner-  und 
Bn^ersteuer.    *)  Nur  Wandergewerbesteuer. 


von  Zuschlägen  zur  staatlichen  Einkommensteuer 
erhoben  werden.  Als  städtische  Steuerquelle 
kommt  daher  die  allgemeine  Einkommensteuer 
nur  in  denjenigen  Staaten  in  Betracht,  in  denen 
dieselbe  als  Staatssteuer  besteht.  Es  besassen 
demgemäss  in  dem  bisher  betrachteten  Jahre 
1896  97  die  Gemeinden  Bayerns,  Württembergs 
und  Elsass-Lothringens  keine  allgemeine,  wohl 
aber  statt  dieser  die  Dayerischen  und  die  württem- 
bergischen die  partiellen  Einkommensteuern  in 
Form  von  ZuschlSgen  zur  staatlichen  Steuer 
von  Lohn  und  Berufseinkommen  und  zur  staat- 
lichen Kapital rentenst euer.  Der  Anteil  der  in 
den  norddeutschen  Städten  erhobenen  allge- 
meinen Einkommensteuer  an  der  Befriedigung 
der  Finanzbedürfnisse  war  sehr  verschieden  je 
nach  dem  Masse,  in  welchem  die  anderen  Steuern, 
namentlich    die   Gemeinderealsteuern,  herange- 


zogen wurden.  In  Braunschweig  lieferte  die 
Einkommensteuer  sogar  rund  £6  ^/o  des  gesamten 
städtischen  Steuerertrages,  in  Leipzig  75,  in 
Chemnitz  73,5%.  In  den  preussischen  Städten 
macht  sich  der  Einfluss  des  Kommunalabgaben- 
gesetzes I  in  dem  Rückgang  der  Erträgnisse  der 
Einkommensteuer  und  dem  Anwachsen  der  Er- 
trägnisse der  Bealsteuern,  wie  oben  schon  be- 
merkt wurde,  deutlich  bemerkbar. 

In.Oesterreich  (vgl.  Mischlers  Ar- 
tikel im  österreichischen  Staatswörterbuch) 
sind  die  Gemeinden  im  allgemeinen  auf 
Steuerzuschläge  angewiesen.  Dabei  ist  in  der 
Gemeindeordnung  bestimmt,  daes  die  Steuer- 
zuschläge zu  den  direkten  Steuern  in  der 
Re^el  auf  die  einzelnen  Klassen  der  Ge- 
meindemitglieder  und   auf  alle   Arten   der 


134 


Gemeindefinanzeu 


Aachen    .    . 
Augsburg 
Breslau    .    . 
Cassel .    . 
Dresden  . 
Frankfurt  a. 
Karlsruhe 
München . 
Nürnberg     , 
Stuttgart 
Wiesbaden 

Geflügel.    «) 

CD 

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Fische  und 
Schaltiere, 
Essig  und 
Essigsäure 

£?0     0    M   O^*»  OJ  ^    O^UX   OOvOW 

^0^3     M\0-^0(^Mc»d|dO^ONO 
CD    ^     O^  M  i^    OO-fk»    M   10  Ui  vO    00  0^ 
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Q^UJV/t^avO   104^    Ovo   Oven  C« 

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i^  p- 

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iPi 

1 

er 


direkten  Steuern  gleichmässig  aufzulegen 
sind  und  dass  Steuerzuschläge  zur  Verzeh- 
ningssteuer  nur  den  Verbrauch  innerhalb 
des  Gemeindegebietes  treffen  dürfen.  Das 
Besteuerungsrecht  der  Gemeinden  hinsicht- 
lich der  Zuschläge  ist  insofern  beschränkt, 
als  der  Gemeinde  die  Berechtigung  nur  bis 
zu  einer  gewissen  Obemenze  zusteht  und 
dai'über  hinaus  die  Bewilligung  des  Landes- 
ausschusses bezw*  bei  bedeutenderer  Ueber- 
schreitung  jene  des  Landtages  erforderlich 
ist.  Die  Obergrenze  der  eigenen  Berecliti- 
gung  ist  aber  nicht  einheitlich  für  die  ganze 
Monarchie  geordnet.  Es  beträgt  die  Ober- 
grenze der  eigenen  Kompetenz  der  Gemeinde 
für  Zuschläge  zu 


direkten    Verzehrungs- 
Steuern         steuern 


in  Niederösterreich 
f,  Oberösterreich 

Salzburg 

Steiermark 

Kärnten 

Krain 

Görz  und  Gradiska 

Istrien 

Tirol 

Vorarlberg 

Böhmen 

Mähren 

Schlesien 

Galizien 

Bukowina 

Dalmatien 


20 

10 

20 

10 

20 

15 

20 

15 

50 

15 

15 

15 

15 

15 

25 

25 

150 

15 

150 

15 

10 

15 

15 

IS 

20 

20 

20 

20 

$0 

75 

IS 

25 

üeber  das  Verhältnis  der  Benutzung 
der  Zuschläge  zur  Benutzimg  selbständiger 
Steuern    unterrichtet   die   folgende  TabeUo. 


1    .  g 

Von 

den  Finanzgemeindeii 

ahl  der  Fi 
nzgemeind 

keine 
Steuer 

haben 

i 

Länder 

Zuschläge  zu  den 

tänd. 
iiern 

direkten 

Verz.- 

•*-  V 

^0  oä 

<^^ 

Steuern 

Steuer 

cx. 

* 

Niederösterr. 

1780      457 

1323 

147 

45 

Oberösterr. 

486 1       7 

479 

23 

16 

Salzburg 

158         I 

157 

6 

1 

Steiermark 

1566      54 

1512 

128 

4- 

Kärnten 

220        2 

217 

93 

7 

Krain 

335'     85 

241 

48 

Görz  u.  Grad. 

244      24 

207 

143 

21 

Istrien 

158      46 

HO 

53 

35 

Tirol 

920 

150 

767 

73 

23 

Vorarlberg 

102        2 

97 

68 

Mähren 

3042  1246 

1793 

35        17 

Schlesien 

529        6 

522 

II    i     5 

Bukowina 

333 

25 

304 

6 

— 

Dalmatien 

631         3 

611 

77    \    5<^ 

Zusammen 

10504 

2108 

8340 

843     2c);^ 

Böhmen 

7038 

2806 

4232 

37 

1 

Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  das  Jaln 
1884   bezw.    für  Böhmen   auf    1883.      Di^ 


Gemeindefinaiizen 


135 


TabeUe  IV. 


Es  betrugen  die  Steuern  auf 


in  StrasB- 
burg 

M. 


in  Mül- 
hausen 


in  Mainz 
M. 


in  Metz 
M. 


in   Darm- 
stadt 

M. 


Nahrungs-  und  Genussmittel  ^) 

Getränke 

Viehfutter 

Brennmaterialien  ....*. 
Beleuchtun^materialien     .    . 

Baumaterialien 

Sonstige  Gegenstände    .    .    . 


563  104 

I  354  469 
120013 

200925 

127452 

462861 

5230 


401  203 

760  674 

42  566 

59  802 

63476 

293300 

3103 


238  542 

172926 

18  785 

103  367 


282  682 

513163 

83225 

57845 

47153 
26962 

14065 


305315 
141  839 

114  151 


Gesamtbetrag    [2834055  |  1624124      534  726 


1  024  534 


560709 


M  In  allen  Städten  Steuern  von  Vieh,  Fleisch,  Fleischwaren,  Fett,  Wild  und  Geflügel, 
Essig  und  Essigsäure,  in  Darmstadt,  Mainz  und  Mülhauseu  auch  Steuern  von  Getreide,  Hülsen- 
früchten, Mehl  und  Backwaren,  in  den  drei  elsass-lothringischen  Städten  auch  Steuern  von 
Fischen  und  Schaltieren,  fnschen  und  getrockneten  Früchten,  Trüffeln,  in  Metz  und  Mülhausen 
auch  von  Kolonialwaren  und  Speiseöl,  m  Strassbnrg  und  Mülhausen  auch  von  Konserven. 


Ziffern  der  selbständigen  Gemeindesteuern 
stehen  nach  Mischler  wohl  weit  unter  der 
Wirklichkeit,  weil  viele  Gemeinden  diese 
gar  nicht  als  eigene  Steuern,  sondern  unter 
anderen  Bezeichnungen  aufführen. 

Endlich  sollen  in  der  folgenden  kleinen 
Tabelle  noch  einige  Angaben  über  die  Höhe 
der  Zuschl^  und  die  Zahl  der  dieselben 
benutzenden   Gemeinden   gemacht   werden. 


Anzahl  der  Ortsgemeinden 

mit 

nebenstehenden  Steuerzuschlägen 

und 

zwar 

zu 

Prozent- 

satz 

ind- 
uer 

|sl 

1 

n  1  ^ 
^  S  ?* 

1 

M  OD 

liii 

^  OD 

!WS| 

»5  *^ 

bis  ö 

1736 

1587 

1  1725 

1704 

1647 

5—  10 

4548 

4132 

4538 

4919 

4294 

10—  16 

34io 

2815 

3371 

3235 

3019 

15—  20 

414» 

3655 

4107 

4025 

3818 

20-  30 

3843 

3330 

3787 

3688 

3484 

30—  40 

2700 

2281 

2645 

2543 

2472 

40—  50 

2091 

1772 

2062 

1948 

1861 

50—  60 

940 

831 

923 

888 

866 

60—  70 

521 

427 

486 

462 

450 

70—  80 

444 

395 

424 

428 

411 

80—  90 

233 

209 

220 

316 

210 

90—  100 

304 

290 

301 

285 

234 

100—  150 

501 

416 

430 

440 

422 

150—  200 

173 

142 

154 

162 

153 

200—  300 

127 

67 

81 

101 

93 

300—  400 

69 

39 

45 

58 

56 

400—  500 

42 

15 

17 

37 

37 

500—  600 

22 

8 

10 

20 

18 

eOO-  700 

10 

3 

5 

7 

6 

700—  800 

4 

2 

2 

2 

2 

800—  900 

2 

I 

1 

1 

I 

900—1000 

2 

I 

2 

2 

I 

zus.  1 

25870 

22418 

25330 

24671 

23555 

17.  Die  Gemeindestenerpolitik«  a)  S  e  1  b  - 
ständige    Steuern    und    Zuschläge. 


Die  bisherigen  Ausführungen  über  das  Ge- 
meindesteuerwesen und  die  statistischen 
Uebersichten  zeigen,  dass  in  einzelnen 
Staaten  die  Steuerbedürfnisse  in  der  Haupt- 
sache durch  Zuschläge  zu  den  Staatssteuern 
gedeckt  werden,  wälirend  in  anderen  mehr 
oder  weniger  selbständige  Steuern  erhoben 
werden.  Die  selbständigen  Gemeindesteuern 
in  ihrer  reinen  Form,  wie  sie  beispielsweise 
in  England  besteht,  sind  von  dem  Staats- 
steuersystem unabhängig,  sie  fliessen  aus 
besonderen  Steuerquellen,  werden  nach 
eigenen  Methoden  veranlagt  und  nach  be- 
sonderen Steuerfüssen  aufgelegt  und  erhoben. 
Ihre  Haupterscheinungsformen  sind  in  der 
indirekten  Besteuerung  zu  suchen,  sie  konunen 
aber,  wie  die  Uebersichten  zeigen,  auch  auf 
dem  Gebiete  der  direkten  Steuern  vor.  Die 
Zuschläge  finden  sich  weit  überwiegend  auf 
dem  Gebiete  der  direkten  Steuern,  sie  kom- 
men aber  auch,  wie  im  bayerischen  Lokal- 
malzaufschla^,  bei  den  indirekten  Steuern  vor. 

Ueber  die  Vorzüge  der  selbständigen 
Steuern  und  der  Zuschläge  hat  sich  vielfach 
ein  lebhafter  Streit  erhoben,  der  heute  noch 
keineswegs  geschlichtet  ist  Jede  der  beiden 
Benutzungsarten  hat  ihre  Vorzüge,  jeder 
haften  gewisse  Mängel  an. 

Den  Zusclüägen  rühmt  man  nach,  dass 
sich  bei  ihnen  die  £rhebungskosten  sehr 
vermindern  und  dass  sie  infolgedessen  ver- 
hältnismässig gi'Ossere  Reinerträge  gewähren, 
dass  durch  sie  die  Gemeinden  an  einer  rich- 
tigen Einschätzung  der  Steuerpflichtigen 
interessiert  werden,  dass  das  Finanzwesen 
der  Gemeinden  bei  Zuschlägen  einfacher 
und  übersichtlicher  sei.  Aber  man  hat  nicht 
mit  Unrecht  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  gerade  diese  Leichtigkeit  der  Erhebung 
ziu*  Steigerung  der  Ausgaben  verleiten  und 
dass  da,  wo  die  Trennung  zwischen  Staats- 
und  Gemeindesteuern   nicht  Mar  gehalten 


136 


Gemeindefinanzen 


werde,  in  dem  Bewusstsein  der  Steuerzahler 
sich  leicht  der  Eindruck  von  dena,  was  sie 
an  den  Staat,  und  von  dem,  was  sie  an 
die  Gemeinde  leisten,  zu  Ungunsten  des 
Staates  verschieben  könne.  Auch  der  Ein- 
wand ist  berücksichtigenswert,  dass  bei  der 
ünvoUkommenheit  der  Staatssteuern  und  bei 
ihren  unvermeidlichen  Ungerechtigkeiten  und 
Ungleichheiten  jede  Vermehrung  und  Er- 
höhung derselben,  wie  sie  durch  Zuschläge 
bewirkt  werde,  bedenklich  wirke.  Der  Staat 
wird  auch,  selbst  wenn  er  die  Maxima  der 
den  Gemeinden  eingeräumten  Zuschläge 
niedrig  greift,  doch  von  der  Finanzgebaning 
der  Gemeinden  abhängig,  namenthch  auch 
in  Reformen  behindert.  Ein  weiterer  Ein- 
wand gegen  die  Zuschläge  gründet  sich  da- 
rauf, dass  sie  nicht  gestatteten,  diejenigen 
Quellen  vorzugsweise  zu  erfassen,  welche 
für  die  gemeindliche  Mittelbeschaffung  be- 
sonders geeignet  sind,  dass  namentlich  das 
im  Gemeindesteuerwesen  vielfach  berechtigte 
Princip  von  Leistung  und  Gegenleistung 
durch  Zuschläge  nur  unvollkommen  durch- 
geführt werden  könne. 

Eine  objektive  Beurteilung  wird  nun  an- 
erkennen müssen,  dass  hier  namentlich  die 
konkreten  Verhältnisse  berücksichtigt  wer- 
den müssen  und  dass  nicht  von  einander 
ausschliessenden  Gegensätzen  gesprochen 
werden  dürfe.  Es  wäre  ebenso  verfehlt,  die 
Gemeinden  nur  auf  Zuschläge  anzuweisen, 
wie  es  irrig  wäre,  allen  ein  selbständiges 
Steuerwesen  vorzuschreiben.  Ist  das  Steuer- 
wesen des  Staates  so  geartet,  dass  es  Steuern 
enthält,  welche  auf  Quellen  beruhen,  die, 
wie  Grund  und  Boden  und  Gebäude,  in  Bfe- 
ziehimg  zur  Entwickelung  des  Gemeinde- 
wesens stehen,  und  dass  die  Erträgnisse 
dieser  Quellen  sidi  leicht  ausscheiden  lassen, 
so  ist  es  ohne  Zweifel  für  Zuschläge  Yiei 
leichter  zugänglich  als  ein  anderes,  bei  dem 
dies  nicht  der  Fall  ist.  An  sich  betrachtet 
lässt  eine  direkte  Staatsbesteuerung,  welche 
sich  wesentlich  aus  Ertragssteuem  zu- 
sammensetzt, welche  Vermögensverkehrs- 
steuern vom  Immobüiarverkehr  und  Luxus- 
steuern enthält,  Zuschläge  \iel  eher  und  in 
viel  höherem  Grade  zu  als  ein  Steuersystem, 
welches  vorwiegend  auf  indirekten  Steuern 
und  allgemeinen  Einkommensteuern  aufge- 
baut ist. 

Auch  die  Höhe  der  Staats-  bezw.  Ge- 
meindeabgaben spielt  eine  Rolle.  Sind  die 
Staats-,  Gemeinde-,  Kreisabgaben  etc.  hoch 
oder  müssen  sie  bedeutend  erhöht  werden, 
so  wird  eine  Grenze  auftreten,  über  welche 
hinaus  das  Zuschlagssystem  nicht  mehr  aus- 
gedehnt werden  kann,  wo  vielmehr  eine 
selbständige  Besteueiiing  einsetzen  muss. 
Auch  in  dieser  Beziehung  ist  Stadt  und 
Land  verschieden.  Grosse  Städte  mit  dem 
lasch   wachsenden   Aufgabenkreise   werden 


unter  Umständen  schon  lange  auf  selbstän- 
dige Steuern  angewiesen  sein,  während  die 
kleineren  städtischen  und  vollends  die  Land- 
gemeinden in  Ländern  mit  einem  leidhch 
guten  Ertragssteuersystem  ihre  Bedürfnisse 
ganz  wohl  mit  Zuschlägen  bestreiten  können. 

b)  Besteuerung    nach    der    Leis- 
tungsfähigkeit oder  nach  dem  In- 
teresse?   Neben  der  eben  erörterten  Frage 
der  Zuschläge  und  der  selbständigen  Steuera 
ist  namentlich  die  andere  Frage  von  Wich- 
tigkeit, inwieweit  im  Gemeindesteuerweseu 
der  Grundsatz  von  Leistung  und  Gegenleis- 
tung  Anerkennung    zu    finden    habe    und 
mittelst    welcher    Steuern    er    verwirklicht 
werden  solle.    Es  ist  heute  wohl  nicht  mehr 
ernsthaft   bestritten,   dass    eine  Reilie   von 
Gemeindeausgaben  dem  einen  mehr  nützen 
als  dem   anderen;  namentlich   sind  es  die 
im  städtischen  Gemeindegebiete   gelegenen 
Grundstücke,    Gebäude,    Gewerbe,    welclie 
dem    Gemeinwesen,  und    seiner    günstigen 
wirtschaftlichen  Entwickelung  einen  grosseu 
Teü  ihrer  Wertsteigerung  und  ihres  Eiirags 
verdanken.   Daneben  kommt  freüich  auch  ein 
sehr  grosser  Teil  der  Gemeindeausgal>eu  der 
Gesamtheit   untrennbar  zu   gute  und  wiixl 
durch    Steuern,   die    nach    dem  Grundsatz 
der  Leistungsfähigkeit  erhoben  werden,    zu 
decken  sein. 

Wenn   man   ein  gutes  System  von  Ge- 
bühren imd  eine  ausgedehnte  Anwendunp;" 
von    Beiträgen    voraussetzt,    so    wird    man 
dem  Grundsatz   von  Leistung   und   Gegen- 
leistimg  gerecht  werden,  wenn  daneben  Ge- 
meindesteuern vom  Grund  und  Boden,  von 
den  Gebäuden,  vielleicht  auch  vom  Gewerbe- 
betriebe erhoben  werden.     In  der  That  ^^ilxl 
durch   zahlreiche  Veranstaltungen   der  Ge- 
meinden, durch  Anlegung  von  Strassen,  Be- 
leuchtungsanlagen u.  s.  w.  vor  allem  der  Wert 
der  Grundstücke  und  Häuser  erhöht;  der  Zu- 
sammenhang dieser  Wertsteigenmg  mit  der 
Entwickelung  des  Gemeindewesens  ist  un- 
verkennbar.   Ebenso  bedarf  der  Zusammen- 
hang  zwischen   dem  Ertrage   der  Gewerbe 
und  der  fortschreitenden  Entwickelimg  der 
Gemeinde   überhaupt  kaum   des   Beweises. 
Aus  demselben  Grunde  würde  es  sich  aiicli 
empfehlen,  den  Gemeinden    und   besonders 
den  städtischen   einen  Anteil   an  den  Ver- 
kehrssteuern  auf  Immobilien   zu  gewähren . 
Aber    das   Princip    der   Besteuerung    nacli 
dem  Interesse  kann  aus  den  oben  erwähnten 
Gründen  nicht  allein  massgebend  sein;  denn 
wollte  man  die  Steuerlast,  nach  dem  ersten 
Grundsatz,  nur  auf  die  Grund-  und  Hausbe- 
sitzer legen,  so  würde  dies  nicht  nur  eineiv 
äusserst   schweren    und   ungleichen   Druck 
auf   dieselben   ausüben,   sondern   auch     der 
Thatöache  widersprechen,  dass  die  Gemeinde 
alle  Klassen  der  Bevölkenmg  umfasst    und 
allen  dient    So  wird  die  Gemeinde  immer- 


Gemeindefinaazen 


137 


hin  auch  Zuschläge  zur  Eapitalzins-,  zur 
allgemeinen  oder  zu  den  speciellen  Ein- 
kommensteuern zu  erheben,  eventuell  eine 
eigene  Einkommensteuer  einzurichten  haben. 
Es  ist  dabei,  namentUeh  was  die  Personal- 
Steuern  anlangt,  wünschenswert,  dass  die 
Gemeinde  die  steuerfreien  Existenzminima 
höher  greift  als  der  Staat. 

Diese  Steuern  können  teilweise  passend 
durch  eine  Miets-  oder  Wohnungssteuer  er- 
setzt oder  ergänzt  werden,  die  progressiv 
zu  veranlagen  wäre  und  Wohnungen  bis  zu 
einem  gewissen  Mietswerte  steuerfrei  zu 
lassen  oder  wenigstens  zu  begünstigen  hätte. 
Denn  die  Wohnungen  der  kleinen  Leute 
haben  häufig  einen  zu  hohen  Mietpreis  und 
absorbieren  einen  unverhältnismässig  grossen 
Teil  ihres  Einkommens.  Auch  gewisse 
direkte  Luxussteuem,  z.  B.  Steuern  von 
Hunden  und  Equipagen,  eignen  sich  wohl 
für  Gemeinden.  In  Paris  beträgt  die  Steuer 
von  Omnibussen  und  Fiakern  jährlich  4V2 
Millionen,  die  auf  Viehfutter  (freilich  eine 
indirekte  Steuer,  die  aber  namentlich  die 
Pferdebesitzer  trifft)  gegen  4  Millionen  Francs. 

Neben  diesen  Steuern  werden  nun  in- 
direkte Yerbrauchssteuern  auf  Lebensmittel, 
Getränke  oder  sonstige  Gegenstände  unentr 
behrlich  sein  und  zwar  aus  denselben  finan- 
ziellen Gründen,  welche  man  auch  zu 
Gunsten  der  staaüichen  Aufwandsteuem  an- 
führen kann.  Es  beniht  auf  der  lokalen 
Begrenztheit  des  Gemeindegebietes,  dass  sie 
zumeist  den  Charakter  von  Binnenzöllen 
tragen,  d.  h.  von  den  Gegenständen  erhoben 
werden,  wenn  sie  in  das  Gemeindegebiet 
gelangen.  In  dieser  Form  heissen  sie  Oc- 
trois  imd  Gefälle.  Natürlich  können  ihnen 
nur  solche  Gegenstände  unterworfen  werden, 
welche  in  der  Gemeinde  selbst  verbraucht 
werden ;  Durchfuhr  und  Ausfuhr,  von  denen 
namentlich  die  erstere  in  den  mittelalter- 
lichen Städten  bedeutende  Abgaben  zu 
leisten  hatte,  können  heute  nicht  mehr  Gegen- 
stand der  Besteuerung  sein.  Zuschläge  zu 
den  Staatssteuem  sind  hier  nur  in  solchen 
Fällen  anwendbar,  wo  wie  früher  bei  der 
preussischen  Mahl-  und  Schlachtsteuer,  wie 
heute  noch  bei  dem  französischen  droit 
d'entr^e  auf  Wein,  die  Staatssteuer  beim 
Eintritt  der  Waren  in  das  Gemeindegebiet 
oder  da,  wo  die  Steuer  bei  städtischen  Pro- 
duzenten erhoben  wird,  wie  beim  bayerischen 
Lokalmalzaufschlag.  Freilich  muss  im  letz- 
teren Falle  für  das  aus  dem  Gemeindegebiet 
ausgeführte  Bier  eine  Eückvergütimg  ge- 
wä^  werden.  Neben  den  üblichen  Ein- 
wänden gegen  die  indirekten  Steuern  über- 
haupt hat  man  noch  besonders  hervoige- 
hoben,  dass  dieselben,  da  sie  nicht  in  allen 
Gemeinden  gleichmässig,  sondern  nur  in 
einer  beschränkten  Anzahl  und  in  sehr  ver- 
schiedener Höhe  erhoben  werden,  sehr  ver- 


schiedene Eonkurrenzbedingtingen  schüfen, 
dass  mit  ihnen  möglicherweise  auch  eine 
gemeindliche  Schutzzollpolitik  getrieben  wer- 
den und  dass  sie  wegen  ihrer  relativen  Un- 
merklichkeit zu  einer  irrationellen  Steige- 
rung der  Ausgaben  führen  könnten.  Man 
kann  den  ersten  Einwand  ja  zum  Teil  als 
berechtigt,  anerkennen;  immerhin  wird  man 
sagen  müssen,  dass  die  Steuern  nur  da  ver- 
schiedene Eonkurrenzbedingungen  schaffen, 
wo  sie  in  bedeutender  flöhe  erhoben  wer- 
den, dass  aber  sonst  in  den  grösseren 
Städten  der  Einfluss  anderer  wirtschaftlicher 
Momente  auf  den  Preis  bedeutend  stärker 
ist.  Was  die  Möglichkeit  einer  gemeind- 
lichen Schutzzollpolitik  anlangt,  so  wird 
diese  ebenso  wie  eine  irrationelle  Steigerung 
der  Ausgaben  durch  das  Oberaufsichtsrecht 
der  Regierung  verhindert  werden  können. 
Jeden&dls  ist  sicher,  dass  ohne  die  Be- 
nutzung der  Octrois  oft  ganz  nützliche  und 
dringende  Ausgaben  ungemacht  bleiben  wür- 
den. Andererseits  muss  aber  betont  werden, 
dass  die  Verbrauchsbesteuerung,  wenn  sie 
einen  Umfang  erreicht  wie  in  den  elsass- 
lothringischen und  den  hessischen,  zum  Teil 
auch  in  den  grossen  bayerischen  Stadtge- 
meinden und  wenn  sie,  wie  hier,  vorzugs- 
weise auf  den  unteren  Klassen  lastet,  zu 
schweren  Bedenken  Veranlassung  giebt 

18.  Dotattonen  nnd  Subventioneii. 
Neben  den  bisher  genannten  Einkünften 
stehen  nun  den  Gemeinden  und  Koreimu- 
nalverbänden  noch  besondere  aus  ihrer 
Stellung  zum  Staate  zu  erklärende  Ein- 
nahmequellen zu  Gebote,  nämlich  Zuwen- 
dungen des  Staates  bezw.  der  Kommunal- 
verbände höherer  Ordnung,  die  Dotationen 
und  Subventionen.  Die  Gfründe  für  solche 
Zuwendungen  liegen  einmal  in  der  Erhöhung 
oder  Vervielfältigung  der  Anforderui^n  an 
die  Gemeinden,  die  teils  Folge  der  inneren 
Ausgestaltung  des  Gremeindewesens  selbst, 
teüs  und  namentlich  Folge  der  decentrali- 
sierenden  Tendenz  der  modernen  Gesetz- 
gebung sind,  sie  liegen  ferner  in  der  That- 
sache,  dass  der  Staat  im  Interesse  seiner 
eigenen  Finanzwirtschaft  oder  aus  Gründen 
der  allgemeinen  Politik  die  Einnahmebe- 
schafhing  der  Gemeinden  beschränkt  und 
ihnen  däir  dann  Teile  seiner  eigenen  Ein- 
künfte überweisen  muss. 

Man  kann  nun  mit  von  Reitzenstein  diese 
Zuwendungen  in  Dotationen  und  Sub- 
ventionen unterscheiden.  Subventionen 
sind  solche  Beitragsleistungen  des  Staates, 
eventuell  höherer  Kommunalkörper  an  die 
Gemeinden,  bei  denen  eine  Beziehung  der- 
selben zu  den  an  die  Gemeinden  gestellten 
Anforderungen  oder  zu  den  Ursachen  ihrer 
Bedürftigkeit  erkennbar  zu  Tage  tritt,  Do- 
tationen solche,  bei  denen  dies  nicht  der 
Fall  ist.  '  Freilich  werden  diese  beiden  Arten 


138 


GremelQdefiDaDzeQ 


in  der  Praxis  nicht  immer  scharf  aus  ein- 
ander gehalten  werden  können. 

Die  Dotationen  sind  nach  der  Unter- 
scheidung von  Reitzensteins  entweder  for- 
melle oder  materielle.  Die  formelle 
Dotation  tiberträgt  Verraögensobjekte  oder 
finanzielle  Mittel  auf  die  Gemeinden,  ohne 
dass  dadurch  ihre  finanzielle  Leistungsfähig- 
keit gesteigert  wird,  so  wenn  Immobilien 
oder  Mobilien  von  dem  Staate  an  die  Ge- 
meinden übergehen,  z.  B.  wenn  gewisse 
Verwaltungszweige  und  damit  zugleidi  auch 
die  Dienstgebäude  etc.  an  die  Gemeinde  ge- 
langen. Solche  Dotationen  haben  kein 
finanzielles  Interesse.  Anders  ist  es  mit 
den  materiellen  Dotationen.  Man  ver- 
steht darunter  diejenigen,  welche  in  der 
üeberweisung  bestimmter,  sei  es  einmal,  sei 
es  periodisch  oder  ständig  zu  gewährender 
Summen,  sodann  in  der  üeberweisung  be- 
stinwnter  Gebühren  und  Steuern  oder  be- 
stimmter AnteUe  an  solchen  bestehen.  Zu 
den  von  Büinski  Dotationssteuem  genannten 
Steuerüberweisungen  gehören  auch  die 
Fälle,  in  denen  der  Staat  die  Gemeinden, 
um  ihr  Interesse  für  die  Beibehaltung  und 
Erhebung  zu  gewinnen,  an  dem  Erti-age  der- 
selben mit  einer  zumeist  in  Prozenten  aus- 
gedrückten Quote  beteiligt.  So  z.  B.,  wenn 
nach  den  preussischen  Mahlsteuergesetzen 
von  1848  und  1851  die  Reinerträge  der  da- 
mals in  den  grösseren  Städten  erhobenen 
Mahlsteuern  zu  einem  Drittel  in  die  Ge- 
meindekassen flössen;  ebenso,  wenn  nach 
der  französischen  Gesetzgebung  8  %  vom 
Ertrage  der  Gewerbesteuer  den  Gemeinden 
zukommen. 

Dotationen  kommen  namentlich  vor  in 
Frankreich,  dann  in  Belgien,  wo  ein  eige- 
ner Kommimefonds,  bestehend  aus  einem 
Anteü  an  dem  Bruttoertrage  des  Betriebes 
der  Staatspost  und  an  den  Erträgnissen  be- 
stimmter Zölle  und  Verbrauchssteuern  als 
Ersatz  für  die  durch  ein  G.  v.  Jahre  1860 
erfolgte  Aufhebung  der  Octrois  errichtet 
worden  ist,  an  dem  übrigens  nicht  nur  die- 
jenigen Gemeinden,  denen  die  Octrois  ent- 
zogen wurden,  sondern  aUe  teilnehmen. 
AehuHch  wurde  in  Holland  durch  G.  v. 
17.  Jiüi  1865  bei  Gelegenheit  der  Aufhebung 
der  örtlichen  Verbrauchsabgaben  den  Ge- 
meinden */5  des  Ertrages  der  Personalsteuer, 
später  dafür  ein  fixierter  Betrag  überwiesen. 
Ueber  die  neueren  Dotationen  im  Finanz- 
wesen Englands  s.  oben  S.  113.  Auch  das 
neue  österreicliische  Steuergesetz  betreffend 
die  direkten  Personalsteuern  vom  25.  Okto- 
ber 1896  hat  Ueberweisimgen  an  die  Länder 
festgesetzt,  die  zunächst  mit  3  Millionen 
Gulden  veranschlagt  sind. 

Unter  den  deutschen  Staaten  hat  nament- 
lich Preussen  dem  Dotationsprincip  einen 
ziemlich    erheblichen    Spielraum    gegeben. 


Durch    GG.  v.  30.  April  1873   und  8.  Juli 
1875    wurden,    nachdem    die    preussische 
Provinzialordnung   vom  29.  Juni  1875  den 
Wirkungskreis  der  Provinzen  bedeutend  er- 
weitert hatte,   diesen   zur  Erfüllung  ihrer 
Aufgaben   eine  jährhche   Dotation  von  7,4 
Millionen  Mark  nebst  anderen  Vermögens- 
werten  übertragen.    Durch  die  sogenannte 
lex  Huene  vom  14.  April  1885  war  die  den 
Betrag  von  15  Mülionen  Mark  übersteigende 
Summe    des    preussischen  Anteils  an  den 
Vieh-  und  Getreidezöllen  an  die  Kreisver- 
bände überwiesen  worden  mit  der  Massgabe, 
dass  2/3  davon  nach  dem  Verhältnis  des  Er- 
trages der  Grund-  und   Gebäudesteuer,   ^s 
nach   der  Einwohnerzahl  an   die   Kreisge- 
meinden verteilt  werden  soUe.    Nach  dem 
preussischen    Einkommensteuergesetz    vom 
24.  Juni  1891  endlich  wurde  bestimmt,  dass 
gewisse   durch  die  Umgestaltung  der  Ein- 
kommensteuer    erzielte     Mehrerträge     zur 
Durchführung  der  Beseitigung  der  Grund- 
und   Gebäudesteuer  als  Staatssteuer  bezw. 
zur  üeberweisimg  derselben  an  Kommunal- 
verbände verwendet  werden  sollen,    (Ueber 
die  Höhe  der  Dotationen  und  Subventionen 
der  preussischen  Kommunalverbände  s.  oben 
S.  126).    Neben  Preussen  ist  es  namentlich 
Sachsen,  welches  dem  Dotationsprincip  teils 
schon    früher,    teils    erst    wieder   in    der 
jüngsten    Zeit,    so    im    Finanzgesetz    für 
1886/87  durch  Üeberweisung  der  Hälfte  der 
Grundsteuer  an  die  Schulgemeinden,  sich  zu- 
neigt.  Die  Zuschüsse  der  bayerischen  Kreise 
aus   der  Staatekasse  sind  oben  S.  127  be- 
reite   verzeichnet    worden.      Sie    betrugen 
1889    3038743.    1894  3295878  Mark,  da- 
von 3246229  Mark  für  deuteche  Schulen. 
Das  Subventionsprincip  findet  un- 
ter den  deutschen  Staaten  namentlich  An- 
wendung in  Bayern,  Württemberg,  Baden, 
Hessen   und   Elsass-Lothringen.    Es   findet 
sich  aber  auch  neben  der  Anwendung  des 
Dotationsprincips  in  Preussen  und  Sachsen 
und  in  den  meisten  ausserdeutschen  Staaten. 
Was   das  Ausland  betrifft,  so  hat  dasselbe 
in   Frankreich   eine   umfangreiche  Verwen- 
dung gefunden,  was  eben  damit  zusammen- 
hängt, dass  der  Staat  dort  den  Gemeinden 
nicht   die   MögUchkeit    einer  selbständigen 
Entwickelung  ihres  Einnahmewesens  gege- 
ben  und   nun   auf  andere  Weise   für   ihre 
finanziellen  Mittel  zu  sorgen  hat    Nament- 
hch  sind  es  die  Ausgaben  für  Schul-,  Ai'men- 
und  Wegewesen,   zu   deren   Deckung   Sub- 
ventionen gewährt  werden. 

IV.  Das  Schuldenwesen. 

19.  Allgemeines.  Die  normale  Ordnung 
des  Gemeindehaushaltes  besteht  in  dem 
Gleichgewicht  zwischen  Ausgaben  imd  Ein- 
nahmen. Um  dieses  erreichen  zu  können, 
ist  der   Gemeindehaushalt,   abgesehen   von 


Gemeindefinaiizeb 


139 


den  kleineren  Landgemeinden,  nach  einem 
Yorgängigen  Etat  zu  führen,  in  den  alle 
Ausgaben,  Einnahmen  und  Dienste,  soweit 
sie  voraiisbestimmt  werden  können,  aufzu- 
nehmen sind.  An  diesen  jährlich  oaer  doch 
periodisch  aufzustellenden  Etat  ist  die  (Je- 
meinde,  Notfalle  ausgenommen,  gebunden. 
Nach  manchen  Gtemeindeordnungen  steht 
der  Staatsgewalt  das  Recht  zu,  bei  der 
Feststellung  des  Etats  mitzuwirken  und  ihn 
zu  genehmigen;  nach  anderen,  z.  B.  der 
preuissischen  Städteordnung,  muss  ihr  der- 
selbe wenigstens  mitgeteilt  werden  und  ist 
ihre  Zustimmung  zu  einzelnen  Positionen 
erfoixlerlich,  sie  kann  auch  gesetzlich  not- 
wendige Ausgaben  demselben,  falls  sie  fehlen 
sollten,  hinzufügen.  Ebenso  ist  der  Staats- 
behönle  am  Schlüsse  jeder  Etatsperiode 
Rechnung  zu  legen. 

Trotz  solcher  Vorschriften  wird  es  nicht 
möglich  sein,  dann  und  wann  ein  Deficit 
zu  vermeiden,  d.  h.  die  notwendigen  Aus- 
gaben immer  mit  den  zeitweilig  zur  Verfü- 
gung stehenden  Mitteln  der  Gemeindewirt- 
schaft zu  decken.  In  solchen  Fällen,  in 
denen  also  ein  plötzlich  auftretender  Melir- 
aufwand  durch  Erhöhung  oder  Vermehrung 
der  bisherigen  Einnahmequellen  nicht  ge- 
deckt werden  kann,  muss  die  Deckung  des- 
selben, soweit  die  Veräussemng  von  Ge- 
meindevennögen  oder  Neuauflegung  und 
Erhöhung  von  Steuern  nicht  möglich  oder 
nicht  ziüässig  ist,  wie  beim  Staate  diuxjh 
Inanspnichnahme  des  Kredits  erfolgen.  Es 
hat  dies  den  Vorteil,  die  Mittel  späterer 
Finanzperioden  zur  Deckung  momentaner 
Bedürfnisse  verwenden  zu  können.  Freilich 
wird  es  sich  gemäss  der  ganzen  Natur  der 
Gemeindewirtschaft,  namentlich  mit  Rück- 
sicht auf  die  immer  möglichen  Schwankun- 
gen in  der  Bevölkenmgszahl  und  im  Wohl- 
st£uid,  darum  handeln,  die  Zukunft  nicht 
auf  eine  zu  weite  Zeit  hinaus  zu  belasten. 
Es  ist  deshalb  ein  allenthalben  wahrnehm- 
bares Bestreben  der  Gesetzgebung,  nicht 
nur  die  Schuldaufnahme  seitens  der  Ge- 
meinden auf  die  FäDe  dringender  Notwen- 
digkeit oder  erheblichen  Nutzens  zu  be- 
schränken, sondern  dieselbe  auch  an  die 
Bedingung  der  Aufstellung  eines  auf  nicht 
zu  ferne  Zukunft  sich  erstreckenden  Til- 
gungsplanes zu  binden.  So  bestimmt  die 
bayerische  bezw.  pfälzische  Gemeindeord- 
nung in  Art.  61  bezw.  45,  dass  die  Auf- 
nahme eines  Anlehens  nur  zur  Abtragung 
aufgekündigter  Kapitalien  oder  zur  Bestrei- 
tung unvermeidlicher  oder  zum  dauernden 
Vorteil  der  Gemeinden  dienender  Ausgaben 
stattfinden  dürfe,  wenn  die  Deckimg  dieser 
Ausgaben  aus  anderen  Hilfsquellen  nicht 
ohne  Ueberbürdung  der  Gemeindeangehöri- 
gen geschehen  könne,  und  in  Art.  62  bezw. 
46,  dass  ftir  alle  Gemeindeschulden  Tilgungs- 


pläne vorgesehen  werden  mtissen,  welche  auf 
nachhaltigen  Einnahmen  für  die  Verzinsung 
und  Tilgung  beruhen  und  der  vorgesetzten 
Behörde  voraulegen  sind.  Die  Distrikte  be- 
dürfen ebenso  der  Genehmigung  der  vorge- 
setzten Behörden,  die  Kreise  der  des  Land- 
tages. Ebenso  bedürfen  in  Preussen  die 
Gemeinden  sowie  die  Kreise  und  Provinzen 
zur  Aufnahme  neuer  Schulden  oder  zur 
Vergrössenmg  der  bisherigen  derGtenehmi- 
gimg  der  übergeordneten  Selbstverwaltun^- 
körper  oder  Staatsbehörden.  In  Oesterreich 
brauchen  die  Gemeinden  dann  die  Genehmi- 
gung, wenn  der  Betrag  des  Anlehens  mit 
Einrechnung  der  bisherigen  Schulden  die 
Jahreseinnahmen  der  Gemeinde  übersteigt. 
In  England  haben  die  Gemeinden  und 
öffentlichen  Körper  ebenfalls  kein  Recht  zu 
selbständiger  Schuldaufnahme,  sie  bedürfen 
der  Zustimmung  durch  Gesetz  in  der  Form 
von  Si)ecialakten  oder  durch  Verordnung, 
eventuell  bei  direkter  Entnahme  der  An- 
lehen  aus  Staatsfonds  die  der  dafilr  festge- 
setzten Behörden.  In  Frankreich  wird 
unterschieden  zwischen  Anlehen,  welche 
durch  den  Eitrag  von  fünf  ausserordent- 
lichen auf  die  Dauer  von  fünf  Jahren  zu 
erhebenden  und  innerhalb  der  gesetzlichen 
Maximalsteuerzuschläge  sich  haltenden  Zu- 
schlagscentimes gedeckt  werden  können, 
und  solchen,  bei  denen  dies  nicht  der  Fall 
ist.  Die  ersteren  können  die  Gemeinderäte 
selbständig  beschliessen,  zu  den  letzteren 
bedürfen  sie  je  nach  der  Höhe  der  Zustim- 
mung des  Präfekten  oder  Staatsoberhauptes. 
Die  Departements  können  selbständig  An- 
lehen aufnehmen,  wenn  die  Tilgungsfrist 
15  Jahre  nicht  übersteigt,  sonst  bedürfen 
sie  der  gesetzlichen  Ermächtigung. 

Schon  aus  dem  eben  Angeführten  ist 
ersichtlich,  dass  man  allenthalben  ein  be- 
sonderes Gewicht  darauf  legt,  dass  der 
Zeitraum  für  die  Tilgung  sich  nicht 
auf  eine  zu  grosse  Reihe  von  Jahren  er- 
streckt Auch  in  dieser  Beziehung  besteht 
ein  Gegensatz  zwischen  dem  Staats-  und 
dem  Kommunalfinanzwesen.  Dort  fordert 
man  aus  guten  Gründen  und  namentlich 
mit  Rücksicht  auf  die  auf  dauernden  Grund- 
lagen beruhende  Finanzwirtschaft  möglichst 
lang  bemessene  Tilgungszeiten  oder  noch 
besser  reine  Rentenanlehen  ohne  Kündigung 
imd  ohne  regelmässige  Tilgung;  hier  da- 
gegen führt  die  Rücksichtnahme  auf  die 
grösseren  wirtschaftlichen  Wandlimgen,  wel- 
chen das  lokal  und  personal  eng  umschrie- 
bene Gebiet  der  Gemeinde  ausgesetzt  sein 
kann,  dann  aber  auch  die  Rücksichtnahme 
auf  die  Zwecke,  denen  wenigstens  viele 
Gemeindeanlehen  dienen,  zur  Forderung 
relativ  kurzer  TDgungsfristen.  Was  insbe- 
sondere die  Zwecke,  zu  deren  Durchführung 
Anlehen   aufgenommen    werden,    anbetrifft, 


140 


Gemeindefinanzen 


so  werden  Slaatsaolehen  vielfach  für  solche 
Zwecke  verwendet,  welche  keine  wirtschaft- 
liche Rentabilität  gewähren,  mittelst  der 
Gemeiudeanlehen  hingegen  werden  häufiger 
Anstalten  ins  Leben  gerufen,  welche,  wie 
Markthallen,  Schlachthäuser,  Gasanstalten 
und  ähnliche,   üeberschüsse  gewähren,  die 


zur  Verzinsung  und  Tilgung  benutzt  werden 
können. 

Von  den  von  den  grössten  deutschen 
Städten  aufgenommenen  Anlehen  wurden 
bis  zum  Jahre  1896/97  bezw.  1896  ver- 
wendet 


zu  Zwecken  der 

von  der 
iStAdt 

Strassen-  und 

Brücken- 

bauten 

Kanalisation 
und  Abfuhr 

Wasser- 
werke 

Gas- 
werke 

Schlacht- 

und 
Viehhöfe 

Markt- 
hallen 

M. 

M. 

M. 

M. 

M. 

M. 

Berlin  .    .    . 

28  196  386 

104  876  373 

81  782  199 

31  HO  023 

16  523  656 

29  253  339 

Hünchen  .    . 

3  300000 

7  120000 

II  644000 

1  200000 

— 

Breslau     .    . 

5  500000 

8620000 

2  600000 

2250000 

7  700  ÜOO 

Dresden    .    . 

18  495  000 

2470000 

6300000 

I  500000 

5  000  000 

Köhi     .    .    . 

600000 

5  269  394 

— 

I  000000 

7  200000 

Magdeburg   . 

4188265 

4  460  029 

4  166  013 

4516750 

4096013 

Hannover 

351  571 

8000000 

200  030 

w    -     ■ 

— 

595000 

Königsberg  . 

I  205  000 

7  500000 

5  680  000 

3000000 

Düsseldorf 

1  789  166 

4  668  988 

3507000 

2  200000 

Stuttgart .    . 

600000 

2564721 

2  135  3^8 

I  037  275 

Man  wird  deshalb  im  allgemeinen  wohl 
von  Reitzenstein  Kecht  geben  dürfen,  wenn 
er  meint,  dass  eine  dreissigjährige  Amorti- 
sationsperiode schon  als  eine  so  lange  anzu- 
sehen sei,  dass  über  dieselbe  nur  in  ganz 
exceptionellen  Fällen  hinausgegangen  wer- 
den sollte.  Freilich  fehlt  es  in  den  meisten 
Staaten  an  einer  derartigen  gesetzlichen 
Regelung  der  Tilgungszeiten  und  der  Til- 
gungsquoten. In  Preussen  müssen  die  An- 
lehen jährlich  mit  mindestens  1  %,  und 
wenn  sie  zu  gewinnbringenden  Anlagen 
verwendet  werden  sollen,  mit  mindestens 
1^2^/0  getügt  werden,  und  es  sind  ferner 
hierzu  die  durch  die  fortschreitende  Tilgung 
ersparten  Zinsen  aus  dem  Ertragsüberschusse 
der  betreffenden  Anlagen  zu  verwenden. 
In  den  meisten  anderen  deutschen  Staaten 
besteht  lediglich  die  allgemeine  Bestimmung, 
dass  die  Tügungspläne,  sowie  eventuelle 
Abweichungen  von  denselben  der  Aufsichts- 
behörde zur  Genehmigung  vorgelegt  werden 
müssen.  So  z.  B.  nach  den  oben  bereits 
erwähnten  Artt.  62  und  63  bezw.  46  und 
47  der  bayerischen  bezw.  pfälzischen  Ge- 
meindeordnung. Ebenso  besteht  in  England 
kein  diesbezügliches  Gesetz,  vielmehr  wer- 
den die  Amortisationsperioden,  namentlich 
wo  es  sich  um  Anlehen  grösserer  Kommu- 
nalkörper handelt,  nicht  selten  auf  60 — 110 
Jahre  erstreckt.  Für  Frankreich  ist  wenig- 
stens in  denjenigen  Fällen,  in  denen  den 
Gemeinden  Anlehen  aus  Staatsmitteln  ge- 
geben werden,  eine  30  jährige  Tilgimgsfrist, 
und  in  anderen  Fällen  eine  12jähi'ige  bezw. 
5jährige  Tilgimgsfrist  festgestellt  worden 
(s.  unten).     Bei    Anlehen   auf   längere  Til- 


guugsperioden   bedarf   es   besonderer  staat- 
licher Genehmigung. 

Sucht  so  der  Staat  einer  irrationelleii 
Verschuldimg  der  Gemeinden  wenigste  us 
einigermassen  vorzubeugen,  so  lässt  er  sich 
andererseits  auch  angelegen  sein,  dafür  zu 
sorgen,  dass  das  Xreditbedürfnis  der  Ge- 
meinden in  entsprechenderweise  befriedigt 
werden  kann.  Dass  diese  Mitwirkung  des 
Staates  geboten  ist,  geht  aus  der  besonde- 
ren Natur  der  Gemeindewirtschaft,  welche 
vermöge  ihres  kleineren  Umfanges  und  ihrer 
ganzen  Organisation  von  dem  vorhandenen 
Kapitalangebot  in  der  Regel  nicht  ent- 
sprechenden Gebrauch  zu  machen  im 
Stande  ist,  hervor.  Am  energischsten  ge- 
schieht dies  da,  wo  der  Staat  selbst  die 
zur  Befriedigung  des  Kredits  der  Gemeinden 
und  kommunalen  Korporationen  erforder- 
lichen Mittel  schafft,  sei  es,  dass  er  ihre 
Kreditbedürfnisse  überhaupt  zu  befriedigen 
sucht,  wie  in  England,  oder  dass  er  seine 
Mittel  w^enigstens  zur  Erreichung  solcher 
Zwecke  darbietet,  an  denen  er  selbst  ein 
hervorragendes  Interesse  hat,  wie  in  Frank- 
reich. 

In  England  ist  die  Kreditgev^^hrnng 
seitens  des  Staates  an  kommunale  Korpora- 
tionen durch  Gesetze  von  1875  und  1879 
geregelt  worden.  Die  Vermittelung  tiber- 
nelmien  die  public  works  loan  commissio- 
ners,  welche  ermächtigt  sind,  diesen  Kor})o- 
rationen  für  bestimmte  Zwecke,  mid  z^var 
bis  zum  Betrag  einer  jährlich  vom  l*arla- 
ment  genehmigten  Summe,  Kredite  zu  ge- 
währen. Doch  darf  für  den  einzelnen  Dai-- 
lehnsnehmer  der  Betrag  von  100000   £;  im 


öeraeindefinanzen 


141 


Jahre  nicht  überschritten  werden.  Die 
Mittel  zur  Kreditgewährung  fliessen  gele- 
gentlich aus  üeberschüssen  der  Staatsfinanz- 
wirtschaft, werden  aber  in  der  Regel  durch 
Ausgabe  von  Schatzbons  aufgebracht.  Nach 
dem  Gesetz  von  1879  ist  der  Zinsfuss,  der 
von  den  Gemeinden  bestritten  werden  muss^ 
dergestalt  festgesetzt  worden,  dass  er  bei 
innerhalb  20  Jahren  rückzahlbaren  Anlehen 
3^2,  bei  zwischen  20  und  30  Jahren  rück- 
zahlbaren 3^4,  bei  zwischen  30  und  40  Jahren 
riickzahlbaren  4,  bei  längerer  Frist  4^/4  %  be- 
trägt. Die  seit  dem  Jahre  1817  bis  zum  31. 
März  1883  diu-ch  den  Staat  gewährten  Anlehen 
betrugen  5OV2  Millionen  £,  wovon  22  Mil- 
lionen zurückgezahlt  waren  und  28  Millionen 
noch  ausstanden;  hierzu  kamen  weitere 
3  Millionen,  welche  in  bereits  vollständig 
g^chlossenen  Rechnungen  nachgewiesen  wur- 
den, wovon  wieder  1610000  erlassen  worden 
waren  (von  Reitzenstein).  In  Frankreich 
werden,  wie  erwähnt,  den  Gemeinden  und 
Departements  Staatsmittel  kreditmässig  für 
Ijestimmte,  den  Staat  besonders  nahe  be- 
rührende Zwecke  zur  Yerfü^ng  gestellt. 
Hierher  gehören  namentlich  die  durch  G.  v. 
11.  JuH  1868  geschaffene  Kasse  der  Yi- 
einalwege  und  die  durch  G.  v.  1.  Juni  1878 
errichtete  und  durch  G.  v.  2.  August  1881 
zur  Caisse  des  lycöes,  coUeges  et  6coles 
primaires  erweiterte  Kasse  für  Schulbauten. 
Die  erstere,  jetzt  mit  500  Millionen  Francs 
dotiert,  gewährt  an  Gemeinden  und  eventuell 
auch  an  Departements  die  Mittel  zum  Bau 
von  Vicinalwegen  gegen  die  Entrichtung 
von  30  Zinsraten  im  Betrage  von  4%  der 
Anlehenssumme ;  die  zweite  Kasse,  mit  60 
Millionen  Francs  zur  Unterstützung  von 
Elementarschulhausbauten,  mit  50,4  Millionen 
Francs  für  Lyceen  und  15  Millionen  für 
Gemeindegymnasien  ausgestattet ,  gewährt 
ebenfalls  Vorschüsse  auf  30  Jahre  zu  dem 
oben  bezeichneten  Zinsfuss,  jedoch  gegen 
60  halbjälirige  Zinsraten  von  2  ®/o,  mit  deren 
Entrichtung  ebenso  ^ie  im  ersten  Falle  die 
Verpflichtung  der  Kreditnehmer  erlischt; 
docJi  können  auch  kürzere  Tilgungsfristen 
vereinbart  werden.  Die  Mittel  werden  durch 
die  nachher  noch  zu  erwähnende  Caisse  des 
depots  et  oonsignations  bereit  gestellt 

Wieder  in  anderen  B^len  stellt  der  Staat 
zwar  nicht  selbst  den  Gemeinden  die  er- 
forderlichen Mittel  bereit,  aber  er  errichtet 
öffentliche  Kreditinstitute,  welche 
die  Kreditgewährung  an  Gemeinden  über- 
nehmen, oder  er  giebt  bestehenden  derartigen 
Instituten  die  entsprechende  Richtung.  Das 
erstere  ist  der  Fall  in  Belgien,  wo  der  Credit 
communal  durch  G.  v.  19.  Juli  1860  lediglich 
znm  Zwecke  der  Kreditgewährung  an  Ge- 
meinden und  Provinzen  ins  Leben  gerufen 
wurde.  Die  Summe  der  daraus  gewährten 
Anlehen  betnig  bis  1.  Januar  1884  109  621 700 


Francs.  Das  zweite  ist  der  FaU  bei  der 
französischen  Caisse  des  d^pots  et  oonsigna- 
tions und  beim  deutschen  Reichsinvaliden- 
fonds.  Die  Caisse  des  döpots  etc.,  welche 
ursprünglich  nur  eiAe  Kasse  für  die  Annahme 
genchtlicher  Depots  war,  dann  aber  auch 
mit  der  Verwaltung  der  Sparkassenfonds, 
der  disponiblen  Staatsfonds  und  der  bei  der 
Staatsschatzverwaltung  zu  hinterlegenden 
verffigbaren  Fonds  der  Gemeinden  und  An- 
stalten betraut  wurde,  gewährt  aus  diesen 
Mitteln  den  Gemeinden  Darlehen  zur  För- 
derung solcher  Zwecke,  für  welche  nicht 
der  Staat  selbst  die  Mittel  vorschiesst.  Der 
Zinsfuss  beträgt  in  der  letzten  Zeit  4  und 
4V4''/o,  wozu  noch  eine  ziemlich  hohe  Til- 
gungsquote kommt,  da  die  aufgenommene 
Summe  in  ^  verhältnismässig  kurzer  Zeit 
(höchstens  20  bezw.  12  Jahren)  zurückgezahlt 
werden  muss.  Der  Invalidenfonds  des  Deut- 
schen ßeichs,  ein  Teil  des  Reichsvermögens, 
verwendet  einen  grossen  Teil  seiner  G-elder 
zur  Kreditgewährung  an  kommunale  Kor- 
porationen. Der  Zinsfuss  beträgt  4V2  und 
4  ^/o  und  die  Gesamtsumme  der  ausgeliehenen 
Gelder  stellte  sich  im  April  1896  auf 
104831000  Mark. 

Die  Mitwirkung  des  Staates  in  Bezug 
auf  die  Erleichterung  der  Kreditaufnahme 
durch  die  Gemeinden  kann  sich  endlich  da- 
rauf beschränken,  Privatanstalten  zur 
Kreditgewährung  zu  veranlassen  oder  die- 
selben zur  Gnlndung  solcher  Anstalten  an- 
zuregen und  ihre  Thätigkeit  in  dieser  Be- 
ziehung zu  regeln.  Namentlich  wird  eine 
solche  Vermittelung  nötig  sein,  wo  es  sich 
um  kleinere  kommunale  Korporationen  han- 
delt. In  dieser  Beziehung  kommt  vornehmlich 
der  Credit  foncier  in  Paris  in  Betracht,  der 
bis  zum  Jahre  1895  die  Summe  von  4,075 
Millionen  Francs  an  unter  Pfsindbriefausgabe 
gewährten  Anlehen  an  Ortsgemeinden,  zu- 
letzt zum  Zinsfuss  von  4,60  bezw.  4,35%  aus- 
geliehen hatte.  Auch  das  preussische  Cen- 
traJbodenkreditinstitut  hat  seit  einiger  Zeit 
mit  solcher  Thätigkeit  sich  befasst,  aber 
dieselbe  über  einen  ziemlich  engen  Umkreis 
nicht  auszudehnen  vermocht,  da  von  selten 
der  Gemeinden  namentlich  der  Invaliden- 
fonds in  Anspruch  genommen  wurde.  In 
anderen  deutschen  Ländern  geben  ähnliche 
Institute  (in  Bayern  z.  B.  die  Yereinsbank) 
Kredit  an  die   kommunalen  Korporationen. 

20.  Arten  und  Höhe  der  Gemeinde- 
schulden.  Wie  der  Staat,  so  kann  auch  die 
Gemeinde  ihre  Anlehen  in  verschiedenen 
Formen  aufnehmen  und  auf  verschiedene 
Art  begeben.  Doch  machen  sich  auch  in 
dieser  Beziehung  die  Vei-schiedeuheiten  in 
der  inneren  Natur  des  Gemeinde-  und  Staats- 
haushaltes geltend,  auf  welche  schon  wieder- 
holt hingewiesen  wurde,  also  namentlich  in 
dem  Sinne,  dass  diejenige  Schuldform,  welche 


142 


Gemeindefinänzen 


für  den  Staat  als  die  geeignetste  bezeichnet 
werden  muss,  nämlich  die  fundierte  Schuld 
mit  unbegrenzter  Dauer,  die  Rentenschuld, 
als  für  die  Gemeinden  am  wenigsten  ge- 
eignet erscheint  In  der  Begel  wird  es  sich 
um  Anlehen  mit  einem  festen  Zinsfuss  und 
bestimmten  Amortisationsquoten  handeln, 
welche  im  übrigen  in  den  sonst  üblichen 
Formen  aufgenommen  werden.  Im  allge- 
meinen wird  man  auch  annehmen  dürfen, 
dass  es  Sache  derjenigen  Geldinstitute, 
Banken  und  dergleichen  ist,  welche  den 
Gemeinden  Kredit  gewähren  wollen,  sich 
über  die  finanzielle  Leistungsfähigkeit  der- 
selben zu  imterrichten.  Eine  Ausnahme 
wird  nur  da  zu  machen  sein,  wo  die  Ge- 
meinde ihr  Anlehen  in  der  Form  von  auf 
den  Inhaber  lautenden  Schuldti^eln  bewirkt. 
Da  in  diesem  Falle  die  Schuldurkimden  auf 
einen  grösseren  Umlauf  berechnet  sind  imd 
den  Inhabern  derselben  in  der  Regel  ein 
Urteil  über  die  Sicherheit  derselben  fehlt, 
da  es  sich  hier  femer  um  wichtige  Interessen 
des  Effektenverkehrs  handelt,  so  wird  eine 
besonders  eingehende  Prüfung  und  die  Er- 
füllung besonderer  Vorbedingungen  seitens 
der  Staatsbehörde  gefordert  werden  können. 
Zu  den  letzteren  gehört  namentlich  die  Er- 
bringim^  des  Nachweises  eines  wohlbegrfin- 
deten  Tilgimgsplanes  und  die  Erfüllung  der- 
jenigen Anforderungen ,  welche  durch  die 
Einreihung  des  Anlehens  in  das  System  des 
Effektenhandels  bedingt  sind. 


Im  übrigen  gelten  hier  dieselben  Rejoreln, 
welche  für  die  Anlehnsaufnahme  überhaupt 
als  massgebend  betrachtet  werden  müssen; 
die  Gemeinden  werden  bestrebt  sein,  ihre 
Schuldtitel  unter  möglichst  günstigen  Be- 
dingungen namentlich  mit  Rücksicht  auf  den 
Zinsfuss  zu  begeben  und  sich  die  Möglich- 
keit einer  Zinsreduktion  zu  wahren. 

Können  wir  also  bezüglich  der  Art  der 
Kommunalanlehen  mit  den  eben  bezeichneten 
Einschi-änkungen  'auf  das  Staatsschidden- 
wesen  verweisen,  so  lie^  es  uns  noch  ob, 
einige  Angaben  über  die  Höhe  der  Ver- 
schuldung der  Gemeinden  beizubringen. 

Die  bereits  oben  erwähnte  stets  steigende 
Zunahme  der  Gemeindeaofgaben,  zum  Teil  wohl 
auch  das  Vorbild  der  ihre  Schuldenlast  stets 
mehrenden  Staatsverwaltungen,  haben  eine  stetig 
fortschreitende,  oft  rasch  anwachsende  Ver- 
schuldung derselben  bewirkt.  Sie  lässt  sich  bei 
der  Zersplitterung  des  Materials  nicht  fifleich- 
mässig  in  den  verschiedenen  Staaten  verfolgen, 
aber  was  mitfireteilt  werden  kann,  genügt,  um 
allenthalben  die  gleiche  Tendenz  anzunehmen. 
Die  Gemeindeschiuden  der  Vereinigten  Staaten 
schätzte  ein  amerikanischer  Volkswirt  im  Jahre 
1870  auf  278  Millionen  Dollar,  im  Jahre  1876 
auf  641,  die  Gemeindeschulden  der  ganzen  Welt, 
deren  Anfang  nicht  eben  weit  zurückreicht,  auf 
4250  Millionen  DoUar. 


In  der  folgenden  TabeUe  geben  wir   eine 
Uebersicht  über  die: 


Entwickelung  des  Schuldenstandes  der  Gemeinden  in  Frankreich  in  Francs. 

(Nach  V.  Eeitzenstein.) 


Gesamtbetrag  der  Verschuldung 

Sämtliche  Ge- 
meinden 

Paris 

Die  übrigen 
Gemeinden 

am  31.  März  1878 

„    30.  Juni  1886 

„    31.  März  1894 

„   31.  März  1896 

2  745  754  306 

3  020  450  528 
3514436672 
3511984252 

I  988  276  523 

1  777914586 

2  073  657  888 
2  043  883  752 

757477783 
I  242  535  942 
I  440  778  792 
I  468  100  5cx> 

Was  Paris  anlangt,  so  ist  allerdings  nach 
den  auf  das  Belagernngsjahr  folgenden  riesigen 
Anlehen  ein  Stillstand  eingetreten,  ja  es  weisen 
die  Schlussrechnungen  ein  durch  die  Amorti- 
sationsquoten bedingtes  schwaches  Zurückgehen 
des  Schuldenstandes  auf,  ähnlich  wie  in  Wien, 
wo  nach  den  für  öffentliche  Bauten  und  die 
Herstellung  derWasserleitung  gemachten  grossen 
Anlehen  der  Jahre  1867—1875  keine  nennens- 
werten neuen  Schulden  kontrahiert  wurden. 
Doch  betrug  die  Schuldenlast  1896  immerhin 
nahezu  2,044  Milliarden  Francs,  also  mehr  als 
die  Schuldenlast  mancher  Königreiche. 

In  England  betrugen  die  Gemeindeschulden 
im  Jahre  1867-  68  etwas  über  as  Millionen  £, 
im  Jahre  1881—82  120,7  MiDionen  ^. 

Auch  eine  vergleichende  Statistik  der  Kom- 
mnnalschulden  Italiens  giebt  wenigstens  für  die 
Jahre  1873—1880  ein  ähnliches  Bild.  Die  Zu- 
sammenstellung Perozzos  zeigt,  dass  der  Ge- 
samtbetrag der  Kommunalschulden  wie  die  An- 


I  zahl  der  mit  Schulden  belasteten  Gemeinden  in 
beständiger  Zunahme   begriffen   ist   und    dasa 
Zahl  und  Betrag  der  neuen  Anlehen  und  Schuld- 
verschreibungen sehr  beträchtlich  sind,  während 
die  allmählichen  Schuldentilgungen  nur  wenie^e 
und   unbedeutende   Fortschritte  machten.      Die 
mittlere    jährliche    Zunahme     der    Gemeinde- 
schulden betrug  in  der  Periode  1874 — 77   un- 
gefähr 33  Millionen  Lire,  25  Millionen  im  Jalire 
1878,    38   Millionen    in    den   Jahren  1879— 8(). 
Auffallend  ist,  dass  die  jährliche  Zunahme  der 
Schulden  der  Stadtgemeinden  eine  Tendenz  zur 
Verminderung  zeigt,  während  die  betreffenden 
Zunahmen  in  den  Landgemeinden  sich    immer 
mehr  vergrössern.    So  betrug  die  jährliche  Zu- 
nahme der  Schulden  der  Landgemeinden,  Avelche 
im  Jahre  1878  gegen  das  Vorjahr  348  Millionen 
Lire  ausmachte,  in  den  Jahren  1879 — 80  »chon 
1349  Millionen  Lire  im  Durchschnitt  der  beiden 
Jahre.     Im  Jahre  1391   betrug   die  Anlehens- 
verschuldung     der     italienischen     Gemeinclen 


Gemeindefiiianzen 


143 


1175663421,     die   der   Provinzen    174935367 
Lire. 

Ueber  die  Verschuldung  der  Gemeinden  in 
Bayern  im  Verhältnis  zu  ihrem  Vermögen 


unterrichtet  die  folgende  dem  statistischen  Jahr- 
buch fttr  das  Königreich  Bayern  entnommene 
Tabelle  I  und  II: 


I.  Gesamtvermögen  und  Renten  1895. 


Vermögen 

Renten 

Gemeinden 

ins- 
gesamt 

1000  M. 

ren- 
tierendes 

1000  M. 

nicht  ren- 
tierendes 

1000  M. 

auf 
1  Ein- 
wohner 

M. 

vom  gesamten 
rent.  Vermögen 

von  Gebäuden 
und  Rechten 

auf 
1  Ein- 

überhaupt 
1000  M. 

0/ 

/o 

überhaupt 
1000  M. 

% 

wohn. 
M. 

unmittel- 
bare*) .    . 
üebrige   .    . 
Insgesamt    . 
1^    .    .    . 

*)  Daz 

382786 

347  928 
730715 
521  664 

1  die  pfölz 

313377 
243  914 
557291 
362  746 

ischen  Gei 

69409 
104014 

173423 
158919 

neinden  m 

1 

248,99         10419      3,32 
81,27          10960     4,49 

125,58         21 379      3,84 

94,36           15711       4,33 

t  über  2500  Einwohnern. 

6472 

1544 
8016 

4498 

3,57 
7,76 
3,98 
6,28 

6,78 
2,56 
3,69 
2,84 

IT.  Gemeindeschulden  und  Vermögensabgleichung  1895  in  1000  Mark. 


Gemeinden 

Neuer 
Schulden- 
zugang 

Schulden- 
stand am 
Ende  des 
Jahres 

Amorti- 
sationsauf- 
wand 

Ueberschuss  \  ^It^fJ,^'' 

des  Gesamt-       1?,JI°: 
««.  ...X»»»«        tierenden 
veimögens       yen„ögens 

Unmittelbare*)   .    . 
üebrige      .... 
Insgesamt  .... 
1889 

18966 

6569 

25535 

16343 

202716 

59404 
264  638 

171415 

9313 

3  537 

13363 

6473 

180070 
280010 
466  076 
350  249 

110  661 
178844 
292  653 
191  330 

*)  Dazu  die  pfälzischen  Gremeinden  mit  über  2500  Einwohnern. 


Besonders  hoch  ist  aus  erklärlichen  Gründen 
der  Schuldenstand  in  den  grossen  Stadtgemein- 
den. Darauf  wurde  oben  bereits  aufmerksam 
gemacht.  Zur  Ergänzung  sei  folgendes  noch 
aufgeführt.  Nach  den  allerdings  älteren  Mit- 
teilungen von  Körösi  ist  der  Scnuldenstand  der 
Städte  Berlin,  Wien,  Budapest,  Kopenhagen, 
München,  Stockholm,  Leipzig,  Triest,  Königs- 
berg und  Christiania  in  den  Jahren  1877— Iwl 
von  A2S  Millionen  Francs  auf  538  V2  Millionen 
Francs  in  die  Höhe  gegangen,  so  dass  die  durch- 
schnittliche jährliche  Zunahme  nahezu  6,4% 
betrug,  während  die  Bevölkerung  in  demselben 
Zeitraum  nur  um  ca.  3%  jährlich  zugenommen 
bat.  Was  die  Verteilung  der  Gesamtschulden- 
laüt  der  von  KörÖsi  behandelten  Städte  auf  den 
Kopf  der  Bevölkerung  anlangt,  so  stand  zur 
angegebenen  Zeit  obenan  die  Stadt  Florenz  mit 
der  enormen  Schuldenlast  von  9337«  Francs  pro 
Kopf,  es  folgte  dann  Paris  mit  854 Vs  Francs, 
Washington  mit  613,  Frankfurt  a.  M.  mit  SOS'^/j, 
die  Städte  Lüttich,  Genua,  Mailand,  München, 
Leipzig  und  Wien  mit  300—200  Francs,  Berlin 
mit  147,  Kopenhagen  mit  135.  Die  geringsten 
Schulden  zeigten  um  jene  Zeit  die  russischen 
Städte,  so  Warschau  4,51,  Petersburg  11,41, 
Riga  19,58  Francs  pro  Kopf. 

Nach  den  letzten  Uebersichten  von  Körösi 
(pro  1885)  betrug  der  Schuldenstand  von 


Nürnberg 
Kopenha^n 
Christiania 
Dresden 


i7,4Mm.Fr. 
41,8 

123,9 


26,8 


rt       n 
n       n 


147,34  pro  Kopf 

144,91  n  n 
123,95  „  r, 
107,78  „    „ 


Frankfurt  a. 

M. 

53,8  Mill.  Fr. 

=  344,96  pro  Kopf 

Stockholm 

65,6 

n 

n 

=  299,45     n 

» 

Mailand 

79,5 

n 

n 

=  220,32     „ 

n 

Prag 

37,7 

n 

n 

=  212,65     „ 

n 

Wien 

136,8 

n 

n 

—  180,31     „ 

T) 

Was  das  Schuldenwesen  der  grossen  deut- 
schen Stadtgemeinden  anlangt,  die  wir  in 
den  bisherigen  Tabellen  berücksichtigt  haben, 
so  geben  wir  im  folgenden  eine  Statistik  des- 
selben nach  den  Tabellen,  welche  G.  Tenis  zum 
ersten  Mal  in  dem  Statist.  Jahrbuch  Deutscher 
Städte  veröffentlicht. 

Freilich  kann  damit  nur  ein  Angenblicks- 
bild  des  Schuldenstandes  der  einzelnen  Städte 
am  Schlüsse  'des  Kechnungsjahres  1896/97  bezw. 
1896  gegeben  werden.  Auch  darf  aus  den  mit- 
geteilten Zahlen,  wie  Tenis  selbst  bemerkt, 
nicht  zu  viel  geschlossen  werden;  einer  sta- 
tistischen Vergleichung  des  Schuldenstandes 
einer  grösseren  Anzahl  von  Städten  stellen  sich 
kaum  eu  überwindende  Hindernisse  entgegen. 
Die  verschiedenen  Rechtsverhältnisse  sind  in  Be- 
tracht zu  ziehen ;  lokale  Unterschiede  mancher- 
lei Art  bedingen  eine  grosse  Mannigfaltigkeit 
in  den  von  den  Städten  zu  erfüllenden  Aufgaben, 
für  welche  dieselben  gezwungen  sind,  den 
öffentlichen  Kredit  in  Anspruch  zu  nehmen. 
In  besonderem  Masse  ist  aber  bei  Ver- 
gleichungen  die  Verwendung  der  aufgenomme- 
nen Schulden  zu  berücksichtigen,  da  hier- 
durch die  eigentliche  Belastung  des  Gemeinde- 
haushalts mit  der  Schuld  bedingt  ist.  Schulden 
für  ertragbringende  Unternehmungen  sind,  wie 
erwähnt,  ganz  anders  zu  beurteilen,  weil  sie 
sich  selbst  verzinsen  und  tilgen,  als  Anlehen 


144 


GemeindefinaDzen 


Uebersicht  über  den  Scholdenstand  am  Schlüsse  des  Jahres  1896/'97  sowie  der  in  diesem  Jahre 
für  Verzinsung  und  Tilgung  der  Schulden  aufgewendeten  Beträge  (im  Vergleich  mit  den  Ge- 
meindesteuern). 


Gesamtbetrag 
der  Schulden 

Betrag 
der  Ge- 
meinde- 
steuern 
pro 
Kopf 

Ausgabe  für 
Tilgung 

Ausgabe  für 
Verzinsung 

Gesamtausgabe  für 
Tilgung  u.  Verzinsung 

Städte 

über- 
haupt 

pro 
Kopf 

über- 
haupt 

pro 
Kopf 

überhaupt 

pro 
Kopf 

überhaupt 

pro 
Kopf 

In  % 
der  Ge- 
meinde- 
steuern 

Berlin  .... 

273  392  350 

158,33 

27,38 

8414500 

4,88 

9  708  170 

5,62 

18  122670 

10,50 

38,3 

Breslau      .    .    . 

51  307292 

133,04 

25,57 

I  626  672 

4,22 

1  535  728 

3,98 

3  162  400 

8,20 

32,1 

Köln     .... 

42721385 

128,04 

22.92 

982  282 

2,94 

I  394314 

4,18 

2  376  596 

7,12 

31,1 

Frankfurt  a.  M. 

65  382  833 

273,41 

39.97 

I  189253 

4,97 

2  241  748 

9,37 

3431001 

14,34 

35,9 

Magdeburg    .    . 

39  678  338 

272,20 

30,99 

455  530 

5,80 

780  170 

9,93 

1  235  700 

15,73 

50,7 

Hannover  .    .    . 

50  354  403 

228,36 

19,99 

555  574 

2,52 

1649931 

7,48 

2  205  505 

10,00 

50,0 

Düsseldorf     .    . 

28811939 

154,86 

25,08 

556993 

2,99 

1  052  682 

5,66 

1  609  675 

8,65 

34,5 

Königsberg    .    . 

19  124935 

109,34 

22,18 

473  250 

2,75 

629  233 

3,59 

I  102483 

6,34 

28,4 

Altona  .... 

30219099 

199,99 

26,29 

581  427 

3,85 

1  045  678 

6,92 

1  627  105 

10,77 

40,9 

Stettin  .... 

22499000 

151,73 

21,26 

422000 

2,85 

802  235 

5,41 

I  224235 

8,26 

38,8 

Elberfeld  .    .    . 

27  969  624 

195,05 

26,16 

565  295 

3,94 

974  156 

6,79 

1539451 

10,73 

41,0 

Charlottenburg  . 

20  743  700 

136,06 

25,32 

277000 

1,82 

777  766 

5,10 

I  054  766 

6,92 

27,3 

Bannen     .    .    . 

24  954  884 

191,42 

22,60 

361  416 

2,77 

678804 

5,21 

I  040  220 

7,98 

35,2 

Danzig .... 

8937600 

70,08 

20,20 

606500 

4,76 

363812 

2,85 

970312 

7,61 

37,8 

Halle     .... 

14599651 

121,02 

20,01 

289501 

2,40 

500036 

4,15 

789  537 

6,55 

32,7 

Dortmund      .    . 

15  291  118 

124,31 

21,47 

297900 

2,42 

530461 

4,31 

828361 

6,73 

31,3 

Aachen      .    .    . 

12615900 

111,91 

24,65 

347200 

3,08 

482  274 

4,28 

829  474 

7,36 

29,8 

Krefeld      .    .    . 

9  143  710 

84,52 

20,94 

370  334 

3,42 

336  309 

3,11 

706643 

6,53 

31,2 

Essen    .... 

13  793  442 

133,77 

23,53 

327657 

3,18 

466096 

4,52 

793  753 

7,70 

32,7 

Kiel 

8  947  386 

99,68 

21,26 

156800 

1,75 

303  269 

3,38 

460069 

5,13 

24,1 

Cassel  .... 

16082950 

189,11 

26,10 

417970 

4,91 

562003 

6,61 

979  973 

11,52 

44,1 

Erfurt  .... 

7  400000 

92,99 

17,60 

102  500 

1,29 

262814 

3,30 

365314 

4,59 

26,1 

Wiesbaden     .    . 

15029929 

195,28 

35,22 

432813 

5,62 

523642 

6,80 

956  455 

12,42 

35,3 

München  1896   . 

87  770  544 

208,10 

21,40 

801  227 

1,90 

3251400 

7,71 

4  052  627 

9,61 

44,9 

Nürnberg  1896  . 

26  230  673 

152,02 

18,01 

340  155 

1,97 

889280 

5,15 

1  229  435 

7,12 

39,6 

Augsburg  1896 . 

10557  100 

127,33 

20,56 

162000 

1,95 

361  162 

4,36 

523  162 

6,31 

30,7 

Leipzig  1896     . 

649  669  653 

157,79 

22,82 

530271 

1,29 

2290714 

5,59 

2  820  985 

6,88 

30,2 

Dresden  1896    . 

39410499 

113,24 

25,02 

730  567 

2,10 

I  465  099 

4.21 

2  195  666 

6,31 

25,2 

Chemnitz  1896  . 

14767454 

88,08 

23,46 

505  706 

3,02 

677  974 

4,04 

I  183  680 

7,06 

30,1 

Stuttgart  .     .    . 

20906718 

127,40 

30,35 

121  940 

0,74 

800640 

4,88 

922  580 

5,62 

18,5 

Karlsruhe  1896 . 

17038408 

197,05 

15,93 

292000 

3,38 

492513 

5,69 

784513 

9,07 

56,9 

Mainz    .... 

21  380499 

272,20 

30,99 

455  530 

5,80 

780  170 

9,93 

1  235  700 

15,73 

50,7 

Darmstadt   1896 

13  819  772 

210,37 

28,17 

165  366 

2,52 

491  496 

7,49 

656  862 

10,01 

35,5 

Braunschweig    . 

16539952 

138,28 

15,91 

153329 

1.28 

726  563 

6,07 

879  892 

7,35 

46,2 

Strassburg  i.  E. 

1 1  587  970 

82,96 

23,78 

547  526 

3,92 

322  127 

2,31 

869653 

6,23 

26,2 

Mülhausen  i.  E. 

5  143  500 

60,41 

24,15 

201  600 

2,37 

183  593 

2,15 

385  193 

4,52 

18,7 

Metz 

5245 

0,09 

19,02 

■ 

~~~ 

zur  Befriedigung  allgemeiner  Bedürfnisse,  die 
mit  ihrem  ganzen  Etat  den  Gemeindehaushalt 
belasten.  Auch  die  yerschiedenen  Bedingungen, 
unter  denen  die  Anlehen  aufgenommen  sind, 
die  Rückzahlungsverpflichtungeu  u.  s.  w.  er- 
schweren die  Vergleichbarkeit  sehr.  Insbesondere 
dürfen  die  auf  den  Kopf  berechneten  Quoten 
nicht  ohne  weiteres  als  Massstab  für  die  grössere 
oder  geringere  Verschuldung  der  Städte  und  für 
den  Druck  der  Schuldenlast  angesehen  werden ; 
es  müsste  dann  einer  Vergleichung  des  Schulden- 
standes auch  eine  solche  des  Vermögens  gegen- 
übergestellt werden ,  wie  sie  bezüglich  der 
bayerischen  Gemeinden  oben  angegeben  ist,  für 
die  oben  angeführten  deutschen  Städte  j»ioch 
zur  Zeit  noch  nicht  aufgestellt  werden  kann. 

Litteratnr:  l)  Allgemeine  Litteratnr:  A, 
Wagner,  F.-W.,  Bd.  I,  Buch  1,  Kap,  2,  Ab- 
schnitt 8,  jf.  Aufl.,  188S.  —  L.  V.   Stein,   F.-W., 


Teil  I,  S.  64  ff.,  6.  Aufl.,  1895.  —  W.  Hoscher. 
F.-W.,  i  156—162.  —  G.  Cohn,  F.-W.,  18Si*, 
S.  641  ff.  —  Leroy-Beaulieu,  Tratte  des 
Finances,  6.  Aufl.,  1899.  —  Jf.  Block,  IXctionn. 
tfe  VadminiHr.  fran^.  unter  den  enisprechenilen 
Worten. 

2)  Specielle  Litteratur:  Bettonders  dir 
Schriften  v.  Reitaiensieins ,  nämlich:  JM^ 
kommunale  Finanzwesen,  in  Schänberg,  Bd.  IIJ, 
4"  Aufl.,  1898,  neu  bearbeitet  von  O.  Trü  dinge  r. 

—  Derselbef  Das  Kommunalsteuersystem.  Frank- 
reichs und  die  Reform  in  Preusscn,  in  d^n  Sehr, 
d.  Ver.  f.  Sozialp.,  Bd.  XII,  S.  116 ff.  —  I>p>-- 
seihe,  Ueber  indirekte  Verbrauchssteuern  in  den  Ge- 
meinden, in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  X.  F.  Bd.  VIII, 
S.  Iff.,  Bd.  IX,  S.  ai9ff.,  Bd.  XVIII,  S.  4^1  (f- 

—  Derselbe,  Ueber  finanzielle  Konkurrenz  t'f»>j 
Gemeinden,  Kommunalverbänden  und  SUuit,  itu 
im  Jahrb.  f.  Ges.  u.  V.,  N.  F.  Jahrg.  11,  S.  I24  ff- 
499 ff.,    885  f.,  Jahrg.  12,   S.  85 ff.,  529 ff.    —    .S 


Gemeindefinanzen — Gemeinheitsteilung  (Allgemeines) 


145 


femer  Ifeseelben  ÄrtL  Gemeindeanl-ehen,  Ge- 
meindedienatef  Gemeindegchühren,  Gefneindehaug- 
halt.  Gerne indeMeuem,  Gemeindevcrmögeyi  in  v, 
i^engeU  Wörterbuch  des  Deutschen  Verwaltungs- 
rechts.  —  V.  v,  Srasch,  Die  Gemeinde  und 
ihr  Finanzwesen  in  Frankreich,  3874»  —  v»  J8i- 
linsMf  Gemeindebesteuerung  und  deren  Reform, 
1878.  —  BödikeTf  Die  KommuncUbesteuerung 
in  England  und  Wales,  1865.  —  NeumanUf 
Die  progressive  Einkommensteuer  im  Staats-  und 
GemeindehaushaU,  1874.  —  Derselbe^  Ertrags- 
oder persönliche  Steuern,  1876.  —  Derselbe , 
Zur  Genieindesteuerreform  in  Deutschland,  Tab. 
1895.  —  Di^  Kommunalsteuerfrage,  zehn  Gut- 
achten und  Berichte,  veröffenil.  v.  Ver.  f.  Soz. 
1877.  Dazu  die  Verhandlungen  der  5.  General- 
versammlung d.  Ver.  f.  Sozialp.,  Schriften,  Bd. 
XIV.  —  Priedberg,  Die  Besteuerung  der  Ge- 
meinden, 1877.  —  A.  Wagner j  Die  Kommunal- 
steuerfrage,  1878.  —  v,  Gneist,  Die  preussische 
Finanzreform  durch  Regulierung  der  Gemeinde- 
steuern, 1881.  —  Oernifeldt,  Städteßnamen  in 
Preussen,  1882.  —  Wright  and  Hobhouse, 
An  otUline  of  local  govemement  and  taxation  in 
England  and  Wales,  1884,  Supplement  1888.  — 
W,  Tröltseh,  Die  bayerische  Gemeindebesteue- 
rung seit  Anfang  des  19.  Jahrhunderts,  1.  Abt., 
1891.  —  AdickeSf  Veber  die  weitere  Entwicke- 
hing  des  Gemeindesteuerwesens  auf  Grund  des 
preussischen  Kommunalabgabengesetzes,  in  der 
Zeitschr.  f.  Staatsw.,  1895.  —  W.  Kahler^  Die 
preussischen  Kommunalanlehen,  Jena  1897.  —  8. 
auch  Finanzarchiv  im  Register  s,  v.  Kommunal- 
ßnanzen,  bes.  Kollm>anifi,  Die  Kotnmunalbe- 
Steuerung  im  Grossherzogtum  Oldenburg,  Bd.  I, 
8.  62Sff.  —  KaufmanUf  Gemeindebesteuerung 
und  Mcuuenkonsfim  in  den  sieben  gröseten  Städten 
des  rechtsrheinischen  Bayern,  im  Finanzarchiv 
1897. 

8)  Statistik:  Ausser  mehreren  der  oben 
citierten  Schriften  s.  namentlich  «T.  Körösi, 
Statistique  internationale  des  grandes  villes, 
9*  section,  1877.  —  Derselbe,  Bulletin  des 
ßnances  des  grandes  villes,  seither  1877 — 1886, 
erschienen  1879 — 1890.  —  Fii r  Deutschland: 
Neefe,  Statistisches  Jahrbuch  deutscher  Städte, 
seit  1890.  —  Herrfurthy  Verschiedene  Artikel 
über  Gemeinde-  und  Kreisfinanzen,  in  der  Zeit- 
schrift des  preuss.  Statist.  Bureaus,  Bd.  XVIII, 
1877,  dann  Ergänzungsh.  6,  7  und  9.  —  X>er- 
9elbe,  Die  Finanzlage  der  Städte  und  Landge- 
meinden in  Preussen,  im  Fin.-A.,  Bd.  I,  S.  748 ff. 
—  V.  Taehoppe,  Vergleichende  Darstellungen 
aus  der  FinanzstcUistik  der  preuss.  Gemeinden 
für  das  Jahr  1888,84,  Zeitschr.  des  preuss.  stat. 
Bureaus,  Jahrg.  24,  8.  20Sff.  —  ß.  v.  Mayr, 
Beiträge  zur  Statistik  der  Gemeindebesteuerung  in 
Bayern  in  d.  Zeitschr.  des  bayer.  Statist.  Bureaus, 
Jahrg.  10,  8.  268  ff.  und  Jahrg.  12,  S.  22 ff. 
Hierzu  die  Fortsetzungen  von  v,  Müller,  ebenda, 
Jahrg.  14,  S.  167 ff.  und  Jahrg.  16,  8.  69 ff.  — 
K.  Raspf  Die  Gemeindeumlagen  im  Königreich 
Bayern  in  den  Jahren  1882 — 1886,  in  den  Bei- 
trägen zur  Statistik  des  Königreichs  Bayern,  S. 
Iff.  —  M.  Seydel,  Zur  Finanzstatistik  der 
grösseren  Städte  Bayerns,  in  der  Zeitschr.  des 
bayer.  Statist.  Bureaus,  Jahrg.  12,  8.  100  ff.  — 
Vgl.  ferner  die  periodischen  Statist.  Publikationen 
einzelner  grosser  Städte  in  Form  besonderer 
statistischer  Jahrbücher,  z.  B.  Statist.  Jahrbuch 
der  Stadt  Berlin,  herausgegeben  von  R.  Böckh, 

Handwörterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


24.  Jahrg.,  Berlin  1899  und  die  im  Text  citierten 
statistischen  Jahr-  und  Handbücher.  —  Ueber 
Italien:  L.  Perozzo,  Statistik  der  verzinslichen 
Kommunal-  und  Provinzialschulden  in  Italien 
am  31.  XII.  1880,  im  Fin.-A.  Jahrg.  1,  8.  244  f. 
und  die  dort  citierten  Publikationen. 

K.  Th,  Eheberg, 


Gemeinheiten, 

s.  Gemeinheitsteilung. 


Gemeinheitsteilnng. 

I.  Allgemeines  (S.  145).  II.  Specielle  Ge- 
setzgebung (S.  151). 

I. 

Allgemeines. 

A.  Einleitung.  B.  Historische  Ent- 
wickelung.  C.  Charakteristik  der  Ge- 
setzgebung. 

A.  Einleitung. 

Zwei  grosse  gesetzgeberische  Reformen 
haben  in  der  neueren  Zeit  tief  in  die  be- 
stehenden Grundbesitzverhältnisse  einge- 
griffen. Beide  bezwecken  die  Befreiung 
des  Grundbesitzes  von  den  Fesseln  der  äl- 
teren Agrarverfassung,  die  eine,  indem  sie 
die  rechtliche  Gebundenheit  namentlich  des 
bäuerlichen  Ginindbesitzers  hinsichtlich  seiner 
Person  und  seines  Eigentums,  die  andere,  in- 
dem sie  die  wirtschaftliche  Gebundenheit  der 
einzelnen  Grundstücke  selbst  beseitigt. 
Beide  dienen  in  hervorragendem  Masse  der 
Landeskultur  und  werden  daher  auch  als 
Landeskidturgesetzgebung  im  engeren  Sinne 
zusammengefasst. 

Für  die  erste  dieser  Reformen  ist  der 
Name  Bauernbefreiung  (s.  oben  Bd.  II,  S. 
343  ff.)  allgemein  üblich.  Für  die  letztere 
findet  sich  niu*  in  der  älteren  staatswissen- 
schaftlichen Litteratur,  z.  B.  bei  Rau,  bis- 
weilen die  einheitliche  Bezeichnung  »Ge- 
meinheitsteilung«. Das  Wort  »Gemeinheit« 
bedeutet,  so  gebraucht,  die  gemeinschaft- 
liche Benutzung  ländlicher  Gnmdstücke  zum 
Zwecke  des  Landwirtschaftsbetriebes,  das 
Wort  »Gemeinheitsteilung«  die  Aufhebung 
dieser  Benutzung. 

In  neuerer  Zeit  dagegen  versteht  man 
unter  Gemeinheiten  diejenigen  ländlichen. 
Grundstücke,  welche  sich  im  Besitz  einer 
oder  mehrerer  Gemeinden  oder  gemeinde- 
ähnlicher Korporationen  befinden  und  von 
den  Mitgliedern  derselben  auf  Gnmd  ihrer 
Mitgliedschaftsrechte  genutzt  werden.  Ge- 
meinheitsteilung ist  dann  Aufteilung  der- 
artigen Gemeinbesitzes  unter  die  Berech- 
tigten. 

Es   empfiehlt  sich  zur  Venneidung  von 

Auflage  IV.  10 


146 


Genieinheitsteilung  (Allgemeines) 


Verwechselungen,  im  folgenden  den  Aus- 
druck in  diesem  Sinne  beizubehalten;  die 
ältere  Bedeutung  des  Wortes  findet  sich 
jedoch  liier  und  da  in  der  Gesetzgebimg, 
insbesondere  in  der  preussischen. 

Für  jene  grosse  agrarische  Reform  ist 
eine  einheitliche  Bezeichnung  deswegen  ent- 
behrlich, weü  dieselbe  aus  einer  Reihe  von 
Massregeln  besteht,  welche  zwar  das  gleiche 
Ziel  verfolgen,  aber  in  durchaus  verschiedener 
Weise  durchgeführt  werden  können  und 
durchgeführt  worden  sind.  Diese  Massregeln 
beziehen  sich  vor  allem  auf  die  Beseitigung 
der  Gemengelage,  und  der  Zersplitterung 
des  Grundbesitzes  sowie  des  damit  ver- 
bundenen Flurzwanges;  ferner  auf  die  Be- 
seitigung der  wirtschaftlich  schädlichen 
Grundgerechtigkeiten,  endlich  auf  die  Tei- 
lung und  bessere  wirtschaftliche  Benutzung 
der  Gemeinheiten. 

B.  Historische  Entwickelung. 

Der  Zusammenhang  und  die  Bedeutung 
dieser  Massregeln  und  damit  dieses  Teils 
der  Landeskulturgesetzgebung  lässt  sich  nur 
historisch  verstehen.  Es  ist  daher  not- 
wendig, einen  kurzen  Bück  zu  werfen  auf 
die  Betriebs-  imd  Besitzverhältnisse,  wie 
sie  etwa  bis  zum  Ausgange  des  18.  Jahr- 
hunderts allgemein  auf  dem  platten  Lande 
Europas   nördlich  der  Alpen  vorherrschten. 

Der  ländliche  Betrieb  jener  Zeit  ist 
hauptsächlich  durch  die  ursprüngliche  Flur- 
einteüung  bestimmt  (vgl.  d.  Art.  Ansiede- 
lung oben  Bd.  I,  S.  354  ff.). 

In  dem  Gebiete  der  deutsclinationalen, 
dorfmässigen  Siedelung  wurde  bei  der  ers- 
ten Anlage  eines  Dorfes  die  Ackerflur 
in  verschiedene  Abschnitte  (Gewanne)  ge- 
teilt und  jeder  Hufe  in  jedem  Gewanne 
ein  Anteil  zugewiesen.  Infolgedessen  zer- 
fielen alle  Hufen  in  mehrere  ParzeUen, 
deren  Zahl  sich  im  Laufe  der  Zeit  noch 
vielfach  durch  Teilung  vermehrte.  Bei  die- 
ser sogenannten  Gemengelage  der  Grund- 
stücke, die  zum  Teü  auch  auf  die  Wiesen 
sich  erstreckte,  hatte  der  einzelne  Besitzer 
nur  ausnahmsweise  für  jede  Parzelle  einen 
besonderen  Zugang,  meist  musste  er  seinen 
Weg  über  die  Grundstücke  seiner  Nach- 
barn nehmen.  Er  konnte  also  auch  nicht 
sein  Besitztum  frei  bewirtschaften,  sondern 
musste  sich  in  seinem  Anbau  nach  seinen 
Nachbarn  richten,  wenn  anders  nicht  die 
schwerste  Schädigung  seines  oder  seiner 
Nachbarn  Betriebe  erfolgen  sollte.  Daher 
bestand  der  Flurzwang  feist  überall.  In 
der  Zeit  aber,  in  der  der  Acker  nicht  be- 
baut wurde  und  der  Graswuchs  auf  der 
AViese  nicht  der  Schonung  bedurfte,  pflegte 
das  Land  von  der  gemeinsamen  Herde  der 
Dorfgenossen  l)eweidet  zu  werden.  So  ver- 
band sich  mit  dem  Flurzwang  meist  Stoppel- 


und  Brachweide  auf  den  Aeokem  sowie 
Herbst-  und  Frühlingsweide  auf  den  Wiesen 
der  Dorfgemarkung. 

Der  gemeinsamen  Nutzung  unterlag  aber 
in  der  Regel  auch  die  Gemeinheit.  Diese 
Gemeinheit  ist,  wie  ja  vielfach  auch  das 
Weiderecht,  der  Rest  des  ursprünglichen 
Gemeineigentums  an  Grund  und  Boden,  der 
als  nicht  au%eteilt  im  Besitz  und  Nutzung 
sei  es  einer  Dorfgenossenschaft  als  AUmend, 
sei  es  einer  Markgenossenschaft  als  Mark 
geblieben  war. 

Ihrem  wirtschaftlichen  Charakter  nach 
bestand  sie  meist  aus  unkultiviertem  Laude, 
insbesondere  Weide  und  Wald.  Daher 
diente  sie  den  Berechtigten  hauptsächlich 
zur  Weide  und  Holzung,  ausserdem  aber 
vielfach  zur  Gräserei,  zur  Mast,  zum  Heide-, 
Plaggen-  und  Bültenhieb. 

Naturgemäss  war  bei  einer  derartigen 
Agrarverfassung  der  einzelne  Grundbesitzer 
in  der  freien  Verfügung  über  seine  Gnmd« 
stücke  durch  die  unwirtschaftliche  Plan- 
lage und  den  Flurzwang  einerseits,  eine 
Reihe  von  Servituten,  insbesondere  Weide- 
und  Wegeservituten  andererseits,  gehemmt. 
Mit  diesen  Servituten  waren  auch  die  Ge- 
meiheiten  belastet  und  hierdurch  einer  in- 
tensiveren Kultur  entzogen. 

Diese  Eigentümlichkeiten  finden  sich 
aber  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der  älteren 
deutschnationalen  Siedelung,  sondern  sie 
sind  auch  in  die  von  den  Deutschen  neu 
kolonisierten  Slawenländer  jenseits  der 
Saale  und  Elbe  übertragen  worden,  soweit 
dieselben  nicht  in  Marschhufen,  welche  ge- 
schlossene Güter  bilden,  besiedelt  wur- 
den. Allerdings  sind  die  Anlagen  des 
Ostens  nicht  volksmässige ,  sondern  guts- 
herrliche. Daher  haben  hier  namentlich  die 
Gemeinheiten  nie  einen  solchen  Umfang  be- 
sessen wie  im  Westen,  die  Marken  fehlen  ganz. 

In  dem  Gebiete  der  Einzelhöfe  ist  die 
Gemengelage  durch  die  Art  der  Ansiedelung 
nicht  gegeben,  vielmehr  liegt  der  Besitz  des 
einzelnen  arrondiert  um  seinen  Hof.  Es  ist  aber 
auch  hier  im  Laufe  der  Zeit  durch  Kauf, Tausch, 
Teilung  u.  dergl.  vielfach  eine  Zersplitterung 
des  Grundbesitzes  entstanden,  welche  iii 
ihren  Wirkungen  denen  der  Gemengelage  ähn- 
lich ist.  Ausserdem  haben  hier  die  Öeraeiiihei- 
ten  allenthalben  eine  sehr  grosse  Ausdehnung, 
an  ihnen  bestehen  oft  Servituten,  die 
sich  auch  an  den  Privatgnmdstücken  beson- 
ders mit  der  Entstehung  der  Gnindherrlich- 
keit  stark  entwickelt  haben. 

Die  wirtschaftliche  Gebundenheit  des 
Gnindbesitzes  entspricht  durchaus  der  exten- 
siven Wirtschaft  der  älteren  Zeit  Insbe- 
sondere passt  sie  sich  dem  herrschenden 
Wirtschaftssystem,  der  Dreifelderwirtschaft, 
an.  Denn  diese  bedarf  grosser  Strecken 
Weidelandes,  ihr  dient  daher  der  Gemein- 


Gemeinheitsteilung  (Allgemeines) 


147 


besitz  als  ständige  Weide  und  als  Ergänzung 
hierzu  die  gemeinsam eAVeide  der  Dorfgenossen 
auf  der  Ackerflur  und  die  Wiesenhut. 

Dalier  erscheint  die  Betriebsgemeinschaft 
dem  einzelnen  überwiegend  vorteilhaft,  sie 
erspart  ihm  die  Kosten  einer  spociellen  Be- 
aufsichtigimg  des  auf  der  Weide  befind- 
lichen Viehes  und  ermöglicht  ihm  auch  eine 
billige  imd  reichliche  Ernährung  des- 
selben. Ausserdem  bietet  ihm  der  Öemein- 
iDesitz  noch  manche  Hilfe  für  seine  Wirt- 
schaft, liefert  ihm  Streu,  Holz  u.  a.  m. 

Die  Gesamtheit  aber  hat  keine  erheb- 
lichen Nachteile  von  dieser  Art  der  Land- 
nutzung, solange  die  Bevölkerung  dünn  ist 
imd  ihren  Bedarf  an  Nalirungsmittelu  ohne 
Schwierigkeit  decken  kann. 

Mit  dem  Steigen  der  Bevölkerung  ändert 
sich  dies,  das  Bedürfnis  einer  intensiveren 
Kultur  des  Landes  tritt  hervor,  die  Technik 
der  rationellen  Landwirtschaft '  bietet  die 
Möglichkeit,  es  zu  befriedigen  und  durch 
bessere  Pflege  der  Viehzucht  sowie  durch 
Einfühnmg  neuer,  besserer  Wirtschafts- 
systeme eine  erhebliche  Steigerung  der  Er- 
träge herbeizuführen.  Bei  der  überlieferten 
Wirtschaftsverfassung  aber  ist  der  einzelne 
Grundbesitzer  durch  die  unwirtschaftliche 
Lage  seiner  Gnmdstücke  und  die  Grund- 
gerechtigkeiten an  den  Betrieb  seiner  Nach- 
barn gebunden  und  so  oft  verhindert,  den 
Fortschritten  der  Landwirtschaft  zu  folgen. 

Andererseits  macht  sich  das  Streben  nach 
besserer  Ausnutzung  der  Gemeinheiten  gel- 
tend. Es  erscheint  unwirtschaftlich  und 
verschwenderisch,  grosse  Strecken  Landes, 
die  vielfach  mit  verhältnismässig  geringer 
Mühe  in  fruchtbaren  Acker  umgewandelt 
oder  doch  w^enigstens  sehr  verbessert  werden 
könnten,  fast  brach  liegen  zu  lassen.  Diese 
Ueberzeugung  bricht  sich  um  so  mehr  Bahn, 
je  mehr  für  den  einzelnen  mit  der  Ein- 
führung der  Stallfütterung  und  dem  Anbau 
der  Futterkräuter  der  Nutzen  namentlich  an 
der  ohnehin  nur  schlecht  gepflegten  Gemein- 
weide zurücktritt. 

Aus  diesen  Verhältnissen  heraus  erklärt 
sich  das  Bedürfnis  nach  einer  Reform  der 
älteren  Flurverfassung,  es  erklärt  sich  aber 
^eichzeitig,  dass  dasselbe  je  nach  der  wirt- 
schaftlichen und  politischen  Entwickelung 
in  den  verschiedenen  Ländern  sich  sehr  ver- 
schiedenartig äussert. 

C.  Charakteristik  der  Gesetzgebung. 

Die  Notwendigkeit  der  Reform  tritt 
naturgemäss  vor  allem  da  hervor,  wo  einer- 
seits von  alters  her  die  wirtschaftiich  schäd- 
liche Betriebsgemeinschaft  und  eine  grosse 
Ausdehnung  des  Gemeinbesitzes  gegeben 
war,  andererseits  eine  hohe  Kultur  und 
dichte  Bevölkerung  eine  möglichst  wirt- 
schaftliche   Benutzung    des    Grundbesitzes 


forderte.  Dalier  dürfte  es  kein  Zufall  sein, 
dass  eine  Landeskulturgesetzgebung  in  dem 
hier  zu  erörternden  Sinne  bisher  nur  in  den 
Ländern  der  deutschnationalen  Siedelung 
existiert.  Am  meisten  entwickelt  ist  diese 
Gesetzgebung  in  Deutschland,  sie  wird  daher 
auch  im  folgenden  eingehend,  die  der  übrigen 
Länder  nur  im  Umriss  behandelt  werden. 

Das  Eingreifen  der  Gesetzgebung  ist 
allerdings  an  sich  nicht  notwendig.  Denn 
die  Beteiligten  können  meist  schon  durch 
freiwDlige  Vereinbarung  Abhilfe  schaffen. 
Das  Beispiel  einer  durchgehenden  Reform  auf 
diesem  Wege  bieten  die  Kemptener  Verein- 
ödungen  (s.  d.  Art  Abbau  oben  Bd.  1,  S.  1). 

Einzelne  Missstände  sind  wohl  auch  in 
allen  Ländern  auf  diese  Weise  beseitigt 
worden.  Aber  überall  da,  wo  man  allgemein 
und  ernstlich  an  die  Aufhebung  der  alten 
Feldgemeinschaft  ging,  hat  sich  herausge- 
stellt, dass  dieselbe  nur  mit  Hilfe  des  Staates 
diu'chzuf  Uhren  ist.  Den  n  der  einzelne  ist  nach 
Lage  der  Sache  gänzlich  ausser  stände,  sich 
allein  die  freie  Disposition  über  sein  Grund- 
stück zu  verschaffen,  sondern  er  bedarf  hierzu 
der  Mitwirkung  sämtlicher  oder  wenigstens 
eines  Teiles  der  Dorfmarkgenossen.  Naturge- 
mäss aber  findet  eine  Reform,  welche  so  tief  in 
die  bestehenden  Betriebs-  und  Wirtschafts- 
verhältnisse einschneidet,  fast  stets  bei 
einigen  oder  mehreren  Interessenten,  insbe- 
sondere bei  deneUj  die  ihr  eigenesln  teresse  nicht 
gehörig  bei-ücksichtigt  glauben,  Opposition. 
In  der  That  wird  man  nicht  verkennen 
dürfen,  dass  es  unmöglich  ist,  allen  Teil- 
nehmern die  gleichen  Vorteile  zu  gewähren, 
ja  nicht  einmal  die  Benachteiligung  einzelner 
vermieden  werden  kann.  Dennoch  hat  sich 
fast  überall  die  Ueberzeugung  Bahn  ge- 
brochen, dass  der  Nutzen,  welcher  der  Ge- 
samtheit aus  der  Durchführung  der  Reform 
erwächst,  es  rechtfertigt,  den  einzelnen  auch 
gegen  seinen  WiQen  zur  Beteiligung  zu  ver- 
anlassen. Einen  solchen  Zwang  aber  kann 
nur  der  Staat  statuieren. 

Es  ist  jedoch  keineswegs  notwendig, 
diesen  Zwang  unbedingt  durchzuführen.  Nur 
da,  wo  sich  das  Bedürfnis  wirklich  geltend 
macht  und  durch  die  Beteiligten  selbst  zur 
Kenntnis  des  Staates  kommt,  soll  verhindert 
werden,  dass  durch  den  Widerstand  ein- 
zelner das  aDgemeine  Literesse  leidet.  Alle 
Gesetze  geben  daher  Bestimmimgen  über 
das  Provokationsrecht  j  bemerkenswert  ist, 
dass,  je  allgemeiner  sich  die  Ueberzeugung 
von  den  Vorteilen  der  Beseitigimg  der  kul- 
turschädlichen Betriebsbeschränkuugen  ver- 
breitet hat,  dieses  Recht  einer  immer  ge- 
ringeren Anzahl  der  Beteiligten  gegeben 
worden  ist. 

Das  Eingreifen  des  Staates  rechtfertigt 
sich  aber  auch  aus  anderen  Gründen.  Denn 
nur  der  Staat  ist  im  stände,  die  notwendigen 

10* 


148 


Gremeinheitsteilung  (Allgemeines) 


Reformmassregeln  in  der  volkswirtschaftlich 
"Wünschenswerten  Einheitlichkeit  und  Gleich- 
mässigkeit  durchzuführen.  Ein  sehr  wich- 
tiges Mittel  hierzu  ist  die  Einsetzung  einer 
besonderen  Behörde.  Sie  garantiert  nicht 
nur  eine  sorgfältige  Ausführung  der  tech- 
nischen Operationen,  sondern  eine  sorgfältige 
Prüfung  und  Auseinandersetzung  der  oft 
ausserordentlich  komplizierten  Rechtsver- 
liältnisse  imter  den  beteiligten.  Zugleich 
wird  hierdurch  die  Kostenlast  vermindeii; 
imd  damit  vielfach  besonders  für  ärmere 
•Gemeinden  ein  wesentliches  Hindernis  für 
die  Durchführung  der  Reform  beseitigt. 
Auch  sonst  ist  es  ja  gerade  dem  Staate 
leicht  möglich,  durch  billigere  Gebührensätze, 
Stempelfreiheit  etc.  die  Kosten  zu  ver- 
mindern. Man  ist  hierin  in  neuerer  Zeit 
immer  weiter  gegangen,  wenn  man  auch  im 
Princip  daran  festgehalten  hat,  die  Beteiligten 
wenigstens  einen  Teil  der  Kosten  tragen  zu 
lassen.  Der  Staat  kann  endlich  auch  die 
Rechte  Dritter  am  besten  wahren  und  die 
erforderlichen  Abänderungen  der  Grund- 
imd  Steuerbücher  ausführen  lassen.  — 

Die  einzelnen  Reformmassregeln  können 
aber,  wie  bereits  angedeutet,  in  sehr  ver- 
schiedenartiger Weise  durchgeführt  werden. 
Es  empfiehlt  sich  daher,  einen  kurzen  üeber- 
blick  über  die  wichtigsten  derselben  zu 
geben,  bevor  auf  die  specielle  Gesetzgebung 
eingegangen  wird. 

Als  das  wesentliche  auf  der  alten  Fliu*- 
verfassimg  beruhende  Hemmnis  des  rationel- 
len landwirtschaftlichen  Betriebes  ist  in 
neuerer  Zeit  mehr  und  melir  die  Gemenge- 
lage des  Gnmdbesitzes  hervorgetreten.  Denn 
die  allzugrosse  Zerstückelung  des  Landes 
bedingt  eine  grosse  Verschwendung  von 
Zeit  und  Arbeit  bei  der  Bestellung  und  Ab- 
erntung der  Felder,  sie  verhindert  die  Ein- 
führung von  Maschinen  und  zwingt  sogar 
oft  zur  Verwendung  von  Menschenkraft  an 
Stelle  von  Zugkraft.  Vor  allem  vorhindert 
sie  den  üebergang  zu  besseren  Wirtschafts- 
systemen und  damit  die  vielfoch  mög'Üche 
Steigerung  des  Ertrages;  sie  zwingt  msbe- 
sondere  oft,  an  der  Dreifelderwirtschaft  fest- 
zuhalten, weü  der  Flurzwang,  selbst  wenn 
er  rechtlich  aufgehoben  ist,  doch  bei  dem 
Mangel  an  Wegen  noch  faktisch  bestehen 
bleiben  muss.  Dazu  kommt,  dass  durch 
Feldraine  imd  Grenzfurchen  ziemlich  viel 
Land  vollständig  verloren  geht. 

Allen  diesen  üebelständen  aber  ist  nur 
durch  eine  bessere  Fei  d  eint  eil  ung  ab- 
zuhelfen. 

Dies  geschieht  am  gründlichsten  dadiu'ch, 
dass  die  bestehende  Planlage  einer  Gemar- 
kung oder  eines  Teiles  derselben  gänzlich 
aufgehoben  und  eine  neue  Verteilung  der 
Ländereien  vorgenommen  wird,  bei  welcher 
die  Besitzer  an  Stelle  vieler  alter  Parzellen 


möglichst  wenige  neue  arrondiert  und  mit 
Zugängen  versehene  Pläne  erhalten.  Diese 
Operation  pflegt  selir  verschieden  benannt 
zu  werden,  am  besten  dürfte  die  Bezeichnung 
Verkoppelung   oder  Zusammenlegung  sein. 

Geschieht  die  Zusammenlegung  in  der 
Art,  dass  zugleich  auch  die  alte  Dorflage 
aufgehoben  wird  und  jeder  Teilnehmer  seine 
neue  Besitzung  um  seinen  Hof  hemm  arron- 
diert erhält,  so  bezeichnet  man  dies  als  Ab- 
bau oder  Ausbau. 

Vielfach  aber  bezweckt  die  Reform  nur 
eine  bessere  Gestaltung  und  Zugänglichkeit 
der  einzelnen  Parzellen  bezw.  Gewanne 
herbeizuführen.  Dies  ist  das  Princip  der 
namentlich  in  dem  ehemaligen  Herzogtum 
Nassau  ausgebildeten  Gei^'annregidierung 
oder  Konsolidation.  Bei  derselben  findet 
innerhalb  der  einzelnen  Gewanne  eine  Zu- 
sammenlegung der  zerstückelten  Parzellen 
soweit  als  möglich  statt. 

Bisweilen  hat  man  sich  darauf  besctoDkt, 
durch  eine  Wegeregulierung  wenigstens  dem 
schlimmsten  üebelstande,  dem  Wegemangel, 
abzuhelfen. 

In  allen  Fällen  ist  namentlich  in  der 
neueren  Zeit,  bei  der  immer  mehr  steigen- 
den Vervollkommnung  der  Technik,  das  Be- 
streben darauf  gerichtet  gewesen,  zugleich 
mit  der  Umgestaltung  der  alten  Feld- 
einteilung alle  diejenigen  Verbesserungen 
des  Ackerlandes  durchzuführen,  welche  ge- 
eignet sind,  die  Erträge  möglichst  zu  stei- 
gern, insbesondere  die  Regulierung  nicht 
nur  des  Wegenetzes,  sondern  auch  der  Ent^ 
und  Bewässerung,  Regulienmg  der  Bäche  etc. 

(Näheres  über  das  Verfahren,  Statistik  etc. 
s.  im  Art.  Zusammenlegung  der 
Grundstücke).  — 

Die  ältere  Zeit  hat  die  Bedeutung  der 
Zusammenlegung  keineswegs  in  ihrem  vollen 
Umfange  erkannt,  für  sie  ist  der  Ausgangs- 
punkt der  Reform  vor  allem  die  Aufhebung 
der  alten  Betriebs-  und  Nutzungsgemein- 
schaft Estritt  dabei  die  Frage  der  Rege- 
lung des  Gemeinbesitzes  in  den  Vor- 
dergrund. Die  Nationalökonomen  des  18. 
Jalu'hunderts  empfehlen  vorzugsweise  die  Ge- 
meinheitsteüimg  zur  Abhilfe.  Hierzu  wirken 
nicht  niu-  die  bereits  oben  angedeuteten 
wirtschaftlichen  Gründe,  sondern  auch,  die 
allgemeinen  Anschauungen  jener  Zeit  mit 
Denn  der  Individualismus  steht  dem  Ge- 
meineigentum als  solchem  feindselig  gegen- 
über, und  das  populationistische  Streben 
das  jene  Epoche  charakterisiert,  begiinstig 
jede  Massregel,  diux3h  welche  eine  Vermeh 
rung  der  Bevölkerung  herbeigeführt  'werdei 
kann. 

Infolgedessen  ist  damals  ein  betraclit 
lieber  Teil  der  alten  Gemeinlieiten  aufg^^toU 
worden,  und  es  wäre  dies  ohne  Zweifel  noc» 
viel  mehr  geschehen,  wenn  die  bäuerlich 


Gemeinheitsteilung  (Allgemeines) 


149 


Bevölkerung  das  gleiche  Interesse  an  der 
Gemeinheitsteilung  gehabt  hätte  wie  die 
Grundhen-en.  Aber  solange  die  gi-osse  Masse 
der  Landbevölkerung  noch  durch  Abgaben 
und  Dienste  in  ihrem  Betriebe  gehemmt 
war,  lag  ihr  an  einer  Aenderung  der  alten 
Nutzungsgemeinschaft,  insbesondere  an  einer 
intensiveren  Nutzung  des  G^meinlandes 
nur  wenig.  Daher  fand  vielfach  nur  eine 
Separation  zwischen  Gutsherren  und  der 
Gemeinde  statt,  die  Bauern  setzten  die  alte 
Feldgemeinschaft  in  der  bisherigen  Weise 
fort  und  behielten  die  Gemeinheiten  bei. 

Als  aber  nach  der  Bauernbefreiung  auch 
die  Separation  mehr  und  mehr  unter  der 
bäuerlichen  BevölkenmgAusdehnung  gewann, 
da  machte  sich  gleichzeitig  von  anderer 
Seite  eine  Reaktion  gegen  die  Gemeinheits- 
teilungen geltend. 

Es  beruht  dies  vor  allem  auf  dem  Um- 
schwünge, der  in  neuerer  Zeit  in  den 
allgemeinen  Anschauungen  über  das  Wesen 
und  die  Bedeutung  der  Landgemeinden  ein- 
getreten ist  Während  früher  die  Gemeinde 
fast  nur  als  ein  wirtschaftlicher  Verband 
angesehen  wurde,  eracheint  sie  gegenwärtig 
als  ein  politischer.  Für  diesen  haben  aber 
die  Gemeinheiten  eine  ganz  andere  Bedeu- 
tung als  für  jenen.  Für  den  wirtscliaftlichen 
Verband  sind  die  Gemeinheiten  lediglich 
nutzbares  Eigentum  der  einzelnen  Genossen : 
sobald  die  Gesamtheit  derselben  über  eine 
zweckmässigere  Verwendung,,  insbesondere 
Teilung  des  bisherigen  Gesamteigentums 
einig  ist,  steht  derselben  rechtlich  ein  Hinder- 
nis nicht  entgegen.  Für  den  politischen 
Verband  sind  dagegen  die  Gemeinheiten  Ge- 
meindevermögen,  an  dessen  Nutzung  die 
einzelnen  Gemeindemitglieder  wohl  Anteil 
haben  können,  dessen  Substanz  aber  der  Ge- 
meinde als  solcher  gehört.  Daher  kann 
DIU*  eine  solche  Verfügung  über  dasselbe 
erfolgen,  welche  dem  Ganzen  dauernd  zum 
Nutzen  gereicht. 

Demgemäss  dringt  die  Rechtsanschauung 
durch,  dass  das  Eigentum  der  Gemeinde 
nicht  in  das  Privateigentum  ihrer  Mitglieder 
übergehen  kann.  Ilierdiu*ch  fällt  aber  eine 
wesentliche  Ursache  zur  Gemeinheitsteilung 
hinweg.  Je  mehr  andererseits  die  Ausgaben 
der  Gemeinde  für  Schulen,  Bauten  und 
sonstige  Zwecke  steigen,  desto  wichtiger  er- 
scheint es  für  die  Kommunalfinanzen,  in 
den  Gemeinheiten  ein  wertvolles  Objekt 
dauernder  Nutzung  und  Erleichterung  der 
Steuerlasten  zu  ernalten. 

Die  Möglichkeit  hiervon  hängt  haupt- 
sächlich von  den  bestehenden  rechtlichen 
Verhältnissen  ab.  Wir  finden  zur  Zeit  des 
Beginns  der  Gemeinheitsteilungen  im  wesent- 
lichen einen  dreifachen  Rechtszustand:  teil- 
weise sind  die  Gemeinheiten  auf  die  poli- 
tische Gemeinde   als  solche  übergegangen, 


ohne  dass  den  Gemeindemitgliedem  ein 
Nutzungsrecht  mehr  zusteht,  teilweise  hat 
sich  die  wirtschaftliche  Gemeinde  von  der 
rechtlichen  völlig  getreimt  imd  ist  als  Real- 
gemeinde im  Besitz  und  Nutzung  der  Ge- 
meinheiten geblieben,  teilweise  endlich  gelten 
die  Gemeinden  zwar  als  Eigentümer  der 
Substanz  der  Gemeinheiten,  den  einzelnen 
Mitgliedern  aber  steht  an  derselben  ein  be- 
stimmtes Nutzungsrecht  zu.  Ueberall  hat 
sich  dabei  der  Einfluss  der  Grundherrlich- 
keit mehr  oder  weniger  geltend   gemacht. 

Die  hier  angedeutete  Entwickelung  ist 
hauptsächlich  für  die  letztbezeichnete  Klasse 
der  Gemeinheiten  von  grossem  Einfluss  ge- 
wesen. Ein  charakteristisches  Beispiel  hierzu 
bietet  sich  in  Preussen.  Hier  bestimmt  die 
Gemeinheitsteilungsordnung  von  1821,  dass 
bei  Grundstücken,  deren  Eigentum  einer 
Stadt-  oder  Dorfgemeinde  zusteht,  deren 
Nutzungen  aber  den  einzelnen  Mitgliedern 
derselben  gebühren,  jedes  zur  Benutzung 
berechtigte  Mitglied  der  Gemeinde  für  die 
seinem  Grundbesitz  anhängenden  Teilneh- 
mungsrechte  auf  Auseinandersetzung  anzu- 
tragen berechtigt  ist.  Dagegen  deklarierte 
die  V.  V.  26.  Juli  1847  diese  Bestimmung 
dahin,  dass  dieselbe  sich  niu*  auf  solche- 
Nutzungsrechte  der  Gemeindemitglieder  am 
Gemeindevermögen  beziehe,  welche  denselben 
nicht  vermöge  ihrer  Eigenschaft  als  Ge- 
meindemitglieder, sondern  aus  einem  ande- 
ren Rechtstitel  gebühre,  und  verbot  für  das 
auf  Grund  öffentlichrechtlicher  Befugnisse 
genutzte  Gemeinde  vermögen ,  also  für  den 
grössten  Teil  der  alten  Gemeinheiten,  die 
Umwandlung  in  Privatvermögen  der  Ge- 
meindemitgfieder. 

Die  Erhaltung  des  Gemeinbesitzes  er- 
scheint jedoch  vielfach  nicht  nur  aus  poli- 
tischen, sondern  auch  aus  rein  wirtschaft- 
lichen Gründen  geboten.  Dies  gilt  vor  allem 
hinsichtlich  des  Waldbesitzes.  Der  Wald 
kann  seiner  Natur  nach  vorteilliaft  niu*  im 
ganzen  bewirtschaftet  werden,  eine  Teilung 
in  einzelne  Anteile  zur  Sondernutzung  wird, 
soweit  der  Waldboden  nicht  als  Kulturland 
verwendbar  ist,  in  der  Regel  schädlich  wir- 
ken. Es  ist  daher  neuerdings  diurch  die 
Gesetzgebung  die  Naturalteilung  eines  ge- 
meinschaftlichen Waldes  meist  verboten  wor- 
den. Ein  solches  Verbot  rechtfertigt  sich 
auch  da,  wo  die  Erlialtung  des  Waldes  aus 
anderen  Gründen,  z.  B.  als  Schutzwald  not- 
wendig erscheint. 

Auch  für  das  kulturfähige  Land  ist  aber 
der  gemeinschaftliche  Besitz  keineswegs  so 
schädlich,  wie  die  ältere  Zeit  niu*  zu  leicht 
anzunehmen  geneigt  war.  Vielmehr  lässt 
sich  oft  durch  die  Verpachtung  eine  ebenso 
intensive  Bewirtschaftung  des  Geraeinlandes 
erzielen  wie  die  des  Privateigentums. 

Selbst    die    gemeinschaftliche   Nutzung 


150 


Gemeinheitsteihing  (Allgemeines) 


verdient  da,  wo  sie  sich  als  Allmendnutzung 
(s.  d.  Art.  Allem  enden  o.  Bd.I,  S.  255ff.) 
erhalten  hat,  wie  namentlich  im  südlichen 
Mitteleuropa,  den  Vorzug  vor  der  Gemein- 
heitsteilung, namentlich  aus  sozialpolitischen 
Gründen. 

Demgemäss  ist  in  neuerer  Zeit  die  Frage 
der  G^meinheitsteilung  mehr  zurückgetreten ; 
sie  ist  aber  keineswegs  bedeutungslos  ge- 
woi-den,  da  ein  grosser  Teü  der  alten  Ge- 
meinheiten noch  jetzt  in  der  That  am  besten 
durch  Teilung  unter  die  Berechtigten  genutzt 
werden  kann. 

Hierbei  empfiehlt  sich  die  Verbindung 
der  Gemeinheitsteilung  mit  der  Zusammen- 
legung. Denn  die  Gemeinheiten  können 
dann  mit  Yorteü  als  Ausgleichungsobjekte 
benatzt  werden ;  ausserdem  hat  die  Gemein- 
heitstfjilung  olme  Zusammenlegung  vielfach 
nur  die  Zerstückelung  des  Grundbesitzes 
vermehrt. 

Die  wichtigste  und  zugleich  schwierigste 
Aufgabe  bei  der  Gemeinheitsteilung  ist  die, 
einen  geeigneten  Teilungsmassstab  zu  be- 
stimmen. 

An  Stelle  der  Teilimg  der  Gemeinheiten 
empfehlen  einige  Gesetze  den  Verkauf;  ein 
solcher  ist  jedoch  nach  Lage  der  Sache  ver- 
hältnismässig nur  selten  möglich. 

Da,  wo  der  gemeinschaftliche  Besitz  im- 
geteilt  bleibt,  tritt  die  Regelung  der  Be- 
nutzung in  den  Vordergi'und.  Wie  bereits 
.angedeutet^  hat  sich  die  gemeinschaftliche 
Nutzung  vielfach  als  Allmendnutzung  erhal- 
ten, sie  ist  aber  stets  in  der  Weise  geord- 
net, dass  die  unwirtschaftüchen  und  kultiu*- 
schädlichen  Benutzungsrechte  erheblich  ein- 
geschränkt oder  ganz  beseitigt  wurden. 

Die  Ablösung  der  Sonderrechte  der  ein- 
zelnen Berechtigten  regelt  sich  nach  den- 
selben Grundsätzen  wie  bei  Ablösung  der 
Servituten,  die  auf  dem  Piivateigentume 
lasten.  — 

Diese  Servitutablösung  gehört  zu 
den  wichtigsten  Aufgaben  der  Ijandeskultur- 
gesetzgebung.  Zu  ilirer  Lösimg  bieten  sich 
verschiedene  Möglichkeiten.  Die  Wege- 
servituten lassen  sich  überhaupt  vielfach  nur 
durch  Zusammenlegung  gänzlich  beseitigen. 
Auch  für  die  Ablösung  der  übrigen  Servi- 
tuten empfielilt  sich  eine  Verbindung  mit 
der  Zusammenlegung  und  Gemeinheitsteilung 
schon  deshalb,  weil  die  schwierigen  Rechts- 
fragen oft  gleichartig  liegen  und  die  Abfin- 
dungen sich  am  zweckmässigsten  gleichzeitig 
feststellen  last^en. 

Die  auf  Gegenseitigkeit  beruhenden  Weide- 
servituten  sowie  andere  direkt  kultur- 
schädliche Servituten  sind  namentlich  im 
Anfang  unseres  Jahrhunderts  meist  ohne 
Entschädigung  aufgehoben  worden.  Die 
Aufhebung  anderer  Servituten  ist  dagegen 
in  der  Regel  gegen  Entschädigung  erfolgt. 


Die  Grundsätze  für  die  Regelung  der  Ent- 
schädigung sind  naturgemäss  sehr  ver- 
schieden. Das  Prevokationsrecht  steht  meist 
nicht  nur  den  Verpflichteten,  sondern  auch 
den  Berechtigten  zu. 

Besondere  —  im  folgenden  nicht  berück- 
sichtigte —  Gesetze  sind  zur  Ablösung  der 
Forstservituten  ergangen.  — 

Die  geschilderten  Reformmassregeln  sind 
aber  nicht  überall  einheitlich  und  gleich- 
zeitig, sondern  vielfach  nur  schrittweise  und 
vereinzelt  je  nach  den  herrschenden  Bedürf- 
nissen ziu'  Durchführung  gekommen.  Schon 
aus  diesem  Grunde  ist  das  Bild  der  Gesetz- 
gebung fast  in  jedem  Staate  ein  anderes. 

Im  allgemeinen  lässt  sich  nicht  ver- 
kennen, dass  in  den  nördlichen  Staaten 
Mitteleuropas  die  Reform  viel  früher  imd 
radikaler  zu  stände  gekommen  ist  als  in 
den  südlichen  und  westlichen. 

Es  beruht  dies,  abgesehen  von  politischen 
üi^sachen,  besonders  dai*auf,  dass  das  wirt- 
schaftliche Bedürfnis  ein  verschiedenes  ist. 
Im    Süden    herrscht    im    allgemeinen    der 
Kleinbesitz  vor  und  mit  ihm  eine  intensivere 
Kultur   als   im   Norden.     Infolgedessen  ist 
der  Flurzwang   vielfach    schon    früh    ohne 
Eingreifen  der  Gesetzgebung  verschwunden, 
auch  die  Servituten  sind  meist  auf  Wege- 
servituten eingeschi"änkt  worden.    Anderer- 
seits ist  der  individuelle  Wert  des  Grund- 
eigentums ein  grösserer  und  hierdiu^ch  die 
Abschätzung  der  einzelnen  Parzellen  gegen- 
einander  erschwert.     Daher   ist    eine    Zu- 
sammenlegung   im    allgemeinen    erheblich 
schwieriger  zu  stände  zu  bringen,  um  so 
mehr,  als  die  kleinen  Besitzer,  welche  ilir 
Feld  selbst  bewirtschaften,   an   den   durch 
die  Zusammenlegung  erzielten  Vorteilen  viel 
weniger  Interesse  haben  als  die  grösseren. 
Man   hat    sich   infolgedessen   oft    mit    der 
Feldwegereguliening   begnügt,    wenn    auch 
namentlich  in   neuerer  Zeit  das  Bedürfnis 
nach  einer  durchgreifenden  Reform  der  Feld- 
einteihmg  immer  entschiedener  sich  bemerk- 
bar machte. 

Hinsichtlich  der  Gemeinheitsteilung  ist 
man  ebenfalls  im  Süden  mehr  konservativ 
gewesen.  Dies  erklärt  sich  zum  Teil  daraus, 
dass  der  kleine  Besitzer  mehr  Nutzen  von 
der  Gemeinheit  liat  als  der  grössere.  Denn 
der  Anteil,  welchen  viele  Besitzer  bei  einer 
Teüimg  erhalten,  ist  natürlich  viel  geriug-er 
und  viel  weniger  nutzbar  als  der  Anteil 
grösserer  Besitzer. 

Es  kommt  jedoch  vor  allem  in  Beti-aclit, 
dass  die  Gemeinheiten  im  Süden  überwie- 
gend in  den  Besitz  der  politischen  Gemeinde 
übergegangen  sind  und  von  dieser  als  A.11- 
menden  genutzt  weixien  (vgl.  diesen  Ai-t. 
oben  Bd.  I  S.  255). 


Gemeinheitsteilung  (Specielle  Gesetzgebung) 


151 


n. 

Specielle  Gesetzgebung. 

A.  Deutschland.  1.  Preussen.  a)  Ge- 
biet des  Allgemeinen  Landrechts,  h)  Gebiet 
ansserhalb  des  Allgemeinen  Landrechts.  1)  Han- 
noTer.  2)  Rheinprovinz.  3)  Hessen-Nassau.  4) 
Schleswig -Holstein.  2.  Die  mittel-  und  nord- 
deutschen Kleinstaaten.  3.  Die  süddeutschen 
Staaten.  B.  Ausserdeutsche  Länder. 
I.  England  und  Schottland.  2.  Skandina- 
vien. 3.  Oesterreich  -  Ungarn.  4.  Schweiz,  ö. 
Frankreich. 


A.  Deutschland. 

1.  Preussen.  a)  Gfrebiet  des  Allge- 
meinen  Landreohts.  Die  wichtigste  deut- 
sche (jesetzgebung  auf  dievsem  Gebiete  der 
Landeskultur  ist  die  preussische.  Gharak- 
teristi.«^ch  ist  derselben  die  Einheitlichkeit 
des  YerfahreDS,  sie  fasst  als  Gemeinheits- 
teilung auf  »die  Aufhebung  der  gemein- 
eamen  Benutzung  ländlicher  Grundstücke« 
und  verbindet  damit,  soweit  notwendig,  die 
RegiiJienmg  der  gutsherrlich  bäuerlichen 
Verhältnisse. 

Als  Schöpfer  dieses  sogenannten  Separa- 
tionsverfahrens ist  mit  Recht  Friedrich  der 
Grosse  bezeichnet  worden.  Zw^ar  haben 
bereits  unter  seinem  Vorgänger  namentlich 
im  eigentlichen  Preussen  Separationen  statt- 
gefunden, er  aber  hat  zuerst  die  Massregel 
in  grösserem  Stile  energisch  in  Angriff  ge- 
nommen. 

Wichtig  ist  besondei-s  das  Reglement 
Tom  14.  April  1771  für  Schlesien.  Es  ent- 
hält schon  die  wichtigsten  Gnmdsätze, 
welche  bei  der  späteren  grossen  Reform  nur 
weiter  entwickelt  worden  sind.  Diese 
ringen  zunächst  fast  unverändert  in  das 
Corpus  ]\ms  Fridericianum,  die  Allgemeine 
Gerichtsordnung  und  das  Allgemeine  Land- 
recht  über. 

Die  Gesetzgebung  bis  zum  Ende  des 
vorigen  Jahrhimderts  ist  aber  wesentlich 
DIU*  den  grösseren  Rittergütern  zu  gute  ge- 
kommen. Sie  schieden  aus  dem  Gemenge 
mit  den  bäuerlichen  Hufen  aus  und  erhielten 
für  ihre  Anteile  an  den  Gemeinheiten  Land- 
abfindungen. Die  Bauern  aber  blieben  meist 
bei  der  herrschenden  Dreifelderwirtschaft. 
Eist  als  durch  die  grossen  agrarischen  Re- 
formen unter  Friedrich  Wilhelm  IV.  die  po- 
litische Freiheit  des  Bauernstandes  herge- 
stellt war,  konnte  gleichzeitig  auch  die 
Lösung  der  wirtschaftlichen  Gebundenheit 
erfolgreich  in  Angriff  genommen  werden. 

Das  grundlegende  Gesetz  hierfür  ist  die 
Gemeinheitsteiluugsordnung  v.  7.  Juni  1821, 
welche  unter  dem  Einfluss  und  der  Beteili- 
gimg  Thaers  zu  stände  gekommen  ist. 

Der  Ausgangspunkt  derselben  ist,   -wie 


bemerkt,  die  Aufhebung  der  gemeinschaft- 
lichen Benutzimg  länmicher  Grundstücke 
zum  Besten  der  aUgemeinen  Landeskultur. 
Der  Aufhebung,  die  das  Gesetz  in  seinem 
ersten  Teil  ordnet,  imterliegen  aber  nach 
dem  Gesetz  nur 

1.  Weideberechtigimgen  auf  Aeckern, 
Wiesen,  Angern,  Forsten  und  sonstigen 
Weideplätzen, 

2.  Forstberechtigungen  zur  3Iast  zum 
Mitgenusse  des  Holzes  und  zum  Streuholen, 
und 

3.  Berechtigungen  zum  Plaggen-,  Heiden- 
und  Bültenhieb. 

Das  G.  V.  2.  März  1850,  betr.  die  Er- 
gänzung und  Abändenmg  der  Gemeinheits- 
teilungsordnung  v.  7.  Juni  1821,  gestattet 
noch  die  Ablösung  weiterer  acht  minder 
wichtiger  Berechtigimgen,  insbesondere  der 
Berechtigungen  zur  Gräserei,  Fischerei  und 
Torfnutzung. 

Die  Aufhebung  der  kulturschädlichen 
Servituten  erfolgt  auf  Antrag  auch  nur  eines 
Teilnehmers,  bei  Dienstbarkeiten  sowohl  des 
Berechtigten  wie  des  Verpflichteten.  Die 
V.  v.  28.  Juü  1838  knüpft  aber  das  Provo- 
kationsrecht einzelner  Gemeindemitglieder 
für  den  Fall,  dass  die  Gemeinheitsteilung 
mit  der  Zusammenlegung  der  Grundstücke 
innerhalb  derselben  Gemarkung  verbimden 
ist,  an  den  Besitz  des  vierten  Teils  der  von 
dem  Ackerumtausch  betroffenen  Ländereien. 
Ausserdem  aber  darf  nach  der  Deklaration 
vom  26.  Februar  1847  das  zur  Bestreitung 
der  Lasten  und  Ausgaben  der  ^  Mark-  und 
Landgemeinden  bestimmte  oder  den  einzel- 
nen Öemeindemitgüedern  auf  Gnmd  ihrer 
Mitgliedschaft  zukommende  Vermögen  der 
Gemeinden  niemals  in  Privatvermögen  der 
Gemeindemitglieder  verwandelt  werden. 

Erbpächter  und  Lassiten  mussten  mit 
dem  Antrage  auf  Gemeinheitsteilung  zwischen 
sich  und  ihrem  Grundherrn  den  Antrag  auf 
Reguhening  der  gutsherrlich  -  bäuerlichen 
Verhältnisse  verbinden,  auf  Grund  des  Ab- 
lösungsg.  V.  2.  März  1850,  diuxjh  welches 
die  Erb^^hter  Eigentümer  wurden,  ist  für 
die  Lassiten,  sofern  die  zu  ihren  Stellen  ge- 
hörigen Grundstücke  mit  dem  gutsherrlichen 
im  Gemenge  lagen,  die  Zusammenlegimg  von 
Amts  wegen  bei  der  Eigentumsregulierung 
erfolgt. 

Die  Beteiligten  werden  nach  ihren  Teil- 
nahmerechten abgefunden,  der  Umfang  der 
Teilnahmerechte  richtet  sich  in  Ermange- 
lungrechtsbeständigerWiUenserklärimgenund 
rechtskräftiger  Erkenntnisse  nach  Orts-, 
Provinzial-  oder  allgemeinem  Landrecht. 
Subsidiär  gelten  die  Bestimmungen  des  Ge- 
setzes. Dieses  lässt  bei  Gemeinweiden  als 
Massstab  im  allgemeinen  den  Besitzstand 
nach  dem  Diuxjhschnitt  der  letzten  10  Jahre 


152 


Gemeinheitsteilung  (Specielle  Gesetzgebung) 


gelten,  in  besonderen  Fällen  die  Berechnung 
nach  dem  Durchwinterungsmasssjtabe. 

Wechselseitige  Dienstbarkeitsrechte,  ins- 
besondere Koppelhütungen  werden  ohne 
Entschädigung  aufgehoben.  Im  übrigen  wird 
die  Aufhebung  dadurch  bewirkt,  dass  die 
Teilnehmer  an  Stelle  ihrer  Berechtigung 
eine  angemessene  Entschädigung  zur  aus- 
schliesslichen und  fi'eien  Verffigung  erhsdten. 

Die  Entschädigung  erfolgt  der  Regel 
nach  durch  Land,  dessen  Wert  nach  dem 
ortsüblichen  Ertrage  geschätzt  wird.  Nur 
ausnahmsweise  ist  Abfindung  in  Rente  oder 
Kapital  zulässig.  Kein  Teilnehmer  braucht 
sich  eine  Entschädigung  gefallen  zu  lassen, 
welche  eine  Veränderung  der  ganzen  bis- 
herigen Art  des  Wirtschaftsbetriebes  des 
Hauptgutes  nötig  macht.  Auch  dem  Abbau 
braucht  er  nur  ausnahmsweise  sich  zu  unter- 
werfen. 

Die  Naturalteilung  eines  Waldes  darf 
mangels  einer  Einigung  zwischen  den  Be- 
teiligten nur  erfolgen,  wenn  die  einzelnen 
Anteüe  entweder  zur  forstmässigen  Be- 
nutzung geeignet  bleiben  oder  in  anderer 
Kulturart  mit  grösserem  Vorteile  als  bei 
Holzzucht  benutzt  werden  können.  Diese 
Bestimmung  erwies  sich  aber  zum  Schutze 
des  Waldes  nicht  ausreichend,  es  erging 
daher  das  Gesetz  über  gemeinschaftliche 
Holzungen  vom  14.  März  1881,  weiches  die 
sogenannten  Genossenschaftswaldungen  und 
Interessentenforsten  hinsichtlich  des  forst- 
wirtschaftlichen Betriebes  unter  die  Ober- 
aufsicht des  Staates  stellt  und  die  Teilung 
derartiger  Wälder  ausser  in  wenigen  gesetz- 
lich bestimmten  Fällen  verbot. 

Die  Landentschädigung  soll  den  Teil- 
nehmern möglichst  in  einer  zusammenhän- 
genden wirtschaftlichen  Lage  zugeteilt  wer- 
den, auch  sind  ihnen  zu  den  einzelnen 
Grundstücken  die  erforderlichen  Wege  und 
Tiiften  zu  beschaffen. 

Das  Gesetz  kennt  die  Zusammenlegung 
nur  als  Mittel  zum  Zweck,  nicht  als  selb- 
ständige Massregel.  Es  bestimmt  vielmehr 
ausdrücklich,  dass  die  bloss  vermengte  Lage 
der  Aecker,  Wiesen  und  sonstigen  Lände- 
reien ohne  gemeinschaftliche  Benutzung  keine 
Auseinandersetzung  begründet. 

Diesem  Älangel  der  Gemeinheitsteihmgs- 
ordnung  sucht  das  G.  v.  2.  April  1872  ab- 
zuhelfen. Es  gestattete  eine  zwangsweise 
ümlegung  einer  servitutfreien  Feldmark  oder 
eines  Feldabschnittes,  wenn  dieselbe  von  der 
einfachen  Mehrzahl  der  Eigentümer  —  nach 
Bodenfläche  und  Katastra&einertrag  berech- 
net —  unter  Genehmigung  der  zuständigen 
Kreisversammlung  beantragt  wird.  Wenn 
lassitische  bäuerliche  Stellen  im  Gemenge 
mit  gutsheirlichen  Grundstücken  lagen, 
musste  nach  dem  Ablösungsg.  v.  2.  März 
1850  zugleich  mit  der  Eigenturasi-egulierung 


eine  Zusammenlegung  auch  der  keiner  Ge- 
meinheit unterliegenden  Grundstücke  voa 
Amts  wegen  vorgenommen  werden. 

Die  Entschädigung  ist  ein  Surrogat  der 
dafür  abgetretenen  Grundstücke  oder  da- 
durch abgelösten  Berechtigungen,  sie  erhält 
daher  in  Ansehung  ihrer  Befugnisse,  Lasten 
und  sonstigen  Rechtsverhältnisse  die  Eigen- 
schaften derjenigen  Grundstücke,  für  welche 
sie  gegeben  worden  ist. 

Schliesslich  enthält  die  Gemeinheitstei- 
lungsordnung  in  ihrem  2.  Teil  —  im  An- 
schluss  an  das  Landeskulturedikt  vom  14. 
September  1811  —  Vorschriften  über  die 
Einschränkung  der  Gemeinheiten,  die  jedoch 
nur  selir  geringe  praktische  Bedeutung,  am 
meisten  noch  bei  Forsten,  erlangt  haben. 

Die  Ausführung  des  Gesetzes  wiuxie 
durch  das  Ausführungsg.  v.  7.  Juli  1821  den 
bereits  für  die  Regulierung  der  gutsherrlich- 
bäuerlichen  Verhältnisse  bestehenden  Gene- 
ralkoramissionen  übertragen. 

Für  ihre  Zusammensetzung  und  Ge- 
schäftsbetrieb ist  grundlegend  die  V.  v. 
20.  Juni  1817  wegen  Organisation  der 
Generalkommission  etc.,  ergänzt  durch  die 
VV.  V.  30.  Juni  1834  wegen  des  Geschäfts- 
betriebes in  den  Angelegenheiten  der  Ge- 
meinheitsteiluugen  etc.,  und  v.  22.  Jiuii  1844 
betr.  den  Geschäftsgang  und  den  Instanzen- 
zug bei  den  Auseinandersetzungsbehörden 
sowie  durch  das  G.  v.  18.  Februar  1880 
betr.  das  Verfahren  in  Auseinandersetzungs- 
angelegenheiten, 

Gegenwärtig  fimgieren  als  Auseinander- 
setzungsbehörden (mit  Einschluss  der  für 
die  neuen  Provinzen  gebildeten)  9  General- 
kommissionen, jede  derselben  soll  aus  min- 
destens 5  Mitgliedern  bestehen,  mehr  als 
die  Hälfte  der  Mitglieder  zum  Richteramte 
qualifiziert  sein. 

Die  Generalkommission  hat  nicht  nur 
den  Hauptgegenstand  der  Auseinander- 
setzungen, sondern  auch  alle  anderweitea 
Rechtsverhältnisse,  die  bei  vorschrifts- 
mässiger  Ausführung  der  Auseinandersetzung 
in  ihrer  bisherigen  Lage  nicht  verbleiben 
können,  zu  regulieren. 

Sie  entscheidet  die  bei  Auseinander- 
setzungen vorkommenden  Streitigkeiten  in 
erster  Instanz,  als  Entscheidungsbehörde  in 
zweiter  Instanz  fimgiert  das  Oberlandeskiil- 
turgericht  in  Berlin,  welches  1844  unter 
dem  Titel  »Revisionskollegium  für  Laudes- 
kultursachen«  an  SteUe  der  aufgehobenea 
9  Revisionskollegien  errichtet  wurde. 

In  dritter  Instanz  ist  das  Reichsgericht 
zuständig,  aber  nur  für  solche  Rechtsver- 
hältnisse, welche  ausserhalb  eines  Ausein- 
andersetzungsverfahi'ens  Gegenstand  eines 
Rechtsstreites  hätten  werden  können  und 
dann  vor  die  ordentlichen  Gerichte  gehört 
hätten. 


Gemeiiiheitsteilung  (Specielle  Gesetzgebung) 


153 


Die  Auseinandersetzung  selbst  wird  von 
den  der  Generalkommission  unterstellten 
Specialkommissaren  vorgenommen. 

Zu  Specialkommissaren  werden  teils 
Juristen,  teils  Landwirte  und  Techniker 
nach  besonderer  Ausbildimg  und  PrOfimg 
ernannt. 

Der  Kommissar  hat,  nachdem  die  General- 
kommission den  Antrag  für  zulässig  erklärt, 
zimächst  die  notwendigen  Informationen 
mittelst  aller  ihm  zu  Gebote  stehenden 
Hilfsmittel  einzuziehen  imd  sodann  zu  einer 
bestimmten  Ausmittelung  des  Sach-  und 
Rechtsverhältnisses  in  einer  von  den  Be- 
teiligten zu  vollziehenden  Generalverliand- 
lung  zu  schreiten. 

Ergeben  sich  hierbei  Streitpunkte,  wel- 
che geeignet  sind,  den  Fortgang  des  Ver- 
fahrens zu  hemmen,  so  werden  dieselben 
sofort  zur  Instruktion  gezogen  und  sodann 
von  der  Generalkonmiission  entschieden, 
anderenfalls  werden  die  Streitigkeiten  bis 
zum  Verfahren  über  den  Auseinandersetzungs- 
plan ausgesetzt. 

Wenn  notwendig,  erfolgt  nach  der 
Generalverhandlung  Vermessung  und  Boni- 
tienmg  der  Ländereien  durch  Feldmesser 
und  Boniteure,  deren  Resultate  in  beson- 
deren Vermessungs-  und  Bonitierungsregis- 
tem  nach  Genehmigung  durch  die  Beteilig- 
ten, eventuell  nach  schiedsrichterlicher  Ent- 
scheidung, niederzulegen  sind. 

Auf  Grund  der  Register  oder  der  an- 
derweitigen Feststellungen  der  Teilnehmer- 
rechte berechnet  der  Kommissar  das  Soll- 
haben des  einzelnen  und  stellt  hiemach 
unter  Berücksichtigimg  des  Wege-  und 
Grabennetzes  den  Auseinandersetzungsplan 
auf.  üeber  denselben  haben  sich  die  In- 
teressenten zu  entscheiden,  einigen  sie  sich 
nicht,  so  wird  der  Plan  durch  Erkenntnis 
der  Generalkonmiission  festgestellt. 

Schliesslich  wird  der  Rezess  von  der 
Kommission  entworfen,  von  der  Genti'al- 
kommission  geprüft  und  nach  Vollziehung 
durch  die  Beteiligten  bestätigt. 

Die  Kosten  des  Verfahrens  fallen  den 
Parteien  nach  Verhältnis  des  Vorteils,  wel- 
cher ihnen  aus  der  Auseinandersetzung  er- 
wächst, zur  Last,  der  Staat  besoldet  jedoch 
die  leitenden  Beamten  und  gewährt  Stem- 
pelfreiheit sowie  GebQhrenfreiheit  für  die 
Eintragungen  in  das  Grundbuch.  Die  Höhe 
der  Kosten  ist  seit  dem  Erlass  des  G.  v. 
24  Juni  1875  hauptsächlich  dadurch  be- 
deutend ermässigt,  dass  an  Stelle  der  für 
die  einzelnen  Amtshandlungen  berechneten 
Gebühren  Pauschsätze  bezahlt  werden. 

b)  Gtobiet  ausserhalb  des  Allge- 
meinen Iiandreohts.  Die  Gemeinheits- 
teilungsordnung  von  1821  gilt  nur  im  Ge- 
biete des  preussischen  Landrechts,  die  üb- 
rigen Gebietsteile  der  Monarchie,  insbeson- 


dere die  1866  neu  erworbenen  Provinzen, 
besassen  meist  schon,  bevor  sie  unter  pi-eus- 
sische  Herrschaft  kamen,  eine  eigene  Lan- 
deskulturgesetzgebung, welche  allerdings  in 
einzelnen  Punkten  der  Ergänzung  beduirfte. 
Nur  die  altländische  Verfahrungsgesetzge- 
bung  ist  —  mit  verschiedenen,  durch  die 
überkommenen  Verhältnisse  bestimmten 
Modifikationen  —  allmählich  auf  alle  Teile 
der  Monarchie,  mit  Ausnahme  von  Hannover 
und  den  Reg.-Bez.  Wiesbaden,  ausge<lehnt 
worden. 

1)  Hannover.  Die  erste  Anregung 
hat  die  iiannöversche  Gesetzgebung  von  den 
Erfolgen  der  Verkoppelungen  in  dem  ehe- 
mals zu  Hannover  gehörigen  Herzogtum 
Lauenburg  erhalten.  Hier  wurde  auf  Grund 
der  Verordnungen  v.  27.  Juni  und  8.  Juli 
1718,  den  ältesten  in  Deutscldand  bekann- 
ten Gesetzen  zur  Beförderung  der  Gemein- 
heitsteüungen,  im  Laufe  des  18.  Jahrhun- 
derts allmählich  das  ganze  Land  verkoppelt, 
zuerst  die  Amtsdörfer,  dann  die  Dörfer  der 
privaten  Grundhen^en.  Hierdurch  veranlasst, 
versuchte  Georg  111.  vor  allem  die  Auf- 
teilung der  gi'ossen  Marken  Hannovers  zu 
befördern.  Seine  Bemühungen  hatten  aber 
erst  grösseren  Erfolg,  als  dieselben  durch  Ge- 
setze unterstützt  wurden.  Das  erste  und  das 
Muster  aller  späteren,  z.  T.  auch  der  preussi- 
schenGemeinheitsteilungsordnung  vonl821  ist 
die  Gemeinheitsteilimgsordnung  nlr  das  Fürs- 
tentum Lüneburg  v.  25.  Juni  1802. 

Hiernach  haben  Gemeinden  und  ge- 
meindeähnliche Korporationen,  selbständige 
Höfe  etc.,  wenn  sie  Berechtigungen  und 
Nutzungen  auf  einem  Boden  gemeinschaft- 
lich mit  anderen  besitzen,  das  Recht,  für 
sich  aus  der  Gemeinschaft  zu  treten  und 
Entschädigungen  zum  privativen  Eigentum 
zu  verlangen  (Geneialteüung). 

Gegenstand  der  Gemeinheitsteilungen 
sind  vor  allem  die  Gemeinweiden,  ausser- 
dem Mast-,  Holz-,  Torf-  sowie  Plaggen- 
und  Heidehiebsberechtigungen. 

Der  Gemeindebeschluss  über  eine  Gene- 
ralteilung ist  gültig,  wenn  sich  die  Hälfte 
der  Stimmen  nach  Verhältnis  der  Teil- 
nehmerrechte dafür  erklärt.  Dagegen  können 
die  einzelnen  Mitglieder  einer  Gemeinde 
eine  Specialteilung  der  generellen  Abfindung 
nur  dann  fordern,  wenn  dadurch  ihre 
Grundstücke  einer  vorzüglichen  Kultur  fähig 
werden. 

Die  Principien  der  Abfindung  sind  älin- 
lich  normiert  wie  in  Preussen,  besonders 
eingehend  und  sorgfältig  aber  sind  die 
Teuungsmassstäbe  aufgestellt.  Für  die 
Weiderechte  sind  deren  \-ier  angegeben,  die 
Berechnung  nac^h  dem  durchschnittlichen 
Viehstande  der  letzten  10  Jahre,  eventuell 
unter  gleichzeitiger  Berechnung  der  Be- 
hütungszeiten,   die   Berechnung   nach   dem 


154 


öemeinlieitsteilimg  (Specielle  Gesetzgebung) 


inneren  Haiishaltimgsbedürfnis  aller  Inter- 
essenten, verbunden  mit  dem  Ansclilage  des 
Ackerlandes  und  der  Wiesen,  endlich  der 
Durchwintern  ngsmassstab. 

Zur  Durchflihrung  der  Gremeinheitstei- 
limgen  wurden  vde  in  Lüneburg,  so  auch 
in  den  übrigen  zu  Hannover  gehörigen 
Fürstentümern  mit  Ausnahme  von  Ost- 
friesland entsprechende  Gesetze  erlassen. 
Charakteristisch  ist  für  diese  ältere  han- 
noversche Gesetzgebung  der  Satz,  dass  die 
Gemeinheitsteilung  als  solche  nicht  mit 
der  Verkoppelung  verbimden  ist.  Nur  durch 
gütliche  Bemühung  der  Teilungsbehörden 
kamen  daher  einige  Zusammenlegungen  zu 
Stande,  es  war  ein  Glück,  dass  die  älteren 
Teilungen  meist  Generalteilungen  waren 
und  nicht  durch  Specialteilungen  die  Nach- 
teile der  Gemengelage,  die  sich  namentlich 
in  den  südlichen  Teilen  der  Provinz  be- 
merkbar  machten,   noch   vermehrt  wuiden. 

Erst  das  G.  v.  30.  Juli  1842  gestattete 
die  zwangsweise  ümlegrmg  von  Gnind- 
stücken  und  zwar  auf  Antrag  einer  Majori- 
tät von  zwei  Dritteln  der  Grundbesitzer 
nach  Flächeninhalt  imd  Steuerkapital,  nach 
dem  Ergänzungsgesetz  v.  8.  November  1856 
genügte  die  Hälfte. 

Gegenstand  der  Zusammenlegung  konnte 
ursprünglich  nur  eine  ganze,  allerdings  auch 
servitutfreie  Feldmark  sein,  später  überhaupt 
eine  zusammenhängende,  grössere  Grund- 
fläche, wenn  die  in  derselben  belegenen 
Grundstücke  rücksichtlich  ihi-er  Benutzung 
von  einander  abhängig  sind. 

Forsten,  Torfmooi*e,  Gehöfte  und  gewisse 
Gärten  sind  von  der  Zusammenlegimg  aus- 
geschlossen. 

üeber  die  gänzliche  Ablösung  der  Weide- 
rechte  auf  fremdem  Grund  und  Boden  fin- 
den sich  die  ei'Sten  Vorschi'iften  in  den  Ge- 
meinheitsteilungsordnungen.  Dieselben  wm*- 
den  zwar  noch  erweitert  in  dem  Ver- 
koppelungsgesetz  von  1842  und  den  das- 
selbe ergänzenden  Gesetzen,  sie  erwiesen 
sich  aber  nicht  ausreichend.  Daher  erging 
das  G.  V.  8.  November  1856.  Dasselbe 
giebt  sowohl  den  Yerpflichteten  wie  den 
Berechtigten  die  Befugnis  zur  Provokation 
und  ordnet  die  Abfindung,  die  in  der  Regel 
in  Land  erfolgen  soll.  Zugleich  setzt  es 
fest,  dass  bei  der  Zusamnienlegimg  auch  die 
Ablösung  der  Weiderechte  erfolgen  muss. 

Dieses  Gesetz  wurde  unter  prcussischer 
Herrschaft  durch  das  G.  v.  8.  Juni  1873 
ergänzt  und  gleichzeitig  die  Abstellung  auf 
Forsten  ruhender  Berechtigungen  und  die 
Teilung  gemeinschaftlicher  Forsten  beson- 
ders geregelt. 

Das  Verfahren  bei  Servitutablösungen, 
Gemeinheitsteilungen  und  Yerkoppelmigen 
lichtet  sich  nach  dem  G.  v.  30.  Juni  1842 
betreffend   das  Yerfalu*en   in  Gemeinheits- 


teilungs-  und  Verkoppelungssachen ,  es 
weicht  mehrfach  von  dem  altländischon 
Yerfalu-en  ab,  ist  jedoch  demselben  durch 
das  G.  V.  17.  Januar  1883  sehr  genähert 
worden.  Der  wichtigste  unterschied  liegt  noch 
jetzt  darin,  dass  in  Hannover  Streitigkeiten 
über  Berechtigungen ,  welche  unabhängig 
von  einer  Teilung  hätten  entstehen  können 
und  dann  im  Rechtswege  erledigt  worden 
wären,  vor  die  ordentlichen  Gerichte  gehören. 

2)  Rheinprovinz.  In  der  Rheinpro- 
vinz —  abgesehen  von  den  landrechtlichen 
Kreisen  —  galt  im  Anfang  unseres  Jahr- 
hunderts für  Gemeinheitsteilungeu  nur  im 
Gebiete  des  französischen  Rechts  die  allge- 
meine Teilungsklage  des  Code  civil  Art.  815 
und  im  Gebiete  des  gemeinen  Rechts  die 
actio  communi  di\'idundo.  Ausserdem  be- 
standen einige  Vorschriften  über  Ein- 
schränkung bezw.  Aufhebung  von  Serdtuten. 

Insbesondere  hatte  im  Gebiete  des  Code 
civil  nach  Art.  647  und  641  jeder  Grnnd- 
besitzer  das  Recht,  seine  Aecker  und  Wie- 
sen von  der  Koppel-  und  Stoppelwoide  an- 
derer Grundbesitzer  durch  Einfriedigung- 
seiner  Besitzungen  zu  befreien,  aber  nur 
gegen  Aufgabe  des  eigenen  Rechtes  an 
der  gemeinen  Weide. 

In  den  Landesteüen  links  des  Rheines, 
wo  der  Code  pönal  galt,  war  der  Flurzwantr 
aufgehoben  \md  Koppel-  und  Stoppelweide 
vor  der  Ernte  resp.  dem  ersten  Schnitt  aut: 
natih'lichen  Wiesen  verboten. 

Diese  Bestimmungen  erwiesen  sich  je- 
doch als  durchaus  lückenhaft,  insbesondere 
für  diejenigen  Teile  der  Provinz,  in  denen 
nicht,  wie  in  den  Fhu:en  unmittelbar  am 
Rhein  und  seinen  Nebenflüssen,  eine  hohe 
Kultur  Weide-  und  ähnliche  Servituten  bereit?- 
verdrängt  hatte.  Es  erschien  jedoch  un- 
zweckmässig, die  Gemeinheitsteilungsordniing 
von  1821  in  der  Provinz  einzuführen,  einer- 
seits weil  dieselbe  vielfach  auf  dem  Allge- 
meinen Landrechte  fusst,  andererseits  weil 
der  in  dem  Gesetz  ausgesprochene  Zwant] 
zur  Zusammenlegung  den  Anscliauungen  clei 
Rheinländer  durchaus  entgegenstand,  aucl 
bei  dem  vorherrschenden  Kleinbetriel>e  da: 
Arrondienmgsbedürfnis  minder  dringlich  er 
schien. 

Es  kam  daher  zunächst  nur  die  Gemein 
heitsteilungsordnung  v.  19.  Mai  1851  zi 
Stande. 

Der  Begriff  der  Gemeinheitsteilmig  ist  ii 
diesem  Gesetze  aufgelöst  in  1.  Ablösung 
der  Servituten,  2.  Teilung  von  gemeinscliaf  t 
lichem  Eigentum. 

Zu  dem  Antrage  auf  Teilimg  eines  ge- 
meinschaftlichen Eigentums  ist  jeder  ^lit 
eigentümer,  zu  dem  Autrage  auf  Ablösiia 
einer  Dienstbarkeit  sowohl  der  Berechtigt 
wie  der  Yeqif lichtete  befugt.  Eine  zwangt 
weise  Umlegung  nur  zur  Erlangung  bessert:: 


Gremeinheitsteilung  (Specielle  Gesetzgebung) 


155 


virtschaftliclier  Planlage  ist  ausdrücklich 
ausgeschlossen. 

Im  übrigen  schliesst  sich  das  Gesetz 
möglichst  an  die  Gemeinheitsteilungsordnung 
von  1821  und  deren  Ergänzungsgesetze  an, 
namentlich  ist  auch  hier  die  Umwandlung 
des  Gemeindeeigentums  in  Pri^-ateigentum 
verboten. 

Das  Verfahren  ordnet  ein  besonderes 
Gesetz  von  gleichem  Datum,  die  Diu-ch- 
ffihnmg  desselben  ist  teils  den  Regierungen, 
teils  den  Gerichten  anvertraut. 

Nach  dem  Erlass  dieser  Gesetze  machte 
sich  aber  immer  dringender  das  Bedürfnis 
nach  Einfühnmg  eines  Zusammenlegimgs- 
gesetzes  geltend  und  ftihrte  zunächst  für 
den  Bezirk  des  ehemaligen  Justizsenats 
Elirenbreitstein  zu  dem  Zusammenlegungsg. 
V.  5.  April  1869.  Die  Erfolge  desselben  trugen 
trotz  lebhafter  —  grösstenteils  politischer  — 
Gegenagitation  dazu  bei,  die  Bedenken  gegen 
ein  derartiges  Gesetz  in  den  übrigen  Teilen 
der  Rheinprovinz  zu  beseitigen,  es  wurde 
daher  am  24.  Mai  1885  das  G.  beti-effend 
die  Zusammenlegung  der  Grundstücke  im 
Gehnngsgebiete  des  rheinischen  Rec^htes  er- 
lassen. 

Das  Gesetz  gestattet  die  Zusammenlegung 
einer  ganzen  Gemai'kimg  wie  auch  einzelner 
"wirtschaftlich  zusammengehöriger  Feldab- 
schnitte, knüpft  dieselbe  aber  an  die  Zu- 
stimmung von  mehr  als  der  Hälfte  der  be- 
treffenden Eigentümer,  nach  Bodenfläche 
und  Katastralieinertrag  berechnet.  Die  Zu- 
sammenlegung unterbleibt,  wenn  im  Ein- 
teilungstermin fünf  Sechstel  der  Eigentümer 
widersprechen. 

Werden  von  der  Zusammenlegung  Grund- 
stücke betroffen,  welche  einer  nach  dem  G. 
V.  1851  ablösbaren  Nutzung  unterliegen,  so 
muss  die  Ablösung  der  Berechtigimg  gleich- 
zeitig mit  der  Zusammenlegung  bewirkt 
werden.  Die  Bestimmung  der  Abfindung 
und  die  Ausfühnmg  der  Zusammenlegimg 
ist  zunächst  dem  freien  üebereinkommen 
der  Beteiligten  überlassen,  welches  jedoch 
der  Genehmigung  der  Generalkommission 
bedarf.  Subsidiär  treten  die  gesetzlichen 
Bestimmungen  ein,  welche  den  altländischen 
möglichst  angenähert  sind. 

Ebenso  wie  in  der  Rheinprovinz  ist  die 
Zusammenlegimg  in  Hohenzollern  durch 
das  G.  V.  23.  Mai  1885  geregelt.  Dieses 
Gesetz  enthält  jedoch  ausserdem  noch  zur 
Ergänzung  der  bisherigen  sehr  lückenhaften 
Gesetzgebung  Vorschriften  über  die  Ab- 
lösung der  wichtigsten  Servituten  und  der 
Teilung  der  Gemeinheiten,  welche  denen 
des  rheinischen  Rechts  analog  sind. 

Die  Gemeinheitsteilungsordnung  von  1851 
für  die  Rheinprovinz  ist  auch  auf  Neu- 
vorpommern  und  Rügen,  das  gemein- 
rechtliche  Gebiet    in   den  östlichen  Teilen 


der  Monarchie  ausgedehnt.  Es  w^ar  aber 
hier  eine  zwangsweise  Umlegung  gemein- 
schaftlich benutzbarer  und  vermischt  liegen- 
der Grundstücke  auf  Antrag  eines  Teil- 
nehmers schon  nach  der  schwedischen  Y. 
V.  18.  Xovember  1775  unter  gewissen  Vor- 
aussetzungen gestattet.  Diese  Verordnung 
ist  aufrecht  erhalten  worden. 

3)  Hessen-Nassau,  a)  Regierungs- 
bezirk Wiesbaden  mit  Ausschluss 
des  Kreises  Biedenkopf.  Den  Aus- 
gangspimkt  der  nassauischen  Landeskultur- 
gesetzgebung, deren  Anfänge  bis  in  das 
vorige  Jahrhundert  ziu^ickreichen,  bildest  da 
Kulturedikt  v.  7./9.  November  1814,  welches 
fast  aUe  Hut-  und  Weideberechtigungen 
während  der  für  die  Kidtur  schädlichen 
Zeiten  gegen  Entschädigung  des  Berechtigten 
bei  Strafe  aufhebt. 

Ihm  schloss  sich  die  V.  des  herzoglichen 
Staatsministeriiuns  v.  12.  September  1829, 
die  Güterkonsolidation  etc.  betr.,  —  ergänzt 
durch  vier  Instruktionen  v.  2.  Januar  1830 
—  an. 

Das  Princip  der  Konsolidation  ist  bereits 
oben  dargelegt  'worden,  hier  ist  noch  her- 
vorzuheben, dass  man  von  Anfang  an 
darauf  Wert  gelegt  hat,  zugleich  mit  der 
Zusammenlegung  alle  zur  Kultur  des  Landes 
dienenden  Meliorationen,  insbesondere  Ent- 
und  Bewässenmgsanlagen,  vorzimehmen. 

Ausgenommen  von  der  Konsolidation  sind, 
sofern  sie  grössere  Distrikte  ausmachen, 
gemeinheitlicher  Weideboden ,  Wüstungen 
und  Trieschland;  ausserdem  Weinberge, 
Städte,  Dörfer,  geschlossene  Landgärten  etc., 
für  Waldungen  bedarf  es  specieUer  Ge- 
nehmigimg durch  die  Regierung.  Es  ist 
jedoch  den  Gemeinden,  die  sich  ziu:  Konso- 
lidation ihrer  Gemarkung  entschlossen  haben, 
ausdrücklich  anempfohlen,  auch  für  den 
Dorfbereich  soweit  als  möglich  die  erforder- 
lichen Kidturverbesserungen  vornehmen  zu 
lassen. 

Die  konsolidierten  Gnmdstücke  dürfen 
unter  ein  gewisses  Minimalmass,  50  DRuthen 
für  Aecker,  25  für  Wiesen,  nicht  mehr  ge- 
teilt werden. 

Das  Verfahren  ist  ein  durchaus  eigen- 
artiges (vgl.  d.  Art.  Zusammenlegung 
der  Grundstücke),  es  w^urde  unter 
preussischer  Herrschaft  vereinfacht  durch 
das  G.  V.  21.  März  1887,  welches  zugleich 
das  altländische  Kostenwesen  einführte. 

Das  Provokationsrecht  war  fniher  nur 
der  Majorität  von  zwei  Dritteln  der  Eigen- 
tümer der  betreffenden  Grundstücke,  falls 
dieselben  die  Hälfte  der  zu  konsolidierenden 
Gnmdstücke  besassen,  eingeräumt,  nach  der 

Sreussischen  V.  v.  2.  September  1867  genügt 
ie  einfache  Majorität. 
Nicht  ausreichend  erwiesen  sich  in  neuerer 
Zeit  die  älteren  Bestimmungen  über  die  Ab- 


156 


Gemeinheitsteilung  (Specielle  Gesetzgebung) 


lösung  der  Hütungsrechte,  auch  hatte  sich 
das  Bedürfnis  nach  einer  Teilung  der  ge- 
meinsam benutzten  Grundstücke  allmähhch 
geltend  gemacht.  Daher  wurde  auch  für 
den  Begierungsbezirk  Wiesbaden  eine  Ge- 
nieinheitsteüimgsordnung  v.  5.  April  1869 
erlassen,  welche  im  wesentlichen  mit  der 
rheinischen  übereinstimmt.  Dieselbe  hält 
jedoch  die  Bestimmungen  über  die  Güter- 
Konsolidation  aufrecht  und  bestimmt,  dass, 
wenn  von  derselben  solche  Gnmdstücke  be- 
troffen werden,  die  einer  gemeinschaft- 
lichen ablösbaren  Benutzung  unterliegen, 
die  Sei*vitutablösung  oder  Teilung  gleich- 
zeitig mit  der  Konsolidation  bewirkt  wer- 
den muss. 

b)  Regierungsbezirk  Cassel  ein- 
schiesslich  des  Kreises  Bieden- 
kopf im  Regierungsbezirk  Wies- 
baden. In  dem  ehemaligen  Kurfürstentum 
Hessen  war  unter  dem  alten  Regiment  zur 
Beseitigung  der  kulturschädlichen  Nutzungs- 
gemeinschaft und  der  Zersplitterung  der 
Grundstücke  nur  sehr  wenig  geschehen. 

Das  G.  V.  28.  August  1834  betreffend 
die  Verkoppelung  der  Grundstficke  be- 
schränkte sich  darauf,  die  freiwillige  Zu- 
sammenlegung zu  erleichtern,  war  aber 
infolgedessen  so  gut  wie  wirkungslos  ge- 
blieben. Auch  die  Servitutablosungen  und 
Gemeinheitsteilungen  waren  in  den  beiden 
GG.  V.  25.  Oktober  1834  betreffend  die 
Teilungen  der  Gemeinheiten,  welche  hin- 
sichtlich der  Viehhuten  bestehen,  und  v. 
28.  Oktober  1834,  die  Beseitigung  mehrerer 
die  Verbesserung  des  Acker-  und  Wiesen- 
baues entgegenstehender  Hindemisse  be- 
treffend, durchaus  imziüängüch  geordnet. 
Die  preussische  Regierimg  erliess  daher 
schon  am  13.  Mai  1867  eine  V.  beti-effend 
die  Ablösung  der  Servituten,  die  Teilung 
der  Gemeinschaften  und  die  Zusammenle- 
gung der  Grundstücke,  welche  durch  das  G.  v. 
25.  Juli  1876  ergänzt  wurde. 

Die  V.  schliesst  sich  in  Form  und  In- 
halt an  die  rheinische  Geraeinheitsteilungs- 
ordnung  an,  regelt  aber  gleichzeitig  auch 
die  Zusammenlegung  der  Grundstücke.  Die 
Bestimmungen  hierüber  sind  hauptsächlich 
der  Gemeinheitsteüungsordnung  von  1821 
entnommen.  Das  Provokationsrecht  aber 
für  die  keiner  gemeinschaftlichen  Be- 
nutzung unterliegenden  Gnmdstücke  ist  an 
den  Besitz  von  mehr  als  die  Hälfte  des 
Flächeninhaltes  der  umzulegenden  Grund- 
stücke geknüpft,  bei  einer  solchen  Zu- 
sammenlegung muss  eventuell  die  Servitut- 
ablösung  bezw.  die  Gemeinheitsteilung 
gleichzeitig  mit  der  Zusammenlegimg  er- 
folgen. Gewisse  Kategorieen  von  Grund- 
stücken wie  Gebäude,  Hausgarten,  Obst-, 
Hopfen-  und  Gartenanlagen  etc.  sind  auch 
lüer  eximiert. 


Der  Geltungsbereich  der  Y.  wurde  ebenso 
wie  der  des  Gesetzes  von  1876  auf  die  gross- 
herzoglich hessischen  Gebietsteile  ausge- 
dehnt, welche  zum  Regierungsbezirk  Cassel 
und  zum  Kreise  Biedenkopf  im  Regierungs- 
bezirk Wiesbaden  gehören, 

4)  In  Schleswig  -  Holstein  begann 
mit  der  Einführung  der  Feldgraswirtschaft 
schon  früh  die  Einkoppelung  der  Grund- 
stücke, die  Gesetzgebung  griff  jedoch  erst 
in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jgüirhunderts 
ein.  Für  Schleswig  gestattete  die  Y.  v. 
10.  Februar  1766  jedem  Landinteressenten, 
seine  zusammenliegenden  Ländereien  der 
gemeinen  Weide  zu  entziehen  und  einzu- 
koppeln.  Er  konnte  dabei  nach  der  V.  v. 
26  Januar  1770  eine  allgemeine  Vermessung 
sämtlicher  Dorfländereien  verlangen,  die  auf 
gemeinsame  Kosten  der  Beteiligten  ging. 
Ausserdem  sollte,  wenn  eine  Dorfschaft  mit 
der  Hälfte  (früher  zwei  Drittel)  der  nach 
Landbesitz  abzuwägenden  Stimmen  die  Se- 
paration eines  ihr  allein  gehörigen  Land- 
stücks beschloss,  dieser  Beschluss  auch  dio 
Minorität  binden. 

Eine  der  V.  v.  1770  analoge  V. 
erging  für  den  sogenannten  könighchen 
Anteü  von  Holstein,  die  Grafschaft  Rantzau 
und  die  Herrschaft  Pinneberg  unter  dem 
19.  November  1771 ;  für  den  grossfürstlichen 
Anteil  von  Holstein  war  bereits  am  iiO. 
August  1768  ein  Regulativ  erlassen  worden, 
welches  die  Einkoppelung  von  Amts 
wegen  ohne  Befragung  der  Interessenten 
anordnete. 

Die  Ausführimg  der  Reform  erfolgte  nach 
den  Verordnungen  von  1770  und  1771  im 
wesentlichen  in  der  Art,  dass  zunächst  die  f^o- 
samten  Dorfländereien  von  vereidigten  Land- 
messern unter  Zuziehimg  dreier  erfahrener, 
von  der  Obrigkeit  zu  ernennender  Sencl- 
männer  vermessen  und  dann  von  den  letzteren 
bonitiert  wurden.  Hiernach  war  demjenigen, 
der  die  Aufteilung  verlangt  hat,  oie  ihm 
gebührende  Abfindimg  möglichst  an  einem 
Orte  und  in  einer  Strecke  auszuweisen.  Dio 
Verteilung  richtete  sich  nach  Verhältnis  des 
Landbesitzes,  eventuell  nach  Verliältnis  des 
Nutzungsanteils. 

Auf  Grund  dieser  durch  mehrere  Nach- 
träge verschiedentlich  ergänzten  Vei'ord- 
nungen  >^^lrde  bereits  im  vorigen  Jahrhun- 
dert die  Verkoppelung  der  meisten  Fluren 
ausgeführt.  Die  Verordnungen  galten  aUer- 
dings  nm*  für  die  Aemter,  das  Vorbild  der- 
selben wurde  aber  von  den  Adligen  und 
Klöstern  nachgeahmt. 

Diese  älteren  Verkoppelungen  sind  jedoch 
vielfach  sehr  unwirtschaftüch  ausgefülirt. 
Auch  wurden  durch  dieselben  nur  diejeiiip^en 
Weiderechte  und  andere  kulturschädliche. 
Servituten  beseitigt,  welche  auf  den  zu  ver- 
koppelnden Grundstücken  lagen. 


Gremeinheitsteilimg  (iSpecielle  Gesetzgebung) 


157 


Diese  Lücken  sucht  das  preussische  G. 
V.  17.  August  1876  betreffend  die  Ablösung 
der  Servituten,  die  Teilung  der  Gemeinheiten 
und  die  Zusammenlegiuig  der  Grundstücke 
für  die  Provinz  Schleswig-Holstein  mit  Aus- 
schluss des  Herzogtums  Lauenburg  auszu- 
füllen, welches  sich  im  wesentlichen  an  die 
Bestimmungen  der  hessischen  Gemein  heits- 
teilungsordnung  vom  13.  Mai  1867  anschliesst 
und  nur  einzelne  Vorschriften  aus  dem  han- 
noverschen Forstgesetz  vom  13.  Jimi  1873 
mit  aufnimmt.  Der  Zwang  zur  Zusammen- 
legung ist  aber  bei  jeder  Zusammenlegimg 
an  die  Zustimmung  von  mehr  als  der  Hälfte 
der  Eigentümer,  nach  Bodenfläche  und  Ka- 
tastralreinertrag  berechnet,  geknüpft. 

2.  Die  mittel-  und  norddeutschen 
Kleinstaaten.  Die  Gesetzgebung  der  klei- 
neren mitteldeutschen  Staaten  schliesst  sich 
in  ihren  wichtigsten  Bestimmungen  vielfach 
an  die  preussische  an,  doch  sind  meist  be- 
sondere Gesetze  über  Servitutablösung  und 
Zusammenlegimg  ergangen  und  die  Ge- 
meinheitsteilungen mit  der  Zusammen- 
legung verbunden.  Die  Herzogtümer  Anhalt 
imd  &chsen-Meiningen  sowie  die  Fürsten- 
tümer Schwarzburg-Rudolstadt,  Schwarz- 
burg-Sondershausen, Waldeck-Pyrmont  und 
Schaumburg-Lippe  haben  auf  Grund  beson- 
derer Staatsverträge  die  Leitung  der  Aus- 
einandersetzungsgeschäfte an  Preussen  über- 
tragen, welches  mit  der  Diurchfühnmg  der- 
selben die  Generalkommissioncn  in  Cassel 
bezw.  Merseburg  betraut  hat 

In  Oldenburg  fehlt  in  den  Marschen 
naturgemäss  das  Bedürfnis  der  Separation; 
von  den  Einzelhofgebieten  der  Geest  sind 
die  grossen  Marken  der  Oldenbur^r  Geest 
und  im  Münsterland  auf  Grund  emer  Ver- 
ordnung von  1806  fast  gänzlich  aufgeteilt. 
Auf  den  Eschen  hat  sich  die  Notwendigkeit 
der  Zusammenlegimg  wegen  des  Mangels 
an  Zugänglichkeit  vieler  Parzellen  heraus- 
gestellt, das  G.  V.  27.  April  1858  gestattet 
daher  die  zwangsweise  Verkoppelung  auf 
Antrag  der  Eigentümer  von  menr  als  der 
Hälfte  der  Boden  fläche.  Die  Verkoppelung 
kann  zugleich  mit  der  Gemeinheitsteilung 
verbunden  werden. 

In  Mecklenburg  -  Schwerin  und 
Mecklenburg-Strelitz  sind  die  alten 
Nutzimgsgemeinschaften  und  die  Gemenge- 
lage der  Grundstücke  seit  Anfang  des  Jahr- 
hunderts bei  Gelegenheit  der  Regulierungen 
beseitigt  worden,  soweit  dies  nicht  schon 
früher  durch  die  Arrondierungen  der  Ritter- 
güter geschehen  war.  Eines  besonderen 
Gesetzes  bedurfte  es  nicht,  weder  fiir  das 
Domanium  noch  für  den  ritterschaftlichen 
Besitz,  da  die  Bauern  meist  nur  Zeitpächter 
waren. 

Nur  für  den  städtischen  Grundbesitz 
machte  sich  das  Bedürfnis  eines  Separatious- 


gesetzes  geltend.  Die  am  6.  Februar  1854 
für  Mecklenburg-Strelitz  erlassene  »Ver- 
ordnung zur  Aufhilfe  des  städtischen  Acker- 
bauwesens mittelst  Separationen  der  städ- 
tischen Feldmarken«,  deren  Vorschriften 
durch  das  G.  v.  5.  Januar  1873  in  Mecklen- 
burg-Schwerin eingeführt  wurden,  hat  aber 
bisher  nur  wenig  Erfolg  gehabt. 

Braun  seh  w^eig  ist  wohl  der  einzige 
deutsche  Staat,  in  welchem  die  Reform  der 
alten  Flurverfassung  im  wesentlichen  als 
beendigt  gelten  kann.  Schon  bei  Gelegen- 
heit der  allgemeinen  Landesvermessung  in 
der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  be- 
günstigte man  hier  die  Arrondienmg  und 
sonstige  Kultiu'verbesserung  des  Grundbe- 
sitzes, die  neue  Gemeinheitsteilungsordnung 
vom  12.  Dezember  1834,  die  an  die  Stelle 
der  mehr  einen  provisorischen  Charakter 
tragenden  V.  v.  26.  März  1823  trat,  giebt 
analog  der  preussischen  von  1821  die  näheren 
gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Auf- 
hebung der  schädlichen  Nutzungsgemein- 
schaften. Wie  in  Hannover  werden  General- 
und  Specialseparationen  unterschieden,  die 
Majoritätsbestimmungen  sind  für  beide  ver- 
schieden normiert.  Das  herzogliche  Landes- 
ökonomiekoUegium  —  1834  errichtet  —  hat 
im  allgemeinen  die  Stolliuig  einer  preussischen 
Generalkommission. 

Im  Königreich  Sachsen  ordnet  das  G. 
V.  17.  März  1832  nur  die  Ablösung  der  Ser- 
vituten und  die  Gemeinheitsteilungen ;  beide 
sollten  möglichst  kombiniert  werden.  Zu- 
sammenlegung der  Grundstücke  war  dabei 
nur  auf  gütlichem  Wege  zu  erreichen.  Erst 
diu-ch  das  G.  v.  14.  Juni  1834  wiude  die- 
selbe auch  zwangsweise  ermöglicht,  und 
durch  das  G.  v.  23.  Juli  1861  noch  mehr 
erleichtert.  Das  Verfahren  ist  analog  dem 
preussischen.  Die  Ablösung  der  Servituten 
—  teils  in  Land,  teils  in  Kapital  —  sowie 
die  Gemeinheitsteilungen  sind  im  wesent- 
lichen beendet,  auch  die  Zusammenlegimgen 
sind  schon  weit  vorgeschritten. 

3.  Die  süddeutschen  Staaten.  Wie 
bereits  oben  angedeutet,  ist  die  Entwickelung 
der  Reformgesetzgobung  in  den  süddeutschen 
Staaten  eine  andere  gewesen  als  in  den 
noixldeutschen.  Auch  hier  hat  man  gegen 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  mit  der  Auf- 
teilung der  Gemeinheiten  begonnen,  dieselbe 
ist  aber  nicht  in  so  erheblichem  Masse  d\uxjh- 
geführt  worden.  Sodann  wurden  in  den 
dreissiger  und  vierziger  Jahren  dieses  Jahr- 
hunderts die  bestehenden  Weide-  und  Forst- 
servituten  ziu*  Ablösung  gebracht,  im  wesent- 
lichen durch  Geldrenten.  Wirksame  Zn- 
sammenlegungsgesetze  kamen  aber  bei  der 
grossen  Abneigimg  gegen  Zwangsbestim- 
mungen erst  in  neuerer  Zeit  zu  stände,  sie  ge- 
statten übei-aU  die  Wahl  siwischen  Zusammen- 
legmig  und  blosser  Feldwegregulierung. 


158 


Gemeinheitsteiluiig  (Specielle  Gesetzgebung) 


In  Bayern  liaben  seit  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts zahlreiche  freiwillige  Arrondie- 
ningen  unter  gleichzeitigem  Ausbau  der 
Dorfgenossen  als  sogenannte  Vereinödungen 
stattgefunden  (s.  d.Ai-t.  Abbau  oben  Bd.  I,  S.  1). 
Dieselben  sind  jedoch  im  wesentlichen  auf  das 
Gebiet  des  ehemahgen  Hochstiftes  Kempten 
beschränkt  geblieben ;  hier  finden  sich  auch 
seit  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  gesetz- 
liche Bestimmungen  zur  Erleichterung  der- 
artiger Arrondierungen. 

In  den  Hauptteilen  Bayerns  wurde  die 
Arrondierung  des  Grundbesitzes  schon  gegen 
Ende  des  vorigen  Jahrhimderts  gleichzeitig 
mit  der  Aufteilung  der  Gemeinheiten  em- 
pfohlen, die  zahlreichen  Verordnungen  hatten 
jedoch  nur  wenig  Erfolg:  auch  wurden  die 
Gemeinheitsteilungen  bald  inhibiert. 

Gegen  die  Weiderechte  erwiesen  sich  die 
älteren  Verordnungen  aus,  den  Jahren  1805 
und  1808  nicht  hinreichend,  sie  sind  daher 
durch  das  G.  v.  28.  Mai  1852  über  die  Aus- 
übung imd  Ablösimg  der  Weiderechte  auf 
fremdem  Grund  und  Boden  ersetzt  w^orden. 
Dasselbe  hebt  die  Weide  auf  Aeckern  während 
ihrer  Fruktifikation  und  auf  Wiesen  während 
ihrer  Hegezeit  ohne  Entschädigung  auf  und 
gestattet  die  Ablösung  einseitiger  Dienst- 
barkeiten gegen  Geld  auf  Antrag  der  Mehr- 
heit der  Verpflichteten^  gegenseitiger  Dienst- 
barkeiten durch  Majontätsbeschluss. 

Das  Bedürfnis  nach  Zusammenlegung 
trat  gleichzeitig  um  so  lebliafter  vor,  als 
diu'ch  die  Keformgesetzgebung  von  1848  der 
grundherrliche  Verband  beseitigt  war.  Den- 
noch scheiterte  die  sehr  lebhafte  Agitation 
für  Erlasß  eines  Zusammenlegungsgesetzes 
mit  Zwangsbestimmungen  an  dem  Wider- 
stände, der  sich  allentlialben  gegen  den  an- 
geblichen Eingriff  in  die  Heiligkeit  des 
Privateigentums  erhob,  so  sehr  auch  das 
Bedürfnis  nach  ümlegung  allgemein  aner- 
kannt wiude.  Es  kam  nur  das  Arron- 
dierungsgesetz  vom  10.  November  1861  zu 
Stande,  welches  einen  nennenswerten  Erfolg 
durch  die  Forderung  einer  sehr  hohen  Ma- 
jorität der  Interessenten  bei  zwangsweiser 
Umlegung  von  vorn  herein  ausscliloss.  Erst 
das  Flurbereinigungsgesetz  vom  29.  Mai  1886 
bietet  die  Garantie  einer  grösseren  Wirk- 
samkeit und  hat  binnen  kurzem  nicht  im- 
erhebliche  Erfolge  erzielt. 

Dies  Gesetz  versteht  unter  Flurbereinigung 
sowohl  die  Zusammenlegung  von  Grund- 
stücken als  die  Regelung  von  Feldwegen. 
Zwischen  beiden  haben  die  Beteiligten  die 
Walü,  die  zwangsweise  Durchfühnmg  ist 
an  die  Zustimmung  der  Mehrzahl  der  Grund- 
besitzer nach  Kopfzalil  und  Bodenfläche  ge- 
knüpft. Eximiert  sind  AVeinberge,  Hopfen- 
und  Gartenanlagen,  geschlossene  Grund- 
stücke etc.,  doch  können  dieselben  eventuell 
expropriiert    werden.     Bemerkenswert    ist, 


dass  Fischerei-  und  Weiderechte  sowie  Dienst- 
barkeiten unverändert  bleiben ;  nur  die  Dienst- 
barkeiten, welche  infolge  der  Flurbereinigung 
entbehrlich  werden,  erlöschen  ohne  Ent- 
schädigung. Spätere  Teilungen  der  be- 
reinigten Grundstücke  dürfen  nur  in  der 
Weise  erfolgen,  dass  die  einzelnen  Grund- 
stücke freie  Zufahrt  erhalten.  Zur  Durch- 
führung des  Gesetzes  ist  eine  besondere  Be- 
hörde, die  Flurbereinigungskommission,  ge- 
bildet. Bei  dem  Verfahren  ist  den  Be- 
teiligten, wie  auch  in  Nassau,  eine  wesent- 
lich grössere  Mitwirkimg  eingeräumt  als  nach 
der  preussischen  Gesetzgebung. 

Die  württembergische  Gesetzge- 
bung hat  im  wesentlichen  einen  der  bay- 
rischen analogen  Verlauf  genommen.  Die 
Vereinödungen  nach  Kemptener  Muster 
haben  nur  in  einigen  Aemtem  Nachahmung 
gefunden.  Die  Gemeinheiten  sind  meist 
als  Allmenden  im  Besitze  der  Gemeinden 
geblieben. 

Die  Ablösung  der  Weiderechte  auf  land- 
wirtschaftlichen Grundstücken  sowie  auf 
Waldboden  wurde  durch  das  G.  v.  26.  Mäi-z 
1873  geordnet  Dasselbe  verbietet  gi-und- 
sätzlich  die  Beschränkung  des  Gnindeigen- 
üuns  durch  die  Weide,  die  privatrechtlicheu 
Kulturbeschränkungsbefugnisse  hören  gegen 
Entschädigung,  die  übrigen  ohne  solche 
auf. 

Zur  Beseitigung  der  zahlreichen  Trepp- 
und  Ueberfahrtsrechte  w^urde  das  Wege- 
reguüerungs-G.  v.  26.  März  1862  erlassen. 
Dasselbe  erwies  sich  jedoch  als  ungenügend, 
vor  aUem  deswegen,  weil  es  die  Möglich- 
keit der  Zusammenlegung  und  damit  einer 
S kindlichen  "Reform  zu  sehr  erschwerte, 
ie  Erkenntnis  dieser  Uebelstände  frlhi-te 
endlich  zu  dem  Feldbereinigungsgesetze, 
welches  fast  gleichzeitig  mit  dem  baye- 
rischen am  30.  März  1886  zu  stände  kam 
und  in  seinen  wichtigsten  Bestimmungen 
nur  unwesentlich  von  denen  des  bayerischen 
Gesetzes  abweicht. 

In  Baden  können  nach  dem  G.  v.  31. 
Jiüi  1848  die  Weiderechte  auf  Verlangen 
des  Verpflichteten  gegen  Geld  zur  Ablösung 
gebracht  werden,  die  Schafweide  war  be- 
reits durch  die  V.  v.  12.  Mai  1818  be- 
schränkt. 

Ein  Bereinigungsgesetz,  welches  sowohl 
die  Zusammenlegung  der  Grundstücke  wie 
auch  die  blosse  Feldwegreguliening  zirni 
Gegenstande  hatte,  erging  am  5.  Mai  185G, 
es  forderte  jedoch  eine  zu  hohe  Majorität 
der  Beteihgten  zur  Durchführung  der  Un- 
ternehmung; erst  die  Nov.  v.  21.  Mai  1882 
beschränkte  dieselbe  auf  die  eingehe  Mehi- 
zahl  nach  Kopfzahl  und  Steuerkapital.  Die 
badische  Gesetzgebung  hat  der  bayerischen 
und  württembergischen  vielfach  zum  Vor- 
bilde gedient.    Eigentümlich  ist  Baden  das 


Gemeinheitsteilung  (Specielle  Gesetzgebung) 


159 


Institut  der  Kulturingenieiu^,  welche  auch 
\m  der  Feldbereinigung  thätig  sind. 

Ln  Grossherzogtum  Hessen  bezweckt 
das  Gemeinheitsteüungs-G.  v.  7.  September 
1814  die  Aufhebung  der  Gememweide, 
Forstgemeinheiten,  Yor-  und  Nachhut  auf 
AViesen  etc.  Jeder  Belastete  hat  das  Recht 
auf  Ablösung.  Die  Abfindung  findet  in  der 
Regel  in  Land  statt.  Die  Ablösung  der 
"Waldweiden  nach  diesem  Gesetze  ist  be- 
endet; für  die  Hütungsrechte  auf  landwirt- 
schaftlichem Boden  erging  das  G.  v.  7.  Mai 
1849,  welches  die  Aufhebiftig  bezw.  Ab- 
lösung derselben  gegen  Geld  ordnet. 

Getrennt  von  diesen  Gesetzen  ist  auch 
hier  die  Znsammenlegungsgesetzgebung.  Die- 
selbe hat  zu  zwei  Gesetzen,  dem  v.  24.  De- 
zember 1857  imd  V.  18.  August  1871  ge- 
fuhrt, die  mehr  auf  dem  nassauischen  Kon- 
solidationsprincip  beruhten,  aber  nur  wenig 
Erfolg  hatten,  z.  T.  wegen  zu  hoher  Majo- 
ritätsbestimmungen und  Umständlichkeit  des 
Verfahrens.  Das  neue  G.  v.  28.  September 
1S87  ordnet  die  Feldbereinigimg  ähnüch, 
wie  dies  in  den  Nachbarstaaten  geschehen. 

Schliesslich  ist  noch  Elsass-Loth- 
ringen  zu  erwähnen.  Hier  ist  unter  der 
h^Qzösischen  Gesetzcebung  nur  wenig  für 
die  Verbesserung  der  Flureinteilung  ge- 
schehen; dem  Mangel  an  Feldwegen  sucht 
(las  G.  V.  14.  April  1884  entgegenzuwirken, 
auch  kann  zur  Anlage  und  Unterhaltung 
Ton  Feldwegen  sowie  zur  Herstellung  von 
Be-  uud  Entwässenmgen  nach  dem  G.  v. 
30.  Juli  1890  der  Austausch  von  Gnmd- 
stücken  im  Zwangswege  herbeigeführt  wer- 
den. 

Für  Ablösimg  von  Servituten  gelten  die 
venigen  Bestimmungen  des  französischen 
Rechts  (s.  oben). 

B.  Ausserdeutsche  Länder. 

1.  England  und  Schottland.  In  Gross- 
britannien beginnt  das  Bestreben  zur  Um- 
gestaltung der  ursprünglichen  Flui-verfassung 
schon  im  16.  Jahrhundert.  Es  geht  aus  von 
dem  Grossgrundbesitz  und  wird  vor  allem 
hervorgerufen  durch  denüebergang  zur  Feld- 
graswirtschaft, die  einer  besseren  Arrondie- 
mn^  des  Besitzes  als  die  altüberlieferte 
Dreifelderwirtschaft  des  Mittelalters  bedurfte. 
Bas  Mittel  hierzu  war  die  indosure.  Sie 
ist  wie  die  preussische  Gemeinheitsteilung, 
Aufhebung  der  alten  N^utzungsgemeinschaft 
und  schliesst  in  sich  Ablösung  der  Servi- 
tuten, Teilung  der  Gemein  weiden  und  Zu- 
sammenlegung der  Gnmdstücke,  ausserdem 
ist  sie  in  der  Regel  mit  der  Zehntablösung 
verbunden.  Die  Bezeichnung  inclosiu^  rührt 
daher,  weil  die  separierten  Gnmdstücke  ein- 
gezäunt wurden.  Es  gelang  den  Grundherren 
hierdurch,  vor  allem  ihre  eigenen  Ländereien 
—  meist  vergrössert  durch  Bauemlegungen  — 


aus  der  alten  Feldgemeinschaft  auszuscheiden, 
die  Bauern  setzten  die  alte  Wirtschaft  fort. 

In  Schottland  erging  schon  1668  ein 
allgemeines  Gesetz,  wonach  auf  Verlangen 
eines  Teilhabers  die  Gemeinheiten  nach 
dem  Werte  der  bisherigen  Anteile  unter  die 
Interessenten  verteilt  werden  soUten.  In- 
folge dieses  Gesetzes  sind  aJlmähhch  fast 
alle  Gemeinheiten  in  Schottland  geteilt  wor- 
den. 

In  England  dagegen  gab  es  für  die 
bäuerhchen  Grundeigentümer  zunächst  die 
MögUchkeit  gütlicher  Einigung,  die  aber  nur 
dann  Gewähr  bot,  wenn  sie  gerichtlich  be- 
stätigt wurde.  Sie  wurde  noch  besonders 
dadm-ch  erschwert,  dass  der  Grundherr  (lord 
of  manor)  und  der  Zehntbei'echtigte  bei  Auf- 
hebung der  Feldgemeinschaft  für  ihre  Rechte 
eine  verhältnismässig  grosse  Abfindung  for- 
derten. Der  andere  Weg,  der  sich  nament- 
lich auch  dann  notwendig  zeigte,  wenn  ver- 
schiedene Grundherren  in  einem  Dorfe  wa- 
ren, war  der  einer  besonderen  Parlaments- 
bill. Dieser  Weg  hatte  aber  den  Nachteil, 
dass  er  sehr  kostspielig  und  ausserdem  — 
wegen  der  Willküi*  der  Teüungskommissa- 
rien  —  sehr  unsicher  war.  Dennoch  ist  er 
seit  1709  vielfach  beschritten  worden,  es 
wurden  bis  1832  ca.  5600000 -acres  auf 
diese  Weise  geteilt. 

Diese  Gesetzgebung  kam  jedoch  vor 
allem  dem  grossen  Grundbesitze  zu  gute,  da 
sie  vor  allem  zur  Abrundung  der  grossen 
Güter  diente. 

Erst  seit  1845  griff  die  Gesetzgebung 
durch  eine  Reihe  von  Gesetzen  ein  und  er- 
möglichte die  Separation  auch  für  das  mittlere 
und  kleinere  Grundeigentum.  Es  wurde 
eine  besondere  Behörde  zur  Durchführung 
der  Reform  eingesetzt,  die  land-commissio- 
ners  for  England.  Diese  lässt,  wenn  ein 
Drittel  der  Interessenten  den  Anti'ag  stellt, 
eine  Untersuchung  der  betreffenden  Flur 
durch  einen  Kommissar  abhalten  und  erlässt 
eine  provisorische  Ordnung,  welche  von  den 
Beteiligten  zu  genehmigen  ist.  Hiernach 
findet  die  Ernennung  eines  Taxators  zur  Ab- 
schätzimg und  die  Prüfung  der  Rechtsver- 
hältnisse statt.  Sodann  wird  ein  Verteilungs- 
plan aufgestellt.  Wird  derselbe  von  zwei 
Dritteln  der  Interessenten  genehmigt,  so  gilt 
die  Ablösung  als  perfekt. 

Die  Abfindung  erfolgt  durchgehends  in 
Land.  Bei  jeder  Teilung  müssen  4 — 10  acres 
für  öffentliche  Spielplätze.  Promenaden  etc. 
reserviert  werden. 

2.  Skandinavien.  In  den  skandina- 
vischen Ländern  beginnt  die  Aufhebung 
der  alten  Feldgemeinschaft  verhältnismässig 
früh  und  zwar  im  wesentüchen  aus  dem 
gleichen  Grunde  wie  in  England. 

In  Dänemark  ergingen  seit  1720  Ver- 
ordnungen zur  Erleichterung  der  allmählich 


160 


Gemeinheitsteiluug  (Specielle  Gesetzgebung) 


sich  ausbreitenden  Feldgraswirtschaft.  Das 
Hauptgesetz  ist  das  G.  v.  28.  April  1781, 
welches  im  wesentlichen  mit  den  für  Hol- 
stein und  Schleswig  erlassenen  Verordnungen 
übereinstimmt.  Die  Einkoppelungen  -wniriden 
ziemlich  rasch  befördert,  iusbosondors  als 
1792  den  Gutsbesitzern  erlaubt  wurde,  von 
den  auf  eine  zweckmässige  Zusammenlogung 
verwendeten  Gesamtkosten  die  Zinsen  auf 
die  Bauern  des  betreffenden  Dorfes  zu  repar- 
tieren, üeber  die  Hälfte  dos  Landes  wurde 
noch  im  vorigen  Jahrhundert  eingefriedigt. 
Vielfach  hat  Abbau  stattgefunden  mit  Staats- 
unterstützung und  Arbeitslülfe  der  Dorfge- 
nossen. 

Die  Gemeinheiten  verschwanden  meist 
bei  der  Verdoppelung,  nur  in  den  Heide- 
gegenden Jütlands  existieren  dieselben  noch 
jetzt  in  grossem  Umfange. 

Auch  in  Schweden  beginnt  die  Reform 
um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  mit  den 
gleichen  Massregeln  wie  in  Dänemark.  Der 
Abbau  ist  hier  in  grössei-em  Massstabe  er- 
folgt, besonders  seitdem  er  in  der  Provinz 
Schonen  im  Anfang  unseres  Jahrhimderts 
mehrfach  mit  Erfolg  ausgeführt  war  (vgl. 
oben  Bd.  I,  S.  2).  Ein  ausführliches  Sepa- 
rationsgesetz, eine  Ergänzung  und  Zusammen- 
fassung der  älteren  Verordnungen  ist  die 
»erneuerte  gnädige  Verordnung,  die  Fluren- 
separation  im  Reiche  betreffend«,  v.  9.  No- 
vember 1866.  Jeder  Eigentümer  hat  hier- 
nach das  Recht,  die  gesetzliche  Teilung  zu 
verlangen,  d.  h.  die  Separation  ungeteilter 
oder  schon  geteilter,  aber  noch  vermengter 
Fluren  in  so  zusammenhängenden  Abfin- 
dungen, wie  deren  Beschaffenheit  und  Lage 
ohne  Schaden  eines  Teilnehmers  dies  zu- 
lässt.  Dem  Zwange  ziu*  Zusammenlegung 
unterliegen  nicht  die  Waldungen  in  den 
nördlichen  Provinzen.  Das  Verfahren  leitet 
ein  von  den  Interessenten  vorzuschlagender, 
vom  Provinzialstatthalter  zu  genehmigender 
Geometer. 

In  Norwegen  ist  durch  G.  v.  17. 
August  1821  die  Aufhebung  der  Feldgemein- 
schaft eingeleitet  worden. 

3.  Oesterreich-Ungam.  In  Oester- 
reich  wurden  bei  der  Bauernbefreiung  in 
den  Jahren  1848  und  1849  (s.  d.  Art.  oben 
Bd.  II  S.  343)  die  wechselseitigen  Brach-  und 
Stoppel  weiderechte  aufgehoben,  auch  fielen 
die  sogenannten  kleinen  Waldnutzungen 
der  armen  Hintersassen  in  den  herr- 
schaftlichen und  landesfürstlichen  Forsten 
infolge  der  Aufhebung  des  persönlichen 
Unterthänigkeitsverliältnisses  weg.  Dagegen 
wui-de  die  Beseitigimg  der  eigentlichen 
Holz-  imd.  Weideservituten ,  welche  den 
Bauern  oder  ganzen  Gemeinden  kraft  der 
Landesverfassung  oder  specieller  Rechts- 
titel an  obrigkeitlichen  Wäldern  oder  Weide- 
gründen zustanden,  erst  durch  das  Servituten- 


ablösungspatent  v.  5.  JuJi  1853  in  Angriff 
genommen.  Dieses  Patent,  dessen  Geltungs- 
bereich sich  auf  ganz  Oesten^eich  mit  Aus- 
nahme von  Dalmatien  erstreckt,  schreibt  als 
Regel  die  Ablösmig  der  Servituten  vor,  lässt 
jedoch  eine  blosse  Regulierung  dann  statt- 
finden, wenn  die  Beteiligten  dieselbe  vor- 
langen oder  bei  der  Ablösung  entweder  der 
übliche  Hauptwirtschaftsbetrieb  des  beroch- 
tigten  oder  veiiiflichteten  Gutes  auf  eine 
sonst  unersetzliche  Weise  gefährdet  werden 
würde  oder  ül^erwiogende  Nachteile  der  I^an- 
deskultur  entstünden. 

Die  Durchführung  der  Operation  erfolgte 
durch  die  »Gnmdablösungs-  und  Regiüio- 
nmgsbehörden«  von  Amts  wegen  und  war  in 
den  meisten  Kronländem  Ende  der  80  er 
Jahre  im  wesentlichen  beendet.  Die  Ab- 
lösungen und  Reguüenmgen  sind  jedoch, 
namentlich  in  Galizien  und  den  Alpenländoru 
vielfach  erheblich  zu  Ungunsten  der  servitut- 
berechtigten  Bauern  ausgefallen,  so  dass  von 
verschiedenen  Seiten  eine  Revision  der  Ser- 
vitutgesetzgebung  gefordert  wird.  — 

Die  zwangsweise  Zusammenlegimg  (Koni- 
massation)  der  Grundstücke  ist  durch   (la.s 
R.G.  V.  7.  Juni  1883   ermöglicht,   das    Ge- 
setz ist  jedoch  ein  sogenanntes  Rahmengesetz, 
welches  zur  Durchfülirung  in  den  einzelnen 
Kronländem   besonderer  Landesgesetze    l>e- 
darf.    Derartige   Landesgesetze  sind  bisher 
nur    in    Niederösterreich   (1886),    Schlesien 
(1887),  Mähren  (1892)  und  Salzburg  (1894) 
erlassen.     Ausserdem  sind  die  Zusammen- 
legungen durch  verschiedene  Bestimmung-on 
der  Reichs-  und  Landesgesetzgebung  erht^l>- 
lich  erschwert.   Infolgedessen  liaben  die  Z\i- 
sammenlegungsgesetze  bisher  nur  selten  An- 
wendung gefunden. 

Die  Teilung  der  in  Oesterreich  selir  zalil- 
reich  vorhandenen  Gemeinheiten  ist  durch 
ein  zweites  R.G.  v.  7.  Juni  1883  georclnot. 
Auch  dieses  Gesetz  ist  aber  nur  ein  Rahmen- 
gesetz. LandesgesetÄC  sind  erm,ngen  füi" 
Mähren  (1884),  Kärnten  (1885),  Niedcroster- 
reich  (1882),  Krain  (1887),  Schlesien  (1887) 
und  Salzburg  (1892),  für  Salzburg  jeiloch. 
wie  das  Zusammenlegungsgesetz,  ohne  <lii- 
zur  Durchführung  erforderlichen  VoIIzii£k>- 
vorschriften. 

Zulässig  sind  nach  österreichischem  Rocln 
sowohl  Teilungen  der  gemeinschaftUehoi 
Grundstücke  wie  blosse  Regulierungen  dei 
Nutzungsrechte.  Bei  den  Teilungen  wir< 
unterschieden  zwischen  General-  und  Sj;)ocial 
teilungen.  Erstere  betreffen  die  Genital n 
Schäften,  welche  zwischen  gewesenen  Obrio 
keiten  \md  Gemeinden  oder  ehemaligen  Uiiter 
thanen,  zwischen  Ortsgemeinden  oder  Ov 
meindeteüen  unter  einander  oder  endlie' 
zwischen  solchen  und  einer  agrarischen  Gt 
meinschaft  im  engem  Sinne  (Bauemklassoi 
Singularisten  u.  dergl.)  bestehen.    Die  Provc 


Gemeinheitsteilung  (Specielle  Gesetzgebung) 


161 


kation  muss  von  einem  der  beiden  Teile, 
welche  in  Gemeinschaft  stehen,  ausgehen, 
zur  Provokation  von  selten  einer  Ortsge- 
meinde ist  ein  von  dem  Landesausschuss  be- 
stätigter Beschluss  des  Gemeindeausschusses, 
ziu:  Provokation  von  selten  ehemaliger  Unter- 
thanen  oder  einer  agrarischen  Gemeinschaft 
die  Zustimmung  der  Hälfte  der  Beteiligten 
erforderlich. 

Auch  die  Regulierung  ist  von  einem 
Majoritätsbeschluss  der  Beteiligten  abhängig 
gemacht.  Nur  in  Kärnten  ist  bestimmt,  dass 
überall,  wo  die  Teilung  von  den  Parteien 
nicht  innerhalb  einer  bestimmten  Frist  ge- 
fordert wird,  von  Amts  wegen  die  Regu- 
Uerung  der  Nutzungsrechte  durchgeführt 
werden  muss. 

Ende  Dezember  189G  waren  insgesamt 
787  Teilungen  und  Regulienmgen  einge- 
leitet, die  hiervon  betroöene  Fläche  betrug 
71729,2  ha,  die  Zahl  der  Beteüigten  20737. 
Faktisch  durchgeführt  waren  247  Teilungen 
und  Regulierungen  mit  einer  Fläche  von 
19190  ha  und  7  072  Beteiligten.  Bei  der 
grossen  Ausdehnimg  der  Gemeinheiten  in 
Oesterreich  ist  dieses  Ergebnis  nicht  sehr 
erheblich. 

Servitutablösungen ,  Zusammenlegungen 
und  Gemeinheitsteilmigen  sind  in  Oesterreich 
principiell  getrennt ;  eine  Verbindung  dieser 
Operationen,  wie  sie  namentlich  in  Preussen 
mit  so  grossem  Erfolge  durchgeführt  wonlen 
ist,  findet  in  der  Regel  nicht  statt  Nur  ist  be- 
stimmt^ dass,  wenn  in  eine  Zusammenlegung 
Grundstücke  mit  gemeinschaftlichem  Besitze 
oder  Benutzungsrechte,  abgesehen  von  Wäl- 
dern, einbezogen  sind,  zugleich  mit  der 
Zusammenlegung  auch  die  Teilung  oder 
Regulierung  der  Gemeinheiten  vorgenommen 
werden  muss.  Auch  schreiben  die  meisten 
Landesgesetze  die  Ablehnung  von  Anträgen 
auf  Teuung  der  gemeinschaftlichen  Gnind- 
stücke  vor,  wenn  anzunehmen  ist,  dass  die 
Zusammenlegung  der  landwirtschaftlichen 
Grundstücke  in  den  betreffenden  Gebieten 
bald  stattfinden  und  durch  dieselbe  das  Er- 
gebnis der  Teilung  voraussichtlich  wieder 
gestört  werde. 

Der  BehÖrdenoi^anismus  zur  Leitimg 
der  Zusanomenlegun^n  und  Gemeinheits- 
teilungen ist  ein  dreifacher:  für  jeden  ein- 
zelnen Fall  wird  eine  Lokalkommission 
ernannt,  für  jedes  Kronland  besteht  am 
Sitze  der  Landesregierung  eine  Landes- 
kommission, endlich  im  Ackerbauministerium 
eine  »Ministerialkommission  für  agrarische 
Operationen«. 

In  Ungarn  wurde  die  Segregation,  d.  h. 
die  Teilung  der  Weide-  und  Waldgemein- 
heiten auf  Antrag  bereits  1836  gestattet,  die 
Zusammenlegung  (Eommassation)  gleich- 
zeitig mit  der  Regulierung  der  gutsherrüch- 

Handwörterbnch  der  Staatswissenscliaften.    Zweite 


bäuerlichen  Yerhältnisse  durchgeführt  und 
bis  zur  Gegenwart  ziemlich  vollendet 

4.  Schweiz.  In  dem  platten  Lande  der 
Schweiz  machte  sich  wie  überall  das  Be- 
dürfnis nach  einer  Reform  der  alten  Agrar- 
verfassung  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 

fjltend.  Die  allmälüiche  Verbreitung  des 
unstgrasbaues  und  die  Einführung  der  Stall- 
fütterung machten  die  in  grosser  Ausdeh- 
nung bestehenden  Gemeindeweiden  über- 
flüssig. Sie  wurden  daher  teils  zu  Privai>- 
eigentum  verteilt,  teils  als  sogenanntes  Pflanz- 
land in  Sondemutzun^  gegeben.  Das  erstere 
ist  aber  nur  in  einigen  Kantonen,  z.  B. 
Luzern  und  Bern,  ziemlich  radikal  geschehen, 
zumal  da  man  hier  Gemeindeschulden  durch 
Verkauf  der  Gemeinheiten  zu  decken  ver- 
suchte, in  den  meisten  Kantonen  sind  die 
Allmenden  erhalten  geblieben  (vgl.  d.  Art  oben 
Bd.  I,  S.  255  ff.).  Der  Uebergang  zu  besseren 
Betriebsformen  weckte  vielfach  das  Bedürfnis 
nach  einer  Reform  der  Gesetzgebung,  die 
aber  überall  nur  sehr  stückweise  zu  stände 
gekommen  ist.  Seit  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts sind  in  einer  Reihe  von  Kantonen 
Gesetze  erlassen,  die  sich  aber  meist  auf 
Feldwegregulierung  beschränken  oder  höch- 
stens eine  partielle  Zusammenlegung  ge- 
statten. Eigentümlich  ist  diesen  Gesetzen, 
dass  der  Zwang  zur  Reform  nicht  nur  statt- 
findet, wenn  die  Majorität  der  Beteiligten 
(nach  Kopfzahl  und  Bodenfläche)  den  An- 
trag stellt,  sondern  auch  auf  Initiative  der 
Gemeindebehörden  bezw.  selbständiger  Flur- 
behörden erfolgen  kann. 

Die  kulturschädlichen  Grundgerechtig- 
keiten sind  in  der  Hauptsache  als  aufge- 
hoben zu  betrachten.  Nm*  einseitige  Dienst- 
barkeiten, die  auf  besonderen  Rechtsmitteln 
beruhen,  aber  mit  der  Art  der  Benutzung 
der  Grundstücke  nicht  in  Zusammenhang 
stehen,  haben  sich  erhalten,  weil  sie  eben, 
wie  z.  B.  die  Wegeservituten,  die  notwen- 
dige Folge  der  alten  Feldeinteilung  sind. 

5.  Frankreich.  In  Frankreich  sind 
durch  das  G.  v.  10.  Juni  1793  JEdle  Gemein- 
heiten der  politischen  Gemeinde  als  solcher 
zugeteilt  worden.  Infolgedessen  ist  die  Un- 
teilbarkeit des  Gemeindegutes  die  Regel, 
nur  die  Nutzung  unterliegt  der  Bestimmung 
der  Gemeinde  und  wird  durch  das  System 
der  allotissements  geregelt  Hiemach  ist 
die  Gemeindeflur  in  Lose  —  allotissements 
—  geteilt,  die  von  der  Gemeinde  teils  für 
Lebenszeit,  teils  auf  bestimmte  Jahre  ver- 
liehen bezw.  verpachtet  werden. 

Die  Weiderechte  sind  durch  den  Code 
rural  geregelt  rTit  I,  sect  IV).  Als  Gnmd- 
satz  spricht  scnon  das  G.  v.  28.  September 
1791  aus:  Das  Recht,  Gnmdstücke  einzu- 
hegen und  die  Einhegungen  zu  entfernen, 
ist  eine  wesentliche  Konsequenz  des  Eigen- 
tumsrechts imd  kann  keinem  Eigentümer  be- 

Auflage.    IV.  H 


162 


Gemeinheitsteilimg  (Specielle  Gesetzgebung) — Gemeinsinn 


stritten  werden.  Demgemäss  ist  es  jedem 
Grundeigentümer  gestattet,  sein  Eigentum 
einzuhegen,  allein  er  verliert  dadurch  auch 
selbst  das  Recht  an  der  Gemeinweide. 

Es  bestehen  aber  auch  in  grossem 
Umfange  das  Eecht  des  parcours  und  der 
vaine  päture,  welches  jedoch  auf  künstlich 
gebauten  Wiesen,  angesäten  oder  mit  Früch- 
ten versehenen  Ländereien  vor  der  Ernte 
sowie  auf  natürlichen  Wiesen  vor  Abbrin- 
gung des  ersten  Schnittes  nicht  ausgeübt 
werden  darf. 

Das  Bedürfnis  ziu*  Zusammenlegimg  der 
Grundstücke  hat.  sich  auch  in  Frankreich 
vielfach  bemerkbar  gemacht,  ein  Zwang  aber 
widersteht  dem  herrschenden  Individualis- 
mus. Es  ist  daher  der  Gedanke  der  zwangs- 
weisen reunion  des  parcelles  zwar  seit  etwa 
einem  Jahrhundert  in  den  Kreisen  der  land- 
wirtschaftlichen Gesellschaften  und  der  Re- 
gienmg  oft  erörtert  worden,  bisher  jedoch 
ohne  praktisches  Ergebnis.  Nur  ist  zur 
Beförderung  freiwilliger  Zusammenlegungen 
die  Enregistrementsgebühr  bei  Yertauschung 
kleiner  Grundstücke  für  solche  Fälle,  in 
denen  wenigstens  eines  der  letzteren  an  das 
Grundstück  des  Erwerbers  angrenzt,  ermäs- 
sigt.  Auch  bietet  das  G.  v.  21.  Juli  1865 
die  Möglichkeit  zur  Ausführung  von  Feld- 
wegen. 

Litteratnr:  Eine  sorgfältige  und  umfassende  Zu- 
sammenstellung tmd  Bearbeitung  der  einschl/igigen 
Litteratur  findet  sieh  in  dem  Werke  von  jbr, 
Bruno  Schutte,  Die  Zusammenlegung  der 
Grundstücke  in  ihrer  volkswirtschaftlichen  Be- 
deutung und  Durchfährung,  S  Ahteüungenf  Leip- 
zig 1886, 

Specieü  die  nationalökonomische  Litteratur, 
auch  die  des  18.  Ja%rhundeTU,  hat  hei  Röscher, 
Sy»tem,  Bd,  II,  Kap,  6  eingehende  Berücksich- 
tigung gefunden,  vgl.  auch  Stein,  Verwaltungs- 
lehre, 1.  Aufl.,  Teil  VII,  3.  Aufl..  Bd.  II,  S.  599 
und  619. 

Ueber  die  Entstehung  und  Entwicklung  der 
älteren  Flurverfassung  in  dem  grössten  Teil  Eu- 
ropas nördlich  der  Alpen  bietet  jetzt  das  grosse 
Werk  von  Meitzefif  Wanderungen,  Anbau  und 
Agrarrecht  der  Volker  Europas  nördlich  der 
Alpen,  I.  Abt.,  Siedelung  und  Agrarwesen 
der  Westgermanen  und  Ostgermanen,  der  Kelten, 
Römer  und  Slaven,  Bd.  I—III  (1895),  er- 
schöpfend Aufschhvss,  vgl.  a\ich  Metzens  Ab- 
handlung über  Agrarpolitik  in  Schönbergs  Handb. 
der  politischen  Oekonomie,  Bd.  II,  4.  Aufl.  (1897). 
—  Nach  ihrer  allgemeinen  volks^Dirtschaftlichen  Be- 
deutung charakterisiert  die  Gemeinheitsteilungen 
und  Zusammenlegungen  am  besten  Buchen- 
hevgeVy  Agrarwesen  und  Agrarpolitik,  Bd.  I 
(189:2),  Kap.  III. 

Eine  üebersicht  über  die  deutsche  Gesetz- 
gebung  giebt  O,  MeyeVy  Deutsches  VerwaltungS' 
recht,  2.  Aufl.  (189S),  Bd.  I,  S.  S07ff.  —  Die 
österreichische  Gesetzgebung  hat  neuerdings  W. 
Schiff,  Agrarpolitik  seit  der  Grundenüastung 
1.  Bd.  (1898)  eingehend  dargestellt. 

Im    übrigen    vgl.    die   Artikel   Auseinander- 


setzungsverfahren,  Feldbereinigung  und  Gemein- 
heitsleilung  in  v.  Stengels  Wörterbuch  des  deut- 
schen Verwaltungsrechts  (1890),  die  Artikel  Gemein- 
heitsteilung, Gemengelage  und  Zusammenlegung 
der  Grundstücke  in  Ehlers  Wörterbuch  der  Volks- 
wirtschaft (1898)  sowie  die  Artikel  Abbau  (ob^n 
Bd.  I,  S.  Iff.),  Allmende  (oben  Bd.  I,  S.  255ff.)> 
Zusammenlegung  in  diesem  Handwörterbuch. 

Friedrich  Grossfmanru 


Gemeinsinn. 


Der  Ausdruck  Gemeinsinn  wii'd  in  mehr- 
fachem Sinne  gebraucht.  Man  bezeichnet 
damit  jene  Hingabe  an  eine  kleinere  oder 
grössere  Gesamtheit,  wie  sie  bei  schweren 
Unglücksfällen,  gegenüber  Armen  und 
Kranken,  aber  auch  im  Yereinsleben,  im 
Gemeindedienste  u.  s.  f.  hervortritt.  Es 
liegt  darin  unzweifelhaft  etwas  Instinktives, 
ja  Natürliches ;  aber  eben  deshalb  gewinnt 
sie  an  innerer  Bedeutung  durch  Er-  ' 
Ziehung  und  durch  die  bewusste  Erkenntnis, 
dass  in  gewissen  Verhältnissen  die  persön- 
lichen Interessen  ziuückzutreten,  die  Standes- 
unterschiede zu  fallen  haben.  —  So  schöne 
Erfolge  nun  seit  der  ältesten  Zeit  dieser 
Gemeinsinn  aufzuweisen  hat,  seine  Behand- 
lung an  dieser  Stelle  wäre  damit  nicht  ge- 
rechtfertigt. Wohl  aber  verdienen  unsere 
Aufmerksamkeit  die  Aeussenmgen  des 
Gemeinsinnsda,wo  sie  dauernde  Organi- 
sationen von  sozialem  Charakter 
geschaffen  haben. 

Auch  hier  lässt  sich  ein  Doppeltes  unter- 
scheiden.   Man  könnte  an  diejenigen  Ein- 
richtimgen  denken,  welche  nach  dem  Vor- 
gang   Schäffles     und    Ad.    Wagners 
als  »Gemein Wirtschaft«   bezeichnet  werden. 
Aus  der  Sunrnie  wirtschaftlicher   Erschei- 
nungen lassen  sich  nämlich  gewisse  Gnippen 
von  Funktionen  loslösen,  welche  nicht  dem 
Einzelhaushalt   noch  dem  Wettbewerb  der 
Einzelwirtschaften  überlassen  sind,  sondern 
von   der  Gesamtheit  übernommen  werden. 
Zuweilen     entscheiden     hier    ökonomische 
Gründe,  d.  h.  es  giebt  manches,  wofür  der 
einzelne   gar  nicht  oder  nur  mit  imverhält- 
nismässigem    Aufwand   zu    sorgen  vermag. 
Daneben  zeigt  sich  auch  das  Verlangen,  ge- 
wisse Verrichtungen  dem  freien  Wettbewerb, 
überhaupt  der  Behandlung  nach  den  Grund- 
sätzen des  Erwerbslebens  zu  entziehen  und 
unter  die  Obhut  der  Gesamtheit  zu  stellen. 
Und  wo  l%e  dieser  Wunsch  näher  als  da, 
wo  die  Maximen  des  wirtschaftlichen  Lebens 
mit  den  Forderungen  des  sozialen  Friedens 
oder  des  allgemeinen  moralischen  und  kultu- 
rellen  Fortschrittes  Konflikte  herbeiführen 
könnten ! 

Derartige  Vorgänge  zu  schildern,  wäre 
hier  nicht  am  Platze.  Vor  allem  fehlt  da- 
bei das  Moment  der  Freiwilligkeit,  das  doch. 


Gremeinsinn 


163 


für  die  eigentlidie  ^Gemeinnützigkeit« 
charakteristisch  sein  dürfte.  Dazu  kommen 
gnmdsätzliche  und  methodologische  Be- 
denken. Hat  doch  eine  solche  Gemeinwirt- 
schaft zwai-  überall  bestanden,  aber  stets  in 
Form  lind  Ziel  gewechselt,  so  dass  alle 
Modalitäten  von  der  vollen  Unentgeltlichkeit 
der  Einzelleistung  bis  zur  starken  Finanz- 
queUe  der  öffentlichen  Wirtschaft  vertreten 
sind.  Letzteres  ist  bei  dem,  was  wir  mit  »Ge- 
meinnützigkeit« bezeichnen,  undenkbar.  Es 
kommt  hinzu,  dass  diese  letztere  eine  Eigen- 
tümlichkeit der  Neuzeit,  aus  besonderen 
Terhältuissen  und  Bedürfnissen  hervorge- 
wachsen ist.  Der  Gemeinsinn  in  Gestalt 
der  Gemeinnützigkeit  ist  ein  Teil  der  Neu- 
bildungen, welche  das  18.  Jahrhundert  der 
Folgezeit  übermittelt  hat. 

Das  Eigentümliche  der  wirtschaftlichen, 
sozialen  und  politischen  Zustände  der  älte- 
ren Zeit  ist  ihr  autoritativer  Charakter, 
d.  h.  eine  von  aussen  her  in  die  Dinge 
hineingetragene  Ordnung.  Das  ganze  öffent- 
liche Leben  bewegt  sidi  in  festen  Geleisen. 
Jede  zur  ffitwirkung  benifene  Kraft  erhält 
einen  bestimmten  Auftrag,  dem  sie  sich  nicht 
entziehen,  über  den  sie  aber  auch  nicht 
hinausgreifen  darf.  Bei  dem  Minimimi 
von  geistigem  und  intellektuellem  Fort- 
schritte kam  es  wohl  auch  zunächst  da- 
rauf an,  das  aus  früherer  Zeit  lleber- 
nommene  vor  Untergang  zu  wahren.  — 
Dass  das  alles  anders  werden  müsse,  ver- 
stand sich  nach  den  grossen  Entdeckungen 
und  Erfindungen  des  16.  Jahrhunderts,  nach 
der  Wiederbelebung  von  Kunst  und  Wissen- 
schaft aus  der  Antike  heraus  eigentlich  von 
selbst  und  es  wurde  unvermeidlich  nach  der 
Begründung^  der  Naturwissenschaft  und  der 
durch  die  Fortschritte  der  Mechanik  ge- 
vSicherten  Umwälzung  in  der  gesamten  Tech- 
nik, vne  sie  das  18.  Jahrhundert  geliefert 
h^tte.  Aber  wie  war,  um  dauernde  Erfolge 
zu  erzielen,  der  Wechsel  vorzunelmien? 
Es  lag  nahe  genug,  dem  Staate  dieFührer- 
roUe  zu  überlassen,  und  so  wissen  wir,  dass 
er  sich  in  fast  allen  Kulliurländern  dieser 
Aufgabe  unterzogen  hat,  wir  wissen  aber 
auch,  dass  er  sich  als  unfähig  erwies.  Die 
Gründe  des  Misserfolges  sind  hier  gleich- 
giltig.  Wohl  aber  hängt  damit  zusammen, 
dass  sich  fast  überall  eine  Abkehr  aller 
Geister  von  Staat  und  Kirche  —  letztere 
hatte  sich  speciell  in  Frankreich  vom  Hofe 
ins  Schlepptau  nehmen  lassen  —  vollzog, 
als  käme  es  darauf  an,  für  das  öffentliche 
Leben  ganz  neue  Grundlagen  zu  schaffen. 
Unter  den  damaligen  Strömungen  politisch- 
sozialer  Art  sind  drei  besonders  bemerkens- 
wert: die  Wiedergebiui;  der  menschlichen 
Gesellschaft  durch  die  Rückkehr  auf  ihre 
natürlichen,  wahrhaft  sittlichen  Daseins- 
grundlagen   (Rousseau),     die    verfassungs- 


mässige Teilung  der  Gewalten  zwischen 
Regierung  und  Bürgern  (Montesquieu)  und 
die  allmähliche  Umgestaltung  des  öffent- 
lichen Lebens  aus  der  Initiative  der  Gut- 
gesinnten heraus  durch  Schöpfungen,  welche 
allen  Klassen  einen  gleichmässigen  Anteil 
an  den  geistigen  imd  technischen  Fort- 
schritten der  kommenden  Zeit  sichern  sollten 
(Fergusson,  Iselin  und  andere  mehr).  Bei 
allen  finden  wir  als  unentbehi'liche  Voraus- 
setzung die  Forderung  der  persönlichen  Frei- 
heit und  politischen  Gleichheit;  ebenso 
spielt  ziemhch  überall  die  seit  J.  Locke 
neubegründete  Erziehungslehre  eine  bedeut- 
same Rolle ;  von  besonderer  Wichtigkeit  er- 
schien den  Vertretern  der  dritten  Gruppe 
das  Vereinswesen,  welches  bereits  zu  Be- 
ginn des  Jalirhunderts  als  Mittel  zur  Förde- 
nmg  der  Wissenschaft  anerkannt  worden 
war.  Nunmehr  soUten  durch  dasselbe  die 
Fürsorge  für  die  intellektuellen  und  beruf- 
lichen Interessen  der  verschiedenen  Volks- 
schichten geweckt  werden.  Die  Bewegung 
gipfelt  denn  auch  in  der  Gründung  gemein- 
ntltziger  Gesellschaften  (Genf  1776,  Basel 
1777  u.  s.  f.). 

Diese  flüchtige  Skizze  lässt  schon  ge- 
wisse grundsätzliche  Eigentümlichkeiten  in 
ihren  Vorzügen  erkennen.  Das  Ziel  ist 
nicht  die  Besserung  eines  besonderen  Stan- 
des, wie  das  immer  wieder  versucht  worden 
ist.  Denn  entweder  wird  dabei  nichts  er- 
reicht, weil  nicht  zugleich  die  ökonomischen 
Gnuidlagen  umgestaltet  werden  können, 
oder  man  muss  einhalten,  weil  der  Gegensatz 
anderen  Klassen  gegenüber  nur  verschärft 
würde.  Pestalozzis  erster  Versuch i) 
war  verfehlt:  es  kam  gewiss  nicht  darauf 
an,  die  neuen  Gnmdsätze  der  Pädagogik 
»der  Erziehung  der  Armen  für  die  Armut« 
anzupassen.  So  haben  denn  auch  zahlreiche 
Misserfolge  bewiesen,  dass  die  Gemeinnützig- 
keit ausser  stände  ist,  die  Lage  einer  ein- 
zelnen Volksschicht  zu  reformieren.  Ist 
ihr  doch  nicht  einmal  gelungen,  durch  Bei- 
mischung einiger  Wohlthätigkeitstropfen  den 
bitteren  Kelch  der  bestehenden  ökonomischen 
Principien  trinkbarer  zu  machen. 

Selbst  der  wohl  organisierte  Gemeinsinn 
ist  nicht  dazu  angethan,  tiefer  gehende 
Wandlungen  zu  vollbringen :  ihm  kommt  es 
vielmehr  darauf  an,  zu  finden  und  zu  be- 
nutzen, was  unter  zeitiich  gegebenen  Ver- 
hältnissen an  allen  gemeinsamen  Interessen 
vorhanden  imd  zur  Pflege  einer  höher  ge- 
arteten Gemeinschaft  befähigt  ist.  Er  stellt 
sich  nicht  der  Zeit  entgegen,  begiebt  sich 
vielmehr  in  ihren  Dienst,  benutzt  aber  auch 


*)  Vgl.  0.  Hunziker:  Pestalozzis  Ver- 
sach einer  Armenerziehnng  auf  dem  Neubof 
(Praxis  der  Schweiz.  Volks-  und  Mittelschule 
1881)  p.  69  ff. 

11* 


164 


Gemeinsinn 


die  heute  reichlicher  verfügbaren  Geld- 
mittel und  beruflich  gebildeten  Arbeitskräfte. 
Natürlich  musste  man,  um  möglichst  weite 
Kreise  zu  gemnnen,  sein  Augenmerk  in 
erster  Linie  auf  die  Bedürfnisse  der  unteren 
Klassen  richten;  allein  es  ist  bezeichnend, 
dass  zuerst  die  Fürsorge  füi*  den  methodi- 
schen gewerblichen  und  den  höheren  weib- 
lichen Unterricht,  die  Sparkassen  und  die  Be- 
mühungen für  neue  Erwerbszweige  die  Ge- 
müter beschäftigte,  während  doch  schon  da- 
mals. Einsichtige  die  Gebrechen  des  Lohn- 
systems hätten  erkennen  und  deren  freie 
Weiterentwickelung  aufzuhalten  suchen  sol- 
len. Und  so  hält  es  auch  nicht  schwer  in 
allem  anderen  —  in  der  Pflege  des  Gesan^- 
und  Turnwesens,  Fortbildungsschulen,  Km- 
der^ärten,  Handfertigkeitsunterricht,  Yolks- 
bibhotheken,  Lesesälen,  Anstalten  für  Alters- 
schwache, Blinde,  Taubstumme,  Blödsinnige, 
in  den  Bade-  und  Waschanstalten,  Krippen, 
Volksküchen,  Bau  von  Wohnungen,  Organi- 
sation der  Vermietung,  ünterstützungskassen, 
Dienstbotenprämiierung,  in  der  Fürsorge  für 
Gefangene,  entlassene  Sträflinge  und  gefal- 
lene Mädchen,  in  den  Frauenherbergen,  den 
Arbeitsnachweisbiu-eaus  u.  s.  f.  u.  s.  f.  — 
etwas  zu  finden,  was  die  Sphäre  jeden 
Standes,  jedes  Berufes  und  jeder  Bildungs- 
sttife  berührt.  In  der  That  besteht  die  Kunst 
nicht  sowohl  darin,  dem  einen  und  anderen 
Wertvolles  zu  bieten,  sondern  auch  den 
Geber  zum  Empfänger  zu  machen,  überhaupt 
jeden  mit  dem  Ganzen  zu  verbinden. 

Ist  hierdurch  der  Gemeinsinn  ein  wich- 
tiger Faktor  des  öffentlichen  Lebens  gewor- 
den, so  könnte  der  doppelte  Umstand  Be- 
denken erregen,  dass  es  nirgends  zu  einer 
geschlossenen  Organisation  gekommen  ist 
und  dass  der  Staat,  vielfach  jedenfalls  die 
Stadtgemeinde  ursprünglich  freiwillige  Un- 
ternehmimgen  in  sich  aufgenommen,  zudem 
vieles  Netie  ins  Leben  gerufen  hat.  — 
Beides  hängt  nahe  zusammen.  Dass  die 
Initiative  der  Bürger  zuerst  in  der  Stadt 
auftrat  und  hier  eine  mehr  allgemeine  Form 
annahm,  um  zugleich  an  verschiedenen 
Punkten  Fühlung  zu  bekommen  mit  dem 
Bedürfnis,  ist  einleuchtend ;  allein  gerade  da, 
-wo  die  Arbeit  gelingt,  meldet  sich  immer 
Neues,  wofür  neue  Mittel,  Interessenkreise 
und  Arbeitski-äfte  gesucht  werden  müssen. 
Die  Centrale  ist  gut  ziu*  Untersuchung,  zur 
planmässigen  Versorgung  der  Einzel -Insti- 
tute, sie  erleichtert  die  weitere  Angliederung 
—  unentbehrlich  ist  sie  nicht,  zumal  im 
Wesen  der  Freiwilligkeit  die  Neigung  zur 
Ausbildung  des  Lokaltons,  die  Zuspitzung 
auf  besondere  Verhältnisse  liegt.  Ist  doch 
auch  die  Centrale  nicht  befähigt,  eine  ge- 
wisse Verknöcherung  d.  h.  das  Stillstehen 
des  einzelnen  Institutes  auf  den  Anschau- 
ungen und  Bedürfnissen  einer  früheren  Zeit 


zu  verhindern  oder  die  fast  immer  fühlbare 
Knappheit  der  Geldmittel  zu  verhüten.  Es 
melden  sich  also  zwei  Erwägungen:  man 
sollte  weiter  ausholen  und  ausgiebiger 
wirken  können,  und  man  giebt  ihnen  da- 
diu:ch  Folge,  dass  einzelne  Anstalten  von 
grösserer  Allgemeinbedeutung  in  die  Hände 
der  öffentlichen  Verwaltung  übersehen.  Ist 
doch  auch  die  letztere  benifen,  ein  höheres 
Gesamtinteresse  zu  kultivieren. 

In  der  Regel  wird  diese  Umgestaltung 
der    den    öffentlichen    Organen    gestellten 
Aufgabe  als  eine  spontane  behandelt.   Liegt 
nicht  eher  die  Vermutung  nahe,  dass  unter 
dem  Einfluss  jener  Freiwilligkeit 
die    öffentliche    Verwaltung    eine 
Durchgeistigung     erfahren     habe, 
dass  der  Gemeinsinn  weit  mehr  als  früher 
alle  Säfte  des  öffentlichen  Lebens  gesundet 
hat,  dass  ihm  insbesondere  die  Kräftigung 
und  inhaltliche  Bereicherung  der  Selbstver- 
waltung zu   danken   ist?    Es   Messe  über 
der  Form  die  Sache  vergessen,  wollte  man 
von  Gemeinsinn    nur    da    reden,  wo  volle 
Freiheit  und  Freiwilligkeit  herrscken.    Vor- 
ausgesetzt, dass  die  Slotive  und  die  Ziele 
dieselben   bleiben,   wird    es    dem   Gemein- 
sinnigen nicht  darum  zu  thun  sein,  seinen 
Schöpfungen    Selbständigkeit     und    Unab- 
hängigkeit zu  wahren.    Die  feste  Gliederung 
des  Ganzen  ist  das  Wesentliche. 

Erfährt  aber  nicht   doch   durch  solche 
Einmischungen  der  organisierte  Gemeinsinn 
eine  Art    von  Abbruch,    gehen    wir    nicht 
einer  Zeit  entgegen,  welche  dieses  Glied  des 
öffentlichen  Lebens  auslöst,  da  sie  auf  frei- 
willige  Mithilfe    verzichten    kann?     Schon 
jetzt  besteht  innerhalb  der  Stadtverwaltung 
ein  förmlicher  Wetteifer,  und  da,  wo  früher 
wenige  freiwillige  Gaben  ausreichen  mussteu, 
werden  mit  voller  Hand  öffentliche  Gelder 
gespendet.    Und  doch  ist  jene  Vorstellung 
unzutreffend.     Wenn    der    Gemeinsinn    an 
dem    einen    oder   anderen    Punkte    einem 
dritten    Faktor    weicht,    so    geschieht    das 
nicht  wegen  eigner  Ohnmacht,  sondern  weil 
mit  der  Ausbildung  des  einzelnen  Gliedes 
seine  Arbeit  abschliesst,  um  an  einem  neuea 
Punkte  mit  frischer  Enei^e  eingesetzt  zu 
werden    mit    dem  Zwecke,    auch   hier    die 
richtige  Form  herauszufinden.    Die  öffent- 
liche Verwaltung  darf  sich  auf  das  Suchen 
und  Vei-suchen   nicht   einlassen;    sie    muss 
ihren  Organen  ein  bestimmtes  Pensum  iind 
die  erfalu'ungs massig  notwendigen  Mittel  in 
die  Hand  geben.    Jene  freiwilligen  Unter- 
nehmungen sind  in  diesem  wichtigen  Punkte 
besser  gestellt  und  ihnen  wird  auch  künftig 
überlassen  bleiben,    den  Mängeln  der   be- 
stehendenGesamteinrichtimgenbeizukonimen 
und  die  Modalitäten  ihrer  Beseitigung  aus- 
findig  zu   machen.    Und   wenn   aufrichtig, 
einsichtsvoll   und   mit   dem  richtigen  Takt 


Gemeinsinn — Gemeinwirtsehaft 


165 


gesucht  wird,  durfte  auch  fortan  der  Erfolg  j 
nicht  fehlen.  Der  Gemeinsinn  zeigt  seine 
wahre  Xraft  im  unermüdlichen  Weiterbau 
an  dem  grossen  Versöhnungswerk.  Es 
wird  hier  natmgemäss  an  Misserfolgen 
nicht  fehlen,  erweist  sich  doch  oft  genug  der 
Boden  als  felsig,  das  Werkzeug  als  zu 
schwach.  Das  ist  indessen  immer  so  ge- 
wesen und  beweist,  wie  schwer  im  Gnmde 
die  Aufgabe  ist  und  wie  verfehlt  es  wäre, 
die  Arbeit  lediglich  den  starken  Fäusten  des 
Staates  und  der  öffentHchen  Verwaltung 
zu  überlassen.  Oder:  auf  jene  öffentlich- 
rechtlichen Institutionen  wird  der  zählen, 
welcher  glaubt,  die  soziale  Frage  an  einem 
Punkte  kurieren  zu  können,  welcher  jeden- 
falls das  Problem  niu*  in  der  arbeitenden 
Klasse  sucht  Wer  umgekehrt  davon  aus- 
geht, dass  wir  dieselben  in  Einzel  fragen 
aufzidösen  und  ausserdem  den  inneren 
Schluss  des  Ganzen  zu  mehren  oder  noch 
besser,  dem  steten  Wandel  unserer  Kultur 
und  Technik  anzupassen  haben,  der  wird 
der  organisierten  Freiwilligkeit,  dem  so  ver- 
standenen Gemeinsinn  eine  wichtige  Rolle 
auch  für  die  Zukunft  zuerkennen. 

Litteratnr;  a)  Veber  die  Bestrebungen  des  18. 
Jahrhunderts:  L.  v»  Stein,  Die  soziale  Be- 
wegung in  Frankreich  etc.  (1864)  >  p<isstm. 
Ephemeriden  der  Menschheit  (1776  bis 
1785).  —  V.  Miasktntski,  Isaak  Iselin  (1876). 
—  b)  Ueber  die  spätere  Entwickelung :  Der^ 
selbe.  Die  Gesellschaft  des  Guten  und  Gemein- 
nützigen in  Basel  (1876).  —  Heitz,  Veber  ge- 
meinnützige Bestrebungen  (Schweiz.  Zeiischr.  f. 
Gemeinnützigkeit  (1878),  Heft  JV.  -^  Bücher, 
Die  Aufgaben  der  modernen  Stadtgemeinde  (1898). 

E.  Heitz, 


Gemeinwirtsehaft. 

1.  Dogmengeschichtliches.     2.  Begriff.    3. 
Verbreitung. 

1.  DogmeDgesehichtliches.  Die  ältere 
Nationalökonomie  beschränkte  sich  darauf, 
die  sämtlichen  wirtschaftlichen  Vorgänge  als 
Erscheinungen  eines  einheitlichen  Wirt- 
schaf tsprincipes  zu  betrachten.  So  erscheint 
noch  in  den  Augen  der  klassischen  National- 
ökonomen selbst  die  Wirtschaft  des  Staates 
eigentlich  als  eine  niu*  dem  umfange  nach 
von  den  Wirtschaften  der  einzelnen  Staats- 
bürger verschiedene  Wirtschaft.  Konnte 
auch  der  sofort  in  die  Augen  springende 
Unterschied  in  der  Gestaltimg  der  wirt- 
schaftssubjekte  nicht  gänzlich  übersehen 
werden,  so  wurde  derselbe  doch  nicht  zum 
Gegenstande  wiSvSenschaftlicherlTntersuchung 
gemacht,  während  die  Erkenntnis,  dass  die 
Art  und  Weise  der  Wirtschaftsfühnmg  eine 
von  Grund  aus  verschiedene  sei,  dass  ver- 
schie<iene   Beweggründe  massgebend  seien, 


dass  die  Frage,  ob  imd  inwieweit  in  der 
einen  oder  anderen  Wirtschaft  das  wirt- 
schaftliche Gesetz  der  mindesten  Kosten 
und  des  höchsten  Nutzens  am  vollkommen- 
sten beobachtet  werde,  von  ganz  verschiede- 
nen Gesichtspunkten  aus  zu  beurteilen  sei, 
überhaupt  nicht  zum  Durchbruche  gelangte. 
War  schon  die  Grundanschauung  von  der 
Wirtschaft  des  Staates  eine  höchst  mangel- 
hafte, so  blieben  die  zahlreichen,  zwischen 
dem  Staate  und  der  Einzelwirtschaft  stehen- 
den Gesamtwirtschaften  und  vollends  die 
freien  ^wirtschaftlichen  Vereinigungen  gänz- 
lich ausserhalb  des  Bereiches  der  älteren 
nationalökonomischen  Wissenschaft. 

Die  Erkenntnis  von  dem  tief  einschnei- 
denden Unterschiede  zwischen  den  den  Ver- 
kehr der  verschiedenen  Wirtschaftssubjekte 
imtereinander  beherrschenden  Grandsätzen 
nahm  ihren  Ausgangspunkt  von  der  Unter- 
scheidung in  der  Natur  der  Bedürfnisse. 
Hermann  war  es,  der  zuerst  die  Sonde- 
rung von  Einzel-  und  Gemeinbedürfnissen 
in  die  Wissenschaft  einführte.  Als  Gemein- 
oder Kollektivbedürfnisse  bezeichnete  er 
jene  Beditrfnisse,  deren  Subjekt  und  Träger 
die  Gesamtheit  ist,  andererseits  aber  auch 
jene,  welche  von  der  Gesamtheit  ohne  Be- 
schränkung auf  bestimmte  Personen  befrie- 
digt werden.  In  teilweisem  Gegensatze  liier- 
zu  nennt  Wagner  jene  Bedürfnisse  Ge- 
meinbedürf niss ,  welche  beim  einzelnen  aus 
dessen  Angehörigkeit  zur  menschlichen  Ge- 
meinschaft hervorgehen.  Diese  Unterschei- 
dimg  zweier  Kategorieen  von  Bedürfnissen 
war  der  erste  Schritt  ziu»  Unterscheidung 
von  Privatwirtschaft  und  Gemein wirtscliaft, 
indem  jene  Vorgänge  als  Gemeinwirtschaft 
bezeichnet  wurden,  durch  welche  Gemein- 
bedürfnisse befriedigt  werden.  Ohne  auf 
den  Unterschied  zwischen  Einzel-  und  Ge- 
meinbedürfnissen, welchen  namentlich  C  o  h  n 
(in  der  Tübinger  Zeitschrift  1881,  S.  464  ff.) 
näher  behandelt  hat,  weiter  eingehen  zu 
wollen,  muss  doch  hervorgehoben  wenlen, 
dass  diese  Kennzeichnung  des  Unterechiedes 
der  beiden  W^irtschaftssysteme  zum  mindes- 
ten unzureichend  ist,  indem  vielfach  ein 
und  dasselbe  Bedürfnis  sowohl  privat-  als 
gemein  wirtschaftlich  befriedigt  werden  kann. 
—  Die  Sonderung  der  verschiedenen  Wirt- 
schaftssysteme bozw.  -principien  wurde 
dann  weiter  entwickelt  von  Wagner  und 
Schäffle,  ohne  aber  zu  vollkommener  Klar- 
heit zu  gelangen,  weil  die  Unterscheidung 
der  Wirtschaf tsprincipien,  d.  h.  der  Grund- 
sätze, nach  welchen  bei  Verfolgung  des 
Wirtschaftszweckes  vorgegangen  wird,  nach 
welchen  demnach  der  Verkehr  gestaltet 
wird,  und  der  Wirtschaftsformen,  d.  h.  der 
verschiedenartigen  Gestaltungen  der  Wirt- 
schaftssubjekte nicht  mit  der  erfoixlerliehen 
Schärfe     durchgeführt    wui-de.      Vielmehr 


166 


Gemeinwirtschaft 


wurden  häufig  Wirtschaftsprincipien  mit  ge- 
wissen "VVii*tschaftsformen  identifiziert,  so 
namentlich  das  privatwirtschaftliche  oder 
spekulative  Princip  mit  der  Einzelwirtschaft, 
das  gemeinwirtschaftliche  mit  der  Gesamt- 
wirtschaft, mit  welch  letzterem  Ausdnicke 
wir  alle  jene  Wirtschaftssubjekte  bezeichnen, 
welclie  aus  einer  grösseren  oder  kleineren 
Anzahl  von  Einzelwirtschaften  und  Familien- 
wirtschaften zusammengesetzt  sind.  Dabei 
wurde  übersehen,  dass  die  chai-akteristischen 
Merkmale  der  Wirtschaftsprincipien  eben 
nicht  in  der  Gestaltimg  des  die  einzelnen 
Wirtschaftsakte  vornehmenden  Subjektes, 
sondern  in  der  Gestaltung  der  Wirtschafts- 
akte selbst  gelegen  sind.  Schaf fle  hat  aller- 
diogs  neben  den  Organisationsprincipien 
auch  Or^anisationsformen  anerkannt  und 
ausdrücklich  hervorgehoben,  dass  auch  Ver- 
eine, Staaten,  Gemeinden  etc.  spekulativen 
Erwerb  treiben  können.  Trotzdem  hat  auch 
er  Privatwirtschaft  und  Gemeinwirtschaft 
wieder  als  Wirtschaftssubjekte  einander 
gegenübergestellt.  Ebenso  hat  Wagner  in  der 
dritten  Auflage  seiner  »GiiindJegung«  in 
teilweiser  Bei-ücksichtigung  meiner  Aus- 
führungen anerkannt,  dass  die  Gemeinwirt- 
schaften und  die  Wirtschaften  des  karita- 
tiven Systems  ausser  nach  gemeinwirtschaft- 
lichem bezw.  karitativem  Principe  auch  nach 
privatwirtschaftlichem  Principe  vorgehen 
können.  Da  er  aber  nichtsdestoweniger  den 
Ausdnick  »Gemein Wirtschaft«  auch  weiter 
in  der  Doppelbedeutung  des  Wirtschaftssub- 
jektes und  des  Wirtschaftsprincipes  ver- 
wendet, wird  auch  hier  der  Begriff  der 
Gemeinwirtschaft  nicht  scharf  präcisiert  und 
bleibt  ein  zweideutiger.  Phüippovich  er- 
kennt zwar  den  Unterschied  z-wischen 
»Wirtschaftseinheit«  und  *  Organisations- 
formen« an,  behält  aber  mit  Rücksicht  auf 
den  bisherigen  Sprachgebrauch  gleiclifalls 
die  Doppelsinnigkeit  des  Ausdnickes  »Ge- 
meinwirtschaft« bei.  Auf  die  Weise  konnte 
bisher  eine  bestimmte,  allgemein  anerkannte 
Terminologie  nicht  zum  Durchbruch  gelangen. 
2.  Begriff.  Es  muss  vor  allem  der  sehr 
verbreitete,  unrichtige,  oder  doch  mindestens 
ganz  ungenaue  Sprachgebraucli,  wonach  der 
ganze,  von  Gesamt  wirtschaften  geleitete 
Wirt sciiafts verkehr  kurzweg  als  Gemein- 
wirtschaft bezeichnet  wird,  richtig  gestellt 
werden.  Die  Gesamtwirtschaften,  gleichviel 
ob  freie  oder  Zwangsgesamtwirtschaften, 
können  ebenso  wie  Einzel-  und  Familien- 
wirtsehaften  nach  privatwirtschaftlichem  und 
karitativem  Principe  verkehren  und  ver- 
kehren auch  thatsächlich  in  dieser  Weise 
mit  allen  ausserhalb  ihres  Rahmens  stehen- 
den Wirtscliaften  und  selbst  auch  mit  jenen 
Wirtschaften,  welche  der  betreffenden  Ge- 
samtwirtscliaft  als  Mitglieder  angehören,  in- 
sofern  es  sich  nicht  direkt  um  einen  aus 


der  Mitgliedschaft  der  Einzelwirtschaft  ent- 
springenden Verkehrsakt  liandelt.    Die  Un- 
terschiede der  zur  Anwendung  gelangenden 
Wirtschaftsprincipien    sind    eben   nur   zum 
kleinsten   Teile   durch   die   Gestaltung  der 
den  betreffenden  Verkehrsakt   durchführen- 
den   Wirtschaftssubjekte    begi'ündet.      Von 
eigentlich    massgebender    Bedeutung    sind 
hingegen  die  bei  der  Durcliführung  des  Ver- 
kehrsaktes zu  Tage  tretenden  Motive  und  vor 
allem  die  Art  und  Weise,  in  welcher  die 
verschiedenen  Bewertungen  der  mit  einander 
in    Verkehr   tretenden    Wirtschaftssubjekte 
sich  Geltung  zu  verschaffen  suchen,  so\rie 
der  Umstand,  welcher  der  in  Betraclit  kom- 
menden  individuellen    Werte    zum    gesell- 
schaftlichen Werte  erhoben  wird.    Die  Ge- 
staltung   der   Wirtschaftssubjekte    ist  eben 
nur  insofern  massgebend,  als  das  gemein- 
wirtschaftliche Princip  zwischen  Einzel-  oder 
Famüienwirtschafteu    nicht  zur  Anwendung 
gelangen   kann    und  ebensowenig  z>.\4schen 
zwei   von   einander   unabhängigen  Gesamt- 
\virtschaften ,   sondern   nur   zwischen  einer 
Gesamtwirtschaft  einerseits  und  iliren  Mit- 
gliedern  andererseits,    mögen    diese    letz- 
teren nun  Einzel-,  Familien-  oder  Gesamt- 
wirtschaften sein,  und  zwar  nur  insoweit  es 
sich  um  die  Beschaffung  der  Mittel  zur  Ver- 
folgung des  Zweckes   der  Gesamtwirtschaft 
von  den  Mitgliedern  und  um  die  Verteilung 
der   so   beschafften   wirtschaftlichen    Güter 
bezw.  um  ihre  Benutzung  durch  die   ^lit- 
glieder  handelt.   Wo  hingegen  eine  Gesamt- 
wirtschaft mit  anderen  ausserhalb  ihres  üm- 
fanges    stehenden    Wirtschaftssubjekten    in 
Verkehr  tritt,   wird  dies   nach   privatwirt- 
schaftlichem Principe  geschehen.  —  Während 
nun  im  privatwirtschaftlichen  Verkehre  die 
vollkommene  Freiheit  der  miteinander  ver- 
tragenden Teile  das  charakteristische  Merk- 
mal  büdet,   ist   im    gemeinwirtschaftlichen 
Verkehr    das    Gegenteil    der    Fall.      Hier 
herrscht  durchwegs  der  von   der  Gesamt- 
wirtschaft   bezw.    von     ihren   verfassungs- 
mässigen Organen  den  Mitgliedeni   gegen- 
über ausgeübte  Zwang.   Dies  gilt  nicht  mu* 
bei  den  Zwangsgesamtwirtschaften,    deren 
Mitgliedschaft  eine  Folge  des  von  der  öffent- 
lic^hen  Gewalt  ausgeübten  Zwanges  ist,  son- 
dern auch  bei  jenen,  deren  Mitgliedschaft 
durch  freien  Entschluss  erworben  und  ver- 
loren winl.    Durch  den  Beitritt  zu  der  Ge- 
samtwirtschaft hat  sich  eben  jedes  Mitglied 
freiwillig  dem  Zwange  von  selten  der  Ge- 
samtwirtschaft unterworfen  und  muss  dem- 
selben Folge  leisten,  solange  seine  lyiitglied- 
schaft  besteht.    Dieser  Zwang  macht   sich 
sowolil  in  der  Richtung  geltend,  o  b  ein  Ter- 
kehrsakt  durchgeführt  werden  soll'  als  auch 
in  der,  wie   er  durchgefülirt  weitlen   soll. 
Der  Prozess,  durch  welchen  der  für  den  be- 
treffenden Verkehi'sakt  massgebende  gesell- 


Gemeinwirtschaft 


167 


schaftliche  Wert  festgestellt  wird,  ist  folgen- 
der: Das  einzelne  Mitglied  der  Gesamtwirt- 
schaft bewertet  die  ihm  von  dieser  gebote- 
nen Vorteile  und  die  ihm  dafür  auferlegten 
Lasten  unter  Zugrundelegung  seiner  eigenen 
Bedürfnisse  ohne  Rücksicht  auf  die  Bedürf- 
nisse der  übrigen  Mitglieder.  Die  Leitung 
der  Gesamtwirtschaft  muss  hingegen  die 
Bewertung  in  der  Weise  durchführen,  dass 
sie  die  B^ürfnisse  sämtlicher  Mitglieder  als 
gleidiberechtigt  anerkennt  und  auf  dieser 
Basis  unter  besonderer  Berücksichtigung  der 
allen  Mitgliedern  gemeinsamen,  insbesondere 
der  aus  der  Gemeinschaft  entspringenden 
Bedüi-fnisse  die  Bewertung  der  den  Äüt- 
gliedem  gebotenen  Vorteile  und  auferlegten 
Lasten  vornimmt.  Zwischen  diesen  beiden 
einander  gegenüberstehenden  Schätzungen 
findet  ein  Preiskanipf  ähnlich  dem  im  pri- 
vatwirtschaftlichen Verkehre  nicht  statt,  und 
es  entfällt  selbstverständlich  auch  der  Ein- 
fluss  von  Angebot  und  Nachfrage  gänzlich. 
Vielmehr  wird  vermöge  des  ausgeübten 
Zwanges  das  Restütat  der  von  der  Leitung 
der  Gesamtwirtschaft  ausgehenden  Bewer- 
timg  unverändert  zum  gesellschaftlichen 
Werte  erhoben.  Die  individueUen  Bewer- 
tungen der  einzelnen  Mitglieder  gelangen 
nur  indirekt  ziu:  Geltung,  da  dieselben  in 
ihrer  Gesamtheit  eben  die  Gesamtwirtschaft 
darstellen  und  die  Leitung  derselben  bei 
noch  80  weitgehenden  VoDmachten  doch  die 
Anschauungen  und  Wünsche  der  Mitglieder 
nicht  unberücksichtigt  lassen  kann. 

Ausser  dieser  im  Wege  des  gesetzlichen 
Zwanges  ohne  Entfaltung  irgend  -welcher 
Konkurrenz  herbeigeführten  alleinigen  Gel- 
tung der  von  der  Leitung  der  Gesamtwirt- 
Bchaft  aufgestellten  Wertschätzung  hat  man 
auch  ein  nur  generelles  Verhältnis  von 
Leistung  und  Gegenleistung  im  Gegensatze 
zu  dem  speciellen  Verhältnis  von  Leistung 
und  Gegenleistimg  in  der  Privatwirtschaft 
als  Eigentümlichkeit  der  Gemeinwirtachaft 
angeführt.  Dies  ist  jedoch  nicht  ganz  zu- 
treffend, denn  einerseits  kommen  auch  im 
privatwirtschaftlichen  Verkehre  Verkehrsakte 
vor,  bei  welchen  ein  specieDes  Verhältnis 
von  Leistung  und  Gegenleistung  nicht  nach- 
gewiesen werden  kann,  so  z.  B.  bei  allen 
rauschalverträgen.  andererseits  sehen  wir 
wieder  Verkehrsakte,  bei  welchen  I^eistung 
imd  Gegenleistung  genau  verhältnismässig 
abgestuft  erscheinen,  welche  aber  doch  ver- 
möge des  dabei  ausgeübten  Zwanges  un- 
zweifelhaft dem  gemeinwirtschaftlichen  Sys- 
tem angehören,  so  alle  Enteignungsakte,  die 
Entlohnung  der  zwangsweise  ]hre  Wehr- 
pflicht erfüllenden  Staatsbürger  u.  a.  m.  Auch 
das  stärkere  Hervortreten  des  Mutualismus 
und  Altruismus  im  Gegensatz  zum  Egoismus 
können  wir  kaum  als  wesentliches  Merkmal 
der  Gemeinwirtschaft  anerkennen,  denn  ab- 


gesehen davon,  dass  jene  Beweggründe  im 
karitativen  System  und  innerhalb  der 
Familie  in  weit  grösserem  Masse  entscheidend 
sind  als  im  gemeinwirtschaftlichen,  kann  es 
sich  hier  doch  niu:  um  graduelle  ünterschei- 
dmigen  handeln,  welche  zur  Aufstellung  von 
Kategorieen  umso  weniger  geeignet  erscheinen, 
als  eine  Messung  cßeser  psychologischen 
Momente  unmöglich  ist.  Damit  soU  keines- 
wegs bestritten  werden,  dass  jenes  Zurück- 
drängen des  Egoismus  eine  wichtige  Er- 
scheiüung  in  der  Gemeinwirtschaft  bildet. 
In  der  dadurch  bedingten  Ueberwältigung 
desEinzelintei-esses  durch  dasGesamtinteresse 
liegt  neben  der  Vereinigung  wirtschaftlicher 
Kräfte  zur  gemeinsamen  Erreichung  eines 
Zieles  der  Hauptvorteil  der  Gemeinwirtschaft 
gegenüber  der  Privatwirtschaft.  Auf  jenen 
Gebieten,  welche  das  gemeinwirtschaftliche 
Princip  beherrscht,  wird  die  Konkurrenz  der 
ausschliesslich  ihr  Sonderinteresse  verfolgen- 
den einzelnen  Wirtschaftssubjekte  beseitigt. 
Nun  ist  es  allerdings  unzweifelhaft  richtig, 
dass  eben  die  Konkurrenz  wesentlich  zur 
Anspannung  aller  wirtschaftiichen  Kräfte 
beiträgt,  und  das  blosse  Streben  nach  Aus- 
zeichnung in  einer  gemeinwirtschafüichen 
Organisation  würde  den  Ansporn,  welchen 
die  Verfolgung  des  Einzelinteresses  ausübt, 
schwerlich  ersetzen.  Nichtsdestoweniger 
wird  die  Gesamtwirkung  des  freien  Wett- 
bewerbes in  vielen  Fällen  eine  ungünstige 
sein,  denn  dieselben  Momente,  welche  die 
weitestgehende  Anspannung  der  wirtschaft- 
lichen Kräfte  veranlassen,  führen  auch  zur 
rücksichtslosesten  Ausbeutung  der  wirtschaft- 
lichen üebermacht,  zur  skrupellosen  An- 
wendung aller  geschäftlichen  Ränke  und 
Kniffe,  soweit  dieselben  nicht  direkt  ins 
Zuchthaus  führen,  kurz  zum  Siege  des 
Starken  über  den  Schwachen,  des  —  Ge- 
wissenlosen über  den  Ehrlichen.  Die  Ge- 
meinwirtschaft hingegen  gewährieistet  oder 
SOU  wenigstens  gewährleisten  die  Gleich- 
stellung aller  Sonderinteressen  und  die  Zu- 
rücksetzung derselben  hinter  das  Literesse 
der  Gesamtheit  sowie  die  Beseitigung  aller 
unlauteren,  aller  unsoliden  wirtschaftlichen 
Vorgänge.  Sie  wird  also  hauptsächlich  dort 
am  Platze  sein,  wo  es  sich  um  die  Be- 
friedigung gleichartiger  Bedürfnisse  aller 
Mitglieder  der  betreffenden  Gesamtwirtschaft 
handelt,  und  wo  auch  die  zur  Befriedigung 
dieser  Bedürfnisse  dienenden  Güter  in  der 
Qualität  keiner  wesentlichen  Differenzierung 
unterliegen.  Dort  aber,  wo  Leistungen  be- 
sonderer Qualität,  eine  über  das  Durch- 
schnittsmass  wesentlich  hinausgehende  An- 
spannung der  Kräfte  verlangt  werden,  ^drd 
der  gemeinwirtschaftliche  Zwang  schwerlich 
genügen,  tun  den  Ansporn  des  Wettbewerbes 
zu  ei-setzen. 

3.  Verbreitung.     Es   unterliegt  kaum 


168 


Gemeiiiwirtschaft 


einem  Zweifel,  dass  das  gemeinwirtschaft- 
liche  System  immer  mehr  und  mehr  auf 
Kosten  des  privatwirtschaftlichen  an  Boden 
gewinnt.  Der  üebergang  ist  selbstverständ- 
lich kein  plötzlicher,  sprungweiser,  sondern 
ein  allmählicher,  der  sich  auf  verschiedene 
Weise  vollzieht.  In  den  zahlreichen  freien 
Gesamtwirtschaften,  welche  imser  ganzes 
gesellschaftlichen  Leben  beherrschen,  hat 
das  gemeinwirtschaftliche  Princip  einen  ver- 
hältnismässig beschränkten  Spielraum,  denn 
manche  wohlthätige  Wirkungen  der  Gemoin- 
wirtschaft  können  eben  wegen  der  Frei- 
willigkeit des  Beitrittes  und  der  dadurch 
gegebenen  Beschränkung  des  Kreises  der 
Mitglieder  nicht  zur  vollen  Geltung  gelangen, 
und  tibeitlies  liegt  die  Bedeutung  der  freien 
Gesamtwirtschaften  melu*  in  der  Kooperation 
als  in  der  Anwendung  des  gemeinwirtschaft- 
lichen Principes.  Trotzdem  niuss  man  sich 
aber  vor  Augen  halten,  dass  dieses  Princip 
thatsächlich  innerhalb  aller  freien  Gesamt- 
wirtschaften, auch  bei  den  Aktien-  und 
sonstigen  Erwerbsgesellschaften  zur  Anwen- 
dung gelangt,  denn  auch  hier  tritt  hinsicht- 
lich der  Höhe  der  Einzahlungen  und  der 
Verteüung  des  Gewinnes  der  Zwang  der 
Gesellschaft  gegenüber  dem  einzelnen  Mit- 
gliede  in  Wirksamkeit.  Bei  anderen  freien 
Gesamtwirtschaften,  welche  die  Persönlich- 
keit ihrer  Mitglieder  in  höherem  Masse  er- 
fassen, gewinnt  das  gemeinwirtschaftliclie 
Princip  grösseren  Spielraum,  ja  bei  kleinen, 
auf  wenige  Personen  beschränkten  freien 
Gesamtwirtschaften  ist  sogar  der  Fall  mög- 
lich, dass  diese  ausschliesslich  nach  gemein- 
wirtschaftlicliem  Princij^e  verkehren  und  die 
Yermittelung  des  Verkehre  mit  der  übrigen 
Gesellschaft  vollkommen  der  Gesamtwirl- 
schaft  überlassen.  Solche  Fälle  können  aber 
—  wenn  sie  überhaupt  vorkommen  —  immer 
nur  höchst  seltene  Ausnahmen  bilden.  Von 
viel  grösserer  Bedeutimg  ist  hingegen  das 
gemeiuwii-tschaftliche  Princip  in  seiner  An- 
wendung innerhalb  der  Zwangsgesamtwirt- 
schaften. Erst  hier  können  die  Vorteile 
dieses  Wirtschaftsprincipes  zur  vollen  Gel- 
tung gelangen,  denn  nur  hier  ist  es  möglich, 
auch  jene  Elemente,  welche  aus  verscliie- 
denen  Gründen  ihre  Interessen  auf  eigene 
Faust  besser  wahren  würden,  zurückzudrän- 
gen bezw.  sie  ziu*  Fördenmg  des  Gesamt- 
in tei*esses  heranzuziehen:  auch  wird  es  nur 
in  der  Zwangsgesamtwirtschaft  möglich, 
eine  so  grosse  Menge  Wirtschaftssubjekte 
zu  vereinigen,  dass  die  Macht  der  Kooperation 
in  vollem  Masse  zur  Geltung  gelangt.  Der 
Üebergang  vollzieht  sich  entweder  in  der 
Weise,  da.ss  bestehende  Zwangsgesamtwirt- 
sohaften  (Staat,  Provinz,  Gemeinde  etc.) 
neue  Aufgaben  übeniehmen  oder  dass  ge- 
wisse, durch  Interessengemeinschaft  ver- 
bundene Wirtscliaftssubjekte  zu  selbständigen 


Zwangsgesamtwirtschaften  vereinigt  werden, 
üebrigens  bedingt  die  Verfolgung  irgend 
eines  wirtschaftlichen  Zieles  dimjh  eine 
Zwangsgesamtwirtschaft  noch  keineswegs 
die  vollständige  Herrschaft  des  gemeinwirt- 
schaftlichen Principes.  Vielmehr  wird  anfangs 
auch  die  Zwangsgesamtwirtschaft  noch  sehr 
häufig  das  privatwirtschaftliche  Princip  an- 
wenden, und  nur  allmählich  und  oft  sehr  lang- 
sam gelangt  auch  die  Gemein  Wirtschaft  zur 
Herrschaft.  Eines  der  deutlichsten  Beispiele 
in  dieser  Beziehung  gewährt  die  Entwickelung 
auf  dem  Gebiete  des  Verkehrswesens.  Von 
einer  vollkommenen  Herrschaft  der  Gemein- 
wirtschaft kann  man  hier  nur  dann  sprechen, 
wenn  der  betreffende  Verkehrsweg  jeder- 
mann zur  unentgeltlichen  Benutzung  offen 
steht  und  die  Kosten  für  Anlage  und  Be- 
trieb im  Zwangswege  von  den  sämtlichen 
Mitgliedern  der  betreffenden  Gesamtwirt- 
schaft aufgebracht  werden.  Dieses  Stadium 
ist  aber  bisher  nur  bei  einem  Teile  der 
Land  Strassen  erreicht;  alle  übrigen  Verkehrs- 
mittel, welche  gleichfalls  von  den  Zwangs- 
gesamtwirtschaften übernommen  werden, 
werden  nur  sehr  langsam  aus  öffentlichen 
Unternehmungen  in  öffentliche  Anstalten 
umgewandelt.  Ein  ähnlicher  Prozess  voll- 
zog sich  auf  den  meisten  Verwaltungsge- 
bieten bei  Verfolgung  des  dem  modernen 
Staate  gestellten  Wohlfahi-tszweckes,  während 
auf  dem  Gebiete  des  Rechts-  und  Macht- 
zweckes die  Gemeinwirtschaft  bereits  weiter 
lun  sich  gegriffen  hat  und  nur  noch  verein- 
zelte Reste  des  privatwirtschaftlichen  Sys- 
temes  in  der  Form  von  Gebühren  u.  dgl. 
zurückgeblieben  sind.  Diese  stete  Ausdeh- 
nimg der  Gemeinwirtschaft  ist  wohl  geeig- 
net, zu  der  Meinung  zu  veranlassen,  dass 
für  dieselbe  keine  Grenzen  bestehen,  dass 
vielmehr  ein  Zustand  der  Volkswirtschaft 
möglich  sei,  in  welchem  die  Gemein  Wirt- 
schaft das  allein  herrschende  Wirtscliafts- 
system  wäre  und  so  der  Kommunismus  im 
vollsten  Sinne  verwirklicht  würde.  So  wenig 
geleugnet  werden  kann,  dass  die  ganze  Ge- 
staltung der  modernen  Volkswirtscliaft  mehr 
und  mehr  nach  gemeinwirtschaftlicher  Or- 
ganisation drängt,  so  kann  doch  bei  kritischer 
Untersuchung  der  massgebenden  Verhältnisse 
kein  Zweifel  obwalten,  dass  die  ausschliess- 
liche Herrschaft  der  Gemeinwirtschaft  un- 
möglich ist,  dass  vielmehr  ein  gewisses  Ge- 
biet (ganz  abgesehen  vom  eigen  wirtschaft- 
lichen und  karitativen)  dem  privatwirtschaft>- 
lichen  Svsteme  wird  überlassen  bleiben 
müssen.  Vor  allem  widerspricht  die  mensch- 
liche Natur,  in  welcher  der  Eigennutz  einen 
der  hervoiragendsten  Züge  bildet,  auf  das 
entschiedenste  einer  volkswirtschaftlichen 
Organisation,  in  welcher  für  die  Bethätigung 
des  Eigennutzes  kein  Raum  vorhanden  wäre. 
Aber  selbst  abgesehen  von  diesem  ganz  aU- 


Gtemein  Wirtschaft — Gtenosseoschaft 


169 


gemeinen  Bedenken  kann  die  Gemeinwirt- 
Schaft  nach  ihrem  Wesen  nicht  ausgedehnt 
werden  auf  die  geistige  Produktion,  wie 
überhaupt  auf  die  Produktion  solcher  Güter, 
welche  nicht  allgemein  auftretende  Bedürf- 
nisse zu  befriedigen  geeignet  sind;  bei  voll- 
kommen gemeinwirtschaftlicher  Organisation 
könnten  niur  Massengüter  produziert  werden. 
Alle  Sonderbedürfnisse  müssten  von  der 
Befriedigung  ausgeschlossen  bleiben,  wodurch 
wieder  jede  Steigerung,  jede  Differenzienmg 
der  Bedürfnisse,  welche  aUein  ein  Fort- 
schreiten der  Kultur  ermöglichen,  verhindert 
würde.  Ein  solcher  Fortschritt  wäre  umso 
weniger  möglich,  als  auch  das  Gefühl  der 
Selbständigkeit,  der  Selbstverantwortlichkeit 
und  damit  der  Reiz  zur  aussergewöhnlichen 
Anstrengung  verschwinden  müsste.  Eine 
Grenze  in  anderer  Richtimg  ist  überdies  der 
Ausdehnung  der  Gemeinwirtschaft  gezogen 
durch  die  Familie,  welche  —  mag  sie  wel- 
che Form  immer  haben  —  die  Gnmdlage 
des  Staates  bilden  muss  und  dazu  eines 
wirtschaftlichen  Rückhaltes  bedarf.  Diese 
Grenzen  wird  die  Gemeinwirtschaft  nicht 
überschreiten  können,  nicht  überschreiten 
dürfen.  Wie  weit  sie  innerhalb  derselben 
vorschreiten  wird,  darüber  Vermutungen 
anzustellen,  wäre  müssig.  Zw^ei  feilos  be- 
finden wir  uns  noch  im  aufsteigenden  Aste 
dieser  Bewegtmg,  deren  Ende  vorläufig  noch 
nicht  abzu.sehen  ist. 

Litteratlir :  A.  Wagner,  Grundlegung,  i.  Aufl., 
Leipzig  1879,  S.  196 ff.,  3.  Aufl.,  Leipzig  1893, 
S.  827 ff.  —  Schdfße,  GeaelUschafilicheg  System, 
S.  Aufl.,  insbesondere  II,  S.  20  ff.  —  Derselbe, 
Bau  und  Leben,  S.  Bd.  —  Gross,  Wirtschafts- 
formen  und  Wirtsckaßsprimipien,  Leipzig  1888. 
—  Philippovieh ,  (rrundrisf,  2.  Aufl.,  Frei- 
bürg  1897,  S.  8 ff.  G.   Gross, 


Gemengelage 


8.  Zusammenlegung  der  Grund 

stücke. 

Generalhufenschoss 

s.  Hufenschoss. 


Genossenschaft. 

1.  Begriff  der  G.    2.  Historische  Entwicke- 
lung. 

1.  Be^iff  der  G.  Der  Ausdruck  »Ge- 
nossenschaft«: ist  scheinbar  einer  der  viel- 
deutigsten in  unserer  Sprache.  Der  Grund, 
weshalb  oft  sehr  verschiedenartige  Ver- 
einigimgen  als  Genossenschaft  xar'  ^ioxvv 
bezeichnet  w^erden,  so  z.  B.  die  Erwerbs- 
und Wii-tschaftsgenossenschaften ,  die  ge- 
werblichen   Genossenschaften    und   andere 


mehr,  liegt  darin,  dass  man  sich  daran  gewöhnt 
hat,  einzelne  Kategorieen  von  Genossen- 
schaften als  Genossenschaft  kurzweg  ohne 
nähere  Bezeichnung  zu  benennen,  wodurch 
vielfach  nicht  mu*  eine  Mehrdeutigkeit  des 
Ausdnickes  oder  doch  wenigstens  eine  Un- 
sicherheit herbeigeführt,  sondern  auch  der 
Gesamtbegriff  fast  ganz  in  den  Hintergrund 
gedrängt  \viutle.  Den  Gegenstand  der  fol- 
genden Zeilen  bildet  ausschliesslich  die  Ge- 
samtheit der  Genossenschaften,  während  für 
die  einzelnen  Arten  auf  die  Specialartikel 
über  Erwerbs-  und  Wirtschaitsgenossen- 
schaft,  Zünfte,  Allmende  etc.  etc.  verwiesen 
werden  muss. 

Im  allerweitesten  Sinne  könnte  unter 
Genossenschaft  jede  Vereinigung  mehrerer 
Personen  zu  irgend  einem  Zwecke  verstanden 
wenlen,  gleichviel  ob  diese  Vereinigimg  eine 
gewollte,  eine  erzwungene  oder  eine  zufällige 
ist.  Unter  diesen  Begriff  wäre  jede  Besitz- 
gemeinschaft, Famihe  und  Ehe  ebenso  wie 
Gesellschaft  und  Staat,  und  vielleicht  sogar 
eine  Genossenschaft  des  Weltverkehres  zu 
subsumieren.  Aber  eben  deshalb,  weil  dieser 
Begriff  fast  unbegrenzt  ist,  ist  er  unfrucht- 
bar und  gänzlich  ungeeignet  zur  Heraus- 
bildung eines  Rechtsbegriffes.  Der  all- 
gemeine Begriff  der  Genossenschaft  wird 
deshalb  enger  gefasst  werden  müssen,  ohne 
aber  solche  Vereinigungen,  welche  der  Sprach- 
gebrauch als  Genossenschaft  bezeichnet,  aus- 
zusclüiessen. 

Die  Genossenschaft  ist  eine  echt  ger- 
manische Institution,  ihr  Rechtsbegriff  aus- 
schliesslich im  deutschen  Rechte  entwickelt. 
Die  Theorie  der  Genossenschaft,  deren  Kern 
der  Gedanke  der  realen  Gesamtpersönlich- 
keit ist,  wurde  von  Beseler  begründet, 
von  Gierke  weiter  entwickelt  und  bis  in 
die  kleinsten  Einzelheiten  durchgebildet^). 
Danach  haben  wir  als  Genossenschaften  alle 
deutschrechtlichen  Körperschaften,  d.  h.  alle 
Vereine  mit  selbständiger  Rechtspersönlich- 
keit unter  Ausschluss  von  Staat  und  Ge- 
meinde zu  betrachten.  Als  das  Ziel  aller 
korporativen  derartigen  Organisationen  er- 
scheint die  Gestaltung  des  Bestandes  zur 
lebendigen  Gesamtpersönlichkeit.  In  den- 
selben erscheint  die  Einheit  durch  die  Viel- 
heit verkörpert,  weshalb  Einheit  und  Viel- 
heit in  der  Genossenschaft  nicht  nur  Gegen- 
sätze, sondern  auch  Korrelate  sind.  In  dieser 
Verkörperung  der  Einheit  durch  die  Viel- 
heit in  der  dadurch  bedingten  teilweisen  Ab- 
sorption der  Einzelpersönlichkeit  durch  die 
Körperschaft,  welche  bis  zum  vollkommenen 
Zurücktreten  der  Einzelpersönlichkeit  gehen 
kann,  liegt  die  eigentliche  charakteristische 
Eigenschaft  der  deutschrechtlichen  Genossen- 

*)  Auf  dem  epochemachenden  Werke  von 
Gierke  beruht  auch  die  folgende  Darstellung. 


170 


Genossenschaft 


Schaft. —  Die  Entstehung  derGenossenschaften 
ist  eine  verschiedene;  sie  sind  gewillkürte 
Genossenschaften,  wenn  sie  auf  Grund  einer 
freien  Vereinigung  der  Genossen,  die  dann 
auch  für  die  Rechtsnachfolger  Giltigkeit  haben 
kann,  entstanden  sind;  sie  sind  gewordene 
Genossenschaften,  wenn  gewisse  gemeinsame 
Verhältnisse  persönlicher  oder  sachlicher  Art 
die  Mitglieder  ohne  besonderen  darauf  ge- 
richteten Willensakt  zusammengeführt  haben, 
wobei  dann  selbstverständlich  die  Entwicke- 
lung  der  körperschaftlichen  Verfassung  nur 
langsam  und  schrittweise  erfolgen  kann. 
Endlich  können  aber  Genossenschaften  auch 
dem  Zwange  einer  öffentlichen  Gewalt  ihre 
Entstehung  verdanken,  solche  Genossen- 
schaften tmterscheiden  sich  von  den  gewill- 
kürten dadurch,  dass  die  Bildung  z\var  auch 
eine  ausdrückliche  Vereinigung  der  Genossen 
voraussetzt,  dass  aber  diese  sowie  der  Beitritt 
der  einzelnen  von  ihrem  freien  Willen  un- 
abhängig ist.  —  Ebenso  bestehen  Unterschiede 
hinsichtlich  des  Substrates  der  Genossen- 
schaften, je  nachdem,  ob  die  Personen- 
gesamtheit das  einzige  Substrat  bildet  oder 
noch  anderweitige  Substrate  objektiver  Art 
hinzutreten.  Rein  persönliche  Genossen- 
schaften waren  beispielsweise  die  Standes- 
genossenschaft im  älteren  deutschen  Reiche, 
so  namentlich  die  des  Adels  zur  Zeit  des 
Leluibandes ,  dann  gewisse  kirchliche  Ge- 
nossenschaften. Das  sachliche  Substrat  der 
Genossenschaften  kann  wieder  sehr  ver- 
schiedenartig sein.  Die  Gemein siimkeit  des 
Wohnsitzes  in  einem  gewissen  Gebiete,  die 
gemeinsame  Unterwerfung  unter  dasselbe 
Amt  und  (xericht,  vor  allem  aber  die  Ver- 
mögenseinheit, die  Gesarathabe,  das  Gesamt- 
eigentum können  die  sachliche  Grundlage 
der  Genossenschaften  bilden.  Die  vermögens- 
rechthche  Gemeinschaft  wird  bei  den  meisten 
Genossenschaften,  auch  bei  jenen,  bei  welchen 
sie  nicht  die  eigentliche  Gnmdlage  bildet,  eine 
wichtige  Rolle  spielen.  Weitaus  die  meistenGe- 
nossen Schäften  sind  eben  Gesamtwirtsclmften 
(vgl.  den  Art.  Gemeinwirtschaft  oben 
ö.  165  ff.),  ohne  dass  aber  die  beiden  Begriffe 
sich  decken.  Zwar  sind  alle  Genossenschaften 
mit  wirtschafthcher  Grundlage,  welche  aber 
keineswegs  für  die  Genossenscliaft  unbedingt 
notwendig,  Gesam t wirtschaften ;  hingegen 
haben  zahli*ei(^he  Gesamtwirtschaften  nicht 
den  Chai^ter  einer  Genossenschaft.  Zu- 
nächst gilt  dies  von  Staat  Tmd  Gemeinde  im 
modernen  Sinne,  welche  von  vornherein  von 
der  Subsumienmg  unter  den  Begriff  der 
Genossenschaft  ausgeschlossen  sind,  dann 
aber  auch  von  zahlreichen  freien  Gesamt- 
wirtschaften, welche  lediglich  eine  Vereini- 
gung wirtschaftlicher  Kräfte  bezwecken,  ohne 
deshalb  die  ihr  angehörigen  Wirtschafts- 
subjekte zu  einer  Genossenschaft  zusammen- 
zuschliessen. 


Die  Genossenschaft  erhält  das  Körper- 
Bchaftsrecht,  d.  h.  WiDens-  und  Handlungs- 
fähigkeit entweder  durch  stillschweigende 
Anerkennung,  insofern  nicht  ausdrückliche 
gesetzliche  Bestimmungen  entgegenstehen, 
oder  durch  besondere  staatliche  Verleihung. 
Das  rechtliche  Verhältnis  der  Genossenschaft 
zu  ihren  Mitgliedern  sowie  die  Bildung  der 
Organe  der  Genossenschaft  wird  durch  ihre 
Verfassung  geregelt.  Die  Rechte  der  Mit- 
glieder können  sein  individualrechtliche  ge- 
genüber der  Genossenschaft  und  soziairecht- 
üche  nach  aussen.  Die  rechtlichen  Bezie- 
hungen der  Genossenschaft  sind  1)  individuaU 
rechtliche,  in  denen  die  Verbandspei^son  als 
für  sich  stehende  Einheit  gut ;  2)  gemeinheit- 
liche Beziehungen,  in  denen  die  Verbands- 
person als  Ganzes  ihren  Gliedern  gegen- 
über berechtigt  oder  verpflichtet  ist,  und  3) 
gliedmässige  Beziehimgen,  in  denen  die  Ver- 
bandsperson als  Glied  eines  Ganzen  berech- 
tigt oder  verpflichtet  ist.  Die  Verfassung 
der  Genossenschaft  ist  das  dem  individuellen 
Willen  der  Mitglieder  entzogene  Lebensgesetz 
derselben  und  bestimmt,  unter  welchen  Be- 
dingimgen  bestimmte  Glieder  des  Vereins- 
körpers dessen  einheitliclies  Leben,  seine 
Willens-  und  Handhmgsfähigkeit,  zum  Aus- 
drucke bringen  können.  Sie  bestimmt  ferner 
die  Art  und  Weise  der  Büdung  dieser  Or- 
gane und  ihre  Funktionen..  Die  hauptsäch- 
lichen Organe  der  Genossenschaft  sind  die 
Mitgliederversammlung  als  die  eigentliche 
Verkörperung  der  Gesamtheit,  der  Vorstand, 
der  Ausschuss  und  richterliche  oder  schieds- 
richterliche Organe.  Die  Abgrenzung  zwischen 
den  Funktionen  der  einzelnen  Organe  ist 
begreiflicherweise  eine  sehr  mannigfaltige, 
abhängig  vom  Zwecke  der  Genossenschaft 
und  ihrer  Entstehung.  Ebenso  verschieden 
ist  die  rechtliche  Natur  der  Mitgliedschaft, 
und  es  können  auch  innerhalb  einer  und 
derselben  Genossenschaft  die  Rechte  und 
Pflichten  der  Mitglieder  verschiedene  sein, 
indem  z.  B.  nur  einem  Teile  der  Glieder 
Sitz  und  Stimme  in  der  Versammlung  der 
Genossenschaft  und  damit  Einfluss  auf  die 
Leitung  der  Genossenschaft  zusteht,  während 
die  übrigen  als  Schutzgenossen  zwar  An- 
spruch auf  gewisse  Leistungen  seitens  der 
Genossenschaft,  aber  keinerlei  aktives  Ver- 
fügungsrecht im  Hinblick  auf  die  Genossen- 
schaft haben.  —  Die  Beendigung  oder  Auf- 
lösung der  Genossenschaft  kann  erfolgen 
durch  darauf  gerichtete  Handlungen  von 
innen  (Selbstauflösung)  oder  von  aussen,  ins- 
besondere durch  die  Staatsgewalt,  oder  sie 
erfolgt  ohne  solche  Handlungen  durch  Weg- 
fall sämtlicher  Mitglieder,  durch  Wegfall 
des  objektiven  Substrates  oder  endlich  durch 
die  vollkommene  Erfüllung  des  Zweckes  der 
Genossenschaft,  so  dass  kein  Raum  für  eine 
weitere  Thätigkeit  bleibt. 


Genossenschaft 


171 


2.  Historische  Entwickeläng.    Die  an 

sich  gewiss  auffallende  Thatsache,  dass  der 
Rechtsbegriff  der  Genossenschaft  ein  aus- 
schliesslich deiitschrechtlicher  ist,  findet  ihre 
Erklärung  in  der  Verbreitung  der  genossen- 
schaftlichen Vereinigungsformen.  Die  Ge- 
nossenschaft ist  eben  eine  ausscliliesslich 
germanische  Rechtsinstitution.  Wenn  auch 
das  klassische  Altertum,  die  romanischen 
imd  slavischen  Völker  fast  ebenso  zahlreiche 
Vereinigimgen  verschiedener  Gestaltung 
kennen,  ist  doch  der  Charakter  derselben 
ein  wesentlich  anderer.  Nirgends  kommt 
die  ^»Einheit  und  Vielheit  in  der  Gesamt- 
heit«^ so  zum  Ausdrucke  wie  in  der  deutsch- 
rechtlichen Genossenschaft,  sei  es,  dass  die 
Einzelpei'SÖnlichkeit  mehr  hervortritt  oder 
aber  gänzlich  zurückgedrängt  winl  und  voll- 
kommen in  der  betreffenden  Vereinigung 
aufgeht.  —  Im  klassischen  Altertum  und 
namentlich  im  römischen  Recht  ist  einer- 
seits die  Staatsidee,  andererseits  das  Recht 
des  einzelnen  Individuums  zu  stark  ent- 
wickelt ;  während  der  Staat  die  selbständige 
Entwickelung  der  Köri)erschaften  hemmt 
und  hindert,  ist  das  individuelle  Selbstge- 
fühl zu  stark,  um  sich  einer  anderen  Ge- 
samtheit als  dem  Staate  in  entsprechendem 
Masse  unterzuordnen.  Bei  den  slavischen 
und  vollends  bei  den  orientalischen  Völkern 
hinderte  wieder  der  Despotismus  und  die 
Unfreiheit  des  Volkes  die  Entwickelung  der 
Körperschaften.  Auf  germanischem  Boden 
hiügegen  gewährte  die  langsame  Entwicke- 
lung der  Staatsidee  und  vollends  der  Obrig- 
keit die  erforderliche  Unabhängigkeit,  wäh- 
rend die  oft  ungünstigen  Lebensbedingungen 
notwendigerweise  zum  engen  Anschlüsse 
der  Individuen  untereinander  drängten.  So 
war  jene  innige  Vereinigung  möglich,  welche 
namentlich  bei  manchen  älteren  Formen  fast 
zum  vollständigen  Aufgehen  des  einzelnen 
in  der  Genossenschaft  führte.  —  Für  die 
Entwickelung  der  Genossenschaften  tmter- 
scheidet  Gierke  5  Perioden:  1.  Patriarchale 
Periode  bis  800 ;  2.  patrimoniale  und  feudale 
Periode  800—1200:  3.  Periode  der  Einun- 
gen, der  gekorenen  Genossenschaften  1200 
bis  1525 ;  4.  Periode  der  abhängigen  Privat- 
rechtskorporationen ,  der  Privilegskorpora- 
tionen unter  der  Herrschaft  des  Principes 
der  Obrigkeit  1525—1806;  5.  Periode  der 
freien  Association.  Als  die  älteste  Genossen- 
schaft der  ersten  Periode  erscheint  die  Ge- 
schlechtsgenossenschaft,  welcher  das  Haus, 
die  Familie  im  engeren  Sinne,  als  hen*- 
sehaftlich  gestalteter  Verband  gegenüber- 
stand, so  dass  schon  hier  der  Gegensatz 
zwischen  genossenschaftlicher  und  herr- 
schaftlicher Or^nisation  zum  Ausdruck  ge- 
langt. Aus  der  /usammenschliessung  der  Ge- 
ßchleehtsgenossenschaften  entstand  die  Volks- 
genossenschaft,    welche   wieder  in   Teilge- 


nossenschaften (Hundertschaften,  Gaue  etc.) 
zerfiel.  Diese  Genossenschaften  waren  sämt- 
lich innig  mit  Grund  und  Boden  verknüpft, 
und  es  entwickelten  sich  aus  denselben  die 
Markgemeinden  verschiedenen  Umfanges,  in 
welchen  sich  das  Sondereigentum  an  Grund 
und  Boden  erst  langsam  durch  das  üeber- 
«mgsstadium  der  Sondernutzung  aus  dem 
Gesamteigentum  entwickelte.  —  Daneben 
nahmen  die  aus  den  Gefolgschaften  ent- 
standenen herrschaftliclien  Verbände  einen 
immer  grösseren  Aufschwung  und  über- 
wucherten mehr  und  mehr  die  freien  Ge- 
nossenschaften- Auch  diese  Verbände  er- 
scheinen schon  im  Anfange  ihrer  Entwicke- 
lung mit  Gnmd  und  Boden  in  der  Weise, 
verknüpft,  dass  gewisse  herrschaftliche 
Dienstverhältnisse  mit  der  Verleihung  von 
Grund  verbunden  wurden.  Dieses  Verhält- 
nis bildet  die  Grundlage  des  Lehnsystemes, 
welches  die  nächste  Periode  (bis  1200)  der 
Entwickelung  der  Genossenschaften  be- 
herrscht. Die  herrschaftlichen  Verbände 
gewinnen  einen  genossenschaftlichen  Clia- 
rakter,  und  es  entstehen  hofrechtliche,  dienst- 
rechtliche und  lehnrechtliche  Genossen- 
schaften. Die  ersteren  waren  vor  aUem  auf 
dem  gemeinschaftlichen  Hufenbesitze  in  der 
Hofgeraeinde  basiert,  wenngleich  auch  ge- 
wisse Personen  ohne  Grundbesitz  Genossen 
der  Hofgemeinde  waren.  Hofrechtlicher 
Natur  waren  auch  die  ältesten  Innungen  der 
Hof haud werker ,  in  welchen  das  Handwerk 
als  herrschaftliches  Amt  die  Grundlage  der 
Mitgliedschaft  bildete.  Vollkommen  auf 
persönlicher  Grundlage,  nämlich  auf  dem 
Dienstverhältnisse  zum  Herrn,  beruhten  die 
Genossenschaften  der  Dienstmannen.  Von 
diesen  wesentlich  verschieden  waren  die 
lehnrechtlichen  Genossenschaften  der  freien 
Vasallen.  Abgesehen  davon,  dass  dieselben 
nur  in  Angelegenheiten  des  Lohns  dem 
Lehnrechte  unterworfen,  sonst  aber  voDbe- 
recht^igte  Volksgenossen  waren,  tritt  hier  das 
persönliche  Verhältnis  zum  Herrn  viel  mehr 
zurück,  imd  das  dinglielie  Verhältnis  des 
abhängigen  Besitzes  wiuxie  successive  zur 
einzigen  Grimdlage  der  lehnrechtlichen  Ge- 
nossenschaften. Aus  diesen  entwickelten 
sich  die  Genossenschaften  des  Lehnadels 
und  der  freien  ritterlichen  Vasallen  als  die 
ei-sten  ständischen  Genossenschaften.  Das 
Lehnband  beherrschte  aber  die  öffentlichen 
Verhältnisse  in  einem  Masse,  dass  das  ganze 
Reich  dadurch  einen  lehngenossenschaftlichen 
Charakter  gewann.  Ausser  den  herrschaft- 
lichen Genossenschaften  begegnen  wir  in 
dieser  Periode  noch  den  Resten  der  freien 
Genossenschaften  des  alten  Rechtes  in  den 
Dorf-  und  Markgemeinden,  welche  sich  nur 
in  wenigen  Gegenden,  so  namentlich  in  der 
Schweiz  und  in  Friesland,  länger  erhalten, 
und   ferner  den  ersten  Anfängen  der  freien 


172 


Genossenschaft 


Einnng  in  den  Gilden.  Diese  letzteren  zei- 
gen nach  ihrer  Entstehung,  ihrer  Organisa- 
tion und  ihren  Zwecken  grosse  Mannigfal- 
tigkeit; das  gemeinsame  charakteristische 
Merkmal  lag  darin,  dass  die  Mitghedschaft 
nicht  auf  natürlicher  Zusammengehörigkeit, 
nicht  auf  der  Gemeinsamkeit  des  Herrn, 
sondern  auf  dem  freien  Willen  der  Genos- 
sen benilite,  gleich\iel,  ob  sie  diu'ch  reli- 
giöse Gefühle,  durch  ein  gemeinsames  Schutz- 
bedürfnis oder  durch  gleichartigen  Beruf 
zusammengeführt  wurden. 

Die  dritte  Periode  (1200—1525)  wird  ge- 
kennzeichnet durch  das  Aufblühen  der 
Städte,  welchen  es  vermöge  ihres  zuneh- 
menden Wohlstandes  in  verschiedenartiger 
WeisQ  gelang,  sich  ganz  oder  teilweise  von 
der  Herrschaft  geistlicher  oder  weltlicher 
Herren  zu  emancipieren.  Die  Verfassung 
der  Städte  war  eine  genossenschaftliche, 
wobei  allerdings  niu*  ein  verhältnismässig 
kleiner  Teil  der  Bürgerschaft  die  Rechte 
der  Vollgenossen  besass,  so  dass  sich  eine 
förmliche  Aristokratie  der  Geschlechter 
herausbildete,  gegen  welche  sich  die  üb- 
rigen Stände  sehr  bald  mit  erwachendem 
politischen  Bewusstsein  auflehnten.  In  den 
sich  daraus  entwickelnden,  Jahrhimderte 
währenden  Kämpfen  sehen  wir  beide  Streit- 
teile genossenschaftlich  organisiert,  die  Ge- 
schlechter als  Gilden,  die  übrigen  Bürger 
in  den  Zünften  der  Handwerker.  (Vgl.  die 
betreffenden  Artikel.)  Nach  dem  Muster  dieser 
Genossenschaften  vereinigten  sich  auch  die 
übrigen  Benife,  bis  herab  zu  den  fahrenden 
Leuten,  Bettlern  und  Räubern  zu  Gilden 
oder  Zünften.  Aber  nicht  nur  der  gemein- 
same Beruf  giebt  Anlass  zur  Einung,  auch 
mannigfache  andere,  einer  Anzahl  Bürger 
gemeinsame,  oft  nur  vorübergehende  Ver- 
hältnisse führen  zur  Bildung  von  Genossen- 
schaften, welche  zumeist  das  Bestrel>en 
haben,  ihre  Zwecke  zu  erweitern  und  das 
wirtschaftliche  wie  gesellschaftliche  Leben 
der  Genossen  mehi*  und  mehr  zu  beherr- 
schen. Auch  das  geistige  Leben  des  deut- 
schen Volkes  winl  in  dieser  Periode  vom 
genossenschaftlichen  Gedanken  beheiTScht. 
Die  Kirche  selbst  wie  die  geistlichen  Orden 
und  Brüderschaften  nehmen  mehr  und  mehr 
die  Gestalt  der  Genossenschaft  an,  während 
die  Universitäten  als  Korj)orationen,  welche 
Lehrer  wie  Lernende  umfcissen,  ins  Leben 
gerufen  werden  und  überdies  nach  Fakul- 
täten. Nationen,  Bursen  etc.  eine  genossen- 
schaftliche Gliederung  erhalten.  —  Vielleicht 
die  grösste  Bedeutung  aber  gewann  das 
Einungswesen  durch  seine  Anwendung  im 
politischen  Leben;  die  Gemeinschaften  blie- 
ben nicht  auf  die  einzelne  Stadt  beschränkt, 
sondern  es  entstanden,  ausgehend  von  einem 
engeren  Aneinanderechliessen  der  Kauf  man  ns- 
gilden  mehrerer  Städte,  auch  Städtebünde, 


von  welchen  die  bedeutendste  die  »gemeine 
deutsche  Hansa«  war,  neben  welchen  aber 
auch  in  Oberdeutschland  mehrere  grosse 
Bünde  bestanden.  Diesen  Städtebünden 
wurden  dann  sehr  bald  Einungen  des  Herren- 
Standes  und  der  Ritterschaft  entgegengesetzt, 
welche  einerseits  gegen  die  wachsende  Macht 
der  Städte,  andererseits  gegen  die  sich  ent- 
wickelnde landesftirstiiche  Gewalt  gerichtet 
waren.  Die  Fortschritte  der  letzteren  konnten 
aber  nicht  dauernd  gehemmt  werden,  und 
wenn  auch  die  einzelnen  Länder  vermöge 
der  genossenschaftlichen  Organisation  der 
Stände  selbst  in  gewissem  Sinne  als  Ge- 
nossenschaft erscheinen,  so  kommt  doch 
verhältnismässig  rasch  die  absolute,  obrig- 
keitliche Gewalt  des  Landesfürsten  zur  Gel- 
tung, und  diese  nimmt  in  der  nun  folgenden 
Periode  auch  einen  entscheidenden  Einfluss 
auf  die  Gestaltung  und  Ent Wickelung  der 
Genossenschaft. 

An  Stelle  der  freien  Einung  tritt  zumeist 
die  Privilegskorporation,  deren  Wesen  und 
Form  nicht  mehr  oder  doch  nur  zum  ge- 
ringsten Teile  von  der  Genossenschaft  selbst, 
sondern  von  der  das  Privileg  erteilenden 
Obrigkeit  bestimmt  wird.  Sie  wurde  so  zu 
einer  Anstalt,  deren  Bedeutung  gegenüber 
der  Genossenschaft  des  älteren  Rechtes  da- 
durch herabgedrückt  wurde,  dass  sie  des 
öffentiichen  Charakters  ziun  grössten  Teil 
entkleidet  imd  fast  ganz  auf  das  Privatrecht 
beschränkt  wurde.  Die  alte  ländliche  Ge- 
meindegenossenscbaft,  die  Markgeraeinde, 
deren  Bestand  schon  in  der  früheren  Periode 
vielfach  diu^ch  Uebergang  des  Gh'und  und 
Bodens  in  heiTschaftliches  Eigentum  er- 
schüttert war,  verschwindet  gänzlich  oder 
besteht  höchstens  noch  in  der  Form  von 
Agrargenossenschaften  und  Genossenschaften 
zm*  Verfolgung  einzelner  wirtschaftiicher 
Zwecke  fort.  An  ilire  Stelle  tritt,  geschaffen 
durch,  die  obrigkeitliche  Kmft,  die  politische 
Landgemeinde.  Ijangsamer,  aber  umso  siche- 
rer, vei^sch  windet  die  genossen  schaftlicheOrga- 
nisation  der  städtischen  Gemeinwesen.  Indem 
die  politische  Unabhängigkeit  der  meisten 
Städte  von  der  territorialen  Gewalt  zerstört 
wird,  sinken  sie  zu  Verw^altungsbezirken 
herab,  mit  welchen  eine  Privatrechtskorpo- 
ration verbunden  ist.  Einzelne  Städte  er- 
halten ihre  Unabhängigkeit,  werden  aber 
selbst  zu  Territorien,  in  welc»hen  eine  Kor- 
poration die  Landesherrschaft  besitzt.  Sdüiess- 
lich  vei-sch windet  in  unserem  Jahrhunderte 
der  rechtiiche  Unterschied  zwischen  Städten 
und  Landgemeinden  fast  ganz,  und  es  er- 
scheint die  einheitliche  Ortsgemeinde.  Ueber 
und  neben  diesen  entstehen  dann  öffentlic^h- 
rechtliche  Genossenschaften  teils  zur  Ver- 
folgung besonderer  Zwecke,  wie  die  Kirchen-, 
Schul-,  Armen-,  Wegegemeinden  etc.,  teils 
zur  ErffiUung  allgemeiner  Verw^altungsauf- 


Genossenschaft-^Genovesi 


173 


gaben,  wie  die  Bezirke,  Kreise  und  Pro- 
vinzen. Nicht  überall  treten  die  letzteren 
Selbstverwaltungskörper  als  Genossenschaften 
auf,  mehrfach  auch  als  blosse  Staatsanstalten. 
Der  moderne  Staat  kann  keinesfaUs  der  Ge- 
nossenschaft zugezählt  werden.  Vielmehr 
erscheint  im  repräsentativen  Verfassungs- 
staate  die  genossenschaftliche  Grundlage 
(Staatsbürgergenossensehaft)  und  die  obrig- 
keitliche Spitze  (Monarchie)  organisch  ver- 
eint, so  dass  wir  in  demselben  eine  Ver- 
söhnung der  alten  Genossenschafts-  und 
Herrscliaftsidee  erblicken  können.  Während 
in  neuerer  Zeit  die  auf  der  Gebietsgemein- 
samkeit basierenden  Genossenschaften  viel- 
fach ihren  genossenschaftlichen  Charakter 
verloren  und  keineswegs  einen  neuen  Auf- 
schwung nahmen,  haben  die  freien  Associa- 
tionen, vollständig  gewillkürte  Genossen- 
schaften, um  so  mehr  an  Ausdehnung  und 
Bedeutung  gewonnen.  Die  Anwendung  des 
genossenschaftlichen  Grundsatzes  zur  Ver- 
folgung politischer,  religiöser,  geistiger,  sitt- 
licher, sozialer  und  nationaler  Zwecke  bil- 
dete für  die  Staatsgewalt  den  Anlass  zur 
gesetzlichen  »Regelung«  des  Vereinsrechtes, 
welche  Regelung  zumeist  die  möglichste 
Einschränkung  aller  jener  Vereine  bezweckte, 
welche  irgendwie  das  öffentliche  Leben  zum 
Gegenstande  ihrer  Thätigkeit  machen  woll- 
ten. Nichtsdestoweniger  hat  das  Vereins- 
wesen immer  weitere  Kreise  erfasst  und 
ünmer  mehr  Zwecke  in  den  Bereich  eines 
Gebietes  gezogen.  Eine  noch  bedeutendere 
Rolle  aber  spielen  in  neuerer  Zeit  die  rein 
wirtschaftlichen  Genossenschaften ,  welche 
sich  nur  die  Verbesserung  der  wirtschaft- 
lichen Lage  ihrer  Mitglieder  zum  Ziele  ge- 
setzt haben.  Teils  aus  den  Resten  alter 
Gewerbsgenossenschaften  entstanden  und  an 
diese  anknüpfend,  teils  aus  den  neuen  Be- 
dürfnissen der  immer  mehr  fortschreitenden 
kapitalistischen  Produktionsweise  entsprun- 
gen, liaben  diese  freien  wirtschafthchen 
Associationen,  welche  wir  mit  Gierke  in 
Vermögensgenossenschaften  imd  Personalge- 
nosßenschafien  einteilen  können,  der  moder- 
nen Volkswirtschaft  ihren  eigenartigen 
Charakter  aufgednlckt  und  dem  Principe 
der  Kooperation  auf  allen  Gebieten,  auch  im 
Kampfe  zwischen  Kapital  und  Arbeit,  zum 
Durclibniche  verhelfen.  —  In  neuester  Zeit 
endlich,  im  letzten  Jahrzehnte,  hat  dieEnt- 
wickelung  der  Genossenschaften  noch  eine 
weitere  Förderung  erfahi'en  dadurch,  dass 
neben  der  freien  Genossenschaft  und  zum 
Teil  an  Stelle  derselben  der  Zwangsgenos- 
senschaft wieder  ein  grösserer,  fast  unab- 
sehbarer Raum  eingeräumt  wird.  Man  hat 
nicht  nur  die  alten  Berufsgenossenschaften, 
insbesondere  die  des  Gewerbes,  in  freilich 
ganz  veränderter  Form  zu  neuem  Leben  er- 
weckt,  sondern  man  hat  auch  die  Gemein- 


samkeit anderer  Verhältnisse,  vor  allem  die 
Gemeinsamkeit  gewisser  Gefahren  zum  An- 
lasse genommen,  um  unter  dem  Zwange 
der  öffentlichen  Gewalt  neue  genossenschaft- 
liche Organisationen  zu  schaffen.  Dmxüi  die 
Krönung  des  modernen  Versicherungswesens, 
durch  die  allgemeine  Altera-  und  Invaliden- 
versicherung, wiude  der  Weg  zur  Schaffung 
einer  grossen,  die  überwiegende  Mehrzahl 
sämtlicher  Staatsbüi-ger  umfassenden  Zwangs- 
geuossenschaft  unter  der  Patronanz  des 
Staates  beschritten.  —  Jedenfalls  ist  die 
Entwickelung  der  Genossenschaften  keines- 
wegs als  abgeschlossen  zu  betrachten,  und 
jeder  Tag  zeitigt  neue  Formen,  neue  Er- 
scheinungen. 

Litteratur:  Oierke,  Das  deutsche  Genossm- 
schaftsrecht,  S  Bde.,  Berlin  1868 — 81.  —  Jter" 
selbe,  Die  Genossenschaftstheorie  und  die  deut- 
sche Rechtsprechung,  Berlin  1887.  —  Beseler, 
System  des  gemeinen  deutschen  Privatrechts,  S. 
Aufl.,  Berlin  1878.  —  Maurer,  Geschichte  der 
Dorfverfassung  in  Deutschland,  2  Bde.,  Erlangen 
1866—66.  —  Derselbe,  Geschichte  der  Städte- 
verfassung in  Deutschland,  4  Bde.,  SttUtgart  1870. 
—  Die  ausserordentlich  reichhaltige  LiUeratur 
über  die  historische  Entwickelung  der  einzelnen 
Genossenschaft  siehe  in  dem  erstcitierten  Werke. 

O,  Gross. 


Genovesi,  Antonio, 

geb.  am  1.  XL  1712  zu  Castiglione  bei  Salemo 
m  Italien,  1736  als  Priester  geweiht,  1740 
Professor  der  Metaphysik  an  der  Universität  zu 
Neapel,  1754  Inhaber  des  1753  in  Neapel  er- 
richteten Lehrstuhls  der  politischen  Oekonomie, 
des  ersten  derartigen  in  Italien.  Im  Gegen- 
sätze zu  seinen  in  lateinischer  Sprache  gehal- 
tenen Vorlesungen  über  Metaphysik,  durch  die 
er  sich  als  Eklektiker  und  Anhänger  der  Wolf- 
schen  Philosophie  beim  Erzbischof  von  Neapel 
missliebig  gemacht  hatte,  bediente  er  sich  zu 
seinen  Vorlesungen  seit  1754  der  italienischen 
Sprache.  Genovesi  starb  am  22.  IX.  1769  in 
Neapel. 

Genovesi  ist  der  begabteste  Vertreter  der 
merkantilistischen  Schule  in  It^en.  der  seine 
wirtschaftspolitischeu  Studien  mit  einer  staats- 
philosophischen Behandlung  des  Stoffes  einleitet. 
Der  wichtigste  Faktor  im  Staatsleben  ist  ihm 
der  Mensch;  er  argumentiert,  da  der  Staat  ein 
politischer  Körper  sei,  erheische  es  sein  Erhal- 
tungsinteresse, innerhalb  seiner  politischen 
Grenzen  alle  Mittel,  die  zur  ErhöhuM:  «einer 
Potenz  dienen  können,  auszunutzen.  Zunächst 
habe  der  Staat  daher  für  eine  starke,  der  Aus- 
beutungsfähigkeit der  Bodenkräfte  angpemessene 
intelligente  und  gewerbfleissige  Bevölkerung  zu 
sorgen.  Die  Möfflichkeit  des  einstmaligen  Ein- 
tretens einer  Üebervölkerung  giebt  er  zu. 
Dicht  hinter  dem  Menschen  führt  er  dann  die 
menschliche  Arbeit  als  sicherste  Eeichtums- 
quelle  auf.  Die  Handelsbüanztheorie  wird 
durch  ein  neues  Element  von  ihm  bereichert, 
indem   er   in  ihr  eine   Schutzwehr  der   wirt- 


174 


Genovesi — Gentz 


schaftlichen  Unabhängigkeit  dem  Auslande  ge- 

genüber  erblickt  und  den  Schutzzoll  nur  als 
arantie  für  Aufrechterhaltung  der  inneren 
Yerkehrsfreiheit  und  der  blühenden,  durch 
Prämien  anzuspornenden  Industrie  betrachcet. 
Das  Geld  schätzt  er  als  Cirkulationsmittel,  je 
zahlreicher  die  Hände,  durch  welche  es  geht, 
um  so  schneller  wird  sich  nach  ihm  der  Geld- 
umlauf vollziehen;  er  spricht  femer  von  einer 
Annäherungstendenz  zwischen  dem  Gelde  und 
den  Waren.  Genovesi  bekämpft  die  Humesche 
Theorie  von  dem  öffentlichen  Kredit  hinsicht- 
lich ihrer  missbräuchlichen  Anwendung  zur 
egoistischen  Bereicherung.  Wer  des  Kredits 
bedürftig,  ist  seine  Meinung,  dem  soll  die  Ge- 
legenheit. Geld  aufzunehmen  durch  keine  hem- 
menden 2iin8nehmungs verböte  erschwert  werden ; 
er  bekämpft  femer  die  italienischen  Fideikom- 
misse,  die  ihre  mittelalterliche  Form  erst  mit 
dem  siegreichen  Vordringen  der  französischen 
Revolutionsheere  verlieren  sollten;  er  bekämpft 
auch  die  unwirtschaftliche  Lahmlegung  grosser 
Immobiliarvermögen  seitens  der  toten  Hand. 

^ur  folgende  hierher  gehörige  Schriften 
Genovesis  sind  zu  nennen :  Delle  lezioni  di  com- 
mercio,  o  sia  d'economia  civile.  Neapel  176ö; 
dasselbe,  2.-4.  Neudruck,  Neapel  1748,  1770, 
179Ö;  dasselbe,  2.  Aufl.,  Mailand  1768;  dasselbe, 
3.  Aufl.,  Bassano  1769;  dasselbe,  Neudruck  in 
der  Custodischen  Sammlung  (parte  modema, 
vol.  VII,  VIII,  IX),  Mailand  1803  ff. ;  dasselbe, 
Neudruck  in  Ferrara,  Biblioteca  dell'  Econo- 
mista,  Bd.  III,  1.  Serie,  Turin  18ö2;  dasselbe 
in  deutscher  Uebersetzung  von  A.  Witzmann, 
Leipzig  1776;  dasselbe,  in  spanischer  üeber- 
setzung  von  V.  de  Villalba,  Madrid  178ö; 
dieselbe  in  neuer  Ausgabe,  Madrid  1804.  Opus- 
coli  di  ecouomia  pubblica,  in  der  Custodischen 
Sammlung  (s.  o.)  Bd.  IX,  2.  u.  X.  — 


Vgl.  über  Genovesi :  Galan ti,  Elopo  storico 
di  Sign,  abbato  A.  Genovesi,  Venedig  (1774); 
dasselbe,  3.  Ausg.,  Florenz  1781.  —  Pecchio, 
Histoire  de  Teconomie  polit.  en  Italie,  Paris 
1830,  S.  163/178.  —  Ferrara,  Genovesi,  sua  vita, 
sue  opere  (in  Prefazione  al  vol.  III,  serie  1, 
della  Biblioteca  deir  Economista,  Turin  1852). 
—  Röscher,  System,  Bd.  I,  Stuttgart  1854,  S.  24 
(hinsichtlich  der  von  Genovesi  aufgebrachten 
unpassenden  Bezeichnung  „ecouomia  civile").  — 
Bobba,  Commemorazione  di  Ant.  Genovesi, 
Beneveut  1867.  —  Say  et  Chaillev,  Dictiounaire 
d'^conomie  polit.,  Bd.  I,  Paris  1891,  S.  1003.  — 
H.  d.  St.,  1.  Aufl.,  m,  1892,  S.  811  f.  -  Palgrave, 
Dictionary  of  polit.  economy,  Bd.  II,  London 
1896,  S.  189  f. 

Lippert, 


Gentz,  Friedrich  toh, 

geb.  am  8.  IX.  (nach  seiner  Angabe  2.  V.)  1764 
zu  Breslau,  studierte  in  Königsberg,  trat  1785 
in  den  preussischen  Staatsdienst  und  rückte 
bei  dem  königl.  Generaldirektorium  vom  Ge- 
heimsekretär zum  Kriegsrate  (jetzigem  Hech- 
nungsrate)  auf.  Der  Beginn  seiner  journalisti- 
schen Thätifi^keit  fällt  in  das  Jahr  1790,  wo  er 
mit  G.  N.  Fischer  die  deutsche  Monatsschrift 


(5  Bde.,  Berlin  und  Braunschweig,  Vieweg, 
1790—95,  Neue  Folge,  Leipzig,  Nauck,  1795 
bis  1803)  gründete  und  bis  1795  gemeinschaft- 
lich mit  Fischer,  dann  allein  redigierte.  An- 
fänglich ein  Lobredner,  nach  den  Ereignissen 
von  1792  ein  entschiedener  Geg^ner  der  fran- 
zösischen Revolution,  führte  er  sich  1793  durch 
eine  vortrefflich  stilisiert«  und  von  ihm  kom- 
mentierte Uebersetzung  von  „Burkes  Betrach- 
tungen über  die  französische  Revolution '^  als 
Publizist  in  die  litterarische  Welt  ein,  der  er 
in  kurzer  Aufeinanderfolge  auch  zwei  andere 
Bücher  aus  der  Feder  antirevolutionärer  fran- 
zösischer Schriftsteller  (Mallet  du  Plan  und 
Mounier)  in  deutscher  Uebertragung  vorlegt«. 
Für  den  preussischen  Staatsdienst  galt  Gentz, 
der  bei  der  Thronbesteigung  Friärich  Wil- 
helm III.  in  einem  Sendscnreiben  an  den  König 
(s.  u.)  dem  Wunsche  nach  Steuer ermässigung 
und  Pressfreiheit  für  Preussen  Ausdruck  ge- 
geben, überhaupt  als  abgewirtschaftet ;  mindes- 
tens war  ihm  der  Eintritt  in  die  höhere  Be- 
amtenkarriere fürs  erste  verschlossen.  Im 
April  1802  erfolgte  seine  Berufung  als  kaiser- 
licher Rat  mit  einem  Jahresgehalte  von  4000 
Gulden  nach  Wien.  Gentz  leistete  derselben 
Folge  und  wurde  noch  im  nämlichen  Jahre  ge- 
adelt. Seiner  publizistischen  Thätigkeit  war 
jetzt  im  höheren  Auftrage  Napoleon  verfallen, 
den  er  mit  fulminantem  Pathos  in  den  Regie- 
rungsorganen und  in  Manifesten  bekämpfte. 
Im  preussischen  Hauptquartier,  vor  der  Schlacht 
von  Jena,  entwarf  er  das  erste  Manifest  gegen 
Frankreich  und  ebenso  ist  er  der  Verfasser  der 
Manifeste  Oesterreichs  von  1809  und  von  1813 
gegen  Napoleon.  Nach  dem  Sturze  der  euro- 
päischen Weltherrschaft  Bonapartes  und  des 
damit  erfolgten  Abschlusses  der  französischen 
Revolution,  wurde  Gentz,  seit  1809  Vertrauter 
und  Kabinettsrat  Mettemichs,  ein  fanatischer 
Bekämpfer  aller  liberalisierenden,  dem  Revolu- 
tion sgedanken  nahe  oder  entfernt  verwandten 
Regungen  der  Volksseele  Europas.  Die  auf  dem 
Aachener  Kongress,  dem  er  als  Protokolliührer 
beiwohnte,  gefassten  reaktionären  Beschlüsse 
waren  von  Gentz  in  einer  Metternich  vorher 
überreichten  Denkschrift  in  ihren  Grundzügen 
entworfen,  und  der  Urheber  der  durch  Kotze- 
bues  Ermordung  heraufbeschworenen  Karls- 
bader Beschlüsse  war  weniger  Metternich  als 
sein  Ratgeber  Gentz.  Die  Inscenierunjf  der 
demagogischen  Verfolgungen,  die  Puriflzierung 
der  Universitäten  von  Anhängern  burschen- 
schaftiicher  Tendenzen  besorgten  als  Handlauger 
Mettemichs  fast  lediglich  Gentz  und  sein 
Freund  Adam  Müller,  und  die  Autorschaft  der 
wichtigsten,  den  späteren  Kongressen  zu  Trop- 
pau,  Laibach  und  Verona  aus  Mettemichs 
Kanzlei  vorgelegten  Schriftstücke  kommt  Fried- 
rich von  Gentz  zu,  der  bis  zu  seinem  Tode  als 
Protokollführer  bei  allen  Fürsten-  und  Minister- 
kongressen fungierte.  Er  starb  am  9.  VI.  1832 
in  Wien.  In  nationalökonomischer  Beziehung 
war  Gentz  ein  Smithianer,  soweit  die  politische 
Reaktion  der  Mettemichschen  Aera  der  wirt- 
schaftlichen  Freiheit   Bewegungsraum    gönnte. 

Er  veröflFentlichte  an  sts^tawissenschaft- 
lichen  Schriften  in  Buchform: 

Sr.  kgl.  Majestät  Friedrich  Wilhelm  III., 
bei  der  Thronfolge  allerunterthänigst  überreicht, 
am   16.    XI.   1797,   Berlin   1797.   —   Dasselbe. 


Gentz — George 


■4  ^"  " 


Neuer  wörtlicher  Abdruck  nebst  einem  Vorwort 
über  das  Damals  und  Jetzt  von  einem  Dritten 
geschrieben  am  16.  XI.  1819,  Brüssel,  Frank 
vrecte  Leipzig,  Brockhans)  18^.  —  Politische 
Parodien,  ein  Lesebuch  für  denkende  Staats- 
bürger, Leipzig  1799.  —  üeber  den  ürspmng 
nnd  Charakter  des  Eriejges  gegen  die  franzö- 
sische Revolution,  Berlin  lS)l  (mit  heftigen 
Ausfällen  auf  die  Kriegführung  der  Verbünde- 
ten, die  den  Bevolutionsarmeeen  ihre  Siege  so 
leicht  ^macht).  —  Essai  sur  T^tat  actuel  de 
Tadministration  des  finances  et  de  la  richesse 
nationale  de  la  Grande  Bretagne,  Hamburg 
1801  (Lobrede  auf  das  Pittsche  Kreditsystem). 

—  Ueber  den  politischen  Zustand  von  Europa 
vor  und  während  der  französischen  Revolution, 
2  Hefte,  Berlin  1801—2  (frei  nach  „Hauterive, 
De  r^tet  de  la  France  ä  la  fin  de  l'an  VIÜ.") 

—  De  r^tat  de  TEurope  avant  et  apres  la  Re- 
volution frangaise.  Hamburg  1802.  (Revidierte 
französische  Uebersetzung  des  vorhergehenden.) 

—  Fragmente  aus  der  Geschichte  des  politischen 
Gleichgewichts  in  Europa,  Leipzig  1804, 2.  Aufl., 
ebenda  1806.  (Atmet  einen  glühenden  Patrio- 
tismus, der  zur  Vergleichung  der  Schrift  mit 
„Fichtes  Reden  an  die  deutsche  Nation**  her- 
ausfordert.) —  Authentische  Darstellung  des 
Verhältnisses  zwischen  England  und  Spanien 
vor  und  bei  dem  Ausbruche  des  Krieges,  Riga 
1806.  —  An  die  deutschen  Fürsten  und  an  die 
Deutschen.  1.  Ausgabe,  o.  0.  u.  J.  (1814) ;  2. 
Ausgabe,  Leipzig  1814. 

Gentz  war  für  zahlreiche  Zeitschriften 
thätig,  u.  a.  für  die  Augsburger  All^.  Zeitung, 
die  im  Jahrg.  1818  den  hervorragenden  Artikel 
von  ihm  „üeber  das  österreichische  Geld-  und 
Kreditwesen"  enthält. 

Gesammelte  Schriften:  Veröffent- 
lichungen aus  seinem  Nachlass.  Briefwechsel. 
Ausgewählte  Schriften,  zusammengestellt  von 
W,  Weick,  ö  Bde.,  Stuttgart  und  Leipzig  1836 
bis  1838.  —  Schriften.  Ein  Denkmal  von  G. 
Schlesier,  5  Bde.,  Mannheim  1888-40.  —  Un- 
gedruckte  Denkschriften,  Tagebücher  und  Briefe. 
Herausgegeben  vonG.  Schlesier,  Mannheim  1840. 

—  M^moires  et  lettres  in^dits  de  Chevalier  de 
Gentz,  publ.   par  G.  Schlesier,  Stuttgart  1841. 

—  Oekonomisch-politische  Fragpnente,  aus  Gentz' 
Nachlass  mitgeteilt  von  A.  v.  Prokesch-Osten 
und  abgedruckt  in  der  „Deutschen  Vierteljahrs- 
Schrift"^  Jahrg.  1840,  Heft  3,  S.  73—82,  Stutt- 

Sart  (die  Fragmente  bestehen  aus  zwei  Adam 
[üUers  Geld-  und  Preistheorie  bekämpfenden 
Artikeln:  1)  Die  Wirkung  des  Geldes;  2)  Ueber 
das^  Steigen  der  Preise  in  den  letzten  60  Jahren 
(1770 — lö20).  —  Briefwechsel  zwischen  Gentz  und 
Johannes  v.MüUer,  herausgegeben  vonG.Schlesier, 
Mannheim  1840.  —  Briefwechsel  zwischen  Gentz 
imd  Adam  Müller,  Stuttgart  1857.  —  Aus  dem 
Nachlasse  Friedrich  v.  Gentz\  herausgegeben 
(von  A.  V.  Prokesch-Osten),  2  Bde.,  Wien  1867. 

—  Briefe  von  Gentz  an  Pilat,  herausgegeben 
von  Mendelssohn-Bartholdy ,  2  Bde.,  Leipzig 
1868  (mit  int^essanten  Mitteilungen  über  das 
Verhältnis  von  Gentz  zu  Fanny  Eisner).  (Den 
Briefwechsel  zwischen  Gentz  und  Garvcs.  im  Art 
G  a  r  V  e  oben  S.6.)— Ans  demNachlasse  Varnhagens 
von  Ense:  TajO^ebücher  von  Friedrich  v.  Gentz, 
4  Bde.,  Leipzig  1873—74  (umfassen  die  Jahre 
1820—1826  und  enthalten  u.  a.  auch  Gentz' 
Tagebuch  über  seinen  Aufenthalt  im  preussi- 


schen  Hauptquartier  vor  der  Schlacht  von  Jena). 

—  Depeches  inedits  du  Chevalier  de  Gentz  aux 
Hospodars  de  Valachie  pour  servir  4  Thistoire 
de  la  politique  europ6enne  1813  28,  publi^s  par 
le  comte  Prokesch-Osten  fils,  3  Bde.,  Paris  1876. 

—  Ueber  Papiergeld  Jaus  seinem  Nachlass  ab- 
gedruckt in  Beer,  Die  Finanzen  Oesterreichs 
im  19.  Jahrhundert,  Prag  1877).  —  Zur  Ge- 
schichte der  orientalischen  Frage.  Briefe  aus 
dem  Naclüasse  Friedrichs  von  Gentz,  1823 — 29, 
herausgegeben  von  Prokesch-Osten,  Wien  1877. 

Vgl.  über  Gentz:  Mensel,  Gelehrtes 
Deutschland,  Bd.  IL  IX,  XI,  XIII,  XVII,  XXU, 
Lemgo  1797—1828.  —  Neuer  Nekrolog  der 
Deutschen,  Jahrg.  1832,  Bd.  I,  Hmenau.  — 
Varnhagen  von  Ense,  Gallerie  von  Bildern 
aus  Raheis  Umgang,  Bd.  II,  Leipzig  1836.  — 
V.  Wessenberg,  Fr6deric  de  Gentz,  o.  0.  u. 
J.  (Freiburg  1836?).  —  Varnhagen  von 
Ense,  Bibliographische  Denkmale,  5  Bde., 
Berlin  1845—46.  —  Grenzboten,  Jahrg.  1846, 
Nr.  42,  Leipzig.  —  Er  seh  und  Grub  er,  En- 
cyklopädie,  Sektion  I,  Bd.  &8,  Leipzig  1854,  S. 
324  ff.  —  S  y  b  e  1 ,  Historische  Zeitschrift,  Bd.  I, 
München  1859,  S.  267  ff.,  Bd.  XVIII,  1867,  S. 
182ff.,  Bd.  XXIV,  1869,  S.  431  ff.  —  Schmidt- 
W  e  i  s  s  e  n  f  e  1  s ,  Fr.  v.  Gentz.  Eine  Biographie, 
2  Bde.,  Pragl8ö9.— Josef  Gentz,  Friedrich 
Gentz  und  die  heutige  Politik,  Wien  1861.  — 
Derselbe,  Ueber  die  Tagebücher  von  Fr. 
Gentz,  Wien  1861.  —  Mendelssohn-Bar- 
tholdy, Friedrich  von  Gentz,  ein  Beitrag  zur 
Geschichte  Oesterreichs  im  19.  Jahrhundert, 
Leipzifif  1867.  —  Challemel-Lacour,  Fre- 
denc  de  Gentz  (Revue  de  Deux  Mondes,  J^dirg. 
1868,  Paris,  S.  611-48).  —  Klinkowström, 
Aus  der  alten  Registratur  der  Staatskanzlei, 
Wien  1870.  —  Röscher,  Geschichte  der  Nat., 
S.  598,  756,  765,  767  771,  776,  964,  969.  — 
Neuer  Plutarch,  Bd.  V,  Art.  „Metternich",  von 
Beer,  worin  Gentz*  Verhältnis  zu  Metternich 
eingrehend  erörtert  ist,  Leipzig  1877.  —  Allge- 
meine deutsche  Biographie,  Bd.  VIII,  Leipzig 
1878,  S.  577ff.  —  Fournier^  Gentz  und  Cob- 
lenzl.  Geschichte  der  österreichischen  Diplomatie 
in  den  Jahren  1801—1805,  Wien  1880. 

Lippert, 


George,  Henry, 

geb.  am  2.  IX.  1839  zu  Philadelphia  (Penn- 
sylvania, Amerika),  begann  seine  Laufbahn  als 
Buchdrucker,  ging  Gold  zu  graben  nach  Kali- 
fornien, hatte  kein  Glück  damit  und  arbeitete 
als  Setzer  in  einigen  Zeitungsoffizinen  San 
Franciskos.  1871  gründete  er  das  Journal 
„San  Francisko  Posf^,  1872  das  sozialistische 
Pennyblatt  die  „Evening  Post".  Später  wurde 
er  Gasinspektor  und  dann  Volksbibliotheksvor- 
stand in  SanFrancisko.  George  starb  alsRedakteur 
einer  Arbeiterzeitung  am  29.  X.  1897  in  New- York. 
1885  bei  der  Bürgermeisterwahl  in  New- York, 
wo  er.  als  sozialistischer  Arbeiterkandidat,  von 
dem  Demokraten  Hewitt  geschlagen  wurde, 
vereinigte  er  auf  seine  Person  68  iS)  Stimmen, 
davon  36.5  %  demokratische.  Er  betrachtet  die 
soziale  Frage  nicht  als  Produktions-,  sondern 
als  Verteilungsproblem,  und  seine  sozialistische 


176 


George — Görando 


Grundrententheorie  gipfelt  in  dem  Satze:  Die 
allmähliche  Abschaffung  des  Privatgrundeigen- 
tums muss  durch  Expropriation,  bezw.  Konfis- 
kation der  Grundrente  erreicht  werden;  das 
Privatkapital  dagegen  bleibt  unangetastet.  Als 
Bevölkerungstheoretiker  erklärt  er  das  Malthus- 
sche  Gesetz  für  falsch  und  hält,  in  Anlehnung 
an  eine  Büchner-Careysche  Hypothese,  es  nicht 
für  ausgeschlossen,  dass  aus  den  Gesetzen  der 
Konsistenz  der  Kraft  und  der  Unvergänglich- 
keit  des  Stoffes  die  unbeschränkte  Reproduk- 
tionsfähigkeit des  Menschengeschlechts  sich  er- 
febe.  Als  Lohntheoretiker  verteidigt  er  den 
atz,  dass  der  Lohn  nicht  dem  Kapital  ent- 
nommen, sondern  dass  er  von  dem  unmittel- 
baren Ertrag  der  Arbeit  vorweg  genommen 
werde. 

Er  veröffentlichte  auf  Staatswissenschaft 
bezügliche  Schriften  in  Buchform: 

Our  land  and  land  policy,  San  Francisco 
1871.  —  Progress  and  poverty,  an  inquiry  into 
the  causes  of  industrial  depressions  and  of 
increase  of  want  with  increase  of  wealth:  the 
remedy,  San  Francisco  1879;  —  erlebte  1880 
zwei  in  New- York  erschienene,  1881—84  zehn 
in  London  publizierte  Ausgaben,  darunter  fünf 
Volksausgaben;  dasselbe  deutsch  unter  dem 
Titel:  Fortschritt  und  Armut.  Eine  Unter- 
suchung über  die  Ursachen  der  industriellen 
Krisen  und  die  Zunahme  der  Armut  bei  zu- 
nehmendem Eeichtnm.  Deutsch  von  Gütschow, 
Berlin  1881,  2.-5.  Aufl.  1884—1892;  dasselbe 
in  dänischer  Uebersetzung  (Kopenhagen  188ö) 
und  in  französischer  Uebersetzung  (Paris  1890) ; 
ausserdem  wurde  es  in  noch  6  Sprachen,  darunter 
ins  Chinesische  und  Japanische,  übersetzt.  —  The 
irish  land  question,  New- York  1881,  davon  (1882 
— 83)  4  Londoner  Volksausgaben  ä  3  pence  ver- 
öffentlicht. —  The  land  question :  what  it  involves, 
and  how  alone  it  can  besettled,  New-York  1883 ; 
verschiedene  Neudrucke  meist  in  Volksausg., 
die  letzte  von  1891.  —  Social  problems.  New- 
York  1884;  neue  Ausgaben  London  1884  und 
1887;  dasselbe  in  deutscher  Uebersetzung:  So- 
ziale Probleme,  deutsch  von  F.  Stöpel,  Berlin 
188Ö,  3.  Stereotypausgabe,  1890;  dasselbe  in 
holländischer  Uebersetzung  (Deventer  1884).  — 
Protection  or  free  trade :  Questions  with  regard 
to  labour,  New-York  1886;  neue  Ausgabe 
London  1886  und  1888;  dasselbe  in  französi- 
scher Uebersetzung  (Paris  1888);  dasselbe  in 
deutscher  Uebersetzung:  Schutz-  oder  Frei- 
handel, übersetzt  von  F.  Stöpel,  Berlin  1887 
(Protection  or  free  trade  ist  den  Physiokraten 

fewidmet;  die  Tendenz  des  Buches  ist  Be- 
ämpfung  des  Schutzzollsystems  durch  die 
arbeitenden  Klassen,  Verteidigung  des  produk- 
tiveren Freihandels,  Verbindung  der  Tarif-  mit 
der  sozialen  Frage).  —  Eine  deutsche  Gesamt- 
ausgabe seiner  wichtigsten  Schriften  (Fort- 
schritt u.  Armut;  soziale  Probleme;  Schutz  oder 
Freihandel)  veranstaltet  von  Gütschow  und 
Stöpel  mit  einer  Skizze :  H.  Georges  Leben  und 
Schriften,  erachienen  Berlin  1887. 

Vgl.  über  George:  Taylor,  American 
political  philosuphy:  an  inquiry  as  to  the  re- 
medies  for  social  and  political  evils  proposed  by 
H.  George  and  others,  Columbus  (U.  St.)  1883. 
—  R.  S.  Moffat,  Mr.  H.  George,  the  „ortho- 
dox", an  examination  of  Mr.  Georges  position 


as  a  systematic  economist,  and  a  review  of  the 
competitive  and  socialistic  schools  of  economy, 
London  1885.  —  Ely,  The  labor  movement  in 
America,  New-York  1886.  —  W.  A.  Phillips, 
Labour,  land  and  law,  London  1886,  —  Don- 
neil, A  history  and  criticism  of  the  various 
theories  of  wages  (being  the  Whately  memorial 
prize  essay  for  1887),  Dublin  1888.  (Darin  das 
Kapitel:  Socialist  theories,  Karl  Marx  and  H. 
George.)  —  George  Gunton,  Wealth  and 
progress.  A  critical  examination  of  the  wages 
question  and  its  economic  relation  to  social  re- 
form, London  1888.  —  Stöpel,  Die  soziale 
Frage.  Neue  Ideeen  zur  Lösung  derselben, 
Berlin  1888,  S.  176  und  ff.  —  Cathrein,  The 
Champions  of  agrarian  socialism,  a  refutation  of 
Emile  de  Laveleye  and  H.  George;  trad.  and 
enlarged  by  Heinzle,  Buffalo  1J»9.  —  Henry 
Georges  Agrarsozialismus  in  Deutschland  (Christ- 
lich-soziale Blätter,  Jahrg.  1889,  Heft  21/22.)  — 
Sartorius  von  Waltershausen,  Der 
moderne  Sozialismus  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika,  Berlin  1890.  —  Menger,  Das 
Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag,  2.  Aufl., 
Stuttgart  1891,  S.  147  f.  —  Rose,  The  new 
political  economy,  the  social  teaching  of  Thomas 
Carlyle,  John  Ruskin,  and  Henry  George,  with 
observations  on  Joseph  Mazzini,  London  1891. 
(Die  Kapitel  17  bis  19  handeln  von  H.  George.) 
—  L.  Elster,  Wörterbuch  der  Volkswirtschaft, 
Bd.  I,  S.  396;  Bd.  n,  S.  667. 

Lippert, 


O^rando,  Joseph  Marie, 

geboren  am  20.  IL  1772  zu  Lyon,  kam 
1797,  nach  Beendigung  seiner  philosophischen 
Studien,  nach  Paris,  zeichnete  sich  in  dem 
deutsch-französischen  Feldzuge  aus,  wurde  unter 
dem  I.  Consul  Ministerialsekretär  im  Ministerium 
des  Innern  zu  Paris,  darauf  Regierungsrat  und 
1809  baronisiert.  1837  trat  er  in  fie  Pairs- 
kammer  ein  und  starb  am  18.  XI.  1842,  als 
Mitglied  des  Instituts,  in  Paris. 

Er  veröifentlichte  an  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform:  Le  visiteur  des 
pauvres,  Paris  1820,  4.  Auflage  1828;  dasselbe 
deutsch  mit  Bemerkungen  und  Znsätzen  von 
E.  Schelle,  Quedlinburg  lasi.  --  Tableau  des 
soci^tes  religieases  et  charitables  de  Londres, 
Paris  1824.  —  De  l'education  des  sourds-muets, 
Paris  1827.  —  De  la  bienfaisance  publique, 
trait6  complet  de  l'indigence,  4  Bände,  Paris 
1839.  —  Des  pro^r^s  de  l'indüstrie  dans  leurs 
rapports  avec  le  bien-^tre  physique  et  moral  de 
la  classe  ouvri^re,  Paris  1841  (von  der  Soci^te 
industrielle  zu  Mülhausen  im  Elsass  gekrönte 
Preisschrift),  2.  Aufl.  Paris  1845.  Dasselbe 
deutsch  u.  d.  T. :  Die  Fortschritte  des  Gewerbe- 
fleisses  in  Beziehung  auf  die  Sittlichkeit  des 
Arbeiterstandes.  Mit  einem  Anhange  über  die 
Bildung  kirchlicher  Altersgenossenschaften  von 
K.  Bernhardi,  Cassel  1842.  —  Instituts  du 
droit  administratif  frauf^ais,  ou  el6ments  du  code 
administratif,  2.  Aufl.,  Paris  1842—45.  — 

Von  seinen  philosophischen  Schriften  sind 
noch  zu  erwähnen:  De  la  gen4ration  des  con- 
naissances  humaines,  Paris  1802  (von  der  Ber- 


G^rando — Geschlechtsverhältnis  der  Geborenea  und  Gestorbenen 


177 


liner  Akademie  gekrOnte  Abhandlnng).  ^ 
Histoire  compar^e  des  syst^mes  de  philosophie, 
consideres  relativement  anx  principe»  des  con- 
naissances  humaines,  3  Abteilungen  in  7  Bdn.. 
Paris  1804 — 47.  (Dieises  in  vorstehendem  Titel 
kurz  zusammengezogene  Werk  war  die  schrift- 
stellerische Hanptleistnng  seines  Lebens.  Der 
Abschlnss  der  1.  Abteilung  fällt  in  das  Jahr 
1803,  1822  folgte  die  revidierte  1.  4md  2.  Ab- 
teilung, und  der  bis  zum  Ende  des  18.  Jahr- 
hnuderts  reichende  Scbluss  wurde  1847  aus 
seinem  Nachlass  veröfifentiicht.)  Hieran  schliesst 
sich,  als  Supplement  zur  1.  Abteilung^,  die  auch 
staatswissenschaftlich  wichtige  Periode :  Rapport 
bistorique  sur  les  progr^s  de  la  philosophie  de- 
puis  1789  et  sur  son  etat  actuel,  Paris  1808. 

Vgl.  über  G6rando:—  JulianSchmidt, 
Geschichte  der  franzOs.  Litteratur  seit  der  Re- 
volution 1789,  Bd.  I,  Leipzig  1858,  S.  60.  — 
Nourrisson,  Tableau  des  progr^s  de  la pens^e 
humaine,  2.  Aufl.,  Paris  1859,  S.  522.  —  Say 
et  J.  C  h  a  i  1 1  e  y ,  Nouveau  dictionnaire  d'6cono- 
mie  polit.,  Bd.  I,  Paris  1891,  S.  1104. 

lAppert. 


Geschäftssteiler 

s.  Börsen  Steuer  oben  Bd.  II,  S.  1017  ff. 


GescUechtsTerhftltnis 

der  Geborenen  und  der  Ge- 
storbenen. 

Das  beständige  üebergewicht  der  Knaben 
bei  den  Geburten  (s.  Geburtenstatistik)  ist 
nicht  nur  eine  Erscheinung  von  hervor- 
ragender biologischer  und  demographischer 
Bedeutung,  sondern  gewinnt  auch  noch  ein 
besonderes  methodologisches  Interesse,  weil 
es  das  befriedigendste  bisher  bekannte  Bei- 
spiel für  die  Anwendbarkeit  der  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung auf  bevölkenmgsstatisti- 
sche  Beobachtungen  darbietet.  Die  That- 
sache  selbst  wurde  zuerst  von  Graunt  wissen- 
schaftlich konstatiert :  er  fand,  dass  in  Lon- 
don in  den  Jahren  1628—1662  auf  139782 
Knaben  130866  Mädchen  geboren  worden 
waren,  was  einem  Geschlechtsverhältnis  von 
1068  :  1000  entspricht,  während  dasselbe 
gegenwärtig  für  London  nur  etwa  1040 :  1000 
beträgt.  Graunt  setzt  es  nmd  gleich  14  :  13, 
für  die  Landgemeinden  aber,  aus  denen 
ihm  Beobachtungen  vorlagen,  auf  16  :  15, 
doch  hütet  er  sich  vor  einer  damals  noch 
nicht  berechtigten  Verallgemeinenmg  und 
giebt  zu,  dass  vielleicht  in  anderen  Öegen- 
den  die  Mädchengebiulen  vorwalten  und 
somit  eine  Ausgleichung  des  gefundenen 
Knaben  Überschusses  entstehen  könnte.  Süss- 
milch  dagegen  war  schon  im  stände,  auf 
Gnmd  seiner  zahlreichen  Tabellen  den  Satz 
allgemein  auszusprechen,  dass  «im  grossen 
allezeit  und  überall  20  Töchter  gegen  21 


Söhne  geboren  würden«.  Schon  die  beiden 
Bernouilli,  Nikolaus  und  Daniel,  betrachte- 
ten diese  Erscheinung  vom  Standpunkte  der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung ,  namentlich 
aber  wurde  sie  von  Laplace  und  später  von 
Poisson  als  Beispiel  der  Anwendung  wich- 
tiger Sätze  der  Wahrscheinlichkeitstheorie 
verwertet.  Man  begann  aber  auch  bald, 
sich  mit  der  physiologischen  Erklärung 
dieser  merkwürdigen  Regelmässigkeit  zu 
beschäftigen.  Süssmilch  begnügte  sich  mit 
der  Annahme,  dass  »von  dem  aUerweisesten 
Schöpfer  eine  Präexistenz  aDer  Samen  an- 
geordnet sei«.  Ihres  theologischen  Gewan- 
des entkleidet,  würde  diese  Ansicht  im 
wesentlichen  darauf  hinauslaufen,  dass  schon 
in  den  unbefruchteten  Keimen  das  Geschlecht 
bestimmt  sei  und  zwar  in  dem  Verhältnisse, 
wie  es  sich  bei  den  Geburten  ergebe.  Für 
diese  Hypothese  lassen  sich  einige  Beobach- 
tungen an  niederen  Tieren  anführen,  und 
viele  Gynäkologen  neigen  sich  ihr  auch  in 
der  neuesten  Zeit  zu.  Sie  giebt  allerdings 
keinen  Aufschluss  über  die  letzte  Ursadie 
der  Erscheinung,  aber  sie  ist  keineswegs 
nichtssagend,  denn  sie  führt  die  beobachtete 
Regelmässigkeit  auf  eine  bei  jeder  Konzep- 
tion gleichartig  wirksame  einheitliche  Grund- 
thatsache  zurück  und  schliesst  somit  die 
Erklärungen  aus,  welche  das  Geschlechts- 
verhältnis der  Geborenen  aus  Ursachen  ab- 
leiten, die  erst  nach  der  Konzeption  ein- 
treten oder  überhaupt  auf  die  einzelnen  ge- 
bärenden Individuen  in  verschiedener 
Art  einwirken. 

Solche  Erklärungen  sind  in  grosser  Zahl 
versucht  worden.  Vielen  Anklang  hat  die  schon 
1828  von  Hofacker  und  1830  von  Sadler  aus 
sehr  unzulän&flichem  Materiale  abgeleitete  Hypo- 
these gefunden,  nach  welcher  die  Altersver- 
schiedenheit der  Eltern  von  wesentlichem  Ein- 
fluss  auf  das  Geschlecht  der  Geborenen  sein 
soll,  indem  bei  überwiegendem  Alter  des  Vaters 
mehr  Knaben,  anderenfalls  aber  mehr  Mädchen 
geboren  würden.  Göhlert,  Legoyt,  Boulenger 
traten  dieser  Ansicht  bei,  Noirot  und  Breslau 
verwarfen  sie,  aber  Verteidiger  wie  Gegner 
stutzten  sich  auf  Zahlen,  die  nicht  ^oss  genug 
waren,  um  eine  einigermassen  sichere  Ent- 
scheidung zu  geben.  Ein  reichlicheres  Material 
boten  dann  die  elsass-lothringische  und  die  nor- 
wegische Statistik,  das  von  W.  Stieda,  L.  Franke, 
M.  Schumann  zu  erneuten  Untersuchungen  der 
Frage  benutzt  wurde,  wobei  sich  ergab,  dass 
die  Hofacker-Sadlersche  Hypothese  unhaltbar 
sei.  Stieda  fand  auch,  dass  das  absolute  Alter 
der  Eltern  keinen  wesentlichen  Einfluss  auf 
die  Geschlechtsbestimmung  ausübe,  und  das  von 
vielen  nach  kleinen  Beobachtungszahlen  be- 
hauptete stärkere  Vorherrschen  des  männlichen 
Geschlechtes  bei  Erstgeburten  erwies  sich  eben- 
falls als  nicht  zutreffend.  Ungenügend  sta- 
tistisch begründet  ist  auch  die  von  Ploss  auf- 
gestellte und  in  der  neuesten  Zeit  von  anderen 
wieder  aufgenommene  Hypothese,  nach  w^elcher 
die  Entscheidung  des  Geschlechtes  während  der 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.     Zweite  Auflage.    IV. 


12 


178 


Geschleclitsverhältiiis  der  Geborenen  und  Gestorbenen 


Schwangerschaft  von    den  Ernährnngsverhält- 
nissen   der   Matter   abhängen    soll,    und   das 
gleiche  gilt  von  der  Ansicht  Thurys,  dass  die 
grössere  oder  geringere  Eeife  des  Eies  für  die 
Bestimmung  des  Geschlechtes  massgebend  sei. 
In  der  neuesten  Zeit  hat  man  in  mehrfacher 
■  Art  die  Erzeugungsfähi^keit   des  Vaters   und 
der  Mutter  als  den  entscheidenden  Faktor  auf- 
zustellen   versucht.     Nach    Richarz    liegt   der 
Schwerpunkt  des  Zengungsprozesses  im  weib- 
lichen Organismus,  und  es  entsteht  ein  Knahe, 
wenn    die   mütterliche   Leistungsfähigkeit   be- 
sonders hoch  ist,  weil  das  männliche  Geschlecht 
die  höchste  Stufe  der  Entwickelung  darstellt. 
Bei  schwacher  Erzeugungskraft  der  Mutter  da- 
gegen wird  die  Frucht  weiblich,  und  es  spielt 
also  nach  dieser  Ansicht  die  direkte  Vererbung 
bei  der  Geschlechtsbestimmung   keine  Bolle. 
Dagegen  glaubte  Schumann  ans  seinen  statisti- 
schen Untersuchungen  schliessen  zu  dürfen,  dass 
je  grösser  die  sexuelle  Befähigung  der  Erzeuger, 
desto  grösser  der  Einfluss  derselben  sei,  S&ss 
daher  beide  Eltern  in  den  mittleren  Jahren  die 
stärkste  Einwirkung  auf  die  Geschlechtsbestim- 
mung ausüben;  indes  soll  die  Vererbungsfähig- 
keit des  mütterlichen  Geschlechts  weit  weniger 
deutlich  hervortreten   als  die  des  väterlichen. 
Eollmann    andererseits    gelangt    aus    dem    in 
Elsass-Loth ringen ,  Norwegen,   Oldenburg  und 
der  Stadt  Berlin  gewonnenen  Materiale  zu  dem 
Schlüsse,  dass  nur  das  Alter  des  Vaters  von 
Einfluss  sei,  und  zwar  insofern,  als  sowohl  im 
jugendlichen  wie  im  vorgerückteren  Alter  des- 
selben der  Knabenüberschuss   grösser  sei.    Er 
sieht   darin   eine    Bestätigung    der    Ansichten 
Düsings,  der  namentlich  aus  den  Abfohlungs- 
resultaten  in  den  preussischen  Landesgestüten 
den   Satz   abgeleitet    hat,    dass    je    mehr    der 
männliche  Teil  geschlechtlich  in  Anspruch  ge- 
nommen  wird,   um   so   mehr   männliche   Indi- 
viduen erzeugt  werden.    Düsing  stützte  sich  in 
seiner  letzten  Zusammenstellung  auf  ungefähr 
1200000  Beobachtungen,  die  nach  der  Zahl  der 
von  jedem  Hengste  jährlich  gedeckten  Stuten 
in  sieben  Klassen  geteilt  waren,  von  denen  jede 
also   noch   hinlänglich   gross   war.    Hatte    der 
Hengst  60  und  mehr  Stuten  gedeckt,  so  stellte 
sich  das  Geschlechts  Verhältnis  auf  1012,  mit  der 
abnehmenden  Zahl  der  Deckungen  ging  es  mehr 
und  mehr  zurück  und  bei  20 — 34  Deckungen 
betrug  es  nur  957.    Mit  diesem  Satze  Düsings 
scheint  auch  die  von  Janke  mitgeteilte  Methode 
des  amerikanischen  Viehzüchters  Fiquet  zur  Be- 
stimmung des  Geschlechtes  der  Rinder  vereinbar. 
Um  ein  Stierkalb  zu  erhalten,  Hess  Fiquet  die 
Kuh  reichlich  ernähren  und  erst  bei  dem  zweiten 
Rindern  zum  Stiere  zu,  der  Stier  aber  wurde 
massig  genährt  und  seine  Geschlechtslnst  herab- 
gestimmt, was  insbesondere  durch  wiederholtes 
anderweitiges  Zulassen  zum  Springen  geschehen 
kann.     Düsing    sowohl    wie    Fiquet    sehen   in 
dieser  Regelung  derGesohlechtsbestimmung  auch 
eine  in  der  Natur  wirkende  Tendenz  zur  Wieder- 
herstellung des  zerstörten  Gleichgewichts.    In- 
des ist  nicht  recht  abzusehen,  wie  diese  Kompen- 
sationstendenz sich  in  der  menschlichen  Ehe, 
aus  der  doch  im  allgemeinen  mehr  als  90%  der 
Geborenen  hervorgehen,  Geltung  verschaffen  soll. 
Sind  im  Kriege  viele  junge  Männer  zu  Grunde 
gegangen,    so   bleibt    eine   grössere   Zahl   von 
Mädchen  unverheiratet,  aber  deswegen  werden 


doch   in   der   gesitteten   Gesellschaft  die  ver- 
heirateten Männer  nicht   stärker  in  Anspruch 
genommen.    Statistisch  ist  die  Kompensations^ 
tendenz  keineswegs  mit  genügender  Sicherheit 
nachgewiesen.    Das  von  Ä.  v.  Oettingen  ange- 
führte Beispiel  Frankreichs,    wo  in  und   un- 
mittelbar nach   der  Kriegsperiode  zu   Anfang 
dieses  Jahrhunderts   das   G^schlechtsverhältnis 
auf  1068  und  1066  stand,  während  es  1826—30 
auf  durchschnittlich  1059,8  gesunken  war,  ist 
nicht  ausreichend,  denn  in  der  Periode  1831 — ^35 
stieg  die  Verhältniszahl  wieder  auf  1065,  und 
dann    ging   sie   bis    in   die   neueste   Zeit   im 
ganzen,  wenn  auch  langsam,  immer  mehr  zurück, 
ohne  dass  die  Kriegs  jähre  1870/71  einen  Unter- 
schied in  dieser  Bewegung  gemacht  hätten.    In 
diesen  beiden  Jahren  zusammen  erlitt  Frank- 
reich  über   die   normale   Sterblichkeit    hinaus 
einen  Verlust  von  ungefähr  3ÖOO0O  männlichen 
und   160000  weiblichen  Personen.    Gleichwohl 
stellte  sich  das  Geschlechtsverhältnis  der  (lebend) 
Geborenen,  das  1866  noch  1053  betragen  hatte, 
1872  nur  auf  1048,8  und  1873  auf  1050,3;  es 
sank  dann  noch  weiter  bis  1042,4  im  Jahre  1882. 
Auch  machte  sich  nach  dem  Kriege  keineswegs 
eine  erheblich  gesteigerte  Vermehrungstendenz 
bemerklich,  obwohl  diese  gerade  in  Frankreich 
bei   dem   stark   verbreiteten  Zweikindersystem 
nach  einer  Periode  grosser  Kindersterblichkeit 
zu  erwarten  gewesen  wäre.    Die  Geburtenzahl 
von  1867  (1007765)  wurde  mit  Berücksichtigung 
von  Elsass-Lothriugen  nur  in  den  Jahren  1872 
und  1876  um  je   16—17000  überschritten,  im 
übrigen  aber  zeigte  sich  eine  fortschreitende  Ab- 
nahme der  Fruchtbai'keit.  —  In  seiner  neuesten 
Schrift   hat   Düsing    das   Geschlechtsverhältnis 
der  Geborenen   in   Preussen   einer  besonderen 
eingehenden    Untersuchung     unterzogen     und 
manche   interessante,    für  Preussen  unzweifel- 
haft richtige  Thatsachen  konstatiert.    Ob  sich 
aus  diesen  aber  allgemein  geltende  Sätze  ab^ 
leiten  lassen,  wird  nur  durch  ähnliche  Einzel- 
untersuchuugen  für  eine  grössere  Anzahl  anderer 
Länder  entschieden  werden  können.   Düsing  hat 
bei    seinen    Berechnungen   des   Geschlechtsver- 
hältnisses auch  stets  den  wahrscheinlichen  Fehler 
angegeben,  wodurch  die  Beurteilung  der  Trag- 
weite   seiner    Resultate   wesentlich    erleichtert 
wird.     Im    allgemeinen    aber   wird    eine   noch 
weitergehende  Anwendung  der  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung erforderlich  sein,  wenn  man  über 
das  vorliegende  schwierige  Proljlem  zu  einiger 
Klarheit  gelangen  will. 

Poisfton  hat  bei  seinen  Untersuchungen 
ohne  weit^eres  angenommen,  dass  eine  kon- 
stante Wahrscheinlichkeit  der  Knabengebiirt 
den  beobachteten  Vorhältnissen  der  Zalil  der 
männlichen  (m)  zu  der  Gesamtzalü  der  Ge- 
burten (g)  zu  Grunde  liege.  Wenn  dies 
aber  wirklich  der  Fall  ist,  so  muss  sich 
dies  unmittelbar  aus  der  Art  erkennen 
lassen,  wie  sich  eine  grössere  Anzahl  von 
beobachteten  Einzelwerten  jenes  Verhält- 
nisses (z.  B.  für  eine  Reihe  von  Jahren) 
um  ihren  Mittelwert  gruppieren.  Jeder 
dieser  Einzehverte  vi,  V2,  vs  etc.  stellt  einen 
empirischen,  mit  einem  grösseren  o<.ler  ge- 
ringeren Fehler  behafteten  Ausdruck  der 
unbekannten  konstanten  Wahrscheinlichkeit 


Geschlechtsverhältnis  der  Geborenen  und  Gestorbenen 


179 


dar,  filr  welche  wir  deren  wahrschein- 
lichsten Wert,  nämlich  das  arithmetische 
Mittel  V  aus  jenen  empirischen  Eiuzelwerteu 
annehmen  dürfen.  Die  Verteilung  der  Ein- 
zelwerte um  den  Mittelwert  hängt  nun 
wesentlicli  von  der  Grösse  g  ab,  die  wir 
die  Gnmdzahl  dieser  Verhältnisse  nennen 
wollen.  Dieselbe  muss  in  allen  Einzelwer- 
ten, wenn  diesen  gleiches  Gewicht  zuge- 
sclirieben  werden  soll,  wenigstens  annähernd 
gleich  sein.  Die  Eiuzelwerte  drängen  sich 
um  so  dichter,  und  zwar  symmetrisch,  um 
den  Mittelwert  zusammen,  je  gi-össer  die 
(THindzahl  ist,  was  aber  nicht  ausschliesst, 
dass  einige  doch  sehr  beträchtlich  vom 
Mittel  abweichen  können.  Die  specielle 
Formel  zur  Charakteristik  des  Genauigkeits- 
grades oder  der  Präcision  der  beobach- 
teten Einzelwerte  mit  der  Grundzahl  g  ist 

-rv-v --;. ---^,  imd  diesen  der  Wurzel  aus  g 
y2v(l — v) 

proportionalen  Ausdruck  wollen  wir  mit  h 
bezeichnen.  Derselbe  dient  zugleich  zur 
Darstellung  des  wahrscheinlichen  Felüers  r, 
d.  h.  derjenigen  Abweichung  von  dem  wahr- 
scheinlichsten Werte  v,  die  nach  der  posi- 
tiven wie  nach  der  negativen  Seite  hin 
ebenso  oft  nicht  erreicht  wie  überschritten 
winl.  Es  ist  nämlich  r  — -  e'h  (wo  (>  die 
Konstante  0,4769),  also  umgekehrt  propor- 
tional der  Präcision.  Hat  man  nun  eine  ge- 
nügend grosse  Zahl  von  beobachteten  Ein- 
zelwerten mit  annähernd  gleichen  Grund- 
zahlen, so  müssen  diese  Werte,  wenn  sie 
wirklich  empirische  Ausdrücke  einer  kon- 
stanten Wahrscheinlichkeit  v  sind,  sich  sym- 
metrisch so  um  V  gruppieren,  dass  an- 
nähernd gleich  viele  von  v  bis  v  -[-  r  und 
von  V  bis  v  —  r  und  ebenso  viele  auch  Ober 
V  +  r  und  v  —  r  hinaus  fallen.  Die 
Theorie  bestimmt  aber  die  Art  dieser  sym- 
metrischen Verteilung  noch  genauer:  ist  x 
irgend  ein  Abstand  von  v  und  Ax  ein 
kleiner  Zuwuchs  von  x,  so  ist  die  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  ein  mit  der  Präcision  h 
iKiobachteter  Einzelwert  zwischen  die  Genzen 

h2x2 
X  und  X  +  Ax  falle,  gleich  0,564  e 
hAx  (wo  e  =  2,71828).  Hiernach  kann 
mau  nun  auch  die  Wahrscheinlichkeit  be- 
rechnen, dass  ein  Einzelwert  zwischen  be- 
liebige Grenzen  x  und  y  falle,  und  bei  ge- 
nügend grosser  Anzahl  von  gegebenen  Ein- 
zelwerten muss  die  wirkliche  Verteilung 
annähernd  dieser  Walirscheinliclikeit  ent- 
sprechen, wenn  überhaupt  diesen  Einzel- 
werten eine  gleiche  konstante  Wahrschein- 
lichkeit V  zu  Grunde  liegt. 

Ich  habe  schon  in  einer  1876  erschienenen 
Abhandlung  gezeigt,  dass  dies  in  der  That  hin- 
sichtlich der  beobachteten  Verhältnisse  der 
Knaben^eburten  zu  der  Gesamtzahl  der  Ge- 
borten m  einem  bestimmten  Zeitabschnitte  und 


Beobachtete  Fälle 

Theorie 

+ 

+  u.  ~ 

ii6,5 

119,5 

119,5 

158 

155 

157,5 

46 

41 

42 

7 

5 

4,5 

für  bestimmte  Gebiete  zutrifft.  Will  man  statt 
dieses  Verhältnisses  als  Beobachtungsgrösse 
lieber  wie  oben  die  Zahl  z  der  Knabengeburten 
auf  1000  Mädchengebnrten  nehmen  [z  =  1000  v/ 
(1 — v)],  so  mnss  man  den  obigen  Ausdruck  von 
h  mit  0,001  (1 — v)*  multiplizieren  und  den  von 
r  durch  eben  diese  Grösse  dividieren.  So  wurden 
u.  a.  für  die  24  Monate  der  Jahre  1868  und 
1869  und  für  27  Beobachtungsgebiete  in  Preussen 
(die  teils  ans  ganzen  Regierungsbezirken  be- 
standen, teils  ans  2  oder  3  Bezirken  zusammen- 
gesetzt waren)  im  ganzen  648  Einzelwerte  für 
das  Geschlechtsverhältnis  z  berechnet.  Als  wahr- 
scheinlichsten Wert  des  zu  Grunde  liegenden 
konstauten  Verhältnisses  ergab  sich  aus  der 
Gesamtheit  der  Beobachtungen  für  den  ganzen 
Staat  1063.  Die  beobachtete  und  die  theoretische 
Verteilung  auf  die  verschiedenen  Stufen  der  Ab- 
weichungen von  diesem  Mittelwerte  war: 

Abweichung 

{±) 
0—19,5 

19,5—59,5 

59,5—99,5 

über  99,5 

Die  symmetrischeVerteilung  der  beobachteten 
Fälle  tritt  deutlich  hervor,  und  auch  im  einzelnen 
ist  die  Uebereinstimmung  mit  der  Theorie  be- 
friedigend. £s  zei^t  sich  aber  hier,  dass  selbst 
bei  einer  durchschnittlichen  Grundzahl  von  etwa 
2500  Geburten  das  Geschlechtsverhältnis  immer- 
hin in  8  bis  9  Prozent  der  Fälle  unter  1000 
sinken,  also  einen  Ueberschnss  von  Mädchen- 
geburten aufweisen  kann,  ohne  dass  deshalb 
das  Vorhandensein  der  konstanten  Wahrschein- 
lichkeit 0,515  einer  Knabengeburt  (entsprechend 
dem  Werte  z  =  10(53)  zweifelhaft  wird.  Anderer- 
seits ist  es  mit  dieser  konstanten  Wahrschein- 
lichkeit auch  vereinbar,  dass  ein  ebenso  grosser 
Prozentsatz  von  Fällen  über  1120  hinausgeht. 
Bei  Grundzahlen  von  etwa  600  sind  in  der- 
selben Häufigkeit  mehr  als  doppelt  so  grosse 
Abweichungen  vom  Mittel  nach  beiden  Seiten 
hin  zu  erwarten.  Man  sieht  hieraus,  dass  aus 
der  Vergleichung  einzelner  Verhältniszahlen, 
die  aus  je  500  bis  1000  Fällen  abgeleitet  sind, 
sich  Überhaupt  keinerlei  berechtigte  Schlüsse 
ziehen  lassen.  Die  obige  Methode  zur  Beant^ 
wortung  der  Frage,  ob  einer  beobachteten  Ver- 
hältniszahl wirklich  eine  konstante  Wahrschein- 
lichkeit zu  Grunde  liegt,  setzt  voraus,  dass 
eine  grosse  Anzahl  von  Einzelwerten  des  Ver- 
hältnisses gegeben  sei,  und  ist  daher  nicht 
leicht  anwendbar.  Ich  habe  aber  in  der  er- 
wähnten Abhandlung  ein  anderes  Verfahren  an- 
gegeben, bei  dem  schon  14 — 15  Einzelwerte  von 
annähernd  gleichem  Gewicht  zur  Entscheidung 

J'ener  Frage  genügen.  Der  wahrscheinliche 
Tehler  ^oder  auch  die  Präcision)  jeder  mit  rein 
zufälligen  Fehlern  behafteten  Beobachtungs- 
grösse lässt  sich  nämlich  aus  verhältnismässig 
wenigen  Einzelwerten  mit  genügender  An- 
näherung nach  der  Methode  der  kleinsten 
Quadrate  bestimmen.  Ist  das  aus  der  konstanten 
Wahrscheinlichkeit  einer  Knabengeburt  (v)  her- 
vorgehende typische  Geschlechtsverhältnis  =  z, 
werden  die  n  beobachteten  Einzelwerte  mit  z,, 
Z2,  Zs  etc.  und  die  (positiven  oder  negativen) 
Differenzen  Zj — z,  Z2 — z,  Zj— z  etc.  mit  ^1,  ^2, 

12* 


180 


Geschlechtsverhältnis  der  Geborenen  und  Gestorbenen 


^8  etc.   bezeichnet,   so  ist  unter  der  Voraus- 
setzung bloss  zufälliger  Störungen  die  wahr- 


scheinliche Abweichung  r  =  +  ^ 


V- 


2  [d^ 


n— 1 


wo  [^]  die  Summe  der  Quadrate  aller  Differenzen 
^  darstellt.  Dieser  Ausdruck  für  r  wird  also 
unmittelbar  aus  den  BeobachtungsgrÖssen  ge- 
wonnen, ohne  alle  Rücksicht  auf  die  besondere 
Natur  derselben.  Der  nach  der  ersten  Methode 
bestimmte  Wert  von  r  dagegen  ist  abgeleitet 
aus  der  Voraussetzung,  dass  v  eine  konstante 
Wahrscheinlichkeit  darstelle,  die  analog  ist  dem 
Verhältnis  der  Zahl  der  schwarzen  Kugeln  zu 
der  Summe  der  schwarzen  und  weissen  Engeln 
in  einer  Urne.  Stimmen  also  diese  beiden  Werte 
von  r  mit  einander  annähernd  überein,  d.  h.  ist 
annähernd 


^  y  n~i  =  (i-v)«  y 


2v  (1— v) 
» 


so  wird  dadurch  angezeigt,  dass  nicht  nur  die 
Grössen  Zi,  z«,  Zg  etc.  lediglich  zufällige  Ab- 
weichungen von  einem  konstanten  Werte  z 
aufweisen,  sondern  zugleich,  dass  diese  Ab- 
weichungen der  Art  sind,  wie  sie  auftreten, 
wenn  an  einer  Urne,  die  schwarze  Kugeln  in 
einem  der  Wahrscheinlichkeit  v  einer  Knaben- 
' gehurt  entsprechenden  Verhältnis  zur  Gesamt- 
zahl der  Kugeln  enthält,  n  Versuchsreihen  von 
g  Zügen  (mit  jedesmaliger  Zurücklegung  der 
gezogenen  Kugel)  vorgenommen  werden.  Die 
nahe  üebereinstimmung  jener  beiden  Werte 
von  V  habe  ich  für  so  zahlreiche  Fälle  aus  ver- 
schiedenen Ländern  nachgewiesen,  dass  sie  als 
allgemeine  Regel  aufgestellt  werden  darf.  Nimmt 
man  als  BeobachtungsgrÖssen  nicht  Zi,  z«  etc., 
sondern  unmittelbar  die  empirischen  Wahr- 
scheinlichkeiten einer  Knabengeburt,  Vj,  Vg,  Vj 
etc.,  so  sind  unter  d\,  d«  etc.  die  Differenzen  Vi — v, 
Vg-v  etc.  zu  verstehen,  und  in   dem  anderen 

1000 
Ausdruck  fällt  dann  der   Faktor  7i  ~  \2  weg. 

Durch  Beseitigung  der  Wurzeln  und  der  ge- 
meinschaftlichen Faktoren  wird  dann  die  obige 
GleichuDg  einfach  [(^^Kn — 1)  =  v(l— v)/g.  Durch 
ihre  Erfüllung  wird  also  bewiesen,  dass  sich 
die  beobachteten  Wahrscheinlichkeiten  einer 
Knabengeburt  hinsichtlich  ihrer  Abweichungen 
vom  Mittel  ebenso  verhalten  wie  die  Ergebnisse 
der  einzelnen  Versuchsreihe  eines  entsprechend 
eingerichteten  Glücksspiels  an  einer  Urne.  H. 
Westergaard  hat  in  seiner  Theorie  der  Statistik 
diese  Thatsache  in  der  Art  nachgewiesen,  dass 
er  zeigte,  dass  die  Zahl  der  Einzel  werte,  die 
in  eine  Reihe  von  immer  grösser  angenommenen 
Spielräumen  zu  beiden  Seiten  des  Mittels  fallen, 
annähernd  mit  der  theoretischen  Verteilung 
übereinstimmt,  wenn  auch  nur  eine  massige 
Angabe  solcher  Einzelwerte  (z.  B.  19)  gegeben 
ist.  Noch  eingehender  aber  ist  die  Üeberein- 
stimmung der  Ergebnisse  der  Geschlechts- 
bestimmung mit  denjenigen  eines  Glücksspiels 
von  Geissler  dargethan  worden,  der  aus  dem 
Beobachtungsmaterial  der  sächsischen  Statistik 
nachgewiesen  hat,  dass  bei  der  gesonderten 
Untersuchung  der  Ehen  mit  2,  3,  4  etc.  Kindern 
die  Geschlechtdkombinationen  in  jeder  dieser 
Gruppe  annähernd  den  theoretischen  Wahr- 
scheinlichkeiten   entsprechen.     Ist    die   Wahr- 


scheinlichkeit einer  Ejiabengeburt  v  konstant 
=  0,5148,  so  sind  z.  B.  in  der  Gruppe  der 
(148903)  Ehen  mit  4  Kindern  die  theoretischen 
Wahrscheinlichkeiten  für  die  Kombinationen 
4  K.,  3  K.  1  M.,  2  K.  2  M,  1  K.  3  M.,  4  M.: 
0,0702;  0,2648;  0,3743;  0,2352;  0,0554,  während 
die  Beobachtung  ergab:  0,0714;  0,2613;  0,3763; 
0,2331;  0,0580.  Bei  den  223328  beobachteten 
Fällen  von  Erstgeburt  ergab  sich  für  die  Ejiaben 
nicht  nur  keine  höhere,  sondern  eine  geringere 
Wahrscheinlichkeit  (0,5132)  als  die  durchschnitt- 
liche, und  im  allgemeinen  zeigte  sich  in  den 
sehr  fruchtbaren  Ehen  (mit  8  und  mehr  Kindern) 
eine  fortschreitende  erhebliche  Zunahme  der 
Knabengeburten.  Dies  ist  aber  nur  dadurch 
möglich,  dass  für  diese  Ehen  die  Analogie  der 
Geschlechtsbestimmung  mit  den  Ergebnissen 
eines  Glücksspiels  bei  konstanter  Wahr- 
scheinlichkeit weniger  genau  zutrifft.  Wenn 
sich  diese  Erscheinung  bei  weiterer  Unter- 
suchung als  beständig  erweist,  so  wird  man 
für  fruchtbare  und  weniger  fruchtbare  Ehen 
besondere  Werte  des  Geschlechtsverhältnissea 
annehmen  müssen.  Wenn  aber  zugleich  das 
Zahlenverhältnis  dieser  Arten  von  Ehen  unter 
sich  annähernd  konstant  bleibt,  so  wird  man 
doch  wieder  für  das  ganze  Land  eine  feste 
Totalwahrscheinlichkeit  einer  Knabengeburt  an- 
nehmen dürfen,  von  welcher  die  ebenfalls  für 
das  ganze  Land  bestimmten  Einzelwerte  wieder 
nur  in  den  Verhältnissen  des  Glücksspiels  ent- 
sprechenden Grenzen  abweichen  würden.  Das- 
selbe gilt  für  den  Fall,  dass  der  Einfluss  der 
Ernährung,  der  geschlechtlichen  Anstrengung 
oder  anderer  in  Frage  stehender  Umstände 
sicher  nachgewiesen  werden  sollte,  was  der 
Fall  sein  würde,  wenn  für  je  15—20  Versuchs- 
reihen unter  besonders  bestimmten  Umständen 
bei  verschieden  angenommenen  Wahrscheinlich- 
keiten sich  die  annähernde  Gleichheit  der  nach 
den  beiden  obigen  Methoden  berechneten  wahr- 
scheinlichen Fehler  ergäbe.  Für  einige  Klassen 
von  Fällen  lassen  sich  solche  besondere  Wahr- 
scheinlichkeiten mit  normaler  „Dispersion"  der 
Einzelwerte  mit  genügender  Sicherheit  nach- 
weisen. So  finden  wir  in  den  meisten  Ländern 
bei  den  unehelichen  Geburten  einen  erheblich 
geringeren  Knabenüberschuss  als  bei  den  ehe- 
lichen, und  dieser  Unterschied  ist  nicht  zufäll  iff, 
sondern  specifisch,  weil  die  besondere  Behand- 
lung von  15  —20  Einzel  werten  dieses  Geschlechts- 
verhältnisses für  diese  Länder  das  Vorhanden- 
sein einer  besonderen  typischen  relativen  Wahr- 
scheinlichkeit einer  unehelichen  Knabengeburt 
ergiebt.  In  Belgien  z.  B.  findet  man  im  Durch- 
schnitte aus  den  Beobachtungen  der  Jahre 
1841—1860  als  wahrscheinlichstes  Geschlechts- 
verhältnis bei  den  unehelichen  1034,  mit  Schwan- 
kungen zwischen  1003  und  1075,  bei  einer  durch- 
schnittlichen Grundzahl  von  10902.  Nach  der 
ersten  Methode  ergiebt  sich  die  (dem  wahr- 
scheinlichen Fehler  umgekehrt  proportionale) 
Präcision  gleich  0,0357,  nach  der  zweiten  gleich 
0,0372,  und  diese  nahe  üebereinstimmung  zeigt, 
dass  1034  einen  selbständigen  typischen  Wert 
darstellt.  Für  die  Totgeborenen,  unter  denen 
das  männliche  Geschlecht  um  25-30  und  mehr 
Prozent  überwiegt,  ergiebt  sich  ebenfalls  ein 
besonderes  typisches  Geschlechtsverhältnis  mit 
normaler  Dispersion,  und  dasselbe  unterscheidet 
sich  bemerkenswerterweise  nur  wenig  von  dem 


Geschlechtsverhältnis  der  Greborenen  und  Gestorbenen 


181 


ebenfalls  typischen  Geschlechtsyerhältnisse  der 
Gestorbenen  in  den  beiden  ersten  Alters- 
monaten. 

Was  überhaupt  das  Geschlechtsverhältnis 
der  Gestorbenen  betrifft,  so  müsste  es  bei 
völlig  stationärer  Bevölkerung  für  die  Ge- 
samtheit aller  Gestorbenen  eines  Jahres  na- 
türlich gleich  dem  der  Geborenen  sein.  Da 
aber  in  Wirklichkeit  die  Bevölkenmg  im 
allgemeinen  zunimmt,  daher  die  untersten 
Altersstufen  relativ  stärker  besetzt  siod  als 
bei  stationäi-em  Zustande,  in  diesen  aber 
die  Sterblichkeit  des  männlichen  Geschlechts 
bedeutend  vorwaltet,  so  ist  das  Geschlechts- 
verhältnis der  Gestorbenen  meistens  grösser 
als  das  der  Geborenen  und  erreicht  1070 
bis  1080,  während  jenes  nur  1050—1060 
beträgt.  Doch  kann  diese  Ei-scheinung  durch 
einen  bedeutenden  üeberschuss  der  leben- 
den weiblichen  Bevölkerung  verdeckt  wer- 
den. In  den  einzelnen  Altersklassen  aber 
zeigt  sich  eine  ausserordentlich  grosse  Ver- 
schiedenheit der  Sterblichkeitsverhältriisse 
der  beiden  Geschlechter;  in  einigen  haben 
die  männlichen  Gestorbenen ,  in  anderen 
aber  die  weiblichen  ein  entscliiedenes  üeber- 
gewucht,  und  dabei  sind  bei  1 5 — 20  Jahres- 
ergebnissen die  Abweichungen  vom  Mittel- 
werte weit  grosser,  als  es  nach  der  Theorie 
beim  Vorhandensein  einer  typischen  Wahr- 
scheinlichkeit zu  erwarten  wäi*e,  d.  h.  der 
wirkliche  wahrscheinliche  Feliler  r,.  wie 
er  sich  nach  der  zweiten  Methode  berech- 
net, ist  oft  3—4  mal  grösser  als  das  nach 
der  ersten  Methode  bestimmte  theoretische 
r,.  Nur  in  den  untersten  und  zuweilen 
auch  in  den  höchsten  Altersstufen  zeigt 
sich  eine  annähernde  Uebereinstimmung 
zwischen  r,  und  r,,  so  dass  also  in  diesen 
Lebensphasen,  in  denen  hauptsächlich  rein 
physiologische  Bedingungen  lür  die  Sterb- 
lichkeit massgebend  sind,  das  Geschlechts- 
verhältnis der  Gestorbenen  typische  Werte 
und  normale  Dispersion  aufweist. 

In  Belgien  betrug  dasselbe  z.  B.  nach  den 
Beobachtungen  aus  den  Jahren  1841-  1860  bei 
den  Totgeborenen  1348  (mit  Ti  =  23,6  und  r« 
=  23,4),  bei  den  Gestorbenen  im  Alter  von 
0—1  Monat  13ö9  (mit  r,  =  22.1  und  rg  =  18,5), 
im  Alter  von  1—2  Monaten  13Ö3  (mit  ri  =  37,l 
und  Ta  =  42,4),  im  Alter  von  2-3  Monaten 
1253  (mit  ri  =  40,8  und  r«  =  36.2),  im  Alter 
von  2—3  Jahren  990  (mit  r,  =  22,1  und  r«  = 
23,7),  dagegen  im  Alter  von  50-— öö  Jahren 
1124  mit  Ti  =  24,2  und  r«  =  104,4,  während 
in  der  Alteraklasse  von  80-  85  bei  einem  Mittel- 
wert« von  866  die  Dispersion  wieder  nahezu 
normal  wird,  indem  man  ri  =  19,5  nnd  r»  = 
24,5  findet.  Ueber  die  Bedeutung  der  bei  dem 
Geschlechtsverhältnisse  der  Geborenen  und  ge- 
wisser Altersklassen  der  Gestorbenen  erscheinen- 
den normalen  Dispersion  s.  d.  Art.  Gesetz.  — 
W.  Kammann  hat  in  einer  Göttinger  Disser- 
tation (1900)  gezeigt,  dass  das  Geschlechtsver- 
hältnis der  Gestorbenen  in  den  ersten  Lebens- 


jahren auch  in  Preussen  und  Holland  annähernd 
die  der  normalen  Dispersion  entsprechende 
maximale  Stabilität  besitzt,  und  ferner,  dass 
dies  auch  für  das  Geschlechtsverhältnis  der 
einer  bestimmten  Generation  angehörenden 
Uebe riebenden  am  Ende  der  ersten  Lebens- 
jahre gilt,  jedoch  nicht  mit  demjenigen  wahr- 
scheinlichen Fehler,  der  sich  aus  der  Kombination 
der  als  unabhängig  von  einander  betrachteten 
Geschlechtsverhältnisse  der  Geborenen  und  der 
in  den  ersten  Altersklassen  Gestorbenen  ergiebt, 
sondern  mit  einem  kleineren,  so  dass  also 
das  Geschlechtsverhältnis  der  Ueberlebenden  in 
dieser  Periode  eine  selbständige  Tendenz  zur 
Stabilität  besitzt. 

Litteratar :  Wappäus,  BevölkerungutalUtik  IT, 
S.   166 ff.  —  A,  V.    OeUingen,   Moralstatütik, 

I.  Aufl,,  S.  S81 — S5Sf  wo  sich  auch  viele  An- 
gaben über  die  äUere  Litteratur  finden.  —  W. 
Stieda,  Das  SexualverhäUnis  der  Geborenen, 
Strassburg  1875  (Heft  V  der  Stat.  MiUeilungen 
über  Elsass'Lothringen).  —  Ijejcis,  Das  Ge- 
schUchtsverhältnis  der  Geborenen  und  die  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung,  Jahrb.  f.  yat.-Oek.  und 
Stat.,  Bd.  XXVII  (1876),  S.  209  ff.  —  Derselbe, 
Zur  Theorie  der  Massenerscheinungen  in  der 
menschlichen  Gesellschaft,  8.  64  ^.,  Freiburg  1877, 
-—  Derselbe,  Ueber  die  Theorie  der  Stabilität 
statistischer  Reihen,  Jahrb.  f.  Not.  und  Stat. 
XXXII  (1879),  S.  60  ff.  ■—  Eimeluntersuchungen 
in  folgenden  Freiburger  Dissertationen :  F,  Stark, 
Ueber  das  Geschlechtsverhältnis  der  Geborenen 
bei  unehelichen  Geburten  und  Totgeburten  (1877)  ; 
M.  Oetgel,  Die  Stabilität  des  Geschlechts- 
verhältnisses der  Gestorbenen  (1880);  Q,  Herrl, 
Ueber  die  Stahilität  des  Geschlechtsverhältnisses 
bei  Mehrlingsgeburten  (I884).  —  Prancke,  Ein- 
fluss  des  Alters  der  Eltern  etc.,  Jahrb.  f.  Nat. 
und  Stat.  XXIX  (1877)  S.  180,  XXX  S.  180.  — 
Richarz,  Ueber  Zeugung  und  Vererbung,  Bonn 
1880.  —  flanke.  Die  Vorau^bestimmung  des 
Geschlechtes  beim   Binde,   2.  Aufl.,  Berlin  1881. 

—  Derselbe,  Die  willkürliche  Ilervorbring^tng 
de^  Geschlechtes  bei  Menschen  und  Haustieren,  Ber- 
lin und  Leipzig  1887.  —  Düsingf  Die  Regu- 
lierung des  Geschlechtsverhältnisses  bei  der  Ver- 
mehrung der  Metischen,  Tiere  und  Pflanzen,  Jena 
I884.  —  Derselbe,  Die  Regulierung  des  Ge- 
schlechtsverhältnisses bei  den  I^erden,  in  Thiels 
nLandwirtschaftlichen  Jahrb. n,  Jahrg.  1887,  S. 
699 ff.  und  Jahrg.  1888,  S.  S7Sff.  —  Det*selbe, 
Das  Gcschlechtsrerhältnis  der  Geburten  in 
Preussen  (Staatsw.  Studien,  hgg.  v.  Elster,  III. 
Bd.  6.  Heß),  Jena  1890.  —  Schumann,  Die 
Sexttalproportion  der  Geborenen,  Oldenburg  1888. 

—  Geissler,  Beiträge  zur  Frage  des  Geschlechts- 
verhältnisses der  Geborenen,  Zeitschr.  des  kgl. 
sächsischen  statistischen  Bureaus,  XXXV  (1889), 
Heft  I  u.  II.  —  Derselbe,  Zur  Kenntnis  des 
Geschlechtsverhältnisses  bei  Mehrlingsgeburten, 
in  v.  Mayrs  Allg.  Stat.  Archiv,    1896,    S.  587  ff'. 

—  V.  Mayr,    Statistik   und    Gesellschaftslehre, 

II.  Bevölkerungsstatistik,  Freib.  i.  B.  1897,  S. 
186  ff.,  wo  sich  auch  noch  weitere  Liiteraturan- 
gahen  finden.  —  Westergnard,  Grundzüge  der 
Theorie  der  Statistik,  Jena  1890,  S.  89.  — 
Kolltnann,  Einfluss  des  Alters  der  Eltern  auf 
das  Geschlecht  der  Geborenen,  Allg.  Stat.  Archiv, 
Jahrg.  1890,  S.  417 ff.  —  Derselbe,  Statistische 
Nachrichten  über  das  Gross  her  zogtum  Oldenburg, 


182  Gescldechtsverhältiiis  der  Geborenen  und  Gestorbenen — Gesellenverbände  (Deutschland) 


Hefi  XXII,  Oldenburg  1890,  S,  88  ff.  —  Lehr, 
ZeiUchr,  /.  Staatsw,  1889,  S.  172  ff.  ti.  S.  524  ff. 
—  Rauher,  Der  üebersrhuss  der  Knabenge- 
burten,  Leipzig  1900.  Lends. 


Gesellenverbände. 

I.  Die  G.  in  Deutschland  (S.  182).  II.  Die 
G.  in  Frankreich  (S.  194). 

I. 

Die  Gesellenyerbände  in  Deutschland. 

1,  Einleitung.  2.  Brüderschaft  und  Ge- 
öellenschaft.  3.  I)ie  äussere  Organisation  des 
Gesellenverbandes.  4.  Die  sozialpolitische  Be- 
deutung des  Gesellenverbandes.  6.  Die  Gesellen- 
verbände unter  sich.  6.  Kampfmittel  der  Ver- 
bände. 7.  Der  geschichtliche  Verlauf.  Die  Ge- 
setzgebung. 

1.  Einleitung.  Das  mittelalterliche 
Handwerk  hätte  im  Verlaufe  eines  langen 
Werdeganges  nicht  ohne  heftige  Kämpfe 
eine  bestimmtere  Gestaltung  gefunden,  aas 
Gewerbewesen  fing  an  sich  zu  festigen,  imd 
technisch-wirtschaftliche  Fortschritte  übten 
ihren  bedeutungsvollen  Einfluss  aus.  Die 
Zeit  der  Zunftbildung  war  vorüber,  die 
zwei  Gruppen  der  Meister  liier,  der  Lehr- 
kiiechte  und  Knechte  dort  begannen  sich 
schärfer  zu  scheiden.  Dieser  Vorgang 
führte  indes  noch  nicht  zu  heftigen  Zu- 
sammenstössen.  Solange  das  Dienst-  und 
HeiTScliaf tsverhält nis ,  worin  die  Ai'beiter 
sich  befanden,  nur  ein  zeitlich  begrenzter 
Abschnitt,  ein  Uebergang  und  Durchgangs- 
punkt zur  Selbständigkeit  des  Meistertums 
war,  solange  blieb  dem  Zustande  der  patriar- 
chalische Charakter  gewahrt.  Die  straffe 
Untei-ordnung  unter  den  Lehrherru  imd 
Meister,  die  Eingliederung  des  Knechtes  in 
den  häuslichen  und  ökonomischen  Organis- 
mus des  Meisterhaushalts,  die  strenge  Zucht 
des  Brotherrn  und  paterfamilias  entsprachen 
der  Sachlage.  Mit  den  Rechten  dieser 
Muntschaft  waren  die  PfUchten  der  sorg- 
samen Erziehung,  des  thatkräftigen  Schutzes, 
der  Fürsorge  für  die  Zeiten  der  Dürftigkeit 
und  der  Krankheit  innig  verknüpft.  Die 
soziale .  Differenzierung  auf  dieser  Stufe 
kennt  zwar  gesellschaftliche  Unterschiede, 
aber  sie  hat  sich  noch  nicht  zu  schroffen 
Gegensätzen  zugespitzt.  Jedeunoch  in  dem 
Augenblicke,  in  dem  die  Thatsache  der  eben 
gekennzeichneten  Scheidung  sich  feststellen 
lässt,  ist  auch  der  Gesellenstand  ins  Dasein 
getreten.  Und  daraus  ergeben  sich  folge- 
richtig die  Interessenkonflikte,  die  in  der 
mittelalterlichen  Gesellenbewegung  das  Leit- 
niotiv  bilden,  nicht  auf  einmal,  nicht  plötz- 
lich, sondern  in  dem  engst(»n  Zusammenliange 
mit    der    gesamten    wirtschaftlichen    Ent- 


wickelmig.  Man  könnte  die  Geschichte  des 
Handwerks  in  zwei  grosse  Abschnitte  teilen, 
in  die  Periode  der  Auseinandersetzung  mit 
den  bisher  bevorrechteten  sozialen  Schichten 
und  in  die  Periode  des  Klassenkampfes  im 
Handwerke  selber.  Die  zwtnte  Periode  ist 
es,  die  hier  in  Betracht  kommt.  So  be- 
wundernswert auch  die  Blüte  ist,  der  wir 
Eingangs  der  neuen  Epoche  begegnen,  die 
offenbaren  Merkzeichen  des  Niederganges 
treten  trotzdem  hervor,  eines  nach  dem 
anderen.  Die  ersten  Spuren  der  Entartung 
erscheinen  bereits  an  der  Schwelle  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts.  Dass  dies  so  kommen 
musste,  war  ein  Ergebnis  der  materiellen 
Produktionsverhältnisse,  die  allmählich  sich 
umgestalteten  und  aus  der  feudalen  in  die 
bürgerliche  Wirtschaftsweise  Schritt  vor 
Schritt  hinüberdrängten.  Die  reiche  Zufuhr 
von  Arbeitskräften,  die  das  platte  Land  den 
städtischen  Bezirken  lieferte,  bot  die  leichte 
Gelegenheit,  die  urväterische  Betriebsweise 
zu  .ändern,  den  feineren  und  mannigfal- 
tigeren Bedürfnissen  anzupassen  und  durch 
Erweiterung  der  gewerklichen  Thätigkeit 
den  raschen  Aufschwung  noch  zu  beschleu- 
nigen, der  die  Handwerksmeister  bereicherte 
und  sie  von  der  alten  üeberlieferung,  der 
ursprünglichen  Sitte  und  Lebensführung  nach 
und  nach  loslöste.  Die  relative  üeberschuss- 
bevölkerung,  die  sich  je  nach  dem  Stande 
der  Kultur  in  den  städtischen  Gemein- 
wesen des  deutschen  Mittelalters  vom  drei- 
zehnten bis  zum  sechzehnten  Jahrhundert 
geltend  gemacht  hat,  wirkte  auf  die  Mass- 
regeln der  Hand  werkspolitik.  Das  Menschen- 
material, das  in  dieser  Üeberbevölkerung 
zur  Verfügung  stand,  wnirde  nach  Bedarf 
benutzt,  aber  der  bisherige  Gang  der  Dinge 
wuixle  gestört.  In  demselben  Masse,  in 
dem  sich  die  Wohlständigkeit  der  Hand- 
werker hob,  ihre  Machtstellung  im  öffent- 
lichen Leben  sich  stärkte,  sei  es,  dass  sie, 
wie  an  so  vielen  Orten  ausgangs  des  vier- 
zehnten Jahi'himderts,  die  Zügel  des  Ge- 
meinwesens ganz  in  die  Hand  bekamen, 
sei  es,  dass  sie  unmittelber  oder  mittelbar 
kraft  ihrer  Position  einen  Anteil  am  Stadt- 
regimente  erhielten:  in  demselben  Masse 
wuchs  auch  die  Neigung,  die  Erfolge  dau- 
ernd zu  sichern,  die  mit  schweren  Opfern, 
häufig  mit  dem  Schwerte  in  der  Faust  imd 
—  Seite  an  Seite  mit  den  schlagfertigen 
Knechten  erstritten  worden  waren.  Die 
Privilegien  der  Geschlechter  waren  zer- 
trümmert oder  erschüttert  worden,  damit 
eine  Handwerkeraristx)kratie  sich  neue  Privi- 
legien schaffen  konnte.  Kein  Wunder,  dass 
die  rücksichtsloseste  Interessenwirtschaft 
geil  ins  Kraut  schoss.  Das  konnte  nur 
auf  Kosten  der  Gesellen  geschehen.  Sie  so- 
lange wie  möglich  auszunutzen  und  ihnen 
den  Weg   zum  Meistertum  mit  allen  denk- 


Üesellenverbände  (Deutschland) 


183 


baren  Hindernissen  zu  versperren,  die  Ge- 
sellenschaft für  einen  stetig  wachsenden  Pro- 
zentsatz der  Arbeiter  aus  einem  blossen 
üebergangsstadium  in  den  dauernden  Zu- 
gtand umzuwandeln,  das  war  die  Losung  in 
jenen  Tagen.  Durch  die  chikanösesten  Be- 
stimmungen erschweile  man  den  Zutritt 
zmn  Gewerbe,  so  dass  ganze  Bevölkerungs- 
gruppen davon  ausgeschlossen  waren,  man 
begünstigte  bis  zum  Nepotismus  die  Meister- 
kinder, man  bereitete  den  ausserhalb  der 
Zunft  Geborenen  bei  der  Amtsgewinnung 
die  erheblichsten  Schwierigkeiten.  Man 
führte  als  Hilfsmittel  gegen  den  Zudrang 
Aussenstehender  die  Vorschrift  des  kost- 
spieligen, zeitraubenden  Meisterstückes  durch, 
die  bei^its  in  der  zweiten  Hälfte  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts  allgemein  wird.  Der 
Zunftschluss  fixiert  die  Zahl  der  Gewerbe- 
betriebe und  raubt  zahlreichen  Gesellen  die 
Möglichkeit,  einmal  selbständig  zu  werden. 
Die  Wanderpflicht,  die  seit  dem  fünfzehnten 
Jahrhimdert  eine  zu  Nutz  und  Frommen 
der  Meister  ausgebeutete  Einrichtung  wird, 
die  Mutjahre,  die  den  Erwerb  der  Meister- 
schaft an  eine  lange  Wartezeit  binden,  alle 
diese  Bestimmungen  dienen  dazu,  der  üeber- 
setzung  der  Gewerke,  dem  drohenden  Wett- 
bewerbe vorzubeugen,  den  Nalirungsspiel- 
raum  zu  Gunsten  einer  begrenzten  Zahl  Be- 
vorrechteter einzuengen.  Dazu  kommt,  dass 
eine  Keihe  von  Gewerken,  die  eine  höhere 
Durchschnittsrate  der  Betriebsmittel  er- 
heischen imd  mehr  und  mehr  der  manu- 
fakturmässigen  Produktionsform  sich  zu- 
wenden, von  vom  herein  mit  einem  Bestände 
an  Arbeitskräften,  die  stets  Arbeiter  bleuten 
oder  höchstens  hausindustriell  angewendete 
Meister  im  Dienste  des  Kaufmannskapitals 
werden,  zu  rechnen  haben.  Die  sozialpoli- 
tische Umwälzung  musste  die  Beziehungen 
zwischen  Meister  und  Gesellen  von  Grund 
aus  umgestalten;  das  alte  Verhältnis  hatte 
sich  überlebt.  Die  Meister,  durch  eine  sich 
fortwährend  er\\'eitemde  Kluft  von  üiren 
Arbeitern  getrennt,  suchten  die  veralteten 
Formen  festzuhalten,  obwohl  der  Inhalt  ein 
anderer  geworden  war.  Es  lag  ihnen  da- 
ran, die  Vorteile  des  früheren  Zustandes 
zu  konservieren,  die  Botmässigkeit  ül)er 
die  Knechte  sich  zu  sichern,  ohne  die 
einstigen  Verpflichtungen  weiter  zu  er- 
füllen. Der  Kontrast  zwischen  sonst 
und  jetzt  war  ein  schreiender:  An- 
wender und  Angewendete  gingen  nicht 
mehr  miteinander,  sie  standen  sich  als  zwei 
voneinander  getrennte  soziale  Gruppen  ge- 
genüber. Die  Interessengemeinscliaft  Ih?- 
stand  nicht  mehr,  der  Interessenwiderstreit 
trat  an  ihre  Stelle,  und  es  versteht  sich, 
dass  auf  den  Druck  ein  Gegendnick  erfolgte. 
Hochfahrend  und  hart  verfuhren  die  Meister 
mit  den  Gesellen.    Die  Arbeitslast,   die  auf 


diesen  ruhte,  ward  schwerer,  die  Hoffnung, 
an  ihrem  Herfle  als  eigene  Herren  zu  sitzen, 
schwand  für  viele.  Schroff  wies  man  die 
daseinsfrohe  Jugend  aus  den  festlichen  Zu- 
sammenkünften der  sich  vornehm  abschlies- 
senden Ai'beitsheiren.  Aber  die  Furcht  vor 
Zetteleien  duldete  auch  nicht,  dass  die  Ge- 
sellen auf  eigene  Faust  in  eigener  Ge- 
nossame  sich  ergötzten.  Das  Leben  freud- 
los, die  Aussicht  auf  bessere  Verhältnisse 
gering,  die  Mühe  ums  tägliche  Brot  nicht 
klein,  die  Ausbeutung  der  Knechte  peinlich 
und  verbitternd,  Lohndrückerei,  Lotterkredit, 
Truck,  Lehrlingszüchterei  durchaus  nichts 
Seltenes,  der  Kechtsschutz  nur  zu  oft 
mangelliaft,  ungenügend,  häufig  eine  Posse. 
Denn  was  verschlug  es  dem  Meister,  wenn 
der  Geselle,  der  bei  der  Zunft  sein  Recht 
nicht  gefunden,  bei  einem  Rat  Berufung 
einlegte,  >  der  selbst  nur  die  Exekutive  der 
Zünfte  war?  Die  Willkür  der  Meister  fand 
hier  und  da  ein  Hemmnis,  wo  die  alte  Ehr- 
barkeit die  Regierung  innehatte.  Das  Patri- 
ciat  spielte  wohl  dann  und  wann,  um  (üe 
Handwerke  nieilerzuhalten ,  die  Gesellen 
gegen  die  Meister  aus  und  hielt  die  einen 
(lurch  die  anderen  in  Schach.  Allein  auf 
die  Dauer  war  dieser  Zustand  niclit  halt- 
l)ar.  Die  ökonomische  Entwickelung,  die 
in  dem  organisierten  Handwerke  die  Ver- 
einigung der  Meister  geschaffen  hatte,  er- 
zeugte auf  dem  Gegenpol  den  Zusammen- 
schluss  der  Knechte.  So  ist  der  Gesellen- 
verband nur  die  naturwüchsige  Rückwir- 
kung der  mittelalterlichen  Arbeiter  auf  die 
Klassenselbstsucht  der  Handwerksmeister, 
deren  Bund  in  seinem  Schosse  bereits  die 
Gesellengilde  trägt.  Die  Gesellenbewegung 
auf  grösserer  Stufenleiter  nimmt  ihren  An- 
fang im  vierzehnten  Jahrhimdert. 

2.  Bruderschalt  und  Gesellenschaft 
Die  Trägerin  des  mittelalterlichen  Lebens 
ist  die  Genossenschaft.  Die  Zugehörigkeit 
zu  einer  Korporation  war  eine  soziale  Not- 
wendigkeit, der  einzelne  erschien  als  Glied 
einer  solchen  Vereinigung  erst  an  seinem 
richtigen  Platze,  das  Individuum  war  der 
Vertreter,  die  Verkörperung  des  genossen- 
schaftlichen Gedankens.  Aus  dem  wirt- 
schaftlichen und  sozialen  Grunde  der  Asso- 
ciation erwächst  die  Einzelpersönlichkeit. 
Die  ersten  Ansätze  der  GeseUenorganisation 
finden  sich  in  der  kirchlichen  GeseUen- 
brildei-schaft.  Ursprünglich  ist  diese  Form 
der  Vereinigung  das  Mittel  zur  gemein- 
schaftlichen Bemedigung  religiöser  Bedürf- 
nisse einerseits,  der  Kranken-  und  Armen- 
pflege der  Genossen  andererseits.  Die  Kirche 
begünstigte  die  Stiftung  von  Brüderschaften ; 
der  Glanz  und  die  ]&cht  des  geistlichen 
Wesens  wurden  gleicherweise  dadurch  ge- 
hoben. Die  kräftigen  Fäuste  der  Gesellen 
mochten  der  Geistliclikeit,  die  mit  den  öffent- 


184 


Gesellenverbände  (Deutschland) 


liehen  Gewalten  so  oft  um  ihre  Vorrechte 
stritt  und  brauchbare  Bundesgenossen  gerne 
willkommen  hiess,  nützlich  erscheinen,  und 
die  Errichtung  von  Kapellen,  die  Geschenke 
für  den  Kirchenschatz,  Altartücher,  Leuchter, 
Messgewänder,  die  Vermächtnisse  zu  Guns- 
ten der  Brüderschaft,  die  wirkungsvollen 
Aufzüge  der  mit  prächtigen  Kerzen  und 
Bannern  in  der  Prozession  einherschreiten- 
den  Gesellen  waren  für  den  Klerus  nicht 
zu  verachten.  Die  Sorge  für  die  erkrank- 
ten und  in  Not  geratenen  Gesellen  war 
gleichfalls  eine  Aufgabe  der  Brüderschaft 
Man  lieh  dem  Bedürftigen  Geld,  man  unter- 
hielt im  Spital  oder  beim  Wirte  Betten  zur 
Aufnahme  der  Erkrankten.  Stirbt  ein  Ge- 
selle, so  tragen  ihn  die  Genossen  zu  Grabe, 
lassen  ihm  eine  »singende  Seelmesse«  hal- 
ten und  alle  Wochen  auf  der  Kanzel  seiner 
im  Gebete  gedenken.  Der  Beitritts-  und 
Beitragszwang  war  für  die  Gesellen  selbst- 
verständliche Vorschrift.  Die  Meister,  die 
die  karitative  Thätigkeit  der  Brüderschaft 
von  der  Fürsorge  fÄ  die  Knechte  befreite, 
hatten  gegen  die  Einrichtung  nichts  einzu- 
wenden, solange  sie  in  den  Grenzen  eines 
religiösen  ünterstützungsvereins  sich  be- 
wegte. Aber  das  Misstrauen,  das  vielleicht 
von  Anfang  rege  gewesen  war,  —  sind  doch, 
worauf  Schanz  in  seinem  gnmdlegenden 
Buche  über  die  GeseUenverbände  hinweist, 
die  Stiftungsurkunden  auf  Widerruf  des 
Eates  oder  der  Zunft  bestätigt  — ,  blieb 
nicht  ohne  Grund  lebendig,  dass  die  kirch- 
liche Organisationsform  die  Coulisse  bildete, 
hinter  der  weltliche  Bestrebungen  sich  ent- 
wickelten. Nach  und  nach  ging  die  alte 
Brüderschaft  in  einen  weltlichen  Verband 
über,  oder  die  ursprüngKchen  Zwecke  ti^aten 
zurück  hinter  der  Tendenz,  die  Interessen- 

ß)litik  der  Gesellen  kräftig  zu  verfechten, 
ie  Einkünfte  der  Brüderschaft  wurden 
auch  für  die  geselligen  und  gewerkschaft- 
lichen Angelegenheiten  verwendet  die  Zu- 
sammenkünfte dienten  nicht  bloss  auferbau- 
lichen,  sondern  auch  wirtschaftspolitischen 
Angelegenheiten.  Die  Gerichtsl)ai*keit  und 
die  Strafgewalt,  für  die  eng  abgesteckten 
Kreise  kirchlicher  \md  ethischer  A\ifgaben 
bewilligt,  wurden  ein  Mittel,  um  die  Mannes- 
zucht, den  Gehorsam  im  Dienste  des  Ver- 
bandes, die  Solidarität  in  der  Verfolgung 
geraeinsamer  Ziele  zu  schaffen  und  zu 
stützen.  So  mündeten  zahlreiche  Bnlder- 
schaften  in  Berufsverbände  der  Gesellen 
aus.  Doch  neben  dieser  Art  der  EntAvicke- 
lung  gab  es  noch  an<lere  Bildung-sformen. 
Man  findet  GeseUenverbände  weltlicher  Na- 
tiu",  die  von  Anfang  an  als  solche  ins  Leben 
getreten  sind.  Man  begegnet  der  weltlichen 
Vereinigung  neben  der  kirclilichen  Brüder- 
schaft, OS  erscheinen  Doppolgenossenschaften, 
die,    tkih  fester,    teils  lockerer  miteinander 


verbunden,  zusammenbestehen,  kirchliche 
und  weltliche  Aufgaben  nebeneinander 
lösend,  bald  mit  denselben,  bald  mit  ver- 
schiedenen Oberen,  bald  mit  einem,  bald 
mit  getrenntem  Säckel.  Die  Grenzlinien 
sind  nicht  scharf  gezogen,  sie  verschwimmen, 
und  in  vielen  Fällen  tritt  eine  Mischung 
der  Funktionen,  eine  Verschmelzung  beider 
Richtungen  ein.  Der  Gnmdgedanke  jedoch, 
der  sich,  ein  roter  Faden,  durch  die  Ent- 
wickelung  des  Gesellenwesens  zieht,  die 
genossenschaftliche  Interessenvertretung,hebt 
sich  schärfer  und  schärfer  hervor,  die  reli- 
giöse Hülle  wird  mehr  und  mehr  ab- 
gestreift, das  Wesen  der  Kampforganisation 
zu  Schutz  und  Trutz,  in  Freud  und  Leid, 
daheim  und  in  der  Fremde,  zeigt  sich  kraft- 
voll und  unverhüllt  Mag  die  kirchliche 
Brüderschaft  sich  fortbilden  zxa  Gesellen- 
schaft, mag  eine  Doppelgenossenschaft  vor- 
handen sem,  die  früher  oder  später  den 
Hauptaccent  auf  die  sozialpolitischen  Fragen 
legt,  mag  der  weltliche  Gesellenverband 
daß  ursprüngliche  sein,  die  Bedeutung  der 
Vereinigung  liegt  auf  ökonomischem  Ge- 
biete. Der  äussere  Anstoss  zur  Gründung 
von  Verbänden  kam  von  den  verschieden- 
sten Seiten.  Dass  er  Erfolg  hatte,  war  die 
einfache  Konsequenz  der  herrschenden  Zu- 
stände. Das  soziale  Bedürfnis  war  vorhan- 
den, und  so  wui-de  es  befriedigt.  In  der 
Mehrzahl  sicherlich  spontan,  bisweilen  je- 
doch von  oben  her,  aus  gewerbepolizeilichen 
Beweggründen  oder  als  Handlung  politischer 
Klugheit,  um  den  der  Ehrbarkeit  feind- 
lichen Zünften  ein  Paroli  zu  biegen.  Es 
ist  unmöglich,  die  bunte  Fülle  der  Asso- 
ciationen in  eine  bestimmte  Schablone  hin- 
einzuzwängen, es  geht  nicht  an,  dieselbe 
Art  der  Entstehung  für  sie  alle  anzunehmen. 
Je  nach  den  Verhältnissen  überwiegt  hier 
die  eine,  dort  die  andere  Form.  Sicherlich 
ist  die  ursprüngliche  Brüderschaft,  der 
öfters  auch  Frauen  und  ausserhalb  des  Ge- 
werks  Stehende  angehört  haben,  die  um- 
fassendere Organisation  gewesen.  Indes  je 
kräftiger  der  Gesellenstand  sich  entfaltete, 
je  energischer  er  seine  Ziele  verfolgte,  desto 
leichter  wurden  die  fremden  Elemente  ab- 
gestossen,  die  zusammengehörigen  desto 
inniger  miteinander  verbunden.  Die  letzte 
Erinnerung  an  die  ehemalige  Wirksamkeit 
ist  dann  nur  noch  der  Name  und  ein  Rest 
von  Aeusserlichkeiten,  die  den  Kern  nicht 
berühren.  Die  Reformation  machte  reinen 
Tisch  mit  den  kirchlichen  Rückständen,  und 
der  Eifer  der  Handwerksmeister  und  Räte, 
die  Gosellenbrüderschaften  abzustellen,  rich- 
tet sich  in  Wahrheit  vor  allem  gegen  den 
weltlichen  Inhalt  in  der  religiösen  Form, 
gegen  die  Emancipationsversuche  der  Ge- 
sollen. Die  Gesellschaft,  der  gewerkliche 
Verband   trat   nun   desto   offenkundiger  in 


Gesellenverbände  (Deutschland) 


185 


n 


die  Erscheinung,  nachdem  die  kirchlichen 
Bestandteile  ausschieden  waren.  Dies  ist 
der  FaU  auch  m  den  Bezirken,  die  der 
Protestautismus  nicht  ergriffen  hat,  der  beste 
Beweis  dafür,  dass  wir  es  mit  einer  grossen 
wirtschaftlichen  Erscheinung  zu  thim  haben. 
In  Städten  mit  gemischter  Bevölkerung 
finden  sich  (wie  in  Augsburg)  manchmal 
konfessionelle  Verbände  nebeneinander,  die 
aber  hinsichtlich  ihrer  Interessen  gemein- 
sam agierten.  Was  nicht  hindert,  dass  in 
einigen  katholisch  gebliebenen  Städten  ein 
Rückschlag  eintrat,  eine  Zurückbildung  der 
(Jesellenverbände  in  rein  kirchliche  Korpo- 
rationen. Ein  Fall  von  sozialem  Atavismus, 
wie  er  in  der  Wirtschaftsgeschichte  ab  und 
zu  uns  begegnet. 

3.  Die  äugsere  Organisation  des  Ge- 
sellenverbandes. Die  Wahl  und  die  An- 
zahl der  Vorstände  ist  in  der  verschieden- 
artigsten Weise  geregelt.  Die  Bestimmun 
hierüber  sind  so  mannigfach  wie  die 
Zeichnungen  für  die  zwei  oder  vier  oder 
fünf  Gesellen,  denen  die  Leitung  der  Ge- 
sellenschaft anvertraut  war.  Da  finden  wir 
üertengesellen,  Zuschickgesellen.  Altknechte, 
Beisitzerund  Ladengesellen,  Bücnsenmeister, 
Zechgesellen  und  Füiyesellen,  Fürergeselien, 
Knappenmeister,  Meisterknechte  etc.  Die 
Amtsdauer  ist  bald  kürzer,  bald  länger,  sie 
haben  entweder  mit  der  Gesamtheit  der 
Gesellen  oder,  wo  deren  Zahl  zu  gross  ist, 
mit  einer  Vertretung  dieser  zu  raten  und 
zu  thaten.  Die  ihnen  obliegenden  Pflichten 
erfüllen  sie  bald  gemeinsam,  bald  liegt  eine 
Teilung  der  Aufgaben  imter  die  einzelnen 
Vorstände  vor.  So  hält  z.  B.  der  üerten- 
gesell  bei  den  Nürnberger  Schreinern  die 
Umfrage,  die  Ladengesellen  überwachen  die 
Gesellenlade.  Bei  den  Nürnberger  Messer- 
schmieden führt  der  Zechgesell  den  Vorsitz, 
die  Fürgesellen  sind  zur  Aufsicht  über  das 
Wanderwesen  bestellt.  Die  vier  Altknechte 
der  Bäcker  in  Nürnberg  wurden  auf  ein  Jahr 
von  der  Gesamtheit  der  Gesellen  gewählt. 
Bei  den  Schreinern  gab  es  vier  üerten- 
gesellen, von  denen  je  zwei  von  Monat  zu 
Monat  ausschieden;  an  ihre  Stelle  wimlen 
zwei  andere  gewählt  Innerhalb  des  Rahmens 
der  Gesellenverordnungen  hatten  sich  die 
Gesellen  ihren  Vorständen  imterzuordnen. 
Die  Versammlungen,  für  die  eine  genau  vor- 
geschriebene und  peinlich  beobachtete  Eti- 
kette, ein  ganzer  Codex  von  Ceremonieen 
bestand,  Messen  Gebot,  Umfrage,  Ladentag, 
Schenke,  Tischgesass,  Mittel,  in  späterer  Zeit 
Auflage.  Der  Associationszwang  nötigte  die 
Gesellen  des  (Jewerks  zum  Eintritt  und  zur 
Beitragspflicht  bei  Strafe  der  Aechtung. 

Der  Mittelpunkt  der  Vereinigung 
war  die  Uerte,  die  Trinkstube,  oder  wie 
man  im  17.  und  in  den  folgenden  Jahr- 
hunderten gewöhnlich  zu  sagen  pflegte,  die 


Herberge.  Die  Uerte  war  die  Ratsstube  der 
Gesellen,  der  Brennpunkt  des  Verkehrs,  wo 
die  Wandernden  einkehrten,  wo  man  Feste 
feierte,  wo  beraten  und  Gericht  gehalten 
wurde.  Das  Verlialten .  auf  der  Herberge 
bildet  einen  Hauptbestandteil  der  Gesellen- 
ordnungen. Die  Gerichtsbarkeit,  dieser 
»Zankapfel  bei  allen  Genossenschaften«,  das 
Palladium  auch  der  Gesellenverbände,  war 
durch  Jahrhunderte  ein  Gegenstand  erbitterter 
Kämpfe  zwischen  den  Arbeitern  auf  der 
einen,  den  Meistern  und  den  städtischen 
Regierungen  auf  der  anderen  Seite.  So  un- 
scheinbar und  engbegrenzt  sie  auch  erscheint, 
wenn  man  die  zahlreichen  Statuten  durch- 
liest, so  bedeutungsvoll  war  sie  in  den  Hän- 
den der  Gesellen.  Die  Gewalt,  das  Urteil 
vor  Genossen  zu  fragen  und  zu  finden, 
Strafen  zu  verhängen  und  zu  vollstrecken, 
die  Möglichkeit,  auf  diese  Art  eine  eiserne 
Disciplin  zu  üben  und  das  Bewusstsein  der 
Zusanmiengehörigkeit  zu  wecken  und  zu 
pflegen,  die  Schulung  in  der  Pflichterfüllung 
gegenüber  der  Genossenscliaft,  die  Erziehung 
zur  Standesehre,  der  Drill  zum  Corpsgeist, 
das  sind  sozialpädagogische  Momente  von 
hervorragender  Wichtigkeit.  Hinter  den 
Trinkcomments,  wie  sie  so  viele  Ordnungen 
enthalten,  hinter  den  geringfügigen  Bussen 
steht  die  straffe,  einheitlich  geleitete,  ziel- 
bewusste  Organisation.  Die  Aufiechterhaltung 
guter  Sitte  und  würdiger  Ordnung  auf  der 
Trinkstube  war  in  den  guten  Zeiten  der 
Gesellenschaft  nur  der  Reflex  des  überhaupt 
auf  Tüchtigkeit  und  Zucht  haltenden  Standes- 
bewusstseins,  das  festgegründet  war  auf  die 
Verbindung  gleichgesinnter  Genossen.  Die 
Niederschrift  hielt  gerade  die  grellen,  in  die 
Augen  fallenden,  äusserlichen  Dinge  fest, 
die  Ueberlieferung  und  der  unter  dem  Drucke 
der  Umstände  sich  steigernde  Zusammenhalt 
bürgten  für  die  ernste  Durchführung  wirt- 
schaftlich-sozialer Aufgaben.  Die  Geschichte 
der  deutschen  Gesellenverbände  hat  der  Bei- 
spiele dafür  zur  Genüge  geliefert.  Die  innere 
Historie  erfälirt  man  weit  weniger  aus  dem 
Inhalte  der  Statuten  als  aus  dem  bisher 
erschlossenen  Urkundenschatze,  der  in  Rats- 
protokollen, Briefbüchern,  Handwerksladen 
von  dem  Thun  und  Treiben,  den  Kämpfen 
und  Schicksalen  der  Gesellen  uns  authentisch 
berichtet.  Hier  ist  eine  Fundgnibe  der  Wirt- 
schaftsgeschichte, deren  Ausbeute  kaum  erst 
begonnen  hat.  Die  Erkenntnis  der  mittel- 
alterlichen Sozialzustände  winl  diurch  die 
Erforschung  dieser  Quellen  auf  das  er- 
freulichste gefördert  werden. 

Die  Höhe  der  Beiträge,  auf  den  durch- 
schnittlichen Tagelohn  berechnet,  scheint 
im  Laufe  der  Zeit,  soweit  uns  sichere 
Angaben  darüber  vorliegen,  nicht  zu  sehr 
geschwankt  zu  haben.  Die  Nürnberger 
Kammmacher    zahlten    alle    vier   Wochen 


186 


öesellenverbände  (Deutschland) 


^inen  Batzen,  also  4  Kreuzer,  die  Kar- 
dätschenmacher alle  Vierteljahre  12  Kreu- 
zer, die  Leckküchner  alle  Yierteljalire 
4  Kreuzer,  die  Messerschmiede  alle  vier 
Wochen  6  Pfennig,  die  Bortenwirker  monat- 
lich einen  halben  Batzen,  die  Schuhmacher- 
gesellen 1  Kreuzer,  die  Jungen  2  Pfennig. 
Bei  den  Kupfer-  und  Hufsclimiedsgesellen 
zu  Freiburg  i.  Br.  belief  sich  im  Jahre  1481  der 
Beitrag  auf  3,3  Tagelöhne  jährlich ;  bei  den 
Nürnberger  Schuhmachern  des  Jahres  1635 
zahlte  ein  Schuhknecht  3,2,  ein  Jünger,  d.  h. 
ein  ausgelernter  Lehrjunge,  1,6  Tagelöhne 
das  Jahr  über.  Die  verschiedenen  Einnahmen, 
Beiträge,  Strafgelder  u.  s.  w,  wurden  für  die 
gemeinsamen  Zwecke  verwendet,  für  Unter- 
stützung und  für  Vergnügungen,  für  den 
Schmuck  der  Trinkstube  und  für  den  Zehr- 
pfennig, für  den  Willkomm  und  das  Geleite, 
für  Arbeitslose  und  Sieche,  für  Boten-  und 
für  Schreiblohn,  für  Spenden  und  Ehren- 
geschenke. Einzelne  Gesellen  Schäften  hielten 
sich  ilire  Schreiber,  die  besser  mit  der  Feder 
umzugehen  verstanden  als  die  Gesellen,  deren 
Krähenfüsse  dem  Archivbenutzer  gar  manch- 
mal Pein  bereiten.  Die  Rechnungsbücher, 
die  z.  B.  in  den  Nürnberger  Handwerks- 
ladeu  enthalten  sind,  geben  Auskunft  über 
die  Vielseitigkeit  des  Ausgabenetats  der  Ver- 
bände. Die  Gebote  waren  das  amtliche 
Stelldichein  der  Gesellen ;  auf  ihnen  wimlen 
die  Verbandsangelegenheiten  erledigt,  die 
Streitigkeiten  beigelegt,  die  Frevel  gegen 
die  Orclnungen  gebüsst.  Waren  die  üblichen 
Zusammenkünfte  feierlich,  so  bildete  die 
Aufnahme  eines  freigesprochenen  Lehrlings 
in  die  Gesellenschaft  einen  Glanzpunkt  in 
dem  Leben  des  Jüngers,  einen  Festakt,  der 
an  die  genau  fixierten  Kegeln  gebunden  war, 
für  die  Gesellen.  Die  tiefere  Bedeutimg 
des  Ceremoniells,  das  oft  an  kirchliche  Ge- 
bräuche, an  die  Taufe  u.  s.  w.  sich  anlehnte, 
ging  in  der  Zeit  des  Verfalls  verloren  und 
entartete  zu  ödem  Formelkram.  Aber  in 
der  Periode  der  Blüte  lag  der  Nutzen  und 
der  erzieherische  Weii;  des  Hänseins  tretz 
seiner  Derbheiten  klar  zu  Tage.  Das  Mittel- 
alter war  urwüchsiger  in  seinem  Empfinden 
imd  fasste  gix)blicher  zu.  Aber  die  rehesten 
Bräuche  der  Gesellen  reichen  nicht  liinan 
zu  den  Excessen,  die  bei  den  hanseatischen 
Spielen,  besonders  auf  dem  Kontor  zu 
Bergen  bei  der  Reception  junger  Kaufleute 
von  den  Mitgliedern  der  Hansa  geübt  wunh^n. 
Die  G(»sellen,  die  den  Ausgelernten  in  ihre 
Genossenschaft  eintreten  liessen,  bereiteten 
ihn  auf  das  Wandern  vor,  sie  h^hrten  ihn 
die  Bräuche,  Grussformeln  und  Sprüche,  an 
denen  sich  die  Glieder  desselben  Gewerkes 
erkannten.  Wer  in  diese  Dinge  eingeweiht 
war,  über  die  er  Nichtgenossen  gegenüber 
zu  strengem  Schweigen  verpflichtet  war, 
besass  die  Legitimation,  ohne  die  er  weder 


wandern  noch  Arbeit  finden  konnte.  Zu- 
gleich bot  die  Aufnahme  die  Bürgschaft, 
dass  der  neue  Geselle  sittlich  und  beniflich 
befähigt  war,  dem  Handwerke  als  voll- 
berechtigter Geselle  anzugehören :  die  Standes- 
ehre litt  keine  unredlichen  Elemente  im 
Verbände. 

In  den  Sprachurkunden,  die  uns  vom 
Gesellenmachen  überliefert  sind,  lebt  ein  gut 
Teil  im>prünglicher,  aus  den  Tiefen  des 
Volkslebens  quellender  Dichtung.  Der  letzte 
Schimmer  al^ermanischer  Götter-  und  Hel- 
densage überglänzt  diese  Denkmäler  der 
Vergangenheit;  man  lese  nur  bei  Frisius 
die  wunderbare  Vorsage  beim  Schleifakte 
der  Böttcher.  Schon  Jakob  Grimm  hat  1815 
mit  feinem  Sinne  auf  diese  Erzeugnisse  der 
schöpferischen  Volksphantasie  hingewiesen. 
In  vortrefflicher  Weise  hat  ein  anderer 
Germanist,  Oskar  Schade  in  Königsberg,  in 
den  fünfziger  Jahren  die  religions-  und 
kultiu*geschichtliclie  Bedeutung  des  Gegen- 
standes hervorgehoben:  seine  tiefgehenden 
Untersuchungen  sind  leider  von  den  Wirt- 
scliaftshistonkern  so  gut  wie  gar  nicht  be- 
achtet worden.  Wie  das  Gesellenmachen 
überhaupt  im  Zeitalter  des  Verfalles  sich 
zur  Fratze  verzerrte,  so  auch  die  Vorsage, 
die  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  bis- 
weilen nichts  ist  als  eine  platte  Zote  in 
langatmigen  Alexandrinern. 

4.  Die  sozialpolitische  Bedentnng  des 
Gesellenverbandes.  Vier  Gesichtspunkte 
kommen  für  die  Gesellenbewegung  in  erster 
Reihe  in  Betracht:  Arl)eitslohn,  Arbeitszeit, 
Arbeitsvermittelung,  Arbeitsverti-ag.  Diese 
Fragen  spielen  in  den  Kämpfen  der  heutigen 
Arbeiterschaft  noch  immer  eine  hervor- 
ragende Rolle.  Unter  der  Herrschaft  der 
alten  Wirtschaftsverfassimg,  diesseits  der 
entfalteten  kapitalistischen  Produktionsweise, 
vollzieht  sich  die  Auseinandereetzung  in 
anderer  Art  als  in  unseren  Tagen.  Wie 
al)er  ehemals  die  Dinge  lagen,  konnten  bei 
dem  ganzen  Aufbau  des  gesellschaftlichen 
Lebens  die  Gesellen  nur  in  den  Bahnen 
wandeln,  die  mit  eherner  Notwendigkeit  der 
Stand  der  ökonomischen  Ent Wickelung  ihnen 
vorzeichnete.  Und  man  muss  sagen,  dass 
sie  für  ihre  Ziele  energisch  eingetreten  sind, 
dass  ihre  Bewegung  sich  voll  ausgelebt  hat 
und  dass  sie  scheitern  mussten,  weil  mit 
ihnen  das  ganze  System  Schiffbruch  litt 
Wie  der  Kapitalismus  die  feudale  Ordnung 
abgelöst  hat,  so  die  moderne  Arbeiterklasse 
das  alte  Gesellen  tum.  Die  Lohn  frage  führt 
bereits  früh  zu  Konflikten  zwischen  Meistern 
und  Knechten.  Die  ersteren  suchten,  solange 
es  anging,  den  Lohn  von  sich  aus  festzu- 
setzen. Einspruch  des  Arbeiters  war  nicht 
gestattet,  und  die  Webermeister  von  Speier, 
die  1351  den  Lohn  für  alle  Ewigkeit  fixieren 
wollen,  sind  in  ihi-er  Art  ein  Typus.    Auch 


Geselleaverbände  (Deutschland) 


187 


die  Meistertage,  die  schon  im  14.  Jahrhun- 
dert zur  gemeinschaftlichen  Beratung  und 
Förderung  der  Zunftinteressen  stattfanden, 
regulierten  den  Lohn  nach  ihrem  Gutdünken, 
die  oberrheinischen  Schneiderzünfte  noch  im 
Jahre  1457  z.  B.  gleich  auf  28  Jahre.  Die 
Üüterl)ezalilung  war  für  die  Gesellen  erträg- 
lich in  jener  Periode  des  patriarchalischen 
Handwerks,  das  die  Gesellenzeit  als  Durch- 
gang zur  Meisterwürde  betrachtete,  sie  wiu-de 
unerträglich  in  dem  Augenblicke,  da  die 
Entfremdung  zwischen  dem  Meister  und 
dem  Gesellen,  die  vorhin  gekennzeichnete 
soziale  Verstimmung  Platz  jriff.  Die  Art 
der  Löhnung  war  mannigfaltig;  wir  finden 
Zeitlohn  und  seit  Beginn  des  15.  Jahrhun- 
derts eine  neben  diesem  sich  mehr  und 
mehr  ausbildende  verwickelte  Stücklöhnung. 
Je  nach  Ort  und  Zeit  ist  die  Löhnungsweise 
verschieden,  sie  wechselt  in  demselben  Ge- 
werke  an  demselbe*  Ort,  und  wii'  finden, 
dass  die  Gesellen  für  Acoordlohn  eintreten, 
so  gilt  wie  sie  anderswo  entschieden  seiner 
Einfühning  sich  widersetzen  oder  für  seine 
Abschaffung  sich  ins  Zeug  legen.  Es  scheint, 
als  ob  Ausgangs  des  15.  Jahrhunderts  der 
AVidei-stand  gegen  den  Stücklolm  lebhafter 
zu  werden  beginnt.  Die  Verbote  dagegen 
mehi-en  sich;  sogar  die  rückständigste  Ar- 
l)eitorgi*uppe,  die  Metzgergesellen,  kämpfen 
1523  in  Nürnberg  dagegen  an,  »sonsten  sie 
aufsten  und  in  Krieg  laufen  woUen«.  Jeden- 
falls macht  sich  eine  grundsätzliche  Reaktion 
der  Gesellen  gegen  die  einseitige  Festsetzung 
der  Lohnhöhe  seitens  der  Kleister  Endo  des 
14.  Jahrhunderts  lobhaft  geltend.  Das  15. 
Jahi'hundort  mit  seiner  erstarkten  Gesollen- 
organisation  eröffnet  eine  Aera  der  Lohn- 
kämpfe. Denn  der  Verband  ist  es,  der  die 
Fonlerung(»n  seiner  Mitglieder  vertritt.  Nicht 
allein  die  Lohndrückerei  wird  l)ekämpft.  Man 
wahrt  sich  gegen  versteckten  oder  offenen 
Tnick,  der  mit  Recht  den  Gesellen  als  eine 
schier  imleidliche  Bedrückung  erscheint.  Die 
Minderung  des  Arbeitseinkommens  soll  ver- 
hütet, der  Lohnsatz  soll  erhöht  werden. 
Allen  voran  gingen  die  Weberknechte,  wie 
sich  dies  versteht  bei  einer  Arbeiterschicht, 
die  am  frühesten  mit  dem  Kapital  in  Kolli- 
sion geriet  und  zuerst  im  Dienste  kauf- 
männischer Unternehmer  gix>ssgewerblicher 
Thätigkeit  dienstbar  gemacht  wurde.  In 
Spoier  setzen  sie  1351  bereits  eine  Auf- 
l)e8serung  der  Löhne  durch.  Die  Thatsache, 
dass  vom  14.  zum  15.  und  16.  Jahrhundert 
eiuf»  Lohnsteigerung  im  allgemeinen  einge- 
treten ist,  dürfte  nicht  zu  bt^streiten  sein. 
Mit  Recht  ist  das  15.  Jahrhundert  das  »gol- 
dene Zeitalter  der  Arbeiter«  genannt  worden. 
Dass  nur  die  Vereinigung  der  Gesellen  im 
Stande  gewesen  ist,  bessei-e  Lohnverhältnisse 
für  die  verschiedenen  Gewerbe  zu  erlangen, 
dass  sie  die  schneidige  Waffe  wai-,  mit  der 


Siege  über  die  starrnackigen  und  gewinn- 
süchtigen Meister  davongetragen  wurden, 
das  lehrt  jedes  Blatt  der  Wirtschaftsge- 
schichte. Wo  die  Gesellen  ohne  dies  feste 
Bindemittel  sind,  wo  sie  vereinzelt  für  ihr 
Dasein  zu  kämpfen  haben,  da  fällt  es  jedes- 
mal den  Gegnern  leicht,  sie  zu  unterdrücken 
und  ohne  Rücksicht  auf  die  Wünsche  der 
machtlosen  Gesellen  den  Frieden  zu  dik- 
tieren. Die  EiTungenschaften  der  organi- 
sierten Gesellenschaft  kontrastieren  scharf 
mit  den  Misserfolgen  der  nichtorganisierten 
Arbeiter.  Die  gewaltige  Umwälzung  des 
16.  Jalirhunderts,  die  alle  Wirtschaftsgebiete 
ergriff,  Handel  imd  Wandel  revolutionierte, 
die  kapitalistische  Pi*oduktions weise  in  ihi'en 
Anfängen  eretehen  liess,  die  Verkehrswege 
mit  einem  Schlage  änderte,  Europa  mit  Edel- 
metallen überschwemmte  mid  durch  Ent- 
wertung des  Geldes  die  Lohnzustände  alte- 
rierte,  diese  gi'osse  Wandlung  ging  auch  an 
den  Gesellen  nicht  spurlos  vorüber.  Man 
kann  vielleicht  sagen,  dass  ihre  Lage  sich 
noch  gründlicher  und  schneller,  als  es  wirk- 
lich seit  der  Reformation  geschehen  ist,  ver- 
sclüechteil;  hätte,  hinsichtlich  der  Lohnfrage 
wie  auch  in  anderen  Beziehungen,  wäivn 
nicht  die  Gesellenverbände  gewesen.  Sie 
waren  ein  Hindernis,  das  stark  genug  war,  sie 
vorder  zügellosesten  Ausnützung  zu  bewahi'en. 
Die  Arbeitszeit  war  eine  lange.  Von 
Sonnenaufgang  bis  Sonnenuntergang,  in  vielen 
Gewerben  auch  noch  \yei  Licht  wird  ge- 
schafft. In  den  fünfziger  Jahren  des  14. 
Jahrhunderts  ist  für  die  Helm-,  Hauben- 
und  Waffenschmiede  und  die  Kannengiesser 
in  Nürnberg  vorgeschrieben,  wer  nach  dem 
Läuten  der  Feuerglocke  oder  vor  derPfamnette 
auf  dem  Handwerke  wirke,  solle  dafür  jedes- 
mal an  die  Stadt  60  Heller  geben.  14,  15, 
16  Stunden  sind  etwas  Gewöhnliches;  bei 
den  Elitearbeitern  des  Baugewerbes  finden 
wir  freilich  auch  einen  Arbeitstag  von  durc*h- 
schnittlich  10 — 11  Stunden.  Die  Gesellen 
fordern  durchgängig  nicht  eine  Verkürzung 
des  ArK^itstages ,  sondern  eine  Reduktion 
der  Wochenarbeit  durch  Gewinnung  eines 
freien  Wochentages.  Dieses  Verlangen  war 
ein  wohlberechtigtes,  und  man  begreift  des- 
halb die  Zäliigkeit,  mit  der  der  Kampf  für 
den  guten  (blauen)  Montag  durch  Jahrhim- 
derte  geführt  wm*de.  Die  Gesellen  trieben 
hier  positive  Sozialpolitik  in  ihrem  gutver- 
standenen Interesse.  Sie  wollten  einen  Damm 
wider  die  aufreiljende  Uebei'arbeit,  sie  wollten 
freie  Zeit  zur  Erholung,  zur  Körperpflege  — 
der  Badgang  am  Montag  ist  ein  Stück  Volks- 
hygiene, das  ei-st  der  BOjälirige  Krieg  be- 
seitigt hat  — ,  sie  wollten  einen  Tag  zur 
Abhaltung  ihrer  Vei*sammlungen.  Erst  nach 
langen  Mühen  gelingt  es  den  Gesellenver- 
l)änden,  ein  Zugeständnis  nach  dem  anderen 
auch  in  dieser  Fi-age  den  Meistern  und  der 


188 


Gesellenverbände  (Deutschland) 


Obrigkeit  zu  entwinden.  Im  14.  Jahrhundert 
wird  jeder  Tag  Müssig^ng  hart  bestraft, 
und  Abzüge  vom  Lohn  Hessen  die  Gesellen 
die  Macht  des  Brotherrn  spüren.  Es  galt 
sich  von  dem  Zwange,  der  zum  Vorteile  der 
Meister  ausgeübt  wurde  imd  die  Arbeiter 
der  Willkür  jener  überantwortete,  ent- 
schlossen zu  befreien.  Aber  erst  seitdem  die 
Organisationen  der  Gesellen  erstarken,  seit 
sie  auf  die  Handwerkspolitik  durch  ihr  ge- 
schlossenes Vorgehen  und  ihre  wirkungs- 
volle Taktik  Einnuss  gewinnen,  beginnt  man 
mit  ihnen  Kompromisse  zu  schliessen.  Im 
15.  und  zu  Beginn  des  nächstfolgenden  Jahr- 
hunderts ist  der  ^te  Montag  schon  eine 
allgemeine  Institution:  ein  halber  Feiertag, 
bald  jede  Woche,  bald  alle  14  Tage  ist  er- 
kämpft Die  Reformation  hatte  mit  den 
Feiertagen  stark  aufgeräumt,  und  das  Be- 
dürfnis nach  einem  offiziellen  Ruhetage 
wurde  desto  lebhafter.  Es  ist  bekannt,  dass 
die  Gesellen  die  Gefeihr,  die  in  der  Umwand- 
lung von  Feiertagen  in  Werkeltage  für  ihre 
soziale  Lage,  drohte,  bald  einsahen.  Sie 
sollten  ein  weit  grösseres  Arbeitsquantum 
ohne  Erhöhung  des  Arbeitsverdienstes  leis- 
ten, sie  wurden  weit  stärker  als  früher  an- 
gespannt und  viel  intensiver  ausgebeutet. 
Charakteristisch  ist  die  von  Schanz  mitgeteilte 
Eingabe  der  Strassburger  Kürschnergesellen 
aus  dem  Jahre  1529.  Noch  im  letzten  Viertel 
des  16.  Jahrhunderts  klagen  die  Oertenge- 
seUen  und  gemeine  Gesellschaft  des  Ntim- 
berger  Barchentweberhandwerks  dem  erbaren 
Rate:  »wir  haben  auch  hievor  zu  einer  er- 
getzlichkeit  unserer  mühe  und  arbeit  siben 
fesst  gehabt,  das  ausswendig  auf  andern 
werkstetten  noch  ist,  aber  alhier  sein  uns 
dem  flinf  abgebrochen  und  helt  man  mis 
nur  zwey,  als  die  fassnacht  und  liechtgenss.« 
So  leuchtet  es  ein,  dass  der  gute  Montag 
ein  thatkräftig  verfochtener  Programmpunkt 
der  Gesellenbewegung  war.  Im  16.  Jahr- 
hundert ist  oft  sogar  der  ganze  Tag  freige- 
geben. Die  Entscheidung  des  ICampfes  um 
den  guten  Montag  zu  Gunsten  der  Gesellen 
lässt  sich,  wie  man  sieht,  deutlich  verfolgen. 
Mit  der  Entartung  des  Handwerks,  mit  dem 
furchtbaren  Niedergange  der  deutschen  Kul- 
tur degeneriert  auch  diese  Einrichtung. 
Aber  es  ist  unrichtig,  den  blauen  Montag 
bloss  in  diesem  Zeitpunkte  des  Verfalls  zur 
Grundlage  für  seine  Beurteilung  zu  nehmen. 
So  wenig  jemand  die  grosse  Bedeutung  der 
Zunft  für  die  Wirtschaftsgeschichte  richtig 
zu  erfassen  vermag,  der  nur  die  Zunftmiss- 
bräuche kennt  und  das  zünftische  Wesen 
mit  den  Augen  eines  fridericianischen  Ver- 
waltungsl)eamten  betrachtet,  so  wenig  be- 
greift man  die  Nützlichkeit  und  Notwendig- 
keit des  guten  Montags,  wenn  man  sich  auf 
die  krankhaften  Erscheinungen  des  18.  Jahr- 
hunderts beschränkt. 


Welchen  Wert  für  die  Position  des  G^ 
seUenverbandes  die  Arbeitsvermitte- 
1  \i  n  g  besass  und  besitzt.  Hegt  auf  der  Hand. 
Wie  heute  die  Arbeiter  eines  der  einfluss- 
reichsten deutschen  Grossgewerbe  einen  er- 
bitterten Kampf  mit  ihren  Unternehmern 
um  diese  Einnchtung  geführt  haben  —  man 
erinnere  sich  an  den  Formerstreik  — ,  so 
haben  auch  die  Handwerksknechte  des  Mittel- 
alters die  Wichtigkeit  dieses  Institutes  zu 
schätzen  verstanden.  Es  war  eine  der  ers- 
ten Handlungen  der  organisierten  Gesellen- 
schaft, sich  die  Regelung  des  Arbeitsange- 
botes zu  sichern.  Die  Wanderpflicht  hatte 
das  leichtfüssige  Volk  der  Gesellen  mobiH- 
sierf,  und  es  galt,  für  die  Zugewanderten 
zu  sorgen,  entweder  ihnen  Arbeit  nachzu- 
weisen oder  nach  freundlichem  Empfang 
und  imter  Gewährung  von  Pflege,  Obdach 
und  Zehrpfennig  sie  nach  einem  anderen 
Orte  ziehen  zu  lassen,  wo  die  Arbeitsgelegen- 
heit günstiger  war.  Eine  urwüchsige,  aber 
den  damaügen  Verhältnissen  wonl  ent- 
sprechende Regulierung  der  Zufuhr  und  der 
Nachfrage,  die  dem  Gesellen,  welcher  einem 
Verbände  angehörte,  überall  gute  Aufnahme 
und  Schutz  vor  Entbehrungen  sicherte.  Die 
Herberge  war  der  Sammelpunkt  der  Frem- 
den. Dorthin  begab  sich  der  Wanderer, 
und  nachdem  er  durch  Gesellengruss  und 
die  Erfüllung  der  beim  Hänseln  ihm  einst 
gelehrten  Ceremouieen  sich  als  berechtigter 
Genosse  legitimiert,  fand  er  hilfreiches  Ent- 
gegenkommen, ein  fröhliches  Gelage,  ein 
Nachtquartier.  Die  von  der  lokalen  Ver- 
einigung mit  dem  Arbeitsnachweis  betrauten 
Gesellen,  mit  Abzeichen  geschmückt,  nicht 
selten  den  Degen  an  der  Seite,  fragten  nach 
einer  bestimmten  Reihenfolge  für  ihn  um 
Arbeit.  Die  geschenkten  Handwerke 
zeichnen  sich  vor  allem  durch  den  innigen  Zu- 
sammenhalt der  Gesellen  aus.  Das  Bewusst- 
sein,  überall,  wo  das  Handwerk  vertreten 
wai*,  hilfsbereite  Berufgenossen  zu  finden, 
der  lebhafte  Verkehr  von  Ort  zu  Ort  festigten 
ihre  Lage.  Nach  Ausbildung  des  Wander- 
wesens verstand  man  darunter,  im  Gegen- 
satz zu  den  ungeschenkten  Handwerken, 
diejenigen,  die  dem  Wandernden  eine  Gabe 
zu  reichen  pflegten.  Ursprünglich  jedoch 
handelte  es  sich,  wie  Schade  zeigt,  um  den 
Labetnmk,  der  dem  Wandernden  an  der 
Schwelle  gereicht  wukIc;  der  angebotene 
Becher  war  der  Willkomm,  kurzweg  das 
Geschenk  (schenken  =:  einschenken ,  ein- 
giessen).  Das  Geschenk  wmxle  Symbol  der 
Brüdei-schaft,  das  Recht  des  Geschenkhaltens, 
der  Schenke  galt  sehr  hoch.  Geschenkte 
Handwerke  sind  eigentlich  die  mit  dem 
Rechte  der  Schenke  begabten  Handwerke. 
Im  15.  und  16.  Jahrhundert  ist  es  diese 
letzte  Seite  des  genossenschaftlichen  Lebens, 
die  stärker  betont  wird,  der  Zusammenhalt 


Gresellenverbände  (Deutschland) 


189 


der  Gesellenschaft,  wie  er  geboten  war  durch 
die  Herberge  und  die  dort  abgehaltenen  Zu- 
sammenkünfte, die  Schenken  auf  der  einen, 
das  Schenken  der  zugewanderten  und  fort- 
wandernden Gesellen  auf  der  anderen  Seite. 
Die  Begrüssung,  die  feierliche  Aufnahme  der 
in  Arbeit  getretenen  Zugewanderten,  ver- 
knüpft mit  sorgfältiger  Prüfung  der  Hand- 
werksehrlichkeit, war  ein  wichtiger  Bestand- 
teil des  Gesellenrechts,  ebenso  das  Ausschen- 
ken der  Gesellen,  die  die  Stadt  verliessen, 
und  das  Geleit.  Diese  Brauche  waren  das 
Mittel,  den  Corpsgeist  der  Handwerksge- 
sellen zu  erhalten  und  sie  stets  zu  kontrol- 
lieren. Wer  sich  dem  Ein-  und  Ausschenken 
entzog,  der  stand  ausserhalb  der  Gesellen- 
schaft, w^ar  unredlich  und  sah  sich  einer 
strengen  Justiz  überantwortet.  Als  das 
Waadergebot  sich  zum  Wanderzwang  fort- 
bildete, als  sich  das  Wanderwesen  immer 
reicher  entfaltete,  trat  die  Darreichung  des 
Zehrgeldes,  das  den  Gesellen  der  geschenkten 
Handwerke  gereicht  wurde,  mehr  in  den 
Vordergrund:  der  Empfemg  des  Viatikums 
hob  diese  Gesellen  auf  eine  höhere  Stufe 
gegenüber  denjenigen,  die  auf  Almosen  an- 
gewiesen warerf. 

Der  Kontraktbrudi,  in  der  ältesten  Zeit 
auf  das  härteste  geahndet,  wurde  noch  im 
14.  Jahrhundert  durch  drückende,  von  der 
Meistei-schaft  festgesetzte  Geldstrafen  ge- 
büsst.  Die  Pön  für  dies  Vergehen  zu  mil- 
deru,  war  das  von  Erfolg  begleitete  Be- 
mühen der  GeseUenverbände.  Die  Bussen 
wurden  nach  und  nach  herabgesetzt,  imd 
allgemach  werden  die  Zustände  günstiger. 
Nicht  die  Meister  allein  haben  zu  entschei- 
den, auch  die  Gesellen  sprechen  mit,  wo 
es  sich  um  die  Frage  des  Vertragsbruches 
handelt  An  manchen  Orten  felilt  sogar  die 
Strafbestimmung  ganz.  Es  gelingt  der 
Organisation,  eine  gewisse  Einwirkung  auf 
den  Arbeitsvertrag  zu  erhalten.  Hat 
sie  ja  von  Anfang  an  sich  bestrebt,  im  ge- 
werblichen Gerichte  und  in  der  Handwerks- 
verwaltung ihre  Vertreter  zu  haben,  als 
rechtmässige  Repräsentantin  der  Gesellen- 
schaft anerkannt  zu  werden. 

Der  Gresellenverband  ist  in  der  That  der 
berufene  Mandatar  der  Arbeiterschaft,  er 
ist  das  Werkzeug  der  sozialpolitischen  Agi- 
tation, er  erringt  für  die  Arbeiter  bessere 
Arbeitsbedingungen,  er  hebt  ihre  materielle 
Lage.  Seinem  Wirken  ist  es  zu  danken, 
dass  an  die  Stelle  der  Bezeichnung  Knecht 
von  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  an 
mehr  und  mehr  die  Bezeichnung  Geselle, 
d.  h.  Genosse  einer  anerkannten  Brüder- 
schaft tritt,  ein  Ausdruck,  der  in  diesem 
Zusammenhange  vorher  mu*  selten  und  spo- 
radisch vorkommt.  Der  Gesellenverband 
pflegt  die  Standesehre  und  das  Standesbe- 
wusstsein,  die  Feste  der  Gesellen  werden 


wahre  Volksfeste  (Höge  der  Hamburger  Brau- 
knechte, Münchener  Schäfflertanz  u.  s.  w.). 
Der  Gesellenverband  erzeug  eine  Solidari- 
tät der  Interessen,  die  frei  ist  von  lokaler 
Beschränktheit,  er  wahrt  »länger  als  die 
Meisterzünfte  den  freien  Charakter  und 
den  auf  das  Allgemeine  gerichteten  Sinn« 
(Gierke). 

5.  Die  GeseUenverbände  unter  sich. 
Das  Geheimnis  der  dauernden  Erfolge  der 
Gesellenbewegung  ist  ihre  interlokale  Orga- 
nisation. Die  StMte-  und  Meisterbündnisse 
waren  das  Vorbild  gewesen.  Mit  dem  Fort- 
schritt der  wirtschaftlichen  Entwickelung 
und  mit  der  Ausbildung  des  Wanderwesens 
wiurden  die  Beziehungen  zwischen  den  Ge- 
sellen verschiedener  Städte  immer  inniger. 
Während  die  Meisterkoalitionen  rasch  zer- 
fielen oder  auf  einen  engeren  Kreis  be- 
schränkt blieben  —  fehlte  ihnen,  den  an 
die  Scholle  Gebundeneu,  in  Kirchturminte- 
ressen Befangenen  doch  der  freiere  Blick 
und  die  Beweglichkeit  der  Gesellen  — , 
treffen  wir  bei  diesen  bald  einen  Reichtum 
von  Zusammenhängen.  Zunächst  in  kleine- 
ren Bezirken  schliessen  sich  die  GeseUen- 
schaften  desselben  Gewerkes  zusammen. 
Zonenweise  dehnen  sich  diese  Bezirke  aus. 
Im  15.  Jahrhundert  weist  zunächst  Südwest- 
deutschland einen  kräftigen  Aufschwung 
des  Verbands  Wesens  auf.  Im  16.  und  17. 
Jahrhundert  ist  das  ganze  deutsche  Reich 
mit  einem  dichtmasclügen  Netze  von  Kar- 
teUverbänden  überspannt  Schon  um  1421 
finden  im  Breisgau  Seilertage  statt;  im 
Elsass  besteht  ein  grosser  Bund  der  Wagner- 
knechte. Der  Grundgedanke  ist  stets  imd 
allerorten  die  Centralisation  bestimmter  Ge- 
werke,  fortschreitend  von  der  engeren  zur 
weiteren  Zone  bis  zur  nationalen  Vereini- 
gung. Der  grossailige  Bund  sämtlicher 
deutscher  Steinmetzen  freilich,  der  mit 
seinen  vier  Hauptstätten  Wien,  Köln,  Züiich, 
Sti-assburg  1452  ins  Leben  trat,  gehört 
nicht  in  den  Bereich  der  eigentlichen  Ge- 
seUenorganisationen,  da  in  ihm  Gesellen, 
Poliere  und  Meister  infolge  der  eigenartigen 
Genesis  und  Ausbildimg  des  Gewerbes  ver- 
einigt waren;  trotzdem  kommt  auch  hier 
die  specifische  Arbeiterpolitik  mehr  als  ein- 
mal zum  Durchbruch.  Die  Zugehörigkeit 
zu  einem  lokalen  GeseUenverbände  sicherte 
dem  Mitgliede  die  Vorteile  der  übrigen 
Verbände  seines  Gewerkes.  Man  kann 
deutlich  verfolgen,  vde  die  Verbandsgebiete 
in  demselben  Verhältnis,  in  dem  sich  die 
Wanderungsgürtel  erweitem ,  ^össer  imd 
umfassender  werden.  Welchen  Emfluss  diese 
landschaftlichen  und  nationalen  Vereinigungen 
der  Gesellen  besassen,  die  mit  eiserner  Dis- 
ciplin  ihre  Beschlüsse  durchsetzten  und  sich 
gegenseitig  auf  das  aufopferndste  beistan- 
den, ist  bekannt.    Man  braucht  nur  an  den 


190 


Gesellenverbände  (Deutschland) 


Ausstand  der  Colmarer  Bäckerknechte  1495 
bis  1505  sich  zu  erinnern:  hier  knüpfte 
der  Streit  an  eine  kirchliche  Angelegenheit 
an.  Die  grossartigste  Kraftprobe  der  Ge- 
sellenverbände im  16.  Jahrhundert  ist  wohl 
der  in  Südwestdeutschland  mit  Glück  durch- 
geführte Kampf  um  die  Erlialtung  der 
Schenken,  d.  h.  der  Organisation  selbst. 
Den  Anlass  gab  der  Reichsabschied  von  1566, 
welcher  die  Abstelhmg  der  Schenken  anord- 
nete. Die  Reichsstädte  ülm,Augsburg,  Regens- 
burg, Nürnberg  u.  a.  m.  versuchten  diese 
Anordnung  dm-chzuführen ;  aber  trotz  aller 
Bemühungen  scheiterten  sie  an  dem  Zu- 
sammenhalt der  Gesellen,  die  über  Nürn- 
berg, dessen  Rat  der  Leiter  der  gesellen- 
feindlichen Bewegung  war,  einen  wirkungs- 
vollen Boj'^kott  verhängten,  die  Gewerbe 
fast  zTun  Stillstand  brachten  und  es  so  über 
die  Stadtregierungen  nach  fast  siebenjähri- 
gem Kampfe  davontrugen,  üeberall  "v^-irkte 
die  Warnung  der  Yereinigimgen,  in  Böhmen, 
Mähren,  Preussen,  im  Süden,  im  Westen 
standen  die  Gesellen  einmütig  zusammen. 
In  den  folgenden  Jahrhunderten  lassen  sich 
der  Fälle  noch  nele  für  diese  Solidarität 
der  Gesellen  anführen.  Der  allgemeine 
Niedergang  blieb  nicht  ohne  Einfluss  auch 
auf  diese  Verhältnisse.  Im  17.  und  18. 
Jahrhundert  erfolgt  ein  Rückschlag,  die 
nationalen  Bezüge  fallen  zum  Teil  fort  und 
es  entstehen  gesonderte  Gruppen  mit  eige- 
ner Gewohnheit  und  eigenem  Gruss  (die 
Gesellen  der  Seestädte ,  die  sogenannten 
Oberländer  imd  die  der  Landstädte).  Trotz 
alledem  lebt  lange  noch  über  das  16.  Jahr- 
hundert hinaus  gerade  infolge  der  inter- 
lokalen Verbindungen  ein  »gesunder  ge- 
nossenschaftlicher Geist«  (Schmoller)  in  der 
Gesellen  Schaft.  Und  es  ist  nicht  unzutref- 
fend gesagt  worden,  dass  die  Verbände  in  dem 
Chaos  des  nationalen  Niederganges  und  der 
Kleinstaaterei  das  wichtigste  soziale  Band  der 
Einheit  des  deutschen  Reiches  gewesen  seien 
und  ein  Stück  Reichseinheit  gerettet  hätten. 
6.  Kampfmittel  der  Verbände.  Die 
gebräuchlichsten  Waffen  der  Organisation 
waren  die  Verrufserklänmg  (das  Schmähen, 
Schelten,  Auftreiben),  der  Ausstand,  der 
Boykott.  Der  Gesell,  der  gegen  das  Ge- 
sellenrecht verstiess,  so  gut  wie  der  Meister, 
der  gegen  den  Verbandsgenossen  oder  den 
Verband  sich  verging,  wurde  für  unredhch 
erklärt.  Jener  fand  keine  Arbeit,  dieser 
keine  Arbeiter  mehr,  bis  sie  ihr  Vergehen 
gesühnt  hatten.  Die  Aechtung  ganzer  Ge- 
werke,  ganzer  Städte  war  so  gebräuchlich, 
wie  der  Strike  (vgl.  d.  Art  Arbeitsein- 
stellungen (Einleitung)  oben  Bd.  I,  S.  735 ff.; 
der  Nürnberger  Blech  seh  miedausstand  von 
1475  ist  allerdings  eine  un geschichtliche 
Legende).  Zu  diesen  Methoden  der  Abwehr 
oder  des  Angriffs  trat  der  Aufstand:    das 


18.  Jahrhundert  ist  die  Periode  der  Ge- 
sellenaufstände, die  mit  Gewalt  unterdrilckt 
werden  müssen.  Der  Verkehr  der  Gesellen- 
schaften  ist  ein  reger  und  in  Anbetracht 
der  mittelalterlichen  Verkehrsverhältnisse 
ein  i-ascher  gewesen.  Wandernde  Gesellen, 
eigene  Boten  brachten  die  Nachrichten,  die 
Lauf-  und  Brandbriefe  von  Stadt  zu  Stadt. 
Wie  eine  Verrufserklärung  wirkte,  dafür 
legt  beredtes  Zeugnis  ab  der  Brief  eines 
Nürnberger  Beutlergesellen  in  Ulm  vom 
Jahre  1536.  Der  für  unredlich  erklärte  Ge- 
sell erhält,  obgleich  er  bereits  sich  zu 
rechtfertigen  versucht  hat,  in  Ulm  keine 
Arbeit  vor  Austragung  seines  Handels.  »Hab 
darzu  weder  essen  noch  trinken,  wie  ich 
mich  dan  vil  tag  mit  einem  reckla  prots 
auf  schtegen  und  gassen  niderleg  .  .  .  bin 
meines  alters  im  24.  jar  kan  ain  gut  hand- 
werk,  wird  mir  aber  zutreyben  verspert, 
muss  also  in  hungers  not  ganz  armseliclich 
mein  zeyt  mit  allerlay  anfechtung  vertrey- 
ben,  welches  turken  und  hayden  erbarmung 
hetten,  aber  bei  dem  peutler  handwerk  und 
bürgern  alhie  wirt  mir  kain  barmherzigkeit 
bewysen«.  Ausgestossen  aus  der  Genossen- 
schaft, die  gegen  die  Meister  sich  gewendet 
hätte,  falls  sie  dem  Ehrlosen  Arbeit  ge- 
geben, irrt  er  so  hülflos  umher,  wie  der 
Wildfang  der  germanischen  Vorzeit 

7.  Der  geschichtliche  Verlauf.  Die 
Gesetzgebung.  Vier  Geschichtsperioden 
des  deutschen  Gesellen wesens  lassen  sich 
unterscheiden,  die  Perioden  der  ersten 
Kämpfe,  der  Blüte,  der  Stagnation  und  des 
Verfalls.  Bis  in  die  Mitte  des  15.  Jahr- 
hunderts währen  die  im  14.  Jahrhundert 
energischer  einsetzenden  ersten  Emancipa- 
tionsversuche  der  Gesellen.  Sie  haben  um 
die  Existenz  ihrer  Vereinigiuigen  gegen 
Handwerksmeister  und  Obrigkeiten  hart  zu 
streiten.  Aber  unaufhaltsam  ist  diese  Reak- 
tion auf  den  Niedergang  der  patriarchali- 
schen Gewerbe  Verfassung.  Man  unternimmt 
es,  mit  Verboten,  mit  Ausweisungen,  wie 
1389  in  Basel,  sowie  mit  allen  möglichen 
anderen  Gewaltraassregeln  die  jugendfrischen 
Regungen  des  Gesellenstandes  zu  ersticken. 
In  Danzig  bedroht  1385  das  Stadtregiment 
die  Gesellen,  die  die  Arbeit  einstellen,  mit 
dem  Ohrenabschneiden.  Mittelrheinische 
Städte  wollen  1421  die  Trinkstuben  der  Ge- 
sellen abschaffen  und  nur  kirchliche  Korpo- 
rationen zulassen.  Im  Norden,  im  Osten, 
in  Südwestdeuts(»Jiland  wurden  städtische 
und  Zunftbüudnisse  geschlossen,  um  die 
Knechte  der  verschiedenen  Bezirke  zu  bän- 
digen. Es  ist  alles  umsonst  So  sehr 
Meister  imd  Ehrbarkeit  sich  abmühen,  das 
Knechtswesen  niederzuhalten  und  das  alte 
Dienst-  und  Herrschafts  Verhältnis  zu  ver- 
ewigen, die  Anerkennung  der  Verbände  geht 
dennoch  vor  sich  mit  der  elementaren  Ge- 


GesellenverMnde  (Deutschland) 


191 


walt,  die  durch  Eepressi\Tnassregeln  sich 
nicht  hemiuen  lässt  In  der  zweiten  Hälfte 
des  15.  Jahrhuuderts  beginnen  die  Organi- 
sationen der  Gesellen  ein  bedeutsamer  Faktor 
des  wirtschaftlichen  Lebens  zu  werden,  mit 
dem  die  herrschenden  Gewalten  bon  gre 
mal  gre  rechnen  müssen.  Die  höchste  Blüte- 
zeit währt  unge&hr  vom  letzten  Viertel  des 
15.  bis  zum  zweiten  Viertel  des  16.  Jahr- 
hunderts. Von  einer  unerträglichen  Tyrannei 
der  Knechte  über  die  Meister  vor  imd  nach 
1500,  wie  sie  Stahl  fälsclilich  annimmt,  ist, 
was  schon  Schmoller  treffend  hervorgehoben 
hat,  keineswegs  die  Rede.  Das  Gesellen- 
recht  wird  kodifiziert,  die  Gesellenordnungen 
fixieren  es.  Die  wirtschaftliche  Revolution 
des  Reformationszeitalters  verschlechtert  die 
gewerblichen  Zustände,  der  lieben  smassstab 
der  Gesellen  ist  gefährdet,  die  Konflikte 
werden  heftig  und  zahlreich.  Die  Macht 
und  Kriegstüchtigkeit  der  Städte  schwindet, 
der  Markt  verengt  sich  zusehends,  der  Han- 
del verfällt,  und  die  Handwerkspolitik  wird 
kleinlich,  beschränkt,  philiströs  wie  nie  zu- 
vor. Die  in  ihrem  Lebensnerv  durch  die 
grosse  ökonomische  Krisis  jener  Epoche  be- 
drohten Handwerke  suchen  Schutz  in  der 
Verschärfung  und  Fortbildung  der  aus- 
schliessenden ,  absperrenden,  engherzigen 
Privilegienwirtschaft.  Immer  schwieriger 
wird  es  für  die  Gesellen,  selbständig  zu 
werden.  Verheiratete  Gesellen  waren  in 
der  Regel  weder  den  Meistern  noch  den 
Kampforganisationen  der  Gesellen  willkom- 
men, die  über  die  bedrohlichen  Wirkungen 
eines  verheirateten  Gesellenstandes  für  ihre 
soziale  Bewegung  sich  klar  waren.  Das 
Reservoir  der  überschüssigen  Arbeitskräfte, 
die  Landsknechtschaft,  der  Kriegsdienst  blieb 
zwar  in  Funktion,  aber  der  ewige  Land  friede 
hatte  dem  Fehdewesen  mit  seinem  Bedarfe 
an  wehrfähigen  Leuten  einen  Riegel  vorge- 
schoben. Viele  verkamen.  Was  nicht  die 
Land.strasse.  das  fahrende  Volk  und  das 
Gaunertum  verschlang,  das  nahm  in  den 
Kriegsläuften  ein  Stück  »Geld  auf  den  Lauf« 
und  trug  Spiess  und  Schlachtschwert,  wie 
später  zur  Zeit  der  stehenden  Heere  im  17. 
imd  18.  Jahrhundert  die  Soldaten  nach  J. 
G.  Hoffmann  grösstenteils  friihere  Handwerks- 
gesellen gewesen  sind.  Die  festen  Korpo- 
rationen der  Gesellen,  die  den  Ünter- 
drückungsversuchen  des  Meistertiuns  die 
Stime  boten,  sind  diesem  ein  Dom  im  Auge. 
Und  die  Reichsgesetzgebung  greift  ein.  So 
lebhaft  und  dringend  die  Beschwerden  über 
die  Gesellenschaft  sind,  so  bitter  die  Aus- 
führungen der  Reichsabschiede,  man  ver- 
gesse nicht,  dass  diese  Aeusserungen  ein- 
seitig, STibjektiv  gefärbt,  von  Klassenvoinir- 
teilen  l)eeinflusst  sind.  Man  wiU  vorgeblich  die 
Missbräuche  beseitigen,  die  aus  der  Arbeits  ver- 
mittelung   imd  der  eigenen  Gerichtsl:)arkeit 


der  Gesellen  sich  entwickelt  haben  sollen, 
aber  man  legt  thatsächlich  Hand  an  diese 
Institute  selbst.  Es  beginnt  die  neue  Aera- 
des  Kampfes  der  öffentlichen  Gewalten- 
gegen das  Koalitionsrocht  der  Gesellen. 
Die  Handwerksgesellen  sollten  in  ein  strafferes 
Abhängigkeitsverhältnis  herabgedrückt,  sie 
sollten  isoliert  und  dadm*ch  gefügig  gemacht 
werden.  Auch  politische  Beweggründe 
müssen  mitgewirkt  haben :  in  den  unruhigen 
Sturmzeiten  des  Bauernkrieges  spielen  die 
gewerblichen  Arbeiter  eine  nicht  unbedeu- 
tende RoUe.  So  folgte  Reichsabschied  auf 
Reichsabschied,  zuerst  die  »Ordnung  und 
Reformation  guter  Polizei  im  H.  Rom.  Reich 
zu  Augspurg  anno  1530  aufgericht«,  die  der 
Ortsobrigkeit  und  der  Zunft  alle  polizeili- 
chen und  gewerblichen  Streitigkeiten  über- 
wies. 

Es  kamen  die  Besclüüsse  von  1548,  von 
1559,  von  1566  gegen  die  geschenkten  Hand- 
werke, die  Al)schiede  von  1571,  1577,  1594 
Bei  der  Zerfahrenheit  des  deutschen  Reichs- 
re^ments  war  an  eine  thatkräftige  Exeku- 
tion nicht  zu  denken,  die  Ordnungen  blieben 
auf  dem  Papier.  Vereinzelte  Verauche,  sie 
durchzuführen,  schlugen  fehl,  wie  1567  bis 
1571  in  Süd  Westdeutschland,  oder  sie  hatten 
nur  kurze  Zeit  Erfolg.  »Die  Unterdrückung 
der  Gesellenverbände  konnte  so  wenig  ge- 
lingen, als  heute  eine  Unterdrückung  der 
Arbeiter-  und  Gewerkvereine.  Es  lag  zu 
sehr  in  der  Natur  der  Sache,  dass  bei  der 
zimehmeuden  Absclüiessung  der  Meisterver- 
bände die  Knechte  sich  ebenfalls  zusammen- 
schlössen« (Schmoller).  Die  Periode  der 
Stagnation  währt  bis  zum  17.  Jalirhundert. 
Der  dreissigjährige  Krieg,  der  Deutsclüands 
Kultur  vernichtet,  seine  Wirtschaftszustände 
verschlechtert,  die  Verwilderung  und  Bar- 
barei in  alle  Schichten  trägt,  zertrümmert 
die  alte  ökonomische  Verfassung,  raubt  dem 
Zunftwesen  seinen  Daseinsgnincl  und  signa- 
lisiert den  Verfall  des  Gesellenwesens.  Die 
Territorialfürstentümer  erstarken.  Sie  als 
Träger  des  absolutistischen  Regimes  sehen 
schel  auf  die  freiheitlichen  R<:»gungen  der 
Gesellenschaft.  Auf  Grund  des  Reichstags- 
abschiedes von  1654  versuchen  sie,  eigene 
Gewerbeordnungen  für  ihre  Gebiete  zu 
schaffen.  Die  württembergische  Bauordnung 
von  1655  wendet  sich  scharf  auch  gegen 
Versammlungen  und  Gerichte  der  Gesellen. 
Indes  die  Gesetze  blieben  fnichtlos.  Wieder 
musste  die  schwerfällige  Maschinerie  der 
Reichsgesetzgebung  in  Thätigkeit  treten. 
Das  Reichsgutachten  von  1672,  das  der 
Gnmdstock  der  Gewerbegesetzgebung  des 
18.  Jahrhunderts  geworden  ist,  kommt  zu 
Stande.  Es  setzte  Strafen  für  Ausstand  imd 
Vertragsbruch  fest,  onlnete  Freizügigkeit 
der  Gesellen  auch  an  Orten  mit  anderen 
Gewohnheiten  an,  richtete  sich  gegen  Ver- 


192 


Gesellenverbände  (Deutschland) 


nifserklärungen  und  beseitigte  die  Gesellen- 
verbände mit  eigener  Gerichtsbarkeit.  Aber 
erst  im  Jahre  1726  wird  das  Reichsgut- 
achten publiziert.  Derweil  war  mit  raschen 
Schritten  die  neue  Zeit  herangekommen,  mit 
ihr  hob  der  erste  Aufschwung  der  Manu- 
faktur auf  grösserer  Stufenleiter  an.  Die 
merkantilistische  Regierungspolitik  förderte 
diese  Entwickelung  durcn  Konzessionen, 
Fabrikprivüegien,  Monopole.  All  dies  war 
nicht  vereinbar  mit  der  alten  Ordnung  des 
Gewerbewesens.  Immer  häufiger  wurden 
die  Gesellenunruhen,  immer  bedrohlicher 
erschienen  sie  den  Regierungen.  Die  Ar- 
beiter, auf  der  einen  Seite  von  dem  rück- 
ständigen Handwerk,  auf  der  anderen  von 
der  aufstrebenden  Manufaktur  bedrängt,  in 
die  Enge  getrieben  durch  die  öffentliche 
Gewalt,  die  namentlich  in  Brandenburg- 
Preussen  energisch  vorging,  suchten  die 
Existenz  ihrer  Verbände  mit  allen  Mittelii 
zu  ermöglichen.  Die  starren  Formen  der 
Organisation  waren  geblieben,  in  der  Stick- 
luft jener  Zeit  aber  war  die  frische,  jugend- 
ki'äftige  Bewegung  elend  zu  Grunde  ge- 
gangen. Ein  kindisches  Spiel  mit  dem 
Elittertand  unverstandener  Sitten,  ein  wüstes 
Treiben  beim  Spiel,  in  der  Schenke  und  auf 
den  Gassen,  eine  zähe  Anhänglichkeit  an 
die  obsolet  gewordenen  Einrichtungen  der 
Vergangenheit,  eine  durch  Vorurteile  ge- 
trübte Auffassung  der  Dinge,  Missbränche 
statt  der  Bräuche,  statt  guter  Art  die  Ent- 
artung. Die  ganze  Verlotterung  des  Bi'u^ger- 
tums  vor  der  Aufklärungsperiode  zeigte  sich 
auch  in  dem  Wesen  und  Behaben  des  Ge- 
sellentums.  Sie  waren  Kinder  ihrer  Zeit 
Trotzdem  hebt  sie  der  ideale  Zug  des  ge- 
nossenschaftlichen Bewusstseins,  das  mann- 
hafte Eintreten  für  ihr  Koalitionsrecht  hoch 
empor  über  das  Niveau  des  versumpften 
Meistertums.  Die  von  Schmoller  eingehend 
dargestellte  Reform,  die  den  Gesellenver- 
bänden in  aller  Form  ein  Ende  bereitete, 
ist  von  Preussen  ausgegangen.  Anlass  dazu 
gaben  die  Händel  der  Lissauer  Tuchknappen 
im  Jahre  1723:  die  Seele  der  ganzen  Re- 
torsionspolitik  war  der  Dii-ektor  der  Küstiiner 
Domänenkammer,  Hille.  HiUe  schrieb  ein- 
mal über  die  Gesellenverbände :  »Diese  Leute 
i  1  den  sich  ein,  als  wann  sie  ein  besonderes 
Corpus  oder  Statum  in  Republica  formirten, 
da  sie  doch  vor  weiter  nichts  als  vor  Ar- 
beitsgehilfeu  zu  consideriren  sind.«  Eine 
der  hannoverschen  Regierungsdenkschriften 
aus  den  dreissiger  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts erklärte  sogar  den  gewöhnlichen 
Handwerksgruss :  »Grüsse  Meister  und  Ge- 
sellen, was  ehrlich  ist  und  was  unehrlich 
ist,  hilf  es  redlich  machen«  für  eine  »gott- 
lose Frivolität c,  denn  der  Gruss  entlialte 
»eine  feierliche  Auftivibung  der  Unredlichen«. 
Romanistische  Juristen  und   rationalistische 


Kameralisten  standen  den  sozialen  Zusammen- 
hängen gleich  urteilslos  gegenüber.  Auf 
Preussens  Betreiben  kam  es  nach  langwie- 
rigen Verhandlungen  zum  Reichsgesetz  v. 
16.  August  1731,  das  die  Gesellenverbände  der 
Gerichtsbarkeit  beraubte,  die  von  der  säch- 
sischen Regierung  in  Vorschlag  gebrachte 
»Kundschaft«,  d.  h.  das  obrigkeitliche  Füh- 
rungszeugnis, die  Wanderlegitimation  ein- 
führte, die  Gesellen  dadurch  unter  die 
strengste  Aufsicht  stellte  und  ihre  Verbände 
inhaltslos  machte.  In  Brandenbiu'g-Preussen 
hatte  man  bereits  1603  einen  Maximallohn 
für  Bauhandwerker  gesetzlich  festgelegt, 
1636  den  guten  Montag  zu  unterdrücken 
unternommen,  1694  die  Lehriungentaufe, 
den  feierlichen  Akt  des  Gesellenmachens 
verboten.  Preussen  ging  sofort  daran,  das 
Reichsgesetz  von  1731  durchzuführen.  Die 
preussische  Handwerksordnung  von  1733 
setzt  die  schärfsten  Strafen,  Gefängnis,  Zucht- 
haus, Festungsbau,  für  Renitente  den  Tod, 
auf  Verstösse  gegen  die  reichsgesetzlichen 
Bestimmungen.  Die  Gesellenladen,  die  Ge- 
sellenbriefe und  Geselleninsiegel,  die  schwar- 
zen Tafeln  wurden  beschlagnahmt,  die 
»Götzen  cum  ignomina  quadam  zerstört«. 
Herberge,  Stellenvermittelung,  Krankenpflege 
verblieb,  unter  steter  Kontrolle,  den  Gesellen. 
Aehnlich  verfuhr  die  hannoversche  Regierung. 
Andere  Staaten  folgten  langsamer  nach.  In 
der  Markgrafschaft  Baden  suchen  1760  die 
»Generalzunftartikel«  das  Reichsgesetz  gleich- 
falls durchzuführen.  Für  Kurhessen  ergeht 
1762  das  Marburger  Reglement,  am  4.  März 
1765  wird  für  das  Herzogtum  Braunschweig 
und  das  Fürstentum  Blanken  bürg  eine  »Onl- 
nimg  für  die  Gilden«  erlassen.  •  Im  Jahre 
1764  wird  von  Reichswegen  das  1731er 
Gesetz  nochmals  eingeschärft.  Am  15.  Juli 
1771  geben  Kiuiürsten,  Fürsten  und  Stände 
des  Reiches  ein  Gutachten  an  den  Kaiser 
ab,  das  dieser  am  30.  April  1772  als  Kom- 
mission sdekret  veröffentlichte:  es  ist  vor 
allem  gegen  die  Gesellen  gerichtet  Der 
blaue  Montag  soU  abgestellt  werden,  die 
gesetzlichen  Anordnungen  von  1731  werden 
aufs  neue  eingeprägt  ^).  Die  Gesellen  sollen 
sich  —  dies  wirft  auf  die  wirtschaftliche 
Seite  der  Angelegenheit  ein  Streiflicht  — 
nicht  dagegen  setzen,  mit  Weibern  zusam- 
men bei  einem  Meister  zu  arbeiten.  Das 
allgeraeine  preussische  Landrecht  enthält 
ein  Koalitionsverlxjt.  In  Bayern  wurden 
1809  die  Arbeiterverbindungen  zur  Erzielung 
günstigerer  Arbeitsbedingimgen  bei  1  bis  6 
Monaten  und  bei  Prügelstrafe  verboten, 
nachdem  im  Jahre  1808  das  Auszechen  oder 
Ausschenken  der  geschenkten  Zünfte  gleich- 


')  Das  preussische  Edikt  von  1783  hebt  be- 
sonders scharf  die  ökonomischen  Beweggründe 
(Vermehrung  der  Arbeitstage)  hervor. 


Gesellenverbände  (Deutschland) 


193 


falls  -wieder  untersagt  worden  var.  Am  3. 
Dezember  1840  fasst  die  Bundesversamm- 
lung einen  Beschluss  gegen  Gesellenverbin- 
dungen, Gesellengerichte,  Verrufserklärungen. 
Dies  zeigt,  dass  unter  der  Asche  die  Glut 
ncK^  fortgeglimmt  hatte.  !Nach  Ortloff  soll 
es  um  1800  noch  in  allen  grosseren  Städten 
Preussens  im  geheimen  Gesellenverbände 
gegeben  haben.  Freilich  konnten  sie  nur 
ein  Schattendasein  führen,  ihre  Lebensbe- 
dingungen waren  fortgefallen.  Der  Bundes- 
tag fürchtete  offenbar,  dass  die  Handwerks- 
gesellen, bei  denen  die  demokratischen  und 
kommunistischen  Ideeen  rasch  Wurzel  ge- 
fasst  hatten  —  man  denke  an  den  Bund 
der  Gerechten  und  an  die  Weitlingsche 
Vereinig^g  — ,  diese  Vereinigungen  als 
Mittel  zur  Propaganda  benutzte».  Im 
nächsten  Jahre  wurde  der  Bimdestagsbe- 
schluss  in  den  Einzelstaaten  publiziert,  so 
in  Bremen,  wo  noch  im  selben  Jahre  das 
1731er  Gesetz  den  Gesellen  in  Erinnerung 
gebracht  wird,  so  in  Schleswig-Holstein, 
wo  die  Gesellschaften  bis  in  dieses  Jahr- 
hundert den  Zünften  gegenüber  nach  Eauerts 
wohl  etwas  gefärbter  Darstellung  ziemlich 
autoritär  auftraten.  In  Preussen  verbot  die 
Allgemeine  Gew.-O.  v.  17.  Januar  1845  for- 
mell die  Verabredungen,  Verbindungen,  Ar- 
beitseinstellungen. Das  G.  von  1731  hat 
das  Koalitionsrecht  der  gewerblichen  Ar- 
beiter zu  nichte  gemacht.  Die  Gesetzgebung 
der  Einzelstaaten  baute  auf  seinem  Grunde 
fort.  Die  alte  Wirtschaftsweise  löste  sich 
auf,  mit  ihr  schwanden  die  natürlichen  Be- 
dingungen für  die  Existenz  der  Gesellen- 
verbände. Denn  sie  waren  aus  dem  Erd- 
reich des  mittelalterlichen  Handwerks  empor- 
gesprosst,  waren  das  eigentliche  Komple- 
ment der  Meisterzünfte  und  mussten  mit 
dem  Zunftwesen  absterben  und  eingehen. 
Die  polizeiliche  Gewalt  führte  die  letzten 
todlichen  Schläge  gegen  eine  Organisation, 
die  veraltet  und  überlebt  war.  Aber  sie 
zertrümmerte  zugleich  das  Koalitionsrecht 
der  Gesellen.  Das  blieb  so,  einzelne  Staaten 
ausgenommen,  bis  zum  Jahre  1869.  Denn 
das  Endziel  der  vielberufenen  Reform  des 
18.  Jahrhunderts  war  eben  »die  ümgestal- 
tang  des  Arbeitsrechtes  der  Gesellen  im 
Sinne  ihrer  Unterordnung  unter  Polizei, 
Heister  und  ruhigen  Gang  der  Geschäfte« 
(SchmoUer).  Eine  neue  Welt  entstand  aus 
dem  Schutte  der  alten,  die  grosse  Industrie 
trat  an  die  Stelle  der  handwerksmässigen 
Produktion,  der  moderne  Proletarier  an  die 
Stelle  des  Zunftgesellen,  an  die  Stelle  des 
Gesellen  Verbandes  die  moderne  Gewerkschaft. 


Litteratiur:  Adrian  Beter,  Tyro  opißciaritts, 
Jenae  1688,  —  Verselhe,  Boethut  opuseul. 
juridicofabrte.  etc.,  Jenae  1690.  —  Derselbe, 
HdndtoerksUxikon*  —  Derselbe,  De  collegiU 
opifieum,  Jenae  1688.  —  H.  A,  v..  Berlepseh, 

Handwörterbneh  der  Staatswineiuchaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


Chronik  der  Gewerbe  Bd.  1 — 9,  St.- Gauen  1850 
— 5S.  —  Biemner,  in  Elster»  Wörterbuch  der 
VolkstPirtschaft:  Gesellenverbände,  Bd.I,  8.8971^8, 
Jena  1898.  —  F.  Böhmert,  Beiträge  zur  Ge- 
schichte des  Zunflwesens,  Leipzig  1862.  —  L, 
Brentano,  Die  Arbeitergilden  der  Gegenwart  I, 
Leipzig  1871.  —  Derselbe,  Kritik  des  Stahl- 
sehen  Buches  :  Das  deutsehe  Handwerk,  Jahrb. 
f.  Not.  u.  Stat.  24,  S.  S09--16.  —  K,  Bücher,  Die 
Bevölkerung  von  Frankfurt  a.  Af.  im  14.  u.  15. 
Jahrh.,  I,  Tübingen  1886.  —  Derselbe,  Zur 
Arbeiterfrage  im  Mittelalter,  in  der  Wage,  IH, 
786,  801.  —  O.  JShnnUnghoMS ,  Corpus  juris 
germanici,  2.  AuA.,  Jena  I844.  —  ^'  JBulenImrg, 
Das  Wiener  Zunfbwesen,  in  der  Zeitschrift  für 
Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte,  2.  Bd.,  S.  82  ff. 

—  Derselbe  (Referat),  in  der  Zeitschr.  f.  Sozial- 
und  Wirtschaftsgeschichte,  1896,  S.  187—146.  — 
tJ*  Falke,  Geschichtliche  Statistik  der  Preise  eU., 
Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.  13,  S.  364—95.  —  Fidiein, 
Historisch-diplomatische  Beiträge  zur  Geschichte 
der  Stadt  Berlin,  Berlin  1837 ff.  —  G.  Frey- 
tag,  Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit, 
3.  T.,  S.  191--268,  Leipzig  1873.— Fr.  Frieius, 
Die  vornehmsten  Künstler  und  Handwerker,  Cere- 
monial-Politica,  Leipzig  1705—16.  —  Fritz,  Der 
Aufstand  der  oberrheinischen  SchuhmachergeseUer^ 
im  Jahre  I407,  in  der  Zeitschr.  fUr  die  Ge- 
schichte des  Oberrheins,  N.  F.  6.  —  Qeering, 
Handel  und  Industrie  der  Stadt  Basel,  Basel 
1886.  —  O.  Oierke,  Das  deutsche  Genossen- 
schaftsrecht  I,  S.  383 ff.,  907 ff.,  Berlin  1868.  — 
E.  Oothein,  Die  oberrheinischen  Lande  vor 
und  nach  dem  SOjährigen  Kriege,  in  Zeitschr. 
für  die  Geschichte  des  Oberrheins,  N.  F.  1,  8. 
17 — 20.  —  JaHob  Orimm,  Gesellenleben,  in 
den  n Altdeutschen  Wäldema,  I,  S.  83 — 122, 
Cassel  1813.  —  J,  Hasemann,  Der  Gesell,  in 
Erseh  u.  .  Grubers  Encyklopädie  etc.,  L  Sekt., 
63.  Teil,  S.  639—734,  Leipzig  1856.  —  K.  A, 
Heideloff,  Die  Bauhütte  des  Mittelalters  in 
Deutschland,  Nürnberg  I844.  —  Heitz,  Das 
Zunftwesen  etc.   in   Strassburg,   Strassburg  1856. 

—  B,  Hildebrand,  Zur  Geschichte  der  deut- 
schen WoUenindustrie,  in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.  6,  S. 
186 ff.;  7,  S.  81  f.  —  K.  Th.  Hirsch,  Danzigs 
Handels-  und  Gewerbegeschichte  unter  der  Herr- 
schaft des  deutschen  Ordens,  Leipzig  1858.  — 
C,  träger ,  Ulms  Verfassung,  bürgerliches  und 
kommerzielles  Leben  im  Mittelalter,  Stuttgart 
1831.  —  F.  Janner,  Die  Bauhütten  des  deut- 
schen Mittelalters,  Leipzig  1876.  —  Kaizl,  Der 
Kampf  um  Getcerbereform  und  Gewerbefreiheil 
in  Bayern  1799—1868,  Leipzig  1879.  —  H. 
Knothe,  Geschichte  des  Tuchma^herhandwerks 
in  der  Oberlausitz  bis  Aiifang  des  17.  Jahrh., 
im  Neuen  Lausitzischen  Magazin  etc.  58,  S.  S06ff., 
GörliU  1882.  —  L.  Köhler,  Das  württem- 
bergische Gewerberecht  1805 — 1870,  Tübingen 
1891.  —  G.  Korn,  Schlesische  Urkunden  zur 
Geschichte  des  Gewerberechts,  insbesondere  des 
Innungswesens  aus  der  Zeit  vor  I4OO,  Codex 
Diplomaticus  Silesiae  VIII,  Urkunden  S.  15, 
52—54,  100.  —  Karel  Kramdr,  Die  staatliche 
Lohnpolitik  in  den  Salinen  des  Salz  kammergutes 
bis  zum  Jahre  1748,  in  den  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  S. 
Folge  (1896),  S.  351  ff.  —  G.  L,  Kriegk,  Frankfurts 
Bürgerzvnste  etc.,  Frankfurt  1862.  —  Verselbe, 
Deutsches  Bürgertum  im  Mittelalter,  Frankfurt 
1868.  —  JK:.  Lan^^echt,  Zur  Sozialstatistik 
der  deutschen  Stadt  im  Mittelalter,  im  Arch.  /. 

13 


194 


Gesellenverbände  (Deutsciiland — Frankreich) 


$02.  Gesetzg.  u.  Stat.  1,  S.  497 ff,  —  i>er- 
selbe  (Recenmon) ,  im  lÄUerarischen  Central' 
hlaU  1895,  Nr,  8,  S,  245,  —  J.  €h,  Lünlg, 
Des  TettUehen  Reichsarchivs  P,  G.  Conti- 
nuatio    und    Erste    Fortsetzung,    Leipzig    1713. 

—  K.  Marx,  EnthiÜlungen  über  den  Korn- 
munistenprozess  zu  Köln.  Neuer  Abdruck  mit 
Einleitung  von  Fr.  Engels,  und  Dokumenten, 
Zürich  1885.  —  Derselbe,  Das  Kapital  1^, 
735  ff.,  Hamburg  1883.  —  O.  A,  Ma>scher,  Das 
deutsche    Gewerbewesen    etc.,    Potsdam    1866,  — 

0,  £.  V.  Maurer,  Geschichte  der  Städtever- 
fassung in  Deutschland,  Erlangen  1869 — 71,  bes, 
II,  S,  378 ff.  —  Moritz  Meyer,  Geschichte  der 
preussischen  Handwerkerpolitik  I,  S,  Siü — £8, 
Minden  1884;  II,  ebenda  1888.  —  P.  A.  Merk- 
len,  Episode  inedite  de  l'histoire  de  coaliiions 
ouvrikres  en  AlscLce  au  mayen  dge,  in  Kotes  et 
documents  tires  des  Archives  de  Colmar  par  X. 
Mossmann,  Colmar  1871,  Kr.  18— £3.  —  F, 
J",  Mone,  Zur  Geschichte  der  Volksicirtschdft 
vom  14,  bis  16.  Jahrhundert^  in  Zeitschr.  f,  d. 
Geschichte  des  Oberrfieins  2,  3,  5,  6,  10.  — 
Iferselbef  Zunftorganisation  vom  13,  bis  16.  Jahr- 
hundert, in  Zeitschr,  f.  d.  Gesch.  des  Oberrheins 
15,  S.  Iff.  —  Mylius,  Corpus  Constitut.  Mar  chic. 
V,  cap,  10  und  Anhang,  S.  579 ff. ;  Kovum 
Corpus  Constitutionum  Prussico-Brandenbiirgen- 
sium,  I  und  IL  —  W.  Naud4,  in  den  Jahrb. 
für  Kat.  u.  Stat.  3.  Folge,  IX,  S.  447—48,  —  •/.  A, 

Ortloff,  Iku  Recht  der  Handwerker,  Kap.  VIII, 
^•.  295 — 237,  Erlangen  1803.  —  Derselbe,  Cor- 
pus Juris  opißciarii.  Erlangen  1804,  —  Cl,  H, 
Perthes,  Das  Herbergswesen  der  Handwerks- 
gesellen, 2.  Aufl.,  Gotha  1883.  —  Fr,  Pfalz, 
Ein  Wort  über  den  Urkundenschutz  der  Hand- 
werksladen, Leipzig  1872.  —  Rauert,  Ueber 
Gesellenbrüderschaften  und  die  Verpflichtung  zur 
Verpflegung  erkrankter  Handwerksgesellen,  in 
Falcks  Archiv  für  Geschichte,  Statistik  etc.  der 
Herzogtümer    Schleswig,    Holstein,    Lauenburg, 

1.  Jahrg.,  S.  78 ff.,  Kiel  I847.  —  Rehlen,  Ge- 
schichte der  Gewerbe,  Leipzig  1855.  —  Rüüiger, 
Aeltere  hamburgische  und  hansestädtische  Hand- 
werksgesellendokumente, in  Zeitschr.  für  ham- 
burgüche  Geschichte,  K.  F.  3.  Bd.,  S.  526 ff.  — 
Oskar  Schaiie,  Vom  deutschen  Handwerks- 
leben in  Brauch,  Spruch  und  Lied,  im  Weima- 
rischen Jahrbuch  für  deutsche  Sprache,  Littcratur 
und  Kunst,  herausg.  von  Hoffmann  v.  Fallers- 
leben  und  O.  Schade,  Bd.  IV,  S.  240—344, 
Hannover  1856.  —  Derselbe,  Ueber  Jünglings- 
weihen, Ein  Beitrag  zur  Sittenkunde,  ebenda 
Bd.  VI,  S.  241— 4I6.  —  Georg  Schanz,  Zur 
Geschichte  der  deutschen  Ge»ellenrerbändc,  Leip- 
zig 1877.  —  Derselbe,  Zur  Geschichte  der  Ge- 
sellentranderungen, in  Jahrb.  f.  Kat.  u.  Stat.  28,  S. 
313 — 343.  —  Schering,  Allgem.  Landrecht  f.  die 
preussischen  Staaten,  VI.  Bd.,  Kachtmg  II.  Bd., 
Berlin  1869.  —  Schlüter ,  Tractat  von  denen 
Erben  in  Hamburg,  1698.  —  O,  SehtnoUer, 
Zur  Geschichte  der  nationalökonomischen  An- 
sichten in  Deutschland  während  der  Reformations- 
periode, in  Zeitschr.  f,  Staatsw.  16,  S.  46I — 716. 

—  Derselbe,  Geschichte  der  deutschen  Klein- 
gewerbe im  19.  Jahrh.,  Halle  1870.  —  />er- 
selbe,  I>ie  historische  Entwickelung  des  Fleisch- 
konsums, sowie  der  Vieh-  und  Fleischpreise  in 
Deutschland^  in  Zeitschr.  f,  Staatstc.  ii7,  S.  S84 
— ,:^6';?.  —  Derselbe,  Strassburgs  Blüte  und  die 
volks^tcirtschafÜiche    Bevolution    im    13.    Jahrh., 


Strassburg  1875.  —  Derselbe,  Sirassburg  zur 
Zeit  der  Zunftkämpfe  etc.,  ebenda  1875.  —  Der» 
selbe.  Die  Strassburger  Thtcher-  und  Weberzunft, 
Strassburg  1879,  —  Derselbe,  Das  branden- 
burgisch-preussische  Innungswesen  von  I64O  bis 
1806,  hauptsächlich  die  Reform  unter  Friedrich 
Wilhelm  I.,  in  Forschungen  zur  brandenb.  und 
preuss.  Geschichte,  I.  Bd.  S.  67  ff,,  bes.  S,  64 — 
80;  S.  325 ff.,  bes,  S,  325—3,50,  363—373,  — 
Derselbe,  Studien  iUber  die  wirtschafüi^ihe  Poli^ 
tik  Friedrichs  des  Grossen  und  Preussens  über- 
haupt von  1680—1786,  XII,  in  Jahrb.  f.  Ges.  u. 
V.  y.  F.  11,  S.  800 ff,  —  G.  Schönberg,  Zur 
wirtschafUichen  Bedeutung  des  deutschen  Zunft- 
wesens im  Mittelalter,  in  Jahrb.  f.  Kat,  u.  Stat.  9,  S, 
1—72,  97—169.  —  Derselbe,  im  Handb.  der 
politischen  Oekonomie,  Tübingen  1896,  I,  S.  544 ff, 

—  Gustav  Schoenfeld,  Beiträge  zur  Geschichte 
des  Pauperismus  und  der  Prostitution  in  Ham- 
burg, in  den  Sozialgeschichtlichen  Forschungen, 
Ergänzungsschriften  zur  Zeitschr,  für  Soz.-  tt. 
Wirtschaftsgesch.,  Heft  II,  S.  114  ff.  —  B.ÄcÄoeft- 
lanh.  Zur  Geschichte  altnümbergischen  Ge- 
sellenwesens, in  Jahrb.  f,  JVat.  u.  Stat,  JV.  F.  19,  S. 
337 — 395,  S.  588-  615,  —  Derselbe,  Eine  Band- 
glosse  zur  mittelalterlichen  Sozialstatistik,  im 
Arch.  f,  soz.  Gesetzg.  u,  Stat,  III,   S,  659 — 663, 

—  Derselbe,  Soziale  Kampfe  vor  300  Jahren, 
AUnümbergische  Studien,  Leipzig  1894.  —  EU, 
Schwanhäusser,  Die  Nürnberger  Bleistift- 
industrie und  ihre  Arbeiter  in  Vergangenheit  und 
Gegenwart,  Nürnberg  1895,  S.  68 ff,  —  Sehüz, 
Die  aUtcürttembergische  Gewerbeverfass^nxg  in 
den  letzten  drei  Jahrhunderten,  in  Zeitschr.  für 
Staatsw.  6,  S.  265—269,  299 ff,  —  Slebenkees, 
Materialien  zur  Nürnberger  Geschichte,  Nürnberg 
1792—95,  —  W,  Stahl,  Die  Arbeiter -Asso- 
ciationen in  Vergangenheit  und  Gegenwart, 
Giessen  1867.  —  Derselbe,  Das  deutsche  Hand- 
werk I,  Giessen  1874.  —  W.  Stieda,  Die  Ent- 
stehung des  deutschen  Zunftwesens^  in  Jahrb.  f.  Nat, 
u.  Stat.  27,  S.  Iß.  —  Derselbe,  Zur  Geschichte  des 
deutschen  Gesellenwesens,  in  Jahrb.  f,  Nat.  u.  Stat. 
23,  S.  334 — 339,  —  Derselbe,  Aus  dem  Rostocker 
Geicerbsleben  des  17.  Jahrhunderts,  SeparcUabdruck 
aus  Nr,  195,  197,  199  u,  203  der  nBostocker 
Zeitung a,  Jahrgang  1886,  —  Derselbe,  Das 
Gewerbegericht,  S,  12 — 37,  Leipzig  1890.  — 
Stock,  Grundzüge  der  Verfassung  des  Gefteilen- 
Wesens  der  deutschen  Handwerker,  Magdeburg 
1844'  —  Strure,  Systema  jurisprudentiae  opi- 
ficiariae,  Lemgov.  1738,  Bd.  II,  L.  II,  c.  IV.  — 
Af.  Thilo,  Zunftmissbrliuche  im  alten  deutschen 
Reich,  in  Zeitschr.  für  Handel  und  Gewerbe, 
lebrttar  und  März  1890.  -^  Wackemagel, 
Werkstattfehden  in  alter  Zeit,  Viertel},  f.  Volksw, 
JO,  S.  81  f.  —  Jt.  Werner,  Urkundliche  Ge- 
schichte der  Iglauer  Tuchmacherzunft,  Leipzig 
1861.  —  Wehrmann,  Die  älteren  Lübeckischen 
Zunftrollen,  Lübeck  I864.  —  Weisser,  Das 
Recht  der  Handwerker,  Stuttgart  1774,  bearbeitet 
von  Christlieb  1823.  —  Winzer,  IHe  deutschen 
Brüderschaften    des    Mittelalters,    Giessen   1859 

Bruno  Schoenlank, 


u,  a.  m. 


n. 

Die  GesellenTerbände  in  Frankreich. 

(Le  Compagnonnage.) 

1.  Vorbemerkung.  2.  Organisation  der  Kom- 
pagnonnage.   3.  Geschichtliches.    Die  Kompag- 


GesellenverMnde  (Fraakreich) 


195 


nonnage  und  die  Gesetzgebang.  4.  Ursachen 
des  Verfalles. 

1.  Vorbemerkung.  Die  gesellscliaft- 
liehen  und  wirtschaftlichen  Ursachen,  die 
die  Gesellenbewegung  des  deutschen  Mittel- 
alters hervorriefen,  sind  wirksam  auch  fflr 
das  Entstehen  und  die  Fortbildung  des  fi-an- 
zosischen  Knechtswesens,  der  Kompagnon- 
nage.  Es  sei  der  Kürze  halber  auf  die  in 
der  Einleitung  ziun  vorigen  Artikel  darge- 
legten allgemeinen  Gesichtspunkte  verwiesen, 
die  im  grossen  und  ganzen  auch  für 
Frankreich  gelten.  Nur  dass  hier,  in  dem 
Lande  der  älteren,  reicheren  Kultur,  der 
Gang  der  ökonomischen  Entwickelung  ein 
rascherer  ist  und  die  Geschichte  des  Ge- 
seUen Wesens  eine  Reihe  von  Jahrzehnten 
früher  anhebt  als  in  Deutschland. 

2.  Or^BJiisatioii  der  Kompagnonnage. 

Die  G-ewerbe,  die  mit  Winkelmass  und 
Zirkel  arbeiten,  sind  die  Gnmdlage  der  Ge- 
sellenverbände, sie  haben  sich  onenbar  zu- 
erst organisiert.  Charakteristisch  für  die 
französischen  Verhältnisse  ist  die  Dreiteilung 
der  Verbände  in  streng  von  einander  ge- 
schiedene Gruppen,  üeber  die  Entstehung 
dieser  drei  Kategorieen  ist  nichts  Sicheres 
bekannt:  die  imter  den  Kompagnons  ver- 
breiteten sagenhaften  Geschichten,  die 
bis  auf  den  salomonischen  Tempelbau  zu- 
rückreichen, bestehen  nicht  vor  der  Kritik. 
Es  giebt  1.  Enfants  de  Salomon,  auch  »Ga- 
vots«  genannt ;  sie  heissen  auch  die  Gesellen 
voai  Devoir  de  hbertö  (devoir  =  Verband).  Zu 
ihnen  gehörten  früher  nur  Steinmetzen, 
Schreiner,  Schlosser,  später  auch  eine  von 
der  Regel  des  Pere  Soubise  abgefallene 
Partei  der  Zimmerer;  2.  Enfants  de  mattre 
Jacques,  ursprünglich  auch  bloss  Korpora- 
tionen von  Steinmetzen,Schreinern,Schlossem. 
Sie  haben  jedoch  ihr  Devoir,  d.  h.  ihre  Or- 
ganisation, ihre  Gewohnheiten,  ihr  Stich- 
wort etc.  später  vielen  anderen  Handwerkern 
mitgeteilt;  3.  Enfants  du  pöre  Soubise,  an- 
fangs bloss  Zimmerleute,  denen  später  die 
Gipser  und  Dachdecker  affilüert  winden. 
Zwischen  den  drei  Gruppen  bestand  bittere 
Feindschaft.  Die  Mitglieder  der  Verbände, 
die  den  Regeln  des  SIeisters  Jacques  und 
des  Vaters  Soubise  folgten,  hiessen  ins- 
gesamt: Compagnons  du  devoir  oder  devoi- 
rsnts,  die  Mitglieder  der  ersten  Gruppe 
wurden  als  Angehörige  des  devoir  de  liberte 
bezeichnet  Wie  diese  rivahsierenden  Frak- 
tionen entstanden  sind,  ob  sie  auf  eine  ur- 
sprüngUch  regionale  Gruppenbildung  hin- 
weisen, ist  bis  heute  noch  nicht  festgestellt. 
Die  ewigen  Fehden  zwischen  den  devoirants 
imd  den  compagnons  du  devoir  de  liberte 
haben  durch  Jahrhunderte  gewährt,  eine 
eigenartige  Kriegslyrik  ist  daraus  hervorge- 
gangen,  die   devoirants  haben   den  Schelt- 


namen    »dovorants«    erhalten.      In    einem 
Liede  der  »Gavots«  heisst  es: 

„Pas  de  Charge  1  en  avant! 
Kepoussons  tous  ces  brigands, 
Ces  gueux  de  dövorants, 
Qui  n^ont  pas  de  bou  sang^. 

Die  Disciplin  in  den  Verbänden  war  eine 
musterhafte.  Es  kam  vor,  dass  zwei  Gruppen 
miteinander,  sei  es  im  Kampfe,  im  fned- 
lichen  Wettbewerb  diu'ch  ein  Probestück 
darüber  entschieden,  welche  allein  in  einem 
bestimmten  Orte  fiu*  eine  gewisse  Zeit  ar- 
beiten durfte.  Solche  Verträge  wurden  mit 
peinlicher  Treue  gehalten.  Durch  einen 
siegreichen  Kampf  eroberten  sich  die  Stein- 
metzen, die  zum  Verbände  der  compagnons 
etrangers  gehörten,  im  Jahre  1720  die  Stadt 
Lyon  auf  100  Jahre;  erst  1820  kamen  die 
Arbeiter  der  anderen  Gruppe  wieder  dort- 
hin, um  Beschäftigung  zu  suchen.  Das 
Herbergswesen  und  die  anderen  GeseUen- 
institute  waren  sorgsam  geordnet,  ein  bis 
zum  Pennalismus  potenzierter  Comment  mit 
Bändern  und  Stöcken  etc.  herrschte;  das 
GeseUenmachen  imd  andere  Bräuche  erinnern 
an  die  deutschen  Handwerksgewohnheiten. 
Der  Handwerksgruss  und  die  inneren  Ver- 
enge blieben  strengstes  Geheimnis;  die 
Gesellen  erhielten  noms  de  guerre,  wie  es 
überhaupt  ein  Idiotikon  der  Kompagnonnage 
giebt.  Die  Reiseroute  für  le  tour  de  France 
war :  Paris,  Auxerre,  Chalons-sur-Saone,  Lyon 
(»la  capitale  compagnonnityie  de  la  France«, 
wie  es  Maroussem  nennt),  Clermont-Ferrand, 
Avignon,  Marseille,  Nimes,  Beziers,  Toulouse, 
Montpellier,  Bordeaux,  La  Rochelle,  Angou- 
leme,  Nantes,  Angers,  Saumur,  Tours,  Or- 
leans. 

3.  Geschichtliches.  Die  Kompa^on- 
nage  und  die  Gesetzgebung.  Die  soziale 
Scheidung  zwischen  Meistern  und  Knechten 
tritt  sporadisch  schon  im  13.  Jahrhundert 
zu  Tage  und  wird  im  14.  Jahrhundert 
schärfer  und  allgemeiner.  Der  frühzeitige 
gewerbliche  Aufschwung  brachte  die  Gegen- 
sätze energisch  zum  Bewusstsein.  Die 
Lehrlingszahl  festgelegt,  das  Lehrgeld  hoch, 
die  Lelirzeit  lang,  die  Amtsgewinnung  er- 
schwert, die  Begünstigung  der  Meisterkin- 
der driickend  und  ungerecht.  Dazu  tritt  die 
ausgebreitete  Anwenaung  der  Weiberarbeit,  • 
die  schon  in  früherer  Zeit  infolge  der  ünter- 
bezahlung  die  Prostitution  von  Arbeiterinnen 
im  Gefolge  hat.  Die  Arbeitezeit  war  lang, 
die  Löhne  waren  gedrückt.  So  erstanden 
naturgemäss  die  Schutz-  und  Trutzvereini- 
gungen der  Gesellen,  die  in  der  Regel  ihren 
Ausgangspunkt  in  kirchUchen  Brüderschaften 
haben,  in  den  vom  Klerus  zuerst  begüns- 
tigten confrC^ries.  Im  Süden  unter  dem 
Namen  »la  caritat«  bereite  im  13.,  im  Nor- 
den  erst   seit  Ende   des   14.  Jahrhunderte 

•   13* 


196 


Gesellenverbäade  (Frankreich) 


zahlreicli,  werden  sie  bald  zum  Stützpunkte 
weltlicher  Interessen  des  Gresellentums,  imd 
die  Klagen  der  Meister  über  die  Zeitver- 
säumnisse ihrer  Arbeiter,  die  Zechgelage  etc. 
mehren  sich.  Doch  das  Bedürfnis  nach  um- 
fassenderen Korporationen  machte  sich  gel- 
tend, je  exklusiver  die  Zünfte  wurden,  je 
leidenschaftlicher  und  gehässiger  sie  die 
Forderungen  ihrer  Arbeiter  bekämpften.  Die 
Organisation  der  Gesellen,  losgelöst  von  den 
kirchlichen  Beziehungen,  durchaus  verwelt- 
licht, wird  das  Instrument  der  Gesellenpoli- 
tik, vertritt  die  Interessen  der  Arbeiterschaft 
und  offenbart  sich  als  Gegenstück  der 
Meisterassociationen.  Seitdem  das  Wandern 
in  Frankreich  zur  allgemeinen  Institution 
wird  (le  tour  de  France)  —  dies  geschieht 
im  15.  Jahrhundert  — ,  ist  die  Notwendig- 
keit straffsten  Zusammenschlusses  in  Kartell- 
verbänden naturgemäss  gegeben.  Die  Hebung 
der  Arbeiterzustände  durch  geschlossenes 
Vorgehen  so  gut  wie  die  Ordnung  des  Her- 
bergswesens, der  Reise-  und  Krankenunter- 
ßtützung,  des  Arbeitsangebotes  führten  zum 
rapiden  Wachstum  der  GeseUenverbände. 
Die  Klagen  und  Denunziationen  der  Meister 
hören  nicht  auf,  Ordonnanzen  und  Erlässe 
der  Obrigkeiten  suchen  zu  Gunsten  der  Pa- 
trone einzugreifen.  Die  Kampf  es  weise  der 
Kompagnonnage  ist  die  altbewährte  der 
mittelalterlichen  Arbeiter.  Das  Schelten, 
die  Yerrufserklärung ,  der  Ausstand,  die 
Sperre,  das  sind  die  mit  Geschick  und  Er- 
folg gehandhabten  Waffen.  Die  französischen 
Gesellenverbände  standen  ausserhalb  der 
Gesetze,  sie  waren  gezwungen,  »den  myste- 
riösen Charakter  geheimer  Gesellschaften 
anzunehmen«  (Levasseiu*),  imd  dies  hüllt 
manche  Partieen  ihi*er  Geschichte  in  un- 
durchdringliches Dunkel.  Dieser  Umstand, 
der  Zwang  zu  strenger  Geheimhaltung,  er- 
klärt die  später  üppi^  wuchernde  Geheimnis- 
krämerei, die  sich  ui  den  Yerbänden  breit 
macht.  Aber,  wie  ein  französischer  Forscher 
treffend  hervorhebt,  die  Geheimnisse  waren 
nur  die  Form,  der  Inhalt  war  ein  weit 
ernsterer.  Es  handelte  sich  um  einen  Hilfs- 
verband, der  für  den  Gesellen  im  15.  Jahr- 
hundort gerade  so  notwendig  war  wie  im 
13.  Jahrhundert  die  Zunft  für  den  Hand- 
werker, der  sich  in  seiner  Thätigkeit  durch 
den  feudalen  Despotismus  bedroht  sah.  Den 
Geist  der  Bewegung  kennzeichnen  schon  die 
Erlasse,  die  wider  sie  gerichtet  waren. 
Schon  1349  untersagt  eine  Ordonnanz  den 
Gerbergesellen  von  Amiens,  »zu  konspirieren, 
um  ohne  legitime  Ursache  eine  Lohnerhöhung 
herbeizuführen«.  Unaufhaltsam  sind  die 
Fortschritte  der  Kompagnonnage,  trotz  der 
gegen  sie  systematisch  angewendeten  Retor- 
sionsmassregeln.  Im  16.  Jahrhundert,  der 
Aera  der  Preisrevolution  und  der  heftigen 
Lohnkämpfe,  will  die  öffentliche  Gewalt  der 


Verbände,  die  sie  als  Urheber  der  Preis» 
Steigerungen  denunziert,  zu  Boden  werfen. 
Aber  trotz  aller  königlichen  Ordonnanzen, 
die  entweder  gar  nicht  zur  Ausführung  ge-. 
bracht  werden  oder  wirkungslos  sind,  bleiben 
die  Gesellenverbände  bestehen.  Die  Kluft 
zwischen  Meister  und  Gesellen  wird  immer 
tiefer,  die  Ausbeutung  der  Arbeitskräfte,  die 
Lehrlingszüchterei  immer  ärger.  Die  Aus- 
breitung der  Manufaktiu*,  die  fortschreitende 
Arbeitsteihmg,  die  z.  B.  in  dem  Textilge- 
werbe  die  Lehrlinge  zu  ungeschickten  Teü- 
arbeiteru  degradiert,  tragen  zur  Verschär- 
fung des  Konfliktes  bei.  Die  Wohlhabenden 
imter  den  Gesellen,  die  Meistersöhne  wer- 
den auf  das  ärgste  bevorzugt,  das  Meister- 
stück ist  für  die  grosse  Mehi-zahl  der  Ge- 
sellen, der  Armen,  ruinös  durch  seine  Kost- 
spieligkeit, die  Unzufriedenheit  nimmt  be- 
ständig zu.  Auch  unter  den  Meistern  bildet 
sich  eine  dreifach  abgestufte  Hierarchie  aus, 
zu  Gunsten  der  ererbten  Gewerbebetriebe, 
zum  Vorteil  der  Reichen.  Auf  den  Wider- 
stand der  Gesellen  gegen  das  Vorgehen  der 
Patrone  reagiert  das  Königtum  durch  das 
Verbot  der  GeseUenverbände  im  Jahre  1539. 
Aber  Franz  I.  und  seine  Nachfolger  mussten 
erfahren,  dass  ihr  Verbot  ein  toter  Buch- 
stabe blieb.  Fehlte  es  doch  an  einer  that- 
kräftigen  Exekution  in  dem  durch  Kriege 
und  innere  Zwistigkeiten  zerrütteten  Lande ! 
Und  als  die  Sorbonne  ihren  Bannfluch  gegen 
das  Gesellenwesen  schleuderte  —  es  war 
am  30.  Mai  1648  —  und  die  »verderblichen 
Versammlungen  der  Gesellen«  mit  ihrem 
Interdikte  belegte,  blieb  es  wie  natürlich 
trotzdem  beim  Alten.  Unter  Ludwig  XV. 
wird  am  2.  Januar  1749  ein  Verbot  der 
Biüderschaften,  geheimer  Gesellschaften  »ca- 
bales«  erlassen,  nachdem  man  bereits  am 
13.  August  1720  einen  Abkehrschein  einge- 
fülirt  hatte.  Weitere  Unterdrückungsmass- 
regeln folgen  unter  Ludwig  XVI.:  auf  die 
Kompagnonnage  bezieht  sich  Art.  14  in  dem 
berühmten  Edikt  von  1776  betreffs  der  Auf- 
hebung der  Zünfte.  Am  12.  September  1781 
wird  das  Koalitionsverbot  durch  einen  Er- 
lass  wiederholt  und  dann  weiter  specialisiert 
für  die  einzelnen  Gewerbe.  Schon  am  5. 
September  1773  war  durch  einen  Erlass  den 
Gesellen  verboten  worden,  sich  in  einer  An- 
zahl von  mehr  als  vier  zu  vei*sammeln,  den 
Verruf  zu  erkläi'en,  ein  Abzeichen  der  Ge- 
seUenverbände zu  tragen.  Ferner  gehören 
hierher  die  gegen  die  Gesellenbewegung 
gerichteten  Erlasse  v.  21.  Februar  1785,  23. 
Februar  1786  und  die  V.  v.  19.  März  1786. 
Das  absolute  Königtum  auf  dem  Gipfel  seiner 
Macht  war  nicht  fähig  gewesen,  der  Ökono- 
misch bedingten  Verbände  Herr  zu  werden. 
Noch  viel  weniger  gelang  ihm  dies  am  Vor- 
abend seines  Sturzes.  Die  gewerblichen 
Arbeiter  waren  beim  Ausbruch  der  Revolu- 


Geselleaverbande  (Frankreich) 


197 


üon  so  fest  organisiert  vie  vorher.  Die  zur 
Herrschaft  gelangte  Bourgeoisie  proklamierte 
die  Freiheit  der  Arbeit  und  erliess  das  be- 
rufene G.  V.  14. — 17.  Jimi  1791,  dessen 
Hauptz^^eck  die  Yemichtimg  der  Arbeiter- 
koalitionen, die  Sanktionierung  des  Koalitions- 
verbotes gewesen  ist  Man  »entzog  dadurch 
den  faehgenossenschaftlichen  Verbänden  die 
Möglichkeit  einer  gesetzlichen  Existenz« 
(Lexis).  Die  V.  des  Direktoriums  v.  2.  Sep- 
tember 1796  (16.  Fructidor  IV)  gegen  die 
Arbeiter  der  Papierindustrie  greift  auf  ab- 
solutistische Reglements  Ludwigs  XV.  zu- 
rück, um  die  Organisation  der  Arbeiter  zu 
zerstören.  Das  Consulat  verschärft  das  £oa- 
litionsverbot  durch  das  G.  v.  12.  April  1803 
(22.  Germinal  XI).  Das  Jahr  1810  bringt 
die  Artt.  414—416  des  Code  pönal,  die 
zwar  auch  ünternehmervereinigungen  zu 
»ungerechter  oder  missbräuchlicher  Erniedri- 
gung des  Lohnes«  mit  6  Tagen  bis  1  Monat 
Gre&ignis  und  mit  Bussen  von  200  bis  3000 
Francs  bedrohen,  die  Arbeiterkoalition  dage- 
gen mit  1  bis  3  Monaten,  die  »Führer  oder  An- 
stifter« mit  2  bis  5  Jahren  Gefängnis  oder 
zwei-  bis  fünfjähriger  Polizeiaufsicht  strafen. 
Das  G.  V.  27.  November  1849,  ein  Jahr  und 
etliche  Monate  nach  der  Pariser  Junischlacht 
gegeben,  behält  das  Delikt  der  Koalition  bei 
und  modifiziert  die  Artt.  414 — 416  dahin, 
dass  zwar  Arbeiter  und  Unternehmer  die 
gleiche  Strafe  erleiden  sollen,  indes  mit 
Ausnahme  der  Bädeisführer  der  Arbeiterver- 
bindungen. Die  Verrufserklärung  im  Sinne 
der  Kompagnonnage  wird  wieder  einmal 
verpönt  Unter  dem  zweiten  Kaiserreiche 
wird  durch  das  G.  v.  25.  Mai  1864 
eine  Neuredaktion  der  Artt.  414 — 416  vor- 
genommen: die  Urheber  und  Förderer 
sollen  nur  bei  Anwendung  von  Gewalt 
oder  Betrug  zur  Rechenschaft  gezogen  wer- 
den. 

Die  Politik  der  Scheinzugeständnisse  an 
die  arbeitende  Klasse  lag  tief  im  Wesen  des 
Imperialismus  begründet.  Die  Tendenz  der 
ganzen  hierauf  bezüglichen  Gesetzgebung 
aber  ist  die  Sicherung  der  diskretionären 
Vollmachten  der  Regierung,  nicht  die  Sicher- 
stellung des  Koalitionsrechtes.  Das  Gesetz 
über  Vereine  und  Versammlungen  blieb  be- 
stehen, war  also  die  bequemste  Handhabe 
zu  Interventionen.  Das  G.  v.  8.  Juni  1868 
setzt  an. Stelle  der  Autorisation  die  Ueber- 
wachung  oder  Repression  der  öffentlichen 
Versammlungen ;  nur  wirtschaftliche  Fragen 
dürfen  erörtert  werden.  Die  dritte  Republik 
beschränkt  diux;h  das  Gesetz  gegen  die  Inter- 
nationale des  weiteren  die  Vereinsfreüieit 
der  Arbeiter.  Erst  durch  das  G.  v.  21.  März 
1884  wird  das  Associationsverbot  des  G.  v. 
14.-17.  Juni  1791  und  des  Art.  416  des 
Code  penal  beseitigt  und  den  gewerblichen 
Syndikaten  unter  gewissen  einschränkenden 


Bedingungen  eine  öffentlichrechtliche  Grund- 
lage geschaffen. 

4.  Ursachen  des  Verfalles.  Die  Er- 
starkung der  staatlichen  Gewalt,  die  seit 
dem  18.  Brumaire  zielbewusst  durchgeführte 
Centralisation ,  die  alles  vom  grössten  bis 
zum  kleinsten  administriert,  haben  gewiss 
der  Kompagnonnage  Eintrag  gethan,  sie 
haben  die  Gesellenverbände  in  tiereres  Dunkel 
gescheucht  und  ihre  Taktik  alteriert  Aber 
an  der  Polizeimacht  sind  die  durch  Jahr- 
hunderte konservierten  Einrichtungen  nicht 
zu  Grunde  gegangen.  Trotz  des  Gesetzes 
von  1791  z.  B.  bestanden  in  Frankreich  in 
einem  Viertelhundert  von  Gewerken  die  In- 
stitute der  Kompagnonna^e,  1848  treten  die 
Verbände  offen  auf,  in  ihren  Farben,  mit 
ihren  Insignien,  nachdem  sie  bereits  in  den 
blutigen  Sovembertagen  des  Jahres  1831 
und  im  Aprü  1834  zu  Lyon  sich  opfermutig 
für  die  Arbeitersache  geschlagen  hatten. 
Zum  letzten  Male  erscheinen  sie  öffentlich 
zur  Zeit  der  Pariser  Kommune;  damals  be- 
teiligten sie  sich  an  der  Versöhnungsdemon- 
stration auf  den  Wällen  von  Paris.  Die 
Kompagnonnage  hat  bis  in  unsere  Tage 
weiterbestanden,  noch  jetzt  sind  einzelne 
Gewerke  in  der  alten  Art  organisiert:  von 
den  3500  Pariser  Zimmerern  sind  über  2200 
wie  seit  Jahrhunderten  in  zwei  rivalisierende 
Gruppen  rechts  und  links  der  Seine  geteilt, 
die  aber  in  gewerkschafüichen  Dingen  ge- 
meinsam operieren.  Indes  nur  der  Name 
ist  geblieben,  die  Bewegung  hat  einen  neuen 
Inhalt  bekommen.  Die  wirtschaftliche  Holle 
der  Kompagnonnage  ist  den  Syndikalkam- 
meru,  den  modernen  Gewerkschaften  zuge- 
fallen. Die  Komps^nonnage  ist  entweder 
verschwunden  oder  sie  fnstet  als  Unter- 
stützungs-  und  Fortbildungsverein  ihre  Exis- 
tenz. Die  kapitalistische  Produktionsweise 
hat  diese  Umwandlung  verursacht  Die  Ge- 
sellenverbände  beruhten  auf  dem  zünftigen 
Handwerk,  sie  umfassten  ursprünglich  bloss 
die  Gewerke,  die  Winkelmass  und  Zirkel  ge- 
brauchten, die  Bauhandwerker,  die  Schlosser, 
die  Schreiner  etc.,  also  die  Aiistokratie  der 
qualifizierten,  durch  längere  Lehrzeit  ge- 
schulten Gesellen.  So  kam  es,  dass  bereits 
die  Manufaktur  in  ihren  Anfän^n,  indem 
sie  die  Teilung  der  Arbeit  ausbildete  und 
die  harmonische  Entwickehing  des  Hand- 
werkers durch  die  manuelle  Geschicklichkeit 
bei  einer  Teiloperation  ersetzte,  die  erste 
gefährliche  Bresche  in  die  Kompagnonnage 
legte.  Je  weiter  das  Gewerbewesen  auf 
dieser  Bahn  ging,  je  fortgeschrittener  die 
Technik  wiurde,  je  mehr  das  moderne  Fa- 
briksystem mit  seiner  verfeinerten,  arbeit- 
sparenden Maschinerie  die  Arbeitsweise  um- 
wälzte, um  so  gefährdeter  die  altfränkische 
Kompagnonnage,  die  mit  den  zünftigen 
Gewohnheiten,  mit  der  handwerksmässigen 


198 


Gresellenverbände  (Frankreich) 


.Betriebsform  innig  verwachsen,  im  Getriebe 
der  grossen  Manufaktur  imd  Industrie 
-schwerfällig,  unziureichend,  lebensimfähig 
wurde.  Weil  die  Kompagnonnage  der  Not- 
behelf der  in  ihrem  Koalitionsreclite  ver- 
kürzten Arbeiter  war,  deshalb  hatte  sie  sich 
so  lange  halten  können,  obwohl  ihre  Zeit 
erfüllet  war.  Der  Koalitionsgedanke,  die 
Solidarität,  die  Organisationstendenz  mussten 
indes  nachgerade  eine  neue  Form  gewinnen, 
da  sie  anderen  Zuständen  gegenüber  sich  zu 
bewähren  hatten.  So  trat  die  moderne  Ar- 
beiterbewegung die  Erbscliaft  an.  Die  innere 
Zerrüttung  der  Kompaguonnage  musste  zu 
Tage  treten  bei  und  mit  dem  Verfall  der 
Zunftverfassung.  Sobald  dies  Fundament 
ers(;hüttert  ward,  geriet  der  stolze  Bau  der 
Gesellenverbände  ins  Wanken.  Er  wurde 
veräusserlicht,  das  Spielen  mit  Formeln  und 
Formen  überwog,  die  allgemeinen  Interessen 
traten  lünter  die  Eifersüchteleien,  die  klein- 
lichen Zwiste  zunick.  Der  Corpsgeist,  in 
der  Periode  der  Blüte  der  Hebel  der  Aktio- 
nen, artet  aus,  nicht  bloss  die  Angehörigen 
•verschiedener  Riten,  sondern  auch  die  Mit- 
gliedschaften der  gleichen  Gruppe  befehdeten 
sich.  Die  Schriften  Perdiguiers  u.  a.  sind 
voll  von  charakteristischen  Daten.  Zank, 
blutige  Gewaltthat,  richtige  Schlachten 
zwischen  den  Anhängern  der  verschiedenen 
Devou-s,  die  das  Einschreiten  der  be- 
waffneten Macht  erforderten,  haben  sich 
abgespielt,  so  1816  in  Languedoc  zwischen 
den  5litgliedern  zweier  Steinmetz  verbände. 
Georges  Sand  Imt  in  ihrem  anziehenden 
•Romane:  Le  compagnon  du  tour  de  France 
eine  Schlacht  bei  Blois,  in  der  Drilles 
und  (ravots  sich  bekämpften,  packend 
geschildert.  Die  Erbitterung  zwischen  den 
feindlichen  Verbänden  ging  soweit,  dass  sie 
die  gemeinsamen  Interessen  dem  point  d'hon- 
neur,  d.  h.  der  traditionellen  Feindschaft  zu 
Liebe  oi)ferten:  die  Massregeln  des  einen 
Verbandes  wurden  von  dem  anderen  miss- 
achtet \md  illusorisch  gemacht  zum  Schaden 
der  Arbeiter  selbst.  Diese  Spaltimg  eines 
Gewerkes  in  zwei  Lager  war  allein  schon 
unhaltbar.  Die  Mysterien  der  Handwerks- 
geschicklichkeit,  einst  so  peinlich  bewahrt 
und  mit  ein  Hauptmotiv  für  die  Gesclüossen- 
heit  und  Abgeschlossenheit  der  Kompaguon- 
nage, waren  enthüllt,  sie  waren  Gemeingut 
d(*s  Grossgewerbes  geworden,  sie  wan^n 
überholt  durch  die  Triumphe  der  Techno- 
logie. Man  beachte,  dass  die  französischen 
Gesellenverbände  in  ei-ster  Linie  die  Orga- 
nisationen der  gelernten  £litearl)eiter  von 
Elitegewerken  sind,  so  dass  die  Handwerke, 
die  am  längsten  sich  fi'eihalten  von  dem 
Eindringen  der  Maschinerie,  sich  am  längsten 
auch  die  Komjiagnonnage  erhalten,  wie 
die  Bauhandworke.  Die  Kompaguonnage 
beruhte  auf  dem  unverolielichten  üesellen- 


stande,  und  die  neue  Zeit  hatte  die  Manu-- 
faktur-  und  Fabrikarbeiter,  die  sich  Familien 
gründeten,  geschaffen,  •  Sie  verliielt  sich 
einer  Anzahl  von  Handwerken  gegenüber, 
die  nicht  mit  »r(!*querre  et  le  compas« 
schafften,  aristokratisch  ablehnend,  sie  schied 
aus  dem  Fluss  der  modernen  Entwickelung, 
mid  darmn  musste  sie  verschwinden.  Die 
Reformversuche,  die  aus  der  Kompagnon- 
nage heraus  angebahnt  wurden,  mussten 
deshalb  fehlschlagen,  so  eifrig  vor  allem 
Pei'diguier,  später  Deputierter  und  Mitglied 
der  Montagne  1848—185^1,  nach  dem  Staats- 
streiche politischer  Flüchtling,  dann  Moreau 
und  Gösset  sich  darum  bemühten,  von  den 
Schwarmgeistereien  der  Flora  Tristan  ganz 
zu  schweigen.  Die  Kompagnonnage  zu  reor- 
ganisieren war  unmögUch,  da  mm  einmal 
die  fi'ühere  Wirtschaftsweise  der  Vergangen- 
heit angehörte.  Die  Fortgesc^lirittenen 
ti'ennten  sich  von  den  alten  Verbänden.  Die 
Kompagnonnage  als  gewerkschaftliche  Orga- 
nisation verschwindet,  sie  bildet  die  Basis 
ffir  Versicheningszwecken  dienende  Institute. 
Abgestreift  ist  ihr  der  romantis(*he  Schmelz, 
ihre  farbige  Symbolik  ist  zerronnen,  und 
neue  Gebilde  erscheinen  an  ihrer  Statt. 

Litteratar:  J".  Barberet,  Le  Travail  en  France, 
Monographien  Professionellem,  tom.  I,  p.  5,  Paris 
1886,  tom.  III,  p.  S7,isq.  —  CapuSf  Conseüs 
d'un  rieux  compagnon  d  son  fils  pret  a  partir 
pour  le  tour  de  France,  Tours  I844.  —  Chovin, 
Le  conseiller  des  conxpagnons.  —  J'oseph 
I>rioiiXy  Ktude  economirjue  sur  les  associations. 
Les  coalitions  d*ourriers  et  de  patrons  de  1789 
d  nos  jours  etc.,  p.  :i65  sq.,  Paris  1884-  —  A, 
Eyron,  Le  Livre  de  l'Ourrier.  —  O.  W,  Far- 
nam,  Die  innere  französische  Geicerbepolitik 
von  Colhertbis  Turgot,  Leipzig  1878.  — Hubert» 
VallerouXy  Compagnonnage,  im  Nouveau  Die- 
tionnaire  d* Economie  Poliiique  par  L.  Say,  L  I, 
p.  475—477,  Paris  189S.  —  R.  Jay,  Das  Ge- 
setz betr.  die  Abschaffung  der  auf  das  Arbeits- 
buch bezüglichen  Bestimmungen,  im  Archiv  für 
soz.  Gesetz,  u.  Stat.  III,  S.  6S2 — 684.  —  I>er» 
ftelbCf  Die  Syndikate  der  Arbeiter  und  Unternehmer 
in  Frankreich,  ebenda  IV,  S.  40Sff.  —  jBwt. 
Leviisseur f  Ilistoire  des  classes  ouvrikres  en 
France,  depuis  de  la  conqucte  de  Jules  Cesar 
jusqu'ä  la  Revolution  I,  p.  191  sq.,  p.  809  sq., 
p.  4(>^  ^9'/  ^^>  P-  U'i  i^q-,  P'  811  sq.,  p.  862  sq., 
Paris  1859.  —  Derselbe^  Ilistoire  des  classes 
ouvrihres  en  France  de  1789  Jusqu^d  nos  jours, 
I,  p.  54  sq.,  p.  187  sq..  p.  868  sq. ;  II,  p.  160  sq., 
Paris  1867.  —  JE.  Laurent,  Le  pauperisme  et 
les  associations  de  prevoyance,  I,  p.  2^2 — 260, 
Paris  1865.  —  W.  Lexi«,  Gewerkrereine  und 
L'nternehmerrerlHinde  in  Frankreich,  tS.  11  ff'.,  S. 
118ß.,  Leipzig  1879.  —  Marotissefn,  Vharpentiers 
de  Paris,  Question  Ouvrure  I,  p.  127  sq.,  Pftris 
1891.  —  P,  Moreau f  De  la  re forme  de^  abus 
du  compagnonnage,  AurciTe  I848.  —  Derselbe, 
Explication  d  tous  les  ouvriers  relative  d  la  lettre 
de  Mr.  Perdiguier,  Auxerre  I848.  —  Agrieol 
Perdiguier,  LeLirre  du  Compagnonnage,  Paris 
1841;  8«  edit.,  2  vol.,  1857.  —  Derselbe,  Ilistoire 
d'une  scission  du  comjxtgnonnage.  —  Derselbe^ 


(resellenverbände  (Frankreich) — Gesellenvereine  (katholische) 


1^9 


Question  vitale  »ur  le  eompagnonnage  et  la  classe 
ouvriere,  1861.  —  Le  Plny^  Le«  ouvriers  euro- 
peens  F,  p.  460  »q.,  2*  ed.,  Tours  1878.  —  ^L 
C.-G.  Simony  Etüde  hUtorique  ei  morale  sur 
le  Compagnonnage  et  sur  quelques  autres  asao- 
ciations  d'ourriers,  Paris  18öS.  —  G.  Schön- 
berg, Das  Gewerhegericht  in  Frankreich,  in 
Schönberg  II,  *V.  519 ff.,  8.  Aufl.,  Tilbingen  1891. 

Bruno  Sehoenlank, 


OeselleiiTereiiie 

(katholische). 

Die  älteste  und  wegen  ihrer  eigenartigen 
Organisation  noch  heute  unübertroffene  ka- 
tholisch-soziale Schöpfung  sind  die  von  dem 
vGesellenvater«  Adolf  Kolping  (gob.  8. 
Dezember  1813  zu  Kerpen  bei  Köln)  vor  50 
Jahren  ins  Leben  gerufenen  Gesellen  vereine. 
Der  thatkräftige  Stifter  derselben,  welclier 
durch  seltene  Energie  vom  SohustergesoUen 
sich  zum  Priester  emporrang,  hat  als  solcher 
sein  ganzes  Leben  seinen  früheren  Standes- 
genossen, den  Handwerksgesollen  geweiht. 
Schon  als  Kaplan  in  Elberfeld,  wo  er  einen 
Jünglingsverem  leitete,  reifte  in  ihm  die 
Idee  einer  besonderen  Organisation  der 
Handwerksgesellen,  welche  er  in  der  Schrift : 
»Der  G e s e  1 1  e n V e r ei a,  zur  Beherzigung 
für  Alle,  die  es  mit  dem  wahren  Volkswohl 
gut  meinen«  (Köln  und  Neuss  1849)  nieder- 
legte. Als  Domvikar  nach  Köln  berufen, 
suchte  er  dann  sofort  seinen  Gedanken  in 
die  That  zu  übersetzen,  indem  er  hier  im 
Frühjahr  1849  den  ersten  Gesellenverein 
und  1852  das  erste  Gesellenhospiz  gründete. 
Unterdessen  war  aber  Kolping  auch  aus- 
wärts bereits  für  sein  Werk  mit  grossem 
Erfolge  thätig  gewesen,  so  dass  1853  schon 
an  300  Vereine,  meist  in  Rheinland  und 
Westfalen,  bestanden.  Doch  hatte  der  Ge- 
sellenverein auch  in  den  meisten  grösseren 
Städten  Deutschlands,  wie  München,  Dres- 
den, Freiburg,  Breslau,  Berlin,  Wien  u.  a., 
schon  festen  Fuss  gefasst. 

Um  die  einheitliche  Organisation  der  Ge- 
sellenvereine zu  wahren,  entwarf  Kolping 
ein  für  aUe  Vereine  im  ganzen  bis  heute 
massgebendes  Generalstatut.  Die  äussere 
Organisation  wurde  1864  im  Anschluss  an 
die  kirchliche  Verwaltung  in  der  Art  be- 
werkstelligt, dass  jeder  Jjokalverein  einem 
vom  Bischof  zu  ernennenden,  in  der  Regel 
geistlichen  Präses,  die  Vereine  jeder  Diözese 
einem  Diözesanpräses  und  der  ganze  Verein 
einem  Generalpräses  unterstellt  wimle. 
Ausserdem  bildete  sich  für  Bayern  und 
Oesterreich-Üngarn  eine  gewisse  Central- 
organisation.  Jährlich  findet  eine  Konferenz 
der  Diözesanpräsides  und  alle  drei  Jahre 
eine  Generalversammlung  sämtlicher  Präsi- 
des statt.    Als  Vereinsorgan  dienen  für  die 


Präsides  die  vom  Generalpräsidium  viertel- 
jährlich ausgegebenen  »Mitteilungen  für 
die  Vorsteher  der  katholischen  Gesellen- 
vereine«, für  die  Mitglieder  die  von  Kolping 
bereits  1853  begründeten  »Rheinischen  Volks- 
blätter«, welche  wöchentlich  mit  der  Bei^ 
läge  ^GeseUenfreund«  erscheinen. 

Kolping  blieb  bis  zu  seinem  Tode  (4. 
Dezember  1865)  General  präses.  Ihm  folgte 
der  gegenwärtige  Generalpräses,  Domkapitu- 
lar  Sebastian  Schäffer  zu  AÖln,  unter  dessen 
langjährigem  Generalpräsidium  der  Gesellen- 
verein  stetig  weitere  Fortschritte  gemacht  hat. 
Die  Gesellenvereine  zählen  reichlich  80000 
aktive  Mitglieder  d.  h.  unverheiratete  Gesellen. 
Die  Verheirateten  können  nur  inaktive  oder 
ausserordentliche  Älitglieder  bleiben,  ebenso 
die  selbständig  gewordenen  Meister.  Doch 
haben  sich  vielerorts  eigene  MeisteiTcreine 
im  Anschluss  an  den  Gesellenverein  gebildet. 
Ebenso  sind  vielfach  in  Verbindung  mit 
dem  Gesellenverein  eigene  Lehrlingsvereine 
ins  Ijcben  gerufen  worden,  so  dass  derselbe 
das  ganze  Handwerksleben  tunfasst.  Der 
Gesellenverein  ist  eine  eminent  soziale 
Schöpfung,  aber  kein  sozialpolitischer  Verein. 
»Die  grosse  Frage  der  Organisation  des 
Handwerks  berührt  ilin« ,  wie  der  gegen- 
wärtige Generalpräses  treffend  bemerkt  hat, 
»nur  mittelbar;  er  erachtet  es  nicht  als 
seine  Aufgabe,  in  diese  Frage  sich  einzu- 
mischen, will  dagegen  dem  Handwerk,  wie 
immer  dasselbe  äusserlich  gestaltet  wird, 
stets  gutes  Blut,  Gesellen  vom  rechten 
Geiste  zuführen.  Ebensowenig  greift  der 
Verein  in  die  grossen,  weltbewegenden 
Kämpfe  um  Arbeits-  und  Lohnregelung 
mitstreitend  ein«.  Der  Gesellen  verein  unter- 
scheidet sich  daher  wesentHch  w^ie  von  den 
mittelalterlichen  Gesellenladen  so  besonders 
von  den  modernen  Gewerkvereinen,  bei 
welchen  die  Arbeits-  und  Lohnregelung 
gegenüber  dem  Meister  und  Arbeitgeber  im 
Vordergrund  steht.  Der  Verein  setzt  viel- 
mehr gleich  dem  Handwerkerschutzgesetze 
V.  26.  Juli  1897  das  patriarchalische  Ver- 
hältnis von  Gesellen  und  Meistern  voraus, 
und  dürfte  derselbe  sich  zur  Durchführung  der 
im  §  95  des  genannten  Gesetzes  vorgesehe- 
nen GeseUenausschüsso  als  besonders  -vsirk- 
sam  erweisen.  Auf  alle  Fälle  ist  er  her- 
vorragend geeignet,  der  Erhaltung  des  selb- 
ständigen Handwerks  zu  dienen.  Wie  weit 
es  zweckmässig  erscheint,  dass  die  Mitglieder 
des  Gesellenvereins  sich  an  der  neueren 
christlif^hen  Gewerkvereinsbewegung  betei- 
ligen, ist  eine  schwierige  und  augenblick- 
lich viel  verhandelte  Fragte  Jedenfalls  wird 
der  Verein  als  solcher  sich  dieser  an  sich 
höchst  zweckgemässen  Bewegung  gegenüber 
neutral  verhalten  müssen,  wenn  er  seinen 
lu^prünglichen  Charakter  behalten  soll. 

Der  Gesellenverein    ist   seinem   eigent- 


200 


Gresellenvereine  (katholißche) 


liehen  Wesen  nach  ein  auf  religiöser  Grund- 
lage begründeter  Standesverein  ziun  Schutz 
der  Handwerksgesellen  in  der  Heimat  und 
besonders  in  der  Fremde  und  auf  der 
Wanderschaft,  zur  Pflege  der  Standestugen- 
den, der  aligemeinen  und  gewerbliäien 
Fortbildung  sowie  des  Frohsinns  und  aoge- 
messener  Erholung.  Die  Mittel  zur  Er- 
reichung des  Vereinszweckes  sind  Vorträge, 
Unterricht,  Bibliothek  und  Lesezimmer,  ge- 
meinsame Unterhaltung  und  angemessene 
Spiele.  Der  Unterricht  lunfasst:  Religion, 
Deutsch,  Rechnen,  einfache  Buchführung, 
Zeichnen,  Geschichte  und  Geo^phie,  Na- 
turkunde und  Gesang.  An  diesem  allge- 
meinen Unterricht,  welcher  nicht  obligato- 
risch ist,  nehmen  von  den  ca.  1000  aktiven 
Mitgliedern  des  Kölner  Gesellenvereins 
durchschnittlich  250  teil.  Zum  Zweck  ge- 
werblicher Fortbildung  und  zur  Besprechung 
specieller  gewerblicher  Fragen  haben  sich 
in  den  letzten  Jahren  in  den  grösseren 
Vereinen    vielfach    eigene    Fachabteilungen 

gebildet  Solcher  bestehen  zur  Zeit  im 
ölner  Verein  acht,  je  eine  für  Bäcker, 
Schuhmacher,  Schneider,  Schreiner,  Maler 
und  Anstreicher ,  Sattler ,  Polsterer  und 
Tapezierer,  Metallhandwerker  sowie  für  das 
graphische  Gewerbe.  Die  zu  einer  jeden 
der  genannten  Klassen  gehörenden  Gesellen 
haben  in  einem  Räume  des  Hospizes  regel- 
mässige besondere  Konferenzen,  m  welchen 
gewerbliche  Fragen  erörtert  und  ent- 
sprechende Vorträge  gehalten  werden.  Jede 
Abteilung  hat  ihre  besonderen  Fachzeit- 
schriften, vielfach  auch  speciellen,  von  einem 
Fachmann  erteilten  Unterricht  So  wurden 
praktische  Kurse  abgehalten  in  Holz-  und 
Marmor-Malen,  Vergolden,  Bodenarbeit  u.  &,w. 
Fast  alle  Gesellenvereine  haben  eigene  Spar- 
kassen, die  meisten  auch  eigene  Krankenkassen 
oder  Filialen  sogenannter  Hauptkranken- 
kassen, wie  die  Sebastianuskrankenkasse  zu 
Köln  und  die  Hauptkrankenkasse  im  Ge- 
selleuhause  zu  Düsseldorf.  Die  Sparkasse 
wies  in  Köln  1895  eine  Einlage  von  118732 
Mark  auf.  Der  Krankenkasse  gehörten  900 
Mitgheder  an,  während  eine  Zuschusskasse 
250  Mitglieder  zählte,  meist  verheiratete 
Gesellen.  Für  die  aus  dem  Verein  hervor- 
gegangenen Meister,  250  an  der  Zahl,  be- 
steht eine  allgemeine  Spar-  und  Kreditkasse 
zur  leichten  Vermittelung  billigen  Kredits 
an  die  Mitglieder,  insbesondere  zur  Gewäh- 
rung von  Voi-schüsscn  zur  Beschaffung  von 
Rohstoffen  imd  Maschinen. 

Erspriessliches  leisten  die  Gesellenver- 
eine durch  Arbeitsnachweis  und  Stellenver- 
mittehmg,  weil  sie  besser  für  ilire  Mitglie- 
der garantieren  können  als  die  allgemeinen 
Arbeitsnachweisestellen.  Mit  den  grösseren 
Vereinen  ist  allenthalben  ein  eigenes  Arbeits- 
nachweisbureau   verbunden.      Seit    einiger 


Zdt  ist  in  einem  Centralarbeitsnachweis 
mit  dem  Sitz  in  Köln  der  Versuch  gemacht, 
durch  Austausch  der  Vereine  der  Erzdiözese 
Köln  arbeitslosen  MitgUedem  rasch  zu  einer 
Stelle  zu  verhelfen  und  so  dem  planlosen 
und  übermässigen  Wandern  vorzubeugen. 
Auf  der  Wanderschaft  erhalten  die  Gesellen 
vorübergehend  in  den  Gesellenh&usem  oder, 
wo  solche  noch  fehlen,  auf  Kosten  des 
Vereins  meist  freies  liOgis,  obgleich  ein 
eigentliches  Anrecht  darauf  nicht  besteht 
So  hat  der  Kölner  Verein  in  den  50  Jahren 
seines  Bestehens  über  60000  Gesellen 
Nachtlager  und  Logis  gespendet  In  den 
grösseren  Vereinshäusern  finden  auch  aus- 
wärtige Mitglieder,  welche  nicht  bei  ihrem 
Meister  wohnen  können,   für  billige  Ver- 

gitung  ständig  Kost  und  Lo^s.  Das  Kölner 
ospiz  mit  seinen  beiden  Filialen  beherbergt 
durchschnittlich  300  Gesellen.  Die  Zahl 
der  durchreisenden  Gesellen  beträgt  jähr- 
lich ca.  2700. 

Nach  dem  neuesten  offiziellen  Verzeich- 
nisse wurden  1058  Vereine  mit  316  Hospizen 
gezählt    Davon  entfellen: 

auf 

Preussen 

Bayern 

Königr.  Sachsen     .    . 
„       Württemberg 
Grossherzogt  Hessen 
Baden  . 


eine 

Hospize 

434 

156 

196 

35 

13 

5 

47 

9 

8 

4 

49 

9 

Insges.  auf  das  Deutsche  Reich    747 


218 


Oesterreich-Üngarn    ....  257  81 

Schweiz 30  7 

Niederlande 8  7 

Luxemburg 2  i 

Belgien 2  i 

Amerika 7  i 

Je  ein  deutscher  Gesellenverein  besteht 
in  Paris,  London,  .Stockholm,  Rom  und 
Alexandrien. 

Litteratur:    Adolf  Kolping,  Der  GeseümvcUer, 
ein  Lebensbild,   entworfen  von  &   O»  Sch&ffeTf 

GcneralpräseSj  2.  Aufl.,  Münster  i.  W.  1882.  — 
Vosen,  Kolpings  Gesellenverein  in  seiner 
soziiUen  Bedeutung,  Frankfurt  1866.  —  Präses 
MayVf  Der  katholische  CeniralgeseUenverein  in 
München,  eine  Festschrift,  München  1876,  — 
P,  JPahn,  Die  katholischen  Gesellenvereine  in 
Deutschland,  Berlin  1882.  —  J,  P.  Nowiig, 
Geschichtliche  Entwi<'kelung  des  St.  Eduard- 
Meister- Vereins  und  des  katholischen  Lehrlings- 
Vereins  sowie  die  Gründung  des  katholischen 
Gesellenvereins  zu  Berlin,  Berlin  1895.  —  ML 
Brandt«  f  Die  katholischen  Wofdthätigkeits- 
anstalten  und  Vereine,  Köln  1896. 

Andr,  BrüiU 


Gesellschaft  und  Oesellschaftswissenschaft 


201 


Getellscliaft  und  Oesellschaftt- 
wissenschaft. 

1.  Beg^riff  der  Oesellschaft.  2.  Geschichte 
des  GeseU^af tsbegriffes  und  der  Gesellschafts- 
wiasenschaft.  3.  Die  Frage  nach  der  Möglich- 
keit einer  Gesellschaftslehre  und  sozialer  Ge- 
setze. 

1.  Begriff  der  Gesellschalt  Die  For- 
men gemeinsamen  Lebens,  gemeinsamer  An- 
schauungen, gemeinsamen  Handelns,  welche 
die  einzelnen  Menschen  miteinander  ver- 
binden, sind  zwar  höchst  mannigfaltig,  trotz- 
dem liegt  es  nahe,  in  ihnen  allen  eine  über- 
einstimmende Grundlage,  die  Aeusserung 
eines  und  desselben  Triebes  zu  sehen  und 
sie  deshalb  auch  insgesamt  unter  einen  Be- 
griff zu  sammeln.  Dies  würde  dann  der 
Begriff  der  Gesellschaft  sein.  Alle  mög- 
lichen Formen  menschlichen  Gemeinschafts- 
lebens werden  mit  diesem  Namen  ziemlich 
übereinstimmend  in  allen  modernen  Sprachen 
bezeichnet  Im  Deutschen  nennen  wir  schon 
eine  flüchtige  Vereinigung  zimi  Zwecke  des 
gemeinsamen  materiellen  oder  geistigen  Ge- 
nusses mit  Vorliebe  »eine  Gesellschaft«. 
Wir  sprechen  von  der  »guten«,  der  »feinen«, 
der  »gebildeten  Gesellschaft«,  lim  anzudeuten, 
dass  bestimmte  Interessen  der  ästhetischen 
Büdun^  und  der  das  Leben  regelnden  Sitte 
in  weiten,  nicht  genau  abzugrenzenden 
Kreisen  der  Bevölkerung  gleichmässig  vor- 
handen sind.  Wir  nennen  auch  diese  der- 
gestalt konstnüerte  Gruppe  der  Bevölke- 
rung gern  »die  Gesellschaft«  schlecht- 
hin. Wir  gehen  in  der  Sondenmg  und 
Abstufung  der  geistigen  Sphären,  von 
denen  die  Anschauungs-  und  Lebensweise 
derer,  die  in  ihi^en  leben,  bestimmt  wird, 
so  weit,  dass  wir  sogar  von  einer  »gross- 
städtischen« oder  »kleinbürgerlichen  Gesell- 
schaft« reden.  Auf  der  anderen  Seite  dehnen 
wir  den  Begriff  der  Gesellschaft  aus  auf  die 
Gesamtheit  der  Mitglieder  eines  Staatswesens 
oder  der  Staaten  überhaupt,  nennen  sie  »die 
bürgerliche  Gesellschaft«  und  kennzeichnen 
sie  hiermit  als  Trägerin  aller  der  Zwecke, 
die  im  Staat  ihre  Verwirklichung  suchen. 
Da  aber  sehr  viele  gemeinsame  Interessen 
der  Menschen  über  die  Machtsphäre  des 
einzelnen  Staates  hinausreichen,  so  stellen  wir 
auch  oft  den  »Staat«  und  die  »Gesellschaft« 
in  einen  Gegensatz  zu  einander,  —  es  scheint 
dies  heute  der  üblichste  Gebrauch  zu  sein 
— ,  wir  bilden  den  Begriff  einer  »civili- 
sierten«,  vielleicht  den  einer  »europäischen 
oder  abendländischen  Gesellschaft«.  Ein  so 
schaiier  B^riffskritiker  wie  Kümelin  wollte 
sogar  den  Segriff  Gesellschaft  nur  in  dieser 
B^renzung  wissenschaftlich  zulassen.  Da- 
rüber hinaus  stellen  wir  aber  noch  die  denkbar 
weiteste  Formulierung  »die  mensclüiche  Ge- 
sellschaft« an  die  Spitze  aller  dieser  einzelnen 


Gesellschaftsformen.  Auch  hier  aber  glauben 
wir  uns  wieder  berechtigt,  von  der  Gesellschaft 
schlechthin  zu  reden  und  dabei  stillschwei- 
gend zu  verstehen,  dass  den  Mitgliedern  des 
menschlichen  Geschlechtes  eine  grosse  Reihe 
von  Interessen  gemeinsam  ist  und  dass  ihr 
Einzelleben  in  seinen  scheinbar  willkürlichen 
Aeusseningen  durch  diesen  gemeinsamen 
Anschauungs-  oder  Interessenkreis  der  Ge- 
samtheit gefärbt  oder  bestimmt  wird. 

Hierbei  ist  noch  dazu  ausser  acht  ge- 
lassen, dass  der  Jurist  mit  dem  Wort  Ge- 
sellschaft auch  noch  eine  auf  Vertrag  be- 
ruhende Vereinigung  mehrerer  Personen  zu 
wirtschaftiicher  Erwerbsthätigkeit  und  in 
Analogie  hierzu  sogar  die  Kirchen  als  Reli- 
gionsgesellschaften bezeichnet  Von  den  bis- 
her besprochenen  Anwendungen  des  Wortes 
scheiden  sich  diese  letzten  ersichtlich,  da 
diese  Gesellschaften  als  solche  auf  einem 
Rechtsakt  beruhen.  Demungeachtet  sind 
gerade  sie  für  die  Geschichte  des  allge- 
meinen Gesellschaftsbegriffes  von  grösster 
Bedeiitunff  gewesen. 

Von  allen  Formen  menschlichen  Gemein- 
schaftslebens ist  es  also  eigentlich  nur  die 
Familie,  die  wir  jetzt  nie  mit  dem  Worte 
»Gesellschaft«  bezeichnen,  während  es  der. 
Urheber  des  ganzen  Begriffs,  Aristoteles, 
ausdrücklich  that  Von  ihr  sagt  man  im 
Gegenteil  wohl  oft,  dass  sie  »die  Grund- 
lage der  Gesellschaft«  sei  und  giebt  im 
übrigen  nur  zu,  dass  ihre  besondere  Ge- 
staltung durch  »den  Zustand  der  Gesell- 
schaft« bestimmt  sei.  Der  Grund,  weshalb 
wir  die  Familie  nicht  in  den  Gesellschafts- 
begriff einordnen,  liegt  offenbar  darin, 
dass  wir  in  der  Familie  einen  natürlichen, 
durch  gemeinsame  Abstammung  gegebenen 
Verband  sehen,  bei  dem  Worte  Gesellschaft 
hingegen  —  selbst  die  bürgerliche  und 
menschliche  Gesellschaft  nicht  ausgeschlossen 
—  eine  gewisse  Freiwilligkeit  in  der  Zu-: 
gehörigkeit,  die  jedoch  die  ünterwerfimg 
unter  eine  äussere  Regelung  nicht  aus- 
schliesst,  voraussetzen.  Die  erweiterte  Fa- 
milie nach  der  Art  der  Zadruga  der  Süd- 
slaven bezeichnen  wir  auch  sofort  wieder 
als  »Hausgemeinschaft«,  also  mit  einem  der 
Gesellschaft  nahe  verwandten  Ausdrucke. 
Wir  denken  die  Vertragstheorie,  obwohl  wir 
sie  wissenschaftlich  längst  überwunden  haben, 
doch  immer  stillschweigend  beim  alltäglichen 
Gebrauche  des  Wortes  Gesellschaft  mit 
Neuerdings  hat  Tönnies  den  Versuch  ge- 
macht, die  Formen  blosser  Gemeinschaft 
und  eigentlicher  Gesellschaft  schärfer,  als 
bisher  geschehen,  zu  scheiden,  so  dass  alle 
diejenigen  genossenschaftlichen  Bildungen, 
die  aus  der  Famüie  hervorgegangen  sind 
oder  sie  nachahmen,  zur  Gemeinschaft  ge- 
zälüt  w^erden.  Auf  den  höheren  Kultur- 
stufen,   die    eine    sehr   mannigfaltige    luid 


202 


Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft 


verwickelte  Gruppenbildung  zeigen,  ist 
eine  solche  im  Prineip  berecrhtigte  Abrech- 
nung jedodi  sehr  schwer,  wenn  nicht  un- 
mödich. 

Dass  die  Spra(the  das  Wort  Gesellschaft 
zur  Bezeichnung  aller  irgendwie  gearteten 
Ideeen-  und  Interessengemeinschaften  nicht 
entbehren  kann,  ist  klar;  ob  aber  ihre  Zu- 
sammenfassung unter  einem  so  verschwom- 
menen Sammelbegriffe  einen  wissenschaft- 
lichen Wert  hat,  ist,  die  spra(;hliche  Un- 
entbehrlichkeit  auch  zugegeben,  noch  immer 
eine  offene  Frage.  Jedenfalls  ist  aber  die 
Yorderung  berechtigt,  wenn  nicht  gar  not- 
wendig, dass,  ehe  man  eine  anspruchsvolle 
Gesellschaftswissenschaft  ausbaut,  die  fast 
alle  anderen  Geisteswissenschaften  teils  er- 
setzen, teils  in  sich  aufnehmen  will,  Klar- 
heit in  dem  Gnmdbegriffe  gescliaffen  werde, 
durch  den  der  Gegenstand  dieser  Wissen- 
schaft *  selber  erst  bestimmt  wird.  Es  ist 
das  Verdienst  Stammlers,  neuerdings  in  ein- 
dringender, \delseitiger  Kritik  diese  Not- 
wendigkeit und  die  ünzulänglicjhkeit  aller 
bisherigen  Yersuche  dargelegt  zu  haben; 
die  Ijösung,  welche  er  selV>er  giebt  und  kon- 
secjuent  an  allen  Problemen  der  Gesell- 
schaftswissenschaft diu-chführt,  ei'sc^heint  mir 
aber  nicht  befriedigend i).  Er  sucht  das 
^Moment,  durch  welches  das  gesellschaftliche 
Zusammenleben  gegenüber  dem  bloss  physi- 
schen Beisammensein  bestimmt  wird,  imd 
findet  es  in  der  von  Menschen  hennihrenden 
Regelung  ihres  Verkehre  und  Miteinander- 
lebens.  Gesellschaftliche  Vorgänge  sind  da- 
her nach  ihm  menschliche  Wechselbeziehun- 
gen unter  äusseren  Regeln.  Als  äussere 
Regelung  menschlichen  Verhaltens  liat  man 
stets  die  Rechtsordnung  bezeichnet,  Stammler 
fügt  als  eine  Art  Vorstufe  oder  SiUTOgat 
derselben  die  Konvention  hinzu,  wie  auch 
H.  Spencer  von  einer  Herrschaft  des  Gere- 
moniells  als  einer  besonderen  Entw'^ickelungs- 
stufe  der  Gesellschaft  spricht.  Im  wesentlichen 
fallen  ihm  aber  Rechtsordnung  und  Gesell- 
schaftsordnung zusammen.  Er  bemüht  sich  zu 
zeigen,  dass  auch  die  speciell  »gesellschaftlich« 
genannten  Erscheinungen,  z.  B.  die  Bevölke- 
nmgsbewegung ,  der  Kampf  ums  Dasein 
u.  s.  w.,  als  solche  nur  bezeichnet  werden 
können,  wenn  sie  auf  die  in  ihnen  vorkom- 
menden Begriffe  der  Ehesclüiessung,  des 
Erwerbs,  der  Verbrechen  u.  s.  w.,  die  diu-ch 

')  Stammler  wählt  meine  Ausführungen  in 
der  1.  Auflage  des  H.W.B.,  lun  die  völlige  Rat- 
losigkeit der  bisherigen  Wissenschaft  in  der 
Bestimmung  des  Begriffs  Gesellschaft  daran  zu 
illustrieren.  Er  thut  dies  mit  vollem  Recht ;  aber 
nach  wie  vor  sehe  ich  in  dem  Wort  Gesellschaft 
nur  einen  Not-  und  Hilfsbegriff  und  glaube 
nicht,  dass  es  über  eine  brauenbare  Allgemein- 
vorstellung hinaus  zum  scharf  bestimmten  Be- 
griff ausgebildet  werden  kann. 


äussere  Regeln  konstituiert  sind,  bezogen 
werden.  So  weit  solche  Beziehungen  auf 
äussere  Regeln  in  wirtschaftlichen  Erschei- 
nungen nicht  vorhanden  sind,  handelt  es 
sich  nach  ilim  nicht  um  gesellschaftliche, 
sondern  um  technische  oder  physische  That- 
sachen.  Stammlers  GeselLscliaftsbegriff  wüixle 
sich  also  auf  den  der  »bürgerlichen  Gesell- 
schaft« reduzieren.  Der  Sprachgebrauch  frei- 
lich und  die  ihm  instinktiv  folgende  Wissen- 
schaft hat,  wie  wir  sahen,  die  gesellschaft- 
lichen Thatsachen  eher  gern  in  einen  Ge- 
gensatz zu  den  Rechts-  und  Staatsordnungen 
gebracht  oder  sie  als  unabhängige  Ursache 
dieser  aufgefasst.  Dies  würde  nicht  viel 
ausmachen,  vielmehr  ist  ohne  weiteres  zu- 
zugeben, dass  alle  Erscheinungen  des  Ge- 
mein scliaftslebens,  da  sie  sich  in  rechtlich 
geordneten  Staaten  abspielen,  auch  Einflüsse 
der  ihnen  hierdurch  gestellten  Bedingungen 
aufweisen.  Das  gilt  aber  ebenso  von  den 
Erscheinungen  des  Innenlebens,  die  sich  doch 
als  solche  der  äusseren  Regelung  entziehen : 
von  Moral  und  Religion.  Es  rilhrt  dies 
einfach  daher,  dass  das  Geistesleben  jeder 
Einzelperson  ein  Ganzes  bildet,  in  dem  sich 
alle  einzelnen  Teile  unter  einander  be- 
stimmen. 

Die  »äussei'e  Regelung«  ist,  wie  es  schon 
ihr  Begriff  mit  sich  bringt  jedenfalls  nicht 
die  Hauj)tui*sache  der  gesellschaftlichen  Er- 
scheinungen ;  als  ürsacbe,  die  in  ihnen  mit- 
wirkend ist,  spielt  sie  nelmehr  niu*  in  sie 
hinein,  während  die  Hauptursachen  auf  an- 
deren Gebieten  liegen.  Man  mag  zwar  die 
rein  physischen  Ui-sachen  in  der  That  besser 
ausschalten,  aber  dies  geht  nicht  an  liei 
den  Ureachen,  die  in  Meinimg,  Bildung,  Moral, 
Religion  liegen,  Faktoren,  die  auch  Massen- 
erschoinungen  und  nicht  bloss  individuell 
sind ;  man  müsste  denn,  was  Stammler  nicht 
thut,  ihnen  die  Selbständigkeit  absprechen 
und  sie  nur  als  Funktionen,  sei  es  des  po- 
litischen, sei  es  des  materiell- wirtschaftlichen 
Lebens  auffassen.  Die  Bevölkerungsbewe- 
gung z.  B.  liängt  zwar  auch  von  den  Rechts- 
ordnungen und  der  unter  ihrem  Einfluss  sich 
gestaltenden  Produktion  und  Verteilung  der 
Güter,  aber  ebenso  von  allen  jenen  Faktoren 
ab,  und  diese  äussern  sich  geradein  ihren  Ver- 
schiedenheiten \md  Schwankungen ;  erst  um 
aller  dieser  zusammenwirkenden  Ursachen 
willen  bezeichnen  wir  die  Bevölkenmgshe- 
wegimg  als  die  wichtigste  Reihe  sozialer 
Ei>icheinungen.  In  den  Thatsachen  der 
Konsumtion  spielt  vollends  die  Meinung 
die  entscheidende  Rolle.  Durch  sie  wird 
die  mittlere  Lebenshaltung  sehr  stark,  der 
Luxus  fast  allein  bestimmt  während  der 
Einfluss  der  Rechtsordnung  hier,  w^e- 
nigstens  in  der  Neuzeit  stark  zui-ücktritt 
und  sicli  fast  nur  indirekt  durch  deu 
Einfluss,   den    sie    auf  die   Eigentumsver- 


Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft 


203 


.teilung  ausübt,  geltend  macht.  Aber  nicht 
um  dieser  vereinzelten  indirekten  Beziehung 
•Villen,  sondern  vielmehr  wegen  jener  un- 
vennittelten  zu  den  geistigen  Massenerschei- 
nungen wird  man  die  Konsumtion  als  so- 
ziale Erscheinung  betrachten.  So  stellt  sich 
Stammlers  Begriffsbestimmimg  zwar  als 
■genau,  aber  auch  als  zu  eng  heraus.  Eine 
Antwort  auf  die  Frage  nach  dem  Wesen  des 
schwankenden  Gesellschaftsbegriffes  und 
Dac*h  seiner  Brauchbarkeit  kann  man  zu- 
nächst nur  dadurch  finden,  dass  man  die 
Rolle  beobachtet,  die  dieser  Begriff  in  der 
Entwickelung  der  Geisteswissenschaften  ge- 
spielt hat.  Diesen  Weg,  den  man  im  Hin- 
blick auf  das  Ziel  vielleicht  nur  die  nötige 
Yorarbeit  nennen  wird,  hat  mit  eutem  Er- 
folge namentlich  Gierke  eingeschlagen,  wo- 
bei die  historische  Unbefangenheit  in  der 
Erfassung  des  einzelnen  kemeswegs  durch 
seine  ausgeprägte  eigene  Ansicht  über  das 
Wesen  des  Staates  und  der  Gesellschaft  be- 
einträchtigt wird. 

2.  Geschichte  des  Gesellschaftsbe- 
griffes und  der  Gesellschaftswissen- 
schaft. Der  üi-sprung  des  Gesellschaftsbe- 
griffes liegt  unzweifelhaft  in  Aristoteles' 
Politik,  nachdem  das  Gesellschaftsproblem 
in  Vorbindung  mit  der  Frage  nach  dem 
Wesen  des  Staates  und  des  Rechtes  schon 
von  den  Sophisten  und  von  Piaton  beliandelt 
worden  war.  Aristoteles  geht  bei  seiner 
Untersuchung  von  dem  Begnffe  der  youiatiu 
aus,  der  dem  römischen  der  sodetas,  dem 
deutschen  der  Gesellschaft  mit  Einschluss 
der  Gemeinschaft  entspricht.  Da  ihm  zu- 
folge jede  xoivatyia  um  eines  Gutes  willen 
entsteht  und  besteht,  so  ist  auch  die  Inte- 
ressengemeinschaft als  das  Wesen  der  Ge- 
sellschaft bereits  von  ihm  bestimmt  worden. 
Der  Staat  selber  erscheint  hier  als  eine 
xotrofyia;  er  ist  uach  Gierkcs  treffender  Be- 
merkung bei  Aristoteles  weit  mehr  das,  was 
wir  jetzt  die  bürgerliche  Gesellschaft,  als 
was  wir  den  Staat  nennen.  Indem  diese 
höchste  Form  der  Gesellschaft,  die,  als  die 
vollendetste,  der  Idee  nach  die  früheste,  der 
Zeit  nach  die  späteste  ist,  in  die  Erschei- 
nung tritt,  geraten  alle  anderen  von  ihr  in 
Abhängigkeit;  sie  existieren  nur  noch  durch 
sie  und  für  sie.  Der  Staatsabsolutismus,  die 
unl>edingte  Unterordnung  des  Einzelwillens 
und  Einzelinteresses  unter  das  Gesamtinte- 
resse, wie  er  den  Griechen  infolge  ihrer 
ganzen  historischen  Entwickelung  als  ethi- 
sches Ideal  erscheint,  herrscht  schliesslich 
auch  bei  Aiistoteles,  wie  sogar  seine  Recht- 
fertigung der  Ehe  und  des  Eigentums  deut- 
lich zeigt*  Sein  Staatsideal  ist,  um  wieder- 
um Gierkes  Worte  zu  gebrauchen,  entschieden 
sozialistisch,  wie  dasjenige  Piatos  kommu- 
nistisch. 

Wir  können  demgemäss  sagen :  der  Staat 


verschlingt  bei  den  Griechen  die  Gesellschaft, 
d.  h.  er  lässt  der  selbständigen  Bethätigung 
individueller  imd  genossenschaftlicher  Int^ 
ressen  einen  vergleichsweise  geringen  Raum ; 
freilich  verfliessen  auch  wieder  im  Begriffe 
der  Hoiviopia  alle  sondernden  Unterschiede 
zwischen  dem  Staate  und  den  ihm  einge- 
oi-dneten  Verbänden  und  Gruppen.  Verträge 
zu  Erwerbszwecken,  Opferverbände,  wissen- 
schaftliche Interessengemeinschaft,  der  Staat 
fallen  alle  unter  denselben  Begriff,  und  es 
wird  kein  principieller  Unterschied  zwischen 
ihnen  gemacht. 

Bei  Aristoteles  war  die  Familie  Keim 
des  Staates  und  ursprüngliche  yioivmvia'^ 
schon  vor  ihm  und  vor  Piaton  hatte  aber 
bei  den  Sophisten  eine  individualistische 
Staatslelire  Platz  gegriffen,  die  mit  der 
Unterscheidung  dessen,  was  von  Natur,  und 
dessen,  was  nur  durch  Satzung  gerecht  sei, 
den  Begriff  eines  Naturrechtes  geschaffen 
und  dies  Natiurecht  schroff  individualistisch 
gefasst  hatte.  Trotz  der  glänzenden  Be- 
kämpfung durch  Piaton  lebte  diese  Rich- 
tung mächtiger  wieder  auf,  als  die  ent- 
arteten Grossstaaten  ihre  Macht  über  die 
Gemüter  zu  verlieren  begannen  und  die 
Entwickelung  der  Bildung  so  wie  so  zu 
einer  stärkeren  Betonung  der  indivi- 
duellen Interessen  drängte.  Stoiker  und 
Epikuräer  wirkten,  wenn  auch  unter  ent- 
gegengesetzten Gesichtspunkten,  dahin  zu- 
sammen, den  Einzelmenschen  als  Ausgangs- 
punkt und  entweder  ihn  oder  die  ge- 
staltlose, gesamte  Menschheit  als  Zielpunkt 
der  gesellschaftlichen  Entwickelung  darzu- 
stellen. Namentlich  von  den  Epikuräern 
wird  konsequent  die  Vertragslehre  ausge- 
bildet, wonach  der  Staat  aus  einem  freien 
Willensentscliluss  seiner  Mitglieder  entstan- 
den ist  und  niu:  in  ihm  den  Rechtsgrund 
seiner  Wirksamkeit  findet.  Damit  erscheint 
der  Staat  aus  seiner  beherrschenden  Stellung 
als  notwendige,  in  der  Natur  des  Menschen 
begründete,  höchste  Entwickelungsform  ver- 
drängt; er  ist  nur  noch  eine  der  Formen 
gesellschaftlicher  Vereinigung.  Um  aber 
eine  selbständige  Wissenschaft  auch  der 
anderen  Formen  —  also  eine  selbständige 
Gesellschaftswissenschaft  in  unserem  Sinne 
—  auszubilden,  langte  wohl  die  wissen- 
schaftliche Kraft  des  späteren  Altertums 
nicht  mehr  aus. 

Einflusslos  auf  die  plülosophische  Spekula- 
tion des  Altertums  blieb  die  römische  Jiuispni- 
denz ;  gerade  in  der  Zeit  ihrer  höchsten  Blüte 
stand  sie  der  damals  geltenden  Philosophie 
unvermittelt  gegenüber;  erst  im  Mittelalter 
beginnt  die  Lehre  von  der  privafrechtlichen 
Gesellschaft,  wie  sie  sich  hier  vorfand,  ihren 
Einfluss  auf  die  Auffassung  des  Staates  aus- 
zuüben. Die  Vertragslehre,  Yde  sie  sich  im 
späteren  Mittelalter  ausgebildet  hat  und  in 


204 


Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft 


den  ersten  Jahrhunderten  der  Neuzeit  zur 
Herrschaft  gelangt  ist,  führt  sich  weit  mehr 
auf  diese  Quelle  als  auf  die  antike  philoso- 
phische Spekulation  zurück. 

Das  Christentum  hat  von  Paulus  an  in 
einer  ganz  neuen  Weise  die  geistige  Einheit 
des  Menschengeschlechtes,  die  bereits  eine 
philosophische  Forderung  der  Stoa  war,  be- 
tont und  eine  Entwickelung  desselben  nach 
bestimmten  Zielen  postuliert.  Die  Mensch- 
heit und  ihre  Geschichte  erscheinen  als 
grosse  Zweckzusammenhänge,  eine  Auf- 
fassung, die  dem  Altertum  durchaus  fremd 
war.  Um  diese  Eiaheit  auszudrücken,  be- 
diente man  sich  mit  Vorliebe  der  Analogie 
des  menschlichen  Körpers,  des  Organismus, 
die  jedoch  schon  Plato  bei  der  Betrachtung 
des  Staates  in  seiner  Beziehung  zu  den  ein- 
zelnen Gesellschaftsgruppen  nicht  fremd  ist. 
Die  Kirche  erscheint  jetzt  als  die  höchste, 
als  die  ideale,  gottgewollte  Form  des  Ge- 
meinschaftslebens. Nur  hierdiutjh  konnte 
die  Idee  der  Gesellschaft  endgültig  von  der 
des  Staates  emandpiert  werden.  Der  mensch- 
liche Ursprung,  die  nur  äusserlichen  Zwecke 
des  Staates  dienen  bei  Augustinus  als  ein 
Grund  mehr,  den  Staat  zu  degradieren.  Auch 
als  im  Laufe  der  Zeit  der  Staat  von  neuem 
als  göttliche  Ordnung  erschien  und  hierdurch 
wiederum  mehr  auf  gleiche  Linie  mit  der 
Kirche  rückte,  konnte  er  doch  niemals  mehr 
im  Bewusstsein  der  Menschen  dieselbe  be- 
herrschende Stellung  einnehmen  wie  im 
Altertum.  Gerade  Dante,  der  dem  Staate 
am  meisten  imter  allen  christlichen  Staats- 
philosophen einräiunt,  schränkt  ihn  doch  auf 
die  Bewahrung  des  Friedens  imd  die  Ver- 
waltung der  Gerechtigkeit  ein  und  sieht 
trotz  seiner  Forderung,  dass  der  Kaiser  die 
Menscliheit  durch  die  Philosophie  zum  zeit- 
lichen Wohle  leiten  soUe,  als  Ziel  des  ge- 
sellschaftlichen Lebens  die  Freiheit,  die 
Selbstbestimmung  an.  Demgemäss  steht  im 
Mittelalter  der  Gesellschaftsbegriff  über  dem 
des  Staates,  imd  innerhalb  seiner  läuft  die  Vor- 
stellung der  menschlichen  und  christlichen  Ge- 
sellschaft der  der  bürgerlichen  den  Rang  ab. 
Trotz  grosser  Abweichungen  der  einzelnen 
Schriftstoller  unter  einander  kann  man  mit 
Gierke  als  die  verbindende,  dem  Mittelalter 
eigene  Auffassung  der  Gesellschaft  bezeich- 
nen, »dass  die  gesamte  Weltexistenz  nur 
ein  einziges,  gegliedertes  Ganze,  jedes  be- 
sondere G(*mein-  oder  Einzelwesen  aber  zu- 
gleich ein  durch  den  Weltzweck  bestimmter 
Teil  und  ein  mit  einem  Sonderzweck  be- 
gabtes, engeres  Ganze  ist«. 

Zugleich  aber  entwickeln  sich,  fuSvSend 
auf  den  Rt»sten  der  antiken,  nacharistote- 
lischen Staatslehre  und  auf  der  fortschrei- 
tenden römischrechtlichen  Bildung  die 
natiUTCchtlichen  Anschauungen  weiter,  und 
sie  gelangen  bereits  in  der  ereten  Renaissance- 


periode z.  B.  bei  Aeueas  Silvius  zum  Siege. 
Neben  der  Theorie  vom  Staatsvertrage,  ver- 
möge dessen  sich  die  einzelnen  einer  über 
ihnen  stehenden  Gewalt  unterordnen,  macht 
sich  je  länger  je  mehr  die  ergänzende  Theorie 
vom  Gesellschaftsvertrage  geltend,  und  zwar 
wurde  diesem  der  vermeintliche  Staatsver- 
trag selber  unterstellt  Von  diesen  Vor- 
aussetzungen aus  konnten  die  entgegen- 
gesetzten Folgerungen  gezogen  werden,  je 
nachdem  man  den  Inhalt  des  Vertrages  be- 
stimmte: auf  der  einen  Seite  folgerte  man 
einen  Staatsabsolutismus,  der  nodi  weit  über 
die  Anschauungen  des  Altertums  hinausging, 
auf  der  anderen  kam  man  zu  einer  Proklama- 
tion der  Volkssouveränität,  auf  einer  dritten 
zu  einer  vertragsmässigen  Einschränkung 
der  Staatsgewalt,  auf  einer  vierten  zxmi  Vor- 
behalt der  wichtigsten  Rechte  der  Persönlich- 
keit ;  aber  auf  allen  stellte  sich  doch  immer 
als  der  unvermeidliche  Grundsatz  der  Lehre 
vom  Gesellschaftsvertrage  die  Herleitung 
der  bürgerlichen  Gemeinschaft  aus  dem  In- 
dividuum heraus.  »Man  musste,  wenn  man 
sich  selbst  treu  bleiben  wollte,  schliesslich 
immer  bei  den  Sätzen  anlangen,  dass  der 
vereinzelte  Mensch  älter  als  der  Verband, 
dass  jeder  Verband  das  Produkt  einer  Summe 
von  individuellen  Akten  und  dass  alles  Ver- 
bandsrecht und  somit  die  Staatsgewalt  selbst 
ein  Inbegriff  ausgeschiedener  und  zusammen- 
gelegter Individualrechte  sei«  (Gierke- 
Althusius  S.  105).  Rousseau  hat  im  Contrat 
social  nur  die  letzten  Konsequenzen  gezogen, 
indem  er  nur  noch  den  Gesellschaftsvertrag 
als  einzige  Grundlage  des  Staates  erklärte, 
diesen  also  nur  als  die  Gesellschaft  die  aus 
der  Summe  der  einzelnen  Individuen  be- 
steht, auffasste.  Er  hat  freilich  trotz  der 
Proklamation  unveräusserlicher  Menschen- 
rechte diese  verbundene  Gesellschaft  mit 
einer  fast  absoluten  Machtvollkommenheit 
über  den  einzelnen  ganz  nach  dem  Muster 
von  Hobbes,  jedoch  nur  solange  der  Bürger 
den  Vertrag  nicht  gekündigt  hat,  bekleidet; 
bei  seinen  Nachfolgern  trat  hingegen  das 
individualistische  Princip  noch  massgebender 
hervor.  So  schon,  wenn  wir  von  den  fran- 
zösischen und  englischen  Epigonen  Rousseaus 
absehen,  bei  Kant  Ihm  ist  die  fortschrei- 
tende Entwickelung  zur  persönli(;hen  Frei- 
heit Zweck  der  Gesellschaft  und  Inhalt  der 
Weltgeschichte.  Dabei  bleibt  aber  als  ein 
ungelöstes  Problem  die  Thatfiache  bestehen, 
dass  nur  in  der  Gesamtheit  und  nur  im 
Laufe  einer  langsamen  Entwickehmg  dies 
Ziel  eiTcicht  wird  und  dass  Generationen 
von  Individuen  nur  als  Mittel  dienen,  damit 
spätere  zur  höheren  Vollkommenheit  gelangen. 
Zuletzt  hat  dann  Wilhelm  von  Humboldt 
den  Staat  nur  noch  als  ein  Mittel  für  die 
Zwecke  des  Individuiuns  erklärt  und  daraus 
die    möglichst    grosse    Einschränkung    der 


Gesellschaft  und  G^ellschaftswissenschaft 


205 


Staatswirksamkeit  als  wesentliches  Interesse 
der  Gesellschaft  gefolgert. 

Die  historische  Auffassung  des  Staats- 
und Rechtslebens  entzog  diesen  philosophi- 
schen Konstruktionen  den  wissenschaftlichen 
Boden.  Allerdings  waren  durch  lange  Ge- 
wöhnung und  durch  den  grossen  Einfluss, 
den  sie  auf  die  Gesetzgebung  und  die  Ver- 
fassungen gewonnen  hatten,  naturrechtliche 
Anschauungen  so  fest  gewurzelt,  dass  sie, 
wie  namentlich  Bergbohm  erwiesen  hat, 
auch  Itei  denen  noch  fortlebten,  die  sie 
bekämpfen;  allein  sie  sind  so  abgeblasst, 
dass  sie  doch  nur  noch  in  vereinzelten 
Schlagworten  ein  schattenhaftes  Dasein 
fristen.  Weder  für  die  Präge  nach  der 
Entstehung  des  Staates  noch  nach  dem 
Rechtsgrunde  seines  Bestehens  war  durch 
diese  naturrechtliche  Gesellschaftswissen- 
schaft, die  Jahrhunderte  hindurch  die  scharf- 
ainnigsten  Geister  beschäftigt  hatte,  auch 
nur  das  Geringste  geleistet  worden ;  und 
über  den  immer  wiederholten  Zirkeltanz  der 
Erörterung  des  Gesellschaftsvertrages  hatte 
man  nie  Zeit  gewonnen  nach  der  Entstehimg 
und  dem  Wesen  der  einzelnen  Gesellschafts- 
formen zu  forschen.  Nur  das  Problem,  wo 
die  Wirksamkeit  des  Staates  aufhöre,  war 
scharf  herausgebildet  worden,  ohne  doch  zu 
irgend  einer  anerkannten  Lösung  zu  gelangen. 
Die  alte  Gesellschaftswissenschaft  ist  also 
zwar  ein  gewaltiges  historisches  Ferment  ge- 
wesen, aber  keine  wirkliche  Wissenschaft. 

Dennoch  hat  sie  bei  der  Entstehung  einer 
eigentlichen  Wissenschaft,  der  National- 
ökonomie, kräftig  mitgewirkt.  Das  Problem 
von  den  Grenzen  der  Staatsgewalt  —  schon 
seit  der  Reformation  ein  Hauptgegenstand  des 
Interesses,  soweit  es  sich  auf  das  religiöse 
und  sonstige  geistige  Leben  bezog  — ,  bildete 
seit  den  Pnysiokraten  auch  das  Grundthema 
dieser  neuen  Wissenschaft.  Indem  diese 
mit  der  grössten  Energie  alle  Staatsleitung 
der  volkswirtschaftlichen  Thätigkeit  ablehnte, 
fasste  sie  überwiegend  die  gesamte  mensch- 
liche Gesellschaft  als  Trägerin  derselben 
auf.  Auch  da,  wo  sie  die  einzelnen  Nationen 
ins  Auge  fasste,  bewegte  sie  sich  immer 
auf  dem  naturrechtlichen  Boden.  Sie  sah 
in  ihnen  nur  Gruppen  von  Individuen,  die 
allein  durch  ihren  wohlverstandenen  Eigen- 
nutz zu  gemeinsamem  Wirken  verbunden 
sind.  Die  klassische  Nationalökonomie  hat  das 
grosse  Verdienst,  für  einen  der  wichtigsten 
Teile  menschlichen  Gemeinschaftslebens  eine 
Wissenschaft,  d.  h.  ein  zusammenhängendes 
System  von  Erkenntnissen,  geschaffen  zu 
haben;  auch  war  die  Eundamentierung,  die 
sie  dieser  gab,  immerhin  solider,  weil  sach- 
lich reichhaltiger,  als  die  der  älteren 
Schwesterwissenschaft,  der  politischen  Theo- 
rie; ihre  Schwächen  rühren  aber  grossen- 
teils  von  der  unzulänglichen,  von  ihr  aus 


dem  Naturrecht  übernommenen  Auffessung 
der  Gesellschaft  her. 

Erst  die  historische  Rechtsauffassung 
wiu^e  den  Verbänden,  die  sich  in  den  Staat 
einordnen,  ohne  völlig  in  ihm  aufzugehen, 
gerecht,  die  Nationalökonomie  erhob  den 
Anspruch,  einen  wichtigen  Teil  mensch- 
lichen Gemeinlebens  zu  erklären,  ohne 
anders  als  beiläufig  auf  den  Staat  einzu- 
gehen — ,  beide  wirkten  daher  zusammen, 
um  die  Erörterung  der  »Gesellschaft«  und 
ihret  einzelnen  Abteilimgen  neu  zu  beleben. 
Es  handelte  sich  aber  im  Ghnmde  immer 
um  die  alte  Erörterung,  wie  der  einzelne 
und  wie  der  Staat,  die  beiden  fassbaren, 
konkreten  Grössen,  sich  zu  einander  und  zu 
allen  den  materiellen  und  geistigen  Mächten, 
die  sich  als  gemeinsame  Interessen  und  ge- 
meinsame üeberzeugungen,  also  als  Massen- 
erscheinungen äussern,  verhalten. 

Die  Neubegründer  der  Staatswissen- 
schaften in  Deutschland,  vor  allem  R.  v.  Mohl 
führten  diese  zwar  auf  den  Boden  der  Ge- 
schichte und  der  gegebenen  Verhältnisse 
zurück,  aber  sie  gaben  den  unbegründeten 
Ansprüchen  der  englischen  Nationalökonomie, 
die  ihnen  mit  ihrer  vermeintlichen  Wissen- 
schaftlichkeit über  Gebühr  imponierte  und 
ausserdem  ihren  praktisch-politischen  An- 
schauungen entsprach,  zu  viel  nach.  Als 
Schlussresultat  seiner  Geschichte  der  Staats- 
wissenschaften ergiebt  sich  für  Mohl  die 
Notwendigkeit,  die  Gtesellschaftslehre  aus 
der  Lehre  vom  Staate  auszuscheiden.  Als 
Gegenstand  -werden  ihr  alle  natürlichen 
Verbände  zugewiesen,  die  aus  irgend  welcher 
Interessengemeinschaft  erwachsen  und  zwi- 
schen der  Famüie  als  der  Organisation  des 
Privatlebens  und  dem  Staate  als  der  po- 
litischen Organisation  in  der  Mitte  stehen. 
Gegen  jene  Sonderung  trat  besonders 
H.  V.  Treitschke  in  seiner  ErstHngsschrift : 
Die  Gesellschaftswissenschaft  (1859)  auf. 
Er  hatte  seinerseits  von  der  historischen 
Nationalökonomie,  von  Röscher  und  Knies, 
bereits  eine  andere  Auffassung  des  nationalen 
Wirtschaftslebens  empfangen  und  betont  die 
beständige  Wechselwirkung  der  sozialen 
Gebilde,  Stamm,  Rasse,  Stand,  Kirche,  Bil- 
dungs-  und  Wirtschaftsgruppen  mit  dem 
Staate ;  er  weist  nach,  dass  jede  von  diesen 
Bildungen,  die  Familie  noch  hinzugerechnet, 
zugleich  auch  einen  politischen  Charakter 
trägt  und  dass  dieser  sich  nur  in  den  ein- 
zelnen Zeiten  der  Entwickelung  verschieden 
stark  geltend  macht.  Obwohl  er  schliesslich 
die  Hilfsbegriffe  »soziale  Gebilde«  und 
»soziale  Interessen«  nicht  wohl  entbehren 
kann,  so  beantwortet  er  doch  die  Frage: 
»Was  ist  diesen  gesellschaftlichen  Kreisen 
gemeinsam?«  ganz  negativ:  »Nimmermehr 
ist  eine  Wissenschaft  denkbar,  welche  aUe 
diese  heterogenen  Dinge   zusammenfasste.« 


206 


Gesellschaft  und  Gesellseliaftswissenscliaft 


Die  Verbindung  derselben  sieht  er  also  eher 
in  ihrer  geraeinsamen  Beziehung  zum  Staats- 
leben und  gelangt  deshalb  auch  zu  der  De- 
finition: »Der  Staat  ist  die  einheitlich  or- 
ganisierte Gesellschaft.«  Trotzdem  führt 
er,  abhängig  von  den  Lehren  der  eng- 
lischen Nationalökonomie,  wie  er  es  noch 
lange  blieb,  den  Gedanken  aus:  »Die  Ein- 
wirkung der  Staatsgewalt  auf  die  Gesell- 
schaft ist  nicht  schöpferisch.«  Er  sieht  so- 
gar den  Entwickelungsgang  der  Staaten  in 
einer  allmählichen  Sonderung  der  rein  po- 
litischen und  der  sozialen  Interessen,  ein 
Irrtum,  der  ihm  auch  als  Historiker  noch 
lange  nachgegangen  ist.  Mohl  erkannte 
daraufhin  die  politische  Natur  der  früher 
von  ihm  als  reine  Gesellschaftsgebilde  cha- 
rakterisierten Gruppen:  Gemeinde,  Provinz, 
Stamm,  an,  hielt  aber  für  die  übrigen  Ge- 
meinschaften die  Notwendigkeit  einer  all- 
gemeinen Gesellschaftslehre  als  einer  Be- 
gründung des  Begriffs  und  der  allgemeinen 
Gesetze  der  Gesellschaft  fest.  Da  er  der 
Gesellschaft  ein  Avirkliches  Leben,  einen 
ausser  dem  Staate  stehenden  Organismus 
zuschrieb,  musste  er  auch  die  beiden  Wissen- 
schaften trennen,  da  er  aber  ebenso  wie 
Treitschke  auch  die  Wechselbeziehungen  des 
Staates  und  der  sozialen  Gebilde  betonte, 
so  handelte  es  sich  schliesslich  nur  mehr 
um  eine  Frage  der  Einteilung,  der  Rubri- 
zierung von  anderweitig  gefundener  oder 
noch  zu  findender  Erkenntnis.  Hier  gilt 
dami  das  treffende  Wort  Diltlieys:  »Im 
ganzen  gleicht  die  Frage,  ob  irgend  ein  Teil- 
inhalt der  Wirklichkeit  geeignet  sei,  von 
ihm  aus  bewiesene  und  fruchtbare  Sätze  zu 
entwickelUj  der  Frage,  ob  ein  Messer,  das 
vor  mir  liegt,  scliarf  sei.  —  Man  rauss 
sclmeiden!  Eine  neue  Wissenschaft  wird 
konstituiert  durch  die  Entdeckung  wichtiger 
Wahrheiten,  aber  nicht  durch  die  Absteckung 
eines  nicht  occupierten  Terrains  in  der 
weiten  Welt  von  Thatsachen.« 

Das  Programm,  wie  es  von  Mohl  auf- 
gestellt worden  war,  hat  dann  L.  v.  Stein 
aurch  eine  Verbindung  historischer  Forschung 
und  dialektischer  Methode  auszufüllen  ge- 
sucht. Seine  Gesellschaftslelu-e  ist  vor  allem 
bestimmt,  eine  Theorie  aufzustellen,  durch 
welche  die  Staatswissenschaften  einerseits, 
die  übrigen  Geisteswissenschaften,  soweit 
es  sich  in  ihnen  um  Massenerscheinungen 
liandelt,  andererseits  mit  einander  vermittelt 
und  zu  einer  Einlieit  zusammengofasst  werden 
sollen.  Mit  seinen  Auffassungen  steht  er 
durchaus  auf  den  Schultern  der  Geschichts- 
philosophie, wie  sie  von  Herder  entworfen, 
von  Hegel  dialektisch  ausgeführt  worden 
war;  daher  wendet  er  auch  überall  ein 
Schema  der  Entwickelung  an,  das  wenig 
geeignet  ist,  den  Reichtum  der  Wirklichkeit 
in  sich  aufzimehmen.     Diese  Fassimg  der 


Aufgabe  rückt  ihn  bei  aller  Verschiedenheit 
der  Beantwortung  A.  Comte  und  der  von 
ihm  ausgehenden  Soziologie  nahe. 

Eine  bestimmte,  zugleich  philosophische 
und  historische  Betrachtungsweise  beherrscht 
diese  ganze  Epoche  der  deutschen  Gesell- 
schaftswissenschaft; sie  bezeichnet  sich  selber 
als  »organisch«.  Ohne  Unterschied  der  politi* 
sehen  Zugehörigkeit  macht  sich  diese  Auffas* 
sung  von  Haller  und  A.  Müller  bis  Molil  und 
Bluntschli  geltend.  Die  Vergleichung  des 
Staates  mit  dem  menschlicheu  Körper  legt 
schon  Plato  seiner  Betrachtung  zu  Gnmde, 
in  der  christlichen  Weltauffassung  nahm  die 
Betrachtung  der  Kirche  oder  der  Menschheit 
als  organisiertes  Individuum  einen  bevor- 
zugten Platz  ein ;  hier  wie  dort  dient  dieser 
bildliche  Ausdruck,  wie  wir  sahen,  dazu,  um 
die  Abhängigkeit  des  einzelnen  Gliedes  vom 
Ganzen  und  zugleich  seine  relative  Selb- 
ständigkeit in  diesem  Ganzen  zu  bezeichnen. 
Aber  auch  bei  Rousseau  findet  sich,  sogar 
in  sehr  ausgeprägter  Form,  diese  Ausdrucks- 
weise. Sie  wurde  in  unserem  Jahrhundert 
ein  beliebtes  Symbol,  um  den  Gegensatz  zu 
der  »mechanischen«  Auffassung  des  Natiu*- 
rechts  auszudrücken.  Das  richtige  Problem 
bestand  darin,  zu  erklären,  wie  aus  blosser 
AneinandeiTeihung  individueller  Einzel- 
handlungen eine  rationelle,  einheitliche  Ge- 
samtwirkung hervorgeht.  Die  alte  Berufung 
auf  den  wohlverstandenen  Eigennutz  der  ein- 
zelnen langte  hierzu  nicht  aus.  Ein  weiteres 
Problem  bestand  darin,  wie  wiederum  der 
einzelne  in  seinen  Ansichten  und  Absichten 
diux?h  seine  Zugehörigkeit  zu  einem  ge- 
sellschaftlichen oder  politischen  Ganzen  be- 
stimmt wird,  ohne  sich  doch  völlig  in  ihm 
zu  verlieren.  Hatte  die  alte  naturrechtliche 
Gesollschaftslehre  in  den  Jahrhunderten,  wo 
mathematisch  -  physikalisches  Interesse  im 
Vordergnmde  stand,  ihre  Methode  und  ihre 
Ausdnicksweise  von  der  Meclianik  entlehnt, 
so  suchte  die  neuere  mit  den  mächtig  auf- 
blühenden organischen  Naturwissenschaften 
zu  wetteifern.  Diese  erneute  üebertragung 
einer  naturwissenschaftlichen  Anschauungs- 
weise äussert  sich  am  kenntlichsten  in  dem 
umfassenden  Werk,  das  Schäffle  über  Bau 
und  Loben  des  sozialen  Körpers  geschrieben 
hat.  Die  einzelnen  sozialen  Erscheinungen 
sind  hier  oft  lebhaft  und  anziehend  l)e- 
schrieben;  die  Gnmdansehammg :  für  alle 
Funktionen  dos  tierischen  Körpers  Analogieen 
in  den  Erscheinungen  des  Gemeinschafts- 
lebens aufzuweisen,  artet  aber  in  Spielei^i 
aus.  Schon  das  ^littelalter  hat  übrigens, 
wie  Gierke  gelegentlich  zeigt,  solche  phan- 
tastische Ausgestaltungen  der  organischen 
Staatslehre  gekannt.  Für  England  hat 
H.  Spencer  mit  landesüblicher  Unkenntnis, 
(lass  es  sich  dabei  um  eine  uralte  Anschauung 
handelt,  die  organische  Methode  »entdeckt«. 


Gesellscliaft  und  Gesellschaftswisseuschaft 


207 


Die  Angriffe  auf  die  organische  Staats- 
und Gesellschaftsauffassung,  die  von  Juristen 
ausgingen,  litten  meist  darunter,  dass  sie 
selber  auf  dem  individualistischen  Stand- 
punkt verharrten,  also  gerade  das  Berech- 
tigte in  der  gegnerischen  Auffassung  be- 
fehdeten; dagegen  hat  unter  Anerkennung 
des  richtigen  Kernes  namentlich  Rümelin 
bei  seiner  Revision  verschiedener  Grundbe- 
griffe die  falsche  Analogie  in  dem  Vergleich 
mit  dem  Organismus  und  die  Yergeblich- 
keit  des  Unternehmens,  eine  unerklärte  Er- 
scheinung durch  eine  noch  unerklärlichere 
zu  deuten,  schlagend  erwiesen.  Ebenso  hat 
Düthey  darauf  hingewiesen,  dass  wir  uns 
des  gesellschaftlichen  Zusammenhanges,  in 
dem  wir  selber  stehen,  doch  unmittelbar 
bewiisst  sind,  während  uns  das  Problem 
des  Organismus  weit  dunkler  ist,  so  dass 
denn  mit  viel  mehr  Recht  sich  die  Natur- 
forscher vorsichtig  gehandliabter  Analogieen 
mit  der  Vergesellschaftung  zur  Erklärung 
des  Organismus  bedienen  können.  Rtlmelin 
hat  als  ■  eine  allgemeine  Regel  betont,  dass 
Individuen  in  ilirer  Vereinigimg  andere 
Eigenschaften  als  in  ihrer  Vereinzelung  ent- 
falten: »Alle  Wirkungen  des  Waldes  sind 
bedingt  durch  die  Natiu*  des  Baumes,  aber 
manche  derselben  werden  an  dem  einzelnen 
Exemplar  nicht  erkennbar,  sondern  erst  in 
ihrer  Verdichtung  und  Verstärkung  diu:ch 
die  Masse  der  winzigen  Anteüe«.  Domge- 
mäss  definiert  er  die  Gesellschaftswissen- 
schaft als  die  Lehre  von  den  natürlichen 
Massen-  und  Wechselwirkungen  des  mensch- 
lichen Trieblebens  unter  den  Einflüssen  des 
Zusammenlebens  vieler  —  wie  mii-  scheint, 
die  beste  bis  jetzt  gegebene  Definition. 
Von  der  Einzel  -  Psychologie  aus  ist  W. 
Wundt  zu  einer  ähnlichen  Ansicht  gelangt, 
indem  er  betont,  dass  eine  Summierung 
von  Einzelempfindungen  auch  specifisch 
und  nicht  nur  quantitativ  verschieden  sei 
von  diesen  selber.  Doch  bleibt  es  immer 
eine  be<lenkhche  Metapher  von  einem  »Ge- 
samtbewusstsein«  gesellschaftlicher  Gruppen 
oder  gar  der  Gesellschaft  zu  reden;  denn 
eine  Mehrheit  hat  so  wenig  wie  ein  gemein- 
sames Denkorgan  ein  gemeinsames  Bewusst- 
sein;  vielmehr  ist  das,  was  man  so  nennt, 
nur  die  übereinstimmende  Ansicht  der  ein- 
zelnen, die  sich  dieser  Uebereinstimmung 
bewusst  sind.  Hingegen  wird  man  aller- 
dings beim  Staate,  der  als  solcher  Rechts- 
persönlichkeit besitzt,  von  einem  Gesamt- 
wülen  reden,  da  ja  ein  solcher  unablässig 
realisiert  wird.  Die  Träger  und  Ausführer 
dieses  Willens  wird  man  auch  weiterhin, 
da  hier  die  Sprache  längst  entschieden  hat, 
Organe  nennen.  Hierin  besteht  eben  ein 
entecheidender  Unterschied  zwischen  der 
konkreten  Grösse  ^Staat«  und  dem  abstrakten 
flilfsb^riff  ;> Gesellschaft«. 


Neuerdings  hat  die  französisch-englische 
Soziologie  auch  in  Deutschland  einen 
wachsenden  Einfluss  gewonnen  und  drängt 
namentlich  inn  ihres  wirklich  oder  ver- 
meintlich positiven  Charakters  willen  die 
in  teleologischer  Weltauffassung  wurzelnde 
ältere  deutsche  Geschichtsphüosophie.  merk- 
lich zui*ück.  Der  Schöpfer  dieser  neuen 
Wissenschaft,  die  jedenfalls  ein  kühnes  und 
konsequentes  philosophisches  System  ist, 
war  Auguste  Comte.  Das  System  dieses 
grossen  französischen  Philosophen  stellt 
sich  zunächst  als  ein  Unternehmen  dar, 
die  Gesamtheit  der  gesicherten  oder  ihm 
gesichert  scheinenden  Ergebnisse  der  Wissen- 
schaft zu  vereinigen,  um  einen  gesetzmässigen 
Entwickelungsgang  der  menschlichen  Kultur 
zu  ergründen.  Es  steht  darum  der  deut- 
schen Geschichtsphilosophie  im  Grunde  viel 
näher  als  den  eigentlichen  Staatswissen- 
schaften. Ueber  die  Genesis  dieser  seiner 
Methode  hat  er  selber  ausführlich  berichtet 
(Cours  IV  IcQon  47).  Mit  Recht  erblickt 
er  in  Montesquieu  —  Macchiavelli,  den  er 
ebenfalls  hätte  nennen  können,  ist  er  wegen 
seiner  Moral  abgeneigt  —  den  Begründer 
einer  echten  historischen  Auffassung  des 
Staates  und  schreibt  ihm  das  Verdienst  zu, 
zuerat  das  Wesen  eines  historischen  Ge- 
setzes richtig  erkannt  zu  haben.  Im  übrigen 
sieht  er  niu*  in  Condorcets  (resp.  Turgots) 
AperQu  von  der  stufenweise  erfolgenden 
Entwickelung  des  menschhchen  Denkens 
einen  FortscJiritt.  Er  hat  an  dieses  seine 
wichtigste  Gedankenreihe  angelehnt.  Dass 
er  pqj^önlich  bedeutsame  Anregungen  von 
St.  Simon  empfangen  habe,  wül  er  freilich 
nach  dem  Bruche  mit  diesem  in  seinem 
Hauptwerke,  dem  Cours  de  la  philosophie 
positive,  nicht  mehr  Wort  haben.  Dem  un- 
geachtet ist  er  von  ihm  mindestens  ebenso 
sehr  wie  von  de  Maistre,  dem  er  diesen 
Einfluss  allein  zuschreibt,  in  der  Ansicht 
beeinflusst  worden,  dass  der  durch  die 
metaphN^sische  Weltanschauung  des  vorigen 
Jahrhunderts  und  ihr  Kind,  die  Revolution, 
zersetzten  GeseUschaft  eine  Reorganisation 
vermöge  einer  herrschenden  geistigen  Ge- 
walt not  thue. 

Der  Zweck  seines  ganzen  Werkes  be- 
steht darin,  diese  Notwendigkeit  zu  erwei- 
sen und  die  Grundlagen  für  eine  solche 
Erkenntnis  des  Einzelmenschen  und  der 
Gesellschaft  zu  bereiten,  die  den  Leiter  der 
Gesellschaft,  den  Staatsmann  der  Zukunft, 
über  die  blosse  tastende  Empirie  hinaus- 
hebe, während  er  für  die  Gegenwart  dem 
soziologischen  Philosophen  strenge  Enthal- 
tung von  der  Anteilnahme  an  der  Leitung 
des  Staates  und  der  Gesellschaft  empfiehlt. 
In  diesem  Unternehmen  ist  Comte  freüich 
gründlich  gescheitert.  Man  mag  das  Princip 
anerkennen,   dass   eine   psychologische   Er- 


208 


Ghesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft 


kenntnis  des  Einzelmenschen  die  physiologi- 
sche und  eine  Erkenntnis  der  Gresellschaft 
die  des  Einzelmenschen  voraussetzt;  es  ist 
aber  ganz  unzweifelhaft,  dass  keine  einzelne 
Wissenschaft  auf  die  Resultate  der  anderen 
warten  kann,  bis  sie  selber  anfängt;  genug 
wenn  sie  von  Zeit  zu  Zeit  in  ihren  Bau 
diese  einfügt  und  nach  den  bewährten  Ge- 
sichtspunkten jener  ihren  Bauplan  revi- 
diert. Die  Art,  wie  Comte  die  Physiologie 
auf  die  Psychologie  anwendet,  ist,  mild  ge- 
sagt, laienhaft;  seine  positive  Gesellschafts- 
lehre ist  trotz  der  glänzenden  Kritik  der 
früheren  Leistungen  selbst  ziemlich  dürftig 
ausgefallen,  ein  halber  Sozialismus,  der  ein- 
flusslos gebheben  ist;  sogar  die  grossartige 
platonische  Idee  von  der  Herrschaft  der 
organisierten  geistigen  Macht  wird  bei  ihm 
wie  bei  St.  Simon  in  seinem  Alter  zu  einem 
Rückfall  in  das  »religiöse  Stadium«:  eine 
katholische  Kirche,  in  der  die  Priester 
durch  die  Soziologen  ersetzt  sind. 

Um  so  besser  ist  ihm  der  Nachweis  ge- 
lungen, dass  die  Vereinzelung  der  Geistes- 
wissenschaften unnatürlich  oder  höchstens 
vorübergehend  entschuldbar,  für  die  Er- 
kenntnis ihres  wahren  Entwickelungsganges 
aber  verhängnisvoll  sei.  In  Frankreich 
und  England  mussten  diese  Auseinander- 
setzungen bei  Geistern,  die  gewiUt  waren, 
ziu*  Einheitlichkeit  ihres  Denkens  zu  ge- 
langen, unwiderstehlich  wirken ;  in  Deutsch- 
land lebten  diese  Gedanken  seit  Herder 
schon  in  der  allgemeinen  Bildung.  Comte, 
der  die  deutsche  Litteratur  nicht  kannte, 
hatte  selber  hiervon  eine  halbklare  Vorstel- 
lung; er  hat  sich  aber  die  beabsichtigte 
Beschäftigung  mit  den  Deutschen  durch  J. 
St.  MiU  wieder  ausreden  lassen.  Daher  hat 
auch  Comte  nie  den  Versuch  gemacht, 
seinen  Lehren  eine  erkenntnistheoretische 
Grundlage  zu  geben,  wie  es  im  Betriebe 
der  Geisteswissenschaften  in  Deutschland 
seit  Kant  stets  gefordert  werden  muss. 

Die  Vereinzelung  der  Gegenstände  gilt 
für  Comte  nur  als  ein  Symptom  des  meta- 

Shysischen  Zeitalters  der  Wissenschaft  und 
er  Gesellschaft.  Ein  Gnmdgedanke,  der 
sein  ganzes  Werk  durchzieht,  besteht  darin, 
dass  in  der  Natur  des  menschlichen  Denkens 
ein  vorgezeichneter  Entwickelungsgang  von 
der  religiösen  zur  metaphysischen,  von 
dieser  zur  wissenschaftlich-gesetzmässigen 
(positiven)  Weltauffassung  liege,  und  dass 
alle  anderen  Lebensäusserungen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  ganz  und  gar  von  dieser 
Entwickelung  abliängig  seien.  Bei  einem 
so  ausgeprägten  Idealismus  können  die  ma- 
teriellen Faktoren  nicht  zu  ihrem  Rechte 
kommen ;  hierin  liegt  es  zum  Teil  begründet, 
dass  gerade  für  die  Staatswissenschaften, 
die  er  umwälzen  wollte,  Comte  wenig  greif- 
bare Resultate  erzielt  hat,   während   seine 


Charakteristik  der  Entwickelung  des  wissen- 
schaftlichen Denkens  zwar  öfters  schematisch, 
aber  im  ganzen  meisterhaft  und  die  des 
religiösen  Empfindens  imd  Vorstellens 
wenigstens  sehr  geistreich  und  anregend  ist. 

I^  grösste  wissenschaftUche  Verdienst 
Comtes  bleibt  die  Kritik  der  Metaphysik 
als  einer  zwar  notwendigen,  aber  vorüber- 
gehenden und  in  ihren  Resultaten  nur  nega- 
tiven Entwickelungsstufe  des  menschlichen 
Denkens,  als  einer  Phase,  die  aus  der  ihr 
zuvorgehenden  religiösen  Stufe  sich  regel- 
mässig entwickelt.  Hierbei  ist  namentiich 
auch  seine  Kritik  der  klassischen  National- 
ökonomie von  Bedeutung,  der  er  die  Hohl- 
heit ihrer  Abstraktionen  schlagend  nach- 
weist, wobei  er  in  Frankreich  auch  zuerst 
die  richtige  Würdigimg  Adam  Smiths  im 
Vergleich  zu  seinen  Nachfolgern  gefunden 
hat.  Dass  er  selber  in  die  von  ihm  be- 
kämpfte Richtung,  in  »derbe,  natimilistische 
Metaphysik«  oft  genug  zurückverfäUt,  ist 
ein  allgemein  menschliches  Schicksal,  das 
er  mit  anderen  bahnbrechenden  Denkern 
teilt. 

Gesellschaftswissenschaft  bedeutet  bei 
Comte  Zusammenfassung  aller  Zweige  der 
menschUchen  Entwickelung,  um  zur  rich- 
tigen Erkenntnis  jedes  einzelnen  und  da- 
durch z\vr  richtigen  Lenkung  des  ent- 
sprechenden Gebietes  menschlicher  Hand- 
lungen zu  gelangen,  in  anderem  Sinne 
wendet  der  belgische  Statistiker  Quetelet 
die  von  Comte  entlehnten  Worte  statique 
und  dynamique  sociale  an.  Er  will  die 
regelmässig  wiederkehrenden  Thatsachen 
des  individuellen  Lebens  als  Massenerschei- 
nungen behandeln  und  als  unabhängig  vom 
individuellen  Wollen,  als  notwendige  soziale 
Gesetze  erweisen.  Seine  Stärke  besteht  in 
der  genauen  Kenntnis  der  physiscTien  Eigen- 
schaften des  Menschen;  jene  Teile  seiner 
Werke,  die  diese  und  ihre  Entwickelung  — 
also  eine  wesentlich  physiologische  Aufgabe 
—  behandeln,  sind  ihm  am  besten  gelungen. 
Im  übrigen  ist  er  aber  diuxjh  die  Konstanz 
vieler  Zahlenreihen  so  eingenommen,  dass 
er  aus  ihnen  einen  notwendigen,  regel- 
mässigen Zustand  der  Gesellschaft  zu  er- 
schliessen  unternimmt.  Um  das  zu  können, 
hat  er  freilich  in  seinen  statistischen  Tabel- 
len immer  nur  auf  die  grossen  Diuxjh- 
schnittszahlen  sein  Absehen,  er  vernach- 
lässigt nach  Möglichkeit  alle  Varianten,  an 
denen  die  heutige  beschi-eibende  Statistik 
mit  Recht  das  grössere  Interesse  nimmt 
Die  Regelmässigkeit  ist  thatsächlich  gamicht 
in  dem  umfang  vorhanden,  wie  es  Quetelet 
postuliert.  Namentiich  aber  übersieht  er 
ganz,  dass  die  Statistik  immer  nur  That- 
sachen quantitativ,  nach  ihrem  Umfange, 
feststellen  kann,  dass  sie  selber  aber  nie- 
mals einen  Kausalzusammenhang  ergründet, 


Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft 


209 


dass,  wo  sie  eine  gleichbleibende  Zahl  er- 
mittelt, dennoch  der  Komplex  ihrer  Ursachen 
—  zumal  es  sich  bei  sozialen  Erscheinungen 
immer  um  vielgestaltige  Komplexe  bestim- 
mender Faktoren  handelt  —  sich  jetzt 
ganz  anders  zusammensetzen  kann  als 
friiher,  dass  endlich  selbst,  wo  zwei  Er- 
scheinungen regelmässig  in  dem  gleichen 
Stärkeverhältnis  neben  oder  nach  einander 
auftreten,  daraus  gar  kein  Schluss  auf  ihre 
Abhängigkeit  von  einander  zu  ziehen  ist. 
Quetelet  forscht  überhaupt  einem  Kau- 
salzusammenhang, der  die  von  ihm  ermittel- 
ten Z^enverhältnisse  erst  als  Resultat  er- 
giebt,  gar  nicht  nach,  sondern  hinter  diesen 
festen  Zahlen  steht  ftlr  ihn  als  Erklärungs- 
gnmd  »der  Zustand  der  Gesellschaft«,  der 
hier  in  der  Tliat  eine  bloss  metaphysische 
Torstellung  ist  Gerade  dieser  Zahlenfata- 
lismus Quetelets  ist  aber  höchst  populär 
geworden,  und  namentlich  durch  ihn  ist 
»die  Gesellschaft«  das  asylum  ignorantiae 
geworden,  in  das  die  Denkfaulheit,  die  auf 

gsnaue  Untersuchung  Verzicht  leistet,  sich 
üditet.  Andere  zogen  aus  Quetelets  Aus- 
führungen die  Folgerungen  eines  ebenso 
schroffen  wie  dürftig  begründeten  Determi- 
nismus, denen  er  selbst  noch  ausgewichen 
war;  und  in  der  Kriminalistik  wurde  zeit- 
weise die  Gesellschaft  der  grosse  Sünden- 
bock, auf  den  aUe  Verantwortlichkeit  ge- 
schoben wurde.  Es  ist  aber  anzuerkennen, 
dass  gerade  in  dieser  Wissenschaft  allmäh- 
lich an  Stelle  jenes  abstrakten  Gedanken- 
wesens wieder  die  einzelnen  erfassbaren 
sozialen  Erscheinungen  getreten  sind,  denen 
man  einen  Einfluss  auf  die  Kriminalität 
zuschreiben  kann,  und  dass  sie  mit  der 
Zeit  in  der  Feststellung  der  Wechselbe- 
ziehungen zwischen  der  einzelnen  Handlung 
und  den  von  aussen  an  den  Handelnden 
herantretenden  Zuständen  bedeutende  Fort- 
schritte gemacht  hat.  Die  Einzelabrechnung 
zwischen  den  äusseren  und  inneren  Motiven 
wird  aber  hier  wie  anderwärts  immer 
schwankend  bleiben. 

Weit  unter  jenen  beiden  genialen  Män- 
nern steht  der  Engländer  Th.  Buckle,  der 
bei  scheinbarem  Skepticismus  sich  gleich- 
massig  gläubig  gegenüber  dem  mathemati- 
schen Fatalismus  Quetelets  im  Punkte  der 
psychologischen  Erscheinungen,  dem  meta- 
physischen Dogmatismus  Bicaraos  im  Punkte 
des  wirlßchaftnchen  Lebens  und  dem  histo- 
rischen Positivismus  Gomtes  im  Punkte,  der 
wissenschaftlichen  Entwickelung  verhielt. 
Seine  besten  Argumente  gegen  Vereinzelung 
der  Wissenschaftsgebiete  hat  er  Comte  ent- 
nommen. An  Comtes  grosse  historische 
Auffassung  reicht  sein  platter  englischer 
Utilitarifimus,  der  noch  durch  die  naive 
Annahme  verstärkt  wird ,  dass  England 
allein  eine  normale  Entwickelung  der  Civüi- 

Handwörterbnch  der  StaatswlsseiiBcbaften.    Zweite 


sation  aufzuweisen  habe,  nicht  von  ferne 
heran.  Verdienstlich  ist  jedoch  in  seinem 
Werke  die  Beschreibung  der  Hemmungser- 
scheinungen, die  der  Ansammlung  des 
Wissens,  in  der  er  wie  Comte  den  einzig 
regelmässigen  Fortschritt  erblickt,  in  den 
Weg  treten. 

Wie  tief  der  Einfluss  Comtes,  der  sich 
in  seinem  Vaterlande  nur  langsam  Gel- 
tung verschaffen  konnte,  alsbald  in  Eng- 
land ging,  sieht  man  am  besten  an  J.  St. 
Mill,  der  nach  schwachem  Widerstreben 
schliesslich  selber  der  Üeberzeugung  lebte, 
dass  die  von  ihm  neu  gestützte  KicMHiosche 
Nationalökonomie  nur  noch  ein  «ephemeres 
Dasein  geniesse  und  mit  der  Zeit  durch 
eine  Gesellschaftslehre  im  Sinne  Comtes 
abgelöst  werden  würde.  In  seiner  Behand- 
lung der  induktiven  Logik  suchte  er  zu- 
gleich, bereits  unter  Comtes  Einfluss,  die 
Methode  der  Geisteswissenschaften  festzu- 
stellen; er  stellte  ihnen  aber  dabei  aus- 
schliesslich die  Naturwissenschaften  als 
Muster  hin,  indem  er  den  Trugschluss 
beging,  dass,  da  das  gesicherte  Voran- 
schreiten jener  grossenteüs  ihrer  Methode 
zu  danken  sei,  diese  hingegen  eines  solchen 
entbehren,  jener  Mangel  auf  das  Fehlen 
der  naturwissenschaftlichen  Methode  zurück- 
zuführen sei.  Er  hätte  natürlich  nur  auf 
den  Mangel  einer  ihnen  entsprechenden 
Methode  überhaupt  nut  eini^r  Wahrschein- 
lichkeit schliessen  dürfen.  Seitdem  haben  alle 
fruchtbaren  Bearbeitungen  der  Met  hoden- 
lehre, welche  durch  J.  St.  Mill  allerdings 
den  neuen  bedeutenden  Anstoss  erhalten 
hat,  gezeigt,  dass  man  in  Wahrheit  von 
der  grundsätzlichen  Verschiedenheit  der 
Objekte  der  Einzelwissenschaften  auszu- 
gehen hat. 

Ebenfalls  in  England  ist  durch  Herbert 
Spencer  ein  neuer,  umfassender  Versuch 
gemacht  worden,  die  Lehre  Comtes  unter 
Festhaltung  der  methodischen  Grundlagen, 
des  encyklopädischen  Aufbaus  der  von  ein- 
ander abhängigen  Wissensgebiete,  und  der 
beherrschenden  Ansicht  von  einem  natür- 
lichen Entwickelungsgang  der  Gesellschaft 
zu  reformieren.  So  häufig  Spencer  auch 
im  einzelnen  gegen  Comte  polemisiert,  so 
abhängig  ist  er  im  ganzen  von  ihm.  Er 
ernüchtert  den  phantasievollen  Positivismua 
Comtes;  und  in  der  That  sclüiesst  der  Po- 
sitivismus eigentlich  die  Phantasie  aus ! 
Comte  besass  wirkliche  Gelehrsamkeit  nur 
auf  dem  Gebiete  der  Mathematik  und  der 
exakten  Naturwissenschaften ;  er  war  durch 
seine  tragischen  Lebensschicksale  verhindert 
worden,  seine  Kenntnisse  so  zu  erweitern, 
wie  es  sein  Ziel  erforderte.  Spencer  da- 
gegen gebietet  über  ein  umfassendes  Wissen 
auf  dem  Gebiet  der  organischen  Natur- 
wissenschaften und  der  Ethnologie,  auf  dem 

Auflage.    IV.  14 


210 


Gesellschaft  und  Gresellschaftswissenscliafi 


er  auch  selber  sammelnd  und  forschend 
vorgegangen  ist.  Auch  er  huldigt  zu  oft 
dem  Irrtum,  dass  der  Philosoph  oder  So- 
ziologe die  fertigen  Resultate  der  Wissen- 
schaften nehmen  und  kombinieren  dürfe, 
um  damit  zu  neuen  sicheren  Resultaten  zu 
gelangen.  Namentlich  aber  gilt  es  auch 
von  ihm  wie  von  Comte,  dass  der  als  not- 
wendig postulierte  Aufbau  der  Geistes- 
wissenschaften auf  die  Naturwissenschaften 
gar  kein  positives  Resultat  ergiebt.  Seine  Bio- 
loge soll  freilich  ein  sehr  sorgfältiges  Werk 
sem,  während  sich  Comte  bei  einem  kind- 
lichen Glauben  an  Galls  Schädellehre  be- 
ruhigt hatt^;  was  sie  aber  der  eigentlichen 
Soziologie,  die  den  Schluss  von  Spencers 
encyklopädischem  Werke  bildet,  genützt 
haben  soll,  ist  nicht  ersichtlich.  Im  Gegen- 
teil hat  sie  ihn  zu  einer  biologischen  Auf- 
fassung der  Gesellschaft  als  Organismus 
verführt ,  die  alle  Schwächen  der  ent- 
sprechenden deutschen  Richtung  teilt  und 
an  origineller  Phantasie  hinter  Schäffle  zu- 
rücksteht. Von  seiner  Psychologie  macht  er 
allerdings  in  der  Soziologie  fortwährend  Ge- 
brauch. Abhängig  von  der  Millschen  Schei- 
dung induktiver  und  deduktiver  Methoden 

—  während  doch  bei  allem  Denken,  das 
mathematische  vielleicht  ausgenommen,  In- 
duktion und  Deduktion  fortwährend  in  ein- 
andergreifen  — ,  sucht  er  beständig  die  eine 
durch  die  andere  zu  belegen.  Er  deduziert 
aus  der  Psychologie  und  erfreut  sich  dann 
der  Uebei'einstimmung  mit  den  induktiv 
ermittelten  Thatsachen  der  Gesellschaft. 
Dabei  täuscht  er  sich  selber,  da  ihm  sein 
Zielpunkt  schon  vorher  feststeht:  er  will 
nämlich  überall  zu  der  Yemunftgemässheit 
des  landläufigen  englischen  Individualismus 
gelangen.  Unter  diesem  mehr  oder  minder 
bewussten  Zwange  stehen  sowohl  seine 
Vernunftschlüsse  wie  seine  Auslese  der 
Thatsachen.  So  dilrftige  Abstraktionen,  wie 
»industrieller  Geist  und  militärischer  Geist«, 
die  nun  auf  alle  erdenklichen  Erscheinungen 
der  Geschichte  und  der  Gegenwart  als  nie 
versagendes    Reagens    augewendet    werden 

—  er  konstatiert  sogar  in  der  englischen 
Gesellschaft  eine  Stärkung  des  militärischen 
Geistes !  — ,  sind  nicht  emmal  —  Metaphy- 
sik. Spencer  hat  zwar  ein  eigenes  Buch 
geschrieben,  um  in  der  Weise  Bacons  die 
Vorurteile,  die  das  wissenschaftliche  Urteil 
hemmen  oder  trüben,  zu  kennzeichnen, 
als  Vonirteil  ^t  ihm  aber  dabei  aUes, 
was  der  liberal-mdividualistischen  Schablone 
im  Wege  steht.  Die  wirklichen  Verdienste 
seiner  Soziologie  liegen  in  den  ethnologi- 
schen Abschnitten,  der  Darstellung  der 
Hen*schaft  des  Ceremoniells  in  der  Sitte 
der  Natiuvölker  und  den  religiösen  Urzu- 
ständen. Allerdings  sind  seine  psychologi- 
schen Deutungen  auch  hier  oft  gewagt  und 


seine  höchst  einflussreiche  Darstellung  der 
Religionsstufe  des  Animismus,  die  wesent- 
lich eine  Fortbildung  der  Theorie  Comtes 
von  der  Herrschaft  des  Fetischismus  ist, 
hält  sich  von  dem  Fehler  der  Uniformierung 
nicht  frei.  Auf  diesen  beidea  Gebieten  hat 
aber  die  Anregung,  die  Spencer  gegeben, 
fnichtbar  gewirkt. 

Die  zahlreichen  Versuche,  die  in  teil- 
weisem Anschluss  an  ihn  in  England  und 
Amerika  gemacht  worden  sind,  die  Gesell- 
schaftswissenschaft und  ihr  Fundament  die 
Kultur^schichte  in  eine  Art  psychologische 
Dynamik  aufzulösen,  leiden  an  der  Willkür 
sowohl  der  psychologischen  Voraussetzungen 
als  der  Thatsachen-Auslese.  Als  der  geist- 
reichste Vertreter  dieser  Richtung  sei  der 
Ameiikaner  Patten  genannt,  der  die  Gesell- 
schaftslehre als  eine  Mechanik  der  Schmerz- 
und  Lustempfindungen  konstruiert. 

In  neuer  Weise  hat  in  Deutschland  die 
Probleme  Comtes  W.  Dilthey  in  seiner  Ein- 
leitung in  die  Geisteswissenschaften  aus- 
gebildet. Der  historischen  Kritik  der  Meta- 
physik, wie  sie  Comte  entworfen,  giebt  er  eine 
strengere  Begründung,  die  auf  einem  feineren 
Verständnis  der  Sinnesart  und  der  besonderen 
Probleme  der  einzelnen  geschichtlichen  Epo- 
chen beruht.  Indem  er  die  Methoden  der  ein- 
zelnen Wissenschaften,  wie  sie  thatsächlich 
in  Anwendung  kommen,  mit  einander  ver- 
gleicht, gelangt  er  zu  dem  Ergebnis,  dass 
sie  zwar  insgesamt  eine  gemeinsame  Be- 
gründung, die  dann  nur  in  einer  allgemei- 
nen Theorie  der  Erkenntnis  liegen  kann, 
bedürfen,  dass  sie  aber  eine  Gemeinsamkeit 
der  Methode,  wie  sie  die  Gesellschafts- 
wissenschaft Comtes  naturalistisch,  oder 
wie  sie  die  Geschichtsphilosophie  teleo- 
logisch in  Anwendung  bringt,  ausschliessen. 
Eine  selbständige  Erkenntnistheorie,  auf  die 
sich  eine  Methodologie  aufbauen  könnte,  hat 
er  nicht  geliefert,  sondern  nur  eine  beschi'ei- 
bende  und  analysierende  Psychologie,  die  den 
Menschen  in  der  Gesellschaft,  d.  h.  in  seinen 
versclüedenen  Beziehungen  zu  seinen  Mit- 
menschen erfasst,  als  Gnmdlage  aller 
Geisteswissenschaften  gefordert.  Er  hat 
dabei  die  Methoden  der  experimentierenden 
Individualpsychologie  wohl  zu  sehr  einge- 
schränkt. Seine  Ablehnung  natiu^issen- 
schaftlicher  Methoden  fflr  die  Geisteswissen- 
schaften gründet  sich  darauf,  dass  uns  der 
Gegenstand  selber  hier  und  dort  in  ganz 
verschiedener  Weise  gegeben  ist :  Die  Natur 
ist  uns  stumm,  die  Thatsachen  der  Gesell- 
schaft sind  uns  von  innen  heraus  verständ- 
lich, wir  können  sie  mitempfinden,  nach- 
bilden. Eben  deshalb  ist  es  auch  unmög- 
lich, die  AVertiu^eile  aus  den  Geisteswissen- 
schaften zu  eliminieren,  wir  schätzen  in 
unserem  Urteile  über  Richtimgen,  Institu- 
tionen   und    dergleicheu    immer    zugleich 


Gesellschaft  und  Gresellschaftswissenschaft 


211 


ihren  ^'ert  ab;  auch  zeigt  das  geistige, 
besonders  das  gesellschaftliche  Leben  einen 
viel  grösseren  Reichtum  des  Singulären, 
viel  weniger  Gleichförmigkeiten  als  die 
!Natur.  Dass  demuogeachtet  die  logischen 
Operationen  sich  hier  wie  dort  wieder- 
holen, dass  man  auch  nie  einzelner  den 
Naturwissenschaften  entlehnter  Begriffe  zur 
Verdeutlichung  der  Erscheinungen  sich 
entschlagen  wird,  so  wenig  sich  jene  der 
gleichen  Entlehnung  aus  den  Geisteswissen- 
schaften enthalten,  ist  kaum  zu  bemerken 
nötig.  Die  Rätlichkeit  einer  zusammen- 
fassenden Gesellschaftswissenschaft  leugnet 
Dilthey  deshalb,  weil  es  keine  Erkenntnis 
des  Ganzen  der  geschichtlich-gesellschaft- 
lichen Wirklichkeit  giebt.  Das  Suchen  nach 
einer  einheitlichen  Erklänmgsforuiel  über 
die  Erkenntnisse  der  Einzelwissenschaften 
hinaus  von  Herder  bis  Comte  ist  nur  Meta- 
physik ;  meistens  wird  nur  eine  einzelne  der 
wirkenden  Kräfte  dabei  herausgehoben,  die 
als  Ausdruck  der  vielgestaltigen  Wirklich- 
keit unzulänglich  ist.  Um  so  mehr  ist 
allerdings  erforderlich,  dass  in  den  Einzel- 
wissenschaften die  Beziehungen  des  Singu- 
lären zum  Allgemeinen  und  ihre  Beziehungen 
unter  einander  gepflegt  werden. 

Alle  bisher  besprochenen  Richtungen 
stimmen  mit  Ausnahme  derjenigen  Quete- 
lets  doch  darin  überein,  dass  in  der  Wissen- 
schaft von  der  Gesellschaft  wesentlich  eine 
Analyse  jener  geistigen  Vorgänge,  die  sich 
als  gleichmässige  oder  weitverbreitete  Er- 
scheinungen äussern,  angestrebt  wurde; 
man  sah  eine  psychologische  Grundlegung 
für  nötig  an,  bei  der  man  die  einfachen 
Thatbestände  des  geistigen  J^bens  als  wir- 
kende Kräfte  zu  ermitteln  suchte.  Gerade 
bei  den  Positivisten  Comte  und  Spen- 
cer ist  diese  ideologische  Richtung  stark 
ausgesprochen.  Hieran  änderte  nichts,  dass 
man  auch  den  Einfluss  der  Naturbedingun- 
^n  auf  die  menschliche  Entwicklung,  die 
in  einer  wohlbegründeten  Einzelwissenschaft, 
der  Geographie,  besonders  behandelt  wurden, 
würdigte.  Gerade  von  jenen  Forschern,  die 
von  Montesfjuieu  und  Herder  bis  zu  Buckle 
die  Ideeeneutwickelung  in  Gesellschaft  und 
Staat  zu  ihrem  Gegenstand  gemacht  hatten, 
ist  das  besonders  geschehen;  Ausschrei- 
tungen einzelner,  wobei  der  Mensch  aus- 
schliesslich als  das  Produkt  des  Bodens 
erschien,  auf  dem  er  lebt,  kommen  nicht  in 
Betracht;  der  Hinweis  darauf,  dass  ver- 
schiedene Völker  unter  denselben  Natiu'be- 
dingnngen  sich  doch  verschieden  entwickeln, 
diente  sofort  zur  Widerlegung  dieser  harm- 
losen üebertreibungen.  Es  stand  also  diese, 
auf  eine  Psychologie  der  höheren  Geistes- 
thätigkeiten  gegründete  Gesellschaftswissen- 
schaft eigentiich  in  keinem  Widerspruch  zu 
der  herrschenden  synthetischen  Geschicht- 


schreibung, wie  denn  auchRanke  als  leiten- 
den Gesichtspunkt  seiner  Darstellung  die  Ent- 
wickelung  der  Ideeen  in  der  Geschichte 
nahm,  d.  h.  die  grossen  eine  Epoche  be- 
herrschenden Geistesrichtungen,  die  sich 
auf  den  verschiedenen  Gebieten  des  Lebens 
gleichmässig  wirksam  äussern.  Ob  dabei 
in  dem  Worte  Ideeen  metaphysische  An- 
klänge vorhanden  waren,  kommt  wenig  in 
Betracht,  da  namentlich  Ranke  sich  sorgfältig 
gehütet  hat,  einen  theologischen  oder  auch 
nur  teleologischen  Charakter  in  seine  Ge- 
schichtsbetrachtung selber  hineinzutragen. 
Eher  könnte  man  bisweilen  fragen,  ob  die 
Analyse  der  geistigen  Zeitströmungen  stets 
so  weit  geftihrt  ist,  dass  sie  auch  auf  ihren 
einfachsten  Ausdruck  gebracht  sind.  So  ist, 
um  ein  Beispiel  aus  einer  neueren  Polemik 
zu  nehmen,  »Idee  der  Centralisation«  keine 
gute  Abstraktion,  weil  in  dem  Bestreben 
der  Centralisation  noch  zu  viel  verschiedene 
geistige  Aeusserungen  beschlossen  sind. 
Ein  entschiedener  Mangel  der  Geschicht- 
schreibung und  der  Ghesellschaftswissenschaft 
war  es  immerhin,  dass  die  wirtschaftliche 
Seite  der  Vorgänge  überhaupt  weniger  be- 
achtet wimle,  namentlich  aber  als  Ursache 
anderer  Erscheinungen  in  den  Hintergrund 
trat.  Auch  die  historische  Schule  der 
Nationalökonomie  änderte  in  ihrer  ersten 
Generation  hieran  nichts.  Sie  hatte  keines- 
wegs den  Ehrgeiz,  einen  neuen  umfassenden 
Bau  der  gesamten  Gesellschaftswissenschaf- 
ten zu  unternehmen,  sie  begnügte  sich,  den 
Einfluss  der  verschiedenen  Gebiete  der 
geistigen  Kultur  auf  die  Wirtschaft  zu  be- 
tonen, sie  bekämpfte  namentlich  auch  die 
Trennung  der  Volkswirtschaft  vom  Staats- 
leben. Hierin  bestand  ihr  Verdienst;  sie 
war  aber  in  ihren  ersten  Vertretern  selber 
noch  zu  sehr  in  den  dogmatischen  Formu- 
lienmgen  der  klassischen  Nationalökonomie 
befangen  und  nahm  es  mit  ihrem  eigenen 
Princip  der  Entwickelung  zu  wenig  streng, 
als  dass  sie  der  Bedeutung  des  Wirtschafts- 
lebens in  den  anderen  Zweigen  der  Geistes- 
wissenschaf t  hätte  Geltimg  verschaff  en  können. 
Die  Nationalökonomie  suchte  noch  mehr  bei 
der  Geschichte  als  diese  bei  ihr  Anlehnung. 
Unzweifelhaft  ist  ein  mächtiger  Anstoss 
zur  Aenderung  auch  hier  von  den  Urhebern 
der  Sozialdemokratie,  von  Marx  und  Engels, 
ausgegangen.  Mit  der  Entschiedenheit,  wie 
sie  emseitigen  Radikalismus  stets  .  kenn- 
zeichnet, stellten  sie  die  wirtschaftlichen 
Vorgänge  in  den  Vordergrund ,  behaupteten 
eine  streng  logische,  naturgesetzliche  Ent- 
wickelung, die  diese  aus  sich  heraus  näh- 
men, und  brachten  alle  anderen  gesellschaft- 
lichen Vorgänge,  einschüesslich  des  politi- 
schen Lebens,  ja  im  Princip  sogar  der 
Religion,  in  eine  strenge  Abhängigkeit  von 
diesen  in  sich  notwendigen  wirtscliaftlichen 

14» 


212 


G^sellschAft  und  Gesellschaftswissenschaft 


Verschiebungen.  Es  herrscht  hier  ein  fata- 
listischer Glauben  an  die  unwiderstehliche 
Macht  des  gesellschaftlichen  Naturgesetzes, 
der  noch  überzeugter  ist  als  der  Quetelets, 
nur  dass  es  sich  bei  ienem  um  Zahlenge- 
setze, bei  diesen  um  Entwickelungsgesetze 
—  immerhin  eine  Verbesserung  —  handelt. 
För  Marx,  den  letzten  bedeutenden  Hege- 
lianer, war  die  dialektische  Methode,  nach 
der  sich  die  Dinge  mit  der  Strenge  der  Be- 
griffsformeln entwickeln,  massgebend,  wie 
sie  immer  bizarrer  noch  bis  zuletzt  von  ihm 
zugespitzt  wurde;  die  Anwendung  auf  die 

feschichtlichen  Vorgänge  fiel  vor  allem 
Ingels  zu,  doch  stammt  auch  hier  die  ge- 
schichtliche Grundanschauung  von  Marx, 
dem  überlegeneren  Kopfe.  Marx  hat  zuerst 
das  Problem  erfasst,  wie  eine  Produktions- 
stufe mit  innerer  Konsequenz  aus  einer 
früheren  hervorgeht,  wozu  die  alte  Unter- 
scheidung von  Natural-  und  G^ldwirt- 
schaft  nur  ein  dürftiger  Ansatz  war; 
er  hat  ebenso  zuerst  den  innigen 
Zusammenhang  zwischen  der  volkswirt- 
schaftlichen Verteilung  und  der  Produktion 
richtig  erkannt,  überhaupt  der  Lehre  von 
der  Verteilung,  die  in  Ricardos  System  be- 
sonders metaphysisch-formelhaft  ausgefallen 
war,  den  ihr  gebührenden  Platz  zugewiesen 
und  den  bestimmenden  Einfluss,  den  sie 
auf  das  gesamte  Kultiu*leben  eines  Volkes 
ausübt,  mit  Recht  betont.  In  der  That 
machten  sich  um  die  Mitte  des  19.  Jahr- 
hunderts die  Folgen  wirtscliaftlicher  Ver- 
schiebungen auf  (lie  übrigen  sozialen  Ver- 
hältnisse offenkundiger  als  früher  geltend. 
Fortan  galt  es  nicht  niu*,  das  Wirtschafts- 
leben in  den  Fluss  der  Geschichte  zu 
stellen,  sondern  vor  allem  den  Fluss  der 
Geschichte  zum  Teil  aus  dem  Wirtschafts- 
leben zu  erklären.  Marx  hat,  ganz  abge- 
sehen von  seinen  praktischen  Folgerungen 
und  von  der  Organisation  seiner  Anhänger, 
die  sich  auf  diese  eingeschworen  haben, 
auch  wissenschaftlich  die  Knoten  geschürzt, 
die  wir  uns  zu  lösen  bemühen  müssen. 
Diese  Aufgabe  hat  die  jüngere  historische 
Schide  angetreten,  namentlich  bei  den  Arbeiten 
Knapps  imd  Büchers  scheinen  mir  ähnliche 
Erwägungen  stark  mitgesprochen  zu  haben. 
So  trat  hier  ein  neues  System  der  Ge- 
sellschaftswissenschaft auf,  noch  konsequen- 
ter und  geschlossener  als  das  Comtes. 
Jenes  mag  man  einseitig  idealistisch  nennen, 
beruhend  auf  einer  Ueberschätzung  der 
Rolle  des  wissenschaftlichen  Denkens,  die- 
ses bezeichnet  sich  selber  gern  als  ein 
materialistisches,  wofür  man  wohl  besser 
ein  einseitig  wii'tscliaftiiclies  sagen  dürfte, 
insofern  es  zu  einer  materialistischen  Philo- 
sophie wolü  eine  Analogie,  aber  keine  un- 
mittelbare Beziehung  besitzt.  Wer  in 
systematischer    Einheitlichkeit    das    Wesen 


der  Wissenschaftlichkeit  sieht,  wird  freilich 
den  Wert  dieses  Entwurfes  höher  schätzen 
als  wer  wie  wir  dieses  in  jene  Sicherheit  der 
Begründung  setzt,  die  in  genauer  Unterschei- 
dung des  Verschiedenen  besteht.  Man 
kann  nicht  einmal  sagen,  dass  die  mate- 
rialistische Gesellschaftslehre  ihr  Princip 
streng  verwendet,  die  Formen  des  höheren 
geistigen  Lebens  aus  den  wirtschaftlichen 
Verschiebungen  zu  erklären;  für  die  Reli- 
gion, die  ihm  bekanntiich  Privatsache  ist,  giebt 
Engels  selber  die  Schwierigkeit  zu ;  um  für 
das  Gebiet  der  Sitte,  wo  die  materiellen 
Einflüsse  deutlicher  werden,  das  Princip 
durchzuführen^  hat  man  die  geistvollen,  aber 
öfters  konstruierten  Ansichten  des  Ameri- 
kaners Morgan  über  den  gesetzmässigen 
Gang  der^Entwickelung  der  Familienformen 
zu  Hilfe  gezogen;  am  meisten  hat  man 
Glück  gehabt  mit  der  Ansicht,  dass  das 
Recht  nuf  eine  Funktion  der  Wirtschaft 
sei.  Hier  kam  sowohl  in  der  Wissenschaf t 
des  Ej-iminalrechts  wie  in  der  des  Civil- 
rechts  dieser  Auffassung  eine  starke  Strö- 
mung entgegen;  man  schied  mehrfach,  wie 
Stammler  es  thut,  Wirtschaft  und  Recht 
nur  wie  Inhalt  und  Form,  wobei  immer 
vorbehalten  bleibt,  dass  die  festgestellte 
Form  längere  Zeit  dem  Inhalt  nicht  zu  ent- 
sprechen braucht,  also  unangemessen  ist.  Da 
aber  alle  Jurisprudenz  eine  Wissenschaft 
von  Geboten  ist  und  von  der  Voraussetzung 
ausgeht,  dass  diese  Rechtsgebote  ein  zweck- 
mässiges Handeln  der  Menschen  bestimmen 
wollen  und  können,  sehen  sich  selbst  diese 
Juristen  veranlasst,  jene  Auffassung  Marxs, 
die  nur  einen  unabänderlichen  Determinis- 
mus aus  gegebenen  Zuständen  zulässt,  zu 
einer  Teleologie  umzubiegen,  in  der  das 
Zweckmässigkeitsprincip,  wenn  auch  nur  als 
ein  allgemeines  formales  Princip  ohne  be- 
stimmten Inhalt  herrscht. 

Wer  im  Rechtsleben  und  demgemäss 
auch  im  Staatsloben  der  Völker  eine 
selbständige  Aeusserung  psychischer  Grund- 
eigenschaften sieht,  die  nur  in  beständiger 
Wechselwirkung  mit  dem  wirtschaftlichen 
Rohstoff  stehen,  der  wird  von  vorn  herein  an 
jener  schematischen  Einheit  aller  sozialen  Er- 
scheinungen keinen  Gefallen  finden.  Jede  Ab- 
leitung der  Ei^scheinungen  des  einen  geistigen 
Gebietes  aus  solchen  des  anderen  ist  un- 
durchfülirbar,  weil  in  den  psychischen 
Grundeigenscliaften,  auf  denen  jedes  einzelne 
dieser  Gebiete  beniht,  specifische  Verschie- 
denheiten liegen  und  weil  si(*h  in  unserem  Be- 
wusstsein  diese  principielle  Verscliieden- 
heit  beständig  geltend  macht  Man  gelangt 
nie  weiter,  selbst  wenn  man  niu*  die  unent- 
wickelten Kulturzustände  ins  Auge  fasst,  als 
die  beständige,  innige  Wechselwirkung  der 
einzelnen  Richtungen  des  geseUschaftiichen 
Lebens  zu  konstatieren.    So  weit  wir  zu- 


Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft 


213 


rückblicken,  so  weit  wir  analysieren  mögen, 
es  wird  sich  uns  immer  mir  ein  Nebenein- 
ander, nie  ein  Nacheinander  zeigen.  Man 
mag  vielleicht,  wie  es  Schopenhauer  that, 
den  ganzen  Begriff  der  Wechselwirkung  als 
ein  logisch^  Unding  ansehen  und  behaup- 
ten, dass  irgendwo  ein  Anfangspunkt  für 
den  Kausalnexus  vorhanden  sein  müsse,  aber 
kdnesfalls  lässt  sich  ein  solcher  wissenschaft- 
lich bestimmen.  Die  Hypothese  hat  hier  freies 
Spiel,  und  keiner  kann  dabei  so  leicht  dem 
anderen  ein  vaxagov  ngoragov  vorwerfen. 

Von  einigen  besonderen  Spielarten  der 
GeseUschaftslehre  können  wir  hier  absehen. 
Die  des  Anarchismus  hat  in  diesem  H.W.6. 
eine  eingehende  Würdigung  erfahren.  Früher 
würde  man  von  ihr  gesagt  haben:  sie  ver- 
neint nicht  nur  die  Yerbindlichkeit  des 
Staatsvertrages,  sondern  auch  die  des  Gesell- 
schaftsvertrages. Mit  ihr  verwandt  ist 
jene  Auffassung,  die  in  der  Gesellschaft 
und  vollends  im  Staate  niu"  einen  auf  Ge- 
waltverhältnissen beruhenden  Verband  sieht. 
Die  Bedeutung  jener  Verbände,  denen  ihr 
Zweck  von  aussen  durch  den  Willen  eines 
einzelnen,  eines  Herrn,  gesetzt  ist,  hat 
man  auch  bisher  nie  verkannt;  auch  die 
Thatsache,  dass  innerhalb  eines  äusserlich 
fiiedlichen  Zustandes  ein  beständiger  Kampf 
um  Macht  mit  gesetzlichen  Mitteln  statt- 
findet, ist  von  der  Zeit  der  Entstehung  der 
Nationalökonomie  her  genugsam  anerkannt. 

3.  Der  Frage  nach  der  Möglichkeit 
einer  Gesellschaftslehre  und  sozialer 
Gesetze.  Die  Abstraktion  »Gesellschaft« 
hat  sich  uns,  so  oft  sie  auch  gemissbraucht 
wird,  als  wissenschaftlich  verwendbar,  in 
gewissem  Sinne  sogar  als  unentbehrlich  ge- 
zdgt.  So  oft  wir  dieses  Wort  gebrauchen 
oder  von  Gesellschaftswissenschalten  reden, 
zeigen  wir  damit  an,  dass  eine  Vereinzelung 
des  besonderen  Problems,  das  wir  gerade 
betrachten  wollen,  nicht  möglich  sei,  dass 
wir  es  in  Beziehung  zu  anderen  Aeussenmgen 
des  geistigen  Lebens  und  als  Teil  einer 
Massenersdieinung  betrachten  müssen.  Um 
diesen  Zusammenhang  uns  denkbar  machen 
zu  können,  müssen  wir  aber  einen  gemein- 
samen Tr^^er  dieser  Eigenschaften  uns  vor- 
stellen, diesen  nennen  wir  Gesellschaft. 
Der  Einzelmensch  ebenso  wie  der  Staat  und 
die  Kirche  sind  konkrete  Grössen,  zumal  sie 
einen  Willen,  den  Ausdruck  der  Persönlich- 
keit haben,  sogar  eine  bestimmte  Volks- 
menge,deren  äussere  Veränderungen  wir  beob- 
achten, ist,  obwohl  ohne  eigenen  Willen,  doch 
eine  konkrete  Grösse,  aber  die  Gruppen,  die 
wir  als  Träger  gemeinsamer  Gefühle, 
Ideeen,  Interessen  konstruieren,  sind  es 
nicht.  Eine  Gruppe  von  Interessenten  wird 
es  z.  B.  erst  diu-ch  ihre  Konstituierung  als 
Verband.  Jene  gemeinsamen  d.  h.  weit- 
verbreiteten   Gefühle,    Ideeen,    Interessen 


sind  aber  vorhanden,  sie  sind  Massener- 
scheinungen, sie  machen  sich  als  Ursachen 
anderer  Vorgänge  geltend,  sie  werden  be- 
ständig modifiziert  durch  andere  Gefühle 
u.  s.  w.;  wir  können  also  gar  nicht  umhin, 
ihnen  Subjekte  zu  leihen  und,  da  sie  alle 
zusammenhängen,  diese  Subjekte  zu  einem, 
der  Gesellschaft,  zu  vereinigen.  Gesellschaft 
ist  eine  brauchbare  Allgemeinvorstellung, 
ein  Hilfsbegriff.  Falsch  ist  jede  Verwendung 
des  Begriffes,  sobald  man  sich  durch  dieses 
Zauberwort  einer  weiteren  Untersuchung  des 
Kausalzusammenhanges  überhoben  glaubt.  Er 
ist  dann  ein  »idolum  fori«  imd  um  nichts 
besser  als  ^twa  in  der  Metaphysik  der  Be- 
griff »Substanz«. 

Unrichtig  ist  es  deshalb,  die  Gesell- 
schaftswissenschaft in  einen  Gegensatz  zu 
den  Staatswissenschaften  zu  bringen,  da 
doch  gerade  diese  die  soziale  Behandlung 
am  meisten  bedürfen,  d,  h.  jede  Erschei- 
nung des  Staatslebens  in  ihrem  Zusammen- 
hange mit  den  anderen  Erscheinungen  des 
Kulturlebens  erfassen  müssen.  Indem  wir 
die  fortwährende  Wechselwirkimg  aller 
historischen  Erscheinungen  unter  einander 
anerkennen,  verzichten  wir  gerade  darauf, 
sie  alle  unter  einem  Gesichtspunkte  zu  be- 
trachten, sie  mit  einerlei  Methode  zu  er- 
fassen, einerlei  Kraft  in  allen  mächtig  zu 
sehen.  Eine  Gesellschaftswissenschaft,  die 
dies  versuchen  will,  ist  ein  Unding,  zu- 
mal wenn  sie  glaubt,  mit  fertigen  Bau- 
steinen schalten  und  walten  zu  können. 
Allerdings  kann  eine  Orientiening  über  den 
Zusammenhang  der  Einzelwissenschaften 
von  Massenerscheinungen,  eine  von  gleichen 
Principien  getragene  Zusammenfassung 
ihrer  Ergebnisse,  wenn  sie  von  einem  be- 
deutenden Kopfe  gehandhabt  wird,  frucht- 
bar werden;  es  können  aus  ihr  neue  Ge- 
sichtspunkte entspringen.  Jedenfalls  ist  es 
aber  his  auf  weiteres  wünschenswerter, 
dass  innerhalb  jedes  Gebietes  jede  Einzel- 
arbeit stets  im  Hinblick  auf  die  Gesamtheit 
der  Erscheinungen  aus^führt  werde,  als 
dass  an  einem  einheitlichen,  aber  luftigen 
Gebäude  allzuviel  gearbeitet  werde. 

Unzweifelhaft  hat  aber  der  Ausbau  einer 
besonderen  Gesellschaftswissenschaft  seit 
Gomte  einerseits,  seit  Marx  andererseits  das 
Gute  gehabt,  dass  die  Einzelwissenschaften, 
die  sie  umfassen,  die  Philosophie,  die  sie 
ersetzen  wollte,  sich  genötigt  sahen,  ihre 
Grundbemffe  und  Methoden  einer  sorgfäl- 
tigeren Betrachtung,  teilweise  einer  Revi- 
sion zu  unterziehen.  Eine  eigene  Methodo- 
logie der  Geisteswissenschaften  ist  eigent- 
lich erst  seit  dieser  Zeit  entstanden.  Eine 
solche  Selbstprüfung  ist  der  Wissenschaft 
wie  dem  einzelnen  von  Zeit  zu  Zeit  zuträg- 
lich ;  niu*  muss  sich  ihr  Erfolg  darin  äussern, 
dass  man  sich  der  eigenen  Kraft  besser  be- 


214 


Gesellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft 


wiisst  werde  und  sie  in  Thaten  kundgebe; 
anderenfalls  wird  die  Selbstprüfung  lähmende 
SelbstgröbeleL  Die  Geschichte  und  Kritik 
der  einzelnen  Methoden  ist  teilweise  schon 
oben  gegeben;  hier  sei  noch  zusammen- 
fassend bemerkt :  Es  besteht  ein  gnmdsätz- 
licher  Gegensatz  zwischen  den  Methoden 
der  Natur-  und  der  Geistes-  oder  Gesell- 
schaftswissenschaften^ der  daher  rührt,  dass 
ihre  Gegenstände  unserem  Bewusstsein  in 
durchaus  verschiedener  Weise  gegeben  sind. 
Wundt,  und  von  ihm  bestimmt  Lamprecht 
und  Barth  suchen  neuerdings  diese  Metho- 
den einander  wieder  möglichst  zu  nähern. 
Sie  betonen,  dass  die  Forschujigsweise  — 
Analyse,  Synthese,  individuelle  und  gene- 
rische  Vergleichung  —  übereinstimmt,  dass 
ihi'er  beider  Ziel  ist,  Urteile  zu  bilden,  die 
auf  das  Gemeinsame,  Typische  gehen.  Das 
ist  unzweifelhaft  richtig;  denn  diese  logi- 
schen Operationen  sind  überall  nötig,  wo 
wir  ein  Mannigfaltiges,  Zusanmiengesetztes 
begreifen  wollen.  Aber  eine  Hauptsache 
ist  übersehen:  die  Verschiedenheit  der  An- 
schauung des  Gegenstandes  ist  vernach- 
lässigt. Von  äusseren  Naturgegenständen 
haben  wir  eine  objektive,  diu-ch  die  Sinne 
vermittelte  Anschauung,  vom  Kausalzu- 
sammenhang der  Natiu-erscheinungen  können 
wir  uns  sachlich  durch  eine  Gegenprobe, 
das  Experiment,  überzeugen,  fremde  geistige 
Vorgänge  aber  —  gleichviel  ob  es  indivi- 
duelle oder  ob  es  Massenerscheinungen  sind  — , 
müssen  wir  erst  diu-ch  Anempfindung  in 
uns  rekonstruieren  und  alsdann  müssen 
wir  verschiedene  solcher  Eindrücke  als 
Einheit  empfinden,  zu  einem  Bilde,  einer 
Anschauung  komponieren.  Dem  Historiker, 
dem  Ethnologen,  selbst  dem  Naüonalöko- 
noraen  ist  sein  Stoff,  —  der  einzelne  Mensch, 
die  Gruppe,  das  Volk,  der  wirtschaftliche 
Vorgang  nur  gegeben,  indem  er  ihn  in 
sich  künstlerisch  gestaltet,  ihn  anschaut. 
Alle  Geisteswissenschaft,  zumal 
die  Geschichte,  ist  Kunst,  nicht 
etwa  darum,  weü  sie  die  künstlerische 
Form  nicht  entbehren  kann,  was  nur  der 
letzte  Absclüuss  sein  würde,  sondern  weil 
schon  ihr  Grundmaterial  ihr  nur  durch  die 
Phantasie,  durch  die  selbstgebildete  An- 
schauung gegeben  sein  kann.  Auch  die 
Verstandeskritik  dient  doch  immer  nur 
dazu,  die  einzelnen  Bestandteile,  die  zur 
Anschauung  zusammentreffen  sollen,  zu 
prüfen  und  zu  sichten.  Deshalb  kommen 
diese  Wissenschaften  nie  zur  objektiven, 
sondern  immer  nur  zur  künstlerischen  Wahr- 
heit, und  es  ist  gar  nicht  die  Aufgabe  des 
Forschers,  seine  Subjektivität  zurückzudrän- 
gen, sondern  nur  sie  ins  Grenzenlose  zu  er- 
weitern, »die  Welt  in  sich  zurückzuschlin- 
gen,«  Mitgefühl  mit  dem  Gesamtzusammen- 
hang der  Erscheinungen  ist  alles.    Für  den 


Naturforscher  wird  in  einer  solchen  Er- 
fassung der  Vorgänge  immer  ein  Rest  von 
^evSos  im  Sinne  der  Griechen  bleiben,  die 
Vertreter  der  Geisteswissenschaften  mögen 
sich  über  diesen  Mangel  damit  trösten,  dass 
sie  die  Kräfte,  deren  Wirkungep  sie  unter- 
suchen, von  innen  heraus  verstehen,  wäh- 
rend die  Kräfte  der  Natiu*  an  uns  fremd 
von  aussen  herantreten  und  ihr  eigentliches 
Wesen  uns  verschlossen  bleibt.  (S.  oben 
die  Bemerkungen  zu  dem  System  Diltheys.) 

Man  hat  nun  gemeint  —  mit  besonderer 
Entschiedenheit  thut  es  Lamprecht  — ,  dass 
nur  das  Irrationale  und  Singulare,  d.  h.  hier 
das  Reich  des  praktisch-freien  Willens,  durch 
die  künstlerische  Anempfindung  erfasst 
werde,  dass  diese  individualistische  Metliode 
immer  nur  eine  Ergänzung  der  kollektivisti- 
schen sei,  der  aliein  das  Reich  des  Rationalen, 
das  dem  Kausalitätsgesetze  untersteht,  zu- 
gänglich ist.  Allein  zunächst  untersteht 
auch  für  unsere  Erkenntnis  das  Reich  der 
Wülensäusserungen  in  der  Erscheinung,  wie 
gerade  Kant  kräftig  betont,  diuxjhaus  dem 
Kausalitätsgesetz,  wir  können  dieses  nur  um 
der  Kompliziertheit  des  Vorganges  nicht  im 
einzelnen  genau  aufweisen,  sodann  gUt,  wie 
eben  auseinandergesetzt  wurde,  die  Möglich- 
keit der  Erkenntnis  geistiger  Vorgänge  durch 
die  Mitempfindung  allgemein  und  ausschliess- 
lich. So  viel  ist  richtig,  dass  auf  die  Anschauung 
gleichartig  und  gleichmässig  sich  wieder- 
holender Vorgänge  die  Möglichkeit  der  Ab- 
straktion, der  Typenbildung  und  besten  Falls 
der  Begriffsbildung,  ebenso  wie  die  der  Ana- 
lyse sich  gründet ;  aber  selbst  in  der  Betrach- 
tung der  Bevölkerungsbewegimg,  wo  uns  die 
relativ  grösste  Regelmässigkeit  begegnet,  wo 
die  Vorgänge  selbst,  Geburt  und  Tod, 
Naturvorgänge  sind,  müssen  wir  doch  ihren 
inneren  Zusammenhang,  sofern  er  sich  auf 
psychische  (d.  h.  soziale,  massenpsychologi- 
sche)  Thatsac».hen  gründet,  von  innen  heraus 
begreifen.  Vollends  alle  anderen  wirtschaft- 
lichen Vorgänge,  ebenso  die  der  Sitte  wollen 
gedeutet  sein,  um  richtig  erfasst  zu  werden. 

Das  wissenschaftliche  Interesse  geht 
immer  dahin,  Massenerscheinungen  zu  kon- 
statieren und  sie  in  ilu*en  Gründen  zu  be- 
greifen. So  viel  man  theoretisch  gestritten 
hat,  wie  weit  Empfindungsleben  und  Hand- 
lungsweise des  einzelnen  mit  unter  die  Massen- 
ersclieinung  fällt  und  wie  weit  es  schöpfe- 
risch ist,  so  wenig  hat  man  doch  in  der 
Praxis,  namentlich  der  Geschichtschreibimg, 
jemals  gezweifelt,  dass  es  die  Hauptaufgabe 
sei,  diese  Wechselwirkung  des  Allgemeinen 
und  des  Besonderen  darzustellen.  Wie  die 
Abrechnung  im  einzehien  ausfällt,  ist  nicht 
im  voraus  auszumachen,  da  im  Individuum 
etwas  ünfassbares  übrig  bleibt,  und  weil 
gerade  hier  auch  die  individuelle  Anschau- 
ungsweise  des   Beobachters    in    ihr    volles 


Gresellschalt  und  GeseUschaftswissenschaft 


215 


Becht  tritt.  Abzulehnen  ist  also  nur  die  Auf- 
iassung,  die  im  Individuum  nichts  als  das 
.willenlose  Produkt  der  umstände  sieht.  Auch 
die  grossen  Genies  sind  zwai*  von  dem  Be- 
wusstsein  getragen  worden,  dass  sie  die 
iFordenmgen  der  Zeit  ausgeführt  haben, 
aber  auch  von  dem,  dass  nur  sie  im  stände 
hierzu  waren.  Die  Umstände  liefern  das 
Problem,  das  Individuum  löst  es.  Jeder 
neue  Gedanke  entsteht  zuerst  in  einem  In- 
dividuiun,  wird  alsdann  der  Erwerb  von 
Gruppen  und  zuletzt  Gemeingut,  d.  h.  Besitz 
einer  Majorität. 

Verwandt  mit  dieser  Frage,  aber  schwie- 
riger als  sie  ist  die  weitere  nach  dem  Wesen 
des  Zufalls,  und  wie  neben  diesem  Regel- 
mässigkeit und  Gesetzmässigkeit,  also  auch 
Wissenschaft  bestehen  köonen.  Die  Logiker 
und  Statistiker  haben  meistens  den  Zufall 
niu"  in  so  weit  behandelt,  als  er  die  Ab- 
weichimg von  der  Regel  darstellt;  es 
gleichen  sich  diese  Abweichungen,  da  sie 
selber  er^rungsgemäss  sich  regelmässig 
verteilen,  bekanntlich  bei  einer  genügend 
grossen  Anzahl  von  Fällen  aus.  Für  die 
historischen  Wissenschaften  reicht  diese  Be- 
trachtung des  Zufalls  aber  nicht  aus;  der 
ZufeJl,  der  in  ihnen  eine  massgebende  Rolle 
spielt,  geht  weiter.  Es  ist  eines  der  Ver- 
dienste Rümelins,  auch  diesen  Begriff  in 
einer  für  uns  einstweilen  ausreichenden 
Weise  behandelt  zu  haben..  Er  zeigt  näm- 
heh,  dass  der  Zufall  ganz  wolü  unter  dem 
ausnahmslosen  Eausalnexus  aller  Erschei- 
nungen; der  ja  für  uns  eine  Denknotwendig- 
keit ist,  bestehen  kann.  Es  stossen  näm- 
lich beständig  Kausalreihen,  die  von  ein- 
ander unabhängig  sind,  auf  einander, 
physische  und  geistige  ebenso  wie  geistige 
unter  einander.  Dadurch  werden  unablässig 
neue  Kausalreihen  eröffnet,  die  sich  keines- 
wegs nach  kurzem  totlaufen,  sondern  immer 
weiter  wirken.  Diese  ünberechenbarkeit 
der  Kombination  nennen  wir  Zufall.  Man 
kann  also  mit  demselben  Rechte  erklären: 
»Alles  ist  zufällig«  wie  »Alles  ist  gesetz- 
massig«. Diese  beiden  Sätze  sduiessen 
einander  nicht  aus. 

Wenn  man  also  von  sozialen  oder  histo- 
rischen Gesetzen  verlangt,  dass  die  Ereig- 
nisse in  einer  bestimmten,  womöglich  im 
voraus  zu  bestimmenden  Reihenfolge  ein- 
treten und  sich  ebenso  wiederholen,  so 
würde  eine  solche  Forderung  an  die  »Ge- 
setzmässigkeit« durchaus  unbillig  sein.  Ge- 
setzmässigkeit dieser  Art  giebt  es  auch  in 
der  Natur  nicht,  weil  auch  in  jeder  ihrer 
Erscheinungen,  selbst  das  isolierende  Experi- 
ment nicht  ausgeschlossen,  die  Bedingungen 
einander  kreuzen  und  deshalb  keine  völlig 
der  andern  gleicht. 

Unter  Naturgesetzen  versteht  man  jetzt 
gewöhnlich  die  einfachsten,  einstweilen  nicht 


weiter  zerlegbaren  Erfahrungstliatsachen,  aus 
denen  sich  die  verwickelbaren  Erscheinungen 
zusammensetzen,  wälirend  man  die  Erklä- 
rung der  Wirkungsweise  oder  des  Kausal- 
zusammenhanges lieber  als  Theorie  resp. 
als  Hypothese  bezeichnet.  Doch  wird  man 
wohl  die  Art,  wie  sich  die  Grundthatsachen 
kombinieren  und  dadurch  komplizieren,  ihre 
Wirkungsweise  nennen  und  sie  selber  als 
grundlegende  Ursachen  oder  Kräfte  auf- 
Mtösen  dürfen.  Es  scheint  nicht  wünschens- 
wert, die  Bc^ffe  Gesetz  und  Kausalität  von 
einander  zu  trennen.  In  diesem  Sinne  würde 
man  zu  einem  sozialen  Gesetz  gelangen,  so- 
bald ein  einfacher,  psychischer  oder  mate- 
rieller Thatbestand  ermittelt  wird,  der,  wo 
er  in  den  Wechselbeziehungen  der  3Ienschen 
unter  einander,  auftritt,  von  gleichen  Folgen 
begleitet  ist.  Gesetze  konstatieren  die  Regel- 
mässigkeit der  Wirkungsweise  wiederkeh- 
render Ursacheo.  Diesem  Begriff  wiixi  z.  B. 
das  Thünensche  Gesetz  völlig  entsprechen: 
eine  bestimmte  Ursache,  die  Ortsentfernung 
resp.  Verkehrsschwieidgkeit  zwischen  Pro- 
duktionsplatz und  Markt,  übt  auf  die  Preis- 
bildung und  durch  diese  auf  die  Gestaltung 
der  Produktion  einen  genau  zu  bestimmen- 
den Einfluss  aus.  Es  würde  irrig  sein,  zu 
verlangen,  dass  irgendwo  die  Gestaltung  der 
Produktion  dem  Thünenschen  Schema  genau 
entspreche,  da  ja  sowohl  die  Preisbildung 
als  auch  die  Produktion  noch  von  vielen 
anderen  Bestimmungsgründen  abhängen,  und 
zum  Wesen  eines  Gesetzes  genügt. es  aber 
auch,  dass  die  Wirkimgsweise  des  einen 
Faktors,  die  man  festlegen  will,  bestimmt 
wird.  In  diesem  Falle  kann  sogar  die  Wir- 
kungsweise der  Ursache  quantitativ  genau 
bestimmt  werden,  wenn  sie  dies  selber  ist. 
Als  allgemeine  Fordemng  lässt  sich  solche 
quantitative  Exaktheit  nicht  aufteilen,  weil 
man  dann  von  vom  herein  auf  alle  psycho- 
logisch-sozialen Gesetze  verzichten  müsste. 
Unzweifelhaft  ist  in  der  Praxis  die  Be- 
rufung auf  gesellschaftliche  oder  wirtschaft- 
liche Gesetze  oft  zu  Unrecht  erfolgt  und 
hat  nicht  selten  Unheil  gestiftet.  Die  Gründe 
hierfür  sind  dieselben  Quellen  des  Irrtums, 
die  auch  in  den  übrigen  Wissenschaften 
häufig  zu  falschen  oder  unvollständigen  For- 
mulierungen geführt  haben.  Laienhait  plump 
ist  die  Verwechslung  eines  wissenschaftlichen 
Gesetzes,  das  die  Ursachen  von  Handlungen 
ergründen  will,  mit  einem  Gesetzesgebot, 
das  selber  die  Ursache  von  Handlungen  wer- 
den will.  Nicht  viel  besser  ist  das  Miss- 
verständnis, als  ob  die  Einzelerscheinung 
einem  einzigen  Gesetze  allein  unterstehe, 
wie  es  sich  z.  B.  in  der  übertriebenen  An- 
wendung des  sogenannten  Gesetzes  der  Ar- 
beitsteilung äussert  Hierher  gehört  auch 
die  Ueberschätzung,  wonach  man  die  Wir- 
kung eines  einzelnen  Faktors  für  allein  aus- 


216    Gresellschaft  und  Gesellschaftswissenschaft— Gesellschaften  m.  beschr.  Haftung 


schlaggebend  hält,  z.  B.  in  Malthus'  Bevöl- 
kerungsgesetz und  Ricardos  Grundrenten- 
gesetz, das  sozusagen  nur  sekundäre  Rich- 
tigkeit habe.  Ferner  hat  man  öfters  auch 
unsicheren  Hypothesen  den  Rang  von  Ge- 
setzen zugeschrieben,  z.  B.  in  der  Zurück- 
führung  des  Wertes  allein  auf  Arbeitsquao- 
titäten,  oder  auch  geradezu  falsche  Kausal- 
erklärungen wie  die  Quautitätstheorie  so 
benannt.  Endlich  hat  man  sehr  gewöhnlich 
feststehende,  einfache  Ursachen  angenommen, 
wo  diese  in  der  That  verschiebbar  und  zu- 
sammengesetzt waren.  In  diesem  FaUe  hat 
man  feste  Gesetze  untergeschoben,  wo  man 
nach  Entwickelungsgesetzen  hätte  suchen 
sollen.  Dies  ist  fast  der  gewöhnliche  Fall 
bei  den  psychologischen  Erklärungen,  z.  B. 
der  Zurftckführung  aller  im  Wirtschaftsleben 
wirkenden  Seelenkräfte  auf  den  wohlver- 
standenen Eigennutz. 

Der  Missbrauch  hindert  nicht,  dass  wir 
in  der  Wissenschaft  von  den  Wechselbe- 
ziehungen der  Menschen  Gesetzmässigkeit 
anerkennen  und  zu  erforschen  suchen.  Mit 
der  blossen  Beschreibung,  sei  sie  statistisch, 
sei  sie  historisch,  ist  nur  Anschauungsstoff, 
aber  keine  Erkenntnis  gegeben.  Diese  be- 
Mint  überall  erst  mit  der  Einsicht  in  den 
JoLausalzusanmienhang.  Dass  bisher  niu*  ein 
geringer  Bestand  solcher  Erkenntnis  von 
den  sozialen  Beziehungen  der  Menschen,  von 
den  Massenerscheinungen  ihres  wirtschaft- 
lichen und  höheren  geistigen  Lebens  vor- 
handen ist,  muss  anerkannt  werden,  braucht 
aber  die  Arbeit  an  der  Vermehrung  dieses 
Bestandes  nicht  zu  entmutigen. 

E.  Gotfiein, 


Gesellschaften  mit  beschränkter 

Haftung. 

1.  Bestrebungen  zur  Reform  des  Gesell- 
Bchaftsrechts.  2.  Charakteristik.  3.  Zweck. 
4.  Errichtung.  5.  Organisation.  6.  Das  Ge- 
sellschaftsvermögen. A.  Das  Stammkapital. 
B.  Nachschttsse.  7.  Der  Geschäftsanteil.  8.  Der 
Anteil  am  Gewinne.  9.  Die  Auflösung  und  Nichtig- 
keit der  Ges.  m.  b.  H.  10.  Die  Umwandlang 
von  Aktiengesellschaften  in  Ges.  m.  b.  H.  11. 
Verbreitung.    12.  Kritik. 

1.  Bestrebungen  znr  Reform  des  Gre- 
sellschaftsrechts.  Die  Vielgestaltigkeit 
der  Verhältnisse  des  modernen  Handels- 
und Gewerbebetriebes  hatte  in  den  beteDigton 
Kreisen  die  Ueberzeugung  befestigt,  dass  die 
durch  das  bürgerliche  Recht  und  die  Han- 
delsgesetzgebung Deutschlands  dargebotenen 
Rechtsfonnen  ftlr  die  Beteiligung  mehrerer 
Personen  an  einem  geschäftlichen  Unter- 
nehmen nicht  ausreichten.  (Vgl.  d.  Art. 
A  k  t  i  e  n  ge  se  1 1  s  chaf  t  en  (Volkswirtscliaft- 
liehe  Bedeutruig)  oben  Bd.  I,  S.  188.)    Dem 


Verlangen  nach  neuen  Gestaltungen  imseres 
Gesellschaftsrechts  wurde  schon  im  Reichs- 
tag bei  der  Beratung  der  Aktiennovelle  v. 
18.  Juli  1884,  sodann  in  den  Reichstags- 
verhandlungen (Meyer-Jena,  Hammacher, 
Oechelhäuser)  und  in  der  juristischen  Litte- 
ratur  (Ring,  Deutsche  Kolonialgesell- 
schaften, Berlin  1887,  und  Veit  Simon, 
Deutsche  Kolonialaktiengesellschaften  in 
Goldschmidt,  Zeitschrift  für  Handels- 
recht, Bd.  34)  gelegentlich  der  Erörterung 
der  juristischen  Regelung  unserer  Kolonial- 
gesellschaften  Ausdruck  verliehen. 

Seitens  der  Vertretungsorgane  des  Han- 
delsstandes wurde  darauf  hingewiesen,  dass 
gerade  die  Beschwerden  über  eine  miss- 
bräuchliche  Benutzung  der  Rechtsform  der 
Aktiengesellschaften  vielfach  darin  ihren 
Grund  hätten,  dass  die  Ausbildung  unseres 
Gesellschaftsrechts  nicht  gleichen  Schritt 
gehalten  mit  der  Entwickelung  des  modernen 
V  erkehrslebens.  Der  Rahmen  des  Gesell- 
schaftsrechts sollte  weiter  gespannt  werden, 
um  den  einzelnen  die  Beteiligung  an  ge- 
meinschaftlichen Handels-  und  Industne- 
unternelimimgen  nicht  nur  mit  Kapital,  son- 
dern auch  mit  ihrer  Intelligenz,  mit  ihrer 
Arbeitskraft,  aber  mit  Beschränkung  ihrer 
Haftpflicht  zu  ermöglichen. 

Von  den  vorhandenen  Gesellschaften  legen 
die  Kommandit-  und  die  stille  Ge- 
sellschaft mindestens  einem  Gesellschafter 
eine  unbeschränkte  Haftung  auf,  schliessen 
aber  die  persönliche  Thätigkeit  des  Kom- 
manditisten bezw^.  des  stillen  Gesellschafters 
aus.  Im  Gegensatz  zur  Absicht  des  Gesetz- 
gebers wirken  Komplementare  bezw.  Ge- 
schäftsinhaber vielfach  nur  als  Strohmänner. 
Das  Princip  der  freien  gegenseitigen  Kün- 
digung im  Widerspruch  mit  dem  auf  den 
Fortbestand  der  Gesellschaft  gerichteten 
Wünschen  der  anderen  Gesellschaft  wirkt 
hier  oft  störend. 

Die  Aktiengesellschaften  sind 
ihrer  ganzen  Stniktur  nach  nur  geeignet 
für  die  Vereinigung  grösserer  Kapitalien, 
wie  sie  auch  auf  die  Beteiligung  einer 
grösseren  Zahl  wechselnder  Mitglieder  an- 
gelegt sind.  Da  aber  die  Form  der  Aktien- 
gesellschaft die  einzige  war,  welche  die 
Vereinigung  mehrerer  Personen  zur  Errei- 
chung eines  jeden  gesetzlich  erlaubten 
Zweckes  mit  Beschränkung  der  Haftung  der 
Teilnelimer  auf  ihren  Anteil  zuliess,  so  be- 
diente man  sich  ihrer  auch  für  Unterneh- 
mungen mit  geringem  Kapital  und  einer 
begrenzten  Anzahl  von  Teilnehmern  und 
für  wnrtschaftliche  und  soziale  Zwecke,  für 
welche  diese  Gesellschaftsform  wenig  ge- 
eignet erschien,  z,  B.  für  studentische  Kor- 
porationen behufd  Erbauung  eines  Hauses, 
für  religiöse  der  Krankenpflege  gewidmete 
Vereine,   nur  aus   dem  Grunde,  weil   eben 


Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 


217 


eine  andere  Rechtsfonn,  die  eine  Beschrän- 
kung der  Haftung  auf  einen  bestimmten 
Betrag  zuliess,  nicht  vorhanden  war.  Ferner 
erschwerten  auch  die  durch  die  Aktiennovelle 
von  1884  eingeführten  Schutzvorschriften 
die  Anwendung  der  Aktiengesellschaften  für 
eine  Reihe  von  Unternehmungen,  da  die 
vorgeschriebenen  Veröffentiichungen  beson- 
ders auch  der  ausländischen  Konkurrenz 
einen  freien  Einblick  in  die  Grundlage  und 
den  Betrieb  des  Unternehmens  gewährten. 
Der  verwickelte  und  kostspielige  Apparat 
der  Aktiengesellschaften  ist  überhaupt  für 
kleinere  Unternehmungen  nicht  zweckmässig. 

Aber  auch  die  Genossenschaften 
mit  beschränkter  Haftpflicht  reichen, 
da  sie  nur  für  die  durch  das  Genossenschafts- 
gesetz vorgesehenen  Zwecke,  Förderung  des 
Erwerbs  und  der  Wirtschaft  ihrer  Mitglie- 
der, zulässig  sind,  für  viele  Vereinigungen 
nicht  aus,  ganz  abgesehen  davon,  dass  auch 
hier  die  Möglichkeit  des  freien  Austritts 
der  Mitglieder  hemmend  wirkt. 

Wenn  auch  die  Ausbildung  der  neuen 
Gesellschaft  in  Anlehnimg  an  die  bergrecht- 
liche Gewerkschaft  im  Sinne  des  preus- 
sischen  Berggesetzes  v.  24.  Juni  1865  ange- 
strebt wurde,  so  sprach  doch  gegen  eme 
einfache  VeraUgemeinerung  dieser  Gesell- 
schaftsform die  Gefeihr  eines  Missbrauchs 
des  Rechts  der  Mehrheit  zur  Einforderung 
von  Zubussen,  während  die  zum  Schutze 
der  Minderheit  aufgestellten  Kautelen  wohl 
für  den  Bergwerksbetrieb  mit  seinen  altbe- 
währten Einrichtungen,  nicht  aber  für  andere 
Industriezweige  genügten. 

Leitstern  der  Reformbewegimg  war  die 
Anerkennung  des  Princips  der  beschränkten 
Haftimg  auch  f(ir  individualistische  Gesell- 
schaften von  der  Art  der  offenen  Handels- 
gesellschaft, denn  die  unbeschränkte  Solidar- 
haft,  auf  welcher  diese  aufgebaut  war, 
schreckte  viele  von  einer  Beteiligung  an 
wirtschaftlichen  Unternehmungen  in  dieser 
Form  ab.  Kapitalkräftige  Personen  bevor- 
zugten solche  Gesellschaftsformen,  bei  denen 
ihr  Risiko  ein  ziffermässig  begrenztes  war. 
So  drängte  die  Förderung  unseres  Wirt^ 
schaftslebeus  zur  weiteren  Ausbildung  des 
Princips  der  beschränkten  Haftung  im  mo- 
dernen Gesellschaftsrecht. 

Man  konnte  zur  Erhärtung  des  Bedürf- 
nisses auf  England  verweisen,  wo  Tausende 
von  limited  companies  auch  für  Geschäfte 
von  geringem  Umfange  begründet  worden 
waren,  und  zwar,  um  diese  auf  die  Grund- 
lage der  beschränkten  Haftung  stellen  zu 
können,  formell  als  Aktiengesellschaften,  in- 
dem man,  um  die  gesetzlich  erforderliche 
Anzahl  von  7  Mitgliedern  zu  sichern,  3 — 4 
als  Strohmänner  sich  nur  mit  einer  Aktie 
von  je  1  £  beteiligen  liess. 

Auf  Anfrage  des   preussischen  Handels- 


ministers V.  20.  April  1888  konnte  dann  der 
Ausschuss  des  Deutschen  Handelstags  auf 
Grund  der  von  den  Handelskammern  und 
kaufmännischen  Korporationen  erstatteten 
Gutachten  erklären,  dass  in  den  Kreisen  des 
Handels  und  der  Industrie  die  Einführung 
neuer  Rechtsformen  in  das  bestehende  Ge- 
sellschaftsrecht als  ein  drin^ndes  Bedürfnis 
anerkannt  und  eine  Befriedigung  dieses  Be- 
dürfnisses durch  Zulassung  der  »Errichtung 
von  individualistischen  und  kollektivistischen 
Gesellschaften  auf  der  Grundlage  der  in 
Anteile  zerlegten  Mitgliedschaft  und  der 
beschränkten  Haftbarkeit  der  Mitglieder« 
durch  die  Gesetzgebung  empfohlen  werden. 
Dabei  wurde  der  wesentliche  Unterschied 
dieser  beiden  Gesellschaftsformen  darin  er- 
blickt, dass  die  individualistischen  den 
Wechsel  in  der  Person  der  Gesellschaften 
als  den  Ausnahmefall,  die  kollektivistischen 
dage^n  als  Regel  betrachten,  so  dass  die 
Anteilsrechte  der  ersteren  nicht  an  den 
offenen  Markt  gebracht  würden. 

Für  besonders  geeignet  erklärte  man  die 
Form  der  Gesellschaften  mit  beschränkter 
Haftung  für  gewerbliche  Betriebe,  deren 
Fortffihrung  nach  dem  Tode  des  Eigen- 
tümers innerhalb  der  Mitglieder  der  Famüie 
beabsichtigt  werde,  und  sodann  für  solche 
Unternehmungen,  bei  welchen  den  einzelnen 
Beteiligten  andere  als  Kapitalleistungen  auf- 
erlegt wurden,  z.  B.  Rübenlieferungspflicht 
bei  Zuckerfabriken. 

Die  von  dem  AeltestenkoUegium  der 
Berliner  Kaufmannschaft  ausgearbeiteten 
Gnindzüge  für  die  Form  einer  Gesellschaft 
mit  beschränkter  Haftpflicht  fanden  im 
wesentlichen  die  Billigung  des  Ausschusses 
des  Handelstages. 

Auf  dieser  Grundlage  wurde  vom  Reichs- 
justizamte im  Dezember  1891  ein  Gesetz- 
entwurf veröffentiicht ,  dessen  Grundsätze 
vom  Deutschen  Handelstage  mit  freudiger 
Zustimmung  be^üsst  wurden.  Mit  einer 
Reihe  von  Modifikationen  wurde  er  vom 
Bundesrate  und  Reichstag  angenommen  und 
als  Reichsgesetz  betreffend  die  Gesell- 
schaften mit  beschränkter  Haftung  v.  20. 
April  1892  veröffentiicht 

Aenderungen  zu  diesem  Reichsgesetz 
(besonders  über  Form  der  Anmeldung  und 
Eintragung,  Nichtigkeitserklärung,  Fort- 
setzung der  durch  Konkurseröffnung  aufge- 
lösten Gesellschaft  ra.  b.  H.)  brachte  Art.  11 
(I — XXni)  des  Einführungsgesetzes  zum 
H.G.B.  V.  10.  Mai  1897.  Sie  waren  zum 
grössten  Teil  durch  die  Vorschriften  des 
neuen  H.G.B.,  zum  geringen  Teile  durch  das 
B.G.B.  bedingt  oder  enthielten  Ergän- 
zungen. Der  Reichskanzler  hat  auf  Grund 
einer  ihm  im  Art.  13  des  Einführungsge- 
setzes zum  H.G.B.  erteilten  Ermächtigung 
den  Text  des  Reichsgesetzes  betreffend  Ge- 


218 


Gresellschaflen  mit  beschränkter  Haftung 


•Seilschaften  m.  b.  H.  in  der  v,  1.  Januar 
1900  geltenden  Fassung  im  ß.G.BL  1898 
Nr.  25  (S.  846  ff.)  bekannt  gemacht 

2.  Charakteristik.  Die  Gesellschaft  mit 
beschränkter  Haftung  gehört  zu  den  Handels- 
gesellschaften im  Sinne  des  H.G.B.,  auch 
^enn  der  Gegenstand  des  Unternehmens 
nicht  in  Handelsgeschäften  besteht.  Alle 
Eechte  und  Pflichten  der  Kaufleute,  insbe- 
sondere die  Pflicht  zur  kaufmännischen 
Buchführung  finden  auf  sie  Anwendung. 

Im  Gegensatz  zu  den  Vorschlägen  des 
Handelstags  hat  das  Gesetz  die  Gesell- 
schaften mit  besclu^nkter  Haftung  nicht  auf 
der  streng  individualistischen  Grundlage 
der  offenen  Handelsgesellschaft  aufgebaut, 
sondern  sie  mehr  als  Kapitalsassociation  ge- 
dacht und  den  kollekti\4stischen  Charakter 
derart  ausgeprägt,  dass  man  sie  als  eine 
Unterart  der  Aktiengesellschaft  bezeichnen 
darf.  Sie  erscheint  daher  wie  diese  als 
juristische  Person,  als  Korporation  (selb- 
ständiges Rechtssubjekt  §  13,  Vertretung 
durch  Geschäftsführer,  ausschliessliche  Haf- 
tung des  Gesellschaftsvermögens  für  die 
Verbindlichkeiten,  korporationsähnliche  Or- 
ganisation). 

Immerliin  bestehen  wesentliche  Unter- 
schiede gegenüber  der  Aktiengesellschaft, 
von  denen  nur  einige  hervorgehoben  werden 
sollen. 

Da  die  Gesellschaften  mit  beschränkter 
Haftimg  nur  auf  eine  beschränkte  Anzahl 
von  Teilnehmern  berechnet  sind,  so  konnte 
man  von  den  eine  Sicherung  der  Interessen 
des  grossen  Publikums  bezweckenden  Kau- 
telen  der  Aktiengesetzgebung  absehen.  Es 
fehlen  daher  die  für  die  Aktiengesellschaften 
aufgestellten  formellen  Vorschriften  über 
den  Gründungshergang  und  die  Verantwort- 
lichkeit der  einzelnen  Organe  für  diese,  die 
zwingenden  Normen  über  die  Aufstellung 
und  Veröffentlichung  der  Bilanzen  —  nur 
für  die  Bankgeschäfte  betreibenden  Gesell- 
schaften mit  beschränkter  Haftung  ist  eine 
solche  vorgeschrieben.  Der  Aufsichtsrat  ist 
hier  kein  notwendiges  Organ.  Während  die 
Aktionäre  nur  bis  zum  Betrage  der  Aktien 
haften,  herrscht  bezüglich  des  Geschäfts- 
kai)itals  der  Gesellschaften  mit  beschränkter 
Haftung  eine  grössere  Beweglichkeit,  indem 
die  Gesellschafter  statutarisch  zur  Zahlung 
von  Nachschüssen  verpflichtet  werden  können. 

Zur  Sicherung  des  Grundkapitals  ist  im 
Interesse  der  Gläubiger  den  Gesellschaftern 
eine  solidarische  Haftung  für  die  vollständige 
Einzahlung  des  Stammkapitals  seitens  der 
übrigen  Gesellschafter  sowie  für  die  eine 
Verminderung  desselben  herbeiführenden 
imberechtigten  Auszahlungen  auferlegt. 

Um  die  Gescliäftsanteile  der  Gesellschafter 
dam  Börsenverkehr  zu  entziehen,  wurde 
die  Uebei-tragung  derselben  an  das  Erforder- 


nis eines  gerichtlichen  oder  notariellen  Ver- 
trags geknüpft.  Auf  diese  Weise  hoffte 
man  für  diese  Geschäftsanteile  die  Gefahren 
auszuschliessen,  welche  die  leichte  Veräusscr 
rungsmöglichkeit  der  Aktien  für  das  grosse 
Publikum  bietet. 

Endlich,  während  für  die  inneren  Rechts^ 
Verhältnisse  der  Aktiengesellschaften  zu- 
meist zwingende  Rechtsnormen  massgebend 
sind,  werden  die  der  Gesellschaften  mit  be- 
schränkter Haftung  durch  den  Willen  der 
Gesellschafter  geregelt. 

B.  Zweck.  Wie  für  Aktiengesellschaften 
hat  man  auch  für  die  Gesellschaften  mit 
beschränkter  Hafttmg  keine  Beschränkung 
der  Gesellschaftszwecke  eintreten  lassen, 
sondern  neben  den  Zwecken  wirtschaftlicher 
Natur  kann  auch  das  weitere  Gebiet  sozialer 
und  gemeinnütziger  Unternehmungen  in 
dieser  Gesellschaftsform  Befriedigimg  finden. 
Der  in  der  Reichstagskommission  gemachte 
Vorschlag  der  Ausschliessung  der  Bank- 
und  Versicherungszwecke  fand  zwar  keine 
Annahme,  veranlasste  aber  zur  Verhütung 
der  für  das  grosse  Publikum  drohenden 
Gefahren  die  bereits  erwähnte  Anordnung 
der  Veröffentlichungspflicht  der  Bilanzen 
füi-  diese  Betriebe  (§  42) ;  die  Zulässigkeit 
des  Gesellschaftszwecks  ist  nach  Öffentlichem 
Reclite,  insbesondere  nach  den  Bestimmimgeu 
der  Vereins-  und  Versammlungsgesetzgebuug 
zu  beurteilen.  Als  Korrelat  gegenüber  der 
Unbeschränktheit  der  Gesellschaftszwecke 
wirkt  die  Möglichkeit  polizeilicher  (verwal- 
tungsgerichtlicher) Auflösung  der  Gesell- 
scliaften  mit  beschränkter  Haftung  im  Falle 
der  Gefährdung  des  gemeinen  Wohls  nach 
§  62. 

4.  Errichtung.  Ausgeschlossen  ist  die  so- 
genannte Successivgründung  (vgl.  a.  a.  0.  oben 
Bd.  I,  S.  148).  Der  von  sämtlichen  —  mindes- 
tens zwei  —  Gesellschaftern  zu  unterzeichnen- 
de Gesellschaf tsverti'ag  (Statut)  ist  gerichtlich 
oder  notariell  zu  erricnten.  Die  Zahl  der 
Gesellschafter  ist  eine  geschlossene;  eine 
Aenderung  des  Bestandes  kann  nm*  durch 
Veräusserung  .der  Geschäftsanteile  oder  bei 
Erliöhung  des  Stammkapitals  erfolgen.  Die 
Anmeldung  zur  Eintragung  setzt  voraus  die 
Einzahlung  von  V*  der  Stammeinlagen, 
mindestens  aber  von  250  Mark.  Erst  mit 
der  Eintragung  in  das  Handelsregister  kommt 
die  Gesellscliaft  mit  bescliränkter  Haftung 
zur  Entstehung. 

Die  Firma  ist  entweder  Sachfirma,  dem 
Gegenstand  des  Unternehmens  entnommen, 
oder  Namensfirma,  die  Namen  aller  oder 
eines  oder  mehrerer  Gesellschafter  mit  einem 
das  Gosellschaftsverhältnis  andeutenden  Zu- 
satz enthaltend.  Die  Firma  eines  auf  die 
Gesellschaft  übergegangenen  Geschäfts  kann 
beibehalten  werden.  Jeder  Geeellscliaftsfirma 
muss  der  Zusatz  »mit  beschränkter  Haftung« 


Gesellschaften  mit  beschräokter  Haftung 


219 


beigefügt  werden.  Der  konsequente  Staud- 
punkt des  Entwurfs,  der  nur  Saehfirmen 
zuliess,  wurde  in  Hinblick  auf  die  in  Eng- 
land gemachten  Erfahrungen  in  der  Reichs- 
tagskommission Terlassen.  Der  Widerspruch 
ist  namentlich  auffallend  gegenüber  der 
Rrma  der  Kommanditgesellschaft,  in  wel- 
cher der  Name  des  doch  haftbaren  Kom- 
manditisten nicht  vorkommen  darf. 

5.  Organisation,  a)  Das  einzige  not- 
wendige Organ  der  Gesellschaft  mit  be- 
schränkter Haftung  bilden  der  oder  die 
Geschäftsführer,  die  aber  nicht  Gesell- 
schafter sein  müssen.  Die  frei  widerrufliche 
Bestellung  derselben  erfolgt  in  der  Regel 
im  Gesellscbaftsvertrag,  aber  auch  durch 
Mehrheitsbeschluss  der  Gesellschafter.  Sind 
mehrere  Geschäftsführer  bestellt,  so  gilt  als 
Regel  der  Grundsatz  der  Kollektivverlretung, 
wie  auch  im  allgemeinen  die  Rechtsstellung 
der  Geschäftsführer  der  des  Vorstands  der 
Aktiengesellschaft  entspricht.  Die  Verire- 
tungsbefugnis  derselben  ist  Dritten  gegen- 
über unbeschränkbar,  und  gegenüber  der 
Gesellschaft  sind  sie  an  die  statutarischen 
Beschränkungen  gebunden  (§§  35  ff.).  Straf- 
vorschriften sind  hier  nicht  zum  Schutze 
der  Gesellschafter,  sondern  zum  Schutze 
der  Kreditgeber,  denen  nur  das  Gesellschafts- 
vermögen haftet,  erlassen.  Strafe  (bis  1  Jahr 
Gefängnis  imd  zugleich  bis  500  Mark)  trifft 
die  Geschäftsführer  wegen  wissentlich  fei- 
scher Angaben  über  Einzahlung  auf  Stamm- 
anlagen bei  Gründung  der  Gesellschaft  oder 
bei  Erhöhung  des  Stammkapitals  oder  "be- 
züglich der  Befriedigung  oder  Sicherstellung 
der  Gläubiger  und  wegen  unwahrer  Dar- 
stellung und  Verschleierung  der  Vermögens- 
la^  der  GeseDschaft  in  öffentlichen  Mit- 
teilungen. Wegen  des  letzten  Delikts  sind 
auch  Li<j[uidatoren  und  Mitglieder  des  Auf- 
sichtsrats strafbar  (§  82).  Nichtbeantragimg 
der  Konkurseröffnung  bei  Zahlungsunfähig- 
keit oder  bilanzmässiger  Feststellung  der 
üeberschuldung  der  Gesellschaft  macht  den 
Geschäftsführer.  Verletzung  der  §§  239  bis 
241  der  Konkursordnung  diese  oder  die 
Liquidatoren  strafbar  (§§  64,  71,  83  f.). 

b)  Ein  Aufsichtsrat  ist  nicht  erforderlich. 
Wird  aber  ein  solcher  eingesetzt,  so  hat  er 
die  Rechtsstellung  dos  Aufsichtsrats  einer 
Aktiengesellschaft  (§  52). 

c)  Auch  eine  Generalversammlung,  in 
welcher  der  Wille  der  Gesamtheit  zum  Aus- 
druck kommt,  ist  nicht  obligatorisch.  Es 
werden  wohl  in  der  Regel  die  Beschlüsse 
der  Gesellschaften  in  der  ^Versammlung« 

Est,  so  dass  diese  als  das  allgemeine  oberste 
n  für  die  Bildung  des  Gesellschafts- 
ns  erscheLut.  An  die  Stelle  der  Be- 
schlussfassung in  der  Versammlung  kann 
aber  eine   schriftliche  Abstimmung  treten, 


sofern  sich  alle  Gesellschafter  hiermit  ein- 
verstanden erklären. 

Den  Wirkungskreis  der  Versammlung 
bestimmt  das  Statut.  Im  Zweifel  unter- 
liegen den  Beschltissen  der  Gesellschaft  die 
im  §  47  aufgezählten  Gegenstände  (Fest- 
setzung der  Jahresbilanz,  Einforderung  von 
Einzahlungen,  Rückzahlung  von  Nachschüssen 
etc.).  Unbedingt  erheischt  einen  Beschluss 
der  Gesellschafter:  die  Einforderung  von 
Nachschüssen  (§  26)  sowie  jede  Abänderung 
des  Statuts. 

Je  100  Mark  eines  Geschäftsanteils  ge- 
währen eine  Stimme.  Für  die  Fassung  der 
Beschlüsse  wird  in  der  Regel  einfache  Mehr- 
heit der  abgegebenen  Stimmen  gefordert. 
^/4-Mehrheit  der  abgegebenen  Stimmen  ist 
für  Beschlüsse  auf  Statutenänderung  und 
Auflösung  der  Gesellschaft  nötig.  Dagegen 
bedingt  eine  Erhöhung  der  statutarischen 
Leistungen  der  Gesellschaft  einen  überein- 
stimmenden Beschluss  aller  Gesellschafter 
(§§  47  ff.). 

6.  Das  Gesellschaitsyermögeii.  Die 
Gesellschaft  mit  beschränkter  Haftung  hat 
als  juristische  Person  eigenes  Vermögen. 
Nur  dieses  Gesellschaftsvermögen  haftet  den 
Gläubigern  der  Gesellschaft  für  deren  Ver- 
bindlichkeiten, dagegen  besteht  keine  direkte 
Haftpflicht  der  Gesellschafter  gegenüber  den 
Gläubigern  der  Gesellschaft;  nur  der  Ge- 
sellschaft gegenüber  sind  sie  zur  Deckung 
der  Stammeinlagen  und  Nachschüsse  ver- 
pflichtet und  haften  auch  füa  die  vollständige 
Einzahlung  des  Stammkapitals. 

Das  Gesellschaftsvermögen  setzt  sich 
zusammen  aus  dem  Stammkapital  und  et- 
waigen eingezahlten  Nachschüssen. 

A.  Das  Stammkapital  ist  das  festbe- 
stimmte Grundkapital  der  Gesellschaft,  das 
als  dauernder  Grundstock  des  Unternehmens 
in  seiner  festgesetzten  Höhe  zu  erhalten  ist. 
Unter  keinen  Umständen  darf  das  zur  Er- 
haltung des  Stammkapitals  erforderliche 
Vermögen  an  die  Gesellschafter  aus^zahlt 
werden  (§  30  vgl.  unten  sub  8).  Der  Mindest- 
betrag des  Stammkapitals  ist  auf  20000  Mark 
festgesetzt,  um  die  Bildung  nicht  leistungs- 
fähiger Gesellschaften  mit  allzu  geringem 
Grundkapital  zu  verhüten. 

Das  Stammkapital  setzt  sich  zu- 
sammen aus  den  Stammeinlagen  sämt- 
licher Gesellschafter,  von  denen  keine  unter 
500  Mark  betragen  darf.  Sie  kann  für  die 
einzelnen  GeselLschafter  in  verschiedener 
Höhe  bestimmt  werden,  muss  aber  in  Mark 
durch  100  teübar  sein  (§  5). 

Die  Rechtsfolgen  des  Verzugs  in  Ein- 
zahlung der  Stammeinlagen  sind  nach  dem 
Vorbilde  des  Aktienrechts  (H.G.B.  a.  219  ff., 
vgl.  a.  a.  ().  oben  Bd.  I,  S.  150  f.)  geregelt, 
doch  mit  folgenden  Abweichungen: 

a)  Die  Gesellschaft  muss  die  Verwirkung 


220 


Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 


(Reduziening)  nicht  gegen  alle  säumigen 
Gesellschafter  verfügen,  sondern  kann  dies 
nur  gegen  einen  oder  mehrere  thun. 

b)  Androhung  und  Erklärung  der  Redu- 
zierung muss  durch  eingeschriebenen  Brief 
erfolgen. 

c)  Die  Haftung  der  Bechtsvorgänger  der 
Ausgeschlossenen  ist  wie  im  Aktienrecht 
eine  subsidiäre  und  successive  (kein  Sprung- 
regress),  doch  dauert  deren  Haftpflicht  ni(£t 
2,  sondern  5  Jahre. 

d)  Für  den  Fehlbetrag  der  Stammeinlage, 
der  weder  durch  den  säumigen  Gesellschafter 
noch  durch  dessen  Rechtsvorgänger  noch 
durch  den  Verkauf  des  Geschäftsanteils  ge- 
deckt ist,  tritt  Gesamthaftung  aller  Gesell- 
schafter ein,  der  nach  Verhältnis  der  Ge- 
schäftsanteile auf  diese  verteilt  wird  (§  20  ff.). 

Dem  Gesellschafter,  der  auf  Grund  der 
Gesamthaftung  gezahlt  hat,  steht  ein  Rück- 
griffsrecht gegen  den  Zahlungspflichtigen  zu. 

B.  NaohAchüsse.  Um  bei  Bedarf 
eine  Vermehrung  des  Betriebskapitals  über 
den  Beirag  des  Stammkapitals  hinaus  durch 
Leistungen  der  Gesellschafter  zu  ermöglichen, 
hat  man  die  Nachschusspflicht,  aber  nur  als 
eine  fakultative  Einrichtimg  eingeführt,  d.  h. 
im  Gegensatz  zu  den  bergrechtlichen  Ge- 
werkschaften, wo  die  Zußchusspflicht  eine 
obligatorische  ist,  sollen  solche  ^achschüsse 
(Leistungen  über  die  Stammanteile)  von  den 
Gesellschaftern  nm*  da  gefordert  werden, 
wo  das  Statut  dies  ausdrücklich  vorsieht. 

Während  das  Stammkapital  den  Gläu- 
bigern als  Grundlage  des  Kredits  durch 
öffentliche  Bekanntmachung  in  Aussicht  ge- 
stellt ist,  erscheint  dieser  Gesichtspunkt  für 
die  Nachschüsse  nicht  entscheidend.  Des- 
halb kann  die  Einfordenmg  von  Nachschüssen 
nur  auf  Grund  eines  Beschlusses  der  Ge- 
sellschafter stattfinden.  Niu*  von  ihrem  Er- 
messen hängt  es  ab,  ob  sie  von  dem  statu- 
tarisch eingeräumten  Reclite  der  Nachschuss- 
fordenmg  Gebrauch  machen  wollen  oder 
nicht.  Den  Gläubigern  der  Gesellschaft 
fehlt  jede  Möglichkeit  einer  selbständigen 
Einwirkung  auf  die  p]inziehung  von  Nach- 
schüssen, falls  diese  noch  nicht  beschlossen  ist. 

Der  Betrag  der  zu  leistenden  Nachschüsse 
ist  stets  nach  dem  Verhältnis  der  (iescliäfts- 
anteile,  also  nach  der  Höhe  der  Staramein- 
lagen  für  die  einzelnen  Gesellschafter  zu 
bemessen.  Das  ist  der  einzig  zulässige 
Massstab  für  die  Festsetzung  derselben. 

Da  die  Nachschusspflicht  im  Statut  be- 
schränkt oder  unbeschränkt  festgesetzt  wer- 
den kann,  so  kennt  das  Gesetz  3  Arten  von 
Gesollschaften  (alle  mit  festem  Stammkapital) 

a)  solche  ohne  Nachschusspflicht, 

^)  solche  mit  unbeschränkter  Nachschuss- 
pflicht, 

}■)  solche  mit  besolu^nkter  Nachschuss- 
pflicht  (unter   statutaiischer  Begren- 


zung der  Höhe  der  etwaigen  Nach- 
schüsse). 

ad  i^  In  Bezug  auf  die  Gesellschaften 
mit  beschränkter  Nachschusspflicht  ist  zu 
bemerken,  dass  nach  dem  Vorbilde  des  für 
die  bergrechtlichen  Gewerkschaften  ein 
Abandonrecht  (vgl.  preuss.  Berggesetz  von 
1865  §  130ff.,  bezüÄich  des  Abandonrechts 
der  Mitreeder  H.GS.  §  501)  ausgebildet 
worden  ist,  das  jeden  Gesellschafter,  der 
seinen  Geschäftsanteil  voll  eingezahlt  hat, 
berechtigt,  sich  der  Leistung  der  eingefor- 
derten Nachschüsse  dadurch  zu  entziehen, 
dass  er  innerhalb  eines  Monats  nach  der 
Aufforderung  zur  Einzahlung  seinen  Ge- 
schäftsanteil zur  Verfügung  stellt  (§  27). 
Die  Gesellschaft  erhält  hierdurch  Befugnis, 
denselben  in  öffentlicher  Versteigerung  ver- 
kaufen zu  lassen.  Aus  dem  Erlöse  zieht  die 
Gesellschaft  ihre  Befriedigung  für  die  Nach- 
schüsse, während  der  erzielte  üeberschuss 
dem  Gesellschafter,  der  bis  zur  Vollziehung 
des  Verkaufs  noch  als  Inhaber  der  Geschäfts- 
anteile betrachtet  wird,  ausbezahlt  wird. 

Ein  unmittelbarer  üebergang  des  Ge- 
schäftsanteils auf  die  Gesellschaft  tritt  ein,  so- 
bald durch  den  Verkauf  eine  Befriedigung  der 
Gesellschaft  nicht  erzielt  werden  konnte ;  erst 
dann  darf  sie  ihn  für  eigene  Rechnung  ver- 
äussern. 

Der  Zurverfügungstellung  des  Geschäfts- 
anteils durch  den  Gesellschafter  steht  die 
Erklänmg  der  Gesellschaft  gleich,  dass  sie 
den  Gescliäftsanteü  als  zur  Verfügung  ge- 
stellt betrachte.  Zu  dieser  Ei'klärung  ist 
die  Gesellschaft  befugt,  wenn  der  Gesell- 
schafter weder  den  Nachschuss  bezahlt 
noch  den  Geschäftsanteil  innerhalb  der  an- 
gegebenen Frist  zur  Verfügung  stellt  (§  27). 

Das  Abandonrecht  kann  statutaiisch  auf 
die  einen  bestimmten  Betrag  überschreiten- 
den Nachschüsse  beschränkt  werden. 

ad  y)  Für  Gesellscliaften  mit  beschränkter 
Nachschusspflicht  findet  im  Zweifel  das 
Abandonrecht  nicht  Anwendung,  sondern  es 
wird  bei  Säumnis  der  Zahlung  der  Naeh- 
schüsse  ebenso  wie  bei  säumiger  Zalilimg 
der  Stammeinlagen  verfahren  (Kaduzierungs- 
verfahren,  vgl.  oben  sub  6  A),  nur  dass  hier 
die  Haftung  der  übrigen  GeseUschafter  in 
Wegfall  gerät. 

7.  Der  Geschäftsanteil.  »Geschäfts- 
anteil« bedeutet  den  Inbegriff  der  aus  der 
Mitgliedschaft  fliessendeu  Hechte  des  Ge- 
sellschafters gegenüber  der  Gesellschaft 
Der  (Geschäftsanteil  wird  durch  die  Stamm- 
einlage begründet,  und  das  Verhältnis  der 
Beteiligung  wird  für  jeden  Gesellschafter 
(\\xrch  den  Betrag  der  übernommenen  Stamm- 
einlage bestimmt  (§  14).  Der  (Jeschäflsan- 
teil  ist  veräusserlich  und  vererblich.  Für 
Abtretung  eines  Geschäftsanteils  und  ebenso 
für  den  obligatorischen  Vertrag,  durch  den 


Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 


221 


sich  ein  Gesellschafter  zur  Yeräusserung 
verpflichtet,  ist  (§  15)  gerichtliche  oder 
notarielle  Fertigung  erforderlich.  Eine  Ge- 
nehmigung der  Gesellschaft  oder  andere 
formelle  Erschwerungen  können  für  die  Ab- 
tretung eines  Geschäftsanteils  statutarisch 
vorgeschrieben  werden.  Eine  Urkunde  (ent- 
sprechend der  Aktie)  muss  über  den  Ge- 
schäftsanteil nicht  ausgestellt  werden.  Gegen- 
über der  Gesellschaft  wirkt  die  Veräussenmg 
erst  auf  Grund  einer  unter  Nachweis  des 
Uebergangs  bewirkten  Anmeldung  (§  16). 

Im  Gegensatz  zur  Aktien-  und  Aktien- 
kommanditgesellschaft ist  hier  eine  Teilbar- 
keit der  Geschäftsanteile  im  Falle  der  Yer- 
äusserung und  Vererbung  gestattet  unter 
der  Voraussetzung  schriftlicher  Genehmigimg 
der  Gesellschaft,  auf  die  allerdings  statutarisch 
für  den  Fall  der  Veräusserung  an  einen 
anderen  Gesellschafter  oder  der  Teilung 
von  Geschäftsanteilen  verstorbener  Gesell- 
schafter unter  deren  Erben  verzichtet  werden 
kann.  Auch  jeder  Teil  eines  Geschäftsanteils 
muss  durch  100  teilbar  sein  \md  darf  nicht 
unter  500  Mark  betragen. 

Wenn  das  Eigentum  an  einem  Geschäfts- 
anteile mehreren  Personen  zusteht,  so  ist 
nur  eine  gemeinschaftliche  Geltendmachung 
der  Rechte  möglich.  Jeder  Miteigentümer 
haftet  aber  solioarisch  für  die  rückständigen 
Leistungen  (§  18). 

Bei  der  Gründung  der  Gesellschaft  kann 
jeder  Gesellschafter  nur  einen  Geschäfts- 
anteil übernehmen.  Werden  aber  später 
durch  Veräusserung  oder  Erbgang  m(5hrere 
Geschäftsanteile  in  die  Hand  eines  Gesell- 
schafters vereinigt,  so  behält  jeder  seine 
selbständige  Existenz.  Eine  Verschmelzung 
findet  nicht  statt,  damit  der  Rückgriff  an 
die  Vormänner  offen  bleibt  wegen  des  noch 
nicht  bezahlten  Betrags  der  Stammeinlage. 

8.  Der  Anteil  am  Gewinne.  Den  Ge- 
sellschaftern steht  der  Anspruch  auf  den 
vollen  bilanzmässigen  Jahresgewinn  zu.  Den 
Massstab  der  Verteilung  bildet,  wenn  nichts 
anderes  bestimmt  ist,  die  Ejoihe  der  Ge- 
schäftsanteile. Die  Auszahlung  fester  Zin- 
sen und  sogenannter  Bauzinsen  (H.G.B.  Art. 
215)  ist  unzulässig. 

Die  Zahlimg  eines  zu  hohen  Gewinn- 
anteils sowie  jede  Zahlung,  die  eine  Minde- 
rung des  Stammkapitals  enthält,  verpflichtet 
den  Empfänger  zur  Zurückerstattung  an  die 
GeseUschaft.  Eine  Beschränkung  erleidet 
diese  Rückerstattungspflicht  zu  Gunsten 
des  gutgläubigen  Empfängers,  von  dem  eine 
Rückzahlung  nur  beansprucht  werden  kann, 
sofern  sie  zur  Befriedigung  der  Gesellschafts- 
gläubiger erforderlich  ist,  eine  Vorschrift, 
die  weit  über  die  des  Aktienrechts  (H.G.B. 
Art  217)  hinausgeht,  nach  welcher  die 
Aktionäre  zur  Zahlung  der  in  gutem  Glauben 


empfangenen  Zinsen  und  Dividenden  in 
keinem  FaDe  verpflichtet  sind  (§§  29  ff.). 

9.  Die  Anflösnng  nnd  Nichtigkeit  der 
Ges.  m.  b.  H.  a)  Auflösung.  Die  Auf- 
lösungsgründe entsprechen  denen  der  Aktien- 
gesellschaft (Zeitablauf,  Beschluss  der  Ver- 
sammlung, Eröffnung  des  Konkursverfahrens). 
Ein  Auflösun^beschluss  erfordert  eine  Drei- 
viertelmehrheit der  abgegebenen  Stimmen, 
sofern  das  Statut  nicht  andere,  also  auch 
mildere  Erfordernisse  aufstellt,  während  für 
Aktiengesellschaften  statutarisch  niu*  eine 
Erschwerung  der  Erfordernisse  vorgeschrie- 
ben werden  kami. 

Eine  Auflösung  kann  ferner  erfolgen 
durch  gerichtliches  Urteil  beim  Vorhanden- 
sein wichtiger  Gründe,  besonders  wenn  die 
Erreichung  des  Gesellschaftszwecks  unmög- 
lich ist,  auf  Grund  einer  Auflösungsklage. 
Das  Recht  zur  Erhebung  einer  solchen  steht 
einer  Minderheit  von  Gesellschaftern  zu, 
deren  Geschäftsanteile  zusammen  mindestens 
den  10.  Teil  des  StammkapifcEds   betragen. 

Im  Wege  des  Verwaltungsstreitverfahrens 
oder  (wo  ein  solcher  nicht  offen  steht)  durch 
gerichtliches  Urteil  kann  auf  Betreiben  der 
höheren  Verwaltungsbehöi^le  eine  Gesell- 
schaft mit  beschränkter  Haftung  aufgelöst 
werden  wegen  Gefährdung  des  Gemeinwohls 
durch  Fassung  gesetzwidriger  Beschlüsse 
oder  durch  wissentliches  Geschehenlassen 
gesetzwidriger  Handlungen  der  Geschäfts- 
führer (§  62).  Auf  der  Aufnahme  dieser 
dem  §  79  des  Genossenschaftsgesetzes  von 
1889  entsprechenden  Vorschrift  wurde  seitens 
der  Regierung  bei  der  vollständigen  Freigabe 
der  Zwecke,  zu  w^elchen  Gesellschaften  mit 
bescliränkter  Haftung  erachtet  werden  können, 
besonderes  Gewicht  gelegt.  Die  Auflösung 
der  Gesellschaft  ist,  abgesehen  vom  Falle 
der  Konkurseröffnung,  zur  Eintragimg  in 
das  Handelsregister  anzumelden.  Weitere 
Auflösungsgründe  können  statutarisch  fest- 
gesetzt werden. 

Die  Bestimmungen  über  Liquidation  und 
Konkurs  entsprechen  den  aktienrechtlichen. 

b)  Nichtigkeit.  Neu  in  das  Gesetz 
eingefügt  wurden  in  Nachbildung  der  §§  309 
bis  311  des  H.G.B.  die  eine  Nichtigkeits- 
erklärung der  eingetragenen  Gesellschaft  mit 
beschränkter  ELaftung  ermöglichenden  §§75 
bis  77.  Jeder  Gesellschafter,  jeder  Geschäfts- 
führer und  eventuell  jedes  Aufsichtsratsmit- 
glied  kann  auf  Nichtigkeitserklärung  der 
GeseUschaft  klagen  (§§  272,  273  H.G.B.) 
beim  Fehlen  einer  wesentlichen  Bestimmung 
(Firma,  Sitz  der  Gesellschaft,  Gegenstand 
des  Unternehmens,  Betrag  des  Stammkapitals 
und  der  Stammeinlage).  Ein  Mangel  bezüg- 
lich der  Firma,  des  Sitzes  und  des  Gegen- 
standes des  Unternehmens  kann  durch  ein- 
stimmigen Beschluss  der  Gesellschafter  ge- 
heilt werden. 


222 


Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 


10.  Die  Umwandlung  yon  Aktienge- 
sellschaften in  Ges.  m.  b.  H.  Eine  Er- 
leichterung dieser  Umwandlung  erschien  er- 
forderlich, da  das  sogenannte  Sperrjahr 
(H.a.B.  §  301)  die  Fortsetzung  des  Betriebes 
immöglich  gemacht  hätte. 

Die  Auflösung  der  Aktiengesellschaft 
kann  ohne  Liquidation  unter  folgenden 
Voraussetzungen  erfolgen: 

a)  Das  Stammkapital  der  neuen  Gesell- 
schaft darf  nicht  gennger  sein  als  das  Grund- 
kapital der  aufgelösten. 

b)  Die  Aktien  der  sich  beteiligenden  Mit- 
glieder müssen  mindestens  ^/4  des  Grundkapi- 
tals der  aufgelösten  Gesellschaft  darstellen. 

c)  Der  auf  jeden  Aktionär  entfallende 
Anteil  an  dem  Vermögen  der  aufgelösten 
Gesellschaft  muss  auf  Gnmd  einer  Bilanz 
berechnet  sein,  deren  Genehmigung  mit  einer 
Mehrheit  von  ^4  des  in  der  Generalversamm- 
lung vertretenen  Grundkapitals  erfolgt  ist. 


Die  Beteiligung  der  Aktionäre  an  der 
neuen  Gesellschaft  erfolgt  in  der  Weise,  dass 
sie  den  auf  ihre  Aktien  entfallenden  Anteil 
an  dem  Vermögen  der  aufgelösten  Gesell- 
schaft als  Stammeinlage  in  die  neue  GeseU- 
schaft  einbringen. 

Durch  Universalsuccessiou  geht  das  Ver- 
mögen der  aufgelösten  Aktiengesellschaft 
mit  der  Eintragung  in  das  Handelsregister 
auf  •  die  neue  Gesellschaft  mit  beschränkter 
Haftung  über. 

Die  Aktionäre,  die  sich  bei  dieser  nicht 
beteiligt  haben,  können  von  ihr  die  Aus- 
zahlung eines  ihren  Anteilen  an  dem  Ver- 
mögen der  aufgelösten  Aktiengesellschaft 
entsprechenden  Betrags  fordern  (§§  78  ff.). 

11.  Verbreitung.  Die  von  Jahr  zu  Jahr 
ganz  beträchtlich  steigende  Anwendung  der 
neuen  Gesellschaftsform  zeigt  am  besten, 
wie  sehr  deren  Einführung  einem  wirtschafte 
liehen  Bedürfnisse  entsprochen  hat 


Es  wurden  gegründet 
1892    (seit  10.  Mai)     63  Gesellschaften  m.  b.  H.  mit  einem  Stammkapital  von 


1893 
1894 
1895 
1896 
1897 


183 

254 
297 

376 
640 


n  n  » 

n  n  n 

n  n  n 

n  n  n 

«  w  n 


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n 
rt 
n 


n 
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n 
n 

n 


28  864  700  M. 
74500304  „ 
III  456  000  „ 

1497*11  100  „ 
128483700  „ 

136  491  300 


Bis  Ende  1897  gab  es  18 13  Gesellschaften  m.  b.  H.  mit  einem  Stammkapital  von  .  629507  104  M. 


Unter  den  Gesellschaften  m.  b.  H.  finden 
wir  die  verschiedenartigsten  Gebiete  des 
Handels  und  der  Industrie  vertreten  (Banken, 
Buch-  und  Kunsthandlungen,  Plantagen-  und 
KolonisationsgesoUschaften,  Bergwerke,  Ma- 
schinenfabriken,  Stahlwerke,  Schiffsbauan- 
stalten, Werkstätten  für  Feinmeclianik,  Bahn-, 
Dampfschiftahrts-  und  Lagerhausgesellschaf- 
ten, Steinbrüche,  Cementwerke.  Ziegeleien, 
Glasfabriken,  die  verschiedenen  Zweige  der 
Textil-  und  Bekleidungsindustrie,  Brauereien, 
Spiritusbrennereien,  die  chemische,  Holz-, 
Leder-,  Papier-,  Beleuchtungs-,  Nahrungs- 
und Genussmittelindustrie,  Zuckerfabriken, 
Landwirtschaftsbetrieb  (Handel  mit  land- 
wiitschaftlichen  Erzeugnissen ,  Viehzucht, 
Futtermittelfabriken),  Eis-  und  Wasserwerke, 
Hotels  und  Gasthäuser  u.  s.  w.).  Der  Verlag 
grosser  Zeitungen,  z.  B.  der  Münchner  Allge- 
meinen Zeitimg,  der  Münchner  Neuesten  Nach- 
richten, der  Post,  des  Berliner  Lokalanzeigers 
August  Scheri  (Kapital:  62()00(X)  Mark),  Ber- 
liner Neueste  Nachrichten,  das  Kleine  Joiu'nal, 
Soziale  Praxis,  Frankfurter  Journal,  Frank- 
furter Zeitung,  Roman  weit  u.  a.  befinden 
sich  im  Eigtmtum  von  Gesellschaften  m.  b.  H. 
Ferner  wurden  Bäder-  und  Heilanstalten, 
gemeinnützige  und  Wohlthätigkeitsanstalten 
(cliristliche  Vei*einigungen,  z.  B.  Lutherischer 
Missionsverein  in  West-Schleswig,  Volks- 
wohl [katholische  Vereinigung  Barmen- 
HeckinghausenJ,  Heilsarmee  in  Berlin,  evan- 


gelisches Hospiz   zu  Bonn,    Danziger  frei- 
[religiöser  Verein,  Arbeiterheim  St.  Josephs- 
haus   in    Essen,    Kleinkinderbewahranstalt 
St.  ßaphael  in  der  Wiehre  in  Freiburg  i.  B., 
'  Adlige  Famüienstiftung  zum  heiligen  Georg 
iin  Münster),   Erziehungs-  und  Untenichts- 
;  anstalten,  christliche  VereiuvS-  und  Gesellen- 
Ihäuser,    akademische    Corps-    und    andei-e 
'  Studenten  häuser,  Logeuhäuser,  Gesellschaf ts- 
'  häuser   und  Vergnügungsetablissements    in 
I  der  Form   der   Gesellschaft   m.  b.  H.   be- 
gründet. 

Nach  einer  vom  Centralverein  der  deut- 
schen Gesellschaften  m.  b.  H.  aufgestellten 
Statistik  hatten  von  den  bis  Mitte  Februar 
1898  eingetragenen  1839  Gesellschaften  m. 
b.  H.  183  Gesellschaften  20000  Mark,  342 
von  20  bis  50000  Mark,  350  von  50  bis 
100000  Mark,  659  2  bis  500000  Mark,  186 
bis  1  MilL,  71  bis  2  IVIill.,  24  bis  3  MiU., 
17  bis  5  MiU.,  7  bis  10  MiU.  und  1  über 
10  MüL  Mark  Kapital.  295  Gesellschaften 
m.  b.  H.  hatten  ihren  Sitz  in  Berlin,  66  in 
Hambtu*g,  62  in  Köhi,  46  in  Frankfurt  a.  M., 
in  578  Städten  hatte  je  eine  solche  GeseU- 
schaft  ihren  Sitz.  Die  besonders  kapital- 
kräftigen Gesellschaften  m.  b.  H.  dürften 
zumeist  sogenannte  Familiengründungen  zur 
Erieichterung  der  Auseinandersetzung  der 
Erben  sein. 

12.  Kritik.  Man  hat  die  gesetzliche  Re- 
form,  die  diese  neue  Gesellschaftsform  in 


Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 


223 


unser  Rechtsleben  einführte,  filr  sehr  be- 
denklich gehalten.  Namentlich  0.  Bahr  hat 
sie  als  eine  solche  bekämpft,  die  nur  dem 
Schwindel  zu  gute  kommen  würde,  da 
durch  die  Zulassimg  einer  beschränkten  Haf- 
tung die  Sicherheit  des  persönlichen  Kredits 
erschüttert  werde.  Hier  wird  aber  die  Be- 
deutung der  für  die  Gewährung  von  Per- 
sonalkredit überhaupt  in  Betracht  kommen- 
den Eigenschaften  des  Kreditnehmers  über- 
sehen, zudem  durch  die  veröffentlichte  Höhe 
des  Stammkapitals  doch  eine  für  den  Gläu- 
biger sichere  Basis  der  Kreditgewährung 
gegeben  ist,  die  bei  dem  Einzelkaufmann 
und  den  offenen  Handelsgesellschaften  fehlt. 
Der  Zusatz  der  Firma  »Gesellschaft  mit  be- 
schränkter Haftimg«  muss  aber  für  jeden 
vorsichtigen  Kreditgeber  als  eine  Warnung 
erscheinen,  sich  über  die  Grundlage  der 
Kreditwürdigkeit  auch  durch  einen  Blick  in 
das  Gesellschaftsregister  zu  vergewissem. 
Das  Princip  der  unbeschränkten  Haftung 
darf  auch  nicht  überschätzt  werden.  Diese 
nützt  dem  Gläubiger  wenig  da,  wo  der  mit 
seinem  ganzen  Vermögen  haftende  Schuld- 
ner kein  oder  niu-  geringes  Vermögen  be- 
sitzt. Es  wurde  in  Hinblick  auf  die  Praxis 
darauf  hingewiesen,  dass  vielfach  das  Kon- 
kursverfahren über  das  Privatvermögen  der 
Gesellschafter  wegen  der  voraussichtlichen 
Ergebnislosigkeit  nicht  eröffnet  werde.  Auch 
von  mehreren  Handelskammern  wurde  her- 
vorgehoben, dass  beim  Konkurse  von  offenen 
Handelsgesellschaften  durchschnittlich  ein 
sehr  geringer  Prozentsatz  zur  Verteilung 
gelange.  Die  bisherigen  allerdings  nur  in 
einer  Periode  wirtschaftlichen  Aufschwungs 
gewonnenen  Erfahrungen  haben  die  pessi- 
mistische Beurteilung  der  neuen  Gesell- 
schaftsform als  durchaus  unbegründet  er- 
wiesen. Auch  die  Konkursstatistik  bietet 
bis  jetzt  noch  nicht  hinreichendes  Material 
zu  einer  ungünstigen  Berurteilung  derselben. 

Von  Bedeutung  erscheint  auch  der  Um- 
stand, dass  bei  den  meisten  Gesellschaften 
m.  b.  H.  die  Geschäftsführer  zugleich  die 
Hauptbeteiligten  sind,  so  dass  schon  das 
eigene  Interesse  zur  Einschränkung  des 
Risikos  und  zur  sorgsamen  Geschäftsführung, 
die  man  als  Hauptwirkung  der  Solidarhalt 
rühmt,  drängt. 

Für  die  Einzahlung  und  Erhaltimg  des 
Stammkapitals  als  der  Kreditbasis  der  Ge- 
sellschafter ist  die  Gesamthaftung  aller  Ge- 
sellschafter eingeführt,  welche  die  Interessen 
der  Gläubiger  zu  schützen  wohl  geeignet 
ist,  was  von  Bahr  nicht  genügend  beachtet 
wird. 

Die  Gefahr,  dass  nun  jeder  Verein,  der 
sich  als  Gesellschaft  mit  beschränkter 
Haftung  bilde,  ohne  Genehmigung  der  Staats- 
gewalt die  Rechte  einer  juristischen  Person 
erwerben     könne,    ist    aber   kein    Novum 


in  unserem  Rechtsleben,  wie  ein  Blick  auf 
das  Aktien-  und  Genossenschaftsrecht  zeigt, 
und  wird  durch  die  Möglichkeit  der  gericht- 
lichen bezw.  verwaltungsgerichtlichen  Auf- 
lösung wesentlich  herabgemüdert.  Auf  die 
für  die  Aktiengesellschaft  notwendigen  Kau- 
telen  bezüglich  der  Gründimg  und  Verwal- 
tung konnte  aber  bei  den  Gesellschaften 
mit  bescliränkter  Haftung  verzichtet  wer- 
den, da  deren  Geschäftsanteile  nicht  als 
Börsenwerte  auf  den  Markt  kommen,  so 
dass  das  grosse  Publikum  nicht  durch  deren 
Besitz  gefährdet  werden  dürfte. 

Goldschmidt,  der  der  neuen  Gesellschafts- 
form sympathisch  gegenübersteht,  mahnte 
nur  zur  Vorsicht  bezüglich  der  originellen 
Rechtsschöpfung.  Sein  Vorschlag,  Gesell- 
schaften mit  beschränkter  Haftung  nur  zu 
Handels-,  höchstens  Gewerbezwecken  zu 
gestatten,  würde  das  Bedürfnis  doch  nicht 
in  vollem  Umfange  befriedigt  haben.  Da- 
gegen hätte  sein  weiterer  Vorschlag,  Gesell- 
schaften mit  bescliränkter  Haftung  nur  als 
Zubussegesellschaften  zuzulassen  und  even- 
tuell den  Maximalbetrag  der  Zubusse  min- 
destens auf  die  Hälfte  des  Geschäftsanteils 
festzusetzen,  manche  berechtigte  Bedenken 
zu  heben  vermocht. 

In  Oesterreich  denkt  man  im  Inte- 
resse der  Förderung  des  Handels  und  der 
Industrie  an  die  gesetzliche  Einführung 
der  neuen  Gesellschaftsform,  nachdem  diese 
im  Deutschen  Reiche  eine  so  erfolgreiche 
Ausdehnimg  gefimden  hat. 

Litter atur:  Robert  Esser  II,  Die  Gesellschaß 
mit  beschränkter  Haftbarkeit.  Eine  gesetzgebe- 
rische Studie,  Berlin  1886,  —  Riesser,  Zur 
Revision  des  H,G.B.  in  Goldschmidts  Zeitschr. 
/.  Handelsr.,  Beilageheß  zu  Bd.  XXXIII,  1887, 
S.  £90f.  —  Deutscher  Handelstag,  Mit- 
teilungen an  die  Mitglieder,  Jahrg.  SS,  Nr.  6, 
18,  19.  —  Mitteilungen  des  Vereins  zur  Wahrimg 
der  wirtschafilichen  Interessen  von  Handel  und 
Gewerbe,  Heft  25  u,  27.  —  Entwurf  eines 
Ges.  betr.  Ges.  m.  b.  H.,  vorgelegt  dem  Reichs- 
tage am  11.  IL  1892  (St.  Ber.  über  die  Verhand- 
lungen des  Reichstags,  8.  LegislcUurperiode,  I. 
Session  1890J92,  5.  Anlageband  Nr.  660).  — 
O.  Bdhr,  Gesellschaften  m.  b.  H.  im  nGrenz- 
bolenu  1892,  Nr.  6.  —  L.  Goldschmidtf  Alte 
und  neue  Formen  der  Handelsgesellschaft,  Ber- 
lin  1892.  —  K.  Co8<ick,  Lehrbuch  des  Handels- 
rechts, 4.  Aufl.,  Stuttgart  1898,  S.  682 ff.  —  K. 
Gareis f  Das  R.Ges.  betr.  Ges.  m.  b.  H,  syste- 
matisch dargestellt,  Berlin  1898.  —  Derselbe, 
Das  deutsche  Handelsrecht,  6.  Aufl.,  Berlin  1899, 
S.  4S0ff.  —  J,  lAibsxynskiy  Das  R.Ges.  betr. 
Ges,  m.  b.  H,  systematisch  bearbeitet,  Berlin 
1893.  —  Neukamp,  Die  deutsche  Ges.  m.  b.  H., 
eine  neue  Gesellschaftsform  (Zeitschr.  f.  Volks- 
wirtschaft etc.  von  Böhm-Bawerk,  Bd.  VIII).  — 
i.  Parisius  und  H,  CrÜger,  Das  R.G.  betr. 
Ges.  m.  b.  H.,  2.  Aufl.,  systematische  Darstellung 
und  Kommentar,  Berlin  1898.  —  Schlteck' 
mann,  Das  Ges.  über  die  Ges.  m.  b.  H.,  Dar- 
stellung dieses  G.  zum  Gebrauch  in  der  Praxis, 


224 


Gtesellschaften  mit  beschränkter  Haftung  —  Gesellschaftsvertrag 


Berlin  1896.  —  Kommentare  zum  R,G,  betr,  Ges. 
m.  h.  H.  von  H,  Birkenbihl  (2.  Aufl.,  Berlin  1899), 
R,  Esser  (Berlin  1892),  Ä.  Förtsch  (2,  Aufl., 
Leipzig  1899),  lÄehmann  (4.  Aufl.  de«  Kom- 
mentars von  Hergenhahn,  Berlin  1899),  MerZ' 
ba^cher  (München  1899),  Zeller  (München  1892). 
—  G,  Cah/n,  Die  Ges.  m.  b.  ff.  im  Gesell- 
schaftsrecht,  insbes.  ihre  Stellung  z.  schweizer. 
Obligationenrecht,  Schaffhausen  1899  (S.  VI  sind 
Dissertationen  über  Einzelfragen  des  Rechts  der 
Ges.  m.  b.  ff.  eitiert).  —  K.  Wieland,  Die 
Ges.  m.  b.  ff.  (Zeitschr.  f.  Schweizerisches  Recht, 
N.  F.  Bd.  14,  S.  205  f.).  —  Statütik:  Heiligen- 
Stadt,  Die  Ges.  m.  b.  ff.  im  Jahre  1892  und 
1898  (Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.,  S.  Folge,  Bd.  V,  S.  712 ff. 
u.  Bd.VIII,  S.  97 ff.,  101<^ff.).  —  ffandbuch 
der  Ges.  m.  b.  ff.,  Schumanns  Verlag,  Leipzig 
1898.  — Der  deutsche  Oekonomist,  Jahr- 
gang 1892  ff.  Eduard  Rosenthal» 


Gesellgchaftsvertrag 

(nach  bürgerlichem  Recht) 

I.  Verein.  Gesellschaft.  Gemein- 
schaft, IL  Der  Geaellschaftsvertrag. 
III.  Pflichten  und  Rechte  der  Gesell- 
schafter. 1.  Die  Pflichten.  2.  Die  Rechte 
der  Gesellschafter.  3.  Gewinn  und  Verlust  ins- 
besondere. IV.  Die  Geschäftsführung.  V. 
Das  Gesellschaftsvermögen.  VI.  Auf- 
lösung der  Gesellschaft.  VII.  Ver- 
änderungen im  Mitgliederbestande. 

I.  Verein.    Gesellschaft    Gemeinschaft 

Wie  der  einzelne  sich  gewisse  selbstge- 
wählte  Zwecke  setzt,  die  er  mit  seiner  eige- 
nen Kraft,  seinen  eigenen  Mitteln  verfolgt,  so 
können  auch  melirere  ihren  Bestrebungen 
nach  freier  Wahl  einen  gemeinsamen 
Zweck  setzen  und  diesen  mit  vereinter 
Kraft,  mit  vereinten  Mitteln  verfolgen:  das 
Resultat  einer  solchen  gemeinsamen  Zweck- 
setzung bezeichnet  man  als  Personenver- 
einigung. 

Ist  es  dabei  nicht  auf  das  Zusammen- 
wirken bestimmter  Personen  abgesehen, 
soll  die  Vereinigung  vielmehr  den  Wechsel 
ihrer  Mitglieder  überdauern,  ist  sie  also  auf 
einen  fortwährenden  Zu-  und  Abgang  von 
Personen  zugeschnitten,  so  spricht  man  von 
einem  Vereine  (s.  dort),  und  man  imter- 
scheidet  wieder  Vereine  mit  und  ohne  Korpo- 
ration scharakter  (»rechtsfähige«  imd  »nicht 
rechtsfähige«  Vereine);  w^enn  dagegen  die 
Gründer  der  Vereinigimg  ausschliesslich  sich 
selbst  —  und  eventuell  noch  ihre  Erben  — 
als  Mitglieder  im  Auge  haben,  wenn  sie  also 
lediglich  unter  sieh  ein  genossenschaftliches 
Band  herstellen  wollen,  so  heisst  das  Re- 
sultat ihres  Willensentsclüusses  »Gesell- 
schaft«. Mit  dieser  allein  haben  w^ir  es 
hier  zu  thun.  ^) 

*)  Weder  ein  Verein  noch  eine  Gesellschaft 


Wo  sich  Menschen  in  solcher  Weise  ver- 
einigen, da  pflegt  es  nicht  auszubleiben,  daas 
sie  Vermögen  zusammenthun ,  um  damit 
ihre  Zwecke  zu  fördern.  Bei  dem  »Verein« 
hört  dieses  Vermögen  auf,  Vermögen  der 
einzelnen  Mitglieder  zu  sein,  es  ist  fremdes 
Vermögen,  Vereins  vermögen  geworden: 
am  deutlichsten  zeigt  sich  diese  Wirkimg 
bei  den  rechtsfähigen  Vereinen,  aber  auch 
bei  einem  nicht  rechtsfähigen  Vereine  äus- 
sert sie  sich  darin,  dass  der  Austretende  im 
Zweifel  nicht  befugt  ist,  einen  entsprechen- 
den Teil  des  Vereinsvermögens  herauszu- 
verlangen.  Ganz  anders  bei  der  Ge- 
sellschaft. Hier  bleibt  das  zusammen- 
gebrachte Vermögen  nach  wie  vor  den  Mit- 
gliedern zuständig,  es  entsteht  nur  eine  so- 
genannte Gemeinschaft,  d.  h.  die  Rechts- 
wirkung, dass  gewisse  Rechte  mehreren 
Personen  gemeinschaftlich  zustehen  (B.G.B. 
§  741). 

Eine  solche  Gemeinschaft  kann  auch 
ohne  ein  Gesellschaftsverhältnis  entstehen; 
sie  kann  auf  Zufall  beruhen  (z.  B.  die  Bienen- 
schwärme mehrerer  Eigentümer  vereinigen 
sich),  sie  kann  auf  Erbfolge  beruhen  (Ge- 
meinschaft der  Miterben),  sie  kann  auch  auf 
dem  Willen  der  Beteiligten,  jedoch  ohne 
Abschluss  eines  Gesellschaftsvertrages  be- 
ruhen (z.  B.  beim  Aufspeichern  von  Ge- 
treidevorräten mehrerer  Interessenten  in 
einem  Silo). 

Mag  der  Gremeinschaft  nun  ein  Gesell- 
schaftsverhältnis zu  Grunde  liegen  oder  nicht, 
in  jedem  Falle  besteht  ein  Rechtsverliältnis, 
und  zwar  ein  Schuldverhältnis  (Obligation) 
zwischen  den  Teilhabern,  d.  h.  diese  Per- 
sonen sind  sich  gegenseitig  zu  einem  ge- 
wissen Verhalten  (Thim  und  unterlassen) 
in  Bezug  auf  das  gemeinschaftliche  Objekt 
verpflichtet ;  denn  um  die  bei  einer  Gemein- 
schaft besonders  leicht  auftretenden  Strei- 
tigkeiten fernzuhalten,  muss  durch  gesetz- 
liche Normen  feststehen,  in  w^elcher  Weise 
das  gemeinschaftliche  Objekt  zu  verwalten 
und  zu  nutzen  ist,  wie  der  etwaige  Ertrag 
und  eventuell  die  Substanz  selbst  zu  ver- 
teilen ist  u.  s.  f. 

Hierbei  zeigt  sich  ein  scharfer  Gegensatz 
zwischen  der  Auffassung  des  römischen  und 
des  deutschen  Rechts. 

Das  römische  Recht  kennt  nur  eine 
Gemeinschaft  (communio)  nach  Bruch- 
teilen (Quoten).  Das  beileutet,  dass  jeder 
Teilliaber  einen  gew-issen  Anteil  an  der  Ge- 
meinschaft und  zwar  als  freien  Bestandteil 
seines  Vermögens  hat ;  er  kann  diesen  An- 


ist die  Ehe.  Bei  ihr  handelt  es  sich  nicht  um 
beliebige,  freigewählte  Zwecke.  Ihre  Entstehung, 
ihre  Beendigung  und  ihre  Rechts  Wirkungen 
stehen  unter  besonderen  Normen,  welche  grossen- 
teils  der  Parteiwillkür  entzogen  sind. 


Gesellschaftsvertrag 


225 


teil  an  andere  Personen  abtreten  (verschen- 
ken, verkaufen,  zu  Pfand  geben),  seine 
Gläubiger  können  diesen  Anteil  pfänden,  er 
kann  auch  jederzeit  Teilung  des  gemein- 
schaftlichen Vermögens  verlangen  und  die 
Gemeinscliaft  damit  aufheben.  Solche  Ge- 
staltung weist  auch  die  römischrechtliche 
Gesellschaft  (societas)  auf.  Insbesondei-e 
kann  ein  sodus  jederzeit  Aufhebung  der 
Gemeinschaft  und  Teilung  des  Vermögens 
verlangen,  aucli  wenn  der  Gesellschaftsver- 
trag auf  bestimmte  Zeit  eingegangen  und 
diese  vereinbai-te  Zeit  noch  nicht  abgelaufen 
ist:  aDerdinp  wird  eine  derartige  Hand- 
lungsweise sich  in  der  Regel  als  Vei'trags- 
bruch  charakterisieren  und  daher  zum  Sclia- 
densersatze  verpflichten,  aber  die  Gesell- 
schaft ist  und  bleibt  aufgelöst.  Denn  die 
römische  societas  ist  nichts  als  ein  Komplex 
gegenseitiger  Schuldverhältnisse,  die  sämt- 
lich auf  einem  Vertrage  beruhen  und  von 
denen  jedes  das  Vorhandensein  aller  übrigen 
Schuldverhältnisse  voraussetzt:  mit  dem 
Ausscheiden  eines  einzigen  socius  ist  daher 
das  gesamte  Vertragsverhältnis  aufgehoben 
und  ohne  eine  völlige  Neugriindung  kann 
unter  den  übrigen  Mitgliedern  ein  gleiches 
Schiddverhältnis  nicht  existent  worden. 

Das  deutsche  Recht  dagegen  kennt 
eine  Gemeinschaft  regelmässig  nur  in  Ge- 
stalt der  gesamten  Hand.  Das  heisst: 
Es  bestehen  an  dem  Gemeinschaftsgute  keine 
selbständigen  Teilrechte,  über  die  eine  ge- 
sonderte Verfügung  möglich  wäre,  viel- 
mehr können  —  solange  die  Gemeinschaft 
besteht  —  nur  alle  Betoiligten  zusammen 
(»zur  gesaraten  Hand«)  über  das  Vermögen 
oder  über  Teile  desselben  verfügen.  Es  ist 
zulässig,  das  Recht  der  Teilhaber  auf  Auf- 
hebung der  Gemeinschaft  und  also  die  Tei- 
lungsklage auf  Zeit,  ja  auf  ewig  auszu- 
schliessen,  und  wenn  ein  Teilhaber  aus- 
scheidet, so  kann  die  Geraeinschaft  trotzdem 
bestehen  bleiben,  indem  sein  Anteil  den 
übrigen  zuwächst  Entsprechend  kann  auch 
ein  neuer  Genosse  in  die  Gemeinschaft  auf- 
genommen werden,  ohne  dass  deshalb  eine 
gänzliche  Neugründung  stattzufinden  hätte. 

Dieser  Unterschied  des  römischen  und 
deutschen  Rechts  erklärt  sich  aus  der  ältes- 
ten und  häufigsten  Form  der  Gemeinschaft, 
nämlich  der  Erbengemeinschaft.  In  Rom 
pflegten  die  Erben  —  nach  dem  Verfall 
der  alten  Eamilienverbände  —  regelmässig 
sofort  zur  Teilung  zu  schreiten,  die  Fort- 
dauer der  Gemeinschaft  erschien  als  der 
abnorme  FaU,  und  jeder  Erbe  behielt  daher 
das  Recht,  jederzeit  die  normale  Gestaltung 
herbeizuführen;  dagegen  nach  altdeutscher 
Sitte  blieben  die  Miterben  (die  Brüder)  regel- 
mässig als  Ganerben  in  der  Gemeinschaft 
sitzen,  und  nur  aus  wichtigen  Gründen  trat 
ausnahmsweise  eine  Teilung  und  Auseinan- 


dersetzung ein.  Da  aber  sowohl  in  Rom 
wie  in  Deutschland  die  freigegründete  Ge- 
sellschaft nur  eine  Nachbildung  dieser  älte- 
ren Famüiengemeinschaft  war,  so  erklärt 
es  sich  leicht,  dass  auch  bei  ilu-  dort  die 
lockere  communio,  hier  die  festgefügte  ge- 
samte Hand  zur  Anwendung  gelangte. 
Augenscheinlich  ist  jedoch  die  deutsche 

fjsamte  Hand,  eben  wegen  ihrer  solideren 
onstruktion,  weit  besser  als  die  römische 
communio  geeignet,  die  dauernde  Verfolgimg 
eines  gemeinscliaftlichen  Zweckes  zu  sichern. 
Daher  wird  man,  mag  auch  für  andere  Fälle 
der  Gemeinschaft  die  römischrechthche  Form 
vielleicht  vorzuziehen  sein,  für  die  G  e  s  e  1 1  - 
Schaft  zweifellos  der  deutschrechtlichen 
Form  den  Vorzug  geben.  In  der  That  hat 
schon  das  Allgemeine  deutsche  Handelsge- 
setzbuch die  offene  Handelsgesellschaft  nach 
den  Grundsätzen  der  gesamten  Hand  ge- 
staltet, und  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  hat 
auch  die  Gesellschaft  des  bürgerlichen  Rechts 
dem  deutschrechtlichen  Princip  imtersteUt, 
doch  ist  bei  der  offenen  Handelsgesellschaft 
das  Princip  weit  energischer  durchgeführt,  die 
gesamte  Hand  ist  hier  in  bedeutsamer  Weise 
der  korporativen  Gestaltung  angenähert  wäh- 
rend bei  der  Gesellschaft  des  bürgerlichen 
Rechts  die  Selbständigkeit  des  Gesellschafts- 
vermögens in  engeren  Grenzen  gehalten  ist. 
Immerhin  kann  man  auch  hier  von  »der  Gesell- 
schaft« als  einem  selbständigen  Faktor  nicht 
nur  des  wirtschaftlichen  Verkehrs,  sondern 
auch  des  Rechtsverkehrs  sprechen,  und  wäh- 
rend OS  bei  der  römischen  societas  stets  nur 
»die  socii«  sind,  welche  im  Rechtsverkehr  (ge- 
meinschaftlich) handelnd  auftreten,  können 
wir  jetzt  nicht  ohne  eine  gewisse  Berechti- 
gung sagen:  »die  Gesellschaft«  handelt,  »die 
(Gesellschaft«  tritt  in  Beziehung  zu  dritten 
Personen,  »die  Gesellschaft«  hat  zu  fordern 
oder  schuldet  u.  s.  f. 

II.  Der  Gesellschaftsvertrag. 

Die  Gesellschaft  entsteht  durch  einen 
Vertrag,  in  welchem  sich  mehi-ere  —  min- 
destens zwei  —  Personen  gegenseitig  zur 
Förderung  eines  gemeinsamen  Zeckes  ver- 
pflichten. Dieser  Vertrag  heisst  Gesell- 
schaftsvertrag (B.G.B.  §  705).  Er  kann  form- 
los, d.  h.  auf  jede  beliebige  Art  und  Weise, 
auch  mündlich  eingegangen  werden.  Sein 
Inhalt  ist  entscheidend  für  die  gegenseitigen 
Rechte  imd  Pflichten  (s.  unten  sub  III).  Nur 
soweit  er  keine  Bestimmungen  enthält,  grei- 
fen in  der  Regel  die  Vorschriften  des  Ge- 
setzes (B.G.B.  §§  705—740)  Platz ;  diese  Be- 
stimmungen sind  also  grösstenteils  nicht 
zwingender,  sondern  nachgiebiger  Natiur  und 
können  daher  durch  die  Parteien  beliebig 
aufgehoben,  abgeändert,  ergänzt  werden  (Aus- 
nahmen z.  B.  §  723  Abs.  3,  §  725,  §  728). 
Trotzdem  ist  auch  die  Bedeutung  dieser  nach- 


Handwörterbnch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


15 


226 


Qesellschaftsyertrag 


giebigen  Vorschriften  eine  sehr  grosse ;  denn 
die  meisten  Gesellschaftsvertri^  sind  un- 
vollständig, viele  beschränken  sich  auf  einige 
kurze  Festsetzungen  über  die  Höhe  der 
Einlage  und  die  Gewinnverteilung,  üeber- 
haupt  gehört  die  Ausarbeitung  eines  brauch- 
baren, möglichst  erschöpfenden  und  Streitig- 
keiten fernhaltenden  Gesellschaftsvertrages 
zu  den  schwierigsten  Aufgaben  juristischer 
Praxis:  nur  selten  zeigt  sich  advokatische 
Kunst  dieser  Meisterprobe  gewachsen. 

Der  Zweck,  zu  dessen  Förderung  sich 
die  Parteien  in  dem  GeseUschaftsvertrage 
verpflichten,  muss  ein  erlaubter,  ein  erreich- 
barer imd  natürlich  ein  solcher  sein,  der 
eben  von  mehreren  Personen  zusammen  ver- 
folgt werden  kann,  sonst  aber  ist  hierbei 
dem  Parteibelieben  keinerlei  Schranke  ge- 
setzt :  wirtschaftliche  und  ideelle,  egoistische 
und  selbstlose  Zwecke  können  in  Form  der 
Gesellschaft  gefördert  werden.  Eine  voll- 
ständige Vermögensgemeinschaft  zwischen 
mehreren  Personen  (communio  omnium  bo- 
norum), wie  sie  auf  Grund  der  Ehe  zulässig 
ist,  kann  aber  auf  Gnmd  eines  Gesellschafts- 
vertrages nicht  stattfinden  (B.G.B.  §  310). 
Wo  es  sich  um  die  gemeinsame  Förderung 
wirtschaftlicher  Zwecke,  insbesondere  um 
den  Betrieb  eines  gemeinschaftlichen  Ge- 
werbes handelt,  da  ist  der  Abschluss  eines 
Gesellschaftsvertrags  stets  Ausdruck  eines 
ganz  besonderen  Vertrauens.  Für  den 
wichtigsten  Fall,  nämlich  für  den  Betrieb 
eines  Handelsgewerbes,  haben  sich  mehrere 
besondere  Gesellschaftsformen  —  die  offene 
Handelsgesellschaft ,  die  Kommanditgesell- 
schaft und  die  stille  Gesellschaft  —  heraus- 
jbildet ;  die  wichtigsten  übrigen  sogenannten 
[andelsgesellschaften  (die  Aktiengesellschaft, 
die  GeseUschaft  mit  beschränkter  Haftung) 
sowie  die  Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossen- 
schaften darf  man  nicht  zu  den  »Gesell- 
schaften« im  technischen  Sinne  des  Wortes, 
sondern  man  muss  sie  zu  den  »Vereinen« 
rechnen,  weil  es  bei  ihnen  nicht  auf  die 
individuelle  Persönlichkeit  der  Mitglieder 
ankommt;  die  Kommanditgesellschaften  auf 
Aktien  nehmen  eine  eigentümliche  Mittel- 
stellung zwischen  beiden  Gruppen  ein. 

III.  Pflichten   nnd  Rechte  der  Gesell- 
schafter. 

1.  Die  PfUchten.  Durch  den  (^^esell- 
schaftsvertrag  vei-pflichten  sich  die  Vertrag- 
schliessenden  gegenseitig,  und  zwar 
jeder  verpflichtet  sich  jedem,  es  entstehen 
um  so  mehr  gegenseitige  Vei'ptiichtungs- 
verhältnisse ,  je  grösser  die  Zahl  der  Mit- 
glieder ist,  also  bei  zwei  Mitgliedern  eins, 
bei  drei  Mitgliedern  drei,  bei  vier  Mit- 
gliedern sechs,  bei  fünf  Mitgliedern  zehn, 
bei  sechs  Mitgliedern  fünfzehn  und  so  fort: 
nämlich  da  jedes  weitere  Mitglied  zu  i^ämt- 


lichen  übrigen  ebenfalls  in  ein  gegenseitiges 
Rechtsverhältnis  tritt,  so  vermehrt  sich  die 
Zahl  dieser  Rechtsverhältnisse  durch  jedes 
weitere  Mitglied  stets  um  die  Zahl  der 
übrigen  Mitglieder. 

A.  Jeder  Gesellschafter  verpflichtet  sich 
also  jedem  anderen  Gesellschafter  gegen- 
über, die  Erreichung  des  gemeinsamen 
Zweckes  zu  fördern ;  worin  diese  Förderung 
bestehen  soll  (ob  z.  B.  auch  in  Mitwirkung 
bei  der  Geschäftsführung),  das  bestimmt 
sich  nach  dem  Gesellschaftsvertrage.  AV^enn 
ein  Gesellschafter  mr  nichts  zur  Förderung 
der  gemeinsamen  Zwecke  thun  soll,  dann 
liegt  insoweit  (mit  Rücksicht  auf  ihn)  kein 
Gesellschaftsvertrag  vor.  Eine  solche  Ver- 
pflichtung ist  also  dem  (jesellscliaftsvertrage 
wesentlich.  Damit  ist  aber  nicht  zu  ver- 
wechseln die  Verpflichtung,  am  etwaigen 
Verluste,  den  das  Gesellschaftsvermögen  er- 
leidet, zu  participieren;  diese  liegt  zwar 
regelmässig  jedem  Gesellschafter  ob,  aber  sie 
ist  nicht  wesentlich,  es  widerspricht  also 
nicht  dem  Wesen  des  Gesellschaftsvei-tra^es, 
wenn  ein  Gesellschafter  nur  am  Gewinn, 
nicht  am  Verlust  beteiligt  sein  soll  (darüber 
s.  unten  sub  3). 

B.  Regelmässig  bedarf  die  Gesellschaft 
zur  Erreichung  ihrer  Zwecke  eines  Ver- 
mögens. Nach  römischem  Recht  ist  dies 
sogar  notwendig,  und  man  hat  daher  die 
societas  geradezu  als  vertragsmässige  Ver- 
mögensgemeinschaft definiert.  Das  B.G.B. 
weiss  von  diesem  Erfordernisse  nichts,  aber 
schon  in  der  Definition  des  Gesellschafts- 
vertrags  (§  705)  weist  es  doch  auf  die 
Bildung  einer  Gesellschaftskasse  und  auf  ihre 
Füllung  durch  Beiträge  der  Mitgheder  als 
regelmässigen  Inhalt  des  Gesellschaftsver- 
tra^s  hin. 

Die  wichtigste  Verpflichtung  der  Gesell- 
schafter ist  daher  in  der  Regel  die  Bei- 
tragsleistung. Was  die  Art  der  Bei- 
träge anbetrifft,  so  bestehen  sie  meist  in 
Geld,  können  aber  auch  in  anderen  Sach- 
einlagen und  sogar  in  Diensten  bestehen 
(B.G.B.  §  706  Abs.  2  und  3).  Wirkliche 
Sacheinlagen  sind  solche,  welche  gemein- 
schaftliches Vermögen  der  Gesellschafter 
werden  sollen,  deren  Substanz  also  dazu  be- 
stimmt ist,  das  Gesellschaftsvermögen  zu 
bilden.  Hier  ist  der  Gesellschafter  ver- 
pflichtet, die  dazu  notwendigen  Ueber- 
tragungs-(Veräusserungs-)Akte  vorzuneluneu, 
also  Besitzübertragung,  Auflassung,  Cession, 
Indossament.  Entsprechend  den  (rnrnd- 
sätzen  über  Veräusserungsgeschäfte  (Kauf) 
geht  dann  die  Gefahr  auf  sämtliche  Gesell- 
schafter über. 

Sacheinlagen  können  aber  auch  in  der 
Art  gemacht  werden,  dass  nicht  das  Eigen- 
tum daran  gemeinschaftlich  werden,  son- 
dern dass  der  Gesellschaft  nur  die  Benutziuig 


Gesellschaftsvertrag 


227 


des  eingebrachten  Gegenstandes  (z.  B.  eines 
Speichers)  zustehen  soll.  Da  es  oft  zweifel- 
haft sein  wird,  ob  das  eine  oder  das  andere 
beabsichtigt  ist,  so  steUt  das  B.G.B.  §  706 
Abs.  2  folgende  Vermutungen  auf:  Vertret- 
bare und  verbrauchbare  Sachen  werden  im 
Zweifel  gemeinschaftliches  Eigentum  der 
Gesellsüliaiter;  von  anderen  Sachen  gilt  dies 
im  Zweifel  nur  dann,  wenn  sie  nach  einer 
Schätzung  beizutragen  sind  und  wenn  diese 
Schätzung  nicht  bloss  filr  die  Gewinnver- 
teilung bestimmt  ist  (die  sich  nämlich  nach 
der  Höhe  der  Beiträge  bestimmen  kann), 
sondern  den  Zweck  hat,  die  Höhe  der 
Forderung  festzustellen,  welche  dem  ein- 
bringenden Gesellschafter  gegenüber  den 
übrigen  Gesellschaftern  wegen  der  ge- 
machten Einlage  erwächst  (s.  unten  sub 
2).  Eine  solche  Forderung  entsteht  näm- 
lich nicht,  soweit  der  Beitrag  in  Diensten 
oder  in  der  blossen  Gebrauchsüberlassung 
besteht  (B.G.B.  §  733  Abs.  2).  Wenn  ein 
Gesellschafter  seiner  Beitragspflicht  nicht 
genügt>,  so  treten  die  für  alle  gegenseitigen 
Verträge  vorgeschriebenen  Rechtsfolgen  ein 
(B.G.B.  §§  320  ff.),  deren  DarsteUung  hier 
zu  weit  führen  würde. 

Die  Höhe  der  Beiträge  richtet  sich 
nach  dem  Gesellschaftsvertrage ;  in  Ermange- 
lung einer  anderen  Vereinbarung  sind  sie 
gleich  hoch  für  alle  Mitglieder  (B.G.B.  §  705, 
§  706  Abs.  1). 

Da  die  Höhe  sich  nach  dem  Vertrage 
bestimmt,  so  ist  kein  Gesellschafter  wider 
seinen  Willen  zu  Nachschüssen  verpflichtet, 
sei  es  um  die  Einlage  zu  erhöhen,  sei  es 
um  die  durch  Verlust  verminderte  Einlage 
zu  ergänzen  (B.G.B.  §  707).  Wie  sich  dieses 
Verhätnis  nach  Auflösung  der  Gesellschaft 
bei  der  Auseinandersetzung  gestaltet,  das 
ist  unten  sub  VI  darzulegen. 

C.  Bei  der  Erfüllung  der  ihm  obliegenden 
Verpflichtungen  hat  der  Gesellschafter  nur 
für  diejenige  Sorgfalt  einzustehen,  welche 
er  in  eigenen  Angelegenheiten  anzuwenden 
pflegt  (B.G.B.  §  708),  wird  aber  durch  diese 
Vorschrift  nach  allgemeinen  Grundsätzen 
von  der  Haftung  für  grobe  Fahrlässigkeit 
nicht  befreit  (B.G.B.  §  277). 

Dieser  wichtige  Rechtssatz,  wonach  ein 
(}esellschafter  niu»  für  sogenannte  diligentia 
quam  suis  haftet,  kann  historisch  dadurch  er- 
klärt werden,  dass  die  Gesellschaft  sich  aus 
der  Familie  entwickelt  hat;  für  die  Gegen- 
wart rechtfertigt  er  sich  durch  die  Solidari- 
tät der  Interessen,  welche  auf  Grund  des 
Gesellschaftsvertrages  zwischen  den  Kon- 
trahenten besteht,  während  alle  anderen 
Verträge  kollidierende  Interessen  zwischen 
den  Kontrahenten  erzeugen.  Bei  der  Ge- 
sellschaft schädigt  jeder  nicht  nur  die 
anderen,  sondern  stets  auch  sich  selbst, 
wenn  er  bei  der  Erfüllung  seiner  Pflichten 


fahrlässig  handelt,  und  darin  liegt  eine  ge- 
nügend wirksame  Garantie  füi*  die  übrigen. 
2.  Die   Rechte    der    GeseUschalter. 

A.  Arten.  Die  Rechte  eines  jeden  Gesell- 
schafters entsprechen  zunächst  den  Pflichten 
aller  übrigen,  jene  bilden  die  Kehrseite  von 
diesen.  Anders  ausgedrückt :  was  jeder  ein- 
zelne zu  leisten  verpflichtet  ist,  das  sind 
alle  übrigen  von  ihm  zu  fordern  berechtigt. 

Ausserdem  aber  können  sich  noch  be- 
sondere Ansprüche  aus  dem  Gesellschafts- 
verhältnisse ergeben.  So  hat  jeder  Gesell- 
schafter einen  Anspruch  auf  entsprechenden 
Anteil  an  den  Vorteilen,  welche  sich  für 
ihn  aus  der  Erreichung  des  Gesellschafts- 
zweckes ergeben,  z.  B.  auf  Benutzung  der 
gemeinschaftlichen  Einrichtungen  (Bibliothek, 
Turngeräte,  Dreschmaschine),  und  wenn 
die  Gesellschaft  einen  gewerblichen  Charakter 
hat,  auf  Anteil  an  dem  erzielten  Gewinne 
(darüber  s.  imten  sub  3). 

Auch  steht  jedem  Gesellschafter  bei 
Auflösung  der  Gesellschaft  ein  Recht  zu 
auf  entsprechenden  Anteil  an  dem  nach 
Tilgung  aller  Verpflichtungen  übrig  bleiben- 
den Vermögen  (auf  die  sogenannte  Liquida- 
tionsquote), und  ein  analoges  Recht  hat  der 
ausscheidende  Gesellschafter. 

Ferner  erwächst  demjenigen  Gesell- 
schafter, welcher  einen  Beitrag,  der  nicht 
in  Diensten  besteht,  gemacht  hat,  für  den  Fall 
der  Auflösung  oder  des  Ausscheidens  noch 
ein  besonderer  Anspruch.  Wurde  die  ein- 
gebrachte Sache  der  Gesellschaft  nur  zur 
Benutzung  überlassen,  so  geht  sein  Anspruch 
auf  Rückgewähr  der  Sache.  Wurde  sie 
dagegen  in  das  Eigentimi  aller  Gesellschafter 
übertragen,  also  ihrer  Substanz  nach  in  das 
Gesellschaftsvermögen  aufgenommen,  so  er- 
hält der  Gesellschafter  einen  Anspruch  auf 
Rückzahlung  der  eingebrachten  Geldsumme 
bezw.  bei  anderen  Sachen  auf  Ersatz  ihres 
Schätzungswertes  (B.G.B.  §  733  Abs.  2);  in 
diesem  Falle  wird  also  jedem  Gesellschafter, 
der  eine  solche  Sacheinlage  gemacht  hat, 
der  geleistete  resp.  der  durch  Schätzimg 
festgestellte  Betrag  auf  sein  Separatkonto  zu 
gute  geschrieben  und  bildet  damit  eine 
Forderung,  die  ihm  gegenüber  den  anderen 
GesellschÄftern  zusteht,  die  er  aber  erst 
nach  erfolgter  Auflösung  der  Gesellschaft 
bezw.  nach  seinem  Ausscheiden  aus  der  Ge- 
sellschaft geltend  machen  kann.  Endlich 
können  einem  Gesellschafter,  welcher  die 
Geschäfte  der  Gesellschaft  besorgt  hat,  aus 
dieser  seiner  Geschäftsführung  Ansprüche, 
z.  B.  auf  Ersatz  gemachter  Auslagen,  gegen- 
über den  anderen  Gesellschaftern  er- 
wachsen. 

B.  Die  Ansprilche,  die  danach  den  Ge- 
sellschaftern aus  dem  Gesellschaftsvertrage 
gegen  einander  zustehen,  sind  nicht  über- 
tragbar (B.G.B.  §  717),  also  höchst  persön- 

15* 


228 


Gesellschaftsvertrag 


lieber  Natur,  weil  das  ganze  Verhältnis  ein 
Produkt  gegenseitigen  Vertrauens  und  rein 
auf  die  ver&agschliessenden  Personen  zuge- 
schnitten ist:  daher  sollen  die  übrigen  Ge- 
sellschafter nicht  genöti^  sein,  sich  eine 
andere  Person  wider  ihren  Willen  als 
Gläubiger  aufdrängen  zu  lassen.  Doch 
macht  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  eine 
Ausnahme  für  gewisse  rein  finanzielle 
Ansprüche,  nämlich  für  die  einem  Ge- 
sellschafter aus  der  Geschäftsführung  zu- 
stehenden Ansprüche  (z,  B.  wegen  geraachter 
Auslagen),  soweit  deren  Befriedigimg  vor 
der  Auseinandersetzung  verlangt  werden 
kann,  ferner  für  die  Ansprüche  auf  Gewinn- 
anteil, auf  Rückerstattung  der  Einlage  und 
auf  die  Liquidationsquote. 

8.  Ge\iinn  und  Verlust  insbesondere. 
Durch  die  Beiträge  der  Mitglieder  wird  das 
Gesellschaftsvermogen  geschaffen, 
dessen  eigentümliche  rechtliche  Stellung 
weiter  unten  (sub  V)  näher  charakterisiert 
werden  soll.  Dieses  ihr  tu^j)rüngliches 
Vermögen  kann  die  Gesellschaft  —  wie 
bercits  mehrfach  hervorgehoben  wurde 
—  durch  günstige  Geschäfte  vermehren, 
durch  ungünstige  Geschäfte  vermindern: 
im  ersten  Falle  entsteht  Gewinn,  im 
letzten  Falle  Verlust.  Gewinn  wie  Ver- 
lust trifft  also  zunächst  das  Gesellschafts- 
vermögen; da  dieses  jedoch  den  sämtlichen 
(lesellschaftern  zur  gesamten  Hand  zusteht, 
80  sind  es  im  Zweifel  sämtliche  Gesell- 
schafter, welchen  der  Gewinn  zu  gute 
kommt,  der  Verlust  ziun  Nachteil  gereicht, 
und  zwar  participieren  sie  im  Zweifel  nach 
Köpfen,  also  ohne  dasa  auf  Art  und  Grösse 
ihrer  Beiträge  dabei  irgendwie  Rücksicht 
genommen   würde   (B.G.B.    §  722  Abs.   1). 

Indessen  kann  durch  den  Gesellschafts- 
vertrag etwas  anderes  verein bai-t  sein. 

Einmal  kann  d  i  e  H  ö  h  e  des  Anteils  am 
Gewinn  imd  Verlust  für  die  einzelnen  Ge- 
sellschafter verschieden  bestimmt  sein.  Sehr 
häufig  wird  nur  für  die  Verteilung  des  Ge- 
winnes (selten  niu*  für  die  des  Verlustes) 
ein  solcher  Massstab  vereinbart:  dann  soll 
im  Zweifel  dasselbe  auch  für  die  Kehrseite, 
also  für  die  Verteilung  des  Verlustes  (bezw. 
des  Gewinnes)  gelten  (B.G.B.  §  722  Abs.  2). 

Sodann  kann  auch  vereinbart  sein,  dass 
ein  Gesellschafter  lediglich  amGe  winne 
und  gar  nicht  am  Verluste  beteiligt  sein 
soll.  Notwendig  ist,  dass  ihm  die  Verpflich- 
tung auferlegt  wird,  in  irgend  einer  Weise, 
in  der  Regel  durch  eine  Beitragsleistung, 
die  Zwecke  der  Gesellschaft  zu  fördern  (oben 
Seite  225);  aber  daneben  kann  recht  wohl 
vereinbart  sein,  dass  der  oder  die  anderen 
Gesellschaftor  diese  Einlage  verzinsen  und 
den  etwaigen  Verlust  ganz  allein  tragen 
sollen,  dergestalt,  dass  jener  gar  kein  Risiko 
diu-ch  seine  Beteiligimg  an  der  Gesellschaft 


zu  laufen  hat :  der  Vertrag  hört  deshalb  für 
ihn  nicht  auf,  ein  Gesellschaftsvertrag  zu  sein. 
Wenn  umgekehrt  vereinbart  >\ard,  dass 
ein  Gesellschafter  ledig  lieh  amVerluste 
und  gar  nicht  am  Gewinne  beteiligt  sein  soll, 
80  ist  dies  nach  römischrechtlicher  Auf- 
fassung überhaupt  kein  Gesellschaftsvertrag, 
man  nannte  eine  derartige  Vereinbarung 
nach  der  bekannten  Aesopischen  Fabel  eine 
societas  leonina.  In  der  Tliat  trägt  eine 
solche  Vereinbai'ung  viel  mehr  den  Charakter 
eines  Garantievertrags  (eventuell  in  Ver- 
bindung mit  einem  Darlehen,  dessen  Rück- 
zahlung resolutiv  bedingt  ist),  aber  nach  dem 
B.G.B.  wird  man  in  der  Regel  nicht  umhin 
können,  sie  doch  als  Gesellschaftsvertrag 
aufzufassen;  denn  regelmässig  wird  auch 
hier  ein  gemeinsamer  Zweck  vorliegen  (z.  B. 
Herstellung  einer  Lokalbahn),  zu  dessen 
Förderung  die  Pai'teien  sich  gegenseitig  ver- 
pflichten, und  damit  sind  alle  Voraussetzungen 
erfüllt,  welche  das  Gesetzbuch  für  den  Ge- 
sellschaftsvertrag verlangt  (§  705). 

IV.  Die  Geschäftsführung. 

Geschäftsführung  ist  Verwirklichung  des 
Gesellschaftszweckes.  Worin  sie  besteht^ 
das  hängt  daher  von  dem  Zwecke  ab,  den 
die  Gesollschaft  verfolgt.  AVenn  dieser  Zweck 
ein  gewerblicher  ist,  dann  ist  die  Geschäfts- 
führung naturgemäss  viel  komplizierter  als 
bei  nichtgewerblichen  Unternehmungen. 

Die  Geschäftsführung  hat  es  stets  mit 
dem  internen  Verhältnis  der  Gesellschaf tor 
unter  einander  zu  thun  (z.  B.  Einziehvmg 
der  Beitrage,  Auszahlung  der  Gewinnanteile, 
Bücher-  und  Kassenführung),  meist  aber 
ti'itt  die  Gesellscliaft  auch  nach  aussen, 
dritten  Personen  gegenüber  in  rechtliche 
Beziehungen  (sie  ist  dann  nicht  bloss  »Innen- 
gesellschaft«, sondern  auch  »Aussengesell- 
schaft«),  und  alsdann  ei*streckt  sich  die  Ge- 
schäftsführung principiell  auch  auf  diese 
Ausseuseite,  umfasst  also  auch  die  Vor- 
tretung  der  Gesellschaft.  Jimstisch  ist 
beides  aber  streng  auseinanderzuhaltein. 

A.  Was  zunächst  da«^  interne  Verhältnis 
anbetiifft,  so  sind  in  der  Regel  sämtliche 
Gesellschafter  einander  gegenseitig  zur  Ge- 
schäftsfühnmg  verpflichtet  und  berechtigt, 
und  zwar  ist  die  Geschäftsführung  im  Zwei- 
fel eine  gemeinschaftliche,  d.  h.  für  jedes 
Geschäft  ist  die  Zustimmung  aller  erforder- 
lich (B.G.B.  §  709  Abs.  1),  Indessen  wird 
häufig  etwas  anderes  vereinbart.  So  kann 
der  Vertrag  bestimmen,  dass  jeder  Gesell- 
schafter befugt  sein  soll,  allein  zu  handeln : 
dann  kann  auch  jeder  der  Vornahme  eines 
Geschäfts  durch  einen  anderen  Gesellschafter 
widersprechen,  und  wenn  ein  solcher  Wider- 
spruch erfolgt,  muss  das  Geschäft  unter- 
bleiben (B.G.B;  §  711).  Der  Vertrag  kann 
auch  bestimmen,  dass  die  Stimmenmehrheit 


Gesellschaftsvertrag 


229 


entscheiden  soll :  dann  wird  die  Mehrheit  im 
Zweifel  nach  Köpfen  berechnet  (B.G.B.  §  709 
Abs.  2).  Sehr  häufig  bestimmt  der  Vertrag, 
dass  nnr  ein  Gesellschafter  oder  dass  nur 
einige  Gesellschafter  (letztere  dann  im  Zweifel 
wieder  gemeinschaftlich)  die  Geschäfte  zu 
führen  haben  (B.GB.  §  710):  alsdann  können 
die  übrigen  Gesellschafter  nur  aus  einem  wich- 
tigen Grunde  (z.  B.  wegen  grober  Pflichtver- 
letzung oder  Unfähigkeit)  diese  ausschliess- 
liche Befugnis  wieder  entziehen  (B.G.B.  §  712 
Abs.  1),  und  andererseits  ist  auch  ein  solcher 
Geschäiftsführer  nur  aus  einem  wichtigen 
Grunde  (z.  B.  wegen  Erkrankung)  befugt, 
den  übrigen  die  Geschäftsführung  zu  kün- 
digen (B.G.B  §  712  Abs.  2). 

In  dem  zuletzt  angeführten  Falle  sind 
also  einer  oder  mehrere  Gesellschafter  von 
der  Geschäftsführung  ausgeschlossen  und  be- 
halten dann  nur  gewisse  Kontrollrechte.  Sie 
können  sich  von  den  Angelegenheiten  der  Ge- 
sellschaft persönlich  unterrichten,  die  Ge- 
schäftsbücher und  die  Papiere  der  Gesell- 
schaft einsehen  und  sich  aus  ihnen  eine 
üebersicht  über  den  Stand  des  Gesellschafts- 
vennögens  anfertigen.  Auch  diese  Rechte 
können  ihnen  zwar  durch  den  Gesellschafts- 
yertrag  entzogen  werden,  aber  eine  solche 
Vertragsklausel  ist  dann  unwirksam,  wenn 
Grund  zu  der  Annahme  unredlicher  Ge- 
schäftsfühnmg  besteht  (B.G.B.  §  716). 

Der  oder  die  übrigen  (gescliäftsführenden) 
Gesellschafter  gelten  in  diesem  Falle  als 
Beauftragte  der  von  der  Geschäftsführung 
ausgeschlossenen  Gesellschafter,  und  ihre 
Rechte  und  Pflichten  bei  der  Geschäfts- 
fühnmg  bestimmen  sich  daher  nach  den  für 
den  Auftrag  geltenden  Vorschriften  der 
§§  664  bis  670,  indessen  niu*,  soweit  sich 
nicht  aus  dem  Gesellschaftsverhältnis  ein 
anderes  ergiebt  (B.G.B.  §  713).  So  haben 
sie  z.  B.  auch  bei  der  Geschäftsfühnmg  nur 
für  diejenige  Sorgfalt  einzustehen,  die  sie 
in  eigener  Angelegenheit  anzuwenden  pflegen 
(oben  S.  227).  Der  Umfang  ihrer  Befugnisse 
bestimmt  sich  daher  ebenfalls  nach  dem  Ge- 
sellschaftsvertrage oder  nach  einem  diesen 
Vertrag  erweiternden  oder  einengenden  Be- 
schlüsse sämtlicher  Gesellschafter.  Wenn 
eine  deraitige  ausdrückliche  Anweisung  nicht 
voriiegt,  so  finden  ihre  Befugnisse  an  dem 
Gesellschaf ts  z  w  e  c  k  e  stets  ihre  selbstver- 
ständliche Schranke:  zur  Vornahme  eines 
diesem  Zwecke  fremden  Geschäftes  ist  also 
stets  die  Zustimmung  aller  übrigen  Gesell- 
schafter erforderlich. 

B.  Dieselben  Grundsätze  finden  aber  — 
falls  die  Gesellschaft  eine  sogenannte  Aussen- 
gesellsehaft  ist  —  in  der  Regel  auch  auf 
die  Vertretungsmacht  der  geschäfts- 
führenden Gesellschafter  Anwendung.  Die 
Geschäftsführer  gelten  nämlich  im  Zweifel 
auch  als   ermächtigt,   die   übrigen   Gesell- 


schafter gegenüber  dritten  Personen  zu  ver- 
treten, imd  zwar  geht  der  Umfang  ihrer 
Vertretungsmacht  im  Zweifel  genau  so  weit 
wie  ihre  Befugnis  zur  sonstigen  Geschäfts- 
führung (B.G.B.  §  714):  insoweit  kann  sich 
der  Dritte  also  in  der  Regel  auch  getrost 
mit  ihnen  einlassen,  ohne  befürchten  zu 
müssen,  dass  die  übrigen  Gesellschafter  die 
Handlungen  des  Geschäftsführers  als  für  sie 
unverbindlich  ablehnen  werden. 

Doch  gilt  dies,  wie  gesagt,  nur  im  Zwei- 
fel, die  Vertretung  kann  durch  den  Ge- 
sellschaftsvertrag anders  geregelt  sein  als 
die  übrige  rein  interne  Geschäftsführung, 
und  es  ist  Sache  des  Dritten,  sich  hier  wie 
bei  sonstigen  Vertretungs-  imd  insbesondere 
Auftragsverhältnissen  über  den  etwa  ab- 
weichenden Inhalt  der  Vollmacht  zu  unter- 
richten. 

Falls  aber  der  oder  die  geschäftsführenden 
Gesellschafter  dergestalt  innerhalb  der  Gren- 
zen ihrer  Vertretimgsmacht  gehandelt  haben, 
dann  haften  auch  die  übrigen  Gesellschafter 
genau  so,  wie  wenn  alle  zusammen  sich 
gemeinschaftlich  verpflichtet  hätten,  nämlich 
als  Gesamtschuldner  (solidarisch):  B.G.B. 
§  427.  Man  kann  die  dritten  Personen, 
denen  gegenüber  sämtliche  Gesellschafter  oder 
die  Geschäftsführer  für  sich  und  alle  übrigen 
Gesellschafter  in  dieser  Weise  eine  Verpflich- 
tung eingegangen  sind,  als  »Gesell- 
schaftsgläubiger« bezeichnen  (und  im 
Gegensatz  dazu  die  Gläubiger  des  einzelnen 
Gesellschafters  als  dessen  »Privatgläubiger«); 
aber  es  ist  wohl  zu  beachten,  dass  diese 
Gläubiger  nicht  in  der  Lage  sind,  »die  Ge- 
sellschaft« zu  belangen,  vielmehr  müssen  sie 
gegen  sämtliche  einzelne  Gesellschafter 
Klage  erheben  und  obsiegMches  Urteil  er- 
streiten, um  zur  Exekution  in  das  Gcsell- 
schaftsvermögen  zu  gelangen  (darüber  unten 
sub  V). 

Umgekehrt  kann  man  diejenigen  Personen, 
denen  gegenüber  sämtliche  Gesellschafter 
zusammen  oder  die  Geschäftsführer  füi-  sieh 
und  alle  übrigen  Gesellschafter  eine  For- 
deining  erlangt  haben,  als^Gesellschafts- 
schuldner«  bezeichnen ;  aber  der Schiddner 
kann  wirksam  nur  an  sämtliche  Gesellschafter 
oder  an  solche  Geschäftsführer  leisten,  welche 
Vertretungsmacht  haben,  und  der  einzelne 
Gesellschafter  als  solcher  kann  ebenfalls  nur 
diese  Art  der  Erfüllung  verlangen  (B.G.B. 
§  432).  Auch  dai*auf  wird  gleich  im  fol- 
genden Abschnitt  zurückzukommen  sein. 

V.  Das  Gesellschaftsvermögen. 

Das  Gesellschaftsvermögen  setzt  sich  aus 
drei  Arten  von  Bestandteilen  zusammen: 
einmal  aus  Beiträgen  —  ursprünglichen 
und  späteren  —  der  Gesellschafter  (B.G.B. 
§718  Abs.  1),  sodann  aus  dem  Erwerb 
der  Gesellschaft,  nämlich  aus  solchen  Sachen 


230 


Gesellschaftsvertrag 


und  Rechten,  die  durch  die  Geschäftsführung 
(§  718  Abs.  1)  oder  auf  Grund  eines  schon 
zum  G^sellschaftsvermögen  gehörenden  Ge- 
genstandes, z.  B.  als  Früchte  oder  Zinsen 
(§  718  Abs.  2)  erworben  sind,  endlich  aus 
Surrogatwerten,  die  an  die  Stelle  von 
Gegenstanden  getreten  sind,  welche  zum 
Gesellschaftsvermögen  gehörten,  aber  zerstört, 
beschädigt  oder  diesem  Vermögen  entzogen 
sind  (§  718  Abs.  2),  z.  B.  Assekuranz- 
forderungen. 

Diese  verschiedenen  Bestandteile  bilden 
zusammen  eine  in  rechtlicher  Beziehung 
einheitliche  Masse,  eben  ein  Vermögen. 
Zwar  erscheinen  einerseits  die  wichtigsten 
Arten  der  Beiträge  (nämlich  Geld-  und  wirk- 
liche Sacheinlagen,  oben  S.  226)  und  anderer- 
seits derjenige  lirwerb,  welcher  sich  als 
Gewinn  herausstellt,  als  selbständige  Fak- 
toren, aber  nur  ihrem  Wertbetrage  nach, 
sie  sind  nur  Rechnungsgrössen ,  und  auch 
als  solche  werden  sie  erst  bei  Auflösung 
der  Gesellschaft  resp.  beim  Ausscheiden 
eines  Mitglieds  praktisch  (vgl.  oben  S.  227 
und  unten  sub  VI  und  VII) :  sie  bilden,  wie 
bemts  früher  erwähnt,  selbständige  For- 
deningsrechte  des  einzelnen  Gesellschafters 
gegenüber  den  anderen  Gesellschaftern,  aber 
nicht  selbständige  Bestandteile  des  Gesell- 
Bchaftsvermögens. 

Worin  zeigt  nun  rechtlich  dieses  Gesell- 
schaftsvermögen die  Natur  eines  wirklichen 
Vermögens?  Es  ist  ja  Vermögen  der 
Gesellschafter,  aber  es  steht  ihnen  nicht 
nach  Bnichteilen  zu,  sondern  als  gemein- 
schaftliches, zur  gesamten  Hand,  es  steht 
ihnen  als  von  ihrem  übrigen  Vermögen 
nicht  nur  faktisch,  sondern  auch  rechtlich 
getrenntes,  als  rechtlich  gebundenes  Ver- 
mögen zu. 

Diese  Bindung  zeigt  sich  zunächst  nach 
innen ,  für  das  Verhältnis  der  Gesellschafter 
unter  einander.  Kein  Gesellschafter  kann 
über  seinen  Anteil  am  Gesellschaftsvermögen 
verfügen  (ihn  veräussern  oder  verpfänden) 
und  natürlich  erst  recht  nicht  über  das  Ge- 
samtvermögen oder  einzelne  Teile  desselben 
(B.Q.B.  §  719  Abs.  1).  Daher  kann  er  eine 
Gesellschaftsforderung  auch  nicht  teilweise 
von  dem  Schuldner  für  sich  eintreiben,  ge- 
schweige denn,  dass  eine  solche  Fordenmg 
etwa  von  selbst  nach  Quoten  geteilt  wäre. 
Auch  ist  kein  Gesellschafter  berechtigt, 
Teilung  des  Gesellschaftsvermögens  zu  ver- 
langen (B.G.B.  §  719  Abs.  1  Satz  2),  ja 
selbst  die  A^'erteihmg  des  Gewinnes  oder 
A'^erlustos  und  den  Rechnungsabschluss  kann 
er  (falls  der  Gesellschaftsvortrag  nicht  etwas 
anderes  bestimmt)  erst  nach  der  Auflösung 
der  Gesellschaft  verlangen  (B.G.B.  §  721 
Abs.  1);  nur  bei  Gesellschaften  von  längerer 
Daner  ist  dies  anders,  indessen  auch  da  hat 
der  Rochnmigsabschluss  und  die  Gewinnver- 


3 


teüung  im  Zweifel  nur  am  Schlüsse  jedes 
Geschäftsjahres  zu  erfol^n  (§  721  Abs.  2). 
Aber  die  Gebundenheit  des  QeseUschaf ts^ 
Vermögens  wirkt  auch  nach  aussen, 
das  Princip  der  gesamten  Hand  entfaltet 
auch  Wirkungen  gegenüber  dritten  Per- 
sonen  und  zwar  in  folgender  Ausdehnung: 

1.  Der  Gesellschaftsschuldner  ißt 
genötigt,  das  Gesellschaftsvermögen  als 
selbständiges  Vermögen  zu  respektieren. 

Einmal  kann  er  nur  an  »die  Gesell- 
schaft«, d.  h.  an  sämtliche  Gesellschafter 
oder  an  einen  Vertreter  wirksam  erfüllen, 
er  darf  nicht  einmal  teilweise  an  einen  ein- 
zelnen Gesellschafter  als  solchen  leisten 
B.G.B.  §  432).  Dies  gilt  selbst  dann,  wenn 
ie  Forderung  ursprünglich  nicht  der  Ge- 
sellschaft zustand,  sondern  von  ihr  erst 
nachträglich  erworben  wurde;  aber  dabei 
ist  natürlich  vorausgesetzt,  dass  der  Schuld- 
ner von  der  Zugehörigkeit  der  Forderung 
zum  Gesellschaftsvermögen  Kenntnis  erlangt 
hat  (B.G.B.  §  720). 

Ein  Gesellschaftsscliuldner  kann  femer 
gegen  die  (zum  Gesell  Schafts  vermögen  ^- 
hörigej  Forderung  nicht,  auch  nicht  teilweise 
mit  einer  Forderung  aufrechnen  ^kompen- 
sieren), die  ihm  gegen  einen  einzelnen  Ge- 
sellschafter zusteht  (B.G.B.  §  719  Abs.  2). 
Das  Gesetz  leugnet  also  in  diesem  Falle 
für  die  beiden  gegenüberstehenden  Forde- 
rungen das  Vorhandensein  derjenigen  Per- 
sonenidentität, welche  zur  Aufrechnung 
erforderlich  ist:  bei  der  Gesellschaftsfor- 
derung gilt  nicht,  auch  nicht  teilweise  die- 
jenige Pei^son  (der  Gesellschafter)  als  Gläu- 
biger, w^elche  bei  der  anderen  Forderung 
Schuldner  ist,  vielmelir  gilt  für  die  Kompen- 
sation lediglich  die  Gesellschaft  selbst  als 
Gläubiger,  so  als  wäre  sie  eine  selbständige 
juristische  Person. 

Natürlich  darf  der  Gesellschaftsschuld- 
ner dann  kompensieren,  wenn  die  Gesell- 
scliaftsforderung  ursprünglich  demselbea 
Gesellschafter  zustand,  gegen  den  der  Schuld- 
ner auch  eine  Forderung  hat,  und  erst 
später  von  diesem  Gesellscliaf ter  als  Beitrag  in 
die  Gesellschaft  eingeworfen  worden  ist. 
Aber  das  ist  keine  Ausnahme  von  der  angego- 
benenRegel,sondern  lediglich  eine  Anwendung 
der  allgemeinen  Cessionsgrundsätze  (B.G.B. 
§§  406—408)  auf  den  vorliegenden  Fall 
(B.G.B.  §  720  Satz  2):  nicht  weü  der 
Schuldner  des  Gesellschaftsschuldners  ein 
Gesellschafter  ist,  sondern  weil  er  Cedent 
der  nunmehrigen  Gesellsehaftsforderung  ist, 
kann  der  nunmehiige  GeseUschaftsschuldner 
(der  debitor  cessus)  seine  Forderung  gegen 
ihn  zur  Aufrechnung  bringen. 

2.  Auch  die  Privatgläubiger  eines 
Gesellschafters  müssen  das  Gesellschaftsver- 
mögen bis  zu  einem  gewissen  Grade  als 
selbständiges  Vermögen  respektieren.    Denn 


Gesellßchaftsvertrag 


231 


solange  die  Gesellschaft  besteht, 
kann  der  Privatgläubiger  die  aus  dem  Ge- 
sellschaftsverhältnisse sich  ergebenden  Kechte 
des  Gesellschafters  (seines  Schuldners)  nicht 
geltend  machen  mit  Ausnahme  des  An- 
bruchs auf  einen  Gewinnanteil  (B.G.B, 
§  725  Abs.  2). 

Doch  kann  er  aus  eigener  Macht  dea 
seinem  Schuldner  bei  der  Auflösung  der  Gesell- 
schaft zukommenden  Teil  des  Gesellschafts- 
vermögens aus  der  Gebundenheit  befreien, 
er  kann  die  gesamte  Hand  brechen,  indem 
er  »den  Anteil«  des  Gesellschafters  am 
Gesellschaftsvermögen  pfänden  lässt,  darauf- 
hin die  Gesellschaft  durch  Kündigung  zur 
Auflösung  bringt  (s.  unten  sub  VI)  und  auf 
diesem  Wege  zur  Befriedigung  gelangt. 
(B.G.B.  §  725  Abs.  1). 

3.  Weiter  geht  die  Selbständigkeit  des  Ge- 
sellschaftsvermögens nach  aussen  nicht.  Ins- 
l^esondere  hat  die  Gesellschaft  keinen  Namen, 
sie  kann  als  solche  weder  klagen  noch  ver- 
klagt werden,  ziu*  Zwangsvollstreckung  in 
das  Gesellschaftsvermögen  ist  ein  gegen  alle 
Gesellschafter  ergangenes  Urteü  erforder- 
lich (C.P.O.  §  736),  endlich  kann  auch  über 
das  Verm^en  der  Gesellschaft  kein  Kon- 
kurs verhängt  werden. 

Alles  dies  ist  anders  bei  der  offenen 
Handelsgesellschaft  und  der  Kommanditge- 
sellschaft und  unterscheidet  diese  Gesell- 
schaftsformen dadurch  ganz  wesentlich  von 
der   Gesellschaft  des  bürgerUchen   Rechts. 

VI.  Auflösung  der  Gesellschaft 

Unter  Auflösung  der  Gesellschaft  ver- 
steht man  die  Beendigung  des  Gesellschafts- 
vertrages. 

A.  Die  Gründe  für  eine  solche  Auf- 
lösung sind  folgende. 

1.  Ablauf  der  vereinbarten  Zeit, 
falls  eben  der  Gesellschaftsvertrag  auf  be- 
stimmte Zeit  eingegangen  ist;  doch  kann 
eine  Verlängerung  nicht  nur  ausdrücklich, 
sondern  auch  stillschweigend  vereinbart 
werden,  und  diese  Verlängerung  gilt  dann 
als  auf  unbestimmte  Zeit  erfolgt  (B.G.B. 
§  724). 

2.  Wenn  der  Gesellschaftsvertrag  unter 
einer  sogenannten  Resolutivbedin- 
gung eingegangen  ist  —  ein  Fall,  der 
freilich  sehr  selten  sein  dürfte  — ,  so  wird 
die  Gesellschaft  mit  Eintritt  der  Bedingung 
ebenfalls  aufgelöst 

3.  Natürlich  kann  auch  durch  Verein- 
barung unter  allen  Gesellschaftern, 
also  durch  einen  neuen  Vertrag,  der  Gesell- 
schaftsvertrag aufgehoben  werden. 

4.  Die  Gesellschaft  endigt  ferner  dann, 
wenn  der  vereinbarte  Zweck  erreicht 
oder  dessen  Erreichung  unmöglich 
geworden  ist  (B.G.B.  §  726). 

5.  Durch  den  Tod  eines  der  Gesell- 


schafter wird  die  Gesellschaft  aufgelöst, 
weil  das  ganze  Verhältnis  rein  auf  persön- 
lichem Vertrauen  beruht  und  Vertrauen 
nicht  vererblich  ist;  doch  kann  sich  aus 
dem  Gesellschaftsvertrage  etwas  anderes 
ergeben  (B.G.B.  §  727  Abs.  1),  z.  B.  dass 
die  Gesellschaft  mit  den  Erben  fortgesetzt 
werden  soll. 

6.  Die  Gesellschaft  wird  auch  durch  die 
Eröffnung  des  Konkurses  über  das 
Vermögen  eines  Gesellschafters  aufgelöst 
(B.G.B.  §  728),  weil  dessen  Anteü  am  Ge- 
sellschaftsvermögen zur  Konkursmasse  ge- 
zogen werden  muss. 

7.  Endlich  kann  die  Gesellschaft  auch 
durch  Kündigung  aufgelöst  werden,  d.  h. 
durch  die  Willenserklärung  eines  Gesell- 
schafters oder  des  Privatgläubigers  eines 
solchen. 

Die  Kündigimg  hat  im  Zweifel  an  alle 
GeseUschafter  zu  erfolgen. 

a.  Die  Kündigung  durch  einen  Ge- 
sellschafter ist  principiell  nur  dann  zu- 
lässig, wenn  die  Gesellschaft  auf  unbe- 
stimmte Zeit  eingegangen  oder  zwar  auf 
bestimmte  Zeit  eingegangen,  aber  bereits 
stillschweigend  verlängert  ist;  eine  auf 
Lebenszeit  eines  Gesellschafters  einge- 
gangene Gesellschaft  gilt  als  auf  unbe- 
stimmte Zeit  eingegangen  (B.GÄ  §  723 
i.  A.,  §  724).  Ist  im  Gheseüschaftsvertrage 
eine  Kündigungsfrist  vorgesehen,  so  muss 
sie  innegehalten  werden. 

Ausnahmsweise  aber,  nämlich  dann, 
wenn  ein  wichtiger  Grund  vorliegt, 
kann  auch  die  auf  bestimmte  Zeit  einge- 
gangene Gesellschaft  vor  Ablauf  dieser 
Zeit  gekündigt  werden,  und  unter  derselben 
Voraussetzung  braucht  auch  die  vereinbarte 
Kündigungsfrist  nicht  innegehalten  zu  wer- 
den. Ein  solcher  Grund  ist  insbesondere 
vorhanden,  wenn  ein  anderer  Gesellschafter 
eine  ihm  nach  dem  Gesellschaftsvertrage  ob- 
liegende wesentliche  Verpflichtung  verletzt 
oder  wenn  die  Erfüllung  einer  solchen  Ver- 
pflichtimg unmöglich  wird  (B.G.B.  §  723 
Abs.  1). 

Die  Kündigung  darf  nicht  zur  Unzeit 
geschehen,  auch  wenn  sie  an  sich  frei  zu- 
lässig oder  durch  einen  wichtigen  Grund 
gerechtfertigt  ist,  es  sei  denn,  dass  für  die 
unzeitige  Kündigung  abermals  ein  wichtiger 
Grund  vorliegt  (B.G.B.  §  723  Abs.  2 
Satz  1).  Zur  Unzeit  erfolgt  eine  Kündigung 
aber  dann,  wenn  wesentliche  Interessen  der 
Gesellschafter  durch  den  gewählten  Zeit- 
punkt der  Auflösung  verletzt  Averden.  Die 
ohne  einen  wichtigen  Grund  zur  Unzeit 
erfolgte  Kündigung  ist  trotzdem  wirksam, 
abp.r  der  kündigende  Gesellschafter  hat  den 
übrigen  den  daraus  entstehenden  Schaden 
zu  ersetzen    (B.G.B.  §  723  Abs.  2  Satz  2). 

Eine  Vereinbarung,  durch  welche  dieses 


232 


Gesellschaftsvertrag 


Kühdigiingsrecht  der  Gesellschafter  ausge- 
schlossen oder  den  angegebenen  gesetz- 
lichen Vorschriften  zuwider  beschränkt 
wird,  ist  nichtig  (B.G.B.  §  723  Abs.  3). 
Das  Gesetzbuch  hat  also  eine  ewige  Bindung 
in  Form  der  Gesellschaft  für  unzulässig  er- 
klärt ;  da  indessen  die  Gesellschaft  auf  eine 
beliebig  hohe  Zahl  von  Jahren,  z.  B.  auf 
100  Jahre,  eingegangen  werden  kann,  und 
für  diese  »bestimmte  Zeit«  eine  Kündigung 
damit  ferngehalten  ist,  da  femer  die  Auf- 
lösung durch  Tod  eines  Gesellschafters 
ebenfiüls  durch  den  Gesellschaftsvertrag 
ausgeschlossen  werden  kann,  so  ist  es  doch 
möglich,  auf  indirektem  Wege  den  vom  Ge- 
setze missbilligten  Erfolg  zu  erreichen; 
lediglich  das  Recht  der  Kündigung  »aus 
einem  wichtigen  Grunde«  kann  durch  Ver- 
trag überhaupt  nicht  beseitigt  oder  einge- 
schränkt werden. 

b.  Die  Kündigimg  durch  den  Privat- 
gläubiger eines  Gesellschafters 
setzt  voraus,  dass  der  Gläubiger  die  Pfän- 
dung des  Anteils  seines  Schuldners  am  Ge- 
sellschaftsvermögen erwirkt  hat.  Er  kann 
dann  ohne  Einhaltung  einer  Kündigimgsfrist 
kündigen,  sofern  der  Schuldtitel  nicht  bloss 
vorläufig  vollstreckbar  war  (B.G.B.  §  725 
Abs.  1). 

B.Wirkungen  der  Auflösung.  Mit 
der  Auflösung  der  Gesellschaft  hören  nicht 
von  selbst  alle  rechtlichen  Beziehungen 
zwischen  den  Gesellschaftern  auf,  ^äelmehr 
tritt  ein  bald  kürzeres,  bald  längeres  Stadium 
derNachwirlamgen  des  Gesellschaftsverhält- 
nisses ein,  während  dessen  das  Geseli- 
sehaftsvermögen  zu  erhalten  und  zu  ver- 
walten ist;  doch  soll  die  Schaffung  neuer 
rechtlicher  Beziehungen,  insbesondere  die 
Vornahme  neuer  Geschäfte  nach  Mög- 
lichkeit ferngehalten  und  aUes  auf  eine  thun- 
lichst  rasche  Abwickelung  der  bestehenden 
Beziehungen  abgestellt  w^erden.  Diese 
Thätigkeit  wird  Liquidation  oder  Aus- 
einandersetzung genannt  die  Gesoll- 
schaft wird  während  dieser  Zeit  als  »in 
Liquidation  befindlich«  bezeichnet,  und  so- 
weit der  Zweck  der  Auseinandersetzung  es 
erfordert,  als  noch  fortbestellend  betrachtet 
(B.G.B.  §  730). 

Bevor  jedoch  dieser  Schlussakt  im  Ijeben 
der  Gesellschaft  näher  ins  Auge  gefasst 
werden  kann,  muss  zunächst  darauf  hinge- 
wiesen w^erden,  dass  sich  unter  Umständen 
die  Notwendigkeit  einer  ganz  provisorischen 
Füi'sorge  fühlbar  macht,  nämlich  dann, 
wenn  die  Auflösung  ül)erraseheud  einti'itt 
und  die  Beteiligten  unvorbereitet  trifft. 
Dies  ist  der  Fall  beim  Tod  und  beim  Kon- 
kurs eines  Gesellschafters,  und  daher  hat 
das  Gesetzbuch  für  diese  Fälle  in  be- 
sonderer Weise  Vorsorge  getroffen  (§§  727 
Abs.  2.  728). 


Die  übrigen  Gesellschafter  sind  nämlicli 
zur  einstweiligen  Fortführung  der  Geschäfte 
verpflichtet,  die  Gesellschaft  gilt  insoweit 
als  fortbestehend.  Ferner  hat  der  Erbe  des 
verstorbenen  Gesellschafters  den  übrigen  Ge- 
sellschaftern den  Tod  unverzüglich  anzu- 
zeigen und,  wenn  mit  dem  Aufschübe  Ge- 
fahr verbunden  ist,  die  seinem  Erblasser 
durch  den  Gesellschaftsvertrag  übertragenen 
Geschäfte  fortzuführen,  bis  die  übrigen  Ge- 
sellschafter in  Gemeinschaft  mit  ihm  ander- 
weit Fürsorge  treffen  können. 

Sodann  ist  zu  beachten,  dass  —  abge- 
sehen von  dem  Falle  der  Kündigung  —  die 
geschäftsführenden  Gesellschafter  möglicher- 
weise von  dem  Eintritt  eines  Auflösungs- 
grimdes  keine  Kenntnis  erlangt  haben  und 
ruhig  die  Geschäfte  der  aufgelösten  Gesell- 
schaft weiterführen.  Daher  wird  in  einem 
solchen  Falle  zu  ihi-en  Gunsten  angenommen, 
dass  die  Gesellschaft  noch  fortbesteht ;  aber 
diese  Annahme  gilt  für  jeden  einzelnen 
natürlich  nur  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  wo  er 
von  der  Auflösung  Kenntnis  erlangt  oder 
die  Auflösung  kennen  muss  (B.G.B.  §  729). 

Was  die  Liquidation  selbst  anbe- 
trifft, so  erfolgt  sie  durch  alle  Gesellschafter 
gemeinschaftlich;  die  einem  oder  einigen 
Gesellschaftern  ausschliesslich  zustehende 
Befugnis  zur  Geschäftsführung  ist,  wenn 
nicht  aus  dem  Vertrage  sich  ein  anderes 
ergiebt,  mit  der  Auflösung  der  Gesellschaft 
erloschen  (B.G.B.  §  730  Abs.  2  Satz  2). 

Die  Liquidation  zerfällt  in  folgende  Haupt- 
moniente : 

1.  Die  schwebenden  Geschäfte 
sind  zu  beendigen  und,  soweit  es  hier- 
zu erforderlich  ist,  können  auch  neue  Ge- 
schäfte eingegangen  werden  (B.G.B.  §  730 
Abs.  2  Satz  1). 

2.  Gegenstände,  die  ein  Gesell- 
schafter der  Gesellschaft  zur  Be- 
nutzung überlassen  hat  (vgl.  oben 
S.  226  f.),  sind  ihm  zurückzugeben.  Eventuell 
ist  ihr  Weit  zu  ersetzen,  doch  kann  füi*  zu- 
fälligen Abgang  oder  zufällige  Verschlechte- 
rung kein  Ei-satz  verlangt  werden  (B.G.B. 
§  732). 

3.  Sodann  sind  die  Schulden  zu  be- 
richtigen und  die  Einlagen  zurück- 
zuerstatten; soweit  erforderlich,  ist  das 
Gesollschaftsvermögen  dazu  in  (leld  umzu- 
setzen (B.G.B.  §  733  Abs.  3).  Diese  »Ver- 
silberung« findet  durch  Verkauf  statt  und 
zwar  nach  den  in  den  §§  753,  754  des  B.G.B. 
angegebenen  Grundslitzen  (B.G.B.  §§  731, 
755  Abs.  3). 

Im  einzelnen : 

a)  Aus  dem  Gesellschaftsvermögen  sind 
zunächst  die  gemeinschaftlichen  Schiüden 
zu  berichtigen,  und  zwar  geholfen  dahin 
nicht  nur  (liejenigen,  für  welche  die  Gesell- 
schafter solidarisch  haften,  also  insbesondere 


Gesell  Schafts  vertrag 


233 


die    gemeinschaftlich    eingegangenen    Yer- 

Sflichlnngen  (oben  S.  229),  sondern  auch 
iejenigen,  für  welche  jeder  Gesellschafter 
nur  zum  Teil  haftet,  z.  B.  Verpflichtungen 
aus  ungerechtfertigter  Bereichenmg.  Auch 
solche  Schulden  gehören  hierher,  für  welche 
einem  Gesellschafter  die  übrigen  Gesellschafter 
haften,  z.  B.  wegen  bei  der  Geschäftsführung 
gemachter  Auslagen  (B.G.B.  §  733  Abs.  1 
Satz  1). 

Ist  eine  Schuld  noch  nicht  fällig  oder 
ist  sie  streitig,  so  ist  das  zur  Berichtigung 
Erforderliche  zurückzustellen  (§  733  Abs.  1 
Satz  2). 

b)  Aus  dem  nadi  der  Berichtigung  der 
Schulden  übrigbleibenden  Gesellschaftsver- 
mögen  sind  alsdann  die  Einlagen  zurück- 
zuerstatten, jedoch  —  wie  bereits  oben  S.  227 
erwähnt  —  nur  die  Geld-  und  wirklichen 
Sacheinlagen ;  für  die  Leistung  von  Diensten 
oder  die  Ueberlassung  der  Nutzung  eines 
Gegenstandes  kann  kein  Ersatz  verlangt 
werden.  Aber  auch  die  wirklichen  Sach- 
einlagen sind  nicht  in  natura  zurückzugeben, 
sondern  es  ist  für  sie  nur  der  Wert  zu  er- 
setzen, den  sie  zur  Zeit  der  Einbringung 
gehabt  haben  (B.G.B.  §  733  Abs.  2). 

4.  Diese  Berichtigung  der  Schiüden  und 
Znrückerstattung  der  Einlagen  kann  nun 
ein  verschiedenes  Resultat  er- 
geben: entweder  bleibt  noch  ein  Vermö- 
gensrest disponibel  oder  das  Gesellschafts- 
verm%en  hat  nicht  einmal  atisgereicht; 
im  ersten  Falle  ist  ein  Üeberschuss,  im 
zweiten  ein  Fehlbetrag  vorhanden. 

Der  Üeberschuss  wird  wie  Gewinn 
behandelt  und  steht  also  nach  den  Gnmd- 
sätzen,  die  oben  S.  228  vorgetragen  sind, 
den  Gesellschaftern  anteilmässig  zu.  Für 
die  Teilung  dieses  üeberschusses  verweist 
das  B.G.B.  §  731  Satz  2  auf  diejenigen  Vor- 
schriften, welche  allgemein  von  der  Teilung 
einer  Gemeinschaft  gelten  (§§  752 — 757). 

Der  Fehlbetrag  winl  wie  Verlust  be- 
handelt imd  ist  also  von  den  Gesellschaftern 
nach  den  oben  S.  228  vorgetragenen  Gnmd- 
sätzen  anteilmässig  zu  decken.  Infolgedessen 
haben  diejenigen  Gesellschafter,  welche 
keinen  Anspruch  auf  Rückeretattung  von 
Einlagen  haben,  Nachschüsse  zu  leisten, 
die  übrigen  aber  büssen  ihre  Einlage  ganz 
oder  teilweise  ein  und  können  sogar  mög- 
Kcherweise  ebenfalls  noch  zur  Leistung  von 
Nachschüssen  veipflichtet  sein. 

Kann  von  einem  Gesellschafter  der  auf 
ihn  entfallende  Beitrag  nicht  erlangt  werden, 
so  haben  die  übrigen  Gesellschafter  den 
Ausfall  zu  tragen,  und  zwar  wiederum  nach 
demjenigen  Verhältnis,  welches  für  ihren 
Anteil  am  Verluste  massgebend  ist  (B.G.B. 
§  735). 


VIT.  Verandemni^eii  im  Mitglieder- 
bestände. 

Wie  wir  gesehen  haben,  wird  durch  das 
Princip  der  gesamten  Hand  ermöglicht,  dass 
ein  Gesellschafter  ausscheiden  oder  ein  neuer 
Gesellschafter  eintreten  kann,  ohne  dass  die 
Gesellschaft  aufgelöst  wird  und  neubegrilndet 
werden  muss.  Doch  hat  das  bürgerliche 
Gesetzbuch  diese  Durchführung  des  Priucips 
der  gesamten  Hand  nicht  ganz  allgemein, 
sondern  nur  in  bestimmten  einzelnen  Fällen 
anerkannt. 

Von  der  Aufnahme  neuer  Mit- 
glieder spricht  dafl  Gesetz  nur  im  Falle 
des  Todes  eines  Gesellschafters:  alsdann 
kann  der  Gesellschaftsvertrag  bestimmen, 
dass  die  Erben  des  Verstorbenen  ohne 
weiteres  Mitglieder  werden  sollen  (vgl.  oben 
S.  231):  in  anderen  Fällen  wii-d  es  daher 
stets  eines  neuen  Gesellschaftsvertrages  sämt- 
licher bisheriger  Mitglieder  und  des  neu- 
eintretenden Mitgliedes,  also  einer  wirk- 
li(^hen  Neugründung  der  Gesellschaft  be- 
dürfen. Anders  bei  der  offenen  Handels- 
gesellschaft (H.(}.B.  §  130),  die  also  auch 
in  dieser  Beziehung  das  Princip  der  ge- 
samten Hand  viel  energischer  durchgeführt 
hat  als  die  Gesellschaft  des  bflrgerlichen 
Rechts. 

Auch  die  Möglichkeit  des  Ausschei- 
dens eines  Mitgliedes,  während  die 
Gesellschaft  fortbesteht,  ist  vom  Gesetzbuche 
nur  in  ganz  bestimmten  Fällen  zugelassen; 
liegen  die  genau  i)räcisiei'ten  Voraussetzungen 
hierfür  nicht  vor,  so  muss  die'  Gesellschaft 
also  stets  vollständig  aufgelöst  werden. 
Diese  gesetzlich  anerkannten  Fälle  knüpfen 
aber  immer  an  eine  Bestimmung  des  Ge- 
seUscliafts Vertrages  an,  wonach  das  Fort- 
bestehen der  Gesellschaft  beim  Ausscheiden 
eines  Mitgliedes  schon  in  diesem  Vertr2^s:e 
vorgesehen  ist,  nämlich  einmal:  Ist  im 
Gesellschafts  vertrage  bestimmt,  dass  wenn 
ein  Gesellschafter  kündigt  oder  stirbt  oder 
in  Konkurs  verfällt,  die  Gesellschaft  unter 
den  übrigen  Gesellschaftern  fortbestehen 
soll,  so  scheidet  bei  dem  Eintritt  eines 
solchen  Ereignisses  der  Gesellschafter,  in 
dessen  Person  es  eintritt,  ohne  weiteres  aus 
der  Gesellschaft  aus  (B.G.B.  §  736). 

Und  ferner:  Ist  im  GeseQschaftsvep- 
trage  bestimmt,  dass  wenn  ein  Gesell- 
schafter kündigt,  die  Gesellschaft  unter  den 
übrigen  Gesellschaftern  fortbestehen  soD,  so 
können  die  übrigen  Gesellschafter  unter  Um- 
ständen auch  einen  (lesell schafter  aus- 
schliessen,  nämlich  dann,  wenn  in  der  Person 
dieses  Gesellschafters  ein  Umstand  eintritt, 
der  die  übrigen  zur  sofortigen  Kündigimg 
des  auf  bestimmte  Zeit  abgesclüossenen  Ge- 
sel  Isohafts  Vertrages  berechtigen  würde  (oben 
S.  231).  Das  Ausscliiiessungsrecht  steht  den 
übrigen  Gesell schaftem  gemeinschaftlich  zu ; 


234 


Gesellschaftsvertiag — Gesetz 


die  Ausschliessung  erfolgt  durch  Erklärung 
gegenüber  dem  auszuscnliessenden  Gesell- 
schafter (B.G.B.  §  737). 

Wenn  einer  dieser  Fälle  vorliegt,  so  findet 
nunmehr  eine  Auseinandersetzung  zwischen 
den  übrigen  Gesellschaftern  (»der  Gesell- 
schaft«) emerseits  und  dem  au^eschiedenen 
Gesellschafter  andererseits  statt. 

Das  Gesellschaftsvermögen  bleibt  un- 
geteilt, der  Anteil  des  ausgeschiedenen  Ge- 
sellschafters wächst  den  übrigen  zu  (B.G.B. 
§  738  Abs.  1  Satz  1),  nur  sind  diese  natür- 
lich verpflichtet,  dem  Ausscheidenden  die 
Gegenstände,  die  er  der  GeseUschaft  zur 
Benutzung  überlassen  hat,  zurückzugeben, 
auch  müssen  sie  ihn  von  den  gemeinschaft- 
lichen Schulden  befreien  (§  738  Abs.  1  Satz  2) 
oder,  soweit  diese  noch  nicht  fäUig  sind, 
ihm  Sicherheit  leisten  (§  738  Abs.  1  Satz  3). 

Sodann  ist  der  Wert  des  Gesellschafts- 
vermögens (soweit  erforderlich  im  Wege  der 
Schätzmig)  zu  ermitteln  (§  738  Abs.  2)  und 
alsdann  festzustellen,  ob  und  wie  viel  (an 
Einlagen  und  üeberschuss)  der  Ausscheidende 
erhalten  würde,  wenn  die  Gesellschaft  zur 
Zeit  seines  Ausscheidens  aufgelöst  worden 
wäre:  diesen  Betrag  haben  die  übrigen  Ge- 
sellschafter ihm  zu  zahlen  (§  738  Abs.  1 
Satz  2),  er  kann  weder  Naturalteilung  oder 
Verkauf  gemeinschaftlicher  Gegenstände  ver- 
langen noch  ist  er  verpflichtet,  etwas  anderes 
als  eine  Geldabfindung  sich  gefallen  zu 
lassen. 

Umgekehrt  ist  der  ausscheidende  Gesell- 
schafter verpflichtet,  falls  der  Wert  des  Ge- 
seUschaftsvermögens  zur  Deckung  der  ge- 
meinschaftlichen Schulden  und  aller  Ein- 
lagen nicht  ausreicht,  den  übrigen  GeseU- 
schaftem  für  den  Fehlbetrag  nach  dem 
Verhältnisse  seines  Anteils  am  Verluste  auf- 
zukommen (§  739). 

An  den  zur  Zeit  seines  Ausscheidens 
noch  schwebenden  Geschäften  bleibt  der 
ausscheidende  Gesellschafter  beteiligt:  er 
partieipiert  an  dem  Gewinne  und  an  dem 
Verluste,  den  sie  eingeben.  Am  Schlüsse 
jedes  Geschäftsjahres  kann  er  daher  Ab- 
rechnung über  die  inzwischen  beendigten 
Geschäfte,  Auszahlung  des  ihm  gebührenden 
Betrags  und  Auskunft  über  den  Stand  der 
noch  schwebenden  Geschäfte  verlangen ;  da- 
gegen sind  die  übrigen  Gesellschafter  be- 
rechtigt, diese  Geschäfte  so  zu  beendigen, 
wie  es  ihnen  am  vorteilhaftesten  erscheint 
(B.G.B.  §  740),  dem  ausgeschiedenen  Ge- 
sellschafter steht  kein  Einfluss  darauf  zu. 

Litteratur :  Eine  monographische  Darstellung  des 
(wesellscha/lsrerirages  fehlt  bis  jetzt.  Es  kann  daher 
nur  auf  Schal Itney er f  Das  Recht  der  einzelnen 
Schuldverhältnisse  nach  dem  B.G.B.,  S.  71  ff., 
sowie  auf  die  Kommentare  zum  B.G.B.  und  auf 
die  Lehrbücher  von  Endemann,  Matthiass  und 
Coaack    venriesen    werden,    in    dem  Lehrbuthe 


von  Demturg    ist   das    Geseüschaftsrecht   bis 
jetzt  (Januar  1900)  noch  nicht  dargestellt. 

Victor  Ehrenberg, 


Gesetz 


(im  gesellschaftlichen  und  statis- 
tischen Sinne). 

In  seinem  eigentlichen  Sinne  bedeutet 
das  Wort  Gesetz  nichts  anderes  als  eine 
von  einer  Autorität  aufgestellte,  bestimmt 
formulierte  Vorschrift  für  das  Handeln  oder 
Verhalten  der  Menschen.  Es  handelt  sich 
dabei  zunächst  um  Gebote,  Verbote,  Normen 
des  Verkehrs,  der  gesellschaftlichen  Ordnung 
und  anderer  menschlicher  Beziehungen,  die 
von  Seiten  des  Staates  oder  berechtigter 
öffentlicher  Organe  für  alle  Bürger  oder 
auch  für  besondere  Kreise  erlassen  werden. 
Ausserdem  aber  finden  wir  auch  zahlreiche 
Gesetze,  die  von  religiösen  Autoritäten 
ausgegangen  sind,  und  in  theokratischen 
Staaten  sind  die  bürgerliche  und  die  reli- 
giöse Gesetzgebung  aufs  engste  mit  einander 
verschmolzen.  Der  autoritative  Charakter 
des  Gesetzes  kommt  praktisch  dadurch  zum 
Ausdruck,  dass  die  Erfüllung  desselben 
nötigenfalls  durch  Strafen  oder  Zwangsmass- 
regeln durchgesetzt  wird.  Dies  galt  früher 
auch  in  weitem  Umfange  hinsichtlich  der 
religiösen  Gesetze,  während  diese  gegen- 
wärtig wenigstens  in  den  Kulturländern  nur 
in  einem  mrahr  oder  weniger  wirksamen 
moralischen  Zwan^  ihre  Stütze  finden.  Von 
den  staatlichen  wie  von  den  religiösen  Ge- 
setzen im  obigen  Sinne  zu  imterscheiden 
ist  das  sittliche  Gesetz,  wenn  auch  dessen 
Inhalt  materiell  grösstenteils  in  jenen  und 
namentlich  in  den  religiösen  Gesetzen  mit 
enthalten  sein  und  auch  die  subjektive  Auf- 
fassung desselben  einen  religiösen  Charakter 
haben  kann.  Die  Besonderheit  des  sittlichen 
Gesetzes  liegt  darin,  dass  es  nicht  von  einer 
äusseren  Atitorität  gegeben  wird,  sondern 
aus  dem  persönlichen  Gewissen  des  Menschen 
entspringt.  Auch  fehlt  ihm  die  für  ein 
äusseres  Gesetz  unentbehrliche  Bestimmt- 
heit der  Formulierung,  da  sich  das  sittliche 
Handeln  und  Verhalten  nicht  erschöpfend 
durch  abstrakte  Sätze  regeln  lässt,  vielmehr 
in  manchen  Fällen  eine  durchaus  konki'cte 
Entscheidung  gefordert  wird,  wie  denn  ja 
auch  die  gleiche  äussere  Handlung  je  nach 
den  Umständen  sittlich  oder  \msittlich  sein 
kann.  Wir  stehen  schon  an  der  Grenze  des 
eigentlichen  Gesetzbegriffes,  wenn  wir  von 
Gesetzen  der  (Landes-  oder  Gesellschafts-) 
Sitte  oder  gar  der  Mode  sprechen.  Aller- 
dings stellen  Sitte  und  Mode  für  das  Thun 
und  Ijassen  in  gewissen  Gesellschaftskreisen 
Regeln  auf,  deren  Befolgung  der  einzelne 


Gesetz 


235 


Angehörige  dieser  Kreise  nicht  leicht  ver- 
weigern wird.  Indes  sind  diese  Regeln 
und  Gebräuche  häufig  ohne  vernünftige  Be- 
gründung, daher  auch  sowohl  örtlich  wie 
zeitlich  einem  grossen  Wechsel  unterworfen. 
Auch  besteht  kein  eigentlicher  Zwang  zu 
ihrer  Erfüllung,  sondern  sie  weixien  haupt- 
sächlich durch  Gewohnheit,  Nachahmungs- 
sucht oder  Eitelkeit  aufrecht  erhalten. 

In  allen  bisher  angeführten  FäUeu  bildet 
das  Gesetz  eine  Richtschnur  für  den 
menschlichen  Willen,  und  man  kann 
daher  sagen,  dass  die  Gesetze  im  eigent- 
lichen Sinne  ausschliesslich  Willensgesetze 
seien.  Von  Verstandesgesetzen,  d.  h.  von 
logischen  oder  mathematischen,  kann  man 
nur  im  übertragenen  Sinne  reden,  indem 
man  die  immittelbar  gegebene  Notwendig- 
keit unserer  fimdamentalen  Anschauungs- 
und Denkformen  und  des  Zusammenhangs 
von  Grund  und  Folge  bildlich  als  die  Er- 
füllung einer  äusserlich  aufgestellten  Vor- 
schrift betrachtet.  Aber  auch  zu  der  Vor- 
steUung  eines  Naturgesetzes  gelangen 
wir  nur  durch  eine  von  dem  Willensgesetz 
ausgehende  bildliche  üebertragun^.  Wir 
beobachten  in  der  Natur  überall  eigentüm- 
liche Regelmässigkeiten  des  Geschehens. 
Viele  derselben,  namentlich  die  der  Ent- 
wickelung  tmd  Formung  der  Organismen 
lassen  sich  nur  qualitativ  beschreiben,  andere 
aber  —  und  zwar  sind  dies  die  möglichst 
isolierten  einfachsten  physikalischen  und 
chemischen  Gnmderscheinungen  —  lassen 
sich  auf  feste  mathematische  Formeln  oder 
wenigstens  auf  einen  scliarf  bestimmten 
quantitativen  Ausdruck  biingen.  Die  Er- 
mhnmg  lehrt,  dass  der  betreffende  Natur- 
vorgang sich  unabänderlich  nach  dieser 
festen  Norm  abspielt,  und  wir  legen  daher 
dieser  Form  des  Geschehens  den  Charakter 
der  Notwendigkeit  bei.  Diese  Notwendig- 
keit aber  führen  wir  bildlich  auf  eine  Vor- 
schrift zurück,  die  wir  von  aussen  her  ge- 
geben denken,  während  sie  in  Wirklichkeit 
nur  ein  abstrakter  Ausdruck  des  beobach- 
teten Geschehens  ist 

Unter  dem  immer  mächtiger  werdenden 
Einflüsse  der  naturwissenschaftlichen  Welt- 
anschauung ist  mm  aber  der  Begriff  des 
Naturcesetzes,  der  ursprilnglich  metaphorisch 
vom  Willensgesetz  abgeleitet  ist,  selbständig 
hingestellt  und  nun  seinerseits  wieder  auf 
die  Erscheinungen  des  Menschenlebens  über- 
tragen worden.  Das  Naturgesetz  ist  hier- 
nach eine  unabänderliche  Formel  für  das 
Geschehen  aus  physischer  Notwendigkeit. 
Als  physischer  Organismus  ist  auch  der 
Mensch  zweifellos  solchen  Gesetzen  unter- 
worfen; aber  man  hat  auch  versucht,  für 
die  menschlichen  Handlungen,  die  individuell 
unzweifelhaft  vom  Willen  bestimmt  werden, 
die  Herrschaft  von  Naturgesetzen   nachzu- 


weisen. Die  Bestimmimg  dieser  Handlungen 
durch  den  Willen  wäre  dann  also  nur  eine 
scheinbare ;  über  ihnen  und  den  Handelnden 
unbewusst  waltete  eine  naturgesetzliche 
Formel,  die  mit  physischer  Notwendigkeit 
wenigstens  in  den  Massenerscheinungen  ein 
bestimmtes  Endergebnis  herbeiführen  müsste. 
Diese  Anschauung  wurde  erzeug  durch  die 
Beobachtung  der  Gleichförmigkeit  und  Regel- 
mässigkeit in  gewissen  Massenerscheinungen 
des  menschlichen  Gesellschaftslebens, nament- 
lich aber  durch  die  statistische  Feststellung 
der  annähernden  Konstanz  der  Zahlenver- 
hältnisse, in  denen  gewisse  Handlungen  in 
einer  grossen  Bevölkerung  auftreten.  Ein 
solches  konstantes  Zalilenverhältnis  schien 
eine  unmittelbare  Analogie  mit  einem  Natur- 
gesetz zu  haben,  und  man  legte  ihm  daher 
dieselbe  herrschende  Kraft  bei,  die  man 
den  Naturgesetzen  zusclireibt.  Dieser  Ana- 
logieschluss  ist  aber  nicht  berechtigt,  denn 
es  kann  bei  grossen  Beobachtungsreihen  an- 
nähernd dasselbe  Zahlenverhältnis  für  ge- 
wisse Handlungen  einfach  als  nahezu  gleich- 
bleibendes Resultat  des  Zusammentreffens 
der  Einzelfälle  hervortreten,  ohne  dass  des- 
wegen irgend  ein  heiTSchender  oder  leiten- 
der, auf  die  Erzielung  gerade  dieses  Zahlen- 
verhältnisses gerichteter  Einfluss  zu  bestehen 
braucht.  Immerhin  jedoch  bildet  die  Er- 
klärung der  Regelmässigkeiten  in  den  ge- 
sellschaftlichen Massenerscheinungen  eine 
wichtige  wissenschaftliche  Aufgabe. 

Unmittelbar  einleuchtend  sind  diese  Begel- 
mässigkeiten  nur,  wenn  sie  auf  einem  streng 
durchgeführten  gebietenden  Willens- 
gesetz, also  namentlich  einem  staatlichen 
Gesetze  beruhen.  Wenn  das  Gesetz  befiehlt, 
dass  alle  Kinder  von  einem  bestimmten  Alter 
ab  Schulunterricht  erhalten  sollen,  dass  alle 
jungen  Männer  im  Alter  von  20  Jahren  sich 
den  Militärbehörden  zur  Verfügung  stellen,  dass 
alle  Arbeiter  gegen  Unfälle  und  Invalidität  ver- 
sichert werden  sollen,  so  wird  in  einem  wohl 
organisierten  Staate  die  Zahl  derjenigen,  die 
eine  solche  Verpflichtung  nicht  erfüllen,  im 
Verhältnis  zu  der  Gesamtzahl  der  Verpflichteten 
schon  sofort  nach  Erlass  des  Gesetzes  sehr  klein 
sein  und  wahrscheinlich  von  Jahr  zu  Jahr  noch 
weiter  abnehmen,  weil  die  beobachteten  Ver- 
letzungen des  Gesetzes  für  die  staatlichen 
Organe  einen  Antrieb  zu  energischerer  Hand- 
habung ihrer  Zwangsmittel  büden  würden.  Das 
Verhältnis  der  Zahl  der  Gehorchenden  zu  der 
Zahl  der  Verpflichteten  würde  also  immer  ein 
der  Einheit  nahe  kommender  Bruch  sein,  der 
als  Mass  für  die  Intensität  der  Wirksamkeit 
des  Gesetzes  zu  betrachten  wäre.  Hätte  diese 
Intensität  den  unter  den  gegebenen  Umständen 
erreichbaren  höchsten  Grad  dauernd  erlangt,  so 
würden  die  etwa  von  Jahr  zu  Jahr  bereclmeten 
Einzelwerte  nur  äusserst  wenig  von  einander 
abweichen,  z.  B.  vielleicht  nur  zwischen  0.99600 
und  0,99600  schwanken.  Diese  Einzelwerte 
wären  keineswegs  gänzlich  unabhängig  von 
einander,    sondern    unter   sich   in   der   Weise 


236 


Gesetz 


yerbunden,  dass  jede  einigermassen  rmge- 
wohnliche  Abweichung  nach  unten  als  Ursache 
wirkt,  um  in  den  nächsten  Jahren  die  Ab- 
weichung zu  vermindern.  Auch  die  Werte, 
die  infolge  besonders  günstiger  Umstände  der 
Einheit  ungewöhnlich  nahe  gerückt  sind,  können 
auf  die  folgenden  erhöhend  zurückwirken,  indem 
durch  diese  befriedigenden  Ergebnisse  die  Thätig- 
keit  der  Ausführungsorgane  mehr  angespornt 
wird.  So  kann  für  solche  Verhältniszahlen  eine 
Stabilität  erreicht  werden,  die  in  dem  unten 
darfifelegten  Sinne  als  „übernormaP'  zu  be- 
zeichnen wäre.  Jedoch  ist  ein  solches  Eesultat 
keineswegs  bei  allen,  wenn  auch  mit  voller 
Strenge  durchgeführten  Staatsgesetzen  zu  er- 
warten. Man  betrachte  z.  B.  das  Verhältnis 
derjenigen,  die  eine  direkte  Steuer  wirklich 
zahlen,  zu  der  Zahl  der  Steuerpflichtigen.  Alle 
Besitzer  eines  Einkommens,  das  über  eine  ge- 
wisse Grenze  hinausgeht,  werden  die  ihnen 
auferlegte  Zahlung  leisten,  wenn  sich  auch 
einzelne  aus  Nachlässigkeit  oder  anderen 
Gründen  vielleicht  mahnen  lassen.  Unterhalb 
jener  Grenze  aber  wird  nicht  nur  die  Anwendung 
von  Zwangsmassregeln  immer  häufiger,  sondern 
es  kommen  auch  immer  mehr  erfolglose 
Exekutionen  vor.  Während  also  die  erwähnte 
Verhältniszahl  für  die  erste  Klasse  der  Steuer- 
zahler konstant  gleich  1  ist,  bildet  sie  für  die 
zweite  einen  oft  erheblich  von  der  Einheit  ab- 
weichenden Bruch,  in  dessen  Schwankungen 
sich  hauptsächlich  die  mehr  oder  weniger  un- 
günstige wirtschaftliche  Lage  der  unbemittelten 
Klassen  abspiegelt.  Manche  Polizeiverordnungen 
(z.  B.  über  die  Anmeldung  von  Fremden)  wirken 
nur  mit  verhältnismässig  geringer  Intensität, 
weil  eine  strenge  Kontrolle  übermässige  Kosten 
verursachen  würde.  Die  Zahl  der  Verpflichteten 
ist  in  solchen  Fällen  oft  gar  nicht  bekannt,  und 
der  Grad  der  Durchführung  der  Vorschrift 
kann  dann  nur  unvollkommen  durch  das  Ver- 
hältnis der  Zahl  der  Bestrafungen  zur  Zahl 
der  Einwohner  oder  einer  bestimmten  Klasse 
von  Einwohnern  gemessen  werden.  Wenig  inten- 
siv ist  in  der  Gegenwart  auch  die  Wirkung  man- 
cher kirchlichen  Gesetze  oder  Vorschriften,  wie 
z.  B.  die  immerhin  beträchtliche  Zahl  von  Ehe- 
schliessungen ohne  kirchliche  Trauung  beweist. 
Das  Verhältnis  der  Zahl  der  Trauungen  zu  der 
Gesamtzahl  der  Eheschliessungen  ist  jedoch 
keineswegs  konstant,  sondern  es  bewegt  sich 
parallel  mit  dem  Wachsen  oder  Abnehmen  des 
Einflusses  der  betreff'enden  Kirche  auf  ihre  An- 
gehörigen. 

Wenn  sich  aber  auch  wirklich  die  Ver- 
hältniszahl, die  den  (rrad  der  Wirksamkeit 
eines  gebietenden  Gesetzes  misst,  längere  Zeit 
hindurch  annähernd  unverändert  erhält,  so  wird 
deshalb  doch  niemand  vernünftigerweise  be- 
haupten können,  dass  jene  Zahl  dann  selbst 
den  Ausdruck  eines  Gesetzes  bilde,  d.  h.  die 
Bedeutung  einer  naturgesetzlichen  Formel  be- 
sitze. ^^ird  die  Handhabung  des  (tesetzes 
schlaifer  oder  das  Widerstreben  der  Bevölkerung 
gegen  dasselbe  grösser,  so  nimmt  jene  Ver- 
hältniszahl ab,  anderenfalls  nimmt  sie  zu;  bleibt 
sie  aber  annähernd  gleich ,  so  müssen  wir 
schliessen,  dass  die  Art  der  Handhabung  und 
das  Verhalten  der  Bevölkernns:  im  ganzen 
gleich  geblieben  sind,  wenn  wir  auch  nicht  im 
Stande  sind,  im  einzelnen  nachzuweisen,  warum 


unter  diesen  Umständen  nun  gerade  dieses  Ver- 
hältnis der  Zahl  der  Gehorchenden  zu  der  der 
Verpflichteten  herauskommt.  „Handhabung  des 
Gesetzes"  und  „Verhalten  der  Bevölkerung" 
sind  eben  keine  scharf  umgrenzten  Begriffe,  es 
lassen  sich  daher  aus  diesen  Ursachen  keine 
quantitativ  bestimmten  Wirkungen  ableiten, 
sondern  man  kann  nur  umgekehrt  aus  den  be- 
obachteten, zahienmässig  ausdrückbaren  Wir- 
kungen auf  die  Grösse  oder  vielmehr  auf  die 
Aenderungen  der  Grösse  der  Ursachen  zurück- 
schliessen. 

Die  Wirksamkeit  eines  verbietenden 
Gesetzes  lässt  sich  nicht  mit  gleicher  Sicher- 
heit durch  ein  Zahlenverhältnis  charakterisieren 
wie  die  eines  gebietenden.  Denn  nicht  alle 
diejenigen,  die  das  Verbot  nicht  verletzen, 
können  deshalb  im  positiven  Sinne  als  Erfüller 
des  Gesetzes  betrachtet  werden.  Vielen  ist  es 
nach  Alter,  Geschlecht,  Lebensverhältnissen 
geradezu  unmöglich,  gewisse  verbotene  Hand- 
lungen —  Vergehen  oder  Verbrechen  —  zu  be- 
gehen, viele  andere  kommen  niemals  auch  nur 
entfernt  in  die  Versuchung  zu  solchen  Hand- 
lungen. Für  alle  diese  ist  also  das  Verbot  so 
gut  wie  nicht  vorhanden,  und  als  wirksam 
kann  es  nur  hinsichtlich  derjenigen  gelten, 
denen  überhaupt  jemals  der  Gedanke  an  eine 
Uebertretun^  desselben  gekommen  ist  und  die 
ihn  durch  die  mehr  oder  weniger  klare  Er- 
innerung an  das  Gesetz  verscheucht  haben.  Da 
es  aber  unmöglich  ist,  die  Zahl  dieser  Personen 
zu  ermitteln,  so  lässt  sich  die  Wirksamkeit  des 
(Tcsetzes  nur  unvollkommen  und  in  umgekehrter 
Proportionalität  durch  das  Verhältnis  der  Zahl 
der  Uebertretungen  zu  einer  mehr  oder  weniger 
willkürlich  abgegrenzten  Gesamtheit  von  Per- 
sonen abschätzen.  Als  letztere  eignet  sich  die 
ganze  Einwohnerzahl  am  wenigsten ;  man  wird 
jedenfalls  die  kindlichen  Altersklassen  ausscheiden 
und  auch  die  beiden  (leschlechter  für  sich  be- 
handeln müssen.  Im  übrigen  unterscheidet  man 
meistens  nur  noch  eine  Anzahl  von  Alters- 
klassen und  berechnet  das  fragliche  Verhältnis 
für  jede  derselben  besonders.  In  jeder  dieser 
Gruppen  ist  nun  wahrscheinlich  der  Prozent- 
satz derjenigen,  die  irgendwie  der  Versuchung 
zu  der  betreffenden  Gesetzesübertretung  aus- 
gesetzt sind,  ein  verschiedener;  andererseits 
kann  auch  die  durchschnittliche  Neigung  zu 
der  Uebertretung  und  die  durchschnittliche 
Widerstandskraft  der  Versuchten  in  jeder  Klasse 
verschieden  sein.  Die  Strenge  der  angedrohten 
Strafen  und  die  Schnelligkeit  und  Cieschicklich- 
keit  in  der  Entdeckung  der  Urheber  der  Ge-* 
setzos Verletzungen  wird  ohne  Zweifel  auch  ein 
Motiv  liefern,  das  den  Widerstand  gegen  die 
Versuchung  verstärkt.  Die  Relativzahlen  für 
die  Häufigkeit  der  Vergehen  und  Verbrechen 
in  den  verschiedenen  Altersklassen  drücken  also 
keineswegs  einfach  den  relativen  ,,penchant  au 
crime**  des  „mittleren  Menschen**  in  diesen 
Gruppen  aus. 

In  welchem  Masse  die  nicht  vom  Straf- 
gesetze unterstützten  sittlichen  Gebote  im 
(jcsellschaftsleben  zur  Wirksamkeit  gelangen, 
lässt  sich  bisher  höchstens  nach  allgemeinen 
Eindrücken  oder  vereinzelten  Anhaltspunkten 
in  vager  Weise  schätzen,  aber  nicht  durch 
statistische  Verhältniszahlen  auch  nur  annähernd 
charakterisieren.      Von    den    sittlichen    Ver- 


Gesetz 


237 


boten  ^It  dasselbe  wie  von  den  strafgesetz- 
lichen: ihr  Einflnss  kann  bestenfalls  nur  nn- 
fenau  und  im  umgekehrten  Verhältnis  nach 
er  Zahl  der  Uebertretungen  bemessen  werden. 
Aber  auch  dies  ist  nur  in  wenigen  Fällen  mög- 
lich, wie  bei  den  unehelichen  Geburten  ^  den 
Selbstmorden,  den  Veranlassungen  zur  Ehe- 
scheidung. Man  begnügt  sich  bei  der  statisti- 
schen Untersuchung  dieser  unmoralischen  Hand- 
lungen ebenfalls  meistens  mit  der  Unterscheidung 
der  beteiligten  Personen  nach  dem  Geschlechte 
und  gewissen  Altersklassen.  Es  kommt  aber 
auch  nier  wieder  auf  die  relative  Zahl  der  der 
Versuchung  Ausgesetzten  in  jeder  Gruppe  an. 
ferner  auf  Neigung  und  Widerstandskraft  der 
Versuchten,  ausserdem  meistens  weniger  auf 
den  Einfluss  abstrakt  sittlicher  Motive  als  viel- 
mehr religiöser  Vorstellungen  und  der  Scheu 
vor  der  öffentlichen  Meinung. 

Die  Wirksamkeit  aller  verbietenden  Gesetze 
hängt  also  von  Umständen  ab,  die  noch  weniger 
festgestellt  und  in  ihren  Einzelheiten  verfolgt 
werden  können  als  die  bei  den  gebietenden 
Gesetzen  in  Betracht  kommenden.  Die  Relativ- 
zahlen der  Häufigkeit  der  Uebertretungen  in 
gewissen  Gruppen  bilden  aber  immerhin  ein 
Mittel  zur  quantitativen  Charakterisierung  des 
Gesamteinflnsses  jener  Umstände:  sie  nehmen 
zu  oder  ab,  wenn  die  Wirksamkeit  des  Gesetzes 
schwächer  oder  stärker  wird,  und  wenn  sie 
längere  Zeit  annähernd  unverändert  bleiben,  so 
ist  dies  das  einzige  überhaupt  fassbare  zahlen- 
mässige  Kriterium  für  das  ungefähre  Gleich- 
bleiben jenes  Komplexes  von  Umständen,  keines- 
wegs aber  die  Wirkung  einer  die  Umstände 
selbst  geheimnisvoll  beherrschenden  naturgesetz- 
lichen Macht. 

Ebenso  sind  nun  aber  auch  die  statistischen 
Begelmässi^keiten  des  Gesellschaftslebens  auf- 
zufassen, die  nicht  mit  Geboten  oder  Verboten 
zusammenhängen,  sondern  aus  weitverbreiteten 
Neigungen,  Bestrebungen  und  Motiven  hervor- 
gehen. Man  darf  z.  B.  annehmen,  dass  alle 
Männer  von  einem  gewissen  jjugendlichen  Alter 
an  die  Neigung  haben  zu  heiraten.  Sie  können 
aber  dieser  Neigung  erst  folgen,  wenn  sie  eine 
gewisse  wirtschaftliche  Selbständigkeit  erlangt 
haben,  und  daher  schiebt  sich  die  wirkliche  Ehe- 
schliessung mehr  oder  weniger  und  in  den  ver- 
schiedenen Gesellschaftsklassen  in  verschiedenem 
Masse  hinaus;  manche  zögern  auch  ungewöhn- 
lich lange  aus  Vorsicht  oder  Berechnung,  andere 
aber  sterben,  bevor  sie  zu  einem  Entschluss 
gelangt  sind,  andere  verzichten  aus  irgend 
welchen  Gründen  gänzlich  auf  die  Ehe.  Das 
Gesamtergebnis  dieser  teils  äusseren  und  teÜB 
subjektiven,  teils  treibenden  und  teils  hemmen- 
den Bestimmungs^ründe  und  Einflüsse  ist  nun, 
dass  in  den  verschiedenen  Altersklassen  jährlich 
ein  gewisser  Prozentsatz  der  in  derselben 
stehenden  Männer  wirklich  heiratet,  und  diese 
Belativzahlen  bilden  nun  wieder  eine  Art  von 
Mass  für  die  Gesamtwirkung  jener  mannig- 
faltigen Umstände.  Bedeutende  plötzliche  Aende- 
rungen  werden  diese  Zahlen  nur  bei  wesent- 
lichen Aenderungen  der  allgemeinen  wirtschaft- 
lichen Lage  aufweisen ;  denn  die  übrigen  Lebens- 
verhältnisse,  die  Altersverteilung,  die  vor- 
herrschenden Motive  sind  in  einer  grossen  Be- 
völkerung keinem  raschen  Wechsel  unterworfen, 
sondern   bleiben  oft   längere  Zeit  stetig  oder 


zeigen  nur  eine  langsame  Bewegung  nach  einer 
zeitweilig  beibehaltenen  Richtung.  Aber^  auch 
die  starken  wirtschaftlichen  Schwankungen 
werden  hauptsächlich  auf  das  Verhältnis  der 
Gesamtzahl  der  Eheschliessungen  zu  der  Zahl 
der  im  heiratsfähigen  Alter  stehenden  Männer 
einwirken,  während  die  relative  Beteiligung  der 
einzelnen  Altersklassen  durch  jene  allgemein 
wirkende  Ursache  mit  Ausnahme  etwa  der 
jüngsten  Klasse  weniger  stark  berührt  wird. 
Auch  die  relative  Verteilung  der  Eheschliessungen 
nach  dem  Familienstande  der  Heiratenden  (Ver- 
bindung von  Junggesellen  mit  Jungfrauen,  von 
Junggesellen  mit  Witwen  etc.)  wird  im  ganzen 
weniger  stark  schwanken  als  das  allgemeine 
Heirats  Verhältnis,  weil  die  Aenderung  des  volks- 
wirtschaftlichen Zustandes  auf  jene  —  wenn 
auch  keineswegs  völlig  wirkungslos  bleibt  — 
so  doch  weniger  stark  einwirkt  als  auf  diese. 
Was  endlich  die  von  der  Statistik  untersuchten 
physiologischen  Massenerscheinungen  be- 
trifft, die  Geburten,  Erkrankungen,  Sterbefälle, 
so  hat  jeder  Einzelfall  selbstverständlich  eine 
naturgesetzliche  Verursachung,  aber  die  Ver- 
hältniszahlen, mittelst  deren  wir  die  Intensität 
des  Auftretens  dieser  Massenerscheinungen 
messen,  bilden  ihrerseits  ebensowenig  den  Aus- 
druck von  Naturgesetzen,  als  dies  hinsichtlich 
der  entsprechenden  Zahlen  auf  dem  moral- 
statistischen Gebiet  der  Fall  ist.  Sie  bilden 
wiederum  nur  ein  Kriterium  für  die  Gesamt- 
wirkung eines  verwickelten  Komplexes  von 
Umständen,  die  überhaupt  nicht  anders  gemessen 
und  auch  nicht  aus  ihren  Elementen  genauer 
abgeleitet  werden  kann.  Die  Stabilität  der 
Lebensverhältnisse  hat  als  Resultat  eine  ge- 
wisse Beständigkeit  dieser  charakteristischen 
Relativzahlen,  Sie  aber  deshalb  nicht  weniger 
gegen  jede  Störung  der  normalen  Zustände 
empfindlich  bleiben,  fann  eine  auffällige  Aende- 
rung einer  solchen  Zahl  als  Folge  einer  er- 
kennbaren Störung  nachgewiesen  werden,  so 
bildet  sie  zugleich  eine  Art  von  Mass  für  diese. 
Jedermann  wird  diese  bloss  symptomatische 
Bedeutung  der  moralstatistischen  oder  demo- 
graphischen Zahlen  Verhältnisse  zugeben,  wenn 
sie  dauernde  Aenderungen  in  bestimmter  Rich- 
tung oder  bedeutende  Schwankungen  in  längeren 
unregelmässigen  Perioden  zeigen,  namentlich 
wenn  diese  Bewegungen  deutlich  parallel  gehen 
mit  gewissen  Aenderungen  der  die  Erscheinung 
beeinflussenden  Umstände.  Aber  wenn  ein 
solches  Verhältnis  eine  längere  Reihe  von  Jahren 
hindurch  annähernd  konstant  bleibt,  so  scheint 
diese  Thatsache  vielen  so  auffallend,  dass  sie 
für  dieselbe  eine  besondere  einheitliche  Ursache, 
also  ein  besonderes  Naturgesetz,  annehmen 
möchten.  Aber  man  wäre  doch  höchstens  be- 
rechtigt zu  sagen:  das  Naturgesetz  besteht 
darin,  dass  der  ganze  Komplex  von  Ursachen 
konstant  bleibt,  aus  dem  die  betreffenden  Er- 
scheinungen hervorgehen.  Dies  jedoch  würde 
dem  naturwissenschaftlichen  Sprachgebrauch 
nicht  entsprechen,  denn  nach  diesem  versteht 
man  unter  Naturgesetz  eine  bestimmt  nach- 
gewiesene Norm  für  eine  nicht  weiter  zerleg- 
bare Grunderscheinung  oder  eine  bestimmt  nach- 
gewiesene Norm  für  das  Zusammensein  mehrerer 
Grunderscheinungen.  Daher  ist  es  kein  Natur- 
gesetz, dass  Berlin  eine  mittlere  Jahrestempe- 
ratur von  8  Grad  besitzt,  sondern  es  ist  dies 


238 


(resetz 


nur  das  Besultat  des  empirischen  Bestehens 
eines  verwickelten  Komplexes  von  umständen 
und  Ursachen,  der  an  derselben  Oertlichkeit  zur 
Zeit  Cäsars  nnd  vollends  in  früheren  geologischen 
Perioden  wesentlich  anders  gestaltet  war  als  ge- 
genwärtig. Ebenso  wäre  also  vom  naturwissen- 
schaftlichen Standpunkt  jene  zeitweilige  Stetig- 
keit statistischer  Zahlenverhältnisse  zu  beurteilen. 

Vor  allem  aber  muss  die  Frage  gestellt 
werden:  ist  denn  wirklich  die  Stabilität  ge- 
wisser Zahlenverhältnisse  in  einem  Grade  vor- 
handen, der  das  namentlich  seit  Quetelet  übliche 
Staunen  rechtfertigt?  Zur  Beantwortung  dieser 
Frage  ist  festzustellen,  wie  die  Stabilität  eines 
solchen  Verhältnisses  gemessen  wird.  £s  kann 
dies  zunächst  rein  empirisch  geschehen,  indem 
man  aus  einer  Beihe  von  Einzeiwerten  des- 
selben das  arithmetische  Mittel  nimmt,  die  Ab- 
weichungen von  diesem  in  Prozenten  desselben 
berechnet  und  dann  das  Mittel  dieser  Ab- 
weichungen sowohl  nach  der  positiven  wie  nach 
der  negativen  Seite  bestimmt  Hat  der  Mittel- 
wert eine  reale,  typische  Bedeutung,  so  werden 
bei  nicht  allzu  kleiner  Zahl  der  Einzel  werte  die 
mittlere  positive  und  negative  Abweichung 
einander  nahezu  gleich  sein.  Man  erhält  auf 
diesem  Wege  zwar  kein  Urteil  darüber,  ob  die 
Stabilität  einer  Beihe  von  Beobachtungen  ab- 
solut ^oss  oder  klein  sei,  aber  man  kann  doch 
verschiedene  Beihen  hinsichtlich  ihrer  Stabilität 
mit  einander  empirisch  vergleichen  und  man 
wird  dabei  z.  B.  finden,  dass  im  allgemeinen 
sekundäre  Verhältniszahlen  in  höherem  Grade 
konstant  sind  als  primäre,  wie  dies  oben  schon 
beispielsweise  in  betreff  der  relativen  Grösse 
der  Heiratsziffer  in  den  verschiedenen  Familien- 
stand&klassen  erwähnt  wurde.  Von  den  Fehlem 
der  statistischen  Zahlen  selbst  sehen  wir  hier 
ab;  diese  sind  jedenfalls  grösser  bei  den  aus 
den  Volkszählungen  als  den  aus  der  Standes- 
buchführung stammenden  Angaben. 

Eine  absolute  Beurteilung  der  Stabilität 
statistischer  Verhältniszahlen  ist  nur  möglich, 
wenn  diese  die  Form  von  Wahrschemlichkeits- 
grössen  besitzen  oder  bekannte  Funktionen 
solcher  Grössen  sind.  Als  eine  Wahrscheinlich- 
keitsgrösse  aber  bezeichnen  wir  einen  Bruch, 
dessen  Zähler  eine  Anzahl  besonderer  Fälle 
darstellt,  die  aus  der  den  Nenner  bildenden 
grösseren  Zahl  von  Fällen  oder  Beobachtungs- 
einheiten hervorgegangen  ist.  Unter  dieser 
Voraussetzung  kann  man  nämlich  die  Ergeb- 
nisse der  einzelnen,  z.  B.  jährlichen  Beobachtungs- 
reihen mit  denjenigen  eines  analog  eingerichteten 
Glückspiels  an  einer  Urne  vergleichen,  die  in 
einem  festen  Verhältnis  schwarze  und  weisse 
Kugeln  enthält.  Das  Verhältnis  der  Zahl 
schwarzer  Kugeln  zu  der  Gesamtzahl  in  der 
Urne  würde  also  der  eigentlichen,  konstanten 
Wahrscheinlichkeit  v  eines  bestimmten  Ereig- 
nisses entsprechen,  die  bei  einer  Reihe  von  lOUO 
oder  10000  oder  allgemein  g  Versuchen  ge- 
zogene Zahl  s  von  (immer  wieder  zurück- 
gelegten) schwarzen  Kugeln,  geteilt  durch  g 
aber  würde  jedesmal  einen  mehr  oder  weniger 
ungenauen  empirischen  Ausdruck  v,,  v»,  Vg  etc. 
jener  zu  Grunde  liegenden  Wahrscheinlichkeit 
ergeben.  Ist  diese  letztere  selbst  unbekannt, 
so  nimmt  man  als  wahrscheinlichsten  Wert  der- 
selben das  Mittel  aus  den  beobachteten  Einzel- 
werten.   Wenn  nun  die  durchschnittliche  Ab- 


weichung dieser  Einzelwerte  von  ihrem  Mittel- 
werte nahezu  ebenso  gross  ist,  wie  sie  bei  Ver- 
suchen mit  derselben  Grundzahl  g  an  einer 
Urne  nach  der  Wahrscheinlichkeitstheorie  zu 
erwarten  ist,  so  betrachten  wir  sowohl  die 
Stabilität  wie  auch  die  Dispersion  (das 
Gegenteil  der  Stabilität)  der  Einzel  werte  als 
normal.  Ist  jene  durchschnittliche  (oder  statt 
deren  auch  die  sogenannte  wahrscheinliche)  Ab- 
weichuuj^  grösser,  als  der  Analogie  mit  dem 
Glückspiel  bei  konstanter  Wahrscheinlichkeit 
entspricht,  so  ist  die  Stabilität  der  Beobachtungs- 
werte unternormal,  ist  jene  Abweichung  kleiner 
als  die  Vergleichsgrösse ,  so  ist  die  Stabilität 
übemormal,  während  die  Dispersion  im  ers- 
teren  Falle  als  übernormal  und  im  zweiten 
als  untemormal  zu  bezeichnen  ist.  Wie  sich 
die  Verg] eichung  ausführen  lässt,  ist  an  einem 
Beispiel  in  dem  Art.  Geschlechtsverhält- 
nis gezeigt,  auf  den  hier  verwiesen  werden  muss 
(s.  oben  S.  179). 

Wenn  nun  ein  statistisches  Zahlenverhält- 
nis  bei   15—20  Einzelbestimmungen   mit   an- 
nähernd  gleicher   Grundzahl  g  normale   Dis- 
persion zeigt,  so  stehen  diese  Einzelwerte  ebenso- 
wenig unter  sich  in  einem  inneren  Zusammen- 
hange  als   die   Ergebnisse  von   ebenso  vielen 
Reihen  von  g  Versuchen  an  einer   Urne  mit 
einer   entsprechenden    Anzahl   schwarzer    und 
weisser  Kugeln.    Diese  Ergebnisse  des  Glück- 
spiels sind  völlig  unabhängig  von  einander  in 
dem  Sinne,  dass  eine  ungewöhnlich  grosse  Ab- 
weichung eines  Einzelwertes  vom  Mittel  keines- 
wegs eine  Ursache  bildet,  weshalb  ein  anderer 
Wert   weniger    stark    abweichen    sollte.     Die 
näheren  Umstände  jeder  Ku^elziehung,  die  Art, 
wie  die  Urne  geschüttelt  wird,  wie  die  Kuij^el 
blindlings    ausgewählt   wird,    ist   völlig   will- 
kürlich; die  annähernde  Uebereinstimmung  der 
Einzelergebnisse     entsteht     nicht     durch     ein 
zwingendes  Gesetz,  sondern  nur  als  Ausdruck 
der  Thatsache,   dass   die  allgemeinen  Grund- 
bedingungen der  Versuche  —  in  diesem  Falle 
das  Verhältnis    der    in    der   Urne   enthaltenen 
schwarzen    und   weissen   Kugeln    —  konstant 
bleiben    und    diese   Regelmässigkeit  tritt   nur 
mit    einer  Wahrscheinlichkeit   zu   Tage, 
die  zwar  mit  wachsendem  g  immer  mehr  steigt, 
aber  doch   nie  zur  völligen   Gewissheit   wird. 
Wenn  also  ein   statistisches  Verhältnis   diesen 
Grad  von   Stabilität  aufweist,   so  liegt  darin 
nichts  Unbegreifliches.     Es* handelt   sich  dann 
noch    immer   nur   um    eine   unverbundeue 
Massenerscheinung,    d.   h.   eine    solche,    deren 
Einzelfälle   nicht  aufeinander   zur   Erzeugung 
einer  übernormalen  Stabilität  einwirken.    Nun 
findet  man  aber  unter  allen  Zahlenverhältnissen, 
die  in  der  Moralstatistik  und  der  Demographie 
herkömmlich  berechnet  werden,  nur  wenige,  denen 
man  mit  Sicherheit  für  längere  Perioden  nor- 
male Stabilität  zuerkennen  kann:  so  namentlich 
das  Geschlechtsverhältnis  der  Geborenen  und  das 
der  Gestorbenen   in   den   ersten  Lebensjahren, 
wobei  zu  bemerken  ist,  dass  diese  Verhältnisse 
beide    sich     auf     physiologische    Massen- 
erscheinungeii    beziehen    und     dass   sie    beide 
sekundäre  sind.    Das   Verhältnis  der  Knaben- 
und  Mädcbengeburten  bleibt  also  in  dem  Grade 
stabil,  als  wenn  in  jedem  Ovarium  männliche 
und  weibliche  Keime  in  gleichem  Verhältnisse 
vorhanden  wären  oder  auch,  als  wenn  in  der 


(jesetz 


23 


Gesamtheit  aller  Ovarien  ein  von  Jahr  zn  Jahr 
gleichbleibendes  Verhältnis  jener  Keime  bestände. 
Wäre  die  Stabilität  eine  noch  grössere ,  so 
müsste  man  annehmen,  dass  zwischen  den 
einzelnen  Geburten  ein  geheimnisvoller  Zn- 
sammenhang bestände,  vermöge  dessen  ein 
örtlicher  oder  zeitweiliger  übergrosser  Knaben- 
überschuss  als  Ursache  wirkte,  um  anderswo 
oder  zu  einer  anderen  Zeit  eine  desto  geringere 
Anzahl  von  Enabengeburten  herbeizuführen. 
Das  wäre  zu  vergleichen  einem  Spiele  mit  ge- 
fälschten, d.  h.  mit  so  vorbereiteten  Würfeln, 
dass  ein  bestimmtes  Resultat  mit  fast  voll- 
ständiger Genauigkeit  herauskäme,  und  man 
könnte  dann  wirklich  von  einem  die  sämtlichen 
Einzel^le  beherrschenden  Naturgesetze  reden. 
Die  normale  Stabilität  ist  daher  zugleich  die 
maximale,  die  bei  un  verbundenen  Massen- 
erscheinungen möglich  ist.  Eine  höhere,  also 
eine  übernormale  Stabilität  wäre  nur  bei  solchen 
Massenerscheinnngen  begreiflich,  die  durch  streng 
dnrchfi^eführte  Willensgesetze  geregelt  sind,  wie 
dies  oben  schon  erwähnt  wurde.  Wirklich  nach- 
gewiesen ist  sie  aber  auch  für  solche  Fälle  bis- 
her noch  nicht.  Was  aber  die  eigentlich  moral- 
statistischen Verhältniszahlen  betrifft,so  zeigen  sie 
durchweg  selbst  bei  scheinbar  nur  geringer  Ver- 
änderlichkeit übernormale  Dispersion,  d.  h. 
sie  besitzen  noch  nicht,  teilweise  sogar  bei 
weitem  noch  nicht  den  Grad  von  Stabilität,  der 
den  Ergebnissen  eines  analogen  Glückspieles 
zukommt  Westergaard  findet  allerdings  in  dem 
Verhältnisse  der  Zahl  der  weiblichen  Selbst- 
mörder zu  der  Gesamtzahl  in  Dänemark  in  den 
Jahren  1861 — 1886  und  in  Belgien  in  der  Periode 
von  1865 — 1883  üebereinstimmung  mit  den  Er- 
fahrungen beim  Glückspiele;  ebenso  auch  für 
Dänemark  in  dem  verhältnismässigenVorkommen 
des  Selbstmordes  durch  Erhängen  und  der  rela- 
tiven Häufigkeit  desselben  in  den  Monaten 
Oktober  bis  Dezember.  Aber  in  anderen  Ländern 
treten  diese  Verhältniszablen  mit  einem  ge- 
ringeren Grade  von  Stabilität  auf.  Für  Frank- 
reich z.  B.  habe  ich  gezeigt,  dass  die  Belativ- 
zahl  der  Selbstmorde  durch  Ertränken  bei  beiden 
Geschlechtem  in  der  Zeit  von  1835—1868  über- 
normale Dispersion  aufweist,  und  dass  man 
normale  Stabilität  dieses  Verhältnisses  nur  beim 
weiblichen  Geschlechte  in  einer  kürzeren  Periode 
innerhalb  jenes  ^nzen  Zeitraumes  findet,  der 
eigens  mit  Rücksicht  auf  diesen  Umstand  aus- 
gewählt ist.  Auch  der  relative  Anteil  des  weib- 
lichen Geschlechtes  am  Selbstmorde  hat  in  jener 
Beobachtungsperiode  nicht  die  normale  Stabilität 
behauptet,  sondern  im  ganzen  eine  unverkenn- 
bare Tendenz  zum  Sinken  bekundet.  Das 
Vorherrschen  einer  bestimmten  Veränderun^s- 
richtnng  bei  einer  Verhältniszahl  ist  natürlich 
überhaupt  mit  normaler  Stabilität  derselben 
nicht  vereinbar.  Tritt  aber  eine  solche  Tendenz 
in  einer  längeren  Beobachtungsreihe  nicht  her- 
vor, so  ist  es  von  Interesse,  zu  untersuchen,  ob 
die  Abweichungen  vom  Mittelwerte,  wenn  auch 
die  Stabilität  der  Reihe  hinter  der  dem  Schema 
des  Glückspieles  entsprechendcD  bedeutend  zu- 
rückbleibt, sich  nicht  dennoch  in  der  Art 
gruppieren,  als  wenn  sie  den  Charakter  rein 
zufälliger  Störungen  besässen,  d.  h  ob  nicht 
die  Gruppierung  der  fiir  die  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung fundamentalen  Exponentialfunktion 
entspricht  (s.   darüber   die  Artt.  Anthropo- 


logie und  Anthropometrie  oben  Bd.  I 
S.  388  ff.  und  Geschlechtsverhältnis  oben 
Bd.  IV  S.  177  ff.).  So  hat  Lehr  gezeigt,  dass  im 
Deutschen  Reiche  in  den  Jahren  1841 — 1885  das 
Verhältnis  der  Zahl  der  Totgeburten  zu  der  Ge- 
samtzahl der  Geburten  sowie  auch  das  Verhältnis 
der  Gestorbenen  zu  der  Gesamtzahl  der  Lebenden 
nur  Abweichungen  vom  Mittel  aufweist,  die  als 
zuföllige  Störungen  anzusehen  sind,  obwohl  die 
Dispersion  der  Einzelwerte  bedeutend  über  die 
normale  hinausgeht.  Dagegen  fand  Lehr,  dass 
die  Verhältnisse  der  Zahl  der  Geburten  und  der 
Zahl  der  Eheschliessungen  zu  den  Lebenden 
in  demselben  Zeiträume  die  Tendenz  zu  einem 
mit  der  Zeit  gleichförmig  fortschreitenden 
Steigen,  das  Verhältnis  der  unehelichen  Ge- 
burten zur  Gesamtzahl  der  Geburten  aber  die 
Tendenz  zu  einem  gleichförmig  fortschreitenden 
Sinken  besässen. 

Es  sind  somit  bisher  keine  statistischen 
Verhältniszahlen  von  solcher  Stabilität  be- 
kannt, dass  man  zur  Erklärung  derselben 
einen  naturgesetzlichen,  auf  die  Herstellung 
der  Konstanz  gerichteten  inneren  Zusammen- 
hang der  Emzelerscheinun^n  annehmen 
müsste ;  vielmehr  besitzen  die  meisten  Ver- 
hältniszahlen noch  bei  weitem  nicht  den 
höchsten  Grad  der  Stabilität,  der  bei  unver- 
bundenen  Massenerscheinungen  noch  zulässig 
erscheint,  nämlich  denjenigen,  der  den  Er- 
gebnissen eines  entsprechend  angeordneten 
Glückspiel  zukommt. 

Wenn  man  von  besonderen  volkswirt- 
schaftlichen Gesetzen  spricht,  so  ver- 
steht man  darunter  entweder  allgemeine 
Sätze  über  das  wirtschaftliche  Verhalten  der 
einzelnen  Menschen  oder  allgemeine  Schlüsse 
aus  der  Annahme,  dass  eine  Vielheit  der 
Menschen,  von  denen  jeder  für  sich  nach 
gewissen  wirtschaftlichen  Erwägungen  han- 
delt, miteinander  in  Verkehr  und  Wettbe- 
werb stehen.  Jene  Sätze  über  das  indivi- 
duelle Handeln  sind  durch  psychologische 
Abstraktion  und  durch  die  Beobachtung  des 
täglichen  Lebens  gewonnen ;  sie  wollen  nur 
aussagen,  w^ie  nach  den  thatsächüchen  Er- 
fahrungen die  Mehrzahl  der  Menschen  imter 
gewissen  Umständen  zu  verfahren  pflegt, 
stellen  aber  in  keiner  Weise  zwingende 
Normen  auf,  sondern  lassen  jedem  volle 
Freiheit,  auch  ^unwirtschaftlich«  zu  handeln, 
z.  B.  sein  Vermögen  zu  verschwenden  oder 
es  für  gemeinnützige  oder  patriotische 
Zwecke  zu  opfern.  In  dem  Geschäftsver- 
kehre mit  freier  Konkurrenz  üben  allerdings 
die  Umstände  auf  den  einzelnen  einen  ge- 
wissen Zwang  dahin  aus,  dass  er  streng 
nach  dem  rrincip  des  wirtschaftlichen 
Selbstinteresses  handele:  denn  diejenigen, 
die  in  diesem  Kampfe  rücksichtsvoll,  be- 
scheiden, grossmütig,  freigebig  auftreten, 
laufen  Gefahr,  rasch  eliminiert  zu  werden, 
da  die  anderen  ihnen  nicht  mit  gleich  edler 
Gesinnung  entgegentreten.  Jedenfalls  aber 
handelt  jeder  Teilnehmer  an  dem  Wettbe- 


240 


Gesetz 


werbe  nach  seinen  eigenen,  klar  bewussten 
Motiven  und  nicht  unter  dem  Drucke  einer 
naturgesetzlichen  Notwendigkeit.  Die  Rich- 
tigkeit der  allgemeinen  Sätze  über  die  zu- 
sammengCvSetzten  wirtschaftlichen  Prozesse 
hängt  natürlich  zunächst  davon  ab,  wie  weit 
die  angenommenen  Normen  des  individuellen 
Handelns  zutreffend  sind.  Meistens  aber 
werden  auch  sehr  einfache  äussere  Be- 
dingungen für  den  Verlauf  des  Prozesses 
vorausgesetzt,  während  die  wirklichen  Ver- 
hältnisse weit  verwickelter  sind,  und  da- 
durch entstehen  oft  erhebliche  Abweichungen 
der  thatsächlichen  Erfahnmg  von  der  nach 
dem  »Gesetz«  zu  erwartenden  Gestaltung 
der  Dinge.  Aber  wenn  das  Gesetz  auch 
wirklich  genau  erfüllt  wird,  so  Hegt  doch 
weiter  nichts  vor,  als  das  vorausgesehene 
Resultat  des  Zusammenwirkens  vieler 
Menschen  nach  erfahruogsmässig  unter  ihnen 
vorhen'schenden,  bewussten  Motiven.  Die 
sogenannten  geschichtlichen  Gesetze 
sind  nur  abstrakte  Formulierungen  gewisser 
in  ihren  allgemeinsten  Zügen  aufgefassten 
geschichtlichen  Entwickelungen.  Alles  wirk- 
lich geschichtliche  ist  individuell,  zunächst 
durch  den  Einfluss  bedeutender  Individuali- 
täten ;  aber  auch  das  Volksleben  als  Massen- 
erscheinung gestaltet  sich  um  so  indivi- 
dueller und  zeitlich  einzigaiüger,  je  höher 
die  Kulturentwickelung  steigt.  Abstrakte 
Sätze,  in  denen  gerade  das  Individuelle  der 
Eutwickelungsgänge  ausgescliieden  ist,können 
daher  nm*  von  sehr  beschränkter  Bedeutung 
sein  imd  namentlich  keine  irgendwie  ver- 
lässliche Grundlage  für  die  Voraussicht  des 
künftigen  Verlaufs  der  Dinge  bilden. 
Vergleiche  der  Entwickelung  der  Völker 
oder  der  Kulturwelt  mit  einer  andersai-tigon, 
insbesondere  mit  der  eines  individuellen 
Organismus  sind  ebenfalls  niu-  möglich  auf 
dem  Boden  ausgeleerter  Abstraktionen,  wie 
Veränderung,  Fortschiitt,  Differenzierung  etc.; 
sie  können  auch  nur  zu  bildlichen  Analogieen 
\md  nicht  zu  einer  wirklichen  Vermehrung 
unserer  Einsicht  in  das  Gescliichtsleben 
ftihren,  da  jene  abstrakten  Bogriffe  in  den 
beiden  betrachteten  Entwickelungen  an  gänz- 
lich verschiedenen  realen  Erscheinungen 
vorkommen,  nämlich  an  solchen,  in  denen 
sowolil  die  sich  verändernden  Elemente  als 
auch  die  Ursachen  der  Veränderungen  durch- 
aus verschiedener  Natur  sind.  Und  auf 
diese  besondere  Natur  der  beiden  Prozesse 
kommt  es  für  die  wissenschaftliche  Erkennt- 
nis eben  an,  nicht  auf  die  durch  Abstrak- 
tion von  den  Verschiedenheiten  schliesslich 
immer  aufzufindende  Uebereinstimmung  der 
allgemeinsten  Formen  des  Geschehens.  Die 
meisten  sogenannten  »soziologischen«  Gesetze 
gehören  zu  der  hier  charakterisierten  Art 
von  Abstraktionen.  Auch  die  sogenannte 
»organische«  Methode,  d.  h.  die  Vergleichung 


der  Gesellschaft  mit  einem  ehizelnen  leben- 
den Organismus  führt  nur  zu  bildlichen  Ana- 
logieen, da  die  zwischen  den  Menschen  in 
einer  Gesellschaft  bestehenden  Beziehungen 
ihrem  ganzen  Wesen  nach  von  den  zwischen 
den  Zellen  eines  Organismus  waltenden  che- 
mischen, physikalischen  und  physiologischen 
Wirkungen  verschieden  sind.  Mehr  Aus- 
sicht auf  Erfolg  hat  der  von  Tarde  gemachte 
Versuch,  von  den  menschlichen  Individuen 
auszugehen  und  aus  den  zwischen  ihnen 
wirkenden  psychologischen  Beziehungen  und 
Triebfedern  soziologische  »Gesetze«,  d.  h. 
ständige  Massenerscheinungen  abzuleiten.  Er 
hebt  dabei  namentlich  aie  Wirkung  der 
Nachahmung  —  das  Wort  in  einem  sehr 
weiten  Sinne  genommen  —  liervor,  die  in 
der  That  als  die  Hauptursache  des  gleich- 
massigen  Handelns  grosser  Massen  zu  be- 
trachten ist. 

Litteratnr :  Die  Schriften  Quetelets  sind  in  dem 
Art.  ^^ Anthropologie  und  Anthropornetrieii  a.  a.  0. 
angeführt.  Eingehende  Kritik  der  AnsUhten  Qaete- 
leta  von  Rehnisch  (Zur  Orientierung  über  die  Unter- 
suchungen u.  Ergebnisse  der  MoraUlatistiJ: in  Ztschr. 
für  phil.  und  phil.  Kritik,  Bd.  68  und  69).  —  Voll- 
ständig unhaltbare  Anschauung  von  der  Natur- 
gesetzlichkeit im  Gesellschaftslcben  bei  Bu4^kl€j 
Geschichte  der  Civilisation  in  England.  —  A. 
WdgneVf  Die  Gesetzmässigkeit  in  den  scheinbar 
willkürlichen  menschlichen  Handlungen,  Ilamb. 
1864.  —  Ifet'selbe,  Art.  Statistik  im  St.  W.  B. 
V.  Bluntschli  und  Brater  (auch  besonders  aus- 
gegeben). —  J[}robischf  Die  moralische  'Statistik 
und  die  menschliche  Willensfreiheit,  Leipzig  1867. 
—  A,  V,  Oettinifen,  Die  Moralstatistik  (be- 
sonders in  der  später  gekürzten  Einleitung  zur 
ersten  Aufl.,  Erlan/fcn  1868).  —  Rütnelinf  Ueber 
den  Begriff  eines  sozialen  Gesetzes  (1867)  ;  Ueber 
Gesetze  der  Geschichte  (1878),  wieder  abgedruckt 
in  den  Reden  und  Aufsätzen  I  und  IJ,  Freiburg 
und  TübingeJi  1875  und  1881.  —  Lexis,  Zur 
Theorie  der  3Iassenerschcinungen  in  der  mensch- 
lichen Gesellschaft,  h^eiburg  1877.  S.  auch  die 
Litteraturangaben  des  Art.  nGeschlechtsverhältnisu 
a.  a.  0. — G.  V.  Mayr,  Die  Gesetzmässigkeit  im  Ge- 
selhchaftsleben,München  1877.  — Dornioy ,  Theorie 
mathematique  des  assurances  s^ir  la  vie,  Paris 
1878.  (Der  Verfasser  behandelt  in  dem  Kapitel 
))  Theorie  des  ecartsa  der  Frage  der  Stabilität  in 
ganz  ähnlicher  Weise,  wie  ich  es  im  Jahrg.  1876 
der  Ilädebrand-Conradschen  Jahrb.  gethan  habe, 
doch  ist  ihm  meine  Abhandlung  nicht  bekannt 
gewesen.)  —  Edgeworth,  Methods  of  staiistics. 
Juhilee  vol.  of  the  Statistical  Society,  London 
1885.  —  Lehr,  Viert4:ljahrschr.  f.  Volksw.  etc. 
1888,  S.  Sff.  —  F.  J.  Neuntanrif  Naturgesetz 
und  Wirt-schaftsgesetz,  Zeitschr.  f.  Staatsw.,  Bd. 
48,  1892.  —  Derselbe f  WirtschafUi^he  Gesetze 
nach  früherer  und  jetziger  Aiiffassung,  Jahrb. 
f.  Nat.  u.  Stat.,  S.  F.,  Bd.  16,  1898.  —  Tartle, 
Les  lois  de  Vimitation,  8.  ed.,  Paris  1898.  — 
Derselbe,  Les  lois  sociaUs,  Paris  1898.  —  M. 
Westerg  aar  d ,  Grundzüge  der  Theorie  der 
Statistik,  Jena  1890.  —  i.  v.  Bortkewitsch., 
Das    Gesetz  der    kleinen    Zahlen,   Leipzig   1898. 

Leocis, 


öesindeverhältnis 


241 


Gesindeverhältnis. 

1.  Einleitung.  2.  Gesindevertrag.  3.  Die 
ans  dem  Gesindeverhältnis  entspringenden  Ver- 
pflichtungen.   4.  Aufhebung. 

1.  Einleitiuis.  Die  Unterscheidung 
zwischen  freiem  Gesinde  mit  vertragsmässi- 
ger  Dienstpflicht  und  zeitlich  begi-enzter 
Abhängigkeit  und  unfreien  Dienern,  welche 
die  Leibeigenschaft  oder  die  Hörigkeit  zimi 
Zwangsdienste  nötigte,  begegnet  zuerst  in 
den  Rechtsbüchern  und  ötadtrccliten  des 
späteren  Mittelalters.  Die  darin  ausgebilde- 
ten Rechtssätze  gingen  in  die  zahlreichen 
Gesindeordnungen  über,  welche  in  der  Zeit 
vom  16.  bis  zum  18.  Jahrhundert  entstanden. 
Weil  diese  das  Gesindewesen  überhaupt  be- 
trafen, ohne  immer  genau  das  freie  vom  un- 
freien Gesinde  zu  sondern,  wurde  nach 
Aufhebimg  der  Leibeigenschaft  und  Unter- 
thänigkeit  eine  Revision  des  Gesinderechts 
notwendig.  Deren  Ergebnis  liegt  in  den 
neueren  Gresindeordnungen  vor,  die  in 
Preussen  (Gesindeordnung  v.  9.  November 
181<))  und  in  anderen  deutschen  Staaten 
seit  dem  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  er- 
lassen sind.  Sie  bleiben  auch  nach  dem  1. 
Januar  1900  in  Kraft.  Es  finden  neben 
ihnen  auf  das  Gesinderecht  nur  einzelne 
bestimmte  Vorschriften  des  B.G.B.  und  von 
diesen  der  §  617  mit  der  beschränkenden 
Massgabe  Anwendung,  dass  ihm  die  Landes- 
gesetze vorgehen,  welche  dem  Gesinde 
weitergehende  Ansprüche  gewähren  (E.  G. 
Art.  95  Abs.  1 — 2,  preuss.  A.G.  z.  B.G.B. 
Art.  14). 

Das  Gesindeverhältnis  begreift  die  Rechte 
und  Pflichten  zwischen  Dienstherrschaft  und 
Gesinde.  Nach  römischem  Recht  würden 
diese  lediglich  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  Dienstmiete  (locatio  conductio  operanmi) 
zu  beurteilen  sein.  Das  deutsche  Recht 
aber  leitet  sie  nicht  bloss  aus  einem  obliga- 
torischen Vertrage  her,  sondern  statuiert 
zugleich  eine  persönliche  Verbindung  des 
€resindes  mit  der  Herrschaft,  benihend  in 
der  unter  beiden  Teilen  bestehenden  Haus- 
gemeinschaft. An  dieser  persönlichen  Ver- 
bindung halten  auch  die  neueren  Gesinde- 
ordnungen fest,  wenngleich  darin  die  Ab- 
hängigkeit des  Gesindes  von  der  Herrschaft 
als  Folge  der  Aufnahme  in  die  Hausgemein- 
schaft nicht  mehr  so  scharf  her\'ortritt  wie 
in  der  älteren,  namentlich  in  der  preussi- 
schen  Gesetzgebung  des  A.L.R.,  welche  das 
Gesinde  mit  zur  häuslichen  Gesellschaft 
rechnet  und  von  den  Rechten  und  Pflichten 
des  Gesindes  beim  Familienrecht  handelt 
(§  4  I,  1;  n,  5  A.L.R.).  —  Einen  anderen 
Standpunkt  nimmt  die  französische  Gesetz- 
gebung ein.  Wo  diese  noch  innerhalb  der 
örenzen  des  Deutschen  Reichs  gilt,  wie  in 
Elsass-Lothricgen  imd  in   der   ba^^erischen 


Rheinpfalz,  ist  für  die  Rechte  und  Pflichten 
von  Herrschaft  und  Gesinde,  den  römischen 
Principien  entsprechend,  der  unter  beiden 
Teilen  gesclilossene  Dienstveiirag  allein 
massgebend  (C.  c.  1710,  1711,  1779,  1780, 
2272.  B.G.B.  §§  611—630.  E.G.  Art.  95 
Abs.  1). 

2.  Gesindevertrag.  Die  G^sindedienste 
sind  entweder  häusliche  oder  landwirtschaft- 
liche, immer  aber  solche,  welche  dem  Be- 
dürfnisse gemäss  nur  geleistet  werden 
können,  wenn  das  Gesinde  der  Herrschaft 
jederzeit  zur  Verfügimg  steht.  Der  Gesinde- 
verti-ag  setzt  daher,  abgesehen  von  dem 
Versprechen  ziu:  Leistimg  von  Diensten  der 
bezeichneten  Art  für  eine  bestimmte  Zeit 
und  gegen  Zusicherung  einer  Vergütung  zu- 
gleich die  Einwilligung  des  Gesindes  voraus, 
in  die  Hausgemeinscliaft  der  Herrschaft 
aufgenommen  zu  werden. 

Der  Form  nach  ist  dieser  ein  Konsen- 
sualkontrakt. Jedoch  gilt  er  regelmässig 
erat  dann  für  perfekt  ^  wenn  das  Gesinde 
von  der  Herrschaft  em  Draufgeld  (arrha) 
diu-ch  Zahlung  des  üblichen  Mietsgeldes 
empfangen  hat,  welches  nach  einigen  Rechten 
auf  den  Lohn  angerechnet  wird,  nach 
anderen  dem  Gesinde  noch  ausser  dem  ÄJi- 
spnich  auf  den  vollen  Lohn  zukommt.  — 

Wer  sich  als  Gesinde  vermieten  wiU, 
muss  über  seine  Person  frei  verfügen  können. 
Kinder  in  elterlicher  Gewalt  und  Minder- 
jährige müssen  zum  Vertragsabschluss  die 
Ermächtigimg  ihres  gesetzlichen  Vertreters 
(des  Vaters  bezw,  der  Mutter  oder  des  Vor- 
mundes) einholen,  soweit  es  sich  um  den 
Antritt  des  ei*sten  Dienstes  handelt.  Weitere 
Dienstverträge  dürfen  sie  selbständig  ein- 
gehen. Die  einmal  erteüte  Ermächtigung 
wird  so  angesehen,  als  ob  die  Betreffenden 
dadurch  mit  Bezug  auf  das  Schliessen  von 
Gesindeverträgen  allgemein  für  geschäfts- 
fähig (handlungsfähig)  erklärt  sind  (B.G.B. 
§113  Abs.  4    S.  auch  CP.O.  §  52). 

Auf  Seiten  der  Herrschaft  ist  bei  be- 
stehender Ehe  das  Mieten  des  Gesindes  im 
allgemeinen  Sache  des  Älannes.  Nur  weib- 
liche Dienstboten  ist  auch  die  Frau  ohne 
besondere  ehemännliche  Erlaubnis  anzu- 
nehmen befugt  (preussische  Gesindeordnung 
1810  §§  2,  3 ;  schleswig-holsteinische  Ges.-0. 
1846  §  6 ;  königlich  sächsische  Ges.-O.  1835 
§§  5—7.    Vgl.  B.G.B.  §  1357). 

Die  Zeit  des  Dienstantritts  und  die  Zeit- 
dauer, welche  das  eingegangene  Dienstver- 
liältnis  haben  soll,  richtet  sich  nach  dem 
Inhdt  des  Gesindevertrages,  in  Ermangelung 
getroffener  Abrede  nach  Ortsgebrauch  oder 
Gesetz.  Eine  Verlängerung  auf  einen  weiteren 
Zeitraum  tritt  ein,  wenn  nicht  von  einem 
der  beiden  Kontrahenten  vor  Ablauf  der 
stipulierten  Zeit  das  gegenseitige  Verhältnis 
aufgekündigt  wird. 


Handwörterbnch  der  StaatswiBsenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


16 


242 


GesindeverhÄltnia 


Verweigert  das  Gesinde  trotz  des  ge- 
schlossenen Gesindevertrages  den  Dienstan- 
tritt, so  ist  es  der  Herrschaft  nach  manchen 
Gesindeordnungen  zum  vollen  Schadenser- 
satz, nach  anderen  wenigstens  zur  Zahlimg 
eines  Teils  des  ausbedungenen  Lohnes  ver- 
pflichtet. Andererseits  hat  die  Herrschaft, 
welche  das  gemietete  Gesinde  nicht  an- 
nimmt, diesem  den  vollen  Lohn  für  die 
ganze  Mietszeit  zu  zahlen  und  es  ausserdem 
wegen  der  nicht  gewährten  Kost  und  Woh- 
nung zu  entschädigen. 

3.  Die  aus  dem  GesindeverhaUnis 
entspringenden  Verpflichtungen.  Die 
gegenseitigen  Verpflichtungen  zwischen  Ge- 
sinde und  Herrschaft  richten  sich  nicht  allein 
nach  den  im  Gesindevertrage  getroffenen 
Abreden.  Vielmehr  wird  da  zugleich  die 
Aufnahme  des  Gesindes  in  die  Hausgemein- 
schaft von  Bedeutung.  Wird  doch,  wie 
schon  bemerkt  win-de,  dadurch  zwischen 
ihm  und  der  Herrschaft  eine  engere,  über 
das  obligatorische  Band  hinausgehende  per- 
sönliche Verbindung  hergestellt.  Um  des- 
willen bestimmt  der  Gesindevertrag  zwar  im 
allgemeinen  den  Kreis  der  häuslichen  oder 
landwirtschaftlichen  Dienste,  für  welche  das 
Gesinde  gemietet  ist.  Nicht  aber  darf  dieses, 
selbst  wenn  es  rnu*  zu  gewissen  Arbeiten 

Bedungen  ist,  bei  vorhandener  Notlage  der 
[errschaft  die  Uebemahme  anderer  häus- 
licher Verrichtungen  ablehnen.  Es  ist  ferner 
nicht  allein  bei  Ausführung  der  übernom- 
menen oder  aufgetragenen  Arbeiten,  sondern 
nicht  minder  in  semem  ausserdienstlichen 
Verhalten  den  Anordnimgen  und  Befehlen 
der  Herrschaft   unterworfen.     Es   schuldet 

» 

ihr  Gehorsam,  Ehrerbietigkeit  \md  Treue. 
—  um  das  Gesinde  zu  seinen  Pflichten  an- 
zuhalten oder  wegen  deren  Verabsäumung 
zu  bestrafen,  hatte  die  Herrschaft  früher  ein 
Züchtigungsrecht.  Gegenwärtig  gilt  solches 
als  unvereinbar  mit  der  heutigen  Stellung 
der  Dienstboten.  Das  E.G.  zum  B.G.B.  Art. 
95  Abs.  3  spricht  es  der  Herrschaft  aus- 
drücklich ab.  Wohl  aber  ist  noch  jetzt  dem 
Gesinde  die  gerichtliche  Genugthuung  zu 
versagen,  wenn  es  wegen  ungebührlichen 
Betragens  oder  Vernachlässigung  seiner 
Dienstpflicht  von  dem  Dienstberechtigten 
mit  Worten  getadelt  und  gescholten  wird, 
welche,  zwischen  anderen  Pei'sonen  ge- 
braucht, für  beleidigend  zu  erachten  wären. 
Das  Gesinde  hat  seinerseits  gegen  die  Herr- 
schaft Anspruch  auf  Lohn,  regelmässig  auch 
auf  Kost  und  Wohnung.  Die  Forderung 
wegen  rückstandigen  Lohnes  und  Kost- 
geldes gehört  zu  den  im  Konkurse  bevor- 
zugten und  bestgestellten  Fordenmgen  (K.O. 
§  Gl,  Nr.  1,  vgl.  auch  R.G.  über  die  Zwangs- 
versteigerung v.  24.  März  1897  §  10  Nr.  2). 
Seine  Beliaudlung  durch  die  Heri-sc-haft  muss 
eine  dem  engeren  pers()nlichen  Verhältnis, 


in  dem  es  zu  ihr  steht,  angemessene  sein. 
Nicht  allein,  dass  ihm  nichts  zugemutet 
werden  darf,  was  strafbar  ist  oder  gegen 
die  guten  Sitten  verstösst,  hat  die  Herr- 
schaft von  ihm  nicht  übermässig  schwere 
Arbeiten  zu  verlangen,  deren  Ausführung 
seine  Kräfte  übersteigen  möchte.  Sie  hat 
ihm  die  nötige  Zeit  zur  Beiwohnung  des 
öffentlichen  Gottesdienstes  zu  lassen.  In 
Ansehung  der  Wohn-  und  Schlafräume,  der 
Verpflegung  sowie  der  Arbeits-  und  Er- 
holungszeit hat  sie  diejenigen  Einrichtungen 
und  Anordnungen  zu  treffen,  welche  mit 
Rücksicht  auf  die  Gesundheit,  die  Sittlich- 
keit und  Religion  des  Gesindes  erforderlich 
smd  (B.G.B.  §  618  Abs.  2—3,  vgl.  da- 
zu noch  §§  842—846).  Wenn  ein  Dienst- 
bote erkrankt  und  die  Krankheit  nicht  etwa 
durch  sein  eigenes  Verschulden  entstanden 
ist,  muss  der  Dienstberechtigte  ihm  Kur 
und  Pflege  im  eigenen  Hause  oder  in  einer 
öffentlichen  Heilanstalt  für  eine  gewisse 
Zeit  gewähren,  ohne  ihm  darum  etwas  am 
Lohne  zu  kürzen  (E.G.  Art.  95  Abs.  2, 
vgl.  mit  B.G.B.  §  617).  Gegen  Gefahren, 
welche  sein  Leben  oder  seine  Gesundheit 
bei  Verrichtung  der  von  ihm  zu  leistenden 
Dienste  treffen  können,  ist  das  Gesinde  zu 
schützen.  Dementsprechend  hat  der  Dienst- 
berechtigte die  Räume,  Vorrichtungen  und 
die  von  ihm  zur  Verrichtimg  der  Dienste  zu . 
beschaffenden  Gerätschaften  dergestalt  ein- 
zurichten und  zu  unterhalten  und  die  Dienst- 
leistungen selbst,  welche  unter  seiner  An- 
ordnimg und  Leitung  vorzunehmen  sind,  so 
zu  regeln,  dass  den  bezeichneten  Gefahren 
begegnet  wird,  soweit  es  die  Natur  der 
Dienstleistungen  gestattet  (B.G.B.  §  618 
Abs.  1). 

Verlässt  das  Gesinde  den  Dienst  vor 
Ablauf  der  Dienstzeit  ohne  Grund,  so  kann 
es  durch  polizeiliche  Zwangsmittel  zur  Er- 
füllung seiner  Verpflichtungen  angehalten 
werden  und  verfällt  überdies  in  eine  öffent- 
liche Strafe  (Geld-  oder  Gefängnisstrafe; 
vgl.  preussische  Ges.-O.  1810  §§  167,  168, 
preussisches  G.  v.  24.  April  1854  §  1),  un- 
beschadet des  Rechts  der  Herrschaft,  nach 
ihrer  Wahl  es  zu  entlassen  und  auf  seine 
Kosten  ein  anderes  Gesinde  zu  mieten  oder 
aber  es  im  Dienste  beizubehalten.  Nach 
einzelnen  Rechten  findet  keine  öffentliche 
Bestrafung  statt.  Das  Gesinde  verliert  nur 
seinen  Anspnich  auf  den  rückständigen  Lohn. 

Hinwiederum  hat  die  Herrschaft  bei 
grundloser  Entlassung  vor  Ablauf  der  Dienst- 
zeit dem  Gesinde  den  vollen  I^hn  für  die 
ganze  Dienstzeit  und  ausserdem  Entschä- 
digung wegen  der  nicht  gewäluiien  Kost 
und  Wohnung  zu  zahlen.  —  Schliesslich 
noch  die  Bemerkung,  dass  ftlr  die  Beurtei- 
lung mancher  der  bezeichneten  Verpflich- 
tungen, welche   sich  nicht  aus    dem    Ge- 


Gesincleverhältms — Gestütwesen 


243 


sindevertrage  ergeben,  sondern  in  der  Haiis- 
gemeinsehaft  beruhen,  bei  entstehendem 
Streit  unter  Herrschaft  und  Gesinde  nach 
vielen  Gesindeordnungen  nicht  der  Richter, 
sondern  die  Polizeibehörde  zuständig  ist. 

4.  Aufhebmig.  Das  Gesindeverhältnis 
endigt  der  Regel  nach  mit  Ablauf  der  im 
Gesindevertrage  verabredeten  Dienstzeit  nach 
vorgängi^r  Aufkündigung,  welche  Jedem 
Teile  freisteht,  jedoch  an  bestimmte  Fristen 
gebimden  ist.  Die  Gesindeordnungen  kennen 
aber  ausserdem  noch  gewisse  Gnlnde,  bei 
deren  Zutreffen  entweder  die  Herrschaft 
oder  das  Gesinde  berechtigt  ist,  die  einge- 
gai^nen  Verbindlichkeiten  innerhalb  der 
Dienstzeit  zu  ktindigen  oder  selbst  ohne 
Kündigung  aufzuheben. 

Als  solche  gelten  einmal  erhebliche  Ver- 
legungen der  Vei'tragspf lichten ,  die  den 
T<ertragstreuen  Teil  berechtigen,  vor  der 
Zeit  vom  Gresindevertrage  abzugehen,  femer 
aber  Handlungen  oder  eintretende  umstände, 
welche  die  Aufhebung  der  unter  den  Kon- 
trahenten bestehenden  Hausgemeinschaft 
notwendig  oder  doch  wünschenswert  machen. 
Oründe  der  einen  oder  der  anderen  Art,  um 
•das  Gesinde  vor  Ende  der  Dienstzeit  zu 
•entlassen,  sind  Mangel  an  Geschicklichkeit 
in  den  zu  verrichtenden  Arbeiten,  Vernach- 
lässigung der  Dienstpflichten,  beharrlicher 
Ungehorsam  und  Widerspenstigkeit  gegen 
•die  Befehle  der  Herrschaft,  Beleidigung  und 
Verleumdung  derselben,  Diebstahl  und  Ver- 
untreuung, Unverti*äglichkeit  mit  dem  Neben- 
eesinde,  Schwangerschaft  des  weiblichen 
Uesindes  und  anderes  mehr. 

Dahingegen  darf  das  Gesinde  das  Ge- 
sindeverhältnis vorzeitig  aufheben  und  den 
biß  zum  Austritt  verdienten  Lohn  fordern 
w^en  Verweigenmg  der  nötigen  Kost, 
wegen  erfahrener  Missnandlung,  nicht  weniger 
aber  auch  dann,  wenn  es  in  sohwere  Krank- 
heit verfällt  oder  wenn  sich  ihm  die  Ge- 
legenheit darbietet,  durch  Verheiratung  oder 
aiä  andere  Art  eine  eigene  Wirtschaft  zu 
erlangen,  welche  ihm  beim  Aushalten  der 
Mietszeit  entgehen  möchte.  Ist  ein  Dienst- 
verhältnis für  die  Lebenszeit  oder  für  längere 
Zeit  als  fünf  Jahre  eingegangen,  so  greift 
die  Vorschrift  des  B.G.B.  §  624  ein.  Danach 
kann  das  Gesinde  der  Herrschaft  nach  dem 
Ablaufe  von  fünf  Jahren  mit  Beobachtung 
einer  sechsmonatlichen  Kündigimgsfrist  auf- 
sagen. — 

Stirbt  eint  Dienstbote,  so  haben  seine 
Erben  Lohn  und  Kostgeld  nur  für  solange 
zu  beanspnichen,  als  beides  nach  Verhältnis 
der  Zeit  bis  zum  Tode  rückständig  ist. 
Anders  verhält  es  sich  beim  Tode  des 
Dienstberechtigten.  Damit  wird,  wie  wenig- 
stens die  preussische  und  einige  andere 
Ges.-0.  bestimmen,  dasGesindeverhältnis  nicht 
ohne  weiteres  aufgehoben,  sondern  die  Erben 


der  Herrschaft  erlangen  nur  das  Recht,  dem 
Gesinde  zur  gesetzlichen  Ziehzeit  zu  kün- 
digen, welche  kürzer  sein  kann  als  die 
durch  Vertrag  festgesetzte  Dienstzeit. 

Bricht  über  das  Vermögen  der  Herr- 
schaft der  Konkurs  aus,  so  steht  jedem 
Teile  die  Kündigung  frei.  Die  Kündigungs* 
frist  ist,  falls  eine  kürzere  Frist  nicht  be- 
dungen war,  die  gesetzliche  (K.O.  §  22). 

Litteratnr:  Gustav  Hertz,  Die  HechtsverhäU- 
nisse  des  freien  Gesindes  nach  den  deutschen  Rechts- 
quellen  des  Mittelalters,  1871  (Untersuchungen 
tw     deutschen     Staats-     U7id    RechUgeschichte, 

•  herausgegeben  von  Gierke,  VI).  —  Stoblfef 
Handbu>ch  des  deutschen  Privairechts,  neu  bear- 
beitet von  H,  O.  Lehmann  III  (S,  Aufl,)^ 
H  £49,  Ä.  447 ff,  —  W,  Kühler,  Gesinderecht 
und  Gesindewesen  in  DeutscfUand  (Sammlung 
nat,-ök.  Abhandlungen,  s.  Q)nrad  ^r.  11)  1896, 
Förster- Eccius,  Theorie  und  Praxis  des  heu- 
tigen preuss,  Privatrechts  (7.  Aufl.),  1897  IV,. 
§  2S7,  S,  288 ff.  —  Neubauer,  Zusammen,- 
Stellungen  des  in  Deutschland  gellenden  Rechts, 
betreffend  verschiedene  Rechtsmaterien  (1880),^ 
S.  145 — 172.  von  Brünneck, 


Gestfltwesen. 


Ein  Gestüt  nennen  wir  jede,  die  Zucht 
von  Pferden  als  Hauptzweck  verfolgende, 
in  grösserem  Massstabe  betriebene  Haltung 
von  Stuten  und  Hengsten,  unter  Gestüt- 
wesen muss  man  daher  eigentlich  alles 
hierauf  bezügliche,  also  auch  die  wirtschaft- 
liche und  technisch  pferdezüchterische  Seite 
der  Staats-  und  Privatgestüte  verstehen, 
doch  soll  hier  nur  auf  das  staatliche  Ge- 
stütwesen und  die  staatswirtschaftliche 
Stelhing  desselben  eingegangen  werden. 

Von  allen  Zweigen  der  Landwirtschaft 
hat  wohl  am  frühesten  die  Pferdezucht  eine 
direkte  Förderung  durch  die  Regierungen 
erfahren.  Die  Unentbehrlichkeit  der  Pferde 
für  den  Privatgebrauch  der  Hofhaltungen 
wie  für  militärische  Zwecke  musste  es  den 
Ijandesfürsten  nahelegen,  für  eine  genügende 
Remontierung  ihrer  Ställe  selbst  zu  sorgen^ 
der  nie  fehlende  Besitz  grösserer  Güter- 
komplexe, auf  deren  Bewirtschaftung  sie 
ohnedies  angewiesen  waren,  erleichterte  die 
Anlage  eigener  Zuchten,  und  so  finden  wir 
entsprechend  der  mangelnden  Unterschei- 
dung zwischen  staatlicher  und  landesherr- 
licher Verwaltung  die  Anfänge  der  jetzigen 
Staatsgestüte  in  dem  speciell  der  Pferde- 
zucht gewidmeten  landwirtschaftlichen  Be- 
triebe fürstlicher  Herrschaften.  Hatte  man 
solche  Gestüte  zunächst  nur  zu  eigenem 
Gebrauch,  so  lag  es  doch  nahe,  die  Hengste 
dieser  Gestüte  auch  anderen  Privatzüchtern 
zur  Disposition  zu  stellen,  woraus  sich  die 
jetzt  vorwiegende  Form  der  staatlichen  Ge- 

16* 


244 


Gesttitwesen 


Stute  (Hengstdepots)  allmählich  entwickelte. 
In  dem  Masse,  wie  sich  das  moderne  Staats- 
wesen zu  seiner  jetzigen  scharfen  Sonde- 
rung zwischen  Staatseigentum  und  Verwal- 
timg und  dem  Eigentume  der  landesherr- 
lichen Familien  entwickelte,  trat  auch  auf 
dem  Gebiete  des  Gestütwesens  eine  voll- 
ständige Trennung  ein,  obwohl  auch  heute 
nodi  z.  B.  in  Preussen  in  der  Bestimmung, 
dass  die  Hauptgestüte  eine  Anzahl  Pferde 
für  den  königlichen  Marstall  zu  festen 
Preisen  zu  liefern  haben,  ein  letzter  Rest 
der  früheren  Yerhältnisse  sich  erhalten  hat. 
Eein  staatliche  Gestüte  findet  man  jetzt  in 
allen  grösseren  europäischen  Kulturstaaten 
imd  unterscheidet  man  eigentliche  Gestüte, 
also  grössere  Pferde-  und  zumal  Stuten- 
haltungen mit  eigener  Aufzucht  der  von 
den  Stuten  fallenden  Fohlen,  in  Preussen 
Hauptgestüte  genannt,  und  Hengstdei)Ots, 
deren  Insassen  zur  Deckzeit  auf  Hengst- 
stationen im  Lande  verteilt  werden,  um  die 
Stuten  der  Privatbesitzer  zu  decken.  In 
Preussen  werden  diese  Hengstdepots^  wohl 
aus  der  früheren  Zeit  her,  wo  sie  teilweise 
mit  den  Hauptgestüten  vereinigt  waren, 
nicht  ganz  richtiger  Weise  ebenifaUs  Gestüte 
und  zwar  Landgestüte  genannt.  Fast  überall 
hat  man  gefunden,  dass  die  Sorge  für  die 
Hengsthaltung  zweckmässigerweise  vom 
Staate  übernommen  wird,  sowohl  um  diesem 
einen  genügenden  Einfluss  auf  die  Pferde- 
zucht zu  sichern,  als  auch  im  wirtscliaft- 
lichen  Interesse  des  Privatzüchters.  Dass 
die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  keine 
Staatsgestüte  haben,  sondern  die  Förderung 
der  Pferdezucht  ganz  der  Privatwirtschaft 
überlassen,  hängt  innig  mit  der  dortigen 
Staatsorganisation  und  den  sonstigen  wirt- 
schaftlichen Verhältnissen  dieses  Landes 
zusammen;  auch  in  England  glaubte  man 
sich  bis  vor  kurzem  in  betreff  der  genügen- 
den Sicherung  einer  quantitativ  und  quali- 
tativ für  die  militärischen  und  privatwirt- 
schaftlichen Bedürfnisse  des  Landes  aus- 
reichenden Pferdezucht  auf  die  Privatpferde- 
züchter  selbst  verlassen  zu  können.  Der 
steigende  Mangel  an  guten  Vollbluthengsten 
hat  aber  seit  einigen  Jahren  dazu  geführt, 
dass  man  zwar  nicht  auf  Staatskosten 
Hengste  selbst  züchtet,  wolü  aber  durch 
Vermittelung  der  königlichen  Landwirt- 
schaftsgeseUschaft  Staatsmittel  dazu  ver- 
wendet, um  einige  geeignete  Privathengste 
auszuwählen  imd  dieselben  an  bestimmten 
Stationen  mit  der  Verpflichtung  des  Dockens 
zu  massigen  Preisen  aufzustellen.  Für  jeden 
solchen  Hengst  zahlt  die  englische  Regie- 
rung eine  Prämie  von  200  £,  eine  Mass- 
regel, die  sich  nur  in  der  Ausführung, 
nicht  aber  im  Princip  von  dem  Systeme 
der  Aufstellung  staatlicher  Landbeschäler 
untei-scheidet.     In    ähnlicher   Weise    sorgt 


man  auch  in  Oldenburg,  wo  eine  blühende 
Pferdezucht  ohne  staatliche  Laudbeschäler 
besteht,  durch  hohe  Prämien  für  die  Erhal- 
tung eines  genügenden  Bestandes  von  Pri- 
vathengsten. 

Die  Hauptgestüte  haben  den  Zweck, 
Pferde  im  allgemeinen  für  Staatszwecke, 
also  auch  Armeepferde  zu  produzieren,  wohl 
übeiull,  mit  Ausnahme  vielleicht  von  Russ- 
land, aufgegeben,  sie  beschränken  sich  jetzt 
auf  die  Aiugabe^  Hengste  für  die  Landes- 
pferdezucht zu  hefern  und  lassen  das  hierzu 
und  zur  Benutzung  in  der  eigenen  Zucht 
unbrauchbare  Material  an  jungen  Pferden 
in  Privatbesitz  übergehen.  Allein  auch  den 
beschränkteren  Zweck  der  Hengstproduktion 
erfüllen  sie  nur  teilweise,  braucht  doch  z.  B. 
Preussen  jährlich  ca.  350  Hengste,  von 
denen  die  drei  Hauptgestüte  Trakehnen, 
Graditz  und  Beberbeck  nur  ca.  75,  also  ca. 
Vo  liefern.  Auch  hat  man  es  nirgendwo 
versucht,  alle  Kategorieen  von  Hengsten, 
deren  die  Landespferdezucht  jetzt  bedarf, 
in  eigenen  Staatsgestüten  zu  züchten,  son- 
dern man  beschränkt  sich  auf  die  Zucht 
von  Vollblut  und  von  solchem  Halbblut, 
welches  zur  Erzielung  von  Militärpferden 
geeignet  ist,  also  im  wesentlichen  auf  die 
Zucht  edlerer  Pfei-de.  Obgleich  also  der 
Staat  einen  grossen  Teil  seines  Hengstbe- 
dürfnisses diu^ch  Ankauf  aus  Privatzuchten 
befredigt,  erscheint  es  doch  nicht  angezeigt., 
diesen  Teil  der  Pferdezucht  ganz  der  Pri- 
vatindustrie zu  überlassen.  Für  die  Beibe- 
haltung der  Hauptgestüte  sprechen  vor- 
nehmlich folgende  Gründe:  Dadurch,  dass 
der  Staat  einen  immerhin  nicht  unbeträcht- 
lichen Teil  des  Bedürfnisses  selbst  produ- 
ziert, kann  er  auf  die  Form  und  den  Preis- 
stand des  übrigen  Teiles  der  Hengste  regu- 
lierend einwirken  imd  ist  gegen  übertriebene 
Forderungen  einigermassen  gesichert.  Bei 
der  ungemein  grossen  Wichtigkeit,  welche 
für  die  Sicherheit  des  Zuchterfolges  in  der 
durch  eine  zweckentsprechende  Aufzucht 
erreichten  Gesundheit  der  Tiere  und  in  der 
genau  bekannten,  durch  längere  Generatio- 
nen zu  verfolgenden  Abstammung  der 
Zuchttiere  liegt,  bietet  die  eigene  Zucht  die 
grössten  Garantieen  für  die  Beschaffung  von 
rationell  aufgezogenen  Tiei*en  mit  ganz 
zweiffellos  feststehender  Abstammimg.  Je 
edler  die  Pferdezucht  ist,  desto  kostspieliger 
wird  sie  einesteils  durch  die  erforderlichen 
Aufwendungen  für  Zuchtmate^ial,  Fütterung, 
Pflege  und  Waitung,  anderenteils  durch 
die  Seltenheit  der  Erzielung  wirklich  vor- 
züglicher Pferde  und  die  Schwierigkeit  der 
lohnenden  Verwertung  des  zur  Zucht  un- 
geeigneten Materiales.  Die  Zucht  kaltblüti- 
ger Pferde  ist  an  und  für  sich  billiger  und 
bequemer,  und  etwaige  zur  Weiterzucht  im- 
geeiguete   Produkte    sind  immer   noch  als 


Grestütwesen 


245 


Arbeitspferde  gut  zu  verwerteo.  Das  viel- 
fache Kisiko  der  edlen  Pferdezucht,  speciell 
soweit  es  sich  um  die  Produktion  zu  Land- 
beschälem  tüchtiger  Hengste  handelt,  kann 
daher  nur  der  grossere  Besitzer  tragen. 
Dies  gilt  vor  allem  von  der  Vollblutzucht, 
in  der  selbst  die  grössteu  Mittel  und  die 
Beschaffung  des  besten  Zuchtmateriales 
nicht  die  absolute  Sicherheit  gewähren,  nun 
auch  stets  entspiechende  Zuchterfolge  zu 
erzielen.  Für  die  genügende  Produktion 
von  zur  Weiterzucht  tauglichen  Hengsten 
würde  man  sich  daher,  was  das  für  die 
ganze  edlere  Pferdezucht  unentbehrliche 
Vollblut  anbelan§;t,  nur  dann  auf  die  Pri- 
vatzucht ausschliesslich  verlassen  können, 
wenn  wir  so  zahlreiche  und  mit  den  reich- 
sten Mitteln  unterhaltene  Vollblutzuchten 
hätten,  wie  z.  B.  in  England  vorhanden 
sind.  Da  dies  nicht  der  Fall,  so  ist  die 
staatliche  Vollblutzucht,  wie  sie  in  Preussen 
und  Oesterreich  besteht,  gewiss  gerecht- 
fertigt. Aber  auch  für  die  Halbblutzucht 
ist  es  schon  im  Interesse  der  dauernden 
Innehaltung  bestimmter  Zuchtrichtungen 
entschieden  vorteilliaft,  für  den  Hengstbezug 
nicht  ausschliessHch  auf  die  Privatzucht 
angewiesen  zu  sein,  welche  weit  mehr 
Schwankungen  der  Zuchtrichtung  und  dem 
Streben  nach  dem,  Avas  momentan  den 
grössten  Geldgewinn  bringt,  untworfen  ist. 
Als  Beweis  dafür  wie  sehr  diese  Gesichts- 
punkte sich  Geltung  verschafft  haben,  kann 
es  gelten,  dass  der  preussische  Staat  noch 
in  allerjüngster  Zeit  das  renommierte  von 
Simpson -Georgenburgsche  Gestüt  angekauft 
hat  um  es  neben  den  älteren  Hauptgestüten 
Trakehnen,  Graditz  und  Beberbeck  und  dem 
vor  einigen  Jahren  rekonstruierten  Haupt- 
gestüt >ieustadt  a.  D.  als  Staatsgestüt  wei- 
terzuführen. Hervorragende  Hof-  und  Staats- 
gestüte sind  ausser  den  vorgenannten  in 
Bayern:  Achselschwang  und  Zweibrücken; 
Sachsen:  Moritzburg;  Württemberg:  Weil, 
Mosbach ;  Braunschweig :  Harzburg ;  in  Russ- 
land: Chrenowoye,  Nowo-Alexandrowo, 
Streletsk,  Limarewo,  Derkul,  Janowo;  in 
Oesterreich-lTngam :  Radantz,  Kladrub,  Li- 
pitza,  Mezehügyes,  Babolna,  Kisber,  Fogoras ; 
in  Frankreich:  Pompadour. 

Wie  im  übrigen  die  staatlichen  Haupt- 
gestüte einzurichten  sind,  in  welcher  Weise 
zweckmässig  das  Verhältnis  des  eigentlichen 
Gestütes  zu  dem  landwirtschaftlichen  Be- 
triebe des  Gestütgutes  zu  regeln  ist,  bis  zu 
welchem  Alter  die  Aufzucht  auch  der  nicht 
zu  Gestützwecken  brauchbaren  Tiere  erfol- 
gen soll,  auf  welche  Weise  die  Prüfung 
imd  Verwertung  der  Zuchtprodukte  einzu- 
richten ist,  ob  es  speciell  für  die  staatliche 
Vollblutzucht  zweckmässig  ist,  die  eigene 
Aufzucht  vollständig  zu  behalten  und  auf 
den   öffentlichen  Rennen  mit  konkurrieren 


zu  lassen  oder  sie  in  jugendlichem  Alter 
zu  verkaufen  und  nur  das  in  Privatbesitz 
auf  der  Rennbahn  bewährte  seiner  Zeit  zu 
Zuchtzwecken  zurückzukaufen ,  das  sind 
technische  und  Zweckmässigkeitsfragen,  die 
je  nach  Zeit,  Umständen  und  vorhandenen 
Mitteln  verschieden  beantwortet  werden 
können.  In  Preussen  ist  wesentlich  mit 
Rücksicht  auf  die  Erhaltung  der  staatlichen 
VoUblutzucht  als  solcher  die  Sache  jetzt  so 
geordnet,  dass  nur  das  zur  Zucht  untaug- 
liche oder  überflüssige  Vollblutmaterial  ver- 
kauft, das  ziu"  Zucht  ausersehene  Material 
aber  in  freier  Konkurrenz  mit  den  Pferden 
der  Privatzüchter  auf  der  Rennbahn  geprüft 
wird.  Die  solchergestalt  diu'ch  Staatsi^ferde 
gewonnenen  Pi*eise  werden  im  folgenden 
Jahre  als  Rennpreise  wieder  ausgesetzt,  so- 
dass eine  der  Privatlialtung  nachteilige  Kon- 
kurrenz vermieden  ist. 

Von  weit  grösserem  direkten  Einfluss 
auf  die  Landespferdezucht  als  die  Haupt- 
gestüte sind  die  Hengstdepots  oder  Land- 
gestüte, wenn  wir  uns  der  in  Preussen 
üblichen  Benennung  anschliessen  wollen. 
Solange  es  sich  nur  um  die  Erzielung  von 
Soldatenpferden  handelte,  die  Verhältnisse 
der  Pferdezucht  überhaupt  einfacher  lagen, 
war  die  Aufgabe  dieser  Gestüte  eine  ver- 
hältnismässig leic^hte.  In  dem  Masse  aber, 
wie  die  Entwickelung  der  Landwirtschaft 
und  der  Industrie  für  die  verschiedensten 
Gebrauchszwecke  verschiedenartige  und  be- 
sonders schwerere  kaltblütige  Pferde  ver- 
langte und  wie  das  Bestreben  der  Pferde- 
züchter, diesem  Bedürfnisse  entgegenzu- 
kommen, zu  dem  Verlangen  nach  ent- 
sprechenden Hengsten  fülu-te ,  kamen  die 
staatlichen  Gestütverwaltungen  in  eine 
schwierige  Position.  Vielfach  versuchte 
man  ohne  Rücksicht  auf  die  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  und  das  durch  dieselben  be- 
dingte Stutenmaterial  den  der  Staatsver- 
waltung am  nächsten  liegenden  Zweck  der 
Produktion  von  Militäi-pferden  einseitig 
weiter  zu  verfolgen,  dann  machte  man 
Konzessionen  nach  den  verschiedensten 
Seiten  hin  in  der  Hoffnung,  überall  allen 
Bedürfnissen  gerecht  werden  zu  können, 
schliesslich  hat  man  eingesehen,  dass  man 
auf  diesem  Wege  die  einheitliche,  den  na- 
türlichen Zucht  Verhältnissen  der  betreffen- 
den Gegenden  entsprechende  Landespferde- 
zucht nur  schädigt,  und  ist  jetzt  bestrebt, 
die  Auswahl  der  Hengste  für  die  Besetzung 
der  Landgestüte  nur  mit  Rücksicht  auf  be- 
stimmte, für  die  betreffende  Gegend  wirk- 
lich passende  Zurichtungen  zu  treffen.  In 
Preussen  ist  diese  Frage  neuerdings  so  ge- 
regelt, dass  die  Provinzen  Ost-  und  West- 
preussen,  Posen  und  Hannover,  mit  Aus- 
nahme des  Regieningsbezirkes  HUdesheim, 
zu  Remonteprovinzen  erkläil:  sind,  d.  h.  dass 


246 


Gestütwesen — Gesundheitspflege,  öffentliche 


in  diesen  Provinzen  nur  solche  Landbe- 
schäler aufgestellt  werden  sollen,  welche 
sich  zur  Zucht  von  Armeepferden  eignen, 
und  dass  auch  sonst  die  staatlichen  Mittel 
zur  Förderung  der  Pferdezucht,  speciell  die 
Prämiierungen  so  gehandhabt  werden  sollen, 
dass  sie  der  Militärpferdezucht  ausschliess- 
lich zu  gute  kommen.  Auch  bei  den 
Körungen  soll  auf  dies  Ziel  möglichst  Rück- 
sicht genommen  werden.  In  den  übrigen 
Provinzen  .sind  durch  Vermittelung  der 
landwirtschaftlichen  Centralvereine  diejeni- 
gen Zuchtrichtungen  festgestellt  worden, 
welche  in  der  ganzen  Provinz  oder  be- 
stimmten Teilen  derselben  staatliche  För- 
derung in  der  Auswahl  der  Landbeschäler 
und  der  Anwendung  der  sonstigen  staat- 
lichen Hilfsmittel  für  die  Pferdezucht  er- 
fahren sollen.  Alle  anderen  Richtungen 
der  Pferdezucht  können  sich  daneben  in 
allen  Provinzen  ungehindert  entfalten,  sind 
aber  ausschliesslich  auf  die  private  Initiative 
angewiesen  und  können  auf  staatliche  Un- 
terstützung nicht  rechnen.  Hiermit  ist  für 
die  staatliche  Gestütverwaltung  wieder  eine 
feste  Basis  gewonnen,  auf  der  sie  vorgehen 
kann,  der  züchterische  und  wirtschaftliche 
Erfolg  hängt  freilich  davon  ab,  dass  die 
Zuchtgebiete  richtig  gegriffen  sind  und 
dass  die  Verwaltung  Elasticität  genug  be- 
sitzt, um  bei  tiefer  eingreifenden  wirtschaft- 
lichen Veränderungen  in  den  einzelnen  Ge- 
bieten auch  den  dadurch  beeinflussten  An- 
forderungen der  Pfei-dezucht  folgen  zu 
können.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass,  wenn 
in  einem  Staate  wie  Preussen  neben  ca. 
2900  staatlichen  Hengsten  nur  ca.  1600 
Privatliengste  als  zum  Beschälen  tauglich 
angekört  sind,  —  wozu  allerdings  noch  die 
Privathengste  kommen ,  welche  nur  die 
Stuten  der  Hengsteigentümer  decken,  die 
daher  nicht  angekört  zu  werden  brauchen, 
sowie  die  Privathengste  der  verhältnismässig 
kleinen  Distrikte,  in  welchen  Körordnungen 
nicht  existieren,  —  die  Aufgaben  der  Ge- 
stütverwaltung ganz  ungemein  verantwort- 
liche sind.  Das  Einsclilagen  einer  falschen 
Richtung  kann  hier  sehr  leicht,  sei  es  zu 
einer  Schädigung  der  Remontierung  und 
damit  der  Welir&aft  der  Armee,  sei  es  zu 
imberechenbaren  wirtschaftlichen  Schäden 
fiUiren.  Eine  vorzugsweise  Betonung  der 
Interessen  der  Armee  wird  hier  wie  in  an- 
deren Ländern  für  jede  Gestüt  Verwaltung 
auf  die  Dauer  nur  dann  diu'chführbar  sein, 
wenn  die  von  der  Militärverwaltimg  für 
die  Remonten  gezalilten  Preise  die  Armee- 
pferdezucht mindestens  ebenso  rentabel 
maclieu  wie  die  Zucht  sonstiger  Gebrauchs- 
pferde. Gegen  das  Einsclilagen  einer  wirt- 
schaftlich falschen  Richtung  bietet  die  ge- 
ordnete Teilnahme  der  landwii-tschaftlichen 
Interessenten  an   der  Auswahl  und  Veilei- 


lung  der  Hengste  kein  genügendes  Korrektiv, 
da  diese  nie  so  weit  gehen  kann,  dass  die 
Gestütverwaltung  ihre  Selbständigkeit  ver- 
liert, es  ist  deshalb  von  der  grössten  Wich- 
tigkeit, dass,  so  sehr  sich  auch  die  Staats- 
hengstnaltung  quantitativ  ausdehnen  mag, 
doch  wenigstens  die  Möglichkeit  einer  loh- 
nenden Privathengsthaltung  dadurch  erhal- 
ten bleibt,  dass  die  Deckgelder  für  die 
Staatshengste  nicht  zu  niedrig  normiei*t 
werden,  also  eine  Konkurrenz  von  Privat- 
hengsten für  den  Fall,  dass  die  Staatsbe- 
schäler nicht  mehr  den  wirtschaftlichen  In- 
teressen entsprechen  sollten,  nicht  schon 
am  Kostenpunkte  scheitert.  WoUte  man 
dies  nicht  thun,  so  würden  besonders  in 
Gegenden  mit  geringer  entwickeltem  Ver- 
ständnis für  Pferdezucht  und  bei  Vorwiegen 
des  bäuerlichen  ßi^sitzes  die  betreffenden 
Züchter  den  Verlockungen  des  billigeren 
Preises  der  königlichen  Hengste  selbst 
dann  nicht  widei'Stehen,  wenn  die  letzteren 
viel  ungenügender  für  die  Landespferde- 
zucht wären  als  Privathengste,  die,  wenn 
ihre  Haltung  nicht  unrentabel  werden  soll, 
zu  höheren  Preisen  decken  müssten. 

Litteratlir:  Stöckelf  Königlich  preuMÜche  Ge- 
atütsverwaUnng  1890,  Berlin.  —  Deutsches  Ge- 
stüibtuh.  Geschickte  und  Beschreibung  deutscher 
Gestüte  von  J.  von  Schwartz,  Berlin  1858, 
187 S,  187 S,  —  Landgestüte  und  Landespferde- 
Zucht.  Aphoristische  Bemerkungen  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  mittleren  Provinzen  des 
preussischen  Staates,  Berlin  1863.  —  Dr,  Ihtschf 
Das  GestiUxcesen  Deutschlands,  Berlin  1891.  — 
Comie  de  Banneval,  Les  Harras  franqais  de 
1806  ä  18SS.  —  Librairie  agricole.  —  Mayr, 
Die  k.  k.  Militärgestüte  in  Oesterreich.  —  Otto 
Mayr,  Die  Gestüte  im  österreichischen  Kaiser- 
Staat.  —  Hü^el  und  Schmidt,  Gestüte  und 
Meiereien  des  Königs  Wilhelm  von  Würtiemherg. 
—  Bericht  über  das  italienische  StaatS' 
gestüt,  herausgegeben  vom  Ministerium  für 
Ackerbau,  4  Bde.  —  Gtissehuer,  Die  Pferde- 
zucht in  den  im  Reichsrat  vertretenen  König- 
reichen und  Ländern  der  österreichisch-ungarischen 
Monarchie,  Wien  9.i,  94  und  96.  —  JVrangel, 
Ungarns  Pferdezucht  in  Wort  und  Bild,  1891 
bis  1895.  Thiel. 


Oeiientliche  Gesundheitspflege. 

1.  Verhältnis  der  ö.  G.  zur  Sozialpolitik. 
2.  Historisches ;  Uebersicht  über  das  Gebiet  der 
Gesundheitspflege.  (Hygieine  der  Neugeborenen, 
der  Kindheit,  der  Schulzeit,  des  Greschlechts- 
lebens,  der  Reifeperiode  —  Beruf,  Nahrung,  Klei- 
dung, Wohnung,  Verkehr  —  des  normal  und 
des  vorzeitig  abfallenden  Lehens,  der  Bestat- 
tung). 3.  Organisation  der  ö.  G.:  a)  Interna- 
tionale Veranstaltungen.  b)  Bundesstaaten: 
Deutschland,  Schweiz,  Nordamerika,  c)  Einzel- 
staaten: Preussen,  Bayern  u.  s.  w.,  England, 
Frankreich,  Italien  u.  s.  w.    4.  Statistik  der  Ö.  G. 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


247 


1.  Verhältnis  der  o.  6.  zur  Sozial- 
politik. Die  Wissenschaft  von  den  Mitteln 
lind  die  Kunst  der  Handhabung  der  Mittel, 
^velche  die  Terminderung  der  Krankheits- 
ursachen und  die  Verbesserung  der  för  das 
physische  Leben  der  Bevölkerung  wichtigen 
Verhältnisse  bezwecken  —  ist  nicht  ein  Teil 
der  Sozialpolitik,  sondern  eine  selbständige 
Disciplin.  Aber  sie  steht  mit  unserem  Ar- 
beitsgebiet, —  der  Wissenschaft  von  den 
Mittdn  zur  Herbeiführung  eines  befriedigen- 
den Verhältnisses  zwischen  den  verschiede- 
nen, trotz  der  Rechtsgleichheit  und  infolge 
der  Vermögensungleichheit  bestehenden  Be- 
völkerungsklassen —  in  engster  Beziehung. 
Sie  stellt,  soweit  das  körperliche  Wohl  der 
Einwohner  ia  Betracht  kommt,  die  Forde- 
nmgen  auf,  deren  Durchführung  innerhalb 
der  bestehenden  Volkswirtschaft  die  eigent- 
liche Aufgabe  der  Sozialpolitik  bildet;  sie 
ist  die  Theorie  von  der  Erhaltimg  und  Ver- 
mehrung der  für  die  Volkswirtschaft  erfor- 
derten Arbeitskräfte.  Es  giebt  keine  volks- 
wirtschaftliche Thatsache,  die  nicht,  weil 
sie  die  hierfür  erforderlichen  Mittel  nxehrt 
oder  mindert,  auch  hygieinisch  und  deshalb 
sozialpolitisch  bedeutsam  wäre;  es  giebt 
keine  hygieinische  Forderung,  deren  Erfül- 
lung oder  Vernachlässigung  nicht  volkswirt- 
schaftliche und  sozialpolitische  Konsequenzen 
nach  sich  zöge. 

Die  Verdrängung  des  Kleinbauernstandes, 
sei  es  durch  Luxusgrossgrundbesitz,  durch 
Weidewirtschaft  oder  Plantagenindustrie, 
führt  nicht  nur  zur  Entvölkenmg  des  flachen 
Landes  und  Schwächung  der  Wehrkraft, 
sondern  auch  zu  Anhäufung  eines  sclilecht 
genährten,  in  ungenügenden  Wohnungen 
untergebrachten  Proletariats  in  den  Gross- 
städten und  dadurch  zur  Verschlechterung 
des  Gesundheitszustandes,  Vermehrung  der 
Epidemieen  u.  s.  w.  Die  Einführung  des 
Impfzwanges,  die  Bekämpfimg  der  Tuber- 
kulose dmrch  Begründung  von  Volksheil- 
stätten, die  Erkennung  der  schw^eren  Heil- 
barkeit und  des  schlimmen  Einflusses  ge- 
wisser weit  verbreiteter  geschlechtlicher  Er- 
krankungen auf  die  Arbeitsfähigkeit  der 
Ehefrau  und  die  eheliche  Fruchtbarkeit  sind 
Ergebnisse  der  öffentlichen  Gesundheits- 
pflege, deren  volkswirtschaftliche  Bedeut- 
samkeit keiner  Darlegung  bedarf. 

Ziu:  Medizin,  der  Lehre  von  der  Er- 
kennung, Behandlung  und  Heilung  des  ein- 
zelnen Krankheitsfalles  verhält  sich  die  Ge- 
sundheitspflege etwa  wie  die  Sozialpolitik 
zur  Armenpflege.  Die  Bemühung  zur  Be- 
seitigung des  Uebels  in  einem  bestimmten 
Fall  führt  zur  Prüfung  der  Ursachen;  er- 
giebt  sich,  dass  diese  Ursachen  vielfach 
nicht  oder  nur  zum  Teil  im  Verhalten  des 
Erkrankten,  —  oder  Verarmten,  oder  in  von 
deren    Willen    abhängigen    Momenten    zu 


suchen  sind,  so  entsteht  natürlich  der 
Wunsch,  neben  der  Erleichtemng  des  Lei- 
denden auch  für  die  Verhinderung  jener 
tieferen  Ursachen  zu  sorgen.  Das  erstere 
ist  Aufgabe  der  Armenpflege  und  der  Heü- 
kunde ;  das  letztere  die  der  Sozialpolitik  und 
der  öffentlichen  Gesundheitspflege. 

Die  Armenpflege    liefert   die   Anregung 
und   das   Material    für  die    sozialpolitische 
Forschung   und   lehrt   die    vergleiclisweise 
geringe   Nutzwirkung  des   Kampfes    gegen 
Symptome,  der  Lindenmg  des  vereinzelten 
Notstandsfalles ;  ganz  ebenso  führt  die  Medizin 
zum  Studium  über  die  Krankheitsursachen, 
zum  Aufsuchen  der  Krankheitserreger,  und 
damit    zur    öffentlichen    Gesundheitspflege. 
So    sind    von   jeher    stets    andere    soziale 
Thatsachen  und  andere  Krankheitsarten  aus 
der     auf     einzelne    Erscheinungsfälle    be- 
schränkten Behandlimg  durch  die  Armen- 
pflege bezw.  aus  der  Thätigkeit  der  Aerzte 
überführt  worden  in  den  Kreis   derjenigen 
Angelegenheiten,   welche  der  Staat  aus  all- 
gemeinen  Rücksichten,    ohne   Bezugnahme 
auf   den   einzelnen  Fall  und   durch   beson- 
dere Verwaltungseinrichtungen  zu  beordnen 
wünscht.      Die    Gefährdung     der    Jugend 
mangels    Schulunterrichts,     die    schlimme 
Lage  des  durch  Krankheit,  Unfall  u.  s.  w. 
erwerbsunfähigen  Arbeiters,  die  Schwierig- 
keit   der   Erziehung    eines    verwahrlosten, 
straffällig    gewordenen  Kindes   geben  Bei- 
spiele  aus   dem   Verhältnisse    der   Armen- 
pflege  zur  Sozialpolitik  (Schulzwang,  Ver- 
sicherungszwang, Zwangserziehung),   denen 
aus    Medizin    und    Gesundheitspflege    die 
grossartigen  Massnahmen  zur  Verbesserung 
der  sanitären  Verhältnisse   in  den  Städten 
behufs  Bekämpfung  des  Typhus,  die  Ein- 
führung   der    Zwangsimpfung    im    Kampf 
gegen   die    Blattern,   die   Einrichtung    und 
Dui-chführung     der     Quarantänemassregeln 
gegen   das  Einschleppen   der  Pest  an   die 
Seite  gestellt  weixien  können.    Das  Arbeits- 
gebiet   der   Privatwohlthätigkeit    und    der 
öffentlichen  Armenpflege  ward  dm^ch  jene 
sozialpolitischen  Gesetze   ebensowenig    ein- 
geschränkt wie   die  Thätigkeit  der  Medizin 
durch  die  Emmgenschaften  der  öffentlichen 
Gesundheitspflege.    Für  beide  eröffnen  sich 
vielmehr     neue    Aufgaben     erfolgreicherer 
Wirksamkeit  stets  in  dem  Masse,  als  ihnen 
öffentliche  Institutionen  die  Arbeit  auf  ande- 
ren Gebieten   abnehmen.     Die   Hauspflege, 
die  Rekonvalescentenpflege,  die  Fürsorge  für 
Schwachbefähi^e    u.  s.    w.    sind    von    der 
Privatwohlthätigkeit  in  Deutschland  in  weit 
höherem  Masse  übernommen  worden,  seit- 
dem   die    Versicherungsgesetze    gewisser- 
massen  die  gröbste  Arbeit  auf  dem  Gebiete 
der  Krankenfürsorge  leisten. 

Wenn    es    aber   kaum    ein   Gebiet    des 
sozialen  Lebens  giebt,  das  den  Einwirkungen 


248 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


der  öffentlichen  Gesundheitspflege  entrückt 
ist,  so  sind  doch  ihre  Methoden  durchaus 
naturwissenschaftliche  und  werden  ihre  Re- 
sultate dimjhaus  im  Wege  der  natiu'wissen- 
schaftlichen  Forschung  gew^onnen.  Hieraus 
entstehen  natürlich  für  die  systematische 
Behandlung  gewisse  Schwierigkeiten  (man 
vergl.  z.  B.  das  Lehi'buch  der  Hygieine 
von  Gramer,  Leipzig  1896,  dessen  Kapitel- 
überschriften:  Luft;  Klima;  Wärme  und 
Kleidung;  Boden;  AVasser;  Ernährungs- 
lehre ;  Wohnung  und  Städteanlagen,  Heizung 
und  Yentilation  —  u.  s.  w.,  zwar  eine  sehr 
interessante  Aufzählung  von  sozialpolitisch 
und  hygieiuisch  gleich  wichtigen  Materien 
bieten,  aber  keinerlei  Garantie  der  Vollstän- 
digkeit). 

Diese  Schwierigkeit  wächst,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  nicht  etwa  Aerzten  eine 
Uebereicht  über  den  gegenwärtigen  Stand 
der  ihnen  nahe  liegenden  Wissenschaft  zu 
geben,  sondern  füi*  Volkswirte  die  Zusam- 
menhänge zwischen  ihrem  eigenen  Arbeits- 
feld und  jener  naturwissenschaftlichen  Dis- 
ciplin  in  Vollständigkeit  zusammenzustellen. 
Wii'  gedenken  dieser  Schwierigkeit  dadiurch 
Herr  zu  werden,  dass  wir  vor  der  Darstel- 
lung der  Gesetzgebung  eine  kurze  Ueber- 
sicht  über  die  Geschichte  der  Wissenschaft  und 
deren  wichtigste  Ergebnisse,  geordnet  nach  den 
volkswirtschaftlich  bedeutsamsten  Thatsachen 
des  sozialen  Lebens,  vorausgehen  lassen.  Hier- 
aus wird  sich  der  Pai-aUeüsmus  unserer 
Wissenschaft  mit  der  der  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege am  besten  ergeben ;  der  Dar- 
stellung der  Organisation  der  mit  der  öffent- 
lichen Gesundheitspflege  befassten  Behörden 
in  den  wichtigsten  Kulturstaaten  sollen  als- 
dann noch  die  nötigsten  Notizen  über 
die  Statistik  der  Gesundheitspflege  folgen. 
Bearbeitet  ist  der  sozialpolitische  Teil  von 
Stadtrat  Dr.Flesoh,  der  naturwissenschaftliche 
von  Prof.  Dr.  med.  Flesch ;  die  statistischen 
Notizen  sind  von  Dr.  Schnapper-Arndt  zu- 
sammengestellt. 

2.  Historisches;  Uebersicht  über  das 
Gebiet  deKresundheitspf  lege.  Je  höher  ent- 
wickelt die  Organisation  des  Gemeinwesens,  je 
enger  djis  Zusammenwirken  aller  Teile,  die 
wechs(»lseitige  Abhängigkeit  der  Individuen 
sich  gestaltet  desto  grösser  wird  das  Interesse 
der  Gesamtheit  an  dem  Wohlbefinden  des 
einzelnen.  Dementsprechend  finden  sich  der 
Gesundheitspflege  dienende  Gesetze  bei  allen 
Kulturvölkern;  meist  gehandhabt  von  den 
mit  den  herrsehenden  Klassen  stets  eng 
verbundenen  Priestern,  oft  von  diesen  in  die 
Hülle  religiöser  Vorschriften  eingekleidet. 
Ein  glänztMides  Beispiel  ist  die  mosaische 
Gesetzgebung,  selbst  (»ine  Nenredaktion  alt- 
egj'ptischer  Priesterweisheit.  Di(*  Gescliiehte 
der  Hygieine  schliesst  sich  der  Kulturge- 
schichte eng  an.   Mit  der  Kultuivntwickelung 


der  Nationen  halten  einzelne  Teile  der 
Hygieine  Schritt  j  besser  als  aus  irgend  einem 
historischen  Bericht  erscheint  uns  die  hohe 
Entwickelung  Roms  noch  heute  an  den 
Resten  seiner  Wasserleitungen,  die  ohne  die 
Hilfsmittel  unserer  Zeit  unsere  heutigen 
Wasserversorgimgen  in  den  Schatten  stellen, 
seine  Badeanstalten,  deren  Ausdehnung  (Bäder 
des  Caracalla)  die  unserer  grössten  Bau- 
ten übertrifft.  Die  hygieinischen  Massregeln 
passen  sich  im  einzehien  den  äusseren  Le- 
bensbedingungen der  Völker  an.  Ein  be- 
sonders klares  Beispiel  zeigt  die  Umgestal- 
tung des  Begräbniswesens  bei  verschiedenen 
Nationen:  Höhlengräber  und  Katakomben 
im  alten  Egypten  mit  seinem  begrenzten 
Ackerbaugebiet;  weitausgedehnte,  der  Kultur 
für  immer  entzogene  Gräberflächen  in  den 
weiten  Ebenen  Babyloniens  und  Chinas; 
auf  die  Wiedereinführung  der  Feuerbestat- 
tung gerichtete  Bestrebungen  der  Neuzeit 
durch  die  zunehmende  Einengung  des  Bodens 
für  die  wachsende  Bevölkerung.  In  der 
Neuzeit  haben  sich  die  Bestrebungen  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  noch  beson- 
ders nach  einer  Seite  entwickelt,  die  sich 
aus  der  mit  der  Kulturentwickelung  ge- 
steigerten Empfindlichkeit  des  modernen 
Menschen  ergiebt.  Die  Bekämpfung  der 
epidemischen  Krankheiten  hat  diese  alsFolgen 
parasitärer  Infektion  erkannt.  Wie  die 
Schädlinge  des  Weinstockes  (Reblaus)  vor- 
wiegend nur  die  domestizierten  Reben  töten, 
wälu'cnd  die  ursprünghche  amerikanische  Re- 
be Widerstand  leistet,  so  haben  die  Schädlinge, 
welche  die  mörderischsten  Krankheiten,  vor 
allem  die  Tuberkulose,  bewirken,  erst  dm'ch 
die  Domestikation  Boden  gefunden.  Schwere 
Wunden  werden  von  den  niederen  schwarzen 
Rassen  weit  besser  ertragen  als  von  dein 
für  die  Wundinfektion  empfänglichen  Euro- 
päer. Die  Unempfindüclikeit  des  Negei-s 
gegen  Sumpffieber  macht  ihn  im  Gegensatz 
zum  Europäer  zum  Plantagenarbeiter  ge- 
eigneter u.  s.  f.  Die  Höhe  der  Entwickelung 
der  modernen  Hygieine  liegt  in  deren  Vor- 
gehen gegen  die  Infektionskrankheiten.  Die 
speciell  mit  diesen  beschäftigte  Bakteriologie 
ist  zur  Zeit  das  am  meisten  beai'beitete 
Feld  der  wissenschaftlichen  Hygieine  ge- 
worden. 

Hygieine  der  Neugeborenen.  Die 
Gesundheit  des  Neugeborenen  hängt  in  ei'ster 
Linie  ab  von  der  ihm  zugefallenen  Körper- 
konstitution, in  zweiter  Linie  von  den 
E  r  n  ä  hr  u  n  gs  V  e  r  hä  1 1  n  i  s  s  e  n. 

Die  Körperkonstitution  wiixl  l»e- 
einflusst  durch  die  eigene  Gesundheit  der 
Eltern ;  sie  kommt  zum  Ausdruck  diuxih  das 
Auftreten  erblicherErkrankungen  am 
Neugeborenen.  Als  solche  erscheinen 
vor  allem  Geschlechtskrankheiten. 
Von  diesen  ist  unmittelbar  erblich  die  Sv- 


GesTinclheitspflege,  öffentliche 


249 


philis,  deren  Verhütung  daher  eine  Auf- 
gabe der  Hygieine  des  Vorlebens  der  zeu- 
genden Eltern  darstellt  (s.  unten  Prostitution). 
Als  Ansteckung  bei  dem  Geburtsvorgang  oder 
während  der  Pflege  des  Neugeborenen  durch 
Venuireinigung  mit  den  Absonderungen  der 
mutterlichen  Geburtswege  erscheint  die 
Gruppe  der  Trippererkrankimgen.  Das 
öffentliche  Interesse  desselben  liegt  in  der 
Entstehung  zu  Sehstörungen  und  Erblindung 
führender  Augenkrankheiten  (Ophthalmoblen- 
norrhoea  neonatorum).  Weitaus  die  Mehrzahl 
der  Erblindungen  ist  auf  diese  Krankheit 
ziuückzuführen ;  ihre  Bekämpfimg  liegt  in 
der  von  Credo  in  Leipzig  eingeführten, 
jetzt  den  Hebammen  obligatorisch  vorge- 
schriebenen Behandlung  der  Augen  des  Neu- 
geborenen durch  Einträufeln  von  Höllenstein- 
lösungen. Als  seltene  Ausnahme  erecheint 
direkte  Vererbung  der  Tuberkulose.  Un- 
mittelbar vererbt  sind  in  vielen  Fällen  Er- 
krankungen des  Nervensystems, 
besonders  Epilepsie  und  Idiotie;  sie 
erscheinen  als  Schluss  der  Entartung  bei 
erblich  zu  solchen  Krankheiten  veranlagten 
oder  durch  Trunksucht  dazu  gelangten 
Eltern.  Unmittelbar  erblich  sind  ausser- 
dem gewisse  Erkrankungen  des  Blutes, 
besonders  die  sogenannte  Bluterkrank- 
heit —  In  anderen  Fällen  vererbt  sich 
nur  die  Anlage,  die  Neigimg  zur  Er- 
krankimg in  der  den  Eltern  gleichen  Weise. 
Speciell  gilt  dies  von  der  Tuberkulose,  in 
dieser  Form  der  Vererbimg  Skrofulöse 
genannt.  Wahrscheinlich  ^t  dasselbe  von 
der  Lepra.  Aufgabe  der  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege ist  in  diesen  Fällen  möglichste 
Beschränkung  der  Ehen  derartig  erkrankter, 
zur  Zeugung  ungeeigneter  Individuen.  Teil- 
weise möglich  ist  dies  durch  ausgedehnte 
Gründimg  von  Heimen  für  Epilep- 
tische unter  Trennung  beider  Geschlechter, 
Leproserien,  Pflegeanstalten  für 
Schwindsüchtige,  die  vielfach  aus 
Pflegebedürfnis  heiraten. 

Die  Ernährungsverhältnisse  der  Neu- 
geborenen sind  wesentlich  von  den  sozialen 
Zuständen  abhängig.  Die  natürliche  Er- 
nährung durch  die  Mutterbrust  ist  einer 
grossen  Zahl  der  Kinder  vorenthalten.  Viele 
Mütter  können  nicht  stillen,  weil  durch 
Volksgewohnheiten  —  Schnürtracht  mancher 
Landesteile  in  Frauken  und  Schwaben 
—  die  Brust  degeneriert  ist,  andere  weil 
durch  Jahrhunderte  gebrauchsmässig  oder 
unter  dem  Druck  äusserer  Verhältnisse 
die  Mütter  nicht  gestillt  und  so  die 
Entartung  herbeigeführt  haben.  Aber  auch 
von  den  zum  StiUen  geeigneten  Frauen, 
nach  Hegar  etwa  70%,  kann  die  Mehi-- 
zahl  dieser  Pflicht  nicht  nachkommen,  weil 
sie  bereits  während  der  Aufziehung  des 
Kindes  benifsmässig  in  einer  Weise  arbeiten 


müssen,  die  das  Stillen  verhindert,  ganz  ab- 
gesehen von  der  eigenen  ungenügenden  Er- 
nährung, die  die  Milch  versiegen  macht. 
An  Stelle  der  natürlichen  tritt  die  künstliche 
Ernährung.  Dieselbe  geschieht  am  besten 
mit  Kuhmilch.  Statistisch  ist  festgestellt, 
dass  die  Sterblichkeit  der  Kinder  in  den 
ersten  5  Lebensmonaten  bei  Brusternährung 
7,  bei  Kuhmilch  16,  bei  Surrogaternähnmg 
ca.  70  pro  mille  beträgt.  Die  wichtigste  Auf- 
gabe der  öffentlichen  Gesundheitspflege  für 
die  Hygieine  der  Neugeborenen  ist  die  Re- 
gelung der  Milchproduktion  durch 
Ueberwachung  der  Molkereien,  besonders 
durch  Beschaffung  gesunden  Milchviehes. 
Nachweislich  wird  ein  grosser  Teil  der 
Tuberkulose  des  frühen  Kindesalters  durch 
die  Milch  hervorgerufen.  Es  erscheint  weniger 
wichtig,  die  Koncentration  der  Milch  durch 
Trockenfüttorungsanstalten  (Muster  die  Frank- 
furter Anstalt)  als  deren  Keimfreiheit  durch 
Ausrottung  der  Tuberkulose  zu  erreichen. 
Letzteres  ist  in  Dänemark  nahezu  gelungen 
durch  die  Impfung  des  Rindvdehes  mit 
Koch  scher  Tuberkellymphe  und  Schlach- 
tung aller  dabei  als  krank  erkannten  Tiere. 
Neben  der  Qualität  der  Milch  sind  die  so- 
zialen Verhältnisse,  unter  welchen  das  Neu- 
geborene aufwächst,  für  die  Öffentliche 
Gesundheitspflege  von  weittragendster  Bedeu- 
tung. Sobald  die  Mutter  gezwungen  ist, 
an  der  Erwerbsthätigkeit  zur  Erhaltung  der 
Familie  Teil  zu  nehmen,  ist  das  Kind  frem- 
den Händen  überlassen,  die  aus  Bequem- 
lichkeit zur  Ueberfüttermig  des  Kindes  ihre 
Zuflucht  nehmen,  um  sich  vor  dem  Kinder- 
geschrei zu  schützen;  in  gleichem  Masse 
geschieht  dies  übrigens,  wenn  die  Mutter 
ihr  Kind  der  Arbeit  wegen  länger  verlassen 
muss  als  auf  die  Dauer  der  physiologischen 
Pause  zwischen  den  einzelnen  Nahrungs- 
aufnahmen —  3  Stunden  —  und  zu  diesem 
Zwecke  die  gefüllte  Flasche  zu  dem  Kinde 
legt.  Es  entsteht  als  Folge  der  Ueber- 
f  ütterung  die  verbreitetste  Volkskrankheit  des 
Kindesalters,  die  rhachitische  Erwei- 
chung der  Knochen  mit  ihren  Begleiter- 
scheinungen, besonders  den  eine  der  häufigsten 
Todesursachen  des  Kindesalters  bildenden 
»Krämpfen«.  Auf  diese  Krankheit  sind  die 
häufigen  Verkrümmungen  des  Skeletts, 
X-Beine,  0-Beine,  Buckel,  zurückzuführen. 
Eine  schwerwiegende  volkswirtschaftliche 
Schädigung  erwächst  ausserdem  aus  der  Rha- 
chitis  durch  die  dauernde  Beeinflussung  des 
weiblichen  Beckens,  das  sogenannte  platte 
rhachitische  Becken,  das  häufigste  Ge- 
burtshindernis. Tritt  zu  der  üeberfüttening 
ünreinlichkeit  und  mangelhafte  Kleidung 
hinzu,  so  erliegen  die  Kinder  ihren  Folgen  in 
Massen;  daher  die  grosse  Sterblichkeit  der 
ausserehelich  geborenen  Kinder,  für  welche 
fast  ausnahmslos  die  Brustemähiimg  weg- 


250 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


fällt;  ziffernmässig  ist  deren  Sterblichkeit 
mit  120  pro  mille  gegen  70  pro  mille  bei 
Surrogaternährung  ehelicher  Kinder  festoe- 
stellt.  Die  Aufgabe  der  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege ist  die  Schaffung  von 
Kin  derbe  wahran8talten,»Krippen«  zur 
Vorbeugung,  von  eigenen  Kleinkinder- 
hospitälern  mit  grossem  Pflege- 
personal zur  Heilung  dieser  Zustände.  Der 
Gesellschaft  liegt  es  ausserdem  ob,  durch 
ausgiebige  Frauenüberwachung  Schematis- 
mus und  maschinenmässigen  Schlendrian 
ohne  Individualisienmg  fernzuhalten. 

Hygieine  der  Kindheit.  Ist  das 
Neugeborene  bis  zu  der  Reife  gediehen, 
welche  bei  Brustkindern  das  Entwöhnen, 
bei  künstlich  genährten  die  Aufnahme  an- 
derer als  der  Milchkost  ermöglicht,  so  be- 
ginnt eine  bis  zu  dem  schulpflichtigen  Alt^r 
reichende  Periode,  in  welcher  filr  das  Kind 
specifische  Schädigungen  aus  dessen  Leben 
in  der  Gesamtheit  nicht  erwachsen.  Die 
Aufgaben  der  Gesundheitspflege  für  dieses 
Lebensalter  entspringen  daher  aus  für  das 

gmze  Leben  gemeinsamen  Gesichtspunkten, 
ie  Kinder  leiden  in  dieser  Periode  natürlich 
am  meisten  durch  die  Enge  der  Wohnungen, 
mangelhafte  Lüftung,  imgenügende  Heizung 
und  ungenügende  üeberwachung,  insbeson- 
dere weil  die  Empfängüchkeit  füi-  gewisse 
Infektionskrankheiten  (s.  u.)  in  dem  jugend- 
lichen Alter  eine  grössere  ist.  Der  Aus- 
gleich durch  Schaffung  gesunder  Aufent- 
haltsräume, Kleinkinderbewahranstalten  u.s.f. 
wii'd  aufgewogen  durch  die  Yergrösserung 
der  Infektionsgefahr  bei  der  engeren  Be- 
rühnmg  innerhalb  dieser  Anstalten.  Auf- 
gaben der  öffentlichen  Gesundheitspflege: 
Errichtung  möglichst  zahlreicher 
und  dadurch  nicht  überfüllter 
Kinderbewahranstalten,  Kinder- 
gärten und  Kleinkinderschulen 
mit  ausgiebiger  ärztlicher  Üeber- 
wachung. Letztere  hat  in  erster  Linie  auf 
die  schnellste  Isolierung  ansteckend 
Kranker  zu  wirken;  für  Waisenhäuser 
und  Kolonieen  sollte  die  Verbring ung 
in  Hospitäler  mit  guten  Isolier- 
einrichtungen obligatorisch  sein. 
Eine  wichtige  Nebenaufgabe  der 
überwachenden  Aerzte  ist,  gerade 
in  diesem  Alter  Anfänge  rhachiti- 
scher  Körperkrümmungen,  Sprach- 
störungen, Erkrankungen  des  Na- 
senrachenraumes, Schielen  schon 
vor  dem  Eintritt  in  das  schul- 
pflichtige Alter  festzustellen  und 
zur  Behandlung  zu  bringen. 

H\'gieine  des  schulpflichtigen 
Alters.  Die  vom  Beginne  des  siebenten 
Lebensjahres  bis  zu  dem  14.  Jahre  reichende 
Lebensperiode  des  Kindes  ist  charak- 
teiisiert    durch    die    obligatorische  Anhäu- 


fung der  Kinder  in  Schullokalen  zum  Zweck 
des  gemeinsamen  Unterrichts  durch  von 
der  Gesamtheit  angestellte  Lehrer  und 
durch  die  körperliche  und  geistige  Inan- 
spruchnahme der  Kinder  ziu-  Enedigung 
gemeinsamer  Arbeitspensen. 

Die  Schule  ist  so  zu  gestalten,  dass  sie 
einerseits  die  Schäden  der  Anhäufung 
vieler  Menschen  nach  Möglichkeit  vermei- 
det, andererseits  durch  ihre  Anlage  die 
aus  den  Schulzwecken  erwachsenden  Ge- 
fährdungen einzelner  Organe  umgeht.  Das 
Schulgebäude  muss  so  gestellt  sein,  dass 
es  den  Kindern  leicht  zugänglich  ist  (Er- 
müdung diux5h  übermässige  Schulwege  etc.) ; 
in  Städten  von  grosser  Ausdehnung  sind 
die  Schulhäuser  möglichst  an  der  Peripherie 
gleichmässig  verteilt  anzulegen,  um  einer- 
seits den  Angliederungen  neuer  Häuserkom- 
plexe Rechnung  zu  tragen,  andererseits 
durch  Benutzung  billigen  Geländes  grosse 
Hofflächen  zu  gewinnen.  Die  Schulzimmer 
sollen  hoch  sein,  ausgiebigen  Luftraum  pro 
Kopf  der  Schülerzahl  jeder  Klasse  gewäh- 
ren, die  Fenster  links  haben.  Die  letz- 
teren sollen,  wenigstens  in  Mitteleuropa, 
am  besten  nach  Süden  orientiert  sein ;  der 
Nachteil  der  direkten  Sonne  ist  durch  ge- 
eignete Jalousieen  auszugleichen.  Die 
Fenster  sollen,  wo  irgend  möglich,  dicht 
an  die  Decke  stossen.  Für  die  Aufbewah- 
rung der  Ueberkleider  sollen  besonder 
Räume  ausserhalb  der  Klassenzimmer  vor- 
handen sein.  Der  Fussboden  soll  dicht,  am 
besten  aus  hartem  Eichenholz  gemacht  sein. 
Gute  Ventilation  durch  zweckmässig  ange- 
legte Klappfenster  im  Sommer,  geeignete 
Heizanlagen  —  am  besten  Niederdruck- 
dampfheizung —  im  Winter !  Beleuchtungs- 
und Heizmaterialien  sind  je  nach  den  loka- 
len Verhältnissen  zu  wählen,  so  dass  eine 
Vorschrift  nicht  denkbai*  ist.  Die  beste  Be- 
leuchtung ist  die  elektrische,  in  idealer  Form 
als  indirekte  Beleuchtung  durch  Bogenlicht 
leider  der  Kosten  we^n  kaum  zu  erreichen. 
Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  ein  grosser  Hof- 
raum  zur  Benutzung  in  den  Zwischenpausen ; 
er  sollte  nicht  unter  5  Quadratjneter  pro 
Kind  betragen,  gut  entwässert  sein,  am 
besten  fester  Sandboden.  Klosettanlagen  soll- 
ten möglichst  ausserhalb  des  Schulgebäudes, 
aber  durch  gedeckte  Gänge  mit  diesen  ver- 
bunden sein.  —  Sehr  vorteilhaft  ftir  die 
Erhaltung  reiner  Luft  in  den  Schulräumen 
ist  Beförderung  der  indi\'iduellen  Reinlich- 
keit der  Schüler  durch  Anlage  von  Bade- 
einrichtungen —  Bmusebädern  —  in  den 
Schulgebäuden;  dieselben  können  in  den 
KelleiTäumen  untergebracht  werden.  Unbe- 
dingt nötig  ist  Versoi'gung  mit  reinem 
Trinkwasser. 

Die  Anhäufung  der  Kinder  in  der  Schule 
begünstigt  die  Ausbreitun  ganstecken- 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


251 


•der  Krankheiten.  Schwei-e  Epidemieen 
können  die  Fr^e  des  Schulschlusses 
nahelegen.  Bei  Krankheiten  mit  langdauern- 
der Inkubationsfrist,  z.B.  Masern,  hat  derselbe 
von  vornherein  wenig  Zweck,  weil  die  An- 
steckung der  scheinbar  gesunden  Kinder 
bereits  erfolgt  ist,  bis  die  Thatsache  fest- 
steht. Ueberdies  ist  nicht  zu  vergessen, 
<lass  die  Kinder  ausserhalb  der  Schule  auf 
Spielplätzen  u.  s.  f.  weiter  verkehren.  Bei 
Auftreten  der  Blattern  ist  obligatorische 
Impfung  aller  Kinder  einer  Klasse 
angezeigt.  Typhus  erfordert  Prüfung 
der  Wasserverhältnisse.  In  allen 
Fällen  ist  die  Femhaltung  erkrankter 
Kinder  auch  bei  nicht  lebenbedroheu- 
den  Infektionskrankheiten  (epidemische  Au- 
genentzündung), femer  der  Geschwister 
derselben,  auch  wenn  diese  die  Krankheit 
überstanden  haben,  bis  zu  einer  Frist  ge- 
boten, welche  länger  ist  als  die  Inkubations- 
dauer der  Krankheit,  z.  B.  bei  Masern  min- 
destens 14,  bei  Scharlach  6  Tage  u.  s.  f. 

Die  Aufgaben  der  öffentlichen  Gesund- 
heitspflege bezüglich  der  aus  den  Schul- 
arbeiten selbst  erwachsenden  Schädigungen 
sind  nicht  minder  zalilreich.  Sie  betreÖen 
die  Körperhaltung  durch  geeignete  Ge- 
staltung der  Subsellien  und  Anpas- 
siuig  derselben  an  die  Körpergrösse  der 
Kinder;  die  letzteren  sollen  ausschliesslich 
nach  der  Körpergrösse  ihre  Plätze  erhalten. 
Gegen  einseitige  Krümmung  der  AVirbel- 
säuJe  wird  möglicherweise  die  Einfüh- 
rung der  Steilschrift  anzustreben  sein. 
Für  Erhaltung  des  Sehvermögens  ist  durch 
Massregeln  zur  Bekämpfung  der 
Kurzsichtigkeit  zu  sorgen;  bei  der 
Prüfimg  der  Zunahme  der  Kurzsichtigkeit 
mit  der  Dauer  des  Schulbesuches  darf  aber 
niclit  übersehen  werden,  dass  die  Anlage 
dazu  angeboren  ist  und  dass  der  Nahearbeit 
in  der  Schule  eine  fördernde,  nicht  eine 
primär  ursächliche  Bedeutung  zukommt.  — 
Von  grösster  gesundheitlicher  Bedeutung 
ist  die  Einhaltung  der  Pausen  zwischen 
den  Unterrichtsstunden.  Insbesondere  ist 
darauf  zu  achten,  dass  der  Befriedigung 
körperlicher  Bedürfnisse  (btuhl- 
und  ürinentleemng)  Zeit  gelassen  wird. 
Das  Verbot,  dies  während  des  Unterrichts 
zu  thun,  ist  verwerflich.  Während  der  Pau- 
sen gehört  den  Schülern  absolut  freie  Be- 
wegung im  Freien  oder  bei  schlechtem 
Wetter  in  den  Korridoren.  Bei  den  Schüle- 
rinnen der  oberen  Klassen  ist  auf  die 
eingetretene  Menstruation  durch 
Befreiung  von  Turn-  und  Singun- 
terricht Rücksicht  zu  nehmen.  — Die 
Schule  hat  darauf  zu  achten,  dass  bei 
mehr  als  dreistündlicher  Dauer 
der  Schulzeit  die  Kinder  Gelegen- 
heit   haben,    etwas    zu    geniessen 


(Einrichtungen  zu  regelmässiger  Verab- 
reichung von  Milch,  an  Unbemittelte  auf 
Kosten  der  Schule   bezw.  der  Gemeinde!). 

Die  geistige  Beanspruchung  duixjh  die 
Schule  vom  Standpunkt  der  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege zu  regulieren,  verlangt  zu- 
nächst eine  möghchst  gleichmässige  Zu- 
sammensetzung des  Schülermaterials.  Min- 
derbegabte und  schwachsinnige  Kinder  sind 
nötigenfalls  auszuschliessen,  am  besten  durch 
Einweisung  in  eigene  Schulen  für 
Minderbegabte.  Ebenso  sind  mit  be- 
sonderen Störungen  (Epilepsie,  Veitstanz) 
behaftete  Kinder  auszuschliessen,  um  Nach- 
ahmung zu  vermeiden ;  Schulepidemieen  wie 
Veitstanz  lassen  sich  manchmal  nur  schwer, 
zuweilen  nur  durch  Schluss  der  Klasse 
unterdrücken.  Die  Unterrichtsdauer  ist  nach 
dem  Schulalter  zu  regulieren;  folgen  mehr 
als  3  Stunden,  so  muss,  um  Uebermüdung 
zu  vermeiden,  dieP^use  zwischen  den 
späteren  Stunden  verlängert  wer- 
den. Der  Beginn  des  Unterrichts 
am  Morgen  soll  nicht  zu  früh  sein, 
um  bei  entfernt  wohnenden  Kindern  Ueber- 
müdung diuxjh  zu  frühes  Aufstehen  zu  ver- 
meiden. Die  Verbindung  körj)erhcher  Ue- 
bungen  mit  dem  geistigen  Unterrfcht  ist  so 
zu  regulieren,  dass  eine  Verlängerung  der 
Schulstunden  auf  Kosten  der  schiüfreien 
Zeit  zu  vermeiden  ist;  es  ist  z.  B.  falsch, 
in  Städten  mehr  Timistunden  zu  geben, 
wenn  dadurch  Nachmittagsunterricht  nötig 
wird.  Die  häuslichen  Arbeiten  sind  soweit 
zu  beschränken,  dass  unter  keinen  Umstän- 
den mehr  als  2  Stunden  denselben  täglich 
zu  widmen  sind;  dagegen  sind  die  Schüler 
anzuhalten,  die  freie  Zeit  durch  Turaspiele, 
Schwimmen,  Schlittschuhlaufen  u.  s.  f.  der 
Pflege  des  Körpers  zu  widmen. 

Die  ausführenden  Organe  der  Schul- 
hygieine  sind  die  Schulärzte.  Dieselben 
haben  durch  regelmässig  zu  wiederholende 
Seh-  und  Hörprüfungen  in  ei-ster  Linie  die 
körperliche  Qualifikation  des  Schülers  zm* 
Teilnahme  am  Unterricht  festzustellen.  — 
Sie  sollen  psychiatrisch  vorgebildet  sein, 
um  Prüfung  der  geistigen  Befähigimg  min- 
derbegabter  Schüler  vornehmen  zu  können. 
Es  ist  eine  offene  Frage,  ob  nicht  eine 
hygieinische  Ausbildung  der  Lehrer  selbst 
nach  diesen  Richtungen  anzustreben  ist.  — 
Die  Heranziehung  der  Schule  zur  Pflege 
der  Volksgesundheit  durch  AnsteUimg  von 
Schulzahnärzten  wird  neuerdings  an- 
gestrebt. Auch  zur  Prophylaxe  der  Ge- 
schlechtskrankheiten durch  Belehmng  der 
Schüler  bei  herannahender  Geschlechts- 
reife schon  in  der  Schulzeit  beizu- 
tragen, ist  von  mehreren  Seiten  in  Vorschlag 
gebracht  worden.  Inwieweit  durch  Vereini- 
gung beider  Geschlechter  in  der  Schiüe 
gegen    die   vorzeitige   Anregimg    sexueller 


252 


Gesundheitspflege,  Öffentliche 


Eegiingen  günstig  eingewirkt  werden  kann 
durch  Erzielung  hannloseren  Yerkehi-es,  ist 
eine  neuerdings  angeregte,  noch  ungelöste 
Frage. 

Der  Erhaltung  der  körperlichen  Gesund- 
heit während  des  schulpflichtigen  Alters 
widmen  sich  eine  Anzahl  besonderer  In- 
stitutionen :  Verabreichung  von  warmer  Kost 
an  Volksschulen,  mit  Rücksicht  auf  die 
Feststellung,  dass  häufig  die  Kinder  nüch- 
tern zur  Schule  kommen;  Gewährung  von 
Ferienaufenthalten  in  reiner  Landluft  (Ferien- 
kolonieen)  oder  Kurorten  (Kindersanatorien 
in  Soolbädem  —  Orb,  Nauneim  —  oder  an 
der  See);  Schulreisen  in  der  Schweiz. 

Hygieine  der  Geschlechtsent- 
wickelung und  des  Geschlechts- 
lebens. Die  Schulzeit  schliesst  annähernd 
in  dem  Alter  ab,  in  welchem  sich  die  ge- 
schlechtliche Reife  einstellt.  Letztere  geht 
dem  Eintritt  in  das  Bei:ufsleben  meist  voran ; 
ihre  Folgen  sind  deshalb  zuerst  zu  behandeln. 
Aufgaben  erwachsen  für  die  öffentliche  Ge- 
sundheitspflege aus  den  mit  dem  Geschechts- 
leben  zusammenhängenden  physiologischen 
Konsequenzen — Geburts-  undWochen- 
bettshygieine  —  und  aus  den  pathologi- 
schen Be^eiterscheinungen  —  Prostitu- 
tion   und    Geschlechtskrankheiten. 

a)  Geburt  und  Wochenbett. 
Der  Geburtsvorgang  tritt  in  die  Reilie  der 
von  der  Gesamtheit  zu  überwachenden 
Vorgänge,  je  mehr  die  sozialen  Verhältnisse 
der  Mehrheit  der  Bevölkenmg  die  Frau  auf 
eigene  Berufsarbeit  hindrängen  und  es  der 
unbemittelten  Familie  unmöglich  machen, 
den  Ausfall  des  Frauenerwerbs,  der  durch 
Schwangerschaft,  Geburt  und  Wochenbett 
bedingt  wird,  aus  eigenen  Mitteln  zu  er- 
gänzen. Unmittelbare  gesundheitliche  Ge- 
fahren bringt  die  Geburt  mit  sieh,  insofern 
die  wichtigste  Wochenbettserkrankung,  das 
Woch  enbettfieb  er,  alsdieFoIge  äusserer 
Einw'irkimg,  Unreinlichkeit  der  bei  der 
Pflege  Beteiligten,  erkannt  ist.  Aufgabe  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  ist  Schulung 
und  Ueberwachung  der  Geburtshelfer  \md 
Wochenpflegerinnen  zu  strenger  »antisc^p- 
tischer«  Reinlichkeit.  Die  grösste  Gefahi-, 
die  in  der  Ansteckung  durch  unsaubere 
Hände  an  Sektionen  beteiligter  Studierender 
gelegen  war,  ist  heute  beseitigt;  die  Sterb- 
lichkeit an  Puerperalfieber  in  grossen 
Städten  auf  weniger  als  1  pro  mille  herab- 
gedrückt. So  treten  jetzt  die  Schädigungen 
in  den  Vordergrund,  welche  durch  unge- 
nügende Schonung  der  Frau  in  der  S(;hwan- 
gerschaft  und  im  Wochenbett  bedingt  sind. 
Die  in  dieser  Hinsicht  bestehenden  Arbeiter- 
schutzgesetze bedürfen  noch  derErweitennig. 
Die  Errichtung  von  Wöchnerinnen- 
asylen ermöglicht  zwar  unbemittelten 
Fi-auen    die    Abhaltung    des    Wochenbettes 


unter  relativ  günstigen  hygieinischen  Be- 
dingimgen,  trägt  aber  dem  ethischen  Be- 
dürfnis keine  Rechnung,  weil  die  Familie 
getrennt  wird.  Die  Hauspflege  vereine 
vermeiden  letzteres,  indem  sie  der  Wöch- 
nerin ermöglichen,  sich  im  eigenen  Heim 
die  nötige  Schonung  zu  gewähren. 

b)Pro8titution  und  Geschlechts- 
krankheiten. Die  Befriedigimg  des  ge- 
schlechtlichen Bedürfnisses  ist  diu'ch  soziale 
Gründe  verschiedener  Art  erschwert  Ge- 
rade in  der  ersten  Zeit  der  geschlecht- 
lichen Reife,  in  der  Zeit  des  heftigsten, 
wenigst  gezügelten  Triebes  ist  die  Ein- 
nahme fast  aller  Männer  zu  gering,  um  die 
gesetzlich  vorgeschriebene  Form  der  Befrie- 
digung und  deren  Folgen,  Ehe  und  Familien- 
unterhalt, zu  ermöglichen.  Ist  die  Lehrzeit 
vorbei,  steht  die  Militärpflicht  im  Wege. 
Dies  einerseits,  die  mangelnde  Erwerbs- 
möglichkeit für  die  Frau  andererseits  führen 
zur  Prostitution  der  letzteren,  d.  h.  zur  ge- 
schlechtlichen Hingabe  der  erwerbslosen 
Frau  an  den  geschlechtsbedürftigen  unfähigen 
Mann  zu  Erwerbszwecken.  Die  Prosti- 
tuierten rekrutieren  sich  thatsächlich  aus 
den  im  Erwerbsleben  Schwächsten,  inso- 
fern die  überwiegende  Zahl  dei'selben  nach- 
weislich  sich  als  minderbegabt 
bis  zum  Schwachsinn  er^weisen. 
Durch  den  Verkehr  mit  Prostituierten  wer- 
den zwei  Bj^nkheilsgruppen  —  Syphilis  imd 
Gonorrhoe?  —  verbreitet,  deren  Bekämpfung 
Aufgabe  der  Hygieine  ist.  Sie  erstrebt 
deren  Lösung  im  allgemeinen  durch  sani- 
tä,re  Ueberwachung  und  Zwangsheilmig  er- 
krankt befundener  Prostituierter.  Beide 
Massregeln  sind  allenfalls  bezüglich  der 
Sypliilis  von  Nutzen,  bezüglich  der  Gonor- 
rhoe fast  ohne  praktische  Bedeutimg,  weil 
diese  Krankheit  gerade  in  den  Formen,  in 
welchen  sie  bei  den  Prostituierten  besteht, 
derart,  dass  letztere  fast  ausnahmslos  kurze 
Zeit  nach  Beginn  ihres  Treibens  an  Gonorrhoe 
erkrankt  sind,  unheilbar  ist.  Die  öffent- 
liche Gesundheitspflege  versagt 
zur  Zeit  gegen  die  Geschlechts- 
krankheiten fast  vollkommen,  wie 
daraus  hervorgeht,  dass  an  80  ^/o  der  männ- 
lichen Bevölkerung  früher  oder  später  in 
ihrem  Leben  Gonorrhoe,  an  15  ^/o  Syphiüs 
ausserdem  gehabt  haben  und  die  Gefahr  der 
Ansteckung  dfer  Frau  in  die  Ehe  tragen. 
Vorschläge  zur  Besserung  gehen  teils  dahin, 
durch  strafrechtliche  Verfolgung  der  wissent- 
hch  Kranken,  welche  Ansteckung  bewirkt 
haben,  und  Anzeigepflicht  der  Aerzte  zu 
wirken,  teils  dahin,  diu'ch  Aenderung  der 
rechtlichen  Stellung  der  Prostituierten  diese 
zu  vemulassen,  sich  freiwillig  einer  sicheren 
und  ausgiebigen  Kontrolle  und  Heilung  zu 
unterzieiien. 

Berufshygieine.    a)  Allgemeines. 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


253 


Mit  dem  Eintiitt  der  Reife  fäUt  der  Eintritt 
in  die  praktische  Berufsthätigkeit  zusammen. 
Eine  solche  liegt  —  wenn  von  der  verhält- 
nismässig klemen  Zahl  der  oberen  Zehntau- 
send abgesehen  wird  —  allen  Erwachsenen 
ob.  Kinderarbeit  sollte  jprincipiell 
ausgeschlossen  sein.  Das  gänzhche 
Verbot  der  Nachtarbeit  von  Kindern  nicht 
nur  in  Fabrikbetrieben,  sondern  auch  im 
Wirtschaftsbetriebe  (Kegeljungen,  BUlard- 
groom  u.  dergl.)  und  im  Hausierhandel 
(Zeitungsverkauf,  Blumenhandel),  im  Bäcke- 
reigewerbe (Austragen  der  Frühbrötchen) 
ist  die  einzige  vom  Standpunkte  der  Ge- 
sundheitspflege mögliche  Erledigung.  Auch 
bei  Tage  ist  das  gesetzliche  Verbot  ge- 
wisser Arbeiten,  vor  allem  in  Bergwerken 
und  Ziegeleien,  zu  verlangen.  Zulässig  ist 
die  Mitarbeit  von  Kindern  bei  ländlichen 
Arbeiten,  wenn  durch  gleichzeitige  geeignete 
Anordnung  der  Unterrichtszeit  daffu*  gesorgt 
ist,  Doppelbelastung  zu  vermeiden.  Die 
Kinderarbeit  in  der  Hausindustrie  bedarf  der 
Einschränkung,  soweit  dieselbe  zur  Nacht- 
arbeit ausartet;  der  mit  ihr  verbundene  öko- 
nomische Gewinn  kann  aber  durch  Ermög- 
lichung einer  besseren  Lebenshaltimg  den 
Nachteil  ausgleichen,  der  aus  der  Beschrän- 
kung der  dem  Aufenthalt  im  Freien  und 
Spielen  ausser  den  Schulstunden  bleibenden 
freien  Zeit  erwächst.  Die  in  richtigen 
Grenzen  gehaltene  Mitarbeit  der 
Kinder  in  kinderreichen  Preletarierfamilien 
kann  durch  Ermöglichung  eines  gewissen 
Wohlstandes  zum  Segen  werden.  In  all 
diesen  Fällen  sollte  die  Altersgrenze  auf 
mindestens  10  Jahre  gesetzt  sein. 

Die  Berufsthätigkeit  jugendlicher  Arbeiter 
in  der  Reifezeit  ist  vom  Standpunkte  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  in  erster  Linie 
wegen  der  unvollkommenen  Ausbildung  des 
Knochensystems  (Deformation  der  Glieder 
—  Plattfuss  der  Bäcker  — )  einzuschränken. 
Für  weibliche  jugendliche  Arbeiter  ent- 
stehen schwere  Schäden  diu'ch  ungenügende 
Schonung  zur  Zeit  der  Menstruation.  Aus- 
führlicheres darüber  siehe  im  Art.  Arbeiter- 
schutzgesetz gebung  oben  Bd.I,S.470ff. 

Eine  Scheidung  der  Berufsarbeit 
nach  dem  Geschlecht  für  Erwachsene 
ist  nötig,  soweit  das  Geschlechtsleben  der 
Frau  die  Arbeitsfähigkeit  einschränkt,  also 
für  die  Zeiten  der  Menstruation,  der 
Schwangerschaft,  des  Wochenbettes  und 
des  Säugens.  Vom  Standpunkte  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege 
besteht  kein  Grund,  nach  irgend 
anderer  Richtung  für  die  in  einem 
Beruf  stehenden  Frauen  Sonderbestim- 
mungen zu  erlassen,  soweit  das  Geschlechts- 
leben nicht  den  Anlass  giebt.  Aus- 
übung der  Geschlechtsfunktion  als  Schwan- 
gere und  Wöchnerin  ist  mit  schwerer  körper- 


licher Ai'beit  unvereinbar.  Die  Menstniation 
bedingt  eine  Einschränkung,  keine  absolute 
Arbeitsunfähigkeit;  durch  einfache  Anord- 
nungen —  Sitzgelegenheit  für  Verkäuferinnen 
und  Kellnerinnen  —  lassen  sich  viele 
Nachteile  vermeiden.  Der  anatomische  Bau 
der  Frau  —  die  Existenz  einer  nachgiebigen 
Partie  am  Beckenboden  —  beschränkt  deren 
Arbeitstüchtigkeit  überaD,  wo  Heben  schwe- 
rer Lasten  und  anhaltendes  Stehen  erforder- 
lich sind.  Gewisse  als  specifische  Frauen- 
berufe angesehene  Arbeiten  sollten  deshalb 
auf  Männer  übertragen  werden;  mehr  als 
die  Hälfte  der  Büglerinnen  leidet  an  Ge- 
bäi-muttervorfall !  Im  allgemeinen  ist  der 
weibliche  Körper  eher  widerstandsfähiger 
als  der  männliche ;  auch  vor  der  Berufsreife 
ist  die  Knabensterblichkeit  grösser.  Die 
durchschnittliche  grössere  Krankheitsdauer 
der  Frauen  bei  geringer  Krankheitshäuflg- 
keit  beruht  darauf,  dass  eine  Krankheits- 
gruppe (Tripper)  durch  ihre  Langwierigkeit 
die  Heüungsdauer  ungünstig  beeinflusst. 

Berufsarbeit  in  höherem  Alter 
verbietet  sich  von  selbst ;  die  physikalischen 
Gründe  sind  grössere  Zerreissbarkeit  der 
Muskeln,  Brüchigkeit  derGefässe  (Blutungen, 
Sclilaganfälle) ,  grössere  Brücliigkeit  der 
Knochen,  Abnalime  der  Sinnesschärfe,  be- 
sonders Trübungen  der  Linse  des  Auges  (Star). 

Gemeinsame  Forderungen  für  jede  Art 
der  Berufsthätigkeit  vom  Standpunkte  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  sind  folgende : 

1.  Festsetzung  einer  maximalen  Arbeitszeit. 

2.  Festsetzung  minimaler  zusammenhängen- 
der Ruhepausen.  3.  Genügende  Pausen  ziu* 
Nahrungsaufnahme.  4.  Anpassung  der  Ar- 
beitslokale an  die  speciellen  Berufe  durch 
Ventilationsanlagen,  Staubschutz,  Desinfekti- 
ons-  und  Waschgelegenheiten.  5.  Ausgiebige 
Belichtung.  Die  Ventilation  der  Arbeits- 
räume verlangt  ein  Luftquantum  von  60 
bis  100  Kubikmeter  pro  Stunde  und  Arbeiter. 
Für  das  grössere  oder  geringere  Lüftungsbe- 
dürfnis ist  massgebend  die  mehr  oder  weniger 
vollkommene  Verhütung  von  Verunreini- 
gungen durch  sich  bildende  Gase  und  Staub. 
Mittel  zur  Erhaltung  reiner  Luft  sind  natür- 
liche Lüftung  durch  Anbringung  von  Abzugs- 
kanälen, Dachreitern;  Anbringimg  von 
Druck-  oder  Saugventilation,  Schachten  mit 
Lockflammen,  Windfängen  auf  Schiffen. 
Nötigenfalls  muss  Desinfektion  der  in  die 
Werkstätten  gelangenden  Materialien  (Lum- 
pen, Borsten)  stattfinden;  schlimmstenfalls 
muss  durch  Arbeiten  mit  Schutzmasken  für 
Einatmen  reiner  Luft  gesorgt  werden.  Wo 
mit  giftigen  Stoffen  gearbeitet  wird,  muss 
besondere  Fürsorge  für  die  körperliche 
Reinlichkeit  der  Arbeiter  getroffen  werden; 
besonders  wichtig  sind  Waschvorrichtungen, 
die  eine  gründliche  Reinigung  der  Hände 
z.  B.  bei  Bleiarbeitern  ermöglichen,  ehe  sie 


254 


Gesimdheitspflege,  öffentliche 


in  den  Pausen  etwas  geniessen.  (Weiss- 
binder, Schriftsetzer,  Akkumulatorenfabriken.) 

b)  Spedelles.  Ein  absoluter  Massstab 
für  den  gesundheitlichen  Mnfluss  der 
einzelnen  Berufsarten  existiert  nicht.  Will 
man  die  Sterblichkeitstafel  als  solchen  an- 
nehmen, so  ist  nicht  zu  vergessen,  dass 
ein  Beruf  günstiger  erscheinen  wird,  wenn 
er  sich  von  vornherein  aus  besser  situier- 
ten  Schichten  reknitieit,  dass  andererseits 
eine  hohe  Sterblichkeit  durch  die  verschie- 
densten äusseren  Einflüsse,  Ernfthnmgs-, 
Wohnungs-,  Sittlichkeitsverhältnisse  bedingt 
sein  kann.  Auch  kann  die  Sterblichkeit 
eines  Berufes  geringer  erscheinen,  wenn 
ihn  der  Arbeiter  gebrauchsmässig  nur  für 
eine  kürzere  Lebensperiode  betreibt,  um  sich 
dann  einem  anderen  Fach  zuzuwenden.  Die 
grosse  Sterblichkeit  der  Angestellten  im  Gast- 
wirtsgewerbe beruht  beispielsweise  unzweifel- 
haft auf  dem  Alkoholismus,  der  nicht  unmittel- 
bar aus  dem  Beruf  hervorgeht ;  Bäcker  nehmen 
in  der  Sterblichkeitstafel  trotz  ihrer  enormen 
Belastung  mit  Geschlechtskrankheiten  u.  s.  f. 
eine  zu  günstige  Stellung  ein,  weil  sie  früh 
den  Beruf  verlassen.  Eine  Anzahl  von  Be- 
rufen mit  den  ihnen  eigentümlichen  Berufs- 
krankheiten und  ihren  Ursachen  giebt  die 
auf  S.  255  folgende  Tabelle. 

Diese  Tabelle  kann  nur  Andeutungen 
geben.  Manche  Industrieen  bieten  eine 
überraschende  Fülle  specifischer  Krank- 
heitsformen, besonders  gilt  dies  von  den 
zahllosen  eigenartigen  Vergiftungen  der 
chemischen  Industrie;  es  entspricht  dem 
die  Mannigfaltigkeit  der  Verhütungsmass- 
regeln. Viele  Berufsarten  sind  noch  gänz- 
lich unbeachtet,  es  fehlt  z.  B.  eine  Hygieine 
des  Lehrerberufs.  Am  ungilnstigsten  stehen 
alle  Berufe,  in  welchen  der  Alkoholismus 
eine  Rolle  spielt  (Wirte,  Kellner).  Am 
schlimmsten  gestalten  sich  aber  die,  in  wel- 
chen Alkoholismus  sich  zu  Arbeit  in  Nässe  und 
Unbilden  der  Wittenmg  gesellt  (Droschken- 
kutscher, Känalarbeiter).  Neben  der  Ver- 
besserung der  Wohnungsverhältnisse  und  der 
Ernähnmg  des  Arbeiters  ist  der  Kampf 
gegen  den  Alkohol  die  wichtigste  Auf- 
gabe der  Benifshygieine. 

Hygieine  der  Kleidung,  der  Er- 
nährung, des  Wohnungs-  und  Ver- 
kehrswesens. Sie  schliessen  sich  dem 
vorigen  Absatz  an,  insofern  sie  der  Haupt- 
sache nach  das  Leben  des  Erwachsenen  an- 
gehen, ausserdem  aber  für  die  gesundheit- 
liche Entwickelung  der  Berufsgruppen  in 
vieler  Hinsicht  massgebend  wenleu. 

a)  Hygieine  der  Kleidung.  Die 
Köq)erbekleidung  hat  ihre  wesentlichen  Auf- 
gaben in  der  Wärmeregulierung  und  der  Rein- 
haltung des  Körpers.  Für  die  Wärmeregulie- 
nuig  ist  massgebend  der  Stoff,  die  Webart, 
die  Schichtung  der  Kleidungsstücke.    Von 


wesentlichster  Bedeutung  ist  das  Wärme- 
leitungsvermögen der  verwendeten  Stoffe, 
das  bei  Wolle  nur  halb  so  gross  ist  wie  bei 
Seide  oder  Leinwand,  bei  durchfeuchteten 
Stoffen  grösser  als  bei  trockenen.  Der 
Wärraeverlust  bei  feuchten  Stoffen  wird 
durch  Verdunstung  gesteigert;  hindert  aber 
die  Durchfeuchtimff  den  Luftdurchtritt  ganz- 
hch,  so  fällt  die  Wärmeabgabe  durch  Ver- 
dunstung ebenso  wie  bei  Gummistoffen 
weg;  nur  Jägersche  Wolle  und  Lah- 
manns Baumwolle  bleiben  auch  nass  luft- 
durchlässig. Da  erstere  gleichzeitig  die 
Wärme  schlecht  leitet,  ist  sie  die  für  mitt- 
lere Klimate  geeignetste,  leider  aber  teuerste 
Bekleidung.  Die  Farbe  der  Kleidung  kommt 
in  Betracht,  wo  sie  Schutz  gegen  Erwär- 
mung von  aussen  gewähren  soU  (Weiss  in 
den  Tropen !).  Auch  bezüglich  der  Reinhal- 
tung bietet  Jägersche  Wolle  Vorzüge, 
weil  sie  am  meisten  Schweiss  aufsaugt  — 
Von  grosser  hygieinischer  Bedeutung  ist  die 
Fussbekleidung :  Anpassung  an  die  Fussform 
im  Stehen,  am  besten  Schnürschuhe ;  niedere 
Absätze! 

Die  Anpassung  der  Kleidung  an  ver- 
schiedene Berufe  kommt  in  der  Praxis  diuxjh 
die  Errichtung  specieller  »Arbeitskleider- 
Fabriken«  zum  Ausdruck.  Hier  wird  auf 
möglichste  Beweglichkeit  des  Körpers  bei 
Bewegungen,  auf  Vermeidung  flatternder 
Klappen  und  Schösse,  auf  besonderes  An- 
schmiegen an  den  Körper  bei  verschiedenen 
Berufen  zu  achten  sein.  Die  Frauenkleidung 
für  die  arbeitende  Frau  hat  sich  in  wesent- 
lichen Dingen  der  Männertracht  zu  nähern: 
geschlossene  Beinkleider,  Verlegung  des 
Kleidergewichts  auf  die  Schidtern  durch 
Anknöpfen  der  Kleider  an  Leibchen  statt 
des  um  ein  Korsett  gelegten  Bundes  (Reform- 
kleidung); Rockbänder  sind  ganz  zu  ver- 
werfen ;  wo  sie  verwendet  werden,  besser  auf 
Korsett!  Besondere  Rücksicht  verdient  die 
Kleidung  der  in  der  Krankenpflege  beschäf- 
tigten Personen:  leichte  Desinfektion!  am 
besten  ausschliesslich  waschbare  Oberkleider 
ohne  die  leider  bisher  noch  gebräuchlichen 
Kragen  und  Capes  der  üblichen  Schwestern- 
kleiduhg.  Wie  das  Korsett  in  der  Frauen- 
kleidung sind  Gürtel  beim  Sport  und  Müitär- 
kleidung  zu  verwerfen.  Auch  hier  möglichste 
Verlegung  des  Gewichts  auf  die  Schultern; 
nur  hülfsweise  soll  der  Tornister  auf  dem 
Becken  ruhen. 

Hygieine  der  Ernährung.  Da  die 
Widerstandsfähigkeit  und  Erhaltung  der 
Leistungsfähigkeit  des  arbeitenden  Körpeis 
von  der  Zusammensetzung  und  der  Qualitflt 
der  Nalu'ungsmittel  abhängen,  so  ist  die 
Ueberwachung  der  Produktion  und  des  Ver- 
triebes der  Nahnmgsmittel  und  die  Kontrolle 
ihi'er  Beschaffenheit  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  der  öffentlichen  Gesundheitspflege : 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


255. 


Beruf 


Bäcker. 


Bergleute. 


Braaer. 
Fleischer. 


Gfirtner. 
Glasarbeiter. 


Hüttenarbeiter. 


Lehrer,  Geistliche. 

Müller. 

Steinmetzen. 

Tabakarbeiter. 


Textilarbeiter. 


Berafsschädliohkeiten 

Mehlstanb. 

Hitze  der  Werkstätten. 

Langes  Stehen  am  Ofen. 
Schlechte     Wohnnngsver- 
hUtnisse. 

Betriebsunfälle. 


Gebückte     Stellung     der 

Schlepper. 
Arbeiten  in  der  Nässe. 
Staubeinatmung. 

Einatmung  von  Dampf. 
Mangelhafter  Sauerstoffge- 

hiSt  der  Luft. 
Arbeiten  in  komprimierter 

Luft. 
Schlechtes  Trinkwasser. 
Massenhaftes  Trinken. 

Betriebsunfälle. 


Genuss  von  rohem  Fleisch. 
Unregelmässige  Tagesein- 
teilung. 
Arbeiten  in  feuchtemBoden. 

Staubeinatmung  der 

Schmelzer, 
üeberanstrengnng  derGlas- 

bläser. 
Strahlende  Hitze. 

Spie^elbelegen  mit  Queck- 

siloer. 
Arbeiten  in  der  Hitze. 
Grelle      Belichtune^      der 

S 'übenden  Metalle, 
altendes   lautes   Spre- 
chen. 

Mehlstaubeinatmung. 

Steinstaubeinatmung. 

Sitzende  Lebensweise. 

Lange  Arbeitsdauer. 

Rekrutierung  aus  schwäch- 
lichen Individuen. 

Vorgebeugte  Haltung  der 
Stickerinnen. 

Ueberlehnen     der    Band- 
weberinnen. 

Staubeinatmung  der  Weber 
und  Spinner. 


Unmittelbare  Berufs- 
krankheiten 

Krankheiten  d.  Atemwege. 
Neigung  zu  infektiösen  Er- 
krankungen. 
Flattfuss. 


Erstickung. 
Verbrennungen       durch 

schlagende  Wetter. 
Verletzungen. 

jumbago  (Hexenschuss). 

Rheumatismus. 
Lungenerkrankungen^Koh- 

lenarbeiterlunge. 
Quecksilbervergiftung. 
Lungenerweiterung. 

Blutungen. 

Anchjlostoma     duodenale. 

Herzvergrösserung  (Säufer- 
herz). 

Wunden  der  Hände,  In- 
fektionen (Panaritien,  Fu- 
runkel). 

Bandwurm. 


Erkältun^krankheiten. 

Diphtherie. 

Lungenkrankheiten. 

Emphysem. 

Bindehautkatarrhe ,       Er- 
blindungen. 
Quecksilbervergiftung. 

Rheumatismus. 
Tagblindheit. 

Kehlkopf-  und  Luftröhren- 
katarrh. 
.Ohron.  Bronchialkatarrh. 
Steinhauerlunge. 


Lungentuberkulose. 

Skoliose,  Kurzsichtigkeit. 

Menstruationsstörungen, 
Aborte. 

Lungenkrankheiten. 


Durch  soziale  Berafs 
Verhältnisse  begüns- 
tigte Erkrankungen 


Tüncher, 
Arbeiter  in  Akku- 
mulatorenfabri- 
ken. 

Wäscherinnen,  Büg-  Langes  Stehen. 

lerinnen. 
Ziegelarbeiter. 


>  Beschäftigung  mit  Blei.       Bleikrankheit. 


Zündholzfabri- 
kation. 


Arbeiten  in  der  Nässe. 
Schlechtes  Trinkwasser. 
Einatmen    von    Fhosphor- 
dämpfen. 


Gebärmuttervorfall. 

Rheumatismus. 
Anchylostoma  duodenale. 
Phosphornekrose. 


Tripper,  Syphilis, 
Krätze. 

Verdauungsstö- 
rungen  durch 
unregelmäs- 
sige Ernäh- 
rung, ungenü- 
gende Pausen 
während  der 
Arbeitszeit. 


Alkoholismus. 


256 


Gresundheitspflege,  öffentliche 


sie  schliesst  sich  der  Berufshygieine  an,  in- 
sofern es  Aufgabe  der  Betnebsleiter  und 
Haushaltungsvorstände  ist,  Quantität  und 
Qualität  der  zu  verabreichenden  Nährmittel 
zu  überwachen.  Man  unterscheidet  Nah- 
rungsmittel im  engeren  Sinne  von  den  Ge- 
nussmitteln. Während  erstere  das  Material 
zur  Bestreitung  der  physischen  Yerbren- 
nungsprozesse  im  Körjper  liefern,  wirken 
letztere  regulierend  —  verlangsamend  oder 
beschleunigend  —  auf  die  Vorgänge  des 
Stoffumsatzes,  ohne  selbst  unmittelbar  in  den- 
selben einzutreten.  In  die  Gruppe  der  Nah- 
rungsmittel gehören  als  "vsdchtigste  Bestand- 
teile Wasser  und  Luft;  den  Genussmitteln 
sind  die  zum  Rauchen  verwendeten  Dämpfe 
—  Tabak,  Haschisch,  Opium  —  und  die 
Parfümerieen  anzureihen. 

a)  Nahrungsmittel.  1.  Luft.  Yon 
den  Bestandteilen  der  atmosphärischen  Luft 
sind  der  Sauerstoff  und  der  stets  in 
wechselnder  Menge  beigemengte  Wasser- 
dampf von  unmittelbarer  Bedeutung;  be- 
züglich der  anderen  konstanten  Bestand- 
teile der  normalen  reinen  Luft  —  Stick- 
stoff, Argon,  Helium  u.  s.  f.  —  ist  eine 
unmittelbare  Beziehung  zum  Wohlbefinden 
des  Menschen  bisher  nicht  bekannt.  Der 
Sauerstoff  findet  sich  in  der  Luft  in  zwei 
Formen:  in  konstanter  Menge  (20,7 ®/o)  als 
normaler  inaktiver  Sauerstoff,  nur  in  Berg- 
werken, Minengängen  und  dergleichen  ver- 
mindert, in  schwankendem  geringem  Be- 
trag als  aktiver  Sauerstoff,  Ozon,  von  Be- 
deutung nur  bei  sehr  reichlichen  Vorkom- 
men durch  anregende  Wirkung  (Messung 
durch  Jodkali  -  Zersetzung ;  es  ist  fraglich, 
ob  die  in  klimatischen  Xurorten  mit  dem 
angeblichen  Ozongehalt  getriebene  Reklame 
einen  Wert  hat).  Der  öehalt  der  Luft  an 
Wasserdampf  ist  von  Bedeutung  für  die 
Wasserausscheidung  des  Körpers.  Zum  Teil 
hängt  der  Wasserdampfgehalt  ab  von  der 
Temperatur  (Taugesetz),  wenn  durch  Sinken 
der  Temperatur  Wasserausscheidung  statt- 
findet (Bestimmung  der  Luftfeuchtigkeit 
durch  Hygrometer,Psychrometer,  Atmometer). 
Von  gesundheitlichem  Einfluss  wird  die  Be- 
schaffenheit der  Luft  aus  physikalischen 
Gründen  durch  den  jeweiligen  Druck  (Ver- 
minderung in  der  Höhe  auf  Bergen,  bei 
Ballonfahrten  durch  die  Abnahme  des 
Partialdruckes  des  Sauerstoffes  (künstliche 
Atmung  von  reinem  Sauerstoff  unter  anderem 
als  Mittel  gegen  Bergkrankheit),  Steigening 
in  Taucherglocken  und  Caissons  (Ohren- 
krankheiten durch  Aufenthalt  in  komprimier- 
ter Luft).  Aus  örtlichen  Gründen  anderer  Art 
ergeben  sich  sonstige  klimatische  Faktoren 
je  nach  der  Wärme,  Windrichtung,  Luft- 
druck und  Feuchtigkeit  Doch  ist  die  un- 
günstige Einwirkung  verschiedener  Klimaten 
allem  Anschein  nach  mehr  von  nebensäch- 


lichen Einwirkungen  —  l^Iiasmen  in  den 
Tropen,  langes  Ausbleiben  des  Lichtes  einer- 
seits, Fehlen  der  Nacht  andererseits  im  Polar- 
klima —  abhängig;  die  Schwierigkeit  der 
Akklimatisation  —  grosser  bei  Europäern  als 
bei  Farbigen  —  hängt  melir  von  der  mit  den 
tropischen  Infektionskrankheiten  verbundenen 
Gefalir  als  von  den  Wärmeeinflüssen  ab; 
daher  leichtere  Akklimatisation  des  Süd- 
länders im  Norden  als  umgekehrt.  Sehr 
gross  ist  die  Akklimatisationskraft  der  Chi- 
nesen (Kulis)-  von  den  weissen  Rassen  am 
grössten  die  der  Juden.  —  Verunreinigungen 
der  Luft  sind  teils  gasförmiger,  teüs  fester 
Natur.  Von  den  gasförmigen  ist  die  wich- 
tigste die  Kohlensäure;  sie  ist  unschädlich 
in  geringer  Menge  bis  zu  0,03  ^/o;  schäd- 
lich schon  bei  mehr  als  0,1  ®/o.  Da  sie  in 
der  tierischen  Ausatmung  produziert  wird 
—  in  der  Natur  kompensiert  durch  Kohlen- 
säure -  Einatmung  der  Pflanzen  —  so 
kann  schon  die  Anhäufung  der  Menschen  in 
ungenügend  ventilierten  Räumen  schädlich 
und  tödlich  werden;  das  früher  angenom- 
mene »Anthi'opotoxin«  beim  Sterben  z.  B.  in 
Schiffsräumen  zusammengepresster  Menschen 
ist  die  Kohlensäure.  Weitere  schädliche  gas- 
förmige Beimengungen  der  Luft  liefert  die 
chemische  Industrie  (schweflige  Säure, 
Schwefelkohlenstoff,  Chlorwasserstoff,  Queck- 
silbertlampf ) ,  die  langsame  Verbrennung 
faulender  Substanzen  (Sumpfgase).  —  Feste 
Verunreinigungen  nennt  man  Staub;  man 
kann  anorganischen  Staub  (Steinsplitter, 
Kohlenstaub)  mit  den  von  ihm  abhängigen 
Staubinhalationskrankheiten  -^  Anthracose  in 
Kohlenbergwerken,  Siderose  in  Feüenhaue- 
reien,  Steinhauerlunge  u.  s.  1  — ,  organischen 
Staub  (Mehl  in  Müllereien)  und  organisierter 
Staub  —  Mikroben  der  Luft  —  unterschei- 
den. Letztere  bilden  in  Masse  die  Ursache 
gewisser  Epidemieen  (Influenza-Invasion  in 
Perioden  östlicher  Winde);  Aufgaben  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  bezüglich  der 
Luft  sind:  Regulierung  des  Aufenthaltes 
unter  ungünstigen  Druckverhältnissen  (kurze 
Arbeitszeiten  bei  Arbeiten  im  Hochgebirge,  bei 
Caissonarbeiten),  Reinhaltung  der  Luft  (Ven- 
tilation in  Schulräumen,  Sälen;  Entstaubung 
der  Mühlenbetriebe;  Bekämpfung  des  Aus- 
trocknens bakterienhaltigen  tuberkulösen  Aus- 
wurfes), Reguliening  der  Lufttemperatur  (Hei- 
zungsanlagen:  Einzelheizungen,  Oefen,  am 
besten  gut  ventilierende  Dauerbrandöfen 
[irische]  und  Gasöfen,  wegen  der  fehlen- 
den Staubentwickelung  —  am  ungünstigsten 
Flammöfen  ohne  Abzug  —  Petroleum !).  Die 
unbedingt  beste,  die  elektrische  Heizung,  ist 
vorläufig  noch  zu  teuer,  um  in  Betracht  zu 
kommen.  Centralheizungen :  Luftheizungen; 
Wasserheizungen  (am  besten  Mitteldruck- 
heizung mit  Wasser  von  115 — 120^,  bei  einer 
Atmosphäre    üeberdruck),   Dampfheizungen, 


Öesundheitspflege,  öffentliche 


257 


(am  besten  als  Hochdruckheizung  in  Ver- 
bindung mit  Dampf wasseröfen,  welche  die 
Wärme  des  überhitzten  Dampfes  aufnehmen 
und  behalten). 

2.  Wasser.  Trinkwasser  soll  klar  und 
geruchlos  sein ;  zu  kontrollieren  ist  sein  Ge- 
halt au  Salzen  (hartes  imd  weiches  Wasser), 
seine  Reinheit  von  organischen  Substanzen 
luid  von  Bakterien  (Verbreitung  von  Epide- 
mieen  durch  Trinkwasser).  Zur  Benutzung 
eignen  sich  der  Reihe  nach  Quellwasser, 
Gh-imdwasser,  Wasser  aus  naturlichen  Seeen ; 
aus  künstlichen  Thalsperren ;  filtriertes  Fluss- 
wasser. Je  nach  den  Veninreinigungen  muss 
das  Wasser  vor  dem  Gebrauch  vorbereitet  wer- 
den (Enteisenung  eisenhaltigenGrundwassers ; 
Filtration  bakterienhaltigen  Wassers  durch 
Hausfilter,  auf  chemischem  Wege,  durch 
Kochen  u.  s.  f.).  —  Eis  soll  nur  aus  keim- 
freiem Wasser  bereitet  zu  Speisezwecken 
verwendet  werden  (KristaDeis  aus  destil- 
liertem Wasser).  Ebenso  künstliche  Mineral- 
wässer. 

3.  Milch.  Die  Brauchbarkeit  der  Milch 
hängt  ab  von  der  Reinlichkeit  bei  der  Milch- 
produktion.  Zu  kontrollieren  sind  durchweg 
Fettgehalt,  specifisches  Gewicht,  Keimfrei- 
heit(Bacillengehalt  der  Milch  von  tuberkulösen 
Tieren).  Bei  Epidemieen  —  Typhus,  Schar- 
lach, Diphtherie  —  kann  die  Milch  Krank- 
heitsträger sein,  ebenso  Milchprodukte  (Käse, 
Butter).  Für  die  Säuglingsernährung  ist 
zweckmässig  Sterilisation  (Soxleth-Apparate), 
die  jetzt  in  Molkereien  im  Grossen  geschieht,' 
vielfach  unter  weiterer  Präparation  zur  An- 
näherung an  die  Muttermilch  (Fettmilch  nach 
Gärtner,  Labmüch  nach  Backhaus). 
—  Den  Milchprodukten  anzureihen  ist 
Margarine  (Kuustbutter ;  Mischungen 
von  reinen  Fetten  mit  Milch  oder  Ranm 
und  Seaamöl)  (Margarinegesetz !)  vom  hygiei- 
nischen  Standpunkte  der  Butter  bei  rein- 
licher Darstellung  füi*  die  Volksernährung 
gleichwertig. 

4.  Fleisch;  Eier,  Fleischprodukte.  Auf- 
gaben der  öffentlichen  Gesundheitspflege. 
Ceberwachung  der  Schlachthöfe  bezügbch  der 
Gesundheit  des  zu  schlachtenden  Viehes 
(Perlsucht  der  Rinder  wegen  Tuberkulose- 

rifahr,  Trichinose  des  Schweines), 
innen  (Bandwurmkeime)  bei  Rind  und 
Schwein;  und  der  Frische  des  Fleisches 
(Wurstgifte  durch  Fäulnis,  Muschelgifte  bei 
aus  ungünstigem  Wasser  kommenden  Aus- 
tern!). In  Städten  Kühlanlagen  zur  Frisch- 
erhaltung des  Fleisches;  Kochanlagen'  zur 
Sicherung  der  Keimzerstörung  in  für  die  Frei- 
bank bestimmtem  minderwertigen  Fleische. 
Ueberwachung  des  konservierten  Fleisches  be- 
züglich metallischer  Gifte  aus  dem  Material 
der  Büchsen.  —  Die  Rolle  des  Fleisches  für 
die  Entstehung  gewisser  Krankheiten  ist  viel- 
seitiger als  gewöhnlich  angenommen.    Band- 1  heiten).  —  Eine  grosse  Bedeutung  für  die 

Handwörterbuch  der  Stafttswiasenscbaften.    Zweite  Auflage.    IV.  17 


würmer(Bothrycephalus)  der  Fische,  Stralilen- 
püze  bei  Wiederkäuern  sind  erst  seit  kurzem 
nach  dieser  Richtung  gewürdigt.  Wichtigster 
Schutz  das  Kochen !  —  Dem  Fleische  anzu- 
reihen sind  die  Eier;  in  erster  Linie  Vogel- 
eier ;  ihr  Nährwert  ist  dem  des  Fleisches  noch 
überlegen;  auch  den  Fischeiern  —  Caviar 
kommt  ein  hoher  Nährwert  zu.  Der  Eierhandel 
bedarf  grösserer  ueberwachung;  besonders 
bezüglich  des  Verkaufs  sogenannter  Bruch- 
eier an  unbemittelte.  —  Bedeutung  haben 
die  neuerdings  auch  im  täglichen  Gebrauch 
häufig  verwendeten  Fleischprodukte.  Fleisch- 
extrakt (kondensierte  Bouillon,  Liebigs 
Fleischextrakt),  peptonisiei'tes  Fleischeiweiss 
(Fleischpepton  von  Kemmerich),  sie 
stehen  sich  wie  Fleischbrühe  und  Suppen- 
fleisch gegenüber;  eine  Mittelstellung  kommt 
den  Fleischsäften  —  Garne  puro,  Valen- 
tines  meat  juice,Maggis  Suppenwürze 
zu.  Eine  specielle  Aufgabe  der  öffentlichen 
Gesimdheitspflege  wird  es  sein,  durch  Ana- 
lysen der  Öffentlichen  chemischen  ünter- 
suchungsämter  deren  wirklichen  Nährwert 
festzustellen,  um  den  Preis  dieser  teilweise 
in  die  Volksemährung  übergegangenen  Pro- 
dukte durch  Vergleich  auf  die  richtige  Höhe 
zu  normieren. 

5.  Mehlarten,  Kartoffeln.  Ihr 
Nährwert  beniht  in  erster  Linie  auf  ihrem 
Gehalt  an  Stärke,  die  in  der  inneren  Masse 
des  Kornes,  und  IQeber  —  Eiweisskörper  — 
die  unter  der  Hülle  des  Kornes,  der  Kleie, 
haften;  kleienhaltige  Brotsorten  (Pumper- 
nickel, kölnisches  Schwarzbrot,  Gfrahambrot) 
sind  daher  reicher  an  Nährstoffen  als  z.  B. 
reines  Weizenbrot;  doch  ist  die  Ausnutzung 
im  Verdauungskanal  weniger  günstig,  weu 
die  Lockerung  beim  Backen  weniger  voll- 
kommen ist.  Da  das  Brot  durch  das  Backen 
sterilisiert  wird,  ist  es  bezüglich  Krank- 
heitsübertragung die  günstigste  Form  der 
Mehlnahrung.  Gesundheitlich  ungeeignet  ist 
wenig  gelockertes  Brot;  schädSch  durch 
Feuchtigkeit  verschimmeltes  Brot  (Möglich- 
keit von  Schimmelpilzki'ankheiten).  Andere 
Formen  der  Mehlnahrung  (Breie,  Puddinge) 
ermöglichen  bessere  Ausnutzung,  bieten  aber, 
weü  sie  meist  nicht  zur  Massen nahrung  wer- 
den, ein  geringeres  hygieinisches  Interesse. 
Bemerkenswert  ist  die  Gefahr  des  Genusses 
verdorbenem  Mais  dim^h  die  vermutlich 


von 


zu 


wegen  ihrer  ursächHchen  Beziehung 
Geistesstörungen  wichtige  Pellagra.  Vom 
Standpunkte  der  öffentlichen  Gesundheits- 
pflege wichtige  Beimengimgen  der  Mehle 
und  Verfälschungen  (Mischung  schwerer  mit 
minderwelligen  Mehlen ;  Zusatz  von  Schwer- 
spat), Gehalt  an  giftigen  Unkrautarten 
(Kornrade,  Taumellolch)  Pilzen  (Sesale  cor- 
nutum,  Ursachen  der  Kriebelkrankheit, 
Actinomyces,  Ursache  der  Strahlenpilzkrank- 


258 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


Volksemähmng  kommt  neuerdings  den 
durch  Rösten  oder  Verarbeitung  mit  Milch 
präparierten  Mehlen  zu:  Rademanns, 
Ku  fekes  Kind  er  me  hl,  Knorr  8  Hafer- 
mehl, Nestles  Kindermehl,  Mellins 
Food  u.  8.  f.  Bei  der  zunehmenden  Ver- 
breitung derselben  werden  sie  ähnlich  wie 
die  Fleischkonserven  der  öffentlichen  Kon- 
trolle zu  unterstellen  sein.  Dasselbe  gilt 
von  den  neuerdings  viel  verbreiteten  Malz- 
kaffees.  —  Die  Kartoffel  und  die  ihr  ähn- 
liche Batate  stehen  in  ihrem  Nährwerte  den 
Mehlen  nahezu  gleich  nach  deren  Gehalt 
an  Stärke,  etwas  niedrer  nach  dem  an  Ei- 
weiss.  Schädlich  wird  die  Kartoffel,  wenn 
sie  verdorben  genossen  wird,  sei  es  durch 
Gefrieren  und  spätere  Fäulnis,  sei  es  durch 
Krankheiten  (Pilzinfektion). 

6.  Zucker.  Ein  Produkt  der  vei-schie- 
densten  Pflanzen  ist  der  fabrikmässig  rein 
dargestellte  Zucker  nahe  daran,  aus  seiner 
früheren  Stellung  als  Genussmittel  mehr 
und  mehr  zum  Nährmittel  zu  werden ;  schon 
jetzt  werden  pro  Kopf  der  Bevölkerung  in 
Deutschland  ca.  12  Kilo  verbraucht.  Immer- 
hin darf  bei  den  ziu*  Zeit  sich  abspielenden 
Bestrebungen,  den  Zucker  in  reiner  bezw. 
durch  Zusatz  von  Citronensaft  u.  dgl.  modi- 
fizierter Bonbonform  in  die  Ernähnmg  der 
Soldaten  einzuführen,  nicht  übersehen  werden, 
dass  der  Wert  des  Zuckers  als  Wärmebilder 
kaimi  grösser  als  der  der  Stärke  und  nicht 
halb  so  gross  als  der  des  Fettes  ist.  Zur 
Verwendung  kommt  der  Zucker  in  der  Form 
des  gewöhnlichen  Rohr-  oder  Rüben- 
zuckers, femer  als  Milchzucker,  be- 
sonders als  Zusatz  zur  Milch  bei  der  künst- 
lichen Ernährung  der  Säuglinge.  —  Surro- 
gate bilden  die  Fruchtzucker  aus  Fnicht- 
säften,  zu  ihnen  gehört  auch  der  Honig. 
Mischungen  von  Zucker  und  Malton  spielen 
als  Nährmittel  für  Kranke  eine  Rolle.  —  Die 
neuerdings  viel  verbreiteten  künstlichen 
Süssmittel,  Saccharin  u.  s.  f.  sollten  nicht 
einmal  als  Genussmittel,  sondern  höchstens 
als  Arzneimittel  für  gewisse  Kraukheits- 
formen  gelten. 

7.  Leguminosen.  Kakao.  Die  wert- 
vollsten pflanzlichen  Nährmittel  durch  hohen 
Eiweissgohalt ,  bei  Hülsenfrüchten  gleich 
dem  des  Rindfleisches,  bei  Kakao  etwas 
niederer;  daim  kommen  bei  erateren  reich- 
liclie  Stärke,  beim  Kakao  Stärke  und  Fett 
<  Kakaobutter).  Schwer  vei*daulich  ist  die  in 
China  verwendete  an  Eiweiss  noch  reichere 
Sojabohne.  Hygieinisch  wichtig  sind  auch 
hier  wieder  die  künstlich  verdaulicher  und 
wertvoDer  gemachten  Präparate,  von  Le- 
guminosen einerseits  aufgeschlossene  Mehle 
(Hartensteins  Leguminosen),  andererseits 
Mischungen  mit  Fleisch  (Erbswurst),  von 
Kakao  Mischungen  mit  Melilen  (Hafer- 
kakao).    Leguminosen    (Leguminosen- 


kakao, Theinhards  Hygiama),  mit 
Zucker  (Chokoladen).  Durch  seinen  Gehalt 
an  dem  dem  Coffein  verwandten  Theobromin 
reiht  sich  der  Kakao  den  Genussmitteln  ein. 

8.  Andere  Nährmaterialien  aus 
dem  Pflanzenreiche.  Sie  sind  sämt- 
hch  von  geringem  Nährwert,  hauptsäclilich 
als  Zusatznahrung  wertvoll,  insofern  sie  als 
»Ballast«  die  Verdauung  befördern.  Zu 
unterscheiden  sind:  Wurzelgemüse 
(Spargel,  etwas  Eiweiss;  Rüben,  zucker- 
haltig, Meerettich.  Radieschen  und  dergleichen 
fast  ohne  Nänrwert).  Blattgemüse 
(Kohlarten,  etwas  Eiweiss  und  Kohlen- 
hydrate ;  Rhabarber,  etwas  Zucker ;  Pflanzen- 
konserven). Schotengemüse  (Erbsen ; 
Bohnen  etwas  wertvoller  durch  die  eiweiss- 
haltigen  Samen) ;  Obstarten  (Zucker,  Pflanzen- 
säuren); Nüsse  und  Mandeln  (reichlich 
Eiweiss,  des  beigemengten  Fettes  wegen 
schlecht  ausgenutzt,  neuerdings  zu  Meluen 
für  Zuckerkranke  verarbeitet).  Pilze  sehr 
geringer  Nährwert  und  besonders  mit  Rück- 
sicht auf  die  Möglichkeit  von  Vergiftungen 
mit  Unrecht  als  Volksnährmittel  empfohlen. 

—  Bei  Rohgenuss  in  Form  von  Salaten 
wei-den  die  Gemüse  Trager  von  parasitären 
Infektionen  (Spulwürmer  aus  Ablagerungen 
von  Schnecken). 

9.  Salze.  Die  sämtlichen  dem  Tier- 
reiche imd  dem  Pflanzenreiche  entstammen- 
den Nährmittel  enthalten  in  verschiedener 
Menge  die  für  die  Ernährung  unentbehr- 
lichen Salze.  Als  eigentliches  Nahrungs- 
mittel wird  nur  das  Kochsalz  in  Massen 
hergestellt  und  genossen ;  Lösungen  anderer 
Salze  kommen  als  Heil-  und  Genussmittel 
in  Form  von  natürlichen  imd  künstlichen 
Mineral.wässern  zur  Verwendung.  Die  öffent- 
liche Gesundheitspflege  hat  sich  mit  letzteren 
wegen  der  Verwendung  unreinen,  bakterien- 
haltigen  Wassers,  durch  welches  gelegentlich 
Infektionskrankheiten  verbreitet  werden,  zu 
befassen. 

b)  Genussmittel:  1.  Alkoholische 
Getränke.  Hierher  gehören  ausser  Bier, 
Wein,  Branntweinen  alle  durch  alkoholische 
Vergärung  zuckerhaltiger  Flüssigkeiten  her- 
gestellten Genussmittel  (Beerweine,  aus 
Johannis-,  Heidel-,  Stachelbeeren,  Apfelweine, 
Kefir  —  aus  Kuhmilch  —  Kumys  —  aus 
Stutenmilch).  Eigentlichen  Nährwei-t  haben 
nm'  Bier  —  1  Liter  an  Eiweiss  =  ca.  25  g. 
Fleisch,  60  g  Brot,  an  Stärke  =  150  g  Brot 

—  Kefir  und  Kumys.  Sämtlich  sind  sie 
nach  ihrem  Gehalt  an  Alkohol  in  erster 
Linie  zu  beurteilen;  letzterer  ist  das  ge- 
fährlichste Volksgift  durch  seine  Herab- 
setzung der  körperlichen  (hohe  Sterbhchkeit 
der  Wirte  u.  s.  f.)  und  der  geistigen  Wider- 
standsfähigkeit (hohe  Beteiligung  der  Alko- 
holisten an  Geisteskrankheiten  und  Ver- 
brechen).   Aufgabe  der  öffentlichen  Gesund- 


Gesundheitspflege,  öffeutliche 


259 


heitspflege  ist  die  Einführung  alkohol- 
armer Getränke,  Thee,  leichte  Biere; 
bessere  Ernährung:  letztere  vermindert 
den  Bedarf  an  alkoholischen  Eeizmitteln  und 
erhöht  die  Resistenz  gegen  deren  Giftigkeit. 
Angehörige  der  besser  situierten  Schichten 
trinken  ohne  unmittelbaren  Schaden  und 
ohne  unmässig  zu  erscheinen,  wie  sich  be- 
rechnen lässt,  das  gleiche  Quantum  Alko- 
hol (ca.  150  g  in  ^/2  Liter  Wein,  5  Glas 
Bier)  wie  ein  Gewohnheitsschnapssäufer 
(1/2  Liter  30  ^/o  Schnaps).  Die  schädliche 
Wirkung  des  Alkohol  in  Wein  und  Schnaps 
wird  gesteigert  durch  gleichzeitigen  Gehalt 
an  Fuselölen,  die  des  Bieres  durch  den 
Massengenuss  —  12 — 15  Liter  täglich  bei 
Brauern,  infolge  üeberlastung  des  Herzens 
(sog.  Bierherz  in  München).  Schaffung 
von  Trinkerheilstätten! 

2.  Gewürze.  Von  hygieinischer  Be- 
deutung ist  der  Essig  wegen  der  verschie- 
denen Essenzen,  die  gelegentlich  zu  Fäl- 
schungen Aniass  geben.  Wermuth  (Ab- 
sinthtrinker in  Frankreich),  Y  a  n  i  1 1  e  (Krank- 
heiten der  Arbeiter  in  Fabriken,  Vanille- 
Eisvergiftungen)  u.  a.  m. 

3.  Alkaloide.  Coffein:  in  Kaffee  und 
Thee;  als  Reizmittel,  eventuell  in  Thee 
wohl  der  beste  Ersatz  der  Alkoholica ;  Nähr- 
wert von  Kaffee  und  Thee  minimal.  Der 
sogenannte  Malzkaffee  hat  mit  dem  echten 
Kaffee  gemein  seinen  durch  das  Rösten  be- 
wirkten Gehalt  an  Caramel  (verbrannter 
Zucker)  und  den  ähnlichen  Geschmack,  be- 
wirkt durch  Benetzen  der  Malz  (Gersten)- 
kömer  mit  schwachem  Kaffeeaufguss.  Ueber 
Theobromins.  a.u.Leguminosen  undKakao. 
Cocain  wird  von  Indianern  durch  Kauen 
von  Cocablättem  genossen.  Anzureihen  ist 
den  betäubenden  Genussmitteln  das  Betel - 
kauen  gewisser  Völker  (Ai'ecanuss).  —  Dazu 
kommen  die  in  Dampfform  genossenen  Nar- 
cotica:  Nikotin,das  Alkaloid  des  Tabaks, 
Morphin,  das  wirksame  Princip  des  in  China 
gerauchten  Opium;  ihnen  reiht  sich  an  die 
betäubende  Substanz  des  Hanfes  bei  den 
Haschisch  räuchern.  In  sämtlichen  Fällen 
kommen  für  die  öffentliche  Gesundheits- 
pflege leichtere  und  schwerere  Schädigungen 
des  Nervensystems  zur  Geltung. 

4.  Aetherische  Oele.  Pflanzen- 
säuren. Sie  dienen  als  Genussmittel  in  viel- 
facher Form  als  Bestandteil  an  sich  wenig 
wertvoller  Nahrungsmittel,  als  charakteristi- 
scher Bestandteil  von  Schnäpsen  (Orange, 
Pfeffermünze  u.  s.  f.),  zum  Einatmen  als 
Parfüms.  Von  Pflanzensäuren  hat  die 
Citronensäure  sowohl  als  eigentliches  Ge- 
nussmittel (limonade,  Drops)  wie  als  Volks- 
heilmittel  Bedeutung. 

5.  Süssstoffe.  In  Betracht  kommen 
ausser  den  modernen  Zuckersunx)gaten  — 
über  diese  s.  u.  Zucker  —  das  Glycerin, 


vielfach  in  der  Conditorei  verwandt,  der 
Süssstoff  der  Süssholzwurzel  als  Bestandteil 
zahlreicher  Thees  und  Arzneien. 

6.  Mineralische  Genussmittel. 
Bezüglich  der  Mineralwässer  siehe  auch  unter 
Salze.  —  Ausser  diesen  wird  mancherorts 
Arsenik,  bezw.  arsenige  Säure,  in  kleinen 
Mengen  unter  relativer  Gewöhnung  genossen, 
anscheinend  unter  Wirkung  auf  die  Blut- 
mischung als  Substitut  für  eine  gewisse 
minimale  Menge  Eisen. 
•  Wohnungshygieine.  Verkehrshy- 
g  i  e  i  n  e.  Das  Zusammenleben  der  Menschen 
äs  Folge  der  Kulturentwickelung  lässt  diesel- 
ben aus  den  Höhlen  des  Urzustandes  in  künst- 
liche Wohnstätteo  einziehen,  welche  den  Be- 
dingungen des  Zusammenlebens  angepasst 
sind.  Aus  dieser  Anpassung  ergeben  sich 
Aufgaben  der  öffentlichen  Gesundheitspflege, 
die  zum  Teil  mit  volkswirtschaftlichen  Auf- 
gaben sich  decken  und  bei  deren  Bespre- 
chung zu  behandeln  sind.  Für  die  Anlage 
der  Wohnstätte  bestimmend  ist  die  Oert- 
lichkeit  durch  gut  drainierten,  von  Miasmen 
freien  Boden  (Bodenhygieine).  Die  Woh- 
nungen sind  darauf  in  abgemessenem  Ab- 
stand unter  Freilassung  genügender  Luft- 
und  Lichträume  und  mit  Rücksicht  auf  die 
Verkehrsraöglichkeit  zu  gruppieren :  »S  tädt  e- 
hygieine«.  Specielle  Aufgaben  der  letzteren 
sind:  Anordnungen  für  Wasserzufuhr 
(vgl.  oben),  für  Abfuhr  der  Abwässer  (Kana- 
lisation), der  Fäkalien  [(Kanalisation, 
in  Verbindung  mit  Klär-  und  Des- 
infektionsanlagen  bezw.  Riesel- 
feldern; wo  dies  nicht  möglich,  Abfuhr- 
systeme, sei  es  duich  Anlegen  von  öfter 
und  täglich  zu  entleerenden  Tonnen,  sei  es 
durch  in  regelmässigen  Zeiträumen  zu  ent- 
leerende gemauerte  Grubenanlagen,  durch 
mit  Saugvorrichtun^en  nach  L  i  e  r  n  u  r  oder 
Druckluft  nach  Shone  auszupumpende 
Röhrensysteme).  Ganz  zu  verwerfen  sind 
im  allgemeinen  Schwemmkanalisation  mit 
Einleitung  der  imgeklärten  Jauche  in  Flüsse, 
deren  »Selbstreinigung«  nur  in  grösseren 
Strecken  die  Abscheidung  und  Abtötung  von 
Krankheitserregern  bewirken  kann,  einerseits, 
Senkgniben  mit  Einsickern  der  Jauche  in  den 
Boden  andererseits],  Beseitigung  des  Mülls, 
sowohl  des  Haus-  als  des  Strassenkehrrichts 
(Abfuhr  nach  Schuttablagestellen; 
Verbrennung  des  Mülls;  letztere  wohl 
nur  bei  sehr  kohlereichem  Müll  industrieller 
Gebiete  vorteilhaft).  Anlage  von  Luftflächen 
(Promenaden,  Parks;  vorteilhafte  Umge- 
staltung alter  Friedhöfe)  von  staub-  und  lärm- 
freien Strassen  (geräuschlose  Pflaster 
je  nach  Hitze  und  Feuchtigkeitsverhält- 
nissen Asphalt  oder  Holzpflasterungen).  — 
Die  Einrichtung  der  Wohnung  selbst 
hat  zu  berücksichtigen :  Trockenhaltung  des 
Baues ;  Anlage  an  miasmenfreien  Stellen ;  Luft- 

17* 


260 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


und  Lichtverteilung  in  den  Räiunen;  gut 
steigbare  Treppen  zur  Verbindung  der  Ge- 
schosse; Wasserzufuhr;  genügende  Kloset- 
anlagen, letztere  in  möglichster  Trennung 
von  Küchenräumen,  mit  sicherem  Syphon- 
abschluss  von  Kanälen.  —  Die  Aufgaben  der 
"Wohnungs hygieine  liegen  in  erster  Linie 
auf  volkswirtschaftlichem  Gebiet  —  Der 
Verkehr  der  bewohnten  Centren 
untereinander  weist  der  öffentlichen 
Gesundheitepflege  ihre  Aufgabe  zu  in  der  G  e  - 
staltung  der  Verkehrswege  (Brunnen- 
anlagen!); der  Ventilation  und  Rein- 
haltung der  Verkehrswerkzeuge 
(Heizung  der  Eisenbahnwagen ;  Desinfektion 
derselben;  Lüftung  der  Schiffe  u.  a.  m.). 

Hygieine  der  Abfallperiode  des 
Lebens,  a)  Normaler  Verfall  des 
Lebens:  Greisenalter.  Die  Aufgaben  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  ergeben  sich 
für  den  physiologischen  Abfall  des  Lebens 
durch  allraählichen  Krafteverfall  aus  der  Not- 
wendigkeit, für  die  Ernährung  des  ar- 
beitsunfähig gewordenen  (Alters- 
versicherung) und  die  Pflege  des 
hilfsbedürftigen  Greises,  wo  die  Familie 
fehlt  oder  selbst  unfähig  ist  (Siechen- 
häuser  —  s.  unten)  Sorge  zu  tragen. 

b)  Vor  zeitiger  Verfall  desLebens: 
Nach  drei  Richtungen  gliedern  sich  die  Auf- 
gaben der  öffentlichen  Gesundheitspflege,  je 
nachdem  vorzeitige  Stönmgen  der  arbeits- 
fähigen Lebensperiode  durch  äussere  —  Un- 
fälle — ,  diu*ch  das  Individuum  treffende  Ent- 
artungsvoi^nge  (Geisteskrankheiten,  Konsti- 
tutionsanomalieeu),  diu-ch  die  Gesamtheit 
treffende  Schädigungen  (Epidemieen,  Infek- 
tionskrankheiten) bedingt  sind ;  in  allen  drei 
Gnippen  kann  die  Hemmung  der  Erwerbs- 
fähigteit  eine  vorübergehende  oder  dauernde 
sein. 

1.  Unfalls  hygieine.  Im  weitesten 
Sinne  fallen  in  dies  Gebiet  ausser  mechani- 
schen Verletzungen  —  Bauuufälle,  Gruben- 
unglücke, Leuchtgas-,  Schwefelkohlenstoff- 
vergiftungen u.  dgl.  —  alle  aus  Ge- 
werbebetrieben sich  entwickelnden  Schä- 
digungen (vgl.  oben  Gewerbehygieiue).  Aber 
auch  darüber  hinaus  noch  giebt  es  indirekt 
aus  dem  Beruf  hervorgehende  Invaliditäts- 
lU'sachen:  Fehlgeburten  bei  an  Webstühlen 
arbeitenden  Frauen  in  Bandwebereien  u.  dgl. 
m.  Aufgaben  der  öffentlichen  Gesundheits- 
pflege: Krankenfür  sorge  bei  vorüber- 
gehender Unfallsschädigung,  er- 
weitert durch  die  Einrichtung  von  Insti- 
tuten für  medicomechanische  Be- 
handlung, Volkssanatorien  für 
Rheumatismusleidende;  Inyalidi- 
tätsversicherun^bei  dauernderEr- 
werbsunfähigkeit. 

2. Hygieine  der  konstitutionellen 
Entartung.     Diese  tritt  in  Erscheinung 


als  Geisteskrankheit,  Epilepsie,  Nervosität, 
Kriminalität  Die  Entartung  kann  im  Indi- 
viduum erworben  sein,  hauptsächlich 
durch  Alkoholismus  und  Syphilis  (progres- 
sive Paralyse  und  Rückenmarkszehrung) ; 
ausserdem  für  gewisse  Formen  durch  geis- 
tige Ueberarbeitung  (Neurasthenie)  und 
Ueberernähnmg  (Zuckerkrankheit),  durch 
Unterernährung  (Bleichsucht,  Rhachitis).  Sie 
kann  auf  erblicher  Anlage  beruhen 
(erbliche  Geisteskrankheiten  und  Epilepsie, 
konträre  Sexualempfindung,  Verbrecner- 
familien,  Anlage  zur  Kurzsichtigkeit  und  Er- 
blindung) oder  direkt  angeboren  sein 
(Schwachsinn,  Idiotie).  Aufgaben  der  öffent- 
lichen Gesundheitspflege:  Errichtung  von 
Asylen  für  Trinker,  zur  Zeit  noch 
ganz  fehlende  Volkssanatorien  für 
Nervenkranke  und  Bleichsüchtige; 
Anlage  von  Irrenheilanstalten  und 
Asylen,  von  Anstalten  für  Epilepti- 
sche, von  Irrenabteilungen  für 
geisteskranke  Verbrecher  zu  lebens- 
länglicher Detention  für  erblich  belastete 
bez  w .  unverbesserliche  Verbrecher,  Errich- 
tung von  Blindenanstalten,  von 
Schulen  zur  Erziehung  schwach- 
sinniger Kinder  und  Idiotenan- 
stalten. 

3.  Hygieine  des  Kranken-  und 
Epidemieenwesens.  Der  Einfluss  der 
Umgebung  führt  zu  Schädigungen  der  Ar- 
beitsfähigkeit ausser  durch  die  dem  Er- 
werbsleben entstammenden  Stönmgen  diu'ch 
klimatische  Verhältnisse,  vor  allem  aber 
durch  die  Berühnmg  mit  zur  Ansiedelung 
im  menschlichen  Körper  geeigneten  fremden 
Organismen.  Diese  Gruppe  der  Schädigungjen, 
deren  Grundlagen  als  Bakteriologie,  Parasito- 
logie  und  Epidemiologie  den  grössten  Teil  der 
Handbücher  der  Hygieine  füllen,  ist  im 
Wachsen,  zum  Teil  iüdirekt  durch  die  Fort- 
schritte der  Gesundheitspflege  selbst :  je  mehr 
unter  verbesserten  Lebensanordnungen,  durch 
bessere  Kinderernährung,  Wohnungsverhält- 
nisse u.  s.  f.  es  gelingt,  weniger  kräftig  ver- 
anlagte Wesen  am  Leben  zu  erhalten,  wie 
aus  der  Erhöhung  des  mittleren  Lebensalters 
hervorgeht  desto  geringer  ist  die  Wider- 
standsfähigkeit; die  Domestikation  begüns- 
tigt, wie  beim  Weinstock  die  Verheerungen 
der  Phylloxera,  beim  Menschen  die  ver- 
heerende Wirkung  von  »Infektionskrank- 
heiten«, besonders  derjenigen,  deren  Ent- 
stehung von  einer  vorgängigen  krankhaften 
Veranlagung  abhängt  (Zunahme  der  Ki-ebs- 
erkrankungen  und  Auftreten  derselben  in 
weit  jugendlicherem  Alter  als  in  früheren 
Zeiten).  Erkrankimg  durch  Eindringen  oder 
Ansiedelung  von  »pathogenen«  Organismen 
kann  erfolgen  bei  ganz  gesunden  Individuen 
(Trichinose,  Krätze)  oder  auf  Gnmd  einer 
bestehenden  angeborenen  (Tuberkulose)  oder 


Gresundheitspflege,  öffentliche 


261 


2.  B.  durch  Erkältung  erworbene  Disposition 
(Lungenentzündung) — Gegensatz  angeborene 
oder  erworbene  Immunität  —  oder  endlich  bei 
Bestehen  begünstigender  epidemiologischer 
Ursachen,  Steigen  des  Gnmdwassers  (Typhus), 
andauernde  trockene  Witterung  mit  kalten 
Winden  (Influenza).  Der  infizierende  Orcanis- 
mus  kann  dem  Tierreich  (Trichine,  Band- 
wtlrmer  nnd  Finnen,  Leberegel,  Medina- 
wurm, Krätzmilbe,  Läuse  u.  s.  f.),  dem 
Pflanzenreich  [verschiedene  Pilze  —  Mucor, 
Actinomyces,  Sarciua  —  Stäbchenbakterien 
(Bacillen  des  Milzbrandes,  der  Tuberkulose, 
der  Influenza,  des  Heufiebers,  des  Wundstarr- 
krampfes, des  Typhus,  der  Diphtherie),  Kugel- 
bakterien (Mikroorganismen  der  Eiterung,  der 
Blutvergiftung  und  des  Wochenfiebers,  des 
Scharlach,  des  Trippers,  der  Lungenentzün- 
dung), Spiralbaktenen  (Rtickfallfieber),  Vibrio- 
nen (Greisseibakterien  der  Cholera)!,  oder  den 
Grenzorganismen,  den  Protozoen  (rlasmodien 
des  Wechselfiebers)  angehören.  Für  manche 
unzweifelhaft  auf  Infektion  beruhende  Krank- 
heiten ist  der  Träger  noch  nicht,  oder  nicht 
sicher  bekannt  (Krebs  —  Leukämie,  Keuch- 
husten, Syphilis,  Masern,  Hundswut).  Die  An- 
siedelimg  kann  in  für  jede  Krankheit  verschie- 
dener Weise  erfolgen:  auf  der  unverletzten 
Haut,  in  Wunden,  m  den  Schleimhäuten,  den 
Atem-  und  den  Verdauungswegen ;  besonders 
in  letzteren  kann  sie^  durch  BiutüberfüUung 
bei  plötzlicher  Abkühlung  —  Erkältung  — 
begünstigt  werden.  An  diese  Stellen  kann  der 
infizierende  Körper  gelangen  durch  Berüh- 
rung denselben  tragender  Körperteile  (Ge- 
schlechtskrankheiten ;  Diphtherieübertragimg 
durch  Küssen),  Fremdkörper  (schmutzige 
Wäsche,  milzbrandhaltige  Felle),  durch  Ver- 
schlucken (Trichinen  und  finnenhaltiges 
Fleisch ;  aus  bakterienhaltigem  Wasser  stam- 
mende Austern :  cholera-  und  typhushaltiges 
Trinkwasser;  Milch  von  tuberkulösen  Kühen), 
durch  Einatmen  (Influenza,  Tuberkulose), 
durch  üebertragung  von  Insekten  (Wechsel- 
fieber). Die  &krankung  kann  bedingt  sein 
durch  die  örtliche  Reizwirkung  des  Schäd- 
lings (Trichinose),  durch  üeberschwemmimg 
des  Organismus  mit  demselben  und  Erzeu- 
gung seines  Giftes  in  der  gesamten  Blut- 
bahn (Milzbrand),  durch  Ausscheidung  gif- 
tiger Produkte  desselben  am  Orte  seiner 
Ansiedelung  (Wundstarrkrampf,  Diphtherie, 
Cholera).  Wo  Giftausscheidungen  den  Körper 
krank  machen,  kann  derselbe  durch  Bildung 
von  Gegengiften  reagieren;  darauf  beruht 
die  Selbstheüung,  deren  Zustandekommen 
man  als  erworbene  Immunität  bezeichnet; 
diese  kann  von  kürzerer  (Diphtherie)  oder 
längerer  Dauer  (Scharlach)  sein.  Wo  bei  der 
Immunität  die  Gegengifte  in  der  Blutflüssig- 
keit aufgespeichert  sind,  kann  durch  Üeber- 
tragung dieser  Flüssigkeit  von  immunen 
Tieren    ein  nicht  immunes  Wesen  vor  In- 


fektionsschädigung geschützt,  im  Anfang 
der  schon  erfolgten  Ansteckung  sogar 
geheilt  werden  (Senimbehandlung  der  Diph- 
therie nach  Behring).  In  etwas  an- 
derer Weise  lässt  sich  das  Rückenmark 
wutkranker  Tiere  zur  Immunisierimg  und 
Heilung  nach  Paste ur  verwenden.  Bei 
anderen  Infektionskrankheiten  scheint  die 
Empfindlichkeit  durch  einmaliges  Erkrankt- 
sein zu  steigen  (Tuberkulose);  in  solchen 
Fällen  ist  beim  Menschen  wenigstens  eine 
Immunisierung  durch  Gewöhnung  an  das 
Gift  (Kochs  Tuberkulin)  noch  nicht  ge- 
lungen. Die  giftigen  Eigenschaften  der 
Bakterien  können  übrigens  schwanken; 
durch  Aendem  der  äusseren  Lebensbe- 
dingungen kann  man  sie  abschwächen;  ab- 
geschwächte Züchtungen  können  dienen, 
durch  künstliche  Erzeugung  der  gemilderten 
Krankheit,  Immunität  gegen  stark  giftige 
Infektion  hervorzubringen  (Schutzimpfung 
gegen  Milzbrand,  Rauschbrand,  Schweinerot- 
lauf). Andererseits  können  Bakterien,  die 
ihre  Virulenz  verloren  hatten,  sie  durch 
Wechsel  der  äusseren  Bedingungen  wieder- 
erhalten (plötzliches  Wiederauftreten  der 
Cholera).  —  In  der  ^li-de  behalten  manche 
Bakterien  oder  wenigstens  deren  Sporen 
ilire  Giftigkeit  monate-  und  jahrelang; 
manche  Seuchen  können  daher  durch  Be- 
graben nicht  genügend  unschädlich  gemacht 
werden  (Milzbrand).  Auch  bei  verschiedenen 
Tierarten  ist  die  Giftigkeit  desselben  Bacillus 
verschieden;  durch  üeberimpfung  auf  eine 
andere  Tierart  lässt  sich  Abschwächung  er- 
zielen, die  durch  Rückimpfung  zur  Immuni- 
sierung verwendet  werden  kann  (Schutz- 
pocken). Die  Hervorrufung  einer  Krankheit 
mittelst  rein  kultivierter  Bakterien  ist  am 
Menschen  mit  den  Kugelbakterien  des  Rot- 
laufs gelungen. 

Die  Aufgaben  der  öffentlichen  Gesund- 
heitspflege ergeben  sich  aus  der  Erkennt- 
nis der  begünstigenden  Momente  einer- 
seits, aus  der  Bakteriologie  andererseits. 
Die  öffentliche  Gesundheitspflege  hat  sich 
den  einzelnen  Erki-ankungen  anzupassen; 
eine  grosse  Schwierigkeit  erwächst  unter 
Umständen  für  die  ausschliesslich  bakterio- 
logisch begründeten  Massregeln  daraus,  dass 
Schutzmassregeln  gegen  eine  Krankheit 
die  andere  direkt  fördern :  Da  Tuberkulose 
durch  Einatmen  beföi-dert  wird,  weil  ihr 
Erreger  im  trocknen  Staub  verbreitet  wird, 
ist  gegen  sie  durch  Staubbekämpfung,  vor  allem 
also  Feuchtlialten  der  Strassen,  vorzugehen ; 
der  Cholerabacillus  wird  durch  Austrocknen 
zerstört,  feuchte  Wohnungen  fördern  im- 
zweifelhaft  die  Diphtherie !  In  den  Voixier- 
grund  sind  daher  in  erster  Linie  die  allgemein 
hygieinischen  Massregeln  zu  stellen:  Kräfti- 
gung den  Infektionen  ausgesetzter  IndiW- 
duen  durch  gute,  zweckmässige  Ernährung, 


262 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


um  sie  widerstandsfähiger  zu  machen,  Rein- 
lichkeit, um  die  Ansiedelung  der  patho- 
genen  Organismen  zu  vermeiden,  Sorge  für 
reines  Trinkwasser,  Drainage  und  Regulie- 
rung des  Grundwasserstandes  durch  gute 
Kanalisation;  Schaffung  gesunder,  nicht  zu 
dicht  bevölkerter  Wohnungen.  In  zweiter 
Linie  hat  die  Öffentliche  Gesundheitspflege 
jeder  Zunahme  der  Volksinfektionen  nach 
den  Eigentümlichkeiten  der  Krankheit  ent- 
gegenzutreten. Bezüglich  der  verheerendsten 
Seuchen  seien  genannt  —  Tuberkulose: 
Errichtung  von  Yolksheilstätten  mit  beson- 
derer Rücksicht  auf  Belehrung  der  ärmeren, 
besonders  bedrohten  Volksklassen  zm*  Rein- 
hchkeit  und  auf  Fettansatz  gerichtete  Er- 
nährung; Warnung  vor  dem  Genuss  roher 
Milch;  Zerstörung  tuberkulösen  Fleisches 
in  den  Schlachthöfen.  —  Cholera:  Sorge 
für  gutes  Trinkwasser;  in  Epidemiezeiten 
öffentliche  Verteilung  von  abgekochtem 
Wasser ;  Warnung  vor  der  mit  Abfällen  be- 
schmutzten Wäsche.  —  Blattern:  Immu- 
nisierung durch  Kuhpockenimpfung.  — 
Diphtherie:  Gesunde,  helle  und  trockne 
Wohnungen,  keimfreie  Bodenfüllungen.  — 
Typhus:  Trinkwasser;  Gefahr  der  Ver- 
breitung durch  Milch.  —  Scharlach: 
Lange  Isolierung  der  Kranken  wegen  der 
Verbreitimg  durch  die  Abschuppung  der 
infizierten  Haut.  — Wochenbettfieber: 
Einschränkung  der  Berührung  der  Wöchne- 
rin durch  die  unreinen  infizierenden 
Hände  schlechtgeschulter  Hebammen  imd 
an  Leichen  beschäftigter  Studenten.  — 
Wechselfieber:  Anlage  der  Wohnungen 
an  vor  Mosquitos  geschützten  Stellen. 

Allgemeine  Aufgaben  für  die  durch 
Krankheiten  erwachsenden  Schädigungen  der 
Gesamtheit  sind:  die  Errichtung  zweck- 
mässiger, Isolierung  der  verschiedenen  Krank- 
heitsformen diu-ch  möglichste  Verteilung 
der  Kranken  ermöglichender  Kranken- 
und  Siechenhäuser  (Pavillonsystem 
fürinfektionskrankheiten  und  Ii-renan  stalten !), 
Errichtung  von  D  e  s  i  n  fe  kt  i  0  n  s  a  n  s  talten 
für  Betten  und  Wäsche,  Quarantänen,  Vorsorge 
für  Krankenpflege  im  Haus  (Schwes- 
tern- und  Diakonissenheime).  Erhaltung  des 
Hausstandes  bei  Erkrankimg  der  Mutter  in 
imbemittelten  Familien  durch  Ersatz  ihrer 
Arbeit  durch  Hauspflege;  Vorsorge  für 
den  Ausfall  der  Arbeitskraft  in  Krankheits- 
fällen (Krankenversicherung). 

Hygieine  bei  Tod  und  Bestattung. 
Die  an  den  Abschluss  des  Lebens  sich 
anschliessenden  Aufgaben  der  Hygieine  die- 
nen dem  Schutze  der  Ucberlebenden.  Ob 
bei  dem  herannahenden  Tode  eine  Er- 
leichterung der  Qualen  selbst  auf  die  Ge- 
fahr einer  Beschleunigung  statthaft  ist 
(Euthanasie)  ist  eine  jm^istisch-ethische, 
keine    hygieinische    Frage.      Aufgaben   der 


öffentlichen  Gesundheitspflege  nach  dem: 
Tode  sind:  die  Entfernung  der  Leiche  aus 
dem  Sterberaum;  Desinfektion  des  Sterbe- 
raums; Bestattung  der  Leiche. 

a)  Die  Entfemimg  der  Leiche  aus  dem 
Sterberaum,  Beistellung,  hat  zu  erfolgen 
wegen  der  sofortigen  Beendigung  der  An- 
steckungsgefahr bei  Infektionsloankheiten 
und  wegen  der  Entwickelung  der  Fäulnis- 
erscheinungen. Zu  erstreben  ist  obligatorische 
Beistellung,  um  Unbemittelte  die  Beistel- 
lung nicht  als  Zurücksetzung  empfinden  zu 
lassen,  am  besten  in  Leichenhallen,  mit 
grossen,  die  Besichtigung  von  aussen  er- 
möglichenden Fenstern  und  Schmuck  der 
Särge  auf  öffentliche .  Kosten ;  Beistellung 
in  Einzelzellen  ist  viel  kostspieliger.  Ein 
Sektionsraum,  in  Städten  in  Verbindung  mit 
KüMraum  zur  Frischerhaltung  auszustellen- 
der Fundleichen,  ist  zweckmässig. 

b)  Die  Desinfektion  des  Kranken- 
raumes erfolgt  durch  Waschen  aller 
waschbaren  Teile  —  Böden,  Wandtäfelungen 
—  Desinfizientien ;  Subliniat  oder  Carbol, 
Abreiben  oder  Erneuern  von  Tapeten  und 
Decken.  Sehr  zweckmässig  ist  nachträgliche 
Räucherung  mit  Formoldämpfen  mittelst 
tragbarer  Lampen  und  in  Pastillenform  er- 
hältlichen Formalins.  Betten  werden  der 
Sonne  ausgesetzt;  in  Städten  sind  sie  am 
besten  den  Desinfektionsapparaten  der  Kran- 
kenhäuser zu  übergeben. 

c)  Die  Bestattung  der  Leichen  erfolgt 
zur  Zeit  fast  überall  in  Friedhöfen.  Vom 
Standpunkt  der  öffentlichen  Gesundheits- 
pflege ist  gegen  solche  nichts  einzuwenden, 
wenn  sie  die  nötigen  Bedingungen  erfüllen- 
der Boden  des  Friedhofes  darf  nicht  dauema 
nass  sein,  um  Leichenwachsbildung,  nicht 
zu  trocken,  um  Mumifikation  zu  verhindern ; 
er  muss  luftdurchlässig  sein,  um  den  für 
die  Verwesung  nötigen  Luftzutritt  zu  ge- 
statten. Die  Gräber  soDen  ausreichend 
etwa  1,5  m  tief  und  mit  ihrer  Sohle  V2  m 
über  dem  höchsten  Grundwasserstand  sein. 
Auf  jedes  Grab  eines  Erwachsenen  sollen 
4  m  Fläche  kommen.  Der  Friedhof  soll  weit 
genug  von  den  Städten  entfernt  sein,  um 
Gasausströmungen  nicht  störend  werden  zu 
lassen,  nahe  genug,  um  den  Besuch  nicht 
allzusehr  zu  erschweren.  Der  Turnus  für 
die  wiederholte  Benutzung  desselben  Grabes 
könnte  bei  so  angeordneten  Friedhöfen  aus 
hygieinischen  Gründen  ca.  8 — 10  Jahre,  nach 
welcher  Zeit  die  Verwesung  beendet  ist, 
betragen:  praktisch  aus  Pietätsrücksichten 
25 — 30  Jahre.  Werden  diese  Bedingungen 
erfüllt,  so  erhalten  die  Friedhöfe  einen 
hygieinischen  Wert,  insofern  sie,  allmählich 
von  den  sich  ausdehnenden  Städten  umfasst, 
für  diese  Plätze  mit  ausgedehnter  Bepflan- 
zung  offenhalten.  —  Die  neuerdings  wieder 
vielfach   befürwortete   Feuerbestattung 


Gesundheitspflege,  öffentliehe 


263 


ist  danach  an  sich  keine  hygieinische  Not- 
wendigkeit, wo  gute  Friedhöfe  möglich  sind ; 
bei  Grossstädten  mit  dichtbevölkerter,  orts- 
reicher Umgebung  ist  das  aber  thatsächlich 
nicht  mehr  allerwärts  der  Fall;  das  nötige 
Terrain  (ca.  20000  qm  bei  25  jährigem 
Turnus  auf  100000  Menschen  bei  der  rela- 
tiv geringen  Jahressterblichkeit  von  20 :  1000 
Einwohnern)  ist  fast  unerschwinglich  und 
nötigt,  die  Friedhöfe  in  sehr  grosse  Entfer- 
nungen zu  legen.  Von  den  angebüchen 
Hindernissen  nir  die  Feuerbestattung  — 
Unmöglichkeit  der  Sektion  bei  legalen  Fällen 
imd  religiöse  Einwände  —  kann  das  eine 
durch  obligatorische  Leichenschau 
beseitigt  wei*den;  das  andere  ist  vielerorts 
bereits  von  der  Geistlichkeit  aufgegeben. 
Die  Verbrennung  selbst  erfolgt  in  eigens 
konstruierten  Oefen  (Siemens-Klingenstjerna) 
mit  geringerem  Kostenaufwand  einschliess- 
lich des  Aschengrabes  als  die  Erdbestattung. 
Für  Kriege  und  Epidemieverwendung  sind 
transportable  Apparate  konstruiert,  welche 
hier  die  Feuerbestattung  ermöglichen. 

Endlich  muss  noch  die  sozialpolitisch 
so  bedeutsame  Kostenfrage  berührt  werden. 

Die  Bestattung  ist  eine  öffentliche  Ange- 
legenheit; die  Bestattungskosten  werden 
von  den  Angehörigen  bezahlt  Sie  sind  eine 
Steuer,  die  erhoben  wird,  wenn  der  Steuer- 
träger ökonomisch  besonders  geschwächt  ist 
(Kosten  der  Krankheit),  die  um  so  öfter  er- 
hoben wird,  je  mehr  er  —  durch  Wieder- 
holung von  Todesfällen  in  der  Familie  — 
geschwächt  ist ;  und  um  seltener,  je  weniger 
er  Angehörige  hat.  Sie  sind  also  das  Ideal 
einer  schlechten  Steuer;  und  die  Gesetz- 
gebung derjenigen  Schweizerkantone,  die, 
wie  Zürich,  Bern,  Basel  u.  s.  w.  (vgl.  Zürich 
G.  V.  29.  Juni  1890;  Bern  V.  v.  16.  Juni 
1897)  die  Bestattungskosten  auf  die  Ge- 
meinde übernehmen,  erweisen  sich  sozial- 
politisch als  nicht  nur  berechtigt,  sondern 
geradezu  als  selbstverständlich.  Sie  ver- 
liindern  die  Aufzehrung  der  Ersparnisse 
durch  Totenluxus  und  erleichtern  die  Einfüh- 
rung der  Feuerbestattung,  die  im  Gegensatz 
zu  der  Erdbestattung  um  so  billiger  ist,  je 
öfter  sie  wiederholt  wird. 

3.  Organigation  der  ö.  O.  Die  Organi- 
sation gerade  dieses  Yerwaltun^sgebietes  muss 
natnrgemäss  eine  sehr  komplizierte  sein.  Es 
liegen  zogleich  vor  rein  lokale  Bedürfnisse  (Für- 
sorge für  freie  Plätze  und  Spaziergänge  in  den 
Stiften ;  Fürsorge  für  gesundes  Trinkwasser  u. 
8.  w.)  und  Aufgaben,  die  nur  einheitlich,  inner- 
halb des  Staatsgebietes  gelöst  werden  können 
(Medizinalstatistik,  Schutz  vor  Verkauf  unge- 
sunder Nahrungsmittel;  Bekämpfung  der  Aus- 
breitung ansteckender  Krankheiten  durch  An- 
zeigepfticht,  Zwangsuntersnchungen)  —  oder 
direkt  internationale  Vereinbarnngen  verlangen 

i Beseitigung    der  Yerunreini^ng   der  Flüsse; 
Quarantänen     gegen     das    Einschleppen     von 


Seuchen).  Ebenso  muss  der  Bebördenapparat 
umständlicher  und  schwerer  übersichtlich  sein 
als  auf  irgend  einem  anderen  Gebiet,  nicht  nur 
wegen  der  Yielgestaltigkeit  der  Aufgaben  an 
sich,  sondern  namentlich  weil  zur  Lösung  jeder 
Aufgabe  Techniker  und  Verwaltnngsbeamte  zu- 
sammen wirken.  In  Bundesstaaten  und  Staaten- 
bünden (Deutschland,  Schweiz,  Amerika)  ist  zu- 
dem die  Kompetenz  noch  zwischen  den  Beichs- 
behörden  und  den  Staatsbehörden  geteilt. 

a)  Internationale  Veranstaltungen.  Der 
öifentlichen  Gesundheitspflege  dienen  sehr  wesent- 
lich die  internationalen  Kongresse,  von  denen 
hier  nur  genannt  sein  sollen  die  alle  Zweite 
der  öifentlichen  Gesundheitspflege  gleichmässig 
umfassenden  grossen  internationalen  Kongresse 
für  Hygieine  und  Demographie  (der  letzte  IX. 
fand  1898  in  Madrid,  der  VIII.  1894  zu  Pesth 
statt);  die  medizinischen  (der  XII.  ward  1897 
zu  Petersburg  abgehalten);  ferner  die  interna- 
tionale Konferenz  für  Eisenbahn-  und  Schiffahrts- 
hygieine  zu  Brüssel  1897;  der  internationale 
landwirtschaftliche  Kongress  (vergl.  z.  B.  die 
auf  die  internationale  Bekämpfung  der  Tier- 
seuchen bezüglichen  Beschlüsse  des  III.  1895  zu 
Brüssel  abgehaltenen  Kongresses.  Yeröffent- 
lichunjBfen  des  Reichsgesundheitsamts  1895  S.  908) ; 
der  1899  zu  Berlin  abgehaltene  Kon^ress  zur 
Bekämpfung  der  Tuberkulose  als  Yolkskrank- 
heit  etc. 

Wichtiger  freilich  als  diese  Kongresse,  die 
ihre  Bedeutun&r  nur  aus  dem  Wert  ihrer  Ar- 
beiten selbst  ziehen,  sind  die  offiziellen  Konfe- 
renzen, zu  welchen  sich  die  Delegierten  der 
europäischen  (und  mancher  asiatischen  und  afri- 
kanisch en)  Staaten  seit  den  letzten  Jahrzehnten 
zusammenfinden,  um  insbesondere  Fragen  der 
Seuchenverhütung  zu  beraten.  Die  ersten  sol- 
chen Conferences  sanitaires  fanden  1868  zu  Kon- 
stantinopel und  1874  zu  Wien  statt.  Schon 
vorher  natte  die  drohende  Gefahr  der  Cholera- 
verschleppung,  welche  die  besonders  mangel- 
haften sanitären  Zustände  mancher  durch  den 
Handelsverkehr  oder  die  Pilgerfahrten  wichti- 
gen Yerkehrscentren  in  der  Türkei  fortwährend 
herbeiführen,  die  Bildung  einer  internationalen 
Quarantänebehörde  —  conseil  sup^rieur  de  sante 
—  zu  Konstantinopel  veranlasst,  an  die  1881 
ein  conseil  international  zu  Bukarest  zur  spe- 
ciellen  Wahrung  der  sanitären  Interessen  an  der 
Donaumündung  angeschlossen  ward  (vgl.  den 
Wortlaut  der  Uebereinkunft  R.G.Bl.  1882  S. 
61).  Im  letzten  Jahrzehnt,  in  dem  man  sich 
der  Notwendigkeit  des  einheitlichen  Yorgehens 

gegen  die  allen  Staaten  gemeinsam  drohenden, 
[andel  und  Yerkehr  wie  Leben  und  Gesund- 
heit gleichmässig  gefilhrdenden  Wanderseuchen 
(Cholera,  Pest,  gelbes  Fieber  u.  s.  w.)  mehr  und 
mehr  bewusst  ward,  sind  aus  jenen  vereinzelten 
Zusammenkünften  internationale  Konferenzen 
geworden,  die  fast  regelmässig  stattfinden  (zu 
Venedig  1892,  zu  Dresden  1893,  Paris  1^, 
Yenedig  1897),  deren  Beschlüsse  vielfach  den 
Charakter  förmlicher  diplomatischer  Abmachim- 
ffen  haben  (vgl.  z.  B.  die  im  B.G.B1.  1894  S. 
oiS  abgedruckten  Beschlüsse  der  internationalen 
Uebereinkunft,  betr.  Massregeln  ge^en  die  Cho- 
lera, zu  Dresden  v.  lö.  April  189B;  die  Beschlüsse 
der  Pariser  Konvention  von  1894  mit  den  Zusatz- 
erklärungen V.  SO.Oktober  1897 ;  6Yeröifentlichun- 
gen    des  Beichsgesundheitsamts    1898    S.  832, 


264 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


betr.  insbesondere  die  Yerhütane^  der  Pest,  und 
die  Ueberwachung  der  Pilgerfahrten  im  roten 
Meer),  denen  andereStaaten  nachträglich  beitreten 
und  die  dann  zur  Grondlaee  weittragender  Terri- 
torialgesetze in  den  nächst  berührten  Staaten 
dienen.  (Die  ostindische  pllgrim  ships  Act  y.  4.  Ok- 
tober 1895  ist  die  Ausführung  der  Bestimmungen 
der  Pariser  Konvention ;  vgl.  Veröffentlichungen 
des  Gesundheitsamts  von  1895  S.  622,  927.) 

Ueber  ähnliche  internationale  Vereinbarun- 
gen mehrerer  Staaten  des  amerikanischen  Kon- 
tinents wegen  gemeinsamer  Massnahmen  gegen 
die  Seucheneinschleppung  berichten  Veröffent- 
lichungen des  Gesundheitsamts  1888  und  1890. 

b)  Bundeaataaten :   Deutschland,  Schweiz, 

Nordamerika. 

1.  Deutschland.  Nach  dem  Eingang 
zur  Reichsverfassung  vom  16.  April  1871  soll 
das  Reich  dienen  dem  Schutz  des  Bundesgebiets 
und  des  innerhalb  desselben  geltenden  Rechts 
sowie  der  Pflege  der  Wohlfahrt  des 
deutschen  Volkes.  Artikel  4  überweist 
demnächst  der  Beaufsichtigung  des  Reichs  und 
seiner  Gesetzgebung  1.  die  Bestimmungen  über 
den  Gewerbebetrieb;  15.  Massregeln  der  Medi- 
zinal- und  Veterinärpolizei.  Die  Lösung  dieser 
Aufgaben  ist  dem  Bundeskanzler  und  dem 
Bundeskanzleramt  (errichtet  durch  kaiserlichen 
Erlass  vom  12.  August  1867,  später  Reichs- 
kanzleramt und  Reich  samt  des  Innern  ge- 
nannt) zugewiesen,  und  zur  Unterstützung  die- 
ser Behörden  ward  1876  mehrfachen  Anregun- 
gen des  Reichstags  folgend  das  Kaiserliche 
Gesundheitsamt  begründet  (Denkschrift  zum 
Etat  von  1876),  das  „einen  lediglich  beratenden 
Charakter'^  ohne  eigene  Exekution  haben  sollte. 
Es  hat  den  Reichskanzler  bei  Ausübung  des 
Aufsichtsrechts  über  die  Massnahmen  der  Medizi- 
nal- und  Veterinärpolizei  in  den  Einzelstaaten 
und  bei  Vorbereitung  der  bezüglichen  Gesetz- 
gebung zu  unterstützen  und  zu  diesem  Zweck 
von  den  Einrichtungen  in  den  einzelnen  Bun- 
desstaaten Kenntnis  zu  nehmen,  die  Wirkungen 
der  ergriffenen  Massnahmen  zu  beobachten,  Aus- 
künfte an  Staats-  und  Gemeindebehörden  zu 
geben,  die  Entwickelung  der  Medizinalgesetz- 
gebung in  ausserdeutschen  Ländern  zu  verfol- 
gen sowie  die  medizinische  Statistik  für 
Deutschland  herzustellen.  Daran  reihte  sich 
bald  die  Errichtung  eines  chemischen,  hygieini- 
schen  und  bakteriologischen  Laboratoriums.  Es 
besteht  zur  Zeit  aus  1  Direktor,  8  ordentlichen 
und  32  ausserordentlichen  Mitgliedern  (vgl.  die 
Denkschrift:  Das  Kaiserliche  Gesundheitsamt; 
Rückblick  u.  s.  w.  1886,  bei  Springer). 

Das  Gesundheitsamt  giebt  ausser  den  Be- 
richten über  die  „Arbeiten  aus  dem  Reichsge- 
sundheitsamt** und  medizinalstatistischen  Mit- 
teilungen insbesondere  die  wöchentlichen  Ver- 
öffentlichungen des  Kaiserlichen  Ge- 
sundheitsamts heraus,  welche  —  zur  Zeit  23 
Jahrgänge  —  wohl  die  wichtigste  und  leichtest 
zugängliche  Quelle  für  alle  Thatsachen  auf  dem 
Gebiet  der  öffentlichen  Gesundheitspflege,  die 
deutsche  wie  die  ausländische  Gesetzgebung, 
die  internationalen  Abmachungen  u.  s.  w.  ab- 
geben.   Sie  werden  hier  als  V.  d.  G.A.  citiert. 

Die  Ausgestaltung  des  Gesundheitsamts  zu 
einem  mit  der  laufenden  Verwaltung  in  engerer 
Fühlung  stehenden  Reichsgesundheitsrat 


war  in  dem  Entwurf  eines  Gesetzes  zur  Be' 
kämpfung  gemeingefährlicher  Krankheiten  vor- 
gesehen, der  von  der  Reichsregierung  1894  dem 
Reichstag  (Nr.  145  der  Drucksachen)  zur  Be- 
ratung vorgelegt  ward,  aber  leider  nicht  zur 
Beratung  gelangte. 

Die  Keichsgesetz^ebung  hat  das  Gebiet  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  bisher  noch  wenig 
berührt.  Sieht  man  von  dem  allerdings  auch 
für  die  menschliche  Gesundheit  hochwichtigen 
Gebiet  der  Viehseuchengesetzgebung  (Reichs- 
gesetze V.  23.  Mai  1880  und  1.  Mai  1894) 
ab,  so  wären  hauptsächlich  aufzuführen  das 
Impfgesetz  v.  8.  April  1874;  femer  die  durch 
die  Sewerbeordnung  bewirkte  Regelung  des 
ärztlichen,  zahnärztlichen  und  Apothekerberufes 
(vgl.  namentlich  §  29  Gew.-O.  —  Die  Errichtung 
von  Apotheken,  ferner  von  Privatkrankenan- 
stalten jeder  Art,  das  Hebammenwesen  sind  der 
Landesgesetzgebnng  überlassen  §  6,  §  30  Gew.-O ). 
Zum  Gebiet  der  öffentlichen  Gesundheitspflege 
gehören  femer  die  Bestimmungen  der  Gewerbe- 
ordnung und  die  zugehörigen  Erlasse  des  Bun- 
desrats über  die  Gesundheit  der  gewerblichen 
Arbeiter  (vgl.  insbesondere  §  120a,  120  e,  §  139  a 
Gew.-O.  und  die  betreffenden  Erlasse  z.  B.  in 
der  Grotefundschen  Ausgabe  der  Gewerbeord- 
nung); endlich  die  Gesetze  gegen  die  Verfäl- 
schung von  Nahrungsmitteln  (G.  v.  14.  Mai 
1879  Detreffend  den  Verkehr  mit  Nahrungs- 
mitteln ;  V.  25.  Juni  1887  betreffend  den  Verkehr 
mit  blei-  und  zinkhaltigen  Gegenständen,  v.  5. 
Juli  1887  betreffend  die  Anwendunff  gesund- 
heitsschädlicher Farben ;  v.  6.  Juli  1898  oetreffend 
künstliche  Süssstoffe ;  das  Gesetz  über  den  Ver- 
kehr mit  Butter  v.  12.  Juli  1887  und  mit  Wein  v. 
20.  April  1892).  Eine  Reichsseuchengesetzgebung 
fehlt  noch  gänzlich ;  und  die  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung der  Gewerbeordnung  berücksichtigt  noch 
so  gut  wie  nicht  die  gesamte  Hausindustrie 
und  die  Werkstätten.  Lediglich  um  zu  zeigen, 
dass  dies  nicht  nur  vom  speciellen  Standpunkt 
der  Arbeiterinteressen,  sondern  namentlich  auch 
von  dem  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  ein 
schwerer  Fehler  ist,  mag  darauf  hingewiesen 
werden,  dass  z.  B.  die  englische  Fabrik-  und 
Werkstätten^esetzgebung  (neueste  Fassung  vom 
6.  Juli  1895,  Nr.  6)  insbesondere  auch  denjenigen 
Arbeitgeber  mit  schweren  Geldstrafen  belegt, 
der  veranlasst  oder  duldet,  dass  Kleidun^- 
stücke  für  seine  Rechnung  in  einem  Wohnhaus 
verfertigt,  werden 'in  welchem  sich  Pocken-  oder 
Scharlachkranke  oefinden. 

2.  Ganz  ähnlich  wie  dem  Reich  in  Deutsch- 
land stehen  auch  in  der  Schweiz  dem  Bund 
auf  dem  Gebiet  der  öffentlichen  Gesundheits- 
pfle^  nur  diejenigen  Befugnisse  zu,  die  ihm 
die  Bundesverfassung  (vom  29.  Mai  1874,  teil- 
weise abgeändert  durch  Volksabstimmung  vom 
25.  Oktober  1885)  zuweist. 

Es  sind  im  wesentlichen  Art.  31  d  und  Art.  69 : 
sanitätspolizeiliche  Massregeln  gegen  Epidemieeu 
und  Viehseuchen,  Art.  32:  die  Gesetzgebung 
über  Fabrikation  und  Verkauf  gebrannter  Was- 
ser; Art.  33:  die  Ausübung  der  wissenschaft- 
lichen Berufsarten  (also  auch  der  Heilkunde!); 
Art.  34:  die  Fabrikgesetzgebung. 

Die  wichtigsten  auf  Grund  dieser  Bestim- 
mungen erlassenen  Bundesgesetze  sind  —  auch 
hier  ausser  der  Viehseuchengesetzgebung  vom  8. 
Febmar  1872  —  das  im  Deutschen  Reich  leider 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


265 


noch  fehlende  Gesetz  betreffend  Massnahmen 
ge^en  gemeingefährliche  Epidemieen  Tom  2.  Juli 
1886  mit  dem  Beglement  yom  4.  November  1887 
betrefiend  die  Ausrichtung  von  Bnndesbeiträgen 
an  Kantone  und  Gemeinden  zur  Bekämpfung 

femeingefährlicher  Epidemieen ;  femer  das  Bun- 
esgesetz  betreffend  die  Arbeit  in  den  Fabriken 
Yom  23.  März  1877;  und  die  Massregeln  zur 
Bekämpfung  des  Alkoholismus  im  G.  y.  23.  De- 
zember 1886  betreffend  gebrannte  Wasser. 

Die  zuständige  oberste  Verwaltungsstelle 
ist  im  wesentlichen  das  Departement  des 
Innern,  welchem  seit  1889  ein  eidgenössischer 
Sanitfttsref erent ,  dem  eine  Aerztekommission 
(ehrenamtlich ;  Delegierte  der  drei  grossen  ärzt- 
lichen Gesellschaften)  zur  Seite  steht.  Die  Me- 
dizinalstatistik wird  von  dem  eidgenössischen 
statistischen  Bureau  auf  Gmnd  eines  Bundes- 
beschlusses vom  17.  September  1875  wahrge- 
nommen. 

Im  übrigen  wird  insbesondere  auch  wegen 
der  teilweise  sehr  ausgebildeten  Sanitätsgesetz- 
fi^ebnng  der  Kantone  auf  die  amtliche  Darstel- 
lung des  schweizerischen  Gesundheitswesens  vom 
Sanitätsreferenten  Schmid  verwiesen,  die  —  er- 
schienen Bern  1891  —  im  einzelnen  freilich  viel- 
fach überholt,  doch  im  ganzen  noch  zutreffend 
sein  dürfte. 

3.  Die  Konstitution  der  nordamerikani- 
schen Union  erwähnt  die  Angelegenheiten 
der  öffentlichen  Gesundheitspflege  überhaupt 
nicht,  so  dass  anzunehmen  wäre,  dass  sie  nicht 
zur  Zuständigkeit  des  Kongresses  gehören. 
Immerhin  ^iebt  sie  (Sect.  I  Abschn.  8  §3)  dem 
Kongress  die  Befugnis,  to  regulato  Commerce 
with  foreign  nations  and  among  the  several 
States,  und  so  hat  sich ,  obwohl  anerkannt  ist, 
dass  die  einzelnen  Staaten  verbindliche  Gesund- 
heitsgesetze erlassen  können,  eine  ziemlich  weit- 
gehende und  eingreifende  Bundessanitätsgesetz- 
gebnng  gebildet.  Dieselbe  regelt  einmal  — 
selbstverständlich  —  die  öffentliche  Gesundheits- 
pflege in  dem  keinem  Staat  angehörigen  Distrikt 
Columbia  mit  der  Bundeshauptstadt  Washing- 
ton (z.  B.  das  Gesetz  zur  Verhinderung  der 
Ausbreitung  ansteckender  Krankheiten  im 
Distrikt  Columbia  vom  3.  März  1897,  Veröffent- 
lichung des  Gesundheitsamts  1897  S.  778  ff.),  die 
am  24.  April  1880  mit  Gesetzeskraft  ausge- 
statteten Verordnungen  des  board  of  health  zu 
Columbia,  betreffend  nuisances,  injurions  to 
health :  revised  Statutes  of  the  U.  S.  Supplement  I 
S.  574 ff.);  ausserdem  umfasst  dl«  Kongressge- 
setzgebung  aber  auch  das  Quarantänewesen, 
die  Verhütung  der  Einschleppung  von  Seuchen 
und  von  ungesunden  Nahrungsmitteln.  Die 
Ausführung  und  Handhabung  dieser  Gesetze 
ist  der  Hauptsache  nach  dem  Schatzamt  (trea- 
sury  department),  bezüglich  der  Einfuhr  und 
Ausfuhr  von  Vieh,  Fleisch  und  Nahrungsmitteln 
vielfach  auch  dem  landwirtschaftlichen  Minis- 
terium (department  of  agriculture)  übertragen.  G. 
V.  30.  August  1890 :  act  providing  the  inspection  of 
meats  for  exportation,  prohibiting  the  importa- 
tion  of  adulterated  food  (V.  d.  G.A.  1890  S.  800; 
91  S.  246).  Bei  dem  Schatzamt,  dem  insbeson- 
dere auch  die  Beau&ichtignng  der  Handels- 
und Schiffahrtsangel^enheiten  zugewiesen  sind 
und  das  statistisdie  Amt  (bureau  of  statistics) 
der  Vereinigten  Staaten "  untersteht ,  ist  auch 
die  An&icht  über  die  für  die  Verhinderung  der 


Seucheneinschleppung  besonders  wichtigen  Qua- 
rantänemassregeln der  Union  wie  aller  Einzel- 
Staaten  dem  obersten  Arzt  des  Seehospital- 
dienstes (snpervisin^  surgeon  general  of  the 
marine  hospital  service)  zugewiesen,  der  selbst 
natürlich  oem  Chef  des  Schatzamtes  (secretary 
of  the  treasury)  untersteht  (G.  v.  15.  Februar 
1893,  durch  welches  das  frühere  Gesetz  zur 
Verhinderung  der  Einführung  infektiöser  oder 
kontagiöser  Krankheiten,  und  zur  Schaffung 
eines  Gesundheitsamts,  vom  3.  März  187^ 
wieder  aufgehoben  ist  (v^.  den  Wortlaut  ausser 
in  den  revised  Statutes :  V.  d.  G.A.  1893  S  214). 
An  den  supervising  surgeon  general  haben  auch 
die  Consnln  in  auswärtigen  Hafenstädten 
wöchentliche  Berichte  über  den  dortigen  Ge- 
sundheitszustand einzusenden;  ebenso  wie  der 
Staatssekretär  die  Pflicht  hat,  von  allen  Unions- 
staaten und  Städten  das  auf  die  öffentliche  Ge- 
sundheit bezügliche  Material  einzuziehen  und 
in  jährlichen  Berichten  an  den  Kongress  zu 
veröffentlichen. 

Dem  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten 
steht  das  Kecht  zu,  im  Interesse  der  Verhinde- 
rung der  Seucheneinschleppung  und  der  Auf- 
rechthaltung der  öffentlichen  Gesundheit  die 
Einfuhr  von  Waren  gänzlich  zu  verbieten,  wenn 
er  die  blossen  Quarantänemassregeln  nicht  für 
ausreichend  hält. 

Auf  die  sanitäre  Gesetzgebung  der  einzel- 
nen Staaten,  die  wohl  sämtlich  ihre  boards  of 
health  mit  umfangreichen  jährlichen  Berichten, 
Statistiken  u.  s.w.  haben,  kann  hier  nicht  ein- 
gegangen werden.  Die  Gesetze  zum  Schutz  der 
Gesundheit  der  Arbeiter  sind  in  der  schönen 
Publikation  des  Arbeitsamts  zu  Washington 
(labor  laws  1892)  für  alle  Unionsstaaten  voll- 
ständig gesammelt;  eine  ähnliche  leicht  zugäng- 
liche Quelle  für  die  übrigen  Zweite  der  öffent- 
lichen Gesundheitspflege  ist  mir  nicht  bekannt; 
es  gilt  hier  alles,  was  Holst  (Marquardsens 
Handbuch  IV,  1,  3)  über  die  Schwierigkeiten 
der  Darstellung  des  amerikanischen  Staaten- 
Staatsrechts  ausführt. 

Dass  übrigens  das  Nebeneinanderbestehen 
der  Befugnisse  der  Unionsbehörden  und  der 
Staatenbehörden  bezüglich  der  Quarantäne-  und 
Senchengesetze  zu  recht  ärgerlichen  Komplika- 
tionen führen  muss,  ist  ersichtlich;  ein  Gesetz- 
entwuri,  welcher  die  ausschliessliche  Kompetenz 
des  secretary  of  the  treasury  und  die  Erweite- 
rung der  Befugnisse  des  Marinehospitaldienstes 
zu  einer  wirldichen  obersten  Sanitätsbehörde 
bezweckt,  la^  denn  auch  1898  dem  Senat  der 
Union  vor.  Derselbe  ist  abgedruckt  in  dem 
dem  Staatssekretär  1899  erstatteten  report  des 
supervising  surgeon  general  of  the  marine 
hospital  Service,  welcher  sehr  eincfehenderweise 
sich  überhaupt  über  alle  Verhältnisse  der 
öffentlichen  Gesundheitspflege  in  der  Union  ver- 
breitet. (Washington,  govemment  printing 
Office,  855  Seiten.) 

o)  SSiuselstcuiten:  Freuseen,  Bayern 
u.  8.  w.,  England,  Frankreich,  Italien  u.  s.  w. 
Zu  der  Gesetzgebung  der  Einzelstaaten 
übergehend  wird  zunächst  bemerkt,  dass  die 
Darstellung,  abgesehen  von  der  Kompliziertheit 
der  Materie,  dadurch  erschwert  wird,  dass  die 
Behördenorganisation  fast  nirgends  einheitlich 
gestaltet  ist,  sondern  sich  überall,  je  nach  den 
besonderen  hygieinischen  Eriordemissen  und  dem 


266 


GresuQdheitspflege,  öffentliche 


früheren  oder  späteren  Erkennen  der  Bedeutsam- 
keit des  Verwaltungsgfebietes ,  in  die  älteren 
Ressorts  eingeschoben  hat.  Nor  wenige  Staaten 
sind  80  glücklich  wie  Rumänien,  wo  fast  die 
Gesamtheit  der  öffentlichen  Gesundheitspflege 
in  zwei  grossen,  neuerdings  erlassenen  Gesetzen 
(loi  sanitaire  v.  14.  Juni  1893,  180  §§,  und  loi 
de  police  sanitaire  v^terinaire  v.  6.  April  1891, 
182  §§,  V.  d.  G.A.  1894  S.  470  ff.  und  S.  724  ff.)  so- 
zusagen kodifiziert  ist,  derart,  dass  die  Kapitel- 
überschriften fast  ein  System  der  Wissenschaft 
darstellen. 

In  keinem  Staat  freilich  ist  die  Verordnung 
willkürlicher  und  zufälliger  als  in  Preussen,  wo 
eine  gründliche  Neuorganisation  des  Medizinal- 
wesens bekanntlich  seit  langem  als  unumgäng- 
lich empfunden  wird. 

„Die  allgemeine  Polizei  im  ausgedehntesten 
Sinn,  dazu  auch  das  Medizinalwesen 
gehöret^,  war  ursprünglich,  namentlich  auch 
in  der  grundlegenden  Verordnung  über  die  Ver- 
fassung der  obersten  Staatsbehörden  v.  27. 
Oktober  1810,  dem  Ministerium  des  Innern  zu- 

fewiesen.  Durch  Kabinettsordre  v.  3.  November 
817  ward  indessen  von  diesem  Ministerium 
das  für  Kultus,  Unterricht  und  Medizinalwesen 
abgezweigt  und  dadurch  der  jetzige  Zustand 
geschaffen,  der,  nach  der  Erklärung  des  Ministers 
Sosse  in  der  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses 
vom  2.  März  1898,  „das  Gewissen  des  Ministers 
wegen  der  damit  verbundenen  Verantwortlich- 
keit sehr  erheblich  belastet",  der  aber  gleich- 
wohl und  trotz  der  mehrfachen  Resolutionen 
des  Abgeordnetenhauses  wegen  Neuorganisation 
des  gesamten  Medizinal wesens  v.  27.  Januar 
1868,  8.  Februar  1878,  20.  Februar  1879,  19. 
Mai  18%  auch  noch  durch  das  G.  v.  16.  September 
1899,  betreffend  die  Dienststellung  des  Kreis- 
arztes, nicht  abgeändert  ist. 

In  dem  Ministerium  besteht  als  Central- 
stelle  für  die  medizinischen  Angelegenheiten 
—  lediglich  das  Veterinärwesen  und  die  Vete- 
rinärpoTizei  sind  durch  den  Erlass  v.  27.  April 
1872  dem  Ministerium  für  Landwirtschaft  über- 
wiesen —  dessen  dritte  Abteilung,  von  der  un- 
mittelbar die  wissenschaftliche  Deputation  für 
das  Medizinalwesen  (Geschäftsanweisung  v.  4. 
Oktober  1888,  Min.Bl.  143)  und  die  technische 
Kommission  für  die  pharmaceutischen  Angelegen- 
heiten ressortieren ,  beides  lediglich  begut- 
achtende, nicht  entscheidende  Stellen. 

In  den  unteren  Instanzen  gehört  die  öffent- 
liche Gesundheitspflege  zum  I^ssort  der  Ober- 
präsidenten, Regierungspräsidenten  und  Land- 
räte, deren  Befugnisse  wesentlich  durch  die  all- 
gemeinen Vorschriften  über  Umfang  und  Ver- 
teilung der  polizeilichen  Aufgaben  (Landesver- 
waltungsgesetz,  ZuständigkeitBgesetz  u.  s.  w.) 
bestimmt  sind.  Dem  Oberpräsidenten  steht  zur 
Seite  dsa  Provinzial-MedizinalkoUegium ,  dem 
Regierungspräsidenten  ein  Regiernngs-  und 
Medizinalrat,  dem  Landrat  der  Kreisphysikus ; 
dazu  kommen  dann  in  den  Staaten  die  auf  dem 
Erlass  v.  8.  April  1835  beruhenden  Sanitäts- 
kommissionen, die  allerdings  nach  dem  G.  v.  16. 
September  1899  betreffend  die  Stellung  eines  Kreis- 
arztes durch  in  Gemässheit  der  Städteordnung  ge- 
bildete Gesundheitskommissionen,  in  den  Landge- 
meinden durch  vom  Landrat  beliebig  zusammen- 
gesetzte „Gesundheitskommissionen"  ersetzt  sind, 
denen  stets  der  Kreisarzt  mit  beratender  Stimme, 


aber  mit  dem  Recht,  jederzeit  gehört  zu  werden, 
angehört  (§  10  a.  a.  0.).  „Der  charakteristische 
und  mangelhafte  Zug  der  preussischen  Sani- 
tätsverwaltung besteht  in  der  Abstufung  von 
vier  Instanzen  sachverständiger,  aber  lediglich 
referierender  Behörden,  deren  jede  ein  An- 
hängsel an  die  entsprechende  Instanz  der  all- 
gemeinen Polizei  Verwaltung  bildet  und  nur  mit 
dieser  sich  in  direkter  amtlicher  Beziehung  er- 
halten darf.  Dabei  ist  ein  wirklicher  Gesund- 
heitabeamter  nicht  vorhanden."  Diese  scharfe 
Kritik,  die  Finkelnbnrg  in  der  ersten  Auflage 
dieses  Buches  an  dieser  Stelle  aussprach,  wird  fast 
uneingeschränkt  auch  noch  zu  Recht  bestehen, 
wenn  auf  Grund  jenes  Gesetzes  (§  6,  §  8)  der 
bisher  in  seiner  Thätigkeit  lediglich  auf  das 
Belieben  des  Landrats  angewiesene  Kreisarzt 
wenigstens  eine  gewisse  Bewegungsfreiheit  er- 
langt haben  wird  durch  das  Recht,  sich  selb- 
ständig über  die  sanitären  Verhältnisse  des 
Kreises  zu  informieren  und  in  Eilfällen  selb- 
ständig Anordnungen  zu  treffen. 

Im  einzelnen  vergleiche  über  die  Organi- 
sation des  preussischen  Medizinalwesens  das 
Werk  von  Pistor:  Das  Gesundheitswesen  in 
Preussen.  2  Bände,  1896  und  1898,  und  in  mate- 
rieller Beziehung  den  1897  erschienenen  ersten, 
von  der  Medizinaläbteilung:  herausgegebenen  Ge- 
samtbericht über  das  Sanitätswesen  des  preussi- 
schen Staates  (im  Auszug  V.  d.  G.A.  1892  S.  70). 

In  den  übrigen  deutschen  Staaten  ist  die 
Organisation  der  öffentlichen  Gesundheitspflege 
in  der  äusseren  Anordnung  meist  der  preussi- 
schen gleich.  Centralinstanz  ist  stets  das 
Ministerium,  meist  das  des  Innern,  was  natür- 
lich, wegen  der  so  hergestellten  steten  Fühlung 
mit  dem  Armen  wesen  und  der  Kommunal  Ver- 
waltung überhaupt,  der  preussischen  Ressort- 
einteihing  vorzuziehen  ist.  Der  Centralinstanz 
gehört  überall  an  ein  medizinal  technisches  Mit- 
glied und  ein  hauptsächlich  begutachtendes 
sachverständiges  Kollegium,  in  Bayern  der  Ober- 
medizinalausschuss ,  in  Sachsen  das  Landes- 
medizinalkoUegium,  in  Württemberg  das  Medi- 
zinalkollegium u.  s.  w.  Daran  reiht  sich  in 
den  grösseren  Staaten  als  Mittelinstanz  in 
Bayern  und  Württemberg  die  Kreisregierung, 
in  Sachsen  die  Kreishauptmannschaft,  in  Elsass- 
Lothringen  das  Bezirkspräsidium  und  endlich 
die  untere  Instanz  (Bezirksamt,  Amt  u.  s.  w.), 
der  ein  Gesundheitsbeamter  (Bezirksarzt,  in 
Württemberg  Oberamtsarzt)  beigegeben  ist, 
deren  Stellung  aber  fast  in  allen  Staaten  eine 
günstigere,  mit  höherem  Gehalt  und  Pensions* 
Berechtigung  ausgestattete  ist  als  in  Preussen, 
wo  der  Physikus  bei  einem  Gehalt  von  900  Mark 
bisher  noch  nicht  einmal  Pensionsrechte  hatte! 

Vgl.  im  einzelnen  über  die  Organisation 
der  öffentlichen  Gesundheitspflege  in  Bayern 
das  Werk  von  Martin  und  Kuby,  Medizinal- 

fesetzgebung  in  Bayern;  in  Württemberg 
"rause,  Das  Medizinalwesen  Württembergs, 
Eine  sehr  brauchbare  tabellarische  üeber- 
sicht  über  die  Organisation  der  Behörden  and 
die  Stellung  insbesondere  der  ärztlichen  Be- 
amten in  sämtlichen  Bundesstaaten  bei  Rap- 
mund  und  Dietrich,  ärztliche  Rechts-  und  Ge- 
setzeskunde, Leipzig  1899. 

Wenn  nunmehr  noch  Angaben  Über  eiuisy-e 
ausserdeutsche  Staaten  folgen,  so  ver- 
steht es  sich  von  selbst,  dass  Vollständigkeit; 


Gesundheitspflege,  öffentliche 


267 


derselben  weder  beabsichtigt  noch  erreichbar 
war.  Das  einzige  Werk^  welches  dies  Ziel  an- 
strebte (Belval,  essai  snr  Torganisation  generale 
de  rhygiäne  pnblique,  gedruckt  in  nur  2öO 
Exemplaren  für  den  Brüsseler  medizinischen 
Kongress  von  1875,  besprochen  in  der  Viertel- 
lahrsschrift  für  Öffentliche  Gesundheitspflege 
1880  S.  273),  war  mir  nicht  zuzüglich,  wäre 
jetzt  auch  Jängst  veraltet.  Die  kurze  Dar- 
stellung der  Organisation  der  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege in  den  wichtigsten  Kultur- 
staaten, welche  Finkelnbur^  als  Einleitung  zu 
dem  von  Wevl  herausgegebenen  zehnbändigen 
Handbuch  der  Hygieine  (Bd.  I  S.  1—28) 
gegeben  hat,  erstreckt  sich  nur  auf  wenige 
europäische  Staaten  und  nur  bis  1892.  Ebenso 
sind  auch  bei  der  schnellen  Entwickeluug,  welche 
die  Gesetzgebung  gerade,  auf  diesem  Gebiete 
genommen  hat,  die  Angaben  schon  vielfach 
überholt,  welche  in  den  Motiven  zu  dem  oben 
citierten,  in  den  Reichstagsdrncksachen  ver- 
öffentlichten (Nr.  145  der  fi.  Session  1893/94) 
Gesetzentwurf  bezüglich  mehrerer  Staaten 
(Belgien,  Dänemark,  Grossbritannien,  Italien, 
Niederlande,  Oesterreich,  Schweden,  die  Schweizj 
enthalten  sind,  und  die  bezüi?lich  einer  Anzahl 
weiterer  Staaten  (Kroatien-Slawonien,  Serbien, 
Ungarn,  Türkei,  Schweden)  durch  die  kurzen 
und  übersichtlichen  Darstelluni^en  ergänzt  wer- 
den können,  welche  in  den  Berichten  des  achten 
internationalen  Kongresses  für  Hygieine  und 
Demographie  (Bd.  V,  Budapest  1895)  gegeben 
werden.  Wer  tiefer  eindringen  will,  als  diese 
relativ  leicht  zugänglichen  Hilfsmittel  —  und 
für  den  allgemeinsten  Ueberblick  die  Dar- 
stellnufi^en  der  Verwaltung  der  einzelnen  Staaten, 
die  sich  z.  B.  in  Marquardsens  Handbuch 
finden  —  gestatten,  muss  zu  den  Veröffent- 
lichungen des  Gesundheitsamts  greifen,  um  den 
Text,  und  zu  der  Viertel jahrsscbrQt  für  öffentliche 
Gesundheitspflege,  um  wenigstens  den  wesent- 
lichen Inhalt  der  die  öffentliche  Gesundheits- 
pflege betreffenden  Gesetze,  internationalen  Ver- 
träge, Kongressbeschlüsse  u.  s.  w.  kennen  zu 
lernen.  Hier  soll  nur  einiges  Material  gegeben 
werden,  das  zum  Vergleich  mit  den  deutschen 
Verhältnissen  anregen  und  vielleicht,  ebenso 
wie  die  oben  gemachten  wenigen  Angaben  über 
die  Schweiz  und  Amerika,  die  Schwierigkeit 
der  Materialbeschaffung  wenigstens  in  etwas 
erleichtern  kann. 

In  Frankreich  ist  dem  Ministerium  des 
Innern  ein  aus  nicht  weniger  als  37  Mitglie- 
dern bestehendes  comite  consultatif  d'hygi^ne 
publique  beigep:eben,  das  alle  auf  die  öffent- 
liche Gesundheitspflege  im  weitesten  Sinn  be- 
züglichen Fragen  zu  prüfen  hat  (Dekret  v. 
3.  Febraar  1®6;  V.  d.  G.A.  1898  S.  606). 
Dem  Komitee  gehören  ständig  nicht  nur  die 
obersten  Sanitätsbeamten  und  der  Direktor  der 
Armenpflege  im  Ministerium  des  Innern  selbst, 
sondern  auch  die  Leiter  aller  irgend  in  Frage 
kommenden  Dienstzweige  aus  den  anderen 
Ministerien  (des  Consularwesens ,  Zollwesens, 
des  Armensanitätswesens,  des  Elementarschul- 
wesens u.  s.  w.)  und  der  Vorsitzende  der  Pariser 
Handelskammer  und  des  Pariser  Armenwesens, 
endlich  zehn  Aerzte  an.  Das  Komitee  teilt  sich 
in  drei  Sektionen  (1.  hy^i^ne  des  villes  et  des 
campagnes,  mit  Epidemieen,  Tierseuchen,  Sta- 
tistik, Gesundheitsräte,  Mineralquellen ;  2.  Nah- 


rungsmittel und  Gewerbehygieine ;   3.  Gesetz- 
gebung, Ausübung  der  Heilkunde). 

Daneben  besteht  dann  das  comitS  de  direc- 
tion  des  Services  de  l'hygiene,  dem  ausser  dem 
Präsidenten  des  comitö  consultatif  und  dem 
Leiter  des  Armenwesens  noch  die  Delegierten 
der  anderen  Minittterien  angehören.  Des  weiteren 
besteht  in  jedem  Arrondissement  ein  .conseü 
d'hygifene  publique  et  de  salnbrit^  (G. '  v.  18. 
Dezember  1848),  und  ebenso  im  Departements- 
hauptort ein  solcher  für  das  Departement,  die 
sich  jedoch  lediglich  und  ausschliesslich  mit 
Prüfung  der  ihnen  vom  Präfekten  zugewiesenen 
Fragen  zu  beschäftigen  haben.  Der  Selbstver- 
wcdtun^  der  Gemeinden  ist  die  Öffentliche  Ge- 
sundheitspflege,  ebenso  wie  in  Preussen,  fast 
g^änzlich  entzogen,  wenn  auch  der  conseil  muni- 
cipal  „zu  hören  isf*  (est  appel^  ä  donner  son 
avit),  z.  B.  über  das  Budget  der  Hospitäler  und 
WoUthätigkeitsanstalten  (Art.  70  des  Gesetzes 
über  die  Organisation  munici^ale  v.  5.  April 
1884).  Die  Ausübung  der  police  sanitaire  im 
weitesten  Umfang  liegt  vielmehr  dem  Maire 
ob,  der  an  das  Gutachten  des  conseil  d'hygi^ne 
des  Arroiidissements  rechtlich  nie  gebunden, 
sondern  lediglich  dem  Präfekten  unterstellt  ist 
(vgl.  für  das  Land  —  police  rurale  —  das 
gerade  bezüglich  der  Gesundheitspflege  sehr 
ausführliche  G.  v.  21.  Juni  1898,  Veröffent- 
lichung des  Gesundheitsamts  1898  S.  799 ;  für  die 
Städte  Art.  82,  97  des  G.  v.  ö.  April  1844, 
abgedruckt  z.  B.  in  dem  von  der  Pariser 
Gemeindeverwaltung  herausgegebenen  recueil 
annot6  der  Gemeindeverwaltnngsgesetze ,  im- 
primerie  municipale  1890). 

Die  englische  Gesetzgebung  beruht 
bekanntlich  auf  mehreren  umfangreichen  Ge- 
setzen, den  Public  health  acts.  deren  wichtigste 
die  ^osse  public  health  act  1895  mit  ihren  343 
Abscnnitten,  «sections",  mehrfach  geändert  und 
ergänzt  durch  das  Abänderungsgesetz  v.  18. 
Juli  1890  (Public  health  Amendment  act  1890; 
62  sections),  dann  das  Gesetz  über  die  Anzeige- 
pflicht bei  ansteckenden  Krankheiten  (Infections 
disease  notification  act  1889,  erweitert  durch 
die  extension  act  1899);  femer  das  Gesetz  zur 
Verhütung  der  Ausbreitung  ansteckender  Krank- 
heiten V.  4.  August  18^  (Infections  disease 
prevention  act,  24  Abschnitte),  und  die  speciell 
für  London  bestimmte  Public  health  London 
act  V.  8  August  1891.  Oberste  Behörde 
ist  das  local  govemment  board,  also  dieselbe 
Stelle,  in  welcher  auch  das  Armenwesen  und 
die  kommunale  Finanzverwaltun^  ihre  Spitze 
finden ;  lokale  Instanz  sind  wesentlich  die  speciell 
für  die  Handhabung  der  öffentlichen  Gesund- 
heitspflege eingerichteten  städtischen  oder  länd- 
lichen sanitary  districts,  von  deren  Beschlüssen 
vielfach  die  Giltigkeit  der  einzelnen  Gesetze 
für  den  betreffenden  Distrikt  abhängig  ist.  Im 
übrigen  kann  för  die  nähere  Kenntnis  des  sehr 
umständlichen  und  vielverzweigten  Behörden- 
organismus nur  auf  die  in  den  Veröffentlichungen 
des  Gesundheitsamts  leicht  zugänglichen  Ge- 
setze selbst^  zur  schnellen  Uebersicht  auf  die 
klare ;  freilich  vielfach  veraltete  Darstellung 
verwiesen  werden,  die  ein  englischer  Praktiker 
in  der  Vierteljahrsschrift  für  öffentliche  Ge- 
sundheitspflege 1881  S.  562  gegeben  hat. 

Die  ungemein  eingehenden,  detaillierten  Vor- 
schriften der  Public  health   acts  über  Kanäle, 


268 


Ghesundheitspflege,  öffeaüiclie 


Eni-  und  Bewässenmg,  Abtritte,  Wohnungs- 
polizei, Beaufsichtigung  von  Nahrungsmittdn, 
Verhütung  von  Infektionen,  Beseitigung  von 
Schädlichkeiten  —  nuisances  —  jeder  Art,  Für- 
sorge für  gutes  Trinkwasser  u.  s.  w.  mögen 
einen  preussischen  Verwaltungsbeamten  sehr 
sonderbar  anmuten;  sie  stellen  gewissennassen 
nichts  dar  als  eine  Erläuterung  der  kurzen 
Worte,  welche  die  Grundlage  aller  preussischen 
Gesundheitsgesetzgebung  sind ;  —  dass  nämlich 
zu  den  Gegenständen  der  ortspolizeüichen  Vor- 
schriften gehören  -r  §  6  f .  des  Gesetzes  über  die 
örtliche  Polizei  Verwaltung  v.  11.  März  1850  — 
die  Fürsorge  für  Leben  und  Gesund- 
heit. Ja,  diese  wenigen  Worte  erlauben  ein 
noch  viel  entschiedeneres,  bequemeres,  all- 
seitigeres  Eingreifen  der  Behörde,  die  nicht, 
wie  in  England,  stets  genötigt  ist,  zu  prüfen, 
ob  in  den  hunderten  von  Gesetzesklauseln  auch 
eine  ist,  die  auf  den  vorliegenden  Fall  passt. 
Auf  keinem  anderen  Gebiet  zeigt  sich  aber  so 
schroff,  wie  auf  dem  der  öffentlichen  Gesund- 
heitspflege der  Unterschied  zwischen  dem,  was 
die  schrankenlose  polizeiliche  Willkür,  und  dem, 
was  die  genaue  gesetzliche  Regelung  yermag. 
Jeder  preussische  Landrat  kann,  das  Wort 
formell  genommen,  für  seinen  Bezirk  mehr  an- 
ordnen, als  jene  englischen  Gesetze  enthalten; 
und  gerade  deshalb  ist  unsere  öffentliche  Ge- 
sundheitspflege fast  ganz  auf  den  guten  Willen 
der  einzelnen  Gemeinden  gestellt  und  liegt  in 
den  ländlichen  Gemeinden  völlig  darnieder. 

Und  während  in  England  stets  genau  vor- 
geschrieben ist,  wie  die  Kosten  der  von  den 
Sanitätsbehörden  angeordneten  Massregeln  auf- 
zubringen sind  (vgl.  z.  B.  Art.  6  der  infections 
disease  act:  Betten  u.  s.  w.,  deren  Desinfektion 
angeordnet  ist,  müssen  kostenfrei  abgeholt  und 
zurückgeliefert  und  der  Eigentümer  für  jede 
nicht  unvermeidliche  Beschädigung  entschädigt 
werden),  knüpfen  sich  in  Deutschland  an  jede 
von  der  Sanitätspolizei  erlassene  Verordnimg 
sofort  Streitigkeiten  wegen  der  Zahlungspflicht 
an.  Der  Gegensatz  speciell  zur  deutschen  Ge- 
snndheitsgesetzgebung  wird  gut  dargelegt  von 
Jakobson,  Viertel jahrsschr.  f.  gerichtl.  Medizin 
1894  S.  130;  der  —  ganz  ähnlich  geartete  — 
Gegensatz  zur  französischen  von  Monod,  les 
mesures  sanitaires  en  Angleterre  depuis  1875 
et  leurs  resultats  (Paris  1891).  —  Noch  sei 
darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  ähnliche,  teil- 
weise noch  weitgehendere  Gesetze  wie  das 
Mttsterland  England  sich  auch  viele  der  Eolonieen 
—  Canada,  Ostindien,  Neusüd wales  ~  gegeben 
haben.  Insbesondtre  scheint  der  letztgenannte 
Staat  wie  mit  seiner  Arbeiterschutzgesetzgebung, 
so  auch  mit  seiner  Gesundheitsgesetzgebung 
fi:eradezu  vorbildlich  zu  sein,  die  bezüglichen 
Gesetze  sind  in  den  Veröffentlichungen  des  Ge- 
sundheitsamts 1896  und  1898  abgedruckt. 

Die  italienische  Sanitätsgesetzgebnng 
hat  eine  gute,  knapp  gefasste  offizielle  Dar- 
stellung gefunden  in  der  vom  Ministerium  des 
Innern  herausgegebenen  Schrift  „La  legislation 
et  Tadministration  sanitaire  en  Italic'',  Kom  1894. 
Die  Organisation  ist  neuerdings  durch  Erlass 
V.  1.  Juli  1896  modifiziert;  Spitze  ist  die  Ab- 
teilung IV  im  Ministerium  des  Innern,  der  eine 
konsultative  Behörde,  der  Gesnndheitsrat,  bei- 
fi-egeben  ist.  Grundlage  bildet  ein  Gesetz  über 
Gesundheitspflege  (tntela  deir  hygieine  e  della 


sanita  publica)  v.  22.  Dezember  1888,  das  in 
seinen  71  Artikeln  ein  vollständiges  System 
der  Hygieine  enthält  und  durch  die  gründ- 
lichsten ,  ausführlichsten  Ausführungsverord- 
nungen und  ministeriellen  Reglements  ergänzt 
wird. 

Wenn  mitg^eteilt  wird,  dass  z.  B.  in  den 
Ministerialvorschriften  über  die  Boden-  und 
Ortshygieine  (vom  20.  Juni  1896,  141  Artikel) 
angeordnet  ist,  dass  auf  dem  flachen  Lande  in 
jedem  Schlafraum  15  cbm  für  die  Person  be- 
rechnet werden  und  jede  Familienwohnung  mit 
einem  besonderen  Abtritt  mit  direkter  Lüftung 
versehen  sein  muss,  so  ist  ersichtlich,  dass  es 
wenigstens  an  den  weitestgehenden  Vor- 
schriften nicht  fehlt! 

Ueber  Bussland  vergleiche  die  ausführliche 
Darstellung  von  Wiljce:  Die  Organisation  des 
Medizinalwesens  und  die  hygieinischen  Verhält- 
nisse im  europäischen  Russland.  Supplement 
zu  Jahrgang  1896  der  Vierteljahrsschrift  für 
gerichtl.  Medizin  133—172. 

4.  Statistik  der  ö*  G«  Statistische  Auf- 
stellungen über  den  zu  verschiedenen  Zeiten 
oder  an  verschiedenen  Orten  oder  bei  verschie- 
denen Gesellschaftsklassen  herrschenden  Gesund- 
heitszustand erfordern  unbedingt  die  Beachtung 
gewisser  methodologischer  Vorschriften,  ohne 
welche  sie  in  den  meisten  Fällen  zu  Fehlschlüs- 
sen führen  und  zu  Vergleichungen  unbrauchbar 
werden.  Am  häufigsten  wird  in  der  Weise  ge- 
fehlt, dass  der  natürliche  Einfluss  der  Alterszu- 
sammensetzung einer  Gruppe  auf  die  in  ihr 
herrschende  Morbidität  und  Mortalität  ausser 
acht  gelassen  und  dass  alsdann  auf  Rechnung^ 
anderer  Faktoren  (Beruf  ^  Oertlichkeit  etc.)  ge- 
schoben vrird,  was  gänzlich  oder  zum  Teil  nur 
eine  Fol^e  jener  besonderen  Alterszusammen- 
setzung ist.  Die  aus  der  populären  Litteratur, 
auch  aus  manchen  älteren  oekannten  wissen- 
schaftlichen, namentlich  medizinalstatistischen 
Werken  herrührenden  Daten  sind  deswegen  nur 
mit  grosser  Vorsicht  und  Auswahl  zu  fi^ebrau- 
chen.  In  der  neueren  Zeit  ist  die  Bearbeitung 
der  einschlägigen  Fragen  namentlich  seitens 
der  Fachstatistiker  eine  immer  sorgfältigere 
^worden.  Statistische  Untersuchungen  über 
die  Veränderung  der  Sterblichkeit  in  den  Gross- 
Städten  sowie  Vergleichungen  der  städtischen 
und  ländlichen  Sterblichkeit  lieferten  in  neuerer 
Zeit  u.  a.  >Dr.  Karl  Singer,  „Die  Abminderung 
der  Sterblichkeitszifier  Münchens",  München  1895 ; 
Dr.  J.  Dreyf uss,  „Ueber  die  Sterblichkeitsabnahme 
in  deutschen  Grossstädten  im  Laufe  der  letzten 
drei  Decennien".  Berlin  1899;  Ballod,  „Die 
Lebensföhigkeit  der  städtischen  und  ländlichen 
Bevölkerung",  Leipzig  1897  und  „Die  mittlere 
Lebensdauer  in  Stadt  und  Land",  Leipzig  1899; 
Bleicher,  „Ueber  die  Eigentümlichkeiten  der 
Städtischen  Natalitäts-  und  Mortalitätsverhält- 
nisse" (S.-A.  aus  den  Verhandlungen  des  intern. 
Kongr.^f.  Hygieine  und  Demographie",  Budapest 
1897).  Knise,  „Die  Verminderung  der  Sterb- 
lichkeit in  den  letzten  Jahrzehnten"  in  der 
Zeitschrift  für  Hygiene  Bd.  25;  Dr.  Fr.  Prin- 
zing  „Die  Vergleichbarkeit  der  Sterblichkeits- 
ziffern verschiedener  Zeiträume"  in  der  Zeit- 
schrift für  Hygieine  und  Infektionskrankheiten 
31.  Bd.  1899.  Ueber  Bernfssterblichkeit  vieles 
Material  bei  Westergaard,  „Die  Lehre  von  der 
Mortalität  und  Morbidität'',  Jena  1882.   Zu  be- 


Gesundheitspflege,  öffentliche — Qetränkesteuern 


269 


achten  von  fortianf enden  Veröffentlichungen  ins- 
besondere die  Mitteilnngen  der  städtestatisti- 
schen Aemter,  namentlich  das  von  Böckh  her- 
ausgegebene Berliner  stat.  Jahrbuch  mit  seinen 
jäurlichen  Sterbetafeln  und  Absterbeordnungen 
nach  Todesursachen,  die  medizinalstatistischen 
Mitteilnngen  aus  dem  Kaiserlichen  Gesundheits- 
amte, die  Medizinalstatistiken  von  Baden  und 
Württemberg,  die  preussische  Statistik,  nament- 
lich die  Ar&iten  von  t.  Fircks,  zuletzt  Zeit- 
schrift des  königlich  preussischen  statistischen 
Bureaus  1897,  die  Statistik  des  Deutschen 
Reichs  Neue  Folge  Bd.  44,  die  Vierteljahrs- 
schrift des  Vereins  für  öffentliche  Gesundheits- 
pflege u.  s.  w.  Mit  der  Frage  der  Methodologie 
der  Morbiditäts-  und  Mortalitätsstatistik  zur 
Erlangung  vergleichbarer  internationaler  Resul- 
tate beschäftigten  sich  die  internationalen  sta- 
tistischen Kongresse  und  der  Kon^ess  für 
Hy  gieine  und  Demographie,  besondere  \  erdienste 
um  die  internationale  vergleichende  Statistik 
erwarben  sich  namentlich  Bodio  und  Korösi. 
Ausführliche  Litteratur  in  v.  Mayr,  Statistik  und 
Gesellschaftsiehre  Freiburg  1897. 

M,  Flesch,     JC.  Flesch, 


Getränkestenern. 

1.  Be^ff  und  Beurteilung.  2.  Allgemeine 
G.  H.  Statistik  der  Getränkebesteuerung.  4.  Der 
Einflusa  der  G.  auf  den  Getränkeverbrauch. 

1.  Begriff  und  Benrteiliing.  Unter 
den  Getränkesteuem  versteht  man  in  der 
Regel  nur  die  Steuern  auf  die  geistigen 
Getränke :  Bier,  Wein,  Obstwein  und  Brannt- 
wein. Doch  kommen  auch  Steuern  auf 
Meth,  Essig  (Frankreich,  Italien)  iind  auf 
kohlensaure  Wasser  (Italien)  vor,  die  wir  je- 
doch hier  von  der  Betrachtung  ausschliessen 
wollen.  Sie  zählen  zu  den  Aufwand-,  im 
engeren  Sinne  zu  den  Verbrauchssteuern 
tmd  nach  der  Form  der  Erhebung  zu  den 
indirekten  Steuern. 

Die  Getränkesteuern,  insbesondere  die 
Weinsteuern,  gehören  zu  den  ältesten  Ver- 
brauchssteuern. Sie  haben  sich  seit  dem 
12.  Jahrhundert  zuerst  als  Lokal-,  später  als 
Landessteuem  bis  in  die  Gegenwart  be- 
hauptet. Ihre  Geeignetheit  für  eine  steuer- 
mässige  Erfassung  kann  nicht  wohl  in  Ab- 
rede gestellt  werden,  wenn  auch  über  das 
Mass  dieser  Geeignetheit  rücksichtlich  der 
einzelnen  Getränke  die  Meinungen  ausein- 
andergehen. Wenn  die  allgemeine  Ansicht 
mit  Recht  diejenigen  Objekte  als  besonders 
geeignet  für  oie  Verbrauchabesteuerung  er- 
klärt, welche  Gegenstände  allgemeinen,  aber 
freiwilligen  Genusses  sind,  deren  Genuss 
aber,  eben  weil  er  nicht  notwendig  ist, 
seitens  des  einzelnen  nach  seinen  wirtschaft- 
lichen Verhältnissen  ausgedehnt  oder  einge- 
schränkt werden  kann,  so  werden  die  Ge- 
tränkesteaern    im    allgemeinen    schon   aus 


diesem  Gesichtspunkt  als  empfehlenswerte 
Aufwandsteuem  bezeichnet  werden  dürfen. 
Die  geistigen  Getränke  sind  nicht  Nahrungs- 
mittel, sondern  Genussmittel,  sie  sind  fast 
immer  Gegenstände  der  Luxuskonsumtion, 
denn  es  kann  auf  ihren  Genuss  ohne  Be- 
einträchtigung, ja  manchmal  zum  direkten 
Nutzen  der  Gesundheit  verzichtet  werden. 
Wissenschaft  und  Erfahning  haben  nachge- 
wiesen, dass  dieselben  mehr  Schaden  als 
Nutzen  verursachen.  Wenn  auch  ein  mas- 
siger Genuss,  namentlich  von  Bier  und  Wein 
nicht  als  gesundheitsschädlich  bezeichnet 
werden  kann,  so  wirkt  doch  sowohl  der  nur 
zeitweise  auftretende  zu  starke  Genuss  wie 
der  regelmässige  tägliche  Konsum  bei  grös- 
serer Ausdehnung  zerstörend  auf  das  Ner- 
vensystem. Insbesondere  gilt  dies  von 
Branntwein.  Er  wirkt  auch  wirtschaftlich 
schädlich;  denn  er  entzieht  einen  erheb- 
lichen Teil  des  Einkommens  der  unteren 
Klassen  einer  geeigneteren  Verwendung. 
Gleichwohl  ist  der  Genuss  wegen  des  mit 
demselben  verbundenen  Wolübehagens  sehr 
weit  verbreitet. 

Man  macht  gegen  die  Getränkesteuer 
geltend,  dass  man  durch  sie  nicht  eine  all- 
gemeine, d.  h.  jeden  steuerkräftigen  Kon- 
sumenten treffende  Besteuerung  verwirk- 
lichen könne.  Nun  ist  allerdings  richtig, 
dass  sich  manche  an  sich  steuerkräftigen 
Pereonen  der  Besteuening  entziehen,  indem 
sie  die  von  ihr  getroffenen  Getränke  nicht 
geniessen.  Dafür  haben  die  Getränkesteuern 
aber  auch  den  nicht  zu  unterschätzenden 
Vorteil,  dass  sie  wenigstens  in  der  Haupt- 
sache nur  auf  die  erwachsene,  also  arbeits- 
und  erwerbsfähige  männliche  Bevölkerung 
entfallen  und  nicht  wie  z.B.  die  Salzsteuer 
auf  die  ganze  Bevölkerung  ohne  unterschied 
des  Geschlechts,  des  Alters  und  des  Ein- 
kommens und  dass  man  wenigstens  teilweise 
den  Besteuerungsmodus  so  einzurichten  ver- 
mag, dass  die  Konsumenten  nach  ihrem 
EinKommen  oder  nach  ihrer  Leistungsfällig- 
keit getroffen  werden.  Wenn  sich  einzelne 
in  guten  Vermögensverhältnissen  Befind- 
liche den  Getränkesteuem  entziehen,  weil 
sie  keine  geistigen  Getränke  geniessen,  so 
bieten  doch  gerade  diese  Steuern  der  Be- 
völkerung auch  die  Möglichkeit  der  Selbst- 
belastung bezw.  Selbstentlastung  in  hohem 
Grade,  indem  ja  der  Genuss  der  einzelnen 
Getränke  und  das  Mass  desselben  in  dem 
freien  Ermessen  gelegen  sind.  Wollte  man 
übrigens  den  oben  erwähnten  Einwand 
ernstlich  aufrecht  erhalten,  so  müsste  man 
sich  auch  gegen  die  Tabak-  und  Zucker- 
steuer erklären,  denn  auch  liier  entziehen 
sich  manche  durch  Unterlassung  des  Ge- 
nusses völlig  der  Besteuerung.  Wenn  wirk- 
lich der  weniger  Bemittelte  manchmal  mehr 
für  Getränke   ausgiebt   als  der  Wohlhaben- 


270 


Getränkesteuern 


dere,  so  handelt  er  damit  in  der  Regel 
■wirtschaftlich  irrationell;  aber  die  Steuer- 
gesetzgebung hat  keine  Veranlassung,  auf 
diese  Unregelmässigkeit  Rücksicht  zu  neh- 
men. Richtig  ist  allerdings,  dass  die  unte- 
ren Klassen  auch  bei  massigem  Genuss 
geistiger  Getränke  einen  verhältnismässig 
grösseren  Prozentsatz  ihres  Einkommens  für 
diesen  aufwenden  als  die  höheren,  infolge 
dessen  auch  relativ  mehr  Steuern  zu  ent- 
richten haben.  Allein  diesem  Umstände 
kann  auf  dem  Gebiete  der  Einkommens- 
und Ertragsbesteuerung  durch  geringere  Be- 
lastung der  unteren  Klassen  teilweise  Rech- 
nung getragen  werden. 

Es  darf  aber  nicht  in  Abrede  gestellt 
-werden,  dass  die  Besteuenmg  der  geistigen 
Getränke,  auch  abgesehen  von  dem  eben 
besprochenen  Einwand,  manche  eigentüm- 
liche Sch^'ierigkeiten  bietet,  Schwierigkeiten, 
die  teils  in  Bezug  auf  die  Steuertechnik, 
teils  in  Bezug  auf  die  Principien  des  Steuer- 
wesens überhaupt,  teils  endlich  in  Bezug 
auf  die  Volkswirtschaft  erwachsen. 

1.  Die  Schwierigkeiten  einer  richtigen 
steuerlichen  Erfassung  der  geistigen  Ge- 
tränke beruhen  zunächst  in  der  Zersplitte- 
nmg  der  Prodiiktion  und  des  Verkelirs  mit 
denselben,  wodurch  ein  gi-osser  steuerlicher 
Apparat  erfordert  wird,  der  wieder  einen 
grossen  Teil  des  Ertrages  verschlingt.  Nach 
dem  neuesten  statistischen  Jahrbuch  des 
Deutschen  Reiches  (1899)  beträgt  die  Zahl 
der  im  Reichssteuergebiet  vorhandenen 
Brennercien  1897/98  60779,  wobei  von 
sämtlichen  Brennereien  nahezu  ^!i  auf  land- 
wirtschaftliche Nebenbetriebe  für  den  Haus- 
gebrauch entfallen.  Besser  liegen  die  Ver- 
hältnisse bei  der  Biergewinnimg.  Hier  zählt 
man  1897/98  7542  Brauereien  für  das  nord- 
deutsche Brausteuergebiet,  darunter  6818 
gewerbliche,  724  nicht  gewerbliche;  die  Zahl 
der  Brauereien  in  Bayern  betnig  1897 
4857,  in  Württemberg  1897/98  6285,  dar- 
unter 1715  gewerbliche,  4570  private.  Da- 
gegen ist  der  Wein  wieder  grösstenteils  ein 
Erzeugnis  des  landwii-tschaftlichen  Kleinbe- 
triebs. Es  ist  femer  nicht  zu  leugnen,  dass 
auch  die  Methoden  der  Besteuerung,  also 
die  Arten  der  Veranlagung,  noch  viel  zu 
wünschen  lassen  und  dass  keine  der  bisher 
bekannten  Formen  der  Bier-,  Branntwein- 
und  Weinbesteuenmg  völlig  genügen  kann. 
Entweder  berücksichtigen  sie  die  Qualität 
des  Steuergegenstandes  nicht  oder  nur  un- 
genügend und  es  entstehen  damit,  abge- 
sehen von  einer  ungleichen  Belastung,  auch 
bezüglich  der  Bemessung  der  Steuerrück- 
vergütungen bei  der  Ausfuhr  grosse  Schwie- 
rigkeiten, wie  dies  namentlich  bei  den  Pro- 
duktions- oder  Rohstoffl)esteuerungsmethoden 
der  Fall  ist,  oder  die  Erhebungsmethoden 
machen  zwar  den  Vereuch,  die  mit  Rück- 


sicht auf  die  grössere  Leistungsfähigkeit 
und  demnach  höhere  Belastung  der  Wohl- 
habenderen zu  fordernde  Besteuenmg  nach 
der  Qualität  zu  verwirklichen,  erfordern 
aber  dann  einen  sehr  grossen  steuerlichen 
Apparat  und  belästigen  die  Produzeuten 
und  Händler  in  bedenklichem  Masse. 

2.  Was  zum  zweiten  die  Schwierigkeiten 
anlangt,  die  in  der  Berücksichtigung  der 
obersten  Grundsätze  im  Steuerwesen  gelegen 
sind,  so  meinen  wir  damit  namentlich  die 
schwierige  Wahl  des  Steuerfusses*  also  die 
Frage,  in  welchem  Verhältnis  die  Steuer- 
sätze der  drei  Getränkearten  zu  einander 
stehen  und  wie  hoch  sie  sein  sollen. 

Die  Beantwortung  dieser  Frage  ist  eben- 
so schwierig  wie  die  praktische  Verwirk- 
lichung der  als  richtig  erkannten  Lösung. 
Im  allgemeinen  besteht  freilich  die  Ueber- 
zeugimg,  dass  der  Branntwein  höher  als  der 
Wein  und  dieser  hoher  als  das  Bier  be- 
steuert w^erden  müsse.  Die  Gesetzgebungen 
haben  auch  da,  wo  die  drei  Getränkearten 
neben  einander  besteuert  werden,  wie  in 
Frankreich  und  England,  nahezu  überall  dies 
Verhältnis  pro  Masseinheit  der  Getränke 
festgehalten.  Die  specielle  Wirkimg  der 
alkoholischen  Getränke  beruht  auf  ihrem 
Gehalte  an  Alkohol,  der  bei  Bier  ca.  3,  bei 
Wein  6—7,  bei  Branntwein  40—50%  be- 
tragen soll.  Er  ist  also  bei  Branntwein  selu* 
hoch,  und  da  mit  der  Höhe  des  Alkoholge- 
haltes auch  die  Gefährlichkeit  des  Getränkes 
für  die  Gesundheit  zunimmt,  so  empfielilt 
sich  schon  um  deswillen  eine  höhere  Be- 
steuerung des  Branntweins  gegenüber  dem 
Wein  und  Bier.  Aber  es  wäi*e  doch  unzu- 
lässig, lediglich  den  Alkoholgehalt  als 
Grundlage  für  die  Höhe  des  Steuerfusses 
zu  bestimmen,  da,  wie  die  Verhältnisse  zur 
Zeit  liegen,  der  Branntweinkonsum  gerade 
in  den  unteren  Klassen  besonders  stark  ver- 
breitet ist.  Allgemein  lässt  sich  nur  sagen, 
dass  die  Branntweinsteuer  bis  zu  jener 
Höhe  gehen  dürfe,  bei  welcher  die  finan- 
ziellen Einkünfte  zm'ückzugehen  drohen. 
Weiter  zu  gehen  kann  kaiun  als  sittliche 
Pflicht  des  Staates  betrachtet  werden.  Eine 
übertrieben  hohe  Besteuerung  des  Brannt- 
weins verbietet  sich  schon  diu'ch  die  Rück- 
sichtnahme auf  die  Branntwein brennei-ei  und 
die  vielen  technischen  Zwecke,  zu  denen 
der  Spiritus  benutzt  wird;  sie  wurde  auch 
die  unteren  Klassen,  insolange  als  kein  Er- 
satz in  anderen  Getränken  geboten  werden 
kann ,  überaus  hart  treffen  und  sie  •  eines 
beliebten  Reiz-  und  Genussmittels  berauben. 

Die  Biersteuer  wird^  vornehmlich  in 
Ländern  mit  grosser  Bierproduktion,  am 
niedrigsten  gehalten  werden  müssen,  weil 
das  Bier  vermöge  seines  Malzgehaltes  wenig- 
stens bis  zu  einem  gewissen  Grade  den 
Nahrungsmitteln  sich  nähert,  massig  genos- 


Getränkestellern 


271 


sen  nicht  schädlich  ist,  und  weil  eine  zu 
starke  Besteuenmg  des  Bieres  dem  Brannt- 
wein konsnra  Vorschuh  leisten  würde.  Auch 
der  Wein  wird  in  Weinproduktionsländern 
vorsichtiger  zu  behandeln  sein  als  der 
Branntwein,  aber  eine  völlige  Freilassung 
des  Weines  von  einer  Inlandsteuer,  wie  bei 
uns  in  Deutschland,  widerspricht  entschie- 
den den  obersten  Grundsätzen  im  Steuer- 
wesen und  lässt  sich  nur  aus  den  Schwie- 
rigkeiten einer  richtigen  steuerlichen  Erfas- 
sung und  aus  Kücksichtnahme  auf  die  Wein- 
produktion  erklären. 

3.  Endlich  hat  die  Getränkebesteueining 
auch  auf  die  in  der  Getränkeindustrie  be- 
schäftigten Produzenten  und  Händler  Rück- 
sicht zu  nehmen,  woraus  neue  Schwierig- 
keiten erwachsen.  Es  ist  oben  bereits  darauf 
hingewiesen  worden,  dass  mit  mancher  Yer- 
aulagimgsmethode  bedeutende  Belästigimgen 
der  Produktion  verbunden  sind;  schwerer 
aber  wiegt  die  Frage,  ob  nicht  durch  die 
Art  und  Höhe  der  Besteuerung  gewisse 
Klassen  von  Produzenten  schwer  geschädigt 
werden.  Das  kann  namentlich  bei  der  Bier- 
und  Branntweinbereitung,  besonders  wieder 
bei  der  letzteren  eintreten.  Grosse  Brauereien 
sind  unter  Umständen  in  der  Lage,  die 
Steuer  ganz  oder  teilweise  abzuwälzen,  durch 
verbesserte  Maschinen,  verbesserte  Produk- 
tionsmethoden,  kurz  durch  die  Vorzüge  des 
Grossbetriebes  die  Steuer  einzubringen; 
kleinei-e  können  diese  Vorteile  nicht  an- 
wenden und  sind,  soweit  es  ihnen  nicht 
gelingt,  die  Steuer  auf  die  Konsumenten 
zu  überwälzen,  nicht  mehr  konkiurenzfähig. 
So  führt  die  Getränkebesteuerung  leicht  zur 
Betriebskoncentration ,  die  zwar  in  steuer- 
technischer Beziehimg  erwünscht,  in  volks- 
wirtschaftlicher jedoch  bedenklich  sein  kann. 
Die  Zahl  der  Bierbrauereien  im  norddeutschen 
Brausteuergebiet  ist  von  1878  bis  1897  von 
11867  auf  7  542,  in  Bayern  seit  1888  bis 
1897  um  nahezu  600  zurückgegangen  und 
würde  wohl  noch  einen  stärkeren  Rückgang 
zu  verzeichnen  haben,  wenn  nicht  die  Ge- 
setzgebung den  kleineren  Brauereien  durch 
Staffeltarife  und  ähnliche  Vorkehrungen  zu 
Hilfe  gekonunen  wäre.  In  Ländern,  in  denen 
die  Lfcmdwirtschaft  auf  den  Kartoffelbau  und 
damit  im  Zusammenhang  auf  die  Brannt- 
weinbrennerei und  die  Verwertung  der 
Branntweinschlempe  zu  Viehfutter  in  grösse- 
rem umfange  eingerichtet  ist,  wird  diese 
eine  Berücksichtigung  erfordern,  die  häufig 
mit  den  Forderungen  der  Steuerpolitik  im 
Widerspruch  stehen  wird.  In  der  That  be- 
willigen zahlreiche  Gesetzgebungen  auch  den 
kleinen  landwirtschaftlichen  Brennereien 
Steuervorzüge,  ohne  welche  diese  die  Kon- 
kurrenz der  grossen  Fabriken  nicht  auszu- 
halten vermöchten. 

2.  Allgemeine  6.     Wie  aus   den   bis- 


herigen Ausführungen  hervorgeht,  erfordert 
die  besondere  Natur  der  einzelnen  alko- 
holischen Gretränke  auch  eine  besondere, 
ihre  eigentümlichen  Produktions-  und  Kon- 
sumtionsverhältnisse berücksichtigende  Be- 
steuerung. Doch  giebt  es  Steuerformen, 
die  bei  allen  drei  Getränken  gleichmässig 
anwendbar  sind  imd  thatsäcMich ,  wenn 
auch  mit  Modifikationen  im  einzelnen,  ange- 
wendet weiden.  Es  sind  das  die  allge- 
meinen Schanksteuern  und  die  Besteuenmg 
durch  Lizenzen. 

a)  Die  allgemeine  Schanksteuer. 
Unter  Schanksteuern  im  eigentlichen  Sinne 
sind  Abgaben  zu  verstehen,  welche  von  dem 
den  Ausschank  oder  Kleinverkauf  gewerbs- 
mässig Betreibenden  neben  der  Gewerbe- 
steuer nach  Massgabe  der  Grösse  des  ge- 
samten Ausschankes  oder  Kleinverkaufs  von 
Getränken  erhoben  werden.  Solche  Schank- 
steuern können  sich  bloss  auf  eine  einzelne 
Getränkeart  beziehen,  wie  das  württem- 
bergische Weinumgeld,  die  Kleinverkaufs- 
abgabe vom  Wein  (droit  de  detaü)  in  Frank- 
reich, die  österreichische  Branntweinschank- 
steuer  (Branntweinverschleissabgabe).  Dem 
gegenüber  bezweckt  die  allgemeine 
Schanksteuer  eine  ergänzende  Belastung  des 
gesamten  durch  den  Wirtshausausschank 
und  den  Kleinverkauf  vermittelten  Konsums 
an  allen  geistigen  Getränken.  Ihre  Begrün- 
dung liegt  darin,  dass  die  Specialgetränke- 
steuer hinsichtlich  einzelner  Getränke,  z.  B. 
des  Weines,  schwer  durchführbar  sind  und 
dass  sie  den  Konsum  nicht  genügend  er- 
fassen. Dass  die  allgemeine  Schanksteuer 
nur  als  Ergänzungssteuer  angewendet  wer* 
den  kann  und  dass  sie  auch  als  solche, 
steuertechnisch  betrachtet,  unvollkommen  ist, 
lässt  sich  nicht  bestreiten.  Sie  erfordert 
eine  äusserst  sorgfältige  Ueberwachung  der 
Schank-  und  Kleinhandelsbetriebe  bezüglich 
ihrer  Einkäufe  und  Absätze,  die  doch  ihr 
Ziel  niemals  völlig  erreichen  wird.  Sie  lässt 
ferner  den  Verbrauch  des  selbsterzeugten 
sowie  häufig  auch  den  des  direkt  oder  im 
Grossen  bezogenen  Getränkes  steuerfrei.  Dass 
das  selbst  erzeugte  Getränk  steuerfrei  bleibt, 
fällt  allerdings  weniger  ins  Gewicht,  da  der 
Hausverbrauch  in  der  Regel  nicht  sehi* 
steuerkräftig  ist,  dass  aber  der  Bezug  im 
Grossen,  der  zumeist  auf  grössere  Steuer- 
kraft schliessen  lässt,  von  dieser  Ergänzungs- 
steuer frei  bleibt,  ist  umso  bedenklicher,  als 
die  üblichen  Formen  der  Getränkebesteuerung 
eine  Abstufimg  der  Steuersätze  nach  der 
Qualität  der  Getränke  nur  in  sehr  beschei- 
denem Masse  zulassen.  Zu  Gunsten  der 
Schanksteuer  beruft  man  sich  jedoch  auf 
gesundheits-  und  sittenpolizeiliche  Motive, 
auf  das  Wünschenswerte  der  Erschwenmg 
imd  Mehrbelastung  speciell  des  Wirtshaus- 
konsums und  des  Kiemhandels  mit  geistigen 


272 


Getränkesteuern 


Oetränken  (Ungarn)  so^*ie  auf  die  Möglich- 
keit, dadurch  die  Steuerkontrolle  bezüglich 
der  eigentlichen  Getränkesteuern  wirksamer 
zu  machen  (Frankreich).  Auch  mag  Mandello 
<Art.  Ungarisches  Schankgefälle  im 
Finanzarchiv  VI,  380  ff.)  recht  haben,  wenn 
er  meint,  dass  die  Schanksteuer  zum  Teil 
am  Schankgewerbe  haften  bleibt. 

Die  Schwierigkeit  der  Uebei-wachung  des 
Ausschanks  und  Kleinhandels  haben  dazu 
geführt,  an  Stelle  der  nach  den  thatsäch- 
lichen  Umsätzen  bemessenen  Schanksteuer 
Abfindungen  (Akkorde)  zwischen  der 
Steuerbehörde  una  den  Steuerzahlern  oder 
Lizenzen  treten  zu  lassen.  Die  letzteren 
kommen  als  Steuern  nur  insoweit  in  Betracht, 
aJs  sie  jährlich  erhoben  werden  und  an 
feiner  abgestufte  Merkmale  des  Betriebs- 
umfangs  anknüpfen;  aber  auch  sie  haben 
vielfach  und  häufig  vorwiegend  den  Charakter' 
von  Gewerbesteuern.  Auch  Steuerver- 
pachtungen und  Thorsteuern  werden 
als  allgemeine  Formen  der  Getränkebesteue- 
rung benutzt. 

Die  bemerkeDswerteste  allgemeine  Schank- 
steuer ist  die  in  Ungarn  durch  G.  v.  28. 
Dezember  1888  eingeführte.  Sie  wird  von  dem 
Ausschank  und  Kleinverkauf,  d.  h.  vom  Ver- 
kauf von  Wein  und  Branntwein  in  Mengen 
unter  100  1,  von  Bier  in  Mengen  unter  2ö  1 
bei  AVirten,  Bierbrauern,  Branntweinbrennern, 
Händlern,  Kanfleuten,  Zuckerbäckern,  Kaffee- 
siederu,  Produzenten  erhoben  und  beträgt  für 
1  hl  Wein  in  geschlossenen  Städten  2  Gulden, 
in  offenen  Orten  3  Gulden,  für  Obstwein  1 
Galden,  Bier  3  Gulden,  Branntwein  bis  30  Grad 
Alkohol  4,50  Gulden,  über  30—50  Grad  7,50 
Gulden,  über  50  pro  Hektolitergrad  0,15  Gul- 
den, für  Liköre,  Pnnschessenzen  und  andere 
versüsste  geistige  Getränke,  Arac,  Rum,  Cognac, 
sofern  sich  nicht  nach  dem  Hektolitergrad  eine 
höhere  Steuer  berechnet,  12  Gulden.  In  den 
geschlossenen  Städten  wird  die  Steuer  als  Thor- 
steuer, in  offenen  Orten  aber  entweder  durch 
Abfindung  oder  im  Wege  der  Verpachtung  an 
einen  ünt»*rnehmer  oder  unmittelbar  durch  die 
Finanzbehörden  erhoben.  Die  Grundlage  der 
Bemessung  bilden  die  von  Amts  wegen  ge- 
sammelten Daten  hinsichtlich  des  Quantums, 
der  Sorte,  der  Qualität  der  von  den  Steuer- 
pfiichtigen  ausgeschenkten  oder  im  Kleinen  ver- 
kauften Geträ&e.  Der  Reinertrag  der  Schank- 
steuer (incl.  Schankgebühr)  betrug  1890—94: 
18,0,  18,3,  17,3,  10,3,  9,0  Millionen  Gulden. 

In  Frankreich  sind  neben  anderen  Ge- 
werbetreibenden auch  alle  dielenigen,  welche 
sich  mit  dem  Gross-  und  Klein  verkauf  und 
Austscbank  von  Getränken  befassen,  einer  jähr- 
lichen Lizenzabgabe  unterworfen,  die  Debitanten 
d.  h.  Kleinverkäufer  und  Wirte  einer  solchen 
von  15—50  Francs  je  nach  der  Grösse  des  Ortes, 
die  Grosshändler  einer  solchen  von  125  Francs ; 
ausserdem  haben  auch  die  gewerbsmässigen 
Brenner  und  Destillateure  (25  Francs)  sowie  die 
Brauer  (75-  125  Francs)  eine  Lizenzabgabe  zu 
entrichten.  Sie  gilt  regelmässifif  nur  für  eine 
gewerbliche    Unternehmung    oder   Anlage    in 


einer  Gemeinde,  ist  also  bei  mehreren  Eta- 
blissements desselben  Unternehmens  mehrfach  zu 
entrichten.  Diese  Lizenzabgaben  haben  ersicht- 
lich einen  vorwiegend  gebührenartigen  Cha- 
rakter. 

Ans  den  französischen  Lizenzabgaben  hat 
sich  die  j, Lizenzgebühr  für  den  Kleinverkauf 
von  geistigen  Getränken^  in  Elsass- Loth- 
ringen (G.  V.  5.  April  1880,  23.  März  1882 
und  23.  März  1888)  entwickelt.  Als  Kleinver- 
kauf gilt  der  Verkauf  von  Wein,  Bier,  Meth. 
Branntwein  oder  Likör  in  Menden  von  15 1 
und  weniger,  mit  Ausnahme  des  selbsterzeugten 
Branntweins  aus  Obst,  Beerenfrüchten,  Knzian, 
Wein,  Hefe  in  Mengen  von  3  1  und  des  Klein- 
verkaufs von  denaturiertem  Spiritus.  Der 
Steuersatz  beträgt  vierteljährlich 


in  Gemeinden 
unter  2000  Seelen 
von  2000—10  000      „ 
über  10000      „ 


im  Mittel 
Mark 

75 


mindestens 

Mark 

15 
25 
30 


In  der  einzelnen  Gemeinde  ist  derjenige 
Satz  aufzubringen,  der  sich  durch  Multiplikation 
der  Zahl  der  Lizenzpflichtigen  mit  dem  Mittel- 
satze ergiebt.  Die  einzelnen  Steuerpflichtif^en 
werden  nach  dem  Umfange  und  der  Beschaffen- 
heit ihrer  Geschäftsbetriebe  veranlagt;  doch 
hat  jeder  Pflichtige  zum  wenigsten  den  Mindest- 
satz zu  entrichten.  Das  Erträgnis  betrug  1896 
rund  1,50  Millionen  Mark. 

Eine  ähnliche  Lizenzabgabe  besteht  in 
Württemberg  (Jährliche  Wirtschafts- 
sporteln").  Sie  ist  in  Jahresbeträgen  von  1,  2, 
3,  5  und  8  Mark  von  Gastwirten,  gewerbs- 
mässigen Bierbrauern,  Schankwirten  und  allen 
denjenigen  zu  entrichten,  welche  geistige  Ge- 
tränke ständig  ausschenken  und  Wein,  Obst- 
most oder  Bier  in  Mengen  von  weniger  als  20 1 
bezw.  Branntwein  oder  Spiritus  in  Mengen  unter 
2  1  über  die  Strasse  verkaufen.  Die  Niedrig- 
keit dieser  Abgabe  lässt  sie  deutlich  als  Ge- 
bühr erscheinen. 

In  Enjsfland  haben  neben  vielen  anderen 
Gewerbetreibenden  auch  die  Bierbrauer,  Brannt- 
weinbrenner, Baffineure,  Fabrikanten  von  Süss- 
wein,  femer  die  Grosshändler  mit  Getränken, 
endlich  die  Kleinhändler,  Wirte,  Schankwirte, 
Speisebauswirte  Lizenzen  zu  entrichten,  die 
sich  im  allgemeinen  nur  auf  den  Betrieb 
eines  Gewerbes  mit  einem  speciellen  Gegen- 
stande beziehen.  Doch  schliessen  gewisse 
Lizenzen  das  Recht  ein,  neben  dem  Hauptge- 
tränk auch  noch  andere  zu  verkaufen,  oder  es 
ist  zur  Hauptlizenz  eine  Zusatzlizenz  erforder- 
lich. (S.  d.  Art.  Lizenzen.)  In  die  Staatskasse 
fliessen  übrigens  nur  die  Lizenzen  der  Brauer 
und  Branntweinbrenner,  während  die  übrigen 
den  örtlichen  Verwaltungen  überwiesen  sind. 
Aehnliche  Lizenzen  bestehen  auch  in  den  Ver- 
einigten Staaten. 

3.  Statistik  der  Getränkebesteuenuig. 
In  der  folgenden  Tabelle  (nach  G.  Schanz 
a.  a.  0.)  sollen  nur  einige  Angaben  über 
Höhe  der  Inlandsteuer,  Eingangszoll  bezw. 
Uebergangsabgabe,  Rückvergütung  und  Kopf- 
belastung der   Bevölkerung    bezüglich    der 


Getränkesteuem 


273 


drei  Oetränkearten  gemacht  werden;  weitere  Augaben  sind  in  den  Specialartikeln  zu 
suchen. 


Inland- 
Btener 


Eingangs- 

zoU  bezw. 

Ueber- 

gangsab- 

gabe 


Zusammen 


Rückver- 
gütungen 


Reiner- 
trag 


O   4)   S 


1.  Branntwein    (Betriebsjahr    1. 
Oktober  1896/97)   ..... 

2.  Wein 

a)  ReichszoU  1897 

b)  Elsass-Lothringen  1896/97  ^) 

c)  Württemberg  1896/97  «)  .    . 

d)  Baden 


Wein  zusammen 
3.  Bier 

a)  ReichazoU  1896/97     .    . 

b)  Brausteuergebiet  1896/97 

c)  Bayern  1896      .... 

d)  Württemberg  189697    . 

e)  Baden  1896  (13  Monate) 

f)  Elsass-Lothrmgen  1896  97 


Bier  zusammen 


SämÜ.  Getränke  zusammen 


Deutschland 


153  02I  600 


40  823  355 


6330600 
15  251  000 


2690000 
164  974 


159352200 

15  251  000 

1  206601 

2  296  636 
2  169  707 


20  923  944 

2690000 

40  988  329 


10532600 


6  895  080 


148  819  600 

15  251000 

1  206601 

2  296  636 
2  169  707 


20  923  944 

2690000 

35376500 

34  093  240 

8  863  800 

7  170700 

3  059  500 


91  253  749 


260  797  293 


^)  Die  Lizenzabgaben  vom  Eleinverkauf  geistiger  Getränke  betrugen  1557995  M. 
•)  Inkl.  Obstwein. 


2,79 


0,40 

0,05 
0,85 
5,80 
4,22 

4,13 
1,85 


1,71 


4,90 


Inland- 
steuer 


Rückver- 
gütungen 


Reiner- 
trag 


Pro  Kopf  der 
Bevölkerung 


Branntwein 
Wein  .  . 
Cider  .  . 
Bier  .  .  . 
Lizenzen    . 


Reinertrag  zus 


Frankreich. 

Rechnung  18%.  Angaben  in  France 

268  672  957 

205  518  188 

14966260 

25  402  479 


268  039  944 

633013 

155427188 

49091  000 

14965677 

583 

23  756  479 

I  646000 

13  640  513 

— 

0,80  Mark. 

268  672  957 

205518  188 
14966260 
25  402  479 

13  640  513 


6,97  Fr 
5,34 

0,39 
0,66 

0,35 


n 
n 

n 


5,58  M. 
4,27  „ 

0,31  n 
0,53  « 
0.29   n 


527  200  387113,71  Fr.  =  10,98  M. 


Grossbritannien  und  Irland. 
Rechnung  1.  April  1896/97.    Angaben  in  £  =  20,43  Mark. 


Branntwein 
Wein  .  . 
Bier  .    .    . 


Reinertrag  zus. 

Lizenzabgaben : 

a)  Branntwein 

Destillateure .    . 

Händler     .    .    . 

Wirte    .... 

b)Wein   u.   Süssig- 

keiten     .... 

c)  Bier  u.  Cider,  Bier 
u.  Wein .... 

d)  Brauer   .    .    .    . 


17299339 
1 1  502  566 


4  527  821 

I  299  593 
17  261 


21  827  160 

I  299  593 
II  519827 


483  639 

I  213 

182  982 


21343531 
I  298  380 

11*336845 


0,49 

£ 

10,01 

M 

0,03 

n 

= 

0,61 

» 

0,29 

n 

=« 

5,92 

n 

12  177 

141  184 

I  595  404 

73  475 

186  341 
12387 


304 
3130 

309 

212 
99 


33  978  736 


12  177 

140880 

I  592  274 

73  166 

186  129 
12288 


0,81  £  =  16,54  M. 


Haadwörterbnch  der  StaatawittesBChaften.    Zweite.  Auflage.    IT. 


18 


274 

Getränkesteaem 

Inland- 
stenem 

Eingangs- 
zoll 

Zasammen 

Rückver- 
gütungen 

Rein- 
ertrag 

Pro  Kopf  der 
Bevölkerung 

Branntwein 
Wein  .  . 
Bier  .    .    . 


Reinertrag  zus. 


Holland. 
Rechnung  1896.    Angaben  in  Gulden  =  1,69  Mark. 


26  764  000 
I  851  cxx> 
I  191  000 


72CXX) 
81  000 


26  836  000 
I  851  000 

I  272  OCX) 


266000 


26570000 
1  851  000 
i  272000 


5,47Guld. 

0,38 
0,26 


9,24  M. 
0,64  „ 
0,44» 


29693000   6,i3Guld.=io,32M 


Branntwein 
Wein  .  . 
Bier  .    .    . 


Dänemark. 
Rechnung  1896.    An^ben  in  Kronen  =  1,125  Mark. 


Heinertrag  zus. 


3  155000 

4  223  500 


268200 

828400 

n  500 


3423200 
828400 

4  235  500 


15000 


3408200 
828400 

4  235  500 


Branntwein 
Wein  .  . 
Bier  .    .    . 


—       I    8  472  100 

Norwegen. 
Rechnung  1897.    Angaben  in  Kronen  "=»  1,125  Mark. 


1,48  Kr. 
0,36   „ 
1,84   n 


1,66  M. 
0,40  „ 
2,07  „ 


3,68  Kr.  =  4,12  M. 


Reinertrag  zus. 


7536000 
3068000 


1  388000 

696000 

I  974000 


8924000 

696000 

5042000 


5  136000 
53000 


3  788000 
696000 

4  989  000 


1,79  Kr. 
0,32   „ 
2,36   n 


2,01  M. 
0,36  „ 
2,65  „ 


Vereinigte  Staaten 
Rechnung  1.  jfli  1896/97. 


Branntwein 
Wein  .  . 
Bier  .    .    . 


82  008  543 
32472  162 

4  012  880 

3376314 
616082 

9473000 

von  Nordamerika. 
Angaben  in  Dollar  =  4,20  Mark. 


4,47  Kr.  =   5,02  M. 


86021  423 

3376314 
33  088  244 


Reinertrag  zus.   |       —       |       —       | 

4.  Der  Einfliiss  der  6.  auf  den 
Getränkeverbrauch.  Es  ist  wiederholt 
darauf  hingewiesen  worden,  daßs  die  Ge- 
tränkebesteuerung auch  zu  gesundheits- 
und  luxuspolizeilichen  Zwecken  benutzt 
wird,  und  es  liegt  deshalb  die  Frage 
nahe,  ob  und  welche  Wirkung  sie  in  dieser 
Beziehung  äussert 

Der  Genuss  der  geisti^n  Getränke  ist 
schon  seit  Jahrhunderten  in  allen  LÄndern 
weitverbreitet;  er  hat  heute  vielfach  einen 
Umfeng  angenommen,  dem  gegenüber  der 
Verbrauch  der  sonstigen  Yerbrauchsgegen- 
stände,  namentlich  der  besseren  Nahrungs- 
mittel leiden  muss.  Es  betrug  in  den 
letzten  3  bezw.  5  Jahren  vor  1896  der  Kon- 
sum an  geistigen  Getränken  pro  Kopf  der 
Bevölkerung  folgende  Mengen  (in  Liter): 


86021  423 

3376314 
33  088  244 


i,i9DoU.=  5,00  M 

0,05 

0,46 


n 
n 


0,21    „ 
1,93  „ 


Bier     Wein 


Deutsches  Reich 

Oesterreich-Üngam 

Frankreich 

Grossbritannien 

Vereinigte  Staaten 

Russlaud 

Schweiz 

Italien 

Holland 

Belgien 

Schweden 

Norwegen 

Dänemark 


106,8 

5,7 

35,0 

22,1 

22,4 

103,0 

145,0 

1,7 

47,0 

1,8 

4,7 

3,3 

37,5 

55,0 

0,9 

95,2 

29,0 

2,6 

169,2 

3,7 

11,0 

0,4 

15,3 

1,0 

33,3 

1,0 

Branntwein 

(100%) 

4,4 

4,15 

4,04 

2,8 

2,58 

4,7 

3,1 
0,67 

4,7 
4,7 
1,6 
4.0 
8.9 


122485981I  i,7oDoll.=  7,i4M. 

Welch  ungeheure  Werte  in  dem  Getränke- 
verbrauch zur  Erscheinung  gelangen,  zeigt 
die  Berechnung  von  Zellers,  der  ihn  für 
Deutschland  im  Jahre  1894/95  bei  einem 
Konsum  von  55,26  Millionen  hl  Bier,  2,8 
Millionen  hl  Wein  und  2,22  Millionen  hl 
100  grädigen  Branntwein  auf  rund  2  Milliarden 
Mark,  das  ist  auf  den  Kopf  über  37  Mark 
veranschlagt.  Man  muss  demnach  den  Ge- 
nuss geistiger  Getränke  im  Deutschen  Reich 
als  übernormal  bezeichnen,  namentlich  wenn 
man  bedenkt,  dass  bei  weitem  nicht  die 
ganze  Bevölkerung  zu  den  Konsumenten 
gehört.  Es  scheiden  die  Kinder  grössten- 
teils aus,  ebenso  die  Frauen ;  in  der  Haupt- 
sache dai-f  man  wohl  die  männliche  über 
15  Jahre  alte  Bevölkerung  als  die  eigent- 
lichen Konsumenten  ansehen.  Legt  man 
nur  diese  Bevölkenmg  zu  Gnmde,  so  erhält 
man  einen  durchschnittlichen  Bierverbrauch 
von  300 — 350  1  und  einen  Branntweinver- 
brauch von  rund  7  1  100  grädigen  oder 
14 — 14,5  1  Trüikbranntwein.  Der  schädliclie 
Einfluss  der  Getränkekonsiuntion  auf  die 
übrige  Bedürfnisbefriedi^ng  zeigt  sich  um- 
somehr,  in  je  tiefere  Einkommensschichten 
man  herabsteigt.  Engels  hat  nachgewiesen 
(»Das  Rechnungsbuch  der  Hausfrau«,  Berlin 
1885),  dass  in  den  Haushaltungen  von  drei 
verheirateten  Arbeitern  bei  einer  Gesamt- 
ausgabe von  1278  bezw.  1760  und  1096  Mark 
die  Ausgaben  für  Getränke  126  Mark  (oder 


L 


Getränkesteuern  —  Geti-eidehandel 


275 


9®/o  der  Gesamtansgaben),  bezw.  120  Mark 
n  <>/o)  und  84  Mark  (7,7  %)  betragen  haben. 
Bei  zehn  unverheirateten  Arbeitern  betrugen 
nach  dem  Böckh'schen  Jahrbuch  (VIU,  137) 
<lie  höchsten  Ziffern  für  diesen  Ausgabe- 
posten  198,  180  imd  162  Mark  bei  einer 
GesEuntausgabe  von  1176, 1251  und  751  Mark 
also  =  16,8,  14,4  und  22,2^/0  derselben. 
Nach  Angaben  Conrads  (Finanzwissenschaft 
S.  68)  stellten  sich  die  Ausgaben  eines  sehr 
soliden  Handwerkers  für  Getrftnke  auf  6  ^/o, 
bei  einem  Subaltembeamten  auf  3V2  %,  da- 
ge^n  bei  einem  höheren  Beamten  auf  2, 
bei  einem  anderen  niu*  auf  1%. 

Dass  die  Höhe  der  Besteuerung  einen 
merklichen  Einfluss  auf  den  Eonsiun  aus- 
zuüben vermag,  lässt  sich  deutlich  an  den 
Wirkungen  der  Branntweinsteuererhöhung 
im  Deutschen  Reich  vom  Jahre  1887  er- 
weisen. Dieses  Branntweinsteuergesetz  ver- 
folgte nach  den  Motiven  die  doppelte  Ab- 
sicht, 1.  den  Steuerertrag  zu  erhöhen,  2.  den 
Branntweinkonsum  einzuschränken.  Bei  der 
Einbringung  rechneten  die  Motive  für  die 
bisherige  Branntweinsteuei-gemeinschaft  auf 
einen  Rückgang  von  375000  hl  und  schätzten 
den  zukünftigen  Verbrauch  auf  etwa  2 125000 
hl  oder  5,58  1  pro  Kopf ;  thatsächlich  betnig 
er  erheblich  weniger,  denn  die  Konsumziffer 
sank  bis  1888/91  auf  4,55  1.  Dieser  Rück- 
gang des  Branntweinkonsums  ist  um  so  er- 
freiüicher,  als  gerade  der  im  Deutschen 
Reiche  hergestellte  und  verbrauchte  Kartoffel- 
schnaps (Fusel)  das  schädlichste  alkoholische 
Getränk  ist.  Er  mag  zum  Teil  auch  Folge 
der  zunehmenden  Bildung  des  Volkes  sein, 
die  ja  vielfach  eine  Abwendung  von  den 
niederen  Genüssen  zu  den  besseren  verur- 
sacht, er  ist  aber  in  der  Hauptsache  wohl 
der  Erhöhung  der  Steuer  im  Jahre  1887 
zuzuschreiben.  Die  günstigen  Wirkungjen 
einer  hohen  Besteuerung  auf  die  Vermin- 
derung der  Trunksucht  hat  man  neuer- 
dings nicht  nur  in  Schweden  und  Norwegen 
nachgewiesen  (hier  allerdings  im  Zusammen- 
mit  einer  enei^sch  betriebenen  Reform  des 
Gothenburger  Systems,  sondern  auch  bei 
uns  in  Deutschland  zeigt  sich  nach  den 
Ausfühnmgen  W.  Bodes  und  G.  Heimanns 
der  bessernde  Einfluss  der  Erhöhung  der 
Branntweinsteuer. 

In  den  allgemeinen  Heilanstalten  Preussens 
werden  seit  1886  jährlich  10—11000  Trunk- 
süchtige behandelt  *  ihre  Zahl  steigt  seitdem 
kaum,  obwohl  die  Zahl  sämtlicher  Patienten 
dieser  Anstalten  um  54  ^/o  zugenommen  hat. 
Von  100  in  diesen  Krankenhäusern  behan- 
delten FäUen  kamen  1886  2,7,  1895  1,9  »/o 
auf  Trunksucht.  Ebenso  günstig  ist  das 
Ergebnis  für  das  ganze  Reich.  Auf  100 
Krankheitsfälle,  die  in  den  Krankenhäusern 
des  Reiches  behandelt  sind,  kamen  1886  bis 
1888    2.7     von     Alkoholismus,     1889—91 


1,5,  1892—93  1,3.  Von  100  männlichen 
Patienten  in  den  Irrenhäusern  Preussens 
litten  1886  und  1887  je  7  am  Delirium 
tremens,  seit  1888  nur  noch  4  pro  Jahr 
(abgesehen  von  1890,  wo  es  5  waren).  Von 
den  männlichen  Kranken  der  Irrenanstalten 
Deutschlands  litten  1886  14,1  »/o  am  Säufer- 
wahnsinn, 1887  13,4,  1888—90  9,4, 
1891  9,0,  1892—94  9,4.  Nach  den  Be- 
richten der  Standesbeamten  in  Preussen 
starben  an  Trunksucht  von  1877 — 87  jährlich 
zwischen  1080  und  1429  Personen,  1887/88 
findet  sich  eine  plötzliche  Abnahme  auf  581, 
und  seitdem  bis  1895  schwankt  die  Zahl 
nur  zwischen  544  und  664.  Auffallend  ist 
der  Umschlag  in  Hambiu^.  Dort  starben 
von  10000  Einwohnern  an  Alkoholismus 
1871  1,08;  diese  Ziffer  stieg  bis  1888 
auf  2,04,  fiel  dann  im  nächsten  Jahre  plötz- 
lich auf  0,76  und  hat  seitdem  0,88  nicht 
mehr  überschritten.  Aus  diesen  Zahlen  ist 
zu  entnehmen,  dass  neben  den  andauernden 
Ursachen  grösserer  Massigkeit  noch  eine 
besondere  m  der  im  Jahre  1887  erfolgten 
Erhöhung  der  Branntweinsteuer  wirksam 
war.  Dadurch  stieg  der  Preis  des  Brannt- 
weins erheblich,  und  um  das  nicht  so  em- 
pfindlich zu  machen,  griffen  die  Wirte  und 
Händler  zu  dem  Mittel  der  Verdünnung. 
Wenn  mit  diesen  2iahlen  auch  nicht  erwiesen 
werden  kann,  dass  das  Trinken  abgenommen 
hat,  so  kann  doch  die  Abnahme  der  Tnmk- 
sucht  behauptet  werden. 

Lltieratnr:    W.  Boseher,  Syst.  IV,  ^  96.  — 

A,  Wagnet*  f  Finanzwissentchaft ,  namentlich 
Bd.  III  und  Ergänzungsheß.  —  Ckmr€ul, 
Finanzwistensrhaft,  S.  67 f.  —  K,  Th,  Eheberg, 
Grundrut  der  Fin.,  5.  Aufl.,  8.  £64 ß.  —  v. 
Zeller f  Die  Getränkestenem,  in  Schönberg,  4* 
Aufl.,  Bd.  .t,  1  HaJbb.,  S.  602 ff.  —  Hölzer, 
Ifistorisrhe  Darstellung  der  indirekten  Steuern  etc., 
Wien  1888.  —  Statistisches  Jahrbtich  ßir  das 
Deutsche  Reich,  1899,  und  ßir  das  I^nigreieh 
Bayern,  1899.  —  Zu  S,  O.  Schanz,  Der  Steuer- 
ertrag  von  Branntwein,  Wein,  Bier,  Zucker, 
Tabak  und  Salz  in  mehreren  Staaten  i.  J.  1896 
im  F.-A.  1898,  S.  668—670.  -^  Zu  4.  K.  Appell, 
Die  Konsumtion  der  iüichti{fsten  Kulturländer, 
Berlin  1899,  S.  116 ff.  —  G,  Heimann,  Das 
Vorkommen  von  Alkoholismus  in  den  Heilanstalten 
Preussens,  in  der  Zeitschr»  des  k.  preuss.  stat. 
Bureaus  1899,  1.  Vierteljahrsheß.  —  W,  Bode, 
Die  uibnahme  der  Trunksucht  in  Deutschland, 
in  Soz.  Praxis,   VIII.  Jahrg.,  Nr.  38. 

K.  Th,  Eheberg. 


Getreidehandel. 

I.  Die  ältere  Getreidehandelspolitik  und 
Allgemeines  (S.  276).  II.  Technik  und  gegen- 
wärtige Gestaltmig  des  G.  (S.  288).  III.  Statistik 
des  G.  in  der  neaesten  Zeit  (S.  304). 

18* 


276 


Gretreidehandel  (Aeltere  Getreidehaadelspolitik  und  Allgemeines) 


I. 

Die  Sltere 

Oetreidehandelspolitik  und 

Allgemeines. 

1.  Altertum.  2.  Mittelalter.  3.  Preussen. 
Dentschland.  4.  Frankreich.  5.  £ng:land.  6] 
Andere  Länder.  7.  Allgemeine  Bemerkungen. 
Neueste  Bestrebungen. 

L  Altertnm.  Das  Getreide  bildete  bei 
den  Kultorvölkem  des  Altertums  in  noch 
höherem  Grade  als  bei  denen  der  Gegen- 
wart das  Hauptnahningsmittel,  und  es  wur- 
den daher  namentlich  in  den  stark  bevöl- 
kerten Städterepubliken  bald  staatliche  Mass- 
regeln für  nötig  gehalten,  um  die  genügende 
Versorgung  der  Bürgerschaft  mit  diesem 
notwendigen  Lebensbedürfoisse  sicherzu- 
stellen. Dieselben  bestanden  teils  in  der 
Begünstigung  der  privaten  Getreideeinfuhr 
und  dem  Yerbot  der  Ausfuhr,  teils  in  dem 
unmittelbaren  Eingreifen  des  Staates  in  den 
Handel,  indem  er  seinerseits  Getreide  zu 
niedrigen  Preisen  verkaufte,  wozu  häufig 
auch  noch  unentgeltliche  Spenden  kamen. 
Hieraus  ergab  sich  zugleich  die  Notwendig- 
keit, staatliche  Getreidelager  zu  imterhalten. 
Ferner  finden  wir  schon  im  Altertum  Brot- 
und  Mehltaxen,  Verbot  des  Aufkaufens  von 
Getreide  und  andere  Erschwerungen  des 
Verkehrs,  die  keineswegs  immer  den  beab- 
sichtigten Zweck  erreichten. 

Attika  führte  zur  Zeit  des  Demosthenes 
jährlich  etwa  800000  Medimnen  (420000  hl) 
Weizen  und  Gerste  ein,  hauptsäi^hlich  aus  dem 
Pontos,  aber  auch  aus  Thracien,  Aegypten, 
Lybien,  Sicilien.  Die  Zufuhr  wurde  durch 
grosse  Kornflotten  vermittelt,  die  in  Kriegs- 
zeiten von  bewaffneten  Schiffen  begleitet  waren. 
Durch  einen  Vertrag  mit  Leukon.  dem  Herrn 
des  Bosporus,  wurde  den  athenischen  Kauf- 
leuten in  den  bosporanischen  Häfen  der  Aus- 
fuhrzoll erlassen  und  ihnen  das  Recht  zuge- 
standen, zuerst  vor  allen  anderen  Getreide  zu 
laden.  Bei  der  Einfuhr  wurde  zwar  auch  vom 
Getreide  der  allgemeine  Zoll  erhoben,  aber  die 
Getreidekaufleute  genossen  eine  gewisse  Ab- 
gabenfreiheit, über  die  man  zwar  nichts  Ge- 
naueres weiss,  die  aber  wahrscheinlich  jenen 
Zoll  wieder  ausglich.  Von  allem  im  Komhafen 
einlaufenden  Getreide  mussten  zwei  Drittel  auf 
den  städtischen  Markt  gebracht  werden;  die 
Ausfuhr  aus  dem  inneren  Verkehr  war  gänz- 
lich verboten.  Die  Sitophylaken,  deren  zur  Zeit 
Aristoteles'  20  für  die  Stadt  und  15  für  den 
Peiraieus  durch  das  Los  gewählt  vmrden,  hatten 
darüber  zu  wachen,  dass  das  auf  den  Markt 
kommende  Gtetreide  aen  gesetzlichen  Vorschriften 

gemäss  verkauft  werde,  dass  die  Müller  das 
[ehl  dem  Preise  der  Gerste  entsprechend  und 
die  Bäcker  das  Brot  dem  Preise  des  Weizens 
gemäss  verkauften.  Sie  stellten  demnach,  wie 
in  der  neuentdeckten  Schrift  des  Aristoteles 
ausdrücklich  erwähnt  wird,  eine  Brottaxe  auf. 
Das  Aufkaufen  von  Getreide  über  eine  gewisse 


massige  Menge  hinaus  war  verboten,  die  von 
Boeckh  angenommene  Begrenzung^  des  Preis- 
aufschlages beim  Wiederverkaufe  e^ber  hat  nicht 
bestanden.  Ueber  „Komwucher"  wurde  schon 
bitter  geklagt;  ein  Beispiel  dafür  in  grossem 
Stil  lieferte  Kleomenes,  Alexanders  Satrap  in 
Alexandria,  der  das  für  Griechenland  bestimmte 
ägyptische  Getreide  aufkaufte  und  zurückhielt 
und  dadurch  eine  ausserordentliche  Teuerung 
hervorrief,  bis  Zufuhr  aus  Sicilien  kam.  Der 
internationale  Spekulationshandel  mit  weitver- 
zweigter Korrespondenz,  der  das  Getreide  von 
den  billigen  Märkten  zu  den  teueren  leitete, 
war  schon  beträchtlich  entwickelt.  In  Athen 
gab  es  öffentliche  Getreideniederl^n,  in  denen, 
wie  es  scheint,  sowohl  die  den  Kautleuten  ge- 
hörende Ware  verkauft  als  auch  staatliche  Vor- 
räte aufbewahrt  wurden.  Letztere  wurden  teils 
aus  StaatsmittehcL  teils  aus  freiwilligen  Bei- 
trägen angeschafft  und  zu  einem  niedrigen 
Preise,  vielleicht  zuweilen  auch  ganz  unentgelt- 
lich an  das  Volk  abgegeben.  Einzelne  grössere 
Getreidespenden,  namentlich  von  auswärtigen 
Verbündeten  kommende,  werden  erwähnt,  doch 
wurden  dieselben  nicht,  wie  in  Rom,  zu  einer 
stehenden  Einrichtung. 

In  Bom  wurde  schon  im  ö.  Jahrhundert 
V.  Chr.  in  Sicilien,  Etrurien  und  Umbrien  von 
Staats  wegen  Getreide  aufgekauft,  um  durch 
den  Wiederverkauf  desselben  den  Preis  niedrig 
zu  halten.  Der  Komwucher  war  verboten,  und 
als  solcher  galt  es  auch  schon,  wenn  die  Beichen 
bei  ungünstigen  Ernten  ihre  Früchte  nicht 
„aequis  pretiis"  verkaufen  wollten  (Dig.  XL VII, 
11,  6).  Nach  der  Lex  frumentaria  des  C.  Grac- 
chus von  123  V.  Chr.  sollte  der  Modius  Weizen 
allen  in  Bom  ansässigen  Bürgern  für  ß%  As 
geliefert  werden,  während  der  Preis  in  Sicilien 
doppelt  so  hoch  war.  Unter  Sulla  scheint  diese 
staatliche  Freigebigkeit  aufgehört  zu  haben,  im 
Jahre  73  v.  Chr.  aber  wurde  sie  mit  dem  er- 
wähnten Preise  wieder  aufgenommen,  und  durch 
Clodius  vollends  kam  im  Jahre  58  v.  Chr.  das 
System  der  unentgeltlichen  Getreideverteilung 
an  die  Bürger  zum  Siege,  von  der,  wie  es 
scheint,  nur  die  Senatoren  und  Bitter  ausge- 
schlossen waren.  Unter  Cäsar  wurden  im  Jahre 
46  von  den  damals  vorhandenen  320000  Em- 
pfangsberechtifi^n  170000  ausgeschieden,  und 
für  die  Zukunft  sollte  die  Zahl  der  Empfänger, 
von  denen  jeder  monatlich  5  Modii  (ungefähr 
44  Liter)  erhielt,  fest  auf  150000  begrenzt 
bleiben.  Unter  Augustus  wurde  dieselbe  jedoch 
auf  200000  erhöht,  und  sie  scheint  seitdem  auf 
diesem  Stande  geblieben  zu  sein.  Ausserdem 
aber  verkaufte  die  Regierung  grosse  Men^n 
Getreide  aus  ihren  Magazinen  zu  einem  nied- 
rigen Preise  gegen  „tesserae",  die  von  den 
Käufern  vorher  zu  lösen  waren.  Auch  begüns- 
tigte man  die  private  Getreideeinfuhr  durch 
besondere  Privilegien  für  Schiffsreeder  und 
Kaufleute.  Die  gesamte  Regelung  des  Getreide- 
verkehres (cura  annonae)  lag  ursprünglich  den 
Aedilen  ob,  zuweilen  aber  wurden  auch  ausser- 
ordentliche praefecti  annonae  ernannt.  Pompejus 
erhielt  57  v.  Chr.  die  Getreideverwaltung'  auf 
5  Jahre  mit  der  Vollmacht,  das  ^anze  Reich 
für  die  Versorgung  der  Hauptstadt  in  Anspruch 
zu  nehmen,  und  Augustus  übernahm  diese  Voll- 
macht dauernd.  Als  kaiserlicher  Beamter  stand 
an  der  Spitze  dieser  Verwaltung  der  praefectus 


Qetreidehandel  (Aeltere  Getreidehandelspolitik  und  Allgemeines) 


277 


aimonae,  der  bis  auf  Konstantin  zn  den  höchsten 
Wttrdenträffem  des  Reiches  |fehOrte.  Die  Mittel 
zu  seinen  Schenkungen  erhielt  der  Staat  teils 
durch  die  Naturalabgaben  der  Provinzen,  nament^ 
lieh  Afiikas  und  Aegyptens  (zu  deren  Aufnahme 
es  in  allen  Teilen  des  Beiches  Getreidemagazine 

fabjj  teils  auch  durch  bedeutende  Ankäufe.  Zur 
rleichtemng  der  letzteren  war  die  Ausfuhr 
Yon  Getreide  aus  Sicilien  nach  anderen  Ländern 
schon  früh  verboten,  und  ein  ähnliches  Verbot 
bestand  später  fttr  Aegypten.  das  vor  Konstantin 
seinen  Weizen  nur  nach  Korn,  nachher  aber 
nur  nach  Konstantinopel  lieferte.  Im  ganzen 
wurden  aus  Sicilien  zur  Zeit  Ciceros  jährlich 
6800000  Modü  (600000  Hektoliter)  Weizen  far 
Rechnung  des  Staates  nach  Born  geführt,  und 
unter  Augustus  soU  allein  Aegypten  20  Millionen 
Modii  geliefert  haben.  Diese  Men^e  soU  aber 
nur  den  Bedarf  für  4  Monate  gedeckt  haben, 
und  die  ganze  Zufuhr  hätte  also  60  Mill.  Modii 
(5200000  Hektoliter  oder  ungefähr  390000 
Tonnen)  betragen.  Diese  aus  gelegentlichen 
Notizen  kombinierte  Angabe  hat  aber  offenbar 
nicht  die  Bedeutung  einer  wirklichen  statistiscben 
Zahl.  Auch  wenn  sie  auf  die  gesamte  und  nicht 
auf  die  bloss  von  Staats  wegen  erfolgende  Ein- 
fuhr bezogen  wird,  erscheint  sie  noch  zu  gross, 
da  die  Zahl  der  Einwohner  Borns  nach  den 
neueren  Ansichten  nur  800000  betrug  und  der 
Getreideverbrauch  derselben  unter  dieser  An- 
nahme nicht  einmal  300000  Tonnen  erreicht 
haben  kann. 

2.  Mittelalter.  Im  früheren  Mittelalter 
finden  wir  ebenfalls  schon  staatliche  Anord- 
nungen in  betreff  des  Getreideverkebres.  Deis 
Konzil  von  Frankfurt  (794)  bestimmt,  dass  der 
Preis  des  Hafers,  der  Gerste,  des  Borgens  und 
des  Weizens  nie  mehr  als  1,  2,  3  und  4  Denare 
fttr  den  neuen  Modius  (nach  Gu6rards  allerdings 
sehr  anfechtbarer  Bestimmung  52,2  Liter)  be- 
tragen dürfe.  Das  Getreide  aus  den  königl. 
Gütern  soll  billi|fer  verkauft  werden,  nämlich 
die  genannten  vier  Arten  zu  V«,  1,  2  und  3 
Denaren.  Das  Capitulare  von  Nymwegen  (806) 
setzt  wegen  der  Teuerung  die  Maximalpreise, 
wie  es  säieint,  speciell  für  die  Inhaber  könig- 
licher BenefLzien,  auf  2,  3,  4  und  6  Denare. 
Der  Getreidehandel  war  bei  der  noch  vor- 
herrschenden Naturalwirtschaft  sehr  beschränkt. 
Die  Inhaber  von  Benefizien  werden  ermahnt, 
zuerst  für  ihre  Leibeigenen  zu  sorgen,  damit 
keiner  von  ihnen  Hungers  sterbe;  den  lieber- 
schnss  konnten  sie  verkaufen.  Aufkaufen  zum 
Zwecke  des  Wiederverkaufes  zu  einem  höheren 
Preise  wird  als  schändlicher  Wucher  gebrand- 
markt. 

Im  späteren  Mittelalter  finden  wir  in 
Deutschland  eine  weit^ifende  Begelun^  des 
Getreidehandels  von  selten  der  Städte,  die  als 
Sammelpunkte  grösserer  Volksmengen  bei  den 
damaligen  Verkärsschwierigkeiten  an  der  regel- 
mässigen Zufuhr  der  wichtigsten  Nabrungs- 
mittel  zu  leidlichen  Preisen  ein  besonders 
drinfl^endes  Interesse  baben  mussten.  Vor  allem 
wurde  das  Marktrecht  in  diesem  Sinne  ausge- 
bildet. Niemand  durfte  auf  dem  Felde  oder  vor 
dem  Thore  das  Getreide  verkaufen,  alles  musste 
auf  den  Markt  gebracht  werden,  wo  der  Ver- 
kauf erst  zu  einer  bestimmten  Stunde  beginnen 
durfte.  Zuerst  sollten  dann  die  Bürger  ihren 
eigenen  Hausbedarf  einkaufen,  und  dabei  war 


es  in  manchen  Städten  sogar  verboten,  dass  der 
eine  den  anderen  überbiete.  Die  Händler  (Frag- 
ner), Bäcker  und  auf  Vorrat  kaufenden  Beleben 
soUten  in  den  ersten  Marktstunden  ebenfalls 
nur  ihren  Hausbedarf  decken  dürfen.  Hatte  ein 
Beicher  eine  ^ssere  Menge  G^etreide  an  sich 

febracht,  so  durfte  seih  ärmerer  Bürger  von 
iesem  Vorrat  so  viel  zu  dem  Einkamspreise 
für  sich  verlangen,  als  er  für  seinen  Haushalt 
brauchte.  Der  Getreidehandel  in  den  gegebenen 
engen  Grenzen  war  nur  einheimischen  Kaufleuten 

festattet;  die  Ausfuhr  des  Getreides  aus  der 
tadt  war  häufig  verboten,  ebenso  die  Zurück- 
haltung desselben  auf  den  Lagern  zu  spekula- 
tiven 2iwecken.  Zur  Bekämpfung  von  Teuerungen 
wurden  jedoch  nicht  nur  öffentliche  Magazine 
unterhalten,  sondern  auch  da«  Halten  von  Privat- 
vorräten, namentlich  seitens  der  Bäcker,  vorge- 
schrieben. Ein  erheblicher  Grosshandel  in  Ge- 
treide konnte  sich  nur  in  den  grösseren  Städten 
entwickeln,  die  an  einem  bequemen  Wasserwege 
lagen  und  ein  fruchtbares,  Ueberschüsse  er- 
zeugendes Hinterland  besassen,  wie  Hamburg, 
Stettin  und  Danzig.  Für  den  Zwischenhandel 
erlangten  die  niederländischen  Häfen  eine  mehr 
und  mehr  steigende  Bedeutung,  indem  sie  be- 
sonders den  Absatz  des  von  der  Ostsee  kommenden 
Getreides  in  den  selbst  nicht  genug  erzeugenden 
Mittelmeerländem  vermittelten. 

3,  PrensseD,  Dentsehland*  Die  seit  dem 
16.  Jahrhundert  immer  mehr  eingreifende  Wohl- 
fahrtspolizei der  grösseren  Territorialstaaten 
richtete  sich  hinsichtüch  des  Getreidehandels  eben- 
falls nach  dem  Grundsatze,  dass  vor  allem  die 
Ernährung  der  Bevölkerung  sicher  gestellt  und 
jede  künstliche  Preissteigeruufi^  durch  Kom- 
wucher  —  in  dem  man  immer  die  Hauptursaehe 
der  Teuerung  zu  erkennen  glaubte  —  verhin- 
dert werden  sollte.  Wo  aber  die  Interessen  der 
Grundbesitzer  oder  der  Handelsstädte  besondere 
Berücksichtigung  verlangten,  suchte  man  einen 
Ausweg  durch  vermittelnde  Zugeständnisse.  So 
erneuert  in  Brandenburg  eine  Verordnung  von 
lö3ö  die  schon  früber  enassene  Vorschrift,  dass 
die  adeligen  Grundbesitzer  zwar  berechtigt  sein 
sollen,  Getreide  ihres  eigenen  Wachstums  ausser 
Landes  zu  führen,  dass  sie  aber  von  den  Bauern 
kein  Korn  zu  diesem  Zwecke  kaufen  dürfen 
und  dass  diese  letzteren  das  Getreide  nur  auf 
dem  Markte  der  nächsten  Stadt  verkaufen 
dürfen.  Ein  Mandat  von  1571  erneuert  das 
Verbot  der  Ausfuhr  vor  Lichtmess  auch  in  be- 
treff des  dem  Adel  gehörenden  Getreides.  Auch 
das  Verbot  des  Aufkaufens  seitens  des  Adels 
bei  den  Bauern  wird  mehrfach  erneuert  Es 
sollen  aber  auch  keine  Bürofer,  Handwerker  oder 
Kaufleute,  viel  weniger  nicmt  angesehene  Leute, 
noch  aucn  die  Geistlichen  und  Schreiber  auf 
dem  Lande  von  den  Bauern  Korn  und  andere 
Erzeugnisse  aufkaufen.  Das  Getreide  hatte 
übrigens  beim  Berühren  der  binnenländischen 
Zollstätten  verschiedene  Land-  und  Wasserzölle, 
beim  Eingang  in  die  Städte  auch  Accise  zu 
entrichten.  Bitterschaft  und  Prälaten  waren 
für  ihr  eigenes  Erzeugnis  von  dem  alten  Kom- 
zolle  befreit,  den  neuen  Zoll  aber  mussten  sie 
bei  der  Ausfuhr  bezahlen.  Derselbe  betrug  z.  B. 
in  der  Neumark  nach  der  Zollrolle  von  1660 
sowohl  zu  Wasser  wie  zu  Lande  für  einen 
Wispel  Weizen  27  Gr.  und  für  einen  Wispel 
Boggen  21  Gr.,  wozu  für  die  nicht  Befreiten 


278 


Getreidehandel  (Aeltere  G^treidehandelspolitik  und  Allgemeines) 


■noch  6  Gr.  als  alter  Zoll  kamen,  unter  dem 
Grossen  Kurfürsten  brachten  die  Getreidezölle 
den  grössten  Teil  des  ganzen  Zollertra^s  auf. 
Sie  hatten  jedoch  keine  protektionistiscne  Be- 
deutung, da  sie  auch  von  den  inländischen  Er- 
zeugnissen erhoben  wurden.  Für  den  vom 
Lande  kommenden  Weizen  war  nach  dem  Accise- 
tanf  von  1684  beim  Eingang  in  die  Städte  vom 
Scheffel  1  Gr.,  für  den  Scheffel  Boggen  6  Pf. 
zu  entrichten  und  bei  der  üeberführung  des 
Getreides  in  die  Mühle  wurde,  wenn  es  nicht 
-zum  Hausbacken  bestimmt  war,  nochmals  eine 
Abgabe  von  demselben  Betrage  erhoben.  Dazu 
kam  in  den  der  Mahlziese  von  1572  unter- 
worfenen Städten  noch  die  Scheffelsteuer  von 
1  Gr.  Anfänge  von  Schutzzöllen  auf  Getreide 
kommen  schon  unter  Friedrich  Wilhelm  I.  vor : 
so  wurde  1730  auf  Bitte  des  Direktors  und  der 
Landräte  der  Prie&nitz  „zum  Nutzen  des  Land- 
mannes'^  die  Verordnung  erneuert,  dass  von  dem 
aus  Mecklenburg  eingeführten  Getreide  ein 
Impost  von  8  Gr.  auf  den  Scheffel  zu  erheben 
sei.  Friedrich  der  Grosse  handhabte  eine  ein- 
greifende Getreidehandelspolitik  mit  Hilfe  der 
von  ihm  errichteten  staatlichen  Getreidemas^a- 
zine.  Er  trat  damit  der  sonst  vorherrschenden 
Begünstigung  der  städtischen  Interessen  ent- 

Segen  und  suchte  in  der  Preisbildung  nach 
[ö^lichkeit  das  Gleichgewicht  zwischen  Stadt 
und  Land  aufrecht  zu  halten.  Naud^  rühmt 
die  Erfolge  dieses  Systems,  das  das  einzige  Bei- 
spiel in  der  Weltgeschichte  liefere,  dass  es  der 
Staatsgewalt  in  der  That  gelungen  sei,  eine 
erstaunliche  Stetigkeit  und  Unveränderlichkeit 
der  Getreidepreise  herzustellen.  SchmuUer  äussert 
eich  mit  grösserer  Zurückhaltung  dahin,  dass 
das  System  neben  gewissen  Schattenseiten  im 
ganzen  gut  funktioniert  und  einen  erheblichen 
privaten  Exporthandel  aus  Elbin^  und  Königs- 
berg nicht  unmöglich  gemacht  habe.  —  Das 
Venwt  das  Auf-  und  Vorkaufens  des  Getreides 
ging  auch  noch  in  das  preussische  Landrecht 
über  und  wurde  erst  durch  die  V.  v.  20.  No- 
vember 1810  aufgehoben. 

In  den  übrigen  deutschen  Staaten  herrschte 
bis  zu  der  neueren  Verkehrsentwickelung  eine 
ähnliche  Gtetreidehandelspolitik.  Ausser  staat- 
lichen Magazinen  finden  wir  auch  z.  B.  in 
Württemberg  obligatorische  Gemeindemagazine, 
femer  die  Emrichtung,  dass  die  Landwirte  einen 
bestimmten  Vorrat  halten  mussten  (Kontri- 
butionskömerfonds  in  Böhmen  und  Mähren, 
1788.  Asservationsanstalt  im  Hildesheimischen, 
1803).  Gegenseitige  Ausfuhrverbote  der  Einzel- 
staaten wirkten  noch  1816  sehr  störend;  durch 
die  allmähliche  Ausbreitung  des  Zollvereins  aber 
wurden  sie  für  den  Verkehr  der  Mehrzahl  der 
Bundesstaaten  untereinander  unmöglich  gemacht, 
dagegen  verbot  Bayern  1847  noch  die  Kornaus- 
fuhr nach  Oesterreich,  nachdem  letzterer  Staat 
mit  einem  solchen  Verbote  den  Anfang  gemacht 
hatte.  Ueberhaupt  kamen  bei  dem  Notstande 
von  1846/47  die  meisten  Hilfsmittel  der  älteren 
Getreidehandelspolitik  wieder  zur  Verwendung, 
so  (in  Kurhessen)  Aufsuchen  imd  Zwangsverkauf 
der  von  den  Eigfentümem  zurückgehaltenen 
Vorräte,  Beschränkung  des  anderweitigen  Ver- 
brauchs, namentlich  durch  Verbot  der  Kom- 
brennerei  (Preussen,  Sachsen),  staatliche  Zufuhr 
von  Hülsenfrüchten,  Beis  etc.  fürbilligen  Preia 


üeber  die  neuere  Entwickelung  der  Getreide- 
zölle s.  d.  Art. 

4.  Frankrelcli«  Auch  in  Frankreich 
finden  wir  im  Mittelalter  zuerst  die  Städte  als 
Träger  einer  lediglidb  nach  ihren  Interessen 

geleiteten  lokalwirtschaftlichen  Getreidepolitik« 
ie  Gtetreidehändler  (ursprünglich  in  Paris 
blatiers  genannt)  bildeten,  wie  es  scheint,  be- 
sondere Korporationen  und  waren  bestimmten 
Vorschriften  unterworfen.  Sie  wurden  amtlich 
registriert  und  hatten  einen  Eid  in  betreff  üirer 
Geschäftsführnuff  zu  leisten.  Die  Landwirte, 
Adeligen  und  Fmanzbeamten  durften  sich  nach 
der  Ordonannz  von  1577  nicht  am  eigentlichen 
Getreidehandel  beteiligen,  wohl  aber  natürlich 
ihre  eigenen  Erzeugnisse  auch  an  Händler  ver- 
kaufen. Die  sichere  Versorgung  der  Städte  be- 
ruhte vor  allem  auf  der  strengen  Marktordnung, 
die  ähnlich  wie  in  Deutschland  gestaltet  war. 
Das  Geschäft  des  sogenannten  „R^^ratiers^,  das 
Kaufen  für  den  Wiederverkauf  am  Orte  selbst, 
ist  häufig  gänzlich  verboten  worden,  tauchte 
aber  doch  immer  wieder  auf.  Die  grossen  Ge* 
treidehändler  durften  nur  jenseits  einer  be- 
stimmten Entfernung  im  Umkreise  der  Stadt 
(7—8,  später  10  lieues  um  Paris)  Getreide 
kaufen,  auf  dem  Markte  durften  sie  nur  eine 
gewisse  massige  Menge  auf  einmal  kaufen,  auch 
in  den  Städten  keine  grossen  Lager  halten^ 
sofern  dies  nicht  auf  Veranlassung  oder  mit 
Erlaubnis  der  Polizeibehörde  und  dann  in  voller 
Oeffentlichkeit  g^eschah.  Solches  Getreide  durfte 
dann  auch  nicht  wieder  aus  der  Stadt  ausge- 
führt werden.  Die  geheim  gehaltenen  Vorräte 
wurden  nicht  selten  Konfisziert.  Die  Ordonnanz 
von  1577  befiehlt  Übrigens  allen  Städten,  eigene 
Getreidelager  zu  halten.  Vereinigungen  der 
Getreidehändler  zu  Gesellschaften  waren  früher 
gänzlich  verboten,  seit  1699  aber  war  dieses 
Verbot  auf  geheime  Gesellschaften  beschränkt. 
Wucherische  geheime  Koalitionen  mögen  trotz- 
dem zuweUen  vorgekommen  sein,  wenn  auch 
ein  „pacte  de  famine"  mit  Beteiligung  der 
Regierung,  wie  ihn  sich  die  Volksphantasie  in 
den  letzten  Jahrzehnten  vor  der  Revolution 
ausmalte,  sicherlich  nie  existiert  hat.  Ein  nicht 
unwichtiger  Best  der  alten  Gesetzgebung  hat 
sich  übrigens  bis  zur  Gegenwart  in  den  Artikeln 
419  und  420  des  Code  p6nal  erhalten,  nach 
welchen  mit  Gefängnis  von  2  Monaten  bis  zu 
2  Jahren  und  Geldstrafe  von  1000  bis  20000 
Frcs.  diejenigen  bestraft  werden,  welche  auf 
den  Preis  des  Getreides,  Mehles  und  anderer 
Waren  durch  Vereinigung  oder  Koalition  der 
bedeutendsten  Warenbesitzer  oder  andere  ver- 
botene Manöver  steigernd  oder  herabdrückend 
eingewirkt  haben.  —  Von  grosser  Bedeutung 
für  die  Gestaltung  des  französischen  Getreide- 
handels war  auch  das  Binnenzollsystem  (s.  d.  Art. 
Binnenzölle  oben  Bd.IIS.893fr).  Eswarnicht 
nur  bei  dem  Uebergang  ans  einer  Provinz  in  ein 
anderes  ZoUgebiet  ein  Zoll  zu  entrichten,  sondern 
bei  drohender  Teuerung  wurde  auch  die  Ausfuhr 
aus  einer  Provinz  in  die  andere  wie  auch  in  das 
Ausland  verboten.  Unter  Heinrich  III.  wurde  1571 
die  Getreideausfuhr  für  ein  königliches  Do- 
manialrecht  erklärt,  und  seitdem  dreht  sich 
die  staatliche  Getreidehandelspolitik  haupt- 
sächlich um  die  Freiheit  der  Getreideau»* 
fuhr  aus  dem  Lande.  Dem  inneren  Ver- 
kehre  kam  dieses  Eingreifen  der  nach  Cen<> 


Getreidehandel  (Aeltere  Getreidehandelspolitik  und  Allgemeines) 


279 


tralisation  strebenden  Monarchie  entschieden 
2U  gnte.  Die  Getreideausfuhr  von  Provinz  zu 
Provinz  wurde  schon  durch  die  Ordonnanz  von 
1539  thatsächlich  gestattet,  und  nachdem  sie 
1559  einige  Beschiänkungen  erfahren,  in  den 
Ordonnanzen  von  1567  und  1577  ausdrücklich 
wieder  als  keiner  besonderen  Erlaubnis  bedürfend 
iinerkannt.  Die  Ausfuhr  aus  dem  Königreiche, 
die  auch  früher  häufig  verboten  worden  war, 
sollte  nach  der  Ordonnanz  von  1539  nur  auf 
Grund  eines  besonderen  Patentes  gestattet  sein. 
Die  verschiedenen  Provinzen  Mrurden  hinsichtlich 
der  Ausfuhrbefugnis  nach  dem  Stande  ihrer  Ge- 
treideproduktion verschieden  behandelt  und  die 
Erteilung  der  Erlaubnis  nach  den  Kompreisen, 
«päter  nach  dem  Ernteerträge  geregelt,  im 
letzteren  Falle  mit  Festsetzung  einer  Maximal- 
menge. Unter  Sullys  die  Landwirtschaft  be- 
sonders begünstigender  Verwaltung  wurde  die 
Freiheit  der  Getreideausfuhr  gewährt,  teilweise 
schon  1598,  vollständig  aber  durch  das  Patent 
vom  26.  Februar  16^1,  nach  welchem  Ein- 
heimische sowohl  wie  Fremde  diese  Ausfuhr 
ohne  weiteres  gegen  Entrichtung  der  alther- 
gebrachten Zdlle  und  frei  von  den  später  ein- 
geführten  Zuschlagstaxen  betreiben  konnten, 
ülbert  aber  wich  von  dem  Principe  der  Aus- 
fnhrfreiheit  wieder  ab,  srinff  aber  dabei  doch 
vorsichtig  zu  Werke.  Nach  dem  Tarife  von 
1664  war  für  Weizen,  wenn  die  Ausfuhr  er- 
laubt wurde,  ein  Zoll  von  22  Livres  für  das 
Muid  zu  bezahlen,  während  der  Einfuhrzoll  nur 
2Ve  Livres  betrug.  Nach  Naud6  bestand  in 
den  168  Monaten  der  Ck>lbert8chen  Verwaltung 
während  56  das  Ausfuhrverbot,  während  112 
die  Erlaubnis  der  Ausfuhr  mit  Zollfreiheit  oder 
Zollentrichtung  zu  verschiedenen  Sätzen,  wobei 
in  zweckmäs»ger  Weise  auf  die  Marktverhält- 
nisse Bttcksicht  genommen  wurde.  Später  galt 
lange  Zeit  das  Ausfuhrverbot  als  die  Regel, 
wenn  auch  sowohl  für  gewisse  Provinzen  als 
für  das  ganze  Königreich  zeitweise  die  Ausfuhr- 
erlaubnis und  nach  sehr  reichen  Ernten  auch 
teilweise  oder  gänzliche  Befreiung  vom  Aus- 
fuhrzölle gewährt  wurde.  Unter  dem  Einflüsse 
der  physiokratischen  Ansichten  trat  dann  in  der 
zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  wieder 
eine  Wendung  zu  Gunsten  der  Landwirtschaft 
ein.  Durch  eine  Deklaration  vom  25.  Mai  1763 
wurde  dem  inländischen  Getreidehandel  volle 
Freiheit  der  Bewegung  gewährt,  wenn  er  auch 
den  Binnenzöllen  unterworfen  blieb.  Das  Edikt 
vom  7.  November  1764  aber  gestattete  die  Ein- 
und  Ausfuhr  des  Getreides  ffegen  einen  Zoll 
von  1  Proz.  und  untersagte  die  letztere  nur  in 
dem  Falle,  wenn  der  Preis  des  Weizens  während 
dreier  Märkte  30  Livres  für  den  Septier  (19,8 
Frcs.  das  Hektoliter)  erreicht  habe. 

Infolge  der  Preissteigerung  wurde  im  Jahre 
1770  die  Getreideausfuhr  verboten  und  bald 
darauf  auch  der  grOsste  Teil  der  früheren  Be- 
schränkung des  inneren  Komhandels,  namentiich 
in  Bezug  auf  den  Marktverkehr  und  die  Stellung 
der  GeUeidehändler,  wiederhergestellt,  Turffot 
abersetzte  1774  wieder  die  Deklaration  von  1763  in 
Kraft  Ueber  die  im  folgenden  Jahre  bewilligten 
Einfuhrprämien  s.  d.  Art.  (oben  Bd.  III  S.  319  ff.). 
Necker  und  Calonne  griffen  wieder  zu  zeitweiligen 
Ausfuhrverboten  nach  administrativem  Ermessen. 
Eine  Deklaration  von  1787  erkennt  die  Ausfuhr- 
freiheit principiell  an  und  lässt  nur  die  Sus- 


pension derselben  auf  Antrag  der  Provinzial- 
stände  und  zwar  nur  auf  ein  Jahr  zu.  Indes 
erfolgte  ein.  solches  Verbot  schon  wieder  im 
Jahre  1788,  und  im  folgenden  Jahre  wurde  wegen 
der  Teuerung  wieder  von  dem  ganzen  Ars^ud 
der  alten  Getreidehandelspolitik  Gebrauch  ger 
macht.  Die  Assignatenwirtschaft  vollends  führte 
am  3.  Mai  1793  zu  dem  Konventsbeschluss  über 
das  Preismaximum:  alle  Gtetreidehändler  und 
Landwirte  sollen  ihre  Vorräte  deklarieren  und 
zu  einem  von  jeder  Gemeinde  anzusetzenden 
Preise  auf  dem  Öffehtiichen  Markte  verkaufen. 
Die  Ausfuhr  war  während  der  ganzen  republb- 
kanischen  Zeit  verboten.  Erst  durch  ein  Dekret 
vom  25.  Prairial  XII  wurde  sie  nach  bestimmten 
Ländern  g«?en  einen  massigen  Zoll  bis  zu  einer 
gewissen  Aeisffrenze  gestattet.  Das  Dekret 
vom  2.  Juli  1806  erhöhte  diese  Grenze  bei 
Weizen  bis  24  Frcs.  für  das  Hektoliter,  setzte 
aber  auch  den  Ausfuhrzoll  in  mehreren  Ab-* 
stufungen  auf  2--8  Frcs.  für  100  kg.  Allge- 
meine Ausfuhrverbote  wurden  noch  1810  und 
1815  erlassen,  die  Ordonnanz  vom  8.  Oktober 
1819  und  das  G.  v.  4.  Juli  1821  behielten  sie 
(mit  Herabsetzung  des  Ausfuhrzolles  auf  ein 
Wa^:egeld)  noch  bei  Ueberschreitung  gewisser 
Preisgrenzen  bei,  und  erst  das  G.  v.  15.  April 
1832  begnügt  sich  mit  einem  schliesslich  für 
jeden  Franken  Preiserhöhung  um  2  Frcs.  stei- 
nenden Ausfuhrzoll.  Indes  wurde  noch  1839 
die  Ausfuhr  zur  See  durch  eine  Ordonnanz 
suspendiert.  Die  Ausfuhrzölle  wurden  1857  be*> 
deutend  herabgesetzt  und  1861  ganz  aufgehoben. 
—  In  betreff  der  von  den  Bäckern  zu  haltenden 
Vorräte  erwähnen  wir  nur  noch,  dass  nach  der 
V.  vom  19.  Vendemiaire  X.  in  Paris  jeder  Bäcker 
15  Sack  Mehl  in  einem  öffentlichen  Magazin 
hinterlegen  und  ausserdem  noch  eine  besondere 
Reserve  in  seinem  eigenen  Lager  halten  musste, 
^e  von  der  Bedeutung  seines  Betriebes  abhing. 
Die  Quantitätsbestimmun^n  erfuhren  mehrfach 
Abänderungen,  zuletzt  sälte  nach  dem  Dekret 
vom  1.  November  1854  jeder  Bäcker  im  ganzen 
soviel  Vorrat  halten,  als  seinem  Bedarfe  in  drei 
Monaten  entsprach.  Das  Dekret  vom  22.  Juni 
1863  aber  hob  diese  wie  auch  die  übrigen 
Beglementierungen  der  Bäckerei  auf.  S.  auch 
d.  Art.  Bäckereigewerbe.  Das  G.  v.  16.  Juli  1819 
gab  das  Prindp  der  Freiheit  der  Getreideein- 
fuhr auf  (der  Tarif  von  1816  hatte  nur  ein 
Wagegeld  von  50  Cents  für  100  kg  festgesetzt) 
und  setzte  eine  nach  den  Marktpreisen  be* 
stimmte  bewegliche  Zollskala  ein  mit  Unter^ 
Scheidung  von  3  (später  4)  Marktregionen.  Im 
übrigen  wird  hinsichtlich  der  Einfuhrzölle  auf 
den  Artikel  Getreidezölle  verwiesen. 

5«  England«  Auch  in  England  finden  wir 
im  Mittelalter  das  Verbot  des  Auf-  und  Vor- 
kauf ens  von  Getreide  in  gleicher  Strenge  wie 
auf  dem  Kontinent.  Die  Ausfuhr  war  schon  im 
12.  Jahrhundert  nur  auf  Grund  einer  besonderen 
königlichen  Lizenz  gestattet,  und  auch  für  die 
Ueberführung  von  Getreide  aus  einer  Grafschaft 
in  die  andere  scheint  eine  solche  Erlaubnis  er- 
forderlich gewesen  zu  sein.  Die  Carta  Mercatoria 
von  1303  erteilte  den  fremden  Kaufleuten 
allgemein  die  Lizenz  zur  Komausfuhr  gep'en 
einen-  Zoll,  in  der  Folgezeit  aber  wurde  diese 
Erlaubnis  mehrfach  zurückgenommen  imd  wieder 
erneuert.  Bis  gegen  Ende  des  14.  Jahrhunderts 
zeigte  sich  das  Parlament  als  Gegner  der  Aus- 


280 


Gtetreidehaadel  (Aeltere  (retreidehandelspoiltik  und  Allgemeines) 


fahrfreiheit  und  namentlich  anch  des  Rechtes 
des  Königs,  ans  eigener  Machtvollkommenheit 
die  eintr^liche  Lizenz  zn  erteilen.  Dann  aher 
veranlasste  das  agrarische  Interesse  eine  Um- 
Btimmnng  zu  Gunsten  jener  Freiheit,  und  im 
Jahre  1&3  wurde  auf  Verlangen  des  Parla- 
mentes schon  ein  Getreide  ein  fuhr  verbot 
erlassen  für  den  Fall,  dass  die  Preise  unter  ge- 
wisse Grenzen  gesunken  wären.  Im  16.  und 
in  den  ersten  Jahrzehnten  des  17.  Jahrhunderts 
wurde  das   System  der  Verbote   der   Einfuhr 

Izum  Verkauf  im  Inlande)  und  der  Ausfuhr  bei 
)estimmten  Preisgrenzen  den  neuen  Preis  Ver- 
hältnissen gemäss  ausgebildet,  wobei  d£is  könig- 
liche Recht  des  Verbots  der  Ausfuhr  und  der 
Lizenzerteilung  aufrecht  erhalten  blieb.  Unter 
Cromwell  wurde  1666  die  Preisgrenze,  bei  wel- 
cher die  Ausfuhr  erlaubt  sein  soUte,  noch  weiter 
erhöht,  und  nach  einer  abermaligen  Hinaus- 
Bchiebung  derselben  im  Jahre  1663  wurde  sie 
1670  ganz  aufgehoben  mit  Beibehaltung  eines 
geringen  AusfunrzoUes.  Dasselbe  Gesetz  aber 
brachte  auch  hohe  agrarische  Schutzzölle,  indem 
z.  B.  für  Weizen  bei  einem  Preise  unter  63  Schill, 
für  das  Quarter  16  Schill,  und  bei  einem  Preise 
zwischen  53  und  80  Schill.  8  Schill,  an  Einfuhr- 
zoll zu  entrichten  waren.  Seitdem  blieb  bis  zu 
der  modernen  Reformgesetzgebung  das  Interesse 
des  Grundbesitzes  für  die  englische  Getreide- 
handelspolitik ausschliesslich  massgebend.  Der 
Thronwechsel  brachte  ihnen  eine  weitere  Be- 
günstigung :  im  Jahre  1689,  noch  im  ersten  Re- 
^erungsjiuire  Wilhelms  und  Marias,  wurde  für 
die  Aimuhr  von  Weizen,  wenn  der  Preis  des 
(Winchester-)  Quarter  nicht  mehr  als  48  Schill, 
betrug,  eine  Prämie  von  ö  Schill,  bewilligt,  und 
ebenso  erhielten  Roggen,  Gerste  und  Malz  von 
bestimmten  Preisgrenzen  ab  Ausfuhrprämien 
von  3V9  nnd  2Ve  Schill,  für  das  Quarter.    Zu- 

fleich  fiel  dann  der  Ausfuhrzoll  weg,  während 
ieser  bei  höheren  Preisen  noch  bis  zum  Jahre 
1700  erhoben,  dann  aber  p^änzlich  aufgehoben 
wurde.  Bei  Teuerungen  indess  wurden  auch 
unter  der  Herrschaft  des  Prämiensystems  als 
Aumahmemassregeln  noch  Ausfuhrverbote  er- 
lassen. Die  Einfuhrzölle  wurden  im  Laufe  des 
vorigen  Jahrhunderts  mehrfach  abgeändert; 
nach  dem  konsolidierten  Tarife  von  1787  z.  B. 
hetrugen  sie  für  Weizen  bei  einem  Preise  unter 
48  Schill.  24 Vi  Schill.,  bei  allen  höheren  Preisen 
aber  nur  6  Pence.  Die  Ausfuhrprämien  wurden 
erst  1814  förmlich  abgeschafift,  aber  sie  waren 
schon  längst  ohne  praktische  Bedeutung,  da 
seit  mehreren  Jahrzehnten  die  vorgeschriebene 
untere  Preisgrenze  (die  1774  auf  44  Schill, 
herabgesetzt  worden)  nicht  mehr  erreicht  worden 
war.    Ueber  die  zeitweilig  bewilligte  Einfuhr- 

Srämie  s.  d.  Art.  (a.  a.  0.).  Seine  äusserste  Ausbil- 
ung  stellt  das  agrarische  Schutzsystem  durch  das 
G.  von  1815,  das  die  Einfuhr  von  Weizen  bis 
zu  dem  Preise  von  80  Schill,  gänzlich  verbot, 
darüber  hinaus  aber  frei  liess.  S.  d.  Art.  Anti- 
Corn-Law-League  (oben  Bd.  1  S.  410ff.). 
6.  Andere  Länder.  Von  den  hierher  ge- 
hörenden Massregeln  anderer  Staaten  erwähnen 
wir  noch  das  seit  dem  16  Jahrhundert  im 
Königreich  Neapel  und  im  Kirchenstaate  be- 
stehende Annonanystem,  das  die  Getreidever- 
sorguog  der  beiden  grossen  Hauptstädte  sicher- 
stellen sollte,  deren  Interessen  die  der  Land- 
wirtschaft   geopfert   wurden.     Die   Landwirte 


mussten  ihre  Ernten  deklarieren,  Ausfuhr  und 
Ankauf  über  den  eigenen  Bedarf  hinaus  war 
nur  mit  okrigkeitlicher  Erlaubnis  zulässig,  und 
der  Staat  requirierte  nach  seinem  Ermessen 
das  Getreide  zu  einem  von  ihm  bestimmten 
Preise  für  seine  Magazine.  Im  Gegensatz  dazu 
wurde  in  Toskana  1766  schon  der  Versuch  ge- 
macht, die  Teuerung  durch  völlige  Frei^ebung 
des  inneren  Getreideverkehrs  sowohl  wie  der 
Ausfuhr  zu  bekämpfen.  —  Gegenwärtig  besteht 
noch  in  Russland  wenigstens  theoretisch  ein 
vollständiges  System  von  gesetzlichen  Bestim- 
mungen zur  Abwehr  von  Hungersnot,  das  im 
wesentlichen  aus  der  Zeit  Kathannas  11.  stammt. 
Jedes  Dorf  muss  einen  Reservevorrat  von  Ge- 
treide halten,  jedoch  kann  derselbe  auch  teil- 
weise durch  Geld  ersetzt  werden.  Ausserdem 
wird  von  den  Gouvernements  ein  Reservekapitai 

febildet  und  zwar  mittelst  einer  für  jeden  Kopf 
er  männlichen  bäuerlichen  Bevölkerung  er- 
hobenen Taxe  von  48  Kopeken.  Endlieh  wird 
auch  beim  Ministerium  des  Innern  aus  beson- 
deren Beiträgen  ein  zu  demselben  Zweck  be- 
stimmter Fonds  unterhalten.  Die  Gemeindelager 
sollen  nötigenfalls  zinsfreie  Vorschüsse  von 
Saatgetreide  gewähren,  die  übrigen  Fonds  dienen 
zur  weiteren  Unterstützung  der  Hilfsbedürftigen 
durch  zinsfreie  oder  erst  nach  drei  Jahren  zu 
3%  verzinsliche  Darlehen.  Im  Gouvernement 
Archangel  und  in  Sibirien  bestehen  auch  staat- 
liche Getreidemagazine.  Die  Ausfuhr  kann  bei 
hohen  Preisen  verboten  werden.  Angesichts  der 
unbefriedigenden  Ernte  von  1891  ist  im  August 
dieses  Jahres  zum  ersten  Male  seit  dem  Krim- 
kriege wieder  ein  Verbot  der  Roggenausfuhr 
erlassen  worden  und  auch  eine  Ermässigung 
der  Eisenbahnfrachtsätze  zur  Erleichterung  der 
Zufuhr  nach  den  notleidenden  Provinzen  enolgt. 
—  In  Indien,  wo  besonders  in  den  reisbauenden 
Landesteilen  alle  10 — 12  Jahre  infolge  der 
Trockenheit  eine  Hun^rsnot  einzutreten  pflegt, 
wird  seit  1877  jährlich  ein  besonderer  Posten 
von  1600  000  £  unter  dem  Titel  „Famine  relief 
and  Insurance^  in  das  Budget  eingestellt.  Was 
nicht  wirklich  zur  unmittelbaren  Bekämpfung 
von  Hungersnot  ausgegeben  wird,  dient  zur 
Herstellung  von  Bewässerungs-  und  Verkehrs- 
anlagen zu  demselben  Zwecke  oder  zur  Schulden- 
tilgung. 

7.  AllgeineiDe  Bemerkungen.  Neueste 
Bestrebungen.  Den  Gegensatz  der  älteren 
und  der  neueren  Ansichten  über  den  G^e- 
treidehandel  hat  schon  öaliani  treffend  aus- 
gedrückt, indem  er  sagte,  dass  man  früher 
das  Getreide  als  ein  Verwaltungsobjekt  be- 
trachtet habe,  jetzt  aber  aus  demselben  ein- 
fach einen  Handelsgegenstand  machen  wolle. 
Der  Wohlfahrtszweck,  den  die  staatliche  Ver- 
waltung auf  diesem  Gebiete  erstrebte,  war 
ursprünglich  und  vorzugsweise  die  Siche- 
rung der  Volksernährung.  Dazu  aber  trat 
unter  der  Herrschaft  der  merkantilistischeu 
Anschauungen  die  Rücksicht  auf  die  In- 
dustrie, deren  Absatzfähigkeit,  wie  man  än- 
nalmi,  durch  die  Billigkeit  der  Nahrungs- 
mittel gefördert  würde.  Galiani  aber  hob 
auch  hei'vor,  dass  die  gewerblichen  Erzeug- 
nisse im  Gegensatze  zu  den  landwirtschaft- 


Getreidehandel  (Aeltere  Getreidehandelspolitik  und  Allgemeines) 


281 


liehen  von  einem  Jahre  zum  anderen  in  an- 
nähernd gleicher  Menge  erzeugt  würden, 
dass  daher  ihre  Preise  und  infolge  davon 
auch  die  Löhne  der  gewerblichen  Arbeiter 
nahezu  unverändert  büeben.  Jede  Steige- 
nmg  des  Getreidepreises  mache  sich  daher 
für  diese  auf  das  empfindlichste  fühlbar, 
und  es  sei  also  für  ein  überwiegend  indus- 
trielles Staatswesen  unumgänglich,  den  Ge- 
treidepreis möglichst  gleichmässig  zu  er- 
halten. In  den  kleinen  Staaten,  wie  Genf, 
den  italienischen  Stadtrepubliken  etc.  lasse 
sich  dies  durch  ein  zweckmässiges  Magazin- 
system einigermassen  erreichen;  in  mittel- 
grossen Eüstenstaaten,  wie  Holland  und  die 
Republik  Genua,  sei  ähnliches  schon  nicht 
mehr  möglich,  aber  diese  seien  imstande, 
durch  ihren  nach  allen  Seiten  ausgedehnten 
Seehandel  sich  immer  auf  den  billigsten 
Märkten  zu  versorgen.  Für  Grossstaaten 
wie  Frankreich  aber,  mit  einer  Bevölkerung 
von  vielen  Millionen  und  einem  grossen 
Binnenlande  ohne  genügende  Wasserwege, 
sei  dieser  Ausweg  nicht  vorhanden  und  da 
auch  amtliche  Preistaxen  nicht  durchführbar 
seien,  so  gebe  es  in  der  That  kein  Mittel, 
um  die  Gleichmässigkeit  der  Getreidepreise 
in  genügendem  Masse  zu  erreichen,  und 
daher  gedeihe  die  Industrie  stets  besser  in 
den  kleinen  Republiken  als  in  den  grossen 
Heichen.  Aber  ein  Volk,  das  sich  aus- 
schliesslich dem  Ackerbau  w^idme,  sei  »eine 
Nation  von  Spielern«,  und  Galiani  giebt 
deutlich  genug  zu  verstehen,  dass  er  in 
dem  Gesetze  von  1764  über  die  Freiheit  der 
Getreideausfuhr  eine  den  Ackerbau  zum 
Nachteile  der  industriellen  Entwickelung 
übermässig  begünstigende  Massregel  sehe. 
In  England  beriefen  sich  die  Verteidiger 
der  Einfuhrzölle  und  der  Ausfuhrprämien 
für  Getreide  ebenfalls  auf  das  Interesse  der 
gesamten  Volkswirtschaft,  da  eine  blühende 
Landwirtschaft  die  beste  Bürgschaft  füi*  das 
Wachstum  der  Industrie  bilde.  Houghton 
gab  schon  1683  der  vielen  Anklang  finden- 
den Ansicht  Ausdruck,  dass  hohe  Eompreise 
für  die  Industrie  besser  seien  als  niedrige, 
weü  die  Arbeiter  bei  den  ersteren  zu  grös- 
serem Fleisse  genötigt  oder  zu  der  Erfin- 
dung besserer  Produktionsmethoden  geführt 
würden.  —  Im  allgemeinen  wird  man  nicht 
annehmen  können,  dass  die  Beschränkungen 
des  Getreidehandelß,  die  sich  während  mehr 
als  zwei  Jahrtausenden  bei  allen  Kultur- 
völkern wiederholen,  lediglich  auf  Verken- 
nung der  richtigen  Wege  zu  dem  beabsich- 
tigten Ziele  beruhten.  Im  Vergleiche  mit 
den  heutigen  Zuständen  muss  stets  vor 
allem  die  miher  bestehende  grosse  Schwie- 
rigkeit und  Kostspieligkeit  des  Landtrans- 
portes im  Auge  behalten  werden.  Galiani 
weist  darauf  hin,  dass  die  am  meisten  Ge- 
treide   erzeugenden   Provinzen   Frankreichs 


in  der  Nähe  der  Küste  liegen,  also  immer 
geneigt  seien,  ihr  Korn  auf  dem  biUigen 
Wasserwege  ins  Ausland  zu  führen,  wenn 
auch  in  den  schwer  zugänglichen  Binnen- 
provinzen grosse  Ausfälle  zu  decken  seien. 
Für  die  lokalen  Notstände  in  den  Gegenden 
mit  ungenügenden  Verkehrsmitteln  Konnte 
bestenfalls  nur  mit  grosser  Verspätung  Hilfe 
gebracht  werden,  lud  zur  Deckung  eines 
bedeutenden  EruteausfaUes  in  einem  grossen 
Gebiete  reichten  die  Kräfte  des  älteren 
Handels  überhaupt  nicht  aus.  Da  nun  aber 
das  Getreide  das  notwendigste  Lebensmittel 
für  die  Masse  der  Bevölkerung  bildet,  so 
steigt  bei  unzuläo^licher  Versorgung  des 
Marktes  der  Preis  m  noch  stärkerem  Ver- 
hältnisse, als  die  Zufuhr  abnimmt,  eine  That- 
sache,  die  Grregory  King  diux^h  die  Eegel 
ausdrückte,  dass  bei  einem  Fehlbeträge  ohar 
Ernte  um  10,  20,  30,  40,  50  «/o  des  Durch- 
schnittes der  Preis  lun  30,  80,  160,  280s 
450  ®/o  stei^.  Diese  Regel  hatte  freilich 
selbst  für  die  Zeit  ihrer  Entstehung  —  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  —  nur  die  Bedeutung 
eines  charakteristischen  Zahlenbeispieles. 
Der  »Komwucher«  war  unter  solchen  Um- 
ständen keineswegs  immer  ein  blosses  Phan* 
tasiegebilde.  Weaa  Getreide  nach  reich- 
lichen Ernten  aufgekattft  und  für  den  Fall 
eines  künftigen  Mangels  aufgespeichert 
wurde  oder  wenn  bei  mutmasslicher  Miss- 
ernte die  Nachfrage  der  Aufkäufer  schon  im 
voraus  den  Preis  erhöhte  und  dadurch  ein 
Wamungssignd  gab,  so  war  ein  solches  Ein* 
greifen  des  Handels  ohne  Zweifel  volkswirt- 
schaftlich nicht  nur  berechtigt,  sondern  auch 
nützlich.  Aber  jedenfalls  wiurde  auch  häufig 
das  Aufkaufen  und  Aufspeichern  erat  wäh- 
rend des  Notstandes  vorgenommen,  um  durdi 
weitere  Verminderung  des  Angebotes  die 
eben  erwähnte  unverhältnismässige  Preis- 
steigerung herbeizuführen.  Diese  Spekula- 
tion konnte  leicht  gelingen,  wenn  die  Ver- 
kehrsmittel eine  rasche  Entwickelung  der 
Konkurrenz  nicht  gestatteten,  und  die  Be- 
kämpfimg dieses  Wuchers  durch  den  Staat, 
namentlich  durch  Verkauf  von  Getreide  aus 
öffentlichen  Lagern,  war  dann  principieU 
durchaus  gerechtfertigt,  wenn  auch  häufig 
unzweckmässige  Mittel  angewandt  wurden. 
Gegenüber  dem  grossartigen  Getreidewelt- 
handel der  Gegenwart  haben  nattirlich  die 
auf  kleine  Verhältnisse  berechneten  alten 
Polizeimassregeln  gegen  den  Wucher  keinen 
Sinn  und  Zweck  mehr.  Auch  ist  ja  die 
Handelspolitik  der  meisten  eiux)päaschen 
Staaten  in  der  neuesten  Zeit,  ganz  im  Gegen-r 
satze  zu  den  älteren  Bestrebungen,  d£^uf 
gerichtet,  den  durch  die  überseeische  Kon- 
kurrenz ausgeübten  Druck  auf  den  Getreide^ 
preis  zu  mildern  und  denselben  künstlich 
auf  einem  höheren  Stande  zu  erhalten.  Zu 
diesem  Zwecke  dienen  zunächst  die  Getreide- 


282 


Getreidehandel  (Aeltere  Getreidehandelspolitik  und  Allgemeines) 


Zölle  (s.  d.  Art.),  und  an  diese  hat  sich  in 
Deutschland  diu'ch  die  Aufhebung  des  Iden- 
titätsnachweises des  ein-  und  ausgeftthrten 
Getreides  (s.  d.  Art.)  eine  Ausfuhrprämie  an- 
geschlossen. Grosse  Hoffnungen  setzten  die 
WordKihrer  der  deutschen  Landwirtschaft 
auf  die  Beschritokung  der  Börsenspekulation, 
da  sie  voraussetzten,  dass  diese  grundsätz- 
lich die  Getreidepreise  immer  herabzudrücken 
suchte.  Zunächst  klagte  man  über  die  geringe 
Qualität  des  Lieferungsgetreides,  da  man 
annahm,  dass  dessen  niedriger  Preis  auch 
auf  die  besseren  Sorten  drückend  einwirke. 
Daher  setzte  Fürst  Bismarck  als  Handels- 
minister 1888  trotz  des  Widerstrebens  der 
Beteiligten  durch,  dass  an  den  preussischen 
Produktenbörsen  Termingeschäfte  nur  in  Ge- 
treide von  einem  gegen  das  früher  übliche 
erhöhten  Qualitätsgewicht  geschlossen  wer- 
den durften.  Im  Jahre  1891  aber  stiegen 
die  Getreidepreise  wieder  auf  eine  enorme 
Höhe,  und  die  Börse  wurde  jetzt  für  diese 
Bewegung  ebenso  verantwortlich  gemacht 
wie  für  die  niedrigen  Preise  von  1887  und 
1888.  Bald  trat  jedoch  wieder  ein  starker 
Rückgang  ein,  den  man  einesteils  den  Han- 
delsverträgen von  1892  und  namentlich  dem 
Vertrage  mit  Russland  von  1894,  anderen- 
teils aber  auch  wieder  dem  bösen  Willen  der 
Börse  zur  Last  legte.  In  Wirklichkeit  aber 
kommt  an  der  Börse  nur  die  durch  die 
weltwirtschaftliche  Geschäftslage,  durch  die 
Produktions-  und  Transportbedingungen  be- 
stimmte Tendenz  zum  Ausdruck.  Diese 
Tendenz  aber  ist  naturgemäss  in  einem 
Lande,  dem  aus  sehr  billig  produzierenden 
Ländern  mit  relativ  geringen  Transportkosten 
grosse  Massen  Getreide  zugeführt  werden, 
auf  Preiserniedrigung  gerichtet,  und  hier 
wird  daher  auch  die  Spekulation,  wenn  nicht 
ein  ungewöhnlicher  Bedarf  eintritt,  bis  zu 
einem  gewissen  Punkte  der  Baisse  zuge- 
wandt sein,  während  sie  in  den  Ausfuhr- 
ländern nonöalerweise  überwiegend  für  die 
Hausse  eintritt  Seiner  Natur  nach  hat  der 
Börsenterminhandel  in  Getreide  also  weder 
ftlr  die  eine  noch  für  die  andere  Preisbe- 
wegung eine  besondere  Vorliebe*  er  sucht 
nur  die  durch  die  realen  Umstände  bedingte 
richtig  vorauszusehen,  was  ihm  auch,  wie 
die  Erfahnmg  gezeigt  hat,  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  gelingt.  Die  kleinen  Preis- 
bewegungen werden  durch  den  Termin- 
handel, weil  dieser  nicht  nur  einen  grossen, 
sondern  auch  einen  sehr  sensitiven  Markt 
schafft,  vielleicht  vervielfältigt,  die  grossen 
al)er  werden  jedenfalls  gemildert,  da  immer 
eine  Partei  vorhanden  ist,  die  zur  Realisie- 
rung ihres  Gewinnes  die  Richtung  ihrer 
Operationen  ändern,  also  z.  B.  von  den 
Blankoverkänfen  zu  Deckungskäufen  über- 
gehen muss.  Nur  wenn  mächtige  finanzielle 
Kräfte  in  einer  falschen  Richtung  auf 


den  Markt  einwirken,  können  durch  die 
Börsenspekulation  zeitweilig  starke  unnatür- 
liche Preisschwankungen  hervorgerufen  wer- 
den, obwohl  auch  in  diesem  Falle  das  End- 
resultat dasselbe  bleibt  Denn  auch  der 
grossartigste  »Corner«  wäre  heutzutage  nicht 
imstande,  den  Markt  eines  Welthandels- 
ai*tikels  von  so  ungeheuerer  Massenhaftig- 
keit  wie  das  Getreide  längere  Zeit  wirklich 
nach  seiner  Willkür  zu  beherrschen.  Wirk- 
lichen Einfluss  auf  die  Preisbildung  können 
nattirlich  nur  diejenigen  Spekulanten  aus- 
üben, die  nötigenfalls  mit  grossen  Geld- 
mitteln oder  grossen  Warenmengen  einzu- 
greifen imstande  sind.  Das  Treiben  der 
weder  Geld  noch  Ware  besitzenden  Börsen- 
spieler kann  nur  die  allgemeine  Tendenz 
deutlicher  zum  Ausdruck  bringen,  aber  keine 
wesentliche  Wirkung  auf  den  Markt  haben, 
da  es  nur  aus  Wetten  oder  einem  sich 
selbst  neutralisierenden  Spiele  zweier  ent- 
gegengesetzt operierender  Parteien  besteht 
Indes  besitzen  auch  die  reinen  Spekulanten 
im  allgemeinen  ein  gewisses  Kapital,  wenig- 
stens so  viel  als  nötig  ist,  um  ihre  m{%- 
lichen  Differenzen  zu  decken.  Daher  bieten 
sie  denjenigen  B[aufleuten  und  Mühlenbe- 
sitzern, die  sich  mit  ernst  gemeinten  Zeit- 
käufen von  jedem  Risiko  freihalten  wollen, 
die  Mögliclikeit  einer  Versicherung  dar.  Die 
Gegner  des  Terminhandels  in  Getreide  haben 
indes  den  Sieg  davongetragen,  und  er  ist 
durch  das  Börsengesetz  v.  26.  Juni  1896 
verboten.  Nachweisliche  Vorteile  sind  der 
Landwirtschaft  daraus  nicht  erwachsen,  denn 
die  Preissteigerung  des  Weizens  in  den 
Jahren  1897  und  1898  war  wieder  eine  all- 
gemein weltwirtschaftliche  Erscheinung  und 
von  dem  deutschen  Börsengesetz,  das  in 
den  anderen  Ländern  keine  Nachahmung 
gefunden  hat,  gänzlich  unabhängig. 

Zu  den  »grossen  Mitteln«,  die  zur  Hebung 
des  Getreidepreises  vorgeschlagen  wurden, 
gehörte  auch  die  Monopolisierung  des  Ein- 
und  Verkaufs  des  zum  Verbrauch  im  deutschen 
Zollgebiet  bestimmten  ausländischen  Getrei- 
des mit  Einschluss  der  Mühlen&brikate,  wie 
sie  der  1895  dem  Reichstag  vorgelegte  An- 
trag Kanitz  verlangte.  Obwohl  dieser  An- 
trag wohl  nur  noch  ein  historisches  Interesse 
hat,  mögen  die  gegen  denselben  entscheidend 
sprechenden  Gründe,  abgesehen  von  der 
Unvereinbarkeit  des  Projekts  mit  den  be- 
stehenden Handelsverträgen,  nochmals  an- 
geführt werden.  Als  Wirkung  eines  solchen 
Monopols  würde  sich  thatsächlich  eine 
dauernde  beträchtliche  Erhöhung  der  deut- 
schen Getreidepreise  über  die  des  freien 
Weltmarkts,  insbesondere  die  englischen, 
ergeben,  denn  die  vorgeschlagenen  Mittel- 
preise würden  bei  ungünstigen  Ernteverhält- 
nissen ganz  gewiss  überschritten  werden, 
vielleicht  noch  weiter  als  im   Jahre    1891. 


Getreidehandel  (Aelt  Getreidehandelspol.  u.  Allg.  —  Techn.  u.  gegenw.Gest. ;  Deutschland)  283 


Diese  Verteueruogder  notwendigsten  Lebens- 
mittel wtbnde  nicht  nur  eine  Schädigung  der 
Mehrzahl  der  Bevölkerung  bedeuten,  sondern 
auch  die  Aufrechterhaltung  des  Wettbewerbs 
der  deutschen  Industrie  mit  England  nur 
auf  Kosten  der  Arbeiter  ^tatten.  Der  Ge- 
winn aus  diesen  Nachteilen  für  die  übrige 
Bevölkerung  aber  käme  zu  einem  grossen 
Teile  solchen  Grundbesitzern  zu,  die  trotz 
der  unbefriedigenden  Lage  der  Landwirt- 
schaft ihrem  Einkommen  nach  zu  der  wohl- 
habenden oder  reichen  Klasse  zu  rechnen 
sind.  Die  ganze  Einrichtung  würde  formell 
einen  sehr  bedenklichen  sozialistischen  Cha- 
rakter haben,  dabei  aber  materiell  nicht,  wie 
die  sozialistischen  Projekte,  zur  Verbesse- 
rung des  Loses  der  besitzlosen  Masse  der 
Bevölkerung,  sondern  im  Interesse  einer  be- 
sitzenden Minderheit  zu  wirken  bestimmt 
sein.  Dass  Friedrich  der  Grosse  mit  seinem 
Magazinsysteme  befriedigende  Erfahrungen 
gemacht  hat,  kann  angesichts  der  heutigen 
unendlich  komplizierteren  Yerhältnisse  für 
den  Antrag  Kanitz  nicht  geltend  gemacht 
werden.  Die  noch  weiter  gehenden  Pläne, 
wie  das  von  dem  Mühlenbesitzer  Till  vor- 
geschlagene staatliche  Bäckerei-  und  Brot- 
monopol würden  vollends  in  das  Gebiet  des 
Staatssozialismus  überführen,  übrigens  auch 
auf  unübersteigliche  Organisations-  und  Yer- 
waltungsschwierigkeiten  stossen. 

Litteratnr:  BoeckK  St€Uiishauskait  der  Athener, 
ä,  Aufi,f  keravjfgegeben  v.  Franke L  —  JBilcIt- 
genficMUz,  Besitz  und  Erwerb  im  griechischen 
AUertume.  —  Marqtiardt,  Römische  Staats- 
vertcaUung  II,  S.  HO  ff.  —  Naud4,  Deutsche 
ttädHscke  Getreidehandelspolüik  vom  15. — 17. 
Jahrhundert,  Leipzig  1889.  (In  Schmollers 
Forschungen,  Bd.  VIII.)  —  Derselbe,  Acta 
Borussica,  Getreidehandelspolitik  J.  Bd.  der  euro- 
päischen Staaten  vom  IS. — 18.  Jahrhundert  als 
Einleitung  in  die  preussisehe  Getreidehandels- 
polüik, Berlin  1896.  —  Schmoller,  Die 
Epochen  der  Getreidehandelsver/assung  und 
'Politik,  Jahrb.  ßlr  GeseUg.  etc.  XX.,  S.  695 ff. 
(1896).  —  Derselbe,  Einige  Worte  zum  Antrag 
Kanitz  a.  a.  O.  XIX,  611  ff.  (1895).  —  Aras- 
khaniantz.  Die  fnmzösische  Getreidehandeis- 
politik bis  zum  Jahre  1789,  Leipzig  1882.  —  (In 
SchmoUers  Forschungen,  Bd.  IV.)  —  PridriehO" 
uricz,  Die  Getreidehandelspolitik  des  Anden  re- 
gime, Weimar  1897.  —  AfancLSsiev,  Le  commerce 
des  ceriales  en  France  au  XVI II  si^cle,  trad. 
du  russe,Paris  1894.  —  Faber,  Die  Entstehung 
des  Agrarschuttes  in  England,  Strassburg  1888.  — 
Oalia'n'i,  Dialogues  sur  le  Commerce  des  Blis 
(1770).  —  Neeker,  Sur  la  Ugislation  et  le 
commerce  des  gruins  (1775).  Beide  Schriften 
abgedruckt  im  16.  Bde.  der  Collection  des  prvn- 
cipaux  ieonomistes,  S.  5 — tOi  und  211 — S58,  — 
MoreiUet,  Refutation  des  Dialogues  sur  le 
commerce  des  bUs  (Paris  1770);  teilweise  als 
Anmerkungen  in  der  angeführten  Ausgabe  der 
Dialoge  abgedruckt.  —  Targot,  Lettres  sur  la 
librriS  du  commerce  des  grains  (1770).  — 
Oeuvres    ed.    Daire   t.    I.   —  Rettnarus,    Die 


icichtige  Frage  von  der  freien  Atis-  und  Einfuhr 
des  Getreides,  Hamburg  1771.  —  Derselbe, 
Die  Freiheit  des  Getreidehandels  nach  der  Natur 
und  Geschichte,  Hamburg  1790.  —  Norrmann, 
Die  Freiheit  des  Getreidehandels,  Hamburg  1802. 

—  RÖssig,  Die  Teuerungspolizei,  ein  hisUrrisch- 
politischer  Versuch,  Leipzig  1808.  —  v.  Hazei, 
Betrachtungen  über  Teuerung  und  Not  der  ver- 
gangenen und  gegenwärtigen  Zeit,  München  1818. 

—  Graf  Soden,  Die  cmnonarische  Gesetzgebung, 
Nürnberg  1828.  —  Röscher,  lieber  Komhandel 
und  TeuerungspolUik ,  S.  Aufl.,  Stuttgart  und 
Tübingen  1858.  —  A,  Toung,  The  expediency 
of  a  free  erportation  of  com  at  this  time,  Lon- 
don 1771.  —  J'ames  Anderson,  An  inquiry 
into  the  nature  of  the  com  laws,  Edinb.  1777, 
nebst  zwei  anderen  Schriften  Andersons.  Deutseh 
herausgegeben    von     Brentano,     Leipzig    1898. 

—  Maltfms,  Observations  on  the  effect  of  the  corth 
laws,  London  I8I4.  —  Ricardo,  On  the  in- 
fluence  of  a  law  price  of  com  on  the  profits  of 
stock,  London  1815.  (Oeuvres  in  der  GuiUaumin- 
schen  Sammlung,  S.  5^1  ff.)  —  Kablukow, 
Die  russische  Gesetzgehing  über  die  Versorgung 
des  Volkes  bei  Missemten  (in  Brauns  Archiv  für 
soz.  Gesetzgebung  IV,  S.  890 ff,).  Lexia. 

n. 

Technik  und  gegenwärtige 
Gestaltung  des  Getreide-  . 
handels. 

A.  Getreidehandel  in  Deutschland  (S.  283). 
B.  Getreidehandel  in  den  Vereinigten  Staaten 
(S.  293).    C.  Getreidehandel  in  Russland  (S.  297). 

A.  Getreidehandel  in  Deutsehland. 

1.  Die  Entwickelnng  des  deutschen  G.  2. 
Der  Verkehr  mit'  den  Landwirten.  3.  Der 
Effektivgrosahandel.  4.  Der  Terminhandel,  h. 
Die  Transport-  und  Lagereinrichtnngen. 

1.  Die  Entwickelnng  des  deutschen  6. 

Noch  in  den  ersten  «^hrzehnten  unseres 
Jahrhunderts  produzierte  Deutschland  in 
allen  seinen  Teilen  normaler  "Weise  soviel 
Getreide,  als  zur  Ernährung  der  Bevölke- 
rung erforderlich  war;  selbst  Mannheim, 
heute  der  bedeutendste  Weizeneinfuhrplatz 
des  europäischen  Festlandes,  gab  reeelmässig 
von  den  Getreidemengen  an,  die  durch  die 
Bauern  der  Umgegend  auf  den  städtischen 
Markt  gebracht  wurden.  Ein  Grosshandel, 
der  dauernde  Beziehungen  zum  Ausland 
unterhielt,  bestand  damals  nur  in  den  Hafen- 
plätzen der  Ostsee  und  Nordsee,  von  wo  aus 
die  Ueberschüsse  der  Küstenprovinzen  nach 
England,  Holland  und  Skandinavien  expo]> 
tiert  wurden ;  ein  geringerer  Ausfuhrverkehr 
hatte  sich  von  Süddeutschland  nach  der 
Schweiz  und  nach  Tirol  hin  entwickelt  Im 
Innern  Deutschlands  hemmten  die  zahllosen 
BinnenzöUe  und  vielfachen  Ausfuhrverbote 
den  Austausch  zwischen  den  einzelnen 
Bundesstaaten  und  selbst  zwischen  Gebieten 
desselben  Staates.  Bei  den  noch  unent- 
wickelten Yerkehrsverhältnissen,  unter  denen 
(Getreide  nur  zu  Wasser  und  sehr  langsam 


284 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung ;  Deutschland) 


auf  grössere  Entfernungen  hin  transportiert 
werden  konnte,  waren  Teuerungen  und 
Hungersnöte  häufige  Erscheinungen,  wäh- 
rend zu  anderer  Zeit  und  an  anderem  Ort 
überreiche  Ernten  keinen  Absatz  finden; 
die  Preise  schwankten  örtlich  und  zeitlich 
um  das  Vielfache. 

Im  zweiten  Viertel  des  Jahrhunderts  be- 
ginnen sich  diese  Verhältnisse  von  Grund 
aus  zu  ändern,  nachdem  an  die  Stelle  der 
hart  merkantilistischen  Abschliessungspolitik 
der  Einzelstaaten  schon  vom  zweiten  Jahr- 
zehnt an  die  Grundsätze  grösserer  Be- 
wegungsfreiheit getreten  waren  imd  Deutsch- 
land im  Zollverein  sich  zu  einem  einheit- 
lichen Wirtschaftsgebiet  zusammengeschlos- 
sen hatte,  nachdem  der  Rückschlag  der 
Franzosenzeit  endlich  überwunden  war. 
Die  sich  kräftig  entwickelnde  Industrie 
schuf  jetzt  in  emigen  Gebenden  Deutsch- 
lands, so  besonders  am  Rhem  imd  im  König- 
reich Sachsen,  ein  immer  stärker  werdendes 
Bedürfnis  nach  Getreidezufuhren,  ein  Be- 
dürfnis, dessen  Befriedigung  der  Ausbau  der 
neuen  Verkehrsmittel,  Dampfschiffahrt,  Ei- 
senbahn, Telegraphie,  in  sich  stetig  vervoU- 
konminender  Weise  ermöglichte.  Mittel- 
d'eutschland  (Hannover  u.  s.  w.)  hörte  auf, 
ins  Ausland  Getreide  zu  exportieren,  da  der 
Eigenbedarf  gestiegen  war  und  die  noch  er- 
zidten  üeberschüsse  ihren  Weg  nach  West- 
deutschland nahmen:  nur  der  preussische 
Osten  und  Teile  von  Silddeutschland  blieben 
noch  Ausfuhrgebiete,  dafür  kam  aber  in 
stark  steigendem  umfang  Getreide  aus  Russ- 
land und  Oesterreich-Ungam  in  die  Indus- 
triegebiete Deutschlands  hinein.  In  den 
fünfziger  Jahren  wurde  der  Zeitpunkt  er- 
reicht, von  dem  an  die  Einfuhr  an  Roggen 
ständig  die  Ausfuhr  überstieg,  und  seit  1875 
werden  auch  an  Weizen  ^Ijährlich  mehr 
Mengen  ein-  als  ausgeführt;  Deutschland 
ist  durch  seine  Bevölkenmgszunahme  und 
dmx^h  die  Entwickelung  der  Verkehrs- 
mittel unlöslich  in  das  Getriebe  des  Welt- 
marktes verflochten,  und  wenn  infolge- 
dessen auch  Hungei-snöte  wohl  nicht  mehr 
zu  fürchten  imd  die  Preise,  mit  den  frühe- 
ren Zuständen  verglichen,  sehr  viel  gleich- 
massiger  sind,  so  ist  doch  dadurch  anderer- 
seits der  Einfluss  der  heimischen  G^treide- 
produktion  auf  die  Preisbildung  wenn  nicht 
ganz  ausgeschlossen,  so  doch  auf  ein  sehr 
geringes  Mass  beschränkt  worden. 

Die  Getreideausfuhr  geriet  ganz  ins 
Stocken,  als  der  auf  3  und  5  Mark  erhöhte 
Zoll  den  Inlandspreis  im  Verhältnis  zum 
Weltmarkt  hochhielt ;  nur  der  Mühlenindus- 
trie, der  schon  1882  die  Aufhebung  des 
Identitätsnachweises  bewilligt  wurde,  gelang 
es,  die  1880/81  unterbrochenen  Au^ands- 
beziehungeu  wieder  anzuknüpfen  und  na- 
mentiich    für    Roggenmehl,    weniger    für 


Weizenmehl  aufrecht  zu  erhalten.  Erst  seit 
1894,  seitdem  auch  bei  der  Ausfuhr  von  Ge- 
treide nicht  mehr  der  Identitätsnachweis 
als  Voraussetzung  der  Zollvergütung  gefor- 
dert wird,  hat  sich  für  das  Rohprodukt 
wieder  ein  regerer  Verkehr  zwischen  den 
östlichen  Provinzen  Preussens  und  England, 
Holland,  Skandinavien  sowie  zwischen  Süd- 
deutschland und  der  Schweiz  entwickelt; 
niedrige  Ausnahmetarife  der  deutschen  Bah- 
nen sollen  die  Ausfuhr  noch  besonders  för- 
dern 1). 

Von  tiefgreifender  Bedeutung  für  die  Ge- 
treidehandelsbeziehungen innerhalb  Deutsch- 
lands waren  die  sogenannten  Getreide-  und 
Mehlstaffeltarife,  die  unter  der  Führung  der 
preussischen  Staatsbahnen  am  1.  September 
1891  auf  den  norddeutschen  und  den  elsass- 
lothringischen Eisenbahnen  eingeführt  wur- 
den und  für  weitere  Entfernungen  ganz  er- 
hebliche Ermässigungen  gegenüber  den  Nor- 
malsätzen brachten^).  Es  gelang  mit  Hilfe 
dieses  Tarifs,  ostdeutsches  Mehl-  und  Brot- 
getreide in  grosser  Menge  nach  Mittel-  und 
Westdeutschland  zu  überführen,  während 
andererseits  besonders  bayerisdier  Hafer 
sich  ein  weiteres  Absatzgebiet  in  Nord- 
deutschland eroberte:  der  Austausch  zwi- 
schen den  einzelnen  Gebieten  Deutschlands 
wurde  also  beträchtlich  gefördert.  Der 
Tarif  wurde  jedoch,  allem  Anschein  nach 
zu  Unrecht,  von  der  west-  und  süddeutschen 
Landwirtschaft  und  Müllerei  für  die  niedri- 
gen Preise  der  Jahre  1893  und  1894  ver- 
antwortlich gemacht,  und  so  wurde  er  leider 
aus  Anlass  des  russischen  Handelsvertrags 
auf  Drängen  der  süddeutschen  Regierungen 
zum  1.  August  1894  aufgehoben.  Die  so- 
eben erst  angeknüpften  Handelsbeziehungen 
mussten  sich  lösen,  die  üeberschüsse  des 
Ostens  finden  wieder  nur  wenig  Abnahme 
im  zufuhrbedürftigen  Westen. 

2.  Der  Verkehr  mit  den  Landwirten. 
Der  Getreideabsatz  der  Landwirte  wird  in 
Deutschland  wie  überhaupt  in  der  alten  Welt 
von  einer  Unzahl  kleiner,  in  allen  Städten 
und  Dörfern  des  platten  Landes  verteilter, 
duix3haus  nicht  immer  reell  verfahrender 
Händler  beherrscht,  die  zu  dem  Landmann 
ins  Dorf  und  auf  den  Hof  kommen,  sein 
Getreide  aufzukaufen,  und  die  ihn  häufig 


')  Auf  den  preussischen  Staatsbahnen  werden 
bei  Auflfnhrgetreide  für  die  Entfemangen  über 
lÜO  km  nur  1,43  Pfennige  für  1  km  anstatt 
des  regelmässigen  Satzes  von  4,5  Pfennigen  er- 
hoben. 

')  Während  der  Normalsatz  für  Getr^de 
und  Mehl  4,5  Pfennige  für  1  tkm  ist  (Special- 
tarif I),  wurde  nach  dem  Staffeltarif  dieser  Satz 
nur  für  die  ersten  200  km  berechnet,  für  Ent- 
fernungen zwischen  201  und  300  km  aber  nuir 
3  Pfennige  und  darüber  hinaus  nur  2  Pfennige 
für  1  tkm  angestossen. 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


285 


schon  durch  Darlehen  an  sich  ^fesselt 
hahen;  auch  die  im  Produktionsgebiet  noch 
ziüilreichen.  in  ihrer  Existenz  jedoch  hart 
bedrängten  kleinen  Handelsmühlen  decken 
ihren  Bedarf  zu  gutem  Teil  unmittelbar  bei 
den  Bauern  ihrer  Gegend.  Der  direkte 
Verkehr  zwischen  den  Produzenten  und 
Gross  -  Konsumenten  (Grosshandelsmühlen, 
Brauereien,  Proviantämtern  u.  s.  w.)  ist  da- 
gegen trotz  der  auf  seine  Hebung  gerichte- 
ten Bemühungen  der  Staatsverwaltungen  i) 
nicht  so  entwickelt,  wie  man  es  im  Inte- 
resse der  Landwirtschaft  wünschen  muss; 
ihm  stehen  hauptsächlich  entgegen  die  un- 
endliche Mannigfaltigkeit  der  in  Deutsch- 
land dicht  neben  einander  angebauten  Sorten, 
die  erst  durch  den  Händler  zu  einer  ein- 
heitlicheren Ware  zusammengemischt  wer- 
den müssen,  ehe  sie  in  den  Konsum  über- 
gehen können,  und  die  Unfähigkeit  der 
kleineren  Bauern,  grosse  Mengen  auf  ein- 
mal zu  liefern,  sodann  auch  der  Mangel  an 
Sorget,  mit  dem  der  Durchschnitt  der 
deutschen  Landwirte  das  Korn  zu  reinigen 
und  zu  sortieren  pflegt,  und  die  Unacht- 
samkeit, mit  der  die  Produzenten  auf  ge- 
naue Uebereinstimmung  von  Probe  und 
Lieferung  sehen,  endlich  und  nicht  zum 
wenigsten  das  Kreditbedürfnis  vieler  Land- 
wirte, das  zwar  der  Händler,  nicht  aber 
der  Konsument  zu  befriedigen  vermag. 
Selbst  der  städtische  Markt,  auf  dem  früher 
die  Konkiurenz  der  kaufenden  Händler, 
MtUler,  Bäcker  imd  sonstigen  Stadtleute 
wirksam  hervortrat,  wird  jetzt  nur  noch  in 
wenigen  Gegenden,  besonders  in  Süddeutsch- 
land, rege  besucht;  auch  ihn  beherrschen 
jetzt  die  kleinen  Aufkäufer  und  Handels- 
müller, seitdem  die  Bäcker  und  Brotkonsu- 
menten es  vorziehen,  das  Fabrikat  zu  kaufen 
anstatt  das  Rohprodukt  in  der  Lohnmühle 
auf  eigene  Kosten  vermählen  zu  lassen. 
Nur  verhältnismässig  wenige  Grossgrund- 
besitzer stehen  in  Beziehungen  zu  den 
grossen  Handelshäusern  der  Börsenplätze 
und  bedienen  sich  ihrer  als  Kommissionäre, 
das  Korn  bestmöglich  am  Börsenorte  selbst 
oder  in  einer  Bedarfsgegend  unterzubringen. 
Den  nordöstlichen  Provinzen  Preussens 
eigentümlich  ist  das  Faktorenverhältnis  *). 
Der  Faktor  ist  ein  Händler,  der  in  allen 
Geschäften  des  Landwirts  seine  Hand  hat; 
er  kauft  das  Getreide,   liefert  die  Futter- 

')  Die  Proviantämter  sind  angewiesen,  den 
direkten  Bezug  von  den  Landwirten  nach  Mög- 
lichkeit zu  bevorzugen;  in  Bayern  kaufen  sie 
sogar  am  Prodnktionsorte  selbst  ein,  wodorch 
das  Getreide  fiskalisches  Gut  wird  und  eine 
Frachtermässigung  von  2b  \  auf  den  Bahnen 
geniesst  (Böhm,  die  Komhftuser  S.  89). 

')  Aehnliches,  ohne  den  Namen,  kommt 
auch  im  Übrigen  Deutschland  vor,  doch  nicht 
so  allgemein. 


und  Düngemittel,  besorgt  die  Versicherungen 
als  Agent  der  Gesellschaften,  leiht  die  er- 
forderlichen Barmittel  und  steht  für  jeden 
beliebigen  Bedarf  seinem  Auftraggeber  zur 
Verfügimg.  Häufig  ist  er  es  nur,  der  durch 
ein  Därlehn  nach  dem  anderen  den  Land- 
wirt noch  auf  seiner  Scholle  hält,  um  nur 
die  Zinsen  seines  Kapitals  zu  erlusdten,  bis 
er  schliesslich  auf  beides,  auf  Kapital  und 
Zinsen  verzichten  muss,  da  der  Erlös  der 
Zwangsversteigerung  seine  Forderung  in 
der  Regel  nicht  mehr  deckt.  Oft  stehen 
schon  Generationen  von  Produzenten  imd 
Kaufleuten  in  diesem  auf  gegenseitiges  Ver- 
trauen fundierten  Verhältnis.  Doch  hat  sich 
in  den  letzten  Jahren  unter  dem  Druck  der 
Preisverhältnisse  eine  Lockerung  vielfach 
bemerkbar  gemacht,  ohne  indes  zu  einer 
grösseren  ^ufmännisdien  Selbständigkeit 
der  Produzenten  zu  führen. 

Der  Krebsschaden  im  Getreideabsatz  der 
Landwirte  ist  der  allgemein  herrschende 
leidige  Brauch,  den  Getreideabnehmer  zu- 
gleich als  Bankier  zu  benutzen.  Er  ist 
hervorgerufen  durch  das  Bedürfnis  der 
Produzenten,  ihrem  Geldbedarf,  der  wegen 
mangelnden  Betriebskapitals  und  infolge  der 
ständig  sinkenden  Reinerträge  die  Grenzen 
des  reinen  Personalkredits  übersteigt,  die 
gegenwärtigen  und  zukünftigen  Erträge  des 
Feldes  dienstbar  zu  machen,  imd  da  die 
Banken  sich  auf  diese  rechtlich  nicht  zu 
bindende  Sicherheit  nicht  einlassen  können, 
wenden  sich  'die  Landwirte  an  ihre  Ge- 
treidehändler, die  sich  aus  dem  Erlöse  der 
Erntemengen  bezahlt  machen.  Die  Folge 
ist,  dass  von  einer  Konkurrenz  mehrerer 
Käufer  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann  und 
der  Verkäufer  je  nach  der  Höhe  seiner 
Schuld  mehr  oder  minder  (vor  allem  durch 
unberechtigte  Qualitätsbemängelungen)  im 
Preise  gedrückt  und  dadurch  immer  tiefer 
in  die  Abhängigkeit  gestossen  wird.  Aber 
nicht  nur  der  Produzent  wird  durch  diese 
Darlehen  seines  Händlers  niiniert,  auch  der 
Gläubiger  läuft  grosse  Gefahr,  sein  Geld  zu 
verlieren,  und  so  haben  sich  in  der  That 
eine  grosse  Anzahl  angesehener  Firmen  nach 
erheblichen  Verlusten  aus  dem  Getreide- 
geschäft herausgezogen  und  das  Feld  skru- 
pellosen Neulingen  überlassen,  denen  der 
Bankerott  nichts  Furchtbares  ist;  der  Händ- 
lerstand des  Ostens  sinkt  allmählich  immer 
tiefer. 

In  West-  und  Mitteldeutschland  macht 
sich  der  starke  Anbau  des  englischen 
square-head-Weizens  nachteilig  geltend,  der 
zwar  quantitativ  einen  höheren  fkixag  als 
die  alten  deutschen  Landweizen  giebt,  seines 
geringen  Klebergehalts  wegen  aber  nicht 
ungemischt  zu  backfähigem  Mehl  verarbeitet 
werden  kann.  Die  Klagen  der  Landwirte 
über     schlechte    Absatzfähigkeit    sind    zu 


286 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


grossem  Teil  auf  diesen  umstand  zurück- 
zuführen, und  sofern  eine  Steigerung  der 
inländischen  Produktionsmenge  hauptsäch- 
lich durch  erweiterten  Anbau  dieser  Sorten 
bewirkt  wird,  macht  sie  jedenfallß  eine  Ein- 
fuhr ausländischen  "Weizens  —  besonders 
der  aus  Südrussland  und  einige  argentini- 
sche Sorten  zeichnen  sich  durch  hohen 
Klebergehalt  aus  —  nicht  nur  nicht  über- 
flüssig, sondern  der  erforderlichen  Mischung 
wegen  sogar  in  immer  stärkerem  Masse 
notwendig.  Im  Osten  und  auch  im  Süden, 
wo  in  den  letzten  Jahren  der  englische 
Weizen  ebenfalls  Eingang  gefimden  hat, 
macht  sich  die  Schädigung  in  der  Absatz- 
möglichkeit noch  nicht  so  stark  geltend, 
weü  hier  einstweilen  noch  daneben  ge- 
nügend Landweizen  gebaut  wird,  mit  dem 
jene  Sorten  gemischt  werden.  Aber  es  ist 
zu  wünschen,  dass  der  immer  weiteren 
Verbreitung  des  auf  Mischung  schlechthin 
angewiesenen  square-head-Weizens  Einhalt 
gethan  wird. 

Ueberall  in  Deutschland,  vde  auch  in 
den  anderen  Ländern,  zwingt  der  Mangel 
an  Betriebskapital  die  Landwü'te,  ihr  Ge- 
treide möglichst  schnell  nach  der  Ernte  zu 
Geld  zu  machen,  um  die  Schuldzinsen  und 
Barlöhne  bezahlen  zu  können;  diesem  Be- 
dürfnis, das  mit  der  Zunahme  der  Barlöh- 
nungen sich  steigert,  kommt  die  Einführung 
der  Dampfdreschmaschinen  nur  allzu  sehr 
entgegen,  und  so  ist  regelmässig  bald  nach 
der  Ernte  ein  starkes  Angebot  des  neuen 
Produkts  und  folgeweise  ein  niedriger  Preis- 
stand zu  beobachten,  während  von  dem 
späteren  Steigen  die  Produzenten  mangels 
verkaufsfähiger  Vorräte  kaum  einen  Vorteil 
haben;  selbst  über  das  Entbehrliche  hinaus 
wird  nicht  selten  zur  Beschaffung  von  Bar- 
geld im  Herbst  und  Winter  verkauft,  so 
dass  dann  im  Sommer  wieder  eingekauft 
werden  muss.  Im  Interesse  der  Landwirte 
läge  es  aber,  möghchst  gleichraässig  im 
ganzen  Jahr  die  verkaufsfähige  Ware  an 
den  Markt  zu  bringen  und  bis  zum  Verkauf, 
da  nun  einmal  das  Kreditbedürfnis  besteht, 
sie    in    bankmässig    geregelter    Form    ver- 

S fänden  zu  können ;  Voraussetzung  dafür  ist 
ie  Bescliaffung  zuverlässiger  Lagerräume 
und  die  Errichtung  von  Lombanlienmgs- 
stellen  im  unmittelbaren  Bereich  der  Pro- 
duktionsgebiete. 

In  den  Preisen  richtet  sich  der  Klein- 
verkehi»  durchaus  nach  den  Notierungen  der 
nächsten  Provinzialbörse,  im  Osten  früher 
vielfach  direkt  nach  Berlin.  Die  Abhängig- 
keit geht  teilweise  so  weit,  dass  im  voraus 
für  alle  Lieferungen  als  Preis  die  höchste 
(in  Berlin  früher  die  für  sogenannte  Liefe- 
rungsqualität höchste)  Börsennotiz  abzüglich 
eines  festen  (der  Fracht  bis  zum  Börsenplatz 
und   einer   früher   nicht   bedeutenden,    seit 


der  Erschwerung  des  Termingeschäfts  aber 
vielfach  erhöhten  Risikoprämie  entsprechen- 
den, nach  der  durchschnittlichen  Beschaffen- 
heit der  Lieferungen  sich  richtenden)  Satzes 
vereinbart  wird.  Die  Provinzialbörsen  haben 
namentlich  durch  das  Einstellen  der  Ber- 
liner Preisnotierung  an  Einfluss  gewonnen; 
im  unmittelbaren  Geltungsbereich  Berlins 
sind  an  die  SteUe  der  amtlichen  Angaben 
die  privaten  Nachrichten  getreten,  die  fest 
jeder  Getreidehändler  und  Handelsmüller 
täglich  von  Berliner  Kommissionshäusern 
erhält,  die  sich  aber  jeder  Kontrolle  ent- 
ziehen, so  dass  die  Abhängigkeit  nament- 
lich der  ihrem  Getreideabnehmer  verschul- 
deten Landwirte  noch  verschärft  worden 
ist.  —  Diese  absolute  Unselbständigkeit  der 
Preisbildung  ist  zu  beklagen.  Denn  selbst 
an  der  pössten  Börse  können  vorüber- 
gehende Mnflüsse  und  Machenschaften  die 
wirkliche  Marktlage  für  kurze  Zeit  ver- 
schleiern, ohne  dass  es  deshalb  berechtigt 
ist,  die  Notierungen  als  falsch  zu  bezeichnen. 
Die  Landwirte  sollten  deslialb,  ebenso  wie 
die  Händler,  die  Börsennotiz  nur  als  allge- 
meine Richtschnur,  nicht  als  absoluten  Preis- 
massstab  für  ihre  Verkäufe  benutzen. 

Die  Angaben  der  Centralnotiemngsstelle 
der  preussiscnen  Landwirtschaftskammem  kön- 
nen, insoweit  sie  sich  von  den  Notierungen  der 
Börsen  und  grossen  Märkte  selbständig  halten 
und  auf  einzelne  thatsächlich  abgeschlossene 
Geschäfte  sich  beziehen,  irgend  welchen  An- 
spruch auf  die  Bezeichnung  als  Marktpreis 
nicht  erheben,  ebensowenig  wie  die  in  den 
Einzelstaaten  schon  lange  und  seit  dem  1.  Ja- 
nuar 1897  auch  von  Reichs  wegen  an  zahlreichen 
Märkten  polizeilich  vorgenommenen  Notierungen 
auch  nur  den  geringsten  Wert  haben.  Denn 
während  an  den  Börsen  tagtäglich  grosse  Men- 
gen umgesetzt  werden  und  ein  Ueberblick  über 
nie  wirkliche  Preislage  sich  daher  regelmässig 
gewinnen  lässt,  ist  schon  der  Verkehr,  um  von 
den  anderen  Mängeln  nicht  zu  sprechen,  auf 
den  kleinen  Märkten  zu  gering  und  unregel- 
mässi^,  als  dass  all  die  kleinen  Momente,  die 
im  Emzelfall  den  Kaufpreis  mitbestimmen  — 
wie  z.  B.  Kreditfähigkeit  des  Käufers,  Schulden- 
stand des  Verkäufers,  Zuverlässigkeit  der  Par* 
teien,  Grösse  der  verkauften  Menge,  Qualitäts- 
unterschiede, Zeit  und  Ort  der  Ablieferung 
u.  8.  w.  —  und  die  begrifflich  einen  wesentlichen 
Unterschied  zwischen  dem  Vertragspreis  des 
einzelnen  Geschäfts  und  einem  Marktpreis  be- 
gründen, herausgeschält  werden  könnten.  Sehr 
bezeichnend  für  die  Unfruchtbarkeit  des  gegen 
die  Börsennotiz  geführten  Kampfes  ist,  dass 
die  Centralnotiemngsstelle  nach  privaten  Er- 
mittelungen regelmässig  eine  Angabe  über  den 
in  Berlin  für  die  frühere  Liefemngsqualität  er- 
zielten Preis  bringt. 

Eine  Besserung  in  der  Absatzorganisation 
ist  von  der  Ausbreitung  der  Getreidever- 
kauf sgenossenschaften  zu  erwarten.  Denn 
die  Vereinigung  ist  imstande,  den  kleinen 
Aufkäufer  zu  ersetzen  und  die  Konkun^enz 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


287 


der  Abnehmer  zu  erwecken;  sie  vermag 
den  Verkehr  mit  den  Grosskonsimienten  zu 
pflegen  und  wird  auch  ihre  Mitglieder  zu 
einem  mehr  einheitlichen  Anbau  erziehen; 
sie  bietet  endlich  in  ihren  Lagerräumen 
eine  geeignete  Grundlage  für  die  Verpfän- 
dung des  Getreides  und  kann  durch  ein 
Hand  in  Handgehen  mit  den  Darlehnsge- 
nossenschaften  zugleich  selbst  als  Lombar- 
dienmgsstelle  wirken ;  in  der  Genossenschaft 
treten  die  Landwirte  als  selbständige  Kauf- 
leute auf,  die  nach  kaufmännischen  Grund- 
sätzen der  Gegenwart,  nicht  in  überlebten 
Gewohnheiten  der  Vergangenheit  den  Ab- 
satz ihres  Hauptprodukts  betreiben.  Vor- 
aussetzung für  die  Wirksamkeit  der  Ge- 
nossensclmftsbewegung  ist,  dass  es  gelingt, 
die  von  den  Händlern  abhängigen  Landwirte 
aus  deren  Fesseln  zu  befreien  —  die  Ver- 
kaufsvereinigungen bedürfen  hierzu  der  Er- 
gänzung durch  Darlehnskassen  und  Kon- 
sumvereine — ,  und  dass  geschäftskimdige 
Männer,  am  besten  Kaufleute,  an  die  Spitze 
gestellt  werden  (vgl.  den  Art.  Korn- 
speicher). 

3.  Der  EffektivgrosshandeL  Der  Ge- 
treidegrosshandel ist  im  Osten  Inlands-, 
Ausfuhr-  und  Transithandel.  Im  Inland 
geht  das  östiiche  Produkt  zum  Teil  über 
Stettin  und  die  märkischen  Wasserstrassen, 
zum  Teil  unter  Benutzung  eines  bis  Berlin 
geltenden  Ausnahmetarifs  i)  mit  der  Eisen- 
bahn nach  Berlin  und  Mitteldeutschland. 
Der  Transithandel,  den  Memel,  Königs- 
bei^  und  Danzig  mit  russischem  Getreide 
treiben,  steht  in  scharfem  Wettbewerb 
mit  dem  Ausfuhrhandel  der  baltischen 
Häfen  Riga  und  Libau;  ihn  zu  stützen, 
hat  der  preussische  Eisenbahnminister 
im  russischen  Handelsveitrage  (Schlnss- 
protokoll  zu  Art.  19)  auf  einen  Teil  seiner 
Tarifhoheit  insofern  vollständig  verzichtet, 
als  die  von  Russland  für  die  russischen 
Bahnen  eingeführten  und  etwa  noch  eiazu- 
führenden  Getreide-  und  Mehltarife  ohne 
weiteres  auch  für  die  zwischen  der  Grenze 
und  den  genannten  Häfen  Preussens  liegen- 
den Staatsbahnstreeken  Geltung  erbeten 
müssen.  Es  ist  aber  ein  Unikum  in  der 
Tarif  politik  aller  Welt,  dass  die  Frachtsätze 
auf  den  Bahnen  eines  Staats  von  der  Regie- 
rung eines  fremden  Staats  festgesetzt  wer- 
den, ohne  dass  jener  erste  Staat,  obwohl  In- 
haber dieser  Bahnen,  dabei  irgend  mitzu- 
reden hat;  war  es  also  auch  sachlich  be- 
rechtigt, den  deutschen  Ostseehäfen  möglichst 
die  Vorteile  der  russischen  Tarifierung,  die 


')  Dieser  sogenannte  Ostbahutarif  enthält 
bis  zn  50  km  den  regelmässigen  Satz  von  4,5 
Pfennigen  für  1  tkm,  auf  weitere  Entfemnngen 
fällt  er  von  3,8  Pfennigen  (zwischen  51  und 
400  km)  bis  auf  3,2  km  (über  650  km). 


auf  weite  Entfernungen  sehr  niedrige  Sätze 
berechnet,  für  den  Bezug  russischen  Getrei- 
des zuzuwenden,  so  ist  doch  die  Form,  in 
der  es  geschehen  ist,  die  die  Entscheidung 
über  die  auf  den  preussischen  Staatsbahn- 
strecken für  diese  Sendungen  zu  erheben- 
den Frachten  in  die  Hand  der  russischen 
Regierung  legt,  mit  Recht  getadelt  worden, 
wie  es  andererseits  den  inländischen  Interes- 
senten auch  nicht  verargt  werden  kann,  dass 
sie  nun  ebenso  billige  Sätze,  wie  sie  dem 
russischen  G^etreide  bewilligt  werden  müssen, 
auch  für  sich  beanspruchen. 

Berlin  ist  für  Getreide  vollständig  Ein- 
fuhrplatz geworden,  mu-  die  grossen  Rioggen- 
mühlen  unterhalten  noch  eine  lebhafte  Aus- 
fuhr ihres  Fabrikats.  Der  Rohstoff  kommt 
von  den  üeberschussgebieten  Deutschlands 
und  über  Hamburg  oder  Stettin  vom  Aus- 
land. Berliner  Grosshändler  betreiben  auch 
durch  Agenten  und  Füialen  einen  regen 
Handel  nach  anderen  Teilen  Deutschlands 
und  unmittelbar  von  Ausland  zu  Ausland. 
—  Die  überragende  Bedeutung  Berlins  für 
den  deutschen'  Getreidehandel  liegt  aber 
nicht  so  sehr  in  der  Grosse  des  effektiven 
Umsatzes  —  darin  steht  Mannheim  nicht 
nach  —  als  vielmehr  in  der  Entwickelung 
seines  Terminmarktes ;  denn  durch  den  Aus- 
bau des  besonders  der  Preisbildung  dienen- 
den Termingeschäfts  (s.  unten  sub  4)  hat 
sich  Berlin  zum  Mittelpunkt  des  deutschen 
Getreidehandels  aufgeschwungen ,  nach 
dessen  Preisnotierungen  sich  nicht  nur  das 
gesamte  Inland,  sondern  auch  das  Ausland 
richtete.  Durch  die  am  1.  Januar  1897  er- 
folgte Selbstauflösung  der  Berliner  Produk- 
tenbörse ist  jedoch  allem  Anschein  nach 
diese  Bedeutung  nicht  unbeträchtlich  abge- 
schwächt, und  während  vordem  Deutschlands 
Macht  als  Ein-  und  Ausfuhrgebiet,  im  Ber- 
liner Terminhandel  sich  koncentrierend  und 
in  der  Berliner  Preisnotiz  sichtbar  werdend, 
für  die  Preisbildung  des  Weltmarktes  von 
unmittelbarem  Einfluss  war,  sind  jetzt 
überall  selbst  im  Inland  die  Preisnotierungen 
von  Chicago  und  New- York  der  Massstab, 
nach  dem  der  Handel  sich  richtet;  die  Ab- 
hängigkeit des  deutschen  Getreidemarktes 
vom  Auslande,  die  man  durch  das  Verbot 
des  Börsentenningeschäfts  zu  mindern 
hoffte,  ist  eher  noch  grösser  geworden. 

Die  Auflösung  der  Berliner  Produktenbörse 
ist  nicht  erfolgt  wegen  des  im  Börsengesetz 
enthaltenen  Verbots  des  börsenmässigen  Termin- 
handels in  Getreide  und  Mehl.  Denn  wenn  sich 
auch  wegen  dieses  Verbots,  das  die  Grundlage 
der  Bedeutung  Berlins  berührte,  eine  begreif- 
liche Errefifung  der  Berliner  Börsenhändler  be- 
mächtigt hatte,  so  war  doch  schon  im  Herbst 
1896  das  sogenannte  handelsrechtliche  Liefe- 
rungsgeschäft an  die  SteUe  des  Termingeschäfts 
gesetzt  worden,  und  es  war  noch  abzuwarten, 
ob   dies   nicht  nach   einiger   Gewöhnung   mit 


288 


Getreidehandel  (Technik  irnd  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


fleicbem  Erfolge  ^ehandhabt  werden  konnte; 
ie  Organisation  einer  grossen  Börse  war  doch 
zu  wertvoll,  um  wegen  des  Verbots  einer  Ge- 
schäftsform aufgegeben  zu  werden.  Erst  die  — 
nach  dem  preussischen  Landwirtschaftskammer- 
besetz  allerdings  unvermeidliche  —  Forderung 
der  preussischen  Eegierung,  in  den  Börsenvor- 
stand  Vertreter  der  branaenburgischen  Land- 
wirtschaftskammer, auch  wenn  sie  nicht  Mit- 
glieder der  Börse  waren,  aufzunehmen,  führte 
auf  den  Gedanken,  dieser  als  unberechtigte 
Massregelung  empfundenen  Vorschrift  durch  die 
Auflösung  der  Produktenbörse  zu  entgehen; 
man  war  um  so  mehr  empört,  als  kurz  zuvor 

ferade  von  Mitgliedern  der  Landwirtschafts- 
ammer heftige  An^fie  gegen  die  Richtigkeit  der 
früheren  Börsenpreisnotierungen  gerichtet  wor- 
den waren  und  sds  in  anderen  Bunaesstaaten,  für 
die  allerdings  nur  das  Börsengesetz  selbst  mass- 

febend  war,  die  in  den  Börsenvorstand  eintreten- 
en  Landwirte  Mitglieder  der  Börsen  werden 
mussten.  Die  Auflösung  wurde  vollzogen,  als 
die  Börsenordnung,  die  am  1.  Januar  1897  in 
Kraft  treten  sollte,  am  30.  Dezember  1896,  also 
nur  zwei  Tage  zuvor  und  unabänderlich,  mit 
der  verhassten  Bestimmung  vom  Handels- 
minister den  Aeltesten  der  Kaufmannschaft 
übersandt  wurde.  Zunächst  war  aber  ein 
Unterschied  gegen  den  frt\heren  Zustand  im 
Handel  nicht  zu  bemerken.  Denn  im  Feenpalast, 
einem  der  Börse  gegenüber  gelegenen  Verjg^nü- 
gungslokal,  kamen  jetzt  die  Früheren  Mitglieder 
der  Produktenbörse  unter  einer  freieren  Ver- 
einsorganisation zusammen,  und  es  wurden  an- 
fangs auch  Preise  unter  der  Autorität  des  Ver- 
einsvorstandes notiert;  als  dies  dann,  um  jeden 
Anschein  einer  Börse  zu  vermeiden,  eingestellt 
wurde,  traten  private  und  Zeitungsnachrichten 
über  die  Preise  an  die  Stelle  der  Vorstandsnotiz, 
die  sich  auswärts  fast  des  gleichen  Ansehens 
erfreuten  wie  die  frühere  börsenamtliche  Notiz. 
Erst  als  die  Vereinigung  der  Berliner  Getreide- 
und  Produktenhändler  die  Forderung  der  Re- 
gierung, den  Feenpalastversammlungen  auch 
formell  den  Charakter  einer  Börse  zu  geben, 
ablehnte  und  als  das  weitere  Zusammenkommen 
deshalb  vom  Berliner  Polizeipräsidenten  unter 
Berufung  auf  §  1  des  Börsengesetzes  verboten 
wurde,  da  trat  am  12.  Juni  1897  eine  grund- 
sätzliche Aenderung  ein:  die  Händler  mieteten 
einzeln  oder  in  Gruppen  ie  ein  Zimmer  im 
früheren  Hospital  zum  Heiligen  Geist  (daher 
die  Bezeichnung  Spittelbörse),  von  wo  ans  sie 
zu  bestimmten  Tagesstunden  den  persönlichen 
Verkehr  pflegten ;  jede  Form  einer  Organisation 
wurde  vermieden,  und  die  Veröffentlicnung  von 
Preisübersichten  wurde  verhindert.  Seitdem 
erhalten  die  auswärtigen  Interessenten  nur  noch 
durch  Privatmitteilungen  ihrer  Berliner  Ge- 
schäftsfreunde Kenntnis  von  den  Preisen,  das 
grössere  Publikum  und  die  Oeffentlichkeit  ist 
auf  unkontrollierbare  Angaben  einiger  Zeitungen 
angewiesen,  Berlins  beherrschende  Macht  hat 
sich  zu  gutem  Teil  verflüchtigt.  —  Inzwischen 
ist  die  Verfügung  des  Polizeipräsidenten,  die  die 
Feenpalastversammlungen  verbot,  vom  Oberver- 
waltungsgericht bestätigt  worden,  und  in  der 
That  lässt  sich  weder  die  Börseneigenschaft 
dieser  Zusammenkünfte  noch  die  Absicht  des 
Börsengesetzes,  derartige  Versammlungen  als 
Börsen  der  Staatsaufsicht  zu  unterwerfen,  be- 


streiten. Denn  ein  Markt  wird  dadurch  zur 
Börse,  dass  ausschliesslich  vertretbare  Sachen 
dort  gehandelt  werden,  dass  hauptsächlich  Kauf- 
leute unter  einander  verkehren,  dass  höchstens 
Proben  mitgebracht  werden  und  dass  der  un- 
mittelbare Einfluss  der  dprt  abgeschlossenen 
Geschäfte  weit  über  den  Kreis  der  Beteiligten 
hinausragt')  —  alles  dies  traf  bei  den  Feen- 
palastversammlungen ZU;  die  Verfootsnatur  des 
§  1  Abs.  1  des  Börsengesetzes  ergiebt  sich  aber 
unverkennbar  aus  der  Absicht  des  Gesetzgebers, 
den  au  den  Börsen  bisher  koncentrierten,  für 
das  Wirtschaftsleben  des  Volkes  so  wichtigen 
Handel  unter  staatliche  Regelung  und  Aufsicht 
zu  stellen.  Nicht  schlüssig  ist  aber  die  Beweis- 
führung des  Oberverwaltungsgerichts,  wenn  es 
nun  aus  allgemeinen  Polizeibefugnissen  das 
Recht  der  Polizeiverwaltung  herleitet,  solche 
ungesetzlichen  Börsen  zu  verbieten;  dasselbe 
Gericht  hat  in  anderen  Entscheidungen  es  ab- 
gelehnt der  Polizei  die  Sorge  für  die  Erfüllung 
aller  öffentlichrechtlichen  Gesetze  ohne  weiteres 
zuzusprechen,  ihre  Befugnis  vielmehr  auf  die 
Aufrechterhaltung  der  äusseren  Ordnung  be- 
schränkt, und  es  liegt  deshalb  allerdings  im 
§  1  des  Börsengesetzes  eine  lex  imperfecta  vor. 

Im  Westen  sind  die  'wichtigsten  Plätze 
Duisburg,  von  wo  aus  das  rheinisch-west- 
fälische Industriegebiet  mit  dem  erforder- 
lichen Brotkorn  versehen  wird,  Frankfurt, 
das  einen  regen  Handel  nach  Bayern  hinein 
treibt,  und  vor  allem  Mannheim,  das  den 
ganzen  Südwesten  und  Süden  Deutschlands, 
die  Schweiz  und  Ostfrankreich  unmittelbar 
beherrscht  und  durch  ein  weites  Netz  von 
Zweiggeschäften  und  Agenturen  am  Ge- 
treideverkehr aller  Länder  beteiligt  ist*).  — 

Ist  für  den  Kleinverkehr  die  Zersplitte- 
rung bezeichnend,  so  macht  sich  im  Gross- 
handel Deutschlands  wie  der  Welt  eine 
starke  Koncentrationsbewegung  geltend,  die 
in  Deutschland  noch  beschleunigt  worden 
zu  sein  scheint,  seitdem  die  Erschwerung 
des  Termingeschäfts  die  grossen  Handels- 
häuser begünstigt,  die  im  umfange  des 
eigenen  Geschäfts  die  Versicherung  gegen 
Verluste  finden  und  daher  der  im  lebhaften 
Terminhandel  gegebenen  Möglichkeit,  das 
Risiko  abzuwälzen,  nicht  bedürfen.  Beson- 
ders die  sehr  kapitalkräftigen  Importeure 
Berlins  und  der  Rheinhäfen  verdrängen  all- 
mählich immer  mehr  die  kleineren  Händler, 
die  das  Risiko  eines  Seetransportes  nicht  zu 
übernehmen  vermögen,  und  drücken  sie  zu 
Agenten,  Terminkommissionären  und  Mak- 
lern herab.    Im  Osten  ist  diese  Bewegung 


')  Dass  eine  amtliche  Preisnotiz  kein 
Begriffsmerkmal  ist,  zeigt  am  deutlichsten  die 
Hamburger  Börse,  an  der  keinerlei  Preise  bör- 
senamtlich notiert  werden,  die  Notierungen 
vielmehr  von  den  für  jeden  Handelszweig  be- 
stehenden Interessenten  Vereinigungen  besorgt 
wird :  den  Einfluss  festzustellen,  ist  Thatfrage. 

*)  Die  rechtliche  Organisation  der  deutschen 
Getreidebörsen  s.  im  Art.  Börsenrecht  oben 
Bd.  II  S.  980  flf. 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


289 


noch  nicht  so  weit  vorgeschritten ;  hier  fehlt 
es  an  reichen  Getreidekaufleuten,  auch  er- 
fordert  der  Betrieb  des  Inland-  und  des 
Exporthandels  weniger  Kapitalien  als  der 
sich  über  die  ganze  Erde  verbreitende  riesen- 
hafte Importhandel.  und  die  kleinen  Händler 
helfen  sich  hier  bei  fallenden  Preisen  durch 
eine  Erhöhung  der  vom  Landwirt  zu  tragen- 
den Eisikoprämie,  durch  eine  Preiserniedri- 
gung. 

AVährend  man  im  Ortsverkehr,  um  jede 
nicht  unbedingt  notwendige  Spese  zu  er- 
sparen, möglichst  alle  Mittelspersonen  ver- 
meidet, wird  der  Handel  von  Ort  zu  Ort 
zum  weitaus  grössten  Teile  durch  Agenten 
vermittelt  Besonders  in  den  Beziehungen 
zum  Auslände,  im  Export-  und  Import- 
handel, sind  diese  Hüfski'äft«  gar  nicht  zu 
entbehi'en ;  sie  kennen  die  örtlichen  Verhält- 
nisse, finden  leichter  den  passenden  Käufen 
oder  Verkäufer,  und  auch  mancher  Streit 
winl  durch  eine  mündliclie  Aussprache  im 
Keime  erstickt,  es  werden  Korrespondenz- 
spesen gespart.  Früher  war  London  der 
Platz,  wo  die  Agenten  aller  Exporteure  und 
Importeure  sich  •zusammenfanden;  jetzt 
haben  Liverpool  und  Antwerpen  einen  Teil 
dieser  Vermittelung  an  sich  gezogen,  und 
vor  allem  gi^eift  bei  den  Exporteiu^n  das 
Bestreben'  um  sich,  in  den  Bedarfsgegen- 
den selbst  vertreten  zu  sein.  So  finden  wii* 
jetzt  in  allen  grossen  Importplätzen  Deutsch- 
lands Agenten  der  ausländischen  Kaufleute, 
die  unter  Umgehung  von  London  direkt 
mit  diesen  verkehren.  Einige  wenige 
deutsche  Firmen  haben  im  Auslande,  m 
Russland  und  Argentinien,  Einkaufsfilialen 
errichtet.  — 

Die  Formen  des  deutschen  Getreidegross- 
handels sind  die  des  Welthandels.  Man 
verkauft  loco,  auf  Abladung,  roDend  oder 
schwimmend,  auf  Lieferung. 

Der  Exporteiu"  verschliesst  in  der  Regel 
auf  Abladimg,  d.  h.  er  verpflichtet  sich, 
innerhalb  bestimmter  Frist  das  Getreide  zu 
verladen  und  abzusenden ;  die  Gefahren  des 
Transports  und  eines  Preisrückgangs  trägt 
dann  der  Käufer,  der  sie  auch  seinerseits 
schleunigst  durch  Weiterverkauf  (auf  Ab- 
ladung, schwimmend  öder  auf  Lieferung  je 
nach  dem  Zeitpunkt  dieses  Geschäfts)  abzu- 
wälzen sucht  Selten  verfrachtet  ein  Händ- 
ler unverkauftes  Getreide,  und  dann  sucht 
er  es  wenigstens  unterwegs  (schwimmend, 
rollend)  abzusetzen ;  Konsignationsware,  d.  h. 
Korn,  das  erst  nach  der  Ankunft  verkauft 
werden  soll  (arrived),  erscheint  immer  sel- 
tener auf  dem  Markte  und  auch  nur  in 
London,  nie  auf  deutschen  Plätzen. 

Hat  der  Käufer  zufällig  günstige  Ver- 
frachtungsgelegenheit in  dem  Ausfuhrhafen, 
80  kauft  er  auf  Abladimg  fob  (free  on  board) ; 
er  bestimmt  dann  das  Schiff  und  hat  Fracht 


und  Versicherung  zu  tragen.  In  der  Regel 
wird  aber  —  sowohl  auf  Abladung  wie 
schwimmend  —  cif  gehandelt;  der  Ver- 
käufer hat  dann  ausser  der  Ladung  (cost) 
auch  die  Versicherung  (insurance)  und  die 
Fracht  (freight)  bis  zum  Bestimmungshafen 
zu  tragen»  Dieser-  Hafen  wird  entweder 
sofort  endgiltig  angegeben  (cif  Rotterdam 
z.  B.),  oder  das  Schiff  soll  erst  unterwegs 
ihn  in  einem  sogenannten  Orderhafen  (port 
of  call,  df  for  order  Gibraltar  z.  B.)  erfah- 
ren. Durch  diese  Orderstellung  ermöglicht 
sich  der  Käufer  eine  freiere  Disposition,  da 
die  Häfen  so  gelegen  sind  (die  üblichen 
sind  Gibraltar,  Funchal,  südenglische  Küsten- 
plätze), dass  jedes  Bedarfsgebiet  von  ihnen 
aus  ohne  Umweg  eiTcicht  werden  kann. 
Natürlich  kann  aber  nur  cif  for  order  ge- 
liandelt  werden,  wenn  eine  ganze  Schiffs- 
ladung (cargo)  verkauft  wird;  sobald  Teil- 
ladungen (parcels)  verschlossen  werden, 
muss  sofort  der  Bestimmungshafen  genannt 
sein,  da  der  Rest  der  Ladung  berücksichtigt 
werden  muss,  und  es  wäre  seltener  Zufall, 
wenn  alle  die  aus  den  verschiedensten 
Waren  bestehenden  parcels  auch  vom  Order- 
hafen aus  an  den  gleichen  Platz  dirigiert 
würden.  Mit  dem  Zunehmen  fester  Dampfer- 
linien und  den  wachsenden  Gehalt  der 
Schiffskörper  (bis  zu  4000  Tonnen)  nimmt 
aber  auch  der  Handel  in  parcels  allmählich 
zu.  —  Sofort  nach  Abgang  des  Schiffs 
werden  dem  Käufer  mit  der  Post  das  Kon- 
nossement und  die  Versicherungspolice  samt 
einer  grösseren  Probe  übersandt;  gegen 
ihren  Empfang  ist  bar  der  Betrag  der  vor- 
läufigen Rechnung  zu  bezahlen.  Etwa  sich 
nach  Ankunft  der  Ladung  ergebende  Diffe- 
renzen sind  besonders  zu  begleichen.  Die 
Papiere  vertreten  die  Ladung  und  wandern 
nun  von  Hand  zu  Hand. 

Die  Hauptschwieri^keit  bietet  dem  Ge- 
treidehandel die  Qualitätsbestimmung.  Ei- 
nerseits will  der  Käufer  wissen,  was  für 
Ware  er  zu  erwarten  hat;  auf  der  anderen 
Seite  muss  telegraphischer  Abschluss  des 
Vertrages  mörfich  sein,  imd  dies  Moment 
der  Schnelligkeit  ist  im  heutigen  Welthandel 
von  so  entscheidender  Bedeutung,  dass  ein 
Handel  nach  Individualprobe  von  Ort  zu 
Ort  überhaupt  nicht  mehr  vorkommt  Enl^ 
weder  werden  Typrauster  zu  Grunde  ge- 
legt, die  nur  ungefähr  die  Qualität  des  zu 
liefernden  Getreides  angeben  und  von  den 
Exporteuren  ihren  Agenten  zugesandt  und 
je  nach  Bedarf  fortlaufend  ersetzt  und  er- 
gänzt werden.  Oder  aber  man  greift  zu 
ganz  allgemeinen  Bestimmungen  und  ver- 
kauft Durchschnittsqualität  der  letzten  Ernte 
oder  der  Verschiffungen  des  Abladungs- 
monats; bei  stark  schwankenden  Qualitäten, 
wie  sie  das  russische  Getreide  zeigt,  pflegt 
man  noch  das  Mindestgewicht  zu  bezeich* 


Handwörterbuch  der  StaatowiBsenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


19 


290 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


nen  *).    Nordaraerikanisches  Koni  wird  nach 
der  Elevatorgradierung  gehandelt. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  diese 
mangelnde  Bestimmtheit  der  Qualitätsbe- 
zeichnung zu  zahlreichen  Streitigkeiten  An- 
lass  giebt,  imd  in  jedem  Eontrakt  findet 
sich  daher  eine  Yereinbarung  über  die  Be- 
gutachtung durch  Sachverständige;  nur  für 
nordamerikanisches  Korn  gilt  schlechthin 
das  Certifikat  des  Getreideinspektors  (eines 
Börsen-  oder  Staatsbeamten)  als  beweisend. 
Die  Arbitration  ist  im  übrigen  freundschaft- 
lich —  dann  ernennt  jede  Partei  einen 
Sachverständigen  —  oder  amtlich.  Für  die 
amtliche  Begutachtung,  die  stets  eintritt, 
wenn  die  Qualität  nach  irgend  welchem 
Durchschnitt  bezeichnet  ist,  wird  auch 
heute  noch  meist  London  gewählt;  hier 
kommen  die  grössten  Mengen  aus  aller 
Herren  Länder  zuerst  zusammen,  und  der 
Londoner  Getreidehändler  ist  daher  der  ge- 
eignetste Sachverständige,  auch  wewien  hier 
möglichst  bald  nach  jeder  Ernte  Standard- 
muster angestellt,  die  eine  relativ  feste 
Grundlage  für  die  Beurteilung  bilden.  Na- 
türlich wird  über  die  Sachverständigen  sehr 
geklagt,  der  unterliegende  Teil  fühlt  sich 
bekanntlich  stets  benachteiligt ;  aber  man 
hat  bisher  noch  nichts  Besseres  gefunden. 
Fehlerhaft  ist  aber  in  der  Tlmt,  dass 
die  Certifikate  der  nordamerikanischen  Ge- 
treideinspelctoren  im  Importlande  schlecht- 
hin unanfechtbar  sind;  die  Grade  sehen  in 
jedem  Elevator  thatsächlich  besonders  aus, 
und  auch  aus  demselben  Speicher  kommt 
nicht  immer  die  gleiche  Qualität  untei^  der 
gleichen  Bezeichnung;  hier  müsste  das  Ur- 
teil ganz  unparteiischer,  grosse  Gebiete 
überblickender  Sachverständiger,  wie  sie 
die  Getreideinspektoren  nicht  sind  und  nicht 


*)  Das  Qualitätsgewicht  bezieht  das  Gewicht 
auf  ein  bestimmtes  Hohlmass.  In  Dentschland 
wird  es  ietzt  meist  in  Gramm  auf  ein  Liter 
aasgedrückt,  in  Südnissland  in  Pud  (16,88  kg) 
und  Pfund  (0,41  kg)  auf  ein  Tscbetwert  (2,1  hl), 
in  den  baltischen  Häfen  nach  der  sogenannten 
holländischen  Probe  in  holländischem  Troypfnnd 
(492,2  g)  auf  einen  Zak  (83,44  1),  in  England 
nach  englischen  Pfunden  ((),4ö  kg)  auf  einen 
Quarter  (2,91  hl),  in  Oesterreich-TJngarn  und  in 
Prankreich  in  Kilogramm  auf  ein  Hektoliter. 
Eine  einfach  durch  Multiplikation  gewonnene 
Beduktion  der  verschiedenen  Masse  auf  einen 
Massstab,  etwa  das  Litergramm,  führt  jedoch 
nicht  zu  vergleichsfähigen  Zahlen,  da  in  einem 
kleinen  Gefäss  die  Dichtigkeit  geringer  ist  als 
in  einem  grossen,  und  so  muss  man  z.  B.  nach 
den  Untersuchungen  der  Normalaichungskom- 
mission  die  Angaben  in  Grammliter,  um  sie  in 
Eilogrammhektoliter  auszudrücken,  nicht  mit 
100,  sondern  bei  Weizen  mit  101,036  und  bei 
Roij:gen  mit  101,047  multiplizieren  (Lexis,  allge- 
meine Technik  des  Getreidehandels,  im  H.  d. 
St.W.,  I.  Aufl.,  Bd.  3,  S.  867). 


sein  können,  anzurufen  sein.  London  eman- 
cipiert  sich  daher  auch  mehr  und  mehr  von 
dieser  Gradierung,  Deutschland  ist  noch  ab- 
häogig;  überall  wehrt  man  sich  jedoch 
gegen  eine  Erweiterung  des  amerikanischen 
Systems,  wie  sie  z.  B.  von  Argentinien  aus 
erstiebt  wird  (Goodwin  certificate  nach  dem 
Kaufmann  und  Speicherbesitzer  Goodwin), 
weil  dabei  die  Interessen  der  Einfuhrgebiete 
nicht  gewahrt  werden. 

Der  Importeur,  der  so  auf  Abladung 
oder  schwimmend  gekauft  hat,  verkauft 
unter  derselben  Qualitätsbezeichnung  ent- 
weder auch  wieder  auf  Abladung  oder 
schwimmend,  oder  aber  —  und  das  ist 
wegen  des  dabei  zu  erzielenden  höheren 
Preises  die  Regel  —  er  berechnet  ungefähr 
die  Ankimft  des  Schiffes  und  verkauft  auf 
Lieferung  zu  dieser  Zeit,  sich  eine  Span- 
/lung  von  1  oder  2  Monaten  lassend.  Ist 
das  Getreide  endlich,  mehrere  Wochen  nach 
Abgang  des  Dampfers,  mehrere  Monate 
nach  dem  des  Seglers,  angekommen,  so 
wird  es  meist  nach  Probe  weitergehandelt; 
vor  allem  die  Konsumenten  lassen  sich  nicht 
auf  eine  allgemeine  (^ualitätsbestimmung 
ein.  — 

Die  Bezugsquellen  wechseln  je  nach  dem 
Ausfall  der  heimischen  und  der  ausländi- 
schen Ernten.  Im  allgemeinen  ^kommen 
wir  Weizen  aus  Eussland,  den  Balkanstaaten, 
Oesterreich-Ungam,  Nordamerika  und  Argen- 
tinien (in  seiner  Exportkraft  stark  schwan- 
kend, aber  bei  reichen  Ernten  infolge  seiner 
als  Ausfuhrprämie  wirkenden  Papierwährung 
alle  anderen  Gebiete  unterbietend),  bei 
höheren  Preisen  auch  aus  Indien;  Roggen 
wird  fast  nur  aus  Russland  und  den  Ballum- 
staaten,  in  geringerer  Menge  aus  Ganada 
eingeführt;  Russland  liefert  auch  Futter- 
gerste, Oesterreich  Braugerste ;  von  steigen- 
der Bedeutung  wird  die  Maiseinfuhr  aus 
den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  neben 
der  noch  die  von  den  Baikaustaaten  in  Be- 
tracht kommt ;  das  importierte  Weizenmehl 
stammt  hauptsächlich  aus  Ungarn  imd  auä 
den  Vei-einigten  Staaten  von  Amerika.  — 
Die  Ausfuhr  ist  von  Norddeutschland  regel- 
mässig nach  Skandinavien  und  HollAnd 
(Weizen,  Roggen  und  die  geringeren  Mehle 
aus  beiden  Arten),  nach  England  (Weizen 
und  etwas  Weizenmehl,  Hafer  und  Gerste) 
und  nach  Finland  (geringes  Roggenmehl) 
gerichtet,  während  Süddeutschland  nach  der 
Schweiz  Gerste,  Hafer,  Weizen  imd  Weizen- 
mehl in  schwankenden  Mengen  ausführt. 

4.  Der  TerminhandeL  Niu:  selten  ge- 
lingt es  dem  Importeur,  für  die  eingekaufte 
Ware,  die  doch  von  individuell,  wenn  auch 
ziemlich  allgemein  bestimmter  Beschaffen- 
heit ist,  einen  Käufer  zu  finden;  nicht 
immer  kann  die  Mühle,  die  einen  grossen 
Posten  Mehl   zu   liefern   übernommen   hat, 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


291 


sofort  auch  die  entsprechende  Menge  Koms 
der  gewünschten  Qualität  sich  erstehen. 
Beide  Teile  müssen  also  das  Risiko  einer 
Preisbewegung  tragen,  und  dies  hat  zur 
Einführung  des  Terminhand  eis  ^)  ge- 
führt, sobald  der  Umfang  der  Geschäfte  die 
Gefahr  zu  hoch  für  die  finanziellen  Ki'äfte 
des  einzelnen  erscheinen  Hess.  Ein  Tennin- 
geschäft  unterscheidet  sich  vom  sogenannten 
effektiven  Lieferungsgeschäft  dadurch,  dass 
mit  Ausnahme  des  Preises  aUe  Bestand- 
teile eines  Kaufvertrages,  besonders  die 
Qualitätsbestimmung,  die  Festsetzung  der 
Quantität  und  der  Lieferungszeit,  teils  ab- 
solut teils  bis  zu  einem  die  einheitliche 
Abwickelung  garantierenden  Grade  der 
Parteiwillkür  entrückt  sind.  Dadurch  ist 
es  ermöglicht,  dass  mit  einiger  Sicherheit 
auf  jederzeitigen  Abschluss  in  beliebiger 
Höhe  gerechnet  werden  darf;  Importeur 
\md  Müller  können  daher  das  Risiko  ab- 
wälzen, und  da  dies  jeder  weitere  Beteiligte 
auch  thut,  so  verteilt  sich  die  Gefahr  auf 
zahlreiche  Schultern. 

Hat  sich  der  Importeur  so   den  Preis 

f  sichert,  so  versucht  er  nunmehr  einen 
äufer  für  seine  individuelle  Ware  zu  finden. 
Wenn  irgend  möglich,  verwendet  er  diese 
nicht  zur  Erfüllung  seines  Terminengage- 
ments, da  unnütze  Transportkosten  ent- 
stehen und  die  Qualitätsfrage  Schwierig- 
keiten machen  kann,  er  »deckt  sich  viel- 
mehr den  Termin  ein«,  d.  h.  er  kauft  zu 
der  ihm  günstig  scheinenden  Zeit  ein 
gleiches  Quantum  auf  denselben  Lieferungs- 
termin,  wie  er  vorher  verkauft  hat,  imd 
übergiebt  seinem  Käufer  nachher  nur  den 
Kündigungsschein,  den  er  von  seinem  Ver- 
käufer erhält.  Das  Termingeschäft  dient 
nicht  sowohl  der  Raumausgleichung,  als 
vielmehr  der  Preisbestimmung  und  ist  die- 

1'enige  Geschäftsform,  die  am  meisten  der 
ntemationalität  des  Getreidehandels  ent- 
spricht, sie  aber  auch  am  reinsten  zum 
Ausdruck  bringt*).  — 

In  Deutschland  ist  Berlin  der  einzige 
Platz,  an  dem  —  in  Roggen  seit  den  30  er 
Jahren,  in  Weizen  seit  1866  —  Terminge- 


*)  Vgl.  den  Art.  Börsen  wesen  oben  Bd.  II, 
8.  1023,  insbesondere  1047  ff.,  wo  die  allgemei- 
nen Gesichtspunkte  besprochen  sind  und  die 
Litterator  verzeichnet  ist. 

')  Der  gegen  das  Termingeschäft  gerichtete 
Ansturm  der  Landwirte  aller  Länder  hat  hierin 
seinen  inneren  Gnmd ;  es  wird  dabei  aber  über- 
sehen, dass  die  Intemationalität  der  Getreide- 
preisbildnng  nicht  durch  ein  Verbot  der  sie  er- 
leicbtemden  Geschäftsform  ans  der  Welt  geschafft 
wird  und  dass  sich  Deutschland  wegen  der  zu 
grösserem  Teü  von  der  Industrie  lebenden  Be- 
vOlkemngszunabme  nicht  vom  Weltmarkt  ab- 
achliessen  kann.  Die  sogenannte  Baissetendenz 
des  Termingeschäfts  ist  nicht  erwiesen. 


Schäfte  betrieben  werden.  Stettin,  wo  die 
Geschäftsform  sich  zuerst  herausgebildet 
hat,  musste  seinen  Verkehr  an  die 
Hauptstadt  abtreten,  als  diese  dazu  über- 
ging; in  Mannheim,  wo  der  effektive,  auf 
naumüberwindung  gerichtete  Handel  bei 
weitem  überwiegt,  ist  der  1888  unternom- 
mene Versuch  einer  Einführung  des  Termin- 
geschäfts erfolglos  geblieben.  Das  Börsen- 
gesetz mit  seinem  wunderhch  geratenen 
Verbot  des  Börsentermingeschäfts  hat  nur 
insofern  wirtschaftlich  etwas  geändert,  als 
das  Privatpublikum  sich  jetzt  wegen  des 
Fortfalls  der  Preisnotiz  vom  Getreidetermin- 
geschäft fernhält  und  als  auch — dies  ist  zu 
bedauern  —  den  Provinzialhändlern  die  Be- 
nutzung dieser  Preissicherung  sehr  er- 
schwert ist  Im  übrigen  ist  aber  das  im 
sogenannten  Kontoriiaus  zu  Berlin,  dem 
früheren  Hospital  zum  HeiUgen  Geist,  ge- 
handhabte »handelsrechtliche  Lieferungsge- 
schäft« zwar  kein  Börsentermingeschäft  im 
Sinne  des  Börsengesetzes  und  daher  nicht 
verboten;  —  denn  hierzu  müssten  die  Ge- 
schäftsbedingungen vom  Börsenvorstande 
festgesetzt  sein  und  die  Terminpreise  börsen- 
aratlich  notiert  werden,  während  die  im 
Kontorhaus  zusammentreffenden  Händler 
jede  börsenaiüge  Organisation  vermeiden  — ; 
es  ist  jedoch  ebenso  zweifellos  ein  Termin- 
geschäft im  wirtschaftlichen  Sinne  und  nur 
vielleicht,  wenn  man  den  Mangel  jeglicher 
Preisuotiz  nicht  für  entscheidend  hält,  nach 
§  51  Abs.  2  des  Börsengesetzes  von  der  — 
nicht  mehr  bestehenden  —  Börse  ausge- 
sclilossen.  Denn  in  dem  neuen  Schluss- 
schein, den  die  Vereinigung  Berliner  Pro- 
duktenhändler ihren  Mitgliedern  zur  frei- 
wiUigen  Benutzung  vorgeschlagen  hat  und 
der  selbstverständlich  ausschliesslich  benutzt 
wird,  sind  zwar  »alle  Börsengebräuche«  aus- 
drücklich ausgeschlossen;  es  ist  aber  die 
Qualitätsbestimmung  ^) ,  die  Geschäftsab- 
wickehing  durch  Dispositionsschein  (früher: 
Kündigungsschein),  die  Berechnung  von  Fehl- 
gewicht, die  Qualitätsentscheidung  durch 
bestimmte  Sachverständige  auch  formell 
durch  Aufnahme  entsprechender  Vertrags- 
bedingungen beibehalten,  und  wo  der 
Schlussschein  Abweichungen  zulässt^  wie 
für  die  Vereinbarung  der  Quantität  m  an- 

M  Hiess  es  in  den  Börsenbedingangen: 
lieferbarer  Weizen  muss  ,,gnt,  gesnnd,  trocken» 
frei  von  Darrgreruch  sein  (Kauh-,  Knbanka-  und 
syrischer  Weizen  ausgeschlossen)  und  durch- 
schnittlich 765  g  pro  Liter  wiegen",  so  wird 
jetzt  „gesunder,  trockener  und  fttr  Müllerei- 
zwecke gut  verwendbarer  (!)  Weizen,  weiss  oder 
rot  (gelb)  und  wenigstens  755  g  pro  Liter  wie- 
gen" verkauft  unter  Ausschluss  von  Rauh-, 
Kubanka-,  syrischem,  egyptischem  und  Laplata- 
Hartweizen.  sowie  von  künstlichen  Mischungen 
weissen  und  roten  (gelben)  Weizens. 


292 


öetreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Deutschland) 


deren  Mengen  als  dem  Vielfachen  eines 
Einheitsschlusses  ^)  und  in  den  Yerzugsbe- 
stiramungen  2),  da  hat  die  Macht  der  Ge- 
wohnheit und  das  materielle  Interesse  an 
Einheitlichkeit,  wie  auch  der  stark  erregte 
Korpsgeist  dafiir  gesorgt,  dass  thatsächiich 
auch  in  diesen  Beziehungen  das  Geschäft 
in  den  alteingefahrenen  Gleisen  geführt 
wiitl  % 

Der  Yerkehr  mit  den  auswäiügen  Händ- 
lern wird  nach  vde  vor  durch  die  Berliner 
Kommissionäi*e  unterhalten,  die  alltäglich 
an  ihre  Kunden  imd  Agenten  sogenannte 
Anstellungen  senden,  d.  h.  Verzeichnisse 
der  Preise,  zu  denen  der  Kommissionär 
Lieferimgskäufe  und  -verkaufe  abzuschliessen 
bereit  ist.  Auf  die  Einzelheiten  des  Kom- 
misssionsgeschäfts  einzugehen,  fehlt  es  an 
Baum  ^). 

5.  Die  Transport-  nnd  Lagereinrich- 
tnngen.  Der  Transport  des  Getreides  voll- 
zieht sich  überwiegend  zu  Wasser;  die 
Kosten  sind  so  erheblich  geringer  als  bei 
der  Landbeföinlerung,  dass  diese  füi*  grosse 
Entfernungen  ganz  ausgeschlossen  ist.  Nur 
so  lange  bei  kleineren  Wegen  die  Spesen 
des  Eisenbahntransports  die  Wasserfracht 
nur  wenig  übereteigen,  wird  wegen  der 
grösseren  Sicherheit  und  Pünktlichkeit  der 
Landweg  noch  vorgezogen. 

Bei  beiden  Verkehiismitteln  sind  die  Be- 
förderungspreise mit  der  Ausdehnung  der 
Eisenbalinen  und  der  Dampfschiffalui:  stark 
gesunken,  und  die  vernichtende  Wucht  der 
*  überseeischen  Konkurrenz  beruht  nicht  zum 
geringsten  Teile  auf  dem  Fallen  der  Trans- 
portspesen. Kostete  doch  (nach  Soetbeer 
m  Jalirb.  f.  Nat.  u,  Stat,  3.  Folge,  Bd.  11) 
eine  Tonne  Weizen  von  New- York  nach 
Liverpool  zu  befördern  im  Durchschnitt  der 
Jahre  1873/75  noch  30,68  Mark,  1891/95 
dagegen  nur  7,90  Mark.  In  den  letzten 
Jahren    wurde    für    eine    Tonne    Getreide 


durchschnittlich  gezahlt  (nach  dem  Bericht 
der  Mannheimer  Handelskammer  für  1898): 


^)  Auch  letzt  mu8s  aber  der  Verkäufer  dem 
Käufer  die  Dispositionsscheine  über  je  öO  t, 
eventaell  einen  über  den  Best  ausstellen.  — 
Der  frühere  Schluss  betrug  50  t. 

*)  Es  kann  Gewährung  einer  Nachfrist  ge- 
fordert werden;  der  handelsrechtlich  gestattete 
Rücktritt  des  anderen  Teils  ist  aber  vertrag- 
lich ausgeschlossen. 

')  lieber  die  Einzelheiten  vgl.  eine  auf  per- 
sönlichen Erkundigungen  beruhende,  demnächst 
erscheinende  Arbeit  von  Goldenbaum,  der  Ge- 
treideterminhandel in  Berlin  seit  dem  Erlass 
des  Reichsbörsengesetzes  (Göttinger  Doktor- 
dissertation). 

*)  Y^\.  Wiedenfeld,  der  deutsche  Getreide- 
handel, m  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  3.  Folge, 
Bd.  VII,  und  Wiedenfeld,  die  Börse  in  ihren 
wirtschaftlichen  Funktionen  und  ihrer  recht- 
lichen Gestaltung  vor  und  unter  dem  Börsen- 
gesetz (1898). 


nach  Rotterdam 
von 


Ostsee  .  .  .  . 
Schwarzem  Meer 
New-York  .  . 
La  Plata  .  .  . 
Indien  .    .    .    . 


1894  1895  :  1896  1 1897  i  1898 


Mark 


6,02 

11,17 

9,88 
18,87 

21,10 


6,49 

12,35 
11,12 

16,79 

20,50 


6,65 
11,61 
10,72 

15,25 
12,16 


5,95 

9,25 

12,85 

12,65 

11,95 


5,60 
10,70 
14,40 

15,85 
17,95 


Die    Rheinfracht    Rotterdam  -  Mannheim 
betrug  fftr  eine  Tonne 

1894  3,775  M. 

1895  4,565 

1896  3,73 

1897  3,78 


1898 


n 
n 


4.225 


Die  Eisenbahnfracht  bewegte  sich  (nach 
Berlin  und  seine  Eisenbahnen,  1896)  auf 
den  wichtigsten  nach  Berlin  führenden 
Bahnen  im  Jahre  1846  zwischen  7,4  und 
16,9  Pfennig  für  ein  Tonnenkilometer;  jetzt 
ist  sie  allgemein  auf  den  deutschen  Bahnen 
auf  4,5  Pfennig  festgesetzt,  Ausnahmetariie 
gehen  bis  auf  1,45  Pfennig  herunter.  Der 
Normalsatz  ist  dabei  immer  noch  so  hoch, 
dass  für  den  Betrag,  der  von  New-York 
nach  Rottenlam  erhoben  wird,  nur  etwa 
300  km  Eisenbahn  zurückgelegt  werden ; 
weitei^  Ermässigungen  werden  aber  durch 
den  Interessengegensatz  zwischen  Ost-  und 
West-Süddeutschland ,  wie  sich  bei  den 
Staffeltarifen  schon  gezeigt  hat,  hintange- 
halten. 

Die  Befördeining  geschieht  auf  dem 
Wasser  überwiegend  in  loser  Schüttung, 
während  auf  der  Bahn  fast  ausschliesslich 
noch  Säcke  benutzt  werden;  nur  russisches 
Getreide  kommt  gelegentlich  einmal  auch 
auf  dem  Bahnwege  in  loser  Schüttung  an; 
besonders  für  diese  Transportart  eingerich- 
tete Wagen,  wie  sie  die  Bahnen  der  Yer- 
eijiigten  Staaten  von  Amerika  und  auch 
Russland  dem  Getreideverkehr  stellen,  sind 
in  Deutschland  nicht  üblich.  — 

Die  Speichereinrichtungen  lassen 
im  Osten  Deutschlands,  selbst  in  Berlin  viel 
zu  wünschen  übrig,  während  sie  im  Westen, 
vor  allem  in  Hamburg  und  am  Rliein  allen 
Anforderungen  entsprechen.  Im  Osten  sind 
es,  infolge  des  Kapitalmangels,  noch  die 
alten  Speicher,  in  aeren  Stockwerke  jeder 
Sack  durch  eine  Winde  emporgehoben  und 
horizontal  dann  durch  Menschenhände  fort- 
bewegt wird.  In  Berlin  finden  sich  zwar 
die  neueren  Transporterleichterungen  wie 
Elevatoren  und  Bänder;  aber  keiner  der 
Speicher  liegt  gleichzeitig  an  Bahn  und 
Wasser.  Im  Westen  sind  dagegen  gross- 
artige Bauten  aufgeführt,  die  von  den 
Stadtverwaltungen  oder  besonderen  Lager- 


Qetreidehan(iel(Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung ;  Deutschland — Vereinigte  Staaten)  293 


hausgesellschaften  gegen  geringe  Gebühren 
jedermann  zur  Einlagerung  zur  Verfügung 
stehen  und  vom  Wasser  wie  von  der  bahn 
gleich  gut  zu  erreichen  sind.  Am  Bhein 
bestehen  auch  einige  Silospeicher,  d.  b. 
Speicher,  in  denen  das  Gretreide  in  hohen 
Schachten  fest  verschlossen  aufbewahrt  und 
nur  in  bestimmten  Zwischenräumin  durch 
ümschachten  gelüftet  wird.  Der  Lagerhaus- 
besitzer ist  aber  stets  nur  Verwahrer  des 
Getreides,  er  hat  nicht  wie  die  amerikani- 
schen grain-elevator-oompanies  das  Ver- 
fOgungsrecht  über  die  eingelagerten  Mengen 
und  darf  daher  auch  nicht  die  Quanten  ver- 
schiedener Einlieferer  durcheinander  mischen. 
Dadurch  geht  der  Hauptvorteil  der  Silo- 
lagenmg,  die  Raumausnutzung,  leicht  ver- 
loren; denn  nicht  immer  reicht  die  einge- 
lagerte Menge  aus,  einen  ganzen  Schacht 
zu  füllen.  Auch  an  einer  guten  Reinigimg 
und  Ausgleichung  des  Getreides  hat  der 
Lagerhausbesitzer  kein  Interesse;  er  steht 
dem  Einlieferer  durchaus  anders  gegenüber 
als  der  amerikanische  elevatorman :  jener  ist 
Beauftragter,  dieser  Käufer.  Der  Erlass 
eines  Warrantgesetzes,  wodurch  dem  I^ager- 
hausschein  der  Chai-akter  eines  die  Ware 
vertretenden  Traditionspapiers  beigelegt  und 
dem  Lagerhaushaiter  das  Verfügungsrecht 
über  den  eingelagerten  Einzelposten  gegeben 
wird,  steht  noch  aus. 

Litteratur:  Sonndcrfet*,  Technik  des  Welt- 
Handels ,  Wien  und  Leipzig  1899.  —  FuchSj 
Der  englische  Getreidehandel  (in  Jahrb.  f.  Not. 
u.  Slat.  y.  F.  XX).  —  Die  Materialien  der 
^örsenuntersuchungskommission,  vor  allem  die 
Protokolle  über  die  Sa^chversUlndi^jenvernehmungen, 
Sitzvng  SS— 47  und  5S— 56. —  Weber,  Börsen- 
enquete (in  Zeitschr.  f.  ges.  HandeUrecht,  Bd.  4S). 
—  Wiedenfeld,  Der  deutsche  Getreidehandel 
(in  Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.  S.  Folge  VII,  Termin- 
und  Kommissionsgeschäft;  IX.  Getreideabsatz 
der  Landwirte  und  Effektirgrosshandel).  — 
BorgiuBf  Mannheim  und  die  Entwickelung  des 
südtr estdeutschen  Getreidehandels  (Volksir irisch. 
Abhandlungen  der  basischen  Iloclischulen,  Bd.  11, 
Heft  1,  1899).  —  Wied^enfeldf  Deutschlands  Ge- 
treidehandel und  Getreidepreisbildung  im  19. 
Jahrhundert  (in  Jahrburh  /.  (res.  u.  Venealt. 
1900  Heft  2).  —  Handelskammerberichte,  bes. 
Berlin,  Mannheim  und  Frankfurt.  —  J,  Meyer, 
Berichte  über  den  Getreide-,  Gel-  und  Spiritus- 
handel  in  Berlin  und  seine  intenmtionalen  Be- 
ziehungen (alljährlich).  —  Vgl.  auch  die  Litteratur- 
angaben  in  den  Artikeln  über  Börse. 

K.   Wiedenfeld, 


B.  Getreidehandel  in  den  Vereinigten 

Staaten. 

Einleitung.  1.  Die  Handelsplätze.  2.  Die 
Gmndzüge  der  Organisation.  3.  Das  Lager- 
hanswesen.     4.  Die  Gradiemng  des  Getreides. 


5.  Die  Lagerscheine.  6.  Die  Vorratsstatistik. 
7.  Die  Missstände  in  der  Getreidehandelsorga- 
nisation.    8.  Eeform versuche . 

Einleitimg.  Die  Kulturperiode,  welche 
mit  der  Einfü&ung  der  Dampfechiffe,  Eisen- 
bahnen und  Telegraphen  anbrach,  stellte  dem 
Getreidehandel  die  Aufgabe,  die  neuen  Ver- 
kehrsmittel für  das  Nalirungsbedürfnis  der 
Menschheit  vollständig  nutzbar  zu  machen. 
Es  handelte  sich  darum,  eine  konrnaerzielle 
Technik  und  Organisation  zu  finden,  welche 
die  üeberf ührung  der  voluminösen  Brotstoffe 
von  den  fernsten  rroduktionsgebieten  nach  den 
dicht  bevölkerten  Teilen  der  Erde  mit  höchst- 
möglicher Schnelligkeit  und  geringstmög- 
lichem Aufwände  gestatteten.  Begreiflicher- 
weise ist  diese  Airfgabe  am  vollkommensten 
in  demjenigen  Lande  gelöst  worden,  dessen 
Civilisation  —  im  grössten  Teile  seines  heute 
besiedelten  Gebietes  —  ei*st  diu-ch  die  Eisen- 
bahnen geschaffen  worden  ist,  in  Nordame- 
rika, wie  die  nordamerikanische  Bevölke- 
rung mit  ausserordentlichem  wirtschaftlichen 
Scharfsinn  die  räumliche  Anordnung  ihrer 
Ansiedelungen,  die  Bodenkultur  und  indus- 
trielle Verfassung,  so  hat  sie  auch  die  For- 
men und  Hilfsmittel  ihres  Handels  und  des- 
sen w^ichtigsten  Zweiges,  des  Getreidehan- 
dels, den  eigentümlichen  diurch  das  moderne 
Verkehrswesen  geschaffenen  Bedingungen 
auf  das  genaueste  anzupassen  gewusst. 

1.  Die  Handelsplätee.  Die  wichtigsten 
binnenländischen  Sammelpunkte  für  die  Bo- 
denerzeugnisse des  atlantischen  Nordamerika 
sind  Chicago  am  Südwestende  der  grossen 
Seeen  und  St.  Louis  am  Zusammenfluss 
des  Missoiui  und  Mississippi.  Aber  mit  den 
Ansiedehuigen  nicken  auch  die  Märkte  weiter 
nach  Westen.  Duluth  am  Oberen  See, 
St.  Paul  -  Minneapolis ,  die  Mühlendoppel- 
stadt  an  den  Fällen  des  oberen  Mississippi, 
Kansas  City  am  Missouri  beeinträchtigen 
inrnier  mehr  ihre  älteren  Konkurrenten,  in- 
dem sie  die  Getreidezufuhren  der  Produk- 
tionsgebiete  abfangen  und  in  durchgehenden 
Transporten  nach  den  Bevolkerungscentren 
und  Exporthäfen  im  Osten  imd  Süden  be- 
föi-dern.  Die  beiden  erstgenannten  Plätze 
haben  Chicago  im  Weizenhandel  wälirend  des 
letzten  Jahrzehntes  bereits  weit  überflügelt. 
Neun  Zehntel  der  westlichen  Getreideüber- 
schüsse bewegen  sich  in  östlicher  Richtung 
(nach  Monti*e?ü,  Boston,  New- York,  Phila- 
delphia, Baltimore),  davon  die  Hälfte  nach 
New-York,  Vio  geht  auf  oder  entlang  dem 
Mississippi  nach  New-Orleans. 

Eine  Sonderstellung  nimmt  vermöge 
ihrer  geographischen  Lage  und  klimatischen 
Verhältnisse  die  Pacificküste  ein  (s.  u.  am 
Schluss).  Ihre  bedeutenden  Getreideüber- 
schüsse  werden  in  Portland  (Oregon)  und 
San  Francisco  gesammelt  und  von  da  fast 
ausschliesslich  auf  dem  Wasserwege  um  das 


294       Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Vereinigte  Staaten) 


Cap  Hörn  den  amerikanischen  und  euro- 
päischen Importgebieten  zugeführt. 

2.  Die  Grnndzlige   der  Organisation. 

Nichts  fördert  die  Anknüpfimg  dauernder  Han- 
delsbeziehungen nach  fernen  Märkten  mehr  als 
die  Feststellung  bestimmter  auf  allen  mass- 
gebenden Börsen  bekannter  Handelsmarken, 
die  Aufstellung  einer  festen  Skala  von  Sor- 
ten. Derartige  Welthandelsmarken  entheben 
der  Notwendigkeit,  nach  Probe  zu  kaufen, 
die  Bezeichnung  der  Gattung  genügt,  um 
die  Lieferung  einer  bestimmten  Qualität 
sicher  zu  stellen. 

Im  atlantischen  Nordamerika  ist  nun, 
begünstigt  durch  die  ungemein  gleichförmi- 
gen Produktionsbedingungen  in  den  Getreide- 
Exportgebieten  des  mittieren  und  nördlichen 
Mississippibeckens  und  den  angrenzenden 
canadischen  Prärieen,  die  Scheidung  des  in 
den  Handel  kommenden  Getreides  in  eine 
verhältnismässig  geringe  Zahl  von  Typen 
mit  einer  Folgerichtigkeit  durchgeftlhrt  wie 
nirgendwo  sonst.  Jede  der  oben  erwähnten 
binnenländischen  Handelsstädte  hat  ihre  be- 
stimmten »Getreidegrade«,  und  die  ent- 
sprechende Sortierung  ergreift  alles  in  dem 
ihr  tributären  Gebiete  zum  Absatz  gelan- 
gende Getreide  von  dem  Augenblicke  an, 
wo  es  die  Hände  des  Farmers  verlässt. 

Diese  Einrichtung  klärt  den  Markt,  verein- 
facht die  Verkehrsformen  und  gestattet 
einen  überaus  prompten  Massenabsatz  nach 
den  entferntesten  Gegenden  der  Erde.  Die 
konsequente  Durchführung  der  Sortierung  hat 
aljer  auch  zu  einer  sehr  beträchtlichen  Er- 
leichterung und  Verbilligung  der  Lagening, 
Fortbewegung,  Reinigimg  ete  des  Getreides 
geführt. 

Alle  diese  Vorteile  ergeben  sich  daraus, 
dass  erst  durch  die  Sortienmg  die  Ge- 
treidekömer  die  Natur  einer  wahrhaft 
fungiblen  Ware  gewinnen,  deren  einzelne 
Exemplare  imter  sieh  völlig  gleichartig 
und  vertretbar  sind.  Die  gleichen  Sor- 
ten werden  ohne  Rücksicht  auf  den 
Eigentümer  wie  Flüssigkeiten  zusammenge- 
worfen. An  die  Stelle  der  individuell  be- 
zeichneten und  jedesmal  vom  Uebernehmer 
zu  prüfenden  Ware  treten  im  Handel  An- 
weisungen (Lager-  oder  auch  Ladescheine), 
lautend  auf  eine  bestimmte  Menge  Getreide 
von  einer  Qualität,  welche  durch  die  Zuver- 
lässigkeit der  klassifizierenden  Organe  ge- 
sichert erscheint.  Weder  beim  Ab-  oder 
Einladen  noch  beim  Transport,  Einlagern 
oder  Abwiegen,  nirgendwo  in  der  That,  so- 
lange die  Getreidekörner  im  Handel  bleiben, 
werden  sie  in  Säcken,  sondern  ausschliess- 
lich in  loser  Form  (in  bulk),  und  zwar  allein 
mit  Hilfe  mechanischer  Motoren  erfasst  und 
befördei't. 

Die  Handelsbewegimg  vollzieht  sich  dem- 
nach   unter   vollkommenster   Raum-,    Zeit- 


und  Arbeitserspamis  in  der  Weise,  dass  das 
vom  Farmer  nach  der  nächsten  Eisenbahn- 
oder Wasserstation  gebrachte  Getreide  dort 
nach  der  Skala  des  nächsten  grossen  Han- 
delsplatzes klassifiziert  wird  und  nunmehr 
in  den  Strom  gleichartiger  Getreidemassen 
einfliesst,  welcher  von  den  verschiedenen 
Stationen  her  gespeist,  in  die  Lagerhäuser 
dieses  Handelsplatzes  einmündet.  Die  Klas- 
sifikation wird  hier  endgütig  voi^nommen, 
und  der  verstärkte  Strom  gleitet  dann  wei- 
ter nach  den  Exporthäfen,  um*  von  da  in 
unveränderter  Form  —  lose  in  die  Schiffs- 
räume eingeschüttet  —  nach  Europa  geleitet 
zu  werden. 

8.  Das  La^erhauswesen.  Die  Durch- 
führung dieses  Planes  setzt  die  Ausrüstung 
der  Verkehrswege  mit  einem  System  von 
gleichartigen  Ge  tr  ei  d  espeichern  voraus, 
welche  nicht  nur  als  solche,  sondern  zugleich 
als  Sortierungs-  und  ümladestellen  dienen. 
In  der  That  sind  sämtliche  Wasser-  und 
Eisenbahnstationen  des  atlantischen  Getreide- 
exportgebietes und  die  Exporthäfen  mit  der- 
artigen »Silospeichern«,  »grain-elevators«  ver- 
sehen. 

Das  Princip  ihrer  Einrichtung  ist  das 
folgende :  Auf  der  einen,  inneren  oder  äusse- 
ren Seite  oder  auch  in  der  Mitte  des  Ge- 
bäudes wird  das  ausgeschüttete  Getreide 
durch  Dampfkraft  vermittelst  eines  mit 
becherartigen  Schaufeln  besetzten,  über  Rollen 
laufenden  endlosen  Gurtes  auf  die  Höhe  des 
Gebäudes  gehoben.  Dort  wird  es  automa- 
tisch abgewogen,  auf  Wunsch  auch  in  einer 
Windkammer  und  durch  Siebe  gereinigt. 
Von  dem  Wägebehälter  lässt  man  die  Körner 
durch  verstellbare  Röhren  in  einen  der  vor- 
handenen Lagerräume  (Bins)  gleiten.  Das 
sind  grosse,  nach  unten  spita  zugehende 
Kasten,  Schächte.  Um  sie  zu  entladen, 
öffnet  man  einen  Schieber  auf  ihrem  Boden 
und  leitet  die  Körner  durch  eine  bewegliche 
Röhre  in  den  Eisenbahnwagen  oder  das 
Schiff.  Auf  den  kleineren  Stationen  des 
Binnenlandes  von  geringerem  Umfange, 
höchstens  dem  Fassungsvermögen  eines 
Güterzuges  entsprechend,  sind  die  Elevatoren 
in  den  centralen  Handelsplätzen  mächtige 
Gebäude,  welche  oft  für  mehrere  ^Millionen 
Busheis  Getreide  Raum  haben. 

Dieses  Speichersystem  verdankt  seine 
Entstehung  dem  Zusammenwirken  des  Han- 
dels und  der  Eisenbahngesellschaften.  In 
den  Export häfen  sind  die  Elevatoren  meist 
von  den  letzteren  erbaut  und  noch  viel- 
fach in  deren  Verwaltung;  in  den  west- 
lichen Sammelplätzen  sind  sie  meist  als 
selbständige  Unternehmungen  ins  Leben 
getreten. 

Die  Landelevatoren  der  Produktionsbe- 
zirke entstanden  sogleich  bei  der  erst- 
maligen   Herstellung    der   Balmlinien    ent- 


• 

Qetreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Vereinigte  Staaten)      295 


weder  so,  dass  die  Eisenbahngesellschaft 
sie  erbaute  und  dann  verpachtete  oder  dass 
Händler,  Grossmüller,  Mevatorkompagnieen 
ihre  Errichtung  auf  dem 'Grundbesitz  der 
Bahn  übernahmen.  Dies  geschah  oft  gegen 
besondere  Vergünstigungen,  z.  B.  das  Ver- 
sprechen, dass  die  Sahn  kein  anderes  Ge- 
treide verfrachten  werde,  als  was,  den  Ele- 
vator passiert  habe. 

4.  Die  Gradiemng  des  Getreides  im 
Landelevator  ist  Sache  der  Vereinbarung 
zwischen  dem  Farmer  und  dem  Agenten 
oder  Händler.  Die  autoritäre  Feststellung 
der  Getreidegrade  erfolgt  erst  in  den  Börsen- 
plätzen, und  zwar  beim  Eingang  in  den 
Speicher.  Die  Gradienmg  entstand  seit  den 
50er  Jahren  in  Chicago  und  war  dort  — 
^■ie  noch  jetzt  in  den  Exportplätzen  an  der 
Küste  —  Sache  der  Produktenbörse.  Unter 
dem  Drucke  der  agrarischen  Bewegung, 
welche  aus  der  Preiskrisis  hervorging,  wurde 
die  Gradierung  in  Chicago  im  Jahre  1882 
auf  den  Staat  übertragen.  Auch  in  Missouri, 
Kansas,  Nebrasca  und  Minnesota  —  kurz  in 
allen  Gebieten,  deren  Börsen  für  den  ersten 
Ankauf  der  Getreideernte  massgebend  sind, 
werden  die  Getreideinspektoren  heute  von 
Staatswegen  ernannt. 

Die  Getreideskala,  auf  Grund  deren  die 
Klassifikation  erfolgt,  wird  entweder  —  und 
dies  ist  die  Regel  —  alljährlich  nach  dem 
Emteausfall  revidiert  oder  bleibt  im  Princip 
Jahr  für  Jahr  unverändert,  so  in  Chicago.  Der 
praktische  unterschied  zwischen  beiden  Me- 
thoden ist  indessen  gering,  weil  sich  in 
jedem  Falle  »die  Gradierung  imwillkürlich 
dem  Emteausfall  wenigstens  in  den  pri- 
mären Märkten  mehr  oder  weniger  anpasst«. 
(Schumacher.)  Ein  kaiun  vermeidlicher 
Mangel  ist  femer  die  geringe  Bestimmtheit 
der  Kriterien  für  die  Qualität;  dem  subjek- 
tiven Ermessen  des  einzelnen  Inspektors  ist 
stets  ein  weiter  Spielraum  gelassen.  Schlimmer 
ist  die  willkürliche  Veränderung  der  Gra- 
dierungsregeln,  die  jeder  Börsenplatz,  auch 
wo  Staatanspektion  besteht,  leicht  diuxjh- 
setzt,  wenn  der  Stadt  daraus  im  Konkurrenz- 
kampf ein  Vorteil  erwächst.  Der  Händler, 
der  sich  der  Entscheidung  des  Inspektors 
nicht  fügen  will,  lässt  sein  Getreide  gegen 
eine  specielle  Gebühr  in  einen  besonderen 
Schacht  thun  —  sofern  er  solchen  ganz  zu 
füllen  vermag  —  und  verkauft  dann  nach 
Probe. 

5.  Die  Lagerscheine  (warehouse  re- 
ceipts).  Der  Verkauf  nach  Probe  ist  auf 
der  Börse  die  Ausnahme,  man  handelt  fast 
ausschliesslich  mit  den  von  den  grossen 
Speichern  ausgestellten  Lagerscheinen.  Das 
sind  Ordrepapiere,  welche,  regelmässig  diu-ch 
Blankoindossament  übertragen,  leicht  von 
Hand  zu  Hand  wandern  imd  Beleihung 
finden.     Sie  gewähren  nach  der  englisch- 


amerikanischen Rechtsauf&fisung  ein  ding- 
liches Recht  an  dem  betreffenden  Ver- 
mengungsdepositum  des  Elevators,  obwohl 
dieses  in  beständiger  Veränderung  begriffen 
ist.  Die  Gefahr  des  Verlustes  oder  der 
Verschlechtemng  (Erhitzung)  der  Lagerware 
trägt  deshalb  der  Einlagerer,  der  Speiclier- 
besitzer  haftet  nur  für  Verschulden.  Die 
Sicherheit,  dass  die  auf  dem  Lagerschein 
bezeichnete  Ware  auch  stets  vorhanden  ist, 
wird  durch  besondere  Kautelen  erzielt: 
üeberall  können  nur  diejenigen  Lagerhäuser, 
welche  auf  Grund  der  Börsensatzungen  als 
»reguläre«  oder  »öffentliche«  anerkannt  sind, 
Scheine  ausstellen,  die  im  Terminhandel  als 
lieferbar  angesehen  .  werden.  Nm*  solche 
Scheine  werden  auch  von  den  Banken  ohne 
weiteres  beliehen.  Ferner  verknüpft  sich 
vielfach  (Missoiuri,  Minnesota)  eine  fortlau- 
fencle  Kontrolle  über  die  Lagerhäuser  nait  der 
zu  statistischen  Zwecken  —  wohl  überall  — 
vorgeschriebenen  Registriemng  der  Scheine. 
Dann  bedürfen  sie  der  Abstempelung  diurch 
den  Kegisterbeamten,  der  durch  die  täglichen 
Berichte  der  Getreideinspektoren  genau  über 
die  Ein-  und  Ausgänge  bei  jedem  öffent- 
lichen Elevator  unterrichtet  ist  und  den 
Stempel  nur  erteilt,  wenn  das  Vorhandensein 
des  verbrieften  Quantums  feststeht.  Ebenso 
müssen  dem  Beamten  die  eingelösten  Scheine 
zur  Löschung  und  Annulliemng  vorgelegt 
werden. 

Das  öffentliche  Vertrauen,,  dessen  sich 
die  Lagerscheine  erfreuen,  vereinfacht  un- 
gemein die  Mechanik,  mittelst  deren  alljähr- 
lich die  zum  Ankauf  der  Ernte  erforder- 
lichen grossen  Barmittel  den  westlichen 
Stapelplätzen  zufliesseo.  Soweit  dies  nicht 
durch  den  sofortigen  Weiterverkauf  der  ein- 
gehenden Getreidemengen  bewirkt  wird, 
gescMeht  es  im  Wege  der  Lombardierang 
der  Lagerscheine  in  New- York  und  den 
anderen  Geldplätzen  des  kapitalreichen  Ostens. 

6.  Die  Vorratsstatistik.  Auf  Gmnd 
der  Registerbücher  wird  eine  fortlaufende 
Vorratsstatistik  geführt.  Sie  unterrichtet 
über  den  sogenannten  »sichtbaren  Vor- 
rat«, den  visible  supply.  Sichtbar  sind  aber 
lediglidi  die  Vorräte  der  öffentlichen  Lager- 
liäuser  in  den  wichtigsten  Handelsplätzen  des 
atlantischen  Getreidegebiets  und  ausser- 
dem die  jeweüs  auf  den  grossen  Seeen  und 
dem  Eriekanal  schwimmenden  Getreide- 
mengen ;  dagegen  erfasst  die  Statistik  nicht 
die  sehr  bedeutenden  in  Privatspeichern 
ruhenden  und  auf  den  Eisenbahnen  rollenden 
Waren. 

7.  Die  Missstande  in  der  Getreidehan- 
d^Isorganisation.  In  den  ersten  Jahrzehnten 
der  Besiedelung  der  westlichen  Prairiege- 
biete  funktionierte  das  geschilderte  System 
zur  allgemeinen  Zufriedenheit.  Aber  in  dem 
Masse,  als  cUe  ihm  eigentümlichen  sozialen 


296      öetreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Vereinigte  Staaten) 


Entwickeluugstendenzen  Zeit  gewannen,  sich 
geltend  zu  machen,  erwuchs  eine  leiden- 
schaftliche, von  den  Farmern,  aber  auch  von 
den  Böi-senleuten  getragene  Bewegung, welche 
die  Fortbildung  oder  ßeseitigimg  des  Systems 
forderte. 

Aus  dem  Konkurrenzkampf  der  ver- 
schiedenen Lagerhäuser  untereinander  gingen 
in  den  centralen  Marktplätzen  des  Westens 
durch  Fusion  riesenhafte  Einzelunterneh- 
mungen hervor,  die  sich  aber  nicht  mit  dem 
Lagerhausbetrieb  begnügen,  sondern  selbst 
mit  Getreide  handeln  und  durch  ihre  Kapital- 
macht, die  Verfügung  über  die  Lagerräume, 
ihre  engen  Beziehungen  zu  den  Eisenbahn- 
und  SchiffahrtsgeseUschaften  gegenüber  dem 
gewöhnlichen  Händler,  Kommissionär,  Makler 
ein  gewaltiges  Uebergewicht  erlangt  haben. 
Die  gleichen  Betriebe  bemächtigten  sich  aber 
auch  des  Handels  auf  dem  Lande,  indem 
sie  die  dortigen  Elevatoren  in  ihren  Besitz 
brachten  und  jeden  Mitbewerb  zurückzu- 
drängen wussten.  Die  Koncentration  der 
Landelevatoren  ist  am  weitesten  in  den 
nordwestlichen  Prairieen  fortgeschritten,  wo 
der  Weizenbau  im  landwirtschaftliclien  Be- 
triebe ganz  überwiegt  und  besonders  wert- 
volle, harte  Qetreidearten  gewonnen  werden. 
Während  weiter  im  Süden  des  Getreide- 
gebietes (Kansas,  Missoiui)  noch  zahlreiche 
Elevatoren  in  den  Händen  von  selbständigen 
Händlern  sind,  die  sich  untereinander,  und 
zwar,  wo  mehrere  Elevatoren  vorhanden 
sind,  auch  am  selben  Orte  Konkurrenz 
machen,  ist  das  Elevatoraetz  im  Nordwesten 
ziemlich  ganz  imter  die  Botmässigkeit  der 
grossen,  eng  mit  einander  verbundeneu 
Mühlen  und  Elevatorgesellschaften  von 
Minneapohs  und  Duluth  gekommen. 

.  Der  Gross-Farmer  kann  sich  dieser  Um- 
klammerung entziehen,  indem  er  —  \rte  es 
die  Regel  ist  —  einen  eigenen  Elevator  an 
der  Bahn  baut  und  sein  Getreide  durch 
einen  zuverlässigen  Kommissionär  am  näch- 
sten Börsenplatze  verkaufen  lässt.  Ist  der 
kleine  Farmer  mit  dem  Preisangebot  imd 
der  Gradierung  seitens  des  Elevator-Agenten 
nicht  zufrieden,  so  kann  er  vom  gleic'hen 
Mittel  im  allgemeinen  nur  Gebrauch  machen, 
sofern  er  genug  Getreide  hat,  um  einen 
ganzen  Schacht  in  dem  Elevator  seiner  Sta- 
tion zu  füllen,  und  in  der  Grossstadt  sich 
so  guter  Geschäftsbeziehungen  erfi*eut,  dass 
er  wagen  darf,  seinen  Weizen  unter  Wah- 
rung der  Identität  dortliin  zu  koiisignieren. 
Dies  ist  aber  nur  selten  der  Fall. 

Mit  der  fortschreitenden  Bosiedelung  und 
Ausdehnung  des  Getreideliaus  hat  ferner 
die  Möglichkeit  immer  mehr  aufgehört,  iYi 
die  kleinen  Jjand-Elevatoren  Getreide  ein- 
zulagern und  unter  Lombardierung  des 
Lagerscheins  günstige  Preiskonjunkturen 
abzuwarten.    Da<lurch  hat  sich  der  Vorteil, 


den  die  Elevatoren  durch  die  Ersparung 
eigener  Vorratshäuser  für  den  Farmer  er- 
gaben, in  den  Zwang  verkehrt,  gleich  nach 
dem  Erdrusch  ^die  Ernte  verkaufen  zu 
müssen.  Gerade  in  den  Gegenden  mit 
einseitigem  Weizenbau,  der  mu*  eine  ein- 
malige Einnahme  im  Jalu*  liefert,  befindet 
sich  freiüch  der  Farmer  sehr  oft  so  tief  im 
Vorschuss  bei  dem  Krämer  und  Händler, 
dass  er  ohnehin  mit  dem  G^treideverkauf 
nicht  warten  kann. 

Endlich  ist  das  Gradierungswesen  als 
solches  dem  Farmer  nachteilig,  weil  der 
Preis  innerhalb  jedes  Grades  naturgemäss 
nach  dessen  Minimalgrenze  tendiert,  die 
besseren  Qualitätsabstufungen  im  Preise  also 
unberücksichtigt  bleiben.  Die  Elevator- 
gesellschaften machen  sich  diesen  Umstand 
zu  nutze,  indem  sie  durch  kleine  Zusätze 
das  Getreide  auf  einen  höheren  Grad  brin- 
gen und  überall  versuchen,  mit  dem  aus 
dem  Elevator  hinausgehenden .  Getreide 
genau  die  Minimalgrenze  jedes  Grades  zu 
erreichen.  Schumacher  weist  auf  die  preis- 
drückenden Tendenzen  hin,  die  sich  aus 
diesem  Verfahren  ergeben.  Beim  Ankauf 
der  Ernte  haben  die  ElevatorgeseUschaften 
ohnehin  das  naturgemässe  Bestreben,  den 
Kaufpreis  möglichst  unter  das  jeweilige 
Weltmarktniveau  herunter  zu  drücken,  und 
sie  wissen  es  einzurichten,  dass  die  Börsen- 
notiz sich  diesem  Interesse  anpasst;  das 
Hausseinteresse  aber,  das  sie  als  Verkäufer 
haben,  wird  —  ganz  abgesehen  von  den 
Versicherungsverkäufen  im  Terminmarkt  — 
dadurch  zurückgedrängt,  dass  sie  ihren 
Geschäftsgewinn  mehr  auf  den  meist 
gleichbleibenden  Preisunterschied  zwischen 
den  verschiedenen  Graden  als  auf  die  Diffe- 
renz zwischen  Ein-  und  Verkaufspreis 
gründen. 

8.  Reformversnche.  Der  von  den 
ausserhalb  des  Elevatorringes  stehenden 
Böreenleuten  mehrfach  gemachte  Versuch, 
dessen  Monopol  durch  ein  Verbot  des  Ge- 
treidehandels für  die  Speicherbesitzer  im 
Wege  der  Gesetzgebung  oder  Börsenordnimg 
(so  in  Chicago)  zu  brechen,  ist  jedes  Mal  an 
dem  Einfiuss  und  der  Uebermacht  der  Ele- 
vatorleute und  ihrer  Verbündeten  gescheitert 
Nicht  minder  der  Plan,  Staats-  oder  Bundes- 
elevatoren einzurichten.  Dagegen  sind  in 
Norddakota  1892  und  in  Minnesota  1893 
Gesetze  ergangen,  welche  die  ländlichen 
Ijagerhäuser  unter  staatliche  Aufsicht  stellen, 
ihre  Gebühren  regeln  und  den  Versuch 
machen,  die  Abhängigkeit  der  Farmer  zu 
mildern.  Nach  dem  Minnesotagesetz  kann 
der  Farmer  oder  Elevatoragent,  wenn  sie 
sich  über  die  Gradierung  nicht  einigen,  eine 
Durchschnittsprobe  an  den  Oberinspektor  in 
St.  Paul  einschicken,  dessen  Entscheidung 
alsdann  den  Ausschlag  giebt.    Thatsächlich 


\ 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung ;  Vereinigte  Staaten — Russland)   29' 


ist  von  dieser  Befugnis  indessen  nur  selten 
Gebraudi  gemacht  worden,  offenbar,  weil 
die  ünterbringimg  des  umstrittenen  Ge- 
treides bis  zur  Entscheidung  häufig 
Schwierigkeiten  macht.  In  DÄota  und 
anderwärts  kann  femer  die  Eisenbahn  ge- 
zwungen werden,  das  Getreide  auch  ausser- 
halb der  Elevatoren  aufzunehmen,  die 
geforderteu  Wagen  in  bestimmter  Frist  zu 
liefern  etc. 

Von  diesen  und  ähnlichen  Vorscliriften 
vermag  der  vereinzelte  kleinere  Farmer 
wenig  Nutzen  zu  ziehen.  Wirksamer 
hat  sich  die  genossenschaftliche  Organisation 
des  Getreideverkaufs  erwiesen.  Dafür  wird 
von  dem  amerikanischen  Bund  der  Land- 
wirte, der  Farmers  Alliance  eifrig  agitiert. 
Obwohl  aUerwärts  über  das  mangelnde  Zu- 
sammengehörigkeitsgefühl der  Farmer  ge- 
klagt wird,  sind  doch  nicht  wenige  Genos- 
seuschaftselevatoren  entstanden,  und  manche 
arbeiten  mit  gutem  Erfolg.  Die  Genossen- 
schaft versendet  das  Getreide  nach  Duluth, 
Port  William  etc.,  wo  ein  Beauftragter  der 
Alliance  die  Gradierung  überwacht  oder 
imter  ümgehimg  der  dortigen  Lagerhäuser 
die  Umladung  ins  Schiff  bezw.  auf  die 
andere  Eisenbahnlinie  mit  Hilfe  eines  be- 
weglichen Elevators  bewirkt  und  das  G^ 
treide  weiter  nach  dem  Osten  oder  direkt 
nach  Europa  dirigiert.  Man  rühmte  mir, 
dass  es  auf  diese  Weise  gelungen  sei,  die 
besonders  gute  Qualität  des  versandten 
harten  Getreides  im  Preise  besser  zur 
Geltung  zu  bringen.  Aber  die  Schwierig- 
keiten des  genossenschaftlichen  Absatzes 
sind  gross,  schon  deshalb,  weil  gleich- 
zeitig uneigennützige  und  geschäftskundige 
Leute  selten  zu  finden  sind. 

In  ziemlich  grossem  Umfange  sind  die 
Farmer  dazu  übergegangen,  sich  Scheunen 
zu  bauen.  Ja  man  kehrt  hier  und  da  zur 
Versendung  in  Säcken  zurück. 

Dieses  Sj'stem  hat  von  jeher  in  Cali- 
fornien  bestanden,  teils  weil  das  trockene 
Klima  es  gestattet,  das  Getreide  in  Säcken 
ohne  weiteren  Schutz  aufzubewahren, 
namentlich  aber  weil  das  lose  einge- 
schüttete Getreide  auf  der  Fahrt  nach 
£im)pa  über  den  Aequator  leicht  verdirbt. 
Aus  diesem  Gnmde  können  sich  die  Ele- 
vatoren auch  in  Oregon  und  Washington 
nicht  einbürgern. 

Qaellen  nnd  Litteratur:  Die  vorsUhende  Dar- 
stellung beruht  teilweise  auf  eigenen  Reisenotizen 
(von  189S)  und  dem  Werk  des  Verfassers  nZHe 
landw.  ICajihtrrenz  Nordamerikas u,  Leipzig  1887 
(S.  4^1  ff.) f  teils  auf  neueren  Handelskammer- 
berichten  und  auf  der  eingehenden  Reisesiudie 
ron  H,  SchumacheTf  nDer  Getreidehandel  in 
den  Ter.  Stallten  und  seine  Organisation^ ,  in  d. 
Jahrb.  f.  Nat-Oek.  u.  Stat.,  S.  F.,  Bd.  X  (1895), 
ü.  sei  ff.,  801  ff.,  Bd.  XI  (1896)  (Getreidebörsen), 


S.  35  ff.,  161  ff. ;  vgl.  auch  O.  Böhm,  Die  Korn- 
häuser, Münchener  volksw.  Studien,  Heft  26, 
Stuttgart  1898.  Jf.  Serlng, 


ۥ  Getreidehandel  in  Bussland. 

Zwischen  den  einzelnen  grossen  Absatz- 
gebieten Russlands  bestehen  wesentliche 
Unterschiede  in  der  Gnippierung  der  im  Ge- 
treidehandel thätigen  Faktoren  sowie  in  der 
mehr  oder  weniger  intensiven  Ausnutzung 
technischer  Hilfsmittel.  Im  grossen  und 
ganzen  sind  aber  die  Fördenmgen,  welche 
dem  Getreidehandel  zu  teil  wurden  durch 
Erweiterung  des  Eisenbahnnetzes,  Regulie- 
rung der  Getreidefrachten,  Verbilligung  des 
Kredits,  Errichtung  von  Elevatoren  und 
Verbreitung  von  zuverlässigen  Handelsbe- 
richten, der  Menge*  des  Exports,  den 
Zwischenhändlern  und  den  Grossgi'undbe- 
sitzern  zu  gute  gekommen.  Die  grosse 
Mehrzahl  der  Bauern  aber  verkauft  immer 
noch  an  den  Dorf  Wucherer,  an  den  Kauf- 
mann im  nächsten  Marktflecken  und  in  den 
günstigsten  Fällen,  wenn  der  Besitzer  in 
der  Nähe  eines  Exporthafens  sitzt,  an  den 
grösseren  Spekulanten.  Eine  Armee  von 
kleinen  Maklera  erwartet  vor  den  Thoren 
der  Handelsplätze  die  ankommende  Bauem- 
karawane  und  geleitet  die  Verkäufer  in  die 
Speicher  der  Spekulanten.  Die  Preise, 
welche  hier  erzielt  werden,  weichen  um 
ein  bedeutendes  zu  Ungimsten  des  Ver- 
käufers von  denen  im  Grosshaudel  ab,  was 
schon  aus  der  Thatsache  erhellt,  dass  die 
Maklergebühren  nicht  selten  5 — lO^/o  des 
Kaufschillings  betragen.  Noch  schlimmer 
ist  die  Lage  des  Bauern  im  Innern  des 
Reiches,  der  noch  vor,  jedenfalls  aber  bald 
nach  der  Enite  sein  Getreide  an  den  näch- 
sten Kornhändler  verkauft;  und  ist  er  — 
was  auch  keine  Seltenheit  ist  —  des  letz- 
teren Schuldner  für  das  zur  Entrichtung 
der  Steuern  vorgestreckte  Darlehen,  so  tritt 
ims  ein  Kornwucher  in  seiner  urwüchsigen 
Form  entgegen,  bei  dem  der  erlöste  Preis 
nur  kaum  die  Hälfte  des  wirklichen  Markt- 
preises erreicht  und  der  darauf  hinzielt,  den 
Bauer  in  Knechtschaft  beim  Wucherer 
lebenslänglich  zu  erlialten. 

An  der  Spitze  der  Handelshierai'chie 
stehen  die  Exporthäuser  in  Peters- 
burg, Odessa,  Libau,  Rostow  und  den  übri- 
gen Hafenplätzen.  Die  Basis,  auf  welcher 
in  den  meisten  Fällen  das  Exportgeschäft 
gegründet  wird,  ist  die  folgende:  Das 
Exporthaus  steht  in  nächsten  Beziehungen 
zu  einer  Reihe  grösserer  Kommissionsge- 
schäfte in  London,  Hamburg,  Antwerpen, 
Marseiile  etc.,  welche   nach  der  jeweiligen 


298 


Üetreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Russkind) 


Lage  des  Marktes  ihre  festen  oder  approxi- 
mativen Offerten  machen,  auf  Grund  deren 
der  Exporteur  seine  Einkäufe  bei  den 
grösseren  Spekulanten  und  den  Kommissions- 
geschäften des  Hafenplatzes  selbst  besorgt 
oder  an  seine  Agenten  im  Innern  Kaufauf- 
träge erteilt.  In  Petersburg  ist  der  Expor- 
teur hauptsächlich  auf  die  Kommissionäre 
der  grossen  Wolgahändler  angewiesen  und 
nicht  selten  ist  er  selbst  der  Kommissionär 
des  in  direkten  Verkehr  mit  dem  Ausland 
tretenden  Grossspekulanten ;  in  Odessa,  Nico- 
lajew ,  Rostow ,  Libau  haben  die  bedeuten- 
<leren  Exporthäuser  auch  ihre  eigenen  Agen- 
ten in  dem  gesaraten  an  ihre  Geschäftsorte 
angrenzenden  Gebiete,  welche  entweder  bei 
den  grösseren  Grundbesitzern  oder  bei  den 
Ortshändlem  ihre  Einkäufe  besonn.  In 
den  seltensten  Fällen  besitzt  der  Exporteur 
grössere  Vorräte  in  seinen  eigenen  Speichern, 
sondern  die  am  Orte  selbst  und  an  den 
Stapelplätzen  gekauften  Waren  wandern  so 
schnell  wie  möglich  in  die  bereit  stehenden 
Dampfer,  zur  Deckung  bereits  geschlossener 
Verträge  oder  —  und  dies  ist  die  Minder- 
heit —  sie  werden  zur  Spekulation  »kon- 
signiert«. 

In  allen  Fällen  stellt  der  Exporteur  gleich- 
zeitig mit  der  Absendnng  der  Ware  Tratten 
aus  anf  den  Käufer,  anf  die  Kommissionäre  oder 
auf  eine  mit  diesen  in  Verbindung  stehende 
grosse  europäische  Bank.  Da  die  Tratten  sofort 
an  eine  vermittelnde  Bank  oder  einen  Bankier 
verkauft  werden  und  gewöhnlich  bis  zu  dem 
Betrag  von  90—95%  des  Wertes  der  verladenen 
Waren  ausgestellt  werden,  so  gewinnt  das 
Exportgeschäft  dadurch,  zu  einem  Teil  auch 
durch  ziemlich  ausgedehnten  ausländischen 
Kredit  —  an  Elasticität,  und  werden  Umsätze 
erzielt,  die  in  keinem  Verhältnis  zum  eigenen 
Kapital  des  Exportears  stehen.  Ein  den  früheren, 
bis  in  die  Mitte  der  70  er  Jahre  herrschenden 
Zuständen,  als  das  Exportgeschäft  in  wenigen 
Händen  lag  und  mit  eigenem  Kapital  betrieben 
wurde,  gänzlich  widersprechendes  Bild,  das 
selbstverständlich  seine  Licht-  und  seine  Schatten- 
seiten hat!  Auch  ist  mit  der  Ausdehnung  des 
Getreidehandels  die  Zahl  der  Exporteure  be- 
deutend grösser  gneworden :  in  Petersburg  zählt 
man  deren  jetzt  34,  gegen  10—12  in  den  70  er 
Jahren,  in  Odessa  sind  es  etwa  40. 

Ein  geordnetes  Warenbörsensystem  exis- 
tiert selbst  in  den  grössten  Exporthäfen, 
wie  Odessa  und  Petersburg,  noch  nicht. 
Der  Zwischenhandel  und  die 
immer  noch  mangelhafte  Ausnüt- 
zung der  technischen  Hilfsmittel 
im  Getreideverkehr  bilden  die 
weseiltlichsten  Mängel,  welche 
dem  inneren  wie  dem  auswärtigen 
Getreidehandel  Husslands  anhaf- 
ten. Der  chaotische  Zustand  der  Klassi- 
fikation der  Getreidearten,  welcher  in  grel- 
lem Widerspruch  gegen  die  einfache,  auf 
wenige  Nummern   reduzierte  amerikanische 


Sortierung  steht,  im  Verein  mit 
hafter  Trocknung  und  Reinigung  < 
haben  dem  nissischen  Absätze  auf 
päischen  Märkten  eine  viel  un^ 
Verwertung  zugewiesen,  als  sie  nj 
tat  der  Ware  zu  erwarten  wäre, 
der  russische  Weizen,  trotz  seine 
liehen  natürlichen  Beschaffenheit, 
um  5 — 8®/o  billiger  notiert  als  d 
kanische.  Gelangt  er  aber  auf  den 
Markt  über  Königsberg  oder  Da 
trocknet,  gereinigt  und  auch  ent 
assortiert,  so  erzielt  er  einen  höht 
als  der  amerikanische. 

Einen  bedeutsamen  Schritt  in 
gestaltung  des  inneren  Getreideht 
dete  das  Auftreten  der  Eisenbi 
Kreditgeber  und  Handelsagenten 
seit  Mitte  der  80  er  Jahre  seine 
nimmt.  Es  war  im  Jahre  1884,  a 
malige  Südwestbahn,  imi  den 
kehr  zu  heben  und  der  Konkn 
anderen  Gesellschaften  entgegt 
neben  einer  Verbilligung  der 
tarife  auch  die  Beleihung  des  Ix 
frachteten  und  nach  Odessa  un 
berg  bestimmten  Getreides,  teils  a 
Betriebsmitteln,  teils  in  Verbir 
zwei  grosseren  Handelshäusern 
hat.  Als  diese  Operationen  einen 
den  Umfang  angenommen  hatten, 
Südwest  bahn  beim  Finanzministe 
stellig  und  ersuchte,  ihr  durch  < 
bank  Kredite  zu  bewilligen, 
eigenen  Betriebsmittel  niciit  av 
der  Privatkredit  aber  zu  teuer  w 
Finanzministerium  fasste  den  Fall  a 
auf:  da  die  Staatsbank  nur  Filia 
grösseren  Städten  besass,  konnte  il 
keit  in  der  Getreidebeleihung,  die 
her  begonnen  hatte,  nur  den  Hänt 
aber  den  Produzenten  zu  gute 
Würden  aber  die  Eisenbahnen  al 
1er  zwischen  Staatsbank  und  Lani 
fungieren,  so  könnte  der  billig 
den  eigentlichen  Produzenten  n 
sie  vor  Uebervorteüung  durch  d 
schützen.  So  verallgemeinerte  i 
terte  sich  der  Gedanke  einer  aus  ] 
entstandenen  Privatmassregel  zu  e 
gemeinten  Plan  einer  direkten 
des  Produzenten  mit  den  Exportl 
tuell  sogar  unter  Umgehung  c 
Zwischenhandels.  Das  auf  (rrund 
jekts  des  Finanzministers  pul 
V.  14./26.  Juni  1888  umfasst  d 
punkte  der  kommerziellen  Thä 
Eisenbahnen:  erstens  macht  os 
Eisenbahnverwaltungen  zu  Ag 
Staatsbank  in  der  Beleihung  (\v 
transporte,  zweitens  w^erden  die  1 
ermächtigt,  Lagerhäuser  zum  Te 
rantenausgabe  und  unter  staatliche 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Hussland) 


299 


lnspektion  zu  errichten,  und  drittens  dürfen 
sie  in  den  Handelsplätzen  eigene  Handels- 
agenturen zum  Verkauf  der  bei  ihnen  be- 
liehenen  Ware  errichten.  Von  den  von  der 
Regierung  aufgestellten,  zum  Teil  mit  den 
Eisenbahnen  vereinbarten  Normativbestini- 
mungen  für  diese  kommerzielle  Thätigkeit 
seien  hier  nur  folgende  erwähnt :  die  Eisen- 
bahnen sind  der  Staatsbank  für  die  gewähr- 
ten Kredite  verantwortlich  und  haben  dafür 
das  Recht,  ^/s  ^/o  der  Beleihungssumme  so-v^-ie 
ein  weiteres  ^/s  ®/o  für  ihre  Verniittelung  zu 
erheben.  Die  Beleihung  darf  60%  des 
Wertes  nicht  überschreiten.  Für  die  Auf- 
hebung des  Getreides  in  den  Lagerbauten 
der  Eisenbahnen  durfte  höchstens  Va  Kopeke 
monatlich  pro  Pud  erhoben  werden  und  das 
Geb-eide  nicht  über  6  Monate  in  den  Lager- 
häusern behalten  werden.  Die  Kommission 
für  de^/  Getreideverkauf  darf  nicht  über  1  % 
betragen. 

Ursprünglich  wurde  das  G.  v*  Jahre  1888 
nur  für  3  Jahre  als  ein  provisorisches  er- 
lassen, es  wiuxle  aber  1891  und  1894  ver- 
längert, in  einigen  Punkten  auch  modifiziert 
(so  wurde  den  Eisenbahnen  gestattet,  bei 
kurzfristigen  Beleihungen  80,  sogar  85  ®/o  des 
Wertes  vorzusehiessen),  und  durch  G.  v. 
1.  13.  Juli  1899  wurden  die  Bestimmungen 
von  1888,  mit  einigen  wesentlichen  Zusätzen, 
zu  dauernden  proklamiert  und  auf  andere 
Waren  angewandt  (Eisen,  Steinkohlen,  Salz, 
WoUe,  Oele).  Fragen  wir  nun  nach  den 
Wirkimgen  dieser  Massregel,  so  tritt  uns 
zunächst  die  schwache  Entwickelung  des 
Elevatorensystems  entgegen:  nur  in  4 
Eisenbahn  Verwaltungen  begegnen  uns  nen- 
nenswerte Versuche,  Elevatoren  nach  ameri- 
kanischem Muster  zu  errichten,  die  übrigen 
begnügen  sich  mit  altväterlichen  Getreide- 
speichern, in  denen  weder  eine  Vermischung, 
noch  irgend  welche  Kontrolle  der  Qujdität 
vorhanden  ist.  Dem  Umfange  nach  vergrös- 
serten  sich  aUerdings  die  Lagerhäuser  sehr 
wesentlich,  was  eine  Folge  der  grösseren 
kommerziellen  Bedeutung  der  Eisenbahnen 
war.  So  fassten  die  Lagerhäuser  der  Eisen- 
bahnen 1894  21  MiUionen  Pud  Getreide, 
1897  aber  schon  34,5  Millionen,  und  deren 
jährliches  thatsächliches  Getreidequantum 
stieg  im  selben  Zeitraum  von  24,6  auf  53^6 
Millionen  Puds.  Die  Hauptsache  bleibt  die 
Beleihung  des  Getreides,  welches  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  nach  Ankunft  in  die 
Marktplätze  von  den  Agenten  und  Kommis- 
sionären der  Verfrachter  abgenommen  wird. 
Immerhin  aber  betrug  die  von  sämtlichen 
Eisenbahnen  bewilligten  Kredite  1897  kaiun 
23  Millionen  Rubel:  eine  noch  verschwin- 
dende Summe  im  Vergleich  mit  dem  Wert 
des  gesamten  Getreidehandels-  Auch  wurde 
der  Hauptzweck  —  den  billigen  Kredit 
und  die  gewissenhaftere  Verniittelung  den 


Landwirten  zu  gute  kommen  zu  lassen, 
nicht  erreicht.  Wie  aus  den  detaillier- 
ten Mitteilungen  der  Charkow-Nicolajewer 
(Staats-)Bahn  zu  ersehen  ist,  wurden 
m  die  Elevatoren  im  Dm^chschnitte  der 
Jahre  1894—1897  nur  11  »/o  Getreide  von 
Landwirten  und  89®/o  von  Kaufleuten  auf- 
genommen, von  den  bewilligten  Krediten 
entfielen  nur  10,7  °/o  auf  Produzenten.  Aehn- 
lich  werden  die  Verhältnisse  auch  bei  den 
anderen  Eisenbahnverwaltungen  gewesen 
sein. 

Mit  Ausnahme  einer  privaten  Unterneh- 
mung in  Riga  war  das  ganze  Elevatoren- 
system bis  Mitte  der  80  er  Jahre  in  Buss- 
land gänzlich  unbekannt.  Erst  als  der  Rück- 
gang der  Preise  auf  dem  Weltmarkt   den 
russischen  Landwirten  fühlbar  wurde,  fass- 
ten die  Landschaften  von  Jeletz  und  andere 
mehr  den  Gedanken   einer  systematischen 
Gründung  von   Elevatoren.     Durch  das   G. 
V.    30.   März    1888   über   Lagerhäuser   und 
Warrants  wurde  auch  eine  rechtliche  Basis 
für  die  neuen  Errichtungen  geschaffen.    Den 
Anfang  machte  die  oben  erwähnte  Landschaft 
Jeletz,  die  an  die  Spitze  der  Verwaltung  des 
Elevators  ein   Komitee  aus  Vertretern  der 
Landwirtschaft,  des  Getreidehandels  und  der 
staatlichen,  sowie  kommunalen  Autoritäten 
einsetzte,  daneben  aber  auch  eine  Geti-eide- 
inspektion,  mit  einem  von  der  Regierung  be- 
stätigten Getreideinspektor   ins  Leben   rief. 
Ihr  folgte  ein  Privatunternehmen  in  Petersburg, 
das  einen  grossartigen  Elevator  unter  städtischer 
Kontrolle    gegründet    hat.     Hauptsächlich    be- 
mächtigten sich  aber  der  Idee  die  Eisenbahn- 
gesellscbaften :  die  Südwestbahnen  allen  voraus, 
welche  La^rhänser  in  Odessa  und  an  9  be- 
deutenden Stationen  errichtet  haben.  Im  Bndget 
des  Jahres  1891  figurierte  unter  den  Ausgaben 
des  Verkehrsministeriuins  ein  Posten  von  vier 
Millionen   Bubel   znr   Errichtung   von   Lager- 
häusern in  Nicolajew  und  anderen  Eisenbahnsta- 
tionen.  Es  sollte  der  Hauptzweck  der  Institution 
sein,  durch  die  Herausgabe  doppelter  Scheine 
einen  generellen  und  billigen  Warenkredit  zu 
verschaffen,  dnrch  Vermischung  des  Getreides 
eine  einfachere  Klassifikation  herzustellen,  durch 
Trocknung  und  Reinigung  die  Qualität  des  Ge- 
treides  zu    erhohen    und    durch   vollkommene 
technische  Herrichtung  sowie  durch  Verbindung 
mit  den  Zufuhr-  und  Ausfuhrwegen  eine  Ver- 
billi^ng    der    Auf-   und    Abladnu^skosten   zu 
erreichen.     Letztere    sind    selbst   m    den   be- 
deutenden Ausfuhrhäfen  noch  ganz  enorm  und 
belasten   nach   einer  Ermittelung  des  Finanz- 
ministeriums in  einzelnen  Posten  ein  Pud  Ge- 
treide bis  6  Kopeken.    Kommen  doch  selbst  in 
Plätzen  wie  Odessa  Fälle  vor,  wo  die  Trans- 
port- und  Umladungskosten  aus  der  Eisenbahn- 
station nach  den  Privatspeichem  und  von  diesen 
nach  dem  Hafen  ebenso  viel  betrugen  wie  die 
Seefracht  von  Odessa  nach  London. 

Ausser  den  Eisenbahnen,  und  auch  von 
diesen,  wie  gesagt,  nur  in  beschränktem  Masse, 
wurde  die  ursprünglich  mit  Begeisterung  auf- 
gefangene Idee  der  Elevatorengründung  sehr 


300 


Gretreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Russland) 


unbedeutend  und  unsystematisch  in  Thaten  um- 
gesetzt. Eigentliche  Elevatoren  existieren  nur 
m  Jeletz,  St.  Petersburg,  Keval,  Odessa  und 
Nicolajew,  die  übrigen  etwa  260  „Lagerhäuser" 
sind  meist  gewöhnliche  Getreidespeicher.  Ob- 
wohl schon  im  Jahre  1892  das  Finanzministe- 
rium eine  Kommission  von  Sachverständigen 
nach  Petersburg  berufen  hat,  um  Massregeln 
zur  Gesundung  des  Getreidehandels  zu  beraten, 
fand  es  seitens  der  Interessenten  und  selbst  in 
einem  grösseren  Teil  der  Landwirte  wenig  Ent- 
gegenkommen. Das  Ministerium  charakteri- 
sierte die  Auffassung  der  beteiligten  Kreise  mit 
den  Worten,  dass  die  Gegner  einer  Reglemen- 
tierung des  Getreidehandels  von  oben  m  dem 
Mangel  von  Ordnung  und  Organisation  ein 
kleineres  Uebel  sahen  als  die  staatliche  Bevor- 
mundung, welche  den  Händlern  wie  den  Produ- 
zenten ^eich  schaden  könnte.  Zweifellos  haben 
die  ErffiSirungen  des  vorhergegangenen  Hunger- 
jahres wesentlich  die  Hoffnungen  auf  ein  ziel- 
bewusstes  und  energisches  staatliches  Eingreifen, 
welche  früher  in  der  agrarischen  Intelligenz 
bis  zur  Befürwortung  eines  staatlichen  Getreide- 
exportmonopols sich  steigerten,  herabgestimmt. 
Andererseits  aber  waren  die  Versuche  einer  ge- 
nossenschaftlichen Selbsthilfe  auf  dem  Gebiete 
des  Getreideexports  so  unbedeutend  und  zu- 
gleich in  ihren  Praktiken  so  wenig  den  Forde- 
rungen eines  internationalen  Verkehrs  gewachsen 
(so  z.  B.  in  der  recht  unglücklichen  Getreide- 
spekulation eines  Syndikats  südrnssischer  Grund- 
besitzer), dass  auch  von  dieser  Seite  keine 
Besserung  zu  erwarten  war.  Den  Getreide- 
handel aber  sich  selbst  zu  überlassen  und  von 
der  „Konkurrenz"  alle  wohlthätigen  Folgen  zu 
erwarten,  wie  es  von  einzelnen  Vertretern  des 
Handels  in  der  1892  er  Kommission  versucht 
wurde,  verboten  erstens  die  Rücksichten  auf  die 
Interessen  der  bäuerlichen  Besitzer,  zweitens 
aber  die  sich  mehrenden  Hindemisse  für  den 
auswärtigen  Absatz,  welche  ihren  Grund  in  der 
mangelnden  Beschaffenheit  des  russischen  Ge- 
treides und  in  der  ünsolidität  des  Handels 
hatten.  So  bekam  denn  eine  mittlere  Richtung, 
die  von  einem  Zusammenwirken  von  staatlicher, 
g^enossenschaftlicher  und  privater  Thätigkeit 
eine  Besserung  der  Handelszustände  erwartet, 
die  Oberhand  und  fand  ihren  Ausdruck  in  einer 
Reihe  hochbedeutender  Beschlüsse  der  Ende 
Februar  1899  in  Petersburg  stattgefundenen 
„Konferenz  zur  Regulierung  des  Getreidehan- 
dels", bei  der  Vertreter  von  staatlichen  Behörden, 
Landschaften,  Landwirtschaft  und  Handel  die 
hauptsächlichen  Mängel  der  bestehenden  Zu- 
stände erörterten. 

Von  den  Beschlüssen  der  Konferenz  ist  der 
bedentendste  auf  den  systematischen  Ausbau 
eines  Lagerhäuser-  und  Elevatorennetzes  und 
dessen  Verwaltung  gerichtet.  Ohne  ein  be- 
stimmtes Princip  aufzustellen,  wie  es  von 
einigen  Seiten  verlangt  wurde  (so  waren  viele 
Landwirte  für  das  ausschliessliche  Recht  der 
Landschaften,  Elevatoren  zu  errichten,  wogegen 
die  Eisenbahnen  und  die  Vertreter  des  Händeis 
selbstverständlich  protestierten),  sprach  sich  die 
Konferenz  dafür  aus,  dass  eine  Bevorzugung 
landschaftlicher  Getreidespeicher  im  inneren  Ge- 
treideverkehr am  Platze  sei,  aber  auch  private 
Gründungen  nicht  abgewiesen  werden  dürfen. 
Damit  aber  der  ganze  Ausbau  nach  bestimmten 


Grundsätzen  stattfinde  und  die  Verwaltung 
nicht  spekulative  Zwecke  verfolgte,  müssen  sämt- 
liche Elevatoren  einer  öffentlichen  Kontrolle 
unterstehen.  Diese  soll  von  einer  kollegialen, 
aus  Vertretern  aller  beteiligten  Kreise  gewählten 
Körperschaft,  den  Getreidekomitees,  ausgeübt 
werden,  zu  deren  gewählten  Mitgliedern  auch 
einige  vom  Staate  bestätigte  Inspektoren  hinzu- 
treten. Während  die  Verwaltung  der  Elevatoren 
denjenigen  Behörden  und  Personen  zusteht, 
welche  sie  begründen,  sorgt  das  Komitee  für 
die  Ueberwachung  der  Geschäftsführung,  er- 
lässt  für  alle  Lagerhäuser  Regulative,  be- 
stimmt über  Klassifizierung  des  Getreides^ 
dessen  Reini^ng,  entscheiaet  über  Streitig- 
keiten zwischen  Lieferanten  und  Verwaltung, 
über  die  Beschwerden  gegen  die  Inspektoren  etc. 
In  periodischen  Zusammenkünften  von  Ver- 
tretern sämtlicher  Komitees  sollen  neue  Ge- 
sichtspunkte erörtert  und  gemeinsame  Erfah- 
rungen ausgetauscht  werden.  In  den  inneren 
Rayons  ist  den  Landwirten  mindestens  die 
Hälfte  aller  Stimmen  im  Komitee  zugesichert, 
dsLgegen  soll. in  den  Ausfuhrhäfen  die  Majorität 
dem  Handel  überlassen  werden.  In  der  Koiäerenz 
standen  sich  zwei  Richtungen  entgegen,  von 
denen  die  eine  einen  wesentlichen  Fortschritt 
nur  von  Elevatoren  in  den  Ausfuhrhäfen  und 
Centralmärkten  erhoffte,  die  andere  dagegen 
einen  Vorteil  für  die  Landwirtschaft  sich  nur 
von  einem  Netz  kleinerer  Getreidespeicher  an 
den  Eisenbahnstationen  und  inneren  Märkten 
versprach.  Auch  hier  Ti-urde  schliesslich  eine 
Einigung  in  mittlerer  Richtung  erzielt,  welche 
beide  Typen  für  vorteilhaft  hält,  wenn  sie  mit 
einander  verbunden  werden  und  Hand  in  H^nd 
arbeiten.  Die  Hauptfrage,  aus  welchen  Mitteln 
Elevatoren  errichtet  werden  sollen,  falls,  wie 
vorauszusehen  ist,  die  Privatthätigkeit  und  die 
der  Landschaften  zu  einer  dem  Bedarf  ent- 
sprechenden Bauthätigkeit  nicht  ausreichen  wer- 
den, wurde  in  dem  Sinne  beantwortet,  dass  die 
bei  einzelnen  Eisenbahnen  bestehende  Abgabe 
von  Vft  Kopeken  pro  Pud  „Lagergebühren"  zum 
Zweck  der  Elevatoren  errichtet  und  (nach  Ab- 
zug der  Lagerspesen)  verwendet  werden  soll, 
und  ebenso  die  in  den  Ausfuhrhäfen  bisher  für 
städtische  und  Hafenbauten  vorhandene  Aus- 
fuhrabgabe von  ^/a  Kopeken  pro  Pud.  Sehr 
weitläufige  Erörterungen  wurden  durch  das 
Verlangen  einiger  Exporteure  hervorgerufen, 
das  in  die  Elevatoren  aufzunehmende  öetreide 
durchweg  nach  amerikanischem  Vorbilde  nach 
bestimmten  Typen  zusammenzuwerfen  und  da- 
durch eine  Vereinfachung  des  Getreidehandels 
sowie  eine  gründliche  Eeinigung  zu  erzielen. 
Die  Mehrzahl  fand  aber  nach  russischen  Ver- 
hältnissen ein  derartiges  Verfahren  bedenklich 
und  schliesslich  einigte  man  sich  in  dem  Vor- 
schlage, die  ihrer  Individualität  entzojprene 
Ware  höher  und  zu  einem  billigeren  Zinsmsse 
zu  beleihen,  was  indirekt  und  allmählich  die 
Vermengung  und  Klassifizierung  befördern 
würde.  Was  die  Kreditgewährung  betrifft,  so 
sollen  die  Getreidespeicher  in  zwei  Kategorieen 
geteilt  werden.  Zur  ersten  gehören  diejenigen, 
deren  Hauptfunktion  die  Aufbewahrung  und 
Bearbeitung  des  Getreides  ist,  hier  werden  nur 
einfache  Quittunsfen  auf  die  Person  des  Liefe- 
ranten ausgfestellt ,  welche  zwar  übertragbar, 
aber  nicht  für  den  Verkehr  von  Hand  zu  Hand 


Gretreideliandel  (Technik  luid  gegen  wältige  Gestaltimg;  Russland) 


301 


bestimmt  sind.  Dageg:eii  sollen  die  ^eigentlichen 
Elevatoren*'  mit  staatlicher  Qenehmi^ong  Lager- 
scheine ausstellen,  nach  Art  der  Kreditpapiere, 
durch  Indossament  übertragbar,  aber  ohne 
wechselmässig^e  Kegresspflicht  des  Indossanten. 

Eine  Reihe  anderer  Fragen  wurde  in 
specieUen  Subkommissionen  erörtert,  so  die  all- 
gemeine Einführung  der  Arbitrage,  die  Fest- 
setzung bestimmter  Prozentsätze  für  Bei- 
mischungen zum  exportierenden  Getreide  etc. 
Definitive  Beschlüsse  wurden  aber  in  dieser 
Richtung  nicht  gefasst  Jedenfalls  steht  jetzt 
der  russische  Getreidehandel  vor  organisatori- 
schen Massregeln,  die  durch  Verbindung  von 
Staatskontrolle  mit  genossenschaftlicher  und 
privater  Thätigkeit  den  schreienden  Missständen 
entgegentreten  sollen. 

Sehr  wesentliche  Veränderungen  sind  auch 
innerhalb  der  Tarifverhältnisse  und  specieU 
auf    dem    Gebiete    der    Getreidetarife 
der  russischen  Eisenbahnen  zu  ver- 
zeichnen.    Die   Höhe    der   Transportkosten 
bildet   selbstverständlich  einen  der  wichtig- 
sten Faktoren  für  den  Getreidehandel.    Ein 
enormer  Umschwung  in  der  Gestaltung^  des 
Getreidehand^ls  war  durch  den  Ausbau  des 
Eisenbahnnetzes    eingetreten;    während    in 
den    50 er    Jahren,    als    die    französischen 
Grundbesitzer    bereits    über    die    russische 
Konkurrenz   zu   klagen  begannen,  Russland 
ein  Land  ohne  Eisenbahnen  war,  verfügt  es 
jetzt    über    einen    Schienenweg   von    über 
40000  Kilometer. —  Noch  in  der  Mitte  der 
80  er  Jaiire  aber  hatte  der  Getreidehandel 
mit   einer   systemlosen,   vom   individuellen 
Nutzen  der  einzelnen  Gesellschaften  gelei- 
teten Eisenbahnpolitik  zu  rechnen,  der  die 
Gesetzgebung  trotz  mancher  Versuche  keinen 
energischen  Widerstand  zu  leisten  vermochte. 
Seit  dem  G.  v.  20.  März  1889,  welches  spe- 
cielle  Behörden  für  die  Tarifaugelegenheiten 
schuf  imd  als  oberstes  Princip  den  Satz  auf- 
stellte :  »Die  Leitung  der  Tarifangelegenheiten 
im  Interesse  der  gesamten  Bevölkerung,  der 
Industrie,  des  Handels  und  des  Fiskus,  steht 
dem  Staate  zu«,  sind  die  Verhältnisse  wesent- 
lich umgeändert.    Schon  die  Ankündigung 
des  bevorstehenden  Einschreitens  des  Staates 
veranlasste   die  Eisenbahngesellschaften   zu 
einem  Entgegenkommen  den  landwirtschaft- 
lichen  Interessen    gegenüber,    welches   im 
ersten  allgemeinen   Eisenbahnkougress   des 
Jahres  1888  sich  in  noch  grösserem  Masse 
äusserte  und  zu  einem  Versuche  einer  plan- 
mässigen  Tarifienmg  für  den  Getreideexport 
führte,  die  noch  jetzt  massgebend  ist  für  die 
Beurteilung  der  Transportzustände  im  Ge- 
treideexpoi-t    Der  Grundgedanke  des  damals 
gewonnenen  und  noch  jetzt  in  seinen  allge- 
meinen Zügen  bestehenden  Systems  ist  der, 
dass  mit  Beseitigung  der  früheren  Konkur- 
renz    einzelner     Gesellschaften     sämtliche 
Bahnen  in  gleich  günstige  Verhältnisse  be- 
züglich der  Getreideausfuhr  gebracht  werden 
sollten,  entferntere  PlDduktionsgebiete  vor  den 


näheren  begünstigt  werden  und  die  einschnei- 
denden Unterschiede  in  den  Seefrachten  und 
sonstigen  Unkosten  in  den  einzelnen  Aus- 
fuhrhäfen, in  der  entsprechenden  Verbilli- 
gung  resp.  VerteuenmgderEiseubahnfrachten 
ihren  Ausgleich  finden  sollten.  Wurde  auf 
dieser  Grundlage  füi*  entferntere  Gebiete  der 
Weltmarkt  eröffnet  und  sämtlichen  Produ- 
zenten eine  grössere  Freiheit  bezüglich  der 
Auswahl  der  Exporthäfen  zugestanden,  so 
wurde  aber  zugleich  —  und  dadurch  dass 
die  Tarife  für  nähere  Rayons,  welche  V» 
der  gesamten  Getreideausfuhr  besorgten, 
wesentlich  erhöht  wimlen  —  eine  Erschüt- 
tenmg  heraufbeschworen,  welche,  da  sie  mit 
einem  Sinken  der  Gelreidepreise  im  Aus- 
land und  .mit  einer  zufälligen  Erhöhung  der 
Seefrachten,  welche  ein  Hauptelement  in 
jenem  von  den  Eisenbahnen  aufgestellten 
Kalkül  ausmachten,  zusammentraten,  von 
nachteiligsten  Wirkungen  begleitet  waren. 
War  aber  der  Versuch  auch  fehlgeschlagen, 
so  liaben  wir  es  jedenfalls  mit  einem  vom 
allgemeinen  Gesichtspunkt  goti-agenen  S^'^tem 
zu  thuu,  das  in  seinen  Voraussetzungen  und 
auch  in  seiner  Grundidee  verbessert  werden 
konnte  und  thatsäcbUch  verbessert  wmxle. 
Neben  der  Gestaltung  der  Transportpreise 
ist  aber  von  nicht  geringer  Wirkung  die 
durdi  das  staatliche  Eingreifen  erzielte 
Sicherheit  vor  willkürliclien  und  häufigen 
Tarifändenmgen ,  Begünstigungen  einzelner 
FiXporteure  und  sonstige  Auswüchse  des 
immer  noch  nicht  unbedeutenden  Privatbe- 
triebes an  den  Eisenbalmeu.  Die  mangel- 
haften Einrichtungen  an  den  Stationen,  in 
denen  sich  das  Getreide  sammelt  und  wo 
es  meistens  ohne  ii'gend  welche  Vorkehrun- 
gen zum  Schutze  vor  imgünstiger  Witterung 
aufgestapelt  wird,  der  Mangel  an  beweg- 
lichem Material,  liauptsäclüich  Waggons, 
bilden  eine  weitere  Ursache  von  Klagen  der 
Landwirte,  welche  jetzt  den  Gegenstand 
staatlicher  Einwirkung  bilden  sollten  und 
auch  in  der  oben  erwähnten  Kommission 
ausführlich  erwähnt  worden  sind. 

Was  die  absolute  Höhe  der"  Getreidetarife 
an  den  Eisenbahnen  belangt,  so  beginnt  sie 
nach  der  jetzt  geltenden  .Zusammenstellung 
der  Getreidetarife"  vom  1.  November  1897  für 
nahe  Entfernungen  von  den  Ausfuhrhäfen  mit 
(durchschnittlich)  Vsß  Kopeke  per  Pud  und  Werst, 
verbilligt  sich  bei  Entfernunffen  von  321 — 800 
Werst  auf  Vs» — Vw  ^^nd  fällt  bei  Entfernungen 
von  über  1120  Werst  (1350  Kilometer)  bis  Vw, 
in  einzelnen  Fällen  selost  bis  Vino  pro  Pud  und 
Werst.  Es  sind  dann  die  Transportkosten  an  den 
russischen  Eisenbahnen  bei  grösseren  Entfer- 
nungen vielfach  nicht  höher  als  die  entsprechen- 
den Kosten  in  den  Vereinigten  Staaten.  Die 
Frachten  von  Zarizin  nach  Petersburg  (1616 
Werst)  oder  von  Sawara  nach  Reval  (1936)  sind 
ungefähr  so  hoch  wie  diejenigen  von  Kansas- 
City  bis  Baltimore  (^1805  Werst) :  die  von  Chicago 
nach  New- York  sind  allerdings  viel  niedriger. 


J 


302 


Geti'eidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Bussland) 


"Wenn  auch  weit  hinter  den  Eisenbahnen 
zurückstehend,  spielen  die  Wasserwege 
eine  immer  wichtigere  Rolle  im  Getreide- 
handel Russlands.  Während  die  Menge  des 
auf  den  Eisenbahnen  transportierten  Ge- 
treides im  Durchschnitte  der  1880 — 1889  er 
Jj^re  350  bis  400  Millionen  Puds  betrug, 
erreichte  sie  auf  den  inneren  Wasserwegen 
120  Millionen.    Im  Jahre   1895   betrug  der 

fesamte  Warenverkehr  an  den  russischen 
lisenbahneü  5588  Millionen  Puds  (ä  32  kg), 
auf  den  inneren  Wasserwegen  dagegen  nur 
1 1/2  Milliarde  Puds ,  von  denen  2/5  Holz- 
ti-ansporte  waren,  feine  eigentliche  Kon- 
kurrenz zwischen  Wasser-  und  Schienen- 
wegen existiert  an  der  Wolga,  wo  die  Eisen- 
bahnen früher  auch  verschiedene.  Tarife  für 
die  Sommer-  und  Wintermonate  besassen. 
Der  grosse  Rayon,  welcher  nach  Petersburg 
tendiert,  ist  jetzt  noch  die  Domäne  der 
Segelschiffe. 

Ein  wunder  Punkt  im  Getreideverkehr 
sowie  in  den  gesamten  landwirtschaftlichen 
Verhältnissen  ist  der  Zustand  der  Zufuhr- 
wege zu  den  Eisenbahnen  und  den 
Wasserwegen.  Wenn  nach  den  vorhan- 
denen statistischen  Erhebungen  nur  60  Mil- 
lionen Pud  oder  *,  6  bis  Vb  der  Getreideaus- 
fuhr direkt  an  die  Ausfuhrhäfen  imd  Seeen 
per  Achse  gelangen,  so  muss  doch,  wie  ein 
Blick  auf  die  Eisenbahnkarte  Russlands  be- 
weist, der  grösste  Teil  des  mit  der  Eisen- 
bahn und  Schiffen  beförderten  Getreides 
eine  mehr  oder  minder  grosse  Strecke  bis 
zu  den  Bahnstationen  und  Landungsplätzen 
auf  den  Landstrassen  und  Vizinalwegen 
durchgehen,  deren  Zustand  jeder  Beschrei- 
bung spottet. 

Schon  in  normalen  Verhältnissen,  d.  h.  im 
Sommer  und  Winter,  beträgt  die  Fracht  auf 
den  Landstrassen,  die  zur  Zarizin-Eisenbahn 
führen,  Via  bis  %  Kopeke  per  Pud  und  Werst 
und  zu  Odessa  durchschnittlich  Vs  Kopeke. 
Treten  aber  die  Herbstregen  ein,  so  erhöhen 
sich  die  Ausgaben  bis  1—2,  ja  in  einzelnen 
Fällen  bis  9  Kopeken  per  Pud  und  Werst,  was 
ungefähr  so  viel  ist  wie  die  Seefracht  von 
Odessa  nach  London.  Monate  lang,  gewöhnlich 
vom  September  bis  Ende  Novemoer  und  von 
März  bis  Ende  April,  ist  auf  den  meisten  Wegen 
überhaupt  kein  Verkehr  denkbar;  um  ein  Bei- 
spiel zu  nennen,  legen  im  Herbst  die  Fuhren 
mit  Getreide  von  einem  Dorfe,  das  8  Kilometer 
von  Samara  entfernt  ist,  den  Weg  in  36  Stunden 
zurück.  Beim  jetzigen  Zustande  der  Land- 
strassen  können  auch  in  den  günstigsten  Fällen 
nur  diejenigen  Wirtschaften  am  Getreidehandel 
participieren ,  die  höchstens  60  Kilometer  von 
einer  Eisenbahn  oder  in  der  Nähe  eines  grösseren 
schiffbaren  Flusses  gelegen  sind,  die  übrigen 
aber  —  und  dies  sind  noch  die  Mehrzahl  — 
sind  überhaupt  vom  Weltmarkt  isoliert. 

Ein  nicht  unwesentliches  Moment  zur 
Beurteilung  des  russischen  Exports  ist  die 
Höhe  der  Seefrachten  und   der  See- 


versicherungs-Prämien. Bekanntlich 
besitzt  Russland  keine  nennenswerte  eigene 
Handelsflotte,  und  ist  das  Reich  für  seine 
Seeausfuhr  hauptsächlich  auf  die  englischen 
und  französischen  Handelsscliiffe  angewiesen. 
Die  seit  1886 — 1887  infolge  einer  üeberpro- 
duktion  eingetretene  aUgemeine  Verbilligung 
der  Seefrachten  kam  auch  der  nissischen 
Getreideausfuhr  zii  gute. 

Im    allgemeinen    kann   behauptet   werden, 
dass  die  Seefrachten  aus  den  baltischen  Häfen 
niedriger,  aus  denen  des  Schwarzen  Meeres  um 
etwa  Vs  höher  sind  als  die  ans  New- York.   Die 
Frachten  aus  Indien  aber  sind  zwei-  bis  dreimal 
80  hoch.    Die  Höhe  der  Frachten  schwankt  mit 
der  Jahreszeit,  der  Menge  der  Ernten  und  noch 
anderen,  vom  russischen  Getreidehandel  unab- 
hängigen Faktoren  sehr  bedeutend ;  so  schwankte 
sie  in  den  Jahren  1889  imd  1890  in  Odessa 
zwischen  12  und  26  Schillings  pro  Tonne  Talg 
=  6  V«  Quarters  Weizen.  (Dieses  veraltete  Fracht- 
system nach  Tonnen  Talg,  welches  in  den  Süd- 
häfen üblich  war,  verschwand  endlich  mit  1890, 
indem  man  zur  zweckmässigeren  Berechnung 
überging,  zu  der  nach  Quarters.)  In  diesem  Jahre 
(1899)  kostete  die  Fracht  von  Reval  nach  Eng- 
land 1  Schilling  bis  15,3  d  pro  496  engl.  Pfund, 
von  Odessa  nach  Hüll  und  Antwerpen  11 — 13 
Schilling  pro  Tonne  (ca.  2240  engl.  Ffund).  — 
Was  schliesslich  die  Seeassekuranz  betrifft,  so 
ist  sie  aus  den  Häfen  des  Baltischen  Meeres 
ungefähr   so    hoch   wie    aus    den    Vereinigten 
Staaten   (V4  bis  •/4%)>   während    die   aus  den 
südlichen  Häfen  um  60%  höher  berechnet  wird. 
Von  genauen  Kennern  der   transatlanti- 
schen und  speciell  der  nordamerikanischen 
landwirtschafthchen   Zustände   ist  der  Ge- 
danke nahegelegt  resp.  direkt  ausgesprochen 
worden,  dass  die  überseeische  Konkurrenz 
nicht  im  Auf-,  sondern  im  Absteigen  begriffen 
ist:  eine  Vermutung,  die  durch  die  Gestaltung 
des  Getreidehandels  von  1888  bis  1890  viel 
an   Wahrscheinlichkeit  gewann,   dim^h  die 
Thatsachen  der  90  er  Jahre  aber  wieder  er- 
schüttert wurde.   Wollte  man  eine  Prognosis 
für   die  Ent Wickelung   der  russischen   Ge- 
treidekonkurrenz, so  müsste  man  zu  einem 
entgegengesetzten  Ürteü  gelangen.    Es  er- 
scheint uns  der  Gang    dieser  Konkurrenz, 
wenn  wir  von  den  exceptionellen  Verhält- 
nissen der  Jahre  1891—92  und  1898—99  ab- 
sehen und  nicht  nach  kurzen  Fristen,  die  vom 
Zufall  der  Ernte  abhängig  sind,  sondern  nach 
grösseren  Perioden   berechnen,   in  ununter- 
brochener Zunahme.    Von  1870  bis  1890  hat 
sich  die  Getreideausfuhr  Russlands  mehr  als 
verdoppelt  Dieser  Aufschwung  geschah  unter 
anfangs  ganz  primitiven  Verkehrs-  und  Pro- 
duktionszuständen,  die  sich  erst  seit  10 — 12 
Jahren  umzuwälzen  begannen,  und  gerade 
diese   Jahre   treffen   schon   zusammen    mit 
einem  trotz  ungünstiger  Preisgestaltung  auf 
den  Weltmärkten  und  schwankenden  Ernte- 
erti-ägen    beschleimigteren  Tempo   der  Ge- 
treideausfuhr des  Landes.      Die  Gestaltung 
der  Getreideausfuhi-  von  1890  bis  1899  und 


Getreidehandel  (Technik  und  gegenwäi-tige  Gestaltung;  Russland) 


303 


deren  Beziehung  zum  Reinertrag  einerseits 
und  dem  Konsum  der  eigenen  Bevölkerung 
andererseits  wird  in  folgender  Tabelle  ver- 
anschaulicht. Die  einzelnen  Zahlen,  haupt- 
sächlich die  vom  Statistischen  Centralkomitee 
gesammelten  Emteei^ebnisse,  sind  zwar 
recht  mangelhaft,  gestatten  aber  immerhin 
einen  einigermassen  zuverlässigen  Vergleich 
mit  den  entsprechenden  Veröffentlichungen 
in  anderen  LäÄdern. 


Eons. 

Reinertrag 
der  Ernten 

Export 

Innerer 
Konsum 

pro 
Kopf 

In  1000  Puds  (ä  32,38 

4 

kg) 

w 

eizen 

Puds 

1890—91 

265  957 

171  008 

94  949 

0,98 

1891-92 

201  125 

59603 

141  522 

1,49 

1892—93 

331  913 

139  593 

192  320 

1,92 

1893—94 

535909 

186  732 

349177 

3.44 

1894—95 

503  244 

243851 

259  393 

2,44 

1895—96 

520  773 

224  575 

296  198 

2,84 

1896-97 

493  819 

196505 

297314 

2,76 

1897    98 

360597 

233  406 

127  191 

1,16 

1898—99 

562  875 

117  936 
>ggen 

444  939 

4i03 

1890—91 

817213 

97341 

719872 

7,46 

1891-92 

556  868 

1249 

559619 

5>68 

1892-93 

738  684 

21  903 

716  781 

7,16 

1893-94 

936  747 

60  196 

876551 

8,54 

1894    95 

1115314 

96698 

1018716 

9,72 

1895—96 

991535 

85261 

906274 

8,45 

1896—97 

961  059 

69311 

891  748 

8,30 

1897—98 

741  755 

83658 

658097 

6,05 

1898—99 

879  969 

52491 

827  478 

7,51 

Hafer 

1890—91 

386182 

56475 

329  707 

1891    92 

276  786 

21452 

255  334 

1892—93 

305431 

27  127 

278  304 

• 

1893—94 

512201 

97209 

415000 

1894—95 

521  567 

75976 

445591 

1895—96 

492  339 

57919 

434  420 

1896-97 

494  832 

66608 

428  224 

1897    98 

367  254 

29025 

338  229 

1898    99 

398  905 

24358 

374  547 

Gerste 

1890-91 

181  647 

51  571 

130076 

1891—92 

151  341 

29547 

121  794 

1892—93 

202009 

68470 

133  539 

1893—94 

368  732 

154  138 

214594 

1894    95 

288  722 

133899 

154823 

1895—96 

273  538 

88716 

184821 

1896-97 

263319 

75022 

188297 

1897-98 

248851 

100674 

148  177 

1898-99 

337  652 

109578 

228  074 

Unwillkürlich  drängt  sich  der  Gedanke  auf : 
Wird  dieses  ungeheure  Gebiet  von  60  Millionen 
Desjätinen  bebauter  Aecker,  welches  jetzt 
einen  Bruttoertrag  von  nur  2918  Millionen 
Pudß  (im  Dimshschnitt  der  Jahre  1893—97) 
Getreide  liefert,  intensiver  bewirtschaftet 
werden,  neue  brach  liegende  Ländereien  in 
die  Kultur  herangezogen,  die  Wege  ver- 
bessert,   das   Eisenbahnwesen   ausgedehnt, 


Sibirien  dem  europäschen  Verkehr  ange- 
gliedert, das  Land  mit  einem  Netze  von 
Elevatoren  bedeckt,  die  hohen  Abladungs-, 
Komraissions-  und  sonstigen  Spesen  ver- 
billigt, so  ist  Russland  noch  einer  Ausdeh- 
nung seines  Absatzes  fähig,  die  selbst  die 
Phantasie  des  verwegensten  deutschen 
Agrariers  sich  nicht  in  ihrer  ganzen  Grösse 
malen  kann.  Die  Möglichkeit  ist  allerdings 
gegeben,  allein  eine  ruhige,  volkswirtschaft- 
liche Betrachtung  wird  nie  ausser  acht 
lassen,  dass  die  Entwickelun^  derjenigen 
Elemente,  welche  die  Produktivität  der  land- 
wirtschaftlichen Arbeit  befördern  und  die 
Erhöhung  der  Kultur  im  allgemeinen  her- 
beiführen, alich  eine  Hebung  des  Wohlstan- 
des des  Landes  selbst  imd  eine  bessere  An- 
passung des  Absatzes  an  die  Bedürfnisse 
der  eigenen  Bevölkerung  bewirken. 

Nicht  nur  die  Zunahme  des  Eonsnnis  der 
ländlichen  Bevölkernng  haben  wir  hier  im  Auge, 
obwohl  schon  diese  der  Ausdehnung  recht  fähig 
ist,  denn  während  in  Frankreich  auf  einen  Ein- 
wohner ca.  200  kg  Weizen  konsumiert  and 
selbst  in  Deutschland  beim  hohen  B.oggen-  und 
^artoffelkonsum  60  kg  Weizenbrot  auf  einen 
Einwohner  berechnet  werden,  kommt  in  Russ- 
land auf .  einen  Einwohner  noch  nicht  40  kg 
Weizenbrot,  bei  einem  Ko&fgenkonsum  von  nur 
130  kg  pro  Kopf  der  Bevölkerung  und  bei  fast 
gänzlichem  Mangel  irgend  welcher  anderen  Nähr- 
stoffe. Auch  nicht  die  sich  ausdehnende  Industrie, 
obwohl  diese  einen  mächtigen  Faktor  bilden  wird, 
der  einer  Ausdehnung  des  Exports  entgegen- 
wirken kann.  Was  zunächst  in  Betracht  kommt, 
ist  eine  den  eigenen  Interessen  der  landwirt- 
schaftlichen Bevölkerung  Russlands  mehr  an- 
gepasste  Verteilung  der  Beträge  zwischen  den 
nach  der  Bodenbeschaffenheit  und  den  Ausfällen 
der  Ernte  sehr  verschiedenen  Gebietsteilen  des 
weiten  Reiches.  Eine  Thatsache  ist  es,  die 
durch  massenhaftes  statistisches  Material  be- 
wiesen worden,  dass  nicht  selten,  und  nicht 
etwa  in  Notjahren,  das  russische  Korn  in  London 
und  Hamburg  billiger  verkauft  wurde  als  in 
vielen  Gegenden  Rasslands  selbst,  welche  vom 
Weltmarkte  abgeschnitten  sind,  Ja  dass  in  ge- 
wöhnlichen Jahren  in  den  ärmeren  Distrikten 
wie  im  Gouvernement  Orenburg  und  bei  partiellen 
Missemten  selbst  im  reichen  Samaragebiet 
Hungerpreise  bezahlt  worden  sind,  während  die 
südlichen  und  mittleren  Gouvernements  auf  dem 
Weltmarkte  die  Preise  drückten  und  für  ihre 
Ernte  kaum  die  Herstellungskosten  erzielten. 
Selbst  im  Verhältnis  des  gesamten  Exports  zu 
der  gesamten  Getreideproduktion  tritt  uns  schon 
ein  sehr  ungesunder  Zustand  entgegen,  der  zu 
berechtigten  Klagen  seitens  vieler  Beobachter 
in  Rusäand  über  ein  planloses  Jagen  nach 
grösstmöglicher  Ausfuhr  zum  Schaden  der 
eigenen  Bevölkerung  Anlass  gegeben  hat.  Nach 
Untersuchungen,  die  vom  landwirtschaftlichen 
Departement  in  Russland  vorgenommen  wurden, 
beträgt  die  Menge  des  exportierten  Getreides 
etwa  20%  der  Ernten:  ein  ganz  ungünstiges 
Verhältnis,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  die 
Vereinigten  Staaten  durchschnittlich  nicht  über 
I  8  %  ihrer  Ernte  exportieren  und  pro  Kopf  der 


304     Getreidehandel  (Technik  und  gegenwärtige  Gestaltung;  Russland — Statistik) 


Bevölkerung  mindestenB  2V»  mal  so  viel  behalten 
wie  Rassland,  für  dessen  eigenen  Konsum  noch 
nicht  300  kg  pro  Kopf  der  Bevölkernug  und 
inklusive  Viehmtter  zurückbleibt.  Ein  anderes 
Element,  welches  sehr  wesentlich  zur  Beurteilung 
der  künftigen  Gestaltung  der  Konkurrenz  Russ- 
lands beiträgt,  ist  die  Rentabilität  des  aus- 
wärtigen Absatzes.  Wir  berühren  hier  eine  der 
schwierigsten  und  nach  dem  heutigen  Stand 
der  Statistik  kaum  zu  beantwortenden  Fragen 
nach  den  Gestehungskosten  des  Getreides,  können 
aber  nicht  unerwähnt  lassen,  dass  vom  russischen 
Landwirtschaftsministerium  zahlreiche  Unter- 
suchungen angestellt  worden  sind,  deren  Er- 
gebnisse sind,  dass  auf  dem  Gebiete  der 
„schwarzen  Erde",  d.  h.  in  den  fruchtbarsten 
Gegenden  die  Produktionskosten  um  15—18% 
höher  sind  als  in  Ostindien,  und  um  ca.  12% 
niedriger  als  in  den  Vereinigten  Staaten.  Be- 
rücksichtigt man  aber  noch,  dass  bei  ungefähr 
gleichen  Seefrachten  aus  den  Vereinigten  Staaten 
und  den  russischen  Häfen  der  Landtransport 
für  das  russische  Getreide  viel  höher  ist  und 
dass  die  Abladungs-,  Kommissions-  und  sonstigen 
Auflagen  einen  grossen  Bruchteil  des  vom 
Produzenten  erzielten  Preises  verschlingen, 
während  sie  in  Amerika  bis  zum  Minimum 
reduziert  sind,  so  tritt  die  Wahrscheinlichkeit 
sehr  nahe,  dass  ein  Druck  auf  die  Preise  seitens 
Russlands,  ähnlich  wie  er  seit  Mitte  der  80  er 
Jahre  ausgeübt  wird,  auch  bei  Verringerung 
der  Transport-  und  Handelskosten,  auf  die 
Dauer  nicht  wohl  möglich  ist.  Und  so  glauben 
wir  uns  zu  der  Meinung  berechtigt,  dass  ein 
weiterer  Fortschritt  in  aer  Ent Wickelung  der 
russischen  Landwirtschaft  und  eine  gesunde 
Entwickelung  in  der  Technik  des  Getreide- 
marktes, welche  nur  mit  einer  rationelleren 
Verteilung  des  Getreidereichtums  des  Landes 
zwischen  den  einzelnen  Teilen  und  einer  Hebung 
der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  selbst 
denkbar  ist,  auch  vom  westeuropäischen  Stand- 
punkte kulturfreundlich,  aber  nicht  kulturfeind- 
lich wirken-  kann. 

Litteratnrs  Neben  den  bekannten  l'eberHchien 
von  Neunuinn'-Spallart  sind  atis  der  deut- 
schen LiUercUur  einige  Besprechungen  tJon 
Stieda  in  Jahrb.  /.  Ges.  u.  Veno,  zu  erwähnen, 
sowie  ein  Aufsatz  von  Ballod  in  derselb&n  Zeit- 
schritt,  JaJirg.  1898.  Die  hauptsächlichen  Quellen 
ßir  das  Studium  des  russische^i  Getreidehandels 
sind  (sämtlich  in  russischer  Sprache):  1)  Der 
Einfluss  der  Ernten  und  der  Getreidepreise  auf 
die  russische  Volksunrtschafi.  Herausg.  von 
Prof.  A,  Tsohuprow  und  A.  O,  Poswiikotc. 
^)  Die  Berichte  der  vom  Ministerium  des 
Innern  eingesetzten  Kommission  zur  Erforschung 
der  Ursachen  des  Sinkens  der  landwirtschaftlichen 
Produkte  (haupts.  der  Bericht  von  M,  Fedorow, 
M  üet>ersicht  des  intenicUumalen  Getreidehandelsu, 
PeUrsburg  1889);  S)  »Der  Getreidehandel  in 
den  russischen  Häfen  und  in  Kimigsbergn,  eine 
Enquete  vom  Kon^ress  der  Eisenbahnen  2.  Gruppe 
veranstaltet  und  bearbeitet  von  M.  Fedorow 
(Moskau  1886);  4)  »Der  Getreidehandel  an  der 
Wolgau  von  A.  Kl4>pot€:  5)  nDie  Regelung  der 
Eisenbahn- Tarife  im  Getreidetransporin  von  A. 
Tschuprow  und  Jf.  Mussnitzky,  Petersburg 
1890;  6)  Jahresberichte  der  Hof-  und  Börsen- 
makler in  Odessa  eU.;   7)  Uebersichten  des  aus- 


wärtigen Handels,  herausg.  vom  Handels-Departe- 
ment  im  Finaiizminist.erium ;  8)  Kurier  für 
Finanzen,  Gewerbe  und  Handel;  eine  Wochen- 
schrift, herausgegeben  vom  Finanzministerium; 
9)  KaaperoxCf  Der  Getreidehandel  Russlands, 
Petersburg  1897.  t/oftos. 


IIL   Statistik    des   Oetreide- 
handels  in  der  neuesten  Zeit. 

1.  Allgemeines.  2.  Anteil  der  einzelnen 
Länder  am  Getreide-  und  Mehlhandel.  3.  An- 
teil der  Getreidearten  am  Welthandel.  4.  Wei- 
zenausfuhrländer. 5.  Weizeneinfuhrländer.  6. 
Uebersicht  des  Weizenhandels.  7.  Roffgen- 
handel.  8.  Handel  mit  Gerste,  Hafer  und  an- 
deren Getreidearten.    9.  Mehlhandel. 

1,  Allgemeines.  Das  weitaus  ^vichtigste 
Welthandelsgut  ist  heutzutage  das  Getreide, 
sowohl  wegen  der  Masse nhaftigkeit  seines 
Umsatzes,  als  auch  wegen  seiner  Bedeutung 
filr  die  Ernährung  der  Menschheit.  Noch 
im  vorigen  Jahrhundert  und  zu  Beginn  des 
gegenwärtigen  war  der  Umsatz  gering,  weil 
die  Verkehrsmittel  nicht  ausreichten,  um 
ein  so  schweres  und  leicht  verderbliches 
Gut  in  entsprechender  Menge  und  mit  ge- 
nügender Raschheit  von  Ort  zu  Ort  zu  be- 
fördern. Seit  der  grossen  Umgestaltung  der 
Verkehrsmittel  durch  Anwendung  der 
Dampf kmft  hat  sich  jedoch  der  internatio- 
nale Handel  auch  dieses  Massengutes  be- 
mächtigt und  dessen  Austausch  in  sieghafter 
Weise  ausgebildet.  In  der  That  hat  er  die 
Ungimst  der  Natur,  die  Launen  der  Witte- 
rung besiegt  und  clie  Menschen  in  der  Wahl 
ihres  Wohnsitzes  vielfach  unabhängiger  ge- 
macht, indem  er  die  Lebensmittel,  welche 
die  Kai*gheit  des  Bodens  dauernd  oder  die 
Missgunst  eines  Jahres  vorübergehend  ver- 
sagte, durch  Zufuhren  aus  allen  Teilen  der 
Erde  ersetzt.  Hungersnot  und  Brotteuerung 
mit  all  ihren  nachteiligen  Einwirkungen  auf 
die  Bevölkerungsbewegung,  auf  die  materi- 
ellen und  sittlichen  Zustände  der  Völker 
scheinen  damit  für  die  civilisierten  Nationen 
der  Erde  fast  ausgeschlossen  und  selbst 
schon  in  Indien  zur  Seltenheit  geworden 
zu  sein.  Missernten  auf  der  ganzen  Erde 
dürften  wohl  kaum  je  vorkommen,  ,und  wenn 
auch  ganze  Erdteile,  yd^  1873  Eim)pa,  1881 
Nordamerika  von  Missernten  heimgesucht 
weixlen,  so  reichen  die  aufge8{)eicherten 
Vorräte  und  die  Erträge  der  anderen  Ge- 
biete des  Erdballes  vollkommen  aus,  um 
den  Bedarf  der  geschädigten  Gebiete  zu 
bestreiten.  Selbst  für  das  Exportland  wird 
dieser  Ausgleich  zu  einem  Segen,  wie  dies 
1887  für  Ostindien  klar  wurde,  welches 
Land  in  diesem  Jahre  bei  der  Missernte  in 
verschiedenen  Feldfrüchteu  zweifelsohne 
eine  Hungersnot  zu  verzeichnen  gehabt 
hätte,   wenn   nicht   die   ziur  Ausfuhr   nach 


Getreidehandel  (Statistik) 


305 


Europa  bestimmten  Weizenmengen  zur  Ver- 
fügung gestanden  wären.  Die  inländischen 
Preise  hoben  sich  gleichmässig  mit  der 
Nachfrage,  und  die  Ausfuhr  des  Jahres 
1887/88  sank  nahezu  auf  die  Hälfte  des 
Betrages  vom  Vorjahre,  während  der  Kest 
den  Bedarf  des  Heimatlandes  bestritt  imd 
die  Gefahr  einer  Hungersnot  beseitigte.  Der 
Gretreidehandel  kann  also  mit  Recht  mit 
einem  Sicherheitsventil  verglichen  werden. 
Die  modernen  Verkehrsmittel  und  der 
auf  denselben  beruhende  internationale 
Handel  befreien  jedoch  nicht  bloss  die  civi- 
lisierte  Menschheit  von  Hungersnot  und 
Brotteuerung,  sondern  sie  haben  auch,  in- 
dem sie  die  Möglichkeit  gaben,  den  jung- 
fräulichen Boden  der  entlegensten  Gebiete 
und  die  billigsten  Arbeitskräfte  auszunützen, 
die  Getreidepreise  andauernd  herabgesetzt 
und  dadurch  die  Ernährung  der  Menschheit 
trotz  ihrer  fortwährenden  Vermehrung  we- 
sentlich erleichtert  Sie  erhalten  femer  die 
PreLse  von  Ort  zu  Ort,  von  Jahr  zu  Jahr  und 
von  Jahreszeit  zu  Jahreszeit  auf  einem  weit 

fleichmässigeren  Niveau,  als  dies  früher  der 
'all  war.  Allerdings  kann  man  nicht  er- 
warten, dass  die  Getreidepreise  jemals 
allerorten  gleich  hoch  und  zeitlich  stabü 
sein  könnten,  denn  das  Getreide  bleibt  doch 
ein  Massengut  und  die  Hemmnisse  von  Zeit, 
Kaum  und  Materie  werden  zwar  fortwährend 
beschränkt,  aber  niemals  ganz  beseitigt  wer- 
den. Daher  kann  die  Ernte  eines  Staates 
auf  die  Preisbildung  innerhalb  desselben 
gar  wohl  im  Gegensatze  zu  den  Weltmarkt- 
verhältnissen Einfluss  nehmen,  besonders 
wenn  seine  Ernte  den  Ernten  der  grossen 
Exportländer  vorangeht  Daher  werden  die 
Preise  in  einer  Grossstadt,  in  dicht  bevöl- 
kerten Landstrichen,  in  stets  bedürftigen 
Importländern  stets  höher  stehen  als  am 
flachen  Lande  und  in  Exportgebieten.  Dazu 
kommt,  dass  die  zufällige  Anhäufung  von 
Getreidemassen  an  einem  Orte,  die  Thätig- 
keit  der  Spekulation  die  örtliche  Preisbü- 
dung  wesentlich  beeinflusst  so  dass  die 
Preise  von  den  Strömungen  am  Weltmarkte, 
wie  von  den  örtlichen  Verhältnissen  be- 
stimmt, von  Staat  zu  Staat,  von  Ort  zu  Ort 
andauernd  und  oft  bedeutend  differieren; 
aber  immerhin  sind  diese  Differenzen  in- 
folge der  Einwirkung  des  internationalen 
Handels  auf  ein  Minimum  herabgedrückt 
und  keineswegs  vergleichbar  mit  den  Un- 
terschieden, welche  noch  in  der  ersten 
Hälfte  unseres  Jahrhunderts  oft  in  zwei 
einander  ganz  nahe  gelegenen  Gebieten 
herrschten.  Die  Preisschwankungen  von 
Jahr  zu  Jahr  verloren  hingegen  deshalb  an 
Intensität,  weil  der  gesamte  Ernteertrag  der 
Erde  weit  geringeren  Schwankungen  unter- 
liegt als  der  eines  einzelnen  Landes,  wo- 
doreh  natürlich  der  Getreidepreis  im  allge- 


meinen viel  zäher  auf  der  gleichen  Höhe 
sich  erhalten  wird,  als  dies  frilher  der  Fall 
war.  Aehnlich  wird  die  Ausgleichung  der 
Preise  der  einzelnen  Jahreszeiten  dureh  die 
verschiedenen  Erntezeiten  der  fraglichen 
Gebiete  herbeigeführt.  Während  nämlich 
früher  das  Angebot  sich  auf  die  wenigen 
Erntewochen  des  betreffenden  Landes  zu- 
sammendrängte und  im  übrigen  Teile  des 
Jahres  die  Nachfrage  allein  am  Platze  blieb, 
wird  gegenwärtig  auä  so  vielen  Teilen  der 
Erde  das  Getreide  bezogen,  dass  fast  in 
jedem  Monate  eine  neue  Ernte  für  die 
Nachfrage  in  Betracht  kommt  imd  die  Zu- 
fuhr nach  den  Absatzmärkten  keine  Unter- 
brechung leidet. 

Alle  diese  bedeutenden  Wirkungen  konnte 
aber  der  Getreidehandel  nur  mit  Hilfe  ganz 
gewaltiger  ümsatzmengen  bewirken.  In  der 
That  nimmt  auch  der  Getreidehandel,  zu 
dem  man  den  Mehlhandel  wohl  hinzurech- 
nen darf,  gerade  in  dieser  Beziehung  den 
ersten  Platz  in  der  Weltwirtschaft  ein  und 
hat  sich  kein  anderer  Zweig  des  internatio- 
nalen Handels  zu  einer  ähnlichen  Höhe 
ebenso  i-asch  emporgeschwungen.  So  schätzte 
im  vorigen  Jahrhundert  Turgot  den  inter- 
nationalen G^treidebandel  der  Erde  auf  un- 
gefähr 10—11  Millionen  hl;  dagegen  wurden 
nachweisbar  von  Getreide  und  Mehl  umge- 
setzt in  der 


1887 
1888 
1897 


Einfuhr        Ausfuhr        zusammen 

Millionen  Kilogramm 
18257  17429  35686 

19753  22641  42394 

26 116  26650  52766 


Danach  kann  man  derzeit  den  inter- 
nationalen Gesamthandel  mit  Getreide  und 
Mehl  auf  die  ungeheuere  Menge  von  530 
Millionen  Meter-Centner  veranschlagen. 

Die  Länder,  welche  an  diesem  Welthan- 
delszweige den  grössten  Anteil  nehmen, 
haben  denselben  mit  einer  Schnelligkeit 
entwickelt,  welche  alle  Eiiahrungen  über- 
trifft. Russland  verschickte  jährlich 
zwischen  1800  und  1813  erst  3V2  Millionen 
hl,  zwischen  1844  und  1853  nur  IIV2  Milli- 
onen  hl,  in  der  letzten  Zeit  aber  7 — 8  mal 
soviel  Getreide  und  Mehl. 

Es  wurden  nämlich  über  alle  Grenzen 
exportiert 


im  Jahres- 
durchschnitte 
1876—1880 
1881—1885 
1886-1890 
1891—1893 
1894-1897 


Millionen 
Mtr.-Ctr. 

44,4 
46,8 

66,9 

52,4 
86,7 


Die  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  waren  in  den  Jahren  1840 — 1850 
füi'  den  G^treidehandel  kaum  in  Betracht 
zu  ziehen,   denn  ihr  jährlicher  Gesamtex- 


Handwöiterbach  der  StaatswisseiiBchaften.    Zweite  Auflage.    IV.  20 


306 


Gretreidehandel  (Statistik) 


port  belief  sich  durchschnittlicli  auf  5  Milli- 
onea  hl. 

Dagegen  exportierten  sie  an  Getreide 
lind  Mehl  (dieses  auf  Getreide  umgerech- 
net) im 


Durchschnitt  der  Fiskaljahre, 

Millionen 

resp.  im  Fiskaljahre 

Mtr.-Ctr. 

1870/71    1874/75 

23,17 

1875/76—1879/80 

49,86 

1880:81    1884/85 

50,37 

1885/86—1889/90 

43,83 

1890/91—1894/95 

54,89 

1896/96 

56,46 

1896/97 

91,80 

1897/98 

124,55 

1898/99 

107,14 

Ebenso  hat  Britisch  -  Ostindien 
seinen  Export  von  Reis  von  1868  bis  1892 
von  6j23  auf  16,85  MüHonen  Meter-Centner 
und  m  der  gleichen  Zeit  seinen  Export 
von  Weizen  und  anderen  Körnerfrüchten 
von  0,43  auf  16,87  Millionen  Meter-Centner 
ausgedehnt.  1896/97  war  allerdings  der 
Ebcport  auf  14,37  resp.  1,80  Millionen  Meter- 
Centner  zurückgegangen, •  aber  1898/99  be- 
trug er  doch  wieder  19,27  resp.  11,57  Mil- 
lionen Meter-Centner.  Umgekehrt  hat  E  n  g  - 
land  von  1800 — 1810  jährlich  nur  unge- 
flÜir  1,6  Millionen  hl  Weizen  und  einige 
Hunderttausend  Centner  Mehl  eingeffihrt; 
dagegen  hatte  es  einen  Import  von  Getreide 
und  Mehl  aller  Art  (dieses  auf  Getreide  um- 
gerechnet) 


im  Jahresdurchschnitte 

resp.  Jahre 

1881—1885 
1886-1890 
1891—1895 

1896 

1897 

1898 

1899 


Millionen 
Mtr.-Ctr. 

70,1 

75,9 

88,9 

101,6 

95,0 

100,3 
102,0 


In  gleicher  Weise  stieg  der  Wert  der 
umgesetzten  (totreide-  und  Mehlmavssen  bis 
zum  Jahre  1879  auf  rund  7301  Millionen 
Mark,  wovon  8706  Millionen  auf  die  Einfuhr 
und  3595  Millionen  auf  die  Ausfuhr  ent- 
fielen. Seither  ist  zwar  infolge  des  Preis- 
falles, der  Einfühnmg  und  Erhöhung  von 
Gotreidezöllen  sowie  infolge  einer  dem 
internationalen  Handel  abträglichen  Vertei- 
lung der  günstigen  und  ungünstigen  Ernte- 
ergebnisse der  Handelswert  wesentlich  redu- 
ziert worden,  immerhin  aber  betrug  er 
s'elbst  18S6  4805  Müüonen  Mark  und  hob 
sich    im    Jahi-e    1888    wieder    auf    5534 


Millionen,  2713  Millionen  in  der  Einfuhr, 
2821  MiUionen  in  der  Ausfuhr.  1897  be- 
lief er  sich  infolge  wesentlich  grösserer 
ümsatzmengen  sogar  auf  5854  Millionen 
Mark,  wovon  3125  Millionen  auf  die  höher 
bewertete  Einfuhr  und  2739  Mllionen  auf 
die  Ausfulir  entfielen.  Es  sind  dies  Sum- 
men, welche  fast  den  zehnten  Teil  der  ge- 
samten Welthandelswerte  ausmachen  und 
den  Wertbetrag  jedes  anderen  Zweiges  des 
Güteraustausches  weit  übertreffen. 

2.  Anteil  der  einzelnen  Länder  am 
Getreide  und  Mehlhandel.  Den  grössten 
Anteil  an  diesem  riesigen  Umsätze  haben 
die  Vei-einigten  Staaten  von  Amerika,  Gross- 
britannien und  Russland.  1897  repräsentierte 
der  Umsatzwert  und  die  ümsatzmenge  die- 
ser drei  Staaten  mehr  als  die  Hälfte  des 
Gesamtumsatzes  in  Ein-  und  Ausfuhr.  Auf 
die  Vereinigten  Staaten  entfiel  mehr  als 
ein  Drittel  der  Gesamtausfuhr  und  auf 
Grossbritannien  ebenso  ein  gutes  Drittel  der 
Gesamteinfulir  nach  Menge  und  Wert. 
Russland  war  1897  hinter  den  Vereinigten 
Staaten  zurückgeblieben,  während  es  1888 
diese  weit  übertraf  und  mehr  als  ein  Drittel 
der  Gesamtausfuhrmenge  bestritt  Nach 
Russland  sind  die  bedeutendsten  Export- 
staaten Rumänien,  Argentinien,  Bulgarien^ 
Canada,  Britisch  -  Ostindien,  Chile  und  Ser- 
bien mit  einem  Mehrexport  von  1787  resp. 
496, 402,  238, 158,  120  und  62  Meter-Centner 
Getreide  und  Mehl  im  Jahre  1897.  Alle 
diese  sieben  Länder  zusammen  exportieren 
aber  nicht  halb  soviel  als  Russland  und 
kaum  den  dritten  Teil  dessen,  was  die 
Vereinigten  Staaten  ausführen.  Ihre  Aus- 
fuhr stellt  etwa  den  achten  Teil  der  Ge- 
samtausfuhr dar.  Die  bedeutendsten  Import- 
staaten nach  Grossbritannien  sind  Deutsch- 
land, Belgien,  Frankreich,  die  Niederlande, 
die  Schweiz.  Italien,  Dänemark  und  Schwe- 
den-Norwegen. 1897  entfiel  mehr  als  die 
Hälfte  des  Gesamtimj)ortes  auf  Grossbri- 
tannien und  das  Deutsche  Reich,  ein  Drittel 
auf  die  anderen  vorhin  genannten  Staaten. 

Folgende  Tabelle  zeigt  die  Anteilnahme 
der  einzelnen  Staaten  an  dem  internatio- 
nalen Getreide-  und  Mehlhandel  nach  Ein- 
und  Ausfuhr,  sowie  nach  Menge  und  Wert 
in  den  Jahren  1888  und  1897  ^).  Sie  lassen  deut- 
lich die  gewaltigen  Verschiebungen  erkennen^ 
die  in  diesem  Jalirzehnt  im  Preise  der 
Cerealien,  in  deren  ümsatzmenge  und  vor 
allem  in  der  Stellung  der  Staaten  im  Ge- 
treide- und  Mehlhandel  Platz  gegriffen  haben. 


')  Für  1888  unter  Zugrundelegung  der 
Uehersichten  der  Weltwirtschaft.  Jahrgang 
1885—1889  fortgesetzt  von  Dr.  Fr.  v.  Juraschek 
S.  17B;  für  1897  nach  den  offiziellen  Handels- 
ausweisen. 


Getreidehandel  (Statistik) 


307 


Welthandel  mit  Getreide  und  Mehl. 


Länder 


1888 


Wert  in 
Millionen  M. 


Einf.    Ausf. 


Menge  in 
Millionen  kg 


Einf.    Ausf. 


1897 


Wert  in 
Millionen  M. 


Einf.    Ausf. 


Menge  in 
Millionen  kg 


Einf.    Ausf. 


Grosshritannien 

Rassland 

Vereinigte  Staaten  von  Amerika') 

Niederlande 

Britisch  Ostindien  *) 

Frankreich 

Belgien 

Oesterreich-Un^am 

Deutsches  B^ich 

Rumänien 

Italien 

Australien 

Canada') 

Schweiz 

Spanien 

Argentinische  Republik   .... 

Schweden 

Dänemark 

Bulgarien 

Europäische  Türkei*) 

Algier 

Norwegen 

Egypten 

Griechenland 

Japan     

Portugal 

Chüe  ....    

Finland      

Tunis«) 

Urufi^ay 

Capland  und  Natal     .    *    .    .    . 
Serbien  .    , 


1047,2 

33,7 
322,7 

2,5 

299,8 

237,6 
10,7 

211,8: 
0,71 

128,4  I 
42,1  I 
27,1  I 

82,5 1 

55,0 1 

0,3 

30,7 

32,9 

0,1 

34,9 
8,7 

34,6 
6,0 

27,0 

2,4 
23,2 

12,4 

5,8 
0,5 
1,6! 
0,2 


14,8 

796,4 
520,3 
173,6 

310,1 
11,7 
73,8 

269,1 

34,8 

164,2 

10,2 

85,0 

47,5 

1,5 
8,2 

58,4 
19,9 
17,4 
38,1. 

30,0 
27,0 

0,8 

22,4 

0,2 

23,7 
0,8 

22,0 

4,5 

3,5 
6,6 

8,7 


? 


7476 

19 

369 

1673 
17 

3127 

1591 

94 
1871 

10 

734 
230 

257 
459 

353 

2 

226 

297 

I 

105 

56 
307 

42 
148 

'^)c.  21 
145 

ca.  1 1 1 
? 
I 

9 

2 


64 
8621 

3915 
932 

2  170 
132 
502 

I  222 

195 

1742 

65 
572 

450 

6 

31 
349 
196 

j      117 

'      429 

75 

157 

7 

187 

I 

ö)c.2IO 

4 
123 

ca.  50 

45 

? 


92 


1094,6 

1,6 

8,1 

331,2 

2,7 
200,8 

260,8 

68,2 

551,4 

1,5 

75,9 

25,4 

37,6 

102,5 

48,1 

3,9 

25,9 

65,4 

o,i 
26,5 

io,o 

41,7 

14,7 
27,1 

0,9 

27,1 

33,1 

15,6 

2,0 

20,0 

0,8 


21,2 

739,5 

1038,9 

206,7 

25,8 

73,1 
112,5 

69,0 

142,5 

4,5 

24,6 

68,6 

1,3 
18,8 
46,1 

1,4 
15,0 
37,0 
27,9 
18,4 

0,3 


9132 

14 

87 

2975 

53 

1385 

1985 

682 

5093 
16 

556 

233 
478 
618 
322 

23 
205 

753 
I 

149 

74 

379 


2,0 

123 

0,2 

149 

0,1 

10 

1,0 

166 

10,9 

— 

3,1 

218 

9,8 

73 

4,6 

25 

9 

• 

133 

:\,^ 

6 

127 

7632 
10659 

1897 

211 

47 
568 

587 
500 

1803 

31 
1x8 

715 

3 

68 

519 

24 

131 

403 
148 

III 

2 

16 

I 

I 

2 

ca.  120 

32 
80 
26 
? 
68 


Totale:       2725,0  2805,2  19753  2266113125,2  12739,1 126  116   26650 

»)  Fiskaljahr  endigend  am  30.  Juni  1889,  Kalenderjahr  1897.  «)  Fiskaljahr  endigend  am 
31.  März  1889  resp,  31.  März  1897.  •)  Finanzjahr  endigend  am  30.  Juni  1889  resp.  1897. 
*)  Türkisches  Jahr  endigend  am  28.  Februar  1889  resp.  1896.  '*)  Nach  den  Preisangaben  im 
Resumg  Statist,  du  Japon  geschätzt.    ^)  Fttr  das  Fiskaljahr  1888/89  und  das  Kalenderjahr  1897. 


3.  Anteil  der  Getreidearten  am  Welt- 
handeL  Weitaus  den  grossten  Anteil  an 
dem  Gesamtumsatz  von  Getreide  und  Mehl 
hat  Weizen  und  Weizenmehl,  als  die  wert- 
vollsten, den  grossten  Nährwert  enthalten- 
den und  in  den  Imporistaaten,  insbesondere 
in  England  und  Frankreich  beliebtesten 
Produkte-  Ihnen  zunächst  kommt  Mais, 
wovon  die  Vereinigten  Staaten  die  grossten 
Quantitäten  ausführen,  sodann  Gerste  und 
Malz,  endlich  Hafer  und  Roggen.  Aber 
während  1887  Weizen  etwa  zwei  Fi'inftel 
des  Gesamtumsatzes  repräsentierte,  ist  er 
1897  fest  ein  Drittel  zurückgegangen  und 
hat  sich  der  Anteil  von  Mais  von  einem 
Achtel  auf  etwa  ein  Fünftel  erhöht  Neben 
Mais  bat  nur  noch  Gerste  und  Malz  1897 
einen  gr{36seren  Anteil  gewonnen,  alle  an- 
deren Getreidearten  sind  in  ihren  AnteiJen 


zurückgegangen,  und  relativ  am  stärksten 
Roggen.  Offenbar  hat  der  wachsende  und 
immer  mehr  sich  verbreitende  Bierkonsum, 
dann  die  Verwendung  von  Mais  in  der 
Industrie  und  zur  Viehfütterung,  diese  früher 
ziemlich  stabilen  Verhältniszahlen  so  sehr 
verschoben.  Üebrigens  sind  sie  für  die  ein- 
zelnen Staaten  je  nach  deren  Produktions- 
verhältnissen, dann  nach  der  Wohlhabenheit 
imd  den  Gewohnheiten  ihrer  Völker  sehr 
verschieden.  Eine  üeberaicht  des  Anteiles 
dieser  Getreidearten  imd  des  Mehles  am 
Gesamtumsätze  in  den  Jahren  1887  und 
1897  bietet  die  folgende,  für  1887  den 
Uebersichten  der  Weltwirtschaft^)  entnom- 
mene, für  1897  in  der  gleichen  Weise  ge- 
arbeitete Tafel. 


^)  Ebenda  S.  179. 


20* 


308 


Getreidehandel  (Statistik) 


1887 


Einfuhr 


Ansfuhr 


Gesamt- 
umsatz 


in  Millionen  Kilogramm 


1897 


Einfuhr 


Ausfuhr 


Gesamt- 
umsatz 


in  Millionen  Kilogramm 


Anteil 

am  Ge- 

samt- 

amsatz 

in 
Prozent 

1887 


Anteil 

am  Ge- 

samt* 

Umsatz 

in 
Prozent 

1897 


Weizen^)  .  .  . 
Boggen  .... 
Gerste  u.  Malz*) 
Hafer     ,    .    .    . 

Mais 

And.  Getreide*)  . 
Mehl 


7  673,79 
I  672,37 

1  991,29 

1  689,49 

2  475,47 
1063,44 

I  691,16 


6714,55 

1  861,13 

2  193,08 
1  677,81 
2513,30 

655,59 
I  813,47 


14  388,34 

3  533,50 

4  184,37 
3  367,30 

4988,77 
I  719,03 

3  504,63 


9065,0 

2  027,2 

3  345,7 
2  557,5 

5  970,3 

1  121,6 

2  028,9 


9415,3 

18480,3 

2  101,4 

4  128,6 

3  268,9 

6614,6 

2  215,4 

4  772,9 

6  892,3 

12  862,6 

655,0 

I  776,6 

2  102,1 

4  131,0 

40,32 
9,90 

11,73 
9,43 

13,98 
4,82 
9,82 


35,02 

7,83 
12,53 

9,05 
24,38 

3,37 
7,82 


Zusammen : 


18  257,01  I  17  428,93  I  35  685,94 


26116,2     26650,4     52766,6    i  100,00 


100,00 


^)  Für  1888  Weizen  und  Spelz. 

')  Die  hier  für  1897  angegebenen  Zahlen  sind  grösser  als  die  im  Abschnitte  8  folgenden, 
weil  hier  noch  ein  Malzumsatz  berücksichtigt  wurde  mit  121,9  Millionen  Kilogramm  in  der 
Einfuhr  und  188,7  Millionen  Kilogramm  in  der  Ausfuhr. 

^)  Bei  Grossbritannien  und  Kussland  mit  Einschluss  von  Hülsenfrüchten,  sonst  nur  Buch- 
weizen, Hirse,  Halbfrüchte,  Gemenge  und  für  1897  auch  Spelz. 


4.    Weizenausfnhrländer.      Da,    wie 

bereits  erwähnt  wurde,  Weizen  weitaus 
den  grossten  Teil  des  im  internationalen 
Verkehr  umgesetzten  Getreides  ausmacht, 
so  zeigen  sich  beim  Weizenhandel  am 
schärfsten  die  im  Getreidehandel  überhaupt 
auftretenden  Erscheinungen.  Insbesondere 
die  Weizenausfiüir  einzelner  Staaten  hat 
sich,  wie  folgende  Tafel  lehrt,  mit  der  Ent- 
wickelung  der  modernen  Yerkelirsmittel 
ganz  enorm  vermehrt 

Weizenausfuhr 

aus 

Oeflt^r- 
Im  Jahres-  Vereinigte  Rnssland  reich- Dentech- Frank- 
dnrch-        Staaten     (europ.       Un-     land^;  reich*; 
schnitte   v.  Amerika  Grenze)   gam  ')  Hekto- 

Hektoliter  Mtr.-Ctr.  liter 

000  ausgelassen,  also  87  =  87000  etc. 

1831—40  87      5  639"») 

1841—50  462      3  998*) 

1851—60  1 948      7  337 

1861-70  7  759  13317 

1871—80  27  625  21  222 

1881-90  25313  29780 

1891—97  36628  38067 


213 

245 
411 

2975 
1982 

2541 
748 


1856 

2543 
3423 
5225 
4936 
260 
566 


344 
1129 

2755 
1991*) 

835*) 
44*"^ 
12 


es 


Die  Weizenausfuhr  hat  sich  somit  von 
1830  bis  1870  in  den  Vereinigten  Staaten 
auf  das  90  fache,  in  Oesterreich-Üngarn  auf 
das  14  fache,  in  Frankreich  auf  das  6  fache 
erhöht.  In  Deutschland  hat  sich  die  Weizen- 
und  Weizenmehlausfuhr  in  der  gleichen 
Zeit  fast  auf  das  3  fache  gehoben,  in  Russland 

*)  Inkl.  Spelz. 

•)  Weizen  und  Weizenmehl,   letzteres   auf 
Weizen  reduziert.    Von  1871  Weizen  allein. 
«)  Für  das  Jahr  1830. 
*)  Für  das  Jahr  1840. 
*)  Für  1861-1869. 
•)  1000  Mtr.-Ctr. 


ist  die  Weizenausfuhr  in  den  zwei  Decennien 
von  1851  bis  1870  aufs  Doppelte  gestiegen. 
Seit  1870  haben  sich  die  Verhältnisse  we- 
sentlich geändert.  Die  Ausfuhren  aus  den 
Vereinigten  Staaten  und  aus  Russland  sind 
neuerdings  gewachsen,  die  Diu-chschnitte 
der  90  er  Jalire  sind  fast  5  resp.  3  mal  so 
gross  als  jene  der  60  er  Jahre.  Die  Aus- 
fuhren OesteiTeich-üngams ,  Deutschlands 
und  Frankreichs  sind  fortgesetzt  kleiner 
geworden  und  speciell  die  Ausfuhr  aus 
Frankreich  ist  auf  ein  Minimum  reduziert. 
Die  Entwickelung  nach  einzelnen  Jahren 
zeigt  folgende  Cebersicht  auf  S.  309. 

Die  70  er  und  80  er  Jahre  sind  somit 
besonders  charakterisiert  durch  das  Auf- 
treten Indiens  als  Weizenexportland,  durch 
die  vergrösserte  Ausfuhr  aus  den  Vereinig- 
ten Staaten  und  Russland,  durch  den  Still- 
stand der  österreichisch-ungarischen  Aus- 
fuhrmengen und  den  gänzlichen  Verfall  der 
Ausfuhr  aus  Frankreich  und  Deutschland. 
Die  90  er  Jalu^e  zeigen  eine  kräftige  Ent- 
wickelung der  Ausfuhr  nur  noch  bei  den 
Vereinigten  Staaten  und  Russlaud;  die  in- 
dische imd  österreichisch  -  ungarische  Aus- 
fuhr verfällt,  die  französische  Ausfuhr  wird 
ganz  unbedeutend  und  nur  die  deutsche 
Ausfuhr  hebt  sich  einigerraassen,  wobei 
nicht  zu  übersehen  ist,  dass  die  Weizenein- 
fuhr in  den  drei  letztgenannten  Ländern 
fortgesetzt  wächst  und  in  Frankreich  und 
Deutscliland  längst  die  Ausfuhr  überflü- 
gelt hat 

Die  amerikanische  Weizenaus- 
fuhr erreichte  einen  Höhepimkt  im  Jahre 
1879  mit  54  Millionen  hl  infolge  rascher 
Ausdehnung  der  eigenen  Anbauflächen  und 
vorzüglicher  Ernteergebnisse,  bei  gleichzei* 
tigen  Minderernten  in  Europa,  besonders  in 


Getreidehandel  (Statistik) 


309 


Weizenausfuhr 


ans 

Im 

•s 

B 

den  Verein. 

Staaten  von 

Amerika  *) 

Rnsaland 
Über  alle 
Grenzen 

Britisch- 
Indien  *) 

Oesterreich- 
Ungam*) 

Bnshels 
ä.35,2  1 

Pud  Ä 
16.88  kg 

Egl.Ctr. 

&  50.8  kg 

Meter-Gentner 

000  ausgelassen,  also  26423  =  26423000  etc. 


1871 
1875 
1880 
1881 
1882 
1883 
1884 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


26423 

55073 
150565 

75272 

106  3S6 

70349 
84654 

57  759 
loi  972 

65789 
46414 

54388 

55  "32 

157  280 

117  121 
88415 
76  103 
60650 
79562 

148  231 

139  433 


109 

95 

58 

78 

121 

134 
108 

155 

91 

135 
214 

190 

182 

176 

81 

156 

205 

237 
219 

213 

177 


497 

365 

356 

145 

837 
140 

756 

114 

517 
250 

729 

546 

085 

369 

557 
230 

739 
161 

588 

263 

481* 


637 
2498 

7  444 
19864 

14  144 

20956 

15831 
21  061 

22263 

13538 
17  610 
13805 
14321 
30307 

14973 
12  157 

6890 

10004 

I  911 

2393 
19520 


2800 
1005 
2016 
2080 

4  335 
2808 

I  109 

1576 

2096 

2335 
4142 

2560 

2369 

1549 

752 

763 
646 

679 

563 
282 

29 
7 


59 

1835 

89 

86 

65 
104 

40 

74 
28 

9 

13 
II 

6 

7 
8 

18 

32 

21 

11 

6 

17 


5360 
5700 
1782 

534 

625 

808 
362 
141 

83 
28 

II 

8 

2 

3 
2 

3 

792 

699 

752 

1714 

1348 

1974 


Russland.  Danach  war  im  Zusammenhange 
mit  grossen  Ernteerträgen  in  Russland,  mit 
der  wachsenden  indischen  und  australischen 
Konkurrenz,  mit  einzelnen  Fehlemten,  aber 
auch,  infolge  des  rasch  wachsenden  Kon- 
sums der  vermehrten  Bevölkerung  ein  be- 
deutender Rückgang  eingetreten,  so  dass  1890 
die  Weizenausfuhr  nur  19,4  Millionen  hl 
betrug.  In  den  Folgejahren  ergaben  sich 
bei  einem  reduzierten  Inlandskonsum,  bei 
besseren  Ernten  und  geschwächter  Konkur- 
renz wieder  grössere  Exporte;  1891  wurde 
die  grösste  Menge  55,4  Millionen  hl  und 
1897  resp.  1898  wieder  ein  Betrag  von  52,2 
resp.  49,1  Millionen  hl  exportiert. 

Die  russische  Ausfuhr  leidet  be- 
ständig unter  den  ausserordentlichen  Schwan- 
kungen der  Ernteerträge,  welche  wegen  der 
meist  primitiven  Feldwirtschaft  und  dem 
excessiven  Kontinentalklima  besonders  gross 
sind.  In  den  70  er  Jahren  waren  überdies 
die   Bahnen   minder  stark   entwickelt   und 


^)  Fiskaljahre,  endigend  am  30.  Juni  18*^2, 
1873  Q.  s.  f.  Die  Ausfuhr  bezieht  sich  auf  ein- 
heimischen Weizen  allein. 

*)  Fiskaljahre,  endigend  am  31.  März  1872, 

1873  TL  8.  f. 

^)  Mit  Einscbluss  von  Spelz. 
*)  Mit  Einscbluss  von  Spelz  und  Halbfrucht. 
*j  Ueber  die  europäische  Grenze,  das  Schwarze 
Meer  und  nach  Finland. 


der  Handel  weniger  gut  organisiert,  so  dass 
sich  damals  gegenüber  dem  Drucke  der 
guten  amerikanischen  und  indischen  Ernten 
ein  besorgniserregender  Rückgang  der  Aus- 
fuhr ergab.  1880  betrug  die  letztere  nur 
9,6  Millionen  Meter-Centner.  Seither  wur- 
den die  Anbauflächen  wesentlich  vergrössert. 
1883 — 1887  vnirde  die  durchschnittliche 
Anbaufläche  von  Weizen  für  das  europäische 
Russland  mit  11202000  Dessjatin  angege- 
ben, 1898  betrug  sie  13  790  000  Dessjatin, 
und  dazu  kamen  noch  die  Weizenfelder 
im  Kaukasus  in  Sibirien  und  Mttelasien, 
deren  Ausdehnung  sich  von  1894  bis  1898 
allein  von  3073000  Dessjatin  auf  3627000 
Dessjatin  erhöhte,  üeberdies  ergaben  sich 
einige  gute  Emtejahre,  so  dass  1893,  1894, 
1898  an  124  resp.  122  und  125  Millionen 
Meter-Centner  produziert  wurden  und  die 
Ausfuhr  im  Zusammenhang  auch  mit  dem 
zurückgehenden  Rubelkurs  und  den  von  der 
Regiening  zu  Gunsten  des  Getreidehandels 
getroffenen  Massregeln  (Regelung  der  Fracht- 
sätze, Errichtung  von  Lagerhäusern,  Eleva- 
toren) enorm  stieg.  1888  war  sie  bereits 
auf  35,2,  1889  auf  31,2  Millionen  Meter- 
Centner  gestiegen.  1892  war  sie  aUerdings 
wieder  auf  13,4  Millionen  Meter-Centner 
reduziert.  1893  hob  sie  sich  auf  das  Doppelte, 
und  1895,  1896,  1897  betrug  sie  38,8  resp. 
36,0  und  34,9,  1898  aber  nur  29,1  Millionen 
Meter-Centner.  Welche  weitere  Entwicke- 
lung  die  russische  Weizenausfuhr  nehmen 
werde,  ist  gleichwohl  schwer  vorauszusagen. 
Wohl  könnte  die  Bodenkultur  weit  intensiver 
betrieben  werden,  selbst  1898  wurden 
durchschnittlich  per  ha  nur  6,5  Meter-Cent- 
ner gewonnen,  und  sind  ausgedehnte  Land- 
flächen besonders  im  mittleren  Sibirien  dem 
Pfluge  noch  nicht  dienstbar  gemacht,  so 
dass  die  Weizenproduktion  noch  sehr  be- 
deutend gesteigert  werden  könnte;  auch 
könnte  weiterhin  die  Konkurrenzfähigkeit 
Russlands  gegenüber  Amerika  und  Indien 
noch  mehr  gehoben  werden  durch  Anwen- 
dung grösserer  Sorgfalt  bei  Behandlung 
(Reinigung  und  Trocknung)  des  Weizens 
diu^h  Verkehrs-  und  Krediterleichteningen 
in  weiterem  Masse :  es  darf  aber  nicht  über- 
sehen werden,  dass  Russland  eine  unver- 
hältnismässig grosse  Menge  seiner  Ernte 
ohnedies  bereits  abgiebt  und  dass  dieser 
Anteil  eher  kleiner  als  grösser  wird.  Es 
betnig  nämlich  seine  Weizenausfuhr  im 
Durchschnitte  der  Quinquennien  1883 — 1887, 
1888—1892  und  1893—1897  32  resp.  43 
und  30^/0  der  gesamten  Weizenernte. 

Die  indische  Weizenausfuhr  hat  sich 
erst  zu  Beginn  der  70  er  Jahre  entwickelt 
und  ist  in  den  80  er  Jahren  besonders  stark 
gewesen.  Von  1871  auf  1891  hat  sie  sich 
unter  mannigfachen  Schwankungen  um  das 
50  fache  erhöht  und  erreichte  1886  und  1891 


^ 


310 


Getreidehandel  (Statistik) 


mit  11,3  resp.  15,4  Millionen  Meter-Centner 
•ihre  höchsten  Ziffern.  Seither  ist  sie  auf- 
fallend zurückgegangen  und  belief  sich  1896 
und  1897  nur  noch  auf  0,97  resp.  1,2 
•Millionen  Meter-Centner.  1893  ist  sie 
wieder  auf  9,9  Millionen  Meter-Centner 
gestiegen.  Auf  die  indische  Ausfuhr 
wirken  neben  den  sehr  ungleichen  Ernte- 
ergebnissen von  Weizen  (1881 — 1885 
durchschnittlich  81,  1884—1891  ebenso  69, 
1896  56,  1897  49  MiUionen  Meter-Centner) 
auch  jene  von  Reis  und  den  anderen  Nähr- 
früchten,  sodann  der  Konsum  der  grossen 
Bevölkerung  und  die  Schwankungen  des 
Goldkiu^es  ein.  Die  grossen  Differenzen 
in  der  Ausfuhrmenge  werden  dadurch  leicht 
erklärt. 

Die  Weizenausfuhr  aus  Oesterreich- 
Ungarn  war  zu  Beginn  der  70  er  Jahi'e 
bei  gleichzeitig  gi'össerem  Inlandsverbrauch 
sehi'  gering.  Im  Zusammenhange  mit  der 
veimmderten  Kaufkraft  der  Bevölkerung 
nach  der  Krise  von  1873  und  in  den  80  er 
Jahren  infolge  mehrerer  guter  Ernten  ist 
sie  sehr  bedeutend  gewachsen  und  erreichte 
1882  und  1888  einen  beträchtlichen  Hoch- 
stand von  über  4  Millionen  Meter-Centner. 
Seither  ist  sie  trotz  einer  grösseren  Produktion, 
—  1892—1896  wurden  durchschnittlich 
57,3  gegen  50,7  Millionen  Meter-Centner 
im  Quinquennium  1887 — 1891  gewonnen 
und  nur  1897  ergaben  sich  33,4,  1898  51,4 
Millionen  Meter-Centner  —  sehr  stark  zu- 


rückgegangen, so  dass  sie  1897  nur  den 
zehnten,  1898  mit  29000,  1899  mit  7000 
Meter-Centner  kaum  den  hundertsten  Teil 
jener  des  Jahres  1871  beträgt,  üeberdies 
ist  die  1888  auf  das  Minimum  von  11000 
Meter-Centner  reduzierte  Einfuhr  fortgesetzt 
gestiegen  und  betrug  1898  2  026  000  Meter- 
Centner. 

In  Frankreich  und  Deutschland 
ist  die  Weizenausfuhr  durch  die  Einführung 
der  G^treidezöUe  imd  durch  deren  Erhöhung 
allmählich  bis  auf  ein  Minimum  herabge- 
drückt worden.  In  beiden  Ländern  über- 
trifft eben  die  Einfuhr  schon  seit  längerer 
Zeit  die  Ausfuhr  und  bewirkten  daher  die 
Getreidezölle  in  erster  Linie  die  Verbrauchs- 
zunahme inländischen  Getreides  im  Inlande. 
Das  Anschwellen  der  deutschen  Ausfuhr 
seit  1894  steht  im  Zusammenhang  mit  der 
am  1.  Mai  1894  erfolgten  Aufhebung  des 
Identitätsnachweises,  wonach  die  Zollrück- 
vergütung bei  der  Ausfuhr  erfolgt,  ohne 
dass  das  ausgeführte  Getreide  als  ausländi- 
sches nachzuweisen  wäre.  Ausserdem  ist  sie 
mit  einem  viel  stärkeren  Anwachsen  der 
Einfuhr  verbunden.  Diese  betrug  1893  7,0, 
1894  11,5,  1898  14,8,  1899  13,7  MiUionen 
Meter-Centner. 

Ausser  den  in  der  Tafel  angeführten 
Staaten  sind  wichtigere  Weizenausfuhrländer 
in  Europa  die  Balkan  Staaten.  Es  ex- 
portierten Weizen 


in  1000  Meter-Centner 


Eumänien    .... 

Serbien 

Bulgarien    .... 

Die  europäische  Türkei      663 


1889 

1890 

1891 

1892 

1893 

1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

9  454 

9228 

6614 

7710 

7030 

6836 

9712 

12248 

4340 

S803 

499 

635 

862 

795 

877 

5^7 

623 

I  030 

309 

617 

3215 

2686 

3135 

3458 

3496 

2814 

3859 

6047 

2817 

1865 

663 

582 

776 

337 

79 

69 

182 

ca.2oo  ca.2oo  ca.200 

13  831    13 191    II 387    12300   11482    10246  14376    19525   7666   8485 


Der  Weizenexport  der  Balkanstaaten,  der 
in  der  Mitte  der  80  er  Jahre  erst  4 — 5 
Millionen  Meter-Centner  betnig,  stieg  be- 
reits 1888  auf  mehr  als  das  Doppelte  (11,5 
^Unionen),  erhielt  sich  in  den  ersten  90  er 
Jahren  auf  10 — 13  MiUionen  und  erreichte 
1895  und  1896  dieHochzif  fem  von  14,4  und  19,5 
Millionen  Meter -Centnern.  Die  schlechten 
Ernten  von  1897  und  1898  haben  ihn  aller- 
dings wieder  selir  stark,  jedoch  nicht  dau- 
ernd reduziert. 

Der  Zollkriög  Rumäniens  mit  Oester- 
reich-Ungarn  hat  die  Weizen-  und  Getreide- 
ausfuhr Rumäniens  wenig  beeinflusst.  Da- 
gegen wurde  die  Exportrichtung  ganz  ausser- 
ordentlich geändert.  1885  gingen  512  Mil- 
lionen kg  Getreide  und  Mehl  nach  Oester- 
roich-Ungarn  und  693  nach  Grossbritannien ; 
1J^88  gelangten  in  die  Österreich-ungarische 
Monarchie  nur  17,  nach  England  aber  1157 
Millionen    kg   Geti^eide   und   Mehl.     Sofort 


nach  Beseitigimg  des  Zollkrieges  war  das 
Verhältnis  wieder  umgekehrt  und  1897 
gingen  wieder  nach  Oesterreich-Ungarn  371, 
nach  Grossbritannien  501  Millionen  kg  Ge- 
treide und  Mehl. 

Von  aussereuropäischen  Weizen- 
exportländorn  müssen  insbesondere  noch 
die  folgenden  genannt  werden. 

Australien  mit  Einschluss  von  Tas- 
manien und  Neuseeland  hat  seit  Beginn  der 
70  er  Jahre  und  insbesondere  in  den  90  er 
Jahren  seine  Weizenanbauflächen  sehr  be- 
deutend vermehrt  1890  umfasste  sie  3,5, 
1897  4,7  Millionen  Acres.  Trotz  exo^ssiven 
Klimas  und  wiederholt  imgünstiger  Witte- 
rungsverhältnisse hat  es  infolgedessen  stei- 
gende Ernteerträge.  1875/76  ergab  die 
Weizenernte  7,8,  1893/94  15,3.  1895/96 
allerdings  nur  9,1,  1897/98  wieder  12,2 
Millionen  lil.  Die  Weizenausfuhr  ist  daher 
in    jüngster  Zeit    recht    bedeutend,   wegen 


Gretreideliändel  (Statistik) 


311 


der  ungleichen  Ernteerträge  aber  ganz  enorm 
schwankend.  Sie  belief  sich  nämlich  1885 
auf  12642,  1893  auf  15785,  1896  auf  1368, 

1897  auf  1007,  1898  auf  1814  Tausend  eng- 
lische Bushel. 

Yon  grosser  Bedeutimg  für  die  Versor- 
gung Frankreichs  mit  Brotgetreide  ist  Al- 
gier, obschon  hier  die  Ernteergebnisse  und 
mit  ihnen  die  Ausfuhr  noch  unvermittelter 
schwanken  als  in  Australien.  So  wuKlen 
1885'  1751,  1890  1466,  1893  nm-  383,  1895 
wieder  1130,  1897  457,  1898  an  500  Tau- 
send Meter-Centner  Weizen  aus  Algier  aus- 
geführt. Fast  die  ganze  Masse  dieser  Aus- 
fuhr geht  nach  Frankreich,  1897  451,  1898 
486  Tausend  Meter-Centner. 

In  Aegypten  wurde  die  Weizenanbau- 
ßäche  in  der  letzten  Zeit  ganz  ausserordent- 
hch  vergrössert  von  890699  Feddans  im 
Jahre  1877  auf  1298310  Feddans  im  Jahre 
1888  und  1215841  Feddans  im  Jähre  1891. 
Nichtsdestoweniger  hat  sich  die  Weizenaus- 
fuhr nicht  in  dem  entsprechenden  Masse 
gehoben;  vielmehr  befindet  sie  sich  seit 
1879,  allerdings  unter  grossen  Schwankun- 
gen,  im   Rückgange   und  wurde  1897  und 

1898  auf  ein  Minimum  reduziert.  In  eini- 
gen Jahren,  so  1882,  1886,  1893,  1896,  1897, 
wurde  sie  von  der  Einfuhr  übertroffen. 
Offenbar  sind  Missemten  in  Aegj^ten  häufig 
und  der  Bedarf  der  Bevölkerung  verhältnis- 
mässig  gross.     Die  Weizenausfuhr  betrug: 


^   t 


in  1000  Mtr.-Ctr. 

1879 

1926 

1892  420 

1896 

113 

1885 

279 

1893  159 

1897 

59 

1890 

413 

1894  270 

1898 

83 

1891 

924 

1895  228 

1899 

34 

Die  Weizeneinfuhr  betrug  dagegen  1890 
310,  1895  132,  1896  265,  1897  127,  1898 
68  Tausend  Meter-Centner. 

Auch  die  Weizenausfuhr  von  Tunis 
unterliegt  grossen  Schwankungen.  Sie  geht 
fast  ganz  nach  Frankreich.  In  dieses  Land 
wurden  aber  von  Tunis  importiert  1895  610, 
1896  488,  1897  434,  1898  517  Tausend 
Meter-Centner  Weizen. 

Eine  grössere  Beständigkeit  hat  die 
Weizenausfuhr  aus  Canada.  In  den  letz- 
ten Jahren  ist  sie  bei  einer  nur  massig  ver- 
grösserten  Einfuhr  sehr  stark  gewachsen. 
Es  wiutien  exportiert: 

1000  Busheis  Weizen 
1884—85     5424        1893—94   14108 


1888—89  1 785 

1890-91  4  539 

1891-92  13659 

1892—93  13008 


1894-95  11946 
1895—96  13219 
1896—97  13  141 
1897—98   23915 


Die  Weizenausfuhr  der  südamerikanischen 
Staaten  Argentinien,  Uruguay  und 
Chile  ist  seit  den  80er  Jahren  recht  be- 
deutend geworden,  obschon  in  der  letzten 
Zeit  ein  sehr  starker  Abfall  eintrat.  Es 
wurden  exportiert: 


aus 


Argentinien 
Uruguay  . 
Chüe*)   .    . 


1890 
3279 

183 
12 


1891 
3956 

5 
1077 


1000  Meter-Centner 


1892 

4701 

o 

I  162 


1893 

10081 

60 

I  311 


1894 

16082 

I  108 

996 


1895 

IG  103 

I  000 

528 


1896 
5320 

64 
984 


1897 

1018 

125 

513 


Zus.    3474      5038      5863      11452      18 186      11631      6368      1656 
£i^)  ngeführt  von  Chile  nach  Grossbritannien. 


1898 
6452 

? 

410 


Auch  Japan,  wo  in  der  letzten  Zeit  die 
Weizenanbaufläche  und  damit  die  Produk- 
tion von  Weizen  sehr  zugenommen  hat.  da 
das  Klima  den  Anbau  europäischer  Getrei- 
depflanzen mehr  begünstigt  als  den  von 
Reis,  kommt  hier  in  Betracht.  1895  wur- 
den von  dort  25600  Meter-Centner  expor- 
tiert. 1896,  1897  und  1898  war  die  Ausfuhr 
minimal,  dagegen  betrug  die  Einfuhr  23  500, 
96  800,  29 100  Meter-Centner. 

6.  Weizeneinfnhrländer.  Weitaus  die 
grösste  Weizeneinfuhr  hat  Grossbritan- 
nien. Es  geht  regelmässig  mehr  Weizen 
dahin  als  nach  dem  übrigen  Europa.  Ent- 
sprechend dem  grossen  Konsum  der  rasch 
wachsenden  Volksmenge  werden  die  Zu- 
fuhren fortwährend  grösser.  In  den  21  Jahren 
von  1861  bis  1882  hat  sie  sich  verdoppelt, 
indem  sie  von  15,2  auf  32,6  Millionen  Meter- 
Centner    stieg.     In    den    folgenden    80  er 


Jahren  wurde  die  Einfuhi'  zwar  geringer, 
doch  betnig  sie  auch  1886  noch  24,1  Millionen 
Meter-Centner.  Seither  wuchs  sie  beständig 
und  betrug  1895  sogar  41,5,  1898  wieder 
33,1  Millionen  Meter-Centner.  Diese  Zu- 
fuhren sind  weit  ^össer  als  der  inländische 
Ernteertrag ;  ja  mit  Einschluss  der  Weizen- 
mehlimporte ist  die  Zufuhr  gegenwärtig 
3 — 4  mal  so  gross  als  die  inländische  Wei- 
zenproduktion. Der  Yerbrauch  von  aus- 
länoischem  Weizen  per  Kopf  der  Bevölkerung, 
der  in  den  50  er  Jahren  etwa  ein  Viertel^ 
in  den  60  er  Jahren  schon  mehr  als  zwei 
Fünftel  des  ganzen  Weizenkonsums  aus^ 
machte,  stieg  in  den  80  er  Jahren  auf  zwei 
Drittel,  in  den  90  er  Jahren  auf  drei  Viertel 
dieses  Gesamtverbrauchs  und  mehr.  Es 
betrug  nämlich  der  Weizenkonsum  pro  Ein- 
wohner 


312 


Getreidehandel  (Statistik) 


Durchschnitt-  Eilogramm 

lieh,  resp.  vou  eigenem   von  fremdem  ^^^ 


Zu- 


Weizen 


103,6 

36,7 

140,3 

91,4 

60,5 

151,9 

56,6 

108.3 

164,9 

50.6 

116,6 

167,2 

23,8 

132,8 

156,6 

36,7 

127,1 

163,8 

34,5 

126,5 

161,0 

im  Jahre 

1862—69 
1860—67 
1881—85 

1891 

1895 

1896 

1897 


Lange  nicht  so  gross,  aber  gleichfalls 
wachsend  ist,  wie  die  folgende  Tafel 
zeigt,  die  Weizeneinfuhr  nach  Frank- 
reich, Deutschland  und  Oe  st  erreich- 
üngarn. 

Weizeneinfuhr 


§ 

nach 

1 

Qrossbri- 

08 

•-5 

tannien 

Frank- 

Deutsch- 

Oesterr.- 

s 

in  1000 

reich  *) 

land 

üngam  •) 

'^ 

engl.Ctm. 

.s 

ä  50,8  kg 

in  1000  Meter-Centnem 

1861 

1865 

1870 

1871 

1875 

1876 

1877 

1878 

1879 

1880 

1881 

1882 

1883 

1884 

1885 

1886 

1887 

1888 

1889 

1890 

1891 

1892 

1893 

1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

im) 


29956 
20963 

30901 
39390 
51877 

44  455 
54270 
49906 
59592 
55  262 
57148 
64241 

64139 
47306 
61499 

47436 
55803 
57261 

58552 
60474 
66313 
64902 
65462 
70  126 
81750 
70026 
62  740 
65  228 
66637 


9198 
232 

3  773 
9498 

3  494 
5281 

3  397 

13877 
22  171 

19994 

12849 

12937 

10  118 
10549 

6458 
7097 
8967 

11  357 
II  418 

10552 

19602 

18842 

10032 

12496 

4507 

1585 
5227 

19545 


3510 
2  130 
3080 
4390 
4990 
6850 
9400 
10  600 
9150 
2  276 

3619 
6872 

6419 

7  545 
5724 
2733 
5  473 
3398 
5  169 
6726 

9053 
12962 

7035 
11538 
13382 
16527 

"  795 
14775 
13709 


243 
o 

489 
615 

1031 

I  162 

1435 
1455 
2331 
3246 

2493 
2296 

1  662 

I  286 

1381 
226 

79 
II 
18 
42 

95 

131 
207 

278 

188 

133 

1275 

2026 
734 


Ein  Vei-gleich  der  Ein-  und  Aiishihr- 
daten  ^)  zeigt,  dass  Frankreich,  und  zwar 
trotz  des  Rückganges  der  Einfuhr  seit  1893, 


*)  Mit  Einschluss  von  Spelz  und  Halbfrncht. 
*)  Mit  Finschluss  von  Spelz  bis  1877. 
^)  Vgl.  auch  die  Tabellen  in  der  I.  Auflage  des 
Handwörterbuches  Bd.  III  S.  881,  883. 


seit  1871  in  keinem  Jahre,  Deutschland 
nur  in  den  Jahren  1871,  1872  und  1875, 
Oesterreich  -  Ungarn  aber  in  den 
Jahren  1871,  1876—1879,  1882,  1883,  1885 
bis  1896  Mehrausfuhren  hatte.  Frankreich 
hatte  noch  1864 — 1866  bei  geringen  Weizen- 
einfuhrmengen eine  Mehraushihr,  ist  aber 
seither  im  stei^nden  Masse  ein  Importland. 
Aehnliches  ergiebt  sich  auch,  wenn  mau, 
wie  das  Annuaire  de  la  JVance,  den  Mehl- 
handel einrechnet  Damach  hatten  von  den 
46  Jahren  zwischen  1821  und  1866  24  einen 
Mehrexport,  von  den  folgenden  Jahren  seit 
1867  hatten  aber  nur  die  Jahre  1875,  1877 
eine  geringfügige  Mehrausfuhr,  und  seit 
1878  übertrifft  die  Emfuhr  jährlich  die  Aus- 
fuhr mit  der  beträchtlichen  Durchschnitts- 
ziffer von  17,3  Millionen  hl.  Deutschland 
ist  seit  Beginn  der  70  er  Jahre  ein  ausge- 
sprochenes Importland,  auch  wenn  man  den 
Mehlhandel  hinzuzieht,  Oesterreich-Üngarn 
scheint  es  zu  werden,  es  befindet  sich  etwa 
auf  dem  Standpunkt  Frankreichs  zu  Anfang 
des  Jahrhunderts.  Selbst  unter  Einrechnung 
des  Mehlhandels  hat  es  nämlich  bereits 
1872,  1873,  1880,  1897  und  1898  eine  Mehi-- 
einfuhr  von  Weizen. 

Die   Einführung   und  Verschärfung  der 
Getreideschutzzölle  (1879,  1880,  1885,  1886) 
hat  in  allen  drei  Staaten  offenbar  die  Grösse 
der  Einfuhr   vermindert,   aber   während  in 
Franki-eich  und  Deutschland  mindere  Ernten 
und  der  wachsende  Bedarf  der  Bevölkerung 
die   Einfuhr  bald    wieder  auf  die   frühere 
Höhe  emportrieben,  ja  eine  grössere  Mehr- 
einfuhr erzeugten,  ist  in  Oesterreich-Üngarn, 
als  einem  Exportlande,  die  Einfuhr  seit  1886 
(Zollkrieg  mit  Rumänien)  auf  ein  Minimum 
reduziert    worden.      In    den    90  er   Jahren 
haben   in  Frankreich   die   überaus   grossen 
Ernten  der  Jahre  1892—1896  (durclischnitt- 
lich  87,8,   1894  sogar  93,7  Millionen  Meter- 
Centner)   die  Weizeneinfuhr  von    1893    ab 
fortgesetzt   reduziert;    in    Deutschland    liat 
dagegen  die  schlechte  Ernte  von  1891  die 
Einfuhr  von  1891  und  1892  gehoben,   wäh- 
rend die  guten  Ernten  von  1892  und  1893 
nur  die  Einfuhr  von  1893  reduzierten,  und 
in    den    folgenden   Jaliren    trotz    günstiger 
Ernteergebnisse,  offenbar  im  Zusammenhang 
mit  der  Beendigung  des  deutsch-russischen 
Zollkampfes,     dem     wirtschaftlichen    Auf- 
sch\^^ing  und   der  vermehrten  Konsumkraft 
des    deutschen    Volkes    die    Weizeneinfuhr 
grösser  wurde  als  je.    Auch  in  Oesterreich- 
üngarn   wui^de  die  Konsumkraft  seit   1H92 
bedeutend  grösser,  sodass,  wie  erwähnt,  die 
Ausfuhr  trotz  guter  Ernten  kleiner  wurde 
und    die    Einfuhr    massig    anwuchs.      Die 
schlechte    Ernte   von    1897    inusste   danach 
naturgemäss  die  Einfuhr  von  1897  und  1898 
steigern,  ja  zu  einer  Melireinfuhr  umwan- 
deln.   Es  betrug  übrigens  in 


Getreidehandel  (Statistik) 


313 


im 
Jahre 


1876 
1877 
1878 
1879 
1880 
1881 
1882 
1883 
1884 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


Deutschland  Frankreich    Oesterreich- 

Ungarn 
die  Mehr- 
die  Mehreinfuhr  aasfuhr 

in  1000  Meter-Centnem 


2970 

2050 

2750 

3  100 

494 

3085 
6247 

5611 

7183 

5583 
2650 

5  445 

3387 

5  161 

6724 

9050 

12960 

7032 

10846 

12683 

15775 
10081 

13427 
11735 


4620 
1925 

13  781 
22  115 

19905 
12763 

12872 

10014 

10509 

6384 

7069 

8958 

"344 
11407 

10546 

19594 
18834 

10014 

12464 

4487 

1573 
5221 

19528 


37 
2286 

2168 

1471 

—1230*) 

—  413^) 
2039 

1146 

—  177^) 

195 
1870 

2256 

4130 
2542 
2327 

1453 
620 

555 
368 

491 

429 

—  993^) 
— 1997I) 

—  727 


Unter  den  Bezugsländem  von  Weizen 
stehen  filr  Frankreich  seit  1878  die  Verei- 
nigten Staaten  und  Russland  obenan,  und 
zwar  liefern  bald  jene  (so  1879-^1884, 
1886—1887, 1891, 1892, 1898),  bald  dieses  die 
grössten  Quantitäten.  Ihnen  folgen  Britisch- 
Ostindien,  die  Türkei  und  Rumänien,  deren 
Import  aber  seit  1895  auf  ein  Minimum 
reduziert  ist,  sodann  Algier  und  Tunis,  die 
seit  1890  recht  bedeutende  Beträge  liefern, 
1896  mehr  als  Russland  und  Amerika.  Für 
Deutschland  sind  bis  1890  Russland  imd 
Oesterreich-üngam  die  wichtigsten  Weizen- 
zufuhrländer  gewesen,  1891  kamen  die 
Vereinigten  Staaten,  1893  Argentinien  und 
Rumänien  hinzu,  während  die  Einfuhr  aus 
Oesterreich-Üngarn  fortgesetzt  zurückging 
und  jene  aus  Russland  1892—1894  infolge 
des  Zollkampfes  vorübergehend  stark  ge- 
drückt war.  Seit  1895  liefert  Russland 
wieder  mehr  als  die  Hälfte  des  ganzen  Im- 
poi-tes,  wie  schon  früher  zwischen  1884  imd 
1891.    Es  wurden  nämlich  importiert   von 


Im  Jahre 

Russland 

Oesterreich-üngam   Vereinigte  Staaten 

Rumänien 

Argentinien 

in  1000  Meter-Centnem 

1880 

556 

833 

336 

30 

^^^ 

1881 

822 

905 

I  128 

9 

1882 

2  176 

2601 

746 

49 

1883 

2490 

2034 

424 

181 

— 

1884 

3259 

828 

722 

301 

— 

1885 

3232 

468 

288 

127 

— 

1886 

1418 

439 

167 

1887 

2559 

1044 

541 

— 

— 

1888 

1540 

I  206 

84 

— 

1889 

3012 

1347 

24 

255 

— 

1890 

3708 

I  112 

520 

618 

78 

1891 

5152 

752 

M35 

429 

124 

1892 

2573 

457 

6302 

918 

662 

1893 

216 

238 

3  149 

1436 

1514 

1894 

2806 

194 

3235 

1430 

3462 

1896 

6782 

268 

1936 

I  272 

2632 

1896 

8519 

230 

2669 

3200  • 

I  416 

1897 

7519 

137 

2073 

I  521 

326 

1898 

7  755 

58 

5280 

565 

830 

1899 

3324 

22 

7  103 

406 

2522 

Oesterreich-üngam  schickt  seinen  Weizen 
noch  immer  hauptsächlich  nach  Deutschland 
und  in  die  Schweiz.  In  den  letzten 
Jahren  waren  di^  Exporte  in  diese  Länder 
klein,  1896—1899  158,  117,  19  und  3  resp. 
402,  164,  9  und  0,3  Tausend  Meter-Centner. 
Dagegen  sind  die,  wie  erwähnt,  stark  re- 
duzierten Weizeneinfuhrmengen  aus  Russ- 
land, Rumänien  imd  selbst  aus  Deutschland 
seit  1806  wieder  recht  bedeutend  geworden ; 
sie  betrugen   1896 — 1899  aus  Russland  25, 

*)  Mehreinfahr. 


615,  1155,  238,  aus  Rumänien  50,  207,  845, 
65,  aus  Deutschland  1,  278,  337,  176 
Tausend  Meter-Centner. 

Zu  den  Weizenimportstaaten  zählen  alle 
bisher  nicht  genannten  Staaten  Europas, 
Italien,  Spanien,  Portugal,  die  Schweiz, 
Belgien,  Niederlande,  Dänemark,  Schweden, 
Norwegen,  Finland  und  Grriechenland. 

Speciell  in  Italien  hat  die  Weizenein- 
fuhr in  der  letzten  Zeit  infolge  schwächerer 
Ernten  und  wegen  der  raschen  Bevölke- 
nmgsvermehrung  den  Schutzzöüen  und  ihrer 
Erhöhung  (1888)  zum   Trotz    ausserordent- 


314 


Getreidehandel  (Statistik) 


lieh  zugenommen.  In  den  Jahren  1862  bis 
1884  schwankte  die  Einfuhrmenge  zwischen 
147  (1881)  und  488  (1879)  Millionen  kg  und 

.erreichte  nur  einmal  die  Ziffer  von  764 
Millionen  kg.  In  den  folgenden  fünf 
Jahi^n  (1885—1889)  aber  betrug  die  Ein- 
fuhr, bei  einer  von  13  Millionen  kg  auf  0,6 
Millionen  kg  sinkenden  Ausfuhr  durch- 
schnittlich 843,6  Millionen  kg  imd  gipfelte 

.  1887  mit  1016  Millionen  kg.  In  den  90  er 
Jahren  blieb  die  Ausfuhr  gleich  niedrig, 
während  sich  die  Einfuhr  im  Zusammenhang 
mit  einigen  besseren  Ernten  etwas  verrin- 
gerte; sie  betrug  1890  645,  1891  464,4, 
1892  697,1,  1893  861,4,  1894  486,8,  1895 
657,8,  1896  698,  1897  414,  1898  8782 
Tausend  Meter-Centner. 

Dänemark  hatte  bis  1876  eine  Mehr- 
ausfuhr von  Weizen.  Dieselbe  betrug  1875 
noch  284848,  1876  111 859  Tonnen  zu  1,4  hl. 
Seither  hat  es  aber  eine  ständige  Mehrein- 
fuhr. Sie  betrug  im  Jahresdurchschnitt 
1886—1890  schon  29,1,  1891—1895  aber 
47,  1896  48,3,  1897  36,4,  1898  49,1  Millionen 
kg.  Dieser  Umschwung  ergab  sich  sowohl 
als  eine  Folge  der  vergrösserten  Bevölkerung 
als  auch  als  eine  Folge  des  vermehii;en  in- 
dividuellen Konsums. 

6.  Uebersicht  des  Weizenhandels. 
Den  Umfang  und  die  Bedeutung  des  AVei- 
zenhandels  in  den  wichtigsten  Staaten  der 
Erde  lässt  für  das  Jahr  1897  die  folgende 
Tabelle  erkennen: 

Weizen. 

Einfuhr    Ausfuhr   Mehrausf. 
in  1000  Meter-Centnern 
I.  Ausfuhrländer. 
Kussland  ')  ca.  8o 

Vereinigte  Staaten 

675 


34  93*        34  85* 


von  Amerika  *)  *) 
Kumänien 
Bulgarien 
Canada*)*) 
Ar^entiuien 
Bnt.  Ostindien*) 
Chüe  •) 
Algier 
Serbien 
Uruguay 


105 

I 

1592 

144 

305 

11 

35 
4 


30  568 ») 

4  339 
2817 

3580 

I  018 

991 

?  513 
457 
308 
125 


29893 

4234 
2816 

I  988 

874 
686 

513 
446 

273 
121 


Summe      2  952        79  648        76  696 


n.  Einfuhrländer. 
Grossbritannien       31 872 
Deutsches  Keich      1 1  795 


154 
1714 


Mehreinf. 

31  718 
10081 


')  Das  Pud  zu  16,38  kg.  Vgl.  üebersicbten 
Jahrg.  1885  89  S.  öO. 

«)  Kalenderjahr  1897.  Den  Bushel  zu  Ö8 
engl.  Pfd.  gerechnet.    Ebenda  S.  25. 

')  Inklusive  fremden  Weizen  628  982  Meter- 
Centner. 

*)  Fiskaljahr  1896197. 

^)  Den  Bushel  zu  60  engl.  Pfd.  gerechnet. 
Ebenda  S.  94. 

*)  Import  nach  England. 


Einfuhr 

Ausfuhr 

Mehreinf. 

in  1000  Meter-Centnern 

Belgien 

10983 

2362 

8  121 

Frankreich 

5227 

6 

5  221 

Italien 

4  141 

5 

4x36 

Schweiz 

3532 

2 

3530 

Niederlande  *) 

II  105 

8744 

2361 

Spanien 

1417 

I 

I  416 

Portugal 

I  412 

0 

I  412 

Griechenland 

1297 

I 

I  296 

Schweden-Norweg< 

m  I  205 

0 

I  205 

Oesterreich-Ungam    i  275 

282 

993 

Cap-Kolonie 

837 

? 

837 

Dänemark 

583 

218 

483 

Australien  *) 

535 

294 

261 

Japan 

97 

I 

96 

Türkei ») 

258 

182 

76 

Aegypten 

127 

59 

68 

Summe : 

87698 

14505 

73193 

Die  Differenz  zwischen  der  Mehrein- 
nnd*Mehraiisfuhr  erklärt  sich  völlig  zutref- 
fend aus  der  Ungleichheit  der  Nachweis- 
perioden, aus  der  Anhäufung  von  Lagerbe- 
ständen ausser  den  Zollgebieten,  aus  dem 
Zeitunterechied  zwischen  dem  Abgange 
der  Exportware  und  der  Ankunft  der  Im- 
portware und  endlieh  aus  der  ünvollstän- 
digkeit  der  Aufzählung  von  Ein-  und  Aus- 
fuhrgebieten. 

Für  das  Jahr  1888  hatten  wir  eine 
grössere  Mehrausfuhr  und  eine  kleinere 
Mehreinfuhr,  nämlich  78552  resp.  67  836 
Tausend  Meter-Centner  berechnet-*).  In  den 
dazwischen  liegenden  10  Jahren  haben  sich 
eben  sehr  bedeutende  Veränderungen  erge- 
ben, die  diese  Differenz  leicht  erklären.  Die 
Mehrzahl  der  Importstaaten  (7)  hat  eine 
wesentlich  grössere  Mehreinfulu-,  und  vier 
Staaten  sind  1897  Importstaaten,  die  1888 
als  Expoi-tstaaten  aufgetreten  sind,  Oester- 
reich-Ungarn,  Austi-alien,  die  Türkei  und 
Aegypten.  Umgekehrt  ist  die  Zahl  der  Ex- 
port'staaten  1897  kleiner  als  1888,  ihr  Ex- 
port aber  niu*  in  wenigen  Fällen  (so  bei  den 
Vereinigten  Staaten)  grösser  geworden. 

7.  RoggenhandeL  Der  Roggenhandel 
hat  bei  weitem  nicht  die  Bedeutung  des 
Weizeiihandels.  In  den  überseeischen  Ghe- 
bieten  wird  wenig  oder  gar  kein  Roggen 
augebaut  So  liaben  die  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  im  Jahresdurchschnitte  1870 
bis  1874  3,9,  1890—1894  7,1,  1895—1898 
6,6  Millionen  Meter-Centner  Roggen  geern- 
tet Die  Ausfuhr  betrug  jdanach  im  Jahres- 
duivhschnitte  1870.71—1874/75  161, 1890/91 
bis  1894 '95  716  und  in  den  Jaliren  1895.96 
251,    1896/97   2174,    1897. 98  3948  Tausend 


*)  Den  Hektoliter  zu  78  kg  gerechnet. 
Ebenda  S.  143. 

*)  unvollständige  Nach  Weisung. 

«)  Fiskaljahr  1895|96. 

*)  Siehe  I.  Auflage  des  Handwörterbnchei 
III.  Bd.  S.  885. 


Getreidehandel  (Statistik) 


315 


Meter-Centner.  Auch  in  xien  westlichen  und 
südlichen  Staaten  Europas  ist  der  Boggen- 
anbau und  -verbrauch  und  infolgedessen 
auch  der  Handel  gering.  So  betrug  die 
Koggenanbaufläche  in  Grossbritannien  1898 
nur  81 285  Acres  gegen  2,1  Millionen  Acres 
Weizenanbaufläche  und  so  beläuft  sich  in 
Frankreich  die  Roggenernte  im  Durchschnitt 
der  Jahre  1893—1897  auch  niu-  auf  16,7, 
im  Jahre  1897  auf  12,1  Millionen  Meter- 
Centner.  Auch  der  Roggenhandel  ist  da- 
selbst sehr  gering.  Es  wurden  nämlich 
1896  resp.  1897  von  Frankreich  umgesetzt 
in  der  Einfuhr  182  resp.  7549,  in  der  Aus- 
fuhr 1365  resp.  25  Tausend  Meter-Centner. 
Bedeutend  ist  der  Roggenanbau  und  -han- 
del  nur  in  den  östlichen  und  nöixllichen 
Staaten  Europas,  insbesondere  in  Deutsch- 
land, Russland,  Oesterreich- Ungarn,  Fin- 
land,  Schweden-Norwegen,  Dänemark,  auch 
in  den  Balkanstaaten,  den  Niederlanden  und 
Belgien.  Die  Roggenausfuhr  der  drei  erst- 
genannten Staaten  und  ,die  Roggeneinfuhr 
nach  Deutsehland  seit  1861  stellt  folgende 
Tabelle  dar:         Roggen. 


Ausfuhr  aus 

Einfuhr 
nach 

Bufwland 

im 

über  alle 
Grenzen 

Oesterr.- 

Dentflc 

bland 

Jahre 

in  1000 
Pud 

Ungarn 

k  16,38  kg 

in  lOOC 

I  Meter- Cei 

itnem 

1861 

17858*) 

175^) 

258  0 

1  310 

1360 

1866 

1330**) 

1  140 

I  660 

1871 

33  158*) 

I  360 

I  570 

4180 

1876 

51847 

745 

I  560 

7000 

1876 

72979 

714 

1  000 

11  000 

1877 

90249 

477 

I  760 

II  900 

1878 

85502 

443 

I  960 

9450 

1879 

102  387 

748 

I  460 

14700 

1880 

50808 

642 

266 

6896 

1881 

37057 

613 

116 

5  755 

1882 

48449 

746 

158 

6583 

1883 

65892 

266 

121 

7770 

1884 

65977 

77 

63 

9616 

1885 

76093 

73 

40 

7697 

1886 

65861 

14 

32 

5653 

1887 

78213 

II 

31 

6385 

1888 

107  270 

57 

23 

6528 

1889 

84288 

34 

6 

10597 

1890 

76906 

33 

I 

8799 

1891 

68006 

373 

I 

8427 

1892 

12066 

310 

9 

5486 

1893 

32  184 

7 

3 

2243 

1894 

80970 

3 

497 

6536 

1895 

91293 

4 

360 

9648 

1896 

79255 

2 

383 

10307 

1897 

73  559 

1 

1  064 

8568 

1898 

67056«) 

4 

1297 

9  141 

1899 

— 

6 

1235 

5613 

')  In  den  Jahren  1861  und  1866  mit  Ein- 
scbloss  von  Heidekorn,  Hirse  and  Spelz  in  Hülsen. 
')  Ueber  die  europäische  Grenze  allein. 


Danach  hat  sich  die  russische  Rog- 
genausfuhr in  ähnlicher  Weise  ent- 
wickelt wie  die  Weizenausfuhr.  Allerdings 
bew^egt  sich  der  Export  nicht  in  gleich 
grossen  Mengen.  In  den  70  er  Jahren  kam  die 
Roggenausfuhr  der  Weizenausfuhr  noch 
ziemlich  nahe,  ja  1877  war  jene  mit  90 
Millionen  Pud  grosser  als  diese,  die  nui- 
86,6  Millionen  Pud  betrug.  In  den  80  er 
Jahren  blieb  sie  schon  stark  zurück  und 
belief  sich  nur  etwa  auf  die  Hälfte  der 
Weizenausfuhr.  Zwischen  1890  und  1893, 
zur  Zeit  des  ZoUkampfes  ging  sie  absolut 
und  relativ  sehr  stark  zurück;  1892  betrug 
sie  nur  etwa  ein  Siebentel  der  Weizenaus- 
fuhr. Obschon  sie  sich  seither  sehr  stark 
gehoben  hat,  so  betrug  sie  doch  1895  nur 
etwa  40,  1896,  1897  und  1898  nur  etwa  36 
resp.  34  und  38®/o  der  Weizenausfuhr.  Im 
Quinquennium  1885 — 1889  wurde  siebenmal 
so  viel  Roggen  ausgeführt  als  im  Quinquen- 
nium 1861—1865,  1894—1897  war  aber  die 
Roggenausfuhr  diuxjhschnittlich  ebenso  gross 
wie  1885—1889. 

Die  Roggenaüsfuhr  aus  Oesterreich- 
üngarn  ist,  offenbar  im  Zusammenhange 
mit  den  sehr  kleinen  Roggenernten  in  Un- 
garn, auffallend  zurückgegangen.  Die  Gre- 
IreidezöUe  haben  sie  ähnlich  wie  in  einem 
Importstaate  seit  1883/84  stark  reduziert,  und 
seit  1893  sind  sie  gar  auf  ein  Minimum 
herabgesunken,  üeberdies  steht  der  Roggen- 
ausfuhr eine  starke  Einfuhr  hauptsächlich 
aus  Russlatid  und  Rumänien,  neuestens  auch 
aus  Deutschland  gegenüber,  so  dass  seit 
1872  nur  sieben  J^ire  eine  Mehrausfuhr 
und  zwanzig  Jahre  eine  Mehreinfuhr  an 
Roggen  nachweisen.  1893 — 1899  betrug 
diese  62,  30,  272,  509,  1748,  2278  und  200 
Tausend  Meter-Centner  Roggen, 

Deutschland  ist  trotz  seiner  grossen 
Roggenernten,  die  regelmässig  doppelt  so- 
gross  sind  als  seine  weizenernten,  auch  im 
Koggenhandel  passiv.  Bis  1890  war  die 
Mehreinfuhr  von  Roggen  viel  grösser,  ja  oft 
doppelt  so  gross,  so  noch  1889,  als  jene  von 
Weizen.  Seit  dem  Zollstreit  mit  Kussland 
nahm  sie  sehr  ab  und  betrug  1893  nicht 
mehr  ein  Drittel  der  Mehreinfuhr  von  Wei- 
zen, 2,2  Millionen  Meter-Centner  gegen  7,0 
Millionen  Meter-Centner;  auch  im  Durch- 
schnitte von  1894—1898  beträgt  sie  nicht 
zwei  Drittel  letzterer,  nämlich  8,1  gegen 
12,6  Millionen  Meter -Centner.  Wie  die 
nachfolgende  Tabelle  lehrt,  ist  die  Mehrein- 
fuhr von  Roggen  seit  den  70  er  Jahren  und 
insbesondere  in  den  ersten  90  er  Jahren  sehr 
stark  zurückgegangen.  Die  letzten  vier 
Jahre  haben  allerdings  wieder  eine  Steige- 
rung gebracht,  doch  bleibt  die  Ziffer  gegen 
jene  von  1875 — 1879  wesentlich  zurück. 
Die  auffallende  Veränderung  dürfte  wohl 
auch  mit  den  Preisgestaltungen  des  Gf^etrei- 


316 


Getreidehandel  (Statistik) 


1870-74 

1452 

6256 

1875—79 

1548 

10810 

1880-84 

145 

7324 

1885—89 

26 

7374 

1890—94 

102 

6298 

1895—99 

870 

8655 

des  und  den  Wohlstandsverhältnissen  in 
Deutschland  zusammenhängen.  Es  betrug 
aber  im  Jahresdurchschnitt  die 

Ausfahr      Einfahr      Mehreinfuhr 

4804 
9262 
7179 

7348 
6196 

7785 

Die  wichtigsten  Zufuhrländer  von 
Roggen  sind  für  Deutschland  wiederum 
Russland,  Rumänien  und  die  Vereinigten 
Staaten,  welch  letztere  Länder  nunmehr 
Oesterreich-Üngams  Stelle  vertreten.  Russ- 
land beschaffte,  wie  folgende  Tafel  zeigt, 
vom  Gesamtimporte  1886— -1890  durchschnitt- 
lich fast  76,  1893  nur  43,  1894^1897  fast 
80  0/0. 

Roggeneinfuhr  nach  Deutschland  aus 


Roggenhandel. 

I.  Ausfuhrländer 

n,  Einfahrländer. 

1 

P 

h 

Oß 

^ 

-< 

Es] 

< 

Tausend 

Tausend 

Mtr.-Ctr. 

Mtr.-Ctr. 

Bassland 

0,0 

12048 

Deutschland 

8568 

1064 

Vereinigte 

Niederlande 

5062 

3HI 

Staaten  von 

Schweden- 

Amerika  ^) 

8,4 

2690 

Norwegen 

2349 

2 

Rumänien 

5 

1427 

Oesterreich- 

Balgarien 

2,6 

168 

Un^[am 

1749 

I 

Türkei  •) 

4 

51 

Belgien 

828 

379 

Serbien 

0,0 

29 

Dänemark 

761 

25 

Spanien 

2 

Frankreich 

479 

I 

Japan 

I 

Finland 

298 

9 

j 

Schweiz 

72 

0,1 

im 
Jahre 


1879 
1880 
188Ö 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


Bussland 


Tausend  Mtr.-Ctr. 


Verein. 
Staaten 


5879 
4212 

4212 

3294 
4168 

4704 

9202 

7505 
6190 

1234 

959 

5334 
8420 

7880 

6107 

6113 

4604 


1779 

634 

III 


119 
161 

87 

389 

344 

4 

4 
8 

6 

3 
3 


66 

67 

320 

237 

233 
268 

527 
884 

938 
1291 

738 

371 
152 


95 
92 

^6 

50 
209 

643 

1361 

182 

56 

31 
648 

1430 
2489 

705 


Zur  Charakteristik  des  Roggenhandels 
geben  wir  in  nebenstehender  Tabelle  noch 
eine  kurze  üebersicht  der  Ein-  und  Aus- 
fuhr von  Roggen  in  den  für  diesen  Handel 
wichtigsten  Ländern  im  Jahre  1897. 

8.  Handel  mit  Gerate,  Hafer  und 
anderen  Getreidearten.  Der  Handel  mit 
Gerste  und  Malz  hat  in  den  letzten 
Jahren  einen  recht  kräftigen  Aufschwung 
genommen  imd  fibertrifft  gegenwärtig  den 
Roggenliandel  in  nicht  geringem  Masse. 
Auch  der  Handel  mit  Hafer  steht  letzte- 
rem in  betreff  der  Menge  wenig  nach.  Für 
beide  Getreidearten  geben  wir  im  folgenden 
eine  knapj)e  Üebersicht-  der  Ein-  und  Aus- 
fulir  der  wichtigsten  Staaten  im  Jahre  1897. 
Gegenüber  18S8  zeigen  sich  in  dem  genann- 
ten Jahi-e  wesentliche  Veränderungen.  In 
beiden  Getreidesorten  haben  die  Vereinigten 
Staaten  jetzt  eine  sehr  starke  Mehraiisfulir ; 


auch  sind  jetzt  die  Balkanstaaten  sowie 
Canada  weit  bedeutendere  Exportländer  als 
vor  zehn  Jahren.  Umgekehrt  liat  jetzt 
Deutschland  (statt  England)  den  gi-össten 
Mehrimport  von  Gerste  und  (statt  Frank- 
reich) den  zweitgrössten  Mehrimi)ort  an 
Hafer.  Auch  sonst  ist  in  den  Importstaaten 
wohl  im  Zusammenhang  mit  dem  wachsen- 
den Bierkonsum  die  Mehreinfuhr  von  Gerste, 
und  im  Zusammenhang  mit  der  vergrösser- 
ten  Pferdehaltung  der  Haferkonsum  gestie- 
gen. Oesterreich-ün^m,  das  1888  noch 
eine  Mehrausfutr  von  Hafer,  und  Dänemark, 
das  damals  eine  Mehrausfuhr  von  Gerste 
hatte,  haben  1897  auch  von  diesen  Getreide- 
sorten melir  importiert  als  exportiert. 

(Siehe  die  an  erster  Stelle  auf  S.  317 
stehende  Tabelle.) 

Die  Rolle,  welche  Russland  im  Handel 
mit  Gerste  und  Roggen  spielt,  fällt  im 
Maishandel  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  zu,  welche  regelmässig  vier  Fünf- 
tel und  mehr  von  der  gesamten  Maispro- 
duktion der  Erde  erzeugen.  Ihnen  zunächst 
kommen,  wie  die  folgende  Tabelle  zeigt, 
Rumänien,  Argentinien,  Russland  und  Bul- 
garien. Oesterreich- Ungarn  hat  trotz  der 
grossen  Maisproduktion  Ungarns  regelmässig 
eine  Mehreinfuhr  und  ebenso  neuestens  auch 
Italien.  Im  Jahre  1897  betrug  übrigens  die 
Einfuhr  resp.  Ausfuhr  von  Mais: 

(Siehe  die  an  zweiter  Stelle  stehende 
Tabelle  auf  S.  317.) 


*)  Kalenderjahr  1897,  den  Bushel  zu  66  eng- 
lische Pfuod  gerechnet.  Vgl.  Üebersicht  Jahrg. 
1885/89  S.  16. 

3j  Fiskaljahr  1895/96. 

»}  Kalenderjahr  1895. 


Getreidehandel  (Statistik) 


317 


Gerste 

Hafer 

I.  Ausfuhrländer 

Ein- 
fuhr 

Aus- 
fuhr 

Ein- 
fuhr 

Aus- 
fuhr 

in  1000  Mtr.-Ctm. 

Bussland 

ca.  20 

14645 

ca.  2 

7144 

Oesterreich  -Ungarn 

438 

3582') 

619 

15 

Vereinigte  Staaten 

Ton  Amerika^ 

179 

3471 

3 

7585 

Rumänien 

4 

3338 

4 

543 

Türkei*) 

92 

725 

0,4 

323 

Bulgarien 

3 

176 

0,5 

36 

Canada 

454 

853 

Algier 

430 

337 

— 

276 

Serbien 

I 

35 

I 

176 

Japan 

2 

5 

0,0 

Argentinien 

8 

5      — 

Australien 

119 

42     138 

302 

Summa 

1  296 

26815 

768 

17253 

n.  Einfuhrländer. 


Deutsches  Reich*) 

10635 

185 

5  479 

214 

Grossbritannien 

9631 

79 

8187 

127 

Niederlande*) 

3281 

2375 

2925 

2544 

Belgien  •) 

3089 

754 

4637 

1448 

Frankreich 

1938 

137 

1984 

22 

Schweden-Norwe- 

gen') 

1075 

3 

154 

215 

Dänemark 

559 

370 

193 

15 

Schweiz ') 

500 

I 

865 

2 

Aegypten 

87 

17 

Finland 

88 

0 

89 

310 

Italien 

35 

66 

15 

4 

Portugal 

24 

0 

0 

Capland  und  Natal 

? 

9 

• 

259 

9 

• 

Summa 

30942 

3987 

24807 

4901 

Der  Handel  mit  den  sogenannten  klei- 
neren Getreidearten  beträgt,  wie  er- 
wähnt, kaum  5"/o  des  Gesamtumsatzes  an 
Getreide  imd  Mehl.  Nur  wenige  Staaten 
haben  einen  grösseren  Handel  in  diesen  Ar- 
tikeln. Spedell  aus  Russland  wurden  im 
Durchschnitte  der  Jahre  1876—1880  erst 
118,  1891—1895  aber  207  und  im  Jahre 
1897    164    Tausend    Meter- Centner   Buch- 


*)  Dazu  noch  1 684  000  Meter-Centner  Malz. 
1899  wurden  4143000  Meter-Centner  Gerste 
und  1823000  Meter-Centner  Malz  exportiert. 

*)  Ealendeijahr  lfi07.  Den  Bushel  Gerste 
zu  21,8,  Hafer  zu  14,6  kg  gerechnet.  Vgl. 
üehersichten  Jahr?.  1885/89  S.  16. 


*)  Fiskaljahr  1896/96. 


Dazu  noch  Malz  Einfuhr:  984,  Ausfuhr: 
152  Tausend  Meter-Centner.  Im  Jahre  1895 
resp.  1899  betrug  bei  Gerste  die  Einfuhr  11631 
und  11042  die  Ausfuhr  127  und  140;  bei  Malz 
die  Einfuhr  936  und  1032,  die  Ausfuhr  121  und 
109  Tausend  Meter-Centner. 

*)  Den  Hektoliter  Gerste  mit  66,6,  Hafer  45,6 
kg  gerechnet.    Ebenda  S.  143. 

•)  Bei  Gerste  ist  Mähe,  bei  Hafer  ist  Mais 
und  Buchweizen  mitgerechnet. 

^  Bei  Gerste  ist  Malz  mitgerechnet. 


I.  Ausfuhrländer 

Einfuhr          Ausfuhr 
in  1000  Mtr.-Ctr. 

Vereinigte  Staaten 
Ton  Amerika^) 

I 

48038 

Rumänien 

39 

7818 

Argentinien 
Russland 

I 
ca.  10 

3  749 
3464 

Bulgarien 
Serbien 

0 
20 

780 
134 

Türkei 

64 

126 

Spanien 
Canada 

0 
? 

106 
1836 

Summa 

135 

66051 

II.  Einfuhrländer 


Grossbritannien 

27323 

375 

Deutsches  Reich 

12663*) 

1 

Niederlande 

5  120 

1503 

Dänemark 

5030 

559 

Frankreich 

3965 

14 

Oesterreich-Üngam 

2312 

189 

Italien 

1282 

94 

Schweiz 

602 

I 

Aegypten 

423 

84 

Australien 

289 

27 

Uruguay 

209 

H 

Algier 

171 

11 

Schweden-Norwegen 

142 

Finland 

37 

Summa 

59568 

2872 

weizeu  und  in  den  gleichen  Jahren  36  resp. 
172  und  229  Tausend  Meter-Centner  Hirse 
exportiert.  Ebenso  wurden  aus  Rumänien 
1891—1895  durchschnitlHch  248,  1897  356 
und  1898  536  Tausend  Meter-Centner  Hirse 
und  in  der  gleichen  Zeit  1200  resp.  500  und 
1291  Meter-Centner  Buchweizen  ausgeführt. 
Aus  Bulgarien  wurde  bis  1890  relativ  viel 
Buchweizen  und  Hirse  exportiert,  1886  bis 
1890  im  Jahresdurchschnitte  321 000  Meter- 
Ceutner.  Seither  ist  aber  diese  Ausfuhr 
sehr  stark  zurückgegangen  und  betrug  1896 
2980,  1897  8410  und  1898  43930  Meter- 
Centner.  Mit  den  fallenden  Preisen  scheint 
sich  der  Handel  immer  mehr  auf  die  grossen 
Getreidegattimgen  zu  koncentrieren. 

Grosse  Mengen  von  Hülsenfrüchten 
endlich  exportieren  Russland,  Aegypten  und 
Canada.  Importiert  wurden  1897  resp.  1898 
nach  Grossbritannien  3,474  resp.  2,271  Mil- 
lionen Meter-Centner  Buchweizen  und  Hül- 
senfrüchte, nach  Deutschland  295330  resp. 
275200  Meter-Centner  Buchweizen  haupt- 
säclüich  aus  den  Vereinigten  Staaten  und 
Russland,  dann  1339890  resp.  1169740 
Meter -Centner  Hülsenfrüchte  hauptsächlich 
aus  Russland  und  Oesterreich-Üngarn. 


^)  Kalenderjahr  1897.  Ben  Bushel  Mais  zu 
26,4  kg  gerechnet. 

*)  1898  15  806,  1899  16  266  Tausend  Meter- 
Centner. 


318 


Getreidehandel  (Statistik) 


9.  Mehlhandel.  Mit  dem  Wachsen  des 
Getreidehandels  musste  sich  natiirgemäss 
auch  der  Mehlhandel  vergrössern,  und  in 
der  That  war  besonders  in  den  letzten  Üe- 
cennien  das  Wachstum  des  letzteren  sehr 
bedeutend.  So  haben  ilie  Vereinigten  Staa- 
ten ihren  Mehlexport  in  den  letzten  20  Jah- 
ren zweimal  verdoppelt.  Es  wurden  näm- 
lich von  da  exportiert 


in  den  Jahresdurch- 
schnitten 

Tausend 
Mtr.-Ctr. 

1870/71    1874/75 
1875/76    1879/80 
1880/81-1884/85 
1885/86    1889/90 
1890/91—1894/95 

3284 
4418 
7863 
9848 

.     13679 

Vor  einigen  Jahrzehnten  hatte  Oester- 
reich-üngarn  die  Fühnmg  im  Mehlhandel, 
seit  jenem  grossen  Aufschwung  wurde  es 
aber  von  der  amerikanischen  Union  weit 
überflügelt,  \md  schon  am  Beginn  der  90  er 
Jahre  exportierte  letztere,  wie  folgende 
Tafel  zeigt,  etwa  zehnmal  soviel  als  Oester- 
reich-üngarn.  Durch  die  Schutzzölle  ist 
die  Mehleinfuhr  Oesterreich-Ungarns  fast  auf 
Null  reduziert  worden  —  iaS9  400  Meter- 
Centner  — ,  während  die  Mohlausfuhr  erst 
seit  1891  stark  abnalim  und  neuestens  nur 
ein  ^Minimum  der  vor  zehn  Jahren  erhobenen 
Ausfuhr  beträgt.  Auch  in  Deutschland  haben 
die  ZöHe  den  Mehlhandel  sehr  stark  einge- 
schränkt und  ganz  besonders  die  Einfuhr. 
Die  Ausfuhr  hat  sich,  nachdem  sie  zwischen 
1880  und  1H82  stark  gedrückt  war,  sehr  ge- 
hoben, so  dass  Deutschland  gegenwärtig 
eine  die  Einfuhr  vier-  bis  fünfmal  über- 
wiegende Ausfuhr  hat. 

Wie  diese  Tafel  zeigt,  ist  die  r  u  s  s  i  s  c  h  e 
Mehlausfuhr  weit  kleiner  als  die  der  Vor- 
einigten Staaten  von  Amerika,  die  etwa 
neun-  bis  zehnmal  so  gix>s8  ist  als  die 
russische.  Bis  1891  war  diese  auch  kleiner 
als  die  österreichisch-ungarische  Mehlausfuhr 
und  erst  seither  ist  sie  wegen  des  Rück- 
ganges letzterer  ihr  so  sehr  überlegen.  Seit 
achtzehn  Jahren  ist  sie  ziemlich  stationär 
und  ausser  jedem  Verhältnis  zu  der  grossen 
Getreideausfuhr,  offenbar  infolge  der  schwä- 
cher entwickelten  Mühlenindustrie  \md  der 
geringen  Sorgfalt  in  der  Beliandlung  \md 
Verarbeitung  der  Feldprodukte.  Aus  gleicher 
Ui'sache  ist  der  chilenische  Mehlhandel 
auf  ein  Miniraum  eingescliränkt  worden. 
1870  80  exportiei-te  nämlich  Chile  jährlich 
noch  126000  Meter-Centn  er,  1888  nur  noch 
86 (KM),  welche  Quantität  fast  ganz  in  Süd- 
amerika abgesetzt  wimle,  da  chilenisches 
Mehl  in  Europa  unaubringlich  sein  soll. 
1896  kamen  noch  200  englische  Centner 
Weizenmehl  aus  Chile  nach  England,  1897 
wunle  aber  von  Chile  kein  Weizenmehl 
mehi-  importiert.    Dagegen  wächst  die  MeM- 


Mehl. 


Ausfuhr  von 


Einfuhr  nach 


1879 
1880 
1881 
1882 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


©      ►      08 


TS 

a 


I 

ja 
5e 


CO  'Ö 


O      I 


I 


I 

d 

'S  ^ 

OD  »4 
00    £3 

2 

o 


o 


in  1000  Meter-Centnem 


5  355 

1209 

2423 

2020 

2075 

5653 

694 

130I 

806 

526 

7  445 

666 

1222 

501 

617 

5514 

1091 

1816 

928 

446 

9689 

1488 

1500 

1290 

217 

7860 

1298 

1454 

1332 

170 

0542 

1318 

1283 

1322 

212 

0885 

1478 

2061 

1511 

109 

8651 

1209 

1762 

1452 

139 

1300 

1059 

1365 

1162 

H3 

0393 

984 

994 

1042 

140 

3848 

IIOI 

454 

1052 

266 

5026 

1248 

418 

1466 

269 

5275 

1334 

262 

1884 

309 

3853 

1331 

114 

1667 

325 

0742 

1287 

110 

1590 

485 

3  575 

1404 

105 

1622 

385 

4  754 

?        35 

1374 

302 

7  399 

9 

• 

38 

1619 

438 

5804 

5725 
5890 

6  792 

8433 

7  700 

9631 

8925 

7724 

8349 
8685 

II  713 
10702 

10  114 
9823 

11  572 
10826 
10676 
12980 


129 

293 
239 
330 
309 
259 
268 

490 

459 
336 

751 
427 

160 

206 

347 
218 

243 

551 


ausfuhr  Argentiniens  und  Uruguays 
ziemlich  rasch  an. 
Es  betnig  nämlich 


in  Argentinien  die 

in  ürugua}'  die 

Aus- 

Ein-      Ein- 

Aus- 

Ein- 

im 

fuhr 

fuhr 

fuhr 

fuhr 

fuhr 

Jahre 

Mehl 

von  Weizenmehl 

anderer 

von  Weizenmehl 

Art 

1000  Metrische 

Centner 

1878 

29 

0,0 

8 

9 

• 

9 

• 

1880 

14 

12,7 

36 

V 

• 

9 

• 

18ao 

74 

0,0 

22 

62 

0,4 

1890 

120 

0,2         17 

6 

19,5 

1893 

379 

0,0 

17 

115 

19,7 

1894 

407 

0,1 

II 

339 

13,3 

1895 

539 

0,0 

19 

194 

16,6 

1896 

517 

0,1 

15 

177 

19,2 

1897 

414 

3,6 

35 

115 

34,5 

1898 

234 

1,1 

21 

— 

Yon  den  Balkanstaaten  hat  nur  Rumä- 
nien und  Bulgarien  eine  Mehrausfuhr 
von  Mehl.    Im  Jahresdurchschnitte  1891  bis 


M  Fiskaljahre  1878;79,  1879/80  u.  s.  f.  Die 
Ziffern  geben  die  Ausfuhr  von  Mehl  aller  Art 
an.  Bei  Hafermehl  ist  der  Barrel  zu  196  engl. 
Pfd.  gerechnet. 

*)  Ueber  alle  Grenzen.    Mehl  aller  Art. 

')  Mehl  ans  Getreide,  Reis  etc. 

*)  Mehl  aus  Weizen,  Roggen,  Gerste  und 
Hafer. 


Getreidehandel  (Statistik) 


319 


1895,  dann  1896 — 1898  expoiiderte  ersteres 
2Ö5  resp.  243,  102  und  186,  letzteres  41  resp. 
73,  36  und  72  Tausend  Meter-Centner.  Von 
den  überseeischen  Gebieten  haben  die 
australischen  Kolon  ieen  und  Canada 
einen  grösseren  Mehlliandel.  Doch  ist  der 
Handel  ersterer  bald  passiv,  bald  aktiv.  In 
den  Jahren  1890, 1895, 1897  und  1898  wurden 
z.  B.  von  dort  exportiert  2320  resp.  1700^ 
1060  und  1230  Tausend  englisciie  Centner 
Mehl,  dagegen  in  die  einzelnen  KoLonieen 
importiert  1238  resp.  822,  2006  und  1391 
Tausend  englische  Centner.  Nach  Gross- 
britannien wurden  hingegen  1890,  1895  und 
1898  aus  Australien  131,  73  und  9  Tausend 
englische  Centner  importiert.  1896  und  1897 
war  die  Einfuhr  von  dort  gleich  Null.  Der 
Mehlhandel  C  a  n  a  d  a  s  zeigt  erst  in  jüngster 
Zeit  eine  kräftige  Entwickelung,  dabei  geht 
die  Einfuhr  stark  zurück.  Sie  betrug  1890 
185,  1895  149,  1897  85,  1898  41  Tausend 
Barrels.  Die  Ausfuhr  betrug  in  den  gleichen 
Jahren  150  resp.  325,  482  und  1255  Tausend 
Barrels.  Nach  England  kamen  in  diesen 
Jahren  9^3, 2343, 1531  und  1969  Tausend  eng- 
lische Centner  Mehl  aus  Biitisch-Nord- 
amerika. 

Der  grosste  Mehlimportstaat  ist  Gross- 
britannien. Sein  Import,  der  sich  in  den 
letzten  zwanzig  Jahren  verdoppelt  hat,  be- 
wegt sich  so  ziemlich  auf  gleicher  Höhe 
mit  dem  Mehlexport  Amerikas.  Erst  in  den 
letzten  Jaliren  ist  letzterer  wesentlich 
OTösser  geworden.  Eine  Uebersicht  seiner 
Bezugsländer  und  ihrer  Stärke  giebt  fol- 
gende Tafel. 


aus 


Vereinigte 
Staaten  von 
Amerika 

Frankreich 

Brit.  Nord- 
amerika 

Oesterreich- 
Ungam 

Dentschland 

Rnssiand 

Dänemark 

Argentinien 

BaBian- 
staaten 

Brit  Indien 

Australien 

Chüe 

And.Staaten 


Znsammen 


Einfuhr  von  Weizenmehl  (Meal  and 
Floor)  nach  England 

in  1000  engl.  Centner 


1885     1890     1895     1897  11898^) 


II 


732 

12026 

13132 

14063 

187 

103 

I  126 

1682 

280 

933 

2343 

1531 

811 

1370 

1306 

I  144 

415 

895 

244 

74 

85 

196 

35 

56 

120 

22 

0 

34- 

I 

28 

23 

7 

0 

10 

10 

3 

4 

0 

0 

I 

131 

131 

73 

0 

— 

I 

— 

67 

60 

_ 

751 

86 

17446 
438 

1969 
729 

107 

123 
20 

27 


9 

13 

136 


15833115  7741 18  3681 18  681   21  017 


^]  1899  importierten  die  Vereinigten  Staaten 


Die  Differenzen  dieser  und  der  vorher- 
gehenden Tafel  liinsichtlich  der  Nachwei- 
sungen für  Oe  st  erreich -Ungarn  erklä- 
ren sich  dadurch,  dass  Oesterreich-Üngarn 
zwar  im  Specialhandel  eine  kleine  Mehr- 
ausfuhr von  Mehl  hat,  dagegen  im  Verede- 
lungsverkehr eine  sehr  starke  Mehi'einfulir 
von  Weizen,  Roggen,  Halbfrucht,  Hafer, 
Mais,  Buchweizen  und  Hirse  und  eine  sehr 
starke  Mehrausfuhr  von  «Mehl,  Gerste  und 
Malz  nachweist.  Rechnet  man  Specialhandel 
und  Veredelungsverkehr  zusammen,  so  be- 
trägt die  Mehrausfuhr  aus  Oesterreich 


im  Jahre 

in  1000  Mtr.-Ctr. 
Mehl       Malz 

1891 

1307 

1189 

1892 

IIOO 

1222 

1893 

1358 

1369 

1894 

1350 

1293 

1895 

1375 

1413 

1896 

1341 

1544 

1897 

956 

1684 

1898 

732 

1645 

Der  französische  Mehlimport  ist  in 
den  80  er  Jahren  trotz  der  Schutzzölle  ge- 
stiegen und,  wie  die  oben  gegebene  Tafel 
lehrt,  erst  seit  1892  riickgängig,  während 
gleichzeitig  die  Ausfuhr  etwas  zunahm.  Sie 
betrug  in  den  Jahren  1891  bis  1898  72, 
137,  202,  248,  138,  182,  194  und  417  Tausend 
Meter-Centner.  Da  diese  Ausfuhrziffem  an 
die  angegebenen  Einfuhrzahlen  Frankreichs 
nach  England  nicht  heranreichen,  ist  es  klar, 
dass  auch  für  Frankreich  ähnliches  wie  von 
Oesterreich-Ungam  gilt. 

Besonders  schwankend  ist  der  Mehlhan- 
del Italiens.  In  den  23  Jahren  von 
1876  bis  1898  waren  10  Jahre  mit  einer 
oft  bedeutenden  Mehreinfuhr  (1876,  1877, 
1884—1887,  1889,  1890,  1892,  1894)  und 
13  Jahre  mit  einer  Mehrausfuhr,  die  1895 
bis  1898  mit  94,  85,  126  und  68  Tausend 
Meter-Centner  ihren  Höhepunkt  erreichten. 
Das  gleiche  gilt  von  Belgien,  das  1885 
bis  1889,  1891,  1892,  dann  1897  und  1898 
eine  Mehi-ausfuhr,  1890,  1893—1896  eine 
Mehreinfuhr  von  Mehl  und  Mahlprodukten 
hatte.  Es  betrug  nämlich  1896,  1897  und 
1898  die  Einfuhr  158,  76  und  104,  die  Aus- 
fuhr 140,  180  und  360  Tausend  Meter- 
Centner.  Aehnlich  hatte  Spanien  1883  bis 
1886  eine  Mehrausfuhr  von  "Weizenmehl, 
1887/89  aber  eine  Mehreinfuhr.  Seither  ist 
die  Einfuhr  ständig  zurückgegangen  und 
zw^ar  von  254  860  Meter-Centner  im  Jahre 
1890  auf  8206  Meter-Centner  im  Jahre  1897, 
während  die  Ausfuhr  von  1890  bis  1893 
von  317  430  auf  9  120  Meter-Centner  fiel, 
dann  aber  bis  1896,  1897  auf  578  290  resp. 

18406,  Frankreich  641,  Britisch  Nordamerika 
2499,  Oesterreich-Ungarn  1080,  Deutschland  61 
Tausend  englische  Centner  Weizenmehl. 


320 


Getreideliandel  (Statistik)  —  Getreidepreise 


496410  Meter-Centner  stieg,  sodass  sich 
1892  und  1893  zwar  eine  Mehreinfuhr,  seit- 
her aber,  wie  in  Italien,  eine  starke  Mehr- 
ausfuhr ergab,  1898  betrug  die  Einfuhr 
30  977,  die  Ausfuhr  159  755  Meter-Centner. 
Eine  ständige  .Mehrausfuhr  von  Mehl  und 
Mahlprodukten  hatte  Dänemark  bis  in 
die  90  er  Jahre.  1886  bis  1890  betrug  die 
durchschnittliche  Mehrausfuhr  von  Weizen- 
mehl 24,3  Millionen  kg,  die  von  Melü 
und  Mahlprodukten  anderer  Art  2  Älillionen 
kg.  Im  Durchschnitt  der  Jahre  1891—1895 
war  die  Mehrausfuhr  von  Weizenmehl  auf 
597426  kg  gesunken,  während  in  den 
ilbrigen  Mehl-  und  Mahlprodukten  eine 
Mehreinfuhr  von  5  Millionen  kg  eingetreten 
war.  In  den  Jahren  1895,  1896,  1897 
und  1898  ergab  sich  bei  allen  Melil  und 
Mahlprodukten  eine  Mehrausfuhr  und  zwar 
von  25,9  resp.  23,5,  22,5  \md  26,3  Milli- 
onen kg. 

Während  Dänemark  in  dieser  Weise  zu 
einem  Importstaate  geworden  ist,  trat 
Portugal  zu  Beginn  der  90er  Jahre  wie 
Italien  und  Spanien  infolge  von  Zollmass- 
regeln in  die  Reihe  der  Exportstaaten. 
1880—1889  betrug  im  Durchschnitt  die 
Mehleinfulir  27,  die  Mehlausfuhr  5  Tausend 
Meter-Centner.  Im  Durchschnitt  von  1890 
bis  1892  stieg  jene  auf  30,  diese  auf  13 
Tausend  Meter-Centner.  1893  wurden  nur 
14940  Meter-Centner  Mehl  importiert  und 
17  330  Meter-Centner  exportiert.  Seit  1894 
ist  die  Weizenmehleinfulir  ganz  beseitigt, 
von  anderen  Mehlgattungen  werden  nur 
minimale  Mengen  (18^7  170  Meter-Centner) 
eingeführt,  dagegen  stieg  der  Export  von 
Weizenmehl  im  DuK^hschnitt  der  Jahre 
1894—1897  auf  20178,  der  von  anderen 
Mehlgattimgen  ebenso  auf  504  Meter-Centner. 

Ausgesprochene  Mehlimportstaaten  sind 
dagegen  m  Europa  noch  die  Nieder- 
lande, die  Schweiz,  Schweden- 
Norwegen,  Serbien  und  die  Türkei, 
ausserhalb  Europas  Aegypten, Algier  und 
Südafrika.  Die  Einfuhr  von  Mehl-  und 
Mahlprodukten  in  diese  Gebiete  belief  sich 
im  Jahre  1897  auf  1751530  resp.  582000, 
911820,  6455,  1067110  (für  189rv— 1896) 
560080,  130000  und  227  597  Meter-Centner. 

Litteratar:  Mucke,  Deutschlands  Getreideverkehr 
mit  dem  Auslande,  Greifncald  1887,  —  Ueher- 
Hchien  der  Weltwirtschaft ,  begründet  von  f  Dr. 
von  Neumann- Spallart,  fortgesetzt  von  Dr. 
von  Juraschek,  Jahrg.  1885189  und  frühere, 
Berlin  1891.  —  Das  Getreide  im  Welt- 
verkehr, Wien  1900.  —  Die  offiziellen  Handels- 
ausweise  der  einzelnen  Staaten. 

V,  Juraschek. 


Oetreidepreise. 

1.  Die  Beguliening  der  G.  2.  Die  Er- 
hebung der  G.  3.  Das  statistische  Zahlen- 
material. 

1.  Die  Regalienmg  der  6.     Wie  die 

Bildung  der  Getreidepreise  vor  sich  geht, 
hat  Hemrich  v.  Thiinen  in  seinem  »isolierten 
Staat«  in  der  klagten  Weise  charakterisiert. 
In  einer  von  der  übrigen  Welt  abgeschlos- 
senen Ebene  mit  völlig  gleichen  natürlichen 
und  wirtschaftlichen  Bedingungen,  in  deren 
Mitte  der  einzige  Marktort  liegt,  welcher 
den  Ueberschuss  landwirtschaftlicher  Pro- 
duktion allein  absorbiert,  wird  der  öetreide- 
preis  so  hoch  steigen  müssen,  dass  die  Pro- 
duktionskosten desselben  plus  den  Trans- 
portkosten in  den  entiegensten  Gegenden 
noch  gedeckt  werden,  welche  noch  zur  Liefe- 
rung von  Getreide  nach  dem  Centralpunkte 
herangezogen  werden  müssen,  um  den  Be- 
darf zu  decken.  Je  mehr  die  Bevölkerung 
in  der  Stadt  steigt,  je  mehr  damit  der  •Be- 
darf an  Getreide  wächst,  lun  so  weitere 
Gegenden  müssen  zur  Lieferung  nach  der 
Stadt  hinzugezogen  werden,  und  entsprechend 
den  höheren  Frachtkosten  müssen  die  Ge- 
treidepreise steigen.  Es  ist  der  Marktort 
mit  seinem  Bedarfe  und  seiner  Nachfrage 
einerseits,  mit  dem  unter  den  ungünstigsten 
Verhältnissen  produzierenden  Ijandstriche, 
der  noch  zum  Angebote  von  Getreide  ver- 
anlasst werden  muss,  um  der  Nachfrage  zu 
genügen,  andererseits,  welche  die  Höhe  des 
Preises  bestimmen.  Jede  Ermässigimg  der 
Produktionskosten,  jede  Verminderung  der 
Fracht  z.  B.  durch  Verbesserung  der  Kom- 
munikationsmittel, wird  den  Preis  herab- 
drücken, jede  Transporterschwerung  den- 
selben steigern. 

Diese  Abstraktion  bietet  den  besten  An- 
halt zum  richtigen  Verständnis  der  Vor- 
gänge im  praktischen  Leben.  Den  Central- 
markt  repräsentiert  gegenwärtig  besonders 
für  Weizen  England;  die  mit  den  grössten 
Kosten  dorthin  liefernden  Länder,  welche 
den  Preis  bestimmen,  liegen  im  Innern  von 
Amerika,  Indien,  Russland,  Argentinien  etc. ; 
diese  treten  mit  einander  in  Verbindung, 
um  über  die  Köpfe  der  dazwischen  liegen- 
den Territorien  den  Preis  zu  normieren 
und  der  übrigen  Welt  zu  octroyieren.  So 
liaben  specieU  die  Landwirte  in  Deutschland 
keinen  Einfluss  auf  den  Weizenpreis  des 
Weltmarktes.  Für  Roggen  ist  das  Haupt- 
bezugsland Deutschland,  das  Produktions- 
gebiet Russland.  Die  durchschnittiichen 
Produktionskosten  im  Innern  jenes  Landes 
und  der  Frachtaufwand  bis  zum  Absatzge- 
biete bilden  die  Basis  der  Preisnormierung. 
Ob  in  Deutschland  der  Anbau  von  Weizen 
oder  Roggen  etwas  mehr  oder  weniger  aus- 
gedehnt wird,   ist  von   untergeordneter  Be- 


Getreidepreise 


321 


<lentnng.  Das  Territorium,  welches  Einsatz 
dafür  bieten  kann,  ist  zu  gross,  als  dass  es 
dagegen  anzukämpfen  vermr>chte.  Dagegen 
ist  zuzugeben,  dass  jedes  Ijand,  selbst  jeder 
Bezirk  noch  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
trotz  des  entwickelten  Handels  seine  eigene 
Pi*eisbildung besitzt.  Selbst  innerhalb  Deutsch- 
lands liegen  erhebliche  Abweichungen  vor, 
die  auch  in  dem  Durchschnitte  mehrerer 
Jahre  zu  Tage  treten,  z.  B.  zwischen  dem 
Westen  und  Osten  Preussens,  Lindau  und 
Hamburg  etc.  Hier  sind  die  Preise  dauernd 
höher,  dort  durchschnittlich  niedriger,  weil 
das  Verhältnis  von  Angebot  zu  Nachfrage 
nachhaltig  ungünstiger  ist.  Die  lokale  Pro- 
duktion hat  immer  noch  für  den  lokalen 
Bedarf  eine  hohe  Bedeutung,  und  nament- 
lich in  einzelnen  Momenten  verschiebt  sich 
das  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage 
unter  lokalen  Einflüssen  und  bringt  örtliche 
Preisschwankungen  hervor,  die  an  anderen 
Orten  nicht  gespürt  werden. 

Von  den  Durchschnittspreisen,  welche 
in  der  erwähnten  Weise  reguHert  werden, 
weichen  die  Preise  der  einzelnen  Jahre  und 
Monate  erheblich  ab,  wobei  das  Verhältnis 
von  Angel)ot  und  Nachfrage  massgebend 
wird,  bedingt  durch  den  Ernteausfall,  vor- 
handene Warenvorräte  des  Vorjahres  und 
sonstige  Konstellationen  des  Handels.  Der 
Bedarf  verändert  sich  immer  nur  unwesent- 
lich von  einem  Jahre  zum  anderen,  bedeu- 
tender dagegen  die  Dringlichkeit  des  Be- 
darfes. Auch  eine  rapide  Bevölkerungszu- 
nahme bringt  hier  nur  unbedeutende  Ver- 
änderungen hervor;  schon  grosser  sind  die 
Schwankungen  in  dem  Bedarfe  an  Vieh- 
futter, welcher  je  nach  dem  Gras  wüchse 
des  Jahi-es,  der  Grösse  des  Viehstandes  Ver- 
änderungen erleidet.  Ist  somit  der  Bedarf 
auch  sehr  stabil,  so  ist  es  doch  keineswegs 
die  faktische  Nachfrage  in  dem  Masse,  wie 
man  es  gewöhnlich  annimmt.  Vielmehr 
wird  dieselbe  wesentlich  durch  den  Preis 
beeinflusst,  wie  durch  die  sonstigen  Mo- 
mente, welche  die  Kauffähigkeit  bedingen. 
Hohe  Getreidepreise  verweisen  die  grosse 
Masse  der  Bevölkenmg  mehr  auf  den  Kar- 
toffelkonsum ;  dasselbe  ist  der  Fall  zur  Zeit 
wirtschaftlicher  Krisen  und  Arbeitslosigkeit. 
In  der  Zeit  von  1838 — 1861  schwankte  der 
durchBclmittliche  Weizenverbrauch  in  einem 
Jahre  in  den  mahl-  und  sclüachtsteuerpflich- 
tigen  Städten  Schlesiens  zwischen  152  und  76 
Rund  pro  Kopf ;  in  Ostpreussen  der  Roggen- 
verbrauch zwischen  203  und  290  Pfund ;  in 
der  Provinz  Sachsen  zwischen  205  und  353 
Pfund;  in  Berlin  zwischen  140  und  229 
Pfund.  Im  Jahre  1847  reduzierte  sich  in 
Berlin  der  Verbrauch  an  Brotgetreide  auf 
214  Pfund  pro  Kopf,  während  er  10  Jahre 
später,  1857,  sich  wesentlich  höher  stellte, 
nämlich  auf  365,7  Pfimd.    Auch  wenn  man 


nicht  auf  aussergewöhnliche  Jahre  zurück- 
greift, ist  der  Unterschied  oft  ein  bedeuten- 
der; im  Jalire  1870  wiu-den  in  Berlin  V2 
]\Iillionen  Centner  Brotgetreide  mehr  konsu- 
miert als  1874,  obgleich  die  Bevölkenmg  in 
diesen  4  Jaliren  nicht  unbedeutend  gestiegen 
war. 

Wie  gross  der  Prozentsatz  ist,  der  von 
dem  Brotgetreide  zur  Viehfütterung  ver- 
wendet wird,  ist  auch  nicht  annäiiernd 
Ziffern  massig  zu  belegen;  man  kann  aber 
mit  Sicherheit  sagen,  dass  sich  das  Quan- 
tum in  teueren  Jahren  auf  das  wertlosere 
Korn  beschränkt.  In  dei*selben  Weise  redu- 
ziert sich  der  Verbrauch  in  Brennereien, 
Stärkefabriken  etc.,  während  in  billigen  Jah- 
ren diese  Verwendung  grosse  Dimensione€ 
anzunehmen  vermag.  Wir  untersuchten 
diese  Verbrauchsverhältnisso  auf  14  Gütern 
der  verschiedensten  Gegenden  und  mit  un- 
gleichen Wirtschaftsverhältnissen  und  stellten 
fest,  dass  im  Durchschnitte  von  5  Jahren 
22,2^/0  des  Ertrages  an  Brotgetreide  nach 
Abzug  der  Saat  an  Ort  imd  Stelle  an  das 
Vieh  verfüttert  worden  waren;  von  den 
übrig  bleibenden  77,8  ^/o  wiu-den  noch  wie- 
derum ca.  15^/0  an  Kleie  dem  mensclüichen 
Konsume  entzogen,  so  dass  auf  diesen 
Gütern  voUe  40  ^/o  des  Ei*nteertrages  an 
Brotgetreide  als  Viehfutter  verwendet  wur- 
den. Von  dem  übrigen  Teile  von  60  ^/o  ver- 
fiel aber  noch  ein  weiterer  erheblicher  Teil 
der  Verarbeitung  in  den  erwähnten  Fabriken 
und  wurde  damit  teils  ganz  dem  mensch- 
lichen Konsum  entzogen,  teils  nur  in  ge- 
waltig reduziertem  Zustande  in  der  Form 
von  Alkohol  etc.  als  Nahrungsmittel  benutzt. 
Diese  Verwendmigsarten  spielen  nmi  bei 
der  Nachfrage  nach  Getreide  nicht  nur 
eine  bedeutende,  sondern  besonders  selu* 
schwankende  Rolle.  Sie  unteretützen  die- 
selbe bedeutend  bei  niedrigen  Preisen, 
sie  vermindern  sie  bei  hohem  Preise 
und  wirken  damit  abschwächend  auf  die 
Preisschwankungen.  Gleichwohl  liegt  das 
Streben  vor,  einem  gewissen  durchschnitt- 
lichen Bedarf  Deckung  zu  schaffen,  und  je 
nachdem  der  ErnteausfaU  hierfür  zu  genügen 
oder  nicht  auszureichen  scheint,  werden  die 
Preise  von  einem  Jahre  zum  anderen  modi- 
fiziert.^ Schon  die  Ernteaussichten  sind  im 
Sommer  liierauf  von  Einfluss  und  geben  der 
Spekulation  Anhalte,  die  Preise  bald  in  die 
Höhe  zu  treiben,  bald  herabzudrücken, 
während  sie  sich  im  Laufe  des  Winters 
den  faktischen  ErnteausfaU  immer  mehr  zur 
Richtschnur  nehmen  und  niu*  dm*ch  lokali- 
sierte Verachiebungen  des  momentanen  Vor- 
rates und  Bedarfes  davon  abgelenkt  werden. 

Die  Dringlichkeit  des  Bedarfes  an  Nah- 
rungsmitteln ist  nun  Veranlassung,  die 
Preise  noch  stärker  schwanken  zu  lassen,  als 
es  der  ErnteausfaU  im  Verhältnis  zum  Be- 


UandwöTterbnch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


21 


322 


Getreidepreise 


darf  rechtfertigen  lässt,  und  ebenso  treibt 
die  Schwierigkeit  und  Kostspieligkeit,  Ge- 
treide bis  zum  nächsten  Jahre  aufzuspeichern, 
und  die  Gefalir,  dasselbe  in  der  Qualität  ver- 
ringert zu  sehen  und  diu'ch  einen  weiteren 
Preisröckgang  niu*  mit  Yerlust  anbringen  zu 
können,  bei  einem  zu  erwartenden  üeberflusse 
den  Preis  in  einem  stärkeren  Verhältnis 
zurück,  als  das  Verhältnis  des  Vorrates  zum 
Bedarf e  verschoben  ist.  Der  Engländer 
King  hatte  sogar  versucht,  für  diese  Preis- 
schwankungen im  Verhältnis  ziun  Ernteaus- 
fall eine  bestimmte  Regel  aufzustellen, 
welche  indessen  durch  die  Erfalinmg  als 
unhaltbar  erwiesen  ist.  Die  zusammenwir- 
kenden Momente  sind  zu  mannigfaltig,  als 
dass  sie  eine  solche  Regelmäßigkeit  gestatten 
sollten. 

Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich,  dass  die 
Jahrespreise  je  nach  dem  Emteaus^e  um 
den  Dimihschnitt  oscillieren,  welcher  wieder- 
um  durch  Produktions-  und  Frachtkosten 
in  der  erwähnten  Weise  bestimmt  wird. 

Dieser  Durchschnittspreis  musste  bisher 
naturgemäss  innerhalb  grösserer  Perioden 
mit  der  Kulturentwickelung  und  der  Zu- 
nahme der  Volksdichtigkeit  fortdauernd  stei- 
gen. Das  Ackerland  ist  nur  in  beschränkter 
Quantität  vorhanden  und  kann  nur  durch 
erheblichen  Kapitalaufwand  vermehrt  wer- 
den. Die  occupierte  Fläche  lohnt  die  inten- 
sivere Ausnutzung  in>  grossen  Ganzen  nur 
in  geringerem  Masse,  daher  an  Ort  und 
Stelle  die  Produktionskosten  steigen  und 
der  Bezug  vom  Auslande  grössere  Dimen- 
sionen annimmt.  Unter  den  bisherigen  Ver- 
hältnissen musste  daher  der  Preis  der  Boden- 
produkte stärker  steigen,  als  der  der  Manu- 
lakte.  Und  nächst  dem  Holze  ist  thatsäch- 
lich  das  Getreide  im  Laufe  der  Jahrhunderte 
am  stärksten  im  Preise  gestiegen.  Die  ge-. 
waltigen  Erfindungen  der  Neuzeit  hab^n 
aber  auch  diese  bisherige  Regel  umgestaltet. 
Die  Verbilligimg  der  Transportkosten  zur 
See  wie  zu  Lande  durch  die  verbesserten 
Kommunikationsmittel ,  die  Aufschliessung 
der  verschiedenen,  bis  dahin  der  Kultur  ver- 
schlossenen Gegenden  durch  Eisenbahnen 
ermöglichten  einen  internationalen  Austausch 
der  Landesprodukte,  wie  er  bisher  nicht 
geahnt  war,  erweiterten  den  Getreidemarkt 
und  gestatteten  auf  diese  Weise  einen  Aus- 
gleich der  Preise  zwischen  den  verscliiede- 
nen  Ijändern  und  bewirkten  damit  für  die 
Hauptkulturländer  Europas  eine  bedeutende 
Preisreduktion,  zu  deren  Ueberwindung 
längere  Zeit  nötig  ist,  die  aber  sicher  in  ab- 
sehbarer Zeit  überwunden  werden  wird. 

Die  Preise  der  verschiedenen  Ge- 
tr  ei  de  arten  stehen  in  Wechselbeziehung, 
w^eU  sie  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grad^ 
zu  ersetzen  vermögen  und  somit  als  Surro- 
gate anzusehen  sind. 


Ist  der  Preis  des  Roggens  hoch,  so  wird 
Weizenmehl  geringer  Qualität  mit  Roggen- 
mehl gemengt  verbacken  und  im  Roggen- 
brote verkauft,  wälirend  zugleich  im  Ver- 
hältnis mehr  Weizen-  als  Roggenbrot  ver- 
zehrt wird.  Dies  erweitert  die  Nachfrage 
nach  Weizen,  vermindert  dieselbe  nach 
Roggen,  sodass  ein  übermässiges  und 
längeres  Auseinandergehen  der  Preise  ver- 
hindert wird;  dazu  kommt,  dass,  wenn  das 
Missverhältnis  einige  Zeit  andauert,  der 
Landwirt  sich  veranlasst  sieht,  Land,  welches 
er  bisher  mit  Weizen  bestellte,  obgleich  es 
sich  nicht  besonders  dafür  eignete,  nun  der 
Roggenkultur  zu  übergeben,  was  gleichfedls 
das  Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage 
beeinflusst  In  ähnlicher  Beziehung  steht 
der  Roggen  zum  Hafer,  weil  er  sehr  gut 
zum  Viehfutter  zu  verwenden  ist  und  des- 
halb die  Stelle  des  Hafers  vertreten  kann. 
In  derselben  Weise  ergänzen  sich  Gerste 
und  Hafer  und  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  Gerste  und  Roggen.  Nur  dadurch 
hat  die  Gerste  eine  isolierte  Stellung,  dass 
sie  bei  der  Bierbrauerei  durch  keinen  Kon- 
kurrenten verdrängt  werden  kann,  doch 
handelt  es  sich  dabei  nur  um  die  beste 
Qualität,  welche  als  »Braugerste«  bekannt  ist 

Wird  der  durchschnittliche  Rog^npreis 
nach  Gewicht  in  Deutschland  gleich  100 
gesetzt,  so  war  der  Weizenpreis  dazu  in  der 
ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  gleich  134, 
der  Preis  der  Gerste  93,  der  des  Hafers  90. 
In  der  zweiten  Hälfte  haben  sich  diese 
Zahlen  etwas  verschoben,  Weizen  ist  auf 
ca.  126  heruntergegangen,  Gerste  und  Hafer 
sind  auf  100  gestiegen. 

2.  Die  Erhebnng  der  6.  Bei  der 
hohen  Bedeutung  des  Getreides  für  die 
Volksernähning  hat  man  den  Getreidepreisen 
schon  früh  eine  besondere  Aufmerksamkeit 
zugewendet,  und  die  Chroniken  überliefern 
uns  eine  Menge  Angaben  schon  aus  dem 
Mittelalter;  aber  dieselben  pflegen  exceptio- 
nellen  Jahren  zu  entstammen,  wo  die  be- 
sonders hohen  und  niedrigen  Preise  die 
Aufmerksamkeit  der  Zeitgenossen  auf  sich 
zogen.  Regelmässige  Notierungen  finden 
sich  erst  in  dem  merkantilistischen  Zeitalter, 
dort  allerdings  mit  besonderer  Zuverlässig- 
keit, weil  sie  polizeilich  vorgenommen  wur- 
den, um  danach  die  Brottaxen  zu  normieren. 
Deslialb  stellte  der  Magistrat  an  jedem  Markt- 
tage wie  an  jedem  Marktorte  Erhebungen 
an  und  wurde  dabei  von  der  Bäckerzunft 
auf  das  genaueste  kontrolliert.  Die  Preis- 
angaben aus  dem  17.  und  18.  Jahrhundert 
haben  deshalb  meistens  eine  grössere  Zuver- 
lässigkeit als  die  gegenwärtigen. 

Die  statistischen  Angaben  über  die  Ge- 
treidepreivse  der  Gegenwart  betreffen  teils 
Engi-os-,  teils  Detailpreise.  Das  letztere  ist  z.  B. 
der  FaU  bei  den  von  dem  preussischen  statis- 


Gctieidepreise 


323 


tischen  Biireaii  publizierten,  welche  von  dem 
Magistrate    meist   durch  Polizeiorgane    auf 
den  Wochenmärkten  erhoben  \md  zusammen- 
gestellt werden.     Je  nach  der  Zuverlässig- 
keit des  Beamten  und  dem  Interesse,  welches 
er  dem  Gegenstande   entgegenbringt,  wird 
die  Aufstellimg  eine  grössere  oder  geringere 
Zuverlässigkeit  haben,  d.  h.  dem  wirklichen 
Durchschnitte  der  Preise  entsprechen.     Da 
ausserdem  unter  den  mehr  als  80  Städten, 
in  welchen  die  Aufnahme  stattfindet,  sich 
Grossstädte  mit  gewaltigen  Umsätzen   wie 
kleinere  Ortschaften  mit  rein  lokalem  Ver- 
kehre befinden,  so  ist  der  dadurch  gewonnene 
Durchschnitt  für  das  ganze  Land  oder  eine 
Provinz  aus  Zahlen  mit  sehr  ungleicher  Be- 
deutung erzielt.    Die  Getreidepreise,  welche 
für  das  Deutsche  Reich  seit  dem  Jahre  1878 
von  dem  statistischen  Eeichsamte  publiziert 
werden,  sind  dagegen  Engrospreise,  wie  sie 
von  den  Handelskammern  für  bedeutendere 
Börsenplätze    zusammengestellt   sind.      Da 
an  jedem  Orte  die  hauptsächlich  gehandelte 
Ware  zur  Notierung  gelangt,  so  hat  man  es 
an  den  verschiedenen  Orten  nicht  mit  der- 
selben   Qualität    zu   thun,    wodurch   allein 
Preisverschiedenheiten   an   selbst  nahe  ge- 
legenen Orten  in  sonst  imerklärbarer  Weise 
zu  Tage  treten.   Eben  dadurch  kommen  aber 
auch  lokalisierte  Preisschwankungen  vor,  die 
allein  darauf  zurückzuführen  sind,  dass  sich 
gerade  an  der  massgebenden  Qualität,  z.  B. 
Saalgerste  Nr.  1,  für  Brauzwecke  ein  be- 
sonderer üeberfluss  oder  Mangel  herausge- 
stellt hat  und  Preisänderungen  herbeiführte, 
welche  das   übrige  Getreide  gar  nicht  mit- 
machte.   Die  Börsenpreise  werden  wiederum 
beeinflusst  durch  die  festgestellte  Lieferungs- 
qnalität    Ist  dieselbe  eine  geringe  und  da- 
her niedrig  im  Preise,  so  kann  das  Unein- 
geweihten gegenüber  zu  einem  Druck  auf 
die  fteise  verwertet  werden.     Im   übrigen 
vermag  die  Börsenspekulation  wohl  von  Tag 
zu   Tag,   ausnahmsweise  auf  Wochen   die 
Preise  zu  beeinflussen,  aber  nicht  nachhaltig, 
und   um    so  weniger,  je  ausgedehnter  der 
Markt  ist,  da  dann  die  in  Betracht  kommen- 
den  Massen  viel    zu  bedeutend   sind,  um 
durch  einzelne  beherrscht  werden  zu  können. 
Der  allgemeine  Weltverkehr  beherrscht  da- 
her die  Weizenpreise,   wie   das   enge   Zu- 
sammengehen der  Pr^e  auf  den  verschie- 
denen   Weltbörsen   von    Monat    zu   Monat 
leicht  erkennen  lässt.     Das  ist  auch  noch 
bei  dem  Roggen  der  Fall^  besonders   durch 
die   grosse  Aoncentration   des  Handels  an 
einem  Punkte,  in  Berlin,  wo  sich  das  An- 
gebot  der  disponiblen  Massen   zusammen- 
findet und  die  Nachfrage  aus  den  verschie- 
denen Himmelsgegenden  in  hohem  Masse 
vereinigt  auftritt.    Weniger  ist  das  der  Fall 
bei  der  Gerste,  wo  die  Qualität  grosse  Preis- 
verschiedenheit  und   verschiedene   Käufer- 


kreise bedingt;  noch  weniger  bisher  bei 
dem  Hafer,  für  welchen  die  Lokalmärkte 
eine  höhere  Bedeutung  bewahrt  haben.  Da- 
her sind  bei  den  letzteren  Früchten  die 
Preisschwankungen  noch  von  Monat  zu 
Monat  in  demselben  Erntejahre  weit  grösser, 
als  bei  dem  Brotgetreide,  wie  die  Verschie- 
denheit der  Preise  zwischen  den  einzelnen 
Gegenden.  Naturgemäss  vermag  ein  reicher 
Händler  den  Lokalmarkt  leichter  zu  beherr- 
schen als  eine  Weltbörse,  und  je  ausgebil- 
deter der  Handel  an  der  Börse  ist,  um  so 
mehr  gleichen  sich  die  Preise  aus,  während 
die  Schwankimgen  des  Kassageschäfts  in 
monatlichen  Durchschnitten  weit  grössere 
sind,  die  Schwankungen  von  Tag  zu  Tag 
dagegen  geringer. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dass  die 
Preisangaben  der  offiziellen  Statistik  keines- 
wegs für  alle  Untersuchungen  ausreichende 
Gleichartigkeit  und  Korrektheit  besitzen  und 
dieselben  niu:  mit  Vorsicht  und  Sachkenntnis 
zu  verwerten  sind. 


3.   Das 

TabeUe  I. 

1401- 
1451 
1501- 
1551- 
1581- 
1601- 
1701- 
1801- 
1861- 
1891- 
1851- 


statistische   ZahlenmateriaL 

England. 

per  Quarter 

7  sh.  I  d. 
6     ..   2 


-1450 
1500 
-1550 
-1580 
-1600 
-1700 
1800 
-1850 
-1890 
-1898 
-1898 


12 

17 

26 

39 
41 
64 

49 
31 
44 


o 

9 
8 

I 

I 

2 

3 

2 

2 


»» 
»I 
11 


Tabelle  II.  Getreidepreise  in  Berlin  pro  Tonne 

ä  1000  kg  in  Mark  R.-W. 

Jahr 

Weizen 

Roggen 

Gerste 

Hafer 

1 

2 

3 

4 

5 

1651—1700 

74,50 

53,40 

54,64 

52,94 

1701    1730 

84,78 

62,72 

52,92 

52,52 

1751    1800 

125,32 

101,42 

108,40 

96,50 

1801--1850 

185,80 

136,00 

127,20 

136,60 

1851—1897 

196,69 

155,16 

153,21 

151,88 

1851-1880 

211.00 

161,40 

153,60 

155,20 

1881  -1890 

176,20 

146,00 

152,80 

144,40 

1891    1897 

164,63 

141,54 

152,14 

148,34 

1898 

178,00 

140,00 

131,00 

159,00 

Verhältnis 

1651—1700 
1701—1730 
1751—1800 
1801—1850 
1851—1880 
1881  -1890 
1891-1897 
1851—1897 


zum  Roggen 


139,5 

100 

102,3 

135,1 

100 

84,3 

123,5 

100 

106,8 

136,6 

100 

93,5 

130,7 

100 

95,1 

120,7 

100 

104,7 

116,3 

100 

107,4 

126,8 

100 

98,7 

99,1 

83,4 

95,1 
100,4 

95,1 

98,9 

104,8 

97,9 


21* 


Gotrcidepi-eiüc 


Tabelle  III.  Preise 

landwirtatbaftlicher  Produkte  von 
a  1000  kg  in  Mark  E.-W 

1816- 

1898  f 

r  die  Tonne 

Weizen 

1 

, 

III 

ssSä 

Uli 

ll 

M 
€ 

i 

1 

i 

i 

1816—1820 

364,0  1  365,5 

206,2 

-157,8 

iS[,8  ,240,3  '  - 

-  59,0 

151,8  1  131.4  1  129,8 

162.4 

1821-1830 

266,0  !  192.4 

121,4 

-144,6 

109,2     132,6      - 

-  23,4 

126,8  1    76,6       79,8 

97,0 

1831-1840 

as4,o  1  199,2 

138.4 

-115,6 

J33.S  1 147,3  :  - 

-  14,0 

100,6  1   87,6  ;  91,6 

107.4 

1841-1860 

240,0  1  206,6 

167,8 

—  72,2 

-  21,6 

123,0    111,2  ,100,6 

130,0 

1851—1860 

250,0     Z3[,4 

211,4 

-  38,6 

19916     223I6  ,  - 

r-    24,0 

165,4    150,2    144,0 

176,0 

18fil— 1870 

248,0  1  224,6 

204,6 

—   43,4 

195,0    218,6  i  - 

^    23,6 

154,6     146,0  ,  140,2 

i68,j 

1871-1875 

246.4  1  ^48,8 

235,2 

225,0  1  246,0     - 

■   21,0 

179,2     170,8     163,2 

224.4 

J876— 1880 

206,8  1  219,4 

211,2 

-     4,4 

h    20,2 

166,4   162,0  :  152,6 

231,8 

1881-1885 

[80.4  1  205,6 

189,0 

"    .^'^ 

?32;6  'il'i  1  - 

y-  15,0 

160,0     154,8  ,145,« 

237,2 

]886-18i)0 

H2.8  1  I9i,2 

173,9 

165,6  !  183,6     ■ 

h  18,0 

H3,o    138,4     135,2 

209,4 

1891-1895 

128,2  1  .78,5 

■65,5 

■    37.3 

163,2  ;  173,4  !  ■ 

h  10.2 

148,5  1  142,5  1  143,4 

220,6 

18% 

123,0  1  157,0 

■    29,1 

147,0    155,0  1  - 

r     ä,o 

119,6  1  128,3  1 1^1,5 

200,9 

1897 

14',S     205,0 

'64,7 

■    23,2 

164,0    169,0  1  - 

h     5,0 

123,7  1  133,3  1  134,3 

205,9 

1898 

159,0  |3o6,o 

184,0 

- 

-    2S,0 

180,1 

196,0 

H 

r  13,0 

147,4 

144,3 

146,9 

222,9 

Aus  dcQ  voi'stehendon  Tabellen  I  und  II 
ergifbt  sich  vor  allem  eine  fortdauernde 
Steigerung  der  Getreideiireise  innerhalb 
giflsBerei' Perioden.  In  Bezug  anf  die  Zalden 
fflr  England,  welche  den  Werken  von  Rogei-s, 
Tooke  und  Newmarch  und  dem  Statistical  ab- 
stract  entnommen  sind,  ist  zu  bemerken,  dass 
die  älteren  Zahlen  nicht  genaue  sind,  weil  sie 
verschiedenen  (Quellen  und  Oi-ten  entstammen, 
und  dabei  nicht  auf  die  Veränderung  der 
Münz  Verhältnisse  Rücksicht  genommen  wer- 
den konnte.  Immerhin  geben  sie  einen  un- 
gefähren Anlialt.  Jedes  Land  war  darauf  an- 
gewiesen, in  der  Hauptsache  den  eigenen 
Bwlarf  selbst  zu  decken.  Die  wac'hsende  Ite- 
völkorung  steigerte  die  Nachfrage  und  trieb 
den  Preis  in  allen  Iiänderu  mit  fortschrei- 
tender Kultur  in  die  Höhe.  Innerhalb  der 
grossen  Perioden  sind  mm  die  Preisschwan- 
knngen  in  alter  Zeit  weit  gi'üBSore  gewesen 
als  in  der  Gegenwart.  Bei  der  AV^eschie- 
denheit  des  Marktes  musstc  der  Einfluss 
des  Ernteausfalles  ein  weit  bedeutenderer 
sein  als  jetzt,  wo  die  verschiedensten  Län- 
der unter  einander  je  nach  Bedarf  ihre  Ueljer- 
schflsse  austauschen.  In  England  scliwankten 
die  Preise  des  Getreides  im  1.^.  Jahrliundert 
nni  dae  Tjöfache,  im  14.  JaJirhundert  um 
das  40fache,  im  15.  Jahrhundert  um  das 
20 fache,  im  16.  Jahrhmidert  um  das  Sfache, 
im  17.  um  das  3 'jä  fache,  im  IR  um  das 
4';£faohe,  aber  auch  in  diesem  Jahrhundert 
Hegen  noch  Schwankungen  um  das  4fache 
vor.  1812  listete  der  gnarter  ]2fi  sh.  6  d. 
18r.5  74  sh.  1  d.,  ISKÜ  31  sh.  1  d.,  wenn 
man  Jahres durclischnitte  in  Reclinnng  zieht. 
Die  dritte  Tabelle  zeigt  den  Ausgleich, 
welcher  im  I^aufe  dieses  Jalirhundorts  zw' 
sehen   Deutsoliland   imd  England    in    de 


Pi-eisen  stattgefimden  Iiat.  In  den  ei-sten 
Decennien  dieses  Jalirhunderts  war  der 
Weizenpreis  in  England  dopijolt  so  hoch  als 
in  Proussen,  das  letztere  Land  erzeugte 
melir,  als  es  gebranclite,  das  erstere  dagegen 
ar  mehr  und  mehr  auf  Zufuhr  vom  Aus- 
lande augewiesen,  gi-enzte  sich  aber  künst- 
lich durch  einen  hohen  Schutzzoll  von  dem- 
sellien  ah  und  steigerte  den  Getreidepreis 
dnrch  die  berühmte  gleitende  Skala  in  ausser- 
onicntlichem  JLisse.  Die  Ermässigung  der 
Zölle  in  den  30er  und  auch  in  den  40er 
Jaliren  und  der  sdüiessliclie  Fortfall  in  den 
CO  er  Jahi-en  übten  einen  erheblich  herah- 
drückenden  Einflnss  auf  dieselben  aus,  wäh- 
rend die  Zufulir  durch  die  Ausbildung  der 
Dampfschiffalu-t  wesentlich  ei'leichtert  wurde. 
Nur  in  England  ist  in  der  zweiten  Hälfte 
dieses  Jahi'himderts  der  Weizenpreis  gegen- 
über der  ereten  von  64,2  auf  44,2  sli.  zu- 
rückgegangen wie  100;  08,8,  wofür  die  Ge- 
schichte bei  aufsteigender  Kultm-  bisher 
sonst  noch  kein  Beispiel  bietet.  Es  war  dem 
Sieitalter  des  Dampfes  vorbehalten,  durch 
die  Verbesserung  der  Eommimikationsmittel 
diese  Ei'scheinuiig  horvorzunifen.  Beachtens- 
wert ist  es,  dass  die  Pi'eisentwickelung  in 
Berlin  eine  andeifi  war ;  dort  ist  der  Weizen 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts 
gegenüber  der  ersten  wie  100:105,8  ge- 
stiegen. Erst  in  dem  letzten  VierteljaSr- 
hundert  sind  die  Preise  erheblieh  niedngere 
infolge  der  Aufschliessung  bisher  ttnkiilti- 
vierter  Gegenden ,  die  dem  jungfränlichen 
Acker  mit  wenig  Kosten  grosse  Massen  (ie- 
treiiie  abzugewinnen  vermögen,  dann  durch 
die  erhebliche  VerbUligimg  der  Fracht  inner- 
halb der  Länder  auf  Bahnen,  Kanälen  und 
Stnimen,  auf   iler  See  durch  Dampfschiffe 


Getreidepreise 


325 


und  iii  der  neuesten  Zeit  durch  eiserne 
Schiffe.  Es  trat  noch  die  Entwertung  der 
Valuta  in  den  70  er  und  80  er  Jaliren  in 
Russland  unil  Indien,  in  den  90  er  Jahren 
in  Argentinien  hinzu,  um  einen  Druck  auf 
die  Preise  auszuüben.  Jene  überseeischen 
Länder  wie  das  Innere  Russlands  sind  in 
einen  näheren  Thünenschen  Kreis  gerückt, 
wodurch  das  bisherige  Monopol  vieler  euro- 
päischer Staaten  gebrochen  wurde.  Frülier 
oder  später  wird  auch  dieses  dui'ch  die  Zu- 
nahme der  Bevölkening  ausgeglichen  wer- 
den, doch  sind  nocli  immer  Territorien  vor- 
handen, die  neu  in  Kultur  genommen  wer- 
den können. 

Die  Senkung  der  Preise  kann  nun  ausser 
dvu'ch  üeberpi-oduktion  allein  durch  Yerbil- 
hgung  der  Produktion  oder  Verminderung 
der  Beschaffungskosten  herbeigeführt  wer- 
den, und  vielfach  haben  beide  Momente  zu- 
sammengewirkt. 

Bis  Mitte  der  70  er  Jahre  bewirkte 
in  Deutschland  die  Zunahme  der  Bevölke- 
rung eine  Steigenmg  der  Getreidepreise. 
Dann  warf  die  Konkurrenz  des  Auslandes 
dieselben  melir  und  mehr  ziunick,  trotz  der 


Auflegimg  erheblicher  Schutzzölle.  Durch 
diese  und  durch  den  zimehnienden  heimi- 
schen Bedarf  sind  aber  die  Preise  in 
Deutschland  mehr  und  mehr  über  dem  Niveau 
des  Weltmarktes  gehalten. 

Wir  haben  noch  auf  einen  besondei*en 
Punkt  einztigehen.  Es  ist  eine  besondei-s 
bei  Landwirten  sehr  verbreitete  Meinung, 
dass  die  Getreidepreise  unmittelbar  nach 
der  Ernte  am  niedrigsten,  vor  der  Ernte 
uu verhältnismässig  hoch  seien.  Es  hängt 
dies  mit  der  Annahme  zusammen,  dass  die 
Kaufleute  die  Preise  künstlich  zu  ihi-em 
Vorteil  beeinflussen  und  daher  zu  der  Zeit 
die  Preise  drücken,  wo  der  Landwirt  seine 
Produkte  zu  Markt  bringt  und  sie  in  die 
Höhe  schrauben,  wenn  sie  das  Getreide  in 
Händen  haben.  Wir  haben  deshalb  die 
Monatspreise  in  Preussen  für  eine  grössere 
Reihe  von  Jahren  verfolgt  und  Verhältnis- 
zahlen für  die  einzelnen  Monate  berechnet, 
sind  aber,  wie  die  folgende  Tabelle  ergiebt, 
für  die  Gegenwart  zu  dem  entgegengesetzten 
Resultat  gekommen.  (S.  Jahrb.  f.  Nat.  u. 
Stat,  IIL  Folge,  Bd.  IX,  *Die  Monatspreise  des 
Getreides«,  S.  247.) 


Tabelle  IV. 


Aug. 


Sept. 


Okt. 


Nov. 


Dez. 


Jan. 


Febr. 


März 


April 


Mai 


Juni 


Juli 


CO 

(-1 


N 


Monatliche  Weizenpreise  in  Verhältniszahlen. 


Preuss.  Staat 

1865-93 

Berlin  (nach  der 

Reichsstat.) 

1883—93 

Berlin  fültimo- 

preise    an    der 

Börse) 

1878-93 

Gnesen 

1888—93 


ioi,o 

99,0 

99,5 

99,5 

98,5 

98,5 

98,0 

98,5 

100,0 

102,5 

102,9 

102,9 

100 

ioi,9 

98,4 

97,8 

98,7 

98,4 

99,2 

99,0 

99,2 

101,0 

103,4 

101,4 

101,6 

100 

98,3 

96,4 

98,2 

98,1 

97,4 

99,0 

99,9 

99,7 

103,7 

104,3 

101,0 

103,6 

100 

102,7 

97,8 

96,7 

99,5 

98,8 

98,8 

96,7 

97,8 

100 

105,0 

103,3 

104,4 

100 

4,9 

5,6 


7,9 
8,3 


Roggen  preise 


Preus.s.  Staat 

1816-65 

1865-93 

Berlin 

Ultiraopreise 

1878—93 

Gnesen 

1888-93 


98 
98,2 


98,7 
94,9 


98     1102      102 
98,2  1 101,2  101,8 


98,7  101,7  100,2 


99,4 


101,5 


105,7 


100 

100 

100 

98 

98 

102 

106.1 

104,1 

100 

100,6 

99,4 

98,8 

98,2 

98,8 

100,6 

101,8 

101,2 

100 

101,1 

100,6 

100,2 

98,9 

100,3 

100,4 

100,7 

98,7 

100 

101,9 

100,9 

99,4 

97,4 

97,4 

100,3 

100 

100,6 

100 

8,1 

3,6 


3,0 


10,8 


Preuss.  Staat   1 
1865—93         97,4 


Gerstenpreise 


97,4 


99,4 


100,6 


100 


99,4 


100 


100 


101,3   100,9 


101,3 


100.6  liool 


3,9 


Preuss.  Staat   1 
1865-93        102 


Haferpreise 


95,3.  96 


97,3  '  96,7 


96,7 


97,3 


99,3 


102 


104,7  iio6     1107,3  |ioo| 


12,0 


326 


Geü'eideijreise  —  GetreidepiX)diiktion 


Die  Weizenpreise  waren  in  Preussen 
von  1865  bis  1893  in  den  di*ei  ersten  Mo- 
naten nach  der  Ernte  im  Verhältnis  zum 
Jahrespreise  99,7,  in  den  letzten  drei  Mo- 
naten 102,8.  Die  Differenz  ist  3,1  ®/o,  welche 
noch  nicht  den  Zinsverlust  und  die  Lage- 
rungskosten von  ^-4  Jahren  zu  decken  ver- 
mag. Der  Landwirt  that  am  besten,  im 
August  zu  verkaufen.  Bei  dem  Roggen  ist 
die  Differenz  in  dieser  Zeit  zwischen  99,2 
und  101,2  gar  nur  2  ^/o.  Die  Schwankungen 
der  Monatspreise  sind  überhaupt  sehr  ge- 
ringe. Viel  bedeutender  ist  der  Unterschied 
zwischen  den  einzebien  Monaten  in  Gnesen, 
einer  kleinen  Provinzialstadt,  wo  der  Lokal- 
handel dominiert,  aber  auch  da  sind  am 
Schluss  des  Erntejahres  bei  dem  Roggen 
die  Preise  nur  wenig  höher  als  im  Beginne 
desselben;  mehr  tritt  dies  bei  dem  Weizen 
hervor.  Beachtenswert  ist  es  ferner,  dass 
die  Schwankungen  in  früheren  Zeiten  weit 

grösser  gewesen  sind  als  in  den  letzten 
ecennien.  Die  Differenz  war  'Von  1816  bis 
1865  bei  dem  Roggen  zwischen  dem  ersten 
Yierteljahr  99,3  und  dem  letzten  104,1  fast 
5%.  Ausserdem  ist  bemerkenswert,  dass 
die  Preise  des  Hafers,  wo  der  Handel 
weniger  koncentriert  ist  imd  ein  Termin- 
handel nie  Platz  gegriffen  hat,  weit  grössere 
Abweichungen  von  Monat  zu  Monat  auf- 
weisen als  das  Brotgetreide.  Es  ist  aus 
diesen  Angaben  unbedingt  zu  entnehmen, 
dass  in  der  neueren  Zeit  die  Preise  eine 
grössei-e  Gleichmässigkeit  zeigen  als  in 
früheren  Zeiten,  dass  insbesondere  am  An- 
fange des  Erntejahres  die  Preise  für  den 
Landwirt  im  Durchschnitte  günstiger  sind 
als  am  Schlüsse;  dass  kein  Anhalt  aus  den 
Zahlen  für  die  Annahme  gewonnen  werden 
kann,  dass  die  Börse  einen  für  den  Land- 
wirt nachteiligen  Einfluss  auf  die  Preisent- 
wickelung ausübt,  und  dies  auch  nicht  von 
dem  Terminhandel  zu  sagen  ist. 

Wir  geben  schliesslicli  noch  zwei  kleine 
Tabellen,  V  und  VI,  welche  die  Verschie- 
denheit der  Getreideproise  innerhalb  des 
Deutschen  Reiches  in  den  letzten  Jahren 
zeigen,  sowie  die  verschiedenen  Sätze  in 
einigen  anderen  Ijändern. 

Tabelle  V.     Getreidepreise  im  Durchschnitt  der 
Jahre  von  1889—1898  nach  der  Statistik  des 

Deutschen  Reichs. 

1000  kg  in  Mark. 

Roggen      Weizen     Hafer     Gerste 

Danzig  131,47         135,32      121,24    135,22 

7i4gp.  L.  neuer  dz. 
Köln               157,91         182,63         —  — 

712'gp.L.  m.  75S  g 
Mannheim      159, 74         193.24      149,86    172,51 

mittel 
München        160,49         192,19      152,35     173,71 

gut  mittel 


Tabelle  VI.  Getreidepreise  im  Durchschnitt  von 
1892 — 98  nach  den  Monatl.  Nachweisen  über  den 
auswärtigen  Handel  des  deutschen  Zollgebietes. 
Herausgeg.  vom  Kaiser!.  Statist.  Amt 

1000  kg  in  Mark 
Roggen    Weizen    Hafer    Gerste 

Wien  125,6  154,9  113,1  149,4 

Petersburg  98,1  133,0        91,0  — 

Paris  113,1  176,6  140,1  131,6 

London  —  128,1  124,0  138,3 

Chicago  —  109,0        —  — 

New- York  —  123,4        —  — 

Litteratnr:  LiUeratur  zur  Geschichte  der  Ge- 
treidepreise :  J,  F,  Vnger,  Von  der  Ordmnuj 
der  Fruchtpreise  und  deren  Einflüsse  in  die 
wichtigsten  Angelegenheiten  des  menschlichen 
Lebens,  1752.  —  JL  Seuffert,  Statistik  des  Ge- 
treide- und  ViktuaUenhandels  im  Königreiche 
Bayern  mit  Berilcksichtigung  des  Auslandes, 
I847.  —  Tooke  und  Xewnvarch,  Die  Geschichte 
und  Bestimmung  der  Preise  während  der  Jahre 
169S—1857,  deutsche  Ausgabe,  1862.  — -  T,  Ro- 
gers y  A  history  of  agriculture  and  prices  in 
England,  1866,  1882.  —  Hanauer,  Etudes 
economiques  sur  l'Alsace,  1878.  —  Für  die  ein- 
zelnen Länder  bilden  die  offiziellen  statistischen 
Jahrbücher,  Abstracts  etc.  die  betreffende  Quelle. 
Für  das  Deutsche  Reich  fortlaufend  die  statis- 
tischen Monatshefte  und  das  statistische  Jahrbuch 
des  Deutschen  Reichs.  Für  Preussen  die  statis- 
tische Korrespondenz,  die  Zeitschrift  des  preussi- 
schen  statistischen  Bureaus  und  das  amtliche 
Jahrbuch.  Für  Oesterreich  das  statistische  Hand- 
buch der  Österreich iscJien  Monarchie.  —  S.  auch 
Krent/Pf  Ueber  den  Einfluss  des  Emteausfallps 
auf  den  Getreidepreis,  Jena  1879.  —  Derselbe, 
Ernten  und  Fruchtpreise  in  Jahrb.  f.  ydt.  u. 
Stat.,  K.  F.  Bd.  IX,  S.  S4ljf.  —  J.  Conrad, 
in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  iV.  F.,  Bd.  IX  u.  S.  F. 
Bd.  XL 

tT.  Conrad. 


Getreideprodnktion. 

I.Vorbemerkung.  II.  Die  Getreide- 
produktion in  einzelnen  Ländern. 
1.  Deutsches  Reich.  2.  Grossbritannien  und 
Irland.  3.  Frankreich.  4.  Italien,  ö.  Oester- 
reich -  Ungarn.  6.  Russland.  7.  Rumänien. 
8.  Vereinigte  Staaten  von  Amerika.  9.  Britisch- 
Ostindien.    III.  Allgemeiner  Ueberblick. 

I.  Vorbemerkimg. 

Die  hervorragende  Bedeutung  des  Getreide- 
baues für  die  Ernährungsfrafi^e  und  überhaupt 
die  gesamte  Volkswirtschaft  hat  dazu  geführt, 
dass  gegenwärtig  in  allen  Kulturländern  statis- 
tische Ermittelungen  über  den  Umfang  der  Ge- 
treideproduktion veranstaltet  werden.  Freilich 
kann  es  sich  stets  nur  um  Schätzungen  handeln, 
welche  indessen  bei  geeignetem  Verfahren  und 
sorgfältiger  Durchführung  einen  hohen  Grad 
von  Brauchbarkeit  erlangen  können  und  erlang 
haben.  Je  nach  der  Zweckmässigkeit  des  in 
den  einzelnen  Ländern  in  sehr  verschiedener 
Weise  beobachteten  Verfahrens  und  der  Zuver- 


Getreideproduktion 


327 


lässigkeit  der  mit  der  Erhebung  beteiligten 
Organe  sind  denn  aacb  die  Ergebnisse  von  recbt 
verschiedenem  Werte.  Während  in  den  früheren 
Jahrzehnten  die  Erhebungen  im  allgemeinen 
noch  sehr  unzuverlässig  waren,  hat  jedoch  die 
längere  Erfahrung  und  das  grössere  Interesse 
seitens  der  an  der  Erhebung  unmittelbar  be- 
teiligten Volkskreise  neuerdings  zu  befriedigen- 
deren Ergebnissen  geführt,  welche  sich  überall 
da  als  vömg  ausreichend  erweisen,  wo  geringere 
Abweichungen  von  den  thatsächlichen  Verhält- 
nissen nicht  ins  Gewicht  fallen.  So  können  die 
betreffenden  Angaben  dazu  dienen,  uro  die  Be- 
deutung des  Getreidebaues  in  seinen  einzelnen 
Zweigen  sowie  gegenüber  den  sonstigen  Erzeug- 
nissen der  Landwirtschaft  in  das  rechte  Licht 
zu  stellen ;  femer  um  die  zeitliche  Entwickelung 
der  Produktion  annähernd  zu  verfolgen  und  die 
Bedeutung  der  Ernteschwankungen  für  die 
Volkswirtschaft  zu  ermessen.  Zur  Beantwortung 
einiger  dieser  Fragen  genügt  bereits  die  An- 
baustatistik, welche  gegenüber  der  Ernte- 
statistik den  Vorzog  grösserer  Zuverlässig- 
keit besitzt.  (Vgl.  den  Art.  Agrarstatistik,  6. 
und  7.  Abschnitt:  Anbau-  und  Erntestatistik, 
oben  Bd.  I,  S.  71  ff.,  woselbst  auch  bereits  einzelne 


statistische  Daten  mitgeteilt  wurden.)  Am 
vollkommensten  sind  die  Erntemittelungen 
jedenfalls  dort,  wo  sie  sich  an  eine  Anbau- 
erhebung anschliessen  in  der  Weise,  dass  der 
mittlere  Ernteertrag  für  die  Flächeneinheit  der 
angebauten  Fruchtart.en  festgestellt  und  durch 
Multiplikation  dieser  Erntemenge  mit  der  ent- 
sprechenden Anbaufläche  der  Gesamtertrag  be- 
rechnet wird.  So  geschieht  es  auch  seit  1878 
im  Deutschen  Reiche,  in  welchem  die  Anbau- 
fläche in  zehnjährigen  Abschnitten  eingehend 
erhoben  und  flir  die  Zwischen  jähre  die  jähr- 
lichen Verschiebungen  im  Anbau  annähernd 
ermittelt  werden.  Seit  1899  haben  hier  die  Ernte- 
ermittelungen dadurch  eine  wesentliche  Ver- 
besserung erfahren,  da^s  sie  nicht  nur  auf  ganz 
kleine  Gebietsabschnitte,  wie  Gemeinden,  vor- 
genommen werden,  sondern  dass  auch  innerhalb 
dieser  kleinen  Erhebungsgebiete  je  die  ab- 
abweichenden Bodenarten  bei  der  Abschätzung 
des  Durchschnittsertrages  zu  berücksichtigen 
sind,  um  übrigens  feststellen  zu  können,  in 
wieweit  die  Produktion  eines  Landes  zur  Deckung 
des  eigenen  Bedarfs  hinreicht  bezw.  denselben 
übersteigt,  sind  neben  den  Angaben  über  die 


Getreide 


Erntefläche 
in  ha 

1898 

Weizen 1969  311 

Roggen 5  945  191 

Gerste i  660  126 

Hafer 3996521 

Spelz 328078 

Buchweizen 140389 

Emtemengen   auch   die  Aus-  und  Einfuhrver- 
hältnisse des  Getreidehandels  zu  berücksichtigen. 

Zu  den  für  die  landwirtschaftliche  Produktion 
in  Betracht  kommenden  Getreidearten  gehören : 
Weizen  nebst  seinen  verschiedenen  Abarten,  wie 
Spelz,  Dinkel,  Emmer,  Einkorn  u.  s.  w.^  femer 
Roggen,  Gerste,  Hafer,  Buchweizen,  Mais,  Reis, 
Hirse  u.  a.  In  Europa  sind  die  vier  ersten 
Arten  bekanntlich  bei  weitem  von  der  grössten 
Bedeutung,  während  in  den  Vereinip^ten  Staaten 
von  Amerika  der  Mais  und  in  Ostindien  neben 
dem  Weizen  auch  der  Reis  im  Vordergrunde  steht. 

Eine  vortreffliche  Zusammenstellung  und 
kritische  Bearbeitung  des  statistischen  Materials 
findet  sich  in  den  von  Neumann-Spallart 
begründeten  und  zuletzt  als  Jahrgang  1885  bis 
18ö9  von  Franz  v.  Juraschek  neu  herausge- 
gebenen nUebersichten  der  Weltwirt- 
schaft", welche  vielfach  herangezogen  worden 
sind.  Wenn  auch  vorzugsweise  den  Anbau  be- 
handelnd, kommt  doch  auch  für  die  allge- 
meine Beurteilung  der  Emteverhältnisse  das 
in  seiner  Art  einzige  grosse  Werk  von  Th.  H. 
Engelbrecht,  „Die  Landbauzonen  der 
aussertropischen  Länder"  (3  Bde.,  Ber- 
lin 1899)  in  Betracht.  Im  übrigen  ist  auf  die 
Litteraturangaben  des  Art.  Agrarstatistik  a.  a.O. 
zu  verweisen. 

Wo  in  den  nachfolgenden  Angaben  mehrere 
Jahre  zusammengefasst  sind,  beziehen  sich  die 
Zahlen  stets  auf  den  Durchschnitt  der  Periode. 


Gesamte  Erntemenge 

in  1000  Tonnen 

(zu  1000  kg) 


Emtemenge 
vom  ha  in  Tonnen 


1888,97 
2796714 
6  366  075 
2  277  149 
4  733  540 

389  369 
102  433 


1898 
3  292  945 
7  532  706 
2  514024 

5  780  699 

426  407 

99487 


1888/97 

^43 
1,09 

1,35 
1,20 

1,12 

0,58 


1898 

1,27 

1,51 

1^45 

1,30 
0,71 


II.  Die  Getreideprodnktion  in  einzelnen 

Ländern. 

1.  Deutsches  Reich.  Für  das  gesamte 
Reichsgebiet  (vgl.  Statistik  des  Deutschen 
Reiches,  Vierteljahi-shefte  1898,  III  und 
früher)  hat  die  Ei*mittelimg  der  Getreide- 
produktion zu  folgenden  Ergebnissen  geführt : 

Der  Wechsel  des  Emteausfalies  inner- 
halb der  letzten  beiden  Jahrzehnte  wird 
durch  nachstehende  üebersicht  für  die  wich- 
tigsten Getreidearten  gekennzeichnet. 

Ernteertrag  in  1000  Tonnen. 

Jahre  Roggen  Weizen  Gerste       Hafer 

1881  5  466  2  065  2  079  3  770 

1882  6414  2562  2260  4523 

1883  5  625  2  359  2 134  3  729 

1884  5470  2487  2233  4251 

1885  5  842  2  608  .  2  264  4  358 

1886  6092  2666  2337  4855 

1887  6375  2830  2205  4301 

1888  5  522  2  530  2  260  4  647 

1889  5  363  2  372  1 938  4 197 

1890  5867  2831  2283  4913 

1891  4782804  2333757   2517374  5279340 

1892  6827712  3162885   2420736  4743036 

1893  7460383  2994823    1946944  3242313 

1894  7075020  3012271    2432913  5250152 

1895  6  595  758  2  807  557    2  41 1  731  5  252  590 

1896  7232320  3008385   2317334  4968272 

1897  6  932  506  2  913  291    2  242  015  4  841  446 

1898  7  532  706  3  292  945   2514  024  5  780  699 


328 


Getreideproduktion 


Die  Jahressc^wankimgen  waren  teilweise 
nicht  unerheblich,  so  z.  B.  zwischen  1890 
und  1892  beim  Roggen,  der  1891  einen  sehr 
geringen  Ertrag  abwarf,  so  zwischen  1892 
und  1894  bei  der  Gerste,  die  1891  sichtlich 
weniger  erbrachte,  und  so  zwischen  1893  und 
1894  beim  Hafer,  der  im  letzten  Jahre  eine 
namhaft  grössere  Ernte  als  im  Vorjahre  er- 
gab. Auch  1898  stieg  die  Hafei-ernte  be- 
merkenswert. 

Das  kaiserliche  statistische  Amt  hat  fiir 
die  wichtig-sten  Getreidearten  und  die  Kar- 
toffeln eine  Verbrauchsberechnung  aufge- 
stellt, derart,  dass  zu  dem  gesamten  Ernte- 
ertrage die  in  den  ffeien  Verkehr  einge- 
führten ]ilengen  hinzugezählt  und  die  aus 
demselben  ausgeführten  Mengen  in  Abzug 
gebiucht  werden.  Aus  der  so  gewonnenen 
zur  Verfügung  stehenden  Gesamtmenge  er- 
giebt  sich  dann  nach  Abzug  des  ange- 
nommenen Aussaatquantums  der  zum  Ver- 
brauch verbleibende  Betrag.  Für  die  Jalu'e 
1894—1898  seien  nachstehend  die  so  er- 
haltenen Ergebnisse  (Angaben  in  Tonnen) 
mitgeteilt : 

Roggen  Weizen  Gerste  Hafer 


Geerntet 


Einge- 
führt 


Ausge- 
führt 


Gesamt- 
menge 


1894 

1895 

1896 

1897 

11898 

/1894 

1 1895 

11896 

1897 

1898 

18i^4 

1895 

1896 

1897 

1898 

1894 

1895 

18% 

1897 

11898 

1894 

1895 

1896 


7075 

3012 

2433 

5250 

6596 

2808 

2412 

5253 

7232 

3008 

2317 

4968 

6933 

2913 

2242 

4841 

7533 

3293 

2514 

5781 

681 

1280 

U83 

681 

887 

1537 

971 

887 

974 

1493 

1246 

974 

895 

1289 

1209 

1246 

728 

1603 

1302 

1209 

92 

109 

36 

50 

60 

72 

66 

44 

214 

148 

32 

19 

304 

269 

37 

26 

296 

179 

26 

66 

7665 

4184 

3580 

5534 

7423 

4273 

3317 

5450 

7992 

4354 

3532 

5553 

7523 

3933 

3414 

5347 

7965 

4716 

3790 

6046 

1028 

339 

244 

637 

1002 

331 

254 

645 

1017 

330 

251 

637 

1014 

329 

250 

640 

lOII 

337 

249 

639 

6637 

3845 

3335 

4908 

6421 

3942 

3063 

4805 

6975 

4024 

3280 

4916 

6584 

3605 

3165 

4707 

6955 

4380 

3541 

5407 

Aussaat-  j 
qiiantum  jigo^ 

(l898 

il894 

Bleiben  U«95 

zum  Ver-  U896 

brauch  |1897 

(1898 

Bei  der  Wichtigkeit,  welche  die  Kartoffeln 
für  den  Nahrungsbedarf  der  Nation  haben,  er- 
scheint es  gerechtfertigt,  auch  diese  Frucht  hier 
kurz  zu  berücksichtigen.  In  dem  Zeiträume 
1892/97  wurden  geerntet  (Angaben  in  lOüOTonnen) 
27  ü.-)?  581,  dagegen  im  Jahre  1898  3I79168H 
und  in  dem  gleichen  Jahre  eingeführt  224,  aus- 
geführt 148;  die  Gesamtmenge  belief  sich  auf 
31867,  da<s  Auasaatquantum  auf  6161  und  end- 
lich die  zum  Verbrauche  zur  Verfügung  stehende 
Menge  auf  2570(i. 


Uebriffens  stellt  das  zum  Verbrauch  ver- 
bleibende Quantum  noch  nicht  den  zur  mensch- 
lichen Nahrung  dienenden  Betrag  dar,  da  ein 
gewisser  Teil  als  zu  industriellen  Zwecken  ver- 
wendet in  Abzug  gebracht  werden  muss.  Für 
das  eigentliche  Brotgetreide  (Weizen,  Spelz  und 
Roggen)  sind  von  verschiedenen  Seiten  (Engel, 
Lexis,  Juraschek)  entsprechende  Berechnungen 
angestellt  worden,  welche  übereinstimmend  danin 
gehen,  dass  an  zum  Nahrungsbedarf  erforder- 
lichem Brotgetreide  auf  den  Kopf  der  Bevölke- 
rung pro  Jahr  etwas  über  180  kg  entfallen. 

2.  Grossbritannien  und  Irland.  Muss 
schon  im  Doutsohen  Reiche  etwa  der  zehnte 
Teil  des  als  Nahrungsmittel  dienenden  (re- 
treidequantums  vom  Auslande  bezogen  wer- 
den, so  ist  dies  in  noch  weit  höherem  Masse 
in  dem  industriell  fortgeschritteneren  England 
der  Fall.  In  treffender  Weise  gelangt  diese 
Thatsache  in  der  folgenden,  den  »Ueber- 
sichten  der  Weltwirt'^chaft«  entnommenen 
Berechnung  zum  Ausdnick,  welche  aus- 
schliesslich den  Weizen,  das  Hauptnahrungs- 
mittel des  englischen  Volkes,  berücksichtigt. 
Leider  liegen  die  Berechnungen  nur  bis 
1800  vor,  da  die  »Uebereichten«  für  die 
jüngere  Zeit  nicht  melu*  erschienen  sind. 
Die  Angaben  betreffen  das  gesamte  Ver- 
einigte Königreich.  Der  Gesamt  verbrauch 
setzt  sich  zusammen  aus  der  heimischen 
Weizenproduktion  nach  Abzug  des  Saat- 
gutes und  aus  den  NTettoimporten  an  Weizen 
und  Mehl  (1  Qu.  --  290,8  Liter,  1  Bushel 
=  3C,H  Liter.) 

Ernte-  Verbrauch 

Jahr      Produktion  Import    ry,.^  pro  Kopf 

(1.  IX.—  in  1000  Quarters       '^"^-  in  Busheis 

31.  VIII.) 

1852/59  1 3  1 60  4653  1 7  8 1 3  5,08 

186()'ri7  12254  8098  20352  5,50 

18()8  75  11632  10746  22378  5,63 

1876/80  9140  14727  23867  5,58 

1881/85  9242  17648  26890  5,97 

1886/87  7255  18523  25778  5,54 

1887  88  8856  17929  26785  5,70 

1888  89  8561  19004  27565  5,81 
188iV90  8770  19268  28038  5,85 

Der  hier  ei*sichtliche  Umschwung  in  den 
Verhältnissen  ist  eiuerseits  auf  die  rasch  zu- 
nehmende Bevölkerungszahl ,  anderei-seits 
aber  auch  darauf  zurückzufiUiren,  dass  die 
heimische  Weizenproduktion  erheblich  zu- 
rückgegangen ist.  Es  betrugen  die  Anbau- 
flächen in  100<J  Acres  (1  A.  ^^  40,5  Ar)  für 

Jahre  Weizen  Gerste  Hafer  Roggen 

1866  70        3801         2458  4453  66 

1871/75        3737         2598  4233  67 

1876  80        3190         2752  4170  62 

1881 85        2829         2478  4296  57 

1886^90        2489         2314  4257  75 


891/115 

2016 

2277 

4371 

75 

1894 

1980 

2268 

4524 

103 

1895 

1456 

2346 

4528 

80 

1896 

1734 

2286 

4304 

89 

1897 

1939 

2214 

4226 

90 

1898 

2158 

2069 

4098 

81 

Getreideproduktion 


B29 


Ueber  die  Getreideproduktion  selbst 
liegen  erst  seit  1884  zuverlässige,  amtliche 
Schätzungen  vor,  welche  zu  den  folgenden 
Ergebnissen  gefiihrt  haben.  Der  Gesamt- 
ertrag ist  dabei  in  1000  Busheis,  der  mitt- 
lere Ertrag,  welcher  sich  übrigens  nur  auf 
(ri-ossbritannien  bezieht,  in  Busheis  pro  Acre 
angegeben. 

Jahr^UtSr^-        «itüerer  Ertrag 
Weizen   Gerste  Hafer  Weizen  Gerste  Hafer 

1884  82066    79917    161 403    29,90   34,21    37,85 

1885  79635    85721    160440   31,24   35,18   37,58 

1886  63347    78309    169376    26.89   32,32    38,46 

1887  76224   69948    150789   31,97    31,12   34,25 

1888  74493  74  545  157  975  27,97  31,03  37,95 

1889  75883  74703  164078  29,89  32,37  39,75 

1890  75  994  80794  171  295  30,66  35,23  31,54 

1891  74  743  79  555  166472  31,30  34,72  40,46 

1892  60755  76939  168181  26,48  34,78  39,83 

1893  50913  75746  168588  26,08  29,30  38,14 

1894  60704  78601  190863  30,70  34,77  42,34 

1895  38285  75028  174476  26,33  32,09  38,67 

1896  58247  77825  162860  33,63  34,16  37,97 

1897  56295  72613  163556  29,07  32,91  38,84 

1898  74885  74731  172578  34,75  36,24  42,27 
Die    Intensität  des   landwirtschaftlichen 

Betriebes  ist  fortgesetzt  eine  sehr  bedeutende, 
uud  es  ist  lediglich  dem  Rückgang  der  An- 
baufläche zuzuschreiben,  dass  in  der  Weizen- 
produktion eine  so  beträchtliche  Verminde- 
rung eingetreten  ist.  Ueber  den  Roggen 
werden  amtliche  ErnteermittelungeD  nicht 
veranstaltet,  wohl  deshalb,  weil  diese  Frucht 
im  Königreiche  von  sehr  geringer  Bedeu- 
tung ist. 

3.  Frankreich.  Es  betrug  hier  (vgl. 
Annuaii*e  statistique) : 

die  Anbaufläche        der  Ernteertrag 
für         in  1000  ha  pro  ha  in  hl 

1886/95 1815  1835  1855  1875 1885 1886/95 

Weizen  6881  8,59  13,43  1 1,36  14,48  i5,79  15,56 

Hafer     3847  14,5817,4123,7721,8023,21  22,68 

Gerste     932  12,12  13,99  18,75  ^7,38  18,22  r8,4i 

Roggen  1574  7,65  12,50  io,o8  14,21  14,39  14,93 

Wenn  auch  diese  Erhebungen,  soweit  sie 
der  älteren  Zeit  entstammen,  nur  mit  Vor- 
sicht zu  benutzen  sind,  so  darf  ihnen  doch 
entnommen  weixlen,  dass  die  Kiütur  im 
Laufe  der  Jahre  erheblich  ertragreicher  ge- 
wonlen  ist.  Ausser  den  genannten  Getreide- 
arten wurden  während  der  Jahre  1879/88 
in  1000  ha  angebaut :  Mais  596,  Buchweizen 
628,  Halbfrucht  364  und  Hirse  47.  lieber 
die  gewonnenen  Emtemengen  giebt  folgende 
Uebersicht  Auskunft  (Angaben  in  1000  hl). 

1876/85  1889  1893  1896 

loi  767  108320  97792  119  742 

6 118  4560  3699  4130 

24916  23127  22516  24465 

18277  15806  12  241  16  241 

9  555  9  335  8718  8605 

81257  85260  62562  92003 

9 138  9 151  9  186  10722 

637  533         555  453 


Weizen 

Mengkom 

Roggen 

Gerst« 

Buchweizen 

Hafer 

Mais 

Hirse 


zusammen  251665    256092  217269    276361 


Seit  den  siebziger  Jahren  ist  Frankreich 
genötigt,  seinen  Nahruugsbedarf  teilweise  durch 
Einfuhren  aus  anderen  Ländern  zu  decken.  So 
betrug  1871 80  die  Ausfuhr  an  Weizen  (in 
1000  Doppelcentnem)  noch  835,;die  Einfuhr  9461, 
dagegen  1891/95  erstere  bloss  17,  diese  aber 
13096.  Dieser  wachsende  Bedarf  ist  weniger 
eine  Folge  der  Bevölkerung^s Vermehrung,  welche 
bekanntlich  nur  gering  ist,  als  vielmehr  des 
zunehmenden  Konsums  der  einzelnen,  was 
seinerseits  als  Symptom  des  steigenden  Volks- 
wohlstandes angesehen  werden  darf.  Während 
nämlich  in  den  zwanziger  und  dreissiger  Jahren 
auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  nur  150  bis 
200  Liter  Weizen  entfielen,  ist  diese  Quote  in 
den  siebziger  Jahren  bertits  auf  240  und  1887/88 
gar  auf  2tö  Liter  gestiegen. 

4.  Italien.  Hier  büdet  neben  dem  Weizen 
auch  der  Mais  einen  wesentlichen  Faktor 
der  landwirtschaftlichen  Produktion.  Nach 
dem  Annuario  statistico  (1898)  waren: 


Getreide 


Anbaufläche        Ernteergebnisse 
in  1000  ha  '  in  1000  hl 

1890/96    1879/83    1884/90  1891/97 


Weizen 

4  535 

4  343 

42  130 

43490 

Mais 

1  922 

I  892 

29175 

25029 

Hafer 

458 

437 

5963 

6456 

Gerste 

312 

338 

3  191 

30178 

Roggen 

142 

160 

1553 

I  526 

Reis 

177 

201 

7452 

5853 

Auch  Italien  ist  in  Bezug  auf  seinen  Ge- 
treideverbrauch, und  zwar  in  erheblichem  Masse, 
vom  Auslande  abhängig.  Die  Ausfuhr,  an  wel- 
cher hauptsächlich  Mais  und  Reis  beteiligt  sind, 
ist  im  Laufe  der  letzten  Jahre  beträchtiich  zu- 
rückgegangen und  1889  gar  auf  etwa  20000 
Tonnen  gesunken.  Um  so  grösser  ist  die  Ein- 
fuhr, welche  im  Durchschnitt  der  letzten  Jahre 
etwa  1  Mill.  Tonnen  betragen  hat,  wovon  etwa 
vier  Fünftel  auf  den  Weizen  entfallen. 

6.  Oesteireich-Ungarn.  Im  Jalire  1897 
betrugen  (nach  dem  österreichischen  bezw. 
ungarischen  statistischen  Jahrbuche)  die 
Ernteflächen  in  1000  ha 

Oesterreich  Ungarn  J^J?^  ^ -;^^ 


Weizen 
Roggen  und 

Spelz 
Gerste 
Hafer 
Mais 


1058   2780 


1844 

1173 
1912 

336 


1002 
946 

897 
1988 


233 

95 

69 

95 

357 


4071 

2941 
2188 
2904 
2681 


zusammen    6323        7613 


849       14  785 


Das  Ernteergebnis  war  in  1000  hl 
W- eizen     f%^li^  Gerste    Hafer 
1.  Oesterreich. 


Mais 


1891 

14474 

24676 

19478 

38569 

6756 

1892 

17681 

29617 

21  804 

39683 

6783 

1893 

15385 

27854 

18  502 

31503 

5468 

1894 

16982. 

30009 

21  321 

38659 

4861 

1895 

14720 

23539 

20824 

40013 

6597 

330 


Getreideproduktion 


Weizen 

Roggen 
u.  Spelz 

Gerste 

Hafer 

Mais 

2.  Ungarn, 

1891/95  52  664 

16938 

19506 

23629 

42912 

1895 

55682 

15908 

18486 

24  364  50  303 

1896 

52844 

17  lOI 

20384 

24643 

45413 

1897 

29450 

12462 

14550 

18552 

36029 

3. 

Kroatien-SlavonieB 

L. 

1891/'95 

2713 

980 

852 

1388 

5334 

1895 

3053 

737 

850 

1473 

6151 

1896 

3388 

1138 

1064 

1698 

6208 

1897 

2217 

885 

755 

1422 

4991 

Juraschek  (a.  a.  0.  S.  53)  macht  darauf  auf- 
merksam, dass  nach  der  eingehalteneu  Erhebungs- 
methode  die  Angaben  über  die  Ernte  Oester- 
reichs  zuverlässiger  sein  dürften  als  jene  von 
Ungarn,  dass  aber  in  beiden  Ländern  und  ins- 
besondere in  Ungarn  die  Erntemen^en  in  Wirk- 
lichkeit höher  seien,  als  sie  offiziell  nachge- 
wiesen werden. 

Bosnien  und  die  Herzegowina  haben  nur 
geringfügige  Ernten  und  dürfen  hier  ausser 
Betracht  bleiben. 

Entsprechend  den  wechselnden  Ernteergeb- 
nissen haben  auch  die  Ein-  und  Ausfuhrver- 
hältnisse des  Getreidehandels  im  Laufe  der 
Jahre  erhebliche  Schwankungen  gezeigt,  welche 
näher  zu  verfolgen  hier  indes  zu  weit  führen 
würde.  Wir  begnügen  uns  mit  dem  Hinweise 
darauf,  dass  die  reiche  und  namentlich  in  den 
letzten  Jahren  erheblich  gesteigerte  Produktion 
Ungarns  nicht  nur  der  ein  regelmässiges  Deficit 
aufweisenden  österreichischen  Reichshälfte,  son- 
dern auch  dem  Auslände  zu  gute  kommt. 

6.  Russland.  Ueber  die  russische  Ge- 
treideproduktion liegen  erst  seit  wenigen 
Jahren  zuverlässigere  Naclirichten  vor.  Nach- 
dem 1881  eine  allgemeine  Erhebung  der 
ßodenbenutzung  stattgefunden  hatte,  erfolgte 
zwei  Jahre  später  die  erste  statistische  Er- 
mittelung der  Ernteerträge  in  der  Weise, 
dass  auf  Grund  der  Angaben  über  die  be- 
baute Fläche  und  des  jedesmaligen  Durch- 
sc^hnittsertrages  die  gesamte  Produktion  be- 
i'cchnet  wird.  Nach  den  neuesten  vorliegen- 
den Angaben  der  Statistique  de  l'empire  de 
Russie  betrug  die  Erntefläche: 

(in  1000  Dessätinen  =  109,25  Ar) 


im  europ. 

im  ganzen 

Russland 

Reiche 

(60  Gouverne- 

(72 Gouverne- 

ments) 

ments) 

1898 

1898 

Winterweizen 

3212084 

4601 

Sommerweizen 

10577  806 

12815 

Winterroggen 

24590370 

25284 

Sommerroggen 

262680 

672 

Gerste 

6  903  297 

7632 

Hafer 

14  138  772 

15429 

Mais 

871  062 

I  032 

Buchweizen 

2  213  460 

2  264 

Spelz 

427  449 

436 

Hirse 

2351039 

2754 

zusammen  65  547  983 


72919 


Die  geernteten  Erträge  beliefen  sich  auf 
1000  Puds  (zu  16,38  kg) 

(60Gouverne-      ^^^l^^' 

'°«^^)      ments) 

1898 
256  164 
506  926 
I  X 18  041 

25599 

407951 
609232 

74306 

58419 
6168 

130727 


1893/97 

1898 

Winterweizen 

167  420 

194  132 

Sommerweizen 

369  859 

397244 

Winterroggen 

I  156566 

I  088  936 

Sommerroggen 

10953 

9370 

Gerste 

329  720 

364  434 

Hafer 

624  422 

545  345 

Mais 

45810 

612998 

Buchweizen 

54675 

56726 

Spelz 

15722 

5655 

Hirse 

96136 

103  338 

zusammen  2871283   2826478   3193533 

Heute  ist  Russland  neben  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika  das  wichtigste  Getreide- 
ausfuhrland für  Europa.  (Die  Einfuhr  ist  un- 
bedeutend.) Der  Export  richtet  sich  in  erster 
Linie  nach  Grossbritannien  und  Deutschland; 
daneben  kommen  Holland,  Frankreich,  Belgien 
und  Italien  mit  erheblichen  Zufuhren  in  Betracht. 
Grossbritannien  deckt  etwa  ein  Fünftel  seines 
von  auswärts  zu  beziehenden  Bedarfes  (haupt- 
sächlich Weizen)  durch  russische  Zufuhren, 
während  Deutschland  gar  zwei  Drittel  seines 
Mehrbedarfs  (Weizen  und  Roggen)  aus  Russland 
erhält.  An  Weizen  und  Roggen  wurden  aus- 
geführt in  1000  Puds  und  zwar  an: 


Weizen 

Roggen 

1891/95 

198570 

72910 

1894 

204  580 

81  590 

1895 

237  HO 

91  760 

7.  Rninänien.  Von  den  für  die  Ge- 
treideerzeugung nicht  unbeträchtlichen  Kul- 
turländern hat  nach  Juraschek-Hübners 
»Geographisch-statistischen  Tabellen«  Rumä- 
nien im  Mittel  von  1893/97  geerntet :  Weizen 
23,4,  Roggen  3,1,  Gerste  7,9,  Hafer  4,0  und 
Mais  23,3  mil.  hl. 

8.  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 
Diese  haben  zwar  früher  als  Russland, 
aber  doch  auch  erst  um  die  Mitte  des  19. 
Jahrhunderts  begonnen,  ihre  Getreidepro- 
duktion erheblich  zu  erweitern,  dann  aller- 
dings in  solch  überraschender  Weise,  dass 
sie  den  europäischen  Staaten  plötzlich  eine 
früher  nie  geahnte  Konkurrenz  bereiteten. 
Das  spricht  sich  auf  das  deutlichste  in  den 
nachstehenden  Daten  über  die  Erntemengen 
aus.    (1  Bushel  —  35,2  Liter.) 


Ernteerträge  in 

L  1000  Busheis. 

Weizen 

Hafer 

Mais 

1850 

104486 

146  584 

592  07 1 

1860 

173  105 

172643 

838  793 

1870/79 

312153 

341  441 

I  184487 

1880/84 

463  973 

495509 

I  575  194 

1885,89 

435417 

653  222 

I  831  714 

1890 

399  ^62 

523  621 

I  490000 

1891 

6  c  I  780 

738  394 

2060000 

1892 

5<5  949 

661035 

I  628000 

Getreideproduktion 


331 


Weizen 

Hafer 

Mais 

1893 

400473 

638  855 

I  619000 

1894 

460795 

662  784 

I  214205 

1895 

467  330 

825000 

2153409 

1896 

428  125 

707  386 

2  286  932 

1897 

530  1 14 

698  864 

I  903  409 

1898 

598  Ol  1 

669  034 

I  826  705 

Für  die  Jahi-e  1889  und  1890  wird  die 
AVeizenernte  auf  490  bezw.  414  Mill.  Busheis. 
die  Maisernte  auf  2112  bezw.  1600  mU. 
Busheis  angeft^eben.  Die  Ursache  der  ge- 
waltigen Zunahme  der  letzten  Jahrzehnte  liegt 
nun  nicht  in  einer  etwaigen  Steigerung  der 
Intensität  des  Landwirtschaftsbetriebes,  denn 
der  Ei-trag  pro  Acre  (=  40,5  Ar)  war  z.  B. 
in  Busheis  bei 


Weizen 

Mais 

1870/79 

12,4 

27,1 

1880/88 

I2,0 

23,8 

1889 

12,9 

27,0 

1890 

II, I 

20,7 

1891 

«5,3 

27,0 

1892 

»3,4 

23,1 

1893 

11,4 

22,5 

1894 

13,2 

19,4 

1895 

13,7 

26,2 

1896 

12,6 

28,2 

Auch  im  Vorgleich  zu  den  in  eim)päischen 
Ländern  erzielten  Erträgen  sind  diese  Diu^ch- 
schnittszahlen  als  massig  zu  bezeichnen. 
Die  Produktionssteigerung  erklärt  sich  viel- 
mehr daraus,  dass  im  Laufe  der  Jahre  immer 
grossere  Flächen  des  weiten,  dünn  besiedelten 
westlichen  Gebietes  zur  Kultur  herangezogen 
worden  sind.  Der  Umfang  des  kulti\'ierten 
Bodens  betrug  nämlich  1850  113032614, 
1S60  163110720,  1870  188921099,  1880 
284771042  und  1890  357  616755  Acres. 
In  diesem  letztei*en  Jahre  haben  die  Farmen 
insgesamt  (einschl.  unkultivierten  Boden) 
eine  Ausdehnimg  von  623218619  Acres  er- 
langt. Was  insbesondere  die  dem  Weizen- 
und  Maisbau  dienenden  Flächen  anbetrifft, 
so  betrugen  dieselben  in  Acres  beim 


im  J. 

1819 
1859 
1869 
1871 
1875 
1880 
1886 
1887 
1888 


Weizen 

8000 
14500 
20000 

19943 
26381 

37986 

36806 

37641 
37336 


Mais 

m 

9 

• 

34091 
44841 

6^317 

75694 
72392 

75672 


im  J. 

1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 


Weizen 

38  123 

36087 

39917 

38554 
34629 

34882 

34095 
34491 


Mais 

78326 
71971 
76205 
70627 
72036 
62  526 
82  104 
80984 


Die  Daten  aus  den  letzten  Jahren  lassen 
erkennen,  dass  in  der  weiteren  Ausdehnung 
der  Anbauflächen  des  Weizens  ein  gewisser 
Stillstand  eingetreten  ist,  dass  dagegen  die 
des  Mais  in  neuester  Zeit  eine  Erweitenmg 
erfahren  haben. 

Obgleich  die  rasche  Bevölkeningszanahme 
der  Vereinigten  Staaten   einen   erhöhten   hei- 


mischen Gretreideverbrauch  mit  sich  bringt  nnd 
z.  B.  der  Weizenkonsum,  welcher  in  der  Mitt« 
der  siebziger  Jahre  200  Mill.  Busheis  erreichte, 
1888/89  auf  327  Mill.  Busheis  angewachsen  ist, 
standen  auch  in  den  letzten  Jahren  noch  sehr 
ßrrosse  Mengen  zum  Export  zur  Verfügung. 
Nachdem  die  gesamte  Getreideausfuhr  bereits 
zu  Beginn  der  siebziger  Jahre  etwa  100  Mill. 
Busheis  erreicht  hatte,  stieg  sie  1878/79  auf 
220  Mill.,  1879/80  gar  auf  256  MUl.  Busheis. 
Hiermit  war  sie  auf  ihrem  Höhepunkte  ange- 
langt. Nachdem  noch  1880  81  246  Mill.  Busheis 
exportiert  wurden,  ist  die  .ausfuhr  seitdem  sehr 
rasch  gesunken,  wenn  sie  sich  auch  mit  91  Mill. 
im  Jahre  1887.88  und  118  Mül.  Busheis  im 
Jahre  1888,89  immer  noch  auf  beträchtlicher 
Höhe  hält.  Vorzugsweise  kommen  für  die  Aus- 
fuhr Mais  und  Weizen  in  Betracht.  An  letzterem 
wurde  ausgeführt  1861/70  22,  1871,80  78, 
1881/90  72,  1891/95  88,  1896  61  Mill.  Busheis. 
Die  Getreideeinfuhr  in  die  Vereinigften  Staaten 
tritt  gegenüber  diesen  Ausfuhrzifi'ern  völlig 
zurück  und  ist  nur  für  Gerste  von  Bedeutung, 
deren  wachsender  Bedarf  durch  die  inländische 
Produktion  nicht  gedeckt  wird. 

Unter  den  von  den  Vereinigten  Staaten  mit 
Getreide  versorgen  europäischen  Ländern  stehen 
Grossbritannien  und  Irland  mit  fast  zwei  Dritteln 
des  gesamten  Exports  in  erster  Linie.  Daneben 
kommen  namentlich  Frankreich  und  Belgien  in 
Betracht. 

9.  Britisch-Ostindien.  Seit  etwa  einem 
Jahrzehnt  ist  auch  Indien  den  für  den  Welt- 
markt hauptsächlich  massgebenden  Getreide- 
exportländern hinzugetreten.  Die  Haupt- 
früchte sind  Weizen  und  Reis.  Die  wach- 
sende internationale  Bedeutung  des  indischen 
Produktiousgebietes  erhellt  aus  nachfolgenden 
Angaben  in  1000  englischen  Centnern  (zu 
50,8  kg)  über  die  Ausfuhren: 


1876/81 
1881/86 
1886/87 
1887/88 
1888/89 
1889/90 
1890/91 


Weizen 
4522 

18371 
22  263 

13538 
17610 

13805 

14320 


Reis 

21  414 
27179 
26461 
28  149 

22  768 

34  474 


1891/92 
1892/'93 
1893/94 
1894/95 
1895/96 
1896,D7 
1897/98 


Weizen 

30303 

14973 

12  157 
6  888 

10003 

I  911 

2393 


Reis 
32740 
27396 
24020 
33722 
34636 
27820 
26272 


Die  starken  Schwankungen  des  Weizen- 
Exports  beruhen,  abgesehen  von  dem  £in- 
fluss  der  amerikanischen  Konkurrenz,  vor 
allem  auf  dem  durch  die  klimatischen  Ver- 
hältnisse bedingten  schroffen  Wechsel  des 
Ernteausfalles.  Die  Weizenausfuhr  richtet 
sich  in  erster  Linie  nach  England.  Die  An- 
baufläche (Agriciütural  statistics  of  British 
India,  1898)  ist  1884/85  für  Weizen  zu 
19732,  1896  97  zu  16184,  die  für  Reis 
1884/85  zu  20919  und  1896/97  zu  66234 
Tausend  Acres  ermittelt  worden. 

III.  Allgemeiner  Ueberblick. 

Nachdem  im  Vorstehenden  die  wichtigeren 
Staaten  emzeln  vorgeführt  sind,  erübrigt  es, 
soweit  es  angänglicli  ist,  einen  Blick  auf 


332 


Getreideproduktion 


die  gesamte  Produktion  der  Erde  zu  werfen. 
Für  frühere  Jahre  haben  die  »Ueber- 
sichten  über  die  Weltwirtschaft«  versucht, 
diese  zusammenzufassen  und  dabei  ausser- 
halb Europas   auf  die  Vereinigten   Staaten, 


Canada,  Chile,  Argentinien,  Britisch  -  Ost- 
indien, Japan,  Algier,  Tunis  und  Australien 
Rücksicht  genommen.  Das  ergab  für  den 
Dimihschnitt  von  1885/89  an  Gretreidepro- 
duktion  in  Millionen  Hektoliter: 


m 


europäischen  Staaten   .    . 
aussereuropäischen  Staaten 


Weizen 
n.  Spelz 

448,5 
328,7 


zusammen    777,2 


Koggen         Gerste         Hafer 


451,3 
10,5 


228,1 
48,4 


461,8 


559,0 
277,8 


Mais 

138,7 
668.6 


276,5  836,8         807,3 


Für  die  neuere  Zeit  bieten  geeignete  Unterlagen  hinsichtlich  des  Weizens  Beerbohms 
Evening  Com  Trade  List  und  für  Roggen,  Gerste,  Hafer,  Mais  Broomhalls  Corn  Trade 
Year  Book.  Gemäss  den  Umrechnungen  des  kaiserlichen  statistischen  Amtes  (Viertel- 
jahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches,  1897,  III)  betrug  in  1000  Tonnen  (zu 
1000  kg)  im  Jahre  1896  der  Ernteertrag  an : 

in                                    Weizen  Boggen          Gerste           Hafer           Mais 
Europa 

Deutschem  Reich 2830,5  6640,7          2630,9          5  377,9             — 

Oesterreich-Üngam 4898,9  3200,6         2413,2         2702,7         3810,2 

Rnssland,  europ.  ohnp  Kaukasus      .    .     9362,3  18267,4          3683,3          9294,1            344,o 

Kaukasus i  i97,5  .... 

Grossbritannien  und  Irland      ....      1578,5  —              i  74^8          2813,0            — 

Frankreich       9^4,6  2177,3          1088,6          4371,2             — 

Italien 3  592,5  io8,9             181,4             372,3          2003,1 

Spanien 2177,3  .... 

Portugal 108,9  .... 

Rumänien 1 877,9  326,6            689,5            248,2          i  741,8 

Serbien 381,0  .... 

Bulgarien  und  Ostrumelien 1 360,8  ^)         130,6  453,6              96,5             174,2 

Türkei,  europäische 1 088,6  .... 

Griechenland 163,3  .... 

Schweiz 130,6  .... 

Holland 163,3  304,8             117,9            27^,8            — 

Belgien 544,3  783,8              72,6             386,1             — 

Dänemark 108,9  500,8             544,3             661,9             — 

Schweden  und  Norwegen      ....  _^ 108,9 631,4 308,5  937,7             — 

zusammen  40818,6  33072,9        13925,6        27537,4         8073,3 

Weizen  Roggen       Gerste           Hafer            Mais 
Amerika 

Vereinigten  Staaten 12192,8  653,2          1578,5        12189,9        62052,5 

Canada 925,3  —                 362,9          1  654,7             479,0 

Mexiko 272,2  .... 

Argentinien 870,9  —                 —                 _              i  277,3 

Chile 326,6  .... 

Uruguay 163.3  _                 —                 —                 152,4 

Indien       5  573,9  ■              '       • 

Australien       631,4  .... 

Anderen  Gebieten 

Algier 544,3  —                 671,3              82,7             — 

Tunis 141,5  —                   90,7             .                   — 

Aegypten 217,7  —                 --                   -                 936,4 

Capland       119,7  .... 

Syrien 326,6  .... 

Klein-Asien 979,8  .... 

Persien 544,3  .... 

zusammen    23830,3  653,2          2703.4        13927,3        65797,6 

Im  ganzen   64648,9  33726,1        16629,0        41464,7        73870,9 

*)  Ohne  Ostrumelien. 


Getreideprodiiktion — GetreidezOlle 


333 


Lii  Mittel  der  Jahre  1892/96  ergaben  ffir  diese  Länder  die  Ernten  in  1000  Tonneu: 

in  Weizen        Roggen         Gerste  Hafer  Mais 

europäischen  Staaten 40059,1        35036,0 

aussereuropäischen  Staaten 27  108,0 729,0 


13905,2 
2  872,3 


28019,5 
13  592,7 


7912,0 
51  012,0 


zusammen   67  167,1        35  7^4,9        16777,5        41612,2        58924,1 

(Nach  -i.   Wirmtnghinut:)  Paul  Kollmann, 


Getreidezölle. 

1.  Allgemeines.  2.  Geschichte  und  gegen- 
wärtiger Stand  der  Getreidezollgesetzgebung. 
a)  Deutschland,  b)  Frankreich,  c)  England, 
d)  Gestenreich  -  Ungarn,  e)  Italien,  Schweiz, 
Schweden  .und  Norwegen,  Eussland,  Spanien, 
Niederlande  und  Belgien,  f)  Portugal.  3.  Die 
Wirkung  der  Zölle  auf  die  Preise.  4.  Die  Ein- 
wirkung der  G.  auf  die  Landwirtschaft.  5.  Ein- 
fluss  des  G.  auf  die  andern  Produktionszweige. 

6.  Die  Bedeutung  des  G.  für  die  Konsumenten. 

7.  Wann  sind  die  G.  notwendig?  8.  Der  dau- 
ernde G.  9.  Massregeln  zur  Milderung  der  Nach- 
teile des  G.  a)  Die  Beseitigung  des  Identitätsnach- 
weises. b)DiegleitendeSkala.  10.  Schlussergebnis. 

1.  Allgemeines.  Da  bei  den  Getreide- 
zöllen die  Ausfuhrzölle  und  ebenso  die 
Durchfuhrzölle  im  allgemeinen  in  Fortfall 
gekommen  sind  und  nur  noch  ganz  aus- 
nahmsweise und  vorübergehend  herangezogen 
werden,  so  haben  wir  es  jetzt  nur  mit  den 
Einfuhrzöllen  zu  thun,  also  den  Zöllen, 
welche  von  Getreide  bei  dem  Uebersehreiten 
der  Landesgrenze  erhoben  werden.  Von 
einem  FinanzzoU  kann  heutigen  Tages  eben- 
falls kaum  noch  die  Rede  sein,  der  also  nur 
aus  Rücksichten  für  die  Staatskasse  einge- 
führt wird,  da  es  den  Principien  der  Finanz- 
wissenschaft durchaus  widerspricht,  auf  ein 
notwendiges  Nahnmgsmittel  eine  Steuer  zu 
legen.  Thatsächlich  spielt  daher  auch  der 
Getreidezoll  nur  als  Schutz  zoll  eine  Rolle, 
und  als  solchen  werden  wir  ihn  daher  auch 
nur  zu  betrachten  haben. 

2.  Geschichte  und  gegenwärtiger 
Stand  der  Getreidezollgesetzgebung. 
In  dem  17.  und  18.  Jahrhundert  waren  die 
Regierungen  den  merkantilistischen  Anschau- 
ungen entsprechend  in  erster  Linie  bestrebt, 
die  Industrie  eventuell  auch  auf  Kosten  der 
Landwirtschaft  zu  fördern.  Daher  finden 
sich  in  jeuer  Zeit  häufig  Ausfuhrverbote  oder 
auch  Ausfuhrzölle  für  Getreide,  um  dem 
Lande  und  namentlich  der  Arbeiterbevölke- 
nmg  dieses  Nahnmgsmittel  möglichst  billig 
zugänglich  zu  machen.  Nur  ausnahmsweise 
griff  man  zu  einer  Erschwerung  der  Ein- 
fiihr,  wenn  reichliche  Ernten  die  Preise 
übermässig  herabdrückten.  Erst  im  Laufe 
dieses  Jahrhunderts  haben  sich  hauptsächlich 
die  Anschauungen  über  die  Aufgaben  des 
Staates  und  die  notwendigen  Massregeln  in 
dieser  Hinsicht  geändert. 

a)  Deutschland.   In  Preussen  wiu'de 


durch  Edikt  vom  G.  Juni  1810  die  Ausfuhr 
von  Getreide  gestattet,  aber  noch  mit  einem 
Zoll  von  32  ^-2  Thaler  pro  Last  belegt.  Noch 
in  demselben  Jahre  wurde  der  Satz  für  den 
Seeverkehr  erraässigt,  1818  auf  einen  Pfennig 
pro  Scheffel  festgesetzt,  1822  ganz  beseitigt. 
Der  epochemachende  preussische  Tarif 
von  1818  führte  dagegen  bereits  einen  Ein- 
gangszoll ein,  der  bis  1865  verschiedene 
Wandlungen  erfaliren  hat,  den  wir  in  der 
folgenden  kleinen  Tabelle  übersichtlieh  vor- 
führen. Von  1865  bis  Ende  1879  war  dann 
der  Eingang  von  Getreide  in  Deutschland 
freigegeben,  um  mit  dem  Jahre  1880  wieder 
einer  Schutzzollperiode  Platz  zu  machen. 

Der  Zoll  betrug  pro  Scheffel  in  Mai-k: 

seit 
1.  Jan. 
1819       1822 
0,187      0,187 

0,075 
0,0625 

0,0375 


Weizen 
Roggen 
Gerste 
Hafer 
Hülsen- 
früchte 0,125 


0,062 
0,062 
0,039 


19.  Nov. 

1.  ; 

Fan. 

1824 

1857 

1865 

0,50 

0,20 

Nichts 

0,50 

0,05 

r 

0,50 

0,05 

n 

0,50 

0,05 

n 

0,15 


0,50     0,20 


Mühlenfahrikate 

Weizen 

Roggen 

Hkfer 

Hülsenfrüchte 

Gerste 

Mais 

Buchweizen 


1885 

1887 

1891 

75 
30 
30 
15 

105 
50 
50 
40 

73 
35 
35 

2g 

15 
10 

22,5 
20 

20 
16 

10 

20 

16 

Der  Zoll  betrug  pro  Tonne  in  Mai'k: 

1.  Januar 
1880 
20 
10 
10 
10 

5 

5 

5 

.  5 

b)  Frankreich.     In  Frankreich  waren 
noch    während    des    vorigen    Jahrhunderts 
Ausfuhrzölle    für   Getreide   an    der   Tages- 
ordnung, die  nur  vorübergehend  nachgelas- 
sen wurden.     Noch  im  Jahre  1810  wurde 
die  Kornausfuhr  verboten,  1814  ein  ZoU  auf- 
gelegt, wenn  der  Preis  19  Francs  pro  quintal 
I  metrique  Weizen  eiTeichte.    Das  Jahr  1816 
1  brachte  zum  ersten  Mal  einen  Einfuhrzoll 
,  von  50  Cent,  pro  quintal  metrique,  der  aber 
j  noch  in  demselben  Jahr  durch  eine  Einfuhr- 
prämie  infolge  eingetretener  Teuerung  er- 
'  setzt  wurde.   Vom  16.  Juli  1819  datiert  die 
Iprincipielle    Aenderung     des    Systems    in 
I  Frankreich ,   um   fortan  die  Landwirtschaft 
!  diu-ch  einen  Zoll  zu  schützen,  da  sie  durch 
einen  gewaltigen   Rückgang    der  Getreide- 
I  preise   in  jener   Zeit    erheblich   zu    leiden 
I  hatte. 


i 


334 


Getreidezölle 


Wie  bisher  für  die  Ausfulir,  so  wurde 
nun  für  die  Einfuhr  das  Land  in  drei  Teile 
geschieden   und   für  jeden   ein   besonderer 
Zollsatz  festgesetzt,  zu  dem  ein  Zuschlag 
hinzutrat,  wenn   die  Preise  erheblich  san- 
ken.   Wenn  sie  aber  in  dem  einen  Teile 
pro  Hektoliter  imter  16,  in  dem  anderen 
unter  18,  in  dem  dritten  unter  20  standen, 
wurde  die  Einfuhr  verboten ;  1821  über  die 
Häfen  der  Provence  sogar  schon  bei  einem 
Preise  von  28  Francs  pro  Hektoliter.    Am 
15.  April  1846  wiu^e  ein  Gesetz  erlassen, 
nach  welchem  das  Einfuhrverbot  durch  eine 
Zollskala  ersetzt  wurde,  um  den  Preis  in 
der  einen  Hälfte  des  Landes  auf  20  Francs, 
in  der  anderen  auf  24  Francs  zu  erhalten. 
Den  Massstab  gaben  bestinunte  Preistaxen 
ab.    Erst  in  den  Jahren  von  1853 — 59,   wo 
eine  ^sse  Teuerung  herrschte,  wurde  sie 
beseitigt  und  der  Handel  freigegeben.  Gegen 
dieselbe  war  schon  seit  längerer  Zeit  eine 
grosse  Agitation  entstanden,  da  die  bezweckte 
Gleichmässigkeit  der  Preise   dadurch  doch 
nicht  erreicht  war.    Nach  vorübergehendem 
Inkrafttreten    des    alten    Gesetzes     wurde 
Ende  des  Jahres  1860  pro  100  Kilo  Weizen 
eine  Einfuhigebühr  von  62  Gentimes,  für 
Mehl    1,25    Francs   erhoben,   während   das 
übrige  Getreide  frei  blieb.    Der  Tarif  von 
1881  brachte  hiervon  eine  ganz  unwesent- 
liche Aenderung,  dagegen  nahm  das  Gesetz 
von    1885   einen   mehr    schutzzöUnerischen 
Charakter  an.    Von  100  Kilo  Weizen  wurden 
3  Francs,  bei  aussereuropäischem  Ursprung 
und  aus  europäischen  Entrepots  sogar  6,60 
Francs,  von  Weizenmehl  6  Francs,  Hafer,  Rog- 
gen, Gerste  1,50  Francs  erhoben.    1887  wiu*- 
den  die  Sätze  erhöht  für  Weizen  auf  5  resp. 
8,60  Francs,   für  Mehl   auf   8   resp.   21,60 
Francs,  für  Gerste,  Roggen  und  Hafer  auf  3, 
Mehl  5  Francs,   Erbsen   3   Francs.     Nach 
vorübergehender  Ermässigung  im  Jahre  1891 
und  unbedeutender  Veränderung  im  Jahre 
1892  wurde  am  27.  Februar  1894  der  Weizen 
auf  7  Francs,  der  Zoll  auf  Mehl  nach  dem 
Prozentsatz    des    Auszugs    auf    11    bis    16 
Francs  erhöht.     Die  anderen  Zölle  blieben 
auf  den  Sätzen  von  1887.   Die  Missernte  des 
Jahres  1897  veranlasste  die  Suspendierung 
des  Zolles  für  Weizen  vom  4.  Mai  bis  1.  Juli 
1898.     Gequetschte   Kömer   mit   mehr  als 
10  %  Mehl  zahlten  1  Franc,  Mehl  von  70  »/o 
Auszug  und   darüber  1  Franc,  unter  60% 
2  Francs,  Brot  1  Franc.    Seitdem  sind  die 
früheren  Sätze  wieder  in  Kraft  getreten. 

Frankreich  hat  sich  für  die  Getreidezölle 
nicht  die  Hände  durch  Verträge  gebunden 
und  geniesst  gleichwohl  als  meistbegünstig- 
tes Land  jede  Herabsetzung  der  Zölle, 
welche  in  Deutschland  aus  irgend  einem 
Grunde  vorgenommen  wird. 

o)  Die  grösste  Bedeutung  haben  die  Ge- 
treidezölle eine  sehr  lange  Zeit  in  England 


gehabt,  wo  die  Grundbesitzer  die  politische 
Macht  in  den  Händen  hatten  und  diese  zu 
ihrem  Vorteil  verwerteten.     Schon  in  der 
ersten    Hälfte    des    vorigen    Jahrhunderts 
suchte  man  der  Landwirtschaft  durch  wie- 
derholte Einfuhrverbote  und  Ausfuhrprämien 
zu  nützen.    In  der  zweiten  Hälfte  des  vori- 
gen Jahrhunderts  hörte  die  Ausfuhr  auf,  und 
die  starke  Zunahme  der  Bevölkerung  machte 
immer  häufiger  eine  Einfuhr  notwendig.  Im 
Jahre  1791  wurde  zum  ersten  Mal  ein  Ein- 
fuhrzoll aufgelegt,  pro  Qiiarter  Weizen  mit 
6  d.,  der  aber  bei  einem  Sinken  der  inlän- 
dischen Preise  auf  55  Sh.  auf  2  Sh.  6  d., 
bei  einem  Preise  von  50  Sh.  sogar  auf  23  Sh. 
6  d.  stieg.    Erst  im  Beginne  dieses  Jahi*- 
hunderts  kamen  diese  erhöhten  Sätze  zur 
Geltung.  Als  sich  gleichwohl  die  gewünschte 
Preiserhöhung  nicht  einstellte,   wurde  1804 
der  Nonnaisatz  auf  4  Sh.  3  d.  erhöht,  so 
lange  der  Quarter  Weizen  auf  inländischem 
Markte  nicht  63  Sh.  kostete.    Stieg  er  dar- 
über bis  66  Sh.,   so   wurde   der  ZoU  auf 
2  Sh.  6  d.,  erst  bei  66  Sh.  und  darüber  auf 
6  d.  ermässigt.   Auch  die  dadurch  erstrebte 
Preishöhe   genügte    den   Landwirten    noch 
nicht.    Seit  1815  suchte  man  sie  auf  min- 
destens 80  Sh.  zu  erhalten.    Selbst  aus  den 
nordamerikanischen  Kolonieen  durfte  Weizen 
erst  bei  einem  Preise  von  67  Sh.,  sonstiges 
Gretreide  erst  bei  44  Sh.  importiert  werden. 
Gleichwohl   gingen  Anfang   der   zwanziger 
Jahre  die  Preise  weit  unter  jenes  Mass  her- 
unter, obgleich  man  die  Zollerhöhung  noch 
verschärfte.    Die  Missernte  von  1825  zwang 
wieder   zu   einer   vorübergehenden  Herab- 
setzung.   Schon  im  Jahre  1828  nahm  man 
einen    neuen    Anlauf    zur    Erhöhung    des 
Schutzzolles  in   der    berühmt   gewordenen 
gleitenden  Skala,  von  welcher  man  die  Er- 
reichung gleichnaässiger  Preise  erhoffte,  da 
sie  sich  in  einem  höheren  Masse  als   die 
bisherigen  den  Preisschwankungen  anschloss. 
Bei  68  Sh.  pro  Quarter  war  der  Zoll  18 
Sh.  8  d.,  bei  69  Sh.  1 6  Sh.  8  d.,  u.  s.  w., 
bis  bei  80  Sh.  der  Zoll  nur  noch  1  Sh.  be- 
trug.   Diese  Einrichtung  blieb  in  der  Haupt- 
sache unverändert  bis  1842  bestehen,  und 
auch  da  wurden  trotz  der  Opposition  gegen 
die  Massregel  nicht  das  Pnncip  geändert, 
sondern   nur  die  Sätze.    Bei  einem.  Preise 
von  51  Sh.  begann  der  Zollsatz  mit  20  Sh., 
um    dann   mit  jedem    Shilling    der   Preis- 
erhöhung    um     einen    Shilling    zu    fallen, 
bis  wiederum  bei  73  Sh.  der  ZoU  nur  noch 
einen  Shilling  betrug.     1846   erlangte   die 
freihändlerische  Opposition  eine  Ermässigung, 
und  am  1.  Februar  1849  fiel  die  Skala  über- 
haupt, die  durch  einen  festen  Zoll  von  einem 
Shilling  pro  Quarter,    1864  von  3  d.   pro 
Centner   ermässigt    wurde,    der   auch    am 
1.  Juni  1869  endgültig  in  Fortfall  kam.   So 
hatte  schliesslich  die  Anticorolawleague  (s. 


Getreidezölle 


335 


diesen  Art.  oben  Bd.  I,  S.  410  ff.)  ihren  Zweck 
erreicht,  und  trotz  des  bedeutenden  Preisrück- 
ganges des  Geti-eides  in  den  letzten  Decennien, 
"welcher  kein  Land  so  stark  betroffen  hat  als 
England,  hat  man  nicht  wieder  zu  dem  Schutz- 
zoll gegriffen,  obgleich  die  Landwirtschaft 
in  ausgedehnten  Strichen  des  Landes,  die 
auf  Getreidebau  angewiesen  sind,  erheblich 
gelitten  hat. 

Die  Erfahrungen,  welche  man  in  England 
mit  den  Zöllen  gemacht  hat,  sind  ungemein 
lehrreich.  Es  hat  sich  ergeben,  dass  man 
auch  durch  die  höchsten  Zollsätze  nicht  im- 
stande gewesen  ist,  gegenüber  dem  Welt- 
markt hohe  Preise  zu  erzwingen,  und  ebenso 
wenig  die  Steigerung  der  heimischen  Pro- 
duktion derartig  zu  fördern,  dass  sie  auch 
nur  annähernd  mit  dem  Wachstimi  der  Be- 
völkerung Schritt  zu  halten  vermochte.  Die 
gleitende  Skala  hat  sich  als  verfehlt  erwie- 
sen. Sie  bewirkte  nicht  eine  grössere  Aus- 
gleichung der  Preise,  wie  man  von  ihr  ge- 
hofft hatte,  sondern  brachte  im  Gegenteil 
cewaltige  Schwankungen  hervor,  die  gerade 
aie  Eigentümlichkeit  der  Zollmassregel  ver- 
schuldet hatte.  Sie  gab  der  Spekulation 
besondere  Anhalte,   indem   sie   die    Preise 


und  damit  den  ZoU  willkürlich  zu  beein- 
flussen vermochte,  imd  dieses  zu  ihren 
Gunsten  verwertete,  während  der  Farmer 
daninter  zu  leiden  hatte.  Waren  die  Preise 
im  Inlande  niedrig  und  daher  der  Zoll  hoch, 
so  hielten  die  Händler  die  Ware  zurück,  bis 
die  Preise  erheblich  gestiegen  und  der  Zoll 
auf  ein  Minimum  gesunken  war,  um  dann 
das  bisher  in  den  Hafenorten  aufgespeicherte 
Getreide  in  kurzer  Zeit  massenhaft  in  das 
Land  zu  werfen,  wodurch  die  Preise 
wiedenmi  übermässig  gedrückt  wurden.  Der 
kleine  Landwirt,  der  unter  dem  Druck  der 
Verhältnisse  verkaufen  musste,  was  er  ge- 
droschen hatte,  konnte  diese  Konjunkturen 
weder  vorausberechnen  noch  im  Momente 
angemessen  ausnutzen.  Daher  richtete  sich 
gerade  die  Opposition  der  Landwirte  gegen 
die  Skala,  und  sie  verlangten  feste  2iOllsätze. 
(S.  Diehl,  die  gleitende  Skala,  in  Jahrb.  f. 
Nat.  u.  Slat.  1900,  Bd.  19,  konnte  von 
uns  leider  nicht  mehr  benutzt  werden.) 
üeber  die  Zollschwankimgen  giebt  die 
folgende  Tabelle  nach  dem  Werke  von  Tooke 
und  Newmarch  »Die  Geschichte  und  die  Be- 
stimmung der  Preise«,  übersetzt  von  Asher 
1862  s.  Bd.  2  S.  804,  Auskunft: 


Weizenpreise  in  England  von  1829 — 47  für  den  Quarter  in  Sh. 


Jahre 

1829 

1830  1  1831 

1832 

1833 

1834 

1835 

1836     1837 

1838 

Sh.  d.  Sh.  d.  ;Sh.  d. 

Sh.    d. 

Sh.  d. 

Sh.  d.  Sh.  d. 

1 

Sh.  d. 

Sh.  d. 

Sh.  d. 

Jahresdarchschnitt     .    . 
Höchster   1      Wochen- 
EleinRter  /  durchschnitt 
Differenz 

66      3 

75     II 

55      4 

20        7 

64      3 
74     II 
55      5 
19      5 

66      4 
75       I 
59      2 
15      9 

58      8 

63      7 

51      3 

12      4 

52     II 

56      5 

49      2 

7      3 

46      2 
48      6 
40      6 
8 

39      4 
44    — 
36    - 
8 

49      6 
61       q 

36     - 
25       9 

55  10 
60    I 

51 
9     I 

64      7 
78      4 
52      4 
26 

Jahre 

1839 

1840 

1841 

1842 

1843 

1844 

1845 

1846 

1847 

Jahresdurchschnitt     .    . 
Höchster  \       VVochen- 
IJeinster  /  durchschnitt 
Differenz 

70      8 
81       6 
65      6 
16 

66      4 
72     10 
58     10 
14    — 

64      4 
76       I 
60      7 

15       4 

57      3 
65      8 

46      IG 

18      8 

50      I 
61      2 

45      5 
15      9 

51       I 
56      5 

45       I 
n       4 

50     10 
60      I 

45     - 
15       I 

54      8 
64      4 
45       I 
19      3 

69    9 

102    5 

49     6 
52  11 

Beachtenswert  ist,  dass  gerade  die 
Pächter,  also  die  wirtschaftenden  Landwirte 
vielfach  durch  die  Zölle  in  Verlegenheit 
gebracht  wurden,  weil  sie  durch  die 
Hoffnung  auf  die  Wirkimg  der  Zölle  sich 
zu  hohen  Pachtgeboten  verleiten  Hessen,  die 
sich  nachher,  als  die  Wirkung  der  Zölle 
ausblieb,  als  zu  hoch  heraus  stellten.  Wäh- 
rend aber  von  Seiten  der  Grundaristokratie 
nach  Beseitigung  der  Getreidezölle  ein  all- 
gemeiner Rückgang  der  Landwirtschaft 
prophezeit  war,  stellte  sich  thatsächlich  im- 
mittelbar  nach  derselben  in  den  fünfziger 
und  sechziger  Jahren  ein  ganz  bedeutender 
Aufschwung  der  Landwirtschaft  ein,  die  nun 
erst  in  die  richtigen  Bahnen  einer  erweiter- 
ten Viehzucht  emlenkte,  während  bisher 
künstlich  der  Getreidebau  in   unrationeller 


Weise  begünstig  war.  Die  Pachtsätze  gin- 
gen daher  seit  jener  Zeit  nicht  zurück,  son- 
dern im  Gegenteil  ausserordentlich  in  die 
Höhe.  Erst  in  den  achtziger  Jahren  ist 
darin  eine  rückläufige  Bewegung  eingetreten, 
durch  welche  aber  in  den  meisten  Gegenden 
der  landwirtschaftliche  Betrieb  in  angemes- 
sener Weise  erhalten  werden  konnte.  In 
der  neuesten  Zeit  hat  sogar  der  Getreidebau 
wieder  eine  Erweitenmg  erfahren. 

d)  Oesterreioh-Ungam  hat  seit  1853 
für  Weizen  und  Kerne  40  Kreuzer, 
für  Roggen  und  Hülsenfrüchte  80  Kr.,  für 
Hafer  und  Gerste  20  Kr.  pro  Metercentner 
bei  der  Einfuhr  erhoben.  Der  Tarif  v.  25. 
Mai  1882  steigerte  die  Sätze  für  Weizen, 
Spelz,  Hirse  und  Buchweizen  auf  50  Kr.^ 
für  die  übrigen   Getreidearten  auf  25  Kr. 


336 


Getreidezölle 


Das  O.  V.  21.  Mai  1887  erhöhte  den  Tarif 
abermals,  und  zwar  für  Weizen,  Spelz. 
Roggen  und  Halbfrucht  auf  150  Kr.,  Bohnen 
und  Hülsenfrüchte  100  Kr.,  Gerste  und 
Hafer  75  Kr.,  Buchweizen,  Hii-se  und  ^lais 
50  Kr.  Vom  Februar  bis  Juli  1890  w^urde 
die  Einfuhr  aus  Russland  für  bestimmte 
Mengen  zollfi*ei  gestattet. 

e)  Italien  erhob  1883  einen  Weizen- 
zoll von  14  Lire  pro  Tonne.  1887  w^urde 
er  im  April  vorübergehend  geändert  und 
durch  den  Tarif  vom  14.  Juü  desselben 
Jahres  auf  30  Lire,  für  Hafer  auf  20,  Geilste 
und  anderes  Getreide  mit  11,50,  für  Mehl  mit 
60  Lire  angesetzt.  Schon  in  dem  folgenden 
Jahre  erfiüu-en  die  Sätze  eine  abermalige 
Erhöhung,  pro  Tonne  Weizen  wurde  der  Zoll 
auf  50,  "Hafer  auf  40,  Mehl  auf  87  Lire 
erhöht.  Im  Jahi^  1898  wurde  vom  25. 
Januar  ab  der  Zoll  auf  (jerste  und  Roggen 
auf  30  Lire ,  weissen  Mais  auf  50  Lire 
pro  Tonne,  j)ro  Doppelcentner  Weizenmehl 
auf  8  Lire,  Gries  auf  10,50,  Kleie  auf  2,50, 
Roggenmehl  und  Gerste  auf  4,60  angesetzt, 
vorübergehend    aber   der   Zoll   auf    Weizen 


Roggen,   Weizen,  Gerste,  Mais,  Erbsen 

und  Bohnen 

Hafer  und  Wicken 

Malz 

Anderes  Getreide 

Mehl  und  Grütze  aller  Art 

Brot,  feine  Sorte 

Brot,  gewöhnliche  Sorte 


und  Weizenmehl  ganz  aufgehoben.  Vom 
1 5.  August  an  sind  die  früheren  Sätze  wieder 
in  Gültigkeit. 

Die  Schweiz,  welche  hauptsächlich 
auf  Getreideeinfuhr  angewiesen  ist,  hat  erst 
diu-ch  den  Zolltarif  vom  10.  April  1891  einen 
geringen  Einfuhrzoll  von  3  Francs  pro  Tonne 
Getreide,  Mais  und  Hülsenfi-üchte,  für  Mehl 
und  Mühlenfabrikate  25  Francs  aufgelegt. 
Die  meist  begünstigten  Nationen  genossen 
aber  noch  bis  1892  den  niedrigen  Satz  auf 
Melü  etc.  von  10  Francs. 

Niederlande  und  Belgien  hatten 
1835  für  Weizen  eine  gleitende  Skala  ein- 
geführt, welche  "bei  einem  Preise  von  9 
Gulden  pro  Hektoliter  mit  Vi  Gulden  be- 
gann und  bei  einem  Preise  von  5  Gulden 
das  ^Faximum  von  3  Gulden  errcichte. 
Belgien  führte  1850  den  festen  Zoll  von 
1  Franc  pro  100  kg  Weizen  ein,  der  aber 
1887  wieder .  beseitigt  ^^^u'de.  Auch  in 
Holland  bestehen  jetzt  keine  GetreidezöUe. 

Schweden  imd  Norwegen  haben  erst 
durch  den  Zolltarif  am  14.  Februar  1888 
agrarische  Schutzzölle  eingeführt : 


durch  G.  v.  28.  Sept.  1895 
/      Roggen  etc.  3,70  Kr. 


pro 

100  kg 

2.50 

Kronen  \ 

n 

100  „ 

1,00 

n    / 

n 

100  „ 

3,00 

n 

n 

100  „ 

2,50 

n 

rt 

100  „ 

4,30 

n 

rt 

100  „ 

4,30 

r 

n 

100  „ 

2,50 

»1 

Mehl 


6,50 


n 


Im  Jahre  1892  war  vorübergehend  der  j 
Zoll  flir  Getreide  auf  1,25  Kronen,  für  Mehl ! 
auf  2,50  Kronen  herabgesetzt.  | 

Russland  erhebt  nur  einen  Einfiüir- 
zoU  auf  Mehl,  Malz  und  Grütze  von  3,97 
Mark  pro  100  kg. 

Spanien  verlangt  nach  dem  Tarif  von 
1883 

im  General-  im  Konventional- 
tarif tarif 
für  100  kg 
Weizen                  4,32  Pes.  4,20  Pes. 
Weizenmehl           6,48     „  6,00    „ 
Anderes  Getreide  3,20     „  3,10    „ 
Mehl  daraus           4,80     „  4,50    „ 
Hülsenfrüchte        3,20     „  3>io    n 

Durch  G.  V.  9.  Februar  1895  ü^t  für 
Weizen  ein  Zusclilag  von  2,50  Pesetas  und 
füi"  Weizenmehl  von  4,12  Pesetas  hinzu, 
im  Jahre  1898  sah  man  sich  genötigt,  am 
20.  Mai  die  Zölle  auf  Weizen,  Mais  etc.  auf- 
zuheben, die  Ausfuhr  zimRchst  zu  verbieten, 
dann  am  1.  Jiüi  gegen  einen  Zoll  von  2^/2  "/o 
des  Wertes  freizugeben.  Am  15.  November 
wurde  aber  der  frühere  Zustand  wieder  her- 
gestellt. 

f)  Portugal  liat  in  einer  interessanten 
Weise  besonders  eingreifende  Versuche  ge- 


macht, der  Land  Wirtschaft  auf  schutzzoU- 
norischem  Wege  hohe  Getreidepreise  zu  ge- 
währleisten. Der  Zolltarif  vom  17.  Oktober 
1885  bestimmte  folgende  Sätze: 

vom  17.  September  1885  ab : 

Weizen                         pro  kg  10  Eeis  =  4,5  Pf. 

Roggen                          n  n     9  „  =4,05  „ 

Mais,  Gerste  u.  Hafer    „  „     8  ^  =  3,6    „ 

Weizenmehl                   „  „16  „  =  7,2    „ 

Roggen-  und  3Iaismehl  „  „11  „  =  4,95  „ 
Gersten-  u.  Hafermehl 
Brot 


12        „      =5,04^ 


•n 


n 


Seit  jener  Zeit  haben  die  Sätze  ausser- 
ordentlich geschwankt.  Im  Jahre  1888  und 
1889  war  er  vorübergehend  auf  20  Reis  für 
Weizen  in  die  Höhe  gesetzt.  Vorübergehend 
ist  auch,  z.  B.  vom  26.  Mai  bis  7.  Juli  1898, 
der  Zoll  für  Roggen  aufgehoben.  Daneben 
wm*de  im  Jahre  1888  der  Regierung  das 
Recht  eingeräumt,  mit  Zustimmung  der 
Generalräte  für  Handel  und  Landwirtschaft 
den  ZoU  auf  Mehl  herabzusetzen,  wenn  es 
zur  Vermeidung  einer  Verteuenmg  des 
Brotes  notwendig  wäre.  Im  Falle  dieses 
nicht  genügte,  durfte  sie  auch  die  Getreide- 
z()lle  ermässigen  und  städtischen  Bäckereien 
amtliche   Gebäude    zur  Verfügung    steilen, 


Getreidezölle 


337 


um  billiges  Brod  zu  schaffen.  In  besonderer 
Weise  suchte  man  die  Verwendung  hei- 
mischen Getreides  durch  eine  Befreiung  von 
der  Gewerbesteuer  für  diejenigen  Mühlen 
zu  erreichen,  welche  ausschliesslich  inlän- 
disches Getreide  verarbeiteten.  Diuxjh  G.  v. 
15.  Juli  1889  ging  man  noch  einen  Schritt 
weiter  und  verbot  im  allgemeinen  die  Weizen- 
\md  Mehleinfuhr.  Niu*  wenn  der  Importeur 
naclizu weisen  vermochte,  dass  er  doppelt  so 
viel  einheimischen  Weizen  gekauft  und  ver- 
mählen habe,  oder  wenn  der  Preis  des  hei- 
mischen Weizens  durchschnittlich  auf  60 
Reis  pro  Kilo  gleich  270  Mark  pro  Tonne 
gestiegen  war,  wurde  ihm  gestattet,  aus- 
ländisches Getreide  zu  beziehen,  für  welches 
dann  20  ßeis  Zoll  zu  zahlen  waren.  Mehl 
sollte  nur  eingeführt  werden  bei  Nachweis 
wirklichen  Mangels  und  zu  einem  Zolle  von 
15  bis  30  Reis. 

Durch  das  Getreidegesetz  vom  14.  Juli 
1899  sind  die  Bestimmungen,  welche  in  der 
Hauptsache  schon  10  Jahre  in  Anwendung 
waren,  ausführlicher  und  mit  einigen  Modi- 
fikationen festgelegt.  Bei  der  Eigentümlich- 
keit des  ganzen  Vorgehens  wird  es  ange- 
bracht sein,  die  hauptsächlichsten  Bestim- 
mungen hier  wiederzugeben: 

Portugal.  Getreidegesetz  v.  14.  Juli  1899. 

Nach  §  1  soll  der  Handel  mit  einheimischem 
Weizen  und  Mais,  die  Fabrikation  von  Brot 
und  Mehl  sowie  die  Ein-  und  Ausfuhr  von 
letzterem  durch  Gesetz  ^regelt  werden. 

Die  Preise  des  heimischen  Weizens,  der  bei 
dem  Centralmarkt  für  landwirtschaftliche  Pro- 
dukte eingeliefert  wird,  werden  wie  folgt  be- 
stimmt : 

Weichweizen,  pro  kg  64—72  Reis,  Hart- 
weizen 61  —69  Reis  je  nach  dem  Gewicht  von 
73—81  kg  pro  ha. 

§  2.  Bis  zum  15.  November  jedes  Jahres 
wird  die  B^erung  zur  Anmeldung  des  ein- 
heimischen Weizens  auffordern,  um  die  Ver- 
teilung dieses  Weizens  anzuordnen  sowie  auch 
um,  unbeschadet  anderer  Mittel  zur  Information, 
berechnen  zu  können,  wie  viel  fremder  Weizen 
in  dem  betreffenden  Emtejahr  eingeführt  werden 
muss,  um  den  Anforderungen  des  Konsums  zu 
genügen. 

§  3.  Die  Einfuhr  von  Weizen,  gleichviel 
welcher  Herkunft,  ist  nur  gestattet: 

1.  Den  gehörig  immatrikulierten  Fabri- 
kanten. 

2.  Den  Landwirten  als  Saatkorn. 
Bis  zum  31.  Dezember  jeden  Jahres  wird 

die  Regierung  durch  eine  Verordnung  die  Men^e 
des  einzuführenden  Weizens,  den  zu  entrich- 
tenden Zollsatz  und  die  pro  rata  Verteilung 
unter  die  Fabrikanten,  sowohl  des  fremden  als 
auch  des  in  Gemässheit  der  zweiten  Basis  an- 
gemeldeten einheimischen  Weizens  bestimmen. 

In  den  Monaten  August  bis  November 
sind  die  Fabrikanten  verpflichtet,  pro  rata  in 
jedem  Monat  bis  zu  16  Millionen  kg  einhei- 
mischen Weizens  von  den  Produzenten  zu 
kaufen,  die  denselben  vom  15.  Juli  an  bei  dem 
Centralmarkt  für  landwirtschaftliche  Produkte 

Haad Wörterbuch  der  Staatswissensc haften. 


oder  bei  den  betreffenden  Kreislegationen  ange* 
meldet  haben. 

§  4.  Die  Mehlfabrikanten,  die  den  auf  sie 
fallenden  pro  rata  Anteil  an  Weizen  nicht  sofort 
kaufen,  sind  verpflichtet,  in  jedem  Monate 
von  Dezember  bis  Juli  wenigstens  den  achten  , 
Teil  dieses  Anteils  zu  kaufen.  Der  Teü,  der 
nicht  von  diesem  Pflichtigen  Teil  gekauft  wird, 
wird  sofort  unter  die  anderen  Fabrikanten  ver- 
teilt. 

§  5.  Die  Menffe  des  einzuführenden  frem- 
den Weizens  wird  der  E^ffierung  von  dem 
Landwirtschaftsrat  vorgeschlagen.  Zur  Be- 
schaffung der  Unterlage  soll  nicht  nur  die 
Statistik  der  Produktion,  sondern  auch  der  zum 
Backen  verbrauchten  Quantitäten  zusammenge- 
stellt und  veröffentlicht  werden. 

§  6.  Der  Zollsatz  wird  der  Regierung  von 
den  zu  gemeinsamer  Sitzung  vereinigten 
obersten  Bäten  für  Landwirtschatt,  Handel  und 
Industrie  vor^eschla&:en.  Das  Streben  geht  da- 
hin, den  Preis  auf  69  Heis  pro  kg  zu  halten. 
Nach  dem  Durchschnittspreise  auf  dem  Weltmarkt 
während  der  letzten  30  Tage  plus  den  Zu- 
schlagsspesen wird  der  dazu  nötige  Zoll  fest- 
gesetzt. 

^  7  u.  8.  Die  Leistungsfähigkeit  der 
Fabrikanten  und  ihre  thatsächliche  Verar- 
beitung wird  offiziell  publiziert.  Es  kann  gegen 
die  Angaben  bei  dem  Bat  für  Landwirtschaft 
Berufung  eingelegt  werden. 

§  9.  Die  Mehlfabrikanten  dürfen  fremden 
Weizen  erst  einführen,  nachdem  sie  den  auf  sie 
fallenden  Anteil  an  heimischem  Weizen  gekauft 
haben.  Einfuhr  darf  nur  vom  15.  Januar  bis 
31.  Juli  stattfinden. 

§  10.  Alle  grösseren  Mühlen  müssen  drei 
MehJtypen  herstellen.  Für  diese  sind  für  Lissa- 
bon die  Preise  von  100,  90  und  82  Reis  fest- 
festellt,  für  Porto  3  Reis  Aufschlag  auf  diese 
ätze.  Für  Hausbrot  dürfen  die  Preise  nicht 
höher  sein,  als  90  bezw.  80  Reis  pro  kg. 

§  11.  Die  Mühlen  können  mehr  Weizen 
importieren,  wenn  sie  nachweisen,  entsprechende 
Quantitäten  Mehl  bereits  exportiert  zu  haben. 

Der  Einfuhrzoll  von  18  Reis  für  das  kg 
auf  fremden  Mais  bleibt  bestehen. 

§  12.  Die  Zahl  der  Bäckereien  ist  be- 
schränkt auf  eine  schon  früher  normierte  Zahl. 
Erlaubnis  zur  Errichtung  von  Bäckereien  er- 
teilt das  Ministerium  der  öffentlichen  Arbeiten. 
In  einer  besonderen  Verordnung  sind  die 
hygieini  sehen  und  Betriebsbedingungen,  denen 
die  Bäckereien  genügen  müssen,  zusammenge- 
fasst. 

Die  bestehenden  Bäckereien  haben  inner- 
halb dreier  Monate  die  Erlaubnisscheine  einzu- 
holen. 

Die  Regierung  kann  die  Zahl  der  Bäckereien 
in  Orten  mit  mehr  als  8000  Einwohnern  ein- 
schränken, wenn  sie  die  Zahl  als  über  das  Be- 
dürfnis hinausgehend  ansieht. 

Als  Ergänzung  der  obigen  Bestimmungen 
hat  man  gesucht,  den  Getreidebau  auszudehnen, 
indem  man  durch  dieselben  Gesetze  die  Be- 
freiung von  der  Grundsteuer  auf  10  Jahre  für 
alle  Ländereien  gewährt,  die  mit  Getreide  be- 
baut werden  und  bis  dahin  unbebaut  waren. 
Die  Hälfte  der  Grundsteuer  ist  für  5  Jahre  er- 
lassen für  Ländereien,  die  fortan  zum  Getreide- 
bau hauptsächlich   von  Mais   und  Weizen  be- 

Zweite  Anflage.    IV.  22 


338 


Getreidezölle 


mLtxt  werden,  wenn  sie  bis  dahin  nicht  mit 
diesen  Getreidearten  bestellt  waren. 

Aus  dem  Angeführten  ergiebt  sich,  dass 
in  der  neueren  Zeit  die  Schutzzollbestrebungen 
in  fast  allen  in  Betracht  kommenden  Ländern 
'zu  Gimsten  der  Landwirtschaft  enorme  Fort- 
schritte gemacht  haben.  Abgesehen  von 
den  noch  exportierenden  Ländern  sind  es 
nur  England,  Belgien,  Holland  und  Däne- 
mark, welche  sich  ohne  Getreidezölle  be- 
helfen,  die  sämtlich  durch  Klima  und  Boden- 
beschaffenheit besonders  für  die  Viehzucht 
prädestiniert  sind,  und  daher  der  Getreide- 
bau nicht  in  einer  solchen  Weise  für  die 
Landwirtschaft  von  Bedeutung  ist,  wie  in 
den  anderen  in  Betracht  kommenden  Ländern. 
Ein  Moment,  welches  wohl  Beachtung  ver- 
dient. 

8.  Die  Wirkung  der  Zolle  auf  die 
Preise.  Der  Einfluss  des  Zolls  wird  je 
nach  den  volkswirtschaftlichen  Verhältnissen 
des  Landes  wie  auch  je  nach  der  Höhe 
desselben  ein  verschiedener  sein.  Die  alte 
Schule  ging  davon  aus,  dass  der  Zoll  als 
Teil  der  Beschaffungskosten  genau  in  dem 
Preise  im  Inlande  zum  Ausdruck  kommen 
■müsste,  daher  auch  voll  und  ganz  von  den 
Konsumenten  getragen  werde.  In  der 
neusten  Zeit  ist,  namentlich  angeregt  durch 
den  Reichskanzler  Fürsten  von  Bismarck,  in 
Deutschland  die  Ansicht  vertreten,  dass  das 
Ausland  den  Zoll  tragen  müsse.  Das  Richtige 
liegt  auch  hier  in  der  Mitte.  Die  Freihandels- 
schule stellte  sich  die  Vorgänge  in  dem 
wirtschaftlichen  Leben  w^eit  einfacher  vor, 
als  sie  in  Wirklichkeit  sind.  Sie  nahm  nicht 
auf  die  starken  Reibungen  Rücksicht,  welche 
in  der  Volkswirtschaft  überall  zu  Tage  treten 
und  daher  die  genaue  Wirkung  eines  Stosses 
nicht  in  infinitum  ziu:  Erscheinung  treten 
lassen.  Unsere  Agrarier  dagegen  unter- 
schätzen die  Bedeutung  des  internationalen 
Handelsverkehrs  für  die  Bildung  der  Preise. 

Ohne  jede  Wirkung  auf  die  Preise  im 
Inlande  wird  der  Zoll  bleiben,  wenn  das 
Land  einen  Zuschuss  zu  dem  eigenen  Erbau 
überhaupt  nicht  gebraucht,  sondern  den  Be- 
darf selbst  zu  decken  vermag.  Die  Wirkung 
steigt,  je  grösser  der  Bedarf  ist,  je  mehr 
das  Inland  als  Käufer  der  ausländischen 
Ware  auf  dem  Weltmarkte  auftreten  muss. 
Die  Wirkimg  tritt  um  so  schärfer  hervor, 
je  höher  der  Zoll  ist,  während  er  in  den 
Zwischenhänden  verschwindet  und  sich  we- 
nigstens nicht  verfolgen  lässt,  wenn  er 
niedrig  und  im  Vergleich  zu  den  Frachtspesen 
und  sonstigen  Unkosten  bedeutungslos  ist. 
Daraus  erjgiebt  sich,  dass  auch  in  demselben 
Lande  die  Wirkung  dos  Zolles  in  ver- 
schiedenen Jahren  ungleich  sein  kann,  ja 
selbst  sich  in  den  einzelnen  Landesteüen  je 
nach  den  Konjunktm*en  verschieden  gestalten 
wird.    Ist  z.  B.  in  Deutsclüand  die  Ernte 


eine  günstige  gewesen  imd  auch  im  Auslände 
ein  Ueberschuss  vorhanden,  so  werden  deut- 
sche Kaufleute  im  Auslande  nur  wenig 
Nachfrage  nach  Getreide  halten.  Dagegen 
müssen  ausländische  bestrebt  sein,  ihr  Ge- 
treide hier  abzusetzen  und  werden  zu 
grösseren  Preiskonzessionen  bereit  sein,  um 
das  Getreide  los  zu  werden:  mit  anderen 
Worten,  sie  werden  einen  TeU  des  Zolles 
auf  sich  nehmen.  Wenn  dagegen  umgekehit 
Deutschland  eines  bedeutenden  Zuschusses 
vom  Auslande  bedarf,,  während  auch  dort 
kein  Ueberfluss  vorhanden  ist,  so  werden 
die  deutschen  Händler  nicht  nur  auf  dem 
Weltmarkte  die  Preise  in  die  Höhe  treiben, 
sondern  sie  werden  auch  im  Inlande  in  der 
Lage  sein,  sich  den  Zoll  ganz  ersetzen  zu 
lassen,  ja  in  ihren  Forderungen  noch  darüber 
hinaus  gehen  können.  Die  Preisdifferenz 
zwischen  In-  und  Ausland  wird  nicht  nm' 
dem  Zoll  entsprechen,  sondern  mitunter  nocJi 
grösser  sein.  In  einem  ausgedehnten  Lande, 
z.  B.  in  Deutschland  zeigt  es  sich  sogar, 
dass  in  den  einzelnen  Landesteilen  in  dem- 
selben Jahre  die  Wirkung  des  Zolles  eine 
verschiedene  war.  Während  im  Osten  bei 
allgemein  günstigen  Ernten  die  Preise  sehr 
gedrückte  waren  und  dem  Auslande  gegen- 
über der  Zoll  nicht  voll  zur  Geltimg  kam, 
weil  dort  mehr  vorhanden,  als  Bedarf  vor- 
lag, und  die  ausländische  Konkurrenz  noch 
einen  ergänzenden  Druck  ausübte,  war  zur 
selben  Zeit  im  Westen,  wo  die  Produktion 
nie  zur  Deckung  des  Bedarfes  ausreicht,  der 
Zoll  in  seiner  ganzen  Höhe  in  dem  in- 
ländischen Preise  hervorgetreten.  Die  Dif- 
ferenz der  Preise  zwischen  Osten  und  Westen 
kann  daher  unter  der  Einwirkung  des  Zolles 
eine  grössere  werden,  als  es  ohne  denselben 
gewesen  wäre.  Je  höher  der  Zoll  ist,  um 
so  weniger  werden  die  Zwischenhändler  in 
der  Lage  sein,  ihn  auf  sich  zu  nehmen,  und 
der  Einfluss  auf  die  Preise  wird  sich  auch 
bei  dem  Mehle  wie  dem  Brote  nachweisen 
lassen,  weü  er  einen  erheblichen  Teil  jder 
gesamten  Beschaffungskosten  ausmacht.  Da- 
mit ist  nicht  gesagt,  dass  er  nicht  auch  bei 
geringerer  Höhe  schliesslich  von  den  Kon- 
sumenten gezahlt  wird,  aber  die  Preisstatistik 
ist  nicht  genau  genug,  um  die  geringen  Ver- 
änderungen feststellen  zu  können,  und  der 
Handel  besitzt  eine  Menge  Mittel,  um  die 
Preisveränderungen  z.  B.  durch  Modifikation 
der  Qualität,  namentlich  durch  Zusätze 
anderen  Rohmaterials  zu  verschleiern. 

Jeder  Zoll  bedarf  ferner  einiger  Zeit,  um 
seine  Wirkung  voll  zur  Geltung  zu  bringen. 
Je  länger  der  Zoll  aufgelegt  ist,  um  so  wei- 
ter \vTrd  er  seine  Wii-kung  erstrecken  und 
schliesslich  bis  zum  Konsumenten  gelangen ; 
um  so  mehr  werden  die  verscliiedenen  Kon- 
junkturen sich  im  Durchschnitte  ausgeglichen 
haben    und  dem  Inlande  aufgebünlet  sein^ 


GctieidezöUe 


339 


welche  voriibergehend  vohl  das  Ausland  auf 
sich  nimmt.  Wo  wie  jetzt  in  Deutschland 
der  Bedarf  an  Getreide  zum  grossen  Teile 
vom  Auslande  gedeckt  werden  muss  und  es 
wie  bei  dem  Weizen  einem  gix)ssen  inter- 
nationalen Markte  gegenüber  steht,  hat  der 
Handel  sich  auf  diese  Verhältnisse  einge- 
richtet, und  es  hegt  für  das  Ausland  kein 
Gnmd  vor,  Deutscluand  besondere  Preiskon- 
zessionen zu  machen.  Das  letztere  liat  den 
Zoll  in  der  Hauptsache  zu  tragen,  wenn 
auch  in  dem  einen  Jahre  mehr  als  in  dem 
anderen.  Bei  dem  Roggen  kommt  der  aD- 
gemeine  Weltmarkt  nur  wenig  in  Betracht, 
sondern  es  steht  Deutschland  mit  seinem 
Bedarf  als  ausschlaggebend  da  und  ihm 
gegenüber  Kussland  aJs  der  hauptsächlichste 
Lieferant.  Die  Ernteverhältnisse  beider 
Länder,  und  zwar  in  ihrem  Verhältnis  zu 
einander,  sind  bestinmiend  für  die  Preise. 
Der  Emteüberschuss  in  Russland  ist  in  be- 
sonderem Masse  auf  den  Absatz  in  Deutsch- 
land angewiesen  und,  ist  er  ein  bedeutender, 
so  wird  der  Lieferant  den  Zoll  in  höherem 
Masse  zu  tragen  haben,  ist  er  gering,  so 
wird  das  nachfragende  Land  mindestens  bis 
zur  Höhe  des  Zolles  Eonzessionen  machen. 
Von  verschiedenen  Seiten,  besonders  von 
Ruhland  ist  nun  die  Behauptung  aufge- 
stellt, dass  der  Zoll  dem  geschützten  Lande 
überhaupt  eine  Preiserhöhung  nicht  ver- 
schaffe, sondern  nur  einen  entsprechenden 
Druck  auf  den  Weltmarktpreis  ausübe.  Diese 
Auffassung  kann  durch  die  Beobachtung 
gestützt  werden,  dass  der  Zuckerpreis  in 
hohem  Masse  durch  die  Höhe  der  Export- 
piämie  beeinflusst  worden  ist,  indem  mit 
neraufsetzung  einer  Exportprämie  in  Er- 
wartung einer  entsprechenden  üeberfüllung 
des  Mffl-ktes  die  Preise  gedrückt  wurden, 
bei  einer  Verminderung  die  Preise  stiegen. 
Indessen  liegen  die  Verhältnisse  bei  dem 
Zucker  doch  wesentlich  anders  als  bei  dem 
Getreide.  Die  Zuckerproduktion  wird  in  hohem 
Masse  durch  die  Proctuktionskosten  bestimmt ; 
das  in  den  internationalen  Verkehr  tretende 
Quantum  Zucker  ist  viel  kleiner,  die  Zahl 
der  konkurrierenden  Länder  geringer,  und 
der  Konsum  selbst  wird  wesentlich  durch 
die  Preise  beeinflusst.  Das  alles  trifft 
bei    dem    Getreide    nicht    zu,     und 


am 


wenigsten  bei  dem  Weizen.  Der  Zoll  kann 
den  Weltmarktpreis  auf  die  Dauer  niu*  be- 
einflussen, wenn  dadurch  der  Bedarf  des 
beschützten  Landes  auf  dem  Weltmärkte 
^mindert  wird.  Das  ist  bei  dem  deutschen 
)11  erwiesenermassen  nicht  der  Fall  ge- 
wesen. Die  Nachfrage  ist  mit  dem  Wach- 
sen der  Bevölkerung  fortdauernd  gestiegen. 
Ist  auch  vielleicht  im  ersten  Momente  bei 
einer  Erhöhung  des  Zolles  die  Spekulation 
in  Besorgnis  versetzt  und  zu  einer  Reduk- 
tion der  Preise  veranlasst,   so  kann  doch 


dies  nur  solange  vorhalten,  als  man  über 
die  Wirkung  des  Zolles  in  üngewissheit  ist. 
Sobald  sich  herausgestellt  hat,  dass  das 
geschützte  Land  in  ungeschwächter  Weise 
als  Käufer  auftritt,  muss  natürhch  auch  der 
Preisdruck  wieder  verschwinden.  Die  volks- 
wirtschaftliche Wirkung  wird  aber  eine  beson- 
ders hohe  durch  die  Preisdifferenz  zwischen 
In-  und  Ausland.  Untersuchen  ynr  auf 
Ginind  der  Preisstatistik  die  Wirkung  der 
Zölle  auf  die  deutschen  Preisverhältnisse. 

Die  Einfuhr  in  Deutschland  hat  sich  wie 
folgt  entwickelt. 

Weizen   Roggen      Gerste      Hafer 

in  Tonnen 

1880—84  534633  732381  320867  265127 

1885—89  449422  737250  479932  181 192 

1890—94  946236  629733  798604  208x66 

1895—98  141 1832  941594  1 043431  434462 

Die  fortdauernde  Steigerung  der  Zufuhr 
ist  hiernach  eine  sehr  erhebliche.  Die  Not- 
wendigkeit derselben  tritt  ebenso  klar  her- 
vor, wie  die  Unwirksamkeit  des  Zolles  sie 
zurückzuhalten. 

Die  Erntefläche  in  Deutschland: 

Weizen  u.Sp.  Roggen      Gerste        Hafer 

in  ha 

1878  2217090  5934927 

1885  2293831  5  841  841 

1890  2  327  026  5  820  317 

1897  2  247  287  5  966  776 


I  620  483  3  743  070 
I  742  386  3  786  827 

I  664  188  3  904  020 

1  666  014  3  999  052 


Ein  Rückgang  in  dem  Anbau  von  Getreide 
hat  mithin  nicht  stattgefunden. 


Der  Ernteertrag   im   Durchschnitte   der 
Jahre : 


Weizen    Roggen 

1878-80  2878517  5817797 

1881—85  2876672  5763934 

1886-90  3051765  5844565 

1891—95  3281  312  6548335 

1896—97  3095599  7082413 


Gerste        Hafer 


2177411 

2194743 
2  205  030 

2  345  940 
2279674 


4515702 
4126592 
4583^10 
4753486 
4904859 


Die  Zunahme  ist  unverkennbar,  aber  nur 
bei  dem  Roggen  wii-klich  erheblich.  Bei 
der  Unsicherheit  der  Erhebung  kann  ein 
grosses  Gewicht  ohnehin  nicht  darauf  gelegt 
werden. 

In  diesen  Zahlen  kommt  die  Wirkung 
des  Zolles  auf  den  inländischen  Preis  klar 
zum  Ausdruck,  und  sie  liefern  den  Beweis 
eines  dem  Zolle  fast  entsprechenden  Ein- 
flusses. 

22* 


340 


Getreidezölle 


1879/83 

Königsberg 196,71 

Danzig  unverzollt  .    .    .  19^,^5 

London 200fCx> 

Berlin 205,08 

Lindau 245,»8 

Danzig  unverzollt,  weni- 
ger alsT  Königsberg .    .  +2,14 
Berlin  mehr  als  London.  -[-  SP^ 
Lindau  mehr  als  London  +45)  i^ 


Die  Ghetreidepreise. 

Tonne  Weizen  in  Mark 
1886/90       1891/95        1896 


1884/85 
160,92 
150,17 

153,41 

161,55 
202,85 

—  10,75 
+  8,14 
+49,44 


168,20 

139,63 
»42,73 
174,21 
213,06 

-28,57 

+31,48 
+70,33 


162,88 

134,46 
119,72 
166,13 
212,70 

—28,42 

+46,41 
+93,18 


147,75 
152,84 

117,93 

153,83 
156,19 

—  29,82 

+32,75 
+62,74 


1897 
167,70 

131.50 
141,54 

223,40 

—36,20 

+81,86 


1898 
182,50 

«48,73 
159,23 

244,93 

—33,77 

+85,70 


Sind  "wir  so  zu  dem  Ergebnis  gelangt, 
dass  ein  dauernd  aufgelegter  hoher  Zoll  die 
Getreidepreise  des  Inlandes  im  grossen 
Durchscnnitte  entsprechend  erhöht,  so  folgt 
daraus,  dass  davon  die  Landwirte  einen  ent- 
sprechenden Yorteil,  die  Konsimienten  den 
Nachteil  haben,  und  die  Bedeutung  dieses 
ümstandes  muss  nun  des  näheren  unter- 
sucht werden. 

4.  Die  Einwirkung  der  6.  anf  die 
Landwirtschaft  Eine  momentane  Preis- 
erhöhung des  Getreides  durch  den  Zoll 
kommt  zunächst  dem  wirtschaftenden  Land- 
wirte zu  gute.  Der  Pächter  ist  in  der  Lage, 
dadurch  einen  höheren  Ertrag  zu  erzielen, 
während  er  dieselbe  Pachtsumme  weiter  zu 
zahlen  hat.  Der  Grundbesitzer  entrichtet 
die  gleichen  Hypothekenzinsen  wie  bisher, 
während  seine  Einnahmen  gewachsen  sind. 
Der  wirtschaftende  Landwirt  wird  somit 
durch  den  Zoll  zunächst  ebenso  begünstigt 
wie  der  Industrielle,  der  gegen  die  auslän- 
dische Konkurrenz  durch  einen  ZoU  ge- 
schützt wird.  Besteht  aber  der  ZoU  längere 
Zeit,  so  stellt  sich  zwischen  der  Landwirt- 
schaft und  der  Industrie  in  der  Wirkung 
ein  principieller  bedeutsamer  Unterschied 
heraus.  Ist  der  Vorteil  für  den  Industriellen 
ein  erheblicher,  so  vermehrt  er  im  Iniande 
selbst  die  Konkurrenz,  indem  eine  grössere 
Zahl  von  Unternehmern  von  den  günstigen 
Konjimkturen  profitieren  wollen  und  ihre 
Proauktion  erweitern  oder  neue  Fabriken 
einrichten,  wodurch  in  einiger  Zeit  das  Ueber- 
mass  beseitigt  wird,  aber  das  gesamte  Land 
nachhaltig  eine  Förderung  durch  den  ZoU 
erfährt,  indem  der  Bedarf  wachsend  im  In- 
iande gedeckt  wird.  Anders  in  der  Land- 
wirtscliaft.  Sind  durch  den  Zoll  die  Preise 
in  die  Höhe  gegangen,  so  ist  die  entspre- 
chende Wirkung,  dass  die  Pacht  in  die  Höhe 
geht,  der  Wert  des  Gnmd  und  Bodens 
steigt,  der  sich  nach  den  Getreidepreisen  in 
hohem  Masse  richtet.  Der  Grundbesitzer,  der 
im  Momente  der  Auflegung  des  Zolles  den 
Gnmd  und  Boden  in  der  Hand  hat,  macht 
also  dementsprechenden  Gewinn,  sein  Grund- 
stück hat  einen  höheren  Kapitalswert,  und 
diese  Steigerung  schliesst  eine  Kapital- 
schenkung in  sich.  Der  neue  Pächter  oder 
Käufer,  der  auf  Grund  der  erhöhten  Preise 


mehr  Pacht  oder  eine  grössere  Kauf  summe  ge- 
zahlt hat,  bezieht  dann  einen  entsprechen- 
den VorteU  von  dem  ZoUe  nicht  mehr.  Er 
wirtschaftet  vielmehr  unter  denselben  be- 
drängten Verhältnissen  wie  sein  Vorgänger, 
oder  hat  er  nur  ein  teüweises,  dem  ZoUe 
nicht  entsprechendes,  höheres  Gebot  gemacht, 
so  ist  seine  Situation  allerding  seine  güns- 
tigere, aber  es  schwebt  über  ihm  das  Da- 
moklesschwert der  Beseitigung  des  ZoUes, 
die  er  wiederum  aUein  zu  tragen  hat.  Sie 
schliesst  für  den  Besitzer  eine  Kapital- 
konfiskation  in  sich  wie  für  den  früheren 
Besitzer  die  Auflegvmg  des  ZoUes  eine  Schen- 
kung. Es  Uegt  deshalb  die  Grefahr  vor, 
dass  der  landwirtschaftüche  Betrieb  selbst 
nicht  den  voUen  Vorteil  von  dem  Getreide- 
zoUe  hat,  sondern  nur  der  momentane 
Grundbesitzer.  Das  hat  sich  auch  in  Deutsch- 
land in  hohem  Masse  gezeigt.  Die  Hoffnung 
auf  die  Wirkung  der  Zölle  hat  die  Land- 
wirte fast  anderthalb  Jahrzehnte  von  1880 
bis  95  veranlasst,  zu  hohe  Pacht,  zu  hohe 
Kaufpreise  zu  bieten.  Beide  sind  dadurch  in 
der  unnatürlichen  Höhe  erhalten,  auf  welche 
sie  durch  die  hohen  Getreidepreise  Anfang 
der  siebziger  Jahre  hinaufgeschraubt  waren. 
Da  nun  allgemein  zugestanden  wird,  dass 
eine  Hauptursache  der  neueren  Agrarkrisis 
auf  die  übertrieben  hohen  Preise  des  Grund- 
wertes wie  der  Pacht  zurückzuführen  ist, 
so  muss  man  sagen,  dass  die  Gesundung 
der  Verhältnisse  wesentUch  durch  die  G^- 
treidezöUe  zurückgehalten  ist.  Eine  grosse 
Zahl  von  Grundbesitzern  hat  sich  dadurch 
veranlasst  gesehen,  rechtzeitig  den  Verkauf 
unter  Preisgabe  eines  geringen  Kapitalsteües 
zu  unterlassen,  um  dann  später  die  Hoffnung 
auf  das  Steigen  der  Preise  getäuscht  zu 
sehen  und  dem  Konkm^e  zu  verfallen  oder 
eine  weit  grössei'e  Kapitaleinbusse  zu  erleiden. 
Fast  zwei  Decennien  waren  notwendig,  um 
die  Landwirte  davon  zu  überzeugen,  dass 
die  ZöUe  eine  aUgemeine  Preiserhöhung 
nicht  zu  l:)ewirken  vermochten  und  eine 
Reduktion  zur  Sanierung  der  Landwirtschaft 
im  Preise  des  Grund  und  Bodens  und 
der  Pacht,  wie  sie  sich  in  England 
längst  entwickelt  hatte,  notwendiff  sei.  Die 
landwirtschaftliche  Produktion  kann  auf 
diese  Weise  nicht  so  gefördert  werden  wie 


Getreidezölle 


341 


die  der  Industrie.  Die  Emancipation  vom 
A\islande  wird  dadurch  tlberhaupt  nicht  er- 
heblich und  bei  weitem  nicht  so  zu  er- 
warten sein  wie  in  der  Industrie,  weil  die 
Ackerfläche  nur  wenig  vermehrt  werden 
kann  und  die  Steigening  der  Ernteerträge 
nur  langsam,  und  nicht  allein  durch  mehr 
Kapitalsaufwand,  sondern  vor  allem  durch 
höhere  Intelligenz  und  überhaupt  nur  inner- 
halb enger  Grenzen  möglich  ist. 

Sehr  allgemein  ist  aber  die  Auffassimg 
unter  den  Landwirten  verbreitet,  dass  es  die 
Aufgabe  des  Staates  sei,  mit  allen  Mitteln, 
besonders  durch  Schutzzölle,  eine  Entwer- 
tung des  Grund  und  Bodens  zu  verhindern, 
da  dadurch  das  Nationalvermögen  entspre- 
chend geschädigt  werde.  Diese  Auffassung 
ist  auf  das  entschiedenste  zu  bekämpfen,  da 
sie  von  durchaus  irrigen  Voraussetzungen 
ausgeht.  Eine  hohe  Bewertung  des  Gnmd 
und  Bodens  liegt  durchaus  nicht  im  Inte- 
resse der  Gesamtheit,  sondern  nur  in  dem 
der  Inhaber  des  Grund  und  Bodens.  Im 
Gegenteil  ist  es  wünschenswert,  dass  den 
Landwirten  das  Produktionsmittel  möglichst 
billig  zugänglich  ist,  genau  so  wie  die  Ge- 
samtheit einen  Vorteil  davon  hat,  wenn  das 
Kapital  zu  einem  niedrigen  Zinsfuss  der 
Industrie  zugänglich  ist,  obwohl  die  Kapitals- 
inhaber dadurch  einen  Nachteil  erleiden. 
Ebenso  wie  es  das  Nationalvermögen  nicht 
berührt,  ob  der  Kurs  der  Papiere  steigt  oder 
fällt,  während  der  Ertrag  der  betreffenden 
Unternehmungen  derselbe  bleibt,  so  wird 
durch  das  Sinken  des  Grundwertes  das 
Nationalvermögen,  welches  eben  anders  zu 
berechnen  ist  als  das  Privatvermögen,  nicht 
l)erührt  Steigt  der  Wert  der  städtischen 
Gnmdstücke,  so  gewinnen  damit  die  be- 
treffenden'Besitzer,  aber  in  derselben  Weise 
schliesst  dieses  einen  Nachteil  für  das  übrige 
Publikum  ein,  dem  die  Erlangimg  des  Gnmd- 
besitzes  entsprechend  erschwert  ist.  Dem 
gegenüber  hegt  der  Einwand  nahe,  dass  der 
Schaden  für  die  Gesamtheit  vorliegt,  wenn 
«lie  Entwertung  des  Grund  und  Bodens  her- 
beigefülirt  ist  durch  die  Reduktion  des  Er- 
trages. Auch  hier  wird  man  unterscheiden 
müssen,  wodurch  die  Ertrags  Verminderung 
herbeigeführt  ist.  Beruht  sie  auf  einem 
Rückgang  der  Ernteerträge,  so  ist  dies  un- 
zweifelhaft ein  Schaden  für  die  Gesamtheit, 
ist  sie  dagegen  herbeigeführt  diuxih  eine 
Steigerung  der  Löhne,  oder  eine  Verminde- 
nmg  der  Getreidepreise,  so  steht  dem  Nach- 
teil für  die  Landwirtschaft  ein  entsprechen- 
der Vorteü  für  die  konsumierende  Bevölke- 
nmg  resp.  der  Arbeiterschaft  gegenüber. 
Der  Ertrag  der  Nationalwirtschaft  braucht 
dadurch  nicht  beeinträchtigt  zu  sein.  Die 
damit  verbundene  Einkommensverschiebung 
kann  Nachteile  mit  sich  führen,  sie  kann 
aber  auch  für  die  Gesamtheit  einen  Vorteü 


repräsentieren.  Die  Steigerung  der  Mieten 
in  den  Städten,  deren  Bevölkerimg  zunimmt, 
schliesst  für  eine  grosse  Zahl  von  städtischen 
Gnmdbesitzern  einen  bedeutenden  Vorteil 
in  sich.  Die  übrige  städtische  Bevölkerung 
wird  dadurch  nur  in  einem  höheren  Masse 
denselben  tributpflichtig,  der  gesamte  Wohl- 
stand der  Nation  hat  dadurch  nicht  gewonnen. 
In  derselben  Weise  wird  eine  Steigerung 
des  Ertrages  der  Landwirtschaft  durch 
künstliche  Preiserhöhung  des  Getreides  und 
der  damit  erhöhte  Grundwert  keineswegs 
die  Lage  der  Gesamtbevölkerung,  den  Na- 
tionalertrag und  das  Nationalvermögen  er- 
höhen, und  ein  Herabgehen  derselben 
schliesst  nicht  eine  Verarmung  der  ganzen 
Nation  notwendig  ein,  sondern  kann  viel- 
mehr an  derselben  spiu'los  vorübergehen. 
Hiermit  ist  daher  der  Getreidezoll  nicht  zu 
rechtfertigen.  Wenn  Fürst  Bismarck  in 
einer  seiner  berühmten  Reden  des  Jahres 
1879  auseinanderzusetzen  suchte,  dass  nicht 
niedrige,  sondern  hohe  Preise  für  die  Volks- 
wirtschaft günstig  seien,  indem  er  darauf 
hinwies,  dass  in  Serbien,  Rumänien  trotz 
der  niedrigen  Preise  die  Kultur  eine  nied- 
rige, die  Armut  der  Bevölkerung  eine  all- 
gemeine sei,  während  sich  die  hochstehen- 
den Kultiu*völker  bei  hohen  Preisen  weit 
besser  stünden,  so  beruht  das  auf  einer  Ver- 
wechselung des  post  hoc  und  propter  hoc. 
An  und  für  sich  haben  hohe  und  niedrige 
Preise  nüt  dem  Wohlbefinden  der  Bevölke- 
rung gar  nichts  zu  thun,  sie  haben  niu*  eine 
rechnerische  Bedeutung.  Ein  Volk  kann 
sich  sowohl  bei  hohen  wie  bei  niedrigen 
Preisen  sehr  wohl  befinden.  Die  Ver- 
schiebungen sind  es,  welche  Nachteile 
in  sich  schhessen.  Ist  alles  in  der  gleich- 
massigen  Bahn,  sind  mit  den  Preisen  Pacht 
und  Wert  des  Grund  und  Bodens,  die  Löhne, 
der  Zinsfuss  etc.  in  Einklang  gebracht,  so 
geht  der  volkswirtschaftliche  Betrieb  genau 
so  weiter,  ob  die  Preise  hoch  oder  niedrig 
sind. 

Die  Getreidezölle  können  aber  die  Wir- 
kung haben,  den  landwirtschaftlichen  Betrieb 
in  seiner  bisherigen  Intensität  zu  erhalten, 
oder  ihn  dazu  anzuregen  durch  höhere  Auf- 
wendung von  Arbeit  und  Kapital  die  Ernte- 
erträge zu  steigern ,  was  natürlich  aus  vei> 
schiedenen  Rücksichten  wünschenswert  sein 
wird.  Gehen  die  Preise  unter  ein  gewisses 
Mass  henmter,  so  kann  der  Jjandwirt  da- 
diurch  gezwungen  sein,  zu  einem  extensive- 
ren Betriebe  überzugehen  und  damit  nicht 
mehr  das  bisherige  Quantiun  an  Nahrungs- 
mitteln für  die  Bevölkenuig  zu  liefern,  die 
damit  in  einem  höheren  Masse  auf  auslän- 
disches Getreide  angewiesen  und  von  dem 
Auslande  abhängig  wird.  Man  pflegt  zu 
sagen,  dass  dieses  notwendig  eintreten  muss, 
wenn  die  Produktionskosten  nicht  mehr  ge- 


342 


Geti-eidezolle 


deckt  werden.  Hierbei  wird  aber  sehr  all- 
gemein der  Begriff  der  Produktionskosten 
misch  aufgefasst,  indem  darunter  die 
Verzinsung  des  in  Grund  xmd  Boden,  Ge- 
bäuden etc.  angelegten  Kapitals  mit  einbe- 
rechnet wird.  Je  höher  nun  der  Ankaufs- 
preis war,  um  so  höher  werden  dann  die 
rroduktionskosten  berechnet ,  welche  der 
Landwirt  als  das  Minimum  hinstellt,  welches 
er  gedeckt  haben  muss;  imd  hiernach  be- 
rechnen die  Landwirte  die  Getreidepreise, 
die  sie  vom  Staate  garantiert  haben  wollen, 
um  bestehen  zu  können.  Das  ist  offenbar 
eine  gänzlich  falsche  Aufstellung.  Unter 
Produktionskosten  sind  nur  diejenigen  Auf- 
wendungen zu  verstehen,  die  zur  Durch- 
führung des  Betriebes  selbst  wie  zur  In- 
standhaltung des  Gutes  in  seiner  Leistungs- 
fähigkeit notwendig  sind.  Es  gehören  also 
auch  dazu  die  Instandhaltung  der  Gebäude, 
des  lebenden  und  toten  luven tariums,  der 
Meliorationen,  wie  Drainage  etc.  Es  gehören 
aber  nicht  dazu  die  Zinsen  für  das  An- 
kaufskapital. Haben  die  Landwirte  für  den 
Grund  und  Boden  zu  viel  gezahlt,  so  hat  der 
Staat  ihnen  dieses  ebensowenig  zu  garan- 
tieren, wie  dem  Industriellen  seine  Fabrik- 
anlagen, dem  Rentier,  der  sich  an  einem 
Aktienuntemehmen  beteiligt  oder  ausländi- 
sche Papiere  kauft,  der  Kurs  gewährleistet 
werden  kann.  Reichen  die  Preise  nicht  aus, 
um  den  bisherigen  Kaufwert  der  ländlichen 
Güter  nach  dem  Landeszinsfusse  zu  ver- 
zinsen, so  braucht  dai-um  die  landwirtschaft- 
liche Produktion  noch  nicht  gefährdet  zu 
sein,  sie  können  noch  immer  ausreichen,  um 
die  Produktionskosten  zu  decken.  Der  Land- 
wirt kann  sich  darum  sehr  wohl  genötigt 
sehen,  denselben  Betrieb  durchzuführen,  weil 
ihm  dieser  den  höchsten  Ertrag  aus  dem 
Grundstücke  verschafft.  Der  Gnmdbesitzer 
kann  vielleicht  nach  der  Preisreduktion  nicht 
mehr  die  bisherige  Pacht  erlangen,  damit 
ist  aber  nicht  gesagt,  dass  er  überhaupt 
keinen  Pächter  findet,  der  mit  derselben 
bisherigen  Intensität  zu  wirtschaften  ge- 
neigt ist,  bei  einer  Pachtsumme,  die  den 
Gnmdbesitzer  in  den  Stand  setzt,  das  Gut 
in  dem  bisherigen  Zustande  zu  erhalten,  und 
einen  genügenden  Anreiz  bietet,  das  in  dem 
Gute  steckende  resp.  mit  demselben  ver- 
bundene Kapital  in  Gebäuden,  Inventarium 
etc.  zu  erhalten  und  nicht  verfallen  zu 
lassen.  Die  Berechnung,  wo  diese  Grenze 
üegt,  wird  allerdings  schwer  durchzuführen 
sein,  und  es  ist  sehr  begreiflich,  dass  darüber 
die  Anschaiumgen  wesenüich  auseinander 
gehen. 

Wir  haben  bisher  niu:  in  Betmcht 
gezogen,  wie  weit  der  Getreidezoll  das 
Interesse  des  Produzenten  berührt, 
unsere  Aufgabe  ist  es  nun  festzustellen, 
wie    der    Konsument     und    die    verar- 


beitende Industrie  dadurch  beh'offen  wer- 
den. 

6.  Einflnss  des  G.  anf  andere  Pro- 
duktionszweige. Der  Zoll,  der  den  Preis 
des  Getreides  erhöht,  verteuert  der  In- 
dustrie das  Rohmaterial.  Das  betrifft  hier 
nicht  nur  die  Müllerei  und  Bäckerei,  sondern 
vor  allem  auch  die  Landwirtschaft  selbst,  so 
weit  Viehzucht  damit  verbunden  ist.  Zur 
Mästung  in  den  Molkereien,  wie  in  den 
Wirtschaften  mit  vorwiegender  Aufzucht 
von  Schweinen,  Geflügel  im  kleinen,  Pferden, 
Rindvieh  im  grossen,  werden  nicht  un- 
bedeutende Quantitäten  an  Futtergetreide 
febraucht.  Da  in  unserer  Zeit  die  tierischen 
'rodukte  im  Verhältnis  höher  im  Preise 
stehen  als  die  übrigen  gewöhnüchen  Nah- 
rungsmittel, so  ist  es  von  wachsender  Be- 
deutimg für  die  Landwirtschaft,  die  ersteren 
zu  erzeugen,  und  dieses  wird  wesentlich 
erschwert  durch  die  künstliche  Verteuerung 
des  Getreides.  Es  sind  sowohl  ganz  kleine 
Wirtschaften,  wie  die  des  einfachen  Tage- 
löhners, Käthners,  die  sich  durch  Aufziehen 
von  Schweinen  und  Geflügel  einen  ent- 
sprechenden Nebenverdienst  schaffen;  wie 
dann  die  grossen  Güter  mit  Mastviehwirt- 
schaft und  Molkerei,  die  Hafer,  Roggen, 
Gerste  kaufen  müssen,  um  den  Betrieb 
durchzuführen,  und  denen  die  Verteuerung 
ihres  Materials  keineswegs  wünschenswert 
ist.  Kann  fiir  die  Mühlen  durch  die  Rück- 
gewährung des  Zolles  das  Arbeiten  für  das 
Ausland  wieder  entsprechend  erleichtert 
werden,  so  ist  für  die  anderen  Gewerbe, 
welche  ausschliesslich  für  das  Inland  arbeiten, 
hier  ein  Ersatz  nicht  möglich. 

Der  Schwei-punkt  der  Wirkung  des  Ge- 
treidezolles liegt  aber  in  der  Belastung  der 
Konsumenten.  In  dem  grössten  Teile  von 
Deutschland  ist  noch  der  Roggen  das  haupt- 
sächlichste Nahnmgsmittel ,  in  Frankreich 
dagegen  der  Weizen.  Der  Roggenzoll  be- 
lastet mitiiin  dort  die  grosse  Masse  der 
ärmeren  Bevölkerung.  Die  Kaufkraft  des 
Lohnes  des  einfachen  Arbeiters  wird  da- 
durch verringert,  was  namentlich  gegenüber 
dem  Auslande  auch  in  der  Zeit  ins  Gewicht 
fällt,  wo  ein  allgemeiner  Preisrückgang  den 
Zoll  einigermassen  ausgleicht.  Ein  neu  auf- 
gelegter Zoll  wird  deshalb  gleichbedeutend 
mit  einer  entsprechenden  Lohnreduktion 
sein,  und  die  Erfalirung  hat  gelehrt,  dass 
es  einer  längeren  Zeit  und  für  den  Arbeiter 
günstiger  Konjunkturen  bedarf,  um  eine 
Lohnerhöhung  füi'  den  Arbeiter  zu  erwirken 
und  dieses  auszugleichen.  Nur  auf  Grund 
harter  Kämpfe  \md  vieler  Entbehnmgen  ist 
eine  solche  Ausgleichung  zu  bewirken. 

Ist  aber  die  Lohnerhöhung  erreicht,  so 
liegt  die  Gefahi»  vor,  dass  das  geschützte 
Ijand  verhältnismässig  höhere  Löhne  zahlen 
muss    als  das  Ausland    und  ilmi  dadurch 


Getreidezölle 


343 


die  Konkurrenz  auf  dem  Weltmarkt  wesent- 
lich ei-sch^wert  wird.  Dies  war  der  Gnind 
zur  Gründung  der  Anti-corn-law-league  unter 
Richard  Gobden  in  England.  Deutschland 
hat  noch  immer  verhältnismässig  niedrige 
Löhne,  doch  haben  sie  sich  im  Laufe  der 
Zeit  gegenüber  England  schon  erheblich  aus- 
geglichen. Die  '  Weizenpreise  haben  aber 
die  folgende  Entwickelung  genommen: 
Die  Tonne  Weizen  kostete: 

in  England  in  Preussen  in  England 

mehr 

1821/40        260  M.  130  M.         +130  M. 

1841)'60        245    „  190   „           +56   „ 

1861/80        350   „  325   ,,           +  25    ., 

ISSl.lK)         147    „  174   „           -  27    „ 

1891/98         133    „  165    „           -  32   „ 

In  Westfalen  kostete  von  1891—98 
der  Weizen  33  Mark  mehr  als  in  London; 
in  Lindau  von  1879 — 85  47  Mark  mehr,  von 
1886—90  70  Mark,  von  1891-95  93  Mark, 
1898  86  Mark  mehr  als  in  London.  Dies 
muss  allmählich  unsere  Industrie  England 
gegenüber  immer  ungünstiger  stellen,  und 
wenn  sie  es  in  dem  jetzigen  Aufschwiuig 
noch  nicht  empfindet,  so  wird  es  sich  in 
der  Zeit  der  wirtschaftlichen  Depression 
um  so  mehr  fühlbar  machen. 
.  Die  Müller  wie  die  Landwirte  bedürfen 
häufig  des  ausländischen  Getreides,  um  das 
inländische  damit  zu  mischen  und  dadurch 
eine  angemessene  Qualität  herzustellen,  wie 
sie  zur  Mehl-  und  Brotbereitung  notwendig 
ist.  Es  ist  bekannt,  dass  in  vielen  Gegenden 
Deutschlands  nicht  ein  Weizen  gebaut  wird, 
der  den  nötigen  Klebergehalt  besitzt  und 
nur  durch  Zusatz  von  besonders  kleber- 
reichem Weizen,  wie  polnischem,  amerikar 
nischem,  die  Backßlhigkeit  erlangt.  Ist  zm* 
Zeit  der  Ernte  eine  ungünstige  Wittenmg, 
so  vermehrt  sich  die  Quantität  unzulänglichen 
Getreides  in  erheblichem  Masse  und  der 
Import  gewisser  Sorten  Getreides  wird  zur 
Notwendigkeit,  um  das  heimische  Produkt 
angemessen  verwerten  zu  können.  Aus 
demselben  Grunde  ist  auch  bei  reichen 
Ernten  häufig  eine  bedeutende  Zufuhr  an 
Getreide  nach  Deutschland  notwendig,  weil 
infolge  ungünstigen  Emtewetters  und  ähn- 
licher Eventiuditäten  ein  bedeutender  Teil 
des  Ertrages  nur  als  Yiehfutter  zu  verwenden 
ist  und  dafür  Ersatz  von  aussen  zur  Deckung 
des  Brotbedarfes  beschafft  werden  muss. 
Auch  nach  dieser  Seite  hat  daher  der  Ein- 
fuhrzoll einen  nachteiligen  Einfluss  für  die 
Volk.swirtschaft. 

6.  Die  Bedeutung  des  6.  für  die 
Kongumenten.  Ein  Zoll  auf  Brotgetreide 
trifft  nach  allem  die  grosse  Masse  der  Be- 
völkening  wie  eine  Art  Kopfsteuer.  Ja,  es 
ergiebt  sich,  dass  die  städtische  Arbeiter- 
bevölkerung pro  Kopf  sogar  mehr  Getreide 


verbraucht  als  die  wohlhabende,  sie  deshalb 
sogar  mehr  Zoll  zahlen  muss  als  diese.  Einen 
Yorteü  von  dem  ZoU  hat  mithin  nur  der- 
jenige Landwirt,  der  mehr  produziert  alö 
er  gebraucht,  und  das  ist  erst  bei  einem 
umfange  der  Ackerfläche  von  mindestens 
2  ha  an  der  Fall.  Dazu  kommen  noch 
einige  ländliche  Tagelöhner,  die  an  Natuiul- 
lieferungen  mehr  erhalten  als  sie  gebrauchen, 
doch  hat  sich  diese  Zahl  in  der  neueren 
Zeit  sehr  wesentlich  vermindert,  da  durch 
die  Anwendung  der  Dreschmaschine  der 
Dreschverdienst  ziu'ückgegangen  ist.  Nach 
der  Erhebung  von  1895  stellen  sich  nun 
die  betreffenden  Zahlen  wie  folgt:  In  ganz 
Deutsclüand  gab  es  3  236  000  land>virtschaft- 
liche  Betriebe  mit  weniger  als  2  ha  land- 
wirtschaftlich nutzbarer  Fläche,  von  5,56 
Millionen  Betrieben  überhaupt,  das  sind 
58,2%,  während  Betriebe  von  2—5  ha 
981000  Betriebe,  das  sind  17,6 «/o,  schon 
öfter,  aber  nicht  allgemein,  ein  Interesse  an 
hohen  Preisen  haben  werden.  Es  sind  die 
Inhaber  von  1233106  Betrieben,  welche  in 
Deutschland  hauptsächlich  an  hohen  Ge- 
treidepreisen interessiert  sind.  Das  betrifft 
etwa  6  Millionen  Einwohner  oder  12  %  der 
Bevölkerung ;  rechnet  man  noch  die  Betriebe 
von  2 — 5  ha  hinzu,  so  sind  es  11  Mülionen 
oder  21%,  also  wenig  über  ^/s  der  Be- 
völkerung. 

Dazwischen  steht  die  Zahl  derjenigen, 
welche  durch  eigenen  Erbau  oder  in  I^a- 
tur«dlohn  die  Deckung  des  Bedarfes  erhalten, 
sodass  das  Steigen  und  Fallen  der  Ge- 
treidepreise ftir  sie  bedeutungslos  ist.  Seiir 
reichhch  gerechnet  wird  diese  Zahl  auf 
etwa  ein  Fünftel  der  Bevölkerung  zu  be- 
ziffern sein,  während,  wie  wir  sahen,  ein 
weiteres  Fünftel  Vorteil  von  den  Getreide- 
zöllen hat.  Reichlich  drei  Fünftel  der  Be- 
völkerung haben  dagegen  die  Last  zu  tragen, 
und  zwar  ist  es  unter  diesen  die  Arbeiter- 
bevölkerung, welche  dadurch  am  schwersten 
betroffen  wird. 

Nun  ist  eingewendet,  dass  der  land- 
wirtschaftliche Arbeiter  indirekt  davon  Vor- 
teil habe,  wenn  die  Landwirtschaft  bhlhe, 
und  mit  ihr  durch  ungilnstige  Konjunktiu^n 
leide.  Das  ist  jedoch  niu*  in  beschränktem 
Masse  der  FaU  und  viel  weniger  als  in 
der  Industrie.  Die  Beschäftigung  der  land- 
wirtschaftlichen Arbeiter  kann  niu:  wenig 
eingeschränkt  werden,  so  lange  der  Betrieb 
aufrecht  erhalten  wird,  und  dieser  wird 
auch  bei  ungünstigen  Konjunktm^n  nur 
wenig  beeinflusst.  Es  sind  nur  die  bei 
ausserordentlichen  Arbeiten,  wie  Bauten, 
Meliorationen  etc.  beschäftigten  Personen, 
die  in  ihrem  Verdienst  bedroht  sind,  und 
diese  Zahl  ist  keine  sehr  erhebliche. 

Ertrag  der  ZöUe  auf  Getreide,  Hülsen- 
früchte und  Malz  in  Deutschland  war: 


344 


öetreidezöllö 


Jahr 

in  1000  M. 

^Iq  des  ges. 
Zollertrags 

auf  den  Kopf 
in  Pf. 

1880 

14455 

8,7 

32,4 

1881 

16575 

8,6 

36,9 

1882 

19029 

9,4 

42,1 

1883 

18825 

9,0 

41,4 

1884 

23816 

10,8 

52,0 

1885 

30137 

12,5 

65,3 

1886 

30194 

12,2 

64,9 

1887 

46479 

17,2 

98,2 

1888 

57167 

19,7 

119,8 

1889 

98740 

27,4 

201,9 

1890 

1 1 1  440 

28,2 

225,4 

1891 

107  140 

27,2 

214,6 

1892 

103  668 

26,4 

205,4 

1893 

70691 

19,8 

138,7 

1894 

99648 

25,5 

193,5 

1895 

108  95 1 

26,6 

208,8 

1896 

146  021 

31,5 

276,2 

1897 

134  861 

28,4 

251,0 

1898 

148  170 

28,8 

271,9 

Eine  Arbeiterfamilie   in   der   Stadt   mit 
5  Köpfen  zaMt  hiernach  allein  an  Getreide- 
zollen   durchschnittlich    12    bis    15    Mark. 
Nimmt  man  den  Verdienst  auf  900  Mark 
an,  wovon  600  Mark  als  Existenzminimum 
anzusehen   sind,    so    zahlt   dieselbe    hierin 
allein    über   1,5%   des  Einkommens,   aber 
5%  des  freien  Einkommens.    Der  Zoll  be- 
dingt aber  eine  allgemeine  Preissteigerung 
des  Getreides,  und  der  Arbeiter  konsumiert 
mehr  Getreide  als  der  Wohlhabende.     Da- 
durch steigert  sich  für  ihn  die  Last  noch 
sehr  erheblich,  und  sie  ist  nur  erträglich 
gebKeben  durch  den  allgemeinen  Preisrück- 
gang und  die  Steigerung  der  Löhne.     Da 
nun  ausserdem  der  Arbeiter  in  Deutscliland 
noch  für  Petroleum,  Kaffee,  Schmalz  und 
Fleisch,  auf  Heringe,  Tabak,  ganz  abgesehen 
von  dem  Zoll  auf  Baumwollen-  und  Wollen- 
waren,   Zoll    zu    zahlen    hat,    so    erhöht 
sich  der  Zoll  auf  6  Mai-k  pro  Kopf,  und 
i^chnet  man   die  Salz-  und  die  Getränke- 
steuern hinzu,  so  ergiebt  sich  ein  üebermass 
der  Steuerbelastung  für  die  unteren  Klassen 
durch  die  indirekten  Steuern,  welche  durch 
den  Getreidezoll  in  ganz  bedeutendem  Masse 
gesteigert  wird.     Dadurch  erhält  die  recht 
erhebliche    Einnahme    für   die    Staatskasse 
einen    sein*   hässlichen   Beigeschmack,    der 
nur    gemildert   werden   könnte    durch   die 
Verwendung  dieser  Bezüge  zum  Besten  der 
unteren   Klassen.     Sie  sollten  nicht  in  die 
allgemeine  Staatskasse  fliesscn,  sondern  zu 
besonderen  Fonds  für  wohlthätige  Zwecke, 
z.  B.  zur  Dm'chfühning   einer  allgemeinen 
Witwen-  und  Waisenversichernng  oder  zur 
Versicherung  der  Arbeitslosen  Verwendung 
finden. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dass  den 
Goti-eidezöllen  sehr  gi^osse  Bedenken  ent- 
gegenstehen. Sie  ])elasten  die  unteren 
Klassen  in  übermässiger  Weise.    Sie  kommen 


nicht  in  dem  Masse  der  landwirtschaftlichen 
Pi-oduktion  selbst  zu  gute  wie  die  Industrie- 
zölle, sondern  begünstigen  eine  kleine  Klasse 
von  Gnindbesitzern  auf  Kosten  der  übrigen 
Bevölkerung.  Sie  werden  deshalb  nur  zu 
rechtfertigen  sein,  um  besondere  Notstände 
zu  lindern  und  dürfen  allein  als  Uebergamg, 
nicht  aber  als  dauernde  Institution  acceptiert 
werden. 

7.  Wann  sind  die  6.  notwendig?  Wie 
schon  oben  angedeutet,  werden  sie  gerecht- 
fertigt, ja  selbst  unvermeidlich  sein,  wenn 
ein  plötzlicher  sehr  bedeutender  Preisstiu^ 
des  Getreides   eintritt,  durch  welchen  eine 
Ueberzahl    der    Landwirte    in   ihrer    wirt- 
schsrftlichen  Existenz  oder  ihrer  Besitzstellung 
bedroht  ^drd.     Der  Landwirt,   der  seinen 
Ruin  vor  Augen  sieht  oder  in  der  Hoffnung 
auf  bessere   Zeiten   sich   unter  allen   Um- 
ständen noch  einige  Jahre  zu  halten  strebt, 
wird  vor  allem  an  Wirtschaftskosten  sparen, 
daher  notwendige  Meliorationen  unterlassen, 
aber   auch   Reparaturen    imd   Ergänzungen 
an  Gebäuden  und  Inventar.    Der  Wert  des 
Gutes  wird  dadurch  reduziert,   aber  auch 
die  Leistungsfähigkeit  desselben  nachhaltig 
untergraben.     Die    sclüechtgehaltenen    Ge- 
bäude verfallen  schnell,  die  Reduktion  des 
Viehstandes  schwächt  die  Dungkraft.    Man- 
gel an  Zugvieh  und  Maschinen  verhindert 
eine  angemessene  Behandlung  des  Bodens, 
was     Verqueckung    zur    Folge    hat.      Ein 
bedeutender  Kapitalaufwand  und  viel  Arbeit 
sind  erforderlich,  ein  so  heruntergebrachtes 
Gut  wieder  zur  alten  Leistungsfähigkeit  zu 
bringen.    Der  Kapitalverlust,  der  damit  ver- 
bunden ist,  trifft  sowohl  den  Landwirt  wie 
die  ganze  Volkswirtschaft,  und  es  liegt  im 
Interesse  der  Gesamtiieit,  diesen  zu  verliin- 
dern.    In  einer  ähnlichen  Weise  wirkt  ein 
häufiger  Wechsel  der  wirtschaftenden  Per- 
sönlichkeiten,  vor  allem  des  Besitzers,  der 
durch  eine  Agrarkrisis  wesentiich  gesteigert 
wird.     Bei  dem  Zugrundegehen  einer  An- 
zahl Grundbesitzer  werden  aber  nicht  nur 
diese    im    Vermögen    geschädigt,    sondern 
leicht  auch  ihre  Gläubiger.    Auf  dem  Grund 
und  Boden  sind  in  einem  Lande  wie  Deutsch- 
land Milliarden  hypothekaiisch  eingetragen, 
und  unter  den  Gläubigern  befinden  sich  eine 
Menge  kleiner  Leute,  Witwen,  Waisen  etc., 
dann  aber  auch  Versicherungsgesellschaften, 
von  deren  Zahlungsfälligkeit  wiederum  eine 
sehr  bedeutende  Zahl  von  Existenzen  ab- 
hängt.    Wird   also   der  Grundbesitzerstand 
durch  den  Preisrückgang  in  seinen  Grund- 
festen erschüttert,  so  ist  es  sicher  die  Pflicht 
des  Staates,  zu  seinen  Gunsten  einzutreten, 
und  wo  eine  Wirkung  davon  zu  erwarten 
steht,  Getreidozölle  aufzulegen.     Die  Last. 
welche  den  Konsumenten  dadurch  aufgelegt 
ist,  wii-d  dann  ausgeglichen  durch  die  Vor- 
teile, welche  indirekt  die  Gesamtheit  dadurch 


Getreidezölle 


345 


gewinnt.  Dies  wird  um  so  leichter  der  Fall 
sein,  wenn  sie  nur  vorübergehend  zu  tragen 
ist.  Einen  solchen  Zoll  dauernd  der  JBe- 
völkerung  aufzubürden,  erscheint  in  hohem 
Masse  bedenklich.  Einmal  wegen  der  oben 
ausgeführten  Wii*kimg  derselben  auf  die 
Steigerung  resp.  künstliche  Hochhaltung 
des  Grrund wertes;  dann  wegen  Ueberlastimg 
der  unteren  Bevölkerung,  deren  Löhne  im 
Laufe  der  Zeit  gegenüber  dem  Auslande, 
wie  ausgeführt,  entsprechend  erhöht  werden 
müssen  und  die  Konkurrenzfähigkeit  der 
Industrie  erschweren,  und  dadurch  leicht 
erheblichere  Nachteile  der  Gesamtheit  zu- 
fügen können,  als  die  dadurch  erreichten 
Vorteile  auszugleichen  vermögen. 

8.  Der  dauernde  G.  In  Deutsclüand 
werden  zu  Gunsten  der  dauernden  Zölle 
zwei  Argumente  ins  Feld  geführt,  einmal 
die  Landwirtschaft  sei  die  notwendige  Grund- 
lage eines  jeden  Staates,  sie  sei  bei  den 
gegenwärtigen  Preisen  in  ihrer  Existenz 
bedroht,  der  Staat  müsse  sie  notwendig  er- 
halten. Darin  liegt  die  offenbare  üeber- 
treibung,  als  ob  der  landwirtschaftliche  Be- 
trieb selbst  bei  den  jetzigen  Preisen,  w^ie 
sie  auf  dem  Weltmarkt  sind,  nicht  mehr 
erhalten  werden  könnte.  Wir  sahen  schon 
früher,  dass  wenn  auch  der  gegenwärtige 
Grundbesitzer  sich  nicht  erhalten  kann,  weil 
er  die  Verzinsung  des  Kaufkapitales  nicht 
mehr  zu  erzielen  vermag,  danim  doch  nicht 
der  landwirtschaftliche  Betrieb  selbst  auf- 
gegeben werden  muss.  Vielmehr  kann  der 
neue  Käufer,  der  das  Gut  zu  einem  niedri- 
geren Preise  übernommen  hat,  dabei  in  der- 
selben Weise  weiter  wirtschaften  imd  sich 
sehr  wohl  dabei  fühlen.  Nicht  nur  Oester- 
reich,  wo  der  Getreidezoll  wirkungslos  ist, 
aber  allerdings  die  Löhne  niedriger  sind  als 
in  Deutschland,  sondern  auch  Dänemark, 
HoDand  und  Belgien  haben  ihren  Getreide- 
bau bewahrt,  und  selbst  England,  wo  die 
Getreidepreise  viel  niedriger  sind,  die  Löhne 
dagegen  viel  höher,  der  Arbeitermangel  weit 
grosser,  ist  der  Getreidebau  zwar  zurück- 
gegangen, erhält  sich  aber  in  einem  grossen 
Teil  des  Landes  und  hat  in  der  neuesten 
Zeit  wiederum  eine  Erweiterung  erfahren. 
Der  erhebliche  Preisrückgang  hat  auch  bis- 
her in  Deutsclüand  eine  Einschränkung  des 
Getreidebaues  nicht  herbeigeführt,  und  nir- 
gends ist  man  zu  einem  extensiveren  Be- 
tiiebe  übergegangen.  Es  fehlt  an  jedem 
Anzeichen,  dass  der  landwirtschaftliche  Be- 
trieb als  solcher  gefähi-det  sei.  Gleichwohl 
wai'  Mitte  der  achtziger  Jahre  ein  Zoll  not- 
wendig und  ist  es  auch  noch. 

Beachtung  verdient  auch  der  zweite  Ein- 
wand, Deutschland  sei  darauf  angewiesen,  den 
Bedarf  an  Brotgetreide  selbst  zu  decken.  Im 
Falle  eines  Krieges  liege  sonst  die  Gefahr 
vor,   dass  es  ausgehungert  werden  könne. 


Es  kann  liier  nicht  die  Aufgabe  sein,  diese 
mehr  praktische  als  theoretische  Frage  zu 
untersuchen.  Wir  begnügen  uns  mit  fol- 
genden Bemerkungen :  Bei  der  grossen  Aus- 
aehnung  und  Mannigfaltigkeit  der  Grenzen 
Deutschlands  ist  eine  vollständige  Ab- 
schliessung  in  keiner  Weise  zu  erwarten, 
vielmehr  nur  zur  See,  eventuell  nach  Russ- 
land und  Frankreich,  während  die  Grenzen 
nach  Oesterreich  und  der  Schw^eiz  offen 
blieben,  von  welchen  bei  den  modernen 
Kommimikationsmitteln  jeder  Bedarf  zu 
decken  wäre.  Mit  den  neueren  Hilfsmitteln 
kann  sich  ein  Krieg  in  Europa  unmöglich  lange 
hinziehen.  Für  eine  kurze  Zeit  würde  aber 
durch  den  heimischen  Vorrat  an  Nahrungs- 
mitteln auf  Kosten  der  Brennereien,  Stärke- 
fabriken sowie  unter  Heranziehung  des  sonst 
als  Viehfutter  dienenden  Getreides  eine 
Hungersnot  sicher  länger  als  ein  Jahr  abzu- 
weisen sein.  Dazu  kommt  aber  die  wesent- 
liche Frage,  ist  Deutschland  im  stände  im  Mo- 
mente überhaupt  den  Getreidebaii  so  zu 
steigern,  dass  es  sowohl  in  der  Gegenwart 
wie  für  die  absehbare  Zukunft  der  Bevölke- 
rung die  nötij^e  Nahrung  liefern  kann?  Die 
Frage  wird  von  verschiedenen  Seiten  (Nach- 
richten des  deutschen  Landwirtschaftsrats 
Nr.  9  des  Jalirg.  1898  und  von  Rümker, 
Mittheil,  der  landw^  Institute  der  Univ.  Bres- 
lau, 1898  S.  152—194.)  bejaht.  Man  stützt  sich 
auf  den  Nachweis,  dass  durch  bessere  Aus- 
wahl des  Saatgutes,  reichlichere  Düngung  und 
sorgfältigere  Behandlung  des  Bodens  der 
Ernteertrag  noch  in  sehr  bedeutendem  Masse 
gehoben  werden  kann  und  dass  eine  Anzahl 
Güter  durch  intelhgente  Wirte  thatsächlich 
in  kurzer  Zeit  in  ihrer  Produktion  ganz  ge- 
waltig gesteigert  sind.  Das  wird  niemand 
bestreiten.  Aber  diese  Möglichkeit  hat  zu 
allen  Zeiten  vorgelegen,  und  vereinzelte  Bei- 
spiele hervorragender  Leistungen  sind  stets 
zu  verzeichnen  gewesen.  Zu  einem  jeden 
derartigen  Kulturfortschritt  gehört  nicht  nur 
Kapital,  sondern  auch  Intelligenz  und  Kennt- 
nisse, die  sieh  nur  sehr  langsam  erlangen 
lassen.  Obgleich  die  deutsche  Landwirtschaft 
in  den  letzten  beiden  Decennien  grössere 
Fortschritte  gemacht  hat  wie  in  dem  vor- 
hergegangenen halben  Jahrhimdert,  war  sie 
nicht  im  stände,  in  ihren  Getreidelieferungen 
nur  mit  dem  Wachsen  der  Bevölkenmg 
Schritt  zu  halten.  Dass  sie  in  den  folgenden 
Decennien  melir  zu  leisten  vermag,  ist  eine 
willkürliche  Annahme.  Mau  meint,  dass 
eine  Steigerung  der  Preise  genügende  An- 
regung bieten  würde,  um  eine  w^eit  grössere 
Steigerung  der  Produktion  herbeizuführen. 
Auch  diese  Voraussetzung  ist  eine  durchaus 
willkürliche  und  entspricht  nicht  der  Erfah- 
rung. Die  deutsclie  Landwirtschaft  hat  die 
gi'össten  Fortschritte  nicht  gemacht  in  der 
Zeit  der  hohen  Preise,  in  den  sechziger  und 


346 


GetreidezöUe 


Anfang  der  siebziger  Jahre,  sondern  unter  dem 
Druck  der  niedrigen  Preise  in  den  achtziger 
und  neunziger  Jahren.  Nicht  die  verhältnis- 
mässig kleine  Zahl  der  intelligenten  Gutsbe- 
sitzer kommt  in  Betracht,  sondern  die  grosse 
Masse  der  schwerfälligen  Bauern,  die  in  dem 
alten  Schlendrian  verharren,  wenn  sie  dabei 
ihren  Unterhalt  verdienen,  die  erst  zu  einem 
Fortschritt  gebracht  werden,  wenn  die  Not  sie 
dazu  zwingt.  Auch  England  hat  den  höch- 
sten Aufschwung  in  der  Landwirtschaft 
nicht  zur  Zeit  der  hohen  GetreidezoUe  ge- 
macht, sondern  gerade  erst  nach  Beseitigimg 
der  Zölle  in  den  vierziger  Jaliren. 

Man  hat  auch  gemeint,  den  Nalirungsbe- 
darf  der  Bevölkerung  decken  zu  können, 
wenn  das  gesamte  Getreide  zm'  mensch- 
lichen Erhährung  dazu  benutzt  würde 
und  nicht  so  viel  als  Yiehfutter  in  Ab- 
zug käme.  Nun  ist  aber  stets  ein  erheb- 
licher Teil  des  Erntekorns  mindei-wertig  und 
nicht  backfähig  und  wird  nicht  willkürlich, 
sondern  notgedrungen  als  Viehfutter  ver- 
wendet. Dieser  Betrag  schwankt  erheblich 
je  nach  dem  Erntewetter  und  ähnlichen 
Momenten.  Es  ist  deshalb  ganz  unthunlich, 
den  ganzen  Ernteertrag  nach  Abzug  der 
Saat  dem  Bedarf  an  Brotgetreide  gegen- 
überzustellen. 

Nach  allem  wird  man  sagen  müssen, 
dass,  wenn  die  bisherigen  Zölle  auch  zur 
Zeit  der  grössten  Höhe  nicht  im  stände 
waren,  eine  Zunahme  des  Bedarfe  an  aus- 
ländischem Getreide  aufzuhalten,  dies  auch 
für  die  Zukunft  nicht  anzunehmen  ist,  so- 
lange die  Bevölkerung  in  der  bisherigen 
Weise  um  mehr  als  eine  halbe  Million 
Köpfe  pro  Jahr  anwächst,  welches  eine  jähr- 
liche Zunahme  des  Bedarfs  um  ca.  zwei 
Millionen  Centner  Brotgetreide  in  sich 
schliesst  und  damit  schon  einen  erheblichen 
Anspruch  an  die  Steigerung  der  landwirt- 
schaftlichen Produktion  macht,  (im  hiermit 
allein  Schritt  zu  halten.  Wir  können  uns 
daher  nur  wenig  nach  dieser  Richtung  von 
einer  Erhöhung  der  Zölle  versprechen.  Der 
zu  erwartende  Vorteil  steht  in  gar  keinem 
Verhältnis  zu  dem  damit  verbundenen 
Nachteil. 

Es  kommt  aber  auch  die  Wiikung  der 
Zölle  auf  den  Handel  in  Betracht. 

Fürst  Bismarck  war  es  besonders,  der 
im  Jahre  1879  die  Einführung  von  Getreide- 
zöllen für  wünschenswert  erklärte,  weil  der 
inländische  Produzent,  namentlich  der  Bauer, 
sein  Produkt  in  kleinen  Quantitäten  nur 
schwer  los  zu  werden  vermöchte,  da  es  die 
Grossindustrie  wie  der  Grosshandel  vorzöge, 
bedeutendere  Quantitäten  gleicher  Ware  auf 
einmal  aus  dem  Auslande  zu  beziehen  als 
kleine  Mengen  verschiedener  Beschaffenheit 
im  Inlande  zusammen  zu  kaufen,  und  die 
Zwischenhändler,    welche    dieses   Geschäft 


fiu*  sie  übernehmen,  Gelegenheit  finden,  den 
Produzenten  erheblich  zu  bedrücken.  Er 
hoffte,  dass  schon  ein  geringer  Zoll  aus- 
reichen würde,  dieses  auszugleichen  und 
dem  heimischen  Bauer  den  Absatz  zu  er- 
leichtern. Diese  Hoffnung  ist  im  grossen 
Ganzen  nicht  in  Erfüllung  gegangen.  Die 
Klage  über  die  zeitweilige  ünverkäuflichkeit 
des  Getreides  ist  auch  heute  noch  bei  den 
deutschen  Ijandwirten  verbreitet.  Ja,  der 
Zoll  hat  im  Gegenteil  darauf  hingewirkt,  den 
Getreidehandel  mit  dem  Auslande  in  wenig 
Händen  zu  koncentrieren  und  den  Gross- 
untemehmungen  ein  noch  bedeutenderes 
Uebergewicht  als  bisher  zu  verschaffen.  Die 
erheblichen  Mittel,  die  jetzt  notwendig  sind, 
um  den  Zoll  bei  der  Einfuhr  auszulegen, 
erschweren  dem  kleinen  Müller  wie  dem 
kleinen  Kaufmann  den  Handel  mit  dem  Aus- 
lande. Sie  treten  deshalb  mehr  und  mehi* 
in  den  Hintergrund,  und  die  kleine  Zahl, 
welche  übrig  bleibt,  bekommt  in  höherem 
Masse  ein  Monopol  in  die  Hand.  Die 
Schwierigkeiten  aber,  welche  der  Landwirt 
hat,  sein  Getreide  los  zu  werden,  liegen  an 
dem  üblen  Umstände,  dass  in  Deutschland 
jeder  Landwirt  in  der  Produktion  glaubt 
seinen  eigenen  Weg  gehen  zu  können,  dass  er 
das  Saatgut  allein  nach  seinem  landwirtschaft- 
lichen Urteile  auswählt  ohne  Rücksicht  auf  die 
Absatzfähigkeit.  Daher  ist  die  Ungleichheit 
der  Qualität,  welche  selbst  aus  der  gleichen 
Gegend  stammt,  ausseroi'dentlich  gross,  und 
dadiu:ch  ist  die  kaufmännische  Verwertung 
ausserordentlich  erschwert.  Dazu  kommt 
die  selir  ungleiche  und  vielfach  unzureichende 
Behandlung  des  Getreides  von  selten  der 
Bauern,  wodiu'ch  die  Ungleichheit  der 
Qualität  noch  wesentlich  verschlimmert 
wird.  Nicht  durch  Geti-eidezölle ,  sondern 
allein  durch  höheres  Verständnis  für  die 
kaufmännischen  Aufgaben  bei  dem  Landwirt 
kann  hier  eine  Besserung  herbeigeführt 
werden,  worauf  auch  die  Silountemehniun- 
gen  und  besonders  die  Landwirtschafts- 
kammern entsprechend  hinzuwirken  suchen. 
9.  Massregeln  zur  Milderung  der 
Nachteile  des  (t.  a)  Beseitiguiig  des 
Identitätsiiachweises.  Wie  oben  ausgeftlhrt 
wurde,  ist  die  Wirkung  des  Zolles  auf  die 
vei^chiedenen  Landesteile  eines  grossen 
Zollgebietes  sehr  verschiedenartig.  In 
Gegenden,  welche  mehr  produzieren  als  sie 
bedürfen,  wie  der  de\itsche  Nordosten,  muss 
der  Getreidezoll  darauf  hinwirken,  da  das 
Getreide  im  Inlande  höher  im  Preise  steht  als 
im  Auslande,  den  Ueberschuss  innerhalb 
des  Zollgebietes  abzusetzen,  also  nach  Mittel- 
und  Süddeutscliland  zu  beföi-dern,  und  es 
auch  dann  durch  die  Eisenbahnen  ziu:  weite- 
ren Verfi'achtung  zu  bringen,  wenn  das 
Getreide  zweckmässiger  vom  Auslande  zu 
beziehen  gewesen  wäre,  also  auch  wenn  es 


GetreidezöUe 


347 


volkswirtschaftlich  unzweckmässig  ist.  Die 
weitere  Folge  hiervon  muss  sein,  dass,  wie 
schon  oben  ausgeführt,  die  Preise  in  diesen 
Gegenden  infolge  der  teueren  Verfrachtung 
gedruckte  sind  und  niedrigere,  als  sie  es  bei 
Freigebung  der  Grenzen  und  der  Möglich- 
keit der  Ausfuhr  in  das  Ausland  wären. 
Daraus  ergiebt  sich,  dass  das  Getreide  durch 
den  Zoll  den  natürlichen  Handelswegen 
entzogen  und  gezwungen  wird,  teurere  zu 
benutzen,  und  zugleich  gerade  die  Agrar- 
gegenden,  welche  des  Zolles  am  meisten 
bedürfen,  den  geringsten  Nutzen  davon 
haben,  während  die  Yerteuenmg  des  Ge- 
treides in  jenen  Gegenden  weit  grösser  ist, 
wo  die  industrielle  Bevölkerung  überwiegt 
und  dieser  dadiuxih  ihr  Unterhalt  erschwert, 
die  Konkiurenzfähigkeit  mit  dem  Auslande 
geschwächt  wird,  um  dieses  zu  vermeiden 
und  zugleich  den  Mehlexport  zu  erleichtern, 
also  die  heimische  Mühlenindustrie  von  der 
Wirkung  des  Zolles  zu  befreien,  hat  man 
zuerst  begonnen,  den  Zoll  für  exportiertes 
Getreide,  welches  vom  Auslände  stammte, 
und  auch  bei  dem  Mehl,  welches  nach>veis- 
hch  aus  ausländischem  Getreide  hergestellt 
war,  zunlckzuerstatten.  Da  dieses  aber  für 
den  erstgenannten  Zweck  nicht  ausreichte, 
ging  man  einen  Schritt  weiter  und  zahlte 
nir  ausgefülirtes  Mehl  überhaupt  den  Zoll 
zurück,  es  mochte  von  ausländischem  oder 
inländischem  Getreide  herrühren,  denn  man 
beabsichtigte  eben  den  heimischen  Konsum 
zu  besteuern,  nicht  aber  die  Verarbeitung 
des  Getreides  in  irgend  einer  AVeise  zu  ver- 
hindern, und  noch  weniger  die  Arbeit  für 
den  .  Export  zu  bedrücken.  Noch  einen 
Sclu'itt  weiter  ist  man  in  Frankreich  durch 
die  Ausstellung  der  acquitß  ä  caution  ge- 
gangen, das  sind  Scheine,  die  den  Expor- 
teuren ausgestellt  werden,  auf  Grund  wel- 
cher er  ein  entsprechendes  Quantum  gleichen 
Getreides  zollfrei  einführen  kann.  Dasselbe 
ist  1894  in  Deutschland  durch  die  Beseiti- 
gung des  Identitätsnachweises,  dass  es  vom 
AuvSlande  importiert  sei,  durchgeführt,  und 
dadurch  den  östlichen  ProWnzen  ermöglicht, 
ihr  Getreide  wie  in  alter  Zeit  zur  See  in 
das  Ausland  zu  führen.  Für  jedes  expor- 
tierte Quantum  werden  Berechtigungsscheine 
zur  Einführung  entsprechender  Mengen  aus- 
gestellt, die  nun  an  Importeure  der  west- 
uchen  und  nördlichen  Häfen  und  Eisenbahn- 
plätze, wie  Hamburg,  Bremen,  Mannheim 
verkauft  werden,  um  damit  die  zollfreie 
Einfuhr  der  gleichen  Quantitäten  zu  errei- 
chen. Da  diese  Scheine  etwas  billiger  ab- 
gegeben werden,  als  der  ZoU  beträgt,  er- 
leichtert dieses  entsprechend  den  Bezug 
ausländischen  Getreides  in  den  Industrie- 
gegenden, ohne  dass  der  Staat  eine  Zoll- 
einbusse dabei  erleidet.  In  der  That  ist 
auch  seit   jener   Zeit    die    Getreideausfuhr 


aus  Deutschland  nicht  unwesentlich  ge- 
stiegen. 

Zu  gleicher  Zeit  war  aber  auch  die  Ein- 
fuhr erheblich  gewachsen.  Allerdings  waren 
in  einzelnen  Jahren  auch  schon  früher  erheb- 
liche Ausfuhrquanten  vorgekommen,  doch  nur 
ausnahmsweise  und  nicht  in  der  jetzigen  Höhe. 

b)  Die  gleitende  Skala.  Sowohl  in  Frank- 
reich wie  in  England  hat  man  eine  lange 
Zeit  versucht,  die  Wirkung  der  Getreide- 
zölle den  Zwecken  dadurch  in  höherem 
Masse  anzupassen,  dass  man  sie  mit  der 
Höhe  der  Preise  in  Zusammenhang  brachte 
und  sie  mit  dem  Sinken  derselben  steigen, 
mit  ihrem  Wachsen  dagegen  sinken  Hess, 
um  dadurch  eine  Ausgleichung  der  Preise 
herbeizuführen.  Es  ist  dies  die  schon 
früher  berührte  gleitende  Skala,  auf  welche 
wir  noch  einmal  zurückkommen  müssen,  da 
sie  in  der  neueren  Zeit  von  verschiedenen 
auch  beachtenswerten  Seiten  verlangt  wird. 
Theoretisch  erscheint  eine  solche  Massregel 
allerdings  in  hohem  Masse  wünschenswert, 
weil  ein  hoher  Zoll  ein  üebel  wird,  wenn 
bei  knappen  Ernten  die  Preise  ohnehin 
schon  hoch  sind,  während  gerade  eine  inten- 
sive Wirkung  der  Zölle  l>ei  niedrigen  Preisen 
erstrebenswert  erscheint.  Wie  aber  bereits 
oben  ausgeführt,  hat  die  Erfahrung  beson- 
ders in  England  gezeigt,  dass  die  Wirkung 
eine  ganz  andere,  als  man  erwartete,  ge- 
wesen ist.  Die  Schwankungen  in  den  Preisen 
innerhalb  kürzerer  Zeit  sind  infolge  der 
Spekulationen  bedeutend  vermehrt  worden. 
Man  hat  nun  gemeint,  dass  sich  die  Ver- 
hältnisse m  der  neueren  Zeit  genügend  ge- 
ändert haben,  um  ein  solches  Ergebnis  aus- 
zuschliessen.  Indessen  ist  nicht  recht  abzu- 
sehen, welche  Aenderungen  hierfür  ent- 
scheidend gewesen  sein  sollen.  In  England 
stellte  sich  heraus,  dass  die  Zufuhr  zurück- 
gehalten wurde,  so  lange  die  ZöUe  hoch 
waren,  und  erst  sobald  durch  eine  einge- 
tretene Knappheit  die  Preise  in  die  Höhe 
getrieben,  damit  die  ZöUe  ermässigt  waren, 
wurde  massenhaft  das  Getreide  in  das  Land 
hinein  geworfen,  welches  dann  einen  Di-uck 
auf  die  Preise  ausüben  musste.  Genau  das- 
selbe Vorgehen  ist  nun  auch  für  die  Gegen- 
wart zu  erwarten.  Das  Interesse  aller 
Händler  ist  hier  durchaus  das  gleiche.  Der 
ZoU  hat  eine  grosse  Koncentrierung  des 
Handels  in  wenig  Händen  zur  Folge  gehabt, 
die  sich  deshalb  zu  gemeinsamem  Vorgehen 
leicht  einigen  können  und  unzweifelhaft 
leicht  einigen  werden.  Der  Bedarf  Deutsch- 
lands an  ausländischem  Getreide  ist  heuti- 
gen Tages  bedeutend  genug,  um  einen 
erheblichen  Einfluss  auf  die  Preise  aus- 
üben zu  können  und  die  Zurückhaltung 
der  Zufuhr  fühlbar  zu  machen.  Fort- 
dauernde Schwankungen  sind  daher  unver- 
meidlich.   Nun  ist  in  der  neueren  Zeit  ge- 


348 


Getreidezölle — Gewässer 


Jahr 


Gesamtaiisfuhr  über  die  Zollgrenze. 


Weizen 


Roggen 


1890—93  zwischen  132—174000 

1894  1 72  000 

1895  195  000 

1896  246  000 

1897  410000 

1898  331 000 


Gerste 
Tonnen 


24 — 38  000 

83000 

64000 

58000 

116000 

144000 


20 — 32000 
56000 
66000 
37000 
32000 
30000 


Hafer 

10 — 44000 
56000 
91  000 
74000 
77000 
103000 


rade  von  selten  der  Landwirte  auf  die 
grossen  Schädigungen  hingewiesen,  welche 
sie  durch  diese  Schwankungen  erfediren, 
weü  sie  nicht  den  geeigneten  Moment  zum 
Verkauf  abwarten  können,  ihn  auch  nicht 
genügend  vorherzusehen  vermögen  und 
deshalb  gegenüber  dem  Kaufmann  den 
kürzeren  ziehen.  Es  kann  deshalb  sicher 
nicht  eine  Einrichtung  als  wünschenswert 
bezeichnet  werden,  welche  ^rade  die 
Schwankungen  steigert,  ohne  m  anderer 
Weise  ein  Aequivalent  zu  bieten. 

10.  Schlnssergebnis  des  bisher  Gesagten 
fassen  wir  in  der  folgenden  Weise  zusam- 
men: Die  Getreidezölle  schliessen  viel 
grössere  Lasten  und  Ungerechtigkeiten  für 
die  Bevölkerung  in  sich  als  die  sonstigen 
Zollauflagen;  sie  bediiicken  den  am  wenig- 
sten leistungsfähigen  Teil  der  Bevölkerung 
am  meisten.  Sie  kommen  nur  einem  kleinen 
Teil  der  Produzenten  zu  gute  und  nützen 
am  meisten  dem  momentanen  Besitzer  und 
nicht  nachhaltig  dem  landwirtschaftlichen 
Betriebe.  Die  Hauptwirkung  kommt  auf 
eine  Erlir'.::ng  des  Gnmdwertes  hinaus,  der 
Einfluss  isl  deshalb  für  die  Produktion  weit 
weniger  vorteilhaft  als  der  der  Schutzzölle 
für  die  Industrie.  Sie  werden  dalier  nm* 
ausnahmsweise  in  Anwendung  kommen 
rlürfen,  wenn  der  Grundbesitzer-  und 
Pächterstand  übermässig  in  seiner  Existenz 
\md  seinem  Betriebe  gefährdet  ist  und  ent- 
weder eine  baldige  allgemeine  Preiserhöhung 
des  Getreides  wieder  zu  erwarten  steht 
oder  der  Uebergang  zu  einem  niedrigen 
Niveaii  auf  eine  längere  Zeit  verteilt  werden 
muss. 

Die  Wirkung  der  Zölle  wird  aber  nur 
eine  angemessene  sein,  wenn  sie  von  vorn- 
herein als  eine  Uebergangsmassregel  hinge- 
8t<*llt  werden  die  Landwirte  somit  auf  die 
Beseitigung  dei'selben  stets  rechnen  müssen 
imd  deshalb  der  Grundwert  nicht  künstlich 
gesteigert  wird.  Es  muss  zweckmässig  er- 
scheinen, dieselben  nur  für  eine  bestimmte 
Zeit  aufzulegen,  imd  nach  einer  vorher  festge- 
setzten Frist  eine  allmähliche  Verminderung 
von  Monat  zu  Monat  in  ganz  geringen  Beträgen 
anzusetzen,  damit  sich  die  gesamten  Pro- 
duktions- und  Handelsverhältiiisse  danach 
einrichten  können.  Xur  so  wird  nach  allem 
eine  so  einschneidende  Massregel  zu  recht- 
fertigen sein.    Das  pekuniäre  Ergebnis  sollte 


aber  nicht  in  die  allgemeine  Staatskasse 
füessen,  sondern  der  unteren  Klasse  speciell 
zu  Gute  kommen. 

Litteratar:  Die  Zahl  der  Schriften  über  Ge- 
treidezöUe  ist  Legion;  sie  aUe  hier  anziifuhren 
kaum  möglich  und  aurh  nicht  nötig,  da  unter 
ihnen  sehr  viele  reine  Parteischriften  sind  ohne 
dauernden  wissenschaftlichen  Wert.  Wir  nennen 
daher  nur  die  vnchtigstenArbeiten  und  verspeisen  auf 
Conrads  Besprechung  über  nDie  neueste  Litteratur 
über  GetreidezÖlleu,  Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.  Bd. 
XXXlIIy  8. 145—158.  Vgl.  femer  Conrad,  Die 
Tarifreform  im  deutschen  Reiche  etc.,  ebd.  Bd. 
XXXIII,  S.  4SS  und  XXXIV,  S.  208  ff.  —  JPer- 
seihe,  ebd.,  K.  F.  Bd.  X,  S.  2S7.  —  Derselbe, 
ebd.  III.  F.  Bd.  I.,  S.  481—518.  —  Derselbe,  Ar- 
tikel nAgrarzöUea,  in  Schönbergs  Handbuch,  3. 
Aufl.,  2.  Bd.,  8.  224  ff.  —  Röscher,  Ueber  Korn- 
handel  und  Teuemngspoliiik,  Stuttgart  1852. —  von 
Räumer,  Die  Komgesetze  Englands,  Leipzig 
I84I.  —  Udo  Eggert,  Getreidezölle,  Berlin  1879. 
—  Jül,  Kühn,  Die  GetreidezöUe  in  ihrer  Be- 
deutung für  den  kleinen  und  mittleren  Grund- 
besitz,  2.  Aufl.,  Halle  a.  S.  1885.  —  Leoeis,  Die 
Wirkung  der  GetreidezöUe,  Festgabe  für  Georg 
Hanssen,  Tübingen  1889,  S.  197  ff.  —  Köttgen, 
Studium  über  Getreideverkehr  und  Getreidepreise 
in  Deutschland  (Staatsw.  Sttidien,  III.  Bd.), 
Jena  1890.  —  von  MaUekowits,  Die  Zoll- 
politik der  Österreichisch-ungarischen  Monarchie j 
und  des  Deutschen  Reiches,  Leipzig  1891.  — 
Stumpf,  Der  kleine  Grundbesitz  und  die  Ge- 
treidepreise, Leipzig  1897.  —  Alfr.  List,  Die 
Interessen  der  deutschen  Landwirtschaft  im 
deutsch-russischen  Handelsvertrag,  Stuttgart  190t). 

J*  Conrad, 


Gewässer. 

1.  Die  principiellen  Grundlagen  und  recht- 
liche Gliederang  der  Objekte  des  Wasserrechts. 
2.  Die  Landesgewässer  und  ihre  rechtliche  Ord- 
nung: a)  Privatgewä.sser ;  b)  G.  im  beschränkten 
öffentlich-rechtlich  geordneten  Gemeingebrauch; 
c)  die  im  freien  Gemeingebrauch  stehenden 
öffentlichen  G.  3.  Die  Ktistengewässer  und  die 
Seegrenze.  4.  Die  freien  G.  der  hohen  See  und 
die  Rechtsgrundlagen  der  Meeresfreiheit. 

1.  Die  principiellen  Grundlagen  und 
rechtliche  (Tliedernng  der  Objekte  des 
Wasserrechts.  Nicht  das  Wasser  an  sich 
in  den  verschiedenen  Formen  der  Aggregat- 
zustände, welche  es  seiner  physikalischen 
Beschaffenheit  nach  annehmen  kann,  sondern 
nur  Gewässer,  d.  h.  gi*össere  Ansammlungen 


Gewässer 


349 


desselben,  die  eine  nennenswerte  dauernde 
Beziehung  zum  staatlichen  Leben  erkennen 
lassen,  bilden  den  Gegenstand  rechtlicher 
Ordnung  in  jedem  Gemeinwesen,  sobald 
diesem  die  hohe  Bedeutimg  des  Wassers  ftlr 
die  Entwickelüng  der  gesamten  Kultur  be- 
wusst  geworden  ist.  —  Die  rechtsgeschicht- 
liche Betrachtimg,  welche  bis  zur  Stunde 
noch  aussteht  und  seit  dem  schwachen  Ver- 
suche Romagnosis  »Della  condotta  delle 
acque«  (1833)  kaum  merkliche  Fortschritte 
gemacht  hat,  könnte  nicht  davon  absehen, 
die  Geschichte  des  menschlichen  Kampfes 
mit  dem  mächtigen  »Elemente«  aufziuDllen 
und  die  mannigfachen  Rechtsgestaltungen 
vorzuführen,  die  aus  jenem  im  Zuge  der 
Zeiten  hervorgegangen  sind.  Es  ist  wieder- 
holt darauf  hingewiesen  worden,  dass  sich 
in  Beziehung  auf  die  Entwickelüng  der 
wasserrechtlichen  Verhältnisse  drei  grosse 
Abschnitte  aufstellen  und  unterscheiden 
lassen,  in  denen  ein  verschiedenes,  aber 
scharf  ausgeprägtes  Verhalten  zur  Natiir- 
kraft  des  Wassers  und  der  Verwendung 
derselben  zu  gewissen  Zwecken  erkennbar  ist. 

In  der  Kindheitsperiode  der  Ge- 
sellschaft mit  schwacher  Bevölkerung,  be- 
schränktem Ackerbau  und  geringer  Nutzung 
der  Naturkräfte  ist  das  Gebahren  des  ein- 
zelnen YTie  der  Gemeinschaft  dem  Wasser 
gegenüber  vorwiegend  defensiv.  In 
dieser  Periode  ist  man  mehr  auf  die  Ab- 
wehr als  auf  die  Aneignung  des  Wassei's 
bedacht;  es  wird  mehr  als  Last  denn  als 
Vorteil  angesehen. 

In  der  Entwickelungsperiode  mit 
wachsender  Bevölkerung,  zunehmender  inten- 
siver Wirtschaftspflege,  aufblühendem  Handel 
nimmt  der  Wassergebrauch  einen  lukra- 
tiven Charakter  an;  die  Industrie  bemäch- 
tigt sich  desselben  in  zimehmendem  Masse 
unter  praktischer  und  gesetzlicher  Ver- 
drängung der  Landwirtschaft,  und  die  Be- 
nutzung der  Triebkraft  des  Wassers  wird 
durch  künstliche  Vorrichtungen  den  Ver- 
kehrszwecken in  höherem  Masse  zugänglich 
gemacht.  In  den  Tagen  des  gesteigerten 
Volkswirtschaftsbetriebes  mit  starker  Bevöl- 
kerung, ausgedehnter  und  intensiver  Land- 
wirtschaft, bei  inniger  Verbindung  mit  In- 
dustrie und  Handel  steigert  sich  der  Cha- 
rakter des  Gebahrens  mit  Wasser  zu  all- 
seitig produktiver  Verwertung  seiner 
Leistungskräfte;  die  Verwendung  desselben 
^\'i^d  neben  den  Zwecken  der  Ortsverände- 
rung auch  für  die  Zwecke  aller  wirtschaft- 
lichen Arbeit  im  Lande  beansprucht.  Seine 
Benutzung  wird  allen  Bedürfnissen  zugäng- 
lich gemacht,  und  die  Abwehr  seiner  Ge- 
fahren tritt  in  den  erweiterten  Kreis  der 
wasserrechtlichen  Verhältnisse  und  verwal- 
tungsrechtlichen Aufgaben  des  Kultm*- 
staates  ein. 


unsere  Zeit  steht  zum  gi-ossen  Teil  mit 
ihren  wirtschaftspolitischen  Bedürfnissen 
und  Forderungen  auf  dem  Boden  des  Systems 
der  dritten,  mit  ihrer  positiven  Gesetzgebung 
auf  dem  der  zweiten  Periode.  Die  meisten 
deutschen  Wasserrechte  bieten  nur  Stück- 
werk und  zwar  nicht  allein  in  Beziehung 
auf  das  Ganze,  sondern  auch  rücksichtlich 
der  einzelnen  Zweige.  Die  meisten  der  in 
den  grösseren  deutschen  Staaten  aufgestellten 
Gesetzentwürfe  haben  zumeist  des  einseiti- 
gen Standpunktes  halber,  von  dem  sie  auf- 
gebaut waren,  entweder  bei  den  Vertretern 
der  Wissenschaft  oder  denen  der  Landwirt- 
schaft oder  denen  der  Industrie  Widerspruch 
gefimden  und  sind  zudem  meist  nicht  zur 
vollen  Ausführung  gekommen.  Selbst  jene 
Staaten,  welche  wie  Preussen  und  Bayern 
einzelne  Fragen  gesetzgeberisch  behandelt 
haben,  sind  in  anderen  den  Schwankungen 
der  Rechtsprechung  und  der  angewandten 
Doktrin  unterworfen  und  zumeist  auf  den 
dürftigen  Inhalt  der  nicht  selten  wider- 
spruchsvollen Landrechte  und  Partikularge- 
setze angewiesen. 

Wir  haben  an  anderer  Stelle  (s.  d.  Art. 
Binnenschiffahrt  oben  Bd.  II  S.  873 ff.) 
die  Gründe  für  die  Erscheinung  entwickelt, 
dass  der  Staat  bis  in  unsere  Zeit  den  Nutzungs- 
wert der  Gewässer  für  die  staatliche  Gemein- 
schaft und  Verwaltung  ledighch  oder  doch  vor- 
wiegend nach  den  Bedürfnissen  der  Ortsver- 
änderung, des  Güter-  und  Personen  Verkehrs 
zu  bemessen  geneigt  war.  Heutzutage  da- 
gegen hat  dui'ch  das  allseitige  Bestreben  nach 
intensiver  Wirtschaftspflege  mit  ihrem  System 
von  Ab-  und  Zideitungen,  Meliorationen, 
Drain^en  etc.,  die  Zunahme  der  industri- 
eDen  Thätigkeit  die  Ausnutzung  der  Natiu»- 
kraft  des  stehenden  wie  des  fliessenden 
Wassers  eine  Bedeutung  erlangt,  von  der 
Antike,  Mittelalter  und  selbst  neue  Zeit  in 
den  dürftigen  Ansätzen  der  jeweiligen 
wasserrechtlichen  Anordnungen  keine  Ahnung 
hatten. 

Aber  auch  nach  einer  anderen  Seite  hin 
steht  das  Wasserrecht  unserer  Zeit  vor 
grundsätzlichen  Aenderungen,  deren  Durch- 
bruch in  der  neueren  Gesetzgebung  sich  un- 
aufhaltsam vollziehen  muss.  Richtunggebend 
ist  hier  der  Gedanke,  dass  unabhängig  von 
ihrer  örtlichen  Lage  die  Menge  des  Was- 
sers ausschlaggebend  ist  für  ihre  dem 
Dienste  der  Gemeinschaft  zugewandte 
Bestimmung. 

Die  Bewegung,  die  zu  einer  Befreiung 
von  den  einengenden  Grenzen  der  strengen 
privatrechtlichen  Auffassung  führen  wiU, 
wird  sich  daher  besonders  empfindlich 
gegen  die  zur  Zeit  herrschenden  Rechts- 
gebilde in  dem  Sinne  wenden,  dass  die 
grosse  Wassermasse  an  sich,  abgesehen 
von  Triebkraft,  Beweglichkeit  oder  ruhender 


350 


G^ewässer 


Beschaffenheit,  mit  Rücksicht  auf  ihre  wirt- 
schaftliche, klimatische  etc.  Bedeutung  aus 
der  Herrschaft  des  privatrechtlichen  Eigen- 
tumsystems herausgenommen  und  ihrem 
Umfange  nach  als  res  publica  der  verwal- 
tungsrechtlichen Einwirkung  des  Staates 
unterstellt  werden  müsse. 

Diese  Auffassung  ist  weit  davon  ent- 
fernt, zu  den  Irrttimern  der  älteren  Lehre 
vom  Staatseigentiun  an  den  öffentlichen 
Flüssen  und  zu  den  Einseitigkeiten  der  über- 
wundenen Regaltheorie  zu  gelangen.  Sie 
ist  nur  geeignet,  der  bereits  aus  Gesetz- 
gebung und  Rechtsprechung  deutlich  her- 
vorleuchtenden Idee  von  der  Gemeinge- 
hörigkeit  grösserer  Wasserraengen 
im  Rechtssystem  zum  Durchbruch  zu  ver- 
helfen. Unverkennbar  liegen  verwandte  An- 
schauungen auch  dem  Ansturm  zu  Grunde, 
den  in  unseren  Tagen  Vertreter  der  agrari- 
schen Interessen  gegen  die  einseitige  Aus- 
beutung der  Gewässer  für  die  Zwecke  von 
Handel  und  Yerkehr  führen.  Schon  zu 
einer  Zeit,  da  die  Rücksicht  auf  Leichtigkeit 
und  Förderung  des  Yerkohrs  in  der  aJler- 
vordersten  Linie  der  durch  die  Gesetz- 
gebungspolitik zu  verwirklichenden  Inte- 
ressen lag,  hat  die  Lehre  wiederholt  und 
mit  Nachdruck  auf  den  Widersinn  aufmerk- 
sam gemacht,  der  darin  liegt,  die  Ausbeu- 
tung der  Gewässer  für  kommerzielle  und 
industrielle  Zwecke  vor  dem  wichtigen  Er- 
werbszweige der  Landwirtschaft  in  dem 
Masse  zu  bevorzugen,  dass  die  Interessen 
der  letzteren  in  offenbaren  Nachteil  gesetzt 
wurden. 

Hier  kann  eine  Remedm*  nur  dadurch 
gewonnen  werden,  dass  die  Einengung 
wieder  aufgehoben  wird,  welche  der  Begriff 
der  Oeffentlichkeit  der  Gewässer  in 
neuerer  Zeit  gefimden  und  welche  unsere 
Gesetzgebung;  überraschenderweise  unter 
das  Niveau  des  genossenschaftlichen  Geistes 
selbst  des  römischen  Rechtes  gestellt  hat. 
Zutreffend  hat  bereits  Endemann  (Das 
ländliche  Wasserrecht)  im  Hinblick  auf 
diesen  Punkt  betont,  dass  für  die  Antike 
der  Unterschied  der  öffentlichen  und  Privat- 
flüsse bei  weitem  nicht  den  Wert  hatte,  der 
demselben  in  der  Neuzeit  beigelegt  wii-d, 
da  im  römischen  imd  sicherlich  weit  mehr 
im  deutschen  Rechtssystem  überhaupt  das 
private  und  das  öffentliche  Leben  nicht  so 
weit  auseinanderlagen,  als  dies  gegenwärtig 
in  Rechtsprechung  und  Lehre  der  Fall 
scheint.  Wenn  man  die  öffentlichen  Gewäs- 
ser ausgeschieden  hatte,  so  war  dies  fi-eüich 
nicht  geschehen,  um  sie  in  unserem  Sinne 
der  Staatsgewalt  und  der  staatsbehördlichen 
Aufsieht  zu  überantworten,  sondern  es  galt 
nur,  dem  öffentlichen  Gebrauche  be- 
sonderen  Schutz  zu  verleihen.  Waren  auch 
die  Nutzungsformen  wenig  zahlreich,  welche 


im  römischen  wie  im  germanischeu  Volks- 
leben nach  Mass  der  zeitlichen  Wirtschafts- 
entwickelung überhaupt  stärker  in  Betracht 
kommen  konnten,  —  s.  Ssp.  II,  28:  »S^Ä-ilch 
wazzer  strames  vlüzet,  daz  ist  gemeine  zu 
varende  und  zu  vischende  inne.  Der 
vischer  müz  euch  wol  daz  ertriche  nuczen 
also  verne,  als  her  eines  geschi'iton  mag  uz 
dem  schiffe  —  [von  dem  rechten  Stade],«  — 
so  hatte  naturgemäss  dem  Gegensatz  zwischen 
öffentlichen  und  Privatgewässern  in  der  älte- 
ren Lehre  und  in  der  Verwaltung  des  älte- 
ren Staates  bei  weitem  jene  intensive 
Schärfe  gefehlt,  die  ihm  jetzt  innewohnt. 

Der  Unterschied  wird  aber  erst  dann 
recht  einschneidend,  wenn  wir  uns  dessen 
bewusst  werden,  dass  auch  die  privaten 
Gewässer  nach  römischem  und  germani- 
schem Rechte  nicht  in  dem  Sinne  Privat- 
eigentum waren,  dass  das  Wasser  den 
Pnvaten  gehört  hätte ,  sondern  alles  im 
Fliessen  begriffene  Wasser  allen  Menschen 
gemeinsam  war,  und  zwar  ^t  dies  sowohl 
für  grosse  wie  für  die  kleinsten  Gewässer. 

Dadurch,  dass  später  die  Tragkraft 
der  perennierenden  Wasserläufe  vornehm- 
lich unter  Einwirkung  des  zum  fiskalischen 
Vorteil  gehandhabten  Wassen'egals  in  den 
Vordergrund  rechtlicher  Beurteilung  ge- 
schoben wurde,  hat  das  deutsche  Wasser- 
recht  sein  gemeinrechtliches  einfaches  Prin- 
cip  der  freien  Wassernutzung  der  fliessen- 
den Welle  verloren,  und  es  hat  dafür  ein 
anderes  sicheres,  gemeingültiges  und  vor 
allem  ein  das  Bedürfnis  der  Gegenwart 
besser  befriedigendes  nicht  gefunden. 

Die  mit  dieser  Erscheinung  verbun- 
denen wirtschaftlichen  Gefahren  werden 
in  den  Rechtssvstemen  der  einzelnen 
Staaten  mu»  durch  unvermeidliche  In- 
konsecjuenzen  der  Wassernutzungsnormeu 
teilweise  vermieden  sowie  durch  eine  zu- 
sammenhangslose Gelegenheitsgesetzgebimg, 
die  der  jeweilig  herrschenden  wirtschafts- 
politischen Hauptrichtung  gerecht  zu  wer- 
den sucht.  Dem  Vorausgeschickten  nach 
wird  es  daher  einleuchten,  wenn  wir  der 
schidgemässen  Einteilung  der  Gewässer  in 
a)  natürlich  fliessende  und  natürlich  ste- 
hende, b)  künstlich  fliessende  und  künstlich 
stehende,  c)  perennierende  und  wilde,  nur  vor- 
wiegend technische,  der  Einteilung  end- 
lich d)  in  öffentliche  und  private  niu*  sekun- 
däre juristische  Bedeutung  beimessen. 
Sekundäre,  weil  z.  B.  einzelne  Gesetzgebim- 
gen,  wie  die  Sachsens  und  Weimars,  auf 
jene  Unterscheidung  ganz  verzichten  zu 
können  glaubten,  und  sodann,  weil  der  Ver- 
such, den  Eigentumsbegriff  für  die  Zwecke 
der  principiellen  Gliederung  des  Stoffes  zu 
verwerten,  als  verfehlt  angeschen  werden 
muss.  Denn  wenn  zugegeben  werden  muss, 
wie  dies  mit  anderen  Nieberding   thut, 


Gewässer 


351 


dass  von  der  geringen  Wassermenge,  die 
auf  einem  Grundslücke  angesammelt  er- 
seheint, bis  zum  Meere  die  rechtliche  Natur 
des  Wassers  sich  in  immer  weiteren  Gren- 
zen entwickelt,  dass  sie  dort  mit  dem  vollen 
Inhalt  des  Eigentums  beginnt  imd  hier  den- 
selben gänzlich  vernichtet  —  so  ist  damit 
klar,  dass  das  Eigentum  mit  seiner  spröden 
juristischen  Natur  nicht  als  systematisches 
Teüungsprincip  der  wasserrechtlichen  Ver- 
hältnisse Verwendung  finden  kann.  Ihre 
rechtliche  Ordnung  ffilt  vermöge  der  unlös- 
baren Beziehimgen  aller  umfangreicheren 
Gewässer  zu  den  allgemein  staatlichen  Inte- 
ressen nicht  bloss  unter  das  Eichtmass  pri- 
vatrechtlicher, sondern  immer  auch  zugleich 
öffentlichrechtlicher  Normen,  in  deren  Hand- 
habung sich  denn  auch  überall  Justiz  und 
Verwaltung  teilen.  Dieselbe  Wasserwelle, 
welche  aus  der  privaten  Quelle,  dem  einem 
einzelnen  gehörigen  Brunnen  geflossen,  ihren 
Lauf  nimmt,  tritt  als  Substanzteil  im  Bach, 
Graben,  Fluss,  Strom,  Meer  aus  einem 
»Bechtsgebiet«  unaufhaltsam  in  das  andere 
über.  Es  lässt  sich  daher  für  alle  Gewässer 
ein  zutreffendes  Teilungsprincip  nur  in  dem 
Masse  gewinnen,  je  nachdem  ein  Gewässer 
seiner  Natur  nach  zu  grösserer  oder  gerin- 
gerer Gemeinschaft  bestimimt  ist  Demnach 
unterscheiden  wir  drei  rechtlich  scharf  ge- 
sonderte Gruppen  von  Gewässern: 

1.  Die  Laiiidesgewässer,  welche  a)  bald 
in  Einzelnutzung,  b)  bald  im  faktischen  Ge- 
brauche einer  rechtlich  bestimmten  Zahl 
von  Intei-essenten,  c)  bald  endlich  potenziell 
im  Gebrauche  aller  Staatsbewohner  stehen; 

2.  die  Eüstengewässer ; 

3.  die  Gewässer  der  hohen  See. 

Wir  werden  im  folgenden  die  Grundzüge 
der  jeder  dieser  Gruppen  eigentümlichen 
Systeme  mit  ihren  specifischen,  den  Wasser- 
gebrauch regelnden  Normen  im  einzelnen 
vorführen. 

2.  Die  Landesgewässer  und  ihre  recht- 
liche Ordnung.  Das  im  modernen  Staats- 
begriff  liegende  Erfordernis  der  festländi- 
schen Gnmdlage  des  staatlichen  Baues  wird 
in  seiner  rechtlichen  Geltung  durch  die 
Thatsache  nicht  diu'chbi'ochen,  dass  die  Ge- 
bietseinheit auch  mehr  oder  minder  ausge- 
dehnte Wasserflächen  lunfasst.  Aiich  in 
diesen  erhält  der  Staat,  um  mit  v.  Gerber 
zu  reden,  seine  »körperüche  Qualifizienmg«. 
Sie  unterstehen  trotz  ihrer  inkonsistenten 
Beschaffenheit  in  allen  Beziehungen  der 
Gebietshoheit,  mögen  sie  nach  Mass  der 
rechtlichen  und  faktischen  Nutzungsfähigkeit 
bald  unter  den  Gesichtspunkt  des  Privat- 
eigentums, bald  unter  den  des  öffentüchen 
Gutes  fallen.    Wir  unterscheiden  sonach: 

a)  Privatgewässer.  Die  in  der  Lit- 
teiatur  vielfach  unternommene  Ableitung 
des  Begriffes  der  Privatgewässer  aus   dem 


Gegensatze  des  öffentlichen  Wassers  erweist 
sich  als  methodisch  verfehlter  Versuch.  Der 
Eigentumsbegriff  ist  feststehend;  der  Vor- 
stellungsiuhalt  der  »Oeffentlichkeit«  wechselt 
von  Rechtssystem  zu  Rechtssystem  und  stellt 
sich  genau  wie  der  der  »Meeresfreiheit*  bei 
näherer  Prüfung  lediglich  als  Abwehi»  älte- 
rer, mit  den  Forderungen  des  Gemeinda- 
seins unvereinbarer  individualistischer  For- 
derungen und  praktischer  Missbräuche  dar. 
Die  Privatgewässer  stellen  sich  demnach 
als  solche  Substanzmassen  dar,  auf  welche 
die  juristisch  relevanten  Merkmale  des 
Eigentums  passende  Anwendung  finden 
können.  Das  Wasser,  welches  in  Teichen, 
Cistemen,  Brunnen  und  Haltern  sich  befin- 
det, oder  durch  nattirliche  Beschaffenheit 
des  Ortes  an  einer  im  Privateigentum  be- 
findlichen Erdoberfläche,  in  einem  Gefässe 
u.  dgl.  sich  sammelt,  ist  im  Privateigentum. 
Quellen,  soweit  nicht  besondere  Regalitäts- 
verhältnisse  eintreten,  sind  dem  Verfügungs- 
rechte des  Grundeigentümers  überlassen. 
Auch  die  Abflüsse  der  genannten  Gewässer 
teilen  deren  rechtliche  Eigenschaft,  solange 
sie  auf  dem  Grund  und  Boden  des  Eigen- 
tümers der  Teiche,  Cistemen,  Brunnenhäter 
und  Quellorte  fliessen. 

Die  genannten  Gewässer  werden  mit 
dem  Grundstücke,  auf  welchem  sie  sich  be- 
finden, als  Gegenstände  des  Besitzes  bezw^. 
als  Zubehör  des  Grundstückes  (portio  fundi) 
selbst  angesehen,  über  welches  dem  Eigen- 
tümer ein  völlig  freies  Dispositionsrecht  zu- 
steht. Insbesondere  ist  es  dem  letzteren 
unverwehrt,  das  durch  Natur  oder  Kunst 
auf  seinem  Grundstücke  zu  Tage  geförderte 
Quellwasser  zu  fassen,  beliebig  zu  benutzen, 
zu  verbrauchen  oder  anderen  zur  Benutzung 
zu  überlassen,  Vorkehrungen  zu  treffen, 
durch  welche  das  auf  seinem  Boden  ent- 
springende QueUwasser  verhindert  wird,  auf 
das  niedriger  liegende  fremde  Grundstück 
abzulaufen.  Ebenso  darf  er  auf  seinem 
Gnmdstücke  Bnmnen  graben  oder  denselben 
grössere  Tiefe  geben,  wenn  auch  fladurch 
die  Wasseradern  auf  den  benachbarten 
Gnmdstücken  versiegen  oder  die  Brunnen 
der  Nachbarn  vertrocknen  sollten.  Dies  er- 
giebt  sich  aus  den  unser  Privatrecht  be- 
herrschenden Gnmdsätzen,  die  in  ihrer 
vollen  individualistischen  Geltung  durch 
§  905  B.G.B.  unverändert  erhalten  w^orden 
sind.  Alle  Einwürfe,  die  gegen  den  im  be- 
zeichneten Paragraphen  ausgesprochenen 
Lieblingssatz  der  romanistischen  Doktrin^ 
dass  das  Herrschaftsrecht  des  Eigentümers 
von  Grund  und  Boden  sich  auf  den  Raum 
über  und  unter  der  Grundfläche  erstrecke, 
erhoben  worden  sind,  erweisen  sich  auch 
hier  als  völlig  begründet.  Die  Absurdität 
seiner  unbedingten  Anerkennung  würde  sich 
allerdings   gerade    in  Anwendung   auf    die 


352 


Gewässer 


Wasserrechtsverhältnisse    aufs    klarste    er- 
weisen. 

Die  Kommission  für  die  Ausarbeitung 
des  Entwurfes  eines  B.G.B.  scheint  sich 
erst  im  Laufe  ihrer  Arbeiten  entschieden  zu 
haben,  von  der  Kodifizierung  des  ganzen 
Wasserrechtes  abzusehen,  da  die  Vorkom- 
mission vom  Jahre  1874  in  ihrem  an  den 
Bundesrat  erstatteten  Berichte  über  Plan 
und  Methode  des  Gesetzbuches  es  der 
sorgfältigen  Erwägung  empfohlen  hatte,  ob 
nicht  die  privatrechtlichen  Grundprincipien 
des  Wasserrechtes  sich  zur  gemeinschaft- 
lichen Regelung  im  deutschen  Civilgesetz- 
buche  eignen,  wenn  auch  das  Wasserrecht 
zu  den  Rechtsinstituten  gehöre,  welche,  wie 
das  Mühlen-,  Flötz-  imd  Flössereirecht  etc., 
im  einzelnen  nur  unter  dem  Bedürfnis  und 
den  geschichtlich  gegebenen  Verhältnissen 
grösserer  und  kleinerer  Distrikte  geregelt 
werden  können  und  deren  teilweise  polizei- 
licher Inhalt  ein  weiteres  Hindernis  der 
Kodifizierung  bilde.  Dazu  hatte  der  Justiz- 
ausschuss  des  Bundesrates  in  seinem  über 
das  Gutachten  der  Vorkommission  abgege- 
benen Bericht  bemerkt,  dass  allerdings  in 
specieDer  Gliedenmg  und  mit  Regelung  der 
Einzelheiten  jene  Rechtsiostitute  in  das 
Gesetzbuch  nicht  aufzunehmen  seien,  wohl 
aber  ihre  privatrechtlichen  Grundprincipien, 
hinsichtlich  deren  sie  dodi  unter  dem  allge- 
meinen Civilrecht  ständen. 

Aber  im  Verlauf  der  Vorarbeiten  für 
den  Entvs'urf  scheint  man  auf  die  gemein- 
same Regelung  der  Hauptgrundsätze  jener 
Rechtsinstitute,  so  auch  des  Wasserrechts, 
weniger  Gewicht  gelegt  zu  haben;  denn 
Art.  65  des  Einführungsgesetzes  zum  Bür- 
gerlichen Gesetzbuche  lässt  die  landesge- 
setzlichen Voi-schriften,  welche  dem  Wasser- 
recht  angehören,  unberührt  vom  gi^ossen 
Kodifikationswerk. 

Eine  Teilnahme  weiterer  Kreise  des  Ge- 
meinwesens an  der  Nutzung  der  im  vor- 
stehenden rechtlich  gekennzeichneten  Ge- 
wässer ißt  demnach  innerhalb  des  herrschen- 
den Privatrechtssystems  im  allgemeinen 
nur  unter  den  rechtlichen  Bedingungen  der 
im  öffentlichen  Interesse  durchzuführenden 
Zwangsenteignung  gegen  Entschädigung  zu- 
lässig. Im  rheinischen  Rechte  ist  jedoch 
dem  Besitzer  für  solche  Fälle,  wo  seine 
Quelle  allein  im  stände  ist,  der  Umgegend 
den  notwendigen  Wasserbedarf  zu  sichern, 
von  vornherein  eine  jede  Verfügimg  unter- 
sagt, welche  den  freien  Gebrauch  des  Was- 
sers beeinträchtigen  ^ilrde;  es  steht  ihm 
nur  eine  durch  Sachverständige  zu  bemes- 
sende Entschädigung  für  die  ihm  auferlegte 
Beschränkung  zu.  In  der  allgemeinen  Lan- 
desgesetzgebung der  alten  Provinzen  Preus- 
sons  hat  eine  entsprechende  Bestimmung 
auf  die  PrivatfJüsse  und  deren  Quellen  An- 


wendung gefunden.   (G.  v.  28.  Februar  1848 

§  15.) 

b)    G.     im     besohränkten,     öffent- 

lichrechtlicli  geordneten  Gemeinge- 
brauch. Während  die  Beteiligung  einer 
grösseren  Zahl  von  Nutzniessern  im 
Wege  des  Vertrages  oder  auch  der  Dienst- 
barkeit den  Rahmen  der  privatrechtiichen 
Nonnen  nicht  durchbricht,  tritt  eine  not- 
wendige »Beugung«  des  reinen  Civilrechts- 
systems  sofort  ein,  sobald  entw^eder  die 
Menge  der  eingeschlossenen  Gewässer  oder 
ihre  fliessende  Natur  mit  der  dadurch  not- 
wendig verbundenen  Beziehung  zum  Ge- 
meingebrauch den  Linienlauf  des  reinen 
Privatrechts  stört.  Dies  ist  der  Fall  bei  den 
grosseren,  von  der  Gesetzgebung  nicht  aus- 
drückhch  als  öffentliche  charakterisierten 
Gewässern,  deren  Bezeichnung  als  Privat- 
gewässer aber  doch  immer  irreführend 
wirkt.  Die  Pointe  ihrer  rechtlichen  Natur 
ist  eben  darin  zu  suchen,  dass  bei  ihnen 
zwei  Principien:  das  der  Allgemeinge- 
hörigkeit  der  grossen  Wassermenge  und 
das  der  ausschliessenden  Rechtswirkungen 
des  Privateigentums  an  den  angrenzen- 
den Ufern  —  ihre  in  der  positiven  Gesetzge- 
bung mehr  oder  minder  gelungene  Ver- 
mittelung  gefunden  haben.  Die  grosse 
Wassermenge,  eine  Wohlthat  zugleich  und 
zugleich  die  Quelle  von  Gefahren,  lässt  von 
vomeher  nur  eine  beschränkte  Disposition 
des  einzelnen  zu.  Die  Eigentumsbetliätigimg 
gewinnt  sofort  den  Charakter  einer  Turba- 
tivhandlung  dann,  wenn  verschiedene 
Anlieger  vorhanden  sind,  von  welchen  das 
Wasser  zu  verschiedenen  Zwecken  be- 
nutzt werden  soll.  Der  Interessenkollision 
und  den  dauernden  Rechtsstörungen  vorzu- 
beugen, erfolgt  hier  die  Feststellung  der 
Wasserverhältnisse  zwar  für  einen  engeren 
Kreis  von  Interessenten,  aber  immer  seitens 
staatlicher,  kommunaler  etc.  Organe  und 
kraft  zwingender  Normen  des  öffentlichen 
Rechts.  Die  ältere  Lehre  hat  zur  Erklänmg 
dieser  Erscheinung  zur  gekünstelten  Idee 
der  »Wasserhoheit«  gegriffen  und  aus  dieser 
hei-aus  das  Oberaufsichtsrecht  für  den  Staat 
in  Anspruch  genommen.  Im  Anschlüsse 
daran  entwickelte  sich,  fast  in  allen  deut- 
schen Ländern,  Württemberg  ausgenommen, 
der  im  Gegensatze  zum  römischen  und  älte- 
ren deutschen  Rechte  von  der  Beschaffen- 
heit der  Wasserwelle  unabhängige  Unter- 
schied der  öffentlichen  und  nicht  öffentlichen 
Gewässer.  Die  beiden  Ausdrücke  finden 
sich  in  allen  deutschen  Wasserrechtssvstemen : 
gleichwohl  wohnt  ihnen  eine  ausreichende 
Kraft  zur  Bestimmung  der  praktischen 
Rechtsverschiedenheit  der  Gewässer  nicht 
inne.  Ueberall  findet  sich  wohl  als  Gliede- 
rungsprincip  der  Gnmdgedanke  vor,  diejenigen 
Gewässer,  über  welche  dem  Staate  ein  weit- 


Gewässer 


353 


gehendes  Hoheitsrecht,  den  einzelnen  Pri- 
vaten aber  nur  geringe,  positiv  begrenzt« 
Herrschaftsrechte  zustehen,  von  denjenigen 
Gewässern  zu  trennen,  wo  jenes  Hoheits- 
recht im  wesentlichen  fehlt  und  die  aus- 
schliesslichen Dispositionsbefugnisse  der 
Privaten  überwiegen.  Dabei  ist  aber  immer 
angenommen,  dass  auch  die  nicht  öffent- 
lichen kraft  der  mehr  oder  minder  weit- 
gehenden diskretionären  Gewalt  der  Obrig- 
keit deshalb  nicht  als  Eigentumsgewässer 
oder  Privatgewäßser  im  engeren  Sinne, 
sondern  nur  als  Gewässer  angesehen  wer- 
den sollen,  deren  Gemeingebrauch  ein  be- 
schränkter, relativer  ist 

Wir  ziehen  somit  die  Summe,  dass  nach 
geltendem  ßechte,  vornehmlich  Pi-eussens, 
auch  die  nicht  öffentlichen  als  rela- 
tiv öffentliche  anzusehen  und  zu  be- 
handeln sind.  Die  civilrechtliche  Konstruk- 
tion macht  vergebliche  Anstrengungen,  die- 
ser rechtsgeschichtlichen  Thatsache  Herr 
zu  werden,  und  tröstet  sich  mit  dem  Ge- 
danken, dass  es  für  die  Praxis  in  der  That 
einerlei  ist,  ob  man  dem  Nutzniesser  des 
Wassers,  dem  Anlieger  etc.  ein  Privateigen- 
tum zuschreibt,  welches  durch  die  Einwir- 
kung der  öffentlichen  Gewalt  besclu^nkt 
und  im  Einklang  mit  den  Interessen  der 
anderen  Beteiligten  gelialten  wird,  oder  ob 
man,  die  öffentliclie  Qualität  des  Flusses 
voranstellend,  dem  einzelnen  nur  ein  inner- 
halb der  polizeilichen  Anordnimgen  sich  be- 
wegendes privates  Nutzungsrecht  zuerkennt. 
Endemann  (a.  a.  0.)  zieht  denn  auch  aus 
dem  Vordersatz  die  richtige  Konsequenz, 
dass  hiernach  die  reinen  Privatgewässer, 
namentlich  diejenigen,  an  welchen  die 
öffentliche  Gewalt  gar  keine  Berechtigung 
habe,  sehr  reduziert  seien  und  dass  daher 
alle  Gewässer,  deren  Anlieger  sich  jene 
staatliche  Einwirkung  gefallen  lassen  müs- 
sen, ebensogut  öffentliche  heissen  können, 
was  ja  nicht  ausschliesst,  dass  der  einzelne 
dennoch  Privatrechte,  sogar  Privateigentum 
am  Wasser  haben  könne. 

Zu  dieser  Gnippe  gehören  vor  allen  die- 
jenigen Gewässer,  welche  nicht  rings  um- 
schlossen sind,  die  Wasserleitungen,  Kanäle 
und  Gräben,  insbesondere  aber  die  eigent- 
lichen Privatflüsse,  deren  rechtliche 
Regelung  gewissermassen  den  Mittelpunkt 
der  dem  Wasserrecht  vorbehaltenen  Probleme 
ausmacht. 

Alle  Flüsse,  welche  von  Natur  nicht 
schiff-  oder  flössbar  sind,  ferner  Quellen, 
Bäche,  Fliessen,  sowie  Seeen,  welche  einen 
Abfluss  liaben,  sind  unter  die  Privatflüsse 
zu  zählen.  Diesen  sämtlichen  Gewässern 
gegenüber  stehen,  ausser  dem  im  Boden 
steckenden  Wasser,  die  Quellen  und  das 
wild  ablaufende  Wasser;  das  letztere 
umfasst   alles    Wasser,    welches    aus    dem 

Handwörterbuch  der  Staatswissenschafteii.    Zweite 


Boden  hervonj^uillt  oder  aus  der  Atmo- 
sphäre herabsinkt  und  ohne  bestimmten 
Lauf  sowie  ohne  festes  Bett  seinen  Abfluss 
sucht. 

Der  wirtschaftlichen  Wichtigkeit  nach 
treten  denn  auch  aus  der  einschlä^gen  Ge- 
setzgebung namentlich  die  die  Privatflüsse 
betreffenden  Normen  hervor;  hier  hat  sich 
am  früliesteu  die  Notwendigkeit  eines  be- 
hördlichen Schutzes  der  Wassernutzuug  im 
genossenschaftlichen  Geiste  geltend  ge- 
macht. 

In  der  That  hat  die  preussische  Recht- 
sprechung schon  vor  einem  halben  Jahr- 
hundert trotz  der  Unklarheiten  des  G.  v.  28. 
Februar  1843  über  die  Benutzung  der  Pri- 
vatflüsse diesen  Begriff  des  genossenschaft- 
lich beschränkten  Gemeingebrauches  ihren 
Judikaten  zu  Grunde  gelegt.  So  sagt  das 
Obertribunal  in  einem  urteil  aus  dem  Jahre 
1845:  »Das  Eigentum  an  dem  Privatflußse 
unterliegt  dem  aus  der  Natur  der  Sache  be- 
hufs Nebeneinanderbestehens  der  Rechte 
der  verschiedenen  Eigentümer  folgenden 
Beschränkungen«,  und  in  einem  Urteil  vom 
16.  Dezember  1853  erweitert  es  diese  Auf- 
fassung dahin,  dass  »an  und  für  sich  jeder 
Eigentümer  befugt  sei,  die  Sache,  welche 
Gegenstand  des  Eigentums  ist,  soweit  nicht 
gesetzliche  oder  konventionelle  Beschrän- 
kungen entgegenstünden,  ausschliesslich  zu 
benutzen  und  darüber  ausschliesslich  zu 
verfügen.  Dieser  Grundsatz  könne  aber  auf 
Privatflüsse  nicht  unbedingt  angewandt 
werden.  In  dem  Allgemeinen  Laudrecht 
und  den  besonderen  Verordnungen,  welche 
sich  auf  das  Wasserrecht  bezögen,  sei 
nirgends  ausdrücklich  bestimmt,  dass  den 
üferbesitzern  das  privative  Eigentum  an 
dem  Flussbette  und  Flusswasser,  soweit  der 
Fluss  die  Grundstücke  derselben  berühre, 
zustehe  und  das  Eigentum  der  gegenüber- 
liegenden Grundbesitzer  insbesondere  bis  in 
die  Mitte  des  Flusses  reiche.  Aus  den  ein- 
zelnen Bestimmungen  der  Gesetze  §§  245 
bis  264,  Tit.  9.,  Tl.  I,  §§  39—45,  15,  Tl.  H 
Allg.  L.-R.  folgte  aber,  dass  das  Eigen- 
tum der  üferbesitzer  an  dem  Pri- 
vatflusse und  das  Eigentum  der 
gegenüberliegenden  Besitzer  ins- 
besondere nicht  lediglich  nach  den 
allgemeinen  Grundsätzen  über  das 
Eigentum  zu  beurteilen,  sondern  in 
mehrfacher  Hinsicht  beschränkt  sei.  —  Nach 
dem  allen  könnten  die  gesetzlichen  Kon- 
sequenzen, welche  an  und  für  sich  die  Be- 
nutzung des  Eigentums  und  der  Verfügung 
darüber  gelten,  nicht  ohne  w^eiteres  auf  das 
beschränkte  Recht  der  Uferbesitzer  am  Fluss- 
bett und Wasserachatze  angewandt  werden; 
es  müssten  vielmehr  zugleich  und 
wesentlich  die  besonderen  Ver- 
hältnisse, welche  hier  obwalteten 

Auflage.    IV.  23 


354 


Gre  Wässer 


und  von  Einfluss    seien,   ins  Auge 
gefasst  werden.«  — 

Der  neueren  Wassergesetzgebung  ist  vor- 
nehmlich die  Tendenz  gemeinsam,  die  Ge- 
wässer der  hier  besprochenen  Kategorie  in 
höherem  Masse,  als  dies  bisher  der  Fall  ge- 
wesen, den  Zwecken  der  Landeskultur 
dienstbar  zu  machen.  Hierauf  beziehen  sich 
innerhalb  des  vielfach  zerrissenen  preussi- 
schen  Rechts  die  wichtigsten  der  in  Wirk- 
samkeit stehenden  Gesetze.  So  stellt  das 
bereits  genannte  vom  28.  Februar  1843  den 
Satz  an  die  Spitze,  dass  jeder  üferbesitzer 
an  Privatflüssen  berechtigt  ist,  das  an  seinen 
Grundstücken  vorbei  fliessende  Wasser  zu 
seinem  besonderen  Vorteile  zu  benutzen. 
Obwohl  man  durch  diese  Yorschriften  für 
die  Bewässeruugsunternehmungen  jedwede 
Vorsorge  getroffen  zu  haben  glaubte,  ge- 
nügten dieselben  in  der  Wirlmchkeit  den 
eigentlichen  Anforderungen  einer  ausgebil- 
deten Bewässerungskultur  jedoch  noch  lange 
nicht.  Für  eine  solche  war  die  gestattete 
Nutzung  des  Wassers  noch  vielfedi  an  zu 
enge  Ghrenzen  gebunden. 

Zugleich  wurde  den  Bedürfnissen  der 
Land eskul tu r  nach  Wiesenbewässerung 
durch  das  G.  v.  28.  Februar  1843  und 
ausserdem  noch  durch  die  GG.  v.  23.  Januar 
1846,  V.  11.  Jimi  1853  und  durch  das  G.  v. 
14.  Juli  1856  wegen  Verschaffung  der  Vor- 
flut Rechnung  getragen.  Das  Deichwesen 
erhielt  seine  Regelung  diu'ch  das  G.  v.  28. 
Januar  1848.  Es  sollte  diu'ch  dieses  nicht 
nur  die  Erhaltung  der  vorhandenen  Schutz- 
bauten mehr  als  vorher  sichergestellt,  son- 
dern auch  die  Weiterführung  derselben  in 
jeder  Weise  gefördert  werden.  Das  Gesetz 
brachte  deshalb  ihren  Bau  und  ihre  Unter- 
haltung unbedingt  imter  die  Aufsicht  des 
Staates,  stellte  die  Wiederherstellung  ver- 
fallener Anlagen  ausschliesslich  in  sein  Er- 
messen und  gab  endlich  auch  die  Bildung 
förmlicher  Socieläten  zum  Behufe  solcher 
Schutzunternehmungen  völlig  in  seine  Hand. 
Gleichzeitig  wurtle  die  Entstehung  solcher 
Verbände  durch  mannigfache  Privilegien 
begünstigt. 

Seit  dem  Jahre  1866  hat  sich  die  Ge- 
setzgebung im  wesentliclien darauf  beschränkt, 
einigen  besonders  dringend  gewordenen  ört- 
lichen Bedürfnissen  teils  durch  Erlass  von 
Specialgesetzen,  teils  durch  Erweiterung  des 
Geltungsbereiches  einiger  bestehender  Ge- 
setze zu  entsprechen,  die  Rechte  der  Strom- 
baTl Verwaltung  an  öffentlichen  Flüssen  zu 
regeln,  das  Wassergenossenschaftswesen  zu 
reformieren  und  auf  die  Beschaffimg  von 
Geldmitteln  zur  Ausführung  von  Meliorations- 
und Schutzanlagen  Bedacht  zu  nehmen. 

Die  Befugnisse  der  Strom  bau  Ver- 
waltung gegenüber  den  Uferbesitzem  an 
öffentlichen  Flüssen   sind    durch  das  G.  v. 


20.  August  1883  daliin  geregelt,  dass  der 
Strombauverwaltung  ein  Enteignungs- 
recht in  Bezug  auf  Gnmd  imd  Boden  und 
Erde,  sowie  eme  Servitut  zur  Benutzung 
von  Arbeits-  und  Lagerplätzen  eingeräumt 
wird,  sofern  im  öffentlichen  Interesse  Deck- 
werke, Buhnen-Coupierungen  oder  andere 
Stromregulierungswerke  angelegt  werden 
sollen. 

Eine  wesentliche  Förderung  fanden  die 
hier  ins  Auge  gefassten  Bestrebungen  durch 
die  Gründung  von  genossenschaftlichen  Ver- 
bänden der  beteiligten  Grundeigentümer. 
Derartige  Genossenschaften  können  sich 
übrigens  nicht  nur  auf  Be-  imd  Entwässerung, 
sondern  auch  auf  üferschutz,  Wasserleitung, 
Kanalisation,  Schiffalirtsanlagen  u.  dgl.  be- 
ziehen. Man  unterscheidet  dabei  zwischen 
fipeien  und  öffentlichen  Wassergenossen- 
schaften. Erstere  werden  nach  preussi- 
schem  Rechte  durch  gerichtlichen  oder  nota- 
riellen Vertrag  und  durch  Eintragung  in 
das  Genossenschaftsregister  begründet;  ihr 
Charakter  ist  ein  privatrechtlicher.  Dagegen 
wurzeln  die  öffentlichen  Wassergenossen- 
schaften im  öffentlichen  Rechte.  Sie  können 
nur  im  Falle  eines  öffentlichen  Interesses 
oder  eines  gemeinsamen  Nutzens  begründet 
werden.  Ihre  Errichtimg  setzt  ein  amtliches 
Verfahren  voraus  und  die  Genossenschaft 
ist  hinsichtlich  ihrer  Organisation  und  Thä- 
tigkeit  der  behördlichen  Aufsicht  unterstellt 
Dabei  ist  in  fast  allen  neueren  Gesetzen 
eine  Zwangspflicht  zum  Beitritt  be- 
gründet, insofern  es  sich  um  Be-  und  Ent- 
wässerungsanlagen handelt,  und  zwar  wird 
in  der  Regel  auch  die  Drainage  den 
zwangsgenossenschaftlichen  Entwässenmgs- 
imternehmungen  zugerechnet.  Naöh  dem 
preussischen  G.  v.  1.  April  1879  können 
Widersprechende  durch  einfachen  Mehrheits- 
beschluss  der  Beteiligten  in  die  Genossen- 
schaft hineingezogen  werden,  wenn  dies  zur 
zweckmässigen  Ausführung  der  Be-  oder 
Entwässerung  notwendig  und  für  die  zuge- 
zogenen Grundstücke  vorteilhaft  ist.  Die 
Mehrheit  wird  nach  dem  Flächengehalte  und 
dem  Katastralertrage  der  betreffenden  Gnmd- 
stücke  berechnet.  In  Baden  ist  eine  Mehr- 
heit von  zwei  Dritteln  der  beteiligten  Grund- 
stücke erforderlich,  während  nach  anderen 
Wassergesetzen  schon  die  Hälfte  genügt 
Beiträge  und  Strafen  werden  im  Wege  der 
administrativen  Zwangsvollstreckimg  beige- 
trieben. Für  Württemberg  s.  2.  Abschn. 
des  Entwurfs  eines  Gesetzes  betreffend  die 
Benutzung  der  öffentlichen  Gewässer  vom 
Jalire  1895. 

Liegen  hier  keimfäliige  Ansätze  vor  zur 
höheren  Verwertung  der  Gewässer  filr  die 
Zwecke  der  Landeskultur,  so  zielen  zahl- 
reiche andere  wasserpolizeiliche  An- 
ordnungen des  deutschen  Öffentlichen  Rechts 


Gewässer 


35.') 


darauf  ab,  die  hier  in  Rede  stehenden  wie 
die  ira  vollen  Gemeingebrauche  stellenden 
Wasserlaufe  den  Zwecken  des  Verkehi'es 
und  der  Industrie  ungestört  zu  erhalten. 

Sie  betreffen  hauptsächlich:  die  Ziuiick- 
haltung  der  Gewässer  im  Quellgebiet,  die 
Anlegung  von  Wasserleitungen,  die  Beseiti- 
gung der  Abwässer  der  Städte  und  indus- 
trieller Anlagen,  Verhütung  der  Yeninreini- 
gung  der  Gewässer,  Stauanlagen,  Flussregu- 
lierungen, Sammelbecken,  Thalsi)erren,  Deich- 
korrekturen etc.  Der  Stillstand  der 
Verwaltung  in  allen  bezeichneten  Punk- 
ten wurzelt  vor  allem  in  der  Zerrissenheit 
des  Rechtszustandes  in  allen  deutschen 
Bundesstaaten  und  ferner  darin,  dass  es  an 
einer  die  verschiedenartigen  lokalen  Behör- 
den zu  höheter  Einheit  und  planmässiger 
Aktion  zusammenfassender  Centralbehörde 
im  Einzelstaate  sowohl  als  im  ßeichsver- 
bande  fehlt. 

(S.  hierzu  die  ins  Detail  gehenden  fach- 
kundigen »Vorschläge  für  Verbesserung  des 
deutschen  Wasserrechts«,  aufgestellt  vom 
Sonderausschuss  für  Wasserrecht  der  »Deut- 
schen Landwirtschaftsgesellschaft«,  Berlin 
1891.) 

c)  Die  im  freien  Gfremeingebrauoli 
stehenden  öffentlichsten  G.  Alle  dem 
Verkehre  dienstbaren  Flussadem  sind 
kraft  einer  längst  zum  Abschluss  ge- 
brachten Rechtsentwickelung  jeder  Form 
des  freien  bezw.  des  der  behördlichen  Kon- 
zession bedürftigen  Gemeingebrauches  er- 
öffnet. Die  Hauptfigur  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Gewässer  bilden  die  schiff- 
und  f  löss  bar  enW  assers  trassen,  deren 
specielle  Rechtsverhältnisse  wir  im  Hand- 
wörterbuch der  Staatswissenschaften  in  den 
Artikeln  über  »Binnenschiffahrt«,  »Fähren«, 
,>Flaggenrecht«  imd  »Flösserei«  einer  näheren 
Prüfung  unterzogen  haben.  Hier  sind  dieser 
Kategorie  noch  beizuzählen  die  sogenannten 
Eigengewässer,  die  kleinen  oder  grös- 
seren Mn buchtungen  der  Landesküste,  die 
Walten  zwischen  den  Inseln,  die  Seeein- 
brüche; in  Preussen:  ki-aft  ausdrücklicher 
Gesetzesvorschrift  auch  die  offenen  Meeres- 
buchten, die  Haffe,  sowie  die  grösseren 
Ströme  in  ihren  untersten  Teilen  bei  der 
Mündung.  Die  an  solchen  Gewässern  er- 
bauten Häfen  und  Reeden  sind  selbstver- 
ständlich nach  übereinstimmender  nationaler 
Gesetzgebung  Eigentum  des  Staates.  (All- 
gemeines Preussisches  Landrecht  II,  15, 
§  80.)  Da  sie  aber  ihrer  Bestimmmig  nach 
wesentlich  den  Zwecken  des  Schiffahrtsver- 
kehres dienen  und  ihrer  Lage  nach  einen 
Uebergang  vom  Staatsgebiete  zum  Meere 
vermitteln,  fallen  sie  in  einzelnen  Punkten 
wohl  unter  dasselbe  rechtliclie  Regime  wie 
die  Küstengewässer  selbst.  Desliadb  ist  es 
aber  doch    zweifellos,  dass   ihr   rechtliches 


Verhältnis  zur  Staatsgewalt  ein  anderes  und, 
rein  physisch  genommen,  intensiveres  ist 
als  das  der  letzteren,  und  es  ist  darum 
principiell  verfehlt  wenn  manche  Autoren, 
wie  noch  Heffter,  die  Souveränität  über 
Meereseinbrüche,  Reeden  und  Häfen  aus  der 
Souveränität  über  die  Küstengewässer  folgen 
lassen.  (S.  hierzu  die  neueste  Bearbeitung 
der  Fragen  bei  Heilborn,  System  des 
VölkeiTCchts,  S.  36 ff.     »Das  Wassergebiet«.) 

Die  rechtiiclien  Unterschiede,  welche  sich 
vielfach  daraus  ergeben,  ob  eine  und  die- 
selbe Thätigkeit  innerhalb  oder  ausserhalb 
der  Eigengewässer  vorgenommen  wird, 
macht  die  genaue  Abgrenzung  dieser  für 
den  staatlichen  wie  für  den  internationalen 
Verkehr  zu  einer  notwendigen  Verwaltungs- 
massregel. So  operiert  sowohl  das  Deutsche 
Handelsgesetzbuch  wie  das  R.G.  betreffend 
das  Flaggenrecht  der  Kauffahrteischiffe  v. 
22.  Juni  1899  mit  der  Voraussetzung,  dass 
ihre  Normen  nur  für  die  zum  Erwerb  durch 
die  Seefahrt  bestimmten  Schiffe  (Kauffahrtei- 
schiffe) berechnet  seien.  Die  Bedeutung  des 
Wortes  »Seefahrt«  ist  aber  hier  überall  eine 
durchaus  zweifelhafte,  da  der  Umfang  des 
Begriffes  der  See  besonders  da  schwankend 
wird,  wo  der  Zusammenfluss  der  verschie- 
denen Eigen-(Hafen-)ge Wässer  und  Küsten- 
gewässer die  physischen  Grenzen  füesseud 
erscheinen  lässt.  Dieser  Sachlage  entspricht 
der  Gesetzgeber  regelmässig  dadurch,  dass 
er  zur  näheren  Abgrenzung  des  Begriffes 
der  Seefahrt  für  alle  Hafenreviere  ge- 
nau die  geographischen  Punkte  angiebt, 
welche  als  Seegrenzen  der  Häfen  zu  gelten 
haben,  so  dass  die  nur  im  Hafen  oder  nur 
bis  zu  jenen  Punkten  verkehrenden  Schiffe 
rechtlich  nicht  als  Seeschiffahrt  betreibende 
Schiffe  angesehen  werden.  Umgekehrt  resul- 
tiert aber  auch  aus  denselben  von  seite 
des  Staates  bezw.  des  Reiches  publizierten 
Bestimmungen  die  für  die  Sicherheit  des 
internationalen  Verkehres  wertvolle  Gewiss- 
heit darüber,  bis  zu  welchem  Pimkte  die 
Binnengewässer  des  Staates  reichen  und  wo 
somit  die  für  diese  geltenden  staatlichen 
Normen  ihren  räumlichen  Anfang  nehmen. 
(Füi*  das  Deutsche  Reich  s.  Bekanntmachung, 
betreffend  Ausführungsbestimmungen  zum 
§  25  des  Flaggengesetzes  v.  22.  Juni  1899, 
V.  10.  November  1899.  Ceiitralblatt  Nr.  17 ; 
für  Preussen  auch  noch  Revierschiffahrtsord- 
nungen auf  Grund  der  §§  7  6  ff.  der  Provin- 
zialordnung  v.  29.  Juni  1875,  der  §§  65  ff. 
des  Zuständigkeitsgesetzes  v.  1.  August  1883 
und  der  §§  6,  12  und  15  des  Polizeiver- 
waltungsgcsetzes  v.  11.  März  1850.) 

In  gleichem  reclitlichen  Verbandsverhält- 
nisse wie  die  Häfen  stehen  die  künstlichen 
Seeverbindungsstrassen,  Kanäle,  die  das  Ge- 
biet eines  Staates  durchschneiden.  Es 
macht  principiell  für  ihre  Frage  der  Staat&- 

23* 


356 


Gewässer 


Zugehörigkeit  und  dementsprechend  für  die 
Frage  der  Staatskompetenz  innerhalb  ihrer 
Gewässer  keinen  Unterscliied  aus,  ob  die  zu 
ihrer  Herstellung  erforderlichen  Mittel  aus 
staatlichen  oder  privaten  Quellen  geschöpft 
wurden. 

Der  freie  Zutritt  zu  den  genannten  »Eigen- 
gewässern« steht,  dies  kann  als  Grundsatz 
festgehalten  werden,  auch  den  Angehörigen 
fremder  Staaten  offen.  Mit  Ausnahme 
weniger  den  Kriegsschiffen  der  Seestaaten 
verschlossener  Häfen  und  Hafenteile  stehen 
principiell  alle  Häfen  derjenigen  Staaten, 
welche  der  Rechtsgemeiuschaft  des  Völker- 
rechts angehören,  den  Schiffen  aller  Staaten 
offen.  Dieser  freie  Zutritt  ist  übri- 
gens von  einem  besonderen  kon- 
ventionellen Verhältnis  zwischen 
den  Staaten  nicht  mehr  abhängig. 
Zum  grösseren  Nachdnick  kommen  in  An- 
sehung der  fi*eien  Ein-  und  Ausfahrt  der 
Schiffe  die  vertragschliessenden  Staaten 
regelmässig  daiin  überein,  dass  die  Ange- 
hörigen befugt  sein  sollen,  frei  und  sicher 
mit  ihren  Schiffen  und  deren  Ladungen 
nach  allen  Plätzen,  Häfen  und  Flüssen  in 
dem  Gebiete  des  anderen  zu  verkehren ;  bei 
den  aussereuropäischen  Staaten  zudem  unter 
Beschränkimg  auf  diejenigen  Häfen,  welche 
dem  fremden  Handel  geöffnet  sind  oder 
künftighin  würden  geöffnet  werden. 

3.  Die  Küstengewässer  und  die  See- 
grenze. Jenseits  seiner  Staatsküste  bethä- 
tigt  sich  der  Staat  auch  weit  über  seine 
Gebietsgrenzen  hinaus.  Er  findet  und  sichert 
sich  in  dem  an  sein  Festland  grenzenden 
Meeresteile,  in  den  sogenannten  Küst en- 
ge wässern  ein  freies  Bewegungsgebiet, 
das  zTu*  See  nur  deshalb  räumlich  begrenzt 
werden  muss,  weü  die  örtliche  ünbeschränkt- 
heit  hier  die  verkelirswidrige  Kollision  aller 
Berecht igim gen  hervorrufen  müsste.  Mag 
nun  auch  aas  Ausmass  und  die  Art  der 
Bestimmung  jener  Zusammengehörigkeit  von 
Küstenstaat  und  Küstenmeer  in  vielen  Einzel- 
heiten kontrovers  sein,  darüber  hat  doch  in 
der  neueren  Staaten praxis  nie  ernstlich 
Zweifel  geherrscht,  dass  eine  solche  recht- 
liche Verbindung  dem  Begriffe  des  Ufer- 
staates komplementär  sei  und  ihn  notwen- 
dig ergänze. 

Das  leitende  Princip  für  die  Beurteilung 
der  jmistischen  Natiu*  der  Küstengewässer 
büdete  in  früherer  Zeit  die  privatrechtliche 
Eigentumstlieorie  und  die  Analogie  des 
civürechtlichenVerhältnisses  zwischen  Haupt- 
sache (Staat)  und  Nebensache  (Küstenge- 
wässer), während  die  neuere,  der  wirklichen 
Staatenpraxis  zugewandte  Lehre  in  der 
Einheit  der  Staatsverwaltung  die 
juristischen  Grundlagen  erblickt  für  die  Aus- 
dehnung der  Staatsgewalt  über  die  Küsten- 
linie  des  Staatsgebietes.      Sie   gelangt  da- 


durch zur  Erscheinung  des  in  seil 
diu'ch  seine  Bevölkerung  lebendig:e 
samen  Gemeinwesens,  dessen  LebVi 
keit  in  Gesetzgebung,  ßechtspi-echi 
Verwaltung  so  weit  reicht,  als  dj 
liehe  Ordnungsbedürfnis  besteht. 

Die  Uebertragung  dieser  gewonn 
kenntnis  auf  die  Frage  der  Küsten 
ist  allein  geeignet,  einen  Leitgeda 
die  einander  widersprechenden  Kon' 
abzugeben  und  die  hier  obwalten' 
liältnisse  in  ihrer  wahren  jimstiscli 
erkennen  zu  lassen.  Weil  der  Staa 
der  benachbarten  Seefläche  sich  v 
den  Verkehr  als  seine,  d.  h.  die  li 
Sphäre  seiner  Angehörigen  berül 
kennt,  dehnt  er  auch  seine  vo 
Thätigkeit  auf  jenen  aus  und  unto 
her,  soweit  der  erstere  reicht,  d< 
platz  desselben  seiner  staatlichen 
Die  Staatsgewalt  überschreitet 
soweit  ihre  festländische  Basis,  als 
schaftliche  Leben  der  Staatsangchi 
See  die  Ausbildung  eines  besondert: 
der  verw^altenden  —  Bedürfnisse 
den  und  Bedürfnisse  befriedig 
Staatsthätigkeit  ziu*  Notwcndigk< 
Zu  dieser  rechtlichen  Verkehrson 
der  in  ihrem  Gefolge  eintretende 
gung  dauernder  Verwaltungsoin 
bedarf  aber  der  Staat  weder  eiiK 
deren  Seehoheit  noch  eines  iini 
Spruches  auf  ȟberschwemmtes 
Eigentum«.  Wir  haben  es  hier 
mit  Aeusserungen  der  Staatsgewü 
die  sich  wohl  inhaltlich  der  mai 
schaffenheit  der  Verwaltimgsol)jok 
müssen,  für  deren  rechtliche  Cl 
rung  und  für  deren  den  Staat sj 
bindende  Kraft  aber  die  Oertlieh 
sich  jener  Verkehr  vollzieht,  nie 
dend  ist. 

Die  *  Thatsache,  dass  ein  ^ 
seiner  Angehörigen  im  Güter verl 
und  in  der  Gewinnung  der  Natu 
Meeres  den  Lebensunterhalt^  der 
liehen  Beruf  findet,  macht  deir 
rechtliche  Ordnung  der  einschläg 
Verhältnisse,  die  rechtliche  Uc 
der  die  Einheit  des  inariti 
k  e  h  r  s  bildenden  Erscheiniingei 
Schiffahrt  zur  See,  Fischerei,  Küst 
werden  zu  ebenso  vielen  Zweig 
liehen  Aufsicht  wie  Ackerbau 
und  Güterverkehr  im  Linern 
Hierin  ist  die  Basis  für  die  x 
gestaltung  und  juristische  Koni 
sogenannten  »üf errechte«  gego 

Gleichwohl  kommt  den  Küs 
keineswegs  bedingungslos  jurisl 
landscharakter«  zu. 

Durch  eine  bedingungslose 
des    Inlandscharakters    auf     di 


Gewässer 


357 


Wässer  —  abgesehen  von  dem  fiktiven  Ge- 
halt einer  solchen  Gesetzesbestimmung  — 
würden  dem  fremdländischen  Verkehr  in 
vielfacher  Hinsicht  nutzlose  Lasten  auferlegt 
werden,  Lasten,  welche  der  internationalen 
Schiffahrt  leicht  zur  Fessel  werden  könnten. 
Aber  auch  für  die  diesseitige  Staatsgewalt 
selbst  würde  dadurch  eine  die  effektiven, 
praktischen  Bedürfnisse  weitaus  übereteigende 
Aompetenz  und  eine  damit  verbundene  er- 
drückende Verwaltungspflicht  begründet 
werden. 

Die  Staaten  begnügen  sich  vielmehr  — 
wie  Deutschland  in  seinen  ZoUgesetzen,  in 
seinen  Gesetzen  betreffend  das  Seestrassen- 
i-echt,  die  Untersuchung  von  Seeunfällen  und 
Hilfeleistung  etc.,  Frankreich  in  seinen  Zoll- 
gesetzen ,  Marineordonnanzen ,  Hafenord- 
nimgen,  England  in  seinem  Custom-  und 
Howering-,  Merchant-Shipping-,  Foreign 
enlistment-Acts  und  in  anderen  Gesetzen  — , 
den  Anwendimgsbereich  der  staatlichen 
Normen  im  völkerrechtlichen  Verkehr  auf 
mehr  oder  minder  bestimmt  bezeichnete 
Kategorieen  von  Fällen  zu  beschränken,  in 
diesen  Fällen  aber  auch  nach  Bedürfnis  das 
Recht  ihrer  Kompetenz  mit  vollem  Nach- 
drucke zu  wahren. 

Das  so  gewonnene  Anschlussgebiet  für 
die  staatliche  Verwaltung  bedarf  aber  be- 
grifflich und  pi'aktisch  einer  räumlichen 
Abgrenzung.  Die  Ermittelung  dieser 
Linie  als  eines  wichtigen  Requisites  für  die 
rechtliehe  Ordnung  des  Seeverkehrs  bildete 
von  jeher  ein  an  Schwierigkeiten  reiches 
Problem  für  die  an  der  Ausbildung  und 
praktischen  Befestigung  des  Seerechts  be- 
teiligten Faktoren.  Während  die  ältere  Zeit 
sich  der  nach  Bynkershoek  mit  Erfolg  auf- 
gestellten Theorie  —  Terrae  dominium  fini- 
tur,  ubi  finitur  arraorum  vis  —  anschloss, 
drängten  mannigfache  Rücksichten  in  neuerer 
Zeit  dazu,  ein  präciseres  und  zugleich  kon- 
sequenter festgehaltenes  Distanzmass  für 
die  Ordnung  des  Seeverkehrs  ausfindig  zu 
machen.  Denn  entweder  muss  jener  auf- 
gestellten Regel  gemäss  die  Möglichkeit  der 
Beherrschung  des  Seegebietes  vom  Strande 
aus  wörtlich  genommen  werden,  dann  er- 
scheint es  aber  principwidrig,  dass  die  Trag- 
weite der  Geschütze  einer  Zeitepoche  ge- 
wissermassen  ideell  generalisiert  als  juris- 
tische Norm  aufgestellt  werde;  oder  es 
kommt  nicht  darauf  an,  ob  ein  Staat  gerade 
an  allen  Küstenpunkten  im  Besitze  von  Ge- 
schützen der  zur  Zeit  grössten  Tragweite 
ist,  in  welchem  Falle  dann  aber  eine  solche 
Art  der  Grenzbestimmung  der  Willkür  freie 
Bahn  eröffnet.  Worauf  kommt  es  denn  im 
Grunde  an  bei  der  Fixierung  der  in  Frage 
stehenden  Seegrenze?  Zunächst  doch 
sicherlich  darauf,  an  jener  SteUe,  wo  das 
staatliche  Territoriiun  mit  seiner  specifischen 


Gesetzgebung  das  Meer  berührt,  —  das  einer 
nationalen  Gesetzgebung  sonst  nicht  unter- 
liegt, —  der  Herrschaft  des  positiven  Rechts 
noch  so  weit  Geltung  zu  sichern,  als  es  mit 
dem  Begriffe  der  Meeresfreiheit  vereinbar 
ist.  Diese  Berechtigungssphäre  des  Einzel- 
staates muss  aber  auch  darum  möglichst 
genau  fixiert  sein,  und  deshalb  erscheint 
uns  die  in  einem  bestimmten  Länge n- 
mass  ausgedrückte  Distanz  als  verläss- 
lichere Norm  für  den  Seeverkehr  in  Küsten- 
ge wässern.  Die  völkeiTechtliehe  Theorie 
beschäftigt  sich  mit  Vorliebe  mit  der  soge- 
nannten Dreimeilengrenze.  Unter 
Meilen  sind  liier  Seemeilen  zu  verstehen, 
von  denen  60  auf  den  Meridiangrad  gehen, 
vier  auf  eine  geographische  Meüe,  drei  auf 
eine  Sea  le^ue.  Diese  Grenze  findet  sich 
auch  in  zahlreichen  Staatsverträgen,  nament- 
lich in  Fischereikonventionen,  ferner  in  Ge- 
setzen, Reglements,  Neutralitätserklänuigen, 
Kapereiverordnungen  und  anderweitigen  Er- 
lässen einzelner  Regierungen.  Ihr  üi-sprung 
ist  allerdings  darin  zu  finden,  dass  man 
seinerzeit  drei  Seemeilen  als  die  Grenze  der 
Tragweite  von  Geschützen  ansah. 

Folgerichtig  hat  seither  die  moderne 
Staatenpraxis  im  Quellenmateriale  die  Grenz- 
fixierung nach  Massgabe  der  Schussweite  in 
den  meisten  Fällen  verlassen,  wohl  auch 
schon  um  deswillen,  weil  der  Küstenstaat  mit 
seinem  reich  entwickelten  System  subma- 
riner Verteidigungsmittel  den  Umfang  des 
seiner  Beherrschung  durch  Kriegsmittel  unter- 
werfbaren Seestreifens  weit  über  die  Trag- 
kraft der  zur  Zeit  leistungsfähigsten  Kanonen 
auszudehnen  im  stände  ist. 

Es  hat  sich  daher  namentlich  seit  der 
Mitte  dieses  Jahrhunderts  die  Fixierung  der 
Seegrenzen  nach  bestimmten  festen 
Massen  immer  mehr  eingebürgert  und 
zwar  unter  Annahme  der  Seemeile  als 
Grundmass.  Entsprecliend  der  Natur  des 
zu  regulierenden  Verwaltimgszweiges  \s'ird 
mit  Hilfe  jenes  Grundmasses  eine  ver- 
schiedene Seegrenze  normiert,  d.  h. 
es  wird  nach  gegenwärtiger  Staatenpraxis 
selbst  innerhalb  desselben  Staatsseerechts 
ein  räumlich  verschiedener  Anfangspunkt 
bestimmt,  von  welchem  ab  auch  das  fremde 
Schiff  unter  die  Herrschaft  bestimmter  ge- 
setzlicher oder  polizeilicher  Verwaltungsvor- 
schriften des  üferstaates  tritt,  je  nachdem 
es  sich  um  Massregeln  der  Zollkontrolle, 
der  Quarantäne,  der  Fischerei,  Küsten- 
schiffahrt, Strafrechtspflege,  Neutralitätszono 
in  Kriegszeiten  etc.  handelt. 

4.  Die  freien  G.  der  hohen  See  und 
die  Rechtsgrundlagen  der  Meeresfrei- 
heit. Die  Kompetenz  des  Ufei-staates  zur 
rechtlichen  Ordnung  der  in  unmittelbarer 
Nähe  seiner  Küste  und  in  engeren  Beziehun- 
gen zu  seinem  persönlichen  Dasein  stehen- 


358 


Grewässer 


den  Lebensverhältnisse  auf  See  endet  für 
den  modernen  Staat  da,  wo  die  üeber- 
wachung  der  letzteren  nicht  mehr  durch 
die  Rücksicht  auf  die  Einheit  seines  Yer- 
waltungssystems  geboten  erscheint.  Die 
Ansprüche  auf  eigentumsgleiche  Innehabung 
unabsehbarer  Flächen  des  "Weltmeeres,  An- 
sprüche, welche  in  vergangenen  Jahrhun- 
derten nur  unvollständig  die  Ziele  konkur- 
rierender handelspolitischer  Systeme  mit 
dem  Gewände  eines  dem  Anscheine  nach 
juristischen  Principienstreites  bedeckten, 
sind  dem  seiner  Aufgaben  und  Mittel  be- 
wusst  gewordenen  modernen  Staate  durch- 
aus fremd.  Soweit  Leben  und  Verkehr  der 
Seinigen  reichen,  so  weit  begleitet  er  diese 
auch  gebietend,  verbietend  und  ordnend  auf 
das  endlose  Wellengebiet  der  hohen  See, 
in  die  unwiililichen  Striche  des  Polarmeeres 
—  s.  R.G.  V.  4.  Dezember  1876  über  das 
Verbot  des  Robbenfanges  in  den  Nordpolar- 
gewässern vor  dem  3.  April  jedes  Jahres  — 
und  sogar  in  fremdes  Staatsgebiet,  um 
auch  hier  mit  Hilfe  gesandtschaftlicher  oder 
consularischer  Funktionäre  Rechtsregel  und 
Ordnung  in  die  Lebensverhältnisse  der  Sei- 
nigen zu  bringen.  Die  Entfaltung  der 
staatlichen  Wirksamkeit  ist  hier  überall  in 
keiner  Weise  an  das  eigentumsgleiche  Inne- 
haben der  Erdoberfläche  geknüpft,  auf 
welcher  sich  der  Verkehr  der  Nationalen 
bewegt. 

Nicht  so  sohl*  die  Unmöglichkeit  als 
vielmehr  die  Nutzlosigkeit  des  Anspruches 
auf  eine  eigentumsmässige  ausschliessliche 
Beherrschung  des  hohen  Weltmeeres  hat 
denn  auch  nach  langwierigen  politischen 
imd  theoretischen  Kämpfen  zur  Ausbild img 
der  Lelire  von  der  Meeresfreiheit  ge- 
führt. 

Trotz  der  scheinbaren  allgemeinen  üeber- 
einstimmung  über  den  Effekt  der  »Meeres- 
freiheit« bleiben  doch  über  das  Wesen  der- 
selben die  Meinungen  weit  von  einander 
entfernt;  und  insbesondere  scheint  es  not- 
wendig, neben  der  praktischen  und  histori- 
schen Betrachtung  auch  der  zumeist  im 
Dunkel  gelassenen  juristischen  Seite 
der  Frage  hier  einige  Bemerkungen  zu 
widmen.  Soweit  nämlich  der  Begiiff  der 
Meeresfreiheit  dem  Vorausgeschickten  nach 
überhaupt  juristischen  Charakter  aufweist, 
ergiebt  sich  derselbe  aus  der  Zusammen- 
fassung mehrerer  Negationen,  welche  das 
Eintreten  fi*üher  üblich  gewesener  verkehrs- 
störender Handlungen  verhindern  sollen. 
Der  Bogriff  umfasst  nämlich  a)  die  Eigen- 
tumsunfähigkeit des  Meeres  und  b)  das 
daraus  folgende Nichtunterworfensein 
des  Meeres  \mter  die  beherrschende  Norm 
eines  Staates. 

Da  die  staatliche  Herrschaft  entweder 
das  Band  des  Gesetzes  ziu*  Voraussetzung 


hat  für  die  Subjekte  des  Genossenschafts- 
lebens  oder  das  der  physischen  Unterwer- 
fung für  die  sachliche  Welt,  so  kann  von 
einem  Imperium  eines  Staates  schlechthin 
in  Ansehung  der  hohen  See  nicht  die  Rede 
sein.  Denn  jenes  Band  der  Gesetze  besteht 
nicht  für  die  auf  hoher  See  befindlichen 
fremden  Unterthanen,  fremden  Schiffe, 
und  das  Meer  ist  selbst  nur  in  einem  so 
minimalen  Verhältnisse  zu  seiner  gewaltigen 
Ausdehnung  der  wirklichen  physischen, 
dauernden  Beherrschung  imterworfen,  dass 
kaum  von  einem  ernst  gemeinten  Besitz, 
geschweige  denn  von  einem  gesicherten 
Herrschafts  Verhältnis  die  Rede  sein  kann. 
Dagegen  muss  andererseits  als  juristisch 
feststehend  anerkannt  werden,  dass  da,  wo 
durch  die  thatsächliche  Ueberwindung  der 
Natur  des  Meeres  die  Voraussetzungen  für 
die  physische  BeheiTSchung  eines  Teiles 
der  Meeresoberfläche  auf  natüi4ichem  oder 
künstlichem  Wege  gewonnen  wurden,  auch 
die  vollen,  rechtlichen  Wirkungen  des  sach- 
lichen Eigentumserwerbes  und  danach  die 
der  staatlichen  und  völkerrechtlichen  Ge- 
bietsherrschaft eintreten  können. 

In  diesem  Sinne  bildet  das  Weltmeer,  in 
seiner  ünstaatlichkeit,  Anationalität  erkannt, 
die  geographische  Grundlage  der  Volke r- 
verbindung,  wie  das  Festland  in  seiner 
territorialen  Gliederung  als  die  Grundlage 
der  nationalen  Sonder ung  und  Staateu- 
bildung  aufgefasst  werden  kann.  Führt 
demnach  der  wesentlich  nur  abwehrende 
Begriffsinhalt  der  Meeresfreiheit  zum  völker- 
rechtlichen Verfassungsprincip  des  freien 
Seegebrauches,  so  fordert  das  Princip  der 
internationalen  Verwaltung,  dass  der  See- 
verkehr selbst  der  Befrieclung  nicht  ent- 
behre :  diese  wird  aber  vermittelt  durch  den 
Grundsatz,  dass  nur  der  Staat  Rechtssubjekt 
des  freien  Seeverkehrs  ist,  nicht  das  vom 
Staate  losgelöste  Individuum. 

Die  Schiffe  als  Mobilien  sind  vermöge 
ihrer  Zugehörigkeit ,  eigentumsrechtlichen 
Unterwerfung  unter  den  Willen  eines  oder 
mehrerer  Nationalen  als  in  nexu  mit  dem 
heimatlichen  Recht  der  letzteren  stehend 
anzusehen;  ausserdem  bleiben  die  an  Bord 
befindlichen  Personen  nach  dem  Civil-  und 
Kriminali*echt  fast  aller  Kulturstaaten,  auch 
in  Handlungen  und  Geschäften,  die  sie 
ausserhalb  des  Staatsgebietes  vornehmen, 
an  die  heimatlichen  Gesetze  gebunden.  (S. 
§  10  St.Pr.O.)  Zu  beiden  Gründen  tritt  aber 
auch  noch  der  Umstand  hinzu,  dass  das  Schiff 
vermöge  seiner  Flagge  sich  als  zu  einer  be- 
stimmten staatlichen  Gemeinschaft  gehörig 
erklärt,  in  deren  rechtlichem  Schutz  es 
steht,  deren  wirtschaftliche  Vorteile  es  ge- 
niesst:  es  ist  daher  eine  durchaus  konse- 
quente Ent Wickelung  der  internationalen 
Staatenpraxis,  im  Scliiff  mit  den  darauf  be- 


Grewässer 


359 


findlichen  Personen  eine  physische  Fort- 
setzung der  Rechtsgemeinschaft  zu 
erblicken,  deren  Flagge  das  Schiff  führt.  In- 
folgedessen bleibt  das  Schiff  natiirgemäss 
auch  dort,  wo  eine  freradstaatliche  Gewalts- 
übung —  innerhalb  des  friedlichen  Verkehrs 
—  nicht  stattfinden  darf,  der  heimatlichen 
Staatsgewalt  unterworfen. 

Alle  rechtlich  relevanten  Thatsachen, 
welche  sich  daher  auf  hoher  See  innerhalb 
der  durch  die  Flagge  staatlich  charakteri- 
sierten Gemeinschaft  abspielen,  fallen  unter 
das  Hichtmass  des  heimatlichen  Rechts,  sie 
werden  unter  Ausschluss  aller  fremden  Ju- 
risdiktionsbefugnisse ebenso  beurteilt,  als 
hätten  sie  sich  innerhalb  des  Heimatsge- 
bietes ereignet.  Und  da  auch  im  Staats- 
gebiete selbst  die  Fremdenqualität  fiu-  die 
rechtliche  Beurteilung  des  gesetzten  That- 
bestandes  in  der  Regel  irrelevant  ist,  so 
kann  es  bei  der  den  Scliiffen  staatsgesetz- 
lich und  durch  die  Staatspraxis  angewiese- 
nen Rechtstellung  ebenfalls  nicht  von  Be- 
lang sein,  ob  die  beteiligten  Personen  In- 
länder oder  Ausländer  sind.  — 

Verbleiben  so  nach  übereinstimmender 
Rechtsentwickelung  der  seefahrenden  Staa- 
ten Schiff  und  Besatzung  auf  hoher  See 
ausschliesslich  in  Rechtspflege  und  Verwal- 
tung der  Hoheit  des  Flaggenstaates  unter- 
stellt, so  haben  doch  die  immer  dichter 
werdenden  Rechtsbeziehungen  ziu:  konven- 
tionellen Ordnung  gemeinsamer  Kultur-  und 
Verkehrsinteressen  gefülirt.  Ihre  jiuristische 
Pointe  liegt  in  der  Thatsache,  dass  die  im 
Seeverkehr  stehenden  Staaten  in  einer  Reihe 
von  gemeinsamen  Angelegenheiten  in  An- 
sehung ihrer  eigenen  Ünterthanen  auf  den 
aus  der  Meeresfreiheit  füessenden  imkon- 
troilierten  Seegebrauch  verzichtet  imd  ver- 
tragsmässig  bestimmten  Aufsichtsorganen 
fremder  Staaten  auf  hoher  See  umfassende 
Jurisdiktions-  und  VerwaltimgskonlroUbe- 
fugnisse  eingeräumt  haben.  Deiurtige  ver- 
trs^mässige  Dmxjhbrechungen  des  Princips 
der  Meeresfreiheit  wurden  bisher  begründet : 
1.  zum  Zwecke  der  wechselseitigen  Hülfe 
zur  Unterdrückung  des  afrikanischen  Sklar 
venhandels  zur  See  (Londoner  Vertrag  v. 
20.  Dezember  1841);  2.  zum  Schutze  der 
submarinen  Kabel  (Pariser  Konvention  v. 
14.  März  1884) ;  3.  zur  polizeilichen  Ordnung 
der  Hochseefischerei  in  der  Nordsee  (Haager 
Konvention  v.  6.  Mai  1882);  4.  ziu*  Hintan- 
haltung des  missbräuchlichen  Verkaufes 
geistiger  Getränke  an  Fischer  innerhalb  der 
Kordsee  (Haager  Konvention  der  Nordsee- 
küstenstaaten V.  16.  November  1887). 

Es  liegt  unverkennbar  in  der  Tendenz 
des  moderneu  Verkehrsrechts,  den  Umfang 
dieser  gemeinsamen  Verwaltungsgebiete 
zu  erweitem  und  noch  zahlreiche  andere 
Aufgaben  des  maritimen  Verwaltimgsrechts 


der    Kulturstaaten    der    vertragsrechtlichen 
Ordnung  zuzufülu^en. 

Litteratur:  v,  Gerber,  System  des  Deutschen 
Privalrechts,  15.  Aufl.  —  Lioening,  Verwaltungs- 
reckt,  S.  S72ff.  —  Baron,  Begriff  und  Be- 
deutung des  öffenüichen  und  privaten  Wasser- 
laufs. Zeitschrift  f.  vergl.  Rechtswissenschaft, 
Bd.  I,  S.  ^62 ff.  —  Böt*ner,  Revision  der 
neueren  Lehren  von  der  Zugehörigkeit  der  be- 
ständig fliessenden  Gewässer  nach  römischem 
und  deutschem  Recht.  .Archiv  f.  civ,  Prcueis, 
38.  Bd.  —  Schwab,  Die  Konflikte  der  Wassei'- 
fahrt,  ebendas.,  Bd.  30,  Beilageheft.  —  Baumert, 
Die  Unzidänglichh'it  der  bestehenden  Wasserge- 
setze, Berlin  1876.  —  Neubauer,  Zusammen- 
stellung des  in  Deutschland  geltenden  Wasser- 
rechts, 1881.  —  i?.  Pözl,  Die  bayerischen  Wojiser- 
gesetze,  2.  Aufl.,  1880.  —  Banda,  Beiträge  zum 
österr.  Wasserrecht,  2.  Aufl.,  Prag  1878.  — 
Bissmann,  Wasserrecht  nach  gemeinem  und 
legi.  Sachs.  Recht,  2.  Aufl.  —  v,  Stengels 
Wörterbuch  d.  deutschen  Verwaltungsrechts,  s. 
O.  Mayer  über  n Binnenschiffahrt«,  v.  Staudinger 
über  rtFischerei  und  Fischereipolizei« ,  Hermes 
.über  n Unterhaltung  der  fliessenden  Gewässern, 
und  n Wassergenossenschaf tenu.  —  Lette,  Ge- 
setzgebung über  die  Benutzung  der  Privatflüsse, 
Berlin  1850.  —  Bomagnosi,  Vom  Wasser- 
leitungsrecht, auszugstreise  übersetzt  von  M.  Nie* 
buhr.  Haue  I84O.  —  Nasse,  Gewässer,  deren 
Benutzung,  in  St.  W.  B.  v.  Bluntschli  u.  Brater, 
IV.  Bd.,  Stuttgart  und  Leipzig  1859.  —  Ende- 
ntanrif  Das  ländliche   Wasserrecht,  Kassel  1862. 

—  Gluss,  Die  wasserrechtliche  Gesetzgebung 
auf  dem  Standjyunkte  der  Gegenwart,  Altenburg 
1856.  —  Kappeller,  Rechtsbegriff  des  öffentl. 
Wasserlaufes,  Zürich  1867.  —  Heiger,  Veber 
die  Aufnahme  des  Wasserrechts  in  das  bürgerl. 
Gesetzbuch  für  das  Deutsche  Reich,  Berlin  1890. 

—  G,  Meyer,  Lehrbuch  des  de^Uschen  Verwil- 
tungsrechts  I,  2.  Aufl.,  Leipzig.  —  Nieberding, 
Wasserrechte  und  Wasserpolizei  im  preussischen 
Staate,  2.  Aufl.  von  E.  Frank,  Breslau  1889,  s. 
dazu  auch  Anhang:  Preussische  Gesetze  über 
Wasserrecht    und    Wasserpolizei,    Breslau  1866. 

—  Scheele,  Das  preussische  Wasserrecht,  Lipp- 
stadt 1860.  —  S.  auch  Vorschläge  ßir 
Verbessenmg  des  deutschen  Wasserrechts,  aufge- 
stellt vom  Sonderausschuss  für  Wasserrecht  der 
Deutsehen  Landwirtschaftsgesellschaft,  in  deren 
Jahrb.  Bd.   VL 

Ad.  S  und  4*  Stoerh  in  v.  Holtzendorffs 
Handb.  des  Völkerrechts,  Bd.  II  und  im  HL  Er- 
gänzungsband zu  V.  Stengels  Wörtcrb.  d.  D. 
Verwaltungsrechts  Art:  »Schiffahrt^ .  —  Pereis, 
Das  internationale  öffentliche  Seerecht  der  Gegen- 
wart, Berlin  1882.  —  Harburger,  Der  straf- 
rechtliche Begriff  Inland  und  seine  Beziehungen 
zum  Völkerrecht  und  Staatsrecht,  NÖrdlingen 
1882.  —  W,  Schüching,  Das  Küstenmeer, 
GöUingen  1897.  —  Carath4odory ,  Droit 
international  concemant  les  grands  cours  d'eau 
und  ders.  in  v.  Holtzendorffs  Handbuch  de^ 
Völkerrechts,  Bd.  II.  —  Plocque,  De  la  mer 
et  de  la  navigation  maritime,  1870.  —  Dahl~ 
gren,  Maritims  international  Law,  Boston  1877. 

Stoerh, 


360 


Gewerbe 


Gewerb  e. 

1.  Begriff.  2.  Gewerbezweige  und  -arten 
3.  Die  Entstehung  des  G.  4.  Die  Betriebs- 
systeme. 5.  Das  Hauswerk  (erste  Stufe).  6.  Die 
zweite  Stufe  des  Hauswerks.  7.  Das  Lohnwerk. 
8.  Die  beiden  Formen  des  Lohnwerks.  9.  Ent- 
stehung des  Lohnwerks.  10.  Das  Lohnwerk 
im  Altertum.    11.  Das  Lohn  werk  im  Mittelalter. 

12.  Sozialrechtliche   Stellung   der  Lohnwerker. 

13.  Der  Kampf  gegen  die  Störer.  14.  Der 
Uebergang  zum  Preiswerk»  16.  Das  Wesen  des 
Handwerks.  16.  Das  Wandergewerbe.  17.  Ma- 
nufakturen und  Fabriken.  i8.  Das  Verlags- 
system. 19.  Die  Entstehung  des  Verlagssys- 
tems. 20.  Die  Fabrik.  21.  Einteilung  der 
Fabriken;  ihr  Verhältnis  zu  den  älteren  Be- 
triebsformen. 22.  Vergleichung  der  fünf  Be- 
triebssysteme. 23.  Gegenwärtiger  Zustand.  24. 
Tendenz  der  Fortentwickelung. 

1.  Begriff.  Das  Wort  Gewerbe  hat  im 
gemeinen  Sprachgebrauch  wie  in  der  Wissen- 
schaft zwei  verschiedene  Bedeutungen :  eine 
lüstorisch-relative  und  eine  wirtschaftlich- 
absolute. Obwohl  volkswirtschaftlich  niu* 
die  letztere  in  Betracht  zu  ziehen  ist,  so 
muss  in  diesem  einleitenden  Abschnitte  doch 
auch  kiu'z  auf  die  erstere  Rücksicht  ge- 
nommen werden,  da  sie  in  verschiedenen 
Partieen  des  Yerwaltungsrechtes  eine  Rolle 
spielt. 

Sprachlich  geht  Gewerbe  auf  denselben 
üi-sprung  zurück  wie  Erwerb,  nämlich  auf 
das  Zeitwort  werben.  Dieses  bedeutet  in 
der  älteren  Sprache:  1.  sich  um  eine  Achse 
drehen,  sich  kreisförmig  bewegen,  umroUen, 
wovon  das  Substantiv  Wirbel;  2.  in  über- 
tragenem Sinne:  sich  umthun,  thätig  er- 
streben, zu  erlangen  suchen,  woraus  der 
Werber:  der  sich  um  et^'as  bemüht,  je- 
manden zu  gewinnen  sucht.  Diese  zweite 
Bedeutung  differenziert  sich  wieder  in  den 
Ausdrücken:  erwerben,  Erwerb,  durch 
Thätigkeit  erlangen,  und  Gewerbe  (seltener 
das  Zeitwort  ge werben),  schon  im  Mittel- 
alter mit  Hantierung  erklärt:  wiederholte 
Thätigkeit,  um  etwas  zu  erlangen,  häufiges 
Werben.  Bereits  im  16.  Jalirhundert  wird 
das  Wort  Öfter  für  die  Thätigkeit  des 
Kaufmannes  gebraucht  und  bezeichnet  später 
jede  bestimmte  berufsmässig  aus- 
geübte Thätigkeit  zum  Zwecke  des 
G  ü  t  e  r  e  r  w  e  r  b  8. 

In  diesem  Sinne  ist  denn  auch  der  Aus- 
druck in  die  Sprache  der  Gesetze  und  selbst 
der  Wissenschaft  übergegangen.  Man  s])richt 
so  von  einem  Landwii-tschafts- ,  Handels-, 
Yersicherungs- ,  Verkehregewerbe,  von  gc- 
lehi'ten  Gewerben  (des  Arztes,  Schriftstellers, 
Rechtsanwaltes),  vom  Gewerbe  des  Schmie- 
des, Barbiere,  Schornsteinfegers  etc.  Nicht 
zu  den  Gewerben  rechnet  man :  a)  die  blosse 
Eigenproduktion,  b)  den  Gesindedienst  und 
die  Thätigkeit  des  Taglöluiere,  c)  die  Be- 
rufsthätigkeit  der  Beamten,  d)  einzelne  Er- 


werbshandlungen von  Privaten,  z.  B.  den 
Bau  oder  Verkauf  eines  Hauses  mit  Gewinn, 
die  Vermietung  eines  Zimmere,  die  Ver- 
äusserung  oder  Verleihung  eines  beweglichen 
Gegenstandes.  Dagegen  ist  der  städtische 
Bauunternehmer,  welcher  Häuser  zum  Zwecke 
des  Verkaufs  oder  der  Vermietung  heretellt, 
ein  Gewerbetreibender.  Ebenso  der  Inhaber 
einer  Leihbibliothek,  einer  Musikalienverleih- 
anstalt, einer  Schlafgängerei  und  dergleichen, 
e)  Die  Thätigkeit  des  Staates,  soweit  sie  auf 
Erfüllung  wesentlicher  Staatszwecke  ge- 
richtet ißt.  Wohl  aber  werden  die  Bewirt- 
schaftung der  Staatsforaten,  der  Betrieb  von 
Staatsfabriken,  .Eisenbahnen,  Banken  als 
»Staatsgewerbe«  bezeichnet 

Aus  dieser  Umgrenzung  des  Begriffes 
geht  hervor,  dass  er  an  zwei  eng  zusammen- 
hängende volkswirtschaftliche  Voraussetzun- 
gen geknüpft  ist:  berufsmässige  Arbeits- 
teilung und  die  Möglichkeit  verkehramässigen 
Erwerbs.  Die  Produktion  muss  aufgehört 
haben,  reine  Eigenproduktion  zu  sein;  die 
einzelnen  Wirtschaften  müssen  bestimmte 
Güterarten,  obwohl  sie  dieselben  zu  ihrer 
Bedürfnisbefriedigung  gebrauchen,  entweder 
gar  nicht  erzeugen,  während  andere  sie  über 
ihren  Bedai'f  hinaus  hervorbringen,  oder  sie 
müssen  doch  wenigstens  fremder  Berufs- 
arbeiter bedürfen,  um  die  von  ihnen  er- 
zeugten Rohstoffe  genussreif  zu  machen. 
Mit  anderen  Worten:  es  muss  Berufsarbeit 
auf  dem  offenen  Markte  käuflich  sein; 
keineswegs  aber  ist  es  zur  Ausbildung  von 
Gewerben  erforderlich,  dass  diese  Berufs- 
arbeit sich  schon  in  unternehnumgsw eisern 
Betriebe  bethätigt,  dass  Warenproduktion 
stattfindet. 

Imwirtschaftlich-absolutenSinne 
bezeichnen  wir  als  Gewerbe  denjenigen 
Teil  der  Produktion,  welcher  in 
der  Formveränderung  von  Roh- 
stoffen besteht.  Das  Gewerbe  in  dieser 
Bedeutung  ist  die  wirtschaftliche  Ordnung 
der  (mechanischen  und  chemischen)  Stoff- 
umwandlung oder  Stoffveredelung.  Ihr  Ziel 
wird  unter  modernen  Verhältnissen  in  der 
Regel  die  Erzeugung  von  Tauschwerten 
oder  tausch  werten  Leistungen  sein.  Aber 
das  ist  für  den  Begriff  selbst  nebensächlich. 
Vielmehr  werden  wir  auch  die  noch  nicht 
zu  wirtschaftlicher  Selbständigkeit  gelangte 
Stoffumwandlung  kulturarmer  Völker  ebenso 
als  Gewerbe  zu  bezeichnen  haben,  wie  wir 
ihre  Pflanzenproduktion  unbedenklich  Land- 
wirtschaft nennen.  In  diesem  Sinne  tritt 
das  Gewerbe  in  Gegensatz:  1.  zur  Ur- 
produktion oder  Rollstoff erzeugung,  deren 
Gegenstand  die  Vermehnmg  natürlicher 
Brauchlichkeiten  ist  (Landwirtschaft  mit 
Viehzucht,  Jagd,  Fischfang,  Foretwirtschaft, 
Bergbau),  2.  zum  Handel  imd  Transport- 
wesen, welche  sich  mit  der  berufsmässigen 


Gewerbe 


361 


Yermiltelung  der  Gütercirkulation  befassen, 
3.  zu  den  persönlichen  Dienstleistungen, 
namentlich  den  höheren  des  Arztes,  Lehrers 
etc.,  dem  Yersichernngswesen. 

Der  absolute  Begriff  des  Gewerbes  imter- 
scheidet  sich  vom  historischen  etwa  wie 
das  englische  industry  von  trade.  Das  Ge- 
werbe im  historischen  Sinne  setzt  berufs- 
mässige Gliederung  der  Bevölkerung  und 
verkelirsmässigen  Gütererwerb  voraus;  das 
Gewerbe  im  absoluten  Sinne  ist  bloss  ein 
bestinunter  Abschnitt  des  wirtschaftlichen 
Prozesses  der  Gesamtproduktion.  Die  meisten 
Schriftsteller  fordern  auch  für  diesen  Be- 
griff berufsmässige  Organisation  und  Tausch- 
wertproduktion. Allein  dadurch  wird  ohne 
Not  die  wissenschaftliche  Bezeichnung  ffir 
den  Produktionszweig  und  die  Analogie  mit 
der  Landwirtschaft,  dem  Bergbau,  der  Jagd, 
Viehzucht  etc.  aufgegeben  imd  dem  Begriffe 
ein  Nebensinn  verliehen,  den  das  synonym 
gebrauchte  Industrie  nicht  hat. 

Ein  hie  und  da  auch  in  die  wissenschaft- 
liche Terminologie  eingedrungener  schlechter 
Sprachgebrauch  stellt  Gewerbe  und  In- 
dustrie einander  gegenüber,  dergestalt,  dass 
ersteres  für  den  Kleinbetrieb,  letzteres  für 
den  Grossbetrieb  der  Stoffumwandlung  an- 
gewendet werden  soll.  Die  vielbenutzten 
Ausdrücke  »Kleinindustrie«  und  »Gross- 
gewerbe« illustrieren  drastisch  das  Wider- 
sinnige dieses  Gebrauches. 

Einige  Schwierigkeiten  macht  die  Ab- 
grenzung des  Gewerbes  (hier,  wie  weiter- 
hin immer,  im  wirtschaftlichen  Sinne)  gegen 
die  Urproduktion.  Herkömmlich  wird  mit 
letzterer  vielfach  auch  die  erste  rohe  Be- 
arbeitung der  gewonnenen  Erzeugnisse  in 
dem  gleichen  Betriebe  vereinigt.  Der  Land- 
wirt besorgt  das  Dreschen  und  Reinigen 
des  Getreides,  das  Dörren  des  Obstes,  die 
Verarbeitung  der  Trauben  zu  Wein,  der 
Kartoffeln  zu  Spiritus,  der  Milch  zu  Butter 
und  KSise^  das  Rösten,  Brechen  und  Hecheln 
des  Flachses,  oft  auch  noch  das  Spinnen 
und  Weben,  und  nur  da  etwa,  wo  solche 
Stoffumw^anrllung  eine  eigene,  vom  Haupt- 
betrieb getrennte  wirtschaftliche  Organisation 
erfordert  (Branntweinbrennerei,  Rübenzucker- 
fabrikation, Ziegelei)  spricht  man  von  land- 
wirtschaftlichen Nebengewerben. 
Die  Verhüttung  der  Erze  ist  oft  mit  ihrer 
Gewinnung  zu  einer  Unternehmung  ver- 
bunden ;  die  Forstwirtschaft  schliesst  gerade 
bei  rationellem  Betriebe  nicht  bloss  die 
Fällung  des  Holzes,  sondern  auch  seine 
erste  Bearbeitung  ein.  Die  Grenzen  können 
aber  nach  dieser  Seite  nur  dem  als  un- 
bestimmt erscheinen,  der  die  beiden  Ge- 
werbebegriffe nicht  genügend  auseinander- 
hält. Im  engeren  Sinne  ist  die  Molkerei 
oder  das  Spinnen  in  einem  landwirtschaft- 
liehen Betriebe  nicht  weniger  eine  gewerb- 


liche Thätigkeit  als  die  gleichen  Verrich- 
tungen, wenn  sie  in  selbständigen  Unter- 
nehmungen ausgeübt  werden.  Anders  steht 
es  mit  der  Gärtnerei  und  gewissen  Zweigen 
niederer  persönlicher  Dienstleistung  und 
Reinigungsarbeit  (Barbiere,  Friseure,  Bader, 
Kaminfeger),  die  nur  deshalb  zu  den  Ge- 
werben gereclmet  werden,  weil  sie  mit  der 
Masse  der  selbständigen  Gewerbezweige 
friiher  die  zunftmässige  Organisation  geteilt 
haben  und  noch  heute  der  Gewerbeordnung 
unteretellt  sind. 

2.  Gewerbezweige  und  -arten.  Als  Teil 
der  volkswirtschaftlichen  Gesamtproduktion  zer- 
fällt das  Gewerbe  infolge  specieller  Arbeitstei- 
lung in  zahlreiche  verschied enaitige  Zweige, 
deren  jeder  unter  den  gegenwärtigen  Verhält- 
nissen ein  berufsmässig  abgeschlossenes  Gebiet 
der  Stoffumwandlung  bildet,  je  nach  Art  der 
Stoffe,  welche  er  veredelt,  oder  nach  der  Zweck- 
bestimmung der  erzeugten  Produkte  oder  nach 
der  Handfertigkeit,  welche  zu  seiner  Ausübung 
nötig  ist.  Jede  dieser  besonderen  Produktions- 
zweige ist  ein  Gewerbe ;  die  Gesamtheit  der 
das  gleiche  Gewerbe  treibenden  Personen  wird 
wohl  als  Gewerk  bezeichnet. 

Die  Zahl  der  Gewerbezweige  ist  ausser- 
ordentlich gross,  und  es  zeigt  sich  darum  das 
Bedürfnis,  sie  in  Klassen  und  Ordnungen  tiber- 
sichtlich zusammenzufassen.  Eine  befnedigende 
Einteilung  ist  bis  jetzt  nicht  gefunden;  insbe- 
sondere ist  es  nicht  gelungen,  ein  Einteilungs- 
princip  überall  festzuhalten.  Meist  werden 
technologische  und  ökonomische  Gesichtspunkte 
dabei  vermischt. 

Die  Technologie  teilt  die  Gewerbe  ein 
nach  der  Natur  der  zur  Verwendung  gelangen- 
den Rohstoffe  und  nach  der  Verschiedenheit 
des  Produktionsverfahrens ;  aber  selbst  die  Ver- 
bindung beider  Gesichtspunkte  reicht  nicht 
völlig  aus.  Die  Nationalökonomie  kann 
die  Gewerbe  einteilen  nach  der  Art  und  Dring- 
lichkeit der  Bedürfnisse,  denen  sie  dienen,  nach 
Absatzkreisen  und  Absatzarten,  nach  den  Kon- 
sumtionszwecken ihrer  Produkte.  Nach  der 
Natur  der  Bedürfnisse  unterscheidet  man 
z.  B.  zwischen  ordinären  und  Luxusge- 
werben. Abarten  der  ersteren  sind  die  Imi- 
tations- und  Surrogatgewerbe.  Beide 
wollen  teuere  Produkte  durch  billigere  ersetzen. 
Die  Surrogierung  richtet  sich  auf  den  Stoff,  die 
Imitation  auf  die  Form  und  äussere  Erschei- 
nung der  Produkte.  Vom  Luxusgewerbe  ist  die 
Kuustindustrie  zu  unterscheiden.  Die 
Luxusindustrie  richtet  ihr  Absehen  auf  die  Be- 
friedigung entbehrlich  erscheinender  Bedürfnisse. 
Die  Kunstindustrie  legt  auf  ästhetische  Wir- 
kung das  Hauptgewicht:  geschmackvolle  Aus- 
führung und  Ausstattung  der  Produkte.  — 
Nach  Absatzkreisen  unterschied  man  früher : 
Gewerbe  mit  (örtlich,  landschaftlich,  national) 
beschränktem  und  unbeschränktem  (für  den 
Weltmarkt  bestimmtem)  Absatz.  Man  könnte 
auch  nach  der  Absatzweise  einteilen  und 
erhielte  dann  3  Gruppen:  1.  Gewerbe,  welche 
auf  Sttickbestellung  von  Konsumenten  arbeiten, 
2.  Marktgewerbe,  3.  Gewerbe,  welche  für  den 
Handel  produzieren.  —  Nach  der  Zeitdauer 
des    Betriebes    kann    man    unterscheiden: 


362 


Gewerbe 


konstant  betriebene,  Kampagne-  nnd  Saison- 
industrie. Eampa^neindustrieen  sind  solche,  deren 
Betrieb  auf  bestimmte  Jahreszeiten  beschränkt 
ist,  während  des  übrigen  Jahres  aber  ganz 
ruht  (Zucker-,  Cichorien-,  Konservenfabriken); 
Saisonindustrieen  sind  solche  mit  periodisch  ver- 
stärktem und  dann  wieder  nachlassendem  Be- 
triebe (Weihnachtsindustrie,  Konfektion,  Bau- 
fewerbe).  —  Nach  dem  Grade  der  Vollen- 
ung,  in  welchem  das  Produkt  den  einzelnen 
Betrieb  verlässt,  kann  man  wohl  Halbfabri- 
kation, VoUendungs-  und  Veredelung8-(  Appretur-) 
Gewerbe  unterscheiden.  —  Nach  den  Ver- 
wendungszwecken der  Produkte  bildet  man 
Gruppen,  wie  Bau-,  Bekleidungs-,  Nahrungsge- 
werbe u.  s.  w. 

Am  meisten  Beifall  hat  sich  das  von  Engel 
bei  Gelegenheit  der  deutschen  Gewerbezählung 
von  1875  zuerst  aufgestellte  und  mit  geringen 
Aenderungen  auch  bei  der  Berufsstatistik  von 
1882  und  1895  angewandte  Schema  erworben. 
Letztere  unterscheidet  in  der  Abteilung  „In- 
dustrie einschliesslich  Bergbau  und  Baugewerbe" 
15  Gruppen  mit  160  Berufsarten,  von  denen 
indessen  einige  der  Urproduktion  zugezählt 
werden  müssen.  Die  Berufsgruppen  sind: 
I.  Bergbau,  Hütten-  und  Salinenwesen,  Torf- 
gräberei  (nur  zum  Teil  hierher  gehörig),  IL 
Industrie  der  Steine  und  Erden,  III.  Metallver- 
arbeitung, IV.  Industrie  der  Maschinen,  Instru- 
mente und  Apparate,  V.  chemische  Industrie, 
VI.  Industrie  der  forstwirtschaftlichen  Neben- 
produkte, Leuchtstoffe,  Seifen,  Fette,  Oele  und 
Firnisse,  VII.  Textilindustrie,  VIII.  Papier- 
industrie, IX.  Lederindustrie,  X.  Industrie  der 
Holz-  und  SchnitzstofFe,  XL  Industrie  der  Nah- 
•rungs-  und  Genussmitte],  XII.  Bekleidungs-  und 
Reinigungsgewerbe,  XIII.  Baugewerbe,  XIV. 
polygraphische  Gewerbe,  XV.  künstlerische  Ge- 
werbe. 

3.  Die  Entstehmig  des  G.  lieber  die 
Rolle,  welche  das  Gewerbe  in  der  wirt- 
schaftlichen nnd  sozialen  Entwickelnngs- 
gescliichte  der  Völker  spielt,  herrschen  viel- 
fach ebenso  unklare  Ansichten  wie  über 
die  wirtschaftlichen  Entwickelungsstufeu 
überhaupt.  Das  vielgebrauchte  Schema  der 
letzteren :  Jäger-  bezw.  Fischervolk  —  No- 
madenvolk —  reines  Ackerbauvolk  —  Ge- 
werbe- und  Handelsvolk  —  Industrievolk 
ist  geschichtlich  ebenso  unrichtig  als  wissen- 
schaftlich unfnichtbar.  Denn  es  überträgt 
in  seiner  scharfen  Scheidung  der  verschie- 
denen Hauptrichtungen  der  Produktion  die 
Kategorieen  der  ausgebildeten  Verkehrswirt- 
schaft auf  primitive  Verhältnisse,  für  die 
sie  keine  Geltung  liaben.  Nicht  weniger 
verkehrt  sind  die  rationalistischen  Konstnik- 
tionen  der  Physiokraten  (vgl.  z.  B.  Turgot, 
Roflexions  §  II  ff.)  und  Adam  Smith's 
(Buch  I,  Kap.  2),  welche  Gewerbe  und  ver- 
kehrsmässige  Versorgimg  der  Einzelwirt- 
schaften schon  \mter  den  primitiven  Ver- 
hältnissen eines  Jäger-  oder  Fischervolkes 
aus  der  dem  Menschen  angeborenen  Neigung 
zum  Tausche  und  aus  der  Einsicht  in  die 
einleuchtenden  Vorteile   der  Arbeitsteilung 


entstehen  lassen.  Soweit  derartige  Kon- 
struktionen an  historische  oder  ethnogra- 
phische Beobachtung  anknüpfen,  verwechseln 
sie  gewöhnlich  die  Erscheinungen  der  ge- 
werblichen Technik  mit  denjenigen  ihrer 
wirtschaftlichen  Organisation.  Nun  steht 
es  aber  ausser  jedem  Zweifel,  dass  die 
ersteren  weit  früher  auftreten  als  die  letzte- 
ren. Ueberall  auf  der  Erde  haben  die 
Menschen  die  Gespinstfasern  der  Wolle, 
des  Hanfes  und  Flachses  zu  Garn  drehen 
und  dieses  zu  Zeug  verweben  gelernt,  ehe 
sie  die  Weberei  zu  einem  eigenen  Belaufe 
machten ;  sie  haben  den  Thon,  das  Holz,  die 
Tierknochen,  den  Stein,  das  Metall  kimst- 
gemäss  verarbeitet,  ehe  die  Handwerke  des 
Töpfers,  des  Zimmermanns,  des  Tischlers,  des 
Schmiedes  betrieben  wui-den.  Einen  wesent- 
lichen Einfluss  auf  die  Organisation  der 
Volkswirtschaft  gewannen  diese  Methoden 
der  StoffumwandJung  erst  von  dem  Zeit- 
punkte, ab,  wo  eine  technische  Fertigkeit 
die  Unterlage  eines  eigenen  Berufes  und 
der  verkehrsmässigen  Gewinnung  des  Lebens- 
unterhaltes bilden  konnte. 

Suchen  wir  in  dem  völkerkundlichen 
Beobachtungskreise  den  Anfang  der  stoff- 
umwandelnden Thätigkeit,  in  welcher  wii* 
das  Wesen  des  Gewerbes  erblicken,  so 
kommen  wir  bis  zu  der  occupatorischen 
Sammelthätigkeit  der  Urzeit  (Stufe  der  in- 
dividuellen Nahrungssuche)  ziu-ück.  Spielende 
Versuche,  die  der  Urmensch  an  den  von 
der  Natur  ihm  dargebotenen  Gaben  macht, 
lassen  ihn  zuei-st  erkennen,  dass  sie  bei 
einer  bestimmten  Art  der  Zubereitung  seinen 
Zwecken  dienen  können.  Steine,  Muscheln, 
zugespitzte  Hölzer  sind  seine  frühesten  Werk-  . 
zeuge.  Allmählich  werden  auch  diese  ihrem 
Zwecke  durch  Beai'beitung  angepasst  Und 
jeder  Schritt  weiter  vermehrt  die  Zahl  dieser 
Gegenstände.  Um  von  dem  Sammeln  wild- 
wachsender Früchte  \md  kleiner  Tiere  zu 
Jagd  und  Fischfang  tiberzugehen,  bedurfte 
der  Mensch  Waffen  und  Fanggeräte;  der 
primitivste  Ackerbau  setzt  ein  Instrument 
(Grabholz  oder  Hacke)  voraus,  um  den  Boden 
aufzulockern;  die  Handmühle  in  Form  des 
Reibsteins  findet  sich  schon  bei  Völkern, 
welche  wohl  wildwachsende  Sämereien 
sammeln,  aber  sie  nicht  anbauen.  Im  all- 
gemeinen aber  macht  diese  primitive  Tech- 
nik nur  sehi'  langsame  Fortschritte;  das 
Beste  muss  die  Arbeitsgeschicklichkeit  leisten, 
die  sich  weniger  Universalinstrumente  zu 
den  verscliiedensten  Zwecken  bedient.  Kraft- 
ersparende Hilfsmittel  wie  Keil,  Hebel,  Zange, 
Schraube  kennt  kein  Naturvolk  aus  eigner 
Erfindung.  Die  Bearbeitung  der  Metalle  ist 
den  Urbew^ohnern  Amerikas,  Australiens, 
Melanesiens  und  Polynesiens  vor  dem  Ein- 
treffen  der  Europäer  unbekannt;  nur  den 
Negern  ist  sie  seit  langer  Zeit  geläufig,  ohne 


Gewerbe 


363 


jedoch  tiefere  Einwirkungen  auf  ihre  wirt- 
schaftliche Entwickelung   geübt   zu  haben. 

Wie  ihre  ganze  Wirtsch?ift,  so  sclüiesst 
sich  auch  die  stoffumwandelnde  Thäligkeit 
der  Naturvölker  aufs  engste  an  die  örtlich 
gegebenen  Naturbedingungen  an,  und  sie 
weist  darum  von  Stamm  zii  Stamm  grosse 
Yerschiedenhciten  auf.  Fast  jeder  Stamm 
bevorzugt  einen  bestimmten  Rohstoff  imd 
giebt  demselben  -die  umfassendst-e  Verwen- 
dung. So  sehen  wir  hier  die  Flechtkunat, 
dort  die  Töpferei,  an  einer  anderen  Stelle 
den  Kahnbau,  die  Holz-  oder  Muschelbear- 
beitiuig  früh  zu  relativ  grosser  Vollendung 
gelangen.  Komplizierte  Arbeitsprozesse  sind 
dabei  nicht  selten;  die  ünvoiJkommenheit 
der  Technik  erzwingt  mancherlei  Umwege. 
Die  Ausgestaltung  der  Produkte  zeigt  über- 
all, wo  es  nur  möglich  ist,  künstlerische 
Momente,  entsprechend  dem  spielenden, 
bildnerischen  Charakter  der  ältesten  Stoff- 
bearbeitung überhaupt. 

Das  Gewerbe  in  diesem  Sinne  ist  älter 
als  die  Familie.  Dies  lehrt  der  individuell 
persönliche  Charakter  jener  Techniken,  bei 
denen  Stoffgewinnung  und  Stoff  um  Wandlung 
st«ts  von  der  gleichen  Person  bewerkstelligt 
weixien.  Aber  nicht  jede  Art  der  Produk- 
tion wird  von  jeder  Person  verstanden  und 
geübt.  Vielmehr  besteht  eine  scharfe  Tren- 
nung der  Funktionen  nach  Geschlechtern, 
dergestalt,  dass  jedes  Geschlecht  einen  be- 
stimmten Teil  der  Produktion  für  sich  hat : 
die  Frau  alles,  was  mit  der  Ge^sannung  und 
Zubereitung  von  Pflanzenstoffen  zusammen- 
hängt, der  Mann  die  Jagd,  den  Fischfang, 
die  Viehzucht,  die  Herstellung  der  Waffen 
und  Geräte  für  diese  Thätigkeiten,  die  Be- 
arbeitung der  Tierknochen  und  Häute,  meist 
auch  das  Braten  des  Fleisches.  Der  Frau 
liegt  demgemäss  das  Mahlen  des  Getreides 
ob,  das  sie  im  Hackbau  gewinnt,  aber  auch 
das  Formen  und  Brennen  der  irdenen  Koch- 
topfe, weil  sie  bei  der  Zubereitimg  der 
Pflanzenkost  nötig  sind.  Nur  das  Spinnen, 
Weben  und  Flechten  ist  bei  dem  einen 
Stamme  diesem  ^  beim  anderen  jenem  Ge- 
schlechte zugewiesen.  Immer  aber  ist  die 
Trennung  der  Thätigkeitsgebiete  von  Mann 
und  Weib  durch  die  Sitte  so  befestigt,  dass 
die  beiderseitigen  Wirtschaftsfunktionen,  die 
sich  von  der  Produktion  in  die  Konsumtion 
hinein  fortsetzen,  wie  eine  Art  sekundärer 
Geschlechtsmerkmale  erscheinen. 

Das  Wesentliche  für  unsere  Betrachtung 
ist,  dass  der  Frau  anfänglich  der  grf>sste 
Teil  der  Produktion  und  somit  auch  der 
gewerblichen  Thätigkeit  zufällt  und  dass  in 
dem  Masse,  als  sich  die  Familie  fester  aus- 
bildet, für  sie  eine  allmälüiche  Entlastung 
einti'itt,  bis  sie  schliesslich  auf  die  Regelung 
der  Konsumtion  und  die  damit  zusammen- 
hängenden   letzten   Herrichtungs-   und   In- 


slandhaltungsarbeiten  beschränkt  wird.  Dieser 
Entwickelungsgang  ist  am  vollständigsten 
bei  den  Kidturvölkern  Europas  zu  über- 
blicken, und  darum  werden  wir  diese  bei 
der  folgenden  Betrachtung  der  gewerblichen 
Betriebssysteme  vorzugsweise  im  Auge  zu 
behalten  haben. 

4.  Die  Betriebssysteme.  Derselbe 
Prozess  der  Differenzierung  und  Integration, 
welcher  die  ^nze  Geschichte  der  Gesell- 
schaft dun^hzieht,  offenbart  sich  auch  in 
der  Entwickelung  der  Gewerbes.  Auch  sie 
beginnt  mit  vielfältig  zusammengesetzten 
Gebilden,  schreitet  dann  zum  Einfachen  fort, 
um  sclüiesslich  wieder  mit  Zusammenge- 
setztem zu  enden.  Ursprünglich  giebt  es 
nur  einen  grossen  Produktionsprozess ,  zu 
dem  freioccupatorische ,  landwirtschaftliche 
und  gewerbliche  Arbeiten  gehören ;  die  Wirt- 
schaft ist  nichts  weiter  als  vorsorgliche  Be- 
dürfnisbefriedigung der  Familie,  sozusagen 
die  materielle  Seite  des  Familienlebens; 
Produktion  und  Konsumtion  gehen  in  ihr 
unvermittelt  fortwährend  in  einander  über. 
In  dieser  umfassenden  Organisation  liegt 
das  Gewerbe  wie  eine  Keimzelle  einge- 
schlossen. 

Die  Umformung  der  Naturgaben  ist  noch 
ungetrennt  von  der  Occupation  in  Jagd  und 
Fischfang  oder  der  künstlichen  Vermehrung 
derselben  in  Viehzucht  und  Ackerbau,  und 
ebensowenig  als  man  die  Stoff  gewinnung 
noch  als  eine  Erwerbsthätigkeit  zu  be- 
zeichnen berechtigt  ist,  wird  man  der  Stoff- 
veredeluiig  eine  Sonderexistenz  zuschreiben 
dürfen.  Diese  erlangt  sie  erst  auf  höheren 
Stufen  der  Entwickelung,  und  zwar  zuerst 
nur  als  individuelle  Ai-beitsgeschicklichkeit, 
später  auch  mit  ihrer  sachlichen  Ausstattung, 
um  schliesslich  selbst  wieder  in  der  Unter- 
nehmung zur  Grundlage  umfassender  Sozial- 
gebilde zu  werden. 

Wollen  wir  diesen  ganzen  Entwickelungs- 
prozess  überschauen  und  wissenschaftlich 
beherrschen,  so  kann  dies  nur  so  geschehen, 
dass  wir  seinen  typischen  Verlauf  in  den 
EEauptphasen  feststellen.  Wir  gelangen  so 
zu  einer  Reihe  auf  einander  folgender  Ent- 
wickelungsstufen ,  deren  jede  das  gewerb- 
liche Ijcben  von  einem  besonderen  Princip 
des  wirtschaftlichen  Handelns  beherrscht 
zeigt  und  die  wir  darum  als  Betriebssysteme 
bezeichnen  können.  Die  gewerblichen  Be- 
triebssysteme stellen  die  wechselnden  Or- 
ganisationsformen dar,  denen  die  Stoffum- 
wandlung im  ganzen  und  in  ihren  einzelnen 
Zweigen  im  Laufe  der  geschichtlichen  Ent- 
wickelung unterworfen  gewesen  ist.  Sie 
zeigen  ebensowolü  die  innere  Ordnung  des 
Gewerbebetriebes  als  auch  die  Art,  wie  das 
Gewerbe  sich  in  das  Ganze  der  volkswirt- 
schaftlichen Organisation  einfügt.  Wir  unter- 
scheiden fünf  solcher  Betiiebssysteme : 


364 


Grewerbe 


1.  das  Hauswerk  (Hausfleiss), 

2.  das  Lohnwerk, 

3.  das  Handwerk  i.  e.  S.  (Pmswerk), 

4.  den  Yerlag  (Hausindustrie), 

5.  die  Fabrik. 

Indem  wir  an  diese  fünf  Betriebssysteme 
im  folgenden  die  Entwickelung  des  Gewerbes 
stufenförmig  aufreihen,  gelangen  wir  zu 
einer  sehematischen  Darstellung  der  Ge- 
werbegeschiehte.  Aber  die  so  gebildeten 
Entwickelungsstufen  erheben  nicht  den  An- 
spruch, das  gesamte  gewerbliche  Leben 
ganzer  Yölker  und  Zeiten  erschöpfend  zu 
charakterisieren.  Sie  bezeichnen  nur  eine 
Stufenfolge  immer  vollkommener  werdender 
Lebensformen,  welche  die  einzelnen  Zweige 
der  Stoffumwandiung  unter*  gegebenen  Ver- 
hältnissen annehmen  und  annehmen  müssen. 
Damit  soll  keineswegs  gesagt  sein,  dass 
jeder  Gewerbezweig  alle  Stufen  nacheinander 
durchlaufen  müsse.  Einzelne  Stufen  können 
sehr  wohl  übersprungen  weixlen,  und  bei 
spät  entstandenen  Gewerbezweigen  ist  es 
selbstverständlich,  dass  sie  sofort  in  der- 
jenigen Betriebsorganisation  ins  Leben  treten, 
die  der  wirtschaftlichen  Gesamtentwickelung 
ihrer  Zeit  entspricht,  umgekehrt  können 
aber  auch  Gewerbe  auf  einem  älteren  Be- 
triebssysteme verharren,  wann  und  wo  sie 
unter  Existenzbedingungen  sich  befinden, 
die  gerade  dieses  Betriebssystem  als  das 
ergiebigste  erscheinen  lassen. 

Die  Gewerbesysteme  sind  daiin  mit  den 
Ackerbausystemen  gleichartig.  Wie  die 
Dreifelderwirtschaft,  die  Koppelwirtschaft, 
die  Fruchtwechselwirtschaft  nur  unter  be- 
stimmten volkswirtschaftlichen  Vorausset- 
zungen eintreten  können,  imter  diesen  aber 
auch  nach  den  Untersuchungen  v.  T  h  ü  n  e  n  '  s 
eintreten  müssen,  so  ist  es  aucli  mit  Haus-, 
Lohn-  und  Handwerk,  Verlag  und  Fabrik. 
Diese  wie  jene  bezeichnen  eine  Stufenfolge 
der  Intensität,  in  der  wir  die  Menschen- 
arbeit immer  wirkungsvoller  werden  sehen. 
In  einem  grossen  Lande  können  in  Acker- 
bau und  Gewerbe  voj-schiedene  Intensitäts- 
grade des  Betriebs  neben  einander  Platz 
finden;  ja  im  Gewerbe  ist  dies  noch  in 
höherem  Masse  der  Fall  als  in  der  Land- 
wirtscliaft,  weil  die  grosse  Zahl  der  Gewerbe- 
zweige nicht  unter  einheitlichen  Voraus- 
setzungen steht. 

Aber  es  bestehen  doch  auch  orfiebliche 
L'nterschiede  zwischen  der  Entwickelung 
der  Landwirtschaft  und  derjenigen  der  In- 
dustrie. In  der  Landwirtschaft  unterscheidet 
sich  jedes  höhere  Betriebssystem  von  jedem 
niedei-en  dadurch,  dass  es  ein  gi-össeres 
Güterquantum  mit  verhältnismässig  höheren 
Kosten  erzeugt;  in  der  Industrie  dagegen 
nehmen  die  Ilerstellungskosteu  mit  fort- 
schreitender Betriebsintensität  ab.  Die  ür- 
saclie  üegt  in  der  hier  gi^össeren ,  dort  ge- 


ringeren Ergiebigkeit  der  späteren  Kapital- 
verwendungen. Der  landwirtschaftliche  Fort- 
schritt ist  darum  an  die  Voraussetzung  ge- 
knüpft, dass  die  Preise  der  Produkte  steigen ; 
der  mdustrielle  Fortschritt  kann  nur  erfolgen, 
wenn  er  mit  einer  Erniedrigung  der  Preise 
verbunden  ist.  Jener  ist  die  Folge,  dieser 
die  Ursache  höherer  Kultur. 

5.  Das  Hanswerk  (erste  Stufe).  H  a  u  s  - 
werk  ist  gewerbliche  Arbeit  im 
Hause  für  das  Haus  aus  selbster- 
zeugten Rohst  offen.  Der  Ausdruck  Haus 
ist  hier  im  weitesten  Sinne  zu  verstehen  als  der 
Mittelpunkt  jeder  wirtschaftenden  Gemein- 
schaft und  diese  Gemeinschaft  selbst.  Er  ist 
also  auch  auf  Völker  auszudehnen,  welche 
keine  festen  Wohnsitze  haben,  sobald  sie  nur 
in  ihrer  Bedürfnisbefriedigung  über  die  Stufe 
des  Tieres  hinausgekommen  sind  und  für 
sie  eine  gewisse  Vorsorge  bethätigen.  Denn 
eine  solche  bedingt  notwendig  den  Zusam- 
menscliluss  mehrerer  zu  einer  dauernden 
Lebensgemeinschaft,  und  dieser  findet  eben 
in  der  gemeinsamen  Schutz-  und  Hegestätte, 
dem  Hause,  seinen  deutlichsten  Ausdruck, 
mag  dieses  Haus  auch  nur  eine  Hütte  aus 
Palmblättern  oder  ein  Zelt  aus  Tierhäuten 
sein.  Hauswerk  müssen  wir  darum  jede 
gewerbliche  Produktion  für  den  Eigenbedarf» 
nennen,  einerlei  ob  sie  bei  sogenannten 
Jäger-,  Fischer-  und  Nomadenvölkem  oder 
bei  Ackerbauvölkern  sich  findet.  Es  ist 
überhaupt  nicht  an  eine  bestimmte  Ent- 
wickelungsstufe  gebunden.  Aber  es  giebt 
doch  eine  Zeit,  in  der  das  Hauswerk  aus- 
schliesslich in  der  Produktion  herrscht,  und 
eine  andere,  in  der  es  vorherrscht  Beide 
fallen  zusammen  mit  der  Wirtscliaftsstufe 
der  geschlossenen  HausAvirtschaft. 

In  seiner  ursprünglichsten  und  reinsten 
Gestalt  setzt  das  Hauswerk  voraus,  dass 
kein  Tausch  besteht.  Die  Rohstoffe  wei-den 
in  derselben  Wirtschaft  (durch  Occupation 
freier  Katurgaben  oder  durch  künstlichen 
Anbau)  gewonnen,  in  welcher  ihre  Verarbei- 
tung und  ihr  Verbrauch  erfolgt.  Die  ge- 
werbliche Produktion  ist  also  durcliaus 
»bodenständig«,  insofern  sie  sich  über  das, 
was  der  Boden  liefert,  nicht  liinaus  erweitern 
kann,  und  demgemäss  ist  die  technische 
Geschicklichkeit  einseitig,  von  den  geogra- 
phischen Bedingungen  des  Wohnsitzes  ab- 
hängig. Die  Arbeit  ist  zwar  wenig  qualifi- 
ziert, aber  dui'cliaus  individualisiert.  Denn 
sie  findet  nur  statt  nach  Massgabe  des  eige- 
nen Bedarfs  und  in  engster  Anpassung  an 
denselben.  Das  Interesse  des  Arbeitei-s  an 
seinem  Produkte  ist  das  denkbar  stärkste; 
es  überdauert  weit  die  Zeit  der  unmittel- 
baren Erzeugung  und  erlischt  erst  mit  dem 
völligen  Verbrauch  des  Ei'zeugnisses.  Ein 
gelungenes  Produkt  bringt  dem  Verfertiger 
Ehre    beim    Gebrauche,    ein    misslungenes 


Gewerbe 


365 


trägt  ihm  den  Spott  der  Genossen  ein.  So- 
weit es  sich  um  Herstellung  von  dauerbaren 
Gütern  handelt,  bethätigt  darum  an  ihnen 
der  Arbeiter  nicht  bloss  sein  ganzes  tech- 
nisches Können,  sondern  er  verkörpert  in 
dem  Werk  seiner  Hände  auch  die  ersten 
Regimgen  des  Kunstgeschraackes.  Was  auf 
diesem  Gebiete  einmal  gewonnen  ist,  pflanzt 
sich  fort  von  Geschlecht  zu  Geschlecht.  So 
selir  aber  auch  im  ganzen  das  Hauswerk 
den  Charakter  der  Stabilität  trägt,  so  ist  es 
doch  von  mechanischer  Nachahmung  des 
Ueberkommenen  weit  entfernt  Kein  Stück 
gleicht  dem  anderen  bis  in  alle  Einzel- 
heiten; jedem  hat  der  Urheber  etwas  von 
seinem  eigenen  Wesen  aufgeprägt,  und 
wenn  sich  auch  im  ganzen  innerhalb 
grösserer  sozialer  Gruppen  (Gemeinde, 
Stamm,  Volk)  die  Formen  wenig  ändern, 
so  beruht  das  hauptsächlich  darauf,  dass 
die  Bedürfnisse  viele  Menschenalter  hin- 
durch die  gleichen  bleiben  und  dass  die 
Hauswerkserzeu^nisse  mit  der  Zeit  ebenso 
dem  Machtbereich  der  Sitte  unterwoifen 
werden,  wie  alle  nach  aussen  tretenden 
Aeusserungen  des  häuslichen  Lebens. 

Bei  den  Naturvölkern  der  tropischen 
Zone  trägt  das  Uauswerk  ganz  den  desul- 
torischen  Charakter,  den  all  ihre  Arbeit  hat. 
In  den  Ländern  der  gemässigten  imd  kalten 
Zone,  für  welche  der  schroffe  Wechsel  der 
Jahreszeiten  immer  ein  Moment  der  wirt- 
schaftlichen Ordnung  und  Erziehung  gebildet 
hat,  fallen  die  Arbeiten  der  Stoffumwandlung 
naturg^^mäss  in  den  Winter,  während  die 
bessere  Jahreszeit  alle  Kräfte  für  die  Stoff- 
gewinnung im  Freien  in  Anspruch  nimmt. 
Wo  die  Familie  sich  auf  die  Verwandten 
und  etwaige  freie  Dienstboten  beschränkt, 
ei^ebt  sich  von  selbst  eine  Arbeitsteilung 
zwischen  den  Hausgenossen.  Wie  vielseitig 
sich  aber  das  Hauswerk  entwickeln  kann, 
lässt  sich  noch  heute  an  der  Wirtschaft  der 
Nordgermanen  und  der  meisten  slawischen 
Völker  beobachten.  Bei  den  Südslaw^en  gab 
es  bis  auf  die  neuere  Zeit  keine  andei-en 
Handwerker  als  die  Schmiede ;  bei  den  Nor- 
wegern findet  sich  die  Schmiede  wie  die 
Mühle  in  manchen  Landesteilen  bei  jedem 
Bauernhof,  so  dass  fast  alles,  was  das  Haus 
bedarf,  aus  der  Arbeit  der  Hausgenossen 
hervorgehen  kann. 

Wo  die  Sippenverfassung  zur  Aus- 
bildung gelangt,  gewinnt  das  Haus  die 
Mi^lichkeit,  durch  Anwendung  von  Arbeits- 
gemeinschaft und  Arbeitsteilung  auch 
schwerere  Aufgaben  der  Stoffumwandlung 
ganz  mit  eigenen  Kräften  zu  lösen.  Wo  dagegen 
das  System  der  unfreien  oder  hörigen  Arbeit 
Platz  greift,  wie  in  den  Sklavenwirtschaften 
der  antiken  Völker  und  auf  den  mittelalter- 
lichen Fronhöfen,  ist  natürlich  eine  weiter- 
gehende  Arbeitsteilung  und  eine   grössere 


Verfeinerung  der  Bedürfnisse  möglich.  In 
der  familia  rustica  der  Römer  finden  wir 
Sklaven  als  Müller,  Bäcker,  Köche,  Schmiede, 
Zimmerleute ,  K^kbrenner ,  Wollschläger, 
Weber,  Walker,  Leinweber  und  Schneider 
(Scriptores  rei  rust.  ed.  Gesner  III,  p.  496), 
und  es  scheinen  die  Handwerkerabteilungen 
(aitificia)  eine  ähnliche  Organisation  gehabt 
zu  haben  wie  die  Rotten  der  Landarbeiter 
(officia).  In  der  familia  urbana  gestaltet 
sich  die  Arbeitsgliederung  weit  reicher,  wie 
die  Inschriften  der  Columbarien  vornehmer 
römischer  Häuser  beweisen.  Am  reichsten 
natürlic^h  in  der  kaiserlichen  Hofhaltung. 
In  dem  Columbariiun  libertorum  et  servorum 
Liviae  Augustae  finden  wir  ausser  einer 
zahlreichen  luid  vielartigen  Dienerschaft : 
Fäi-ber,  Maler,  Vergolder,  Spinner,  Kistner, 
Bäcker,  Walker,  verschiedene  Arten  Kleider- 
macher, Schuster,  Perlarbeiter,  Goldschmiede, 
Tischler,  Maurer,  Zimmerleute,  Dachdecker, 
Spiegelmacher,  Estrichmacher.  Die  Vor- 
schriften Kai'ls  des  Grossen  über  die  auf 
seinen  Kammergütern  erforderlichen  Hand- 
werker (artifices:  Cap.  de  villis  c.  45)  er- 
strecken sich  auf  zwölf  verschiedene  Spe- 
dalitäten ,  ungerechnet  die  Spinnerinnen, 
Weberinnen,  Kleidermacherinnen  etc.  des 
Fraueuhauses.  Nicht  minder  entwickelt 
war  das  Hauswerk  in  den  zahlreichen 
Klosterwirtschaften.  Noch  im  Jahre  1146 
hielt  das  Kloster  Weihenstephan  bei  Frei- 
sing u.  a.  einen  Bierbrauer,  Gerber,  Metzger, 
Weber,  Schuhmacher,  Kürechner,  Fassbinder, 
Krämer  (institor),  Maler,  Bäcker,  Schmied 
sowie  eine  Wein-  und  Bierschenke. 

Varro  (de  re  rust.  I,  22)  spricht  ein- 
mal den  Grundsatz  aus,  der  Gutsbesitzer 
solle  nichts  kaufen,  wozu  das  Rohmaterial 
auf  dem  Gute  erzeugt  und  was  von  den 
Haussklaven  angefertigt  w^erden  könne. 
(Aehnlich  Plinius  N.  H.  XVIII,  40.)  Damit 
ist  die  charakteristische  Eigentümlichkeit 
der  antiken  Oiken Wirtschaft  gegeben,  die 
Rodbert  US  in  seinen  bahnbrechenden 
Aufsätzen  über  die  römischen  Tributsteuern 
ndt  den  Worten  bezeichnet,  es  finde  keine 
Scheidung  von  Grund-  und  Kapitaleigentum 
statt.  Der  Grandeigentümer  ist  der  Pi-odu- 
zent  schlechthin,  und  wenn  auch  in  den 
Wirtschaften  der  grossen  Besitzer  die 
Technik  der  Stoffumwandlung  eine  ziemlich 
weitgehende  Ausbildung,  die  Arbeit  eine 
gewisse  berufsähnliche  Organisation  erfährt, 
so  folgt  daraus  noch  nicht  notwendig  eine 
verkehrsmässige  Verbindung  der  Einzel- 
wirtschaften und  eine  soziale  Differenzierung 
der  Bevölkerung. 

6.  Die  zweite  Stufe  des  Hanswerks. 
Das  Hauswerk  ruht  auf  der  Unterlage  der 
Urproduktion,  insgemein  der  Landwirtschaft. 
Es  erhält  sich  jedoch  als  reine  Selbstver- 
sorgung in  der  Regel  nur  für  solche  Pro- 


366 


Gewerbe 


clukte,  welche  überall  erzeugt  werden  kön- 
nen. Was  dagegen  ein  Stamm  vermöge 
der  besonderen  Natiirbedingimgen  seines 
Wohnortes  Eigentündiches  hervorbringt,  das 
wird  leicht  auch  zum  Gegenstande  des  Be- 
gehrs für  andere  Stämme,  namentlich  wenn 
es  einem  weit  verbreiteten  Bedürfnisse  ent- 
spricht. Produkte  des  Hauswerks  gelangen 
so  von  Stamm  zu  Stamm  in  den  Umlauf, 
lange  Zeit  bloss  als  Geschenk  oder  Kriegs- 
beute, später  auch  auf  dem  Wege  des 
Tausches.  Es  entwickelt  sich  ein  ent^lt- 
licher  Verkehr,  der  in  dem  Markte  semen 
Mittelpunkt  und  seine  Ordnung  findet,  und 
es  liegt  in  der  Naüir  der  Dinge,  dass  jeder 
Stamm  auf  diesen  Markt  das  zu  schicken 
suchen  muss,  was  seine  Produktion  Eigen- 
tümliches aufweist.  Natürlich  muss  er  das 
dann  auch  im  üeberflusse  zu  erzeugen 
suchen.  Handelt  es  sich  um  ein  hausge- 
werbliches Erzeugnis,  das  unter  besonders 
günstigen  Umständen  hervorgebracht  wird, 
so  gewinnt  dabei  leicht  auch  die  Technik, 
und  es  büden  sich  ganze  Stammgewerbe 
(eventuell  auch  Ortsgewerbe)  aus;  die  ge- 
schlossene Hauswirtschaft  wird  insofern 
festgehalten,  als  jede  Familie  nach  wie  vor 
alle  Bedürfnisse,  deren  Befriedigung  die 
Natur  ihres  Wohnsitzes  gestattet,  durch 
eigene  Arbeit  zu  decken  sucht;  aber  jeder 
Stamm  (oder  Ort)  treibt  für  eines  oder 
einige  seiner  Erzeugnisse  Ueberschusspro- 
duktion,  um  dafür  diejenigen  Erzeugnisse 
einzutauschen,  die  im  eigenen  Stamme  gar 
nicht  oder  doch  nicht  gleich  gut  und  kunst- 
voll erzeugt  werden  können.  Ist  ein  solches 
Stammesprodukt  eine  in  weiten  Kreisen  ge- 
suchte Ware,  so  wird  es  für  die  Stämme, 
welche  dasselbe  entbehren,  zum  Gelde  (Salz, 
Kupferbarren,  eiserne  Spaten,  Thontassen, 
Matten,  Gewebe  u.  s.  w.). 

Soweit  sich  bis  jetzt  diese  Dinge  über- 
sehen lassen,  ist  diese  gewerbliche  Differen- 
zierung der  Stämme  in  Afrika  ganz  allge- 
mein, und  sie  wird  in  den  politisch  foi*tge- 
schrittenen  Gebieten  auch  staatlicli  dadurch 
anerkannt,  dass  die  Steuerleistungen  der 
Unterworfenen  in  solchen  Stammesprodukten 
festgesetzt  werden.  Sie  findet  sich  sodann 
in  sehr  schönen  Beispielen  bei  den  Melane- 
siern  und  Polynesiern  und  ist  auch  bei  den 
Eingeborenen  Amerikas  nicht  unbekannt. 
Man  wird  danach  in  ihr  eine  der  gewerb- 
lichen Differenzierung  der  einzelnen  Per- 
sonen oder  Wirtschaften,  die  wir  in  unseren 
Ländern  allein  vor  Augen  liaben,  voraus- 
gehende Phase  der  sozialen  Entwickelung 
zu  erblicken  haben.  Spuren  derselben  sind 
aber  auch  in  Europa  leicht  nachzuweisen, 
insbesondere  in  der  dorf weisen  Fortbildung 
bäuerlichen  Hauswerks,  wie  sie  sich  in 
Russland,  Ungarn,  der  Balkanhalbinsel  häufig 
findet.    In   Central-  und  Westeuropa  führt 


vielfach  die  zunehmende  Ungleichheit  des 
Grundbesitzes  die  Einzelwirtschaft  auf  den 
gleichen  Weg.  Zwar  sucht  auch  hier  die 
Bauernfamilie  so  lange  als  möglich  die  Au- 
tonomie der  Güterversorgimg  aufrecht  zu 
erhalten;  aber  sie  bringt  üeberschüsse  des 
Hauswerkes  in  derselben  Weise  auf  den 
Markt  wie  das  Getreide,  das  sie  nicht  selbst 
verwendet,  das  Jungvieh,  das  sie  nicht 
selbst  aufziehen  kann,  die  Butter,  die  Eier, 
das  Dörrobst,  den  gehechelten  Flachs  etc. 
und  erwirbt  dafür  Güter,  welche  die  eigene 
Wirtschaft  überhaupt  nicht  oder  nicht  mehr 
liefern  kann.  Ja,  ebenso  wie  sie  einen 
Zweig  der  landwirtschaftlichen  Produktion, 
z.  B.  den  Wein-  oder  Hopfenbau,  für  den 
Absatz  besonders  pflegen  kann,  so  kann  sie 
auch  über  den  Bedarf  Holzgerät  oder  Leinen- 
tuch oder  Spitzen  erzeugen,  sei  es,  um  vor- 
handene Arbeitskräfte  zweckmässig  auszu- 
nützen, sei  es,  um  diu-ch  den  Austausch  der 
Hauswerksprodukte  Lücken,  die  in  der 
sonstigen  Güterversorgung  bleiben,  zudecken. 
Und  ähnlich  wie  für  manche  landwirtschaft- 
liche Produkte  bilden  sich  wohl  auch  für 
die  Erzeugnisse  des  ländlichen  Hauswerkes 
Aufkäufer,  welche  sie  einem  weiteren  Ab- 
nehmerkreise zuführen.  Noch  häufiger  be- 
sorgt dies  der  Bauer  oder  einer  seiner  An- 
gehörigen selbst.  So  bieten  auf  den  Wochen- 
märkten der  ungarischen,  galizischen,  rumä- 
nischen Städte  die  Frauen  vom  Lande  neben 
Gemüse,  Käse,  Eiern  und  dergleichen  auch 
die  von  ihnen  angefertigten  wolleneu  und 
leinenen  Gewebe,  Spitzen,  Teppiche  aus, 
und  die  Männer  erscheinen  mit  ihren  Korb- 
und Binsenwaren,  ihren  Küfer-  und  Stell- 
macherarbeiten. Hier  und  da  bildet  sich 
auch  ein  Hausierhandel  mit  Hauswerkspro- 
dukten (namentlich  Frauenarbeiten)  aus,  wie 
im  früheren  Mittelalter  bei  den  Friesen  und 
heute  noch  vielfach  in  Russland,  Schweden 
(Dalekarlier) ,  Norwegen ,  auch  in  Tirol 
(Grödener). 

Bemerken  wir  hier  bereits  die  Anfänge 
eines  selbständigen  Handels  mit  gewerb- 
lichen Produkten,  der  somit  älter  ist  als 
das  selbständige  Gewerbe ,  so  lehrt  ein 
Rückblick  auf  die  grossen  geschlossenen 
Hauswirtschaften  des  Altertums  und  des 
früheren  Mittelalters,  dass  diese  vermöge 
ihrer  grösseren  Arbeiterzalü  im  stände  ge- 
wesen sind,  einerseits  gewerbliche  AVai*en- 
produktion  im  grossen  zu  treiben,  anderer- 
seits dem  Absätze  eine  eigene  Oi'ganisation 
zu  geben.  Namentlich  in  Athen  wninle 
es  üblich,  grössere  Sklavenscharen  für  eine 
bestimmte  Fabrikationstechnik  abzurichten 
und  durch  sie  Gewerbeprodukte  für  den 
Markt  herzustellen.  Allbekannt  sind  die 
Gerbereien  des  Kleon  und  des  Anytos,  des 
Anklägers  des  Sokrates,  die  Lampenfabrik 
des  Hyperbolos,  die  Flölenfabrik,  mit  wel- 


Gewerbe 


367 


eher  Theodoros,  der  Yater  des  Rednera 
Isokrates,  ein  grosses  Vermögen  erworben 
hatte.  Lysias  und  sein  Bruder  Polemarchos 
beschäftigten  120  Sklaven  mit  der  Anferti- 
gung von  Schilden;  Demosthenes  hatte  von 
seinem  Vater  eine  Schwert-  und  Messer- 
schmiedwerkstätte imd  eine  Bettstellen- 
macherei  geerbt;  für  die  erstere  wurden 
32,  für  die  letztere  20  unfreie  Arbeiter  ge- 
halten. Die  ganze  griechische  Eunstindus- 
trie,  die  Töpferei,  die  Bronzenfabrikation, 
die  Seidenweberei,  scheint  in  dieser  Weise 
betrieben  worden  zu  sein.  Daher  die  grossen 
Ziffern,  welche  uns  Ober  die  Menge  der 
Sklaven  Korinths  und  Aeginas  überliefert 
sind.  Man  darf  dieses  einseitig  fortgebildete 
Hauswerk  aber  nicht  mit  unserer  unter- 
nehmungsweise betriebenen  Fabrikindtisthe 
verwechseln.  Denn  es  handelt  sich  in  der 
Hauptsache  nur  um  eine  Art  der  Vermögens- 
nutzimg des  Oikos:  die  wirksamste  Exploi- 
tation seines  Menscheneigentums.  In  Rom 
finden  wir  Aehnliches,  nur  in  engem  An- 
schluss  an  den  Grossgnmdbesitz.  Dahin 
gehören  sowohl  die  mit  Sklaven  betriebenen 
hindwirtschaftlichen  Nebengewerbe ,  wie 
Sandgruben,  Steinbruche,  Ziegeleien.  Töpfe- 
i-eien,  Webereien,  Walkmühlen,  als  auch 
Spekulationsgeschäfte,  wie  sie  Crassus  trieb, 
der  abgebrannte  und  eingestürzte  Häuser 
kaufte,  sie  wiederaufbaute  und  dann  ver- 
mietete. Er  hielt  zu  diesem  Zwecke  500 
unfreie  Zimmerleute  und  Maurer. 

Was  den  Absatz  der  so  gewonnenen 
Produkte  betrifft,  so  hatte  jede  grössere 
römische  Sklavenfamilie  dafür  ihren  nego- 
tiator.  Oft  teilten  sich  mehi-ere  in  die  Viel- 
ehen Geschäfte,  welche  der  Verkehr  einer 
80  ausgedehnten  Wirtschaft  mit  der  Aussen- 
welt  notwendig  machte  (actores,  procura- 
tores,  exactores,  insularii);  auf  dem  Lande 
fehlte  niemals  der  villicus,  der  als  oberster 
Wirtschaftsleiter  auch  für  Ein-  und  Verkauf 
sorgte.  Gleichen  Einrichtungen,  verbunden 
mit  einem  ziemlich  entwickalten  Transport- 
wesen, begegnen  wir  auf  den  mittelalter- 
lichen Fronhöfen.  Unter  den  Klosterleuten 
von  Weihenstephan  fanden  wir  bereits  einen 
institor;  mercatores  sind  bezeugt  von  St. 
Emmeran  in  Regensburg  (12.  Jahi-hundert) ; 
ein  ^Kaufmann«  von  der  Propstei  Neuweiler 
im  Elsass.  Bekannter  ist  aer  Wein-  und 
Bierausschank  der  Klöster  für  den  Ver- 
schleiss  der  eigenen  Erzeugnisse  (Bann- 
wein I),  der  Verkauf  von  Tuch  und  Lein- 
wand auf  dem  städtischen  Markte,  der  sie 
später  vielfach  in  Konflikt  brachte  mit  den 
Gerechtsamen  der  städtischen  Handwerker, 

Gerade  auf  dem  Gebiete  der  Leinwel>erei 
ist  auch  der  Absatz  der  Produkte  des  bäuer- 
lichen Hauswerkes  zuerst  obrigkeitlich  or- 
ganisiert worden.  Es  sei  liier  erinnert  an 
die  mehrfach  schon  im  Mittelalter  vorkom- 


menden städtischen  Stempel-  und  Schau- 
anstalten und  an  das  Frankfurter  Leinwand- 
haus, dessen  ßetriebseinrichtungen  haupt- 
sächlich auf  der  Marktfälligkeit  des  Bauern- 
tuches bemhten.  Später  hat  der  Staat  sich 
der  Sache  angenommen.  Die  grossartigste 
Oi^nisation  dieser  Art  stellen  die  schlesi- 
schen  Beschauanstalten  und  die  westfälischen 
Linnenleggen  dar,  deren  Absehen  haupt- 
sächlich darauf  gerichtet  war,  die  über- 
schüssige Hausleiuwand  der  ländlichen  Be- 
völkerung exportfähig  zu  machen.  In 
neuester  Zeit  lassen  sich  ähnliche  Bestre- 
bungen in  Ungarn,  Rumänien  und  Schwe- 
den —  auch  hier  hauptsächlich  für  den 
Absatz  von  Geweben  —  beobachten. 

Damit,  dass  ein  Zweig  des  Hauswerkes 
sich  vorzugsweise  auf  den  Markt  einrichtet, 
stirbt  er  sozusagen  an  der  Spitze  ab:  nicht 
die  eigene  Bedarfsdeckung  giebt  ihm  weiter 
die  Richtung,  sondern  fremde  Nachfrage. 
Aber  das  Hauswerk  kann  auch  an  der 
Wurzel  absterben,  wenn  der  Rohstoff  oder 
die  Geräte  und  Werkzeuge,  deren  es  bedarf, 
nicht  mehr  in  eigener  Wirtschaft  erzeugt 
werden.  Von  dieser  Art  ist  in  imseren 
Ländern  gegenwärtig  das  Hauswerk  der 
weiblichen  f'amilienglieder  vom  Stricken, 
Sticken,  Kleidermachen  bis  zur  häuslichen 
Speisebereitung.  Auf  dem  Lande  ist  es 
selbst  in  seiner  ersten  Stufe  noch  in 
grösserem  Umfange  erhalten. 

7.  Das  Lohnwerk.  Es  ist  ein  bemerkens- 
werter Zug  der  Gewerbegeschichte,  dass 
auf  den  früheren  Stufen  der  Entwickelung 
alle  höhere  Kunstfertigkeit  erst  im  Schosse 
des  sich  selbst  genügenden  Hauses  aus- 
reifen muss,  ehe  sie  wirtschaftlich  selbstän- 
dig wird.  Fanden  wir  oben  einen  grossen 
Teil  der  späteren  Handwerke  bereits  in  den 
grossen  Sklavenwirtschaften  der  Alten  und 
auf  den  mittelalterlichen  Fronhöfen  in  voller 
technischer  Ausbildung,  so  lässt  sich  bei 
neu  entstehenden  Gewerben  die  Thatsache 
bis  in  das  vorige  Jahrhundert  hinein  ver- 
folgen, dass  technische  Fortschritte  zuerst 
in  den  grossen  Wirtschaften  für  den  eigenen 
Bedarf  gemacht  werden.  In  den  Klöstern 
des  Mittelalters  hat  sich  die  Glasmalerei, 
die  Goldschmiedekunst,  der  Glockenguss, 
die  Seiden-  und  Metallstickerei  zuerst  aus- 
gebildet; in  den  Häusern  reicher  französi- 
scher Büeherliebhaber  (Grolier,  de  Thou) 
ist  im  16.  Jahrhundert  die  Kunstbuchbinde- 
rei zur  Entfaltung  gekommen,  und  wie 
zahlreich  sind  die  Luxusindustrieen,  deren 
Ursprung  an  den  Höfen  der  Grossen  zu 
suchen  ist,  von  der  Gold-  und  Silberstoff- 
weberei Indiens  bis  zur  Teppich-  und  Por- 
zellanfabrikation  des  Occidents!  Röscher 
(III,  §  105)  hat  die  feine  Beobachtung  ge- 
macht, dass  die  Luxusindustrie  allgemein 
fniher  zur  Blüte  komme  als  die  ordinäre 


368 


Grewerbe 


Lidustrie,  welche  für  den  Bedarf  der  Massen 
arbeite.  Ohne  Zweifel  ist  die  Ursache 
darin  zu  suchen,  dass  auf  deu  früheren 
wirtschaftlichen  Entwickelungsstufen  jede 
Industrie  mit  innerer  Notwendigkeit  zuerst 
die  Form  des  Hauswerkes  annimmt. 

Die  Weiterentwickelung  ist  eine  scliritt- 
weise,  und  es  bildet  sich  keineswegs  sofort 
das  sog.  Handwerk  dergestalt,  dass  die  lu*- 
sprüngliche  YoUwirtschaft,  welche  Urproduk- 
tion und  Fabrikation  zugleich  ist,  sozusagen 
in  zwei  Teile  zerschnitten  wird,  von  denen 
der  eine  die  Stofferzeugung,  der  andere  die 
Stoffveredelung  übernimmt  \md  von  denen 
jeder  volle  Bedarfsdeckung  nur  durch  Aus- 
tausch mit  dem  anderen  erzielen  kann.  Viel- 
mehr tritt  von  den  beiden  Elementen,  auf 
welcnen  spätei^  jede  selbständige  unterneh- 
mungsweise gewerbliche  Produktion  sich 
notwendig  aufbaut,  Arbeit  und  Produktions- 
mitteln (Werkzeuge  und  Rohstoffe),  bloss 
die  Arbeit  mit  ihrer  technischen  Ausrüstung, 
dem  Werkzeug,  aus  dem  geschlossenen 
Kreise  der  reinen  Eigenwirtschaft  heraus, 
während  das  »Betriebskapital«  in  den  meis- 
ten Arten  der  Stoff  um  Wandlung  noch  lange 
Jahrhunderte  in  derselben  verharrt.  Der 
gewerbliche  Arbeiter  emancipiert  sich  von 
dem  Hauswesen,  dem  er  bis  dahin  als  un- 
freies oder  doch  abhängiges  Glied  allein 
seine  Dienste  zu  widmen  hatte,  steht  ihm 
aber  auch  ferner  noch  mit  seiner  Arbeits- 
kraft ziu*  Verfügung,  und  nicht  ihm  allein, 
sondern  auch  anderen,  die  seine  Gescliick- 
lichkeit  gegen  Entgelt  benutzen  wollen.  Der 
Rohstoff  wird  ihm  zu  diesem  Zwecke  ent- 
weder in  seine  Wohnung  hinausgegeben, 
oder  er  wird  zeitweise  in  das  Haus  des 
Kunden  hineiugenommen.  Auf  alle  Fälle 
werden  nur  Arbeitsleistungen  von  ihm  ver- 
langt; er  bethätigt  dieselben  an  fremdem 
Material  und  produziert  bloss  Gebrauchs- 
werte. Der  Rohstoff  bleibt  von  seiner  Er- 
zeugung bis  zur  völligen  Genussreife  in  der 
Wirtschaft,  in  der  er  entstanden  ist  und  die 
ihn  nach  seiner  Veredelnng  verbraucht.  Um 
die  Sache  an  einem  bekannten  Beispiel  zu 
verdeutlichen:  der  Bauer  erzeugt  den  Flachs 
oder  Hanf;  dieser  wird  durch  die  Arbeits- 
kräfte seines  Hauses  gerostet,  gebrochen, 
vielleicht  auch  gehechelt  und  zu  Garn  ver- 
si)onnen.  Das  Garn  erhält  der  Leinweber 
gegen  Stücklohn  zum  Verweben;  die  rohe 
Leinwand  kehrt  zum  Eigentümer  zurück, 
wird  hier  gebleicht  oder  dem  Färber  zum 
Färben  wieder  hinausgegeben,  ebenfalls 
gegen  Lohn ;  endlich  wird  die  Näherin  oder 
der  Schneider  auf  Taglohn  ins  Haus  be- 
rufen, um  den  Stoff  zu  Kleidungsstücken 
zu  verarbeiten.  Das  gebrauchsfertige  Kleid 
hat  auf  seinem  ganzen  langen  Wege  vom 
Lein-  oder  Hanfsamen  bis  zur  völligen  Ge- 
nussi'eife  nie  den  Eigentümer  gewechselt; 


es  ist  niemals  »Kapital«  im  Sinne  der  mo- 
dernen Theorie  gewesen,  sondern  immer  nm* 
Gebrauchsgut  auf  einer  bestimmten  Stufe 
der  Produktion. 

Wir  liaben  hier  ein  Betriebssystem,  auf 
welches  der  Begriff  Handwerk  in  seiner  ge- 
wöhnlichen Auffassung  nicht  zutrifft.  Ja  es 
Hesse  sich  beweisen,  dass  das  Handwerk 
schon  am  Ausgange  des  Mittelalters  sich  in 
bewussten  Gegensatz  zu  dieser  Pi-oduktions- 
weise  gesetzt  hat.  Da  es  für  dieselbe  in  der 
Litteratur  an  einem  Namen  fehlt,  so  nenne 
ich  sie  Lohn  werk,  und  es  liegt  mir  nun- 
mehr ob,  über  ihre  Entstehung  und  weitere 
Verbreitung  das  Notwendigste  beizubringen. 
Zuvor  einige  Bemerkungen  über 

8.  die  beiden  Formen  des  Lohnwerks. 
Das  Lohnwerk  ist  gewerbliche  Berufs- 
arbeit, bei  welcher  der  Rohstoff 
dem  Kunden,»  das  Werkzeug  dem 
Arbeiter  gehört.  Dasselbe  kann,  wie 
schon  angedeutet,  zwei  verschiedene  Formen 
annehmen,  a)  Der  Lohn  werker  tritt  als 
Tag-  oder  Stücklöhner  zeitweise  in  die  Wirt- 
schaft der  Kunden  ein,  erhält  hier  die  Kost, 
oft  auch  das  Nachtlager  und  bleibt  so  lange, 
bis  dem  vorhandenen  Hausbedarf  genügt  ist. 
Diese  Arbeit  heisst  Stör,  nach  Schmeller 
ursprünglich  =  Mühsehgkeit,  also  mit  ähn- 
lichem ^ebensinne  wie  Arbeit,  labor,  novog 
etc.  Das  Wort  wird  in  älteren  Sprachdenk- 
mälern bald  stör,  bald  ster  geschrieben  und 
davon  ein  Substantiv  störer  (sterer)  gebüdet 
—  der  gewerbliche  Arbeiter  im  Kunden- 
hause. Da  in  Süddeutschland  und  der 
Schweiz  der  Ausdruck  »auf  der  Stör 
arbeiten«  noch  sehr  gewöhnlich  ist,  so 
empfiehlt  es  sich,  danach  das  ganze  Arbeits- 
system auch  in  der  Wissenschaft  zu  beuen- 
nen.  Störer  sind  diejenigen  Gewerbetreiben- 
den, deren  Werkzeug  sich  leicht  transpor- 
tieren lässt,  wie  Schneider,  Schuhmacher, 
Sattler,  Hausschiachter,  alle  Bauliandwerker, 
zuweilen  aber  auch  Weber,  Schreiner,  Fass- 
binder. Der  Störer  hat  entweder  seine  feste 
Wohnung  innerhalb  eines  lokal  begrenzten 
Kundenkreises,  in  der  er  die  Rast-  und 
Feiertage  bei  den  Seinigen  zubringt,  oder  er 
wandert  auf  grössere  Entfernungen  und  hält 
sich  niu:  im  Winter  bei  seiner  Familie  auf. 
b)  Der  Lohnwerker  hat  eine  feste  Betiiebs- 
stätte,  in  welcher  er  den  ihm  von  den 
Kunden  gelieferten  Rohstoff  gegen  Stiick- 
lohn  bearbeitet.  Wir  können  diese  Betriebs- 
form als  Heimwerk  bezeichnen.  Sie  um- 
fasst  meist  solche  Gewerbetreibende,  deren 
Werkzeug  eine  feste  Betriebsanlage  erfordert, 
wie  Müller,  Bäcker,  Leinenweber,  Wagner, 
Färber.  Hie  und  da  entwickelt  sich  das 
Heimwerk  aus  der  Stör.  Das  bekannteste 
Beispiel  ist  der  Betrieb  des  Schneiderge- 
werbes, wie  er  bis  vor  kurzem  allgemein 
üblich  war ,   wo  der  Kunde  den  Stoff  beim 


Gewerbe 


369 


Tuchhändler  kauft  oder  ihn  in  eigener  Wirt- 
schaft erzeugt  und  nach  Mass  das  Kleidungs- 
stück in  der  Werkstätte  des  Schneiders  an- 
fertigen lässt  Sprichwort  und  Volkslied 
haben  in  mannigfacher  Weise  den  Haupt- 
übelstand dieser  Betriebsform  gekennzeich- 
net: die  Materialuhterschlagung.  Daher 
mag  es  kommen,  dass  bei  vielen  Lohnge- 
werben Stör  und  Heimwerk  sich  neben  ein- 
ander finden,  je  nach  Orts-  und  Landesge- 
wohnheit. Die  Stör  gestattet,  den  Material- 
verbrauch besser  zu  überwachen.  Im  römi- 
schen und  griechischen  Altertum  sind  Gold- 
uud  Silberarbeiter  meist  Heimwerker,  eben- 
so in  den  deutschen  Städten  im  Mittelalter. 
Störarbeit  dagegen  finden  wir  bei  den  Edel- 
metallarbeitern in  Indien,  Persien,  der  Tür- 
kei, bei  den  Grold-  und  Silberstickern  in 
Marokko,  den  Silberschmieden  in  Libeiia, 
den  Seidenweberinnen  in  Kandia.  Sehr 
interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Ver- 
teilung der  Arbeit  bei  der  Lohnbäckerei  in 
den  verschiedenen  Teilen  Deutschlands. 
Bald  erhält  der  Bäcker  von  dem  Kunden 
das  Mehl  nebst  dem  Holz  zum  Heizen  des 
Backofens  und  liefert  auf  je  3  Pfund  Mehl 
4  Pfund  Brot;  bald  hat  er  die  Bereitung 
des  Teiges  und  das  Formen  des  Brotes  im 
Hause  des  Kunden  zu  vollziehen,  und  es 
wird  das  ausgeformte  Brot  zum  Backofen 
gebracht;  bald  besorgt  die  Hausfrau  das 
Kneten  des  Teiges  und  Ausformen  des 
Brotes  selbst,  und  dem  Bäcker  bleibt  nur 
die  Besorgung  des  Ofens;  bald  überwacht 
die  Kundin  diese  Manipulationen  in  der 
Backstube  des  Bäckers.  Daher  kommt  es 
denn  auch,  dass  in  den  aus  der  Litteratur 
für  die  Verbreitung  des  Lohnwerks  zu 
ziehenden  Nachweisungen  vielfcich  nicht  klar 
ersichtlich  ist,  ob  Stör  oder  Heimwerk  vor- 
liegt, und  es  empfiehlt  sich,  beide  Formen 
in  der  Betrachtung  zusammenzufassen. 

9.  Entetehong  des  Lohnwerks.  Der 
Ursprung  des  Lohnwerks  scheint  allgemein 
darauf  zurückgeführt  werden  zu  müssen, 
dass  die  älteren  umfassenden  Familienver- 
bände sich  auflösen  und  dass  dabei  Lücken 
in  der  Güterversorgung  sich  herausstellen. 
Die  Einzelwirtschaften  sind  nicht  mehr  im 
Stande,  die  Umformung  selbsterzeugter  Roh- 
stoffe im  eigenen  Betrieb  zu  vollziehen :  ent- 
weder fehlt  ihnen  die  dazu  nötige  Arbeits- 
kraft, oder  sie  entbehren  gewisser  stehender 
Produktionsmittel  (der  Mühle,  der  Kelter, 
des  Backofens,  des  Webstuhls);  andere 
Wirtschaften  dagegen  haben  diese  Arbeits- 
kräfte bezw.  Produktionsmittel,  ohne  sie  für 
den  eigenen  Bedarf  vollkommen  ausnutzen 
zu  können.  Hier  hilft  man  sich  zunächst 
durch  gegenseitiges  Leihen  von  Arbeits- 
kräften und  Produktionsmitteln;  später 
nimmt  man  in  dem  einen  Falle  fremde  Ar- 
beiter zeitweise  gegen  Kost   und  Taglohn 

Handwörterbuch  der  StaatBwissenachaften.    Zweite 


ins  Haus,  um  sie  die  nötigen  Umformungs- 
arbeiten vollziehen  zu  lassen;  im  anderen 
Falle  giebt  man  den  Rohstoff  hinaus  an  den 
Eigentümer  der  Mühle,  des  Backofens,  des 
Webstuhls,  um  von  diesem  die  Arbeit 
gegen  Vergütung  verrichten  zu  lassen.  In 
beiden  Fällen  leisten  die  Hausgenossen  des 
Materialeigentümers  oft  noch  Hilfe  bei  der 
Arbeit,  bis  diese  schliesslich  von  dem  Lohn- 
werker  gänzlich  übernommen  wii'd. 

Sodann  macht  es  einen  Unterschied,  ob 
sich  diese  Vorgänge  bei  Völkern  mit  un- 
freier oder  bei  solchen  mit  freier  Arbeit 
vollziehen.  Bei  der  Sklaven  Wirtschaft  der 
antiken  Völker  ist  es  früh  üblich  geworden, 
Ai'beitern  von  besonderer  Kunstfertigkeit, 
für  die  der  Herr  in  seinem  Hauslialt  nicht 
genügend  Beschäftigung  hatte,  zu  gestatten, 
ihre  Geschicklichkeit  gegen  Lohn  anderen 
auszubieten.  Der  Sklave  wohnte  für  sich 
und  hatte  den  grössten  Teil  seines  Verdiens- 
tes an  den  Herrn  abzidiefem.  Aus  dem 
Reste  bestritt  er  seinen  Lebensunterhalt, 
sammelte  daraus  auch  im  glücklichen  Falle 
ein  Sondergut,  mit  dem  er  sich  später  frei- 
kaufen konnte.  Als  Freigelassener  mochte 
er  das  Grewerbe  in  gewohnter  Weise  weiter 
treiben,  natürlich  jetzt  ausschiesslich  zum 
eigenen  Nutzen.  Wir  vermögen  noch  deut- 
lich zu  erkennen,  wde  dieser  Gebrauch  ent- 
standen ist.  Ursprünglich  vermietete  der 
Herr  den  Sklaven  selbst  auf  bestimmte  Zeit 
an  eine  andere  Wirtschaft  und  bezog  dafür 
einen  nach  Arbeitstagen  berechneten  Miet- 
zins. In  der  Zeit  der  hochentwickelten 
athenischen  Volkswirtschaft  ist  es  sogar 
eine  ganz  gewöhnliche  Kapitalanlage,  (jte- 
werbesklaven  von  bestimmter  Kunstfertig- 
keit an  jene  industriellen  Grossbetriebe  zu 
vermieten,  welche  wir  oben  kennen  gelernt 
haben,  und  diese  letzteren  werden  hierdurch 
zu  einer  ganz  eigentümlichen  Art  von  »Un- 
ternehmungen«. In  der  pseudoxenophoD- 
tischen  Schrift  von  den  Einkünften  wird  auf 
diese  Sitte  sogar  ein  eigenes  Finanzprojekt 
begründet.  Auch  in  Rom  war  die  Sklaven- 
vermietung sehr  verbreitet.  Auf  Ijandgü- 
tern,  welche  zu  klein  waren,  um  ständige 
unfreie  Arbeiter  für  alle  Wirtschaftszweige 
zu  unterhalten,  wurden  für  einzelne  Ver- 
richtungen, insbesondere  solche  der  Stoff- 
verarbeitung, Sklaven  auf  Zeit  von  anderen 
entliehen.  In  der  Stadt  konnte  man  Leute 
jeder  Art,  vom  Koch  und  Flötenspieler  bis 
zum  Weber  und  Hauslehrer,  um  Lohn  haben, 
mochten  sie  nun  vom  Herrn  vermietet  wer- 
den oder  in  freierer  Stellung  selbst  ihre 
Dienste  ausbieten.  Diese  beiden  Arten  des 
Lohnwerks  werden  auch  von  den  Juristen 
scharf  auseinandergehalten,  indem  sie  bald 
von  den  servi  sprechen,  qui  aliqua  parte 
anni  agnim  colunt,  aliqua  parte  in  merce- 
dem  mittuntur,  bald  von  dem  servus  arte 

Auflage.    IV.  24 


370 


Gewerbe 


fabrica  peritus,  qiii  annuam  mercedem  prae- 
Btat.  Die  letztere  Stellung  bildet  aucii  in 
Rom  vielfach  die  Vorstufe  der  Freilassung. 

Im  Mittelalter  vollzieht  sich   die  Loslö- 
sung der  hörigen  Industriearbeiter  von  der 
geschlossenen  rronhofswirtsohaft    in  etwas 
anderer  Weise.    Soweit  jene  Unfreie  waren, 
standen  sie  dem  Haushalt   des  Hofes  mit 
ihrer    ganzen    Arbeitskraft    zur    Verfügung 
mid  empfingen  dafür  die  volle  Verpflegung. 
Soweit  sie  als  Hörige  oder  Kolonen  in  der 
Nähe  des  Fronhofes  auf  eigenen  Landstellen 
angesiedelt  waren,  mussten  sie  nach  Bedarf 
auf  dem  Hofe  ihre  Arbeit  leisten  und   er- 
hielten an  den  Frontagen  dort  auch  die  Kost 
Es  ist  das  offenbar  schon  ein  der  Stör  ähn- 
liches Verhältnis,  nur  dass  der  Arbeiter  an 
Stelle  des  Lohnes  die  Nutzimg  der  Zinshufe 
empfängt  oder  die  Arbeit  an  Stelle  des  Zin- 
ses leistet.    Früh  auch  findet  sich  die  Ein- 
richtung, dass  fertige  Gewerbeprodukte  als 
Zins  geliefert  werden   müssen,    und  -zwar 
meist  solche,  zu  denen  der  Rohstoff  auf  dem 
Zinsgute  oder  im  Walde   gewonnen  werden 
konnte,  wie  Brot,  Bier,  Leinwand,  WoUen- 
zeug.  Schindeln,  Fassdauben,  Reifen,  Tonnen, 
Wagen,  Schüsseln,  aber  auch  Platten,  Kessel 
imd  andere  metallene  Geräte.    In  einzelnen 
FäJlen  wird  ausdrücklich  angegeben,   dass 
der  Rohstoff  von  der  Herrschaft   geliefert 
werden  muss  (panni  de  dominico  Imo,   de 
dominica  lana  etc.)  —  also  Heimwerk,   das 
mit  Landnutzung  gelohnt  wird.    Es  ergiebt 
sich  leicht,   dass  diese   hörigen  Leute  bei 
dem  freieren  Verhältnis,   in   dem   sie   zur 
Gutswirtschaft  standen,  bald  auch  anderen 
ihre  Dienste  anboten  und  dass  sie  sich  in 
dem  Masse   von  der  Landwirtschaft  mehr 
zur    gewerblichen    Arbeit    wenden    muss- 
ten,   als    im   Laufe   der   Zeit    ihre   Land- 
stellen kleiner  und  für  die  Ernährung  einer 
Familie   weniger   zureichend    wurden.     Da 
aber  auch   die  unfreien  seit  dem  10.  Jahr- 
hundert immer  mehr  in  den  Stand  der  Zins- 
leute übertraten,   so  liegt  es  auf  der  Hand, 
dass  auch  sie,  soweit  sie  gewerbliche  Arbeit 
verstanden,    immer    mehr    zum    Lohn  werk 
übergehen   mussten,   namentlich   wenn    sie 
von  ihrem  früheren  Herrn  nicht  mit  Grund- 
besitz   ausgestattet    worden    waren.      Die 
Folge  der  Städtebildung  für  diese  gewerb- 
lichen   Tag-     und    Stücklöhner    war    dann 
keine  andere  als  die,  dass  sie  sich  an  ein- 
zelnen  Punkten   des   Territoriums   koncen- 
trierten,  von  denen  aus  sie,  auch  im  Besitze 
der  vollen  persönlichen  Freiheit,  noch  Jahr- 
hunderte lang  bloss  mit  Diensten  ihren  Mit- 
bürgern und  der  imiwohnenden  Landbevöl- 
konmg  zur  Verfügung  standen,   bis  sie  all- 
mählich   zur   Warenproduktion    übergingen. 

In  Ländern,  wo  das  unfreie  Arboits- 
system  unbekannt  war  oder  doch  nicht  bis 
zu  den  Anfängen  eines  eigenen  Standes  von 


gewerblichen  Produzenten  ausdauerte,  ist 
das  Lohnwerk  eine  einfache  Folge  der  zu- 
nehmend imgleicher  w^erdenden  Veileilung 
des  Grundeigentums  und  der  verringerten 
Kopfzahl  der  Familien.  Wo  eine  solche  Ent- 
wickelung  Platz  greift,  wie  bei  den  Süd- 
slawen und  den  Russen  seit  Auf  hebung  der 
Leibeigenschaft,  lässt  sich  das  System  der 
reinen  Eigenproduktion  nicht  ferner  aufrecht 
erhalten.  Zwar  behält  ein  Teil  der  Haus- 
stände noch  Grundbesitz  genug,  um  aus  den 
Bodenerträgnissen  alle  Bedürfnisse  des  Hau- 
ses zu  bestreiten ;  aber  sie  haben  nicht  mehr 
die  nötige  Arbeiterzahl,  um  die  alte  fami- 
liale  Arbeitsteilung  aufrecht  zu  halten,  ins- 
besondere um  auch  bei  grösseren  Ansprüchen 
an  das  Leben  sämtliche  Umformungen  von 
Rohstoffen  selbst  vorzunehmen.  Ein  anderer 
Teil  der  Hausstände  befindet  sich  nicht 
mehr  im  Besitze  einer  zum  Unterhalt  und 
zu  voller  eigenwirtschaftlicher  Beschäftigimg 
der  Hausgenossen  ausreichenden  Bodenfläche 
und  ist  deshalb  genötigt,  entweder  einzelne 
Zweige  des  Hauswerkes  über  Bedarf  anzu- 
bauen (§  6)  oder  die  männlichen  Glieder 
des  Hauses  im  Lohnwerk  zeitweise  den 
Hausständen  der  ersten  Kategorie  ziur  Ver- 
fügung zu  stellen.  Beide  Formen  der  ge- 
werblichen Arbeit,  das  spedalisierte  Haus- 
werk und  das  Lohnwerk,  finden  sich  darum 
so  häufig  in  den  nördlichen  und  östlichen 
Ländern  von  Europa  neben  einander  (oft  bei 
dem  gleichen  Produkte)  und  wei-den  dort 
gleichnaässig  als  »bäuerliche  Industrie«  be- 
zeichnet. Nicht  selten  steht  hier  der  Lohn- 
werker  zu  seinem  Kunden  noch  im  Jahres- 
vertrag: er  verpflichtet  sich,  alle  in  sein 
Gewerbe  einschlagenden  Arbeiten  für  den 
Kunden  zu  leisten,  wogegen  dieser  ihm 
eine  Vergütung  in  Naturalien,  meist  Ge- 
treide, schuldet.  So  in  Indien  imd  bei  den 
Südslawen.  In  Montenegro  heisst  ein  solcher 
Vertrag  aljetica.  Verwandt  damit  ist  die 
Stellung  der  ostelbischen  Gutsschmiede  und 
-Sattler,  welche  auf  Jahresvertrag  und  festos 
Deputat  gesetzt  sind. 

10.  Das  Lohnwerk  im  Altertum.    Es  ist 

oben  bereits  gesagt,  dass  beide  Formen  des 
Lohnwerks  bei  den  Völkern  des  klassischen 
Altertums  vorkommen  und  hier  ein  Mittel  bil- 
den konnten  zur  Milderung  der  Sklaverei.  Da- 
bei war  nicht  übersehen  ^  dass  in  Athen  wie 
in  Rom  Gewerbe  nicht  bloss  von  Sklaven  und 
Freigelassenen,  sondern  auch  von  ärmeren 
Freien  betrieben  wurden,  namentlich  Fremden 
(Metöken).  Ebenso  wird  gern  zugestanden, 
dass  auch  fertige  Gewerbeerzeugnisse  auf  dem 
Markte  käuflich  waren.  Eine  eingehendere 
Untersuchung  über  die  Betriebsweise  der  an- 
tiken Gewerbe  würde  aber  hier  scharf  zwischen 
den  einzelnen  Industriezweigen  und  den  ver- 
schiedenen Zeiten  zu  unterscheiden  haben.  Die- 
selbe würde  für  die  älteren  Epochen  unzweifel- 
haft das  Vorherrschen,  wenn  nicht  das  alleinige 
Vorkommen  des   Lohnwerks   ergeben.    In  den 


Gewerbe 


371 


Homerischen  Gedichten  wird  die  Lieferung  des 
Rohstoffes  durch  den  Besteller  ausdrücklich  be- 
zeugt. Ueberhaupt  kommen  dort  nur  vier 
eigentliche  Gewerbe,  bezw.  Namen  für  gewerb- 
liche Arbeiter  vor,  der  des  Töpfers,  des  Holz-, 
Metall-  und  Lederarbeiters.  Alles  andere  war 
Hauswerk.  Alle  späterhin  für  den  Handwerks- 
betrieb bei  den  Griechen  gebrauchten  Wörter 

{rexvitijg^  ßdvavoos,  ;u«*ooTfi;i^r»7g,  xeioatta^)  be- 
zeichnen entweder  bloss  technische  Handfertig- 
keit überhaupt  oder  sitzende  Lebensweise  und 
werden  in  einem  sehr  weiten  Sinne  angewendet. 
Zu  den  Texvttai  rechnet  man  auch  die  Athleten, 
Schauspieler,  Redner,  Wahrsager,  und  die 
ßavavaoi  stellt  Aristoteles  (Pol.  III,  3,  3J  mit 
den  Taglöhnem  auf  eine  Linie  und  bringt  oeide 
in  Gegensatz  zu  den  Sklaven :  sie  dienen  jeder- 
mann, während  die  Sklaven  nur  einem  dienen. 
Damit  stimmt  es,  dass  die  Bezahlung  des  Hand- 
werkers als  fiio^öq^  Lohn  bezeichnet  wird,  und 
dass  uns  wohl  zahlreiche  Macherlöhne  von  ge- 
werblichen Produkten  überliefert  sind,  aber 
wenige  Preise.  In  den  aristokratischen  Staaten 
Griechenlands  waren  alle  Gewerbetreibende 
Sklaven,  in  Epidamnos  sogar  Staatssklaven,  und 
die  gleiche  Einrichtung  schlug  der  Redner  Dio- 
phantos  auch  für  Athen  vor.  Wie  wäre  das 
alles  denkbar,  wenn  sich  die  Griechen  den  freien 
Gewerbetreibenden  vorzugsweise  als  Unter- 
nehmer hätten  vorstellen  müssen?  Als  haupt- 
sächlicher Lohnwerker  heisst  der  Gewerbetrei- 
bende igyoXdtiogy  iffyfovrjgy  Arbeitnehmer,  der 
Besteller  ^pyodorTyg,  fwdorr/ff,  Arbeitgeber  (eigent- 
lich Arbeiliiinausgeber).  Der  Besteller  giebt 
den  Rohstoff  hinaus  (aus  dem  Hause:  iyiöidovai 
Igyov  tüj  drjfxiovQyqi)  oder  mietet  den  Lohn- 
werker  {fjnö^ovad^aij ;  der  letztere  übernimmt 
den  Rohstoff  (ixXafißavfiv)  oder  vermietet  sich 
luiG^ov  tQ/a^t«f4tat).  Das  Heimwerk  hat  in  der 
igyoXaßua  eine  besondere  Rechtsform  gefunden, 
die  namentlich  an  der  Verdingung  staatlicher 
Bauten  ihre  Ausbildung  erfuhr  (Hermann, 
Gr.  Privatalterth.,  §  69).  Für  die  Stör  liefen 
weniger  Nachweisungen  vor.  Sie  findet  sich 
etwa  bei  zeitweise  gemieteten  Spinnerinnen  und 
Weberinnen,  die  in  diesem  Verhältnisse  fgt^oi 
hiessen. 

Sehr  scharf  tritt  das  Lohnwerk  im  römi- 
schen Rechte,  namentlich  dem  älteren,  hervor. 
Für  das  Heimwerk  haben  die  Römer  die  Ver- 
tragsform der  locatio  conductio  operis,  für  die 
Stör  diejenige  der  locatio  conductio  operarum 
ausgebilaet.  Im  ersteren  Falle  nimmt  der  Ar- 
beiter den  Rohstoff  mit,  im  zweiten  holt  sich 
der  Hausvater  den  Arbeiter,  dessen  Dienste  er 
zeitweise  bedarf,  ins  Haus.  Daher  ist  hier  der 
Arbeitgeber,  dort  der  Arbeiter  als  conductor 
bezeichnet.  Es  erscheint  nicht  unmöglich,  dass 
das  in  ältester  Zeit  gewiss  häufigere  Lohnwerk 
freier  Arbeiter  den  Ausgangspunkt  für  die  Ent- 
wickelung  des  römischen  Mietrechts  überhaupt 
gebildet  hat.  Darauf  weist  auch  der  Ausdruck 
merces  hin,  der  für  den  Mietzins  gebraucht 
wird,  sprachlich  aber  nur  auf  den  Entgelt  für 
Arbeitsleistungen  passt.    Auf  die  Häufigkeit  des 

f ewerblichen  Lohnwerks  deutet  endlich  noch 
ie  berühmte  Streitfrage  der  Juristenschuleu 
über  den  Eigentümer  des  Fabrikates  bei  der 
Stoffumwandlung  (specificatio),  wenn  der  Ver- 
arbeiter  nicht  zugleich  Eigentümer  des  Materi- 
ales  war.    Es  war  ohne  Zweifel  im  Sinne  der 


altnationalen  Auffassung  und  Wirtschaftsweise, 
wenn  die  Sabinianer  ausnahmslos  zu  Gunsten 
des '  Materialeigentümers  entschieden  wissen 
wollten,  weil  die  naturalis  ratio  dies  erfordere. 
Die  erst  in  der  Kaiserzeit  aufgekommene 
Theorie,  dass  dem  Arbeiter  das  Arbeitsprodukt 
zufalle,  ist  nie  vollständig  durchgedrungen  — 
ein  Beweis,  wie  fremdartig  auch  in  späterer 
Zeit  den  Römern  die  Vorstellung  eines  mit 
eigenem  oder  geliehenem  Betriebskapitale  wirt- 
schaftenden gewerblichen  Unternehmers  war. 
War  es  den  Juristen  doch  auch  durchaus  nicht 
ausgemacht,  ob  man  es  mit  einem  reinen  Kaufe  zu 
thun  habe,  wenn  der  Handwerker  das  Material 
lieferte  oder  vielmehr  mit  einem  Geschäfte,  das 
aus  Kauf  und  Miete  zusammengesetzt  sei. 

Alles  dies  kann  und  soll  nichts  weiter  be- 
weisen, als  dass  Griechen  und  Römer  den  Ver- 
kehr des  Publikums  mit  den  Gewerbetreibenden 
vorzugsweise  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
Lohn  Werks  auffassten.  Eine  umfassende  Bestä- 
tigung dafür,  dass  dem  die  Wirklichkeit  ent- 
sprach, geben  die  überaus  zahlreichen  Lohnsätze 
der  Taxordnung  des  Kaisers  Diokletian  v.J. 801. 
Aus  dieser  geht  hervor,  dass  damals  das  Lohn- 
werk ausschliesslich  herrschte  in  den  Bange- 
werben, der  Metallindustrie  einschliesslich  der 
Edelmetallverarbeitung,  dem  Buchgewerbe,  der 
Schneiderei  und  Stickerei,  endlich  bei  Schreinern, 
Zimmerleuten  und  Schiffbauern ;  neben  der  Pro- 
duktion für  den  Verkauf  kommt  es  vor  in  der 
Textilindustrie,  der  Wagnerei,  der  Bäckerei; 
dagegen  fehlt  es  in  der  Lederindustrie.  Als 
Lohnformen  kommen  vor:  Zeitlohn  mit  Bekösti- 
gung, Stücklohn  mit  und  ohne  Beköstigung, 
sowie  Kombinationen  von  beiden  -^  die  Stück- 
löhne z.  T.  in  sehr  feiner  Durchbildung. 

11.  Das  Lohnwerk  im  Mittelalter«  Nach 
dem  gegenwärtigen  Stande  der  Forschung  mag 
es  zweifelhaft  erscheinen,  ob  die  Zunft  Ver- 
fassung direkt  aus  der  Organisation  des  ge- 
werblichen Personals  der  Fronhöfe  hervorge- 
gangen ist.  Was  aber  nicht  bezweifelt  werden 
kann,  ist  die  Thatsache.  dass  die  Betriebs- 
weise auch  des  städtischen  Gewerbes  sich  un- 
mittelbar an  diejenige  der  hofhörigen  Stör-  und 
Heimarbeiter  anschloss.  Bis  ins  14.  Jahrhun- 
dert sind  die  städtischen  Handwerker  zum 
allergrössten  Teile  Lohnwerker.  Viele  von 
ihnen  sind  es  noch  weit  länger  geblieben, 
manche  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Der  Begriff 
des  „Handwerks",  wie  er  jetzt  allgemein  gefasst 
wird,  passt  nicht  auf  den  Gewerbebetrieb  der 
mittelalterlichen  Städte,  wenn  er  auch  vielleicht 
das  Ideal  bilden  mochte,  dem  zünftiges  Selbst- 
interesse schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  14. 
Jahrhunderts  bewusst  nachstrebte.  Wären  die 
erhaltenen  Handwerksordnungen  auf  den  Be- 
triebscharakter des  sogenannten  Handwerks  so 
eifrig  untersucht  worden  wie  auf  die  äussere 
Organisation  desselben,  so  müsste  längst  erkannt 
sein,  dass  die  Materiallieferung  durch  den  Be- 
steller gerade  in  den  grösseren  zünftig  geord- 
neten Handwerken  bei  weitem  vorherrschte, 
dass  Kundenarbeit  mit  Stofflieferung  durch  den 
Meister  und  Arbeit  für  den  Markt  daneben  weit 
zurücktraten.  Schon  die  leicht  zu  machende 
Beobachtung,  dass  unter  den  Zünften  die  Bader, 
Scherer,  Sackträger  oder  Mötter,  Schröder, 
Wein  knechte,  Weinrufer,  Rebleute,  Hacker,  ja 
selbst  Taglöhner  u.  dergl.,  also  reine  Arbeiter, 

24* 


372 


Gewerbe 


auftreten,  hätte  davon  abhalten  sollen,  in  dem 
Normalhandwerker  einen  kleinen  Unternehmer 
zu  sehen.  Mischzünfte,  wie  diejenige  *  der 
Scherer,  Schildmaler,  Glaser  und  Sattler  hätten 
sich  wohl  kaum  hilden  können,  wenn  die  einen 
bloss  Lohndienste  ausgeboten,  die  anderen 
Waren  produziert  hätten.  Dazu  kommen  die 
mancherlei  Taxordnungen,  in  welchen  für  Bau- 
handwerker, Schreiner,  Küfer,  Müller,  Bäcker, 
Leinenweber,  Schneider,  Schuhmacher.  Haus- 
schlachter,  Kannengiesser ,  Gold-  und  Kupfer- 
schmiede, die  Tag-  oder  Stücklöhne  festgesetzt 
und  zuweilen  selbst  vorgeschrieben  wird,  wann 
sie  am  Morgen  zur  Arbeit,  am  Abend  davon 
gehen  sollen,  was  sie  an  Essen  und  Trinken 
fordern  dürfen,  wie  es  mit  dem  Materialabfall 
gehalten  werden  soll.  Die  vielen  noch  erhalte- 
nen Stadtrechnungen  weisen  zahllose  Ausgaben 
auf  für  Material  und  Arbeitslöhne.  Da  wird 
dem  Schmiede  das  Eisen,  dem  Kerzengiesser 
das  Wachs,  dem  Dachdecker  das  Stroh,  dem 
Schreiner  und  Wagner  das  Holz  für  Geräte  und 
Feuerleitern,  dem  Glaser  Blei  und  Glas,  dem 
Ofenmacher  Kacheln,  Decksteine,  Lehm,  Haare, 
dem  Kannengiesser  das  Zinn,  dem  Büchsen- 
schmied Zinn  und  Kupfer  für  die  Mischung, 
Eisen  für  die  Ladstöcke  geliefert  (Frankfurt 
a.  M.),  und  auch  da,  wo  der  Meister  das  Ma- 
terial stellt,  pflegt  der  Betrag  für  dasselbe  ge- 
trennt gehalten  zu  werden  von  dem  für  die 
Arbeit. 

Allerdings  sprechen  die  Handwerksordnun- 

fen  weit  häufiger  von  den  Brot  tischen  und 
leischbänken,  den  Tuchgaden  und  Gewand- 
häusern als  von  der  Lohnbäckerei,  dem  Haus- 
schlachten und  dem  Wirken  für  das  Bürger- 
haus. Aber  wer  das  Mittelalter  kennt,  muss 
das  natürlich  finden.  Kauf  und  Verkauf  auf 
dem  Markte  sind  das  Neue,  Ungewohnte; 
„Pfennwerte"  kauft  fast  nur  der  Arme.  Es  be- 
darf darum  der  regelnden  und  schützenden 
Norm,  welche  nur  die  öifentliche  Gewalt  geben 
kann.  Ist  doch  die  ganze  mittelalterliche  Ge- 
sellschaft von  einem  tiefen  Misstrauen  gegen 
jedes  Handelsgeschäft  erfüllt,  das  sie  den  ver- 
schiedensten Kontrollen  durch  Marktmeister, 
Wäger,  Messer  und  Unterkäufer,  vor  allem 
aber  dem  Schutze  der  Oefi'entlichkeit  unterstellt. 
Der  Verkehr  zwischen  dem  Lohn  werker  und 
seinen  Kunden  ist  das  Altgewohnte;  er  voll- 
zieht sich  nach  dem  Herkommen,  oft  in  der 
Stille  des  Bürgerhauses,  wo  der  einzelne  sich 
selbst  gegen  Benachteiligung  und  Unredlichkeit 
schützen  kann,  zumal  wenn  er  den  vermögenden 
Klassen  angehört.  Der  Gewerbetreibende  tritt 
zeitweise  fast  in  ein  Dienst-  oder  Treuverhält- 
nis zu  seinen  Kunden.  Der  Handwerker,  wel- 
cher eine  ihm  zur  Verarbeitung  übergebene 
Sache  veruntreut,  wird  rechtlich  ebenso  behan- 
delt wie  der  Knecht,  welcher  seines  Herrn  Gut 
veräussert  oder  verspielt  (Heusler,  Instit.  II, 
214).  Erst  allmählich,  als  im  Zusammenhang 
mit  der  ganzen  städtischen  Entwickelung  auch 
die  Hauswirtschaft  der  Stadtleiite  stärkeren 
Einwirkungen  der  voranschreitenden  Geld  Wirt- 
schaft nachgab,  wird  die  Stolflieferung  durch 
den  Meister  häufiger,  und  schliesslich  erscheint 
sie  als  die  Kegel,  das  Lohnwerk  aber  als  Aus- 
nahme. Von  äiesem  Augenblicke  an  stellt  sich 
die  Notwendigkeit  ein,  auch  dieses  öffentlicher 
Regelung  zu  unterwerfen,  weil  es  nicht  mehr 


von  der  Tradition  getragen  wurde  und  nicht 
mehr  in  der  gesamten  G^ffanisation  des  wirt- 
schaftlichen Lebens  wurzelte.  So  kommt  es, 
dass  die  Taxordnungen  für  Lohnhandwerker 
erst  mit  dem  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  zahl- 
reicher hervortreten.  Sie  lassen  sich  dann  bis 
ins  18.  Jahrhundert  hinein  in  den  zahlreichen 
Landesordnungen  der  deutschen  Territorien  ver- 
folgen, und  wenn  in  unserem  Jahrhundert  die 
Gesetzgebung  ihre  Hand  von  diesem  Gegen- 
stande zurückgezogen  hat,  so  geschah  es  gewiss 
nicht  deshalb,  weil  er  alle  Bedeutung  ver- 
loren hat. 

Es  dürfte  sich  kaum  ein  Gewerbe  finden, 
für  das  sich  nicht  einmal  in  mittelalterlichen 
Quellen  die  Stofflieferung  durch  den  Kunden 
nachweisen  Hesse,  i^^icht  selten  steht  ein  Ge- 
werbe zum  anderen  im  Verhältnisse  des  Lohn- 
werks. So  der  Müller  zum  Bäcker,  der  Gerber 
zum  Schuster,  Sattler,  Beutler,  Riemenschneider, 
der  Schleifer  zum  Hamischmacher  (Plattschlä- 
ger), der  Hutstaffierer  zum  Hutmacher,  endlich 
der  Wollschläger,  Zauer,  Kämmer,  Walker, 
Färber  und  die  Spinnerin  zum  Wollweber.  Wie 
fest  gewurzelt  das  System  war,  ergiebt  sich 
wohl  am  besten  daraus,  dass  es  auch  da  zur 
Anwendung  "kommt,  wo  der  Besteller  den  Roh- 
stoff nicht  mehr  in  der  eigenen  Wirtschaft  er- 
zeugt, sondern  ihn  auf  dem  Markte  kaufen 
muiifl  (z.  B.  Zinn  für  den  Kannengiesser,  Eisen 
für  den  Schmied,  Leder  für  den  Schuster,  Satt- 
ler etc.,  Tuch  für  den  Schneider),  und  dass  in 
den  Hansestädten  der  Handwerker,  welcher  für 
Ausfuhrzwecke  arbeitet,  nicht  selten  zum  Kauf- 
mann im  Verhältnis  des  Lohnwerkers  steht. 
So  die  Repschläger  in  Lübeck,  Riga,  Reval, 
die  Böttcher  in  Rostock,  die  Wandlärber  und 
Wandbereiter  in  Hamburg  und  Lübeck. 

12.  Sozialrechtliche  Stelioiig  der 
Lohnwerk  er.  Mit  dem  Auftreten  des  Lohn- 
werks beginnt  in  der  Geschichte  die  ge- 
sellschaftliche Arbeitsteilung.  Als  Beriifs- 
arbeiter,  der  jedermann  gegen  Vergütimg 
zu  Dienste  steht,  wird  der  Lohnwerker  eine 
Persönlichkeit  von  öffentlichem  Charakter, 
ähnlich  vne  der  Priester,  der  Arzt,  der 
Zauberer,  der  Sänger,  die  als  Träger  be- 
sonderer Gaben  am  frühesten  zu  einer 
Sonderstellung  gelangen.  Sie  alle  über- 
nehmen der  Gesamtheit  gegenüber  die  dau- 
ernde Erfüllung  bestimmter  Pflichten,  und 
damit  ist  der  Begriff  des  öffentlichen  Amtes 
gegeben. 

So  sind  noch  heute  im  indischen 
Dorfe  der  Gemeinde  Wächter,  der  Brahmine 
(für  die  religiösen  Ceremonien),  der  Schuh- 
macher, der  Sattler,  der  Töpfer  einander 
völlig  gleichgestellt;  in  grösseren  Orten 
reiht  sich  ihnen  auch  ein  Messinggiesser 
oder  Silberschmied  an.  Diese  Benifsthätigen 
sind  die  einzigen,  die  sich  aus  der  Masse 
der  Ackerbauer  herausheben ;  sie  sind  Dorf- 
beamte :  jeder  von  ilinen  hat  ein  Stück  Land 
zur  Bebauung  von  der  Gemeinde  und  erhält 
ausserdem  von  jedem  Ackerbauer  eine  her- 
kömmlich feststehende  Belohnung  in  Körnern, 
die  beim  Ausdreschen  der  Ernte  verabreicht 


Gewerbe 


373 


wird.  Die  Gewerbetreibenden  sind  aus- 
schliesslich Lohn  werker,  und  zwar  Störer. 

Bei  Homer  heissen  die  gewerblichen 
Berufsarbeiter  öTjuiovgyoi]  denselben  Namen 
führen  aber  auch  die  Heix)lde,  Sänger,  Aerzto 
und  Seher,  also  alle,  welche  eine  nicht  jedem 
geläufige  Kunstfertigkeit  für  andere  ausüben, 
öclion  die  alten  Erklärer  sagen,  das  Wort 
bedeute  bei  Homer  im  Gegensatze  zum 
späteren  attischen  Sprachgebrauche  t6v 
dfjuoaiq  fiia^ttQvovvttt^  den  jedermann  um 
Lohn  sich  vermietenden  (Yolksarbeiter). 
Später  differenziert  sich  der  Ausdnick ;  bei 
den  Attikern  heisst  drifitovQyog  jeder  Kunst- 
verständige, bei  den  Dorern  eine  obrigkeit- 
liche Person.  Dies  wäre  unverständlicli, 
wenn  nicht  in  älterer  Zeit  der  Gewerbe- 
treibende eine  beamtenartige  Stellung  ge- 
habt hätte. 

Auf  dieselbe  Anschauung  scheint  die 
Eirichtung  der  altrömischen  Hand- 
werkerkollegien durch  Numa  hinaus- 
zuführen. Als  erstes  derselben  werden  die 
Flötenspieler  genannt,  die  auerkanntermassen 
eine  öffentliche  Stellung  hatten ;  die  übrigen 
sind  die  Goldarbeiter,  Zimmerleute,  Färber, 
Schuster,  Gerber,  Schmiede,  Töpfer  —  alle 
auch  bei  anderen  Völkern  als  Lohnwerker 
vorkommend. 

Auch  die  mittelalterliche  Zunft- 
verfassung muss  in  ihren  Anfängen  auf 
die  gleiche  Auffassung  zurückgehen.  Die 
Zunft  ist  ein  Amt,  eingerichtet  zum  all- 
gemeinen Besten.  Die  korporativen  Verbände 
von  Arbeitern  des  gleichen  Berufes  haben 
ein  ausschliessliches  Recht  auf  die  gewerb- 
liche Arbeit  in  der  Stadt;  sie  haben  dagegen 
die  Pflicht,  dafür  zu  sorgen,  da&s  die  ihren 
Mitghedem  obliegenden  Verrichtungen  gut 
imd  probehaltig  ausgeführt  werden.  Der 
grössere  Teil  der  Bestimmungen  der  älteren 
Zunftrollen  nimmt  das  Jjohnwerk  zur 
Voraussetzung.  So  die  Vorschrift,  dass 
niemand  zum  Gewerbe  zugelassen  werden 
darf,  der  es  nicht  mit  eigener  Hand  betreiben 
kann,  der  aUes  beherrschende  Gnmdsatz  der 
brüderlichen  Gleichheit,  das  Verbot,  einander 
die  Kunden  abzuspannen,  das  von  einem 
anderen  angefangene  Werk  fortzusetzen,  die 
Lohntaxen,  die  Bestimmungen  über  Arbeits- 
zeit und  Werklohn.  Dazu  kommt,  dass  bis 
zum  13.  Jahrhundert  der  Unterschied  zwischen 
Meistern  und  Gesellen  nicht  vorkommt,  ganz 
wie  bei  den  Griechen  und  Römern. 

Auf  die  gleiche  Grundanschauung  ist 
möglicherweise  die  Ausbildung  der 
Zwangs-  und  Bannrechte  zurückzu- 
führen, die  den  Inhabern  gewisser  Gewerbe- 
anlagen (Mühlen,  Backöfen,  Keltern,  Brau- 
häusern) ein  ausschliessliches  Recht  auf  die 
Kundschaft  in  bestimmten  Orten  einräumen 
und  ihre  schärfste  Ausbildung  im  gutsherr- 
lichen Verbände  finden.     Ueberall   handelt 


es  sich  um  Heimwerk,  und  der  wirtschaft- 
liche Grund  der  Bannrechte  liegt  zweifellos 
in  den  grossen  Kosten,  welche  die  Her- 
stellung jener  stehenden  Produktionsmittel 
verursacht  und  deren  Vergütung  nur  bei 
allgemeiner  Benutzung  sichergestellt  war. 

13.  Der  Kampf  gegen  die  Störer.  Die- 
jenige Form  des  Lohnwerks,  welche  am 
meisten  an  die  frühere  Unfreiheit  der  ge- 
werblichen Arbeit  erinnert,  die  Stör,  ist  in 
den  mittelalterlichen  Städten  zu  der  Zeit, 
aus  welcher  wir  reichlicher  mit  Zunftord- 
nungen versehen  sind  (14.  Jahrhundert), 
bereits  stark  im  Rückgang.  Unangefochten 
erhält  sie  sich  eigentlich  nur  bei  den  Bau- 
handwerken, die  in  der  Zeit  des  vorherr- 
schenden Holzbaues  lange  einen  halbländ- 
lichen Charakter  bewahrten.  Mit  dem  Er- 
starken der  Zünfte  macht  sich  eine  aus- 
gesprochene Abneigimg  gegen  diese  des 
freien  Bürgers  unwürdig  scheinende  Arbeits- 
ai't  bemerklich,  und  bald  wird  es  zum  Un- 
terscheidungsmerkmal zwischen  dem  städ- 
tischen und  dem  Landhandwerker,  dass 
letzterer  im  Kundenhause  arbeitet,  der 
erstere  aber  nicht.  In  dem  Masse,  als  das 
Gewerbe  in  den  Städten  sich  koncentriert 
und  das  Land  wirtschaftlich  von  der  Stadt 
abhängig  wird,  gewinnt  die  Anschauung  an 
Boden,  dass  auf  dem  Dorfe  überhaupt  Ge- 
werbe nicht  getrieben  werden  sollten.  Die 
städtischen  Handwerker  weigern  sich,  auf 
dem  Lande  zu  arbeiten,  und  umgekehrt 
suchen  sie  die  Konkurrenz  der  Dorfhand- 
werker, der  Störer,  in  der  Stadt  auszu- 
schliessen.  Schliesslich  verwischt  sich  die 
ursprüngliche  Bedeutung  des  Wortes;  Stö- 
rer bedeutet  dann  jeden,  der  unbefugt,  ohne 
Zunftrecht  und  nicht  nach  Zunftgewohnheit 
ein  Gewerbe  treibt.  Und  das  gleiche  Schick- 
sal scheint  das  gleichbedeutende  Wort  B  ö  n  - 
hase  gehabt  zu  haben.  Schon  am  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  weiss  A  d  r  i  a  n  B  e  i  e  r 
beide  Ausdrücke  nicht  mehr  zu  erkläi-en. 
Er  übersetzt  Störer  mit  tiu-bator,  Invasor, 
Usurpator. 

Da  ist  es  denn  nicht  ohne  Bedeutung, 
dass  der  ältere  Sprachgebrauch  die  beiden 
Wörter  vorzugsweise  auf  die  Schneider  an- 
wendet. In  der  That  haben  die  Bekleidungs- 
gewerbe am  frühesten  die  Arbeit  im  Kunden- 
hause bekämpft.  Schon  1361  verbietet  ein 
sehlesischer  Schneidertag,  Störer  in  die 
Brüderschaften  aufzunehmen.  In  der  ältesten 
Frankf  uiter  Schuhmacherordnung  (1355)  wird 
vorgeschrieben:  »Wer  auch  nuwe  schuhe 
machet,  der  sal  zu  huse  siezen.«  Niu*  den 
Flickschustern  oder  Ruszen  (auch  Reussen, 
Altreussen,  Leppor)  ist  es  noch  gestattet, 
in  der  Kunden  Hause  zu  arbeiten.  In  einer 
Reihe  von  Städten  liegen  Neuschuster  und 
Altreussen  fortwälu^end  miteinander  im 
Streite,  und  noch  im  17.  Jalirhundert  bildet 


374 


Gewerbe 


AI t reis se  ein  Schimpfwort,  das  mit  Störer, 
Sttimpler,  Pfuscher,  Bonhase  gleiche  Be- 
deutung hat.  Das  gleiche  VerhiÜtnis  waltet 
zwischen  den  Neu-  und  Flickschneidern  ob. 
Bald  folgten  ihnen  andere  Gewerbe  nach. 
In  Lübeck  gebietet  eine  Ordnung  von  1371, 
dass  ein  Goldschmied  »in  den  husen  nicht 
werken  schal«.  In  Augsburg  schreibt  eine 
Weberordnung  von  1549  vor :  »Es  soll  auch 
kain  Maister  ausserhalb  seiner  werckstatt 
nit  würckhen  lassen  ohn  erlaubnuss  der 
verordneten  sechs  herren.«  Dass  hier  das 
Arbeiten  auf  der  Stör  gemeint  ist,  geht  aus 
einer  anderen  Bestimmung  hervor,  in  welcher 
jedem  Lohnweber  gestattet  wird,  mit  vier 
breiten  Stühlen  (in  seinem  Hause)  Lohn- 
werk zu  wirken.  Um  dieselbe  Zeit  ver- 
sichern die  Augsbm-ger  Maler,  Glaser,  Bild- 
schnitzer und  Goldschläger,  es  sei  »von  alter 
herkommen,  dass  kein  maister  oder  derselben 
gesellen  under  obgemelten  handwerckern 
kein  tagv^^erckh  arbeiten«.  In  Pegau  wollen 
1595  die  Sattler  ihren  Genossen  das  stören 
ufn  dörffern  nicht  erlauben.  In  Pforzheim 
sind  es  die  Küfer,  welche  den  Meistern  ver- 
bieten, den  Bürgern  um  Stücklohn  xu  ar- 
beiten oder  einen  Knecht  aufs  Dorf  zur 
Arbeit  zu  schicken.  Bei  den  Kunthor-  und 
Panelenmachern  in  Hamburg  und  Lübeck, 
welche  in  der  Stadt  noch  auf  der  Stör  ar- 
beiten, werden  Massregeln  gegen  die  Ge- 
sellen ergriffen,  die  auf  eigene  Hand  hier 
und  da  bei  Herren  und  Junkern  auf  dem 
Lande  arbeiteten. 

In  der  eigentümlichen  Stellung  der  Ge- 
sellen bei  der  Stör  lag  wohl  der  Haupt- 
grund des  Widerstandes  der  Meister  gegen 
diese  Betriebsweise  überhaupt  Der  Meister 
empfing  ffir  seine  wie  für  des  Gesellen  Ar- 
beit von  den  Kunden  blossen  Taglohn.  Die 
Gesellen  beanspruchten  den  letzteren  ohne 
Abzug,  und  dies  führte  in  Deutschland  wie 
in  England  und  Frankreich  zu  fortwährenden 
Streitigkeiten.  Wo  der  Meister  das  ganze 
Werkzeug  stellte,  wurde  für  dieses  eine 
Entschädigmig  zugestanden.  Besass  aber 
der  Geselle  sein  eigenes  Werkzeug,  so  gab 
es  kaum  ein  sachliches  Hindeniis  ftir  üin, 
auf  eigene  Hand  Kundenarbeit  anzunehmen. 
Man  begreift  danach,  was  die  viel  berufene 
Bönhasenjagd  der  Schneider  in  den 
norddeutschen  Städten  auf  sich  hatte.  Es 
war  ein  Aufsuchen  der  Störer  in  den  Kunden- 
häusern, wobei  die  öffentliche  Gewalt 
schwach  genug  war,  von  ihnen  bloss  zu  ver- 
langen, dass  sie  »von  den  Einwohnern  mit 
Glimpf  begehren,  ihnen  die  Bönhasen  folgen 
zu  lassen«. 

Die  fürstliehen  Landesordnungen  traten 
dieser  Abneigung  der  Zünfte  gegen  die  Stör 
zum  Teil  selir  entschieden  entgegen.  In 
der  kiu'sächsischen  von  1482  heisst  es: 
»Da  jemand  eines  Haudwercksmannes,   es 


sey  Schuster,  Schneider,  Kürschner,  Tischer, 
Glaser  oder  andere,  in  seinem  Hause  zu 
arbeiten  begehren  würde,  sol  der  Hand- 
wercksmann  sich  dessen,  ausserhalb  Kranck- 
heit  oder  dass  er  etwa  einem  andern  zu 
arbeiten  albereit  beweisslich  versprochen 
hätte,  nicht  verweigern,  bey  Straff  drey 
Gulden.«  Aus  zwei  kurpfälzischen  Tax- 
ordnungen von  1559,  welche  insbesondere 
aucli  für  die  Stadt  Heidelberg  Geltung  haben 
sollten,  ist  zu  ersehen,  dass  damals  noch 
Zimmerleute,  Steinmetzen,  Maurer,  Tüncher, 
Decker,  Schreiner,  Küfer,  Schneider  imd 
Schuhmacher  im  Taglohn  auf  der  Stör  zu 
arbeiten  pflegten,  während.  Gerber,  Gold- 
schmiede, Tuchscherer,  teilweise  auch  Huf- 
schmiede und  Glaser  als  Heimwerker  er- 
scheinen. Aehnliches  findet  sich  später  auch 
in  norddeutschen  Taxordnungen  wie  der 
braunschweigisch-lüneburgischen  von  1646 
und  der  vorpommerischen  von  1681.  Da- 
gegen scheint  in  den  Reichsstädten  den 
Zünften  die  Verdrängung  des  Störbetriebs, 
wenn  man  von  den  Baugewerben  absieht, 
vollständig  gelungen  zu  sein. 

Auch  dem  Heimwerk  waren  die  Zunft- 
anschauungen keineswegs  günstig.  Im  Jahre 
1454  gebieten  die  Gerber  in  Lübeck :  »Item 
so  enschal  nymand  in  vnsem  ampte  ledder 
gheren  vmnje  geld«.  Dasselbe  thun  1465 
die  Pergamenter,  um  1500  die  Russfärber. 
Im  allgemeinen  wird  jedoch  behauptet  wer- 
den dürfen,  dass  die  Verdrängung  des  Heim- 
werks den  Zünften  bei  weitem  nicht  in  dem 
Masse  gelungen  ist,  wie  die  Untei'drückimg 
der  Stör. 

14.  Der  Uebergang  zum  Preiswerk. 
In  der  Ordnung,  welche  die  Steinmetzen  zu 
Frankfurt  a.  M.  sich  1355  vom  Rate  be- 
stätigen Hessen,  findet  sich  der  Satz :  »Auch 
han  wir  f  unden  durch  des  [gemeinen]  besten 
willen,  das  kein  meystir  under  uns  nymanne 
ensal  gebin  in  syme  gedingeten  werke  kalk 
adir  mm*steyne,  uff  das  yman  bedrogen 
werde.«  Damit  ist  die  Ursache  angedeutet, 
welche  im  Mittelalter  das  Lohnwerk  empfahl 
und  die  Materiallieferung  durch  den  Meister 
unzulässig  erscheinen  Hess.  Der  tote  Stoff 
sollte  kein  Erwerbsmittel  w^erden  können, 
sondern  nur  die  lebendige  Menschenkraft, 
und  auch  nachdem  fertige  Handwerksprodukte 
längst  Gegenstand  des  Marktverkehrs  ge- 
worden waren,  unterschied  man  noch  zwischen 
dem  Preise  des  Rohstoffes,  den  der  Meister 
bloss  vorgeschossen  hatte,  und  dem  Lohne 
für  seine  Arbeit.  Man  konnte  sich  den 
Handwerker  ebensowenig  als  »Warenver- 
käufer« vorstellen,  als  man  den  Begriff  des 
Kapitalzinses  zu  erfassen  vermochte.  Im 
Rohstoffeinkauf  hat  er  hinter  dem  Bürger, 
der  für  den  eigenen  Bedarf  kauft,  zurück- 
zustehen ;  bei  Verkauf  des  feitigen  Pi-oduktes 
liat   er  wahrheitsgetreuen  Aufsclüuss  über 


Gewerbe 


375 


das  verwendete  Material  zu  gebea :  »biickea 
schuhe  vur  bücken,  scheffen  tot  scheffen, 
rindern  vur  rindern«,  wie  es  in  einer  Schuh- 
raacherordnung  heisst.  Der  Handwerker 
erschien  nach  dieser  Seite  wie  der  Unter- 
käufer, der  den  Verkehr  des  einheimischen 
Konsumenten  mit  dem  fremden  Produzenten 
oder  Kaufmanne  vermittelt  hatte,  seine  Ar- 
beit als  ein  Dienst,  der  dem  BLause  geleistet 
wunle,  an  das  sein  Erzeugnis  überging. 

Dennoch  Hess  sich  bei  allen  Arten  der 
Stoffverarbeitung,  bei  welchen  der  Kunde 
das  Material  nicht  in  eigener  Wirtschaft 
erzeugte,  der  üebergang  vom  Lohnwerk  zum 
Preiswerk  (so  wollen  wir  diejenige  Form 
der  gewerblichen  Produktion  für  fremden 
Bedarf  nennen,  bei  welcher  der  Produzent 
zugleich  Arbeiter  und  Ei^ntümer  der  Roh- 
und  Hilfsstoffe  ist)  auf  die  Dauer  nicht  ver- 
meiden. Mochte  anfänglich  der  Konsument 
aus  alter  Gewohnheit  noch  den  Rohstoff 
selbst  einkaufen,  mochte  er  später  den  Hand- 
werker, weil  dieser  sich  besser  auf  die  Sache 
verstand,  dabei  als  Vermittler  benutzen  oder 
ihm  einen  Vorschuss  geben,  damit  er  selbst 
das  Nötige  beschaffe,  schliesslich  gelangte 
der  letztere  bei  Fleiss  und  Sparsamkeit  selbst 
zu  den  notwendigsten  Betiiebsmitteln,  und 
die  Materialbeschaffung  ging  ganz  an  ihn 
über.  Wer  nicht  so  glücklich  war,  mochte 
l»ei  dem  bessergestellten  Genossen  als  Ge- 
hilfe eintreten. 

Diesem  unausweichlich  gewordenenUeber- 
gange  von  der  Gebrauchswert-  zur  Tausch- 
wertproduktion muss  wohl  die  Ausbildung 
des  Gesellenwesens  zugeschrieben  wer- 
den und  der  ganzen  aufsteigenden  Personen- 
gliederung des  mittelalterlichen  Gewerbes. 
Der  Geselle  hat  in  vielen  Gewerben  noch 
jahrhundertelang  sein  eigenes  Werkzeug. 
Ursprünglich  ein  minder  glücklicher  Arbeits- 
genosse seines  Meisters  wird  er  zu  dessen 
Knecht,  sobald  dieser  zum  Eigentümer  eines 
Betriebskapitals  wird.  Dass  er  nicht  in 
noch  grössere  Abhängigkeit  von  demselben 
gerät,  hegt  an  dem  glücklichen  Umstände, 
dass  der  grössere  Teil  des  Zunftrechts  auf 
der  Voraussetzung  des  Lohnwerks  beruhte 
oder  doch  nur  eine  konsequente  Weiterbildung 
des  Rechtes  dieser  Betnebsform  war. 

Dahin  gehört  vor  allen  Dingen  die  künst- 
liche Kleinhaltung  der  Betriebe,  die  Be- 
schränkung in  der  Zahl  der  Knechte,  das 
Verbot  der  Association  mehrerer  Meister, 
der  Nacht-  und  Sonntagsarbeit,  das  Recht 
auf  Teilung  beim  Materialeinkauf,  die  Be- 
stimmung, dass  keiner  mehr  als  eine  Werk- 
stätte  oder  Verkaufsstelle  haben  dürfe,  das 
Verbot,  einander  die  Knechte  abzuspannen, 
mit  den  Produkten  des  eigenen  Handwerks 
Zwischenhandel  zu  treiben,  die  Festsetzung 
des  Maximaiumfangs  der  Produktion.  Alles 
dies  konnte  keinen  anderen  Zweck  haben, 


als  auch  nach  dem  Aufkommen  der  Stoff- 
lieferung durch  den  Meister  einen  eigentlich 
kapitalistischen  Betrieb  sich  nicht  entwickeln 
zu  lassen.  Hatte  man  beim  Lohnwerk  die 
Bestimmungen  zur  Aufrechterhaltung  der 
Gleichheit  mit  der  Formel  gerechtfertigt: 
es  solle  »jeder  bei  seines  Leibes  Nahnmg 
erhalten  werden«,  so  glaubt  man  jetzt  ver- 
sorgen zu  müssen,  »dass  der  Reiche  den 
Armen  nicht  verderbe«. 

Dass  im  allgemeinen  die  Betriebsmittel 
der  mittelalterlichen  Handwerker  lange  Zeit 
sehr  beschränkte  blieben,  darf  einerseits  aus 
dem  öfter  vorkommenden  Ankauf  des  Roh- 
stoffes durch  die  ganze  Zunft,  andererseits 
aus  der  Thatsache  geschlossen  werden,  dass 
überall,  wo  eine  grössere  Kapitalanlage  not- 
wendig erscheint,  die  gesamte  Bürgerschaft 
eintreten  muss.  Die  Stadt  baut  Schlacht- 
häuser, Walkmühlen,  Schleifwerke,  Gerbe- 
häuser; sie  stellt  die  Kessel  der  Färber  auf, 
unterhält  die  Tuchrahmen  der  Weber,  die 
Mangen  des  Bleichhauses;  ihr  gehören  viel- 
fach die  Verkaufsstände,  die  Lederhallen, 
Kürschnerlauben  und  Gewandhäuser.  Auch 
später,  als  einzelne  Handwerker  zu  Wohl- 
stand gelangen,  äussert  sich  dieser  weniger 
in  einem  schwunghafteren  Gewerbebetneb 
als  darin,  dass  die  Erübrigungen  des  letz- 
teren, der  natürlichen  Anziehungskraft  des 
Grimdeigentums  folgend,  die  Form  von 
Aeckem,  Häusern,  Renten  und  Gülten  an- 
nehmen. Die  Zeit,  in  der  die  bewegliche 
Habe  eine  ihr  eigene  Accumulationskraft 
bewähren  sollte,  war  noch  nicht  gekommen. 

Der  üebergang  vom  Lohnwerk  zum  Preis- 
werk fand  am  frühesten  in  den  kleinen 
nichtzünftigen  Gewerben  statt  und  in  den 
zahlreichen  Zweigen  der  Metallindustrie,  bei 
denen  die  Rohstoffproduktion.  in  den  Wirt- 
schaften der  Konsumenten  ausgeschlossen 
war.  Sehr  langsam  folgen  die  grossen 
zünftigen  Gewerbe.  Die  meisten  von  ihnen 
haben  das  ganze  Mittelalter  hindurch,  wie 
die  Bäcker,  Metzger,  Gerber,  Schuster,  Lohn- 
mid  Preiswerk  neben  einander  getrieben,  das 
eine  für  die  wohlhabenden,  das  andere  für 
die  ärmeren  Konsumenten. 

16.  Das  Wesen  des  Handwerks.  Was 
wir  seither  zur  Markierung  eines  wichtigen 
Unterschiedes  als  Preis  werk  bezeichnet  haben, 
ist  nichts  anderes,  als  was  der  gemeine 
Sprachgebrauch  und  die  wissenschaftliche 
Litteratiu*  Handwerk  nennen.  Es  empfiehlt 
sich  nicht,  diesen  Namen  fallen  zu  lassen, 
wohl  aber  sein  Anwendungsgebiet  in  der 
Weise  zu  beschränken,  dass  wir  das  Lohn- 
werk davon  ausschhessen ,  was  auch  der 
Uebung  der  neueren  wissenschaftlichen 
Litteratur  entspricht. 

Wirverstehen  dann  unterHand- 
werk dasjenige  gewerbliche  Be- 
triebssystem, bei  welchem  der  Pro- 


376 


Gewerbe 


duzent  als  Eigentümer  sämtlicher 
Betriebsmittel  Tauschwerte  für 
nicht  seinem  Haushalt  angehörende 
Konsumenten  erzeugt.  Handwerk  ist 
immer  Kundenproduktion,  Produktion  für 
bekannten  Absatz.  Mag  der  Meister  bloss 
Werkzeug  und  Rohstoffe  bereit  halten,  um 
sie  jedesmal  auf  Stückbestellung  in  Bewe- 
gung zu  setzen,  mag  er  in  Ermangelung 
von  Einzelbestellungen  auf  Voirat  arbeiten, 
um  ihn  auf  Wochen-  und  Jahrmärkten  zu 
vertreiben:  immer  ist  es  der  Verbraucher, 
an  den  er  das  Produkt  absetzt.  Eine  »Güter- 
cirkulation«  findet  nicht  statt.  Das  Absatz- 
gebiet ist  eng.  Es  ist  durch  die  Stadt  und 
ihre  nähere  Umgebung  ein  für  allemal  ge- 
geben :  nur  selten  werden  entferntere  Märkte 
besucht.  Die  Arbeit  ist  wegen  ihrer  benifs- 
mässigen  Ausübung  qualifizierter  als  beim 
Ha  US  werk ;  aber  sie  ist  nicht  mehr  in  dem- 
selben Masse  individualisiert.  Am  meisten 
ist  sie  dies  noch,  wo  der  Meister  auf  Stück- 
bestellung arbeitet  und  das  Werk  den  Be- 
dürfnissen und  Wünschen  der  Kunden  an- 
passen muss.  Aber  ein  individueller  Zug 
ist  auch  noch  den  Produkten  eigen,  welche 
der  Handwerker  nach  eigenem  Ermessen 
schafft,  um  sie  der  Kimdschaft  anzubieten, 
die  sich  auf  dem  Markte  bei  seinem  Stande 
einfindet.  Arbeitet  er  auch  hier  für  Diu'ch- 
schnittsbedürfnisse,  so  sind  es  doch  die  ihm 
genau  bekannten  Verhältnisse  eines  örtlich 
begrenzten  Einwohnerkreises,  dem  er  sich 
anzubequemen  hat.  Wird  sein  Produkt  in 
diesem  Falle  Ware,  so  ist  es  doch  nicht 
Dutzendware  für  alle  Welt,  sondern  Kunden- 
wai*e  von  lokaler  Eigenart,  »wärschaft  Gut«, 
wie  man  im  Mittelalter  sagte,  für  das  der 
Meister  oder  die  Zunftschau  dem  Konsu- 
menten haftet. 

Hängt  der  Lohn  werker  sozusagen  noch 
an  der  Nabelschnur  der  geschlossenen  Haus- 
wii-tschaif,  so  ist  beim  Handwerk  diese 
Verbindung  gelöst.  Es  ist  gleichsam  ein 
Querschnitt  (oder  auch  mehrere)  durch  die 
Produktion  gezogen  worden,  und  aus  der 
einzigen  Wirtschaft  des  Grundeigentümers, 
in  der  alle  Umformungen  des  Rohstoffes 
bis  zur  Genussreife,  wenn  auch  immerhin 
mit  Zuhilfenahme  fremder  Arbeit,  sich  voll- 
zogen und  in  der  das  ganze  Nationalprodukt 
zusamraenfloss,  sind  nun  zwei  oder  mehr 
Wirtschaften  gewordQU,  von  denen  jede  ihr 
besonderes  Eigentum  imd  ilu-en  besondeien 
Ertrag  hat.  War  mit  der  Ausbildung  des 
Lohnwerks  bloss  der  Arbeiter  aus  der 
Wirtschaft  des  Grundeigentümers  ausgetre- 
ten, so  folgen  ihm  jetzt  auch  die  Produk- 
tionsolemeute, an  denen  or  seine  Geschick- 
lichkeit bethätigt.  Wo  die  Grenze  zwischen 
Ur-  und  Kunstproduktion  gezogen,  wie  oft 
die  letztere  noch  untergeteilt  wird,  ist  zwar 
durchaus   nicht  willkürlich,  unterliegt  aber 


auch  keiner  inneren  Notwendigkeit.  Ob 
z.  B.  das  innerhalb  der  Landwirtschaft  vor 
sich  gehende  Stück  des  Produktionsprozesses 
der  Kleidung  beim  rohen  oder  dem  ge- 
hechelten Hanf  oder  Flachs  oder  ob  es 
beim  fertigen  Gespinst  oder  beim  rohen 
oder  gar  beim  gebleichten  und  gefärbten 
Gew^ebe  abbricht,  ist  immer  Sache  technisch- 
wirtschaftlicher  Zweckmässigkeit.  Im  ersten 
Falle  entstehen  wie  neu  aufgesetzte  Stock- 
werke am  Bau  der  Gesamtproduktion  die 
Gewerbe  der  Spinner,  Weber,  Färber  und 
Schneider,  im  letzten  Falle  bloss  dasjenige 
der  Schneider.  Auch  lässt  sich  durchaus 
nicht  behaupten,  dass  immer  das  letzte 
Stück  des  Produktionsprozesses  zuerst  sich 
verselbständigen  müsse,  während  die  vor- 
ausgehenden Stadien  desselben  noch  eine 
Zeit  lang  beim  Hauswerke  oder  dem  Lohn- 
werk verharren.  Bei  der  Bereitung  wollener 
Kleider  hat  das  Mittelalter  zuerst  das 
Mittelstück,  die  Weberei,  zum  Handwerk 
gemacht,  während  das  Spinnen  der  Wolle 
noch  eine  Zeit  lang  Hauswerk  und  das  Nähen 
der  Kleider  Lohnwerk  oder  auch  Hauswerk 
blieb.  Das  wichtigste  wirtschaftliche  Er- 
gebnis der  so  sich  vollziehenden  Produk- 
tionsteilung ist  die  Notwendigkeit  des  gegen- 
seitigen Austausches  zwischen  den  durch 
diese  hervorgebrachten  einseitigen  Wirt- 
schaften. Die  letzteren  werden  so  zu  Er- 
werbswirtschaften, während  es  vorher  nur 
Bedarfswiiischaften  gab.  Das  wichtigste 
soziale  Ergebnis  ist  die  Entstehung  eines 
neuen  werbenden  Eigentums,  des  gewerb- 
lichen Betriebskapitals,  dessen  Bewirtschaf- 
tung, wie  seither  bloss  diejenige  des  Grund- 
eigentums, einen  selbständigen  Ertrag  ab- 
wii-ft,  der  mit  dem  Arbeitslohn  des  blossen 
Lohnwerks  zu  einer  neuen  Einkommens- 
kategorie, dem  Untemehmereinkommen,  ver- 
schmilzt. Dadurch  wird  der  Stand  der  Ge- 
werbetreibenden aus  einem  blossen  Benifs- 
ai'beiterstand  zu  einer  neuen  Besitzklasse, 
die  eben  auf  Grund  dieses  Besitzes  dieselbe 
soziale  und  politische  Geltung  erstrebt,  die 
vorher  mu:  den   Grundeigentümern  zukam. 

Die  soziale  Stärke  des  Handwerks  liegt 
in  der  engen  Vereinigung  von  Arbeit  und 
Besitz,  von  Arbeits-  und  Besitzeinkommen. 
Und  zwar  ist  es  ein  Besitz,  der  Arbeitspro- 
dukt ist  und  den  die  Arbeit  sich  unterwor- 
fen hat,  nicht  ein  Besitz,  der  auf  aus- 
schliesslicher Aneignung  von  Naturgaben 
beruht,  wie  der  Grundbesitz,  der  in  seiner 
starren  Unbeweglichkeit  sich  die  Arbeit  un- 
terworfen hatte.  Wälirend  das  Grundeigen- 
tum die  Arbeit  an  sich  gefesselt,  sie  ver- 
dinglicht hatte,  ist  jene  neue  Art  von  Eigen- 
tum die  persönliche  Ausstattung  des  Arbei- 
tera,  die  ihn  frei  macht. 

Die  Verselbständigung  der  gewerblichen 
t  PiTwluktion  im  Handwerk  vollendet  die  mit 


Gewerbe 


377 


der  Ausbildung  des  LoliQwerks  begonnene 
Ersetzung  der  früheren  häuslichen  durch 
eine  besondere  Art  der  gesellschaftlichen 
Arbeitsteilung.  Wir  haben  dieselbe  oben 
als  Produktionsteilung  bezeichnet.  Je 
nach  der  Zahl  der  Produktionsabschnitte, 
die  der  alten  Hauswirtschaft  entnommen 
werden,  schwankt  die  Zahl  der  Handwerks- 
betriebe, die  ein  vom  Urproduzenten  abge- 
stossener  Rohstoff  durchlaufen  muss,  bis  er 
die  Genussreife  erlangt.  In  der  Regel  ist 
nur  ein  Gew^erbe  dazu  nötig  (Metzger, 
Kürschner,  Bierbrauer);  manchmal  auch 
zwei  (Müller  —  Bäcker),  drei  (Metzger  — 
Gerber  —  Schuster)  oaer  mehr  (Textilge- 
werbe).  Bei  den  letzteren  wird  das  Produkt 
des  einen  immer  wieder  Betriebsmittel  des 
anderen  Gewerbes.  Soweit  wir  sehen  kön- 
nen, ist  es  ein  ziemlich  seltener  Fall,  dass 
später  ein  auf  die  angegebene  Weise  selb- 
ständig gewordener  Produktionsabschnitt  in 
weitere  Etappen  zerfällt.  Die  bekanntesten 
Beispiele  sind  die  der  Schuhmacher,  die  in 
manchen  Städten  früher  auch  das  Leder 
gerbten,  der  W^agner,  die  zugleich  Schmiede 
waren,  der  Hutmacher,  von  denen  sich  die 
Hutstaffierer  trennten.  Einer  fortgesetzten 
Produktionsteilung  stemmt  sich  die  städti- 
sche W^in Schaftsorganisation,  welche  in  der 
Hauptsache  auf  allseitige  Versorgung  eines 
eng  begrenzten  Konsumentenkreises  hinaus- 
lief, ebenso  entgegen  wie  die  Beschränkt- 
heit des  Kapitalbesitzes  dei-  Handwerker.  . 
Dagegen  ermöglichten  imd  beförderten 
diese  Verhältnisse  eine  andere  Art  der  ge- 
sellschaftlichen Arbeitsteilung,  die  wir  als 
Berufsspaltung  oder  Specialisation 
bezeichnen  können.  Sie  besteht  darin,  dass 
ein  gewerblicher  Produktionsabschnitt  sich 
gleichsam  der  Länge  nach  durchspaltet,  so 
dass  die  Herstellung  eines  Teils  seiner  Er- 
zeugnisse sich  als  selbständiger  Gewerbe- 
zweig ablöst.  So  trennen  sich  von  den 
Küfern  die  Kubier,  von  den  Wagnern  die 
Pflugmacher,  von  den  Zimmerleuten  die 
Schreiner,  Drechsler,  Wagner,  Mühlenbauer; 
die  Lederer  zerfallen  in  Loh-  und  Weiss- 

fTber;  von  den  Sattlern  splittern  sich  die 
ummeter,  Riemenschneider,  Beutler  ab; 
von  den  Schneidern  die  Hutmacher  und 
Seidensticker.  Der  Schmied  der  alten  Zeit 
macht  jede  Art  der  Eisenarbeit.  Seinem 
umfäuglidien  Produktionsgebiete  entw^achsen 
nach  und  nach  die  Gewerbe  der  Huf- 
schmiede, Nagelschmiede,  Scheren-  und 
Messerschmiede,  Schlosser,  Nadler,  Kamm- 
schmiede, Waffenschmiede,  Sarwerten  (Rüs- 
tungmacher). Das  Gewerbe  der  Waffen- 
schmiede zerfällt  später  in  die  selbständigen 
Zweige  der  Sporer,  Klingenschmiede, 
Schwertf eger  und  Pfeilsticker ;  das  der  Sar- 
werteu  in  Haubenschmiede ,  Harnischer, 
Blechhandschuher  und  Beingewänder.    Die 


Harnischer  teilen  sich  mit  der  Zeit  in 
Platner  und  Ringharnischer.  In  grosseren 
Städten  geht  diese  Specialisierung  zuweilen 
weit  über  das  Mass  hinaus,  welches  uns 
technisch  und  wirtschaftlich  zweckmässig 
erscheint.  W^eist  doch  Frankfurt  a.  M.,  das 
nur  als  Stadt  von  mittlerer  Grösse  gelten 
kann,  im  14.  und  15.  Jahrhundert  an  200 
selbständige  Berufsarten  im  Gewerbe  auf. 
In  kleineren  Städten  war  die  Berufsspaltung 
eine  geringere.  Und  gerade  darin  liegt  ein 
grosser  Vorzug,  dass  das  Produktionsgebiet 
jedes  Gewerbes  sich  eng  den  Absatzverhält- 
nissen anschmiegte  und  sich  sträubte,  unter 
das  Mass  des  zur  Ernährung  einer  Familie 
Notwendigen  herabzusinken. 

Aber  wie  jede  Zeitrichtung  der  Ueber- 
treibung  fähig  ist,  so  hat  auch  die  Berufs- 
spaltung im  Handwerk  schon  gegen  den 
Ausgang  des  Mittelalters  hie  und  da  das 
zulässige  Mass  überschritten.  Ihr  wichtigstes 
Ziel,  die  Zahl  der  selbständigen  städtischen 
Nahrungen  zu  vermehren,  ging  dann  ver- 
loren ;  es  traten  lebensunfäluge  Gebilde  auf. 
Und  dies  in  dem  Masse  mehr,  als  die 
Handwerker  den  Landwirtschaftsbetrieb,  den 
sie  für  den  eigenen  Bedarf  auch  in  der 
Stadt  beibehalten  hatten,  aufgaben  und  zu 
reinen  Gewerbetreibenden  wurden.  Daher 
die  damals  schon  sehr  häufige  Verbindung 
zweier  verschiedener  Borufsarten ,  eines 
zünftigen  und  eines  nichtzünftigen  Gewerbes 
oder  des  Gewerbes  mit  städtischem  Dienst 
oder  sonstiger  Ijohnarbeit.  Daher  auch  che 
allmählich  aufkommende  Sitte,  mit  dem 
Handwerksbetriebe  einen  kleinen  Kramladen 
zum  eigenen  Produkt  passender  Artikel  zu 
verbinden  und  die  daraus  hervorgegangene 
Einreihung  zahlreicher  kleiner  Handwerke 
in  die  Krämerzunft.  In  der  ülmer  Krämer- 
zunft befanden  sich  schliesslich:  die  Säck- 
ler, Taschenmacher,  Weissgerber,  Hand- 
schuhmacher, Sattler,  Spengler,  Nadler, 
Seiler,  Bürstenmacher,  Glaser,  Würfelmacher, 
Pergamenter ,  Spindeldreher ,  Weinzieher, 
Tüncher,  Pfästerer,  Maler  und  Bildschnitzer ; 
in  Basel  wurden  im  15.  Jahrhundert  nicht 
weniger  als  22  eigentliche  Handwerke  zur 
Kramerei  gerechnet,  meist  spät  entstandene. 

16.  Das  Wandergeweini)e.  Wir  müssen 
hier  den  Faden  unserer  Untersuchung:  einen 
Angenblick  abbrechen,  um  kurz  bei  emer  ge- 
werblichen Betriebsform  zu  verweilen,  deren 
entwickelungsgeachichtliche  Bedeutung  für  die 
westeuropäischen  Länder  sich  mehr  ahnen  als 
feststellen  lässt.  Morphologisch  steht  das  Wander- 
gewerbe zwischen  Haus-  und  Lohnwerk,  und  so 
steUt  sich  uns  dasselbe  auch  in  den  slawischen 
Ländern  allgemein  dar.  Bei  geringem  und  un- 
regelmässigem Bedarf  an  Handwerksarbeit  er- 
scheint es  natürlich,  dass  der  Gewerbetreibende 
von  Ort  zu  Ort  zieht,  und  so  wäre  das  Wander- 
gewerbe in  gleicher  Weise  ein  Vorläufer  des 
stehenden  Gewerbebetriebes,  wie  der  Hausier- 


378 


Gewerbe 


handel  ein  Vorläufer  des  stehenden  Handels  ist. 
Der  Wandergewerbetreibende  gliedert  sich  ent- 
weder zeitweise  dem  fremden  Hanse  ein,  in  dem 
er  Arbeit  findet,  oder  er  schlägt  im  Freien  seifte 
unstete  Werkstätte  auf  oder  er  mietet  sich  für 
kurze  Zeit  ein  notdürftiges  Betriebslokal.  Fast 
immer  ist  er  Lohn  werker;  nur  wo  er  mit  ganz 
billigem  Material  arbeitet  (Siebmacher,  Korb- 
flechter, Drahtbinder),  nimmt  sein  Betrieb  hand- 
werksartigen Charakter  an. 

Die  ^osse  Zahl  der  fahrenden  Leute,  über 
welche  die  mittelalterlichen  Quellen  berichten, 
lässt  vermuten,  dass  diese  Betriebsweise  auch 
in  Deutschland  einmal  einen  breiten  Boden  ge- 
habt hat,  und  es  ist  nicht  unmöglich,  dass  das 
später  auf  die  Handwerksgesellen  beschränkte 
Wandern  nur  ein  R«st  einer  ehemals  auch  all- 
gemein auf  die  „Meister"  sich  erstreckenden 
Gewohnheit  ist.  Wenn  dem  die  feststehenden 
Betriebsanlagen  zu  widersprechen  scheinen, 
welche  wir  bei  vielen  Gewerben  gewohnt  sind, 
so  ist  zu  beachten,  dass  diese  das  Ergebnis 
einer  langen  Entwickelung  sind  und  dass  noch 
heute  bei  niedrig  kultivierten  Völkern,  ja  selbst 
bei  den  Indem,  Chinesen  und  Japanern,  fast 
alle  berufsmässigen  Handw^erker  ihren  ganzen 
Werkzeugvorrat  bequem  auf  dem  Rücken  fort- 
tragen können.  Auch  die  StofPveredelung  der 
Nomaden  Völker,  namentlich  die  bei  den  meisten 
von  ihnen  sich  findende  Schmiedekunst,  sprechen 
für  die  leichte  Beweglichkeit  primitiver  In- 
dustrie. 

Fast  bei  allen  Völkern  gelten  die  Schmiede 
als  die  ersten  selbständigen  Handwerker.  Kaum 
minder  verbreitet  ist  die  Erscheinung,  dass  die- 
selben einem  anderen  Stamme  angehören  als 
demjenigen,  welcher  ihre  Dienste  in  Anspruch 
nimmt,  und  dass  sie  mit  dem  letzteren  kein 
connubium  haben.  Da  der  Schmied  auf  dieser 
Entwickelimgsstufe  auch  das  Eisen  aus  dem  Erz 

fewinnen  muss,  so  scheint  er  uns  mit  zwingen- 
er  Notwendigkeit  an  eine  feste  Betriebsstätte 
gebunden,  und  man  hat  daraufhin  die  Ver- 
mutung ausgesprochen,  dass  man  es  mit  Besten 
höher  kultivierter  Stämme  zu  thun  habe,  welche 
bei  der  Unterwerfung  eben  wegen  ihrer  nütz- 
lichen Kunst  verschont  geblieben  seien.  Allein 
noch  heute  wandern  die  Schmiede  in  manchen 
Teilen  Afrikas  und  ihre  primitive  Aufbereitung 
der  Erze  lässt  sich  überall  vornehmen,  wo  sich 
der  Raseneisenstein  findet.  Ja  auch  in  Griechen- 
land, Albanien.  Serbien  ziehen  die  Schmiede 
(meist  Zigeuner)  von  Ort  zu  Ort.  „An  gewissen 
allgemein  bekannten  Stationen  machen  sie  Halt, 
und  die  Bauern  aus  der  ganzen  Nachbarschaft 
bringen  herbei,  was  sie  gemacht  haben  wollen", 
wobei  sie  oft  noch  heute,  wie  schon  zu  Zeiten 
Homers  (II.  23,  834)  und  Hesiods  (op.  423  if.), 
das  Material  stellen.  Auch  in  Kurdistan  ziehen 
nach  einem  englischen  Consularberichte  die 
Schmiede,  obwohl  sie  einen  festen  Wohnsitz 
in  der  Stadt  haben,  während  der  guten  Jahres- 
zeit im  Lande  umher,  um  die  Bauern  an  Ort 
und  Stelle  zu  bedienen. 

Was  bei  den  Schmieden  möglich  ist,  wird 
auch  auf  die  meisten  anderen  Gewerbe  zutreffen. 
Burton  und  Speke  beobachteten  in  dem  ost- 
afrikanischen Negerreiche  Unyanyembe  zahlreiche 
„reisende  Handwerker,  die  übrigens  sämtlich 
Sklaven  sind.  Man  findet  Schmiede,  Kessel- 
macher,  Maurer.   Zimmerlente,    Töpfer,    Seiler, 


Schneider.  Die  meisten  kommen  mit  den  Kara- 
wanen von  der  Küste  herauf."  Aehnliches 
scheint  im  Sudan  und  in  Senegambien  vorzu- 
kommen. Bei  den  Joloffen  wandern  die  Schmiede ; 
die  Maurer  von  Goree  sind  an  der  ganzen  Küste 
berühmt  und  dehnen  ihre  Reisen  bis  Sierra- 
Leone  aus.  Ueberhaupt  lässt  sich  das  Wandern 
der  Bauhandwerker  weithin  verfolgen.  So 
haben  Scharen  italienischer,  besonders  lombar- 
discher Bauleute  seit  Karl  d.  Gr.  jahrhunderte- 
lang die  Länder  im  Norden  der  Al^en  besucht 
und  hier  zur  Verbreitung  des  romanischen  Bau- 
stiles beigetragen.  Im  17.  Jahrhundert  klagen 
in  der  Markgrafschaft  Baden  die  ansässigen 
Handwerker  über  die  Konkurrenz  der  „welschen 
Maurer",  und  in  neuester  Zeit  hal^n  diese 
Wanderungen  eine  ungeahnte  Ausdehnung  ge- 
wonnen. Fast  auf  der  ganzen  Balkanhalbinsel 
wird  das  Bauwesen  durch  Genossenschaften 
(Tscheta,  Dru&ina)  umherziehender  macedonischer 
und  albanischer  Handwerker  (Djulgeri)  besorgt, 
deren  Vorsteher  Majstor  heisseu.  Unter  ihnen 
sind  die  fleissigen  Leute  aus  den  Distrikten 
Dibbra  und  Konitza  besonders  gesucht. 

Ausserordentlich  entwickelt  ist  das  Wan- 
dergewerbe in  Russland.  Aus  manchen  Pro- 
vinzen (Wladimir,  Wjätka)  schwärmen  Tausende 
von  Zimmerleuten,  Schreineni,  Glasern  aus; 
seltener  sind  die  Maurer,  Töpfer,  Stuccatur- 
arbeiter  und  Steinmetzen.  Die  Zimmerlente 
wandern  und  arbeiten  in  ganzen  Artelen  und 
sind  Lohnwerker;  die  Glaser  halten  Gesellen 
und  liehrlinge,  die  sie  mit  dem  nötigen  Materiale 
aussenden,  wären  also  als  Handwerker  zu 
charakterisieren.  Meist-  treiben  die  Bauern 
eines  ganzen  Dorfes  oder  gar  eines  Bezirkes 
das  gleiche  Gewerbe  und  gehen  im  Sommer  auf 
Verdienst  aus,  während  Frauen,  Kinder  und 
Greise  das  Land  bestellen.  Aber  nicht  bloss 
die  „SaLsonge werbe"  der  Bauhandwerker,  son- 
dern auch  die  Bekleidungsg^ewerbe  (Schneider, 
Kürschner,  Schuster)  beteiligen  sich  am  Wan- 
derbetriebe, der  sie  oft  Hunderte  von  Werst 
weit  von  ihrer  Heimat  abführt.  Manche  nehmen 
Gesellen  mit  und  mieten  sich  dann  an  dem 
Orte,  wo  sie  auf  längere  Beschäftigung  rechnen 
können,  eine  Stube;  die  meisten  aber  gehen  zu 
den  Kunden  auf  die  Stör.  Endlich  wandern 
noch  die  Fassbinder  in  Russland,  und  sie  sollen 
dabei  selbst  noch  ihr  Material  (Dauben)  mit- 
führen. 

Von  dem  früheren  Wanderbetriebe  in  un- 
seren Gegenden  ist  ausser  den  Nachrichten  über 
die  Kessler  oder  Kaltschmiede,  die  es  zu  einer 
umfassenden  zünftigen  Organisation  gebracht 
hatten,  weni^  auf  uns  gekommen.  Ihre  Nach- 
folger sind  die  umherziehenden  Zinngiesser  und 
Kesselflicker,  die  neben  Korbflechtern,  Sieb- 
machern, Scherenschleifern  und  den  auf  Repa- 
raturen sich  beschränkenden  Glasern,  Uhr- 
machern, Hafenbiudem  die  Erinnerung  an  die 
Urform  des  selbständigen  Gewerbes  noch  eine 
Zeit  lang  wach  erhalten  werden. 

17.  Mannfaktureii  und  Fabriken. 
Handwerk  und  Städtewesen  bedingen  ein- 
ander. Darum  finden  wir  ein  auf  nationa- 
lem Boden  aufgeblühtes  Handwerk  nur  bei 
denjenigen  Völkern,  die  eine  städtische  Kul- 
tur gezeitigt  liaben:  in  Italien,  Franki^ich, 
Deutsclüand  und  England.    In  Spanien  ist 


Gewerbe 


379 


die  gleiche  Entwickelung  nicht  zur  Reife 
gelangt.  In  den  nordgermanischen  und 
slawischen  Ländern  ist  das  Handwerk  aus 
Deutschland  importiert  und  hat  hier  nur 
an  wenigen  Punkten  Wurzel  gefasst.  Die 
nationalen  Kleingewerbe  der  Skandinavier, 
Russen,  Südslawen,  Ungarn,  Rumänen  und. 
Griechen  haben  den  bäuerlichen  Charakter 
nie  verloren.  Nur  in  den  orientalischen 
Bazaiindustrieen  stoj^en  wir  noch  auf  eine 
unserem  Handwerke  halbwegs  entsprechende 
Erscheinung. 

Mit  der  Ausbildung  centralisierter  Staa- 
ten und  grosser  einheitlicher  Wirtschaftsge- 
biete im  16.  und  17.  Jahrhundert  kommen 
die  Existenzbedingungen  des  Handwerks 
ins  Wanken.  Die  inneren  Zollschranken 
werden  beseitigt;  der  enge  städtische  Markt 
erweitert  sich  zum  nationalen,  ja  durch  die 
Eröffnung  überseeischer  Absatzgebiete  zum 
internationalen.  Für  den  Vertrieb  der  Ge- 
werbeprodukte werden  nun  andere  Rück- 
sichten massgebend,  andere  Mittel  erforder- 
lich. Der  unmittelbare  Uebergang  derselben 
aus  der  ersten  in  die  letzte  Hand  ist  nicht 
femer  möglich ;  die  reine  Kundenproduktion 
hat  sich  überlebt.  An  Stelle  der  lokalen 
Arbeitsteilung  der  autonom  wirtschaftenden 
Stadtgebiete  tritt  eine  nationale  Arbeitstei- 
lung, welche  allen  Produktionszweigen  den- 
jenigen Standort  anzuweisen  strebt,  wo  die 
Bedingungen  für  ihr  Gedeihen  am  güns- 
tigsten sind.  Unter  diesen  Verliältnissen 
bildet  sich  im  17.  und  18.  Jahrhundert  ein 
neues  gewerbliches  Betriebssystem  aus,  das 
die  Zeitgenossen  als  Manufaktur  oder 
Fabrik  bezeichnen. 

Willkürliche  Begriffsspalterei  hat  in  neuerer 
Zeit  diesen  Ausdrücken  verschiedenen  Sinn  nnter- 

felegt.  Der  amtliche  Sprachgebraach  des  vorigen 
ahrnunderts  weiss  von  einem  solchen  Unter- 
schiede nichts;  er  bedient  sich  gewöhnlich  der 
Mehrzahl:  „Mannfakturen  und  Fabriken ''.  Ein- 
zelne Gelehrte  suchten  schon  damals  nach  einer 
Unterscheidung;  sie  wollten  als  Fabriken  die- 
jenigen Betriebe  bezeichnen,  bei  welchen  Feuer 
und  Hammer  angewendet  würden,  als  Manu- 
fakturen diejenk^en,  bei  welchen  die  Arbeiten 
„bloss  mit  der  Hand  ohne  Feuer  und  Hammer'' 
geschehen.  Darüber  aber  war  man  allgemein 
einig,  dass  es  sich  um  eine  neue,  im  Gegensatz 
zum  zünftigen  Handwerk  sich  ausbildende  Art 
des  Gewerbebetriebes  handle. 

Die  charakteristischen  Eigentümhchkeiten, 
die  das  nene  Betriebssystem  in  den  Augen  der 
Zeitgenossen  kennzeichneten,  sind  von  S.  F. 
Hermbstädt,  Gmndriss  der  Technologie, 
Berlin  181^  folgendermassen  zusammeugefasst 
worden:  „Fabriken  und  Manufakturen  werden 
die  grCisseren  Gewerbsanstalten  oder  Kunstge- 
werbsinstitute  genannt,  welche  von  den  ge- 
wöhnlichen Handwerken  dadurch  unterschieden 
sind: 

1)  dass  sie  ihre  Fabrikate  nur  im  grossen 
anfertigen ; 

2)  dass  ihre  Produkte,  bevor  sie  ihre  Voll- 


endung erreicht  haben,  durch  die  Hände  ver- 
schiedener Arbeiter  gehen ,  von  denen  jeder 
einzelne  nur  einen  Teil  der  dazu  bestimmten 
Bearbeitung  verstehet; 

o)  dass  ihre  Unternehmer  keiner  Zunft  oder 
Innung  verpflichtet  sind; 

4)  dass  sie  eine  nicht  beschränkte  Anzahl 
Arbeiter  beschäftigen; 

5)  dass  bei  ihnen  weder  eine  Aufdingnng, 
noch  Wanderung,  noch  Lossprechung,  noch 
die  Anfertigung  eines  Meisterstückes  erforderlich 
sind." 

Sehen  wir  hier  von  den  bloss  auf  die  Ge- 
werbeverfassun^  bezüglichen  Punkten  ab,  so 
unterscheiden  sich  Mannfakturen  und  Fabriken 
nur  in  zwei  Punkten  vom  Handwerk:  Pro- 
duktion im  Grossen  und  Arbeitsteilung 
im  Innern  der  Unternehmung.  Produktion 
im  Grossen  bedingt  einen  weiteren  Absatz;  der 
Produzent  kann  nicht  mehr  direkt  mit  dem 
Konsumenten  verkehren.  War  das  Handwerk 
mehr  übemehmungsweise  als  unternehmunffs- 
weise  betrieben  worden,  so  entsteht  jetzt  aie 
reine  gewerbliche  Unternehmung  für  einen  nur 
indirekt  erreichbaren  Konsumentenkreis  und 
damit  notwendig  eine  kommerzielle  Behandlung 
des  Absatzes.  Der  Anstoss  zur  Produktion  geht 
nicht  mehr  vom  Konsumenten,  sondern  vom 
spekulierenden  Produzenten  oder  Händler  aus. 
Das  ist  das  eine.  Das  andere  ist  die  neue  Art 
der  Arbeitsteilung. 

Dass  ein  Produkt,  „bevor  es  seine  Voll- 
endung erreicht,  durch  die  Hände  verschiedener 
Arbeiter  ging",  war  auch  vorher  keine  unge- 
wöhnliche Erscheinung.  Um  einen  Glasschrank 
anfertigen  zu  lassen,  bedurfte  man  des  Schreiners, 
des  Schlossers,  des  Glasers,  des  Lackierers  und 
vielleicht  auch  noch  des  Drechslers.  Aber  zur 
Zeit  des  Lohn-  und  Handwerks  waren  diese 
verschiedenenTeilproduzenten  zusammengehalten 
durch  den  Konsumenten,  der  den  Lauf  der  Pro- 
duktion dirigierte.  Sie  hatten  darum  selbstän- 
dige, von  einander  unabhängige  Betriebe.  Das 
zeitweise  Verhältnis  zu  ihrem  Auftraggeber 
löste  sich  wieder,  sobald  sein  Bedarf  befriedigt 
war.  Sie  standen  zu  ihm  nicht  in  persönlicher 
Unterordnung.  '  Jetzt  ändert  sich  das  insofern, 
als  die  verschiedenen  Arbeiter,  deren  Hände 
ein  Manufaktur-  oder  Fabrikprodukt  bis  zu 
seiner  Vollendung  durchläuft,  zusammengehalten 
werden  durch  einen  kaufmännischen  Unternehmer. 
Ihr  Verhältnis  zu  dem  letzteren  ist  ein  bald 
mehr  bald  weniger  dauerndes  Vertragsverhält- 
nis, und  ihre  Abhängigkeit  von  ihm  wird  um 
so  grösser,  sie  wird  um  so  mehr  zu  einem  Ver- 
hältnis persönlicher  Unterordnung,  je  ausschliess- 
licher der  Unternehmer  in  den  Besitz  der  Pro- 
duktionsmittel kommt.  Und  in  demselben  Masse 
vermindern  sich  für  den  einzelnen  die  Aussichten, 
zu  einem  eigenen  selbständigen  Betriebe  zu  ge- 
langen. Die  neue  Art  der  Arbeitsteilung,  wel- 
che die  Manufakturen  und  Fabriken  einführen, 
bedingt  einen  dauernden  Lohnarbeiterstand, 
während  die  Arbeitsteilung  im  Handwerk,  wel- 
che oben  als  Bernfsspaltung  bezeichnet  worden 
ist,  die  entgegengesetzte  Wirkung  hatte:  sie 
vermehrte  die  Zahl  der  selbständigen  Existenzen. 
Wir  wollen  die  neue  Arbeitsteilung  Arbeits- 
zerlegung nennen,  was  sich  dadurch  recht- 
fertigt, dass  der  Unternehmer  lediglich  nach 
technischen  Bücksichten  des  Betriebes  die  ein- 


380 


Gewerbe 


zelnen  Manipulationen  der  Produktion  aus- 
einanderlegt und  sie  besonderen  Arbeitern 
anvertraut.  Der  einzelne  an  der  Herstellung 
eines  Manufakts  oder  Fabrikats  beteiligte  Ar- 
beiter rückt  um  so  weiter  von  dem  Konsu- 
menten seines  Produkts  ab,  je  näher  seine  Ar- 
beit den  Anfangsstadien  des  Produktionsprozesses 
liegt.  Darum  vollzieht  sich  der  Uebergang 
aus  der  alten  in  die  neue  Produktionsart  so 
häufig  in  der  Weise,  dass  der  Fertigmacher  zum 
Manufaktur-  oder  Fabrikunternehmer  wird, 
während  seine  Vordermänner  seine  Lohnarbeiter 
werden. 

Man  liebt  in  neuerer  Zeit  das  Auftreten 
der  Manufakturen  und  Fabriken  als  einen  Ein- 
bruch in  das  Produktionsgebiet  des  Handwerks 
darzusteUen.  Soweit  die  zünftigen  Handwerke 
in  Frage  kommen,  ist  das  unrichtig.  Diese  be- 
hielten ihre  seitherigen  ausschliessenden  Absatz- 
verhältnisse und  den  städtischen  Markt,  solange 
die  Zunftverfa&sung  unangetastet  blieb,  und  es 
ist  noch  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  die 
allgemeine  Ansicht^  dass  Handwerk  und  Manu- 
fakturen bei  richtiger  Polizei  einander  keine 
Konkurrenz  machen  können. 

So  wenig  die  Zeit,  welche  die  neue  ge- 
werbliche Produktionsweise  entstehen  sah, 
zwischen  Manufakturen  und  Fabriken  zu 
scheiden  wusste,  so  hat  man  doch  sehr 
bald  beobachtet,  dass  der  mit  diesen  Aus- 
drücken bezeichnete  Grossbetrieb  zwei  ver- 
schiedene Arten  der  Organisation  zuliess. 
J.  H.  G.  V.  Justi  kennzeichnet  sie  mit  den 
Worten,  der  Entrepreneur  könne  entweder 
eine  grosse  Menge  von  Arbeitern  imterhal- 
ten  oder  einzelne  Meister  verlegen.  Das 
ei-ste  ist  unser  Fabrik  betrieb,  das 
letzte  ist,  was  der  neuere  wissenschaftliche 
Sprachgebrauch  Hausindustrie  zu  nen- 
nen pflegt.  So  raisslich  es  sein  mag,  eine 
bereits  eingebürgeile  Bezeichnung  zu  ver- 
drängen, so  sind  die  Missverständnisse  und 
sonstigen  üebelslände,  welche  der  schiefe 
Ausdruck  im  Gefolge  gehabt  hat,  doch  zu 
gross,  als  dass  nicht  der  Vereuch  gemacht 
werden  düi'fte,  das  gut  deutsche  Verlag 
in  sein  historisches  Recht  wieder  einzu- 
setzen. 

18.  Das  Verlagssy Stern  ist  dieje- 
nige Art  des  gewerblichen  Be- 
triebs, bei  welcher  ein  Unterneh- 
mer regelmässig  eine  grösser£ 
Zahl  von  Arbeitern  ausserhalb 
seiner  eigenen  Betriebsstätte  in 
ihren  Wohnungen  beschäftigt.  Ver- 
legen ist  gleich beileutend  mit  vorlegen; 
Verlag  ist  Auslage,  Vorlage,  Vorschuss, 
Kapital;  Verleger  ist  derjenige,  welcher 
andei-en  das  Rohmaterial  oder  den  Preis 
ihrer  Produkte  so  lange  vorschiesst.  bis  sie 
an  den  Konsumouten  gelangt  sind.  Insofern 
dieser  letztere  allein  wahre  Zahlungsfähig- 
keit für  das  Produkt  besitzt,  ist  der  seit 
dem  15.  Jahrhundert  vorkommende  Gebmuch 
jener    Ausdrücke    auch    volkswirtschaftlich 


wohl  gerechtfertigt.  Als  Hausindustrie 
kann  logischer  Weise  nur  das  Arbeitsverhält- 
nis des  Verlagssystems  bezeichnet  werden. 
Die  Produktion  erfolgt  auf  Rechnung  des 
Verlegers ;  er  bringt  die  Produktionselemente 
zusammen,  weist  ihrer  Wirksamkeit  Mass 
und  Richtung  an;  er  besorgt  den  Absatz. 
Der  Verleger  ist  darum  allein  der  Unter- 
nehmer und  Arbeitgeber;  die  Hausindus- 
triellen sind  seine  Arbeiter  (Heimarbeiter). 
Allerdings  können  diese  Arbeiter  wirt- 
schaftlich in  verschiedenem  Masse  abhängig 
sein ;  das  Verhältnis  zwischen  beiden  Teilen 
kann  verschiedene  Rechtsformen  annehmen, 
und  man  kann  danach  drei  verschiedene 
Formen  des  Betriebs  unterscheiden: 

1.  Der  Hausarbeiter  beschafft  den  Roh- 
stoff selbst  und  besitzt  sein  eigenes  Werk- 
zeug. Er  produziert  entweder  auf  Bestel- 
lung und  nach  Mustern  des  Verlegers  gegen 
einen  im  voraus  vereinbarten  Dutzendpreis. 
Oder  er  stellt  die  Waren  auch  auf  Vorrat 
nach  bekannten  Typen  her,  um  sie  bald 
diesem  bald  jenem  Verleger  anzubieten. 
Der  Rohstoff  ist  entweder  ein  leicht  zu  be- 
schaffender Naturgegenstand  (Holz,  Stein, 
Thon)  oder  ein  Handelsartikel  des  Verlegei-s. 

2.  Der  Verleger  liefert  den  Hauptstoff; 
der  Hausarbeiter  hat  das  Werkzeug  und 
empfängt  Stücklohn. 

3.  Der  Verleger  liefert  nicht  bloss  den 
Rohstoff,  sondern  ist  auch  Eigentümer  des 
Hauptwerkzeuges  (Webstuhl,  Stickmascliine, 
Nähmaschine);  der  Hausarbeiter  zahlt  für 
letzteres  einen  Mietzins  und  w^ird  für  seine 
Arbeit  ebenfalls  nach  Stück  gelohnt. 

Im  ersteren  Falle  verkehren  Verleger 
und  HausindustrieUe  mit  einander  auf  dem 
Wege  des  Kauf-  oder  Werklieferungsvertrags ; 
im  zweiten  wird  in  der  Regel  einfacher 
Werkvertrag  vorliegen;  im  dritten  Arbeits- 
vertrag. Immer  aber  bleibt  dem  Haus- 
industriellen  ein  bis  zu  gewissem  Grade 
selbständiger  Betrieb  erliallen,  und  er  führt 
in  seiner  Produktion  innerhalb  der  Unter- 
nehmung des  Verlegers  eine  Art  Sonderda- 
sein. Der  Verlagsbetrieb  ist  sozusagen  ein 
fixleratives  Gebilde,  in  welchem  die  Funk- 
tionen zwischen  Hauptbetrieb  und  Gliedbe- 
trieben dergestalt  verteilt  sind,  dass  jener 
den  Absatz  besorgt  und  die  Produktion  ent- 
sprechend den  Marktverhältnissen  dirigiert, 
während  die  Ileimarbeiterbetriebe  auf  die 
Produktion  in  dem  von  der  Verlagsunter- 
nehmung gegebenen  Rahmen  beschränkt 
bleiben.  Jener  ist  der  herrschende,  diese 
sind  dienende  Betriebe;  mögen  sie  immer- 
hin unter  einander  im  Verhältnis  der  Ar- 
beitsteilung stehen,  dieses  Verhältnis  bedingt 
unter  ihnen  keine  Ueber-  und  Unterordnung, 
wie  in  der  Fabrik.  Die  Arbeitsteilung, 
welche  unter  den  Hausarbeitern  stattfindet, 
ist  bei  der  ei-sten  der  drei  oben  unterschie- 


Gewerbe 


381 


denen  Formen  gewöhnlich  Specialisatiooj 
bei  der  zweiten,  und  dritten  kann  sie  auch 
Arbeitszerlegiuig  sein. 

Vielfach  verbindet  sich  die  Hausindustrie 
mit  der  Landwirtschaft  oder  einem  anderen 
Gewerbe ;  oft  beschränkt  sie  sich  auf  Frauen, 
Kinder  und  Greise;  fast  immer  gestattet 
ihre  Ausübung  innerhalb  der  Wohnräume, 
alle  im  Haushalt  nicht  ganz  verwendbare 
Zeit  und  Kraft  dem  Industriebetriebe  dienst- 
bar zu  machen.  Alles  dies  setzt  voraus, 
dass  die  Technik  einfach  sei  und  keine  an- 
haltende üeberwachung  erfordere. 

Der  Verleger  ist  entweder  bloss  Händ- 
ler, sei  es  mit  fertigen  Produkten,  sei  es 
auch  mit  Rohstoffen  der  Hausindustrie,  oder 
er  betreibt  daneben  noch  ein  Fabrikgeschäft 
(Fabrikkaufmann)  in  verwandten  Artikeln. 
Der  Absatz  erfolgt  entweder  in  städtischen 
Magazinen,  die  der  Verleger  hält  (Klei- 
der, Schuhe,  Haushaltimgsgegenstände), 
durch  Stückverkauf,  oder  die  Ware  w^ird  im 
Grossen  an  auswärtige  Händler  abge- 
führt; oft  wird  sie  zum  Artikel  des  Welt- 
marktes. Hauptbedingung  dafür  ist,  dass 
sie  den  individuellen  Charakter,  der  ihr  ver- 
möge ihrer  Entstehung  in  vielen  kleinen 
Arbeiterbetrieben  anklebt,  abzustreifen  im 
Stande  ist,  dass  sie  Dutzendware  wird. 
Dies  wird  in  älterer  Zeit  durch  amtliche 
Warenschau ,  Stempelung ,  Gewerbei-egle- 
mente  erreicht;  später  dadiu-ch,  dass  der 
Verleger  den  Rohstoff  und  die  Arbeitsmo- 
delle liefert,  oft  auch  die  letzte  Zurüstung 
des  Produkts  in  einer  eigenen  Fergstube 
übernimmt. 

Sehr  oft  schieben  sich  zwischen  Verleger 
und  Hausarbeiter  besondere  Vermittler 
ein  (Aufseher,  Ferger,  Faktoren, 
Zwischenmeister),  die  bald  bloss  im 
festen  Lohnverhältnis  zum  Verleger  die  Ar- 
beit beaufsichtigen,  bald  auch  die  empfange- 
nen Aufträge  nach  eigenem  Ermessen  unter 
die  Heimarbeiter  verteilen,  die  fertigen  Pro- 
dukte einsammeln  und  prüfen  sowie  den 
Lohn  auszahlen,  wofür  sie  Tantiemen  nach 
der  Menge  der  hergestellten  Waren  oder 
dem  ausgezahlten  Lohnbetrag  empfangen, 
bald  sogar  als  »Zwischenverleger«  Heim- 
arbeiter auf  eigene  Rechnung  beschäftigen, 
indem  sie  ihren  Gewinn  aus  der  Differenz 
der  Löhne  ziehen,  die  sie  mit  den  Haupt- 
verl^em  und  den  von  ihnen  beschäftigten 
Arbeitern  vereinbaren.  Nicht  selten  handeln 
diese  Vermittler  zugleich  mit  den  in  der 
betreffenden  Verlagsindustrie  gebrauchten 
Roh-  und  Hilfsstoffen,  oder  sie  treiben 
Spezereihandel,  Gastwirtschaft  und  dergl.; 
manchmal  beschäftigen  sie  sogar  in  einem 
eigenen  Betriebslokal  Lohnarbeiter.  Dadurch 
kann  die  Betriebsorganisation  des  Verlags 
sich  sehr  verwickelt  gestalten. 

Der    wichtigste    unterschied     zw^ischen 


Handwerk  und  Verlagssystem  liegt  nicht 
sowohl  dai'in,  dass  ein  kaufmännischer  Un- 
ternehmer den  Produktionsprozess  in  zahl- 
reichen kleinen  Werkstätten  beherrscht ; 
äusserüch  ist  der  Betrieb  des  Hausarbeiters 
ja  oft  vom  analogen  Handwerksbetriebe  gai* 
nicht  zu  imtei-scheiden.  Er  lie^  vielmehr 
daidn,  dass  das  Produkt,  ehe  es  in  die  Hand 
des  Konsumenten  gelangt,  noch  ein-  oder 
mehrmal  (je  nach  Zahl  der  eingeschobenen 
kommerziellen  Mittelglieder:  Ferger,  Ver- 
leger, Grosshändler,  Kleinhändler)  Waren- 
kapital wird,  d.  h.  Erwerbsmittel  für  eine 
oder  mehrere  nicht  an  der  Produktion,  son- 
dern an  der  Cirkulation  beteiligte  Personen. 
Aus  dem  Cirkulationsprozess  des  fertigen 
Produktes  leiten  sich  die  Eigentümlichkeiten 
ab,  welche  die  Hausindustrie  so  unvorteil- 
haft \fcr  dem  Handwerk  auszeichnen:  die 
stossweise  Ueberspannung  der  Produktion, 
die  schweren  Krisen,  das  Trucksystem,  die 
Abrechnungsmissbräuche,  die  niederen  Ar- 
beitslöhne, die  ungeregelte  Arbeitszeit,  die 
Frauen-  und  Kinderarbeit,  die  wucherischen 
Schuldverhältnisse,  die  ganze  soziale  Hoff- 
nungslosigkeit der  Lage  ihrer  Arbeiter. 

19.  Die  Entstehung  des  Verlagssys- 
tems.  Wie  das  Verlagssystem  sich  gebildet 
und  entwickelt  hat,  lässt  sich  noch  ziem- 
lich gut  überschauen.  In  den  Seestädten 
kommt  es  schon  im  Mittelalter  häufiger  vor, 
dass  Kaufleute  durch  Lohnwerker  Waren 
zum  Export  anfertigen  oder  veredeln  lassen. 
Sobald  diese  Beschäftigung  regelmässiger 
wurde,  waren  die  Voraussetzungen  des  Ver- 
lagssystems gegeben.  In  den  Binnenstädten 
entwickelte  sich  ein  ähnliches  Verhältnis 
aus  der  zu  weit  getriebenen  Specialisierung 
der  Handwerke  und  der  Organisation  des 
Messhandels.  Durch  die  Berufsspaltung 
waren  Gewerbezweige  entstanden,  w^elche 
auf  dem  lokalen  M«Äte  nicht  Absatz  genug 
fanden.  Soweit  Nebenberufe  und  Kram- 
handel  (§  15)  nicht  Aushilfe  boten,  half 
man  sich  zuwächst  dadurch,  dass  man  ent- 
ferntere Messen  bezog  und  dort  mit  einem 
weiteren  Konsumentenkreise  in  Verbindung 
zu  treten  suchte.  Oft  fehlten  dazu  dem 
kleinen  Manne  die  nötigen  Mittel;  sein 
Warenvorrat  war  zu  gering;  der  Gewinn 
vergütete  nicht  die  Reisekosten  und  Zeit- 
versäumnis. Er  stellte  sich  besser,  wenn 
er  einem  Kaufmanne  oder  wohlhabenden 
Handwerksgenossen,  der  ohnehin  die  Messe 
besuchte,  den  Verkauf  seiner  Produkte  gegen 
Provision  übertrug.  Der  Beauftragte  fand 
das  Geschäft  lohnend;  er  lernte  Wünsche 
und  Ansprüche  der  fremden  Käufer  genauer 
kennen,  und  bald  ergab  es  sich  von  selbst, 
dass  er  bei  dem  kleinen  Handwerksspecia- 
listen  Bestellungen  machte.  Blieb  das  Ge- 
schäft lohnend,  so  schloss  er  mit  mehreren 
Meistern  Lief erungs vertrage  ab,  vereinigte 


382 


Gewerbe 


verwandte  Produkte  zu  Kollektionen,  schoss 
den  kleinen  Gewerbetreibenden  das  Betriebs- 
kapital vor  oder  lieferte  ihnen  den  ßohstoff. 
Es  bildete  sich  so  ein  Abhängigkeitsver- 
hältnis zwischen  Kaufmann  und  Handwerker, 
wie  wir  es  schon  ira  15.  Jahrhundert  aus 
Ott  Eulands  Handlungsbuch  für  die 
Tafel-  und  Paternostermacher  kennen  lernen. 
You  da  ab  finden  wir  häufiger  den  Unter- 
schied gemacht  zwischen  Handwerkern, 
welche  »sich  verlegen  lassen«  und  solchen, 
die  »selbst  Yerlag  haben«. 

Eine  Zeit  lang  arbeitet  der  Handwerker, 
der  sich  so  verlegen  lässt,  noch  für  seine 
alten  Kunden  in  der  Stadt  und  Umgegend 
weiter,  da  diese  ihn  besser  bezahlen  als  der 
Yerleger,  der  selbst  seinen  Gewinn  machen 
will.  Allmählich  giebt  er  den  Stückverkauf 
vollständig  auf  und  wird  zum  blossen  Ar- 
beiter im  Dienste  des  Yerlegers.  Ist  der 
letztere  ein  ehemaliger  Handwerksgenosse, 
so  behält  er  sich  wohl  auch  die  letzte 
Appretur  der  Ware  für  den  auswärtigen 
Markt,  das  Fertigen  oder  Fertigmachen  vor. 
Da  der  Yerleger  seine  Hauptkraft  dem  Yer- 
trieb  der  Ware  zuwendet,  so  gehngt  es  ihm 
bald,  sein  Absatzgebiet  zu  erweitern.  Immer 
mehr  kleine  Gewerbetreibende  treten  in 
seine  Dienste;  der  jugendliche  Nachwuchs 
weiss  es  schon  gar  nicht  mehr  anders,  als 
dass  er  ihr  einziger  »Arbeitgeber«  ist. 

Am  leichtesten  vollzieht  sich  der  Ueber- 

fang  zum  Yerlagssystem  in  früheren 
johnge werben,  wo  der  eine  Yerleger 
an  Stelle  der  vielen  Privatkunden  tritt,  ohne 
dass  eine  wesentliche  Umgestaltung  der  Be- 
triebsweise nötig  würde.  Langsamer  ge- 
staltet sich  die  Entwickelung  bei  ausgebil- 
deten Handwerken,  bei  denen  der  Meis- 
ter den  Stoff  darzuthun  gewohnt  war. 
Allein  es  ist  für  das  System  nicht  wesent- 
lich, dass  der  Yerleger  das  Material  liefert ; 
ja  in  den  meisten  Fällen  ist  es  für  ihn  von 
Yorteil,  wenn  er  diesen  Teil  des  Geschäftes 
dem  Hausarbeiter  überlässt,  da*  er  so  gegen 
Unterschlagung  geschützt  ist.  Daher  die 
garnicht  seltene  Erscheinung,  dass  der  Yer- 
leger im  Grossen  den  Stoff  ankauft,  um  ihn 
je  nach  Bedarf  wieder  an  die  kleinen 
»Meister«  zu  verkaufen,  ihnen  das  Produkt 
gegen  Dutzendpreise  wieder  abzunehmen 
und  so  doppelten  Handelsgewinn  zu  ernten. 
Gewöhnlich  sind  es  kleine  Handwerke,  die 
nie  eine  rechte  Zunft  gebildet  hatten, 
welche  dem  Yerlagssystem  anheimfallen: 
die  Nadler,  die  Nagel-,  Messer-  und  Scheren- 
schmiede, die  Strumpfwirker,  Bändelmacher, 
Knopf  machor,  Drechsler ,  Büi-stenmachcr, 
Handschuhmacher  etc.  Yielfach  geht  nicht 
das  ganze  Handwerk  in  das  Yerlagssystem 
über,  sondern  nur  die  Anfertigung  eines 
besonders  gangbaren  Artikels:  von  der 
Sattlerei  z.  ß.  die  Kiemen-  und  Peitschen- 


febrikation,  von  der  Drechslerei  die  Her- 
stellung von  Knöpfen  oder  Stöcken  oder 
Pfeifen,  von  der  Schlosserei  oder  Klein- 
schmiederei  die  Anfertigung  von  Hänge- 
sclilössern,  Bohrern,  Hobeleisen,  Meissein, 
Sägen,  Sensen,  Sicheln,  von  der  Schuh-  . 
macherei  die  Pantoffel-  und  Zeugschuh- 
fabrikation. Hie  und  da  giebt  ein  neu 
aufgekommenes  Produkt  oder  ein 
neuer  Eohstoff,  dessen  Zugehörigkeit  zu 
einer  der  alten  Zünfte  zweifelhaft  erscheint, 
den  Anlass  zur  Entstehung  eines  Yerlags 
und  einer  von  ihm  abhängigen  »Hausindus- 
trie«. So  entsteht  die  hausindustrieUe 
Barchentweberei  neben  der  Woll-  und 
Leinenweberei,  die  Metallschlägerei  neben 
der  Goldschlägerei,  die  Portefeuillefabrika- 
tion neben  der  Buchbinderei,  die  Geigen- 
macherei  und  zahlreiche  andere  Specialitäten 
der  Instrumentenmacherei.  Das  städtische 
Handelskapital  bemächtigt  sich  des  neuen 
Artikels  und  behauptet  ihn  im  Kampfe  mit 
den  verwandten  Zünften,  welche  Anspruch 
darauf  erheben,  wobei  die  durch  die  seit- 
herige Produktions-  und  Absatzweise  be- 
dingte Abgrenzung  der  Gewerbegebiete  den 
Zünften  zum  Fallstrick  wird.  Immerhin 
hat  dife  Zunftverfassung  noch  Kraft  genug, 
die  auf  diese  Weise  neu  entstehenden  Ge- 
werbezweige formell  sich  zu  unterwerfen; 
die  Heimarbeiter  nennen  sich  Meister;  sie 
halten  Lehrlinge  und  Gesellen;  sie  wachen 
über  ihre  »Gewerbegerechtsame«  ebenso 
eifrig  und  engherzig  wie  die  alten  Kunden - 
handwerke. 

Bei  einer  vierten  —  vielleicht  der  be- 
deutendsten —  Gruppe  seiner  Fabrikations- 
zweige knüpft  das  Yerlagssystem  an  das 
uralte  bäuerliche  Hauswerk  an.  Wir 
wissen  bereits,  dass  dieses  auf  der  zweiten 
Stufe  seiner  Entwickelung  zu  einer  einsei- 
tigen Ueberschussproduktion  wird,  indem 
Rohstoffe,  welche  in  der  eigenen  Landwirt- 
schaft erzeugt  oder  als  freie  Güter  der 
Allmende  entnommen  werden  können,  für 
den  Tauschverkehr  umgeformt  wenden.  Wir 
haben  auch  bereits  die  Ansätze  einer  eigenen 
Organisation  des  Absatzes  für  diese  Produkte 
(Besuch  der  Wochenmärkte,  Hausierer,  Auf- 
käufer) kennen  gelernt.  Hier  bedarf  es  nur 
des  Hinzutritts  eines  kaufntännischen  Unter- 
nehmers, der  die  seitherigen  Aufkäufer  oder 
Hausierer  als  Mittelspei-sonen  (Faktoren, 
Ferger,  Agenten)  in  seine  Dienste  nehmen 
mag,  und  das  Yerlagssystem  ist  fertig.  Die 
Zersplittening  des  Grundbesitzes  in  der 
Ebene,  die  allgemeinen  Schwierigkeiten  der 
Erwerbsverhältnisse  in  Gebirgs^genden, 
niedrige  Arbeitslöhne  befördern  diese  Ent- 
wickelung. Beabsichtigte  das  Haus  werk 
zweiter  Stufe  bloss  eine  Zuschussproduktiou, 
um  das  magere  Eilrägnis  der  Landwirt- 
schaf t    aufzubessern ,   so  "wird  die  Hausin- 


Grewerbe 


383 


(liistrie  bald  ein  unentbehrlicher  Nebenbe- 
trieb; schliesslich  tritt  die  Landwirtschaft 
immer  mehr  zurück  und  wird  selbst  zum 
Xebenbetrieb ;  die  Existenz  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  ganzer  Dörfer,  ganzer  Thäler 
hängt  fast  ausschliesslich  von  der  Industrie 
ab.  Es  ist  natürlich,  dass  die  alte  umfäng- 
liche häusliche  Technik  einer  sehr  vielsei- 
tigen Anwendung  fähig  ist  und  dass  sie  sich 
im  weiteren  Verlaufe  der  Entwickelung, 
entsprechend  den  Anforderungen  des  Mark- 
tes, spedalisiert.  Weder  Bauer  mancher- 
lei Hausgerät  aus  Holz  zu  fertigen  gewohnt 
war,  da  wird  er  auch  leicht  zum  hausin- 
dustriellen Kubier,  Holzschuhmacher,  Schach- 
telmacher, Tierschnitzer,  Korb-,  Spielwaren-, 
Wanduhr-,  Bürstenmacher,  Korkschneider 
etc.;  wo  die  Frauen  Flachs  oder  Wolle  zu 
spinnen,  zu  stricken,  Spitzen  zu  klöppeln, 
die  Männer  Leinwand  zu  weben  pflegten, 
da  findet  auch  die  Baumwollspinnerei,  die 
Wollen-  und  Baumwollweberei,  die  Plüsch- 
fabrikation, die  Teppichknüpf erei ,  Häkelei, 
Stickerei,  Posamenterei,  Handschuh-  und 
Pelznäherei  leicht  eine  Stätte.  Schliesslich 
reizt  das  Vorhandensein  unbeschäftigter 
Hände  auf  dem  Lande,  das  Vorkommen 
eines  industriell  verwertbaren  Rohstoffs 
(Schiefer,  Marmor,  Thonerde)  zur  Einfühnmg 
jeglichen  nur  irgend  passenden  Industrie- 
zweiges, und  wenn  im  Manufakturzeitalter 
die  Verleger  vielfach  auf  das  Land  gingen, 
um  den  städtischen  Zunftplackereion  auszu- 
weichen, so  ist  es  jetzt  vorzugsweise  der 
Umstand,  dass  der  Liandbewohuer  im  Be- 
sitze seines  ererbten  Häuschens  und  seiner 
wenigen  Aecker  seine  und  seiner  Ange- 
hörigen Arbeitskraft  unter  den  Selbstkosten 
der  Industrie  zur  Verfügung  stellt,  der  sie 
verlockt. 

Man  könnte  diejenigen  Zweige  der  Haus- 
industrie, welche  unmittelbar  aus  dem  Haus- 
werke hervorgegangen  sind  oder  an  dasselbe 
anknüpfen,  als  primäre,  diejenigen,  welche 
durch  die  Zwischenstufe  des  Handwerks 
hindurchgegangen  sind,  als  sekundäre 
Hausindusüieen  bezeichnen.  Die  letzteren 
sind  vorzugsweise  in  Deutschland,  England, 
Frankreich,  den  Niederlanden,  Spanien  und 
Italien  vertreten,  während  die  sogenannten 
^nationalen  Haustndustrieen«  der  ost-  imd 
nordeiux)päischen  Völker  entweder  die  Stufe 
des  Hauswerks  noch  gar  nicht  verlassen 
haben  oder  aber  den  primären  Hausindustrieen 
zuzurechnen  sind.  Dabei  ist  aber  nicht  zu 
übersehen,  dass  auch  in  den  westeuropäi- 
schen Ländern  unter  den  Verlagsindustrieen 
sich  zahlreiche  Beispiele  der  primären  Form 
finden.  Vielleicht  bilden  sie  sogai'  die 
Mehrzahl.  Der  Betrieb  der  Landwirtschaft 
neben  der  Fabrikation  ist  kein  untrügliches 
Zeichen  für  den  primäi'en  Charakter  einer 
Verlagsindustrie;  auch  ehemalige  städtische 


Handwerke  sind,  sobald  sie  dem  neuen  Be- 
triebssysteme anheimgefaUen  waren,  auf  das 
Land  übertragen  worden. 

Sozial  leitet  üch  die  Entstehung  eines 
Heimarbeiter-  oder  Hausindustriellenstandes 
aus  zwei  grossen  Quellen  ab:  den  untersten 
Schichtöü  des  städtischen  Handwerks  und 
dem  Kleinbauemstande.  Dagegen  lässt  sich 
bei  dem  Stande  der  Verleger  viel  weniger 
ein  einheitliches  Gepräge  beobachten;  ja 
vielfach  hat  er  sich  überhaupt  nicht  von  an- 
deren Berufsständen  abgeschieden.  Bald 
sind  es  städtische  Kapitalisten,  Kaufleute 
oder  die  wohlhabendsten  unter  den  beteilig- 
ten Handwerkern,  bald  Dorfkrämer,  Auf- 
käufer, Hausierer,  in  Russland  selbst  ge- 
wöhnliche Bauern,  die  sich  zu  einer  solchen 
Stellung  emporschwingen.  Natürlich  giebt 
es  zahlreiche  Zwischenstufen  zwischen  dem 
Handwerke  und  dem  Hauswerke  auf  der 
einen  und  dem  Verlagssysteme  auf  der 
anderen  Seite.  Für  vollständig  ausgebildet 
wird  das  letztere  nur  da  gelten  können,  wo 
der  Verlag  den  ganzen  kaufmännischen  Ver- 
trieb eines  Produktes  in  seine  Hand  gebracht 
hat  und  der  alleinige  Arbeitgeber  oder  Ab- 
nehmer einer  Gruppe  von  Heimarbeitern  ge- 
worden ist.  Dabei  ist  es  durchaus  nicht 
nötig,  dass  jeder  einzelne  der  letzteren  bloss 
zu  einem  Verleger  im  Arbeitsverhältnis 
stehe.  Vielmehr  sind  die  Fälle  ziemlich 
häufig,  dass  ein  Hausindustrieller  bald  die- 
sem, bald  jenem  Verleger  seine  Dienste 
widmet  oder  seine  fertige  Ware  anbietet 
oder  gleichzeitig  von  mehreren  Verlegern 
Bestßllimgen  hat.  Eine  ständige  Arbeiter- 
schaft hat  der  Verleger  dann  nur  in  dem 
Sinne,  wie  der  Gastwirt  oder  Spezereihänd- 
ler  eine  ständige  Kundschaft  hat. 

20.  Die  Fabrik.  Fabrik  ist  die- 
jenige Art  des  gewerblichen  Be- 
triebes,  bei  welcher  ein  Unter- 
nehmer regelmässig  eine  grössere 
Zahl  von  Arbeitern  ausserhalb 
ihr  er  Wohnung  in  eigener  Betriebs- 
stätte beschäftigt.  Verlag  ist  decen- 
tralisierter ,  Fabrik  centralisierter  Grossbe- 
trieb.  Beide  sind  kapitalistische  Betriebs- 
weisen: der  Verlag  kapitalistische  Gestal- 
tung des  Vertriebes,  die  Fabrik  kapitahs- 
tisclie  Durchdringung  des  Produktion  spro- 
zeSvses.  Jener  hat  fast  nur  Betriebskapi- 
tal; diese  ist  an  und  für  sich  eine  bedeu- 
tende Kapitalfixierung.  Einfachheit  der 
Technik,  rasche  Abwickelung  des  Herstel- 
hmgsverfahrens  sind  die  Lebensbedingungen 
der  Hausindustrie;  Kompliziertheit  des  ver- 
möge eines  umfänglichen  Apparates  von 
Produktionsmitteln  sich  vollziehenden  Ar- 
beitsprozesses, die  Notwendigkeil  einheit- 
licher Leitung  und  steter  Ueberwachung 
desselben  begründen  das  Dasein  der  Fabrik. 
Verlag  ist  die  kommerzielle  Zusammenfas- 


384 


Gewerbe 


sung  gleichartiger  Einzelkräfte;  Fabrik  ist 
die  technische  Zusammenfassung  und  Dis- 
ciplinierung  verschiedenartiger  Kräfte  für 
eine  einzige  gewerbliche  Produktionsaufgabe. 
Darum  dort  ein  verhältnismässig  grosses 
Mass  freier  Bewegung  für  den  einzelnen 
Arbeiter,  hier  die  Unterordnung  desselben 
unter  eine  straffe,  fast  militärische  Disciplin. 
Hausindustrie  ist  immer  Arbeitsteilung; 
Fabrik  ist  zunächst  bloss  Arbeitsgemein- 
schaft. Hausindustrie  ist  regelmässig  Mas- 
senproduktion,  Fabrik  ist  es  häufig,  aber 
nicht  notwendig.  Der  Verlag  ist  wesentlich 
Handelsunternehmung,  die  Fabrik  wesentlich 
Produktionsunternehmung. 

Ist  es  hauptsächlich  ein  volkswirtschaft- 
liches Moment,  welches  bestimmend  wird 
für  die  Entstehung  von  Yerla^industrieen, 
die  Erweiterung  des  Absatzgebietes,  so  sind 
es  vorzugsweise  technische  Umstände,  welche 
die  Beg^ndung  von  Fabriken  veranlassten. 
Zu  diesen  Umständen  gehört  aber  nicht,  wie 
oft  geglaubt  wird,  cüe  Verwendung  von 
Maschinen;  auch  nicht  die  Notwendigkeit 
grösserer  Kapitalfixienmg  an  und  für  sich. 
Sonst  hätte  schon  im  Mittelalter  der  Ge- 
brauch des  Wasserrades  zum  Mühlenbetriebe 
die  Mehlfabrikation  ins  Leben  rufen  müssen, 
was  bekannthch  nicht  der  Fall  war.  Es 
gehört  dazu  vielmelir  eine  solche  Gestaltung 
des  Produktionsprozesses,  dass  Arbeiter  von 
höherer  \md  niederer  Qualifikation,  Geistes- 
und Muskelkraft  in  gegenseitiger  Ueber-  imd 
Unterordnung  ständig  zusammenwirken  müs- 
sen, wenn  der  Produktionszweck  in  wirt- 
schaftlicher Weise  erreicht,  d.  h.  ein  Pro- 
dukt auf  den  Markt  gebracht  werden  soll, 
dessen  niedrigster  durch  die  Produktions- 
kosten gegebener  Tauschw^ert  seinem  allge- 
meinen Gebrauchswerte  noch  entspricht. 
Es  ist  danim  höchst  bezeichnend,  dass  so 
viele  der  im  17.  und  18.  Jahrhundert  ge- 
gründeten Fabriken  auf  Erzeugimg  von 
Gütern  des  Kulturbedarfes  und  vielfach  des 
Luxus  ausgingen,  nicht  auf  solche  des  Exis- 
tenzbedarfes:  feine  Wolltuche,  Sammt, 
Seiden-  und  Halbseidenwaren,  Bänder,  Tep- 
piche, Gobelins,  Tapeten,  Wachstuch,  Gold- 
imd  Silberdraht,  Papier,  Spiegelglas,  Porzel- 
lan, Stärke,  Tabak,  Cichorien,  Zucker,  Seife, 
Blaufarbe.  Man  beachte  dabei  die  Häufig- 
keit der  Surrogate  und  Imitationen!  Der 
Ersatz  eines  kostbaren  durch  einen  billigen 
Rohstoff,  die  blosse  Nachahmung  einer  kunst- 
vollen Technik,  beides  konnte  nur  den  Zweck 
verfolgen,  durch  geringe  Preise  den  Konsu- 
mentenkreis von  Artikeln  zu  erweitern, 
welche  vorher  bloss  den  reichsten  Klassen 
zugänglich  gewesen  waren.  Darin  liegt  die 
grosse  stimulierende  Macht  der  Fabrik,  dass 
sie  Waren,  deren  Grenznutzen  hoch  steht, 
weil  sie  von  vielen  begehrt,  aber  nur  weni- 
gen erreichbar  vsind,  in  die  Arm  weite  der 


grossen  Masse  herabrückt  und  deren  Lebens- 
haltung dadiu:t5h  bereichert. 

Während  das  Verlagssystem  davon  aus- 
geht, die  Nachfrage  grosser  Konsumtionsge- 
biete auf  einen  Punkt  zusammenzuleiten 
und  in  dem  Masse,  als  ihm  dies  gelingt,  den 
hausindustriellen  Kleinbetrieb  organisiert, 
geht  das  Fabriksystem  davon  aus,  durch 
wohlorganisierte  Grossproduktion  Massen 
von  neuen  gewerblichen  Erzeugnissen  biUig 
auf  den  Markt  zu  werfen,  den  latenten  Be- 
darf hervorzulocken,  .grössere  Nachfrage  erst 
zu  erwecken,  wo  solche  seither  nur  verein- 
zelt auftrat.  Der  Verlag  ist  an  sich  schon 
Absatzorganisatiou ;  die  Fabrik  als  blosse 
Produktionsanstalt  hat,  wo  sie  nicht  bereits 
einen  koncentrierten  Bedarf  vorfindet,  nach 
Roschers  treffendem  Ausdrucke  »die 
Bundesgenossenschaft  des  Krämers  nötig«. 
Doch  hat  sich  nach  dieser  Richtung  die 
Entwicklung  in  verschiedenen  Ländern  ver- 
schieden gestaltet.  In  England,  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika  und  Frank- 
reich, wo  fast  ausschliesslich  technisch  ge- 
bildete Personen  Unternelimer  von  Fabriken 
sind,  betrachtet  der  Geschäftsleiter  mit  der 
Produktion  seine  Aufgabe  als  erfüllt  und 
überlässt  die  Besorgimg  des  Absatzes  selb- 
ständig gestellten  Kommissionären  und  Agen- 
ten; in  Deutschland,  wo  die  Unternelmier 
in  erster  Linie  Kaufleute  sind,  wird  der 
produktiven  eine  kommerzielle  Organisation 
aufgesetzt.  Die  Fabrik  hält  selbst  einen 
Stab  von  Prokuristen,  Kommis,  Handlungs- 
reisenden, welche  in  der  Aufsuchung  des 
Absatzes  bis  zu  den  örtlichen  Kleinhändlern 
heruntersteigen,  stellenweise  sogar  bis  zu 
den  Konsumenten. 

üeberhaupt  muss  man  sich  vor  der  dujxsh 
die  meisten  Erörterungen  dieses  Gegenstan- 
des sich  hinziehenden  Meinung  hüten,  die 
Fabrik  arbeite  »auf  Vorrat«,  sie  »bringe 
Waren  hervor,  ohne  mit  den  Konsumen- 
te n  dii*ekt  Fühlung  zu  haben  und  ohne  zu 
wissen,  wo  sie  den  Absatz  endgiltig  finden 
werde«.  Eine  Kutschen-,  Dreschmaschinen-, 
Lokomotiven-,  Schienen-,  oder  Kanonenfabrik 
arbeitet  unmittelbar  für  den,  der  ihre  Pro- 
dukte zur  Verwendung  bringt,  wenn  diese 
Verwendung  auch  keine  persönliche  Bedürf- 
nisbefriedigung ist ;  viele  Fabriken  setzen  ihre 
Erzeugnisse  wieder  an  andere  Fabriken  in 
Gestalt  vor  Halbfabrikaten,  Hilfsstoffen,  Ma- 
schinen, Apparaten  oder  sonstigen  Pi-oduk- 
tionsmitteln  ab.  Bei  der  Ganzfabrikation 
erreicht  die  Fabrik,  sobald  es  sich  um  Mas- 
senprodukte handelt,  allerdings  gewöhnlich 
nicht  den  letzten  Verbraucher;  aber  sie 
weiss  doch  meist  selir  gut,  »wo  sie  den 
Absatz  endgiltig  finden  wird«.  Denn  sie 
liefert  auf  Bestellung  des  stehenden  Han- 
dels; sie  kennt  die  Stadt  oder  Gegend,  wo 
ihre  Erzeugnisse  in  den  Verschleiss  kommen 


Gewerbe 


385 


und  richtet  Ausstattung  und  Verpackung 
derselben  darnach  ein.  Auch  wo  es  sich 
um  überseeischen  Absatz  handelt  und  an 
den  Exporteur  in  der  Seestadt  oder  an  einen 
auswärtigen  Konsignatär  geliefert  wird, 
kann  das  Absatzgebiet  kaum  mit  Fug  als 
unbekannt  bezeichnet  werden.  »Auf  Vorrat« 
wird  überhaupt  nur  produziert,  weun  keine 
Bestellungen  vorliegen.  Hat  sonach  die 
Fabrik  auch  keine  »Privatkunden«,  so  hat 
sie  doch  ilire  ständigen  Abnehmer;  nur  sind 
diese  meist  Kaufleute. 

In  der  Gestaltung  der  Produktionsauf- 
gabe weicht  die  Fabrik  erheblich  vom  Hand- 
werk ab.  Das  umfassende  Arbeitsgebiet  des 
letzteren  ist  für  sie  ganz  ungeeignet.  Sie 
ergreift  danim  in  der  ersten  Penode  ihrer 
Entwickelung  einen  einzelnen  Produktions- 
abschnitt oder  ein  einzelnes  Produkt  (s.  u.), 
dessen  Herstellung  sie  durch  ein  vervoll- 
kommnetes technisches  Verfahren  wirtschaft- 
hcher  gestaltet.  Sie  ist  danach  ein  Ergebnis 
entweder  der  volkswirtschaftlichen  Produk- 
tionsteüung  oder  der  Specialisation.  Im 
letzteren  Falle  verschmilzt  die  Fabrik  nicht 
selten  verschiedene  Handwerke,  die  bis  da- 
hin bei  der  Erzeugung  eines  Produktes  zu- 
sammen wirkten,  zu  emem  einheitlichen  Be- 
triebe. Es  sei  auf  das  berühmte  Beispiel 
der  »Kutschenmanufaktur«  verwiesen,  wel- 
ches K.  Marx  analysiert  hat,  ferner  auf 
Möbel-,  Koffer-,  Billard-,  Pianofortefabriken, 
Schiffbauanstalten  und  dergleichen.  In  bei- 
den Fällen  ist  das  Mittel,  das  die  Fabrik 
zur  zweckmässigeren  Einrichtung  des  Pro- 
duktionsprozesses anwendet,  die  Arbeits- 
zerlegung: Trennung  der  qualifizierten 
von  der  rohen  (»ungelernten«),  der  schweren 
von  der  leichten  Arbeit,  Auflösung  aller 
Arbeitsvorgänge  in  ihre  einfachsten  Ele- 
mente, welche  aus  Bewegungen  bestehen. 
Dadurch  gelangt  sie  zu  einem  System  auf- 
einanderfolgender Manipulationen  und  wird 
in  den  Stand  gesetzt,  Menschenkräfte  der 
verschiedensten  Art,  vom  Kind,  das  man 
eben  von  der  Strasse  genommen  hat,  bis 
zum  akademisch  gebildeten  Techniker  zu 
beschäftigen.  Während  das  Arbeitssystem 
des  Handwerks  darauf  beruht,  dass  eine  all- 
seitige technische  Beherrschung  eines  gan- 
zen Produktionsgebietes  durch  den  Arbeiter 
(gleiche  Qualifikation)  erzielt  wii'd  und  dai- 
au8  die  aufsteigende  Personengliederung: 
Lehrling,  Geselle,  Meister  hervorgeht,  kennt 
die  Fabrik  nur  verschieden  qualifizierte  Ar- 
beiterkategorieen,  aber  kein  Aufsteigen  von 
der  einen  zur  anderen.  Sie  hat  keine  Ar- 
beiter, welche  alle  Stufen  des  Produktions- 
prozesses manuell  und  geistig  beherrschen. 
Der  einzelne  Arbeiter  kann  darum  wohl  zum 
Vorarbeiter  oder  Aufseher  einer  Arbeiter- 
gruppe werden;  aber  der  üebergang  aus 
einer  Arbeiterkat^;orie  in  die  andere  würde 


gewöhnlich  nur  zu  seinem  eigenen  und  zum 
Schaden  der  Unternehmung  ausschlagen. 

Es  ist  ein  Irrtum,  wenn  vielfach  ange- 
nommen wird,  die  Fabrik  bedürfe  der  »ge- 
lernten Arbeit«  gar  nicht  Sie  bedarf  der- 
selben nur  nicht  überall  und  nicht  in  dem- 
selben Umfang  wie  das  Handwerk,  das  auch 
unqualifizierte  Arbeit  mit  qualifizierten 
Kräften  verricliten  muss.  Als  gegliedertes 
Zusammenwirken  vieler  sucht  sie  überall  die 
Arbeiterverwendung  entsprechend  der  ge- 
forderten Leistung  zu  gestalten.  Sie  scheut 
sich  darum  nicht,  neben  der  ungelernten 
Arbeit  der  einfachen  Fabriktagelöhner  und 
der  gelernten  Arbeit,  welche  in  der  Haupt- 
richtung ihrer  Produktion  liegt,  noch  Hilfs- 
arbeiter von  anderer  Berufsbildung  heran- 
zuziehen, die  sie  vielfach  dem  Handwerk 
entnimmt.  Sie  bildet  endlich  einen  ganz 
neuen  Stand  höherer  Betriebsbeamten,  teils 
von  technischer  oder  artistischer,  teüs  von 
kaufmännischer  Berufsbildung  aus.  Der 
Unternehmer  selbst  beteiligt  sich  an  der  aus- 
führenden Arbeit  meist  überhaupt  nicht 

Aehnlich  wie  die  Arbeitsverwendung  ge- 
staltet sich  die  Verwendung  der  sach- 
lichen Produktionsmittel  in  der 
Fabrik.  Werkzeuge,  Apparate  und  Maschinen 
werden  in  umfassendster  Weise  differenziert. 
Während  im  Handwerk  dasselbe  Werkzeug 
den  verschiedensten  Zwecken  dieaen  muss, 
finden  in  der  Fabrik  die  verschiedensten 
Konstniktionen  desselben  Geräts,  derselben 
Maschine  je  nach  der  Dimension  oder  Quali- 
tät der  zu  bearbeitenden  Werkstücke  Ver- 
wendung. Während  der  Handwerker  mit 
dem  Fortschreiten  des  Produkts  immer  wie- 
der das  Werkzeug  wechselt,  verharrt  der 
einzelne  Fabrikarbeiter  stets  an  der  gleichen 
Stelle  des  Herstellungsvorgangs  und  hat 
immer  das  gleiche  Werkzeug  in  der  Hand 
oder  steht  bei  derselben  Maschine,  weil 
immer  Massen  gleichartiger  Arbeit  "vorhan- 
den sind.  Dieser  Umstand  lohnt  wieder  die 
Einstellung  kostspieliger  mechanischer  Hilfs- 
mittel, die  um  so  billiger  arbeiten,  je  an- 
haltender sie  in  Anspruch  genommen  wer- 
den, je  grössere  Fabrikatmengen  ihnen  zu- 
geführt werden  können.  Wenn  schon  manche 
von  der  Hand  auszuführenden  Industriepro- 
zesse denselben  Produktionsaufwand  erfor- 
dern, einerlei,  ob  sie  an  wenigen  oder  an  vielen 
Objekten  zugleich  vorgenommen  werden  (z. 
B.  Schleifen,  Färben,  Trocknen),  so  ist  es 
geradezu  eine  EigentümUchkeit  vieler  Ma- 
schinen, dass  sie  wirtschaftlicher  Weise  nur 
verwendet  werden  können,  wenn  ein  grös- 
seres Quantum  Produkt  zugleich  hergestellt 
wird.  Bei  Erzeugung  nur  eines  oder  weni- 
ger Exemplare  würde  Handarbeit  billiger 
sein. 

Manche  neueren  Systematiker  wollen  in 
durchaus    unhistorischer  Ausdeutung   einer 


Handwörterbuch  der  Staatowiasenschaften.    Zweite  Auflage.    IV.  25 


386 


Gewerbe 


einmal  gegebenen  Benennung  diejenigen 
koncentrierten  Grossbetriebe  als  Manu- 
fakturen bezeichnen,  in  denen  bloss  Hand- 
arbeit verwendet  werde,  oder  gar  schon  die- 
jenigen, in  denen  »wesentliche  Teile  des 
rroduktiousprozesses  durch  Handarbeit  aus- 
geführt werden«.  Sie  lassen  dann  die  Fabrik 
erst  mit  der  reichlicheren  Verwendung 
von  Maschinen  beginnen.  Denn  das  kön- 
nen sie  doch  kaum  übersehen  haben,  dass, 
solange  es  eine  Grossindustrie  giebt,  Ar- 
beits- wie  Kraftmaschinen,  wo  nur  irgend 
zulässig,  zur  Anwendung  gelangt  sind,  nur 
dass  dieselben,  solange  sie  bloss  mit  Men- 
schen- oder  Tierkraft,  Wasser  oder  Wind 
bewegt  worden  sind,  ein  störendes  Element 
in  der  ganzen  Betriebsorganisation  werden 
mussten,  so  oft  jene  Kräfte  versagten.  Erst 
als  mit  der  Erfindung  der  Dampfmaschine 
eine  Triebkraft  gegeben  war,  welche  nie 
den  Dienst  weigerte  und  sich  überall  sowie 
in  jedem  Umfange  anwenden  Hess,  wimien 
die  Arbeits-  oder  Werkzeugmaschinen  ein 
wichtiges  organisatorisches  Element  für  den 
Fabrikbetrieb.  Nun  überstürzte  eine  Erfin- 
dung die  andere ;  aber  es  war  das  nur  des- 
halb möglich,  weil  die  Organisation  des 
älteren  koncentrierten  Grossbetriebs  durch 
fortgesetzte  Arbeitszerlegung  ihnen  den  Bo- 
den vorbereitet  hatte,  weil  an  vielen  Stellen 
des  Betriebs  die  Zurttckführung  der  Arbeit 
auf  einfache  Bewegungen  schon  vorher  ge- 
lungen war.  Die  Maschine  arbeitet  mit 
einer  der  Menschenhand  unerreichbaren 
Gleichmässigkeit,  Ausdauer  und  Baschheit; 
dies  machte  sie  für  die  auf  Versorgung 
weiter  Handelsgebiete  ausgehende  industrielle 
Warenproduktion  unschätzbar.  Sie  hat  dar- 
um in  kurzer  Zeit  die  innere  Organisation 
der  Fabrik  sich  unterworfen.  Während  sie 
ursprünglich  in  die  Arbeitsgliederung  der 
letzteren  niu*  da  eindrang,  wo  diese  geeig- 
nete Operationen  für  sie  bot,  hat  die  fort- 
gesetzte Vervollkommnung  des  meclianisch- 
technischen  Apparats  dahin  geführt,  dass 
der  lebendigen  Menschenkraft  auf  manchen 
Produktionsgebieten  nur  noch  die  Lücken 
auszufüllen  bleiben,  welche  der  künstliche 
Mechanismus  lässt.  Aber  die  Maschinen- 
verweiidung  ist  nicht  auf  die  Industrie  be- 
schränkt geblieben.  Gleichzeitig  ist  sie  auch 
auf  den  Gebieten  des  Transportwesens,  der 
Landwirtschaft,  des  Bergbaues  und  selbst 
des  gewölmlichen  Haushaltes  unaufhaltsam 
\'orgedrungen ;  sie  hat  sogar  im  Kleingewerbe 
sich  jeden  geeigneten  Arbeitsprozess  zu 
unterwerfen  gesucht,  und  da  sie  einen  sol- 
chen Prozess  fast  nie  ganz  übernimmt,  son- 
dern zu  ihrer  Ergänzung  zalilreicher  Men- 
schenhände bedarf,  so  hat  sie  hier  selbst 
wieder  Veranlassung  zur  Entstehung  neuer 
Fabrikindustricen  gegeben.  Man  wird  des- 
halb abschliessend  sagen  dürfen:  die  Ma- 


j 


schine  hat  die  Ausbreitung  des  Fabriksjstems 
gewaltig  gefördert,  aber  sie  hat  dieses  System 
nicht  geschaffen. 

21.  Einteilung  der  Fabriken;  ihr  Ver- 
hältnis zu  den  älteren  Betriebsformen. 
An  einer  wissenschaftlich  brauchbaren  Ein- 
teilung der  Fabriken  fehlt  es  noch.  Nach 
der  Natur  der  Fabrikate  kann  man  unter- 
scheiden :  1.  Fabriken,  welche  gebrauchs- 
fertige Waren  nach  Durchschnittstypen 
für  den  unmittelbaren  Konsum  erzeugen, 
2.  Fabriken,  welche  Produktionsmittel 
erzeugen,  die  in  anderen  Betrieben  zu  fer- 
nerer Produktion  dienen  und  zwar  a)  Halb- 
fabrikate, b)  Maschinen,  Geräte,  Werkzeuge, 
ganze  Fabrikeinrichtungen,  Verkehrsmittel; 
ö,  Fabriken,  welche  sich  mit  der  Verede- 
lung der  Erzeugnisse  anderer  Fabriken 
beschäftigen.  Zu  letzteren  gehören  Eattim- 
druckereien,  Bleichereien,  Färbereien,  Appre- 
turanstalten, Lohnwebereien,  Lohnschneide- 
reien (für  holzverarbeitende  Gewerbe).  In 
der  Regel  ^ht  bei  ihnen  das  Produkt  nicht 
in  das  Eigentum  des  Veredelungsunter- 
nehmers über  und  man  kann  danim  wohl 
im  Unterschiede  vom  Lohnwerk)  von  Lohn- 
abriken  sprechen. 

Ihrem  Ursprünge  nach  kann  man  die 
Fabrikindustricen  in  primäre  imd  sekun- 
däre einteilen.  Die  ersteren  sind  schon 
bei  ihrer  Entstehung  wegen  des  grossen  für 
ihi-en  Betrieb  nötigen  Kapitals  fabrikmässig 
organisiert  worden,  z.  B.  Glas-,  Papier-, 
Porzellan-,  Zucker-,  Stärke-,  Holzstoff-, 
Kautschuk- ,  Farben- ,  Maschinenfabriken. 
Viele  von  ihnen  verdanken  ihr  Dasein  Er- 
findungen der  Neuzeit  Sekundäre  Fabrik- 
industricen liegen  da  vor,  wo  die  Verdrän- 
gung eines  älteren  gewerblichen  Betriebs- 
systems stattgefunden  hat.  In  einer  gar 
nicht  kleinen  Zahl  von  Fällen  ist  dies  das 
Hauswerk,  z.  B.  Wollwäschereien  und  -Käm- 
mereien, Spinnereien,  Konserven-,  Nudel-, 
Zwiebackfabriken ;  in  anderen  das  Lohnwerk, 
z.  B.  bei  Dampf mühlen,  Färbereien,  Bau- 
fabrikeu;  wieder  in  anderen  das  Handwerk 
oder  das  Verlagssystem.  Das  Verhältnis 
des  Fabriksystems  zu  den  beiden  letztge- 
nannten Betriebsformen  bedarf  einer  aus- 
führlicheren Darstellung. 

Man  hat  oft  gesagt,  die  Fabrik  vernichte 
das  Handwerk,  und  noch  öfter  ist  das 
falsch  verstanden  worden.  Wie  wir  wissen, 
ist  durch  das  Aufkommen  der  Fabriken  vom 
16.  bis  zum  18.  Jahrhundert  dem  Handwerk 
höchstens  insofern  einiger  Abbruch  gesche- 
hen, als  es  gehindert  wurde,  neue  lohnende 
Artikel  in  sein  Produktionsgebiet  aufzuneh- 
men. Erst  später  greift  die  Fabrik  auch 
auf  die  alte  Domäne  des  Handwerks  über, 
nimmt  einzelne,  von  den  Meistern  viel- 
leicht wenig  beachtete  Artikel  heraus  und 
unterwirft  sie  einem  neuen,  sich  rasch  ver- 


Gewerbe 


387 


besserndeu  Herstellungsverfahren.  Dem 
Schlosser  wird  die  Herstellung  von  Thflr- 
und  Fensterbeselilägen  oder  Riegeln  oder 
Sehrauben,  dem  Zeugschraied  die  Anferti- 
gung von  Sägen,  Striegeln,  Ketten,  Gewich- 
ten, dem  Bürstenmacher  die  Erzeugimg  von 
Pinseln  oder  Zahnbürsten,  dem  Buchbinder 
<lie  Verfertigung  von  Geschäftsbüchern  oder 
Pappschachteln,  dem  Bäcker  die  Broterzeu- 
gung abgenommen.  Oft  wird  ein  Artikel,  des- 
sen Produktion  für  den  lokalen  Markt  vor- 
her nicht  ausgereicht  haben  würde,  einen 
einzigen  kleinen  Handwerksspecialisten  zu 
ernähren,  für  den  grossen  nationalen  oder 
Weltmarkt  produziert,  zur  Unterlage  eines 
Fabrikbetriebs,  der  Hunderte  von  Äbeitern 
beschäftigt.  Auf  diese  Weise  setzt  sich  die 
alte  Berufsspaltung  fort;  aber  sie  erzeugt 
auf  dem  Gebiete  der  reinen  Warenproduk- 
tion nicht  mehr  selbständige  Existenzen, 
sondern  vernichtet  sie. 

Noch  häufiger  und  meist  auch  früher 
zieht  die  Fabrik  die  Anfangs  Stadien  der 
Handwerksproduktion  an  sich.  Das 
Mittelalter  kennt  eigentlich  nur  Ganz- 
fabrikation, d.  h.  in  der  Regel  machte  der 
Rohstoff,  wie  er  vom  ürproduzenten  em- 
p^gen  war,  alle  Stadien  des  Produktions- 
prozesses in  einer  Werkstätte  durch.  Zur 
weiteren  Produktionsteilung  (§  15)  schritt 
man  meist  nur  da,  wo  ein  Halbfabrikat  zu- 
gleich von  mehreren  Handwerkern  weiter 
verarbeitet  und  nebenbei  noch  direkt  an 
Konsumenten  abgesetzt  zu  werden  pflegte, 
z.  B.  Leder,  Mehl,  Leinwand.  Da  gerade 
die  erste  rohe  Bearbeitung  eines  Stoffes  die 
grössten  Kraftleistungeü  beansprucht,  so  er- 
wies sich  die  Halbfabrikation  als  ein 
besonders  dankbares  Feld  der  mit  mächtigen 
Produktionsmitteln  ausgestatteten  fabrik- 
mässigen  Arbeitsgemeinschaft.  Man  denke 
an  die  Erzeugimg  von  Garnen,  rohen  Ge- 
weben, Filz,  Stab-,  Band-,  Fa<;'oneisen,  Stahl, 
Platten,  Blechen,  Rohren,  Draht,  Brettern, 
Latten,  Parketf ussboden ,  Fournieren,  Glas- 
tafeln, Leim,  Lack,  Farben  und  dergleichen. 
Es  folgt  dann  die  Einbeziehung  von  mancher- 
lei Hilfsmitteln  der  Produktion  in 
den  Fabrikbetrieb,  von  Werkzeugen,  Geräten, 
Maschinen,  Messinstrumeuten,  Armaturen, 
Treibriemen,  Packmaterial,  Etiketten,  Ge- 
fässeu.  Schmier-,  Dichtungs-,  Reinigungs- 
materialien, Schrauben,  Nägeln,  Beschläjgen, 
Zinkomameuten  etc.  Auf  tliese  Weise  büdet 
sich  eine  grosse  Zahl  von  Fabrikations- 
zweigen, die  halb  auf  der  Produktionsteilung, 
halb  auf  der  Berufsspaltung  beruhen  und 
die,  wenn  sie  auch  das  Endprodukt  des 
einzelnen  Handwerks  nicht  antasten,  doch 
sein  Arbeitsgebiet  fortwährend  einengen. 
Besonders  wichtig  ist  dabei  die  Einwirkung 
neuer  Rohstoffe  und  neuer  maschineller 
HersteUungsweisen.  Die  Drahtstiftfabrikation 


legt  den  grössten  Teil  der  Nagelsehmiederei 
Isdim;  das  Drahtseil  macht  dem  Hanfseil 
starke  Konkurrenz;  Neusilber  und  Alfenide 
schränken  den  Gebrauch  silberner,  zinnener, 
kupferner  und  messingener  Geräte  ein, 
Guttapercha  verdrängt  für  gewisse  Gebrauchs- 
zwecke das  Leder  und  die  Leinwand,  ge- 
gossene, gestanzte,  gedrückte  Metallartikel 
werden  statt  der  geschmiedeten  oder  von 
Hand  getriebenen  gebraucht.  So  geht  das 
Handwerk  zwar  niclit  zu  Grunde,  aber  es 
verarmt. 

Verhältnismässig  selten  sind  die  Fälle, 
in  welchen  die  Fabrik  aus  der  Zusammen- 
ziehung mehrerer  selbständiger 
Handwerke  in  einen  Betrieb  sich 
bildet.  Als  Beispiel  sei  die  Möbelfabrik  ge- 
nannt, welche  Tischler,  Holzschnitzer,  Drechs- 
ler, Polsterer,  Maler,  Lackierer,  jeden  für 
bestimmte  Teile  seines  Produktionsgebietes 
sich  eingliedert.  Ferner  gehören  dahin  Piano- 
fortefabriken, Wagenbauereien ,  Schiff-  und 
Maschinenbauanstalten ,  Lokomotiven-  und 
Waggonfabriken. 

Vollständig  vom  Fabrikbetrieb  aufgesogen 
sind  von  den  alten  Zunfthandwerken  nur 
die  BaumwoD Weberei  und  bis  auf  geringe 
Reste  auch  die  Wollen-  und  Leinenweberei ; 
von  später  aufgekommenen  die  Gewerbe  der 
Knojpfmacher,  Kammmacher,  Nadler,  Karten- 
macher, Schriftgiesser,  Strumpfwirker,  Zeug- 
schmiede und  ähnliche;  diu-ch  veränderte 
Geschmacksrichtung  verdrängt  die  Perücken- 
macher und  Pergamenter;  zu  Reparatur- 
handwerken herabgedrückt  die  ührmacherei 
und  Büchsenmacherei,  beinahe  auch  schon 
die  Böttcherei,  Messerschmiederei .  Hut- 
macherei;  fabrikähnhch  gewoi-den  die  Bier- 
brauereien ,  Seifensiedereien ,  Gerbereien, 
Buchdruckereien.  Die  gi-ossen,  wirtlich 
kräftigen  städtischen  Handwerke,  welche  am 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  vorhanden  waren, 
stehen  heute  nach  der  Zahl  der  Betriebe  und 
der  beschäftigten  Personen  in  keinem  un- 
günstigeren Verhältnis  zur  Bevölkerung  als 
damals.  Sie  haben  sich  nur  nicht  ent- 
sprechend der  Erweiterung  und  Bereicherung 
unseres  Bedürfniskreises  vermehrt  Manche 
von  ihnen  liaben  durch  Aufnahme  neuer 
Techniken  und  besserer  Werkzeuge  eine 
innere  Kräftigung  erfahren.  Es  kann  jedoch 
nicht  übersehen  werden,  dass  durch  die 
Verengerung  ihrer  Produktionsgebiete  und 
die  veränderten  Verkehrsverhältnisse  den 
meisten  die  Aufrechterhaltung  der  alten 
Kundenproduktion  erschwert  wird.  Der 
Handwerker  specialisiert  sich  für  einen 
engbegrenzten  Teil  seines  Produktionsge- 
bietes und  wird  nicht  bloss  für  den  Rest 
desselben,  sondern  auch  für  allerlei  ver- 
wandte Fabrikware  Kleinhändler  mit  stehen- 
dem Ladengeschäft,  oder  er  tritt  als  Liefer- 
meister in  die  E^ieutel  eines  grossen  ]Ma- 

25* 


888 


Gewerbe 


gazins.  Das  alte  Handwerk  mit  seinem  ge- 
schlossenen lokalen  Absatzgebiete  verschwin- 
det; es  wird  Kleingewerbe,  das  dem 
Druck  des  ganzen  nationalen  Marktes  aus- 
gesetzt ist,  ^'ielfach  nur  Reparatur-  und  Füll- 
arbeit zu  veirichten  hat,  aber  doch  im 
ganzen  gegen  die  Aermlichkeit  und  Stag- 
nation des  17.  und  18.  Jahrhunderts  durch 
Regsamkeit  und  Fortscliritt  vorteilhaft  ab- 
sticht. Dass  ganze  Kleingewerbe  durch  das 
Fabriksystem  bedroht  wären,  wie  die  Schuh- 
macherei durch  die  mechanischen  Schuh- 
fabriken, die  Schneiderei  durch  die  grossen 
Konfektions-  und  Massgeschäfte,  ist  verhält- 
nismässig selten.  Gewiss  wird  der  Gross- 
betrieb weitere  Fortschritte  machen;  Pro- 
duktions- und  Berufsteilung  werden  noch 
manche  Verschiebung  der  Produktionsgebiete 
herbeiführen;  es  geht  aber  viel  zu  weit, 
wenn  behauptet  wird,  dass  der  ganze  hand- 
werksmässige  Kleinbetrieb  unaufhaltsam  dem 
Untergang  zueile.  Namentlich  ist  zu  be- 
achten, dass  die  erwähnten  Erscheinungen 
der  Zersetzung  sich  nur  in  den  Grossstädten 
in  voUer  Stärke  bemerkHch  machen,  während 
auf  dem  Lande  das  Handwerk  seit  dem  Be- 
stehen der  Gewerbefreiheit  sich  mächtig 
ausgebreitet  hat  und  hier  auch  vielfach  noch 
die  Bedingungen  einer  gedeihlichen  Fort- 
existenz findet. 

Aehnliches  gilt  auch  von  dem  Verhält- 
nisse des  Verlagssystems  zur  Fabrik. 
Es  ist  masslose  Uebertreibung ,  wenn  man 
die  Hausindustrie  allgemein  als  Zwischen- 
stufe zwischen  Handwerk  und  Fabrik  auf- 
gefasst  und  von  einer  successiven  »Herab- 
drückung  der  Handwerksmeister  zu  Haus- 
industriellen« und  später  der  letzteren  zu 
Fabrikarbeitern  gesprochen  hat.  Für  eine 
solche  Konstniktion  der  Gewerbegeschichte 
kann  nur  das  eine  Beispiel  der  Textilindustrie, 
insbesondere  der  Baumwollspinnerei  und 
Weberei  angeführt  werden.  Auf  anderen 
Produktionsgebieten  lässt  sich  wohl  der 
Uebergang  einzelner  zu  fabrikmässiger  Mas- 
senproduktion geeigneter  Artikel  und  ein- 
zelner dem  System  der  Heimarbeit  wider- 
strebender Warenqualitäten  an  die  Fabrik 
beobachten.  Aber  im  allgemeinen  ist  das 
Verlagssystem  keine  Vorfnicht  des  Fabrik- 
systems, sondern  eine  gleichbei-echtigte  Be- 
triebsweise der  gewerblichen  Grossunter- 
nehmung,  die  vor  der  Fabiik  den  eigen- 
tümlichen Vorzug  hat,  dass  sie  gestattet, 
einen  grossen  Teil  des  Betriebsrisikos  von 
dem  Unternehmer  auf  den  Arbeiter  abzu- 
wälzen. Solange  das  System  der  unter- 
nehmungsweisen Produktion  besteht,  wird 
dieser  Vorzug  —  man  mag  es  bedauern  — 
überall  da  ausschlaggebend  bleiben,  wo  es 
sich  um  Waren  von  rasch  wechselnder  Nach- 
frage und  grosser  Mannigfaltigkeit  der  Sorten 
liandelt     Die  Vorzüge   des   koncentriei-ten 


vor  dem  zerstreuten  Betrieb  (grössere  Gleich- 
mässigkeit  des  Fabrikats,  stete  Lieferungs- 
bereitschaft, Sicherung  gegen  Stoffunter- 
schlagung und  Beschädigung)  lassen  in  ein- 
zelnen Fällen  auch  da  zum  Fabriksystem 
übergehen,  wo  dasselbe  sich  keines  anderen 
technischen  Verfalirens  bedienen  kann,  wie 
die  Hausindustrie.  Beispiele  bieten  die 
sächsische  Cigarrenindustne ,  die  Schwarz- 
wälder Uhren-  und  Bürstenfabrikation,  die 
vogtländische  und  ostschweizerische  Stickerei, 
die  westschweizerische  Taschenuhren^rika- 
tion.  Allein  die  Hausindustrie  hält  sich  da- 
neben aufrecht;  ja  in  den  Stickereibezirken 
will  man  eine  Rückbildung  von  der  Fabrik 
zum  Verlagssystem  beobachtet  haben.  In 
den  Städten  gewinnt  letzteres  sogar  noch 
fortwährend  dem  Handwerk  neuen  Boden 
ab.  Die  kapitalschwachen  Meister  speciaU- 
sieren  sich  auf  einen  oder  wenige  Artikel; 
aber  sie  können  diese  nicht  mehr  selbst 
vertreiben,  sondern  müssen  sich  dazu  des 
Magazininhabers  bedienen.  So  ist  auf  dem 
Gebiete  der  Holz-  und  Schnitzwaren,  der 
Bekleidungsindustrie,  der  Leder-  und  Papier- 
indiLstrie  noch  im  letzten  Menschenalter 
vielfach  neue  Heimarbeit  entstanden,  imd 
allem  Anscheine  nach  ist  diese  Bewegung 
noch  nicht  abgeschlossen. 

Schliesslich  ist  noch  einer  eigentümlichen 
Verbindung  zu  gedenken,  welche  das  Hand- 
werk und  die  Heimarbeit  mit  der  Fabrik 
eingehen  und  welche  lebhaft  an  die  Stellung 
der  auf  Landstellen  angesetzten  hörigen 
Werkleute  im  früheren  Mittelalter  erinnert. 
Gewisse  Arbeiten,  welche  in  der  Fabrik  nicht 
in  solcher  Menge  vorkommen,  dass  es  sich 
lohnte,  eigene  Betriebseinricbtungen  dafür  zu 
treffen,  werden  an  einzelne  Hausindustrielle 
und  Handwerker  hinausgegeben.  Hier  und 
da  erhalten  die  ständigen  Arbeiter  der  Fa- 
brik regelmässig  solche  Arbeiten,  die  sie 
nach  Feierabend  mit  Unterstützung  von  Frau 
und  Kind  zu  Hause  verrichten.  Ein  Schrei- 
ner macht  nur  Packkisten  für  eine  oder 
mehrere  Fabriken ,  ein  Buchbinder  steht 
ausschliesslich  im  Dienste  einer  Verlags- 
firma, ein  Küfer  in  demjenigen  einer  Bier- 
brauerei oder  Spritfabrik.  Sobald  jedoch 
solche  Arbeiten  regelmässiger  werden,  wird 
es  vorteilhaft,  in  den  Räumen  der  Fabrik 
selbst  einen  Nebenbetrieb  dafür  einzurichten. 
Die  meisten  grösseren  Fabriken  haben  ihre 
Schlosser-  und  Reparaturwerkstätte,  in 
welcher  ausser  einem  »Meister«  mehrere 
Gesellen,  hier  und  da  auch  schon  Lehrlinge 
beschäftigt  werden.  Eine  ähnliche  An- 
gliederung  des  Handwerks  nehmen 
viele  Grossbetriebe  auf  dem  Gebiete  des 
Handels  und  Verkelirswesens  vor.  Jede 
grössere  Fuhrunternehmung  hat  ihre  eigene 
Schmiede-,  Wagner-,  Sattierwerkstätte,  jede 
Weinhandlung  ihre  Küferei.    Es  entsteheu 


Gewerbe 


389 


dadurch  specialisierte  Nebenbetriebe,  die  in 
ihrer  Organisation  sich  dem  Wirtschafts- 
zweck der  Hauptunternehmung  diu-chaus 
anpassen  mtlssen. 

22.  Yergleichung  der  fünf  Betriebs- 
systeme. Bei  dem  grossen,  schier  ver- 
wirrenden Formenreichtum  der  Gewerbege- 
schichte war  es  nötig,  die  vorstehend  ge- 
zeichnete Entwickelung  auf  möglichst  ein- 
fache Linien  zui-ückzirführen  imd  die  fünf 
historisch  aufeinanderfolgenden  Betriebs- 
systeme: Hauswerk,  Lohnwerk,  Handwerk, 
Verlag  und  Fabrik  ohne  Berücksichtigimg 
etwaiger  Zwischenformen  klar  hervorzu- 
heben. Jene  Entwickelung  beginnt  mit 
grossen  Verbänden,  die  durch  die  Blutsver- 
wandtschaft, die  Autorität  des  Familien- 
hauptes zusammengehalten  werden ;  sie 
schliesst  mit  grossen  Verbänden,  deren  Or- 
ganisation auf  dem  abstrakten  Rechtsprincip 
des  freien  Vertrags  beruht.  Im  Anfang  das 
natürlich  erwachsene  Sozialgebilde  der  Baus- 
gemeinschaft, am  Ende  die  künstlich  in  der 
Firma  verselbständigte  Rechtsperson  der 
Unternehmung.  Dazwischen  liegen  Gestal- 
tungen des  Abbruchs  und  des  Neubaiies. 
Lost  sich  im  Lohnwerk  die  Arbeit  persön- 
lich von  der  geschlossenen  Hauswirtschaft 
des  Grundeigentümers  ab,  so  wird  sie  im 
Handwerk  diux^h  njichfolgende  Herausziehung 
ihrer  Betriebsmittel  auch  sachlich  frei  und 
selbständig ;  im  Verlagssystem  tritt  sie  per- 
sönlich in  eine  neue  Abhängigkeit:  in  die 
Klientel  der  Unternehmung  des  Kapital- 
eigentümers; im  Fabriksystem  wird  sie 
auch  sachlich  von  demselben  abhängig. 
Hausgemeinschaft  und  Fabrik  zeigen  mor- 
phologisch manche  Verwandtschaft,  beson- 
ders wenn  man  sie  in  Beispielen  ihrer 
höchsten  Entwickelung  einander  gegenüber- 
stellt. Und  ebenso  Lohnwerk  und  Heim- 
arbeit. Wie  das  Lohnwerk  zur  Wirtschaft 
des  Gnmdeigentümers,  so  verhält  sich  die 
!^usindustrie  zur  Handelsuntemehmimg  des 
Kapitalisten.  Die  Parallele  des  Fabrikar- 
beiters mit  dem  antiken  Handwerkssklaven 
ist  zu  oft  gezogen  worden,  um  hier  aus- 
führlich wiederholt  werden  zu  müssen. 

In  der  Mitte  dieser  ab-  und  aufsteigen- 
den Entwickelung  steht  das  Handwerk  als 
Grund-  und  Eckstein  derselben.  Vom  Haus- 
werk bis  zum  Handwerk :  allmähliche  Eman- 
dpation  des  Arbeiters  von  der  grundständi- 
gen Hauswirtschaft  und  Bildung  des  Kapi- 
tals, vom  Handwerk  bis  zur  Fabrik:  all- 
mähliche Loslöeung  des  Kapitals  von  der 
Arbeit  und  ünterwerfimg  des  Arbeiters 
unter  das  Kapital.  Auf  der  Stufe  des  Haus- 
werkes giebt  es  noch  kein  Kapital,  sondern 
nur  Gebrauchsgüter  auf  verschiedenen  Stufen 
der  Genussreife.  Alles  gehört  dem  Hause: 
Rohstoff,  Werkzeug,  Fabrikat,  oft  selbst  der 
Arbeiter.      Beim    Lohnwerk    ist    nur    das 


Werkzeug  Kapital  in  der  Hand  des  Arbei- 
ters; Roh-  und  Hüfsstoffe  sind  Vorräte  des 
Hauses,  die  noch  nicht  genussreif  sind;  die 
Betriebsstätte  gehört  entweder  ebenfalls 
dem  Hause,  welches  das  fertige  Produkt 
verbrauchen  will  (Stör),  oder  dem  Arbeiter, 
der  es  herstellt  (Heimwerk).  Ln  Handwerk 
sind  Werkzeug,  Betriebsstätte  und  Rohstoff 
Kapital  im  Eigentum  des  Arbeiters ;  der 
letztere  wird  Herr  des  Produkts,  setzt 
dieses  aber  immer  nur  an  den  unmittel- 
baren Konsumenten  ab.  Im  Verlagssystem 
wM  auch  das  Produkt  Kapital,  aber  nicht 
des  Arbeiters,  sondern  einer  ganz  neu  auf 
dem  Plane  erscheinenden  Person,  des  kauf- 
männischen Unternehmers ;  der  Arbeiter  be- 
hält entweder  sämtliche  Produktionsmittel, 
oder  er  verliert  zunächst  das  Stoffkapital, 
dann  auch  das  Werkzeugkapital.  So  sam- 
meln sich  alle  Kapitalbestandteile  schliess- 
lich in  der  Hand  des  Fabrikunternehmers, 
der  auf  ihrem  Grunde  die  gewerbliche  Pro- 
duktion neu  organisiert.  In  seinen  Händen 
wird  selbst  der  Anteil  des  Arbeiters  am 
Produkte  zu  einem  Teile  des  Betriebska- 
pitals. 

Dieser  Anteil  des  Arbeiters  besteht  auf 
der  Stufe  des  Hauswerkes  im  Mitgenuss 
der  erzeugten  Produkte,  beim  Lohnwerk  in 
der  Kost  nebst  Zeit-  oder  Stücklohn,  welcher 
bereits  eine  Vergütung  für  die  Abnutzung 
der  Werkzeuge  mit  enthält,  beim  Handwerk 
in  dem  vollen  Produktionsertrage.  Beim 
Verlagssystem  nimmt  der  Verleger  bereits 
einen  Teil  dieses  letzteren  im  Gewinne 
seines  Betriebskapitals  vorweg,  beim  Fabrik- 
system werden  alle  kapitalisierbaren  Pro- 
duktionselemente zu  Krystallisationspunkten 
für  Kapitalprofite;  dem  Arbeiter  bleibt  nur 
der  vertragsmässige  Arbeitslohn. 

Werfen  wir  endlich  noch  einen  Blick 
auf  die  Verwendung  der  erzeugten  Produkte, 
so  rückt  diese  im  Laufe  der  ganzen  Ent- 
wickelung immer  weiter  von  der  Erzeugung 
ab.  Beim  Hauswerk  und  der  Stör  wird  das 
Produkt  in  derselben  Wirtschaft  verbraucht, 
wo  es  entstanden  ist.  Beim  Heimwerk  er- 
folgt schon  die  letzte  Zmichtung  zum  Ge- 
brauche in  einer  anderen  Wirtschaft.  Beim 
Handwerk  wird  das  ganze  Produkt  ausser- 
halb der  es  verbrauchenden  Wirtschaft  er- 
zeugt; aber  es  geht  direkt  aus  der  produ- 
zierenden in  die  konsumierende  Wirtschaft 
über.  Beim  Verlags-  und  'Fabriksystem 
schieben  sich  kommerzielle  Zwischenglieder 
zwischen  Produzenten  und  Konsumenten 
ein;  das  Produkt  wird  Ware:  es  cirkidiert 
erst,  ehe  es  an  die  Wirtschaft  gelangt,  in 
der  es  zur  Bedürfnisbefriedigung  dient. 

Wollen  wir  die  ganze  fünfstufige  Ent- 
wickehmg  in  kurzen  Worten  charakterisieren, 
so  sagen  wir:  Hauswerk  ist  centralisierte 
gewerbliche  Eigenproduktion,  Lohnwerk  ist 


390 


Gewerbe 


zerstreute  gewerbliche  Kundenarbeit,  Hand- 
werk ist  gewerbliche  Kundenproduktion, 
Yerlag  ist  decentralisierte  und  Jabrik  cen- 
tralisierte  gewerbliche  AVarenproduktion.  In 
der  ganzen  Stufenfolge  stehen  somit  Verlag 
und  Fabrik  auf  gleicher  Linie. 

23.  Gegenwärtiger  Zustand.  Wie  auf 
dem  Gebiete  des  Verkehrswesens  ältere 
Transport  weisen  durch  neue  vollkommenere 
und  leistungsfähigere  nicht  gänzlich  besei- 
tigt, sondern  nur  auf  dasjenige  Bereich  zu- 
rückgedrängt werden,  wo  sie  ihre  eigen- 
tümlichen Vorzüge  am  besten  entfalten 
können,  so  dauern  auch  die  älteren  gewerb- 
lichen Betriebssysteme  neben  den  neuen 
und  neuesten  foi-t.  Selbst  bei  den  »Indus- 
trie Völkern«  Europas,  welche  alle  diese 
Systeme  nacheinander  im  I^ufe  der  Jahr- 
hunderte durclilebten  und  jedes  dahin- 
schwinden sahen,  wenn  vollkommeneres  es 
ablöste,  erblicken  wir  noch  namhafte  Eeste 
des  Hauswerks,  dos  Lohnwerks  und  des 
Handwerks,  oft  hart  neben  den  modernen 
Wai'enproduktionsformen.  Die  verschiedenen 
Gewerbezweige  machen  in  diesem  Punkte 
eine  vei-schieden  rasche  Entwickelung  durch, 
imd  oft  sehen  wir  auf  demselben  Produk- 
tionsgebiete in  Stadt  und  Land  verschiedene 
Betriebsformen.  So  ist  auf  dem  Lande  auch 
bei  uns  das  ILiuswerk  noch  keineswegs  er- 
loschen; ja  bei  genauer  Beobachtung  kann 
man  erkennen,  dass  es  stellenweise  wieder 
zunimmt,  wo  landwirtschaftliche  Produkte 
im  Zustand  der  Verarbeitung  eine  bessere 
Verwertung  versprechen.  Dr.s  Lohnwerk 
hat  selbst  in  den  Städten,  wo  es  in  den 
letzten  drei  Jahrhimderten  fast  ganz  zu- 
sammengeschwunden wai',  neuerdings  aus 
dem  absterbenden  Hauswerk,  ja  selbst  aus 
dem  Verlags-  imd  Fabriksystem  wieder 
neue  Nahning  gewonnen.  Man  denke  nur 
an  Näherinnen,  Stickerinnen,  Strickerinnen, 
Kleidormacherinnen,Fleckenreiniger,  Wäsche- 
reien, Plättei*eien,  Lohnköche,  Boden  wichser, 
Möbelix)lierer,  Teppich-,  Bettfedern-  und 
Schaufensterreiniger.  Seit  Schlösser,  Riegel, 
Thür-  und  Fensterbescliläge  fabrikmässig 
erzeugt  werden,  ist  der  Schlosser  ziun 
blossen  Anschläger  geworden.  Aehnlich 
wird  durch  den  Verlust  des  grössten  Teiles 
der  eigentlichen  Produktion  der  Bautiscliler 
zum  Parkettbodenleger,  der  Tapezierer  zum 
blossen  Tapetenkleber  u.  s.  w.  Auf  dem 
Lande  hat  das  Lohnw^erk  die  Müllerei, 
Bäckerei,  Schuhmacherei,  Sattlerei  grössten- 
teils verloren;  aber  in  der  Schneiderei  und 
den  Baugewerben  dauert  es  fort;  ja  in 
einigen  Gebirgsgegenden  besteht  noch  der 
Störbetrieb  in  ziemlichem  Umfange.  Das 
Handwerk  ist  allerdings  in  den  grossen 
Städten  stark  zersetzt  und  hält  sich  eigent- 
lich hier  nur  noch  sow^eit  die  Natur  des 
Produkts  einen  unmittelbaren  Verkehr  zwi- 


schen Produzenten  und  Konsumenten  er- 
forderlich macht,  und  auch  hier  nur  bei 
kleinkapitalistischem  Betriebe.  Dagegen  liat 
es  auf  dem  Lande  neuen  Boden  gewonnen 
und  scheint  hier  in  vielen  Zweigen  ftir  ab- 
sehbare Zeit  gesichert.  Versuche,  dieser 
Betriebsform  aUgemein  durch  Wiederbe- 
lebung der  Kimstindustrie  oder  allgemeine 
Verbreitung  von  Kleinkraftmaschinen  neue 
Lebenskraft  zuzuführen,  bieten  wenig  Aus- 
sicht auf  Erfolg. 

In  den  nordischen  Ländern,  in  Russland, 
Ungarn,  Rumänien,  in  den  Slawenländern 
Oesterreichs  und  der  Balkanhalbinsel  ist 
man  niu*  vereinzelt  bis  zur  Stufe  des  Hand- 
werks gelangt.  Sie  haben  bis  in  die  neueste 
Zeit  auf  der  Stufe  des  Hauswerks  und 
des  Wandergewerbes  verharrt;  sie  zeigen 
hier  und  da  Anfänge  des  stehenden  Lohn- 
werks ;  aber  es  schiebt  sich  sofort  über  diei;e 
primitive  Gestaltung  der  Stoffveredelung  die 
aUermodernste  des  Verlags-  und  Fabrik- 
systems, ohne  dass  die  Mittelstufe  des 
Handwerks  durchschritten  würde.  In  Russ- 
land wird  der  kaum  aus  der  Leibeigenschaft 
befc-eite  Kleinbauer  gleich  zum  Hausindus- 
triellen oder  Fabrikarbeiter;  aus  der  Hörig- 
keit des  Gnmdeigentiuns  tritt  er  in  die- 
jenige des  Kapitaleigentums  —  ein  unver- 
mittelter Gegensatz  mehr  in  der  Geschichte 
dieses  an  schroffen  Uebergängen  so  reichen 
Volkes. 

Aber  das  ist  das  Scliicksal  aller  niedrig 
kidtivierten  Völker,  dass  sie  durch  die  mo- 
dernen Verkehrsmittel  gewaltsam  in  die 
mächtige  Bewegimg  dos  westeiux)päisch- 
nordamerikanischen  Kulturkreises  hineinge- 
rissen werden,  gleichsam  über  den  unüber- 
brückbaren Abgi'und  von  Jahrtausenden 
hinweg  und  dass  dabei  auch  die  lebens- 
kräftigen Keime  eigener  nationaler  Entwicke- 
lung dahinw^elken.  Soweit  sich  zur  2ieit 
übersehen  lässt  scheint  kein  aussereuropäi- 
sches  Volk  eine  unserer  Fabrik  ähnliche 
Organisation  der  Stoffumwandlung  aus  eige- 
ner Kraft  erreicht  zu  haben.  Selbst  bei  den 
Chinesen  und  Japanesen  finden  wir  auf  na- 
tionalem Boden  ausschliesslich  Kleinbetriebs- 
formen. Auf  weiten  Gebieten  der  gewerb- 
lichen Produktion  herrscht  hier  •  noch  das 
Hauswerk  vor,  namentlich  auf  demjenigen 
der  Textilproduktion.  und  wenn  dasselbe 
\ielfach  auch  zur  Tauschwerterzeugimg  (H. 
Stufe)  fortgeschritten  ist  und  hie  und  da 
bereits  dem  Verlagssystem  ähnliche  Er- 
scheinungen aufweist,  so  verharrt  es  doch 
bei  der  ^ahnmgsmittelproduktion  meist  noch 
auf  seiner  Urform  und  hat  auf  dem  Gebiete 
der  Holz-  und  Metallverarbeitung  höchstens 
handwerksähnlichen  Betrieben,  untermischt 
mit  Lohnwerk,  Platz  gemacht.  Bei  den 
Indern  sehen  wir  auf  den  Dörfern  einen 
Stand  von   lohnarbeitenden  Gewerbetreiben- 


Gewerbe 


391 


den,  deren  Stellung  an  die  Demmrgen 
Homers  erinnert.  In  den  Städten  finden 
wir  ein  uraltes  Kunstgewerbe,  das  eine 
eigene  Technik  in  Silber,  Stahl,  Kupfer, 
Messing,  Elfenbein  bethätigt  und  lohn- 
oder  handwerksartigen  Betrieb  aufweist. 
Aber  die  ganze  Seiden-  und  ein  grosser 
Teil  der  Baumwollverarbeitung  ist  Haus- 
werk, bei  der  Baumwolle  allerdings  in  eigen- 
tümlicher Mischung  mit  dem  aus  England 
importierten  Fabriksystem.  In  Persien  und 
der  asiatischen  Türkei  sowie  in  den  mo- 
hammedanischen Ländern  Nordafrikas  findet 
sich  in  den  Städten  ein  armseliges  Kleinge- 
werbe, halb  Handwerk,  halb  Lohnwerk;  auf 
dem  Lande  fast  niu*  wanderndes  Lohnwerk 
und  hie  und  da  ein  verlagsmässig  organi- 
siertes Hauswerk. 

Die  ürvölker  Afrikas,  Australiens  und 
Südamerikas  sind  über  die  Stufe  des  Hans- 
werks nur  an  einzelnen  Stellen  hinausge- 
kommen, wo  ein  entwickeltes  Marktwesen 
oder  günstfge  Verkehrsverhältnisse  die  Pro- 
duktion für  den  Absatz  ermöglichen.  So 
finden  wir  auf  einzelnen  Südseeinseln  eine 
Prwluktion  von  irdenen  Töpfen,  Booten  und 
Schmuckartikeln,  die  dmx;h  weite  Seefahi'ten 
bei  anderen  Stämmen  abgesetzt  werden.  In 
Afrika  herrscht  das  Stammgewerbe  (als 
Hauswerk  II.  Stufe)  mit  Uebcrschussproduk- 
tion  für  benachbarte  Märkte  imd  eine  dera- 
entspreehende  gewerbliche  Differenzierung 
von  Volk  zu  Volk,  oft  sogar  von  Ort  zu 
Ort.  Daneben  kommen  Wanderbetriebfr- 
formen  mit  störweiser  Stoffverarbeitung,  im 
Sudan  auch  Heim  werk  vor.  Im  ganzen 
aber  gehen  diese  indigenen  öewerbeformen 
mit  dem  Vordringen  des  europäischen  Ilan- 
<lels  technisch  zurück  und  verlieren  auch 
mehr  imd  mehr  ihre  wirtschaftliche  Gnmd- 
lage. 

Leider  lässt  sich  nicht  mehr  als  diese 
lückenhafte  üebersicht  geben,  solange  gerade 
die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  unter 
den  Natur-  und  Halbkulturvölkem  von  den 
europäischen  Reisenden  so  wenig  beachtet 
und  ihr  gewerbliches  Leben  niu*  vom  Stand- 
punkte der  Technik  oder  dem  für  unsere 
Zwecke  noch  weniger  zureichenden  der 
internationalen  Konkurrenz  betrachtet  wird. 

24.  Tendenz  der  Fortentwickelnng. 
Die  Entwickelung  des  Gewerbes  steht  unter 
drei  eigentümlichen  Voraussetzungen.  Zu- 
nächst ist  das  Gebiet  der  Stoffumwandlung 
kein  fest  abgegrenztes;  fortgesetzt  lösen 
sich  von  der  Hauswii-tschaft  und  der  Ur- 
j)roduktion  Teile  ab,  um  zu  selbständigen 
Gewerbezweigen  zu  werden.  Sodann  ist  die 
Güterwelt,  Avelche  zur  Befriedigung  unserer 
Bedürfnisse  und  zu  unserer  Ausrüstung  im 
Kampf  ums  Dasein  dient,  stets  in  der  Ver- 
mehning  und  Vervollkommnung  begriffen, 
imd  so  entstehen  immer  neue  Güterarten. 


Endlich  sind  die  Kulturvölker  in  ihrer  ge- 
werblichen Produktion  nicht  auf  den  eigenen 
Bedarf  beschränkt,  sondern  sie  sind  gerade- 
zu darauf  angewiesen,  einen  mit  wachsender 
Bevölkei-ung  zunehmenden  Teil  ihrer  ge- 
w^erblichen  Erzeugnisse  auszuführen.  Somit 
erscheint  zunächst  die  Eutwickelungsfähig- 
keit  ihi-er  gewerblichen  Thätigkeit  kaum  an 
eine  erkennbare  Grenze  gebunden,  und  that- 
säclilich  vermehrt  sich  bei  ihnen  trotz  aller 
technischen  und  wiirtschaftlichen  Vervoll- 
kommnung der  Produktion  die  Zahl  der  ge- 
werbeti'eibenden  Menschen  in  rascherem 
Masse  als  die  Gesamtbevölkenmg. 

Zugleich  aber  vei-schieben  sich  auf  dem 
Boden  der  modernen  kai)italistischen  Pro- 
duktionsweise die  gewerblichen  Betriebs- 
formen in  der  Richtung  einer  stets  zunehmen- 
den Koncentration.  Bedingt  und  gefördert 
wird  diese  letztere  durch  eine  der  modernen 
Volks wii-tschaft  eigentümliche  Erscheinung, 
die  wir  als  Bedarfskoncentration  be- 
zeichnen können.  Zunächst  entledigt  sich 
die  Hauswirtschaft  immer  mehr  aller  pro- 
duktiven Elemente,  um  sich  allein  auf  die 
Regelung  der  Konsumtion  zu  beschränken. 
Die  ünterscliiedo  der  Lebensgewohnheiten 
und  Gebrauchssitten  gleichen  sich  zwischen 
den  verschiedenen  Bevölkerungsschichten 
aus;  der  Kulturbedarf  der  breiten  Massen 
erweitert  sich.  Die  Aufhebung  alter  Absatz- 
schranken durch  die  Einführung  der  Ge- 
werbefreiheit, die  Verbilligung  des  Trans- 
ports diu-ch  Post,  Eisenbahnen  u.  s.  w.  er- 
möglichen es,  die  früher  abgeschlossenen 
Lokalkundschaften  der  Lohn-  und  Hand- 
werker zu  grossen  Verlags-  und  Fabrik- 
kimdschaften  zusammenzufassen.  Die  gross- 
städtischen Menschenanhäufungen,  die  Staaten 
mit  ihren  Kriegsheeren  imd  Flotten,  Ge- 
fängnissen, Krankenhäusern,  SchulanstalteU) 
die  gewaltigen  Transportunternehmungen, 
die  Fabriken  und  die  Grossbetriebe  auf  dem 
Gebiete  des  Handels-,  des  Bank-  und  Ver- 
sicherungswesens bilden  ebenso  viele  Mittel- 
punkte eines  Massenbedarfs  an  Indus- 
trieprodukten. Dazu  kommt,  dass  das  mo- 
derne Kulturleben  der  Industrie  an  vielen 
Punkten  die  grossartigsten  und  kompliziertes- 
ten Aufgaben  stellt,  zu  deren  Lösung  die 
älteren  Kleinbetriebsformen  technisch  und 
wirtschaftlich  ausser  stände  sind.  Die  An- 
fertigung einer  Lokomotive  oder  eines  Dampf- 
krahns,  der  Bau  eines  Kriegsschiffs  oder 
einer  Strombrücke,  die  Anlage  einer  Wasser- 
leitung, eines  städtischen  Gas-  oder  Elek- 
tricitätswerks,  einer  Strassenbahn  —  sie  alle 
erfordern  mechanische  Einrichtungen  von 
gewaltiger  Leistimgskraft,  hochgebildete 
Techniker  und  sehr  viele  verschieilen  quali- 
fizierte Arbeiter. 

Dieser  Bedarfskoncentration  entspricht 
auf  Seiten  der  Industrie  eine  zunehmende 


392 


Gewerbe 


Betriebskoncentration.  Letztere  geht 
zunächst  aus  von  der  grossen  Absatzver- 
einigung, die  in  den  Grossbazaren,  Ver- 
sandtgeschäften und  Konsumverei- 
nen gegeben  ist  Indem  diese  die  Nach- 
frage zahlreicher  Konsumenten  (zum  Teil 
mit  Hilfe  des  niedrigen  Packetportos)  auf 
einen  Punkt  zusammenleiten,  erlangen  sie 
eine  bedeutende  Macht  über  die  Industrie. 
Sie  beschränken  sich  nicht  mehr  darauf, 
wie  die  gewöhnlichen  Ms^azine,  eine  Gruppe 
von  Liefermeistem  und  Stubengesellen  von 
sich  abhängig  zu  machen ;  sie  nehmen  ganze 
Fabriken  in  ihre  Dienste,  binden  sie  anfangs 
durch  Vorschüsse  und  Lieferungsverträge, 
erwerben  dann  wohl  die  Mehrzahl  ihrer 
Aktien  oder  bei  Einzeluntemehmungen  das 
volle  Eigentum  und  stellen  so  Produktions- 
und Absatzvereinigungen  grössten  Stües  dar. 
Eine  zweite  ähnliche  Bewegung  geht 
von  den  Fabriken  selbst  aus.  In  der  ersten 
Zeit  ihrer  Ausbreitung  ergriffen  diese  mit 
Vorliebe  einen  einzelnen  Produktionsab- 
schnitt, weil  in  diesem  das  Kapital  sich 
häufiger  umschlagen  und  somit  das  Gesamt- 
erfordernis an  Betriebsmitteln  auf  ein  relativ 
geringes  Mass  reduzieren  Hess.  Mit  der 
Zeit  aber  ist  diese  etappenweise  Produktion 
zu  teuer  geworden,  weil  das  Produkt,  bevor 
es  an  den  Konsumenten  gelangt,  zu  viele 
Unternehmungen  passieren  muss  —  .ein 
Kleid  z.  B.  die  Wollkämmerei,  Spinnerei, 
Weberei,  Färberei,  Dnickeroi,  Appretier- 
anstalt, das  Konfektionsgeschäft.  Auf  jeder 
Etappe  schlagen  sich  beim  Eigentumsüber- 
gang zum  Rohstoffpreise  neben  den  Fabrika- 
tionskosten Zinsen ,  Unternehmergewinne, 
Transport-  und  Vermittelungsspesen.  Dies 
musste  den  Gedanken  nahe  legen,  behufs 
Verminderung  der  Kosten  die  Vordermänner 
oder  Zwischenglieder  auszustossen  und  den 
ganzen  Produktionsprozess ,  soweit  er  sich 
überhaupt  fabrikmässig  organisieren  liess, 
in  eine  Hand  zu  bringen.  So  geht  das 
Streben  aller  grossen  Fabriken  heute  darauf 
hinaus,  ihren  ganzen  Bedarf  an  fremden 
Gewerbeprodukten  selbst  zu  erzeugen  und 
sich  bezüglich  des  Bezugs  von  Halbfabiikaten, 
Hilfsstoffen  und  sonstigen  Produktionsmitteln 
unabhängig  zu  stellen.  Sie  greifen  dabei 
einerseits  bis  zur  Urproduktion  ziurück,  wie 
die  grossen  westfälischen  Eisenwerke,  welche 
nicht  bloss  Hochöfen  anlegten,  sondern  auch 
Eisensteingruben.  Kohlenzechen  und  selbst 
Waldungen  für  inren  Bedarf  erwarben;  an- 
dererseits dehnen  sie  ilire  Thätigkeit  bis 
zum  Kleinverschleiss  ihrer  Fabrikate  aus, 
indem  sie  in  zahlreichen  Städten  Verkaufs- 
filialen errichten,  wie  manche  Tabaksfabriken 
und  die  Münchener  Bierbrauereien.  Die 
Verlagsfirma  F.  A.  Broekhaus  in  Ijcipzig 
vereinigt  in  e  i  n  e  m  Betriebe :  Buchdmckerei, 
Schriftgiesserei ,    Stereotypengiesserei ,   gal- 


vanoplastische Anstalt,  Schriftschneiderei 
und  Gravieranstalt,  Stahl-  und  Kupfer- 
dnickerei,  lithographische  Anstalt,  xylo- 
graphische  Anstalt,  Buchbinderei,  Verlags- 
buchhandlung, deutsches  und  ausländisches 
Kommissionsgeschäft,  deutsches  und  auslän- 
disches Sortimentsgeschäft.  Man  hat  diesen 
Vorgang  als  Kombination  bezeichnet; 
wir  werden  ihn  vielleicht  zutreffender  Be- 
triebsvereinigung nennen. 

Eine  dritte  Bewegung,  die  ersichtlich 
dem  gleichen  Ziele  zustrebt,  ist  die  der 
massenhaften  Kartellbildung.  Die  ver- 
tragsmässigen  Vereinigungen  selbständiger 
Unternehmer,  welche  durch  dauernde  mono- 
polistische Beherrschung  des  Marktes  den 
höchstmöglichen  Kapitalprofit  erstreben, 
wirken  vereinheitlichend  auf  Zahl  und  Art 
der  Warensorten  imd  -masse,  auf  Preise, 
Rabattsätze ,  Zahlungsfristen ,  Agentenpro- 
visionen; in  ilirer  höchsten  Ausbildung  ge- 
langen sie  zu  gemeinsamen  Verkaufs- 
stellen oder  gar  zur  Fusion  und  Trust- 
bildung, bei  welcher  ein  ganzer  Produk- 
tionszweig von  einer  Stelle  aus  einlieitlich 
durch  das  ganze  Ijand  geleitet  wird. 

Diese  drei  von  verschiedenen  Ausgangs- 
punkten begonnenen  Koncentrationsbewe- 
gungen  iassen  gewerbliche  Riesen- 
unternehmungen entstehen,  von  denen 
jede  eine  ganze  Anzahl  verschiedener  Fa^ 
brikbetriebe  in  sich  vereinigt,  zugleich  aber 
auch  eine  Herrschaft  über  die  korrespon- 
(jüerende  Urproduktion  und  den  Ab.satz  ge- 
winnt, wie  sie  bis  dahin  unerhört  war.  Ob 
daraus  ein  neues  Betriebssystem  des  Ge- 
werbes hervorgehen  wird,  das  an  Stelle  der 
Warenproduktion  eine  gemeinwirtschaftliche 
Gütererzeugung  mit  öffentlichrechtlidi  fun- 
diertem Verteilungsprozess  wenigstens  für 
eine  Anzahl  von  Produktionszweigen  setzen 
wird,  wird  niemand  heute  zu  sagen  wagen. 
Das  so  jetzt  stellenweise  schon  geschaffene 
System  autonomer  Wirtschaft  erinnert  in 
manchem  lebhaft  an  die  Grossgrundherr- 
schaften des  Altertums  oder  an  die  Villen- 
verfassung Karls  des  Grossen  —  nur  mit 
dem  Unterschiede,  dass  es  sich  auf  diesen 
um  die  Erzeugung  des  gesamten  Hausbedarfs 
handelte,  während  die  gewerblichen  Riesen- 
imternehmungen  der  Neuzeit  die  Eraelung 
des  höchstmöglichen  Reingewinnes  bei  der 
kapitalistischen  Warenproduktion  erstreben. 

Litteratlir:  A,  Primi tire  Völker:  lAppert, 
K%ilturge9chichte  der  Menschheit,  fS  Bde,,  StuUg. 
ISSej?.  —  Bücher,  J>ic  Wirtsehafl  der  Natur- 
Völker,  Dresden  1898.  —  Derselbe,  Arbeit  und 
Khythmut,  2.  Au4.  Leipzig  1899.  —  H.  Schurtz^ 
Das  afrikanische  Gewerbe.  (Preisschr.  derJablO' 
notrskischen  Ges.),  Leipzig  1900  (im  Druck).  — 
&  Tarajanz,  Das  Gewerbe  bei  den  Armeniern, 
Leipzig  1897.  —  J,  Iwantschoff,  Primitive 
Formen  des  Gewerbebetriebs  in  Bulgarien, 
Leipzig  1896. 


Gewerbe —Gewerbegerichte 


393 


B.  Klassische  Völker:  WalUm,  Hü- 
toire  de  l'esclavage  dans  l*antiguiU,  2.  ed.,  3 
vols.,  Paris  1879,  —  K.  F.  Hermann,  Lehrh. 
der  griech,  Priv.- Altertümer.  —  Büchsenschütz, 
Besitz  und  Erwerb  im  griech.  Altertum,  Halle 
1869.  —  Derselbe,  Die  Hauptstätten  des  Ge- 
fcerbeflHsses  im  klass.  Altertum,  1869.  —  Mar-- 
quaTdt  und  Mommsen,  Handb.  der  röm. 
AUertämer,  Bd.  7,  Leipzig  1879—82.  —  H. 
Bhümner,  Technologie  und  Terminologie  der 
Gewerbe  und  Künste  bei  Griechen  und  Römern, 
4  Bde.,  Leipzig  1874—1886.  —  Derselbe,  Die 
gewerbl.  Thätigkeü  der  Völker  des  klass,  Alter- 
tums, 1869,  —  Bücher,  Die  Dineletianische 
Taxordnung,  Zeitschr.  f.  Staatsw.,  1894- 

C.  Mittelalter  und  Neuzeit:  Arnold, 
Das  Aufkommen  des  Handwerkerstandes,  Basel 
1861.  —  Maurer,  Geschichte  der  Fronhöfe,  der 
Bauernhöfe  und  der  Hofverfassung  in  Deutsch- 
land, 4  Bde.,  Erlangen  1862J6S.  —  Derselbe, 
Geschichte  der  Städteverfassung,  4  Bde.,  1869 — 
71.  —  Inama-Stemegg,  Deutsche  Wirtschafts- 
geschichte I~III,  Leipzig  1879-99.  —  Ber- 
lepsch,  Chronik  der  Gewerke,  9  Bde.,  St.  Gallen 

0.  J.  —  Mascher f  Das  deutsche  Gewerbe^cesen 
von  der  frühesten  Zeit  bis  zur  Gegenwart,  Pots- 
dam 1866.  —  Schönberg,  Die  wirtschaftliche 
Bedeutung  des  deutschen  Zunftwesens  imMittelcdter, 
Jahrb.  f.  Not.  u,  Stat.  JX und  Abschn.  „Gewerbe^ 
in  s.  Handb.  IL  —  SchmoUer:  1)  Die  Strass- 
burger  Tucher-  und  Weberzunft,  1879;  2)  For- 
schungen zur  brandenhur g-preuss.  Geschichte  I; 
S)  Zur  Geschichte  der  deutschen  Kleingeicerbe ; 
4)  Das  Wesen  der  Arbeitsteilung  und  der  sozialen 
Klassenbüdung,   Jahrb.  f.  Ges.  u.   Verw.,  Jahrg. 

XIII  u.  XIV ;  5)  Die  geschichtliche  Enttcicke- 
lung  der    Unternehmung,    ebendaselbst,     Jahrg. 

XIV  u.  XV.  —  W,  Stieda,  Litteraiur,  heutige 
Zustände  und  Entstehung  der  deutschen  Haus- 
industrie, Schnften  des  Vereins  f.  Sozialpolitik, 
XXXIX.  —  Bücher,  Die  Bevölkerung  von 
Frankfurt  a.  M.  im  I4.  und  15.  Jahrh.,  1886.  — 
Derselbe,  Die  Entstehung  der  Volksicirtschafl, 
f.  Aufl.,  1898.  —  SchtHedland,  Kleingewerbe 
und  Hansindustrie   in   Oestereich,  2  Bde,,  1894. 

—  Derselbe,  Ziele  und  Wege  einer  Heimarbeüs- 
gesetzgebting,  1899.  —  lAefmann,  Wesen  und 
Formen  des  VerUigs  ( Volksw.-Abh.  d.  bad.  Hoch- 
schulen III,  1),  IVeiburg  i.  B.  1899.  —  Unter- 
suchungen über  die  Lage  des  Handwerks  in 
Deutschland  und  Oesterreich :  Sehr,  d.  Vereins  f. 
Sozialp.  Bd.  62—71  u.  Bd.  76,  1895 j7.  —  Die 
deutsche  Hausindustrie:  daselbst  Bd.  39 — 4S  u. 
48,  —  Hausindustrie  und  Heimarbeit  in  Deutsch- 
land und  Oesterreich:  Bd.  84 — 87.  —  Gewerbe 
und  Handel  im  deutschen  Reich  nach  der  gew. 
Betriebszählung  vom  I4.  VI.  1895  (Statistik  des 
DeuUchen  Beichs,   N.  F.  Bd.  119),  Bei-lin  1899. 

—  Ootheln,  Wirtschaftsgeschichte  des  Schwarz- 
waldes und  der  angrenzenden  Landschaften, 
Bd.  1.  -^  Thun,  Die  Industrie  am  Niederrhein 
II,  S.  241  f.  —  Derselbe,  Landwirtschaft  und 
Gewerbe  in  Mittelrussland,  Schmollers  Forsch.  III, 

1.  —  JLev€Useur,  Histoire  des  classes  ouvHeres 
en  France,  2  Bde,  —  Barberet,  Le  travail  en 
France,  Monographies  professionelles,  7  vols. 
Paris  1886 ff'  —  Viel  thaUächliches  Material 
bieten  die  grossen  Weltausstellungsberichte  und 
ilie  Reports  from  her  Majesty*s  diplomatic  and 
consular  agents  abroad  re*ppcting  the  condition 
of  the  industrial  classes  etc.  in  foreign  eountries. 


London  1879 — 72,  3  vols.  —  Veber  die  ge- 
werblichen Betriebssysteme:  Sehd^ßef 
St.W.B.  von  Bluntschli  und  Brater,  Art,  » Ge- 
werben und  Ges.  System  II,  S.  SOOff.  —  JR^ 
Mohl,  Baus  Archiv  d.  pol.  Oek.  u.  Polizeiw.  II, 
S.  141  ff.  —  O,  Schwarz,  Die  Betriebsformen 
der  modernen  Grossindustrie,  Zeitschr.  f.  Staatsic, 
XXV,  S.  585  f.  —  K,  Marx,  Das  Kapital, 
Bd.  I,  Abschn.  4.  —  Röscher,  System  III,  § 
112  ff,  —  Derselbe,  Ueber  Industrie  im  Grossen 
und  Kleinen,  in  s.  Ansichten  der  Volksw.  — 
A.  Held,  Zwei  Bücher  zur  soz.  Geschichte  Eng- 
lands, Leipzig  1881.  —  Slnzheimer,  Ueber  die, 
Grenzen  der  Weiterbildung  des  fabrikmässigen 
Grossbetriebes  in  Deutschland,  189S.  —  O.  v, 
Zwledinecle-Südenharst,  Die  Bedeutung  des 
Bedarfes  für  die  Entmckelung  der  gewerblichen 
Betriebssysteme,  Zeitschr.  f.  Volksw.,  Sozialpol, 
u.  Verw.  VII,  S,  16  ff.  —  W.  Sombart,  Die 
gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation,  Arch, 
f,  soz.  Ges.  u.  Stat.  XIV. 

K,  Bücher. 


Oewerbegerichte. 

1.  Die  Orp^anisation  der  gewerblichen  Rechts- 
pflege. 2.  *Die  älteren  deutschen  Einrichtnnfipeu. 
ä.  Die  deutschen  G.  seit  1869  und  ihre  Neu- 
organisation vom  29.  Juli  1890.  4.  Die  Recht- 
sprechung der  deutschen  G.  5.  Reformvor- 
schläge, Kaufmännische  Schiedsgerichte.  6. 
Berggewerbegerichte.  7.  Statistik  der  deutschen 
G.  8.  Die  Conseils  de  prud'  hommes  in  Frank- 
reich. 9.  Die  G.  in  Italien,  Belgien,  in  der 
Schweiz  und  Oesterreich. 

1.  Die  Organisatioii  der  gewerblichen 
Rechtepflege.  Die  gewerbliche  Rechts- 
pflege erstreckt  sich  auf  verschiedene  Arteu 
gewerblicher  Streitigkeiten.  Es  kann  sich 
handeln  1)  um  Differenzen  des  Publikums 
mit  den  Gewerbetreibenden  über  die  Güte 
der  Leistungen  oder  gekauften  Waren,  2)  um 
Uebertretungen  obrigkeitlicherseits  erlassener 
Vorschriften,  3)  imi  Streitigkeiten  der  Ge- 
werbetreibenden unter  einander  imd  4)  um 
Streitigkeiten  selbständiger  Gewerbetreiben- 
der mit  ihren  Gesellen,  Gehilfen  und  Lehr- 
lingen, die  sich  auf  den  Antritt,  Fortsetzung 
oder  Aufhebung  des  Arbeits-  oder  Lehrvei'- 
hältnisses,  auf  die  gegenseitigen  Leistungen 
während  der  Dauer  desselben  oder  auf  die 
Erteilung  oder  den  Inhalt  gewisser  Zeug- 
nisse beziehen.  Die  Art,  wie  man  alle  diese 
Streitigkeiten  zu  erledigen  versucht,  ist  in 
den  verschiedenen  europäischen  Kultm*staatea 
keine  gleiche.  In  Grossbritannien  wird  die 
gesamte  bürgerliche  Rechtspflege  von  den 
bürgerlichen  Gerichten  geübt.  Die  englischen 
Grafschaftsgerichte,  die  schottischen  Sheriffs- 
gerichte  der  Grafschaften  und  die  irischen 
Civilgerichte  erscheinen  als  die  für  die  frag- 
lichen Angelegenheiten  verordneten  Spruch- 
behörden. Die  St.  Leonardsakte  von  1867, 
welche   die   Councils   of   conciliation,  d.  h. 


/ 


894 


Gewerbegerichte 


eigene  ständige  Gerichtsinstanzen  für  Ar- 
beitsstreitigkeiten zu  schaffen  beabsichtigte, 
ist  nie  zui*  rechten  Wirksamkeit  gelangt.  In 
Dentsclilancl,  Oesterreich,  Frankreich,  Belgien 
und  der  Schweiz  unterscheidet  man  zwischen 
den  gewerblichen  Sti-eitigkeiten  und  weist 
die  Erledigung  der  drei  ersten  Gruppen  den 
ordentlichen  Gerichten  zu,  während  für  die 
vierte  Gruppe  der  Arbeitsstreitigkeiten  in 
engerem  Sinne  Sondergerichte  bestehen.  In 
Deutschland  sind  neben  diesen  auch  die 
Gemeindevorsteher  als  gerichtliche  Instanzen 
in  solchen  Fällen  tliätig.  Während  nun  die 
Zweckmässigkeit  der  Anordnung,  dass  die 
Streitigkeiten  der  beiden  ersten  Kategorieen 
dem  gewöhnlichen  Gerichte  unterworfen  sind, 
nü'gends  in  Zweifel  gezogen  ist,  hat  man 
für  die  Entscheidung  der  Streitigkeiten  der 
letzteren  Art  lange  geschwankt  zwischen  den 
onlentlichen  und  den  Fach-  oder  Sonderge- 
richten, sich  aber  schliesslich  mit  Ausnahme 
von  England  überall  für  das  Princip  der 
letzteren  ausgesprochen. 

Die  Erledigung  'der  Streitigkeiten  selb- 
ständiger Gewerbetreibenden  mit  ihren  Hilfs- 
personen durch  den  ordentlichen  Rich- 
ter bietet  in  kleinen  Städten  mit  geringer 
industrieller  Bevölkerung  alles,  was  man 
von  der  Justiz  erwarten  kann.  In  grösseren 
Induötriebezirken  dagegen  ist  das  Anhängig- 
machen dieser  Streitsachen  bei  den  ordent- 
lichen Gerichten  mit  entschiedenen  Unzu- 
t Wlglichkeiten  verknüpft.  Weder  die  Schnellig- 
keit der  Entscheidung  noch  sachgemässes 
Urteil  sind  dann  gewährleistet,  imd  ebenso 
lässt  die  W^ohlfeilheit  der  Rechtsprechung 
zu  wünschen  übrig.  Für  die  Entscheidung 
vieler  der  hierher  gehörenden  Klagen  ist 
genaue  Kenntnis  der  wirtschaftlichen  und 
technischen  Verhältnisse  des  Gewerbebe- 
triebes unentbehrlich,  die  der  ordentliche 
Richter  keineswegs  immer  besitzt.  Demge- 
roäss  müssen  Sachverständige  vernommen 
werden,  deren  Gutachten  erst  den  richter- 
lichen Spruch  ermöglicht.  Dies  verschle[)pt 
die  Urtoilsfällung  und  kann  bewirken,  dass 
der  Richter  sich  der  Meinung  der  Sachver- 
ständigen anbecjuemen  muss,  also  seine  Selb- 
ständigkeit gefährdet  sieht.  Selbst  in  Fällen, 
wo  es  eigentlich  specuell  technischer  Kennt- 
nisse nicht  bedarf,  wird  gleichwohl  eine  all- 
gemein praktische  Ansclianimg  davon,  was 
in  dorn  Verhältnis  zwischen  Meister  und 
Gesellen  oder  Fabrikanten  und  Arbeitern 
üblich  und  schicklich  ist,  erforderlich  sein, 
um  die  Entscheidung  zu  finden.  Auch  das 
muss  in  Betracht  gezogen  werden,  dass  sehr 
oft  in  der  Nähe  kleinerer  Städte  oder  länd- 
licher Ortschaften  mit  rege  entwickelter  In- 
dustrie ordentliche  Gerichte  erster  Instanz 
nicht  vorhanden  sind.  Da  unterlässt  dann 
der  Arbeiter,  um  nicht  Zeit  und  Geld  zu 
verlieren,  die  Klage  anzubringen.  Wenn  man 


gelegentlich  gemeint  hat,  durch  die  Verwei- 
sung der  Streitigkeiten  vor  die  ordentlichen 
Gerichte  die  Zahl  der  Rechtsstreitigkeiten 
einschränken  zu  können,  so  hat  sich  diese 
Ansicht  als  ganz  irreführend  herausgestellt. 
Denn  nicht  die  Zahl  der  Streitigkeiten  nimmt 
ab,  sondern  nur  die  Zahl  der  auf  rechtlichem 
Wege  erledigten  und  ausgeglichenen  Streit- 
sachen. Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  sind 
darum  nicht  weniger  von  ihrem  Rechte 
durchdrungen,  wenn  sie  es  nicht  durch- 
setzen können.  Sie  fülilen  sich  vielmehr 
tief  benachteiligt,  imd  die  Thatsache,  dass 
sie  daran  gehindert  werden,  ihr  Recht  auf 
gesetzlichem  W^ege  zu  suchen,  macht  sie 
bitter  und  unzufrieden. 

Die  Entscheidung  gewerblicher  Streitig- 
keiten durch  die  Gemeindevorsteher, 
wie  sie  in  Deutschland  lange  Zeit  vor- 
herrschte und  auch  jetzt  noch  subsidiär 
üblich  ist,  hat  manches  für  sich.  Bei  vielen 
gewerblichen  Bagatellsachen,  insbesondere 
auf  dem  platten  Ijande,  wäre  der  Apparat 
eines  Sondergerichtes  zu  kostspielig  und 
umständlich.  Dabei  wirkt  die  \ereinigung 
von  Verwaltung  und  Rechtspflege  oft  wchl- 
thuend  und  befriedigend.  Indes  spricht  ge- 
rade der  zuletzt  berührte  Umstand,  nämlich 
(iass  die  Gemeindebehörden  Verwaltungsbe- 
hörden sind,  die  mit  der  Rechtspflege  nichts 
zu  thun  haben,  wieder  gegen  sie.  Die  Auf- 
gaben der  Gemeindebehörden  sind  an  sich 
sehr  umfangreiche  und  in  der  Zunahme  be- 
griffen; ein  Gemeindevoreteher  wird  selten 
zum  Richteramt  qualifiziert  sein;  innerhalb 
des  Gemeindevorstandes  können  kirchliehe 
und  politische  Parteiströmungen  die  richter- 
liche Unabhängigkeit  trüben  und  zwischen 
Industrie  und  Landwirtschaft  in  manchen 
Gemeinden  öi-tliche  Konflikte  vorkommen, 
welche  die  Unparteilichkeit  der  entschei- 
denden Behörden  ernstlich  in  Frage  ziehen. 
Erscheint  hiernach  im  allgemeinen  die  Uober- 
ti'agung  der  gewerblichen  Streitigkeiten  auf 
die  Gemeindebehörde  nicht  angemessen,  so 
lässt  sich  doch  gegen  die  Art,  wie  man  sie 
insbesondere  in  Deutschland  subsidiär  ein- 
treten lässt,  nichts  einwenden.  In  Gegen- 
den mit  gering  entwickelter  Industrie  und 
einfachen  Verhältnissen  wird  ein  Sonderge- 
richt nicht  angebracht  und  als  dessen  Ersatz 
die  Gemeindebehörde  vollkommen  am  Platz 
sein. 

Die  zweckmässigste  und  vollendetste  Or- 
ganisation der  gewerblichen  Rechtspflege 
wird  immer  die  sein,  wo  dem  Bedürfnis 
nach  schneller  verständnisvoller  und  ge- 
rechter Beurteilung  zu  entsprechen  Son- 
dergerichte und  zwar  solche,  bei  denen 
Standesgenosson  der  Streitenden  herange- 
zogen werden,  ausei^sehen  sind.  Diese  ersparen 
den  Parteien  Kosten  und  Zeitversäumnisse, 
sie  legen  viele  Streitigkeiten  im  Urspnmg 


Gewerbegerichte 


395 


bei  und  halten  sich  überhaupt  in  den  Grenzen 
eines  ausgleichenden  Verfahrens.     Mehrere 
Gninde  können  für  sie  geltend  gemacht  wer- 
den.    In   moralischer  Beziehung  lassen  sie 
sicli  mit  dem  allgemein  bekannten  umstände 
rechtfertigen,    dass    die  Gewerbetreibenden 
eine    eigene    Scheu    vor   der    richterlichen 
Thätigkeit  ihrer  Genossen  haben.    Aus  dem 
Prozess  vor  dem  allgemeinen,  ihnen  persön- 
lich femstehenden  Richter  machen  sie  sich 
meist  wenig,  während  die  Möglichkeit,  vor 
das  genossenschaftliche  Gericht  gezogeu  zu 
werden,   ihnen   einen  heilsamen  Schrecken 
einzujagen   pflegt.     Arbeitnehmer  und  Ar- 
beitget)er  fahren  besser.     Letztere  werden 
nicht   gern    sich    vor    den    Benifsgenossen 
wegen  ungerechtfertigter  Behandlung  ihrer 
Arbeiter   verantworten  wollen   und  Klagen 
mithin  zu  vermeiden  suchen.    Erstere  wer- 
den sich  dem  Urteile  des  Gerichts,  in  wel- 
chem Genossen  sitzen,  in  der  Regel  williger 
fugen.     Das  aber  hat  den  Vorteil  für  den 
Arbeitgeber,  dass  er  z.  B.  in  Fällen,  wo  seine 
Arbeiter    ihn    ohne    Kündigimg    verlassen 
haben,   hoffen   kann,  zu  seinem  Rechte   zu 
kommen,  während   er  sich  gestehen  muss, 
dass  an  der  Rückkehr  eines  nur  dem  Zwange 
gehorchenden  Arbeiters  ihm  nicht  viel  ge- 
legen sein  kann.     Zweitens  ist  das  bereits 
erwähnte   Moment  in   Betracht  zu   ziehen, 
dass  in  vielen  Fällen   eine  Sachverständig- 
keit  zur  Beurteilung  erforderlich    ist,   die 
den  lediglich  juristisch  ausgebildeten  Rich- 
tern abgeht.    Drittens  ist  thunlichste  Schnel- 
ligkeit der  Entscheidung  wesentlich  für  beide 
Parteien.    Ist  der  Arbeitgeber  böswillig  ver- 
lassen worden,  in  einer  Zeit,  wo  die  Abliefe- 
nmg  einer  Quantität  Ware   vor  der  Thtlr 
stand,  so  hat  der  Prozess  für  ihn  nur  Be- 
deutung, wenn   er   hoffen   kann,  denselben 
beendet  zu   sehen,  ehe  jener  Termin   ver- 
strichen ist.     Der  Arbeitnehmer  aber,  der 
etwa  bei  der  Lohnauszahlung  sich  verkürzt 
glaubt,  ist  nicht  in  der  I^age,  der  paar  Mai'k 
wegen,  die  er  noch  bekommen  soll,  wochen- 
lang  an   einem  Orte  zu  verweilen,  den  er 
sonst    verlassen    würde,    oder    etwa   nach 
einiger  Zeit  wieder  dahin    zurückzukehren. 
Der  etwas  schleppende  Geschäftsgang  der 
ordentlichen  Gerichte  würde  dieses  Bedürf- 
nis  nach    sdileuniger   Entscheidung   meist 
nicht  ganz  befriedigen  können,  während  bei 
den  gewerblichen  Fachgerichten  ein  Urteil 
gewöhnlich  in  fünf,  höchstens   zwölf  Tagen 
zu  erlangen  ist  und  eine  Vertagung  zu  den 
Seltenheiten   gehört.     Ein   Gericht,  dessen 
Obliegenheit  in  der  Erledigung  nur   einer 
bestimmten  Art  von  Prozessen  besteht,  kann 
l)ei  allmählich  erworbener  Routine  rascher 
vorgehen  als  dasjenige  Gericht,  bei  welchem 
diese  Prozesse  nur  einen  kleinen  Bruchteil 
all  derer  bilden,  die  überhaupt  bei  ihm  an- 
hängig gemacht  werden.    Viertens  spielt  die 


Wohlfeilheit  der  Prozessführung  eine  Rolle, 
die  in  Anbetracht  der  geringen  Mittel  der 
Arbeiterklasse  von  nicht  zu  unterschätzender 
Wichtigkeit  ist. 

Eine  bestimmte  einheitliche  Form  hat  sich 
für  diese  Sondergerichte  nicht  herausgebildet. 
Es  handelt  sich  im  Princip  um  ein  Fach- 
gericht, das  unter  Mitwirkung  von  Standes- 
genossen der  Streitenden  Recht  sprechen 
soD.  Die  verbreitetste  Form  ist  die  der 
französischen  Conseils  de  prud'hommes.  Von 
Frankreich  aus  haben  diese  ihren  Weg  nach 
Belgien,  in  einige  schweizerische  Kantone 
sowie  in  die  deutsche  Rheinprovinz  und 
nach  Elsass-Lothringen  genommen.  Den 
französischen  ähnliche  Gerichte  sind  die  in 
Oesterreich  durch  G.  v.  14.  Mai  1869  ins 
Leben  gerufenen.  Einen  zweiten  Typus 
stellen  die  deutschen  Gewerbegerichte  vom 
28.  Juli  1890  dar,  und  einen  dritten  findet 
man  in  den  gewerkschaftlichen  Gerichten, 
auch  wohl  Berufsgerichte  genannt,  die  in 
erster  Linie  immer  nur  für  ein  bestimmtes 
Gewerbe  fungieren.  Zu  diesem  gehören  in 
Deutschland  das  Innungsscliiedsgericht  und 
die  Innungsspruchbehörde,  in  Oesterreich 
die  schiedsrichterlichen  Ausschüsse  der  Ge- 
nossenschaften und  in  Ungarn  die  auf  Ai'- 
tikel  XVII  des  Gesetzes  von  1884  beruhen- 
den Einigungskommissionen  der  Gewerbe* 
korporationen.  Auch  die  Schiedsgerichte 
der  deutschen  Berufsgenossenschaften  auf 
Grund  des  Unfallversicherungsgesetzes  kann 
man  hierher  zählen,  nur  dass  eben  ihre 
Kompetenz  sich  auf  die  Beurteilung  der  aus 
der  Haftpflicht  hervorgehenden  Entschädi- 
gungsansprüche beschränkt. 

2.  Die  älteren  deutschen  Einrich- 
tungen. Mit  der  Einverleibung  des  linken 
Rheinufers  in  den  französischen  Staatsver- 
band wurde  in  jenem  Landesteil  die  Ge- 
werbefreiheit und  in  der  Folge,  als  1806 
das  Gesetz  über  die  PnKrhommes  erging, 
auch  dieses  eingeführt.  Durch  Dekret  v.  1. 
April  1808  wurde  in  Aachen-Burtscheid  das 
erste  derartige  Gewerbegericht  eröffnet  dem 
1811  in  Krefeld  und  Köln  zwei  andere 
folgten.  Als  Preussen  nach  Beendigung  der 
Freiheitskriege  von  der  Rheinprovinz  Besitz 
ergriff,  hielt  man  es  für  das  zweckmässigste, 
an  den  Grundsätzen,  nach  denen  diese  Ge- 
richte angeordnet  waren,  nichts  zu  ändern, 
bemühte  sich  vielmehr,  ihnen  in  anderen 
Landesteilen,  wenn  auch  etwas  umgestaltet, 
Anerkennung  zu  verschaffen.  Erst  1830 
und  1833  wurden  die  Räte  der  Gewerbe- 
verständigen insofern  reformiert,  als  ihre 
Zusammenstellung  geändert  wurde ;  im  übri- 
gen rief  man  sie  nach  und  nacli,  da  man 
mit  ihrer  Wirksamkeit  durchaus  zufrieden 
war,  in  anderen  rheinischen  Städten  gleich- 
falls ins  Leben:  1835  in  Gladbach,  1840  in 
Elberfeld,  Barmen,  Solingen,  Lennep,  Rem- 


396 


Gewerbegerichte 


scheid,  1843  in  Biirscheid,  1844  in  Düssel- 
dorf, 1857  in  Mühlheim  a.  Rh.  Für  aUe 
Gerichte  galt  die  V.  v.  7.  Anglist  1846, 
nach  der  sie  von  nun  an  als  »königliche 
Gewerbegerichte«  bezeichnet  wurden.  Sie 
waren  kompetent  fflr  Streitigkeiten  zwischen 
Fabrikanten  und  deren  Aufsehern  und  Ar- 
beitern, sowie  zwischen  selbständigen  Ge- 
werbetreibenden und  ihren  Gesellen  und 
Lehrlingen.  Die  sogenannten  Hausindus- 
triellen waren  ausdrücklich  ihrer  Gerichts- 
barkeit unterstellt.  Der  Beurteilung  unter- 
lagen alle  Streitsachen,  die  sich  auf  Antritt, 
Fortsetzung  oder  Auflösung  des  Arbeits- 
oder Lehrverhältnisses,  auf  die  gegenseitigen 
Ijeistungen,  auf  Erteilung  und  Inhalt  von 
Zeugnissen,  Geldforderungen,  Ersatz  des 
Schadens  für  verdorbene  oder  schlechte  Ar- 
l)eLt  u.  a.  m.  beziehen. 

In  andei-en  preussischen  Provinzen  war 
gelegentlich  einzelnen  grösseren  industriellen 
Unternehmungen  eine  Patrimonialgerichts- 
barkeit für  gewisse  Streitigkeiten  mit  ihren 
Arbeitern  zugestanden  worden,  so  z.  B. 
schon  1722  den  Gewehrfabriken  in  Pots- 
dam und  Spandau.  In  Berlin  war  lu^prüng- 
lich  die  Erledigung  der  Streitigkeiten  zwi- 
schen Fabrikunternehmem  und  iliren  Ar- 
beitern dem  Magistrate,  dann  dem  Polizei- 
direktorium übertragen  und  durch  das  Re- 
glement Ton  1792  neu  geregelt  worden. 
Hieraus  entwickelte  sich  im  Laufe  der  Jalire 
das  am  4.  April  1815  als  eine  besondere 
Deputation  des  Stadtgerichts  eröffnete  Fa- 
brikengericht. Di eses  bestand  aus  einem 
Mitglie^le  des  Stadtgerichtes  und  einem 
technischen  Mitarbeiter  und  trat  einmal 
wöchentlich  zusammen,  um  die  Parteien,  die 
sich  uneingeladen  eingefimden  hatten,  zu 
hören  und  die  anberaumt-en  Termine  abzu- 
halten. Seiner  Beurteilung  unterstanden 
1.  alle  Streitigkeiten  der  Fabrikunternehmer 
und  ihrer  Arbeiter  Über  schlechte,  kontrakt- 
widrige Arbeit,  über  ihre  Verzögerung  und 
Verfälschung,  über  das  Verderben  der  Ge- 
rätschaften und  Materialien,  über  die  Ent- 
fernung und  Abdankung  der  Arbeiter  vor 
der  Zeit,  überhaupt  alle  Streitigkeiten,  die 
unmittelbar  die  Fabrikation  und  die  doshalb 
übernommenen  oder  gesetzlich  vorgeschrie- 
benen Verpflichtungen  und  BefugnisvSe  zum 
Gegenstand  haben ;  2.  die  Streitigkeiten  der 
Fabrikuntemehmer  unter  sich  wogen  Ver- 
führung und  Abspenstigmachens  der  Ar- 
beiter; 3.  die  Untersuchung  der  gegen  Fa- 
brikgesetze von  den  Unternehmern  und  den 
Arbeitern  begangenen  Kontraventionen;  4. 
Injurien  zwischen  den  Fabrikvorgesetzten 
und  den  Ai'boitem  sowie  zwischen  den  Ar- 
beitern unter  sich;  5.  Schuldsachen,  soweit 
sie  aus  der  Fabrikverbindimg  entstehen,  mit 
Ausnahme  der  Wechselsachen:  6.  Hand- 
lungfen  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit,  deren 


Gegenstand  das  Fabrikwesen  betrifft,  sofern 
deren  Objekt  keine  stempelfähige  Summe 
erreicht. 

Die  Wirksamkeit  dieses  Fabrikengerichts 
war  eine  bescheidene,  und  Nachahmungen 
desselben  sind  in  grösserem  Massstabe  nicht 
versucht  worden.  Immerhin  wurden  am  26. 
November  1829,  indem  wie  es  scheint  sein 
Reglement  zu  Grunde  gelegt  wurde,  in  neun 
westfälischen  Städten  die  sogenannten  Fa- 
brikengerichtsdeputationen ange- 
ordnet. Die  Kompetenz  derselben  war  gegen- 
über der  des  Berliner  Gerichts  insofern  ge- 
ändert, als  die  Befugnis  zur  Aufnahme  von 
Handlungen  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit 
fehlte  und  zwei  neue  Arten  von  Streitig- 
keiten ebenfalls  zuständig  wurden.  Die  De- 
putation war  nämlich  ausser  in  den  schon 
erwähnten  Fällen  kompetent  1.  für  Streitig- 
keiten aus  Lieferungsverträgen  über  Fabriken- 
bedürfnisse  und  2.  in  konnexen  Sachen, 
wenn  die  Erfüllung  eines  zwischen  einem 
Lieferungsberechtigten  und  -verpflichteten 
geschlossenen,  vor  der  Fabrikengerichtsdepu- 
tation streitigen  Lieferungskontraktes  mit 
Verbindlichkeiten  zusammenhing,  deren  Er- 
füllung der  Lieferungsverpflichtete  gegen 
die  ihm  verpflichteten  Arbeiter,  Unterliefe- 
ranten etc.  vor  dem  gewöhnlichen  Gerichte 
klagend  verfolgte.  Gebildet  wurde  diese 
Deputation  aus  einem  Richter  und  einem 
Techniker  sowie  aus  zwei  Fabrikinhabern 
aus  dem  Gerichtsorte  als  Beisitzer,  die  aus 
der  Klasse  der  Gewerbetreibenden  mit  kauf- 
männischen Rechten  durch,  die  Gewerbe- 
steuerpflichtigen  des  Gerichtsbezirkes  aiif 
die  Dauer  von  zwei  Jahren  erwählt  wiutlen. 
Sie  trat  nicht  in  allen  westfälischen  Städten, 
für  die  sie  geplant  war,  ins  Leben,  sondern 
nur  in  Altena,  Hagen,  Iserlohn,  für  den  Ge- 
richtsjaezirk  Lüdenscheid  und  für  den  Kreis 
Siegen,  auch  hier  nur  eine  untergeordnete 
Wirksamkeit  entfaltend. 

In  der  preussischen  Gewerbeordnung  von 
1845  wimie  zwar  die  Rechtsprechung  der 
Innungen  beträchtlich  eingeschränkt,  aber 
mit  der  auf  diese  Weise  allmählich  sich 
herausbildenden  Ueberweisung  aller  gewerb- 
lichen Streitigkeiten  an  die  ordentlichen  Ge- 
richte war  man  in  Handwerkerkreisen  nicht 
zufrieden,  sondern  verlangte  Gewerbegerichte 
nach  französisch-rheinischem  Muster.  Die 
Nationalversammlung  sprach  sich  im  allge- 
meinen für  gesonderte  fachliche  Laieuge- 
richte  aus,  und  §  47  der  Grundrechte  lautete : 
»Die  bürgerliche  Rechtspflege  soU  in  Sachen 
besonderer  Berufserhebung  durch  sachkun- 
dige, von  den  Borufsgenossen  gewählte 
Richter  geübt  oder  mitgeübt  werden.«  War 
auch  in  dem  Ent^nirfe  einer  deutschen  Ge- 
werbeoi'dnung,  den  das  Parlament  ausarbeiten 
liess,  die  Errichtung  gewerblicher  G«nossen- 
gerichte   nicht  vorgesehen,   so  wurden   sie 


Öewerbegerichte 


397 


doch  von  den  verschiedensten  Seiten  befür- 
wortet, und  unter  dem  Drucke  der  öffent- 
lichen Meinung  berief  die  preussische  Re- 
gierung einen  Ausschuss  von  Arbeitgebern 
und  Arbeitnehmern  zur  Beratung  über  die 
Frage  nach  Berlin.  Dieser  stellte  unter 
Mitwirkung  von  Mitgliedern  des  Handels- 
imd  Justizministeriums  einen  Entwurf,  betr. 
die  Errichtung  von  Gewerbegerichten,  auf, 
der  am  2.  Februar  1849  Gesetzeskraft  er- 
hielt. Für  die  ganze  Monarchie  bestimmt, 
traten  diese  Gerichte  im  Laufe  der  nächsten 
drei  Jahre  doch  nur  an  11  Orten  wirklich 
ins  Leben :  in  Magdeburg,  für  die  Grafschaft 
Wernigerode,  in  Halle,  Stettin,  Breslau, 
Schwedt,  Minden,  Liegnitz,  Görlitz,  Hatibor 
und  Sagan,  gingen  aber  bald  wieder  ein. 
Allerdings  schloss  sich  die  neue  Gesetz- 
gebung der  bewährten  rheinischen  an,  allein 
man  unterliess,  das  Verfahren  genau  vorzu- 
schreiben, stellte  die  Zuständigkeit  nicht 
ganz  klar,  setzte  die  Gerichtskosten  zu  hoch 
an  und  arbeitete  viel  zu  langsam.  So  er- 
rangen die  Gerichte  weder  bei  den  Gemein- 
den noch  bei  den  Gewerbetreibenden  Beifall. 

In  Sachsen  war  gleichfalls  in  den  40er 
Jahren  die  Errichtung  besonderer  Fabrik- 
gerichte durch  Petitionen  angeregt  und  1846 
in  der  zweiten  Kammer  darüber  verhandelt 
wonlen,  ohne  dass  es  zu  einem  greifbaren 
Ergebnis  gekommen  war.  Zum  zweiten 
Male  wai'  1857  in  einem  den  Kammern  von 
der  fiegierung  vorgelegten  Entwürfe  einer 
Gewerbeordnung  von  Gewerbegerichten  die 
Rede,  doch  blieb  auch  jetzt  der  Gegenstand 
unerledigt.  Erst  am  15.  Oktober  1861  kam 
es,  im  Zusammenhange  mit  einer  allgemeinen 
Regelung  der  gewerblichen  Verhältnisse,  zu 
einem  Gesetz,  betreffend  die  Errichtung  von 
Gewerbegerichten.  Hiernach  konnten  Ge- 
werbegerichte auf  Anordnimg  des  Ministe- 
riums des  Innern,  auf  Antrag  der  Handels- 
und Gewerbekammer  oder  von  Gewerbe- 
treibenden eröffnet  werden.  Der  Vorsitzende 
soUte  ein  rechtskundiger  Verwaltungsbeamter 
sein,  der  vom  Ministerium  des  Innern  er- 
nannt wiuxle.  Arbeitnehmer  und  Arbeit- 
geber, auf  je  6  Jahre  von  den  betreffenden 
Klassen  gewählt,  bildeten  die  Beisitzer.  Die 
Wirksamkeit  dieses  Gesetzes  war  eine  sehr 
geringe.  Nur  ein  einziges  Gericht  wurde 
ins  Leben  genifen:  in  Meissen,  aber  selbst 
dieses  erlangte  nie  ii'gend  eine  Bedeutung. 

Von  den  übrigen  deutschen  Staaten  hat 
nur  das  Herzogtum  Sachsen-Gotha,  in 
Anlehnung  an  die  von  dem  Handwerker- 
kongress  in  Frankfurt  a.  M.  geäusserten 
Wünsche,  den  Versuch  gemacht,  Gewerbe- 
gerichte zu  eröffnen.  Nach  zwei  gleichlau- 
tenden Gesetzen  vom  Jahre  1849,  die  für 
die  Städte  Ohrdruf,  Waltershausen  und  den 
Amtsbezirk  Ichtershausen  erlassen  wiu*den, 
war  die  Organisation  die  folgende.    Neben 


den  Obermeistern  der  Innimg,  die  keine 
eigentliche  Gerichtsbarkeit  besassen,  befand 
sich  ein  aus  der  Innung  hervorgegangenes 
Friedensgericht,  das  vorzugsweise  dazu  aus- 
ersehen war,  die  Streitigkeiten  mehr  persön- 
licher Natm'  zwischen  Meistern  und  Ge- 
sellen zu  schlichten,  indes  auch  über  reine 
Rechtssachen  entscheiden  konnte,  sofern  die 
Parteien  damit  einverstanden  waren,  üeber 
dem  Friedensgerichte  stand  als  eine  Abtei- 
limg  der  Gewerbekammer  das  eigentliche 
Gewerbegericht.  Gelangte  nun  eine  Klage- 
sache nicht  vor  dem  Friedensgerichte  zur 
Entscheidung,  so  wiurde  sie  vor  das  Ge- 
werbegericht gebracht,  wo  aber  zunächst  ein 
Sühneversuch  angestellt  werden  musste. 

3.  Die  deutschen  G.  seit  1869  und 
ihre  Nenorganisatioii  vom  29.  Juli 
1890.  Nach  §  108  der  Gewerbeordnung 
von  1869  wai*en  in  erster  Linie  die  Ge- 
meindebehörden für  die  Entscheidung  der 
Streitigkeiten  selbständiger  Gewerbetreiben- 
der mit  ihren  Hilfepersonen  zuständig.  Alle 
Uneinigkeiten,  die  sich  auf  den  Antritt,  die 
Fortsetzung  oder  Aufhebung  des  Arbeits- 
oder Lehrverhältnisses,  auf  die  gegenseitigen 
Leistungen  während  seiner  Dauer  oder  auf 
die  Erteilung  oder  den  Inhalt  gewisser 
Zeugnisse  bezogen,  mussten,  sofern  nicht 
besondere  Behörden  bestanden,  hier  zum 
Austrag  kommen.  Der  Rechtsweg  für  die 
ordentlichen  Gerichte  konnte  nicht  frilher 
beschritten  werden,  bevor  die  Entscheidung 
der  Gemeindebehöi-de  ergangen  war.  Statt 
der  Gemeindebehörden  konnten  durch  Orts- 
statut besondere  Schiedsgerichte  mit  der  Er- 
ledigung dieser  Streitigkeiten  betraut  wer- 
den. Ferner  war  seit  1881  den  Innungen 
die  Entscheidung  von  Streitigkeiten  der  er- 
wähnten Art  zwischen  Innungsmitgliedern 
und  deren  Lehrlingen  als  obligatorische 
(Innungsspnichbehörde),  zwischen  Innungs- 
mitgliedern und  ihren  Gehilfen  als  fakulta- 
tive Aufgabe  (Innungsschiedsgericht)  zuge- 
fallen. Seit  1887  war  die  Kompetenz  cler 
letzteren  dahin  erweitert,  dass  auch  Nicht- 
innungsmitglieder  und  deren  Gesellen  ihnen 
unterstellt  werden  konnten.  Endlich  gab 
es  in  einigen  Gebietsteilen  die  schon  er- 
wähnten, auf  landesgesetzlichen  Normen  be- 
ruhenden Behörden.  Die  sachliche  Zustän- 
digkeit dieser  vier  Arten  von  rechtsprechen- 
ien  Behörden  erfuhr  durch  das  Kranken- 
versicherungsgesetz von  1883  eine  Ausdeh- 
nung. Von  nun  ab  wurden  die  Streitig- 
keiten zwischen  Arbeitgebern  und  den  von 
ihnen  beschäftigten  Personen  über  die  An- 
rechnung und  Berechnung  der  Kranken- 
kassenbeiträge ebenfalls  von  ihnen  ausge- 
tragen. Diese  Mannigfaltigkeil  der  Organi- 
sation war  weit  entfernt  von  befriedigenden 
Zuständen.  Die  Gemeindebehörden  erwiesen 
sich  der  ihnen  zugemuteten  Aufgabe  nicht 


398 


Grewerbegerichte 


recht  gewachsen;  gewerbliche  Sclüedsge- 
richte  wurden  in  geringer  Zahl  begründet, 
und  die  Innungen,  deren  Wiederbelebung 
zunächst  überhaupt  langsam  vor  sich  ging, 
bequemten  sich  gleichfalls  nur  selten  zur 
Eröffnung  von  Schiedsgerichten.  Auf  diese 
Weise  offenbarte  sich  ein  Mangel  an  Ge- 
richten, der  sehr  bedenklich  wai»,  weil  er  in 
dem  Arbeiter  das  Gefühl  der  Rechtsver- 
weigerung hervorrufen  konnte,  und  nicht 
minder  beklagenswert  war  die  Buntscheckig- 
keit in  der  Verfassung  der  wenigen  amtie- 
renden Schiedsgerichte.  So  war  bereits  seit 
1873  die  Reformbedürftigkeit  dieser  Ange- 
legenheit anerkannt,  und  der  Reichstag  be- 
fasste  sich  wiederholt  mit  auf  die  Einfüh- 
rung von  Gewerbegerichten  bezüglichen  Vor- 
lagen. Doch  dauerte  es  nahezu  20  Jahre, 
bis  endlich  am  29.  Juli  1890  das  Gesetz  zu 
Stande  kam,  das  der  heutigen  Organisation 
zu  Grande  liegt. 

Die  gewerbliche  Rechtspflege  der  cha- 
rakterisierten Art  ist  gegenwärtig  den  Ge- 
werbegerichten, den  Innungsgerichten  und 
den  Gemeindevorstehern  anvertraut.  Der 
Schwerpunkt  des  Gesetzes  ruht  in  den  G^ 
Werbegerichten,  deren  Einsetzung  den  Ge- 
meinden und  weiteren  Kommunalverbänden 
überlassen  bleibt.  Diese  Gewerbegerichte 
sind  nicht  als  kommunale  Einrichtungen  an- 
zusehen, sondern  sind  staatliche  Gerichte, 
die  im  Namen  des  Landesherm  Recht 
sprechen.  Sie  stehen  mit  den  Amtsgerichten 
auf  einer  Stufe,  und  von  ihnen  ergeht  die 
Berufung  an  das  Landgericht,  in  dessen 
Bezirk  das  Gewerbegericht  seinen  Sitz  hat. 

Die  sachliche  Zuständigkeit  des  neuen 
Gewerbegerichts  ist  in  ihren  bisherigen 
Grenzen  geblieben  und  nur  insofern  be- 
stimmter bezeichnet  worden,  als  ausdrück- 
lich auch  alle  Ansprüche  auf  Entschädigung, 
einschliesslich  derjenigen,  die  erst  mit  dem 
Zeitpunkt  der  Entlassung  oder  des  Austritts 
des  Arbeiters  entstehen,  vor  die  Gewerbe- 
gerichte verwiesen  werden.  Dagegen  ist 
die  persönliche  Zuständigkeit  auf  mehrere 
Arbeiterkategorieen  ausgedehnt  worden.  Es 
können  nämlich  für  die  Bergarbeiter 
gleichfalls  Gewerbegerichte  emchtet  >\'erden, 
die  aber  von  der  Landescentralbehörde  an- 
geordnet werden  und  ausschliesslich  nur 
für  die  Bergarbeiter  des  betreffenden  Bezirks 
zuständig  sind.  Weiter  sind  die  Streitig- 
keiten der  Vorstände  der  unter  staatlicher 
Verwaltung  stehenden  gewerblichen  Anlagen 
mit  ihren  Arbeitern  ebenfalls  den  Gewerbe- 
gerichten unterworfen.  Dahin  gehören  die 
Reichs-  und  Staatsdruekereien ,  die  staat- 
lichen Münzanstalten  und  die  hei  den 
Staatsbahnen  befindlichen  Werkstätten, 
wälu'ond  die  luiter  der  Militär-  und  Marine- 
verwaltung stehenden  Betriebsanlagen,  d.  h. 
also  die   staatlichen  Pulver-,  Gewehr-   und 


sonstigen  Waffenfabiiken,  Werfte,  Reparatur- 
werkstätten ausdrücklich  ausgenommen  sind. 
Endlich  sind  die  Gewerbegerichte  für  die 
»Heimarbeiter  uüd  Hausgewerbetreibende« 
zuständig,  von  denen  zwei  Kategorieen  aus- 
einander gehalten  werden.  Nur  sofern  ihi-e 
Besch^igung  auf  die  Verarbeitung  oder 
Bearbeitung  der  ihnen  von  ihren  Arbeit- 
gebern gelieferten  Rohstoffe  oder  Halb- 
fabrikate sich  bezieht,  sind  sie  dem  Ge- 
werbegericht obligatorisch  unterworfen.  Ob 
die  Hausindustriellen,  die  sich  die  zu  ver- 
arbeitenden Rohstoffe  oder  Halbfabrikate 
selbst  beschaffen,  gleichfalls  der  Kompetenz 
des  Gewerbegerichts  unterliegen  oder  nicht, 
bestimmt  die  Gemeinde.  Die  Streitigkeiten 
der  Hausindustriellen  mit  den  etwa  von 
ihnen  beschäftigten  Personen  gehören  stets 
vor  die  Gewerbegerichte. 

Das  Gewerbegericht  ist  zusammengesetzt 
aus  einem  Vorsitzenden,  dessen  Stellver- 
treter und  mindestens  vier  Beisitzern,  von 
denen  zwei  Arbeitgeber,  zwei  Arbeiter  sein 
müssen.  Der  Vorsitzende  und  sein  Stell- 
vertreter dürfen  weder  Arbeitgeber  noch 
Arbeitnehmer  sein  und  werden  durch  den 
Magistrat  oder  durch  die  Gemeindever- 
tretung, in  weiteren  Eommunalverbänden 
durch  die  Vertretung  des  Verbandes  ge- 
wählt. Eine  besondere  Vorbildung,  z.  B. 
Befähigung  zum  Richteramte  oder  zum 
höheren  Verwaltungsdienste  ist  für  sie  nicht 
vorgesehen,  doch  unterliegt  es  keinem 
Zweifel,  dass  ortsstatutarisch  bestimmte  Er- 
fordernisse, wie  etwa  juristische  Bildung, 
vorgeschrieben  werden  können.  Die  Wahl 
des  Vorsitzenden  und  des  Stellvertreters 
bedarf  der  Bestätigung  der  höheren  Ver- 
waltungsbehörde, in  deren  Bezirk  das  Gre- 
werbegericht  seinen  Sitz  hat.  Die  Beisitzer 
werden  in  unmittelbarer  und  geheimer  Wahl 
in  gleicher  Anzahl  von  den  Arbeitgebern 
und  Arbeitern  gewählt.  Das  aktive  Wahl- 
recht steht  nur  denen  zu,  die  ihr  25.  Lebens- 
jahr vollendet  haben  und  seit  mindestens 
einem  Jahre  in  dem  Gerichtsbezirke  wohnen 
oder  beschäftigt  sind.  Die  Wählbarkeit 
aber  ist  an  die  Vollendung  des  30.  Lebens- 
jahres und  an  mindestens  zweijährigen 
Wohnsitz  oder  Beschäftigung  im  Gerichts- 
bezirke geknüpft.  Eine  Besoldung  der  Bei- 
sitzer ist  gesetzlich  aiusgeschlossen,  doch 
kann  ihnen  eine  Entschädigung  für  Zeitver- 
säumnis und  eine  Vergütung  etwaiger  Reise- 
kosten zugebilligt  werden. 

Die  wichtigste  Aufgabe  des  Gewerbege- 
richts ist  nun,  den  bei  ihm  anhängig  ge- 
machten Rechtsstreit  gütUc^h  beizulegen.  Es 
besteht  eine  Verpflichtung  des  Gerichts,  bei 
Anwesenheit  der  Pai-teien  auf  eine  Aus- 
söhnung hinzuwirken,  und  erst  wenn  der 
Vergleich  nicht  zu  stände  kommt,  ist  über 
den  Reclitsstreit  zu  verhandeln.    Üebrigens 


Gewerbegerichte 


399 


kann  der  Sühneversiich  in  jedem  Stadium 
der  Verhandlung  erneuert  und  muss  beim 
Schliiss  wiederholt  werden.  Das  Verfahren 
selbst  lehnt  sieh  eng  an  die  Vorsclu-iften 
an,  die  die  Civilprozessordnung  für  das 
Verfahren  vor  den  Amtsgerichten  vorge- 
schrieben hat.  Die  wichtigste  Abweichung 
ist,  dass  der  Prozessbetrieb  diux-h  die 
Parteien  durch  den  Offizialbetrieb  seitens 
des  Gerichts  ersetzt  ist  Eine  Berufimg  ist 
unzulässig  bei  einer  Werthöhe  des  Streit- 
gegenstandes von  100  Mark;  dagegen  ist 
das  Rechtsmittel  der  Beschwerde  unab- 
hängig von  dem  Werte  des  Streitgegen- 
standes anwendbar.  Die  Kosten  der  Er- 
richtung und  Unterhaltung  der  Gewerbege- 
richte fallen  der  Gemeinde  oder  dem 
weiteren  Kommunalverbande  zu ;  die  Kosten 
der  Berggewerbegerichte  müssen  von  der 
Staatskasse  bestritten  werden.  Die  Gerichts- 
gebühren sind  sehr  nässig  angesetzt:  sie 
steigen  in  Wertklassen  und  betragen  bei 
einem  Streitgegenstande  bis  20  Mark  ein- 
schliesslich 1  Mark,  von  mehr  als  20 — 50 
Mark  einschliesslich  1 — 2  Mark,  von  mehr 
als  50 — 100  Mark  einschliesslich  3  Mark 
und  so  fort  bis  höchstens  30  Mark.  Die 
ferneren  Wertklassen  steigen  um  je  100 
Mark,  die  Gebühren  um  je  3  Mark.  Bei 
Vereleichen  wird  keine  Gebülir  erhoben. 

Das  Gewerbegericht  aber  ist  nicht  nur 
ein  rechtsprechendes  Forum,  sondern  es  übt 
gleichzeitig  eine  gutachtende  Thätigkeit  aus. 
Es  ist  verpflichtet,  auf  Ansuchen  von  Staats- 
behörden oder  des  Voi*standes  von  Kommu- 
nalverbänden über  gewerbliche  Fragen  Gut- 
achten abzugeben,  zu  deren  Abfassung  Aus- 
schüsse aus  seinen  Mitgliedern  gebildet  wer- 
den können.  Ueber  das  Gewerbegericht  als 
Einigungsamt  s.  d.  Art.  Einigungs- 
ämter oben  Bd.  III  S.  336ff. 

Wo  ein  Gewerbegericht  nicht  vorhanden, 
kann  in  gewerblichen  Streitigkeiten  der  be- 
regten Axt  die  Entscheidung  des  Gemeinde- 
vorstehers nachgesucht  werden,  aber  die 
Parteien  sind  nicht  verpflichtet  sie  anzu- 
rufen, sondern  können  ihre  Klagen  auch 
dii-ekt  bei  den  ordentlichen  Gerichten  an- 
hängig machen.  Die  riditerliche  Thätigkeit 
des  Gemeindevorstehers  ist  nur  eine  aus- 
hilfliche, seine  Entscheidung  mu*  eme  vor- 
läufige und  kann  binnen  einer  Notfrist  von 
10  Tagen  durch  Klage  bei  dem  ordentlichen 
Gerichte  beseitigt  werden,  üeberdies  ist 
seine  Zuständigkeit  eingeschränkt.  Er  kann 
nur  Streitigkeiten  über  den  Antritt,  die 
Fortsetzung  oder  die  Auflösung  des  Arbeits- 
verhältnisses sowie  über  die  Aushändigung 
oder  den  Inhalt  des  Arbeitsbuches  oder 
Zeugnisses  und  über  die  Berechnung  und 
Anrechnung  von  Krankenkassenbeiträgen 
entscheiden.  Für  Streitigkeiten  über  Leis- 
tungen   und    Entschädigungsansprüche  aus 


dem  Arbeitsverhältnisse  und  in  Bezug  hier- 
auf bedungene  Konventionalstrafen  ist  er 
nicht  einmal  subsidiär  zuständig. 

Neben  dem  Gewerbegerichte  smd  die 
Inuungsspnichbehörde  und  das  Innungs- 
schiedsgericht nach  wie  vor  zur  Entschei- 
dung von  Streitigkeiten  auserseheu;  ihre 
Zuständigkeit  schliesst  die  Zuständigkeit 
eines  für  den  Bezirk  der  Innung  bestehen- 
den oder  später  errichteten  Gewerbegerichts 
aus.  Die  Innungsspruchbehörde,  früher  nur 
subsidiär  zur  Rechtsprechung  berufen,  ist 
jetzt  ausschliesslich  zur  Entscheidung  von 
Lehrlingsstreitigkeiten  berechtigt,  selbst  da, 
wo  Gewerbegerichte  schon  ins  Leben  ge- 
treten sind.  Das  Innungsschiedsgericht  ist 
zunäclist  zuständig  für  Streitigkeiten  der 
InnungsmitgHeder  und  deren  Gesellen. 
Wenn  aber  durch  die  Verwaltungsbehörde 
bestimmt  ist,  dass  Arbeitgeber  und  deren 
Gesellen,  die  der  Innung  nicht  angehören, 
obwohl  sie  ein  in  derselben  vertretenes 
Gewerbe  betreiben,  zu  den  Kosten  des  er- 
öffneten Innimgsschiedsgerichts  beizutragen 
haben,  so  tritt  es  an  die  Stelle  der  sonst 
zuständi^n  Behörden,  falls  es  von  einem 
der  streitenden  Teile  angerufen  wird.  Die 
sachliche  Zuständigkeit  beider  Institutionen 
ist  die  gleiche  wie  die  des  G^werbegerichtes, 
doch  smd  ihre  Entscheidungen  nur  vor- 
läufige. Binnen  10  Tagen  steht  die  Be- 
nifung  auf  den  Rechtsweg  durch  Erhebung 
der  Klage  bei  den  ordentlichen  Gerichten 
offen. 

Bei  der  Errichtung  von  Gewerbegerichten 
auf  Grund  des  neuen  Gesetzes  sind  Diffe- 
renzen zwischen  Behörden,  Unternehmern 
und  Arbeitern  nicht  ausgeblieben.  Ver- 
schiedene Konuuunen  und  Landescentralbe- 
hörden  nahmen  eine  ablehnende  Haltung 
ein  und  haben  dieselbe  bis  auf  den  heutigen 
Tag  noch  nicht  aufgegeben.  Als  Grund 
wird  gewöhnlich  angeführt  Geringfügigkeit 
der  gewerblichen  Entwickelung  oder  selte- 
nes Vorkommen  gewerblicher  Streitigkeiten. 
Dahinter  mögen  andere  nicht  ausgesprochene 
Motive  lioffen,  wie  etwa  Scheu  vor  den  Kosten 
oder  vor  dem  sozialdemokratischen  Einfluss 
auf  die  arbeitenden  Klassen.  Indes  ist  die  Be- 
rechtigung dieser  Bedenken  doch  zweifelhaft. 
Denn  wenn  beispielsweise  vor  dem  Amts- 
gericht oder  dem  Magistrat  wenig  Streit- 
sachen abgehandelt  zu  werden  pflegen,  so 
ist  damit  noch  nicht  gesagt,  dass  kein  Be- 
dürfnis nach  Rechtsprechung  vorliegt.  Ge- 
rade die  mit  der  Anrufung  des  gewöhnlichen 
Gerichts  verbundenen  Zeitverluste  und  Kos- 
ten sowie  das  geringe  Vertrauen  auf  ein 
sachgemässes  Endurteü  hindern  die  Inte- 
ressenten, es  so  in  Anspruch  zu  nehmen, 
als  es  ihnen  wünschenswert  erscheint.  Es 
ist  daher  zu  fürchten,  dass  die  ablehnenden 
Bescheide  der  Behörden  unter  den  Antrag- 


400 


Gewerbegerichte 


stellerQ  ünzufriedeuheit  und  Erregung  her- 
vorrufen, die  in  der  Gesamtheit  sich  em- 
pfindlicher geltend  machen  als  der  Miss- 
brauch, der  eventuell  bei  der  neuen  Ein- 
richtung vorkommen  könnte.  Uebrigens 
ist  in  den  Kreisen  der  Beteiligten  selbst 
auch  noch  keine  volle  üebereinstimmung 
über  die  Bedeutung  und  den  Wert  der 
neuen  Gerichte  erreicht.  Und  dieser  Um- 
stand mag  auf  die  EntSchliessungen  der 
Behörden  zurückwirken.  Zwar  heben  die 
neueren  Mitteilungen  der  Gewerbeaufsichts- 
beamten (1897,  1898)  hervor,  dass  die  In- 
anspruchnahme der  Gewerbegerichte  zuge- 
nommen hat  und  ihre  Wirksamkeit  als  eine 
segensreiche  bezeichnet  werden  könne.  Ins- 
besondere in  den  Kreisen  der  Arbeiter  er- 
freuen sie  sich  einer  fortgesetzten  Aner- 
kennung, seit  es  bekannt  geworden  ist,  dass 
nicht  nur  die  gelernten,  sondern  auch  die 
in  einem  Gewerbebetriebe  beschäftigten  ge- 
wöhnlichen ungelernten  Arbeiter  vor  ihrem 
Fonim  das  Kecht  suchen  können.  Dafür 
aber  stehen  noch  immer  manche  Arbeit- 
geber und  Betriebsleiter  den  Gewerbege- 
richten kühl  gegenüber,  wenn  auch  die 
einsichtsvoUeren  unter  ihnen  die  für  das 
Gesamtwohl  erspriessliche  und  segensreiche 
Thätigkeit  zugegeben  habeu.  Augenschein- 
lich befürchtet  man  in  diesen  Ki*eisen  eine 
Erschwerung  der  Aufrechterhaltung  der 
Disciplin  und  den  grundsätzlichen  Wider- 
stand der  Arbeiter  gegen  die  Urteile  der 
Gerichte,  sofern  sie  nicht  mit  ihnen  über- 
eingestimmt haben.  Aber  gewiss  sind  das 
Vorurteile,  die  um  so  mehr  zu  bedauern 
sind,  als  wie  die  Gewerbeaufsichtsbeamten 
selbst  betonen,  die  von  den  G^werbegerich- 
ten  allmählich  geschaffene  Einheitlichkeit 
der  Rechtsanschauungen  von  grossem  Werte 
auch  für  die  Handhabung  des  Gewerbeauf- 
sichtsdienstes ist. 

Schwere  Eingriffe  in  die  Rechte  der 
Gewerbegerichte  erwartet  man  von  der  Ver- 
allgemeinerung der  Innungsschiedsge- 
richte, wie  sie  mit  dem  neuen  Hand- 
werkergesetz verbimden  ist.  Wenigstens 
hat  eine  Konferenz  der  Arbeiterbeisitzer  der 
pfälzischen  Gewerbegerichte  kürzlich  diese 
Ansicht  zum  Ausdruck  gebracht.  Man  er- 
blickt in  der  Organisation  der  Innungs- 
schiedsgerichte eine  ungerechte  Stärkung 
des  Einflusses  der  Arbeitgeber,  die  in  den 
meisten  Fällen  von  vornherein  die  Majorität 
haben  werden  und  sich  dadurch  leicht  dem 
Vorwurfe  der  Parteilichkeit  aussetzen.  Auch 
hält  man  ilmen  vor,  dass  ihnen  alle  pro- 
zessualen Garantieen  und  Rechte  felilen  und 
ihre  Urteüe  ohne  Rücksicht  auf  den  Wert 
des  Streitgegenstandes  anfechtbar  sind.  In 
jener  Konferenz  hat  man  beschlossen,  mit 
allen  gesetzlichen  Mitteln  im  Interesse  einer 
einheitlichen    Rechtsprechung    in    den    aus 


dem  Arbeitsvertrage  sich  ergebenden  Strei- 
tigkeiten gegen  die  Errichtung  von  Innun^- 
scbiedsgerichten  zu  wirken.  Indes  schemt 
diese  Besorgnis  etwas  übertrieben.  Denn 
haben  seither  die  Innungsscliiedsgerichte  die 
Wirksamkeit  der  Gewerbegerichte  nicht  zu 
beeinträchtigen  vermocht,  so  werden  sie 
trotz  der  neuerlichen  Massnahmen,  sie  po- 
pulärer zu  machen,  da  sie  doch  in  ihrem 
Wesen  keine  Verändenmgen  erfahren  haben, 
wahrscheinlich  auch  in  Zukunft  keine  grossen 
Erfolge  aufzuweisen  haben. 

Wie  sehr  man  die  Zweckmässigkeit  der 
Gewerbegerichte  in  weiten  Kreisen  der  Be- 
völkerung anerkennt,  dafür  spricht  ein 
Beschluss,  wie  er  im  August  1898  auf  dem 
deutschen  Katholikentage  gefasst  wurde,  der 
darin  gipfelte,  ihre  Errichtung  in  allen  In- 
dusü-iegegenden  thunlichst  zu  befördern, 
sowie  auch  der  in  anderen  Schichten  des 
Erwerbslebens  auftauchende  Wunsch  nach 
ihnen.  Nicht  nur,  dass  von  vielen  Seiten 
die  Ausdehnung  der  Zuständigkeit  auf  den 
Handelsstand  erstrebt  wird,  haben  neuer- 
dings die  Landwirte  ebenfadls  Neigung  für 
sie  bekundet  Der  im  März  1895  in  Berlin 
versammelte  Deutsche  Landwirtschaftsrat 
hat  beschlossen,  den  Reichskanzler  zu  er- 
suchen, bei  der  in  Aussicht  genommenen 
Reform  der  Civilprozessordnung  auf  die  Er- 
richtung landwirtschaftlicher  Schöf- 
fengerichte Bedacht  nehmen  zu  wollen. 
Desgleichen  hat  der  zweite  deutsche  See- 
raannskongress,  der  vom  9. — 11.  Januar  1899 
in  Hamburg  tagte,  für  die  aus  dem  Arbeits- 
veilrage  zwischen  Seeleuten  und  Eleedem 
resp.  deren  Vertretern  herrührenden  Streit- 
fälle Seeschöffengerichte  verlangt 

Unter  den  bestehenden  Gewerbegerichten 
ist  seit  dem  Juni  1893  eine  engere  Ver- 
einigung erzielt  worden,  die  gegenwärtig 
etwa  80  Städte  umfasst.  Sie  bezweckt  den 
gegenseitigen  Austausch  der  gemachten  Er- 
fahrungen sowie  die  Mitteilung  wichtiger 
Urteile,  Gutachten,  Anträge,  Statuten,  Ge- 
schäftsberichte. Unter  dem  Titel  »Mittei- 
lungen des  Verbandes  deutscher  Gewerbe- 
gerichte«^  wird  eine  Druckschrift  herausge- 
geben, die  ursprünglich  als  »Beilage  zur 
sozialen  Praxis«,  seit  1899/1900  selbständig 
in  14tägigen  Zwisclienräumen  erscheint 
Es  ist  vorgesehen,  alle  auf  die  Thätigkeit 
der  Gewerbegerichte  bezüglichen  Gutachten 
und  dergleichen  mehr  zu  sammeln,  nach 
einheitlichem  Formular  regelmässig  Berichte 
über  den  Geschäftsumfang  der  Gerichte  auf- 
zustellen und  zeitweise  Zusammenkünfte 
zu  veranstalten,  auf  denen  wichtige,  das 
Gesetz  von  1890  und  die  Gewerbeordnung 
oder  einschlägige  Gesetze  betreffende  Fragen 
erörtert  werden  sollen.  Zu  den  Kosten  der 
Vereinigung  haben  beitretende  Gewerbege- 
richte einen  Beitrag  von  mindestens  20  Mark. 


Gewerbegerichte 


401 


Privatpersonen  von  mindestens  10  Mark  zu 
leisten. 

4.  Die  Rechtsprechung  der  deutschen 

G.  Ueber  die  Entscheidungen  der  Ge- 
werbegerichte sind  namentlich  in  der  ersten 
Zeit  und  zwar  vorzugsweise,  wenn  nicht 
ausschliesslich,  auf  Seiten  der  Unternehmer 
Klagen  laut  geworden.  So  sollten  vielfach 
einseitig  arbeiterfreundliche  und  juristisch 
widersinnige  Urteile  zu  stände  gekommen 
sein.  Dass  die  Gewerbegerichte  Urteile  ge- 
fällt haben,  die  gegen  den  wahren  Wortlaut 
des  Gesetzes  verstiessen  und  in  denen  sie 
sich  über  das,  was  Rechtens  ist,  hinweg- 
setzten, giebt  Jastrow  (a.  a.  0.  in  Jahrb.  f. 
Nat.  u.  Stat  Bd.  14,  S.  368),  der  sich  mit  diesem 
Thema  eingehend  beschäftigt  hat,  allerdings 
zu.  Aber  er  hat  wohl  nicht  Unrecht,  wenn  er 
darauf  aufmerksam  macht,  dass  überall,  wo 
ein  Machtinteresse  in  die  Jurisdiktion  hinein- 
spielt, —  und  der  Gegensatz  von  Arbeit- 
geber und  Arbeitnehmer  erzeugt  dieses  — 
die  Versuchung  vorhanden  ist,  die  jurisdik- 
tioneUe  Befugnis  zur  Stärkimg  der  Macht- 
sphäre zu  gebrauchen.  Es  würde  sich 
demnach  nicht  um  eine  specifische  Erschei- 
nung gerade  der  Gewerbegerichte  handeln. 
Dass  sozialdemokratische  Mitglieder  des 
Gewerbegerichts  von  einer  Centralstelle  aus 
mit  Rücksicht  auf  ihre  Abstimmung  beein- 
flusst  und  zur  Verantwortung  gezogen  wor- 
den sind,  ist  ferner  in  der  That  vorgekom- 
men. Aber  diese  Centralstelle  ist  eigentlich 
zu  einem  anderen  Zweck  errichtet  worden, 
nämlich  um  die  Beisitzer  und  solche,  die  es 
werden  wollen,  mit  den  einschlägigen  Fra- 
gen an  der  Hand  von  Fällen  aus  dem  prak- 
tischen Leben  vertraut  zu  machen.  Und  es 
darf  darauf  verwiesen  werden,  dass  in  den 
Kreisen  der  Arbeiter  selbst  diese  AuMcht 
über  ihre  Genossen,  die  als  Beisitzer  funk- 
tionieren, keineswegs  gebüligt  wird,  ja  direkt 
jene  Anschauung  bekämpft  worden  ist,  die 
es  für  notwendig  hielt,  dass  Beisitzer  zur 
Verantwortung  gezogen  werden  könnten. 
So  ist  also  zu  hoffen,  dass  diese,  freilich 
mit  dem  Richteramte  unvereinbare  Kon- 
trolle sich  nicht  wiederholen  wird.  Es  hat 
denn  auch  die  Erfahrung  gelehrt,  dass  man 
mit  der  Haltung  der  Beisitzer  im  allgemei- 
nen durchaus  zufrieden  sein  kann.  Wie 
denn  z.  B.  der  Vorsitzende  des  Gewerbege- 
richts Karlsruhe,  der  gleichzeitig  auch  dem 
Gewerbegerichte  Durlach  präsidiert,  gelegent- 
lich sich  dahin  ausgesprochen  hat :  der  Fall, 
dass  ein  Urteil  anders  als  einstinunig  ge- 
fasst  werde,  sei  ihm  in  seiner  Praxis  über- 
haupt nicht  vorgekommen.  Einerseits  sind 
die  Beisitzer  stets  von  dem  Bestreben  be- 
seelt, vorhandene  Streitfälle  in  Güte  auszu- 
gleichen. Andererseits  aber  erkennen  sie 
da,  wo  richterliche  Entscheidung  nötig  ist, 
das  Gesetz  als  Richtschnur  wiUig  an,  selbst 

Handwörterbach  der  StaatBwusenschaften.    Zweite 


wenn  die  Entscheidungen  ungünstig  und 
hart  für  die  Arbeiter  ausfallen.  Dabei  unter- 
liegt es  keinem  Zweifel,  dass  die  Recht- 
sprechung sich  bewährt  So  schnell,  billig 
und  bequem  wie  beim  Gewerbegericht  kön- 
nen weder  Amtsgericht  noch  Gemeindevor- 
steher die  Klagen  erledigen.  Die  Erfahrun- 
gen einzelner  Gerichte,  z.  B.  die  des  Stutt- 
garter, bezeugen  das  offenkundig.  Und 
wenn  aus  der  von  Pabst  mitgeteilten  Sta- 
tistik sich  ergiebt,  dass  von  den  sämtlichen 
48652  in  52  Städten  im  Jahre  1896  und 
51449  in  55  Städten  im  Jahre  1897  ver- 
handelten  Sachen  durch  Vergleich  22901 
(47,1  o/o)  und  24726  (48,1^/0)  ihre  Erledi- 
gung fanden,  so  spricht  dieses  Verhältnis 
ebenfalls  zu  Gunsten  des  Gewerb^richts. 

Ob  die  Klagen  in  Ab-  oder  Zunahme 
begriffen  sind,  lässt  die  Statistik  weniger 
Jahre  noch  nicht  erkennen.  Uebrigens  ist 
man  auch  in  ZweiEel,  wie  man  sich  mit  der 
Bewegung  der  Klagen  abfinden  soll.  Es 
mag  wohl  richtig  sein,  wenn  z.  B.  in 
Nürnberg  die  Abnahme  von  Klagen  auf  gute 
Arbeits-  und  Fabrikordnungen  und  allgemein 
befriedigende  ^;eschäftliche  Verhältnisse  zu- 
rückgeführt wird.  Aber  es  braucht  deshalb 
umgekehrt  aus  der  Zunahme  der  Klagen 
nicht  gerade  ein  ungünstiger  Zustand  ge- 
folgert zu  werden.  Im  Gegenteil  muss  man 
sagen,  dass,  wenn  nun  einmal  Streitigkeiten 
zwiscnen  Unternehmern  und  Arbeitnehmern 
nicht  vermieden  werden  können,  es  wün- 
schenswert ist,  sie  zum  Austrag  vor  Gericht 
kommen  zu  sehen.  Denn  wieL  ante  nschla- 
ger  treffend  bemerkt:  nichts  erbittert  einen 
Menschen  so  sehr,  als  wenn  er  glaubt,  dass 
das  Recht  auf  seiner  Seite  sei  und  er  es 
doch  nicht  erlangen  kann.  Haben  sich  mit- 
hin nach  Eröffnung  eines  G^werbegerichts 
die  Klagen  gemehrt,  so  kann  daraus  wesent- 
lidi  nur  geschlossen  werden,  dass  die  Ar- 
beiter Vertrauen  zu  dem  Institute  gewonnen 
haben  und  ohne  gresse  Schwierigkeiten  und 
Kosten  zu  ihrem  Rechte  gelangen  können. 
In  diesem  Sinne  ist  auch  die  charakteristi- 
sche Wahrnehmung  zu  deuten,  dass  da,  wo 
G^werbegerichte  Stehen,  die  Klagen  der 
Arbeiter  erheblich  zahlreicher  als  die  Klagen 
der  Unternehmer  sind,  während  da,  wo  kein 
Gtewerbegericht  vorhanden  ist,  die  Zahl  der 
von  Unternehmern  erhobenen  Klagten  unver- 
hältnismässig gross  ist  Die  Arbeiter  unter- 
lassen eben  in  letzterem  Falle  häufig  die 
Klage,  weü  sie  fürchten,  nicht  zu  ihrem 
Rechte  zu  kommen,  wogegen  sie  zu  dem  aus 
ihren  Wahlen  hervorgegangenen  Gericht 
Vertrauen  haben. 

So  kann  man  denn  wohl  Jastrow  zu- 
stimmen, wenn  er  sagt:  Weit  entfernt  da^ 
von,  ein  neues  Moment  der  Parteilichkeit  in 
unsere  Gerichtsverfassung  getragen  zu  ha- 
ben, stellen  vielmehr  die  Gewerbegerichte 

AaflaKe.     IV.  26 


402 


Grewerbegerichte 


das  erste  organische  Mittel  dar,  um  dieser 
Parteilichkeit  innerhalb  des  einzelnen  Ge- 
richts Herr  zu  werden.  Auch  das 
will  bemerkt  sein,  dass  die  Unternehmer 
nicht,  wie  mehrfach  behauptet  wurde,  zu 
den  Gewerbegerichten  kein  Vertrauen  haben 
und  sich  von  ihnen  fern  halten.  Vielmehr 
zeigt  die  Statistik,  dass  von  68798  Klagen, 
die  im  Jahre  1896  anhängig  gemacht  wor- 
den waren,  herrührten: 

von  Arbeitern  gegen  Un- 
ternehmer 63  462  =  92,2  o/o, 

von  Unternehmern  gegen 
Arbeiter  5176=   7,5  «/o, 

von  Arbeitern  desselben 
Unternehmers  gegenein- 
ander 160=  0,3%. 
Dass  bei  Streitigkeiten  aus  dem  Arbeits- 
vertrage die  Rolle  des  Klägers  in  der 
Bq^l  dem  Arbeiter  zufällt,  versteht  sich 
von  selbst.  Der  Unternehmer  kann  nach 
§  119  a  der  Gewerbeordnung  sich  auch 
aussergerichtliche  Hilfe  gegen  seine  Arbeiter 
verschaffen.  Wenn  mithin,  nach  der  obigen 
Statistik  auf  14  Arbeiterklagen  1  Unter- 
nehmerklage kommt,  so  ist  das  kein  un- 
günstiges Verhältnis  imd  beweist,  dass  die 
Unternehmer  ebenfalls  die  Ueberzeugung 
haben  müssen,  vor  dem  neuen  Forum  zu 
ihrem  Rechte  kommen  zu  können. 

5.  Ref ormvorschlfige.  Kaufmännische 
Schiedsgerichte.  Auf  dem  Boden  des 
Deutschen  Reichs  sind  im  Jahre  1896 
284  Gewerbegerichte  thätig.  Davon  sind 
29  auf  Grund  älterer  Landosgesetze  eröffnet 
worden;  nämlich  16  kömgliche  G^werbe- 
gerichte  in  der  Rheinprovinz,  5  kaiserliche 
Gewerbegerichte  in  Elsass-Lothringen,  3  Ge- 
werbegerichte in  den  Hansestädten  sowie 
5  Bergschiedsgerichte  im  Königreich  Sachsen. 
Die  übrigen,  grösstenteils  aus  der  Initiative 
der  Gtemeindeveriretungen  hervorgegangen, 
stammen  hauptsächlich  aus  den  Jahren 
1892 — 94,  in  denen  im  Diu-chschnitt  jede 
Woche  1 — 2  Gewerbegerichte  errichtet  wur- 
den. Die  Einwohnerzahl  aller  Bezirke  zu- 
sammengenommen beträgt  16,3  Millionen 
Einwohner,  d.  h.  von  52  Millionen  Ein- 
wohnern des  Deutschen  Reichs  besitzen 
etwa  30  ®/o  gewerbegerichtliche  Jiuisdiktion. 
Obwohl  dieses  Ergebnis  als  ein  im  ganzen 
erfreuliches  angesehen  werden  darf,  so 
ist  doch  in  weiten  Kreisen  der  Bevölkerung 
Neigung  dazu  vorhanden,  die  Errichtung  von 
Gewerbegerichten  obligatorisch  zu  machen. 
Im  Jahre  1899  sind  eine  Petition  in  diesem 
Sinne  und  zwei  darauf  bezügliche  Anträge 
dem  Reichstage  zugegangen.  Die  erstere 
rührt  von  den  Hirsch-Dunckerschen  Gewerk- 
vereinen her  und  wül  neben  der  obligatori- 
schen Errichtung  von  Gewerbegeriehten  in 
allen  Bezirken  oder  Gemeinden  mit  ent- 
wickeltem   Gewerbebetrieb    das   Wahli'echt 


und  die  Wählbarkeit  auch  auf  weibliche 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  erstreckt  wissen 
sowie  das  Gewerbegericht  schon  bei  Anru- 
fung nur  eines  Teiles  als  Einigungsamt  ein- 
treten lassen.  Yon  den  beiden  Anträgen 
will  der  von  der  sozialdemokratischen  Partei 
eingebrachte  die  Zuständigkeit  obligatorisch 
zu  errichtender  Gewerbegerichte  auch  auf  die 
Entscheidung  von  Streitigkeiten  ausdehnen, 
die  aus  dem  Lohn-,  Arbeits-  und  Dienst- 
verhältnis aller  im  Gewerbe  und  Bergbau, 
in  der  Land-  und  Forstwirtschaft  und 
Fischerei,  im  Handel  und  Verkehr  oder  als 
Grinde  beschäftigten  Personen  entstehen, 
femer  die  Wählbarkeit  und  das  Wahlrecht 
auf  das  vollendete  20.  Lebensjahr  herab- 
setzen und  den  Personen  weiblichen  Ge- 
schlechts zugestehen.  Dagegen  haben  einige 
Mitglieder  der  Gentrumspartei  beantragt,  (üe 
Regierung  möge  eine  Novelle  vorlegen  zu 
dem  Zwecke,  eine  geordnete  Aufstellung 
der  Wählerlisten  wirksamer  zu  sichern,  die 
Eröffnung  von  Gewerbegerichten  obligatorisch 
zu  machen  \md  die  Gewerbegerichte  als 
Einigimgsämter  auch  ohne  Aurufen  der 
streitenden  Parteien  wirken  zu  lassen.  Bei 
den  hierüber  am  18.  und  am  25.  Januar  im 
Reichstage  vor  sich  gegangenen  Verhand- 
lungen wurde  schliesslich  der  Centrums- 
antrag allein  einer  Kommission  zur  weiteren 
Beratung  überwiesen.  Der  alsbald  erstattete 
sehr  ausführliche  Kommissionsbericht  er- 
kennt denn  in  der  That  die  Reformbedürftig- 
keit des  Gesetzes  an.  Er  schlägt  vor,  die 
Gewerbegerichte  in  Gemeinden  mit  mehr 
als  20(l5o  Einwohnern  obligatorisch  zu 
machen;  femer  die  Zuständigkeit  zu  er- 
weitern, indem  auch  über  Entschädigungs- 
ansprüche aus  gesetzwidrigen  Eintragungen 
in  Arbeitsbücher,  Zeugnisse,  Krankenkassen- 
bücher und  Quittungskalten  der  Invaliditäts- 
und Altersversicherungsanslalten  sowie  wegen 
widerrechtlicher  Vorenthaltung  dieser  Papiere 
soll  abgeurteilt  werden  können;  die  Ein- 
richtung von  Wahllisten  obligatorisch  zu 
machen  und  endlich  Vorkehrung  zu  treffen, 
dass  das  Gewerbegericht  als  Einigungsamt 
auch  dann  in  Wirksamkeit  treten  kann, 
wenn  es  zunächst  nm*  von  Seiten  einer  der 
streitenden  Parteien  angerufen  ist. 

Nicht  überaD  haben  diese  Vorschläge 
Billigung  erfahren.  Namentlich  haben  einige 
Handelskammern  die  zwangsweise  Vorladung 
der  Parteien  vor  das  Einigimgsamt  und  die 
obligatoriscjhe  Einführung  der  Gtjwerbege- 
richte  ohne  Rücksicht  auf  die  Bedürfnis- 
frage bekämpft.  Doch  unterliegt  es  kaum 
einem  Zweifel,  dass  diese  projektierten 
Neuerungen  eine  wertvolle  Ergänzung  des 
(resetzes  bilden  würden.  Ja  man  möchte 
sogar  weiter  gehen  und  noch  andere  Ver- 
vollständigungen als  erwünscht  bezeichnen. 
Das  bezieht  sich  zwar  nicht  auf  die  Frage 


Gewerbegerichte 


403 


der  Berufung,  der  bekanntlich  einen 
grösseren  Spielraum  zu  gewähren  eine  be- 
denidiche  Bewegung  im  Gange  ist.  Bis 
jetzt  ißt  sie  nur  zulässig,  wenn  der  Wert 
des  Streitgegenstandes  den  Betrag  von  100 
Mark  übersteigt  Faktisch  ist  aber  von  der 
Berufung  seither  nur  ein  geringer  Gebrauch 
gemacht  worden.  Nur  etwa  ein  Dutzend 
üewerbegerichte  hat  mehr  als  drei  Be- 
rtthingen im  ganzen  Reich  aufzuweisen.  Im 
ganzen  kamen  (1896)  auf  2948  anhängig  ge- 
wordene Sachen  über  100  Mark  272  Be- 
rufungen, d.  h.  9,2%.  Nur  bei  sechs  Ge- 
werbegerichten (Berlin,  Hambiurg,  München, 
Stuttgart,  Frankfurt  a.  M.,  Köln)  spielen  sie 
eine  erheblichere  Bolle,  indem  auf  308 
kontradiktorische  Urteile  in  Sachen  über 
100  Mark  91  Berufungen  kamen.  Doch 
wurden  von  diesen  31  durch  Zurücknahme 
oder  Vergleich  erledigt  und  von  den  anderen 
60  hatten  nur  20  einen  Erfolg.  Es  haben 
nun  die  Unternehmer,  verkörpert  durch  den 
Centralausschuss  Berliner  kaufmännischer, 
gewerblicher  und  industrieller  Vereine,  im 
Januar  1895  dem  Reichskanzler  die  Bitte 
unterbreitet,  die  Berufung  unabhängig  von 
der  Höhe  des  Objekts  für  sämtliche  Urteile 
des  Gewerbegerichts  zulässig  zu  erklären. 
Sollte  diese  Veränderung  in  der  That  be- 
hebt werden,  so  würde  sie  wohl  eine  Ver- 
schlechterung des  geltenden  Rechts  be- 
deuten, und  die  Mainzer  Handelskammer 
hatte  gewiss  recht  als  sie  dieses  Vorgehen 
dazu  geeignet  erklärte,  den  mit  dem  Ge- 
werb^ericnt  verfolgten  Zweck  zum  Teil 
illusorisch  zu  machen. 

Zu  bedauern  bleibt  es,  dass  in  dem 
Eommissionsbericht  des  Reichstages  die 
Frage  des  Proportionalwahlver- 
fahrens keine  eingehende  Behandlimg  er- 
feihren  hat.  Bei  diesem  besetzt  die  meist- 
bestimmte Partei  nicht  sämtliche  Mit- 
glieder der  zu  erwählenden  Behörde,  sondern 
nur  so  viel,  als  ihr  im  Verhältnis  zu  den 
anderen  Parteien,  die  sich  an  der  Wahl  be- 
teiligen, zukommt.  Wenn  z.  B.  30  Arbeiter 
zu  wählen  sind  und  abgegeben  werden 
320  Stimmen  für  die  Sozialdemokratie,  516 
Stimmen  für  die  Innungspartei,  180  Stimmen 
für  eine  gemischte  Liste,  so  würde  bei 
Majoritätswahlen  die  Innungspartei  das  ^anze 
Gewerbegericht  besetzen.  Beim  Proportional- 
wahlsystem dagegen  erhielten  die  Innungen 
16,  die  Sozialdemokraten  9,  die  dritte  Liste 
5  Beisitzer  (Flesch  in  Blätter  für  soziale 
Praxis,  HL  Nr.  77  S.  218).  Wenn  z.  B. 
in  Ulm  im  November  1897  bei  der  Gewerbe- 
gerichtswahl auf  Seiten  der  Arbeiter  von 
511  Stimmen  350  auf  die  gewerkschaftliche 
Liste  entiKelen,  so  ist  die  Minorität  von  ca. 
160  Stimmen,  die  bei  Proportionalwahlver- 
&hren  Anspruch  auf  etwa  \'s  der  Kandidaten 
hätte,  im  Gewerbegericht   gänzlich  unver- 


treten  geblieben.  Der  unbestreitbare  Vor- 
zug eines  derartigen  Wahlmod\is  liegt  darin^ 
dass  alle  Strömungen  zur  Würdigung  kommen 
nach  Massgabe  der  Stellung,  die  sie  im  Er- 
werbsleben bereits  errungen  haben,  und  auch 
die  an  Zahl  geringeren  Parteien  sich  eifriger 
als  bisher  an  der  Wahl  beteiligen  werden, 
da  sie  sich  unter  allen  Umständen  eine  ge- 
wisse Vertretung  im  Gericht  sichern.  Miss- 
lich bleibt  dabei,  dass  die  wirtschaftlichen 
Schichten,  die,  jede  ihrer  Bedeutung  ge- 
mäss, im  Gewerbegericht  vertreten  sein 
sollten,  nicht  in  der  Art  geschlossen  und 
durch  ein  Programm  von  einander  deutlich 
getrennt  sind,  wie  das  bei  politischen 
Parteien  der  Fall  ist. 

Um  das  Vertrauen  auf  eine  wirklich  sach- 
gemässe  Behandlung  der  Streitigkeiten  zu 
erwecken,  wird  sich  ferner  eine  berufliche 
Gliederung  des  Gewerbegeriohts  empfehlen. 
Es  müssten  eine  Anzahl  Kammern  für  be- 
stimmte Gewerbegruppen  gebildet  und  die 
Beisitzer  auf  sie  verteilt  werden.  Dann  lässt 
sich  in  weitaus  den  meisten  Fällen  Berufs- 
gleichheit der  Beisitzer  mit  den  streitenden 
Parteien  bewirken  und  die  erforderliche 
Fachkenntnis  zur  Beurteilung  des  Falles 
schaffen.  Thatsächlich  ist  dieser  Anforde- 
rung wenig  genügt,  indem  meist  nur  eine 
Kammer  besteht.  Ausnahmen  bilden  Krefeld, 
Aachen,  Magdeburg,  wo  2  Kammern,  Ham- 
biug,  wo  7,  Berlin,  wo  8  Kammern  gebildet 
sind.  In  Krefeld  und  Aachen  ^ebt  es  eine 
Kammer  für  die  Textilindustne,  und  eine 
andere  für  alle  übrigen  Gewerbe.  In  Magde- 
burg besteht  eine  Kammer  für  die  Bauge- 
werbe und  eine  zweite  für  alle  anderen. 
Das  Berliner  Gewerbegericht  gliedert  sich 
in  folgender  Weise:  1.  Schneiderei-  und 
Näherei,  2.  Textil-,  Leder-,  Pelzindustrie; 
3.  Baugewerbe;  4.  Holz-  und  Schnitzstoffe: 
5.  Metalle;  6.  Nalirungsmittel ;  7.  Handel 
und  Verkehr;  8.  Sonstige  Gewerbe.  Ein 
Uebelstand  dieser  Spedalisierung  ist,  dass  in 
einer  Gerichtssitzung  die  Zusammensetzung 
des  Gerichts  je  nach  dem  Beruf  der  Strei- 
tenden unter  Umständen  wiederholt  sich, 
ändern  muss. 

Zweifelhaft  steht  es  mit  der  Wahlbe- 
rechtigung der  Arbeitslosen.  Gegen 
sie  wird  geltend  gemacht,  dass  die  im  §  13 
des  Gesetzes  angeführten  Bedingungen  des 
Rechts  zur  Teilnahme  an  den  Wahlen  — 
Vollendung  des  25.  Lebensjahres  und  ein- 
jähriger Wohnsitz  —  nicht  alle  Erforder- 
nisse einschliessen.  Vielmelir  sei  auch  auf 
§  2  ziuilckzugreifen,  in  dem  bestimmt  weide, 
wer  als  »Arbeiter«  im  Sinne  dieses  Gesetzes 
zu  betrachten  sei.  Auf  Personen  nun,  die. 
arbeitslos  wären,  keinen  Arbeitgeber  hätten, 
passe  jene  Erläuterung  des  §  2  nicht;  sie 
seien  eben  mit  niemandem  durch  eine  der 
im  siebenten  Titel  der  Gewerbeordnung  ge- 

26* 


404 


Gtewerbegerichte 


regelten  Rechtsbeziehungen  verknüpft  Diese 
Auffassung  führt  jedoch  zu  unhaltbaren 
Scrhlussfolgerungen.  Wäre  sie  richtig,  so 
könnte  unter  Umständen  bei  einer  allge- 
meinen Strikebewegimg  eine  Beisitzemeu- 
wahl  überhaupt  nicht  stattfinden.  Das  Ge- 
werbegericht würde  dann  beständig  in  einem 
seine  Wirksamkeit  beeinträchtigenden  Stande 
der  Unruhe  sein,  denn  die  Vornahme  von 
Neu-  und  Ergänzungswahlen  wäre  in 
Permanenz  erklärt.  &wägt  man,  dass  es 
zweckmässig  ist,  die  Beschränkung  der  Wahl- 
berechtigung auf  das  thunlichst  geringste 
Mass  ziuückzuführen,  so  empfiehlt  es  sich, 
die  Arbeitslosen  ebenfaUs  zur  Wahl  zuzu- 
lassen. Es  ist  unbillig,  denjenigen,  der  eine 
Beihe  von  Jahren  in  einer  Stadt  gewohnt 
hat,  vom  Wahlrecht  auszuschliessen,  weil  er 
unverschuldet  zur  Zeit  der  Wahl  ohne  Be- 
schäftigung ist  Er  geht  dadurch,  wenn  er 
8  Tage  später  wieder  Stellung  gefunden  hat 
und  damit  ipso  jure  der  Kompetenz  des 
Gewerbegerichts  untersteht,  des  Rechtes  ver- 
lustig, sich  wie  seine  Standes^enossen  an 
der  Wahl  seiner  ordentlichen  Richter  betei- 
ligen zu  können.  Da,  worüber  die  Begrün- 
dung des  Gesetzentwurfs  seiner  Zeit  keinen 
Zweifel  übrig  Hess,  das  aktive  und  passive 
Wahlrecht  sich  auf  alle  diejenigen  Personen 
erstreckt,  die  eintretendenfalls  der  Rechte 
sprechung  des  Gewerbegerichts  unterworfen 
sind,  so  muss,  wenn  ein  Arbeiter  die  Vor- 
aussetzungen des  §  13  sonst  erfüllt,  ihm 
unverwehrt  sein,  sich  an  der  Walü  zu  be- 
teiligen, unabhängig  davon,  ob  er  am  Wahl- 
tage Arbeit  hat  oder  nicht  (Levin  in  Blätter 
für  Soz.  Praxis,  1893,  I,  S.  60—61). 

Es  hat  daher  wohl  ganz  folgerecht  das 
Königliche  Gewerbegericht  in  Köln  (im 
August  1897)  angeregt,  diejenigen  Arbeits 
geber,  welche  zur  Zeit  der  Wanl  vorüber- 
gehend keine  gewerblichen  Arbeiter  be- 
schäftigen, als  auch  diejenigen  Arbeiter,  die 
aur  Zeit  der  Wahl  vorübergehend  arbeitslos 
sind,  für  wahlberechtigt  zu  erklären.  Indes 
hat  der  preussische  Handelsminister  es  ab- 
gelehnt, auf  diese  Anträge  einzugehen,  jedoch 
immerhin  darauf  verwiesen,  dass  die  Polizei- 
behörde bei  Erteilung  der  massgebenden  Be- 
scheinigungen in  richtiger  Würdigung  der 
Sachlage  des  Einzelfalles  nicht  aUzu  eng- 
herzig zu  verfahren  braucht. 

Was  die  Wahlberechtigimg  der  juristi- 
schen Personen,  Aktiengesellschaften  etc. 
anbelangt,  so  wird  es  hier  darauf  ankommen, 
ob  man  das  Gewerbegericht  lediglich  als 
Organ  der  Rechtsprechung  oder  zugleich  als 
eine  Interessenvertretung  ansieht  Eine 
juristische  Person  als  solche  ist  handlungs- 
unfähig; sie  kann  selbst  nicht  wählen,  aber 
sich  auch  nicht  durch  den  Vorstand  ver- 
treten lassen,  weil  das  Wahli*echt  ein  höchst 
persönliches  Recht   ist,   das   eine  Stellver- 


tretung nicht  zulässt.  Zeigt  sich  daher  in 
der  Wahl  des  Richters  die  Bethätigung  eines 
politischen  Rechts,  so  kann  die  Aktiengesell- 
schaft nicht  darauf  Anspruch  erheben,  sich 
an  der  Wahl  der  Beisitzer  des  Gewerbese- 
richts  zu  beteiligen.  Ist  dagegen  das  öe- 
werbegericht  dazu  ausersehen,  die  Gesaml- 
interessen  des  Gewerbestandes  zu  vertreten 

—  worauf  aus  der  ihm  beigelegten  gutach- 
tenden Thätigkeit  geschlossen  werden  kann 

—  so  erscheint,  wie  bei  den  Wahlen  zu  den 
Handelskammern,  eine  Stellvertretung  der 
Aktiengesellschaft  angemessen.  Eine  ver- 
mittelnde Auffassung  würde  dahin  geltend 
gemacht  werden  können,  dass  allerdings  die 
juristische  Person,  die  einen  gewerblichen 
Betrieb  unterhält,  kein  Wahlrecht  hat,  wohl 
aber  die  mit  der  Leitung  desselben  betrau- 
ten Vorstandsmitglieder  wählen  dürfen.  Diese 
sind  zwar  nicht  selbst  Arbeitgeber,  aber  sie 
sind  diesen  gleich  geachtet  MissHch  ist  je- 
doch bei  dieser  Lösung,  dass  Personen  ward- 
berechtigt werden,  die,  wie  die  Direktoren  einer 
Aktiengesellschaft,  eine  gewerbliche  Thätig- 
keit im  Sinne  des  Gesetzes  nicht  ausüben. 

Die  Erweiterung  der  Kompetenz  der  Ge- 
werbegerichte, die  die  Reichstagskommissioa 
angeregt  hat,  nämlich  dass  auch  Entschädi- 
gungsansprüche aus  gesetzwidrigen  Eintra- 
fungen  in  Arbeitsbücner  u.  s.  w.  vor  das 
brum  gehören,  kann  nur  sympathisch  be- 
rühren. Denn  thatsächlich  waren  nach  dem 
bisherigen  Wortlaut  des  Gesetzes  die  Ge- 
werbegerichte dafür  nicht  zuständig,  wenn 
auch  nach  der  ratio  legis  die  Gewerbege- 
richte in  der  Regel  in  solchen  Fällen  wohl 
ihre  Zuständigkeit  angenommen  haben  dürf- 
ten. Bei  Streitigkeiten  aber  wegen  Vorent- 
haltung von  Zeugnissen,  Quittungskarten, 
Krankenkassenbüchem  u.  s.  w.  haben  die 
Ansprüche  ihre  rechtliche  Begründung  nicht 
in  dem  Arbeitsverhältnis,  sondern  in  einem 
aus  Anlass  desselben  begründeten  ander- 
weitigen Rechtsverhältnis.  Demnach  waren 
die  Gewerbegerichte  ebenfalls  für  ihre  Ent- 
scheidung nicht  zuständig.  Um  so  besser  ist 
es,  wenn  nunmehr  jeder  Zweifel  gehobea 
werden  soll. 

Hinsichtlich  der  Ausdehnung  der  Zu- 
ständigkeit auf  andere  Personen,  so  ist  eine 
solche  besonders  verlangt  worden  gegenüber 
den  Eisenbahnarbeitern  und  den 
Kaufleuten.  Hinsichtlich  der  ersterea 
ist  das  Gesetz  undeutlich.  Nach  der  einen 
Auffassung  fallen  die  im  Gewerbebetrieb 
der  Eisenbahnunternehmung  als  Verkehrs- 
anstalt thätigen  Arbeiter  nicht  unter  das 
Gewerbegericht,  die  dagegen  in  den  Repa- 
raturwerkstätten, Wagenbauanstalten  etc.  be- 
schäftigten Arbeiter  wohL  Eine  andere 
Auffassung  aber  macht  geltend^  dass  jede 
gewerbliche  Thätigkeit  einer  Eisenbahnun- 
ternehmung  nicht  als  eine  selbständige  Er- 


Grewerbegerichte 


405 


■werbsqiielle,  sondern  nur  als  die  Förderung 
des  Transportzwecks  zu  denken  sei.  Daher 
seien  die  Gewerhogerichte  für  alle  Eisenbahn- 
arbeiter ohne  Ausnahme  nicht  zuständig.  Denn 
nach  §  2  des  Gesetzes  beständen  Gewerbege- 
richte nur  für  die  Arbeiter,  die  zu  Titel  VII  der 
Gewerbeordnung  gehören.  Der  Gewerbebe- 
trieb der  Eisenbahn  aber  falle  überhaupt  nicht 
unter  die  Gewerbeordnung.  In  der  Praxis  hat 
sich  nun  ein  krauses  Durcheinander  offen- 
bart. Bei  den  Wahlen  zum  Gewerbege- 
richt in  Berlin  hatten  sich  verschiedene 
Eisenbahndirektionen  und  Betriebsämter  für 
ihre  in  Berlin  belegenen  Betriebswerkstätten, 
Gasanstalten ,  Telegraphenwerkstätten  etc. 
behufs  Ausübung  der  Wahh^chte  eintragen 
lassen.  Dagegen  hat  der  Minister  der  öffent- 
lichen Arbeiten  der  Eisenbahndirektion  Han- 
nover und  vermutlich  auch  den  anderen 
Direktionen  Weisung  zugehen  lassen,  alle 
Kechtsstreitigkeiten  zwischen  ihr  und  ihren 
Arbeitern  vor  den  ordentlichen  Gerichten 
zur  Entscheidung  zu  bringen.  Zweifellos 
wäre  es  erwünscht,  dieser  Zerfahrenheit  ein 
Ende  gemacht  zu  sehen  und  alle  Eisenbahn- 
arbeiter unter  das  Gtewerbegericht  zu  stel- 
len. Die  verschiedene  Behandlung  der  bei- 
den Kategorieen  ist  kaum  zu  rechtfertigen, 
da  sie  sich  sozial  von  einander  nur  wenig 
unterscheiden. 

Dass  für  Streitigkeiten  der  Kaufleute 
mit  ihren  Gehilfen  das  Gewerbegericht  eben- 
fjJls  zuständig  w^eixle,  war  ein  Wunsch,  der 
schon  bei  den  Verhandlungen  über  das  Ge- 
setz von  1890  geäussert  wurde.  Jetzt,  nach- 
dem die  Bedeutung  des  letzteren  allgemeiner 
zum  Bewusstsein  kommt,  wird  er  noch 
dringender  ausgespi'ochen^  und  ein  so  sach- 
licher Gewährsmann  wie  Lautenschlager 
glaubt  zu  seiner  Bedründung  weiter  nichts 
sagen  zu  sollen  als:  er  sehe  nicht  ein,  wes- 
halb Kaufleute  und  Dienstboten  es  schwerer 
als  die  übrigen  Arbeiter  haben  soUten,  zu 
ihrem  Rechte  zu  gelangen. 

Thataächlich  hat  sich  denn  auch  sowohl 
im  Reichstage  als  auch  in  den  Kreisen 
der  kaufmännischen  Angestellten  selbst  eine 
starke  Bew^ung  für  kaufmännische  Schieds- 
gerichte gezeigt.  Man  kann  nicht  leugnen, 
dass  das  soziale  Verhältnis  zwischen  Prin- 
zipal und  Angestellten  sich  zugespitzt,  die 
Interessen  Solidarität  abgenommen  und  eine 
gewisse  gegensätzliche  Spannung  Platz  ge- 
griffen hat.  Noch  am  6.  Juni  1898  hat  die 
in  Hamburg  tagende  Hauptversammlung  des 
deutschen  Verbandes  kaufmännischer  Ver- 
eine die  Errichtung  von  Schiedsgerichten 
zur  Schlichtung  von  Streitigkeiten  aus  dem 
kaufmännischen  Anstellungsverhältnis  befür- 
wortet. Auch  auf  Seiten  der  Prinzipale  fin- 
det der  Gedanke  mehr  Anklang,  und  ein  von 
der  Handelskammer  in  Braunschweig  auf 
freiwilliger  Grundlage   ziu:  Benutzung  nach 


§§  851  ff.  der  C.P.O.  kaufmännisch  eingerich- 
tetes Einigungsamt  hat  den  Wert  von  Schieds- 
gerichten, in  denen  beide  Parteien  vertreten 
sind,  praktisch  erwiesen.  Zuletzt  ist  dann 
im  Dezember  1898  von  der  nationalliberalen 
Partei  der  schon  früher  eingebracht  ^we- 
sene  Antrag  auf  Errichtung  kaufmännischer 
Schiedsgerichte  wiederholt  worden,  dem  das 
Haus  einstimmig  zugestimmt  hat.  (E.  Francke 
in  »Das  Gewerbegericht«  IV,  Nr.  5).  In 
Wirklichkeit  liaben  vereinzelt  G^werbege- 
richte  sich  auch  für  Streitigkeiten  der  Kauf- 
leute mit  dem  Teil  ihres  gewerblichen  Hilfs- 
personals, der  wie  die  Austräger,  Knechte, 
Kutscher  etc.  als  Arbeiter  sich  charakteri- 
sieren lässt,  zuständig  erklärt.  Indes  darf 
doch  nicht  ausser  acht  gelassen  werden, 
dass  bei  der  Verschiedenarti^keit  der  Inte- 
ressen und  der  Sachkenntnis  es  misslich 
wird,  kaufmännische  Streitigkeiten  durch 
Gewerbetreibende  und  umgekehrt  entschei- 
den zu  lassen.  Der  an  sich  wohl  begreif- 
liche Wunsch  wird  daher  kaum  anders  zu 
verwirklichen  sein,  als  indem  bei  den  vor- 
handenen Gewerbegerichten  besondere  B^am- 
mern  für  Streitigkeiten  des  Handelsstandes 
eröffnet  werden.  Die  Beisitzer  müssten  als- 
dann die  aus  Wahlen  der  Kaufleute  und 
ihrer  Gehilfen  hervorgegangenen  Berufsge- 
nossen sein. 

Die  Idee,  »kaufmännische«  oder  richtiger 
Handlungsgehilfensachen  als  dringende  eilige 
Sachen  in  summaiischem  Verfahren  vor  dem 
Amtsgericht  erledigen  zu  lassen  (Reichel  a. 
a.  0.,  Haase  in  Berliner  Gerichtszeitung  1897 
Nr.  181  1.  Beilage)  ist  vielleicht  doch  durch- 
führbar. Doch  will  mir  der  von  den  Prin*- 
zipalen  und  Handlungsan^estellten  gewählte, 
von  der  Regierung  bestätigte  und  vom  Amts- 
richter vereidigte  kaufmännische  Beirat^  der 
auf  6  Jahre  enrenamtlich  zu  funktionieren 
haben  würde,  nicht  so  angemessen  vor- 
kommen und  scheint  nicht  die  gleichen 
Gkirantieen  zu  bieten  wie  das  Institut  der 
Beisitzer.  Wenn  übrigens  die  den  Reichs- 
tag gegenwärtig  noch  beschäftigende  Novelle 
zur  Gewerbeordnung  Gesetz  wird,  wonach 
u.  a.  im  Titel  VH  der  Gewerbeordnung  ein 
Abschnitt  VI  über  die  Arbeitsbedingungen 
der  in  offenen  Verkaufestellen  thätigen  Ge- 
hilfen, Lehrlinge  und  Arbeiter  eingeschoben 
werden  soll,  der  alsdann  auch  auf  die  in 
zugehörigen  Schreibstuben  (Komptoire)  und 
La^rräumen  thätigen  Personen  zu  er- 
strecken wäre,  so  würde  wenigstens  die 
Ausdehnung  des  Gewerbegerichts  auf  das 
kaufmännische  Hilfspersonal  erreicht. 

6.  Berggewerbegerichte.    Nach  Mass- 

fabe    des   Reichsgesetzes    sollten    diese   in 
reussen    zum   1.  April   1893    in   den   be- 
deutenderen Bergbaubezirken  ins  Leben  ge- 
rufen werden.    Als  ihre  Sitze  sind  Beuthen 
iO.-S.,  Waidenburg,  Dortmund,  Saarbrücken 


406 


Grewerbegerichte 


und  Aachen  in  Aussicht  genommen.  Bei 
jedem  dieser  Gerichte  ist  eine  entsprechende 
Anzahl  von  Kammern  —  im  ganzen  32  — 
vorgesehen,  und  zwar  als  sogenannte  de- 
tachierte Kammern  am  Amtssitze  der  könig- 
lichen Bergrevierbeamten  der  betreffenden 
Gerichtsbezirke.  Der  preussische  Etat'  hat 
für  sie  den  Betrag  von  58500  Mark  jähr- 
lich ausgeworfen,  ausserdem  einmalig  für 
die  erste  Einrichtung  den  Betrag  von  16000 
Mark.  Im  Juli  1893  hat  der  Minister  für 
Handel  und  Gewerbe  Anordnungen  über  die 
Yerfassuög  und  Thätigkeit  des  Berggewerbe- 
gerichts zu  Beuthen  erlassen,  die  die  Wirk- 
samkeit der  neuen  Schöpfung  vorbereiten 
sollten,  im  wesentlichen  den  Inhalt  des  Ge- 
setzes von  1890  wiedergeben.  Das  Gericht 
zu  Beuthen  hat  9  Kammern  und  bei  jeder 
derselben  eine  Gerichtsschreiberei.  In  Saar- 
brücken und  Aachen  sollten  am  1.  Januar 
1895  Gerichte  eröffnet  werden.  —  Im  König- 
reich Sachsen  gelangte  ein  von  der  Regie- 
rung aufgestellter  Entwurf,  betreffend  die 
Eröffnung  vno  Bergschiedsgerichten,  in  der 
zweiten  Kammer  des  Landtages  zu  Anfang 
des  Jahres  1892  zur  Annahme.  Gegenwärtig 
sind  ihrer  5  dort  in  Thätigkeit.  —  In  Braun- 
schweig sind  unter  dem  27.  Oktober  1892 
Anordnungen  für  Errichtung  eines  Gerichtes 
in  den  Braunkohlengruben  des  Herzogtums 
erlassen  worden,  das  am  1.  Januar  1893  in 
Helmstedt  ins  Leben  getreten  ist.  Diese 
Stadt  ist  gewählt  worden,  weil  sie  sich  in 
,der  Nähe  der  sämtlichen  im  Betriebe  ste- 
henden Braunkohlengruben  befindet,  mithin 
von  den  rechtsuchenden  Bergleuten  bequem 
erreicht  werden  kann. 

7.  Statistik   der   deutschen   G.     An 

Streitigkeiten  waren  1896  bei  284  Gewerbe- 
gerichten anhängig  68638  (1893:37386) 
zwischen  ünternelunern  imd  Arbeitern  und 
160  (1893 :  221)  zwischen  Arbeitern  desselben 
Arbeitgebers.  Erledigt  wurden  durch  Ver- 
gleich 30798  (45,6%),  1893  14865(42,9%), 
Verzicht  428  (0,6  %),  1893  374  (1,1%),  Zu- 
rücknahme der  Klage  16057  (23,8%),  1893 
6346  (18,3%),  Anerkenntnis  775  (1,1%), 
1893  727  (2,1%),  Versäumnisurteil  5207 
(7,7  %),  1893  3766  (10,9  %)  und  durch  sons- 
tige Endurteüe  14  291  (21,2  %),  1893  8579 
(24,8%),  zusammen  67  556  (1893  34657) 
Klagen.  Ein  Teil  der  anhängigen  Streite 
Sachen  erledigte  sich  auf  andere  Weise. 

8.  Die  Conseils  de  prud'hommes  in 
Frankreich.  Am  18.  März  1806  wurde  in  Lyon 
das  erste  conseil  de  prud^hommes  eröffnet  mit 
der  Aufgabe,  die  unter  den  Fabrikanten  und 
Arbeitern  „tätlich  sich  erhebenden  kleinen 
Streitigkeiten  im  Wege  der  Güte  zu  schlichten" 
oder  durch  Kichterspmch  zu  entscheiden.  Das- 
selbe war  gleichsam  die  Wiederholung  eines 
ähnlichen  Gerichts,  des  trihunal  commun,  das 
die  Streitigkeiten  zwischen  den  Seidenfabrikan- 
ten und  ihren  Arbeitern  geschlichtet  und  bis 


zur  Revolution  bestanden  hatte.  Durch  das 
kaiserliche  Dekret  vom  11.  November  1809 
wurden  die  Conseils  auch  in  einifi:en  anderen 
Städten  eingeführt  und  durch  mehrere  andere 
Dekrete  die  Gesetzgebung  bis  zum  Jahre  1810 
vervollständigt.  Im  Jahre  1846  erfreuten  sich 
68  Städte  der  wohlthätigen  Wirksamkeit  dieser 
Gerichte,  und  1886  gab  es  in  ^anz  Frankreich 
ihrer  136.  Paris  hatte  bis  1884  noch  kein  Con- 
seil aufzuweisen,  da  die  1818  und  1828  über 
seine  Errichtung  geführten  Verhandlungen  nicht 
zu  einem  befriedigenden  Ergebnisse  geführt 
hatten.  Im  Jahre  1844  wurde  das  erste  Conseil, 
zunächst  für  ein  einzelnes  Gewerbe,  die  Metall- 
industrie, eröffnet,  dem  1847  drei  weitere  Con- 
seils folgten. 

Auf  Antrag  oder  mit  Zustimmung  der  Ge- 
meindebehörde vom  Handelsminister  errichtet, 
besteht  der  Rat  der  Gewerbeverständigen  aus 
einer  gleichen  Anzahl  von  Arbeitgebern  und 
Arbeitnehmern,  die  in  freier  Wahl  von  den  in 
Berufsklassen  gruppierten  Berufsgenossen  ge- 
wählt werden.  Wahlberechtigt  sind  alle  Unter- 
nehmer derjenigen  Industriegruppen,  für  die 
das  Gericht  errichtet  ist,  sofern  sie  25  Jahre 
alt  sind,  seit  5  Jahren  eine  Erwerbssteuer 
(patente)  zahlen  und  seit  3  Jahren  in  dem  G^ 
richtsbezirke  wohnen;  ferner  alle  Arbeitnehmer 
höherer  Kategorie  (chefs  d^ateliers,  contre- 
maitres)  und  gewöhnliche  Arbeiter  (ouvriers), 
die  ein  Alter  von  25  Jahren  besitzen,  seit  5 
Jahren  in  dem  betreffenden  Gewerbszweige  be- 
schäftigt sind  und  seit  3  Jahren  in  dem  Ge- 
richtsbezirke wohnen.  Die  Wählbarkeit  ist 
durch  das  Alter  von  30  Jahren  und  die  Kennt- 
nis des  Lesens  und  Schreibens  bedingt.  Den 
Vorsitz  führt  ein  aus  der  Mitte  der  Richter 
durch  diese  selbst  gewähltes  Mitglied,  das  so- 
wohl den  Unternehmer-  als  den  Arbeiterkreisen 
angehören  kann.  Doch  ist  bestimmt,  dass  der 
Vorsitzende  und  sein  SteUvertreter  nicht  beide 
der  gleichen  socialen  Klassen  angehören  dürfen, 
so  dass,  falls  der  Vorsitzende  aus  der  Zahl  der 
Arbeitgeber  genommen  ist,  sein  Stellvertreter 
der  Klasse  der  Arbeiter  entstammen  mnss.  Die 
Vorsitzenden  werden  auf  ein  Jahr  gewählt;  von 
den  Beisitzern  scheidet  alle  drei  Jahre  die 
Hälfte  aus,  bleibt  jedoch  wieder  wählbar. 

Die  Kompetenz  des  Conseils  erstreckt  sich 
1.  auf  Schlichtung  von  Streitigkeiten  zwischen 
Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  sowie  zwischen 
den  letzteren  unter  sich  (Aufseher,  Hilfsarbeiter, 
Arbeiter,  Lehrlinge],  wenn  ^e  Zwistigkeiten 
sich  auf  die  Benusarbeit  und  das  Arbeitsver- 
hältnis beziehen.  Streitfälle,  die  nicht  auf  dem 
Arbeitsvertrage  beruhen,  wie  z.  B.  die  £nt- 
schädi^ingsklagen  in  Unfällen,  gehören  nicht 
vor  sein  Forum.  Im  übrigen  ist  der  Umfang 
der  Kompetenz  nicht  ganz  zweifelsfrei.  Es  ist 
u.  a.  fraglich,  ob  die  Kompetenz  bei  Arbeits- 
streitigkeiten in  dem  Sinne  eine  obligatorische 
ist,  dass  die  ordentlichen  Gerichte,  insbesondere 
die  Friedensrichter  dort,  wo  ein  Conseil  besteht, 
solche  Streitigkeiten  von  Amts  wegen  abzu- 
weisen haben.  Weiter  liegt  dem  Gerichte  ob, 
bei  Anzeigen  über  Uebertretung  der  den  Ge- 
werbefleiss  betreffenden  Gesetze  und  Verord- 
nungen, der  an  Rohstoffen  verübten  Diebstähle 
etc.  den  Thatbestand  festzustellen.  Sind  diese 
Befugnisse  richterlicher  Natur,  so  hat  das  Con- 
seil  2.   administrative   Aufgaben   zu   erfüllen. 


Gewerbegerichte 


407 


Es  hat  die  Hegistrierimg  der  Muster  und 
Dessins  und  die  Feststellung:  der  vorhandenen 
Gewerbebetriebe  sowie  die  Zahl  der  in  jedem 
derselben  verwandten  Arbeiter.  Auch  ist  es 
zur  Entgegennahme  der  schriftlich  geschlossenen 
Lehrverträge  und  zur  Entscheidung  gewisser 
ans  dem  Lehrvertra^e  hervorgehender  Streitig- 
keiten berufen.  Endlich  hat  es  3.  eine  polizei- 
liche Funktion,  nämlich  die  Eon  trolle  der  dem 
französischen,  insbesondere  dem  Ljoner  Arbeits- 
rechte eigentümlichen  Quittungsbücher,  welche 
alle  Vorsteher  von  Werkstätten  für  jeden 
WebstTihl,  auf  dem  sie  arbeiten  lassen,  anlegen 
müssen. 

Für  das  Verfahren  gilt,  dass  jeder  Streit- 
fall zunächst  vor  die  Vergleichskammer  (bureau 
particulier)  zu  bringen  ist  und  erst,  wenn  keine 
Aussöhnung  zu  stände  kommt^  vor  der  Urteils- 
kammer (bureau  general),  die  aus  dem  Vor- 
sitzenden und  mindestens  je  zwei  Arbeitgebern 
und  Arbeitnehmern  besteht,  erledigt  wird.  In 
der  Vergleichskammer  erscheinen  die  Parteien 
entweder  freiwillig  oder  der  Beklagte  wird 
durch  einen  Brief  des  Gerichtssekretärs  geladen. 
Leistet  er  dieser  Aufforderung  nicht  Folge,  so 
tritt  die  förmliche  Ladung  (citation)  durch  den 
Huissier  ein.  Bleibt  er  auch  dann  aus,  so  er- 
hält der  Kläger  das  Recht,  den  Gegner  vor  das 
Bureau  general  laden  zu  lassen.  Gegen  das 
Urteil  des  Conseils  steht  die  Berufung  an  das 
Handelsgericht  ofifen,  falls  der  Wert  des  Streit- 
gegenstandes die  Summe  von  200  Francs  über- 
steigt. Ein  weiterer  Rechtsweg  ist  nicht  vor- 
gesehen, iedoch  ist  als  ausserordentliches  Rechts- 
mittel die  Kassation  (demande  en  Cassation) 
möglich,  freilich  nur  bei  sehr  beschränktem 
Anwendungsgebiete. 

Die  Gesetzgebung,  deren  Grundzüge  vor- 
stehend erörtert  sind,  ist  seit  1860  mannigfach 
geändert  worden.  Das  Dekret  vom  27.  Mai 
1848  erkannte  der  eigentlichen  Arbeiterklasse 
das  dieser  bisher  vorenthaltene  Wahlrecht  zu 
und  regelte  dasselbe  im  einzelnen  auf  ziemlieh 
breiter  Grundlage.  Das  G.  v.  6.  Juni  1848 
schuf  noch  eine  dritte  Kategorie  von  Prud'- 
hommesy  die  Prud'hommes  chefs  d'ateliers,  die 
von  den  bisherigen  Prud'hommes  patrons  abge- 
trennt und  zwischen  diese  und  die  Prud'hommes 
ouvriers  eingeschoben  wurden.  Als  chefs 
d'ateliers  sollten  betrachtet  werden  diejenigen 
Arbeiter,  die  bezahlt  wurden  und  ihrerseits 
auch  Lohnarbeiter  beschäftigen.  Jede  der  B 
Kategorieen  stellte  eine  eigene  Kandidatenliste 
auf,  aus  denen  die  chefs  d'ateliers  die  Prud'- 
hommes patrons  und  die  Prud'hommes  ouvriers 
wählten.  Die  Prud'hommes  chefs  d'ateliers  aber 
sollten  zur  Hälfte  von  den  Arbeitern,  zur 
Hälfte  von  den  Unternehmern  gewIUilt  werden. 
Das  Gericht  bestand  dann  aus  einer  gleichen 
Zahl  von  Prud'hommes  der  drei  sozialen  Klassen. 
Das  G.  V.  1.  Juni  18o3  beliess  allerdings  der 
grossen  Masse  der  Arbeiterschaft  das  Wahl- 
recht, aber  knüpfte  es  an  manche  der  früheren 
einschränkenden  Bedingungen,  insbesondere  an 
ein  höheres  Alter  und  behielt  dem  Kaiser  das 
Recht  vor,  die  Vorsitzenden  zu  ernennen.  Das 
G.  V.  24.  Mai  1864  war  lediglich  ein  Disciplinar- 
gesetz  für  die  Prud'hommes  selbst.  Im  Jahre 
1869  wurde  eine  Enquete  über  die  Wirksam- 
keit der  Conseils  und  über  die  Arbeitsbücher 
veranstaltet  (veröffentlicht   1869  in  2  Bänden 


als  „enqu^te  sur  les  Conseils  de  prud'hommes 
et  les  livrets  d'ouvriers"),  deren  Ergebnisse  für 
die  Praxis  zu  verwerten  der  Eintritt  des  Krieges 
hinderte.  Indes  haben  auch  die  neueren  seit 
1880  getroffenen  Aenderungen  auf  die  in  der 
Enquete  enthaltenen  Ratschläge  und  Wünsche 
kaum  zurückge^ffen.  Das  G.  v.  7.  Februar 
1880  verfügte  die  Wahl  der  Vorsitzenden  durch 
die  Mitglieder  des  Gerichtes  selbst.  Das  G.  v. 
21.  Februar  1881  war  bestimmt,  die  Conseils  in 
Algier  einzubürgern.  Am  24.  November  1883 
wurde  den  Teilnehmern  der  Firmeninhaber 
ebenfalls  das  Wahlrecht  zugestanden,  jedoch 
nur  kollektiv,  und  das  G.  v.  11.  Dezember  1884 
regelte  die  FäUe,  in  denen  Enthaltung  von  der 
Wahl  oder  Wahl  von  wahlunfähigen  Personen 
die  Thätigkeit  der  Gerichte  zu  unterdrücken 
bemüht  war.  Seit  1886  ist  man  in  der  Depu- 
tiertenkammer mit  der  Beratung  neuer  Gesetze 
beschäftigt;  doch  ist  zur  Zeit  noch  kein  Ab- 
schluss  eäolgt.  Der  von  der  Deputiertenkammer 
1892  angenommene  Antrag  hat  den  Beifall  des 
Senats  noch  nif'ht  gefunden.  Er  geht  von  der 
Kammer  zum  Senat  und  umgekehrt,  ohne  dass 
es  den  jeweiligen  Aenderungen  gelingt,  die 
beiderseitige  Zustimmung  zu  erwirken.  Die 
wesentlichen  Gesichtspunkte,  auf  welche  die 
Reform  abzielt  und  in  denen  keine  Einigung 
erzielt  werden  kann,  sind  diese:  Prud'hommes 
sind  auch  für  Handel,  Landwirtschaft  und  Berg- 
bau zu  wählen;  die  Wählbarkeit  beginnt  mit 
dem  25.  Lebensjahre,  das  Wahlrecht  mit  dem 
21.  Lebensjahre  und  ist  von  denselben  Be- 
dinpfungen  abhängig  wie  die  Ausübung  des 
politischen  Wahlrechts.  Werkführer  und  Chefs 
d'ateliers  sind  zu  den  Arbeitgebern  (patrons) 
zu  rechnen;  Unternehmer  und  Arbeiter  bleiben 
auch  noch  in  den  nächsten  zehn  Jahren,  nach- 
dem sie  aufgehört  haben  in  ihrem  Berufe  prak- 
tisch thätig  zu  sein,  wählbar  und  wanlbe- 
r echtigt;  Frauen  im  Alter  von  21  Jahren,  die 
in  dem  betreffenden  Gerichtsbezirk  länger  als 
6  Monate  gewohnt  haben,  sind  wahlberechtigt; 
die  Entscheidung  der  Prud'hommes  ist  bei 
Streitgegenständen  bis  zur  Werthöhe  von  2000 
Francs  endgültig.  Von  allen  diesen  Reformen 
will  der  Senat  nichts  wissen,  mit  Ausnahme 
der  Bergschiedsgerichte.  Seinerseits  hat  er  als 
Neuerung  vorgeschlagen,  den  Vorsitz  dem 
Friedensrichter  anzuvertrauen,  statt  ihn,  wie 
bisher,  unter  Arbeitern  und  Unternehmern  ab- 
wechseln zu  lassen.  Gegenüber  den  von  der 
Kammer  gebilligten  Reformen  hält  der  Senat 
daran  fest,  dass  das  Wahlrecht  mit  dem  25., 
die  Wählbarkeit  mit  dem  30.  Lebensjahre  be- 
ginnen soll.  Der  Wähler  soll  ausserdem  nicht 
nur  im  Besitze  des  politischen  Wahlrechts  sein, 
sondern  seit  mindestens  6  Jahren  seinem  Be- 
rufe obliegen  und  seit  3  Jahren  in  dem  be- 
treffenden Gerichtsbezirk  wohnen.  Gegen  die 
Gleichstellung  der  Werkmeister  mit  den  „Pa- 
trons" wendet  der  Senat  ein,  dass  die  ersteren, 
weil  zahlreicher  als  die  letzteren,  dieselben 
oft  überstimmen  und  nicht  zu  Worte  kommen 
lassen  würden.  Derjenige  femer,  der  nicht 
mehr  im  praktischen  Erwerbsleben  stehe,  habe 
nicht  mehr  die  gleichen  Interessen  zu  vertreten 
und  könne  daher  nicht  mehr  die  gleichen  Rechte 
beanspruchen.  Es  habe  mithin  keinen  Sinn, 
ihm  Wahlrecht  und  Wählbarkeit  zuzugestehen. 
Die  Ausdehnung  der  Prud'hommes  auf  Kauf- 


408 


GewerbegericMe 


leute  und  Landwirte  bekämpft  der  Senat,  weil 
die  auf  diesen  Gebieten  vorkommenden  Streitig- 
keiten in  das  gemeine  Recht  fallen,  zu  dessen 
Anwendung  der  Laienrichter  nicht  geeignet  ist. 
Die  Frau  müsse  man  von  den  Aufregungen  des 
politischen  Lebens  fem  zu  halten  suchen;  ihre 
Interessen  seien  auf  die  Aufrechterhaltung  des 
Familienlebens  zu  beschränken.  Die  Endgültig- 
keit der  Urteile  der  Prud'hommes  solle  bei  einer 
Werth^he  des  Streitgegenstandes  von  300 
Francs  aufhören. 

Zuletzt  ist   das  Parlament   im   Dezember 

1898  mit  einem  Antraf^  betreffend  die  Beform 
der  Conseils  der  Prud'hommes  beschäftigt  ge- 
wesen, dem  die  zu  einer  Prüfung  eingesetzte 
Kommission  zugestimmt  hat.  Em  nationaler 
EongresB  der  Arbeiterbeisitzer  in  den  Conseils 
des  Prud'hommes  wurde  vom  14.  bis  16.  Juli 

1899  in  Paris  abgehalten  ^  um  alle  die  Be- 
schwerden, die  man  in  Arbeiterkreisen  gegen  die 
geltende  Gewerbegerichtsordnung  hegt,  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  Seine  Wünsche  sind  in 
der  Hauptsache  identisch  mit  den  von  der 
Deputiertenkammer  jeher  vertretenen  Reformen. 

Es  funktionierten  1897  138  Gewerbe- 
gerichte (1896  133  Gewerbegerichte),  vor 
welchen  51326  Angelegenheiten  anhängig 
gemacht  waren  (1896  51975).  Die  erste 
Instanz  schlichtete  davon  21317  (1896 
21 584),  während  10761  noch  vor  dem  Spruch 
zurückgezogen  wurden  (1896  8636).  Yon 
den  19117  Konflikten,  die  nicht  gütlich 
ausgetragen  werden  konnten  (1896  21569) 
gelangten  n\M  15652  vor  die  zweite  mit 
ürteilsgewalt  ausgestattete  Instanz  (1896 
15754).  Unter  diesen  wurden  etwa  ^/s 
(1896  8394)  noch  vor  der  Urteilsfällung 
zurückgezogen.  Von  100  angestrengten 
Klagen  bezogen  sich  auf 

1897       1896 


Lehrlinfifsvertrag i,6 

Verabscniedungen 14,5 

Lohnfragen 64,2 

Verschiedene  Anlässe     .    .    .'    .  19,7 


1,9 
14,9 
66,3 
x6,9 


0.  Die  G.  in  Italien,  Belgien,  in  der 
Schweiz  nnd  Oesterreich.  In  Italien 
ist,  nachdem  schon  vor  15  Jahren  von  einer 
durch  königliche  Eabinettsordre  eingesetzten 
Kommission  zur  Untersuchung  der  Strikes  die 
Errichtung  von  Gewerbegenchten  empfohlen 
worden  war,  am  25.  Juni  1893  das  Institut  der 
„Probi-viri"  geschaffen  worden.  Nach  10  jährigen 
Verhandlungen  ist  man  zu  einem  Gesetze  ge- 
langt, das  französische  und  deutsche  Erfahrungen 
verwertet.  Das  Collegio  dei  Probi  viri 
wird  durch  königliches  Dekret  auf  Vorschlag 
der  Minister  ins  Leben  gerufen.  Ueber  die  Be- 
dtirfnisfrage  soUen  die  Arbeitervereinigungen 
vorher  gehört  werden.  Unternehmer  und 
Arbeiter  bilden  in  üblicher  Weise  das  Gericht, 
wobei  interessanterweise  die  Frauen  nicht  nur 
wählen  dürfen,  sondern  auch  wählbar  sind. 
Jedes  Kollegium  besteht  aus  zwei  Kammern: 
dem  Einigungsamte  fuffizio  di  conciliazione) 
und  dem  Gewerbegerichte  (giuria).  Die  erstere 
hat  nicht  nur  die  Aufgabe,  einen  Sühneversuch 


anzustellen,  der  übrigens  im  Falle  des  Miss- 
lingens  vor  dem  Gewerbegperichte  wiederholt 
werden  muss,  sondern  ist  ein  wirkliches 
Einigungsamt  mit  selbständigen  Kompetenzen, 
das  in  bekannter  Weise  bei  Ausbruch  von 
Streitigkeiten  zwischen  Untemehmem  und 
Arbeitern  auf  deren  friedliche  Beilegung  und 
auf  Festsetzung  der  Arbeitsbedingungen  hinzu- 
wirken berufen  erscheint.  Hinsichtlich  der 
sachlichen  Kompetenz  weichen  die  Probi  viri 
nicht  von  der  bekannten  Verfassung  derartifi^er 
Laiengerichte  ab;  bei  Streitigkeiten,  die  den 
Wert  von  200  Lire  überschreiten,  hören  sie  auf, 
zuständig  zu  sein.  Die  Personenkompetenz  er- 
streckt sich  auf  die  Arbeiter  oder  Lehrlinge  in 
Fabriken  und  industriellen  Unternehmungen 
einschliesslich  der  Hausindustrie.  Der  Plan, 
die  Kollegien  auch  für  Landarbeiter  zu  errichten, 
ist  zunächst  aufgegeben  worden. 

In  Belgien  entstanden  die  ersten  Conseils 
de  prud'hommes  während  der  französischen  Herr- 
schaft 1809  und  1810  in  Brügge  und  Gent.  Ein 
G.  V.  9.  April  1842  redigierte  die  überkommene 
französische  Gesetzgebung  neu  und  ermächtigte 
die  Regierung,  an  17  Orten  weitere  Conseils  zu 
eröffnen.   Hiervon  wurde  indes  wenig  Gebrauch 

femacht,  und  erst  infolge  des  G.  v.  7.  Februar 
859  entstanden  8  neue  Conseils,  so  dass  1860 
23  Gerichte  bestanden.    Dann  aber  geriet  die 
Errichtung  wieder  ins  Stocken,  und  erst  1884 
sind    2  Conseils   dazugekommen,  in  Charleroi 
und  La  Louviere.     Em  neues  Gesetz  hat  am 
31.  Juli  1889  die  königliche  Sanktion  erhalten. 
Die  belgischen  Conseils  lehnen  sich  an  die  fran- 
zösischen Vorbilder  an,  weisen  aber  verschiedene 
Abweichungen  auf.     Sie  erstrecken  sich  nicht 
nur  auf  die  Fabrikanten  und  Leiter  industrieller 
Etablissements,  sondern   auch  auf  die  Eigen- 
tümer von  Berg-  und  Hüttenwerken,  die  Be- 
sitzer von  für  die  Seefischerei  bestimmten  Fahr- 
zeugen, auf  Handwerker,  Werkmeister,  sonstige 
Arbeiter  und  Seefischer.    Die  Wählbarkeit,   1^- 
dingt  durch  ein  Alter  von  30  Jahren,  ist  femer 
den  von  ihren  Geschäften  und  ihrer  Arbeit  zu- 
rückgetretenen Unternehmern  und  alten  Arbeitern 
zugestanden.     Beide  sozialen  Klassen  müssen 
aber  dann  in  gleicher  Zahl  und  höchstens  zum 
vierten  Teile  der  Gesamtzahl  der  Prud'hommes 
vertreten  sein.    Die  Wahlberechtigung  ist  ab- 
hängig von  einem  Alter  von  25  Jiüiren,   der 
belgischen     Staatsangehörigkeit,     einjährigem 
Wonnsitze   im  Gerichtsbezirke   und  4jfiJing>er 
Ausübung  des  Gewerbes.    Der  Vorsitzende  und 
sein  Stelhrertreter  werden  vom  Könige  ernannt 
auf    Grund    einer    doppelten   Kandidatenliste, 
deren    eine   von   den    Prud'hommes   aus    dem 
Unternehmerstande,  deren  andere  von  den  Prud'- 
hommes   aus    dem    Arbeiterstande  au^est«llt 
wird.      Der   Schreiber   (^reffier)   des   Gerichts 
wird   ebenfalls  vom  Könige   auf  Grund  einer 
vom  Conseil  aufj^estellten  Liste  ernannt.    Die 
Conseils    entscheiden    endgiltig    bis    zu    200 
Francs,  darüber  hinaus  ist  die  Berufung  beim 
Handelsgericht   zulässig,    in   Bergwerkssachen 
bei  dem  Civilgerichte  erster  Instanz.   Die  Prud'* 
hommes  erhalten  Tagegelder,  deren  Höhe  durch 
die  Deputation  permanente  du  Conseil  provincial 
bestimmt     wird.      Ausser    ihrer    richterlichen 
Thätigkeit  in  Civilsachen  haben  die   Conseils 
eine  Strafgerichtsbarkeit  in  Fällen   von 
Untreue    (infid^lit^),    groben    Verstosses    und 


Gewerbegerichte 


409 


HandJnngen,  welche  die  Ordnung  und  Disciplin 
der  Werkstätte  zn  stören  geeignet  sind.  Die 
Strafe  ist  im  Höchstbetrage  25  Francs.  End- 
lich ist  die  Eegiemng  berechtigt,  die  Conseils 
zu  Gutachten  über  allgemeine  gewerbliche  An- 
gelegenheiten aufzuforden. 

Im  Jahre  1895  bestanden  27  Conseils,  deren 
Wirksamkeit  sich  seit  1882  wie  folgt  gestaltete : 


imiTc 

Streitfälle 

Vergleich 

Urte 

1862 

2761 

2345 

179 

1865 

3382 

2712 

419 

1875 

4158 

2750 

578 

1885 

3336 

2365 

322 

1889 

4578 

3391 

477 

1890 

4531 

3399 

457 

1895 

7153 

5365 

632 

In  der  Schweiz  kannte  geraume  Zeit 
nur  das  romanische  Gebiet  die  Conseils  de 
prudliommes,  nämlich  die  Kantone  Genf, 
Neuenburg,  ersterer  laut  G.  v.  3.  Oktober 
1883,  letzterer  durch  G.  v.  20.  November  1885. 
In  Genf  ist  für  jede  Gewerbegruppe  ein  be- 
sonderes Gewerbe^ericht  aus  30  Mitgliedern  er- 
richtet worden;  die  Kaufleute  sind  mit  berück- 
sichtigt und  in  der  Gruppe  der  Verkehrsge- 
werbe untergebracht.  Bei  Berufungen  tritt  in 
Genf  eine  aus  den  besonderen  Gruppengerichten 
gebildete  Appellationskammer  in  Thätigkeit; 
m  Neuenburg  ist  die  Berufung  ausj^eschlossen 
mit  Ausnahme  derjeni£:en  Sachen,  die  vor  das 
Handelsgericht  gebracht  werden  können,  was 
nur  möglich  ist  bei  Streitwerten  von  3000 
Francs  an.  In  beiden  Kantonen  können  der 
Staatsrat  oder  der  grosse  B^t  alle  Prud'hommes- 
Räte  zu  einer  Gewerbeversammlung  zusammen- 
benrfen,  um  wichtige  industrielle  oder  kommer- 
zielle Fragen  j^meinschaftlich  zu  beraten.  Seit 
Dezember  18^  ist  auch  im  Kanton  Basel- 
Stadt  ein  gewerbliches  Schiedsgericht  auf  der- 
selben Grundkige  errichtet  worden.  Sämtliche 
Gewerbe  sind  in  10  Gruppen  zusammengefasst, 
auf  die  je  12  Richter  entfallen,  so  dass  die  Ge- 
samtzahl der  Beisitzer  120  beträgt.  Der  Ob- 
mann ist  juristisch  gebildet.  Die  Zahl  der  er- 
ledigten Streitfälle  wird  auf  durchschnittlich 
500  im  Jahre  angegeben.  In  Aargau  hat  eine 
von  mehreren  hundert  Arbeitern  besuchte  Ver- 
sammlung an  den  Re^ierungsrat  das  Ansuchen, 
ein  gewerbliches  Schiedsgericht  einführen  zu 
wollen,  gestellt,  ist  aber  abschlägig  beschieden 
worden.  In  Solothurn  und  Zürich  trägt 
man  sich  seit  einiger  Zeit  mit  Projekten  zur 
Einfühnmg  derarti^r  Gerichte. 

In  Oesterreich  beruhen  die  durch  G.  v. 
14.  Mai  1869  begründeten  Gewerbegerichte  auf 
den  Grundlagen  der  älteren  französischen  Ge- 
setzgebung über  die  Conseils.  Sie  werden  durch 
Verordnung  des  Justizministeriums  im  £inver- 
nehmen  mit  dem  Handelsministerium  nach  ein- 
geholtem Gutachten  des  Provinziallandtages 
eröffnet.  Der  Entwurf  der  Geschäftsordnung 
wird  dem  Justizministerium  zur  Genehmigung 
durch  das  Oberlandesfi^ericht  vorgelegt,  das  auch 
die  Aufsicht  über  das  Gewerbegericht  führt. 
Entg^egen  der  Entwickelung ,  die  die  französi- 
schen Conseils  von  Gerichten  für  einzelne  In- 
dustriezweige  zu  Gerichten   für   das  gesamte 


Gewerbe  durchgemacht  haben,  sind  die  öster- 
reichischen ausschliesslich  für  fabrikmässig  be- 
triebene Gewerbe  kompetent.  Bei  Streitigkeiten 
zwischen  Handwerkern  und  deren  Hilfspersonen 
können  sie  nicht  angerufen  werden.  Sie  be- 
stehen in  Wien,  Brunn,  Reichenberg  und  Bielitz. 
Ihre  Thätigkeit  ist  sehr  gering.  In  Brunn 
wurden  bei  dem  Gewerbegerichte  für  Textil- 
industrie im  Jahre  1893  93  (1891  125),  bei  dem 
für  Metallindustrie  76  (1891  20)  Klagen  an- 
hängig gemacht.  In  Wien  umfasste  das  Ge- 
werbegericht  für  Maschinen  und  Metallwaren 
im  Jahre  1893  207  Klagefälle  (1892  158),  und 
in  Bielitz  wurden  1893  57  Klagen  (Textil- 
industrie) erhoben.  Ueber  langsamen  Gang  der 
vermittelnden  Thätigkeit  und  der  Rechtsprechung 
wird  geklagt,  und  da  überhaupt  wenig  Gewerbe- 
gerichte bestehen,  hat  1894  bei  Gelegenheit  der 
Beratung  über  eine  neue  Civilprozessordnung 
der  Abgeordnete  Baerenreither  den  Antrag 
auf  Einführungvon  Gewerbegerichten  im  wesent- 
lichen unter  Berücksichtigung  des  deutschen 
Verfahrens  gestellt.  Er  hat  zum  Erlass  des 
G.  V.  27.  November  1896  gjeführt,  das  am  1.  Juli 
1898  in  Kraft  getreten  ist.  Auch  in  Oester- 
reich ist  hierbei  der  fakultative  Weg  gewählt. 
Die  Errichtung  geschieht  durch  eine  vom  Justiz- 
ministerium im  Einvernehmen  mit  den  be- 
teiligten Ministerien  zu  erlassende  Verordnung. 
Die  Landtage  sowie  andere  Korporationen  sind 
Anträge  auf  Errichtung  eines  Gewerbegerichtes 
zu  stellen  berechtigt. 

Um  möglichst  viele  Gerichte  ins  Leben  ge- 
rufen zu  sehen,  hat  die  österreichische  Gewerk- 
schaftskommission eine  umfassende  Propaganda 
in  Scene  gesetzt.  Sie  hat  in  einem  Aufrufe 
vom  Februar  1898  sich  dahin  ausgelassen,  dass 
nicht  nur,  wenn  das  Justizministerium  es  für 
gut  befindet,  Gewerbegerichte  eröffnet  werden 
sollten,  sondern  überall  da,  wo  es  notwendig 
und  im  Interesse  der  Arbeiter  gelegen  ist.  Doch 
ist  zu  hoffen,  dass  das  Justizministerium  die 
Situation  nicht  verkennen  wird.  Bis  zu  50  Gulden 
sind  die  Urteile  der  Gewerbegerichte  endgiltig. 
Ueber  diesen  Betrag  hinaus  ist  Berufung  mög- 
lich. Bei  Objekten  bis  zu  60  Gulden  ist  Be- 
rufung wegen  „Nichtigkeitsgründen"  zulässig. 
Als  Einigungsämter  funktionieren  die  Gewerbe- 
gerichte nicht.  Als  weitere  Funktion  neben 
ihrer  Rechtsprechung  ist  aber  vorgesehen,  dass 
sie  auf  Ersuchen  der  Landesbehörden  Gutachten 
abzugeben  haben  und  an  letztere  Anträge  in 

gewerblichen  Angelegenheiten  stellen  dürfen. 
>urch  Verordnung  des  Justizministers  v.  21. 
November  1899  sind  4  neue  Gewerbegerichte  in 
Lemberg,  Krakau,  Mährisch-Ostrau  und  Mährisch- 
Schönberg  errichtet  worden,  so  dass  vom  1. 
Februar  1900  Oesterreich  im  ganzen  8  Gewerbe- 
gerichte aufweisen  wird.  Für  die  in  Genossen- 
schaften vereinigten  Handwerker  bestehen  die 
nach  §  122—124  der  Gewerbeordnung  von  1885 
gegründeten  schiedsrichterlichen  Aus- 
schüsse und  für  die  Gewerbetreibenden,  soweit 
sie  einer  Genossenschaft  nicht  angehören,  können 
sogenannte  ,,schiedsrichteriiche  Kolle- 
gien'^ ins  Leben  gerufen  werden. 

Litteratur:  Den  Nachweis  der  ältei'en  LiUeratur 
8.  bei  Wilh,  SHeda,  »Das  Gewerhegerichtn,  Leip' 
zig  1890.  —  Die  zahlreichen  Kommentare,  unier 
denen  der  von  Wilhelmi  und  Für  st,  Berlin 


410 


Gewerbegerichte — GewerbegesetzgebuBg  (Einleitung) 


1891,  der  eingehendste  ist,  sind  grösstenteils  in 
der  Abhandlung  des  Unterzeichneten,  Das  Reichs^ 
gesetx  betr.  die  Gewerbegerichte  in  Jahrb,  f.  Nat. 
u.  Stau,  8,  F.  Bd.  2,  S.  69—81,  209—222  namhaft 
gemacht.  —  Viel  Material  enthalten  die  Amtlichen 
Mitteilungen  aus  den  Jahresberichten  der  Geicerbe- 
aufsichtsbeamten,  das  Statistische  Jahrbuch  deut- 
scher Städte  (Artikel:  Gewerbegerichte  von  G. 
Pabst),  das  Sozialpolitische  Ztmtralbl.,  1892—1894, 
Blätter  für  soziale  Praxis,  189S — 1899,  Soziale 
Praxis,  seit  Oktober  1894  ^««^  <^^  ^  Beilage 
abgedruckten  uMit-teilungen  des  Verbandes  deut- 
scher Gewerbegerichteu,  die  seit  dem  10.  Ok- 
tober 1894  selbständig  ausgegeben  werden.  — 
Ch,  Morisseaux,  Conseils  de  l'indtistrie  et  du 
travail,  BruxeUes  1890.  —  Q.  Stein,  Das  Reichs- 
gesetz vom  29.  Juli  1890  betr.  die  Gewerbege- 
richte, Berlin  1891.  —  Hans  Reichel,  Das 
Gewerbegericht,  Hermhut  1898.  —  A,  Bloch, 
Gesetz  vom  27.  November  1896  in  historisch- 
dogmatischer und  exegetischer  Darstellung,  Wien 
1899,  —  Ä  PoUah,  Das  Gesetz  betretend 
die  Einführung  von  Gesetzen  in  Oesterreich,  im 
Archiv  f.  soz.  G.,  X,  272 ff.  —  J.  SUbermann, 
Die  Frage  der  kaufmännischen  Schiedsgerichte 
in  Deutschland,  im  Arch.  f.  soz.  Ges.,  XI,  666. 
—  Hof  mann,  Die  Thätigkeit  der  Gemeindevor- 
steher nach  dem  R.G.,  betreffend  die  Gewerbe- 
gerichte, V.  29,  VII.  1890,  Leipzig  189S.  —  P. 
Schmitz,  Die  königlichen  Geioerbegerichte  in 
der  Rheinprovinz,  Düsseldorf  1894.  —  E»LatUen- 
Hchlager,  Die  Rechtsprechung  im  Gewerbe- 
gerichie  im  Jahrb.  f.  Ges.  und  Verw.,  1893,  S. 
137 — 140.  —  Werner  Sombart,  Das  ita- 
lienische Gesetz,  betr.  die  Einsetzung  von  Probi 
viri  im  »Archiv  für  soziale  Gesetzgebung n,  6., 
S.  549 — 565.  —  Charles  Chruet,  Les  conseils 
de  prud'hommes  et  le  projet  de  loi  sur  leur 
Organisation  devant  le  parlement  in  nRevue 
politique  et  parlementaireii,  2,  S.  255 — 274»  — 
</.  Jastrow,  Die  Erfahrungen  in  den  deutsehen 
Gewerbegerichten,  in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Slot., 
3.  F.,  14,  S.  321.  —  Otto  V.  Boenigh,  Schiede- 
gerichie  für  kaufmännische  Angestellte,  in  Jahrb. 
f.  Nat.  u.  Stat.,  3.  F.,  13,  S.  428.  —  E.  Unger, 
Entscheidungen  des  G.  in  Berlin  unter  Berück- 
sichtigung  der  Praxis  anderer  deutscher  Gerichte, 
1898.  —  Laurant  Hecheene,  La  concüiation 
industrielle  en  Belgique  in  Revue  d'Seon.  pol. 
(1897)  XI,  343. 

Wilhelm  Stieda, 


Gewerbegesetzgebnng. 

I.  Einleitung  (S.  410).     II.  Die  Gewerbe- 
gesetzgebung  in  den  einzelnen  Staaten  (S.  412). 

I. 

Einleitung. 

In  dem  Art.  Gewerbe  (oben  S.  360 ff.) 
ist  der  Begriff  des  Gewerbes  erörtert  und 
die  Gewerbegeschichte  in  ihren  Grundztlgen 
dargelegt  worden.  Die  Aufgabe  der  folgenden 
Artikel  ist  es,  das  heute  geltende  Gewerbe- 
recht, wie  es  sich  in  den  grösseren  euro- 
päischen Staaten  im  Laufe   des   19.  Jahr- 


hunderts  gestaltet    hat,    eingehend    darzu- 
stellen.   Trotz  der  Verschiedenheit  der  Ent- 
wickelungsstufe,  auf  der  sich  die  gewerb- 
liche   Produktionsweise    in    den    einzelnen 
Ländern  befindet,  ruht  die  rechtliche  Ord- 
nung des  Gewerbewesens  in  allen  Staaten 
der   europäisch -amerikanischen   Civilisation 
heute   auf   dem   Principe   der  Gewerbe- 
freiheit,   wenn    dasselbe   auch   von   den 
einzelnen    Gesetzgebungen    in    einer    bald 
mehr,  bald  minder  beschränkten  Gestalt  zur 
Durchführung  gebracht  ist.    Die  charakte- 
ristischen Eigenheiten  der  mittelalterlichen 
Gewerbeverfassung  sind  in  dem  Art.  Ge- 
werbe hervorgehoben  worden.    Es  ist  ge- 
zeigt worden,  wie  und  aus  welchen  Ursachen 
der  mittelalterliche  Gewerbebetrieb,   der  in 
den   Zünften    seine   Organisation    gefunden 
hatte,    sich    umbilden    und    weiter    bilden 
musste.    Die  eingehendere  Darstellung  der 
Entstehung,    Organisation    und    wirtschaft- 
lichen Bedeutung  wie  des  allmälilichen  Ver- 
falles   und    der   Auflösung    der    Zimftver- 
fassung    wird    der  Art.   Zünfte    bringen, 
unter  Aufrechterhaltung  der  alten  Formen 
des  Zunftwesens  hatte  aber  schon  im  Laufe 
des    17.    und    18.   Jahrhunderts    zuerst    in 
Frankreich,  dann  auch  in  den  grosseren 
deutschen   Staaten,    wie    namentlich   in 
Preussen,     der    Gewerbebetrieb     durch 
obrigkeitliche  Regelung  und  durch  Grewerbe- 
regulative   eine   weitgehende  Umgestaltung 
er&hren.    Die  Auswüchse  und  Ausartungen 
des    Zunftwesens    wurden    bekämpft,     das 
Handwerk  einer  obrigkeitlichen  Bevormun- 
dung unterworfen,  der  mehr  und  mehr  auf- 
kommende   Fabrikbetrieb    von    landesherr- 
licher Konzession    abhängig   gemacht.     Li 
England,  wo  die  Zünfte  niemals  die  Be- 
deutung   wie   auf    dem    Festlande    erlangt 
hatten,  blieben  zwar  die  alten  beschränken- 
den Rechtsvorschriften  formell  bestehen,  sie 
wurden   aber   thatsächlich   nicht  mehr   be- 
achtet.   Begünstigt  und  gefördert  von   der 
herrschenden  Aristokratie  konnte  dort  eine 
Grossindustrie  im  Laufe  des   18.  Jahrhun- 
derts sich  entwickeln,  so  gross  und  mächtig, 
wie  sie  kein  anderes  Land  damals  aufzu- 
weisen hatte. 

Unter  dem  Einflüsse  der  physiokratischen 
Theorieen  hatte  in  Frankreich  die  R^ie- 
rung  schon  seit  1775  die  Verwirklichung 
des  Systems  der  Gewerbefreiheit  vorbereitet. 
Wurde  auch  das  bekannte  Edikt  Turgots 
V.  12.  März  1776,  das  die  Zünfte  aufhob, 
nach  seiner  Entlassung  wieder  zurück^- 
nommen,  so  wiuxle  doch  die  von  ihm  ein- 
geschlagene Bahn  der  Reformen  nicht  ver- 
lassen, und  die  Gesetzgebung  der  Revolution 
führte  nur  das  von  dem  Ancien  Regime  in 
Angriff  genommene  Werk  zu  Ende.  Durch 
das  G.  V.  2.— 17.  März  1791  winden  alle 
Zünfte  und  gewerbliche  Korporationen  auf- 


Gewerbegesetzgebung  (Einleitung) 


411 


gehoben  und  v.  1.  April  1791  ab  die  Ge- 
werbefreiheit eingeiülirt.  Jedermann 
ward  zum  Betriebe  eines  jeden  Gewerbes 
zugelassen  und  die  Beschränkungen  der 
Ausübung  des  Gewerbebetriebes,  soweit  sie 
in  der  alten  Gewerbeverfassung  begründet 
waren,  beseitigt.  Nicht  aber  wiurde  der 
Gewerbebetrieb  von  einer  jeden  Be- 
schränkung befreit  Das  System  der 
Gewerbefreiheit  ist  nicht  ein  System 
schrankenloser  Freiheit  Die  Gewerbefreiheit 
besteht  vielmehr  darin,  dass  die  Zulassung 
zum  Gewerbebetriebe  und  dessen  Ausübung 
dimjh  Gesetz  nur  solchen  Beschränkungen 
unterworfen  werden ,  welche  durch  das 
öffentliche  Interesse  erfordert  werden. 
Im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  haben  alle 
europäischen  Staaten  nach  diesem  Principe 
ihre  Gesetzgebung  umgestaltet.  In  einzel- 
nen Staaten,  wie  in  den  skandinavischen 
Bei  che  n,  hat  mau  versucht,  einige  der 
älteren  Rechtsinstitute  festzuhalten,  um 
den  Gefahren,  die  aus  der  Gewerbefreiheit 
entspringen  können,  vorzubeugen.  In  ande- 
ren Staaten,  wie  in  Oesterreich,  hat 
die  neueste  Gesetzgebung  wenigstens  für 
die  meisten  Kleingewerbe,  für  das  eigent- 
hehe  flandw^erk  gerade  dieser  Gefahren 
wegen  das  Prindp  der  Gewerbefreiheit  so 
abgeschwächt,  dass  in  ihr  eine  Verbindung 
der  Gewerbefreiheit  für  die  Grossindustrie, 
den  Fabrikbetrieb  und  die  Handelsgewerbe 
mit  der  Gewerbeunfreiheit  für  das  Hand- 
werk sich  findet,  die  auf  Befähigungsnach- 
weis, Lehrlings-  und  Gesellenzwang  sowie 
Zwangsinnung  beruht.  Aber  auch  in  den 
anderen  Staaten,  welche  an  dem  Principe 
der  Gewerbefreiheit  festgehalten  haben,  sind 
Umfang  und  Inhalt  dieser  Freiheit  ver- 
sdiieden  und  auch  in  den  einzelnen  Staaten 
zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  be- 
grenzt worden.  Die  in  der  Gesetzgebung 
zum  rechtlichen  Ausdrucke  gelangenden  An- 
sichten über  die  Beschränkungen,  welche 
im  öffentlichen  Interesse  notwendig 
sind,  gehen  weit  auseinander  und  haben 
mehrfach  gewechselt.    Die  Geschichte  der 

greussischen  Gesetzgebung  von  1810 
is  1861  sowie  die  der  deutschen  Ge- 
setzgebung von  1869  bis  auf  die  Gegenwart 
bieten  hierfür  lehrreiche  und  interessante 
Beispiele  dar.  Hat  auch  die  Erfahrung  die 
übertriebenen  Befürchtungen,  die  vor  der 
Einführung  der  Gewerbefreiheit  vielfach  ge- 
hegt wurden,  wie  dass  sie  die  Veraimimg 
des  Volkes  und  die  Auflösung  aller  wirt- 
schaftlichen Ordnung  verursachen  werde, 
nicht  gerechtfertigt,  so  kann  sie  doch,  wie 
jede  Freiheit,  zu  Missständen  und  Miss- 
bräuchen führen.  Freilich  verkennt  man 
den  widiren  Zusammenhang  der  Dinge, 
wenn  man,  wie  dies  nicht  selten  geschieht, 
die   Ursacihe   der  tiefsten   und    schwersten 


Schäden  unseres  wirtschaftlichen  Lebens  in 
der  Gewerbefreiheit  erblickt,  statt  in  jenen 
grossen  allgemeinen  Faktoren,  die  das  ge- 
werbliche Leben  der  Gegenwart  beherrschen 
und  die  in  den  Artt  Fabrik  (oben  Bd.  HI, 
S.  771  ff.)  und  Gewerbe  (a.  a.  0.)  in 
ihrer  Bedeutung  und  ihrer  Wirkung  auf  das 
Gewerbe  erörtert  und  gewürdigt  wurden.  Der 
Macht  dieser  Faktoren  —  Maschinenbetrieb, 
Arbeitsteilung,  Ausbildung  des  Weltmarktes 
etc.  —  kann  sich  kein  Kulturvolk  entziehen, 
und  deren  nachteilige  Wii-kungen  sucht  man 
vergebens  durch  polizeiliche  Beschränkungen 
der  Konkurrenz  oder  durch  Rückkehr  zu 
Instituten  der  Vergangenheit  zu  bekämpfen. 
Gesetze,  die  dies  erstreben,  vermögen  nur  die 
üebel,  die  sie  verhindern  wollen,  zu  steigern. 
Wohl  aber  hat  die  Erfahrung  gelehrt, 
dass  die  Gesetzgebung  sich  nicht  darauf 
beschränken  darf,  die  Gtewerbefreiheit  zu 
sichern  und  im  öffentlichen  Interesse  den 
Gefahren  des  Gewerbebetriebes  vorzubeugen, 
gegen  welche  der  einzelne  sich  nicht  zu 
schützen  vermag.  Der  moderne  Staat  hat 
auch  grosse  und  wichtige  positive  Auf- 
gaben zu  erfüllen,  die  das  gewerbliche 
Leben  der  Gegenwait  ihm  stellt  Es  sei 
hier  nur  hingewiesen  auf  das  grosse  Pro- 
blem der  sogenannten  sozialen  Frage,  an 
dessen  Lösung  der  Staat  mitzuarbeiten  hat, 
indem  er  eine  Rechtsordnung  schafft,  in 
welcher  den  arbeitenden  Klassen  und  zu- 
vörderst den  gewerblichen  Arbeitern  die 
Möglichkeit  geboten  wird,  nicht  bloss  als 
Werkzeuge  an  der  Kulturarbeit  des  Volkes 
teilzunehmen,  sondern  auch  sich  selbst  wirt- 
schaftlich und  geistig  fortzuentwickeln,  und 
in  welcher  ihnen  die  bürgerliche  und  po- 
litische Freiheit  nicht  bloss  formeD,  sondern 
auch  thatsächlich  gesichert  ist  Sache  der 
Gewerbegesetzgebung  ist  es.  das  rechtliche 
Verhältnis  der  gewerblichen  Arbeiter  zu 
den  Gewerbeunternehmern  durch  öffentlich- 
rechtliche Normen  zu  regeln,  soweit  nach 
dem  soeben  angedeuteten  Gesichtspunkte 
das  Privatrecht  einer  Ergänzung  durch  das 
öffentliche  Recht  bedarf.  Doch  werden  die 
hierher  gehörigen  Gesetze  in  den  folgenden 
Artikeln  nur  soweit  berührt,  als  dies  zur 
Charakterisierung  des  heutigen  Standes  der 
Gewerbegesetzgebung  in  den  einzelnen 
Staaten  erforderlich  erscheint  In  den  um- 
fassenden Artikeln  über  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung,  Arbeiterversiche- 
rung (Krankheits-,  Unfall-,  Alters-  und  In- 
validenversicherung) etc.  (oben  Bd.  I,  S.  470  ff. 
bezw.  S.  607  ff.  etc.)  finden  sie  die  ein- 
gehendste Erörierung.  Sodann  aber  hat 
der  Staat,  soweit  die  Gesetzgebung  und 
staatliche  Verwaltimg  dies  vermögen,  die  Ent- 
wickelung  des  Gewerbebetriebes  durch  Für- 
sorge für  die  gewerbliche  Ausbildung  (Er- 
richtung   und     Unterhaltung    oder    Unter- 


412 


Gewerbegesetzgebung  (Einleitimg— Deutschland) 


Stützung  gewerblicher  Fachschulen  der  ver- 
schiedensten Art),  durch  Regelung  des 
Lehrlingswesens,  durch  Unterstützung  ge- 
werblicher Ausstellungen  etc.  zu  fördern. 
1. die  Artt.  Ausstellungen  (oben ßd . II, 
51ff.),  Gewerblicher  Unterricht, 
Lehrlingswesen.)  Endlich  ist  es  eine 
.wichtige  Aufgabe  der  Gewerbegesetzgebung, 
den  Gewerbetreibenden,  insbesondere  den 
Handwerkern,  die  den  schweren  Kampf  gegen 
die  Grossindustrie  zu  kämpfen  haben,  den 
Zusammenschluss  in  öffentliche  Korpora- 
tionen zu  ermöglichen,  während  die  Frei- 
heit, sich  in  Vereinen  und  Genossenschaften 
zu  vereinen,  ihnen  schon  durch  die  allge- 
meine Vereins-  und  Genossenschaftsgesetz- 
gebung ermöglicht  ist  (s.  die  betreffenden 
Artikel).  Nicht  die  alten  Zünfte  mit  ihren 
ausschliessenden  Privilegien  sollen  wieder 
aufleben,  aber  den  Gewerbetreibenden  ist 
die  rechtliche  Möglichkeit  zu  geben,  öffent- 
liche Korporationen  zu  bilden ,  die  mit 
solchen  öffentlichen  Rechten  auszustatten 
sind,  um  sie  zu  heftigen,  dem  einzelnen 
einen  Halt  zu  gewähren  und  die  gemein- 
samen Interessen  ihrer  Glieder  in  wirk- 
samer Weise  zu  fördern.  (S.  hierüber  den 
Art.  Innungen.) 

Ijoening. 


n. 

Die  Gewerbegesetzgebung  in 
den  einzelnen  Staaten. 

I.  Die  G.  in  Deutschland  (S.  412).  II.  Die 
G.  in  Oesterreich  (S.  440).  III.  Die  G.  in 
Ungarn  (S.  4ö8).  IV.  Die  G.  in  Frankreich  (S. 
461).  V.  Die  G.  in  Grossbritannien  (S.  468). 
VI.  Die  G.  in  Italien  (S.  (479).  VII.  Die  G. 
in  der  Schweiz  (S.  482).  VIII.  Die  G.  in  Skan- 
dmavien  (S.  486).  IX.  Die  G.  in  Russland  (S. 
490). 

I.  Die  Gewerbegesetzgebnng  in 
D'entschland. 

I.  Geschichtliche  Entwickeinng. 
1.  Die  preussische  G.  2.  Die  deutsche  G.O.  vom 
21.  Juni  1869.  3.  Abänderungen  der  G.O.  II. 
Das  geltende  Recht.  4.  Geltungsbereich 
der  G.O.  5.  Allgemeine  Grundsätze  des  dent- 
schen  Gewerberechts.  6.  Stehender  Gewerbe- 
betrieb. 7.  Ausübung  des  stehenden  Gewerbe- 
betriebes. 8.  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen. 
9.  Marktverkehr.  10.  Gewerbliche  Taxen.  11. 
Innungen  und  Handwerkskammern.  12.  Ge- 
werbliche Arbeiter.  13.  Gewerbliche  Hilfskassen. 
III.  Bestrebungen  auf  Abänderung  der 
G.O. 

I.  Geschichtliche  Entwickeinng. 

1.  Die  prenssische  G.  In  Preiissen 
wurde  der  Grundsatz  der  Gewerbe- 
freiheit durch  das  Gesetz  über  die  Ein- 


führung einer  allgemeinen  Gewerbesteuer 
vom  2.  November  1810  zur  DurchfOhnmg 
gebracht,  welchem  das  Gesetz  über  die  po- 
lizeilichen Verhältnisse  der  Gewerbe  vom 
7.  September  1811  ergänzend  zur  Seite  trat. 
Nach  den  Bestimmungen  dieser  beiden  Ge- 
setze sollte  der  Betrieb  eines  Gewerbes 
künftig  nur  von  der  Lösung  eines  Ge- 
werbescheines, für  den  eine  ent- 
sprechende Steuer  zu  zahlen  war,  abhängig 
sein.  Der  Gewerbeschein  wimie  je  für  ein 
Jahr  ausgestellt.  Er  durfte  niemandem  ver- 
sagt werden,  welcher  ein  Attest  der  Polizei- 
behörde seines  Ortes  Über  seinen  rechtlichen 
Lebenswandel  beibrachte.  Nur  bei  solchen 
Gewerben,  bei  deren  ungeschicktem  Betriebe 
gemeine  Gefahr  obwaltete  oder  welche  eine 
Öffentliche  Beglaubigung  oder  ünbescholten- 
heit  erforderten,  sollten  Gewerbescheine 
lediglich  dann  erteilt  werden,  wenn  die 
Nachsuchenden  zuvor  den  Besitz  der  er- 
forderlichen Eigenschaften  auf  die  vor- 
geschriebene "Weise  nachwiesen.  Als  Ge- 
werbtreibende  dieser  Art  wurden  die  ver- 
schiedensten Personen  behandelt:  Sanitäts- 
personen, Gasl^  und  Schankwirte,  Bauhand- 
werker, Justizkommissarien  imd  Notare, 
Schornsteinfeger,  Abdecker,  Lotsen,  Schiffer 
und  Steuerleute  für  Seeschiffe,  Schauspiel- 
direktoren, Feldmesser,  Markscheider,  Hau- 
sierer. So  waren  denn  auch  die  von  den 
einzelnen  Gruppen  verlangten  Nachweise 
ausserordentlich  verschieden.  Bei  einigea 
handelte  es  sich  um  die  Darlegung  besonderer 
Kenntnisse  und  Fertigkeiten,  bei  andereu 
um  eine  polizeiliche  Prüfung  der  persönlichen 
Eigenschaften.  Der  Zunftzwang  wurde 
aufgehoben.  Die  ausschliesslichen  Ge- 
werbeberechtigungen sollten  abgelöst 
werden.  Die  polizeilichen  Taxen  der 
Lebensmittel-,  Kaufmanns-  und  Backwai'en 
wurden  aufgehoben,  auch  die  Gastwirte 
waren  fortan  nur  verpflichtet,  in  den  Städ- 
ten 1.  und  2.  Klasse,  auf  Grund  besonderer 
polizeilicher  Verordnung  auch  in  denen 
3.  Klasse,  ihre  Preise  in  der  Gaststube  an- 
zuschlagen. 

Die  Erweiterung  des  Staatsgebietes  im 
Jahre  1815  hatte  eine  Aenderung  der  Ge- 
werbegesetzgebung zunächst  nicht  zur  Folge. 
Die  GG.  V.  2.  November  1810  und  7.  Sep- 
tember 1811  blieben  daher  für  den  Bereich 
des  damaligen  Staates  bestehen,  die  neu 
hinzugekommenen  Gebietsteile  behielten  da- 
gegen ihre  hergebrachte  Gewerbeverfassung. 
Nur  die  Gewerbesteuer  wurde  durch  ein 
G.  V.  30.  Mai  1820  einheitlich  geregelt  Erst 
am  17.  Januar  1845  erfolgte  der  Erlass  einer 
allgemeinen  Gewerbeordnung  für 
den  ganzen  Umfang  der  Monarchie. 
Diese  Gewerbeordnung  hielt  an  dem  Grund- 
satz der  Gewerbefreiheit  fest.  Auf- 
gehoben wurden  alle  Yerbietimgsrechte  und 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


413 


ausschliesslichen  Gewerbeberechtigungen, 
alle  Berechtigungen  von  Privatpersonen  zur 
Erteilung  von  Konzessionen,  alle  Abgaben 
vom  Gewerbebetrieb  ausser  der  Gewerbe- 
steuer. Auch  die  Zwangs-  und  Bannrechte 
wurden  teils  aufgehoben,  teils  für  ablösbar 
erklärt  Die  Beschränkung  gewisser  Gew^erbe 
auf  die  Städte  hörte  auf,  der  gleichzeitige 
Betrieb  verschiedener  Gewerbe  wurde  jeder- 
mann gestattet. 

Wer  ein  stehendes  Gewerbe  be- 
treiben wollte,  hatte  der  Eommunalbehörde 
des  Ortes  Anzeige  zu  machen.  Gewisse 
gewerbliche  Anlagen,  namentlich  solche, 
welche  für  die  Besitzer  oder  Bewohner  der 
benachbarten  Gbnindstücke  oder  für  das 
Publikum  überhaupt  erhebliche  Nachteile, 
Gefohren  oder  Belästigungen  herbeiführen 
konnten,  durften  nur  mit  polizeilicher  Ge- 
nehmigung errichtet  werden.  Auch  einzelne 
Gewerbebetriebe  wurden  aus  Gründen  der 
öffentlichen  Wohlfahrt  oder  Sicherheit  ent- 
weder von  dem  Nachweis  der  Befähigung 
oder  der  Erteilung  einer  polizeilichen  Er- 
laubnis abhängig  gemacht.  Befähigungs- 
nachweise, welche  auf  Grund  einer  beson- 
deren Prüfung  erteilt  wurden,  waren  vor- 
geschrieben :  1.  für  Aerzte  einschliesslich  der 
Wundärzte,  Augenärzte,  Zahnärzte,  Geburts- 
helfer, femer  für  Apotheker,  Hebammen, 
mit  einem  Worte  für  Medizinalpersonen; 
2.  für  Seeschiffer  und  Seesteuerleute ;  3.  für 
Bauunternehmer  und  Bauhandwerker,  na- 
mentlich Maurer,  Steinhauer,  Schiefer-  und 
Ziegeidecker,  Haus-  und  Schiffszimmerleute, 
Mühlen-  und  Brunnenbaumeister;  4.  für 
Fährmeister,  d.  h.  Vorsteher  öffentlicher 
^Fähren,  Schornsteinfeger,  Personen,  welche 
sich  mit  Aufstellung  von  Blitzableitern  be- 
schäftigten, welche  Feuerwerk  zum  Verkauf 
brachten  oder  gegen  Entgelt  abbrannten, 
Eastrierer,  Abdecker,  Bandagisten  und  Ver- 
fertiger chirur^scher  Instrumente.  Polizei- 
liche Konzessionen  hatten  einzuholen:  1. 
Schauspieluntemehmer;  2.  Personen,  welche 
Pressgewerbe  betrieben ;  3.  Schlosser,  Pfand- 
leiher, sowie  diejenigen,  welche  mit  gebrauch- 
ten Kleidern  oaer  Betten,  mit  gebrauchter 
Wäsche  oder  altem  Metallgerät,  mit  Schiess- 
pnlver  oder  Giften  handelten,  ferner  die- 
jenigen, welche  aus  der  Vermitteln  ng  von 
Geschärten  oder  der  Uebemahme  von  Auf- 
trägen, namentlich  aus  der  Abfassung  schrift^ 
lieber  Aufsätze  für  andere  ein  Gewerbe 
machten  oder  möblierte  Zimmer  oder  Schlaf- 
steUen  gewerbsweifle  vermieteten,  Kammer- 
jäger, Lohnlakeien  und  andere  Personen, 
welche  auf  öffentlichen  Strassen  und  Plätzen 
oder  in  Wirtshäusern  ihre  Dienste  anboten, 
ingleichen  diejenigen,  welche  auf  öffentlichen 
Strassen  und  Plätzen  Wagen,  Pferde,  Sänf- 
ten, Gondeln  und  andere  Transportmittel 
zu  jedermanns  Gebrauch  bereit  hielten;  4. 


Unternehmer  von  Tanz-  oder  Fechtschulen, 
Bade-  oder  Tumanstalten.  Die  Geschäfte 
der  Baukondukteure,  Feldmesser,  Nivellierer, 
Markscheider,  Auktionatoren,  See-  und  Bin- 
nenlotsen, Mäkler,  Dispacheurs  und  Gtesinde- 
vermieter  durften  nur  von  denjenigen  Per- 
sonen betrieben  werden,  welche  als  solche 
von  den  verfassungsmässig  dazu  befugten 
Staats-  oder  Kommunalbehörden  oder  Kor- 
porationen angestellt  oder  konzessioniert 
waren.  Ein  gleiches  galt  von  denen,  welche 
den  Feingehalt  oder  die  Beschaffenheit,  die 
Menge  oder  richtige  Verpackung  von  Waren 
irgend  einer  Art  feststellten,  von  Güterbe- 
stätigem,  Schaffern,  Wägern,  Messern, 
Brackem,  Schauem,  Stauern  etc.  sowie  von 
denjenigen,  welche  ein  Gewerbe  daraus 
machten,  Leichen  zu  reinigen  und  anzukleiden 
oder  die  zur  Bestattimg  von  Leichen  er- 
forderlichen Gerätschaften  und  Wagen  zu 
halten.  Der  Kleinhandel  mit  Getränken, 
sowie  der  Betrieb  der  Gast-  und  Schank- 
wirtschaft war  schon  durch  Kabinettsordre 
vom  7.  Februar  1835  und  21.  Juni  1844  für 
den  gesamten  Staat  einheitlich  geregelt  imd 
von  einer  polizeilichen  Erlaubnis  abhängig 
gemacht  worden;  diese  Vorschriften  wurden 
diurch  die  (Gewerbeordnung  aufrecht  erhalten. 
Für  das  Schomsteinfegergewerbe  sollten 
Kehrbezirke  da,  wo  sie  bestanden,  beibehalten 
und  da,  wo  sie  nicht  bestanden,  eingeführt, 
andererseits  aber  auch  aufgehoben  und  ver- 
ändert werden  können. 

Der  Gewerbebetrieb  im  Umher- 
ziehen wurde  durch  die  G.G.  v.  17.  Januar 
1845  nicht  näher  geregelt.  Dieselbe  begnügte 
sich,  auf  die  bisher  geltenden  Bestimmungen 
zu  verweisen.  Diese  waren  teils  in  dem 
Gewerbesteuergesetz  vom  30.  Mai  1820,  teils 
in  dem  R^üativ  vom  28.  April  1824  ent- 
halten. Danach  wurde  für  die  Ausübung 
des  Gewerbebetriebes  im  Umherziehen  die 
Lösung  eines  Gewerbescheines  erfordert, 
der  von  der  Regierung  zu  erteilen  und  für 
den  eine  bestinmite  Abgabe  zu  entrichten 
war.  Die  Lösung  des  Gewerbescheines 
diente  also  gleichzeitig  den  Zwecken  dgr 
Besteuerung  und  der  Konzessionierung  der 
Hausiergewerbe. 

Dagegen  enthielt  die  G.G.  v.  17.  Januar 
1845  nähere  Vorschriften  über  den  Markt- 
verkehr. Der  Besuch  der  Märkte  sowie 
der  Kauf  und  Verkauf  auf  denselben  wurden 
freigegeben  und  die  Gegenstände  sowohl 
des  Wochen-  als  des  Jahrmarktverkehres 
genau  bestimmt. 

Polizeiliche  Taxen  waren  nach  den 
Vorschriften  der  Gewerbeordnung  im  all- 
g^emeinen  nicht  zulässig.  Brottaxen  sollten 
jedoch  mit  Genehmigung  der  Ministerien  in 
einzelnen  Orten  gestattet  sein,  ausserdem 
die  Bäcker  und  Gastwirte  zum  Anschlagen 
der  Preise  durch  die  Ortsobrigkeit  angehalten 


414 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


werden  können.  Obrigkeitliche  Taxen  wurden 
femer  bei  Schornsteinfegern,  Abdeckern  und 
den  sogenannten  Strassengewerben  für  zu- 
lässig erklärt;  auch  die  auf  älteren  Fest- 
setzungen beruhenden  Taxen  für  Apotheker 
und  Medizinalpersonen  blieben  bestehen. 

Die  vorhandenen  Innungen  sollten 
nach  der  Gewerbeordnung  fortdauern;  sie 
konnten  sich  jedoch  selbst  auflösen  und  aus 
überwiegenden  Gründen  des  Gemeinwohles 
aufgelöst  werden.  Die  Bildung  neuer  In- 
nungen war  gestattet 

Die  Yerhätnisse  des  gewerblichen 
Hilfspersonals  (Gewerbe^ehilf en ,  Ge- 
sellen, Fabrikarbeiter,  Lehrünge)  wurden 
durch  die  Gewerbeordnung  eingehend  ge- 
regelt. Jeder  selbständige  Gewerbetreibende 
hatte  das  Recht,  Gesellen  und  Gehilfen  zu 
halten.  Auch  die  ßefu^is,  Lehrlinge  zu 
halten,  stand  im  allgemeinen  jedermann  zu, 
bei  dem  nicht  besondere  Ausschliessungs- 
gründe (Begehung  von  Verbrechen,  Kriminal- 
untersuchung, Konkurs  etc.)  vorlagen.  Bei 
einzelnen  Gewerben  erlangten  jedoch  die 
Gewerbetreibenden  die  Befugnis,  Lehrlinge 
zu  halten,  nur  durch  den  Nachweis  der  Be- 
fähigung, welcher  entweder  bei  Gelegenheit 
des  Eintrittes  in  eine  Innung  oder  durch 
eine  besondere  Prüfung  erbracht  werden 
konnte. 

Ein  Entschädigungsgesetz  vom 
17.  Januar  1845,  das  gleichzeitig  mit  der 
Gewerbeordnung  erlassen  wurde,  traf  Be- 
stimmung über  die  für  die  aufgehobenen 
oder  ablösbaren  Gewerbeberechtigungen  zu 
leistenden  Entschädigungen. 

Die  G.G.  V.  17.  Januar  1845  wiu:de  durch 
eine  sogenannte  Notverordnung  vom  9.  Fe- 
bruar 1849,  welche  später  die  Genehmigung 
der  Kammern  erlangte  (Bekanntmachung 
vom  30.  Januar  1850),  einer  ziemlich  weit- 
gehenden Abändenmg  unterworfen.  Die- 
selbe bestimmte  zunächst,  dass  für  jeden 
Ort,  wo  ein  Bedürfnis  dazu  obwaltete,  auf 
den  Antrag  der  Gewerbetreibenden  ein  Ge- 
werberat gebildet  werden  soUe,  dessen 
Mitglieder  zu  gleichen  Teilen  aus  dem  Fa- 
brikautenstande ,  dem  Handelsstande  und 
dem  Handw^erkerstande  zu  entnehmen  waren. 
Derartige  Gewerberäte  sind  auch  in  einer 
Reihe  von  preussischeu  Städten  gebildet 
w^orden.  haben  aber  kaum  irgendwo  eine 
erheblicne  Bedeutung  erlangt.  Viel  ein- 
greifender waren  die  Bestimmungen  der 
Verordnung  über  den  handwerksmässi- 
gen  Betrieb,  welche  das  Princip  der 
uewerbefreiheit  in  eingehender  Weise  diu*ch- 
brachen  und  die  Rechtsverhältnisse  der 
Handwerker  Bestimmungen  unterwarfen,  die 
stark  an  die  ehemalige  Zunftverfassung  er- 
innerten. Einer  Reilie  von  Handwerkern 
wurtle  die  selbständige  Ausübung  des  Ge- 
werbes nur  unter  der  Bedingung  gestattet, 


dass  sie  entweder  in  eine  Innung  nacli  vor-, 
gängigem  Nachweise  der  Befähigung  auf- 
genommen waren  oder  diese  Befähigung  vor 
einer  Prüfungskommission  nachgewiesen 
hatten.  Die  Feststellung  der  prüfungs- 
pflichtigen  Handwerke  erfolgte  in  so  weitem 
Umfange,  dass  fast  sämtliche  Handwerker 
dem  Prüfungszwange  unterworfen  waren. 

Von  geringerer  Bedeutung  waren  die 
Abänderungen,  welche  die  G.G.  vom  17. 
Januar  1845  durch  die  GG.  v.  15.  Mai  1854 
und  22.  Juni  1861  erfuhr.  Durch  letzteres 
wurde  die  Konzessionspflicht  für  Sdilosser 
und  Zimmervermieter  beseitigt 

In  den  im  Jahre  1866  erworbenen 
Landesteilen  wurde  die  G.G.  vom  17. 
Januar  1845  nicht  eingeführt.  Für  einen 
Teil  derselben  wurden  aber  im  Laufe  des 
Jahres  1867  kürzere  Gewerbegesetze  erlas- 
sen, welche  den  Zweck  verfolgten,  die 
Grundsätze  der  Gewerbefreiheit  daselbst  zur 
Geltung  zu  bringen,  insbesondere  die  Vor- 
rechte und  Verbietungsrechte  der  Zünfte  zu 
beseitigen.  Derartige  Bestinunungen  erfolg- 
ten durch  VV.  v.  29.  März  1867  für  das 
frühere  Kurfürstentum  Hessen  und  das 
frühere  Königreich  Hannover,  durch  V.  v. 
9.  August  1867  für  den  Amtsbezirk  Hom- 
burg, dim;h  V.  v.  23.  September  1867  für 
die  Herzogtümer  Schleswig  und  Holstein. 

2.  Die  deutsche  6.0.  vom  21.  Jnni 
1869.  In  den  übrigen  deutschen  Staaten 
waren  die  Grundsätze  der  Gewerbefreiheit 
ebenMls  im  Laufe  des  gegenwärtigen  Jahr- 
hunderts zur  Geltung  gelangt.  Nur  sehr, 
vereinzelt,  wie  namentlich  in  den  Ländern 
des  fi-anzösischen  Rechtes,  bestand  die  Ge- 
werbefreiheit schon  seit  Anfang  des  Jahr- 
hunderts; die  meisten  Staaten  hatten  die-, 
selbe  erst  im  Laufe  der  sechziger  Jahre  zur 
Durchführung  gebracht 

Die  Verfassung  des  norddeutschen  Bun- 
des erklärte  den  Gewerbebetrieb  für  einen 
Gegenstand  der  Bundesgesetzgebung. 
Schon  im  Jahi*e  1868  wurde  seitens  des 
Bundesrates  eine  Gesetzesvorlage  gemacht, 
welche  das  Gewerberecht  auf  der  Grundlage 
der  Gewerbefreiheit  für  den  norddeutschen 
Bund  einheitlich  zu  regeln  bestimmt  war. 
Die  Vorlage  beruhte  auf  der  preussischen 
G.O.  V.  17.  Januar  1845.  Nach  einer  zwei- 
fachen Richtung  machte  sich  jedoch  eine 
Umgestaltung  des  preussischen  Gewei'bege- 
setzes  notwendig,  wenn  dasselbe  auf  den 
norddeutschen  Bund  ausgedehnt  werden 
sollte.  Einmal  stellte  sich  das  Bedürfnis 
heraus,  über  gewisse  Gegenstände,  welche 
in  Preussen  nicht  durch  die  G.G.,  sondern 
diu*ch  Specialgesetze  geregelt  waren  oder 
einer  nälieren  Regelung  zur  Zeit  noch  ent- 
behrten, Bestimmungen  in  die  G.O.  für  den 
noitldeutschen  Bima  aufzunehmen.  Dazu 
gehörten  namentlich  der  Gewerbebetrieb  im 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


415 


Umherziehen,  das  Sehankgewerbe ,  die  ge- 
werblichen Hilfskassen,  die  Beschäftigung 
jugendlicher  Arbeiter  in  Fabriken,  das  Truck- 
system. Andererseits  erforderte  die  inzwi- 
schen eingetretene  Entwickelung  der  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  sowie  die  weiter 
fortgeschrittene  Gesetzgebung  der  anderen 
deutschen  Staaten  und  der  neuen  preussi- 
schen  Provinzen  eine  Aenderung  des  bis- 
herigen preussischen  Rechtes  im  Sinne  der 
Gewerbefreiheit.  Insbesondere  waren  die 
Handwerkeiprüfimgen  unhaltbar  geworden; 
sie  wurden  von  der  Vorlage  ohne  weiteres 
aufgegeben.  Die  Motive  rechtfertigten  die- 
ses Aufgeben  mit  folgenden  Worten:  »Mit 
der  Aufhebung  des  Innungszwanges  ist  zu- 
gleich die  Prüfungspflicht  der  Handwerker 
beseitigt  Darüber,  dass  die  Handwerker- 
prüfimgen  nicht  diejenigen  Garantieen  ge- 
währen, welche  sie  zu  gewähren  beabsich- 
tigen, dass  sie  dagegen  dadurch  nachteilig 
werden,  dass  sie  den  Handwerker  zm*  Auf- 
wendung von  Zeit  und  Kosten  zu  einer  Zeit 
zwingen,  wo  er  alle  seine  Kapital-  und  Ar- 
beitskraft auf  die  Gründung  seiner  Existenz 
verwenden  muss,  und  dass  sie  die  Notwen- 
digkeit des  Versuches  einer  theoretisch  un- 
durchführbaren, praktisch  die  Entfaltung  der 
Gewerbthätigkeit  hemmenden  Abgrenzung 
der  Arbeitsgebiete  herbeiführen,  dürfte  es 
kaum  nCtig  sein,  den  Streit  aufzunehmen, 
da  die  Bundesgesetzgebung  mit  der  Ein- 
führung der  Freizügigkeit,  die,  wenn  sie 
wirksam  sein  soU,  mit  der  Prüfungspflicht 
als  lokaler  Vorbedingung  der  gewerblichen 
Niederlassung  unvereinbar  ist,  die  Frage 
bereits  entschieden  hat«.  (Sten.  Ber.  des 
Reichstages,  Bd.  IL  S.  125.) 

Obgleich  der  Entwurf  wesentliche  Fort- 
schritte in  gewerbefreiheitlicher  Richtung 
enthielt,  so  genügte  er  in  dieser  Hinsicht 
doch  nicht  den  Ansprüchen  des  Reichstages. 
In  der  zur  Beratung  desselben  eingesetzten 
Kommission  zeigten  sich  vielfache  Meinungs- 
verschiedenheiten zwischen  den  Regierungs- 
vertretern und  den  Mitgliedern  des  Reichs- 
tages, namentlich  hinsichtlich  der  konzes- 
sionspflichtigen  Gewerbe.  Während  die  Re- 
gierungsvorlage bestrebt  war,  die  landesge- 
setzlich festgesetzte  Konzessionspflicht  ge- 
wisser Gewerbe  aufrecht  zu  erhalten,  ging 
die  Majorität  der  Reichstagskommission  dar- 
auf hinaus,  die  Konzessionen  möglichst  ein- 
zuschränken. Da  sich  herausstellte,  dass 
eine  vollständige  Durchberatimg  des  Gesetz- 
entwurfes in  der  laufenden  Session  des 
Reichstages  nicht  zu  ermöglichen  war,  so 
brachten  die  Abgeordneten  Lasker  und 
Miquel  einen  kurzen  Gesetzentwurf  ein,  der 
sich  darauf  beschränkte,  die  Grundsätze  der 
Gewerbefreiheit  und  der  gewerblichen  Frei- 
zügigkeit im  ganzen  Bundesgebiete  zur 
Durchführung  zu  bringen.    Dieser  Entwurf 


fand  die  Zustimmung  des  Reichstages  und 
später  auch  die  Genehmigung  des  Bundes- 
rates. Die  Ausfertigung  des  Gesetzes  er- 
folgte am  8.  Juli  1868;  dasselbe  führt  den 
Titel:  »Gesetz,  betr.  den  Betrieb  der  stehen- 
den Gewerbe«,  wird  aber  gewöhnlich  als 
Notgewerbegesetz  bezeichnet.  Das 
Gesetz  beseitigte  die  Ausschliessungsrechte 
der  Zünfte  und  kaufmännischen  Korpora- 
tionen, erklärte  einen  Befähigungsnachweis 
nur  noch  bei  Aerzten,  Apothekern,  Hebam- 
men, Advokaten,  Notaren,  Seeschiffern,  See- 
steuerleuten und  Lotsen  für  zulässig,  hob 
die  Unterscheidung  zwischen  Stadt  und 
Land  in  Bezug  auf  den  Gewerbebetrieb  auf, 
gestattete  den  Gewerbetreibenden,  GeseDen, 
Gehilfen,  Lehrlinge  und  Arbeiter  jeder  Art 
imd  in  unbeschränkter  Zahl  zu  halten,  und 
bestimmte,  dass  polizeiliche  Konzessionen 
künftighin  nur  im  Wege  der  Bundesgesetz- 
gebung eingeführt  werden  könnten. 

In  der  Session  1869  wurde  dem  Reichs- 
tage eine  neue  Vorlage  gemacht,  welche 
den  in  der  Reichstagskommission  1868  aus- 
gesprochenen Wünschen  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  entgegen  kam.  Die  wesent-- 
lichßten  Bestimmungen  des  früheren  Gesetz- 
entwurfes wurden  jedoch  aufrecht  erhalten, 
insbesondere  die  über  die  konzessionspflich- 
tigen  Gewerbe.  Nur  in  Bezug  auf  die  so- 
genannten Pressgewerbe  machte  die 
Regierungsvorlage  ein  wesentliches  Zuge- 
ständnis. In  dem  Gesetzentwurf  des  Jahres 
1868  waren  die  Verhältnisse  der  Pressge- 
werbe der  landesgesetzlichen  Regelung  vor- 
behalten, damit  also  die  Fortdauer  der  lan- 
desrechtiich  vielfach  bestehenden  Konzes- 
sionspflicht ausgesprochen.  Der  Entwurf 
des  Jahres  1869  stellte  dagegen  den  Betrieb 
der  Pressgewerbe  unter  die  allgemeinen 
Vorschriften  derG.O.  und  sprach  damit  die 
vollständige  Beseitigung  der  Konzessions- 
pflicht aus.  Eine  Reihe  von  anderen  Ge- 
werben sollte  dagegen  nur  auf  Grund  ent- 
weder einer  Approbation  oder  einer  polizei-- 
liehen  Konzessionierung  betrieben  werden 
dürfen. 

Approbationen,  d.  h.  Zulassungen 
zum  Gewerbebetriebe  auf  Grund  eines  durch 
Prüfungen  zu  erbringenden  Befähigungs- 
nachweises wurden  ftir  die  Medizinal- 
gewerbe, nämlich  Aerzte,  Apotheker, 
Hebammen  sowie  für  Seeschiffer  und 
Seesteuerleute  in  Aussicht  genommen. 
Bei  der  Feststellung  des  1868  er  Gesetzent- 
wurfes im  Bimdesrate  war  die  Frage  in 
Erwägimg  gezogen  worden,  ob  die  Prüfungs- 
pflicht auf  die  Baugewerbe,  welche  ja 
auch  nach  der  preussischen  G.O.  v.  17. 
Januar  1845  einer  solchen  unterworfen  waren, 
ausgedehnt  werden  sollte.  Für  eine  der- 
artige Ausdehnung  sprach  der  Gesichts- 
pud[t,  dass  die  Gewerbe  zu  denjenigen  ge- 


416 


Grewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


hörten,  durch  deren  »ungeschickten  Betrieb 
daß  Gemeinwohl  gefährdet  werden  könnte«. 
Trotzdem  gelangte  man  zu  einem  entgegen- 

fjsetzten  Eesultat  Die  Motive  der  1868  er 
orlage  sprechen  sich  darüber  folgender- 
massen  aus:  »Andere Gesichtspunkte  bieten 
sich  in  betreff  der  Bauhandwerker  dar. 
Während  die  Seeschiffer  und  Medizinalper- 
sonen in  allen  Bimdesstaaten  prüfungspflich- 
tig  sind,  ist  der  Betrieb  der  Bauhandwerke 
in  Oldenburg,  Bremen,  Hamburg  und  dem 
vormaligen  Herzogtum  Nassau  ein  freies 
Gewerbe.  Während  es  zulässig  ist,  die 
Prüfungen  der  Seeschiffer  und  Medizinal- 
personen auf  wenige  Orte  zu  beschränken 
und  dadurch  die  Kontrolle  über  die  Gleich- 
mässigkeit  des  Verfahrens  zu  sichern,  wür- 
den für  die  Bauhandwerker  sehr  zahlreiche 
Prüfungebehörden  eingerichtet  werden  müs- 
sen, für  deren  Kontrolle  es  an  Organen 
fehlen  würde.  Wenn  hiernach  die  Alter- 
native sich  aufdrängte,  entweder  auf  die 
Freizügigkeit  für  diese  grossen  Gewerbe 
oder  auf  die  Prüfung  für  den  Betrieb  der- 
selben zu  verzichten,  so  entschied  sich  der 
Entwurf  für  die  Wahl  des  letzteren  Weges 
aus  den  sachlichen  Bedenken,  welche  gegen 
eine  Einrichtung  sprechen,  die  tägüch  um- 
gangen wird,  die  eine  Garantie  verheisst, 
ohne  dieselbe  zu  gewähren,  und  die  durch 
Trennung  der  Verantwortlichkeit  für  den 
Bau  von  der  thatsächlichen  Leitung  des 
Baues  das  Gefühl  der  Verantwortlichkeit 
bei  den  Personen  abstumpft,  von  deren 
Gewissenhaftigkeit  die  Sohdität  des  Baues 
abhängt  Es  konnte  endlich  nicht  unbe- 
achtet bleiben,  dass  das  freie  Gewerbe  der 
Civüingenieure  die  verantwortungsvollsten 
Bauten  ausführt,  ohne  an  eine  Prüfungs- 
pflicht gebunden  zu  sein.«  (Sten.  Ber.  a.  a. 
0.  S.  125.)  Aus  diesen  Gründen  hatte  man 
schon  im  Jahre  1868  von  einer  Prüfungs- 
pflicht für  die  Bauhandwerker  abgesehen, 
und  das  sogenannte  Notgewerbegesetz  hatte 
den  Prüfungszwang,  soweit  er  noch  bestand, 
beseitigt  Es  war  selbstverständlich,  dass 
man  im  Jahre  1869  auf  die  Frage  nicht 
wieder  zurückkam. 

Im  Gegensatz  zu  den  Approbationen 
sollte  bei  der  polizeilichen  Konzes- 
sionierung gewisser  Gewerbe  namentlich 
die  Zuverlässigkeit  der  Gewerbetreibenden 
in  sittlicher  Beziehung  den  Gegenstand  der 
Prüfim^  bilden.  Bundesgesetzlich 
sollte  die  Konzessionspflicht  für  Unternehmer 
von  Privatkranken-,  Privatentbindungs-  und 
Privatirrenanstalten,  für  Schauspielunterneh- 
mer, für  solche  Pei-sonen,  welche  Gastwirt- 
schaft, Schankwirtschaft  oder  Kleinhandel 
mit  Branntwein  oder  Spiritus  treiben  und 
für  den  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen 
ausgesprochen  weixlen.  Der  Landesge- 
setzgebung wTU'de  aber  vorbelialten,  den 


Betrieb  zahlreicher  anderer  Gewerbe  eben- 
falls von  einer  Konzessionierung  abhängig 
zu  machen.  Diese  Gewerbe  waren :  die  Er- 
teilung von  Tanz-,  Turn-,  Fecht-  oder 
Schwimmunterricht;  der  Gifthandel:  die 
Gewerbe  der  Kammerjäger,  Pfandleiher, 
Gesindevermieter:  der  Betrieb  von  Bade- 
anstalten ;  der  Handel  mit  gebrauchten  Klei- 
dern, gebrauchten  Betten  oder  gebrauchter 
Wäsche,  mit  altem  Metallgerät  und  Metall- 
bruch (sogenannter  Trödelhandel) ;  der  Han- 
del mit  Garnabfällen,  Enden  oder  Dräumen 
von  Seide,  Wolle,  Baumwolle  oder  Leinen; 
die  sogenannten  Strassengewerbe ,  d.  h.  der 
Gewerbebetrieb  solcher  Personen,  welche 
auf  öffentlichen  Strassen  oder  Plätzen  ihre 
Dienste  anbieten  oder  Wagen,  Pferde,  Sänf- 
ten, Gondeln  oder  andere  Transportmittel  zu 
jedermanns  Gebrauch  bereit  halten.  Ausser- 
dem sollte  die  Landesgesetzgebung  vor- 
schreiben dürfen,  dass  das  Gewerbe  der 
Feldmesser,  Markscheider^  Auktionatoren, 
Lotsen,  Dispacheurs,  derjenigen,  welche  den 
Feingehalt  edler  Metalle  oder  die  Beschaf- 
fenheit, Menge  oder  richtige  Verpackung 
von  Waren  irgend  einer  Art  feststellen,  der 
Güterbestätiger,  Schaffer,  Wäger,  Messer, 
Bracker,  Schauer,  Stauer  niur  von  denjenigen 
Personen  betrieben  werden  dürfe,  welche 
von  den  verfassungsmässig  dazu  befugten 
Staats-  oder  Kommunalbehörden  bestellt 
oder  konzessioniert  seien.  Dagegen  sollte 
die  Konzessionspflicht  für  einzelne  andere 
Gewerbebetriebe,  welche  derselben  nach 
Landesrecht  unterlagen,  beseitigt  werden,  so 
z.  B.  füi*  die  sogenannten  Rechtskonsulenten 
in  Preussen,  für  Agenten  und  Kommissio- 
näre in  Sachsen,  für  Darlehnsvermittler  in 
anderen  Staaten. 

Bei  den  Beratungen  des  Jahres  1869  trat 
im  Reichstag  ein  zweifaches  Bestreben  her- 
vor. Einerseits  suchte  man  an  die  SteUe 
der  vom  Entwurf  beabsichtigten  landes- 
rechtlichen Regelung  möglichst  eine 
bundesrechtliche  zu  setzen;  anderer- 
seits wünschte  man  die  Konzessions- 
pflicht einzuschränken  und,  soweit 
eine  solche  zugelassen  wurde,  die  Entschei- 
dung der  zuständigen  Behörde  an  genau 
präcisierte  objektive  Voraussetzun- 
gen zu  binden.  Für  die  Fechtlehrer,  Un- 
ternehmer von  Badeanstalten,  Kammerjäger 
imd  Dispacheure  wurde  die  Konzessions- 
pflicht überhaupt  beseitigt.  Für  Tanz-, 
Turn-  und  Schwimmlehrer,  Trödler,  Händ- 
ler mit  Garnabfällen  und  dergleichen,  Pfand- 
lei her  und  Gesinde  Vermieter  trat  an  Stelle 
der  landesgesetzlichen  Konzessionspflicht 
die  Befugnis  der  Behörden,  den  Gewerbe- 
betrieb zu  untei-sagen,  wenn  die  betreffen- 
den Personen  wegen  gewisser  Verbrechen 
oder  Vergehen  bestraft  werden.  Die  Befug- 
nis  der  Bundesgesetzgebung,    den   Betrieb 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


417 


gewisser  Gewerbe  von  einer  Konzessionie- 
rung  abhängig  zu  machen,  wurde  nur  beim 
Gifthandel,  bei  Markscheidern  und  Lotsen 
zugelassen ,  für  letztere  aber  ausserdem 
bundesgesetzlich  eine  Approbation  vorge- 
schrieben. Die  Gewerbe  der  Feldmesser, 
Auktionatoren  und  der  Personen,  welche 
den  Feingehalt  edler  Metalle  oder  die  Be- 
schaffenheit, Menge  oder  die  richtige  Ver- 
packung von  Waren  feststeUen,  sollten  frei 
betrieben  werden  dürfen;  die  Befugnis  ge- 
wisser Behörden  und  Korporationen,  für 
diese  Gewerbe  bestimmte  Personen  anzu- 
stellen, dauerte  aber  fort.  Die  Strassenge- 
werbe  wurden  der  ortspolizeilichen  Rege- 
lung unterworfen.  Der  Kreis  derjenigen 
Gewerbe,  für  welche  eine  bundesgesetzliche 
Konzessionspflicht  in  Aussicht  genommen 
war,  blieb  unberührt.  Während  aber  die 
Regierungsvorlage  die  Verweigerung  der 
Konzession  dann  zuliess,  wenn  dem  Nach- 
suchenden die  Zuverlässigkeit  in  Bezug  auf 
den  beabsichtigten  Gewerbebetrieb  fehlte, 
also  dem  Ermessen  der  Behörde  einen 
weiten  Spielraum  einräumte,  suchte  der 
Reichstag  dieses  Ermessen  durch  genaue 
Fixierung  der  Voraussetzungen  einzuschrän- 
ken. Auch  die  Aufwerfung  der  Bedürfnis- 
ira^  bei  der  Konzessionierung  des  Brannt- 
weinhandels sowie  der  Gast-  und  Schank- 
wirtschaften wurde  nur  in  sehr  viel  ge- 
ringerem Umfange  gestattet,  als  die  Regie- 
rungsvorlage in  Aussicht  genommen   hatte. 

Obwohl  die  Abänderungen  des  Reichs- 
tages in  den  Kreisen  des  Bundesrates 
maanigfache  Bedenken  erregten,  nahm  doch 
letzterer  die  Vorlage  in  der  Fassung  der 
Reichstagsbeschlüsse  an,  weil  er  auf  die 
Durchfülirung  der  gewerblichen  Freizügig- 
keit und  die  Herstellung  einheitlicher  ge- 
werberechtlicher Grundsätze  ein  so  ent- 
scheidendes Gewicht  legte,  dass  er  dem 
gegenüber  anderweite  Bedenken  zurück- 
treten liess. 

So  entstand  die  Gewerbeordnung  für  den 
norddeutschen  Bund  vom  21.  Juni  1869.  Die- 
selbe wurde  durch  Art.  80  der  Verfassung  vom 
15.  November  1870  in  Südhessen,  durch 
Reichsgesetz  vom  10.  November  1871  in  Würt- 
temberg und  Baden,  durch  Reichsgesetz 
vom  12.  Juni  1872  in  Bayern  eingeführt.  In 
Elsass-Lothringen  erfolgte  zunächst  keine 
Einführung  der  Gewerbeordnung.  Nur  der 
auf  den  Gewerbebetrieb  der  Aerzte  und 
Apotheker  bezügliche  §  29  erlangte  durch 
G.  V.  15.  Juli  1872  verbindliche  Geltung. 
Ausserdem  wurden  die  Vorschriften  der 
Gewerbeordnung  über  den  Gewerbebetrieb 
im  Umherziehen,  über  die  Aufsuchung  von 
Warenbestellungen,  über  den  Kleinhandel 
mit  Branntwein  und  Spiritus,  über  die  ge- 
werbsmässig Besor^ng  fremder  Rechts- 
angelegenheiten dort  m  Kraft  gesetzt,  jedoch 

Handwörterbach  der  Staatowissenschaften.    Zweite 


nicht  durch  Einführung  der  betreffenden 
Paragraphen  der  Gewerbeordnung,  sondern 
durch  besondere,  aber  mit  der  Gewerbe- 
ordnung inhaltlich  und  ^ssenteils  auch 
dem  Wortlaut  nach  überemstimmende  Ge- 
setze. &st  durch  Reichsgesetz  vom  27.  Fe- 
bruar 1888  wurde  die  gesamte  Gewerbe- 
ordnung in  Elsass-Lothringen  eingeführt. 

3.  Abändenuigeii  der  6.0.  Die  Reichs- 
gewerbeordnung hat  während  der  Zeit  ihres 
Bestehens  eine  grosse  Reihe  von  Abände- 
rungen erfahren,  durch  welche  die  Gewerbe- 
freiheit in  verschiedenen  Beziehungen  ein- 
geschränkt worden  ist.  Die  Bestrebungen 
auf  Abänderung  der  Gewerbeordnung  waren 
ursprünglich  niu*  eine  naturgemässe  Reaktion, 
welche  sich  gegen  die  zu  weitgehenden 
Beschlüsse  des  Reichstages  geltend  machte. 
Die  ersten  Abänderungsgesetze  näherten  die 
Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  wieder 
demjenigen  Standpunkte,  welchen  die  Vor- 
lagen der  verbündeten  Regierungen  aus  den 
Jahren  1868  und  1869  einnahmen.  Die 
durch  die  Novellen  zur  Gewerbeordnung 
eingeführten  Beschränkungen  des  Gewerbe- 
betriebes blieben  sogar  noch  hinter  den- 
jenigen zuinick,  weldie  damals  in  Aussicht 
genommen  waren.  Im  Laufe  der  Zeit  hat 
man  sich  aber  immer  mehr  von  dem  ur- 
sprünglichen Standpunkte  der  Gewerbe- 
ordnung entfernt,  und  die  neuesten  Gesetze 
sind  bis  hart  an  die  Grenze  desjenigen  ge- 
gangen, was  mit  dem  Gnmdsatz  der  Qe- 
werbefreiheit  überhaupt  noch  vereinbar  er- 
scheint 

In  den  ersten  Jahren  nach  Erlass 
der  Gewerbeordnung  sind  an  derselben  nur 
geringfügige  Modifikationen  vorgenommen 
worden.  Die  Abänderungsgesetze  aus  dieser 
Zeit  verfolgen  lediglich  den  Zweck,  die  Vor- 
schriften der  Gewerbeordnung  mit  Rücksicht 
auf  veränderte  thatsächliche  Verhältnisse 
oder  auf  neu  erlassene  Gesetze  zu  ergänzen 
und  fortzubilden. 

Das  G.  V.  12,  Juni  1872,  welches  die 
Einfühnmg  der  Gewerbeordnung  in  Bayern 
anordnete,  nahm  zugleich  einige  Modifikatio- 
nen in  den  Strafbestimmungen  vor,  um  die- 
selben mit  dem  inzwischen  erlassenen  Straf- 
gesetzbuch für  das  Deutsche  Reich  in  Ein- 
klang zu  bringen. 

Die  Gewerbeordnung  enthält  ein  Ver- 
zeichnis gewerblicher  Anlagen,  welche 
einer  Genehmigung  bedürfen.  Mit  der 
Fortentwickelung  der  Industrie  stellte  sich 
das  Bedürfnis  heraus,  diesen  genehmigim^- 
pflichtigen  Anlagen  neue  hinzuzufügen.  Dies 
ist  dm*ch  ein  G.  v.  2.  März  1874  sowie 
durch  zahlreiche  Verordnungen  geschehen, 
welche  vom  Bundesrat  auf  Grund  einer 
in  §  16  der  Gewerbeordnung  enthaltenen  Er- 
mächtigung erlassen  sind  und  später  die 
zu  ihrer  fortdauernden  Gültigkeit  erforder- 

AuHage  IV.  27 


418 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


liehe  Zustimmung  des  Reichstages  gefunden 
haben. 

Das  gewerbliche  Hilfskassen- 
wesen  war  diu-ch  die  Gewerbeordnung 
nicht  näher  geordnet  worden.  Man  hatte 
in  dieser  Beziehung  zunächst  die  Landes- 
gesetze fortbestehen  lassen  und  die  bundes-, 
bezw.  reichsrechtliche  Regelung  des  Gegen- 
standes der  späteren  Gesetzgebung  vorbe- 
halten. Diese  Regelung  erfolgte  durch  das 
G.  V.  8.  April  1876,  dem  ein  Gesetz  über 
die  eingeschriebenen  Hilfskassen  vom  7.  April 
pgffallel  ging. 

Am  11.  Juni  1878  wurde  ein  Gesetz  er- 
lassen, welches  die  über  den  Gewerbebetrieb 
der  Seeschiffer  und  Seesteuerleute  bestehen- 
den Vorschriften  auf  die  Maschinisten 
der  Seedampfschiffe  ausdehnte. 

Während  diese  Gesetze  durchaus  auf  der 
bestehenden  Grundlage  fortbauten,  trat  na- 
mentiich  in  der  Zeit  von  1878  bis  1883 
eine  erhebliche  Umgestaltung  der  Gewerbe- 
ordnung ein,  welche  einerseits  zu  wesent- 
lichen Einschränkungen  der  Gewerbefreiheit 
führte,  andererseits  die  korporative  Organi- 
sation des  Gewerbestandes,  insbesondere  der 
Handwerker,  zu  befördern  und  neu  zu  be- 
leben bestrebt  war.  Die  Bewegung  wurde 
eingeleitet  durch  zalilreiche  Petitionen, 
welche  schon  seit  Mitte  der  70  er  Jahre  im 
Reichstag  erschienen  und  Abänderungen  der 
Gewerbeordnung  sowohl  in  Bezug  auf  die 
Yerhältnisse  des  gewerblichen  Hilfspersonals, 
namentlich  'das  Lehrlingsverhältnis,  als  in 
Bezug  auf  die  Hausiergewerbe,  insbesondere 
den  Betrieb  der  Wanderlager,  fonlerten. 
Dann  fanden  die  Bestrebungen  auf  Ab- 
änderung der  Gewerbeordnung  ihren  Aus- 
druck auch  in  einer  Reihe  von  Anträgen, 
welche  aus  dem  Schosse  des  Reichs- 
tages hervorgingen.  Derartige  Anträge 
wmden  in  der  Reichstagssession  von  1877 
von  den  Abgeordneten  von  Seydewitz  und 
Genossen  (Drucksachen  Nr.  23,  Sten.  Ber. 
Bd.  III,  S.  175),  Graf  Galen  und  Genossen 
(Drucksachen  Nr.  74,  Sten.  Ber.  a.  a.  0. 
S.  274),  Rickert,  Dr.  Wehrenpfennig  und 
Genossen  (Drucksachen  Nr.  77,  Sten.  Ber. 
a,  a.  0.  S.  276),  Bebel  Fritzsche  und  Ge- 
nossen (Drucksachen  Nr.  92,  Sten.  Ber. 
a.  a.  0.  S.  316)  und  Dr.  Hirsch  und  Ge- 
nossen (Dnicksachen  Nr.  107,  Sten.  Ber. 
a.  a.  0.  S.  354)  eingebracht.  Sie  bezogen 
sich  sämtlich  auf  das  Lehrlingsverhältnis, 
betrafen  im  ilbrigen  aber  sehr  verschiedene 
Gegenstände  und  verfolgten  auch  sehr  ver- 
schiedene Ziele.  Sie  wurden  einer  ersten 
Beratung  im  Plenum  unterzogen  und  an 
eine  Kommission  verwiesen,  dei-en  Verhand- 
lungen beim  Sclüuss  der  Session  noch  nicht 
zum  Abschluss  gelangt  waren. 

Im  Jahre  1878  wurde  den  Anregungen 
insofern  Folge   gegeben,   als  der  Bundesrat 


einen  Gesetzentwurf  vorlegte,  welcher  na- 
mentlich die  Yerhältnisse  des  gewerb- 
lichenHilfspersonals  zum  Gegenstande 
hatte,  üeber  diesen  Gesetzentwurf  kam 
eine  Vereinbanmg  mit  dem  Reichstage  zu 
Stande,  und  derselbe  gelangte  am  17.  Juli 
zur  Publikation.  Das  G.  v.  17.  JuH  1878 
bezweckte  eine  festere  Gestaltung  des  Ar- 
beitsvertrages,  insbesondere  des  Lehrlings- 
verhältnisses ,  eine  Verbesserung  der  Be- 
stimmungen über  jugendliche  Arbeiter  und 
Einsetzung  von  Fabrikinspektoren  zur  Be- 
aufsichtigung der  Fabriken,  lieber  einen 
gleichzeitig  vorgelegten  Gesetzentwiirf,  wel- 
cher sich  auf  Gewerbegerichte  bezog 
(Drucksachen  Nr.  41,  Sten.  Ber.  Bd.  HI, 
S.  513  f^.),  wurde  eine  Verständigung  unter 
den  beiden  gesetzgebenden  Organen  nicht 
erreicht,  so  dass  der  Erlass  des  Gesetzes 
unterbleiben  musste.  Ein  dritter  Gesetz- 
entwurf (Drucksachen  Nr.  182,  Sten.  Ber. 
Bd.  IV,  S.  1259  fg.),  welcher  den  Betrieb 
von  Privatkranken-,  Privatentbin- 
dungs-  und  Privatirrenanstalten 
sowie  den  Betrieb  der  Gast-  und  Schank- 
wirtschaft und  den  Kleinhandel  mit 
Branntwein  und  Spiritus  zum  Gegen- 
stande hatte,  kam  wegen  Schluss  der  Session 
nicht  mehr  zur  Erledigung.  Dasselbe  Schick- 
sal hatte  ein  von  den  Abgeordneten 
von  Seydewitz  und  Genossen  bean- 
tragter  Gesetzentwurf  (Drucksachen  Nr.  107, 
Sten.  Ber.  Bd.  ffl,  S.  852  fg.),  welcher  Be- 
stimmungen über  Schauspieluntemehmer, 
Schankgewerbe ,  Auktionatoren ,  Gewerbe- 
betrieb im  Umherziehen  und  Innungen  ent- 
hielt. 

In  der  Reichstagssession  von  1879  wurde 
der  Gesetzentwurf  über  Privatkrankenanstal- 
ten und  das  Schankgewerbe  von  neuem  ein- 
gebracht und  demselben  noch  Bestimmungen 
über  das  Pfandleihgewerbe  hinzugefügt 
(Drucksachen  Nr.  156,  Sten.  Ber.  Bd.  Iv, 
S.  1324  fg.).  Auf  Grund  desselben  kam  das 
R.G.  V.  23.  Juli  1879  zu  stände.  Dasselbe 
enthielt  für  Unternehmer  von  Privat- 
kranken-,  Privatentbindungs-  und 
Privatirrenanstalten  und  für  das 
Schankgewerbe  verschärfende  Bestimmungen 
und  unterwarf  das  Pfandleihgewerbe, 
für  welches  bisher  nur  ein  polizeiliches  Verbie- 
tungsrecht  bestand,  der  Konzessionspflicht, 
Die  Konzession  sollte  verweigert  werden  dür- 
fen, wenn  Thatsachen  vorlägen,  welche  die 
Un Zuverlässigkeit  des  Nachsuchenden  in  Be- 
zug auf  den  beabsichtigten  Gewerbebetrieb 
darthäten.  In  derselben  Session  waren  auch 
die  Anträge  der  Abgeordneten  v.  Sey- 
dewitz und  Gen.  wieder  eingebracht 
worden,  allerdings  nicht  in  der  Gestalt  eines 
formulierton  Gesetzentwurfes,  sondern  in 
der  Gestalt  von  Resolutionen  (Drucksachen 
Nr.  21,  Sten.  Ber.  Bd.  IV,  S.  349fg.).   Ueber 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


419 


diese  Anträge  hatte  eine  Yerhandlung  im 
Plenum  imd  in  einer  Kommission  stattge- 
funden, welche  zwei  mündliche  Berichte  zu 
erstatten  beabsichtigte  (Dnicksachen  Nr.  234, 
235,  Sten.  Ber.  Bd.  IV,  S.  1529).  Wegen 
Schluss  des  Reichstages  sind  aber  ihre  Be- 
richte nicht  mehr  zur  Verhandlung  im 
Plenum  gelangt. 

Eine  erneute  Einbringung  der  Anträge 
des  Abgeordneten  v.Seydewitz  und 
Genossen  fand  in  der  Reichstagssession 

1880  statt  (Drucksachen  Nr.  42,  Sten.  Ber. 
Bd.  m,  S.  317  ff.).  Dieselben  wurden  dieses 
Mal  einer  gründlichen  Durchberatuug  unter- 
worfen. Nach  einer  ersten  Beratung  im 
Plenum  erfolgte  die  Verweisung  an  eine 
Kommission,  welche  darüber  drei  Berichte 
erstattete  (Drucksachen  Nr.  97,  125,  130, 
Sten.  Ber.  Bd.  IV,  S.  718,  775,  780).  In 
Bezug  auf  die  Schauspielunternehmer 
legte  die  Kommission  ein  formuliertes  Ge- 
setz vor,  welches  die  Genehmigung  des 
Reichstages  und  des  Bundesrates  fand  und 
am  15.  Juli  1880  publiziert  worden  ist.  Die 
übrigen  Anträge,  namentlich  die  auf  Ge- 
werbebetrieb im  Umherziehen  und 
Innungen  bezüglichen  wurden  in  den 
Reichstagssitzungen  vom  26.  April  und  5. 
Mai  einer  eingehenden  Beratung  unterzogen 
und  nach  Massgabe  der  Kommissionsanträge 
angenommen  (Sten.  Ber.  Bd.  11,  S.  939  §., 
1177  ff.).  Die  damaligen  Reichstagsbeschlüsse 
sind  auf  die  Fortbildung  der  Gewerbegesetz- 
gebtmg,  namentlich  auf  das  G.  v.  18.  Juli 

1881  und  vom  1.  Juli  1883  von  wesentlichem 
Einflüsse  gewesen. 

Das  G.  V.  18.  Juli  1881  bezieht  sich  auf 
die  Innungen  und  verfolgt  den  Zweck, 
die  damals  wieder  einigermassen  in  Fluss 
gekommene  Innungsbewegung  zu  fördern 
und  zu  unterstützen.  Es  geht  darauf  hin- 
aus, die  Aufgaben  der  Innungen  genauer  zu 
fixieren,  ihre  Organisation  eingehender  zu 
regeln  und  sie  mit  Rechten  verschiedener 
All  auszustatten.  Das  Gesetz  gewährt  so- 
gar die  Möglichkeit,  die  Thätigkeit  der  In- 
nungen im  Lehrlingswesen  und  bei  Lehr- 
lingsstreitigkeiten diu-ch  eine  Verfügung  der 
höheren  Verwaltungsbehörde  auch  auf  Nicht- 
mitglieder  zu  erstrecken.  Eine  Bestimmung, 
wonach  die  höhere  Verwaltungsbehörde 
auch  befugt  sein  sollte,  den  Innungsmeistern 
das  ausschliessliche  Halten  von  Lehrlingen 
zu  gestatten,  wurde  damals  vom  Reichstage 
abgelehnt. 

Ein  tief  eingreifendes  Gesetz  war  die 
Nov.  V-  1.  Juli  1883.  Dieselbe  bezog  sich 
auf  einen  grossen  Teil  der  stehenden 
Gewerbe  und  auf  den  Gewerbebetrieb 
im  Umherziehen.  Bei  den  stehenden 
Gewerben  wurde  die  Konzessionspflicht  aus- 
gedehnt auf  die  Veranstaltung  von  Sing- 
spielen, Gesangs-  und  deklamatorischen  Vor- 


trägen, Schaustellungen  von  Personen  oder 
theatralischen  Vorstellungen,  mit  denen  ein 
höheres  Interesse  der  Wissenschaft  oder 
Kunst  nicht  verbunden  ist,  in  geschlossenen 
Räumen;  sowie  auf  die  Veranstaltung  von 
Musikauffühnmgen ,  Schaustellungen,  thea- 
tralischen Voratellungen  und  sonstigen  Lust- 
barkeiten, bei  denen  ein  höheres  Interesse 
der  Wissenschaft  oder  Kmist  nicht  obwaltet, 
von  Haus  zu  Haus  oder  auf  öffentlichen 
Wegen,  Strassen,  Plätzen.  Der  Landes^e- 
setzgebung  wird  freigestellt,  den  Betrieb 
des  Hufbeschlagsgewerbes  von  dem  Beste- 
hen einer  Prüfung  abhängig  zu  machen. 
Die  Verbietungsrechte  der  Polizeibehörden 
sollen  künftighin  auch  auf  Unternehmer  von 
Badeanstalten,  Rechtskonsulenten,  Vermitte- 
lungsagenten  für  Immobiliarverträge ,  Dar- 
lehen und  Heiraten,  Auktionatoren,  Stellen- 
vermittler und  Gesindevermieter  Anwendung 
finden.  Der  Erlass  eines  Verbotes  wird  so- 
wohl bei  diesen  Gewerbetreibenden  als  bei 
denjenigen,  welche  schon  früher  dem  Ver- 
bietungsrechte unterlagen,  nicht  mehr  von 
einer  strafrechtiichen  Verurteilung  abhängig 
gemacht,  sondern  kann  schon  erfolgen,  wenn 
Thatsachen  vorliegen,  welche  die  ünzuver- 
lässigkeit  des  Gewerbetreibenden  in  Bezug 
auf  den  Gewerbebetrieb  darthun.  Die  Ver- 
steigerung von  Immobilien  ist  den  ange- 
stellten Auktionatoren  vorbehalten.  Der 
Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  wird  einer 
verstärkten  polizeilichen  Aufsicht  unterwor- 
fen und  dem  Geschäftsbetriebe  der  Hand- 
lungsreisenden engere  Grenzen  gezogen. 

Man  glaubte,  dass  mit  dem  G.  v.  I.Juli 
1883  die  Revision  der  Gewerbegesetzge- 
bung im  wesentlichen  zum  AbscMuss  ge- 
bracht sei.  Dem  Reichskanzler  wurde  des- 
halb die  Befugnis  erteilt,  eine  neue  Re- 
daktion der  G.O.  zu  publizieren,  welche 
aUe  bisherigen  Abänderungen  in  sich  auf- 
nehmen sollte.  Diese  Publikation  erfolgte 
am  1.  Juli  1883.  Trotzdem  erfuhr  die 
G.O.  sehr  bald  wieder  verschiedene  Abände- 
rungen. 

Ein  aus  der  Initiative  des  Reichstages 
hervorgegangenes  G.  v.  8.  Dezember  1884 
traf  die  schon  in  der  Regierungsvorlage  vom 
Jahre  1881  in  Aussicht  genommene  Bestim- 
mung, dass  durch  Verfügung  der  höheren 
Verwaltungsbehörde  den  Mitgliedern  einer 
Innung  die  ausschliessliche  Befugnis  zum 
Halten  von  Lehrlingen  in  dem  betreffenden 
Gewerbe  beigelegt  werden  könne. 

Durch  ein  G.  v.  26.  April  1886  wurde 
bestimmt,  dass  Innungsverbänden  durch  Be- 
sclüuss  des  Bundesrates  Korporationsrechte 
beigelegt  werden  könnten. 

Ein  G.  V.  6.  Juli  1887  legte  den  Innun- 
gen das  Recht  bei,  kraft  einer  Verfügung 
der  höheren  Verwaltungsbehörde  auch  Nicht- 
mitglieder  zu  den  Ausgaben  für  Herbergs- 

27* 


420 


Gewerbegesetzgebung  (Deutsclüand) 


Avesen,  für  Fachschulen  und  für  Schiedsge- 
richte heranzuziehen. 

In  viel  stärkerer  Weise  als  die  bisheri- 
gen Gesetze  griff  die  Gesetzgebung  der 
neunziger  Jalire  in  das  deutsche  Gewerbe- 
.recht  ein.  Zunächst  unterzog  ein  G.  v.  1. 
Juni  1891  die  Bestimmungen  über  die  ge- 
werblichen Arbeiter,  namentlich  im  Inter- 
esse der  Gewährung  eines  wirksameren 
Arbeiterschutzes,  einer  weitgehenden  Umge- 
staltung. Dasselbe  bedarf  aber  hier  keiner 
ausführlicheren  Erörterung,  da  es  dieselbe 
an  einer  anderen  Stelle  dieses  Werkes  (S. 
oben  Bd.  I,  S.  471  ff.)  gefunden  hat. 

Diesem  Gesetze  folgte  ein  weiteres  vom 
6.  August  1896,  welches  eine  Reihe  der 
verschiedensten  Bestimmungen  enthält,  die 
sich  sowohl  auf  den  stehenden  Gewerbe- 
betrieb als  auf  den  Gewerbebetrieb  im  Um- 
herziehen beziehen.  Eine  weitere  Ein- 
schränkung des  Hausierliandels  wru-de  in 
den  Kreisen  der  sesshaften  Gewerbetreiben- 
den seit  langer  Zeit  lebhaft  erstrebt.  Aller- 
dings hatte  schon  die  G.O.-Novelle  v.  1. 
Juli  1883  weitgehende  polizeiliche  Beschrän- 
kungen des  Gewerbebetriebes  im  Umher- 
ziehen eingeführt;  aber  ihre  Bestimmungen 
genügten  denjenigen  Teilen  des  Gewerbe- 
standes nicht,  welche  in  dem  Hausierhandel 
ihren  hauptsächlichsten  Feind  erblickten. 
Von  diesen  Strömungen  getragen  brachte  in 
der  Reichstagssession  1892  der  Abgeordnete 
Hitze  die  Angelegenheit  in  der  Form  einer 
Interpellation  zur  Sprache ;  ausserdem  stellten 
die  Abgeordneten  Ackermann  und  Kropat- 
schek  einerseits,  die  Abgeordneten  Gröber 
und  Genossen  anderei'seits  Anträge,  welche 
eine  wesentliche  Einschränkung  des  Hausier- 
handels bezweckten  (Drucksachen  Nr.  73, 
Sten.  Ber.  Anlagen  Bd.  I  S.  431  ff.).  Diese 
Anträge  wimlen  zwar  wiederholt  in  Kom- 
missionen beraten,  eine  endgiltige  Erledigung 
derselben  im  Plenum  fand  aber  nicht  statt. 
In  der  Reichstagssession  1894/95  erfolgte 
die  Einbringimg  eines  Regienmgsentwurfes 
über  Abänderung  der  Gewerbeordnung; 
dieser  gelangte  zwar  damals  noch  nicht  zur 
Verabschiedung,  auf  Grund  desselben  kam 
aber  in  der  folgenden  Session  eine  Yer- 
ständigimg  zu  stände,  deren  Ergebnis  das 
vorher  erwähnte  G.  v.  6.  August  1896  war. 
Dasselbe  bezieht  sich  sowohl  auf  den 
Hausierhandel  als  auf  den  stehenden  Ge- 
werbebetrieb und  hat  ziemlich  tief  in  die 
Gewerbeordnung  eingegriffen.  Die  Bestim- 
mungen über  Heilanstalten  und  Schauspiel- 
untemehmungen  sind  dadurch  wesentlich 
verschärft,  die  Vorschriften  über  Gast-  und 
Schankwirtschaften  imd  über  Sonntagsrulie 
auf  den  Betrieb  der  Konsumvereine  aus- 
gedehnt, die  Verbietungsrechte  der  Polizei- 
behörden auf  den  Handel  mit  Dynamit  und 
Sprengstoffen,    mit    Losen   von    Lotterieen 


und  Ausspielungen,  mit  Droguen  und  chemi- 
schen Präparaten  zu  Heilzwecken  sowie  auf 
den  Kleinhandel  mit  Bier  eretreckt  worden. 
Namentlich  aber  hat  eine  ganz  neue  Ab- 
grenzung des  stehenden  Gewerbebetriebes 
vom  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  statt- 
gefunden, indem  auch  das  Aufsuchen  von 
Warenbestellungen  bei  Privaten  unter  die 
Gnmdsätze  über  den  letzteren  gestellt  ist. 

Von  sehr  grosser  Bedeutimg  endlich  ist 
das  G.  V.  26.  Juli  1897  über  die  Hand- 
werkerorganisation. Dieses  hat  eine 
lange  Vorgeschichte. 

Während  die  Gewerbeoi-dnung  den  Be- 
trieb der  Gewerbe  grundsätzlich  jedermann 
gestattete  und  nur  ausnahmsweise  von  einer 
polizeilichen  Genehmigung  abhängig  machte, 
traten  seit  den  80  er  Jahren  im  Reichstage 
Bestrebungen  hervor,  welche  die  Ausübung 
des  Handwerks  von  der  Erbringung  eines 
Befähigungsnachweises  abhängig  machen 
wollten.  Diese  standen  unter  nachweisbarem 
Einfluss  der  neueren  österreichischen  Ote- 
Werbegesetze.  In  Oesterreich  war  durch 
ein  G.  v.  20.  Dezember  1859  Gewerbefrei- 
heit eingeführt  worden.  Eine  Novelle  v. 
15.  März  1883  hatte  aber  die  »handwerks- 
mässigen«  Gewerbe  von  der  Erbringung 
eines  Befähigungsnachweises  abhängig  ge- 
macht. Die  Bezeichnung  der  als  Iiand- 
werksmässig  zu  behandelnden  Gewerbe  war 
Verordnungen  des  Ministeriums  des  Innern 
und  des  Handelsministeriums  überlassen. 
Der  Befähigungsnachweis  musste  durch  ein 
LehrlingszeugnLs  und  ein  Arbeitszeugnis 
über  eine  mehrjährige  Verwendim^  als  Ge- 
hilfe in  demselben  Gewerbe  oder  m  einem 
dem  Gewerbe  analogen  Fabrikbetriebe  er- 
bracht wei-den.  An  Stelle  dieser  Nachweise 
konnte  auch  ein  Zeugnis  über  den  mit  Er- 
folg zurückgelegten  Besuch  einer  gewerb- 
lichen Unterrichtsanstalt  treten.  Neben  den 
österreichischen  Einrichtungen  übte  auch  die 
Erinnerung  an  die  in  Pi-eusseu  von  1849 
bis  1868  bestehenden  Handwerkerprüfungen 
eine  Einwirkung  aus.  Endlich  machte  sich 
eine  Strömung  im  Handwerkerstande  selbst 
geltend,  welche  die  Anscliauimg  vertrat, 
dass  das  Handwerk  infolge  der  Gewerbe- 
freiheit und  der  dadurch  bedingten  Kon- 
kurrenz in  eine  Notlage  geraten  sei  und 
dass  ihm  nur  duix;h  eine  Rückkehr  zu  den 
alten  Zunfteinrichtungen  geholfen  werden 
könne. 

Die  ei*sten  Anträge  auf  Einführung  eines 
Befähigungsnachweises  wurden  schon  in  der 
Reichstagssession  von  1884/85  seitens  der 
Abgeordneten  Ackermann,  Biehl  und 
Genossen  eingebracht (Dnicksachen Nr.  1 19 
Sten.  Ber.  Bd.  V  S.  457  ff.).  Nach  dem  In- 
halt derselben  sollte  für  das  Handwerk  ein 
Befähigungsnachweis  eingeführt  werden. 
Der  Bundesrat  hatte  im  Verordnungswege 


Grewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


421 


die  haadwerksmässigen  Betriebe  zu  be- 
stimmen, deren  Ausübung  künftighin  von 
der  Erbringung  eines  solchen  abhängig 
sein  sollte.  Der  Nachweis  war,  sofern  nicht 
von  den  Centralbehörden  für  das  Gewerbe 
besondere  Prüfungsbehörden  eingesetzt  wer- 
den, durch  das  Lehrlingszeugnis  und  ein 
Arbeitszeugnis  über  eine  mehrjährige  Ver- 
wendung als  Geselle  und  Gehilfe  oder  durch 
das  Zeugnis  einer  gewerblichen  ünterrichts- 
anstalt  zu  erbringen.  Alle  weiteren  Be- 
stimmungen blieben  dem  Verordnungswege 
vca-behaJten.  Die  Anträge  gelangten  zur 
ersten  Beratung  im  Plenum  und  wimien 
einer  Kommission  überwiesen,  kamen  aber 
in  der  betreffenden  Session  nicht  mehr  zur 
Erledigung.  In  der  nächsten  Session  (1885/86) 
erfolgte  eine  erneute  Einbringung,  aber  in 
einer  veränderten  Gestalt  (Drucksachen  Nr.  31, 
Sten.  Ber.  Bd.  IV  S.  97  ff.).  Den  Antrag- 
stellern war  bei  der  frühei-en  Verhandlung 
mit  Recht  entgegengehalten,  dass  sie  die 
Schwierigkeiten  in  bequemer  Weise  zu  lösen 
suchten,  indem  sie  die  Festsetzung  aller 
zweifelhaften  Punkte,  namentlich  (üe  Be- 
stimmung der  einzelnen  Handwerke  dem 
Bundesrate  überliessen.  Um  diesen  Vor- 
würfen zu  entgehen,  suchten  sie  nunmehr 
die  Frage  selbst  zu  erledigen  und  nahmen 
ein  Verzeichnis  der  Handwerke,  für  welche 
künftig  ein  Befähigungsnachweis  gefordert 
werden  sollte,  in  das  Gesetz  auf.  Das  Ver- 
zeichnis war  so  reichhaltig,  dass  es  fast 
sämtliche  Handwerksbetriebe  umfasste.  Der 
Nachweis  der  Befähigung  sollte  nach  den 
jetzigen  Anträgen  nicht  mehr  durch  ein 
Lehrling-  und  Gesellenzeugnis,  sondern 
durch  eme  Prüfung  erbracht  werden,  welche, 
soweit  nicht  für  einzelne  Gewerbe  staatliche 
Prüfungsbehörden  eingesetzt  werden,  ent- 
weder vor  der  in  dem  Orte  bestehenden 
Innung  oder  vor  einer  besonderen  Prüfungs- 
kommission abgelegt  werden  musste,  die 
von  den  selbständigen  Handwerkern  des  be- 
treffenden Gewerbes  gewählt  wurde.  Das 
Prüfungszeugnis  sollte  durch  das  Zeugnis 
einer  staatlich  anerkannten  gewerblichen 
Unterriditsanstalt  ersetzt  werden  können. 
In  dieser  Gestalt  haben  die  Anträge  Jahre 
lang  den  Gegenstand  der  Verhandlungen  des 
Reichstages  gebildet  und  sind  namentlich 
wiederholt  in  Kommissionen  beraten  worden. 
Der  Versuch,  den  Befähigungsnachweis  in 
einer  abgeschwächten  Form  zu  realisieren, 
wurde  durch  einen  Gesetzentwurf  gemacht, 
den  die  Abgeordneten  v.  Eardorff  una 
Bachem  zuerst  in  der  Reichstagssessiou 
1886/87  (Drucksachen  Nr.  49,  Sten.  Ber. 
Bd.  U  S.  379)  einbrachten.  Dieser  unter- 
sclüed  sich  vom  Ackermann-Biehlschen  Ge- 
setzen twurfe  namentlich  dm'ch  zwei  Punkte. 
Der  Kreis  der  Handwerker,  für  welche  der 
Befähigungsnachweis  gefordert  wui-de,  war 


weniger  umfangreich,  und  der  Befähigungs- 
nachweis sollte  nicht  durch  eine  Prüfung, 
sondern  durch  Lelirlingszeugnis  und  Ge- 
sellenzeugnis erbracht  wei*den.  Nur  bei 
solchen  Gewerben,  welche  bei  mangelhafter 
Ausübung  Gefahren  für  Leben  und  Gesund- 
heit herbeiführen  konnten,  insbesondere  den 
Baugewerben,  war  die  Ablegung  einer  tech- 
nischen Prüfung  vor  einer  staatlichen  Prü- 
fungsbehörde vorgeschi'ieben.  Zu  einer  end- 
giltigen  Entscheidung  über  die  Anträge  kam 
es  erst  in  der  Reichstagssession  von  1889/90. 
In  dieser  wui-den  die  Ackermannschen  An- 
träge am  13.  Dezember  1889  in  zweiter  und 
am  20.  Januar  1890  in  dritter  Beratung  an- 
genommen (Sten.  Ber.  Bd.  11  S.  901,  1119), 
die  der  Abgeordneten  v.  Kardorff  und  Bachem 
gleichzeitig  abgelehnt. 

ParaDel  den  Anträgen  auf  Einführung 
des  Befähigungsnachweises  gingen  ander- 
weite Anträge,  welche  von  denselben  An- 
tragstellern herrührten  und  eine  weitere 
Stärkung  der  Innungen  bezweckten.  Nach 
denselben  sollten  diejenigen  Vorrechte,  welche, 
den  Innungen  bisher  nach  Ermessen  der 
höheren  Verwaltungsbehörde  beigelegt  wer- 
den konnten,  nämlich  die  Ausdehnung  ihrer 
Lehi'lingseinrichtungen  und  der  Entschei- 
dungsbefugnisse in  Lehrlingsstreitigkeiteu 
auf  Nichtmitglieder  sowie  das  Recht,  aus- 
schliesslich Lehrlinge  zu  halten,  einer  Innung 
verliehen  werden  müssen,  wenn  ihr  mehr 
als  die  Hälfte  der  Gewerbetreibenden  an- 
gehörte, welche  das  betreffende  Gewerbe 
in  dem  betreffenden  Bezirke  betrieben. 
Diese  Anträge  gelangten  gleichzeitig  mit 
denen  über  cüe  Einführitng  des  Befähigungs- 
nachweises zur  Annahme. 

Die  verbündeten  Regierungen  verhielten 
sich  sowohl  gegenüber  den  Bestrebungen 
auf  Einführung  eines  Befähigungsnachweises 
als  gegenüber  denen  auf  Ausdehnung  der 
Innungsprivüegien  durchaus  ablehnend.  Auch 
die  wiederholte  Behandlung  der  Fragen  im 
Reichstage  während  der  Jahre  1892 — 95 
veranlasste  dieselben  nicht,  von  diesem  Stand- 
punkte abzugehen.  Dagegen  wurde  die 
Frage  einer  Organisation  des  Hand- 
werks in  den  Regierungskreisen  einer 
ernsten  Erwägung  unterzogen. 

Am  18.  August  1893  teilte  der  preus- 
sische  Minister  für  Handel  und  Gewerbe, 
Freiherr  von  Berlepsch,  den  Oberpräsi- 
denten Vorschläge  über  eine  Handwerksorga- 
nisation zur  gutachtlichen  Aeussening  mit, 
welche  gleichzeitig  auch  durch  die  Presse  ver- 
öffentlicht wurden,  um  den  beteiligten  Kreisen 
und  der  öffentlichen  Kritik  Gelegenheit  zu 
geben,  sich  darüber  zu  äussern.  Nach  diesem 
Organisationsplan  sollten  für  die  einzelnen 
Zweige  des  Handwerks  zunächst  Fach- 
genossenschaften errichtet  werden,  welche 
den  Charakter  von  Zwangsverbänden  hatten 


422 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


und  denen  ähnliche  Aufgaben  wie  den  In- 
nungen zugewiesen  waren.  Neben  denselben 
sollten  aber  die  Innungen  fortbestehen. 
Üeber  die  Fachgenossenschaften  waren  Hand- 
werkskammern in  Aussicht  genommen,  wel- 
che aus  Wahlen  derselben  hervorgingen. 
Biesen  wurde  die  Aufsicht  über  die  Fach- 
genossenscliaften  und  Innungen  ihres  Be- 
zirkes, die  Aufsicht  über  Lehrlingswesen, 
Arbeiterschutz,  Arbeitsnachweis  und  Her- 
bergswesen übertragen;  sie  hatten  ausser- 
dem auf  Ansuchen  der  Behörden  Gutachten 
und  Berichte  über  gewerbliche  Fragen  zu 
erstatten.  Ausserdem  enthielt  der  Entwurf 
nähere  Bestimmimgen  über  das  Lehrlings- 
wesen. 

Die  Vorschläge  fanden  vielfachen  Wider- 
spruch und  wurden  sogar  überwiegend  un- 
^instig  aufgenommen.  Bedenken  erhoben 
sich  namentlich  nach  der  Richtung  hin,  ob 
ein  Nebeneinanderbestehen  von  Fachgenossen- 
schaften und  Innungen,  welche  annähernd 
die  gleichen  Ziele  verfolgten,  thunlich  und 
ob  letztere,  welche  anscheinend  für  grosse 
Bezirke  in  Aussicht  genommen  waren,  im 
Stande  sein  würden,  die  ihnen  zugewiesenen 
Aufgaben  zu  erfüllen.  Es  lag  daher  die  Er- 
wägung nahe,  ob  es  nicht  zweckmässiger 
sei,  zunächst  mit  der  Errichtung  von  Hand- 
werkskammern vorzugehen,  mit  deren  Hilfe 
die  Verbesserung  des  Lehrlingswesens  durch- 
zuführen, und  die  aUgemeiue  Organisation 
des  Handwerks  einer  späteren  Zeit  vorzu- 
behalten. Diese  Anschauung  erlangte  auch 
in  den  Regierungskreisen  eine  Verbreitung 
imd  wurde  namentlich  von  dem  damaligen 
Staatssekretär  des  Reichsamtes  des  Innern, 
Staatsminister  von  Bötticher,  vertreten.  Ein 
Ausfluss  derselben  war  der  Gesetzentwurf 
über  Handwerkskammern,  welcher  am 
13.  Dezember  1895  dem  Reichstage  vor- 
gelegt wurde.  Die  Handwerkskammern 
sollten  von  den  Handwerkern,  welche  das 
25.  Lebensjahr  vollendet  hatten,  gewählt 
werden  und  die  Aufgabe  haben,  bei  der  Or- 
ganisation des  Handwerks  mitzuwirken  und 
in  gewerblichen  Angelegenheiten  eine  gut- 
achtliche und  beratende  Thätigkeit  zu  ent- 
wickeln. Der  Gesetzentwurf  gelangte  im 
Reichstag  am  16.  und  17.  Dezember  1895 
zur  ersten  Lesung,  fand  aber  dort  nur  ge- 
ringes Entgegenkommen,  weil  er  namentlich 
den  zünftlerisch  gesinnten  Elementen  nicht 
weit  genug  ging.  Er  wurde  an  eine  Kom- 
mission von  21  Mitgliedern  verwiesen,  wel- 
che sich  mit  demselben  aber  nicht  weiter 
befasste,  sondern  ihn  völlig  liegen  Hess. 

Diese  Stellungnahme  des  Reichstages 
mag  mit  dazu  beigeti-agen  haben,  dass  zu- 
nächst innerhalb  der  preussischen  Regienmg 
die  andere  Strömung  wieder  die  Oberliand 
gewann.  Gegen  Anfang  August  1896  ge- 
langte ein  preussischer  Antrag  an  den  Bun- 


desrat, der  einen  Gesetzentwurf  über  eine 
vollständige  Organisation  des  Handwerks 
enthielt,  welche  sich  auf  der  Grundlage  der 
Zwangsinnung  aufbaute.  Zwangsinmmgen 
sollten  für  mehr  als  70  Gewerbe,  welche  in 
dem  Entwürfe  specieU  aufgeführt  waren, 
gebildet  werden.  Diesen  war  eine  Reihe 
von  teils  obligatorischen,  teils  fakultativen 
Aufgaben  zugewiesen.  Für  grössere  Bezirke 
wurde  je  ein  Handwerksausschuss  in  Aus- 
sicht genommen,  welcher  die  obligatorischen 
Aufgaben  der  Innungen  für  solche  Gewerbe, 
für  welche  Innungen  nicht  gebildet  waren, 
zu  übernehmen  hatte  und  dem  die  Innungen 
auch  anderweite  Funktionen  übertragen 
konnten.  Für  noch  grössere  Bezirke  sollten 
Handwerkskammern  errichtet  werden,  die 
aus  den  Wahlen  der  Handwerksausschüsse 
hervorgingen.  Gegen  diese  Vorsdiläge  er- 
hoben sich  aber  vielfache  Bedenken.  Man 
nahm  Anstoss  an  der  ausserordentlichen 
Kompliziertheit  der  Organisation,  welche  sieh 
in  der  dreifachen  Gliederung  von  Zwangs- 
innung, Handwerksausschuss  und  Hand- 
werkskammer aufbaute.  Man  erhob  be- 
rechtigte Zweifel,  ob  die  Innungen  zm* 
Durchfühnmg  der  ihnen  übertragenen  Auf- 
gaben geeignet  sein  und  ob  sich  überall 
das  erforderliche  Material  für  die  Bildung 
lebensfähiger  Innungen  finden  werde.  End- 
lich konnte  man  sich  nicht  verhehlen,  dass 
die  Diu-chfühnmg  der  geplanten  Organisation 
sehr  leicht  die  Handhabe  zur  Einführung 
des  Befäliigungsnachweises  hätte  bieten 
können. 

Auch  in  den  Kreisen  der  verbündeten 
Regierungen  verschloss  man  sich  diesen  Be- 
denken nicht  Der  Entwurf  erfuhr  daher 
im  Bundesrate  eine  sehr  bedeutende 
Umgestaltung.  Die  allgemeine  obligatorische 
Zwangsinnung  wiu^e  aufgegeben;  die  Bil- 
dung von  Zwangsinnungen  sollte  nur  auf 
Gnmd  eines  Mehrheitsbeschlusses  der  be- 
teiligten Handwerker  und  der  Genelimigung 
der  höheren  Verwaltungsbehörde  stattfinden 
können.  Der  Handwerksausschuss  wurde 
in  WegfaD  gebracht,  die  Bestimmungen  über 
Handwerkskammern  und  Lehrlings  wesen 
entsprechend  umgestaltet.  In  dieser  Ge- 
stalt wurde  der  Entwurf  vom  Reichs- 
tage angenommen.  Der  in  der  Kommission 
desselben  gemachte  Versuch,  Zwangsin- 
nungen auch  ohne  Mehrheitsbeschluss  der 
Beteiligten  zuzidassen,  scheiterte  an  dem 
energischen  Widerstände  der  verbündeten 
Regienmgen.  Die  Publikation  des  Gesetzes 
erfolgte  am  26.  Juli  1897. 

>Iit  diesem  Gesetz  haben  die  Abände- 
rungen der  Gewerbeordnung  vorläufig  ihren 
Abschluss  gefunden. 

IL  Das  geltende  Recht 
4.  Geltangsbereich  der  Gewerbeord« 


Gewerbegesetzgebiiug  (Deutschland) 


423 


niuig.  Die  Reichsgewerbeordnung  vermeidet 
es,  eine  Definition  des  Gewerbes  zu  geben. 
Sie  begnügt  sich  damit,  eine  Reihe  von 
Thätigkeiten  zu  bezeichnen,  auf  welche  sich 
ihre  Bestimmungen  nicht  erstrecken  sollen. 
Dies  sind  teüs  Thätigkeiten,  welche  schon 
begrifflich  nicht  zu  den  gewerblichen  ge- 
hören, teils  solche,  auf  welche  die  Be- 
stimmungen der  Gewerbeordnung  grund- 
sätzlich Anwendung  finden  würden,  für 
welche  sie  aber  durch  eine  ausdrückliche 
Vorschrift  ausgeschlossen  werden.  Bei  den 
letzteren  ging  die  Absicht  entweder  dahin, 
ihre  Regelung  der  Landesgesetzgebung  zu 
überlassen  oder  sie  besonderen  Reichsge- 
setzen vorzubehalten. 

Die  Reichsgewerbeordnung  geht  von  dem 
engeren  Begriff  des  Gewerbes  aus, 
der  auch  den  ehemaligen  Landesgewerbe- 
ordnungen  zu  Grunde  lag.  Nicht  jede 
dauernde  selbständige  und  erlaubte  Thätig- 
keit  zum  Zweck  des  Vermögensorwerbes, 
sondern  nur  Industriegewerbe,  Handelsge- 
werbe und  die  Leistung  solcher  persön- 
lichen Dienste,  welche  eine  höhere  wissen- 
schaftliche und  künstlerische  Ausbildung 
nicht  voraussetzen,  gelten  ibr  als  Gewerbe- 
betrieb. Deshalb  erstrecken  sich  ihre  Vor- 
schriften nicht  auf  den  Betrieb  der  Land- 
und  ForstAvirtschaft  sowie  auf  die  Ausübung 
der  Jagd,  obgleich  dies  nicht  ausdrücklich 
ausgespi'ochen  ist.  Ebensowenig  finden  sie 
auf  künstlerische  Berufe  wie  z.  B.  auf  den 
des  Malers  oder  Bildhauers  Anwendung. 

Bei  einer  Reihe  von  Thätigkeiten  hat  die 
Gewerbeordnung  ausdrücklich  erklärt,  dass 
sich  ihre  Bestimmungen  auf  dieselben  nicht 
beziehen  soDen.  (G.O.  §  6.)  und  zwar  zer- 
fallen diese  in  zwei  Gruppen.  Auf  einen 
Teil  derselben  findet  die  Gewerbeordnung 
gar  keine  Anvrendung.  Dies  sind  die 
Fischerei,  die  Errichtung  und  Verlegung 
von  Apotheken,  die  Erziehung  von  Kindern 
gegen  Entgelt,  das  ünterrichtswesen ,  die 
advokatorische  und  Notariatspraxis,  der  G^ 
Werbebetrieb  der  Auswanderungsunter- 
nehmer und  Auswanderungsagenten,  der 
Versicherungsuntemehmer  und  der  Eisen- 
bahnunternehmungen,  die  Befugnis  zum 
Halten  öffentlicher  Fähren  und  die  Rechts- 
verhältnisse der  Schiffsmannschaften  auf 
Seeschiffen.  Auf  andere  Thätigkeiten  findet 
die  Gewerbeordnung  insoweit  Anwen- 
dung, als  sie  ausdrückliche  Be- 
stimmungen darüber  enthält,  d.  h. 
nur  die  besonderen  Vorschriften, 
welche  für  die  speciellen  Gewerbe  er- 
lassen sind,  nicht  aber  die  allgemeinen  Be- 
stimmungen der  Gewerbeordnung  gelten  für 
dieselben.  Zu  diesen  gehören  das  Berg- 
wesen, die  Ausübung  der  Heilkunde,  der 
Verkauf  von  Arzneimitteln,  der  Vertrieb 
von  Lotterielosen  und  die  Viehzucht. 


5.  Allgemeine  Grundsätze  des  deut- 
schen Gewerberechts.  Das  deutsche  Ge- 
werberecht beruht  auf  dem  Grundsatz  der 
Ge Werbefreiheit.  Beschränkungen  der 
Befugnis  zum  Gewerbebetriebe  bestellen  nur 
insoweit,  als  sie  durch  die  Gewerbeordnung 
vorgeschrieben  oder  zugelassen  sind.  (G.O. 
§  1.)  Diese  Bestimmung  bezieht  sich 
auf  öffentlichrechtlicne  Beschrän- 
kungen gewerbepolizeilicher  Na- 
tur. Solche  können  daher  sowohl  durch 
Landesgesetze  als  durch  Polizei  Verordnungen 
oder  Ortsstatuten  als  durch  Polizeiver- 
fügungen nur  insoweit  angeordnet  werden, 
als  die  Gewerbeordnung  es  ausdrücklich  ge- 
stattet. Dagegen  bezieht  sich  die  fragliche 
Vorschrift  nicht  auf  Besdiränkungen,  welche 
aus  anderweiten  polizeilichen 
Gründen,  z,  B.  aus  Gründen  der  Strassen-, 
Feuer-  oder  Baupolizei  diu-ch  die  Landesge- 
setzgebung und  die  Landespolizeibehörden 
verfügt  werden.  Sie  bezieht  sich  ebenso- 
wenig auf  Beschränkungen,  welche  jemand 
sich  selbst  durch  Privatdisposition 
z.  B.  einen  Vertrag  auferlegt.  Verträge, 
durch  welche  sich  jemand  verpflichtet,  ein 
Gewerbe  in  einer  bestimmten  Zeit  oder  in 
einem  bestimmten  Bezirke  nicht  zu  betreiben, 
sind  dalier  rechtsgiltig  und  verbindlich. 

Die  Gewerbeordnung  hat  alle  Beschrän- 
kungen des  Gewerbebetriebes  in  Wegfall 
gebracht,  welche  Ausfluss  der  frühe- 
ren Zunftverfassung  waren,  so  na- 
mentlich die  Unterscheidung  von  Stadt  und 
Land,  das  Verbot  des  gleichzeitigen  Be- 
triebes verschiedener  Gewerbe  sowie  des- 
selben Gewerbes  in  mehreren  Betriebs-  und 
Verkaufsstätten,  die  Beschränkung  der 
Handwerker  auf  den  Verkauf  selbstver- 
fertigter Waren,  die  Ausschliessungsreehte 
der  Zünfte  und  kaufmännischen  Korpora- 
tionen (§§  2 — 4).  Dagegen  ist  in  den  Be- 
schränkungen des  Gewerbebetriebes,  welche 
auf  den  ZoU-,  Steuer-  und  Postgesetzen  be- 
ruhen, durch  die  Gewerbeordnung  nichts 
geändert  worden.    (G.O.  §  5). 

Die  ausschliesslichen  Gewerbe- 
berechtigungen sowie  die  Zwangs- 
und Bannrechte  sind  teils  aufgehoben^ 
teüs  für  ablösbar  erklärt  worden.  Aufge- 
hoben sind:  1.  die  noch  bestehenden  aus- 
schliesslichen Gewerbeberechtigungen,  d.  h. 
die  mit  dem  Gewerbebetriebe  verbundenen 
Berechtigungen,  anderen  den  Betrieb  eines 
Gewerbes  zu  untersagen  oder  sie  darin  zu 
beschränken ;  2.  die  mit  ausschhesslichen  Ge- 
werbeberechtigungen verbundenen  Zwangs- 
und Bannrechte ;  3.  alle  Zwangs-  und  Bann- 
rechte, deren  Aufhebung  nach  dem  Inhalte 
der  Verleihungsurkunde  ohne  Entscliädigung 
zulässig  war;  4  die  Berechtigungen :  a)  der 
Inhaber  von  Mühlen,  Brennereien,  Brenn- 
gerechtigkeiten,  Brauereien,  Braugerechtig- 


424 


GewerbegesetzgebuDg  (Deutschland) 


keifen  oder  Schankstätten,  die  Konsumenten 
zu  zwingen,  dass  sie  bei  dem  Berechtigten 
ihren  Bedarf  mahlen  oder  schroten  lassen 
oder  das  Getränk  ausschliesslich  von  dem- 
selben beziehen  (sogenannter  Mahlzwang, 
Branntweinzwang,  Brauzwang),  b)  der 
städtischen  Bäcker  und  Fleischer,  die  Ein- 
wohner der  Stadt,  der  Vorstädte  oder  der 
sogenannten  Bannmeüe  zu  zwingen,  dass 
sie  ihren  Bedarf  an  Gebäck  oder  Fleisch 
ganz  oder  teilweise  von  ihnen  entnehmen; 
vorausgesetzt,  dass  diese  Berechtigungen 
nicht  auf  einem  Vertrage  zwischen  Bei*ech- 
tigten  und  Verpflichteten  beruhen;  5.  die 
Berechtigungen,  Konzessionen  zu  gewerb- 
lichen Anlagen  oder  zum  Betriebe  von  Ge- 
werben zu  erteilen,  die  dem  Fiskus,  Kor- 
porationen, Instituten  oder  einzelnen  Be 
i-echtiglen  zustanden ;  6.  alle  Abgaben,  welche 
für  den  Betrieb  eines  Gewerbes  entrichtet 
wurden,  sowie  die  Berechtigung,  dergleichen 
Abgaben  aufzuerlegen,  jedoch  vorbehaltlich 
der  an  den  Staat  oder  die  Gemeinde  zu 
entrichtenden  Gewerbesteuern.  Der  Ab- 
lösung unterliegen:  1.  die  nicht  aufge- 
hobenen Zwangs-  und  Bannrechte,  sofern 
die  Verpflichtung  auf  Grundbesitz  haftet, 
die  Mitglieder  einer  Korporation  als  solche 
betrifft  oder  den  Bewohnern  eines  Ortes 
oder  Distriktes  vermöge  ihres  Wohnsitzes 
obliegt;  2.  das  Recht,  den  Inhaber  einer 
Schankstätte  zu  zwingen,  dass  er  für  seinen 
Wirtschaftsbedarf  das  Getränk  aus  einer 
bestimmten  Fabrikationsstätte  entnehme. 
Die  näheren  Bestimmungen  über  die  Ab- 
lösimg erlassen  die  Landesgesetzgebungen. 
Diese  haben  auch  zu  bestimmen,  ob  und  in 
welcher  Weise  den  Berechtigten  für  die  auf- 
gehobenen Berechtigimgen  eine  Entschä- 
digung zu  leisten  ist.  Aufgehobene  oder 
für  ablösbar  erklärte  ausschliessliche  Ge- 
werbeberechtigungen oder  Zwangs-  und 
Bannivc:hte  können  fortan  nicht  mehr  er- 
worben werden  (G.O.  §§  7—10).  Die  Ab- 
deckereien fallen  nicht  unter  die  Be- 
stimmungen der  Gewerbeordnung;  in  Be- 
zug auf  sie  sind  daher  sowohl  die  aus- 
schliesslichen Gewerbeberechtigungen  als 
die  Zwangs-  und  Bannrechte  bestehen  ge- 
blieben, dieselben  unterliegen  jedoch  der 
Aufhebung  und  Ablösung  im  Woge  der 
Landesgesetzgebung  (vgl.  d.  Art.  Abdecke- 
rei oben  Bd.  I,  S.  3  ff .). 

R  eal  gew  erbe  be  recht  ig  un  gen  dür- 
fen nicht  mehr  begründet  werden  (G.G. 
§  10).  Die  bestehenden  sind  aber  durch  die 
Gewerbeordnung  nicht  beseitigt  worden,  sie 
haben  niu*  den  Charakter  ausschliesslicher 
Gewerbeberechtigungen,  soweit  sie  diesen 
besassen,  verloren.  Ihre  Bedeutung  liegt 
jetzt  darin,  da«^s  bei  konzessionspflichtigen 
Gewerben  der  Betrieb  dem  Realgewerbebe- 
rechtigten  nur  wegen  Mangels  der  persön- 


sönlichen  Eigenschaften  verweigert  werden 
darf,  also  weder  eine  Prüfimg  der  Bedürf- 
nisfrage noch  eine  Untersuchung  über  Be- 
schaffenheit und  Lage  des  LoKals  statt- 
findet. Von  Bedeutung  sind  die  Realge- 
werbeberechtigungen namentlich  noch  auf 
dem  Gebiete  des  Apothekergewerbes  und 
des  Schankgewerbes. 

Zum  Betriebe  eines  Gewerbes  sind  gnmd- 
sätzlich  alle  physischen  Personen  l>e- 
fugt.  Insbesondere  begründen  Alter  und 
Geschlecht  in  dieser  Hinsicht  keinen 
Unterschied.  Ehefrauen  bedürfen  nach 
dem  B.G.B.  für  das  Deutsche  Reich  zum 
Betrieb  eines  Gewerbes  keiner  ehemänn- 
lichen Genehmigung.  Wohl  aber  kann  eine 
solche  nach  Massgabe  des  ehelichen  Güter- 
rechtes zum  Abschluss  von  Rechtsgeschäften 
und  zur  Führung  von  Rechtsstreitigkeiten 
notwendig  sein,  wenn  diese  gegenüber  dem 
Manne  und  hinsichtlich  des  seiner  Verwal- 
tung und  Nutzniessung  unterworfenen  Ver- 
mögens wirksam  werden  sollen.  Erteilt  der 
Mann  aber  der  Frau  die  Einwilligung  zum 
selbständigen  Betrieb  eines  Erwerbsge- 
schäftes, so  ist  seine  Zustimmung  zu  solchen  . 
Rechtsgeschäften  und  Rechtsstreitigkeiten 
nicht  erforderlich,  welche  der  Geschäftsbe- 
trieb mit  sich  bringt.  Der  Elnwilligjmg  des 
Mannes  steht  es  gleich,  wenn  die  Frau  mit 
Wissen  und  ohne  Einspruch  des  Mannes 
das  Erwerbsgeschäft  betreibt  (B.G.B.  §§  1405, 
1452,  1519,  1549;  E.G.  Art.  36  Nr.  I). 
Minderjährige  bedürfen  zum  Betrieb 
eines  Gewerbes  ebenfalls  keiner  Genehmi- 
gimg. Sie  unterliegen  jedoch  hinsichtlich 
des  Abschlusses  von  Rechtsgeschäften  den- 
jenigen Beschränkun^n,  welche  durch  ihre 
Minderjährigkeit  bedmgt  sind.  Ihr  gesetz- 
licher Vertreter  kann  sie  aber  mit  Geneh- 
migung des  Vormundschaftsgerichtes  zum 
selbständigen  Betrieb  eines  Erwerbsgeschäf- 
tes ermächtigen;  in  diesem  Falle  sind  sie 
für  solche  Rechtsgeschäfte,  welche  der  Ge- 
schäftsbetrieb mit  sich  bringt,  unbeschränkt 
geschäftsfähig.  Eine  Ausnahme  machen  nur 
solche  Rechtsgeschäfte,  zu  denen  der  Ver- 
treter der  Genehmigung  des  Vormundschafts- 
gerichtes bedarf  (B.G.B.  §  112). 

Auch  Reichs-,  Staats-  und  Ge- 
mein dean  gehörigkeit  sind  —  von 
einzelnen  später  zu  erwähnenden  Ausnahmen 
abgesehen  —  auf  die  Befugnis  zum  Ge- 
werbebetrieb ohne  Einfluss.  Insbesondere 
ist  die  Zulassung  zum  Gewerbebetriebe  jetzt 
nicht  mehr  von  dem  Erwerbe  des  Bürger- 
rechtes in  einer  Gemeinde  abhängig.  Wenn 
jedoch  jemand  einen  Gewerbebetrieb  be- 
gonnen und  drei  Jahre  fortgesetzt  hat,  so 
kann  die  Gemeinde,  sofern  dies  nach  der 
bestehenden  Gemeindeverfassung  gestattet 
ist,  von  ihm  den  Erwerb  des  Bürgerrechtes 
fonlern.    Es  darf  jedoch   in    diesem  Falle 


(Jewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


425 


weder  ein  Bürgerrechtsgeld  beansprucht, 
noch  verlangt  werden,  dass  der  Betreffende 
Bein  anderweit  erworbenes  Bürgerrecht  auf- 
gebe.   (G.O.  §  13.) 

Die  Beschränkungen,  welche  in  Bezug 
auf  den  Gewerbebetrieb  der  Personen  des 
Soldaten- und  Beamtenstandes  sowie 
deren  Angehörigen  bestehen,  werden  durch  die 
Gewerbeordnung  nicht  berührt  (G.O.  §  12). 

Auch  juristische  Personen  sind 
zum  Gewerbebetriebe  berechtigt  Sogar 
solche  konzessionspflichtige  Gewerbe ,  zu 
deren  Betriebe  gewisse  persönliche  Eigen- 
schaften erfordert  werden,  dürfen  von  jims- 
tischen  Personen  betrieben  werden,  wenn 
die  Ausübung  durch  einen  Stellvertreter  er- 
folgt, der  den  gesetzlichen  Eigenschaften 
entspricht.  Praktische  Bedeutung  hat  die 
Frage  namentlich  hinsichtlich  der  Gastwirt- 
schaft, welche  häufig  von  Aktiengesellschaf- 
ten betrieben  wird.  Die  Erteilung  einer 
Ronzession  an  solche  Gesellschaften  muss 
trotz  einzelner  entgegenstehender  verwal- 
timgsrichterlicher  Entscheidungen  (Entschei- 
dungen des  bayerischen  Verwaltungsgerichts- 
hofes, Bd.  IS.  797,  Bd.  H  S.  514  ff.,  des 
preussischen  Oberverwaltungsgerichtshofes, 
Bd.  IX  S.  286  ff.)  für  zulässig  ei-achtet  wer- 
den. (Vgl.  M.  Sevdel  in  den  Annalen 
des  Deutschen  Reichs,  1882,  S.  620 ff., 
Rehm,  Gewerbskonzession,  S.  45.)  In  Be- 
zug auf  den  Gewerbebetrieb  juristischer 
Personen  des  Auslandes  sind  nach 
den  Bestimmungen  der  Gewerbeordnung  die 
Landesgesetze  massgebend  (G.O.  §  12).  Diese 
Vorschrift  bezog  eich  ursprünglich  sowohl 
auf  die  Anerkennimg  der  juristischen  Per- 
sonen als  auf  deren  Zulassimg  zum  Ge- 
werbebetrieb. Nachdem  die  Anerkennung 
der  Rechtsfähigkeit  ausländischer  Vereine 
jetzt  dem  Bondesrat  übertragen  ist  (E.G. 
zum  B.G.B.  Art.  10),  kommen  die  Landes- 
gesetze nur  noch  für  den  Gewerbebetrieb 
derselben  in  Betracht  Die  landesgesetzliche 
Zuständigkeit  in  Bezug  auf  die  juristischen 
Personen  des  Auslandes  war  aber  wesent- 
lich mit  Rücksicht  auf  die  verschiedenartige 
privatrechtliche  Stellung  derselben  in  den 
einzelnen  Bundesstaaten  festgesetzt  worden ; 
nachdem  diese  jetzt  einheitlich  geregelt  ist, 
würde  es  sich  empfehlen,  auch  über  die  Zu- 
lassung derselben  zum  Gewerbebetrieb  ein- 
heitliche Vorschriften  —  sei  es  im  Wege 
der  Reichsgesetzgebung,  sei  es  durch  Ver- 
ordnung des  Bundesrates  —  zu  erlassen. 

6.  Stehender  Gewerbebetrieb.  Die 
Gewerbeordnung  unterscheidet  stehenden 
Gewerbebetrieb.  Gewerbebetrieb 
im  Umherziehen  imd  Marktverkehr. 
Die  gewerblichen  Thätigkeiten,  welche  unter 
den  Begriff  des  Gewerbebetriebes  im  Um- 
herziehen oder  des  Markt  Verkehrs  fallen, 
sind  gesetzlich  genau  fixiert.    Als  stehender 


Gewerbebetrieb  erscheint  derjenige,  der 
weder  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  noch 
Marktverkehr  ist. 

Der  stehende  Gewerbebetrieb  unterliegt 
einer  Anzeigepflicht.  Die  Anzeige  ist 
gleichzeitig  mit  dem  Beginn  des  Gewerbe- 
betriebes an  die  nach  den  Landesgesetzen 
zuständige  Behörde  zu  erstatten.  Ausser 
den  selbständigen  Gewerbetreibenden  sind 
auch  die  Agenten  von  Feuerversicherungs- 
anstalten zur  Erstattimg  der  Anzeige  ver- 
pflichtet Personen,  welche  Pressgewerbe 
betreiben,  nämlich  Buch-  und  Steindrucker, 
Buch-  und  Kunsthändler,  Antiquare,  Leih- 
bibliotheken, Inhaber  von  Lesekabinetten, 
Verkäufer  von  Druckschriften ,  Zeitungen 
und  Bildern  haben  auch  das  Lokal  des  Ge- 
werbebetriebes anzugeben  (G.O.  §  14).  Ge- 
werbetreibende, die  einen  offenen  Laden  haben 
oder  Gast-  oder  Schankwirtschaft  betreiben, 
sind  verpflichtet,  ihren  Familiennamen  mit 
mindestens  einem  ausgeschriebenen  Vor- 
namen an  der  Aussenseite  oder  am  Eingange 
des  Ladens  oder  der  Wirtschaft  in  deutlich 
lesbarer  Schrift  anzubringen.  Kaufleute,  die 
eine  Handelsfirma  führen,  haben  zugleich 
die  Firma  in  der  bezeichneten  Weise  an 
dem  Laden  oder  der  Wirtschaft  anzubringen 
(G.O.  §  15a,  E,G.  zum  H.G.B.  Art.  9). 

Die  Befugnis  zum  stehenden  Gewerbe- 
betriebe unterliegt  einer  Reihe  von  poli- 
zeilichen Beschränkungen.  Diese 
äussern  sich  teils  in  vorgängigen  Ge- 
nehmigungen (Konzessionen),  teils 
in  Verbietungsrechten.  Sie  beziehen 
sich  teils  auf  gewerbliche  Anlagen, 
teils  auf  Gewerbebetriebe  als  solche. 

Von  den  gewerblichen  Anlagen 
unterliegen  einer  Konzessionspflicht:  1. 
solche,  welche  für  die  Besitzer  oder  Be- 
wohner benachbarter  Gnmdstücke  oder  für 
das  Publikum  überhaupt  erhebliche  Nach- 
teile, Gefahren  oder  Belästigungen  herbei- 
führen können;  der  Konzessionierung  hat 
in  diesem  Falle  ein  Aufgebots-  und  kontra- 
diktorisches Verfahren  vorauszugehen;  2. 
die  Dampfkessel,  bei  denen  nur  eine  Pri\- 
fung  von  Amts  wegen  stattfindet.  Polizei- 
liche Verbietungsrechte  bestehen  gegenüber 
solchen  Anlagen,  mit  deren  Betneb  ein 
überwiegender  Nachteü  oder  Gefahr  für  das 
Gemeinw^ohl  verbunden  ist  oder  welche  un- 
gewöhnliches Geräusch  verursachen  und  in 
der  Nähe  von  öffentlichen  Gebäuden.  Kirchen, 
Schulen,  Krankenhäusern  oder  Heilanstalten 
belegen  sind .  (Vgl. die Artt.  Dampfkessel- 
polizei (oben  Bd.  III,  S.  108 ff.),  Ge- 
werbliche Anlagen.) 

Bei  den  Konzessionen,  welche  für  Ge- 
werbebetriebe vor^schrieben  sind,  ist 
zwischen  Approbationen  und  Kon- 
zessionen im  engeren  Sinne  zu  un- 
terscheiden. Approbationen  sind  solche  Kon- 


426 


Grewerbegesetzgebuiig  (Deutschland) 


zessioneil,  welche  auf  Grund  eines  Nach- 
weises der  Befähigung  erteilt  werden,  beim 
Vorhandensein  eines  solchen  aber  auch  er- 
teilt werden  müssen  (vgl.  d.  Art.  Approba- 
tionen oben  Bd.  I,  S.  445/46).  Bei  den 
Konzessionen  im  engeren  Sinne  kommen  da- 
gegen Erwägungen  vei-schiedenste^Art,  na- 
mentlich die  persönlichen  Eigenschaften  des 
zu  Kozessionierenden,  die  Bedilrfnisfrage,  die 
Beschaffenheit  des  Lokals  in  Betracht. 

Approbationen  sowohl  wie  Konzessionen- 
im  engeren  Sinne  sind  teils  reichsgesetzlich 
vorgeschrieben,  teils  ist  es  der  Landesgesetz- 
gebung überlassen,  sie  für  gewisse  Gewerbe- 
betriebe anzuordnen. 

Reichsgesetzlich  angeordnete 
Approbationen  bestehen  für  1.  Apotheker 
(vgl. d.  Art.  Apotheken  oben  Bd. I, S. 433f f.). 

2.  Aerzte  (vgl.  d.  Art  Arzt  oben  Bd.  II,  S. 
1  Iff .),  3.Hebammen  (vgl.  d.  Art.  Hebammen), 

4.  Seeschiffer,  Seesteuerleute,  Maschinisten 
auf  Seedampfschiffen  und  Lotsen  (vgl.  die 
Ai'tt.    Lotsengewerbe,    Seeschiffer). 

Einer  Konzession  im  engeren 
Sinne  bedürfen  nach  reichsgesetzlicher  Vor- 
schrift folgende  Gewerbetreibende :  1.  Unter- 
nehmer von  Privatkranken-,  Privatentbin- 
dungs-  und  Privatiii-onanstalten  (vgl.  d.  Art. 
Heilanstalten),  2.  Schauspielunterneh- 
mer, d.  h.  Personen,  welche  gewerbsmässig 
theatralische  Darstellungen  veranstalten  (vgl. 
d.Art.  Schau  apielunt  er  nehm  un  gen), 

3.  Personen,  welche  Gastwirtschaft,  S(!hank- 
wirtschaft  oder  Kleinhandel  mit  Branntwein 
oder  Spiritus  betreiben  wollen  (vgl.  d.  Art, 
Schankgewerbe),4.  Personen,  welche  ge- 
werbsmässig Singspiele,  Gesangs-  und  dekla- 
matorische Vorträge,  Schaustellungen  von 
Pei'sonen  oder  theatralische  Vorstellungen, 
ohne  dass  ein  höheres  Interesse  der  Wissen- 
schaft oder  Kunst  dabei  obwaltet,  in  ihren 
Wirtschafts-  oder  sonstigen  Räumen  veran- 
stalten oder  zu  deren  öffentlicher  Veran- 
staltung ihre  Räume  benutzen  lassen  wollen ; 
ferner  Personen,  welche  gewerbsmässig 
Musikauf fühnmgen ,  Schaustellungen,  thea- 
tralische Vorstellungen  oder  sonstige  Lust- 
barkeiten, ohne  dass  ein  höheres  Interesse 
der  Kunst  oder  Wissenschaft  dabei  obwaltet, 
von  Haus  zu  Haus  oder  auf  öffentlichen 
Wegen,  Strassen,  Plätzen  darbieten  wollen, 

5.  Pfandleiher  und  Rückkaufshändler  beweg- 
licher Sachen  (vgl  d.  All;. Pfandleih-  und 
Rückkaufsgeschäfte). 

Landesgesetzlich  können  Appro- 
bationen gefordert  werden  von :  1.  Mark- 
scheidern (G.O.  §  34).  Die  denselben  erteilte 
Approbation  hat  den  Charakter  einer  landes- 
rechtlichen Approbation,  ist  also  in  ihren 
Wirkungen  auf  das  beti*effende  Land  be- 
schränkt, 2.  Personen,  welche  das  Hufbe- 
schlaggewerbe betreiben  wollen  (G.O.  §  30  a). 
Bei  diesen  hat  kraft  ausdrücklicher  reichsge- 


setzlicher Vorschrift  die  erteilte  Approbation 
für  das  gesamte  Reichsgebiet  Wirksamkeit. 

Konzessionen  im  engeren  Sinne 
können  durch  Landesgesetze  vorgeschrieben 
werden  für :  1.  den  Handel  mit  Giften,  2.  das 
Lotsengewerbe  (G.O.  §  34). 

Polizeiliche  Verbietungsrechte 
bestehen  gegenüber:  1.  Personen,  welche 
Tanz-,  Tum-  oder  Schwimmunterricht  er- 
teilen und  den  Unternehmern  von  Badean- 
stalten, 2.  Personen,  welche  Trödelhandel, 
d.  h.  Handel  mit  gebrauchten  Kleidern,  ge- 
brauchten Betten  oder  gebrauchter  Wäsche, 
sowie  Kleinhandel  mit  altem  Metallgeräte, 
Metallbruch  oder  dergleichen,  ferner  solchen 
Peraonen,  welche  Kleinhandel  mit  Gamab- 
fallen  oder  Dräumen  von  Seide,  WoUe, 
Baumwolle  oder  Leinen,  endlich  denjenigen 
Personen,  welche  Handel  mit  Dynamit  und 
anderen  Sprengstoffen  sowie  Handel  mit 
Losen  von  Lotterien  und  Ausspielungen 
oder  mit  Bezugs-  und  Anteilscheinen  auf 
solche  Lose  betreiben,  3.  Personen,  welche 
fremde  Rechtsangelegenheiten  und  bei  Be- 
hörden wahrzunehmende  Geschäfte  besorgen, 
insbesondere  darauf  bezügliche  schriftliche 
Aufsätze  abfassen  (sogenannte  Rechtskonsu- 
lenten), gewerbsmässigen  Vermittelungsagen- 
ten  für  Immobiliarverträge,  Darlehen  und 
Heiraten,  Gesindoveriiiieter,  Stellenvermittler 
und  Auktionatoren.  Die  üntei'sagimg  des 
Gewerbebetriebes  darf  in  allen  diesen 
Fällen  cifolgeu,  wenn  Thatsachen  vorliegen, 
welche  d:c  Unzuverlässigkeit  der  Gewerbe- 
treibenden in  Bezug  auf  den  Gewerbebetrieb 
darthun.  (G.O.  §  35,  G.  v.^  6.  August  1896, 
Art.  4  Vgl.  die  Artt.  Trödelhandel 
und  Auktionatoren,  letzterer  oben  Bd. 
n,  S.  27/28).  Ferner  ist  der  Handel 
mit  Droguen  und  chemischen  Prä- 
paraten, welche  zu  Heilzwecken 
dienen,  zu  verbieten,  d.  h.  muss  verboten 
werden,  wenn  die  Handhabung  des  Gewerbe- 
betriebes Leben  und  Gesundheit  von  Men- 
schen gefährdet.  Der  Kleinhandel  mit 
Bier  endlich  kann  untersagt  werden,  wenn 
der  Gewerbetreibende  wiederholt  wegen 
Zuwiderhandlungen  gegen  §  33  der  (Ge- 
werbeordnung, d.  h.  wegen  unerlaubten  Be- 
triebes der  Schankwirtschaft  bestraft  worden 
ist.  (G.O.  §  35.  —  G.  v.  6.  August  1896, 
Art  5).  Nach  den  ursprünglichen  Bestim- 
mungen der  Gewerbeordnung  war  es  zwei- 
felhaft, ob  die  Polizeibehörde  jemand,  dem 
sie  den  Betrieb  eines  Gewerbes  untersagt 
hatte,  die  Wiederaufnahme  desselben 
gestatten  konnte.  Auch  die  Praxis  der  ein- 
zelnen Staaten  wies  in  dieser  Hinsicht 
Vei-schiedenheiten  auf.  Es  erschien  aber 
billig,  demjenigen,  dem  der  Gewerbebetrieb 
durcii  polizeiliche  Verfügung  verboten  war, 
für  den  Fall  der  Besserung  die  Mögliclikeit 
zu  gewähren,  das  fragliche  Gewerbe  wieder 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


427 


zu  betreiben.  Um  die  Zweifel  abzuschnei- 
den, hat  die  G.O.-Novelle  v.  6.  August  1896 
bestimmt,  dass  die  Landescentiulbehörde 
oder  eine  andere  von  ihr  zu  bestimmende 
Behörde  die  Wiederaufnahme  des  Gewerbe- 
betriebes zu  gestatten  befugt  ist,  wenn  seit 
der  üntersagung  mindestens  ein  Jahr  ver- 
flossen ist.    (G.O.  §  35  Abs.  5). 

Für  gewisse  Gewerbebetriebe  können 
bestimmte  Personen  von  Behörden  oder 
Korporationen  angestellt  werden.  Solche 
Anstellungsrechte  bestehen  in  Bezug  auf 
Feldmesser,  Auktionatoren,  Personen,  welche 
den  Feingelialt  edler  Metalle  oder  die  Be- 
schaffenheit, Menge  oder  richtige  Ver- 
packung von  Waren  irgend  einer  Art  fest- 
stellen, Güterbestätiger,  Schaff  er,  Wäger, 
Messer,  Bracker,  Schauer,  Stauer.  Der  Be- 
trieb der  betreffenden  Gewerbe  ist  frei.  Die 
angestellten  Personen  haben  vor  den  nicht 
angestellten  lediglich  den  Vorzug,  dass  sie 
thatsächlich  beim  Publikum  ein  grösseres 
Vertrauen  geniessen  und  dass  sie  allein 
Handlungen  vorzunehmen  im  stände  sind, 
welchen  eine  besondere  Glaubwürdigkeit 
beigelegt  ist  oder  an  welche  besondere 
rechtliche  Wirkungen  geknüpft  sind  (G.O. 
§  36).  Vei-steigerungen  von  Immobilien 
dürfen  jedoch  nur  durch  angestellte  Auktio- 
natoren erfolgen.  (G.O.  §  35.  Vgl.  d.  Art. 
Auktionatoren  a.  a.  0.) 

Die  Ordnung  des  Schornsteinfeger- 
gewerbes ist  der  Landesgesetzgebung 
überlassen,  welche  die  Einrichtung  von 
Kehrbezirken  gestatten  kann.  (G.O.  §  39. 
Vgl.  d.  Art.  Schornsteinfeger).  Die 
Strassenge werbe  unterliegen  ortspoH- 
zeilicher  Regelung.  (G.O.  §  38.  Vgl.  d.  Art. 
St  rassenge  werbe.) 

7.  AdsübuDg  des  stehenden  Gewerbe- 
betriebes. Auch  in  Bezug  auf  die  Aus- 
übung des  stehenden  Gewerbebetriebes 
spricht  die  Vermutung  für  die  Freiheit. 
Insbesondere  kann  der  Gewerbetreibende 
Gesellen,  Gehilfen,  Arbeiter  jeder  Art  und 
in  beliebiger  Zahl  und,  soweit  die  Gewerbe- 
ordnung nicht  ausdrücklich  etwas  anderes 
festsetzt,  auch  Lehrlinge  halten  (G.O.  §  41). 
Die  Befugnis  zum  stehenden  Gewerbebetriebe 
giebt  ferner  das  Recht,  das  Gewerbe  inner- 
halb imd  ausserhalb  des  Ortes  der  Nieder- 
lassung zu  betreiben  (G.O.  §  42).  Beschrän- 
kungen in  der  Ausübung  bestehen  nur,  so- 
weit sie  ausdrücklich  festgesetzt  sind.  Diese 
Beschränkungen  beruhen  teils  auf  unmittel- 
baren reichsgesetzlichen  Vorscliriften,  teils 
auf  Verordnungen  der  höheren  Verwaltungs- 
behörden oder  Anordnungen  der  Gemeinden, 
welche  kraft  reichsgesetzlicher  Ermächtigung 
erlassen  werden.  Die  reichsgesetzlichen 
Vorschriften  beziehen  sich  teils  auf  den 
Gewerbebetrieb  am  Orte  der Niederlassimg, 


teüs  auf  den  Gewerbebetrieb  ausserhalb 
des  Ortes  der  Niederlassung. 

ReichsgesetzlicheBeschränkun- 
gen  für  den  Gewerbebetrieb  am  Orte 
der  Niederlassung  bestehen  in  zwei- 
facher Hinsicht.  Einmfd  dürfen  Gegenstände, 
welche  von  dem  Ankaufe  oder  Feil- 
bieten im  Umherziehen  ausge- 
schlossen sind,  von  Haus  zu  Haus  oder 
an  öffentlichen  Orten  nicht  feilgeboten  oder 
zum  Wiederverkauf  angekauft  werden.  Eine 
Ausnahme  besteht  in  Bezug  auf  Bier  und 
Wein  in  Fässern  und  Flaschen.  Weitere 
Ausnahmen  können  von  der  Landesregierung, 
Ausnahmen  in  Bezug  auf  geistige  Getränke 
vorübergehend  auch  von  der  Ortspolizei- 
behörde zugelassen  werden.  Den  Ausschank 
geistiger  Getränke  zum  Genuss  auf  der 
Stelle,  welcher  infolge  eines  konzessionierten 
Gast-  oder  Schankwirtschaftsbetriebes  statt- 
findet, fällt  nicht  unter  die  Beschränkung 
(G.O.  §  42  a).  Ausserdem  ist  zur  Verbrei- 
tung von )  Druckschriften  an  öffentlichen 
Orten  eine  polizeiliche  Erlaubnis  erforder- 
lich; nur  bei  Verteilung  von  Stimmzetteln 
und  Drucksachen  zu  Wahlzwecken  während 
der  Wahlzeit  bedarf  es  einer  solchen  nicht. 
(G.O.  §  43.    Vgl.  d.  Art.  Pressgewerbe) 

Ausserhalb  des  Ortes  seiner 
Niederlassung  ist  der  Gewerbetreibende, 
der  ein  stehendes  Gewerbe  betreibt,  befugt, 
Warenbestellungen  aufzusuchen  und  Waren 
aufzukaufen.  Das  Aufkaufen  von  Waren 
darf  aber  nur  bei  Kaufleuten,  Produzenten 
oder  in  offenen  Verkaufsstellen,  das  Auf- 
suchen von  Warenbestt-llungen  ohne  vor- 
gängige ausdrückliche  Auffordenmg  nur  bei 
Kaufleuten  in  deren  Geschäftsräumen  oder 
bei  solchen  Personen  geschehen,  in  deren 
Geschäftsbetriebe  die  Waren  Verwendung  fin- 
den. (G.O.  §  44,  G.  V.  6.  August  1896, 
Art.  9.)  Das  Aufkaufen  von  Waren  und  das 
Aufsuchen  von  Warenbestelluugen  bei  ande- 
ren Personen  sowie  das  Feilbieten  von 
Waren  gelten  nicht  als  Ausfluss  des  stehen- 
den Gewerbebetriebes,  sondern  als  Gewerbe- 
betrieb im  Umherziehen  und  unterliegen  den 
für  diesen  massgfebenden  Bestimmungen.  Bis 
zu  der  G.O.-Novelle  v.  6.  August  1896  war 
das  Aufsuchen  von  WarenbesteUunffen  bei 
Privaten  als  Ausfluss  des  stehenden  Ge- 
werbebetriebes anerkannt;  die  Klagen  der 
sesshaften  Gewerbetreibenden  über  die  Aus- 
dehnung des  Betriebes  der  sogenannten 
Detailreisenden  haben  aber  Veranlassung 
gegeben,  letztere  den  Hausierern  vollständig 
gleichzustellen.  Es  lässt  sich  aber  nicht 
verkennen,  dass  zwischen  beiden  Arten  des 
Geschäftsbetriebes  doch  erhebliche  Unter- 
schiede bestehen  und  dass  manche  G^werbs- 
zweige  nach  der  ganzen  Art  ihres  bisherigen 
Betriebes  wesentlich  auf  einen  Absatz  durch 
Aufsuchen  vonWarenbesteUungen  angewiesen 


428 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


sind.  Den  Bedenken,  welche  sich  aus  diesem 
Gesichtspunkte  ergeben,  hat  das  Gesetz  in- 
sofern Rechnung  getragen,  als  dasselbe  ge- 
wisse Ausnahmen  zulässt.  Eine  unmittelbar 
auf  dem  Gesetz  beruhende  Ausnahme  be- 
steht für  das  Aufsuchen  von  Bestellungen 
auf  Dnickschriften,  andere  Schriften  und 
Bildwerke;  nur  ist  der  Aufsuchende  hier 
wie  beim  Feilhalten  der  betreffenden  Gegen- 
stände verpflichtet,  der  zuständigen  Verwal- 
tungsbehöixie  seines  Wohnortes  ein  Verzeich- 
nis zur  Genehmigung  vorzulegen.  Weitere 
Ausnahmen  kann  der  Bundesrat  zulassen. 
Er  hat  von  dieser  Befugnis  in  der  Ausf.-V. 
V.  27.  November  1896  zu  Gunsten  des  Wein- 
handels sowie  des  Handels  mit  Erzeug- 
nissen der  Leinen-  und  Wäschefabrikation 
und  mit  Nähmaschinen  Gebrauch  gemacht 
Den  Fabrikanten  von  Gt)ld-  und  Silberwaren, 
Taschenuhren ,  Bijouterie-  und  Schildpatt- 
waren sowie  den  Personen,  welche  mit 
diesen  Gegenständen  sowie  mit  Edelsteinen, 
Perlen,  Kameen  oder  Korallen  Grosshandel 
treiben,  ist  sogar  das  Feilhalten  ihrer 
Fabrikate  oder  Handelsartikel  ausserhalb  des 
Ortes  der  gewerblichen  Niederlassung  als 
Ausfluss  ihres  stehenden  Gewerbebetriebes 
gestattet. 

So  weit  das  Aufsuchen  von  Warenbe- 
stellungen und  das  Aufkaufen  von  Waren 
als  Ausfluss  des  stehenden  Gewerbebetriebes 
erscheint,  kann  dasselbe  entweder  durch 
den  Gewerbetreibenden  selbst  oder  durch  in 
seinen  Diensten  stehende  Reisende  geschehen. 
Derjenige,  der  diese  Thätigkeiten  ausübt,  sei 
es  der  Prinzipal,  sei  es  ein  Handlungsrei- 
sender, bedarf  dazu  einer  LegitimationsKarte. 
(G.G.  §  44  a.)  Eine  solche  war  schon  nach 
der  G.G.  v.  21.  Juni  1869  erforderiich.  Da- 
mals hatte  sie  lediglich  den  Charakter  einer 
Beglaubigung,  sie  durfte  daher  den  Gewerbe- 
treibenden und  deren  Reisenden  nicht  ver- 
weigert werden.  Durch  die  G.O.-Nov.  v.  1. 
Juli  1883  hat  dagegen  die  Erteilung  der 
Legitimationskarte  den  Charakter  einer  poli- 
zeilichen Konzessionienmg  angenommen  j  sie 
kann  und  muss  wegen  des  Mangels  gewisser 
persönlicher  Eigenschaften 'verweigert  und 
kann  aus  gesetzlich  l)estimmten  Gründen 
zurückgenommen  werden. 

Durch  Verordnung  der  höheren 
Verwaltungsbehörde,  welche  nach  An- 
hörung der  Gemeinde  zu  ergehen  hat,  oder 
durch  Beschluss  der  Gemeindebe- 
hörde, füi'  welche  die  Genehmigung  der 
höheren  Verwaltungsbehörde  einzuholen  ist, 
können  für  einzelne  Gemeinden  gewisse  ge- 
werbliche Thätigkeiten  der  Personen,  die 
daselbst  ein  stehendes  Gewerl)e  betreiben, 
von  einer  vorgängigen  Erlaubnis  abhängig 
gemacht  werden.  Diese  Thätigkeiten  sind: 
1.  das  Feilbieten  von  Wai^n,  2.  das  Ankaufen 
von  Warfen  zum  Wiederverkauf  bei  anderen 


Personen  als  bei  Kaufleuten  oder  Produ- 
zenten und  an  anderen  Orten  als  in  offenen 
Verkaufsstellen,  3.  das  Aufsuchen  von  Waren- 
bestellungen bei  Personen,  in  deren  Gewerbe- 
betriebe Waren  in  der  gedachten  Art  keine 
Verwendung  finden,  4.  das  Anbieten  ge- 
werblicher Leistimgen,  hinsichtlich  deren 
dies  nicht  Landesgebrauch  ist,  sofern  die- 
selben auf  öffentlichen  Wegen,  Strassen, 
Plätzen  oder  an  anderen  öffentlichen  Orten 
oder  ohne  voi^ängige  Bestellung  von  Haus 
zu  Haus  betrieben  werden.  Die  Bestimmung 
kann  auf  einzelne  Teile  des  Gemeindebezirks 
oder  auf  gewisse  Gattungen  von  Waren  und 
Leistungen  beschränkt  werden.  Das  Be- 
dürfnis zu  solchen  Massregeln  ist  nament- 
lich in  grossen  Städten  hervorgetreten,  wo 
die  gedachten  Thätigkeiten  der  ansässigen 
Gewerbetreibenden  sich  kaum  noch  vom 
Hausierbetriebe  unterscheiden.  Für  die  Er- 
teilung, Versagung  und  Zurücknahme  der 
Erlaubnis  sind  die  Grundsätze  massgebend, 
welche  in  Bezug  auf  den  Gewerbebetrieb 
im  Umherziehen  gelten.  Von  einer  vorgän- 
gigen Erlaubnis  darf  jedoch  nicht  abhängig 
gemacht  werden:  das  Feilbieten  von  Er- 
zeugnissen der  Ijand-  und  Forstwirtschaft, 
des  Garten-  und  Obstbaues,  der  Geflügel- 
und  Bienenzucht,  der  Jagd  und  Fischerei 
sowie  von  Gegenständen  des  Wochenmarkt- 
verkehres;  der  Verkehr  mit  Druckschriften 
von  Haus  zu  Haus;  endlich  das  Feilbieten 
von  Gegenständen,  welche  kraft  Bundesrats- 
beschlusses ausserhalb  des  Oiies  der  ge- 
werblichen Niederlassimg  feilgeboten  werden 
dürfen,  bei  solchen  Personen,  welche  damit 
Handel  treiben.  Auch  wenn  eine  Bestim- 
mung der  gedachten  Art  nicht  erlassen  ist, 
dürfen  Kinder  unter  14  Jahren  auf  Öffent- 
lichen Wegen,  Strassen,  Plätzen  oder  an 
öffentlichen  Orten  oder  ohne  vorgängige  Be- 
stellung von  Haus  zu  Haus  Gegenstände 
nicht  feilbieten.  Nur  an  Orten,  wo  ein  der- 
artiges Feilbieten  durch  Kinder  herkömmlich 
ist,  kann  die  Ortspolizeibehörde  ein  solches 
für  bestimmte  Zeitabschnitte,  welche  in 
einem  Kalenderjahre  4  Wochen  nicht  über- 
schreiten, gestatten.  (G.O.  §  42  b,  G.  v.  6. 
August  1896,  Art.  7,  8.) 

Der  Gewerbebetrieb  eines  selbständigen 
Gewerbetreibenden  kann  nach  seinem  Tode 
für  Rechnung  seiner  Witwe  oder  seiner 
minderjährigen  Erben  fortgesetzt  wer- 
den, ohne  dass  es  dazu  bei  konzessions- 
ß flichtigen  Gewerben  einer  Erneuerung  der 
Konzession  bedarf.  Die  Ausübung  des  Ge- 
werbebetriebes erfolgt  in  diesem  Falle  durch 
einen  Stellvertreter.  Ein  solcher  Stell- 
vertreter kann  aber  auch  an  Stelle  eines 
selbständigen  Gewerbetreibenden  treten  oder 
während  einer  Kuratel  oder  Nachlassregu- 
lierung fungieren.  Der  Stellvertreter  muss 
die     für     das    Gewerbe    vorgeschriebenen 


Grewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


429 


Eigenschaften  besitzen,  bedarf  aber  keiner 
besonderen  Konzession.  Er  betreibt  das  Ge- 
werbe nicht  für  eigene  Rechnung ,  sondern 
für  Rechnung  des  Vertretenen.  Die  privat- 
rechtlichen Rechte  und  Verbindlichkeiten, 
welche  aus  dem  Gewerbebetriebe  hervor- 
gehen, stehen  nicht  ihm,  sondern  dem  Ver- 
tretenen zu.  In  öffentlichrechtlicher  Bezie- 
hung dagegen  tritt  er  voUständig  in  die 
Pflichten  des  Vertretenen  ein.  Sind  bei 
Ausübung  des  Gewerbebetriebes  polizeiliche 
Vorschriften  übertreten  worden,  so  trifft  ihn 
die  Strafe.  Ist  die  üebertretuug  mit  Kon- 
zessionsentziehung bedroht,  so  entsteht  für 
den  selbständigen  Gewerbetreibenden  die 
Verpflichtung  zur  Ehitlassung  des  Stellver- 
ti-etei-s.  Strafe  und  Konzessionsentziehung 
kann  gegen  ihn  selbst  nur  ausgesprochen 
werden,  wenn  er  verfügUGgsfähig  ist  und 
die  üebertretung  von  dem  Stellvertreter  mit 
seinem  Vorwissen  begangen  wurde  (G.O. 
§§  45-47,  151). 

8.  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen. 
Der  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen,  wenn 
er  auch  für  ländliche  und  dünn  bevölkerte 
Gegenden  unentbehrlich  ist,  scliliesst  doch 
gewisse  Gefahren  in  sich.  Namentlich  kann 
er  zur  Begehung  von  Verbrechen  oder  ziu* 
Sichei-ung  des  Erfolges  von  Verbrechen,  z.  B. 
zum  Vertriebe  gestohlener  Sachen,  miss- 
braucht werden.  Deshalb  ist  er  von  jeher 
ix)lizeilichen  Beschränkungen  unterworfen 
und  imter  polizeiliche  Aufsicht  gestellt 
woi'den.  Nach  der  früheren  preussischen 
Gesetzgebung  wurde  für  den  Gewerbebetrieb 
im  Unterziehen  ein  Gewerbeschein  ge- 
fordert, der  gleichzeitig  den  Zwecken  der 
Besteuerung  und  der  polizeilichen  Konzes- 
sionierung diente.  Für  die  deutsche  Ge- 
werbeordnung kam,  da  sie  nur  die  polizei- 
liche Regelung  des  Gewerbebetriebes  zum 
Gegenstande  hat,  lediglich  der  letztere  Ge- 
sichtspunkt in  Betracht,  Der  Entwurf  der 
Gewerbeordnung  von  1869  behielt  aller- 
dings für  die  zu  erteilende  polizeiliche  Er- 
laubnis die  Bezeichnung»G  ewerbeschein« 
bei.  Der  Reichstag  aber,  um  den  polizei- 
lichen Charakter  der  betreffenden  Urkunde 
deutlicher  zum  Ausdruck  zu  bringen,  wählte 
statt  dessen  die  Bezeichnung  »Legitima- 
tionsschein«; seit  der  Novelle  vom  1. 
Juli  1883  heisst  dieselbe  »Wanderge- 
werbeschein«. 

Unter  den  Begriff  des  Gewerbebetriebes 
im  Umherziehen  fallen  nach  der  Gewerbe- 
ordnung folgende  Thätigkeiten,  vorausgesetzt, 
dass  dieselben  ausserhalb  des  Wonnortes 
der  Gewerbetreibenden  bezw.  der  durch  An- 
ordnung der  Verwaltungsbehörde  dem  Wohn- 
orte gleichgestellten  nächsten  Umgebung, 
ohne  Begründung  einer  gewerblichen  Nie- 
derlassung an  dem  fremden  Orte  und  ohne 
vorgängige  Bestellung  vorgenommen  weixlen : 


1.  das  Feilhalten  von  Waren,  2.  der  Ankauf 
von  Waren  zum  Wiederverkauf  bei  anderen 
Personen  als  bei  Kaufleuten  oder  Produzen- 
ten oder  an  anderen  Orten  als  in  offenen 
Verkaufsstellen,  3.  das  Aufsuchen  von  Waren- 
bestellungen bei  anderen  Personen  als  bei  Kau  f- 
leuten  oder  bei  Gewerbetreibenden,  in  deren 
Gewerbetrieb  die  Waren  Verwendung  finden, 
4.  das  Anbieten  gewerblicher  Leistungen, 
das  Darbieten  von  Musikaufführungen,  Schau- 
stellimgen,  theatralischen  Vorstellungen  und 
sonstigen  Lustbarkeiten,  bei  welchen  ein 
höheres  wissenschaftliches  oder  Kunstinter- 
esse nicht  obwaltet.  Die  ersteren  drei 
Thätigkeiten  gelten  jedoch  dann  nicht  als 
Gewerbetrieb  im  Umherziehen,  wenn  sie 
innerhalb  des  Marktverkehrs  stattfinden, 
während  die  letzteren  auch  in  diesem  Falle 
als  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  behan- 
delt werden  (G.O.  §  55).  Eine  gewerb- 
liche Niederlassung  gut  als  nicht  vorhanden, 
wenn  der  Gewerbetreibende  im  Inlande  ein 
zu  dauerndem  Gebrauche  eingerichtetes,  be- 
ständig oder  doch  in  regelmässiger  Wieder- 
kehr von  ihm  benutztes  Lokal  für  den  Be- 
trieb seines  Gewerbes  nicht  besitzt  (G.O. 
§  42).  Das  Lokal,  in  dessen  Besitz  er  sich 
befinden  muss,  braucht  aber  nicht  notwendig 
ein  Verkaufslokal,  sondern  kann  auch  ein 
Arbeitslokal  sein. 

Ausgeschlossen  vom  Ankauf  und 
Feilbieten  im  Umherziehen  sind  fol- 
gende Gegenstände:   1.  geistige  Getränke; 

2.  gebrauchte  Kleider,  gebrauchte  Wäsche, 
gebrauchte  Betten  und  gebrauchte  Bettstücke, 
insbesondereBettfedern,Men8chenhaare,Garn- 
abfälle,  Enden  und  Dräumen  von  Seide, 
Wolle,  Leinen  oder  Baumwolle;  3.  Gold- 
und  Süberwaren,  Bruchgold  und  Bruchsil- 
ber, sowie  Taschenuhren ;  4.  Spielkarten ;  5. 
Staats-  und  sonstige  Wertpapiere,  Lotterie- 
lose, Bezugs-  und  Anteilscheine  auf  Wert- 
papiere und  Lotterielose ;  6.  explosive  Stoffe, 
insbesondere  Feuerwerkskörper,  Schiesspul- 
ver und  Dynamit:  7.  solche  mineralische 
und  andere  Oele,  welche  leicht  entzündlich 
sind,  insbesondere  Petroleum  sowie  Spiritus ; 
8.  Stoss-,  Hieb-  und  Schusswaffen ;  9.  Gifte 
und  gifthaltige  Waren,  Arznei-  und  Geheim- 
mittel; 10.  Bäume  aUer  Art,  Sträucher, 
Schnitt-,  Wurzelreben,  Futtermittel  und 
Sämereien  mit  Ausnahme  von  Gemüse-  und 
Blumensamen;  11.  Schmucksachen,  Bijoute- 
rieen,  Brillen  und  optische  Instrumente ;  12. 
Druckschriften,  andere  Schriften  und  Bild- 
werke, welche  in  sittlicher  und  religiöser 
Beziehung  Aei^ernis  zu  geben  geeignet  sind 
oder  mittelst  Zusicherung  von  Prämien  oder 
Gewinnen  vertrieben  werden  oder  in  Liefe- 
rungen erscheinen,  wenn  nicht  der  Gesamt- 
preis des  Werkes  auf  jeder  einzelnen  Liefe- 
rung an  einer  in  die  Augen  fallenden  Stelle 
bestimmt    nachgewiesen   ist.     Der  Ankauf 


430 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


und  das  Feilhalten  einzelner  dieser  Gegen- 
stände kann  jedoch  im  Falle  des  Bedürf- 
nisses vom  Bundesrate  und,  sofern  Bäume, 
Sträucher  und  andere  unter  10  genannte 
Gt^genstände  in  Betracht  kommen,  auch  von 
den  Landesregierungen  gestattet,  das  Feil- 
bieten geistiger  Getränke  sogar  vorüber- 
gehend von  der  Ortspolizeibehörde  erlaubt 
werden  (G.O.  §§  56,  56  b;  G.  v.  6.  August 
1896  Art.  12,  13). 

Yom  Gewerbebetriebe  im  Umherziehen 
sind  ferner  folgende  Thätigkeiten 
ausgeschlossen:  1.  die  Ausübung  der 
Heilkunde,  insofern  der  Ausübende  ftfi*  die- 
selbe nicht  approbiert  ist ;  2.  das  Aufsuchen 
sowie  die  vermittelung  von  üarlehnsge- 
schäften  und  von  Rückkaufsgeschäften  ohne 
vorgängige  Bestellungen,  femer  das  Auf- 
suchen von  Bestellungen  auf  Staats-  und 
sonstige  Wertpapiere,  Lotterielose  und  Be- 
zugs- uüd  Anteilscheine  auf  Wertpapiere  imd 
Lotterielose;  3.  das  Aufsuchen  von  Bestel- 
lungen auf  Branntwein  und  Spiritus  bei 
Personen,  in  deren  Gewerbebetriebe  dieselben 
keine  Verwendung  finden ;  4.  das  Feilbieten 
von  Waren  und  Aufsuchen  von  Bestellungen, 
wenn  die  betreffenden  Waren  gegen  Teil- 
zahlungen unter  dem  Vorbehalt  veräussert 
werden,  dass  der  Veräusserer  wegen  Nicht- 
erfüllung der  dem  Erwerber  obliegenden 
Verpflichtungen  von  dem  Vertrage  zurück- 
treten kann  (G.O.  §  56  a;  G.  v.  6.  August 
1896.  Vergl.  R.G.  betr.  die  Abzahlungsge- 
schäfte vom  16.  Mai  1894  §§  1,  6). 

Der  Kreis  der  vom  Gewerbebetriebe  im 
Umherziehen  ausgeschlossenen  Gegenstände 
und  Thätigkeiten  kann  aus  Gründen  der 
öffentlichen  Sicherheit  sowie  zur  Abwehr 
und  Unterdrückung  von  Seuchen  durch 
Verordnungen  des  Bundesrates 
zeitweilig  noch  ei^weitert  werden.  In  drin- 
genden Fällen  tritt  an  SteUe  des  Bundes- 
rates der  Reichskanzler  im  Einvernehmen 
mit  dem  Bundesratsausschuss  für  Handel 
und  Verkehr.  Die  betreffenden  Verordnun- 
gen müssen  dem  Reichstage  bei  seinem 
nächsten  Zusammentritte  mitgeteilt  und 
ausser  Kraft  gesetzt  werden,  wenn  der 
Reichstag  seine  Zustimmung  nicht  erteilt. 
Durch  die  Landesregierungen  können  An- 
ordnungen über  den  Gewerbebetrieb  im  Um- 
herziehen insofern  erlassen  wenien,  als  das 
Umherziehen  mit  Zuchthengsten  ziu*  Deckung 
von  Stuten  untersagt  und  zur  Abwehr  und 
Unterdrückung  von  Sou(;hen  der  Handel  mit 
Rindvieh,  Schweinen,  Schafen,  Ziegen  oder 
Gefltigel  Beschränkungen  unterworfen  oder 
auf  l)estimmt(»  Zeit  verboten  werden  darf 
(G.O.  §  56  b  G.  V.  6.  August  1897  Art.  14). 

Soweit  der  Gewerbebetrieb  im  Umher- 
ziehen tU)erhaupt  gestattet  ist,  wird  für  den- 
selben eine  polizeiliche  Konzession 
erfordert,  deren  Erteilung  in  der  Form  eines 


Wandergewerbescheines  stattfindet. 
Nach  der  Regierungsvorlage  vom  Jahre  1869 
sollte  die  polizeiliche  Erlaubnis  dann  versagt 
weixlen  dürfen,  wenn  dem  »Gewerbetreiben- 
den die  Zuverlässigkeit  in  Bezug  auf  den 
Gewerbebetrieb  fehlt«.  Hier  war  also  dem 
Ermessen  der  Verwaltimgsbehörde  ein  wei- 
ter Spielraum  gelassen.  Der  Reichstag 
suchte  dagegen  die  Verweigerunffsgriinde 
gesetzlich  genauer  festzustellen  und  die  Be- 
fiignis  zur  Verweigerung  an  bestimmte  ol:>- 
jektive  Thatbestände  zu  knüpfen.  An  die- 
sem Standpunkte  haben  auch  die  Novellen 
vom  1.  Juli  1883  und  6.  August  1896  fest- 
gehalten und  lediglich  den  durch  die  G.O. 
vom  21.  Juni  1869  festgestellten  Verwei- 
gerungsgründen eine  Reihe  von  anderweiten 
hinzugefügt.  Diese  Verweigerungsgründe 
sind  teils  obligatorische,  teUs  fakul- 
tative. Der  Wandergewerbeschein  muss 
versagt  werden,  wenn  der  Nachsuchende: 
1.  mit  einer  abschreckenden  oder  anstecken- 
den Krankheit  behaftet  oder  in  abschrecken- 
der Weise  entstellt  ist;  2.  unter  Polizeiauf- 
sicht steht ;  3.  wegen  strafbarer  Handlungen 
aus  Gewinnsucht,  gegen  das  Eigentum,  gegen 
die  Sittlichkeit,  wegen  vorsätzlicher  Angriffe 
auf  das  Leben  oder  die  Gesundheit  der 
Menschen,  wegen  Land-  oder  Hausfriedens- 
bruchs, wegen  Widerstandes  gegen  die  Staats- 
gewalt, wegen  vorsätzlicher  Brandstiftung, 
wegen  Zuwiderhandlungen  gegen  Verbote 
oder  Sicherungsmassregeln  betreffend  Ein- 
führung oder  Verbreitung  ansteckender 
Krankheiten  oder  Viehseuchen  zu  einer  Frei- 
heitsstrafe von  mindestens  drei  Monaten  ver- 
urteilt ist  und  seit  Verbüssung  der  Strafe 
drei  Jahre  noch  nicht  verflossen  sind;  4 
wegen  gewohnheitsmässiger  Arbeitsscheu, 
Bettelei,  Landstreicherei,  Tnmksucht  übel 
berüchtigt  ist  (G.O.  §  57;  G.  v.  6.  August 
1896  Art.  16).  Der  Wandergewerlx*scliein 
ist  in  der  Regel  zu  versagen,  wenn 
der  Nachsuchende:  1.  entweder  das  25. 
Lebensjahr  noch  nicht  vollendet  hat,  ausge- 
nommen wenn  er  Ernährer  einer  Familie 
und  bereits  vier  Jahre  im  Wandergewerbe 
thätig  gewesen  ist;  2.  oder  blind,  stumm 
oder  taub  ist  oder  an  Geistesschwäche  leidet 
(G.O.  §  57  a;  G.  v.  6.  August  1896  Art.  17). 
Der  Wandergewerbeschein  darf  vei-sagt 
werden,  wenn  der  Nachsuchende:  1.  im 
Inlande  einen  festen  Wohnsitz  nicht  hat,  2. 
wegen  strafbarer  Handlungen  aus  Gewinn- 
sucht, gegen  das  Eigentum,  gegen  die  Sitt- 
lichkeit, wegen  vorsätzlicher  Angiiffe  auf 
das  Leihen  und  die  Gesundheit  der  Mensehen, 
wegen  vorsätzlicher  Brandstiftung,  wegen 
Zuwiderhandlungen  gegen  Verbote  oder  Siche- 
rungsmassregeln betreffend  Einführung  oder 
Verbreitung  ansteckender  Krankheiten  oder 
Viehseuchen  zu  einer  Freiheitsstrafe  von 
mindestens  einer  Woche  verurteilt  ist  und 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


431 


seit  Verbüssung  der  Strafe  ftlnf  Jahre  noch 
nicht  verflossen  sind,  3.  wegen  Verletzung 
der  auf  den  Gewerbebetrieb  im  umherziehen 
bezuglichen  Vorschriften  im  Laufe  der  letz- 
ten drei  Jahre  wiederholt  bestraft  ist,  4.  ein 
oder  mehrere  Kinder  besitzt,  für  deren  Un- 
terhalt oder,  sofern  sie  im  schulpflichtigen 
Älter  stehen,  für  deren  Unterricht  nicht  ge- 
nügend gesorgt  ist  (G.O.  §  57  b;  G.  v.  6. 
August  1896  Art.  18).  Ueber  die  Ziüassung 
der  Ausländer  zum  Gewerbebetriebe  im 
Umherziehen  hat  der  Bundesrat  nähere  Vor- 
schriften zu  erlassen  (G.O.  §  56d;  Ausf.-V. 
V.  31.  Oktober  1883,  Centr.-BL  S.  305). 

Die  Erteilung  des  "Wanderge- 
werbescheines erfolgt  durch  die  höhere 
Verwaltungsbehörde  und  zwar  die  des 
"Wohnortes  oder  Aufenthaltsortes  des  Nach- 
suchenden (G.O.  §  61).  Der  Wanderge- 
werbeschein wird  für  ein  Jahr  erteilt,  er 
berechtigt  den  Inhaber  zur  Ausübung  des 
Gewerbebetriebes  im  ganzen  Gebiete 
des  Deutschen  Reiches  (G.O.  §  60). 
Seine  Wirkung  erstreckt  sich  nur  auf  die- 
jenige Person,  für  welche  er  ausgestellt  ist. 
Der  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  kann 
allerdings  auch  durch  Stellvertreter  und 
Gehilfen  ausgeübt  werden;  in  diesem  Falle 
müssen  aber  die  betreffenden  Personen 
einen  auf  ihren  eigenen  Namen  lautenden 
Wandergewerbeschein  besitzen  (G.O.  §  60  d). 
Eine  Zurücknahme  des  Wandergewerbe- 
scheines ist  aus  denselben  Gründen  ziüässig, 
aus  denen  eine  Verweigerung  desselben 
stattlinden  darf  (G.O.  §§  58,  61). 

Für  einzelne  Arten  des  Gewerbe- 
betriebes im  Umherziehen  bestehen  beson- 
dere Vorschriften,  welche  teils  Er- 
gänzungen des  bestehenden  Rechtes,  teüs 
Abweicnungen  von  demselben  enthalten. 
Die  Wandergewerbescheine  für  das  Darbieten 
von  Musikaufführungen,  Schau- 
stellungen, theatralischen  Vor- 
stellungen und  sonstigen  Lustbar- 
keiten, bei  welchen  ein  höheres  Interesse 
der  Wissenschaft  oder  Kunst  nicht  obwaltet, 
gelten  nicht  für  das  ganze  Reich,  sondern 
immer  nur  für  den  Bezirk  einer  höheren 
Verwaltungsbehörde.  Sie  sind  von  der 
höheren  Verwaltungsbehörde  desjenigen  Be- 
zirkes, in  welchem  das  Gewerbe  betrieben 
werden  soll,  zu  erteilen,  und  die  Erteilung 
ist  zu  verweigern,  wenn  für  den  betreffen- 
den Bezirk  eine  genügende  Anzahl  von 
Wandergewerbescheinen  ausgestellt  ist.  Die 
Erteilung  kann  auch  für  einen  kürzeren 
Zeitraum  als  das  Kalenderjahr  oder  für  be- 
stimmte Tage  während  des  Kalenderjahi-es 
erfolgen.  Endlich  bedarf  derjenige,  der  die 
angegebenen  Thätigkeiten  von  Haus  zu 
Haus  oder  auf  öffentlichen  Wegen,  Strassen, 
Plätzen  oder  an  anderen  öffentlichen  Orten 
ausüben  will,  noch  einer  besonderen  Erlaub- 


nis der  Ortspolizeibehörde  (G.O.  §§  56,  60, 
60  a,  61).  Für  die  Ausübung  des  Gewerbe- 
betriebes im  Umherziehen  in  Grenzbe- 
zirken ist  neben  dem  Wandergewerbe- 
scheine noch  eine  Genehmigung  der  obersten 
Landesfinanzbehörde  erforderlich.  (Vereins- 
zoUg.  V.  1.  Juli  1869  §  124).  Das  Feil- 
bieten geistiger  Getränke,  welches 
im  Falle  eines  vorübei^ehenden  Bedürfnisses 
ausnahmsweise  zugelassen  wird,  darf  stets 
nur  in  räumlicher  und  zeitlicher  Beschränkung 
gestattet  werden ;  diese  Beschränkimgen  sind 
im  Wandergewerbescheine  anzugeben  (G.O.  § 
60).  Endlich  bestehen  noch  besondereBeschrän- 
knugen  für  den  Vertrieb  von  Druckschriften  im 
Umherziehen,  die  sogenannte  Colportage 
(vgl.  d.  Art.  C  o  1  p  o  r  t  a  g  e  ob.  Bd.  in,  S.  67f f .). 

Als  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  er- 
scheint auch  der  Betrieb  der  sogenannten 
Wanderlager,  d.  h.  der  vorübergehende, 
aber  in  festen  Verkaufslokalen  stattfindende 
Verkaiif  von  Waten  seitens  solcher  Personen, 
welche  an  dem  betreffenden  Orte  weder 
einen  Wohnsitz  noch  eine  gewerbliche 
Niederlassung  haben.  Derselbe  ist  also  nur 
auf  Grund  eines  Wandergewerbescheines 
zulässig.  Wanderauktionen  und  Wan- 
derlotterieen, d.h.  Absetzen  der  Waren  im 
Wege  der  Versteigenmg  oder  des  Glück- 
spieles sind  verboten,  soweit  nicht  die  zu- 
ständige Behörde  Ausnahmen  zulässt.  Der- 
artige Ausnahmen  dürfen  jedoch  bei  Wan- 
derversteigeruugen  nur  hinsichtlich  solcher 
Waren  gemacht  werden,  welche  dem  raschen 
Verderben  ausgesetzt  sind  (G.O.  §  56  c;  G. 
V.  6.  August  1896  Art.  15). 

Die  Mitführung  von  Begleitern 
beim  Gewerbebetriebe  im  Umherziehen  ist 
sowohl  zu  gewerblichen  Zwecken  als  aus 
sonstigen  Gründen  gestattet,  bedarf  jedoch 
einer  besonderen  im  Wandergewerbescheine 
auszudrückenden  Erlaubnis.  Für  Erteilung 
und  Zurücknahme  dieser  Genehmigung  gel- 
ten, sofern  es  sich  um  Personen  über  14 
Jahre  handelt,  ähnliche  Grundsätze  wie  für 
Erteilung  imd  Zurücknahme  des  Wander- 
gewerbescheines. Kinder  unter  14  Jahren 
dürfen  für  gewerbliche  Zwecke  nicht  mit- 
geführt werden.  Auch  sonst  kann  die  Mit- 
lührung  derselben,  ebenso  wie  die  Mit- 
fühnmg  von  Personen  anderen  Geschlechtes, 
nach  Ermessen  der  Behörden  versagt  werden 
mit  Ausnahme  von  Ehegatten,  Kindern  und 
Enkeln.  Die  Mitführung  von  schulpflichtigen 
Kindern  darf  nicht  gestattet  werden,  wenn 
für  deren  Unterricht  nicht  genügend  gesorgt 
ist  (G.O.  §  62). 

Ftlr  einzelne  Thätigkeiten,  welche  den 
Charakter  des  Gewerbebetriebes  im  Umher- 
ziehen haben,  ist  ausnahmsweise  ein 
Wandergewerbeschein  nicht  er- 
forderlich. Diese  Thätigkeiten  sind:  1. 
Das  Feilbieten  von  selbstgewonnenen   oder 


432 


Gewerbegesetzgebuiig  (Deutschlaad) 


rohen  Erzeugnissen  der  Land-  und  Foret- 
wirtschaft,  des  Garten-  und  Obstbaues,  der 
Geflügel-  und  Bienenzucht,  von  selbstge- 
wonnenen Erzeugnissen  der  Jagd-  und 
Fischerei ;  2.  das  Feilbieten  selbstverfertigter 
Waren,  welche  zu  den  Gegenständen  des 
Wochenmarktverkehres  gehören,  und  das 
Anbieten  gewerblicher  Leistungen,  liinsicht- 
lich  deren  dies  Landesgebrauch  ist,  in  der 
Umgegend  des  Wohnortes  des  Gewerbe- 
treibenden bis  zu  15  km  Entfernung;  3. 
das  Anfahren  selbstgewonnener  Erzeugnisse 
oder  selbstverfertigter  Waren,  hinsichtlich 
deren  dies  Landesgebrauch  ist,  zu  Wasser 
und  das  Feilbieten  vom  Falirzeuge  aus.  Die 
Ausübung  dieser  Gewerbebetriebe  kann 
jedoch  denjenigen  Personen,  denen  der 
Wandergewerbeschein  verweigert  werden 
muss,  und  Kindern  unter  14  Jahren  unter- 
sagt werden.  Die  Landesregierungen  sind 
befugt,  den  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen 
mit  Gegenständen  des  gemeinen  Verbrauches 
ohne  Wandergewerbeschein  noch  in  weiterem 
Umfange  zu  gestatten.  Auch  die  Örtspolizei- 
beliörden  dürfen  bei  Festen,  Truppenzu- 
sammen  Ziehungen  oder  anderen  ausser- 
gewöhnlichen  Gelegenheiten  das  Feilbieten 
gewisser  von  ihnen  näher  zu  bestimmender 
Waren  erlauben  (G.O.  §§  59,  59  a,  60  b: 
G.  V.  6.  August  1896  Art.  19). 

9.  Marktverkehr.  Märkte  sind  Versamm- 
lungen Gewerbetreibender  zum  Zwecke  des 
öffentlichen  Feilhaltens  von  Waren,  welche 
an  bestimmten  Orten  zu  gewissen  feststehen- 
den Zeiten  stattfinden.  Die  Beilentung  des 
Marktverkehres  liegt  darin,  dass  derselbe 
von  den  gewöhnlichen  Besclu'änkungen  des 
Gewerbebetriebes,  und  zwar  nicht  bloss  des 
Gewerbebetriebes  im  Umherziehen,  sondern 
auch  des  stehenden  Gewerbebetriebes  befreit 
ist.  Die  Gegenstände  des  Mai'ktverkehres 
sind  gesetzlich  festgestellt  (vgl,  den  Art. 
Märkte   und  Messen). 

10.  Gewerbliche  Taxen.  Die  Gewerbe- 
ordnung bestimmt,  dass  polizeiliche  Taxen 
—  abgesehen  von  einzelnen  gesetzlich  be- 
stimmten Ausnahmen  —  nicht  zulässig  sein 
sollen  (G.O.  §  72).  Dieser  Grundsatz,  der 
schon  in  der  preussischen  G.O.  v.  17.  Januar 
1845  zur  Durchfülirung  gelangt  war,  ist 
eine  Konsequenz  des  Piancips  der  Gewerbe- 
freiheit. In  Preussen  und  verschiedenen 
anderen  Staaten  war  allenlings  die  Ein- 
führung von  ßrottaxen  für  ennzelne  Orte 
vorbehalten  worden.  Aber  auch  diese  Mass- 
regel ist  durch  die  Gewerbeordnung  be- 
seitigt wortlen.  Dagegen  wurde  im  Anschluss 
an  die  frühere  preussische  Gesetzgebung 
den  Ortsi)olizeiV)ehörden  die  Befugnis  bei- 
gelegt, Bäcker  und  Verkäufer  von 
Backwaren  sowie  Gastwirte  anzu- 
halten, Verzeichnisse  ilirer  Preise  einzu- 
reichen imd  durch  Anschlag  an  oder  in  den 


Verkaufslokalen  bezw.  in  den  Gastzimmern 
bekannt  zu  machen.  Den  Bäckern  und  Yer- 
käufern  von  Backwaren  kann  ausserdem  die 
Verpflichtung'  auferlegt  werden,  im  Yer- 
kaufslokale  eine  Wage  mit  den  erforder- 
lichen geeichten  Gewichten  aufzustellen  und 
die  Benutzung  derselben  zum  Nachwiegen 
der  verkauften  Backwaren  zu  gestatten.  Die 
Festsetzungen  der  Bäcker  und  Verkäufer 
von  Backwaren  gelten  für  gewisse  von  der 
Behörde  zu  bestimmende  Zeiträume,  die 
Gastwirte  sind  jederzeit  zur  Aendeniug  be- 
fugt (G.O.  §  73—75).  Die  Einreichung  und 
Bekanntmachung  der  Preise  liat  um-  eine 
privatrechtliche  Wirkung.  Der  Gast  bezw. 
Käufer  der  Backwaren  braucht  keinen 
höheren  Preis  zu  zahlen,  als  in  dem  ange- 
schlagenen Verzeichnis  festgesetzt  ist,  wäh- 
rend der  Wirt  bezw.  Verkäufer  den  Preis 
ermässigen  kann  (G.O.  §  79).  Bei  Streitig- 
Keiten  zwischen  Wirten  und  Reisenden  über 
diese  Preise  steht  der  Ortspolizeibehönle 
eine  vorläufige  Entscheidung  vorbehaltlich 
des  Rechtsweges  zu  (G.O.  §  75).  Dagegen 
äussert  die  Ueberschreitung  der  in  dieser 
Weise  festgesetzten  Preise  keine  strafrecht- 
lichen Wirkungen,  denn  §  148  Nr.  8  der 
Gewerbeordnung  bedroht  nm*  die  von  der 
Obrigkeit  vorgescliriebenen  oder  genehmigten 
Taxen  mit  Strafe.  Hier  liegen  aber  gar 
keine  obrigkeitlichen  Taxen,  sondern  nur 
Preise  vor,  welche  \'X)n  dem  Gewerbe- 
treibenden festgesetzt  und  der  Obrigkeit 
angezeigt  sind. 

Eine  Festsetz  ung  behördlicher 
Taxen  ist  zulässig  für  Sti-assengewerbe  (vgl. 
d.  Art  Strassen  gewerb  e),  Schornstein- 
feger (vgl.  d.  Art.  Schornsteinfeger)  und 
für  die  von  Behörden  angestellten  Feldmesser, 
Auktionatoren  und  Personen,  welche  den 
Feingehalt  edler  Metalle  oder  die  Beschaffen- 
heit Menge  oder  richtige  Verpackung  von  Wa- 
ren feststellen  (vgl.  d.  Art.  Auktionatoren 
a.  a.  0.).  Diese  Taxen  haben  privatrechtliche 
und  strafrechtlicheBedeutung.  Die  privati^cht- 
liche  liegt  darin,  dass  sie  Älaximal-  und 
Normalsätze  für  die  von  den  fi-aglichen  Ge- 
werbetreibenden prästierten  Leistungen  ent- 
lialten.  Wer  diese  Leistungen  in  Anspruch 
nimmt,  braucht  niemals  mehi  als  die  Taxe 
zu  zahlen,  er  muss  aber  die  Taxe  zahlen, 
wenn  er  nicht  mit  seinem  Kontrahenten 
über  eine  Ermässigung  derselben  ausdrücklich 
übereingekommen  ist.  Die  Uebei-schreitung 
der  Taxe  ist  ausserdem  mit  Strafe  beilroht  (G.O. 
§§  76—79,  148  Nr.  8).  Endlich  bestehen  noch 
Taxen  für  Aerzte  und  Apotheker  (vgl.  die 
Artt.  Arzt,   Apotheken  a.  a.  0.). 

11.  Innmii^eD  und  Uandwerkskammem. 
Aus  dem  Princip  der  Gewerbefreiheit  ergab 
sich  von  selbst,  da»s  die  ausschliessliclieu 
Gewerbeberechtigungen  und  Verbietungs- 
rechte  der  Innungen,  soweit  sie  beim  Erlass 


Öewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


433 


der  Gewerbeordnung  überhaupt  noch  be- 
standen, aufzuhören  hatten.  Dagegen  war 
vöUiges  Einverständnis  darüber  vorhanden, 
dass  sowohl  die  vorhandenen  Innungen  fort- 
dauern sollten,  als  dass  den  Gewerbetrmben- 
den  die  Möglichkeit  zu  gewähren  sei,  zu 
neuen  Innungen  zusammenzutreten.  Es  ent- 
stand nur  die  Frage,  ob  die  Innungen  die 
Eigenschaft  reiner  Privatvereine  haben  oder 
ob  denselben  ein  gewisser  Öffentlicher  Cha- 
rakter beigelegt,  insbesondere  dafür  gesorgt 
werden  sollte,  dass  das  Vermögen  derselben 
unter  allen  umständen  den  gemeinnützigen 
gewerblichen  Zwecken  erhalten  bliebe.  Die 
Regierungsvorlage  des  Jahres  1869  hielt  im 
allgemeinen  den  letzteren  Standpunkt  fest, 
obwohl  sie  ein  besonders  lebhaftes  Interesse 
für  den  Fortbestand  der  Innungen  kaum 
erkennen  Hess.  Noch  weniger  Sinn  für  die- 
selben war  im  Eeichstage  vorhanden,  der 
an  den  Bestimmungen  der  Regierungsvor- 
lage noch  wesentliche  Abschwächungen  vor- 
nahm. Die  genauere  Formulierung  der  In- 
nungszwecke wurde  gestrichen,  die  in  Aus- 
sicht genommene  Beitreibung  der  Innungs- 
beiträge und  Innungsstrafen  im  Wege  der 
Yerwaltungsexekution  beseitigt  und  (fie  Ver- 
teilung des  Innungsvermögens  unter  die 
Mitglieder  im  Falle  der  Auflösung  wenigstens 
dann  gestattet,  wenn  dasselbe  aus  Beiträgen 
der  Innungsmit?lieder  entstanden  war.  So 
enthielt  die  G.O.  v.  21.  Juni  1869  nur  we- 
nige und  ziemlich  dürftige  Vorschriften  über 
die  Rechtsverhältnisse  der  Innungen. 

Erst  gegen  Ende  der  70  er  Jahre  gelangte 
man  wieder  zu  einer  richtigeren  Würdigung 
der  korporativen  Organisation  des  Hand- 
werkerstandes. Sehr  anregend  wirkten  na- 
mentlich die  Bestrebungen  des  damaligen 
Bürgermeisters  von  Osnabrück,  Dr.  Miquel, 
auf  Errichtung  von  Innungen  und  Innungs- 
ausschüssen. Sein  Statut  für  die  Osnabrücker 
Schuhmacherinnung  wTuxie  eine  Art  Normal- 
slatut  für  Innungen  überhaupt.  Ein  Erlass 
des  preussischen  Mandelsministers  vom  4.  Ja- 
nuar 1879  veranlasste  die  Behörden,  der 
Begründung  neuer  und  der  Reformierung 
bestehender  Innungen  eine  fördernde  Thätig- 
keit  zuzuwenden.  Auch  die  Reichsgesetz- 
gebuug  beschäftigte  sich  von  neuem  mit 
der  Handwerkerorganisation.  Das  Reichs- 
gesetz vom  18.  Jiüi  1881,  dessen  Bestim- 
mungen in  die  Redaktion  der  Gewerbe- 
ordnung vom  1.  Juli  1883  übergingen,  hob 
die  öffentlichen  und  gemeinnützigen  Auf- 
gaben der  Innungen  entschiedener  hervor, 
verstärkte  die  staatliche  Aufsicht  über  die- 
selben, legte  den  Innungen  bezw.  deren 
Mitgliedern  gewisse  Vorrechte  bei,  wielche 
dieselben  früher  nicht  besassen,  und  enthielt 
Bestimmungen  über  Innungsausschüsse  und 
Innungsverbände.  Sehr  viel  weiter  ging 
das  G.  V.  26.  Juli  1897,  welches  unter  ge- 

HandwÖrterbach  der  StaatswiBseiiBchafteiL   Zweite 


wissen  Voraussetzungen  die  zwangsweise 
Bildung  von  Innungen  gestattete  und  eine 
Vertretimg  des  Handwerkerstandes  in  Hand- 
werkskammern geschaffen  hat.  Durch  dieses 
Gesetz  ist  der  betreffende  Titel  der  Gewerbe- 
ordnung vollständig  neu  gestaltet  worden, 
so  dass  die  jetzt  massgebenden  Bestim- 
mungen ledighch  auf  diesem  Gesetze  be- 
ruhen. 

Die  selbständigen  Gewerbetreibenden  kön- 
nen zur  Förderung  der  gemeinsamen  ge- 
werblichen Interessen  zu  einer  Innung 
zusammentreten  (G.O.  §  81).  Die  Aufgaben 
der  Innungen  zeriEallen  in  obligatorische  und 
fakultative.  Obligatorische  Aufgaben  sind 
1.  die  Pflege  des  Gemeingeistes  sowie  die 
Aufrechterhaltung  und  Stärkung  der  Standes- 
ehre; 2.  die  Föiderung  eines  gedeihlichen 
Verhältnisses  zwischen  Meistern  und  Ge- 
sellen, sowie  die  Fürsorge  für  das  Herbei^- 
wesen  und  den  Arbeitsnachweis ;  3.  die  Re- 
gelung des  Lehrlingswesens  und  die  Für- 
sorge für  die  technische,  gewerbliche  und 
sittliche  Ausbildung  der  Lehrlinge;  4.  die 
Entscheidung  gewerblicher  Streitigkeiten 
zwischen  den  Innungsmitgliedern  und  ihren 
Lehrlingen.  Als  fakultative  Aufgaben 
werden  bezeichnet:  I.Herstellung  von  Ein- 
richtungen zur  Förderung  der  gewerblichen, 
technischen  und  sittlichen  Ausbildung  von 
Meistern,  Gesellen  und  Lehrlingen,  nament- 
lich Unterstützung,  Errichtung  und  Leitung 
von  Schulen ;  2.  Veranstaltimg  von  Gesellen- 
und  Meisterprüfungen;  3.  Errichtimg  von 
Kranken-,  Sterbe-,  Invaliditäts-  und  sonstigen 
Unterstützungskassen;  4.  Errichtung  von 
Schiedsgerichten  ziu»  Entscheidung  gewerb- 
licher Streitigkeiten  zwischen  Innungsmit- 
gliedern und  deren  Gesellen;  5.  Errichtung 
gemeinschaftlicher  Geschäftsbetriebe  zur 
Förderung  des  Gewerbebetriebes  der  In- 
nungsmilglieder  (§  81a,  b). 

Nach  der  früheren  Gesetzgebung  besassen 
die  höheren  Verwaltungsbehörden  die  Be- 
fugnis, den  Innungen  besondere  Vor- 
rechte zu  verleihen,  namentlich  die  Wirk- 
samkeit derselben  in  Bezug  auf  Lehrlings- 
wesen und  Lehrlingsstreitigkeiten  über  den 
Kreis  ihrer  Mitglieder  hinaus  zu  erstrecken, 
die  Ausbildung  von  Lehrlingen  den  In- 
nungsmitgliedem  ausschliesslich  vorzubehal- 
ten und  die  Heranziehung  von  Nichtmit- 
gliedern  zu  den  Ausgaben  der  Innungen 
für  Herbergswesen  und  Fachschulen  zu  ge- 
statten. Diese  Befugnis  ist  durch  das  G.  v. 
26.  Juli  1897  in  Wegfall  gekommen.  Man 
ging  bei  Erlass  desselben  von  der  Voraus- 
setzung aus,  dass  bei  Innungen,  die  geeignet 
seien,  mit  derartigen  Rechten  ausgestattet 
zu  werden,  auch  die  Bedingimgen  für  Er- 
richtung einer  Zwangsinnung  vorliegen,  bei 
der  Bildung  einer  solchen  aber  für  Vor- 
rechte kein  Raum   vorhanden  sein  würde, 

Annage.    IV.  28 


434 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


da  sämtKche  Berufegenossen  der  Innung 
angehören  müssten.  Die  bisher  verliehenen 
Pnvilegien  kommen  6  Monate  nach  dem 
Inkrafttreten  der  betreffenden  Bestimmungen 
des  Gesetzes,  dessen  Zeitpunkt  durch  eine 
kaiserliche  mit  Zustimmung  des  Bundes- 
rates zu  erlassende  Verordnung  bestimmt 
wird,  in  Wegfall  (Art.  6). 

Den  Innungen  ist  die  Pflicht  auferlegt, 
einen  Gesellenausschuss  zu  bilden. 
Derselbe  geht  aus  Wahlen  der  bei  den  In- 
nungsmitgliedem  beschäftigten  Gesellen  her- 
vor und  ist  bei  der  Regelung  des  Lehrlings- 
wesens, der  Gesellenprüfung,  sowie  bei  allen 
Einrichtimgen  zu  beteiligen,  welche  zur 
Unterstützung  der  Gesellen  bestimmt  sind, 
oder  für  welche  diese  Beiträge  entrichten 
bezw.  eine  besondere  Mühewaltung  über- 
nehmen (§§  95,  96). 

Zwangsinnungen  können  durch  Be- 
schluss  der  höheren  Verwaltungsbehörde 
unter  folgenden  Voraussetzungen  errichtet 
werden:  1.  Die  Errichtung  muss  von  den 
Beteiligten  beantragt  werden  und  zwar  ent- 
weder von  einer  bestehenden  Innung  oder 
von  Handwerkern,  welche  zu  einer  neuen 
Innung  zusammentreten  wollen.  Der  An- 
trag kann  ohne  weiteres  abgelehnt  werden: 
wenn:  a)  entweder  die  Antragsteller  einen 
verhältnismässig  nur  kleinen  Bruchteil  der 
beteiligten  Handwerker  bilden;  b)  oder  ein 
gleicher  Antrag  innerhalb  der  drei  letzten 
Jahre  von  der  Mehrheit  der  Beteiligten  ver- 
worfen ist;  c)  oder  durch  andere  Einrich- 
tungen für  die  Wahrnehmung  der  gemein- 
samen gewerblichen  Interessen  der  betei- 
ligten Handwerker  ausreichend  Fürsorge  ge- 
troffen ist.  2.  Die  Mehrheit  der  Beteihgten 
muss  der  Einführung  des  Beitrittszwanges 
zustimmen.  Um  festzustellen,  ob  dies  der 
Fall  ist,  hat  die  höhere  Verwaltimgsbehönle 
eine  Abstimmung  zu  veranstalten,  bei  welcher 
die  Mehrheit  derjenigen,  welche  an  derselben 
teilnehmen,  die  Entscheidung  giebt.  3.  Der 
Bezirk  der  Innung  muss  so  abgegrenzt  sein, 
dass  kein  Mitglied  durch  die  Entfernung 
seines  Wohnortes  vom  Sitze  der  Innung  be- 
hindert wird,  am  Genossenschaftsleben  teil- 
zunehmen und  die  Innungseinrichtungen  zu 
benutzen.  4.  Die  Zahl  der  im  Bezirk  vor- 
handenen Handwerker  muss  ziu*  Bildung 
einer  leistungsfähigen  Innung  ausreichen. 
Die  Zwangsinnungen  können  nur  für  g  1  e  i  c  h  e 
und  verwandte  Handwerke  gebildet  wer- 
den. Als  verwandte  Handwerke  sind  solche 
anzusehen,  welche  nach  örtlichem  Brauche 
wlfach  gemeinsam  betrieben  werden  und 
in  ihrer  Technik  einander  so  nahe  stehen, 
dass  der  Betrieb  des  einen  zugleich  ein 
ausreichendes Veretändnis  für  die  technischen 
Fertigkeiten,  den  geschäftlichen  Betrieb  und 
die  Interessen  des  anderen  gewährleistet. 
Auf  Antrag  kann   die  Bildung  der  Innung 


auf  solche  Gewerbetreibende  beschrSakt 
werden,  welche  in  der  Hegel  Gesellen  oder 
Lehrlinge  halten  (Art  1  §§  100— 100b). 

Die  Aufgaben  der  Zwangsinnungen 
entsprechen  denen  der  freien  Innungen.  Nur 
gemeinsame  Geschäftsbetriebe  dürfen  die 
2wangsinnungen  nicht  errichten.  Ebenso 
können  sie  ihre  Mitglieder  zur  Teilnahme 
an  Unterstützungskassen  nur  insoweit  ver- 
pflichten, als  letztere  den  Charakter  von 
Krankenkassen  haben,  welche  den  Vor- 
schriften des  Erankenversicherungsgesetzes 
entsprechen  (§  100  n).  Den  Innungen  ist 
ausdrücklich  untersagt,  ihre  Mitglieder  in 
der  Festsetzung  der  Preise  ihrer  Waren  oder 
in  der  Annahme  von  Kunden  zu  beschränken 
(§  100  (j).  Der  Charakter  der  Innung  sJs 
Zwangsinnung  darf  von  der  höheren  Ver- 
waltungsbehörde wieder  aufgehoben  werden, 
wenn  ^/4  der  Innungsmitglieder  zustimmen 
(§  100  t). 

Für  diejenigen  Innungen,  welche  der- 
selben Aufsichtsbehörde  unterstehen,  kann 
ein  Innungsausschuss  gebildet  werden, 
welchem  die  Vertretung  der  gemeinsamen 
Interessen  der  beteiligten  Innungen  obliegt 
(§§  101,  102). 

Zur  Vertretung  der  Interessen  des  Hand- 
werks in  grösseren  Bezirken  sind  durch 
Verfügung  der  Landescentralbehörde  Hand- 
werkskammern zu  errichten.  Die  Mit- 
glieder derselben  werden  gewählt:  1.  von 
den  Handwerkerinnungen,  sowohl  den  fiakul- 
tativen  als  den  Zwangsinnungen,  aus  der 
Zahl  der  Innungsmitglieder;  2.  von  denje- 
nigen Gewerbevereinen  und  sonstigen  Ver- 
einigimgen,  welche  die  Förderung  der  ge- 
werblichen Interessen  des  Handwerks  veiv 
folgen  und  mindestens  zur  Hälfte  aus  Hand- 
werkern bestehen,  wobei  jedoch  nur  die- 
jenigen ihrer  Mitglieder,  welche  ein  Hand- 
werk betreiben,  wahlberechtigt  und  wählbar 
sind  (108,  103  b).  Der  Handwerkskanuner 
liegt  ob:  1.  die  nähere  Regelung  des  Iielu^ 
lingswesens;  2.  die  üeberwachung  der  da- 
rauf bezüglichen  Vorschriften ;  3.  die  Unter- 
stützung der  Staats-  und  Gemeindebehörden 
durch  thatsächliche  Mitteilungen  und  Er- 
stattimg von  Gutachten  in  Angelegenheiten 
des  Handwerks;  4.  Formulierung  von  Wün- 
schen und  Anti*ägen  sowie  Ei*stattung  von 
Jahresberichten  gegenüber  den  Behörden; 
5.  Bildung  von  Prüfungsausschüssen  für  die 
GeseUenprüf  tmg ;  6.  Bildung  von  Ausschüssen 
zur  Entscheidung  über  Beanstandungen  von 
Beschlüssen  der  Prüfungsausschüsse  für  die 
Gesellenprüfung.  Die  Handwerkskammern 
sind  ferner  befugt,  Veranstaltungen  zur  Aus- 
bildung von  Meistern,  Gesellen  und  Lehr- 
lingen zu  treffen,  Fachschulen  zu  errichten 
tmd  zu  unterstützen.  Sie  sollen  in  allen 
wichtigen,  die  Interessen  des  Handwerks 
betreffenden  Angelegenheiten  gehört  werden 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


435 


(§  103  e).  Bei  jeder  Handwerkskammer  ist 
von  der  Aufsichtsbehörde  ein  Kommissar 
zur  üeberwachung  derselben  zu  bestellen 
(§  103  h)  und  ein  Gesellenausschuss  zu  bil- 
den. Letzterer  wird  von  den  Gesellenaus- 
schüssen der  Innungen  und  nach  Anordnung 
der  CentraJbehorde  auch  von  solchen  Ge- 
sellen gewählt,  welche  bei  den  wahlberech- 
tigten Mitgliedern  der  Gewerbevereine  und 
sonstigen  Vereinigungen  beschäftigt  sind. 
Er  hat  mitzuwirken:  1.  beim  Erlass  von 
Vorscliriften  über  das  Lehi'lingswesen ;  2. 
bei  Abgabe  von  Gutachten  und  Erstattimg 
von  Berichten,  welche  die  Yerhältnisse  der 
Gesellen  und  Lehrlinge  berühren;  3.  bei 
Entscheidung  über  Beanstandungen  von  Be- 
schlüssen der  Prüfungsausschüsse  für  die 
Gesellenprüfung  (§§  103  i,  103  k). 

Innungen,  welche  nicht  derselben  Auf- 
sichtsbehörde unterstehen,  können  sich  zu 
In nungs verbänden  vereinigen.  Diese 
haben  die  Aufgabe,  die  gemeinsamen  Inte- 
ressen der  in  ihnen  vertretenen  Gewerbe 
zu  fördern.  Durch  Besclüuss  des  Bundes- 
rates können  ihnen  Korporationsrechte  bei- 
gelegt werden  (§  104  ff.). 

Den  Vorschnften  über  Innungen  und 
Handwerkskammern  gehen  in  dem  G.  v.  26. 
Juli  1897  parallel  Bestimmungen  über  das 
Halten  von  Lehrlingen  und  die  Führung  des 
Meistertitels. 

Die  Befugnis,  Lehrlinge  auszubil- 
den, steht  nur  solchen  Personen  zu,  welche 
1.  das  24.  Lebensjahr  vollendet  und  2.  in 
dem  betreffenden  Gewerbe  a)  entweder  die 
von  der  Handwerkskammer  vorgeschriebene, 
eventuell  eine  mindestens  dreijährige  Lehr- 
zeit zurückgelegt  und  die  Gesellenprüfung 
bestanden,  b)  oder  fünf  Jahre  hindurch  per- 
sönlich das  Handwerk  ausgeübt  haben  bezw, 
als  AVerkmeister  oder  in  ähnlicher  Stellung 
thätig  gewesen  sind.  Die  höhere  Verwal- 
tungsbehörde kann  aber  auch  Personen, 
welche  diesen  Anfordenmgen  nicht  ent- 
sprechen, die  Befugnis  zur  Anleitung  von 
Lehrlingen  verleihen  (§  129). 

Den  Meistertitel  dürfen  künftig  Hand- 
werker nur  führen,  wenn  sie  in  ihrem  Hand- 
werk die  Befugnis  zur  Anleitung  von  Lehr- 
lingen erworben  und  die  Meisterprüfung  be- 
standen haben.  Zu  letzterer  sind  sie  in  der 
Regel  nur  zuzulassen,  wenn  sie  di^i  Jahre 
als  Geselle  in  ihrem  Gewerbe  thätig  ge- 
wesen sind.  Die  Abnahme  der  Prüfung  er- 
folgt diuxjh  Prüfungskommissionen,  welche 
aus  einem  Vorsitzenden  und  vier  Beisitzern 
bestehen  und  durch  die  höhere  Verwaltungs- 
behörde nach  Anhörung  der  Handwerks- 
kammer errichtet  werden.  Die  Prüfung  hat 
den  Nachweis  der  Befähigung  zur  Aus- 
übung und  Kostenberechnung  aer  gewöhn- 
lichen Arbeiten  des  Gewerbes  sowie  der 
zum  selbständigen  Betriebe  desselben  sonst 


notwendigen  Kenntnisse,  insbesondere  auch 
in  der  Buch-  und  Rechnungsführung  zu  er- 
bringen (§  133). 

(Für  die  genauere  Darstellung  der  liier 
behandelten  Fragen  ist  auf  die  Artikel 
Innungen  und  Lehrlingswesen  zu 
verweisen). 

Das  G.  V.  26.  Juli  1897  enthält  eine 
Reihe  von  Bestimmungen,  welche  man  un- 
bedenklich als  eine  Verbesserung  der  be- 
stehenden Zustände  bezeichnen  kann.  Zu 
diesen  gehören  die  Vorschriften  über  die 
Handwerkskammern  und  über  das 
Lehrlingswesen.  Der  Handwerkerstand 
entbehrte  bisher  gänzlich  einer  geordneten 
Vertretung  seiner  Interessen.  Er  konnte 
mit  Fug  und  Recht  beanspruchen,  dass  ihm 
eine  solche  ebenso  gut  eingeräumt  werde, 
wie  Handel  und  Grossindustrie  sie  besitzen. 
Aber  auch  für  die  Organe  der  Gesetzgebung 
und  Verwaltung  ist  es  von  Vorteil,  bei  der 
Beratung  und  Feststellung  von  Gesetzent- 
würfen und  Verwaltungsmassregeln  sich 
eines  sachverständigen  Beirates  bedienen  zu 
können.  Endlich  erscheint  die  Handwerks- 
kammer in  hohem  Masse  dazu  geeignet^  die 
gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Ver- 
hältnisse des  Handwerks  da,  wo  es  erforder- 
lich ist,  durch  Einzelvorschriften  zu  ergänzen. 

Auch  die  Regelung  des  Lehrlings- 
wesens, wie  sie  in  dem  Gesetze  vorge- 
sehen ist,  kann  im  allgemeinen  durchaus 
befriedigen.  Eine  Verschärfung  der  für  das- 
selbe massgebenden  Gnmdsätze  war  ein 
dringendes  Bedürfnis.  Die  Klagen,  welche 
innerhalb  des  Gewerbestandes  seit  vielen 
Jahren  über  die  mangelhafte  Ausbildung  der 
Lehrlinge  laut  geworden  sind,  erscheinen, 
wenn  dabei  auch  einzelne  Uebertreibungen 
mit  unterlaufen,  doch  im  wesentlichen  als 
.berechtigt.  Es  war  daher  durchaus  ange- 
messen, diejenigen  Personen,  welche  als  zur 
Ausbildung  der  Lehrlinge  ungeeignet  zu  er- 
achten sind,  von  der  Befugnis,  solche  anzu- 
leiten, auszuschliessen  und  die  Pflichten  der 
Lehrherren  gegenüber  den  Lehrlingen  ge- 
nauer zu  formulieren.  Namentlich  für  die 
künftige  Entwickelung  des  Handwerkerstan- 
des ist  die  sorgfältige  Ausbildung  der  Lehr- 
linge von  grosser  Wichtigkeit.  Nur  hervor- 
ragende individuelle  Leistungen  können  den 
Handwerkerstand  lebensfähig  erhalten  und 
ihm  die  Möglichkeit  geben,  sich  im  Kampfe 
mit  der  Grossindustrie  zu  behaupten.  Aus 
diesen  Gründen  ist  eine  möglichst  umfas- 
sende Einführung  von  Gesellenprüfungen, 
wie  sie  das  Gesetz  anstrebt,  durchaus  zu 
bilHgen.  Es  erscheint  auch  angemessen, 
dass  regelmässig  nur  diejenigen  sich  mit 
der  Anleitung  von  Lehrlingen  befassen  soUen, 
welche  selbst  eine  ordnung'smässige  Lehrzeit 
durchgemacht  und  die  Gesellenprüfung  be- 
standen haben.    Die  Härte,  welche  in  dieser 

28* 


436 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


Bestimmung  für  einzelne  Personen  liegen 
könnte,  ist  dadurch  ausgeglichen,  dass  die 
angegebenen  Erfordernisse  auch  durch  die 
selbständige  Ausübung  des  Handwerks  bezw. 
die  Thätigkeit  als  Werkmeister  oder  in  ähn- 
licher Stellung  während  eines  Zeitraumes 
von  fiinf  Jahren  ersetzt  werden  und  dass 
in  geeigneten  Fällen  die  Behörde  solchen 
Personen,  welche  den  vorgeschriebenen  Er- 
fordernissen nicht  entsprechen,  die  Befugnis 
zur  Anleitung  von  Lehrlingen  trotzdem  ver- 
leihen kann. 

Nicht  so  günstig  wie  das  urteil  über 
diese  Teile  des  Gresetzes  kann  daß  über  die 
übrigen  Partieen  desselben  lauten.  Aller- 
dings enthält  dasselbe  gegenüber  dem 
preussischen  Entwürfe  erhebliche 
Verbesserungen.  Diese  bestehen  na- 
mentlich darin,  dass,  von  der  allgemeinen 
Einführung  der  Zwangsinnungen  abgesehen, 
neben  den  Innungen  auch  den  Gewerbe- 
vereinen und  anderen  die  Förderung  des 
Handwerks  bezweckenden  Vereinigimgen 
eine  entsprechende  Stellung  eingeräumt  und 
die  überflüssige  Zwischeninstanz  des  Hand- 
werksausschusses in  Wegfall  gebracht  ist. 
Mit  vollem  ßecht  wird  in  der  Begründung 
zur  Bundesratsvorlage  darauf  hingewiesen, 
dass  in  einem  grossen  Teile  des  Reiches 
das  Material  für  die  Bildung  lebensfähiger 
Innungen  bei  den  meisten  Gewerben  gar 
nicht  vorhanden  sein  und  dass  die  Errich- 
tung gemischter  Innungen  sich  deshalb  nicht 
empfehlen  würde,  w^eil  diese  für  die  Er- 
füllung der  Hauptaufgaben  der  Innungen 
wenig  geeignet  sind. 

Aber  die  Konsequenz,  welche  aus  diesen 
Ausführungen  eigentlich  hätte  gezogen  wer- 
den sollen,  die  völlige  Aufgabe  der 
Zwangsinnung,  ist  nicht  eingetreten. 
Man  hat  dieselbe  trotz  der  vorerwähnten 
Erwtoingen  beibehalten,  wenn  auch  nur  in 
der  Form  der  sogenannten  fakultativen 
Zwan^sinnungen,  welche  kraft  eines 
Mehrheitsbeschlusses  der  beteiligten  Hand- 
werker und  einer  Anordnung  der  höheren 
Verwaltungsbehörde  errichtet  werden  können. 
Dieses  Zwittergebüde  wäre  meines  Erachtens 
durchaus  entbehrlich  gewesen.  Die  Ver- 
tretung des  Handwerkerstandes  in  Hand- 
werkskammern hätte  auch  ohne  die  Zwangs- 
innungen hergestellt  werden  können,  indem 
man  das  Wahlrecht  teils  auf  freie  Innungen, 
Gewerbevereine  und  ähnliche  Organisationen 
basiert,  ausserdem  aber  auch  den  nicht 
korporierten  Handwerkern  ein  solches  ein- 
geräumt hätte.  Dass  letzteres  nicht  ge- 
schehen ist,  muss  überhaupt  bedauert  wer- 
den. Denn  bei  der  jetzigen  Organisation 
wird  in  den  Handwerkskammern  doch  immer 
nur  ein  Teil  des  Handwerkerstandes  ver- 
treten sein.  Das  Femhalten  eines  Hand- 
werkers   vom    genossenschaftlichen    Leben 


braucht  nicht  immer  in  Trägheit  und  Gleich- 
gUtigkeit  seinen  Grund  zu  haben,  sondern 
kann  auch  durch  wohlberechtigteErwägungen, 
z.  B.  durch  den  Geist  und  die  Tendenzen, 
welche  in  der  bestehenden  Organisation  die 
Oberherrschaft  haben,  motiviert  sein.  Ebenso 
wäre  die  Durchführung  der  Lehrlings- 
prüfungen ohne  Zwangsinnung  möglich  ge- 
wesen, wenn  man  dieselben  teüs  den  freien 
Innungen,  teils  den  von  der  Handwerks- 
kammer gebildeten  Prüfungsausschüssen 
übertragen  hätte.  Auf  manchen  anderen 
Gebieten  aber  wird  die  Zwangsinnung  so- 
gar erheblich  weniger  als  die  freie  Innung 
leisten,  da  sie  weder  gemeinsame  Geschäfts- 
betriebe errichten  noch  auch  ausserhalb  des 
Gebietes  der  reichsgesetzlichen  Krankenver- 
sicherung ünterstützungskassen  mit  obli- 
gatorischem Beitritt  begründen  kann. 

Die  Zwangsinnung  erscheint  daher  wenig 
geeignet,  ihre  Mitglieder  wirtschaftlich  zu 
imterstützen  und  zu  fördern.  Diejenigen 
Personen,  welche  gegen  ihren  Willen  durch 
Mehrheitsbeschluss  in  dieselbe  hineinge- 
zwängt werden,  stehen  ihr  naturgemäss  von 
vornherein  abgeneigt  gegenüber.  Sie  sind 
auch  für  die  Innung  schwerlich  ein  grosser 
Gewinn.  Aber  auch  diejenigen,  welche  die 
Zwangsinnung  ursprünglich  erstrebt  haben, 
werden  vielfach  enttäuscht  sein,  wenn  sie 
erkennen,  wie  wenige  wirtschaftliche  Vor- 
teile ihnen  dieselbe  gewährt. 

Die  Erfordernisse,  welche  das  Gesetz 
für  die  Bildung  von  Zwangsinnungen  auf- 
stellt, sind  ziemlich  streng.  Wenn  die  Be- 
hörden —  wie  es  zu  wünschen  ist  —  sich 
bei  Zulassimg  derselben  genau  an  diese  Vor- 
schriften halten,  so  ist  das  Resultat  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  das,  dass  in  den 
meisten  Gegenden  nur  wenige  zahlreich  ver- 
tretene Gewerbe  zu  Zwangsinnungen  zu- 
sammengefasst  werden.  Auch  wird  sich 
vermutlich  eine  territoriale  Verschiedenheit 
entwickeln.  Im  Norden  und  Osten  Deutsch- 
lands kommt  es  vermutlich  in  weit  höherem 
Masse  zu  der  Errichtung  von  Zwangs- 
innungen als  im  Westen,  Süden  und  auch 
wohl  in  Mitteldeutschland,  da  sich  der 
Handwerkerstand  in  diesen  Gegenden  gegen- 
über den  zünftlerischen  Bestrebungen  über- 
wiegend ablehnend  verhält.  Eüne  derartige 
Verschiedenheit  der  gewerblichen  Organi- 
sation in  dem  einheitlichen  Wirtsclmfte- 
gebiete  des  Deutschen  Reiches  ist  aber  ge- 
\^n8s  keine  eiireiüiche  Erscheinung. 

12.  Gewerbliche  Arbeiter.  Die  Ge- 
werbeordnung erklärt  die  Festsetzung  der 
zwischen  den  selbständigen  Gewerbetreiben- 
den und  den  gewerblichen  Arbeitern  be- 
stehenden VerhÖtnisse  für  einen  Gegenstand 
freier  Uebereinkimft,  soweit  nicht  reichs- 
gesetzliche Beschränkungen  bestehen  (G.O. 
§  105).  In  der  Gewerbeoriänung  selbst  finden 


Gewerbegesetzgebung  (DeutscMand) 


437 


sich  zahlreiche  Yorschriften  über  das  Ar- 
beitsverhältnis, welche  teils  einen  privat- 
rechtlichen, teils  einen  Öffentlichrechtlichen 
Charakter  liaben.  Namentlich  ist  auch  der 
sogenannte  Arbeiterschutz  daselbst  eingehend 

feregelt.  Eine  Erörterung  der  betreffenden 
ragen  fällt  ausserhalb  des  Rahmens  des 
gegenwärtigen  Artikels,  da  dieselben  in 
zahlreichen  Specialartikeln  eine  eingehende 
Behandlung  finden  (vgl.  die  Artt.  Arbeit, 
Arbeiter  oben  Bd.  1  S.  446 ff.,  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung, ebenda  S.  470ff., 
Arbeitsvertrag,  ebenda  S.  979  ff.,  Ar- 
beitsvertragsbruch, ebenda  S.  993  ff., 
Frauenarbeit,  Bd.  ms.  1195  ff.,  Jugend- 
liche Arbeiter,  Kinderarbeit,  Lehr- 
lingswesen). 

13.  Gewerbliche  Hilfskassen.  Die 
preussische  Q.O.  v.  17.  Januar  1845  sowie 
spätere  preussische  Gesetze  hatten  den  Ge- 
meinden und  höheren  Verwaltungsbehörden 
die  Befugnis  beigelegt,  sowohl  die  selb- 
ständigen Gewerbetreibenden  als  das  ge- 
werbliche Hilfspersonal  im  weitesten  Um- 
fange zur  Bildung  von  Hilfskassen  und  zum 
Eintritt  in  dieselben  zwangsweise  anzuhalten. 
Die  G.O.  V.  21.  Juni  1869  beseitigte  die  auf 
diese  Weise  begründeten  Verpflichtungen 
für  die  selbständigen  Gewerbetreibenden. 
Dagegen  hielt  sie  in  Bezug  auf  die  gewerb- 
Hchen  Hilfskassen  der  Gesellen,  Gehilfen 
und  Fabrikarbeiter  zunächst  die  Landes- 
gesetze aufrecht,  eine  spätere  reichsgesetz- 
liche Regelung  des  Gegenstandes  wurde 
vorbehalten.  Durch  das  R.G.  v.  7.  April 
1876  wurden  eingehende  Bestimmungen  über 
Hüfekassen  erlassen.  Im  Anschluss  an  dieses 
Gesetz  wurde  durch  eine  Abänderung  der 
G.O.  V.  8.  April  1876  den  Gemeinden  imd 
grösseren  EommunaJverbänden  die  Befugnis 
beigelegt,  die  Bildung  derartiger  Kassen  für 
Gesellen,  Gehilfen  und  Fabrikarbeiter  durch 
statutarische  Anordnung  obligatorisch  zu 
machen.  Infolge  der  neueren  Arbeiterver- 
sicherung, insbesondere  durch  das  Kranken- 
versicherungsgesetz hat  diese  Bestimmung 
ihre  Bedeutung  verloren  (vgl.  den  Art.  Ar- 
beiterversicherung oben  Bd.  IS.  607  ff.). 

III.  Bestrebungen  auf  Abändemng.  der 

G.O. 

Dem  gegenwärtigen  Reichstage  ist  ein 
Gesetzentwurf,  betreffend  die  Abänderung 
der  Gewerbeordnung,  vorgelegt  worden 
.(Drucksachen  Nr.  165,  Sten.  Ber.  Anlagen 
ö.  1231  ff.),  welcher  die  verschiedensten 
Gegenstände  betrifft.  Ein  Teil  derselben 
bezieht  sich  auf  gewerbliche  Anlagen. 
Dem  Gewerbetreibenden,  welcher  lun  Kon- 
zessionierung einer  gewerblichen  Anlage 
nachgesucht  hat,  soll  künftighin  auf  seinen 
Antrag  in  dem  Konzessionsbescheide  die 
unverzügliche  Ausführung  der  baulichen  An- 


lagen auch  vor  Ablauf  des  Rekursverfahrens 
gestattet  werden  können,  die  Behörde  ist 
aber  befugt,  dem  betreffenden  Gewerbe- 
treibenden eine  Sicherheitsstellung  aufzuer- 
legen und  die  Gestattung  von  der  Leistung 
der  Sicherheit  abhängig  zu  machen  (Art.  1 
Nr.  I).  Der  Zweck  der  Vorschrift  ist,  solche 
Verzögerungen  der  Genehmigung  zu  ver- 
hüten, durch  welche  die  Interessen  des 
Unternehmers  wesentlich  beeinträchtigt  wer- 
den können.  Den  Sachverständigen, 
welche  bei  Konzessionierung  von  Gewerbe- 
anlagen zugezogen  werden  können,  wird  die 
Pflicht  der  Verschwiegenheit  hinsichtlich 
der  zu  ihrer  Kenntnis  gelangten  Betriebs- 
einrichtungen imd  Betriebsweisen  auferlegt 
(Art.  1  Nr.  H).  Diese  Bestimmungen  sind 
durchaus  sachgemäss  und  werden  im  Reichs- 
tage kaum  eine  Beanstandung  finden.  Das- 
selbe gilt  von  einer  Vorschrift,  welche  sich 
auf  die  Zulassung  von  konzessionspflichtigen 
gewerblichen  Anlagen  in  einzelnen  Orts- 
teilen bezieht.  Nach  der  bisherigen  Gesetz- 
gebung konnten  solche  Anlagen  mw  durch 
Ortsstatut  ausgeschlossen  werden.  Die 
in  Aussicht  genommene  Fassung  spricht 
aus,  dassalle  landesrechtlichen  Vor- 
schriften, nach  welchen  bestimmte  An- 
lagen in  einzelnen  Ortsteilen  gar  nicht  oder 
nur  unter  Beschränkungen  zugelassen  sind, 
auf  die  konzessionspflichtigen  Anlagen  An- 
wendung finden  (Art.  2  Nr.  H).  Endlich 
ist  noch  eine  auf  Privatschlächtereien 
bezügliche  Anordnung  zu  erwähnen.  Solche 
konnten  bisher  nur  in  solchen  Orten  unter- 
sagt werden,  in  welchen  öffentliche  Schlacht- 
häuser in  genügendem  Umfange  vorhanden 
waren.  Ob  ein  Verbot  dieser  Art  auch  zu 
Gunsten  öffentlicher  Schlachthäuser,  die  sich 
in  einer  Nachbargemeinde  befanden,  erlassen 
werden  konnte,  war  streitig.  Die  in  dem 
Entwürfe  vorgeschlagene  neue  Fassung  wül 
ein  derartiges  Verbot  zulassen;  Äivat- 
schlächtereien  sollen  in  solchen  Gemeinden 
untersagt  werden  können,  für  welche 
öffentliche  Schlachthäuser  in  genügendem 
Umfange  bestehen  oder  errichtet  werden 
(Art.  2  Nr.  I).  Das  Bestreben,  die  Schlach- 
tungen möglichst  in  öffentlichen  Schlacht- 
häusern zu  koncentrieren,  ist  durchaus  an- 
zuerkennen ;  es  kann  aber  doch  zu  UnbiUiff' 
keiten  führen,  die  Schlächter  einer  Gemeinde 
zu  zwingen,  dass  sie  die  Schlachtungen  in 
einer  Nachbargemeinde  vornehmen.  Die 
Bestimmung  hat  daher  schon  bei  der  ersten 
Beratung  des  Gesetzentwurfs  im  Reichstage 
zu  Beanstandungen  geführt  jand  wird  auch 
bei  den  weiteren  Verhandlungen  zweifellos 
noch  den  Gegenstand  eingehenderer  Er- 
örterungen bilden. 

Ausser  mit  gewerblichen  Anlagen  be- 
schäftigt sich  der  Gesetzentwiu'f  namentlich 
noch     mit     Gesindevermietern     und 


438 


Grewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


Stellenvermittlern.  Deren  Gewerbe- 
betrieb, welcher  bisher  lediglich  einem  poli- 
zeilichen Yerbietungsrechte  unterlag,  soll 
künftig  unter  Konzessionspflicht  gestellt  wer- 
den, lieber  den  Geschäftsbetrieb  der  genannten 
Personen  sollen  durch  Landesgesetze  und  Ver- 
ordnungen beschränkende  Bestimmungen  er- 
lassen werden  dürfen.  Den  Gesindevermietern 
und  Stellenvermittlern  wird  endlich  die  Ver- 
pflichtung auferlegt,  die  für  ihre  gewerblichen 
Leistungen  aufgestelltenTaxen  derOrtspolizei- 
behörde  einzureichen  und  in  ihren  Geschäfts- 
räumen anzuschlagen  (Art.  3).  Diese  Vor- 
schriften werden  mit  Missständen  motiviert, 
welche  sich  in  dem  Gewerbe  der  Gesinde- 
vermieter und  SteUenvermittler  ausgebildet 
haben.  Diese  Missstände  sind  auch  unleug- 
bar, und  eine  Abstellung  derselben  ist  drin- 
gend zu  wünschen.  Andererseits  darf  man 
nicht  ausser  acht  lassen,  dass  die  Einrich- 
tungen für  Stellenvermittelung  ausserordent- 
lich verschieden  sind  und  dass  daher  eine 
genaue  Prüfung  notwendig  ist,  in  welchem 
Umfange  die  gedachten  Vorschriften  auf 
sie  Anwendung  finden  sollen.  Dass  sich 
dieselben  auf  korporative  und  kommunale 
Arbeitsnachweise  nicht  erstrecken  werden, 
scheint  selbstverständlich,  und  es  liegt  auch 
wohl  nicht  in  der  Absicht  des  Gesetzes,  sie 
darauf  auszudehnen.  Aber  auch  die  Ver- 
hältnisse der  Theateragenturen  werden  noch 
einer  eingehenden  Untersuchung  bedürfen. 
Anderweite  Bestimmungen  über  persönhche 
Gewerbebetriebe  sind  folgende.  Die  Be- 
stimmungen über  das  rfandleihgewerbe 
sollen  auch  auf  die  gewerbsmässige 
Pfandvermittelung  Anwendung  finden 
(Art.  3  No.  11).  Der  Gewerbebetrieb  der 
Auktionatoren  kann  durch  landesgesetz- 
liche Anordnungen  und  Verordnungen  der 
Centralbehörden  geregelt  werden  (Art.  3 
No.  IV).  Die  Landesregierungen  werden 
für  befugt  erklärt,  Bücherrevisoren 
öffentlich  anzustellen  und  auf  die  Beobach- 
tung der  bestehenden  Vorscluiften  zu  be- 
eidigen (Art.  4).  Vom  Feilhalten  und 
VerkaufimUmherziehen  sollen  künftig 
auch  Bnichbänder  ausgeschlossen  sein  (Art.  5). 

Endlich  findet  sich  in  dem  Gesetzent- 
wurf eine  Reihe  von  Vorschriften,  welche 
dem  Gebiete  des  Arbeiterschutzes 
angehören  und  sich  namentlich  auf  die 
Kleider-  und  Wäschekonfektion  sowie  auf 
Gehilfen,  Lehrlinge  und  Arbeiter  in  offenen 
Verkaufsstellen  beziehen.  Dieselben  fallen 
aber  ausserhalb  des  Rahmens  des  vorliegen- 
den Artikels.    . 

Der  Gesetzentwurf  ist  in  der  Reichstags- 
sitzung vom  20.  April  1899  einer  Kommis- 
sion zur  Vorberatung  überM^esen  worden 
(Sten.  Ber.  S.  1909),  welche  daran  verschie- 
dene Aenderungen  vorgenommen  hat.  Er 
wii-d  ei-st  in  der  AVintersession  1899/1900 


zur  zweiten  Beratung  im  Plenum  gelangen. 
Sein  Schicksal  ist  daher  noch  nicht  abzusehen. 

Während  der  augenblicklich  dem  Reichs- 
tage vorliegende  Gesetzentwurf  nur  Einzel- 
heiten beöft  und  die  Grundlagen  der 
Reichsgewerbeordnung  unberührt  lässt,  be- 
stehen anderweite  Tendenzen,  welche  so- 
wohl in  B[andwerkerkrei8en  verbreitet  als 
von  einzelnen  politischen  Parteien  vertreten 
werden  und  ausserordentlich  viel  weiter 
gehen.  Die  Anhänger  derselben  wollen, 
dass  mit  dem  Grundsatz  der  Gewerbefreiheit 
vollständig  gebrochen  werde.  Wenn  sie 
auch  nicht  gerade  auf  eine  völlige  Wieder- 
herstellung der  alten  Zunftverfassung  hinaus- 
gehen, so  fordern  sie  doch  mindestens  die 
Einrichtung  von  Zwangsinnungen  nach  dem 
Muster  des  ehemaligen  Berlepschschen  Ent- 
wurfes und  die  Einführung  des  Befähigungs- 
nachweises für  das  Handwerk.  Auch  mit 
den  Zugeständnissen,  welche  durch  die  G.O.- 
Novelle V.  26.  Juli  1897  gemacht  worden 
sind,  erklären  sie  sich  nicht  für  befriedigt 
und  betrachten  dieselben  höchstens  als  eine 
Abschlagszahlung.  Es  ist  daher  notwendig, 
auf  die  Bedenken,  welche  gegen  derartige 
Einrichtungen  bestehen,  am  Schluss  des 
vorliegenden  Artikels  noch  kurz  einzugehen. 

Es  wurde  schon  bei  der  Besprechung 
der  G.O.-Novelle  v.  26.  Juli  1897  hervorge- 
hoben, dass  gegen  die  sogenannte  fakultative 
Zwangsinnung  sich  mancherlei  Einwendun- 
gen erheben  lassen.  Die  Einführimg  der 
obligatorischen  Zwangsinnung  würde  aber 
noch  eine  bedeutende  Verschlechtening  des 
bestehenden  Rechtszustandes  sein.  Dem 
Handwerkerstande  würden  dieselben  wenig 
bieten.  Dies  ergiobt  sich  am  klarsten,  wenn 
die  Aufgaben,  welche  ihnen  nach  dem 
Berlepschschen  Entwürfe  zugewiesen  waren, 
einer  Prüfung  unterzogen  werden.  Am  ehesten 
wären  sie  vielleicht  noch  im  stände  sein, 
auf  dem  Gebiete  des  Lehrlingswesens  etwas 
zu  leisten,  doch  reichen  auch  hier  die  be- 
stehenden Einrichtungen  vollkommen  aus. 
In  allen  anderen  Beziehimgen  dagegen  ist 
von  den  Zwangsinnungen  äusserst  wenig  zu 
erwarten.  Förderung  des  Gemeingeistes  imd 
Stärkung  der  Standeselire  sind  gewiss  sehr 
erstrebenswerte  Ziele.  Aber  zwangsweise 
Organisationen  erscheinen  ziu:  Verwirk- 
lichung derselben  ganz  ungeeignet  Für  das 
Herbergswesen  und  den  Arbeitsnachweis 
würden  wohl  nur  einzelne  Innungen  in 
grossen  Städten  Erhebliches  leisten  können. 
Der  Arbeitsnachweis  bedarf,  wenn  er  wirk- 
sam sein  soU,  einer  viel  stärkeren  Centrali- 
sation,  als  bei  den  Innungen  möglich  ist. 
In  neuerer  Zeit  sind  seitc^ns  einzäner  Ge- 
meinden Arbeitsnachweise  enichtet  worden. 
Die  Aufgabe  der  Zukunft  liegt  vielmehr  in 
dem  weiteren  Ausbau  dieser  Ehirichtimgen 
und  der  Ausdehnimg  derselben  auf  grössere 


Gewerbegesetzgebung  (Deutschland) 


439 


Bezirke  als  in  der  Uebertragung  der  betref- 
fenden Thätigkeiten  auf  die  Handwerker- 
innujigen.  Noch  weniger  erscheint  die 
Mehrzahl  der  Innungen  für  die  Errichtung 
von  Schulen  und  sonstigen  Bildungsanstalten 
geeignet;  diese  Aufgabe  kann  nur  von  dem 
Staate  und  den  kommunalen  Verbänden 
erfüllt  werden.  Zur  Begründung  von  Kran- 
ken-, Sterbe-  und  Invaliditätskassen  seitens 
der  Innungen  besteht  ein  geringes  Bedürf- 
nis, nachdem  Kranken-,  Unfall-,  Invaliditäts- 
und  Altersversicherung  durch  eine  gross- 
artige sozial-politische  Organisation  im  gan- 
zen Reiche  durchgeführt  sind.  Diese  Or- 
ganisation leidet  schon  jetzt  an  einer  etwas 
zu  grossen  Kompliziertheit,  ein  Mangel,  dem 
schwerlich  dadurch  abgeholfen  würde,  dass 
zu  den  schon  bestehenden  Kassen  und  An- 
stallen nun  noch  die  von  den  Innungen 
errichteten  hinzuträten.  Ausserdem  erfordern 
Yersicherungseinrichtungen  —  und  um  solche 
handelt  es  sich  hier  —  wegen  der  Vertei- 
lung des  Risikos  'grosse  Verbände;  die 
meisten  Innungen  sind  für  die  Durchführung 
solcher  Aufgaben  viel  zu  klein.  Die  richter- 
liche und  schiedsrichterliche  Tliätigkeit  der 
Innungen  in  Lehrlings-  und  Gewerbestreitig- 
keiten würde  eine  starke  Diu'chbrechung  der 
erst  vor  wenigen  Jahren  geschaffenen  Or- 
ganisation der  Gewerbegerichte  zur  Folge 
haben. 

Es  muss  aber  auch  bezweifelt  werden, 
ob  sich  das  erforderliche  Material  für  die 
Büdunglebensfälü^er  Innungen  finden  würde. 
Dieses  Bedenken  ist  mit  vollem  Rechte  auch 
in  der  Begründung  zu  der  Bundesratsvor- 
lage, aus  welcher  das  G.  v.  26.  Juli  1897 
hervorgegangen  ist,  geltend  gemacht  worden. 
Innungen,  welche  etwas  leisten  soUen,  dür- 
fen nur  solche  Gewerbetreibende  umfassen, 
welche  dasselbe  Handwerk  ausüben.  Ge- 
mischte Inmmgen  sind  gerade  für  die 
Hauptaufgaben  wenig  geeignet.  Anderer- 
seits müssen  aber  auch  die  Bezirke  der 
Innungen  so  abgegrenzt  werden,  dass  dem 
einzelnen  Mitgliede  die  Möglichkeit  gewahrt 
bleibt,  an  dem  Genossenschaftsleben  teilzu- 
nehmen und  die  Innungseinrichtimgen  zu 
benutzen ;  sie  dürfen  also  nur  einen  Ort  und 
dessen  nächste  Umgebung  umfassen.  Nun 
werden  aber  selbst  in  Städten  mittlerer 
Grösse  manche  Gewerbe  gar  nicht  von  so 
viel  Personen  betrieben,  dass  die  Möglich- 
keit besteht,  für  sie  eine  lebensfähige  In- 
nung zu  bilden.  Es  genügt  in  dieser  Be- 
ziehung auf  die  Gewerbe  der  Brunnen- 
macher, Dachdecker,  Feüenhauer,  Gas-  und 
Wasserleitungsinstallateure  ,*  Glockengiesser, 
Graveure,  Handschuhmacher,  Kammmacher, 
Mühlenbauer,  Schornsteinfeger,  Seifensieder^ 
Siebmacher,  Schirmmacher,  Büchsenmacher, 
Stuckateure  u.  a.  zu  verweisen.  Ja  es  er- 
schien  äusserst  zweifelhaft,   ob   ausser  für 


Schneider,  Schuhmacher,  Tischler,  Schlosser, 
Schmiede,  Bäcker  und  Fleischer  überhaupt 
viel  Innungen  gebildet  werden  könnten, 
welche  die  für  eine  erspriessliche  Wirksam- 
keit erforderliche  Mitgliederzahl  besitzen 
würden. 

Ebenso  gewichtige  Bedenken  stellen  sich 
der  Einführung  des  Befähigungsnach- 
weises entgegen.  Derselbe  bedeutet  im 
Grunde  eine  Rückkehr  zu  den  allen  Zunft- 
einrichtungen, welche  von  der  thatsächlichen 
wirtschaftlichen  Entwickelung  überholt  wor- 
den sind.  Da  die  Prüfungen  in  die  Hände 
der  Innungen  oder  solcher  Konmiissionen, 
welche  von  den  Gewerbetreibenden  selbst 
gewählt  werden,  also  von  Konkurrenten 
gelegt  werden  sollen,  so  besteht  die  Gefahr, 
dass  alle  Missbi-äuche  des  Zunftwesens 
sich  wieder  einschleichen.  Die  Befürchtung, 
dass  die  Prüfenden  bei  der  Beurteilung  der 
Leistungen  sich  nicht  von  objektiven  Ge- 
sichtspunkten, sondern  von  dem  Streben 
leiten  lassen  werden,  einen  unangenehmen 
Konkurrenten  fern  zu  halten,  ist  nach  den 
Erfahrungen  früherer  Zeiten  nur  zu  be- 
gründet. So  könnte  die  neue  Einrichtung, 
anstatt  den  Handwerksstand  zu  fördern, 
sich  sehr  leicht  zu  einem  Hindernis  für 
aufstrebende  Talente  gestalten.  Aber  auch 
die  praktische  Durchführung  des  Befähi- 
gungsnachweises begegnet  grossen  Schwie- 
rigkeiten. Sie  erfordert  eine  Scheidung 
zwischen  Handwerk  und  Fabrik,  yde  sie 
bei  vielen  Gewerbebetrieben  heutzutage  ein- 
fach unmöglich  ist.  Mit  der  Einführung  des 
Befähigungsnachweises  wird  eine  genaue 
Abgrenzung  der  einzelnen  Gewerbe  von 
einander  erforderlich;  die  unvermeidliche 
Folge  davon  ist  die  Entstehung  zahlreicher 
Kompetenzstreitigkeiten  unter  denselben,  wie 
solche  namentlich  in  Oesterreich  hervoree- 
treten  sind.  Die  Vereinigung  mehrerer  Ge- 
werbe zu  einem  einzigen  Betriebe  wird  da- 
durch ausserordentlich  erschwert,  vielfach 
sogar  unmöglich  gemacht.  Dasselbe  gilt 
von  dem  Betriebe  von  Nebengewerben,  ein 
Umstand,  der  namentlich  auf  dem  Lande  zu 
grossen  Unzuträgliclikeiten  führen  würde. 
Gegen  den  Befähigimgsnachweis  spricht  aber 
endlich  auch  noch  der  Umstand,  dass  er  dem 
Handwerke  enge  Schranken  zieht,  der  Gross- 
industrie dagegen  völlig  freie  Bewegung  ge- 
stattet, dem  ersteren  also  die  Konkurrenz 
mit  der  letzteren  nicht  erleichtern,  sondern 
erschweren  wird.  Die  Einfühnmg  desselben 
würde  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nicht 
zu  einer  Förderung,  sondern  zu  einer  erheb- 
lichen Schädigung  des  Handwerkerstandes 
füliren. 

Höchstens  bei  den  Baugewerben 
würde  die  Frage  der  Einführung  des  Prü- 
fungszwanges erwägungswert  sein.  Es  wäre 
seine  die  Rückkehr  zu  den  Vorschriften  der 


440 


Qewerbegesetzgebung  (Deutschland— Oesterreich) 


preussischen  G.O.  v.  17.  Januar  1845  im 
Gegensatz  zu  den  weitergehenden  Vor- 
schriften der  V.  V.  9.  Februar  1849.  Die 
Baugewerbe  sind,  weil  sie  eine  Arbeit  an 
Ort  und  Stelle  erfordern,  ihrer  Natm*  nach 
handwerksmässige  Gewerbe.  Die  Abgren- 
zung von  Fabnibetrieben  macht  also  hier 
keine  Schwierigkeit.  Ausserdem  kommen 
bei  den  Bau^werben  Gesichtspunkte  der 
öffentlichen  Sicherheit  in  Frage;  eine  man- 
gelhafte Ausführung  von  Bauten  kann  Leben 
und  Gesundheit  gefährden.  Eine  absolute 
Garantie  würde  aber  in  dieser  Beziehung 
auch  der  Befähigungsnachweis  nicht  ge- 
währen. Denn  fehlerhafte  Bauten  können 
nicht  bloss  Ausfluss  mangelnder  Befähi- 
gung, sondern  auch  Ausfluss  mangelnder 
Sor^fedt  sein.  Was  die  früher  erwähnten 
Motive  zur  G.O.  v.  1868  über  diesen  Punkt 
sagen,  ist  sehr  beachtenswert.  Jedenfalls 
aber  müssten,  wenn  man  dem  Gedanken 
eines  Prüfungszwanges  für  die  Baugewerbe 
näher  treten  wollte,  die  Prüfungen  in  die 
Hände  von  staatlichen  Prüfungsbehörden 
und  nicht  in  die  von  KonkmTcnten  gelegt 
werden. 

Die  Bestiumiungen  der  G.O.-Novelle  v. 
26.  Juli  1897  müssen  als  das  äusserste  Mass 
derjenigen  Konzessionen  bezeichnet  werden, 
welche  möglich  sind,  wenn  nicht  die  ganzen 
Gnmdlagen  unseres  Gewerberechtes  umge- 
stossen  werden  sollen.  Auch  die  verbünde- 
ten Regierungen  haben  bestimmt  erklärt, 
dass  sie  über  diese  Zugeständnisse  nicht 
hinausgehen  -bürden.  Hoffentlich  zeigen 
sie  sich  kräftig  genug,  weitergehenden  Be- 
strebungen einen  energischen  Widerstand 
entgegen  zu  setzen.  Es  wäre  äusserst  be- 
klagenswert, wenn  die  reaktionäre  Strömung 
auf  gewerblichem  Gebiete  völlig  die  Ober- 
hand gewänne  und  eine  Rückkehr  zu  ver- 
alteten Formen  des  Wirtschaftslebens  ein- 
träte, welche  für  das  Handwerk  geradezu 
verhängnisvoll  wenien  und  dasselbe  der 
Fähigkeit  berauben  würde,  sich  imter  den 
heutigen  schwierigen  Verhältnissen  dauernd 
zu  behaupten. 

Litteratur:  O.  Meyer,  Lehrbuch  des  deutschen 
Vencaltun^srechtes ,  Bd.  I,  S,  S71ff.  —  E. 
lA>ening,  Lehrbuch  des  deutschen  Vencaltungs- 
rechtes,  S.  J^Uff.  —  v.  Stengel,  Lehrbuch  des 
deutschen  Verwaltungsrechtrs ,  S.  S8S^.  — 
Laband,  Staatsrecht  des  deutschen  Reiches,  S. 
Aufl.,  Bd.  II,  S.  185 jf.  —  Zorn,  Staatsrecht 
des  deutschen  Reiches,  Bd.  II,  S.  Iff.  —  X». 
Jacobi,  Die  Gewerbegesetzgebung  des  deutschen 
Reiches,  Berlin  1874.  —  ^»  Seydel,  Das  Ge- 
irerbepolizei^ericht  des  deutschen  Reiches  in  den 
Annalen    des   deutschen  Reiches,   1881,  S.  569 ff. 

—  O.  Meves,  Die  strafrechtlichen  Bestimmungen 
der  deutschen  Gewerbeordnung,   Erlangen   1877. 

—  Schihiberg  in  seinem  Handbuch  der  poli- 
tischen Oekonomie,  4.  Aufl.,  Bd.  II,  1  S.  5^^ ff. 
JE,  Meter,  Art.  Gewerbebetrieb,  Gewerbe  freiheil, 


Gewerbegerichte,  Gewerbeordnung  in  v.  Sbltzen- 
dorffs  Rechtslexikon,  Bd.  II,  S.  161  ff.  —  ZeUer, 
Gewerbepolizei  in  v.  Stengels  Wörterbuch  de* 
deutschen   Verwaltungsrechtes,   Bd.  I,   S.  ^86 ff, 

—  Boediker,  Das  Gewerberecht  des  deutsehen 
Reiches.     Im,  amtlichen   Auftrage,   Berlin  188S. 

—  H,  Rehnt,  Die  rechtliche  Natur  der  Ge^ 
xoerbshmxession,  München  1889.  —  NeuHamp, 
Das  Verhältnis  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches 
zur  Reichsgewerbeordnung,  im  Verwaltungsarchiv, 
Bd.  V,  S.  209  ff.  —  Kommentare  zur  Gewerbe- 
ordnung O,  von  Marcinowski,  6.  Aufl.„Ber- 
lin  1898;  Schicker,  4.  Aufl.,  Stuttgart  1898; 
Schenkel,  2.  Aufl.,  Karlsruhe  1892 — 94;  Land'^ 
mann,  S.  Aufl.,  München  1897 ;  P,  Kay 8er, 
2.  Aufl.,  Berlin  1888.  —  Ueber  den  Befähigungs^ 
nachweis  vgl.  Stieda  im  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Verw,, 
Bd.  19,  S.  219 ff.,  617 f.  —  Th,  Hampke, 
Der  Befähigungsnachweis  im  Handwerk,  Jena 
1892.  —  S,  Mayer,  Die  Aufhebung  des  Be- 
fähigungsnachweises in  Oesterreich,  Leipzig  1894, 

—  H.  Waentig ,  Gewerbliche  Midelstands- 
Politik,  Leipzig  1898,  S.  228 ff. 

Oeorg  Meyer, 


II.  Die  Oewerbegesetzgebung  In 
Oesterreich. 

1.  Bechtsgeschichtliche  Einleitung :  a)  EarU 
VI.  Handwerkspatente  und  Generalzunftartikel. 
b)  Theresianische  Zeit,    c)  Die  G.O.  v.  Jahre  1859. 

d)  Die  Novellen  zur  G.O.  2.  Allgemeine  Grund- 
sätze des  geltenden  Rechtes.  3.  Einteilung  der 
Gewerbe  4.  Bedingungen  für  die  Zulassung 
zum  Gewerbebetriebe.  5.  Genehmigung  der  Be- 
triebsanlage bei  einzelnen  Gewerben.  6.  Inhalt 
und  Umfang  der  Gewerbebefugnisse.  7.  Er- 
löschen der  Gewerbeberechtigung.  8.  Gewerbe- 
rechtliche Beschränkungen  des  Gewerbebetriebes. 
9.BesondereBeschränkungen  hinsichtlich  einzelner 
Gewerbebetriebe.  10.  Marktverkehr.  11.  Gewerb- 
liche Hilfsarbeiter:  a)  Deren  Stellung  im  allge- 
meinen, b)  Arbeitsbücher.  c)Entlassung,  Dienstans- 
tritt, Kontraktbruch,  d)  ^rankenversorgnng.  e) 
Streitigkeiten  ans  dem  Arbeitsverhältnisse,  f)  Lehr- 
lingswesen. 12.  Gewerbliche  Genossenschaften: 
a)  Obligatorischer  Charakter  und  organisa- 
torische Bestimmungen,  b)  Wirkungskreis,  c) 
Pflichten  der  Mitglieder,  d)  Verwaltungsorgane. 

e]  Statute,  f)  Staatsaufsicht.  13.  Strafbestim- 
mungen. 14.  Behörden  und  Verfahren.  15.  Rück- 
blicke.   16.  Ausblicke. 

1.    RechtsgeHchichtliche    Einleitung. 

a)  Karls  VL  Handwerkspatente  und 
G^neralzuiiftartikel.  Die  ersten  Versuche 
einer  staatlich  obrigkeitlichen  Regelung 
des  Gewerbewesens  sind  in  Oesterreich 
schon  Ende  des  17.  Jahrhunderts  unter- 
uDnamen  worden.  Sie  erlangten  praktische 
Gestaltung  in  den  Handwerkspatenteu,  auch 
Handwerksgenemlien  genannt,  die  unter 
Karl  VI.  zuerst  für  die  böhmischen  Erb- 
lande (1731)  und  im  folgenden  Jahre  auch 
für  einige  andere  Kronländer  erlassen  worden 
sind.  Der  Zweck  dieser  Bestimmungen  war 
die  Abstellung  der  Zunftmissbräuche.    Dies 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


441 


sollte  erreicht  werden  durch  Betonung  des 
Grundsatzes,  dass  die  Errichtung  von  Zünften 
ein  landesfürstliches  Recht  sei.  Für  diet 
Verfassung  der  Zunftsatzungen  wurden  Nor- 
mativbestimmungen aufgestellt,  denen  auch 
derogierende  Kraft  gegenüber  bestehenden 
Zunftsatzungen  zukommen  sollte.  Nicht 
genehmigte  Zünfte  (Winkelztinfte)  wai*en 
verboten. 

Als  sich  die  Durchführung  dieser  Mass- 
regeln unmittelbar  durch  die  Hofstellen  als 
unmöglich  erwies,  wurden  im  Jahre  1739 
die  Generalzunftartikel  für  die  böhmischen 
Länder  erlassen,  eine  Art  Normalstatut  für 
Zünfte,  von  dem  Abweichungen  diu-ch  lan- 
desfürstliche Genehmigung  von  Specialzunft- 
artikeln nur  ausnahmsweise  für  Zünfte  in 
grösseren  Städten  eintreten  sollten.  Solchen 
Specialartikeln  wurde  der  Charakter  von 
Privilegien  beigelegt,  die  im  FaUe  eines 
Thronwechsels  zur  Prüfung  und  landesfürst- 
lichen  Bestätigimg  vorzulegen  waren. 

Die  GeneraJzunftartikel  nahmen  eigent^ 
Uche  Zünfte  überhaupt  nur  für  grössere  Ort- 
schaften in  Aussicht.  In  kleineren  Orten 
trat  das  Princip  der  berufsgenossenschaft- 
lichen GHedenra^  hinter  dem  Territorial- 
princip  diurch  Bildung  sogenannter  Reili- 
zünfte,  die  Angehörige  verschiedenartiger 
Gewerbszweige  m  sich  vereinig:ten.  zurück. 
—  Die  Zunftartikel  regelten  eingenend  das 
Lehrlings-  imd  Gesellenwesen  (Bestimmung 
der  Lehrzeit  —  meistens  3  Jahre  — ,  Wan- 
derpflicht, Gesellenherbergen,  Arbeitsver- 
mittelung —  sogenannte  Zuschickordnung — , 
Krankenversorgimg  der  Gesellen)  und  setzten 
die  Bediugimgen  für  Erlangung  des  Meister- 
rechtes  fest,  das  zwar  nur  durch  die  Auf- 
nahme in  die  Zunft  erworben  werden  konnte, 
aber  vermöge  des  Grundsatzes,  dass  das 
Meisterrecht  ein  von  der  Obrigkeit  erteiltes 
Recht  sei,  von  der  Zunft  nicht  willkürlich 
verweigert  werden  durfte.  —  Zur  Leitung 
der  Zunft  waren  der  von  der  Behörde  ab- 
geordnete Zunftkommissär  und  die  periodisch 
g3wählten,  vielfach  audi  einer  obrigkeitlichen 
estätigung  unterliegenden  Zunftältesten  be- 
rufen. —  Das  Disciplinarrecht  der  Zunft 
über  Meister,  Gesellen  und  Jungen  war  auf 
niedere  Geldstrafen  (nicht  über  2  fl.)  einge- 
schränkt —  Die  Zunftversammlungen  waren 
vierteljährlich  und  nur  in  Anwesenheit  des 
Zunftkommissärs  abzuhalten.  —  Die  Ab- 
schaffung der  Störer  und  Pfuscher  stand 
nui'  der  Behörde  zu,  die  auch  in  Lohn- 
streitigkeiten entschied,  wenn  die  Vermitte- 
lung  der  Zunftorgane  sich  als  vergeblich  er- 
wiesen hatte. 

b)  Theresianisohe  Zeit.  Die  mangel- 
hafte Diurchführung  der  Generalzunftartikel 
gab  unter  Maria  Theresia  zu  weiteren  Mass- 
regeln gegen  das  Zunftwesen  Anlass.  Zwar 
wurde   die   im   Jahre   1751   gemachte   An- 


regung, die  Zünfte  völlig  aufzuheben,  in  der 
Folge  wieder  fallen  gelassen,  aber  das  Zunft- 
princip  •  wurde  in  mehrfachen  Richtungen 
endgiltig  durchbrochen.  Zunächst  wurde 
mit  der  Einzüuftung  bisher  unzünftigter  Ge- 
werbe innegehalten  und  bestehenden  Zunft- 
artikeln vielfach  die  Genehmigung  verweigert. 
Auch  wo  die  Zünfte  uodi  fortbestanden, 
ging  die  Verleihung  des  Meisterrechtes  immer 
mehr  auf  die  Staatsbehörden  über.  Zur  Er- 
langung desMeisterrechtes  genügte  die  Vorlage 
des  3Ieisterstückes  und  selbst  auch  nur  ent- 
sprechender Zeugnisse  über  eine  längere 
Gesellenzeit  an  die  Behörde,  die  das  Meister- 
stück durch  die  kaiserlich  königliche  Fabrik- 
inspektion prüfen  Hess.  Dabei  wurden  die 
einzelnen  Gewerbebefugnisse  sachlich  und 
räumlich  erweitert,  die  Realgewerbe  und 
verkäuflichen  Gewerbe  mehi-fach  beschränkt 
Die  Geschlossenheit  der  Zünfte  wurde  auf- 
gegeben, indem  die  »Hofbefreiungen«,  die 
vereinzelt  schon  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
vorkommen,  und  die  »Schutzdekrete«  (per- 
sönliche, als  Privilegien  anzusehende  Be- 
freiungen vom  Zunftzwang),  die  sich  bis 
zum  Jahre  1725  ziuKickverfolgen  lassen, 
immer  mehr  in  Aufnahme  kamen.  Durch 
diese  erlangten  Gesellen,  deren  Aufnahme 
in  die  Zunft  nicht  erfolgen  konnte  (Akatho- 
liken,  arme  Gesellen,  welche  die  Meister- 
rechtsgebühren nicht  aufzubringen  im  stände 
waren,  geschickte,  aus  dem  Auslande  ein- 
gewanderte Gesellen  etc.),  sogenannte  ein- 
fache Arbeitsbefugnisse.  Selbst  das  Recht, 
Gesellen  und  Lehrlinge  zu  halten,  konnte 
ihnen  verliehen  werden.  Die  Schutzdekrete 
bildeten  auch  die  Form,  in  der  das  in  seiner 
Entwicklung  von  Staats  wegen  kräftig  ge- 
förderte Fabrikswesen  dem  Zunftzwange 
entzogen  wurde.  Den  Fabriken  wurde  ins- 
besondere gestattet,  auch  wenn  sie  Erzeug- 
nisse zünftiger  Gewerbe  produzierten,  alle 
erforderlichen  Hilfsarbeiter  zu  halten  und 
selbst  Gesellen  zu  Meistern  freizusprechen. 
Ebenso  wurden  alle  als  Künste  erklärten 
Beschäftigungen  als  unzünftig  anerkannt.  — 
Von  den  unzünftigen  Gewerben,  die  auf  diese 
Weise  immer  mehr  an  Boden  gewannen, 
wurde  mit  der  Zeit  eine  Reihe  ganz  frei- 
gegeben. Freie  Gewerbe  bestanden  im  Jahre 
1765  schon  36 ;  ein  Entwurf  vom  Jahre  1776 
zählte  deren  sogar  84  auf.  Die  Unterschei- 
dung der  Manufakturgewerbe  in  Eommerzial- 
gewerbe  (auf  Erzeugung  von  Exportware 
gerichtete  Gewerbe)  und  Polizeigewerbe 
(das  sind  solche,  die  nur  den  örtlichen  Kon- 
siun  im  Auge  haben)  ermöglichte  eine 
freiere  Behandlung  der  ersteren.  Das  Vor- 
handensein eines  lokalen  Bedürfnisses  bildete 
nur  noch  bei  Polizeigewerben  die  Yorfrage 
ftlr  ilire  Zulassung.  Bei  einer  Reihe  von 
Kommerzialgewerben  wurde  dann  auch  von 
der  Prüfimg  der  persönlichen  Qualifikation 


442 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


der  Bewerber  Umgang  genommen  und  die 
Einreihung  dieser  Gewerbe  in  die  freien 
ausgesprochen.  Aehnlich  gestaltete  sich  die 
Entwickelung  bei  den  Handelsgewerben, 
die  der  Melirzalil  nach  als  freie  Gewerbe 
anerkannt  wurden.  Nur  wenige  galten  als 
beschränkte  Handelsgewerbe  in  dem  Sinne, 
dass  der  Bewerber  die  entsprechende  Fach- 
ausbildung nachzuweisen  verhalten  wurde, 
c)  Die  G.O.  vom  Jahre  1850.  In 
der  Zeit  nach  Maria  Theresia  und  Joseph  II. 
trat  ein  Stillstand  in  der  angedeuteten 
Entwickelung  der  österreichischen  Ge- 
werhegesetzgebung  ein.  In  den  Erblanden 
wurde  lediglich  unter  formeller  Aufrecht- 
erhaltung der  Zünfte  der  Einfluss  der 
Staatsverwaltung  auf  das  Gewerbe wesen 
immer  mehr  gestärkt,  in  den  italienischen 
•Provinzen  dagegen  die  daselbst  bestehende 
volle  Gewerbefreiheit  unangetastet  gelassen. 
Ein  Umschwung  trat  erst  durch  die  Er- 
lassung der  im  allgemeinen  auf  vorge- 
schritten freiheitlicher  Gnmdlage  benihenden 
Gewerbeordnung  vom  20.  Dezember  1859 
(RG.iBL  Nr.  227)  ein,  die  ein  einheitliches 
Kecht  für  das  ganze  Reich  (ausgenommen 
Venetien  und  die  Militärgrenze)  schuf.  Die 
Gewerbeordnung  vom  Jahre  1859  unterschied 
lediglich  zwischen  konzessionierten,  nämlich 
an  eine  behördliche  Bewilligung  gebundenen 
und  freien  Gewerben.  Die  alten  Verbände 
w^uKlen  zwar  in  der  Forai  von  Zwangs- 
genossenschaften in  dem  Sinne,  dass  jeder 
Gewerbetreibende  zur  Mitgliedschaft  bei 
einer  Genossenschaft  verpflichtet  war,  auf- 
recht erhalten.  Aber  der  Wirkungskreis  der 
Genossenschaften  war  ein  überaus  beschränk- 
ter, den  Hilfsarbeitern,  die  als  Angehörige  der 
Genossenschaften  galten,  wurde  kein  Einfluss 
auf  die  (Geschäftsführung  und  nur  ein  un- 
zulänglicher auf  die  Verwaltimg  der  Gesellen- 
kassen, auch  eine  nicht  ausreichende  Ver- 
tretung im  Schiedsgerichte  der  Genossen- 
schaft eingeräumt.  Hierzu  kam,  dass  be- 
stehende Innungen,  selbst  gegen  ihren  Willen, 
durch  behördliche  Verfügimg  in  eine  Ge- 
nossenschaft zusammengelegt  werden  konnten, 
dann,  dass  auch  die  febriksmässigen  Betriebe 
in  die  Genossenschaften  einbezogen  >verden 
sollten,  was  naturgemäss  eine  aUzu  grosse 
Verschiedenheit  der  in  den  einzelnen  Ge- 
nossenschaften vereinigten  Elemente  zur 
Folge  hatte.  Alle  diese  Momente  mussten, 
wie  dies  auch  thatsäclüich  der  Fall  war,  die 
Entfaltung  einer  gedeihlichen  Thätigkeit  der 
Genossenschaften  von  vornherein  nahezu 
ausschliessen.  Auch  bezüglich  des  Arbeits- 
vertrages huldigte  die  Gewerbeordnung  vom 
Jahre  1859  im  allgemeinen  dem  Princip  der 
Freiheit.  Bezüglich  der  aus  dem  Gesichts- 
punkte des  Arl)eiterschutzes  statuierten  Ein- 
schränkungen ist  auf  den  betreffenden  Ar- 
tikel (oben  Bd.  I,  S.  51B)  zu  verweisen. 


d)    Die    Novellen     aur     G.O.      Die 

Gewerbeordnung  vom  Jahre  1859  enthält 
heute  nur  noch  im  Einffihrungspatente, 
dann  im  V.  Hauptstücke  (Marktverkehr), 
im  Vni.  (Uebertretungen  und  Strafen) 
und  im  IX.  (Behörden  und  Verfahren) 
geltendes  Recht.  Alle  anderen  Bestim- 
mungen wiu*den,  nachdem  das  Staats- 
grundgesetz über  die  Reichsvertretung  vom 
21.  Dezember  1867  (R.G.B1.  Nr.  141)  im 
§  11  lit.  e  die  Gewerbegesetzgebung  (mit 
-Ausschluss  der  Gesetzgebung  über  die 
Propinationsrechte)  als  zum  Wirkungskreise 
des  Reichsrates  gehörend  erklärt  hatte, 
d\ux3h  Reichsgesetze  geändert.  Diese  Novellen 
zur  Gewerbeordnung  schlössen  sich,  ausge- 
nommen das  Gesetz  über  die  Sonn-  und 
Feiertagsruhe  und  das  Gesetz  über  die  Ge- 
werbegerichte, in  der  Nummerierung  der 
Paragraphen  an  die  Gewerbeordnung  vom 
Jahre  1859  an,  so  dass  die  Citierung  ein- 
zelner Paragraphen  schlechtweg  als  Para- 
graphen der  Gewerbeoixinung  erfolgt. 

Ergänzungen  und  Abänderungen  erfuhr 
die  Gewerbeordnung  vom  Jahre  1859  durch 
nachstehende  Gesetze: 

1.  Das  G.  V.  15.  März  1883  (R.G.B1.  Nr.  39). 
Dieses  Gesetz  modifizierte  das  I. — ^IV.  Haupt- 
stück der  Gewerbeordnung  (Einteilung  der  Ge- 
werbe, Bedingimgen  des  Gewerbebetriebes, 
gewerbliche  Betriebsanlagen,  Umfang  und 
Ausübung  der  Gewerberechte),  dann  das  VII. 
Hauptstück  (Genossenschaften).  Hervorzu- 
heben ist  die  unter  Einschränkung  des 
Kreises  der  freien  Gewerbe  erfolgte  Schaffung 
einer  dritten  Kategorie  von  Gewerben,  der 
handwerksmässigen ,  bei  welchen  die  Zu- 
lassung —  den  Fall  fabriksmässigen  Betriebes 
ausgenommen  —  von  der  Erbringung  eines 
Befähigungsnachweises  abhängig  erklärt  wur- 
de. Eine  Stärkung  der  gewerblichen  Ge- 
nossenschaften strebte  das  Gesetz  insbeson- 
dere durch  eine  Erweiterung  ihres  Wirkungs- 
kreises, speciell  auf  dem  Gebiete  des  Lehr- 
lingswesens, durch  Ausscheidung  derfabriks- 
mässig  betriebenen  Gewerbe  (die  in  Zukunft 
nur  noch  beitrittsberechtigt  sein  sollten) 
aus  dem  Genossenschaftsverbande,  und  durch 
Vermehrung  des  Einflusses  der  Hilfsarbeiter 
auf  die  sie  betreffenden  Genossenschafts- 
angelegenheiten an.  Behöi'dliche Verfügungen 
principieller  Natiu:  wurden  der  Regel  nach, 
hier  und  da  auch  behördliche  Entscheidungen 
in  Einzelfällen  von  der  vorläufigen  Einver- 
nehmung der  beteiligten  Genossenschaften 
abhängig  erklärt. 

2.  Das  G.  V.  8.  März  1885  (RG.Bl.  Nr.  22) 
ersetzte  das  VI.  Hauptstück  (Gewerbliches 
Hilfspersonal)  durch  neue  Bestimmungen, 
die  vorwiegend  dem  Gebiete  der  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung angehören  (s.  den  Art 
ol)en  Bd.  I,  S.  511  ff.),  aber  auch  sonst  im  Sinne 
der  damals  zur  Geltimg  gelangten   sozial- 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


443 


politischen  Forderungen  das  Arbeitsverhält- 
nis zu  beeinflussen,  ferner  eine  Hebung  des 
Lehrlingswesens  anzubahnen  bezweckten. 

3.  Das  G.  V.  16.  Januar  1895  (R.G.Bl. 
Nr.  21),  betreffend  die  Regehing  der  Sonn- 
und  Feiertagsruhe  im  Gewerbebetriebe,  das 
an  Stelle  des  von  der  Sonntagsruhe  han- 
delnden §  75  der  Gewerbeordnung  (in  der 
Fassung  des  Gesetzes  vom  Jahre  1885)  trat 
und  im  Artikel  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung (oben  Bd.  I,  S.  516)  näher  be- 
sprochen ist. 

4.  Das  G.  V.  4.  Juli  1896  (R.G.B1.  Nr.  205), 
das  durch  einen  Zusatz  zum  §  38  der  Ge- 
werbeordnung (Fassung  des  Gesetzes  vom 
Jahi'e  1883)  eine  Abgrenzung  des  Umfanges 
einiger  Detailhandelsgewerbe  im  Verord- 
nungswege zu  ermöglichen  bezweckt 

5.  Das  G.  V.  25.  November  1896  (R.G.B1. 
Nr.  218),  betreffend  die  Einführung  von  Ge- 
werbegerichten und  die  Gerichtsbarkeit  in 
Streitigkeiten  aus  dem  gewerblichen  Arbeits-, 
Lehr-  imd  Lohnverhältnisse.  Die  Gewerbe- 
ordnung vom  Jahre  1859  hatte  Streitigkeiten 
der  bezeichneten  Art,  wenn  sie  nicht  erst 
30  Tage  nach  dem  Aufhören  des  Dienst-  etc. 
Verhältnisses  angebracht  wurden,  der  ge- 
richtlichen Judikatur  entzogen  und,  falls  sie 
Genossenschaftsmitglieder  betrafen,  der  durch 
Gehilfenvertreter  verstärkten  Genossen- 
schaftsvorstehung  mit  Anfechtbarkeit  vor 
der  politischen  Behörde,  anderenfalls  aber 
immittelbar  der  politischen  Behörde  zur 
Entscheidung  überwiesen.  An  die  Stelle  der 
genossensdiaftiichen  und  verwaltungsbehörd- 
Bchen  Gerichtsbarkeit  trat  in  einzelnen  Be- 
zirken für  bestimmte  Industriezweige  auf 
Grund  des  G.  v.  14.  Mai  1869  (R.G.Bl.  Nr. 
63)  die  Gerichtsbai*keit  besonderer  Gewerbe- 
gerichte, die  jedoch  nur  an  wenigen  Orten 
erriditet  werden  konnten  und  auch  da  nur 
selten  und  -von  Jahr  zu  Jahr  abnehmend  in 
Anspioich  genommen  wurden.  Nachdem 
durch  die  Novelle  vom  Jahre  1883  die  Ge- 
richtsbarkeit der  Genossenschaften  ihres 
obligatorischen  Charakters  entkleidet  und  zu 
einer  bloss  fakultativen,  durch  den  schieds- 
gerichtlichen Ausschuss  der  Genossenschaft 
auszuübenden  umgestaltet  worden  war, 
machte  die  Novelle  vom  Jahre  1885  den 
Versuch,  in  den  gleichen  Grenzen  eine  eben- 
faDs  nur  fakultative  schiedsgerichtliche  Ju- 
dikatur für  die  in  keinem  genossenschaft- 
Hchen  Verbände  stehenden  Gewerbebetriebe 
zu  ermöglichen.  Zu  diesem  Zwecke  sollten 
eigene  schiedsgerichthche  Kollegien  gebildet 
werden,  die  jedoch  thatsächlich  nie  zur  Er- 
richtung gelangt  sind.  Das  G.  v.  25.  No- 
vember 1896  hob  die  Institution  der  schieds- 
gerichtlichen Kollegien  (nicht  auch  die  der 
schiedsgerichtlichenAusschüsse  der  Genossen- 
schaften), die  bestehenden  Gewerbegerichte 
und  die  Kompetenz  der  politischen  Behörden 


in  Streitigkeiten  aus  dem  Arbeits-  etc.  Ver- 
hältnisse auf  und  übertrug  die  Gerichtsbar- 
keit in  solchen  Streitigkeiten  neu  organi- 
sierten Gewerbegerichten  und,  wo  keine  Ge- 
werbegerichte bestehen,  den  Bezirksgerichten. 

6.  Das  G.  V.  23.  Februar  1897  (R.G.Bl.  Nr. 
63),  das  einige  Bestimmungen  über  das 
Lehrlings-  und  das  Genossenschaftswesen 
modifizierte,  ein  weiterer,  aber  wohl  noch 
nicht  der  letzte  Schritt  auf  dem  Gebiete  der 
Bestrebungen,  eine  bessere  Ausbildung  der 
Lehrlinge  zu  sichern  und  die  Genossen- 
schaften leben  s-  und  thatkräftiger  zu  ge- 
stalten. 

2.  Allgemeine  Grundsätze  des  gel- 
tenden Rechtes.  Die  Gewerbeordnung  er- 
streckt sich  auf  alle  gewerbsmässig  be- 
triebenen Beschäftigungen,  sie  mögen  die 
Hervorbringung,  Bearbeitung  oder  Umge- 
staltung von  Verkehrsgegenständen,  den  Be- 
trieb von  Handelsgeschäften  oder  die  Ver- 
richtung von  Dienstleistungen  und  Arbeiten 
zum  Gegenstande  haben  (Artikel  IV  Ein- 
führungspatent). 

Von  dem  Wirkungskreise  der  Gewerbe- 
ordnung ausgenommene  Beschäftigungen  und 
Unternehmungen  sind  (Artikel  V  des  Ein- 
führungspatentes) ausser  den  in  dem  citierten 
Artikel  Arbeiterschutzgesetzgebung 
oben  Bd.  I,  S.  514  angeführten,  der  Bergbau 
samt  den  von  bergamtlicher  Konzession  ab- 
hängigen Werksvorrichtungen,  die  litterarische 
und  künstlerische  Thätigkeit  (nicht  aber  das 
Kunstgewerbe),  die  Geschäfte  der  Advokaten, 
Notare  und  Handelsmäkler,  der  Ingenieure, 
dann  der  Privatgeschäftsvermittier  in  anderen 
als  Handelsgeschäften,  die  Ausübung  der 
Heilkunde,  die  Unternehmungen  von  Heilan- 
stalten, das  Apotheker-  und  Veterinärwesen, 
der  Privatunterricht  und  die  Erziehung,  die 
gewerblichen  Arbeiten  der  Straf-  und  der- 
gleichen Anstalten,  Banken  und  Versiche- 
rungsanstalten, Theater  und  dergleichen,  die 
Unternehmungen  und  der  Verschleiss  perio- 
discher Druckschriften,  endüch  der  Hausier- 
handel und  die  sonstigen  Wandergewerbe. 

Die  Realeigenschaft  der  radizierten  und 
der  verkäuflichen  Gewerbe  (welch  letztere 
den  radizierten  Gewerben  sehr  nahe  stehen, 
jedoch  nicht  im  Grundbuche,  sondern  in  be- 
sonderen, von  der  Gewerbsbehörde  geführten 
Verzeichnissen  nach  Art  eines  Grundbuches 
eingetragen  sind)  blieb  unverändert.  Neue 
Redgewerberechte  dürfen  jedoch  nicht  mehr 
gegründet  werden  (Artikel  VII  Einführungs- 
patent). 

Zum  selbständigen  Betriebe  eines  jeden 
Gewerbes  wird  in  der  Regel  Eigenberech- 
tigung erfordert  (§  2  Gew.-O.).  Jiu'istische 
Personen  sind  gleich  physischen  zugelassen, 
müssen  jedoch  einen  geeigneten  Stellver- 
treter oder  Pächter  bestellen  (§  3).  Die  Ge- 
meindezugehörigkeit   ist    für    den    Antritt 


AAA 


Gewerbegesetzgebiing  (Oesterreich) 


eines  Gewerbes  nicht  Bedingung  (§  7).  Aus- 
ländern gegenüber  wird  formelle  Redwocität 
beobachtet  (§  8).  Der  gleichzeitige  Betrieb 
mehrerer  Gewerbe  ist  an  sich  und  im  all- 
gemeinen gestattet  (§  9).  Personen,  die 
wegen  eines  Verbrechens  oder  wegen  be- 
stimmter minderer  Delikte  verurteilt  wurden, 
können  während  eines  bestimmten  Zeit- 
raumes vom  Antritt  eines  Gewerbes  ausge- 
schlossen werden,  wenn  nach  der  Eigen- 
tümlichkeit des  letzteren  im  Zusammenhalte 
mit  der  Persönlichkeit  des  Unternehmers 
und  der  von  ihm  begangenen  strafbaren 
Handlung  ffissbi-auch  zu  besorgen  wäre  (§  5). 

3.  Einteilung  der  Gewerbe.  Die  Ge- 
werbe sind  (§  1)  entweder  freie  oder  hand- 
werksmässige  oder  konzessionierte  Gewerbe. 
—  Bis  zur  legislativen  Feststellung  können 
die  handwerksmässigen  Gewerbe  im  Yer- 
ordnungswege  bezeichnet  werden,  wobei 
als  handwerksmässige  Gewerbe  jene  anzu- 
sehen sind,  bei  denen  es  sich  um  Fertig- 
keiten handelt,  welche  die  Ausbildung  im 
Gewerbe  durch  Erlernung  und  längere  Ver- 
wendung in  demselben  erfordern  und  für 
welche  diese  Ausbildimg  in  der  Regel  aus- 
reicht. Handelsgewerbe  (im  engeren  Sinne) 
und  fabriksmässig betriebene  Unternehmungen 
sind  von  der  Einreihung  unter  die  hand- 
werksmässigen Gewerbe,  die  gesamte  Haus- 
industrie ist  aber  von  der  Einreibung  unter 
die  Gewerbe  überhaupt  ausgenommen.  Im 
Zweifel,  ob  ein  gewerbliches  Unternehmen 
als  ein  fabriksmässig  betriebenes  bezw.  ein 
Handelsgewerbe  im  engeren  Sinne  anzusehen 
sei,  entscheidet  die  politische  Landesbehörde 
nach  Anhörung  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer mid  der  beteiligten  Genossen- 
schaften und  im  Rekurswege  der  Minister 
des  Innern  im  Einvernehmen  mit  dem  Han- 
delsminister. —  Jene  Gewerbe,  bei  denen 
öffentliche  Rücksichten  die  Notwendigkeit 
begründen,  die  Ausübung  derselben  von 
einer  besonderen  Bewilligung  abhängig  zu 
machen,  werden  als  konzessionierte  behan- 
delt. Ausser  den  unmittelbar  durch  das 
Gesetz  an  eine  Konzession  gebundenen  Ge- 
werben können  auch  andere  nach  Einver- 
nehmung der  Handels-  und  Gewerbekammer 
und  der  betreffenden  Genossenschaft  durch 
Ministerialverordnungfürkonzessionspflichtig 
erklärt  werden  ^§  24).  —  Alle  Gewerbe,  wel- 
che nicht  als  nandwerksmässige  oder  als 
konzessionierte  erklärt  werden,  sind  freie 
\Tf^  \^pi*bp 

Zufolge  Min.-Erl.  v.  16.  September  1883 
Z.  26  701  sind  als  Handelsgewerbe  im  engeren 
Sinne  jene  Handelsgewerbe  anzusehen,  bei 
welchen  der  Handelsbetrieb  das  alleinige 
Geschäft  bildet,  also  keine  eigentlich  ge- 
w^erbliche  (produzierende)  Thätigkeit  statt- 
findet, als  Hausindustrie  aber  jene  gewerb- 
liche, produktive  Thätigkeit,   die  nach  ört- 


licher Gewohnheit  von  Personen  in  ihren 
Werkstätten,  sei  es  als  Haupt-,  sei  es  als 
Nebenbeschäftigung,  jedoch  m  der  Art  be- 
trieben wird,  dass  diese  Personen  ihrer 
Erwerbsthätigkeit  nur  persönlich  oder  unter 
Mitwirkung  der  Angehörigen  des  eigenen 
Hausstandes  obliegen,  nicht  aber  gewerbliche 
Hilfsarbeiter  beschäftigen,  üeber  den  Be- 
griff »fabriksmässig  betriebene  Unterneh- 
mung« nach  der  österreichischen  Termino- 
logie siehe  den  Min.-Erl.  v.  18.  Juli  1883 
in  dem  citierten  Artikel  Arbeiterschutz - 
gesetzgebung  oben  Bd.  I,  S.  514. 

Als  handwerksmässige  Gewerbe  sind 
derzeit  rMin.-Y.  v.  30.  November  1884  [R.G.BL 
Nr.  IIOJ  u.  a.)  im  ganzen  48  bezeichnet 

Konzessionierte  Gewerbe  sind  (§  15  G.G. 
imd  verschiedene  Min. -Verordnungen): 

1)  Alle  Gewerbe,  welche  auf  mechanischem 
oder  chemischem  Wege  die  Vervielfältigung  von 
litterarischen  oder  artistischen  Erzeugnissen, 
oder  den  Handel  mit  denselben  zum  Gegen- 
stande haben  (Buch-,  Kupfer-,  Stahl-,  HoLz-, 
Steindruckereien  und  dergleichen,  einschliesslich 
der  Tretpressen,  dann  Bucbhandlungen ,  ein- 
schliesslich der  Antiquarbuchhandlungen,  Kunst-, 
Musikalienhandlungen) ; 

2)  die  Unternehmungen  von  Leihanstalten 
für  derlei  Erzeugnisse  und  von  Lesekabineten ; 

3)  die  Unternehmungen  periodischer  Per- 
sonentransporte ; 

4)  die  Gewerbe  derjenigen,  welche  an  öffent- 
lichen Orten  Personentrausportmittel  zu  jeder- 
manns Gebrauche  bereit  halten,  oder  persönliche 
Dienste  (als  Boten,  Träger  und  dergleichen)  an- 
bieten ; 

5)  das  SchiflFer|^ewerbe  auf  Binnengewässern ; 

6)  das  Baumeister-,  Bninnenmeister-,  Man- 
rermeister-,  Steinmetz-  und  Zimmermannsge- 
werbe (hierzu  Ausführungsg:esetz  vom  26.  De- 
zember 1893,  R.G.B1.  Nr.  193); 

7)  das  Rauchfangkehrergewerbe ; 

8)  das  Kanalräumergewerbe; 

9)  das  Abdeckergewerbe; 

10)  die  Verfertigung  und  der  Verkauf  von 
Waffen  und  Munitionsgegenständen; 

11)  die  Verfertigung  und  der  Verkauf  von 
Feuerwerksmaterial ,  reuerwerkskörpem  und 
Sprengpräparaten  aller  Art; 

12)  das  Trödlergewerbe; 

13)  das  Pfandleihergewerbe  (hierzu  Aus- 
ffthrungsgesetz  vom  23.  März  1885,  R.G.BI. 
Nr.  48); 

14)  die  Darstellung  von  Giften  und  die 
Zubereitung  der  zu  arzneilicher  Verwendung 
bestimmten  Stoffe  und  Präparate,  sowie  der 
Verschleiss  von  beiden,  insofern  dies  nicht  aus- 
schliesslich den  Apothekern  vorbehalten  ist; 
dann  die  Erzeugung  und  der  Verschleiss  von 
künstlichen  Mineralwässern; 

15)  die  Gast-  und  Schankgewerbe  einschliess- 
lich des  durch  ein  besonderes  Gesetz  geregelten 
Ausschankes  und  Kleinverschleisses  von  ge- 
brannten geistigen  Getränken  (G.  v.  23.  Juni  1881 , 
R.G.B1.  Nr.  62j; 

16)  die  gewerbsmässige  Erzeugung,  der  Ver- 
kauf und  der  Ausschank  von  Kunstweinen  nnd 
Halbweinen  (G.  v.  21.  Juni  1880,  R.G.B1.  Nr.  120; 


Oewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


445 


17)  die  Ausführung  von  Oasrohrleitungen, 
Beleuchtungseinrichtungen  und  Wassereiäei- 
tungen; 

18)  das  Gewerbe  der  Erzeugung  und  der 
Reparatur  von  Dampfkesseln; 

19)  das  Gewerbe  der  Spielkartenerzeugung; 

20)  die  Ausübung  des  Huibeschlages ; 

21)  das  Gewerbe  der  Vertilgung  von  Ratten, 
Mäusen,  schädlichen  Insekten  und  dergl.  durch 
gifthaltige  Mittel; 

22)  die  gewerbsmässig  betriebene  Her- 
stellung von  Anlagen  für  Erzeugung  und  Lei- 
tung von  Elektricität ; 

23)  der  in  einigen  Grenzbezirken  gewerbs- 
mässig betriebene  Hademhandel; 

24)  der  Betrieb  von  Informationsbureaux 
zum  Zwecke  der  Auskunftserteilung  über  die 
Ereditverhältnisse  von  Firmen; 

25)  der  Betrieb  von  Leichenbestattungs- 
untemehmungen ; 

26)  das  Zahntechnikergewerbe; 

27)  der  Betrieb  von  Reisebureaux ; 

28)  die  Abfüllung  von  Bier  in  Flaschen 
zum  Zwecke   des  Vertriebes  von  Flaschenbier. 

4.  Bedin^ngen  lür  die  Zulassung 
zum  Gewerbebetriebe.  Bei  freien  Ge- 
werben besteht  lediglich  die  Anmeldepflicht 
(Lösung  des  Gewerbescheines)  (§  11).  Waltet 
nach  dem  vorstehend  in  §  2  Gesagten  gegen 
die  Person  oder  gegen  die  Beschäftigung 
oder  den  Standort  ein  gesetzliches  Hindernis 
ob,  so  findet  die  üntersagung  des  Gewerbe- 
betriebes durch  die  Behörde  statt  (§  13). 

Zum  Antritte  von  handwerksmässigen 
Gewerben  ist  überdies  der  Nachweis  der  Be- 
fShignng  erforderlich,  der  in  der  Begel  durch 
das  Le&zeugnis  und  ein  Arbeitszeu^nis  über 
eine  mehrjährige  Verwendung  als  Gehilfe  in 
demselben  Gewerbe  oder  in  einem  dem  be- 
treffenden Gewerbe  analogen  Fabriksbetriebe 
zu  erbringen  ist.  Die  Zeugnisse  unterliegfen 
der  Bestätigung  durch  den  Gemeindevorsteher 
und  bei  Angehörigen  einer  für  das  betreffende 
Gewerbe  am  Standorte  desselben  bestehenden 
Genossenschaft  auch  durch  den  Vorsteher  dieser 
Genossenschaft.  Die  Bestimmung  der  erforder- 
lichen Lehr-  und  Gehilfenzeit  ist  dem  Verord- 
nungswege vorbehalten.  Schulzeugnisse  ge- 
werblicher Unterrichtsanstalten  können  durch 
Verordnung,  in  der  die  betreffenden  Anstalten 
und  Gewerbe  zu  bezeichnen  sind,  als  Ersatz 
der  Lehr-  und  Arbeitszeugnisse  anerkannt  wer- 
den. Ausnahmsweise  kann  die  Landesbehörde 
nach  Einvemehmimg  der  beteiligten  Genossen- 
schaft, eventuell  des  Ausschusses  des  Genossen- 
schaftsverbandes und  in  Ermangelung  dieser 
Organe  der  Handels-  und  Gewerbekammer  Dispens 
von  dem  Befähigungsnachweise  erteilen,  um 
Inhabern  handwerksmässiger  Gewerbe  den  Be- 
trieb eines  verwandten  Gewerbes  zu  ermög- 
lichen, ferner  auch  ohne  diese  Voraussetzung 
von  der  Beibringung  des  Lehrzeu^isses  ab- 
sehen. Bei  gemeiniglich  von  Frauen  betriebenen 
handwerksmässigen  Gewerben  kann  die  Ge- 
werbebehörde Frauenspersonen  hierzu  auf  Grund 
eines  beliebigen  anderen  als  des  gesetzlichen  Be- 
föhigungsnachweises  zulassen  (§  14). 

Durch  die  Min.-Verordn.  v.  17.  September 
1883  (ß.G.BL  Nr.  149)  und  vom  5.  Juü  1892 


(R.G.ßl.  Nr.  106)  wurde  es  den  Genossenschafts- 
Statuten  überlassen,  die  Lehrzeit  zwischen  2 
und  4  Jahren  (bei  entsprechender  Ausbildung 
in  einer  allgemeinen  Handwerkerschule  mit  nur 
VL  Jahren),  die  Zeit  der  Verwendung  als  Gre- 
hilfe  oder  Fabrikarbeiter  aber  mit  mindestens 
2  Jahren  zu  bestimmen. 

Der  Antritt  eines  konzessionierten 
Gewerbes  ist  von  einer  besonderen  gewerbs- 
behördlichen  Bewilligung  abhängig  (§  22), 
die  jedenfalls  zu  verweigern  ist^  wenn  vom 
Standpunkte  der  Sicherheits-,Sittlichkeits-,Ge- 
sundheits-,  Feuer-  oder  Verkehrspolizei  ein  An- 
stand gegen  den  beabsichtigtenGewerbebetrieb 
obwaltet  (§  23).  Ferner  haben  die  Bewerber, 
nebst  Erfüllung  der  allgemeinen  Bedingungen, 
Verlässlichkeit  mit  Beziehung  auf  das  be- 
treffende Gewerbe  und  bei  der  Mehrzahl 
der  konzessionierten  Gewerbe  auch  eine  be- 
sondere Befähigung  nachzuweisen,  worüber 
die  näheren  Bestimmimgen  durch  eine  Reihe 
von  Min.- Verordnungen  getroffen  wurden. 
Wiederholt  ist  auch  die  Bedachtnahme  auf 
die  Lokalverhältnisse  vorgeschrieben  (§  23). 
—  Noch  weitergehende  Beschränkungen  be- 
steben hinsichthch  der  Gast-  und  Schank- 
gewerbe,  die  nur  an  unbescholtene  Personen 
verüehen  werden  dürfen.  Vor  der  Kon- 
zessionierung eines  Gast-  oder  Schankge- 
werbes  ist  auch  die  Gemeinde  des  Stand- 
ortes zu  hören,  und  es  steht  dieser  im  Falle 
der  Erteilung  der  Konzession  ein  Rekurs- 
recht  zu.  Aehnüches  gilt  für  den  Fall  der 
üebersiedeluog  eines  Schankgewerbes  in 
ein  anderes  Lokal  innerhalb  derselben  Ort- 
schaft, üeberdies  kann  eine  und  dieselbe 
Person  in  einer  imd  derselben  Ortschaft 
nur  eine  einzige  Konzession  zum  Ausschänke 
und  Kleinverschleisse  gebrannter  geistiger 
Getränke,  und  zur  Ausübung  eines  anderen 
Gast-  oder  Schankgewerbes,  höchstens  zwei 
Konzessionen  erwerben  (§§  16 — 20). 

Der  Urheber  einer  Erfindung  und  dessen 
Rechtsnachfolger  ist  gnmdsätzlich ,  soweit 
er  sich  auf  die  Ausübung  der  patentierten 
Erfindung  beschränkt,  an  die  bezüglich  des 
Antrittes  der  Gewerbe  geltenden  Vorschrif- 
ten nicht  gebunden  (§  17  des  Patentgesetzes 
vom  11.  Januar  1897  RG.B1.  Nr.  30  und 
Min.-Verord.  v.  15.  September  1898  R.G.B1. 
Nr.  162). 

5.  Genehmigung  der  Betriebsanlage 
bei  einzelnen  Gewerben.  Bei  Gewerben, 
die  mit  besonderen  Feuerstätten,  mit  Motoren 
oder  Wasserwerken  betrieben  werden,  dann 
bei  Gewerben,  deren  Betrieb  eine  Gefährdung 
oder  Belästigung  der  Nachbarschaft  in 
höherem  Grade  mit  sich  bringt,  ist  die  be- 
hördliche Genehmigung  der  Betriebsanlage 
erforderlich  (§  25).  Die  Prüfung  der  Zu- 
lässigkeit  der  Anlage  vom  gewerbepolizei- 
lichen Standpunkte  und  die  Feststellung  der 
etwa  nötigen  Bedingungen  und  Beschrän- 
kungen in  betreff  der  Einrichtung  der  An- 


446 


Gewerbegeeetzgebong  (Oesierreich) 


läge  erfolgt  von  Amte  wegen  (§  26).  Hin- 
sichtlich bestimmter  Betriebsanlagen  (derzeit 
sind  53  Arten  als  solche  erklärt)  muss  vor 
der  Entscheidung  ein  besonderes  Ediktal- 
verfahren durchgeführt  werden,  zu  dem  der 
Gemeindevorstand  und  die  bekannten  A^n- 
rainer  individuell  zu  laden  sind.  Werden 
lediglich  privatrechtliche  Einwendungen  vor- 
gebracht, so  ist  deren  Austragimg  auf  den 
Rechtsweg  zu  verweisen  und  ohne  Kücksicht 
darauf  die  gewerbepolizeiliche  Entscheidung 
zu  fällen  (§§  27—31).  Für  den  FaU  einer 
Aendening  in  der  Beschaffenheit  der  Be- 
triebsanlage oder  in  der  Fabrikationsweise, 
dann  für  den  Fall  einer  bedeutenden  Er- 
weiterung oder  der  Wiederherstellung  einer 
durch  Elementarereignisse  zerstörten  Be- 
triebsanlage gelten  ähnliche  Vorschriften 
(§§  32  u.  33).  —  Inwiefern  die  Einstellung 
der  Benutzung  einer  genehmigten  Betiiebs- 
anlage  aus  Kücksichten  des  öffentlichen 
Wohles  erfolgen  könne,  ist  in  der  Gewerbe- 
ordnung allgemein  nicht  entschieden.  Hier- 
für und  für  die  Frage  der  Eutschädigimg 
des  Gewerbetreibenden  im  Falle  einer  Ein- 
stellung des  Betriebes  sind  demnach  die 
Bestimmungen  des  allgemeinen  Bürgerlichen 
Gesetzbuches  massgebeud  (§§  364  u.  365), 
welche  verfügen,  einerseits  dass  die  Aus- 
übung des  Eigentumsrechts  nur  insofern 
stattfindet,  als  dadurch  die  in  den  Gesetzen 
zur  Erhaltung  und  Beförderung  des  allge- 
meinen Wohles  vorgeschriebenen  Einschrän- 
kungen nicht  übertreten  werden,  anderer- 
seits dass,  wenn  es  das  allgemeine  Beste 
erheischt,  gegen  eine  angemessene  Schadlos- 
haltung  selbst  das  vollständige  Eigentum 
einer  Sache  abgetreten  werden  muss.  Nur 
hinsichtlich  der  Privatschlachthäusser  be- 
stimmt die  Gewerbeordnung  (§  35),  dass 
die  fernere  Benutzung  bestehender  und  die 
Anlage  neuer  Privatschlachthäuser  behördlich 
untersagt  werden  könne,  sobald  an  einem 
Orte  von  der  Gemeinde  oder  von  Genossen- 
scliaften  errichtete  öffentliche  Sclilachtliäuser 
in  genügendem  umfange  vorhanden  sind. 

6.  Inhalt  nnd  Umfang  der  Gewerbe- 
befngnisse.  Die  G.O.  vom  Jahre  1859 
hatte  mit  dem  bis  dahin  festgehaltenen 
System  der  abgeschlossenen  Arbeits^gebiete 
gebrochen  und  die  Grenzen,  die  der  Ge- 
werbsthätigkeit  des  einzelnen  durch  die  Ar- 
beitsborechtigimgen  der  einzelnen  Innungen 
vielfach  sehr  enge  gezogen  wai*en,  fallen 
lovssen.  An  diesem  Grundsatze  des  erwei- 
terten Ai'beitsrccht(\s,  wonach  jeder  Gewerbe- 
treibende das  Recht  hat,  alle  zur  voll- 
kommenen Hei*stelhing  seiner  Erzeugnisse 
notwendigen  Arbeiten  zu  vereinigen  und 
die  hierzu  erforderlichen  Hilfsarbeiter  auch 
anderer  (bewerbe  zu  haiton,  hat  die  Novelle 
vom  Jahre  ltS83  mit  der  einzigen  Ein- 
scliränkung  festgehalten,  dass  darunter  das 


Recht,  auch  Lehrlinge  anderer  Gewerbe  zu 
halten,  sofern  es  sich  um  handwerksmässige 
Gewerbe  handelt,  nicht  verstanden  sei  (§  37). 
—  Der  Umfang  eines  Gewerberechtes  wird 
nach  dem  Gewerbescheine  oder  der  Kon- 
zession beurteilt.  Im  Zweifel  entsdieidet 
die  Behörde  nach  Einvernehmung  der  Ge- 
nossenschaften und  der  Handels-  und  (je- 
Werbekammer  (§  36).  —  Den  gewerblichen 
Produzenten  steht  insbesondere  das  Recht 
zu,  mit  ihren  Erzeugnissen  und  Waren 
Handel  zu  treiben,  und  es  findet  dabei  eine 
Beschränkung  auf  den  Verkauf  der  selbst- 
gefertigten Waren  nicht  statt.  Die  Ge- 
werbetreibenden können  ihre  Produkte  auch 
ausserhalb  ihres  Standortes  in  Kommission 
geben  oder  auf  Bestellung  liefern  und,  von 
besonderen  polizeilichen  Beschränkungen  bei 
einzelnen  Gewerben  abgesehen,  bestellte  Ar- 
beiten überall  verrichten  (§  41).  Sie  sind 
weiter  befugt,  im  ümherreisen  unter  Mit- 
führung von  Mustern  selbst  oder  d\irch  Be- 
vollmächtigte (Handlungsreisende,  Agenten) 
BesteDungen  zu  suchen.  Waren  zum  Ver- 
kaufe dürfen  nur  auf  Märkten  mitgeführt 
werden  (§  59). 

Besondere  Bestimmungen  regeln  den 
Hausierhandel  und  die  anderen  Wander- 
gewerbe.  (S.  den  Art.  Wandergewerbe.) 

Unter  den  Bestimmungen  über  den  Um- 
fang der  verschiedenen  Arten  der  Handels- 
gewerbe ist  insbesondere  §  38  AI.  3  G.O. 
beachtenswert,  wonach  der  Inhaber  eines 
Handelsgewerbes  im  engeren  Sinne  (§  1, 
Alinea  3)  die  handwerksmässige  Herstellung 
oder  Vei-arbeitung  von  Gewerbserzeugnissen 
nur  dann  betreiben  darf,  wenn  er  den  Vor- 
schriften Übel  den  Befähigimgsnachweis  ent- 
sprochen hat.  Hierzu  erfloss  eine  Ent- 
scheidung des  Verwaltimgsgerichtshofes  v. 
23.  Febniar  1888  Z.  563,  die  den  Grund- 
satz aufstellt,  dass  Konfektionäre  (Handel 
mit  fertigen  Kleidungsstücken)  berechtigt 
sind,  Bekleidungsstücke  auch  auf  Bestellung 
zu  liefern  und  abändern  zu  lassen  und  zu 
diesem  Behufe  die  Masse  der  verlangten 
Kleidungsstücke  selbst  abzimehmen  und  dem 
Handwerker  anzugeben,  eine  Entscheidung, 
die  in  Handwerkerkreisen  als  eine  Preis- 
gebung der  wesentlichsten  Errungenschaften 
der  Einführung  des  Befähigungsnachweises 
betrachtet  wurde  imd  noch  andauernde  Be- 
stn^bungen  nach  einer  weitergehenden  Ein- 
schränkimg der  Befugnisse  der  Handels- 
gewerbe veranlasst  hat. 

Von  der  durch  das  G.  v.  4.  Jidi  1896 
(R.G.Bl.  Nr.  205)  eingeräumten  Ermäch- 
tigimg, den  Umfang  der  Berechtigung  ge- 
wisser kleinerer  Detailhandelsgewerbe  (Ge- 
mischt waren  verscldeiss,  (jreissler-,  Fragner- 
odcr  H<")cklergeworbe ,  Viktualienhandel  und 
dorglei(ihen)  im  Verordnungswege  zu  regeln, 
hat  die  Regierung   bisher  nur  hinsichtlich 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


447 


der  Flaschenbierfülliing  und  des  Flaschen- 
bierhandels  (Mia.-Yer.  v.  30.  März  1899, 
RG.B1.  Nr.  64)  Gebrauch  gemacht. 

Der  Gewerbebetrieb  durch  einen  Stell- 
vertreter oder  Pächter  ist  in  der  Regel  zu- 
lässig, sofern  der  Stellvertreter  (Pächter)  den 
gesetzlichen  Anforderungen  entspricht.  After- 
verpachtung ist  untersagt  (§  55). 

7.  Erloschen  der  Gewerbeberech- 
ügüng.  Der  Tod  des  Gewerbetreibendea 
hat  in  der  Regel  daß  Erlöschen  der  Ge- 
werbeberechtigung zur  Folge  (§  56).  Der 
Verlust  kann  von  der  Behörde  ausgesprochen 
werden,  wenn  nachtraglich  der  ursprüng- 
liche und  noch  fortdauernde  Mangel  eines 
gesetzlichen  Erfordernisses  bekannt  wiixi, 
bei  mehreren  konzessionierten  Gewerben 
auch  dann,  wenn  längere  Zeit  hindurch  mit 
dem  Betriebe  ausgesetzt  wurde  (§  57).  Ent- 
ziehung der  Gewerbeberechtigung  für  immer 
oder  bestimmte  Zeit  kann  endlich  von  der 
Gewerbebehörde  und  in  einzelnen  Fällen 
auch  vom  Gerichte  als  Strafe  verfügt  werden. 
8.  Gewerberechtliche  BeschrajDkiuigeii 
des  Gewerbebetriebes.  Zum  Schutze  gegen 
unlauteren  Mitbewerb  (concurrence  d^loyaie), 
femer  zum  Schutze  der  Konsiunenten  gegen 
Warenfälschung  oder  sonstige  Täuschungen 
enthält  die  Gewerbeordnung  seit  der  Wirk- 
samkeit der  Novelle  vom  Jahre  1883  in  den 
§§  44 — 50  eingehende  Bestimmungen.  Die 
Gewerbetreibenden  sind  zu  einer  entsprechen- 
den äusseren  Bezeichnung  ihrer  Betriebs- 
stätten verpflichtet  (§  44).  Unter  der  Ueber- 
schrift  Eingriffe  ist  in  §  46  u.  a.  bestimmt : 

»Kein  Gewerbetreibender  ist  berechtigt, 
zur  äusseren  Bezeichnung  seiner  Betriebs- 
stätte oder  Wohnung  sowie  in  Cirkularien, 
öffentlichen  Ankündigungen  oder  Preis- 
kurants  den  Namen,  (üe  Firma,  das  Wappen 
oder  die  besondere  Bezeichnung  des  Etab- 
lissements eines  anderen  inländischen  Ge- 
werbetreibenden oder  Produzenten  wider- 
rechtlich sich  anzueignen,  oder  in  der  oben 
aogeffthrteu  Weise  die  Gegenstände  seines 
Gewerbebetriebes  fälschlich  als  aus  einer 
anderen  Betriebsstätte  hervorgegangen  zu 
bezeichnen.  —  Ein  solcher  Eingriff  be- 
gründet für  den  Verletzten  das  Recht,  auf 
die  Einstellung  des  ferneren  Gebrauches  der 
widerrechtlichen  Bezeichnung  bezw.  auf  die 
Untersagung  der  fälschlichen  Ankündigung 
vor  der  zuständigen  Gewerbebehörde  zu 
dringen,  c 

Wissentliche  Eingriffe  sind  nach  der 
Gewerbeordnung  strafbar.  Die  Verfolgung 
findet  jedoch  nur  auf  Antrag  des  Verletzten 
statt  (§  47).  Der  Schutz  gegen  Eingriffe 
wird  unter  der  Voraussetzung  der  Gegen- 
seitigkeit auch  ausländischen  Gewerbetreiben- 
den gewährt  (§  48).  Einer  Uebertretung 
der  Gewerbeordnung  macht  sich  nach  §  49 
femer  schuldig: 


„1)  Jeder  Gewerbetreibende,  der  in  Fällen^ 
welche  nicht  bereits  durch  §  46  oder  durch  dag 
Gesetz  zum  Schutze  der  gewerblichen  Marken 
getroffen  sind,  zur  äusseren  Bezeichnung  seiner 
Betriebsstätte  oder  Wohnung,  zur  Bezeichnung 
von  Gewerbserzeugnissen  oder  überhaupt  beim 
Betriebe  seiner  Geschäfte  und  bei  Abgabe  seiner 
Unterschrift  sich  eines  ihm  nicht  zustehenden 
Namens  bedient,  ohne  hierzu  durch  die  bereits 
erfolgte  Eintragung  seiner  Firma  in  das  Han- 
delsregister berechtigt  zu  sein; 

2)  jeder  Gewerbetreibende,  der  in  den  im 
Punkte  1  bezeichneten  Fällen  sich  Auszeich- 
nungen beilegt,  welche  ihm  nicht  verliehen 
wurden; 

3)  jeder  Gewerbetreibende,  der  in  den  im 
Punkte  1  bezeichneten  Fällen  sich  einer  Be- 
zeichnung bedient,  welche  die  Annahme  eines 
Gesellschaftsverhältnisses  zulässt,  während  ein 
solches  thatsächlich  nicht  besteht; 

4)  jeder  Gewerbetreil»ende ,  welcher,  ohne 
durch  die  bereits  erfolgte  Eintragung  seiner 
Firma  in  das  Handelsregister  hierzu  berechtigt 
zu  sein,  in  den  im  Punkte  1  bezeichneten  Fällen 
sich  nicht  seines  vollen  Vor-  und  Zunamens 
bedient ; 

5)  jeder  Gewerbetreibende,  der  in  den  im 
Punkte  1  bezeichneten  Fällen  beim  Bestände 
eines  Gesellschaftsverhältnisses  einer  Bezeich- 
nung sich  bedient,  in  welcher  nicht  bloss  Namen 
von  Gesellschaftern,  sondern  ausserdem  ein  das 
Vorhandensein  einer  Gesellschaft  andeutender 
Zusatz  enthalten  ist,  ohne  zu  der  Führung  einer 
derartigen  Firma  im  Sinne  des  Handelsgesetz- 
buches berech ti|i:  zu  sein.^ 

Zufolge  §  oO  steht  die  Entscheidung  über 
Ansprüche  auf  Ersatz  des  durch  die  in  den  §§ 
46  und  49  bezeichneten  Eingriffe  und  Ueber- 
tretungen  zugefügten  Schadens  ausschliesslich 
den  Gerichten  zu. 

Das  G.  V.  16.  Januar  1895  (R.G.Bl.  Nr.  26)  bin- 
det die  Veranstaltung  von  angekündigten  öffent- 
lichen Ausverkäufen  zum  Zwecke  einer  be- 
schleunigten Veräusserung  von  Waren  im  Klein- 
verschleisse  an  die  Bewilligung  der  Gewerbe- 
behörde. Vor  der  Bewilligung  ist  der  Handels- 
und Gewerbekammer  und  der  beteiligten  Ge- 
nossenschaft Gelegenheit  zur  Aeusserung  zu 
geben. 

Auf  einem  anderen  Gesichtspunkte  beruhen 
die  durch  das  Gesetz  v,  27.  April  1896  (R.G.Bl. 
Nr.  70)  für  Ratengeschäfte  getroffenen  Sonder- 
bestimmnngen  (s.  darüber  den  Artikel  Abzah- 
lungsgeschäfte, oben  Bd.  I  S.  18). 

Hier  ist  endlich  auch  des  Gesetzes  v.  7  .April 
1870  (R.G.B1.  Nr.  43)  zu  gedenken,  das  ße- 
Stimmungen  hinsichtlich  der  Verabredungen 
von  Gewerbsleuten  zur  Erhöhung  des  Preises 
einer  Ware  zum  Nachteile  des  Publikums 
(Kartelle)  enthält.  Solche  Verabredungen, 
dann  Vereinbarungen  zur  Unterstützung  der- 
jenigen, welche  bei  diesen  Verabredungen 
ausharren,  oder  zur  Benachteiligung  der- 
jenigen, welche  sich  davon  lossagten,  haben 
keine  rechtliche  Wirkung.  Wer,  um  das 
Zustandekommen,  die  Verbreitung  oder  die 
zwangsweise  Durchführung  einer  solchen 
Verabredung  zu  bewirken,  ein  Abgehen 
davon    durch    Mittel    der    Einschüchterung 


448 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


oder  Gewalt  hindert  oder  zu  hindern  ver- 
sucht, macht  sich  einer  mit  Arrest  bis  zu 
drei  Monaten  strafgerichtlich  zu  ahndenden 
Uebertretung  schuldig. 

9.  Besondere  Beschränkungen  hin- 
sichtlich einzelner  Gewerbebetriebe.  Die 
behördliche  Festsetzimg  von  Maximaltarifen 
ist  für  den  Kleinverkauf  von  Artikeln,  die 
zu  den  notwendigsten  Bedürfnissen  des  täg- 
lichen Unterhalts  gehören,  und  für  die  oben 
in  §  3  Z.  3,  4  und  7 — 9  genannten  Gewerbe 
zulässig.  Den  autonomen  Organen  (Ge- 
nossenschaften etc.)  ist  hierbei  eine  ent- 
sprechende Einflussnahme  gewahrt  (§  51). 
—  Bei  dem  Kleinverkaufe  der  eben  er- 
w^ähnten  Artikel,  dann  bei  den  in  §  3  Z.  3, 
4  und  15  genannten  Gewerben  sind  die 
Preise  mit  Rücksicht  auf  Quantität  imd 
Qualität  ersichtlich  zu  machen  (§  52).  — 
Die  Inhaber  von  Bäcker-  und  Fleischer- 
gewerben, dann  der  in  §  3  Z.  3,  7  und  8 
genannten  Gewerbe  haben  die  beabsichtigte 
Betriebseinstellung  \der  Wochen  früher  der 
Behörde  anzuzeigen  (§  53).  In  Special- 
gesetzen findet  sich  für  bestimmte  Ge- 
werbebetriebe eine  Reihe  einschränkender 
Yorschriften,  die  auf  den  verschiedenartigsten 
Gesichtspunkten  benihen.  Nur  beispiels- 
weise ist  auf  das  G.  v.  16.  Januar  1896 
(R.G.B1.  Nr.  89  von  1897)  über  den  Ver- 
kehr mit  Lebensmitteln  und  einigen  Ge- 
brauchsgegenständen und  auf  das  G.  v.  23. 
März  1885  (R.G.B1.  Nr.  48)  betreffend  das 
Pfandleiherge werbe  hinzuweisen. 

10.  Marktverkehr.  Die  Gewerbeordnung 
beschränkt  sich  darauf,  durch  allgemeine 
Anordnungen  die  Berechtigung  zum  Markt- 
besuch (auch  für  Ausländer),  die  Gleich- 
berechtigung der  Marktbesucher  und  die 
Abgrenzung  der  Rechte  dieser  von  den 
Rechten  der  sesshaften  Gewerbetreibenden 
zu  regeln,  überlässt  aber  die  Einzelbestim- 
mungen den  Marktordnungen,  die  von  den 
betreffenden  Gemeinden  festzusetzen  sind 
und  der  behördlichen  Genehmigung  unter- 
üegen  (§§  62-71). 

IL  Gewerbliche  Hilfsarbeiter,  s)  Deren 
Stellung  im  äUgemeinen.  üeber  den 
Begriff  der  gewerblichen  Hilfsarbeiter,  dann 
über  die  einschlägigen,  dem  Gebiete  der 
Arbeiterschutzgesetzgebung  angehörigen  Be- 
stimmungen siehe  den  citierten  Art.  Ar- 
beite rschutzgesetzgebung  oben  Bd.  I 
S.  511  ff.,  insbesondere  S.  514. 

Während  die  Gewerbeordnimg  vom  Jahre 
1859  die  Festsetzung  der  Verhältnisse 
zwischen  den  selbständigen  Gewerbetreiben- 
den und  ihren  Hilfsarbeitern  im  allgemeinen 
dem  freien  Uebereinkommen  überliess,  be- 
tont die  Novelle  vom  Jahre  1885  (im  §  72) 
ausdnlcklich ,  dass  ein  solches  Ueberein- 
kommen nur  innerhalb  der  durch  die  Ge- 
setze gezogenen  Grenzen  statthaft  sei.   Einen 


Musterentwurf  einer  —  nur  für  Fabriks- 
und sonstige  grössere  Gewerbeuntemeh- 
mungen  obligaten  —  Arbeitsordnung  hat 
das  Centralgewerbeinspektorat  ausgearbeitet 
und  das  Handelsministerium  mit  Erlass  v. 
10.  September  1897  veröffentlicht 

b)  Arbeitsbücher.  Alle  Hilfsarbeiter 
müssen  mit  Ausweisen,  und  zwar  die  kauf- 
männischen mit  behördlich  vidierten  Zeug- 
nissen ihrer  früheren  Dienstgeber,  alle 
übrigen  Hilfsarbeiter  mit  förmlichen  Arbeits- 
büchern versehen  sein  (§  79).  Die  Gewerbe- 
inhaber dürfen  das  Zeugnis,  zu  dessen  ab- 
gesonderter Ausfertigung  sie  auf  Verlangen 
verpflichtet  sind  (§  81),  in  das  Arbeitsbuch 
mir  insoweit  aufnehmen,  als  es  für  den 
Hilfsarbeiter  günstig  lautet  (§  80  d),  andere 
Eintragimgen  oder  Anmerkungen,  als  in  den 
Rubriken  des  Arbeitsbuches  vorgesehen  sind 
(geheime  Zeichen  u.  dgl.  m.),  jedoch  in  oder 
an  dem  Buche  nicht  machen  (§  80  g).  Die 
Nichtbeachtung  der  hinsichtlich  der  Arbeits- 
bücher bestehenden  Yorschriften  macht  den 
G^werbeinhaber  dem  Hilfsarbeiter  gegen- 
über entschädigungspfUchtig,  doch  muss 
dieser  den  Anspruch  binnen  vier  Wochen 
gerichtlich  geltend  machen  (§  80  g). 

c)  Entlassung,  Dienstaustritt,  Eon- 
traktbruoh.  Die  Fälle  der  Entlassung  oder 
des  Dienstaustrittes  eines  Hilfsarbeiters  vor 
Ablauf  der  vertragsmässigen  Zeit  und  ohne 
Kündigimg  sind  im  Gesetze  (§§  82,  82  a  und 
101)  einzeln  imd  zwar,  wie  auch  durch  eine 
ausdrückliche  Verfügimg  der  niederöster- 
reichischen Statthalterei  anerkannt  wurde, 
taxativ  aufgezählt,  ohne  dass  durch  üeber- 
einkunft  der  Parteien  davon  abweichende 
Bestimmungen  vertragsmässig  festgesetzt 
werden  könnten. 

Der  Kontraktbruch  wird  verschieden- 
artig behandelt,  je  nachdem  er  seitens  des 
Gewerbeinhabers  oder  seitens  des  HiUb- 
arbeiters  stattfindet.  —  Der  Gewerbeinhaber 
ist  lediglich  civilrechtlich  zur  Vergütung 
des  Lohnes  und  der  sonst  vereinbarten  Ge- 
nüsse bis  zum  Ablaufe  der  Kündigungsfrist 
verpflichtet  (§  84)  —  Hilfsarbeiter  dagegen, 
welche  kontraktbrüchig  werden,  machen  sich 
einer  mit  Arrest  bis  zu  drei  Monaten  zu 
bestrafenden  Uebertretung  der  Gewerbe- 
ordnung schuldig.  Daneben  besteht  ihre 
civilrechtliche  Verpflichtung  zum  Schaden- 
ersatze. Auch  können  sie  durch  die  Be- 
hörde zur  Rückkehr  in  die  Arbeit  für  die 
noch  fehlende  Zeit  verhalten  werden  (§  85). 
Nach  §  86  sind  auch  mitschuldige  Ge- 
werbeinhaber (solche,  die  den  entlaufenen 
Hilfsarbeiter  wissentlich  in  Arbeit  behielten) 
vor  der  Gewerbebehörde  und  civilrechtlich 
verantwortlich.  —  Diese  Bestimmungen, 
welche  ähnlich  schon  in  der  Gewerbeord- 
nung vom  Jahre  1859  vorkamen,  wurden  in 
dem  der  Novelle  vom  Jahre  1885  zu  Grunde 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


449 


liegenden  Regierungsentwurfe  (Nr.  253  der 
Beil.  zu  den  stenogr.  Prot,  des  Abgeord- 
netenhauses, 9.  Session)  durch  den  Hinweis 
auf  die  grosse  Verschiedenheit  der  that- 
sächüchen  Verhältnisse  und  der  persön- 
lichen Lage  der  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer zu  begründen  versucht.  Es  wurde 
auf  die  nur  selten  mögliche  Realisierung 
von  Schadenersatzansprüchen  gegen  Hilfs- 
arbeiter hingewiesen  und  betont,  dass  es 
seit  dem  Wegfall  der  im  Jahre  1868  auf- 
gehobenen Schuldhaft  auf  dem  Gebiete  des 
(Jivili-echts  vollständig  an  einem  wirksamen 
Kompelle  gegenüber  den  EQlfsarbeitem  zur 
Einhaltung  des  Vertrags  fehle.  Als  wei- 
teres Argument  wurde  auch  die  Analogie 
mit  der  Sti-afbarkeit  der  dolosen  Beschä- 
digung einer  fremden  Sache  geltend  ge- 
macht und  schliesslich  hervorgehoben,  dass 
die  Hintanhaltung  von  unvermuteten  Ar- 
beitseinstellungen auch  im  öffentlichen  In- 
teresse gelegen  sei. 

Im  übrigen  sind  die  Bestimmungen  des 
Strafgesetzbuches  vom  Jahre  1852,  welche 
Verabredungen  zur  Aussperrung  von  Ar- 
beitern oder  zur  HerabdrQckmig  der  Lage 
derselben  einerseits  sowie  Verabredungen 
zu  Strikes  andererseits  schlechtweg  unter 
Strafe  stellten,  schon  durch  das  oben  in  §  8 
erwähnte  Gesetz  über  das  Koaütionsrecht 
V.  7.  April  1870  (R.G.B1.  Nr.  43)  ausser 
Wirksanikeit  gesetzt  worden.  Derzeit  ver- 
fügt das  Gesetz  nur  noch  die  civilrecht- 
liche  Unwirksamkeit  solcher  Verabredungen 
und  aller  damit  in  Zusanunenhang  stehenden 
Vereinbarungen,  ferner  die  Strafbarkeit  jener 
Eälle,  in  welchen  ein  Abgehen  von  solchen 
Verabredungen  durch  Mittel  der  Einschüchte- 
rung oder  Gewalt  zu  dem  Zwecke  gehindert 
oder  zu  hindern  versucht  wird,  um  das 
Zustandekommen,  die  Verbreitung  oder  die 
zwangsweise  Durchführung  der  Verabredung 
zu  bewirken. 

d)  Krankenversorgung.  Die  Ver- 
pflichtimg, unter  Beitragsleistung  der  Ar- 
beiter für  den  Fall  der  Erkrankung  der- 
selben Vorsorge  zu  treffen,  lag  nach  §  85 
der  Gew^erbeordnung  vom  Jahre  1859  nur 
jenen  Gewerbeinhabern  ob,  bei  welchen  eine 
besondere  Vorsorge  mit  Rücksicht  auf  die 

f  rosse  Zahl  der  Arbeiter  oder  die  Natur  der 
Beschäftigung  notwendig  erschien.  Durch 
die  Novelle  vom  Jahre  1883  (§  121)  war 
diese  Verpflichtung  den  in  eine  Genossen- 
schaft einbezogenen  Gewerbetreibenden 
schlechtweg  auferlegt  worden  und  §  89  der 
Novelle  vom  Jahre  1885  brachte  denselben 
Gnmdsatz  auch  hinsichtlich  jener  Gewerbe- 
treibenden allgemein  zur  Geltung,  die  einer 
Genossenschaft  nicht  angehören,  insbesondere 
also  der  fabrikmässig  betriebeneu  Gewerbe- 
uuternehmungen.  Derzeit  sind  aiich  diese 
Bestimmungen  durch  das  G.  v.  30.  März  1888 

Hsndwörterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


(RG.B1.  Nr.  33),  betreffend  die  Krankenver- 
sicherung der  Arbeiter,  teilweise  überholt 

e)  Streitigkeiten  aus  dem  Arbeits- 
yerhältniase.  Gewerbliche  Rechtsstreitig- 
keiten zwischen  Gewerbeinhabem  und  ihren 
Hilfsarbeitern,  femer  zwischen  Hüfsarbeitem 
desselben  Betriebes  unter  einander  sind 
durch  das  Gewerbegerichtsgesetz  vom  25. 
November  1896  den  Bezirksgerichten  und, 
wenn  für  den  betreffenden  Betrieb  ein 
Gewerbegericht  besteht,  diesem  zur  Ent- 
scheidung überwiesen.  Gewerbegerichte 
gelangten  bisher  in  Wien,  Brunn,  Reichen- 
berg  und  Bielitz,  dann  in  Lemberg,  Erakau, 
Mährisch  -  Ostrau  und  Mährisch  -  Schön- 
berg zur  Errichtung.  Sie  bestehen  aus 
einem  vom  Justizminister  aus  der  Zahl 
der  Richter  ernannten  Vorsitzenden  und 
aus  Beisitzern,  die  je  zur  Hälfte  von  den 
Unternehmern  und  den  Arbeitern,  unter 
Umständen  nach  gewissen  Betrieb^ruppen, 
aus  ihrer  Mitte  gewählt  werden.  Die  Ver- 
handlung und  Entscheidung  erfolgt  im  all- 
gemeinen nach  den  für  das  bezii*£Sfiericht- 
liche  Verfahren  in  Bagatellsachen  geltenden 
Vorschriften  der  C.P.O  in  Senaten,  die  aus 
dem  Vorsitzenden  und  je  einem  Beisitzer 
aus  dem  Unternehmer-  und  dem  Arbeiter- 
stande bestehen.  In  Streitigkeiten  bis  zu 
100  Kronen  ist  die  Entscheidung  endgiltigund 
nur  wegen  Nichtigkeitsgründen  bei  dem 
Gerichtshofe  erster  Instanz  anfechtbar.  Han- 
delt es  sich  um  einen  höheren  Betrag,  so 
kann  die  Entscheidung  mittelst  Berufung 
angefochten  werden,  über  die  der  Gerichts- 
hof erster  Instanz,  gleichfalls  unter  Beiziehung 
je  eines  Beisitzers  aus  dem  Stande  der 
Unternehmer  imd  der  Arbeiter,  endgiltig  zu 
entscheiden  hat. 

Durch  das  Gewerbegerichtsgesetz  wurde 
die  Kompetenz  der  schiedsgerichtlichen  Aus- 
schüsse der  Genossenschaften  (§§  122 — 124 
der  Novelle  zur  G.G.  v.  J.  1883)  zur  Ent- 
scheidung gewerblicher  Streitigkeiten  zwi- 
schen Genossenschaftsmitgliedern  und  ihren 
Hilfsarbeitern  nicht  berimrt.  Diese  Kom- 
petenz ist  jedoch  auf  den  Fall  eines  schrift- 
lichen oder  durch  Streiteinlassung  begrün- 
deten Kompromisses  beschränkt.  Die  Ent- 
scheidungen des  schiedsgerichtlichen  Aus- 
schusses können  vor  .  denl  ordentlichen 
Richter  und,  wo  ein  Gewerbegericht  besteht, 
vor  diesem  aus  den  in  §  595  der  C.P.O. 
angeführten  Gründen  mittelst  Klage  als 
wirkungslos  angefochten  werden.  Die  schieds- 
gerichtlichen Ausschüsse  sind  vollkommen 
paritätisch  aus  beiden  Interessentengruppen 
m  der  Weise  zu  bUden,  dass  beide  Gruppen 
eine  gleiche  Zahl  von  Schiedsrichtern,  diese 
aber  ihrerseits  den  Obmann  wählen.  Ist 
bei  der  Obmannwahl  eine  absolute  Stimmen- 
mehrheit nicht  zu  erzielen,  so  haben  die 
Schiedsrichter  der  einen  Gruppe  den  Ob- 
Auflage  IV.  29 


450 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


mann  und  den  Obmannstellyertreter  aus  den 
Angehörigen  der  anderen  Gruppe  zu  wählen, 
bei  der  nächsten  Wahlperiode  devolviert 
dann  das  Eecht  der  Obmannwahl  auf  die 
Mitglieder  der  anderen  Gruppe.  In  den 
einzelnen  Fällen  hat  dann  der  schieds- 
gerichtliche Ausschuss  in  Anwesenheit  des 
Obmanns  imd,  je  nachdem  es  sich  um  einen 
Yergleichsabschluss  oder  um  eine  Entschei- 
dung handelt,  von  je  einem  oder  je  zwei 
Beisitzern  aus  jeder  Gruppe  zu  fungieren. 
Innerhalb  dieser  Bestimmungen  hat  das 
Statut  des  schiedsgerichtlichen  Ausschusses 
die  genaueren  Festsetzungen  zu  treffen. 

Q  Iiehrlingswesen.  Betreffs  des  Lehr- 
lingswesens ist  auf  den  Art.  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung oben  Bd.  I,S.  515 
zu  verweisen.  Personen,  die  wegen  eines  aus 
Gewinnsucht  entspringenden  oder  gegen  die 
öffentliche  Sittlichkeit  verstossenden  Deliktes 
bestraft  sind,  dürfen  minderjährige  Lehr- 
linge nicht  halten  ^§  98).  Wird  eiu  be- 
stehendes Leürverhältnis  ohne  Verschulden 
des  Lehrlings  vorzeitig  aufgelöst,  so  liegt 
der  Genossenschaft  ob,  für  die  weitere  Unter- 
bringung des  Lehrlings  bei  einem  anderen 
Lehrherrn  thunlichst  vorzusorgen  (§  103  a). 

12«  Gewerbliche  Genossenscliafteii.  a) 
Obligatorischer  Charakter  und  organi- 
satorische Bestimmungen.  Mit  grösserem 
Nachdrucke,  als  es  durch  die  auf  diesem  Ge- 
biete vieh'ach  nicht  einmal  formell  zur  Durch- 
führung gelangte  G.O.  v.  J.  1859  geschehen 
war,  betont  die  Novelle  v.  J.  1883  den  Zwangs- 
charakter der  Genossenschaften.  Sie  verfügt, 
dass  unter  denjenigen,  welche  gleiche  oder  ver- 
wandte Gewerbe  in  einer  oder  in  nachbarlichen 
Gemeinden  betreiben,  mit  InbegriflF  der  Hilfs- 
arbeiter derselben,  der  bestehende  gemeinschaft- 
liche Verband  aufrecht  zu  erhalten  und,  inso- 
fern er  noch  nicht  besteht  und  es  die  örtlichen 
Verhältnisse  nicht  unmöglich  machen,  nach  Ein- 
vernehmung der  Handels-  und  Gewerbekammer, 
welche  diesfalls  die  Beteiligten  za  hören  hat, 
durch  die  Gewerbebehörde  herzustellen  sei. 

Die  Gewerbeinhaber  (Pächter)  sind  Mit- 
glieder, die  Hilfsarbeiter  der  zu  einer  Genossen- 
schaft vereinigten  Gewerbeinhaber,  mit  Ausnahme 
der  Lehrlinge,  Angehörige  der  Genossenschaft. 

Eine  Genossenschaft  kann  nach  Umständen 
auch  die  Gewerbetreibenden  und  Hilfsarbeiter 
mehrerer  Gemeinden  oder  Bezirke  und  ver- 
schiedenartiger Gewerbe  umfassen   (§  106). 

Schon  durch  den  Antritt  des  Ge- 
werbes wird  die  Mitgliedschaft  und 
die  Verpflichtung  zur  üebernahme 
der  damit  verbünde nen  Laste nbegrtin- 
d  e  t.  Die  etwa  festgesetzte  InkorporationsgebUhr 
ist  hierbei  im  voraus  zu  erlegen.  Der  Betrieb 
mehrerer  Gewerbe  verpflichtet  zur  Mitgliedschaft 
bei  allen  dafür  bestehenden  Genossenschaften 
(8  107).  Von  der  Verpflichtung:  zur 
Teil  nähme  an  der  Genossenschaft  sind 
die  Inhaber  fabrikmässlg  betriebener 
Gewerbe  unternehmungenbefreit(§  108). 
Der  territoriale  Umfang  der  einzelnen  Genossen- 
schaften wird  von  der  politischen  Landesstelle 


nach  £invemehmunja[  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer, welche  diesfalls  die  Beteiligten  zu 
hören  hat,  bestimmt.  Ebenso  können  bestehende 
Genossenschaften  vereinigt  oder,  namentlich 
unter  Ausscheidung  einzelner  Gewerbskate- 
gorieen,  getrennt  werden  (§§  109 — 112). 

Zweifel  über  die  Einreibung  einzelner  Ge- 
werbe in  eine  Genossenschaft  sind  in  gleicher 
Weise  zu  lösen  (§  112). 

Durch  die  Errichtung  von  Genossenschaften 
darf  für  niemanden  der  Antritt  oder  der  Betrieb 
eines  Gewerbes  weiter  beschränkt  werden,  als 
durch  das  Gesetz  bestimmt  ist  (§  113). 

Die  Genossenschaften  sind  oerechtici;,  sich 
zur  Wahrung  ihrer  Interessen  in  Vert)ände 
zusammenzuschliessen ,  ohne  dass  jedoch  ein 
Beitrittszwang  geübt  werden  kann  (§  114  Abs.  5). 

b)  Wirkungskreis.  Die  Genossenschaf- 
ten sollen  ihre  Fürsorge  nicht  nur  den  Mit- 
gliedern, sondern  auch  den  Angehöric^en  und 
den  Lehrlingen  zuwenden.  Die  Zwecke  der 
Genossenschaften  (§  114)  sind  ideale 
(Pflege  des  Gemeingeistes,  Erhaltung  und 
Hebung  der  Standeseb^e),  humanitäre  (Grün- 
dung von  Kranken-  und  Unterstützungskassen 
oder  -Fonds)  und  wirtschaftliche  (Förde- 
rung der  gemeinsamen  gewerblichen  Interessen 
durch  Errichtung  von  Vorschusskassen,  Roh- 
stofiflagern,  Verkaufshallen,  durch  Einführung 
des  gemeinschaftlichen  Maschinenbetriebes  und 
anderer  Erzeugun^smethoden  etc.). 

Insbesondere  fiegt  den  Genossenschaften  ob : 

a)  die  Sorge  für  die  Erhaltung:  g^eregelter  Zu- 
stände zwischen  den  Gewerbeinhabem  und 
ihren  Gehilfen,  besonders  in  Bezug  auf  den 
Arbeitsverband,  sowie  die  Errichtung  und 
Erhaltung  von  Genossenschaftsherbergen  und 
die  Arbeitsvermittelung; 

b)  die  Vorsorge  für  ein  geordnetes  Lehrlings- 
wesen durch  Erlassung  von  (der  behördlichen 
Genehmigung  unterliegenden)Bestimmun^en : 

über  die  fachliche  und  religiös-sittliche 
Ansbildunp:  der  Lehrlinge; 

über  die  Lehrzeit,  die  Lehrlingfsprü- 
fungen  und  derffl. ,  sowie  die  Üeoer- 
wachung  der  Einhaltung  dieser  Bestim- 
mungen, dann  die  Bestätigung  der  Lehr- 
zeu^nisse  und  die  Ausstellung  der  Lehr- 
briefe ; 

über  die  Bedingungen  für  das  Halten 
von  Lehrlingen  überhaupt,  sowie  über  das 
Verhältnis  der  letzteren  zur  Zahl  der  Ge- 
hilfen im  Gewerbe; 

c)  die  Bildung  eines  schiedsgerichtlichen  Aus- 
schusses (s.  oben  §  11  lit.  e),  dann  die  För- 
derung der  schiedsgerichtlichen  Institution 
zur  Austragung  von  Streitigkeiten  zwischen 
den  GenossenschaftsmitgUedem,  zu  welchem 
Zwecke  sich  auch  mehrere  Genossenschaften 
vereinigen  können; 

d)  die  Gründung  oder  Förderung  von  gewerb- 
lichen Fachlehranstalten  (Fachschulen,  Lehr- 
werkstätten und  dergl.),  und  die  Beaufsich- 
tigung derselben; 

e)  die  Vorsorge  für  die  erkrankten  Gehilfen 
durch  Gründung  von  Krankenkassen,  oder 
den  Beitritt  zu  bereits  bestehenden  Kranken- 
kassen ; 

f)  die  Fürsorge  für  erkrankte  Lehrlinge. 

Die  Genossenschaften  haben  das  Recht  und 
die  Pflicht,  über  die  ihren  Zweck  berührenden 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


451 


Verhältnisse  Berichte  und  Gutachten  zn  er- 
statten und  zn  diesem  Behufe  anch  die  öffent- 
lichen Orji^ne  in  Anspruch  zu  nehmen.  Insbe- 
sondere hegt  ihnen  die  Mitwirkung  bei  der  Ge- 
werbestatistik und  die  Begutachtung  von  Be- 
föhi^^gsnachweisen  in  zweifelhaften  Fällen  ob. 
Wo  ein  Verband  aus  allen  Genossenschaften 
eines  politischen  Bezirkes  besteht,  bildet  sein 
Ausschuss  einen  gewerblichen  Beirat  der  poli- 
tischen BezirksbehOrde  (§  114  Abs.  6).  Die 
Kompetenz  dieses  Beirates  wurde  durch  Min.- 
Verordnuny  v.  20.  März  1897  (R.G.B1.  Nr.  83) 
näher  bestimmt. 

c)  Pflichten  der  Mitglieder.  Ueber  die 
materielle  Fundierung  der  Genossen- 
schaften bestimmt  §  115,  dass  behördlich  ge- 
nehmigte und  in  ihrer  Verwendung  teilweise 
gesetzlich  gebundene  Aufnahme-  (Inkorporations-) 
«bühren  den  Mitgliedern,  Aufnahme-  (Aufding-) 
und  Freisprechgebtthren  den  Lehrlingen  aufer- 
legt werden  können.  Im  übrigen  ist  das  Er- 
fordernis, mit  Ausnahme  der  Beiträge  für  die 
Gehilfenkrankenkasse,  soweit  nicht  Yermögens- 
erträgnisse  zur  Verfücfung  stehen,  durch  Um- 
lagen zu  decken,  die  den  Mitgliedern  nach  dem 
durch  das  Statut  bestimmten  Schlüssel  aufzu- 
erlegen und  nötigenfalls  im  Verwaltungswege 
einzutreiben  sind. 

Zur  Gehilfenkrankenkasse  sind  die  Gewerbe- 
inhaber und  die  Gehilfen,  erstere  mit  keines- 
falls mehr  als  der  Hälfte  der  Gehilfenbeiträge 
beitragspflichtig  (§  121  Abs.  3). 

Zur  Teilnahme  an  den  von  einer  Genossen- 
schaft errichteten  Geschäftsuntemehmune^en 
kann  —  Fälle  der  Errichtung  aus  öffentlichen 
Rücksichten  ausgenommen  —  niemand  wider 
seinen  Willen  herangezogen  werden. 

Dagegen  kann  bei  genossenschaftlichen 
Meisterunterstützungs-  oder  Meisterkranken- 
kassen der  Beitrittszwang  mit  Bewillig^ung  der 
Gewerbebehörde  für  alle  Genossenschaftsmit- 
fi^lieder  ausgesprochen  werden.  Zur  Beschluss- 
mssung  der  Genossenschaft  über  die  Errichtung 
solcher  Geschäftsuntemehmungen  und  Kassen, 
die  auf  Grund  der  hierfür  geltenden  allgemeinen 
Gesetze  (Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossen- 
schaf tsgesetz,  Hiifskassengesetz)  zu  erfolgen  hat, 
sowie  über  die  Teilnahme  der  Genossenschaft 
daran  oder  die  Subventionierung  durch  die  Ge- 
nossenschaft ist  seit  der  Novelle  v.  J.  1897  nur 
noch  eine  Majorität  von  '/^  der  Abstimmenden 
erforderlich  (§  115  a). 

d)  Verwaltungsorgane.  Der  Verwaltungs- 
apparat ist  einigermassen  umständlich.  Organe 
der  Genossenschaft  sind: 

1.  die  Genossenschaftsversammlung  (§§ 
119 — 119  b).  Sie  besteht  aus  allen  stimm- 
berechtigten MitgUedem  und  aus  zwei  bis 
sechs  Delegierten  der  Gehilfenversammlung, 
letztere  mit  beratender  Stimme.  Sie  ist 
mindestens  einmal  jährlich  abzuhalten.  Ihr 
liegt  die  Beschlussfassung  in  allen  wichtigen 
Angelegenheiten  und  die  Vornahme  verschie- 
dener Wahlen  ob. 

2.  Die  Genossenschaf  tsvorstehung ,  be- 
stehend ans  dem  Vorsteher  und  dem  Aus- 
schusse (§§  119  c— 119  f)  Durch  Statut  kann 
auch  den  Gehilfen  eine  Vertretung  im  Aus- 
schusse eingeräumt  werden.  Die  Vorstehung 
hat  {§  125]  Über  die  Mitglieder  und  die  Ange- 
hörigen bei  Verletzung  der  Genossenschaftsvor- 


schriften   ein   Disciplinarrecht    (Verweis    oder 
Geldstrafe  bis  20  K.). 

3.  Die  speciellen  Organe  der  Gehilfen- 
krankenkasse (§§  121— 121h)  (eine  eventuell 
aus  Delegierten  zn  bildende  Generalver- 
sammlung, ein  Vorstand  und  ein  Ueber- 
wachungsaussschuss,  die  zu  \  von  den  Gehilfen 
und  zu  ^la  von  den  Gewerbeinhabem  zu  wählen 
sind. 

4.  Der  oben  in  §  11  lit.  e  erwähnte  schieds- 
gerichtliche Ausschuss  (§§  122—124),  der  auch 
über  Unterstützungsansprüche  von  Gehilfen 
gegen  die  Krankenkasse  zu  entscheiden  aus- 
schliesslich und  ohne  dass  Klagen  oder  Rechts- 
mittel dagei^en  zulässig  wären,  kompetent  ist. 

5.  Kein  eigentliches  Organ  der  Genossenschaft, 
aber  doch  kraft  gesetzlicher  Vorschrift  bei  jeder 
Genossenschaft  zu  konstituieren,  sind  schliesslich 
die  Gehilfenversammlung  und  die  Gehilfenvor- 
stehung,  die  aus  dem  Obmanne  und  dem  Ge- 
hilf enausschusse  besteht  (§§  120  und  120  a). 
Die  Gehilfenversammlunfi^  ist  jeweils  auf  Ver- 
langen des  Genossenschaftävorstehers  einzu- 
berufen. Sie  besteht  aus  allen  stimmberechtigten 
Gehilfen  der  in  der  Genossenschaft  vereinigten 
Betriebe  und  aus  zwei  bis  sechs  Delegierten 
der  Gewerbeinhaber,  letztere  mit  beratender 
Stimme.  Die  Gehilfenversammlung  hat  die 
Interessen  der  zur  Genossenschaft  gehörigen 
Gehilfen  wahrzunehmen  und  zu  erörtern  und 
als  Wahlkörper  für  verschiedene  Wahlen  zu 
dienen.  Sie  ist  aber  zur  Förderung  der  Inte- 
ressen der  Gehilfen  nur  soweit  berechtigt,  als 
diese  Förderung  den  Zwecken  der  Genossenschaft 
nicht  widerstreitet,  und  zur  Vertretung  der  Ge- 
hilfeninteressen und  zur  Vornahme  von  Wahlen 
nur  insofern,  als  Gesetz  oder  Statut  sie  hierzu 
ermächtigen. 

Wenn  sich  unter  den  Angehörigen  einer 
Genossenschaft  in  grösserer  Zahl  zu  unterge- 
ordneten Hilfsdiensten  verwendete  Personen  be- 
finden, können  für  sie  abgesonderte  genossen- 
schaftliche Institutionen  (schiedsgerichtliche 
Ausschüsse ,  Hilf sarbeiterversamm  hingen  und 
Krankenkassen)  gebildet  werden  (§  106  Abs.  5). 
Andere  Organe  können  durch  das  Statut  ge- 
schaffen werden. 

e)  Statute.  Innerhalb  dieser  principiellen 
Bestimmungen  des  Gesetzes  sind  für  jede  Ge- 
nossenschaft specielle  Statuten  zn  entwerfen 
(§  126).  Das  Genossenschaftsstatut  unterliegt 
der  Schlussfassung  der  Genossenschaftsversamm- 
lung (§  119  b)  und  der  behördlichen  Genehmigung 
(§  126).  Diesem  Statut  sind  das  Statut  für  den 
schiedsgerichtlichen  Ausschuss,  das  der  Beschluss- 
fassung der  Gehilfenversammlung  unterliegende 
Statut  der  Gehilfenversammlung,  endlich  das 
von  der  Generalversammlung  der  Krankenkasse 
zu  beschliessende  Statut  der  Krankenkasse  als 
integrierende  Bestandteile  anzureihen  (§  126). 
Auch  diese  unterliegen  der  staatlichen  Geneh- 
migung. 

f)  Staatsaufsicht.  Die  Genossenschaften 
stehen  unter  der  Aufsicht  der  Behörde,  die 
über  Beschwerden  gegen  Beschlüsse  der  Ver- 
sammlung oder  der  vorstehung  nach  Einver- 
nehmung beider  Teile  entscheidet,  und  zur 
Ueberwachung  eines  gesetzmässigen  Vorgfanges 
bei  den  Genossenschaften  eigene  Kommissäre 
bestellt.  Ordnuugsmäs^i^  und  innerhalb  des 
gesetzlich  obliegenden  Wirkungskreises  gefasste 

29* 


452 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


Beschlüsse  der  Genossenschaftsversainmlnng  sind 
im  Verwaltungswege  vollstreckbar  (§  127). 

Ein  Bericht  über  die  Jahresversammlung 
und  die  ordnungsmässig  belegte  Schlossrechnnng 
über  die  Einnahmen  und  Ausgaben  der  Ge- 
nossenschaft sind  der  Gewerbebehörde  alljähr- 
lich vorzulegen  (§  115  b). 

Durch  Min.-Verordnung  vom  31.  Mai  1899 
(R  G.B1.  Nr.  98)  wurden  zur  Förderung  des  Ge- 
nossenschaftswesens eigene,  vom  Handelsminister 
zu  ernennende  Genossenschaftsinstruktoren  ge- 
schaffen, die  den  Genossenschaften  aufklärend 
und  hilfreich,  der  Gewerbehörde  aber  bei  der 
Uebung  ihrer  Aufsichtsthätigkeit,  namentlich 
durch  Vornahme  specieller,  das  Genossenschafts- 
wesen betreffender  Erhebungen,  und  in  wich- 
tigeren organisatorischen  Angelegenheiten  be- 
ratend und  unterstützend  zur  Seite  stehen 
sollen.  Insbesondere  liegt  ihnen  ob,  die  Schaffung 
genossenschaftlicher  Einrichtungen  für  die  wirt- 
schaftlichen, humanitären  und  BUdungsinteressen 
der  Mitglieder  und  Anffehörigen  der  Genossen- 
schaft zu  fördern  und  auf  die  zweckentsprechende 
Or&fanisierun^  der  Genossenschaften  und  ihrer 
Nebeninstitutionen  und  Verbände  hinzuwirken. 

13.  Strafbestimmnngen.  Die  üeber- 
tretungen  der  Vorschriften  der  Gewerbeord- 
nung werden  mit  Verweisen,  mit  Geldbussen 
bis  zu  800  Kronen,  mit  Arrest  bis  zu  3  Mo- 
naten und  mit  Entziehung  der  Gewerbe- 
berechtigung für  immer  oder  auf  bestimmte 
Zeit  bestraft  (§  131),  Unabhängig  davon 
kann  Gewerbetreibenden,  die  sich  grober 
Pflichtverletzungen  gegen  ihre  Lehrlinge 
und  jugendlichen  Hilfsarbeiter,  namentlich 
bezüglich  des  den  Lehrlingen  obliegenden 
Schiubesuches  schuldig  machen  oder  sittlich 
bedenklicb  erscheinen,  das  Recht  Lehrlinge 
oder  jugendliche  Hilfsarbeiter  zu  halten,  zeit- 
lich oder  dauernd  nach  Anhören  der  Ge- 
nossenschaft entzogen  werden  (§  137).  In 
der  Regel  sind  gegen  selbständige  Gewerbe- 
treibende Geldbussen,  gegen  Gehilfen  und 
Lehrlinge  Arreststrafen  zu  verhängen.  Gegen 
erstere  haben  Arreststrafen  nur  dann  einzu- 
treten, wenn  eine  üebertretung  mit  beson- 
ders erschwerenden  Umständen  verbunden 
ist,  oder  supplelorisch  bei  Zahlungsunver- 
mögen (§  135).  Wird  ein  Gewerbe  durch 
einen  Stellvertreter  oder  Pächter  betrieben, 
so  sind  die  Geldstrafen  gegen  ihn  unter 
Haftung  des  Gewerbeinhabers  zu  verhängen 
(§  139).  Die  eingebrachten  Geldstrafen 
üiessen  in  die  Genossenschaftskrankenkasse, 
zu  welcher  der  Vermi^ilte  beitragspflichtig 
ist,  und  in  Ermangelung  dieser  Voraus- 
setzung in  den  Armenfonds  (§  151). 

14.  Behörden  und  Verfahren.  Die  poli- 
tischen Verwaltimgsbehörden  erster  Instanz 
sind  auch  die  erste  Instanz  in  Gewerbean- 
gelegenheiten. Ihnen  kommt  insbesondere 
bei  konzessionierten  Gewerben  die  Erteilung 
der  Konzession  zu,  sofern  nicht  hinsichtlich 
einzelner  Gewerbe  diese  Befugnis  den  poli- 
tischen Landesstellen  oder  dem  Ministerium 


des  Innern  vorbehalten  ist  (§  141).  Sie 
führen  das  Gewerbsregister  (§  145)  und 
haben  von  jeder  Ausfertigung  eines  Ge- 
werbescheines und  Erteilung  einer  Konzes- 
sion die  Genossenschaft,  welche  es  betrifft, 
in  Kenntnis  zu  setzen  (§  144).  —  In  Ge- 
werbestraffällen ist  das  Verfahren  in  der 
Regel  mündlich  (§  147).  Der  Oberbehörde 
steht  das  Strafmüdenmgs-  und  Strafnach- 
sichtsrecht  zu  (§  149). 

16.  Rückblicke.  Die  Gewerberefonn 
der  Jahre  1883  und  1885,  die  —  von  den 
Bestimmungen  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiter- 
schutzes abgesehen  —  durch  den  Befähi- 
gungsnachweis für  die  handwerksmässigen 
Gewerbe  und  die  Zwangsgenossenschaften 
ihre  Signatur  erhielt,  war  in  der  Haupt- 
sache der  Initiative  des  Abgeordnetenhauses 
entsprungen,  in  dem  die  konservativen  Par- 
teien kurz  vorher  die  Fülirung  erlangt  hatten. 
Sie  bezweckte,  die  in  der  Gewerbeordnung 
vom  Jahre  1859  übermässig  verfolgte  indi- 
vidualistische Richtung  zurückzudrängen  und 
dem  Staate  und  den  autonomen  Korpora- 
tionen unter  Neubelebung  des  genossensdiäft- 
liehen  Geistes  eine  entsprechende  MnflusB- 
nahme  auf  das  G^werbewesen  zu  sichern. 
Auf  diese  Weise  hoffte  man,  einerseits  den 
Handwerkerstand  gegen  Schleuderkonkurrenz 
zu  schützen,  andererseits  ihm  eine  Stütze 
in  dem  Kampfe  mit  der  Grossindustrie  zu 
bieten.  Gleichzeitig  sollte  durch  eine  kräf- 
tige Arbeiterschutzpolitik  die  wirtschaftliche 
und  soziale  Lage  der  gewerblichen  Hilfsar- 
beiter, namentlich  im  Grossbetriebe,  gehoben 
und  das  Lehrverhältnis,  das  beinabe  auf 
das  Niveau  eines  reinen  Arbeitsverhältnisses 
herabgesunken  war,  seinem  eigentlichen 
Zwecke  entsprechender  gestaltet  werden. 

Dass  die  Ziele  der  neueren  Gewerbege- 
setzgebung bisher  auch  nur  annähernd  er- 
reicht worden  seien,  lässt  sich  nicht  be- 
haupten. Alan  darf  aber  nicht  übersehen, 
dass  die  Reform  auch  da,  wo  sie,  wie  bei 
den  Zwangsgenossenschaften,  formell  an  be- 
reits Bestehendes  anknüpfte,  zu  ihrer  Durch- 
führung thatsächlich  eine  vollständige  Neu- 
organisierung erforderte.  Von  vereinzelten 
Ausnahmen  abgesehen,  war  das  eigentliche 
genossenschaftliche  Leben  sogar  an  den 
Hauptsitzen  des  alten  Innungswesens  im 
Jahre  1883  bereits  vollständig  erloschen. 
Auch  stand  die  ziu-  Diu-chfühnmg  des  Ge- 
setzes berufene  Bureaukratie  den  neuen  Auf- 
gaben ziemlich  fremd  gegenüber.  Selbst  in 
den  beteiligten  Kreisen  war  die  Apathie  und 
die  Antipathie  gegen  die  Reform  gross.  Die 
Anschauung,  dass  der  Bestand  von  Zwangs- 
genossenschaften eine  unerträgliche  Krän- 
kimg  des  Princips  der  wirtschaftlichen  Frei- 
heit bedeute,  war  noch  die  herrschende. 
Da  auch  die  Gewerbeordnung  vom  Jalire 
1859  Zwangsgeuossenschaften  normiert  hatte, 


Gewerbegesetzgebung  (öesterreich) 


453 


ohne  dass  diese  Bestimmungen  je  ziu*  wirk- 
lichen Anwendung  gekommen  waren,  so 
hatte  man  überdies  mit  der  bereits  einge- 
wurzelten Gewohnheit,  ein  unbequemes  Ge- 
setz imausgeführt  zu  lassen,  zu  rechnen. 

Die  formellen  Er^bnisse  der  Genossen- 
schaftsstatistik sind  in  Anbetracht  der  eben 


besprochenen  Momente,  die  der  Dürchfilh- 
rung  des  Gesetzes  im  Wege  standen,  zum 
grösseren  Teile  nicht  unbefriedigend. 

Yon  sämtlichen  zu  Beginn  1896 
bestehenden  Genossenschaften  wur- 
den errichtet: 


vor  1860 

zwischen 

1860 
und  1883 

seit  1883 

im 

ganzen 

in  den  Grossstädten  (Wien,  Prag,  Lem- 
berff,  Triest,  Graz,  Brunn)    .... 

in  anderen  Orten  mit  mehr  als  20000 
Ginwohnem 

88 
33 

26 

59 
i66 

79 

23 

33 

57 
217 

156 

285 
458 

755 
2910 

323 

^41 

in  Orten  über  10  000—20  000  Ein w.     . 
„       „        „       4000-10000      „ 
„       „    bis  zu  4000                   „ 

517 
871 

3293 

Zusammen 

372 

409 

4564 

5  345 

Territorial  sind  die  unterschiede  in  der 
Verbreitung  der  Genossenschaf  ten  erheblich. 
Die  Genossenschaften  sind  entwickelter  in 
Niederösterreich ,  Oberösterreich,  Salzburg, 
Steiermark,  Böhmen  und  Mähren,  dagegen 
nur  ungenügend  in  Krain,  Küstenland,  Tirol 
und  in  Galizien  und  der  Bukowina,  gar 
nicht  zur  Errichtung  gelangt  in  Dalmatien 
und  in  Wälschtirol. 


Von  grosser  Bedeutung  für  die  Erfüllung 
der  den  Genossenschaften  zugewiesenen  Auf- 
gaben ist  die  Art  der  Zusammen- 
setzung der  Genossenschaften,  und 
zw^ar  hinsichtlich  der  darin  vereinigten 
Gewerbe  wie  hinsichtlich  ihres  terri- 
torialen Umfanges. 

Es  bestanden  Ende  1894: 


Genossenschaften 


Anzahl 


in% 


mit 
Mitgliedern 


Anzahl 


in»/« 


mit  GehUfen  und 
Lehrlingen 

Anzahl        in  ^o 


für  einzelne  Gewerbe  (reine  Fach- 
genossenschaften]       

für  verwandte  Gewerbe   .... 

für  nicht  verwandte  Gewerbe  .    . 

Kollektivgenossenschaften  (für  alle 
oder  die  tiberwiegende  Anzahl 
aller  im  Sprengel  bestehenden 
Genossenschaften) 


552 
440 

2493 


1832 


10,4 

8,3 
46,9 


53  959 
61  784 

196  219 


9,7 
11,2 

35,4 


34,4 


242  373 


43,7 


94460 
169  803 
264  150 


164430 


13,5 
24,5 
38,3 


23,7 


Zusammen    |       5317       |  100 


554  335     I  100 


692  753     I  100 


wobei  die  Gesamtzahl  der  Gehilfen  sich  mit 
518348,  die  der  Lehrlinge  mit  174405  be- 
zifferte. 

Andererseits   bestanden    1894   mit   dem 
Umfange : 


einer  Ortsgemeinde  .    .    . 

einer  Ortsgemeinde ,  die 
g[leichzeiti^  der  poli- 
tische Bezirk  ist  (Städte 
mit  eigenem  Statut) 

mehrerer     Ortsgemeinden 


327 


485 


6,2 


9,1 


Genossenschaften 


in  Vc 


desselben  politischen  Be- 
zirkes   

des  ganzen  politischen  Be- 
zirkes   

mehrerer  Ortsgemeinden 
verschiedener  politischer 
Bezirke 


Zusammen 


78,3 


2,1 


4,3 


100 


wobei    vereinzelt    sogar    ganze    Kronlands- 
genossenschaften  (10)  vorkommen. 

Gehilfenversammlungen      waren 
Ende  1894  konstituiert  im  ganzen  3196,  für 


454 


Gewerbegesetzgebuag  (Oesterreich) 


3229  (Genossenschaften,  und  da  von  den 
damals  bestehenden  5317  Genossenschaften 
522  überhaupt  keine  Gehilfen  umfassten, 
stellt  sich  die  Zahl  der  bis  dahin  der  ge- 
setzlichen Vorschrift  ungeachtet  nicht  kon- 
stituiei-ten  Gehilfen  Versammlungen  auf  1566. 

Schiedsgerichtliche  Ausschüs- 
se, deren  Bildung  gleichfalls  obligatorisch 
ist,  weist  die  Statistik  für  Ende  1894  in  der 
Zahl  von  3049  für  3197  Genossenschaften 
aus.  Die  Zahl  der  dieser  Institution  über- 
haupt entbelu-enden  Genossenschaften  be- 
ziffert sich  also  mit  1598. 

Nach  dem  Krankenversichenmgsgesetze 
eingerichtete  G  en  ossen  Schafts  kr  an - 
kenkassen  bestanden  im  Jahre  1896  im 
ganzen  844  mit  einem  Mitgliederstande  von 
357 179  Personen,  nach  dem  G.  v.  29.  April 
1889  (R.G.B1.  Nr.  39)  gebildete  Lehrlings- 
krankenkassen  317  mit  55302  Yer- 
sicherten,  Meisterkrankenkassen  42, 
andere  ünterstützungskassen  23. 

Für  die  Arbeitsvermittelung  be- 
dienten sich  Anfang  1896  von  5345  Ge- 
nossenschaften 

Genossenschaften 
ausschliesslich    ihres    eigenen 
Arbeitsnachweises  ....  177 


ihres  eigenen  Arbeitsnach- 
weises und  einer  ander- 
weitigenArbeitsvermittelung 

nur  einer  anderweitigen  Ar- 
beitsvermittelnn^  (private 
Vermittler,  Vereine,  Anstal- 
ten,  Zeitungsannoncen  etc.) 

keiner  nachweisbaren  Arbeits- 
vermittelong  irgend  welcher 
Art 


Genossenschaften 


216 


I  716 


3236 


Für  die  Lehrlingsvermittelung 
liatten  zu  eben  dieser  Zeit  eine  eigene  Stelle 
167  Genossenschaften,  und  es  bedienten  sich 
einer  anderweitigen,  nicht  genossenschaft- 
lichen VermittelungssteUe  neben  ihrer  eige- 
nen 39  und  beim  Mangel  einer  eigenen 
LehrlingsvermittelungssteUe  208  Genossen- 
schaften. 

Genossenschaftliche  Arbeitsvermittelungs- 
stellen  sind  entstanden: 


für  für 

Gehilfen    Lehrlinge 


vor  dem  Jahre  1860 
zwischen  1860  und  1883 
seit  1883  bis  1896 


71 
67 

255 


51 
20 

96 


Zusammen  393 


167 


Es  haben  den  Sitz : 


Genossenschaftliche 
Arbeitsvermittelungss  teilen 


für  GehUfen 


für  Lehrlinge 


in  den  Grossstädten 

in  anderen  Orten  mit  mehr  als  20000  Einwohnern 
in  Orten  über  10000  bis  20000  Einwohnern     .... 

in  Orten  über  4000  bis  10000  Einwohnern 

in  Orten  bis  zu  4000  Einwohnern 

Zusammen 


Besondere  Beachtung  verdient  das  im 
Jalire  1895  in  Innsbruck  errichtete  Ver- 
mittelungsbureau  des  tirolischen  Gewerbe- 
genossenschaftsverbandes, das  die  Arbeits- 
und Ijehrlingsvermittelung  für  alle  Verbands- 
genossenschaften Deutschtirols  besorgt,  die 
nicht  in  der  Lage  sind,  eigene  Arbeits- 
vennittler  oder  Herbergen  zu  halten. 

Eine  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der 
Unterstützung  Arbeitsloser  weisen 
nur  1 19  (Jenossenschaf ten  aus,  genossen- 
schaftliche Fach-  und  Gewerbe- 
fortbildungsschulen, die  gegenüber 
den  staatlichen  Anstalten  für  das  gewerb- 
liche Bildungswesen  an  Zahl  weit  zurück- 
stehen, bestanden  1894  nur  122  und  eigene 
genossenschaftliche  Unterneh- 
mungen wirtschaftlicher  Natur, 
(leren  Bildung  erst  durch  die  Novelle  vom 


Jahre  1897  einigermassen  erleichtert  worden 
ist,  nur  31. 

Die  vorstehenden  Daten  über  den  Be- 
stand genossenschaftlicher  Organe  und  Li- 
stitutionen  gestatten  jedoch  noch  keinen 
Rückschluss  auf  deren  Gebarung  und 
die  Erfolge  ihrer  Bethätigung.  Dies 
gilt  namentlich  von  der  Zahl  der  Genossen- 
schaften und  der  konstituierten  Gehüfen- 
versammlungen ,  die  vielfach  nur  formell 
gebildet  worden,  über  den  von  der  Behörde 
erzwungenen  Konstituierungsakt  aber  nicht 
hinausgekommen  sind.  Es  wurde  offiziell 
zugestanden  und  winl  in  noch  höherem 
Masse  durch  die  Berichte  der  Handels- 
kammern dargethan,  dass  viele  Genossen- 
schaften keine  oder  nur  eine  sehr  geringe, 
auf  die  Einhebung  der  Beiträge  und  Um- 
lagen der  Mitglieder  beschränkte  Thätigkeit 


Gtewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


455 


entfallen.  Allgemein  ist  die  Klage  über  die 
Interessenlosigkeit  der  Mitglieder,  ja  nicht 
selten  selbst  über  die  Unzulänglichkeit  der 
an  die  Spitze  der  Genossenschaften  gestell- 
ten Personen.  Aehnliche  Verhältnisse  herr- 
schen bei  den  schiedsgerichtlichen  Aus- 
schüssen. Dagegen  hat  das  Krankenkassen- 
wesen durch  die  den  Versicheningszwang 
normierenden  Gesetze  einen  mächtigen  Im- 
puls erfahren.  Hinsichtlich  der  Arbeits- 
vermittelung durch  die  Genossenschaften  ist 
zu  beachten,  dass  aiif  diesem  Gebiete  eine 
Reihe  anderer  Institutionen  gleichwertiger 
Natur  (städtische  Arbeitsnachweise,  Natural- 
verpflegstationen ,  Yereine,'  namentlich  die 
Gewerkvereine)  besteht,  wenngleich  nicht 
zu  leugnen  ist,  dass  auch  dadurch  dem  vor- 
handenen Bedürfnisse  nicht  annähernd  ge- 
nügt wird  und  dass  die  Uebelstände  des 
privaten  Vermittelimgswesens  mitunter  recht 
bedeutend  sind. 

16.  Ausblicke.  Die  verschiedenen  No- 
vellen zur  Gewerbeordnung  haben  die  Be- 
strebungen nach  weiteren,  zum  Teil  grund- 
legenden Aendenmgen  nicht  zur  Ruhe  kom- 
men lassen,  ja  mitimter  erst  geweckt.  Jedes- 
mal beim  Sessionsbeginne  fand  das  Ab- 
geordnetenhaus eine  Reihe  von  Initiativ- 
anträgen verschiedener  Abgeordneter  auf 
seinem  Tische  vor.  Alle  diese  An- 
träge haben  von  der  fortdauernden  Not- 
lage des  Kleingewerbestandes  ihren  Aus- 
gangspunkt genommen,  zum  Teil  wohl  auch 
in  der  Enttäuschung  dieser  Kreise,  die  an 
die  Reform  der  achtziger  Jahre  übermässige 
Hoffnungen  geknüpft  hatten,  iliren  Ursprung. 
Sie  gehen  dahin,  den  Einfluss  der  Genossen- 
sch^ten  auf  die  Verwaltung  des  Gewerbe- 
wesens zu  erweitern,  die  Zahl  der  konzessio- 
nierten und  der  handwerksmässigen  Gewerbe 
zu  vermehren  und  deren  Antritt  zu  er- 
schweren, die  Fabriksunternehmungen,  falls 
sie  Gegenstände  handwerksmässiger  Gewerbe 
erzeugen,  dem  Befähigungsnachweise,  dem 
Genossenschaftszwange  und  anderen,  weit- 
gehenden Beschränkungen  zu  unterwerfen, 
den  Befähigungsnachweis  ferner  auch  auf 
die  Mehrz£Üü  der  Handelsgewerbe  auszu- 
dehnen und  der  gewerblichen  Thätigkeit  der 
einzelnen  auch  durch  Einschränkung  des 
Umfanges  der  einzelnen  Handels-  und  Ge- 
werbebefugnisse engere  Grenzen  zu  ziehen. 
Femer  werden  eine  Verlängerung  der  Lehr- 
zeit und  Einschränkung  des  Agentenwesens, 
dann  behufs  besserer  Wahnmg  der  Standes- 
interessen die  obligatorische  Schaffung  von 
Verbänden  zwischen  den  Genossenschaften 
eines  Bezirkes,  mit  der  Fakultät,  den  Ver- 
band auch  auf  mehrere  Bezirke  auszudehnen, 
verlangt. 

Airf  der  anderen  Seite  aber  dauert  die 
Gegnerschaft  gegen  den  Befähigungsnach- 
weis und  die  Zwangsgenossenschaften  unter 


Hinweis  auf  die.  geringen  damit  erzielten 
Erfolge,  die  ausser  Verhältnis  zti  den  Nach- 
teilen dieser  Institutionen  ständen,  noch  un- 
geschwächt fort. 

Weder  die  eine  noch  die  andere  Rich- 
tung dürfte  in  wesentlichen  Punkten  in 
der  Gesetzgebung  zum  Durchbruche  gelan- 
gen, wie  denn  auch  die  Regierung,  is  sie 
zum  letzten  Male  (im  Dezember  1895)  dem 
Abgeordnetenhause  eine  neue,  das  ganze 
Gebiet  der  Gewerbeordnung  umspannende 
Vorlage  machte  (die  niu*  in  einzelnen  Teilen 
zum  Gesetze  [vom  23.  Febniai*  1897J  ge- 
worden ist),  an  den  Grundlagen  des  gelten- 
den Rechtes  festgehalten  hat.  Immerhin 
dürften  einzelne  Vorschläge  auch  in  der 
neuestens  —  im  März  1900  —  von  der  Re- 
gierung angekündigten  umfassenden  Novelle 
zur  Gewerbeordnung  Beachtung  finden  und 
auf  diese  Weise  ihre  Verwirklichung  durch 
die  Gesetzgebung  erhalten.  Dies  gilt  na- 
mentlich von  gewissen  Anregungen,  die  auf 
die  Beseitigung  einzelner  zu  Tage  getrete- 
ner Härten  des  geltenden  Gesetzes  abzielen, 
aber  auch  an  einer  anderen  Gruppe  von 
Anträgen,  die  durch  massvoUe  Fortbildung 
der  seit  dem  Jahre  1883  in  die  Gesetz- 
gebung eingeführten  Principien,  diesen  auch 
dort  Geltung  verschaffen  wollen,  wo  deren 
Unanwendbarkeit  sich  als  ein  entschiedener 
und  mit  erheblichen  Uebelständen  verbunde- 
ner Mangel  fühlbar  gemacht  hat 

Im  allgemeinen  wäre  es  aber  kaum  ^recht- 
fertigt, die  an  sich  gewiss  recht  unbefriedigen- 
den Daten  über  die  Wirkungen  der  Novelle  vom 
Jahre  1883  und  namenöich  der  Zwangs- 
genoseen Schäften  als  entscheidendes  Argu- 
ment gegen  die  Priudpien  der  geltenden 
Gewerbeordnung  zu  verwerten. 

Auf  eine  Reihe  von  Momenten,  die  der 
Durchführung  der  Novelle  vom  Jahre  1883 
hinderlich  entgegenstanden,  wurde  schon 
in  einem  anderen  Zusammenhange  hinge- 
wiesen. Namentlich  bei  Gesetzen,  die  auch 
einen  erziehlichen  Inhalt  haben,  und  über- 
dies den  Kreisen,  an  die  sie  sich  wenden, 
zunächst  gewisse  Opfer  auferlegen,  wird  es 
immer  ziemlich  lange  währen,  bis  sie  that- 
sächhch  Eingang  in  die  Bevölkerung  finden 
und  unter  der  unumgänglich  notwendigen 
Mitwirkung  dieser  praktisch  Geltung  er- 
langen. Hierzu  kommt,  dass  die  Novellen 
zur  Gewerbeordnung,  die  keinem  einheitlichen 
Plane  entsprungen  und  das  Ergebnis  mannig- 
facher Kompromisse  und  langwieriger  Be- 
ratungen verhältnismässig  grosser  Körper- 
schaften sind«  an  zahlreichen  Unklarheiten  lei- 
den,die  dieAnw^endung  des  Gesetzes  notwendi- 
gerweise sehr  erschweren.  Auch  lässt  sich 
nicht  verkennen,  dass  die  organisatorischen 
Bestimmungen  über  die  Genossenschaften 
übermässig  verwickelt  sind  und  einen  Ver- 
waltungsapparat erheischen,   der  bei  vielen 


456 


öewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


Genossenschaften  ganz  angser  Verhältnis  zu 
ihren  speciellen  Aufgaben  steht.  Zahlreich 
sind  deshalb  die  Genossenschaften,  deren 
Thätigkeit  sich  in  reinen  Formalitäten  er- 
schöpft und  die  dadurch  das  ganze  Institut 
diskreditieren.  Bei  Genossenschaften  mit 
einem  übermässig  grossen  Sprengel  oder 
mit  einer  allzugrossen  Disparität  der  darin 
vereinigten  Gewerbe  wird  der  Gemeingeist, 
der  stets  die  erste  Voraussetzung  einer 
wirklich  gedeihlichen  Wirksamkeit  der  Ge- 
nossenschaft bilden  wird,  kaum  je  zu  einer 
nennenswerten  Entwickelung  gelangen  kön- 
nen. Andererseits  aber  sind,  dort  wo  die 
Verhältnisse  in  dieser  Hinsicht  günstiger 
lagen,  immerhin  beachtenswerte  Erfolge 
durch  die  Genossenschaften  erzielt  worden. 

An  Stelle  der  von  der  Sozialdemokratie 
angestrebten  Organisienmg  der  gesamten 
Albeiterschaft  in  einer  einheitlichen,  dem 
Unternehmertum  geschlossen  und  naturge- 
mäss  mehr  oder  weniger  feindlich  gegen- 
überstehenden Klasse  hat  die  Gewerbeord- 
nung seit  dem  Jahre  1883  eine  berufsge- 
nossenschaftliche Gliederung  des  Kleinge- 
werbes sich  zur  Aufgabe  gesetzt.  In  den 
kleinen  Gruppen  der  einzelnen  Genossen- 
schaften sucht  sie  die  sachlich  oder  örtlich 
sich  nahestehenden  Betriebe  und  mit  diesen 
gleicherweise  die  Unternehmer  wie  die  Hilfs- 
arbeiter, die  darin  thätig  sind,  zu  Einheiten  zu- 
sammenzufassen. Nach  aussen  soll  an 
Stelle  des  Klassengegensatzes  thun- 
lichst  der  Berufsunterschied  treten, 
nach  innen  soll  die  Reibung  zwischen 
Untemehraem  und  Hilfsarbeitern  dadurch 
vermindert  und  die  Ausgleichung  vorhande- 
ner Interessenkonflikte  dadurch  erleichtert 
werden,  dass  sich  jeweils  nur  kleine 
Gruppen  unmittelbar  Beteiligter  mit 
ganz  bestimmten  sachlichen  Postu- 
laten  gegenüberstehen. 

Die  Entwickelung  des  Genossenschafts- 
wesens wird  also  in  einer  Fördenmg  der 
eigentlichen  Fachgenossenschaften  und  der 
Genossenschaften  mit  einem  nicht  allzu 
grossen  Sprengel,  unter  Zusammenfassung 
der  einzelnen  Genossenschaften  in  grössere 
Verbände,  ferner  darin  zu  suchen  sein,  dass 
den  Genossenschaften  in  höherem  Masse  als 
bisher  eine  Bethätigung  auf  dem  eigentlidi 
wirtschaftlichen  Gebiete  ermöglicht  wird. 
Solche  aus  der  Gemeinsamkeit  der  mate- 
riellen Interessen  sich  ergebende  Impulse, 
deren  bisher  fast  alle  Genossenschaften  ent- 
raten  mussten,  wären  sicherlich  geeignet, 
das  genossenschaftliche  Leben  auch  in  an- 
deren Beziehungen  zu  heben.  Die  Thätigkeit 
der  Genoswsenschaften  zu  wecken  und  in  die 
richtigen  Bahnen  zu  lenken,  wird  die  vor- 
nehmste Aufgabe  der  kürzlich  geschaffenen 
Genossenschaftsinstruktoren  sein.  Sie  finden 
das  Feld  in  einzelnen  Orten  bereits  vorbe- 


reitet, da  die  Regierung  in  den  letzten  Jahren 
eine  beachtenswerte  Aktion  zxir  Förderung 
des  Kleingewerbes  durch  Einfühnmg  be- 
währter Arbeitsbehelfe  oder  -methoden,  von 
Meisterkursen,  Entsendung  von  Wander- 
lehrern, Abhaltung  von  Ausstellungen  u,  s.  w. 
eingeleitet  hat. 

Die  Gesetzgebung,  namentlich  aber 
die  Verwaltung  werden  die  grossen  Auf- 
gaben, die  ihrer  auf  dem  Gebiete  der 
Gewerbeordnung  noch  harren,  nur  dann  be- 
friedigend zu  lösen  im  stände  sein,  wenn 
sie,  induktiv  vorgehend,  stets  die  thatsäch- 
lichen  Verhältnisse  zu  erfassen  sich  bemühen. 
Die  zu  diesem  Zwecke  letzter  Zeit  wieder- 
holt abgehaltenen  Enqueten  waren  viel  zu 
sehr  von  den  allgemeinen  Schlagworten  der 
politischen  Parteien  beherrscht,  als  dass 
hierbei  ein  wirklich  verwertbares  Material 
hätte  gewonnen  werden  können.  Es  ist 
deshalb  als  eine  Errungenschaft  zu  begrOssen, 
dass  das  arbeitsstatistische  Amt  im 
Handelsministerium,  dessen  beabsichtigte 
Errichtung  im  Artikel  Arbeitsbureaus 
und  arbeitsstatistische  Aemter 
oben  Bd.  I,  S.  977  angekündigt  worden  ist, 
nachdem  der  betreffende  Gesetzentwurf  im 
Parlamente  unerledigt  geblieben  war,  durch 
Ministerialverordnung  (Kundmachung  des 
Handelsministeriiuns  vom  25.  Juli  1898,R.G.BL 
Nr.  132)  mit  1.  Oktober  1898  aktiviert  wor- 
den ist.  Das  Statut  des  arbeitsstatistischen 
Amtes  unter  Matajas  Leitimg  entspricht  den 
in  dem  bezogenen  Artikel  angeführten  Grund- 
zügen. Nur  wurden  die  Land-  und  Forst- 
wirtschaft und  der  Bergbau  in  das  Thätig- 
keitsgebiet  des  Amtes  einbezogen.  Von  der 
Statuierung  einer  Auskunftpflicht  unter 
Strafandrohung  musste  dagegen,  der  geän- 
derten Rechtsbasis  des  Amtes  entsprechend^ 
in  der  Verordnung  abgesehen  werden.  Doch 
steht  die  Erlassung  eines  diesen  Mangel 
behebenden  Gesetzes  bevor.  Gleichzeitig 
mit  dem  arbeitsstatistischen  Amte  wurde 
zur  Unterstützung  dieses  Amtes  und 
der  Betriebe,  für  die  es  wirksam  ist,  sowie 
zur  Beförderung  des  gedeihlichen  Zusammen- 
wirkens derselben  ein  Arbeitsbeirat  ge- 
schaffen, der  aus  Ministerialdelegierten  und 
aus  30  vom  Handelsminister  ernannten  Mit- 
gliedern besteht,  die  je  zu  einem  Drittel 
aus  Unternehmern,  aus  Arbeitern  und '  aus 
Fachmännern  zu  wählen  sind.  Wichtige 
Fragen,  wie  die  der  Dienst-  und  Stellenver- 
mittelung, der  Statistik  der  Arbeitseinstel- 
lungen und  Aussperrungen  und  der  Erhebung 
der  Verhältnisse  der  Heimarbeiter  und  der 
Bergarbeiter  haben  das  ai'beitsstatistische 
Amt  und  der  Arbeitsbeirat  bereits  in  viel- 
versprechender Weise  zum  Gegenstande 
ihrer  Verhandlungen  gemacht 


Grewerbegesetzgebung  (Oesterreich) 


457 


Litteratnr:  Für  die  ältere  Zeit:  W,  <?.  Kapetz, 

Allgemeine  österreichische  Gewerbsgesetzkunde, 
Wien  1829^  2.  Bde.  —  J".  X.  E,  Graf  vtm 
Barth"  Bavthenheltn,  Oesterreichs  Gewerbe 
und  Handel  in  'politisch-administrativer  Be- 
ziehung systematisch  dargestellt,  Wien  1845  und 
1846,  2  Bde.  —  Derselbe,  Das  Ganze  der 
österreichischen  politischen  Administration,  XIV. 
Abhandlung,  —  Von  dem  Gewerbs-  und  Handels- 
rcesen,  Wien  1846.  —  Derselbe,  Oesterreichische 
Gewerbe-  und  Ifandelsgesetzkunde  mit  vorzüg- 
licher Rücksicht  auf  das  Erzherzogtum  Oester- 
reich unter  der  Enns,  Wien  1819  und  1820,  8 
Bde.,  samt  Ergänzungsband,  Wien  1824-  — 
M^fyi*itz  von  Stubenraiich ,  Handbuch  der 
österreichischen  Verwaltungsgesetzkunde,  2  Bde., 
S.  Auß.,  Wien  1860,  1861.  —  Adalb,  Zaleisky, 
Handbuch  der  Gesetze  und  Verordnungen,  wel- 
che für  die  Polizeiverwaltung  im  österreichischen 
Kaiserstaate  erschienen  sind,  S  Bde.,  Wien  1854 ; 
/.  Nachtrag,  Wien  1856;  IL  Nachtrag,  Wien 
1858.  —  Heinrich  Astl,  Alphabetische  Samm- 
lung aller  politischen  Gesetze  des  Kaisertums 
Oesterreich,  2.  Aufl.,  Prag  1864—1869.  —  Die 
hervorragendsten  Gesetzessammlungen  mit  ein- 
schlägigen Verordnungen  und  Entscheidungen 
9ind:  Bela  Freiherr  v.  Weigelsperg,  Kom- 
pendium der  auf'  das  Gewerbeieesen  bezugnehmen- 
den Gesetze,  Verordnungen  und  sonstigen  Vor- 
schriften, 3.  Aufl.  (mit  9  Nachtragsheften),  Wien 
1892 — 1899.  —  Manzsche  Taschenausgabe  der 
österreichischen  Gesetze,  Bd.  I,  Abt.  I,  Geicerbe- 
ordnung  (herausgegeben  von  Dr.  Franz  Müller), 
7.  Aufl.,  Wien  1899,  —  Siehe  femer:  E, 
Mayerhofer,  Handbuch  für  den  politischen 
Verwaltungsdienst  im  Kaisertum  Oesterreich, 
5.  Auflage,  6  Bände,  Wien  1895—1899  und 
Joseph  Vlbrich,  Handbuch  der  österreichischen 
politischen  Verwaltung,  2  Bde.  und  Nachtrag 
1888 — 1892.  —  Dann  Mischler  und  Vlbrich, 
Oesterr eichisches  St<uits\cörterbuch,  Wien  1895. 
Artikel  nGewerbea  und  die  daselbst  cilierten 
Artikel.  —  An  Kommentaren  sind  zu  nennen: 
Victor  Mat€tja,  Grundriss  des  Gewerbe- 
rechtes und  der  Arbeiterversicherung,  Leipzig 
1899  (eine  knappe,  aber  erschöpfende  und  äusserst 
übersichtliche  Darstellung  des  geltenden  Rechtes). 

—  Seltsam  und  Posselt,  Die  österreichische 
Gewerbeordnung,  2.  Aufl.,  Wieri  1885.  — 
Alois  Heilinger,  Oesterreichisches  Gewerbe- 
recht, S  Bde.,   Wien  1894—1895,  Nachtrag  1897. 

—  (htte  rechtsgeschichtliche  Darstellungen  ent- 
halten :  H,  Reschauer,  Geschichte  des  Kampfes 
der  Handwerkerzünfte  und  der  Kaufmannsgremien 
mit  der  österreichischen  Bureaukratie ,  Wien 
1882,  und  —  bis  in  die  neueste  Zeit  fortgeführt. 

—  Heinrich  W€ientig ,  Gewerbliche  Mitlel- 
standspolitik.  Eine  rechtshistorisch-wirtschafts- 
politische Studie  auf  Grund  österreichischer 
Quellen,  Leipzig  1898.  —  Im  Uebrigen  sind  zu 
nennen:  Emanuel  Adler,  Ueber  die  Lage 
des  Handwerkes  in  Oesterreich  (1.  Heft  der 
Wiener  sozialpolitischen  Studien),  Freiburg  i.  B. 

—  Stephan  Bauer,  Die  Heimarbeit  und 
ihre  geplante  Regelung  in  Oesterreich,  Braun- 
sehes  Archiv  Bd.  X,  S.  239 ff.  —  O.  Lecher, 
Die  österreichische  Gewerbenovelle,  Handelmuseum, 
Bd.  11,  Nr.  6  und  6.  Wien  1896.  —  O.  JUch- 
ter,  Die  amtliche  Arbeiterstatistik  in  Oesterreich, 
S.  Vierteljahrsheft  zur  Statistik  des  Deutschen 
Reiches,  1896.  —  Ferdinand  Schmidt,  Statis- 


tische Studien  über  die  Entwickelung  der  öster- 
reichischen Gewerbegenossenschaften,  Statistische 
Monatsschrift  der  k.  k.  statistischen  Central- 
kommission,  14.  Jahrgang,  Wien  1888.  — 
Richard  Schneller,  Die  österreichische  Hand- 
werkergesetzgebung, Braun-sches  Archiv,  Bd.  XI, 
S.  S81ff.  —  Schultet*,  Die  Regelung  der  Heim- 
arbeit in  Oesterreich,  *  Handelsmuseum,  Bd.  11, 
Nr.  27,  Wien  189$.  —  Eitlen  Schwiedland, 
Kleingewerbe  und  Hausindustrie  in  Oesterreich, 
Leipzig  1894.  —  Derselbe,  Vorbericht  und 
zweiter  Vorbericht  über  eine  gesetzliche  Regelung 
der  Heimarbeit,  erstattet  an  die  niederöster- 
reichische  Handelskammer,   Wien  1896  u.  1897. 

—  Dei^selbCf  Ziele  und  Wege  einer  Heimar- 
beitsgesetzgebung, Wien  1899.  —  Verein  für 
Sozialpolitik  Bd.  LXXl,  Untersuchungen 
über  die  Lage  des  Handwerkes  in  Oester- 
reich, Leipzig  1896.  —  Leo  Verkauf,  Sozial- 
reform in  Oesterreich,  Wien  1896.  —  Weitere 
Litteraturangaben  bei  Schönberg  Bd.  2,  S.  598. 

—  Statistische  Daten  enthalten  verschiedene  Publi- 
kationen des  statistischen  Departements 
des  k.  k.  Handelsministeriums,  worunter 
zu  nennen  sind:  Die  gewerblichen  Genos- 
senschaften in  Oesterreich,  'B  Bde.,  Wien 
1895.  —  Die  Arbeitsvermittelung  in  Oester- 
reich, Wien  1898.  —  Die  Arbeitseinstel- 
lungen und  Aussperrungen  im  Gewerbebetriebe 
in  Oesterreich.  Der  letzte  Bericht  darüber  er- 
schien für  das  Jahr  1897,  Wien  1899.  —  Ueber 
die  Förderung  des  Kleingewerbes  im  Jahre  1898 
liegt  ein  Bericht  des  Ha ndelsministeriums 
( Wien  1899),  anschliessend  an  frühere  für  die  Jahre 
189g— 1897,  vor.—  Seit  Beginn  des  Jahres  1900  giebt 
das  arbeitsstatistische  Amt  im  Handels- 
ministerium die  MonxUsschrift  nSoziale  Rund' 
schau«,  mit  einer  Beilage :  » Gewerbegerichtliche 
Entscheidungen  heraus.  Wien,  Holder.  Das 
derzeit  vorliegende  1.  und  2.  Heft  enthält  wert- 
volle Beiträge,  die  aber  für  den  vorliegenden 
Artikel  nicht  mehr  benutzt  werden  konnten. 
Hervorzuheben  sind  Artikel  über  Arbeitsvei'- 
mittelung,  Arbeitseinstellungen  und  Aussperrun- 
gen und  Arbeitsstreitigkeiten,  mit  bis  zum  Schlüsse 
des  Jahres  1899  reichenden  Daten,  dann  die  neuen 
Arbeitsordnungen  für  die  k.  k.  Tabakfabriken 
etc.  tmd  die  Instruktion  für  die  Amtsxcirksam- 
keit  der  Genossenschaf tsinstruktoren.  —  Siehe 
ferner:  Stenographisches  Protokoll  der  im  k.  k. 
arbeitsstatistischen  Amte  durchgeführten  Verneh- 
mung von  Auskunftspersojien  über  die  Verhältnisse 
in  der  Kleider-  undWäschekonfektion.  Wien,  Holder 
1899.  —  Gesetzesmaterialien  enthalten 
die  stenographischen  Pi'otokolle  des  Abgeordneten- 
hauses, IX.  Session,  insbesondere  Protokolle  der 
244. — 256.  und  der  269.  SiUung,  dann  Beilagen 
hierzu  Nr.  258,  580,  664.  —  Stenographische 
Protokolle  des  Herrenhauses,  IX.  Sessian,  ins- 
besondere Protokolle  der  71.  und  72.  Sitzung, 
dann  Beilage  hierzu  Nr.  277.  —  Femer  für 
die  Novelle  vom  Jahre  1897  die  stenographischen 
Protokolle  des  Abgeordnetenhauses,  XI.  Session, 
über  die  528.— 531,  und  die  569.  Sitzung  und 
Beilagen  dazu  Nr.  1S55,  1567  wid  1678,  dann 
Beilagen  Nr.  659  zti  den  stenographischen  Proto- 
kollen des  Herrenhauses,  XL  Session,  femer 
Zusammenstellung  der  gutachtlichen  Aeusserungen 
über  in  Antrag  gebrachte  Abänderungen  der 
Gewerbeordnung ,  hera-usgegebcn  vom  Handels- 
ministerium, Wien  1893,   4  Hefte,   und  gutacht- 


458 


Gewerbegesetzgebung  (Oesterreich — Ungarn) 


liehe  Aeasserung  etc.  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer  in   Wien,  Wien  1S9S. 

JPrhr,  Friedrich  von  Call. 


m.  Die  Oewerbegesetzgebung  In 

Ungarn. 

1.  Greschichtliches.  2.  Gewerbebetrieb.  3. 
Hilfspersonal.  4.  Gewerbeorganisation.  6.  Ue- 
bertretungen  und  Strafen.  6.  Gewerbebeh6rden. 
7.  Besnltate. 

1.  Geschichtliches.  Wie  überall  in  den 
älteren  Knlturstaaten ,  so  war  auch  in  Un- 
garn bis  tief  ins  19.  Jahrhundert  hinein  das 
Gewerberecht  auf  das  Zunftwesen  basiert. 
Die  älteste  bis  jetzt  bekannte  ungarische 
Zunftrolle  datiert  aus  dem  Jahre  1307.  Auch 
in  Ungarn  hatte  die  Zunft  neben  den  streng 
gewerblichen  auch  soziale,  politische,  reli- 
giöse Aufgaben.  Die  Zünfte  wurden  teils 
nach  deutschen,  teils  nach  italienischen  Vor- 
bildern organisiert,  erhielten  aber  diu'ch  An- 
passung an  die  lokalen  und  nationalen  Ver- 
hältnisse ein  selbständiges  Gepräge.  Nach 
den  Regeln  der  Zunft  hatte  jeder  Hand- 
werker die  Pflicht,  einer  Zunft  anzugehören 
und  deren  Satzungen  sich  zu  unterwerfen: 
nur  Zunftmitglieder  durften  auf  dem  Markt 
ihre  Waren  feilbieten,  Gesellen  und  Lehr- 
linge halten ;  mehr  als  ein  Handwerk  diu^te 
niemand  betreiben;  schlechte  Arbeit  konnte 
der  Zunftmeister  zu  Gunsten  der  Zunft  oder 
der  Kirche  konfiszieren.  An  der  Spitze  standen 
ein,  oftmals  auch  zwei,  selbst  vier  Zunft- 
meister: der  Zunftmeister  hatte  die  Pflicht, 
die  Zunftgenossen  wenigstens  viermal  jähr- 
lich zusammenzunifen ;  er  entschied  in  erster 
Instanz  die  Prozesse  der  Zunftmitglieder,  er 
wachte  darüber,  dass  nicht  Pfuscher  arbeite- 
ten, vor  ihm  geschah  die  Aufnahme  und 
Freisprechung  der  Lehrlinge  etc.  Zunft- 
meister konnte  nur  ein  verheirateter  Mann 
sein,  Lehrlinge  durften  nur  im  Alter  von 
10 — 12  Jahren  aufgenommen  werden,  auf 
3 — 4,  aber  auch  7 — 8  Jahre.  Niu:  eheliche 
Kinder  wurden  aufgenommen.  Der  Freige- 
sprochene nahm  teü  an  den  Sitzungen  und 
Rechten  der  Gesellen.  Die  meisten  Zünfte 
forderten  vom  Gesellen  3  Jahre  Wanderns. 
Manche  schrieben  auch  das  Terrain  des 
Wanderns  vor.  So  forderten  die  Pressbur- 
ger Zünfte  in  der  Regel,  dass  der  Geselle 
wenigstens  ein  Jahr  in  den  österreichischen 
Ländern  wandern  sollte.  Die  Siebenbürger 
Sachsen  gaben  Deutschland  den  Vorzug. 
Nach  den  Wanderjahren  konnte  der  Geselle 
das  Meisterrecht  fordern:  zu  diesem Behufe 
musste  er  ein  Meisterstück  arbeiten  und 
zwei  Meisteressen  geben.  Interessant  sind 
die  Bestimmungen  über  das  Meisterwerden. 
Wo  die  Kirchenbehörde  die  Zunftstatuten 
bestätigte,  dort  verlangte  man  in  der  Regel 


Gegenstände  für  den  kirchlichen  Gebrauch. 
In  manchen  Zunftrollen  wird  festgesetzt, 
dass  der  Kandidat  bei  einem  der  Zunit- 
richter  wohnen  und  Zins  zahlen  muss.  Wer 
seine  Richter  gut  traktierte,  konnte  auf 
Nachsicht  rechnen;  \dele  Hessen  sich  auch 
von  anderen  das  Meisterstück  anfertigen. 
Von  besonderen  Bestimmungen  sei  noch  er- 
wähnt, dass  die  meisten  Zunftstatuten  auch 
festsetzten,  welcher  Religion  die  Zunftmit- 
glieder anzugehören  hätten.  Die  Zunftrait- 
glieder  waren  auch  zum  fleissigen  Besuche 
der  Kirche  verpflichtet..  An  den  Begräb- 
nissen eines  Zunftmitgliedes  mussten  sich 
alle  beteiligen.  Es  war  verboten,  für  solche 
Arbeitgeber  zu  arbeiten,  die  einem  anderen 
Handwerker  schuldig  waren.  In  einzelnen 
Zunftverordnungen  finden  wir  die  Bestim- 
mung, dass  die  Gesellen  an  dem  Gewinn 
nicht  beteiligt  werden  dürfen.  Die  Bussen 
wimien  zumeist  in  Wachs  festgesetzt.  Viele 
Bestimmungen  sorgten  für  das  Interesse  der 
Konsumenten,  um  Betrug  hintanzuhalten. 
So  sollten  die  Handwerker  bei  Tage  und  im 
Angesicht  des  Publikums  arbeiten;  der 
Schneider  sollte  beim  Fenster  sitzen;  auf 
ein  Messer  mit  beinernem  Griff  durfte  kein 
Silberbeschlag  kommen,  damit  man  es  nicht 
für  elfenbeinern  halt«  etc. 

Sehr  früh  machte  sich  die  Notwendigkeit 
einer  Reform  des  Zunftwesens  geltend;  es 
tauchten  mancherlei  Missstände  auf,  und  na- 
mentlich die  monopolistische  Tendenz  der 
Zünfte  kam  früh  zum  Diuxjhbruch.  Schon 
im  14.  Jahrhundert  finden  wir  Spuren  die- 
ser Bewegimg.  Gegen  die  Missbräuche 
trafen  die  Landt^e  häufig  Bestimmungen, 
so  namentlich  in  den  Jahren  1715,  1723, 
1729.  Seit  dem  Anfang  des  19.  Jahrhun- 
derts büdet  die  Heilimg  der  Missstände  fast 
ununterbrochen  die  Aufgabe  der  Statthalte- 
rei.  Die  letzte  allgemeine  Regelung  des 
alten  Zunftwesens  ^schah  im  Jahre  1813 
mittelst  der  allgemeinen  Zunftordnung.  Im 
Jahre  1840  folgte  eine  Lockerung  des  Zunft- 
zwangs durch  die  Bestimmungen  über  das 
Fabrikwesen  und  im  Jahre  1848  eine  vor- 
läufige Abänderung  der  Zunftstatuten  in 
freiheitlichem  Sinne.  Nach  dem  Unabhän- 
gigkeitskampf  bis  zur  Wiederherstellimg  der 
ungarischen  Verfassung  (1850 — 1867)  ist 
Ungarn  denselben  Bestimmungen  unterworfen 
wie  Oesterreich  (siehe  die  vorigen  Artikel 
Gewerbegesetzgebung  in  Oester- 
reich). Nach  Wiederherstellung  der  Ver- 
fassung macht  sich  auch  in  Ungarn  bald  der 
Drang  nach  einer  unbedingt  freiheitlichen 
Gestaltung  des  Gewerbewesens  geltend,  und 
dies  geschieht  denn  auch  mittelst  Gesetz- 
artikel VIII  1872,  welcher  die  unbedingte 
Gewerbefreiheit  ausspricht,  die  Zünfte  ab- 
schafft und  an  deren  Stelle  Gewerbegenos- 
senschaften kreiert.    Die  ungünstigen  Ver- 


Gewerbegesetzgebung  (Ungarn) 


459 


hältnisse  der  70  er  Jahre  rufen  aber  bald 
eine  energische  Opposition  gegen  dieses  Ge- 
setz hervor,  Namentlich  macht  sich  das 
Bedürfnis  nach  einer  festeren  Organisation 
der  Gewerbe  geltend,  auch  der  Ruf  nach 
Einschränkiuig  der  unbedingten  Gewerbe- 
freiheit durch  Forderung  der  Qualifikation 
wird  immer  stärker  vernelimbar;  diese 
Strömung  kommt  zum  Ausdruck  in  einem 
gewerblichen  Landeskongress ,  ebenso  in 
einer  im  Jahre  1881  abgehaltenen  Gewerbe- 
enoiiete  etc.  Nichtsdestoweniger  zeigte  sich 
in  Kegierungßkreisen  wenig  Neigung,  diesen 
Fonleningen  nachzukommen,  und  es  ist  vor 
allem  der  Rücksicht  auf  die  Wahlen,  welche 
bevorstanden,  zuzuschreiben,  dass  die  Re- 
gierung den  Mut  verlor,  den  Forderungen 
der  Gewerbetreibenden  entgegenzutreten.  So 
entsteht  das  Gewerbegesetz  XVII  vom  Jahre 
1884,  welches  noch  gegenwärtig  in  Kraft 
ist  Die  wichtigsten,  in  den  Hauptzügen 
dem  österreichischen  G.  v.  Jahre  1883 
analogen  Bestimmungen  des  Gesetzes  sind 
folgende : 

2.  Grewerbebetrieb.  Derjenige,  welcher 
ein  an  eine  Konzession  nicht  gebundenes 
Gewerbe  zu  betreiben  beabsichtigt,  ist  ge- 
halten, seine  diesbezügliche  Absieht  bei  der 
kompetenten  Gewerbebehörde  schriftlich  an- 
zumelden und  bei  dieser  Gelegenheit  nach- 
zuweisen, dass  er  den  behufs  selbständiger 
Ausübung  des  Gewerbes  gewünschten  Er- 
fordernissen entspricht;  ausserdem  für  den 
Fall,  dass  der  Gewerbezweig,  welchen  er  zu 
betreiben  beabsichtigt,  ein  solches  Handwerk 
ist,  welches  seiner  handwerksmässigen  Natur 
nach  in  der  Regel  nur  nach  längerer  Uebung 
angeeignet  werden  kann,  sein  Lehrlings- 
zeugnis  vorzulegen  und  nachzuweisen,  dass 
er  nach  Beendigung  der  Lehrzeit  mit  einer 
Facharbeit  in  einer  Fachwerkstätte  oder 
Fabrik  mindestens  2  Jahre  sich  beschäftigt 
hat  Der  Minister  bestimmt  im  Verord- 
nungswege jene  Handwerke ,  zu  deren  Be- 
trieb diese  Befäliigung  nötig  ist,  sowie  jene 
Lehranstalten,  deren  erfolgreicher  Besuch 
von  dem  Nachweise  der  Befähigung  enthebt. 
Der  Betrieb  dieser  Handwerke  wird  auch 
jenem  gestattet,  der  wohl  kein  Lehrlings- 
zeugnis vorlegen,  aber  nachweisen  kann, 
dass  er  wenigstens  3  Jahre  hindurch  in 
einer  Fabrik  oder  Werkstätte  mit  einer 
Facharbeit  sich  beschäftigt  hat.  Derjenige, 
der  ein  an  Befähigungsnachweis  gebundenes 
Gewerbe  selbständig  betrieben  hat,  kann  ein 
jedes  andere  an  Befähigimgsnachweis  ge- 
bundene Handwerk  ohne  besonderen  Nach- 
weis der  Befähigung  beginnen.  Wer  die 
Befähigung  überhaupt  nicht  nachzuweisen 
vermag,  k^n  ein  an  Befähigung  gebundenes 
Gewerbe  dann  betreiben,  wenn  er  in  seinem 
Geschäfte  ein  solches  Individuum  verwendet, 
welches    den    gesetzlichen    Anforderungen 


entspricht.  Eine  Reihe  von  Gewerben  öffent- 
lichen Charakters  sind  an  Konzession,  des- 
gleichen andere  hinsichtlich  des  Ortes  der 
Anlage  gleichsam  an  eine  gewerbebehörd- 
hche  Konzession  gebunden.  Der  Beginn 
des  Gewerbebetriebes  ist  der  Gewerbebe- 
hörde anzumelden,  imd  es  ist  füi*  gewerb- 
liche, eventuell  kommerzielle  ünterrichts- 
zwecke  in  Budapest  10,  in  Städten  imd  Ge- 
meinden mit  über  10000  Einwohnern  5, 
sonst  1  fl.  zu  zahlen  (§§  1—58). 

3.  Hilfspersonal.  Lehrlinge  zu  halten, 
ist  jedem  selbständigen  Gewerbetreibenden 
gestattet;  ausgenommen  hiervon  sind  nur 
Gewerbetreibende  in  solchen  Gewerben,  wo- 
für sie  die  Befähigung  nicht  nachgewiesen, 
und  im  StraffaUe.  Die  Aufnahme  des  Lehr- 
lings geschieht  bei  der  Gewerbebehörde 
erster  Instanz  mittelst  schriftlichen  Vertrags. 
Bei  der  Aufnahme  ist  zwischen  dem  Ge- 
werbetreibenden und  den  Eltern  oder  dem 
Vormunde  des  Lehrlings  die  Dauer  der 
Lehrzeit,  der  Unterhalt  und  die  Verpflegung 
des  Lehrüngs  festzustellen.  Die  Dauer  der 
Lehrzeit  erstreckt  sich  mindestens  bis  zum 
vollendeten  15.  Lebensjahre.  Der  Gewerbe- 
treibende ist  verpfüchtet:  a)  den  Lehrling 
in  dem  Gewerbe,  welches  er  betreibt,  aus- 
zubilden, ihn  an  gute  Sitten,  Ordnung  und 
Arbeitsamkeit  zu  gewöhnen;  b)  darüber  zu 
wachen,  dass  er  an  Feiertagen  seiner  Kon- 
fession dem  Gottesdienste  beiwohne;  c)  ihn 
zum  Besuch  der  Schule  resp.  Lehrlings- 
schule anzuhalten;  d)  ihn,  wenn  er  zu  den 
Hausgenossen  gehört,  zu  pflegen;  e)  die 
Eltern  resp.  den  Vormund  bei  Krankheit 
oder  anderen  wichtigen  Fällen  zu  verstän- 
digen. Der  Gewerbetreibende  darf  den. 
Lehrling  nur  bei  den  zum  Gewerbe  ge- 
hörenden Arbeiten  verwenden  und  kann 
denselben  zti  Dienstbotenarbeiten  nicht  ver- 
pflichten, auch  soll  er  ihn  gegen  Unbill  vor 
den  Hausleuten  und  Gehilfen  schützen.  Nach 
Beendigung  des  Lehrverhältnisses  fertigt  die 
Gewerbebehörde  dem  Lehrling  ein  Zeugnis 
aus,  in  welchem  der  Fortschritt  in  seinem 
Gewerbezweige  bestätigt  und  Name,  Be- 
schäftigung und  Wohnung  des  Gewerbe- 
treibenden, bei  dem  er  die  Lehrzeit  beendet, 
angeführt  wird.  Das  Aufhören  des  Lehr- 
verhältnisses ist  der  Gewerbebehörde  anzu- 
zeigen. Die  Gewerbebehörde  führt  über  die 
auf  ihrem  Gebiete  bestellten  Lehrlinge  ein 
Register.  Die  Gewerbebehörde  sorgt  dafür, 
dass  sie  mindestens  monatlich  einmal  von 
dem  Betragen  der  Lehrlinge  verständigt 
werde.  In  Gemeinden,  wo  wenigstens  50 
Lehrlinge  sind  und  für  dieselben  keine  be- 
sondere Schide  besteht,  ist  die  Gemeinde 
verpflichtet,  für  den  Unterricht  der  Lehr- 
linge einen  besonderen  Lehrkursus  einzu- 
richten. —  Das  Verhältnis  zwischen  dem 
Gewerbetreibenden  und   seinen  Gehilfen  ist 


460 


Gewerbegesetzgebung  (Ungarn) 


Gegenstand  freier  Yereinbarung ;  der  Ver- 
trag hat  nach  Ablauf  einer  einwöchentlichen 
Probezeit  bindende  Kraft.  Der  Gewerbe- 
treibende kann  von  seinen  Gehilfen  nur  die 
zum  Gewerbe  gehörenden  Arbeiten  verlan- 
gen und  ist  verpflichtet,  dem  Gehilfen  an 
Feiertagen  den  Besuch  des  Gottesdienstes 
zu  gestatten.  Der  Gewerbetreibende  kann 
einen  solchen  Gehilfen  nicht  aufnehmen,  der 
das  gesetzliche  Erlöschen  des  mit  dem  frü- 
heren Arbeitgeber  geschlossenen  Vertrages 
nicht  nachweisen  kann.  Das  Verhältnis 
zwischen  Arbeitgeber  und  Gehilfen  kann 
mittelst  lötägiger  Kündigung  gelöst  werden. 
Selbst  bei  rechtzeitig  erfolgter  Kündigung 
kann  aber  ein  Gehilfe,  welcher  nach  Stücken 
bezahlt  wird,  nicht  eher  austreten,  bis  er 
die  übernommene  Arbeit  dem  Vertrage  ent- 
sprechend beendigt.  Jeder  Gehilfe  rauss  ein 
Arbeitsbuch  besitzen.  Jede  Verändenmg  im 
Dienstverhältnisse  ist  von  der  Gewerbebe- 
hörde im  Arbeitsbuch  zu  verzeichnen.  Die 
Gewerbel>ehörde  führt  über  die  auf  ihrem 
Gebiete  in  Verwendung  stehenden  Geliilfen 
ein  Register  (§§  59—110). 

4.  Gewerbeorganisation,  a)  Gewer- 
bekorporationen. In  Städten  mit  Mu- 
nizipalrec^ht  oder  geordnetem  Magistrat, 
femer  überall,  wo  die  Zahl  der  an  Befähi- 
gung gebundenen  Gewerbebetreibenden  min- 
destens 100  beträgt,  sind  auf  Wunsch 
von  zwei  Drittteilen  der  in  einem  an  Be- 
fähigung gebundenen  Gewerbe  Beschäftigten 
Ge.werl)ekorporationen  zu  errichten,  denen 
alle  an  Befähigung  gebundene  Geworbetrei- 
bende beizuti-eten  und  Mitgliedstaxen  zu 
leisten  haben.  Mit  Ausnahme  von  Budapest, 
wo  die  Gewerbekorporationen  nach  Gewerbe- 
zweigen errichtet  werden  können,  ist  die 
Gewerbekorporation  eine  allgemeine,  alle 
Gewerbezweige  umfassende.  Die  Gewerbe- 
korporation hat  den  Zweck,  Ordnung  und 
Eintracht  unter  den  Gewerbetreibenden  auf- 
recht zu  halten,  die  Bestrebungen  der  Ge- 
werl>ebehörde  zu  untei-stützen  etc.  Die  Ge- 
werbekorporation versieht  zum  Teil  auch  die 
Funktionen  der  GewerlKjbehörde  erster  In- 
stanz. Die  Gewerbebehörde  entsendet  zu 
jeder  (Tewerl)ekori)oration  cünen  ständigen 
behördlichen  Kommissar.  Bei  jeder  Koi-po- 
ration  ist  behufs  Erledigung  der  zwischen 
den  (^ewerl)etreil>enden  und  den  Ijchrlingen 
oder  Gehilfen  auftauchenden  streitigen  Fragen 
ein  aus  Gewerl)etreiben(len  und  Gehilfen 
zusammengesetztes  Scliiedsgericht  zu  bilden. 
Bei  der  Funktion  des  Schiedsgerichtes  haben 
unter  Vorsitz  des  l)ehör(llichen  Kommissai^s 
in  gleicher  Zahl  (Jewerbetreilx^nde  und  Ge- 
hilfen anwesend  zu  sein.  —  b)Gewerbe- 
genossensc haften.  Ein  und  dasselbe 
oder  verscihiedene  Gewerl>e  können  zur 
Förderung  gemeinsamer  Interessen  Gewerbe- 
genossenschaften bilden  (§§  122 — 154). 


5.  (Jebertretongen  und  Strafen.    Es 

sei  hier  nur  kurz  der  Strikebestimmungen 
gedacht.  Das  Gesetz  verweigert  jede  recht- 
liche Wirkung  solcher  Verabredungen,  durch 
welche  von  Seiten  der  Gewerbetreibenden, 
den  Arbeitern  härtere  Arbeitsbedingnisse 
und  Lohnherabsetzungen  auferlegt  werden 
sollen,  sowie  solcher,  durch  welche  die  Ar- 
beiter günstigere  Bedingnisse  und  Lohner- 
höhungen erzwingen  wollen,  endlich  aller 
Vereinbarungen  zur  Unterstützung  von 
Strikenden  oder  zur  Benachteiligimg  der 
am  Strike  nicht  Teilnehmenden.  Sobald 
derlei  Verabredungen  zur  Kenntnis  der  Ge- 
werbebehörde  gelangen,  hat  dieselbe  ein 
Schiedsgericht  einzTisetzen.  Wer  gegen  diese 
Bestimmungen  straffällig  wird,  kann,  sofern 
nach  den  Strafgesetzen  keine  schwerere 
Strafe  eintritt,  mit  einer  Geldbusse  bis  zu 
300  fl.  und  mit  Arrest  bis  zu  30  Tagen  be- 
straft werden. 

6.  Gewerbebehörden.  Das  Gesetz  or- 
ganisiert die  Gewerbebehörden  I.  und  II. 
Instanz ;  die  HI.  Instanz  bildet  das  Ministe- 
rium für  Industrie  imd  Handel.  Die  Ge- 
werbebehörde I.  Instanz  wird  durch  ge- 
wählte Bevollmächtigte  unterstützt,  deren 
Zahl  bef  jeder  Gewerbebehönle  20  beträgt. 
Die  Bevollmächtigten  werden  von  den  Ge- 
werbetreibenden des  betreffenden  Gebietes 
jährlich  gewählt.  Die  Wahl  kann  in  der 
Kegel  nicht  ziu-ückge^wiesen  werden.  Die 
Bevollmächtigten  haben  Gutachten  in  ver- 
schiedenen Fragen  abzugeben,  kontrollieren 
die  Führung  der  verschiedenen  Register,  be- 
suchen Fabriken,  Werkstätten,  Lehrlings- 
schulen etc.  Jedes  Municipium  errichtet 
ferner  einen  Gewerberat,  welcher  die  Ge- 
werbebehörde II.  Instanz  in  ihrer  Thätig- 
keit  unterstützt. 

7.  Resultate,  üeber  die  Wirkungen  des 
Gesetzes  lässt  sich  namentlich  konstatieren, 
dass  die  gewerbliche  Bewegung  zum  Stillstand 
gekommen  ist.  Die  Büdung  von  Gewerbege- 
nossenschaften ist  hinterdenErwartimgen  zu- 
rückgeblieben und  überhaupt  ist  die  Orga- 
nisation der  gewerblichen  Selbstverwaltung 
nm*  teilweise  ^ehmgen.  Auch  das  Princip 
der  Qualifikation  hat  die  Verhältnisse 
gegen  früher  nicht  wesentlich  gebessert. 
Ebenso  ging  die  Organisation  von  Lehrlings- 
schTilen  nur  langsam  und  unvollkommen 
vorwärts.  Dagegen  w4rd  konstatiert,  dass 
die  Thätigkeil  der  Schiedsgerichte  günstigere 
Ergebnisse  aufzuweisen  hat.  Die  Notwen- 
digkeit eitler  Reform  der  Gewerbegesetz- 
gebung macht  sich  dringend  fülilbar  und 
scheint  auch  demnächst  ernstlich  in  Angriff 
genommen  zu  werden. 

Földe». 


Grewerbegesetzgebung  (Frankreich) 


461 


IV.  Die  Gewerbegesetzgebung  in 
Frankreich. 

I.   Allgemeine   Uebersicht.     1.    Die 
HerstelluDg  der  Gewerbefreiheit  zur  Zeit  der 

f rossen  Revolution.  2.  Beaktion.  Das  erste 
aiserreich.  3.  Die  Zeit  bis  zur  Gründung  der 
dritten  Republik.  4.  Die  Gewerbegesetzeeoung 
in  der  Gegenwart.  5.  Die  Frage  der  Wieder- 
herstellung der  Korporationen.  IL  Besonde- 
rer Teil.  6.  Das  Bäckergewerbe.  7.  Das 
Fleiscber-  und  das  Selchergewerbe.  8.  Wirts- 
und Schankgewerbe.  9.  Die  Stellenvermittelung. 
10.  Sicherheits-  und  Sanitätspolizei  hinsichtlich 
der  Betriebsstätten. 

I.  Allgemeine  Uebersicht. 

1.  Die  Herstellung  der  Gewerbefrei- 
heit znr  Zeit  der  grossen  Revolution. 

In  der  berühmten  Nacht  des  4.  August  1789 
hatte  die  Nationalversammlung  auch  die 
Reform  der  Meisterrechte  beschlossen.  Dem 
Programme  folgte  bald  die  Ausführung 
durch  das  G.  v.  2./ 17.  März  1791.  Die  alte 
gewerbliche  Verfassung  wurde  durch  das- 
selbe aufgehoben,  es  fielen  die  Zünfte,  die 
Aufseherposten,  die  Reglements.  Die  Frei- 
heit der  Arbeit  wurde  nur  durch  wenige 
Ausnahmen  ohne  Belang  beschränkt:  so 
sollten  die  Apotheker  einer  Aiifnahme  nach 
den  Regeln  ihres  Berufes  bedürfen  und  die 
Goldschmiede  einer  polizeilichen  Kontrolle 
unterliegen.  Das  G.  y.  2./ 17.  März  1791 
hatte  übrigens  mit  diesen  Bestimmungen 
nur  einen  thatsächlich  bereits  eingetretenen 
Zustand  besiegelt,  denn  schon  waren  unter 
dem  das  Land  erwärmenden  Sonnenstrahl 
der  Freiheit  die  alten  gewerblichen  Einrich- 
timgen  und  Vorrechte  in  voUe  Auflösung 
imd  Zersetzung  übergegangen,  man  beach- 
tete sie  zum  guten  Teile  gar  nicht  mehr, 
und  die  ausdrückliche  Beseitigung  ging  da- 
her auch  klanglos  und  ohne  nennenswerten 
Widerstand  vor  sich.  Gleichzeitig  hielt  die 
Patentsteuer  ihren  Einzug.  Jeder  Indus- 
trielle, jeder  Kaufmann  hatte  dieselbe  jähr- 
lich zu  leisten;  sie  war  eine  Abgabe,  die 
umgelegt  werden  sollte  nicht  nach  dem 
Reinectrage  der  Unternehmungen,  da,  wie 
man  eifersüchtig  auf  die  neu  errungene 
Freiheit  annahm,  sich  die  hierzu  erforder- 
lichen Nachforschungen  nicht  vertrügen  mit 
den  Grundsätzen  bürgerlicher  Freiheit,  son- 
dern nach  bestimmten  Proportionalsätzen 
auf  den  Mietwert  der  Räumlichkeiten  für 
den  Geschäftsbetrieb.  Durch  die  Abschaf- 
fung der  alten  Provinzialeinteilimg  mit  den 
Sonderrechten  der  verschiedenen  Landes- 
teile sowie  mancher  sonstigen  mit  der 
früheren  Verfassung  in  Verbindung  stehen- 
den EinrichtuDgen  war  Frankreich  zu  einem 
einheitlichen  Handelsgebiet  umgestaltet  wor- 
den, in  welchem  selbst  die  städtischen  Thor- 
steuern   fielen    und   der  Innenhandel   sich 


somit  frei  bewegen  konnte.  Auch  der  1791 
geschaffene  neue  Zolltarif  war  sehr  mass- 
voU,  was  die  Eingangsabgaben  betrifft;  die 
Ausfuhr  war  im  wesentlichen  ganz  frei. 
Kurz  gesagt,  vergleichsweise  sehr  wenige 
Beschränkungen  abgerechnet,  fand  sich  der 
Gewerbebetrieb  dem  vollen  Walten  der 
Freiheit  ausgesetzt.  Nui*  ein  Gesetz  jener 
Zeit  verletzte  gröblich  die  Freiheit,  sonder- 
barerweise unter  Berufung  auf  dieselbe: 
das  G.  V.  14./ 17.  Juni  1791,  welches  die 
Wiederhei-stellung  der  korporativen  Ver- 
bände unter  was  immer  für  einer  Form 
verbot  und  den  Angehörigen  eines  Standes 
oder  Gewerbes,  seien  es  Unternehmer  oder 
Arbeiter,  untersagte,  bei  etwaigen  Zusammen- 
künften Vorsitzende  oder  Säiriftführer  zu 
wählen,  Verzeichnisse  zu  führen,  Beschlüsse 
zu  fassen  oder  über  »ihre  angeblichen  ge- 
meinsamen Interessen«  Bestimmimgen  zu 
treffen.  Dieses  Gesetz  entsprang  teils  der 
Sorge  vor  einem  Wiederaufleben  der  frühe- 
ren Verbände,  teils  dem  Wunsche,  die  sich 
geltend  machende  Arbeiterbewegung  nieder- 
zuhalten. Thatsächlich  wurde  damit  das 
Koalitions-  und  Gewerkvereinswesen  der 
Arbeiter  sowie  auf  seite  der  Unternehmer 
die  Gründung  von  fachlichen  Verbänden 
gesetzlich  unmöglich  gemacht. 

2.  Reaktion.  Das  erste  Kaiserreich. 
Der  Zustand  fast  ungehemmter  Gewerbe- 
freiheit sollte  jedoch  nicht  lange  währen. 
Wir  denken  hierbei  nicht  an  die  vom  Kon- 
vent getroffenen  Massnahmen  des  Maximums 
und  Vorschriften  gegen  die  Accapareurs ; 
diese  Massregeln  waren  ein  vorübergehen- 
der, durch  die  Not  erzwungener  Versuch 
und  bildeten  keinen  organischen  Bestandteil 
des  französischen  Gewerberechts.  Aber  all- 
mählich schlichen  sich  mehr  oder  weniger 
bedeutsame  Beschränkungen  der  Gewerbe- 
freiheit ein,  die  nicht  bloss  Abhilfe  für  eine 
augenblickliche  Verlegenheit  bieten  sollten. 
Schon  das  G.  v.  19./22.  Juü  1791  über  die 
Gemeindepolizei  etc.  gestattete  provisorisch 
Brot  und  Fleisch  einer  Preistaxe  zu  unter- 
stellen; in  der  Folge  erschien  dann  eine 
noch  weit  einschneidendere  Regelung  der 
beiden  sich  mit  diesen  Artikeln  befassenden 
Gewerbe,  indem  1801  das  Bäckergewerbe, 
1802  das  Fleischhauergewerbe  in  Paris  ge^ 
radezu  konzessionspflichtig  wurden;  1793 
sah  sich  das  Selchergewerbe  in  Paris  von 
Beschränkungen  ergriffen.  Unter  dem  Di- 
rektorium wurde  das  Pfandleihgewerbe  unter 
Aufsicht  gestellt,  es  war  dies  ein  schwacher 
und  offenbar  unzuläugücher  Versuch,  dem 
häufig  in  jenem  Gewerbe  betriebenen 
wucherischen  Gebai'en  entgegenzuwirken. 
Allmählich  erschienen  auch  wiederum  die 
indirekten  Abgaben  (1804  die  Getränke- 
steuer, 1810  Wiederherstellung  des  Tabak- 
monopols  etc.),    so   dass   auch  von   dieser 


462 


GewerbegesetzgebuDg  (Frankreich) 


Seite  her  Handel  und  Wandel  an  der  frühe- 
ren Freiheit  einbüssten.  Unter  dem  Napo- 
leonischen Regime  zeigte  sich  ferner  eine 
Reihe  von  Bestrebungen  zur  Wiedereinfüh- 
rung der  alten  gewerberechtlichen  Einrich- 
tungen, welche,  wie  es  scheint,  dem  grossen 
für  feste  Ordnung  und  einheitliche  Zusam- 
menfassung eingenommenen  Herrscher  nicht 
gänzlich  widerstrebten,  wenngleich  Napoleon, 
wo  er  in  diesem  Sinne  eingriff,  dies  nicht 
aus  liebe  zum  alten  System  that,  sondern 
wo  Interessen  der  Staatsgewalt,  sei  es 
wegen  politisch -polizeilicher,  sei  es  wegen 
finanzieller  Gründe,  ins  Spiel  kamen.  Eine 
solche  Regelung  erfuhren  daher  insbesondere 
die  Medizinalgewerbe  (die  der  Aerzte,  Apo- 
theker, Hebammen,  Kräuterhändler),  indem 
ihre  Ausübung  von  der  Ablegung  gewisser 
Prüfungen  abhängig  gemacht  wurde;  die 
Wirts-  und  Schankgewerbe  unterlagen  nach 
dem  G.  v.  5.  Mai  1806  und  dem  Dekret  v. 
15.  Dezember  1813  der  Xonzessionspflicht, 
an  die  sich  verschiedene  Beschränkimgen 
anknüpften;  auch  die  Waffenerzeugung 
wurde  von  allerlei  Vorschriften  ergriffen. 
Ganz  besonders  beengt  sahen  sich  jedoch 
Buchdruckerei  und  Buchhandel  (Dekret  v. 
5.  Februar  1810);  ihre  Ausübimg  war  von 
der  Erlangung  eines  Befähigungscertifikates 
abhängig,  wobei  auch  die  Angemessenheit 
des  Verhaltens  in  politischer  Hinsicht  zur 
Berücksichtigimg  kam,  und  es  wiu*de  die  Zahl 
der  Buchdnickereien  überdies  noch  auf  eine 
feste  Ziffer  beschränkt.  Minder  bedenklich 
war  das  Verfahren  gegenüber  dem  Hausier- 
gewerbe; die  Hausierer  mussten  in  Paris 
von  der  Polizeipräfektur  eine  Medaille  er- 
werben, die  natürlich  auch  versagt  werden 
konnte.  Endlich  wunle  auch  in  der  Napo- 
leonischen Zeit  der  Grund  ziu*  Gesetzgebung 
über  die  Beaufsichtigung  der  im  Interesse 
der  Sicherheit  oder  der  Hygiene  einer 
solchen  bedürftigen  gewerblichen  Anlagen 
durch  das  Dekret  v.  15.  Oktober  1810  (s. 
unten)  gelegt. 

Was  die  Regelung  der  Verhältnisse  zwi- 
schen Unternehmern  und  ihren  gewerblichen 
Hilfsarbeitern  anbelangt,  so  ist  ftir  jene 
Zeit  namentlich  das  G.  v.  22  germinal  XI 
(12.  Aprü  1803)  betreffend  die  Manufak- 
turen, Fabriken  und  Werkstätten,  zu  nennen. 
Dieses  Gesetz  stand  rücksichtlich  der  Be- 
ziehungen zwischen  Arbeitgebern  und  Ar- 
beitnehmern im  wesentlichen  auf  dem  Boden 
voller  Vertragsfreiheit;  es  bildet  jedoch  aber 
auch  durch  die  Bestimmung,  Lelirlinge  oder 
Arbeiter  dürften  nicht  ohne  Entlassungs- 
urkunde seitens  ihres  früheren  Arbeitgebers 
bezw.  eine  entsprechende  Bestätigimg  des- 
selben in  einem  Buche  aufgenommen  wer- 
den, den  Ausgangspunkt  für  die  Wiederein- 
führung des  Arbeitsbuches  (s.  d. Art.  oben  Bd.  I, 
S.  729).  Ausserdem  wurden  für  einzelne  Ge- 


werbe im  Verordnungswege  besondere  Vor- 
schriften erlassen,  so  namentlich  für  die  Bau- 
gewerbe in  Paris  die  Arbeitszeit  geregelt.  Ein 
wichtiger  und  erfreulicher  Schritt  war  das  G.  v. 
18.  März  1806,  welches  die  Gewerbegerichte, 
die  Conseils  de  pnid'hommes,  wenn  auch 
zunächst  niu*  für  die  Lyoner  Seidenindustrie 
ins  Leben  rief. 

3.  Die  Zeit  bis  zur  Gründung  der 
dritten  Republik.  Auch  unter  der  Restau- 
ration sowie  Louis  Philippes  Regienmgszeit 
setzten  sich  die  Bestrebungen  zur  Wieder- 
einführung des  Korporationssystems  fort, 
aber  ohne  Erfolg.  Hingegen  wurden  in  an- 
derer Richtung  bedeutsame  Reformen  am 
Gewerberechte  vorgenommen.  Das  G.  v.  5. 
Juli  1844  ordnete  die  Erfindungspatente, 
die  Gewerbegerichte  wurden  ausgebreitet, 
die  Gewerbesteuer  neu  geregelt,  die  Inte- 
ressenvertretung von  Handel  und  Gewerbe 
umgestaltet,  indem  ein  neuer  Wahlmodus 
für  die  Handels-  und  Gewerbekammern  ein- 
geführt und  die  Umbildung  des  obersten 
Handels-  und  Industrierates  zur  Durchfüh- 
ning  gelangte»  Nach  der  königlichen  Or- 
donnanz V.  29.  April  1831  bestanden  drei 
Räte  —  für  den  Handel,  die  Industrie,  die 
Landwirtschaft  —  zur  Aeusserung  von 
Wünschen  und  Abgabe  von  Gutachten ;  über 
ihnen  stand  noch  ein  oberer  Handelsrat,  in 
dem  die  genannten  drei  Räte  durch  ihre 
Vorsitzenden  vertreten  waren  und  welcher 
sich  namentlich  über  Fragen  der  Handels- 
und Zollgesetzgebung  zu  äussern  hatte. 
Endhch  regelte  das  G.  v.  22.  März  1841 
die  Kinderarbeit  in  den  Fabriken ;  inhaltlich 
war  es  wohl  äusserst  mangelhaft  und  unzii- 
länglich,  wichtig  ist  es  jedoch  als  erster 
Schritt  auf  dem  Gebiete  des  Arbeiterschutzes 
(s.  darüber  d.  Art.  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung in  Frankreich  oben 
Bd.  I,  S.  540). 

Die  zweite  Republik  wird  namentlich 
bedeutsam  durch  das  Maximalarbeitstagsde- 
kret V.  9,  September  1848  und  das  Lehr- 
lings-G.  V.  22.  Febniar  1851  (s.  oben  Bd.  I,  S. 
540,  541);  beide  Gesetze  stehen  noch  heute 
in  Kraft.  Die  Regierungszeit  Napoleons  111. 
wiederum  ist  insbesondere  bemerkenswert 
durch  die  in  dieselbe  fallende  endliche  Frei- 
gebung der  Bäcker-  und  Metzgergewerbe 
(s.  unten)  sowie  die  Gewährung  der  Koa- 
litionsfreiheit im  Jahre  1864,  die  freilich 
noch  begi-enzt  bleibt  durch  die  Beibehaltung 
von  Strafen  ffir  die  Beeinträchtigung  der 
Freiheit  der  Arbeit  durch  Auferlegung  von 
Bussen,  Proskriptionen  und  Vemifserklä- 
ningen  nach  einem  gemeinschaftlichen  Plane. 

4.  Die  Gewerbegesetzgebung  in  der 
Ciregenwapt.  Die  dritte  Republik  führt  eine 
Reihe  liberaler  Reformen  durch.  Eine  ihrer 
ersten  Massnahmen  ist  die  Freigebung  der 
Gründung    von   Buchhandlungen    und    von 


Grewerbegeselzgebung  (Frankreich) 


463 


Buchdruckereien  fDekret  v.  10.  September 
1870),  die  in  Hinkunft  nur  gewissen  Kon- 
trollebestimmungen unterstehen  sollen  (Hin- 
terlegung von  Pflichtexemplaren  etc.);  das 
G.  V.  14.  August  1885  bringt  auch  der 
Waffenindustrie  und  dem  Waffenhandel  Frei- 
heit u.  a.  m. 

Bestehen  bleiben  hingegen  ausser  den 
schon  zur  Erwähnimg  gelangten  Beschrän- 
kungen des  freien  Gewerbebetriebes  nament- 
lich Bestimmungen  über  Wirts-  und  Schank- 
gewerbe  (s.  unten),  über  den  Betrieb  von 
ötellenvermittelungsgeschäften  (s.  unten), 
über  den  Hausierhandel  (Beschränkungen 
des  Verkehrs  mit  Staatsmonopolgegenständen 
sowie  diverse  polizeiliche  Verfügungen,  so 
für  Paris  die  Verdg.  v.  28.  Dezember  1859 
u.  a.),  über  die  Medizinalgewerbe  (Erforder- 
nis des  Besitzes  bestimmter  Diplome  für  die 
Ausübung  des  ärztlichen  Berufes  etc.),  dann 
die  sich  aus  dem  Finanzrecht  (Tabak-,  Zünd- 
hölzchen- etc.  Monopol)  ergebenden  Be- 
schränkungen. Jedenfalls  ist  eine  selir 
weitgehende  Gewerbefreiheit,  was  den  An- 
tritt von  Gewerben  betrifft,  verwirklicht. 

Vermehrt  werden  dagegen  die  gesetz- 
lichen Bestimmungen,  die  gegen  die  Fäl- 
schung von  Lebensmitteln  gerichtet  sind, 
namentlich  ist  es  der  Weinhandel,  welcher 
die  Gesetzgebung  beschäftigt  (G.  v.  14.  Au- 
gust 1889  u.  a.). 

Ueber  die  Beaufsichtigung  der  Betriebsan- 
lagen s.  unten  sublO,  über  die  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung s.  d.  Art.  oben  Bd.  I,  S.  541  ff., 
über  die  Conseils  de  prud'hommes  s.  d.  Art. 
Gewerbegerichte  oben  Bd.  IV,  S.  406 ff. 

Unter  den  liberalen  Reformen  der  drit- 
ten Republik  namentlich  bemerkenswert  ist 
das  G.  V.  21.  März  1884  über  die  fachge- 
werblichen Verbände :  es  vollendet  die  Koa- 
ütionsfreiheit  und  giebt  die  Bildung  der 
bezeichneten  Verbände  (Syndikate)  frei, 
welche  bis  dahin  gesetzlich  verboten,  wenn- 
gleich thatsächlich  geduldet  waren.  Die 
Syndikate  erhielten  damit  eine  unanfecht- 
bare Rechtsgrundlage,  sie  können  sich  im 
Unterschiede  von  den  übrigen  Assoziationen, 
welche,  wenn  sie  mehr  als  20  Mitglieder 
zählen,  einer  behördlichen  Autorisation  be- 
dürfen, stets  frei  von  einer  solchen  bilden  und 
müssen  nur  gewisse  Förmlichkeiten  erfüllen. 

Bestehen  blieben  jedoch  die  Bestimmun- 
gen des  Strafgesetzbuches  (Art.  419  und 
420),  welche  die  unter  den  hauptsächlichen 
Inhabern  einer  Ware  gebildete  Vereinigung 
mit  Strafe  bedrohen,  wenn  diese  die  Fälschung 
der  Preisbildung  der  Ware  bezweckt  und 
thatsächlich  erzielt (sogenan ntes  accapare- 
ment),  gleichwie  auch  Abmachungen  civil- 
rechtlich  als  nichtig  erklärt  werden  können 
(Art.  1131  und  1133  Code  civil),  welche 
gegen  die  Freiheit  des  Handels  Verstössen, 
wovon  z.  B.  1890  in  dem  Prozesse  mehrerer 


Bergbaugesellschaften  gegen  die  Metallge- 
sellschaft und  das  Escomptecomptoir  aus 
Anlass  des  Kupferringes  Gebrauch  gemacht 
wurde.  Vgl.  hierzu  Schriften  des  Vereins 
f.  Sozialpol.,  Bd.  60. 

5.  Die  Fra^e  der  Wiederherstelluiig 
der  Korporationen.  Wie  schon  zu  er- 
wähnen Gelegenheit  war,  zeigten  sich  vne- 
derholt  Bestrebungen  zur  Wiedereinfüh- 
rung der  alten  Korporationen,  wenngleich 
selbstverständlich  dabei  regelmässig  mehr 
oder  minder  wesentliche  Aenderungen  an 
ihrer  Verfassung  und  ihren  Aufgaben  gegen 
früher  in  Aussicht  genommen  waren. 

Man  kann  sagen,  dass  dieser  Hang  für 
die  alte  korporative  Gewerbeverfassung  in 
Frankreich  niemals  ganz  ausgestorben  ist. 
Die  modernen  Syndikate,  welcihe  in  rascher 
Entwickelung  begriffen  sind,  haben  manches 
gebracht,  was  man  sich  früher  von  der 
Wiederherstellung  der  Korporationen  ver- 
sprach ;  aber  auch  damit  ist  der  Korporations- 
gedanke nicht  verschwunden.  Mne  neue 
Pflege  hat  er  durch  die  katholisch-konserva- 
tive Partei  gefunden,  welche  insbesondere 
die  Gründung  von  sogenannten  syndicats 
mixtes  empfiehlt,  das  ist  von  fachlichen 
Verbänden,  in  denen,  entsprechend  den 
früheren  Einrichtungen,  sowohl  Unternehmer 
als  auch  Arbeiter  vertreten  sind.  Insbeson- 
dere von  Bedeutung  hierfür  ist  das  Oeuvre 
des  Cerdes  ouvriers  geworden,  welches  1871 
durch  Albert  von  Mun  im  Vereine  mit  Ge- 
sinnungsgenossen gegründet  wurde  und  eine 
rege  Propaganda  entfaltete.  Allerdings  geht 
die  katholische  Partei  selbst  weit  auseinander 
in  betreff  der  Aufgaben  der  neuen  Kor- 
porationen und  Ausstattung  derselben  mit 
Rechten.  Die  Spaltung  der  Partei  in  solche, 
die  für  eine  sehr  weitgehend  freiheitliche 
Gestaltung  der  Volkswirtschaft  sind,  und 
solche,  welche  einer  stärkeren  Beschränkung 
des  Individualismus  zuneigen,  zeigt  sich 
auch  hier.  Einzelne  Stimmen  sind  schon 
bis  zur  Verleihung  von  allgemeinen,  also 
auch  gegenüber  den  Nichtmitgliedern  gfütigeu 
Befugnissen  bei  Regehmg  der  Arbeitsver- 
hältnisse etc.  oder  unmittelbaren  Herstellung 
von  Zwangsverbänden  und  anderem  gegangen. 
Vergl.  hierzu  namentlich  verschiedene  Auf- 
sätze in  der  Association  catholiqne,  dann 
Boissard,  Le  syndicat  mixte  (Paris  1897) 
und  das  unten  genannte  Werk  von  Martiu- 
Saint-Leon. 

IL  Besonderer  Teil. 

6.  Das  Bäckergewerbe.  Zu  den  Ge- 
werben, welche  der  fi^anzösischen  Gewerbe- 
gesetzgebung am  meisten  zu  schaffen  ge- 
macht haben,  gehört  das  Bäckergewerbe. 
1791  frei  gegeben,  hatte  es  nur  noch  mit 
der  Beschränkung  zu  reclmen,  dass  das 
G.  V.   19./22.  Jidi  1791  im  Art.  30  die  Er- 


464 


Grewerbegesetzgebung  (Frankreich) 


lassung  von  Preistaxen  für  das  Brot  vor- 
gesehen hatte.  Bald  aber  schlug  die  Stunde 
nir  eine  neuerliche  eingehende  Regehing 
des  Bäckereibetriebes.  Zunächst  Anlass 
hierzu  gab  die  nach  der  Ernte  von  1801 
eintretende  Teuerung,  welche  bei  der  Re- 
gierung die  Idee  einer  Abhilfe  auf  dem 
Wege  der  Regelung  des  Bäckergewerbes 
wachrief.  Dies  geschah  durch  die  Verfügung 
der  Consuln  vom  11.  Oktober  1801.  Im 
Widerspruch  mit  dem  Minister  des  Innern 
Chaptal  erlassen,  ordnete  dieselbe  unter 
gleichzeitiger  Schaffung  einer  korporativen 
Vertretung  an :  1.  Die  Ausübimg  des  Bäcker- 

fewerbes  in  Paris  ist  an  eine  Erlaubnis  des 
'olizeipräfekten  gebunden.  2.  Diese  wird 
nur  gegen  Uebernahme  der  Verpflichtung 
erteilt,  15  Sack  Mehl  als  Garantie  zu  hinter- 
legen und  im  eigenen  Magazin  einen  Vor- 
rat von  15—60  Sack  —  je  nach  dem  Um- 
fange des  Betriebes  —  zu  halten.  Das  zur 
Garantie  hinterlegte  Mehl  wird  durch  unter 
behördlicher  Einflussnahme  aus  der  Mitte 
der  Bäcker  Bestellte  verwaltet.  3.  Befrei- 
ung der  Bäcker  von  der  Patentabgabe. 
4.  Kein  Bäcker  darf  ohne  Erlaubnis  die  Zahl 
der  Ausbackungen  verringern  oder  sein  Ge- 
werbe ohne  vorhergehende  sechsmonatliche 
Ankündigung  aufgeben.  —  Die  Beobachtung 
dieser  Anordnungen  war  durch  allerlei  Straf- 
androhungen gesichert. 

Die  behördliche  Einflussnahme  bleibt 
dabei  nicht  stehen,  sie  wird  vielmehr  noch 
einschneidender.  Seit  1811  übt  die  Behörde 
die  Preisbestimmung  aus,  es  folgt  ferner 
eine  Reihe  von  neuen  Dekreten  und  Ver- 
fügungen. Eine  königliche  Ordonnanz  er- 
kennt 1815  ausdrilcklich  das  ausschliess- 
liche Recht  der  Bäcker  an,  in  Paris  und 
seiner  Bannmeile  Brot  zu  verkaufen;  nie- 
mand darf  bei  Strafe  der  Konfiskation  Brot 
im  kleinen  verschleissen  oder  Vorräte  daran 
ansammeln,  und  Wirte,  Kaffesieder  etc. 
dürfen  nur  das  Brot  bei  sich  halten,  welches 
für  sie  selbst  und  ihre  Gäste  notwendig 
ist.  1818  wird  die  Grösse  des  Depots  und 
des  Vorrates  bei  den  Bäckern  erhöht.  1824 
folgt  die  weitere  Massnahme,  dass  die 
Bäcker  das  von  ihnen  ausgebackene  Brot 
mit  einer  ihnen  zugewiesenen  Nummer  zu 
versehen  haben,  damit  Gewichtsabgänge 
hintangehalten  werden. 

Anlässlich  der  schlechten  Ernte  von  1853 
machte  die  Pariser  Gemeindeverwaltung  den 
Versuch  einer  Einrichtung,  welche  gestatten 
sollte,  zu  Zeiten  einer  Teuerung  den  Kon- 
sumenten Brot  zu  einem  ermässigten  Preis 
zu  vei-schaff en ,  ohne  damit  die  Gfemeinde- 
finanzen  zu  belasten.  Zu  diesem  Zwecke 
wurde  eine  Kasse  gogi'ündet,  welche  für 
Rechnung  der  Bäcker  die  Mehleinkäufe  der- 
selben zu  begleichen  hatte;  sie  schoss  den 
Bäckern  den  Beti-ag  voi-,  der  sieh  aus  dem 


Zurückbleiben  der  amtlichen  Brottaxe  gegen- 
über den  Mehlpreisen  ergab,  und  zog  um- 
gekehrt einen  etwaigeh  üeberschuss  ein. 
Auf  diese  Weise  glaubte  man  im  wesent- 
lichen eine  Best^digkeit  der  Brotpreise 
erzielen  zu  können,  indem  für  das  Deficit 
in  teueren  Jahren  der  üeberschuss  aus  wohl- 
feilen aufkomme.  Dieses  System  liatte  aber 
eine  Unterbindung  des  Brotverkehi-s  des 
Seinedepartements  mit  den  ausserhalb  ge- 
legenen Ortschaften  zur  Voraussetzung, 
welche  auch  durch  die  Polizeiverordnung 
vom  20.  Mai  1858  erfüllt  wurde. 

Weitere  Fortschritte  machte  die  Regle- 
mentierung durch  das  kaiserliche  Dekret 
vom  1.  November  1854,  dessen  Bestimmungea 
sodann  durch  das  Dekret  vom  16.  November 
1858  von  Paris  auf  165  andere  Städte  aus- 
gedehnt wurden.  Betriebspflicht,  das  ob- 
ligatorische Halten  von  Mehl  verraten ,  Zahl 
der  Bäcker  (für  Paris  601)  etc.  werden 
neuerlich  geregelt. 

Ungefähr  zehn  Jahre  dauerte  dieses 
System,  um  sodann  durch  ein  anderes  — 
das  der  Freigebung  des  Bäckergewerbes  — 
ersetzt  zu  werden.  Dies  geschah  durch  das 
kaiserliche  Dekret  vom  22.  Juni  1863.  Es 
hob  die  Beschränkungen  hinsichtlich  der 
Zahl  der  Bäcker,  die  Notwendigkeit  einer 
behördlichen  Erlaubnis  für  den  Betrieb 
dieses  Gewerbes,  die  Verpflichtung  zur 
Haltung  von  Vorräten  etc.  auf;  auch  die 
Bäckerkasse  des  Seinedepartements  hätte 
eine  entsprechende  Umgestedtung  zu  erfahren. 
Ueber  die  bisherige  Wirksamkeit  derselben 
bemerkte  der  Bericht  von  Rouher  an  den 
Kaiser  unter  anderem:  »Man  muss  aner- 
kennen, dass  während  der  Krise,  die  1853 
begonnen  und  sich  in  den  folgenden  Jahren 
fortgesetzt  hat  die  Kasse  des  Seinedeparte- 
ments, Dank  sei  es  dem  mächtigen  ihr  von 
der  Stadt  Paris  erwiesenen  Schutze,  schwere 
Aufgaben  bewältigen  und  für  die  Bevölke- 
rung die  Last  einer  schwierigen  Lage  er- 
leichtem konnte.  Aber  hätte  dieses  Resul- 
tat nicht  durch  einfachere  und  minder  kost- 
spielige Mittel  als  die  angewendeten  er- 
reicht werden  können?  Das  Bäckergewerbe 
jeder  Freiheit  in  der  Bewegung  beraubt,  in 
die  engste  Abhängigkeit  von  der  Verwaltung 
der  Kasse  gestellt,  zahlreichen  und  lästigen 
Förmlichkeiten  und  einem  strengen  Systeme 
unterworfen,  gegen  welches  es  oft  sehr 
lebhafte  Klagen  und  bisweüen  bei^echtigte 
Reklamationen  erhoben  hat;  eine  Gesamt- 
ausgabe von  70  Millionen  Francs,  von  denen 
nur  53^/2  Millionen  zur  Herabsetzung  der 
Brotpreise  verwendet  worden  sind,  die  Not- 
wendigkeit, den  Brotverkehr  an  den  Grenzen 
der  der  Seine  benachbarten  Departements 
und  oft  in  Gemeinden  zu  untersagen,  deren 
Einwohner  sich  untereinander  mengen  — 
heisst   dais    nicht   die  Vorteüe   sehr    teuer 


Gewerbegesetzgebung  (Frankreich) 


i466 


erkauft  zu  haben,  welche  die  Bevölkerung 
genossen  hat?« 

Die  iii  Rede  stehende  Kasse  des  Seine- 
departements wurde  jedoch  nicht  aufgehoben, 
sie  wurde  nur,  wie  schon  bemerkt,  ent- 
sprechend umgestaltet.  Man  erhob  bei  der 
Enfuhr  nach  Paris  eine  Abgabe  auf  Ge- 
treide, Mehl  und  Brot.  Der  Erlös  davon 
floss  in  die  Kasse,  welche  dagegen  die  Auf- 
gabe hatte,  wenn  der  Preis  des  Brotes 
erster  QualitÄt  50  Centimes  das  Kilo  über- 
steige, den  üeberschuss  zu  tragen. 

E5n  Dekret  der  Regiening  der  nationalen 
Verteidigung  hob  1870  diese  Abgabe  auf. 
Die  Bäckerkasse  übernahm  die  wichtigen 
Funktionen  bei  der  Austeilimg  des  MeMes 
bezw.  Brotes  unter  die  Bäcker  und  die  Be- 
völkerung. 

Gegenwärtig  steht  noch  der  oben  er- 
wähnte Art.  30  des  Gemeindegesetzes  vom 
19.— 22.  Juli  1791  in  Kraft;  Art.  479  des 
Strafgesetzbuches  bedroht  mit  Geldbussen 
die  fiiäcker,  welche  die  gesetzmässig  erlassene 
Preistaxe  übersclireiten.  Bestrebungen,  in 
Paris  die  Erlassung  einer  Taxe  herbeizuführen, 
blieben  ohne  Erfolg,  dagegen  machten  (nach 
einer  Angabe  Donnats  aus  dem  Jahre  1891) 
ungefähr  900  Gemeinden  von  der  Befugnis 
zur  Aufstellung  einer  Brottaxe  Gebrauch.  — 
Vergl.  hierzu  d.  Art.  Bäckereigewerbe 
oben  Bd.  H,  S.  127,  128. 

7.  Das  Fleischer-  und  das  Selcher- 
^ewerbe.  Der  Verlauf  ist  beim  Fleisch- 
hauergewerbe ein  ganz  ähnlicher  wie 
beim  Bäckergewerbe:  freigegeben  durch  die 
Gesetzgebung  der  Revolutionszeit  bleibt  es 
nur  nach  dem  G.  v.  19.— 22.  Juli  1791  der 
Erlassung  einer  Preistaxe  diuxsh  die  Gemein- 
den ausgesetzt.  Namentlich  sind  es  Rück- 
sichten auf  die  Approvisionienmg  der  zu 
Unruhen  geneigten  Hauptstadt,  welche  zu 
einem  Verlassen  dieses  Systems  Anlass 
bieten ;  die  Misslichkeiten,  welche  sich  hier- 
bei ereeben,  nötigen  aber  endlich  wiederum 
zum  Mnlenken  in  die  alte  Bahn.  ^ 

Schon  durch  die  Verfügimg  der  Consu- 
latsre^erung  vom  30.  September  1802  war 
für  die  Fleischerei  in  Paris  die  Gewerbe- 
freiheit aufgegeben  worden.  Jeder  Metzger 
benötigte  danach  für  seinen  Gewerbebetrieb 
eine  Erlaubnis  der  Polizeipräfektur  und 
hatte  eine  Kaution  zu  erlegen;  ausserdem 
wurde  ein  Syndikat  mit  bestimmten  Rechten 
und  Aufgaben  gebildet.  Unter  dem  Kaiser- 
reieh  machte  man  einen  Schritt  weiter. 
Ein  kaiserliches  Dekret  beschränkte  1811 
<lie  Zahl  der  Fleischbänke  in  Paris  auf  300 
und  rief  die  1789  eingegangene  Kasse  von 
Poissy  wieder  ins  Leben,  die  1733  mit  Hilfe 
vt>n  Kaulionen  der  Fleischhauer  gegründet 
worden  war  und,  um  die  Viehzüchter  vor 
Verlusten  zu  schützen  und  damit  die  Zu- 
fuhr ^f  die  Yiehmärkte  von  Sceaux  und 

Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


Poissy  zu  erleichtern,  füt  das  gekaufte  Vieh 
haftete.  Jeder  Metzger  sollte  jetzt  in  diese 
Kasse  1500  Francs  einzahlen  und  nach 
Massgabe  seiner  Einkäufe  weitere  Zuschüsse 
leisten,  so  dass  die  Viehverkäufer  voll  ge- 
deckt waren,  die  mm  ihrerseits  eine  Abgabe 
von  3V2^/o  des  Verkaufserlöses  zu  leisten 
hatten.  1821  wurden  diese  Abgaben  ersetzt 
durch  solche,  welche  die  Fleischhauer  zu 
tragen  hatten.  1822  wurde  die  Zahl  der 
Metzgergewerbe  auf  370  vermehrt. 

Immer  noch  befriedigte  der  Zustand 
nicht.  Die  Viehzüchter  beklagten  sich  über 
die  niedrigen  Preise,  welche  sie  erzielten, 
das  Publikum  über  die  Höhe  der  Fleisch- 
preise, und  die  Staatsverwaltung  stellte 
weitere  Massnahmen  in  Aussicht.  Diese 
erfolgten  in  der  That  durch  die  königliche 
Ordonnanz  vom  12.  Januar  1825.  Sie  hob 
die  Beschränkung  der  Zahl  auf,  liess  jedoch 
das  üebrige  fortbestehen,  so  das  Erforder- 
nis der  Konzession,  d^n  Kautionserlag,  die 
Kasse  von  Poissy.  Der  Zustand  war  eben- 
sowenig befriedigend  wie  früher,  besonders 
waren  es  die  Fleischer  selbst^  die  sich 
jetzt  rührten.  Ein  neues  Expenment  liess 
daher  nicht  lange  auf  sich  warten.  Die 
königliche  Ordonnanz  beschränkte  1829 
wiederum  die  Zahl  der  Fleischbänke  auf 
400,  stellte  als  Bedingung  fflr  den  Gewerbe- 
betrieb den  Nachweis  der  entsprechenden 
Kenntnisse  auf,  liess  die  Kasse  von  Poissy 
fortbestehen  unter  Verpflichtung  der  Fleisch- 
hauer, auf  den  Märkten  von  Poissy  und 
Sceaux  einzukaufen,  und  erhöhte  die  Kaution 
bei  der  Kasse  auf  3000  Francs.  Das  Mono- 
pol der  Fleischhauer  wurde  dadurch  be- 
schränkt, dass  in  gewissen  Hallen  und 
Märkten  der  Verkauf  auch  durch  auswärtige 
Marktfahrer  erlaubt  war  sowie  dass  auch 
ein  beschränktes  Verkaufsrecht  der  Tripiers 
(Eingeweide,  Füsse  etc.)  bestand.  Durch  die 
Polizeiverordnung  vom  25.  März  1830  wur- 
den dann  noch  nähere  Anordnimgen  ge- 
troffen, insbesondere  auch  das  Syndikat 
reorganisiert,  die  nötigen  Aufsichtsorgane 
für  die  oft  sehr  minutiösen  Vorschriften  (ent- 
halten in  mehreren  hundert  Artikeln)  ge^ 
schaffen  etc. 

Der  Kampf  zwischen  den  Landwirten 
und  den  Fleischhauern  dauerte  indessen  fort. 
Erstere  sprachen  sich  gegen  das  Verkaufs- 
monopol der  Fleischhauer  und  gegen  die 
Besciiränkung  der  Zahl  aus,  da  sie  von  der 
Aufhebung  diesei*  Einrichtungen  günstigere 
Konkurrenzverhältnisse  für  den  Absatz  ihrer 
Erzeugnisse  erhofften;  die  Fleischhauer 
hingegen  kämpften  energisch  für  die  Be- 
schränkung. 

Die  Frage  kam  nicht  ziu:  Ruhe,  auch  als 
in  den  Jahren  1848 — 1849  kleine  Milderun- 
gen des  Monopolsystems,  so  dim^h  Erwei- 
terung der  Verkauf sbefugnisse  der  auswar- 

Auflage.    IV.  30 


466 


Gewerbegesetzgebung  (Frankreich) 


ti^n  Markthändler,  zu  stände  kamen.  Die 
Diskussion  war  lebhaft,  gewichtige  Stimmen 
erhoben  sich  für  die  Freigebung,  die  zuneh- 
mende Fleischteuerung  drängte  zu  einem 
Schritte.  Er  erfolgte  —  aber  nicht  in  libe- 
ralem Sinne,  sondern  in  der  Richtung 
weiterer  Reglementierung.  Durch  die  Poli- 
zeiverordnung vom  1.  Oktober  1855  wurde 
für  Paris  die  Fleischtaxe  ins  Leben  gerufen : 
der  Preis  jeder  Fleischgattung  soUte  von 
vierzehn  zu  vierzehn  Tagen  festgestellt 
werden  nach  den  bei  der  Kasse  von  Poissy 
erhobenen  Preisen.  Aber  auch  dieses  Sys- 
tem blieb  nicht  frei  von  Reklamationen,  und 
es  ergaben  sich  obendrein  ^nug  technische 
imd  praktische  Schwierigkeiten;  namentlich 
klagte  man,  dass  die  Fleischer  jetzt  gar 
kein  Interesse  mehr  daran  hätten,  wohlfeil 
einzukaufen.  Nachträgliche  Erhebungen 
lassen  auch  die  Annahme  zu,  dass  die  Taxe 
Anlass  gab  zum  Auftrieb  von  minder 
schwerem  Vieh,  indem  der  Preis  sich  nicht 
genau  der  Qualität  anpassen  konnte  und 
daher  minderwertiges  Fleisch  beim  Einkauf 
bevorzugt  war. 

1858  fiel  endlich  auch  dieses  System, 
die  Taxe  verschwand  und  ebenso  die  Be- 
schränkung der  Zahl  der  Gewerbe;  auch 
die  Kasse  von  Poissy  wurde  aufgehoben. 
—  In  den  Departements  hatte  man  nur  von 
Fleischtaxen  Gebrauch  gemacht,  aber  keine 
monopolistischen  Korporationen  errichtet.  — 
Yergl.  hierzu  und  namentlich  über  die  Wir- 
kungen der  Freigebung  des  Fleischerge- 
werbes d.  Art.  Fleischergewerbe  oben 
Bd.  III,  S.  1089  ff. 

Anhangsweise  sei  hier  noch  bemerkt, 
dass  auch  das  S el eher ge werbe  (Char- 
cutiers)  in  Paris  den  Gegenstand  von  Be- 
schränkungen hinsichtlich  der  Zahl  gebildet 
hatte,  die  aber  bereits  1823  fielen. 

8.  Wirt9-  und  Schankgewerbe.  Auch 
diese  Gewerbe  vermochten  die  in  der  Revo- 
lutionszeit erlangte  Freiheit  nicht  auf  die 
Dauer  zu  behaupten.  Abgesehen  von  aller- 
lei schon  früher  zu  stände  gekommenen, 
namentlich  der  Aufwandbesteuening  der 
geistigen  Getränke  sowie  der  Gesundheits- 
polizei dieneuden  Vorschriften  ist  vor  allem 
wichtig  das  Dekret  vom  29.  Dezember  1851, 
welches  bestimmte,  dass  in  Hinkunft  kein 
Cafe,  Wirtsliaus  oder  Ausschank  an  Gäste 
ohne  Konzession  eröffnet  werden  dürfe ;  die 
zugelassenen  Betriebe  dieser  Ai't  können 
nach  Verurteilung  des  Inhabers  wegen 
Uebertretung  der  das  Gewerbe  betreffenden 
Gesetze  und  Vorschriften  oder  aus  Gründen 
der  öffentlichen  Sicherheit  durch  Verfügung 
des  Präfekten  gesclilossen  werden.  Dem 
sind  sodann  die  GG.  v.  27.  März  1851  und 
V.  5.  Mai  1855  anzureihen,  welchen,  obzwar 
sie  äusserüch  nur  die  Hintaahaltung  von 
fraudulosen   Vorgängen   beim  Verkauf  von 


Waren,  insbesondere  von  Lebensmitteln  zum 
Gegenstande  haben,  doch  eine  politische, 
gegen  die  Schankgewerbetreibenden  gerich- 
tete Tendenz  zugeschrieben  wird.  Die 
Schankwirte  haben  nämlich  in  Frankreich 
eine  anerkannt  politisch  einflussreiche  Stel- 
lung, sie  galten  jedoch  als  den  Bestrebun- 
gen Napoleons  nicht  günstig  gesinnt,  wes- 
halb unter  dem  Titel  d.er  Gesundheitspolizei 
strenge,  die  administrative  Willkür  nicht 
ausschliessende  Bestimmungen  gegen  sie 
erlassen  wurden.  Sie  sind  gegen  die  Fäl- 
schung von  Lebensmitteln  und  Getränken 
oder  den  Verkauf  von  solchen  geJQLlschten 
Waren  gerichtet  und  bedrohen  die  Schul- 
digen mit  Geld  und  Gefängnisstrafen  sowie 
der  Veröffentlichung  und  Anschlag  des 
ürteüs  an  geeigneten  Orten.  Weiter  wurde 
Art.  423  des  Str.GJi.,  der  die  Täuschung 
der  Käufer  über  die  Beschaffenheit  der 
Ware  mit  Geld-  und  Arreststrafen  bedrqht, 
dahin  verschärft,  dass  das  Gericht  gleich- 
falls die  Veröffentlichung  des  Urteils  und 
AMchierung  desselben  an  bestimmten  Orten 
anordnen  könne.  Nach  dem  G.  v.  2.  Fe- 
bruar 1852  endlich  zog  die  Verurteilung  zu 
irgend  einer  Freiheitsstrafe  im  Sinne  des 
G.  V.  27.  März  1851  die  Streichung  aus  der 
Wählerliste  nach  sich.  Alle  diese  Bestim- 
mungen konnten  zu  grossen  Härten  führen^ 
war  es  doch  möglich,  dass  eine  kleine,  bei 
diesem  Ggwerbe  an  sich  ziemlich  n^Jielie- 
gende  unä  keineswegs  schwer  wiegende 
Uebertretung  geradezu  zum  Verluste  der 
Existenz  führte,  z.  B.  durch  die  Auferlegung 
der  Verpflichtung,  das  verurteilende  Erkennt- 
nis im  eigenen  Geschäftslokal  anzuschlagen, 
was  vielleicht  die  ganze  Kundschaft  mit 
einem  Schlage  abschreckte. 

Eine  Aenderung  tritt  erst  zur  Zeit  der 
dritten  Republik  ein.  Das  G.  v.  17.  Juli 
1880  hebt  das  vom  29.  Dezember  1851  auf 
und  bestimmt,  dass  jedermann,  welcher  ein 
Kaffeehaus,  eine  Gastwirtschaft  oder  einen 
Ausschank  eröffnen  woUe,  vorher  Anzeige 
zu  erstatten  habe,  gleichwie  auch  eine 
Aenderung  in  der  Person  des  Eigentümers 
oder  im  Geschäftslokal  bekannt  zu  geben 
ist ;  Minderjährige  sowie  wegen  Verbrechen 
oder  gewisser  Vergehen  Verurteilte  sind 
(teils  dauernd,  teils  zeitlich)  vom  Betriebe 
solcher  Unternehmungen  ausgeschlossen, 
gleichwie  eine  derartige  Verurteilung  auch 
Verlust  einer  bereits  erworbeneü  Gewerbe- 
befugnis nach  sich  zieht  Hatte  schon  seit 
Mitte  der  70  er  Jahre  die  Zahl  der  Schank- 
gewerbe  infolge  der  minder  strengen  Hand- 
habung der  bestehenden  Vorschriften  zuge- 
nommen, so  schwoll  jetzt  die  Ziffer  in  einer 
geradezu  Besorgnis  erregenden  Weise  an; 
von  1879  auf  1888  betrug  die  Steigerung 
ca.  65000  Betriebe,  indem  im  ersteren  Jahre 
356  833,  im  letzteren  422  300  Schankgewerbe 


Gtewerbegesetzgebiing  (Frankreich) 


467 


gezählt  wurden.  In  Paris  allein  betrag  die 
Zunahme  37  «/o.  1895  zählte  man  424575 
Schankbetriebe. 

Auch  an  dem  G.  v.  27.  März  1851  wur- 
den durch  das  Gh.  v.  24.  Januar  1889  Aen- 
derungen  vorgenommen,  um  eine  zu  weit 
gehende  Härte  zu  beseitigen,  Verlust  de« 
Wahlrechtes  tritt  danach  niu-  bei  längeren 
Freiheitsstrafen  ein. 

9.  Die  Stellenyermitteliuig.  Die  ge- 
werbemässige  Stellenvermittelung,  deren 
Anfönge  sich  in  Frankreich  bis  ins  13.  Jahr- 
hundert verfolgen  lassen,  erfuhr  im  19.  Jahr- 
hundert zunächst  eine  Regelung  durch  die 
V.  V.  1.  Dezember  1803,  welche,  im  An- 
schlüsse an  die  Bestimmungen  über  die 
Arbeitsbücher,  auch  die  Errichtung  von 
Arbeitsnachweisbureaus  in  Paris  in  Aussicht 
nahm.  Diese  Bureaus  umlassten  je  einen 
bestimmten  Gewerbezweig  und  hatten  Mo- 
nopolcharakter. Die  Staatsverwaltung  er- 
richtete auch  in  anderen  Städten  derartige 
Bureaus.  Daneben  ^langten  aber  auch  rein 
private  Stellenvermitteiimgsgeschäfte  zur 
Entstehung,  die  bloss  der  Patentabgabe  un- 
terlagen. Yom  Jahre  1848  abgesehen,  in 
dem  vorübergehend  und  ohne  nachhaltigen 
Erfolg  Massnahmen  gegen  die  gewerbe- 
mässigen  Stellen  vermittler  in  Paris  ergriffen 
wurden,  erfolgte  die  Regelung  des  privaten 
Stellenvermittelungs  wesens  durch  das  Dekret 
vom  25.  März  1852  (Konzessionspflicht, 
ortspolizeiliche  Regehmg  etc.),  welches  in 
Pans  zu  einer  eingehenden  Ausfühnmgs- 
verordnung  Anlass  gab.  S.  d.  Art.  Ar- 
beitsnachweis und  Arbeitsbörsen 
oben  Bd.  I,  S.  952.  ->-  Die  Bestrebungen, 
eine  neue  gesetzliche  Regelung  des  Gtegen- 
standes  herbeizuführen,  haben  bisher  noch 
keinen  Erfolg  erzielt.  —  Vgl,  hierzu  die 
Schrift  des  franzöeisehfiii  Arbeitsamtes  über 
den  Arbeitsnachweis  (1893)  und  Darmiusey, 
Lo  placement  (Paris  1895),  Honnorat,  Du 
placement  (Paris  1896)  und  andere. 

10.  Sicherheits-  nnd  Saaitatspolizei 
hinsichtlich  der  BeMebsstätten.  Eine 
eingehende  Regelung  hat  in  Frankreich  der 
Schutz  der  Nadibarn  gegen  Belästigimg  oder 
Gefährdung  d\irch  Betriebsanlagen  gefunden, 
welche  j^eeignet  sind,  die  Liät  zu  verun- 
reinigen, Lirm  zu  erzeugen  oder  sonstige 
Unbequemlichkeiten  oder  Nachteile  zu  ver- 
ursachen. 

Die  gegenwärtig  in  Kraft  stehende  Re- 
gelung knüpft  an  das  Dekret  vom  15.  Ok- 
tober 1810  an,  welches  die  früheren  Vor- 
schriften dieser  Art  aufhob,  deren  Hand- 
habung den  Gemeindebehörden  zugestanden 
hatte  und  sehr  ungleichmässig  ausgefallen 
war,  so  dass  man  nach  einem  vergeblichen 
Beformversuch  Abhilfe  auf  dem  Wege  einer 
vollständigen  Neuordnung  des  Gegenstandes 
fsuchte* 


Die  Regierung  hatte  diesbezüglich  das 
Gutachten  des  Institutes  von  Frankreich 
eingeholt  und  ging  von  der  Ansicht  aus,  es 
dürfe  nicht  zum  Vorteil  eines  einzelnen 
einem  ganzen  Viertel  die  Luft  verdorben 
oder  einem  anderen  ein  Schaden  in  seinem 
Besitz  zugefügt  werden.  Das  Dekret  giebt 
nun  eine  Tabelle  der  hier  in  Betracht  kom- 
menden Betriebsanlagen,  die  wiederum  in 
drei  Klassen  geteilt  erscheinen.  Allen 
Klassen  gemeinsam  ist,  dass  die  betreffen* 
den  Anlagen  nur  mit  behördlicher  Bewilli- 
gung errichtet  werden  dürfen.  Die  erste 
Klasse  umfasst  solche,  welche  von  den 
Wohnplätzen  entfernt  sein  müssen,  die 
zweite  jene,  bei  denen  eine  solche  Entfer- 
nung nicht  schlechtweg  notwendig  ist,  die 
aber  gleichwohl  nur  gestattet  werden  können, 
wenn  zuvor  nut  Sicherheit  festgestellt  ist, 
dass  die  Nachbarn  durch  sie  weder  belästigt 
noch  geschädigt  werden;  die  dritte  Kku^se 
begreift  jene  Etablissements  in  sich,  welche 
ohne  Nachteil  in  der  Nähe  von  Wohnungen 
bleiben  können,  aber  gleichwohl  einer  poli- 
zeilichen Aufsicht  bedürfen. 

Das  Dekret  ordnet  ferner  das  Verfahren, 
durch  welches  die  Möglichkeit  der  Vorbrin-» 
gung  von  Einwendungen  gegen  die  Errich- 
tung von  Anlagen  der  in  Frage  kommenden 
Art  gewahrt  werden  soll,  bestimmt  die  zur 
Entscheidung  berufenen  Stelleti  u.  s.  w.  In 
der  Folge  wurden  aUerdiugs  einige  Aende- 
ruugen  an  diesen  Verfügungen  vorgenommen, 
namentlich  erfuhr,  entsprechend  den  sich 
entwickelnden  industriellen  Verhältnissen, 
die  Liste  und  Einteilung  der  genehmigimgs- 
pflichtigen  Anlagen  wiederholt  Modifikationen 
und  Erweiterungen  (Dekret  vom  3.  Mai  1886 
und  Nachträge).  1852  wurde  die  Erteilung 
der  Erlaubnis  für  Etablissements  der  ersten 
Klasse  den  Präfekten  übertragen,  welche 
bis  dahin  dieses  Recht  nur  rücksichtlich  der 
zweiten  Klasse  besessen  hatten;  die  Ent- 
scheidungen hinsichtlich  der  dritten  Klasse 
stehen  den  ünterpräfekten  zu  (für  Paris  der 
Polizeipräfektur).  Einige  weitere  gegen- 
wärtig in  Kraft  befindliche  Vorschriften  sind 
die  folgenden. 

Jede  Eingabe  um  Bewilligung  zm*  Er- 
richtung eines  unter  die  Anwendung  der 
bezeichneten  Dekrete  fallenden  Betriebes 
muss  (im  Sinne  einer  1862  erlassenen  Ver- 
ordnimg des  Ministeriums  der  öffentlichen 
Arbeiten)  genau  die  Betriebsstätte,  die  Be- 
schaffenheit der  beabsichtigten  Verrichtungen 
und  der  ziu-  Verarbeitung  gelangenden 
Stoffe  angeben,  sie  muss  ferner  mit  den 
entsprechenden ,  fachmännisch  verfassten 
Plänen  versehen  sein.  Handelt  es  sich  um 
ein  Etablissement  erater  Klasse,  so  wird  in 
der  Gemeinde  des  Standortes  sowie  in  allen 
Gemeinden  im  Umkreise  von  fünf  Kilome- 
tern die  beabsichtigte  Anlage  durch  öffent- 

30* 


j 


468 


Gewerbegesetzgebung  (Frankreich — Grossbritannien) 


liehen  Anschlag  bekannt  gegeben:  binnen 
Einern  Monat  kann  dann  jedermann  seine 
Einwendungen  vorbringen  und  wird  über- 
dies in  der  Gemeinde  des  Standortes  eine 
mündliche  Enquete  abgehalten,  bei  welcher 
etwaige  Einwendungen  protokollarisch  fest- 
gestellt werden.  Eventuell  werden  auch 
Sachverständige  und  der  Präfekturrat  (Con- 
«eil  de  prefecture)  einvernommen.  Steht 
hingegen-  die  Errichtung  eines  Etablissements 
z"weiter  oder  dritter  Klasse  in  Frage,  so  ver- 
einfacht sich  das  Yerfahren  entsprechend. 
Etwas  kontrovers  ist  die  Frage,  ob  sich  die 
Einwendungen  bloss  stützen  können  auf  die 
im  Tableau  bei  den  einzelnen  Industrie- 
zweigen ausdrücklich  namhaft  gemachten 
Gefahren  (z.  B.  Spiritusraffinerie  —  Feuers- 
gefahr) oder  andere;  sicher  ist  jedoch,  dass 
sie  nur  aus  den  mit  dem  Betrieb  selbst 
direkt  verbundenen  nachteiligen  Einwirkun- 
gen hergeholt  werden  können.  Die  Be- 
willigung kann  übrigens  auch  diu'ch  Bedin- 
gungen beschränkt  sein,  denen  der  Industrielle 
bei  sonstiger  Schliessung  des  Etablissements 
nachkommen  muss.  Aber  auch  dann,  wenn 
die  Anlage  genehmigt  ist  und  vollkommen 
den  aufgestellten  Bedingungen  entspricht, 
gilt  nach  der  vorherrschenden  Anschauung 
die  Annahme,  dass  der  Betriebsinhaber 
dritten  Personen  gegentlber  für  den  durch 
die  BetriebsfÜhnmg  zugefügten  Schaden  er- 
satzpfhchtig  ist.  — 

.  Die  im  vorstehenden  geschilderte  Gesetz- 
gebung ist  darauf  gerichtet,  die  benachbarten 
Bewohner  gegen  gesundheitsschädliche  oder 
gefährliche  Einflüsse  des  Industriebetriebes 
oder  gegen  Unbequemlichkeiten  durch  den- 
selben zu  sichern,  daneben  giebt  es  aber 
noch  eine  Reihe  gesetzlicher  Bestimmungen, 
welche  Gesundheit  und  Sicherheit  des 
Arbeitspersonales  betreffen  (GG.  v. 
2.  November  1892  und  12.  Juni  1893); 
siehe  über  diese  in  den  Kreis  des  Atbeiter- 
öchutzes  fallenden  Vorschriften  den  Art. 
Arbeiterschutzgesetzgebung  in 
Frankreich  oben  Bd.  I.,  bes.  S.  546. 

Neben  den  allgemeinen  Regeln  für  mit 
Gefährdimgen  der  Sicherheit  oder  Gesund- 
heit verbundenen  Betriebsanlagen  giebt  es 
dann  noch  für  bestimmte  Betriebe  bösondere 
Vorschriften  im  Interesse  der  Hintanhaltimg 
von  Gefahren  für  Beschäftigte  und  dritte 
Personen,  so  z.  B.  für  alle  Betriebe  mit 
einem  Dampfmotor  (Dekret  vom  30.  April 
1880),  für  Fabriken  imd  Niederlagen  von 
Explosivstoffen  imd  andere. 

Lltteratur:  Ausser  den  Darstellungen  des  Ver- 
waltungsrecJUes  siehe:  Block,  IMctionnaire  de 
Vadministrationfranqaise.  — Emile  Cohendry, 
Recueü  des  lois  industrielles,  2«  edition,  Paris 
1898.  —  Georges  Paulet,  Code  annote  du 
•  eommerce  et  de  IHndustrie,  Paris  1891.  —  Paul 
'  Pic,  Traue  Mementaire  de  legislation  industrielle. 


I,  Paris  1894.  —  Schönberg  in  seinein  Hand- 
buch der  pol.  Oek.,  IL  Bd.,  /,  8.  385  ff.  —  Vgl, 
femer  J,  Barberet,  Monographies  professio- 
nelles, Paris  1886  ff.  —  Hippolyte  Blanc,  Les 
corporations  de  vihiers,  2^  S.dü.,  Paris.  —  P. 
Hubert- Vallerotix,  Les  corporaiions  d*arts  M 
metiers,  Paris  1885.  —  L.  Donnat,  Nouveau 
dictionnaire  d'^conomie  politique,  Art.  Commerce 
de  Valimentation.  ■ —  JE,  Levasseurf  Hisloire 
des  classes  ouvrieres  en  Franäe  depuis  1789  jusqu*ä 
nos  jours,  Paris  1867.  —  W,  LexiSy  Gewerk- 
vereine  und  Untemehmerverbände  in  Frankreich, 
Leipzig  1879.  —  Etienne  Martin -Saint" 
L/^on,  Histoire  des  corporations  de  nUtiers, 
Paris  1897.  -—  Litteratur  über  die  Gesetzgebung 
betreffend  gefährliche  elc.  Betnebe  s.  bei  Pic 
p.  2S1.  Victor  Mat4JiJa, 


y.  Die  Gfewerbegesetzgebung  in 
Orossbritannien* 

I.  Geschichtliche  Entwickelung  der 
Gewerbeverfassung.  II.  Allgemeine 
gesetzliche  Bestimmungen.  1.  Ge- 
schichtliche Entwickelung.  2.  Geltendes  Recht. 
3.  Verfahren  in  Lohnstreitigkeiten.  Ordentliches 
Verfahren.  4.  Schiedsverfahren.  Illt  Beson«- 
dere  Beschränkungen  des  freien  Ge- 
werbebetriebes. 5.  Einleitung.  6.  Vor- 
schriften ge^en  Waren-  und  Gewichtsfälschung. 
7.  Gesundheits-  und  sicherheitspolizeiliche  Be- 
stimmungen. 8.  Schatz  gegen  Betrug.  9.  Be- 
schränkungen einzelner  Fabrikationszweige. 
10.  Beschränkungen  des  Gewerbebetriebes  am 
Sonntag. 

.  L  Geschichtliche  Entwickelung  der 
Gewerbeverfassung. 

Die  G^werbeverfassung  und  das  Gewerbe- 
recht Englands  charakterisiert,  vielfach  im 
Gegensatze  zur  festländischen  Entwickelung, 
die  Tendenz  zur  Gewerbefreiheit.  Diese  hat 
nur  durch  das  Interesse  des  Gemeinwohles 
gebotene  Einschränkungen  sowohl  auf  demi 
Wege  der  Gesetzgebung  als  vermöge  der 
Einflussuahme  beruflicher  Verbände  er- 
fahren. 

Der  Ursprung  der  englischen  Gilden, 
und  zwar  sowohl  der  älteren  Verbände  mit 
dem  ausschliesslichen  Rechte  des  Detail^ 
handeis  (»Merchant  Gilds«,  zuerst  1093  für 
Ganterbiuy  nachweisbar)  als  der  gewerblichen 
Korporationen  (»Graft  Gilds«,  zueret  1130 
für  London,  Oxford  und  Lincoln  erwähnt), 
ist  auch  nach  den  neuesten  Forschungen 
nicht  aufgehellt.  Die  Kämpfe  der  Hand^ 
werker  gegen  die  Altbürgergüde,  welche  auf 
dem  Festlande  zur  Zunftentwickelung  führen, 
sind  in  England  nicht  allgemein  nachweis- 
bar; es  muss  bis  auf  weiteres  dahingestellt 
bleiben,  ob  die  gewerblichen  Gilden  durch 
Specialisienmg  aus  den  Kaufgilden  oder 
durch  üebertragung  kontinentaler  Arbeiter- 
organisationen nach  der  normannischen  Er- 
oberung nach  England  oder  endlich  aus  der 
Privilegierung   von   Arbeitern,    welche  der 


Gewerbegesetzgebung  (Grossbritannien) 


4^9 


Hofhaltung  eines  Grossen  oder  des  Königs 
angehört  hatten,  entstanden  sind. 

Die  Privilegierung  der  Zünfte  erfolgt 
regelmässig  durch  königlichen  Freibrief; 
Zünfte,  welche  um  diesen  nicht  ansuchen, 
werden  als  »falsche  Gilden«  mit  Busse  be- 
legt (1180).  Den  Inhalt  des  Privilegs  bildet 
die  Befugnis  des  ausschliesslichen  lokalen 
Handels-  oder  Gewerbebetriebes,  das  Vor- 
kaufsrecht für  eingeführte  Waren  mit  Aus- 
nahme von  Yiktualien,  die  Freiheit  von  könig- 
lichen Zöllen  innerhalb  des  städtischen  Ge- 
bietes und  —  in  verschiedenem  Ausmasse  — 
die  Ausübung  der  Gewerbepolizei.  Soweit 
diese  letztere  nicht,  wie  ursprünglich,  von 
königlichen  Beamten  (Sheriffs)  oder  von  den 
Stadtbehörden  ausgeübt  wird ,  steht  der 
Güde  bald  das  blosse  Anzeigerecht  an  den 
Mayor  der  Stadt,  bald  (wie  den  Webern  in 
London)  die  ausschliessliche  Gerichtsbarkeit 
über  ihre  Mitglieder  zu,  deren  Auslieferung 
durch  die  Sheriffgerichte  von  ihnen  verlangt 
werden  kann.  Die  Zunftvorsteher  (Bailiffs) 
und  die  Zunftstatuten  werden  vom  Mayor  be- 
stätigt; er  fungiert  auch  in  den  meisten 
Fällen  als  Berufungsinstanz  gegen  Entschei- 
dungen der  Gildengerichte. 

Die  Zünfte  übten  ihre  Korjwrations- 
rechte  durch  die  Beaufsichtigung  der  Güte 
der  Waren,  der  Einhaltung  bestimmter 
Masse,  die  Fernhaltung  von  Eindringlingen 
imd  die  Bestrafung  widersetzlicher  Mit- 
glieder mit  Bussen  und  selbst  mit  der  Aus- 
schliessung aus.  Sie  bestimmen  ferner  Um- 
la^n  zu  Gunsten  verarmter,  erkrankter 
Mitglieder,  zur  Bestreitung  ihrer  Begräbnis- 
kosten ,  zur  Unterstützung  ihrer  Witwen 
oder  zu  religiösen  Zwecken.  Die  Zunft- 
artikel verbieten  die  unkontrollierbare  Nacht- 
arbeit, die  Arbeit  an  Sonntagen  und  nach 
sechs  Uhr  nachmittags  an  Sonnabenden, 
endlich  die  Verwendung  von  Frauen  ausser 
von  Gattin  und  Töchtern  im  Gewerbebe- 
triebe. Lehrlings-  und  Gesellenwesen  wird 
zu  Beginn  des  14.  Jahrhunderts  die  regel- 
mässige Vorbedingung  z^u*  Erlangung  der 
Meisterschaft.  Statutarisch  ist  die  Voi-schrift 
einer  bestimmten  Lehrzeit  und  Lehrlings- 
zahl nicht  nachgewiesen :  in  London  bildete 
sich  die  Gewohnheit  der  siebenjährigen 
Lehrzeit  aus. 

In  ihrer  Eigenschaft  als  gewerbliche 
Aufsichtsorgane  wurden  die  Zünfte,  in 
steter  Unterordnung  unter  die  städtischen 
Kontrollorgane,  von  den  Königen  im  13.  und 
14.  Jahrhundert  begünstigt.  Rücksichten 
der  Fiskal-  und  Teuerungspolitik  hatten  das 
Statut  37  Edw.  IH.  c.  5  (1363)  zur  Folge, 
welchem  gemäss  bis  Lichtmess  alle  Hand- 
werker und  Gewerbsleute  einer  Zunft  an- 
gehören sollten.  Huu  folgt  eine  Reihe  von 
Verordnungen,  welche  den  Wirkungskreis 
der  einzelnen   Gewerbe   von   einander  ab- 


grenzen. Aber  ausdrücklich  wird  1504  zut 
Verhütung  von  Preissteigerungen  und  an-» 
deren  Zunftmissbräuchen  verordnet,  es  sei 
jeder  Beschluss  der  Zünfte  der  Regierung 
oder  den  Justices  of  Assizes  ziu*  Prüfung 
und  Genehmigimg  vorzidegen  (19  Hen.  c.  7)< 
Die  Lohnpolizei  wird  ihnen  durcli  das  Lehr- 
lingsstatut 5  Eliz.  4  abgenommen.  Der  Miss- 
brauch des  Sucherechtes,  dessen  sich  die 
Zünfte  in  der  Folgezeit  vielfach  als  Vor- 
wand zur  Unterdrückung  aufstrebender  In- 
dustrieen  bedienten,  hatte  die  Wandenmg 
dieser  letzteren  nach  dem  flachen  Lande 
und  nichtinkorporierten  Plätzen  zur  Folge* 
Frei  von  städtischem  Zunftzwange  ent- 
wickelte sich  dort  das  durch  den  Handel 
organisierte  Verlagssystem.  Die  Gewerbe-, 
polizei  der  Zünfte  wird  mit  Anbruch  des 
19.  Jahrhunderts  zur  blossen  Form ;  der  ge* 
ringe  Rest  ihrer  Von^echte  wurde  mit  wenigen 
Ausnahmen  durch  das  Munizipalitätsgesetz 
von  1835  (5  &  6  Will.  IV.  c.  76,  s.  14)  aus- 
drücklich aufgehoben. 

Die  grössere  Einflussnahme  der  könig-: 
liehen  Contralgewalt  auf  die  Entstehung  der 
Zünfte,  ihre  lediglich  kontrollierende,  nur 
in  wenigen  Fällen  gerichtliche  Gewalt,  die 
geringere  Verbreitung  des  Zunftwesens  auf 
dem  Lande,  die  grössere  Bedeutung  der 
Kaufgilde,  und  andererseits  das  Fehlen  eines 
Kampfes  zwischen  Patriciat  und  Zünften, 
eines  Imperium  in  imperio,  der  Ratsent- 
wickelung —  das  sind  die  wesentlichen 
Unterschiede  der  englischen  von  der  fest- 
ländischen Gewerbeverfassungsgeschichte. 

Durch  die  Aufhebung  der  Gewerbe  Vor- 
rechte ist  der  Gewerbebetrieb  in  England 
im  allgemeinen  von  der  Zugehörigkeit  zu 
einer  Innung  unabhängig.  Eine  Ausnahme 
bilden  die  Apotheker,  welche  in  London 
eine  geschlossene  Zunft  bilden.  Wirksame 
gewerbepolizeiliche  Kontrolle  besitzen  ausser-« 
dem  noch  die  Goldschmiede,  die  Büchsen- 
macher und  einige  wenige  andere  Innungen, 

II.  AUgemeiue  gesetzliche  Bestim- 
mungen. 

1.  Geschichtliche  Entwickelnng.   Ne-* 

ben  der  staatlichen  Regehmg  und  Beauf- 
sichtigung des  zünftigen  Gewerbebetriebes 
führten  seit  Ende  des  12.  Jahrhunderts  die 
Veränderungen  des  gewerblichen  Lebens 
zu  einer  selbständigen  staatlichen  Gewerbe- 
polizei. Dahin  gehören  a)  die  Gesetze,  wel- 
che Mass  und  Gewicht  (1197  Assize  of 
Measiu-es)  mit  Unterstützung  der  Lokalbehördo 
regeln,  b)  (legen  Ankauf  mid  Teuerung  wur- 
den besondere  Verordnungen  erlassen  und  eine 
Lebensmittelpolizei  durchgef ülirt, 
welche  Preistaxen  für  das  Brot  je  nach  den 
Getreidepreisen  (Assize  of  Bread.,  1202). 
dann  auch   für  Ale  (Assize  of  Bread  ana 


470 


Gewerbegesetzgebung  (Grrossbritannien) 


Ale  und  Judicium  Pifloriae,  1266)  und  Wein 
(1199)  vorschrieb,  dagegen  die  Preisregelung 
von  Fischen  und  Fleisch  den  Lokalbehörden 
tiberliess.  Die  Feststellung  der  Pi'eise  fiel 
urspiiinglich  einer  Anzahl  beeideter  ortsan- 
sässiger Personen,  seit  1390  den  Friedens- 
richtern zu, 

c)  Lohnpolizei.  Die  Regelung  des 
Lohnes  von  freien,  nichtzünftigen  Arbeitern 
war  bis  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  Auf- 
gabe der  städtischen  Behörden.  Die  nach 
dem  Auftreten  des  schwarzen  Todes  ein- 
tretende Lohnsteigerung  hatte  die  Yerord- 
nungen  und  Gesetze  von  1349,  1350  (Statute 
of  Laborers)  zur  Folge,  welche  Maximal- 
lohnsätze für  die  ländlichen  und  die  Bau- 
arbeiter sowie  die  Beibehaltung  der  im 
Jahi-e  1347  gezahlten  Löhne  für  alle  ande- 
ren Arbeiterkategorieen  vorschreiben.  Nach 
diesen  und  den  nächstfolgenden  Gesetzen 
von  1351,  1360  und  1368  sollen  wider- 
strebende Arbeiter  durch  die  Seigneiu^  des 
viDes  mit  15tägiger  Haft  bestraft  werden; 
alle  Konventikel  der  Maurer  und  Tischler 
werden  für  nuU  und  nichtig  erklärt.  Aus- 
reissern  ist  ein  F(ugitivus)  auf  die  Stime 
zu  brennen;  die  Verwendung  ländlicher 
Arbeiter  im  Gewerbe  wird  vierboten  (1388). 
Die  Feststellung  der  Löhne  wiu^e  1389 
den  Friedensrichtern  übertragen.  Erst  1512 
wurden  die  Strafklauseln  gegen  Meister  auf- 
gehoben, welche  einen  höheren  als  den  amt- 
Ech  festgestellten  Lohn  zahlten. 

Die  nächstfolgende  Gesetzgebung  nimmt 
die  zünftigen  gegen  die  ländlichen,  stark 
mit  jugendlichen  Arbeitern  besetzten  Ge- 
werbe m  Schutz.  Ein  Gesetz  vom  Jahre 
1549  beschränkt  die  Zahl  der  Webstühle 
und  der  Lehrlinge  eines  nichtzünftigen 
Tuchers  auf  zwei;  andere  Gesetze  (lo30, 
1536)  setzen  die  Gebühren  für  den  Antritt 
der  Lehrzeit  imd  die  Freisprechung,  welche 
die  Zünfte  unmässig  emporgeschraubt  hatten, 
fest  Die  gesamte  Lohnpolizei  wurde  end- 
lich durch  das  Statute  of  Apprentice- 
ship  5  Eliz.  c.  4  im  Jahre  1562  kodifiziert. 
Dieses  Gesetz  führte  das  Institut  der  sieben- 
jährigen Zwangslehrlingsschaft  »nach  dem 
Gewohnheitsrechte  von  London«  als  Vorbe- 
dingung des  Gewerbebetriebes  als  Meister 
oder  Geselle  ein  und  macht  dasselbe  zum 
Gegenstande  der  staatlichen  Polizeijurisdik- 
tion. Mit  Ausnahme  der  Lehrlinge  in  ge- 
wissen Baugewerben,  Schmieden  u.  a.  wurde 
eine  Vermögensqualifikation  der  Eltern  der 
Lehrlinge  verlangt  und  die  Altersgrenze 
der  letzteren  auf  21  Jahre  festgesetzt.  Das 
Recht  der  Lehrlingsaufnahme  liat  jeder 
Haushalter,  der  in  einer  Stadt,  in  einem 
Orte  mit  Korporationsrechten  oder  einem 
Marktflecken  wohnt.  Wer  drei  Lehrlinge 
beschäftigt,  muss  bei  10  £  Strafe  einen  und 
für  jeden  weiteren  Lehrling  einen  weiteren 


Gesellen  halten.  Gesellen  sollen  (in  31  auf- 
gezählten Gewerben)  mindestens  auf  ein 
Jahr  mit  vierteljähriger  Kündigungsfrist  ge- 
dungen werden.  Die  Arbeitszeit  sollte  im 
Sommer  von  5  ühr  morgens  bis  6  oder  8 
Uhr  abends,  im  Winter  von  Tagesanbruch 
bis  Sonnenuntergang  mit  2^/2  stündiger  Mahl- 
zeitpause dauern.  Die  Festsetzung  der  Ar- 
beitslöhne wurde  den  Friedensrichtern  und 
Stadtmagistraten  übertragen,  welche  die  Ab- 
weichung von  den  auf  den  Ostersessionen 
aufgestellten  Löhne  mit  Geldbussen  und 
Gefängnis  zu  bestrafen  hatten.  Analoge 
Gesetze  erflossen  in  Schottiand  1617  und 
1661. 

Die  Gesetzgebung  der  Folgezeit  erweitert 
die  Bestimmungen  des  Lehrlingsstatutes  in 
Bezug  auf  Beschränkung  der  Lehrlingszahl 
(1  Jac.  L  c.  17,  21  Jac.  L  c.  1,  13  &  14 
Gar.  n.  c.  5)  und  Lohnfixierung  durch  die 
Friedensrichter  (1  Jac.  c.  6)  auf  Gewerbe, 
welche  das  Gesetz  der  Elisabeth  nicht  be- 
rührt liatte.  Die  Vorschrift  dieses  letzteren, 
diejenigen,  welche  die  Vermögensqualifika- 
tion eines  Lehrlings  nicht  erbringen  Itonnten, 
zwangsweise  dem  Dienste  in  der  Landwirt- 
schaft zuzuweisen,  hatte  iin  Zusammenhange 
mit  der  späteren  Armengesetzgebung  die 
Wirkung,  durch  künstliche  Reduktion  des 
Arbeitslohnes  sowohl  die  ländliche  als  die 
gewerbliche  Produktion  den  Interessen  des 
Exporthandels  dienstbar  zu  machen.  In- 
dessen begann  bereits  Ende  des  17.  Jahr- 
hunderts eine  laxere  Handhabung  des  Lelir- 
lingsstatuts  Platz  zu  greifen;  eine  der  Ge- 
werbefreiheit günstige  Strömung  und  die 
Beteiligung  der  Lehrlinge  an  politischen 
Bewegungen  bewog  die  Richter,  die  Geltung 
des  Lehrlingsstatuts  auf  Gewerbe  zu  be- 
schränken, welche  bereits  zur  Zeit  der  Elisa- 
beth in  üebung  waren.  Es  galt  also  nicht 
in  den  späteren  Centren  der  Grossindustrie, 
wie  Manenester,  Leeds,  Birmingham.  Das  Auf- 
hören der  Lohnfixierung  in  vielen  Gewerben 
um  1720  führte  zu  lämpfen,  in  welchen 
zuerst  die  Londoner  Schneidermeister  gegen 
die  Gehilfen  im  Jahre  1721  (7  Geo.  I.  St  I. 
c.  13),  dann  umgekehrt  die  Wollweber  von 
Gloucestershire  1756  die  Einhaltung  der 
Lohntarife  durch  die  Prindpale  erzwangen. 
(»Woolen  Cloth  Weavers  Act«,  22  Geo.  11. 
c.  33).  Aber  schon  bald  darauf  wider- 
rief das  Parlament  das  Gesetz.  Ganz  aus- 
nahmsweise vermochten  noch  die  Seiden- 
weber von  Spitalsfield  die  Beobachtung  der 
Lohnregulierung  zu  erzwingen  (1773,  1792, 
1811).    Aber  schliesslich  setzten  die  Arbeit- 

E3ber  durch  die  formelle  Aufhebung  des 
ehrlingsstatutes  im  Jahre  1813  (53  Geo. 
ni.  c.  40)  die  Freiheit  des  Arbeitsvertrages 
dimjh  (vgl.  Held  S.  444—463,  Webb  S. 
35:-49). 

2.  Geltendes  Recht   Rechtlich  besteht 


Geverbegesetzgebiing  (Gfrossbritannien) 


471 


in  England  kein  Lehrlingszwang  und  keine 
Beschränkung  der  Zahl  der  von  einem  Ar- 
beitgeber aufzunehmenden  Lehrlinge.  Fak- 
tisch wird  dagegen  durch  die  Gewerkver- 
eine eine  solche  Regelung  nach  Kräften 
diu-chgeführt. 

3.  Verfahren  in  Lohnstreitigkeiten. 
Ordentliches  Verfahren,  a)  Historische 
Entwickelung.  Nach  dem  Statut  von 
1562  hatte  der  Ijehrling  dem  Arbeitgeber 
gegenüber  ein  Beschwerderecht  vor  dem 
Friedensrichter  oder  vor  dem  Bürgermeister 
und  zwei  Gremeinderäten,  bei  Widerspruch 
des  Arbeitgebers  in  der  Quartalsitzung  vor 
vier  Friedensrichtern.  Das  urteil  lautet 
auf  Entbindung  vom  Lehrkontrakt,  bei  Klage 
des  Meisters  wegen  üebelverhaltens  auf 
Korrektionshaus  oder  Züchtigung.  Das  Ge- 
setz von  1746  (20  Geo.  IL  c.  19)  giebt  das 
beiderseitige  Klagerecht  vor  zwei  Friedens- 
richtern, wenn  das  Lehrgeld  nicht  10  £  im 
Falle  ländlicher,  5  £  im  Falle  gewerblicher 
Arbeiter  übersteigt;  über  den  geklagten 
Arbeiter  können  Lohnabzüge  und  bis  ein- 
monatliche Korrektionsstrafe  verhängt  wer- 
den. 1823  erweiterte  das  Statut  4  Geo.  IV. 
c.  34  die  Kompetenz  des  Friedensrichters 
auf  die  Entscheidung  aller  Art  von  Lohn- 
streitigkeiten, schaffte  die  Züchtigung  ab, 
erhöhte  aber  die  mögliche  Dauer  der  Ge- 
fängnisstrafe auf  drei  Monate.  Dieser  re- 
formbedürftige Stand  der  Gesetzgebung 
hatte  Lord  Mcho's  Master  and  Servant  Act 
1867  (30  &  31  Vict.  c.  241)  zur  Folge, 
welche  die  Gefängnisstrafe  bis  3  Monate 
nur  im  Falle  der  Nichtleistung  von  Schaden- 
ersatz oder  von  Geldstrafen  (bis  20  £)  auf- 
recht hält  und  in  vielen  Fällen  ihre  Ver- 
schärfung durch  harte  Arbeit  beseitigt.  End- 
lich wurden  1875  die  herrschenden  Rechts- 
bestimmungen erlassen.    . 

b)  Geltendes  Recht.  Dolose  Ver- 
mögensbeschädigun^n  durch  Arbeitskon- 
traktbruch regelt  die  »Conspiracy  and  Pro- 
tection of  Property  Act  1875«  (38  &  39 
Vict.  c.  86),  auf  dem  Civil  rechtswege  ver- 
folgbare Schadenersatzansprüche  aus  Lohn- 
kontrakten die  »Employers  and  Workmen 
Act  1875«  (38  &  Vict.  c.  90).  Die  erstere 
Akte  belegt  die  charakterisierten  Vergehen 
mit  bis  zu  20  £  oder  bis  3  monatlicher  Strafe, 
die  lebensgefährliche  Vernachlässigung  des 
Lehrlings  durch  den  Meister  mit  der  gleichen 
Geld-  oder  bis  6  monatlicher  Gefängnisstrafe. 

Nach  der  »Employers  and  Worfemen  Act 
187  o«  sind,  falls  der  Streitgegenstand  den 
Betrag  von  10  £  nicht  überschreitet,  die 
Summargerichte  kompetent,  als  Civilgerichte 
über  Auflösung,  Erfüllung  des  Kontrakts, 
Sidierstellung  oder  Schadenersatz  zu  er- 
kennen und  über  den  ungehorsamen  Lehr- 
ling bis  14tägige  Gefängnisstrafe  zu  ver- 
hängen. 


4.  Schiedsverfahren,  a)  Historische 
Entwickelung.  .  Der  Niedergang  des 
Systems  der  LohnfLxienmg  durch  den  Frie- 
densrichter hatte  zur  Folge,  dass  diesem 
die  Entscheidung  in  gewerblichen  Streitig- 
keiten gesetzlich  auch  dann  überwiesen 
wurde,  »wenn  keine  Lohnsätze  durch  ihn 
in  diesem  Jahre  bestimmt  worden  wären« ; 
sein  Schiedsspruch  sollte  nur  für  die  (ein- 
jährige) Kontraktdauer  zulässig  sein.  Vgl. 
1  Anne  St.  IL  c.  22, 20  Geo.  IL  c.  19, 31  Geo.  II. 
c.  11,  43  Geo.  m.  c.  151  (1803.)  Der  Wider- 
ruf der  Koalitionsgesetze  hatte  eine  Reform 
dieser  Gesetzgebung  zur  Folge:  1.  Die  bald 
darauf  (1824)  erlassene  Master  and  Workmen 
Arbitration  Act  (5  Geo.  IV.  c.  96)  bestimmte, 
dass  die  Friedensrichter  künftig  keinen 
Lohnsatz  ohne  Zustimmung  der  Arbeiter  wie 
der  Arbeitgeber  festsetzen,  aber  als  Schieds- 
richter in  Lohnstreitigkeiten  fungieren  dür- 
fen ;  sie  haben  femer,  falls  ihre  Intervention 
keinen  Erfolg  hat,  eine  gleiche  Zahl  von 
Arbeitern  und  Arbeitgebern  zu  bestimmen, 
aus  welchen  die  Streitteile  je  einen  Refe- 
renten, und  falls  diese  zu  keiner  Einigung 
gelangen,  neue  Referenten  zu  wählen  haben ; 
m  letzter  Instanz  hat  der  Friedensrichter, 
der  kein  Fabrikant  sein  darf,  die  Entschei- 
dung zu  fällen.  2.  Lord  St.  Leonard's 
Councils  of  Conciliation  Act  1867  (30  &  31 
Vict.  c.  105)  führte  nach  dem  Muster  der 
Conseils  de  Prud'hommes  Einigungskom- 
missionen ein,  zu  deren  Errichtung  eine 
vom  Ministerium  des  Innern  zu  erwirkende 
Konzession  erforderlich  war;  einen  Monat 
vor  Einreichung  des  Gesuches  um  dieselbe 
muss  die  Absicht  der  Errichtimg  des  Eini- 
gungsamtes in  der  London  Gazette  ange- 
kündigt werden.  Das  Council  besteht  aus 
je  zwei  bis  höchstens  zehn  Mitgliedern. 
Die  Petenten,  haben  bei  Errichtung  des 
Einigungsamtes  sowie  alljährlich  am  1.  No- 
vember die  Mitglieder  desselben  zu  wählen ; 
diese  beauftragen  einen  aus  ihrer  Mitte  ge- 
wählten, aus  einem  Arbeitgeber  und  einem 
Arbeiter  bestehenden  Einigun^usschuss 
mit  der  Schlichtung  von  Streitigkeiten  in 
erster  Instanz.  In  letzter  Instanz  entschei- 
det das  Council,  dessen  Vorsitzender  diri- 
mierende  Stimme  besitzt  Ausser  mit  Zu- 
stimmung beider  Parteien  ist  die  Mitwir- 
kung von  Rechtsanwälten  ausgeschlossen. 
Der  Schiedsspruch  kann ,  wie  nach  der 
früheren  Gesetzgebung,  durch  Exekution, 
Zwangsverateigerung  oder  Gefängnis  durch- 
geführt werden.  3.  Mr.  Mundelia's  Arbitra- 
tion [Masters  and  Workmen]  Act  1872  (35 
&  36  Vict.  c.  46).  Die  Regulative  privater 
Schieds-  und  Einigungsämter  erhielten  da- 
diu'ch  unter  der  Voraussetzung  ihrer  Aner- 
kennung durch  die  Arbeiter  bindende  Kraft ; 
diese  Aemter  besitzen  in  diesem  Falle  innerhalb 
21  Tagen  nach  Entstehung  der  Lohnstreitig- 


472 


Grewerbegesetzgebung  (Grossbritannien) 


keit  die  ausschliessliche  Kompetenz  und' das 
Recht  der  Büchervorlage  und  Zeugnisab- 
nahme. 4.  Die  Employers  and  Workmen 
Act  1875  (38  &  39  Vict  c.  90)  erteilte  den 
Summargerichten  civilgeriditliche  Gewalt 
für  Lohnstreitigkeiten,  deren  Streitgegen- 
stand den  Wert  von  10  £  nicht  überschrei- 
tet; über  die  Regelung  des  Verfahrens,  die 
Höhe  der  Kaution  und  der  Kosten  hatte 
der  Lordkanzler  Verordnungen  zu  erlassen. 
b)GeltendesRecht.  Die Conciliation 
Act  1896  (59  &  60  Vict.  eh.  30)  hebt  die 
obgenannten  Gesetze  auf  und  setzt  auch 
die  die  allgemeine  Schiedsgerichtsbarkeit,  re- 
gelnde Arbitration  Act  1889  (52  &  53  Vict. 
c.  49)  dann  ausser  Kraft,  wenn  bestehende 
Einiginigs-  oder  Schiedsämter  ihre  Statuten 
im  Handelsamte  registriereü  lassen.  Das 
Handelsamt,  das  die  Führung,  Eintragung 
oder  Löschung. solcher  Institutionen  besorgt, 
hat  das  Recht,  von  ihnen  Berichte  und  Do- 
kumente zu  verlangen.  Das  Handelsamt 
liat  ferner  beim  Ausbniche  von  Differenzen 
zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern  das 
Recht,  über  die  Ursachen  derselben  Unter- 
suchung zu  führen,  eine  gütliche  Einigung 
zu  vei^suchen,  auf  Ansuchen  einer  der  Par- 
teien für  die  Ernennung  eines  Schiedsrich- 
ters oder  eines  Einigungs-  oder  Schieds- 
amtes Sorge  zu  tragen  und  sich  zu  diesem 
Behufe  eventuell  mit  den  Lokalbeliörden 
ins  Einvernehmen  zu  setzen.  Ueber  das 
Ergebnis  ist  ein  von  den  Parteien  und  der 
vermittelnden  Instanz  unterfertigtes  Proto- 
koll dem  Handelsamte  zu  übermitteln;  das 
letztere  hat  über  die  gesamten  Ergebnisse 
dieser  Thätigkeit  dem  Parlamente  Bericht 
zu  erstatten.  Die  Kosten  der  Einigungs- 
oder Schiedsthätigkeit  des  Handelsamtes 
trägt  der  Staat. 

III.  Besondere  Beschränkungen  des 
freien  Gewerbebetriebes. 

6.  Einleitung.  Neben  vemlteton  Ueber- 
bleibseln  der  ältei-en  Bestimmungen  über 
Verfertigung  und  Qualität  der  Wai-en  be- 
steht das  geltende  Gewerberecht  aus  Vor- 
schriften, welche  den  sonst  freien  Gewerbe- 
betrieb aus  Rücksichten  der  öffentlichen 
Sicherheit  von  der  Beobachtimg  gewisser 
Kauteleh  abhängig  machen;  der  Gegensatz 
cjes  modernen  zum  älteren  Gewerberecht 
tritt  besondere  hervor  in  der  Verschäi'fung 
mancher  das  Gebiet  der  Schank-  und  Sitten- 
polizei berührender  Bestimmungen,  in  der 
stärkeren  Rücksichtnahme  auf  die  der  Ge- 
nieinschaft  durch  Privatunterneliraungen 
mögliclierweise  zustosöondön  Schäden,  und 
—  dem  Geiste  dos  modernen  Arbeiter- 
schutzes und  der  gesteigerten  Gesundheits- 
pflege, dei-en  Wiege  ja  in  England  steht, 
ents{)recliend  —  in  einer  Reihe  von  Anfor- 
derungen,  welche   die  Gefälirdung  der  un- 


mittelbar im  Gewerbebetriebe  Beschäftigten 
hintanhalten  sollen.  Die  meisten  dieser 
letzteren  Restriktionen  verdanken  in  neuerer 
Zeit  der  Initiative  der  Gewerkvereine  ihre 
Entstehung  (vgl.  Ho  well,  Gonflicts  of  Ca- 
pital and  Labour,  1891,  p.  427—429). 

Abgesehen  von  der  Regelung  des  Ver- 
kehrs, des  Bergwesens,  des  Patent-  und 
Autorrechts,  der  Gesetzgebung  über  Arbeiter- 
schutz und  Arbeiterverbände  sowie  von  rein 
fiskalischen,  sitten-,  schank-  und  gesund- 
heitspolizeilichen Massregeln  (vgl. .  darüber 
die  Artt  Arbeiterschutzgesetzge- 
bung in  Grossbritannien  oben  Bd.  I 
S.  523ff.,  Eisenbahnpolitik  oben  Bd.  III 

5.  526ff.,  Gewerkvereine  in  Gross- 
britannien, Schankgewerbe, Sitten- 
polizei, Urheberrecht,  Haftpflicht, 
Marken-  und  Musterschutz,  Zölle)» 
besteht  die  Beschränkung  des  freien  Ge- 
werbebetriebes in: 

<l.  Torschriften  gegen  Waren-  und  6e- 
wichtsfälschun^.  Hierher  gehören:  1.  Die 
Adulteration  Acts.  Geschichtliches, 
Die  ältesten  Bestimmungen  über  Nahrunffsmittel- 
polizei  verbieten  Auf-  und  Vorkauf  und  bestra- 
fen ihre  Verfälschung  ursprünglich  mit  Gefäng- 
nis, seit  12  Car.  IL  c  2ö  mit  Geldstrafen.  Die 
älteren  Gesetze  über  Fleisch-,  Butter-  und  Bier- 
verfalschung  ersetzte  die  erste  Adulteration  Act. 
Geltendes  Recht,  a)  Lebensmittel 
und  Medikamente.  Die  Bestimmungen  der 
Statuten  23  &  24  Vict.  ch,  84,  31  &  32  Vict. 
eh.  121,  s.  24,  33  &  34  Vict.  ch.  26,  s.  3  und 
3ö  &  36  Vict.  ch.  74  sind  aufgehooen  durch 
„The   Säle   of  Food   and  Drugs  Act  1875"  (38 

6,  39  Vict.  ch.  63).  Sie  verbietet  das  wissent- 
liche Mischen,  Färben,  Präparieren  von  Lebens- 
mitteln und  Medikamenten  mit  gesundheits- 
schädlichen oder  ihre  Qualität  verschlechternden 
Ingredienzen  in  der  Absicht  ihrer  Weiterver- 
äusserung  (Strafe  bis  50  JK,  im  Wiederholun^- 
falle  bis  6  Monate  Gefängnis  mit  harter  Arbeit). 
In  dem  Falle  der  nichtgesundheitsschädlichen 
Mischung  wird  dem  Verkäufer  die  Bekanntgabe 
dieses  Ümstandes  durch  einen  pfeschriebenen 
oder  gedruckten  Zettel  vorgeschrieben,  ebenso 
die  Mitteilung  einer  die  Qualität,  Substanz  oder 
Natur  eines  Nahrungsmittels  empfindlich  schä- 
digenden Veränderung  (Strafe  bis  20  i);  die- 
selbe Strafe  ist  auf  den  Verkauf  von  Lebens- 
mitteln und  Medizinen  gresetzt,  welche  die  von 
dem  Käufer  verlangte  Zusammensetzung  nicht 
besitzen.  Die  Lokalpolizeibehörden  haben  einen 
oder  mehrere  Chemiker  aus  den  Lokalumlagen 
zu  bestellen,  welche  Privaten  gegen  höchstens 
10  s.  6  d.  sowie  gewissen  Amtspersonen  ver- 
dächtige Waren  auf  Verlangen  zu  analysieren^ 
über  das  Ergebnis  ein  .Certifikat  auszustellen 
haben  und  zu  vierteljähriger  Berichterstattung 
verpflichtet  sind.  Das  Verfahren  findet  vor  den 
Friedensrichtern  in  petty  sessions,  die  Berufung 
an  die  Qnartalsessionen  statt.  Beide  haben  das 
Recht,  neuerliche  Analyse  zu  verordnen,  b) 
Thee  (dasselbe  Gesetz  s.  30,  31).  Eing^hrter 
Thee  wird  von  den  Chemikern  des  OeneralzoU- 
amts  analysiert,  und,  wenn  mit  ausgekochtem 
Thee  vermischt,  nur  unter  bestimmten  Bedin-» 
gnngen    ausgefolgt,    wenn    zur    menschlichen 


Gewerbegasetzgebung  (Grossbritännien) 


473 


Nahrang  ungeeignet,  vernichtet,  c)  Milch: 
„Amendment  Act  1879",  42  &  43  Vict.  c.  30. 
Auf  die  Weigerung,  Milch  zum  Zwecke  amt- 
licher Analyse  zu  üherlassen,  wird  bis  10  £ 
Strafe  verhängt,  d)  Spirituosen.  Dieselben 
Gesetze:  in  der  Principal  Act  s.  6,  in  der 
Amendment  Act  s.  6.  Die  Verdünnung  des 
Branntweingehaltes  ist  bei  Brandy,  Whisky 
und  Kum  nur  bis  zu  25^,  bei  Gin  nur  bis  zu 
35^  gestattet,  e)  Bier:  The  Licensing  Act 
1874  (37  &  38  Vict.  c.  49,  s.  14)  und  The  Cus- 
toms  and  Inland  Kevenue  Act  1885  (48  &  49 
Vict.  c.  51,  3.  8).  Wegen  Verfälschung  wird 
über  Brauer  oder  Detaillisten  bis  50  £  Geld- 
busse und  Eintragung  der  Verurteilung  in  das 
Konzessionsregister  verhängt,  f)  Kaffee: 
The  Customs  and  Inland  Bevenue  Act  1882  (45 
&  46  Vict.  c.  41,  8.  6)  Vermischter  Kaffee  ist 
als  solcher  nebst  Angabe  der  verwendeten  Sub- 
stanzen zu  verkaufen,  g)  Margarine:  „The 
Margarine  Act  1887"  (50  &  5t  Vict.  c.  29)  ver- 
ordnet: Bezeichnung  aller  Packete  mit  „Mar- 
garin",  Registrierung  der  Marffarinfabriken  und 
Ueberlassung  von  Proben  behufs  amtlicher 
Analyse.  Strafen :  20  £,  im  Wiederholungsfalle 
(50  und  100  £.  Verfahren  wie  unter  a).  Ueber 
die  Wirkungen  dieses  Gesetzes  vgl.  A.  L  a  v  al  1  e , 
Die  Margarine^esetzgebung,  1896  S.  141 — 151. 
h)  Pferdefleisch.  „The  Säle  of  Horseflesh 
Regulation  Act  1889"  (52  &  53  Vict.  c.  11) 
gestattet  den  Verkauf  von  Pferde-,  (Esel-, 
5faulesel-  etc.)  Fleisch  nur  in  Läden  und 
schreibt  die  Bezeichnung  desselben  als  sol- 
chen vor.  i)  Hopfen:  The  Hop  (Pre- 
vention  of  Frauds)  Act  1866  (29  &  30  Vict.  c. 
37,  an  Stelle  von  4,8  Geo.  III.  c.  134  und  54 
Geo.  III.  c.  123)  schreibt  die  Markierung  aller 
Säcke  mit  dem  Namen  des  Erzeugers,  der  An- 
gabe der  Quantität  und  des  Jahres  der  Ernte 
vor  und  verbietet  die  Vermischung  mit  probe- 
mdrigen  Substanzen,  k)  Sämereien:  The 
Adulteration  of  Seeds  Acts  1869  und  1878  (32 
&  33  Vict.  c.  112  und  41  Vict.  c.  17)  verbieten 
den  Verkauf  abgestorbener  oder  gefärbter 
Sämerei  in  betrügerischer  Absicht  bei  5 — 10  £ 
Strafe.  Die  Klage  findet  vor  zwei  Friedens- 
richtern statt.  1)  Kunstdünger  und  Vieh- 
futter: The  Fertilisers  and  Feeding  Stuffs  Act 
1893  (56  &  57  Vict.  c.  56) :  Bei  jedemVerkauf e  von 
Kunstdünger  im  Gewichte  von  über  25,4  kg  ist 
dessen  Name  Und  die  Quote  von  Stickstoff,  löslichen, 
unlöslichen  Phosphaten  und  Potasche  und  beim 
Verkaufe  von  Viehfutter  die  Zusammensetzung 
aus  einem  oder  mehreren  Bestandteilen  oder 
Sämereien  auf  einem  Zettel  zu  bescheinigen  und 
zu  garantieren.  Die  Garantie  des  Futterverkäufers 
erstreckt  sich  ferner  auf  die  Dienlichkeit  zu 
Futterzwecken,  und  falls  er  bestimmte  Nährstoff- 
prozente ankündigt,  auch  auf  diese.  Die  Busse 
beträgt  nach  Summarverfahren  bis  50  £ ;  Berufung 
an  Quartalsessionen.  Binnen  10  Tagen  nach 
erfolgtem  Kaufe  kann  der  Käufer  dieser  Artikel 
dem  von  der  Lokalbehörde  bestellten,  vom 
Ackerbauminister  bestätigten  Distriktsagrar- 
chemiker  Proben  zur  Analyse  einsenden;  bei 
ungünstigem  Ergebnis  trägt  der  Verkäufer, 
sonst  der  Käufer  die  Kosten.  Gegen  diese 
Analyse  kann  an  den  vom  Ackerbauamte  be- 
stellten Chefagrarchemiker  appelliert  werden. 
Vor  der  Verfolgung,  die  auch  die  Lokalbehörde 
einleiten  kann,  ist  ein  Zeugnis  ihrer  Triftigkeit 


vom  Ackerbauamte  einzuholen.  Der  Verurteilte 
kann  an  seinem  Lieferanten  Regress  nehmen. 

2.  Bäckerei.  Geschichtliches.  Di» 
Assisa  Panis  von  1266  wurde  erst  1758  durch 
31  Geo.  IL  c.  29  aufeehoben,  welche  gesetz- 
liche Preislisten  nach  Grösse,  Gewicht  und  Zu- 
sammensetzung des  Brotes  enthält.  Wo  solche 
Assisen  nicht  bestehen,  galt  3  Geo.  IIL  c.  11, 
welche  bereits  die  Grundzüge  der  späteren  Ge- 
setzgebung enthält. 

Geltendes  Recht:  3  Geo,  IV.  eh.  108 
für  die  Metropolis,  erweitert  durch  6  &  7  Gu- 
lielmi  IV.  eh.  33  (1836)  auf  das  Reich,  mit 
Ausnahme  Irlands.  Brot  darf  nur  aus  Weizen-, 
Gersten-,  Roggen-,  Hafer-,  Buchweizen-,  Welsch- 
kom-,  Erbsen-,  Bohnen-,  Reis-  oder  Kartoffel- 
mehl gebacken  und  mit  Salz,  Wasser,  Eiern, 
Milch,  Hefe,  Sauerteig,  Kartoffel-  oder  anderer 
Hefe  vermischt  werden;  Grösse  und  Gewicht 
sind  freigegeben,  aber  der  Verkauf  nur  nach 
Gewicht  bei  Strafe  von  höchstens  40  sh.  ge- 
stattet; jeder  Brotverkäufer  und  Austräger 
muss  mit  Wage  und  Gewicht  versehen  sein 
(Strafe  bis  zu  5  £).  Von  diesen  Bestimmungen 
sind  nur  „Fancybread"  and  „Rolls"  ausgenom- 
men. Auf  Brotvermischung  mit  anderen  al» 
den  gesetzlich  gestatteten  Substanzen  ist  5—10  £ 
Strafe  bezw.  bis  sechsmonatliches  Gefängnis 
und  Veröffentlichung  des  Urteils  in  den  Lokal- 
blättern gesetzt;  5—20  £  auf  Mehl  Verfälschung, 
Jedes  nicht  aus  Weizenmehl  verfertigte  Brot 
ist  mit  einem  M(ixed)  zu  versehen;  für  jedes 
Pfund  nichtmarkierten  Brotes  ist  bis  10  s. 
Strafe  angesetzt.  Analogen  Strafen  unterliegt 
die  Verhinderung  der  Hausdurchsuchung  nach 
derlei  Substanzen  durch  den  Friedensrichter  (bis 
10  £)  und  Auffindung  von  zur  Fälschung 
bestimmten  Stoffen  (2—10  £  und  Veröffent- 
lichung). Das  Backen  am  Sonntage,  der  Brot- 
verkauf und  das  Austragen  des  Brotes  nach 
IVä  Uhr  Sonntag  nachmittags  wird  in  England 
und  Wales  mit  10,  im  Wiederholungsfalle  mit 
20  und  40  sh.  und  Verurteilung  zu  den  Kosten 
der  Verfolgung  (höchstens  3  sh.  täglich  bezw. 
7—14—30  Tage  Gefän^is)  bestraft.  Kein 
Müller  oder  Bäcker  darf  m  solcher  Rechtssache 
als  Friedensrichter  fungieren;  Busse:  100  £  an 
den  Denunzianten  und  Prozesskosten,  einzu- 
klagen vor  den  Reichsgerichten.  In  den  übri- 
gen Fällen  genügt  ein  Friedensrichter;  die 
Busse  wird  zwischen  dem  Denunzianten  und 
der  Armen-  bezw.  Ortskasse  geteilt,  und  nach 
fruchtloser  Pfändung  bis  einmonatliche  Haft 
verhängt.  Berufung  ist  nur  an  die  Quartal- 
sessionen desselben  Ortes  gestattet;  in  Schott- 
land haben  der  Sheriff  oder  2  Friedensrichter 
und  als  Appellationsinstanz  die  Commissioners 
of  Justiciary  der  nächsten  Reisefferichtssitzung 
oder  das  Obergericht  in  Edinburgh  zu  fungieren. 
Die  Klaffe  muss  in  der  Regel  längstens  binnen 
48  Stunden  nach  geschehener  Rechtsverletzung 
eingebracht  werden. 

S.Kohlenhandel.  Geltendes  Recht. 
In  London  und  25  Meilen  um  das  General- 
postamt: 1  &  2  Gulielm.  IV.  c.  76;  1  &  2 
Vict.  c.  101;  14  &  15  Vict.  c.  146;  für  das 
Reich:  The  Weights  and  Measures  Act  1889 
(52  &  53  Vict.  eh.  21,  part.  II,  §§  20-31).  Vor- 
geschrieben ist:  Verkauf  nach  Gewicht,  in 
Waggonladungen  nur  bei  schriftlicher  Zustim- 
mung des  Käufers,  üebergabe  einer  gesetzlich 


474 


Q-ewerbegesetzgebung  (Grossbritannien) 


formulierten  Deklaration  bei  Verkauf  von  über 
650  Pfd.  per  Wagen,  Verpackung  der  Kohlen- 
säcke zu  112  bezw.  224  Pfd.,  Vorwiegen  der- 
selben auf  Verlai^en  des  Käufers  auf  geeichten 
Apparaten ;  jede  Polizeistation  soll  einen  solchen 
besitzen.  Verfahren  vor  einem  Friedensrichter, 
Strafen  5  bis  26  £.  Durch  königliche  Verordnung 
können  lokale  Exemptionen  gewährt  werden. 
4.  Müllerei.  Geltendes  Recht: 
3  Geo.  III.  c.  86.  Die  Müller  sollen  Wa^en 
mit  geeichten  Gewichten  halten,  die  periodischer 
Revision  unterliegen.  Strafen:  für  die  Weige- 
rung, das  Korn  und  das  Mehl  auf  Verlangen 
des  Mahlgastes  zu  wiegen:  40  sh.;  für  jeden 
Gewichtsabgan^ :  1  sh.  perBushel;  für  das  Un- 
terlassen des  sichtbaren  Aushanges  des  Mahl- 
geldtarifs: 20  sh. 

7.  Gesundheits-  nnd  sicherheitspoli- 
zeiliche Bestimmungen.  1.  Abdeckerei 
lind  Pferdeschlächterei  (Sloughter- 
houses).  26  Geo.  III.  c.  71,  5  &  6  Gulielm. 
IV.  c.  59;  7  &  8  Vict.  c.  87,  hauptsächlich: 
10  &  11  Vict.  eh.  34,  8.  125—131,  135;  12 
&  13  Vict.  c.  92  und  für  London  the  Sloughter- 
hoiises  (Metropolis)  Act  1874  (37  &  38  Vict.  c. 
67)  sind  aufgehoben  durch  die  Public  Health 
Act  Amendment  Act  1890,  53  &  54  Vict. 
c.  59,  8.  29 — 31  und,  soweit  sie  London  be- 
treffen, durch  die  Public  Health  (London) 
Act  1891,  54  &  55  Vict  eh.  76.  Diese 
schreibt  Konzessionierung  der  Schlachthäuser 
durch  den  Grafschaflsrat  und  sanitätspoli- 
zeiliche Inspektion  derselben  vor  und  er- 
teilt den  Inspektoren  das  Recht  der  Kon- 
fiskation kranken  Fleisches  sowie  der  Be- 
strafung und  Konzessionsentziehung  der 
Schlachthausbesitzer.  Ausserhalb  Londons 
ist  ferner  Buchführung  über  das  ge- 
schlachtete Vieh  und  die  Person  des  Ver- 
kä\ifers  und  F(Üirung  eines  Kontrollbuches 
durch  den  Inspektor  vorgesclirieben. 

2.  Apotheker  (apothecaries).  55  G, 
in.  c.  194,  für  pharmaceutical  chemists 
»The  Pharmacy  Act«  1852,  15  &  16  Vict.  c. 
56  und  die  Amendment  Acts  1868,  (31&32 
Vict.  c.  121,  32  &  33  Vict.  c.  117),  regeln 
den  Geschäftsbetrieb,  die  Konzessionierung, 
Visitation,  feiner  das  Prüfungswesen  durch 
die  Pharmqceutical  Society  in  London  bezw. 
das  Obermedizinalkollegium.  Klagen  (Stra- 
fen über  5  £)  bei  den  ordentlichen  Gerich- 
ten. Unkonzessionierte  Apotheker  besitzen 
kein  Klagerecht.  Die  Pharmacy  Act  Amend- 
ment Act  1899  (61  &  62  Vict.  eh.  25)  regelt 
die  Zulassungsbedingungen  als  Student-As- 
sociate  oder  als  Mitglied  der  Pharmaceutical 
Society  und  die  Vorstandswahl   derselben. 

3.  Arsenikhandelim  Einzel  verschleiss 
ist  nach  14  &  15  Vict  c.  13  nur  bei  be- 
stimmtem Mischungsverhältnis  des  Arseniks 
mit  Russ  oder  Indigo  (ausser  nach  Rezept) 
sowie  nur  an  bekannte  oder  durch  Zeugen 
eruierbare  Personen  gestattet ;  jeder  Verkauf 
ist  mit  Angabe  des  Datimis,  Zweckes,  Quan- 


tums, der  Unterschrift  des  Käufers,  eventuell 
auch  des  Zeugen  bezw.  eines  zweiten  ünter- 
schriftszeugen  zu  registrieren,  bei  bis  zu  20  £ 
Strafe.  Verfahren  vor  2  Friedensrichtern. 

4.  Chemische  Fabriken.  Durch  die 
geltende  »Alkali  etc.  Works  Regulation  Act 
1881«,  44  &  45  Vict.  eh.  37  werden  die 
Alkaü  Acts,  26  &  27  Vict.  c  124,  31  &  32 
Vict.  c.  36  und  37  &  38  Vict.  c.  43  aufge- 
hoben; sie  bezieht  sich  auf  Schwefelsäure-, 
Kunstdünger-,  (jas-,  Salpetersäure-,  Ammo- 
niak- und  Ohlorwasserbereitung  und  reguliert 
für  jeden  dieser  Betriebe  die  Quantität  der 
in  den  Fabrikationsräumen  entweichenden 
Gase  (Strafen  20,  50  und  100  £).  Hiezu 
kommt  nach  der  Alkali  Works  Regulatiou 
Act  1892,  55  &  56  Vict  c.  30  die  Er- 
zeugung von  Sodarückständen,  Schwefel- 
barium, -Strontium,  -antimon,  -kohlenstoff, 
Venetianischrot,  Bleikammerabfällen,  Arsen- 
säure, Eisenchlorid  und  -nitrat,  Salzsäure, 
Carbonisieranstalten,  Theerfabriken  und  Zink- 
scheidewerke. Die  Fabriken  müssen  regis- 
triert imd  eine  Gebühr  von  3  bezw.  5  £  für 
die  Ausstellung  des  Certifikats  entrichtet 
werden  (Strafe  bis  5  £).  Für  die  Bestim- 
mungen der  Inspektoren  (Abzugskanäle, 
Rauchfänge  und  dergleichen)  kann  Entschä- 
digung verlangt  werden.  Der  Cfhefinspek- 
tor  eretattet  jälirlich  Bericht,  und  w^eitere 
Inspektoren  können  auf  Verlangen  der  Sani- 
tätsbehörde ernannt  werden.  Behördlich 
sanktionierte  Verhaltungsmassregeln  sollen 
von  dem  Gewerbeinhaber  seinen  Angestell- 
ten gegeben  werden.  Die  Klage  des  Chef- 
inspektors findet  statt  vor  dem  Grafschafts- 
gericht,  Beruf  img  an  High  Court  of  Justice ; 
Vorstellungen  über  den  gesetzwidrigen  Zu- 
stand einer  Fabrik  durch  Sanitätsbeamte 
oder  10  Ortsinsassen  sind  an  die  Ortssani- 
tätsbehörde und  von  dieser  dem  Ministeri- 
um des  Innern  zu  übermitteln.  (Vergl. 
W.  Ciinningham,  Politics  and  Economics 
1885  p.  216—219.) 

5.  Elektrische  Anlagen.  Die  »Elec- 
tric Lighting  Act  1882« ,  45  &  46  Vict.  c. 
56  und  die  Amendment  Act  1888,  51  &  52 
Vict.  c.  12  macht  die  Errichtung  elektrischer 
Anlagen  von  einem  Beschlüsse  bezw.  Kon- 
sens der  Ortsbehörde  und  von  der  auf  das 
Gesuch  hin  vom  Handelsamte  für  längstens 
7  Jahre  zu  erteilenden  Konzession  abhängig. 
Das  Handelsamt  hat  die  Befugnis,  die  Kon- 
zession bei  unmotivierter  Verweigerung 
durch  die  Lokalbehörde  zu  erteilen.  Regula- 
tive über  die  Ausdehnung,  Inspektion,  die 
Preise  und  Sicherheitsvorkehrungen  zu  er- 
lassen. Der  Generalpostmeister  kann  ver- 
langen, dass  Privattelegraphen,  deren  Linien 
die  der  öffentlichen  Telegraphen  stören,  die 
Vorschriften  für  den  telegraphischen  Dienst 
befolgen.  Die  Unternehmer  sind  zu  jähr- 
licher Rechnungslegung  an  das  Handelsamt 


Gewerbegesetzgebung  (Grrossbritannien) 


475 


und  Ausfolgung  derselben  an  jedermann 
(Preis  höchstens  1  sh.)  bei  Strafe  von  40  sh. 
rar  jeden  Tag  der  Verletzung  dieser  Vor- 
schrift verpflichtet.  Die  üebertragung  der 
Versorgung  niit  Elektricität  ist  nur  mit  Zu- 
stimmung des  Handelsamtes  gestattet  Die 
Oewährung  von  Vorzugspreisen  ist  unter- 
sagt. Jede  Lokalbehörde  kann  binnen  sechs 
Monaten  nach  Ablauf  der  Eonzessionsdauer, 
längstens  nach  Ablauf  von  42  Jahren  und 
binnen  sechs  Monaten  nach  Ablauf  weiterer 
10  Jahre  die  ünternelimer  schriftlich  zum 
Verkauf  der  elektrischen  Anlagen  auffordern ; 
dieser  hat  auf  Grund  des  dann  geltenden 
Verkaufspreises,  der  eventuell  durch  Schieds- 
spruch festzustellen  ist,  ohne  ZuschW  des 
erwarteten  Ertrages  zu  erfolgen.  (Vergl. 
Cnnningham  a.  a.  0.  S.  199.) 

6.  Gesundheitsschädliche  Be- 
triebe (Nuisances  and  offensive  trades) 
werden  durch  die  Public  Health  Amendment 
Act  1890  (53  &  54  Vict.  c.  59)  und  P.  H. 
(London)  Act  1891,  54  &  55  Vict.  c.  76  ent- 
weder nur  gegen  lokalbehördlichen  Konsens 
gestattet  und  selbst  bestehende  können  ver- 
boten werden  (so  Knochenbrennereien,  Talg- 
siedereien),  oder  sie  sind  besonderen  Regu- 
lativen unterworfen  (Gasfabriken).  Unter 
diese  Rubrik  gehören  auch  die  Vorschriften 
in  Bezug  auf  die  zu  beobachtende  Tempe- 
ratur in  Fabriken:  Cotton  Cloth  Factories 
Act  1889  (52  &  53  Vict.  c.  62),  Amendment 
1897  (60  &  61  Vict.  c.  58,  vgl.  Karpeles 
S.  438),  die  Factory  and  Workshop  Act  1895 
58  &  59  Vict  c.  37  s.  32  und  die  der  Ein- 
friedung von  Steinbrüchen,  QuaiTy  (Fendng) 
Act  1887,  50  &  51  Vict  c.  19. 

7.  Kamin  fegerei.  Geltendes  Recht: 
4  &  5  Will.  IV.  c.  35  (hebt  die  28  Geo.  HL 
c  48  (1788)  auf),  The  Ghimney  Sweepers 
and  Ghimney  Regulation  Acts,  1840  and 
1864,  und  The  Ghimney  Sweepers  Act  1875 
(3  k  4  Vict  eh.  85,  27  (fe  28  Vict.  c.  37, 
38  &  39  Vict  c.  70).  Die  Lösung  eines  für 
die  Dauer  eines  Jahres  giltigen  Certifikates 
und  Registrierung  ist  für  jeden  Kaminfeger 
und  j^en  Gehilfen,  der  Lehrlinge  verwen- 
det, bei  Strafe  von  10 — 20  sh.  vorgeschrie- 
ben. Bei  Strafe  von  10 — 50  £  sind  beim 
Neubau  von  Rauchfängen  gesetzlich  vorge- 
schriebene Dimensionen  zu  beobachten  und 
solides  Material  zu  verwenden. 

8.  Petroleum.  Aufgehoben  sind:  25 
ä  26  Vict.  G.  69,  31  &  32  Vict  c.  56  durch 
die  »Petroleum  Acts  1871  and  1879«  (34  & 
55  Vict  c.  105  und  42  &  43  Vict.  c.  47). 
Der  Kreis  der  Produkte,  airf  welche  das 
Gesetz  sich  bezieht,  kann  durch  königliche 
Verordnung  erweitert  werden;  »Petroleum« 
im  Sinne  des  Gesetzes  ist  von  der  Beschaf- 
fenheit, dass  es  bei  der  gesetzlich  beschrie- 
benen Prüfung  bei  weniger  als  74®  Fahren- 
heit  sich  entzündet  (vergl.  die  Beschreibung 


des  im  Handelsamte  befindlichen  Prüfungs- 
apparates: Petroleum  Act  1879,  Ist  Sche- 
dule).  Die  Hafenbehörde,  eventuell  das 
Handelsamt,  erlässt  Regulative  über  Laden 
und  Löschen  von  Petroleumschiffen  (Strafe 
ihrer  Uebertretung :  Konfiskation,  bis  50  £ 
per  Tag).  Es  besteht  Anzeigepflicht  für  die 
Besitzer  der  letzteren  über  ihre  Fracht  an 
die  Hafenbehöi-de  (Strafe :  bis  500  £•).  Die 
Bezeichnung  der  Ware  als  »höchst  entzünd- 
lich« sowie  des  Besitzers  bezw.  Adressaten 
oder  Verkäufers  ist  bei  Strafe  der  Konfistov- 
tion  imd  bis  5  £  vorgeschrieben,  ausser  bei 
Verkauf  von  höchstens  3  Gallonen  in  Ge- 
fassen,  welche  nur  eine  Pint  enthalten.  Li- 
zenzen erteilt  die  Lokal-  und  Hafenbehörde ; 
•bei  Verweigerung  derselb»en  ist  die  Be- 
schwerde an  das  Ministeriimi  des  Innern  zu 
richten,  eventuell  durch  dieses  die  Konzes- 
sion zu  erteilen.  Die  Verweigerung  des 
Verkaufs  von  Proben  an  inspizierende  Be- 
amte imterliegt  bis  20  £  Strafe.  Das  Ver- 
fahren ist  ein  summarisches  wie  bei  Ver- 
letzung der  Exposives  Act,  Nichtigkeit  wegen 
Formfehler  oaer  Berufung  ausgeschlossen. 
9.  Schiesspulver-  und  Spreng- 
stofffabrikation. Die  geltende  »Explo- 
sives Act  1875«,  38  Vict  c.  17,  hebt  auf: 
23  &  24  Vict  c.  139  und  c.  130,  25  &  26 
Vict.  c.  98,  26  &  27  Vict  c.  65  §  26 
29  &  30  Vict  c.  69  und  32  &  33  Vict  c. 
113  (Nitroglycerine  Act).  Sie  bezieht  sich 
auf  die  Bereitung  von  Schiesspulver,  Nitro- 
glycerin, Dynamit,  Schiessbaumwolle,  Patro- 
nen, Raketen  und  kann  durch  königliche 
Verordnung  auf  alle  Art  von  Sprengstoffen 
ausgedehnt  werden.  Vorgeschrieben  sind: 
Konzessionierung  diu'ch  Ministerium  des 
Innern  und  Ortsbehörde  nach  genauer  Be- 
schreibung der  beabsichtigten  Fabrikation 
und  Anlagen,  Registrierung,  Inspektion  der 
Fabriken  und  Verkaufsstellen  von  Scliiess- 
pulver,  Vorsichtsmassregeln  bei  seiner  Be- 
reitung, Verpackung,  Ladung  und  Versen- 
dung; Bezeicnnung  als  »Schiesspulver«  bezw. 
»Sprengstoff«,  Anzeige  von  Explosionen  an 
das  Ministeriiun  des  Innern.  Die  Löschung 
von  mit  Sprengstoffen  geladenen  Schiffen 
hat  die  Konzessionierung  der  Importeure 
durch  das  Ministerium  des  Innern  zur  Vor- 
aussetzung. Der  Verkauf  an  Kinder  unter 
13  Jahren  auf  offener  Strasse  ist  verboten. 
Gegen  gewisse  Anordnungen  der  vom  Minis- 
terium des  Innern  ernannten  Inspektoren 
kann  nach  erfolgter  Beschwerde  beim  Minis- 
terium des  Innern  ein  Schiedsgericht  ver- 
langt werden.  Die  Verfolgung  strafbarer 
Gewerbeinliaber,  Bediensteter,  Schiffsführer 
oder  Empfänger  findet  bei  Strafen  unter 
100  £  und  1  Monat  Gefängnis  vor  den  Frie- 
densrichtern, bei  höherer  Strafbarkeit  vor 
den  Reichsgerichten  statt,  Berufung  vor  den 
Quarter-Sessions. 


476 


Gewerbegesetzgebung  (Grrossbritannien) 


8.  Schutz  gegen  Betrug,  a)  Handel 
mit  altem  Metall.  »The  old  Metal  Dea- 
lers Act  1861«,  24  &  25  Yict  e.  110,  be- 
straft den  Ankauf  gestohlener  Ware  mit 
1 — 20  £,  eventuell  3  Monaten  Gefängnis  so- 
wie mit  Registrierung  auf  3  Jahre,  infolge 
welcher  der  davon  Betroffene  Käufer  und 
Verkäufer  zu  verzeichnen,  jeden  Lokal- 
wechsel der  Behörde  anzuzeigen,  gekauftes 
Gut  erst  nach  48  Stunden  einzuschmelzen 
hat  und  der  Haussuchung  unterliegt.  Zum 
Ankauf  sind  bestimmte  Stunden  (9  Uhr 
früh  —  6  Uhr  abends)  vorgeschrieben,  Ver- 
kauf durch  und  Ankauf  von  unter  16 jähri- 
gen Personen  bei  20  sh.  —  5  £  Strafe 
untersagt.  Das  Verfahren  ist  ein  summa- 
risches vor  zwei  Friedensrichtern ;  Berufung 
gegen  höhere  Bussen  als  5  £  vor  den  Quar- 
talsessionen. 

b)  Hausierer  und  Trödler.  Der 
Hausierhandel  unterliegt  der  Konzessionie- 
rung gemäss  der  Hawkers  Act  1888,  51  &  52 
A'^ict.  c.  33,  welche  die  frühere  Gesetzgebung 
(29  Geo.  m.  e.  26,  femer  50  Geo.  III.  c. 
41,  55  Geo.  HI.  c.  71,  27  <fe  28  Vict.  c.  18, 
und  52  Vict.  c.  8  s.  9)  konsolidiert.  Der 
Gewerbeschein  wird  niu*  gegen  Attest  über 
gute  Führung  (vom  Geistüchon,  2  Einwoh- 
nern, Polizei-  oder  Steuerbehörde)  ausgestellt. 
Bezeichnung  aUer  Packete,  Kisten,  Gefässe, 
Wagen  etc.  mit  »Licensed  Hawker«  und 
Namen  und  Nummer  des  Gewerbescheines 
ist  vorgeschrieben  (10  £  Strafe).  Versteige- 
iningen sind  ihnen  ausser  im  Falle  der  Orts- 
ansässigkeit untersagt ;  das  Hausieren  mit 
Spirituosen  ist  verboten.  Hausierer,  welche 
ohne  Lizenz  Handel  treiben,  werden  als 
Landstreicher  bestraft,  5  Geo.  IV.  c.  83. 
Bis  zu  20  Gallonen  Petroleum  zu  führen  ist 
ihnen  gestattet  (Petroleum  jHawkers]  Act 
1881,  44  &  45  Vict.  c.  67).  Die  Pedlars  Act 
1871  (34  &  35  Vict.  c.  96  hebt  jene  von 
1870,  33  &  34  Vict  c.  72  auf)  und  die  P.  A. 
1881  (44  &  45  Vict.  c.  45)  schreiben  polizei- 
liches Zeugnis  vor;  die  letzte  Akte  er- 
weitert tlie  Giltigkeit  des  Certifikats  auf  das 
ganze  Reich. 

c)  Pfandleiher  unterliegen  *The  Pawn- 
brokers  Act  1872«,  35  k  36  Vict.  c.  93 
(hebt  11  ältere  Gesetze  von  1  Jac.  L  c.  21 
bis  23  &  24  Vict.  c.  21  und  27  &  28  Vict. 
c.  56  s.  6  auf)  bei  allen  Darlehen  bis  40  sh. ; 
von  40  sh.  bis  10  £  nur  dann,  wenn  kein 
specieller  Kontrakt  über  die  zu  erfüllenden 
Bedingungen  eingegangen  worden  ist.  Der 
Pfandleiher  muss  einen  Gewerbesteuer- 
schein lösen  (7  £  10  sh.)  und  eine  Gewerbe- 
konzession bei  bis  zu  50  £  Strafe  gegen  Vor- 
weisung eines  polizeilichen  Führungsattestes 
ei'yÄ'irken;  28  Tage  vor  dem  Gesuch  um 
dasselbe  liat  er  an  2  Sonntagen  seine  Ab- 
sicht durch  Anschlag  an  der  Kirchenthür 
und   21  Tage  vorher   durch  Briefe  an  den 


Armenaufseher  und  Polizeiinspektor  bekannt 
zu  geben.  Fälschung  des  Attestes  unterliegt  bis 
20  £  oder  bis  6  monatlicher  Gefängnisstrafe. 
Die  Aufschrift  des  Vor-  und  Zunamens  und  die 
Bezeichnung  »Pfandleiher«  auf  der  Rrmen- 
tafel,  Aushang  der  Leihformulare  in  dem. 
Laden,  Ausfolgung  eines  Leihzettelß  u,nd 
Registrierung  der  geliehenen  Summen , .  des 
Namens  des  Verpfänders  und  des  Datums 
der  Verpfändung  sind  bei  bis  zu  10  £  Strafe 
vorgeschrieben.  Verboten  ist  bei  bis  zu  5  £ 
Strafe  eventuell  Ersatz  des  Wertes:  die 
Pfandnahme  von  unter  12  jährigen,  von  Be- 
tpunkenen,  von  anderen  Pfendleihem,  durch 
unter  16jährige  Gehilfen,  an  Sonn-  oder 
öffentlichen  Feiertagen,  die  Auslösung  mit 
der  Absicht  des  Rückkaufs  etc.,  ferner  voa 
ziu-  Verarbeitung  übergebener  Leinwand 
und  Stoffen  bei  Verwirkung  des  doppelten 
Darlehnsbetrages  zu  Gunsten  der  Ortsarmen- 
kasse. Besondere  Vorschriften  gelten  über 
Vorlegung  des  Registers,  Verhaftung  ver- 
dächtiger Personen,  Bestrafimg  bei  unge- 
rechtfertigter Denunziation.  Verfahren  vor 
dem  Kreisgerichte;  Berufung  an  Quarter- 
sessions und  Certiorari  ist  ausgeschlossen, 

9.  Beschränkungen  einzelner  Fabri- 
kationszweige, a)  Historisches.  Die 
Mehrzalü  der  Vorschriften  über  die  Qualität 
der  bei  der  Produktion  zu  verwendenden 
Stoffe  und  der  für  den  Verkauf  einzuhalten- 
den Dimensionen,  imd  die  Markierimg  der 
Waiden  ist  aufgehoben.  So  die  Lederge- 
setze  (2  (fe  3  Edw.  IV.  c.  9,  1  Jac.  L  c. 
22)  durch  19  &  20  Vict.  c.  64;  durch  die- 
selbe Akte  wurden  auch  die  Beschränkim- 
gen  der  Woll-  und  Ziegelfabrikatiou 
ausser  Kraft  gesetzt.  Die  Statute  Law  Re- 
vision Act  von  1867  (30  &  31  Vict  c.  59) 
und  die  Master  and  Servant  Act  1889  (.52 
&  58  Vict.  c  24)  heben  die  Strumpf- 
wirkerordnung  (6  Geo.  III.  c.  29)  sowie 
die  Gesetze  über  Stempelung  der  Tuche 
(5  Geo.  lU.  c.  51 ,  6  Geo.  lU.  c.  23)  auf. 
lieber  die  zwischen  Messzwang  und  Frei- 
gebimg schwankende  Gesetzgebung  in  Be- 
zug auf  diese  letzteren,  welche  1197  be- 
ginnt, vergl.  G.  Schanz,  Englische  Han- 
delspoütik  Bd.  I,  S.  607  fg.,  A.Held,  Zwei 
Bücher  soziale  Geschichte  Englands  S.  468  fg., 
Burn,  Justice  of  Peace  1793  v.  WooUeii 
Manufacture.  A.  Sm  ith ,  Wealth  of  Nations, 
Bd.  I.  eh.  X.  pt.  2.  John  Smith,  Memoirs 
of  Wool,  Ed.  17.57; 

b)  Geltendes  Recht.  Derzeit  sind 
noch  die  folgenden  Beschränkungen  in  Kraft : 

1.  Butter  in  Cork.  Nach  den  Pri- 
vilegien der  Innung  von  Cork  sind  die 
Butterfässer  zu  markieren  und  der  Kontrolle 
eines  von  ihr  aufgestellten  Inspektors  unter- 
worfen. Ueber  die  Wirkung  dieses  System» 
vergl.  Farrer,  The  State  in  its  Relation  to 
Trade  1883,  p.  149. 


Gevrerbegesetzgebung  (Grossbritannien) 


477 


2.  Gewehr  laufe  müssen  nach  »The 
Giin  Barrel  Proof  Act«  31  &  32  Vict.  cb. 
113  (1868)  im  Londoner  oder  Birminghamer 
Probeliause  vorgelegt  und  punziert  werden. 
Strafen :  bis  20  £,  Das  Verfahi*en  ist  sum- 
marisch vor  zwei  Friedensrichtern.  Die  Probe- 
meister haben  fremde  Marken  zu  registrie- 
ren. Die  Aufsicht  liegt  ob  den  Wardeinen 
des  Probehauses,  den  Nachfolgern  der  Lon- 
doner Büchsenmacherinnung  (inkoi^riert  am 
14.  MÄrz  1637). 

3.  Goldschmiede.  Historische 
Ent Wickelung.  Die  Stempelung  von 
Gold-  imd  Silber^räten  bei  gesetzlichem 
Feinheitsgrade  mit  dem  Leopardenkopfe 
durch  die  Wardeine  der  Londoner  Goid- 
schniiedeinnung  datiert  von  1300  (stat.  28 
Edw.  I  st.  3,  c.  20,  erst  1856  aufgehoben); 
ausserdem  soU  jeder  Goldschmied  seine 
eigene  Marke  haben  (37  Edw.  III.  c.  7).  18 
Ehz.  c.  15  setzt  den  Feinheitsgrad  von  Gold 
auf  mindestens  22  Karat,  von  Siber  auf  11 
oz.  2  dw.  fest  (»old  Standard«),  8  Will.  IlL 
c.  8  (1696)  zur  Verhütimg  der  Einschmel- 
zung  von  Silbergeld  erhöht  ihn  für  Silber 
auf  11  oz.  10  dw.  per  Pfu|id  Troy  (»new 
Standard«);  6  Geo.  1.  c.  11  (1719)  stellt  den 
»old  Standard«  wieder  her  und  führt  eine 
Auflag  von  6  d.  per  oz.  auf  alle  Silberge- 
räte ein.  Doch  soll  die  Feinheit  von  11  oz. 
10  dw.  von  der  gesetzlichen  durch  andere 
Markierung  unterschieden  werden.  Der 
Goldschmiedeinnung  hatte  Heinrich  VH.  1504 
ein  ausgedehntes  Verhaftungs- ,  Suche-  und 
Busserecht  erteilt. 

Geltende  Bestimmungen.  12  Geo. 
n.  c.  26  (1739)  erneuert  die  Bestimmungen 
des  Feinheitsgrades  von .  18  Eliz.  a  15,  straft 
Verfertiger  minderwertiger  Ware  mit  10  £, 
die  KQschung  der  Marke  mit  500  £.  24 
Geo.  lU.  c.  53  fügt  zu  den  früheren  Marken 
die  des  Eönigskopfes  hinzu,  setzt  auf  ihi'e 
Fälschung  Todesstrafe  wegen  Felonie  (des- 
gleichen Geo.  ni.  c.  185) ;  erst  7  &  8  V  ict. 
c.  22  (1844  und  ähnlich  schon  38  Geo.  m. 
o.  69)  verwandelte  sie  in  Deportation  (7 — 14 
Jahre)  oder  bis  3  jähriges  Gefängnis.  Der 
Feinheitsgrad  wird  (unter  verschiedener  Mar- 
kierung) durch  38  Geo.  HI.  c.  69  (1798)  auf 
18  Karat  reduziert,  durch  königl.  V.  v.  11. 
Dezember  1854  auf  15,  12  und  9  Karat.  In 
Goldwaren  soll  nicht  weniger  als  ein  Drittel 
feines  Gold  sein  (17  &  18  Vict.  c  96).  Frem- 
des Edelmetallgerät  soll  vor  dem  Verkaufe 
geprüft  und  markiert  (5  &  6  Vict.  c.  47) 
und  mit  einem  F  versehen  werden  (Customs 
Tariff  Act,  1876,  39  &  40  Vict.  c.  35).  Klei- 
nere Schmuckwaren  ausser  Ehe-  und  Trauer- 
ringen sind  dem  Markierungszwang  nicht 
unterworfen  (7  &  8  Vict.  c.  22,  s.  11).  Stra- 
fen von  2 — 20  £  werden  auf  zuwiderhan- 
delnde Händler  und  Beamte  verhängt;  die 
letzteren   sind   zu  entlassen,     üeber  diese 


ungemein  verwickelte  Gesetzgebung  vergl» 
die  Reports  from  the  Select  Committee  on 
Gold  and  Silver  (HaU  Marking)  1878,  App. 
3,  p.  176. 

4.  Heringspökelung.  Die  Markie- 
nmg  aller  Gefässe  mit  dem  Namen  des  He- 
ringspOklers  bei  Strafe  der  Konfiskation 
schrieb  Geo.  III.  c.  81  von  Das  fragliche 
Recht  des  schottischen  Fischereiamtes  ist 
bestätigt  und  auf  Northumberland  erweitert 
durch  »The  Branding  of  HeningB  (Nort- 
humberland)  Act  1891«,  54  &  55  Vict.  c.  28. 
Doch  ist  das  System  gegenwärtig  rein  fa- 
kultativ. 

5.  Knöpfe.  Zum  Schutze  der  Seiden- 
knopffabrikation schreiben  10  Will.  in.  c,  2, 
8  Anne  c.  11,  4  Geo.  I.  c.  7,  7  Geo.  I.  st. 
I.  c.  12,  36  Geo.  HI.  c.  6  und  6  Geo.  IV, 
c.  107  die  Anfertigung  und  Bezeichnung  der 
Knöpfe  vor  und  verhängen  20  sh.  Strafe 
über  das  Tragen,  20  £  gegen  Anfertigung 
oder  Verkauf  gesetzwidriger  Holz-  oder 
Tuchknöpfe.  21  &  22  Vict.  c.  64  hebt  die 
vier  ersteren  Gesetze  auf,  die  übrigen  sind 
obsolet. 

6.  Messerschmiede.  59  Geo.  HI.  c. 
7  veroixinet  die  Markierung  geschmiedeter 
Waren  mit  dem  Zeichen  des  Hammers 
(^Konfiskation  und  per  Dutzend  5  £  Strafe, 
lO  £  wenn  als  »London  made«  bezeichnet) 
und  verbietet  diese  Markierung  auf  gegos- 
sener Ware. 

7.  Schiffsketten  und  Anker  müs- 
sen nach  der  »Anchors  and  Chain  Cables 
Act  1899«  (62  &  63  Vict.  eh.  23,  hebt  die 
früheren  Gesetze  auf :  27  &  28  Vict.  eh.  27 ; 
34  &  35  Vict.  eh.  101  j  37  &  38.  Vict. 
eh.  51),  sobald  sie  das  Gewicht  von  168  Pfund 
überschreiten,  durch  Apparate  geprüft  wer- 
den, die  durch  Lizenz  des  Handelsamtea 
bestimmt  und  inspiziert  werden ;  Ankerund 
Ketten  sind  zu  markieren.  Das  Handelsami 
ist  berechtigt,  eine  besondere  Untersuchung 
der  Anker  und  Schiffsketten  solcher  Han- 
delsschiffe einzuleiten,  die  als  unsicher 
nach  der  Merchant  Shipping  Act  1894  (54 
&  58  Vict.  c.  60,  pt.  V.)  beanstandet  wor- 
den sind. 

8.  Tuche.  Formell  sind  noch  obsolete 
Regulierungen  für  Yorkshire  in  Kraft. 

10.  Beschränkungen  des  Gewerbebe- 
triebes am  Sonntag.  Schon  im  Mittel- 
alter wird  die  Abhaltung  von  Sonntags- 
märkten mit  der  Konfiskation  der  Waren, 
bestraft  (27  Hen.  VI.  c.  5).  Abgesehen  von 
indirekten  Geboten  der  Sonntagsruhe  (Vor- 
schrift des  Kirchenbesuches  bei  1  sh. 
Strafe  1  Eliz.  c.  2,  3  Jac.  I.  c.  4  und  Ver- 
bot lärmender  Vergnügungen  1618)  er- 
flossen  zuerst  Vorschriften  gegen  das  Sonn- 
tagsgeschäft der  Schuhmacher  im  Jahre  1603 
(1  Jac.  I.  c.  22),  der  Frachtfuhrleute  und 
Fleischer  1628  (3  Car.  I.  c.  1)  bei  Verwir- 


478 


Gewerb^gesetzgebung  (Orossbritanaien) 


kung  von  Geldstrafen  von  5—20  sh.  End- 
lich verordnet  1678  Karl  n.  (29  Car.  n.  c. 
7):  »Kein  Händler,  Handwerker,  Arbeiter 
oder  Taglöhner  oder  irgend  eine  andere 
Person  soU  eine  weltliche  Arbeit  ihres  ge- 
wöhnlichen Berufes  am  Tage  des  Herrn 
ausüben«;  ausgenommen  sind  Werke  der 
Notwendigkeit  und  Barmherzigkeit,  der 
Milch-  und  der  Yiktualienverkauf  in  Gast- 
häusern. Strafe:  5  sh.,  Konfiskation  der 
Waren  zu  Gunsten  der  Armenkasse,  eventuell 
von  Vs  des  Erlöses  an  den  Anzeiger,  nach 
Summarverfahren  vor  einem  Friedensrichter. 
Diese  strenge  Regel  wird  in  der  Folge  von 
immer  zahlreicheren  Ausnahmen  zu  Gunsten 
bonafide-Reisender,  des  Yiktualienverkaufes, 
des  Kutschergewerbes  (1  &  2  Will.  IV.  c. 
22  und  für  London  9  Anne  c.  23),  der  Fisch- 
fuhrleute (2  Geo.  ni.  c.  15)  durchbrochen; 
die  neueren  Gesetze  regeln  vorzugsweise  die 
Sonntagssperrstuuden  der  Bierhauser  und 
Yergnügungslokale,  so  3  &  4  Yict,  c.  15. 
Die  Akte  11  &  12  Yict  c.  49;  17  &  18 
Yict.  c.  79;  18  &  19  Yict.  c.  118  sind  g&nz- 
lich,  23  &  24  Yict.  c.  27  teilweise  aufge- 
hoben durch  die  licensing  Acts  1872  und 
1874,  35  &  36  Yict.  c.  94,  s.  25  imd  37  &  38 
Yict.  c.  49,  s.  3.  Für  Wales  gut  The  Sun- 
day  Closing  (Wales)  Act  1881,  44  &  45  Yict. 
c.  61.  In  den  Kolonieen  herrschen  teils  die 
alten  Gesetze  Karls  I.,  teils  neuere  Polizei- 
gesetze, und  zwar:  in  Canada:  The  Canada 
Temperance  Act,  1886,  49  Yict.  c.  106,  des- 
gleichen Amendment,  1888,  c.  35;  in  Neu- 
seeland: The  Licensing  Act,  1881,  The 
Triennial  Licensing  Comraittees  Act,  1889, 
The  Alcoholic  Liquoi-s  Säle  Control  Act, 
1893,  desgleichen  Amendment,  1895;  in 
Queensland:  An  Act  to  consolidate  and 
amend  the  Laws  relating  to  the  Säle  of 
Intoxicating  Liquors  by  Retail,  1885;  in 
Neu-Süd- Wales :  Au  Act  to  consolidate  the 
Laws  relating  to  Publicans  and  other  Per- 
sons  engaged  in  the  Säle  of  Liquors.  Nr.  8, 
1898. 

lilttonttar:  Attsser  den  im  Texte  angeführten 
vergleiche  manl)  zu  I  und  IL  1:  W,  J*  Ashley, 
An  Introduction  to  Engliah  Economic  Hi9tory 
and  Theory,  1S88,  eh.  II,  III,  Fürt  II,  189S, 
eh.  IL  — J}et*selb€f  Early  History  oj  the  Englisfi 
WooUen  Industry,  1887.  —  L'ujo  Brentano,  Die 
Arbeitergilden  der  Gegenwart,  Bd.  1, 187 L  —  Der-' 
selbe,  Die  Gewerbefreiheit  im  Mittelalter  (Zeitschr, 
f.  Staatsw.  SS.  Bd.,  1877,  S.  267 ff.).  —  Derselbe, 
yoch  ein  Wort  über  die  wirtschaßliche  Freiheit 
im  MiUelnlter,  ebenda,  S4.  B.,  1878,  S.  2S8ff.  — 
Gustav  Cohn,  Die  aumcärtigen  Anleihen  an 
der  Londoner  Börse,  Zeilschr.  /.  Staatsw.,  SS.  Bd., 
1877,  S.  100 ff.  —  Derselbe,  Die  wirtschaft- 
liche Freiheit  und  die  ältere  englische  Gesetz- 
gebung, ebenda,  JS.  541  ff.  —  William  Cunning^ 
ham,  Groiclh  of  English  Industry  and  Commerce. 
Early  and  Middle  Ages,  1890.  —  Derselbe, 
Die    Regelung    des    Lehrlingswesens    durch    das 


Gewohnheitsrecht  von  London,  Zeitschr,  f.  Sozial- 
und  Wirtsehaftsgesch.  I,  S.  61 — 77.  —  Derselbe, 
Die  Auswanderung  von  Ausländem  nach  Eng- 
land im  12.  Jahrhundert,  in  derselben  ZeiUchr, 
III,  S.  177— SOS.  —  F.  W.  GalUm,  Select 
Documenta  iUustrating  the  Hisiory  of  Trade 
ühionisml.  The  Tailoring  Trade  1896. —  Charles 
Gross,  Gilda  Mereatoria,  GötUngen  188S  und 
derselbe,  The  Gild  Merehant,  Oxford  1891.  — 
Aar»  Held,  Zwei  Bücher  zur  sozialen  Geschichte 
Englands,  188L  —  W,A,8.  Hewins,  English 
Trade  and  Finance  chiefly  in  the  17^  Century 
1892  eh.  IV.  —  Derselbe,  The  Origin  of  Trade- 
ühionism.  Economic  Eeview  V  (1895)  p,  200  bis 
280.  —  i.  Jtf.  Jjambert,  Two  Thousand  Years 
of  Gm  Life,  HuU  189L  —  W,  v.  Ochen- 
kowski,  Englands  wirtschaftliche  Entwiekdung 
im,  Ausgange  des  MiüelaUers,  1879.  —  cT.  E,  Th, 
Rogers,  JSix  Centuries  of  Work  und  Wages, 
1886.  —  Derselbe,  The  Economic  Interpretation 
of  History,  1888.  —-  G.  B.  Salvioni,  Le  Gilde 
inglesi;  studio  storico,  Firenze  188S,  —  G. 
Schanz,  Englische  Sandeispolitik  gegen  Ende 
des  MitUlaUers,  1881.  —  E.  R.  A.  Seligman, 
The  Mediaeval  Guiids  of  England,  1887,  —  A, 
Toynbee,  Lectures  on  the  Induslrial  Revolution, 
1884.  —  S.  und  B,  Wehb,  Die  Geschichte  des 
Britischen  Trade  Uniemismus,  1895,  L  Kap.  und 
Bibliographie  in  der  englischen  Originalausgabe, 
2)  zu  IL  2,  4:  V,  Bqfanowski,  Unter- 
nehmer und  Arbeiter  nach  englischem  Hecht, 
1877.  —  jL.  Brentano,  Das  Arbeitsverhältnis 
gemäss  dem  heutigen  Hecht,  1877,  S.  272,  S58ff. 

—  JT.  €}rompton,  Indtistrial  Ooncüiatioti,  1876. 

—  R,  Gneist,  Englisches  Verwaltungsrecht, 
1884,  Bd.  II,  Ä'.  770  ff,  —  George  Howell, 
The  Confiicts  of  Capital  and  Latour,  1891,  eh. 
XI,  pt.  IL  —  W.  Stanley  Jevons,  The  State 
in  Eelation  to  Labour,  1882,  eh.  VII.  —  Schön^ 
berg,  in  Schönbergs  Handbuch  der  pol.  Gek.  II,  1, 
S.  619.  —  A,  Marshall,  Eeonomics  of  In- 
ditstry,  b.  HL  eh.  VIIJ.  —  L,  L.  Price,  In» 
dustrial  Peace,  1887,  eh.  III.  Equitable  Councils 
of  Coneiliation :  Report  jrom  the  Seleet  Committee 
1856,  —  Report  ofthe  Select  Committee  on  the  best 
means  of  setüing  dispuies  betaosen  Masters  and 
Operatines,  1860, 

S)  zu  III.  1 — 9:  ausser  den  im  Texte  ujid 
unter  2)  angeführten  Atkinson,  The  Magistrates 
Annual  Pructice,  London  1898.  —  R,  Bum,  The 
Justice  of  Peace,  1790.  — J,  F,  Davis,  Labour  and 
Labour  Laws,  Encyclopa^dia  BrUanniea,  1882, 
vol.  XIV,  —  T,  H,  Farrer,  The  State  in  iu 
Relation  to  Trade,  188S.  —  &  Gn^etst,  Ge- 
schichte und  heutige  Gestalt  der  englischen 
Eommunalverfajfsung  oder  .  des  Selfgovernment, 
1868.  —  Derselbe,  Selfgovernment,  Kommunal- 
Verfassung  und  Verwaltungsgerichte  in  England, 
3.  Aufl.,  1871.  —  B,  Karpeles,  Die  englischen 
Fdbrikgesetze,  1900.  —  C.  Th.  Klelnaehrodt, 
Grossbritanniens  Gesetzgebung  über  Gewerbe  und 
Handel,  18S6.  —  J.  Ä  Mac  CuUoch,  Dictionary 
of  Commerce,  ed,  I844,  —  A.  Hedgrat^e" 
Scrivener,  The  Factory  and  Workshops  Act, 
London,  ö<A  ed.  1895.  —  Albert  Sti^skney,  State 
Control  of  Trade  and  Commerce,  Xeic-York  1897. 

4)  zu  III.  10 :  vgl.  Report  of  the  Select  Com- 
mittee on  the  prevalcnce  of  Sujiday  Trading  in 
the  Metropolis;  with  Evidenee,  1847.  — Reports 
of  Select  Committees  of  both  Hauses  on  the  Bill 
to  prevent  unnecessary  Trading   on  Sunday   in 


Qewerbegesetzgebung  (Grossbritannien  —  Italien) 


479 


the  Metropolis;  vnlh  Evidence,  S  pts.,  1850,  — 
«f«  Paterson,  The  Intoxtcntiiig  Liquor  Licensing 
Acts  1891,  —  SnowdeUf  PoUce  officer*»  Guide, 
1875.  —  Corre8po7idence  on  the  Suhject  of  Sunday 
Labour  in  the  Colonies,  London  1891.  —  Minulee 
of  Evidence  taken  before  the  Royal  Commiesion 
on  Liquor  Liceneinq  Laws,  S  Bde.,  1897. 

Stephan  Bauer, 


yi.  Die  Gewerbegesetzgebung  in 

Italien. 

1.  Einleitung.  2.  Gesetze  über  die  ö£fent- 
liehe  Sicherheit.  3.  Gesetz  Über  das  Öffentliche 
Gesnndheitswesen.  4.  Gesetz  über  die  Aus- 
wanderung. 5.  Strafgesetzbuch.  6.  Gesetz  über 
das  Pulver  und  die  anderen  explodierenden 
Produkte.  7.  Bergwerke,  Steinbrücme  und  Torf- 
gräbereien.  8.  Gesetz  über  die  Transmission  von 
elektrischen  Leitungen  auf  Entfernung.  9.  Ge- 
setz über  Herstellung  und  Verkauf  von  künst- 
licher Butter.  10.  Ilnanzgesetz  v.  8.  August 
1895.  11.  Gesetz  über  Spiritus.  12.  UnfaUver- 
sicherungsgesetz.  13.  Gemeinde-  und  Provinzial- 
gesetz. 

1.  Einleitung.  Eine  vollständige  und 
kodifizierte  Gewerbegesetzgebung  im  engeren 
Sinne  des  Wortes  fehlt  in  Italien.  Die  Aus- 
übung eines  Gewerbes  ist  meistens  nur  an 
privatrechtiiche  Bedingungen  geknüpft,  d.  h. 
von  den  allgemeinen  Vorschriften  des  bürger- 
lichen und  des  Handelsgesetzbuches  geregelt 
Erst  in  der  jüngsten  Zeit  hat  die  Gesetz- 
gebung Beschränkungen  der  Gewerbefreiheit 
mehr  vom  polizeilichen,  finanzieUen  oder 
sanitären  als  vom  gewerblichen  Standpunkte 
eingeführt. 

Eine  systematische  Darstellung  ist  daher 
wegen  der  Dfurftigkeit  des  Materials  nicht 
möglich,  und  ich  werde  im  folgenden  ganz 
ein^h  den  gewerberechtlichen  Inhalt  der 
spedeUen  Gtesetze  anführen;  für  die  Ar- 
beiterschutzgesetz^bung,  die  Gewerbege- 
richte, die  Arbeiterversicheruug  und  die 
Patent-  und  Markenschutzgesetzgebung  sei 
auf  die  betreffenden  Artikel  verwiesen. 

2.  Gesetze  über  die  öffentliche  Sicher- 
heit v.  30.  Juni  1889,  Nr.  6144  und  v.  8. 
Juli  1897,  Nr.  266. 

a)  Für  die  Anlage  einer  Fabrik  von 
Pulver  und  anderen  explodieren- 
den Gegenständen  ist  die  Erlaubnis 
(licenza)  des  Präfekten  der  Provinz  erforder- 
lich. Für  den  Transport  derselben  Produkte 
in  einer  Menge  von  über  5  Kilo  ist  die  Er- 
laubnis der  Polizeibehönle  des  Kreises  vor- 
geschrieben (s.  unten  sub  G).  Für  die  Fa- 
brikation von  Waffen  genügt  die  Anzeige 
bei  demselben. 

b)  Ein  neuer  oder  wiederhergestellter 
Dampfkessel  muss,  um  in  Betrieb  ge- 
nommen zu  werden,  von  seite  eines  von  der 
Obrigkeit  delegierten  Sachkundigen   unter- 


sucht und  geprüft  und  wenigstens  jedes 
vierte  Jahr  einmal  revidiert  und  nötigen- 
falls wieder  geprüft  werden.  Nach  dem 
Befinden  wird  ein  Certifikat  erteilt,  aber  der 
Betrieb  kann  nur  unter  der  fortwährenden 
Ueberwachung  eines  autorisierten  Maschi- 
nisten stattfinden.  (Auf  Grund  dieser  Be- 
stimmungen wurde  das  Reglement  vom  3. 
April  1890  No.  6793  erlassen.) 

c)  Oeffentliche  Vorstellungen 
sind  von  der  Genehmigung  der  Ortspolizei- 
behörde  abhängig,  imd  ein  zur  öif^nt- 
lichen  Unterhaltung  bestimmtes 
Gewerbe  muss  in  derselben  Weise  geneh- 
migt werden. 

d)  Gastwirtschaft  und  Schank- 
•wirtschaft  können  nur  mit  Erlaubnis 
der  Polizeibehörde  des  Kreises  betrieben 
werden.  Für  neue  Schankstätten  kann  der 
Gemeindeausschuss  derselben  Behörde  vor- 
schlagen, ihre  Eröffnung  zu  verbieten,  wenn 
die  Zahl  der  in  der  Gemeinde  bestehenden 
schon  genügend  erscheint 

Jedenfalls  soll  die  Erlaubnis  jenen  Per- 
sonen verweigert  werden,  welche  keine 
Yertragsfähigkeit  nach  dem  bürgerlichen 
und  dem  Handelsgesetzbuche  besitzen,  und 
kann  jenen  Personen  verweigert  werden, 
welche  zu  dreijähriger  Freiheitsstrafe  oder 
zur  Ueberwachung  durch  die  Polizei  verur- 
teilt wurden.  Auch  jenen,  welche  zu  einer, 
obgleich  kürzeren,  Strafe  wegen  üugehor- 
sams,  Spiels,  Yerbrechens  gegen  die 
Sitten  oder  die  öffentliche  Gesundheit  ver- 
urteilt wurden,  kann  die  Erlaubnis  für 
eine  der  Dauer  der  Strafe  entsprechende 
Periode  vorenthalten  werden.  Die  Erlaub- 
nis ist  persönlich  und  erlischt  am  Ende  jedes 
Jahres. 

Bei  Messen,  Märkten  und  öffenthchen 
Feierhchkeiten  kann  die  Ortspolizeibehörde 
die  zeitweilige  Eröffnung  von  neuen  öffent- 
lidien*  Gast-  und  Schankstätten  gestatten. 

e)  Die  Befugnis  zum  Betriebe  von 
Druckereien,  Lithographieen  etc. 
ist  an  eine  Anzeige  bei  der  Ortspolizeibe- 
hörde geknüpft. 

f)  Pfandleihhäuser  können  nur  mit 
Erlaubnis  der  Ortspolizeibehörde  eröffnet 
werden.  Für  die  öffentlichen  Ge- 
schäfte von  Agenturen  genügt  die  An- 
meldung; doch  kann  die  OrtspoHzeibehörde 
sie  verbieten. 

g)  Wer  ein  Gewerbe  im  Umher- 
ziehen betreiben  will,  muss  sich  in  ein 
Register  bei  der  Ortspolizeibehörde  eintragen 
lassen  und  eine  Legitimationskarte  von  der- 
selben erhalten. 

h)  Den  Arbeitern  und  Hausdie- 
nern wird  auf  ihren  Wunsch  oder  auf 
Wunsch  des  Unternehmers  und  Hausherrn 
ein  Arbeitsbuch  von  der  Ortspolizeibehörde 
erteilt,    in    welches  jene    auf  Wunsch  des 


480 


Gewerbegesetzgebung  (Italien) 


Arbeiters  oder  Hausdienera  am  Ende  des 
Jahres  oder  bei  Gelegenheit  der  Entlassung 
die  Art  und  Dauer  des  geleisteten  Dienstes 
und  das  persönliche  Betr^en  einzutragen 
haben. 

3.  Gesetz  über  das  öffentliche  Ge-^ 
sundheitswesen  vom  22.  Dezember  1888, 
No.  5849.  a)  Zum  Gewerbebetriebe  als 
Aerzte,  Wundärzte,  Tierärzte, 
Apotheker,  Zahnärzte,  Geburts- 
helfer sind  die  Grossjährigkeit  und  der 
Doktorgrad  (laurea),  resp.  die  Approbation 
(diploma  di  abilitazione)  bei  einer  Universität, 
höherer  ünterrichtsanstalt  oder  zur  Erlassung 
derselben  befähigten  Schule  notwendig.  Wer 
zwei  oder  mehr  Approbationsurkunden  erlaugt 
hat,  kann  gleichzeitig  die  entsprechenden. 
Berufe  ausüben,  mit  Ausnahme  des  Apo- 
thekergewerbes, welches  immer  vereinzelt 
zu  betreiben  ist:  jede  Apotheke  soll  einen 
approbierten  Apotheker  als  Direktor  haben, 
welcher  sich  dem  Präfekten  der  Provinz  15 
Tage  vor  der  Ausübung  des  Berufes  an- 
melden soll. 

Wer  eine  Apotheke  oder  eine  Fabrik 
von  als  Arzneimittel  gebrauchten  chemischen 
Produkten  eröffnen  will,  soU  darüber  dem 
Präfekten  15  Tage  vor  der  Eröffnung  An- 
zeige machen.  Was  die  Fabrik  betrifft, 
muss  man  sogleich  beweisen,  dass  die  Di- 
rektion einem  Apotheker  oder  einem  Doktor 
der  Chemie  anvertraut  wurde. 

Wer  Heil-  oder  Badeanstalten  eröffnen 
will,  muss  die  Bewilligung  des  Präfekten 
erhalten. 

Aus  gesundheitspolizeilichen  Rücksichten 
sind  einer  besonderen  Ueberwachimg  auch 
die  Spezerei-,  Schrainkmittel-,  Farbenhändler, 
die  Liqueur-  und  Kuchenverkäufer  etc. 
imter  werfen. 

b)  Die  ungesunden  oder  gefähr- 
lichen Fabriken  oder  Hausindus- 
trieen  werden  in  zwei  Klassen  geteilt: 
die  erste  umfasst  die  Anlagen,  welche  auf 
dem  Lande  isoliert  imd  von  den  Wohnun- 
gen entfernt  bleiben  soUen,  die  zweite  jene 
Anlagen,  welche  mit  besonderen  Vorsichts- 
massregeln auch  in  der  Mitte  von  bewohnten 
Häusern  betrieben  werden  können.  Um  eine 
solche  Fabrik  oder  Hausindustrie  zu  be- 
treiben, ist  eine  Anmeldung  bei  dem  Prä- 
fekten erforderlich. 

e)  auf  Gnmd  des  genannten  Gesetzes 
sind  ausführliche  Reglements  (9.  Oktober 
1888,  No.  6442,  3.  August  1890,  No.  7045, 
7.  Dezember  1890,  No.  7313,  7.  Februar 
1892,  No.  55,  4.  August  1895,  No.  551  etc.) 
erlassen  worden,  insbesondere  um  die  Ver- 
fälschung der  Nahrungsmittel  und  der  Ge- 
tränke, den  Gebrauch  von  gesundheitsschäd- 
lichen Farben  bei  Wai'en  etc.  zu  verhindern. 
(S.  unten  sub  9.) 

Aussei-dem  dm-ch  besondere  Reglements 


(5.  Mai  1892,  No.  238,  9.  August  1892,  No. 
446)  wurde  das  Verzeichnis  der  gestatte- 
ten Arzneimittel  und  ihre  Preise  festgesetzt 
Diese  Preise  sind  nicht  obligatorisch:  sie 
dienen  nur  als  Regel  für  die  Entscheidung 
der  Streitigkeiten  und  für  die  Gemeinden, 
welche,  mangels  einer  Apotheke,  dem 
Arzte  eine  kleine  Sammlung  der  nötigsten 
Arzneimittel  anvertrauen. 

4.  Gesetz  über  die  Auswanderung 
vom  30.  Dezember  1888,  No.  5866,  um  als 
Aus  Wanderungsagent  aufzutreten,  muss 
man  italienischer,  nicht  minderjähriger 
Bürger,  im  vollen  Besitz  der  Civilrechte  sein 
und  nicht  speciell  angeführte  Verbrechen 
begangen  haben.  Dazu  kommt  die  Kon* 
Zession  (patente)  von  seite  der  Regierung 
nach  Erleg'ung  einer  Bürgschaft  (cauzione) 
von  3000  bis  5000  Lire  jährlicher  Rente  in 
Schuldtiteln  des  Staates  (60  000  bis  100000 
Lire  nominellen  Wertes),  welche  immer  auf 
derselben  Höhe  gehalten  werden  muss. 
Dieselbe  Pflicht  ist  den  Reedern  und 
Schiffahrtsgesellschaften,  die  auch  Aus- 
wanderungsunternehmer sind,  auferlegt.  Die 
Konzession  kann  wegen  Verletzung  des  Ge- 
setzes zurückgezogen  werden.  Der  Aus- 
wanderungsunternehmer kann  mit  Erlaubnis 
des  Präfekten  unter  seiner  Verantwortlich- 
keit Unteragenten  bestellen. 

Das  Reglement  vom  21.  Januar  1892, 
No.  39  hat  vorgeschrieben,  dass  die  Bürg- 
schaft 3000  Lire  jährlicher  Rente  betragen 
soll,  wenn  der  Agent  seine  Thäügkeit  auf 
einen  Landesteil  mit  sieben  Millionen  Ein- 
wohner beschränkt:  4000  Lire,  wenn  der 
Landesteil  zehn  Millionen  Einwohner  ent* 
hält:  5000  Lire,  wenn  die  Konzession  für 
das  ganze  Königreich  gelten  soll.- 

6.  Strafgesetzbuch.  Das  im  ganzen 
Königreich  geltende  Str.G.B.  v.  30.  Juni 
1889  liat  über  die  Verbrechen  gegen 
die  Freiheit  der  Arbeit  folgende  Be- 
stimmungen : 

Art  165.  Wer,  mit  Gewalt  oder  Drohung, 
in  irgend  einer  Weise  die  Freiheit  der  In- 
dustrie oder  des  Handels  beschränkt  oder 
verhindert,  wird  mit  Verhaftung  (detenzione) 
bis  zu  20  Monaten  und  einer  Geldbusse  von 
100  bis  3000  Lire  bestraft. 

Art.  166.  Wer,  mit  Gewalt  oder  Drohung, 
eine  Aufhebung  oder  eine  Unterbrechung  der 
Arbeit  venirsacht  oder  fortsetzen  lässt,  um 
entweder  den  Arbeitern  oder  den  Arbeit- 
gebern eine  Verminderung  oder  eine  Er- 
höhung der  Arbeitslöhne  oder  von  den 
vorher  angenommenen  abweicliende  Verträge 
aufzuerlegen,  wird  mit  Verhaftung  bis  zd 
20  Monaten  verurteilt. 

Art.  167.  Die  Haupturheber  (capi)  oder 
Hauptbeförderer  (promotori)  der  in  den 
vorigen  Artikeln  betrachteten  Handlimgen 
werden  mit  einer  Verhaftung  von  3  Monaten 


Gewerbegesetzgebung  (Italien) 


481 


bis  zu  3  Jahren  und  einer  Geldbusse  von 
oOO  bis  5000  Lire  bestraft. 

6.  Gesetz  über  das  Pulver  und  die 
anderen  explodierenden  Produkte  vom 

14.  Juli  1891,  No.  682.  Dieses  Gesetz  hat 
die  Bestimmungen  der  oben  (sub  2)  be- 
sprochenen Gesetze  über  die  öffentliche 
Sicherheit  bestätigt  und  weitergeführt.  Um 
eine  Fabrik  jener  Produkte  anzulegen,  ist 
es  nötig,  eine  Erklärung  dem  Bürgermeister 
des  Ortes  vorzulegen,  welcher,  nach  dem 
Gutachten  des  Gemeindeausschusses,  die- 
selbe mit  motiviertem  Bericht  dem  Prä- 
fekten  der  Provinz  sendet.  Der  Präfekt 
giebt  oder  verweigert  die  Erlaubnis  zur 
Anlage.  Vor  der  Eröffnung  der  Fabrik  soll 
man  auch  die  Lizenz  der  Finanzbehörde 
des  Ortes  erlangen.  Die  Arbeit  in  der  Fa- 
brik ist  einer  beständigen  Aufsicht  dersel- 
ben Behörde  zu  fiskalischen  Zwecken  \mter- 
stellt.  Auch  der  Verkauf  von  jeder  Quan- 
tität und  der  Transport  einer  Quantität  von 
über  5  Kilo  von  Pulver  und  anderen  explo- 
dierenden Produkten  können  nur  mit  Er- 
laubnis der  Polizeibehörde  des  Kreises  statt- 
finden. 

7.  Bergwerke,  Steinbrüche  nnd  Torf- 
grabereien.  a)  Gesetz  über  die  Poli- 
zei derselben  v.  30.  März  1893  Nr.  184 
(mit  Ausführungsreglements  v.  14.  Januar 
1894  Nr.  19  und  3.  Oktober  1894  Nr.  465). 

Um  Bergwerke,  Steinbrüche  und  Tori- 
gräbereien  betreiben  zu  können,  soll  der 
Unternehmer  den  eigenen  Namen,  Vornamen 
undAufenthalt  sowie  den  jenerPersonen,  denen 
er  die  Leitung  und  die  Aufsicht  des  Be- 
triebes anvertraut  hat,  mit  schriftlichem 
Aktenstücke  der  Municipalität  des  Ortes, 
wo  der  Betrieb  sich  findet,  mitteilen:  das 
Aktenstück  wird  in  Anwesenheit  des  Orts- 
bürgermeisters verfasst,  und  der  Unterneh- 
mer soU  von  jeder  Veränderung  binnen  10 
Tagen  den  Bürgermeister  in  Kenntnis  setzen. 

b)  Gesetz  über  die  Verbände  für 
dieselben  v.  2.  Juü  1896  Nr.  302.  Wenn 
für  naheliegende  Bergwerke,  Steinbrüche 
und  Torfgräbereien  gemeinsame  Vorkehrun- 
gen zum  Abfluss  des  Wassers,  zur  Ventilat 
tion,  zur  Herausziehung  des  Minerals,  zur 
Anlegung  von  Wegen,  zur  Sicherheit  und 
Gesundheit  der  Arbeiten  nötig  erscheinen, 
können  die  Eigentümer  und  Besitzer  emen 
Verband  (consorzio)  bilden.  Der  Verband 
kann  entweder  freiwillig  oder  obligatorisch 
sein.  Im  ersten  Falle  genügt  ein  schrift- 
licher Vertrag  mit  Erfüllung  der  im  bürger- 
lichen Gesetzbuche  enthaltenen  Vorschriften. 
Wenn  die  freiwillige  Vereinbarung  nicht  zu 
Stande  kommt,  kaim  die  Mehrheit  der  Eigen- 
tümer und  Besitzer  die  Bildung  eines  obli- 
gatorischen Verbandes  verlangen:  diese  ge- 
schieht durch  Dekret  des  Ministers  für 
Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  nach  einer 


administrativen,  mit  Anhörung  der  Parteien 
stattfindenden  Enquete  und  nach  Anhörung 
des  Bergwerksbeirates.  Das  Statut  des  ob- 
ligatorischen Verbandes  wird  von  der  Mehr- 
heit der  Parteien  beraten  und  beschlossen, 
und  vom  obengenannten  Minister,  nach  An- 
hörung des  Bergwerksbeirates  und  des 
Staatsrates,  bestätigt.  Die  Mehrheit  wird 
nicht  nach  der  Zahl  der  Parteien,  sondern 
nach  der  Grösse  der  respektiven  Interessen 
berechnet.  Die  Eigentthner  und  Besitzer, 
welche  die  Teilnahme  am  Verband  ver- 
weigern, können  dem  Verbände  ihre  Berg- 
werke, Steinbrüche  und  Torfgräbereien  ab- 
treten. Die  Entschädigung  wird  nach  den 
Vorschriften  des  Gesetzes  über  die  Enteig- 
nung im  öffentlichen  Interesse  bestimmt, 
doch  ohne  Rücksicht  auf  die  Wlertzunahme, 
welche  der  Betrieb  durch  die  vom  Verbände 
auszuführenden  Arbeiten  erhalten  kann.  Die 
Beiträge  der  Mitglieder  des  Verbandes  zu 
den  Ausgaben  desselben  werden  am  Anfang 
jedes  zweiten  Jahres  nach  dem  Nettogewinn, 
welchen  jedes  Mitglied  vom  Betriebe  in  den 
vorhergehenden  zwei  Jahren  gezogen  hat, 
berechnet. 

8.  Gesetz  über  die  Transmission  von 
elektrischen  Leitnngen  auf  Entfernung 
v.  7.  Juni  1894  Nr.  232,  mit  Reglement  v. 
25.  Oktober  1895  Nr.  642. 

Die  Errichtung  von  elektrischen  Leitun- 
gen, welche  öffentliche  Wege,  Eisenbahnen, 
Flüsse,  Bäche,  Kanäle,  öffentliche  telegra- 
phische und  telephonische  Linien  durch- 
kreuzen oder  über  öffentliche  Monumente 
sich  ausdehnen  oder  an  dieselben  sich  an- 
lehnen, bedürfen  der  Genehmigung  (consenso) 
des  Piifekten  der  Provinz,  bezw.  wenn  die 
Leitung  zwei  oder  mehrere  Provinzen  be- 
rilhrt,  des  Ministeriums  für  Ackerbau,  Ge- 
werbe und  Handel.  Für  die  übrigen  Lei- 
tungen genügt  eine  Anzeige  (notificazione) 
an  dieselben  Behörden.  Der  Unternehmer  hat 
dann  das  Recht  (mit  Erfüllung  der  übrigens 
sehr  lästigen  Vorschriften  des  Gesetzes  und 
des  Reglements  über  die  Wahl  der  Plätze, 
die  Entschädigungen,  die  technischen  Ver- 
sicherungen u.  s.  w.),  seine  Leitungen  durch 
fremde  Grundstücke  unterirdisch  und  über- 
irdisch zu  ftlhren. 

9.  Gesetz  über  Herstellung  nnd  Ver- 
kauf von  künstlicher  Butter  v.  19.  Juli 
1894  Nr.  356. 

Jedes  Stück  soll  mit  der  Bezeichnung 
künstliche  Butter  oder  Margarine 
gestempelt  werden ;  ebenso  die  Behälter  und 
die  zum  Einschlagen  gebrauchten  Leinen 
und  Papiere.  Die  Art  der  Mischung  soll 
auf  den  Handelsbüchem,  Expeditionsbriefen 
u.  s.  w.  notiert  werden.  In  den  Läden  soll 
eine  Anzeige  mit  dei-selben  Bezeichnung 
ebenso  äusserlich  (Thür,  Schaufenster)  als 
innerlich  (auf  der  Ware)  angebracht  werden. 


HandwörterbQch  der  Staatawissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


31 


482 


Gewerbegesetzgebimg  (Italien — Schweiz) 


Die  Uebertretiing  des  Gesetzes  wird  mit  Geld- 
buBse  bestraft.  Das  Ausführungsregleinent 
ist  V.  23.  Oktober  1895  Nr.  625. 

10.  FiDanzgesetz  t.  8.  Au^st  1895 
Nr.  486,  Anhänge  C,  E,  F. 

Nach  diesem  Gesetz  bedürfen  einer  Er- 
laubnis (licenza)  seitens  der  Finanzbehörde 
jene  Bemebe,  welche  errichtet  werden: 

a)  um  mineralische  Oele  herzustellen  oder 
zu  bearbeiten; 

b)  um.Zündhölzchen  und  Streichkerzchen 
herzustellen ; 

c)  um  Gas  und  elektrische  Kraft  zur 
Beleuchtung  und  Erwärmung  zu  erschaffen. 

IL  Gesetz  über  Spiritus  v.  30.  Januar 
1896  Nr.  26. 

Auf  Grund  dieses  Gesetzes  wurde  das 
Reglement  v.  5.  Juli  1896  Nr.  289  erlassen, 
welches  einige  gewerberechtliche  Bestim- 
mungen enthält 

Wer  die  Produktion  oder  die  Rektifika- 
tion von  steuerpflichtigem  Spiritus  betreiben 
will,  soll  dem  technischen  Finanzamt  eine 
Anzeige  erstatten.    Dieselbe  soll  enthalten: 

a)  den  Yomamen  und  Namen  des  Fabrik- 
besitzers und  seines  eventuellen  Vertreters  • 

b)  die  Bezeichnung  der  Gemeinde  und 
des  genauen  Ortes,  wo  der  Betrieb  einge- 
richtet wird; 

c)  den  Typus  des  Gebäudes  und  die  An- 
gaben über  seine  Teile  und  die  Bestimmung 
derselben ; 

d)  das  Verzeichnis  der  Apparate  fiir  die 
Destillation  und  Rektifikation  des  Spiritus; 

e)  ausführliche  Angaben  über  die  Art 
der  bearbeiteten  Stoffe,  den  Produktionspro- 
zess,  die  Behälter  etc. 

Das  Gebäude  muss  ausserhalb,  an  den 
Eingangsthüren,  in  grossen  Buchstaben  eine 
Inschrift  tragen,  welche  anzeigt,  dass  sich 
hier  eine  Fabrik  zur  Rektifikation  oder  Trans- 
formation von  Spiritus  befindet. 

12.  Unfallversicheniiigsgesetz  v.  17. 
März  1898  Nr.  80. 

So  wie  diejenigen,  welche  die  zur  Un- 
fallversicherung ihi'er  Arbeiter  verpflichteten 
Unternehmungen,  Gewerbe  oder  Bauarbeiten 
betrieben,  binnen  einem  Monat  nach  dem 
Inkrafttreten  des  Gesetzes  (welches  am  1. 
Oktober  1898  erfolgte),  dem  Präfekten  der 
Provinz  ihre  Unternehmung  oder  ihr  Ge- 
werbe und  die  Zahl  ihrer  Arbeiter,  Lelir- 
linge  imd  Aufseher  anmelden  sollten,  so 
sollen  bei  den  neu  errichteten,  vom  Gesetz 
betroffenen  Unternehmungen,  Gewerben  oder 
Bauarbeiten  die  Unternehmer  zehn  Tage 
vom  Beginn  ihrer  Thätigkeit  die  obenge- 
nannte Anmeldung  abgeben. 

Nach  den  Bestimmungen  des  Reglements 
v.  25.  Septeml)er  1898  Nr.  411  soll  die 
Anmeldung  ergeben: 

a)  den  Vornamen  und  Namen  des  Unter- 


nehmers oder  den  Handelsnamen  der  Gesell- 
schaft; 

b)  die  Art  des  Betriebes; 

c)  tien  Sitz  des  Hauptbetriebes,  den 
Wohnsitz  des  Unternehmers  oder  den  Haupt- 
sitz der  UntemehmergeseUschaft  sowie  die 
Nebenbetriebe  und  deren  Sitze; 

d)  den  Zeitpunkt  des  Beginns  der  Ar- 
beiten ; 

e)  die  Anzahl  der  beschäftigten  Perso- 
nen in  den  drei  Kategorieen,  Arbeiter,  Lehr- 
linge und  Aufseher; 

f)  die  Art  der  verwendeten  Motoren  und 
Maschinen. 

Auf  Grund  des  Gesetzes  hat  man  aus- 
führliche Unfallverhütungsvorschriften  mit 
den  Reglements  v.  18.  Juni  1899  Nr.  230, 
231,  232  und  233  erlassen. 

13.  Gemeinde-  und  ProvinziaJgesetz 
V.  4.  Mai  1898  Nr.  164. 

Dieses  Gesetz  hat  die  Einrichtung  und 
Regelung  der  Messen,  Jahr-  und  Wochen- 
märkte der  Gemeindevertretung  (Consiglio 
communale)  anvertraut;  so  wuraen#die  Be- 
stimmungen eines  älteren  Gesetzes  v.  17. 
Mai  1866,  Nr.  2933,  zum  Teil  bestätigt,  zum 
Teil  verändert. 

Ausserdem  ist  der  Gemeindeausschuss 
(Giunta  municipale,  eine  von  der  Gemeinde- 
vertretung gewählte  kollegialische  Exekutiv- 
behörde) befugt,  für  Lohnbediente  und  an- 
dere Personen,  welche  auf  öffentlichen 
Plätzen  und  Strassen  ihre  Dienste  anbieten, 
sowie  für  die  Benutzung  von  Wagen,  Pfer- 
den, Barken,  Gondeln  und  anderen  Trans- 
portmitteln, welche  öffentlich  zum  Gebrauch 
in  den  Grenzen  des  Gemeindegebietes  auf- 
gestellt sind,  Taxen  festzusetzen. 

Nebenbei  sei  bemerkt,  dass  die  Preis- 
taxen über  Nalirungsgegenstände ,  welche 
von  der  Gemeindebehörde  festgestellt  imd 
veröffentlicht  werden,  als  Regel  nicht  obli- 
gatorisch sind ;  doch  können  die  Gemeinden 
Sach  dem  Reglement  v.  19.  September  1899 
r.  394  zur  Ausführung  des  Gesetzes) 
in  ihren  Polizeiverordnungen  die  Regeln 
bestimmen,  nach  welchen,  wegen  be- 
sonderer Ortszustände  und  Gewohnheiten, 
jene  Preistaxen  zwangsweise  vorübergehend 
in  Kraft  treten  können. 

Carlo  jP.  Ferraris. 


TU.  Die  Oewerbegesetzgebung  in 

der  Schweiz. 

A.  Das  Bundesrecht.  1.  Die  Grund- 
rechte. 2.  Die  Specialartikel  der  Bundesver- 
fassung und  die  Bundesgesetzgebung.  B.  Die 
Kantonsrechte.  C.  Die  einzelnen  Ge- 
werbebetriebe. 1.  Die  regalen  G«werbe. 
2.  Wandergewerbe.  3.  Trödler,  Pfandleiher, 
Gelddarleiher.     4.  Wirtschaften.    5.  Geld-  und 


Gewerbegesetzgebung  (Schweiz) 


483 


KreditiiiBtitiite.     6.  Fremdenindnstrie.     7.   Ar- 
beiterschntzgesetzgebung. 

Das  schweizerische  Gewerberecht  scheidet 
sich  formell,  dem  Ursprung  nach,  in  bundes- 
staatliches (Bundesrecht)  und  kantonales 
(Recht  der  Einzelstaaten),  die  sich  beide 
meistens  ergänzen.  Materiell  ist  zu  unter- 
scheiden nach  den  einzelnen  Gewerbebe- 
trieben. 

A.  Das  Bnndesrecht 

Eine  einheitliche  Gewerbeordnung  für 
die  Schweiz  giebt  es  nicht.  Der  Bund  be- 
sitzt dazu  das  vei-fassungsmässige  Recht 
noch  nicht ;  ein  bezüglicher  Verfassungsvor- 
schlag war  1894  in  der  Volksabstimmung 
verworfen  worden.  Dagegen  enthält  die 
Bundesverfassung  betreffend  das  Gewerbe- 
wesen im  allgemeinen  gruudrechtliche  Be- 
stimmungen und  mit  Bezug  auf  eine  Reihe 
von  Gewerbebetrieben  Specialartikel,  an  die 
sich  bezügliche  Landesgesetze  schliessen. 

1.  Die  Grundrechte.  Danach  wird 
unterschieden  zwischen  Handel  und  Ge- 
werbe im  gewöhnlichen  Sinn  (Bundesverf. 
Art.  31)  und  den  wissenschaftlichen 
Berufsarten  (Art.  33).  Betreffend  die 
letzteren,  die  im  übrigen  nicht  hierher  ge- 
hören, ist  bestimmt,  dass  ihre  Ausübung  von 
einem  Ausweise  der  Befähigung  abhängig 
gemacht  werden  könne;  für  Mediziner  ist 
durch  Bundesgesetz  ein  eidgenössisches 
Diplom  eingeführt,  im  übrigen  steht  die 
Ausführung  des  Artikels  noch  bei  den 
Kantonen  und  ist  die  Freizügigkeit  der 
Geistiichen  imd  Geometer  für  einen  Teil 
der  Schweiz  durch  kantonale  Veiträge 
(Konkordate)  geordnet. 

Art.  31   gewährleistet  die  Freiheit   des 
Handels  und  der  Gewerbe  im  ganzen 
Umfange   der  Eidgenossenschaft,   immerhin 
unter  Vorbehalten,  von  denen  als  die  haupt- 
sächlichsten folgende  hervorzuheben   sind: 
1.   Betreffend   Kegalien    bezw.   Mono- 
pole.   Die  Regalrechte  an  Grund  und  Boden 
(Berg-,  Jagd-,   Wasserregal)  werden   diu'ch 
das  Bundesrecht   nicht  alteriert   und   ver- 
bleiben •  den  Kantonen.    Die  GewerberegaHen 
oder  Monopole  dagegen  sind  nur  noch  ge- 
stattet, soweit  durch  die  Bundesverfassung 
eben  vorbehalten.    Danach  stehen  zu:   den 
Kantonen,  soweit  sie  davon  Gebrauch  machen, 
das  Salzregal  (betreffend  Salzhandel,  in  allen 
Kantonen    eingeführt)    und    das    Feuerver- 
sicherungsmonopol  (betreffend   Gebäude   in 
den  meisten  Kantonen,  betreffend  Mobiliar 
nur  in  Waadt  eingeführt) ;  dem  Bund :  Post-, 
Telegraphen-  und  Telephonregal,  Münzregal, 
Pulverregal,  Alkoholmonopol  (seit  1885)  und 
(zwar     gesetzlich    noch    nicht    eingeführt) 
das  Banknotenmonopol   (das   Zündhölzchen- 
monopol ist  1895  durch  die  Volksabstimmung 
verworfen    worden;    die    Einführung    des 


Tabaksmonopols  steht  auf  dem  Piket).  Der 
Ertrag  der  Bundesmonopole  fäUt  sonst  in 
die  Bundeskasse,  beim  Alkoholmonopol  da- 
gegen (ca.  6  Millionen  jährlich)  an  die 
Kantone  mit  der  Bestimmung,  dass  sie  Vio 
davon  (»Alkoholzehntel«)  zur  Bekämpfung 
des  Alkoholismus  zu  verwenden  haben.  — 
2.  Betreffend  polizeiliche  Beschrän- 
kungen. Als  Grund  der  Beschränkung  ist 
nur  ein  öffentliches  Interesse,  aber  jedes 
öffentliche  Interesse  anerkannt  (Sicherheit, 
Gesundheit,  Sittlichkeit,  NichtÜbervorteilung); 
für  das  Wirtschaftswesen  und  den  Klein- 
handel mit  geistigen  Getränken  ausnahms- 
weise auch  (seit  1885)  das  öffentliche  Be- 
dürfnis, in  der  Memung,  dass  weitere  Ge- 
schäfte als  für  welche  ein  Bedürfnis  vor- 
handen scheint,  nicht  zugelassen  zu  werden 
brauchen.  Die  Mittel  der  Beschränkung 
können  bestehen  in  Betriebsvorschriften, 
Konzessionierung  (unter  persönlichen,  lokalen 
Betriebsbedingungen)  und  selbst  im  Verbot 
des  betreffenden  Gewerbes  selbst.  —  3.  Be- 
treffend Gewerbesteuern,  die  aber 
nicht  erdrückend  sein  dürfen. 

2.  Die  Specialartikel  der  Bundesver- 
fassung  und  die  Bnndesgesetzgebung. 
Die  Specialartikel  in  Sachen  betreffen: 
Fischerei  und  Jagd  (Art.  25),  Eisenbahnen 
(26),  gebrannte  Wasser  (32  bis);  Fabriken, 
Auswanderungsagenturen ,  Versicherungs- 
wesen (34) ;  Spielbanken  und  Lotterieen  (35), 
Post-  und  Telegraphenwesen  (36),  Münzen 
(38),  Banknoten  (39),  Mass-  und  Gewicht 
(40),  Schiesspulver  (41).  Durch  dieselben 
wird  in  den  einen  Fällen  die  Sache  als  An- 
gelegenheit der  Bundesverwaltung  selbst 
erkläi't  (Post  und  Telegraph,  Münzen,  Pul- 
ver, gebrannte  Wasser),  in  den  anderen  dem 
Bund  wenigstens  das  G^setzgebungsrecht 
verliehen. 

Die  Bundesgesetzgebung  ihrerseits  macht 
sich  entweder  ausschliesslich  geltend,  wie 
vor  allem  in  den  Bundesverwaltungssachen 
und  auch  sonst  noch  (Eisenbahnen,  Fabriken, 
Auswandenmgsagenturen),  oder  lässt  der 
kantonalen  Gesetzgebung  mehr  oder  weniger 
Raum  zur  Mitwirkung  (Fischerei  und  Jagd, 
Mass  und  Gewicht  etc.). 

B.  Die  Kantonsrechte. 

Allgemeine  Gewerbeordnungen  besitzen 
nur  die  Kantone  Bern,  Schaffhausen,  Basel- 
Land  und  Wallis;  dieselben  sind  aber  alt 
und  teils  durch  das  seither  erweiterte  Bun- 
desrecht, teils  durch  Specialgesetze  der  be- 
treffenden Kantone  selbst  so  sehr  zersetzt, 
dass  sie  sich  als  Ganzes  nicht  darstellen 
lassen.  Ein  neues  Gewerbegesetz  für  den 
Kanton  Zürich  ist  in  der  Volksabstimmung 
vom  17.  Dezember  1899  verworfen  woixien. 
Im  übrigen  giebt  es  nur  Specialgesetze 
über  die  einzelnen  Gewerbebetriebe. 

31* 


484 


öewerbegesetzgebung  (Schweiz) 


Unter  strafrechtlichen  Schutz  sind 
die  Handels-  und  Gewerbefreiheit  und  die 
Arbeitsfreiheit  der  Arbeitgeber  und 
der  Arbeiter  gestellt  durch  die  Strafgesetz- 
bücher von  &enf  (Art.  106)  und  Tessin 
(Art.  234). 

C.  Die  einzelnen  Gewerbebetriebe. 

Unter  »Gewerbe«  wird  hier  alles  be- 
griffen, was  nicht  Urproduktion  im  eigent- 
lichen Sinne  (Land-  und  Forstwirtschaft) 
ist;  einerseits  also  auch  Bergbau,  Jagd  und 
Fischerei,  und  andererseits  auch  der  Handel. 
Es  wird  aber  nur  dasjenige  Gewerbe  be- 
rücksichtigt, das  als  solches  durch  die  Ge- 
setzgebung geregelt,  nicht  auch  was  von 
Gewerben  sonstwie  unter  gesetzliche  Be- 
stimmungen (betreffend  Gesundheitspolizei, 
Bauwesen,  Mass-  und  Gewicht  eta)  fällt. 
Immerhin  verdient  die  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung als  eine  besondere  Seite  des  Ge- 
werberechtes im  allgemeinen  angeschlossen 
zu  werden.  Im  übrigen  folgen  sich  die 
einzelnen  Betriebe  ohne  weitere  Gruppierung. 
Die  nach  der  schweizerischen  Gesetzgebung 
wichtigsten  sind: 

1.  Die  regalen  Gewerbe  (Bergbau, 
Jagd  und  Fischerei)  als  die  der  Urproduk- 
tion nächsten. 

Der  Bergbau,  ausser  den  Salz  werken 
ohne  Bedeutung,  ist  nichtsdestoweniger  in 
einer  Reihe  von  Kantonen  gesetzlich  ge- 
regelt. Auf  die  Mineralien  ist  überall  ein 
Regal  in  Anspruch  genommen,  das  zur  Aus- 
beutung vergeben  wind.  Das  am  meisten 
bekannte  wie  bedeutende  Schieferbergwerk 
»Plattenberg«  \sird  vom  Kanton  Glarus  in 
Regie  betrieben ;  auch  ist  die  Eisgewinnung 
aus  dem  Klönthalersee,  die  industriemässig 
betrieben  wird,  an  diesen  Kanton  abgabe- 
pflichtig. Die  Heilquellen  dagegen,  ein  so 
grosses  Nationalvermögen  der  Schweiz  sie 
repräsentieren,  sind  nirgends  regalisiert.  — 
Salzwerke  speciell  ^ebt  es  in  Waadt 
(Bex),  Basel-Land  (Schweizerhalle)  und  Aargau 
(Aeugst.  Rheinfelden  und  Ryburg),  alle  an 
dritte  UeseUschaften  vergeben.  Diejenige 
von  Bex  genügt  nicht  einmal  ganz  für  den 
Kanton  Waadt;  von  den  anderen  aber  ist 
Schweizerhalle  auf  »ewige«  Zeiten  zu  Eigen- 
tum vergeben  und  die  aai^uischen  bis  1907 
verpachtet,  imd  es  können  in  beiden  Kantonen 
bis  zu  diesem  Zeitpunkt  keine  neuen  Salinen 
bewilligt  werden. 

Jagd  und  Fischerei.  Der  Betrieb 
ist  in  der  Hauptsache  durch  Bimdesgesetze 
geregelt ;  die  Bewilligimg  dagegen  geht  von 
den  Kantonen  aus,  die  sie  teils  diu-ch  Pacht 
(Reviersystem),  teils  durch  Konzession  (Pa- 
tentsystem) erteilen.  Das  Reviersystem, 
höchst  unvolkstümlich  bei  der  Jagd,  ist  für 
dieselbe  nur  in  Aargau  eingeführt. 

2.  Wandergewerbe.  Das  Gewerbe  der 
Handelsreisenden  d.  h.  die  blosse  Auf- 


nahme von  Bestellungen  ist  bundesgesetzlich 
geregelt.  Danach  sind  Grosreisende  (welche 
nur  bei  Gewerbegenossen  umreisen)  inlän- 
discher Häuser  und  solcher  von  auswärtigen 
Staaten,  mit  denen  bezügliche  Staatsverträge 
bestehen ,  taxfrei,  während  die  Detailreisen- 
den  (die  auch  Private  besuchen)  und  übri- 
gen Grosreisenden  Taxe  zu  bezahlen  haben, 
deren  Ertrag  unter  die  Kantone  verteilt 
wird. 

Markt-  und  Hausierverkehr.  In 
denselben  hat  teilweise  auch  die  Bundesge- 
setzgebung eingegriffen  (Bewilligung  für 
Viehmärkte;  Verbot  des  hausiermässigen 
Handels  mit  gebrannten  Wassern,  Vieh  \md 
Gold-  und  Süberabfällen).  Im  übrigen  ist 
die  Regelung  kantonale  Sache.  Danach 
unterliegt  der  Verkehr  ausser  polizeilichen 
Bestimmungen  der  Patentpflicht,  soweit  er 
nicht  einerseits  freigegeben  (namentlich  für 
F]rzeugnisse  des  Land-  und  Gartenbaues), 
andererseits  ganz  ausgeschlossen  ist  (für  aui 
diesem  Wege  schwer  kontrollierbare  oder 
gefährliche  Artikel:  Fleisch-,  Gold-  und 
Silberwaren  ,  Gifte  ,  Explosivstoffe).  Der 
Hausierhandel  wird  im  allgemeinen  hoch, 
besteuert  zum  Zweck  der  Prohibition,  imd 
als  solcher  werden  behandelt  auch  die  Wan- 
derlager zum  Schutze  der  ansässigen  Ge- 
schäfte und  sogar  die  Ausverkäufe  zum 
Schutze  der  Detail-  vor  der  Konkurrenz  der 
Grosgeschäfte. 

3.  Trödler,  Pfandleiher,  Gelddarleiher. 
Diese  Geschäftsbetriebe  sind  in  der  Minder- 
zahl von  Kantonen  polizeilich  geregelt,  und 
in  den  wenigsten  alle  zugleich.  Oeftentliche 
Leihhäuser  bestehen,  wo  überhaupt,  zumeist 
in  Verbindung  mit  den  kantonalen  Staats- 
banken. Strafrechtliche  Wucherbestim  mim- 
gen  giebt  es  fast  in  aUen  Kantonen. 

Auch  gegen  Abzahlungsgeschäfte 
und  unlauteren  Wettbewerb  (oon- 
currence  illoyale)  werden  von  der  Öffent- 
lichen Meinung  Vorschriften  verlangt 

4.  Wirtschaften.  Die  Alkoholgesetz- 
gebung des  Bundes  hat  das  Wirtschafts- 
gewerbe und  im  weiteren  den  Handel  mit 
geistigen  Getränken  überhaupt  im  Sinne  des 
AntiaJÜkoholismus  stark  beeinflusst.  Vor 
allem  und  hauptsäclilich  betreffend  die  ge- 
brannten Getränke:  wie  diuxjh  die  Mono- 
polisierung von  Einfuhr  und  Fabrikation  der 
Stoff  verbessert  und  zugleich  verteuert  wor- 
den, so  ist  der  Kleinhandel  mit  solchen  von 
Bundeswegen  durch  die  Kantone  der  Kon- 
zession und  Besteuening  zu  unterwerfen, 
und  zwar  ist  Kleinhandel  der  Verkauf  bis 
zu  40  Liter  aufwärts.  Der  Handel  mit 
anderen  Getränken  dagegen  ist  bis  auf 
2  Liter  hinunter  unbedingt  frei.  Anderer- 
seits kann  das  Wirtschaftsgewerbe  überhaupt 
nicht  nur  wie  andere  nach  Massgabe  per- 
sönlicher und  lokaler  Bedingimgen,  sondern 


Gewerbegesetzgebung  (Schweiz) 


485 


auch  nach  dem  öffentlichen  Bedürfnis  (vgl. 
oben)  beschränkt  werden. 

Die  Wirtschaften  speciell  sind  kantonaler- 
seits  fast  durchweg  konzessions-  und  abgabe- 
pflichtig, und  ihre  Zahl  wird  in  der  Mehr- 
heit der  Kantone  bereits  auch  nach  dem 
öffentlichen  Bedürfnis  normiert  (»Normal- 
zahl«, sofern  im  Verhältnis  zur  Zahl  der 
Einwohner  fest  bestimmt;  z.  B.  nicht  mehr 
als  eine  Wirtschaft  auf  150  oder  200  Ein- 
wohner in  einer  Gemeinde).  Unter  die  Be- 
triebsvorschriften sind  in  den  neuesten  Ge- 
setzen auch  solche  zum  Schutze  des  Wirt- 
schaftspersonals aufgenommen,  die  sich  in- 
sofern mit  der  Arbeiterschutzgesetzgebung 
berühren. 

6.  Geld-  und  Kreditinstitute.  Banken. 
Der  Bund  hat  nur  in  die  Notenemission  ein- 
gegriffen, indem  er  dieselbe  beschränkt  und 
unter  Deckung  gestellt,  seither  aber  als 
Monopol  des  Bundes  erklärt  hat,  das  frei- 
lich noch  der  gesetzlichen  Durchführung 
harrt.  Zugleich  ist  bis  dahin  die  Erhebung 
einer  Banknotensteuer  bis  zu  6%o  der 
Emission  seitens  der  Kantone  gestattet,  wo- 
von die  Mehrzahl  auch  Gebrauch  gemacht 
hat.  Im  übrigen  haben  die  Kantone  sich 
nicht  veranlasst  gesehen,  den  Verkehr  der 
Privatbanken  zu  regeln,  ausser  dass  speciell 
für  Sparkassen,  zur  Sicherheit  der  Einlagen, 
wenigstens  von  zwei  Kantonen  (Freiburg 
und  St.  Gallen)  staatliche  Kontrolle  und 
bezw.  die  Bedingimg  der  Deckung  des  Ein- 
lagekapitals eingeftöirt  worden  ist.  Hin- 
gegen haben  fast  aUe,  in  Konkurrenz  mit 
den  privaten,  die  auszuschliessen  von  Bundes- 
verfassungswegen unstatthaft  ist,  staatliche 
Anstalten  (»Kantonalbanken«)  errichtet,  zum 
ausgesprochenen  Zwecke,  der  Landwirt- 
schaft, dem  Handel  und  Gewerbe  im  Kanton, 
namentlich  den  kleineren  Leuten,  die  Be- 
friedigimg der  Kredit-  und  GeldbedOrfnisse 
zu  erleichtem.  (Vgl.  auch  den  Art  Banken 
in  der  Schweiz  oben  Bd.  II  S.  305 ff.) 

Börsen.  Bezügliche  Gesetze  besitzen 
nur  Genf,  Schaffhausen,  Zürich  und  Basel- 
Stadt  Es  handelt  sich  hauptsächlich  um 
Regelung  des  gewerbsmässigen  Verkehrs  mit 
Wertpapieren  bezw.  Beschränkung  desselben 
an  der  Börse  auf  die  Börsenmitglieder  und 
um  Ordnung  des  Mäklerwesens:  für  die 
Kontrolle  sind  besondere  staatlicne  Organe 
(Börsenkommissäre)  aufgestellt.  Andererseits 
wird  eine  Steuer  von  den  betreffenden  Ge- 
schäften (Stempelgebühr)  und  bezw.  von  den 
Mäklern  als  solchen  (Patentgebühr)  erhoben. 

SpielbankenundLotterieen.  Nach 
der  Bundesverfassung  (Art.  35)  ist  die  Er- 
richtung bezw.  Haltung  von  Spielbanken  in 
der  ganzen  Schweiz  untersagt  und  kann 
der  Bund  auch  in  Beziehung  auf  die  Lotte- 
rieen  geeignete  Massnahmen  treffen.  So 
lange  letzteres  nicht  geschehen,  können  die 


Lotterieen,  ausser  den  Lotterieanleihen,  von 
Kantons  wegen  verboten  werden  und  sind 
es  auch  überall,  immerhin  meist  unter  Vor- 
behalt der  Unternehmen  zu  wohlthätigen 
Zwecken  oder  zur  Förderung  von  Kunst 
und  Gewerbe. 

6.  Fremdenindustrie.  Von  den  hier- 
unter fallenden,  polizeilich  besonders  ge- 
regelten Gewerben  ist  noch  das  der  öffent- 
lichen Lohndiener  (Dienstmänner,  Kutscher, 
Schiffleute,  Bergführer  und  Träger)  zu  er- 
wähnen. Das  Dienstmänner-,  Kutscher-  und 
Schiffergewerbe  ist,  soweit  überhaupt,  sei- 
nem örtlichen  Bereich  entsprechend  meist 
durch  Lokalstatute  geordnet.  Die  Berg- 
fühi'er  und  Träger  .unterliegen  in  Bern, 
Wallis  und  Tessin  einer  kantonalen  Kon- 
zessiop,  die  nur  auf  Prüfung  hin  erteilt 
wird. 

7.  Arbeitergehutzgesetzgebung.  Durch 
die  Bundesgesetzgebung  ist  die  Arbeit  in 
Fabriken  geregelt  worden,  und  zwar  zum 
Schutz  der  Arbeiter  im  allgemeinen  (he- 
treffend  Arbeitsräume,  Kündigung,  Lonn- 
zahlung,  Arbeitszeit  11  Stunden)  und  der 
Frauen  und  Kinder  im  besonderen  (Arbeits- 
zeit und  bezw.  eintrittsfähiges  Alter  —  14 
Altersjahr)  und  ist  eine  besondere  Haft- 
pflicht des  Fabrikanten  aus  dem  Fabrikbe- 
trieb, für  Tötung  undVerletzung  von  Arbeitern, 
statuiert  worden,  die  in  der  Folge  auch  auf 
andere,  besonders  gefährliche  oder  im 
grösseren  betriebene  Gewerbe  und  Arbeiten 
ausgedehnt  wurde. 

An  diese  Bundesgesetzgebung  schliesst 
sich  eine  weitere  Schutzgesetzgebung  der 
Kantone,  und  zwar:  einesteils  mehr  nur 
nach  Seiten  der  Haftpflicht  und  seither 
durch  die  bundesmässige  Ausdehnung  dieser 
insofern  ersetzt  (beide  ünt^rwalden:  für 
Strassen-,  Brücken-  imd  andere  Freiarbeiten) ; 
zum  anderen  und  grösseren  Teil  aber  zur 
Regelung  der  Arbeit  auch  in  anderen  Be- 
trieben ausser  den  Fabriken  und  mit  Bezug 
auf  die  gleichen  Verhältnisse  (Arbeitszeit, 
Lohnzahlung  etc.).  In  dieser  Richtung  haben 
legiferiert  Basel-Stadt,  Zürich  und  Solothum 
fspecieU  zu  Gunsten  der  Arbeiterinnen); 
lemer  St  Gallen  und  Glarus.  Die  französi- 
schen Kantone  Neuenbiu^,  Genf,  Freiburg 
imd  Waadt  ihrerseits  haben  specieU  das 
Lehrverhältnis  (die  Ausbildung  der  Lehr- 
linge) unter  gesetzlichen  Schutz  gestellt. 

Das  Institut  der  Gewerbegerichte 
endlich,  um  dessen  in  diesem  Zusammen- 
hang noch  zu  gedenken,  ist  eingeführt  wor- 
den: voraus  in  den  französischen  Kantonen 
Genf,  Neuenburg  imd  Waadt  (zuerst  in  Genf 
1883);  dann  auch  in  Basel-Stadt,  Luzern, 
Solothum,  Bern,  Zürich  und  St.  Gallen; 
aber,  ausser  in  Genf  und  Basel-Stadt,  niu: 
fakultativ,  in  der  Meinung,  dass  es  den  Ge- 
meinden überlassen  ist,  solche  einzusetzen. 


^ 


486 


öewerbegesetzgebung  (Schweiz — Skandinavien) 


Vgl.  auch  den  Art.  Arbeit  ersehnt  zge- 
setzgebung  in  der  Schweiz  oben  Bd.  I 
S.  588  ff. 

Qaellen  und  Litteratnr :  Die  Sammlung  der 
Bundeageaetxe  und  des  BundesblaUes,  und  die 
kantonalen  Gesetzessammlungen.  —  J".  SchoUen- 
berger,  Grvndriss  des  Staats-  und  Verwaltungs- 
rechts  der  Schweiz.  KanUme,  II.  Bd.  (innere 
Verwaltung)  und  von  früher  die  Schweiz.  Handels- 
und  Gewerbeordnungen,  1.  Hälfte.  —  Furrer, 
Volksvnrtschaftslexikon  der  Schweiz,  Artikel 
»Gewerben.  J,  Schollenberg  er. 

Till.   Die  Öewerbegesetzgebung  in 

Skandinayien 

(im  19.  Jahrhundert). 

1.  Die  schwedische '  Gesetzgebung.  2.  Die 
norwegische  Gesetzgebung.  2.  Die  dänische 
Gesetzgebung.  4.  Das  Princip  der  Gewerbe- 
freiheit und  seine  Beschränkung.  5.  Der  Ge- 
werbebetrieb im  Umherziehen.  6.  Die  Behörden 
und  das  Verfahren  in  Gewerbesachen. 

1.  Die  schwedische  Gesetzgebung. 
Der  Grundgedanke  des  älteren  schwedischen 
Gewerbewesens  war,  einerseits  den  Gewerbe- 
betrieb im  wesentlichen  auf  die  Städte  zu 
koncentrieren ,  andererseits  die  städtischen 
Gewerbe  in  Zünfte  zu  organisieren.  In 
dieser  Richtung  gingen  die  allgemeinen 
Landeszunftgesetzgebungen  der  JaJire  1669 
und  1720.  Für  einen  Teil  der  Gewerbe- 
thätigkeit,  für  den  Betrieb  von  Älanufakturen 
und  Fabriken,  zu  welchen  besonders  die 
Textilgewerbe  und  die  feineren  Eisenge- 
werbe gerechnet  wurden,  galten  nach  der 
Gesetzgebiuig  —  den  Hallordnungen  vom 
21.  Mai  1739  und  vom  2.  April  1770,  den 
Manufaktiuprivüegien  vom  29.  Mai  1739  — 
andere  Grundsätze,  nach  welchen  diejenigen, 
welche  Manufekturen  und  Fabriken  betrieben, 
nicht  der  Zunftordnung  unterstellt  waren. 
Das  frühere  Privilegiensystem  wurde  schon 
durch  die  Regierungsform  Schwedens  vom 
9.  Juni  1809  §  60  principiell  aufgehoben, 
indem  dieser  Gesetzartikel  dem  Könige  ver- 
bot, zu  seinem  Vorteile,  zu  dem  der  Krone 
oder  zum  Vorteile  von  Privatpersonen  oder 
Korporationen  ein  Monopol  zu  errichten. 
Dieses  Verbot  hindert  jedoch  nicht,  dass 
eigentliche  Monopole  zum  allgemeinen 
Besten,  z.  B.  Apothekerprivilegien,  errichtet 
wenlen,  und  bindet  nur  den  König,  nicht 
aber  die  von  ihm  und  dem  Reichstage  ge- 
meinschaftlich ausgeübte  Gesetzgebung. 

Die  V.  V.  6.  November  1S21  milderte 
die  Bedeutung  der  Zünfte,  indem  sie  das 
Gebiet  der  Manufakturprivilegien  beträcht- 
lich ausdehnte.  Die  sehr  wichtige  Eisen- 
industrio war  jedoch  besonders  reguliert; 
für  die  Eisenhämmer  und  Eisenmanufaktur- 
werke waivn  nicht  nur  besondere  Privilegien 
nötig,  sondern  es  galten  auch  in  mehreren 
Beziehungen  einschränkende  Bestimmungen. 
Jetzt  ist  jedoch  —  nach  den  VY.  v.  27.  April 


1846  und  20.  September  1859  —  die  An- 
legung und  der  Betrieb  von  Eisenwerken 
im  wesentlichen  denselben  Normen  unter- 
stellt wie  die  Anlegung  und  der  Betrieb 
anderer  Fabriken. 

Das  Zunftwesen  wurde  beibehalten  bis 
zur  V.  V.  22.  Dezember  1846,  welche  die 
Zünfte  aufhob  und  die  Gewerbefreiheit,  wenn 
auch  mit  erheblichen  Beschränkungen,  ein- 
führte. An  die  Stelle  der  Zünfte  setzte  die 
citierte  Verordnung  Handwerksvereine  zur 
Fördenmg  der  Interessen  der  Handwerker. 
Als  Bedingung  des  selbständigen  Gewerbe- 
betriebs mit  dem  Rechte,  Lehrlinge  und 
Gesellen  zu  halten,  wurde  für  die  meisten 
Handwerke  die  Meisterprüfung  noch  bei- 
behalten, wenn  auch  der  frühere  Lehrzwang 
aufgehoben  wurde.  Um  ein  Handwerk  in 
einer  Stadt  oder  deren  Gemarkung  mit  Bei- 
hilfe von  anderen  als  von  Frau  und  Kindern 
zu  betreiben,  war  das  Büi^rrecht( »Burskap«) 
erforderlich.  Die  principielle  Gewerbe- 
freiheit,  welche  die  genannte  Verordnung 
gründete,  wurde  erst  durch  die  noch  geltende 
V.  V.  18.  Juni  1864  vollständig  durchgeführt 
und  ist  auch  von  den  Gesetzänderungen, 
welche  die  VV.  v.  20.  Jiuii  1879,  23.  Sep- 
tember 1887  und  v.  30.  Juni  1893  mit  sich 
führten,  unberührt  geblieben. 

2.  Die  norwegische  Gesetzgebung. 
Bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  folgte 
die  Gewerbegesetzgebung  Norwegens  den 
Maximen  und  Normen  der  dänischen  Ge- 
setzgebung; doch  wurde  der  Handwerks- 
betrieb in  Norwegen  niemals  so  vollständig 
wie  in  Dänemark  auf  die  Städte  beschränkt. 
Schon  das  Grundgesetz  von  1814  (§  101) 
verbot  indessen  im  allgemeinen  neue  imd 
beständige  Beschränkimgen  der  Gewerbe- 
freiheit. Und  durch,  das  Gesetz  über  den 
Handwerksbetrieb  vom  15.  Juli  1839  wurde 
auch  die  norwegische  Gesetzgebung  unter 
Anerkennung  der  Grundsätze  der  Gewerbe- 
freiheit reformiert.  Dieses  Gesetz  und  die 
V.  V.  19.  August  1845  geben  den  Hand- 
werksbetrieb auf  dem  Lande  überhaupt  frei ; 
nur  einige,  nicht  wesentliche  Beschräntungen 
wurden  beibehalten.  Die  alten  Zünfte  'wur- 
den freilich  nicht  gesetzlich  aufgehoben ;  sie 
konnten  aber  durch  den  einstimmigen  Be- 
schluss  sämtüchei  Meister  oder  durch  Tod 
oder  Austritt  der  Mitglieder  aufgelöst  weixien. 
Der  Zunftzwang  wiutie  für  die  noch  be- 
stehenden Zünfte  beibehalten,  hörte  aber 
mit  ihnen  nach  und  nach  auf.  Das  Büi^r- 
recht  war  dagegen  als  Bedingimg  für  den 
selbständigen  städtischen  Gewerbebetrieb 
als  Meister  allgemein  vorgescluieben.  Die 
Meister-  und  Gesellenprüfungen  wiuxien  für 
die  zimftmässig  organisierten  Handwerke 
beibehalten;  aber  nicht  die  früheren  Vor- 
schriften tiber  eine  bestimmte  Lehr-  und 
Gesellenzeit.      Die     volle    Gewerbeh^eiheit 


Gewerbegesetzgebung  (Skaadinavien) 


487 


wimle  durch  das  noch  geltende  G.  v. 
14.  April  1866  eingeführt,  und  das  spätere 
G.  V.  25.  April  1874,  welches  die  noch  be- 
stehenden Beschränkungen  des  Gewerbe- 
betriebs auf  dem  Ijande  im  allgemeinen  auf- 
hob, sowie  diejenigen  v.  15.  Juni  1881  und 
V.  12.  Mai  1888  gehen  in  derselben  Richtung. 

3.  Die  dänische  Gesetzgebung.  In 
Dänemark  ist  das  Gildenweseu  von  weit 
grosserer  Bedeutung  gewesen  als  in  den 
anderen  skandinavischen  Ländern.  Schon 
fnih  wurde  der  Gewerbebetrieb  durch  Zunft- 
ordnungen auf  die  Städte  beschränkt  imd 
diufhgehend  zunftmässig  organisiert.  Das 
dänische  Gesetzbuch  von  1683  gab  im  all- 
gemeinen den  Städten  das  ausschliessliche 
Kecht  auf  den  Betrieb  von  Gewerben;  nur 
der  Betrieb  einzelner  Handwerke  war  auch 
auf  dem  Lande  gestattet.  Diejenigen,  welche 
dasselbe  Handwerk  betrieben,  bildeten  eine 
Zunft  (»Laug«),  die  sich  selbst  ihre  Statuten 
gab,  wenn  auch  königliche  Bestätigung 
diesen  Statuten  nötig  war.  Der  Betrieb  von 
städtischen  Gewerben  war  überhaupt  den 
Zünften  ausschliesslich  vorbehalten;  nur 
ausnahmsweise  wurde  auch  nichtzünftigen 
Personen,  welche  das  Bürgerrecht  erworben 
hatten,  durch  königliche  Dispensationen  ge- 
stattet, ein  Handwerk  zu  betreiben.  Auch 
geschlossene  Zünfte,  welche  in  Schweden 
schon  im  Jahre  1669  verboten  wurden, 
kamen  in  Dänemark  vor,  es  waren  ihrer 
jedoch  stets  nur  wenige.  Das  dänische 
Zunftwesen  war  mit  sehr  sorgfältig  regu- 
lierten Gesellen-  und  Meisterprüfungen  ver- 
bunden ;  bestimmte  Lehriahre  waren  jedoch 
nicht  vorgeschrieben.  Nach  diesen  Grund- 
sätzen war  das  dänische  (norwegische)  Zunft- 
wesen durch  die  allgemeinen  YV.  v.  23.  De- 
zember 1681  und  V.  6.  Mai  1682  eingerichtet. 
Die  strenge  zunftmässige  Organisation  des 
Handwerksbetriebes  wurde  schon  d\u*ch  die 
V.  V.  21.  März  1800  ein  wenig  moderiert, 
indem  der  Lehrzwang  aufgehoben  und  denen, 
welche  vier  Jahre  als  Gesellen  gearbeitet 
hatten,  das  Recht  erteilt  wurde,  als  Frei- 
meister ihr  Handwerk  zu  betreiben.  Die 
Preimeister  konnten  auch  ihre  Gew^erbe  aus- 
üben, ohne  in  eine  Zunft  aufgenommen  zu 
werden.  Nachdem  das  dänische  Grundgesetz 
von  1849  (§  83)  den  Grundsatz  festgestellt 
hatte,  dass  adle  Beschränkungen  derGewerbe- 
freibeit,  die  das  Gemeinwohl  nicht  forderte, 
gesetzlich  aufgehoben  werden  sollten,  hob 
das  G.  V.  29.  Dezember  1857  das  alte  Zimft- 
recht  auf  und  setzte  eine  neue  Gewerbe- 
ordnung fest,  die  nach  den  Grundsätzen  der 
Gewerbefreiheit  ausgearbeitet  worden  war. 
Dieses  Gesetz  ist  noch  heute  geltend,  wenn 
auch  in  einigen  Beziehungen  durch  die  GG. 
V.  23.  Mai  1873  und  30.  März  1889  ergänzt. 

4.  Das  Prineip  der  Gewerbefreiheit 
und  seine  Beschränkung.     Die  heutigen 


skandinavischen  Gewerbeordnungen  beruhen 
auf  dem  Grundsatze  der  Gewerbefreiheit; 
diese  ist  jedoch  durch  mehrere  specieUe  Be- 
stimmungen mehr  oder  weniger  beschränkt. 
Die  geltenden  Gesetzgebungen  haben,  wie 
schon  angedeutet  worden  ist,  die  älteren 
Beschränkungen  des  Gewerbebetriebs  be- 
seitigt. Die  Zünfte  sind  überhaupt  auf- 
gehoben worden  —  nur  in  Dänemark  be- 
stehen noch  einige  Zünfte  als  freie  Innun- 
gen —  es  giebt  keinen  Zunftzwang  mehr 
und  die  Meisterprüfungen  sind  nicht  mehr 
erforderlich.  Das  frühere  Vorzugsrecht  der 
Städte  ist  aufgehoben.  In  Dänemark  dürfen 
jedoch  Goldschmiede  und  Buchdnicker  nicht 
ohne  vorgängige  Genehmigung  des  Mi- 
nisteriums sich  auf  dem  Lande  niederlassen, 
und  mehrere  Handwerksgewerbe  dürfen  nur 
in  einer  gewissen  Entfernung  von  den 
Städten  betrieben  werden.  In  Schweden  war 
die  Anlegung  einer  Buchdruckerei  in  grösserer 
Entfernung  von  einer  Stadt  als  5  Kilometer 
bis  zum  Jahre  1900  verboten ;  nunmehr  kann 
man  Druckereien  auch  in  den  Marktflecken 
(Köpingarne)  anlegen.  In  mehreren  Be- 
ziehungen gelten  übrigens  noch  etwas  ver- 
schiedene Regeln  über  den  Gewerbebetrieb 
in  den  Städten  und  auf  dem  Lande. 

Gegenwärtig  steht  es  in  den  skandina- 
vischen Ländern  jeder  physischen  Person 
vollständig  frei:  1.  Gewerbe  waren  für  den 
Hausbedarf  zu  verfertigen  und  2.  Gewerbe 
nur  mit  Beihilfe  der  Frau  imd  der  im  Hause 
wohnenden  Kinder  zu  betreiben.  Den 
schwedischen  Landleuten  ist  auch  die  Ver- 
fertigung von  Gewerbewaren  mit  Beihilfe 
vom  Gesinde  ohne  weiteres  erlaubt. 

Um  ein  stehendes  Gewerbe  mit  anderen 
Hilfspersonen  als  den  oben  genannten  in 
Schweden  zu  betreiben,  werden  von  den 
Schweden  und  den  im  Lande  ansässigen 
Norwegern  (G.  v.  4.  Juni  1868)  nur  Besitz 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  (Unbescholten- 
heit), Dispositionsfähigkeit  und  Meldung  bei 
den  zuständigen  Behörden  erfordert.  Unter 
denselben  Bedingungen  steht  der  Betrieb 
auch  Frauen  offen;  wenn  sie  verheiratet 
sind,  muss  der  Ehemann  ausserdem  Erlaub- 
nis zum  Gewerbebetrieb  geben  und  für  die 
Verbindlichkeiten,  welche  die  Frau  eingeht, 
sich  verbürgen.  Mit  der  gleichen  Erlaub- 
nis und  Verbürgung  des  Vormundes  kann 
auch  ein  Minderjähriger  Gewerbe  betreiben. 
Besondere  Kenntnisse  werden  von  dem  Ge- 
werbetreibenden gefordert,  wenn  das  Ge- 
werbe feuergefährlich  ist  oder  eine  Gefahr 
für  Leben  und  Gesundheit  mit  sich  führt. 
—  Ausländer  (Mann  oder  Frau)  sind,  wenn 
ihr  Gewerbebetrieb  nicht  durch  Konventionen 
besonders  reguliert  worden,  nur  dann  be- 
rechtigt, Gewerbe  zu  betreiben,  wenn  sie 
dispositionsfähig  und  unbescholten  sind, 
sichere   Bürgen   für   die  Erlegung  der  an 


488 


Gewerbegesetzgebung  (Skandinavien) 


Staat  und  Gemeinde  zu  entrichtenden  Ab- 
gaben jedesmal  für  drei  Jahre  stellen  und 
besondere  Erlaubnis  zum  Gewerbebetrieb  von 
dem  König  erhalten  (G.  v.  18.  Juni  1864, 
§§  26—31,  G.  V.  20.  Juni  1879). 

In  Norwegen  und  in  Dänemark  muss 
man  in  Beziehung  auf  die  Befugnis  zum 
Gewerbebetriebe  zwischen  freien  und  ge- 
bundenen Gewerben  unterscheiden.  Für  den 
Betrieb  der  erstgenannten  ist  keine  be- 
sondere Erlaubnis  erforderlich.  Der  Betrieb 
der  gebundenen  Gewerbe  hängt  aber  von 
einer  öffentlichen  Anerkennung  der  Befug- 
nis ab*  diese  Anerkennung  wird  entweder 
durdi  Bürgerrecht  oder  durch  einen  Nah- 
rungsschein (»naeringsbrev«)  gegeben.  In 
Dänemark  wird  durch  Gesetz  oder  specielle 
Yerordnungen  (*Vedtaegter«)  bestimmt, 
welche  Gewerbe  zu  den  fi'eien  oder  ge- 
bundenen zu  rechnen  sind.  In  Norwegen 
sind  sowohl  die  Fabrikbetriebe  in  den 
Städten  wie  auch  alle  Gewerbe  auf  dem 
Lande  frei.  In  den  norwegischen  Städten 
sind  dagegen  im  allgemeinen  die  Hand- 
werke gebundene  Gewerbe  und  der  Betrieb 
derselben  ist  von  dem  Erwerb  des  Bürger- 
rechts abhängig.  Das  Bürgerrecht  kann  nur 
Männern  erteilt  werden ;  es  kann  aber  nicht 
verweigert  werden,  wenn  der  Ansucher 
1.  norwegischer  Staatsbürger,  2.  mündig, 
3.  unbescholten  und  4.  in  der  Stadt,  wo  er 
das  Bürgerrecht  erwerben  will,  wohnhaft 
ist.  Das  Bürgerrecht  kann  jedoch  nicht 
Staatsbeamten  oder  Polizei-  und  ZoUoffi- 
zianten  erteilt  werden.  Der  ^Minderjährige 
kann  auch  Bürgerrecht  erwerben,  wenn  er 
die  Einwilligung  des  Vormundes  erhalten 
hat.  Der  Bürgerrechtsbrief  verliert  seine 
Giltigkeit  durch  längere  Unterbrechung  der 
Ausübung  des  Gewerbes  (G.  v.  4.  Juli  1884). 
Witwen  und  geschiedenen  Frauen  wie  auch 
unverheirateten  Frauen,  die  21  Jahre  alt 
sind,  steht  in  den  Städten  das  gleiche  Ge- 
werberecht wie  Männern  zu,  wenn  sie  un- 
bescholten und  in  der  Stadt  ansässig  sind. 
Sie  werden  durch  Nahnmgsscheine  zum  Ge- 
werbebetriebe berechtigt. 

In  den  dänischen  Städten  ist  gleichfalls 
eine  besondere  Befugnis  nötig,  um  gebundene 
Gewerbe  ausüben  zu  dürfen.  Diese  Be- 
fugnis wird  Männern  durch  Bürgerrecht  und 
Frauen  (Witwen,  geschiedenen  Frauen  oder 
unverheirateten  Frauen,  die  das  Alter  von 
25  Jahren  erreicht)  durch  Nahrungsscheine 
erteilt.  Zum  Gewerbebetriebe  auf  dem 
Lande  erhält  man  die  Berechtigung  durch 
einen  Nahrungsschein.  Die  Bedingungen, 
unter  denen  man  Bürgerrecht  oder  einen 
Nahrungsschein  sich  verschaffen  kann,  sind 
folgende:  Der  Ansucher  muss  1.  dänisches 
Indigenatsrecht  besitzen  oder  wälirend  einer 
Zeit  von  fünf  Jahren  im  Lande  gewohnt 
und  in  dieser  Zeit  seinen  Unterhalt  ehrlich 


erworben  haben  (G.  v.  23.  Mai  1873,  §  1), 
2.  volljährig  sein,  3.  seine  Masse  dem  Kon- 
kursgericht nicht  überlassen  haben. 

Nach  der  obigen  Darstellung  unterliegt 
in  jedem  skandinavischen  Lande  der  stehende 
Gewerbebetrieb  meistens  einer,  wenn  auch 
sehr  verschiedenartigen  Anzeigepflicht.  An- 
dere rechtliche  Beschränkungen  der  Befug- 
nis zum  Gewerbebetriebe  kommen  wohl 
auch  vor;  diese  beziehen  sich  aber  nur  auf 
einige  besondere  Gewerbszweige  und  wer- 
den von  Gesichtspunkten  der  öffentlichen 
Sicherheit,  Sittlichkeit  und  Wohlfaihrt  be- 
herrscht. Die  Regelung  hat  teils  die  Be- 
fugnis zum  Gewerbebetriebe,  teils  die  Aus- 
übung desselben  zum  Gegenstande. 

Im  allgemeinen  ist  die  Zulassung  der- 
jenigen gewerblichen  Anlagen,  welche  ge- 
sundheitsgefährlich sind  oder  durch  Lage 
und  Beschaffenheit  erhebliche  Nachteile,  Ge- 
fahren und  Belästigungen  für  die  Nachbarn 
oder  das  Publikum  mit  sich  bringen,  z.  B. 
Schiesspulverfabriken,  Anlagen  zur  Her- 
stellung von  explosiven  und  feuergefähr- 
lichen Stoffen    (schw.  G.  v.  19.  November 

1897,  norweg.  G.  v.  10.  und  19.  Dezember 

1898,  dän.  G.  V.  1.  April  1894),  Düngpulver- 
fabriken ,  Knochenmühlen ,  Leimsiedereien, 
Gerbereien  etc  von  einer  vorgängigen  be- 
hördlichen Prüfung  und  Genehmigimg  ab- 
hängig. Die  Anlage  und  Benutzung  von 
Schlächtereien  sind  auch  aus  ähnlichen 
Gründen  rechtlichen  Beschränkungen  unter- 
worfen. In  neuester  Zeit  sucht  die  Gesetz- 
gebung aller  dreier  Länder  das  genannte 
Ziel  zu  erreichen,  indem  die  Gesetze  die 
Errichtimg  öffentlicher  Schlachthäuser  be- 
fördern und  den  einzelnen  Gemeinden  die 
Einführung  einer  obligatorischen  Fleischbe- 
schau überlassen  (schw.  G.  v.  22.  Dezember 
1897,  norweg.  G.  v.  27.  Juni  1892  und  26. 
Jimi  1893,  dän.  G.  v.  12.  Januar  1858,  28. 
März  1868). 

Für  den  Betrieb  einzelner  Gewerbe  sind 
ausserdem  besondere  Einschränkungen  und 
Bedingungen  gesetzlich  vorgeschrieben.  Hier 
können  nur  die  wichtigsten  angefülirt  werden. 

Die  Branntweinfabrikation  ist  in 
mehreren  Beziehungen  streng  reguliert 
(schw.  G.  V.  13.  Juli  1887,  norw.  G.  v.  28. 
Juni  1887,  dän.  G.  v.  1.  April  1887).  Brannt- 
weinbrennerei für  den  Hausbedarf  ist  in 
allen  skandinavischen  Ländern  verboten ;  sie 
kann  in  Schweden  und  in  Norwegen  nur 
in  grösserem  Umfange  betrieben  werden.  In 
Norwegen  ist  die  Branntweinfabrikation  von 
einer  vorgängigen  Meldung  über  die  An- 
legimg und  den  Beginn  des  Betriebes  ab- 
hängig. In  Dänemark  ist  für  die  Anlegung 
von  Branntweinbrennereien  Erwerb  des 
Bürgerrechts  (in  den  Städten)  oder  eines 
Nahrungsscheins  (auf  dem  Lande)  erforder- 
lich; nur  wenn  jemand  eine  Brennerei  in 


Gewerbegesetzgebimg  (Skandinavien) 


489 


geringerer  Entfernung  von  einer  Stadt  als 
7,5  Kilometer  treiben  will,  ist  eine  besondere 
königliche  Genehmigung  (»bevilling«)  vorge- 
schrieben. In  Schweden  steht  die  Brannt- 
weinbrennerei denen,  welche  die  QuaUfika- 
tionen  für  den  Fabrikbetrieb  haben,  imd  auf 
dem  Lande  mit  wenigen  Ausnahmen  eben- 
so jedem  unbescholtenen  Grundbesitzer  und 
Landwirte  zu.  In  Schweden  wie  auch  in 
Norwegen  sind  jedoch  gewisse  Beamte  vom 
Betriebe  der  Branntweinfabrikation  ausge- 
schlossen. So  oft  bei  einer  schwedischen 
Brennerei  die  Fabrikation  begonnen  wird, 
ist  vorgängige  Meldung  und  behördliche  Er- 
laubnis nötig.  Die  Ausübung  der  Brannte 
Weinfabrikation  ist  übrigens  aus  fiskalischen 
Gründen  einer  sehr  scharfen  Kontrolle  unter- 
worfen. —  Aus  denselben  Motiven  sind  die 
Fabrikation  von  Zucker  aus  Run- 
kelrüben in  Schweden  und  in  Dänemark 
und  die  Malzbereitung  in  Norwegen 
gewissen  Beschränkungen  und  Kontrollen 
unterstellt.  Die  Fabrikation  von  künst- 
licher Butter  (Margarine)  ist  sowohl  in 
Schweden  (G.  v.  1.  Juli  1898)  wie  in  Däne- 
mark (G.  V.  5.  April  1880,  v.  1.  April  1890, 
V.  22.  März  1897)  konzessionspflichtig.  Die 
Anlegung  von  Eisenwerken  ist-  im  all- 
gemeinen frei,  in  Norwegen  wird  jedoch 
für  die  Anlegimg  grösserer  Eisenwerke 
königliche  Genehmigung  erfordert  (Bergges. 
V.  14.  Juli  1842  §  28).  Der  Betrieb  einer 
Buchdruckerei  ist  nicht  nur  von  Mel- 
dungen bei  den  Behörden  abhängig,  sondern 
auch  durch  mehrere  specieUe  Vorschriften 
reguliert.  Der  Betrieb  des  Apotheker- 
gewerbes ist  an  zweierlei  Bedingungen 
geknüpft.  Keine  Apotheke  kann  angelegt 
werden,  ohne  von  dem  Könige  privilegiert 
zu  sein;  die  Privilegien  sind  jedoch  nun- 
mehr nur  persönlich.  Andererseits  ist  es 
nur  denjenigen,  welche  nach  Prüfung  ein 
Zeugnis  der  Befähigung  erhalten  haben,  er- 
laubt, mit  diesem  Gewerbe  sich  zu  be- 
schäftigen. Einer  solchen  Approbation  be- 
dürfen auchAerzte,  Hebammen,  Seeschiffer, 
Seesteuerleute,  Maschinisten  auf  Seedampf- 
schiffen etc.  Die  sogenannten  Strassen- 
gewerbe  wie  auch  die  Schornsteinfeger-  und 
Pfandleihergewerbe  unterliegen  in  Bezug 
auf  Zulassung  zum  Gewerbebetrieb  und  der 
Ausübung  desselben  einer  mehr  oder  we- 
niger strengen  Regelung  durch  die  Orts- 
pohzeibehöiäe.  Für  eine  öffentliche  Yer- 
anstaitung  von  Singspielen,  theatralischen 
Vorstellungen,  Schaustellungen  etc.  ist  eine 

Sjrsönliche  Konzession  oder  wenigstens  eine 
eldung  nötig  etc. 
5.  Der  Gewerbebetrieb  im  Umher- 
ziehen. In  Norwegen  ist  es  im  allgemeinen 
jedem  norwegischen  ünterthan  erlaubt,  die 
Waren,  welche  er  selbst  produziert,  auch  im 
umherziehen   ausserhalb   seines  Wohnortes 


feilzubieten  und  zu  verkaufen.  In  Däne- 
mark und  in  Schweden  ist  die  Ausübung 
des  Hausierbetriebs  weitgehenden  Beschrän- 
kungen unterworfen.  Nm*  der  Verkehr  mit 
den  Erzeugnissen  der  Landwirtschaft 
uud  der  Hausarbeit  steht  auch  im  umher- 
ziehen frei,  üebrigens  ist  in  Dänemark  das 
Feilbieten  von  Waren  im  umherziehen 
(»bissekramhandel«)  mit  wenigen  Ausnah- 
men verboten  (Reskr.  v.  14.  Februar  1741). 
In  Schweden  kann  nur  ein  schwedischer 
Staatsbürger  zum  Gewerbebetriebe  im  Um- 
heraiehen  (»gärdfarihandel«)  bereditigt  wer- 
den; einen  Ausländer  kann  man  nicht  ein- 
mal bei  solchem  Betriebe  als  Hilfsperson 
verwenden.  Wer  ausserhalb  seines  Wohn- 
ortes Gewerbebetrieb  im  Umherziehen  aus- 
üben will,  bedarf  dazu  eines  auf  die  Person 
ausgestellten  und  für  bestimmte  Zeit,- 
höchstens  das  Kalenderjahr,  giltigen  Legiti- 
mationsscheines, welcher  nur  nach  vor- 
herigem Nachweis  nicht  nur  der  önbe- 
scholtenheit  und  der  Dispositionsfähigkeit, 
sondern  auch  der  Redlichkeit  und  Zuver- 
lässigkeit des  Ansuchers  und  seiner  Ge- 
hilfen ausgestellt  werden  kann  und  den 
die  Behörden,  wenn  genügende  Gründe 
dazu  vorhanden  sind,  widerrufen  kann.  Für 
den  Marktverkehr  bestehen  besondere  Be- 
stimmungen. 

6.  Die  Behörden  und  das  Verfahren 
in  Gewerbesachen.  Die  vorgeschriebenen 
Meldungen  eines  gewöhnlichen  Gewerbes 
sollen  in  den  schwedischen  Städten  bei  dem 
Magistrate  —  in  Stockholm  bei  dem  Ober- 
statthalteramte —  auf  dem  Lande  bei  dem 
Landeshauptmanne  ( —  »Konungens  BefaU- 
ningshafvande«  — )  gemacht  werden.  Für 
den  Betrieb  einiger  Gewerbe  sind  jedoch 
auch  gemeindebehördhehe  Genehmigungen 
erforderlich.  Und  für  die  Anlegung  und 
den  Betrieb  einiger  anderen  Gewerbe  hat 
das  Gesetz  Meldung  bei  oder  Ei-laubnis  von 
einer  höheren  Behörde  vorgeschrieben.  So 
muss  man  die  Anlegung  und  den  Betrieb 
eines  Eisenwerkes  bei  dem  Kommerzkolle- 
gium, die  Anlegung  oder  den  Betrieb  einer 
Buchdruckerei,  Branntweinbrennerei,  Mar- 
garinefabrik etc.  bei  dem  Landeshauptmanne 
melden.  Der  Ausländer  bedarf  stets  einer 
Erlaubnis  des  Königs  zum  Gewerbebetriebe. 

In  Norwegen  und  in  Dänemark  werden 
das  Bürgerrecht  und  die  Nahrungsscheine 
in  den  Städten  von  den  Magistraten,  auf 
dem  Lande  von  den  Vögten  (in  Norwegen) 
und  den  Polizeimeistern  (in  Dänemark)  er- 
teilt. In  den  nicht  wenigen  Fällen,  wo  eine 
besondere  Meldung  oder  Genehmigung  zum 
Gewerbebetriebe  nötig  ist,  kann  auch  eine 
andere  Behörde  als  che  erwähnte  gesetzlich 
berechtigt  sein,  die  Meldungen  anzunehmen 
oder  die  Genehmigungen  zu  erteilen.  Solche 
Berechtigung  steht  nicht  selten  den  Polizei- 


490 


Gewerbegesetzgebung  (Skandinavien — Russland) 


behörden  zu,  sie  ist  auch  bisweilen  höheren 
Behörden,  dem  Amtmanne,  dem  Minister 
oder  dem  Könige  vorbehalten  worden. 

Gegen  die  Entscheidungen  über  die  Be- 
rechtigimg zum  Gewerbebetriebe,  die  in 
erster  Instanz  erteilt  worden  sind,  ist  zwai* 
in  allen  drei  Ländern  Rekurs  an  die  nächst- 
vorgesetzte Behörde  und  in  höchster  Instanz 
an  die  Regierung  zulässig.  Nur  in  Schweden 
ist  jedoch  fftr  solche  administrativen  Fragen 
ein  geordnetes  Instanzsystem  und  eine 
bestimmte  Beschwerdeordnung  vollständig 
durchgefülirt. 

Litteratnr:  Für  alle  drei  Länder:  H, 
BUnnhet^gf  Den  nordiska  fÖrvallningsräUen 
(Das  nord.  Verwaüungsrecht),  S»  299 ff.,  £j0ben- 
havn  18S7 — 89.  —  LundeU,  Om  handtverke- 
skr  an,    näringsfrihet    och    arheteU    Organisation 

-  (Von  Zünften,  Gewerhefreiheit  und  der  Organi- 
sation der  Arbeit),  Land  1846.  —  ^ür  Schwe- 
den: Th,  RabenitiSf  Handbok  i  Sveriges 
gällande  ßirvaltningsrätt  (Handbuch  des  geltenden 
schwed.  Verwaltungsrechts),  IIS.  208 ff.,  Upsala 
1871.  —  Für  Norwegen:  D.  SchniUerf 
Fremstilling  af  den  Norske  Politilovgivning  (Die 
Darstellung  der  norweg.  Polizeigesetzgebung), 
Kristiania  1870,  S.  292 ff.,  SS6ff.,  488 ff.  —  Für 
Dänemark:  A,  W»  Scheel  ^  Personretten 
(Personenrecht),  2.  A%isg.,  Kj0benhavn  1876,  S. 
583  ff.  —  «7.  H,  DeuntzeVy  Kort  Fremstilling 
af  den  danske  Näringsret  (Kurze  Darstellung 
des  dän.  Gew erber echis)  2.  Ausg.,  Kj0benhavn 
1890.  —  Falbe~ Hansen  und  Will,  Schar- 
ling,  Danmarks  Statistik  (Di£  Statistik  Däne- 
marks), JI  S.  U^ff. 

Upsala.  Hugo  Bloniberg, 


IX.  Die  Oewerbegesetzgebung  in 

Rnssland. 

1.  Begriflf.  2.  Gewerbefreiheit.  3.  Aus- 
nahmen: Juden  und  Aktiengesellschaften.  4. 
Gewerbliche  Anlagen.  5.  Persönliche  Beschrän- 
kungen der  Befugnis  zum  Gewerbebetrieb.  6. 
Beschränkungen  der  Ausübung  der  Gewerbe. 
7.  Der  Branntweinhandel.  8.  Märkte  und  Bör- 
sen. 9.  Zünfte.  10.  Behörden  für  Handel  und 
Gewerbe. 

1.  Begriff.  Die  russischen  Gesetze  be- 
dienen sich  des  russischen  Wortes  für  Ge- 
werbe, um  die  Fabrikinduslrie  und  das 
Handwerk  zusammenzufassen ;  soll  auch  von 
Handel  und  Schiffahrt  die  Rede  sein,  so 
werden  die  russischen  Worte  für  Handel 
und  Gewerbe  nebeneinander  gestellt. 

Im  Anschluss  an  den  Sprachgebrauch  der 
deutschen  Rechtswissenschaft  ist  hier  in- 
dessen der  Ausdruck  Gewerbe  weiter  ge- 
fasst  und  wird  hier  unter  russischem  Ge- 
werberecht derjenige  Teil  des  russi- 
schen Verwaltungsrechts  vorstanden, 
der  den  Betrieb  von  Handel  und  Ge- 
werbe betrifft. 

Nicht  erstreckt  sich  das  Gewerberecht 
auf    die   Land^virtschaft    und   ihre   Neben- 


zweige, nicht  auf  den  Bergbau,  auf  die 
Eisenbahnen,  auf  die  Ausübimg  der  Ktuiste 
und  die  Pflege  der  Wissenschaften.  In  der 
folgenden  Darstellung  werden  ferner  über- 
gangen die  Rechtsnormen  über  die  Staats- 
gewerbe und  das  Spielkartenmonopol,  denn 
sie  gehören  ins  Finanzrecht;  über  das  Me- 
dizinalwesen und  die  Apotheken,  denn  sie 
gehören  in  das  Recht  der  Gesundheitspflege ; 
über  die  Rechtsverhältnisse  der  gewerb- 
lichen Arbeiter,  denn  diese  sind  bereits  im 
Art.  Arbeiterschutzgesetzgebung 
in  Russland  dargestellt  (ä.  oben  Bd.  I 
S.  571  ff.);  und  über  die  Pressgewerbe  und 
den  Gewerbebetrieb  derjenigen  Personen, 
die  aus  politischen  Gründen  unter  Polizei- 
aufsicht gestellt  worden  sind,  denn  diese 
Rechtssätze  fallen  in  das  Gebiet  der  Sicher- 
heitspolizei. 

2.  Gewerbefreiheit  In  Russland  be- 
steht nicht  niu*  heute  Gewerbefreiheit, 
sondern  hat  auch  immer  Gewerbefreiheit 
bestanden.  Das  Zunftwesen  des  Mittelalters 
ist  Russland  fremd  geblieben,  und  die  Hand- 
werkerzünfte und  Kaufmannsgilden,  welche 
von  Peter  dem  Grossen  und  Katharina  II. 
ins  Leben  gerufen  wurdeu,  haben  eine  Be- 
deutung für  Handel  und  Gewerbe  nie  be- 
sessen und  sich  nur  als  ständische  Selbst- 
verwaltungskörper der  Armenpflege  erhalten. 
Nicht  übersehen  darf  man  freilich,  dass  die 
grosse  Masse  des  russischen  Volkes  bis  zum 
19.  Februar  1861  leibeigen  war;  der  Leib- 
eigene bedurfte  natürlich  zum  Gewerbebe- 
trieb der  Erlaubnis  seines  Herrn.  Aber  er- 
hielt er  diese  Erlaubnis,  so  konnte  er  so 
gut  wie  jeder  Freie  den  Beruf  des  Hand- 
werkers, des  Fabrikanten,  des  Kaufmanns 
ergreifen,  und  wenn  er  als  Unfreier  auch 
die  öffentlichrechtlichen  Privilegien  des 
Kaufmanns  nicht  genoss,  also  z.  B.  nicht 
von  der  Körperstrafe  oder  von  der  Wehr- 
pflicht eximiert  war,  —  das  Recht  des  Ge- 
werbebetriebes war  ihm  nicht  verkümmert. 
Und  ebenso  un verwehrt  war  der  Gewerbe- 
betrieb auch  Ausländern.  —  In  der  Reform- 
ära Kaiser  Alexanders  II.  ward  unter 
anderem  auch  die  Gewerbesteuer  umge- 
staltet. Das  neue  Steuergesetz  vom  1.  Januar 
1863  enthielt  im  Art.  21  die  Regel,  dass 
die  Handels-  und  Gewerbescheine  Personen 
beiderlei  Geschlechts  und  zwar  sowohl  nissi- 
schon  Unterthanen  jeden  Standes  als  auch. 
Ausländern  gegeben  werden.  Diese  Regel 
war  aber  nicht  ausnahmefrei,  den  Juden 
z.  B.  blieb  die  Gewerbefreiheit  nach  wie  vor 
vei-sagt;  und  vor  allem,  sie  war  nicht  neu, 
die  Gewerbefreiheit  bestand  schon  vor  1863. 

Anders  in  den  baltischen  Provinzen.  Als 
Livland  noch  zum  deutschen  Reich  gehörte, 
thaten  sich  in  seinen  Städten  die  deutschen 
Genossen  in  Handwerk  und  Handel  nach 
der  Weise  ihrer  Landsleute  zu  Gilden  und 


Gewerbegesetzgebung  (Russland) 


491 


Zünften  zusammen,  und  erst  unter  russischer 
Herrschaft  büssten  diese  Korporationen  ihre 
wirtschaftlichen  Privilegien  ein,  allmählich, 
Schritt  ftlr  Schritt,  bis  endlich  das  G.  v.  4. 
Juli  1866  den  schon  vielfach  durchlöcherten 
Zunftzwang  völlig  beiseite  warf. 

3.  Ausnahmen :  Juden  nnd  Aktienge- 
sellschalten.  Die  Begel  ist,  dass  jeder- 
mann die  Befugnis  hat,  Handel  und  Ge- 
werbe zu  treiben. 

Yon  dieser  Regel  giebt  es  zwei  wichtige 
Ausnahmen ;  die  erste  derselben  betrifft  die 
Juden,  die  zweite  die  Aktiengesellschaften. 

1.  Juden  gemessen  in  Russland  weder 
IVeizügigkeit  noch  Gewerbefreiheit.  Ein 
Jude  ist  nach  russischem  Recht  ein  Bekenner 
des  jüdischen  Glaubens ;  tritt  ein  Jude  zum 
Christentum  über,  so  ist  er  rechtlich  kein 
Jude  mehr;  der  Religionswechsel  befreit 
also  von  den  Beschränkungen  der  Juden- 
gesetze, aber  auch  nur  der  Religionswechsel. 

Die  Rechtssätze  über  die  Befugnis  der 
Juden  zum  Gewerbebetriebe  sind  verschieden, 
je  nachdem  es  sich  um  Ausländer  oder  um 
nissische  ünterthanen  handelt  und  je  nach- 
dem die  letzleren  im  Judengebiet  wohnen 
oder  ausserhalb  desselben. 

a)  Juden,  welche  russische  ünterthanen 
sind,  geniessen  Gewerbefreiheit  und  Frei- 
ziigigkeit  innerhalb  eines  bestimmten  Teils 
des  nissischen  Staatsgebietes;  es  sind  die 
Gouvernements  Witebsk,  Wilna,  Kowno, 
Grodno,  Minsk,  Wolhynien,  Podolien,  Bessara- 
bien,  Mohilew,  Poltawa,  ischemigow,  Jeka- 
terinoslaw,  Cherson,  Taurien  und  Kiew,  mit 
Ausnahme  der  Stadt  Kiew. 

b)  Ausserhalb  dieses  Judengebietes  dürfen 
Juden  in  der  Regel  Handel  und  Gewerbe 
nicht  treiben. 

Indessen  erstreckt  sich  diese  Regel  nicht 
auf  Juden,  die  bereits  fünf  Jahre  innerhalb 
des  Judengebietes  einen  Grosshandel  be- 
trieben haben,  diese  geniessen  Gewerbefrei- 
heit auch  ausserhalb  des  Judengebietes. 
Und  eine  zweite  Ausnahme  ist  diese,  dass 
alle  Juden  auch  ausserhalb  des  Judenge- 
bietes ein  Handwerk  treiben  dürfen,  wenn 
sie  dasselbe  in  einer  Zunft  erlernt  oder  ihre 
Befähigung  auf  andere  Weise  dargethan 
haben. 

Von  dieser  zweiten  Ausnahme  ist  neuer- 
dings, durch  G.  v.  28.  März  1891,  wieder 
eine  Ausnahme  gemacht  worden;  in  das 
Gouvernement  Moskau  dürfen  auch  jüdische 
Handwerker  nicht  mehr  übersiedeln,  und 
selbst  diejenigen  jüdischen  Handwerker,  die 
auf  Grund  des  früheren  Rechts  im  Gouver- 
nement Moskau  ansässig  geworden  sind  und 
hier  ihr  Gewerbe  treiben,  sind  zwangsweise 
in  das  Judengebiet  zurückzubefördern. 

c)  Juden,  die  nicht  russische  ünterthanen 
sind,  dürfen  in  Russland  nur  dann  Handel 
und  Gewerbe  treiben,  wenn  sie  bereits  in 


ihrer  Heimat  eine  angesehene  gesellschaft- 
liche Stellung  errungen  und  einen  bedeuten- 
den Umsatz  erzielt  haben,  und  auch  dann 
nur  mit  der  Erlaubnis  dreier  Minister:  des 
Finanzministers,  des  Ministers  des  Innern 
und  des  Ministers  des  Auswärtigen. 

2.  Aktiengesellschaften  sind  eben- 
falls nicht  ohne  weiteres  befugt,  in  Russland 
Handel  und  Gewerbe  zu  treiben.  Russische 
Aktiengesellschaften  haben  diese  Befugnis 
nur  dann,  wenn  sie  ihnen  in  ihrem  Statut 
gegeben  ist,  und  nur  in  dem  Masse,  als 
dies  im  Statut  geschehen  ist;  das  Statut 
aber  muss  vom  Kaiser  bestätigt  sein.  Das- 
selbe gut  nun  auch  für  ausländische  Aktien- 
gesellschaften, auch  diese  können,  nach  dem 
G.  V.  9.  November  1887,  auf  russischem 
Staatsgebiet  in  der  Regel  nur  dann  Handel 
und  Gewerbe  treiben,  wenn  und  soweit 
ihnen  die  Befugnis  durch  fein  Statut  einge- 
räumt ist,  das  der  Kaiser  von  Russland  be- 
stätigt hat.  und  dies  soll  selbst  für  die 
Aktiengesellschaften  derjenigen  Staaten 
gelten,  denen  Russland  versprochen  hat, 
ihren  Aktiengesellschaften  dieselben  Rechte 
zu  gewähren,  welche  diese  den  russischen 
Aktiengesellschaften  zugestehen  i).  —  Nur 
diese  Ausnahme  giebt  es:  wenn  eine  aus- 
ländische Aktiengesellschaft  ihre  Thätigkeit 
in  Russland  darauf  beschränkt,  dass  sie  Er- 
zeugnisse verkauft,  welche  im  Auslande 
hergestellt  worden  sind,  oder  wenn  sie 
Reederei  treibt,  so  bedarf  sie  nach  dem  G. 
V.  8.  Juli  1888  eines  russischen  Statuts  und 
einer  Erlaubnis  des  russischen  Kaisers 
nicht.  — 

4.  Gewerbliche  Anlagen.  1.  Das 
russische  Recht  unterscheidet  gewerbliche 
Anlagen,  die  unschädlich  sind,  und  Fabriken, 
die  der  Reinheit  der  Luft  und  des  Wassers 
schädlich  sind,  a)  Gewerbliche  Anlagen, 
welche  unschädlich  sind,  können  überall 
errichtet  werden.  In  Städten  ist  vorher  die 
Erlaubnis  des  Gemeindevorstandes  einzu- 
holen; diese  Erlaubnis  fäUt  in  der  Regel 
mit  dem  Baukonsens  zusammen,  der  eben- 
falls von  dem  Gemeindevorstand  als  der 
Baupolizeibehörde  erteilt  wird,  b)  Fabriken, 
die  der  Reinheit  der  Luft  und  des  Wassers 
schädlich  sind,  dürfen  in  Städten  und  an 
Flüssen  oberhalb  der  Städte  gar  nicht 
errichtet  werden. 

2.  Man  sollte  meinen,  dass  die  Gross- 
industrie liierdurch  auf  das  flache  Land  ge- 
drängt werde ;  dem  ist  aber  nicht  so ;  jenes 
Verbot  der  schädlichen  Fabriken  wird  that- 


*)  Russisches  G.  v.  8.  November  1865  über 
die  belgischen  Aktiengesellschaften;  russische 
Deklaration  vom  16./28.  Januar  1867  zu  Gunsten 
der  österreichischen  Aktiengesellschaften ;  Rund- 
schreiben des  russischen  Finanzministers  vom 
13.  November  1887,  Nr.  10409. 


492 


Gewerbegesetzgebung  (Russland) 


sächlich  dadurch  beseitigt,  dass  der  Qt)uver- 
neur  die  Kompetenz  besitzt,  die  Errichtung 
gewerblicher  Anlagen,  welche  nicht  un- 
schädlich sind,  in  einer  Stadt  und  in  der 
Umgebung  einer  Stadt  zu  erlauben,  a)  Was 
für  gewerbliche  Anlagen  als  nicht  unschäd- 
lich gelten  sollen,  wird  alljährlich  durch 
eine  Verordnung  des  Ministers  des  Innern 
festgestellt,  b)  Für  das  Verfahren  giebt  es 
eine  Rechtsordnung  nicht.  Nur  dies  ist  dem 
Gouverneur  vorgeschrieben,  dass  er  ein  Gut- 
achten des  Stadtgemeindevorstandes  einholen 
muss,  aber  auch  diese  Pflicht  beruht  nicht 
auf  Gesetz,  sondern  nur  auf  einer  Ver- 
ordnung des  Ministers  des  Innern.  Nicht 
verpflichtet  ist  der  Gouverneur,  das  geplante 
Unternehmen  öffentlich  bekannt  zu  machen 
und  Einwände  interessierter  Personen  ent- 
gegenzunehmen, doch  könnte  er  beides  thun, 
während  ein  Streitverfahren  über  solche 
Einwände  oder  gar  eine  Beweisaufnahme 
durch  die  GeschÖtsoi-dnung  der  Gouverne- 
mentsbehörden ausgeschlossen  ist.  c)  Die 
russische  Gewerbeordnung  enthält  allerdings 
den  Rechtssatz,  dass  der  Gouverneur  (Üe 
Erlaubnis  ziu:  Errichtung  einer  gewerblichen 
Anlage  geben  solle,  wenn  die  Anlage  den 
hierüber  erlassenen  Regeln  entspreche.  In- 
dessen giebt  es  nur  sehr  wenig  Regeln  über 
die  Errichtung  gewerblicher  Anlagen,  so 
dass  der  Gouverneur  fast  jede  Anlage  ge- 
nehmigen müsste,  wenn  ihm  nicht  das 
generelle  Verbot  schädlicher  Fabriken  die 
Handhabe  geben  würde,  jede  Fabrikkon- 
zession so  lange  zu  verweigern,  als  er  die 
Anlage  für  schädlich  hält,  d)  Verweigert 
der  Gouverneur  die  Erlaubnis,  so  steht  dem 
Abgewiesenen  die  Beschwerde  beim  1.  De- 
partement des  Senats  zu  Gebote,  für  die 
mdesseu  ein  mündliches  oder  öffentliches 
Streitverfahren  ebenfalls  nicht  Rechtens  ist. 
e)  Durch  die  Erlaubnis  des  Gouverneurs 
wird  der  Baukonsens  nicht  ersetzt  und 
werden  die  Nachbarrechte  weder  aufge- 
hoben noch  auch  nur  abgeschwächt. 

3.  Besondere  Rechtsnormen  regeln  die 
Aufstellung  von  Dampfkesseln  und  for- 
dern, dass  dieselben  vor  Beginn  des  Ge- 
brauchs amtlich  geprüft  werden  sowie  dass 
diese  Prüfungen  während  des  Betriebes 
wiederholt  werden. 

6.  Persönliche  Beschränknngeii  der 
Befugnis  zuni  Gewerbebetrieb.  1. 
Schiffer.  Wer  ein  Schiff  führen  oder 
steuern  will,  muss  seine  Befähigung  in  einer 
Prüfung  nachweisen. 

Das  Lotsengewerbe  ist  dagegen  in  der 
Regel  frei,  und  nur  dort,  wo  eine  Lotsen- 
innung durch  ihr  Statut  ein  Lotsenmonopol 
erhalten  hat,  darf  sonst  niemand  im  Lotsen- 
wasser lotsen. 

2.  Pfandleiher.  Wer  gewerbsmässig 
Darlehen  auf  Pfänder  erteilen  wül,  bedarf 


dazu  der  Erlaubnis  des  Gouverneurs,  und 
der  Gouverneur  soU  die  Erlaubnis  nur  dem- 
jenigen erteilen,  den  er  für  sittlich  zuver- 
lässig hält.  Pfandleiher  haben  ausserdem 
ein  Unterpfand  bei  der  Staatskasse  zu  hinter- 
legen, als  Sicherheit  für  die  Vollstreckung 
von  Geldstrafen ;  ihre  Geschäfts-  und  Buch- 
führung ist  eingehend  geregelt  und  wird 
amtlich  revidiert. 

3.  Vermittler.  Wer  die  Vermittelung 
von  Kaufverträgen,  von  Darlehen  und  von 
Miet-  und  Dienstverträgen  gewerbsmässig 
betreibt,  bedarf  der  Erlaubnis  des  Ministers 
des  Innern.  Wer  bloss  Dienstverträge  ge- 
werbsmässig vermitteln  will,  bedarf  der  Er- 
laubnis des  Gouverneurs.  In  beiden  Fällen 
muss  der  Unternehmer  als  Sicherheit  für 
seine  Gläubiger  ein  Unterpfand  bei  der 
Staatskasse  hinterlegen. 

4.  Dienstmanninstitute.  Wer  ein 
Dienstmanninstitut  halten  wUl,  bedarf  dazu 
der  Erlaubnis  des  Ministers  des  Innern  und 
muss  als  Sicherheit  für  seine  Gläubiger  eia 
Unterpfand  bei  der  Staatskasse  hinterlegen. 

5.  Branntweinhändler,  siehe  unten 
sub  7. 

6.  Beschränknngen  der  Ausübung 
der  Gewerbe.  1.  Beschränkungen 
im  Abschlüsse  von  Rechtsgeschäf- 
ten, a)  Lotterieen  dürfen  nur  zur  Unter- 
stützung von  Armen  und  auch  dann  nur 
mit  Erlaubnis  des  Ministers  des  Innern  ver- 
anstaltet werden,  b)  Bestimmte  Bankge- 
schäfte darf  der  Finanzminister  nachdem 
G.  V.  26.  Juni  1889  einzelnen  Bankiers  ver- 
bieten und  zwar  die  Abrede,  dass  der  Kauf- 
preis füi*  BiDete  der  inneren  Prämienanleihe 
in  Raten  gezahlt  werde,  die  Weiterver- 
pfändung von  Wertpapieren  für  eine  For- 
derung, die  höher  ist  als  die  eigene,  dm'ch 
das  Faustpfand  gesicherte  Forderung,  sogar 
den  Empfang  von  Depositen  und  Anlagen, 
c)  Sachen,  die  aus  Gold  oder  Silber  be- 
stehen, dürfen  in  Russland  nur  verkauft 
werden,  nachdem  ihr  Feingehalt  amtlich  er- 
mittelt und  durch  einen  Stempel  angegebeu 
worden ;  gleichgiltig  ist  dabei,  ob  die  Sachen 
im  Inlande  oder  im  Auslande  hergestellt 
worden  sind.  Auch  darf  der  Feingehalt 
nicht  unter  ein  gesetzliches  Minimum  sinken. 

2.  Beschränkungen  in  der  Tech- 
nik des  Gewerbebetriebes.  In  den 
Städten  kann  die  Gemeindevertretimg,  nac^i 
Verständigung  mit  der  Polizei  und  mit  Ge- 
nehmigung der  Aufsichtsbehörde,  Verord- 
nungen, also  Gebote  und  Verbote  erlassen, 
um  Krankheiten  vorzubeugen,  das  Wasser 
gegen  Verunreinigung  zu  schützen,  um  die 
Feuersgefahr  abzuwehren  und  zu  solcheu 
Zwecken  mehr.  Die  gleiche  Befugnis  be- 
sitzt für  das  flache  Land  der  Kommunal- 
verband des  Gouvernements  mit  Zustimmung 
der  Aufsichtsbehörde;  ja  dieser  kann  sogar 


Gewerbegesetzgebung  (Russland) 


493 


verordnen,  was  bei  der  Errichtung  und  dem 
Betriebe  gewerblicher  Anlagen  in  sanitärer 
Hinsicht  zu  beobachten  sei.  Dieses  Ver- 
ordnungsrecht wäre  nicht  ungeeignet  zur 
Abwehr  der  Gefahren,  die  der  Betrieb 
mancher  Gewerbe  den  Arbeitern  wie  den 
Umwohnern  bringt,  wenn  nur  die  Strafe 
filr  die  üebertretung  der  Gebote  eine  höhere 
wäre;  die  Strafe  ist  nämlich  in  einem 
Strafrahmen  von  1 — 50  Rubeln  zu  bestimmen. 

7.  Der  Branntweinhandel.  Als  in 
Russland  im  Jahre  1863  das  Branntwein- 
monopol aufgehoben  ward,  wurden  die 
Branntweinfabrikation  und  der  Branntwein- 
handel nicht  nur  im  Interesse  der  Staats- 
finanzen (vergl.  d.  Art.  Branntweinbe- 
steuerung oben  Bd.  11,  S.  1084)  mit  hohen 
Steuern  belegt,  sondern  auch  vielen  Be- 
schränkungen unterworfen,  um  die  Trunk- 
sucht zu  bekämpfen.  Insbesondere  hatte 
das  G.  V.  14.  Mai  1886  für  den  Kleinhandel 
mit  Branntwein  sehr  einengende  Bestim- 
mungen getroffen.  Er  war  von  obrigkeit- 
licher Erlaubnis  abhängig,  die  den  Personen, 
welche  wegen  eines  Verbrechens  oder  Ver- 
gehens oder  wegen  bestimmter  Uebertretim- 
gen  verurteilt  waren,  versagt  werden  musste, 
anderen  Personen  nach  Erachten  der  Be- 
hörde versagt  werden  konnte.  Die  Behörde 
konnte  die  Zahl  der  Branntweinschenken 
festsetzen,  die  Landgemeinde  den  Klein- 
handel mit  Branntwein  im  Bezirk  des  Bauer- 
landes durch  Gemeindebeschluss  gänzlich 
verbieten.  Doch  hat  dieses  Gesetz,  insoweit 
das  Monopol  des  Verkaufs  alkoholischer  Ge- 
tränke (s.  obenBd.11,  S.1084)  eingeführt  worden 
ist,  seine  Geltung  verloren.  Das  G.  v.  6.  Juni 
1894,  das  gegenwärtig  (Februar  1900)  in  35 
Gouvernements  in  Geltung  getreten  ist,  hat 
ein  Staatsmonopol  des  Verkaufs  alkoholischer 
Getränke  begründet,  und  der  Staat  übt  dies 
Monopol  aus,  indem  er  selbst  öffentliche 
Verkaufsstellen  errichtet  oder  auch  indem 
er  -die  Ausübung  des  Monopols  an  Privat- 
personen äbertr%t,  die  entweder  auf  Rech- 
nung des  Staats  als  dessen  Kommissionäre 
den  Branntweinhandel  zu  betreiben  haben 
oder  die  gegen  eine  hohe  Abgabe  eine  Kon- 
zession zum  Branntweinhandel  erhalten. 
Alle  Privathändler  sind  verpflichtet,  die 
alkoholischen  Getränke  an  den  staatlichen 
Verkaufsstellen  zu  kaufen. 

um  die  Einführung  des  Handelsmonopols 
in  den  ehemals  zu  Polen  gehörigen  Gou- 
vernements zu  ermöglichen,  ist  durch  das 
G.  V.  11.  März  1896  Kap.  8  das  dort  noch 
bestehende  Propinationsrecht  (vergl.  oben 
Bd.  n,  S.  1077)  gegen  Entschädigung  für 
ablösbar  erklärt  worden. 

8.  Märkte  und  Börsen.  1.  Die  Er- 
öffnung neuer  Märkte  (Wochen-  und  Jahr- 
märkte), die  Schliessung  und  die  Verlegung  von 
Märkten  wird  verfügt  in  den  Städten  von  der 


Gemeindevertretung  und  auf  dem  Lande  von 
der  Kommunal  Vertretung  des  Gouvernements. 

Marktordnungen  werden  in  den  Städten 
erlassen  von  der  Gemeindevertretung  in 
üebereinstimmung  mit  der  Polizei  und  mit 
Genehmigimg  der  Aufsichtsbehörde. 

Für  den  berühmten  Jahrmarkt  von  Nishni- 
Nowgorod  besteht  eine  besondere  Behörde, 
das  Jahrmarktskomitee,  und  gelten  besondere 
Gesetze. 

2.  Börse  heisst  auch  im  Russischen  der 
Ort,  an  dem  sich  Kaufleute  regelmässig  ver- 
sammeln, um  Handelsgeschäfte  zu  schliessen 
dann  heisst  auch  die  Versammlung  selbst 
Börse.  Nach  russischem  Rechte  bilden  nun 
die  die  Börse  besuchenden  Kaufleute  den 
Börsenverein,  eine  Korporation  mit  Rechts- 
fähigkeit, die  eines  vom  Kaiser  bestätigten 
Statutes  bedarf,  die  die  Angelegenheiten  der 
Börse  verwaltet  und  die  zuweilen  Abgaben 
von  Waren  und  Schiffen  erheben  darf,  um 
den  Ertrag  zur  Förderung  von  Handel  und 
Schiffahrt  zu  verwenden. 

9.  Zünfte.  1.  Es  besteht  die  Regel,  dass 
in  den  grösseren  Städten  jeder  Handwerker 
zu  einer  Zunft  gehören  soll.  Diese  Regel 
erstreckt  sich  indessen  auf  die  baltischen 
Provinzen  nicht.  Sie  gilt  ferner  nur  für 
die  grösseren  Städte,  wälirend  gerade  in 
den  Dörfern  Mittehnisslands  Handwerk  und 
Hausgewerbe  aufs  regste  betrieben  werden. 
Aber  auch  dort,  wo  sie  gilt,  ist  die  Regel 
nicht  mehr  ein  Rechtssatz,  sondern  nur  noch 
ein  Wunsch,  denn  ihi*  folgt  sogleich  die 
Vorschrift,  dass  trotzdem  niemand  verhindert 
sei,  sich  seinen  Lebensunterhalt  durch  ein 
Handwerk  zu  verdienen. 

2.  Die  Zünfte  sind  Korporationen  der 
engeren  Berufsgenossen  unter  den  Hand- 
werkern, ausgestattet  mit  Rechtsfähigkeit 
auf  dem  Gebiete  des  Vermögensrechtes,  ja 
selbst  befugt,  ihre  Mitglieder  zu  besteuern, 
und  vornehmlich  berufen  zur  Armenpflege, 
zur  Fürsorge  für  hilfsbedürftige  Zunftgenossen 
und  deren  Familien. 

3.  Die  zünftigen  Handwerker  einer  Stadt 
bilden  ausserdem  alle  zusammen  eine  Kor- 
poration, die  ebenfalls  juristische  Person  ist, 
ebenfalls  das  Besteuenmgsrecht  hat  und 
ebenfalls  vornehmlich  der  Armenpflege  dient. 
Das  Hauptorgan  dieser  Korporation,  das 
allgemeine  Handwerkeramt,  hat  auch  eine 
geringfügige  Gerichtsbarkeit  für  Uebertre- 
tungen  von  Normen  der  Gewerbepolizei  und 
für  Streitigkeiten  aus  Verdingungsverträgen 
der  Handwerker. 

4.  Gewerberechtlich  ist  die  Zunft  dadurch 
bevorzugt,  dass  nur  in  der  Zunft  Meister, 
Gesellen  und  Lehrlinge  unterschieden  wer- 
den, dass  die  Zunft  die  Würde  eines  Meisters 
und  eines  Gesellen  erteilt  und  dass  nur  ein 
zünftiger  Meister  Gesellen  und  Lehrlinge 
lialten  darf,  —  wodurch   indessen   andere 


494 


Gewerbegesetzgebung  (Russland)  —  Gewerbeinspektion 


Unternehmer  nicht  verhindert  werden,  gross- 
jährige und  minderjährige  Arbeiter  in  Dienst 
zu  nehmen. 

10.  Behörden  für  Handel  und  Ge- 
werbe. 1.  Die  CentraJbehörde  für  die  För- 
derung von  Handel  und  Gewerbe  ist  das 
Finanzministerium;  bearbeitet  werden  diese 
Sachen  im  Departement  für  Handel  und 
Manufakturen.  Als  besondere  Abteilung 
dieses  Departements  ist  durch  G.  v.  7.  Juni 
1899  eine  Sektion  für  Fabrikwesen  und 
Montanindustrie  gebildet  worden.  Dem  Fi- 
nanzminister stehen  als  beratende  Behörden 
zur  Seite  ein  Handels-  und  Manufakturrat 
in  Petersburg  und  eine  Abteilung  desselben 
in  Moskau,  beide  gebüdet  aus  Technikern, 
Kaufleuten  und  Industriellen,  die  der  Kaiser 
auf  Vorschlag  des  Finanzministers  ernennt 

2.  Die  Funktionen  von  Handelskammern 
werden  teils  von  Börsenkomitees  ^eübt,  teüs 
von  Handel-  und  Manufakturkomitees. 

a)  In  den  grösseren  Handelsstädten  haben 
die  Organe  der  Börsen  vereine,  die  Börsen- 
komitees, dem  Finanzminister  über  die  Lage 
des  Handels  Bericht  zu  erstatten ;  sie  müssen 
ihm  Gutachten  geben  imd  dürfen  ihm  Vor- 
schläge machen.  Auch  haben  sie  die  Han- 
delsusancen  zu  sammeln. 

b)  Aehnlich  ist  die  Aufgabe  der  Handels- 
und Manufakturkomitees,  die  in  Handels- 
und Industriestädten  von  der  Gemeindever- 
tretimg oder  auch  von  der  Kaufmannschaft 
gebüdet  werden  können. 

3.  Ueber  die  Fabrikinspektoren  und  die 
Behörden  für  Fabrikangelegenheiten  s.  im 
Art.  Arbeiterschutzgesetzgebung 
oben  Bd.  I  S.  580  ff. 

Quellen*  Die  rusHtche  Gewerbeordnung  enthält 
nur  den  kleineren  Teil  des  oben  dargestellten 
Rechts ;  der  grössere  ßndet  sich  in  anderen  Ge- 
setzen.  Berücksichtigt  sind  namentlich  folgende 
Stellen:  Geicerbeordnung,  Cod.  1887,  Art.  2,  10, 
11,  12,  14—27,  68—70,  75,  280,  285,  288,  300, 
322—324,  332,  345,  359,  387,  392.  —  Handels- 
Ordnung,  Cod.  1887,  Art.  53,  Anm.  Beilage,  Art. 
195,  318,  591—604,  638—650.  —  Handels-  und 
Geteerbesteuergesetz,  Cod.  1886,  Art.  20.  — 
Cirilgesetzbuch ,  Cod.  1887,  Art.  214O,  2196.  — 
Gesetz  über  Präventivpolizei,  Cod.  1887,  Art.  251, 
253,  258,  268,  271,  272.  —  Slädtcordnung,  Cod. 
V.  1886,  Art.  2,  103,  II4,  115.  —  Probierge^etz, 
Cod.  V.  1887,  Art.  489  u.  503.  —  Passgesetz, 
Cod.  V.  1887,  AH.  11,  12,  157  Anm.  3.  —  G.  v. 
14'  V'  1885  über  den  Branntireinhandel ,  II, 
VII,  3,  4,  6,  AH.  4,  30,  31,  33,  53,  58—62.  — 
(r.  V.  12.  VI.  1890  über  die  Landschaftsinsti- 
tutionen  Art.  63,  Ziffer  5,  AH.  108.  —  G.  v. 
6.  V.  1894  U7id  11.  III.  1896.  -  Eine  Sammlung 
der  gesetzlichen  Bestimmungen  enthält  die  Fabrik- 
gesetzgebung des  russischen  Staates,  übersetzt  und 
erläutert  nach  der  Ausgabe  der  Gewerbeordnung, 
Bd.  XI,  Th.  II  des  Codex  der  Reichsgesetze, 
2.  Aufl.,  Riga  1895. 

Otto  Muelier. 


Gewerbeinspektion. 

1.  Yor£^eschichte.  2.  Die  Entwickelnng 
eines  besonderen  Fabrikinspektorates  in  Gross- 
britannien.  3.  Die  allgemeine  Entwickelang  in 
den  übrifi^en  Ländern.  4.  Die  deutschen  Bundes- 
staaten bis  zum  Jahre  1891.  5.  Die  Eeformen 
in  Deutschland  seit  1891. 

1.  Vorgeschichte.  Die  heutige  Ge- 
werbeinspektion ist  aus  der  Fabrik- 
inspektion erwachsen.  Ihre  ersten  An- 
fänge reichen  bis  zu  dem  Beginn  des  Jalir- 
hunderts  zurück.  Schon  das  erste  englische 
Schutzgesetz  zu  Gunsten  der  »Fabnklehr- 
linge«  (Fabrikkinder)  von  1802  sah  eine 
besondere  Ausführungskontrolle  durch  »W- 
sitors«  vor,  Ehrenbeamte,  welche  die  Frie- 
densrichter auf  ihren  Mittsommersitzungen 
ernennen  sollten,  je  2  (1  Friedensrichter  und 
1  Geistlichen)  für  das  ganze  Gebiet,  in  fa- 
brikreichen Gegenden  für  kleinere  Bezirke. 
Die  Einrichtimg  bewährte  sich  aber  nicht. 
Die  Aufgaben  und  Befugnisse  der  »visitors« 
waren  nur  beschränkt;  sie  erschöpften  sich 
nahezu  in  gelegentlichen  Besuchen  der  Fa- 
briken und  Berichten  an  die  Vierteljahi's- 
sitzungen;  eine  eigentliche  Initiative  und 
Exekutive  fehlte  den  »visitors«;  auch  galt 
die  Kontrolle  ihrer  Freunde  und  Nach- 
barn ihnen  bald  als  »eine  recht  ge- 
hässige Aufgabe«  ^),  die  sie  nur  wider- 
willig und  unzureichend  wahrnahmen.  Schon 
nach  2  Jahren  unterblieb  deshalb  üire  Er- 
nennung überhaupt.  Die  Hoffnung,  durch 
Erhöhung  der  Sti-afen  und  Gewährung  hoher 
Denunziantenanteüe  den  üebertretungen 
dos  Gesetzes  mit  Erfolg  entgegenzuwirken, 
blieb  gleichfalls  unerfüllt.  Auch  anderswo 
misslangen  Versuche  einer  ehrenamtlichen 
Einrichtung  des  Aufsichtsdienstes;  so  in 
Preussen  in  den  40  er  Jahren  durch  verein- 
zelte »Ix)kalkommissionen«,  in  denen  unter 
anderen  auch  medizinische  Sachverständige 
mitzuwirken  hatten,  und  durch  die  kolle- 
gialen, nach  der  V.  v.  9.  Febniar  1849  zu 
bildenden,  bekanntlich  überliaupt  ziemlich 
unwirksam  gebliebenen  Gewerberäte. 

Die  Aufsicht  durch  die  gewöhnlichen 
Polizeibehörden  aber  mnsste  auch  soweit, 
als  diese  aus  Berufs-  und  nicht  aus  Ehren- 
beamten bestanden,  um  so  unziüänglicher 
werden,  je  mehr  die  Fabrikthäti^keit  sich 
ausbreitete  und  je  mehr  allgemeines  tech- 
nisches wie  soziales  Verständnis  ihi'e  Be- 
obachtung erforderte.  So  hat  sich  all- 
raählich  fast  in  allen  Industriestaaten  eine 
besondere  Klasse  besoldeter  Staatsbeamten 
gebildet,  die  urspninglich  lediglich  Fabrik- 
insi)ektoren  waren,  aber  mit  der  grosseren 
oder  geringeren  Ausdehnung  der  Arbeiter- 
schutzgesetzgobung  auf  Werkstätten  und 
Hausindustrie  und  dem  immer  weiteren 
Ausbau  ihrer  Befugnisse»  in  vielen  Ländern 

»)  S.  Weyer  a.  a.  0.  S.  7. 


Gewerbeinspektioii 


495 


mehr  oder  weniger  zu  Aufsichtsbeamten  für 
die  soziale  Seite  der  gesamten  Gewerbe- 
thätigkeit  geworden  sind. 

2.  Die  Entwickelnng  eines  besonde- 
ren  Fabrikinspektorates    in    G'rossbri- 
tannien.    Sir  Bobert  Peel  hatte  schon  1815 
die  Ernennung  geeigneter,  besoldeter  Fabrik- 
inspektoren  an  Stelle  der  früheren  »visitors« 
vorgeschlagen.      Der   Widerstand    der   In- 
teressenten  gegen    eine   wirksame  Fabrik- 
gesetzgebung  verhinderte   jedoch,  die    Be- 
stellung solcher  Beamten  noch  lange  Zeit. 
Erst  nach  dem  »Althorpschen«  Fabrikgesetz 
vom   Jahre    1833  wurden  (zunächst  4)  Fa- 
brikinspektoren, je  einer  für  einen  bestimm- 
ten Teil  des  gesamtbritischen  Gebietes,  von 
Staats   wegen  berufen  und  (mit  je  1000  £) 
besoldet.    Zu  ihrer  Unterstützung  konnten 
sie  Hilfsbeamte  (millwardens,  superiutendents) 
erhalten.    Sie  durften  die  Fabriken  zu  jeder 
Betriebszeit,    ebenso    die    etwa   vorhandene 
Fabrikschule,  betreten,  die  darin  beschäftigten 
Personen  untersuclien,  sich  nach  deren  Be- 
finden, Beschäftigung  und  Erziehung  erkun- 
digen imd  einschlägige  Informationen  von  den 
Besitzern  erfordern.    Ihre  eigene  polizeiliche 
und  richterliche  Zuständigkeit  beschränkte 
sich  anfangs  ziemlich  ausschliesslich  auf  die 
Ausführung  der  Fabrikgesetze  zum  Schutze 
der   Fabrikkinder  und  später  auch  der  Fa- 
brikai'beiterinnen ;  sie  waren  in  dieser  Hin- 
sicht   den   Friedensrichtern   gleichgeordnet. 
Weitgehende  Befugnisse  auf  dem  Gebiete 
der  allgemeinen   Hygieine    und    Unfallver- 
hütung haben  sich  erst  später,  namentlich 
durch    die    Gesetzgebung    der    90  er  Jahre 
herausgebildet.    (Ygl.  darüber  d.   Art.  Ar- 
beit er  Schutzgesetzgebung  in  Gross- 
britannien   oben   Bd.  I  S.  528ff.)      In- 
dessen haben  die  englischen  Fabrikinspek- 
toren   auch    auf  diesem  Gebiete  im  Wege 
gütlicher  Yorstellungen  von  jeher  mit  Eifer 
und  Erfolg  gewirkt.    Von  Anbeginn  waren 
sie  femer  ein  Organ,  welches  der  Gentral- 
behörde  teils  periodisch,  teils  von  Fall  zu 
FaU  über  die  sozialen  Zustände  im  Fabrik- 
wesen  zu   berichten   und  dadurch  entspre- 
chende Massregeln   der   Gesetzgebung   und 
Verwaltung  vorzubereiten,  zugleich  aber  auch 
die  öffentliche  Meinung  auf  diesem  Gebiete 
zu  interessieren  imd  aufzuklären  hatte.  — 
Trotz  ihrer  geringen  Anzahl,  ihrer  in  einem 
parlamentarisch    regierten    Lande    doppelt 
fühlbaren  Abhängigkeit  von   der  Centralbe- 
hörde  und  damit  von  der  jeweiligen  Parla- 
mentsmehrheit, anfänglich  auch  gegenüber 
einem   grossen    Uebelwollen   weiter   Unter- 
nehmerkreise und  häufigen,   teilweise  raffi- 
nierten Versuchen  zur  Umgehung  der  Schutz- 
gesetze ^)  gelang  es  den  Inspektoren  allmäh- 

*)  Vgl.  darüber  namentlich  die  Darstellung 
bei  Weyer  a.  a.  0.  S.  44  ff. 


lieh,  ihre  Aufgabe  in  befriedigender  Weise  zu 
erfüllen  und  damit  auch  den  Nachwuchs  der 
englischen  Industriearbeiter  vor  übermässiger 
Ausbeutung  und  körperlicher  wie  sittlicher 
Entartung  zu  bewahren.  So  konnte  das 
ganze  Institut  in  seinen  Grundzügen  für 
die  meisten  anderen  Industriestaaten  vor- 
bildlich werden.  Seine  Aufgaben  dehnten 
sich  in  England  mit  dem  Kreise  der  ge- 
schützten Personen  und  der  »regulierten« 
Betriebszweige  immer  weiter  aus,  bis  mit 
der  allmählichen  Hineinziehung  der  nicht 
fabrikartigen  Werkstätten  in  die  Schutzge- 
setze thatsäehlich  aus  »Fabrikinspektoren« 
»Gewerbeinspektoren«  wurden,  im  Jahre 
1878  erfolgte  eine  Neugestaltung.  Seitdem 
steht  imter  dem  Staatssekretär  des  Innern 
zunächst  ein  »Erster  Inspektor  der  Fabriken 
und  Werkstätten«,  in  dessen  Händen  die 
Oberleitung  des  ganzen  Dienstes  liegt; 
unter  diesem  arbeiten  Oberinspektoren  zur 
Kontrollierung  der  »inspectors«,  »junior  in- 
spectors«  und  »inspectors  assistants«.  Der 
letzte  Bericht  des  »Chief  Inspector«  (für 
1898)  weist  unter  diesem  selbst  7  »superin- 
tending  inspectors«  (einschliesslich  1  medi- 
cal  inspector),  46  »inspectors«,  26  »junior 
inspectors«,  3  »examiners  of  particulars« 
für  gewisse  Textilgewerbe  und  25  »inspectors 
assistants«,  ausserdem  6  weibliche  Inspek- 
toren, zusammen  114  Beamte  nach. 

3.  Die  allgemeine  Entwickelnng  in 
den  übrigen  Ländern.  Im  allgemeinen 
hat  man  das  englische  Yorbild  insofern  fest- 
gehalten, als  überall  zu  Fabrik-  oder  Ge- 
werbeinspektoren nicht  Ehrenbeamte,  son- 
dern staatlich  besoldete,  von  den  Beteiligten 
unabhängige  Berufsbeamte  bestellt  werden 
und  zwar  in  den  leitenden  Stellungen  nur 
gebildete,  kenntnisreiche,  nach  ihrer  ganzen 
Persönlichkeit  zur  Gewinnung  einer  Ver- 
trauensstellung zwischen  Arbeitgebern  und 
Arbeitern  befähigte  Personen.  Im  übrigen 
ist  die  Ausgestaltung  in  den  einzelnen 
Ländern  sehr  verschieden.  Internationale 
Vergleichungen  hinsichtlich  der  Zahl  der 
Gewerbeinspektoren  und  dergleichen  sind 
daher  misslich,  da  es  —  abgesehen  von  der 
gewerblichen  Entwickelnng  der  einzelnen 
Länder  —  dabei  auf  die  grössere  oder  ge- 
ringere Intensität  der  Schutzgesetzgebung, 
ihren  Bereich  (Fabriken  oder  auch  Werk- 
stätten, Hausindustrie  und  Handel),  endlich 
auch  darauf  ankommt,  ob  die  Inspektoren 
die  Aufsicht  für  alle  oder  nur  einen  Teil 
der  gewerblichen  Anlagen  (Fabriken  imd  der- 
gleichen) wahrzunehmen  haben  oder  noch 
durch  andere  Organe  (ordentlichen  Polizei- 
behörden, Gesundheitskommissionen  u.  s.  w.) 
unterstützt  werden  und  ob  sie  umgekehrt 
noch  mit  anderen  Aufgaben  als  der  Aufsicht 
über  die  Ausführung  der  Arbeiterschutzge- 
setze (Genehmigung  und   Kevision  lästiger 


496 


Gewerbeinspektioa 


oder  gefährlicher  Anlagen,  Darapfkesselprü- 
fung  und  dergleichen)  belastet  sind.  Auch 
die  Grundsätze  über  die  Auswahl  der  Be- 
amten sind  in  den  einzelaen  Ländern  sehr 
verschieden.  Ein  idealer  Gewerbeinspektor 
müsste  —  von  seinen  persönlichen  Eigen- 
schaften abgesehen  —  Techniker,  Sozial- 
ökonom und  Arzt  zugleich  sein,  ausserdem 
über  eine  gründliche  Kenntnis  des  Gewerbe- 
nnd  Arbeiterrechts  vei-fügen.  Ohne  Zweifel 
ist  aber  die  technische  Befähigimg  die  Haupt- 
sache und  zwar  auch  dort,  wo  der  Gewerbe- 
inspektor nicht  zugleich  technische  Neben- 
aufgaben wahrzunehmen  hat ;  denn  sie  ist  für 
die  Erkenntnis  der  Gesundheits-  und  Unfall- 
gefahr, überhaupt  der  ganzen  Eigenart  einer 
bestimmten  gewerblichen  Arbeitsthätigkeit, 
vor  allem  aber  füi*  die  Schaffimg  geeigneter 
technischer  Vorkehrungen  zur  Vorbeugung 
und  Abhilfe  in  allen  Einzelfällen  unent- 
behrlich, während  die  Heranziehung  anderer 
Sachverständiger  sehr  wohl  auf  allgemeine 
Anordnimgen  oder  besondere  Fälle  beschränkt 
werden  kann.  Zur  Zeit  sind  daher  in  den 
meisten  Industrieländern  vorzugsweise  Tech- 
niker (Maschinen-,  Hütten-,  Bau-,  Berg- 
ingenieure und  Chemiker),  die  sich  nach 
ihrer  Persönlichkeit  und  allgemeinen  Bil- 
dung zur  Wahrnehmung  des  Amtes  eignen, 
mit  den  Geschäften  der  Fabrik-  oder  Ge- 
werbeinspektion betraut.  Die  Einführung 
einer  solchen  datiert  unter  anderen  seit:  in 
Oesterreich  1883,  der  Schweiz  1877  (In- 
struktion von  1883),  Frankreich  1874  (Re- 
formen 1883,  1892  bezw.  1893),  Belgien 
1895,  den  Niederlanden  1889,  Dänemark  1873, 
Schweden  1890,  Norwegen  1890,  Russland 
1882  (Reform  1894).  —  Für  die  Bergaufsicht 
sind  in  der  Regel  besondere  Fachbeamte 
angestellt,  in  einzelnen  Ländern  (England, 
Frankreich,  Belgien)  auch  Arbeitervertreter 
dabei  beteiligt.  Auch  bei  der  Gewerbeauf- 
sicht im  engeren  Sinne  sind  Pei-sonen,  die 
nach  Herkunft  und  Bildung  dem  Arbeiter- 
stande angehöi-en,  nicht  ausgeschlossen;  in 
England  z  .B.  sind  sie  unter  den  »Assistenten« 
zahlreich  vertreten.  —  Weibliche  Inspektoren 
sind  bisher  nur  vereinzelt  angestellt.  Vgl. 
im  einzelnen  zu  diesem  Abschnitt  den  Art. 
Arbeiterschutzgesetzgebung  oben 
Bd.  I  S.  470  ff. 

4.  Die  dentschen  Bundesstaaten  bis 
zum  Jahre  1891.  In  Preussen  war  die 
Einlialtun^  der  Bestimmungen  des  ersten 
Sehutzgoselzos  (Regulativ  vom  9.  März  1839) 
anfänglich  vorzugsweise  niu*  von  den  ge- 
wöhnlichen Polizeibehörden  kontrolliert  wor- 
den, neben  welchen  nur  in  einzelnen  Be- 
zirken besondere  Lokalkommissionen,  sodann 
die  Kirchen-  und  Schulbehörden  eine  ge- 
wisse Aufsichtsthätigkeit  entwickelten.  Erst 
das  G.  V.  16.  Mai  1^53,  diux^h  welches  auch 
die  sachlichen  BeMiinmungen  des  erwähnten 


Regidativs  eine   erhebliche  Erweiterung  er- 
fuhren, schrieb  vor,  dass  deren  Ausführung, 
wo  sich  dazu  ein  Bedürfnis  ergebe,  durch 
Fabrikinspektoren     als     Organe     der 
Staatsbehörden   beaufsichtigt   werden   solle, 
denen,  soweit  es  sich  um  Ausführung  die- 
ses   Gesetzes   und   des  Regulativs   vom   9. 
März  1839  handle,  alle  amtlichen  Befugnisse 
der  Ortspolizeibehörden  zuständen  und  denen 
die  Besitzer  gewerblicher  Anstalten  die  amt- 
lichen Revisionen  jederzeit  zu  gestatten  hät- 
ten.   Thatsächlich  kam  es  jedoch  zunächst 
nur  zur  Bestellung  von  Inspektoren  für  die 
Bezirke  Düsseldorf,  Oppeln   und  Arnsberg, 
und  die  Stelle  des  letzteren  blieb  zeitweilig 
noch  ohne  Besetzung,  weil  von  den  Provin- 
zialbehörden  das  Bedürfnis  dazu   bestritten 
wurde.    Auch  war  der  Wirkungskreis  jener 
ersten   preussischen  Fabrikinspektoren  ver- 
hältnismässig bescheiden,   er  betraf  nur  die 
Eontrolle  der  (damals  allein    beschränkten] 
Kinderarbeit  in  Fabriken,  Berg-,  Hütten-  und 
Pochwerken  sowie  die  Aufsicht   über   die 
Fühnmg  der  durch   das  Gesetz   von   1853 
für  die  Arbeiter  unter  16  Jahren  in  jenen 
Anstalten  eingeführten  Arbeitsbücher.   Nach 
den  Ausführungsinstruktionen  hatten  freilich 
die  Inspektoren  auch  den  hygieinischen  Zu- 
ständen in  den  Fabriken,  ferner  den  Fabrik- 
schulen und  überhaupt  den  Erziehungs-  und 
Sittlichkeitsverhältnissen  der  heranwachsen- 
den Fabrikjugend  beider  Geschlechter  ihre 
Aufmerksamkeit  zuzuwenden ;  eine  unmittel- 
bare Thätigkeit  zu  Gunsten  der  erwachsenen 
Arbeiter  aber  war  ihnen  nicht  zugewiesen. 
Die  Reichsgewerbeordnung   vom  21.  Juni 
1869  verzichtete  ebenfalls  noch  auf  die  ob- 
ligatorische Einführung  des  Fabrikinspekto- 
rates  und  beschränkte   sich  (§  132)  auf  die 
Bestimmung,  dass  überall,   wo  die  Fabrik- 
aufsicht   eigenen   Beamten    übeitragen    sei, 
diesen   alle  amtlichen  Befugnisse  der  Orts- 
polizeibehörden  zuständen.    Immerhin   ver- 
melirte  sich  schon  in  den  70  er  Jahren  die 
Zahl  der  Fabrikinspektoren;   im  Jahre  1875 
waren  deren  10  in  Preussen  und  4  in  Sach- 
sen vorhanden,  wo  das  Inspektorat  durch  V. 
vom  4.  September  1872   eingeführt  worden 
Das  Reiclisgesetz  vom  17.  Juli  1878 


war. 


endlich  schrieb  (§  139  b)  die  Anstellung  be- 
sonderer Fabrikinspektoren  zwar  vor,  liess 
jedoch  noch  eine  Dispensation  für  fabrik- 
arme Bezirke  durch  den  Bundesrat  zu,  welche 
tliatsächlich  beiden  Lippe,  Mecklenburg- 
Strelitz  und  Lübeck  erteilt,  von  letzterem. 
Staate  allerdings  nur  vorübergehend  benutzt 
worden  ist.  In  Bayern  trat  das  Fabrikin- 
spektorat  ins  Leben  diuxjh  V.  vom  17.  Fe- 
bruar 1879,  in  Württemberg  durch  V.  vom 
2.  Oktober  1879,  in  Baden  durch  V.  vom 
30.  Januar  1879  u.  s.  w.  Den  Fabrikinspek- 
toren (in  Preussen  jetzt  »Gewerberäten«) 
lag  aber  fernerhin  die  Aufsicht   nicht  nur 


Grewerbeinspektion 


497 


■Qber  die  Ausführung  der  Besümmungea 
zum  Schutze  der  jugendiichen  Arbeiter  und 
der  (noch  sehr  dürftigen)  zum  Schutze  der 
Frauen,  sondern  auch  über  die  Bestimmun- 
gen zum  Schutze  des  Lebens  und  der  Ge- 
sundheit aller  Arbeiter  in  Fabriken  ob, 
^'elche  dmrch  das  neue  Gesetz  zugleich 
etwas  schärfer  als  in  der  Gewerbeordnung 
von  1869  umschrieben  wurden.  Die  sons- 
tigen Instruktionen  an  die  Fabrikinspektoren 
entsprechen  in  allen  deutschen  Bundes- 
staaten im  wesentlichen  dem  englischen 
Vorbilde;  vor  allem  wurde  auf  die  Gewin- 
nung eines  Yertrauensverhftltnisses  zwischen 
Arbeitgebern  und  Arbeitern  Wert  gelegt. 
Die  Beamten  hatten  Jahresberidite  zu  er- 
statten; diese  oder  Auszüge  daraus  waren 
dem  Bundesrat  und  dem  Reichstage  vorzu- 
legen. Im  Jahre  1889  waren  im  ganzen 
Reiche  bereits  80  Aufsichtsbeamte  vorhan- 
den, davon  in  Preussen  17  Inspektoren  und 
10  Assistenten,  in  Sachsen  8  und  18,  in 
Bayern  4,  Württemberg  2  Inspektoren,  in 
den  übrigen  Bundesstaaten  18  Inspektoren 
und  3  Assistenten. 

5.  Die  Reformen  in  Deutschland  seit 
1891.  Im  Anschlüsse  an  die  internationale 
Arbeiterschutzkonferenz  von  1890  schritt 
bekanntlich  gerade  Deutschland  zu  einem 
lunfangreichen  Ausbau  der  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung. Hiermit  wurde  zugleich  der 
Anstoss  zu  einer  kräftigen  Fortentwickelung 
des  Inspektionswesens  gegeben.  Das  Schutz- 
gesetz vom  1.  Juni  1891  verbot  mit  Vorbe- 
halt gewisser  Ausnahmen  die  gewerbliche 
Sonntagsarbeit,  verbot  ferner  die  Arbeit  von 
schulpflichtigen  oder  noch  nicht  13  (statt 
bisher  12)  Jahre  alten  Kindern  in  Fabriken 
und  gleichgestellten  Anlagen  und  führte 
ebenda  auch  den  elfstündigen  Maximal- 
arbeitstag für  weibliche  Arbeiter  über  16 
Jahren  unter  Ausschluss  der  Nachtarbeit  ein. 
Dazu  kam  die  Einfühnmg  von  Arbeitsord- 
nungen in  grösseren  Betrieben  und  eine 
Beihe  weiterer  oder  genauerer  Vorschriften 
zum  Schutze  der  Arbeiter,  z.  B.  hinsichtlich 
des  Schutzes  für  Leben  und  Gesundheit, 
Lohnzahlung,  der  Arbeitsbücher,  der  Kün- 
digungsfristen und  dergleichen.  Zugleich 
wurde  die  Ausdehnimg  der  bisherigen  »Fa- 
brikgesetzgebung« auch  auf  die  Werkstätten, 
welche  bisher  nur  für  Anlagen  mit  Dampf- 
betrieb erfolgt  war,  allgemein  vorgesehen, 
allerdings  von  Kaiserlichen  Verordnungen 
mit  Zustimmung  des  Bundesrates  abhängig 
^macht,  die  bisher  nur  für  die  Konfektions- 
mdustrie  erfolgt  ist  In  ähnlichem  Um- 
fange wie  der  »Arbeiterschutz«  erweiterte 
sich  die  Zuständigkeit  der  bisherigen  Auf- 
sichtsbeamten,  deren  Anstellung  nunmehr 
für  alle  Bundesstaaten  obligatorisch  wurde. 
Reichsgesetzlich,  d.  h.  nach  der  Gewerbe- 
ordnung (§  139  b)  steht  ihnen  seitdem  die 


Handwörterbuch  der  Staatswiaeeiifichaften.    Zweite  Auflage.     lY. 


Aufsicht  über  die  Bestimmungen  für  Sonn- 
tagsruhe (mit  Ausnahme  derjenigen  im 
Handelsgewerbe,  welche  ausschliesslich  den 
ordentlichen  Polizeibehörden  übertragen  ist), 
femer  die  Arbeitsordnungen  und  den  Schutz 
der  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeiter, 
endlich  für  den  an  Leben  und  Gesundheit 
der  Ai'beiter  nicht  bloss  wie  bisher  in  den 
Fabriken,  sondern  auch  in  den  nicht  fabiik- 
mässigen  Gewerbebetrieben  zu.  Es  ist  da- 
bei nicht  ausgeschlossen,  dass  die  Einzel- 
staaten, denen  die  Anstellung  der  Aufsichts- 
beamten obliegt,  ihnen  noch  andere  Befug- 
nisse zuweisen.  Dies  that  ausser  Sachsen 
^rade  der  grösste  Bundesstaat  Preussen, 
insofern  als  er  den  Gewerbeinspektoren  als 
Organen  der  Landespolizei  neben  der  Auf- 
sicht über  die  Ausführung  der  Vorschriften 
über  Arbeitsbücher  und  über  die  lästigen 
und  gefährlichen,  einem  besonderen  gewerbe- 
polizeilichen Genehmigungsverfahren  unter- 
liegenden Anlagen  durch  die  Dienstanwei- 
sung vom  23.  März  1892  auch  noch  die 
amthche  Prüfimg  der  Dampfkessel  überwies. 
Die  letztere  Aufgabe  hat  längere  Zeit  einen 
sehr  grossen  Teil  der  Kräfte  des  Aufsichts- 
dienstes in  Anspruch  genommen,  und  wenn 
auch  ohne  Zweifel  mancherlei  Gründe  der 
Zweckmässigkeit  und  des  Kostenpunktes  für 
eine  Vereinigung  der  Gewerbeinspektion  mit 
der  Kesselrevision  sprechen,  so  hat  man 
in  neuerer  Zeit  sich  für  die  Trennung  bei- 
der Funktionen  entschieden.  Schon  seit 
1897  ist  die  Prüfung  der  landwirtschaft- 
lichen und  Schiffsdampfkessel  den  Inge- 
nieuren der  Dampfkesselüberwachungsver- 
eine übertragen  worden  i),  und  in  nächster 
Zeit  wird  auch  der  Rest  der  Revisions- 
thätigkeit  mehr  und  mehr  den  Gewerbe- 
aufsichtsbeamten abgenommen  werden.  — 
Die  Art  und  Weise,  in  welcher  diese  Be- 
amten neben  den  sonstigen  Verwaltungs- 
organen im  einzelnen  Falle  ihre  Befugnisse 
auszuüben  haben,  ist  in  den  Ausführungs- 
anweisungen zu  dem  Gesetz  und  in  den 
Dienstvorschriften  für  die  Gewerbeaufsichts- 
beamten eingehend  geregelt,  so  zwar,  dass 
ihnen  überall  eine  ausreichende  Mitwirkung 
gesichert  p  zugleich  aber  einseiligen  und 
übermässigen  Anforderungen,  wie  sie  nament- 
lich auf  dem  Gebiete  der  Hygieine  und  Un- 
fallverhütung von  zu  eifrigen  Beamten  er- 
hoben werden  können,  vorgebeugt  werden 
kann.    Im  allgemeinen  haben  sie  (nach  der 

*)  Im  Etatsjahre  1898  wurden  in  Preusseu 
von  92  917  Dampfkess^n  und  Dampffassem 
überwacht:  von  den  Ingenieuren  der  lieber- 
wachungsvereine  54578  =  58,74  °/p,  von  Ge- 
werbeinspektionen 26  997  =  29,05%,  Bergbe- 
hörden 7308  =  7,86%.  Der  Rest  von  Privat- 
unternehmern, Eisenbahn-  oder  Baubehörden, 
Eiseubahngesellschaften  und  Berufsgenossen- 
schaften. 

32 


498 


Gewerbeiospektion 


preussiflchen  Dienstanweisung,  der  wir  hier 
im  allgemeinen  fol^n,  zumal  die  anderen  im 
wesentlichen  mit  ihr  übepsinstinimen)  >ihre 
Aufgabe  vornehmlich  darin  zu  suchen«,  ge- 
stützt auf  ihre  »Vertrautheit  mit  den  g^tz- 
lichen  Bestimmungen,  ihre  technischen 
Kenntnisse  und  amtlichen  Erfahrungen, 
durdi  sachverständige  Beratung  und  wohl- 
wollende Vermittelung  eine  Regelung  der 
Betriebs-  und  Arbeitsverhältnisse  herbeizu- 
führen, welche,  ohne  dem  Gewerbeunter- 
nehmer unnötige  Opfer  und  zwecklose  Be- 
schränkungen aufzuerlegen,  den  Arbeitern 
den  vollen,  durch  das  Gesetz  ihnen  zuge- 
dachten Schutz  gewährt  imd  das  Publikum 
gegen  gefährdende  und  belästigende  Ein- 
wirkungen sicherstellt.  Arbeitgebern  und 
Arbeitern  sollen  die  Gewerbeaufsichtsbe- 
amten die  gleiche  Bereitwilligkeit  zur 
Vertretung  ihrer  berechtigten  Interessen 
entgegenbringen  und  dadurch  wie  durch 
die  ganze  Art  ihrer  amtlichen  Thätigkeit 
eine  Vertrauensstellung  zu  gewinnen  suchen, 
welche  sie  zur  Erhaltung  und  Förderung 
guter  Beziehungen  zwischen  beiden  mit- 
zuwirken in  den  Stand  setzt.« 

Nach  der  Gewerbeordnung  selbst  (§  139  b) 
haben  die  Gewerbeaufsichtsbeamten  bei  Aus- 
übung ihrer  Thätigkeit  alle  Befugnisse  der 
Ortspolizeibehörden.  Im  Interesse  ihrer 
Vertrauensstellung  ist  aber  der  selbständige 
Gebraudi  polizeilicher  Zwangsmittel  den 
Aufsichtsbeamten  durch  die  Dienstanwei- 
sungen in  der  Regel  untersagt  Sie  sollen 
einzelne  Gesetzwidrigkeiten  und  üebelstände 
zunächst  durch  gütUdie  Vorstellungen  und 
geeignete  Ratschläge  zu  beseitigen  suchen; 
nötigenfalls  haben  sie  sich  an  die  ordentlichen 
Polizeibehörden  zu  wenden,  damit  diese 
durch  polizeiliche  Straffestsetzung  oder  An- 
zeige an  die  Staatsanwaltschaft  zur  Ahndung 
von  Gesetzwidrigkeiten  schreiten  oder,  wenn 
es  sich  um  Herstellung  von  Einrichtungen 
zum  Schutze  des  Lebens  und  der  Gesund- 
heit handelt,  die  erforderlichen  polizeilichen 
Verfügungen  treffen.  Dagegen  sollen  die 
Gewerbeaufsichtsbeamten  selbst  von  dem 
Rechte  zu  polizeilicher  Straffestsetzung  gar 
nicht  und  von  dem  Rechte,  polizeiliche, 
nötigenfalls  im  Wege  des  Verwaltungs- 
zwangsverfahrens durchzuführende  Verfü- 
gimgen  zu  erlassen,  nur  bei  Gefahr  im  Ver- 
zuge Gebrauch  machen.  Im  übrigen  haben 
die  Ortspolizeibehörden  den  Auf  sichtsbeamten 
dieerforderlicheünterstützung  zu  lei8ten,unter 
andern  ihnen  die  für  die  Ausübung  der  Ge- 
werbeaufsicht wichtigen  Schriftstücke  vor- 
zulegen, Besichtigungen  und  Nachbesichti- 
gungen bestimmter  gewerblicher  Anlagen 
vorzunehmen  u.  s.  w.  Was  insbesondere  die 
Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  Hygieine 
und  Unfallverhütung  betrifft,  so  hat  bei 
dringender  Gefahr  für  Leben  oder  Gesund- 


heit die  Ortspolizeibehörde  sogleich  einzu- 
schreiten, sonst  aber  im  Einvernehmen  mit 
dem  Auf  Sichtsbeamten  zu  handeln;,  bei 
Meinungsverschiedenheiten  zwischen  beiden, 
in  der  Initiative  sonst  gleichberechtigten 
Organen  entscheidet  die  höhere  Verwaltungs- 
behörde. Daneben  ist  auch  noch  ein  Zu- 
sammenwirken mit  den  Organen  der  Be- 
ru&genossenschaften ,  den  »Beauftragten«, 
vorgesehen;  diese  haben  insbesondere  von 
dem  Ergebnisse  ihrer  nach  dem  Cnfallver- 
sicherungsgesetz  ausgeübten  Thätigkeit  zur 
üeberwachung  der  Un&Uverhütungsvor- 
schriften  der  Genossenschaften  den  Gtewerbe- 
aufeichtebeamten  Mitteilung  zu  machen. 

Die  erweiterten  und  vertieften  Aufgaben 
des  Aufsichtsdienstes  haben  mehr  und  mehr 
auch  zu  einer  Veränderung  der  äusseren 
Organisation  und  zur  Vermehrung  des  Per- 
sonals geführt  Während  noch  1890  ein- 
schliesslich der  Hilfsbeamten  nur  93  Auf- 
sichtspersonen vorhanden  gewesen  waren, 
stieg  deren  Zahl  1891  auf  115,  1892 
schon  auf  176,  1897  auf  284  und  Ende 
1899  über  300.  Allein  in  Preussen  waren 
im  Jahre  1898  200  Aufsichtsbeamte  vor- 
handen. Hand  in  Hand  mit  der  bedeu- 
tenden Vergrösserung  des  Beamtenapparates 
ist  dessen  anderweitige  Eingliederung  in 
den  allgemeinen  Verwaltuuf^oi^anismus  ge- 
gangen. Während  z.  B.  m  Preussen  bis 
zum  Jahre  1892  die  »G^werberäte«  lediglich 
technische  Hilfsarbeiter  der  Regierungen 
waren,  bestellte  der  Allerhöchste  ErLass  vom 
27.  April  1891  in  Verbindung  mit  der  Dienst- 
anweisung vom  23.  März  1892  besondere 
gewerbetechnische  Räte  (Regierungs-  und 
und  Gewerberäte)  mit  den  Rechten  der 
technischen  Mitgheder  der  Regierungen,  zu 
deren  Unterstützung  und  Vertretimg  aber  Ge- 
werbeinspektoren mit  der  amtUchen  Stellung 
der  Regierungsassessoren,  desgleichen  Ge- 
werbeinspektoren, nötigenfalls  mit  Unter- 
stützung durch  Gewerbeinspektionsassisten- 
ten zur  Wahrnehmung  der  Gewerbeaufsicht 
in  den  einzelnen  Gewerbeinspektionsbezirken, 
deren  Ausdehnimg  sich  nach  der  Entwicke- 
lung  der  Gewerbethätigkeit  richtet  Bei  der 
Stellenbesetzung  haben  die  Centralbehörden 
in  den  ersten  Jahren  nach  der  Reform  von 
1891  ziemlich  freie  Hand  gehabt;  im  allge- 
meinen ist  die  Auswahl  auf  Techniker  und 
nach  Massgabe  des  Bedürfnisses  auch  Che- 
miker besäräokt  geblieben.  An  sich  aber 
ist  die  Bestellung  von  Personen  ohne  aka- 
demische Vorbildung  nicht  ausgeschlossen, 
auch  wenn  sie  nach  Herkunft  und  Bildung 
dem  Arbeiterstande  angehören.  In  einigen 
Bimdesstaaten  (Bayern,  Baden)  ist  man  auch 
bereits  zur  Anstellung  solcher  Beamten  ge- 
langt, auch  ist  man  hier  und  da  probeweise 
zur  Verwendung  einzelner  weiblicher  Be- 
amten überg^angen.     Preussen   hat  aller- 


öewerbeinspektion — (jewerbekammer  n 


499 


dings  einen  anderen  Weg  beschritten;  nach 
der  Vorbildungs-  und  Prüfungsordnung  vom 
7.  September  1897  ist  hier  (unter  dem  Vorbehalt 
eines  Ueber^ngsstadiums  bis  zum  1.  April 
1901  für  Personen  mit  wissenschaftlich 
technischer  Vorbildung)  zur  Erlangung  der 
Beföhigung  für  den  Gewerbeaufsichtsdienst 
ein  dreijähriges  technisches  und  ein  1  Vi  jäh- 
riges Studium  der  Rechts-  und  Staatswissen- 
sch^en  sowie  die  Ablegung  einer  allge- 
meinen auf  verschiedenen  Ausbildungswegen 
zugänglichen  und  einer  besonderen  nach 
lV2JäJmgem  Vorbereitungsdienst  bei  den 
Gewerbeauf  Sichtsbehörden  vor  einer  eigenen 
Kommission  stattfindenden  Piüfung  erfor- 
derlich. Zu  dem  praktischen  Vorbereitungs- 
dienst werden  Personen,  die  nicht  Bauführer 
oder  Beargreferendare  sind,  niu»  beim  Nach- 
weise einer  1 — 2  jährigen  Thätigkeit  in  der 
Praxis  zugelassen;  das  IV2 jährige  juristisch- 
kameralistische  Studium  schliesst  sich  an 
den  praktischen  Vorbereitimgsdienst  an. 
Es  ist  hier  also  ein  eigenartiger,  mit  ver- 
hältnismässig hohen  Anforderungen,  ver- 
bundener Ausbildungsgang  vorgesehen  wor- 
den. 

Die  bisherigen  Erfedirungen  mit  der  Ge- 
werbeinspektion sind  im  ganzen  bereits  be- 
friedigend und  berechtigen  zu  noch  besseren 
Hoffnungen.  Freilich  hat  es  an  Klagen  über 
unrichtige  Amts-  und  Gesetzesauffassungen, 
Neigung  zu  übermässigen  Anforderungen  an 
die  ün1»rnehmer  auf  der  einen,  geringe  Zu- 
gänglichkeit für  Arbeiterwünsche  auf  der 
anderen  Seite  nicht  gefehlt.  Im  allgemeinen 
sind  aber  die  Leistungen  des  ganzen  Insti- 
tutes und  das  ihm  gewidmete  Zutrauen  in 
stetiger  Zunahme  bemffen.  Besonders  wert- 
voll für  Wissenschart,  Verwaltung  und  Ge- 
setzgebung sind  auch  die  Jahresberichte  der 
Beamten,  welche  stets  die  allgemeinen,  nach 
Bestimmung  des  CentralbehÖrde  aber  oft 
auch  besonderen  Fragen  des  Arbeiterschutzes 
eingehend  behandeln. 

Litteratar:  JFV.  Sch&ler,  Die  Fahrikinspektion 
(Archiv  ßir  soziale  Gesetzgebung  und  Statistik, 
IL  Bd.,  S.  537 ff.).  —  F.  AdUr,  Die  FabHk- 
inspektion,  insbesondere  in  England  und  der 
Schweiz,  Jahrb.  ßir  NatioTUÜÖkonomie ,  neue 
Folge,  VIII,  193.  —  Weyet*,  Die  englische 
Fabrikinspektion,  Tübingen  1888.  —  Thau,  Die 
Fabrikinspekioren  in  Deutschland^  Jahrbuch  für 
Gesetzgebung  u,  s.  w.,  V,  65.  —  Paiil  Dehtty 
Die  deutsche  Fabrikinspektion,  Zeitschr.  ßir 
StaaUwissenschaft,  Bd.  XXXVIII,  S.  mff.  — 
M»  Quareh,  Zur  äusseren  Geschichte  der  Fa- 
brikinspektion  in  Deutschland,    Frankfurt  1889. 

—  K,  A,  fHi/nther,  Geschichte  der  preuss-ischen 
Fabrikgesetzgebung,  Leipzig  1891.  —  Kloss, 
Der  Bergarbeiterschutz,   Wien  und  Leipzig  1897. 

—  E,  Plotke,  Die  Gewerbeinspektion  in  Deutsch- 
land, Berlin  1899.  —  Zahlreiche  Einzelmit- 
teilungen insbesondere  in  der  n  Sozialen  Praaisu, 
den    nJahrbüchem  für    yationalökonomic    und 


Statistik^,  dem  n  Jahrbuch  ßir  Gesetzgebung,  Ver- 
waltung und  VolksvnrtscfMßii  und  in  den  amt- 
liehen Jahresberichten  der  Äufsichtsbeamten  für 
das  Reich  wie  ßir  die  einzelnen  Bundesstaaten, 

6,  Evert 


Gewerbekammern. 

I.  Allgemeines.  IL  Die  Gewerbe- 
kammern im  Deutschen  Reiche.  1.  Die 
G.  in  Preussen.  2.  Die  hanseatischen  G. 
a)  Geschichte,  b)  Organisation,  c)  Aufgaben 
und  Befugnisse.  3.  Die  G.  im  übrigen  Deutsch- 
land, a)  Sachsen,  b)  Bayern,  c)  Sachsen- Wei- 
mar-Eisenach, d)  Württemberg,  e)  Sachsen- 
Meiningen,  ni.  Die  Gewerbekammern 
in  Frankreich,  a)  Geschichte,  b)  Organi- 
sation, c)  Aufgaben  und  Befugnisse.  IV.  Das 
Verlangen  nach  Errichtunjg^  von  Ge- 
werbekammern in  Oesterreich. 

I.  Allgemeines. 

Korporative  Vereinigungen  von  Handel 
und  Gewerbe  entstanden  schon  im  Mittel- 
alter in  den  germanischen  Staaten,  in  den 
Zünften  oder  Innungen  der  Handwerker  und 
den  Gremien  und  Gilden  der  Handelsleute. 
Ihre  Blüte  erreichten  sie  im  14.  Jahrhundert, 
wo  ihr  Einfluss  auf  die  Förderung  der 
technischen  und  administrativen  Angelegen- 
heiten ihrer  Berufsgenossen  massgebend  war. 

Als  das  Innungs-  imd  Zunftwesen  dem 
Verfalle  und  der  Entartung  sich  zuneigte, 
immer  breitere  Schichten  des  Volkes  am 
Handel  imd  Gewerbe  thätig  Anteil  nahmen 
und  bei  der  fortschreitenden  Entwickelung 
des  Staates  das  Bürgertum  der  ständischen 
Gliederung  gegenübergestellt  wurde,  fiel 
den  Regierungen  immer  mehr  die  Aufgabe 
zu,  auf  die  Förderung  des  materiellen  Woh- 
les der  Bürger  selbst  immittelbar  Einfluss 
zu  üben.  Die  Regierung  bedurfte  zur  Er- 
füllung dieser  Aufgaben  der  Mithilfe  der. 
Bevölkerungski'eise  und  musste  sich  daher 
des  Beirates  auch  der  Gewerbetreibenden 
(im  weitesten  Sinne  Grossindustrie  imd. 
Kleingewerbe)  versichern.  Die  Gewerbe- 
kammern sind  daher  eine  korporative  Ver- 
tretung des  Gewerbestandes.  So  entwickel- 
ten sich  daher,  nachdem  die  Innungen  imd 
Aemter  ihren  Einfluss  verloren  hatten,  auf 
breiterer  Basis  atifgebaute  Körperechaften, 
die  die  Interessen  des  Gewerbestandes  ge- 
genüber den  Regierungen  zu  wahren  hatten 
und  die  einen  grösseren  oder  geringeren 
Einfluss  auf  die  Massnahmen  der  Regierun- 
gen ausübten.  Die  Gewerbekammern  müs- 
sen aus  der  freien  Wahl  aller  selbständigen 
Gewerbetreibenden  hervorgehen,  obligatorisch 
und  für  bestimmte  Bezirke  bestellt  werden 
und  in  ihrer  Zusammensetzung  den  gewerb- 
lichen Verhältnissen  ihres  Berufes  ent- 
sprechen.   Die  Wahlordnung  hat  zu  ermög- 

32* 


500 


Gewerbekaraniera 


li^^hen,  dass  jede  Grruppe  von  Gewerbetrei- 
benden, welche  gleiche  oder  ähnliche 
Interessen  verfolgen,  ihre  Vertretung  mög- 
lichst in  der  Gewerbekammer  finden.  Es 
ist  wünschenswert,  dass  auch  die  Minori- 
täten in  der  Kammer  die  Möglichkeit  haben, 
ihre  Ansichten  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Wahlberechtigt  und  wahlfähig  sollen  nuf 
dem  gewerblichen  Berufe  als  selbständig 
Angehörige  sein.  Die  G^werbekammem 
können  entweder  als  selbständige  Vertre- 
timgskörper  (z.  B.  in  den  Hansestädten, 
Leipzig  imd  Weimai*)  oder  als  Abteilungen 
einer  Gesamtverti'etung  von  Handel  und 
Gewerbe  mit  grösserer  oder  geringerer 
Selbständigkeit  wie  in  den  Handels-  und 
Gewerbekammern  (z.  B.  in  Sachsen,  Bayern, 
Oesterreich,  Ungarn  etc.)  oder  endlich  als 
Teile  einer  allgemeinen  Vertretung  sämt- 
licher wirtschaftlicher  Berufskreise,  ein- 
schliesslich der  Landwirtschaft  (wie  früher 
in  Preussen)  und  auch  der  Arbeitnehmer 
ins  Leben  gerufen  weinlen. 

Die  Aufgabe  der  Gewerbekammern  be- 
steht vor  allem  darin,  -der  Regienmg  sach- 
verständige Gutachten  über  alle  gewerblichen 
Verhältnisse  zu  erstatten,  die  Wünsche  und 
Bedürfnisse  des  Gewerbestandes  zu  erfor- 
schen, sie  massgebenden  Orts  vorzulegen 
und  aJle  Massnahmen  zu  fördern,  welche 
der  Hebung  des  Gewerbes  dienen,  schliess- 
lich auch  darin,  zur  Verwirklichung  der 
unter  ihrer  Mitwirkung  zu  stände  gekom- 
menen Aenderungen  der  öffentlichen  Ver- 
waltung in  den  durch  sie  vertretenen  Krei- 
sen thunlichst  beizutragen.  Erhalten  sie 
besondere  administrative  Befugnisse  (wie  in 
den  Hansestädten)  so  stärkt  dies  ihre  Auto- 
rität. Je  grösser  der  Kreis  der  in  der  Ge- 
werbekammer vereinigten  Gruppen  gewerb- 
licher Interessenten  ist,  desto  einflussreicher 
wird  die  Wirksamkeit  dieser  Kammern  sein. 
JedenfaUs  ist  es  vorteilhafter  für  das  Ge- 
werbe, wenn  die  verschiedenen  oft  wider- 
streitenden Interessen  einzelner  Gruppen  in 
der  Gewerbekammer  selbst  zum  Ausgleich 
gelangen,  es  also  nicht  der  Verwaltungsbe- 
hörde anheim  gestellt  bleibt,  unter  einer 
Reihe  gesonderter  Gutachten,  oft  nur  von 
politischen  Gesichtspunkten  geleitet  die 
Wahl  zu  treffen.  Auch  ist  es  bei  imifas- 
senderen  wirtschaftlichen  Vertretungskörpern 
leichter,  diesen  alle  wichtigeren  wirtschaft- 
lichen Gesetze  und  Verordnungen  im  Ent- 
würfe ziu*  Begutachtunjj  zu  übermitteln  und 
sich  dadurch  des  kundigen  Beirates  der  be- 
treffenden Kreise  rechtzeitig  zu  versichern. 
Vielfach  wird  unter  Gewerbekammern  le- 
diglich eine  Vertretung  der  Handwerker- 
ki*eise  verstanden  oder  dos  Kleingewerbes 
im  Verein  mit  dem  Kleinhandel.  Derartige 
Gewerbekammern  sind  jedoch  sehr  einsei- 1 
tige  und  für  die  gesamte  Wirtschaftspolitik! 


wenig  bedeutungsvolle  Vertretungskörper, 
ganz  abgesehen  davon,  dass  die  Grenze 
nicht  leicht  zu  ziehen  ist  zwischen  Gross- 
industrie  und  Handwerk  und  viele  Fragen 
für  den  gesamten  Gewerbestand  gleich 
wichtig  sind. 

IL  Die  Gewerbekammem  im  Dentschen 

Reiche. 

1.  Die  G.  in  Preussen»  Barch  die  V. 
V.  9.  Februar  1849  wurden  in  Preussen  neben 
den  schon  früher  begründeten  Handelskammern 
(s.  d.)  zur  Ueberwachung  des  Innnngswesens 
und  als  Beratungsorgan  für  alle  Ang^elegen- 
beiten  des  Handwerks  and  Fabrikbetrieoes  Qe- 
werberäte  ins  Leben  gerufen,  welche  za  glei- 
chen Teilen  aus  Wahlen  der  Handwerker, 
Industriellen  und  Kaafleute  hervorgehen  und 
in  deren  Handwerks-  and  Fabriksabteilungen 
die  Vertreter  aus  den  Arbeitgebern  und  Arbeit- 
nehmern gewählt  werden  sollten.  Diese  Ge- 
werberäte bewährten  sich  nicht,  and  von  den 
96  ursprünglich  errichteten  Gewerberäten  löste 
sich  der  letzte  1864  in  Berlin  auf.  Die  Er- 
richtung der  Gewerberäte  war  eine  fakultative. 
Nor  der  Stand  der  Handwerksmeister  hatte  ein 
direktes  Interesse  an  der  Errichtung  von  Ge- 
werberäten, die  anderen  Stände  besassen  es 
mehr  oder  weniger  nicht.  Es  musste  ihnen  so- 
gar daran  liegen,  die  Errichtung  von  Gewerbe- 
räten zu  hindern,  um  die  Durchführung  der  in 
der  V.  V.  9.  Februar  1849  eingeführten  ge- 
werblichen Beschränkungen  zu  hindern.  Es 
musste  also  die  Errichtunff  der  Gewerberäte  an 
der  Interessenlosigkeit  scneitem,  die  die  In- 
dustriellen und  Kaufleute  den  Gewerberäten 
entgegenbrachten,  sodann  aber  auch  an  der 
mangelhaften  Kompetenz,  die  den  Gewerberäten 
eingeräumt  wurde.  Die  Befu^is,  die  Befolgnng 
der  Vorschriften  über  das  Innungswesen  und 
die  gewerblichen  Verhältnisse  zu  überwachen, 
bestand  eigentlich  nur  in  Anzeigen,  oder  rich- 
tiger gesagt,  in  Denunziationen  an  die  Behör- 
den und  in  Erstattung  von  Gutachten,  wenn 
diese  wirklich  verlangt  wurden.  So  gingen  die 
Gewerberäte,  ohne  irgend  welche  erfolgreiche 
Thätigkeit  entwickelt  zu  haben,  zu  Grunde. 

Bei  der  Beratung  der  Reichsgewerbeord- 
nnng  1869  wurde  das  Verlangen  nach  Errich- 
tung von  Gewerbekammern  für  die  Handwerker 
erfolglos  erhoben  und  bei  der  Beratung  über 
das  Innungsgesetz  (1881)  wieder  angeregt,  zu- 
mal die  durch  das  G.  v.  24.  Februar  1870  re- 
formierten Handelskammern  das  Wahlrecht  nur 
im  Firmenregister  eingetragenen  Industriellen 
einräumten,  so  dass  der  ganze  Handwerker- 
stand und  Kleingewerbestand  überhaupt  keine 
Vertretung  hatte.  Auf  dem  ersten  Delegierten- 
tag hanseatischer  Gewerbekammem,  der  am  7. 
September  1873  zu  Lübeck  stattfand,  warde  die 
Organisation  von  Gewerbekammem  in  allen 
deutschen  Staaten  gefordert.  Alle  hanseatischen 
Gewerbekammer-Delegiertenkonferenzen  wie  die 
Konferenzen  von  Delegierten  deutscher  Gewerbe 
resp.  Handels-  und  Gewerbekammem,  seit  1886 
deutscher  Gewerbe  kam mertag  genannt,  vertra- 
ten die  Forderung:  der  Errichtung  von  Gewerbe- 
kammem in  allen  deutschen  Staaten.  Der 
deutsche  Reichstag  ersuchte  dann  auch,  haupt- 


Gewerbekammem 


501 


sächlich  mit  infolge  dieser  Agitation,  am  9.  Juni 
1881  den  Beichskanzler  um  Vorlage  eines  Ge- 
setzes ttber  die  Errichtung  von  Gewerhekam- 
mem  unter  Beteiligung  sowohl  der  Innungen 
als  der  ausserhalb  derselben  stehenden  Grewerbe- 
treibenden.  Eine  Delee^iertenkonferenz  deutscher 
Gewerbe-  und  Handels-  und  Gewerbekammern 
(26.  September  1881)  arbeitete  auch  eine  Denk- 
schrift über  die  Errichtung  yon  Gewerbekam- 
mem aus.  In  einer  Versammlung  vom  28.  Sep- 
tember 1882  nahm  auch  der  „Central verband 
deutscher  Industrieller"  zu  dieser  Frage  Stel- 
lung im  Sinne  der  einheitlichen  obligatorischen 
Errichtung  von  Handels-  und  Gewerbekammem 
unter  Ausschluss  der  Landwirtschaft  und  bei 
ausnahmsweiser  Gestattung  der  Bildung  ge- 
sonderter Gewerbekammem,  wobei  eine  Minori- 
tät für  die  Gründung  von  Wirtschaftskammem 
unter  Einschluss  der  Landwirtschaft  eintrat. 
Fürst  Bismarck  teilte  als  Handelsminister  diese 
letztere  Auffassung  der  Minorität,  und  so  wur- 
den mit  Reskript  der  vier  beteiligten  preussi- 
schen  Minister  am  24.  Juli  1884  an  die  Begie- 
rune^spräsidenten  und  Landdroste  den  Provin- 
ziaUandtagen  „Bestimmungen  über  die  Bildung 
von  Gewerbekammem"  zur  Behandlung  und 
Durchfühmng  übermittelt.  Die  Provinzialland- 
tage  von  Posen,  Westfalen,  der  ßheinprovinz 
und  Hessen-Nassau  lehnten  die  Vorlage  pure 
ab.  Diejenigen  der  Provinzen  Westpreussen, 
Ostpreussen,  Brandenburg,  Schleswig-Holstein 
und  Pommern  änderten  sie  insofern  ab,  als  sie 
nicht  für  jeden  £«gierungsbezirk,  sondem  für 
die  ^anze  Provinz  nur  je  eine  Gewerbekammer 
erricnteten.  Im  ganzen  sind  in  8  Provinzen 
17  solcher  Gewerbekammem  entstanden,  die 
alle  bereits,  ohne  irgend  welche  Wirksamkeit 
entwickelt  zu  haben,  wieder  aufgelöst  sind. 
Am  längsten  hat  sich  die  GewerbcKammer  für 
die  Provinz  Brandenburg  gehalten,  die  erst  im 
Jahre  1897  aufgelöst  worden  ist.  Die  letzte 
Sitzung  dieser  Kammer  hat  am  25.  und  26.  No- 
vember 1896  stattgefunden.  Die  Kammern 
lösten  sich  meist  dadurch  auf,  dass  die  Provin- 
ziallandtage  für  diese  unglücklichen  Institu- 
tionen die  Bewilligung  der  Kosten  versagen. 
Die  Organisation  und  die  Aufgaben  dieser 
Kammem,  die  nur  noch  historisches  Interesse 
haben,  waren  folgende.  Die  neuen  preussischen 
Gewerbekammem  bestanden  aus  Vertretem  von 
4  Abteilungen  (Landwirtschaft,  Handwerk,  In- 
dustrie und  Handel);  Standort  der  Kammer, 
Zahl  der  Mitglieder  und  ihre  Verteilung  auf 
die  Abteilungen  bestimmten  die  Ressortminister, 
die  Mitglieder  wurden  nicht  von  den  Inte- 
ressenten selbst,  sondem  von  den  Provinzial- 
landtagen  aus  den  mindestens  30  jährigen  seit 
einem  Jahre  selbständigen  Genossen  jedes  Zwei- 
ges, den  sie  zu  vertreten  hatten,  auf  6  Jahre 
^wählt;  alle  3  Jahre  wurde  die  Hälfte  der 
Mitglieder  neugewählt  und  war  Wiederwahl 
zulässig.  Die  Gewerbekammem  hatten  nach 
Aufforderung  der  Reichs-  und  Staatsbehörden 
über  wirtschaftliche  Verhältnisse  ihres  Bezirkes 
Erhebungen  anzustellen  und  Gutachten  abzu- 
geben und  waren  berechtigt,  in  wirtschaftlichen 
Angelegenheiten  Anträge  an  die  zuständigen 
Behörden  zu  richten  so\(ie  mit  Zustimmung 
des  Regierungspräsidenten  von  den  Gewerbe- 
räten (Fabrikinspektoren)  Auskunft  zu  verlan- 
gen.   Der  Geldbedarf  der  Kammem  wurde  von 


den  Provinzialverbänden  aufgebracht.  Die  Ge- 
werbekammem scheiterten  hauptsächlich  daran, 
dass  ihre  Mitglieder  durch  die  Provinzialland- 
tage  gewählt  wurden,  so  dass  die  Mitglieder 
nicht  vom  Vertrauen  der  Interessenten  getragen 
wurden.  Da  die  Provinziallandtage  nur  sehr 
geringe  Summen  bewiUigten,  so  fehlte  es  den 
Kammemmeist  an  Mitteln,  ein  Sekretariat  einr 
zurichten  und  tüchtige  Beamte  zu  besolden. 
Die  Hauptsnmmen  wurden  für  Diäten  an  die 
Mitglieder  ausgegeben,  die,  wenn  sie  zur  Sit- 
zung kommen  wollten,  die  ganze  Provinz 
durchreisen  mussten.  Die  Bezirke  waren  viel 
zu  ^ross.  Es  fehlte  der  Kammer  gänzlich  an 
Initiative.  Da  keine  Periodicität  der  Sitzungen 
vorgesehen  war,  so  traten  die  Kammem  nur 
zusammen,  wenn  die  Re^iemng  irgend  welche 
Fragen  an  die  Kammer  nchtete  und  daher  eine 
Sitzung  unbedingt  nötig  schien. 

Handel  und  Industrie  sahen  nach  wie  vor 
in  den  Handelskammern  ihre  Interessenvertre- 
tung, die  Landwirtschaft  dagegen  in  den  neuen 
Landwirtschaftskammem.  Das  Handwerk,  wel- 
ches ausser  in  den  Gewerbekammern  keine 
Interessenvertretung  hatte,  stand  denselben 
ebenfalls  nicht  sympathisch  gegenüber,  vde  dies 
auf  den  Handwerkertagen  mehrfach  hervortrat 
und  wie  auch  die  Handwerkerpresse  deutlich 
zeigte.  Man  war  der  Ansicht,  dass  diese  Ge- 
werbekammem dem  Handwerkerinteresse  des- 
halb schädlich  seien,  weil  dadurch  die  Hand<- 
werkerkammem  in  weite  Feme  gerückt  würden, 
welche  allein  den  berechtigten  Forderungen  die- 
ses Berufes  entsprächen. 

Da  Handel  und  Industrie  schon  seit  langer 
Zeit  Vertretung  in  den  Handelskammem  fanden^ 
da  ferner  durch  das  preussische  G.  v.  30.  Juni 
1894  für  die  Landwirtschaft  eine  Vertretung 
in  den  Landwirtschaftskammem  geschaffen  war, 
so  ermangelte  nur  noch  das  Handwerk  einer 
eigenen  gesetzlichen  Interessenvertretung,  die 
durch  das  G.  v.  26.  Juli  1897  in  Form  von 
Handwerkerkammem  geschaffen  wurde. 

Für  die  Frage  der  Erhaltung  der  Gewerber 
kammem  ist  §  103  q  des  neuen  G.  v.  26.  Juli 
1897  besonders  wichtig,  welcher  bestimmt: 

§  103  q.  Die  Landes-Centralbehörden  der- 
jenigen Bundesstaaten,  in  welchen  andere  ge- 
setzliche Einrichtungen  (Handels-  und  Gewerbe- 
kammem, Gewerbekammem)  zur  Vertretung  der 
Interessen  des  Handwerkes  vorhanden  sind,können 
diesen  Körperschaften  die  Wahrnehmung  der 
Rechte  und  Pflichten  der  Handwerkskammer  über- 
tragen, wenn  ihre  Mitglieder,  soweit  sie  mit  der 
Vertretung  der  Interessen  des  Handwerks  be- 
traut sind,  aus  Wahlen  von  Handwerkern  des 
Kammerbezirkes  hervorgehen  und  eine  geson- 
derte Abstimmung  der  dem  Handwerk  angehö- 
renden Mitglieder  gesichert  ist. 

Es  können  also  auch  unter  der  Geltung 
des  Handwerks  -  Organisationsgesetzes  sowohl 
die  Handels-  und  Gewerbekammem^  wie  die  Ge- 
werbekammem erhalten  bleiben,  wenn  sie  den 
im  §  103q  vorgesehenen  Bedingungen  entsprechen. 

2«  Die  nanseatisehen  G.  a)  Oeschichte. 
Die  Gewerbekammer  in  Bremen  beruht  auf 
§  86  und  §§  102—111  der  Verfassung.  Sie 
wurde  1849  zugleich  mit  der  Handelskammer 
ins  Leben  gerufen  und  durch  das  G.  v.  6.  Ok- 
tober 1875  und  v.  20.  November  1879  refor- 
miert.   Durch   Gesetz,   betreffend  Zusatz   zum 


502 


Qewerbekanimem 


Gewerbekammergesetz  v.  31.  März  1898  wurde 
schliesslich  noch  eine  Abänderung  der  oben  ge- 
nannten Gesetze  vorgenommen.  In  Lübeck 
wurde  eine  Gewerbekaramer  schon  bei  Einfüh- 
rung der  Gewerbefreiheit  im  Jahre  1867,  aber 
mit  ungenügender  Organisation  errichtet  und 
durch  G.  v.  21.  November  1877  umgestaltet. 
Neuerdings  ist  diese  Gewerbekammer  durch  G. 
für  die  Lübecksche  Gewerbekammer  vom  18  Juli 
1898  vollständig  reformiert. 

Die  Hamburgische  Gewerbekammer  beruht 
auf  Art.  93  der  Verfassung.  Dieselbe  besteht 
auf  Grund  des  G.  v.  18.  Dezember  1872. 

b)  Organisation.  Die  hanseatischen  Ge- 
werbekammern sind  von  den  Handelskammern 
vollständig  getrennt  und  haben  ihr  eigenes 
Präsidium  und  Sekretariat.  In  Bremen  kann 
bei  Gegenständen,  welche  zugleich  die  Gewerbe 
und  den  Handel  berühren,  die  Gewer bekammer 
in  ihrer  Gesamtheit  oder  mittelst  eines  Aus- 
schusses mit  der  Handelskammer  oder  einem 
Ausschusse  derselben  zur  Beratung  zusammen- 
treten, jedoch  bedarf  es  dazu  eines  übereinstim- 
menden Beschlusses  beider  Kammern.  Auch  in 
Lübeck  und  Hamburg  kommen  gemeinsame 
Eommissionsverhandlungen  beider  Kammern  für 
bestimmte  Zwecke  vor. 

Wahlberechtigt  und  wählbar  sind  nicht  nur 
Kleingewerbetreibende,  sondern  auch  Gross- 
industrielle und  Fabrikanten,  die  allerdings 
auch  gleichzeitig  in  der  Handelskammer  das 
Wahlrecht  haben  können.  Die  Ressorts  beider 
Kammern  sind  daher  nach  wissenschaftlichen 
Gesichtspunkten  geschieden.  Die  Gewerbekam- 
mem  vertreten  das  ganze  technische  Gewerbe, 
mit  Ausnahme  der  im  Tit.  II,  §§  29  und  30 
sowie  31  bis  37  der  R.G.O.  genannten  Gewerbe, 
d.  h.  also  alle  Fragen,  die  sich  auf  die  Pro- 
duktion beziehen.  Die  Handelskammern  ver- 
treten dagegen  alle  Interessen  des  Handels  im 
grossen,  däer  auch  die  kommerziellen  In- 
teressen des  Gewerbes,  d.  h.  also  die  In- 
teressen, welche  sich  auf  den  Absatz  der  Pro- 
dukte beziehen.  Ausgeschlossen  von  allen  Kam- 
mern sind  die  kleineren  Kaufleute,  d.  h.  die 
Kleinhändler  oder  Krämer. 

Die  Wähler  müssen  selbständige  Gewerbe- 
treibende sein  und  das  Bürgerrecht  (in  Lübeck 
nicht  mehr)  besitzen,  nur  in  Hamburg  sind 
auch  unselbständige  gewerbetreibende  Gesellen, 
welche  das  Bürgerrecnt  haben,  wahlberechtigt, 
aber  nicht  wählbar. 

In  Bremen  und  Hamburg  ist  die  gesamte 
Wählerschaft  in  Gewerbsgruppen  (Bremen: 
10  Gruppen  mit  60  Gewerbszweigen,  Hamburg : 
15  Gruppen  mit  174  Gewerbszweigen)  geteilt 
nach  der  technischen  Verwandtschaft,  aber  ohne 
Unterscheidung  zwischen  Industrie  und  Hand- 
werk und  mit  Ausschluss  des  Handels.  Diese 
Urwähler  wählen  in  Bremen  in  dem  neben  der 
Gewerbekammer  bestehenden  Gewerbekonvent, 
der  nach  Berufung  der  Gewerbekammer  zwei- 
mal jährlich  zusammentritt  zur  Beratung  über 
f ewerbliche  Angelegenheiten,  für  je  10  Mitglie- 
er  einer  Gruppe  einen  Vertreter.  Jedoch  sind 
diejenijjen  Abteilungen,  welche  nur  aus  Mitglie- 
dern eines  und  desselben  Gewerbes  bestehen, 
für  nicht  mehr  als  20  Vertreter  wahlberechtigt. 
Keine  Abteilung  darf  mehr  als  20  einem  und 
-demselben  Gewerbe  angehörende  Vertreter  wäh- 
len.   Für  Abteilung  9,   welche  sämtliche  Ge- 


werbetreibende in  Vegesack  umfasst,  ist  die 
Zahl  der  zu  wählenden  Vertreter  auf  12,  und 
für  die  Abteilung:  10,  welche  sämtiiche  Ge- 
werbetreibenden im  Bremerhaven  umfasst,  auf 
18  festgesetzt. 

Der  Gewerbekonvent  wählt  aus  seiner  Mitte 
auf  Grund  einer  Vorschlagslist«  die  21  Mitglie- 
der der  Gewerbekammer. 

Alle  zwei  Jahre  wird  der  dritte  Teil  des 
Konvents  neugewählt.  Das  Ausscheiden  aus 
demselben  hat  auch  den  Austritt  aus  der  Ge- 
werbekammer zur  Folge. 

In  Hamburg  wählt  jede  der  15  Gruppen 
einen  Vertreter  in  die  Gewerbekammer,  von 
denen  jährlich  3  ausscheiden. 

In  Lübeck  ist  im  Jahre  1898  eine  völlig 
neue  Organisation  geschaffen  worden,  damit  die 
Lübecker  Gewerbekammer  den  im  §  103  q  der 
E.G.O.  geforderten  Bedingungen  entspricht  und 
ihr  daher  die  Wahrnehmung  der  Bechte  und 
Pflichten  der  Handwerkerkammer  übertragen 
werden  kann. 

Die  Lübecker  Gewerbekammer  besteht  aus 
18  Mitgliedern,  und  zwar  aus  12  Vertretern  des 
Handwerks  und  6  Vertretern  der  Industrie. 

Dieselben  werden  auf  6  Jahre  gewählt. 
Alle  2  Jahre  treten  6  Mitglieder  aus,  und  zwar 
4  Vertreter  des  fiandwerks  und  2  Vertreter  der 
Industrie. 

Von  den  18  Mitgliedern  der  Gewerbekam- 
mer  werden  12  als  Vertreter  des  Handwerks 

a)  von  den  Handwerker -Innungen,  welche 
im  Lübeckischen  Staate  ihren  Sitz  haben, 
und 

h)  Von  denjenigen  Vereinigungen,  welche 
die  Förderung  der  gewerblichen  In- 
teressen des  Handwerks  verfolgen,  min- 
destens zur  Hälfte  aus  Handwerkern  be- 
stehen und  im  Lübeckschen  Staat  ihren 
Sitz  haben, 
aus  der  Zahl  ihrer  Mitglieder  gewählt. 

Diese  Wahl  ist  also  genau  der  im  §  103  a 
der  R.G.O.  vorgeschriebenen  Wahl  zur  Hand- 
werkskammer nachgebildet.  6  Mitglieder  wer- 
den als  Vertreter  der  Industrie  von  und  am 
der  Zahl  derjenigen  Gewerbetreibenden  gewählt, 
welche  im  Lübeckschen  Staate  einem  industri- 
ellen Betrieb  selbständig  oder  als  Betriebsleiter 
vorstehen. 

Wählbar  sind  nur  solche  Personen,  welche : 

1.  das  Lübecksche  Bürgerrecht  haben, 

2.  zum  Amte  eines  Schöffen  fähig  sind, 

3.  das  dreisslgste  Lebensjahr  zurückgelegt 
haben, 

4.  im  Lübeckschen  Staat  ein  Gewerbe  (mit 
Ausnahme  der  in  Tit.  II,  §§  29  und  30 
sowie  31—37  der  R.G.O.  aufgeführten) 
mindestens  drei  Jahre  betrieben  oder  be- 
trieben haben,  und 

5.  soweit  es  sich  um  Handwerker  handelt, 
die  Befugnis  zur  Ausbildung  von  Lehr- 
lingen besitzen. 

Die  Wahl  erfolgt  auf  Grund  von  Wahl- 
listen in  2  Wahlhandlungen,  getrennt  für  die 
Vertreter  des  Handwerks  und  für  die  Vertreter 
der  Industrie. 

Die  Wahl  der  Vertreter  des  Handwerks 
erfolgt  durch  Wahlmänner,  welche  von  den 
Handwerker -Innungen  und  wahlberechtigften 
Vereinigungen  aus  der  Zahl  ihrer  Mitglieder  er- 
nannt werden. 


Gewerbekammern 


503 


Die  Zahl  der  Ton  ihnen  zu  ernennenden 
Wahlmänner  richtet  sich  nach  der  Mitglieder- 
jsahl,  und  zwar  ernennt  jede  derselben  mindestens 
einen  Wahlmann  nnd  für  je  10  Mitglieder,  wel- 
che sie  mehr  als  10  zählt,  nnd  für  je  20  Mit- 
glieder, welche  sie  mehr  als  50  Mitglieder 
zählt,  je  einen  Wahlmann  mehr,  im  ganzen  aber 
nicht  mehr  als  8  Wahlmänner.  Die  Wahl  der 
Vertreter  des  Handwerks  ist  also  eine  indirekte. 

Die  Wahl  der  Vertreter  der  Industrie  ist 
dagegen  eine  direkte.  Diese  Wahl  erfolgt  durch 
Stimmzettel.  Es  entscheidet  bei  der  Wahl  die 
einfache  Stimmenmehrheit  der  abgegebenen 
giltigen  Stimmen  und  im  Falle  der  Stimmen- 
gleichheit das  Los.  Von  beiden  Vorsitzenden 
moss  einer  dem  Handwerk  und  einer  der  In- 
dustrie angehören. 

Die  Kosten  aller  drei  Gewerbekammem 
werden  aus  Staatsmitteln  bestritten.  In  Lübeck 
und  Hamburg  wird  die  Höhe  dieser  Kosten 
jährlich  im  Staatsbudget  festgestellt,  während 
m  Bremen,  ausser  der  Besoldung  der  Beamten 
und  der  Kosten  für  die  Räumlichkeiten,  zur 
Bestreitung  der  Kosten  der  Versammlungen  und 
zur  Förderung  der  Interessen  des  Gewerbestan- 
des, namentlich  durch  Anschaffung  von  Büchern, 
Karten,  Modellen  u.  dergl.,  sowie  zur  Bewir- 
kung  und  Unterstützung  von  Gewerbeausstel- 
lungen oder  sonstigen  zur  Hebung  der  Gewerbe 
dienenden  Einrichtungen  und  zu  ähnlichen  Ver- 
wendungen der  Gewerbekammer  jährlich  ein 
Fonds  von  3600  Mark  noch  zur  Verfügung  ge- 
stellt wird.  In  Hamburg  betrug  das  Budget  für 
das  Jahr  1899  20220  Mark,  in  Lübeck  7500  Mark. 
In  Hamburg  sind  die  Beamten  der  Kammer  Staats- 
beamte. Der  erste  Beamte  der  Kammer  gehört  auf 
Grund  des  revidierten  Gesetzes  über  die  Organi- 
sation der  Verwaltung  zu  den  juristischen  Be- 
amten des  höheren  Verwaltungsdienstes  und 
führt  die  Amtsbezeichnung  Rat.  Der  Rat  bei 
der  Gewerbekammer  wird  wie  alle  Beamte  des 
höheren  Verwaltungsdienstes  vom  Senate  auf 
Vorschlag  der  Gewerbekammer  erwählt  und  von 
dem  Senate  beeidigt. 

In  Lübeck  ernennt  die  Kammer  einen  Kon- 
sulenten, welcher  nicht  Mitglied  der  Kammer 
sein  darf.  In  Bremen  ist  die  Gewerbekammer 
befugt,  einen  Rechtsgelehrten  als  Konsulenten 
und  Protokollführer,  jedoch  jedesmal  nur  auf 
längstens  6  Jahre  anzunehmen.  Auch  in  Bre- 
men wird  das  Gehalt  des  juristischen  Konsu- 
lenten durch  Senat  und  Bürgerschaft  festgestellt, 
so  dass  der  Beamte  der  Kammer  fast  den  Cha- 
rakter eines  Staatsbeamten  hat.  Die  Grewerbe- 
kammer  in  Bremen  besitzt  ausser  dem  juristi- 
schen Konsulenten  noch  einen  vom  Senate  er- 
nannten technischen  Konsulenten,  der  Staats- 
beamter ist  und  im  Auftrage  der  Gewerbekammer 
Rei.sen  zum  Zwecke  der  Berichterstattung  über 
auswärtige  gewerbliche,  technische  oder  künst- 
lerische Leistungen  und  Einrichtungen  zu  über- 
nehmen hat.  Der  technische  Konsäent  der  Ge- 
werbekammer ist  gleichzeitig  Direktor  des  Ge- 
werbemuseums. 

o)  Aufgaben  und  Befugnisse.  Die  han- 
seatischen Gewerbekammem  haben  die  Bestim- 
mung, als  Organ  des  Gewerbestandes  die  In- 
teressen des  Gewerbe  Wesens  d.  h.  also  die  des 
Handwerks  und  Fabrikwesens  auf  gewerblichem 
und  technischem  Gebiet  wahrzunehmen  und  zu 
-fördern.    Insbesondere  sind  sie  verpflichtet,  auf 


alles,  was  für  das  Gewerbewesen  dienlich  sein 
kann,  ihr  Augenmerk  zu  richten,  in  dieser 
Richtung  liegende  Wünsche  und  Beschwerden 
der  Gewerbetreibenden  mitzuteilen,  über  die 
Mittel  zur  Hebung  der  Gewerbe  sowie  über 
die  Beseitigung  von  Hindernissen  zu  beraten 
und  darüber  demSenate  und  deuBehörden  auf  deren 
Aufforderung  oder  auch  unaufgefordert,  eintre- 
tendenfalls unter  Hinzufügung  der  erforderlichen 
Anträge  gutachtlich  zu  oenchten.  In  Bremen 
wird  über  alle  in  Gewerbeangelegenheiten  zn 
erlassende  Gesetze  vorab  die  Gewerbekammer 
zu  einer  Begutachtung  veranlasst.  In  Lübeck 
soll  die  Kammer  in  allen  wichtigen  die  Gesamt- 
interessen der  Handwerker  oder  die  Interessen 
einzelner  Zweige  derselben  berührenden  Ange- 
legenheiten gehört  werden.  In  Hamburg  ist 
diese  obligatorische  Anhörung  zwar  nicht  im 
Ghesetz  ausdrücklich  ausgesprochen,  jedoch  wird 
auch  dort  die  Gewerbekammer  bei  allen  wichti- 
gen Angelegenheiten  gehört. 

Die  Gewerbekammer  in  Bremen  hat  über- 
dies für  Gewerbestatistik  zu  sorgen.  Dann  ent- 
sendet sie  S— 5  Mitglieder  in  die  Behörde  für 
Grew^erbeangelegenheiten,  welche  gebildet  wird 
aus  der  Gewerbekommission  des  Senats  und 
dann  3—5  Mitjpfliedern  der  Gewerbekammer. 
Diese  Behörde  für  Gewerbeangelegenheiten  ist 
zur  Erleichterung  des  geschäfUichen  Verkehres 
zwischen  dem  Senat  und  der  Gewerbekammer 
zur  gemeinsamen  Beratung  über  gewerbliche 
Angelegenheiten  geschaffen.  Femer  entsendet 
die  Bremische  Gewerbekammer  3 — 5  Mitglieder 
in  die  Behörde  für  das  Gewerbemuseum,  welche 
ausserdem  ebenfalls  noch  die  Gewerbekommission 
des  Senats  umfasst.  Die  Bremer  Gewerbekam- 
mer besitzt  ein  eigenes  Gewerbehaus. 

Die  Gewerbekammer  zu  Hamburg  wählt  4 
Mitglieder  der  Verwaltung  des  Gewerbeschul- 
wesens, 2  Mitglieder  der  Beratungsbehörde  für 
das  Zollwesen,  schliesslich  delegiert  sie  2  ihrer 
Mitglieder  in  die  Aufsichtsbehörde  für  die  In- 
nungen. Die  G«werbekammer  Lübeck  entsendet 
in  die  Behörde  für  die  Gewerbeschule  und  Bau- 

fewerksschule  zwei  Mitglieder.  Die  Gewerbe- 
ammer von  Hamburg  ernennt  alljährlich  be- 
eidigte gewerbliche  Sachverständige.  Die  Lü- 
becker Gewerbekammer  übt  das  Vorschlags- 
recht für  solche  aus.  Dieselben  haben  in  vor- 
kommenden Fällen  auf  Requisition  der  Gerichte 
oder  auf  Antrag  von  Privatpersonen  über  Güte 
und  Preis  der  in  ihr  Fach  einschlägigen  Arbei- 
ten Gutachten  abzugeben.  Diese  Sachverstän- 
digen werden  in  Hamburg  von  dem  Kommissar 
für  die  Gewerbekammer,  nämlich  einem  Mit- 
gliede  des  Senats,  in  Lübeck  vom  Stadt-  und 
Landamt  in  Eid  genommen.  Es  werden  die 
Gutachten  der  Sachverständigen  von  der  Ge- 
werbekammer beglaubigt  und  nach  Liquidierang 
der  Kosten  und  Erhebung  einer  Beglaubigungs- 
gebühr  aus  den  bei  ihr  geleisteten  Einzahlungen 
honoriert.  Ausserdem  oenennt  die  Kammer  den 
Gerichten  im  Einzelfalle  Sachverständige. 

Durch  G.  V.  22.  Januar  1879  erhielt  die  Ge- 
werbekammer in  Hamburg  die  Befugnis,  die  von 
den  gewerblichen  Korporationen  ausgestellten 
Lehrbriefe  zu  beglaubigen,  und  so  weit  erstere  feh- 
len, diese  selbst  auszustellen,  ferner  genehmigte 
der  Senat,  dass  die  Gewerbekammer  die  ihr 
eingereichten  Lehrverträge  auf  ihre  Gesetzlich- 
keit sowie   daraufhin  zu  prüfen  habe,  ob   sie 


504 


Grewerbekammeni 


zur  Begründung  eines  soliden  Lehrverhältnisses 
geeignet  seien ;  da  ein  Zwang  znm  schriftlichen 
Ahscnlnsse  von  Lehrverträgen  und  zum  Ein- 
reichen derselben  an  die  Gewerbekammer  bisher 
fehlte,  so  hat  dieselbe  auf  diesem  Gebiete  eine 
nur  geringe  Thätigkeit  zu  entwickeln  ver- 
mocht. Ebenso  kommt  die  Beglaubigung  von 
Lehrbriefen  oder  die  Ausstellung  derselben  nur 
noch  selten  vor,  da  mit  der  Entwickelung  der 
Innungen  und  der  Einführung  der  Innungs- 
lehrbnefe  eine  derartige  Thätigkeit  fast  über- 
flüssig geworden  ist. 

Das  G.  V.  2.  Juni  1882,  abgeändert  durch 
die  Bekanntmachung,  betreffend  die  Zuständig- 
keit für  das  gewerbliche  Innungswesen,  vom 
28.  März  1898  bestimmt  endlich,  dass  die  Auf- 
sichtsbehörde für  die  Innungen  aus  einem  Se- 
nator als  Vorsitzenden  und  zwei  von  der  Ge- 
werbekammer zu  entsendenden  Mitgliedern  be- 
stehen soll  und  diese  Behörde  zugleich  auch 
als  höhere  Verwaltungsbehörde  zu  fungieren  habe. 
Die  hanseatischen  Gewerbekammem  sind 
also  nicht  nur  reine  Interessenvertretungen, 
sondern  sie  haben  behördlichen  Charakter  und 
mannigfache  Aufgaben  der  staatlichen  Verwal- 
tung mit  zu  erfüllen. 

Die  hanseatischen  Gewerbekammern  werden 
voraussichtlich  auch  nach  dem  Inkrafttreten  der 
§§  103— 103  q  der  R.G.O.,  betreffend  die  Hand- 
werkskammern, erhalten  bleiben. 

In  Lübeck  ist  durch  das  G.  v.  18.  Juli  1898 
die  Gewerbekammer  den  Bedingungen  des 
§  103  q  entsprechend  organisiert  worden.  Es 
^ehen  die  Mitglieder,  soweit  sie  mit  der  Ver- 
tretung der  Interessen  des  Handwerks  betraut 
sind,  aus  Wahlen  von  Handwerkern  hervor, 
denn  die  W^ahlen  sind  in  solche  von  Handwer- 
kern und  Industriellen  getrennt,  femer  ist 
nach  Art.  21  des  neuen  Lübeckschen  Gesetzes 
bestimmt,  dass  die  auf  Grund  der  Bestimmungen 
der  §§  129—133  der  G.O.  zu  fassenden  Be- 
fidilüsse  in  gesonderter  Abstimmung  der  Ver- 
treter der  Handwerker  erfolgen,  mt  Inkraft- 
treten der  Handwerkskammervorschriften  wer- 
den von  der  Kammer  auch  die  Hechte  und 
Pflichten  der  Handwerkskammer  ausgeübt 
werden. 

Bremen  hat  ebenfalls  durch  Gesetz,  betref- 
fend Znsatz  zum  Gewerbekammergesetz,  v. 
31.  März  1898  sich  den  Bestimmungen  des  §  103  q 
anzupassen  gesucht,  indem  es  dem  §  29  folgen- 
•den  Absatz  angefügt  hat. 

„Bei  Angelegenheiten,  die  nur  das  Hand- 
werk  betreffen,   dürfen  die   dem    Handwerk 
nicht   angehörenden   Mitglieder   an   der   Ab- 
stimmung nicht  teilnehmen.    Ob  ein  solcher 
Fall  vorflegt,  entscheidet  im  Zweifel  die  Ge- 
werbekammer nach  Stimmenmehrheit  der  an- 
wesenden Mitglieder." 
Es  unterliegt  daher  wohl  keinem  Zweifel, 
dass  die  Landes-Centralbehörde   Bremen,  d.  h. 
der  Senat  beim  Inkrafttreten  der  Haudwerker- 
kammern  die  Wahrnehmreng  der  Eechte  und 
Pflichten  dieser  Kammern  ihrer  bewährten  Ge- 
werbekammer übertragen  wird. 

In  Hamburg  ist  eine  Keorganisation  der 
Gewerbekammer  zur  Zeit  noch  nicht  erfolgt. 
Die  Verhandlungen  über  diese  Frage  sind  noch 
nicht  zum  Abschluss  gelangt.  Es  dürfte  aber 
auch  in  Hamburg  die  Erhaltung  der  seit  25 
Jahren  bestehenden  Gewerbekammer  aller  Vor- 


aussicht nach  das  Resultat  der  zur  Zeit  noch 
schwebenden  Frage  sein. 

3*    Die    6.    im    übrigen  DentBchluid« 

a)  Sachsen.  Im  Königreich  Sachsen  wur- 
den durch  das  Gewerbegesetz  v.  15.  Oktober 
1861  fünf  Handels-  und  Gewerbekammern 
in  Dresden,  Leipzig,  Chemnitz,  Plauen  und 
Zittau  errichtet.  Durch  das  G.  v.  23.  Juni  1868 
wurden  die  Bestimmungen  über  diese  Kammern 
reformiert  und  in  der  V.  v.  16.  Juli  1868  aus- 
drücklich bestimmt,  dass  in  Leipzig  die  Han- 
dels- und  Gewerbekammer  vollständig  getrennte 
Kollegien  bleiben  sollten,  während  die  vier  übri- 
gen vereint  thäti^  sind.  Der  Bezirk  der  ein- 
zelnen Kammern  ist  ebenfalls  durch  die  V.  v. 
16.  Juli  1868  bestimmt. 

In  die  Gtewerbekammer  sind  wahlberechtigt 
nach  diesem  Gesetz  alle  dem  Bezirk  angehörigen 
Gewerbetreibenden,  welche 

a)  als  Kauflente  oder  Fabrikanten  mit  we- 
niger als  10  Thalem,  aber  mindestens 
mit  1  Thaler  besteuert  oder 

b)  ohne  zu  ersteren  zu  gehören,  im  Ge- 
werbekataster mit  mindestens  1  Thaler 
angesetzt, 

c)  25  Jahre  alt  und 

d)  nicht  vom  Gemeindestimmrecht  oder  den 
staatsbürgerlichen  Rechten  ausgeschlossen 
sind. 

Diese  Bestimmungen  wurden  beim  Fortfall 
der  Gewerbesteuer  in  ^Sachsen  geändert.  Das 
darauf  bezügliche  G.  v.  2.  August  1878  sagt: 
„Hinsichtlich  des  geordneten  Census  für  die 
Wahlen  zu  den  Handels-  und  Gewerbekammem 
tritt  an  die  Stelle  der  ordentlichen  Gewerbe- 
steuer das  im  Ortskataster  eingetragene,  nach 
§  17  a  und  §  21  des  Einkommensteuergesetzes 
V.  2.  Juli  1878  abgeschätzte  Einkommen,  und 
zwar  nach  Höhe 

a)  von  über  600  Mark  für  die  Stimmberech- 
tigung und  Wählbarkeit  zu  den  Ge- 
werbeKammern ; 

b)  von  über  1900  Mark  für  die  Stimmbe- 
rechtiguug  und  Wählbarkeit  zu  den 
Handelskammern. 

Es  sind  also  alle  Gewerbetreibenden,  seien 
es  Kaufleute,  Fabrikanten  oder  Handwerker 
zur  Gewerbekammer  stimmberechtigt  und  wähl- 
bar, welche  weniger  als  1900,  aber  mindestens 
600  Mark  gewerbliches  Einkommen  besitzen. 

Zu  den  sächsischen  Gewerbekammem  ist 
also,  ganz  im  Gegensatz  zu  den  hanseatischen 
Gewerbekammern  auch  der  kleinere  Kaufmann 
stimmberechtigt  und  wählbar,  jedoch  befindet 
sich  meist  nur  ein,  selten  mehrere  Mitglieder 
des  Kaufmannstandes  in  der  Gewerbekammer. 

Die  sächsischen  Gewerbekammem  sind  Or- 
ganisationen, in  denen  nur  der  Klein^ewerbe- 
stand  vertreten  ist,  es  finden  sich  in  ihnen  je- 
doch stets  auch  kleine  Fabrikanten  und  Perso- 
nen, die  zwischen  Fabrik  und  Handwerk  stehen. 
Die  Grossindnstrie  ist  von  den  Gewerbekammem 

fänzlich  ausgeschlossen,  da  ein  Optionsrecht  für 
lese  nicht  besteht. 

Die  Wahlen  sind  in  Sachsen  indirekt.  Die 
Urwahlen  erfolgen  nach  räumlichen  Wahlabtei- 
lungen. Die  ^ahl  der  Wahlmänner  ist  durch 
die  Einsetzungsordnung  bei  den  Handelakam- 
mem  mindestens  auf  das  Doppelte,  bei  den  Ge- 
werbekammem mindestens  auf  das  Dreifache 
der  Mitglieder  festgesetzt.    Die  Wahlen  erfol- 


Gewerbekammeni 


505 


fen  anf  6  Jahre,  alle  3  Jahre  wird  die  Hälfte 
er  Mitglieder  erneuert.  Yakaozen,  welche  in 
der  Zwischenzeit  eintreten,  werden  durch  die 
Wahl  der  Kammer  ersetzt.  Jede  Kammer 
wählt  ihren  Vorsitzenden  und  dessen  Vertreter. 
Die  Mitglieder  fungieren  unent^ltlich,  sie  haben 

1'edoch  Anspruch  auf  Entschädigung  der  Reise- 
kosten. Die  Kosten  werden  von  den  Gewerbe- 
treibenden aufgebracht. 

Im  übrigen  ist  die  Organisation  der  Ge- 
werbekammer die  gleiche  wie  bei  den  Handels- 
kammern (siehe  diese)  und  haben  sie  ähnliche 
Aufgaben  und  Befugnisse. 

Die  sächsischen  Handels-  und  Gewerbe- 
kammem  sind  ebenfalls  konsultative  Organe. 

„Sie  haben  dem  Ministerium  des  Innern 
tmd  der  Regierungsbehörde  als  sachverständige 
Organe  in  Fragen  zu  dienen,  welche  Handel 
und  Gewerbe  des  ganzen  Landes  oder  des  Be- 
zirkes angehen.  Soweit  es  die  Verhältnisse 
Irgend  gestatten,  sollen  dieselben,  beziehentlich 
die  Handels-  oder  die  Gewerbekammer  bei  jeder 
wichtigen  Angelegenheit  dieser  Art  gehört 
werden.  Die  Kammern  sind  ferner,  eine  jede 
in  ihrem  Bereiche,  die  Vertreter  der  gemein- 
schaftlichen Handels-  und  Gewerbeinteressen 
und  befugt,  selbständig  Anträge  und  Wünsche 
an  das  Ministerium  des  Innern  oder  die  Re- 
gierungsbehörde des  Bezirks  zu  richten.  Schliess- 
uch  haben  die  Kammern  noch  jährlich  einen 
Bericht  an  das  Ministerium  des  Innern  zu  er- 
statten." 

In  Sachsen  sind  die  Handels-  und  die  Ge- 
w^erbekammern  daher  nicht  nach  wirtschaft- 
lichen Gesichtspunkten  wie  bei  den  hanseatischen 
Kammern  geschieden,  sondern  nach  rein  äusser- 
Uchen  formalen  Momenten,  nämlich  nach  dem 
Einkommen  der  in  Frage  kommenden  Personen 
bestimmt.  In  der  Hauptsache  werden  die 
•Sitzungen  der  Handels-  und  der  Gewerbekammer 
in  Sac^hsen  gemeinsam  abgehalten.  Sonder- 
sitzungen der  Gewerbekammer  finden  im  allge- 
meinen nur  für  rein  kleingewerbliche  und  Hand- 
werksangelegenheiten selten  statt. 

Die  Frage  der  Erhaltung  der  sächsischen 
Gewerbekammem  ist  ebenfalls  noch  nicht  ent- 
schieden. In  einer  Verordnung  des  königlichen 
Ministeriums  des  Innern  v.  12.  Dezember  1897, 
•betreffend  die  Organisation  der  sächsischen 
Handels-  und  Gewerbekammem  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Reichsgesetzes  v.  26.  Juli  1897  spricht 
sich  das  genannte  sächsische  Ministerium  dahin 
aus,  den  Handels-  und  Gewerbekammem  auf 
Grund  des  im  §  103  q  der  R.G.O.  in  der  Fas- 
sung der  Novelle  v.  26.  Juli  1897  die  Wahr- 
nehmung der  Rechte  und  Pflichten  der  Hand- 
werkskammer innerhalb  ihrer  Bezirke  und  zwar 
zunächst  für  die  Dauer  einer  nicht  zu  kurz 
bemessenen  üebergangsperiode  zu   übertragen. 

In  einer  ausserordentlichen  Zusammenkunft 
der  Vorsitzenden  und  Sekretäre  der  sächsischen 
Handels-  und  Gewerbekammem  v.  15.  Januar 
1898  zu  Dresden,  an  der  auch  Vertreter  des 
Ministeriums  teilnahmen,  wurde  diese  Anschau- 
ung des  Ministeriums  einmütig  gebilligt.  Eine 
Entscheidung  ist  zur  Zeit  noch  nicht  getrofi'en. 
Es  unterliefi^t  jedoch  wohl  nach  den  Vorver- 
■handlungen  keinem  Zweifel,  dass  die  sächsischen 
Gewerbekammem  mit  der  Wahrnehmung  der 
Rechte  und  Pflichten  der  Handwerkskammern 
betraut   werden  dürften,  jedenfalls  solange  bis 


sich  die  Erfolge  der  Handwerkskammem  über- 
sehen lassen.  Man  will  also  auch  in  Sachsen 
alte  Einrichtungen  nicht  Preis  geben,  bevor 
man  weiss,  ob  sich  denn  die  Handwerkskammern 
wirklich  bewähren  werden. 

b)  Bayern.  In  Bayern  liegt  die  Förderung 
und  Vertretung  der  Interessen  des  Handels, 
der  Industrie  und  der  Gewerbe  den  Handels- 
und Gewerbekammem  und  den  Bezirksgremien 
für  Handel  und  Gewerbe  ob.  Für  jeden  Regie- 
rungsbezirk hat  eine'  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer zu  bestehen.  Hier  sind  also  schon  durch 
Gesetz  die  Bezirke  festgesetzt. 

Bezirksgremien  für  Handel  und  Gewerbe 
werden  nur  für  Orte  oder  Bezirke,  wo  ein  Be- 
dürfnis hierfür  obwaltet,  auf  Rechnung  der 
Beteiligten  mit  Genehmigung  des  Staats- 
nunisteriums  des  Innem,  Abteilung  für  Land- 
wirtschaft, Gewerbe  und  Handel  gebildet.  Die 
Sitze  dieser  Organe  sowie  deren  Bezirke  wer- 
den ebenfalls  vom  Staatsministerium  des  Innem 
bestimmt. 

Die  Handels-  und  Gewerbekammem  be- 
sitzen in  Bayem  folgende  Kompetenzen:  „Die- 
selben haben  den  Staatsbehörden  als  begut- 
achtende sachverständige  Organe  in  Fragen  zu 
dienen,  welche  Handel,  Industrie  und  Gewerbe 
betreffen.  Dieselben  sind,  soweit  thunlich,  bei 
jeder  wichtigen  Angelegenheit  dieser  Art  zu 
hören.  Sie  sind  femer  zur  Wahrnehmung  der 
Interessen  von  Handel,  Industrie  und  Gewerbe 
des  betreffenden  Regierungsbezirkes  berufen  und 
daher  befugt,  die  zur  Fördemng  derselben  ge- 
eigneten Einrichtungen  zu  beraten  und  bei  der 
zuständigen  Behörde  anzuregen. 

Dieselben  üben  die  ihnen  durch  besondere 
Gesetze,  Verordnungen  und  Ministerialvorschrif- 
ten  übertragenen  Funktionen  ans.  Ihnen  kann 
sodann  mit  ihrer  Zustimmung  die  Verwaltung 
oder  die  Aufsicht  über  die  Verwaltung  von  An- 
stalten und  Einrichtungen,  welche  zur  Förde- 
rung des  Handels,  der  Industrie  und  der  Ge- 
werbe bestehen,  übertragen  werden. 

Dieselben  haben  alljährlich,  und  zwar 
längstens  bis  Ende  Mai,  an  das  Staatsministerium 
des  Innem,  Abteilung  für  Landwirtschaft,  Ge- 
werbe und  Handel,  einen  Bericht  über  die  Lage, 
die  Verhältnisse  und  die  Bedürfnisse  des  Han- 
dels, der  Industrie  und  der  Gewerbe  ihres  Be- 
zirks zu  erstatten  und  können  hierbei  bezüg- 
liche Wünsche  und  Anträge  vorbringen  und 
begründen. 

Schliesslich  haben  sie  mit  den  im  Regie- 
rungsbezirke bestehenden  Handels-  und  Gewerbe- 
gremien den  erforderlichen  Verkehr  zu  unter- 
halten und  in  allen  wichtigeren  Fragen  sowie 
bei  Erstattung  des  Jahresberichtes  sich  ihrer 
Mitwirkung  zu  versichern." 

Die  bayerischen  Handels-  und  Gewerbe- 
kammem bestehen  aus  zwei  Abteilungen: 

1.  der  Handelskammer  für  Handel  und  In- 
dustrie, 

2.  der  Gewerbekammer  für  die  übrigen  Ge- 
werbe. 

Wahlberechtigt  sind  zur  Handelskammer 
alle  Personen,  welche  am  Sitz  der  Kammer 
selbständig  ein  zur  Gewerbesteuer  veranlagtes 
Gewerbe  betreiben  und  als  Inhaber  oder  persön- 
lich haftende  Teilhaber  der  betreffenden  Han- 
delsfirma im  Handelsregister  eingetragen  sind 
(ausgenommen    Apotheker),      femer     die     am 


506 


öewerbekanimem 


Sitze    der  Kammer   wohnenden  Yorstandsmit- 

flieder  derjenigen  Handelsgeschäfte  betreiben- 
en  Aktiengesellschaften  und  eingetragenen 
Genossenschaften,  welche  ebendaselbst  ihren 
Sitz  haben. 

Zur  Gewerbekammer  sind  wahlberechtigt 
alle  übrigen  Personen,  welche  am  Sitze  der 
Kammer  selbständig  ein  zur  Gewerbesteuer 
veranlagtes  stehendes  Gewerbe  betreiben  und 
in  Orten  mit  einer  Beyölkerung  von  mehr  als 
20000  Einwohnern  mindestens  ö  Mark,  mehr  als 
4000-20000  Einwohnern  mindestens  4  Mark, 
4000  und  weniger  Einwohnern  mindestens  3  Mark 
Gewerbesteuer  entrichten. 

Die  Eintragung  einer  Firma  in  das  Han- 
delsregister ist  hier  also  das  Hauptscheidungs* 
merkmal  zwischen  Handels-  und  Gewerbekam- 
mer.  Es  können  sich  daher  auch  in  der  bayeri- 
schen Gewerbekammer  Kaufleute,  d.  h.  kleine 
Krämer,  die  keine  eingetragene  Firma  haben, 
befinden,  und  dies  ist  vielfach  in  denselben 
der  Fall. 

Ferner  gehören  zu  den-  Kammern,  ausser 
den  am  Sitz  der  Kammer  wohnhaften,  auch 
noch  auswärtige  Mitglieder.  Als  solche  fungieren 
die  Abteilung^vorsitzenden  der  Handels-  und 
Gewerbegremien  des  Kegierungsbezirks  bezw. 
deren  Stellvertreter;  dieselben  schliessen  sich 
den  entsprechenden  Abteilungen  der  Kammer  an. 

Die  Wahl  zur  Handels-  und  Gewerbekam- 
mer ist  eine  direkte.  Jedoch  sind  nur  diejeni- 
gen zur  Teilnahme  an  der  Wahl  berechtigt, 
welche  in  die  Wählerlisten  eingetragen  sind. 
Zu  diesem  Zwecke  erlässt  die  Distriktspolizei- 
behörde mindestens  6  Wochen  vor  dem  Wahl- 
tage unter  Anberaumung  einer  Frist  von  14 
Tagen  eine  Öffentliche  Aufforderung  zur  An- 
meldung des  Anspruchs  zur  Aufnahme  in  die 
Wählerlisten. 

Die  Wahlen  erfolgen  auf  6  Jahre.  Alle  3 
Jahre  scheidet  die  Hälfte  aus. 

Jede  Abteilung  wählt  aus  ihrer  Mitte  einen 
Vorsitzenden  und  einen  Stellvertreter  des- 
selben. Der  Vorsitzende  der  Handelsabteilung 
ist  zugleich  Vorstand  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer. 

Die  Mitglieder  versehen  ihre  Stellen  un- 
entgeltlich, jedoch  haben  die  auswärtigen  Mit- 
glieder Anspruch  auf  Ersatz  der  Barausla^en 
für  die  Reise  (Eisenbahnbillets  und  sonstige 
Fahrkosten). 

Die  Kosten  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammern werden  durch  Zuschüsse  aus  Kreis- 
und  Central fonds  für  Industrie  und  durch  Bei- 
träge der  Wahlberechtigten  gedeckt. 

Für  jede  Kammer  wird  von  der  Königlichen 
Regierung,  Kammer  des  Innern,  ein  Königlicher 
Kommissar  ernannt.  Derselbe  hat  den  Sitzun- 
gen in  der  Regel  beizuwohnen.  Er  kann  jeder- 
zeit das  Wort  verlangen,  ein  Stimmrecht  steht 
ihm  jedoch  nicht  zu. 

Den  Bezirk.sgreraien  für  Handel  und  Ge- 
werbe liegt  die  Förderung  und  Vertretung  der 
Interessen  des  Handels,  der  Industrie  und  der 
Gewerbe  ihres  Bezirks  in  gleicher  Weise  wie 
den  Handels-  und  GewerbeKammem  ob.  Sie 
haben  bei  der  Ernennung  der  Handelsmäkler 
und  Handelsrichter  nach  Massgabe  der  be- 
stehenden Vorschriften  mitzuwirken.  Sie  lie- 
fern den  Handels-  und  Gewerbekammem  Ma- 
terialien   zur   Erstattung    des   Jahresberichtes 


und  haben  ausserdem  die  sonstigen,  ihnen  von 
den  Handels-  und  Gewerbekammem  oder  den 
Distriktsverwaltungsbehörden  ihres  Bezirks  zu- 

fehenden,  auf  ihren  Wirkungskreis  bezüglichen 
nsinnen  zu  erledigen. 

Die  Bezirksgremien  bestehen  in  der  Regel 
aus  zwei  Abteilungen.  Es  kann  jedoch  für  einen 
Ort  auch  nur  ein  Handels-  oder  nur  ein  Gewerbe- 
gremium gebildet  werden. 

Die  Bezirksgremien  haben  sich  jedoch  we- 
nig bewährt  und  nur  geringe  Lebensfähigkeit 
erlangt. 

In  Bayern  ist  eine  Entscheidung  über  das 
Schicksal  der  Gewerbekammem  beim  Inkraft- 
treten der  Handwerkskammem  zur  Zeit  ge- 
troffen. Seitens  des  königlichen  Staatsministe- 
riums des  Innem  erging  unterm  15.  Oktober  1897 
an  die  bayerischen  Kammern  der  Auftrag  zur 
gutachtlichen  Aeusserung  darüber,  ob  es  sich 
empfiehlt,  unter  Belassung  der  seitherigen  Han- 
dels- und  Gewerbekammem  eigene  Handwerks- 
kammern zu  errichten  oder  unter  entsprechender 
Umbildung  der  Gewerbekammem  diese  mit 
Wahrnehmung  der  Rechte  und  Pflichten  des 
Handwerks  zu  betrauen.  In  Anbetracht  der 
hohen  Wichtigkeit  der  Frage  berief  die  ober- 
bayerische Gewerbekammer  einen  bayerischen 
Gewerbekammertag  auf  den  29.  November  nach 
München  ein.  Auf  diesem  Gewerbekammertag 
wurde  der  Beschluss  gefasst,  in  Bayem  eigene 
Handwerkskammem  zu  errichten.  Um  jedoch 
den  von  den  Handwerkskammern  ausgeschlos- 
senen Gewerben  (Kleinhandel)  eine  Vertretung 
zu  sichern,  ferner  dem  gesamten  Gewerbe  Ge- 
legenheit zu  geben,  an  den  für  Handel,  Industrie 
und  Gewerbe  gemeinsamen  Beratungsgegen- 
ständen teilzunehmen,  soll  ausserdem  vorläufig 
die  seitherige  Organisation  der  Handels-  und 
Gewerbekammem  heibehalten  werden. 

Inzwischen  ist  in  Bayem  entschieden  wor- 
den, dass  die  Handels-  und  Gewerbekammem 
erhalten  werden  und  neben  diesen  8  Handwerks- 
kammem ins  Leben  treten  sollen.  Es  werden 
also  zunächst  die  Gewerbekammem  erhalten 
bleiben. 

c)  Baohaen-Weimar-Eisenaoh.  Die  Ge- 
werbekammer für  das  Grossherzogtum  Sachsen- 
Weimar-Eisenach  hat  die  Interessen  nicht  nur 
der  Grossiudustrie ,  sondern  auch  des  Klein- 
gewerbes zu  vertreten.  Jedoch  befinden  sich 
auch  Vertreter  des  Handelsstandes  mit  in  der 
Kammer. 

Die  Gewerbekammer  zu  Weimar  besteht 
kraft  V.  V.  5.  Mai  1877  und  besitzt  22  Mit- 
glieder. 

Dieselben  setzen  sich  zusammen  aus  drei 
von  der  Regierang,  sechs  von  ie  einem  Bezirks- 
ausschuss  und  zwölf  von  den  als  wahlberechtigt 
anerkannten  Gewerbe  vereinen  des  Landes  ge- 
wählten Personen. 

Zu  diesen  tritt  noch  ein  Grossherzoglicher 
Regierungskommissar,  welchem  zugleich  die 
Funktionen  eines  geschäftsführenden  Mitgliedes 
der  Gewerbekammer  übertragen  sind.  Wählbar 
sind  alle  im  Grossherzogtum  domizilierten  Per- 
sonen, welche  25  Jahre  alt  und  nicht  von  den 
staatsbürgerlichen  Rechten  ausgeschlossen  sind. 
Zuerst  haben  die  Gewerbevereine,  dann  die  Be- 
zirksausschüsse und  zuletzt  hat  die  Regierang 
zu  wählen.  Zur  Teilnahme  an  den  Wahlen 
sind  nur  die  wirklichen  Mitg^lieder  der  behörd- 


Gewerbekammern 


507 


lieh  als  wahlberechtigt  anerkannten  Gewerbe- 
vereine,  nach  Massc^abe  der  von  dem  Staats- 
ministeriam  bezüglich  der  Gewerbekammer 
genehmigten  Statuten  dieser  Vereine,  berechtigt. 
Die  Dauer  der  Wahlperiode  ist  eine  vier- 
jährige, alle  zwei  Jahre  scheidet  die  HäJf te  aus. 
Wiederwahl  ist  zulässig.  Die  Gewerbekammer 
geniesst  eine  staatliche  Unterstützung.  Ihre 
Aufgaben  sind  insbesondere: 

^^alljährlich  dem  Grossherzoglichen  Staats- 
ministerium,  Depai*tement  des  Innern,  über 
den  Znstand  der  Industrie  des  Grossherzog- 
tums, über  wünschenswerte  Verbesserungen 
und  die  Mittel  zur  Ausführung  derselben  Be- 
richt zu  erstatten: 

demselben  auf  Verlangen  über  Gegen- 
stände des  Gewerbelebens  sowie  des  öffent- 
lichen Verkehrs  Gutachten  abzugeben; 

statistische  Notizen  über  Gegenstände  der 
Gewerbeindnstrie  zu  sammeln  und  zu  diesem 
Zwecke  von  den  Gewerbetreibenden  die  er- 
forderliche Auskunft  zu  erwirken; 

als  Vertreterin  der  Gewerbsinteressen  ihr 
ans  den  Kreisen  der  Gewerbetreibenden  zu- 

fehende  sowie  selbständig  von  ihr  gefasste 
nträge  an  das  Grossherzogliche  Staats- 
ministerium zu  richten." 

Die  Gewerbekammer  soll  sich  sodann  zur 
Schaffung  der  nötigen  Unterlagen  für  ihre  Be- 
ratungen, soweit  thunlich,  der  Gewerbevereine 
bedienen.  Sie  soll  diese*  zu  beleben  suchen  und 
auf  eine  organische  Verbindung  derselben  unter- 
einander hinwirken. 

Die  Kompetenzen  sind  also  wesentlich  be- 
schränkter als  bei  den  hanseatischen  Gewerbe- 
kammem.  Die  Weimarer  Kammer  hat  das  Be- 
sondere, dass  sie  in  enge  Verbindung  zu  den 
Gewerbevereinen  gebracht  ist,  auf  die  sie  för- 
dernd einwirken  soll.  Zur  Erledigung  der  lau- 
fenden Arbeiten  sowie  zur  Behandlung  aller 
derjenigen  Geschäfte,  welche  ihm  von  der 
Kammer  überwiesen  werden,  besteht  ein  stän- 
diger Ausschuss,  welcher  aus  dem  Eegierun^- 
kommissar,  den  beiden  Vorsitzenden  und  vier 
weiteren  Mitgliedern  der  Kammer  gebildet 
wird.  Derselbe  soll  in  der  Regel  viermal  im 
Jahre  zusammentreten.  Die  Gewerbekammer 
selbst  tritt  nur  auf  Berufung  der  Regierung 
zusammen. 

Diese  Gewerbekammer  für  das  Grossherzog- 
tum Sachsen-Weimar-Eisenach,  welche  bisher 
auch  gleichsam  die  Funktionen  einer  Handels- 
kammer mit  zu  versehen  hatte,  wird  nicht  er- 
halten bleiben.  Es  ist  bereits  dem  Landtag 
der  Entwurf,  betreffend  die  Gründung  einer 
Handelskammer  nach  preussischem  Muster  zu- 

fegangeu.    Neben  dieser  Handelskammer  soll 
ann  auf  Grund  des  Reichsgesetzes  eine  Hand- 
werkskammer geschaffen  werden. 

d)  Württemberg.  In  Württemberg  be- 
stehen bereits  seit  der  V.  v.  19.  September  18ö4 
Handels-  und  Gewerbekammem,  diese  wurden 
umgestaltet  durch  V.  v.  17.  Februar  1858  und 
reorganisiert  durch  G.  v.  4.  Juli  1874,  nach 
Massgabe  dessen  sie  jetzt  existieren.  Diese 
acht  württembergischen  Handels-  und  Gewerbe- 
kammem sollen  zwar  nach  Art.  1  des  Gesetzes 
als  Organe  des  Handels-  und  Gewerbestandes 
dienen  und  die  Gesamtinteressen  der  Handels- 
und Gewerbetreibenden  ihres  Bezirkes  wahr- 
nehmen, sie  sind  je  loch  in  Wirklichkeit  reine 


Handelskammern,  in  denen  der  Ellein^werbe- 
stand  keine  gesonderte  Vertretung  findet. 

Es  sind  zur  Wahl  nach  dem  Gesetz  die- 
jenigen Handels-  und  Gewerbetreibenden  und 
Handelsgesellschaften  berechtigt,  welche 

1.  als  Inhaber  einer  mit  Gewerbesteuer  be- 
legten Firma  in  das  für  den  Bezirk  der 
Handels-  und  Grewerbekammer  geführte 
Handelsregister    eingetragen   sind   oder, 
sofern  dies  nicht  der  Fall  ist, 
2   in  dem  Kammerbezirk  zur  Gewerbesteuer 
veranlagt  sind  und  ihre  Aufnahme  in  die 
Wählerliste  vor  der  Wahl  rechtzeitig  an- 
gemeldet haben  und  infolge  dieser  An- 
meldung in  die  Wählerlisten  aufgenommen 
worden  sind. 
Die  württembergischen  Kammern  sind  also, 
obgleich    sie    Handels-    und    Gewerbekammer 
heissen,   doch  nur  reine  Handelskammern,   in 
denen   von    einer  Vertretung   des   Handwerks 
nicht  die  Rede  sein  kann.    Aus  diesem  Grunde 
würde  Württemberg  auch  von  der  Bestimmung 
des  §  103  q  überhaupt  nicht  Gebrauch  machen 
können.    In  Württemberg  werden  daher  neben 
der   Handelskammer   vier    reine    Handwerker- 
kammem  in  Stuttgart,  Reutlingen,   Heilbronn 
und  Ulm  entstehen. 

e^  Sachsen-MeinisgeD.  Aehnlich  ist  auch 
das  Verhältnis  bei  den  vier  sachsen-meiningi- 
schen  Handels-  und  Gewerbekammern  zu  Hild- 
burghausen,  Meiningen,  Saalfeld  und  Sonne- 
berg. Dieselben  bilden  ebenfalls  nur  ein  Kol- 
legium. 

Nach  einer  Verfugung  v.  22.  Dezember  1888, 
betreffend  die  Handels-  und  Gewerbekammern 
im  Kreise  Meiningen,  müssen  von  den  21  Mit- 
gliedern dieser  Kammern  nach  §  2  ein  Drittel 
aus  den  Vertretern  des  Kleingewerbes  und  Hand- 
werksstandes entnommen  werden. 

Bei  Zweifel  über  die  Zugehörigkeit  zu  dem 
Kleingewerbe  oder  Handwerkerstand  entscheidet 
bei  Prüfung  der  Wahl  die  Kammer  selbständig. 
Durch  eine  weitere  Verfügung  v.  3.  Juli  181^ 
ist  die  Wahlberechtigung  und  Mitgliedschaft  zu 
dieser  Kammer  in  folgender  Weise  festgesetzt. 
Für  die  Handels-  und  Gewerbekammer  sind 
wahlberechtigt  und  wählbar: 

„Wer  im  Kammerbezirk  Handel,  Gewerbe 
oder  Bergbau  betreibt  und   Einkommensteuer 
oder   mindestens  3   Mark    terminlich  Klassen- 
steuer bezahlt,  und  zwar  wenn  er 
a^  25  Jahre  alt  ist, 

b)  seit  mindestens  einem  Jahr  im  Bezirk  ein 
Geschäft  besitzt  und 

c)  sich  im  Genuss  der  bürgerlichen  Ehren- 
rechte befindet. 

Desgleichen  sind,  unter  den  aufgeführten 
Voraussetzungen  wahlberechtigt  und  wählbar 
die  Vertreter  der  im  obigen  Bezirk  befindlichen 
Gewerbeanlagen,  Geld-  und  Kreditinstitute  oder 
Handelsniederlassungen  von  Privatpersonen,  des 
Fiskus,  der  Gemeinden  und  Aktiengesellschaften, 
welche  Einkommensteuer  von  mindestens  3  Mark 
terminlich  Klassensteuer  entrichten  oder  doch, 
anlangend  die  fiskalischen  Anlagen,  falls  sie 
Privatpersonen  gehörten,  zu  entrichten  haben 
würden,  ebenso  die  Vertreter  der*  in  dem  er- 
wähnten Bezirke  befindlichen  Sparkassen,  Spar- 
und  Vorschussvereine  und  sonsftiger  Genossen- 
schaften im  Sinne  der  Reichsgesetzgebung, 
welche  zur  Einkommensteuer  oder  zur  Klassen- 


508 


Grewerbekammera 


stener  mit  mindesteiis  3  Mark  terminlich  heran- 
gezogen sind  oder,  wenn  dies  nicht  der  Fall 
ist,  deren  jährlicher  Reingewinn  einen  der  ge- 
dachten Besteuerung  entsprechenden  Betrag 
erreicht. 

Die  Wahlstimme  einer  Aktiengesellschaft, 
Genossenschaft  oder  einer  anderen  vorbezeich- 
ueten  Vereinigung  darf  nur  durch  ein  in  das 
Handels-  bezw.  Genossenschaftsregister  einge- 
tragenes Vorstandsmitglied,  die  einer  Person 
weiblichen  Geschlechts  oder  einer  unter  Vor- 
mundschaft stehenden  Person  durch  einen  min- 
destens 26  Jahre  alten  und  im  Genuss  der 
bürgerlichen  Ehrenrechte  befindlichen  Bevoll- 
mäcntigten  bezw.  durch  den  Vormund  vertreten 
werden. 

Das  Stimmrecht  des  Fiskus  wird  durch  die- 
jenigen Beamten  ausgeübt,  welchen  von  dem 
Herzoglichen  Staatsministerium,  Abteilung  der 
Finanzen,  die  Leitun/^  der  betreffenden  Unter- 
nehmung Übertragen  ist. 

Wer  nach  vorstehenden  Bestimmungen  in 
dem  Handelskammerbezirke  mehrfach  stimm- 
berechtigt ist,  darf  gleichwohl  nur  eine  Wahl- 
stimme abgeben." 

Es  ist  hier  ausdrücklich  ausgesprochen, 
das»  mindestens  ein  Drittel  der  Mitglieder  dem 
Kleingewerbe  angehören  muss.  In  den  Be- 
stimmungen, die  für  die  anderen  Kammern  in 
Kraft  stäen,  ist  dies  nicht  der  Fall,  doch  ist 
auch  bei  ihnen  die  Wahlberechtigung  nicht  auf 
die  Eintragung  in  das  Handelsregister  be- 
schränkt, so  dass  in  ihnen  Kleingewerbe- 
treibende, soweit  sie  nur  3  Mark  terminliche 
Klassensteuer  bezahlen,  wahlberechtigt  sind. 

Diese  Kammern  haben  als  begutachtendes 
und  sachverständiges  Organ  in  Fragen  zu  dienen, 
welche  Handel,  Gewerbe  und  Industrie  betreffen, 
sie  sind  zugleich  Vertreterin  der  Interessen  der- 
selben und  deshalb  befugt,  selbständig  bei  der 
Landes-  wie  Reichsregierung  Anträge  zu  stellen. 

Auch  diese  Kammern  sind,  obgleich  sie 
Handels-  und  Gewerbekammer  heissen,  eigent- 
lich als  reine  Handelskammern  anzusehen.  Seit 
dem  1.  Januar  dieses  Jahres  sind  nun  die  Hand- 
werker, welche  sich  noch  in  der  Kammer  be- 
fanden, ausgeschieden.  Es  soll  für  das  ganze 
Herzogtum  neben  diesen  vier  Handelskammern 
in  Zukunft  eine  Handwerkerkammer,  die  voraus- 
fiichtlich  ihren  Sitz  in  Meiningen  hat,  geschaffen 
werden. 

In  den  übrigen  deutschen  Staaten  findet 
das  Gewerbe  wenigstens  teilweise  seine  Berück- 
sichti^ng  in  den  Handelskammern,  entbehrt 
aber  im  wesentlichen  abgesonderter  eigener  Ver- 
tretungskörper. 

III.  Die  Gewerbokamiiiern  in  FraDkreich. 

a)  Geschichte.  Das  G.  v.  22.  Germinal 
XI  (12.  April  1803)  ordnete  die  Errichtung  von 
Gewerbekammem  (Chambres  consultatives  des 
arts  et  manufactures)  neben  den  schon  seit  1650 
bestehenden  Handelskammern  (s.  d.)  an.  Ihre 
Organisation  wurde  durch  Dekret  v.  10.  Ther- 
midor  XI  (29.  Juli  1803)  bestimmt.  Sie  sollten 
ursprünglich  als  offizielle  Organe  der  Industrie 
dienen  in  den  Orten,  wo  keine  Handelskammern 
bestanden  und  eine  grössere  Zahl  industrieller 
Unternehmungen  vorhanden  war.  In  der  ersten 
Zeit  lediglich  aus  Industriellen   gebildet,  wur» 


den  später  die  Handeltreibenden  in  gleicher 
Weise  zugelassen,  wie  in  den  Handelskammern 
auch  die  Industrie  ihre  Vertretung  erhielt. 
Gegenüber  letzteren  unterscheiden  sich  die  Ge- 
Werbekammern  durch  einen  geringen  Umfang 
ihres  Bezirkes  und  eine  minder  mannigfache 
Vertretung  wirtschaftlicher  Interessen  sowie 
dadurch,  dass  ihre  Kosten  nicht,  wie  bei  den 
Handelskammern,  durch  alle  der  Gewerbesteuer 
Unterworfenen  auf^bracht,  sondern  von  der 
Gemeinde  des  Standortes  gedeckt  werden  und 
sie  im  Conseil  sup6rieur  du  commerce  nicht 
vertreten  sind.  Die  ursprüngliche  Organisation 
der  Gewerbekammem  eifuhr  im  Laufe  der  Zeit 
Abänderungen  durch  die  Ordonnanz  v.  16.  Juni 
1832,  die  Regierungsverordnung  v.  19.  Juni  1848, 
das  G.  V.  .30.  August  1862,  das  Dekret  v.  24. 
Oktober  1863,  endlich  in  umfassender  Weise 
durch  ein  Dekret  v.  17.  Januar  1872. 

b)  Organisation.  Die  Gewerbekammem 
werden  auf  Antrag  der  Gemeindevertretung 
und  Zustimmung  des  Generalrates  und  des 
Präfekten  des  Departements  durch  ein  Dekret 
der  Kegiemng  errichtet,  welches  zugleich  den 
Kammerbezirk  festsetzt.  Dieser  bestät  je  nach 
den  Verhältnissen  aus  der  Gemeinde  des  Stand- 
ortes oder  aus  mehreren  Gemeinden,  aus  dem 
Arrondissement  oder  gar  dem  ganzen  Departe- 
ment. Die  Zahl  der  Mitglieder  der  Gewerbe- 
kammer beträgt  12,  und  ausser  diesen  hat  der 
oberste  Verwaltungsbeamte  des  Standortes  (Prä- 
fekt,  Unterpräfekt  oder  Maire)  eine  Virilstimme 
und  das  Ehrenpräsidium  in  der  Kammer.  Fällt 
der  Bezirk  in  den  Bereich  eines  Handelstribu- 
uals,  so  werden  die  Mitglieder  der  Gewerbekammer 
durch  die  Wähler  für  das  Handelstribunal  ge- 
wählt, sonst  wird  nach  gleichen  Grundsätzen 
eine  besondere  Wählerliste  aufgestellt.  Diese 
Listen  werden  durch  eine  Kommission  gebildet, 
welche  aus  der  Gesamtzahl  der  Kaufleute  und 
Gewerbetreibenden,  die  im  Bezirke  in  der  Pa- 
tentrolle eingetragen  sind  (d.  h.  eine  Gewerbe- 
steuer entrichten),  eine  Anzahl  von  V'k,  aus- 
wählt. Diese  Wahlmänner  wählen  die  Mit- 
glieder der  Gewerbekammer  durch  Listenwahl 
unter  Vorsitz  des  Maire  bei  g^eheimer  Abstim- 
mung mit  absoluter  Mehrheit  im  ersten,  mit 
relativer  Mehrheit  im  eventuellen  zweiten  Wahl- 
gange (G.  V.  21.  Juli  1871  anwendbar  für 
Gewerbekammern  nach  dem  Dekret  v.  22.  Ja- 
nuar 1872).  Wählbar  ist  jeder  in  der  Patent- 
rolle eingetragene  Handel-  oder  Gewerbetrei- 
bende, welcher  seit  mindestens  5  Jahren  sein 
Gewerbe  im  Bezirke  betreibt  oder  ein  solches 
durch  ö  Jahre  persönlich  betrieben  hat  (aus 
diesen  darf  nicht  mehr  als  ein  Dritteil  der 
Kammermit^lieder  gewählt  werden),  30  Jahre 
alt  ist  und  im  Bezirke  wohnt.  Die  Amtsdauer 
der  Mitglieder  beträgt  6  Jahre,  und  jedes  zweite 
Jahr  findet  die  Neuwahl  von  \'^  der  Mitglieder 
statt;  Wiederwahlen  sind  zulässig.  Die  Ge- 
werbekammer wählt  ans  ihrer  Mitte  einen 
Präsidenten  und  einen  Sekretär.  Die  Kosten 
der  Wahlen  und  der  Verwaltung  der  Gewerbe- 
kammer bestreitet  die  Gemeinde  des  Standortes, 
welche  auch  geeignete  Sitzungsränme  beizu- 
stellen hat.  Die  Zahl  der  Gewerbekammem 
beträgt  mehr  als  100 ;  sie  sind  dem  Ministerium 
für  Ackerbau  und  Handel  untergeordnet  und 
haben  das  Recht,  mit  demselben  unmittelbar  zu 
verkehren. 


Grewerbekammerii 


509 


c)  Aufgaben  und  BeAigniBse.  DieGewerbe- 
kammem  haben  im  allgemeinen  auf  Auffordemng 
der  Staats verwaltang  Gutachten  und  Berichte  zu 
erstatten  über  thatsächliche  Verhältnisse  und 
Interessen  der  Handel-  und  Gewerbetreibenden 
und  ihre  Wünsche  und  Ansichten  über  den  Zustand 
von  Industrie  und  Handel  und  die  Mittel  zu  deren 
Hebung  Yorzubringen ;  im  besonderen  haben  sie 
ihr  Gutachten  über  die  Errichtung  von  Gewerbe- 
gerichten oder  die  Abänderung  der  Jurisdiktion 
solcher  abzugeben. 

lY.  Das  Verlangen  nach  Errichtung  von 
Gewerbekammem  in  Oesterreich. 

Die  österreichischen  Handels-  und  Gewerbe- 
kammern (s.  den  Art.  Handelskammern) 
haben  schon  seit  ihrer  Begründung  (1848  bezw. 
1850)  eine  obligatorische  Vertretung  des  ge- 
samten Gewerbes  im  weitesten  Sinne  (Gross- 
industrie, Kleingewerbe  und  Handel)  dargestellt, 
zu  der  das  Wälrecht  nur  durch  ein  Mindest- 
ausmass  aus  Gewerbesteuer  begrenzt  ist  (G.  v. 
29.  Juni  1868).  Die  einzelnen  vom  Handels- 
ministerium genehmigten  Wahlordnungen  sollen 
dafür  8orgen,dass  die  Vertretung  der  verschiedenen 
Literessengruppen  eine  ihrer  wirtschaftlichen 
Bedeutung  entsprechende  sei,  weshalb  die  beiden 
Sektionen  dieser  Kammern  (Handels-  und  Ge- 
werbeseküon)  noch  nach  der  Steuerleistung  eine 
Unterleitung  in  Kategorieen,  die  Wahlkörper  für 
sich  bilden,  erhalten.  Obwohl  hierdurch  auch 
den  Kleingewerbetreibenden  eine  aktive  Anteil- 
nahme an  den  Beratungen  gesichert  war,  wurde 
doch  aus  diesen  Kreisen  das  Verlangen  nach 
Bildung  selbständiger  Gewerbekammem  (meist 
als  Handwerkskammern  gedacht)  oder  Teilung 
der  Handels-  und  Gewerbekammern,  insbesondere 
auf  dem  zweiten  österreichischen  Gewerbetage 
(November  1882)  erhoben  und  im  Österreichischen 
Abgeordnetenhause  ein  diesbezüglicher  Antrag 
am  30.  Januar  1883  verhandelt  und  einer 
Kommission  zugewiesen.  Dieser  Antrag  hatte 
nur  die  Folge,  dass  die  Regierung  eine  neue 
Wahlordnung  für  die  Handels-  und  Gewerbe- 
kammem ausarbeitete  und  aktivierte,  welche 
den  kleingewerblichen  Kreisen  eine  grössere 
Berücksichtigung  bei  Aufstellung  der  Wahl- 
körper und  Verteilung  der  Mandate  verschafi'te. 
Enae  1884  erfolgte  sodann  die  Auflösung  aller 
Handels-  und  Gewerbekammern  und  ihre  Neu- 
konstituierung auf  Grund  der  neuen  Wahlord- 
nungen. In  den  Jahren  1891  und  1897  wurde 
neuerlich  der  Antrag  auf  Trennung  der  Kam- 
mern gestellt  und  zuletzt  am  13.  Mai  1891  ver- 
handelt. Die  Gründe  für  die  Beibehaltung  der 
bestehenden  Organisation  haben  die  Abgeord- 
neten Gomperts  und  von  Plener  (1883)  sowie 
Mauthner  (1891)  ausführlich  auseinandergesetzt ; 
sie  gipfeln  darin,  dass  gerade  die  österreichi- 
schen Handels-  und  Gewerbekammem  die  in  der 
Einleitung  (s.  oben)  gekennzeichneten  Aufgaben 
von  Gewerbekammem  fast  durchweg  erfüllen, 
die  Trennung  mithin  mehr  Nachteile  brächte 
als  Vorteile.  IJebrigens  bilden  die  Kammern 
in  Oesterreich  politische  Wahlkörper,  ein  Um- 
stand, der  ihre  Teilung  noch  erschweren  würde 
und  das  Verlangen  nach  ihr  zugleich  als  ein 
Schlagwort  politischer  Parteien  erkennen  lässt. 

Das  Schlagwort  nach  Teilung  der  Handels- 
und Gewerbekammem  hat  im  Laufe  der  letzten 


Jahre  seinen  Reiz  immer  mehr  verloren.  Die 
Gewerbetage  der  letzten  Jahre  haben  zwar  die 
Forderung  nach  Teilung  der  Handels-  und  Ge* 
Werbekammern'  theoretisch  noch  immer  iau%e^ 
stellt,  ohne  sie  aber  intensiv  zu  verfolgen.  Es 
besteht  eben  keine  Einigkeit  darüber,  welche 
Kreise  in  diesen  neuen  Kammern  vereinigt 
werden  sollen;  es  kommt  zumeist  nur  der  Ge- 
danke zum  Ausdruck,  dass  ein  Teil  aus  den 
bestehenden  Handels-  und  Gewerbekammem 
ausscheiden  soll. 

Die  einen  sind  der  Meinung,  dass  zwischen 
Handel  und  Gewerbe  ein  so  tief  gehender 
Unterschied  bestehe,  dass  eine  gemeinsame  Be- 
ratung nicht  zum  Ziele  führen  könnte.  Da- 
nach hätte  die  Handelskammer  den  Handel  und 
die  Verkehrsgewerbe  ohne  Unterschied  in  ihrem 
Umfange  zu  vereinigen,  während  in  der  Ge- 
werbekammer die  Vertreter  von  Grossindustrie 
und  Kleingewerbe  sitzen  sollten.  Andere  sind 
wieder  der  Ansicht,  dass  Kleinhandel  und  Klein- 
gew^erbe  sehr  viele  gemeinsame  Interessen  be- 
sitzen, die  sie  in  den  bestehenden  Kammern 
nicht  verfolgen  könnten,  da  sie  von  Grosshandel 
und  Grossindustrie  Überstimmt  würden.  Dem- 
nach sollten  nach  ihrer  Anschauung  die  Ge- 
werbekammem nur  Kleinhandel  und  Handwerk 
umfassen.  Von  dritter  Seite  wird  endlich  unter 
Gewerbekammem  eine  blosse  Vertretung  des 
Kleingewerbes  verlangt. 

Handel  und  Gewerbe  zu  trennen,  wäre  aber 
keineswegs  so  einfach,  da  die  blosse  Benennung 
im  Gewerbeschein  doch  nur  ein  formelles  Unter- 
scheidungsmerkmal angiebt,  das  keineswegs 
immer  das  Wesen  des  Betriebes  kennzeichnet. 
Viele  Kleingewerbetreibende  sind  längst  nicht 
mehr  Produzenten,  sondern  Händler,  z.  B.  viele 
Goldarbeiter  und  Uhrmacher,  die  zwar  noch 
immer  einen  Steuerschein  als  Handwerker  be- 
sitzen, aber  oft  ^ar  nichts  produzieren,  sondern 
sich  lediglich  mit  dem  Handel  und  mit  Repara- 
turen befassen.  Wohin  sollen  auch  die  Kon- 
fektionäre gereiht  werden?  Ueberhaupt  ist  ja 
jeder  Gewerbetreibende  nicht  nur  zum  Verkaufe 
seiner  Erzeugnisse  berechtigt,  sondern  auch 
zum  Handel  mit  gleichartigen  Artikeln  fremder 
Erzeugung.  Dies  trifft  beim  Fabrikanten  ge- 
rade so  zu  wie  beim  Kleingewerbetreibenden. 
Wenn  aber  nicht  eine  einheitliche  Vertretung 
besteht,  müsste  auch  eine  Trennung  zwischen 
Handel-  und  Gewerbetreibenden  nach  richtigeren 
Principien  als  nach  dem  Gewerbeschein  ein- 
treten. 

Nicht  minder  schwierig  ist  die  Trennung 
zwischen  Kleingewerbe  und  Fabrikindustrie. 
AUe  Ministerialerlässe  waren  bis  jetzt  noch 
nicht  im  stände,  die  Grenzlinie  zweifellos  zu 
bezeichnen.  Es  giebt  Betriebe,  welche  mit  sehr 
kleiner  Arbeiterzahl  und  bei  geringer  Ertrags- 
fähigkeit und  demgemäss  niedriger  Besteuerung 
schon  völlig  fabrilunässigen  Charakter  besitzen, 
während  höher  besteuerte,  umfangreichere 
Unternehmungen  mit  grösserer  Arbeiterzahl 
doch  ganz  band  wer ksmässig  produzieren. 

Es  ist  leicht,  einen  Unterschied  zwischen 
den  äussersten  Proben  zu  finden,  zwischen  dem 
Bankier  und  dem  Greissler,  dem  Baum  Woll- 
spinner und  dem  Flickschneider,  aber  schwie- 
riger zu  sagen,  wo  der  Verschleisser  aufhört 
und  der  Kaufmann  beginnt,,  wo  der  Schuhmacher 
in  den  Schuhfabrikanten  übergeht.    Ist  es  daher 


510 


Gewerbekammem — Gewerbestatistik 


nicht  leicht,  für  die  Trennung  der  bestehenden 
Kammern  in  dieser  oder  jener  Richtung  ent- 
sprechende Kennzeichen  zu  finden,  so  wäre  eine 
derartige  Auflösung  der  bestehenden  Kammern 
weder  praktisch  vom  Standpunkte  der  diesen 
Institutionen  zukommenden  mlher  besprochenen 
Aufgaben  noch  von  Vorteil  für  die  einzelnen 
in  den  Kammern  sitzenden  Interessengruppen. 
Die  grossen  wirtschaftlichen  Fragen  der 
Zoll-  und  Handelspolitik,  der  Gewerbereformen 
etc.  ber&hren  gentde  so  den  Handel  wie  das 
Gewerbe,  die  Fabrik  wie  den  Handwerker,  wenn 
auch  oft  in  verschiedenen  Richtungen. 

Litteratur :  M,  Bloch,  Chambres  eonsultatives  des 
artt  et  manufaetures.  Dictionnaire  de  VadminU- 
tration  fran^aue,  Paris  1888,  S,  378.  —  Denk- 
schrift der  DelegiertenkoTkferenz  deutscher  Ge- 
werbe- bezw.  Handels-  und  Gewerbekammem,  be- 
treffend die  Errichtung  von  Gewerbekammem 
(s.  a,  m.  Jahresbericht  der  Hamburger  Gewerbe- 
kammer  für  1882  und  1883,  S.  65 ff.).  —  Die 
neuen  Gewerbekammem  in  Preussen,  Zeilschr, 
nExportn,  1885  Nr.  38  und  39.  —  Ü.  Gräteer, 
Die  Organisation  der  Berufsinteressen,  Berlin 
1890,  —  Gutachten  über  die  Teilung  der  Han- 
dels- und  Gewerbekammem  (Protokoll  der  Han- 
dels- und  Gewerbekammem  in  Wien,  1883,  S. 
^'^  ff')'  —  ^^  Handels-  und  Gewerbekammem  ete. 
des  deutsehen  Reiches,  zusammengestellt  vom 
Bureau  des  deutschen  Handelstages,  Berlin  1890. 

—  «7.  J'aeobi,  Die  Bremische  Gewerbekammer  in 
den  Jahren  1849 — 1884,  Bremen.  —  K.  v. 
Kaufmann,  Die  Vertretung  der  wirtschaftlichen 
Interessen  in  den  Staaten  Europas,  Berlin  1879. 

—  Derselbe  y  Die  Reform  der  Handels-  und 
Gewerbekammem,  Berlin  1883.  —  i.  Munk, 
Selbständige  Gewerbekammem,  Volksw.  Wochen- 
schrift 1887,  Heft  194  u.  195,  Wien.  —  L,  Nagel, 
Di^  Hanseatischen  Gewerbekammem,  ihre  Organi- 
sation und  Wirksamkeit,  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Vene. 
VIT,  S.  661  ff.  —  O,  Schmoller,  Ueber  die 
Reform  der  G.O.,  Verhandl.  d.  V.  f.  Sozialp.,  5, 
S.  173 ff.,  Leipzig  1878.  Schönberg,  JI,  3.  Aufl., 
S.  627 ff.  —  A,  Steinniann~Bucher ,  Die 
Nährstände  und  ihre  zukünftige  Stellung  im 
Staate,  Berlin  1886.  —  Rudolf  Marewh, 
Handels-  und  Gewerbekammem  (Separatabdrurk 
aus  dem  Österreichischen  St<iat8wörterbucheJ, 
herausgegeben  von  Dr.  E.  Mise  hl  er  und 
Dr.  J.  Ulbrich,  Wien  1895.  —  Rudolf 
Maresch,  Ueber  Gewerbekammem,  Wien  1894. 
Im  Selbstverlage  des  Verfassers.  —  Die  Handels- 
und Gewerbekammer  für  Oesterrei^h  unter  d. 
Enns,  1849—1899,  Wien  1899.  —  Kurze  Ueber- 
sicht  über  die  SSjährige  Thätigkeit  der  Ham- 
burgischen     Gewerbe  kammer  f     Hamburg     1898. 

—  Vosberg » Rekow ,  Die  wirtschaftliche 
Interessenvertretung  und  die  Reform  der  preus- 
sischen  Handelskammern.  Sonderabdruck  aus 
Xr.  576  der  Chemischen  Industrie,  Berlin  1896. 

Thilo  Hanipke. 


(Gewerbeaufnahme.) 

I.  Aufgabe  und  Behandlung  der 
Gewerbeaufnahmen  im  allgemeinen. 
1.  "Wesen  der  Gewerbeaufnahme.    2.  Erforder- 


nisse einer  Gewerbeaufnahme.  II.  Die  &^e- 
werbestatistischen  Leistungen  der 
verschiedenen  Staaten.  3.  Deutschland. 
4.  Ausserdeutsche  Staaten.  IIL  Die  Ergeb- 
nisse der  Gewerbeaufnahme  des  Deut- 
scheil  Reiches  von  1895.  6.  Die  Gewerbe- 
betriebe. 6.  Die  Grösse  des  Gewerbebetriebes. 
7.  Die  Gewerbetreibenden.  8.  Die  Betriebsdauer. 
9.  Die  Motorenverwendung.  10.  Der  Gesamt- 
umfang der  gewerblichen  Unternehmungen. 
11.  Die  Hausindustrie,  die  Gefängnisarbeit  und 
die  Hausierer.    12.  Das  Besitzverhältnis. 

I.   Anteabe   nnd  Behandlung   der  Ge- 
werbeanfnahmen  im  allgemeinen. 

1.  Wesen  der  Gewerbeanf nähme.  Unter 
den  mannigfachen  statistischen  Yeranstal- 
tungen  ziir  Ergründung  des  gewerblichen 
Lebens  nehmen  unbedingt  nach  Ausdehnung 
und  Wichtigkeit  die  eigentlichen  sogenannten 
Gewerbeaufnahmen  den  hervorragendsten 
Ran^  ein.  Während  es  sich  bei  den  übrigen 
Ermittelungsweisen  lediglich  um  die  fort- 
laufende oder  aUjährlich  wiederkehrende  Er- 
fassung einzelner,  meist  eng  begrenzter  Ge- 
biete, z.  B.  einzelner  Herstellungszweige 
oder  gewisser  bemerkenswerter  Vorgänge 
in  der  Industrie,  so  um  Unfälle  durch 
Maschinen,  um  das  beschäftigte  Personal 
handelt,  haben  es  die  eigentlichen  Gewerbe- 
aufnahmen mit  einer  allgemeinen  Erhebung 
der  gewerblichen  Entfaltung  oder  doch  ihrer 
hauptsächlichsten  und  bezeichnendsten  Er- 
scheinungen zu  thun.  Sie  stellen  sich  deshalb . 
gleich  den  Volks-  und  anderen  wirklichen 
grossen  Zählungen  im  engeren  Sinne  als 
allgemeine  Umlagen  dar,  die  den  ganzen 
Kreis  der  für  sie  in  Betracht  kommenden 
Gewerbe  nach  den  verschiedenen  erhebens- 
weilen  Richtungen  hin  ins  Auge  fassen. 
Allerdings  erstreckt  sich  dieser  Kreis  nicht 
auf  die  Gesamtheit  der  Gewerbe  und  noch 
weniger  auf  sämtliche  überhaupt  au  der 
Erwerbstliätigkeit  teilnehmende  Kräfte.  Viel- 
mehr sind  von  ihm  nicht  nur  alle  jene  den 
sogenannten  freien  Benifsarten  zugehören- 
den gewerblichen  Zweige  ausgeschlossen,  es 
stehen  auch  ausserhalb  desselben  die  Mehr- 
zahl der  stofferzeugendeu  Gewerbe,  zumal 
die  weit  verbreitete  Landwirtschaft.  Im 
wesentlichen  hat  es  die  Gewerbestatistik 
bezw.  die  Gewerbeaufnahme  mit  den  stoff- 
veredelnden oder  industriellen,  den  fabrik- 
wie  handwerksmässigen  Gewerben  und  in 
der  Regel  zugleich  mit  denen  des  Umsatzes, 
der  Verteilung  und  der  Befördenmg,  d.  h. 
mit  denen  des  Handels  und  Verkehrs  zu 
thun.  Ein  Bild  von  der  Zusammensetzung 
der  gesamten  Bevölkenmg,  nach  der  All 
und  Weise,  wie  sie  ihren  Lnterhalt  gewinnt, 
lässt  sich  demnach  aus  einer  Gewerbe- 
aufnahme nicht  entnehmen.  Das  ist 
Sache  der  Berufsstatistik  (vergl.  diesen  Art. 
oben  Bd.  II  S.  592  ff.),  von   der  sich  nicht 


Gewerbestatistik 


511 


allein  in  diesem,  sondern  auch  in  dem 
belangreichen  Punkte  dieGewerbez&hlung  vor- 
zugsweise darin  unterscheidet,  dass  jene  ledig- 
lich auf  die  Personen,  je  nach  dem  Ver- 
hältnis, in  welchem  sie  zu  einem  Berufe 
stehen,  diese  aber  zunächst  auf  die  gewerb- 
lichen Unternehmungen  und  auf  die 
ganze  Gestaltung  des  Beüiebes  ihr  Absehen 
haben.  Und  zwar  kommt  es  bei  dieser  Auf- 
gabe für  die  Gewerbezählung  auf  eine  der- 
artige Veranlagung  an,  dass  die  Erscheinungen 
der  gewerblichen  Lebensäusserungen  im 
ganzen  wie  im  einzelneu  in  Bezug  auf  ihre 
wirtschaftliche,  soziale  und  auch  technische 
Entwickelunff  zur  Erkenntnis  gebracht  wer- 
den. Wenngleich  im  Hinblick  auf  den  be- 
teiligten BevOlkerungskreis  beengter  als  die 
Berufsermittelung,  hat  demgemäss  die  ge- 
werbliche Zählung,  was  Art  und  Anzahl  der 
Zählungsge§[enstände  anlangt,  doch  die  an- 
sehnlich weiter  und  tiefer  greifenden,  ver- 
wic^elteren  und  darum  schwierigeren  Er- 
hebungen anzustellen.  Die  gewerblichen 
Aufnahmen  werden  hiemach  durch  solche 
über  den  Beruf  keineswegs  ersetzt,  obschon 
bei  entsprechender  Einrichtung  des  Er- 
hebungsverfahrens die  letzteren  den  ersteren 
zu  gute  kommen.  Allerdings  hat  man  es 
vielfadi  zur  Erforschung  gewisser  gewerb- 
lidier  Verhältnisse  bei  einer  Berufsermitte- 
Inn^  bewenden  lassen,  so  dass  ordentliche 
und  imifassendere  Gewerbeaufnahmen  ihrer 
Umständlidikeit  und  Kostspieligkeit  wegen 
bisher  immer  erst  vereinzelt  und  in  Img-^ 
jährigen  Abschnitten,  von  einer  Reihe  von 
Ländern  indessen  noch  gamicht*  veranstaltet 
sind. 

2.  Erfordernisse  einer  Grewerbeanf- 
nahme.  Für  eine  Gewerbeaufnahme,  welche 
der  erwähnten  Aufgabe  gerecht  werden  und 
ein  zuverlässiges  wie  ausgiebiges  Gesamt- 
bild der  gewerblichen  Entwickelung  eines 
Landes  darbieten  soll,  sind  drei  Momente  in 
Betracht  zu  ziehen:  die  Beschaffenheit  und 
die  Ausdehnimg  der  Erhebungsgegenstände, 
die  Art  der  Einteilung  der  in  die  Erhebung 
einbezogenen  Gewerbe  und  das  Erhebungs- 
verfahren. 

WsiA  zuförderst  die  Gegenstände  an- 
langt, die  von  den  einzelnen  Gewerbebe- 
trieben zu  erheben  sein  würden,  so  erscheint 
es  uaheKogend,  dass  sie  die  bei  jeder  volks- 
wirtscliaftlichen  Produktion  mitwirkenden 
Natur-,  Arbeits-  und  Eapitalkräfte  auch  für 
jeden  gewerblichen  Betrieb  entsprechend 
zum  Ausdruck  brächten.  Indessen  fehlt  es 
teils  an  den  nötigen  Merkmalen  für  die 
statistische  Ermittelung,  teils  an  der  Mög- 
lichkeit oder  Geneigtheit,  Angaben  über  eine 
Reihe  der  erforderüchen,  meist  nicht  offen 
zu  Tage  liegenden  oder  sogar  sorglich  geheim 
gehaltenen  Thatsachen  zu  erlangen  bezw.  zu 
gewS^en.     Die  Naturkräfte  zumal,  soweit 


sie  nicht  aus  der  geographischen  Beschaffen- 
heit der  Gegend  oder  aus  der  angewandten 
Kraftmaschine  hergeleitet  werden  können, 
entziehen  sicli  der  Aufnahme.  Das  in  den 
Betrieben  wirkende  Kapital  ist  schon  eher 
festzustellen  und  auch  in  mehreren  Fällen 
sogar  ziemlich  eingehend  festzustellen  ver- 
sucht worden.  So  haben  z.  B.  die  ameri- 
kanischen Censusaufnahmen  für  die  gesamte 
Industrie  das  in  den  Betrieben  enthaltene 
Kapital  (invested  capital),  den  Wert  des  zur 
Produktion  verwendeten  Materials  und  der 
gefertigten  Erzeugnisse  und  das  nach  den 
einzelnen  verarbeiteten  und  beigestellten 
Gegenständen  erhoben.  Noch  viel  weiter  ist 
das  frsuizösische  d^nombrement  de  Tindustrie 
manufactiere  von  1860  gegangen,  welches 
auch  die  Menge  der  gebrauchten  Rohstoffe 
nach  ihren  Bezugländem  auseinandergehalten, 
die  Durchschnittsmenge  der  jährlidien  Er- 
zeugnisse, die  Art  und  Menge  des  Brenn- 
materials und  den  Aufwand  dafür  erfragte. 
Derartige  tiefgehende  Ermittelungen,  so 
wünschenswert  für  eine  gründliche  Beur- 
teilung der  Verhältnisse  sie  auch  sein  mögen, 
rufen  indessen  immer  die  Besorgnis  wach, 
dass  sie  keineswegs  durchweg  verständnis- 
volle imd  gutwillige  Beantwortimg  finden 
werden  und  daher  die  Zuverlässigkeit  der 
Ergebnisse  stark  zu  beeinträchtigen  an- 
gethan  sind.  Ja  die  genannte,  eine  möglichst 
genaue  Feststellung  der  Betriebsmittel  be- 
zweckende französische  Gewerbezählung  ist 
zum  guten  Teil  infolge  solcher  allzu  ge- 
wagten Ausgestaltung  ziemlich  wertlos  aus- 
gefallen. Selbst  die  dem  grossen  rec^nsement 
von  1866  angehörige  Aufnahme  in  Belgien 
ist  dort  selbst  als  völlig  missglückt  bezeich- 
net und  nicht  ziu-  Veröffentlichung  gelangt, 
obschon  die  Fragen  längst  nicht  so  weit  aJs 
die  in  Frankreich  gingen.  Immerhin  ist 
aber  die  thätige  Kraft  des  Kapitals  doch 
nach  einer  Richtung  mit  Verlässlichkeit  zu 
erkennen:  soweit  e&  in  den  maschinellen 
und  Arbeitsvorrichtungen  angelegt  ist  Wie 
die  Zahl  und  die  Stärke  der  Kraft-  oder 
Umtriebsmaschinen  auf  der  einen,  so  sind 
die  für  die  einzelnen  Gewerbe  chaiukte- 
ristischen  Arbeitsmaschinen  und  sonstigen 
Vorrichtungen  auf  der  anderen  Seite  ge- 
eignet, einen  gewissen  Einblick  sowohl  in 
die  Grösse  des  angelegten  Kapitals  und  zu- 
gleich in  die  der  Geschäftsausdehnung  als 
auch  in  die  tedinische  Ausbildung  des  Be- 
triebes zuzulassen.  Vollständig  aber  vermag 
man  schliesslich  die  zur  Zeit  oder  durch- 
schnittlich thätige  menschliche  Arbeitskraft 
zur  Ziffer  zu  bringen. 

Hält  sich  nun  eine  Gewerbezählung  an 
die  von  den  sämtlichen  in  Betracht  kom- 
menden Gewerben  füglich  gleichmässig  zu 
erhebenden  Menschen-  und  Maschinenkräfte, 
bieten  sich  ihr  noch  genügende  Aufnalmie- 


512 


Gewerbestatistik 


gegenstände  dar,  um  zulänglichen  Anhalt 
zur  Beiulseiliing  der  gewerblichen  La^e  zu 
gewinnen.  Fünf  Punkte  sind  es  hierbei 
mindestens,  über  welche  die  Aufnahme  Auf- 
schluss  erteilen  und  demgemäss  erfragen 
muss.  Zuvörderst  ist  für  jedes  Gewerbe 
selbstverständlich  die  Anzahl  der  Betriebe 
und  zwar  der  von  ihren  Inhabern  als  Haupt- 
wie  als  Nebenbetriebe  geleiteten  Unter- 
nehmungen zu  ermitteln.  Gleichzeitig  kommt 
es  sodann  darauf  an,  den  Umfang  jedes  ein- 
zelnen Betriebes,  d.  h.  bestimmen  zu  können, 
ob  das  Geschäft  mehr  im  kleinen  oder 
grossen  betrieben  wird,  ob  es  mehr  einen 
Handwerks-  oder  fabrikmässigen  Charakter 
hat.  Allerdings  ist  dies  insofern  kaum  ohne 
eine  gewisse  Willkür  festzustellen,  als  es  an 
festen  Merkmalen  für  die  Abgrenzung  von 
Gross-  und  Kleinbetrieben  gebricht,  zudem 
die  Grenze  bei  den  verschiedenen  Gewerben 
an  verschiedener  Stelle  zu  liegen  hätte.  Da 
üun  die  hergestellten  Erzeugnisse  oder  das 
angelegte  Kapital,  als  nicht  wohl  der  Auf- 
nahme zugänglich,  ausser  Ansatz  gelassen 
werden  müssen,  bleibt  nur  die  Anwendung 
oder  Nichtanwendung  von  Maschinen  bezw. 
auch  der  Maschinenstärke  wie  die  Anzahl 
des  gehaltenen  Personals  als  Massstab  oder 
Merkmal  des  Gross-  und  Kleinbetriebes  und 
etwaiger  Zwischenstufen  übrig.  Bei  welcher 
Personalgrösse  hierbei  die  Scheidungslinie 
zu  ziehen  ist,  kann  selbstverständlicih  nicht 
allgemeinhin  bestimmt  werden,  hängt  viel- 
mehr nach  der  jeweiligen  Lage  der  gesamten 
Verhältnisse  von  der  Einsicht  der  Beteiligten 
ab  und  ist  auch  thatsächlich  verschieden 
gezogen  worden.  Mag  nun  hierbei  gleich- 
wohl immer  bald  mehr  bald  minder  glücklich 
gegriffen  werden,  immerhin  ist  es  angesichts 
des  gegenwärtig  stets  kräfti^r  hervortreten- 
den Zuges  der  Zeit  nach  einer  im  grossen 
betriebenen  Produktion  von  weitp^ifendster 
Bedeutung,  den  Betriebsumfang  in  den  ein- 
zelnen Zweigen,  insbesondere  die  Thatsache, 
in  welcher  Ausdehnung  das  Handwerk,  die 
Kleinindustrie  sich  gegenüber  dem  Gross- 
gewerbe, der  Fabrik  noch  zu  behaupten  ver- 
mag, für  den  dermaligen  gewerblichen  Ent- 
wicfeelim^tand  zu  ermessen.  Als  eine 
Eigenart  industrieller  Unternehmungen,  wel- 
che zwitterartig  von  der  einen  Seite  als 
ausgeprägtestes  Kleingewerbe,  von  der  an- 
deren als  im  grossen  betrieben  ei*scheint 
bedarf  bei  der  Aufnahme  des  Betriebsumfanges 
einer  besonderen  Berücksichtigung  die  Haus- 
industrie, also  diejenige  für  den  gix)ssen 
Markt,  aber  nicht  in  den  Fabrikräuraen, 
sondern  in  der  eigenen  Wohnung  ilirer  In- 
haber betriebenen  Gewerbe.  An  dritter 
Stelle  hat  die  Erh(»bung  das  rechtliche  Be- 
sitzverhältnis am  Betriol^  dahin  klarzustellen, 
ob  der  Beh-ieb  einer  oder  mehreren  einzelnen 
physischen  Pei-sonen,  einer  bezw.   welcher 


Art  von  juristischen  Personen  —  Aktien- 
gesellscharten,  Erwerbsgenossenschaften,  Ge- 
meinde, Staat  —  gehört.  Weil  leicht  zu  er- 
fassen und  zugleich  nach  verschiedenen  Seiten 
bedeutungsvoll,  erheischen  viertens  die  Ge- 
werbetreibenden  eine  nähere  Ergründunff. 
Einmal  sind  sie,  wie  nahe  lie^,  naca 
ihrem  Arbeitsverhältnisse,  ob  Arbeitgeber 
oder  Arbeitnehmer,  auseinander  zu  halten. 
Dabei  sind  die  /letzteren  zum  mindesten 
wieder  in  die  höher  gebildeten,  kauf- 
männischen und  technischen,  wie  in  die 
niederen  Hilfspersonen  zu  zerlegen,  da  beide 
Gruppen  in  sozialer  Beziehung  eine  sicht- 
lich anders  geartete  Stellung  einnehmen. 
Von  Belang  wäre  es,  auch  die  niederen 
Kräfte  darnach  trennen  zu  können,  ob  sie 
im  eigentlichen  Sinne  gelernte  Gehilfen  sind, 
die  regelrecht  die  Befähigung  zur  Ausübung 
ihres  Gewerbes  in  einem  Lehr^nge  sich 
erworben  haben,  oder  die  bloss  die  CTöberen 
oder  doch  gewisse  einzelne  techniscne  Leis- 
tungen im  Fabrikbetriebe  verrichtenden  Ar- 
beiter sind.  Indessen  dürfte  das  vielleicht 
vielfach  auf  Schwierigkeiten  stossen.  Jeden- 
falls würde  aber  durch  eine  besondere  Frage 
nach  den  Lehrlingen  unter  den  Hilfspersonen 
schon  manches  erreicht  werden.  Ebenso  ist 
es  belangreich,  zu  erfahren,  inwieweitFamilien- 
glieder  des  Geschäftsleitera  in  dessen  Betriebe 
mitwirken.  Neben  der  Arbeitsstellung  würden 
aber  ferner  auch  die  persönlichen  Eigen- 
schaften der  Gewerbetreibenden  jeder  dieser 
Gattungen  zu  erforschen  sein :  das  Geschlecht, 
der  Familienstand,  das  Alter,  Momente,  die 
namentlich  für  die  Beleuchtung  einer  Reihe 
sozialer  Erscheinungen  nicht  übergangen 
werden  dürfen:  z.  B.  für  die  gewerbliche 
Beteiligung  von  Kindern  und  Greisen,  von 
jungen  Mädchen,  Ehefrauen  und  Witwen, 
für  die  Aussicht  auf  eheliche  Niederlassung 
der  Männer,  wie  auf  den  Uebergang  der- 
selben von  einer  unselbständigen  in  eine 
selbständige  Stellung  je  nach  dem  Lebens- 
alter. Eingehender  dürften  diese  Gegen- 
stände aber  wohl  noch  bei  den  Volks- 
zählungen in  Verbindung  mit  den  Benifs- 
thatsachen  sich  erheben  lassen.  Als  Ergän- 
zung der  Ermittehmgen  über  die  Gewerbe- 
treibenden kann  man,  wie  es  beispielsweise 
in  Belgien,  Frankreich  und  Nordamerika 
geschehen  und  wie  es  auch  für  Deutschland 
einmal  beabsichtigt  war,  Angaben  über  liOhn- 
verhältnisse  sammeln,  so  über  die  Zahlungs- 
einrichtungen, die  mittleren  Lohnsätze  und 
die  im  ganzen  im  Jahre  gezahlten  Löhne. 
Doch  dürften  diesoThatsachen  sich  wohl  zuver- 
lässiger auf  geeigneterem  Wege  als  dem  einer 
allgemeinem  Gewerbezählung  feststellen 
lassen.  An  letzter  Stelle  bleiben  als  uner- 
lässliche  Aufnahmegegenstände  die  Zahl, 
Art  und  bezw,  aucli  die  Kraft  der  im  Ge- 
werbebetriebe verwandtenÜmtriebsmaschinea 


Gewerbestatistik 


513 


und  Motoren,  wie  der  genutzten,  füi*  die  ein- 
zelneu Zweige  charakteristischen  Arbeits- 
maschinen, Werkzeuge,  Apparate,  Oefen  und 
dergleichen.  Als  höchst  wünschenswert  muss 
es  bezeichnet  werden,  wenn  die  Qewerbe- 
aufnahmen  auch  gleichzeitig  weitere  die 
Arbeiter  betreffende  Vorgänge,  wie  die  Ax- 
beitsdauer,  Sparkassen  der  Unternehmungen 
und  sonstige  getroffene  Wohlfahrtseinrich- 
tungen, zu  erfassen  suchen. 

Ueber  das  hinaus,  was  sich  von  allen 
Gewerben  und  Betrieben  oder  doch  von 
allen  grösseren  Betrieben  durch  die  Zählung 
ermitteln  lässt,  eignen  sich  manche  Gewerbe 
allerdings  für  aus^ebigere  Befragung.  Das 
trifft  namentlich  beim  Bergbau,  beim  Hütten- 
und  Salinenwesen  zu,  für  welche  denn  auch 
vielfach  bezüglich  der  gewonnenen  und  ver- 
arbeiteten Mengen  Aufnahmen  veranstaltet 
worden  sind,  — 

Nächst  den  Aufnahmegegenständen  hat 
sich  das  Augenmerk  bei  einer  Gewerbe- 
zälilung  auf  eine  Einteilung  der  Ge- 
werbe zu  richten,  wie  solche  ebenfalls  für 
die  Herstellung  einer  Berufsstatistik  uner- 
lässlich  ist.  Ohne  selbige  würde  bei  der 
ausserordentlich  grossen  Anzahl  von  ein- 
zelnen Gewerbezweigen  aller  Ueberblick  ver- 
loren gehen.  Es  kommt  daher  darauf  an, 
nach  gewissen  Gesichtspunkten  die  einzelnen 
Gewerbe  zu  grösseren  Gruppen,  Ordnungen 
etc.  zusammenzufassen.  Die  gewählten  Ge- 
sichtspunkte sind  bisher  sehr  verschieden- 
artig gewesen,  bald  bestinunte  die  Produktion, 
bald  die  Konsumtion,  bald  die  Stoffe,  die 
Werkzeuge,  die  Arbeitsmethoden  den  Ein- 
teilungsgrund,  ja,  um  den  erheblichen 
Schwierigkeiten  zu  entgehen,  verfuhr  man 
auch  wohl,  wie  in  Amerika,  bloss  alpha- 
betisch. — 

Zum  dritten  ist  noch  des  Aufnahme- 
yerfahrens  kurz  zu  gedenken.  Vorwiegend 
ist  hier  neuerlich  die  unmittelbare  Umfrage 
von  Betrieb  zu  Betrieb  gewählt  worden. 
Dabei  wiude  die  Zählung  entweder  für  sich 
allein  oder  in  Verbindung  mit  der  Volks- 
zählung vorgenommen.  iSe  letztere  Art  ist 
die  einfachere  und  hat  den  Vorzug,  dass 
nicht  bloss  voraufgehende  Erhebungen  zur 
Feststellung  der  zu  befragenden  Geschäfte 
und  deren  Adressen  überflüssig  werden,  dass 
auch  manche  Thatsachen  bereits  durch  die 
Volkszählung  zu  ^winnen,  dass  insbesondere 
die  bloss  aus  emem  einzigen  Inhaber  be- 
stehenden, sich  also  mit  dem  Personal 
deckendeft  Betriebe  lediglich  auf  diesem 
Wege  zu  erlangen  sind  und  dass  sie  ihrer 
einfachen  Verhältnisse  wegen  weitere  Be- 
fragung überflüssig  machen. 

II.  Die  gewerbestatistischen  Leistungen 
der  verschiedenen  Staaten. 

3.  Deutschland.    Unter  den  deutschen 

Handwörterbuch  der  SUatgwiBsenBchafteii.    Zweite 


Einzelstaaten  ist  es  Preussen,  welches  der 
Gewerbestatistik  durch  regelmässige  Auf- 
nahmen über  die  Gewerbeoetriebe  bei  Ge- 
legenheit der  Volkszählungen  schon  seit  1819 
eine  besondere  Aufmerksamkeit  zugewendet 
hat.  Die  übrigen  Staaten  kommen  hingegen, 
von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen,  nur  als 
Glieder  des  Zollvereins  und  bei  den  von 
diesen  veranstalteten  Aufnahmen  in  Betracht. 
Solcher  gab  es  indessen  bloss  zwei,  1846  und 
1861,  beide  im  Anschluss  an  die  damaligen 
Volkszählungen.  Während  jene  lediglich  die 
Erhebung  der  für  den  Grosshandel  arbeiten- 
den Betriebe,  allerdings  mit  mancherlei  Ab- 
weichungen in  den  einzelnen  Ländern,  be- 
wirkte, hatte  diese  eine  schon  weitere  und 
gleichzeitig  mehr  einheitliche  Anlage.  Drei 
Gebiete  galt  es  hierbei  zu  ermitteln:  die 
Fabriken  und  die  besonders  filr  den  Gross- 
handel thätigen  Anstalten,  die  Handwerker 
und  die  vorherrschend  für  den  örtlichen  Be- 
darf arbeitenden  Gewerbetreibenden  im 
engeren  Sinne  und  Künstler,  endlich  die 
Handels-  und  Transportsgewerbe,  die  Gast- 
und  Schankwirtschaften  und  die  Anstalten 
und  Unternehmungen  zum  litterarischen 
Verkehr.  Dabei  zielten  die  Aufnahmen  auf 
die  in  den  einzelnen  Zweigen  wirkenden 
Personen  mit  Unterscheidung  ihres  Arbeits- 
und Dienstverhältnisses;  aussei'dem  waren 
für  die  Fabriken  die  darin  thätigen  Dampf- 
und Arbeitsmaschinen,  für  die  Handwerker 
die  für  eigene  und  fremde  Rechnung  arbei- 
tenden Meister  sowie  endlich  gewisse  An- 
Siben  über  Transportmittel  festzustellen, 
ie  Ergebnisse  dieser  Aufnahme,  welche  in 
Viehbahns  grossem  Werke  über  den  ZoU- 
verein  wie  in  Schmollers  trefflichen  Un- 
tersuchungen über  das  Kleingewerbe  eine 
so  fleissige  und  einsichtige  Bearbeitung  er- 
fahren haben,  konnten  bei  der  wenig  aus- 
gebildeten Zählungseiurichtung ,  wie  sie  in 
Hinblick  auf  die  schwerfälligen  Verhand- 
lungen des  Zollvereins  nicht  besser  zu  er- 
reichen war,  indessen  zu  keinem  recht  be- 
friedigenden Ergebnisse  führen;  schon  die 
bedenkliche  Trennung  der  Betriebe  in  Fabrik 
und  Handwerk  bot  den  Keim  erheblicher 
Unrichtigkeiten. 

Ein  gedeihlicherer  Boden  für  eine  voll- 
kommener ausgestaltete  Gewerbeaufnahme 
fand  sich  auch  erst,  nachdem  die  Umbil- 
dungen des  Jahres  1866  eine  straffere  ein- 
heitliche Leitung  der  Bundesangelegenheiten 
geschaffen  hatten.  Bereits  für  1872  war  eine 
Erhebung  geplant,  welche  für  die  einzelnen 
Gewerbebetriebe  den  Betriebsumfang  und 
die  in  ilmen  thätigen  persönlichen  und 
Maschinenkräfte,  zudem  insbesondere  die 
Hausindustrie  ermitteln  sollte  unter  aus- 
giebigerer Behandlung  der  Grossbetriebe. 
Auch  wünschte  man  eine  wahlfreie  Er- 
hebung von  Lohnverhältnissen  und  der  zu 

Auflage.    IV.  33 


514 


Gewerbestatifitik 


Gunsten  der  Arbeiter  beßtehenden  Wohl- 
falirtseinrichtun^n.  Beabsichtigt  war  eine 
völlig  selbständige  Aufnahme,  fttr  die  jedoch 
der  im  vorangehenden  Jahre  abzuhaltenden 
Volkszählung  die  Beschaffung  der  Adressen 
der  einzdnen  Betriebe  zugedacht  war.  Zu 
beröcksiehtigen  waren  445  gewerbliche  Ord- 
nungen. Da  indessen  die  Anlage  der  Er- 
hebung, was  die  Aufnahmegegenstände  als 
die  Untersdieidung  der  Gewerbezweige  an- 
langt, zu  umfangreich  erschien,  kam  letztere 
nicht  zu  Stande,  vielmehr  ward  in  Verbin- 
dung mit  der  Volkszählung  von  1875  eine 
verein&chte  Aufnahme  abgehalten.  Diese 
war  auf  alle  selbständigen  Betriebe  der 
Kunst-  und  Handelsgärtnerei,  der  Fischerei, 
des  Bergbaues,  Hütten-  nnd  Salinenwesens, 
der  Industrie  mit  Einschluss  des  Bauwesens, 
des  Handels  und  Verkehrs  wie  der  Gast- 
und  Schankwirtschaft  gerichtet,  dergestalt, 
dass  von  verschiedenen  Gewerbebe- 
trieben desselben  Inhabers,  gleichviel  ob 
räimilich  vereint  oder  getrennt,  und  von 
gleichartigen  Betrieoen  desselben  In- 
habers, die  räumlich  von  einander  getrennt 
bestanden,  jeder  besonders,  ein  mehreren 
Inhabern  gehöriger  Betrieb  aber  nur  ein- 
mal zur  Erhebung  gelangte.  Ausgeschlossen 
blieben  das  Versicherungswesen,  die  Heil- 
anstalten, das  Medizinalgewerbe,  dasMusik- 
und  Theatergewerbe,  der  Gewerbebetrieb  im 
Umherziehen,  die  zur  Beschäftigung  der  In- 
sassen von  Straf-  und  Besserungsanstalten 
von  diesen  betriebenen  Arbeitszweige,  sowie 
der  Betrieb  der  Militär-  und  Marineverwal- 
tung in  gewerblicher  Hinsicht  wie  der  der 
Post-,  Eisenbahn-  und  Telegraphenverwal- 
tung. Wohl  aber  waren  die  den  drei  letz- 
teren unterstellten  Werkstätten  einbezogen 
worden.  Ganz  allgemein  war  die  Aufnahme 
eine  getrennte  für  die  Gewerbebetriebe  von 
mehr  als  5  Hilfspersonen  und  die  übrigen, 
von  denen  die  ersteren  durch  eine  eigene 
Pragekarte  erhoben  wurden.  Die  kleineren 
Betnebe  waren  dagegen  dem  gewöhnlichen 
Volkszählungsformular,  soweit  es  sich  auf 
die  Art  des  Berufes,  die  Stellung  in  dem- 
selben und  den  Nebenberuf  bezog,  zu  ent- 
nehmen. Ausserdem  befanden  sich  in  jenem 
Formular  zwei  Extrafragen,  von  denen  die 
eine  von  den  Gewerbetreibenden,  welche  5 
oder  weniger  Hilfspersonen  beschäftigten, 
die  Angabe  der  Anzahl  ihrer  Gehilfen  und 
Lehrlinge  wie  über  einige  benutzte  Arbeits- 
maschinen verlangten.  In  der  Fragekarte 
für  die  ^össercn  Betriebe  war  anzugeben: 
ausser  Sitz  imd  Firma  der  Gegenstand  des 
Betriebes,  die  Zahl  der  Geschäftsleiter  und 
Hilfspersonen  wie  das  Alter  und  Geschlecht 
der  letzteren,  die  Motoren  nach  Zahl,  Art 
und  Stärke  sowie  gewisse  charakteristische 
Arbeitsmaschinen.  Die  Kenntnis  von  dem 
Vorhandensein    dieser    grösseren    Betriebe 


wurde  erlangt  durch  die  andere  Extrafrage 
des  Volkszl^ungsformulares ,  welche  eine 
Erklärung  über  die  Beschäftigung  von  min- 
destens 6  Hilfepersonen  forderte.  Die  Auf- 
nahme erstreckte  sich  auf  304  Geweibe- 
»Ordnungen«,  die  weiter  in  94  Klassen  und 
19  Gruppen  zusammengefesst  waren. 

Obschon  im  Vergleich  mit  der  anfänglichen 
Anlage  wensentlich  eingeschränkt,  bildete  die 
Aufnahme  von  1875  doch  bereits  einen  gewal- 
tigen Fortechritt  gegen  die  des  Zollvereins 
so  zwar,  dass  die  auf  ihr  bekundete  Be- 
arbeitung der  Eiigebnisse,   wie   sie  ausser 
vom  Reiche  namentlich  von  Preussen  und 
Oldenburg  in   eingehender  Weise    bewirkt 
ist,  eine  wichtige  und  befriedigende  Quelle 
für  die   Erkenntnis   der  gewerblichen  Zu- 
stände Deutschlands  geschaffen  hat    Aller- 
dings  war   auch    sie    noch   von    gewissen 
Mängeln   behaftet,    die   bei   einer  Wieder- 
holung   auf   Abstellung   drängten.     Lagen 
diese  einesteils  in  der  zu  hoch  hinau^e- 
schobenen  Grenze  der  allein  näher  befragten 
Grossbetriebe,   so  emiben  sich  anderenteils 
aus  der  gewählten  Fragstellung  mancherlei 
Zweifei,  Lücken  und  Doppelzählungen:  so 
z.  B.  was   die  vollständige  Er&ssung  der. 
Nebenbetriebe   wie   der    HauptbetrielnB ,   so 
was  die  Irrungen  bei  Verschiedenheit  des 
Geschäftsortes  und  des  Wohnsitzes  des  In- 
habers anlangt.   Manche  solcher  Uebelstände 
waren    schon    durch    die    Erhebungs weise 
einer  Beihe  Einzelstaaten  beseitigt   In  ein- 
heitlicher Gestalt  für  das  ganze  Reich  ge- 
schah das  erst  bei  der  mit  der  allgemeinen 
Berufsermittelung  vom  5.  Juni  1882  bereits 
von   neuem   abgehaltenen   Gewerbezählung. 
Auch   diese   zerfiel  in  zwei  Teüe  mid  er- 
fragte  die   allgemeine   Beziehung   des  Ge- 
werbes mit  Hilfe  der  über  den  Beruf  zu 
machenden  Angabe  in  der  eigentlichen  Volks- 
zählungsliste, dem  sogenannten  »Berufszähl- 
bogenc,  imd  sodann  die  näheren  Umstände 
des  Betriebes  durch   eine   besondere  »Ge- 
werbekarte« und  zwar  diesmal  für  sdle  Be- 
triebe, welche  menschliche  wie  motorische 
Hilfskräfte    nützten   oder  mehrere  Inhaber 
zählten.    Auf  die  einfachere  Erhebung  blie- 
ben also  lediglich  die  sogenannten  Allein- 
betriebe beschränkt.     Sie  hatten  bloss  den 
»Zählbogen«    auszufüllen,    der   ausser  ge- 
nauester   Bezeichntmg     der     gewerblichen 
und  hausgewerbKchen  Thätigkeit  und  Stel- 
lung von  den  selbständigen  Gewerbetreiben- 
den Auskunft  verlangte,  ob  sie  Mitinhaber 
hätten  oder  Gehilfen   und  Maschlhen   ver- 
wendeten.    Bei   Bejahung  dieser  letzteren 
lYagen  kam  dann  die  »Gewerbekarte«  zur 
Anwendung,  welche  die  Stellung  des  ein- 
zelnen   selbständigen    Geschäftsleiters    (In- 
habers, Pächters,  Leiters)  jedes  Betriebes,  das 
Besitzverhältnis,    den    Personalbestand    für 
beide  Geschlechter,  die  benutzten  Motoren 


Gewerbestatistik 


515 


sowie  die  vom  BetrieT)e  aus  in  der  Haus- 
indtustrie  und  in  Straf-  und  Besserungsan- 
stalten beschäftigten  Arbeiter  feststellen 
sollte.  Abgest^en  wurde  dagegen  von  der 
Art  und  Pferdestfirke  der  Motoren.  Die  zu 
befragenden  Gewerbe  blieben  mit  Ausnahme 
des  Hinzutritts  der  gewerbsmässi^n,  nicht 
landwirtschaftlichen  Tierzucht  tmd  des  Yer- 
sic^erungswesens  dieselben  von  1875,  wie 
denn  auch  im  übrigen  die  massgebenden 
Aufuahmebestimmun^en  sich  den  früheren 
anschlössen.  Die  Einteilung  der  Gewerbe 
war  jedodi  etwas  erweitert  und  zerfiel  in 
20  Gruppen,  93  Klassen  und  200  Ordnun- 
gen mit  im  ganzen  248  einzelnen  Unter- 
scheidungen. 

Das  auf  diese  Weise  erhobene  Material 
ist,  soweit  es  das  Reich  betrifft,  wieder  zu 
umfänglichen  Zusammenstellungen  und  zu 
einer  gründlichen  wie  einsichtsvollen  Bear- 
beitung durch  das  kaiserliche  statistische  Amt 
verwendet  worden.  Hierbei  sind  die  Ergeb- 
nisse nach  folgenden  fünf  Richtungen  hin 
nachgewiesen:  einmal  die  Gewerbebetriebe 
als  Haupt-  und  als  Nebenbetriebe  wie  das 
gewerbliche  Personal  im  ganzen  und  mit 
Rücksicht  darauf,  ob  der  Betrieb  lediglich 
von  dessen  Inhaber  und  ohne  Anwendung 
motorischer  Kräfte  oder  in  anderer  Gestalt 
geführt  wird.  In  Ansehung  der  mehreren 
Inhabern  gehörigen  oder  durch  Motoren 
und  durch  Gehüßen  unterstützten  Geschäfte 
wird  dann  weiter  der  Betriebsumfang  nach 
der  Anzahl  der  thäti^n  Personen  des  Nä- 
heren dargethan.  Drittens  wird  die  Ver- 
wendung der  verschiedenen  Motoren  in  Ver- 
bindung mit  der  Grösse  des  Personalbestan- 
des, viertens  die  Hausindustrie  und  endlich 
das  Besitzverhältnis  am  Betriebe  nachge- 
wiesen. 

Auf  der  gleichen  Grundlage  wie  1882  be- 
ruhte auch  die  jüngste,  am  14.  Juni  1895  im 
Deutschen  Reicne  abgehaltene  Gewerbezäh- 
lung. Auch  sie  lehnt  sich  an  eine  allgemeine 
Berufsermittelung  an ;  demgemäss  kam  wie- 
derum die  :i>Haushaltung8liste«  zur  Erfragung 
der  gesamten  Bevölkerung  wie  insbesondere 
zur  Feststellung  der  »Alleinbetriebe«  und  der 
»Gewerbebogen«  zur  Ermittelung  der  übrigen 
(Jewerbebetriebe  zur  Anwendung.  Doch  hat 
die  neueste  Zählung  gegenüber  der  vorauf- 
gehenden hinsichtlich  der  Erfragungsgegen- 
stände  bemerkenswerte  Erweiterungen  er- 
feüiren.  Diese  betrafen  vornehmlich  einmal 
das  beteiligte  Personal,  wobei  das  innerhalb 
und  ausserhalb  der  Betriebsstätten  verwendete 
auseinandergehalten  wurde.  In  ersterer 
Beziehung  wurden  die  Arbeitnehmer  in 
Verwadtungs-,  Kontor-  und  Rechnungsper- 
sonal (darunter  Lehrlinge),  in  das  technische 
Aufsichtspersonal  und  höhere  Techniker  und 
in  das  sonstige  Personal,  alles  getrennt  nach 
dem  Geschlecht,  unterschieden.     Bei  dem 


letzteren,  dem  niederen  Hilfspersonal,  blieb 
weiter  anzugeben,  wieviele  darunter:  über 
oder  unter  16  Jahre,  mitthätige  Familien- 
glieder nach  derselben  Altersgrenze,  Lehr- 
linge und  solche,  welche  im  Hause  des  Be- 
triebsunternehmers wohnten,  endlich  wieviel 
verheiratete  Frauen,  üeberdies  bestand  eine 
wichtige  Neuerung  darin,  dass  die  niederen 
Hilfspersonen  in  einer  eigenen  Nachweisung 
nach  ihrer  thatsächlichen  Beschäftigung 
(z.B.  als  Heizer,  Schlossergehilfe,  Verkäufe- 
rin) zu  beziffemwaren.  In  betreff  der  ausser- 
halb der  Betriebsstätten  arbeitenden  Personen 
wurden  erhoben  die  selbständigen  und  die 
unselbständigen  Hausindustiiellen  aller  Art, 
die  Hausierer  und  die  in  Straf-  und  Besse- 
rungsanstalten verwandten  Kräfte.  Hinzu- 
gekommen ist  endlich  die  Erfragung  der 
Pferdestärken  der  Umtriebsmaschinen  sowie 
der  Anzahl  und  mitunter  auf  die  Leistungs- 
fähigkeit hinweisende  Angaben  der  bedeut- 
samsten (100)  Arbeitsmaschinen,  Apparate, 
Oefen. 

Entsprechend  diesen  eingehenderen  Er- 
hebungen sind  denn  auch  die  aus  ihnen 
zusammengestellten  Nachweisungen  in  einem 
wesentlich  breiteren  Rahmen  erfolgt.  Sie 
machen  einmal  die  Gewerbebetriebe,  als 
Haupt-,  Neben-,  Allein-  und  Gehilfenbetriebe 
im  ganzen  und  die  letzteren  nach  der  Kopf- 
zahl der  darin  thätigen  Personen  ersichtlich; 
Ebenso  wird  das  Personal,  je  nach  der 
Betriebsgrösse,  mit  Unterscheidung  der 
BerufssteMung  und  das  Arbeiterpersonal 
nach  den  übrigen  erhobenen  Unterscheidun- 
gen (Alter,  Lehrlinge,  verheiratete  Frauen 
etc.),  insbesondere  auch  nach  seiner  beson- 
deren BeschäftigUDg  dai^ethan.  Weitere 
üebersichten  belegen  die  Setriebe  nach  der 
Dauer  des  Betriebes,  die  hausindustriellen 
Betriebe  und  ihr  Personal  nach  den  Angaben 
der  Hausindustriellen  selbst  wie  die  ausser- 
halb der  Betriebsstätten  beschäftigten  Per- 
sonen verschiedener  Gattung  nach  den  An- 
fiben  der  Unternehmer.  Eine  eingehende 
ehandlung  ist  weiter  der  Verwendung  der 
Motoren  und  Arbeitsmaschinen  zu  teil  ge- 
worden unter  Berücksichtigung  des  —  an 
der  Kopfzahl  gemessenen  —  Betriebsum- 
fanges.  Endlich  sind  die  Gehilfen,  Betriebe : 
nach  der  Unternehmungsform  (Einzelinhaber, 
mehrere  Gesellschafter,  Genossenschaften  etc.) 
veranschaulicht  worden.  Bei  dieser  Nach- 
weisung sind  als  Betriebseinheiten  die  so- 
genannten »Gesamtbetriebe«  angesehen  wor- 
den. Während  nämlich  im  übrigen  jeder: 
einzelne  Gewerbezweig  desselben  Unter- 
nehmens für  sich  behandelt  ist^  kommen 
hier  die  unter  gemeinsamer  Leitung  und 
Buchung  stehenden  Betriebe  vereint  in  Be-' 
tracht.  Zu  dem  Ende  ist  auch  die  Zahl  und 
Grösse  der  Betriebe  mit  ihrem  Personal  und 
Pferdestärken  unter  Zählung   der  Gesamt- 

33* 


516 


Gewerbestatistik 


betriebe  als  Betriebseinheiten  besonders  er- 
sichtlich gemacht  Die  Einteilung  der  Ge- 
werbe umtasst  bei  diesen  Nachweisimgen  in 
21  Gruppen  318  Gewerbearten,  ist  demnach 
ebenfalls  gegen  1882  sichtlich  erweitert 
worden.  Auch  die  Ergebnisse  der  vorliegen- 
den Zählung  sind  der  Gegenstand  gründ- 
licher analytischer  Darstellung  gewesen. 

Durch  diese  seine  grossen,  trefflich  an- 
gelegten und  zugleich  weislich  masshalten- 
den,  damit  aber  den  Erfolg  der  Ausführung 
sichernden  Aufnahmen  und  deren  muster- 
hafte reichsseitige  Bearbeitung  durch  F.  Z  a  h  n 
hat  Deutschland  in  neuerer  Zeit  wohl  die  her- 
vorragendsten Leistungen  auf  dem  Gebiete  der 
Gewerbestatistik  dargeboten.  Dennoch  hat 
trotz  der  reichen  Ausbeute  der  Privatfleiss 
diese  Quelle  doch  immer  erst  spärlich  für 
die  tiefere  wissenschaftliche  Erforschung 
verwertet.  Auch  die  Statistik  der  Einzel- 
staaten, soweit  sie  die  Ergebnisse  der  Ge- 
werbezählung veröffentlicht  hat,  ist  über 
den  Rahmen  der  Reichsdarstellungen  nicht 
oder  doch  nicht  wesentlich  hinausgegangen, 
hat  auch  fast  allein  auf  blosse  tabellarische 
Behandlung  sich  beschränkt. 

4.  Ausserdentsche  Staaten.  Der 
fremden  Staaten  wird  hier  nur  in  Kürze 
gedacht  werden  können,  da  bloss  wenige 
m  den  letzten  Jahrzehnten  wirkliche  Ge- 
werbezählungen voi*genommen  haben,  zudem 
auch  nicht  für  alle  die  erforderlichen  Unter- 
lagen hier  beschafft  werden  konnten. 

Allerdings  veranstaltet  eine  grosse  Reihe 
von  ihnen  kleinere  und  vielfich  jährlich 
wiederkehrende  Ermittelungen  über  einzelne 
Gattungen  von  Gewerben.  Namentlich  er- 
streckt sich  das  Erhobene  und  Veröffent- 
lichte auf  die  Montan-  und  metallurgische 
Industrie  und  auf  solche  Fabrikationszweige, 
welche  wie  die  des  Zuckers,  des  Alkohols 
in  näherer  Beziehung  zur  Steuerverwaltiuig 
stehen.  So  finden  sich  für  Oesterreich 
in  dem  vom  statistischen  Departement 
des  Handelsministeriums  herausgegebenen 
»Nachrichten  über  Industrie,  Handel  und 
Verkehr«  gewisse  durch  die  Handelskammern 
zusammengetragene  Nachweise  über  eine 
Reihe  von  Industrieen,  so  giebt  Ungarn  in 
seinem  »Statistischen  Jahrbuch«  solche 
ziemlich  ausführlich  über  Bergbau  und 
Hüttenwesen,  so  gewährt  Belgien  in  dem 
Annuaire  statistique  de  la  Belgique  Aus- 
kunft über  die  Bergwerke  und  die  me- 
tallurgische Industrie.  Das  gleiche  thut  in 
ziendich  eingehender  Weise  Frankreich 
in  der  statistique  de  la  France  und  im  An- 
nuaire statistioue  de  la  France.  Zudem 
wird  hier  Auskunft  erteilt  über  die  kera- 
mische, die  Textil-,  die  Beleuchtuugs-,  die 
Papierindustrie,  über  die  Zucker-,  Tabak- 
und  Alkoholfabrikation.  Auch  England 
veröffentlicht  alljährlich,  früher  in  den  Mis- 


cellaneous  statistics,  jetzt  in  den  Statistical 
abstracts  gewerbliche  Nachweise  über  die 
Textilindustrie.  Diese  erstrecken  sich  auf 
die  von  den  Fabriken  bearbeiteten  ver- 
schiedenen Arten  von  Stoffen  und  a«if  die 
Bearbeitimgsweise,  auf  die  Pferdestärke  der 
Maschinen,  auf  die  Arbeitsmaschinen  und 
Vorrichtimgen ,  auf  die  erwachsenen  und 
jugendlichen  Arbeiter  wie  auf  die  Unglücks- 
fälle in  den  Fabriken.  Nicht  minder  werden 
in  den  Financial  and  commerdal  statistics 
für  Britisch -In  dien  hinsichtiich  der 
grösseren  Industrieen  die  Zahl  der  Unter- 
nehmungen und  beschäftigten  Personen,  das 
angelegte  Kapital  und  der  Wert  der  Pro- 
duktion, für  einzelne  Zweige  auch  noch 
weitergehende  Daten  beigebracht.  Selbst 
Russland  hat  wiederholt  in  seinem  An- 
nuaire statistique  über  gewisse,  wahrschein- 
lich der  Steuerkontrolle  unterworfene  Ge-* 
werbe  und  namentlich  nach  der  Richtung 
der  produzierten  Mengen  hin  Angaben  mit- 
geteilt Dazu  treten  dann  für  das  Jahr  1890 
die  Ergebnisse  einer  allgemeinen  gewerb- 
lichen Ermittelung  aus  dem  Jahre  1887, 
welche  in  Ansehung  des  ganzen,  grossen 
europäischen  wie  asiatischen  Reiches  über 
63  Gewerbszweige  ausgedehnt  ist.  Aller- 
dings befasst  sie  nur  die  Anzahl  der 
Fabriken,  den  Produktionswert,  die  jugend- 
lichen und  erwachsenen  Arbeiter  beiderlei 
Geschlechts,  die  letzteren  mit  der  Unter- 
scheidung, ob  sie  als  Russen  oder  Ausländer 
irgendwelche  technische  Studien  gemacht 
haben  oder  nicht  üeber  die  Art  der  Er- 
mittelung lässt  sich  nichts  ersehen,  so  wenig 
wie  für  die  übrigen  erwähnten  Länder  der 
Weg,  wie  die  Ergebnisse  zusammengetragen 
sind,  bezeichnet  ist 

Das  ganze  Gebiet  gewerblicher  Thätig- 
keit  wird  regelmässig  in  Schweden  zur 
Aufstellung  gebracht  und  in  den  Jahres- 
berichten des  Kommerz-KoUegiums  mit^ 
teilt  Dem  Anschein  nach  handelt  es  sich 
gleich  den  zuvor  genannten  Ländern  auch 
hier  nicht  um  Zählungen  im  engeren  Sinne, 
vielmehr  bloss  um  im  Verwaltungswege 
imter  Leitung  der  obersten  Behörde  für 
Handel  und  Gewerbe  bewirkte  Erhebungen. 
Nichtsdestoweniger  sind  sie  einigermassen 
umfangreich,  ^e  begreifen  einmal  im  all- 
gemeinen für  203  Gewerbearten  die  Anzahl 
der  Fabriken,  der  verschiedenen  Triebkräfte 
und  der  Arbeitsmaschinen,  der  Inhaber  und 
der  über  wie  unter  18  jährigen  Arbeiter  für 
jedes  Geschlecht  sowie  die  Menge  und  den 
Wert  der  Erzeugnisse  und  den  Reinertrag 
nach  den  Annahmen  der  öffentlichen 
Schätzungsorgane ;  endlich  die  in  den  Fabriken 
vorgekommenen  Unfälle.  Bezüglich  der 
Mehrzahl  der  Gewerbearten  ist  zudem  noch 
die  erzeugte  Masse  angegeben.  Sodann  sind 
bezüghch  der  handwerksmässig  betriebenen 


Gewerbestatistik ' 


517 


Unternehmungen  für  57  Gewerbearten  die 
Anzahl  der  Meister  iind  Hilfspersonen  nach 
dem  Gesehledit  dargethan.  Unter  etwas 
genauerer  Bezifferung  der  Produktionsver- 
hältnisse und  der  Maschinen-  wie  Arbeits- 
kräfte werden  in  den  Berichten  derselben 
Behörde  insbesondere  noch  die  .Montange- 
werbe behandelt. 

Auf  Grund  aUgemeiner  Aufnahme  haben 
nun  weiter  während  der  letzten  Jahrzehnte 
namentlich  Ungarn,  Oesterreich,  Prankreich, 
England,  Nordamenka,  Belgien  den  gewerb- 
lichen Zustand  ihrer  Länder  statistisch  zu 
erheben  und  darzustellen  gesucht.  Von 
Ungarn  kann  im  Hinblick  darauf,  dass  die 
Veröffentlichung  des  Zählungswerkes  le- 
diglich in  der  Landessprache  erfolgt  ist,  nur 
gesagt  werden,  dass  die  Aufnahme  1885 
statt  hatte  imd  nach  zwei  Erhebungsformu- 
laren voi^nommen  wurde,  von  denen  das 
«ine  vorzugsweise  die  Arbeits-,  das  andere 
die  Maschinenkräfte  betroffen  zu  haben 
scheint,  üeberdies  wurde  in  Ungarn  ge- 
legentiich  der  Volkszählimg  »am  Anfang« 
des  Jahres  1891  die  Frage  nach  »der  Unter- 
nehmung oder  dem  Meister  der  in  in- 
dustriellen Betrieben  beschäftigten  Hilfs- 
personen gestellt  Bezweckt  wurde  hiermit 
einmal,  mittelbar  Auskunft  über  die  Anzahl 
der  zu  dem  nämlichen  »Betriebe«  gehörenden 
Hilfspersonen  und  damit  —  in  Verbindung 
mit  der  Zahl  der  Betriebsinhaber  —  solche 
über  die  Anzahl  und  den  Umfang  der  in- 
dustriellen Betriebe  zu  erlangen,  sodann  einen 
Anhalt  über  die  zur  2iählungszeit  in  Arbeit 
stehenden  und  beschäftigimgslosen  Hilfs- 
personen zu  gewinnen  sowie  endlich  die 
Hilfspersonen  nicht  allein  nach  ihrer  Be- 
rufeart, sondern  auch  in  Verbindung  mit 
dieser  nach  den  Betrieben,  in  welchen  sie 
thätig  waren,  zusammenzustellen.  Es  war 
also  darauf  alsgesehen,  nicht  bloss  z.  B.  die 
Zahl  der  vorhandenen  Tischler-,  Schlosser-, 
Malei^ehilfen  überhaupt,  als  auch  diejenigen 
in  Erfahrung  zu  bringen,  welche  in  Ma- 
schinenfabriken ,  Bauunternehmungen  etc. 
beschäftigt  werden;  es  sollte  demnach  die 
Zusammensetzung  der  verschiedenen  in- 
dustriellen Betriebe  nach  der  Art  der  Ar- 
beitszweige festgestellt  werden.  Trotz  der 
grossen  Umständlichkeit  dieses,  neuerlich  in 
Frankreich  nachgebildeten  Verfahrens ,  aus 
den  Angaben  der  Hilfspersonen  ihre  Zuge- 
hörigkeit zu  den  einzelnen  Betrieben  zu  er- 
mitteln, ist  man  dennoch  zu  dem  gewollten 
Ziele  gelangt.  —  Auch  sind  in  Ungarn  etliche 
Erhebungen  über  einzelne  Industriezweige 
zur  Ausführung  gebracht,  von  welchen  die 
bemerkenswerteste  die  der  Mühlenindustrie 
im  Jahre  1897  war. 

In  0 esterreich  sind  neuerlich  vier 
Ermittelungen  der  gesamten  Industrie  nach 
dem  Stande  von  1880,  1885,  1890  und  1897 


veranstaltet,  die  sich  teils  auf  alle,  teüs 
nur  auf  die  —  nach  einem  Erwerbssteuer- 
satz bemessenen  —  Grossbetriebe  bezogen. 
Die  Fragebogen  der  drei  ersten  Er- 
mittelungen, w^elche  nur  die  wichtigsten, 
zur  Erkenntnis  der  Gewerbezweige  dienenden 
Momente  enthielten,  waren  durch  die  Han- 
dels- und  Gewerbekammem  für  die  in  ihrem 
Bezirke  bestehenden  Industrieen  und  Handels- 
gewerbe summarisch  zu  beantworten  — 
jedoch  in  der  Hauptsache  nicht  auf  Grund 
einer  wirklichen  Zählung  der  Beteiligten, 
als  vielmehr  auf  Gnmd  der  von  den  Kammern 
geführten  Erwerbssteuerregister.  Insofern 
aber  diese  nicht  immer  vollständigen  Re- 
gister nicht  zulangten,  hatte  eine  »schätzungs- 
weise Ergänzung  auf  sicherer  Grundlage« 
einzutreten.  Die  Zusammenstellungen  be- 
greifen einmal  für  alle  berücksichtigten  Ge- 
werbsarten bloss  die  Anzahl  der  Betriebe, 
sodann  für  die  134  wichtigeren  »Industrial- 
gewerbe«  die  Arbeiter  (Männer,  Weiber, 
Ainder),  die  verscldedenen  Motoren  nach 
Zahl  und  Pferdekräften  und  den  Wert  und 
die  Menge  der  Produktion  nach  den  ver- 
schiedenen Arten  der  letzteren.  Die  letzte 
zwar  als  »Zählung«  bezeichnete  Ermittelung 
von  1897  ist  ebenfalls  nicht  auf  einer  all- 
gemeinen Umfrage,  sondern  auf  den  neuer- 
lich von  den  Handelskammern  geführten 
Gewerbekatastern  begründet,  hat  indessen  den 
1.  Juni  zum  Stichtage.  Da  indessen  die 
Kataster  noch  nicht  überall  vollständig  ab- 
geschlossen waren,  auch  keine  genügende 
Handhabe  boten,  die  verschiedenen  Gewerbs- 
zweige eines  Unternehmers  gehörig  ausein- 
anderzuhalten,  so  konnte  das  Ergebnis 
nicht  durchweg  befriedigend  ausfallen.  Die 
einzeln  nachzuweisenden  Gewerbe  sind 
mittelst  Zahlblättchen  im  ai'beitsstatistischen 
Amte  des  Handelsministeriums  nach  25 
Klassen  und  363  Gewerbearten  aufbereitet 
worden.  Doch  hat  die  Aufbereitung  bezw. 
die  Ermittelung  bloss  die  »Gewerbe«  d.  h. 
Betriebe,  nicht  aber  das  Personal,  die  moto- 
rischen Kräfte,  den  Umfang  der  Betriebe  in 
Betracht  gezogen. 

Sind  die  österreicliischen  '  Gewerbeauf- 
nahmen insofern  unvollständig,  als  sie  die 
kleineren  Betriebe  ausser  Ansatz  lassen,  so 
ist  das  ebenfalls  in  betreff  der  Schweiz 
der  Fall.  Die  Erhebungen  erstrecken  sich 
nur  auf  diejenigen  »industriellen  Anstalten«, 
welche  dem  Bundesgesetze  über  »die  Arbeit 
in  den  Fabriken«  vom  23.  März  1877  unter- 
stellt sind.  Es  handelt  sich  hierbei  ledig- 
lich um  Fabriken,  also  immer  bloss  um 
grössere  Betriebe,  so  dass,  wie  auch  ausdrück- 
lich anerkannt  wird,  die  Thatsachen  keines- 
wegs ein  vollständiges  Bild  der  gewerblichen 
Entfaltung  gewähren.  Solche  vom  eidge- 
nössischen Handels-  und  Landwirtschafis- 
departenient  bewirkten  Ermittelungen  sind 


.518 


•  Gewerbestatistik 


nach  dem  Stande  vom  1.  März  1882,  31. 
•Dezember  1888  und  5.  Juni  1895  ausgeführt 
.worden.  Die  erstere  bezieht  sich  auf  den 
1.  März  1882.  Sie  ist  denkbarst  beschränkt 
und  hat  nur  die  Gesamtzahl  der  Betriebe 
und  der  Arbeiter  zum  (Gegenstand  gehabt, 
welche  für  64  einzelne  Gewerbszweige  dar- 
getlian  sind.  Die  beiden  folgenden,  welche 
aUe  am  Zählungstage  »auf  der  Liste  der 
schweizerischen  Fabriken  befindlichen  Etab- 
lissements« lunfassten,  gleichviel  ob  dieselben 
augenblicklich  im  Betrieb  standen  oder  nicht, 
geschahen  mittelst  Zählkarten.  Ermittelt 
und  nachgewiesen  sind:  die  Zahl  der  Be- 
triebe, darunter  die  mit  Motoren,  die  Pferde- 
stärken der  verwandten  Elektricitäts-,  Dampf-, 
Gas-  und  Wasserkraftmaschinen,  sowie  die 
Zahl  der  Arbeiter  jedes  Geschlechtes  über 
und  unter  18  Jahren.  Die  beschäftigten 
Arbeiter  wurden  nach  der  höchsten  und 
niedrigsten  Belegschaft  des  Z^ungsjahres 
erfragt,  aus  welchen  beiden  Grössen  für  die 
Zusammenstellung  .Mittelzahlen  berechnet 
sind.  Das  Schema  für  die  Einteilung  der 
Gewerbe  enthält  140  Zweige. 

Auch  England,  dieser  erste  Industrie- 
staat der  Welt,  hat  es  bisher  bloss  zu  einer 
teilweisen  gewerblichen  Aufnahme  gebracht 
imd  auch  solche  nur  einmal  gehabt,  deren 
Ergebnisse  in  einem  Blaubuch  des  Jahres 
1873  mitgeteilt  sind.  Sie  beziehen  sich 
nämlich  auf  alle  gewerblichen  Anlagen, 
welche  in  Gemässheit  der  Fabrikgesetze  von 
1833  bis  1867  unter  der  Aufsicht  der  Fabrik- 
inspektoren stehen  imd  welche  nach  der  ge- 
wählten Einteilung  in  109  Gewerbeklassen 
ersichtlich  gemacht  sind.  Es  findet  hier 
also  ein  ähnliches  Verhältnis  wie  für  die 
Schweiz  statt,  niu*  dass  der  Kreis  der  be- 
teifigten  Gewerbe  in  England  erheblich 
weiter  gezogen  und  namentlich  auch  die 
Anzahl  der  erhobenen  Thatsachen  eine  an- 
sehnlich grössere  ist.  Nachgewiesen  ist 
und  zwar  für  jedes  der  drei  Königreiche 
hinsichtlich  jedes  einzelnen  Gewerbes:  die 
Zahl  der  jugendlichen  und  erwachsenen  Ar- 
beiter beiderlei  Geschlechtes,  die  Zahl  und 
Stärke  der  Wasser-  und  Dampfmotoren  wie 
die  Zahl  und  Art  der  Arbeitsmaschinen  und 
Vorrichtungen.  Die  erhobenen  Thatsachen 
beruhen  auf  den  Angaben  der  Gewerbe- 
treibenden selbst. 

Grössere  Anstren^mgen  auf  dem  Ge- 
biete der  Gewerbestatistik  hat  Frankreich 
gemacht,  wenngleich  diu*chaus  nicht  immer 
mit  glücklichem  Erfolge.  Umfassende  Auf- 
nahmen gehen  ziemlich  weit  zurück.  Um 
bloss  der  drei  letzten  Erwähnung  zu  thun, 
so  waltete  über  ihnen  der  Unstern,  dass  poli- 
tische Wirren  ihre  Fertigstellung  lange 
hinauszögerten.  Die  eine,  welche  1839 
unter  Morcau  de  Jounes  statt  hatte,  fand 
durch  die  Drucklegiuig  erst  in  den  Jahren 


1847  bis  1852  ihren  Abschluss^  die  andere, 
1860  begonnen  und  bis  1865  hingeschleppt, 
ward  in  ihren  Ergebnissen  nicht  vor  1873 
veröffentlicht.  Die  letztere  Aufnahme,  bei 
der  die  Gewerbe  in  16  Hauplgruppen  ^- 
teilt  waren,  begriff  indessen  nur  die  Fabnk- 
industrie,  nicht  auch  das  Handwerk.  Sie 
erfragte  die  Zahl  der  gewerblichen  Etab- 
lissements oder  Betriebe,  den  Verkaufswert 
derselben,  die  Zahl  der  beschäftigten  Männer, 
Frauen  imd  Kinder  und  deren  Tagelöhne, 
Art,  Menge  und  Wert  der  verwendeten  Roh- 
stoffe, Menge  und  Wert  des  verbrauchten 
Brennmaterials,  die  Motoren,  die  Feinspindeln 
in  den  Spinnereien,  die  Zahl  der  Hochöfen 
und  die  Dauer  der  stillen  Geschäftszeit. 
Was  so  erhoben,  wie  umfangreich  es  er- 
scheint, enthält  doch  einerseits  manche,  für 
eine  gehörige  Charakterisienmg  bedauerliche 
Auslassungen,  so  z.  B.  über  Haupt-  und 
Nebenbetrieb,  über  Arbeitsmaschinen ;  an- 
dererseits sind  Fragen  aufgenommen,  welche, 
weil  nicht  leicht  oder  nur  mit  Widerstreben 
zu  beantworten,  keine  zuverlässige  Aus- 
kunftserteüung  vermuten  lassen.  Die  origi- 
nellen, höchst  interessanten  Untersuchungen, 
welche  auf  Gnmd  der  gewonnenen  Angaben 
über  das  Verhältnis  des  Aufwandes  für  Ver- 
zinsung des  Anlagekapitals,  für  Arbeitslohn, 
Rohstoff,  Brennmaterial  und  Generalspesen 
angestellt  sind,  haben  daher,  zumal  sie  auch 
von  keinem  technologischen  Sachverständigen 
bearbeitet  zu  sein  scheinen,  wenig  Wert. 
Dazu  kommt,  dass  die  aufgestellten  Fragen 
bogen  nicht  für  die  Einzelnen  Betriebe, 
sondern'  je  für  die  Arrondissements  insge- 
samt zu  beantworten  waren.  Man  hat  denn 
auch  allem  Anschein  nach  in  Prankreich 
selbst  den  Ergebnissen  wenig  Bedeutung 
beigemessen  und  schon  im  Jahre  ihrer  Ver- 
öffentlichimg, also  1873,  eine  neue  Erhebung 
folgen  lassen.  Allerdings  geschah  sie  nur 
in  allgemeinen  Umrissen,  wenigstens  was 
die  Unterscheidung  der  Gewerbe  angeht, 
die  in  bloss  10  Gruppen  und  28  Klassen  zu- 
sammengefasst  sind.  Für  jede  dieser  Unter- 
scheidungen sind  departementsweise  nach- 
gewiesen worden:  die  Zahl  der  Gewerbe- 
betriebe, der  Arbeiter  (Männer,  Frauen, 
Kinder),  der  Pferdekräfte,  der  Dampf-  und 
Wassermotoren,  die  Menge,  der  Einheitspreis 
und  Gesamtwert  der  Erzeugnisse.  Für 
einige  wenige  Zweige  sind  noch  geringe 
Erweiterungen  vorgenommen  worden,  üeber 
das  Erhebungsverfahren  ist  nichts  bekannt 
gegeben;  nur  wird  aus  den  ermittelten 
Ziffern  ersichtlich,  dass  sie  auch  in  diesem 
Falle  sich  lediglich  auf  die  Fabrikindustrie 
beziehen  können.  Dass  die  Ergebnisse  keine 
tiefere  Behandlung  erfahren  haben,  geht 
schon  daraus  hervor,  dass  die  Veröffent- 
lichung bloss  126  Seiten  füllt. 

Man   ist  deshalb  schliesslich  in  Frank- 


Gewerbestatistik 


519 


reich  dahin  gelangt,  mit  dem  bisherigen 
Verfahren  zu  brechen.  Dem  1891  errichteten 
Office  du  travail  ist  auch  die  Aufgabe  ftbr 
^luftige,  aussichtsreichere  Gewerbezählungen 
zugef^en.  Nach  einem  aufgestellten  Plane 
wird  beabsichtigt,  die  besondere  gewerbliche 
Aufnahme  mit  einer  die  ganze  Bevölkerung 
umfassenden  zu  verbinden  und  zu  dem  Ende 
teüs  durch  Individualkarten  die  Anwesenden, 
teils  durch  Gewerbebögen  die  Gewerbebe- 
triebe festzustellen.  Auf  den  ersteren  ist 
der  profession  wie  condition  eine  eingehende 
Berücksichtigimg  zugedacht  Die  letzteren 
beschränken  sich  auf  die  Art  des  Betriebes 
und  der  Herstellungsgegenstände,  auf  die 
Zahl  der  zur  Zählungszeit  wie  im  Mittel 
verwendeten  Personen,  auf  die  ausser  der 
Betriebsstätte  beschäftigten,  auf  die  Stellung 
der  Arbeitnehmer  wie  auf  die  Benutzung 
motorischer  Kräfte.  Mit  Kücksicht  auf  die 
Umfänglichkeit  der  Anlage  hat  einstweilen 
nach  dem  Stande  vom  29.  März  1896  eine 
Zählung  in  vereinfachter  Form  stattgefunden. 
Es  ist  in  erster  Linie  eine  die  Berufsver- 
hältnisse vornehmlich  ins  Auge  fassende 
Zählung,  doch  ist  nach  ungarischem  Vorbilde 
auch  der  Ermittelung  der  Gewerbebetriebe 
auf  künstlichem  Wege  Rechnung  getragen 
worden.  Ausser  der  genauen  Angabe  des 
Berufes  und  der  Berufsstellung  wurde  näm- 
lich verlangt  vom  Arbeitgeber:  Firma  und 
nähere  Bezeichnung  der  Belegen  heit  des  ge- 
leiteten Unternehmens,  Zahl  der  beschäftigten 
Arbeitnehmer  wie  die  Erklärung,  ob  er 
Hausarbeiter  (ouvrier  ä  fapon  travaillant 
chez  lui)  sei;  vom  Arbeitnehmer:  Adresse 
und  Bele^nheit  des  Unternehmens,  in  der 
er  thätig  ist,  Beschaffenheit  des  industrieUen 
oder  kommerzieUen  Unternehmens  und  im 
Falle  der  Arbeitslosigkeit,  ob  diese  wegen 
Krankheit  oder  Invalidität,  wegen  regel- 
mässiger toter  Saison  oder  w^en  zu- 
fälligen Mangels  an  Beschäftigung  statt 
habe.  Um  die  nicht  imraittelbar  erhobenen 
Betriebe  und  ihren  Personalumfang  festzu- 
stellen, sind  also  die  Arbeitgeber  um  die 
Zahl  der  Arbeitnehmer,  diese  um  Bei-ufs- 
zweig  und  Adresse  jener  befragt  worden. 
Aus  der  mühseligen  Vergleichung  und  Zu- 
sammenfassimg  beider  Angaben  bei  der  Be- 
arbeitung ist  erst  die  Betriebsgrösse  gefunden 
worden.  Die  Ergebnisse  der  Zählung  liegen 
erst  teilweise  und  audi  bloss  für  15  Departe- 
ments vor.  Sie  belegen  für  jedes  Geschlecht : 
die  gesamte  beruf sthätige  Bevölkerung,  die 
Personen  mit  unermittelter  Stellung,  die 
Arbeitnehmer  und  Arbeitgeber  der  Betriebe, 
die  beschäftigungslosen  Arbeitnehmer,  die 
Inhaber  von  Alleinbetrieben  nebst  Haus- 
arbeitem  und  Arbeitern  ohne  feste  SteDung. 
Ausserdem  sind  die  Betriebe  nach  der  Zahl 
der  darin  beschäftigten  Arbeitnehmer  ersicht- 
lich gemacht  Alles  dieses  ist  für  berufliche 


und  gewerbliche  Gruppen,  Klassen  und 
Arten  dargethan.  Die  Nachweisung  der 
einzelnen  Arten  ist  sehr  eingehend  und  er^ 
streckt  sich  auf  über  8000  solcher  einzelner 
Unterscheidungen.  Ausgeschlossen  von  der 
Zählung  sind  geblieben:  Heer  und  Kriegs- 
flotte, Straf-  und  Besserungsanstalten,  Armen-, 
Irren-,  Krankenhäuser,  höhere  Lehranstalten 
der  Gemeinden,  Schülerpensionate,  Spedal- 
und  geistliche  Schulen,  Klöster  sowie  Ge- 
meindefremde, welche  vorübergehend  auf 
öffentlichen  Bauplätzen  arbeiten. 

Weit  höher  als  die  zuerst  genannten 
wenig  glücklichen  und  ausgiebigen  fran- 
zösischen Unternehmungen  zur  Aufklärung 
der  gewerblichen  Lage  stehen  indessen  die 
Leistungen  der  Pariser  Handelskammer  in 
ihren  beiden  Enqueten  von  1847/48  und 
1860,  welche  Engel,  wohl  der  beste  Kenner 
des  Gegenstandes,  im  Jahre  1871  als  den 
»Glanzpunkt  der  gesamten  gewerbestatisti- 
schen Litteratiu*«,  ems  »der  grössten  Meister- 
werke jeglicher  Statistik«  bezeichnete.  Ueber 
diese  beiden  grossen,  sorgfältig  angestellten 
und  trefflich  beai^beiteten  ^mittelungen, 
welche  durch  besondere  Zählbogen  bei  jedem 
allein  oder  mit  Grehilfen  arbeitenden  Ge- 
werbetreibenden angestellt  wurden,  gewähren 
die  Zusammenstellungen  für  429  Zweige  in 
10  Gruppen:  die  Anzahl  der  Betriebe  nach 
der  Grösse  des  Umsatzes  wie  nach  der  der 
Gehilfen,  die  Lokalmiete,  den  Absatz,  die 
Zahl,  Art  und  Beschäftigungsweise  der  Ar- 
beiter (ob  in  der  Betriebsstätte  oder  zu 
Hause),  Lohnweise  und  Tagelohn  derselben, 
Wohnungsweise  und  Bildungsstand  der  Ar- 
beiter, endlich  die  Dauer  der  verdienstlosen 
Zeit  Freilich  lassen  sich  auch  bei  diesen 
Ermittelungen  die  Zweifel  an  der  zuver- 
lässigen Beantwortung  einiger  zu  sehr  die 
G^schäftsdetails  erforschenden  Fragen  nicht 
unterdrücken. 

Zu  den  Staaten,  welche  die  Gewerbe- 
statistik durch  öftere  Veranstaltung  von 
Aufnahmen  nun  schon  seit  Jahrzehnten  am 
eifrigsten  gepflegt  haben,  gehört  Nor- 
wegen, das,  von  der  früheren  Zeit  abge- 
sehen, seit  1870  in  diesem  selbigen  Jahre,  dann 
1875,  1879  und  1885,  und  zwar  neuerlich 
meistam31.Dezember  gewerbliche  Zählungen, 
indessen  beschränkt  auf  die  Fabrikindustrie, 
abgehalten  hat.  Die  auf  Grund  dieser  Zäh- 
lungen herausgegebenen  Bearbeitungen  der 
Ergebnisse  weißen  in  ziemlicher  Ueberein- 
stimmung  für  12  Gruppen  und  118  Abtei- 
lungen nach:  die  Anzalil  der  Fabriken, 
unterschieden  nach  der  jährlichen  Arbeits- 
dauer, nach  der  Grösse  des  gehaltenen  Per- 
sonals wie  nach  der  Zeit  ihrer  Begründung, 
die  Zahl  der  verschiedenen  Motoren  und 
deren  Pferdekräfte  im  ganzen,  die  Zahl  der 
gesamten  Arbeitstage,  endlich  das  Personal 
in  Ansehung  seiner  Dienststellung  und  ge- 


520 


Gewerbestatistik 


■wisser  Alters-  und  Geschlechtsverhältnisse, 
sowie  die  Inhaber  insbesondere,  ob  sie  phy- 
sische oder  juristische  Personen,  ob  sie  In- 
oder  Ausländer  sind.  Diese  masshaltenden, 
eine  vollständige  Ermittelung  verbürgenden 
Aufnahmen  sind,  wenigstens  in  neuester 
Zeit,  durch  Fragekarten,  welche  von  den 
einzelnen  Fabrikbetrieben  —  mit  Ausschluss 
allerdings  der  handwerksmässigen  und  haus- 
industriellen Betriebe  —  auszufüllen  waren, 
bewerkstelligt  worden.  Angereiht  ist  ihnen 
ein  Nachweis  des  Wertes  der  Ein-  und  Aus- 
fuhr der  Erzeugnisse. 

Beachtenswert  sind  auch  noch  die  Leis- 
tungen Belgiens.  Ja,  hier  ist  der  gewerb- 
liche Zustand  des  Landes  zum  ersten  Male 
in  moderner,  vervollkommneter  Weise  zur 
Aufnahme  gelangt.  Denn  jenes  grosse  Zäh- 
lungswerk von  1846,  bei  welchem  Männer 
wie  Quetelet  und  Heuschling  dem  Erhe- 
bungswesen eine  höhere  Ausbildung  hatten 
zu  teil  werden  lassen,  umfasst  zugleich 
eine  Gewerbeermittelung.  Die  Bearbeitung, 
von  Engel  »eine  der  kostbarsten  Perlen  der 
statistischen  Litteratur«  genannt,  enthält 
Angaben  über  die  Anzahl  der  Betriebe,  der 
Arbeiter  nach  Anzahl  und  Geschlecht,  der 
Feuer  (Hochöfen  etc.),  gewisser  Arbeitsma- 
schinen, der  Motoren  mit  samt  ihrer 
Pferdekraft  und  über  die  nach  ihrer  Höhe 
abgestuften  Tagelöhne  je  für  Erwachsene 
und  Kinder  beiderlei  Geschlechtes.  Was 
aber  so  1846  glückte,  scheiterte  bei  einer 
Wiederholung  von  1866  derartig,  dass  man 
wegen  überwiegend  unvollständiger  oder 
irriger  Beantwortimgen  auf  eine  Dnickle- 
gimg  der  zusammengetragenen  Thatsachen 
verzichtete.  Ausserdem  beeinflussten  diese 
Erfahrungen  die  nächste  Aufnahme  nicht 
eben  günstig. 

Erst  im  Jahre  1880  wurde  und  zwai* 
nach  dem  Stande  v.  31.  Dezember  in  gewisser 
Verbindung  mit  einer  allgemeinen  Volks- 
zählung zu  einer  erneuten  Ermittelung  der 
Gewerbe  geschritten.  Indessen  wagte  mau 
es  nicht,  solche  wieder  auf  die  gesamte  In- 
dustrie auszudehnen,  da  man  alsdann  einen 
ähnlichen  bedenklichen  Ausgang  wie  1866 
befürchtete.  Aus  den  111  Arten  der  belgi- 
schen Gewerbeeinteilung  wiu-den  darum 
bloss  die  61  wichtigsten  Industriezweige 
ausgesondert,  auf  die  dann  aber  ohne  Rück- 
sicht auf  den  Betriebsumfang  die  Erhebung 
ausgedehnt  wurde.  Letztere  geschah  mit- 
telst 4  Fragebogen :  je  für  das  Personal, 
die  Motoren,  die  Arbeitsmaschinen  und 
Vorrichtungen  und  für  die  Produktionsver- 
hältnisse. Als  Zähler  waren  hierfür  eigene 
saclikundige  Personen  bestellt.  Die  Ergeb- 
nisse dieser  mit  Umsicht  geplanten  und  be- 
arbeiteten Aufnahme  sind  nach  vier  Ge- 
sichtspimkten  hin  zur  Darstellung  gebracht. 
Einmal    wenlen    die   Betriebe,   je  nachdem 


sie  Privaten,  Aktiengesellschaften  oder 
öffentlichen  Korporationen  gehören,  das 
Personal  nach  seinen  Hauptbestandteilen 
und  in  seiner  mittleren  Stärke,  die  mecha- 
nischen Motoren  und  ihre  Pferdestärke  so- 
wie die  Art,  die  Menge  und  der  Wert  des 
Produktes  beziffert.  An  zweiter  Stelle 
werden  das  Personal  im  Hinblick  auf  seine 
specielle  Stellung  (Inhaber,  Direktoren,  In- 
genieure, Werkmeister,  Kontorbeamte,  Ar- 
beiter, Lehrlinge),  die  Arbeiter  nach  Alter 
und  Geschlecht  sowie  die  Betriebe  nach 
der  Anzahl  des  thätigen  Personals  ein- 
gehend unterschieden.  Weiter  wird  die 
mittlere  Arbeitszeit  bei  Tag  und  Nacht  und 
die  Arbeiterzahl  nach  der  Zahl  der  Arbeits- 
stunden und  ebenso  der  durchschnittliche 
Arbeitslohn,  sowie  die  Arbeiterzahl  je  nach 
der  Lohnhöhe  und  zwar  getrennt  für  Kin- 
der und  Erwachsene  nachgewiesen.  End- 
lich erfolgen  nähere  Angaben  über  die  Ar- 
ten und  Stärke  der  Motoren  wie  Jie  Unter- 
scheidimg  der  Kessel  nach  der  Spannung 
und  Konstruktion.  Sieht  man  von  der 
fragwürdigen  Ermittelung  der  Produktions- 
verhältnisse ab,  so  hat  diese  jüngste  bel- 
gische Aufnahme  eine  gesunde  Anlage  er- 
faliren  und  einen  guten  Erfolg  geliabt. 
Freilich  giebt  sie  immer  niu*  über  einen 
begrenzten  Teil  der  belgischen  Industrie 
Auskunft,  üebrigens  ist  es  auch  auf  die- 
sem engen  Gebiet  nicht  gelungen,  die  Er- 
hebung der  Arbeitsmaschinen  in  genügen- 
der Vollständigkeit  durchzuführen,  weshalb 
sie  dann  von  der  Bearbeitung  der  Tliat- 
sachen  ausgeschlossen  geblieben  sind. 

Schliesslich  haben  in  Belgien  am  31. 
Oktober  1896  ausser  Verbindung  mit  einer 
Volks-  bezw.  Berufszählung  Ermittelungen 
der  gewerblichen  Verliältnisse  in  vollständig 
getrennter  Weise  und  je  diu'ch  besondere 
Ausführungsorgane  stattgefunden  und  zwar 
eine  Zählimg  der  gewerblichen  Unterneh- 
mungen (industries  et  metiers)  und  eine 
solche  der  gewerblichen  Arbeiter  und  ihrer 
Familie,  aie  wohl  als  ein  eigenarti- 
ges Verfahren  interessant  sind,  aber  als 
glückliche  Lösung  der  Aufgabe  nicht 
angesehen  werden  können.  War  es  bei 
dieser  Einrichtung  schwierig,  aus  Adress- 
büchern die  zu  befragenden  Betriebe  kennen 
zu  lernen,  standen  für  die  Arbeiter  die  1890 
neu  aufgestellten  und  auf  dem  Laufenden 
erlialtenen  Bevölkerungsregister  zur  Ver- 
fügung, die  sich  jedoch  als  unvollständig 
erwiesen.  Erst  durch  die  überaus  mühsame 
Arbeit  bei  der  statistischen  Prüfung  und 
Aufbereitung  des  Materials  soll  es  gelungea 
sein,  die  Vollständigkeit  und  IJeberein- 
Stimmung  der  Thatsachen  für  Betrieb  imcl 
Personal  herbeizuführen.  Näheres  lässt  sich, 
einstweilen  nicht  sagen,  da  die  Ergebnisse 
noch    nicht    veröffentlicht    sind.      Die    Be- 


Gewerbestatistik 


521 


fi-agungsgegenstände  hatten  eine  weite  Aus- 
dehnung erhalten.  Bei  der  Zählung  der 
Arbeiter  kam  es  allerdings  an  erster  Stelle 
bloss  darauf  an,  zu  ermitteln,  in  welchem  Be- 
triebe bezw.  bei  welchem  Unternehmer  sie 
beschäftigt  oder  ob  sie  als  Hausindustrielle 
thätig  waren,  wobei  dann  die  nicht  erfolgte 
Angabe  der  Thätigkeit  als  vorliegende 
Arbeitelosigkeit  zu  gelten  hatte.  Im  übrigen 
waren  die  Arbeiter  und  ihre  Familienglieder 
nur  nach  der  Anzahl  zu  erheben,  die  auf 
sie  sonst  bezüglichen  Punkte  den  Bevöl- 
kerungsrepstern  zu  entnehmen.  Lediglich 
wenn  in  diesen  die  Angaben  fehlten,  mussten 
sie  bei  der  Zälüung  ergänzt  werden.  Von 
den  Betrieben  wurde  die  Beantwortung  eines 
sehr  umfangreichen  Questionaire  verlangt, 
das  aus  einem  Heft  von  28  Seiten  bestand 
und  für  jede  besondere  Gewerbeart  eines 
Betriebes  zur  Anwendung  kam.  Es  bezog 
sich  ausser  auf  genaue  Bezeichnung  des 
Betriebes  und  Gewerbes,  der  Unternehmer, 
etwaige  Nebenbeschäftigung  desselben  ein- 
mal auf  die  gewöhnliche  Betriebsdauer,  auf 
eine  zur  Zeit  bestehende  Unterbrechung  des 
Betriebes  und  ihre  Ursache,  dann  auf  die 
Ai-beiter  beiden  Geschlechtes  nach  ihrer 
Stellung  unter  Ausscheidung  der  jugend- 
lichen- die  Stunde  des  Anfangs  und  Endes 
der  Arbeit  und  die  Länge  der  Pausen. 
Dabei  waren  die  Angaben  zu  unterscheiden 
für  Tag-  und  Nachtai-beiter  wie  für  wech- 
selnde Tag-  und  Nachtschichten.  Insbeson- 
dere ist  für  jede  Arbeitsstellung,  für  Ge- 
schlecht und  Alter  die  Lohnform,  die  in  der 
letzten  Lohnperiode  gezahlten  gesamten 
Löhne  mit  Angabe  der  Arbeitstage  und 
Empfänger  erfragt  worden.  Weiter  sind 
erhoben  die  Motore  nach  Art  und  Pferde- 
stärken wie  die  Dampfkessel  insbesondere 
nach  System,  gewöhnlichem  und  höchstem 
Druck  und  nach  der  Heizfläche.  Endlich 
erstreckten  sich  die  Angaben  auf  die  her- 
gestellten Waren.  Es  bleibt  abzuwarten,  in- 
wieweit die  zusammengetragenen  Thatsachen 
den  gehegten  Annahmen  entsprechen  werden. 
Jedenfalls  ist  bekannt  geworden,  dass  die 
immerhin  misslichen  Ermittelungen  über 
die  Löhne  bei  der  Prüfung  nicht  genügt 
haben  und  dass  infolge  dessen  nachträgliche 
Erhebungen,  bei  denen  auch  die  Lohnstufen 
Berücksichtigung  fanden,  vorgenommen 
wenlen  mussten. 

Was  Italien  anlangt,  so  ist  es  bisher 
zu  einer  die  ganze  Industrie  umspannenden 
Aufnahme  nicht  gediehen,  es  sind  indessen 
zweimal  Erhebungen  der  Fabrikindustrie 
vorgenommen.  Die  erste  vom  Jahre  1876 
betraf  lediglich  die  verschiedenen  Zweige 
der  Textil-,  der  Papier-,  Leder-,  Oelberei- 
tungs-,  Seifen-  und  Stearinlichter-Industrie 
wie  die  gewerblichen  Staatsbetriebe  und  er- 
fasste  hier  auch  bloss  die  Zahl  der  Fabriken, 


der  erwachsenen  imd  unerwachsenen  Ar- 
beiter und  die  der  Maschinen  nebst 
Pferdekräften.  Breiter  angelegt  waren  die 
Ermittelungen  von  1883  schon  darum,  weil 
sie  über  die  gesamte  Fabrikindustrie  ausge- 
delmt  worden  sind.  Doch  auch  die  Frage- 
punkte haben  eine  Erweiterung  erfahren. 
Zu  der  Zahl  der  Fabriken,  der  Arbeiter,  der 
Motoren  sind  die  Dampfkessel  nach  Art  und 
Stärke,  das  Minimalalter  der  beschäftigten 
Kinder  und  die  durchschnittliche  jährliche 
Zahl  der  Arbeitstage  gekommen.  Dann 
aber  sind  von  jedem  Industrie:«weigö  seinen 
Eigentümlichkeiten  gemäss  einige  besondere 
Angaben  verlangt  und  zu  dem  Ende  auch 
für  jeden  besondere  Fragebogen  verwendet. 
Die  Erhebungen  sind  jedoch  nicht  als  völ- 
lig gelungen  anzusehen  und  jedenfalls  nicht 
gleichzeitig  zu  erlangen  gewesen.  Es  hat 
deshalb  auch  bisher  keine  einheitliche  Dar- 
stellung der  Ergebnisse  erfolgen  können, 
sondern  sie  ist  je  für  eine  Provinz  gesche- 
hen dergestalt,  dass  die  erhobenen  That- 
sachen nicht  durchweg  dem  gleichen  Zeit- 
punkte angehören.  Bis  jetzt  sind  auf  diese 
Weise  Nachweisungen  für  62  (der  70)  Pro- 
vinzen erschienen,  bei  denen  jedoch  die 
ziffernmässige  Schilderung  von  beschreiben- 
den Mitteilungen  überwogen  wird. 

Endlich  bleibt  noch  zu  gedenken,  was 
die  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika bei  ihrem  grossen  zehnjährigen 
Census  über  den  Stand  der  Gewerbe  im 
allgemeinen  erheben.  Bei  diesen  Census- 
aufnahmen  werden  für  die  verschiedenarti- 
gen Gebiete,  auf  welche  sie  sich  erstrecken, 
besondere  Aufnahmeformulare  verwandt. 
Während  aber  die  letzteren  früher  ledig- 
lich durch  einen  und  denselben  Zähler  aus- 
gefüllt bezw.  kontrolliert  wurden,  ist  es  seit 
1880  für  zulässig  erklärt,  die  Industrieermitte- 
lung durch  eigene  sachverständige  Agenten 
vornehmen  zu  lassen.  Der  gegen  die  vor- 
aufgehende Zählung  etwas  erweiterte  ge- 
werbliche Fragebogen  des  Jahres  1890  war 
für  alle,  auch  die  kleinsten  Gewerbebetriebe 
auszufüllen  und  zwar  für  die  Zeit  vom 
1.  Juni  1889  bis  31.  Mai  1890.  Zu  beant- 
worten war  darauf  bezüglich  jedes  besondere 
betriebenen  Gewerbszweiges:  die  Firma 
oder  der  Name  des  Unternehmern,  das 
Datum  der  Begründung,  die  Art  des  Ge- 
werbes, das  im  Betriebe  angelegte  Kapital 
nach  seinen  verschiedenen  Bestandteilen, 
die  Jahresaufwendungen  namentlich  für  die 
Betriebsstätte,  Abgaben,  Versicherung,  Un- 
terhaltung der  Maschinen  und  Gebäude, 
Kommissionsgebühren,  Zinsen  und  Löhne,  das 
erwachsene  \md  unerwachsene  Personal 
nach  seiner  Arbeitsstellung  sowie  mit  Un- 
terscheidung der  Arbeiter  nach  der  Höhe 
des  Wochenlohnes,  die  Menge  des  ver- 
wandten   Materials,    die    Menge    und    der 


522 


Gewerbestatistik 


Wert  der  Erzeugnisse,  die  Dauer  der  Be- 
triebszeit im  Jahre,  die  Zahl  der  sommer- 
-liohen  und  -mnterlichen  täglichen  Arbeits- 
stunden, die  Art  und  Pferdekräfte  der  Mo- 
toren und  endlich  die  Zahl  der  Farbigen 
und  die  Höhe  des  Kapitals,  welches  sie  im 
Betriebe  angelegt  haoen.  So  reichhaltig 
diese  Ermittelungen  sind  und  so  sehr  sie 
danach  angethan  erscheinen,  die  gewerb- 
liche Entfaltung  gründlich  zu  beleuchten, 
lässt  sich  doch  das  Bedenken  nicht  unter- 
drücken, ob  solche  in  das  innere  Geschäfts- 
leben eindringende  oder  erst  auf  Grund 
umständlicher  Ausmittelung  aus  den  Ge- 
schäftsbüchern zu  beantwortende  Fragen 
durchweg  oder  auch  nur  überwiegend  zu 
gewisseiüiaften  Angaben  geführt  haben. 
Allerdings  darf  nicht  übersehen  werden, 
dass  die  Amerikaner  mehr  an  die  öffent- 
liche Behandlung  auch  privater  geschäft- 
licher Dinge  und  insbesondere  diu'ch  lange 
eingebürgerten  Brauch  an  weitgehende 
Zahlungsansprüche  gewöhnt  und  daher 
weniger  zurückhaltend  sind.  Die  erhobenen 
Thatsachen  sind  nach  369  Gewerbezweigen 
mit  Ausschluss  jedoch  der  besonderer  Er- 
mittelung unterworfenen  mineral  Industries 
nachgewiesen  worden ;  ebenso  sind  alle  Un- 
ternehmungen ,  deren  Erzeugungswert  nicht 
mindestens  500  Dollars  erreichte,  beiseite 
gelassen  worden.  In  dieser  Beschränkung 
ist  für  die  Gesamtheit  der  Industrie  dar- 
gethan  worden:  die  Anzahl  der  Betriebe, 
die  Grösse  des  Kapitalwertes  nach  einzeben 
Bestandteilen,  die  durchschnittliche  Anzahl 
der  ngiännlichen  und  weiblichen,  erwachse- 
nen und  unerwachsenen,  in  festem  Lohne 
stehenden  Arbeitnehmer  und  ebenso  die 
Stückarbeiter  sowie  die  je  für  sie  gezahlten 
Gesamtlöhne  im  Jahre,  die  Kosten  des  zur 
Produktion  verwandten  Materials  und  der 
Wert  der  erzeugten  Gegenstände,  schliess- 
lich die  Kraftmaschinen  nach  Art  und 
Stärke.  Dagegen  ist  von  einer  weiteren 
Ausmittelung  der  Thatsachen  wie  der  Un- 
terscheidung der  Betriebe  nach  der  Anzahl 
des  Personals,  der  Grosse  des  Erzeugimgs- 
wertes.  Abstand  genonmien  worden.  Das 
ist  teilweise  jedoch  für  eine  Reihe  vorzugs- 
weise wichtiger  Gewerbszweige  geschehen, 
hinsichtlich  dörer  die  Arbeiter  nach  der 
Höhe  der  Löhne  auseinandergehalten,  zu- 
dem noch  —  entsprechend  der  erfragten 
Gegenstände  —  nähere  Angaben  über  die 
Betriebsarten,  über  die  verwendeten  Mate- 
rialien und  die  Erzeugungsgegenstände  bei- 
gebracht sind.  Ausserdem  hat  die  Minen- 
industrie für  sich  aUein  eine  besonders 
eingehende  Behandlung  erfahren. 

Aus  allen  diesen  Ausführungen  geht  nun 
wohl  her\^or,  dass  die  statistische  Erforschung 
der  gesamten  gewerblichen  Entwickelung 
mittelst  allgemeiner  Aufnahmen,  trotz  ein- 


zelner weniger  schätzenswerter  Leistungen, 
im  grossen  und  ganzen  noch  wenig  ausge- 
bildet und  in  üebung  ist«  dass  aber  unter 
dem,  was  die  letzten  Jahrzehnte  gezeigt 
haben,  die  Zählungswerke  des  Deutschen 
Reiches  hinsichtlich  der  Sorgfalt  der  An- 
lage und  AusfühiTing  einen  hervorragenden, 
wenn  nicht  den  hervorragendsten  Platz 
einnehmen.  Bei  der  durchaus  abweichen- 
den Behandlungsweise  der  Gewerbestatistik 
der  einzelnen  Staaten  wie  bei  der  hier 
vorliegenden  hauptsächlichen  Bedeutung  der 
deutschen  Ergebnisse  wird  es  sich  denn 
auch  empfehlen,  die  erhobenen  Thatsachen 
selbst  lediglich  hinsichtlich  Deutschlands 
im  folgenden  in  Betracht  zu  ziehen.  Frei- 
lich kann  das  nur  nach  den  wesentlichsten 
Richtungen  hin  geschehen,  wobei  jedoch 
in  einzelnen  Punkten  neben  der  neuesten 
auch  die  Zählung  von  1882  heranzu- 
ziehen ist." 

III.  Die  Ergebnisse  der  Gewerbeauf- 

nähme  des  Deutschen  Reiches 

von  1896. 

5.  Die  Gewerbebetriebe.  Die  Anzahl 
der  ermittelten  gewerblichen  Unternehmun- 
gen erreichte  am  Zählungstage  des  Jahres 
1895  3685088,  was  711,8  auf  je 
10000  Einwohner  ausmacht.  Dahingegen 
belief  sie  sich  1882  auf  3609801.  Dem- 
nach hat  diese  Anzahl  sich  wohl  um  2,1  ^/o 
vermehrt,  das  Verhältnis  zur  Bevölkerung 
ist  indessen  nicht  unerheblich  zurückge- 
gangen, da  es  1882  doch  782,2  ausmachte. 
Der  Grund  ist  —  wie  noch  näher  zu  be- 
legen sein  wird  —  darin  zu  suchen,  dass 
die  Betriebe  sich  mehr  auszudehnen  trach- 
ten, d.  h.  eine  grössere  Personenzahl  be- 
schäftigen, dass  also  die  gewerbliche  Thä- 
tigkeit  der  einzelnen  Unternehmungen  durch- 
schnittlich erweitert  worden  ist.  Die  Gesarat- 
zahl der  Gewerbebetriebe  verteilt  sich  auf  die 
unterschiedenen  21  grösseren  Gewerb^prup- 
pen  derart,  wie  aus  der  Tabelle  auf  S.  523 
zu  ersehen  ist 

Will  man  die  Bedeutung  der  Gewerbe 
nach  dem  Verhältnis  abschätzen,  in  welchem 
ihre  Betriebe  zur  Bevölkenmg  stehen,  nimmt 
ohne  Frage  den  ersten  Rang  diejenige  in- 
dustrielle Thätigkeit  ein,  weiche  sidh  mit 
der  Herstellung,  Ausschmückung,  Ausbesse- 
rung und  Reinigung  der  Bekleidungsg^en- 
stände  befasst  Ihr  gehören,  obschon  hier 
die  häusliche  aussergewerbliche  Thätigkeit 
der  Frauen  in  hohem  Masse  in  Mitbewer- 
bung tritt,  bereits  mehr  als  ein  Viertel  aller 
vorhandenen  Betriebe  an.  Namentlich  treten 
darin  die  Näherei,  Schuhmacherei  und 
Schneiderei  je  mit  zwischen  200000  und 
300000  sowie  die  Wäscherei  und  Plätterei 
mit  reichlich  80000  Betrieben  hervor.  Die 
Notwendigkeit  einer  weiten  Zerstreuung  über 


Oewerbestatistik 


523 


Auf 


Zäh- 

lungs- 

jähr 


Betriebe  überhaupt 


Anzahl 


auf 
10000 
Einw. 


darunter  Nebenbotriebe 


Anzahl 


%  der 
Gesamt- 
heiten 


Kunst-  und  Handelsgärtnerei  .    .    .    .  j 

Tierzucht  und  Fischerei l 

Bergbau,  Hütten-  und  Salinenwesen     .  < 

Industrie  der  Steine  und  Erden  .    .    .  j 

Metallverarbeitung | 

Industrie  der  Maschinen,  Instrumente  .  | 

Chemische  Industrie \ 

Industiie  der  Leuchtstoffe,  Seifen,  Fette,  j 
Oele 1 

Textilindustrie 


Papierindustrie 

Lederindustrie 

Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  . 
Industrie  der  Nahrungs-  u.  Genussmittel 
Bekleidungs-  und  Beinigungsgewerbe  . 

Baugewerbe 

Polygraphische  Gewerbe 

Künstlerische  Gewerbe 

Handelsgewerbe 

Versicherungsgew^erbe 

Verkehrsgewerbe 

Beherbergungs-  u.  Erquickungsgewerbe 


1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 
1895 
1882 


27  944 
17699 
25603 

25395 
6446 
8144 

53047 

59772 

174069 

177347 
102  559 

94807 

11541 

10438 

8124 

10314 

248617 

406574 

18709 

16665 

51567 
49642 

262  252 

284  502 

314473 
288771 

920955 
949704 

230  837 

184698 

15090 

10395 
10  187 

8669 

777  495 
616836 

19238 

32463 
100646 

99321 

278  689 

257  645 


5,4 
3,9 
4,9 
5,6 
1,2 

1,8 
10,3 
13,2 
33,6 
39,2 
19,8 
21,0 

2,2 

2,3 

1,6 

2,3 
48,0 

89,9 

3,6 

3.7 
10,0 

11,0 

50,7 
62,9 
60,7 
63,9 

177,9 
210,0 

44,6 
40,8 

2,9 
2,3 
2,0 

1,9 

150,2 

136,4 
3,7 
7,2 
19,4 
21,9 
53,8 
57,0 


3176 
I  722 
8050 
9486 
2282 

2855 
4818 

6778 
15612 

13  112 
14680 

11933 
1  156 

1247 
1933 
3152 

43325 
62092 

1078 

851 

4242 

4917 
42338 

45  533 
44502 

43485 
72  HO 

70565 
31852 

22  163 

897 
783 
676 

637 
142286 

164  III 

II  896 

27908 

21  950 

23213 

44252 

87801 


11,4 
9,7 
31,4 
37,4 
35,4 
53,2 
9,1 

11,3 
9,0 

13,4 

14,3 
12,6 

10,0 

11,9 
23,8 
30,6 

17,4 

15,3 

5,8 

8,2 

9,9 

16,1 
16,0 

14,2 

15,1 
7,8 

7,4 
13,8 
12,0 

5,9 
7,5 
6,6 

7,3 

18,3 
26,6 

61,8 

86,0 

21,8 

33,8 

15,9 

34,1 


das  Land  und  infolgedessen  einer  mehr 
extensiven  Betriebsweise  wie  auch  die 
Leichtigkeit  der  Errichtung  dieser  Betriebe 
tragen  nicht  wenig  zu  der  erheblichen  Aus- 
dehnung bei.  Die  zweite  Stelle  wird  durch 
die  Handelsgewerbe  ausgefüllt,  unter  denen 
sich,  wie  nahe  liegt,  der  Handel  mit  Lebens- 
mitteln hervorthut,  der  ja  naturgemäss  eine 
weite  Verbreitung  erheischt.  Er  stellt  über 
180000,  der  mit  landwirtschaftlichen  Pro- 
dukten über  110000  Betriebe.  Es  kommen 
dann  auch  noch  die  Handelsvermittelung 
mit  47  000,  der  Handel  mit  Brennmaterialien 
mit  24000,  der  Hausierhandel  mit  39000, 
der  mit  Tieren  mit  34000,  der  mit  Kiu^- 
waren  mit  20000  Betrieben  in  Betracht. 
Demnflchst  macht  sich  die  Textilindustrie 
geltend,  die  den  am  häufigsten  vertretenen 


Bekleidungsgewerben  die  hauptsächlichsten 
Stoffe  zur  Verbreitung  liefert.  Indessen  hat 
sie  kaum  halb  so  viel  Betriebe  als  die  Be- 
kleidungsindustrie. Dafür  liegen  bei  ihr 
auch  die  Betriebsverhältnisse  anders.  Die 
Textilindustrie,  welche  unmittelbar  örtliche 
Beziehungen  zum  Konsumenten  (entgegen 
jener  wegen  des  Massnehmens,  Anpassens) 
nicht  voraussetzt,  kann  danim  auch  in  weit 
höherem  Masse  intensiv  geführt  werden; 
zudem  kommt  hier  in  höherem  Grade  die 
Mitwirkung  des  Auslandes  in  Betracht  Nach 
einem  abermals  nicht  unmerklichen  Abstände 
reihen  sich  die  fast  gleich  starken  Industrieen 
der  Holz-  und  Schnitzstoffe  mit  dem  Haupt- 
zweige der  Tischlerei  und  der  Nahrungs- 
und Genussmittel  an.  Hier  treten  besonders 
die   Bäckereien   (96000)   und  Fleischereien 


524 


Gewerbestatistik 


(93CMX))  hervor,  deren  Zahl  eine  ansehnlich 
höhere  sein  würde,  wenn  nicht  vielfach 
noch  auf  dem  Lande  die  hauswirtschaftliche 
Beschaffung  der  fraglichen  Lebensmittel  in 
Kechnung  fiele.  Nicht  unansehnlich  ist  auch 
.die  Zahl  der  Getreidemühlen  (52000).  Wird 
übrigens  w^ohl  im  allgemeinen  durch  das 
Nahnmgsbedürfnis  eine  geringere  Zahl  von 
Betrieben  als  durch  das  der  Bekleidung  er- 
fordert, da  bei  ihnen  der  einzelne  Betrieb 
einem  grösseren  Konsumentenkreise  zu 
dienen  vermag,  so  ist  es  doch  verständlich, 
wenn  gerade  die  Yeraorgung  mit  Brot  und 
Fleisch,  welche  jeder  gerne  frisch  und  in 
der  N^e  zu  erhalten  hebt,  die  meisten  Be- 
triebe dieser  Gruppe  bescliäftigt.  Es  folgen 
unter  den  Gruppen  die  Gast-  und  Schank- 
wirtschaft, die  Baugewerbe  und  die  Industrie 
der  Eisenverarbeitung,  in  der  sich  besonders 
das  Schmiedegewerbe  (81000)  hervorthut. 
Unter  den  Baugewerben  machen  sich  am 
meisten  die  Maurerbetriebe  (72000),  die  der 
Zimmerer  (47  000)  wie  der  Stubenmaler  und 
Tüncher  (42000)  bemerkbar.  Eine  schon 
merklich  geringere  Ausdehnung  hat  die 
Gruppe,  welche  sich  mit  der  Herstellung 
von  Maschinen,  Instrumenten  und  Apparaten 
befasst  und  zu  der  als  wichtigster  Zweig 
die  Stellmacherei  und  Wagnerei  (54000) 
zählt,  dann  die  Yerkehrsgewerbe ,  doch 
ohne  den  beiseite  gelassenen  Eisenbahn- 
verkelir,  femer  die  Industrie  der  Steine 
imd  Erden  wie  der  Herstellung  von  Leder, 
Wachstuch  und  Gummiwaren :  lauter  Grup- 
pen, bei  denen  immer  noch  10  oder  mehr 
Betriebe  10  000  Einw^olmern  gegenüber- 
stehen. 

Gegen  die  Zählung  von  1882  sind  die 
Veränderungen  in  den  einzelnen  Gruppen 
durchaus  nicht  unerheblich,  -wenn  auch  die 
Gesamtzahl  der  Betiiebe  nicht  eben  stark 
geschwankt  hat.  Besondere  ansehnhch  fand 
eine  Yermehining  in  der  Kunst-  imd  Han- 
debgärtnerei  statt,  die  über  die  Hälfte  be- 
trug, und  in  den  polj'graphischen  Gewerben, 
bei  denen  sie  über  zwei  Fünftel  hinaus- 
ig.  Auch  die  künstlerischen  und  die 
mgewerbe  nehmen  mit  einem  Viertel  be- 
trächtlich zu.  Ihnen  stehen  aber  zumal  die 
Handels-  und  die  Textilgewerbe  gegenüber, 
die  eine  Verminderung  von  zwei  Fünftel, 
Bergbau  und  Hüttenwesen  sowie  die  In- 
dustrie der  Leuchtstoffe,  welche  eine  solche 
von  einem  Fünftel  erfahren  haben.  In  Be- 
zug auf  die  Gewerbe  arten  zeichnen  sich 
unter  den  stärker  besetzten  namentlich  die 
Stuckatem«  und  Ofensetzer,  die  Betriebe 
für  Gas-  und  Wasseranlagen,  die  Cement- 
fabriken  und  die  Verleihungsgeschäfte  durch 
<lie  höchste  Zunahme  (von  über  100%),  die 
Flachs-,  Hanf-,  Baumwollen-  und  Wollen- 
spinnerei, die  Seiden-  und  Leinweberei  diuxih 
die  höchste  Abnahme  aus. 


Bei  diesem  üeberblick  über  den  Ver- 
breitungsgrad der  verschiedenen  gewerb- 
lichen Gruppen  ist  solcher  nach  der  Zahl 
der  Betriebe  im  ganzen,  also  sowohl  der 
Haupt-  wie  der  Nebenbetriebe  gemessen 
worden.  Nun  begründet  es  allerdings  für 
Leistungen  der  gewerblichen  Thätigkeit 
keinen  wesentHchen  Unterschied,  ob  der 
Betrieb  des  Gewerbes  die  eigentliche  und 
hauptsächliche  oder  eine  mehr  nebensäch- 
liche Nahrungsquelle  ihres  Unternehmers 
bildet ;  wrohl  aber  hat  sie  aus  dem  Gesichts- 
punkte dieses  letzteren  eine  hervorragende 
Bedeutung.  Um  daher  die  Stellung  der  Ge- 
werbe im  nationalen  Haushalt  gebührend 
würdigen  zu  können,  wird  man  auch  jene 
beiden  Formen  des  Betriebes  nicht  über- 
sehen dürfen.  Eine  derartige  Scheidung  er- 
giebt  fürs  Reich  3 144  977  Haupte  und  513 111 
Nebenbetriebe,  so  dass  jene  etwa  sechsmal 
so  zahlreich  sind  als  diese.  In  Bezug  auf 
die  einzelnen  Gruppen  wechselt  aber  das 
Verhältnis  ansehnlich.  In  einer  von  ihnen, 
in  den  Versicherungsgewerben,  und  hier 
mit  62®/o  ganz  auffällig,  ist  der  Nebenbe- 
trieb der  vorherrschende.  Sonst  findet  sich 
eine  nennensw^erte  Ausdehnung  in  der  Tier- 
zucht und  zwar  in  der  von  Hunden  und 
Vögeln  wie  in  der  Imkerei,  innerhalb  des 
Bergbaus  in  der  Torfgräberei,  in  der  Industrie 
der  Leuchtstoffe  bei  der  Köhlerei  imd  Oel- 
müllerei  und  in  den  Verkehrsgewerben,  von 
denen  vorzugsweise  Fuhrwerksbesitzer,  Lohn- 
diener, Botengänger,  Leichenfrauen  neben- 
gewerblich thätig  sind.  Umgekehrt  hat  der 
Nebenbetrieb  nur  in  ganz  untergeordnetem 
Masse  in  den  polygraphischen  Gewerben 
und  der  Papierindustrie  statt.  Die  Neben- 
betriebe sind  seit  1882,  wo  ihrer 
604344  gezählt  wairden,  um  15,1  ®.o  zu- 
rückgegangen. Die  Hauptbetriebe,  deren 
es  damals  3005457  gab,  haben  sich  um 
4,6  ^/o  vermehrt.  Das  trifft  vorzugsweise 
und  mit  61  ^/o  bei  den  Versicherungsge- 
werben zu,  wde  ferner  mit  zwischen  40  und 
50  ®/o  bei  den  polygraphischen  und  Handels- 
gewerben. Die  ebenzuvor  erwähnte  Ab- 
nahme der  Versichenmgsgewerbe  überhaupt 
ist  demnach  wesentlich  durch  die  Neben- 
betriebe herbeigeführt  worden. 

Der  Haupt-  oder  der  nebensächliche  Ge- 
werbebetrieb steht  übrigens  in  enger  Be- 
ziehimg zur  Ausdehnung  des  Unternelmiens. 
Wenigstens  ist  es  von  unverkennbarem  Ein- 
flüsse, ob  überall  keine  andere  menschliche 
oder  motorische  Kraft  als  die  seines  allei- 
nigen Inhabers  im  Betriebe  thätig  ist  oder 
ob  weitere  Kräfte,  seien  es  Motoren,  mehrere 
Inhaber  oder  Hilfspersonen,  vorhanden  sind. 
Verteilt  man  demgemäss  die  Betriebe,  je 
nachdem  sie  Allein-  oder  Gehilfenbe- 
triebe sind,  d.  h.  entweder  bloss  aus  einem 
Inhaber  und  ohne  Motoren  oder  aus  Mitin- 


Oewerbestatistik 


525 


habern  bezw.  Gehilfen  und  Motoren  bestehen, 
so  erhält  man: 

Betriebe    Haupt-     Neben- 

überhanpt  betriebe  betriebe 

—  Anzahl  — 


Alleinbetr.    . 

Dayon  nicht 
hansindustr. 

Gehilfenbetr. 

Davon  nicht 
hansindustr. 


Alleinbetr.    . 

Dayon  nicht 
hansindustr. 

Gehilfenbetr. 

Davon  nicht 
hansindustr. 


ri895  2172197  1714351  457486 

\1882  2  423  049  I  877  872  545  177 

(1895  1899669  1482788  416  881 
\1882  2  105  577  I  593  139  512438 

(1895  I  485  891  I  430  626    55  265 
\1882  I  186  752  I  127  585    59  167 

/189Ö  1  415  862  I  361  288    54  574 
\1882  I  117  808  1  060239    57  569 


Betriebe    Haupt-     Neben- 

überhaupt  betriebe  betriebe 

—  unter  100  — 

59,4  54,5  89,2 

67,1  62,5 


/1895 
\1882 

/1895 
\1882 

/189Ö 
\1882 

(1895 
\1882 


52,0 

« 

40,6 
32,9 

38,7 


47,1 

• 

45,8 
37,5 

43,3 


81.2 


10.8 


10,6 


Demgemäss  pflegt  die  nebensächliche 
Gewerbsthätigkeit  vorzugsweise  dort  ausge* 
Obt  zu  werden,  wo  der  Erwerbstliätige  ganz 
auf  sich  selbst  gestellt  ist. 

6.  Die  Grosse  des  Gewerbebetriebes. 
Wie  bereits  dargethan  wiu^ie,  ist  als  Massstab 
für  die  Sonderung  der  Gewerbebetriebe  nach 
ihi'er  geschäftlichen  Ausdehnung  die  Anzahl 
der  verwandten  menschlichen  Kräfte,  da- 
neben auch  die  Anwendung  irgend  welcher 
Motoren  gewählt  worden  und  zwar  die  letz- 
teren nur  in  dem  Falle,  wo  es  sich  bloss 
um  einen  einzigen,  allein  schaffenden  In- 
haber handelt  Um  nun  zu  einer  Einteilung 
nach  diesen  Merkmalen  zu  gelangen,  kann 
man  unter  Anlehnung  an  den  Vorgang  der 
Reichsstatistik  die  drei  Hauptstufen  der 
Klein-,  Mittel-  imd  Grossbetriebe  derart 
unterscheiden,  dass  man  zu  den  ersterßn  die 
eigentlichen  Alleiübetriebe,  welche  also  von 
dem  alleinigen  Inhaber  ohne  Gehilfen  und 
Motoren  geftüirt  werden,  dann  die  sonstigen 
gehilfenlosen  Betriebe,  d.  h.  in  denen  mehrere 
Inhaber  oder  doch  ein  Motor  vorhanden  ist, 
sowie  die  Betriebe  bis  zu  höchstens  5  Hilfs- 

Sersonen  rechnet.  Als  Mittelbetriebe  wer- 
en  dann  die  mit  einem  Personalbestande 
von  6  bis  50  und  als  Grossbetriebe  die  mit 
mehr  als  50  Köpfen  aufgefasst.  Auf  diese 
"Weise  erhält  man: 


Kleinbetriebe : 
AUeinbetriebe    /189Ö 
ohne  Motoren    \1882 

Sonst,  gehilf en-  ^896 
lose  Betriebe    \1882 

Betriebe  mit  2  bis /189Ö 
5  Personen      \1882 

/189Ö 
^882 
Mittelbetriebe : 

mit  6-10  Pers.  /J^ 


Zusammen 


r> 


11—50 


Znsammen 

Grossbetriebe : 

mit  51— 200Pers. 


/1895 
\1882 

ri895 

\1882 

ri895 
\1882 


„  201^1000  „   gll 

fl895 
\1882 

/1896 
\1882 


„  über  1000  „ 


Zusammen 


I  714351  oder  54,5*^/0 
1  877  872 

166480 
107  836 

1  053  892 
897  060 

2  934  723 
2  882  768 

113  549 
68763 

77752 
43952 

191  301 
112715 

15622 
8095 

3076 
1752 

255 
127 

18953 
9  974 


n 
n 

» 

n 

n 
n 

n 
n 

n 
n 

n 
n 

n 
» 

n 
n 

n 
n 


62,5 

5,3 
3,6 

33,5 
29,8 

933 
95,9 

3,6 
2,3 

2,5 

1,5 

6,1 
3,8 

0,5 
0,3 

0,1 
0,0 

0,0 
0,0 

0,6 

0,3 


r 
n 

n 
n 

n 
n 

n 
n 

n 

n 
n 

n 

n 

n 
n 

n 
n 

n 
n 


Bei  dieser  Verteilung  hat  mu*  diejenige 
Gehilfen-  bezw,  Personenzahl  Berücksichti- 
gung gefimden,  welche  innerhalb  der 
dem  Inhaber  gehörenden  Betriebsstätten 
thätig  war,  während  die  in  der  Hausindustrie 
und  in  Strafanstalten  beschäftigten  Arbeiter 
nicht  in  Anrechnung  gebracht  sind.  Ferner 
bedarf  der  Erwähnung,  dass  es  sich  hier 
wie  im  weiteren  Verlaufe  nur  um  Haupt- 
betiiebe  handelt.  —  Wie  nun  aus  den  That- 
sachen  hervorgeht,  ist  die  Ueberlegenheit 
der  kleineren  Unternehmungen  eine  derartig 
entschiedene,  dass  auf  die  mittleren  und 
grösseren  noch  kein  Zwanzigstel  entfällt. 
Das  trifft  für  beide  Zählungsjahre  zu.  In- 
dessen hat  sich  in  der  Zusammensetzung 
der  Betriebe  doch  von  1882  auf  1895  eine 
fühlbare  Wandlung  ergeben:  die  Kleinbe- 
triebe sind  zurückgegangen,  die  übrigen 
haben  und  zwar  höchst  ansehnlich  zuge- 
nommen, die  Mittelbetriebe  um  70,  die  Gross- 
betriebe  gar  um  90®/o.  Die  Neigung  zu 
einer  grösseren  Betriebsweise  liegt  also  offen 
zu  Tage.  Allerdings  war  die  Abnahme  der 
Kleinbetriebe  überhaupt  nicht  eben  belang- 
reich, kaum  2  % :  bemerkenswert  ist  jedoch, 
dass  die  einfachste  Betriebsform,  die  der 
motorlosen  Alleinbetriebe,  eine  Einbusse  von 
fast  9^/0  erlitten  hat.  Mag  hierauf  auch 
die  neuere  genauere  Ausmittelung  der  Zäh- 
lungsergebnisse namentlich  in  der  Richtung 
Einfluss  geübt  haben,  dass  die  im  Gewerbe- 
betriebe des  Inhabers  mitbeteiligten  Familien- 
glieder vollständiger  zur  Ei-scheinung  ge- 
Siugt  sind,  so  bekundet  sich  in  der  beträcht- 
lichen Abnahme  dieser  ganz  kleinen  Betriebe 
doch  wesentiich  der  der  Gegenwart  anliaf- 
tende,  in  der  Erzielung  eines  him-eichenden 


526 


Gewerbestatistik 


Ertrages  begründete  Zug  zur  ausgedehnteren 
gewerblichen  Kraftentfaitimg.  Vielfach  wer- 
den die  Inhaber  der  Alleinbetriebe,  sofern 
er  ihnen  kein  zulängliches  Auskommen 
bot  und  sie  die  Mittel  dazu  besassen, 
dessen  Umgestaltung  in  einen  Gehilfenbetrieb 
vorgenommen  haben  oder,  wie  das  die  Zu- 
nahme der  letzteren  und  die  dadurch  not- 
wendig gewordene  Erweiterung  des  Perso- 
nals vermuten  lässt,  in  erhebhchem  Masse 
in  eine  Gehilfenstellung  eingetreten  sein. 

Das  gleidie  Verhältnis  in  der  Grössen- 
verteilung  der  Gewerbebetriebe,  wie  es  für 
den  Diurchschnitt  erscheint,  kehrt  auch  fast 
bei  allen  grösseren  Gewerbegruppen  wieder. 
Eine  entschiedene  Ausnahme  machen  jedoch 
die  Montangewerbe,  in  welchen  auf  die 
Kleinbetriebe  kaum  die  Hälfte  kommt.  Auch 
sind  es  hier  mehr  die  eigentlichen  Gross- 
als  die  Mittelbetriebe,  welche  hervorragen. 
Von  den  übrigen  Gruppen  thun  sich  mit 
einer  grösseren  Beteiligung  der  stärker  be- 
setzten und  zwar  namentlich  der  mittleren 
Betriebe  die  Industrie  der  Steine  und  Erden 
(35®/o),  die  der  Leuchtstoffe^  Fette  imd  Oele 
(31^/o)   und   die   polygraphischen   Gewerbe 

g3^/o)  hervor.  Das  war  1882  noch  anders. 
am£ds  gab  es  ausser  der  Montanindustrie 
keine  Gruppe,  in  der  auf  die  Betriebe  über 
5  Personen  auch  nur  25,  in  der  auf  die 
über  50  Personen  insbesondere  auch  nur 
3%  kamen.  Als  die  Gruppen,  in  welchen 
vorzugsweise  der  Kleinbetrieb  zum  Ausdruck 
gelangt,  sind  zu  bezeichnen:  die  Tierzucht 
und  Fischerei,  die  Bekleidungs-  und  Reini- 
gungsgewerbe und  die  Verkehrsgewerbe; 
die  Kleinbetriebe  machen  hier  mindestens 
95®/o  aus. 

Sieht  man  sich  diese  wichtige  Gliederung 
der  Gewerbe  nach  ihrer  Betriebsausdehnung 
noch  etwas  näher  an,  so  sind  namentlich 
die  Alleinbetriebe,  diese  ganz  kleineu 
Geschäfte,  in  welchen  sich  Deutschlands 
Gewerbefleiss  überwiegend  bethätigt,  be- 
merkenswert. Zu  ihnen  gehören  an  erster 
Stelle  und  mit  mehr  als  neun  Zehntel  aller 
Hauptbetriebe  die  Spinnerei  (ohne  Stoffan- 
gabe), die  Näherei,  Stellenvermittelung,  der 
Hausierhandel,  die  Kleiderreinigung,  der 
Hafen-  und  Lotsendienst,  nicht  näher  aus- 
gewiesene künstlerische  Gewerbe,  Dienste 
männer,  Leichenbestattung,  Wäscherei  und 
Spitzenwäscherei.  Dahingegen  nehmen  eben- 
falls bis  zu  90  ^/o  im  Kleinbetrieb  überhaupt 
(bis  zu  5  Personen)  den  obei*sten  Rang  ein: 
der  Hausierhandel,  die  Barbiere  und  Friseure, 
die  Näherei,  die  Puppenbekleidung,  die  Grob- 
schmiede, die  Binnenfischerei  und  die  Stell- 
macherei.  In  den  Mittelbetrieben  (6 
bis  50  Personen)  ragen  über  50  und  bis  zu 
64®/o  hervor:  die  Stuckateure,  die  Talg- 
und  Seifensiederei,  die  Spoditions-  und  Kom- 
missionsgeschäfte, der  Handel  mit  Baumate- 


rialien, die  Zimmerer,  Sägemühlen,  Stein- 
metzen, die  Holzzurichtung,  Zi^elei,  Karton- 
nagenfabrikation, Konfektion,  Buchdruckerei 
und  Steinsetzerei  Der  Grossbetrieb  (51 
und  mehr  Personen)  endlich  steigt  zu  mehr 
als  90  %  an :  in  den  Steinkohlenwerken  und 
den  Rübenzuckerfabriken  (bis  nahezu  100®/o), 
in  der  Eisen-  und  Stahl^brikation,  in  den 
Erzbergwerken,  in  der  Fayencefabrikation, 
in  den  En^ütten,  den  Glashütten,  in  der 
Fabrikation  von  Dampfmaschinen,  der  Baum- 
wollenspinnerei, der  Cementfabnkation  und 
im  Strassenbahnbetrieb.  Aus  den  Grossbe- 
trieben heben  sich  die  225  Riesenbe- 
triebe mit  über  ICKX)  Personen  ab.  Diese 
wenigen  Unternehmungen  mit  ihrer  gewal- 
tigen Maschinenverwendung  beschäftigen 
bereits  zwischen  4  und  5()0000  Menschen 
d.  h.  nahezu  ein  Drittel  des  gesamten  ge- 
werbethätigen  Personals  und  im  Mittel  an- 
nähernd 2000  Köpfe  in  einem  Betriebe  l 
Von  ihnen  thun  sich  mit  86  Betrieben  am 
meisten  die  Steinkohlenbergwerke,  danach 
29  Eisen-  und  15  andere  Erzwerke  hervor. 
Abgesehen  von  den  Alleinbetrieben,  sind  bei 
allen  hier  hervorgehobenen  Gewerbearten  nur 
solche  berücksichtigt,  die  mindestens  aus 
10000  Personen  bestehen. 

7 .  Die  Gewerbetreibenden.  Die  wesent- 
lichsten in  Betracht  kommenden  Thatsachen 
ergeben  sich  aus  nachfolgender  üebersicht. 

Die  Verteilung  dieser  im  ganzen  10  269  269 
im  Jahre  1895  gezählten  Personen,  welche 
in  den  in  das  Gebiet  der  Aufnahme  einbe- 
zogenen Gewerben  thätig  sind,  über  die  ge- 
werblichen Ghnippen  weicht  im  grossen  und 
ganzen  nur  unbedeutend  von  der  ab,  welche 
sich  für  die  Betriebe  ergab.  So  stenen  hier 
wie  dort  die  Bekleidungsgewerbe  obenan, 
doch  kommt  ihnen  das  handeltreibende  Per- 
sonal nahezu  gleich.  Es  zählen  zu  den 
hervorragenden  die  Textilindustrie,  die  Bau- 
gewerbe, die  Nahrungsmittelindustrie  und 
finden  sich  umgekehrt  nur  ganz  schwach 
vertreten  die  künstlerischen  Gewerbe,  die 
Versicherungsgewerbe,  die  Industrie  der 
Leuchtstoffe  und  Felle,  die  Tierzucht  nebst 
Fischerei  wie  die  Kunst-  und  Handelsgärt- 
nerei. Dennoch  sind  auch  bemerkenswerte 
Abweichungen  vorhanden.  Solche  be- 
treffen in  erster  Linie  den  Borgbau,  dessen 
geringfügige  Verbreitung  in  Bezug  auf  die 
Unternehmungen,  dessen  ansehnliche  Bedeu- 
tung rücksichtlich  der  Gewerbetreibenden 
mit  dem  zusammenstimmt,  was  über  den 
vorwaltenden,  grosse  Arbeitskräfte  bedingen- 
den Betriebsumfang  gesagt  ist.  Wenn  auch 
nicht  in  gleichem  Masse,  so  doch  immer 
noch  auffallend  ist  der  Ausschlag  zu  Guns- 
ten der  Gewerbetreibenden  namentlich  bei 
det  Industrie  der  Steine  und  Erden,  sodann 
bei  der  chemischen,  der  Textilindustrie  und 
den   Baugewerben.    Umgekehrt   verhält   es 


Eb  wurdeo  ermittelt: 


Gewerbestatistik 


Knnst^  n.  Hondels^rtn 

„i| 

1896 
1682 

74  Wi 

41  560 

0,7 
0,6 

3,0 

2,6 

4,6 

4," 

13297 
7711 

50852 
25807 

79,3 
77,0 

Tieraucbt  nnd  Fueherei    , 

1695 

1882 

28137 
»5858 

0,3 

0,3 

1,6 
1,6 

'4 

5542 
6415 

1097s 
9903 

66,4 
60,7 

Bergbaa,  Hütten-  und  Sa- 

1895 

540388 

S,» 

129,8 

'43.4 

2307 

537  683 

99,6 

linenwesen 

1882 

430  134 

5,8 

8' .3 

88,7 

2938 

436871 

Industrie  der  Steineii.Erden 

1893 
1882 

558  »gä 
349196 

5,4 

4,7 

■  1^ 

6,6 

'n 

26236 
27927 

521  477 
307  057 

95^2 
91,7- 

MetaUverarbeitong    .    .    . 

1896 

635656 
582  672 

6,2 
6,3 

'i 

5,7 
4,0 

95  735 
94351 

482  433 
298  130 

?4 

Industrie  derMaschineo,  In- 

1895 

5.7 

6,6 

i7fi 

40868 

496727 

92,4 

1882 

356089 

4,8 

4,3 

8,2 

36863 

274  278 

88,1 

Cbemuche  Indnstrie     .    . 

1895 
1882 

115331 
71777 

1,0 

15,4 

7249 
6110 

104897 
62653 

93,S 
91,1 

Indostne  der  Leachtatoffe, 

1896 

57909 

0,6 

9,4 

"b 

4234 

52501 

92,5 

Seifen,  Fette,  Oele    .    . 

1882 

4*705 

0,6 

6,0 

8,0 

4  437 

36216 

89,1 

Teitilindnatrie     .... 

L69fi 

993*57 
910089 

9,7 

ii 

'4,9 
8,0 

51910 
74805 

79a  814 

57'  679 

z 

Papierindnetrie     .... 

1896 

153909 
100156 

1,5 
1.4 

8,7 
6,3 

13,3 
10,0 

10130 
895a 

136068 
84729 

93.0 
90,4 

liCderindTutrie ..... 

1895 

1882 

160343 
121532 

1,6 
•,7 

3,4 
2,7 

5.4 
4.2 

25359 
23721 

113416 
76984 

81,3 

s 

Industrie    der  Hok-    nnd 

1896 

598496 

5,8 

2,7 

4,6 

92884 

390403 

8chnitut«ffe      .... 

1882 

469695 

2,0 

3,4 

87009 

238531 

73,3 

Industrie    der    NahrungB- 

1895 

I  021  490 

.00 

3,8 

4.6 

173631 

788786 

82,0 

nnd  Gennsgmittel .    .    . 

1882 

743881 

io!i 

3,7 

3,8 

155113 

521  677 

77.1 

Bekleidung^    tmd   Beini- 

1895 

1390604 

»3,9 

1.7 

3,7 

190741 

548  266 

74,2 

grungsffewerbe  .... 

1882 

1  259  791 

'7,2 

1.4 

3,1 

177082 

385  527 

68,5 

Bangewerbe { 

1895 

1045516 

5.3 

ia,o 

90285 

849902 

90,4 

1882 

533  511 

7!3 

3,3 

6,2 

70778 

372137 

84,0 

1895 
1862 

127  861 
70006 

1,3 
0,9 

9,0 
7.3 

'2,1 
10,1 

loooS 
6430 

113947 
60635 

9',9 

90.4 

KünatleriBche  Gewerbe.    .{ 

1895 

1882 

19879 
15388 

2,9 

',9 

6,5 
4,3 

'939 
226S 

1031S 
7320 

84,2 
76,4 

1895 
1882 

1  331 993 
838  292 

'1,4 

% 

3,5 
3,4 

240418 
153827 

742003 
391 166 

75,5 
71,8 

Verricheningsgewerbe 

1895 
1882 

22256 
11824 

0,2 

s 

1:1 

1887 
1262 

1487. 
7  37' 

88,8 
85,4 

1896 

23043' 

174 '46 

2,4 

2,9 
2,3 

4,9 

4.2 

32140 

26358 

103884 

??;8 

BeherbergQugB-    und 

Er- 

1895 

579  958 

5,6 

2,5 

3,0 

117670 

404058 

77,4 

1882 

314246 

4,3 

1,9 

2,8 

57  457 

168  558 

74,6 

Sämtliche  Gewerbe  . 

TT59ö" 
1882 

10  369  269 
7  340  789 

100,0 
100,0 

s 

'S 

1  234470 
1031804 

7  320  u8 
4431  "3 

r. 

sich  mit  den  zahlreiche  Allein-  und  Klein- 
betriebe entiialteaden  Bekleidungs-  uod  Eei- 
nigungsge werben.  Wenn  sie  auch  nach  der 
Anzahl  der  Betriebe  wie  Personen  den  i 
ersten  Rang  einnehmen,  erreichen  sie  doch 
in  Bezug  auf  diese  kaum  14'/o,  hingegen' 
in  Bezug  auf  jene  über  ein  Viertel.  Aehn- 
lich  ist  es  bei  den  Handelsgewerben.  Im 
"Vei^leiche  mit  1882  hat  die  -verhältnis- 
niäBsige  Zusammensetzung  darin  eine  Aen- 
derung  erfahren,  dass  sieli  der  Anteil 
namentlich  der  Bau- und  der  Handelsgcwerbe 
und  der  Maschinen!  ndustrie  und  der  Gast- 
»md  Schankwirtschaft  gehoben  hat,  der  der 


Textilindustrie  und  der  Bekleidungs-  und 
Heini gungBge werbe  jedoch  gesunken  ist, 
DerAnzaM  nach  haben  sichaberdie  Gewerbe- 
treibenden BänitUcher  Gruppen  vermehrt. 
Am  wenigsten,  d.  h.  mit  kaum  oder  eben 
einem  Zohnlel  hatte  das  noch  bei  der  Tier- 
zucht und  Fischerei,  der  Textilindustrie  und 
bei  den  Bekleidungs-  imd  Reinigungsge- 
werben  statt.  Dahängegeu  hat  sich  das 
Persona!  der  Baugewerbe  nahezu  verdoppelt 
(96  "loi,  das  der  Kunst-  und  Handelsgärliierei, 
der  polygraphischen  Gewerbe,  der  Haudcls- 
gewerbe,  der  Gast-  und  Schankwirtschaft 
zwischen   80  und  90  "/o  gehoben,    FQr  die 


528 


Grewerbestatistik 


Gesamtheit  der  Gewerbetreibenden  erreicht 
die  Zunahme  39,9  %. 

Auch  hinsichtlich  des  gewerblichen  Per- 
sonals ist  die  Beachtung  der  Betriebsgrösse 
von  Belang.    Es  gehören  nämlich  an: 


dem 


Gewerbe-  0/ 

/o 


treibende 
Alleinbetriebe  (ohne  Motoren){J^|  \  ^ J^  |5^  ^J»^ 

Sonstig,  gehüfenlos.  Betriebe{J|§|    J^^  g  j^»J 

Betriebe  mit  2-6  Personen{S  f  f  g  ^3^^^ 


Betriebe  mit  über  5  Personen 
und  zwar 


mit 


6—10      Personen 


n 


11-50 

öl— 200 

201—1000 

über  1000 


n 


/1895  833 
\1882  500 
/1895  I  620 
\1882  891 
/1895  I  439 
\1882  742 
/1895I  IS5 
U882  657 
fl895  448 
11882    213 


418 
097 

8,1 
6,8 

915 

623 

15,8 
12,2 

700 
688 

14,0 
10,1 

836 

11,2 

399 

9rO 

731 
160 

4,4 

2,9 

Ebenfalls  hieraus  spricht  augenfäUig  das 
entschiedene  Vorwalten  des  Kleingewerbes. 
Indessen  gestaltet  sich  doch  diese  Abstufung 
des  Personals  durchaus  abweichend  von  der 
der  Geschäfte,  da  hier  eben  die  wachsende 
Personenzahl  des  einzelnen  Betriebes  die 
oberen  Stufen  füllen,  die  unteren  ent- 
sprechend entlasten  muss.  Auch  die  Be- 
wegung seit  1882  bekundet  sich  darin,  dass 
vornehmlich  die  grösseren  Betriebe  an  Per- 
sonal gewonnen  haben.  Bei  den  Riesenbe- 
trieben von  über  1000  Köpfen  ist  das  sogar 
über  das  Doppelte  hinaus  (110%)  und  bei 
denen,  welche  aus  21  bis  50  Personen  be- 
stehen, reichlich  um  neun  Zehntel  der  Fall  ge- 
wesen. Dass  dawider  die  allein  arbeitenden 
Gewerbetreibenden  eingebüsst  haben,  ist  be- 
reits hervorgehoben. 

Sucht  man  die  mittlere  Besetzung  der 
Betriebe  mit  Personal,  die  mittlere  Be- 
triebsgrösse auf,  so  erhält  man  für  je 
einen  Hauptbetrieb   bloss   eine   solche   von 

3.2  Köpfen,  ein  Mass,  das  sich  jedoch  auf 
6,0  verdoppelt,  wenn  man  die  Alleinbetriebe 
absetzt.  Nicht  anders  war  es  1882,  nur 
dass  damals  im  Durchschnitt  bloss  2,4  bezw. 

4.3  Köpfe  auf  einen  Betrieb  entfielen.  Wie 
sich  das  für  die  einzehien  Gruppen  gestaltet, 
besagt  die  vorstehende  Uebersicht.  Dass 
hierbei  die  Gruppe  des  Bei-gbaues  weit, 
weit  über  die  übrigen  hervorragt  und  ihre 
Ziffer  reichlieh  zehnmal  so  gross  ist  als  die 
nächstfolgende  der  chemischen  Industrie, 
kann  nach  dem,  was  schon  über  den  Be- 
triebdumfang  dargethan,  nicht  überraschen. 
Von  den  130  (bezw.  143)  Köpfen  eines  Berg- 
baubetriebes bis  zu  der  schwächsten  Be- 
setzung, den  1,7  (bezw.  3,7)  Köpfen  in  den 


Bekleidungs-  und  Reinigungsgew^rben  ist 
denn  auch  ein  gewaltiger  Sprung.  Der 
letzteren  (Jruppe  ziemlich  ähnhch  verhalten 
sich  unter  Einrechnung  der  Alleinbetriebe 
mit  höchstens  3  Personen  im  Mittel  die 
Tierzucht  und  Fischerei,  die  Gast-  und 
Schankwirtschaft,  die  künstlerischen,  Ver- 
sicherungs-,  Handels-  und  Verkehrsgewerbe, 
die  Kunst-  und  Handelsgärtnerei  und  die 
Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe.  Diese 
Gruppen  kennzeichnen  sich  meistens  zu- 
gleich als  solche,  in  denen  die  Alleinbetriebe 
erheblich  verbreitet  sind  und  zwar  insofern, 
als  nach  Ausscheidung  der  letzteren  die 
mittlere  Kopfzahl  auf  etwa  das  Doppelte 
steigt.  Ebenfalls  nicht  unerheblich  ist  der 
unterschied  der  mittleren  Besetzimg,  je 
nachdem  die  sämtlichen  oder  bloss  die  Ge- 
hilfenbetriebe herangezogen  werden,  bei 
den  Versicherungsgewerben,  bei  der  Her- 
stellung von  Maschinen  und  Apparaten  und 
namentlich  bei  der  Textilindustrie.  Die 
letztere  macht  sich  als  eine  industrielle 
Gruppe  bemerkbar,  in  der  auf  der  einen 
Seite  viele  Hände  in  kleinen  und  ganz 
kleinen,  aber  au^  der  anderen  auch  zahl- 
reiche in  grossen ,  hingegen  weniger  in 
mittleren  Betrieben  thätig  sind.  Da,  wo  die 
mittlere  Kopfstärke  eine  höhere  ist,  wie  in 
der  Papierindustrie,  in  den  polygraphischen 
Gewerben,  in  der  chemischen  Industrie 
und  vollends  im  Bergbau  macht  sich  der 
Abstand  mit  oder  ohne  Beachtung  der 
Alleinbetriebe  längst  nicht  so  bemerkbar. 
Hier  sind  nicht  nur  besonders,  die  Allein-, 
sondern  auch  die  übrigen  Kleinbetriebe 
schwächer  vertreten,  während  die  Mehrzahl 
aller  Personen  auf  die  grösseren  und  ins- 
besondere auf  die  mittleren  entfällt. 

Wird  fiir  die  durchschnittliche  Besetzung 
auch  die  Grössenklasse  der  Betriebe  in  Rech- 
nung gezogen,  so  kommen  auf  je  1  Betrieb 
Personen : 


1895 


1882 


n 


.  .    1,6 

1,5 

•  •    ^'5 

M 

12,8 

12,3 

.  .   92,2 

91,7 

•  .  375,8 

375,2 

.  .  1759,7 

1678,4 

In  Betrieben  von 
bis  zu  5  Personen 
mit  AUeinbetrieb    .    . 
ohne  Alleinbetrieb 
6 — 50      Personen    . 
61—200 
201—1000 
über  1000 


Für  alle  Grössoustufen,  namentlich  aber 
für  die  der  Riesenbetriebe  ist  demnach  die 
durchschnittliche  Besetzungsziffer  ge- 
wachsen. 

Was  die  Arbeitsstellung  der  Ge- 
werbetreibenden betrifft,  so  erhält  man 
neben  2948821  (1882  2909676)  Selbstän- 
digen 7  320448  (1882  4431118),  also 
doppelt  soviel  Hilfspersonen.  Setzt  man 
indessen  die  keine  Hilfspersonen  beschäfti- 
genden Inliaber  von  AUeinbetrioben  ab,  so 


Gewerbestatistik 


529 


verteilte   sich    das    gewerbthätige   Personal 
der  Grehilfenbetriebe  auf: 


0/ 


Unternehmer 
Angestellte  . 
Arbeiter   .    . 


Anzahl 

1896        1882      1895  1882 

1234470  1031804  14,4  18,9 

448944     205061     5,3    3,7 

6871504  4226052  80,3  77,4 


Die  Angestellten,  welche  als  höheres 
technisches  Betriebspersonal  namentlich  in 
der  chemischen,  der  Leuchtstoff-  und 
Maschinenindustrie,  als  Yerwaltungs-  und 
Kontorpersonal  in  den  Versichenmgs-  und 
Handelsgewerben  hervorragen,  stellen  im 
allgemeinen  bloss  einen  schwachen  Bruch- 
teil der  Hilfspersonen.  Indessen  hat  sich 
ihre  Verwendung  gegen  1892  immerhin  an- 
sehnlich ^hoben.  In  Bezug  auf  das  Yer- 
hältnis  beider  Arten  Hilfspersonen  zusammen 
zu  den  Unternehmern  in  den  Gehilfenbe- 
trieben kehrt  nach  Massgabe  der  vorauf- 
gehenden Uebersicht  die  Erscheinimg  einer 
überlegenen  Anzahl  Hilfspersonen  zwar  in 
allen  Gruppen  wieder,  unterliegt  ledoch 
sichtbaren  Schwankungen.  Während  auf 
die  Hilfspersonen  im  Bergbau  über  99,  in 
der  Industrie  der  Steine  und  Erden  95% 
kommen,  erreichen  sie  in  den  Bekleidungs- 
und den  Hamdelsgewerben  doch  bloss  25, 
in  der  Tierzucht  und  Fischerei  nur  66%. 

Die  Zusammensetzung  des  gewerbethäti- 
gen  Personals  lässt  sich  für  1895  nach  wirt- 
schaftlich und  sozial  bedeutsamen  Gesichts- 
punkten noch  etwas  weiter  verfolgen.  Da- 
nach gab  es  Personen:  Inhaber  von  Allein- 
betrieben und  Gehilfenbetrieben  1714351, 
Unternehmer  1234470,  Yerwaltungs-  und 
Kontorpersonal  329147,  technisches  Auf- 
sichtspersonal 119797,  andere  Gehilfen  und 
Arbeiter  6474727,  mitarbeitende  Familien- 
glieder 396777. 

Unter  den  einzelnen  Bestandteilen  des 
gewerbthäti^en  Personals  nehmen  besonders 
die  Lehrlinge  die  Aufmerksamkeit  in 
Anspruch.  Soweit  sie  Lehrlinge  des  Arbeits- 
personals sind,  kommen  von  ihnen  auf  die 
Betriebe  bis  zu  5  Köpfen  401982,  auf  die 
von  6  bis  20  Köpfen  171769  und  auf  die 
übrigen  Betriebe  127  282.  Hält  man  diese 
Zahlen  mit  den  vorstehenden  der  Gehilfen 
und  Arbeiter  zusammen,  so  machen  die 
Lehrlinge  von  letzteren  Überhaupt  10,8,  in- 
dessen auf  der  unteren  Stufe  24,7,  auf  der 
mittleren  14,5  und  auf  der  oberen  bloss  3,5  % 
aus.  Man  ersieht  also,  dass  die  Lehiiings- 
haltnng  mit  dem  Betriebsumfang  abnimmt, 
die  bedenkliche  Lehrlingszüchtung  vorzugs- 
weise den  Kleinunternehmem  eigen  ist. 
Unter  den  erwähnten  Lehrlingen  sind  395  554 
oder  56,4  ®/o,  die  im  Haushalte  ihres  Lehr- 
herm  wohnen  und  damit  vollständig  seiner 
Zucht  unterstehen.  Auch  hierfür  spricht 
die  Betriebsgrösse  entscheidend  mit.    Denn 

Handwörterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


bei  Betrieben  mit  über  20  Köpfen  sind  es 
nur  6,0  ®/o  (7698),  hingegen  bei  solchen  von 
6  bis  20  Köpfen  bereits  46,1%  (79132). 
Aber  wirklich  ausgebreitet  ist  es  bei  den 
Kleinbetrieben  mit  76,8^/0  (308724)  der  FaU. 
An  Lehrlingen  des  Yerwaltungspersonals, 
die  sich  vorzugsweise  im  Handefegewerbe 
finden,  sind  52  694  gezählt  worden  d.  h.  16«/o 
jenes  Personals. 

In  Bezug  endlich  auf  das  Geschlecht 
der  Gewerbetreibenden  giebt  darüber  fol- 
gende Nachweisung  Auskunft    Es  sind: 


Anzahl 


Inhab.v.  Alleinbetrieben 
Inhab.  v.  Gehilfenbetrieb, 
jbis  zu  5  Köpfen  .  .  . 
von  6—20  Köpfen  .  . 
von  über  20  Köpfen 


unter 

100 
mämd.      weibl.  ^^j^i. 

I  225  125  589226  34,4 

I  112  528  108942  8,8 

910850  96817  9,6 

156729  10742  6,4 

57  949  1  383  2,3 


Unternehmer  zusammen  2  250  653  698  198  23,7 

Yerwaltnngspersonal      .    314  331  14816     4,5 

Techn.  Anfsichtspersonal     117063  2734     2,3 

Angestellte  zusammen    431  394  17  550  3,9 


Glehilfen  und  Arbeiter 

Jugendliche  .    .    . 

Erwachsene  .    .    . 
Mithelf.  Famüienglieder 

Jugendliche   .    .    . 

Erwachsene   .    .    . 


5  205  760 

459003 

4  746  757 

42137 
5421 

36716 


1  268967  19,6 
127  79821,8 

1  141  169  19,4 

354  640  89,4 

10  928  66,8 

34371290,0 


Arbeiter  zusammen  5  247  897 
Ueberhaupt  7  929  944 


1  623  607  23,6 

2  339  325  22,8 


Erhebt  sich  die  Mitwirkung  der  Frau  im 
gewerblichen  Leben  kaum  zu  einem  Viertel, 
so  ist  das  doch  recht  verschieden  nach  der 
Stellung,  welche  sie  darin  einnimmt.  Gleich 
stark  wie  im  Mittel  ist  ihre  Beteiligung  als 
Unternehmer,  indessen  hat  darauf  wieder  die 
Betriebsgrösse  einen  sichtlichen  Einfluss  der- 
gestalt, dass  jene  um  so  geringer  wird,  je 
mehr  diese  sich  erweitert  Erheblich  treten 
Frauen  nur  in  den  Alleinbetiieben  auf  und 
das  namentlich  in  der  Näherei,  Putzmacherei, 
Wäscherei ,  Strickerei ,  Eravattenmacherei, 
Spitzenmacherei,  Golddrahtzieherei,  Spinne- 
rei, in  der  Anfertigung  von  Korsetts  und 
der  von  künstlichen  Blumen,  in  der  sie  es 
auf  über  90®/o  bringen,  unter  den  Ge- 
hilfenbetrieben sind  es  in  der  Hauptsache 
ebenfalls  die  genannten  Betriebe,  zu  denen 
sie  einen  namthaft-eren  Beitrag  stellen,  doch 
nur  die  Näheroi,  Putzmacherei  und  Wäsche- 
rei, in  welchen  sie  die  grossere  Hälfte  inne 
haben.  Als  Angestellte  treten  wegen  der 
für  diese  Stellungen  gebotenen  umfassenden 
fachlichen  Vorbildung  weibliche  Personen 
nur  in  schwachem  Masse  auf.  Dahingegen 
machen  sie  ein  Fünftel  der  eigentlichen 
Gehilfen  und  Arbeiter  aus.  Selir  erheblich, 
neun  Zehntel,  ist  ihre  gewerbliche  Beschäf- 
tigung aber  als  mitlielfende  Familienglieder. 

Auflage.    IV.  34 


530 


Gewerbestatistik 


unter  den  wirklichen  berufsmassigen  Arbei- 
terinnen (ohne  die  ndthelfenden  Familien- 
glieder) knüpft  sich  an  die  ein  besonderes 
soziales  Interesse,  welche  Ehefrauen  sind, 
welche  also  ihrer  nftchstliegenden  Auteibe 
der  Besorgung  des  Hausstandes  in  erheb- 
lichem UiTL&uige  entzogen  werden.  Solcher 
Ehefrauen  wurden  160  498,  d.  h.  14,1  ^/o  der 
erwachsenen  Arbeiterinnen  dieser  Gattung 
ermittelt  Yornehnolich  hat  das  in  der  Gärt- 
nerei, der  Tierzucht  und  Fischerei,  der  In- 
dustrie der  Steine  und  Erden,  der  Industrie 
der  Leuchtstoffe,  den  Yerkehrsgewerben  und 
zumal  in  den  Versicherungsgewerben  statt 

8.  Die  Betriebsdauer.  Bekanntlich  sind 
nicht  alle  Gewerbe  während  des  ganzen 
Jahres  im  vollen  Betriebe.  .  Bas  trifft  nur 
zu  bei  1274647  Betrieben  und  7  227  744 
Personen.  Dagegen  befinden  sich  155979* 
Betriebe  mit  1 327 174  Personen  bloss  einen 
Teil  des  Jahres  in  vollem  Gange.  Das  er- 
giebt  12,1  ^/o  jüler  gewerbetreibenden  Per-v 
sonen,  welche  in  teilweise  aussetzenden  Be- 
trieben beschäftigt  sind.  Als  solche  Ge- 
werbe, welche  nicht  durchweg  im  vollen 
Gange  stehen,  sind  besonders  zu  nennen: 
die  Steinmetzen,  Steinbrüche,  Rüben  Zucker- 
fabriken, die  Binnenschiffahrt,,  die  Ver- 
leihungsgeschäfte und  die  meisten  und  ver- 
breitetsten  Baugewerbe. 

9.  Die  MotoreHverwendimg.  unter 
den  3144977  Haupt-  und  513111  Neben- 
betrieben der  Zählung  von  1895  waren 
151695  bezw.  12788,  zusammen  140812, 
welche  sich  motorischer  Hilfskräfte  bedien- 
ten. Das  macht  erst  4,8  bezw.  2,5  ^/o  der 
ersteren  und  insgesamt  4,5  ^/o  sämtlicher 
Betriebe  aus,  wenn  man  aber  bloss  dieGehilf  en- 
betriebe  in  Anschlag  bringt,  11.1  ®/o.  Da- 
gegen betrugen  die  Betriebe  mit  Motoren 
1882  nur  113560,  so  dass  sie  sich  um 
24.0  ®/o  vermehrten.  Das  Verhältnis  inner- 
halb der  Gewerbegruppen  wechselt  be- 
trächtlich. Am  höchsten  d.  h.  bis  zu  44  ^/o 
der  Gehilfenbetriebe  steigt  es  in  der  In- 
dustrie der  Leuchtstoffe  an,  der  sich  mit 
mehr  als  30  %  der  Bergbau  und  das  Salinen- 
wesen wie  die  Verkehrsgewerbe,  die  Fischer, 
die  polygraphischen  Gewerbe,  die  Industrie 
der  Steine  und  Erden  wie  die  der  Nahrungs- 
mittel nähern.  Umgekehrt  erhebt  sich  der 
Anteil  in  den  Bekleidungs-,  den  Bau-,  den 
Handels-,  den  Versicherungsgewerben  und 
in  der  Gast-  und  Schankwirtschaft  nicht 
über  2%  hinaus. 

Die  Gesamtzahl  der  verwendeten  Pferde- 
stärken (PS.)  der  Motoren  erhebt  sich  auf 
3427  325,  demnach  für  100  Betriebe  über- 
haupt auf  deren  93,7.  Bleibt  diese  Grösse  in 
den  nichtindustrielien  Gewerben,  aber  auch 
in  den  Bekleidungsgewerben  fast  diu'chweg 
unter  5  und  in  den  Handelsgewerben  i.  e.  S. 
unter  7  zimick,  so  steigt  sie  in  der  Papier- 


industrie über  1000,  ja  im  Bergbau  und 
Salinenwesen  fast  auf  16000  an.  Von  den 
einzelnen  Gewerbearten  zeichnen  sich  diux^h 
gewaltige  Benutzung  von  Umtriebskräften 
an  oberster  Stelle  die  Steinkohlenbergwerke 
aus,  in  welchen  sogar  fast  129000  PS.  100 
Betrieben  gegeniiber  stehen.  Immer  noch 
höchst  ansehnlich  mit  beinahe  100000  PS. 
ist  das  Verhältnis  in  der  Eisenfabrikation, 
mit  83000  in  den  Salzbergwerken,  mit 
57000  in  den  Geschützgiessereien ,  auf 
welche  mit  zwischen  50000  und  20000  PS. 
die  Blechfabrikation,  die  Jntespinnerei,  die 
Anilinfabrikation,  die  Elektridtätserzeugung 
und  die  Rübenzuckerfabrikation  folgen.  In 
welchem  Masse  durch  solche  Motorenkraft 
die  Menschenkraft  imterstützt  wird,  kann 
man  daraus  ermessen,  dass  durchschnittlich 
auf  einen  Betrieb  2,8  Personen  und  0,9  PS. 
und  in  der  eigentlichen  Industrie  3,5  Per- 
sonen und  1,4  PS.  kommen.  Von  den  zu 
der  letzteren  gehörigen  Gruppen  weisen  den 
tiefsten  Stand  die  Metallverarbeitung,  die 
Lederindustrie,  die  der  Holz-  und  Schnitz- 
stoffe, die  der  Nahrungsmittel,  die  Beklei- 
dungs-, Bau-  und  künstlerischen  Gewerbe 
mit  noch  nicht  l  PS.  und  einer  weit  über- 
legenen Personenzahl  auf.  Dahingegen 
stehen  sich  in  der  Papierindustrie  8  Köpfe 
und  11  PS.,  im  Bergbau  86  Köpfe  und 
159  PS.  gegenüber. 

Wie  begreiflich  richtet  sich  die  Motoren- 
verwendung wesentlich  nach  der  Betriebs- 
grösse.    So  betragen: 

deren    anf  100   anf  1 
v^i  TTaiiT^^     Motoren-  Haupt-  Haupt- 

wi  ^^  \«i*  haupt-  Pferde-  betriebe  betneb 
betneben  mit^^^^^^^^j^  stärken  Motoren-    P.S. 

betriebe 
bis  zn  5  Pers.   95  5^8       438  801      3,3        0,1 
6—20    „       29235       375645     18,1        2,3 
über  20    „       26  902    2  562  881    55,0      52,4 

Mithin  nimmt  sowohl  die  Verwendung 
wie  die  Kraftleistung  der  Motoren  mit  der 
fortschreitenden  Betriebsgrösse  in  starkem 
Schritte  zu. 

In  Ansehung  der  Art  der  verwendeten 
elementaren  Kräfte  sind  gezählt  Betriebe 
mit  stehendem  Triebwerk:  mit  Wind  18326, 
mit  Wasser  54259,  mit  Dampf  58530  und 
mit  Gas  14760,  Petroleum  2083,  Benzin, 
Aether  1254,  Heissluft  639,  Druckluft  312, 
Elektricität  2259,  solche  mit  Dampfkessel 
ohne  Kraftübertragung  6984,  dazu  Dampf-, 
und  Segelschiffe  18272.  Nocli  1882  nahm 
die  Wasserkraft  in  dieser  Beziehung  den 
obersten  Rang  ein.  Bei  der  neueren  Zäiilung 
ist  sie  durch  die  Dampfkraft  überholt  wor- 
den. Neben  Dampf  und  Wasser  kommen 
alle  anderen  Kraftarten  nicht  auf  und  auch 
Wind  und  Gas  stehen  merklich  dahinter 
zunick.  Jene  beiden  bekunden  auch  ihre  lieber- 


Gewerbestatistik 


531 


legenheit  durch  den  üm&ng  der  Eraftleis- 
tung.  Und  hier  überragt  wieder  die 
Dampfkraft  mit  ihren  2721218  PS.  alle 
anderen  Arten,  denn  im  übrigen  entfallen 
auf  Wasser  629065,  Gas  53909,  Petroleum 
7249,  Benzin,  Aether  3501,  Heissluft  1298 
und  Dnickluft  11 085  PS. 

10.  Der  6esamtainfang  der  gewerb- 
lichen Unternehmungen.  In  den  bishe- 
rigen Nachweisungen  wurden  die  verschie- 
denen Gewerbszweige,  welche  unter  ge- 
meinsamer Leitung  stehen,  als  gesonderte 
Betriebe  gezählt.  Einen  vollständigen  Ein- 
blick in  den  Umfang  der  gewerblichen 
Unternehmungen  und  Eraftentfaltung  erhält 
man  aber  erst,  wenn  man  die  Einzelbetriebe 
eines  Unternehmens  zu  Gesamtbetrieben  ver- 
einigt. Wie  sich  alsdann  die  Zahl  und  der 
Ummng  der  Betriebe  gestalten,  lehren  fol- 
gende Uebersichten.  Man  erhält  dann  bei 
den  Hauptbetrieben: 


bei 


Betriebe    Personen 


Pferde- 
stärke 


I  714  351     I  714  351        — 


141  451 
161  888 

38997 
8248 

296 


Alleinbetrieben 
Gehilfen- 
betrieben 

m.  bis  5   Pers. 

n      6-20     , 

n     21-100    , 

„  101— 1000  „ 
„  über  1000^ 

im  ganzen       3065231  10269269  3397  188 
darunter 
Gesamtbetriebe       89  201     i  696  120  i  209  280 

Damach  kommen: 

von  je  100    auf  1  Hanptbetr. 
auf  Haupt-  gewerbth.  Per-    Pferde- 

betneb  Person,    sonen  stärken 


2  947  430 
I  513446 
I  621  702 
I  909712 
562  628 


391  924 

355  558 
655231 
329210 

665  265 


Alleinbetriebe 
Gehilfenbetriebe 
m.  bis  5  Pers. 
n  ß--20  - 
,  21-100  „ 
„  101— 1000  „ 
„  über  1000  „ 


55,9        16,7  1,0        — 


37,3 
5,3 

0,3 
0,0 


28,7 
14,7 
15,8 
18,6 

5,5 


2,6 

9,3 
41,6 

231,5 


0,3 

2,2 

16,8 

161.2 


1900,8    2247,5 


Nach  dieser  Aufstellung  vermindert  sich 
gegen  die  früheren  Angaben  die  Zahl  der 
Beüiebe  um  79746,  die  der  PS.  um  19861. 
Vornehmlich  wird  durch  die  Gesamtbetriebe 
begreiflicherweise  eine  Yerschiebung  der 
Grössen  Verteilung  zu  Gunsten  derGressunter- 
nehmungen  bewirkt.  Wie  sich  die  Ge- 
samt betriebe  selbst  und  gegenüber  der 
Gesamtzahl  der  Hauptbetiiebe  erhalten,  geht 
aus  folgenden  Thatsachen  hervor.  Es 
kommen  nämlich  im  Durchschnitt  auf  je 
1  Gesamtbetrieb  1,9  Teilbetriebe,  19,0  Per- 
sonen und  13,6  PS.  und  auf  100  der  be- 
teiligten Personen  71,3  PS.  Dahingegen 
entfallen  auf  1  Hauptbetrieb  im  allgemeinen 
nur  3,4  Köpfe  und  1,1  PS.  und  auf  100 
jener  33,1  dieser.  Die  gewerbliche  Ueber- 
legenheit  der  Gesamtbetriebe  gelangt  hieraus 


deutlich  zur  Erscheinung.  Hauptsächlich 
begebet  man  den  Gesamtbetrieben  dort, 
wo  sich,  wie  in  der  Nahningsmittolindustrie, 
dem  Handel,  der  Gast-  und  Schankwirt- 
schaft, den  Biftugewerben  und  der  Industrie 
der  Holz-  und  Schnitzstoffe,  zahlreiche  Klein- 
betriebe mit  imvollkommener  Ausgestaltung 
vorfinden. 

11.  Die  Hausindustrie,  die  6efäii|^is- 
arbeit  und  die  Hausierer.  Die  bei  der 
Aufnahme  von  1882  zum  ersten  Male  aus- 
geschiedene Hausindustrie,  diese  für 
den  weiteren  Absatz  und  das  Grossunter- 
nehmen sowie  auf  dessen  Rechnung  arbeitende 
kleingewerbliche  Thätigkeit  hatten  die  Zäh- 
lungsvorschriften durch  die  Frage  gekenn- 
zeichnet, ob  die  Gewerbthätigen  in  ihrer 
eigenen  Wohnung  für  ein  fremdes 
Geschäft  ihren  Beruf  ausübten.  Auf  diese 
Weise  wurden  (nach  den  Angaben  der 
Hausindustriellen  selbst)  ermittelt: 

• 

Hanpt-  Neben-        im 

betriebe  betriebe  ganzen 

Allein-     /189ö    231563  40965  272528 
betriebe     11882    284733 

Gehüfen-    jl896      69  338 
betriebe     {1882      67346 


Zns«n«.e„  {ffi    l'^^'. 


32739 

691 

1598 

41556 

34  337 


317472 
70029 
68944 

342557 
386  416 


Die  hausindustriellen  Veranstaltungen 
sind  demnach  gegen  1882  zurückgegangen 
und  zwar  im  ganzen  um  11,3  %.  Von  diesem 
Verluste  sind  jedoch  nur  die  Hauptbetriebe 
mit  14,5%  betroffen  worden,  während  die 
Nebenbetriebe  sich  um  21,0  vermehrt  haben. 
Anders  ist  es,  wenn  man  den  Betriebsum- 
fang  in  Anschlag  bringt.  Die  Abni^mie  der 
Hauptbetriebe  fällt  bloss  auf  die  ganz  kleinen, 
die  der  Nebenbetriebe  lediglich  auf  die  Ge- 
hilfen verwendenden  Gescdiäfte.  Die  Ab* 
nähme,  welche  für  die  Hausarbeit  im  ganzen 
eingetreten  ist,  drückt  sich  auch  im  Ver- 
hältnis dieser  Betriebe  zu  der  Gesamtheit 
der  Gewerbebetriebe  aus:  denn  es  belief 
sich  1895  auf  9,4,  1882  aber  noch  auf 
10,7  0/0. 

Das  Personal  der  Hausindustrie  bestand 
aus  Köpfen: 

in  den 

Allein-     /1895 
betrieben    \1882 

Gehilfen-     fl895 
betrieben    11882 

.    ■  (1Ö9Ö 

im  ganzen  jigoo 

Das  um  4,5  %  gefallene  hausgewerbliche 
Personal  machte  1882  6,5,  1895  4,5  0/0 
sämtlicher  Gewerbetreibenden  aus.  Beach- 
tung verdient  hierbei  die  starke  Beteiligung 
des  weiblichen  Geschlechtes,  die  mit  44,1  ^/o 

34* 


männ- 

weib- 

zu- 

liche 

liche 

sammen 

1 10  340 

121  223 

231  563 

133  051 

151  682 

284733 

145  791 

80630 

226  421 

136  792 

58009 

194  801 

256  131 

201  853 

457  984 

269  843 

209691 

479  534 

Gewerbestatistik 


im  Jahr  1895  und  43,7  im  Jahre  1882  weit 
über  den  allgemeinen  Durchschnitt  der  ge- 
werbethätigen  Bevölkerung  hinaus^ht. 
Namentlich  suchen  Frauen  in  den  AUein- 
betrieben  hausindustriello  Beschäftigung  imd 
hier  dergestalt,  dass  sie  sogar  die  Mehrheit 
ausmachen. 

Wie  sich  aus  dem  üebergewicht  der 
Alleinbetriebe  in  der  Hausindustrie  schon 
ergiebt,  sind  die  einzelnen  Geschäfte  nur 
von  bescheidenem  Umfange.  Im  Gtesamt- 
durchschnitt  besteht  ein  Hauptbetrieb  dann 
auch  bloss  aus  1,5  Köpfen.  In  den  Gehilfen- 
betrieben insbesondere  erhöht  sich  der  Be- 
trag auf  3,2  Personen,  In  ihnen  waren 
1895  64205  Geschäftsleiter,  139063  Ge- 
hilfen sowie  20486  erwachsene  imd  2667 
jugendliche  mitarbeitende  Famiüengüeder 
thätig.  Es  macht  aber  den  Eindruck,  als 
wenn  die  mithelfenden  Familienglieder  nur 
unvollständig  erhoben  worden  seien.  Denn 
es  entfallen  auf  1  Betriebsleiter  bloss  0,32 
erwachsene  und  gar  bloss  0,04  unerwachsene 
Angehörige,  während  es  doch  bekannt  ist, 
dass  in  der  Hausindustrie  die  Mitwirkimg 
der  Famüie  und  zumal  der  Kinder  eine  grosse 
Rolle  spielt  Yereinzelt  wirkt  in  den  Hausbe- 
trieben auch  motorische  Kraft  mit  Das 
war  1895  in  3017  Haupt-  und  25  Neben- 
betrieben der  Fall,  wobei  es  sich  um  10156 
PS.  handelte.  Meist  (in  1407  Betrieben) 
war  es  Dampf,  daneben  (692)  Wasser-  und 
(683)  Gaskraft. 

Der  hausindustrielle  Betrieb  ist  übrigens 
nur  wenigen  Gewerben  in  einigem  umfange 
eigen.  Namentlich  hat  er  statt  bei  der 
Textilindustrie,  auf  die  1895  162  435  Be- 
triebe und  195  780  Gewerbetreibende  kom- 
men d.  h.  dort  65,3,  hier  19,7  ®/o;  innerhalb 
der  Gruppe  machen  sich  mit  33  200  Köpfen 
wieder  die  BaumwoUweberei,  mit  25  000  bis 
30  (XX)  die  WoU-  und  die  Leinenweberei  wie 
die  Herstellung  von  Strumpfwaren  bemerkbar. 
Neben  der  Textilindustrie  kann  nur  von  Be- 
lang die  der  Bekleidung  imd  Reinigung 
mit  120  298  Betrieben  und  159  360  Per- 
sonen oder  mit  13,0  bezw.  11,5  genannt 
werden.  Ausserdem  weist  allein  noch  die 
Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  über 
20  000  Betriebe  (23356)  und  Hausgewerbe- 
treibende (37140)  auf.  — 

Um  ferner  in  Erfahrung  zu  bringen,  inwie- 
weit Hausgewerbetreibende  und  ebenso  Ge- 
fangene und  Hausierer  von  Unternehmern 
beschäftigt  werden,  sind  auch  diese  danach 
befi-agt  worden.  Danach  standen  490  711 
Hausarbeiter,  darunter  430  482  unmittelbar 
Beschäftigte,  in  Arbeit  bei  22307  Betrieben. 
Yon  diesen  letzteren  setzten  15240  unter 
10,  5196  11  bis  50  und  1865  über  50  Haus- 
arbeiter in  Thätigkeit  Weiter  sandten  2449 
Betriebe  4268  Hausierer  aus  und  653  be- 
Bcliäftigten  205576  Gefangene. 


12.   Das   Besitzverhältnis.     Von  den 

ermittelten  Gehilfen-(E^upt-)Betrieben  (unter 
Zählung  der  Gesamtbetriebe  als  Behiebs- 
einheiten)  gehörten  an  bezw.  waren  be- 
setzt : 


Grehilfen- 
betriebe 
absolut       % 

Einzelinhabem   .    .  i  280  830    94,8 

mehreren  Gesell- 
schaftern    ...       55  239      4,1 

Vereinen    ....         1311      0,1 

Kommanditgesell- 
schaften ....         I  117      0,1 

Aktienge  Seilschaf- 
ten             4  749      0,3 

Kommanditgesell- 
schaften a.  Aktien  334      0^02 

Eingetragene  Ge- 
nossenschaften 2212      0,2 

Gesellschaften  m.  be- 
schr.  Haftpflicht  .         1 028      0,1 

Innungen   ....  41      0,00 

Gewerkschaften  .    .  440      0,03 

anderen  wirtschaftl. 
Korporationen  336      0,02 

Gemeinden  n.  ande- 
ren kommunalen 
Korporationen      .         2 184      0,2 

Staat  und  Reich     .        1 059      0^1 


1  Gehilfen- 
betrieb 
m.  Pers. 

4,5 
26,7 

80,7 
168,7 
128,6 

64,3 
300,2 

16,7 

11,6 
154,1 


Das  üebergewicht  der  von  einzelnen 
Personen  betriebenen  Unternehmen  ist  hier- 
nach ein  so  entschiedenes,  dass  auf  die 
übrigen  Formen  nicht  mehr  als  ein  Zwan- 
zi^tel  kommen.  Und  davon  machen  dann 
wieder  die  Kompagniegeschäfte  den  weitaus 
umfassendsten  Teü  aus,  während  die  von 
w^irtschaftliclien  Genossenschaften  und 
vollends  die  öffentlichen  Charakters  zurück- 
treten. Auch  in  Ansehung  der  verschiedenen 
Gewerbe  bildet  der  Einzelbesitz  die  Mehr- 
heit und  fast  stets  die  erhebliche  Mehrheit 
In  einer  auffälligen  Ausnahmestellung  be- 
findet sich  nur  der  Bergbau,  dieses  Ge- 
werbe des  Grossbetriebes,  das  eben  vielfach 
die  Kräfte  der  einzelnen  übersteigt  und  die 
Vereinigung  mehrerer  zu  seiner  Führung 
voraussetzt.  Staatliche  Betriebe  insbesondere 
sind  zwar,  die  künstlerischen  Gewerbe  und 
die  Tierzucht  und  Fischerei  ausgenommen, 
in  allen  Gruppen  vertreten ,  doch  immer 
nur  in  schwachem  Masse.  Bloss  der  Berg- 
bau tritt  ebenfalls  hier  wieder  aus  dem 
Bahmeu  hervor. 

WeU  die  GeseUschaftsbetriebe  aller  Art 
gemeinhin  auf  eine  grossere  Geschäftsanlage 
schliessen  lassen,  ist  es  auch  einleuchtend, 
dass  die  mittlere  Kopfzahl  der  beschäftigten 
Gewerbetreibenden  bei  ihnen  eine  erheb- 
lichere sein  muss  als  bei  den  einzelnen  In- 
habern gehörigen  Geschäften.  In  allen 
Gruj)pen  weisen  dann  auch  die  KoUektiv- 
und  Verbandsbetriebe  nicht  allein  die 
dichtere,  sondern  die  ganz  erheblich  dichtere 


Gewerbestatistik 


533 


Besetzung  auf.  Unter  den  Gesellschaftsbe- 
trieben überragen  durch  ihre  durchschnitt- 
liche Personalstarke  die  Gewerkschaften  und 
sodann  Staats-  oder  Reichsunternehmungen 
sichtlich  die  anderen  Arten.  Ausser  acht 
bleiben  darf  hierbei  nicht,  dass  die  so  zahl- 
reiche Kräfte  beanspruchenden  Eisenbahn-, 
Post-  und  Telegraphenbetriebe  nicht  in  die 
Aufnalune  einbezogen  waren  und  daher 
hier  nicht  in  Rechnung  gekommen  sind. 

Lltteratur.     Deutschland,    G.  v,   Viebahm, 

Statistik  des  zollvereinte7i  und  nördlichen  Deutsch- 
lands, T.  S,  Berlin  1860.  —  O.  SchmolleTf  Zur 
Geschichte  der  deutschen  Kleingewerbe  im  10.  Jahr- 
hundert, Halle  1870.  —  Tabellen  der  Handwerker, 
der  Fabriken,  sowie  der  Handels-  und  Transport- 
gewerbe  im  Zollverein  nach  den  Aufnahmen  von 
1861,  vom  CenlraUwreau  des  Zollvereins,  Berlin 
1864 ,  —  Tabellen  und  amtliche  Nachrichten  über 
den  preussisehen  Staat  für  die  Jahre  1849  und 
1852,  herausgegeben  von  dem  statistischen  Bureau 
in  Berlin :  T.  V  Gewerbetabelle,  T.  VII  Fabri- 
kationsanstalten, Berlin  1854155.  —  Zeitschrift  des 
königlich-preussischen  statistischen  Bureaus,  Jahr- 
gang X,  S.  14s — 2S2  und  Jahrg.  XI,  Berlin 
IS70 — 71.  —  E*  Engel,  Die  Reform  der  Ge- 
werbestatistik nebst  Bericht  der  Kommission  für 
die  weitere  Ausbildung  der  Statistik  des  Zoll- 
vereins betr.  die  Geiverbestatistik.  —  E^Misehier, 
Gewerbestatistik  in  L.  Elster,  Wörterbuch  der 
Volkswirtschafi,  Bd.  I,  Jena  1898,  S.  897—903.  — 
Vierteljahrsheft  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches 
für  da,s  Jahr  1876,  herausgegeben  vom  kaiser- 
lichen statistischen  Amt,  Berlin  1876,  S.  I,  2  bis 
115:  Protokolle,  Beschlüsse,  Bericht  betr.  die 
Revision  der  Vorschläge  über  die  Ausführung 
der  Gewerbestatistik  im  Deutschen  Reich.  Statis- 
tik des  Deutschen  Reiches,  herausgegeben  vom 
kaiserlichen  statistischen  Amt,  Bd.  XXXIV-  und 
XXXV,  Berlin  1879 :  die  Ergebnisse  der  deutschen 
Gcwerbczählung  vom  l.XII.  1876;  Bd.XXXXVIII, 
1881,  Heft  1—S,  5 — 6:  Zur  Gewerbestatistik  des 
Deutschen  Reiches.  —  P.  Kollmann,  die 
Deutsche  Gewerbeaufnahme  vom  1.  XII.  1875  in 
ihren  Hauptergebnissen  in  Schmollers  Jahrb.  für 
Verwaltung  etc.,  1882,  Bd.  VI.  —  JB.  Engel, 
die  deutsche  Industrie  1875  und  1861,  Berlin 
1880.  —  Preu^si-sche  Statistik,  herausgeg.  vom 
konigl.  statistischen  Bureau  in  Berlin,  Heft 
XXXX,  1878  undXXXXI,  1880:  Die  Gewerbe- 
betriebe und  die  Sitze  der  InduJitrie  in  den  ein- 
zelnen Verwaltungsbezirken  etc.  —  Beiträge  zur 
Statistik  des  Königreichs  Bayern,  herausgegeben 
vom  konigl.  statistischen.  Bureau,  Heft  XXXIXj 
XXXXI,  XXXXIV,  München  1879—81:  Die 
persönlichen  Verhältnisse  der  Gewerbebetriebe; 
die  Umtriebsmaschinen ,  sowie  die  wichtigsten 
Arbeitsmaschinen  und  Vorrichtungen  der  Ge- 
werbebetriebe;  Getoerbebetriebe,  deren  Personal 
und  Umtriebsmaschinen  in  den  Verwaltungs- 
distrikten. —  Zeitschrift  des  k.  bayr.  statistischen 
Bureaus,  München  1875,  7.  Jahrg.:  G,  Mayr, 
Statistik  der  in  bayerischen  Fabriken  und  grösseren 
Gewerbebetrieben  zum  Besten  der  Arbeiter  ge- 
troffenen Einrichtungen.  —  Württembergische  Jahr- 
bücher für  Statistik  und  Landeskunde,  heraus- 
gegeben vom  konigl.  statistisch-topographischen 
Bureau,  Stuttgart,  Jahrg.  1876  und  1880:  in  den 
Abschnitten    7    und    8    nlnditstrieu     und    insbe- 


sondere y^die  Industrie  des  Königreichs  Württemr 
berg  nach  dem  Stande  vom  1.  XII.  1875.«  — Zeit" 
Schrift  des  königlich  sächsischen  statistischen 
Bureaus,  Dresden  1878,  Jahrg.  XXIII:  F. 
Böhfnert,  Ergebnisse  dtr  sächsischen  Gewerbe' 
Zählung  vom  1.  XII.  1875;  die  Motoren  und 
Umtriebsmaschinen  im  Königreich  Sachsen  vom 
1.  XIL  1878;  Jahrg.  XXIV t  A.  v.  Studnitx, 
die  Gewerbethätigkeit  des  Köni^greichs  Sachsen 
nach  Rangstufen;  Beitrage  zur  Statistik  der 
inneren  Verwaltung  des  Grossherzogtums  Baden, 
herausgegeben  vom  Handeleministerium,  Heft  4I, 
Karlsruhe  1880:  Gewerbestatistik  des  Grossherzog- 
tums Baden  nach  der  Aufnahme  vom  1.  XIL  1875. 

—  Beiträge  zur  Statistik  des  Grossherzogtums 
Hessen,  herausgegeben  von  der  grossh,  Central- 
stelU  für  Landesstatistik,  Bd.  18,  Darmstadt  1878: 
Ewaldf  die  Aufnahme  der  Gewerbestatistik  im 
Grossherzogtum  Hessen  vom  1.  XII.  1878.  — 
Statistische  Nachrichten  über  das  Grossherzogtum 
Oldenburg,  herausgegeben  vom  grossh.  statistischen 
Bureau.  —  Heft  XVII,  Oldenburg  1877:  Die 
Gewerbe  nach  den  Ergebnissen  der  Aufnahme 
vom  1.  XIL  1875.  —  Statistische  Mitteilungen 
aus  dem  Herzogtum  Sachsen- Altenburg,  Nr.  7: 
C.  Hase,  Die  Hauptergebnisse  der  Volks-  und 
Gewerbezählung  vom  1.  XII.  1875.  —  Mitteilungen 
des  herzoglich  anhaltischen  statistischen  Bureatis, 
Dessau  1877:  A,  Lange,  Die  Gewerbezählung. 

—  Statistische  Mitteilungen  über  Elsass- Lothringen, 
herausgegeben  vom  statiMischen  Bureau  des  kaiser- 
lichen Ministeriums,  Heft  XV,  Strassburg  1881: 
C,  Hack,  die  Gewerbe  in  Elsass-Lothringen 
nach  der  Zählung  vom  1.  XII.  1875.  —  Statistik 
des  LUbeckischen  Staates,  bearbeitet  vom  statis- 
tischen Bureau  des  Stadt-  und  Landamts,  Heft  IV, 
Lübeck  1878:  Ergebnisse  der  Gewerbeaufnahmen 
vom  1.  XII.  1875.  —  Jahrbuch  für  Bremische 
Statistik,  Jahrg.  1876,  Heft  II  in  der  Abteilung : 
die  Industrie.  —  Statistik  des  hamburgischen 
Staats,  bearbeitet  vom  statistischen  Bureau  der 
Deputation  für  direkte  Steuern,  Heft  IX,  Ham- 
burg 1878,  S.  88  ff.:  JP.  Nesmnann  Jr,,  Die 
endgültigen  Ergebnisse  der  Gewerbeaufnähme  vom 
1.  XIL  1875.  —  Statistik  des  Deutschen  Reiches 
a.  a.  O.  N.  F.  Bd.  VI,  1  und  2,  VII,  1  und  2, 
Berlin  1885 — 86:  Geirerbestatistik  des  Deutsehen 
Reiches  und  der  Grossstädte  nach  der  allgemeinen 
Berufszählung  vom  5.  VI.  1882.  —  P.  KoU- 
mann,  Die  gewerbliche  Entfaltung  im  Deittschen 
Reiche  nach  der  Aufnahme  vom  5.  VI.  1882  in 
Schmollers  Jahrbuch  für  Verwaltung,  Jahrg.  11 
und  12,  1887J88.  —  Freuseische  Statistik  a.  a.  O. 
LXXXIII,  2.  T.  1885186:  Die  Gewerbebetriebe 
im  preussisehen  Staate  nach  der  Aufnahme  vom 
5.  VI.  1882.  —  Die  Ergebnisse  der  Berufszählung 
im  Königreich  Bayern  vom  5.  VI.  1882,  heraus^ 
gegeben  vom  konigl.  statistischen  Bureau,  T.  3, 
3Iünchen  1882:  C.  Raap,  die  Intyerische  Be- 
völkerung nach  ihrer  gewerblichen  Thäti^keit.  — 
Württembergische  Jahrbücher  für  Statistik  a.  a.  O. 
Jahrg.  1885 — 87  unter:    Gewerbe    und   Handel. 

—  Zeitschr.  des  konigl.  sächsischen  statistischen 
Bureaus  a.  a.  O.  2.  Supplem.  zum  XXXIL 
Jahrg.  1886:  V,  Böhtnevt,  Die  Ergebnisse  der 
sächsischen  Gewerbezählfing  vom  5.  VI.  1882.  — 
Beiträge  zur  Statistik  der  inneren  Verwaltung 
des  Grossherzogtums  Baden  a.  a.  O.  Heft  4^, 
1885:  Ergebnisse  der  berufsstatistischen  Er- 
hebungen vom  5.  VI.  1882,  T.  II,  Gewerbe- 
statistik. —  Beiträge   zur  Statistik   des  Herzog- 


534 


Gewerbestatistik 


tufM  Braunsehweig,  herausgegeben  vom  staMs- 
tischen  Bureau  des  herzogl.  Staatsministeriutns, 
Heß  VI,  1886:  Die  Gewerbe  im  Herzogtum 
Braunschweig  nach  den  Ergebnissen  der  Berufs- 
Zählung  vom  5.  VI,  1882.  —  Statistik  des  Harn- 
burgischen  Staates  a.  a.  O.  Heft  XIV,  1887 :  die 
Gewerbebetriebe  im  Hamburgischen  Staate  im 
Jahre  1882.  —  Statistik  des  Deutschen  Reiches, 
herausgegeben  vom  kaiserlichen  statistischen  Amt, 
iV:  F.  Bd.  118—119,  Berlin  1898199:  Berufs- 
und  Gewerbexählung  vom  14»  VI.  1895  (Gewerbe- 
statistik, insbesondere  Bd.  119  vortreffliche 
analytische  Darstellung  von  F,  Zahn).  —  Sta- 
tistisches Jahrbuch  für  das  Königreich  Bayern, 
herausgegeben  vom  königl.  statistischen  Bureau,  10. 
Jahrg.,  München  1898,  S.  87  ff.  —  Zeitschrift  des 
königl,  bayerischen  statistischen  Bureaus,  Mün- 
chen, 29.  Jahrg.,  1897:  Die  Hauptergebnisse  der 
Berufszählung  vom  14'  VI.  1896  (die  gewerblichen 
Betriebe),  SO.  Jahrg.,  1898:  Die  Bewegung  der 
Gewerbe  in  Bayern  im  Jahre  1897.  —  Württem- 
bergische Jahrbücher  für  Statistik  und  Landes- 
kunde, herausgegeben  vom  königl.  statistischen 
Landesamt,  Jahrg.  1898,  T.  II,  1899.  —  Zeit- 
schrift des  königl.  sächsischen  statistischen  Bureaus, 
44.  und  45.  Jahrg.,  Dresden  1898199:  Die  Be- 
rufs- und  Crewerbezählung  t^om  14'  VI.  1895 
(G.  Wächter,  Die  Gewerbezählung);  Bei- 
lage zum  45,  Jahrg.,  Dresden  1899 :  Die  Dampf- 
kessel und  Dampfnuischiiien  im  Königreich 
Sachsen,  —  Statistisches  Jahrbuch  für  das  Gross- 
herzogtum Baden,  29.  und  SO.  Jahrg.,  Karlsruhe 
1898 j  99.  —  Beiträge  zur  Statistik  Mecklenburgs 
vom  grossherzogl.  statistischen  Amt,  Bd.  XIII, 
Heft  8,  Schwerin  1899 :  Die  Hauptergebnisse  der 
Gewerbezählung  vom  I4.  VI.  1895.  —  Jahrbuch 
fdr  Bremische  Statistik,  herausgegeben  vom  Bureau 
für  Bremische  Statistik,  Jahr  1898,  Heß  II, 
Bremen  1899.  —  Statistik  des  Hambiirgischen 
Staates,  bearbeitet  und  herausgegeben  vom  sta- 
tistischen Bureau  der  Steuerdeputation,  Heft 
VIII  und  IX,  Hamburg  1897 j98  (Ergebnisse  der 
Gewerbezählung  vom  I4.  VI.  1895).  —  P.  Koll- 
inann,  Die  gewerbliche  Entfaltung  im  Deutschen 
Reiche  nach  der  Gewerbezählung  vom  I4.  VI. 
1895  in  Schmollers  Jahrbuch  für  Gesetzgebung, 
Verwaltung  und  Volkswirtschaft,  ii4-  Jahrg.,  Berlin 
1900.  —  H,  Rauchberg,  Die  Berufs-  und  Ge- 
werbezählung im  Deutschen  Reich  vom  14.  VI. 
1895  in  Brauns  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung 
und  Statistik,  Bd.  I4  u.  15,  Berlin  1899  u.  1900,  — 
Oesterr  eich-  Ungarn.  Nachrichten  über  In- 
dustrie, Handel  und  Verkehr  aus  dem  statistischen 
Departement  im  k.  k.  Handelsministerium,  Bd. 
XXVIII,  XXXVIII  und  LIV,  Wien  I884,  1889 
und  1894  •  Statistik  der  österreichischen  Industrie 
nach  dem  Stande  vom  Jahre  1880  bezw.  1885.  — 
Ergebnisse  der  in  Oesterreich  vorgenommenen 
Geicerbezählung  nach  dem  Stande  vom  1.  VI. 
1897,  vom  arbeitsstatistischen  Amt  im  k.  k.  Han- 
delsministerium, Wien  1899.  —  Oesterreich  isches 
statistisches  Handbuch  für  die  im  Reicfisrath 
vertretenen  Königreiche  und  IMnder,  von  der 
k.  k.  statistischen  Centrcd-Kommission  (zuletzt), 
17.  Jahrg.,  Wien  1899,  S.  168— 190.  —  Hivatalos 
statisztikai  közlemenijek.  Ktadja  az  orszdgos  M. 
Kir.  Statisztikai  Hivatal :  Magyarorszag  ipar- 
statiszttkaja  1885.  Ben.  osszeallitotta  Dr,  J^ekel^ 
falussy  Josef.  Budapest  1886.  (Amtliche  sta- 
tistische Mitteilungen,  herausgegeben  vom  k. 
Ungar,   statistischen  Amt:    Ungarische   Gewerbe- 


statistik.) —  Ungarische  statistische  Mitteilungen, 
im  Auftrage  des  königl.  ungar,  Handelsministers 
verfasst  und  herausgegeben  durch  das  königl, 
Ungar,  statistische  Bureau,  Btidapest,  N,  F. 
Bd,  II.  —  Ergebnisse  der  in  den  Ländern  der 
ungarischen  Krone  am  Anfang  des  Jahres  1891 
durchgeführten  Volkszählung,  i.  T.,  Berufsstatistik 
der  Bevölkerung,  1894,  N.  F.  Bd,  XIII.  — 
Ungarns  Mühlenindustrie  im  Jahre  1894,  IS95 
(ungarisch  und  deutsch),  —  Ungarisches  statis- 
tisches Jahrbuch,  'N.  F.,  verfasst  und  herausge- 
geben durch  das  königl.  ungar,  statistische  Central- 
amt  (zuletzt)  V,  Budapest  1899,  unter  VII,  Berg- 
bau und  Hüttenwesen  und  VIII,  Industrie  und 
Handel.  —  Italien.  V,  EHena,  La  StatisUca 
di  alcune  industrie  italiane  Annali  di  Statistica, 
2  a,  vol.  18,  Roma  1880.  —  Statistica  industriale 
bis  jetzt  fascicolo  1 — 62  in  den  ebengenannteti 
Annali,  1885 — 97,  —  Statistica  industriale, 
PiemmUe,  Roma  1892.  —  Schweiz,  Zeitschrift 
für  schweizerische  Statistik,  XVIII,  Jahrg.,  Bern 
1882:  Schweizerische  Faltrikstatistik  auf  1,  III, 
1882  vom  eidgen.  Handels-  und  Landwirtschafts- 
departement. —  Schweizerische  Fabrikstatistik, 
umfassend  die  dem  Bundesgesetze,  betr.  die  Arbeit 
in  den  Fabriken  vom  28.  III,  1877,  unterstellten 
Etablissements,  Auf  Gfrundlage  der  mit  Bezuy 
auf  das  Jahr  1888  vom  eidgen.  Fabrikinspektorat 
vorgenofnmenen  Erhebungen,  herausgegeben  vom 
Schweiz.  Industrie-  und  Landwirtschaftsdeparte- 
ment, Bern  1889.  —  Schweizerische  Fabrikstatis- 
tik nach  d^n  Erhebungen  des  eidgen,  Fabrik- 
inspektorats,  herausgegeben  vom  schweizerischen 
Jndustriedepartement,  Bern  1896.  —  Frank- 
reich. Statistique  de  la  France:  Industrie. 
—  Resultats  generaux  de  Venquete  eßectuee  dans 
les  annees  1861 — 65,  Nancy  1873.  —  Statistique 
de  la  France:  Statistique  sommairc  des  indus- 
tries  principales  en  1878,  Paris  187 4-  —  Statis- 
tique de  l* industrie  de  Paris  faite  par  la  chambre 
de  commerce  pour  les  annees  1847,48  bezw,  1860, 
Paris  1851  bezw.  1864'  —  Statistique  generale  de 
la  France,  zuletzt  Annees  1886  et  1887,  Paris  et 
Nancy  1890:  unter  der  Abteilung  Statistique 
sommaire  des  industries  principales.  —  Annuaire 
statistique  de  la  France,  zuletzt  18«^  annee, 
Paris  1890:  unier  der  Abteilung  Industrie.  — 
Portugal.  Ministerio  das  obras  publicas, 
commerda  e  industria.  Reparticao  de  estatistica, 
Resumo  do  inquerito  industrial  de  1881,  Lisboa 
1888.  —  Belgien.  Statistique  de  la  Belgique, 
Industrie.  Recensement  general  (15.  X.  I846), 
publie  par  le  Ministre  de  VinthHer,  BmxeUes 
1851,  —  Statistique  de  la  Belgique.  Industrie, 
Recensement  de  1880  public  par  le  Ministre  de 
Vinterieur  et  de  l* instruction  publique.  Tome 
I — III,  Brujcelles  1887.  —  Vom  neuesten  Recense- 
ment des  industries  et  des  metiers  en  1896  sind 
bisher  erst  die  auf  die  Landwirtschaft  bezüglichen 
Ergebnisse  veröffentlicht.  —  H,  Rauchberg, 
Die  Berufs-  und  Betriebszählungen  des  Jahres 
1896  in  IVankreich  und  Belgien  in  Statistische 
Monatsschrift,  herausgegeben  von  der  k.  k. 
Statistischen  Central- Kommission,  .X.  F,  IV,  Jahr- 
gang, Heft  5,  Wien  1899.  —  Annuaire  statistique 
de  la  Belgique,  zuletzt  tome  XXVIII,  Annee  1897, 
BmxeUes  1898.  —  Grossbritannien.  Fac- 
tories  and  Workshops.  Retum  of  the  Jiumber 
of  manufacturing  establishments  in  xchich  the 
bours  of  trork  are  regnlated  by  any  act  of  Par^ 
liament,  London  187^.  —  MiscelUineous  Statistics 


Gewerbestatistik  —  Gewerbesteuer 


535 


of  the  United  Kingdom,  ztUetzt  pari  XI,  Londmi 
18SS  und  StatUiical  aÖBtract  Jor  the  United 
Kingdom,  zuletzt  46 1^  number,  London  1899: 
unter  nFactorieea,  —  Britisch  -  In  dien. 
Financial  and  eommercial  statistice  for  British 
India,  compiled  in  the  Statistical  Bureau  of  the 
gouvemement  of  India.  Caleutta  (zuletzt)  1899. 
—  Schweden.  Bidrag  tili  Sveriget  officieüa 
Statistik.  Kommerse  KoUegiiunderdanigaheHiUeUe 
(zuletzt)  ßr  ar  1897.  Stockholm  1899:  Fabriker 
och  manufakturer,  später  handiverk.  —  Berg- 
shandteringen.  —  No rwegen.  Borges  officielle 
Statistik,  udgivne  af  Departementet  for  det  indre 
bezw:  det  statistiske  Centralbureau,  Christiania: 
Statistiske  opgaver  tu  helysning  af  Norges  indus- 
trielU  Forholde  i  Aarene  1870—1874  (1876).  — 
Statistik  over  Norges  Fahrikanlaeg  ved  Udgangen 
af  Aaret  1875  (1879).  —  Statistik  over  Norges 
Fahrikanlaeg  den  1.  XI.  1879  (1881).  —  StatisHk 
over  Norges  Fahrikanlaeg  ved  Udgangen  af  Aaret 
1885  und  1896  (1888  und  1898).  —  Tabeller  ved- 
ktymmende  Norges  Bergvaerksdrift  (zuletzt)  i 
Aarene  1894  og  1895  (1898).  —  Statistik  Aarbog 
for  Kongeriget  Norge,  zuletzt  1898,  Tab.  34  und 
^5.  —  Russland.  Annuaire  statistique  de  la 
Bussie,  St.  PHersbourg  (zuletzt)  1890:  insbes. 
unter:  Usines  et  fabriques,  1887.  —  Ver- 
einigte Staaten  von  Amerika.  Departe- 
ment of  inferior,  Census  offiee.  Report  on  manu- 
facturing  industries  in  the  United  States  at  the 
eleventh  census  (June  1,  1890),  PaH  I—III, 
Washington  1895.  —  Report  on  mineral  industries 
in  the  United  States  at  the  eleventh  census,  1890. 
Washington  1892. 

Paul  Kollmann, 


Gewerbesteuer. 

I.Allgemeines.  1.  Begriff,  Umfanfl:  und 
Veranlagung.  2.  Verhältnis  zu  den  übrigen 
direkten  Steuern.  3.  Historische  Entwickelung  der 
G.  im  allgemeinen  bis  zu  Anfang  dieses  Jahrhun- 
derts, n.  Heutiges  Recht.  A.  Deutsch- 
land. 4.  Preussen.  5.  Bayern.  6.  Württem- 
berg. 7.  Baden.  8.  Hessen.  9.  Sachsen.  10. 
Elaess-Lothringen.  B. Oesterreich-Üngarn. 
11.  Oesterreichische  Monarchie.  12.  Ungarn. 
C.  Uebrige  Staaten  Europas.  13.  Eng- 
land. 14.  Frankreich.  15.  Italien.  16.  Russ- 
land. 17.  Andere  europäische  Staaten.  D. 
Amerika.  18.  Vereinigte  Staaten  von  Amerika, 
m.  Steuerstatistik.    19.  Ertrag  und  Ver- 

fleich  zwischen   den   einzelnen  Staaten.     IV. 
chluss. 

I.  Allgemeines. 

1.  Begriff.  Umfang  nnd  Veranlagung. 

Unter  den  direkten  Steuern  aller  Systeme 
lind  aller  Länder  nehmen  die  Ertrags- 
steuern  eine  hervorragende  Stelle  ein. 
(Ygl.  d.  Art.  Ertragssteuern  oben  Bd.  III 
S.  728ff.)  Unter  den  Ertragssteuern  sind 
wohl  jene  Steuern  zu  verstehen,  bei  denen 
das  Steuersubjekt  (Eigentümer,  Wirtschafter, 
Beinertrags-  oder  Einkommensbesitzer)  vom 
Steuerobjekt  (der  vom  Kapital  als  selbstän- 
diges Produkt  abgelöste  JSrtrag)  losgescliält 


ist,  deren  Steuerquelle  aber  das  Produkt 
von  Arbeit  und  Kapital,  die  Elrtragsfäliig- 
keit,  bildet;  wenn  nämlich  der  Reinertrag 
eines  Kapitals  auf  der  Verbindung  mit  der 
persönlichen  Erwerbsfähigkeit  beruht  und 
die  letztere  in  dem  Masse  des  ersteren  eine 
wahrscheinliche  Grösse  darstellt.  Betrachtet 
man  den  Ertrag  nur  aus  Vermögen  und 
Kapital  als  Steuerquelle,  so  vdrd  die  auf 
denselben  gelegte  Steuer  Vermögenssteuer 
heissen,  wozu  die  Grund-,  Gebäude-  und 
Kapitalrentensteuem  gehören;  tritt  aber  zu 
dem  einen  Faktor  des  Erwerbes,  dem  kapi- 
talistischen, noch  der  pei-sönliche,  so  heisst 
die  Steuer  auf  dieses  Produkt  der  erwerben- 
den Kraft  mit  Kapital  Erwerbs-  oder  Ge- 
werbesteuer. Trifft  aber  die  Steuer  nur 
den  rein  persönlichen  Erwerb  aus  Arbeit 
ohne  alle  Rücksicht  auf  Kapitalsverwendung, 
so  hat  sich  daraus  meist  die  partielle 
Einkommensteuer  auf  Lohn  imd  Gehalt, 
auf  Handarbeit,  privates  oder  öffentliches 
Dienstverhältnis,  auf  die  sogenannten  freien 
Berufsarten  entwickelt. 

Gewöhnlich  —  die  Systeme  in  den  ver- 
schiedenen Staaten  differieren  hier  ja  ganz 
bedeutend  —  hat  die  besondere  Gewerbe- 
steuer als  Glied  der  Erti-agsbesteuerung 
die  Aufgabe,  die  Gewerbe  im  engeren  Sinne 
mit  einer  direkten  Steuer  zu  belegen,  damit 
alle*  Unternehmungen  zu  treffen,  welche 
selbständig  und  gewerblich  im  Unterschied 
von  der  sogenannten  Rohstoffproduktion 
Stoffe  umarbeiten  und  veredeln  (Handwerk, 
Fabriken,  Mauufaktiu*en),  dann  die  Handels- 
unternelimungen  (Handels-,  Kommissions-, 
Bank-,  Agentur-,  Yersicherungsgeschäfte, 
Transportgewerbe,  Schankwirtschaften  und 
Dienstgewerbe).  Principiell  gehören  hierher 
auch  der  landwirtschaftliche  Erwerb  und 
die  Bergwerke  sowie  Eisenbahnen.  Der 
Begriff  des  Gewerbes  gehört  ja  einem  an- 
deren Rechtßgebiete  als  dem  der  Finanz- 
wissenschaft an ;  es  kann  deshalb  eine  prin- 
cipielle  Begrenzug  der  Gewerbesteuer  schwer 
konstruiert  wenlen.  Nirgends  weichen  die 
Gesetzgebungen  beti-effs  des  Umfanges  der 
Steuer  in  zahlreichen  Einzelheiten  so  von 
einander  ab  als  in  der  Gewerbesteuer.  Die 
Grenze  zwischen  der  Gewerbe-  und  Ein- 
kommensteuer ist  vielfech  verwischt,  ja 
manchmal  besteht  ein  ganz  enger  Zusammen- 
hang zwischen  beiden  Steuern.  In  Oester- 
reich  z.  B.  ist  die  Erwerbssteuer  eine  allge- 
mein auf  Handel,  Fabriken,  Handwerker, 
Gast-  und  Schankgewerbe,  Transportgewerbe, 
bestimmte  liberale  Berufsarten  (Advokaten, 
Notare,  Privatlehrer,  Börseninhaber  etc.)  sich 
ausdehnende  Gewerbesteuer,  während  in 
Preussen  dieselbe  einen  engeren  Umfang 
durch  Ausschluss  der  kleinen  Handwerker, 
des  landwirtschaftlichen  Erwerbes  und  der 
sogenannten  liberalen  Berufsarten  hatte.  Prin- 


536 


Gewerbesteuer 


cipiell  soll  die  Gewerbesteuer  den  mutmass- 
lichen, nach  bestimmten  Merkmalen  berech- 
neten Ertrag  belasten;  Schuldenabzug  ist 
eigentlich  nach  dem  Begriff  der  Ertrags- 
steuer ausgeschlossen.  Sie  wird  veranlagt 
nach  bestimmten  Merkmalen,  nicht  nach 
dem  wirklichen  Ertrag.  Das  Streben,  diesen 
vermutlichen  Ertrag  mit  dem  wirklichen  in 
möghchst«  Uebereinstimmimg  zu  bringen, 
hat  zu  den  verschiedensten  Aidagesystemen 
geführt.  Einesteils  hat  man  die  Gewerbe 
in  Gruppen,  Klassen,  Tarife  zusammenge- 
fasst  und  bestimmt  die  einzelnen  Steuern 
der  Klassen  oder  des  Tarifes  nach  der 
Grösse  des  Betriebsortes  oder  der  Grösse 
des  Betriebes,  anderenteils  hat  man  die 
Grösse  des  Betriebskapitals  aDein  ins  Auge 
gefasst  oder  den  Ertrag  des  Kapitals  mit 
jenem  der  Arbeit  vermengt  und  Iflsst  die 
Zahl  der  Hilfsarbeiter,  Grösse  und  Arbeits- 
kraft der  Maschinen,  Werkzeuge,  Grösse 
des  Absatzgebietes  massgebend  werden. 
Jedes  System  hat  seine  unverkennbaren 
Uebelstände,  und  doch  wird  die  Gewerbe- 
steuer als  Glied  der  Ertragsbesleuerung  un- 
entbehrlich sein,  solange  nicht  die  ganze 
Objekts-  und  Ertragsbesteuerung  in  die  Sub- 
jekts- und  Einkommenbesteuerung  hinüber- 
geführt ist,  dann  erst  kann  die  reine  Ein- 
nahme aus  dem  Gewerbe  die  einzige  Steuer- 
quelle  für  die  damit  Betroffenen  bilden. 

2.  Verhältnis  zu  den  übrigen  direkten 
Stenern.      Das    Verhältnis    der    Gewerbe- 
steuer zu  den  übrigen  direkten  Steuern   ist 
teils   schon   angedeutet,  anderenteils    muss 
auf  die  Besprechimg  der  Steuer  in  den  ein- 
zelnen  Staaten  verwiesen   weinlen,   da  die 
Abgrenzung  nach  den  verschiedenen  Steuer- 
gesetzen eine  ganz  verschiedene  ist.    Besteht 
eine  allgemeine  oder  doch  alles  Einkommen 
umfassende   partielle  Einkommensteuer,   so 
erscheint  die  Gewerbesteuer  als  Zusatzsteuer, 
welcher  die  Gewerbe,  bei  denen  das  Erträg- 
nis  lediglich   als  das  Resultat  der  persön- 
lichen   Arbeit    erscheint,    nicht    getroffen 
werden    dürfen,   sondern  welche    niu*   jene 
Gewerbe  mit  der  Zusatzstener  belegen  kann, 
bei  welchen  das  vorhandene  Betriebskapital 
für    den    geschäftlichen   Ertrag    ausschlag- 
gebend ist ;  andrerseits  müsste  für  Gewerbe, 
bei  denen  ausschlie^sslich  das  Kapital  arbeitet 
(Aktiengesellschaften   etc.),    eine    besondere 
Besteuonmg  mit  Rücksicht  auf  die  von  den 
übrigen  Gewerben  abweichende  Ai-t  die  Ver- 
teilung und  Versteuenmg  der  Geschäftser- 
gebnisse in  der  Person  der  einzelnen  Aktien- 
und  Kapitaleinlagen-Inhaber  eingeführt  wer- 
den.    In  einem   aus   Real-   und    Personal- 
Steuern  zusammengefassten  System  soll  die 
(rewerbesteuer   nur    eine    Rohertragssteuer 
sein.    Sie  soll  keinen  anderen  Zweck  haben 
als  die  Besteuenmg  dos  fundierten  Einkom- 
mens  aus   dem  (Jewerbehetriebe,  d.  h.  des 


in  dem  Unternehmen  steckenden  Kapitals. 
Wo  aber  die  Einkommensteuer  in  Zusammen- 
hang mit  den  alten  Rohertragssteuem  ge- 
bracht wurde  oder  wird,  kann  auch  eine 
Verbindung  der  Besteuerung  nach  den  ob- 
jektiven Merkmalen  der  Ertra^fgÜiigkeit 
(Kapital,  Betriebsmerkmale,  Gehilfen,  Ma- 
schinen etc.)  mit  jenen  des  wirklichen  Rein- 
ertrages hergestellt  und  damit  eine  wirk- 
same Ergänzung  des  einen  Steuersystems 
durch  das  andere  erreicht  werden.  So' unter- 
lagen nach  dem  österreichischen  Patente 
V.  31.  Dezember  1812  alle  gewerblichen 
Unternehmungen  den  patentmässigen  &- 
werbssteuersätzen  und  nach  dem  Einkommen- 
steuerpatent jedenfalls  einem  die  Einkommen- 
steuer vertretenden  Drittelzuschlage.  Da- 
neben wird  der  von  jedem  Gewerbe  erzielte 
Reinertrag  ermittelt  und  davon  die  Einkom- 
mensteuer mit  5  ^lo  im  Ordinarium  bemessen. 
Diese  Erwerbseinkommensteuer  kann  grösser 
und  kleiner  sein  als  das  Erwerbssteuerordi- 
narium  und  der  Drittelzuschlag  zusammen. 
Im  ersten  Falle  ist  auch  der  Mehi'betrag  zu 
bezahlen,  im  zweiten  Falle  neben  dem  ge- 
setzlichen Erwerbssteuersatze  jedenfaUs  noch 
der  die  Einkommensteuer  vertretende  Drittel- 
zuschlag. Nur  bei  Einführung  einer  allge- 
meinen Einkommensteuer  wird  eine  Doppel- 
besteuerung des  Rohertrages  vermieden  wer- 
den können.  Wo  eine  solche  nicht  besteht, 
hat  die  Gewerbe-  oder  Erwerbssteuer  als 
Ertragssteuer,  imd  dann  mit  dem  mut- 
masslichen Ertrag  ohne  Berücksichtigimg 
der  Korreal schulden  des  Steuerpflichtigen, 
volle  Berechtigung.  Erst  beim  üebergang 
zur  allgemeinen  Einkommensteuer  kann  sich 
die  Gewerbesteuer  als  Gewerbsvermögens- 
steuer  unter  Abzug  der  Schulden  neben  dem 
Einkommen  entwickeln. 

3«  Historische  Entwickelnng  der  G.  im 
allgemeinen  bis  zum  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts« Schon  in  Hellas  nnd  Rom  bestand 
die  Gewerbebesteuerung.  Aus  der  Zehentgesetz- 
gebuDg  entwickelte  Solon  den  atheniensischen 
Census  nach  vier  Klassen.  Zur  Deckung  des 
aussergewöhnlichen  Bedarfes  wurde  eine  Ver- 
mögenssteuer eingeführt,  welche  anfangs  nur 
den  Grund  und  Boden,  später  aber  das  ganze 
bewegliche  Vermögen  und  den  städtischen  Er- 
werb traf  nnd  auf  Katastrierunc:  beruhte.  Da- 
neben trafen  Marktabgaben,  Thorsteuem  den 
Verkehr  mit  ländlichen  Produkten  und  Gewerbs- 
erzengnissen  in  der  Stadt. 

Im  Jahre  578  v.  Chr.  -führte  Serdus  Tul- 
lius  als  ausserordentliche  Steuer  ebenfalls  den 
Census  in  Rom  ein  mit  dem  Bügertribut  (tribu- 
tum  civile)  für  ausserordentliche  Ausgaben.  Da- 
neben bestanden  Zölle,  Hafenzölle,  indu-ekte  Ver- 
brauchsabgaben, Thoraccise.  Auch  das  tributum 
war  anfangs  wesentlich  auf  einen  WertanscUaff* 
des  (rrund Vermögens  beschränkt,  allmählicn 
wurde  aber  das  bewegliche  Vermögen,  auch  ge- 
werbliche Unternehmun&ren  mit  Berücksichtigung 
der  Zahl  und  Art  der  Sklaven  zur  Besteuerung 
herangezogen.   Im  Jahre  167  v.  Chr.  wurde  das 


Grewerbesteuer 


537 


tribntum  zeitweise  aufgehoben  und  damit  die 
Eaufleute  und  Fabrikanten  steuerfrei.  Aber 
schon  unter  Diokletian  wurde  das  tributum  und 
zwar  sowohl  als  Grundsteuer  nach  amtlichem 
Kataster  als  auch  als  Gewerbesteuer,  welche 
von  den  Gewerbetreibenden  bezahlt  werden 
mussten,  wieder  eingeführt.  Es  wurden  die 
negotiatores  neben  den  in  Städten  w^ohnenden 
possessores  agrorum,  d.  h.  alle,  welche  Handel, 
Geldgeschäfte,  Industrie  trieben,  auch  einzelne 
Handwerker,  ja  specifizierte  Arbeiter  mit  der 
Gewerbesteuer  bele^. 

In  der  altgermanischen  Zeit  erschienen  die 
Steuern  als  freiwillige  Ehrengaben,  daneben 
bürgerten  sich  die  ai2  römischen  Ursprung  zu- 
rückzuführenden Passierzölle  ein.  Erst  die  ka- 
rolingische  Gesetzgebung  führt  direkte  Leistun- 
gen (servitium,  obsequium)  ein  und  schafft  wirk- 
liche Einfuhrzölle  auf  den  ganzen  Handel,  wo- 
bei sich  die  Höhe  des  Zolles  nach  Stand,  Na- 
tionalität, Geschäftsart  bemisst.  Fremde  wur- 
den höher  als  Einheimische  belastet.  Der  Zoll 
nimmt  das  Gepräge  der  Gewerbesteuer  an.  Pri- 
TÜegierte  Stände,  Adel  und  Geistlichkeit  wissen 
sich  von  den  Zöllen  zu  befreien.  Bis  ins  Mit- 
telalter entwickelte  sich  eigentlich  nur  das 
Grundsteuersystem.  Erst  mit  Entwickelung 
der  Städte  und  des  Zunftwesens  wurde  der 
Charakter  der  Steuern  als  öffentlichrechtlicher 
Abgaben  von  den  steuerpflichtigen  Bürgern  an 
die  Eechtspersönlichkeit  der  Städte  mit  und 
ohne  Beichsgenehmigung  anerkannt  und  ausge- 
bildet. Die  Gewerbesteuer  erscheint  aber  zu- 
meist als  indirekte  Steuer  im  Anschluss  an  die 
alten  Zoll-  und  Marktabgaben  mit  Ausdehnung 
auf  alle  Genussmittel  und  Verzehrungsgegen- 
stände und  wurde  an  denThoren  (Thorsteuern, 
Octroi)  oder  auf  dem  Markte,  in  den  Lager- 
häusern bei  dem  Wägen  und  Messen  der  Waren 
oder  beim  Verkäufer  erhoben.  Sie  führen  den 
Namen  Umgeld,  Cise,  Accise  (accisia)  und  sind 
eigentliche  Steuern.  Verschiedene  Städte  haben 
für  die  Kaufhäuser  eigene  Warentarife  und  einen 
„Pfundzoll"  vom  Werte  der  zum  Verkauf  ge- 
brachten Waren,  z.  B.  Nürnberg,  Tarif  von  1£®6, 
Basel  1454. 

In  einigen  Städten  und  Ländern  sind  aber 
schon  wirkliche  Gewerbesteuern  zu  finden,  wel- 
che speciell  von  den  Gewerbetreibenden  als  sol- 
chen als  besondere  direkte  Steuern  oder  als  ein 
eigener  Teil  eines  allgemeinen  direkten  Steuer- 
systems zu  entrichten  waren.  Die  Steuer  ist 
meistens  in  der  Vermögenssteuer  inbegriffen,  so 
in  Strassbur^,  Augsburg,  Frankfurt  a.  M.,  Mainz, 
Nürnberg  („Losung"),  München,  Kursachsen,  der 
persönliche  Erwerb  blieb  dabei  unmittelbar  ganz 
ausser  Berücksichtigung  und  kam  nur  mittelbar 
insofern  in  Betracht,  als  sich  die  wirtschaftliche 
Lage  des  Steuerpflichtigen  in  dem  Werte  des 
beweglichen  Vermögens  ausdrückte.  Für  Leute, 
welche  ohne  alles  Vermögen  nur  von  der  Hände 
Arbeit  lebten,  wie  Tagelöhner,  Gesellen,  Ge- 
sinde, hatte  man  nur  Steuern  persönlicher  Na- 
tur, so  z.  B.  Herstallgelder,  Lohnsteuern  u. 
dergl.  Für  diejenigen,  die  Gewerbe  oder  Han- 
delschaft trieben ,  gab  es  jene  Vermögens- 
steuer, und  die  Grösse  des  Erwerbsvermögens 
war  der  Massstab  des  Erwerbes.  Die  kleinsten 
Vermögen,  z.  B.  ö  Pfund,  nach  einer  Steueraus- 
schreibung vom  Jahre  1214  in  München  waren 
steuerfrei. 


Auf  dem  Lande  entwickelte  sich  der  Ge- 
werbebetrieb teils  unter  dem  Drucke  der  grund- 
herrlichen Verhältnisse,  teils  bei  der  UnvoU- 
kommenheit  der  Verkehrsmittel  und  W^ege,  teils 
wegen  der  Vorrechte  der  Städte  fast  gar  nicht, 
in  den  Städten  dagegen  war  jeder  Bürger  Ge- 
werbetreibender,  es  ist  deshalb  in  den  Steuer- 
listen meist  nur  von  den  Bürgern  die  Rede, 
nur  hier  und  da  werden  einzelne  Gewerbe, 
Schneider,  Bader,  Messner,  Furkünstler,  Wirte, 
Hakler,  Maler,  Bildhauer  besonders  erwähnt. 

In  einzelnen  Städten  besteht  neben  der  Ver- 
mögenssteuer eine  besondere  Gewerbesteuer  mit 
Tarif,  so  in  München  seit  1606,  Hamburg  seit 
1633,  Kulmbach  seit  Ende  des  lö.  Jahrhunderts. 

Neben  diesen  Vermögens-  und  Gewerbe- 
steuern hielten  sich  die  „Umgelder"  und  sons- 
tigen Verkaufssteuem ,  welche  ebenfalls  das 
Gewerbe  trafen,  sowie  die  „Lizenz-  oder  Re- 
kognitionsgelder"  für  die  Bewilligungen  des 
Landesherrn  zur  Ausübung  eines  Gewerbes.  Mit 
der  Ausbildung  der  Zünfte  ging  die  Auflage 
der  Lizenzgebühren  Hand  in  Hand.  So  wurde 
in  Böhmen  1595  neben  der  Haussteuer  eine 
zweite  direkte  Steuer  mit  Klassen  und  hohen 
Steuersätzen  von  Gewerbtreibenden  eingeführt, 
dazu  kam  1596  eine  Kamin-,  eine  Laden-,  eine 
Mühl-  und  eine  Getreidesteuer.  In  Schlesien 
bestand  seit  lö27  eine  Verbrauchssteuer  von 
Bier,  Getreide,  Wolle,  Wein,  Salz  und  Fischen. 
In  den  preussischen  Landen  traf  die  allge- 
meine Vermögenssteuer  „ältere  Landbede,  petitio 
exatoria,  Landschoss,  Grossenschatz"  alle  volks- 
klassen  mit  beweglichem  und  unbeweglichem 
Vermögen.  Später  wird  „Kontribution"  die 
eigentliche  alleinige  Staatsbesteuerung  des  plat- 
ten Landes,  während  die  indirekte  Besteuerung, 
die  Accise,   die  Staatssteuer  der  Städte  wurde. 

Die  eigentliche  Gewerbesteuer  war  in  der 
allgemeinen  Kopfsteuer  (Kopfschoss),  nach  eng- 
lischem und  französischem  Muster  abgestuft  und 
in  Klassen  eingeteilt,  inbegriffen.  Dazu  wird 
die  Biersteuer  die  territoriale  Hauptsteuer  der 
Städte,  und  die  Zölle  werden  nicht  bloss  als 
Einfuhr-,  sondern  auch  als  Ausfuhrzölle  ausge- 
bildet, erhöht  und  vermehrt. 

In  Frankreich  treffen  wir  seit  dem  11. 
Jahrhundert  zwei  direkte,  dem  System  der  Feu- 
dalabgaben entstammende  Steuern:  die  aides 
und  die  exactions.  Die  aides  ^uxilia)  sind  aus- 
serordentliche Subsidien  aller  Unterthanen  und 
Vasallen  an  den  Herrn  im  Verhältnisse  zu  deren 
Einkünften.  Die  exactions  (exactiones)  sind 
willkürlich  nach  Bedarf  auferlegte  Abgaben. 
Zu  diesen  gehört  insbesondere  die  taille  (talia, 
tolta),  eine  direkte  Steuer,  welche  gewöhnlich 
nach  feux  (Hauch-  und  Feuerstellen)  auferlegt 
wird.  Daneben  bestehen  indirekte  Verkehrs- 
und Verbrauchssteuern,  Wegeabgaben  und  Zölle. 
Dazu  entwickeln  sich  die  städtischen  Thor- 
steuern (octrois),  die  Getränke-  und  Weinsteuem 
(aides  im  engeren  Sinne)  und  die  Salzsteuer 
(gabelle).  Der  Hauptpf euer  des  direkten  Steuer- 
systems bleibt  aber  bis  zur  Revolution  die  taille, 
sie  traf  vorzugsweise  die  ländliche  bäuerliche 
Bevölkerung  neben  der  taille  reelle  (eigentliche 
Grundsteuer)  als  taille  personelle  (Vermögens-, 
Erwerbs-,  Personalsteuer).  Erst  im  18.  Jahr- 
hundert gesellten  sich  zwei  neue  direkte  Steuern 
dazu.  Die  capitation.  eine  klassifizierte  Stan- 
des-, Berufs-,  Personalsteuer  und  die  allgemeine 


538 


Gewerbesteuer 


Quotenstener  mit  wechselnder  Quote,  am  läng- 
sten mit  Veo«  daher  unter  dem  Namen  „Zwan- 
zigster*' bekannt.  Sie  war  eine  allgemeine  Ein- 
kommensteuer. Für  die  Städte  blieben  aber  die 
Verbrauchssteuern,    Getränkesteuem   (droit  de 

fros)  mit  Verkaufssteuem  (droit  de  quatri^me)  und 
esonderen  Eich-,  Mess-  und  Maklergebühren 
(droit  de  jauge  et  de  Courtage)  Haupteinnahme- 
quellen neben  den  oben  angeführten  anderen 
städtischen  indirekten  Abgaben  (octrois,  Salz- 
steuer, Tabaksteuer,  Stempel).  Im  16.  und  17. 
Jahrhundert  entwickelte  sich  besonders  nach 
englischem  Muster  das  Accisesystem ,  indem 
Steuern  auf  alle  wichtigeren  Produkte  z.  B. 
Tuch,  Wollwaren  (1582),  Papier  ri653),  Lichter 
(1693),  Puder  (1715),  Bücher  (1772),  Oele  (17. 
Jahrhundert),  Gold  und  Silber  (1680)  u.  s.  f. 
gelegt  wurden.  Zu  Ende  des  Ancien  Regime 
waren  die  Einnahmen  schon  überwiegend  steuer- 
artig, zur  kleineren  Hälfte  direkt,  zur  grösseren 
Hälfte  indirekte  Verbrauchs-  und  Verkehrs- 
steuem. 

In  England  gelang  dem  normanischen 
Königtum  die  Einbnngung  einer  direkten  Ver- 
mögensbesteuerung viel  früher  als  in  Frankreich 
und  Deutschland.  Schon  im  12. — 14.  Jahrhun- 
dert umfasste  diese  Besteuerung  den  sämt- 
lichen Grundbesitz  und  bald  auch  das  beweg- 
liche Vermögen,  zu  welchem  beim  Grundbesitze 
Vieh,  Betriebskapital  und  die  Erzeugnisse  selbst 
gerechnet  wurden,  mit  nach  Bedarf  wachsenden 
Quoten  (Vio,  Via,  Vir,  Vsot  V4o)-  I>iese  Besteue- 
rung hiess  „der  Fünfzehnte  oder  Zehnte*.  Schon 
im  Jahre  1334  gelang  den  Steuerpflichtigen, 
eine  Repartierung  nach  einem  festgesetzten  Ge- 
samtbetrag durchzusetzen.  Sonstige  Kopf-, 
klassifizierte  Staats-  und  Einkommensteuern 
waren  nur  vorübergehend.  Erst  allmählich,  seit 
dem  Cromwellschen  Regiment,  trat  an  die 
Stelle  der  „Ftinfzehntel"  Monatsanlagen  (month- 
ly  assessements)  eine  direkte  Vermögens- 
und  Einkommensteuer  sowie  indirekte  Ver- 
brauchssteuern auf  eine  Anzahl  Artikel,  so 
Fleisch,  Salz,  Wolle,  Hüte,  Seidenwaren  u.  s.  f. 
(1644),  auch  eine  Getränkesteuer  (1646)  auf  Ale, 
Bier,  Wein,  Branntwein.  1660  trat  eineBrannt- 
weinbesteuening  dazu,  und  in  derselben  Zeit 
wurde  das  Accisesystem  weiter  ausgebildet  (erb- 
liche und  temporäre  Accise).  Im  Jahre  1692 
erfuhr  das  englische  Besteuerungswesen  eine 
durchgreifende  Umwälzung.  An  Stelle  der 
Klassen-,  Kopf-,  Standes-,  Geburts-,  Heirats-, 
Junggesellensteuer  trat  die  als  Qualitäts-,  Ver- 
mögens- und  Einkommensteuer  gedachte  Land- 
steuer (landtax^.  Sie  umfasste  principiell  den 
Ertrag  beweglichen  Vermögens  und  gewisser 
persönlicher  Einkünfte  (Besoldungen),  wurde 
aber  allmählich  fast  gänzlich  zur  Ertragsgrund- 
steuer. Dazu  kam  noch  (1696)  die  Haussteuer 
in  Form  der  Fenstersteuer  und  (1778)  insbeson- 
dere Ertragssteuem  von  Wohnhäusern. 

Daneben  bestanden  aber  eine  Reihe  von 
indirekten  Steuern,  welche  sich  als  Specialge- 
werbesteuern (Anhängsel  zur  indirekten  Kon- 
sumsteuer) darstellen.  So  schon  seit  1691  die 
Steuer  auf  Verkehrsgewerbe  (Stadtdroschken) 
und  1694  Landkutscher,  1694  und  1775  Miet- 
pferde, 1779  Mietwagen^  femer  Lizenzabgaben 
von  Gewerben,  welche  sich  mit  accisepflichtigen 
Gegenständen  beschäftigen^  Verkauf  und  Aus- 
schank von  Branntwein,  Bier  etc.,  endlich  auf 


Beschäftigungen  der  Rechtsanwälte,  Notare, 
Bankhäuser,  Auktionatoren,  Ladensteuer  sowie 
Besteuerung  der  Hausierer  und  ähnlicher  Per- 
sonen (1697).  Eine  Hauptrolle  spielen  die 
Luxussteuem  (assessed  taxes),  wozu  die  Karos- 
sen-, Rennpferd-,  Lizenz-,  Uhren-  und  sonstige 
Steuern  auf  GegenstHnde  des  persönlichen  Ge- 
brauches und  der  Lebensweise  der  höheren 
Stände  gehören.  Die  Produkte  des  Gewerbe- 
fleisses  werden  aber  auch  hier  meist  mit  der 
Accise  betroffen,  welche  eben  nicht  eine  allge- 
meine war,  wie  z.  B.  die  preussische,  sondern 
nur  eine  ziemlich  grosse  Zahl  (28)  einzelner 
wichtiger  Artikel  traf,  welche  im  Produktions- 
oder ersten  Absatzstadium  damit  belegt  waren. 

Im  18.  Jahrhundert  sind  so  zahlreiche  Ge- 
werbe accisepflichtiger  Artikel  dem  Lizenzsystem 
unterworfen  worden,  dass,  trotzdem  im  Jahre 
1834  die  ursprünglichen  28  Acciseartikel  anf  12 
reduziert  wurden,  doch  noch  588000  Gewerbe- 
treibende davon  betroffen  waren. 

Infolge  der  Veränderlichkeit  der  Einschät- 
zung und  Repartition  sowie  des  Steuersatzes 
trat  in  England  bei  der  landtax  eine  völlige 
Stabilität  ein ,  so  dass  sie  im  Wesen  eine  real- 
lastartige,  feste  Grundabgabe  an  den  Staat 
wurde,  weshalb  Pitt  sie  (1798)  für  ablösbar  er- 
klärte. Die  Finanznot  drängte  aber  zu  einer 
neuen  direkten  Steuer,  welche  in  Einführung 
der  allgemeinen  Einkommensteuer  (1 798j  erfolgte. 
Nach  dem  revidierten  Gesetze  von  1803  wurde 
sodann  die  Einführung  nach  zwei  Methoden  be- 
stimmt und  veranlasst:  diejenigen  aus  Immo- 
bilienbesitz, Pachtungen,  öffentlichen  Besoldun- 
gen nach  dem  System  der  Ertragssteuern,  die- 
ienip^en  aus  gewerblichem  Einkommen  und  Geld- 
kapital in  I^orm  einer  wirklichen  Einkommen- 
steuer nach  Deklaration.  Die  Steuer  wurde 
bald  w^ieder  aufgehoben,  um  alsbald  von  Robert 
Peel  im  Jahre  1842  wieder  eingeführt  zu  werden. 

Nebenbei  wurden  aber  die  Accise  und  Zoll- 
sätze während  der  Kriegszeit  Ende  des  vorigen 
und  Anfang  des  jetzigen  Jahrhunderts  mehr- 
fach exorbitant  erhöht,  ebenso  die  direkten 
Luxussteuem.  — 

Aus  (lieser  gedrängten  Darstellung  der 
Steuer^eschichte  bis  zum  Ancien  Regime 
zeigt  sich  eine  grosse  üebereinstimmiuig  in 
drei-  bis  viergliedrige  Steuei'stufen.  Ueber- 
all  eine  Kombination  einer  direkten  berufs- 
mässigen  Erwerbsbesteuerung  mit  indirekter 
Yerbrauchsbesteuerung,  beide  erzeugt  durch 
Verkehrsbesteuerung  einzelner  Erwerbsakte 
und  Rechtsgeschäfte  (Regal)  und  des  Anfall- 
erw^erbs  (Erbschaftsbesteuening),  daneben 
überall  Einbürgerung  der  indirekten  Yer- 
brauchsbesteuerung (Accise)  in  vei-schiedenen 
Formen  als  allgemeine,  specielle  Accise, 
Thorsteuer  etc.  Die  Grenzen  der  Gewerbe- 
steuer sind  ausserordentlich  verschiedene. 
Sie  ist  teilweise  in  der  Vermögenssteuer 
enthalten,  teilweise  in  Verbrauchs-  und  Ver- 
kehrssteuern aufgegangen,  teilweise  in  einer 
indirekten  Besteuerung  versteckt.  Eigent- 
liche direkte  Gewerbesteuern  nach  heutigem 
Begriffe  hat  es  Ende  des  vorigen  Jahrhun- 
derts am  Kontinente  keine  gegeben. 


Gewerbesteuer 


539 


11.  Heutiges  Recht 
A.  Deutsohland. 

4«  Prenssen.  a)  E  i  n  1  e  i  t  n  n  g.  In  Preus- 
sen  entwickelte  sich  das  Stenerwesen  im  grossen 
und  ganzen  in  der  oben  für  Deutschland  be- 
schriebenen Weise.  Ursprünglich  war  die 
„Bede"  —  contributio,  Landschoss  —  nur  als 
ausserordentliche  Vermögenssteuer  eingeführt. 
Grundbesitzer  steuerten  nach  der  Hufenzahl, 
jedoch  hatten  Bitter  und  Knappen  eine  Anzahl 
Hufen  frei.  In  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 
wurde  die  Bede  ständige  direkte  Vermögens- 
steuer, jedoch  nur  für  die  Hintersassen;  die 
Oberstände  blieben  frei.  Die  Verteilung  ge- 
schah dann  allmählich  so,  dass  die  Städter  %, 
die  Oberstände  V3  des  Schosses  zu  tragen  hat- 
ten. Im  16.  Jahrhundert  wurde  der  Schoss 
nach  den  verschiedenen  Quellen  geteilt;  für  die 
Landbesitzer  als  Hufenschoss,  für  die  Leute 
ohne  Grundeigentum  und  städtischen  Grewerbe- 
treibenden  als  Personalsteuer,  der  ritterschaft- 
liche Besitz  blieb  steuerfrei.  Ge^en  Ende  des 
30jährigen  Krieges  verwandelte  sich  der  Schoss 
in  eine  „Kontribution^^  blieb  aber  eigentlich 
nur  Steuer  für  das  Land,  für  die  Städter  ent- 
wickelte sich  neben  der  Personalsteuer  für 
einige  nicht  Handel  treibende  Personen  —  Hand- 
werker, Künstler,  Taglöhner  —  das  indirekte 
Accisewesen.  Adel,  Geistlichkeit  und  kurfürst- 
liche Beamte  blieben  steuerfrei.  Im  Jahre  1741 
wurde  unter  heftigem  Widerstände  der  Ober- 
stände der  Genera] hufenschoss  durchgeführt; 
für  die  nicht  mit  Grundeigentum  angesessene 
Landbevölkerung  bestand  die  Personaibesteue- 
rnng  —  Hom-,  Kopf-,  Klauenschosse  —  fort. 

Im  Jahre  1810  erfolgte  sodann  eine  gründ- 
liche Reform  der  direkten  Steuerpolitik.  Als 
Grundlaj^e  diente  das  Ed.  v.  27.  Oktober  1810, 
worin  die  Grundztige  des  künftigen  Steuersys- 
tems verkündet  wurden.  Danach  sollte  in  zu- 
kimft  eine  gleiche  und  verhältnismässige  Ver- 
teilung der  Grundsteuer  unter  Aufhebuujp:  sämt- 
licher Befreiungen  stattfinden,  die  Vereinrachung 
des  Abgabewesens  auf  dem  Grundsatze  der 
gleichmässigen  Verteilung  der  Staatslasten  auf 
alle  Staatsbürger  beruhen,  endlich  Qewerbe- 
freiheit  unter  Einführung  einer  mas- 
sigen Gewerbesteuer  gelten.  In  der 
Ausführung  dieser  Gedanken  ^rging  das  Ed.  v. 
28.  Oktober  1810,  welches  allgemeine  Verzeh- 
rungssteuem  für  Stadt  und  Land  einführte. 
Das  Ed.  V.  7.  September  1811  schied  dann  die 
grösseren  Städte  vom  platten  Lande  wieder 
aus,  Hess  dort  die  Verbrauchsabgaben  bestehen, 
hob  sie  vom  Lande  wieder  auf  und  ermässigte 
sowohl  Mahl-  als  Fleisch-  und  Branntweinsteuer, 
führte  dagegen  eine  Kopfsteuer  mit  12  Groschen 
pro  Kopf  jfiirlich  ein. 

Für  die  Gewerbetreibenden  bestand  die 
Lizeuzsteuer  für  neue  Konzessionen,  ein  Kanon 
für  einzelne  Gewerbe  und  ein  Paragraphen geld 
für  solche  Gewerbetreibende,  welche  Bücher 
führten.  An  Stelle  dieser  Abgaben  führte  das 
Ed.  V.  2.  November  1810  nach  französischem 
Muster  zur  Durchführung  der  Gewerbefreiheit 
eine  allgemeine  Gewerbesteuer  ein.  Sie 
war  gegen  Erteilung  eines  Gewerbescheines 
nach  einem  alle  Gewerbetreibenden  in  sechs 
Klassen     einteilenden    Tarife     zu    entrichten. 


Steuerfrei  war  der  Landwirt,   Beamte,   Tag- 
löhner  und  gemeines  Gesinde. 

Zur  Bestreitung  der  fortwährenden  Kriege 
wurde  daneben  mit  Ed.  v.  22.  Mai  1812  eine 
neue  Personalsteuer  als  Vermögenssteuer  vom 
Kapital,  Grundvermögen  und  Einkommen  ein- 

feführt.    So  stand  die  Sache  bis  zum  Wiener 
^ongress. 

Als  die  preussische  Monarchie  durch  den 
Wiener  Konffress  fast  um  das  Doppelte  ver- 
grössert  wurde,  war  auch  die  Frage  der  Steuer- 
reform bei  der  Verschiedenartigkeit  der  in  den 
neuen  Gebietsteilen  herrschenden  Systeme  bren- 
nend geworden.  Das  Ed.  v.  30.  Mai  1820  hob 
denn  auch  alle  in  den  Etats  der  direkten 
Steuern  bisher  aufgeführten  Abgaben  auf  und 
bestimmte,  dass  fortan  nur  noch  Grundsteuern, 
Gewerbesteuern,  Klassensteuem,  diese  aber  nur 
auf  dem  platten  Lande  und  in  denienigen 
Städten,  in  welchen  nicht  eine  Mahl-  und 
Schlachtsteuer  eingeführt  wurde,  bestehen  soll- 
ten, lieber  die  Gewerbesteuer  selbst  erging 
ein  G  v.  30.  Mai  1820  (GBl.  S.  147),  welches 
an  Stelle  sämtlicher  Gewerbe-,  Patent-  und 
Wohnungssteuern  unter  Aufhebung  der  bisher 
bestandenen  allgemeinen  Gewerbesteuerpflicht 
eine  neue  Steuer  für  gewisse  Klassen  von 
Gewerben  setzte.  Die  Grundlagen  dieses  Ge- 
setzes mit  den  Abänderungen  aus  den  Jahren 
1824,  1826,  1861  und  1872,  dann  1874  und 
1880  waren  bis  1893/94  noch  massfi^ebend. 

Bisher  war  die  Steuer  eine  Vorbedingung 
zum  Gewerbebetriebe,  jetzt  ist  sie  eine  Folge 
davon.  Bis  jetzt  war  die  Berechtigung  zum 
Gewerbebetriebe  von  Lösung  eines  steuerpflich- 
tigen Gewerbescheines  abhängig ;  niemand  hatte 
ein  Widerspruchsrecht.  Befreit  waren  nur  die 
schon  im  Gesetze  vom  Jahre  1810  bezeichneten 
Personen.  In  Zukunft  ist  nicht  die  gesamte 
gewerbliche  Thätigkeit,  sondern  nur  eine  ganze 
Keihe  von  Gewerben  steuerpflichtig.  Die  Ge- 
werbescheine sind  nur  (nach  dem  Regulativ  v. 
28.  April  1824)  zu  dem  Gewerbe  nachzusuchen, 
das  im  Umherziehen  betrieben  wird,  wogegen 
das  übrige  Gewerbe  „stehendes"  Gewerbe  heisst. 
Eine  Reihe  von  Thätigkeiten,  selbst  wenn  die 
auf  Privaterwerb  gerichtete  Ausübung  von 
Künsten  und  Wissenschaften  ausser  Betracht 
bleiben,  sind  von  der  Grewerbesteuer  nicht  be- 
troffen. 

Für  steuerpflichtig  wurden  erklärt:  Klasse 
A  und  B.  Handel  aller  Art,  einschliesslich  Fa- 
brikbetrieb, C.  Gast-,  Speise-  und  Schankwirt- 
schaften, Verfertigung  von  Waren  auf  Kauf, 
D.  das  Gewerbe  der  Bäcker,  E.  Fleischer,  F. 
Brauer,  G.  Brenner,  H.  Handwerker  unter  ge- 
wissen Umständen,  J.  Betrieb  von  Mühlwerken, 
K.  Schilfer,  Fracht-,  Lohnfuhrwerker  und  Pfand- 
verleiher, L.  das  Gewerbe  im  Umherziehen. 
Branntweinbrennerei  wurde  1824 ,  Bergbau, 
Hütten-  und  Hammerwerkbetrieb  1823—1834 
steuerfrei  erklärt,  der  Hüttenwerksbetrieb  aber 
1865  wieder  steuerpflichtig.  1858  wurden  alle 
Aktiengesellschaften  mit  Handels-  oder  Ge- 
werbebetrieb sowie  alle  zum  gewerblichen 
Zwecke  gebildeten  sonstigen  Gesellschaften  mit 
Kapitalseinlagen  der  Gewerbesteuer  unterwor- 
fen. Seit  dem  G.  v.  29.  Juli  1861  wurde  letz- 
teres Gesetz  wieder  aufgehoben,  aber  in  der 
Klasse  A  behufs  höherer  Besteuerung  eine  erste 
Klasse   (A.  I)   gebildet,   welche  umfassen  soll 


540 


Gewerbesteuer 


alle  Fabrik-  und  Eandelsnntemehmnngen,  mit 
Einschluss  der  Kommissions-,  Speditions-,  Agen- 
tur-, Bank-,  Geld-,  Wecbsel-,  Versicherungs- 
und Beedereigeschäfte  sowie  die  auf  Vermitte- 
lung  von  Handels-  und  Geldgeschäften  gerich- 
teten Gewerbe,  bei  welchen  nach  der  Höhe  des 
Anlage-  und  Betriebskapitals  sowie  nach  der 
Erheblichkeit  des  jährlichen  Umsatzes  auf  „be- 
deutenden"^ Betrieb  zu  schliessen  ist.  1824 
wurde  der  Brennereibetrieb  für  steuerfrei,  1826 
die  Apotheker,  1826  auch  die  Pfand  Verleiher, 
nicht  bei  der  Kaufmannschaft  angestellte  Mäkler, 
Agenten  und  Kommissionäre,  1828  Privatver- 
sicherungsanstalten für  steuerpflichtig  erklärt. 
1872  wurde  die  besondere  Klasse  für  das 
Müllergewerbe  und  1874  die  besonderen  drei 
Klassen  für  Bäcker,  Fleischer  und  Brauer  auf- 
gehoben und  dieselben  in  die  Klasse  von  Han- 
del bezw.  Handwerksklasse  eingereiht,  um  den 
Mangel  an  Einheit  zu  benehmen. 

Mit  G.  V.  3.  Juli  1876  wurde  unter  dem 
Einflüsse  der  Reichsgesetzp^ebung  die  Besteue- 
rung des  Gewerbebetriebs  im  Umherziehen  dem 
Zeitbedürfnisse  entsprechend  neu  geregelt  und 
durch  G.  v.  27.  Februar  1880  auf  Wanderlager 
ausgedehnt,  durch  die  GG.  v.  3.  November  1©8, 
30.  Mai  1853  und  16.  März  1867  wurde  die 
Abgabe  für  Eisenbahnen  und  Aktiengesellschaf- 
ten sowie  Privatunternehmungen  zum  Betriebe 
von  Eisenbahnen  eingeführt  (vgl.  d.  Art. 
Eisenbahnsteuer  oben  Bd.  III  S.  597ff.), 
endlich  durch  die  GG.  v.  12.  Mai  1852,  22.  Mai 
1861,  20.  Oktober  1862  die  Bergwerksabgaben 
(vgl.  d.  Art.  Berg  Werksabgaben  oben  Bd.  II 
S.  ö84if.)  an  Stelle  der  Zehnten,    Quatember- 

feld  und  Kezessgeld  sowie  Abgaben  vom 
wanzigsten  und  neben  diesem  eine  Aufsichts- 
abgabe von  17o  des  Wertes  der  Produkte  ge- 
regelt, schliesslich  aber  nur  noch  die  Aufsichts- 
summe und  1  \  des  Wertes  der  Produkte  iür 
das  rechtsrheinische  Preussen  gelassen.  Für 
die  linksrheinischen  Landesteüe  war  durch  die 
französische  Gesetzgebung  eine  feste  Bergwerk- 
steuer mit  Zuschlagszehntel  und  Hebegebühr 
eingeführt,  an  deren  Stelle  das  G.  v.  20.  Oktober 
1862  eine  Steuer  von  2%  setzte. 

Die  Steuerpflicht  der  Gewerbetreibenden 
wird  nach  dem  Umfange  und  Ertrag  des  Ge- 
schäftes bemessen,  die  Veranlagungsmethode 
ist  jedoch  sehr  verschieden  normiert.  Jeder 
Gewerbetreibende  muss  aber  in  einer  Klasse 
eingereiht  sein;  die  Veranlagung  der  drei 
Hauptklassen  in  die  Ortsklassen  geschieht  nur 
zum  Teil  nach  Bevölkerungsgrössen,  indem  die 
in  die  1.  und  2.  Abteilung  fallenden  Orte  aus- 
drücklich genannt  sind.  Eine  3.  Abteilung 
bilden  die  Städte  über  1500  Einwohner,  die  4. 
die  übrigen  Orte.  Das  Steuersoll  der  einzelnen 
Klassen  besteht  ferner  aus  dem  Produkte  des 
Mittelsatzes  und  der  Zahl  der  in  jeder  Klasse 
vorhandenen  Geschäfte.  Unter  Annahme  eines 
Minimalsteuersatzes  wird  das  Steuersoll  von 
Vertretern  der  zu  der  Klasse  gehörigen  Ge- 
werbetreibenden oder  von  den  Behörden  unter 
Zuziehung  von  Vertrauensmännern  auf  die  Ge- 
schäfte der  Klassen  verteilt  Diese  Grundsätze 
gelten  für  die  drei  Handelsklassen,  die  Gast- 
wirte und  den  Handwerksbetrieb,  dann  Bäcker 
und  Fleischer  der  Städte  der  3.  Abteilung;  für 
Bäcker  und  Fleischer  der  Städte  1.  und  2.  Ab- 
teilung  ist  nach   dem   Durehschnittsverbrauch 


eines  einzelnen  Einwohners  und  dem  sich  da- 
nach berechnenden  Durchschnittsverdienst  ein 
Steuersatz  von  10  bezw.  7  %  Pfennig  vom  Kopf 
der  Bevölkerung  festgesetzt.  Das  Produkt 
dieses  Steuersatzes  und  der  nach  der  letzten 
Zählung  vorhandenen  Einwohnerzahl  des  Be- 
zirkes bildet  das  Steuersoll  der  betreflfenden 
Gewerbetreibenden,  welches  wieder  auf  die  ein- 
zelnen Mitglieder  verteilt  wird.  In  den  übrigen 
Klassen  wird  das  Einzelgeschäft  direkt  nach 
deren  Materialverbrauch,  der  Zahl  und  Grösse 
der  Beförderungsmittel  oder  der  nötigen  me- 
chanischen Kraft  so  veranlagt,  dass  einer  be- 
stimmten Menge,  Anzahl  und  Grösse  ein  be- 
stimmter Steuereinheitssatz  gegenübersteht.  Der 
Einheitssatz  bezieht  sich  bei  dem  Braugewerbe 
auf  eine  bestimmte  Menge  des  Braumalzes,  bei 
den  Schiffern  auf  die  Tragfähigkeit  oder  Dampf- 
kraft der  Schiffe,  bei  den  Fuhrleuten  auf  die 
Zahl  der  Pferde  etc. 

Die  Steuerfreiheit  ist  ebenfalls  kasuistisch 
ausgesprochen.  Der  Steuersatz  ist  in  den  meis- 
ten Fällen  nicht  auf  das  einzelne  Gewerbe 
fixiert,  sondern  zunächst  zur  Bildung  von  ört- 
lichen Gewerbssteuersummen  verwendet  (Kon- 
tingentierung), welche  Summe  innerhalb  der 
Gewerbetreibenden  verteilt  wurde.  Für  alle 
Ortsklassen  ist  ein  mittlerer  Satz  fixiert. 

b)  Geltendes  Recht.  Seit  geraumer 
Zeit  wurde  mit  wachsender  Schärfe  gegen 
das  Gewerbesteuergesetz  der  Vorw^iirf  er- 
hoben, dass  es  die  Betriebe  durchweg  im- 
gleich  belaste  und  insbesondere  die  schwachen, 
wenig  leistungsfähigen  Betriebe  zu  hart  ti^ffe, 
dagegen  die  grossen  gewinureichen  Betiiebe 
zu  gering  besteuere. 

Öloichzeitig  mit  der  Reform  der  Ein- 
kommensteuer (vgl.  d.  Art.  oben  Bd.  III 
S.  394)  erfolgte  deshalb  im  Jahre  1891  auch 
eine  durchgreifende  Reform  der  Gewerbe- 
steuer, w^elche  vor  allem  eine  bedeutende 
Entlastung  der  kleineren  Gewerl>ebetriebe, 
insbesondere  des  Handwerks  \md  des  Klein- 
handels bezweckte. 

mt  G.  V.  24.  Juni  1891  (G.S.  1891,  Nr. 
20,  S.  205)  fand  die  Reform  ihren  Abschluss. 
Die  Gewerbesteuer  ertrug  im  Jahre  1890  91 
für  865940  Gewerbetreibende  18515783  M 
Die  Steuerreform  beabsichtigt  keine  Er- 
höhung, sondern  lediglich  gerechtere  Yer- 
teilung  der  Lasten.  Das  neue  Gesetz  kommt 
zunächst  bei  der  Veranlagung  filr  das  Jahr 
1893  94  zur  Anwendung. 

Die  Grund  Züge  des  neuen  Gesetzes 
sind,  nachdem  ausurücklich  konstatiert  ist, 
dass  es  hinsichtlich  der  Besteuerung  des 
Gewerbebetriebes  im  Umherziehen  und  des 
Wanderlagerbetriebes  bei  den  bestehenden 
Vorschriften  (v.  27.  Februar  1880  s.  oben) 
zu  verbleiben  habe :  Alle  Betriebe,  bei  denen 
weder  der  jährliclie  Ertrag  l'i/ÖO  M.  noch 
das  Anhige-  und  Betriebskapital  3000  M.  er- 
reicht, sind  von  der  Gewerbesteuer  frei,  wo- 
durch ungefähr  30  000  Gewerbetreibende 
befreit  werden  sollen.  Die  bisherigen  Ge- 
werbesteuerklassen  imd  Ortsstufen  wuixlen 


Gewerbesteuer 


541 


vollständig  aufgehoben  und  die  Betriebe  in 
4  Klassen  geteilt. 

Klasse  I:  Betriebe,  deren  jährlicher  Er- 
trag 50000  M.  oder  bei  denen  das  Anlage- 
iind  Betriebskapital  1  Mill.  M.  übersteigt; 
Klasse  11 :  Ertrag  20000—50000  M.  oder 
Betriebskapital  150000-1  Mill.  M.;  Klasse 
IH:  Ertrag  4000—20000  M.  oder  Betriebs- 
kapital 30000—150000  M.;  Klasse  IV:  Er- 
trag 1500—4000  M.,  Betriebskapital  3000 
bis  30000  M. 

Veranlagungsbezirke  bilden  für  Klasse  in 
und  rV  die  Kreise,  für  Klasse  II  die  Regie- 
rungsbezirke, für  Klasse  I  die  einzelnen  Pro- 
vinzen und  die  Stadt  Berlin.  In  den  letzten 
drei  Klassen  erfolgt  die  Besteuerung  nach 
Mittelsätzen :  Klasse  11 :  300  M.,  Klasse  m : 
80  M.,  Klasse  IV:  16  M.;  die  der  betreffen- 
den Klasse  angehörenden  und  in  dem  Ver- 
anlagungsbezirke liegenden  Gewerbebetriebe 
bilden  eine  Steuergemeinschaft;  ihre  Abge- 
ordneten haben  das  nach  den  Mittelsätzen 
berechnete  Steuerkontingent  zu  verteilen. 
Die  zulässigen  geringsten  und  höchsten 
Steuersätze  betragen :  Klasse  II  von  156  bis 
480  M.,  Klasse  IE  von  32—192  M.,  Klasse  IV 
von  4—36  M.  Die  Steuersätze  sollen  bis 
zu  40  M.  um  je  4,  von  da  an  bis  96  M. 
um  je  8,  weiter  bis  192  um  je  12  und 
weiter  bis  480  M.  um  je  30  M.  steigend 
abgestuft  werden.  Die  Steuer  der  1.  Kksse 
wird  für  jeden  einzelnen  Betrieb  mit  1 
vom  Hundert  festgesetzt.  Für  jeden  Ver- 
anlagungsbezirk wird  ein  Steuerausschuss 
febildet,  von  dem  zwei  Drittel  durch  den 
*rovinzialausschuss ,  ein  Drittel  und  der 
Vorsitzende  durch  den  Finanzminister  be- 
rufen werden.  Die  in  Klasse  I  zulässigen 
Steuersätze  sind  nach  Intervallen  von  48  M. 
(Ertragsstufe  von  4800  M.)  abgestuft.  Der 
Ertrag  wurde  pro  1893/94  unter  Annahme 
der  in  dem  letzten  Jalu'e  eingetretenen 
Steigerung  von  2,28^/0  auf  19369729  M.  ge- 
schätzt. 

Steuerfrei  sind  erklärt  ausser  dem  Belebe, 
dem  preussischen  Staate  und  der  Reichsbank 
die  landwirtschaftlichen  Kreditverbände  so- 
wie öffentliche  Versichenmgsanstalten,  Kom- 
munalverbände wegen  Unternehmungen  zu 
gemeinnützigen  Zwecken :  KanaHsations-  und 
Wasserwerke,  Schlachthäuser  und  Viehhöfe, 
Markthallen,  Volksbäder,  Leihaustalten,  ferner 
Betriebe  der  Land-  und  Forstwirtschaft, 
Viehzucht-,  Obst-,  Wein-  und  Gartenbau 
mit  Einschränkung ,  landwirtschaftliche 
Branntweinbrennereien ,  Bergbau,  Torf- 
stiche u.  dergl.,  Eisenbahnen,  welche  der  Ab- 
gabe nach  den  GG.  v.  30.  Mai  1853  und 
16.  März  1867  unterliegen,  Ausübung  eines 
amtlichen  Berufes  und  der  freien  Künste, 
Genossenschaften,  welche  ihren  Verkelir  auf 
Mitglieder  beschränken  und  nur  die  eigenen 
Bedürfnisse    der  Mitglieder    zu    beschaffen 


bezwecken;  Konsumvereine  mit  offenem 
Laden  sind  steuerpflichtig.  Ausserpreussische 
Unternehmungen  mit  Niederlassungen  in 
Preussen  sind  nach  Massgabe  des  in  Preussen 
ausgeübten  stehenden  Betriebes  zu  besteuern ; 
frei  ist  der  Handel  auf  Messen  und  Jahr- 
märkten und  hinsichtlich  der  Lebensmittel 
auf  Wochenmärkten.  Für  den  Betrieb  einer 
Gastwirtschaft,  Kleinhandel  mit  Branntwein 
und  Spiritus  ist  eine  besondere  Betriebs- 
steuer (Klasse  1 :  100,  Klasse  11 :  50,  Klasse 
IE:  25,  Klasse  IV:  15  M.  und  bei  steuer- 
freiem Ertrag  10  M.)  zu  entrichten. 

Der  Gewerbebetrieb  jiuistischer  Personen 
wird  wie  jener  physischer  Personen  be- 
steuert. Inländische  Gewerbe,  welche  ausser- 
halb Preussens  einen  stehenden  Betrieb 
(Zweigniederlassungen)  haben,  bleiben  für 
diesen  Betrieb  steuerfrei  nach  Abzug  des 
auf  die  in  Preussen  befindliche  Geschäfts- 
leitung zu  rechnenden  Anteiles  von  */io  des 
Ertrages. 

Bei  Ausmittelung  des  Ertrages  kommen 
alle  Betriebskosten  und  die  Abschreibungen 
in  Abzug.  Nicht  abzugsfähig  sind  Zinsen 
für  das  Anlage-  und  Betriebskapital  und 
Schulden,  welche  behufe  Anlage  und  Er- 
weiterung des  Geschäftes,  Verbesserung  und 
Verstärkung  des  Betriebskapitals  gemacht 
sind.  Die  Gewerbesteuer  soll  Objektsteuer 
sein.  Der  Ertrag,  welcher  durch  die  Ge- 
werbesteuer getroffen  werden  soll,  unter- 
scheidet sich  von  dem  Einkommen  aus  Ge- 
werbebetrieb, welches  nach  dem  am  gleichen 
Tage  (24.  Juni  1891)  publizierten  Einkom- 
mensteuergesetz (§  2b,  7,  14 — 17)  der 
Einkommensteuer  unterliegt,  wesentlich  da- 
durch, dass  einerseits  bei  Gewerbebetrieben, 
an  denen  mehrere  Personen  (Societäten)  be- 
teiligt sind,  das  gew^erbliche  Einkommen  zu 
einer  Einheit  zusammenzusetzen  ist,  andrer- 
seits hier  ein  Schuldzinsenabzug  nicht  ge- 
stattet ist,  selbst  wenn  das  Betriebskapital 
dritten  Personen  gehört.  Die  Veranlagung 
erfolg  auf  ein  Jahr. 

Eme  allgemeine  DeklarationspfUcht  be- 
steht nicht,  doch  ist  dem  Vorsitzenden  des 
Steuerausschusses  gestattet,  die  Steuerpflich- 
tigen zur  Erklärungsabgabe  über  Höhe  des 
Ertrages,  Merkmale  des  Betriebs  zu  hören 
und  zu  den  Verhandlungen  beizuziehen,  Be- 
sichtigung der  gewerbhchen  Anlagen,  Be- 
triebsstätten und  Vorräte  vorzunehmen  oder 
durch  Staatsbeamte  zu  veranlassen.  Alle 
Staats-  und  Kommunalverbände  müssen  Auf- 
schlüsse geben  und  Wareneinsicht  gestatten ; 
Sachverständige  können  eidlich  vernommen 
Averden ;  eine  Vorlegung  der  Geschäftsbücher 
des  Gewerbetreibenden  findet  nur  statt, 
wenn  dieser  selbst  dazu  bereit  ist;  Aktien- 
und  ähnliche  Gesellschaften  haben  alljährlich 
Geschäftsberichte  und  Bilanzen  sowie  die 
Generalversammlungsbeschlüsse  vorzulegen. 


542 


Gewerbesteuer 


Gegen  die  Veranlagungsbeschlüsse  des 
Steuerausschusses  steht  dem  Vorsitzenden 
Beschwerde  zur  Bezirksregierung,  und  gegen 
den  Beschluss  dieser  dem  Steueraus- 
schusse Beschwerde  zum  Finanzminister  zu. 
Itie  aus  den  monatlichen  Steuerlisten  der 
einzelnen  Steuerklassen  zusammenzustellen- 
den Gewerbesteuerrollen  für  die  Erhebungs- 
bezirke werden  von  der  Bezirksregierung 
festgestellt  und  öffentlich  ausgelee:t  Das 
Ergebnis  der  Veranlagung  hat  der  Vor- 
sitzende des  Steuerausschusses  jedem  Steuer- 
pflichtigen bekannt  zu  geben.  Dagegen 
steht  diesem  binnen  4  Wochen  Einspruch 
an  den  Steuerausschuss  und  gegen  dessen 
Beschluss  sowohl  dem  Steuerpflichtigen  als 
dem  Vorsitzenden  des  Ausscnusses  wieder 
binnen  4  Wochen  Berufung  zur  Bezirks- 
regierung zu.  Gegen  den  Entscheid  der 
Bezirksregierung  hat  der  Steuerpflichtige 
noch  wegen  Nicht-  oder  unrichtiger  Anwen- 
dung des  Gesetzes  und  wegen  erheblicher 
Mängel  im  Verfahren  Beschwerde  zum  Ober- 
verwaJtungsgericht.  Erstreckt  sich  ein  Be- 
trieb auf  mehrere  Gemeinden,  so  erfolgt 
die  Ausscheidung  durch  den  Steueraus- 
schuss. 

Jeder  neue  Betrieb  ist  anzumelden;  die 
Gemeinde  hat  die  Anmeldungsliste  der  Re- 
gierung vorzulegen.  Die  Gemeindevorstände 
und  bezw.  Landräte  haben  ein  Verzeichnis 
der  Gewerbebetriebe,  welche  nicht  schon  in 
der  letzten  SteuerroÜe  enthalten  sind,  der 
Bezirksregierung  einzureichen.  Das  Auf- 
hören eines  Gewerbes  ist  der  Hebestelle 
schriftlich  anzuzeigen.  Die  Nichtanmeldung 
eines  neuen  Betriebes,  die  unrichtige  Ab- 
gabe der  verlangten  Erklärungen  oder 
deren  Verweigerung  zieht  Geldstrafen  nach 
sich. 

Die  Gemeinden  erhalten  für  die  Mithilfe 
bei  der  Veranlagung  und  bei  der  Steuerer- 
hebung je  2®/o  der  Steuer. 

Die  Schätzung  des  Ertrages  wai*  sehr 
schwer.  Das  Gesetz  hat  deshalb  die  Be- 
stimmung, dass,  wenn  das  Veraiüagungssoll 
pro  1893/94  •den  Betrag  von  19811359  M. 
um  mehr  als  5  ^lo  übersteigt,  durch  Verord- 
nung im  Verhältnis  des  ganzen  Mehrbetrages 
ziu*  genannten  Summe  eine  Herabsetzung 
sowohl  des  Prozentsatzes  der  I.  Klasse  als 
auch  der  Mittelsätze  der  Klassen  U — IV  so- 
wie der  höchsten  und  (mit  Ausschluss  der 
TV.  Klasse)  der  niedrigsten  Steuersätze  statt- 
zufinden hat.  Diese  letztere  Feststellung 
ist  dann  für  die  Folge  massgebend.  Ebenso 
soll  eine  entsprechende  Erhöhung  des  Pro- 
zent- bezw.  Mittelsatzes  solange  stattfinden, 
bis  das  Steuersoll  das  eben  geschätzte  Er- 
trägnis erreicht. 

Die  Steuererhebung  erfolgt  vierteljährlich. 
Wie  schon  bemerkt,  bildet  die  Gewerbe- 
steuer liier   ein  Glied  des  Ertragssteuersys- 


tems, das  aus  finanziellen  Gründen  in 
Preussen  nicht  erlassen  werden  konnte 
(Drucksachen  d.  H.  d.  A.  1891  [17.  Legis- 
laturperiode] Nr.  5  u.  13),  wozu  noch  Grund- 
imd  Gebäudesteuern  gehören.  Daneben  Avird 
alles  Einkommen,  auch  jenes  aus  Gewerbe- 
betrieb (Gewinn)  der  prozentualen  Einkom- 
mensteuer nach  degressiven  Tarifeätzen 
unterworfen.  Diese  Einkommensteuer  ist 
aber  keine  Ergänzimgssteuer  zu  den  Ertrags- 
steuem,  sondern  die  Hauptsteuer  neben  den 
Ertragssteuem,  durch  welche,  da  sie  die 
Leistungsfähigkeit  des  Steuerpflichtigen  im 
ganzen  ins  Auge  fasst,  die  Härten  und  Un- 
gerechtigkeiten der  Objektsteuem  gemildert, 
wenn  nicht  vollkommen  ausgeliehen  werden. 
Durch  §  6  des  sogenannten  Ergänzungs- 
steuergesetzes V.  14-  Juli  1893  wurde  — 
nachdem  durch  §  1  des  Gesetzes  über  Auf- 
hebung der  direkten  Steuer  vom  gleichen 
Tage  behufs  Erleichterung  der  öffentlichen 
Lasten  der  Gemeinden  die  Gewerbe-  und 
Betriebssteuer  »ausser  Erhebung  gesetzt« 
und  durch  §  28  des  Kommunalabgabenge- 
setzes von  dem  gleichen  Tage  den  Gemeinden 
zur  Erhebung  überwiesen  wiutlen  —  das 
dem  Betriebe  der  Land-  und  Forstwirtschaft, 
des  Bergbaues  oder  eines  stehenden  Ge- 
werbes dienende  Anlage-  und  Betriebs^ 
kapital  der  besonderen  Vermögenssteuer 
unterworfen  (s.  d.  Art.  Einkommen- 
steuer in  Deutschland  oben  Bd.  UI 
S.  383  ff.). 

5.  Bajern«  a)  Einleitung.  In  Bayern 
hatte  man  in  ältester  Zeit  ebenfalls  nur  eine 
allgemeine  Vermögenssteuer  für  Grundbesitzer, 
Adel  und  Geistliche  und  für  die  Städte.  Für 
Leute  ohne  Vermögen,  die  von  der  Hände 
Arbeit  lebten,  gab  es  verschiedene  Personal- 
stenem,  Herbststallgelder,  Lohnsteuern  etc. 
Der  Handel  war  in  der  Vermögenssteuer  mit 
belegt.  Eine  eigentliche  Gewerbesteuer  findet 
sich  nachweislich  erst  seit  dem  Jahre  1606,  in 
welchem  Jahre  einzelne  Gewerbe  Münchens  mit 
besonderen  Steuern  neben  der  Vermögenssteuer 
belegt  waren,  so  Wirte,  Methschänker,  Brauer, 
Tncnmacher,  Salzstössler,  die  zugleich  Eiseu- 
krämer  waren,  1  Gulden,  Branntweinschänker,- 
Krämer  20  Silberpf etinige ,  Eisenkrämer  und 
Salzstössler  unveremigt  3  Schilling  16  Pfennige, 
Melber,  Käskäufler  8  Pfennige,  Kornkäufler, 
Obstler  1  Pfennig.  Daneben  blüht  die  Lizenz- 
oder Rekog^nitiousfifebübr  für  Erteilung  der  Ge- 
werbsbewiiligung  durch  den  Landesherm,  welche 
sich  allmählich  in  der  „Greheimkanzleitaxe'^ 
(z.  B.  für  Wirte.  150— öOO  Gulden)  entwickelte. 
Dass  daneben  die  indirekte  Besteuerung  auf 
notwendige  Lebensmittel  (Bieraufschlag,  Ge- 
tränkesteuer ,  mannigfache  Umgelder)  bestand, 
ist  selbstverständlich.  Im  Jahre  1746  wnrde 
der  Versuch  einer  allgemeinen  klassifizierten 
Personal-  und  Erwerbssteuer  gemacht,  welche 
in  Stnfensätzen  die  verschiedensten  Berufe 
(Schreiber,  Prokuratoren,  Oberjäger,  Schulhalter, 
Förster  etc.)  mit  den  Gewerbetreibenden  zu- 
sammenwarf und  bestimmte  Steuerfixen,  z.  B. 


Gewerbesteuer 


543 


Wirte '  2-4  Gulden ,  Brauer  60—300  Gulden, 
Schreiber  5—40  Gulden,  Maurermeister  3  Gulden 
u.  8.  f.  festsetzten.  Die  Reihe  der  Steuerpflich- 
tigen sollte  nach  dem  Edikt  nicht  abgeschlossen 
sein,  die  nicht  aufgeführten  Personen  sollten 
jene  Steuern  zahlen,  die  ihrer  Stellung  und 
ihren  Geschäften  am  besten  entsprächen. 

Erst  im  Jahre  1808^  also  ebenfalls  während 
der  napoleonisdien  Kne|2fszeit  und  nach  Er- 
weiterung des  Länder^ehietes  des  Königreiches, 
wuide  eine  durchgreifende  Steuerreform  ver- 
sucht. Am  13.  März  1808  erschien  eine  Ver- 
ordnung, welche  ein  „allgemeines  Steuerproyi- 
sorium^  schaffen  sollte.  Die  Gewerbesteuer 
wurde  als  Teil  des  neuen  Steuersystems  erklärt, 
alle  älteren  Abgaben  aufgehoben.  Gejrenstana 
dieser  Gewerbesteuer  waren  alle  Fabriken, 
Manufakturen ;  Gewerbe  und  Gewerbegerechtig- 
keiten —  soweit  sie  nicht  Grundsteuerpflichtige 
waren  —  welche  in  8  Steuerklassen  mit  Sätzen 
von  2—30  Gulden  eingeteilt  wurden.  Grund- 
lage war  die  Selbstangabe  der  Gewerbetreiben- 
den mit  allgemeiner  Bezeichnung  des  Gewerbes 
und  der  bis  dahin  bezahlten  Bekognitionsgelder; 
die  Einreihung  geschah  in  Städten  und  Märkten 
durch  Bürgerausschüise  nach  Gutachten  der 
y erwaltunpfsbehörde ,  im  Lande  dnrdi  die 
Steuerrektifikationskommission. 

Eine  Verordnung  vom  Jahre  1814  vervoll- 
kommnete die  Zahl  der  Steuerstufen  von  8  auf 
25,  so  dass  5  Hauptklassen  mit  je  5  Unter- 
klassen bestanden,  welche  von  ^9  Gulden  bis 
300  Gulden  aufstiegen.  Der  Tarif  zählte  125 
konzessionierte  Gewerbe  auf,  für  welche  abge- 
stuft nach  5  Bevölkerungsklassen  je  die  Haupt- 
steuerstufe bezeichnet  wurde.  Die  Einreibung 
hatte  die  Steuerbehörde  vorzunehmen  nach  Gut- 
achten der  Stenerausschüsse  (fünf  Gewerbe- 
treibende mit  der  Verwaltungsbehörde)  in  den 
verschiedenen  Steuerbezirken.  Die  Klassifika- 
tion war  in  einem  Kataster  angelegt,  das  öffent- 
lich aufffele^  war.  Die  Innungen  in  den 
Städten  durften  ihre  Mitglieder  selbst  veran- 
lagen. Für  Brauereien  bestand  ein  eigener 
Tarif,  nach  dem  Malzverbrauche  aufgestellt. 
Nichtkonzessionierte  Gewerbe  waren  mit  der 
Familiensteuer  nach  12  Klassen  veranlagt. 

Für  die  Pfalz  wurde  durch  die  V V.  vom 
Jahre  1814  und  1820  an  Stelle  der  französischen 
Patentsteuer  eine  neue  der  Gewerbesteuer  im 
rechtsrheinischen  Lande  nachgebildete  Steuer 
eingeführt,  aber  nicht  bloss  für  konzessionierte, 
sondern  für  alle  Gewerbe  mit  dem  Beisatze, 
dass  bei  manchen  Gewerben  die  Tarifsätze  mit 
der  Zahl  der  im  Betriebe  befindlichen  Vorrich- 
tungen multipliziert  und  bei  den  meisten  für 
jeden  Gehilfen  um  V*  erhöht  wurde. 

Im  Jahre  1828  sollte  der  Versuch  gemacht 
werden,  ein  neues  Steuersystem  mit  einer  Er- 
werbssteuer, innerhalb  weldier  die  Gewerbe- 
steuer ein  Glied  bilden  sollte,  einzuführen,  aber 
nur  die  Grund-  und  Haussteuem  wurden  ange- 
nommen, die  Erwerbs-  und  Gewerbesteuern  jjedoch 
von  dem  Landtage  verworfen,  so  dass  die  alte 
Gewerbesteuer  von  1814  bezw.  1820  fortbestehen 
blieb.  Erst  im  Jahre  1856  wurde  das  Gewerbe- 
steuerwesen neu  reguliert,  welches  Gesetz  mit 
der  Revision  vom  19.  Mai  1881  heute  die  Grund- 
lage der  Gewerbebesteuerung  in  Bayern  bildete, 
bis  die  Gesetzgebung  des  Jahres  1899  eine 
gründliche   Revision    der    ganzen    Personalbe- 


steuerung und  insbesondere  der  Gewerbesteuer 
herbeiführte. 

b)  Geltendes  Recht.  Die  GG.  v.  1. 
Juli  1856  und  19.  Mai  1881  wollten  alle 
Gewerbe,  sie  mögen  auf  Grund  einer  Kon- 
zession oder  als  freie  Erwerbsarten  betrieben 
werden,  mit  Ausnahme  des  Betriebes  der 
Land-  und  Forstwirtschaft  und  der  Berg- 
werke treffen.  Das  Gesetz  vom  Jahre  1856 
klassifizierte  die  sämtlichen  stehenden  Ge- 
werbe in  32  Klassen  mit  672  Nummern. 
Für  jedes  Gewerbe  wurde  eine  Norm  al- 
anlag e,  d.  h.  für  den  normalen  Ertrag, 
welcher  bei  den  verschiedenen  Gewerben  ]e 
nach  Grösse  und  dem  zum  einfachsten  Be- 
triebe notwendigen  Betriebsvermögen  ver- 
schieden ißt,  aber  den  Ertrag  des  Gewerbes 
mit  den  einfachsten  Mitteln,  ohne  Verwen- 
dung von  Hilfskräften  und  besonderen  Vor- 
richtungen treffen  soll  (droit  fixe  nach  fran- 
zösischem Rechte),  und  eine  Betriebsan- 
lage, d.  h.  die  für  höheren  Betrieb  be- 
stimmte Zulage  (dreit  proportional),  festge- 
setzt. Die  Steuerklassen  waren  nach  ver- 
schiedenen Ortsklassen  wieder  abgeteilt,  so 
dass  die  Steuerskala  128  feste  Steuersätze 
enthielt  Der  Steuertarif  gab  zugleich  an, 
auf  welche  Weise  für  jedes  Gewerbe  die 
Betriebsanlage  festgesetzt  werden  sollte.  Für 
diese  Berechnung  galt  teils  die  Zahl  der 
Gehilfen  (namentlich  bei  den  Handwerkern), 
Zahl  md  Art  der  Betriebsvorrichtungen 
(Pferde  bei  den  Fuhrleuten  u.  s.  f.),  teils 
die  Menge  und  Art  des  verarbeiteten  Roh- 
stoffes (Malz  bei  den  Brauereien,  Getreide- 
mengen bei  den  Mühlen,  Vieh  bei  den 
Metzgern),  teils  die  Mengen  des  Erzeug- 
nisses (Ziegel  bei  den  Ziegeleien,  Bier  bei 
den  Wirten,  Branntwein  bei  den  Branntwein- 
brennern u.  6.  f.).  Bei  Handelsgeschäften 
und  sonstigen  Gewerben,  bei  denen  äussere 
Betriebsmerkmale  schwer  erkennbar  sind, 
wurde  die  Betriebsanlage  nach  dem  vermut- 
lichen Ertrag  festgesetzt  Die  Einschätzung 
erfolgte  alle  drei  Jahre  auf  Grund  der  Fas- 
sionen durch  Steuerausschüsse,  bestehend 
aus  5  Mitgüedem  und  einem  Verwaltungs- 
lieamten  als  Vorsitzenden.  Der  Steuerbeamta 
ist  Staatsbeamter  und  setzt  nur  die  Berech- 
nung der  Steuer  selbst  fest. 

Das  Revisionsgesetz  v.  19.  Mai  1881 
suchte  die  Gewerbesteuer  als  eine  Art  von 
Vermögenssteuer  zu  ergänzen.  Der  Tarif 
wurde  umgearbeitet  und  enthielt  jetzt  1813 
Gewerbs-  und  Betriebsarten.  Handwerker 
ohne  Gehilfen  und  Betriebskapital  sollen 
nach  der  Einkommensteuer  veranlagt  wer- 
den. Die  Betriebsanlage  soll  sich  bei  jenen 
Gewerben,  bei  denen  äussere  Betriebsmerk- 
raale  fehlen,  zwischen  ^U — lVi%  mit  Er- 
höhung bis  zu  2^/2%  vom  »Ertragsanschlage c 
bemessen.  Der  Steuerausschuss  soU  auch 
Steuerermässigungen    bis    zur   Hälfte    be- 


544 


Gewerbesteuer 


echliessen  können.  Am  meisten  Schwierig- 
keit machte  die  Feststellung  des  BegiiÖs 
^^Ertragsansclilag«.  Derselbe  ist  nicht  zu 
verwechseln  mit  »Reinertrag«,  sondern  soll 
nach  Absicht  des  Gesetzes  das  eingeschätzte 
Jahreserträgnis  aus  dem  Betriebe  des  Ge- 
werbes nach  Abzug  der  Gewinnungskosten 
bilden.  Zu  Gewinnungskosten  sollen  aber 
nur  jene  Auslagen  zählen,  welche  unmittel- 
bar auf  die  Erzielung  des  Ertrages  gemacht 
wurden ;  nicht  das,  was  der  Gewerbetreibende 
am  Jahresschlüsse  erübrigt,  sondern  was 
das  Gewerbe  dem  Unternehmer  trägt,  bildet 
den  Ertragsanschlag.  Gegen  die  Feststellung 
der  Steuerausschüsse  soll  Berufung  an  eine 
Berufungskommission  zustehen,  welche  aus 
fünf  bürgerlichen,zwei  vom  Finanzministerium 
ernannten  Beisitzern,  dem  Vorstande  (Präsi- 
denten) der  Kreisregierung  als  Vorsitzenden 
und  einem  Vertreter  des  Aerares  zu  bestehen 
hat.  —  Dem  Finanzministerium  ist  vorbe- 
halten, im  Falle  unrichtiger  Gesetzesanwen- 
dung zum  Nachteile  der  Steuerpflichtigen 
von  Einholung  der  Steuer  Umgang  nehmen 
zu  lassen.  Die  Steuerzugänge  innerhalb  der 
zweijährigen  Steuerperiode  werden  proviso- 
risch vom  Rentamte  (Steuerbehörde)  regu- 
liert und  von  dem  Steuerausschusse  gesetz- 
lich sanktioniert. 

Die  GG.  V.  20.  November  1885  und  28. 
September  1889  brachten  einzelne  Tarifab- 
änaenmgen.  Für  die  Besteuerung  des  Ge- 
werbebetriebes im  Umherziehen 
stellte  das  G.  v.  10.  März  1879  mit  einer 
Menge  voi\  Vollzugsbestimmungen  die  Sätze 
und  Abgaben  für  die  Legitimationsscheine 
und  die  eigentliche  Steuer  fest.  Dieses  Ge- 
setz wurde  durch  ein  neues  G.  v.  20.  De- 
zember 1897  einer  Revision  mit  neuem  Tarif 
untersteDt,  was  wieder  durch  die  Revision 
des  Steuergesetzes  dahin  abgeändert  wurde, 
dass  die  Bergwerke  der  Gewerbesteuer 
unterworfen  wurden. 

Die  Revision  der  direkten  Steuern  in  Bayern 
durch  die  GG.  v.  9.  Juni  1899  hat  auch  das  Ge- 
werbesteuergesetz betroffen.  Wenn  auch  vor- 
läufig noch  an  der  Ertragsbesteuerung  festge- 
halten wurde,  so  wurde  doch  ein  Uebergang  zur 
seinerzeitigen  Einführung  einer  allgemeinen 
Einkommensteuer  gesucht.  Die  grundsätz- 
lichste Aenderimg  ist,  dass  die  Betriebsan- 
lage in  Zukunft  in  der  Regel  nach  dem 
j^rüchen  Ertrage  des  Gewerbes  bemessen 
werden  kann.  Die  persönlichen  Verhältnisse 
der  Steuerzahler  sollen  möglichst  berück- 
sichtigt werden  können,  weitgehende  Steuer- 
ermässigungen und  Steuerbefreiungen  wur- 
den zugelassen,  Schuldenabzug  und  Ab- 
schreibungen in  erweitertem  Masse  gestattet 
und  dabei  die  Begriffe  von  Ertrag,  Abzugs- 
posten und  Betriebsausgaben  genau  fixiert, 
die  Abstufung  nach  Ortsklassen  beseitigt 
und  ein   neuer  Tarif   sowie   neue   Klassen- 


sätze mit  progressiver  Tendenz  für  die  Be- 
rechnung der  Betriebsanlagen  nach  dem  Ein- 
trage aufgestellt ;  hierbei  wurden  die  kleinen 
Handwerker  (ungefähr  80— 90®/o  aller  Ge- 
werbesteuerpflichtigen) diurch  Steuerermässi- 
gung besonders  berücksichtigt,  ein  Existenz- 
minimimi  von  500  M.  freigelassen  und  sonst 
die  Betriebsanlage  progressiv  von  0,50  M. 
von  über  800  M.  bis  zu  6965  M.  bei  einem 
Ertrage  von  190000—200000  M.,  darüber 
aber  Erhöhung  der  Klassen  um  10000  M. 
und  Berechnung  einer  Betriebsanlage  von 
jeweils  3V2  vom  Hundert  des  Betrages,  mit 
welchen  die  vorhergehende  Klasse  endet, 
festgesetzt.  Die  Ertragsbesteuerung  ist  so- 
hiu  zwischen  ^U  und  2^9%  des  Ertragsan- 
schlages zu  bemessen.  Den  Steuererleichte- 
rungen wurden — nicht  bloss  vom  fiskalischen 
sondern  auch  vom  sozialpolitischen  Stand- 
punkte aus  —  wieder  Steuererhöhungen 
durch  Mehrbelastung  der  gi^össeren  gewerb- 
lichen Anstalten,  Grossindustrieen,  Fabriken, 
Banken,  Filialen,  Warenhäusern,  Flaschenbier- 
handlungen gegenübergestellt.  Bei  der  Wein- 
besteueruDg  wurde  eine  schärfere  Kellerkon- 
trolle eingeführt,  eine  Umsatzsteuer  von  kapi- 
talistischen Unternehmungen  geschaffen,  die 
Befugnisse  der  Steuerausschüsse  zur  &he- 
bung  der  Steuergrundlagen  erweitert  und  die 
Strafbestimmungen  verschärft  Die  schwie- 
rige Frage  der  Steuerausscheidung  bei  Betrieb 
eines  Gewerbes  oder  verschiedener  von  einer 
Person  betriebenen  Gewerbe  und  danach  auch 
die  Gemeindeumlagenveranlagung  wurde  da- 
hin zu  regeln  versucht,  dass  die  Bemessung 
der  Betriebsanlage  für  das  Gesamtgewerbe  in 
derjenigen  Gemeinde  vorzunehmen  ist,  in 
welcher  die  Geschäftsleitung  iliren  Sitz  oder 
der  Stellvertreter  seinen  Wohnsitz  hat.  So- 
fern nicht  Vereinbanmgen  der  betreffenden. 
Gemeinden  und  Steuerpflichtigen  erfolgen, 
hat  die  Ausscheidung  nach  dem  Umfange 
des  Betriebes  in  den  einzelnen  Gemeinden 
und  den  Ertragsanteilen  oder,  soweit  diese 
nicht  möglich  ist,  nach  den  Verhältnissen 
der  in  jeder  einzelnen  Gemeinde  in  dem  Ge- 
werbe beschäftigten  Gehilfen  und  Arbeiter 
zu  erfolgen.  Ein  Hauptvorzug  der  neuen 
Gesetzgebung  besteht  aber  in  der  Befugnis 
des  Rentamtes,  bis  15  M.  Steuer  ohne  Aus- 
schuss  einzusteuem,  sowie  darin,  dass  in 
dem  Steuerausschusse  der  ersten  Instanz 
den  Vorsitz  in  Zukunft  ein  bürgerliches  Mit- 
glied, nicht  mehr  der  Verwaltungsbeamte 
führt,  endlich  in  der  Schaffung  einer  dritten 
Instanz,  indem  gegen  die  Feststellungen  der 
Berufimgskommission  eine  Beschwerde  an 
die  beim  Staatsministerium  der  Finanzen 
gebildeten  Oberberufungskommission  offen 
gelassen  wird.  Diese  Oberberufungskom- 
mission setzt  sich  zusammen  aus  einem  vom 
Finanzministerium  zu  ernennenden  Vor- 
sitzenden,   vier   ständigen  Mitgliedern,  von 


Gewerbesteuer 


545 


welchen  zwei  durch  das  Ministerium  des 
Innern,  darunter  ein  Mitglied  des  Verwal- 
tungsgerichtshofes, imd  zwei  vom  Finanz- 
ministerium ernannt  werden,  und  zwei  nicht- 
ständigen  durch  die  Landräte  in  jedem  Re- 

glerungsbezirke  zu  wählenden  bürgerlichen 
eisitzem.  Diese  dritte  Instanz  ist  keine 
Berufimgs-,  sondern  Revisiousinstanz  zur  Ent- 
scheidung von  Rechtsfragen.  üeber  die 
finanzielle  Wirkung  der  Gesetzesrevision 
liegen  keinerlei  bestimmte  Anhaltspunkte 
vor,  doch  darf  angenommen  werden,  dass 
der  Steuerertrag  keine  Abminderung  erfahren 
wird. 

Für  die  Bergwerke  war  nach  dem  G. 
V.  6.  April  1869  nicht  das  Gewerbesteuer-, 
sondern  das  Einkommensteuergesetz  mass- 
gebend ;  nach  den  revidierten  Steuergesetzen 
sind  sie  der  Gewerbesteuer  unterworfen. 

6.  Württemberg.  Württemberg  hatte 
frülier  ebenfalls  direkte  Steuern  aus  dem 
Vermögensbesitze  und  Ei-werb  (alte  Bede, 
Landschaden,  Schatzvmgen,  Umgelder).  Im 
Jahre  1713  wiude  die  Vermögenssteuer  auf 
neue  Kataster  gegründet,  Kopfsteuern  damit 
verbunden,  ümgeld  und  Acdsen  bedeutend 
gesteigert.  Erst  in  den  Jahren  1808,  1817, 
1820  und  1821  trat  auch  hier  eine  Reform 
der  direkten  Steuern  ein.  Das  G.  v.  15. 
Juli  1821  führte  ein  zweigruppiges  Ertrags- 
steuersystem ein.  Einerseits  die  Realsteuern : 
Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuern,  mit 
Kontingentierung  und  Quotenverteilung  auf 
diese  drei  Steuern  noch  ^^/äo,  '^/w,  ^/w;  an- 
dererseits Zusatzsteuern  zur  Deckung  des 
Staatsbedarfes:  Besteuerung  der  Kapitalien, 
GrundgefäJle,  Renten,  Besoldungen,  Apa- 
nagen. Letztere  Gruppe  wurde  durch  die 
GG.  V.  19.  September  1852  und  13.  Juni 
18S3  in  eine  Kapitalrenten-  und  partielle 
Einkommensteuer  umgewandelt ,  worunter 
auch  der  Erwerb  von  liberalen  und  einigen 
Berufen  (Arbeiter)  fällt,  die  unter  keiner 
anderen  Steuer  stehen.  Die  erste  Gruppe, 
die  Real-  oder  Ertragssteuer,  wurde  durch 
das  Q.  V.  28.  April  1873  neu  reguliert. 

Die  Gewerbesteuer  wird  nach  diesen  Ge- 
setzen nach  zwei  objektiven  Merkmalen  be- 
messen: nach  dem  persönlichen  Arbeitsver- 
dienste und  nach  dem  Ertrage.  Unterworfen 
sind  ihr  »alle  im  Lande  betriebenen  Ge- 
werbe« einschliesslich  Bergwerke  und  Mine- 
ralbrunnen. Der  persönliche  Arbeitsverdienst 
wird  eingeschätzt  nach  einer  Klassentafel, 
wobei  die  Betriebsweise,  die  Anzahl  der 
Gehüfen  und  Höhe  des  Betriebskapitales 
massgebend  ist.  Als  steuerbarer  Betrag 
kommt  in  Ansatz  bis  zu  850  M.  des  ge- 
scliätzten  Betrages  Vio,  von  850 — 1700  M. 
2/10,  1700—2550  Vio,  2550—3400  M.  »/lo, 
erst  über  3400  M.  wird  der  volle  Betrag 
des  Ertrages  angesetzt.  Betriebsvennögen 
unter  700  M.  ist  steuerfrei,    Schulden  dürfen 

Handwörterbuch  der  Staatswifisenschaften.    Zweite 


nicht  in  Abzug  gebracht  werden.  Zur  Be- 
rechnung des  Arbeitsverdienstes  sind  detail- 
lierte Vorschriften  gegeben.  Auch  die 
Grösse  der  Betriebsorte  übt  Einfluss  nach 
den  Ortsklassen.  Für  die  mit  Vermögen 
über  700  M.  betriebenen  Gewerbe  steigt  der 
Arbeitsverdienst  nach  Massgabe  der  GeMlfen- 
zahl  und  des  Betriebsvermögens.  Ebenso 
bei  Handelsgeschäften.  Das  Betriebsvermögen 
selbst  ist  im  Reinertrage  einzuschätzen,  wo- 
für wieder  66  Klassen  mit  700  M.  beginnend 
und  mit  200000  M.  endigend  bestehen. 
Auch  die  Umsatzgeschwindigkeit  ist  zu  be- 
rücksichtigen. Der  Steuerfuss,  nach  welchem 
die  Steuer  aus  dem  eingeschätzten  Arbeits- 
verdienste und  Vermögensertrage  berechnet 
werden  soU,  wird  durch  das  jeweilige  Finanz- 
gesetz festgesetzt.  Der  Gewerbetreibende 
hat  die  Bemessungsmerkmale  zu  fatieren. 
Die  Einschätzung  wird  durch  Bezirkssteuer- 
kommissionen vorgenommen,  zu  denen  die 
Amtsversammlung  zwölf  sachverständige 
Männer  vorschlägt,  die  Katasterkommission 
drei  Bezirksschätzer  ernennt,  wozu  noch  ein 
vom  Gemeinderate  gewählter  Ortsschätzer 
kommt  Geschäftsbücher  werden  nicht  zur 
Einsicht  verlangt.  Gegen  die  Festsetzung 
der  Einsteuerkommission  steht  Berufung  zur 
Katasterkommission  zu,  von  da  zum  Finanz- 
ministerium. Es  kann  eine  neue  Schätzung 
angeordnet  werden,  welche  die  Steuerkom- 
mission wieder  vorzunehmen  hat.  In  dem 
Falle  wird  sie  um  zwei  Mitglieder  verstärkt, 
deren  eines  der  Steuerkommissär,  das  andere 
der  Beschwerdeführer  wählt. 

Die  Gewerbesteuer  Württembergs  ist  eine 
sehr  komplizierte  Katastralertragssteuer, 
welche  mit  den  beiden  anderen  Ertrags- 
steuern periodisch  kontingiert  wird.  Von 
dem  ausgeworfenen  Gesamterträge  muss  die 
Grundsteuer  ^-^24  und  die  Gebäude-  und 
Gewerbesteuer  zusanmien  ^V48  Quote  ab- 
werfen. 

Die  Besteuerung  des  Hausierhandels,  der 
Wanderlager  und  Musterreisenden  ist  durch 
die  GG.  v.  1.  und  30.  Juli  1877  besonders 
geordnet.  Eine  allgemeine  Personaleinkom- 
mensteuer besteht  hier  neben  der  Gewerbe- 
steuer nicht 

Seit  dem  Jahre  1895  steht  auch  in  Würt- 
temberg die  Einfühnmg  einer  aDgemeinen 
Einkommensteuer  und  Reform  aller  direkten 
Steuern  in  gesetzgeberischer  Erwägung. 
Vgl.  den  Artikel  Einkommensteuer 
oben  Bd.  III  S.  414  ff. 

7.  Baden.  In  Baden  begann  eine  syste- 
matische Steuerreform  mit  Bildung  des 
jetzigen  Grossherzogtums.  Seit  dem  Jahre 
1815  entwickelte  sich  ein  Ertragssteuer- 
system mit  Grundsteuer,  Häuseräteuer,  Kapi- 
talrentenstouer,  Gewerbesteuer  (Ordn.  v.  6. 
April  1815,  revidiert  v.  23.  März  1854)  und 
eine  Klassensteuer  (G.  v.  1820  und  10.  Juli 

Auflage.    IV.  35 


546 


Gewerbesteuer 


1837),  welche  im  wesentlichen  eine  spedelle 
Einkommensteuer  von  Besoldungen,  Pen- 
sionen, Erwerb  anderer  nicht  im  Dienstver- 
hältnisse ausgeübter  liberaler  Berufe  war, 
dann  noch  eine  Bergsteuer  (G.  v.  14.  Mai 
1828).  —  Im  Jahre  1876  (G.  v.  25.  August 
1876)  wurden  die  Gewerbs-  und  Klassen- 
steuem  in  eine  einzige  »Erwerbssteuer«  ver- 
einigt. Diese  Steuer  beruhte  auf  dem  Ge- 
dfmken,  dass  der  Gewerbsertrag  sich  in 
den  persönlichen  Verdienst  für  die  zum 
Geschäft  verwendete  Zeit  und  Kraft  imd  in 
den  Ertrag  des  Geschäftskapitales  zerlegen 
lasse.  Sie  stellt  sich  als  Komplikation  einer 
Gewerbssteuer  von  landwirtschaftlichem  und 
sonstigem  Geschäftsgewinn  mit  der  Besteue- 
rung des  Lohn-,  Dienst-  und  Bedarfsein- 
kommens dar.  Dienstboten  unter  300  M. 
bleiben  frei;  Die  Einschätzung  geschah  auf 
Grund  von  Fassionen  im  Zusammenwirken 
des  Steuerfiskales,  der  Ortssteuerkommission, 
des  Schätzungsrates  und  der  Steuerbehörde 
(Steuerdirektion). 

Im  Jahre  1884  wurde  hier  eine  allge- 
meine progressive  Einkommensteuer  einge- 
führt (G.  V.  20.  Juni  1884  s.  oben  Bd.  HI 
S.  403  ff.)  und  damit  eine  völlige  Umwälzung 
des  Steuersystems  vorgenommen. 

Die  Gewerbesteuer  —  welche  speciell 
durch  G.  v.  26.  April  1886  neu  geordnet 
wurde  —  bildet  nunmehr  eine  Ergänzungs- 
steuer zur  Einkommensteuer.  Die  Gewerbe- 
steuer sollte  nur  noch  das  fundierte,  die 
Einkommensteuer  das  unfundierte  Vermögen 
treffen.  Den  .Massstab  für  die  Gewerbe- 
steuer bildet  nicht  der  Ertrag  des  Gewerbes, 
sondern  der  des  Betriebsvermögens,  und  weil 
sich  dieser  Ertrag  in  der  Trennung  vom  Ar- 
beitsertrage schwer  ermitteln  lässt,  nur  das 
Betriebsvermögen  selbst.  Die  Bestimmungen 
über  Ermittelung  dieses  Betriebsvermögens 
sind  wörtHch  jenen  in  Württemberg  nach- 
gebildet, nur  dass  am  Betrage  des  Geldes, 
der  Wertpapiere  imd  Forderungen  die  Ge- 
achäftsschulden  in  Abzug  gebracht  werden 
dürfen.  Die  ermittelte  Grösse  des  Betriebs- 
kapitales bildet  das  Steuerkapital  selbst. 
Kleine  Vermögen  imter  700  M.  bleiben 
stenei-frei.  Die  Erträge  der  Aktienunter- 
nehmungen unterliegen  der  zwei-  bezw.  vier- 
fachen Besteuerung,  nämlich  bei  der  Gesell- 
schaft der  Einkommen-  und  Gewerbesteuer 
und  beim  Aktionär  der  Einkommen-  und 
Kapitalrentensteuer. 

Die  Veranlagung  geschieht  ähnlich  wie 
in  Württemberg.  Der  Steuerpflichtige  hat 
zu  fatieren;  der  St<?uerperäquator  prüft  die 
Selbstfassion  und  legt  sie  dem  Schätzungs- 
rate vor.  Dieser  besteht  aus  dem  Bürger- 
meister und  3 — 7  auf  Vernehmung  des 
Peräquators  und  dos  (temeinderates  vom 
Bezii'ksamte  gewählten  Gewerbetreibenden 
der  Gemeinde,     (iegen  die  Schätzung  stellt 


dem  Pflichtijgen  und  dem  Peräquator  Bern* 
fung  zur  Finanzdirektion  und  von  da  zum 
Verwaltungsgerichtshofe  zu.  Der  Schätzungs- 
rat kann  Sachverständig  vernehmen,  Ge- 
werbseinrichtimgen  inspizieren,  aber  keine 
Geschäftsbücher  einsehen.  Das  Finanzminis- 
terium ist  jederzeit  befugt,  den  Schätzungs- 
rat aufzulösen  und  Neuwahlen  anzuordnen. 
Periodische  Neueinrichtungen  finden  nicht 
statt,  der  Schätzungsrat  hat  aber  die  älteren 
EinSteuerungen  jährlich  zu  revidieren. 

Auch  die  Besteuerimg  der  Wander- 
lager und  des  Gewerbebetriebes  im  um» 
herziehen  ist  durch  das  G.  v.  26.  April 
1886  ^sondert  geregelt.  Dem  Hausieren 
ist  gleichgestellt  das  (Jewerbsuntemehmen, 
das  den  Betrieb  einer  ausserhalb  des  Reichs- 
gebietes begründeten  Erwerbsuntemeh- 
mung  auf  das  badische  Gebiet  ausdehnt. 

Zur  Zeit  ist  die  Verwandlung  der  Ge- 
werbesteuer zu  einem  Faktor  der  allgemeinen 
Vermögenssteuer  im  Gange. 

8.  Hessen.  Gleichzeitig  mit  Baden, 
nämlich  durch  G.  v.  8.  Juli  1884,  wm^le 
auch  in  Hessen  eine  gründliche  Beform  der 
Steuern  vorgenommen.  Während  biBher  die 
direkten  Steuern  in  Grund-,  Gebäude-,  Ge- 
werbe-, Kapitalrenten-  xmd  Einkommen- 
steuern allein  bestanden  (im  vorigen  Jahr* 
hundert  waren  auch  in  Hessen  sämtliche 
Steuern  in  den  alten  Vermögens-  imd  Ein- 
kommensteuern aufgegangen),  sollte  in  Zu- 
kunft die  Gewerbesteuer  mehr  eine  Ergän- 
zungssteuer zur  Einkommensteuer  vom  so- 
genannten fundierten  Einkommen  bilden. 

Den  Massstab  der  Steuern  büdete  aber 
nicht  wie  in  Baden  der  Ertrag  des  Betriebs- 
vermögens, sondern  ein  Gewerbesteuerkapital, 
das  aus  einem  fixen  Steuerkapital  imd  einem 
Zusatz  nach  Massgabe  vom  Kennzeichen  des 
Betriebsiunsatzes  besteht.  Das  fixe  Steuer- 
kapital bemass  sich  wieder  nach  der  Be- 
deutendheit des  Gewerbes  mit  Rücksicht 
auf  die  Grösse  des  Betriebsortes  und  ist  in 
einer  Klassentafel  in  7  Kapitalklassen  abge- 
teilt.. Der  Steuerfiiss  war  im  Finanzgesetze 
festgesetzt.  Jeder  Steuerpflichtige  musstesich 
jährlich  ein  Patent  lösen,  wofür  40  Pf.  Stempel- 
gebühr festgesetzt  sind,  auf  welchem  die 
Art  des  Gewerbes  angegeben  sein  muss. 
Das  Steuerkapital  setzte  eine  Steuerkom- 
mission fest,  welche  aus  dem  Bezirks- 
steuerkommissär und  drei  vom  Gemeinderat 
gewählten  Mitgliedern  bestand.  Gegen  den 
Beschluss  der  Steuerkommission  stand  Be- 
rufung zur  Einkommensteuerkommission  und 
von  da  zur  Ministerialabteilung  für  Stouer- 
wesen,  gegen  deren  Entscheidung  Reklama- 
tion zum  Finanzministerium  gegeben  war. 
Die  Steuer  muss  für  das  ganze  Jahr  ent- 
richtet werden,  nur  im  Todesfall  kann  das 
Finanzministerium  Nachlass  gewähren.  Schul- 
den werden  hier  nicht  berücksichtigt,  Aktieur 


Grewerbesteuer 


547 


isellschaften  werden  auch  hier  wie  in 
iden  zwei-  bezw.  vierfach  besteuert. 

Eine  Ergänzungssteuer  bildet  die  Ein- 
kommensteuer infolge  des  G.  v/25.  Juni  1895, 
wonach  auch  das  l^nkommen  aus  Handel 
und  Gewerbe  von  2600  M.  Ertrag  an 
progressiv  der  Mnkommensteuer  unterworfen 
ist.  Die  Gewerbe-,  Kapitalrenten-  imd  Grund- 
steuer djurf  bei  der  Deklaration  abgezogen 
werden.  Einsicht  der  Urkunden  und  Handels- 
bücher und  sogar  Auflegen  zur  Erklärung 
an  Eidesstatt  ist  vorgesehen.  Die  Entschei- 
dung steht  in  letzter  Instanz  dem  obersten 
Verwaltungsgericht  zu. 

Das  Einkommensteuergesetz  vom  Jahre 
1895  wurde  sodann  durch  das  Gesetz  vom 
12.  August  1899  verschiedenen  Abänderungen 
unterworfen. 

Durch  ein  Gesetz  vom  gleichen  Tage 
(12.  August  1899),  »die  Vermögenssteuer 
betr.«,  wurden  die  Grund-,  Gewerbe-  und 
KapitaLrentensteuer  als  Staatssteuern  aufge- 
hoben, dagegen  eine  Vermögenssteuer 
als  Ergänzungssteuer  zur  allgemeinen  Ein- 
kommensteuer eingeführt.  Die  Veranlagung 
des  gewerblichen  Kapitals  erfolgt  in  Zukunft 
im  Wege  der  Schätzung  durch  die  Veran- 
lagungskommission, doch  haben  die  Betriebs- 
unternehmer zum  ersten  Male  schriftliche 
Erkläning  abzugeben.  Als  gemeiner  Wert 
gilt  der  Verkaufswert  des  Unternehmens, 
dem  Betriebskapitale  werden  Wasserkräfte, 
Maschinen,  Warenvorräte,  Fahrnis,  Geld,  Be- 
rechtigimgen  u.  s.  w.  zugerechnet.  Jeder  Ge- 
werbetreibende mußs  sich  einen  Gewerbe- 
schein lösen  und  jedes  Jahr  erneuem  lassen. 
Die  Steuer  ist  nach  Steuerklassen  und  festen 
Steuersätzen  (etwas  über  1/2  Mark  vom  Tau- 
send) geregelt,  jedoch  bestimmt,  dass  im 
Finanzgesetz  auszusprechen  ist,  ob  diese 
Sätze  erhoben,  erhöht  oder  ermässigt  werden 
sollen.  Das  Veranlagungsverfahren  richtet 
sich  nach  den  Bestimmungen  des  Gesetzes 
über  die  allgemeine  Einkommensteuer  mit 
drei  Instanzen :  Veranlagungskoinmission, 
Landeskommission  und  Verwaltungsgerichts- 
hof. 

9.  Sachsen.  In  den  sächsischen  Landen 
lassen  sich  ausserordentliche  Beden  bis  ins 
12.  Jahrhundert  nachweisen.  Das  Land  be- 
zahlte diese  »Landbede«  hauptsächlich  vom 
Grundbesitz,  die  Städte  übernahmen  jähr- 
liche »Jahrrenten«.  Im  Jahre  1438  bewil- 
ligte die  allgemeine  Landesversammlung  zu 
Leipzig  zur  Bezahlung  der  landesherrlichen 
Schulden  eine  allgemeine  Verkaufsabgabe 
»Zise«,  nach  welcher  die  Verkäufer  bei 
jedem  Kairfgeschlrfte  von  gewissen  benannten 
Waren  den  Betrag  von  1/30,  wenn  sie  Inländer, 
und  V20,  wenn  sie  fremde  Kaufleute  waren, 
bezahlen  mussten.  Steuerpflichtig  waren 
Getränke,  Getreide,  Feld-  und  Gartenfrüchte, 
alle  Erzeugnisse  und  Arbeitsstoffe  der  Hand- 


werker, Geldgeschäfte  etc.  Adel,  Geistlich- 
keit und  das  von  Bürgern  im  Weichbild  ge- 
wonnene Getreide  war  steuerfrei.  Hieraus 
entwickelten  sich  später  eigentliche  Ver- 
brauchssteuern ,  Umgelder,  Tränkesteuem 
(1470, 1480,  1502);  woraus  wieder  im  Jahre 
1707  ein  allgemeines  Accisesystem  zur  Aus- 
bildung gelangte.  Nebenbei  wurden  ftir 
ausserordentliche  Bedürfnisse  allgemein  Ver- 
mögenssteuern von  allen  nutzbaren  Ver- 
mögen z.  B.  mit  1%  von  der  Ritterschaft^ 
1^/2^/0  von  Städten,  Prälaten,  bäuerlichen 
Unterthanen  (1592),  später  eine  allgemeine 
Vermögens-  und  Einkommensteuer,  unter 
dem  Namen  »Schocksteuer«  (bestimmte 
Pfennigquote  vom  Schock  Groschen)  einge- 
führt, welche  als  allgemeine  Landsteuer 
dann  neben  der  Tränkesteuer  bestehen  blieb. 

Im  laufenden  Jahrhundert  waren  die 
älteren  direkten  Steuern  in  eine  Grundsteuer 
(GG.  vom  Jahre  1834  und  1843)  mit  um- 
fassender Ertragskatastrienmg,  zugleich  Ge- 
bäudesteuer für  Wohn-  und  Industriegebäude, 
und  eine  Gewerbs-  und  Personalsteuer  (GG. 
v.  1834  und  1845)  geteilt  Die  Gewerbs- 
steuer war  eine  Ertiagssteuer,  die  Personal- 
steuer Einkommensteuer  mit  Deklarations- 
pfiicht  und  begrenzt  progressivem  Steuer- 
fiiss.  Bald  begann  aber  hier  in  erster  Linie 
der  Interessenkampf  zwischen  Stadt  imd 
Land,  Industrie  und  Landwirtschaft  Kapital 
und  Arbeit. 

Mit  G.  V.  22.  Dezember  1874  ward  die 
allgemeine  Einkommensteuer  eingeführt.  (S. 
oben  Bd.  III  S.  402).  Behufs  Erzielung 
einer  Einkommensteuerstatistik  und  Ein- 
schätzung wurde  das  Land  in  978  Bezirke 
geteilt  9876  Personen  wirkten  teils  unter 
Vorsitz  der  17  Steuerinspektoren,  teils  als 
freiwillige  Stellvertreter  bei  der  Einschätzung 
mit.  Hauptsächhch  der  geringe  Ertrag  ver- 
anlasste im  Jahre  1877  eine  neue  Ein- 
schätzung. 

Am  2.  Juli  1878  wurde  ein  neues  Ein- 
kommensteuergesetz, am  3.  Juli  ein  Gesetz 
über  die  direkten  Steuern  überhaupt  einge- 
führt und  die  bisherigen  Gewerbe-  und 
Personalsteuem  aufgehoben,  die  Gnmd- 
steuer  sehr  ermässigt  (von  9  auf  4^/o  Nor- 
malsatz). 

Als  Steuerobjekte  sind  nach  dem  allge- 
meinen Einkommensteuergesetz  zu  betrachten: 
A.  Verpachtungen  von  Gmndstücken;  Ver- 
mietung von  Gebäuden,  Betrieb  der  Forst- 
und  Ijandwirtschaft  auf  eigenen  Grund- 
stücken; B.  Kapitalzinsen,  Renten,  Aktien- 
oder Kuxdividenden,  Naturalgefälle,  C.  Lohn 
und  Gehalt,  Pension  und  Wartegeld,  D.  Handel, 
Gewerbe,  einschliesslich  des  Betriebes  der 
Landwirtschaft  auf  fremden  Grundstücken 
und  jede  andere  Gewerbsthätigkeit.  Die 
Zinsen  der  in  Handel  und  Gewerbe  ange- 
legten Kapitalien  sind   zu  den   Einkünften 

35* 


548 


Gewerbesteuer 


aus  dem  Handel  und  Gfewerbebetriebe  zu 
i'echnen.  Die  Deklaration  hat  nach  diesen 
Merkmalen  zu  erfolgen.  Einkommen  unter 
300  M.  sind  steuerfrei,  die  Einkommen  über 
300  M.  unterliegen  einer  Steuer,  welche  in 
mehr  als  200  verschiedenen  Klassen  pro- 
gressiv steigt.  Der  Steuerfuss  beginnt  mit 
1/4  o/o  und  erreicht  bei  1400  M:  l^/o,  bei 
3700  M.  2,  bei  7200  M.  2V2O/0  und  von  da 
ab  30/0,  als  Maximalsatz.  Einkommen  der 
Ehefrauen  und  Kinder  über  300  M.  werden 
zur  Besteuerung  herangezogen.  Der  Rein- 
gewinn für  Handel  und  Gewerbebetrieb  ist 
nach  den  Grundsätzen  zu  berechnen,  wie 
solche  für  Inventur  und  Bilanz  vom  Han- 
delsgesetzbuch für  den  Kaufmann  vorge- 
schrieben sind.  Insbesondere  gilt  dies  vom 
Zuwachsen,  der  Abnutzung  des  Anlagekapi- 
tals, Forderungen,  Schulden  und  Zinsen. 

Das  G.  V.  2.  Juli  1878  ist  durch  das  G. 
V.  13.  Mäi-z  1895  in  einigen  Punkten  ver- 
schiedenen Aendenmgen  unterworfen  wor- 
den. 

Der  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen 
und  die  Wanderlager  sind  mit  den  GG.  v. 
1.  Juli  1878  und  1.  Dezember  1878  mit 
einer  weiteren  direkten  Steuer  belegt. 

10.  Elsass-Lothringen.  In  Elsass- 
Lothringen  gelten  die  französischen  GG.  v. 
25.  Apnl  1844,  die  Patentsteuer  betr.,  mit 
den  Revisionen  v.  18.  Mai  1850,  4.  Juli  1854, 
13.  Mai  1863  und  2.  August  1868.  Letztere 
Revisionsgesetze  enthalten  Veränderungen 
der  die  Patente  treffenden  Tarife  und  Ta- 
bellen. Der  Patentsteuer  sind  alle  Gewerbe- 
betriebe, Aerzte,  Architekten,  Advokaten  und 
sonstig  freie  Berufsarten  unterworfen,  so- 
fern sie  nicht  ausgenommen  sind,  was  wie- 
der kasuistisch  geschieht.  Dann  weiter  sind 
befreit  Fischer,  Verkäufer  von  Esswaren  und 
Blumen,  kleine  Handwerker  ohne  Gehilfen. 
Die  Veranlagung  geschieht  mit  einer  festen 
Anlage  nach  Ortsklassen  und  innerhalb  der- 
selben wieder  nach  einem  Tarif  und  einer 
SroportioneUen  (Betriebs-)  Anlage  nach  dem 
[ietwert  der  Wohnungen  und  industriellen 
Etablissements.  Die  Einsteuerung  wird  von 
den  Kontrolleuren  unter  Mitwirkung  der 
Bürgermeisterei  vorgenommen. 

Durch  G.  V.  6.  März  1893  wiurde  die 
Gewerbesteuereinschätzung  einer  Revision 
unterzogen,  der  Steuerertrag  in  20  Klassen  ein- 
geteilt und  das  Verfahren  geregelt.  Einsteuer- 
organe sind:  Kreis-  und  Bezirkskommis- 
sionen, Revisionskommissionen  und  Kommis- 
sion der  Landeseinschätzer.  Die  Reform  er- 
hielt ihren  Abschluss  durch  das  G.  v.  8. 
Juni  1896,  welches  in  22  Steuerstufen  die 
Ertragsfähigkeit  des  Gewerbes  der  Steuer 
zu  Grunde  legt. 

B.  Oesterreich-Ungam. 
11  •  Oesterreiehisclie  Monarchie«  a)  £  i  n  • 


leitnn^.  In  den  österreichischen  Landen  ha- 
ben sich  ebenfalls  Umgelder,  Tranksteuern. 
Schanksteuern ,  Zapfeninasse  als  laudesfQrst- 
liche  Steuern  schon  seit  dem  14.  Jahrhundert 
eingebürgert.  Die  Türkensteuern  waren  klassi- 
fizierte Emkommen-,  Personal-  und  Vermögfens- 
steuern,  so  wurden  nach  der  ausserordentlichen 
Türkensteuer  vom  Jahre  lö23  Zehnten,  Bürger- 
rechte, Waren,  Güter,  liegendes  Geld,  Besol- 
dungen von  lOO  fl.  mit  ^i^  fl.,  50  fl.  2  Schill 
und  25  fl.  1  Schill.  Steuer  belegt,  die  Stände 
(Adel,  Geistliche,  Doktoren)  zahlten  je  nach 
dem  Einkommen  von  25—1000  fl.  V«  Schill,  bis 
1  fl. ,  Bauern  in  denselben  Wertklassen  vom 
Besitze  die  Hälfte,  Handwerker  und  nicht  ge- 
sessene Knechte  12  Kr.  per  Kopf  u.  s.  w.  In 
Böhmen  bestand  seit  1525  eine  allgemeine 
Vermögenssteuer,  daneben  als  weitere  direkte 
Steuer  die  „Sammlung"  (zbirka)  mit  festen 
Steuersätzen  für  einzelne  Klassen  Gewerbetrei- 
bender, dann  Laden-,  Mühl-  nnd  Getreidesteuer 
(1595).  In  Schlesien  bestanden  neben  den 
direkten  Steuern  die  Schätzung,  die  Zölle,  die 
Biersteuer  und  die  Verbrauchssteuern. 

Im  17.  Jahrhundert  bilden  die  Grenzsteine 
der  Steuerreform:  die  Grundsteuerreform  unter 
Karl  VI.  im  Mailändischen  (centesimo  milanese 
—  Ursprung  der  Katastralgrundsteuer  — ),  die 
Stenerrektinkationen  unter  Maria  Theresia  und 
die  Josefinische  Steuerreform  in  deutschen  Län- 
dern. Die  in  den  Jahren  1748  -  1756  vorge- 
nommenen theresianischen  Steuerrektifikationen 
wollten  den  gesamten  Grund  und  Boden,  die 
Nutzungen,  Gefälle,  Gewerbe  und  Industrie- 
zweige mit  dem  Ertrag;  des  Vorrates  und  Ge- 
winnes nach  zehnjähngem  Durchschnitte  in 
einem  geordneten  KJassensysteme  mit  fester 
Steuer  belegen.  Auch  die  josefinische  Reform 
drehte  sich  hauptsächlich  um  die  Grundsteuer 
(contributionj  als  die  Hauptsteuer,  welche  je- 
doch nicht  bloss  Grundsteuer  war,  daneben 
wurde  aber  das  System  der  Vermögenssteuern, 
nach  Kopf-,  Standes-,  Klassen-  und  Einkommen- 
besteuerung, als  ausserordentlicher  Steuern  sehr 
ausgebildet.  So  trafen  die  Kopf-  und  Standes- 
steuem  vom  Jahre  1690,  1746,  1758,  1769  die 
Wechsler  in  den  Städten  mit  75  fl.,  Taglöhner 
12  fl.,  Beamte  15  fl.,  Banuntemehmer  4  fl  ;  die 
Klassensteuem  von  1763,  1799,  1801  u.  s.  f. 
belegten  Gewerbsleute,  Dienstboten,  Taglöhner, 
nach  Berufs-,  Betriebsumfangs-  und  Ortsklassen 
mit  verschiedenen  Sätzen.  Erst  im  Jahre  1812 
trat  in  der  Erwerbssteuer  (Patent  v.  31.  De- 
zember 1812)  eine  selbständige  direkte  Steuer 
vom  Gewerbebetriebe  auf. 

Als  indirekte  Steuern  erscheinen  Zölle, 
Mauthen,  Aufschläge,  Monopole  (Salz,  Pulver, 
Salpeter,  Tabak,  Lotto). 

b)  Geltendes  Recht.  Nach  den  Pa- 
tenten v.  31.  Dezember  1812  —  der  Grund- 
lage der  heutigen  Gewerbebesteuerung  — 
sollte  der  Erwerb  aus  dem  Gewerbe.  Handel 
und  der  Personalbeschäftigimg  nach  objek- 
tiven, nicht  subjektiven  Merkmalen  der  &- 
tragsfähigkeit,  nicht  des  wirklichen  persön- 
lichen Einkommens,  getroffen  werden.  In 
dem  Tarif  sind  die  Merkmale  der  Gattung 
der  Beschäftigung  und  der  Bevölkerungszahl 
des  Betriebsortes  aufgenommen  und  danach 


Gewerbesteuer 


549 


sind  Beschäftigungsabteiliiiigen  und  Orts- 
stufen gebildet.  Die  Berufsarten  sind  in 
vier  Klassen  geteilt  In  die  erste  J^lasse 
gehören  die  Fabrikanten  und  Grosshändler, 
in  die  zweite  die  Handelsleute,  Unternehmer 
mit  landwirtschaftliehen  oder  rohen  Pro- 
dukten, in  die  dritte  die  Käufer  und  Ge- 
werbsleute, in  die  vierte  Klasse  die  Per- 
sonen, deren  Erwerb  sich  auf  eine  Dienst- 
leistimg  gründet:  Notare,  Advokaten,  Con- 
suln,  Geschäftsvermittler,  ferner  die  Fuhr- 
leute, Lohnkutscher.  Die  Zahl  der  Be- 
freiungen ist  ziemlich  gross;  sie  wurden 
durch  spätere  Dekrete  v.  28.  Mai  1813,  11. 
Mai  1834  noch  ei'weitert,  hauptsächlich  mit 
Rücksicht  auf  das  Existenzminimum  und 
auf  die  durch  Einfühnmg  der  Einkommen- 
steuer bedingte  Doppelbesteuenmg,  so  land- 
wirtschaftliche Industrie,  Knechte,  Gesellen, 
welche  nur  soviel  verdienen,  dass  sie  leben 
können,  Tagelöhner,  Arbeiter,  Beamte  im 
Dienste  des  Staates  oder  einer  vom  Staate 
anerkannten  öffentlichen  Korpomtion,  Schrift- 
steller, Künstler,  Aerzte,  Professoren,  Lehrer, 
Tabakverschleisser,  Bergwerke,  Lotteriekol- 
lekteure,  Bieressigerzeugimg,  wenn  sie  von 
den  Brauern  selbst  vorgenommen  wird,  u.  a. 
Bei  Bemessung  des  Steuersatzes  sollte  ein 
3prozentiger  Satz  vom  Ertrag  angenommen 
werden,  da  aber  bezüglich  der  Fassionen 
und  Kontrolle  sich  imüberwindliche  Schwie- 
rigkeiten darboten,  so  wurde  füi-  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Beschäftigung  ein 
wahrscheinliches  mittleres  Minimum  und 
Maximum  des  reinen  Einkoramens  ange- 
nommen und  danach  die  Steuer  bemessen. 
Die  vier  Hauptklassen  wurden  nach  der 
Skala  wieder  in  verschiedene  Klassen  einge- 
teilt und  zwar  die  1.  Hauptklasse  in  8 
bezw.  5  Klassen  nach  dem  Ertrage  ohne 
Rücksicht  auf  Einwohnerzahl  oder  Betriebs- 
art, n.  Klasse  in  4  Unterabteilungen  (A — D) 
nach  den  verechiedenen  Städten  und  Orten, 
jede  Unterabteilung  wurde  in  verschiedene 
Klassen  zerlegt,  nach  dem  Betriebsumfange, 
die  ni.  Abteilung  zerfiel  seit  1823  ebenfalls 
in  4  Ortskiassen  mit  4 — 8  Unterklassen, 
In  der  IV.  Abteilung  ei-schienen  nicht  bloss 
wieder  die  4  Ortsklassen,  sondern  die  Dienst- 
leistungen sind  geteilt  in  solche  a)  zum 
Unterrichten,  b)  zur  Geschäftsvermittelung, 
c)  zur  Beförderung  von  Personen,  und  jede 
dieser  Abteilungen  zerfällt  wieder  nach  den 
4  Ortsklassen  in  Unterklassen  mit  festen 
Sätzen.  Die  Einrichtung  der  einzelnen 
steuerpflichtigen  Unternehmungen  richtet 
sich  nach  Merkmalen,  welche  das  Gesetz 
zwar  bezeichnet,  aber  der  Tarif  nicht  aufge- 
nommen hat,  vielmehr  der  Wahl  und  Wür- 
digung der  Steuerbehörden  überlässt,  deren 
Hauptaufgabe  darin  besteht,  eine  möglichste 
Uebereinstimmung  zwischen  den  Unterneh- 
mungen  mit   gleichartigen   Betriebsverhält- 


nissen herbeizuführen  (Dekret  v.  14.  Januar 
1813). 

Zu  den  festen  Steuersätzen  derKlassen- 
unterabteüungen  kommt  seit  1859  (V.  v.  13. 
Mai  1859)  ein  im  jährlichen  Finanzgesetze 
festgesteUier  ausserordentlicher  Zuschlag  in 
Form  von  Prozenten,  der  gegenwärtig  die 
Höhe  des  Ordinariums  beträgt,  so  dass  die 
Steuer  doppelt  so  hoch  ist,  als  sie  in  dem 
Steuergesetze  festgestellt  war.  Mit  Einfüh- 
rung der  Erwerbssteuer  wurde  eine  genaue 
Katastrierung  angeordnet.  Sie  erfolgte  und 
erfolgt  auf  Gnmd  des  Deklarationszwanges, 
der  genaue  Angaben  in  den  vorgeschriebenen 
Rubriken  sogar  unter  eidlicher  Versicherung 
verlangt.  Die  Yeranlagimg  selbst  ist  bureau- 
kratisch,  d.  h.  sie  geschieht  durch  die  Steuer- 
behörden unter  gutachtlicher  Mitwirkung 
der  Gemeindebehörden  (Steuerbemessungs- 
behörde I.  Instanz  —  Bezirkshauptmann- 
schaft, denen  ein  Steuerinspektor  als  Refe- 
rent zugeteilt  ist,  Steuerlokalkommissionen 
in  verschiedenen  Provinzialstädten,  Steuer- 
administration unter  Leitung  eines  höheren 
Finanzbeamten  in  Wien,  Prag,  Lemberg, 
Brunn,  Graz,  Triest  — ).  Nach  erfolgter 
Bemessung  erhält  jeder  Pflichtige  einen  Er- 
werbssteuerschein. Da  dieses  Patent  nur 
auf  3  Jahre  ausgestellt  wurde,  musste  der 
Erwerbssteuerkataster  alle  3  Jahre  einer 
Revision  unterstellt  werden.  Im  Jahre  1832 
wurde  die  Triannalbemessung  aufgehoben, 
und  seitdem  wird  die  Schuldigkeit  durch 
Zuwachs-  und  Abfallstabelle  in  Evidenz  ge- 
halten. Gegen  die  Festsetzung  der  Steuer- 
bemessungsbehörde steht  Rekurs  zur  Finanz- 
landesbehörde (Finanzlandesdirektionen  in 
den  einzelnen  Kronländern)  zu.  Die  Er- 
höhungen werden  dem  Pflichtigen  seit  1832 
durch  besonderes  Dekret  mitgeteilt,  wogegen 
ebenfalls  ein  Rekurs  zur  Finanzlandesbehörde 
wie  bei  Steuerbemessungen  zusteht. 

Die  österreichische  Erw^erbssteuer  wurde 
mit  Patent  v.  31.  Dezember  1812  in  Oester- 
reich,  Steiermark,  Klagenfurt,  Böhmen, 
Mähren,  Schlesien,  Galizien  und  Bukowina, 
im  Jahre  1815  in  Krain,  Villach  und  den 
Küstenländern,  1817  in  Tirol  und  Vorarl- 
berg, 1815  in  Salzburg  und  Innkreis  und 
1852  in  Krakau  und  Dalmatien  eingeführt. 

Neben  der  Erwerbssteuer  bestanden  noch 
als  Ertragssteuer:  die  (rrundsteuer  und  die 
Gebäudesteuer,  dazu  bis  1829  eine  Personal- 
steuer und  in  einzelnen  Pi-ovinzen  eine 
Judensteuer. 

Im  Jahre  1849  erfolgte  eine  durchgrei- 
fende Reform  aller  direkten  Steuern  mit 
Einführung  der  sixjciellen  Einkommensteuer 
(G.  V.  29.  Oktober  1849).  Seitdem  werden 
die  konzessionierten  Beschäftigungen  und 
Unternehmungen  in  Oesterroich  nach  zwei 
Systemen  besteuert:  1)  mit  der  Erwerbs- 
steuer   nach    der    Ertragsfähigkeit    bis    zu 


550 


Gewerbesteuer 


einem  MAximalsteuersatz,  2)  mit  der  Ein- 
kommensteuer nach  dem  wirklichen  Ertrage 
ohne  Maximalsatz.  Die  untersten  Erwerbs- 
steueiklassen  sind  von  der  Einkommensteuer 
frei;  sonst  wird  von  der  Steuer  des  wirk- 
liehen Ertrages  die  Erwerbssteuer  abge- 
rechnet und  nur  der  restige  Teil  als  Ein- 
kommensteuer vorgeschrieben-  Die  Erwerbs- 
gattungen, welche  der  Erwerbssteuer  unter- 
liegen, fallen  einschliesslich  des  Einkommens 
aus  Berg-  imd  Hüttenbetrieb  imd  Pachtungs- 
gewinn in  die  1.  Klasse  des  Einkommen- 
steuergebietes. Das  Mass  der  Einkommen- 
steuer bildet  für  diese  Klasse  5  ®/o  des  Ein- 
kommens ordentliche  Grebühr,  wozu  noch 
das  Extraordinarium  mit  ^/s  der  oMentlichen 
Gebühr  kommt.  Seit  dem  Jahre  1869  be- 
trägt die  Gesamtgebühr  lO^/o  des  Einkom- 
mens. Die  Handel-  und  Gewerbetreibenden 
sind  berechtigt,  bei  Auszahlung  der  Zinsen 
ihrer  Geschäftsschulden  im  ganzen  diese 
10*^/0  ihren  Gläubigern  in  Abzug  zu  bringen. 

Der  Hausierhandel  ist  nach  §  16  des 
Erwerbssteuerpatentes  insofern  besonders  be- 
steuert, dass  Hausierer  nicht  nach  der  all- 
gemeinen Regel  die  Erwerbssteuern  in  zwei 
Semestralraten ,  sondern  den  ganzjährigen 
Betrag  auf  einmal  im  voraus  zu  bezahlen 
haben  und  dass  sie  nach  den  Bestimmungen 
für  Provinzialliauptstädte  zu  klavssifizieren 
sind.  Die  Erteilung  der  Hausierpatente  ist 
in  den  Entscliliessungen  v.  4.  September 
1852  und  23.  Dezember  1881  geregelt. 

Durch  das  G.  v.  25.  Oktober  1896,  »die 
direkten  Personalsteuern  betreffend«,  wiu:den 
<lie  direkten  Steuern,  mit  Ausnahme  der 
Grund-  und  Gebäudesteuern,  einer  vollstän- 
digen Umwälzung  unterworfen,  insbesondere 
wurde  die  Gewerbesteuer  durch  eine  »allge- 
meine Erwerbssteiier«  (§§  1 — 123)  neu  regu- 
liert. Sie  wurde  als  Repartitionssteuer  mit 
einem  vorläufigen  Ertrag  von  17  732000  fl. 
festgelegt.  Die  Einsteuerung  erfolgt  nach 
4  Steuerklassen,  die  Angehörigen  jeder 
Steuerklasse  bilden  eine  Steuergesellschaft. 
Die  Veranlagung  geschieht  durch  die  imtere 
Steuerbehönle  auf  dem  Wege  der  Reparti- 
tion  auf  Grund  von  Erwerbssteuererklärungen 
in  der  Regel  auf  zwei  Jahre.  Die  Vornahme 
von  Aenderungen  im  Verhältnisse  der  von 
den  einzelnen  Steuergesellschaften  aufzu- 
bringenden Gesellschaftskontingente  erfolgt 
durch  eine  Kontingentkonimission  unter  dem 
Voreitze  des.  Finanzministers  mit  26  Mit- 
gliedern, welche  zur  Hälfte  vom  Finanz- 
minister  ernannt,  zur  anderen  Hälfte  von 
den  Erwerbssteuerlandeskommissionen  unter 
Verteilung  auf  die  verschiedenen  Kronländer 
gewählt  wei-den.  Die  Steuer  selbst  wird  nach 
einem  Schema,  enthaltend  die  bei  der  Ver- 
anlagimg anzuwendenden  Steuei-sätze  von  1  f  1. 
50  kr.  bis  1300  fi.,  von  den  Steuerkommis- 
sionon  festgesetzt,  wogegen  Beschweixle  an 


die  Finanzlandesbehörde  offen  steht  —  Hiei-zu 
sind  umfangreiche  Vollzugs  Vorschrif- 
ten —  auch  für  die  Klassifikation  der  Unter- 
nehmungen und  Beschäftigungen  —  durch 
den  Finanzminister  am  28.  Juni  1897  er- 
lassen und  im  Reichsgesetzbiatt  1897  S.  139 
bis  321  publiziert  worden. 

Besondere  Vorschriften  bestehen  noch 
(§  78  des  allgemeinen  Gesetzes)  für  die 
Hausierer  und  Wandergewerbe, 
welche  auch  die  Handlungsreisenden,  welche 
nicht  im  Dienst-  und  Lohnverhältnisse  stehen, 
umfasst.  Allgemeiner  Grundsatz  dabei  ist, 
dass  derartige  Unternehmungen  an  jedem 
Betriebsorte  besonders  einzusteuern  sind. 

12.  Ungarn.  In  Ungarn  bestand  früher 
die  sogenannte  Dikalsteuer,  eine  allgemeine 
Vermögenssteuer,  eigentlich  eine  Realsteuer. 
Die  Kontribution,  Grundsteuer  mit  Ver- 
mögenssteuer verbunden,  wiuxie  nach  den 
Ergebnissen  der  Konskriptionen  auf  Grund 
der  sogenannten  Dika  verteilt  An  Stelle 
dieser  Steuer  trat  eine  Personalerwerbssteuer, 
nach  welcher  alle  über  16  Jahre  alten  Ein- 
wohner des  Königreichs  ohne  Unterschied 
des  Geschlechts  je  nach  der  Beschäfti- 
gungsart mit  einer  Steuer  von  21  kr.  bis 
10  fl.  belegt  winden.  Dazu  kam  gemäss 
Einkommensteuerpatents  v.  25.  April  1850 
die  in  Oesterreich  eingeführte  specielle  Ein- 
kommensteuer, welche  auf  die  Länder  der 
ungarischen  Krone  ausgedehnt  wurde. 

Im  Jahre  1875  wurde  eine  durchgreifende 
Reform  vorgenommen.  Es  wurde  eine  all- 
gemeine Personalerwerbssteuer  (29.  Gesetz) 
eingeführt.  Dieselbe  umfasst  sämtliche  Ein- 
kommen in  vier  Klassen :  1.  Klasse :  die  land- 
wirtschaftlichen imd  sonstigen  Dienstleute 
mit  einem  40  fl.  leicht  übersteigenden  Monats- 
lohn, dann  Handwerker  und  Hausierer. 
Befreit  sind  die  Tagelöhner.  Die  Steuer 
beträgt  60  kr.  bis  5fl.,  für  Familienoberhäupter 
nach  Ortschaftsklassen  1 — 12  fl.  —  2.  Klasse : 
für  die  bereits  besteuerten  Grund-  und 
Hausbesitzer,  die  Oberhäupter  der  Haus- 
kommunionen und  die  von  der  Rentensteuer 
betroffenen  Pei*sonen.  Die  Steuer  beti^ägt 
2 — 4  fl.,  je  nachdem  die  sonstige  direkte 
Steuer  50  fl.  übersteigt.  —  3.  Klasse :  für  die 
Pächter,  Fabrikanten  und  Gewerbetreibenden, 
Handelsleute  und  Apotheker  und  die  intel- 
lektuellen Beschäftigungen  (Aerzte,  Advo- 
katen, Künstler,  Lehrer).  Die  Steuer  beträgt 
auf  Grund  des  fatierten  dreijährigen  Durch- 
schnittseinkommens nach  äusseren  Merk- 
malen unter  Einhaltung  von  Minimalgrenzen 
nach  Gewerbe  und  Miete  lO^/o  des  Ein- 
kommens. —  4.  Klasse:  Besoldungen,  Pen- 
sionen, Privatgehälter  über  40  fl.,  mit  l^/o 
bei  500  fl.,  l>is  lO^/o  über  6000  fl.  Einkom- 
men. Bei  Trennung  des  Sitzes  des  Unter- 
nehmei*s  vom  Standorte  des  Etablissements 
sind  20^/0  am  Sitze  und  80^/o  am  Standorte 


Gewerbesteuer 


551 


vorzuschreiben;  70%  der  Erwerbssteuer 
sind  als  Staatssteuern,  30%  als  Grundent- 
lastungsbeitrag einzuheben. 

Ton  der  Erwerbssteuer  sind  ausgeschie- 
den a)  die  zu  öffentlicher  Rechnungslegung 
yerpfliditeten  Unternehmungen,  welche  eine 
Gesellsdjaftssteuer  (1875)  mit  10%  bikn- 
ziertem  Reingewinn  imd  3V2%  des  Gnmd- 
eigentums  der  Steuersumme  bezahlen.  Als 
Abzugsposten  gelten  hier  die  Passivazinsen 
und  die  dem  Reservefonds  zur  Ergänzung 
des  abgenutzten  Materiales  zugewiesenen 
Betr%o,  b)  die  Bergwerke  (1875),  welche 
eine  ßergwerkssteuer  von  7"/o  Ordinarium 
und  7,98  %  Zuschlag,  c)  Kohlenwerke,  welche 
5^/o  Uixlinarium  und  5,60%  Zuschlag  be- 
zahlen, d)  das  Zinsen-  und  Rentenein- 
kommen,  e)  geraeinsame  österreichisch-unga- 
rische rnternehmungen  (1870),  welche  der 
Östen*eichischen  Steuer  unterworfen  sind. 

Neben  der  Erwerbssteuer  besteht  seit 
1875  auch  der  allgemeine  Stenerzusclilag, 
der  für  Grundbesitzer  den  fünffachen,  für 
Gebäudebesitzer  den  zehnfachen,  für  Berg- 
bau und  zur  öffentlichen  Rechnungslegung 
verpflichtete  Unternehmungen  den  fünf- 
fachen, Gewerbe  (3.  Klasse)  den  achtfachen, 
für  Zinsen  und  Renten  den  sechsfachen  und 
bei  stehenden  Bezügen  den  zehnfachen  Be- 
trag der  von  demselben  im  Vorjahi-e  be- 
zahlten Steuer  ausmacht. 

C.  Uebrige  Staaten  Europas. 

13.  England.  Wie  wir  oben  (S.  538) 
gesehen,  besitzt  England  die  älteste  Perso- 
naleinkommenstener,  welche  von  Pitt  im 
Jahre  1798  eingeführt,  nach  dem  Frieden 
von  Amiens  aufgehoben,  schon  im  Jalu^ 
1803  wieder  eingeführt,  1816  abermals  auf- 
gehoben und  im  Jalire  1842  von  Robert  Peel 
abermals  eingeführt  wui-de,  wie  sie  heute 
noch  besteht.  Es  ist  dies  die  »property  and 
income  tax«  —  Eigentums-  und  Einkommen- 
steuer, wie  sie  durch  Hauptgesetz  5  und  6 
Viet.  c.  35  des  Jalires  1842  (23.  Juni)  ge- 
setzlich festgestellt  und  im  Jahre  1853  auf 
Irland  ausgedehnt  wurde.  (Vgl.  d.  Art.  Ein- 
kommensteuer in  Grossbritannien 
und  Irland  oben  Bd.  IH  S.  429ff.) 

Dieses  Sj-steni  fasst  unter  Schedula  D. 
alle  Erwerbsformen  durch  Selbstbekenntnis. 
Daneben  besteht  noch  aus  dem  vorigen  Jahr- 
himdert  die  Besteuerung  einzelner  Gewerbe 
unter  der  Form  von  Licenses  —  Kommis- 
sionsgebühren — ,  ohne  irgend  welche  ratio- 
nelle Oitlnung,  ohne  Kataster,  ohne  Kon- 
troUe. 

Betrachtet  man  zuvor  die  »income  tax«^, 
60  fallen  unter  Schedula  D.  alle  Erträgnisse 
und  Beschäftigungen,  die  nicht  unter  die 
anderen  Schedula  fallen,  so  zwar  a)  gewerb- 
liche und  Handelsunternehmungen  (trade) 
nach   dem  vollen  Durchschnittsertrage    der 


letzten  drei  Jahre;  neuere  Geschäfte  von 
dem  Beginne  an.  Bleibt  der  Ertrag  des 
Steuerjahres  unter  dem  Durchschnitte,  so 
kann  Einsteuenmg  nach  diesem  Müidei*er- 
trage  oder  Rückvergütimg  verlangt  weinien. 
Eine  Steuererhöhung  im  umgekehrten  Falle 
können  die  Beamten  nicht  fordern.  Abge- 
zogen darf  nur  werden,  was  in  der  Durch- 
schnittsperiode (3  Jahre)  für  Reparaturen 
der  Gewerbsgebäude,  Anschaffimg  von  Werk- 
zeugen, Verluste  von  uneinbringlichen  Posten 
ausgegeben  wurde.  Nicht  abgezogen  dürfen 
werden  sonstige  Verluste,  zurückgezogene 
und  verwendete  Kapitalien,  Zinsen,  Meliora- 
tionen, Ausstände;  b)  künstlerische  imd 
wissenschaftliche  Berufsarten  nach  Massgabe 
des  vorjährigen  Ertrages;  c)  Grunderträg- 
nisse von  ungewissem  jährlichen  Ertrage, 
die  nicht  nach  Schedula  A.  besteuert  sind, 
ebenso  Zinsen,  die  nicht  unter  Schedula  C. 
fallen  (unter  5  £  jährlich) ;  auch  Viehhändler, 
Milchverkäufer,  deren  Grund  und  Boden 
zum  Halten  des  Viehes  nicht  ausi^eicht. 

Das  Mass  der  Steuer  wird  jährlich  fest- 
gesetzt (3—6  d.  per  1  £  oder  IVi— 21/20/0). 
Die  Steuer  beruht  auf  Deklarationspflicht 
unter  Androhimg  von  Strafen  (50  £)  und 
unter  Gewährung  vieler  Kontrollmittel  für 
die  Steuerbehörde.  Bei  dennoch  unter- 
bliebener Deklaration  wird  häufig  höher  ein- 
geschätzt und  dem  Pflichtigen  überlassen, 
seine  Reklamation  zu  begründen.  Rück- 
sichten auf  die  Geheimhaltung  der  Einkom- 
mensverhältnisse haben  die  Einfühnmg  von 
Specialkommissären  des  GenenUsteueiumtes 
veranlasst,  um  nicht  die  Geschäftstreibenden 
von  Lokalorganen  und  Konkurrenten  ab- 
schätzen zu  lassen.  Mit  diesen  können  auch 
von  gi'össeren  Häusern  »Abfindungen«  ver- 
abredet werden.  Als  fiskalische  Vertreter 
erscheinen  die  Steueraufseher  und  Steuer- 
inspektoren. Steuerfrei  sind  nur  Stiftung-en, 
Gesellschaften  und  Anstalten  für  wohlthätige 
Zwecke  sowie  Einkommen  unter  150  £*. 
Anhaltspunkte  für  Bemessung  des  Ertrages 
giebt  das  Gesetz  nicht,  es  muss  dies  die 
Praxis  ausgleichen. 

Die  Steuerfestsetzung  geschieht  in  der 
Sitzung  des  Steuerausschusses  —  der  Beige- 
ordneten (additional-commissioners) — welche 
für  jeden  Steuerdistrikt  in  der  Zahl  von 
2 — 7  Personen  gewählt  werden.  Dieser 
Steuerfestsetzung  geht  aber  ein  umständ- 
liches Verfalu^n  voraus.  Das  Steueramt 
schickt  jedes  Jahr  die  Fassionslagen  aus, 
der  Einsteuerer  bringt  die  Fassionen  in  eine 
Liste,  mit  Bezeichnung  derjenigen,  welche 
fatiert  haben  und  welche  im  besonderen 
Verfahi'cn  von  der  Specialkommission  ein- 
gesteuert sein  wollen.  Diese  Liste  geht 
zum  Steueraufseher  (Inspektor),  welcher  sie 
prüft  und  den  Beigeordneten  vorlegt. 

Die  Besclilüsse  der  Beigeordneten  werden 


552 


Gewerbesteuer 


den  Generalkommissären  vorgelegt,  welche 
jede  BesteueruDg  beanstanden  und  nach 
Vernehmung  der  Beteiligten  entscheiden 
können.  Auch  der  Steuerinspektor  kann  an 
den  GeneraJkommissär  appellieren,  ebenso 
die  Pflichtigen.  Die  Generalkommissäre 
können  wiederholt  Fassionen,  Bücherausztige, 
Abschlüsse  fordern  und  die  Pflichtigen  ein- 
vernehmen, sogar  auf  Eid.  Doch  darf  Ein- 
sicht fremder  Geschäftsbücher  selbst  nicht 
verlangt  werden.  Die  Bescheide  der  Gene- 
ralkommissäre sind  inappellabel.  Statt  an 
die  Generalkommissäre  kann  auch  an  die 
beiden  für  jeden  Bezii*k  ernannten  Special- 
kommissäre appelliert  werden,  welche  ent- 
weder selbständig  und  endgültig  entscheiden 
wie  die  Generalkommissäre  oder  unbeschadet 
späterer  Benifimg  den  Fall  zur  Entschei- 
dung an  das  Steueramt  ziu*ückgeben. 

Neben  der  Einkommensteuer  bestehen 
aber,  wie  bemerkt,  als  Specialgewerbesteuern 
die  Lizenzabgaben  des  Stempelamtes.  Sie 
betreffen  den  Beruf  der  Rechtsanwälte,  No- 
tare und  die  verschiedensten  Gewerbe.  Ihre 
Geschichte  ist  alt,  wie  oben  gezeigt  wurde. 
Zur  Zeit  bestehen  noch  Lizenzabgaben  für 
Stadtkutscher,  Landkutscher,  Wirtsteuer, 
Eisenbahnen ,  Branntweinschenken  und 
Branntweinbrennereien ,  Apotheker  imd 
Gärtner,  Bierbrauer,  Mälzer,  Bierhändler, 
Malzhändler,  Bierwirte,  Obstweinschenken, 
Speisewirte,  Verabreichung  von  Getränken 
auf  Passagierschiffen, Wein-  und  Metschenken, 
Essig-,  Papier-  und  Tabakfabriken,  Seifen- 
sieder, KaÖee-,  Thee-,  Kakao-  und  Choko- 
ladehändlor,  Tabakhändler,  Rechtsanwälte, 
Notare  und  Conveyancer,  Bankhäuser,  Kar- 
tenfabrikanten ,  Würfelmacher ,  Patentver- 
käufer, Gold-  und  Silberarbeiter  imd  Händler, 
Taxatoren,  Auktionatoren,  Mäkler,  Wildpret- 
händler,Leihhausunternehmer,Hausierhandel, 
Wagen  und  Pferde  zu  gewerblichem  Zwecke 
(landwirtschaftliche  Pferde  sind  steuerfi*ei) 
und  Gewerbegehilfen.  Ausserdem  gehört 
noch  hierher  die  eigentliche  Accise  von 
Kohlen,  Bier  und  Branntwein,  wozu  schliess- 
lich die  Getreide-,  Fleisch-  und  Holzzölle 
kommen,  welche  ebenfalls  Einfluss  auf  die 
gewerblichen  und  Handelsunternehmungen 
äussern.  Die  eigentliche  Lizenzbesteuenmg 
—  welche  deslialb  als  wirkliche  Gewerbe- 
steuer erscheint,  weil  die  Steuern  das  Mass 
einer  Gebühr  für  den  Lizenzschein  weit 
übersteigen  — ,  ist  systemlos  und  deshalb 
insbesondere  mit  Rücksicht  darauf  von  der 
Wissenschaft  und  Politik  auf  das  heftigste 
befehdet  worden,  weil  das  Gewerbe  durch 
die  höhere  Vermögensbesteuerung  heute 
eben  durch  die  Einkommensteuer  (Sched.  D.) 
als  Ertrags! [uelle  ohnehin  vollkommen  mit 
einer  Staatssteuer  betroffen  ist. 

14.  Frankreich,  a)  Einleitung.  In 
Frankreich  hat  sich   die  Besteuerung,  wie  sie 


in  der  Zeit  der  ersten  Revolution  und  unter 
Napoleon  I.  gefipeben  war,  im  wesenüichen  un- 
verändert erhalten.  Als  direkte  Steuern  be- 
stehen: 1.  die  Grundsteuer  (GG.  v.  23.  Novem- 
ber, 1.  Dezember  1790  mit  der  Kodifikation  v. 
23.  November  1798  —  3.  Primaire  VH  —  Ka- 
taster-G.  v.  26.  September  1807  und  G.  v.  29. 
Juli  1881  über  Teilung  der  Grundsteuer  in  die 
von  proprietes  bftties  und  non  bäties),  2.  Mo- 
bilien-  und  Personalsteuer,  eine  Art  Einkom- 
mensteuer (GG.  V.  13.  Juni,  18.  Februar  1791, 
23.  Dezember  1798  —  3.  Nivöse  VH  -  und 
G.  V.  21.  August  1832);  3.  Thür-  und  Fenster- 
steuer (G.  V.  24.  November  1798  —  4.  Primaire 
VII  —  20.  April  1832);  4.  die  Patentgewerbe- 
steuer. 

Letztere  Steuer  —  contribution  des  paten- 
tes —  wurde  mit  G.  v.  2./17.  März  1791  im 
Princip  festgesetzt,  aber  erst  mit  G.  v.  22.  Ok- 
tober 1798  —  1.  Primaire  VII  —  eingeführt. 
Frankreich  besitzt  weder  eine  allgemeine  Per- 
sonaleinkommensteuer nach  Verhältnis  des  Ein- 
kommens noch  eine  allgemeine  Zinsrenten- 
steuer, dagegen  eine  Personalabgabe  (Zifi^.  2 
oben),  welche  ohne  Rücksicht  auf  die  Grösse 
des  Einkommens  erhoben  wird,  sich  halb  na^h 
Arbeitslohn,  halb  nach  Wohnungsmiete  bemisst 
und  nach  dem  Werte  des  dreitägigen  Arbeits- 
lohnes und  der  Miete  berechnet  wird.  Diese 
Steuer  wird  von  jedermann  entrichtet  —  frei 
sind  nur  Ehefrauen  und  Diener  —  und  umfasst 
ca.  Vb  der  Geamtbe Völker ung.  Sie  ist  Reparti- 
tionssteuer  wie  die  Grund-  und  Fenstersteuer, 
d.  h.  sie  ist  auf  die  Arrondissements  repartiert, 
welche  die  Steuer  in  der  Weise  erheben,  dass 
zuerst  der  fixe  dreitägige  Arbeitsverdienst  (17« 
bis  47»  Francs)  summiert  und  der  Rest  nach 
dem  Mietwert  repartiert  wird.  Einige  Gemein- 
den decken  diese  Steuer  ganz  aus  den  städti- 
schen Verzehrungssteuem. 

Die  Patentsteuer  ist  dagegen  eine  quotierte 
Steuer  vom  Erwerb  in  Handel,  Industrie  und 
Gewerbe. 

Gleichzeitig  mit  dem  G.  v.  2.  März  1791 
war  die  Gewerbefreiheit  proklamiert  worden. 
Dagegen  verlangte  man  Anmeldung  der  ge- 
werblichen Unternehmunpfen  und  Entnahme 
eines  „Patentes",  wofür  die  Zahlung  einer  Ab- 
gabe festgesetzt  wurde,  daher  der  Name.  Hier- 
mit war  der  erste  Grundsatz:  Anmeldung  des 
Gewerbebetriebes  zur  Steuerveranlagung  ange- 
nommen. Aus  der  anfänglich  geplanten  5e- 
steuerung  der  gewerblichen  Einkünfte  mit  den 
Mobiliarsteuern  entnahm  man  den  zweiten 
Grundsatz:  Besteuerung  nach  einem  Proportio- 
nalsatz vom  Mietwerte  der  Räume  in  Sätzen, 
von  10,  12  Va  und  15  °o  des  Mietbetrages,  zu- 
nächst noch  ohne  festen  Satz.  Am  21.  März 
1793  wurde  diese  Steuer  wieder  aufgehoben 
und  die  gewerblichen  Einkünfte  der  Mobiliar- 
steuer unterstellt,  am  22.  Juli  1795  wurde  aber 
die  Patentsteuer  wieder  eingeführt  (G.  4.  Ther- 
mid.  lil).  Dieses  Gesetz  enthielt  den  festen 
Satz  (droit  fixe)  nach  6  Klassen  von  Gewerben 
und  4  Ortsverwaltungsklassen.  Während  der 
Zeit  der  Republik  wurde  die  Steuer  dahin  ent- 
wickelt, dass  zu  deren  Anmelde-  und  Patent- 
nahmezwauge  dann  dem  droit  fixe  noch  Pro- 
portionssätze nach  dem  Mietwerte  (droit  pro- 
portionel)  hinzutreten  (GG.  v.  6.  Fruct.  IV,  9. 
Prim.  V,  1.  Prim.  VII).     Die  Fortbildung  be- 


Gewerbesteuer 


553 


stand  in  einer  weiteren  Ausbildung  des  Klassen- 
systems;  die  Grundzüge,  blieben  bis  heute  die- 
selben. Hierbei  gelangte  man  bei  der  Industrie 
und  den  grösseren  Handels-  und  Gewerbege- 
schäften zur  Einfügung  von  veränderlichen 
Steuersätzen  (droit  variable)  nach  Merkmalen 
des  Betriebsumfanges  und  damit  zur  Klassifi- 
kation der  Gewen)e  nach  dessen  Merkmalen, 
und  zwar  sowohl  ohne  Eücksicht  auf  die  Orts- 
bevölkerungsklassen als  auch  mit  Bücksicht 
auf  dieselbe.  Mit  dem  Haupt-G.  v.  25.  April 
1844  kam  die  Reform  zum  vorläufigen  Ab- 
schluss.  Indessen  hat  man  immer  freiere  Ka- 
suistik, immer  grössere  Specialisierung  der 
Klassifikation  und  der  Steuersätze  versucht, 
dabei  Erleichterungen ,  Beschränkungen  und 
Ausnahmen  bezüglich  des  Kleingewerbes  sowie 
Ausdehnungen  der  Patentsteuerpflichtigkeit  auf 
die  sogenannten  liberalen  Professionen  erstrebt, 
so  dass  nach  verschiedenen  Zwischengesetzen 
am  15.  Juli  1880  eine  neue  —  die  heute  gel- 
tende —  Kodifikation  des  Gesetzes  erfolgte. 

b)  Geltendes  Recht.  Nach  diesem 
Gesetze  umfasst  die  Patentsteuor  vier 
Grupi)en:  A.  Gewöhnliche  Kaufleute  und 
Handwerker  (^:ö  der  Patentsteuerpflichtigen). 
Diese  bezahlen  die  fixe  Gebühr  (64  feste 
Steuersätze)  von  2—300  Frcs.,  die  in  8  mal 
8  Abstufungen  mit  S  Ünterabteilimgen  mit 
wieder  8  Ortsklassen  abgeteilt  sind.  Die 
proportionale  Abgabe  ist  bei  der  1.  üm- 
fangsklasse  Vis,  bei  der  2. — 6.  1/20,  bei  der 
7.  und  8.  ^/4o.  ß.  GiossunternehmuDgen 
des  Handelstransportes,  Bankiers  etc.  mit 
höheren  als  den  allgemeinen  festen  Sätzen. 
Diese  haben  fixe  Sätze  nach  der  Bevölke- 
nmgszahl  in  5  Klassen  unveränderliche  Ge- 
bühr Vio  des  Geschäftsmietwertes  zu  be- 
zahlen. C.  Alle  grösseren  industriellen  und 
gewerblichen  Unternehmungen,  soweit  sie 
nicht  in  Klasse  A  fallen,  Hüttenwerke, 
Fabriken,  Aktien-  und  ähnliche  Gesell- 
schaften, Hausiergewerbe,  ohne  Abstufung 
in  5  Specialgattungsklassen  mit  zahlreichen 
einzelnen  Rubriken ;  diese  Klasse  ist  in  fixer 
Gebühr  nicht  nach  Ortsbevölkerung,  sondern 
nach  grösseren  Merkmalen  (Arbeiter,  Ma- 
scliinen,  Aktienkapital  etc.),  wobei  jedoch 
ein  Maximum  von  variablen  fixen  Sätzen 
bestimmt  ist.  Die  proporlioneUe  Abgabe 
legt  sieh  zwischen  ^/is — ^/öo.  D.  Eine  Ta- 
belle jener  Geschäfte,  welchen  die  Gebühr 
anders  als  mit  dem  gewöhnlichen  Satze  von 
^/äo  auferlegt  ist,  trifft  die  sogenannten  libe- 
ralen Berufsarten  mit  einer  Gebühr  von  ^/is 
des  Mietwertes  ohne  fixe  Gebühr.  Steuer- 
frei sind  Beamte,  Lehrer,  Flickgewerbe, 
Höcker,  gemeine  Hausierer.  Die  Veranla- 
gung und  Katastrierung  ist  eine  bureaukra- 
tische,  sie  erfolgt  durch  die  Kontrolleure 
der  direkten  Steuern  unter  Mitwirkung  des 
Maire,  Unterpräfekten  und  Direktors  der 
dii'ekten  Steuern.  Die  Steuer  setzt  der 
Präfekt  fest.  Dagegen  Reklamation  zum 
Direktor  der  direkten  Steuern.    Der  Kataster 


wurde  innerhalb  5  Jahren  einer  Haupt-  und 
alle  Jahre  einer  Specialre\ision  unterzogen. 
Die  Gemeinden  sind  durch  Zuteilung  eine& 
Sprozentigen  Anteils  am  Erträgnisse  inte- 
ressiert. 

Der  Ertrag  der  kodifizierten  Patentsteuer 
war  im  Budget  pro  1898  mit  127  433  000  Frcs. 
eingesetzt. 

lieben  dieser  Gewerbesteuer  belasten  die 
gewerblichen  und  kommerziellen  Unterneh- 
mungen noch  mehrere  andere  direkte  und 
indirekte  Steuern.  Getränkesteuer,  Monopole 
auf  Tabak,  Zündhölzchen,  Pulver,  direkte 
Genuss-  und  Verbrauchssteuern  auf  Wagen, 
Pferde,  Billards,  ausserdem  aber  die  Lizenz- 
steuer, welch  letzterer  eine  Reihe  von  Ge- 
werben im  Gebiete  der  verbrauchssteuer- 
pflichtigen Getränke,  Fabrikanten  und 
Händler  mit  Gel,  Spielkarten,  Salpeter, 
Rtiben-  und  Stückzucker,  Kapern,  Essig, 
Papier,  Seife,  Cichorie,  öffentliches  Fuhr- 
werk und  Eisenbahnen  unterworfen  sind. 
Die  Grundlage  bildet  das  G.  v.  28.  April 
1816  mit  dem  G.  v.  21.  April  1831. 
Der  Steuersatz  besteht  in  der  Regel  im 
Fixum  für  das  Quartal;  bei  einzelnen  Ge- 
werben ist  der  Satz  nach  Ortsklassen  ver- 
einbart. Seit  G.  v.  1.  September  1871  wur- 
den die  Principalsätze  verdoppelt  und  ein 
Zusatz  von  5%  festgesetzt. 

16.  Italien.  Italien  besteuert  den  ge- 
samten Erwerb  durch  die  seit  dem  24 
August  1877  eingeführte  »Einkommen- 
steuer« (s.  d.  Art.  oben  Bd.  III  S.  436  ff.). 
Dieselbe  ist  der  englischen  income  tax 
nachgebildet,  sie  nähert  sich  mehr  der 
deutschen  Einkommensteuer;  sie  bezog  so- 
wohl den  persönlichen  als  den  gewerb- 
lichen Erwerb  wie  auch  den  Unterneh- 
mungsertrag in  diese  Steuer  ein,  verband 
damit  zugleich  die  Kapitabentcnsteuer  und 
setzte  für  alle  diese  Steuerquellen  einen 
Steuerfuss  fest  Die  imposta  sulla  richezza 
mobile  beruht  auf  der  Klassifikation  aller 
Erw^erbsformen  in  29  Gruppen  und  888 
Unterabteilungen.  Objekt  der  Steuer  ist 
das  »Einkommen  (reddito)  aus  Handel,  In- 
dustrie, Gewerbe,  freien  Benifsarten,  Ge- 
hälter und  Pensionen,  femer  Dividenden, 
Zinsen  und  Renten.«  Als  Abzugsposten  für 
Berechnung  der  Einkünfte  (des  Einkommens) 
gelten  bei  industriellen  Unternehmungen 
der  Verbrauch  von  Rohstoffen,  Werkzeugen, 
Arbeitslöhne,  Lokalmiete,  Verluste  und 
sonstige  Spesen.  Nicht  abgezogen  düi'fen 
werden  die  Zinsen  der  im  Gewerbe  ange- 
legten Kapitalien,  der  Anschlag  der  Arbeits- 
leistung des  Beitragspflichtigen  selbst,  seiner 
Frau  und  seiner  Söhne.  Steuerfrei  sind  Ein- 
kommen unter  400  Lire,  von  4  —800  Lire  u.  s.w. 
ist  Progression  eingeführt.  Der  Ertrag  selbst 
bildet  die  Steuereinheit ;  hierfür  ist  die  jähr- 
liche  Steuerquote    im  Finanzgesetz    festge- 


654 


Gewerbesteuer 


stellt.  Diese  Steuereinheit  wird  aber  nur 
bei  allen  reinen  Kapitalsanlagen  ganz  in  An- 
schlag gebracht;  bei  der  Klasse  b:  bei  den 
gewerbHdien  Betrieben,  bei  denen  Yerbin- 
dung  von  Kapital  und  Arbeit  besteht,  wer- 
den nur  ^/s  des  Ertrags  und  bei  Klasse  c: 
den  Einkünften  aus  der  Arbeit  allein  (Ge- 
hälter, Löhne)  °/8  des  Ertrags  als  Steuer- 
grundlage genommen.  So  ist  zwischen  fun- 
diertem und  nicht  fimdiertem  Einkommen 
unterschieden.  Der  Steuersatz  selbst  be- 
tragt seit  1870  13,20  ^/o.  Die  Grundlage  der 
Einsteuenmg  bildet  die  Katastrienmg,  jene 
der  Erhebung  der  Eintrag  in  die  Heberolle 
nach  einem  sorgfältig  entwickelten  Anlage- 
verfahren. Die  Steuerperioden  umfassen  2 
Jahre,  Zu-  und  Abzüge  müssen  aber  sofort 
mit  dem  Tage  des  Eintrittes  in  Beiilcksich- 
tigung  gezogen  werden.  Neben  dieser  Ein- 
kommensteuer kommen  in  Betracht  die  Ge- 
bühren für  Rechtsgeschäfte,  —  tasse  sugli 
affari  —  welche  als  Gebühren  bezeichnet 
w^erden,  in  der  That  aber  eine  Verkehrs- 
und Stempelsteuer  sind. 

16.  Russland.  In  Russland  bestand  bis 
zum  Jahre  1882  die  seit  1718  eingeführte 
Kopfsteuer,  welche  neben  der  Grundsteuer 
den  Bauern  mit  80  Kopeken,  den  Bürger 
mit  1  Rubel  20  Kopeken  besteuerte.  Der 
Adel  wai"  steuerfrei.  Erst  mit  Aufhebnug 
des  Gutsverbandes  und  Gutsentlastung  be- 
gann eine  Steuerreform.  Nach  dem  ükas 
V.  18.  Mai  1882  sollte  die  Kopfsteuer  durch 
andere  Steuern  allmählich  ersetzt  werden. 
]Vüt  Erlass  v.  13.  Mai  1883  wurde  die  Kopf- 
steuer bedeutend  ermässigt.  Eine  eigent- 
liche Gewerbesteuer  —  Handelssteuer  — 
bestand  seit  dem  Jahre  1865  (G.  v.  9.  Fe- 
bruar 1865).  Sie  zerfällt  ebenfalls  in  eine 
fixe  und  eine  Betriebssteuer.  Die  ei-ste  war 
wieder  in  zwei  Klassen  eingeteilt:  a)  Bank- 
geschäfte, Aktiengesellschaften,  Geschäfte 
für  auswärtigen  Seehandel  mit  einer  fixen 
Steuer  von  600  Thlm.;  h)  Kleinhandel  mit 
niederen  Sätzen.  Daneben  bestand  die  Be- 
triebssteuer von  wirklichen  Betrieben  der 
patentierten  Geschäfte,  die  durch  den  indi- 
viduellen (Gewerbeschein  (BiUet)  erhoben 
wiu-de.  Der  Steuerfuss  ist  verschieden  nach 
den  verschiedenen  Städten,  das  Bület  galt 
nur  für  j  e  d  e  Betriel>sanstalt,  Bude,  Magazin, 
Nie<lerlassung. 

Mit  dem  Jahre  1883  begann  eine  Reform 
dieser  imausgebUdeten  Steuer,  welche  mit 
dem  G.  v.  5.17.  Juni  1884  zum  Abschlüsse 
kam.  Danach  sind  Handelsscheine  zu  lösen 
für  Kaufleute  erster  und  zweiter  Gilde, 
Scheine  für  Kleinhandel  in  5  Ortschafts- 
klassen, Gewerbescheine  nacih  Kategorieen 
mit  je  5  Ortscliaftsklasseu,  ferner  BiUets  iixr 
Handels-  und  Gewerbeetablissements  und 
Kommisseheine.  Alle  Kleingewerbe  ohne 
Gehilfen  sind  fi-ei.    Die  grösseren  Gewerbe 


zahlen  einmal  eine  fixe  Kafasti'alsteuer,  da- 
neben noch  eine  Zuschlagssteuer  nach  der 
Schätzung  jeden  Erwerbes  nach  dem  Steuer- 
einkommen. Die  Gew^erbe  müssen  selbst 
fatieren ;  Erwerbsgesellschaften  jährliche 
Rechenschaftsberichte  veröffentlichen  (G.  v, 
15./27.  April  1885).  Letztere  Steuer  soU 
8^/o  vom  Steuereinkommen  ergeben.  Da- 
neben wbxl  der  Handel  auf  Jahrmärkten 
besonders  besteuert  (G.  v.  26.  Aprü  1883). 
Eine  persönliche  Enverbs-  oder  Einkommen- 
steuer besteht  daneben  seit  Aufhebung  der 
Kopfsteuer  nicht  mehr.  Dagegen  müssen 
alle  Gesuche  mn  Konzessionserteilung  auf 
Stempelpapier  geschrieben  sein. 

17.  Anaere  europäische  Staaten.  Von 
anderen  europäischen  Staaten  sind  noch  zu 
erwähnen:  die  Niederlande,  welche  so- 
gar mit  Schaffimg  einer  systematischen  Ge- 
werbesteuer energisch  vorgingen  und  mit 
G.  V.  29,  IVIai  1819  und  6.  Aprü  1824  die 
Gewerbesteuer  (droit  de  patente)  mit  aus- 
führlicher umfassender  Tarifierung  und  Be- 
rücksichtigung des  Betriebes  nach  äusseren 
Merkmalen  imd  Anlagekapital  einführten. 
Im  Jahi*e  1870  wurden  alle  bisherigen  Ge- 
setze kodifiziert  imd  bei  den  Aktiengesell^ 
Schäften  der  Ertrag  nach  der  Jahresbilanz 
zu  Grunde  gelegt.  Daneben  besteht  eine 
allgemeine  Personalsteuer,  welche  nach  dem 
Mietwerte  der  Wohnungen,  der  Zahl  der 
Fenster  und  Thüren,  der  Feuerstätten,  des 
Wertes  des  Mobiliars,  der  Zahl  dßr  Dienst- 
boten, der  Pferde  angelegt  ist. 

Dieselben  gewerblichen  Steuern  bestehen 
in  Belgien,  welches  Land  ebenfetüs  die 
droit  des  patentes  und  cote  personelle  hat; 
Spanien  hat  nur  eine  Einkommensteuer, 
Serbien  eine  Steuer  von  Arbeitsverdienst 
und  eine  Personalsteuer,  Bosnien  eine 
Einkommen-  und  Kleinvielisleuer,  Bulga-^ 
rien  ein  revidiertes  Gewerbesteuergesetz 
vom  21.  Juni  1895,  Schweden  und  Nor- 
wegen haben  keine  Gewerbesteuer;  ersterea 
nur  eine  Einkommensteuer,  letzteres  aucli 
keine  Einkommensteuer. 

B.  Amerika. 

18.  Vereinigte  Staaten  von  Amerika« 

In  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
besteht  die  Steuer  der  Bundesregierung 
lediglich  in  der  Grundsteuer  und  einer  per- 
sönlichen Vermögenssteuer.  Die  inländische 
Steuer  beschränkt  sich  auf  destillierte  Spiri- 
tuosen, Biere,  fabrizierte  Cigarren  und  Taoak, 
sowie  Banksteuern.  Die  Steuer  von  fabri- 
ziertem Tabak  beträgt  8  Cents  per  Pfund 
(Rohtaliak  oder  Blätter  sind  frei),  Schnupf- 
tabak 8  Cts.  per  Pfund.  Cigarren  3  und  6 
Dollar  per  Pfund,  destillierte  Spirituosen 
90  Cts.  per  Gallone,  Bier  1  DoU.  per  BaiTel 
von  35  Gallonen,  die  Nationalbank  IVx^/o, 
die  Staatsbauken  lO^/o  der  Banknotencii'kur 


Gewerbesteuer 


555 


lation.  Ausserdem  noch  massige  Special- 
steuern filr  Handel  mit  obigen  Verbrauchs- 
artikeln. 

Die  Steuern  der  einzelnen  Staaten  be- 
stehen bei  gewerblichen  Unternehmungen 
meist  ausser  einer  hohen  Steuer  von  Gesell- 
schaften und  Banken  (V2 — 3  pro  Mille  des 
KapitaJstoc^es),  Kohlengesellschaften,  Ver- 
sicherungsgesellschaften (einheimische  **/io^/o, 
fi-emde  3®/o  aller  Prämien  von  Geschäften, 
die  in  Renten  abgeschlossen  werden)  in 
Gebühren  fi\r  Verkäufe  und  Lizenzabgaben 
für  Verkauf  von  Spirituosen  in  5  Klassen, 
Kleinhändler  in  20  Klassen  abgeteilt  (Vio 
bis  1/50  ®/o),  für  Inhaber  von  Speisehäusern, 
Bi-auer,  Billard-  und  Kegelbahnen,  Makler, 
Hausierer,  Apotheker^  Theater-  und  Mena- 
geriebositzer,  Notare.  Ausserdem  kommen 
m  Beti-acht  die  Genossenschafts-  und  Ge- 
meindesteuern, bei  denen  in  der  dritten 
Grujipe  die  Erwerbssteuern  figurieren.  Diese 
eigentliche  Erwerbssteuer  ist  nur  den  Graf- 
und  Ortschaften  vorbehalten.  Der  Steueiv 
fuss  schwankt  nach  Bedarf. 

Seit  24.  August  1894  ist  in  den  Ver- 
einigten Staaten  zum  ersten  Male  für  die 
ganze  Union  eine  Einkommensteuer  von  2®/o 
von  jedem  Eigentümer  über  4000  $  —  also 
vom  Besitztum,  Renten,  Zinsen,  Dividenden, 
Gehälter,  Gewerbe,  Unternehmungen,  Amt 
und  Beruf  —  erhoben.  Mit  dieser  Steuer 
ist  je<loch  nur  das  Reineinkommen  über 
4000  Änach  Abzug  der  Produktionskosten 
und  cler  von  der  Familie  vorbrauchten  Ein- 
nahmen belegt,  dagegen  wird  jedes  porsön- 
licho  A^^mögen,  sei  es  dun'h  Geschenke 
oder  Erbschsät  erlangt,  als  Einkommen  l)e- 
trachtet. 


III.  Steneratatistjk. 

19.  Ertrag  nnd  Vergleich  zwischen  den 
einzelnen  Staaten.  Jede  Statistik  der  Ge- 
werbesteuererträgnisse ist  mit  grösster  Vor- 
sicht aufzunehmen ;  einmal  deshalb,  weil  der  Be- 
griff und  Umfang  der  „Gewerbe-  oder  Erwerbs- 
stener^  selbst  zu  verschieden  ist,  dann,  weil  in 
vielen  Staaten  die  Gewerbesteuer  überhaupt 
verschwunden  und  in  der  Einkommensteuer  auf- 

fegangen  ist,  endlich,  weil  die  Grenze  zwischen 
irekter  und  indirekter  Besteuenmg  gerade  bei 
den  handelsgewerblichen  und  industriellen  Pro- 
dukten und  Geschäften  sehr  häufig  verwischt 
ist  und  zu  der  Gewerbesteuer  seihst  oft  Teile 
der  Kapitalrentensteuer,  die  Steuer  auf  mobile 
Werte,  Verbrauchssteuern  und  sonstige  in- 
direkte Abgaben  zugerechnet  werden  müssen. 
Im  Nachstehenden  werden  einige  Ziffern  nach 
den  Budgets  der  betreffenden  Staaten  aus  dem 
Jahre  1«U  gegeben,  wobei  aber  die  gesamten 
direkten  und  indirekten  Steuern  eben  wegen 
der  erwähnten  Umstände  in  Betracht  gezogen 
werden:- 

Preussen:  a)  Gewerbesteuer  19  Mill.  M. 
oder  0,68  M.  auf  den  Kopf;  b)  Gewerbesteuer 


und  Einkommen  aus  mobilen  Werten  zusammen 
72  Mill.  oder  2,60  M.  auf  den  Kopf;  c)  gesamte 
direkte  Steuern  140  Mill.,  hiervon  also  13  ^/^ 
Gewerliesteuer ,  5.1  M.  auf  den  Kopf;  d)  in- 
direkte Steuern  oO  Mill.  oder  3,1  M.  auf  den 
Kopf.  Bayern:  a]5  Mill.  oder  1  M.  auf  den 
Kopf;  b)  5,8  Mill.  oder  1,80  M.  auf  den  Kopf: 
c)  25  Mill.,  hiervon  19,78%  Gewerbesteuer,  4,6 
M.  auf  den  Kopf;  d)  55,50  Mill.  oder  10,5  M. 
auf  den  Kopf.  Württemberg:  a)  Hier  ist 
die  Gewerbesteuer  mit  der  Grund-  und  Ge- 
bäudesteuer zusammen  mit  9  Mill.  M.  aufge- 
führt ;  b)  — ;  c)  12,9  MUl.  oder  16,3  M.  auf  den 
Kopf;  d)  13,7  Mill.  oder  6,8  M.  auf  den  Kopf. 
Baden:  a)  — ;  b)  — ;  c)  10,6  Mill.  oder  6,6  M. 
auf  den  Kopf;  d)  14  Mill.  oder  9  M.  auf  den 
Kopf.  Hessen:  a)  — ;  b)  — ;  c)  7,7  Mill.  oder 
8  M.  auf  den  Kopf;  d)  2,4  Mill.  oder  2,4  M. 
auf  den  Kopf.  Sachsen:  a)  — ;  b)  — ;  c)  18 
MUl.  oder  6,1  M.  auf  den  Kopf;  d)  4,8  Mill. 
oder  1,6  M.   auf   den    Kopf.     Oesterreich: 

a)  18  Mill.  oder  0,8  M.  auf  den  Kopf;  b)  62 
Mill.  oder  2,8  M.  auf  den  Kopf;  c)  185  MüL, 
hiervon  10,16%  Gewerbesteuer,  8,1  M.  auf  den 
Kopf;  d)  524  Mill.  oder  23  M.  auf  den  Kopf. 
Ungarn:  a)  40  Mill.  oder  2,6  M.  auf  den  Kopf: 

b)  &,2  Mill.  oder  3  M.  aut  den  Kopf;  c)  161 
Mill.,  hiervon .  24,03  %  auf  die  Gewerbesteuer, 
9,9  M.  auf  den  K^pf ;  d)  242  Mül.  oder  15,4  M. 
auf  den  Kopf.  England:  a)  83  MiU.  oder 
2,6  M.  auf  den  Kopf;  b)  204  MUl.  oder  5,8  M. 
auf  den  Kopf;  c)  360  MUl.,  hiervon  35,9%  Ge- 
werbesteuer oder  8,1  M.  auf  den  Kopf;  d)  1245 
Mill.  oder  35  M.  auf  den  Kopf .  Frankreich: 
a)  64  MUl.  oder  1,9  M.  auf^den  Kopf;  b)  198 
MiU.  oder  5,2  M.  auf  den  Kopf;  c)  358  Mill., 
hiervon  20,9%  Gewerbesteuer  oder  9,2  M.  auf 
den  Kopf;  d)  1848  MiU.  oder  48  M.  auf  den 
Kopf.  Italien:  a)  — ;  b)  153  Mill.  oder  5,3 
M.  auf  den  Kopf;  c)  304  MUl.  oder  10,5  M.  auf 
den  Kopf ;  d)  5^  MUl.  oder  18,2  M.  auf  den 
Kopf.  Knssland:  a)  (Handelspatent)  39  MUl. 
oder  0,4  M.  auf  den  Kopf;  b)  — ;  c)  278  MUl. 
oder  2,4  M.  auf  den  Konf ;  d)  786  MiU.  oder  9,5 
M.  auf  den  Kopf.  Niederlande:  a)  6,2  Mill. 
oder  1,6  M.  auf  den  Kopf;  b]  23,5  MiU.  oder 
5,5  M.  auf  den  Kopf;  c)  42  MUL,  hiervon  15,8*^0 
Gewerbesteuer  oder  10,1  M.  auf  den  Kopf;  d) 
115,5  MUl.  oder  28  M.  auf  den  Kopf.  In  Nord- 
amerika beträgt  die  Einnahme  aus  den  in- 
ländischen Steuern  125  Mill.  DoU. ;  auf  den  Kopf 
eines  jeden  Einwohners  2,23  Doli. ;  die  Gesamt- 
einnahmen der  jährlichen  Staats-,  Countrj-  und 
Townssteuem  312  750  000  Doli.,  mithin  6  'U  üoll. 
auf  den  nordamerikanischen  Staatsbürger. 

Schliesslich  lassen  wir  eine  Zusammen- 
steUung  aus  den  Budgetansätzen  der  grösseren 
deutschen  und  europäischen  Staaten,  in  tau- 
send abgerundet,  aus  dem  Jahre  1897  folgen, 
wobei  wir  aber  auf  obige  Bemerkungen  Bezug 
nehmen  müssen. 


556 


Gewerbesteuer 


Ein- 

Gesamt- 

direkte 

Steuern 

zusammen 

%  des 
Ge- 

Gewerbe- 

Kapital- 

Einkommen- 

wohner 

bedarf 

samt- 

be- 

darfes 

steuer 

Steuer 

steuer 

Mark 

Mark 

Preussen 

31850 

1 
2046000 

161  600 

7,88 

23400 
an  die  Städte 

überwiesen 
bei  237  000  000 
GeBamtbedarf 

der  Städte 

123500 

Bayern 

5800 

345000 
inkl.  Ver- 
waUnngs- 
aosgaben 

31560 

9,10 

7000 

4500 

2500 

• 

Sachsen 

3400 

77000 

30000 

39 



26  500 

Württemberg 

2080 

75000 

16500 

22,23 

3600 

5  000 

I  800 

Baden 

I  700 

70000 

13197 

18,70 

10200       i 

I  400 

7  000 

Hessen 

I  040 

37000 

10  000 

27 

I  050 

450 

5500 

fl.  =  1,70  M. 


Oesterreich 
Ungarn 

Eussland  (euro- 
päisch) 

England 


Frankreich 


41  000 
15000 


690000 
475000 


114000 
95000 


16,50 
20 


12500 
20000 


4000 


32000 
16200 


Bubel  =  2,16  M. 


94000 


I  400000 


97000 


6,93 


44000 


15000 


£  =  20,43  M. 


Italien 


39000 

826500 

17000 

13,6 

9400 

1300 

16600 
in  all.  1  Klassen 

' 

Francs  —  0,81  M. 

38000 

3314000 

477  000 

14,4 

127  000 

Tabak- 
Steuer 

170000  Siegel-, 
9000  Börsen-, 
92000  Personal-,  Mo- 
biliar-, 
65000  Eink.-Steuer  a. 
bew.Vermög., 
58000  Thür-  und 

1 
1 

Fenstersteuer 

Lire  —  0,80  M. 

31  000 

I  645  000 

482000 

29 

65  00b 
aus  Konzess. 

10500 
a.  Banken 

287  700 

IV.  Schli 

1188. 

!iic 

34^cr»llör» 

Ro'«»-nfm  n  tr 

\m      ß-OMTOT 

'Ko     rliö     frrki- 

So  sehr  auch  die  Gewerbebesteuerung 
in  den  einzelnen  Staaten  in  Europa,  sowohl 
was  Umfang,  Objekt,  Subjekt  und  Veran- 
lagung anbelangt,  von  einander  abweicht, 
so  haben  doch  fast  alle  Länder,  mit  Aus- 
nahme der  wenigen  Staaten,  in  denen  eine 
wirkliche  allgemeine  Einkommensteuer  aus- 
gebildet und  durchgeführt  ist,  die  Gewerbe- 
steuer als  Ertragssteuer  beibehalten.  Fast 
nirgends  ist  sie  als  Reinertra^steuer  aus- 
gebildet, sie  bewegt  sich  zwischen  einer 
Kohertragssteuer  und  einer  Steuer  von  mitt- 
lerem oder  mutmasslichem  Ertrag  bis  zur 
Reinerti-agssteuer,  je  nachdem  der  Ertrag 
der  persönlichen  Arbeit  und  die  persön- 
lichen Verhältnisse  des  Steuerpflichtigen 
selbst  mehr  oder  minder  scharf  in  Berech- 
nung gezogen  sind.  Mit  der  Veränderlich- 
keit der  Technik,  mit  der  Ausgestaltung 
eines   Gewerberechtes,    das   der   individua- 


este  Hand  lässt,  erhöhten  sich  die  Be- 
mühungen der  Gesetzgeber,  die  Betriebsab- 
gaben eines  Gewerbes,  d.  h.  die  Merkmale, 
nach  denen  der  Ertrag  zu  bemessen  ist, 
möglichst  auszubilden,  zu  vervielfältigen, 
zu  specialisieren.  Selbstverständlich  gelaug 
es  nircends,  alle  die  Härten  und  Unge- 
i*echti^Keiten  des  Ertragssteuersystems  selbst 
zu  mmdern.  Eng  damit  hängt  aber  das 
Steuei*system  überhaupt  im  betreffenden 
Staate  zusammen,  insbesondere  ob  und  in- 
wieweit eine  Einkommensteuer  neben  der 
Gewerbesteuer  besteht,  ob  und  inwieweit 
die  Gewerbe  durch  Lösung  eines  Patentes, 
einer  Lizenz  noch  dazu  besteuert  sind.  Die 
heute  noch  überall  vorherrschende  Absicht, 
das  fundierte  Einkommen  stärker  zu  be- 
lasten als  das  unfundierte,  darf  nicUt  über- 
trieben werden.  Keine  der  beiden  grossen 
Kategorieen    des  Besteuerungswesens :    die 


Grewerbesteiier 


557 


Katastralbesteiierung  und  die  Einkommen- 
besteueninff  kann  vollständig  genügen;  es 
haben  deshalb  auch  die  meisten  Staaten 
Euit)pas  beide  Systeme  mit  einander  verbun- 
den, um  einerseits  die  feste  Grundlage  ftir 
Ertra^bemessung ,  andererseits  die  not- 
^'endige  Beweglichkeit  der  Steuerauelle  zu 
erhalten.  Je  nach  der  Ausbildung  aes  einen 
oder  anderen  Systems  bezw.  der  aufge- 
nommenen Grundsätze  ist  auch  die  Frage 
nach  Beibehaltung  einer  Ersalzeinkommen- 
steuer  oder  Aufgehen  der  Erwerbssteuer  in 
eine  allgemeine  Einkommensteuer  zu  beant- 
worten. Will  man,  was  in  der  Steuerge- 
setzgebung als  allgemeiner  Grundsatz  gilt, 
auf  historischer  Giiindlage  fortbauen,  so  ist 
eine  möglichst  gute  Ausbildung  der  Ge- 
werbesteuer als  Ertragssteuer  neben  einer 
allgemeinen  Einkommensteuer  wohl  das 
Richtigste.  Besteht  aber  eine  Einkommen- 
steuer neben  der  Gewerbesteuer,  so  kann 
jene  nur  als  Gewerbe  Vermögenssteuer  vom 
Aktienvermögen  (Betriebskapital)  nach  Ab- 
zug der  Schulden  fortgebildet  werden,  so- 
fern nämlich  die  Einkommensteuer  das  Ein- 
kommen aus  den  gewerblichen  Anlagen  als 
Steuerobjekt  ins  Auge  fasst.  — 

()nelleB  und  Lltteratnr Z  Quellen.  Preu^sen: 
ö.  V.  so.  V.  1S20,  die  Entrichtung  der  Ge-werbe- 
Steuer  betr.  Regulativ   v.  $4.  IV.  I824.  —  G.  v. 

19.  VII.  1861,  Abänderungen  des  Gesetzes  wegen 
Entrichtung  der  Gewerbesteuer.  —  Weitere  Ab- 
änderungen erfolgten  in  den  GG.  v.  20.  HL  1872 
und  5.  VI.  1874.  —  G.  v.  24.  VI.  1891,  Ein- 
kommensteuer betr.  —  G.  v.  24.  VI.  1891,  Ge- 
werbesteuergesetz  betr.  und  I4.  VII.  1893  Er- 
gänzungssteuergesetz. —  GG.  V.  S.  III.  1876 
und  27.  II.  1880,  die  Besteuerung  des  Geicerbe- 
betriebes  im  Umherziehen  und  die  Wanderlager. 

—  G.  V.  16.  III.  1867,  Abgaben  für  Eisenbahnen, 
r.  20.  X.  1862,  Bergwerksabgaben  betr.  — 
Bayern:  G.  v.  19.  V.  1881  und  9.  VI.  1899, 
dann   GG.  v.   10.   IIL   1879,   6.  IV.   1869  und 

20.  XII.  1897  Besteuerung  des  Gewerbebetriebes 
im     Umherziehen     und     der     Bergiterke     betr. 

—  Württemberg:  G.  v.  28.  IV.  1873,  die 
Grund-,  Gebäude-  und  Gewerbesteuer  betr.,  mit 
dem  Voüz.-G.  v.  I4.  I.  1879.  --  GG.  v.  SO.  VI. 
1877  und  1.  VII.  1877  über  Geteerbebetriebe  im 
Umherziehen  und  Wanderlager.  —  Baden: 
GG.  V.  25.  VIII.  1876,  Erfverbsteuer,  und  20.  VI. 
1884,  Einkommensteuer  betr.,  26.  IV.  1886,  die 
Gewerbesteuer  betr.  —  GG.  vom  17.  III.  1854 
und  16.  III.  1880,  den  Kataster  der  direkten 
Steuern  betr.  —  Me s  sen:  G.  v.  8.  III.  I884, 
die  Gewerbesteuer  betr.,  25.  VI.  1895  und  12. 
VIII.  1899.  —  Sachsen:  G.  v.  2.  III.  1878,  die 
aügemeine  Einkommensteuer  betr.  und  13.  III.  1895. 

—  GG.  V.  1.  VII.  1878  und  1.  XII.  1878,  Wander- 
Uiger  und  Gewerbe  im  Umherziehen  betr.  — 
Elsass-Lothringen:  G.  v.  25.  IV.  I844, 
die  Patentsteuer  betr.,  mit  den  Abänderungsgg.  v. 
18.  V.  1850,  4.  VI.  1858,  13.  V.  1863,  2.  VIII. 
1868,  6.  III.  1893  und  8.  VI.  1896.  —  Oester- 
reich:  Patent  v.  31.  XII.  1812,  Dekret  v.  I4. 
I.  1813,  13.  V.  1859,  G.  v.  29.  X.  1849,  die 
Einkommensteuer  betr.,  25.  X.  1896  die  direkten 


Personalsteuem  betr.  —  G.  v.  4.  IX.  1852 
und    23.    XII.    1881,   über    den    Hausierhandel. 

—  Ungarn:  G.  v.  1885  (29.),  Personal- 
erwerbsteuer.  —  England:  G.  r.  22.  VI. 
I842,  Einkommensteuergesetz.  —  Fr ankreich: 
G.  V.  22.  X.  1798,  25.  IV.  I844  und  18.  V. 
1850,  Coniribution  des  patentes.  —  GG.  r. 
28.  IV.  1816,  21.  IV.  1831  und  1.  XL  1871, 
Lizenzsteuer  betr.  —  G.  v.  15.  VII.  1880.  — 
Italien:  G.  v.  24.  VIII.  1877,  Imposta  suUa 
richezza  mobile.  —  Russland:  Erlasse  v.  18. 
V.  1882,  13.  V.  1883  und  G.  v.  5.(17.  VI.  188 4, 
die  Handels-  und  Gewerbesteuer  betr. 

Litteratur:  Ausser  den  allgemeinen  finanz- 
xcissensehafüichen  Werken  von  Rau~  Wagner, 
Stein,  Bergtus,  SctUhiberg,  Vmpfenbfush, 
V,  Hock,  Held,  Neutnann,  Eheberg,  Schaf ße 
und  den  StaatsrechtsbÜchem  von  Zaehariae, 
Rönne,  Seydel,  Gneist,  Marquardsen, 
Laband,  Meyer,  Zorn  und  dem  reichen  in 
Schanz  Finanzarchive  aufgestapelten  McUerial 
kommt  im  besonderen  in  Betracht:  Ueber  das 
alte  Rom:  Vocke,  Die  direkten  Steuern  der 
Römer,  Tab.  Zeitschr.  1859.  —  Marquardt, 
Römische  Staatsverwaltung,  Bd.  IL  —  Für 
Griechenland:  Böckh ,  Staatshaushaltung 
der  Athener.  —  Für  das  Mittelalter:  Waitx, 
Deutsche  Verfassungsgeschichte,  Kapitel  Finanzen, 

—  Eiehhom,  Deutsche  Staats-  und  Rechts- 
geschichte. —  Preussen:  Kautz,  Dcu  System 
der  direkten  Steuern,  Berlin  1889.  —  Neukamp, 
Kommentare  zum  Gewerbesteuerg.  v.  24.  VI.  1891, 
Essen  1891.  —  Bayern:  L.  Hof  mann,  Ge- 
schichte  der   direkten  Steuern   in  Bayern,  1883. 

—  Vocke,  Beiträge  zur  Geschichte  dei'  Ein- 
kommensteuerin Bayern,  in  der  Tübinger  Zeitschr. 
I864.  —  Hock,  Handbuch  der  fKnanzvertcarltung. 

—  Vocke,  Seisser  und  Klemm,  Das  baye- 
rische Gewerbesteuergesetz.  —  Württemberg: 
Riecke,  Der  württemb.  StcMtshaushcUt,  in  Jahrb. 
f.  Ges.  u.  Verw.  1883.  —  Demelbe,  Die  neuen 
württembergischen  Kataster,  im  Fin.-Arch.  1888, 
S.  230.—  Sachsen:  Opitz,  Staatsrecht,  I884, 

—  Hessen:  Schanz,  Archiv  IL  —  Oester- 
reich-  Ungarn:  Freyherger,  Die  direkten 
Steuern,  Wien  1887.  —  WestphtU^Conn,  Die 
Steuersysteme  und  Staatseinnahmen  der  sämmt- 
liehen  europäischen  Staaten  und  die  Reformge- 
setze in  Oesterreich,  Wien  I884.  —  England: 
Vocke,  Geschichte  der  britischen  Steuern,  Leip- 
zig 1866.  —  Gneiat,  Engl.  Verwaltungsrecht.  — 
fTaköhsen,  Die  geschichtliche  Entwickelung  der 
englischen  Einkommensteuer,  in  dem  Fin.- Archiv 
1896,  S.  253;  Finance  a>ccou7Us  und  Statistique 
Abstract. — Fr  ankreich:  Stowna,  Lesfinances 
de  Vancien  rigime,  Paris  1885.  —  d''Audlffret, 
Systeme  financier  de  la  France,  Paris  1863 — 1870. 

—  V,  Hock,  FinanzverwaUung  Frankreichs, 
Stuttgart  1857.  —  17.  K€mfmann,  Finanzen 
Frankreichs,  Leipzig  1882.  —  Italien:  Sachs, 
L'Italie,  ses  ßnances,  Paris  1885.  —  C  Burkart 
in  Schanz  Archiv  VI.  —  v.  Kaufmann,  ebenda 
Jahrg.  III.  —  Russland:  Hoffmann,  Die 
Finanzen  Russlands,  in  d.  Viert,  f.  Volksw.  XXII, 
1.  Heft.  —  AUessandro,  Die  russiscJte  Gesetz- 
gebung über  die  direkten  Steuern,  Petersburg  1879. 

—  V.  Kreussler,  Die  neuesten  russischen  Ge- 
setze über  Grund-,  Handels-  und  Gewerbesteuer, 
im  Fin.-Arch.  1885,  S.  217.  —  BuUetin  Russie 
de  Statistique ßnancih'e  1894 — 1897.  —  Nieder- 
lande: Trenk,    Onivnkkeling  en  verband  van 


558 


Gewerbesteuer — Gewerbevereine 


de  RijUa-,  ProvinzictU-  en  GemeentbelaBtingen  in 
y.,  Leiden  1885.  —  Nordamerika:  RÖser, 
Finanzwesen  in  den  Vereinigieti  Staaten,  in 
Schanz  Arch.  1885,  I.  —  Ed,  fTanies,  PiMic 
Economy  of  Pennsylvania,  Philadelphia  1885,  — 
Seligniann,  Die  amerikanische  Einkammenstetier, 
in  der  Zeüschr.  f.  Nationalökonomie  u.  Statistik 
III.  Folge,  Bd.  9  (1895),  S.  71  u.  907.  —  JAon 
Say,  Dictionnaire  des  Finances  1894;  BuHetin 
de  Statistique  1826-^1898. 

Wilhelm  Burkhard, 


OeiverbeTerelne. 

• 

1.  Begriff  und  Bedeutung.  2.  Die  G.  in 
Batfen.  3.  Bayern.  4.  Elsasa^Lothringen.  5. 
Hannover.  6.  Hessen.  7.  Mecklenburg.  8. 
Nassau.  9.  Pfalz.  10.  Preussen  (Köln,  Aachen- 
Burtscheid,  Cassel,  Erfurt,  Dortmund,  Potsdam, 
Ost-  und  Westpreussen.  Die  G.  HohenzoUems, 
Schlesischer  Central-G.).  11.  Königreich  Sachsen. 
12.  Thüringen.  13.  Württemberg.  14.  Ver- 
band deutsdier  G. 

1.  Beg[riff  und  Bedeutung.  Die  Ge- 
werbevereine sind  freie  gewerbliche  Ver- 
einigungen. Die  Mehrheit  ihrer  Mitglieder 
wird  gebildet  aus  Vertretern  des  gewerb- 
lichen Mittelstandes:  ausserdem  zählen  zu 
ihren  Mitgliedern  viele  Fachmänner  auf  dem 
Gebiete  des  gewerblichen  Cnterrichtswesens, 
ferner  Ingenieure,  Baumeister  und  Leiter 
industrieller  Betriebe  als  Freunde  und  För- 
derer des  Handwerks  und  Gewerbes.  Die 
Gewerbevereine  bezwecken  1.  Förderung 
der  Gewerbe  und  Hebung  des  Handwerkes, 
auch  in  Bezug  auf  Ansehen  und  Einfluss 
im  öffentlichen  Leben,  2.  Verbreitung  ge- 
meinnütziger Kenntnisse,  3.  Belehrung  der 
Mitglieder  über  die  in  Betracht  kommende 
Gesetzgebung  und  die  Fortschritte  der  Tech- 
nik, 4.  Förderung  des  Arbeitsnachweises,  5. 
Vertretung  in  der  Handwerkskammer  (po- 
litische und  religiöse  Fra^n  sind  ausge- 
schlossen).. Sie  suchen  diese  Zwecke  zu 
erreichen  durch :  1 .  Pflege  der  Beziehungen 
der  Mitglieder  untereinander  und  zu  ver- 
wandten Vereinen,  2.  Förderung  des  gewerb- 
lichen Unterrichtes,  3.  Bücherei  und  Lese- 
zimmer, 4.  Preisausschreiben  und  Preiser- 
teüungen,  5.  Erteilung  von  Auskünften,  Gut- 
achten und  Ratsclüägen  an  die  Mitglieder, 
ö.  Vorträge,  7.  Veranlassung  und  Förderung 
von  Ausstellungen,  insbesondere  auch  von 
Lehrlingsarbeiten,  8.  Vorstandssitzimgen  und 
Vereinsversammlungen,  in  diesen  Erörterung 
der  das  Gewerbe  und  Handwerk  berühren- 
den Fragen  und  Gedankenaustausch  über 
dieselben,  9.  Ausflüge  zum  Besuche  gewerb- 
licher Anlagen  u,  s.  w. 

Die  Entwickelnng  der  Gewerbevereine  reicht 
im  allgemeinen  bis  in  die  Anfänge  der  Gewerbe- 
freiheit zurück.  Sie  haben  stets  eine  rege 
Thätigkeit  zur  Erfüllung  ihrer  Zwecke  ent- 
faltet und  bildeten  den  Stützpunkt  eines  grossen 
Teiles   des    vaterländischen  Handwerker-   und 


Gtewerbestandes.  Auf  dem  Boden  einer  freien 
Entwickelnng  stehend,  haben  sie  ihre  Ziele  stets 
ans  eigener  Kraft  zu  erreichen  gesucht  und 
teilweise  den  Boden  für  die  kommende  Zeit 
vorbereitet.  In  Süddeutschland  fanden  sie  das 
günstigste  Feld  für  ihre  Thätigkeit  vor  und 
erhielten  hier  zuerst  eine  festere  Organisation. 
Ihre  grundlegende  Bedeutung  für  die  Ent- 
wickelnng und  Förderung  des  Handwerker-  und 
Gewerbestandes  ist  in  den  Vordenrrund  getreten 
mit  dem  Zeitpunkt,  wo  das  Handwerk  und 
Kleingewerbe  im  Kampf  mit  der  Grossindustrie 
schwersten  Stand  hatte  nnd  die  Erhaltung  des- 
selben allein  durch  eine  in  sich  abgeschlossene 
und  vervollkommnete  gewerbliche  Bildung  ge- 
sichert erschien.  Auf  diesem  Gebiete  des  ge- 
werblichen Unterrichtswesens  beruhte  fortgesetzt 
der  Schwerpunkt  der  Thätigkeit  der  Gewerbe- 
vereine. Die  vielseitige  Mitarbeit  —  dass  neben 
dem  Handwerker  Männer  aller  Berufsstände  und 
Rangordnungen  zuMitgliedem  und  wUlkomraenen 
und  erfolgreichen  Mitarbeitern  der  Gewerbe- 
vereine zäalen  —  hat  man  diesen  ebenso  gerne 
wie  unbedacht  und  unverständig  zum  Vorwurf 

gemacht,  obwohl  diese  Znsammensetzung  als 
ßsonderer  Vorzug  gelten  kann  und  sich  auch 
trefflich  bewährt  hat.  Die  Bestrebungen  der 
Gewerbevereine  fanden  meist  überall  auch  be- 
hördlicherseits Anerkennung  und  Unterstützung, 
in  besonderem  Masse  in  Süddeutschland.  Der 
befruchtende  Einfluss  ihrer  Thätigkeit  auf  den 
Handwerkerstand  ist  hier  zur  allgemeinen  und 
weit  über  die  Grenzen  Süddeutschlands  sich  er- 
streckenden Geltnng  gelangt.  —  Die  nach- 
stehende Darstellung  wird  sich  nur  auf  die  Art 
von  Gewerbevereinen  beschränken,  deren  Begriff 
und  Bedeutung  hier  hervorgehoben  ist;  es  ist 
dies  ein  alter  festgegliederter  Bestand  in  sicherer 
Verfassung,  an  den  sich  infolge  des  Handwerks- 
organisations-G.  v.  26.  Juli  lSJ7,  durch  weiches 
auch  die  Gewerbevereine  als  Unterbau  für  die 
Handwerkskammern  anerkannt  wurden,  zahl- 
reiche neue  Organisationen  angeschlossen  haben. 
Den  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  haben  sich 
die  Gewerbevereine  als  freie  Körperschaften  in 
weiterer  Ausgestaltung-  ihrer  Organisation  mög- 
lichst angepasst  durch  Bildung  von  Fachgruppen, 
welche  im  Kahmen  des  Vereins  die  verschiedenen 
Fachhandwerke  zur  Selbstverwaltung  ihrer  An- 
gelegenheiten vereinigen,  um  so  auch  dem  Hand- 
werker im  Gewerbeverein  die  Vertretung  seiner 
besonderen  Fachinteressen  zu  sichern.  Nach  dem 
Ergebnis  der  bisherigen  Organisation  werden 
die  Gewerbevereine  in  Süddeutschland  nnd 
Elsass-Lothringen  mit  etwa  '/s  ihrer  Stimmen 
in  den  am  1.  Aprü  1900  in  Wirksamkeit  treten- 
den Handwerkskammern  vertreten  sein,  während 
im  übrigen  Deutschland,  besonders  in  Nord-  und 
Ostdeutschland,  die  Innungen  noch  das  Ueber- 
gewicht  haben.  Nach  den  Erfahrungen  über 
den  Erfolg  der  Thätigkeit  der  Gewerbevereine 
auf  die  Hebung  des  Handwerks  in  Süddeutsch- 
laud  kann  man  nur  wünschen,  dass  ihr  Geist 
sich  auch  mehr  und  mehr  über  den  übrigen 
Teil  Deutschlands  mit  demselben  Erfolge  aus- 
breiten möge.  — 

Die  Kuustgewerbevereine,  welche 
ganz  besonderen  Zwecken  dienen,  sind  hier 
nicht  berücksichtigt  worden. 

2.  Die  G.  in  Baden.     Obgleich  schon 


Gtewerbevereine 


658 


früher  wohl  mit  Becht  behauptet  werden 
konnte,  es  sei  bezüglich  der  Organisation 
in  Baden  vielleicht  am  besten  in  ganz 
Deutschland  bestellt,  so  waren  die  Grewerbe- 
vereine  damit  noch  nicht  zufrieden,  sondern 
strebten  die  Schaffung  von  gesetzlichen 
Gewerbe  kammern  an.  Ein  Gesetz,  welches 
die  Errichtung  von  Gewerbekammern  be- 
zweckte, wiuKle  denn  auch  am  22.  Juni  1892 
erlassen,  hatte  aber  keine  greifbaren  Folgen, 
weil  darin  die  Errichtung  solcher  Kammern 
von  der  Zustimmung  der  Mehrzahl  der  be- 
teiligten Gewerbetreibenden  abhängig  ge- 
macht wurde ;  es  unterblieb  sogar  der  Ver- 
such, auf  Grund  dieses  Gesetzes  solche  zu 
schaffen. 

Die  Reichsgesetzentwürfe  für  die  Or^ 
nisation  des  Handwerks,  wie  sie  nachem- 
ander  1893.  1895  und  1896  folgten,  Hessen 
die  badiscnen  Gewerbevereine  von  einer 
Weiterverfolgung  der  Gewerbekammerange- 
legenheit abstehen,  und  sie  haben  sich  dann, 
nach  Erscheinen  des  G.  v.  26.  Jiüi  1897,  ganz 
auf  den  Boden  desselben  gestellt.  Die  neuen 
Normalsatzungen  sind  diesem  Gesetz  (Organi- 
sation   des  Handwerks)  angepasst   worden. 

Um  die  Wahlfähi^keit  zur  Handwerks- 
kammer zu  haben,  wird  darauf  gesehen,  dass 
mindestens  die  Hälfte  der  Mitglieder  Hand- 
werksmeister sind,  wenn  auch  nach  wie  vor  es 
als  wünschenswert  bezeichnet  wird,  wenn  Männer 
ans  allen  Berafskreisen  am  Vereinsleben  teil- 
nehmen, weil  es  nur  von  günstigem  Einfliiss 
auf  die  Vereine  selbst  ist  und  gar  oft  aus 
diesen  Kreisen  ffeeigniete  Personen  zur  Leitung 
und  Beratung  der  Vereine  sich  bereit  finden. 
Nach  diesen  Normalsatzungen  müssen  künftig 
%  der  Vorstandsmitglieder  ausübende  Hand- 
werksmeister sein ;  femer  errichten  die  Gewerbe- 
vereine Gesellenausscbttsse ,  wie  sie  für  die 
Innungen  gesetzlich  vorgeschrieben  sind.  In- 
nungen una  Fachvereinigungen,  die  ausserhalb 
der  vereine  sich  bilden,  können  sich  dem  Ge- 
werbeverein anschliessen  und  bekommen  Sitz 
und  Stimme  im  Vorstand.  Die  Einteilung  der 
„Gauverbände",  deren  es  jetzt  9  sind,  wird  so 
getroffen,  dass  ein  Gauverband  ganz  innerhalb 
des  betreffenden  Handwerkskammerbezirks  liegt, 
um  die  gemeinsamen  Interessen  dort  vertreten 
zu  können  und  um  den  nötigen  Einfluss  auf 
die  Gestaltung  und  Thätigkeit  der  Handwerks- 
kammer zu  haben. 

Die  Zahl  der  Gewerbevereine,  die  im 
ganzen  Lande  gleichmässig  verteilt  sind,  ist 
seit  dem  Erscheinen  des  neuen  Gesetzes,  dank 
der  regen  Thätigkeit  des  Landosausschusses, 
der  Gauvororte  und  der  Einzel  vereine  ganz 
erheblich  gewachsen,  wobei  das  gross- 
herzogliche Ministerium  des  Innern  der 
Sache  seine  Mithilfe  insofern  angedeihen 
liess,  als  auf  Antrag  kostenlos  Redner  zur 
Abhaltung  von  Vorträgen  gesandt  wurden. 
Während  noch  im  Jahre  1897  es  80  Vereine 
iftiit  7700  Mitgliedern  waren,  stieg  die  Zalü 
im  Jahre  1898  auf  135  mit  11400  Mitglie- 
dern  und   sind   es.  Ende   1899   im  ganzen 


172  Vereine  mit  13300  Mitgliedern,  wo- 
runter 10700  Handwerksmeister.  Diese  172 
Vereine  sind  in  9  Gauverbände  gegliedert 
und  bilden  zusammen  den  Landesverband 
badischer  Gewerbevereine,  dessen  Vorort 
für  die  nächsten  Jahre  wieder  wie  seit  1886 
der  Gewerbeverein  Karlsruhe  ist.  Der  Lan- 
desverband hat  sich  dem  seit  1891  bestehen- 
den Verband  deutscher  Gtewerbevereine  an- 
geschlossen. Die  Orts-  und  Bezirksvereine 
wahren  natürlich  im  allgemeinen  die  örtlichen 
Interessen,  und  die  Gauverbände  sind  be- 
stimmt, mehr  die  Interessen  kleinerer  Kreise 
zu  wahren,  während  der  Landesverband  als 
solcher  die  allgemein  wirtschaftlichen  Fragen, 
welche  das  Kleingewerbe  und  Handwerk 
des  Landes  berühren,  zum  Gegenstand  sei- 
ner Erwägungen  macht  und  die  wirksame 
Förderung  von  Gewerbe  und  Handwerk 
im  ganzen  Land  bezweckt,  wobei  dann  der 
Landesausschuss  den  Gauverbänden  und 
Einzelvereinen  diu'ch  Rundschi'eiben,  Vor- 
träge u.  s.  w.  Anregungen  aller  Art  zur  Be- 
lebung der  Vereine  giebt  und  die  Weckung  der 
allgemeinen  Anregung  bezüglich  der  Vorgänge 
im  Berufs-  und  Vereinsleben  anstrebt.  Es 
finden  alijährlich  in  den  Gauverbänden  Gau- 
ausschusssitzimgen  und  Gautage  sowie  für 
den  Verband  Landesausschusssitzungen  und 
Versammlungen  statt.  Seit  Jahrzehnten 
haben  die  Gewerbevereine  den  Schwer- 
punkt ihrer  Wirksamkeit  in  die  Hei-anbildung 
eines  tüchtigen  Nachwuchses  im  Handwerk 
gelegt  Die  Mehrzahl  der  bestehenden  (45) 
Gewerbeschulen  und  (72)  gewerblichen  Fort- 
bildungsschulen ist  der  Anregimg  der  Ge- 
werbevereine zu  verdanken,  und  ebenso 
liaben  sie  sich  mit  der  Einführung  von  Aus- 
stellungen von  Lehrlingsarbeiten  und  Ab- 
nahme von  Gesellenprüfungen  befasst.  Die 
von  den  Einzelvereinen  mit  Preisen  ausge- 
zeichneten Lehrlingsarbeiten  werden  zu  der 
vom  Staat  veranstalteten  Landesausstellung 
eingesandt,  woselbst  sie  noch  Staatspreise 
erhalten.  Im  Jahre  1898  haben  sich  z.  B. 
947  Lehrlinge  mit  etwa  3000  Arbeiten  an  der 
Landesausstellung  beteiligt,  während  1881 
niu*  70  Lehrlinge  beteiligt  waren.  Lehrver- 
träge —  nach  dem  Wortlaut  des  vom  deut- 
schen Verband  aufgestellten  Musters  und 
solchen  für  staatliche  Lehrlingswerkstätten 
—  beziehen  die  Vereine  vom  Landesverband 
und  stellen  sie  ihren  Mitgliedern  meist 
kostenlos  zur  Verfügung. 

Seit  1889  sind  neben  den  45  Gewerbe- 
schulen eine  Eeibe  gewerblicher  Fort- 
bildungsschulen an  kleineren  Orten  ent- 
standen.  Sie  haben  Pflichtnnterricht  in  gewerb- 
lichem Eecbnen  und  Geschäftsaufsatz  mit  Buch- 
führung und  Kostenberechnen  sowie  Freihand-, 
Geometrisch-,  Projektions-  und  Fachzeichnen. 
Der  Lehrstoff  verteilt  sich  bei  wöchentlich  6>-8 
Unterrichtsstunden  auf  2  Jtfhre.  Die  Untei^ 
richtszeit  ist  hauptsächlich  bei  Tag.  1889  warea 


560 


Grewerbevei-eine 


es  16  solcher  Schalen.  Die  Zahl  stieg  1892  auf 
40  und  die  folgenden  Jahre  auf  43,  48,  50,  60 
und  63,  und  1899  waren  es  72  gewerbliche  Fort- 
bildungsschulen. Es  sind  Gemeindeanstalten 
mit  Staatsunterstütznng.  Der  Staatszuschuss 
im  Jahre  beträgt  für  eine  solche  Schule  240 
bis  400  Mark,  je  nach  den  wirtschaftlichen 
Verhältnissen  der  Gemeinden. 

Der  Gesamtaufwand  für  das  gesamte  ge- 
werbliche Unterrichtswesen  in  Baden  aus  Staats- 
mitteln betrug  für  1898  im  ordentlichen  Staats- 
haushalt rund  509000  Mark  und  im  ausser- 
ordentlichen für  1898/99  rund  240000  Mark. 

Um  strebsamen  und  tüchtigen  angehenden 
Handwerkern  eine  bessere  Fachausbildung  zu 
ermöglichen,  bewilligen  viele  Vereine  nicht  un- 
•erhebliche   Unterstützungen    an    solche    Jnng6 
Handwerker,  um  ihnen  den  Besuch  der  Fach- 
schulen im  Lande  oder,  soweit  solche  nicht  in  Baden 
Yorhanden  sind,  in  anderen  Staaten  zu  ermög- 
lichen, und  vermitteln  auch  die  staatliche  Zu- 
schussbewilligung.   Die  Gewerbe  vereine  suchen 
auch   die  Werkstattlehre  zu  heben,    indem  sie 
bemüht  sind,  bei  tüchtigen  Meistern  die  jungen 
Leute  unterzubringen  und  für  diese  um  das  vom 
Staat  bewilligte  Lehrgeld  nachzusuchen.    Die 
üeberwachung  dieser  Lehrwerkstätten,   welche 
besonders  vorgeschriebene  Lehrgänge  haben,  be- 
sorgen in  der  Eegel  die  Gewerbevereine.    Es 
bestehen  etwa   113  derartige  Lehrwerkstätten 
mit  130  Lehrlingen  für  21  Gewerbe  in  28  Orten 
und  beläuft  sich  der  Staatszuschuss  auf  12000 
Mark.    Auch  die  wirtschaftliche  und  berufliche 
Weiterbildung  der  Meister  lassen  sich  die  Ge- 
werbevereine   angelegen  sein.     Büchereien  in 
ganz  erheblichem   Umfang  treffen  wir  in  der 
[ehrzahl  der  Vereine,  und  diese  vermitteln  auch 
•den  Bezug  von  Büchern  aus  der  Bücherei  der 
Landesgewerbehalle.     Kurse    in    Buchführung 
und  Kostenberechnen    werden   —   oft   wieder- 
holt —  in  den  Wintermonaten  von  nahezu  allen 
Vereinen  veranstaltet.    Ebenso  haben  sie  An- 
regung  gegeben   zu    den    alljährlich   bei   der 
Grossherzoglichen     Landesgewerbehalle     abge- 
haltenen  Meisterkursen,    zu  denen   der   Staat 
4urch  Bewilligung  von  Tagegeldern  und  Reise- 
kosten die  Beteiligung  auch  ärmeren  Meistern 
ermöglicht.     Seit   1884  sind    diese    eingeführt 
und    fanden    solche    statt    für    Schuhmacher, 
Schneider,  Schreiner,  Färber,  Sattler  und  Tape- 
zierer, Gerber,  Seifensieder,  Uhrmacher,  Maler^ 
Elektrotechniker  u.  s.  w.   und  zwar  oft  zwei 
und  drei  nach  einander.  Mehrere  Gewerbevereine 
sind    die   Begründer  der   in  den  betreffenden 
Orten  bestehenden  Vorschussvereine ;  femer  haben 
eine    Reihe    Gewerbevereine   eigene  Verkaufs- 
hallen  mit    bestem   Erfolg    eingerichtet    und 
kleinere  Ausstellungen  aus  Ausstellungsgegen- 
ständen der  Landesgewerbehalle  oder  den  Er- 
werbserzeugnissen kleinerer  Bezirke  (Gaue)  und 
grössere  Fachausstellungen  mit  bestem  Ergeb- 
nis  für    die    beteiligten   Aussteller    und    sich 
selbst  durchgeführt.    Bei  Verdingungen  ist  bei 
Staatsbauten  das  prozentuale  Angebot  auf  An- 
regung der  Gewerbevereine  durch  das  Angebot 
der  Einzelpreise  ersetzt  und  hier  das  Bestreben 
zur  Durchführung   der   Mittelpreise   im   Fluss. 
Bei  Regelung  des  Arbeitsnachweises   sind   die 
Gewerbevereine  auch  beteiligt.   Aus  der  Landes- 

fe  Werbehalle  werden  den  Gewerbe  vereinen  in 
en  Versammlungen   die  Neuheiten   in  Werk- 


zeugen, Maschinen  und  dergleichen  vorgezeigt 
und  bei  Beschaffung  von  Maschinen  und  Ein- 
richtungen der  sachverständige  Rat  des  zweiten 
Beamten  der  grossherzoglichen  Landesgewerbe- 
halle durch  die  Gewerbevereine  eingeholt.  Die 
Gewerbe  vereine  errichteten  teilweise  auch  Kran- 
ken- und  Sterbekassen  für  ihre  Mitglieder. 
Ueber  volkswirtschaftliche,  technische  sowie 
sozialpolitische  Fragen,  auch  über  Gesetzgebung 
werden  Vorträge  gehalten,  wozu  Redner  vom 
Orte  oder  auswärts  gewonnen  oder  solche  vom 
grossherzoglichen  Ministerium  des  Innern  er- 
beten werden.  —  Um  die  Bildung  von  gewerb- 
lichen Vereinen  mehr  und  mehr  anzuregen,  hat 
die  Regierung  seit  einer  Reihe  von  Jahren  ver- 
schiedene Einrichtungen  zur  Förderung  des  Ge- 
werbewesens geschaffen  und  deren  Benutzung 
den  Gewerbevereinen  in  jeder  Weise  recht  leicht 
gemacht.  Vor  allen  Dingen  ist  es  die  Landes- 
gewerbehalle, als  Mittelpunkt  für  gewerbliche 
Anliegen,  die  schon  18ö5  eröffnet  wurde  und 
deren  Organisation  vorbildlich  wirkte.  Im 
„Bureau"  können  die  Landesangehörigen  ge- 
schäftliche Auskunft  aller  Art  haben,  die 
Bücherei  mit  etwa  17000  Bänden  und  die 
Vorbildersammlung  mit  4600  Blättern  ist  leicht 
zugänglich,  und  in  der  „Ausstellung"  bringen 
namentlich  die  Gewerbevereinsmitglieder  nicht 
nur  ihre  Erzeugnisse  zur  Ausstellung  und  Be- 
gutachtung, sondern  dort  ist  auch  immer  das 
neueste  und  beste  an  Werkzeugen  und  der- 
gleichen für  nahezu  alle  Berufe  zu  treffen.  Die 
oadische  Gewerbezeitung,  das  Organ  der  Landes- 
gewerbehalle und  der  Gewerbevereine,  geleitet 
vom  Vorstand  der  Anstalt,  bringt  nicht  nur 
belehrende  Aufsätze  aller  Art  und  Berichte  der 
Vereine,  sondern  enthält  auch  die  staatlichen 
Arbeitsvergebungen  des  Landes  und  wird  von 
vielen  Gewerbevereinen  für  alle  Mitglieder  ge- 
boten. Von  den  weitgehenden  Vergünstigungen, 
welche  die  Regierung  den  Gewerbevereinen 
macht,  wird  von  ihnen  noch  nicht  in  dem  Masse 
Gebrauch  gemacht,  wie  es  in  der  Absicht  der 
Regierung  liegt,  wenn  auch  zugegeben  werden 
muss,  dass  durch  die  ausserordentliche  Ver- 
mehrung der  Vereine  in  den  letzten  Jahren 
alle  diese  Einrichtungen  jetzt  erst  im  ganzen 
Lande  besser  bekannt  werden. 

Seitens  der  Regierung  haben  sich  die  Ge- 
werbevereine einer  grossen  Wertschätzung  zu 
erfreuen,  denn  immer  wurde  in  allen  das  Ge- 
werbe berührenden  Fragen  ihr  Gutachten  ein- 
geholt. Statt  des  früheren  „ständigen  Aus- 
schusses" der  Landesgewerbehalle,  der  sich  an 
der  Mitberatung  allgemein  gewerblicher  und 
Handelsfragen  des  Landes  und  besonders  auch  an 
der  Beratung  des  gewerblichen  Staatshaushalts 
alljährlich  beteiligte,  ist  seit  1893  der  „Landes- 
gewerberat" errichtet,  dem  auch  wieder  je  ein 
Vertreter  der  9  Gauverbände  mit  Vertretern 
der  Handelskammern  und  von  grossherzoglicher 
Regierung  ernannte  Mitglieder  angehören. 
Im  Eisenbahnrat  ist  der  Landesverband  durch 
zwei  Herren  vertreten.  Bemerkenswert  sind 
noch  folgende  gemeinnützige  Einrichtungen: 

a)  Arbeitsnachweisanstalten.  Solche 
bestehen  in  Freiburg,  Heidelberg,  Karlsruhe, 
Konstanz,  Lahr,  Lörrach,  Mannheim,  Offenburg, 
Pforzheim,  Schopfheira  und  Müllheim. 

b)  Lehrlingsheime,  zum  Zweck,  den 
jungen  Leuten  in  ihrer  freien  Zeit  an  Werk- 


Grewerbevereine 


561 


tagen  und  Sonntagen  an  einem  —  im  Winter 
geheizten  —  Orte  Gelegenheit  zur  Erholung 
und  zum   Spiel,   Lesen,   Zeichnen  u.  s.  w.  zu 

feben,  bestehen  in  Baden,  Karlsruhe,  Mannheim, 
'reiburg  u.  s  w.  Sie  sind  von  den  Gewerbe- 
vereinen  ins  Leben  geiufen  und  werden  von 
ihnen  und  der  Gemeinde  unterstützt. 

In  Baden  werden  4  Handwerks- 
kammern errichtet,  und  zwar  in  Konstanz, 
Freiburg,  Karlsruhe  und  Mannheim.  Wenn  die 
Zahl  der  selbständigen  Handwerksmeister  im 
Grossherzo^tum  Baden  auf  etwa  45000  geschätzt 
wird,  so  sind  Ende  Dezember  1899  in  den  40 
Innungen  und  Genossenschaften,  Fachvereinen, 
Gewerhevereinen  und  Handwerkervereinen  zu- 
sammen etwa  20000  Handwerksmeister  korpo- 
riert,  also  kaum  die  Hälfte. 

3.  Bayern.  Auf  Veranlassung  des 
Bayerischen  Gewerbemuseums  in  Nürnberg, 
dessen  Zweck  es  ist,  den  Fortschritt  auf 
allen  Gebieten  der  gewerblichen  und  in- 
dustriellen Arbeitsthätigkeit  des  Landes  in 
technischer,  künstlerischer  und  geschäftlicher 
Beziehung  zu  fördern,  wurde  am  26.  Sep- 
tember 1875  unter  Zustimmung  von  39  Ge- 
werbevereinen in  der  in  Nürnberg  veran- 
stalteten Versammlung  der  Verband  Baye- 
rischer Gewerbevereine  gegründet  und  die 
Leitung  desselben  vom  Direktor  des  Baye- 
rischen Gewerbemuseums  übernommen. 

Massgebend  für  den  Zusammenschluss 
wai-  in  erster  Linie  der  Gedanke,  Beziehungen 
zwischen  den  einzelnen  Vereinen  herzu- 
stellen, einen  gegenseitigen  Austausch  der 
femachten  Erfahrungen  zu  ermöglichen,  eine 
Landhabe  zu  gewinnen  zur  Verfolgung  der 
gemeinsamen  gewerblichen  und  wirtschaft- 
Bchen  Aufgaben,  zugleich  aber  um  dadurch 
die  einzelnen  Vereine  in  möglichst  enge 
Fühlung  mit  dem  Bayerischen  Gewerbe- 
museum zu  bringen. 

Bei  der  Bedeutung  des  Verbandes  mn 
die  Entwickelung  des  gewerblichen  Lebens 
vermehrte  sich  mit  der  Zeit  die  Zahl  der 
ihm  angehörenden  Vereine.  Dieselbe  be- 
trägt heute  62.  Die  Zahl  der  Mitglieder 
macht  ungefähr  10  000  aus. 

Seit  der  Gründung  des  Verbandes  wurden 
alljährlich  Verbandstage  abgehalten  —  der  erste 
am  lt.  Juni  1876  — ,  bei  welchen  alle  die  gewerb- 
lichen Verhältnisse  betreffenden  Fragen  zur 
Beratung  gebracht  wurden.  Ganz  besonders 
erwähnenswert  nach  dieser  Bichtung  sind  die 
Ausfährungen  über  Hausierhandel  und  Wander- 
lager, Zuchthausarbeit  und  Yerdingungswesen, 
die  Aufstellung  eines  einheitlichen  Lehrvertrags 
imter  Berücksichtigung  der  einschlägigen  Para- 
firaphen  der  Gewerbeordnung,  dann  dasProgramm 
rar  die  Abhaltung  von  Lehrlingsprüfnngen  und 
Lehrlingsarbeiten- Ausstellungen  sowie  die  Ein- 
ft\hrung     der    Bayerischen    Landesausstellung 

Sreisgekronter  Lehrlingsarbeiten.  In  den  letzten 
ahren  beschäftigte  den  Verband  naturgemäss 
ganz  besonders  das  neue  Handwerksgesetz  v. 
zß.  Juni  1897  sowie  die  Stellungnahme  gegen 
die  Auswüchse  der  Grossbazare  und  Waren- 
hänser  mit  ihren  Zweiggeschäften  und  sonstige 


einschneidende  für  die    gewerblichen  Verhält- 
nisse wichtige  Fragen. 

Ausser  den  alljährlich  stattfindenden  Ver- 
bandstagen, welche  als  die  ordentlichen  Haupt- 
versammlungen des  Verbandes  anzusehen  sind, 
veranstaltete  der  Verband  auch  Wanderver- 
sammlungen, verbunden  mit  Ortsgewerbe-  und 
Lehrlingsarbeiten-Ausstellungen  sowie  mit  Wan- 
derausstellungen des  Bayerischen  Gewerbe- 
museums, bei  denen  Werke  aus  dessen  Muster- 
sammlung, Vorbildersammlung,  Bücherei  und 
der  chemisch-technischen  und  mechanisch-tech- 
nischen Abteilung  zur  Ausstellung  kamen. 
Solche  Wanderversammlungen  fanden  bisher  in 
Straubing,  Augsburg,  Würzburg,  Freising, 
Amberg,  Bamberg,  Ingolstadt  und  Begens- 
bürg  statt. 

Als  ein  Hauptfördernngsmittel  für  die  Be- 
lebung der  Interessen  innerhalb  der  einzelnen 
Vereine  wurde  schon  von  vornherein  die  Ab- 
haltung von  belehrenden  Vorträgen  durch  Be- 
amte des  Bayerischen  Gewerbemuseums  be- 
trachtet. 

Im  Jahre  1889  wurden,  dank  dem  vom 
königlich  bayerischen  Staatsministerium  be- 
willigten Zuschüsse  für  das  Bayerische  Ge- 
werbemuseum, Wandervorträge  in  allen  dem 
Verbände  angehörigen  Gewerbevereinen  einge- 
führt, so  dass  jeder  Verein  in  jedem  Jahre  un- 
entgeltlich einen  Vortrag  erhielt. 

Das  vom  Bayerischen  Gewerbemuseum  auf 
Grund  des  Beschlusses  der  Hauptversammlung 
des  XIV.  Verbandstages  Bayerischer  Gewerb?- 
vereine  im  Jahre  1889  herausgegebene  Programm 
für  die  Abhaltung  von  Lehrlingsprüfangen  und 
Lehrlingsarbeiten -Ausstellungen  im  Königreich 
Bayern  wurde  von  allen  Vereinen  bei  den 
jeweils  veranstalteten  örtlichen  Unternehmungen 
zu  Grunde  gelegt,  so  dass  im  grossen  und 
ganzen  ein  einheitiiches  Verfahren  in  dieser 
Kichtnng  erzielt  wurde. 

Schon  von  der  Gründung  des  Verbandes  an 
richtete  die  Verbandsleitung  ihr  Augenmerk 
auf  die  Abfassung  schriftlicher  Lehrverträge, 
und  es  gelang  ihren  Bemühungen,  das  im  Ja&e 
1888  herausgegebene,  im  Jahre  1891  verbesserte 
Lehrlingsbuch  in  mehr  als  21600  Ausgaben 
zur  Einführung  zu  bringen.  Das  Buch  enthält 
die  Zeugnisse  über  bestandene  Lehrzeit,  über 
den  Besuch  von  Fach-  und  Fortbildungsschulen, 
über  Beteiligung  an  der  örtlichen  Lehrlings- 
arbeitenausstellung u.  s.  w.  sowie  das  Muster 
für  den  Lehrvertrag  und  einen  Auszug  aus 
der  Gewerbeordnung  in  betreff  des  Haltens  und 
Anleitens  der  Lehrlinge. 

Im  Jahre  1890  wurden  die  bayerischen 
Landesausstellungen  preisgekrönter  Lehrlings- 
arbeiten von  der  Verbanasleitung  ins  Leben 
gerufen.  Das  Bayerische  Gewerbemuseum 
leiteten  hierbei  folgende  Gesichtspunkte:  Die 
Landesausstellung  von  preisgekrönten  Lehrlings- 
arbeiten hat  den  Zweck,  m  erster  Linie  auf 
die  schon  länger  bestehende  Einrichtung  örtlicher 
Lehrlingsarbeitenausstellungen  fördernd  einzu- 
wirken. Dieses  Ziel  soll  dadurch  erreicht  wer- 
den, dass  dem  Lehrlinge  Gelegenheit  geboten 
wird,  im  Vereine  mit  einer  grösseren  Zahl  seiner 
Alters-  und  Berufsgenossen  aus  dem  ganzen 
engeren  Vaterlande  wettbewerbend  vor  eine 
grössere  Oeffentlichkeit  zu  treten.  Von  ganz 
besonderer  Wichtigkeit  aber  wird  die  Landes- 


Handwörterbuch  der  StaatswiBseiiBchaften.     Zweite  Auflage.    IV. 


B6 


562 


Oewerbevereine 


ausstellung  für  die  Entwickelnng  des  Lehrlings- 
wesens dadurch,  dass  sie  Gelegenheit  bietet,  zn 
Ta^  tretende  Mängel  eingehend  zn  prüfen  und 
geeignete  Abhilfe  anzubahnen.  An  der  Aus- 
stellung können  sich  nur  solche  Lehrlinge  be- 
teiligen, deren  Arbeiten  bei  der  Örtlichen  Lehr- 
lingsarbeitenausstellung mit  dem  ersten  Preise 
ausgezeichnet  wurden. 

Mit  diesen  AussteUungen  wurden  erfreuliche 
Ergebnisse  erzielt.  Es  beteiligte  sich  durch- 
schnittlich daran  die  Hälfte  der  Yerbandsvereine, 
und  die  Zahl  der  beteiligten  Lehrlinge  belief 
sich  im  Durchschnitt  in  jedem  Jahr  auf  150 — 160. 
Derartiger  Landesausstellungen  fanden  bis  jetzt 
acht  statt. 

Die  in  verschiedenen  Jahren,  das  erste  Mal 
im  Jahre  1886,  erhobene  Statistik  über  die 
Thätigkeit  der  Vereine  nach  den  einzelnen  Ver- 
anstaltungen zu  Gunsten  ihrer  Mitglieder  brachte 
sehr  erfreuliche  Ergebnisse,  namentlich  auf  dem 
Gebiete  der  Errichtung  und  Weiterftthrung  von 
Fach-  und  Fortbildungsschulen,  Unterstützung 
von  tüchtigen  Gresellen  bei  Besuch  von  höheren 
Lehranstalten,  Landesgewerbe-  und  Weltaus- 
stellungen, Einführung  von  Vorschuss-  und  Dar- 
lehenskassen,  Verkauishallen  und  dergleichen. 

Die  von  der  Verbandsleitung  bei  dem 
Witteisbacher  Landesstiftun^rate  gegebene 
Anregung,  Meistern,  welche  sich  um  die  Heran- 
bildung tüchtiger  Lehrlinge  besonders  verdient 
gemacht  haben',  eine  Auszeichnung  in  Form 
eines  vom  königlich  bayerischen  Staatsministe- 
rium ausgefertigten  Diploms  zu  verleihen,  fand 
bereitwillige  Zustimmung. 

Mit  dem  Jahre  1896  erfolgte  der  Anschluss 
des  Verbandes  an  den  Verband  deutscher  Ge- 
werbevereine, was  die  Vertretung  der  gemein- 
samen Interessen  beim  Bundesrate  und  Keichs- 
tag  wesentlich  erleichterte  und  förderte. 

In  den  letzten  Jahren  bildeten  natnrgemäss 
die  Beratungen  und  Erläuteruniepen  über  das 
neue  Handwerks^esetz  den  \^dchtigsten  Gegen- 
stand in  den  einzelnen  Hauptversammlungen 
und  Ausschusssitzungen. 

Da  mit  dem  Inkrafttreten  der  Hand- 
werkskammern diese  den  Mittelpunkt  des 
gewerblichen  Lebens  fiSr  die  Folge  bilden 
werden,  so  hat  sich  der  seitherige  Leiter 
des  Verbandes,  der  Direktor  des  Bayerischen 
Gewerbemuseums,  veranlasst  gesehen,  bei 
dem  XXIV.  Verbandstage  am  8.  Oktober  1899 
die  Leitung  des  Verbandes  niederzulegen. 
Vorher  war-  die  Verbandsleitung  jedoch  be- 
müht, die  einzelnen  Vereine  iu  den  je- 
weiligen Regierungskreisen  zu  Kreisver- 
bänden zusammenzuschliessen,  damit  sie  bei 
der  betreffenden  Handwerkskammer  als  ge- 
schlossenes Ganzes  auftreten  und  ihre 
Wünsche  und  Anträge  vorbringen  könnten. 
Zu  diesem  Zwecke  hal)en  sich,  der  An- 
regung folgend,  in  den  Kreisen  Mittelfranken, 
Oberfranken,  Unterfranken,  Schwaben  und 
Neuburg  Kreisverbände  gekündet,  und  es 
ist  zu  erwarten,  dass  die  bis  jetzt  noch  aus- 
stehenden Kreise  sich  ebenfalls  noch  korpo- 
rieren  werden. 

Wenn    nun    auch    das    Bayerische    Ge-  i 


werbemuseum  beziehungsweise  dessen  Direk- 
tor von  der  Leitung  des  Verbandes  zurück- 
getreten und  dieselbe  in  andere  Hände  über- 
gegangen ist  80  wird  doch  nach  wie  vor 
m  den  Kreisen  des  Verbandes  sowohl  wie 
unter  den  Gewerbetreibenden  des  Landes 
im  allgemeinen  das  Bayerische  Gewerbe- 
museum den  Mittelpunkt  bilden,  wenn  sie 
Rat  und  Auskunft  in  den  yerschiedenen 
Zweigen  des  gewerblichen  Lebens  bedürfen. 
Das  Gewerbemuseum  hat  die  Aufgabe,  die 
Gewerbetreibenden  des  Landes  in  tech- 
nischer und  künstlerischer  Hin- 
sicht zu  fördern. 

Erwähnt  seien  hier  noch  die  beiden  im 
Jahre  1882  und  1896  vom  Bayierischen  Ge- 
werbemuseum mit  grossem  ärfolge  durch- 
geführten Bayerischen  Landes  -  Lidustrie-, 
Gewerbe-  und  Kimstausstellungen,  welche 
überaus  nutzbringend  und  segensreich  für 
den  Aufschwung  des  vaterländischen  Ge- 
werbes und  der  Industrie  waren. 

4.  Elsass-Lothringen.  Die  elsass- 
lothringischen Gewerbevereine  haben  sich 
aus  dem  Mittelstande  und  namentlich  aus 
dem  Handwerkerstande  gebildet;  sie  ent- 
standen im  Laufe  der  achtziger  Jahre. 
Der  Organisationsgedanke  in  diesem  Lande 
ist  erst  in  jüngster  Zeit  geweckt  woixlen. 
Bis  zum  Jahre  1897  waren  in  Elsass-Loth- 
ringen  unter  38  000  Handwerkern  etwa  1000 
organisiert;  von  diesen  1000  gehörten  etwa 
2/3  den  damals  vorhandenen  Gewerbever- 
einen  an.     Seit  Erlass  des  G.  v.  26.  Juli 

1897  trat  eine  planmässige  rührige  Organi- 
sation ein ;  besonders  eingeleitet  wurde  die- 
selbe durch  den  Vorstand  des  Verbandes 
elsass-lothringischer    Gewerbevereine ,     der 

1898  den  Namen  »Verband  elsass-lothringi- 
scher Gewerbe-  und  Handwerkervereine « 
annahm.  Gegenwärtig  giebt  es  in  Elsass- 
Lotliringen:  im  Ober-Elsass  24,  im  ünter- 
Elsass  29  und  in  Lothringen  16,  im  ganzen 
69  Gewerbe-  und  Handwerkervereine:  da- 
von  gehören  33  Vereine  dem  genannten 
Verbände  an  mit  etwa  2800  Mitglie<lem* 
von  diesen  sind  85  ^/o  Handwerker.  Auf 
dem  Gebiete  der  Förderung  des  gewerb- 
lichen Bildungswesens  ist  Elsass-Lothringen 
leider  erheblich  hinter  anderen  Staaten  zu- 
rückgeblieben, was  auch  nicht  zu  verwim- 
dern  ist,  w^enn  man  bedenkt,  dass  z.  B.  der 
Badische  Staat  bei  einer  noch  etwas  kleineren 
industriollen  Bevölkerung  in  Baden  als  in  El- 
sass-Lothringen für  gewerbliches  ünten-ichts- 
wesen  und  sonstige  Zwecke  des  Gewerbes 
etwa  800  000  Mark  jährlich  ausgiebt,  wo- 
gegen in  Elsass-Lothringen  der  Gesamtauf- 
wand des  Staates  für  Handel  und  Gewerbe 
gegenwärtig  für  ein  Jahr  nui*  176  000  Mark 
beträgt.  Im  übrigen  steht  die  Regienmg 
dem  Gewerbe  Vereins  Wesen  fi*eundlich  gegen- 
über.     Für   Elsass-Lothringen    wird    eine 


Grewerbevereiue 


563 


Haadwerkskammer  mit  dem  Sitz  in  Strass- 
burg  errichtet,  und  im  Bezirk  derselben 
weisen  4  Abteilungen  in  Mülhausen,  Colmar, 
Metz  und  Strassburg  gebildet. 

6.  Hannover.  Der  Gewerbeverein  für 
Hannover  mit  dem  Sitze  in  der  Stadt 
Hannover  wurde  im  Jahre  1834  gegründet 
und  bezweckt  Belebung  und  Förderung  des 
vaterländischen  Gewerbefleisses  in  der  Stadt 
imd  Provinz  Hannover.  Seine  Mitglieder- 
zahl  beträgt  744.  Ausserdem  sind  diesem 
Vereine  29  Handwerker-  und  Qewerbever- 
eine,  welche  in  den  verschiedenen  Städten 
der  Provinz  Hannover  ihren  Sitz  haben, 
angeschlossen.  Die  Mitgliederzahl  dieser 
Vereine  beträgt  2953,  so  dass  die  30  Hand- 
werker- und  Gewerbevereine  der  Stadt  und 
Provinz  Hannover  demnach  eine  Gesamtmit- 
gliederzahl  von  3697  erreichen.  Davon  ge- 
hören dem  Verbände  deutscher  Gewerbe- 
vereine als  Landesverband  Hannover  18 
Vereine  mit  2  316  Mitgliedern  an. 

Die  Ortsgewerbevereine  der  Provinz 
Hannover  stehen  in  unmittelbarer  Beziehung 
zu  dem  Hauptverein.  Die  Mitglieder  der- 
selben beschränken  ihre  Thätigkeit  im 
wesentlichen  auf  die  Wahlen  der  Direktions- 
mitglieder des  Hauptvereins  in  den  jähr- 
lichen Hauptversammlungen.  Wollten  die 
Mitglieder  eine  selbständige  Thätigkeit  üben, 
so  mussten  sie  sich  schon  m  engeren  Kreisen 
vereinigen.  Hier  konnten  sie  die  in  dem 
Hauptvereine  mehr  zurücktretende  eigene 
Thätigkeit  zur  Geltung  bringen,  um  die 
nötigen  Aufschlüsse  über  die  örtlichen  Zu- 
stände der  Gewerbe,  ihre  Mängel  und  die 
Mittel  zu  deren  Beseitigung,  zu  erhalten, 
oder  um  durch  gegenseitige  Mitteilung  zur 
Belehrung  der  Mitglieder  beizutragen. 

Die  Vorstände  der  Ortsgewerbevereine 
haben  das  Recht,  an  den  Sitzungen  der 
Direktion  in  der  Stadt  Hannover  durch  je 
einen  von  ihnen  selbst  zu  wählenden  Ab- 
gesandten teil  zu  nehmen.  Jeder  Ortsge- 
werbeverein hat  in  der  Direktionssitzung,  in 
welcher  er  vertreten  ist,  in  allen  denjenigen 
Angelegenheiten,  welche  nicht  etwa  Geld- 
bewilligungen aus  der  Kasse  der  Direktion 
betreffen,  eine  Stimme  abzugeben.  Die  An- 
zahl aller  Stimmen  der  vertretenen  Orts- 
gewerbevereine darf  jedoch  die  Zahl  der  in 
der  Sitzung  anwesenden  Direktionsmitglieder 
nicht  übersteigen,  und  es  muss  erforderlichen- 
falls eine  Vermindenmg  der  von  den  ein- 
zelnen Ortsgewerbe  vereinen  abzugebenden 
Stimmen  auf  einen  Stimmenbruchteil  ein- 
treten. 

In  der  Hauptversammlung  hat  jeder 
der  vertretenen  Ortsgewerbevereine  eine 
Stimme  zu  führen,  deren  Träger  vorher  der 
Direktion  namhaft  zu  machen  ist. 

Die  gegenwärtige  Thätigkeit  des  Ge- 
werbevereins für  Hannover  ist  der 


Hauptsache  nach  auf  Belehrung  und  Weiter- 
bildung der  Gewerbetreibenden  gerichtet; 
zu  diesem  Zwecke  dienen:  eine  Vereins- 
bücherei, welche  Werke  gewerblichen 
und  kunstgewerblichen  Inhalts,  daneben 
auch  solche  für  dlgemeine  Bildung  enthält ; 
eine  Vorbildersammlnng,  deren  Be- 
nutzung durch  den  Konservator  des  Vereins 
erleichtert  und  unterstützt  wird;  derselbe 
riebt  auch  Berichtigungen  an  den  von  den 
Gewerbetreibenden  im  Zeichensaale  des  Ver- 
eins ausgeführten  Skizzen  und  Zeichnungen ; 
ein  -  Auskunftsstelle,  durch  welche  die 
Gewerbetreibenden  aUe  gewünschten  auf 
ihre  fachliche  Thätigkeit  Bezug  nehmenden 
Auskünfte  erhalten;  eine  Vereinszeit- 
schrift, » Hannoversches  Gewerbeblatt« , 
welche  Artikel  gewerblichen  und  kunst- 
gewerblichen Inhalts,  Ausstellungs-  und 
Vereinsberichte,  eine  Patentliste  und  litte- 
raturnach weise  bringt;  ein  Lesezimmer 
in  den  Vereinsräumen,  in  welchem  aUe 
hervorragenden  gewerblichen  und  kunst- 
gewerblichen Zeitschriften  aufliegen;  eine 
Muster-  und  Stoffsammlung;  eine 
Wechselausstellung  von  Werkzeugen 
und  Maschinen  insbesondei'e  für  das  Klein- 
gewerbe in  einer  neuerbauten  Halle,  wobei 
die  Maschinen  den  Besuchern  im  Betrieb 
vorgeführt  werden,  ferner  eine  Wechsel- 
ausstellung von  gewerblichen  und  kunst- 
gewerblichen Gegenständen.  Der  Besuch 
der  Ausstellungen  und  Sammlungen  w^ird 
den  Mitgliedern  der  Arbeiter-,  Handwerker- 
und Gewerbevereine,  den  Schülern  der  Ge- 
w^erbe-  imd  Fortbildungsschulen  unter  Füh- 
rung des  Konservators  des  Vereins  unent- 
geltlich gestattet;  Unterricht  in  ver- 
schiedenen gewerblichen  Zweigen,  wie  für 
Dampfkesselheizer  und  Maschinenwärter,  für 
Installateure  für  Gras-  und  Wasserleitungen, 
für  Elektrotechniker;  der  kunstgewerbliche 
Unterricht  für  Frauen;  der  Unterricht  wird 
nach  den  Bedürfnissen  der  Gewerbetreiben- 
den eingerichtet  imd  erweitert.  Ausserdem 
fördert  der  Gewerbeverein  die  Ortsge- 
werbevereine der  Provinz,  er  veranstaltet 
Vorträge  in  seinen  Hauptversammlungen 
und  in  den  Ortsgewerbevereinen,  er  erteilt 
Rat  in  allen  gewerblichen  Fragen 
und  imterstützt  gewerbliche  Aus- 
stellungen und  Fortbildungs- 
schulen. 

6.  Hessen«  Im  Grossherzogtum  Hessen 
ist  das  Gewerbevereinswesen  vorzüglich  or- 
ganisiert ;  der  Landesgewerbeverein  sieht  auf 
eine  lange  Dauer  zurück;  1836  gegründet, 
konnte  am  21.  Juli  1887  das  5()jährige 
Jubiläum  seiner  Thätigkeit  gefeiert  werden. 

Die  Entstehung  des  Vereins  fällt  also 
zurück  in  eine  Zeit,  in  welcher  Frank- 
reich und  England  auf  den  Gebieten  der 
Industrie  und  Technik  Deutschland  gegen- 

36* 


5Ö4 


Gewerbe  vereine 


über  einen  weiten  Vorspnmg  errungen  hat- 
ten, in  die  Zeit,  in  welcher  der  Grundsatz 
der  ökonomischen  Freiheit  allmählich  auch 
in  Deutschland  zur  Geltung  kam.  Der  Ge- 
werbeverein für  das  Grossherzogtum  Hessen 
(Landesgewerbeverein)  bildet  eine  freie  Ver- 
einigung örtlicher  Gewerbevereine  nach  ein- 
heitlicher Satzung  und  unter  staatlicher 
Centralleitung  der  Grossherzoglichen  Cen- 
tralstelle  für  die  Gewerbe  in  Darmstadt, 
deren  Vorsitzender  zugleich  Vorsitzender 
des  Landesgew^erbevereins  ist. 

Dieser  Verein  bezweckt  die  berufliche 
und  wirtschaftliche  Fördenmg  seiner  Mit- 
glieder und  des  einheimischen  Gewerbe- 
standes ;  er  büdet  ein  Organ,  durch  welches 
der  Staatsregierung  Berichte  und  Gutachten 
über  gewerbliche  Angelegenheiten  erstattet 
werden.  Seine  gescliäftsführende  Stelle  ist 
die  Grossherzogliche  Centralstelle  für  die 
Gewerbe,  deren  Beamte  vom  Staate  ernannt 
und  besoldet  werden  und  dem  Grossherzog- 
lichen Ministerium  des  Innern  miterstellt 
sind. 

Das  Kassenwesen  ist  einem  Rechner  über- 
tragen. 

Zur  Erreichung  des  oben  angegebenen 
Zwecks  dienen  hauptsächlich  folgende 
Mittel : 

1.  Pflege  der  Beziehungen  der  Mitglieder 
und  der  Ortsgewerbevereine  untereinander 
und  zu  sonstigen  Vereinen  und  Verbänden, 
behufs  Ermittelung  des  Zustandes  und  der 
Bedürfnisse  der  Gewerbe;  2.  Beförderung 
der  Ausbildung  imd  Anleitung  der  Gewerbe- 
treibenden, Haiidwerker  und  zwar  von  Meis- 
tern, Gesellen  und  Lehrlingen ;  3.  Anregung 
zum  genossenschaftlichen  Zusammenschluss, 
Unterstützung  des  Arbeitsnachweises ;  4.  Un- 
terstützungen, öffentliche  Preisausschreibun- 
gen und  Äeiserteilungen  zur  Förderung  des 
inländischen  Gewerbewesens ;  5.  Anschaffung 
guter  Zeitschriften  und  sonstiger  Werke, 
weldie  gewerbliche  und  technische  Gegen- 
stände behandeln;  6.  Erteilung  von  Aus- 
kunft, Gutachten  und  Ratschlägen;  7.  Ver- 
anstaltung belehrender  Vorträge  technischen 
und  wirtschaftlichen  Inhalts ;  8.  Veranlassung 
und  Befördenmg  aUgemeiner  Ausstellungen 
von  Gegenständen  des  heimischen  Gewerb- 
fleisses  sowie  von  Sonderausstellungen; 
9.  Unterhaltung  einer  technischen  Muster- 
sammlung; 10.  Erstattung  von  Gutachten 
und  Anträgen  an  die  staatlichen  Behörden 
und  das  Grossherzogliche  Ministerium  des 
Innern;  11.  Herausgabe  einer  Zeitschrift 
unter  dem  Titel  »Gewerbeblatt  für  das 
Grossherzogtum  Hessen«;  12.  Berücksich- 
tigung neuer  Erfindungen  des  In-  und  Aus- 
landes und  geeignete  Mitteilung  derselben; 
13.  Beratung  sonstiger  gewerblicher  Gegen- 
stände in  Vei*sanimlungen ,  Ausschusssit- 
zungen und  besonderen  Kommissionen.    14. 


Die  Grossherzogliche  chemische  Prüfungs- 
und Auskunftsstation  für  die  Gewerbe. 

Aufgabe  des  Landesgewerbevereins  ist 
es,  möglichst  dahin  zu  wirken,  dass  die 
Vereinsmitglieder  der  gewerbreicheren 
Orte  des  Landes  und  deren  näheren  Um- 
gebung zur  Bildung  von  Ortsgewerbe- 
vereinen zusammentreten. 

Solche  in  dieser  Art  gebildete  und  von 
der  Centralstelle  anerkannte  Ortsvereine, 
welche  mit  wenigstens  20  dem  Landes^- 
werbeverein  angehörenden  Mitgliedern  ms 
Leben  treten,  regelmässige  Versammlungen 
der  Mitglieder  halten  und  nur  die  ihrer  ge- 
werblichen Bestimmung  entsprechenden 
Zwecke  verfolgen,  haben  eine  Unterstützung 
aus  der  Gewerbevereinskasse  zu  erwarten, 
welche  der  Hälfte  der  satzungsgemässen 
Beiträge  (d.  i.  2  Mk.)  der  Mitglieder  gleich- 
kommt und  über  deren  Verwendung  zu 
Vereinszwecken  dieselben  selbständig  ver- 
fügen können. 

Die  Ortsgewerbevereine  bilden  unter  sich 
Bezirksverbände ;  die  Geschäfte  eines  solchen 
Verbandes  werden  durch  den  Bezirksaus- 
schuss  geleitet,  welcher  aus  den  Vertretern 
der  dem  Verband  angehörigen  Ortsvereine 
besteht. 

Handwerker-  oder  Meistervereinigungen 
können  bei  dem  Landesgew^erbeverein  die 
Mitgliedschaft  erwerben. 

Der  Zweck  der  Ortsvereine  besteht  zu- 
nächst darin,  die  Bedürfnisse  des  dem  be- 
treffenden Orte  oder  Bezirk  angehörenden 
Gewerbestandes  zu  erforschen,  Vorschläge 
zur  Verbesserung  gewerblicher  Zustände 
und  zur  Vennehrung  der  Erwerbsquellen  zu 
machen,  um  dieselben  durch  Vermittelung 
der  Centralstelle  und  nach  Begutachtung 
durch  den  Ausschuss  des  Landesgewerbe- 
vereins an  das  Grossherzogliche  Ministerium 
des  Innern  gelangen  zu  lassen.  Insbeson- 
dere liegt  ihnen  die  örtliche  Pflege 
des  gewerblichen  Schulwesens  und 
die  Förderung  des  Gedeihens  und 
der  Wirksamkeit  der  ihrer  Auf- 
sicht unterstellten  Handwerker- 
schulen ob,  deren  obere  Leitung  von  der 
Centralstelle  für  die  Gewerbe  ausgeübt  wird. 

Zur  Unterstützung  der  Grossherzoglichen 
CentralsteUe  in  der  Leitung  der  mit  dem 
Landesgewerbevereine  in  Verbindung  stehen- 
den gewerblichen  Schulen  besteht  eine 
Hand  werker  Schulkommission,  deren 
Vorsitzender  der  Gewerbeschulinspektor  ist. 
Aufgabe  derselben  ist  es,  fortlaufend  durch 
ihre  Mitglieder  den  Zustand  und  die  Wirk- 
samkeit der  Schulen  zu  überwachen. 

Zur  Bearbeitung  der  dem  Landesge- 
wTrbevereine  obliegenden  Aufgaben  und  zur 
Beratung  derselben  in  besonderen  Sitzungen 
besteht  ein  Landesausschuss.  Demselben 
gehören     ausser     dem    Vorsitzenden    und 


Gewerbevereine 


565 


Sekretär     der    Grossherzoglichen    Central- 
stelle  an: 

1.  Drei  von  der  Regierung  zu  ernennende 
Mitglieder ; 

2.  Je  ein  von  jedem  Bezirksausschuss  der 
Ortsgewerbevereine  gewählter  Vertreter ; 

3.  Je  ein  Vertreter  derjenigen  Ortsge- 
werbevereine, deren  Mitgliederzahl  300 
übersteigt ; 

4.  Vertreter  der  dem  Verein  als  Mit- 
glieder angehörigen  Handwerker-  oder- 
Seistervereinigungen . 

Abgesehen  von  den  laufenden  Geschäften 
kann  ohne  Zuziehung  des  Ausschusses  kein 
wichtigerer  Gegenstand  von  der  Central- 
stello  allein  erledigt  werden. 

Unter  Leitung  der  Centralstelle  für  die 
Gewerbe  haben  im  Schuljahr  1898/99  nach- 
stehend verzeichnete  Lehranstalten  ge- 
standen : 

Die  Landesbaugewerkschule ,  eine  Fach- 
schule für  Elfenbeinschnitzerei  und  ver- 
wandte Gewerbe,  eine  Webschule,  zwei 
Kunstgewerbeschiüen .  11  (lewerbeschulen, 
100  Sonntagszeichenscnulen  an  99  Orten,  teil- 
weise verbunden  mit  Wochenunterricht,  und 
42  gewerbliche  Fortbildungsschulen  für  die 
nicht  zeichnerischen  Fächer.  Ausserdem 
finden  bei  der  Centralstelle  kunstgewerb- 
liche Unterrichts-  und  besondere  Meister- 
kurse für  Handwerker  statt.  An  den  von 
den  Ortsgewerbevereinen  veranstalteten  Ge- 
sellenprüfungen haben  sich  im  Jahre  1899 
mit  Erfolg  215  Lehrlinge  beteiligt. 

Ueber  die  finanzieUen  Verhältnisse  im 
Jahre  1899  ist  folgendes  zu  berichten: 

Staatfiznschuss  für 
die  Grossh.  Central- 
stelle für  die  Gewerbe 
imd  den  Landesge- 
werbeverein .... 

Mitgliederbeiträge  . 

Beiträge  der  Orts- 
gewerbevereine ,  Ge- 
meinden, Sparkassen 
zu  den  Kosten  der 
Handwerker  -  Sonn- 
ta^szeichenschalen     . 

Die  kostenlose  Stel- 
lang der  Scbulräume, 
Heizung  nnd  Beleuch- 
tung dnrch  die  Ge- 
meinden ist  zu  ver- 
anschlagen zu  .    .    . 

Schulgeld  .... 

Ausserdem  wurden 
noch  vereinnahmt .    . 


81213,— M. 


3 1  336  —  M. 


24440,—  » 


7000,—  „ 
14280,—  „ 


1 880.— 


Zusammen    . 

Staatszuschuss  für 
die  Grossh.  chemische 
Prüfungs-  und  Aus- 
kanfts-Station  .    .    . 

An  Gebühren  wur- 
den vereinnahmt  .    . 


8 1  2 1 3,—  M.    78  936,— M. 


7353,-M. 


Staatszuschuss  für 
die  Grossh.  Landes- 
baufi^ewerkschnle,  die 
Fachschulen ,  Kunst- 
gewerbe- sowie  Ge- 
werbeschulen   .    .    .  136280, —  M. 

Beiträge  der  Ge- 
meinden u.  Sparkassen 

An  Schulgeld     .    . 

Aufwand  der  Orts- 

gewerbevereine  und 
emeinden  durch  Stel- 
lung der  Schnlräume, 
der  Heizung  und  Be- 
leuchtung     .    .    .    . 


62750,— M. 

51730,—  „ 


34940,—  „ 


3  509,  -  M. 


Zusammen 


7353— M.      3509,-M, 


Zusammen    .  136280,— M.  149420,— M. 

Insgesamt  standen  hiernach  für  Vereins- 
und Schulzwecke  456711  Mark  zur  Ver- 
fügung, danmter  224846  Mark  oder  49  «/o 
an  Staatsmitteln. 

Ziu*  Zeit  der  Berichterstattung  bestand 
der  Landesverein  aus  104  Ortsgewerbever- 
einen mit  nuid  9600  Mitgliedern,  wovon 
83  ®/o  Fabrikanten  und  Gewerbetreibende  und 
64*^/0  ausschliesslich  Handwerker  sind. 

T.Mecklenburg.  Der  Verband  mecklen- 
burgischer Gewerbevereine  wurde  am  28. 
September  1878  begründet.  Die  Veran- 
lassung hierzu  ging  von  Wismar  aus. 
Dem  Verbände  traten  sofort  10  Vereine 
mit  insgesamt  1651  Mitgliedern  bei;  von 
ihnen  blicken  eine  Reihe,  so  Wismar,  Ro- 
stock, Schwerin,  Güstrow,  Bützow,  Parchim 
bereits  auf  eine  mehr  als  50  jährige  Thätig- 
keit  zurück.  Am  5.  April  1879  geruhte  der 
damalige  Erbgrossherzog,  nachmalige  Gross- 
herzog Friedrich  Franz  III. ,  das  Protektorat 
über  den  Verband  zu  übernehmen.  Noch 
im  gleichen  Jahre  wurde  ihm  eine  Unter- 
stützung seitens  der  Regierung  dadurch  zu 
teil,  dass  diese  eine  Reisebeihüfe  für  solche 
Gewerbetreibende  bewilligte,  welche  die  da- 
malige Berliner  Ausstellung  zu  besuchen 
wünschten.  Eine  dauernde  Unterstützung  er- 
hält der  Verband  von  der  Regierung  seit 
dem  7.  Januar  1885,  wo  durch  Ministerial- 
reskript  verfügt  ward,  dass  ihm  ein  gleicher 
Betrag  wie  derjenige,  welchen  er  aus  eige- 
nen Mitteln  aufbringen  werde,  jährlich  aus 
dem   Landesindustriefonds  gewährt   werde. 

Gegenstand  der  Verhandlungen  des  Ver- 
bandes bUdeten  in  den  ersten  Jahren  seines 
Bestehens  die  Innungsfrage,  das  Lehrlinga- 
wesen,  die  Fürsorge  für  notleidende  Reisende, 
die  Abhaltung  einer  Landes^ewerbeausstellung 
(1883)  sowie  die  Gewerbeschulfrage,  um  die 
sich  besonders  der  Gewerbeverein  Rostock  ver- 
dient machte.  In  die  Folgezeit  fällt  die  Be- 
gründung eines  Stipendienfonds,  aus  dessen 
Mitteln  jungen  Handwerkern  eine  Beihilfe  zum 
Besuch  eines  Technikums  gewährt  wird,  der 
Verbandssterbekasse  sowie  die  Bildung  von 
Gewerbevereinskrankenkassen  (neuerdings  eines 
Verbandes  dieser  Krankenkassen);  femer  be- 
schäftigte den  Verband  die  gewerbliche  Buch- 


566 


Gewerbevereine 


führung,  das  Genossenschaftswesen,  die  Er- 
richtung einer  gewerblichen  Hauptstelle  u.  a.  m. ; 
in  neuester  Zeit  kamen  hinzu:  Haftpflichtver- 
sicherung, Alters-  und  Invaliditätsversicherung. 
Selbstverständlich  war  die  neue  Handwerker- 
organisation gleichfalls  des  öfteren  Gegenstand 
der  Verhandlungen.  Die  Gewerbeschulen  im 
Lande  sind  städtische  Einrichtungen,  die  von 
der  Regierung  und  nur  ausnahmsweise  und 
unbedeutend  von  den  Gewerbevereinen  mit  Geld 
unterstützt  werden  (mit  Ausnahme  Rostocks). 

Der  Verband  umfasst  zur  Zeit  34  Vereine 
mit  zusammen  3733  Mitgliedern,  darunter  2456 
Handwerker.  Von  diesen  34  Vereinen  zählen 
12  wenig:er  als  50  Mitglieder,  der  kleinste  nur 
5,  die  beiden  nächstkleinsten  je  20,  zusammen 
356  Mitglieder;  11  Vereine  50 — 100,  zusammen 
761  Mitglieder;  -  5  Vereine  100-200,  zu- 
sammen 684  Mitglieder ;  —  3  Vereine  200—300, 
zusammen  692  Mitglieder;  —  1  Verein  zwischen 
300  und  400,  nämlich  356  Mitglieder ;  2  Vereine 
400 — 500,  zusammen  884  Mitglieder.  Ueber  die 
Hälfte  aus  Handwerkern  bestehen  28  Vereine, 
während  in  6  Vereinen  die  Nichthandwerker 
überwiegen.  —  Im  Jahre  1897  umfasste  der 
Verband  25  Vereine  mit  2518  Mitgliedern,  im 
Jahre  1898  27  Vereine  mit  3232  Mitgliedern, 
mithin  ist  gegen  1897  ein  Zuwachs  von  9  Ver- 
einen und  1215  Mitgliedern,  gegen  1898  ein 
solcher  von  7  Vereinen  und  501  Mitgliedern  zu 
verzeichnen.  —  Ausserhalb  des  Verbandes  stehen 
ausserdem  noch  2  Gewerbe  vereine,  so  dass  die 
Gesamtzahl  der  mecklenburgischen  Gewerbe- 
vereine 36  beträgt. 

8.  XassaiL  Der  im  Jahre  1845  in 
Wiesbaden  gegriindete  Gewerbeverein  für 
Nassau  umfiisste  ursprünglich  das  Gebiet 
des  Herzogtums  Nassau;  nach  1866  haben 
sich  die  hessischen  Landesteile  des  Kreises 
Biedenkopf  und  später  noch  Homburg  v.  d.  H. 
angeschlossen,  so  dass  er  sich  jetzt  über  den 
Regierungsbezirk  Wiesbaden,  ausschliesslich 
der  Stadt  Frankfurt  a.  M.  und  deren  nähere 
ümgebimg,  erstreckt,  ein  Gebiet  mit  650000 
Einwohnern.  Der  Verein  gliedert  sich  zur 
Zeit  in  92  Ortsvereine.  Jeder  Ortsverein 
hat  wieder  seinen  besonderen  Vorstand  und 
seine  eigene  Verwaltung,  steht  aber  unter 
der  Oberleitung  des  Centralvorstandes  in 
Wiesbaden,  weicher  seine  Thätigkeit  und 
seine  Vermögensverwaltung  zu  überwachen 
hat.  Der  Centralvorstaiid  setzt  sich  zusam- 
men aus  einem  Dii'ektor,  einem  stellver- 
tretenden Direktor,  3  Sekretären  und  17 
Beisitzern  (Referenten  für  die  verschiedenen 
Berufszweigo).  Der  Verein  besieht  aus 
ordentlichen,  korrespondierenden  und  Ehren- 
mitgliedern. Nach  der  Feststellung  am  15. 
März  1899  betrug  die  Zahl  der  Mitglieder 
8288  (darunter  52rKS  Handwerker);  auf  1000 
Einwohner  kommen  mithin  13  Mitglieder. 
Die  onlentlicheu  Mitglieder  zahlen  einen 
Beitrag  von  jähi'lich  4  Mark. 

Die  Wirksamkeit  des  Vereins  war  während 
seines  ööjährijfen  Bestehens  eine  sehr  vielseitige 
und  umfangreiche.  Bis  zum  Jahre  1865  bildete 
der   Gewerbeverein    die    alleinige    Vertretung 


nicht  nur  des  Handwerker-  und  Gewerbestandes, 
sondern  auch  der  Grossindustrie.  Später  ging 
ein  Teil  der  Arbeit  auf  die  Handeiskammern 
über,  deren  Gründung  von  dem  Gewerbeverein 
selbst  beantragt  und  veranlasst  worden  war. 
Auch  nach  der  Einverleibung  Nassaus  in  Preussen 
ist  der  Verein  mit  der  königlichen  Staatsregie- 
rung stets  in  engster  Fühlung  geblieben.  In 
fast  allen  das  Handwerk  und  Gewerbe  be- 
treffenden Fragen  von  einschneidender  Be- 
deutung hat  die  Regierung  sich  der  Mitwir- 
kung des  Gewerbevereins  bedient,  und  die  von 
dem  Centralvorstand  in  seinen  gutachtlichen 
Aeusserungen  der  Eegierung  unteroreiteten  be- 
rechtigten Wünsche  seiner  Mitglieder  haben 
grossen  teils  Berücksichtigung  geninden. 

Zur  Förderung  der  gewerblichen  Bildung 
hat  der  Gewerbeverein  für  Nassau  von  Anfang 
an  die  Bildung  und  VervoUständ^ng  einer 
Bücherei  gewerblich  -  technischer  Werke  und 
Vorlageblätter  mit  Eifer  betrieben.  Die  Bücher. 
Zeitschriften  u.  s.  w.  werden  an  die  Mitglieder 
kostenlos  ausgeliehen.  Es  ist  daher  denselben 
reichlich  Gelegenheit  geboten,  sich  sowohl  nach 
der  wissenschaftlichen  als  künstlerischen  Seite 
hin  auf  ihrem  Gebiete  weiter  zu  bilden  und 
mit  den  neueren  Einrichtungen  vertraut  zu 
machen.  Die  Bücherei  enthält  zur  Zeit  un- 
gefähr 9000  Bände, 

Die  Patentschriften  über  die  im  Deutschen 
Reiche  erteilten  Patente  sind  in  den  Geschäfts- 
räumen des  Centralvorstandes  zu  jedermanns 
Einsicht  ausgelegt. 

Auch  unterhält  der  Verein  ein  Musterlager 
von  Werkzeugen,  technischen  Hilfsmitteln,  Ma- 
schinen u.  s.  w.  für  das  Kleingewerbe,  die  teil- 
weise von  den  Fabrikanten  dann  vorübergehend 
ausgestellt,  teilweise  von  dem  Verein  käuflich 
erworben  werden.  Ferner  ist  auch  in  dem 
Musterlager  die  sehr  reichhaltige  Sammlung 
von  Lehrmitteln  für  den  Zeichenunterricht  unter- 
gebracht. 

Zur  Vermittelung  des  Verkehrs  zwischen 
dem  Centralvorstand  und  den  Ortsvereinen, 
deren  Vorständen  und  Mitgliedern  ^iebt  der 
Verein  eine  Zeitschrift  heraus,  die  sich  „Mit- 
teilungen für  den  Gewerbeverein  für  Nassau" 
betitelt  und  von  dem  ersten  Vereinssekretär  ge- 
leitet wird.  Die  Zeitschrift  behandelt  ausser- 
dem die  für  Handwerk  und  Gewerbe  wichtigen 
Gegenstände,  insbesondere  auch  die  Fortschritte 
der  gewerblichen  Technik. 

Die  Hauptthätigkeit  des  Vereins  ist  von 
jeher  auf  die  Bildung,  Unterhaltung  und 
Förderung  der  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen gerichtet  gewesen.  Dank  der  Un- 
tei-stützuDg  der  Staatsregienmg,  der  Ge- 
meinden, des  Bezirksverbandes  und  der 
Kreisbehörden  war  es  möglich,  die  Schulen 
auf  eine  Höhe  zu  bringen,  die  bis  jetzt 
wohl  in  keinem  anderen  Bezirke  des  preussi- 
schen  Staat<?s  tibertroffen  worden  sein 
dtlrfte.  An  allen  Orten,  wo  Gewerbe  vereine 
bestehen,  befinden  sich  auch  gewerbliche 
Fortbildungsschulen,  mit  Ausnahme  eines 
Ortes,  wo  man  noch  mit  der  Einrichtimg 
der  Schule  beschäftigt  ist.  Nach  der  ini 
Dezember     18i)8    aufgenommenen    Statistik 


Gtewerbevereine 


567 


betrug  die  Zahl  der  Schüler  in  91  Schulen 
(jeder  nur  einmal  gezählt)  9898,  die  der 
Lehrer  337  (auf  1000  Einwohner  entfallen 
15  Schüler). 

Für  die  Entwickelung  der  Schulen  ist  die 
Teilnahme  von  Fabrikanten,  Geistlichen,  Lehrern, 
Beamten  und  anderen  Freunden  des  Gewerbe- 
standes von  nicht  zu  verkennender  Bedeutung 
gewesen.  Dieses  selbstlose  Mitwirken  und 
Aufopfern  von  Geld,  Zeit  und  Arbeitskraft  auch 
derer,  die  nicht  Handwerker  sind,  hat  im  Verein 
mit  der  Thätigkeit  des  verständigen  Teiles  der 
Gewerbetreibenden  die  Schulen  geschaffen  und 
erhalten ;  die  Leitung  oder  Mitleitung  durch  die 
Handwerker  selbst  bewahrt  ihnen  die  praktische 
Richtung.  Die  Oberleitung  liegt  in  den  Händen 
des  Central  Vorstandes,  der  dem  Ganzen  nicht 
nur  ein  einheitliches  äepräge  gegeben,  sondern 
auch  stets  ang:ere^  und  nachgeholfen  hat,  wo 
es  fehlte,  Lehrmittel  beschaffte,  Lehrer  aus- 
bilden liess  u.  8.  w.  Einem  der  drei  Vereins- 
sekretäre ist  besonders  die  Leitung  des  gewerb- 
lichen Schulwesens  anvertraut.  Für  diese 
Stellung  ist  bisher  stets  ein  praktischer  Schul- 
mann gewählt  worden.  Der  Unterricht  im 
Deutschen  und  Bechnen  ist  in  den  meisten 
Schulen  obligatorisch,  der  Besuch  der  Zeichen- 
schulen grossenteils  noch  ein  freiwilliger;  das 
Bestreben  geht  aber  neuerdings  dahin,  auch 
diesen  Unterricht  obligatorisch  zu  machen.  Im 
Frühjahre  finden  durch  vom  Centralvorstand 
bestellte  Inspektoren  die  öffentlichen  Schluss- 
prüfungen statt  unter  Teilnahme  der  Orts- 
vorstände und  der  beteiligten  Handwerker.  Die 
im  Laufe  des  Schuljahres  angefertigten  Zeich- 
nungen werden  nach  Schluss  desselben  an  den 
Centralvorstand  zur  Beurteilung  durch  einen  be- 
sonders hierzu  gewählten  Ansschuss  eingesandt. 

Auf  Anregung  des  Herrn  Ministers  für 
Handel  und  Gewerbe  sind  im  Jahre  1897  in 
Ems  und  Limburg  auch  Mädchenfortbildungs- 
schulen eingerichtet  worden,  die  sich  einer  regen 
Beteiligung  erfreuen  und  recht  gute  Erfolge 
erzielt  haben. 

Die  Fortbildungskurse  für  Zeichenlehrer 
finden  neuerdings  in  erweitertem  Umfange  an 
der  Wiesbadener  Gewerbeschule  im  Auftrage 
des  Herrn  Ministers  für  Handel  und  Gewerbe 
statt.  Sämtliche  Kosten  trä^t  die  Staatskasse, 
während  die  jzeschäftliche  Leitung  dem  Central- 
vorstand überlassen  worden  ist. 

Alljährlich  im  Frühjahre  werden  auf  Ver- 
anlassung des  Centralvorstandes  des  Gewerbe- 
vereins freiwillige  Lehrlingsprüfungen  abge- 
halten, dem  Prüfling  ein  Zeugnis  ausgestellt. 
Zur  Anregung  einer  grösseren  Beteiligung  an 
den  Prüfungen  werden  denjenigen  Lehrlingen, 
welche  die  Prüfung  gut  bestehen,  kleine  Preise 
gegeben,  wozu  der  Bezirksverband  des  Regie- 
rungsbezirks Wiesbaden  in  dankenswerter  Weise 
jähnich  einen  Betrag  von  300  Mark  zur  Ver- 
fügung stellt. 

Femer  findet  im  Auftrage  des  Gewerbe- 
vereins  in  jedem  Jahre  in  Wiesbaden  ein  acht- 
wöchiger  Kursus  zur  Ausbildung  von  Hand- 
arbeitslehrerinnen an  Volksmädchenschulen  und 
ein  sechswöchiger  Haushaltungskursus  für  solche 
"weibliche  Personen  statt,  welche  bereit  sind, 
entweder  für  eigene  Rechnung  oder  im  Auf- 
trage der  Kreisverwaltungen  des  Regienmgs- 


bezirks  weitere  Kurse  auf  dem  Lande  abzu- 
halten. Zu  den  Kosten  leistet  der  Bezirksver- 
band einen  jährlichen  Zuschuss  von  3000  Mark. 
Die  jährlichen  Gesamtausgaben  des  Gewerbe- 
vereius  für  Nassau  belaufen  sich  auf  rund  150000 
Mark.    Dieselben  werden  gedeckt  durch 

Zuschnss  des  Staates aö  400  Mark 

Desgleichen  des  Bezirks  Verbandes  11 000     „ 
Beitrag  der  Gemeinden  (einschl. 

Stellung  der   Unterrichtsstätte 

u.  8.  w.) 35000     „ 

Beitrag  der  Kreise 4  500      „ 

Beitrag  der  Ortsgewerbevereine  .  33000      „ 

Schulgeld 7  400      „ 

Sonstige  Einnahmen   .    .    .    .    .  3  700 „_ 

Zusammen    150  UOO  Mark 

Die  auf  den  jährlichen  Hauptversammlungen 
gefassten  und  von  dem  Centralvorstand  aus- 
geführten Beschlüsse  waren  zum  Teil  von  weit- 
tragender Bedeutung  für  Handwerk  und  Ge- 
werbe. Neben  den  vielen  Beschlüssen  über  die 
Schaffung  von  Verkehrserleichterungen  u.  s.  w. 
nennen  wir  hier  nur  die  Begründung  und  An- 
sammlung eines  Stipendieufonds  zur  Ausbildung 
armer  begabter  junger  Handwerker,  die  Ein- 
richtung des  Arbeitsnachweises  in  Wiesbaden; 
die  keramische  Fachschule  in  Höhr  verdankt 
ihre  Gründung  dem  Gewerbeverein  für  Nassau. 
Die  auf  Grund  eines  Hauptversammlungs- 
beschlusses eingeleiteten  Verhandlungen  wegen 
Errichtung  einer  Werkmeisterschule  im  Ke- 
gierungsbezirk  Wiesbaden  sind  noch  nicht  zum 
Abschluss  gekommen. 

Mit  der  Hauptversammlung,  die  jedes 
Jahr  an  einem  anderen  Orte  stattfindet,  ist  in 
der  Regel  eine  örtliche  Ausstellung  von  ge- 
werblichen Erzeugnissen  sowie  eine  Ausstellung 
der  im  voranc^egangenen  Jahr  in  den  Gewerbe- 
schulen des  Vereins  angefertigten  Zeichnungen 
verbunden.  Die  von  einer  grossen  Anzahl  von 
Handwerkern  und  Gewerbetreibenden  sowie  von 
vielen  Lehrern  und  Schülern  besuchten  Aus- 
stellungen sind  von  wesentlichem  Einfluss  auf 
die  Förderung  des  Handwerks  sowohl  wie  auch 
auf  die  Entwickelung  der  Schulen  gewesen. 

9.  Pfalz.  Der  Verband  Pfälzi- 
scher Gewerbevereine.  Vorort:  Ge- 
werbeverein  Kaiserslautern  zählt  zur  Zeit 
23  Vereine  mit  rund  4400  Mitgliedern.  Es 
bestehen  ausser  den  dem  Verbände  ange- 
schlossenen Vereinen  in  der  Pfalz  4  weitere 
Vereine  mit  etwa  250  Mitgliedern,  die  ihren 
Beitritt  in  Aussicht  gestellt  haben.  Ausser- 
dem sind  mehrfach  Gewerbevereine  in  der 
Bildung  begriffen.  Nach  der  Statistik  des 
Verbandes  für  1898/99  besitzen  die  Einzel- 
vereine ein  Gesamtbarvermögen  von  rund 
30000  Mark,  ein  Inventarvermögen,  aus 
Büchereien,  Vorlagen-  und  Modellsamm- 
lungen u.  s.  w.  sich  zusammensetzend,  im 
Werte  von  mnd  18000  Mark.  Der  Verband 
veranstaltete  in  den  Einzelvereinen  1898/99 
rund  100  allgemeine  Vereinsvei-sammlungen, 
in  welchen  etwa  60  Vorträge  über  volkswirt- 
schaftliche und  gewerbliche  Fragen  ge- 
halten   imd   die   gewerblichen   Tagesfragen 


568 


Gewerbevereine 


allgememer,  provinzialer  und  örtlicher  Art 
behandelt  und  auf  deren  Gestaltung  Ein- 
fluss  zu  gewinnen  versucht  wurde.  —  Die 
Vereine  widmen  dem  fachgewerblichen 
Büdimgswesen  die  grösste  Aufmerksamkeit. 
"Wo  die  Heranbildung  des  gewerblichen 
Nachwuchses  nicht  durch  örtliche  gewerb- 
liche Fortbildungs-  und  Fachschulen  endgiltig 
auf  Anregung  und  unter  Mitwii^kung  der 
Ortsvereine  geregelt  ist,  liaben  die  Vereine 
eigene  Fortbildungs-  und  Fachzeichenschulen 
gegründet,  die  sie  mit  Unterstützung  aus 
öffentlichen  Mitteln  unterhalten,  leiten,  be- 
aufsichtigen. In  den  alljährlich  von  den 
Vereinen  veranstalteten  Lelirlingsarbeiten- 
ausstellungen  werden  a.ich  die  Ergebnisse 
der  Schularbeiten  regelmässig  weiteren 
Kreisen  vorgeführt.  —  Freie  Innungen 
bestehen  an  allen  grösseren  Plätzen  für 
das  Bäckerei-  und  das  Fleischergewerbe. 
Zwangsinnungen  nur  an  wenig  Orten  für 
das  Schneidergewerbe  und  das  Gewerbe 
der  Barbiere,  Bader,  Friseure  und  Peiücken- 
macher.  —  Zur  Vertretimg  der  Interessen 
der  Einzelgewerbe  bestehen  zahlreiche 
Meistervereinigungen,  die  entweder  in  den 
Gewerbevereinen  gebildet  wurden  oder  sich 
denselben  angeschlossen  haben.  Auch  die 
freien  Innungen  sind  vielfach  den  Gewerbe- 
vereinen korporativ  beigetreten. 

10.  Prenssen.  Noch  unvollständige 
Unterlagen  liegen  in  betreff  der  preussischen 
Gewerbevereine  vor.  Es  bestehen  auch  hier 
zahlreiche  tüchtige  Gewerbevereine  mit  be- 
deutender örtlicher  Wirksamkeit,  die  ebenfeJls 
grossen  Einfluss  auf  die  Hebung  des  Hand- 
werker- und  Gewerbestandes  besonders  auf 
dem  Gebiet  des  gewerblichen  Bildungs- 
wesens ausgeübt  haben.  Die  Litteratiu*  in 
dieser  Beziehung  ist  noch  vollständig  unzu- 
reichend ;  auch  die  Berichte  der  preussischen 
Handelskammern,  die  sonst  über  alle  volks- 
wirtschaftlich bedeutungsvollen  Gestaltungen 
ihres  Bezirks  getreulich  berichten,  haben 
hier  anscheinend  eine  Lücke  gelassen.  Es 
können  daher  nur  die  Vereine  hier  Erwäh- 
nung finden,  über  deren  Wirksamkeit  zuver- 
lässige Unterlagen  zu  erlangen  waren.  Einer 
der  ältesten  Gewerbevereine  ist  der  im  Jahre 
1829  gegründete  Gewerbeverein  für 
Köln  und  Umgegend,  der  seit  seinem 
Bestehen  eine  bedeutende  gemeinnützige 
Thätigkeit  entfaltet  hat.  Hervorzuheben  ist 
die  1878  durch  Mitwirkung  des  Vereins  er- 
folgte Begründung  der  gewerblichen  Fach- 
und  Fortbildungsschulen  der  Stadt  Köln, 
die  sich  unter  ihrer  vorzüglichen  Leitung 
zu  vorbildlichen  Anstalten  entwickelt 
haben ;  ferner  ist  auf  Betreiben  des  Vereins 
das  K^unstgewerbemuseum  entstanden  und 
1894  unter  Mitwirkung  der  Stadt  eine  Ar- 
.  beitsnachw^eisanstalt  verbunden  mit  dem 
Nachweis  von  Wohnungen  für  Arbeiter  und 


kleine  Angestellte;  durch  von  Zeit  zu  Zeit 
veranstaltete  Vorträge,  gewerbliche  Ausstel- 
lungen und  Ausstellungen  von  Lehrlings- 
arbeiten sowie  eine  umfassende  reiche 
Bücherei  hat  der  Verein  fortgesetzt  zur 
Hebung  des  heimatlichen  Handwerker-  und 
Gewerbestandes  beigetragen.  —  Ein  anderer 
bemerkenswerter  Verein  der  Rheinprovinz 
ist  der  Gewerbeverein  für  Aaohen- 
Burtscheid  und  Umgegend.  Derselbe 
ist  1879  begründet,  hat  während  dieser  Zeit 
zwei  Gewerbeausstellungen  und  zwei  Aus- 
stellungen von  Lehrlingsarbeiten  veranstaltet, 
hat  die  gewerblichen  Schulen  der  Stadt  be- 
gründet und  mit  dem  Dampfkesselrevisions- 
verein den  Kursus  für  Dampfkesselheizer 
und  Maschinenwärter  mit  Prüfungen  einge- 
richtet. Das  zur  Beschaffung  eines  Vereins- 
hauses bestimmte  bis  jetzt  angesammelte 
Vermögen  beträgt  rund  50000  Mark. 

Der  Handels-  und  Gewerbevereiu  zu 
Cassel  wurde  im  Jahre  1855  gegründet, 
um  Handel  und  Gewerbe  zu  hebSön  imd  zu 
fördern.  In  Verbindung  mit  den  anderen 
gleichai-tigen  Vereinen,  die  in  einzelnen 
Städten  Kurhessens  entstanden,  wm-den  die 
verschiedenen  wirtschaftlichen  Fragen  er- 
örtert und  deren  Ergebnis  der  Regiening 
unterbmtet.  Nach  der  Einverleibung 
Kurhessens  in  Preussen  war  das 
Bestreben  des  Vereins  zunächst 
darauf  gerichtet,  die  schon  in 
früheren  Jahren  geplante  Errich- 
tung einer  Gewerbehalle,  in  wel- 
cher durch  Vorführung  und  Aus- 
leihung von  Roh-  und  Hilfsstoffen, 
Maschinen, Werkzeugen,  Modellen, 
Fabrikaten,  Zeichnungen  und  sons- 
tigen praktischen  Lehr-  und  Bil- 
dungsmitteln die  gewerbliche  Thätig- 
keit angeregt  werden  sollte,  ins  Leben  zu 
rufen.  Nach  jahrelangen  Unterhandlungen 
hatten  die  Bemühungen  den  Erfolg,  dass 
im  Jahre  1872  mit  Hilfe  der  Re- 
gierung diese  Anstalt  endlich  eröffnet 
werden  konnte.  Nach  Errichtung  der  Han- 
delskammer wiuxlen  die  bisher  durch  den 
Verein  wahrgenommenen  Interessen  des 
Handelsstandes  durch  diese  in  erster  Linie 
vertreten,  so  dass  sich  die  Thätigkeit  des 
Handels-  und  Gewerbevereins  nun  mehr  auf 
die  Hebung  des  Handwerks  und  die  Pflege 
aller  auf  gewerblichem  Gebiet  liegenden 
Bestrebimgen  beschränkte.  Da  die  Gewerl>e- 
halle  vornehmlich  zur  Förd^nrng  und  Stär- 
kung des  Gewerbestaudes  bestimmt  wai\  so 
ist  die  zeitgemässe  Ausgestaltung  und  Ver- 
waltung derselben  die  Hauptaufgabe  des 
Vereins  geblieben ;  selbstverständlich  werden 
aber  alle  das  Gewerbe  berührenden  Fragen 
eingehend  innerhalb  des  Vereins  behandelt. 
Der  jährliche  Zuschuss  des  Vereins  ziu-  Er- 
haltung der  Gewerbehalle  beträgt  2000  Mark, 


Gewerbevereine 


569 


der  Zuschuss  der  Stadt  bar  800  Mark,  da- 
neben noch  Heizung  und  Beleuchtung,  des 
Bezirksverbandes  800  Mark,  des  Landkreises 
Cassel  100  Mark  und  der  Staatszuschuss 
40(X)  Mark  und  Hergabe  der  Räume,  zu- 
sammen bar  7700  Mark. 

Der  Gewerbeverein  zu  Erfurt,  welcher 
zur  Zeit  etwas  über  1000  Mitglieder  besitzt 
wiuxüe  am  2.  Februar  1828  gegründet  imd 
erhielt  am  30.  Januar  1892  die  Rechte  einer 
juristischen  Person.  Der  Verein  sieht  seine 
Ziele  hauptsächlich  in  der  Unterstützung 
technischer  und  gewerblicher  Ausbildung 
seiner  3ütglieder  und  in  Verbesserung  von 
Verkehrseinrichtungen . 

Es  werden  im  Winterhalbjahr  jeden 
Montag  Abend  Vorträge  gehalten  und  werden 
zu  diesem  Zweck  im  Halbjahr  etwa  1500 
Mark  aufgewandt.  Ausserdem  werden  im 
Jahre  me&ere  Ausflüge  nach  grösseren  ge- 
werblichen Etablissements  gemacht. 

Der  Verein  besitzt  eine  umfangreiche 
Bücherei  von  etwa  4000  Bänden  gewerb- 
lichen und  technischen  Inhalts ;  diese  Bücher- 
sammlung ist  sämtlichen  Vereinsmitgliedern 
unentgeltlich  zugänglich.  Weiter  hatder Verein 
die  Verwaltung  einer  Patentschriftenauslege- 
stelle  von  über  100  000  Patentschriften.  Das 
Vermögen  des  Vereins  beläuft  sich  auf  etwa 
15000  Mark.  Weiter  hat  der  Verein  eine 
Kommission  zur  Bekämpfung  des  unlauteren 
Wettbewerbs  sowie  eine  chemische  ünter- 
suchungsstation  ins  Leben  gerufen  und  auch 
im  Jahre  1894  eine  Thüringer  Gewerbe- 
und  Industrieausstellung  unternommen ;  auch 
an  der  hier  ins  Leben  getretenen  Kunst- 
und  Handwerkerschule  hat  der  Verein  nicht 
geringen  Anteil  gehabt.  Die  Gewerbevereine 
Aachen,  Köln,  Cassel  und  Erfurt  gehören 
dem  Verbände  deutscher  Gewerbevereine  an, 
ausserdem  der  Gewerbeverein  Trier  mit 
200  Mitgliedern  imd  die  Vereine  Minden  in 
Westfalen,  Eupen,  Querfurt  und  Viersen. 

Der  1840  gegründete  Gewerbeverein  in 
Dortmund  hat  eine  langjährige  gemein- 
ntltzige  Thätigkeit  entwickelt.  Derselbe 
zählt  jetzt  etwa  1000  Mitglieder,  besass 
1884  bereits  ein  Vereinsvermögen  von 
54863  Mark,  seine  Bücherei  umfasste  1890 
6375  Bände.  Der  Verein  fiir  Handel  und 
Gewerbe  zu  Potsdam  wiu:de  im  Jahre 
1843  aus  der  Bedrängnis  heraus  begründet, 
welche  die  nahe  Grossstadt  Berlin  ausübte, 
deren  Wettbewerb  sich  dadurch  schmerzlich 
fühlbar  machte,  dass  die  kaufkräftigen  Bürger 
Potsdams  dorthin  sich  wandten.  Dieser 
Verein  hat  den  Zusammenschluss  zu  ge- 
nossenschaftlichen Verbänden,  Innungen  u.s.  w. 
kräftig  gefördert,  eine  Kreditanstalt  begründen 
helfen  und  frühzeitig  den  Lehrlings-  luid 
Fortbüdungsunterricht  eingeführt ,  fleissig 
durch  Ausstellungen  gewirkt  und  ist  neuer- 
dings bestrebt,  sich  den  Bestimmungen  des 


Handwerksgesetzes  v.  26.  Juli  1897  m 
praktischer  Form  anzupassen;  der  Verein 
zählt  340  Mitglieder.  —  Die  Entwickelung 
der  Gewerbevereine  in  Ost-  und  West- 
preussen  ist  teilweise  auch  schon  alt ;  so  ist 
der  älteste  Gewerbeverein  E 1  b  i  n  g  1828  be- 
gründet. Der  aus  dem  Kunst-  und  Gewerbe- 
verein hei-vorgegangene  Gew^erbeverein  zu 
Königsberg  in  Pr.  bildete  sich  1845; 
ebenso  ist  der  Danziger  Gewerbeverein 
schon  ein  alter  Verein,  und  es  nehmen  diese 
drei  Gewerbevereine  die  bedeutendste  Stelle 
ein.  Im  Jahre  1874  vereinigten  sich  alle 
Gewerbevereine  von  Ost-  und  Westpreussen 
zu  eijiem  gewerblichen  Gentralverein ,  der 
sich  aus  14  Vereinen  mit  3678  Mitgliedern 
zusammensetzte,  aus  den  Regierungsbezirken 
Königsberg,  Gimibinnen,  Danzig  und  Maiien- 
werder.  Vom  Handelsministeriimi  wurde 
der  Direktion  dieses  Centralvereins  wohl 
auf  Eintreten  des  Oberpräsidenten  sogleich 
auf  3  Jahre  eine  Staatsunterstützung  von 
3600  Mark  jährüch  bewiUigt.  1875  fand 
bereits  eine  glänzende  Provinzial-Gewerbe- 
ausstellung  statt.  Dem  Lehrlings-  und  Fort- 
bildungsschulwesen wurde  erhöhte  Auf- 
merksamkeit geschenkt  —  alljährliche  Preis- 
ausschreibungen für  Lehrlingsarbeiten  — 
Verleihung  einer  silbernen  oder  goldbronzenen 
Medaille  unter  schriftlicher  Anerkennung 
ihrer  Vordienste  an  besonders  tüchtige  I^ehr- 
meister  —  1878  Begründung  einer  Industrie- 
und  Handelsschule  für  Frauen  und  Töchter 

—  Einrichtiuig  gewerblicher  Mustersamm- 
lungen 1877  in  Königsberg,  1878  in  Danzig, 
wozu  eine  Staatsbeihilfe  von  je  6000,  also 
12000  Mark  gewährt  wurde.  In  Königs- 
berg wurde  durch  reichliche  Vermehrung 
der  Sammlungen  schon  1880  ein  Kimstge- 
werbemuseum  hieraus.  1877  übernahm  der 
als  Fabrikinspektor  für  die  Provinz  Preussen 
nach  Königsberg  versetzte  und  als  General- 
sekretär des  Centralvereins  gewählte  Ober- 
regienmgsrat  Sack  die  Leitung  desselben 
und  ist  dessen  hervorragender  Wirksamkeit 
bis  gegenw^ärtig  für  denselben  viel  zu 
danken.  1877/78  wurden  in  Königsberg  und 
Elbing  zuerst  Schulen  für  Dampfkesselheizer 
nach  Hannoverschem  Muster  mit  gutem  Er- 
folg eingerichtet,  denen  bald  gleiche  Schulen 
in  Danzig,  Tilsit,  Memel  und  Allenstein 
folgten.  1879/80  entstand  in  Königsberg 
auch  eine  Maschinistenschule ,  in  Memel 
1883/84  eine  gleiche  Schule.  1892  woirde  in 
Königsberg  eine  elektrotechnische  Monteur- 
und  Betriebswärterschule  ins  Leben  gerufen, 

—  1881  als  eine  Fachschule  besonderer  Art 
ebenfalls  in  Königsberg  eine  Handfertigkeits- 
schule — .  Nach  der  Trennung  der  Provinz  in 
Ost-  und  Westpreussen  wurde  auch  der  ge- 
werbliche Gentralverein  getrennt.  Die  Ver- 
eine Ostpreussens  führten  den  alten  Verein 
fort  und  es  bildete  sich  1882  für  Westpreussen 


570 


Gewerbevereine 


ein  besonderer  Centralverein,  zu  dem  damals 
gehörten  Elbing,  Danzig,  Pr.  Stargard,  Ma- 
xienburg,  Grandenz,  Konitz.  Dieser  Verein 
gedieh  ebenfalls  sehr  gut.  Derselbe  förderte 
das  gewerbliche  Fortbildungsschulwesen  so 
lange,  bis  es  1887  verstaatlicht  und  obliga- 
torisch gemacht  wurde.  —  Der  Centralverein 
der  Provinz  Ostpreussen  zälüt  jetzt  25 
Vereine  mit  etwa  4500  Mitgliedern.  Der 
Beitrag  an  den  Centralverein  beträgt  für 
Vereine  mit  vorherrschend  gewerblichen 
Zielen  40  Pfennig  und  für  Vereine,  welche 
vorwiegend  Bildungszwecke  verfolgen,  10 
Pfennig  für  das  Mitglied. 

Die  G.  Hohenzollerns.  Bis  zum 
Erscheinen  der  Handwerkernovelle  v.  26. 
Juli  1897  waren  die  Handwerker  Hohen- 
zollerns in  ihrer  überwiegenden  Mehr- 
heit nicht  organisiert.  Gewerbevereine  be- 
standen nur  in  den  Oberamtsstädten  Sig- 
maringen und  Hechingen.  Diese  beiden 
Vereine  nahmen  im  Jahre  1898  die  Organi- 
sation aller  Gewerbeti-eibenden,  insonderheit 
aber  diejenige  der  Handwerker  mit  demErfolge 
in  die  Hand,  dass  heute  von  den  3687  selb- 
ständigen Handwerkern  Hohenzollerns  2550 
in  Korporationen  vereinigt  sind,  also  etwa 
70  ®/o.  Hierzu  kommen  noch  etwa  520  Nicht- 
handwerker,  so  dass  die  Gesamtmitglieder- 
zahl  der  Hohenzollerisehen  Gewerbevereine 
auf  3070  sich  beläuft.  Die  Zahl  der  vor- 
handenen Vereinigungen  beträgt  62 ;  es  ent- 
fallen demnach  durchschnittlich  auf  einen 
Verein  50  Mitglieder.  Die  kleinste  Ver- 
einigung hat  11,  die  gi'össte  210  Mitglieder. 

Normalsatzungeu  für  alle  diese  Vereine  sind 
ausgearbeitet  und  von  den  meisten  mit  wenigen 
Veränderungen  angenommen  worden.  An  der 
Vereinigung  der  einzelnen  Vereine  zu  vier  Gau- 
verbänden und  dem  Zusammenschluss  der  letz- 
teren zu  einem  Landesverbände  wird  gegen- 
wärtig gearbeitet.  Gauverbandssatzungen  liegen 
ebenfalls  im  Entwürfe  vor. 

Von  einer  Wirksamkeit  der  hohenzollerisehen 
Gewerbe  vereine  kann  in  Anbetracht  der  kurzen 
Zeit  ihres  Bestehens  nicht  wohl  die  Rede  sein. 
Erwähnenswert  wäre  hier  nur,  dass  die  beiden 
älteren  Vereine  Sigmar  in  gen  und  Hechingen  in 
den  Jahren  1898  und  18y9  Landesgewerbeaus- 
stellnngen  veranstaltet  haben,  die  in  Berück- 
sichtigung der  Grösse  des  Landes  als  sehr  ge- 
lungen bezeichnet  werden  dürfen.  Diese  beiden 
Vereine  haben  es  sich  auch  angelegen  sein 
lassen,  ihren  MitgUedern  neue  Anregung  zu 
geben  durch  Halten  von  illustrierten  Fachzeit- 
schriften sowie  durch  Veranstaltung  von  Vor- 
trägen; auch  wurde  zu  allen  >Wchtigen,  die 
Interessen  des  Gewerbestandes  berührenden 
Fragen  Stellung  genommen. 

Sohlesiaoher  Central-O.  Der  Schlesi- 
sche  Centralgewerbeverein  besteht  seit  dem 
Jahi-e  18()2.  Er  war  der  ei'ste  Verein 
in  Schlesien,  welcher  sich  die  Vereini- 
gung der  seh  lesischen  Gewerbetreibenden  j 
und    der    schlesischen    gmverbliclien    Ver- ' 


einigimgen  und  Körperschaften  zu  gegen- 
seitiger Belehrung  und  zur  Fördening  ge- 
meinsamer gewerblicher  Bestrebungen  zm* 
Aufgabe  machte.  Behufs  Erreichung  dieses 
Zweckes  wird  aUiährlich  an  einem  geeig- 
neten Orte  der  Frovinz  eine  Wanderver- 
sammlung abgehalten,  welche  den  Namen 
»Der  Schlesische  Gewerbetag«  führt. 

Auf  diesen  Gewerbetagen  werden  Ver- 
handlungen gepflogen  über  das  Erwerbs- 
und Wirtschaftsleben  betreffende  Fragen, 
über  Schiffahrt-  und  Eisenbahnverkehrswesen, 
über  die  sozialpolitische  und  gewerbliche 
Gesetzgebung,  über  Patent-,  Muster-  und 
Markenschutzeiündungen  u.  s.  w.  In  den 
37  Jaliren  seines  Bestehens  hat  der  Schle- 
sische Centralgewerbeverein  sich  unablässig 
um  die  Förderung  des  Fach-  und  Fortbil- 
dungsschulwesens der  Provinz  bemüht. 
Wiederholt  veranstaltete  der  Verein  Aus- 
stellungen von  auf  den  gewerblichen  Fort- 
bildungsschulen der  Provinz  gefertigten 
Zeichnungen.  Mit  Untei*stützung  seitens 
der  Staatsregierung  hielt  er  mehrere  Zeichen- 
unterrichtskurse zur  Ausbildung  von  Lehrern 
fiir  den  Freihand-  und  Fachzeichenunterricht 
ab.  Um  Leitern  und  Lehrern  der  gewerb- 
lichen Fortbildungsschulen  Gelegenheit  zu 
geben,  neuere  Lehrmittel  für  diese  Anstalten 
kennen  zu  lernen,  veranstaltete  der  Verein 
im  Jahre  1896  eine  Lehrmittelausstellung  in 
Breslau. 

Den  gewerblichen  Fach-  und  Fortbil- 
dungsschulen der  Pro^inz  wurden  alljähr- 
lich Vorlagen  werke  und  ÜnterrichtsmodeUe 
kostenlos  überwiesen. 

Im  Jahre  1897  unterbreitete  der  Verein 
dem  Herrn  Minister  für  Handel  und  Ge- 
werbe Vorschläge  zur  Organisation  des  ge- 
werblichen Fortbildungsschulwesens  der  Pro- 
vinz, w^elche  die  Beachtung  der  Königlichen 
Staatsregienmg  gefunden  haben. 

Er  legte  dem  Hen*n  Handelsminister 
einen  vollständigen  Organisationsplan  für  die 
Errichtiuig  einer  kunstgewerblichen  Fach- 
sohide  für  Holzindustiüe  in  Breslau  vor; 
er  ersuchte  um  Errichtung  einer  Sclinitz- 
schule  in  Warmbrunn  zur  Hebung  der  Holz- 
industrie des  Riesengebirges,  ferner  um  die 
Einrichtung  einer  Schnitzschule  in  Freiburg 
zur  Hebung  der  Herstellung  von  Regulator- 
gehäusen, er  gab  die  Anregung  zur  Gründung 
der  jetzt  bestehenden  keramischen  Fach- 
schule in  Buuzlau.  Dem  Centralgewerbe- 
verein ist  die  Einfülirung  des  Handfertig- 
keitsunterrichts in  der  Provinz  Schlesien  zu 
danken;  auch  unterstützte  er  diesen  Unter- 
rieht durch  alljährliche  üeberweisung  von 
(reldmitteln. 

Das  im  November  vorigen  Jahres  er- 
öffnete Kunstgewerbemuseum  verdankt  seine 
Entstehung  zum  grossen  Teile  der  Ani-egimg 
und    den     unablässigen    Bemühungen    des 


Gewerbevereine 


571 


ßchJesischen  Centralgewerbevereiüs,  welcher 
zur  Ausstattung  desselben  einen  Beitrag  von 
100000  Mark  gab. 

Lebhaftes  Interesse  hat  der  Verein  stets 
dem  Ausstellungswesen  entgegengebracht. 
Er  veranstaltete  im  Jahre  1881  eine  grosse 
Schlesisclie  Gewerbeausstellung,  deren  Ueber- 
schuss  es  ihm  gestattete,  den  vorerwähnten 
hohen  Betrag'  für  die  Ansstattimg  des  neuen 
Kunstgewerbemuseums  geben  zu  können. 
Wiederholt  veranstaltete  der  Veiein  auf  die 
Förderung  des  Kunstgewerbes  abzielende 
kunstgewerbliche  Ausstellungen.  Um  sich 
über  die  Fortschritte  auf  gewerblichen  imd 
industriellen  Gebieten  zu  unterrichten,  be- 
schickte er  die  grösseren  Ausstellungen 
durch  Delegierte.  Von  der  königlichen 
Staatsregierung  wurde  der  Vorstand  wieder- 
holt zur  Vorberatung  von  Gesetzen  zuge- 
zogen. Der  Verein  ist  durch  einen  Dele- 
gierten im  Breslauer  ßezirkseisenbahnrat  ver- 
treten. 

Zur  Förderang  seiner  gemeinnützigen 
Zwecke  erhält  er  von  dem  Provinziallandtag 
alljährlich  eine  Beihilfe  von  1500  Mark,  die 
Übrigen  Mittel  werden  durch  Beiträge  der  Ver- 
eine und  persönlichen  Mitglieder  aufgebracht. 

Der  Schlesische  Centralgewerbeverein  nm- 
fasst  gegenwärtig  33  Gewerbevereine,  9  wirt- 
schaftliche Vereine,  2  Handelskammern  und  22 
persönliche  Mitglieder.  Die  Leitung  erfolgt 
durch  einen  Ausschuss  von  15  Mitgliedern,  von 
denen  8  in  Breslau  ihren  Wohnsitz  haben  müssen. 
Der  Ausschuss  wählt  aus  seiner  Mitte  den  Vor- 
stand, welchem  gegenwärtig  Geheimer  Kom- 
merzienrat  Dr.  Websky  als  Vorsitzender,  Ober- 
bürgermeister Dr.  Bender  als  stellvertretender 
Vorsitzender,  Kommissionsrat  Benno  Miloh  als 
Schatzmeister  und  Professor  Ingenieur  Höffer 
als  Schriftführer,  sämtlich  in  Breslau,  angehören. 
Dem  Vorstande  lieget  die  Geschäftsrtihning  des 
Vereins  ob,  er  vertritt  den  Verein  in  allen  seinen 
Angelegenheiten. 

11.  Königlich  SachseD.  Nach  der 
letzten  Statistik  der  dem  Verbände  sächsi- 
scher Gewerbevereine  angehörigen  Gewerbe- 
und  Handwerkervereine  vom  Jahre  1898/99 
wurden  142  Gewerbe-  und  Handwerkerver- 
eine gezählt  mit  über  30  000  Vereinsmit- 
gliedern und  zwar  acht  grössere  Vereine, 
nämlich 

Dresdener  Gewerbeverein  mit  .    .  2043  Mitgl. 

Chemnitzer  Handwerkerverein  mit  1646      „ 

Dresdener                  „  „  1120      „ 

Leipziger  Gewerbeverein  „        625      „ 

Sebnitzer              „  „        720      „ 

Meeraner        •       „  „        620 

Kamenzer             „  „        520 

Zittauer                „  „510 

1 7  Gewerbevereine  zählten  300 — 500  Mitglieder 
78  „  „       200—300 

200  „  „         50—200 

Die  Gewerbe-  und  Handwerkervei-eine 
im  Königreich  Sachsen  wurden  mit  Aus- 
nahme des  Gewerbevereins  zu  Leipzig  (zu- 


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gleich  Polj'technische  Gesellschaft),  welcher 
1825,  und  des  Handwerkervereins  zu  Chem- 
nitz, welcher  1829  entstand,  nach  Einführung 
der  konstitutionellen  Landesverfassung  ge- 
gründet imd  zwar  der  Gewerbevereiu 
Grossenhein  1832,  Bautzen  1833,  Dresden 
1834,  Rosswein  1834,  Zittau  1834/35, 
Zschopau  1835,  Waldheim  1837,  Colditz  ia37, 
Lössmtz  i.  Erzgeb.  1838,  Pirna  1839,  Schellen- 
berg, Wilsdruff  und  Hartau  1840. 

In  den  Jahren  1841—50  wurden  23  Gew.vereine 

51—60  „  18 

61—70  „  29 

71-80  „  35 

81—90  „  12 

91—98  -  12 
gegründet. 

Landesverbände  bestehen  im  Königreich 
Sachsen  schon  seit  1838  und  zwar  bis  1870 
unter  dem  Vorort  Handwerkerverein  Chem- 
nitz, von  1870 — 78  unter  dem  Vorort  Ge- 
werbeverein Dresden  und  seit  1878 — 1899 
unter  dem  Vorort  Gewerbeverein  Zittau. 

Ausser  dem  Landesverbände  haben  sich 
aus  örtlichem  Bedürfnis  in  den  verschiedenen 
Provinzen  auch  Gauverbände  (z.  B.  im 
sächsischen  Erzgebirge  allein  3)  gebildet 
mit  reger  Thätigkeit  Dem  Verbandsvor- 
orte stehen  zwölf  Vereine  des  Landes, 
darunter  die  grössten  und  meist  die  Gau- 
verbandsvororte, als  ein  Verbandsausschuss 
zur  Seite,  welcher  die  Vorlagen  für  die 
Hauptversammlung  zu  beschaffen  hat,  so- 
weit solche  nicht  von  einzelnen  Vereinen 
nach  Massgabe  der  Verbandssatzungen  be- 
antragt werden.  Der  Verband  hat  die  Ver- 
waltung zweier  Stiftungen:  der  » Wettin «- 
und  »Freusker«-Stiftung  auf  seine  Kosten 
übernommen  ziu:  Ausbildung  junger  Hand- 
werker auf  sächsischen  Fachschulen  und 
ein  Verbandsorgan,  die  sächsische  Ge- 
werbezeitung »Gewerbeschau«,  welche  staat- 
liche Unterstützung  erhält  und  amtliches 
Organ  der  Gewerbe-  und  Handelsschulen  des 
Königreichs  Sachsen  ist. 

Die  meisten  Gewerbe  vereine  Sachsens 
unterhalten  oder  unterstützen  wenigstens 
Handwerker  -  Fortbüdungs-  und  Zeichen- 
schulen. 

Die  reinen  Handwerker-Innungsangelegen- 
heiten werden  ausser  in  den  oben  erwähnten 
Gewerbe-  und  Handwerkervereinen  auch  in 
dem  Verbände  der  sächsischen  Innungen, 
welcher  ein  besonderes  Innungsorgan  heraus- 
giebt,  eingehend  behandelt,  und  zur  Zeit  ist 
der  Pi-äsident  der  sächsischen  Gewerbe- 
kammer zu  Dresden  Herr  Buchdruckerei- 
besitzer Schröer  Vorsitzender  des  sächsischen 
Innungsverbandes. 

Die  Arbeiten  des  Verbandes  sächsischer 
Gewerbevereine,  ebenso  die  der  Gauver- 
bände werden  vielfach  von  den  Gewerbe- 
kammern des  Ijandes,  die  mit  Vorteü  schon 


572 


Gewerbevereine 


lange  in  Sachsen  bestehen,  unterstützt  und 
von  den  Kammern  bei  ihren  Beratungen  als 
Unterlagen  benutzt. 

Ob  und  welche  Vereine  Wahlrecht  zu 
den  neuen  Handwerkskammern  erhalten, 
ist  noch  nicht  entschieden. 

12.  Thüringen.  In  Thüringen  ist  das 
Gewerbevereinsleben  schon  seit  einigen  Jalir- 
zehnten  erfreulicherweise  ein  reges  und  ist 
seit  dem  1879  erfolgten  Zusammenschluss 
der  Gewerbevereine  zu  dem  Thüringer  Ver- 
bände noch  mehr  gehoben  und  gefördert 
worden.  Diesem  Verbände  gehören  jetzt  52 
Vereine  an  aus  9  verschiedenen  Staaten  mit 
etwa  9500  Mitgliedern,  während  noch  etwa 
12  Vereine  namentlich  aus  grösseren  Städten 
bedauerlicherweise  demselben  fern  stehen. 
Der  Verband  ist  Mitglied  des  Verbandes 
deutscher  Gewerbevereine.  Von  den  Vereinen 
selbst  bestehen  die  ältesten  bereits  75  Jahre 
und  darüber,  der  grösste  Teü  ist  vor  40  bis 
50  Jahren  gegründet,  und  einige  erst  vor 
wenig  Jahren.  Das  Grossherzogtum  Weimar 
umfasst  20  Gewerbevereine.  Hierv^on  ge- 
hören 19  dem  Thüringer  Verbände  an.  Die 
Mitgliederbeiträge  betragen  in  Weimar,  Eise- 
nach, Jena  4  Mai*k,  in  den  meisten  anderen 
Städten  2—3  Mark  jährlich.  Von  selten  der 
Regierung  erfreuen  sich  die  Gewerbe  vereine 
des  grössten  Wohlwollens;  sie  erhalten  von 
derselben  einen  jährlichen  Zuschuss  von 
100 — 360  Mark,  einige  sogar  450  Mark. 

Die  Vereine  haben  das  Wahlrecht  zu  der 
bis  jetzt  bestandenen  Grossherzoglichen  Gewerbe- 
kammer  besessen  und  sind  anch  alle  wahl- 
berechtigt zur  Handwerkskammer,  da  Überall 
die  Handwerker  in  der  Mehrheit  sind.  Zu 
ihrer  Hauptaufgabe  haben  die  Vereine  sich 
gestellt :  die  Heranziehung  eines  tüchtigen  Nach- 
wuchses in  guten  Lehrwerkstätten,  Ausstellung 
von  Lehrlingsarbeiten,  Gründung  und  Förderung 
guter  Gewerbe-  und  Fachschulen,  BeschaflFung 
von  Mustervorlagen  u.  s.  w.  Durch  den  Ver- 
band haben  die  Gewerbe  vereine  einen  engen 
Anschluss  unter  einander,  der  nur  ß-eeignet  ist, 
ihre  gemeinsamen  Interessen  zu  fördern  und 
zu  heben. 

18.  Württemberg.  ImKönigreichWürt- 
temberg  geht  die  Entstehung  der  Gewerbe- 
veieine  bis  in  das  erste  Drittel  dieses  Jalir- 
hunderts  zurilck.  Bereits  1830  entstand 
eine  »Gesollschaft  zur  Beförderung  der  Ge- 
werbe in  Württemberg«^,  die  bald  den  An- 
stoss  zur  Bildung  von  örtlichen  Vereinen  gab. 
1831  wurde  der  erste  Gewerbeverein  (Hall) 
gegründet,  dem  andere  nachfolgten.  Grössere 
Bewegungen  in  die  Entwickelung  brachten 
die  politischen  Ereignisse  des  Jahres  1848, 
der  Eintritt  gesetzlicher  Gewerbefreiheit  in 
den  ßO  er  Jahren  und  neuerdings  wieder  die 
Hand  Werksgesetzgebung,  welche  so  tief  in 
das  gewerbliche  Einzelleben  hineingegriffen 
und  die  Geworbevereine  vor  neue  und  nutz- 
bringende Aufgaben  gestellt  hat. 


Aus  der  ziffermässigen  Gestaltung  ist  noch 
hervorzuheben:  es  betrugen 

;«,  T«i»,A  die  Gewerbe  vereine 

im  janre  ^^^  Mitgüedem) 

1857  33 

1863  47 

1866  6o 

1877  8i  (10853) 

1882  90  (11  092) 

1893  95  (13024) 

1896  105  (14000) 

1899  129  (20  163) 

darunter  reine  Handwerker  12  949  =  64,2^/0, 
sonstige  Kleingewerbetreibende  2580  (12,8%), 
Industrielle  1666  (8,3%),  Beamte,  Lehrer  und 
sonstige  Freunde  des  Handwerks  2968  (14,7  %). 
Das  gesamte  Vermögen  der  Gewerbe  vereine, 
welches  in  seinen  Ertragnissen  dauernd  allge- 
meinen gewerblichen  Zwecken  dienstbar  ist, 
betruff  (1899)  165607  Mark. 

Was  die  Thätigkeit  der  Gewerbevereine 
anbelangt,  so  kann  sie  als  eine  sehr  \iel- 
seitige  bezeichnet  werden:  Ausbildung 
der  gewerblichen  Jugend  (Beiü'äge 
an  gewerblichen  Fortbildungsschulen  [der 
Gewerbeverein  Stuttgart  hat  seit  seiner 
Gründung  im  Jalire  1848  hierfür  über  löi'OO 
Mark,  der  Verein  Göppingen  etwa  5000  Mark 
verausgabt],  Lehrlingsprüfungen  mit  Aus- 
steDungen  von  Lehrlingsarbeiten,  Preise 
an  die  begabtesten  Lehrlinge,  Reisegeldbei- 
träge zum  Besuch  von  Ausstellungen,  Bei- 
träge zum  Besuch  von  Fachschulen,  Grfm- 
dung  von  Fachschulen  [auch  Frauenarbeits- 
schulen], Lehrlingsabende  ziun  Zweck  an- 
regender Unterhaltung  und  Vorlesungen  an 
Abenden  und  Sonntagnachmittagen) ;  För- 
derung der  geistigen  und  mate- 
riellen Interessen  des  Gewerbe- 
standes (Vereinsbüchereien  in  94,  Lese- 
zirkel in  76  Vereinen  [die  einzelnen  Vereine 
verfügen  ziun  Teil  über  eine  beträchtliche 
Bücherzahl :  Hall  über  2500  Bände,  Hen*en- 
berg  1127,  Crailsheim  1000,  Heilbronn  950, 
Tübingen  900,  Göppingen  890;  der  Stutt- 
garter Gewerbeverein  schiesst  seinem  Lese- 
zirkel im  Durchschnitt  jährlich  1000  Mark 
zu,  seit  Bestehen  des  Zirkels  über  30000 
Mark],  belehrende  Vorträge  und  Ei'örte- 
rungsabende,  häufig  mit  Vorführung  neuer 
Werkzeuge  und  Apparate,  Reisen  zur  Be- 
sichtigimg grosserer  industrieller  Etablisse- 
ments, ßuchführungs-  und  Kalkulations- 
kurse für  erwachsene  Gewerbeti^ibende, 
auch  Töchter  imd  Frauen  von  Mitgliedern). 
Veranstaltung  von  Orts-  und 
Specialausstellungen,  Gewerbe- 
museen; Anregung  zur  Einführung 
sonstiger  den  gewerblichen  Stand 
berührender  und  fördernder  Ein- 
richtungen (Gewerbebanken,  Handwerker- 
banken, genossenschaftliche  Unternehmungen, 
gemeinschaftliche  Verkaufshallen,  Beschaf- 
fung von  Atrheits-  und  Kraftmaschinen,Ai*beit8- 


Gewerbevereine 


573 


vermittelungsstellen ,  gewerbliche  Schieds- 
gerichte); Vertretung  und  Unter- 
stützung von  das  Gemeindewohl 
überhaupt  betreffenden  Fragen, 
insbesondere  auf  dem  Gebiete  des  Verkehrs- 
imd  Steuerwesens. 

Sämtliche  Gewerbevereine  haben  in  dem 
„Verband  der  wtirttembergischen  Gewerbever- 
eine" ein  gemeinsames  Organ  des  württem- 
berffischen  Gewerbestandes.  In  neuester  Zeit 
sind  in  Angliederung  an  die  Handwerkskammern 
(s.  u.)  noch  12  Gauverbände  errichtet  worden, 
welche  zur  Unterstützung  des  Gesamtverbandes 
dienend  die  eneere  FüUung  unter  den  Orts- 
vereinen aufrecht  erhalten  sollen. 

Während  so  aus  der  Mitte  des  Gewerbe- 
standes heraus  durch  rührige  Entfaltung  aller 
Kräfte  und  Ausnutzung  der  jeweiligen  Er- 
rungenschaften alles  aufgeboten  worden  ist,  das 
gewerbliche  Leben  in  jeder  Hinsicht  zu  fördern, 
ist  auch  die  Regierung  nicht  müde  geworden, 
alle  Bestrebungen  der  Gewerbevereine  zu  unter- 
stützen. Die  auf  Antrag  mehrerer  Gewerbe- 
vereine im  Jahre  1848  errichtete  königliche 
Centralstelle  für  Gewerbe  und  Handel  hatte  an- 
fangs sogar  zu  ihren  satzungsgemässen  Aufgaben 
die  Einwirkung  auf  eine  zweckmässige  Ein- 
richtung der  Gewerbevereine  und  Anregung  zur 
Gründung  solcher  Vereine  in  Bezirken  und 
Städten,  in  welchen  es  noch  an  solchen  fehlte, 

fezählt.  Erst  mit  dem  allmählichen  Erstarken 
er  Vereine  und  ihrem  naturnotwendigen  Zu- 
sammenschluss  in  einen  Verband,  welcher  eine 
vielseitij:ere  und  umsichtigere  Vertretung  der 
gewerblichenSonderinteressen  gestattete,  ist  diese 
Art  der  Fürsorge  in  den  Hintergrund  getreten. 
Mit  der  in  Gemässheit  der  §S  103— 103  g  der 
Gewerbeordnung  erfolgten  Errichtung  von  vier 
Handwerkskammern  (Stuttgart,  Ulm,  Heil- 
bronn, Reutlingen)  sind  diese  an  die  Stelle  der 
seitherigen  Handels-  und  Gewerbekammern,  so- 
weit gewerbliche  Handwerkerinteressen  dabei 
in  Betracht  kommen,  getreten. 

Ein  eigenes  Verbandsorgan  ist  seit  einiger 
Zeit  geplant,  aber  mangels  genügender  Geld- 
grnnSagen  noch  nicht  zur  Einführung  ge- 
langt. An  dessen  Stelle  wirkt  schon  lange 
das  von  der  königlichen  Centralstelle  heraus- 

fegebene  Gewerbeblatt,  welches  die  Fortschritte 
er  Industrie  des  In-  und  Auslandes  in  tech- 
nischer und  wirtschaftlicher  Hinsicht  soweit  als 
möglich  mitteilt  und  von  der  Regierung  zu 
allen  das  Gewerbewesen  betreffenden  Veröffent- 
lichungen von  den  einzelnen  Gewerbevereinen 
zur  Bekanntgabe  ihrer  Thätigkeit  benutzt  wird. 
14.  Verband  deutscher  G.  —  Vor- 
ort Köln.  Die  Begründimg  des  Ver- 
bandes der  Gewerbevereine  erfolgte  im 
Jahre  1891  auf  Anregiuig  eines  der 
ältesten  dieser  Vereine,  des  jetzt  etwa  70 
Jahre  bestehenden  Gewerbevereins  für  Köln 
und  Umgegend,  unter  besonderer  Mitwirkung 
der  Vorstandsmitglieder  Herren  B.  Berg- 
hausen und  Direktor  F.  Romberg. 

Der  zu  diesem  Zwecke  an  etwa  600  Ge- 
werbevereine Deutschlands  erlassene  Aufruf  ging 
von  den  Erwägungen  aus,  dass  die  Gewerbe- 
vereine die  ältesten  Körperschaften  in  unserem 
Vaterlande  seien,  welche  es  sich  zur  Aufgabe 


gestellt,  die  allgemeinen  Interessen  des  Hand- 
werker- und  Gewerbestandes  zu  pflegen  und 
dass  viele  sich  grosse  Verdienste  hierin  er- 
worben. Wenn  dieses  anerkannt  werden  müsse, 
so  hätten  die  Gewerbevereine  doch  nicht  die 
Bedeutung,  welche  ihnen  in  der  Reihe  anderer 
grosser  gemeinnütziger  Vereine  gebühre,  und 
seien  nicht  in  der  Lage,  ein  massgebendes  Wort 
bei  Erörterung  einschneidender  gewerblicher 
Fragen  zu  sprechen,  wohl  nur,  weil  sie  es 
unterlassen,  einen  Anschluss  an  einander  zu 
suchen.  Es  könne  keinem  Zweifel  unterließen, 
dass  gerade  die  Gewerbevereine,  welche  nicht 
im  Dienste  von  Sonderbestrebungen  ständen  und 
daher  ohne  Voreingenommenheit  an  die  Lösung 
einer  grossen  Zahl  wirtschaftlicher  Fragen  gehen 
könnten,  dazu  berufen  seien,  an  den  grossen 
Aufgaben  mitzuwirken,  welche  dahin  zielen, 
den  Wohlstand  im  Lande  zu  heben  und  die 
Zufriedenheit  und  Bildung  der  arbeitenden  Be- 
völkerung zu  fördern.  —  Dieser  Aufruf  fand 
ein  allgemeines  Echo  und  die  zahlreiche  Ent- 
sendung von  Vertretern  zur  Begründung  des 
Verbandes  bewies,  dass  hiermit  einem  schon 
lange  empfundenen  Bedürfnis  entsprochen  wurde. 
Einen  hervorragenden  Stützpunkt  fand  der  junge 
Verband  an  den  schon  längere  Zeit  besonders 
in  Süd-  und  Mitteldeutschland  bestehenden  zu 
Landesverbänden  zusammengeschlossenen  Ver- 
einen. Bei  der  Gründung  beteiligten  sich  ausser 
einer  ganzen  Reihe  einzelner  Gewerbevereine 
die  Landesverbände  Baden,  Hannover,  Hessen, 
Mecklenburg,  Nassau,  Pfalz,  Thüringen.  1893 
traten  im  Verbände  hinzu  Elsass-Lothringen 
und  Württemberg,  1896  Bayern. 

Die  Satzungen  des  in  Köln  gegründeten  Ver- 
bandes deutscher  Gewerbevereine  ent- 
halten folgende  grundsätzlichen  Bestimmungen: 
Der  Verband  bezweckt  festes  Zusammenwirken 
der  deutschen  Gewerbevereine  zur  gegenseitigen 
Förderung  ihrer  Aufgaben  und  zur  Vertretung 
gemeinsamer  Interessen.  Mittel  zur  Erreichung 
dieses  Zweckes :  Versammlungen  des  Verbandes 
und  der  ihm  angehörenden  vereine  und  Ver- 
bände, gemeinsame  Stellungnahme  zu  wich- 
tigen wirtschaftlichen  Fragen,  welche  den 
Gewerbestand  berühren,  Stellung  von  Preis- 
aufgaben, sonstige  Massnahmen.  Mitglieder 
können  werden  alle  deutschen  Gewerbevereine 
und  einzelne  Personen  an  Orten,  wo  keine  Ge- 
werbevereine sich  befinden,  aber  auch  Verbände 
von  Gewerbevereinen.  Die  Geschäfte  besorgt 
der  Vorstand,  ein  Vorstandsrat,  die  Hauptver- 
sammlung. Die  Mitgliederbeiträge  richten  sich 
nach  der  Grösse  der  Vereine  bezw.  nach  der 
Grösse  der  Städte,  welchen  die  Vereine  ange- 
hören. —  Je  300  Mitglieder  haben  eine  Stimme, 
und  ein  Verein  oder  Verband  hat  nie  über 
15  Stimmen.  Mehrere  kleine  Vereine  haben  das 
Recht,  sich  zu  vereinigen,  um  eine  Stimm- 
berechtigung zu  erwerben. 

Auf  der  ersten  Hauptversammlung  des 
deutschen  Verbandes  1892  in  Köln  zählte  der 
Verband  schon  304  Vereine  mit  32000  Mit- 
gliedern und  umfasst  jetzt  —  1899  —  705 
Vereine  mit  83522  Mitgliedern,  gegen  1897 
allein  ein  Zuwachs  von  23000.  Die  weiteren 
Hauptversammlungen  des  Verbandes  fanden 
statt:  1893  in  Wiesbaden,  1894  in  Karlsruhe, 
1895  in  Cassel,  1896  in  Stuttgart,  1897  in  Nürn- 
berg, 1898  in  Erfurt  und  1899  in  Köln. 


574 


Gewerbevei-eine — Gewerbliche  Anlagen 


Der  Verband  wird  weiterbin  berufen  sein, 
in  steter  Ftthlung  mit  dem  dentscben  Hand- 
werk nnd  Grewerbe  die  dasselbe  berührenden 
grossen  Entwickelnngsfra^n  zn  erläutern  nnd 
zn  klären  nnd  für  berechtigte  Interessen  seiner 
Mitgli^er  jederzeit  kraftvoU  einzutreten.  —  Der 
Vorort  des  Verbandes  verblieb  bisher  stets  am 
Orte  seiner  Begründung,  in  Köln. 

Berghatisen, 


Gewerbliche  Anlagen. 

1.  Einleitung.  2.  Verzeichnis  der  konzes- 
sionspflichti^en  Anlagen.  3.  Verfahren.  4. 
Privatrecbtiiche  Einreden  und  privatrechtliche 
Wirkungen  der  Eonzession.  5.  Dauer  der  Kon- 
zession. 6.  Landesrechtliche  Einschränkung 
der  Errichtung  konzessionspflichtiger  Anlagen. 
7.  Geräuschvolle  Anlagen.  8.  Auswärtige  Ge- 
setzgebung. 

1.  Einleitoiig.  Die  Einwirkungen,  welche 
von  gewerblichen  Anlagen  auf  ihre  Umge- 
bung geübt  werden,  sind  mannigfaltiger  Art. 
Es  handelt  sich  teils  um  Explosions-  nnd 
Feuersgefahr,  teils  nm  Lärm  und  Er- 
schütterungen, teils  endlich  um  Verunreini- 
gimg des  Erdreiches,  der  Luft  und  der 
fliessenden  Gewässer  durch  schädliche  Sub- 
stanzen in  fester,  flüssiger  und  gasförmiger 
Gestalt,  die  sich  über  die  Grenzen  der  Be- 
triebsstätte verbreiten.  Der  Schutz  gegen 
solche  Einwirkungen  liegt  teils  auf  dem  Ge- 
biete des  Privatrechts,  teils  auf  dem  des 
öffentlichen  Rechts. 

Privatrecht.  Dem  Rechte  des  Grund- 
stückseigentümers, über  sein  Grundstück 
nach  Willkilr  und  mit  Ausschliessung  an- 
derer zu  verfügen,  steht  das  gleiche  Recht 
des  Eigentümers  eines  Nachbargrundstückes 
gegenüber.  Jede  Verfügung  über  ein  Grund- 
stück, welche  ziu*  Folge  hat,  dass  von  die- 
sem Grundstücke  köri)erliche  Substanzen 
auf  das  Nachbargnmdstück  gebracht  werden, 
enthält  daher,  mag  diese  Folge  beabsichtigt 
sein  oder  nicht,  einen  Eingriff  in  das  Eigen- 
tum an  dem  Nachbargrundstücke  und  kann 
mit  der  zum  Schutze  des  Eigentums 
gegen  partielle  Verletzungen  dienenden 
Negatorienklage  abgewehrt  wei*den.  Doch 
versteht  sich  dies  mit  der  Einschränkung, 
dass  geringere  Mengen  von  Rauch,  Staub 
und  dergleichen  von  dem  Nachbar  ertragen 
werden  müssen,  weil  ohne  ein  gewisses 
Mass  von  nachbarlicher  Duldung  das  mensch- 
liche Zusammenleben  unmöglich  sein  wünle. 
Das  römische  Recht,  das  diese  Grundsätze 
aufsteUt  und  an  einigen  Beispielen  erläutert 
—  der  Nachbar  braucht  nicht  zu  dulden, 
dass  aus  einer  Käsebereitungsanstalt  der 
(zum  Kolorieren  der  Käse  dienende)  Rauch 
in  sein  Gebäude  einzieht  oder  dass  Teile 
der  auf  einem  Nachbargnmdstück  geliauenen 
Steine  auf  sein  Gnuidstück  hinül)erf liegen, 


dagegen  muss  er  sich  das  Eindringen  des 
von  dem  Feuerherde  des  NachbfiffhaiLses 
aufsteigenden  Rauches  gefallen  lassen  — 
hat  damit  der  Rechtswissenschaft  und  Praxis 
für  die  Beurteilung  der  Frage,  inwieweit 
der  Nachbar  die  über  die  Betriebsstätte 
industrieller  Anlagen  hinausgehenden  Wir- 
kimgen  des  Betriebes  zu  dulden  verpflichtet 
sei,  Grundlage  und  Ausgangspunkt  gegeben. 
In  den  späteren  PartikulaiTechten,  na- 
mentlich den  mittelalterlichen  Stadtrechten 
finden  sich  unter  den  das  Rechtsverhältnis 
der  Grundstücksnachbam  durch  Konstitu- 
ierung sogenannter  gesetzlicher  Servituten 
regelnden  Bestimmungen  auch  solche,  welche 
die  Verhütung  schädlicher  Immissionen  auf 
das  Nachbargrundstück  bezwecken,  und  diese 
Bestimmungen  sind  zum  Teil  in  die  Gesetz- 
bücher der  neueren  Zeit  übergegangen. 
Dahin  gehört  z.  B.  die  Vorschrift  des 
preussischen  allgemeinen  Landrechts  T.  I, 
Tit.  8,  §§  125,  126,  dass  Schweineställe, 
Kloaken,  Dünger-  und  Lohgruben  und 
andere  den  Gebäuden  schädliche  Anlagen 
wenigstens  3  Fuss  von  benachbarten  Ge- 
bäuden, Mauern  imd  Scheunen  entfernt  blei- 
ben und  solche  Gruben  oder  Behältnisse  vou 
Grund  aus  aufgemauert  werden  müssen, 
ferner  der  gleichfalls  die  Errichtung  schäd- 
licher Anlagen  an  der  Mauer  des  Nachbar- 
gnmdstückes  behandelnde  Art.  674  des  Code 
civil.  Neben  diesen  Specialbestiramungen, 
welche  nicht  ausschliesslich  und  nicht  ein- 
mal vorzugsweise  gewerbliche  Anlagen  zum 
Gegenstande  haben,  nimmt  der  Art.  12,  Tit. 
12,  T.  III  des  Lübischen  Rechtes: 

Niemand  soll  von  neuem  Brau-,  Sdimidt-, 
Töpfer-,  Sehm-  (d.  i.  Gerber)  Häuser  mit 
seiner  Zugehöning  einrichten,  davor  keine 
gewesen,  ohne  seiner   Nachbarn  Willen. 
Item  Fischweicher,  Talgschmelzer.Gold  und 
Kupferschläger,  Grapengiesser,  Kuochen- 
hauer,    Bötticher,    Seifensieder,    Brannt- 
weinbrenner, Krüger  und  dergleichen  ge- 
fährliche  imleidliche  Handwerke,  mögen 
in   den   Häusern  nicht  eingerichtet  nocli 
geübet  werden,  da  sie  zuvor  nicht  gewesen, 
ohne   der  Nachbarn  Willen,  und   wenn- 
gleich die  Häuser  zuvor  aUe  diese  Gerech- 
tigkeit gehabt   hätten,   wenn  sie  aber  in 
zwanzig   Jahren    nicht   gebraucht,    so   ist 
dieselbige  verloschen, 
ein    hervorragendes,   wenn  auch   jetzt    nur 
noch  historisches  Interesse  in  Anspnich,  da 
hier  der  Gesetzgeber  unternommen  hat,  im 
Woge   der    privatrechtlichen   Eigentumsbe- 
schränkung  den  gesamten  Betrieb  der  die 
Nachbarscliaft   diu*ch  üble  Gerüche,  Rauch 
mid  Ijärm  belä^^^tigenden   Gewerbe  von  der 
Zustimmung    der    Nachbarn    abhängig    zu 
machen.    Durch  das  R.G.  v.  4.  November  1874 
ist  dieser  Art.  1 2,  der  in  Lübeck  selbst  seit 
geraumer  Zeit  ausser  Kraft  getreten  war,  für 


Gewerbliche  Anlagen 


575 


den  ganzen  Geltungsbereich  des  Lübischen 
Rechts  aufgehoben  worden. 

In  neuerer  Zeit  hat  sich  bis  zum  Erlasse 
desBürgerlichenGesetzbuches  für  das  de  utsche 
Beich  nicht  sowohl  die  Gesetzgebung  als  die 
Rechtsprechung  und  die  Rechtswissenschaft 
mit  der  Abgrenzung  der  im  Eigentum  lie- 
genden Befugnisse  beschäftigt  und  diesen 
Teil  des  Privatrechts  durch  Erörterung  der 
Fragen,  welche  Momente  fflr  die  Zulässig- 
keit  oder  Unzulässigkeit  von  Immissionen 
auf  Nachbargrundstücke  in  Betracht  kommen, 
ob  Erschütterungen  und  Lärm  der  Im- 
mission gleichzustellen  sind,  und  anderer 
mehr  gefördert.  Das  B.G.B.  bestimmt  in 
§  906: 

Der    Eigentümer     eines    Qnmdstücks 
kann  die  Zuführung  von  Gasen,  Dämpfen, 
Gerüchen,  Rauch,  Russ,  Wärme,  Geräusch, 
Erschütterungen  und  ähnliche  von  einem 
anderen  Grundstück  ausgehende  Einwir- 
kungen insoweit  nicht  verbieten,  als  die 
Einwirkung  die  Benutzung  seines  Grund- 
stücks nicht  oder  nur  unwesentlich  be- 
einträchtigt  oder   durch  eine  Benutzung 
des   anderen    Grundstücks    herbeigeführt 
wird,  die  nach  den  örtlichen  Verhältnissen 
bei  Grundstücken  dieser  Lage  gewöhnlich 
ist.    Die  ZufiÜirung  durch  eine  besondere 
Leitung  ist  unzulässig. 
Oeffentliches   Recht.    Es  liegt  in 
der  Aufgabe  der  Polizeigewalt,  wie  sie  sich 
in   den   modernen   Staaten   entwickelt  hat, 
g^en  Gefahren  und  erhebliche  Belästigungen 
Schutz  zu  gewähren.    Ihr  kommt  es  daher 
zu,  gegen  gewerbliche  Anlagen,  von  denen 
solche  Wirkungen  ausgehen,  einzuschreiten. 
Bei  der  Grösse  der  Gefehren  und  Belästi- 
gungen   aber,    welche    mit    dem    Beü'iebe 
mancher  Arten   von   gewerblichen  Anlagen 
verbunden  sind,  erscheint  ein  bloss  repres- 
sives, sich  gegen  bereits  vorhandene  Anlagen 
richtendes  Vorgehen  der  Polizei  ungenügend, 
es  muss  Fürsorge    getroffen    werden,   dass 
dergleichen     Anlagen    nur    unter    solchen 
örthchen  Verhältnissen  und  in  solcher  Be- 
schaffenheit errichtet  werden,  dass  die  Nach- 
Imrschaft  ausreichend  geschützt  ist.    Es  liegt 
dies  zugleich  im  Interesse  des  Unternehmers, 
der  auf  diese  Weise  davor  bewahrt  bleibt, 
dass  die  häufig  sehr  erheblichen  Kosten  der 
Anlage  infolge  der  polizeilichen  Einstellung 
des  Betriebes  verloren  gehen.    Diese  Erwä- 
gungen haben   dazu  gerührt,  im  Wege  der 
Gesetzgebung   einen   grossen   Teil   der  ge- 
werblichen Anlagen  der  Konzessionspflicht 
zu  unterstellen   und    dem   Konzessionsver- 
fahren einen  solchen  Inhalt  und  solche  For- 
men zu  geben,  dass  der  doppelte  Zweck  der 
Sicherung  der  Nachbarschaft  gegen  Gefahren 
und  Belästigungen   und   der  Sichening  des 
Unternehmers    gegen    spätere   Angriffe  er- 
reicht wird. 


Es  ist  das  Verdienst  der  französischen 
Gesetzgebung,  diesen  Weg  zuerst  beschritten 
zu  haben.  Wie  in  Deutschland  so  bestand 
auch  in  Frankreich  zu  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts die  Konzessionspflicht  nur  für  einige 
wenige  gewerbliche  Anlagen  auf  Grund  von 
Specialgesetzen  einzelner  Landesteile,  im 
allgemeinen  herrschte  das  Princip  der  Re- 
pression, das  von  den  Ortspolizeibehörden  in 
sehr  ungleichartiger  Weise  gehandhabt  wurde. 
Diesem  Zustande  machte  das  Döcret  relatif 
aux  manufactures  et  ateliers  qui  r^pandent 
une  odeur  insalubre  ou  incommode  vom  15. 
Oktober  1810  ein  Ende.  Das  Dekret  dessen 
Ueberschrift  eine  zu  enge  Fassung  erhalten 
hat,  erklärt  die  in  dem  beigegebenen  Ver- 
zeichnis aufgeführten  gewerblichen  Anlagen 
für  konzessionspflichtig  und  teilt  sie  in  drei 
Klassen.  Zur  ersten  Klasse  gehören  die 
Anlagen,  die  von  meoschliclien  Wohnungen 
entfernt  sein  müssen,  zur  zweiten  Klasse 
diejenigen,  bei  denen  die  Abgelegenheit  von 
menschlichen  Wohnungen  nicht  durchaus 
notwendig  ist,  bei  denen  es  aber  darauf  an- 
kommt, sich  zu  vergewissem,  dass  der  Be- 
trieb weder  die  Eigentümer  der  Nachbar- 
schaft belästigt  noch  ihnen  Schaden  zufügt, 
zur  dritten  Klasse  endlich  diejenigen,  (He 
ohne  Nachteil  in  der  Nähe  von  Wohnungen 
bleiben  können,  aber  doch  ein  polizeiliches 
Interesse  darbieten.  Zuständig  zur  Erteüung 
der  Konzession  ist  für  Anlagen  erster 
Klasse  das  Staatsoberhaupt  (jetzt  nach  dem 
Decentralisaüonsdekret  vom  25.  März  1852 
der  Präfekt),  für  Anlagen  zweiter  Xlasse 
der  Präfekt,  für  Anlagen  dritter  Klasse  der 
Unterpräfekt.  Auch  das  Mass  der  zu  er- 
füllenden Förmlichkeiten :  Aushang  des  An- 
trages des  Unternehmers  in  allen  Gemeinden 
des  fünfkilometrigen  Umkreises  der  Betriebs- 
stätte während  eines  Monats,  enquöte  de 
commodo  et  incommodo  durch  den  Bürger- 
meister des  Errichtungsortes,  Anhörung  einer 
technischen  Behörde,  ist  für  jede  der  drei 
Klassen  verschieden.  Allen  Klassen  gemein- 
sam aber  ist,  dass  zwischen  dem  Unter- 
nehmer und  den  Einsprechenden  in  einem 
verwaltungsgerichtlichen  Verfahren  entschie- 
den wird. 

Das  Dekret  vom  15.  Oktober  1810  hat 
als  Vorbild  für  die  Gesetzgebung  anderer 
Staaten,  namentlich  auch  für  die  preussische 
Gew.-O.  V.  17.  Januar  1845  gedient.  Diese 
letztere  nebst  dem  sie  teilweise  abändernden 
G.  V.  1.  Juli  1861,  betreffend  die  Errich- 
tung gewerblicher  Anlagen,  bildet  wiederum 
die  Grundlage  für  die  §§  16—28,  49—52 
der  deutschen  Gew.-O.  v.  21.  Juni  1869. 
Die  Regelung,  welche  der  Gegenstand  in 
diesem  Gesetz  gefunden  hat,  ist  folgende: 

2.  VenEeichnis  der  konzessions- 
pilichtigen  Anlagen.  Die  Gewerbeordnung 
spricht  zwar   zu  Eingang  des  betreffenden 


576 


Gewerbliche  Anlagen 


Abschnitte  f§  16)  den  allgemeinen  Grund- 
satz aus,  dass  zur  Errichtung  von  Anlagen, 
welche  dm-ch  die  örtliche  Lage  oder  durch 
die  Beschaffenheit  der  Betriebsstätte  für  die 
Besitzer  oder  Bewohner  der  benachbarten 
Grundstücke  oder  für  das  Publikum  über- 
liaupt  erhebliche  Nachteile,  Gefahren  oder 
Belästigungen  herbeiführen  können,  die  Ge- 
nehmigung der  nach  den  Landesgesetzen 
zuständigen  Behörde  erforderlich  ist,  sie 
giebt  aber  dann  nicht  etwa  Beispiele, 
sondern  ein  erschöpfendes  Yerzeichnis  der 
konzessionspflichtigen  Anlagen,  das  eine 
analoge  Anwendung  auf  andere  Anlagen 
nicht  gestattet.  Das  Yerzeichnis  ist  wan- 
delbarer Natur,  es  kann  je  nach  Eintritt 
oder  Wegfall  der  im  Eingang  gedachten 
Voraussetzung  durch  Beschluss  des  Bundes- 
rate, vorbehaltlich  der  Genehmigung  des 
nächstfolgenden  Reichstages,  abgeändert  wer- 
den. 

Die  Gewerbeordnung  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Fassung  bezeichnete  als  konzessions- 
pflichtige  Anlagen :  Schiesspulverfabriken, 
Anlagen  zur  Feuerwerkerei  und  zur  Berei- 
tung von  Zündstoffen  aller  Art,  Gasberei- 
tungs-  und  Gasbewahrungsanstalten,  Anstal- 
ten zur  Destillation  von  Erdöl,  Anlagen  ziu- 
Bereitung  von  Braunkohlenteer,  Steinkohlen- 
teer und  Koaks,  sofern  sie  ausserhalb  der 
Gewinnungsorte  des  Materials  errichtet 
werden,  Glas-  und  Russhütten,  Kalk-,  Ziegel- 
und  Gipsöfen,  Anlagen  zur  Gewinnung 
roher  Metalle,  Röstöfen,  Metallgiessereien, 
sofern  sie  nicht  blosse  Tiegelgiessereien 
sind,  Hammerwerke,  chemische  Fabriken 
aller  Art,  Schnellbleichen,  Firnisssiedereien, 
Stärkefabriken  mit  Ausnahme  der  Fabriken 
zur  Bereitung  von  Kartoffelstärke,  Stärke- 
syrupfabriken ,  Wachstuch- ,  Darmsaiten-, 
Dachpappen-  und  Dachfilzfabriken,  Leim-, 
Teer-  und  Seifensiedereien,  Knochenbren- 
nereien, Knochendarren,  Knochenkochereien 
und  Knochenbleichen,  Zubereitungsanstalten 
für  Tierhaare,  Talgachmelzen,  Schlächtereien, 
Gerbereien,  Abdeckereien,  Poudretten-  und 
Düngpulverfabriken,  Stauanlagen  und  Wasser- 
triebwerke. 

Bis  zu  der  den  Reichskanzler  zur  Be- 
kanntmachung .eines  neuen  Textes  der  Ge- 
werbeordnung ermächtigenden  Novelle  vom 
1.  Juli  1883  waren  hinzugetreten  und  wur- 
den demgemäss  in  den  Text  der  Gewerbe- 
ordnung aufgenommen :  Hopfen  schwefel- 
dörren, Asphaltkochereien  und  Pechsiedereien, 
soweit  sie  ausserhalb  der  Gewinnungsorte 
des  Materials  errichtet  werden,  Sti'ohpapier- 
stofffabriken,  Darmzubereitungsanstalten,  Fa- 
briken, in  welchen  Dampfkessel  oder 
andere  BlechgeEävSse  durch  Yernieten  herge- 
stellt werden,  Kalifabriken  und  Anstalten 
zum  Imprägnieren  von  Holz  mit  erhitzten 
Teerölen,  KimstwoUefabriken ,  Anlagen  zur 


Herstellung    von    Celliüoid    imd    Degras- 
fabriken. 

Bis  zum  Schlüsse  des  Jahres  1898  sind 
ferner  hinzugetreten:  Fabriken,  in  welchen 
Röhren  aus  Blech  durch  Yeniieten  herge- 
stellt werden,  sowie  die  Anlagen  zur  Er- 
bauung eiserner  Schiffe,  eiserner  Brücken 
oder  sonstiger  eiserner  Baukonstniktionen, 
die  Anlagen  zur  Destillation  oder  zur  Yer- 
arbeitung  von  Teer  oder  von  Teerwasser, 
die  Anlagen,  in  welchen  aus  Hol?  oder 
ähnlichem  Fasermaterial  auf  chemischem 
Wege  Papierstoff  hergestellt  wird  (Cellulose- 
fabrik),  die  Anlagen,  in  welchen  Albumin- 
papier hergestellt  wird,  die  Anstalten  zum 
Trocknen  und  Einsalzen  ungegerbter  Tier- 
felle, die  Yerbleiungs-,  Yerzinnungs-  und 
Yerzinkimgsanstalten,  endlich  die  Anlagen 
zur  Herstellung  von  Gussstahlkugeln  mittelst 
Kugelschrotmühlen  (Kugelfräsmaschinen). 

Eine  Yerminderung  durch  Beseitigung 
der  Konzessionspflicht  einzelner  Anlagen  hat 
das  Yerzeichnis  bis  jetzt  nicht  erfahren. 

Bei  Aufstellung  des  Yerzeichnisses  ging 
man  von  dem  Gnmdsatze  aus,  dass  der 
Konzessionspflicht  nicht  zu  unterwerfen  seien : 

1.  Anlagen,  welche,  wie  Papierfabriken 
und  Zuckerfabriken,  durch  üire  Effluvien 
eine  Yerunreinigung  der  fliessenden  Ge- 
wässer bewirken,  sonst^e  Nachteile  für 
ihre  Umgebung  aber  nicht  herbeiführen. 
Man  glaubte,  diesen  Anlagen  gegenüber  mit 
den  gewöhnlichen  polizeilichen  Mitteln  aus- 
konmien  zu  können.  Diese  Auffassung  wurde 
bei  Beratimg  der  Gewerbeordnung  im 
Reichstage  lebhaft,  aber  ohne  Erfolg,  be- 
kämpft, ein  Amendement,  Walkereien,  Bei- 
zereien und  Papierfabriken  für  konzessions- 
pflichtig  zu  erklären,  wurde  auf  den  Wider- 
spruch des  Präsidenten  des  Bundeskanzler- 
amte zurückgezogen.  Später  ist  der  Grund- 
satz, wie  das  Beispiel  der  KaHfabriken 
zeigt,  nicht  mit  völliger  Strenge  festgehalten 
worden. 

2.  Anlagen,  welche  lediglich  durch  Lärm 
belästigen.  Für  diese  wurden  in  §  27  be- 
sondere, später  zu  erwähnende  Yorschriften 
gegeben.  Ausnahmsweise  sind  die  Dampf- 
kesselfabriken und  ähnliche  Anlagen,  welche 
lediglich  durch  Lärm  belästigen,  in  das  Yer- 
zeichnis aufgenommen  worden. 

3.  Niederlagen  aller  Art,  so  namentlich 
Pulvermagazine,  Häute-,  Knochen-  und 
Lumpenlager.  Dergleichen  Niederlagen  gel- 
ten nicht  als  gewerbliche  Anlagen,  da  zu 
diesen  nur  Produktionsstätten  gerechnet 
werden.  Freilich  ist  auch  dieser  Grundsatz 
nicht  ganz  konsequent  durchgeführt  worden, 
wie  sich  aus  der  Erwähnung  der  Gasbe- 
wahrungsanstalten  neben  den  Gasbereitungs- 
anstalten  in  §  16  ergiebt.  Uebrigens  hat 
der  Grundsatz,  dass  die  Niederlagen  über- 
haupt nicht  als  gewerbliche  Anlagen  an  zu- 


Gewerbliche  Anlagen 


0^7 


sehen  sind,  die  wichtige  Folge,  dass  sie 
durch  landesrechtliche  Sormen  für  konzes- 
sionspflichtig  erklärt  wei-den  können. 

Neben  den  in  dem  Verzeichnis  des  §  16 
aufgeführten  Anlagen  unterliegen  auch 
Dampfkessel  der  Konzessionspflicht  §  24 
a,  a.  0.  Sie  sind  besonders  behandelt,  weil 
das  Konzessionsverfahren  abweichend  ge- 
regelt ist 

Anlagen,  welche  bei  Einführung  der 
Konzessionspflicht  bereits  bestanden  haben, 
können  fortbetrieben  werden,  nur  Verände- 
rungen der  Betriebsstätte  oder  wesentliche 
Veränderungen  des  Betriebs  bedürfen  der 
Genehmigung. 

3.  Verfahren.  Eine  Einteilung  der  kon- 
zessionspflichtigen  Anlagen  in  Klassen  kennt 
die  Gewerbeordnung  nicht,  das  vorgeschrie- 
bene Verfahren  ist  daher  für  sämtliche  An- 
lagen dasselbe.  Da  jedoch  den  Landesge- 
setzen die  Bestimmung  der  für  die  Erteilung 
der  Konzession  zuständigen  Behörden  über- 
lassen ist,  so  ist  ihnen  damit  die  Möglichkeit 
eröffnet,  den  Instanzenzug  für  die  verschie- 
denen Anlagen  verschieden  zu  regeln.  In 
Preussen  ist  von  dieser  Befugnis  Gebrauch 
gemacht  worden.  Nach  dem  Zuständigkeits- 
gesetz zerfallen  die  konzessionspflichtigen 
Anlagen  in  zwei  Klassen,  von  denen  die 
eine,  bei  weitem  zahlreichere,  durch  den 
Kreisausschuss,  die  andere  durch  den  Be- 
zirksausschuss  konzessioniert  wird;  die  Re- 
kursinstanz für  sämtliche  Anlagen  bildet  der 
Minister  für  Handel  und  Gewerbe. 

Das  Verfahren  beginnt  mit  der  Bekannt- 
machung des  von  dem  Unternehmer  durch 
Zeichnung  und  Beschreibung  zu  erläuternden 
Projekts  und  der  Aufforderung,  etwaige 
Einwendungen  gegen  die  neue  Anlage  binnen 
14  Tagen  anzubringen.  Werden  solche  Ein- 
wendungen erhoben,  so  sind  sie  mit  den 
Parteien  vollständig  zu  erörtern  (enqu^te  de 
commodo  et  incommodo  des  französischen 
ßechts).  Nach  dem  Abschluss  dieser  Erörte- 
rung erfolgt  die  Entscheidung  erster  Instanz, 
gegen  diese  Entscheidung  steht  beiden  Teilen 
das  binnen  14  Tagen  einzulegende  Rechts- 
mittel des  Rekurses  zu. 

Die  näheren  Bestimmimgen  über  das 
Verfahren  sowohl  in  der  ersten  als  in  der 
Rekursinstanz  sind  den  Landesgesetzen  vor- 
behalten, doch  muss  eine  der  beiden 
Instanzen  den  folgenden  Bedingungen 
entsprechen:  Die  Behörde  muss  eine  kolle- 
gialische  sein  und  in  öffentlicher  Sitzung 
nach  mündlicher  Verhandlung  mit  den  Par- 
teien entscheiden :  nur  für  die  erste  Instanz 
ist  nachgelassen,  dass,  wenn  eine  Gegenpartei 
des  Unternehmers  nicht  vorhanden  ist,  an 
den  Unternehmer  zunächst  ein  schriftlicher 
Bescheid  ergeht,  gegen  den  binnen  14  Tagen 
auf  mündliche  Verhandlung  angetragen  wer- 
den kann. 


Die  der  Entscheidung  vorausgehende 
Priifuug  hat  sich  nicht  bloss  darauf,  ob  die 
Anlagen  erhebliche  Gefahren,  Nachteile  oder 
Belästigungen  herbeiführen  können,  sondern 
zugleich  auf  die  Beobachtung  der  bestehen- 
den bau-,  feuer-  und  gesundheitspolizeilichen 
Vorschriften  zu  erstrecken,  die  erteilte  Ge- 
nehmigung schliesst  daher  einen  nach  sol- 
chen polizeilichen  Vorschriften  etwa  erfor- 
derlichen Konsens,  insbesondere  den  Bau- 
konsens, in  sich. 

Die  Entscheidung  kann  auf  Versagung 
der  Genehmigung,  auf  bedingungslose  Ge- 
nehmigung und  endlich  auf  Genehmigung 
unter  Bedinffungen  lauten.  Einer  nachta'äg- 
lichen  Abänaerung  und  Ergänzung  der  durch 
die  Konzession  auferlegten  Bedingun^n  ge- 
denkt das  Gesetz  nicht  Da  es  aber  in  nicht 
seltenen  Fällen  auch  bei  der  sorgfältigsten 
technischen  Prüfung  nicht  mögUch  ist,  mit 
Sicherheit  vorauszusehen,  ob  die  für  zweck- 
mässig erachteten  Bedingungen  ihren  Zweck 
ausreichend  erfüllen  werden,  so  ist  man 
dazu  übergegangen,  in  die  Konzession  den 
Vorbehalt  einer  späteren  Abänderung  oder 
Ergänzung  der  Konzessionsbedingungen  auf- 
zunehmen. Solche  Vorbehalte  werden  selbst 
zu  Gunsten  der  (von  der  konzessionierenden 
Behörde  verschiedenen)  Polizeibehörde  ge- 
macht. Ein  Beispiel  bietet  die  preussische 
Praxis  dar,  nach  welcher  bei  Fabriken  mit 
grösseren  Feuerungsanlagen  vorgeschrieben 
zu  werden  pflegt,  »dass  der  Unternehmer 
verpflichtet  sei,  durch  Einrichtung  der 
Feuerungsanlage,  sowie  durch  Anwendung 
geeigneten  Brennmaterials  und  sorgsame 
Bewartung  auf  eine  möglichst  vollständige 
Verbrennung  des  Rauches  hinzuwirken,  auch, 
falls  sich  ergeben  sollte,  dass  die  getroffenen 
Einrichtungen  nicht  genügen,  um  Gefahren, 
Nachteile  oder  Belästigungen  durch  Rauch, 
Russ  etc.  zu  verhüten,  auf  Anordnung  der 
Polizeibehörde  solche  Abänderungen  in  der 
Feuerungsanlage,  im  Betriebe  sowie  in  der 
Wahl  des  Brennmaterials  vorzunehmen, 
welche  zur  Beseitigung  der  hervorgetretenen 
Uebelstände  besser  geeignet  sind.«  Ist  die 
Konzession  vorbehaltlos  erteilt,  so  dürfen 
dem  Unternehmer  später  nicht-  neue  Auf- 
lagen gemacht  werden,  es  sei  denn,  dass  es 
sich  um  Einrichtungen"  zur  Sicherheit  der 
Arbeiter  'handelt,  die  nach  §  120  a  a.  a.  0. 
jederzeit  von  der  Behörde  angeordnet  wer- 
den können. 

Die  Konzessionierung  von  Dampfkesseln 
hat  die  Eigentümlichkeit,  dass  eine  Bekannt- 
machung des  Prcjekts  und  demgemäss  auch 
ein  kontradiktorisches  Verfahren  zwischen 
dem  .Unternehmer  und  Einsprechenden  nicht 
stattfindet.  Eine  Abweichung  von  dem  die 
Regel  bildenden  Verfahren  besteht  ferner 
darin,  dass,  bevor  der  Kessel  in  Betrieb  ge- 
nommen  werden   darf,   untersucht   werden 


Handwörterbuch  der  Stastewlssenschaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


37 


578 


Gewerbliche  Anlagen 


muss,  ob  die  Ausführung  den  Bestimmungen 
der  Konzession  entspricht. 

4.  PrivatrechtUche  Einreden  und 
privatrechtliche  Wirkungen  der  Kon- 
zession. Der  dem  Beichstage  vorgelegte 
Entwurf  der  Gewerbeordnung  bestimmte  in 
§  18  (jetzt  §  17),  dass  die  Frist  ziu*  An- 
bringung von  Einwendungen  für  alle  Ein- 
wendungen nicht  privati'echtlicher  Natur 
präMusivisch  sei,  und  in  §  20  (jetzt  §  19), 
dass  Einwendungen  privatrechtlicher  Natur 
ziur  richterlichen  Entscheidung  zu  verweisen 
seien,  ohne  dass  von  ihrer  Erledigung  die 
polizeiliche  Genehmigung  der  Anlage  ab- 
hängig gemacht  werde.  Beide  Bestimmun- 
gen waren  wörtlich  dem  preussischen  G. 
V.  1.  Juli  1861  entnommen,  in  welches 
sie  aus  der  preussischen  Gew.-O.  v.  17.  Ja- 
nuar 1845  über^gangen  waren,  üeber  ihren 
Inhalt  spricht  sich  ein  den  sämtlichen  Regie- 
rungen zur  Nachachtung  mitgeteiltes  Mi- 
nisterialreskript  vom  16.  Februar  1847 
(Rönne,  Gewerbepolizei,  II,  S.  32)  in  folgen- 
der Weise  aus: 

Einwendungen  privatrechtlicher  Natur 
sind  solche,  die  auf  einem  Rechtstitel 
beruhen,  welcher  die  Verfolgung  des  An- 
spruchs im  Wege  Rechtens  zulässt 
oder  sich  auf  ein  nach  der  bestehenden 
Gesetzgebung  durch  den  Richter  zu 
schützendes  Recht  gninden,  Einwendun- 
gen, die  auf  Privatinteressen  beruhen,  da- 
gegen solche,  wo  ein  solcher  Rechtstitel 
nicht  besteht,  eine  Verfolgung  im  Wege 
Rechtens  also  nicht  stattfinden  kann,  wo 
aber  derjenige,  der  sie  geltend  macht, 
doch  dabei  beteiligt  ist,  dass  ein  Dritter 
eine  gewisse  Handlung  entweder  gar 
nicht  oder  doch  nicht  in  bestimmter  Weise 
vornehme.  Wenn  jemand  ein  ganz  isoliert 
belegenes  Gebäude  besitzt  und  weder  für 
seine  Person  noch  als  Besitzer  des  Grund- 
stücks ein  Recht  erworben  hat,  der  Be- 
bauung des  dasselbe  begrenzenden  Grund- 
stücks zu  widersprechen,  so  wird  nicht 
in  Abrede  gestellt  werden  können,  dass 
der  Besitzer  eine  Klage  bei  Gericht  gegen 
den  Nachbar,  welcher  —  unter  Beobach- 
tung der  gesetzlich  bestimmten  Entfer- 
nung von  der  Grenze  (§§  125  ff.,  §  185 
A.L.R.,  T.  I,  Tit.  8)  —  unmittelbar  neben 
ilim  eine  ekelhafte  Gerüche  vorbreitende 
gewerbliche  Anlage  errichten  will,  auf 
Unterlassung  der  Ausführung  der  letzteren 
nicht  begründen  kann;  dessen  ungeachtet 
ist  es  ebenso  unzweifelhaft,  diiss  der  Be- 
sitzer ein  wesentliches  Interesse  dabei 
hat,  dass  die  Ausführung  unterbleibe. 
W^enn  nun  die  gewerbliche  Anlage  eine 
solche  wäre,  zu  deren  Errichtung  es  nach 
§  27  a.  a.  0.  der  polizeilichen  Geuehmi- 
gung  bedürfte,  und  der  Besitzer  erhöbe 
in  dem  einzuleitenden  Verfahren  den  Ein- 


wand zu  grosser  Belästigung  durch  Übeln 
Geruch  etc.,  so  wäre  dies  ein  auf  Pri- 
vatinteressen beruhender  Einwand,  aber 
durchaus  kein  Einwand  privatrechtlicher 
Natur. 
Diese  und  die  weiteren  Ausführungen 
des  Reskripts  lassen  klar  erkennen,  dass 
zwar  die  Absicht  dahin  ging,  alle  privat- 
rechtlichen Widerspinichsrechte  von  der  Er- 
örterung im  Konzessionsverfahren  auszu- 
schliessen  und  der  richterlichen  Entscheidung 
zu  überlassen,  dass  man  aber  die  Frage,  bis 
zu  welchem  Grade  sich  der  Nachbar  die 
Immission  von  Rauch,  Gerüchen  etc.  ge- 
fallen lassen  müsse,  als  der  Erörterung  im 
Konzessionsverfahren  anheimfallend  ansah, 
weil  man  annahm,  dass  sie  nicht  den  Gegen- 
stand richterlicher  Entscheidung  bilden 
könne.  Es  mag  hierbei  daran  erinnert  wer- 
den, dass  in  Preussen  erst  durch  den  Ple- 
narbeschluss des  Obertribunals  vom  7.  Juni 
1852  (Entsch.,  Bd.  23  S.  252)  der  Grimd- 
satz  zur  Geltung  gelangt  ist,  dass  der  Eigen- 
tümer einer  Fabnk  vermöge  seines  Eigen- 
tumsrechtes nicht  unbedingt  befugt  sei,  die 
durch  den  Betrieb  einer  solchen  Anstalt  ent- 
wickelten Dämpfe  auf  benachbarte  (hnmd- 
stücke  zu  verbreiten  und  den  Ersatz  eines 
hierdurch  veranlassten  Schadens  nicht  schon 
durch  die  Behauptung  abwenden  könne, 
dass  er  sich  nur  eines  aus  dem  Eigentum 
folgenden  Rechts  bedient  habe.  Noch  bei 
Beratung  des  G.  v.  1.  Juli  1861  wurde  in 
der  Kommission  des  Abgeordnetenhauses 
hervorgehoben,  dass  der  Plenarbeschluss  des 
Obertribunals  nur  von  einer  Schadensersatz- 
pflicht spreche  und  dass  vor  Gericht  nur 
von  Vergütung  für  materielle  Verluste,  nie- 
mals aber  von  der  üntersagung  einer  Fa- 
brikanlage die  Rede  sei. 

Bei  Beratung  der  Gewerbeordnung  im 
Reichstage  wurde  von  gemeinrechtlichen 
Juristen,  namentlich  dem  Abgeordneten 
Weigel,  darauf  hingewiesen,  dass  nach  ge- 
meinem Recht  dem  Nachbar  ein  privat- 
rechtlicher, mit  der  Negatorienklage  zu  ver- 
folgender Anspnich  auf  Unterlassung  der 
Immission  übermässigen  Rauches  etc.  zu- 
stehe, der  nach  dem  Zwecke  des  Konzessions- 
verfahrens in  diesem  Verfahren  mit  zur  Er- 
örterung gezogen  und  über  den  durch  den 
Konzessionsbescheid  mit  der  Wirkung  ent- 
schieilen  werden  müsse,  dass  die  Anstellung 
der  Negatorienklage  ausgeschlossen  sei. 
Dem  entsprechend  wurde  beantragt,  nur  die 
sonstigen  privatrechtlichen  Einwendungen 
—  sie  wurden  als  Einwendungen,  welche 
auf  besonderen  privatrechtlichen  Titeln  be- 
ruhen, bezeichnet  —  in  §  18  von  der  Prä- 
klusion auszunehmen  und  in  §  20  der 
richterlichen  Entscheidung  vorzubehalten, 
ferner  durch  ausdrückliche  Bestimmung 
(§  2;3,  jetzt  26)  die  Negatorienklage  »wegen 


Gewerbliche  Anlagen 


579 


Belästigung  oder  beeinträchtigter  Nutzbar- 
keit fremden  Eigentums«  den  konzessionier- 
ten Anlagen  gegenüber  für  unzulässig  zu 
erklären.  Diese  Anträge  wiu^en  in  zweiter 
Lesung  angenommen. 

Bei  der  dritten  Lesung  wurde  der  Aus- 
druck »Einwendungen,  welche  auf  besonderen 
privatrechtlichen  Titeln  benihen«  als  zu  eng 
und  zu  unbestimmt  bemängelt,  es  wurde  be- 
antragt, diesen  Ausdruck  sowohl  bei  §  18 
als  bei  §  20,   der   Regierungsvorlage   ent^ 
sprechend,  durch  die  Worte  »Einwendungen 
privatrechtlicher   Natur«    oder    durch    die 
Worte  »Einwendimgen ,   welche  auf  privat- 
rechtlichen  Titeln  beruhen«  zu  ersetzen.  Der 
Abgeordnete  Weigel  äusserte  sich  zu  diesem 
Amendement  dahin,  dass  es,  was  den  §  18 
anlange,  keine  besonderen  Gefeihren  enthalte. 
Dieser  Äeusserung  lag  offenbar  die  Einwä- 
gung zu  Grunde,  dass  nach  dem  in  zweiter 
Lesung  angenommenen  und  in  dritter  Lesung 
nicht  angefochtenen  §  23  die  Negatorienklage 
wegen  übermässiger  Immissionen  ausdrück- 
lich ausgeschlossen  sei  und  daher  wenig  da- 
rauf ankomme,  ob  die  Einwendungen,  welche 
auf   diesem   Gninde    basierten,    nach   dem 
Wortlaut  des  §  18  von   der  Präklusion  be- 
troffen würden  oder  nicht.   Um  so  entschie- 
deneren Widerspruch  erhob  derselbe  Abge- 
ordnete gegen  die  zu  §  20  vorgeschlagene 
Aenderung,  indem  er  ausführte,  dass,  wenn 
nicht  bloss  die  auf  besonderen  privatrecht- 
lichen   Titeln    beruhenden    Einwendungen, 
sondern  die  privatrechtlichen  Einwendungen 
überhaupt  von   der  Erörtenuig  im  Konzes- 
sionsveriahren  ausgeschlossen  und  zur  rich- 
terlichen Entscheidimg   verwiesen    würden, 
die  Einwendungen  wegen  übermässiger  Im- 
missionen im  Eon  zessionsverfahren  nicht  zur 
Erörterung  zu  ziehen  seien,  was  zur  Folge 
habe,  dass  der  Nachbar,  dem  nach  §  23  die 
Negatorienklage    abgeschnitten    sei,    seinen 
Einwand  gegen  Errichtung  der  Anlage  weder 
im  Konzessionsverfahren   noch  vor  Gericht 
zur  Geltung  bringen  könne.    Der  Reichstag 
entschied  sich  infolgedessen  bei  dem  ersteren 
Paragraphen  für  Wiederherstellung  der  Re- 
gierungsvorlage,   bei    dem   letzteren  Para- 
graphen aber  für  Beibehaltung  des  Beschlusses 
zweiter  Lesung,  zugleich  wurde  die  Fassung 
des  §  23  einer  Aenderung  unterzogen.    Die 
Gewerbeordnung  bestimmt  nunmehr  in  §  17 : 
dass  die  Frist  zur  Yorbringimg  von   Ein- 
wendungen, welche  nicht  auf  privatrecht- 
lichen Titeln  benihen,  pi-äklusivisch  ist,  in 
§  19 :  dass  Einwendungen,  welche  auf  be- 
sonderen   privatrechtlichen    Titeln 
beruhen,  von  der  Erörterung  auszuschliessen 
imd  zur  richterlichen  Entscheidung  zu  ver- 
weisen sind,  in  §  26:  dass,  soweit  die  be- 
stehenden Rechte  zur  Abwehr  benachteili- 
gender Einwirkungen,    welche   von   einem 
Grundstücke  aus  auf  ein  benachbartes  Grund- 


stück geübt  werden,  dem  Eigentümer  oder 
Besitzer  des  letzteren  eine  Privatklage  ge- 
währen, diese  Klage  einer  mit  obrigkeitlicher 
Genehmigung  errichteten  gewerblichen  An- 
lage gegenüber  niemals  auf  Einstellung  des 
Gewerbebetriebes,  sondern  nur  auf  Herstel- 
lung von  Einrichtungen,  welche  die  benach- 
teiligende Einwirkung  ausschliessen ,  oder, 
wo  solche  Einrichtungen  unthunlich  oder 
mit  einem  gehörigen  Betriebe  des  Gewerbes 
unvereinbar  sind,  auf  Schadloshaltung  ge- 
richtet werden  können. 

Berücksichtigt  man  diesen  Verlauf  der 
Verhandlungen  und  namentlich  den  Um- 
stand, dass  sich  die  im  Reichstage  angestreb- 
ten Abänderungen  des  Gesetzentwurfes  aus- 
schliesslich auf  die  Behandlung  der  Immis- 
sionen von  Rauch,  Gerüchen  etc.  beziehen, 
so  ist  der  Rechtszustand,  wie  er  durch  die 
Gewerbeordnung  geschaffen  ist,  dahin  auf- 
zufessen;  Sämtliche  privatrechtliche  Einwen- 
dungen, mögen  sie  auf  Vertrag  und  sonstigen 
speciellen  Titeln  oder  auf  gesetzlichen  Eigen- 
tumsbeschränkungen, z.  B.  dem  Verbote  des 
Bauens  an  der  Grenze  beruhen,  sind  von 
der  Erörterung  im  Konzessionsverfahren 
auszuschliessen  und  können  der  konzessio- 
nierten Anlage  gegenüber  im  Rechtswege 
geltend  gemacht  weixien,  ausgenommen  sind 
nur  die  aus  dem  Inhalte  des  Eigentums- 
rechts hergeleiteten  Einwendungen  wegen 
übermässiger  Immissionen;  diese  sind  mit 
zm*  Ei-örterung  zu  ziehen,  und  eine  auf  Ein- 
stellung des  Betriebes  gerichtete  Negatorien- 
klage aus  diesem  Grunde  ist  der  konzessio- 
nierten Anlage  gegenüber  unzulässig.  Im 
Endresultate  stimmt  das  Gesetz  fast  völlig 
mit  dem  Entwürfe  überein,  nur  dass  der 
Entwurf  die  Negatorienklage  an  sich  für  un- 
statthaft erachtete,  das  Gesetz  aber  sie  aus- 
drücklich ausschliesst  oder  wenigstens  we- 
sentlich beschränkt.  Noch  mag  bemerkt 
werden,  dass  der  §  26  insofern  zu  Zweifeln 
Anlass  giebt,  als  er  eine  Klage  auf  Herstel- 
lung von  Einrichtungen,  welche  die  benach- 
teiligende Einwirkung  ausschliessen,  sta- 
tuiert, eine  solche  Herstellung  aber,  da  sie 
eine  Abweichung  von  den  Konzessionsbe- 
dingungen involviert,  nur  mit  Zustimmung 
der  Konzessionsbehörde  vorgenommen  wer- 
den kann. 

5.  Daner  der  Konzession.  Die  Kon- 
zession ist  dinglicher  Natur  und  bedarf  da- 
her, wenn  die  Anlage  an  einen  neuen  Er- 
werber übergeht,  der  Erneuerung  nicht. 
Ebensowenig  ist  eine  solche  Erneuerung  er- 
forderlich, wenn  eine  durch  Feuersbrunst 
oder  auf  andere  Weise  zu  Gnmde  gegangene 
Anlage  unverändert  "v^iederhergestellt  wer- 
den soll.  Dagegen  ist  zu  jeder  Veränderung 
der  Betriebsstätte  und  zu  jeder  wesentlichen 
Verändenmg  in  dem  Betriebe  eine  Geneli- 
migung    erforderlich,    bei   deren   Erteüung 

37* 


580 


Gewerbliche  Anlagen 


ausnahmsweise  von  dem  Aiifgebotsverfahren 
Abstand  genommen  werden  kann. 

Die  Konzession  erlischt  durch  Nichtge- 
brauch, wenn  der  Unternehmer  die  in  der 
Konzession  angegebene  Frist  oder  in  Er- 
mangelung einer  solchen  Frist .  ein  ganzes 
Jahr  verstreichen  iSsst,  ohne  die  Anlage 
auszuführen  und  in  Betrieb  zu  setzen,  oder 
wenn  er  den  Betrieb  der  Anlage  während 
eines  Zeiti-aumes  von  drei  Jahren  einstellt. 
In  beiden  Fällen  kann  von  der  Behörde  die 
Frist  erstreckt  werden. 

Eine  Entziehung  der  Konzession  fin.let 
nicht  statt,  selbst  in  dem  FaUe  nicht,  wenn 
der  Unternehmer  gegen  die  Konzessions- 
bedingimgen  verstösst.  Es  kann  dann  zwar 
von  der  rolizeibehörde  gegen  den  konzes- 
sionswidrigen Betrieb  eingeschritten  werden, 
ein  Verlust  der  Konzession  tritt  aber  da- 
durch nicht  ein,  und  der  Unternehmer  bleibt 
befugt,  den  Betrieb  in  der  durch  (Jie  Kon- 
zession gestatteten  Weise  wieder  aufzuneh- 
men. Da  sich  aber  ein  Verbot,  die  Kon- 
zession auf  Zeit  oder  unter  einer  Resolutiv- 
bedingung zu  erteilen,  in  der  Gewerbeord- 
nung nicht  vorfindet,  so  hat,  hierauf  fussend, 
die  preussische  Ministerialanweisung  vom 
19.  tfuli  1884  den  Behörden  anempfohlen, 
die  Konzessionen  nur  auf  solange  zu  erteilen, 
als  nicht  gegen  den  Inhaber  der  Anlage  ein 
rechtskräftiges  gerichtliches  Urteil  wegen 
Verletzimg  der  Konzessionsbedingungen  er- 
gangen sei,  und  sich  für  diesen  Fall  die 
weitere  Beschlussfassung  über  den  Fortbe- 
stand der  Konzession  vorzubehalten. 

Die  vorbehaltlos  erteilte  Konzession  be- 
stimmt unabänderlich  das  Mass  der  an  eine 
gewerbliche  Anlage  zu  stellenden  polizei- 
lichen Anforderungen.  Da  demnach  gegen 
eine  sich  in  den  Schranken  der  Konzession 
haltende  Anlage,  auch  wenn  sie  überwiegende 
Nachteile  und  Gefahren  für  das  Gemeinwohl 
mit  sich  bringt,  mit  polizeilichen  Mitteln 
nichts  ausgerichtet  weraeu  kann,  so  bleibt 
in  solchen  Fällen  nur  die  Expropriation 
übrig.  Die  Gewerbeordnung  erkennt  die 
Zulässigkeit  einer  solchen,  gegen  Entschädi- 
gung stattfindenden  Betriebsuntersagung 
ausdrücklich  an  und  lässt  darüber  die 
höhere  Verwaltungsbehörde  in  einem  dem 
Verfahren  bei  Konzessioniening  der  gewerb- 
lichen Anlagen  analogen  Verfeihren  ent- 
scheiden. 

6.  LandesreGhtUche  Einschränkiuig 
der  EiTichtnng  konzessionspfUchtiger 
Anlagen.  Durch  die  Landesgesetzgebung 
kann  die  Anlegung  von  Privatschlächtereien 
an  Orten,  wo  ein  öffentliches  Schlachthaus 
l)esteht,  untei-sagt  und  ferner  den  Gemein- 
den die  Befugnis  beigelegt  werden,  durch 
Ortsstatuten  einzelne  Ortsteile  ausschliesslich 
oder  vorzugsweise  für  die  Errichtung  kon- 
zessionspfUchtiger  Anlagen   zu   bestimmen. 


Von  diesem  letzteren  Vorbehalte  ist  in 
Sachsen,  Württemberg,  Baden,  Hessen, 
Braunschweig  und  Anhalt,  nicht  aber  in 
Preussen,  Bayern  und  den  anderen  Bundes- 
staaten Gebrauch  gemacht  worden. 

7.  Geranschvolle  Anlagen.  Die  Er- 
richtung aller  nicht  konzessionspflichtigen 
Anlagen,  deren  Betrieb  mit  ungewöhnlichem 
Geräusch  verbunden  ist,  muss  der  Ortspoli- 
zeibehörde angezeigt  werden,  die,  wenn  in 
der  Nähe  der  Betriebsstätte  Kirchen,  Schulen, 
oder  andere  öffentliche  Gebäude,  Kranken- 
häuser oder  Heilanstalten  vorhanden  sind, 
deren  bestimmimgsmässige  Benutzung  durch 
den  Gewerbebetrieb  eine  erhebliche  Stönmg 
erleiden  könnte,  die  Entscheidung  der  höhe- 
ren Verwaltungsbehörde  darüber  einzuholen 
hat,  ob  die  Ausübung  des  Gewerbes  an  der 
gewählten  Stelle  zu  untersagen  oder  nur 
unter  Bedingungen  zu  gestatten  sei. 

Für  das  Verfahren  sind  bestimmte  For- 
men nicht  vorgeschrieben.  Die  Negatorien- 
klage wegen  Immission  übermässigen  Lärms 
wird  durch  die  behördliche  Zulassung  der 
Anlage  nicht  berührt. 

8.  Auswärtige  Gesetzgebung.  Frank- 
reich. Das  Dekret  vom  15.  Oktober  1810, 
ergänzt  durch  die  königliche  Ordonnanz 
vom  14.  Januar  1815  und  hinsichtlich  der 
für  die  Konzessionienmg  der  Anlagen  erster 
Klasse  zuständigen  Stelle  modifiziert  durch 
das  Decentralisationsdekret  vom  5.  März 
1852,  steht  noch  jetzt  in  Kraft.  Durch  zahl- 
reiche Einzelerlasse  ist  das  Verzeichnis  der 
Anlagen  und  ihre  Klassifikation  abgeändert 
worden.  Nachdem  durch  Dekret  vom  31. 
Dezember  1866  ein  neues  Verzeichnis  auf- 
gestellt worden  war,  ist  dieses  wiedenim 
durch  das  alle  seither  erfolgten  Abänderun- 
gen zusammenfassende  und  neue  Abändenm- 
gen  hinzufügende  Dekret  vom  3.  Mai  1886 
ersetzt  worden. 

Belgien.  Die  Vorschriften  des  Dekrets 
vom  15.  Oktober  1810  sind  durch  königliche 
Erlasse  weiter  entwickelt  worden.  Der  an 
Stelle  aller  früheren  Bestimmungen  getretene 
Erlass  vom  29.  Januar  1863  teüt  die  kon- 
zessionspfhchtigen  Anlagen  in  zwei  Klassen, 
üeber  aie  Erteilung  der  Konzession  entr 
scheiden  Selbstverwaltungskollegien  höherer 
und  niederer  Ordnung.  Besondere  Beach- 
tung verdient,  dass  die  Konzessionen  für  An- 
lagen der  ersten  Klasse  nicht  für  einen 
längeren  Zeitraum  als  30  Jahre  erteilt  wer- 
den dürfen,  dass  die  Konzession  zurückge- 
nommen werden  kann,  wenn  der  Unter- 
nehmer gegen  die  Bedingungen  der  Konzes- 
sion handelt,  und  dass  jederzeit  neue  Be- 
dingungen auferlegt  werden  können,  wenn 
sich  ein  Bedürfnis  hierzu  ergiebt.  Einem 
auch  in  der  deutschen  Praxis  empfundeneu 
Uebelstande  hilft  ferner  die  Vorschrift  ab, 
dass  die  vor  Einführung   der  Konzessions- 


Gewerbliche  Anlagen  —  Gewerblicher  Unterricht 


581 


pflicht  errichteten  Anlagen  (erster  Klasse) 
nur  unter  der  Bedingung  von  der  Nach- 
suchung der  Konzession  befreit  sind,  dass 
binnen  Jahresfrist  eine  genaue  Beschreibung 
der  Anlage  der  Behörde  eingereicht  und 
ihre  Richtigkeit  durch  die  Behörde  konsta- 
tiert wird. 

Durch  zwei  königliche  Erlasse  vom  31. 
Mai  1887  ist  das  Yerfahren  für  einen  Teil 
der  Anlagen  erster  Klasse  durch  den  Schutz 
der  Arbeiter  bezweckende  Vorschriften  ver- 
schärft, das  Yerfahren  für  einen  Teü  der 
Anlagen  zweiter  Klasse  aber  vereinfacht  und 
ein  neues  Vei-zeichnis  der  konzessionspflich- 
tigen  Anlagen  aufgestellt  worden,  das  seit- 
dem zahlreiche  Ergänzungen  durch  Einzel- 
erlasse erfahren  hat. 

Oesterreich.  Die  Vorschriften  der 
Gew.-O.  vom  20.  Dezember  1859  und  der 
Novelle  vom  15.  März  1883  beruhen  gleich- 
falls auf  den  Grundsätzen  des  Dekrets  vom 
15.  Oktober  1810.  Sie  kommen  in  der 
Hauptsache  mit  denen  des  deutschen  Ge- 
setzes überein. 

England.  Hier  haben  diese  Grund- 
sätze erst  spät  und  in  der  Beschränkung  auf 
Fabriken  und  Niederlagen  von  Schiesspulver 
und  anderen  explosiven  Stoffen  Anwendung 
gefunden.  Die  am  14.  Juni  1875  erlassene 
Explosives  Act  führt  für  diese  Anlagen  ein 
Konzessionsverfahren  mit  öffentlicher  Be- 
kanntmachung, Anhörung  von  Einsprechen- 
den und  geregeltem  Rechtsmittelzug  ein. 
Was  sonstige  gewerbliche  Anlagen  betrifft, 
so  bedürfen  zwar  nach  der  Public  Health 
Act  1875  Knochen-  und  Blutkochereien, 
Talgschmelzen,  Seifensiedereien  und  ähnliche 
offensive  trades  der  ortspolizeüichen  Geneh- 
migung, ein  bestimmtes  Verfahren  ist  aber 
hierfür  nicht  vorgeschrieben. 

Einen  mit  den  Zwecken  der  Konzessions- 
gesetzgebung verwandten  Zweck  verfolgt 
die  Aleali  Act  1863/1874.  Sie  schreibt  füi- 
Sodafabriken  und  gleichartige  Anlagen  vor, 
dass  jeder  Kubikfuss  Luft,  Rauch,  oder  son- 
stiges in  die  Atmosphäre  entweichendes  Gas 
nicht  über  ein  Fünftel  Gramm  Salzsäuregas 
enthalten  darf. 

1V^.  Honimel. 


Oewerblicber  ünterricbt. 

I.Allgemeines.  I.Entstehung.  2.  Ein- 
teilang.  3.  Znsammenhang  der  gewerblichen 
Schalen  unter  einander.  4.  Zusammenhang  der 
gewerblichen  Schulen  mit  dem  gewerblichen 
Leben.  Oberaufsichtsbehörden.  5.  Häufigste 
Mängel  gewerblicher  Schulen.    6.  Schulzwang. 

7.  Aufbringung  der  Kosten  gewerblicher  Schulen. 

8.  Lehrer.  9.  Lehrmittel.  10.  Durchführung 
der  Schulaufsicht.  11.  Schulausstellungen.  12. 
Zeitschriften  für  gewerbliche  Schulen,  Statistik 
und  Geschichte  derselben.  13.  Verbände  und 
Verbandstage.   IL  Die  Hauptgruppen  ge- 


werblicher Schulen.  A.  14.  Gewerbliche 
Fortbildungsschulen.  15.  Offene  Zeichensäle.  B. 
16.  Oesterreich.  Handwerkerschulen.  C.  17. 
Gewerbliche  Schulen  für  das  weibliche  Geschlecht. 
D.  18.  Niedere  gewerbliche  Fachschulen.  19. 
Lehrwerkstätten.  20.  Baugewerkschulen.  21. 
Werkmeisterschulen.  E .  22.  Gewerbliche  Mittel- 
schulen. 23.  Handelsschulen.  F.  Kunstgewerbe- 
schulen, -vereine  und  -museen.  24.  Kunstge- 
werbeschulen  und  -vereine.  25.  Kunstgewerbe- 
museen.   G.  26.  Technische  Hochschulen. 

I.  Allgemeines. 

1.  Entstehung.  Die  Erfindungen  des 
letzten  Jahrhunderts  liaben  die  Spinnerei, 
Weberei  sowie  ändere  Industrieen  sehr  ver- 
vollkommnet und  neue  Gewerbszweige,  ins- 
besondere den  Bau  von  Dampfmaschinen, 
Arbeitsmaschineu ,  Lokomotiven ,  Dampf- 
schiffen, die  chemische  Industrie  und  andere 
veranlasst.  Die  Gewerbefreilieit  stellte  er- 
höhte Anforderungen  an  die  Fähigkeiten  der 
gewerblichen  Unternehmer  und  Arbeiter. 
Diese  Fähigkeiten  auszubilden,  ist  der  Zweck 
der  gewerblichen  Schiden,  welche  der  jüngste 
Zweig  des  neueren  Schulwesens  sind.  Frank- 
reich ging  hierin  am  frilhesten,  schon  unter 
Colbert,  voran.  Bei  der  Jugend  des  gewerb- 
lichen Schulwesens  sind  die  Fragen  nach 
der  Einrichtung  dieser  Schulen,  nach  den  Zie- 
len, Lehrweiseu  und  dem  Aufbau  des  Lehr- 
stoffes, viel  weniger  geklärt  als  bei  den 
Yolks-  und  den  Gelehrten-Schiden. 

2.  Einteilung,  a)  Nach  den  Aufnahme- 
bedingungen und  Lehrzielen  unterscheidet 
man  niedere,  mittlere  gewerbliche  Schulen 
und  technische  Hochschiüen;  b)  nach  der 
Inanspruchnahme  der  Zeit  des  Schülers 
Abend-  bezw.  Sonntagsschulen  und  Tages- 
schulen (Vollschulen);  c)  je  nachdem  der 
Lehrstoff  weniger  oder  mehr  dem  gewerb- 
lichen Leben  angehört,  gewerbliche  Fort- 
bildungs-  und  Fachschulen;  ausserdem  d) 
Schulen  für  männliche  und  weibliche  Schü- 
ler und  e)  öffentliche  (vom  Staate,  von  Ge- 
meinden, Innungen  oder  Vereinen  errichtete) 
und  Piivatschuien.  Bei  Vergleichung  ge- 
werblicher Schulen  wird  auf  b  oft  zu  wenig 
geachtet.  Der  3  jährige  Unterricht  einer 
gewerblichen  Fortbildungsschule ,  welche 
wöchentlich  4  Stunden  bietet  (etwa  480 
Stunden),  kommt  der  Zeit  nach  etwa  dem 
14  wöchigen  Unterrichte  einer  gewerblichen 
Vollschule  mit  wöchentlich  35  Stunden 
gleich,  f)  nach  Zweck  und  Umfang  der  ver- 
mittelten Bildimg :  Schulen  für  die  Vorbildung 
zu  einem  gewerblichen  Berufe,  Schulen  für 
die  Ausbildung  in  einem  solchen  und  für 
die  Fortbildung  der  in  der  Benifspraxis 
Stehenden,  g)  einfache  und  zusammengesetzte 
Schulen  (letztere  enthalten  in  denselben 
Käumen,  unter  derselben  Leitung,  vielfach 
auch  unter  denselben  Lehrern  selbständige 
Abteilungen   mit  verschiedenen    Aufnahme 


M 


582 


Gewerblicher  Unterricht 


bedinguDgen,  Zielen  und  Unterrichtsdauer. 
Beispiele :  Die  Verbindung  von  höherer  Ge- 
werbe-, Werkmeister-  und  Baugew erken- 
schule  in  Chemnitz,  die  Industrieschule  zu 
Plauen  i.Y.  mit  Musterzeichner-.  Fabrikanten-, 
Frauenarbeits-  und  Abendschule,  Oester- 
reichische  Staatsgewerbeschulen,  s.  unter  22, 
Handelsschulen  mit  höherer  Abteilung  und 
Lehrlingsschule,  einjährigem  Kui'se  etc.  Ver- 
einigung von  vollem  Tages-  und  beschränk- 
tem Abendunterricht  in  vielen  Schulen). 

3.  Zusammenhang  der  gewerblichen 
Schulen  untereinander.  Bei  gewerblichen 
Schulen  erscheint  der  praktische  Wert  der 
einen  Schulart  für  die  anderen  gering,  wes- 
halb (L.  von  Stein)  das  gewerbliche  Schul- 
wesen bei  der  Sondening  begann  und  die 
gegenseitige  Verbindung  bisher  nur  wenig 
erreichte.  Im  Gelehrten  Schulwesen  ent- 
wickelte sich  dagegen  die  Sonderung  der 
Fächer  niu*  allmählich  aus  der  wissenschaft- 
lichen Einheit,  der  universitas  litterarum. 
Die  Grenzen  zwischen  allgemeinen  und  ge- 
werblichen Fortbildungsschulen ,  zwischen 
gewerblichen  Fortbildungs-  und  Fachschulen, 
zwischen  niederen  und  mittleren  gewerb- 
lichen Schulen  und  zwischen  gewerblichen 
Mittel-  und  Hochschulen  sind  bis  jetzt  noch 
nicht  überall  scharf  gezogen.  Dies  erschwert 
eine  bestimmte  Festsetzung  der  Schulziele 
und  die  gegenseitige  Wünligung  der  ver- 
schiedenen gewerblichen  Schulen. 

4.  Zusammenhang  der  gewerblichen 
Schulen  mit  dem  gewerblichen  Leben. 
Oberaufsichtsbehörden.  Dieser  Zusammen- 
hang ist,  da  die  Schulen  dem  Leben  dienen 
sollen,  sehr  wichtig.  Ihn  fördern  folgende 
Mittel:  a)  Wahl  des  Schulorts.  Fach- 
schulen, die  stete  Fühlung  mit  Werkstatt 
und  Fabrik  brauchen,  gehören  an  Mittel- 
punkte gewerblicher  Thätigkeit  und  der 
Gewerbszweige,  denen  sie  dienen ;  b)  Schu  1  - 
Unternehmer  sind  vielfach  Gemeinden, 
Innungen  und  gewerbliche  Vereine  (insbe- 
sondere in  Sachsen,  Hessen  -  Darmstadt, 
Nassau,  der  Schweiz).  Wo  die  Kräfte  der 
Beteiligten  hierzu  auf  die  Dauer  nicht  hin- 
i-eichen  oder  ein  Landesbedürfnis  vorliegt 
(Baugewerkenschule ,  Werkmeisterschule, 
Kunstgewerbeschule ,  gewerbliche  Mittel- 
schule, technische  Hochschule),  sind  Staats- 
schulen angezeigt.  Von  den  251  gewerb- 
lichen Schulen,  (üe  an  der  Schulausstellung 
in  Dresden  1898  teilnahmen,  waren  88  von 
Vereinen,  48  vom  Staate,  47  von  Innungen, 
45  von  Gemeinden,  23  von  Privaten  errichtet. 
Die  Badischen  Gewerbe-  und  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  sind  ausnahmslos  Ge- 
meindeanstalten mit  Staatsunterstützung. 
Niedere  gewerbliche  Schulen  werden  nur 
ausnahmsweise  vom  Staate  zu  errichten  oder 
zu  übernehmen  sein  (s.  aber  unten  sub  7  b 
Gesterreich) ;  andernfalls  wird  zwar  Arbeit, 


Sorge  und  Verantwortung  den  Nächst- 
beteiligten vom  Staate  abgenommen,  es  pflegt 
aber  auch  die  belebende  und  anspornende 
W^irkung  einer  thätigen  Anteilnahme  der 
Gewerbtreibenden  und  Gemeinden  solchen 
Anstalten,  die  weniger  von  ihrem  natürlichen 
Boden  als  vom  Staatsmittelpunkte  aus  ge- 
nährt werden,  zu  fehlen ;  c)  S  c  h  ü  1  e  r.  Vor- 
gängige praktische  Thätigkeit  ist  bei  Fach- 
schulen meist  Aufnahmebedingung.  Prak- 
tische Thätigkeit  der  Schüler  neben  dem 
üntemchte.  Sondenmg  der  Schüler  nach 
Gewerben  in  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen, d)  Lehrstoff  und  Lehrweise. 
Der  Zusammenhang  des  Unterrichts  mit 
dem  Gewerbe  muss  nicht  bloss  vorhanden 
sein,  sondern  auch  den  Schülern  zum  Be- 
wusstsein  kommen.  Je  mehr  die  gewerb- 
lichen Schulen  die  Lehrfächer  in  den  Vorder- 
grund stellen,  die  unmittelbar  in  der  Werk- 
statt verwertet  werden  können  und  die 
technische  Leistungsfähigkeit  der  Schüler 
fördern,  insbesondere  das  Zeichnen,  desto 
mehr  werden  sie  von  Meistern  und  Lehr- 
lingen hochgehalten.  Im  Rechnen  ist  Sicher- 
heit und  Gewandtheit  das  Wesentlichste, 
Beschränkung  auf  die  einfachste  Lösungsart 
geboten.  In  Geometrie  weniger  Beweise 
als  Anwendung  aufs  praktische  Leben.  Im 
Zeichnen  weniger  Ornament-  als  Fachzeich- 
nen. Die  Lehrer  sollten  darauf  lialten,  dass 
die  Schüler  beim  Unterrichte  im  Rechneu, 
im  Fachzeichnen  u.  s.  w.  Beispiele  aus  ihren 
Werkstätten  brächten.  Neben  der  technischen 
ist  auch  die  w^iiischaftliche  Seite  des  Gewerbe- 
betriebes, insbesondere  die  Berechnung  der 
allgemeinen  Geschäftsunkosten,  zu  berück- 
sichtigen, also  namentlich  die  Buchführung, 
die  Feststellung  wirtschaftlicher  Erfolge  und 
Misserfolge. 

Vielfach  üblich,  aber  ganz  verkehrt  ist 
es,  von  gewerblichen  Schulen  zu  verlangen, 
dass  sie  fertige  Techniker  oder  Künstler 
liefern  sollen,  statt  solcher,  die  befähigt  sind, 
einmal  Meister  ihres  Faches  zu  werden, 
e)  Lehrer  müssen  Praktiker  des  Gewerbes 
sein  (hierbei  ist  aber  die  Gefahr  zu  berück- 
sichtigen, dass  von  solchen  nicht  lehrgemäss 
vorgegangen  und  vieles  als  selbstverständJich 
behandelt  wird,  was  erst  gelehrt  werden 
muss)  oder  mit  Praktikern  in  engem  Ver- 
kehre stehen.  Auch  für  fachwissenschaft- 
liche Lehrer  technischer  Hochschulen  ist  die 
Praxis,  die  eine  verantwortliche  Leitung 
technischer  und  wirtschaftlicher  Arbeit  lehrt, 
eine  unentbehrliclie  Schule.  Reisebeihilfen 
zum  Besuche  anderer  Gewerbegegenden.  Dass 
Lehrer  an  Baugewerk-  und  Kunstgewerbe-  so- 
wie Fachschulen  Privataufträge  für  die  Praxis 
ihres  Berufes  annehmen  und  ausführen,  ist 
nur  ei'^'ttnscht  (s.  auch  unten  sub  8).  f)  L  e  h  r  - 
mittel,  womöglich  dem  gewerbüchen 
Leben  entnommen,  mindestens  füi*  dasselbe 


Gewerblicher  Unterricht 


583 


geeignet.  Ausleihung  praktischer  Vorbilder 
aus  Werkstätten  und  Gewerbemuseen.  Bei 
der  Wahl  der  Lehrmittel  sind  Praktiker  zu 
Rate  zu  ziehen,  g)  Aufsicht.  Nächste 
Aufsicht  nicht  ohne  tüchtige  Gewerbtrei- 
bende,  welche  auf  enge  Fühlung  zwischen 
Schule  und  Gewerbe  hinwirken,  die  Be- 
deutimg des  Unterrichts  in  den  Augen  aller 
Beteiligen  heben  und  die  Regelmässigkeit 
des  Schulbesuchs  imd  sonstige  Schulzucht 
günstig  beeinflussen.  Häufiger  Besuch  des 
Unterrichts  durch  sie  ist  nötig.  Ober- 
aufsicht am  zweckmässigsten  durch  das 
Ministerium,  dem  die  Fördenmg  von  Ge- 
werbe und  Handel  obliegt  (Min.  d.  Innern 
oder  für  Gewerbe  und  Handel).  Sonst  wird 
eine  der  wichtigsten  Seiten  der  Gewerbe- 
pflege von  dieser  losgelöst.  Der  Endzweck 
der  gewerblichen  Schulen,  Fördenmg  des 
Wohlstandes,  überwiegt  das  Mittel,  Förde- 
rung der  Ausbildung  der  Bevölkenmg.  Eine 
Ausnahme  machen  meist  die  technischen 
Hochschulen,  welche  mit  den  Universitäten 
dem  Unterrichtsministerium  unterstellt  sind. 
In  Preussen  mehrfacher  Wechsel.  Die 
Mehrzahl  der  gewerblichen  Schulen  ging  dort 
1879  an  das  Unterrichtsministerium  über,  188d 
nach  misslichen  Erfahrungen  an  das  Ministerium 
für  Handel  und  Gewerbe  zurück.  In  Preussen 
wurde  auf  Wunsch  des  Abgeordnetenhauses  von 
1879  eine  „ständige  Kommission  für  das  tech- 
nische Unterrichtswesen",  bestehend  aus  Mit- 
gliedern des  Herren-  und  Abgeordnetenhauses, 
Industriellen,  Handwerkern,  Direktoren  gewerb- 
licher Schulen  und  Beamten,  eingesetzt.  Sie 
trat  aber  bis  1900  nur  5  mal  (IfcSO,  1881,  1883, 
1891  und  1896)  zusammen,  wenn  die  Regierung 
Aenderungen  im  gewerblichen  Schulwesen  plante. 
In  Bavern  ist  das  gesamte  Unterrichtswesen 
seit  1872  dem  Ministerium  für  Kirchen  und 
Schulangelegenheiten  unterstellt.  In  Sachsen 
stehen  die  gewerblichen,  Handels-  und  Land- 
wirtschjrftsschulen  von  jeher  unter  dem  Ministe- 
rium des  Innern.  In  Württemberg  besteht 
seit  1853  die  dem  Unterrichtsministerium  unter- 
geordnete königliche  Kommission  für  die  ge- 
werblichen Fortbildungsschulen,  gebildet  aus 
Mitgliedern  der  Centralstelle  für  öewerbe  und 
Handel,  deren  Vorstand  den  Vorsitz  führt,  und 
der  3  Oberschulbehörden,  sowie  dem  Vorstande 
der  Kunstgewerbeschule.  Die  Web-  und  ande- 
ren Fachschulen  unterstehen  in  Württemberg 
dem  Ministerium  des  Innern  unter  unmittel- 
barer Aufsicht  der  genannten  Centralstelle,  die 
Bautfewerkschule,  ßins^ewerbeschule,  höheren 
Handelsschulen  dem  Kultusministerium.  In 
Baden  besteht  seit  I.Juli  1892  ein Grossherzogl. 
Gewerbeschnlrat  (4  ordentliche,  6  ausserordent- 
liche Mitglieder),  dem  Unterrichtsministerium 
unmittelbar  unterstellt,  unter  dem  Vorsitze  eines 
Mitgliedes  des  Ministeriums  des  Innern,  Central- 
MittelbehÖrde  für  alle  gewerblichen  und  kauf- 
männischen Schulen.  Vorher  unterstand  ein  Teil 
der  gewerblichen  Schiüen  dem  Unterrichtsminis- 
terium, ein  anderer  dem  Ministerium  des  Innern. 
Straffe,  einheitliche  Organisation  des  badischen 
gewerblichen  Unterrichts.  Für  sämtliche  ge- 
werbliche Schulen  ist  der  Lehrplan  yorgeschrie- 


ben.  Die  Lehrmittel  steUt  grösstenteils  der 
Gewerbeschul  rat.  Für  die  von  den  Schulvor- 
ständen auf  Gemeindekosten  anzuschaffenden 
Bücher,  Vorlagen  und  Modelle  ist  die  Geneh- 
migung der  vorgesetzten  Behörde  einzuholen. 
In  Hessen-Darmstadt  unterstehen  die  ge- 
werblichen und  kunstgewerblichen  Schulen  der 
Grossherzoglichen  Centralstelle  für  die  Gewerbe, 
die  von  der  Handwerkerschul-Kommission  des 
Landesgewerbe  Vereins  (98  Gewerbevereine)  unter* 
stützt  wird.  In  Oesterreich  seit  1882  Ver- 
eini^ng  aller  dem  gewerblichen  Bildungswesen 
gewidmeten  Etatkredite  beim  Unterrichtsminis- 
terium, welches  sie  unter  Mitwirkung  des 
Handelsministeriums  verwaltet  Die  Mitglieder 
der  „Centralkommission  für  den  gewerblichen 
Unterricht"  werden  zur  Hälft«  vom  Handels- 
ministerium vorgeschlagen,  überhaupt  alle  vom 
Unterrichtsmluister  im  Einvernehmen  mit  dem 
Handelsminister  berufen.  Ein  besonderer  Ver- 
treter des  Handelsministers  in  der  Central- 
kommission hat  das  Kecht  aufschiebenden  Ein- 
spruchs. Die  Inspektoren  der  gewerblichen 
Schulen  werden  dort  im  Einvernehmen  beider 
Ministerien  ernannt.  In  Ungarn  stehen  die 
Lehrlingsschulen,  der  kunsteewerbliche  Unter- 
richt und  die  technische  Hochschule  unter  dem 
Unterrichtsministerium,  die  Handwerkerschulen 
und  die  gewerblichen  Fachschulen  unter  dem 
Handelsministerium.  Beiden  Ministerien  ist  der 
„Landes-Gewerbeschulrat"  (32  Mitglieder)  unter- 
stellt. 

h)  Unmittelbare  Befruchtung  des 
gewerblichen  Lebens  durch  gewerbliche 
Schulen:  Erteilung  von  Ratschlägen  und 
Gutachten,  Angabe  von  Bezugsquellen  und 
Konstniktionsweiseu ,  Zuwendung  von  Be- 
stellungen, unentgeltliche  Ueberlassung  von 
Modellen,  Büchern,  Vorlagewerken,  Zeich- 
nungen an  Gewerbtreibende.  Material- 
prüfungs-  und  Versuchsanstalten  sowie  La- 
boratorien mancher  Fachschulen  stehen  Ge- 
werbtreibenden  unentgeltlich  oder  gegen 
Entgelt  zur  Verfügung.  In  OesteiTcich,  wo 
diese  Wirksamkeit  besonders  gepflegt  wird, 
haben  die  Fachschulen  auch  das  Genossen- 
schaftswesen sehr  gefördert.  Bis  1899 
wurden  13  solche  Vereinigungen,  meist 
Werkgenossenschaften  mit  Maschinenbetrieb, 
Produktiv-  und  Rohstoffgenossenschaften, 
unter  dem  Patronat  von  Fachschulen  be- 
gründet. Einigen  stellte  die  Schule  sogai' 
den  Werkmeister. 

i)  Werkstätten  sind  insbesondere  mit 
vielen  Fachschulen  verbimden  (s.unten  sub  19). 
k)  Oft  wird  übersehen,  dass  »der  gewerb- 
liche Unterricht  nicht  eine  Wurzel,  sondern 
eine  Blüte  der  Industrie  ist.  Es  kann 
keinen  grösseren  Irrtum  geben,  als  eine 
Industrie  auf  dem  Wege  des  Schulunterrichts 
zu  Stande  bringen  zu  wollen«  (v.  Steinbeis). 
Fachschulen,  die  neue  Industrieen  schaffen 
sollten,  blieben  meist  erfolglos. 

5.  Hänfigäte  Mängel  gewerblicher 
Schulen,  a)  Organisation.  Zu  hohe 
Ziele,  z.  B.  Anfertigimg  kunstgewerblicher 


584 


Gewerblicher  Unterricht 


Arbeiten  statt  handwerksmässiger  in  gewerb- 
lichen Fortbildungsschulen.   Zeichnen  ganzer 
Lokomotiven    oder   Dampfmaschinen,    statt 
anschaulicher  Einzelteile  von  Maschinen,  von 
ungenügeod    vorbereiteten    Schülern.      Die 
Schüler  erlangen  dann  meist  weder  das  zu 
hohe    noch   das    eireichbare    bescheidenere 
Ziel.     Hiergegen  schützt   klare  Erkenntnis 
der   Forderungen    des   praktischen   Lebens, 
stete  Rücksichtnahme  auf  den  Bildungsstand 
der    Schüler,    verständige  AVürdigimg    des 
Wertes,  den  jede  ihren  Aufgaben  genügende 
Persönlichkeit  auch  im  bescheidensten  Wir- 
kungskreise hat,  und  weise  Selbstbeschrän- 
kung des  Lehrers.     Sie  fehlt  oft,   wenn  er 
höher  gebildet  ist.    b)  Unterrichtszeit. 
Der  gewerbliche  Unterricht  muss  sich  seine 
Stellung  anfänglich  mühsam  erringen  und 
zum   Nachteile    der   Schüler    mit   der  Er- 
holungszeit (Abenden  und  Sonntagen)  vorlieb 
nehmen.    Die  ältesten  gewerblichen  Schulen 
waren  und  hiessen   meist  Sonntagsschulen. 
Aber    die   Yerkümmerung    der    Erholungs- 
\md    Erbauungszeit    erzeugt    oft    Ueberan- 
strengung,  Lassheit,  Widerwillen  gegen  die 
Schule  und  Vernachlässigung  der  Religion 
bei  den  Schülern.     Mit   der  zunehmenden 
Würdigimg    des    gewerblichen    Unterrichts 
werden  demselben  mehr  und  mehr  geeignete 
Tagesstunden  der  Woche  überlassen.     Am 
günstigsten  stehen  hierin  die  Handelsschulen. 
Bei    47    sächsischen    Handelsschulen    1899 
unter  3321  wöchentlichen  Unterrichtsstunden 
nur    8    Sonntags.      Bei    den    gewerblichen 
Fortbildungsschulen    Sachsens    fallen    noch 
35®/o  der  wöchentlichen  Unterrichtsstunden 
auf   den    Sonntag,    53®/o    auf   Wochentags- 
abende ;  in  der  Schweiz  (1890)  17  %  auf  den 
Sonntag,  49®/o  auf  Abende.     Die  Badische 
V.  V.  16.  Juli  1868  bestimmte,  dass  in  den 
Gewerbeschulen   von    den  in   jeder  Klasse 
geforderten  6 wöchentlichen  Unterrichtsstun- 
den nur  2  auf  den  Sonntag  fallen  dürften. 
In  Baden  kamen    1899    von  den    obligato- 
rischen   Unterrichtsstunden    der    Gewerbe- 
schulen nur  1,6  ^/o  auf  den  Sonntag,   5,9  ^/o 
auf  Abende,  im  Sommer  sogai*  98*^/0    auf 
Tagesstunden.     Dagegen    hatten    1898   von 
186     kaufmännischen     Fortbildungsschulen 
Preussons    noch    46    (^—-    24  "/o)    Sonntags- 
unteiTicht,  danmter  viele  nachmittags  zwi- 
schen   3   und   7    Uhr.     Württembergs   177 
gewerbliche  Fortbildungs-  und  Frauenarbeits- 
schulen   mit    215,')7   Schiilern    hatten    1890 
nur  noch  lb%  der  Unterrichtsstunden,  fast 
nur  zeichnerische,  am   Sonntag.     In  Ham- 
burg wurde  1893  der  ganze  Zeichenunter- 
richt der  gewerblichen  Lehrlinge  auf  einen 
Wocheutags-Nachmittag  von  1 — 4  Uhr  ver- 
legt.    Die    Ueberanstrengung    der    Schüler 
gewerblicher  Schiden  durch  Sonntags-  und 
Abonduntemcht  wird  leider  wenigerangefoch- 
teu  als  die  behauptete  TTeberbürdung  der  Ge- 


lehrtenschüler. Dass  die  Schüler  beim 
Tagesimterrichte  %4el  leistunpfähiger  sind 
und  viel  regelmässiger  erschemen  als  beim 
Abendunterrichte,  bestätigt  vielfältige  Er- 
fahrung. Höhere  Vergütung  des  Sonntags- 
und Abendunterrichts  an  die  Lehrer  ist  in 
manchen  Gegenden  üblich.  Das  Wider- 
streben eigennütziger  Meister  gegen  den 
Tagesunterricht  ist  hierbei  weniger  zu  be- 
achten als  die  Schwierigkeit,  in  den  Tages- 
stunden Räume  und  Lehrkräfte  zu  be- 
kommen, ohne  die  Kosten  der  gewerblichen 
Schule  zu  sehr  zu  steigern.  Da  die  Be- 
nutzung gottesdienstfreier  Sonntagsstunden 
zum  Fortbildungsunterricht  Jahrzehnte  lang 
gesetzlich  zulässig  war,  so  ist  es  richtig, 
wenn  der  Sonntagsunterricht  nicht  als  Un- 
recht bekämpft,  sondern  nur  die  mit  zu- 
nehmender Würdigung  der  gewerblichen 
Schiüe  von  selbst  fortschreitende  Beseitigung 
dieses  Uebelstandes  unterstützt  wird,  c)  U  n  - 
terrichtsräume.  Die  Geringfügigkeit 
des  Schulgelds  und  der  Beihilfen  aus  öffent- 
lichen und  Vereinsmitteln  ist  vielfach  der 
Grund  ungenügender  Räume.  Benutzung 
ungeeigneter  Subsellien  und  Zeichentische 
in  Volksschi üräumen.  In  Baden  haben 
sämtliche  Gewerbeschiüen  eigene  Schul- 
räume, 13  Schiüen  eigene  Gebäude.  Von 
den  gewerblichen  Fortbildungsschulen  Badens 
müssen  nur  noch  15%  mit  einer  Volks- 
schule die  Unterrichtsräume  teilen,  85% 
haben  bereits  eigene  Schulräume,  d)  L  e  h  r  - 
weise.  Ungenügende  Berücksichtigung 
der  ungleichmässigen  und  mangelhaften  Vor- 
bildung der  Schüler.  Mangelnde  Fühlung 
der  Lehrer  mit  dem  praktischen  Gewerbs- 
leben. Berücksichtigung  entbehrlicher  Theo- 
rie, also  falsche  Wissenschaftlichkeit ;  liierzu 
veranlasst  der  volle  Tagesunterricht  mancher 
gewerblichen  Schulen. 

„In  Frankreich  lehrt  man  meist  die  nächsten 
Mittel,  bei  uns  oft  die  letzten  Gründe  von  allem. 
Wir  lehren  mehr  aus  dem  Kopfe  in  die  Hand, 
Franzosen  und  Engländer  mehr  aus  der  Hand 
in  den  Kopf.  Deshalb  bezahlen  wir  unser  theo- 
retisches Wissen  oft  mit  verringerter  praktischer 
Leistungsfähigkeit"  (Felisch).  „Die  theoretische 
Richtung  überwiegt  im  deutschen  Volke  jetzt 
schon  dergestalt  die  praktisch-produktive,  dass 
man  selbst  in  unseren  Werkstätten  einen  der 
Arbeitslust  und  dem  Arbeitsgeschick  nicht  eben 
förderlichen  Schulgeruch  wahrnehmen  kann,  den 
man  in  den  Werkstätten  der  bereits  zu  höherer 
industrieller  Ausbildung  gelangten  Länder  nicht 
findet"  (v.  Steinbeis). 

Nichtbeachtung  des  Grundsatzes:  »We- 
niges, aber  das  Wenige  recht!«  Zersplitte- 
rung des  Stoffes  bei  wenigen  Unterrichts- 
stunden in  zu  %iele  Untemchtsfächer.  Statt 
den  Schüler  durch  Fragen  zu  selbständiger 
Beobachtung  und  Beurteilung  seines  Thätig- 
keitsgebietes  anziut*gon  und  anzideiten  und 
ihn  dadurch  zu  selbständiger  Fragestellung 


Gewerblicher  üntemcht 


585 


lind  ScWussfolgerung  heranzubilden,  wird 
ihm  zu  viel  Fertiges,  von  ihm  nicht  denkend 
Gefundenes,  dargeboten. 

Sprunge  in  der  Vermittelung  des  Lehi'- 
stoffes,  z.  B.  Fehlen  der  Projektionslehre 
vor  dem  konstruktiven  Fachzeichnen  und 
des  Linearzeichnens  vor  der  Projektions- 
lehre. Mangelnde  Berücksichtigung  des 
Geschmacks  neben  der  Technik  oder  der 
Technik  neben  dem  Geschmacke.  Nicht- 
benutzung des  einfachsten,  zeitsparenden 
Yerfahrens,  z.  B.  zu  \del  ausgeführte  Male- 
reien und  umständliche  Zeichnungen  statt 
einfacher  Skizzen  mit  Blei-  oder  Farbstift. 
Statt  zeichnender  Handwerker  werden  Hand- 
werkszeichner ausgebildet,  e)  Aufsicht. 
Zu  geringe  Teilnahme  der  Aufsichtspersonen 
am  Unterrichte;  Zulassung  impünktlichen 
und  unregelmässigen  (mitunter  von  eigen- 
nützigen Lehrherren  gehinderten)  Schul- 
besuchs, f)  Mangelnde  oder  ungeeignete 
Lehrmittel,  z.  B.  bei  der  Projektion  sichre 
keine  Anschauungsmittel,  beim  Fachzeichnen 
keine  Modelle,  Gipszeichnen  mit  Licht  und 
Schatten  für  Schlosser,  Tischler  etc.  g)  Fehlen 
von  Stipendien  und  Freistellen,  mit 
denen  die  Gymnasien  und  anderen  älteren 
Schulen  weit  reicher  bedacht  sind  als  die 
gewerblichen  Schulen.  Vorbildlich  ist  die 
»Schlosserstiftung  für  das  Herzogtum  Bi-aun- 
schweig«,  1899  begründet  durch  cUe  Staats- 
regierung ,  Schlosserinnungen ,  Masehinen- 
fabrikanten  und  Eisenkaufleute,  welche  jähr- 
lich 2300  Mark  zur  Ausbildung  Braun- 
schweigischer  Schlosser  auf  der  Deutschen 
Schlosserschule  Rosswein  verfügbar  hat.  h) 
Wo  Staat  und  Gemeinden  sich  des  gewerb- 
lichen Schulwesens  zu  wenig  annehmen,  da 
gedeihen  Privatschulen,  oft  übermässig 
auf  Geld  verdienen  gerichtet,  mit  lässiger 
Schulzucht,  kärglich  besoldeten,  häufig  wech- 
selnden Jjehrern,  starker  Reklame,  Nötigimg 
der  Schüler  zum  Ankaufe  tem^r,  unvollkom- 
mener Unterrichtswerke  (s.  insbesondere  unten 
sub  22  bei  den  gewerblichen  Mittelschulen). 

6.  Schnlzwang.  Derselbe  hat  sich  bei 
allgemeinen  Fortbildungsschulen  (in  Gotha 
seit  1872,  Sachsen  seit  1873,  Baden,  Hessen- 
Darmstadt,  Weimar,  Coburg  seit  1874, 
Meiningen,  Schwarzburg-Rudolstadt  seit  1875, 
Schwarzburg-Sondershausen  seit  1876)  wohl 
bewährt.  Dagegen  wird  der  Schulzwang 
für  gewerbliche  Fortbildungsschulen  meist 
nur  da  empfohlen,  wo  diese  Schulen  noch 
nicht  genügend  entwickelt  sind  und  natür- 
liche Anziehungskraft  nicht  besitzen  oder 
wo,  wie  in  Preussen,  der  fehlende  allgemeine 
Fortbüdungszwang  durch  ortsstatutarischen 
Schiüzwang  (R.G.O.  §  120)  ersetzt  werden 
muss.  Die  Verordnung  des  Preussischen 
Handelsministers  vom  31.  August  1899 
empfiehlt  für  gewerbliche  Fortbildungs- 
schulen letzteren  Zwang.    Die  Frei^voUigkeit 


des  Besuchs  der  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen »scheidet  die  Spreu  vom  Weizen, 
verhütet,  dass  beim  Unterrichte  leeres  Stroh 
gedroschen  und  die  Zeit  des  Lehrers  wie 
der  Schüler  nutzlos  vergeudet  wird«  (v.  Stein- 
beis).  Zucht  und  Fortschritte  besserten  sich 
bei  Schulen,  welche  Schulzwang  hatten,  mit 
dem  Aufhören  des  Zwanges.  In  Württem- 
berg erzielten  die  Fortbildungsschulen,  wel- 
che aus  wohlmeinendem,  aber  wenig  über- 
legtem Eifer  der  Gemeindebehörden  oder 
infolge  des  Drängens  unfähiger  Lehrer  den 
Schulzwang  festhielten,  die  mindestgünstigen 
Erfolge.  Belehrung,  Aufmunterung,  gute 
Erfolge  der  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen, vor  allem  das  bei  tüchtigen,  streb- 
samen Menschen  hervortretende  Bedürfnis 
nach  Weiterbildung  machen  dort  \md  in 
anderen  höher  entwickelten  Ländern  den 
Zwang  immer  mehr  entbehrlich.  Während 
des  Fehlens  der  Möglichkeit,  Kaufmanns- 
lehrlinge durch  ortsstatutarischen  Zwang 
zum  Besuche  kaufmännischer  Fortbildungs- 
schulen anzuhalten,  (R.G.O.-Nov.  v.  17.  Jimi 
1878  §  154,  1881—90)  wurden  im  Deutschen 
Reiche  79,  dagegen  in  der  Zeit  dieser  Mög- 
lichkeit (1871 — 80)  nur  35  kaufmännische 
Fortbildungsschulen  begründet.  Die  R.G.O.- 
Nov.  V.  1.  Juni  1891  §  120  fülirte  die  Mög- 
lichkeit einer  Verpflichtung  männlicher 
Ai'beiter  unter  18  Janren  zum  Besuche  einer 
Fortbildungsschule  wieder  ein.  Diese  Mög- 
lichkeit hat  wesentliche  Bedeutung  nur  füi* 
Preussen,  wo  ein  allgemeiner  Fortbildungs- 
zwang nicht  besteht.  In  Baden  ist  der 
Schulzwang  durch  Ortsstatut  für  alle  be- 
teiligten Gewerbe  bei  96  ^/o  der  Gewerbe- 
schulen und  allen  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen durchgeführt. 

Sehr  förderlich  ist  jedenfalls  der  gesetz- 
liche Zwang  zum  Besuche  der  allgemeinen 
Fortbildungsschule  für  das  Entstehen  und 
die  Wirksamkeit  gewerblicher  Fortbildungs- 
und Fachschulen.  Deren  Zöglinge  sind  vom 
Besuche  der  allgemeinen  Fortbildungsschule 
meist  befreit.  Die  jungen  Gewerbetreiben- 
den suchen,  wenn  sie  wissen,  dass  sie  doch 
bis  zum  17.  Jahre  Unterricht  nehmen  müs- 
sen, gern  eine  gewerbliche  Schule  auf,  deren 
Nützlichkeit  für  ihren  Beruf  ihnen  einleuch- 
tet. Von  den  308  im  Jahre  1898  bestehen- 
den gewerblichen  Schiüen  Sachsens  ent- 
standen 208  erst  nach  1873,  dem  Jahre  der 
Einführung  des  allgemeinen  Fortbildungs- 
schulzwanges. Wo  ein  solcher  Zwang 
herrscht,  nehmen  die  gewerblichen  Schulen 
vorwiegend  die  Tüchtigeren  und  Streb- 
sameren des  gewerblichen  Nachwuchses  auf. 

In  Oesterreich  verpflichtet  das  G.  v. 
21.  Februar  1897  die  Lehrlinge  bei  Strafe 
der  Verlängerung  der  Lehrzeit  bis  zu  einem 
Jahre,  die  bestehenden  allgemein -gewerb- 
lichen   und   fachlichen   Fortbildungsschulen 


586 


Gewerblicher  Unterricht 


regelmässig  zu  besuchen.  Verlängerung  der 
Lehrzeit  auch  bei  Nichtbestehen  der  von 
der  Genossenschaft  vorgeschriebenen  Lehr- 
lingspnifung.  —  Mittelbarer  Schulzwang  für 
junge  Baugewerken  in  Oesterreich  durch 
das  Baugewerbegesetz  v.  26.  Dezember  1893,  | 
da  die  für  die  Prüfung  der  Bau-,  Maiut^r-, 
Steinmetz-,  Zimmer-,  Brunnenbaumeister  er- 
forderlichen Kenntnisse  niu*  in  einer  ge- 
werblichen Lehranstalt  erworben  werden 
können. 

7.  Aufbrin^nng  der  Kosten  gewerb- 
licher Schalen,    a)  Schulgeld.    Die  Er- 
hebung eines  solchen  wirkt  günstig ,  indem ' 
es  die  Schüler  und   deren  Angehörige  den  | 
Wert  des  Unterrichts    schätzen    lässt ,    die . 
Regelmässigkeit  des  Schulbesuchs  und  den  ! 
Fleiss  der  Schüler  fördert,  zum  Sparen  ver- 
anlasst und  bei  Aermeren  das  Selbstvertrauen 
\md    Ehrgefühl    kräftigt      Ein     bezahlter 
Unterricht  wird  nach  Erfahrungen  in  Wür1> 
temberg,  wo  ein  Schulgeld  in  den  gewerb- 
lichen Fortbildungsschulen  erst  1858  einge- 
fülirt  wurde,  nicht  nur  besser  benutzt,  son- 
dern manchmal  sogar  mehr  gesucht  als  ein 
unentgeltlicher.     Yorher  sahen  Schüler  es 
nicht    selten    als    eine    Gefälligkeit    gegen 
Lehi^r   und  Schide   an,    wenn  sie  kamen. 
Aermeren  kann  durch  Schulgeld -Erlass  undj 
Beihilfen  der  Schulbesuch  ermöglicht  werden,  j 
Das  Schulgeld  ist  bisweilen   abgestuft  fiu'i 
Angehörige  des  eigenen  Ortes  oder  Landes, 
für  Angehörige   anderer  deutschen  Länder 
und  für  Ausländer.    Reichsausländer  sollten 
nur  gegen  ein  Schulgeld  zugelassen  werden, 
das  die  durchschnittlich  auf  einen  Schüler  ent- 
fallende Gesamtausgabe  der  Schule  einiger- 
massen  deckt.   In  Baden  wird  der  gewerbliche 
Unterricht  teils  unentgeltlich,  teils  gegen  ein 
Schulgeld  erteilt,  das  bei  Gewerbe-  und  ge- 
werbhchen  Fortbildungsschulen  7.20  Mark, 
bei  kaufmännischen  20  Mark  jährlich  nicht 
übersteigen  darf. 

b)  Staats-,  Gemeinde-  und 
sonstige  Beihilfen.  Teilnahme  der 
nächstbeteiligten  Gewerbtreibenden  an  den 
gewerblichen  Schulen  ist  (s.  oben  sub  4  g) 
für  diese  sehr  wünschenswert,  aber  ohne 
Geldbeihilfen  aus  diesen  Kreisen  schwer  zu 
erlangen.  Die  Forderung  von  Geldbei- 
hilfen der  Nächstbeteiligten  regt  die  Innun- 
gen zu  vermehrter  Wirksamkeit  und  die 
nicht  in  Innungen  Vereinten  zu  selbständiger 


Vereinsbildung  an.  Wo  gewerbliche  Schulen 
ohne  angemessene  Opfer  der  Gewerbtrei- 
benden errichtet  und  erhalten  werden,  da 
zeigt  sich  bei  den  Gewerbtreibenden  leicht 
Mangel  an  Teilnahme,  ja  Misstrauen  gegen 
die  ihnen  von  oben  herab  gewährten  Ein- 
richtungen. 

Jetzt  wird  inPreussen  in  der  Regel  ver- 
langt, dass  die  Gemeinden  oder  sonstigen  Be- 
teihgten  die  Unterrichtsräume  und  das  Inven- 
tar stellen  und  unterhalten.  Bei  den  gewerb- 
lichen Fortbildungsschnlen  müssen  sie  ausserdem 
Heizung  und  Beleuchtung  bezahlen.  Bei  der 
ersten  Einrichtung  der  Fachschulen  werden  die 
Lehrmittel  gewönnlich  auf  Staatskosten  be- 
schafft. Die  Höhe  des  Staatsznschusses  richtet 
sich  insbesondere  nach  der  Leistungsfähigkeit 
der  Gemeinden.  Sie  ist  bei  Zwangsbesuch 
höher  als  bei  freiwilligem.  Nach  der  Denk- 
schrift des  Handelsministeriums  von  1896  erhiel- 
ten 1896,97  60  gewerbliche  Fachschulen  Preus- 
sens  vom  Staate  1428784  Mark,  von  den  Ge- 
meinden 744797  Mark  bar.  Auch  bei  Staats- 
anstalten (Baugewerk-,  Kunstgewerbe-,  Ma- 
schinenbau- u.  s.  w.  Schulen)  stellt  und 
unterhält  meist  die  Gemeinde  das  Schnlgebäude 
und  zahlt  ausserdem  einen  festen  Beitrag  zu 
den  übrigen  Ausgaben  oder  einen  Teil  (meist 
%)  der  durch  den  Staatszaschuss  und  die 
eigenen  Einnahmen  der  Schule  nicht  gedeckten 
Kosten.  Zu  den  Kosten  der  gewerblichen 
Schulen  Berlins  mit  19120  Schülern  zahlten 
1896/97  der  Staat  86089  Mark,  die  Stadt 
329363  Mark,  die  Innungen  9115  Mark,  Vereine 
etc.  12520  Mark,  zusammen  437087  Mark. 
Nach  Reg.-R.  Frz.  Richter-Reichenberg  erreichte 
1890  in  Berlin  und  Wien  der  Aufwand  für  ge- 
werbliche Fortbildung  die  gleiche  Höhe. 
In  Bayern  sind  die  gewerblichen  Fort- 
bildungsschulen Gemeindeanstalten  mit  be- 
trächtlichen Zuschüssen  der  Kreise  und  des 
Staates.  Die  Fachschulen  sind  teils  reine 
Staatsanstalten,  teils  Gemeinde-  oder  Kreis- 
anstalten mit  Staatszuschüssen.  In  Sachsen 
wird  kein  schematischer  Grundsatz  zur  Richt- 
schnur genommen,  sondern  dann,  wenn  Ge- 
meinde und  die  (in  Preussen  zu  wenig  heran- 
gezogenen) Nächstbeteiligten  angemessene  Bei- 
träge leisten,  für  jede  dessen  bedürftige  Schule 
Staatsbeihilfe  gewährt.  Sachsen  hat  den  Grund- 
satz reger  Beteiligung  der  Nächstint^ressierten 
am  gewerblichen  Schulwesen  wohl  am  meisten 
zur  Geltung  gebracht.  Sachsen  zeigte  1899 
folgendes  Verhältnis  der  Deckung  des  Aufwan- 
des (G.  Fo.  =  gewerbl.  Fortbsch.,  W.  =  Web-, 
Wirk-  uud  Posamentiersch.,  A.  Fa.  =  andere 
Fachsch.,  H.  =  Handelssch.,  L.  =  landwirtsch. 
Schulen). 


Königreich  Sachsen 

Schulen 

Schüler Tsd. 

Gesamtaufwand Tsd.  M. 

Schulgeld       „      „ 

Geraeindebeiträge „      „ 

Beiträge  der  Nächstbeteiligten    ....         i,      ^ 
Staatsbeiträge „      „ 


G.  Fo.  W.  A.  Fa.  H.    L.  ,  Zus. 


36 

27 

So 

47 

II 

9,o 

2,2 

5,7 

5o 

0,6 

140 

187 

387 

567 

135 

56 

40 

204 

461 

32 

26 

40 

27 

26 

5 

II 

23 

36 

16 

9 

26 

64 

89 

23 

73  ' 

201 

22,8 
I4I6 

793 
124 

95 

275 


Gewerblicher  rntemeht 


587 


Verhältnismässig  am  leichtesten  sind  hier- 
nach Handelsschulen  vom  Schulgelde  zu  unter- 
halten. Bei  den  Handelsschulen  Sachsens  deckt 
das  Schul|?eld  81  ^L  der  Gesamtausgaben.  Freilich 
beträgt  das  jährliche  Schulgeld  an  den  sächsi- 
schen Handelslehrlings  -  Schulen  durchschnitt- 
lich 6,64  Mark,  an  den  Sachs.  Realschulen  nur 
3,12  Mark  für  jede  wöchentliche  Unterrichts- 
stunde. So  auch  anderwärts.  Die  Wiener  Han- 
delsakademie bildete  von  1858—1898  27  000  Stu- 
dierende aus.  Die  Kosten  (3,2  Millionen  Gulden) 
wurden  fast  ganz  durch  das  Schulgeld  gedeckt. 
Von  Sachsen  hebt  der  Schweizer  Experte  Pro- 
fessor Bendel  hervor,  dass  es  sein  mannigfaltig 
gestaltetes  und  leistungsfähiges  {gewerbliches  und 
industrielles  Schulwesen  18U4  mit  nur  89  Francs 
jährlichen  Gesamtaufwandes  der  Schulen  für 
den  einzelnen  Schüler  unterhielt,  gegen  126 
Francs  bei  den  Schweizer  Schulen.  In  Würt- 
temberg muss  von  den  gewerblichen  Fort- 
bildungsschulen wenigstens  ein  kleines  Schul- 
geld erhoben  werden.  Die  Gemeinde  muss  die 
Sohulräume  beschaffen.  Doch  gewährt  der  Staat 
bei  Neubauten  meist  einen  ausserordentlichen 
Beitrag.  Was  dann  noch  fehlt,  muss  die  Ge- 
meinde zur  Hälfte  decken.  (Stiftungsbeiträffe 
werden  also  nicht  zu  Gunsten  der  Gemeinde 
eingerechnet.)  Die  andere  Hälfte  schiesst  der 
Staat  zu.  In  Baden  seit  1872  Teilung  des 
Aufwandes  zwischen  Staat,  Gemeinde  und  Stif- 
tungen. Bei  allen  Gewerbe-  und  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  stellt  die  Gemeinde  die 
Schulräume,  deren  Heizung,  Beleuchtung,  die 
Lehrmittel  und  einen  Teil  der  Lehrergehälter. 
Den  Rest  der  Lehrergehälter  und  die  Reisekosten 
der  Lehrer  deckt  der  Staat.  Die  nicht  etat- 
mä.ss^igen  Lehrer  bezahlt  die  Gemeinde  allein. 
Für  die  Gewerbeschulen  zahlten  1899  die  Ge- 
meinden 247000  Mark,  der  Staat  143000  Mark, 
Stiftungen  20000  Mark.  Ausserdem  zahlte  der 
Staat  zu  den  an  grösseren  Gewerbeschulen  ein- 

ferichteten,  über  deren  allgemeinen  Lehrplan 
inausgehenden  praktischen  Kursen  etw^a  16  000 
Mark.  Zu  den  Kosten  der  gewerblichen  Fort- 
bildungsschulen zahlte  der  badische  Staat  jeder 
beteiligten  Gemeinde  jährlich  mindestens  400 
Mark  (zusammen  etwa  40000  Mark)  und  ge- 
währte ausserdem  die  vom  Gewerbeschulrat  her- 
zustellenden Lehrmittel.  In  Mecklenburg- 
Schwerin  verordnete  1836  der  Grossherzog, 
dass  in  allen  (40)  Städten  gewerbliche  Fortbil- 
dungsschulen errichtet  werden-  sollten.  Die 
Staatsbeihilfe  für  diese  Gemeindeanstalten  be- 
trug je  nach  der  Einwohnerzahl  jährlich  150,100 
oder  50  Thaler.  Die  gewerbliche  Fortbildungs- 
schule zu  Schwerin  ging  behufs  ihrer  Umge- 
staltung zu  einer  Mustcranstalt  1898  in  die 
Verwaltung  des  Ministeriums  des  Innern  über. 
In  Braunschweig  wurden  1896  3  bestehende 
kaufmännische  Fortbildungsschulen  in  Unter- 
nehmungen der  Handelskammer  umgewandelt 
und  7  solche  Schulen  von  der  Handelskammer 
neu  begründet.  Jahreskosten  der  10  Schulen 
(1899)  41800,  Zuschuss  von  11900  Mark  zu  je 
^'a  von  Staat,  Gemeinde  und  Handelskammer 
geleistet.  Nach  dem  noch  giltigen  Gothaischen 
Gesetze  vom  28.  Juni  1851  bestimmt  die 
Staatsregierung,  wo  Gewerbeschulen  zu  errich- 
ten sind,  welches  Schulgeld  zu  erheben  ist, 
welche  Beiträge  die  Gemeinden  (für  Schulräume, 
Heizung,    Beleuchtung    und    Einrichtung]    zu 


leisten  haben.  Den  Rest  deckt  der  Staat.  In 
Oesterreich  hat  man  die  Opferwilligkeit  der 
Nächstbeteiligten  zu  wenig  beansprucht  und 
nach  einem  kurzen  Versuche  schon  seit  1881 
die  wesentlichen  Kosten  auch  der  niederen 
gewerblichen  Tagesschulen  auf  die  Staatskasse 
übernommen,  ja  die  meisten  zu  Staatsanstalt«n 
gemacht.  Die  27  sächsischen  Textilschulen 
sind  alle  Gemeinde-,  Vereins-  oder  Innungs- 
unternehmen, von  den  40  österreichischen  Web- 
und  Wirkschulen  sind  31  Staatsanstalten.  In 
Oesterreich  müssen  im  allgemeinen  die  Ge- 
meinden für  Staatsgewerbeschulen  und  Fach- 
schulen die  Räume,  Heizung,  Beleuchtung,  Be- 
dienung und  Reinigung  stellen  (Ausnahmen 
sind  zulässig),  während  der  Staat  den  übrigen 
Aufwand  bestreitet.  Bei  den  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  trägt  der  österreichische 
Staat  in  der  Regel  Vs  des  Gesamterfordernisses, 
%  bringen  die  örtlichen  Organe  auf.  Aus- 
nahmen namentlich  bei  „Handwerkerschulen'^. 
Der  Schweizer  Bund  gewährt  seit  Bundes- 
beschluss  vom  27.  Juni  1884  Beihilfen  an 
gewerbliche  Schulen  und  Museen,  und  zwar  bis 
zur  Hälfte  der  Summe,  welche  von  Kantonen, 
Gemeinden,  Vereinen  und  Privaten  aufgebracht 
wird.  Die  Bundesbeiträge  dürfen  keine  Ver- 
minderung der  Beiträge  der  Näherbeteiligten 
zur  Folge  haben  und  dürfen  in  der  Regel  nicht 
verwendet  werden  für  die  Schulräume,  Beleuch- 
tung und  Heizung,  für  das  Mobiliar  und  für 
die  gewöhnlichen  Schul bedürfnisse.  Dagegen 
dienten  sie  vielfach  zur  Vermehrung  der  Unter» 
richtsfächer  und  -stunden  sowie  der  Lehimittel 
und  veranlassten  die  Gemeinden  und  Vereine 
zu  vermehrter  Geldunterstützung  und  sonstiger 
Fürsorge  für  die  Schulen.  Allgemeine  Fortbil- 
dungsschulen wurden  vermittelst  der  Bundes- 
beihilfe  zu  gewerblichen  Fortbildungsschulen 
umgestaltet.  Die  unterstützten  gewerblichen 
und  industriellen  Bildnngsanstalten  hatten  von 
1884—1897  21,8  Millionen  Francs  Gesamtaus- 
gaben, 12.6  Millionen  Francs  Beiträge  von 
Kantonen,  Gemeinden,  Korporationen  und  Pri- 
vaten und  5,1  Millionen  Francs  Bundesbeiträge. 
Der  R€st  (4,1)  wurde  durch  Schulgelder  etc.  ge- 
deckt. Ein  Bundesbeschluss  vom  15.  April  1891, 
der  die  Förderung  kaufmännischer  Berufsbildung 
durch  Schulen  und  Vereine  bezweckte  und 
Bundesbeihilfen  in  Aussicht  stellt«,  hat  auf  die 
Ausgestaltung  der  kaufmännischen  Ausbildung 
in  der  Schweiz  sehr  günstig  eingewirkt.  In 
England  wirkten  die  Gesetze  von  1889  und 
1891,  die  den  Selbst  Verwaltungsbehörden  ein 
beschränktes  Besteuerungsrecht  zu  Gunsten  ge- 
werblicher Ausbildung  verliehen,  weniger,  als 
das  Finanzgesetz  von  1890,  das  Ueberschüsse 
der  Getränkesteuer  den  Selbstverwaltungsbe- 
hörden für  gewerblichen  Unterricht  überwies. 
1894  wurden  vou  etwa  15,3  Millionen  Mark  Ueber- 
schuss  wohl  mindestens  ^/j  (ll,5Millionen}  auf  diese 
Weise  dem  gewerblichen  Unterricht  gewidmet.  In 
Frankreich  trugen  1894  95  zu  den  Kosten 
der  gewerblichen  Schulen  (1931  Tausend  Francs) 
bei:  der  Staat  286,  die  Departements  66,  Ge- 
meinden 264,  Handelskammern  und  Vereine 
155  Tausend  Francs.  Der  Belgische  Staat 
gewährt  Schulen  ohne  Werkstätten  Va»  Fach- 
schulen mit  Werkstätten  dagegen  '/5  der  nach 
Abzug  von  Raummiete  und  Schulgeld  übrig- 
bleibenden    Gesamtkosten,    letzteren    Schulen 


588 


Gewerblicher  Unterricht 


auch  ^.s  der  Einrichtnngskosten.  6rossartig:e 
Förderunflf  der  gewerblichen  und  landwirtschaft- 
lichen Schulen  durch  die  Nordamerikani- 
sche „College  Land  Grant  Bill'^  vom  2.  Juli 
1862.  die  jeden  Staat  der  Union  verpflichtete,  Land 
für  solche  Schulen  zu  opfern.  Die  amerikanischen 
Ingenieurschulen  erhalten  (nach  Riedler)  viel 
mehr  Zuwendungen  von  Privaten  und  Maschinen- 
fabrikanten als  die  englischen .  Der  Staat  Massa- 
chusetts unterstützt  die  Webschulen  mit  25  000 
Dollars,  wenn  die  Städte  das  Doppelte  beitragen. 
—  Einige  deutsche  Staaten  gewähren  Inländern 
Beihilfen  zumBesuche  auswärtiger  Schulen.  —  Die 
grosse  Steigerung  des  Staatsauf w^andes  für  das  ge- 
werbliche Onternchtswesen  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten zeigt  folgende  üebersicht:  Preussen 
1874,  1885,  1899:  142,  475,  4672  Tausend  Mark, 
Sachsen  1873,  1885,  1898:  253,  570,  1138 
Tausend  Mark,  Württemberg  1869,  1879, 
1889, 1897  (für  gewerbliche  Fortbildungsschulen) : 
58,  129,  164,  208  Tausend  Mark,  Oesterreich 
1874,  1884,  1897:  694,  2237,  5173  Tausend 
Mark,  Ungarn  1873,  1897:  10,  952  Tausend 
Mark,  Schweizer  Bund  1884,  1898:  35,  748 
Tausend  Mark.  Auf  den  Kopf  der  Bevölkerung 
entfielen  von  diesem  Staatsaufwande  in  Preussen 
(1899)  15  Pfennige,  in  Sachsen  (1898)  29  Pfennige, 
in  Hessen  (1898)  22  Pfennige,  in  Oesterreich 
(1897)  20  Pfennige,  in  der  Schweiz  (1894)  13 
Pfennige.  Auf  je  1000  Mark  der  gesamten  Staata- 
ausgaben  entfallen  hiervon  in  Preussen  (1899) 
2,27  Mark,  in  Sachsen  (1898)  5,88  Mark,  in 
Oesterreich  (1897)  4,50  Mark,  in  der  Schweiz 
(1894)  5,70  Mark. 

8.  Lehrer.  Die  beste  Organisation  und 
die  reichsten  Lehrmittel  gewerblicher  Schulen 
iiützeu  nichts,  wenn  die  rechten  Lehrer 
fehlen.  Enge  und  dauernde  Fülilung  der 
Lehrer  mit  dem  gewerblichen  Loben  ist  die 
Hauptsache.  Geschickte  und  erfahrene 
Praktiker  werden  leichter  tüchtige  Lehrer 
an  gewerblichen  Schulen  als  Theoi-etiker 
(auch  Künstler  und  Zeichner),  die  sich  hin- 
terher etwas  Praxis  anzueignen  suchten. 

In  Württemberg  wurde  früher  von 
jedem  technischen  oder  artistischen  Lehramts- 
kandidaten, der  an  einer  gewerblichen  Fortbil- 
dungsschule angestellt  sein  wollte,  verlangt, 
dass  er  längere  Zeit  in  einer  Werkstatt«  um 
Lohn  (nicht  bloss  als  Volontär)  gearbeitet  habe. 
Besonders  wichtig  sind  die  Lehrer  des  Fach- 
zeichnens, die  nur  praktisch  Ausführbares 
zeichnen  lassen  sollen.  Volksschullehrern  fehlen 
meist  die  gewerblichen  Kenntnisse  sowie  die 
Fertigkeit  im  Linearzeichnen  und  in  darstellen- 
der Geometrie,  Handwerkern  die  Kenntnis  der 
Konstruktionen  in  anderen  Gewerben.  Bau- 
techniker eignen  sich  dazu  am  meisten  (Fink). 
In  Württemberg  suchte  man  für  den  Unterricht 
im  Fachzeichnen  und  in  kunstgewerblichen 
Fächern  soweit  mOglich  ausübende  Architekten, 
Werkmeister,  Maschineningenieure  etc.  zu  ge- 
winnen, die  behufs  weiterer  Ausbildung  auch 
in  ansländischen  Unternehmungen  vom  Staate  j 
eine  Unterstützung  erhielten.  Durch  schmale  i 
Bemessung  der  Unterstützung  wurden  die : 
Unterstützten  genötigt,  einen  Teil  ihrer  Zeit ' 
neben  dem  Studium  dem  Broterwerbe  zu  wid- 
men.   Man  erhielt  dadurch  in  ihnen  die  Rich- 


tung auf  das  Praktisch-Mögliche.  Allzu  reich- 
liche Bemessung  der  Beihilfe  ergab  jedesmal 
Misserfolge. 

Dagegen  empfiehlt  es  sich,  tüchtige 
Lehrer  an  gewerblichen  Schulen  gut  zu 
besolden  und  ihre  sowie  ihrer  Angehöri- 
gen Zukunft  thunlichst  sicher  zu  stellen, 
weD  sonst  praktisch  tüchtige  Lehrer  leicht 
aus  dem  Lehrberufe  in  die  besser  lohnende 
Praxis  treten,  eine  Gefahr,  die  bei  Gelehr- 
tenschulen nicht  besteht.  Da  die  Lehrerbe- 
soldungen  bei  Handels-  und  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  65—75%  der  Gesamt- 
ausgaben ausmachen,  so  liegt  die  Versuchung 
nahe,  an  dieser  Hauptausgabe  zum  Nachteile 
der  Schule  zu  sparen.  In  Oesterreich  ein- 
heitliche Regelung  der  Bezüge  der  Ijchi-er 
staatlicher  gewerblicher  Schulen  durch  G. 
V.  19.  September  1898  und  der  Lelirerruhe- 
genüsse ,  Witwen-  und  Waiseupensionen 
durch  G.  v.  14.  Mai  1896.  (S^/o  des  Aktivi- 
tätsgehalts jährlich  vom  Lehrer  zu  zahlen.) 
In  Saclisen  förderte  man  1886  die  nicht 
ausschliesslich  aus  Staatsmitteln  erhaltenen 
gewerblichen  und  landwirtschaftlichen  Schu- 
len dadurch,  dass  man  eine  Pensionskasse 
für  sie  emchtete,  welche  gleiche  Leistungen 
bietet  wie  sie  sächsische  Staatsdiener  fiir 
sich,  ihre  Witwen  und  Waisen  geniessen.  (1899 
waren  daran  166  Lehrer  beteiligt.  Jäluiiche 
Staatsbeilülfe  seit  1896  8500  Mark,  vorher 
10000  Mark,  Vermögensbestand  575200 
Mark).  Auch  die  Zusicherung  von  Altei-s- 
zulagcn,  von  Unkündbarkeit  nach  einigen 
Jahren  sowie  die  Gewährung  bestimmter 
Titel  an  bew^ährte  Lehrer  kann  den  gewerb- 
lichen Schiden  nützen.  Der  Staat  hat  be- 
sonderen Anlass,  die  berechtigten  Wünsche 
der  Lehrer  zu  unterstützen,  da  in  den  Vor- 
ständen gewerblicher  Vereinsschulen  nicht 
selten  Männer  sitzen,  deren  Bildung  die 
ihrer  Lehrer  nicht  erreicht.  Der  Vorteü 
der  festen  Besoldung  und  der  Ferien  wird 
in  diesen  Kreisen  oft  sehr  übei-schätzt.  Be- 
sondere Prüfungen  für  Lehrer  gewerb- 
licher Schulen  bestehen  nur  in  wenigen 
Ijändern  (in  Bayern,  V  v.  26.  Mai  1873 
und  V.  21.  Januar  1895  für  Lehrer  der 
Sprachen,  der  Mathematik  und  Physik,  der 
Chemie  und  Naturbeschreibung,  des  Zeich- 
nens, der  Maschinenkunde  und  Baukunde, 
der  Handelswisseuschaften  und  der  Land- 
wirtschaft. Jedoch  wird  meist  Thätigkeit 
im  gewerblichen  Leben  gefordert  und  zu 
Gunsten  der  gewerblichen  Pmxis  auch  wolü 
von  Ablegung  der  Prüfung  abgesehen.  An 
der  IIandelsho(!hschiile  zu  Leipzig  seit  19i>0 
Handelsichrer -Prüfungen.  In  Oesterreich 
Prüfungen  für  Handelsschullehrer).  Der  an 
technischen  Hochschulen  wohl  auftauchende 
Wunsch,  dass  füi*  gewisse  Lehrfäc;her  an 
gewerblichen  Mittelschulen  die  Ablegung 
einer  der  Fachprüfungen  an  einer  technischen 


Gewerblicher  Unterricht 


589 


Hochschule  gefordert  werden  möge,  berilck- 
sichtigt  nicht,  dass  für  gewerbliche  Mittel- 
schulen auch  weniger  gelehrte,  aber  klare 
und  praktisch  bewanderte  Lehrer  geeignet 
sind,  dass  Männer  des  höheren  technischen 
Lehramtes  an  gewerblichen  Mittelschulen 
leicht  auf  Stellen  sitzen  bleiben  würden,  die 
hinsichtlich  der  Besoldung  äusserlich  und 
hinsichtlich  der  Weiterentwickelung  der 
geistigen  Kräfte  innerlich  nicht  befriedigen. 
In  Baden  werden  seit  1892  Gewerbelehrer 
nicht  mehr  in  der  technischen  Hochschiüe, 
sondern  in  der  Gewerbelehrer- Abteilung  der 
Baugewerkeschule  (durchschnittlich  30  Schü- 
ler) ausgebildet.  In  den  Herbstferien  min- 
destens 8  Wochen  praktischer  Thätigkeit 
in  Werkstätten,  Fabriken  oder  auf  Bauplätzen, 
Nach  7  Halbjahren  theoretischen  Unter- 
richts und  Nachweis  praktischer  Thätigkeit 
in  mindestens  3  Gewerben:  Zulassung  zur 
Gewerbelehrerprüfung.  (1889—96  bestanden 
jährlich  etwa  6  Kandidaten  die  Prüfung). 
Die  badischen  Gewerbelehrer  sind  Staats- 
beamte mit  geregeltem  Diensteinkommen 
und  Hinterbliebenen- Versorgung.  Sie  haben 
berufsmässig  auch  den  gewerblichen  Ver- 
einen zu  dienen.  Der  Lehrerfortbildung 
dienen  namentlich  Studienreisen  (oft 
mit  Staatsbeihilfe,  Einzelreisen  oder  ge- 
meinsame Reisen  einer  beschränkten  An- 
zahl gewerblicher  Lehrer  unter  Führung 
eiaes  Fachmannes)  und  Fortbildungs- 
kurse. 

Beides  besonders  inOesterreich  seit  1880 
umfangreich  und  gut  eingerichtet.  1896 — 1898 
wurden  180  Lehrkräfte  mit  93000  Gulden  auf 
Reisen  gesandt.  1896  Vertreter  baugewerblicher, 
1897  mechanisch-technischer,  1898  kunstgewerb- 
licher Fächer.  Gemeinsame  Reisen,  z.  B.  nach 
Rom,  in  die  Schweiz  unter  staatlich  bestellten, 
fach-  und  ortskundigen  Führern.  Zur  Pariser 
Weltausstellung  1900  über  100  Lehrkräfte  ent- 
sandt, die  ein  Jahr  vorher  sprachliche  und 
sachliche  Vorbereitangskurse  in  Wien-  und 
anderen  grösseren  Orten  erhielten.  Zur  Aus- 
und  Fortbildung  gewerblicher  Lehrer  hatte 
Oesterreich  1897  22  000  Gulden  bestimmt.  Staat- 
lich angeordnete  Fachkonferenzen  von  Direktoren 
und  Lehrern  dort  seit  1^5  im  Unterrichtsminis- 
terium. — Das  ungarische  Handelsministerium 
gab  1897  an  22  t]lewerbeschullehrer  Reisestipen- 
dien von  16000  (durchschnittlich  727)  Gulden. 
In  Preussen  werden  Lehrer  für  gewerbliche 
Fortbildungsschulen  in  4-  und  6  wöchigen 
Kursen  einstweilen  im  Zeichnen  und  in  kauf- 
männischen Fächern  ausgebildet,  Lehrer  für 
gewerbliche  Fachschulen  in  diesen.  Die  Aus- 
oildungskosten,  mit  Ausnahme  der  für  die  Ver- 
tretung der  Lehrer  im  Hauptamte,  träfi:t  in 
der  Regel  der  Staat.  Instmktionskurse  für  je 
7—24  Lehrer  an  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen in  der  Schweiz  am  kantonalen  Techni- 
kum zu  Winterthur  seit  1885.  Deren  Kosten 
deckt  zu  '/ü  der  Bund.  In  B  a  d  e  n  Studienreisen 
und  praktische  Uebungskurse  der  Lehrer  mit 
Staatsunterstütznng     und     Verpflichtung      zu 


schriftlicher  Berichterstattung.  Seit  1892  hier- 
für jährlich  1200  Mark.  In  Baden  erfolgt  seit 
1891  die  technische  Ausbildung  der  Volksschul- 
lehrer, die  den  Unterricht  an  gewerblichen  Fort- 
bildungsschulen erteilen,  m  4 — 6  wöchigen 
Uebungskursen  auf  Staatskosten  (jährlich  3ö00 
Mark  Aufwand}.  Hauptgegenstand  der  Kurse: 
Fachzeichnen,  daneben  Korrespondenz,  Kalku- 
lation und  Buchführung.  In  üessen-Darni- 
stadt  werden  jährlich  Lehrer  gewerblicher 
Schnlen  an  der  Centralstelle  für  Gewerbe  zu 
Darmstadt  in  frei  gewählten  Kursen  (2 — ^H  Mo- 
nate) unentgeltlich  und  mit  Beihilfe  des  Landes- 
ffewerbevereins  ausgebildet,  Volksschullehrer  in 
den  Ferien,  Bauhandwerker  im  geschäftsstilleu 
Winter. 

Gewerbliche  Wanderlehrer  na- 
mentlich in  Württemberg  (seit  1849)  und 
Oesterreich.  In  Preussen  Wanderlehrer 
für  Weberei  seit  1892  in  Schlesien,  veran- 
lasst durch  die  Not  der  Hausweber  im 
Glatzer  und  Eulengebirge,  dazu  Staatsbei- 
hilfen zur  Verbesserung  der  Handwebstühle 
(Anbringung  von  Regiüatoren  und  Wechsei- 
laden) 1892  und  1894  je  45000  Mark,  seit 
1895  im  Kreise  Landeshut,  seit  1896  im 
Bezirke  Sorau  und  in  der  Provinz  Hannover. 
In  Württemberg  namentlich  behufs  Ueber- 
leitung  der  bedrängten  Handweberei  zur 
Herstellung  gemusterter,  schwieriger  anzu- 
fertigender, aber  auch  besser  lohnender  Web- 
stoffe. Meist  2  monatige  Kurse.  Erfolge  durch 
Verbesserung  der  Technik  zeigten  sich  nur 
da,  wo  der  Absatz  der  Ware  durch  Verbin- 
dung mit  Fabrikanten  und  Kaufleuten  ge- 
sichert wurde.  Lehrer  waren  hier  meist 
tüchtige  W'ebermeister ,  die  auch  in  auslän- 
dischen Fabriken  gearbeitet  hatten.  Von 
1849—82  Wanderlehrkurse  für  Hand  Webe- 
rei, gewerbliche  Buchführung,  Kleiderschnitt, 
Weissstickerei,  Strohflechterei  imd  Weis&- 
nähen  (auf  der  Maschine)  in  28  Orten 
Württembergs.  1899  Wanderlehrer  in  Stutt- 
gart für  technische  und  wirtschaftliche 
Gegenstände ,  gewerbliche  Gesetzgebung, 
Anregung  und  Beratung  von  Innungen,  Ver- 
einen und  Fachgenossenschaften  und  Ueber- 
wachung  der  staatlich  unterstützten  Lehr- 
lingswerkstätten. W^anderlehrer  in  Bayern 
vornehmlich  für  Korbflechterei. 

9.  Lehrmittel.  Wie  viele  gewerbliche 
Schulen  sich  ihre  Lehrer  selbst  heranziehen 
mussten,  so  schufen  sie  notgedrungen  auch 
einen  Teü  ihrer  Lehrmittel  selbst.  Bei  den 
Lehrmitteln  des  Zeichenunterrichts  waren 
bis  etwa  1860  die  Bedürfnisse  der  Kunst- 
akademieen  viel  mehr  berücksichtigt  als  die 
des  Gewerbes  imd  Kunstgewerbes.  Die 
Ueberwachung  der  Auswahl,  Herstellung 
und  Anwendung  geeigneter  Lehrmittel  in 
gewerblichen  Schulen  ist  eine  wichtige  Auf- 
gabe der  Regierungen. 

Einfache,  aber  wirksame  Verwendung  von 
Lehrmitteln  im  „Korridornnterrichte",  Belehrung 
ohne  Lehrer,  durch  öfteres  Anschauen  der  in 


590 


Gewerblicher  ünten-icht 


hellen  Korridoren  anfgehän^n  oder  aufgestell- 
ten Lehrmittel  (Gipse,  Modelle,  Lehrgänge,  Ab- 
bildungen). Anrefi;un£;  träger  oder  minder  be- 
fähigter Schüler  durch  regere  oder  begabtere. 
Lehrmittelwerkstatt  fUr  die  preussischen  Fach- 
schulen der  Textilindustrie  m  der  städtischen 
Webschule  zu  Berlin  (seit  1896).  Gewerbschul- 
museum  in  Frankfurt  a.  M.  (seit  1900).  Lehr- 
mittelmusenm  von  A.  Müller,  FrÖbelhaus  Dres- 
den. Ein  Verzeichnis  von  Lehrmitteln  (Vorlagen 
Modellen)  für  gewerbliche  Fortbildungsschulen, 
Handwerkerschulen  und  gewerbliche  Zeichen- 
schulen gab  1888  das  Industriedepartement  des 
Schweizer  Bundes  heraus,  das  auch  die 
^Schweizerische  permanente  Schulausstellune" 
m  Zürich  unterstützt.  Weiter  gehen  die 
Staaten,  welche  selbst  Lehrmittel  anfertigen 
Hessen,  namentlich  seit  1864  Württemberg  und 
seit  1874  Oesterreich.  Vorlagenwerke  werden 
von  der  Württemberger  Centralstelle  nur  gut- 
geheissen,  Modelle  für  den  Zeichenunterricht  in 
der  Modellierwerkstätte  der  Centralstelle  selbst 
hergestellt.  Vorlagenwerke  des  hessen-darm- 
städtischen  Laudesgewerbevereins  seit  1843. 
In  Baden  dürfen  Lehrmittel  nur  mit  Genehmi- 

Smg  des  Gewerbeschulrats  verwendet  werden, 
ie  Lehrmittel  für  die  gewerblichen  Fortbil- 
dungsschulen fertigt  seit  1892  der  Gewerbe- 
scbulrat  und  stallt  sie  unentgeltlich  zur  Ver- 
fügung. Bayern  giebt  regelmässifife  Verzeich- 
nisse der  für  gewerbliche  Fortbildungsschulen 
geeiffneten  Werke  und  Lehrmittel  und  der 
Zeichenvorlagen  für  Realschulen  heraus  und 
gewährt  auf  Staatskosten  Vorlagen  und  Modelle 
nach  Auswahl  durch  Sachverständige.  Das 
österreichische  Unterrichtsministerium  hat  lir 
seine  gewerblichen  und  Handelsschulen  seit 
1874  nach  gross  angelegtem  Plane  Lehrmittel 
geschaffen,  Lehrtexte  für  Schüler,  Vorlagen- 
werke, Modelle,  Lehrgänge  für  Werkstätten- 
unterricht in  Tischlerei,  Holzschnitzerei,  Drechs- 
lerei, Schmiede-,  andere  Metallarbeiten,  Baufach, 
Stickerei  u.  s.  w.  Verwendet  werden  dürfen 
nur  die  nach  fachmännischer  Prüfung  geneh- 
migten Lehrmittel,  die  im  „Central blatte  für 
das  gewerbliche  Unterrichts wesen  in  Oesterreich" 
verönentlicht  und  von  Zeit  zu  Zeit  mit  Bezeich- 
nung der  Schulgruppen,  für  die  sie  sich  eignen, 
zusammengestellt  werden. 

10.  Durchfühniii^  der  Schnlanlsicht 

(s.oben  sub  4  g  und  5e).  Die  Bedeutung  sach- 
kundiger, über  die  gewerblichen  Schul  Verhält- 
nisse grösserer  in-  und  ausländischer  Gebiete 
unterrichteterG  ewerbeschul-Inspektoren  w  ird 
noch  von  vielen  Regierungen  unterschätzt. 
Die  Unterstützung  durch  solche  Lispektoren, 
die  anregend,  beratend,  warnend  und  hel- 
fend den  Lehrern  und  Voretänden  gewerb- 
licher Schulen  zur  Seite  treten,  ist  oft  wich- 
tiger und  wirksamer  als  staatliche  (leldbei- 
hilfen.  Solche  Inspektoren  sorgen  dafür, 
dass  j(Kle  gewerbliche  Schule  die  günstigen 
und  ungünstigen  Erfalirungen  gleichartiger 
Schulen  verwerte,  dass  nicht  jede  neue  ge- 
werbliche Schule  die  von  anderen  gewerb- 
lichen Schulen  verlassenen  liTwege  ein- 
schlage. DieGewerbeschul-Inspektoren  haben 
den  Schulen  nicht  Vorschriften  zu  machen, 


sondern  Ratscliläge  zu  erteilen,  nicht  die 
gewerblichen  Schulen  zu  uniformieren,  son- 
dern die  zweckmässigste  Anpassung  jeder 
gewerblichen  Schule  an  die  örtlichen*  imd 
fachlichen  Verhältnisse  zu  fördern.  An  die 
Oberbehörde  ist  über  jede  revidierte  Schule 
ein  kurzer  Revisionsbericht  mit  Angabe  des 
wesentlichen  Inhalts  der  erteilten  Ratschläge 
einziu^ichen.  Gewerbeschulen,  welche  die 
erteilten  Ratschläge  fortgesetzt  gnmdlos 
unbeachtet  lassen,  verlieren  die  Staatsbei- 
hilfe. Möglichste  Einheitlichkeit  der  Revi- 
sion ist  nötig.  Formulare  für  die  Revisionen, 
wegen  der  Einheitlichkeit  und  Vollständig- 
keit der  Revisionen,  in  der  Schweiz  und  in 
Württemberg.  Es  ist  zweckmässig,  gewerb- 
liche Fachschulen  überdies  im  technischen 
Unterrichte  von  Lehrern  höherer  Grewerbe- 
schulen,  in  ihrer  Geschmacksrichtung  von 
Lehrern  kunstgewerblicher  Schulen  beauf- 
sichtigen und  beraten  zu  lassen. 

In  Preussen  wurden  die  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  in  den  meisten  Regie- 
rungsbezirken früher  gar  nicht  oder  höchst 
unzulänglich  und  unregelmässig  beaufsich- 
tigt. Jetzt  hat  man  in  einzelnen  Provinzen 
begonnen,  besondere  Inspektions-  und  Revi- 
sionsbezirke zu  bilden,  und  plant,  damit  auch 
in  anderen  Provinzen  fortzufahren.  Einigen 
Regienmgspräsidenten  sollen  ^1899)  tech- 
nische Beiräte  für  das  gewerbliche  Schul- 
wesen beigegeben  werden.  Die  Notwendig- 
keit der  Fachaufsicht  über  die  Webschulen 
erkennt  die  Denkschrift  von  1896  an.  Die 
Stadt  Breslau  liat  seit  1899  einen  eigenen 
Leiter  und  Beaufsichtiger  des  Fach-  und 
Fortbildungsschulwesens. 

Einen  berufsmässigen  Gewerbeschul-Inspektor 
hat  bereits  seit  18^4  Sachsen.  Er  besucht 
jährlich  etwa  100  gewerbliche  Schulen.  Für 
die  28  Klöppel  schulen  Sachsens  ist  schon  seit 
1858  ein  besonderer  Klöppelschul-Inspektor  ange- 
stellt. Kosten  der  Aufsicht  über  die  gewerb- 
lichen Schulen  in  Sachsen  1899:  18000  Mark. 
Mit  der  Aufsicht  über  die  Baugewerbeschulen 
ist  seit  1894  ein  höherer  Baubeamter  betraut. 
DieThätigkeit  des  Gewerbeschul-Inspektors  wird 
seit  1894  bezüglich  des  Fachunterrichts  an 
Webschulen  duich  Lehrer  grösserer  Webschulen 
ergänzt,  an  anderen  Fachschulen  durch  einige 
Professoren  der  technischen  Staatslehranstalten. 
In  Baden  seit  1892  ein  eigener  Gewerbeschul- 
Inspektor.  Vorher,  bei  Prüfung  durch  Professoren 
der  technischen  Hochschule  und  der  Bauge- 
werkenschule,  Mangel  an  Einheitlichkeit  der  äe- 
urteilnng.  Dem  Gewerbeschul-Inspektor  unter- 
standen 1899  45  Gewerbe-  und  73  gewerbliche 
Fortbildungsschulen.  Seine  Prüfungsberichte 
gelangen  an  den  grossherzoglichen  Gewerbe- 
schulrat, und  dieser  giebt  Prüfungsbescheide  mit 
den  nötigen  Anordnungen  an  die  örtliche  Auf- 
sichtsbehörde. Der  Gewerbeschul-Inspektor  be- 
suchte 1898  35  Gewerbe-  und  61  gewerbliche 
Fortbildungsschulen.  In  Hessen-Darm- 
Stadt  und  Mecklenburg  -  Schwerin 
neuerdings    auch    ein    Gewerbeschul-Inspektor. 


Gewerblicher  Unterricht 


591 


Bayerns  gewerbliche  Fortbüdangsschulen 
unterstehen  einheitlich  organisierter  Auf- 
sicht der  Kreisre&fiemngen.  (Allgemeine 
Fächer  werden  durch  Realschulrektoren  und 
Ereis-Schulinspektoren ,  zeichnerische  Fächer 
durch  Zeichenlehrer  von  Kealschulen  und  Knnst- 
gewerbeschulen  revidiert.)  Zur  Revision  der 
Fachschulen  in  technischer  Hinsicht  verwendet 
das  Kultusministerium  Lehrer  der  technischen 
Hochschule,  der  Kunstgewerbeschulen  u.  s.  w. 
In  Württemberg  erfolgt,  die  Revision  des 
Mrissenschaftiichen  Unterrichts  der  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  durch  hervorragende  Vor- 
stände oder  Lehrer  solcher  Schulen.  Der  1899 
angestellte  Wanderlehrer  soll  diese  Schulen  auch 
besuchen  und  die  Kommission  betreffs  der 
Schulen  beraten.  Die  Revision  des  Zeichen- 
unterrichts liegt  in  anderen  Händen,  bei  er- 
probten Zeichenlehrern.  Die  Handelsschulen 
sind  in  Württemberg  als  Vereins-  oder  Privat- 
schulen staatlicher  Aufsicht  nicht  unterworfen. 
In  Hessen -Darmstadt  werden  die  Hand- 
werkerschuleu  von  der  8  Mitglieder  zählenden 
Handwerkerschul  -  Kommission  des  Landesffe- 
werbevereins revidiert.  InOesterreich werden 
die  Staatsgewerbeschulen  und  die  Fachschulen 
nach  fachlichen,  nicht  nach  örtlichen  Gebieten 
von  der  Centralstelle  aus  durch  12  Inspektoren 
(Professoren  technischer  Hochschulen,  der  Hoch- 
schule für  Bodenkultur,  der  Kunstgewerbe- 
schulen Wien  und  Prag,  Beamte  des  öster- 
reichischen Museums  für  Kunst  und  Industrie 
und  des  Ministeriums)  beaufsichtigt.  Die  In- 
spektoren ernennt  der  ünterrichtsminister  im 
Einvernehmen  mit  dem  Handelsminister.  Die 
allgemeinen  Handwerkerschulen  werden  von 
Direktoren  der  Staatsgewerbeschulen,  die  ge- 
werblichen Fortbildungsschulen  von  Direktoren, 
Fachvorst&nden  und  Lehrern  an  Staatsgewerbe- 
schulen, allgemeinen  Handwerkerschulen  und 
Fachschulen  beaufsichtigt.  Gesamtzahl:  55  In- 
spektoren. Die  1888  im  Österreichischen  Unter- 
nchtsministerium  geschaffene  Centralinspektion 
stellte  bei  den  2-  und  3  klassigen  Handelsschulen 
chaotische  Zustände  fest.  Wegen  der  Zerfahren- 
heit der  Lehrpläne  konnte  eine  Lehrhücher- 
Litteratur  für  Handelsschulen  nicht  gedeihen. 
Teure,  für  grosse  Anstalten  geschriebene 
Bücher  wurden  auch  an  niederen  Handelsschulen 
verwendet.  Die  Aufstellung  von  Normallehr- 
plänen für  höhere  3  klassige  Handelsschulen, 
niedere  2  klassige  Handels-Tasfesschulen  und 
Fortbildungsschulen  für  Handelslehrlinge  ver- 
anlasste und  ermöglichte  von  1890  ab  das  Ent- 
stehen einer  geschlossenen  Litteratur  für  Han- 
delsschulen. Kosten  der  Inspektion  der  Fach-, 
Fortbildungsschulen  und  des  Zeichenunterrichts 
(1897)  32600  Mark.  In  der  Schweiz  revidie- 
ren die  12  Mitglieder  des  vom  Bunde  auf  je 
3  Jahre,  früher  1  Jahr  eingesetzten  „Experten- 
kollegiums" (darunter  1889  4  Architekten)  die 
gewerblichen  Schulen.  Sie  halten  an  jährlich 
wechselnden  Orten  eine  Expertenberatung  ab 
und  lernen  so  nach  und  nach  alle  bedeutenden 
gewerblichen  Schulen  der  Schweiz  kennen. 
Die  Anstalten  für  weibliche  Berufsbildung  wer- 
den seit  1896  auch  von  einer  „Expertin"  beauf- 
sichtigt. In  Belgien  wird  die  Aufsicht  durch 
2  Ingenieure  und  bei  den  Hanshaltungsschulen 
durch  3  Frauen  ausgeübt  Jahreskosten  1896: 
37800  Francs. 


11.  Schnlansstellimgeii  haben  für  ge- 
werbliche Schulen,  bei  denen  das  Zeichnen 
besonders  wichtig  und  umfangreich  ist,  viel 
grössere  Bedeutung  als  für  Gelehrtenschulen. 
Führen  sie  die  Wirksamkeit  der  gewerblichen 
Schulen  treu,  vollständig  und  übersichtlich  vor, 
so  werden  durch  sie  zweckmässige  Einrich- 
tungen befestigt,  weiter  entwickelt  und  ver- 
allgemeinert, unzweckmässige  aber  als  solche 
erkannt  und  beseitigt.  Die  Hauptmängel 
der  früheren  Ausstellungen  gewerblicher 
Schulen  waren  a)  der,  dass  man  auch  solche 
Gesamtausstellungen  vieler  gewerblicher 
Schulen,  welche  die  Arbeit  der  Schulen 
vornehmlich  den  Aufsichtsbehörden,  Vor- 
ständen und  Lehi-ern  vorführen  sollen,  so 
einrichtete  wie  die  regelmässigen  Jahresaus- 
stellungen der  einzelnen  gewerblichen  Schu- 
len, welche  die  Arbeiten  der  Schüler  deren 
Angehörigen  und  der  breiteren  Oeffentlich- 
keit  vorführen .  Bei  Landes-Schulausstelhingen 
Prämien  an  hervorragende  Schüler  von  Lan- 
des wegen  zu  erteilen,  ist  zwecklos,  zeit- 
raubend und  kostspielig,  b)  Meist  führte 
man  vor,  was  ausnahmsweise  gemacht  wer- 
den kann,  nicht  was  vom  Durchschnitte  für 
gewöhnlich  gemacht  wird.  Jenes  ist  aber 
viel  weniger  w^ichtig  als  dieses,  c)  Statt 
lehrplanmässiger  Anordnung  der  Zeichnun- 
gen bewirkte  man  meist  dekorative  Anord- 
nung. Es  soUen  aber  nicht  bloss  die  Er- 
folge, sondern  auch  die  Wege  gezeigt  wer- 
den, auf  denen  man  zu  diesen  Ei-folgen  ge- 
langte, d)  Ausstellungen  gewerblicher  Schu- 
len wurden  mit  Ausstellungen  gelehrter 
Schulen  oder  Industrieausstellungen  verbun- 
den, fanden  da  weniger  Beachtung,  konnten 
nicht  nach  ihren  besonderen  Bedürfnissen 
eingerichtet  werden  und  dauerten  unnötig 
lange.  Eine  8—10  Tage,  während  der 
Ferienzeit,  geöffnete  Ausstellung  gewerb- 
licher Schulen  pflegt  die  Vorstände  und 
Lehrer  dieser  Schulen  zu  fruchtbai*en  Stu- 
dien und  Besprechungen  zu  vereinigen, 
e)  Die  schriftlichen  Arbeiten  einer  Schule 
dürfen  von  der  Ausstellung  nicht  ausge- 
schlossen und  von  den  zeichnerischen  nicht 
getrennt  sein,  damit  der  Zusammenhang 
beider  erkennbar  wird,  f)  Die  Ausstellun- 
gen wurden  anfänglich  aUzu  rasch  wieder- 
holt. Daraus  folgte  geringe  Beteiligung  und 
mangelnde  Teilnahme.  Auch  w^erden  die 
Schulen  durch  allzu  häufige  Ausstellungen 
in  der  ruhigen  Verfolgung  ihres  Lehrzieles 
behindert.  Wetteifer  vor  der  Oeffentlichkeit 
hat  manches  Versuchliche.  (In  Württemberg 
1850—66  alle  2  Jahre,  1867—89  alle  7  Jahre 
eine  Ausstellung.)  g)  Von  Vereinen  unter- 
nommene Ausstellungen  finden  meist  keine 
allseilige  Beteiligung,  die  doch  im  Hinblick 
auf  den  Zweck  solcher  Ausstellungen  sehr 
zu  wünschen  ist.  Die  kleinen  gewerblichen 
Schulen,  die  am  liebsten   wegbleiben,  he- 


592 


Gewerblicher  Unterricht 


dürfen  einer  Vergleichung  ihrer  Leistungen 
mit  denen  vorgeschrittener  Schulen  am  meis- 
ten. Deshalb  werden  solche  Ausstellungen 
am  besten  von  der  Stelle  unternommen, 
welche  Beihilfen  zu  den  Kosten  gewerb- 
licher Schulen  zu  bewilligen  hat,  also  von 
der  Regierung  oder  dem  Landesgewerbe- 
vereine.  Für  unterstützte  Schulen  pflegt 
die  Beteiligung  vorgeschrieben  zu  werden, 
h)  Ausstellungen  ohne  planmässige  sachver- 
ständige Beurteilung  erfüllen  ihren  Zweck 
nicht  genügend  und  bleiben  meist  blosse 
Schaustellungen,  i)  Früher  wurde  oft  Nicht- 
vergleichbares zusammen  vorgeführt.  Wo 
die  Zahl  der  gewerbüchen  Schulen  eine  grös- 
sere ist,  werden  gewerbliche  Fortbildungs- 
schulen zweckmässig  für  sich  vorgeführt, 
gewerbliche  Fachschulen  in  einem  anderen 
Jahre  (so  in  der  Schweiz).  Anordnung  nach 
politisch-geographischen  Bezirken,  wie  1896 
m  Nürnberg  und  Grenf,  erschwert  die  Ver- 
gleichung verwandter  Schulen.  Empfehlens- 
wert ist  es,  wenn  bei  Zusammenkünften 
von  Fachmännern  aus  Deutschland  die 
Schulen  des  Faches  ausstellen  und  von 
Fachmännern  und  Lehrern  gemeinsam  be- 
urteilt werden,  so  1893  beim  Baumeister- 
tage in  Hannover  die  Baugewerkenschulen, 
1899  beim  deutschen  Grastwirtstage  in  Dres- 
den die  Gastwirts-Fachschulen,  oder  wenn 
eine  Grossstadt,  wie  1892  Berlin,  alle  ihre 
Fortbüdungs-  und  Fachschulen  gemeinsam 
vorführt. 

In  Württemberg  von  18ö3  bis  1899  9 
Landes-SchulausstelluDgen ;  1889  wurden  auch 
Lehrlingsarbeiten,  Lehrmittel  und  Lehrerarbeiten 
ausgestellt  und  einzelnen  Schülern  Diplome  er- 
teilt. 1899  (beteiligt  618  Schulen  mit  40105 
Schülern)  auch  obligatorische  Vorführung  der 
wissenschaftlichen  Arbeiten  der  gewerblichen 
Fortbildungsschulen.  Diplome  nur  an  Schu- 
len. Die  Erteilung  von  Diplomen  an  hervor- 
ra^nde  Schulen  verleitet  aber  die  Schulen 
leicht  zu  ungesundem  Wettbewerbe.  Verliehen 
wurden  in  Stuttgart  Diplome  an  42  von  618 
Schulen,  aber  nur  an  10  Schulen  für  sämtliche 
Fächer.  In  England  steigert  man  diese  un- 
günstigen Wirkungen  durch  alljährliche  Aus- 
stellungen und  Bemessung  der  Staatsunter- 
stützung nach  der  Güte  der  Gesamtleistungen 
der  ausstellenden  Schulen.  Sachsen  vereinigte 
1883  die  82  gewerblichen  Schulen  des  Regie- 
rnn^bezirkes  Zwickau  zu  einer  Ausstellung, 
1888  160  gewerbliche  Schulen  des  Landes  mit 
793  Lehrern  und  16030  Schülern,  1898  259 
Schulen  mit  1647  Lehrkräften  und  29807  Schü- 
lern. Staatszuschuss  1889  6820  Mark,  1898 
19  762  Mark.  Der  1889  hier  zum  ersten  Male  streng 
durchgeführte  Grundsatz:  die  Lehrgänge  jedes 
Faches  vollständig  und  übersichtlich  vorzufüh- 
ren und  zwar  durch  Arbeiten  ie  eines  der  besten, 
eines  mittleren  und  eines  schwachen,  aber  das 
Unterrichtsziel  gerade  noch  erreichenden  Schü- 
lers, wurde  seitdem  mehrfach,  unter  anderem 
1890  bei  der  ersten  schweizerischen  Aus- 
stellung der  gewerblichen  Fortbüdungs-,  Hand- 


werker- und  Zeichenschulen  in  Zürich  ange- 
wendet. (Kosten  15700  Francs.)  In  Baden 
1900  erste  Ausstellung  gewerblicher  Schulen. 
Der  Landesgewerbeverein  von  Hessen-Darm- 
stadt hält  seit  1840  alljährlich  Ausstellungen 
der  von  ihm  unterstützten  Handwerkerschmen 
ab,  seit  1869  grundsätzlich  ohne  Prämiener- 
teilung. In  den  Satzungen  der  Handwerker- 
schulen findet  sich  deren  Verpflichtung  zur  Be- 
schickung dieser  Ausstellungen.  Der  Central- 
vorstand  des  Gewerbevereins  von  Nassau 
lässt  sich  alljährlich  die  Zeichnungen  seiner  60 
Schulen  nach  Wiesbaden  senden  und  dort  von 
einem  Ausschusse  be&'utachten.  Bayerns 
Fachschulen  waren  insbesondere  in  der  Landes- 
ausstellung zu  Nürnberg  1896  vertreten.  In 
Oesterreich  nehmen  die  gewerblichen  Schulen 
meist  an  den  Landes-Ausstellungen  teil.  Eine 
Ausstellung  von  Lehrwerkstätten-Arbeiten  aller 
Fachschulen  wurde  bis  1899  nur  einmal  abge- 
halten. Die  1892  in  Basel  abgehaltene  Aus- 
stellung der  gewerblichen  Fachschulen  der 
Schweiz  veranlasste  42652  Francs  Bundeszu- 
schuss,  die  Vorführung  der  gewerblichen  und 
industriellen  Bildungsanstalten  auf  der  Landes- 
aussteUung  in  Genf  1896  (190  Schulen  mit 
18043  Schülern)  64590  Francs.  Nachdem  man 
dort  in  7  Jahren  3  Ausstellungen  abgehalten, 
empfindet  man  in  der  Schweiz  das  Bedürfnis 
nach  einer  Zeit  ruhiger  Schul-Entwickelung. 

12.  Zeitschriften  für  gewerbliche 
Schulen,  Statistik  nnd  Geschichte  der- 
selben, a)  Zeitschriften,  welche  über 
die  Organisation,  Lehrweise  und  Wirksam- 
keit gewerblicher  Schulen  unterrichten,  sind 
für  Lehrer  und  Vorstände  dieser  Schulen 
sehr  wichtig,  da  sie  einen  Austausch  der 
Ansichten  und  Erfahrungen  erleichtem. 
Wird  eine  solche  Zeitschrift  von  der  Ober- 
behörde selbst  herausgegeben,  wie  seit  1883 
das  treffliche  »Centralblatt  für  das  gewerb- 
liche ünterrichtswesen  in  Oesterreich«, 
welches  im  amtlichen  Teile  die  Beratungen 
der  Centralkommission  für  den  gewerblichen 
Unterricht,  die  einschlagenden  Gesetze,  Ver- 
ordnungen und  Regulative,  Schulnachrichten 
sowie  die  Schulstatistik  enthält  und  in 
seinem  nicht  amtlichen  Teile  Aufsätze  über 
Verwaltungs-  und  fachliche  Gegenstände, 
Schulnachrichten,  Beurteilungen  von  Büchern 
u.  s.  w.  bringt,  auch  die  ausländischen 
Schulen  eingehend  berücksichtigt,  so  be- 
gründet es  eine  geistige  Gemeinschaft,  die 
vom  Mittelpunkte  aus  bis  in  die  entlegen- 
sten Fachschulen  sich  erstreckt ,  erleichtert 
sehr  das  Wirken  der  Regierung  und  stellt 
deren  Thätig;keit  unter  das  urteil  der 
Oeffentlichkeit  In  der  Schweiz  imter- 
stützt  der  Bund  eine  Zeitschrift  für  den  ge- 
werblichen Unterricht,  die  dafür  unentgelt- 
lich an  die  vom  Bunde  imterstützten  ge- 
werblichen Schulen  abgegeben  werden  muss. 
Die  seit  1886  erscheinende  »Zeitschrift  für 
den  gewerblichen  Unterricht« ,  Organ  des 
1887  begnlndeten  »Verbandes  deutscher 
Gewerbeschul männer« ,    ist   mit  Erfolg  be- 


Gewerblicher  Unterricht 


593 


müht,  zu  leisten,  was  ein  Privatunternehmen 
auf  diesem  Gebiete  leisten  kann.  Die 
sächsischen  gewerblichen  Schulen  haben 
ihr  Organ  in  der  »Gewerbeschau« ,  die 
württembergischen  in  dem  »Gewerbe- 
blatt aus  Württemberg«,  die  badischen 
in  der  »Badischen  Gew^erbezeitung«  und  dem 
(nicht  amtlichen)  »Vereinsblatte  des  Ver- 
bandes badischer  Gewerbelehrer«,  Die  hes- 
sischen im  »Gewerbeblatt  für  das  Grossher- 
zogtum Hessen«.  —  b)  Die  Statistik  der 
gewerblichen  Schulen,  namentlich  der  zahl- 
reichen Privatanstalten,  ist  noch  sehr  unent- 
wickelt. Selbst  Staaten  mit  ausführlicher 
Statistik  berücksichtigen  nur  Staats-  und 
Btaatlicli  unterstützte  Anstalten.  Am  ein- 
gehendsten ist  dieselbe  in  Sachsen  darge- 
stellt. Dort  erscheint  seit  1884  aller  5  Jahre 
ein  »Bericht  über  die  gesamten  Unterrichts- 
und Erziehungsanstalten«,  welcher  nicht 
bloss  (wie  sonst  meistens)  Schüler-  und 
Lehrerzahl,  sondern  auch  die  Schulunter- 
nehmer, Unterrichtszeit,  wöchentliche  Stun- 
denzahl, Lehrerbenif,  Schulgeld,  die  Haupt- 
zahlen des  Schulhaushaltes  etc.  für  jede 
öffentliche  und  private  gewerbliche  Schule 
angiebt.  Dieser  Bericht  wird  ergänzt  durch 
ein  etwa  aller  4  Jahre  erscheinendes  »Ver- 
zeichnis der  Gewerbe-,  Landwirtschafts-  und 
Handelsschiden  Sachsens«,  welches  für  jede 
dieser  Schulen  Unternehmer,  Vorstand, 
Zweck,  Aufnahmebedingimgen ,  Unterrichts- 
dauer, Lehrplan,  Lehrer-,  Schülerzahl  und 
Schulgeld  angiebt  und  allen  gewerblichen 
Schulen  zugestellt  wird.  Die  Möglichkeit 
einer  Vergleichung  der  dort  ausführlich  an- 
gegebenen Lehrpläne  hat  schon  viele  Schu- 
len zu  Verbesserungen  angeregt.  Von 
Preussen  fehlt  leider  noch  jede  vollständi- 
gere Statistik  der  gewerblichen  Schulen. 
In  Bayern  jährliche  Unterrichtsstatistik,  her- 
ausgegeben mit  Angaben  über  die  gewerb- 
lichen Fortbildungs  und  Fachschiden  (Zahl 
und  Kurse  der  Schüler,  Zahl  und  Bezüge 
der  Lehrer,  Schulgeld  und  sonstige  Ein- 
nahmen und  Ausgaben).  Li  Württemberg 
erscheint  alljährlich  in  besonderem  Hefte 
eine  sehr  kurzgefasste  Uebersicht  des  ge- 
samten Schulwesens.  Baden  ^ebt  jährlich 
kurze  Tabellen  seiner  gewerblichen  Schulen 
in  der  statistischen  Zeitschrift.  In  der 
badischen  Gewerbezeitung  erscheint  alljähr- 
lich ein  »Bericht  über  die  Organisation  zur 
Förderung  des  Ge werbe wesens«.  Desgleichen 
im  Gewerbeblatt  für  Hessen.  Sehr  zweck- 
mässig ist  das  bei  der  königlich  württem- 
bergischen Kommission  für  die  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  geführte  und  auf  dem 
Laufenden  erhaltene,  aber  nicht  veröffent- 
lichte »Gnindbuch« ,  w^elchos  folgende  Ab- 
teilungen hat :  Geschichtliche  Notizen,  Orts- 
behörden, Organisation,  wirtschaftliche  Ver- 
hältnisse,  Statistik,  Pläne  der  Schulräume. 

Handwörterbuch  der  Staatswissenscbaften.    Zweite 


Die  Veröffentlichung  einer  Geschichte 
der  gewerblichen  Schulen,  sei  es  auch  eines 
kleineren  Gebietes,  würde  sehr  nützlich  sein, 
wenn  sie  darlegte :  den  Anlass  zur  Errich- 
tung der  Schulen  sowie  neuer  Abteilungen, 
welche  Hindernisse  zu  überwinden  waren, 
welche  Mittel  zum  Erfolge  halfen,  welche 
Irrwege  und  Misserfolge  die  Schule  zu  ver- 
zeichnen hatte,  welches  die  erste  Organisa- 
tion und  dereu  spätere  Aenderungen  waren 
etc.  Ein  solches  Werk  würde  anregen,  be- 
lehren, warnen,  ermutigen  und  sonst  ver- 
loren gehende  Erfahrungen  erhalten. 

13.  Verbände  und  Verbandsta^e.  Von 
wachsender  Bedeutung  sind  für  den  gewerb- 
lichen Unterricht  die  Verb  an  de  und  Ver- 
bandstage. Internationale  Kongresse  für 
gewerblichen,  kaufmännischen  und  industri- 
ellen Unterricht  wurden  abgehalten  1886  in 
Bordeaux,  1889  in  Paris  (förderlich  für  das 
Handelsschulwesen),  1895  in  Bordeaux  (be- 
schäftigte sich  fast  nur  mit  Handelsschulen), 
1897  in  London.  1895  wurde  in  Braun- 
schweig der  »Deutsche  Verband  für  das 
kaufmännische  Unterrichtswesen«  begründet. 
1897  dessen  erster  Verbandstag  in  Leipzig. 
Der  Verband  hat  das  kaufmännische  Unter- 
richtswesen durch  seine  Schriften  und  Ver- 
handlungen sehr  gefördert.  Der  Nutzen  gut 
vorbereiteter,  besuchter  und  geleiteter  Ver- 
bandstage besteht  darin,  dass  auf  ihnen  die 
in  engeren  Kreisen  entstandenen  Erfahrun- 
gen, Ansichten  und  Wünsche  von  einem 
weiten  Kreise  Sachkundiger  geprüft,  ver- 
glichen, ergänzt  und  berichtigt  werden. 
1900  beschlossen  die  3  Verbände  deutscher 
Gewerbschulmänner  (Romberg),  für  das 
kaufmännische  Unterrichtswesen  (Stegemann) 
und  für  das  Fortbildungsschulwesen  (Pache) 
einen  »Central verband  für  gewerbliches  und 
kaufmännisches  Unterrichtswesen  in  Deutsch- 
land« zu  begründen. 

II.  Die  Hanptgruppen  gewerblicher 

Schulen. 

A.  Gewerbliche  Fortbildungsschulen. 

14.  Wenn  auch  der  allgemeine  Fort- 
bildungsunterricht, welchen  ausser  Preussen 
die  meisten  deutschen  Staaten  (für  die  15 — 18- 
jährige  männliche  Jugend  mit  wöchentlich 
2 — 6  Stunden)  vorschreiben,  nach  der  zweck- 
mässigen und  von  den  meisten  anderen 
Staaten  auch  angenommenen  Bestimmung 
des  württembergischen  G.  von  1836  die 
Unterrichtsgegenstände  üben  soll,  »die  für 
das  bürgerliclie  lieben  vorzugsweise  von 
Nutzen  sind«,  so  kann  doch  dieser  Unter- 
richt den  besonderen  Bedürfnissen  der  Ge- 
werbtreiben den  ,  insbesondere  hinsichtlich 
des  Zeichnens,  nicht  völlig  genügen.  Immer- 
hin ist  zu  beachten,  dass  z.  B.  in  Sachsen, 
wo  1894  1945  allgemeine  Fortbildimgsschiüen 

Auflage.    IV.  38 


594 


Gewerblicher  UnterricUt 


mit  79289  Zöglingen  bestanden,  an  nicht 
wenigen  dieser  Schulen  besondere  Zeichen- 
klassen  für  Schuhmacher,  Schneider,  Bau- 
handwerker etc.  eingerichtet  sind.  Ebenso 
in  Bayern.  Die  gewerbliche  Fortbildungs- 
schule hat  die  doppelte  Aufgabe,  die  allge- 
meinen Kenntni6se(Öeut8ch,  Rechnen,Formen- 
lehre)  zu  befestigen  und  zu  erweitern  imd 
cewerbliche  Kenntnisse  und  Fertigkeiten, 
die  den  Angehörigen  verschiedener  Gewerb- 
zweige (Bauhandwerkern,  Schlossern,  Tisch- 
lern, Schuhmachern,  Schneidern  etc.)  not- 
wendig sind  (Zeichnen,  dies  in  grösseren 
Anstalten  regelmässig  nach  beruflichen  Fach- 
klassen gesondert,  gewerbliche  Buchführung, 
Geschäftskunde  etc.),  zu  lehren.  Die  viel- 
fach vorkommende  Zersplitterung  des  Unter- 
richts in  zu  viele  Fächer  bei  geringer  Unter- 
richtszeit ist  um  so  mehr  zu  tadeln,  wenn 
darüber  das  Zeichnen  verkürzt  wird.  In 
den  badischen  Gemeindeschulen  bestehen, 
wo  die  Schülerzahl  es  gestattet,  Fachklassen 
für  Bauhandwerker,  Metallarbeiter,  Holz- 
arbeiter, Ausstattungswerbe  und  Kaufleute. 
In  Hessen-Darmstadt  schafften  viele  ge- 
werbliche Fortbildungsschulen  (Handwerker- 
schulen) nach  Einführung  der  dreijährigen 
Fortbildungsschulpflicht  (1874)  den  Unter- 
richt in  Rechnen,  Formenlehre  und  Stil  ab, 
führten  ihn  aber  bald  wieder  ein,  weil  die 
allgemeinen  FortbDdungsschiüen  die  beson- 
deren gewerblichen  Bedürfnisse  in  diesen 
Fächern  nicht  genügend  berücksichtigen 
konnten.  Versuche,  gewerbliche  Fortbildungs- 
schulen mit  landwirtschaftlichen  zu  verbin- 
den, die  man  dort  in  kleinen  Orten  mit  ge- 
ringer Schülerzahl  und  wenig  Mitteln  machte, 
misslangen,  da  derselbe  Lehrer  nicht  beide 
Gruppen  fördern  konnte.  Den  gewerblichen 
Fortbildungsschulen  vorwerfen,  class  sie  von 
den  verschiedensten  Gewerbtreibenden  be- 
sucht würden  und  deshalb  nicht  genügten, 
heisst  das  erreichbare  Gute  herabsetzen, 
weil  es  hinter  dem  unerreichbai*en  Besseren 
zurückbleibt. 

InPrenssen  1899 :  etwa  1000 gewerbliche 
Fortbüdungsschulen  mit  125000  Schülern  (688 
obligatorische,  312  freiwillige),  201  kaufmänni- 
sche Fortbildungsschulen  mit  16500  Schülern 
(83  oblie^atorische,  118  freiwillige).  Ausserdem 
unterhalten  328  Innungen  und  Fachvereine  für 
ihre  Gewerbzweige  Fortbildungsschulen  mit 
15000  Schülern.  „Vorschriften  des  Handels- 
ministeriums für  Lebrpläne  und  Lehr  verfahren 
an  gewerblichen  Fortbildungsschulen"  vom  5.  Juli 
1897  und  19.  März  1898.  Die  freiwilligen  ge- 
werblichen Fortbildungsschulen  überwiegen  be- 
zeichnender Weise  in  den  Regierungsbezirken 
Aachen,  Koblenz,  Köln,  Düsseldorf,  Potsdam, 
Schleswig,  Stettin,  Stralsund,  Wiesbaden,  Berlin. 
In  Bayern  263  gewerbliche  Fortbildungs- 
schulen mit  1722  Lehrkräften,  davon  215  selb- 
ständige. 48  mit  Realschulen  verbunden.  31  669 
Schüler,  1,85%  im  Tageskurs,  98,15^0  imAbend- 
nnd    Sonntagskurs.     Von    den    Schülern    der 


letzteren  werden  66  7o  ^^  den  Elementar-» 
34  %  in  den  Fachabteilungen  unterrichtet. 
Sachsen:  1899  36  gewerbliche  Fortbildungs- 
schulen (5  seit  70 — 80  Jahren  bestehend,  24  von 
Vereinen,  10  von  Gemeinden  unterhalten),  8  mit 
Schulzwang,  9019  Schüler.  Ausserdem  12  ge- 
werbliche Zeichenschulen  mit  833  Schülern,  und 
gewerblicher  Zeichenunterricht  an  18  Volks- 
schulen der  Spielwarenbezirke  mit  784  Zeichen- 
schülern. In  W  ürttemberg (1899)231  gewerb- 
liche Fortbildungsschulen  mit  19095  Schülern 
(2400  über  17  Jahre  alt),  506  Lehrern  für  Zeichnen 
und  661  Lehrern  für  wissenschaftlichen  Unter- 
richt. Gemeindeanstalten,  deren  Fehlbetrag  der 
Staat  in  der  Regel  zur  Hälfte  übernimmt.  Von 
den  Schülern  besuchen  den  Unterricht  im  Frei- 
handzeichnen 52%,  im  gewerblichen  Rechnen 
41,  in  deutscher  Sprache  39,  im  geometrischen 
Zeichnen  27,  im  Fachzeichnen  24,  in  Buch- 
führung 22%.  Baden  (1899)  4ö  Gewerbe- 
schulen mit  6954  Schülern  und  1095  Gästen, 
73  gewerbliche  Fortbildungsschulen  mit  1525 
Schülern  und  195  Gästen.  Wöchentlich  min- 
destens 8  Stunden,  darunter  5  für  Zeichnen. 
H  e  s  s  e  n  -  D  a  r  m  s  t  a  d  t  (1899)  11  Gewerbeschulen 
(früher  „erweiterte  Handwerkerschulen"genannt), 
42  gewerbliche  Fortbildungsschulen  für  die 
nicht  zeichnerischen  Fächer  mit  86  Klassen  und 
2067  Schülern  (33  mit  Winter-,  9  m^t  ganz- 
jährigem Unterricht),  99  Sonntagszeichenschulen 
^teilweise  auch  mit  Werktaffsunterricht)  mit 
6725  Schülern,  davon  70%  den  Baugewerben 
angehörig  und  504  noch  schulpflichtigen  Vor- 
schülern. Sachsen- Weimar:  5  staatliche 
Gewerbeschulen  (3  jähriger  Kurs,  wöchentlich 
12  Stunden),  13  gewerbliche  Fortbildnngsschulen. 
Mecklenburg-Schwerin:  1836  40,  1899  46 
gewerbliche  Fortbildungsschulen,  alle  städtische, 
auf  Veranlassung  der  Staatsregierun^  errichtete 
Anstalten.  Mecklenburg-Strelitz:  10  ge- 
werbliche Fortbilduuffsschmen.  Oldenburg: 
14  gewerbliche  Fortbildungsschulen  mit  770 
Schülern, Gemeindeanstalten.  Braunschweig: 
14  gewerbliche  Fortbildungsschulen  mit  2300 
Schülern  (älteste  1877  begründet),  67500  Mark 
Gesamtkosten,  22100  Mark  Staatsznschuss. 
Sachsen -Altenburg:  5  gewerbliche  Fort- 
bildungsschulen. Anhalt:  16  gewerbliche  Fort- 
bildungsschulen mit  1373  Schülern.  Schwarz- 
bnrg-Rudolstadt:  4  Zeichenschulen.  Ham- 
burg: Hauptgewerbeschule  (begründet  1865) 
2001  Schüler,  9  Gewerbeschulen  mit  2069  Schü- 
lern. Elsass-Lothringen:  22  gewerbliche 
Fortbildungsschulen.  In  Oesterreich  sind 
mit  den  18  Staatsgewerbeschulen,  den  11  allge- 
meinen Handwerkerschulen  und  45  Fachschulen 
teils  allgemein-gewerbliche,  teils  fachliche  Fort- 
bildungsschulen verbunden,  mit  zusammen  8426 
Schülern,  einschliesslich  der  Special kurse.  Ausser- 
dem bestehen  dort  noch  558  allgemein-gewerb- 
liche, 43  fachliche  und  3  Schifferschulen  mit 
rund  1(X)0Ü0  Schülern.  Von  letzteren  604 
Schulen  kommen  297  auf  Böhmen.  In  Ungarn, 
ohne  Kroatien,  bestanden  1897  368  Gewerbe- 
Lehrlingsschulen  mit  75122  Schülern  und  3  jäh- 
rigem Unterricht.  Ihr  Besuch  ist  nach  dem 
Gewerbe^esetz  von  1884  für  jeden  Lehrling 
obligatorisch.  Jede  Gemeinde,  in  der  sich  Lehr- 
linge befinden,  muss  eine  solche  Schule  unter- 
halten. In  der  Schweiz  (1895)  160  gewerb- 
liche Fortbildimgs-,  Zeichen-  und  Handwerker- 


Gewerblicher  Unterricht 


595 


schulen,    damnter   18  Zeichenschnleu   in   dem 
kunstbegabten  Kanton  Tessin. 

15.  Offene  Zeichensale.  Für  gewerb- 
liche Schulen  ist  das  Zeichnen  der  wich- 
tigste Gegenstand.  Schon  Diderot  bemerkte : 
une  nation,  oü  l'on  apprendrait  ä  dessiner, 
comme  on  apprend  ä  öcrire,  Temporterait 
bientöt  sur  les  autres  dans  tous  les  arts  du 
goüt.  Der  Zeichenunterricht,  welcher  Augen- 
mass,  Formensinn,  Geschmack  und  Hand- 
fertigkeit bildet,  ist  eine  Ergänzung  des 
durch  Lesen,  erhöhte  Schulbildung  und 
vermehrten  Wechsel  äusserer  Eindrücke  be- 
einträchtigten Sinnes  für  scharfe  Beobach- 
tung und  deshalb  in  deutschen  Volksschulen 
mit  Recht  vorgeschrieben.  Offene  Zeichen- 
säle mit  einem  ständig  angestellten  Zeichen- 
lehrer, der  sein  Zimmer  gewöhnlich  gleich 
neben  dem  Zeichensale  hat,  pflegen  auch 
in  den  Tagesstunden  der  Woche  zugänglich 
zu  sein,  fördern  viele,  insbesondere  erwach- 
sene Gewerbtreibende ,  im  Zeichnen,  ver- 
mitteln gute  Vorbilder  und  tragen  dazu  bei, 
die  Fühlung  zwischen  Schule  und  Gewerbe 
zu  stärken  und  zu  erweitern. 

In  Prenssen  1899  noch  nicht  vorhanden. 
Sachsen.  Offener  Zeichensaal  der  Industrie- 
schule zu  Plauen  i.  V.  1899  von  9500  Personen 
besucht.  In  B  a  y  e  r  n  namentlich  mit  den  Fach- 
abteilangen  der  gewerblichenFortbildungsschnlen 
Münchens  verbunden.  In  Württemberg 
28,  verbunden  mit  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen. Der  erste,  18öS  durch  Fabrikant 
Bruckmann  begründet,  ist  jetzt  noch  der  be- 
suchteste. Abnahme  des  Besuchs  in  kleineren 
Orten.  In  Baden  besitzen  alle  grösseren  Ge- 
werbeschulen besondere  offene  Zeichensäle  mit 
geregeltem  Zeichenunterrichte  für  Gäste.  In 
Hessen-Darmstadt  4  (Bingen,  Büdingen, 
Darmstadt,  Worms).  In  Oesterreich  sind 
offene  Zeichensäle  mit  4  Staatsgewerbeschnlen, 
mit  allen  11  Handwerkerschulen  und  vielen  ge- 
werblichen Fachschulen  verbunden.  Sie  bestehen 
seit  1878. 

B.  Oesterreich.    HandwerkerschuLen. 

16.  Die  »Oesterreichischen  Hand- 
werkerschulen« (ftir  12 — 15  jährige  Kna- 
ben), die  für  das  Gewerbe  im  allgemeinen, 
insbesondere  für  Handwerke,  vorbüden 
sollen.  (6  Staats-,  5  GemeindeanstaJten  mit 
879  Schülern,  wurden  1885—94  errichtet; 
dienen  als  Ersatz  für  die  1867  als  niedere 
gewerbliche  Schulen  aufgehobenen  Real- 
schulen und  sind  für  Orte  bestimmt,  die 
wegen  des  Fehlens  eines  besonderen  ge- 
werblichen oder  industriellen  Charakters  die 
Erriehtimg  einer  Fachschule  nicht  recht- 
fertigen würden.  Sie  sind  Vorschulen  für 
die  Meisterlehre.  Besondere  Pflege  des 
Zeichenunterrichts  und  der  praktischen  Aus- 
bildung in  Modelliersälen  und  Werkstätten 
für  Holz-  xmd  Metallbearbeitung.  In  dem 
3.  Jahrgange  der  8  dreiklassigen  Hand- 
werkerschulen wird  auf  besondere  Gewerbe 


Rücksicht  genommen.  Das  dritte  Jahr  nur  für 
die,  welche  eine  eingehendere  gewerbliche 
Vorbildung  wünschen.  Schulwerkstätten  der 
Handwerkerschulen  nur  für  solche  Schüler, 
welche  keine  Privatwerkstätte  besuchen 
können.  Mit  jeder  Handwerkerschule  steht 
eine  gewerbliche  Fortbildungsschule  und  ein 
offener  Zeichensaal  in  Verbindung. 

In  Ungarn  5  Handwerkerschulen  mit 
104  Schülern  für  die  Hausindustrie  der 
Landbevölkerung. 

C.  Gfrewerbliohe  Lehranstalten  für  das 
weibliche  Gesohlecht. 

17.  Von  weiblichen  Fortbildungsschulen 
unterscheiden  sie  sich  dadurch,  dass  sie 
nicht  bloss  allgemein  bildende  Fächer 
und  Zeichnen  sowie  gewerbliches  Rechnen, 
Buchführung  und  Geschäftsaufsätze,  sondern 
auch  Handelsfächer,  weibliche  Handarbeiten 
und  kunstgewerbliche  Arbeiten  lehren.  Die 
Bedeutung  der  Ausbildung  von  Mädchen  in 
den  Handelsfächem  liegt  weniger  in  der 
Möglichkeit,  besoldete  Stellen  bei  Fremden 
zu  übernehmen,  als  in  der  Möglichkeit, 
im  Geschäfte  der  Eltern  oder  des  Gatten 
Kontorarbeiten  zu  besorgen.  Dr.  Zehden 
erklärt  dadurch  den  Umstand,  dass  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  und  in 
Frankreich,  den  beiden  Ländern,  in  denen 
der  kleine  Mann  am  besten  gedeiht,  be- 
sonders viele  Frauen  und  Mädchen  flan- 
delsausbildung  haben.  Während  in  anderen 
Ländern,  insbesondere  in  England  und  Nord- 
amerika, die  Frauenbewegung  vornehmlich 
politische  Rechte  für  Frauen  erstrebt,  rich- 
tet sie  sich  in  Deutschland  mehr  auf  die 
Erweiterung  der  Benifs-  und  Erwerbszweige 
für  Frauen.  Je  mehr  das  berechtigte  Streben 
unversorgter  Mädchen  nach  Ausbildung  in 
geeigneten  Berufen  (feinere  Handarbeiten, 
Musikunterricht ,  Kunstgewerbe ,  Handel, 
Maschinenschrift  u.  dgl.)  erleichtert  wird, 
desto  weniger  wird  das  umiatürliche  Drängen 
von  Mädchen  nach  ungeeigneten  Berufen 
Platz  greifen.  Dem  berechtigten  und  ge- 
sunden Streben,  dienten  anfänglich  nur  ge- 
meinnützige Frauenvereine ,  allmählich 
fingen  jedoch  auch  Gemeinden  imd  Staaten 
an,  Frauenarbeitsschulen  zu  errichten  oder 
wenigstens  zu  unteretützen.  Die  ältesten 
Schulen  dieser  Art  sind  in  Deutschland  die 
1861  errichtete  Mädchenabteilung  der  ge- 
werblichen Fortbildimgsschule  in  Stuttgai-t 
und  die  1862  begründete  Riemerschmidt'sche 
Handelsschule  für  Mädchen  in  München. 
Nachdem  am  18.  Oktober  1865  in  Leipzig 
der  »Allgemeine  Deutsche  Frauenverein«  ge- 
gründet war  und  die  Frauenerwerbsfrage 
betont  hatte,  entstanden  1866  in  Berlin  der 
Lette- Verein,  in  Wien  der  Fmuenerwerbs- 
verein,  in  Breslau  der  Fraueubildungs verein, 
1867   in  Hamburg   die  Gewerbeschule   für 

38* 


596 


Gewerblicher  Uatenicht 


Mädchen,  1868  in  Reutlingen  die  Frauen- 
arbeitsscAule,  1869  in  Prag  der  Deutsche 
Frauenerwerbsverein,  in  Darmstadt  der  Alice- 
verein, 1870  und  71  in  Dresden  der  Frauen- 
bildiuigs  verein  und  der  Frauenerwerbs  verein, 
si)äter  noch  andere  ähnliche  Vereine. 

Der  im  Mai  1894  in  Paris  von  der  Union 
centrale  des  arts  decoratifs  abgehaltene  kunst- 
gewerbliche Kongress  befürwortete  die  Zu- 
lassung der  Frauen  zu  den  Kunstgewerbe- 
schulen, die  an  den  Kunstgewerbeschiden 
zu  Berlin,  München  und  Wien  schon  vorher 
galt.  In  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika, in  Norwegen,  teilweise  auch  in 
Russland  und  in  der  Schweiz  sind  die  Han- 
delsschulen beiden  Geschlechtern  gleich- 
massig  zugänglich.  Nach  Dr.  SUbermanu 
bestanden  1898  in  30  deutschen  Städten 
43  kaufmännische  Schulen  für  Frauen, 
darunter  nur  5  vor  1881  begiilndete.  8235 
im  Jahre  1893  befragte  deutsche  Ladenge- 
schäfte liatten  (nach  dem  Kaiserlichen  Statis- 
tischen Amte)  8211  männliche  mid  8634 
weibliche  Handlimgsgehilfen.  (S.  auch  den 
Art.  Frauenarbeit  und  Frauenfrage 
oben  Bd.  m,  S.  1195  ff.) 

In  Preussen  unterstützt  der  Staat  ein- 
zelne Fortbildungs-  und  Fachschulen  für 
die  weibliche  Jugend.  In  Posen  seit  1897  eine 
königliche  „Gewerbe-  und  Haushaltnngsschule 
für  Mädchen"  mit  Pensionat  (1898  220  Schüle- 
rinnen). In  Schlesien  7  Stickschnlen,  2  Hand- 
schuhnähschulen in  den  Provinzen  Sachsen  und 
Schlesien.  In  B  a  y  e  r  n  39  Frauenarbeitsschulen 
mit  3462  Schülerinnen,  5  Seminare  für  Arbeits- 
lehrerinnen mit  73  Schülerinnen.  In  Sachsen 
14  gewerbliche  Schulen  für  Frauen  und  Mädchen, 
(8  von  Privaten,  5  von  Vereinen,  1  vom  Staate 
unternommen)  mit  1800  Schülerinnen.  Staatsbei- 
hUfe  12  700  Mark,  Gemeindebeihilfe  leider  nur  4000 
Mark,  Schulgeld  86800  Mark.  In  Württem- 
berg 18  weibliche  Fortbildungsschulen  mit 
1027  Schülerinnen;  22  staatlich  unterstützte 
Frauenarbeitsschulen  mit  1561  Schülerinnen, 
darunter  19  von  Stadtgemeinden  unterhalten. 
Slaatsbeihilfe  1898,99  für  Frauenarbeitsschulen 
und  weibliche  Fortbildungsschulen  32000  Mark, 
für  höhere  Mädchenschulen  47  000  Mark.  Baden 
(1899)  25  Frauenarbeitsschulen  mit  1720  Schüle- 
rinnen und  8  Lehranstalten  des  badischen 
Frauenvereins  mit  540  Schülerinnen.  In 
Hessen:  Darmstadt  Aliceschule  (Ausbildung 
von  Handarbeits-Lehrerinnen ,  Industrieschule, 
Handelskurs)  Alicekochschnle  und  Alicebazar 
(Verkauf  weibl icher  Handarbeiten ).  InOester- 
reich  wird  die  Errichtung  von  gewerblichen 
Schulen  für  das  weibliche  Geschlecht  noch  Ver- 
einen und  einzelnen  überlassen.  27  Schulen 
wurden  18i>9  mit  27000  Gulden  unterstützt. 
28  Handelsschulen  für  Mädchen  hatten  1896 
2700  Schülerinnen.  Für  '4  derselben  genügen 
einjährige  Kurse  mit  wöchentlich  18  Stunden 
und  Beschränkung  auf  Handelsfächer.  In  Un- 
garn (1896)  16  Handelslehrkurse  für  3Iädchen 
(.092  Schülerinnen),  meist  mit  Mädchen-Bürger- 
schulen verbunden.  Ausserdem  11  Fraueng-e- 
werbeschulen   mit    677   Schülerinnen.     In    der 


Schweiz  werden  infolge  Bundesbeschlusses 
vom  20.  Dezember  1895  ausser  den  schon  früher 
unterstützten  Frauenarbeitsschulen  und  gewerb- 
lichen Töchter-Fortbildungsschulen  auch  frei- 
willige Koch-,  Haushai  tungs- ,  Dienstboten- 
Handarbeitsschulen  und  -kurse  für  Mädchen  und 
Frauen  aus  Bundesmitteln  (1898  124  Anstalten 
mit  108770  Francs)  unterstützt.  In  Belgien 
wurde  1865  von  der  „Association  pour  l'ensei^- 
nement  professionel  des  femmes"*  zu  Brüssel  die 
erste  Fachschule  für  Mädchen  errichtet  1896 
23  Schulen  mit  100300  Francs  Staats  beihilf e. 
Daneben  1896  225  Haushaltuugsschulen  und 
-kurse  mit  92100  Francs  Staatsbeihilfe. 

D.   Niedere   gewerbliche   Fachsohulen. 

18.  Fachschulen  sind  im  unterschiede 
von  gewerblichen  Fortbildungsschulen,  die 
Angehörige  verschiedener  Gewerbe  gleich- 
zeitig aufnehmen,  nur  fiir  Angehörige  eines 
einzelnen  Gewerbes  (Hängewerken,  Weber, 
Schuhmacher,  Blecharbeiter  oder  Drechsler 
etc.)  bestimmt,  verbinden  theoretischen  mit 
praktischem  Unterricht  und  bedürfen  steter 
und  engster  Fühlung  mit  Werkstatt  imd 
Fabrik.  Ihre  geeignetsten  Sitze  sind  die 
Mittelpunkte  der  Gewerbszweige,  denen  sie 
dienen.  Zur  Aufnahme  in  eine  Fachschule 
ist  in  der  Regel  erforderlich,  dass  der 
Schüler  die  Handhabung  der  Werkzeuge, 
die  einfachen  Arbeiten  semes  Gewerbes  er- 
lernt habe  und  die  wesentlichsten  Material- 
kenntnisse  besitze.  Nach  dem  Beschlüsse 
der  österreichischen  Centralkommission  für 
gewerblichen  Unterricht  vom  31.  Mai  1882 
erscheint  die  Errichtung  gewerblicher  Fach- 
schulen nur  da  rätlich,  »wo  das  Vorhanden- 
sein eines  gewerblichen  Lebens  nachgewiesen 
ist,  dessen  Umfang  so  bedeutend,  dessen 
Entwickelungsfähigkeit  so  unzweifelhaft  und 
dessen  fachlicher  Charakter  so  klar  ausge- 
sprochen ist,  dass  auch  die  besondere  Rich- 
tung deutlich  zu  Tage  liegt,  in  der  ein  Be- 
dürfnis nach  Unterricht  besteht.«  Die  zahl- 
reichsten und  ältesten  (in  Sachsen  seit  1830, 
in  Bayern  seit  1854,  in  Württemberg  seit 
1855)  sind  die  Fachschulen  für  WebereL 
Sie  haben,  wenn  die  wechselnde  Mode  bis- 
her beliebte  Webarten  fallen  liess  und  neue, 
anders  herzustellende  Gewebe  verlangte, 
wenn  die  Handstühle  unter  dem  Wettbe- 
werbe der  Kraftstühle  zu  kunstvolleren,  auf 
Kraftstühlen  nicht  herzustellenden  oder  dort 
nicht  lohnenden  Geweben  verwendet  werden 
mussten,  dem  Gewerbe  sehr  nützliche  Dienste 
geleistet.  Bekannt  ist  auch  die  Förderung 
(1er  Schweizer  Uhrenindustrie  durch  die 
dortigen  9  Uhrmachersehulen ,  welche  der 
steten  Verbesserung  der  Ulirenherstellung 
dienen.  Man  hat  wohl  den  gewerblichen 
Fachschulen  vorgeworfen,  sie  beschränkten 
den  fi-eien  Blick  der  Schüler  und  leiteten 
sie  mehr  dem  Grossbotriebe  als  dem  Klein- 
gewerbe zu.    Aus  diesen  Gründen  hat  mau 


Gewerblicher  Unterricht 


597 


z.  B.  in  Hessen-Darmstadt  statt  der  gewerb- 
lichen Tages-Fachschulen,  denen  die  Schüler 
für  1 — 3  Jahre  ganz  überwiesen  werden, 
gewerbliche  Ergänzungs-Fachschulen  em- 
pfohlen, welche  die  SchiUer  den  Einzel- 
werkstätten nicht  entziehen.  Das  ungilns- 
tige  Urteil  in  Hessen,  welchem  die  günstigen 
Erfahrungen  in  Sachsen,Württemberg,  Baden, 
Oesterreich  und  der  Schweiz  gegenüber- 
stehen, scheint  daher  zu  kommen,  dass  man 
von  den  Aufzunehmenden  dort  eine  längere 
praJitische  Bescliäftigung  in  Einzel  Werkstätten 
nicht,  dagegen  von  den  Schülern  neben  dem 
Lernen  auch  ein  Verdienen  in  der  Lehr- 
werkstatt forderte. 

Mit  Fachschulen  werden  zweckmässig 
fachliche  Versuchsanstalten  verbu n den , 
so  mit  der  deutschen  Gerberschiüo  zu 
Freiberg  i.  S.  Die  deutsche  Versuchsanstalt 
fib  Lederindustrie  in  Freiberg  wird  von 
Kriegsministerien  unterstützt  und  benutzt. 
Die  galizischen  Fachschulen  für  Thonin- 
dustrie  gediehen  erst,  nachdem  1886  an  der 
technischen  Hochschule  zu  Lemberg  eine 
keramische  Versuchsanstalt  (zur  Untersuchung 
von  Rohstoffen,  Anleitung  zu  deren  techni- 
scher Behandlung  und  Heranbildung  von 
Lehrern  und  Werkmeistern)  errichtet  worden 
wai\ 

Seit  1884  veranstaltet  das  grossherzoglich 
badische  Ministerium  des  Innern  nacjh 
dem  Wiener  Vorgänge  auch  6 — 14tägigo 
Uebungskurse  für  Handwerksmeis- 
ter in  Karlsruhe,  um  neuere  gewerbliche 
Fortschritte  zu  verbreiten;  so  für  Maler, 
Schneider,  Tapezierer,  Gerber,  Schuhmacher, 
Bijoutiers  u.  s.  w.,  neuerdings  auch  für  Sattler 
(Kummetmacher),  Elektrotechniker,  Holz-  und 
Marmormaler.  1884 — 98  55  Kurse  mit 
durchschnittlich  16  (zusammen  über  SOG)  Teil- 
nehmern. Die  Kosten  deckten  zur  grösseren 
Hälfte  die  Teilnehmer  selbst. 

In  Preussen  wird  die  Einf ühnmg  sol- 
cher Kurse  mit  Staatsunterstützung  geplant, 
in  Hannover  für  Schlosser,  Tischler,  Schuh- 
macher, Schneider,  in  Köln  für  Schulimacher 
und  in  Posen. 

In  Stuttgart  stellten  auf  der  Landes- 
Schiüausstellung  1899  17  (3—5  Monate 
dauernde)  gewerbliche  Faehkurse,  namentlich 
für  Schuhmacher,  Schneider,  TapOziei-er  und 
Flaschner,  aus.  In  Darmstadt  1899  zum 
ersten  Male  Meisterkurse  (für  Maler  und 
Schuhmacher).  In  Basel  seit  1895  Fach- 
kurse an  der  allgemeinen  Gewerbeschule  (40 
bis  151  Stunden  umfassend). 

InPreuasen  werden  unterschieden  7„  Höhere 
Webschulen**,  Kurs  IVa  Jahr  (in  Aachen,  Bar- 
men, Berlin,  Kottbas,  Krefeld,  Mülheim  a.  Rh. 
und  Sorau,  M. -Gladbach  IHiH)  im  Bau),  8 
„Webescbulen**  (Werkmeisterschulen),  Kurs  Vä 
Jahr  (in  Einbeck,  Falkenbnrg  i.  Pomin.,  Forst, 
Mühlhausen  i.  Thür. ,  Nowawes,  Ronsdorf, 
Sommerfeld  und  Spremberg)  und  20  „ Weberei- 


Lehrwerkstätten*'  (hauptsächlich  in  Schlesien  und 
Hannover).  Die  Anstalten  in  Bramsche  und 
Eupen  bilden  eine  Mittelstufe  zwischen  Weberei- 
Lehrwerkstätten  und  Webeschulen.  In  verschie- 
denen höheren  Webeschulen  und  Webeschulen 
wird  auch  in  der  Spinnerei,  Färberei,  Appretur, 
im  Must^rzeichnen,  in  der  Posamentiererei, 
Stickerei  und  Wirkerei  unterrichtet.  Schttler- 
zahl  im  Winter  1898/99  1300.  Lehrpläne  und 
Prüfungsordnung  für  die  preussischen  Webe- 
schulen seit  1.  April  1896  in  Geltunff.  — 
Keramische  Fachschulen  in  Bunzlau  und  Höhr- 
Grenzhausen,  eine  Zieglerschnle  in  Lauban, 
Korbflechtschulen  im  Taunus,  Schlesien  und 
Ostpreussen,  eine  Seedampfschiff-Maschinisten- 
schule in  Flensburg  und  demnächst  in  Stettin, 
20  Scbifferschulen  für  Binnenschiffahrt  (seit  1887) 
und  20  Navigationsschulen  für  Seeschiffahrt. 
In  Bayern  44  Fachschulen  (3  Webschulen, 
6  Holzschnitzschnlen,  7  Hufbeschlagschulen,  1 
Geigenbauschule,  1  Töpferschule,  1  Steinhauer- 
schule, 1  Korbflechtschnle,  14  Musikschulen, 
Fachschulen  von  Innungen  und  Vereinen  für 
Maler  und  Lackierer,  Bader  und  Friseure, 
Schuhmacher,  Schneider,  Bildhauer,  Glaser  etc.). 
Sachsen:  il  Fachschulen  für  Weberei,  Wir- 
kerei und  Posameutiere  mit  253  Hand-  und  119 
Kraftstühlen,  172  Wirkstübleu,  32  Posamentier- 
handstühlen  etc.  und  2201  Schülern.  Unter  den 
Webschulen  sindö,  unter  den  Wirkschulen  ITages- 
schule.  Die  anderen  erteilen  nur  Abendunter- 
richt. 7  Elbschifferschulen,  seit  1855  vom  Staate 
unterhalten,  28  Klöppel-,  1  Stick-,  4  Strohflecht- 
schulen, 3  Bergschulen  und  18,J0  39.  1899  80 
andere  Fachschulen,  meist  von  Innungen  oder 
Vereinen  unterhalten.  Dass  Sachsens  Fach- 
schulen auch  auswärts  Vertrauen  gemessen, 
zeigt  sich   darin,   dass   mehrere  derselben  von 

grossen  deutschen  Verbänden  (Uhrmacher, 
•rechsler  und  Bildschnitzer,  Blecharbeiter, 
Müller,  Gerber)  unterhalten  werden.  —  Würt- 
temberg: 6  Webschulen.  (Besonders  bedeut- 
sam Reutlingen,  1855  begründet:  I.  für  künf- 
tige Fabrikanten,  Kaufleute,  Musterzeichner 
und  Webmeister;  II.  für  künftige  Werkführer 
und  Fabrikaufseher;  III.  für  mechanische 
Weberei ;  IV.  Wirkschule,  seit  189 1 :  V.  für  Spinne- 
rei.) In  Schwenningen  Fachschule  für  Fein- 
mechanik, auch  Uhrraacherei  und  Elektromecha- 
nik,  1900  errichtet.  In  Württemberg  sind  mehr 
die  gewerblichen  Fortbildungsschulen  entwickelt. 

—  Baden  (1899):  1  Uhrmacherschule  (Furt- 
wangen), 1  Schnitzerei-  und  Schreinerschule.  4 
Musik-,  6  Stroh-  und  Korbflecht-,  5  Huf- 
beschlagschulen. —  Hessen  -  Darmstadt: 
Grossherzogliche  Fachschule  für  Elfenbein- 
schnitzerei und  verwandte  Gewerbe  in  Erbach 
i.  0.  Grossherzogliche  Webschule  in  Lauter- 
bach. —  Sachsen-Weimar:  Seit  1894  Fach- 
schule für  Glasinst rumentenmacher  und  Fein- 
mechaniker Ilmenau,  seit  1890  Wirkerlehrlings- 
schule Apolda,  Schnitzschule  Empfertshausen 
(RhöBgebirge).  —  Mecklenburg  -  Strelitz: 
1  HufDeschlagschule.  —  Oldenburg:  (Staats-) 
Navigationsschule  zu  Elsflöth.  —  Braun- 
schweig: 9  Fachschulen,  darunter  Schule  für 
Zuckerindustrie  in  Braunschweig  seit  1872.  — 
Sachsen-Meiniugen:  Industrieschule Sonue- 
berg   für    die    Spiel warenindustrie   (seit   1883). 

—  Sachsen- Coburg:  Industrieschule  Neu- 
stadt bei  Coburg,  vor  1850  begründet,  für  die 


598 


Gewerblicher  Unterricht 


Spiel warenindnstrie.  —  Anhalt:  Berg-  und 
Hüttenschale  Silberhütte,  2  Schiiferschmen.  — 
Schwarzbur&f  -  Rudols tadt:  1  Schuh- 
macherfachschme.  —  Reussä.  L.:  1  Webschule 
in  Greiz.  —  Reuss  j.  L.:  1  Webschule  in 
Gera.  —  Lübeck:  Navigationsschule.  —  Ham- 
burg: Schiflfbauschule ,  Wageubauschule.  — 
Elsass  -  Lothringen:  Cheroieschule  Mül- 
hausen,  Spinn-  und  Webschule  Mülhausen,  2 
Bergbauvorschulen.  —  Oesterreich:  gross 
angelegter  und  sorgfältig  durchgeführter  Plan, 
aber  (s.  oben  sub  7  b)  bei  allzu  geringer  Inan- 
spruchnahme der  Nächstbeteiligten.  142  Fach- 
schulen, darunter  96  staatliche  (1898/99  mit 
3663  ordentlichen  Tagesschülem,  427  Hospitan- 
ten der  Tagesschule,  3237  Fortbildungsschülern 
und  2092  sonstigen  Besuchern,  zusammen  9419 
Besuchern)  und  46  staatlich  unterstützte. 
80  ^/o  aller  österreichischen  Fachschulen  liegen 
im  Bezirke  der  Handels-  und  Gewerbekammer 
Reichenberg  i.  B.  Von  den  142  Fachschulen 
dienen  40  der  Weberei  und  Wirkerei,  32  der 
Holz-  und  Steinbearbeitung,  20  der  Spitzen-  und 
Stickarbeit,  20  dem  Korbflechten,  10  der  Me- 
tallbearbeitung, 9  der  Thon-  und  Glasindustrie, 
4  der  Musikinstrumenten-Fabrikation ,  3  der 
Schuhmacherei ,  4  anderen  Gewerben.  Alle 
pflegen  das  Zeichnen  und  die  gewerblichen 
Fertigkeiten.  Unterrichtsdauer  meist  3  Jahre. 
Mit  dem  technologischen  Gewerbemuseum  in 
Wien  (staatlich  unterstütztes  Unternehmen  des 
niederösterreichischen  Gewerbevereins)  sind  Fach- 
schulen mit  vollem  Tagesunterricht  und  Sonder- 
kurse mit  Abend-  und  Sonntagsunterricht  (für 
Holzindustrie,  chemische  Gewerbe, Metallindustrie 
und  Elektrotechnik)  verbunden  (957  Besucher). 
Lehr-  und  Versuchsanstalt  für  Lederindustrie 
Wien,  9  Schüler,  Fachschule  für  Kunststickerei 
Wien  56,  Oencralspitzenkurs  Wien  16  Schüle- 
rinnen. Gemeinsamer  Lehrplan  tür  die  öster- 
reichischen Webschulen  seit  1889.  —  In 
Ungarn  16  gewerbliche  Fachschulen,  fast 
nur  aus  Staatsmitteln  erhalten ,  meist 
4  jähriger  Lehrgang,  789  Schüler.  Am 
technologischen  (iewerbemuseum  zu  Budapest 
fachliche  Lehrkurse  (682  Besucher).  —  Schweiz 
aa^ö)  9  Uhrmacher-,  2  Web-,  3  Mechaniker-, 
1  Schnitz-,  1  Eisenbahnschule,  7  Lehrwerk- 
stätten. —  Belgien  1884  nur  1,  18^)6  12  Fach- 
schulen für  Knaben.  1884  45,  1896  53  Lehr- 
werkstätten, insbesondere  für  Textilindustrie 
und  Steinbearbeitung.  —  In  Massachusetts, 
dem  grössten  Textilindustriestaate  von  Nord- 
amerika, wurden  erst  18%  nach  dem  Muster 
der  englischen  Webschulen  von  Blackbum  und 
Leeds  4  Webschulen  mit  3  jährigem  Kurse  ein- 
gerichtet. 

19.  Lehrwerkstätten.  Lehrwerkstätten 
sind  mit  vielen  gewerblichen  Fachschulen 
(namentlich  mit  Webschnlen)  verbunden 
oder  auch  selbständig  errichtet.  Sie  schliessen 
sich  an  die  frühere  Werkstattlehre  an, 
suchen  dieselbe  al)er  vielseitiger  und  plan- 
mässiger  zn  gestalten.  Warm  empfohlen, 
z.  B.  von  BfScher  und  Scheven.  wenlen  sie 
von  anderen,  z.  B.  von  Steinbens,  als  Stätten 
der  Ausbildung  von  Dilettanten  und  öko- 
nomisch gefährlich  verworfen.  Wander- 
stipendien, sagt  man,  würden  sie  besser  und 


billiger  ersetzen.  Nur  die  Lehrwerkstätten 
der  Weberei  und  Wirkerei  werden  aUgemein 
als  nützlich  anerkannt.  Schlecht  bezalilte 
Lehrmeister  werden  die  weniger  lehrreiche 
Herstellung  einträglicher  (jegenstände  mehr 
pflegen  als  die  lehrreichere,  aber  weniger 
einträgliche  Herstellung  vielseitiger  Arbeiten. 
Damit  ruft  man  Klagen  der  Lehrlinge  über 
einseitige  Ausbildung  und  der  Gewerbe- 
treibenden über  ungerechtfertigten  Wett- 
bewerb der  Lehrwerkstätten  (Gehalt  des 
Lehrmeisters,  freie  Räume,  unbezahlte  Ar- 
beitskräfte, zu  niedrige  Verkaufspreise)  wach. 
Es  erscheint  zweckmässig,  die  Verwertung, 
der  Arbeiten  der  Lehrwerkstätten  nicht  als 

« 

ein  wesentliches  Mittel  zur  Deckung  der 
Kosten  zu  behandeln.  Auch  ist  die  Gefahr 
zu  berücksichtigen,  dass  in  Lehrwerkstätten 
Zeit  und  Rohstoffe  nicht  sparsam  verwendet, 
die  Lehrlinge  also  nicht  haushälterisch  er- 
zogen werden.  Mit  der  technischen  Leitimg 
muss  daher  die  kaufmännische  Hand  in 
Hand  gehen.  Lehrwerkstätten  finden  sich 
insbesondere  bei  Staatseisenbahnen.  In 
Oesterreich  sind  Lehrwerkstätten  in  Verbin- 
dung mit  gewerblichen  Schiden  besonders 
zahlreich.  In  Bayern  Lehrwerkschiden 
in  neuester  Zeit  auch  bei  mechanischen 
Fachschulen. 

In  Baden  seit  1889  nicht  staatlich  betrie- 
bene, aber  staatlich  unterstützte  Lehrlings- 
werkstätten. Tüchtige  Handwerksmeister  neh- 
men Lehriinge  in  bestimmter  Zahl  in  Wohnung 
und  Kost  und  erhalten  gegen  Uebernahme  von 
Verpflichtungen  und  Kontrolle  durch  Gewerbe- 
verein und  einen  Beamten  der  Laudeogewerbe- 
halle  eine  Staatsbeihilfe  fdurchschuittlich  232 
Mark  für  einen  Lehriing)  1889  5000,  1896 
12000  Mark  Beihüfen.  Ende  1896  104  Lehr- 
lingswerkstätten  mit  128  Lehrlingen  in  28  Orten. 
Diese  Lehrlinge  haben  die  jährlichen  Ausstel- 
lungen von  Lehrlingsarbeiten  mit  staatlicher 
Preis verteüung  (1896  von  1006  Lehrlingen  920 
prämiiert)  zu  beschicken. 

20.  Baugewerkschulen.  Die  grosse  Zalil 
der  Bauhandwerker  (im Deutschen  Bleiche  1895 
427  000  Maim^r  und  164000  Zimmerer,  s.  d. 
Art.  Baugewerbe  oben  Bd.  II,  S.  483) recht- 
fertigt besondei-e  Fachschulen  für  sie.  Diese 
Fachschulen  haben  aber  nicht  Architekten 
oder  Ingenieui-e  niederer  Oixinung,  sondern 
Bauhanil  werker  auszubilden.  Die  ersten  Bau- 
gewerkschulen in  Paris  1740,  in  München 
1823,  in  Holzmiuden  (Braun schweig)  als 
Privatanstalt  1830,  in  Sachsen  1837  als 
Staatsanstalten  errichtet.  Unterricht  bei  den 
sächsischen  Baugewerkschulen  nur  im  Winter 
(4  Halbjalire);  bei  anderen  trotz  ermässig- 
ten  Sommei-schulgeldes  im  Sommer  sehr 
schwacher  Besuch.  (In  Preus.sen  im  Sommer 
1S93  772,  Winter  1893.94  2737  Schüler.) 
In  Sachsen  Beschränkung  der  Schulen  auf 
das  Mainer-  und  Zimmererge werbe,  ander- 
wärts viel  fach  Verbindung  mit  der  Maschinen- 


Gewerblicher  Untenicht 


599 


technik.  Halbjährliches  Schulgeld  in  Sach- 
sen 30  Mark  (deckt  nur  8— 14^/0  der  Ge- 
samtausgaben), in  Baden  30  Mark,  ander- 
M'ärts  vielfach  wegen  zu  geringer  Staats- 
unterstützung 100  und  120  Mark.  Mit  vielen 
Baugewerkenschulen  sind  in  neuester  Zeit 
auch  Tief bauabteilungen  (für  Elemente 
des  Erdbaues,  Wasser-,  Wege-,  Eisenbahn-, 
Brücken  baues,derKanalisation  und  des  Wasser- 
leitungsbaues) verbunden  worden.  Ein  grosser 
Uebelstand  der  meisten  deutschen  Bauge- 
werkschulen ist  es,  dass  sie  einer  Gnmd- 
bedingimg  erfolgreichen  Unterrichts,  einer 
gleichmässig  vorgebildeten  Schülerschaft 
entbehren  und  mittlere  Bautechniker  mit 
niederen  (Offiziere  und  Unteroffiziere)  zu- 
sammen ausbilden.  Trennung  bautechnischer 
Mittelschulen  und  Werkmeisterachulen  nach 
österreichischem  Vorbilde  (s.  unten)  ist  zu 
empfehlen.  Zu  wtlnschen  ist  auch,  dass 
die  Schüler  vor  ihrer  Aufnahme  in  die 
Schule  mindestens  2  Bausommer  praktisch 
auf  einer  Baustelle  thätig  gewesen  seien. 

In  Preussen  1890  nur  9  Bange  werk- 
schulen mit  1825  Schülern,  (1893  2050  wegen 
Platzmangels  abgewiesen),  1899  18  mit  3800 
Schülern.  Die  zu  Berlin,  Köln  und  Magdeburg 
sind  städtisch,  die  zu  Breslau,  Buxtehude. 
D.-Krone,  Eckernförde,  Frankfurt  a.  0.,  Görlitz, 
Höxter,  Idstein,  Cassel,  Kattowitz,  Königsberg 
i.  Pr.  (mit  Wiesenbauschule),  Münster  i.  W., 
Nienburg,  Posen  tind  Stettin  (z.  Teil  erst  neuer- 
dings) ^taatsanstalten.  Die  Eröffnung  wei- 
terer preussischer  Baugewerkschulen  steht 
bevor.  In  Preussens  Baugewerkschulen  wurde 
1896  von  den  Aufzunehmenden  nur  einen  Bau- 
soramer  dauernde  praktische  Arbeit  gefordert. 
—  Bayern:  7  Baußfewerkschulen  (3  königlich, 
4  städtisch,  mit  4  Winterkursen)  mit  über  2000 
Schülern.  Staatlich  geleitete  Abschlussprüfung 
nach  einheitlicher  Prüfungsordnung.  Mit  den 
Schulen  zu  München  ist  eine  mechanische,  mit 
der  zu  Kaiserslautern  eine  kunstgewerbliche 
Abteilung  verbunden.  —  Sachsen:  1899  5 
königliche  Baugewerkschulen  mit  1874  331, 
1899  791  Schülern.  Tiefbauschule  Zittau,  1898 
errichtet,  mit  Unterricht  im  Winter  und  Sommer. 
Unter  160  Lehrstunden  der  4  Kurse  74  zeich- 
nerische. Jährliche  Kosten  von  4  Schulen 
153  000  Mark.  Ausserdem  Istädtische  und  2  private 
Bauschulen.  —  Württemberg:  Königliche 
Baugewerkschule  in  Stuttgart  (seit  1845)  mit 
737  Schülern  im  Winter  1897/98  und  635  imSommer 
1898  (auch  für  Geometer,  landwirtschaftliche 
Techniker  und  Maschinentechniker).  —  Baden: 
Karlsruhe  470  Schüler,  mit  Abteilungen  für  Ma- 
schinen-, Hochbau-,  Tiefbau-,  Bahnbautechniker, 
staatliche  Werkmeister  und  Gewerbelehrer. 
Abteilung  für  Elektrotechniker  18J)9  vorbereitet. 
Hier  auch  praktische  Uebungen-  in  Lehrwerk- 
stätten für  Maurer  und  Zimmerer,  deren  Wert 
angezweifelt  wird.  —  Hessen  -  Darmstadt: 
Darmstadt  seit  1876  Sommer-  und  Winterunter- 
richt 1899  126  Schüler.  —  Sachsen -Wei- 
mar: Staatliche  Baugewerkschule  Weimar  (be- 
f rundet  18ö9),  nur  Winterunterricht,  106 
chüler.  (Private)  Bauschule  Stadt-Sulza.  — 
Mecklenburg-Schwerin:   Städtische  Bau- 


gewerk-  und  Bahnmeisterschulen  zu  Neustadt 
und  Stemberg.  —  Mecklenburg-Strelitz: 
Baugewerkschule  Strelitz.  —  Oldemburg: 
Baugewerk-  und  Maschinenbauschule  Varel 
(Privatanstalt,  vom  Staate  unterstützt).  — 
Braunschweig:  Bange  werkschule  Holzmin- 
den 1830,  erst  Privat-,  jetzt  Gemeindeanstalt, 
Sommer  187,  Winter  949  Schüler.  —  Sachsen- 
Coburg-Gotha:  Bange werkschule  zu  Co- 
burg (begründet  1852),  nur  Winterunterricht, 
106  Schüler  (auch  Tiefbauunterricht)  und  Gotha, 
Sommer  1898  13,  Winter  1898.99  116  Schüler, 
verbunden  mit  einer,  im  Sommer  auch  stärker  be- 
suchten, Handwerkerschnle.  —  Anhalt:  Bau- 
schule (Privatschule)  Zerbst,  Winter  1898/99 
183  Schüler  (auch  für  Wasser-,  Tiefbautechniker, 
Steinmetzen,  Bautischler  und  Ziegeleitechniker), 
darunter  126  Preussen,  Sommer  1898  36  Schüler. 

—  Schwarzburg  -  Sondershausen:  Bau- 
technische Fachschule  Arnstadt  (Privatanstalt), 
Sommer-  und  Winterunterricht  (auch  für  Eisen- 
bahntechniker, Bahnmeister,  Strassen-  und  Tief- 
bau). --  Reuss  j.  L. :  Baugewerkschule  Gera 
(Privatanstalt),  Wioter-  und  Sommerunterricht. 

—  Lübeck:  Staatliche  Baugewerkschule  Lü- 
beck. —  Hamburg:  Staatliche  Baugewerk- 
schule seit  1865.  Sommer  1898  45,  Winter 
1898/99  256  Schüler.  —  In  Oesterreich 
1898/99  baugewerbliche  Abteilungen  an  7 
höheren  Gewerbeschulen  mit  607  Schülern, 
an  12  Werkmeisterschulen  mit  1854  (zusammen 
2461)  Schülern.  Das  oben  sub  6  erwähnte  öster- 
reichische G.  V.  26.  Dezember  1893  steigerte 
den  Besuch  der  österreichischen  Bauschulen 
sehr,  veranlasste  Neugründung  solcher  und 
förderte  das  Bauwesen. 

21.  Werkmeisterschulen.  Die  meisten 
gewerblichen  Fortbildung-sschulen ,  welche 
nur  Sonntags-  und  Abendunterricht  erteilen, 
(wöchentlich  höchstens  10 — 16  Stunden) 
können  Werkmeister  des  Maschinenbaues, 
der  Spinnerei,  Weberei,  des  Brunnenbaues 
etc.  nicht  ausbilden,  weil  sie  jahrelangen 
Besuch  erfordern  würden  und  facliliche 
Ausbildung  nicht  bieten  könnten.  Die  säch- 
sische Regierung  errichtete  daher  1855  eine 
Werkmeisterschule,  die  ei*ste  ihrer  Art  und 
ihres  Namens,  für  die  strebsamsten  Mit- 
glieder des  Handwerker-  und  Arbeitei*8tan- 
des.  Aufnahme-Erfordernis:  Alter  von  min- 
destens 16  Jahren  und  2  jährige  Berufs- 
übung. Unterrichtsdauer  1^/2  Jahre;  wöchent- 
lich 35 — 40  Stunden.  Die  Werkmeister- 
schulen sollen  grundsätzlich  nicht  mehr 
lehren,  als  Werkmeister  wirklich  brauchen, 
damit  die  Schüler  ihre  Befähigung  nicht 
überschätzen  und  sich  nicht  von  Werkstätten 
und  Fabriken  ab  und  den  Zeichenbureaus 
zuwenden.  Sie  sind  industrielle  ünteroffiziers- 
schulen. 

In  Preussen  (niedere)  Maschinenbauschu- 
len zur  Ausbildung  von  unteren  Betriebsbe- 
amten (Werkmeistern,  ^laschinenmeistem  u.  s.  w.) 
in  Altona,  Cöln,  Dortmund,  Elberfeld-Barmen, 
Duisburg,  Gleiwitz,  Görlitz,  Hannover  und 
Magdeburg.  In  Duisburg  und  Gleiwitz  be- 
sondere Abteilungen  (Hütt^nschnlen)   zur  Aus- 


J 


600 


Gewerblicher  Untemcht 


bildnng  von  niederen  Beamten  für  den  Hütten- 
betrieb. Fachschulen  für  die  bergische  Klein- 
eisen-  und  Stahl warenindnstrie  in  Remscheid 
und  für  Metall-(Bronze-)lndustrie  in  Iserlohn 

—  In  Bayern  4  Werkmeisterschulen,  mecha- 
nische Fachschulen  genannt,  eine  fünfte  geplant. 

—  Sachsen:  Königliche  Werkmeisterschule  zu 
Chemnitz  211  Schüler,  mit  Abteilungen  für  me- 
chanische Technik,  Seifensieder,  Färber  und 
Elektrotechniker  (hat  seit  ihrer  Errichtung 
etwa  4700  Schüler  aufgenommen).  Mittweida 
Privatanstalt  204  Schüler.  Leipzig,  seit  1896 
Werkmeisterabteilung  an  der  städtischen  Ge- 
werbeschule, 59  Schüler.  —  Baden:  siehe  ßau- 
gewerkschule.  In  Mannheim  seit  1897  Ge- 
meindeschule für  Werkführer  und  Monteure.  — 
In  Dessau  Gasmeisterschule,  von  der  deutschen 
Eontinental-Gasgesellschaft  1898  im  Anschlüsse 
an    die    dortige    Handwerkerschule    errichtet. 

—  Oesterreich:  Mit  16 Staatsgewerbeschulen 
sind  Werkmeisterschulen  verbunden.  2  weitere 
werden  1900  eröffnet,  1898/99  3130  Schüler, 
davon  in  den  12  Abteilungen  für  Baugewerbe 
1854,  in  8  Abteilungen  für  mechanische  Technik 
Ö4Ö,  in  2  Abteilungen  für  chemische  Technik  48, 
in  6  Abteilungen  für  Kunstgewerbe  330,  in 
2  Handelsabteilungen  308,  in  1  Abteilung  für 
Elektrotechnik  45  Schüler. 

E.  Gewerbliche  Mittelschulen. 

22.  Das  Studium  aa  einer  technischen 
Hochschule  setzt  Ablegung  der  Reifeprüfung 
eines  Realgymnasiums  oder  Gymnasiums 
voraus  und  kann  erst  im  Alter  von  etwa 

24  Jahi^n  beendigt  werden.  Die  dort  ge- 
botene höchste  technische  Ausbildung  über- 
schreitot für  viele  Industrielle  das  vorhan- 
dene Bedürfnis,  lässt  die  rechte  Zeit  zur 
Erlangung  der  nötigen  praktischen  Geschick- 
liclikeit  leicht  versäumen,  erfordert  viel  Zeit 
und  Geld  imd  setzt  die  jungen  Besucher 
den  Gefahren  der  >akadeimschen  Freiheit« 
aus.  Deshalb  sind  gewerbliche  Mittelschulen, 
welche  mehr  als  die  niederen  gewerblichen 
Schulen  und  weniger  als  die  technischen 
Hochschulen  beanspruchen  und  bieten  und 
straffe  Zucht  üben,  ein  Bedürfnis  des  Ge- 
werbes und  der  Industrie.  Dem  abgestuften 
gewerblichen  Bildimgsbedürfnisse  müssen 
auch  abgestufte  gewerbliche  Bildung-sanstalten 
entsprechen.  E.  Engel  berechnet  den  Kosten- 
w^ert  eines  Gewerbetreibenden  mit  niederer 
Bildung  nach  15  Lebensjahren  auf  3700  Mark, 
mit  mittlerer  Bildung  nach  20  Jaliren  auf 
12100   Mark,    mit  Hoclischulbildung   nach 

25  Jaliren  auf  27  500  Mark.  Das  Fehlen  von 
Gelegenheiten  zur  Erlangiuig  einer  mittleren 
gewerblichen  Bildung  muss  mithin  sehr 
nachteilig  wirken,  indem  es  die  auf  solche 
Bildung  Angewiesenen  entweder  auf  höhere 
Bildung  verzichten  oder  in  niedere  gew^erb- 
licho  Schulen  oder  in  technische  Hochschulen 
eintreten  lässt.  Niedere  gewerbliche  Schulen 
wenlen  durch  solche  Schüler  leicht  dazu 
veranlasst,  ihr  Lehrziel  zu  übei-schieiten, 
technische  Hochschulen  dazu,  hinter  ilirem 


Lelirziele  zurückzubleiben.  Die  gew^erblichen 
Mittelschiden  sind  ein  Mittel,  um  die  niederen 
gewerblichen  Schulen  von  anspruchsvollen 
Schülern,  die  technischen  Hochschulen  von 
ungenügend  vorgebildeten  Studierenden  und 
die  Volkswirtschaft  von  dem  gelehrten  Tech- 
nikerproletariat einigermassen  frei  zu  halten. 
Während  von  Hochschul-Ingenieuren  vielfach 
Ueberangebot  vorhanden  ist,  fehlen  der  In- 
dustrie oft  Kräfte,  wie  sie  die  gewerblichen 
Mittelschulen  liefern  (Maschinenkonstruk- 
teim3,  Ingenieure,  Chemiker,  Leiter  kleinerer 
Fabriken  und  Privatbautechniker  in  mittleren 
Lebensstellungen).  1898  waren  (nach  Direk- 
tor Peters,  vom  Vereine  deutscher  Ingenieure) 
bei  105  der  angesehensten  deutschen  In- 
dustriefirmen 3281  Ingenieure  angestellt, 
von  denen  nur  1124  (34  ^/o)  eine  technische 
Hochschule,  dagegen  ^157  (66  ^/o)  technische 
Mittelschiden  besucht  hatten.  Gegenüber 
England  und  Nordamerika  ist  die  Ausbildung 
vieler  unserer  jungen  Ingenieure  an  Hoch- 
schulen zu  langwierig  und  teuer. 

Auffallenderweise  ist  bisweilen,  z.  B.  1882 
vom  Central  verbände  deutscher  Industrieller, 
beliauptet  worden,  gewerbliche  Mittelschiden 
seien  kein  wirtschaftliches  Bedürfnis.  R. 
Baumeister  stimmt  dem  bei,  »umsomehi*,  da 
die  technischen  Hochschulen  in  ihren  zurück- 
gebliebenen Zöglingen  schon  genug  Techniker 
zweiten  Ranges  lieferten«.  Aber  ungeeignete 
industrielle  Stabsoffiziere  sind  deshalb  noch 
keine  geeigneten  Subalternoffiziere,  unge- 
eignete Lehrer  höherer  Schulen  noch  keine 
geeigneten  Volksschullehrer.  Dem  Irrtimie, 
dass  die  gewerblichen  Mittelschulen  »eine 
überflüssige  Konkiuu-enz  der  technischen 
Hochschiüen«  seien,  während  sie  von  diesen 
doch  nur  die  Besucher  an  sich  ziehen,  die 
in  die  Hochschiden  weder  verlangen  noch 
gehören,  hatte  das  österreiclüsche  Unter- 
richtsministerium schon  1880  entgegenzu- 
treten. 

Der  jetzt  etwa  14000  Mitglieder  um- 
fassende »Verein  deutscher  Ingenieure«  er- 
kläi'te  1889  gewerbliche  Mittelschulen  für 
ein  vom  Staate  zu  befriedigendes  Bedürfnis. 
Die  Industrieen,  füi*  welche  sie  vorbilden, 
sind  über  das  ganze  Ijand  verbreitet.  Sollen 
die  gewerblichen  Mittelschulen  gedeihen,  so 
müssen  sie  selbständige  Anstalten,  nicht 
Anhängsel  allgemein  bildender  Anstalten 
sein.  Uuterlässt  der  Staat,  gewerbliche 
Mittelschulen  zu  errichten,  so  werden  solche 
selbst  von  grossen  Städten  selten  errichtet 
werden.  In  der  Hauptsache  werden  dann 
Privatanstalten  »mit  glänzenden  Programmen 
und  unerfüllbaren  Versprechungen,  mit 
geringen  Aufnalmie-Anfordenmgen,  täglichem 
Eintritt,  mit  studentischem  Anstrich,  über- 
füllten Klassen,  schlecht  besoldeten,  häufig 
wechselnden,  nicht  selten  auf  Tantieme  ge- 
stellten,    überanstrengten     Lehrern,     und 


Gewerblicher  Unterricht 


601 


grossen  Abgangsdiplomen«  entstehen,  bei 
denen  der  Geldertrag  massgebend  ist.  Der 
»Deutsche  Techniker-Verband«,  dessen  8000 
Mitglieder  ihre  Ausbildung  fast  ausschliess- 
lich auf  tec^hnischen  Mittelschulen  erhielten, 
und  der  nach  Zusammensetzung  und 
Leistungen  wohl  als  eine  Vertretung  des 
mittleren  Technikerstandes  gelten  kann,  er- 
klärte 1899  deutschen  Eegieningen,  »die 
allmälüiche  Beseitigung  der  technischen 
P  r  i  V  a  t  schulen  und  die  Errichtung  einer 
ausreichenden  Anzahl  staatlicher  tech- 
nischer Mittelschulen  sei  anzustreben.«  Da 
Schülerzahlen  von  700  und  1400,  wie  solche 
PriViitschulen  sie  aufweisen,  starken  Anreiz 
ausüben,  so  findet  neuerdings  ein  Wettbe- 
werb kleiner  Städte  um  Erlangung  solcher 
Privatanstalten  statt.  Viele  Einwohner 
haben  als  Quartiergeber  Gewinn.  Die  Stadt 
gewährt  meist  eine  Unterstützung  (freie 
Cnterrichtsräume ,  Barzuschüsse)  an  den 
Unternehmer,  erhält  aber  bei  Erreichung 
einer  Mindestzahl  von  Schülern  für  jeden 
Schüler  eine  Abgabe  vom  Unternehmer. 
Das  gewerbliche  Unteiiichtswesen  gerät 
aber  auf  Abwege,  wenn  es  auf  Erlangung 
möglichst  hoher  Ueberschüsse  hinzielt. 

Die  älteste  gewerbliche  Mittelschule  in 
Deutschland  ist  die  1836  errichtete  k.  säch- 
sische höhere  Gewerbeschule  zu  Chem- 
nitz, welche  schon  54(X)  Schüler  aufgenom- 
men hat  und  für  andere  Schulen  gleicher  Art, 
insbesondere  auch  füi*  die  blühenden  öster- 
reichischen Staatsgewerbeschulen  als  Vor- 
bild diente.  Die  Eintretenden  haben  meist 
schon  die  Einjahrig-Freiwilligen-Berechtigung 
(dies  ist  weniger  aus  didaktischen  als  aus 
sozialen  Rücksichten  wünschenswert),  xiele 
auch  praktische  Arbeit  hinter  sich.  Die 
Unterrichtsdauer  beträgt  in  Chemnitz  für 
die  mechanisch-technische  imd  die  chemisch- 
technische Abteilung  je  7,  für  die  Bauab- 
teilung (seit  1878)  7,  für  die  elektrotechnische 
Abteilung  (seit  1892)  8  Halbjahre.  Ein  viel- 
beklagter üebelstand  ist  der  Mangel  an  ge- 
werblichen Mittelschulen  in  Preussen. 
Dieser  Mangel  ist  zwai*  etwas  vermindert. 
Man  erkennt  das  u.  a.  daraus,  dass  die  Zahl 
der  nicht  hochschulmässig  vorgebildeten, 
das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums  oder 
Realgymnasiums  nicht  besitzenden,  ausser- 
ordentlichen Studierenden  an  den  3  tech- 
nischen Hochschulen  Preussen s  von  29®/o 
(1890.91)  auf  210/0  (1898/99)  sank.  Da- 
gegen betrugen  die  ausserordentlichen 
Studierenden  1898/99  an  den  technischen 
Hochschulen  Sachsens  und  Süddeutschlands 
nur  12%,  an  denen  OesteiTcichs,  wo  das 
gewerbliche  Mittelschulwesen  besonders 
ausgebildet  ist,  nur  7  %  aller  Studierenden. 
An  den  4  technischen  Hochschulen  Preussens 
und  Braunschweigs  war  1898; 99  die  Zahl 
der  ausserordentlichen  Studierenden  in  den 


Abteilungen  für  Architektur  39*^/0,  für  all- 
gemeine AVissenschaften  33  %,  fürMaschinen- 
und  Elektro-Ingenieure  22%,  für  Chemie 
und  Hüttenkunde  17%,  für  Schiff-  und 
Schiffsraaschinenbau  13%,  für  Bauingenieiu^ 
8  %.  Hiernach  sind  mittlere,  zwischen  Bau- 
gewerken-  und  technischen  Hochschulen 
stehende  Bauschulen  für  Norddeutschland 
ein  besonderes  Bedürfnis ;  aber  auch  Mittel- 
schulen für  mechanische  und  chemische 
Technik  fehlen  noch  sehr. 

Die  technischen  Hochschulen  werden 
durch  eine  grössere  Zahl  solcher  ausser- 
ordentlichen Studierenden  veranlasst,  auch  die 
Aufgaben  gewerblicher  Mittelschulen  zu  er- 
füllen, wozu  sie  sich  ohne  Preisgebung  ihrer. 
Hochschuleigenschaft  nicht  eignen.  Daneben 
zeigte  sich,  dass  bisher  zahlreiche  Preussen 
in  fremden  gewerblichen  Mittelschiden  eine 
Bildung  suchten,  die  ihnen  das  eigene  Land 
nicht  in  genügender  Weise  gewährte.  So 
waren  1890.91  in  Chemnitz  und  Mittweida 
193  und-  591  Preussen  neben  670  und  106 
Sachsen,  am  Technikum  Hildburghausen  247 
Preussen  neben  143  Thüringern,  1888  am 
Technikum  in  Buxtehude  445  Preussen 
neben  116  anderen  Schülern. 

In    Preussen    gab    es    1888   noch   keine 
staÄtlichen  Maschinenbauschulen,  1898  dagegen 

5  höhere  Maschinenbauschulen  zur  AusbUdung 
von  mittleren  Technikern  in  Breslau,  Cöln, 
Dortmund,  Elberfeld  -  Barmen  und  Ha^en 
mit  1400  Schülern.  Ausserdem  an  der  Aache- 
ner Oberrealschnle  2  Jahres-Fachklasseu  zur 
Ausbildung  von  mittleren  Technikern.  Errich- 
tung weiterer  Maschinenbauschulen  1899  in 
naher  Aussicht.  Verhandlungen  über  die  Or- 
ganisation der  preussischen  Maschinenbanschulen 
(im  Handelsnunisterium)  vom  Mai  1898.  — 
Bayern:  Seit  lb68  4  Industrieschulen  in  Mün- 
chen, Nürnberg,  Augsburg  tuid  Kaiserslautern 
mit  700  Schülern.    Sie  schliessen  sich  an  die 

6  klassige  Realschule  an,  waren  bisher  2  kursig 
und  werden  mit  einem  wesentlich  auf  Laboratori- 
ums- und  Werkstättenbetrieb  benihenden  3.  Kurse 
ausgestattet.  Die  Schulen  enthalten  mechani- 
sche, Hoch-  und  Tiefbau-,  und  chemische  Ab- 
teilungen. Besondere  Pflege  der  Elektrotechnik. 
Bei  der  Errichtung  der  bayerischen  Industrie- 
schulen hoffte  man,  dass  die  meisten  Absolventen 
unmittelbar  in  die  Praxis  übergehen  würden; 
statt  dessen  gingen  die  meisten  auf  die 
technische  Hochschule.  Die  Doppelaufgabe  ist 
nachteilig.  Die  Schulen  geben  den  Schülern, 
welche  sie  als  Vorbereitung  zur  Hochschule  be- 
nutzen, zu  viel,  denen,  welche  gleich  in  die 
Praxis  übergehen  wollen,  zu  wenig  Special- 
wissenschaft. Eine  im  bayerischen  Unterrichts- 
ministerium im  September  1898  abgehaltene 
Sachverständigenbesprechung  hielt  jedoch  an  der 
Doppelaufgabe  fest,  empfahl  für  mittlere  Tech- 
niker ein  drittes  Jahr,  für  künftige  technische 
Hochschulstudierende  Beschränkung  auf  2  Jahre 
Industrieschule  und  wünschte  für  Maschinen- 
bauer technische  Mittelschulen  mit  2jährigem 
Unterrichte.  In  Würzburg  höhere  Fachschule 
für    Maschinenbau    und     Elektrotechnik,     100 


602 


Gewerblicher  Unterricht 


Schüler.  —  Sachsen:  Höhere  Gewerheschule 
zu  Chemnitz  1884  171,  1899  330  Schüler.  Tech- 
nikum Mittweida  (Privatanstalt,  1867  begründet) 
1430  Schüler,  darunter  mehr  als  V?  rreussen 
und  1^0  Russen,  Inffenieurschule  Zwickau  (Pri- 
vatanstalt, 1897  begründet)  196  Schüler.  Tech- 
nikum Limbach  (1898  begründet)  145  Schüler. 
Technikum  Hainichen  (1900  begründet,  Privat- 
unternehmen des  Direktor  Jentzen,  dem  auch 
die  Technika  in  Ilmenau  und  Endolstadt  ge- 
hören). —  Anhalt:  Köthen,  höheres  tech- 
nisches Institut,  1891  begründet,  1899  441  Schüler. 
Sachsen  -W  e  i  m  a  r :  Ilmenau,  Privatanstalt 
1894  begründet,  1899  72ßSchüler.  —  Altenburg: 
Technikum  1895  begründet,  Privatanstalt,  198 
Schüler.  —  Bingen:  Technikum,  Privatanstalt, 

1897  begründet,  487  Schüler.  —  Mannheim: 
Ingenieurschule,  Privatanstalt,  1895  in  Zwei- 
brücken gegründet,  1898  verlegt.  —  Baden: 
siehe  Baugewerkschule.  —  Mecklenburg: 
städtischeMaschineningenieur-Schule  zu  Neustadt, 
1882  errichtet.  —  Strelitz:  Technikum,  Privat- 
anstalt, begründet  1890.  1899  599  Schüler  — 
Meiningen:  Technikum  Hildburghausen  1876 
begründet,  1897  856  Schüler  (65  «/o  Preussen). 

In  Oesterreich  dienten  die  1851  ge- 
schaffenen Realschiden  bis  1867  auch  als 
Gewerbeschulen,  indem  sie  für  die  gewerb- 
liche und  kaufmännische  Praxis  und  für 
höherc  technische  Studien  vorbereiteten. 
1867  liess  man  ihnen  nur  noch  letztere  Be- 
stimmung. Aber  bald  erkannte  man  den 
Fehler  und  schuf  1876  an  wenigen  Haupt- 
orien  grosse,  musterhaft  ausgestattete  Staats- 
gewerbeschulen, anfänglich  9,  jetzt  18  (in 
Wien  2,  Brunn  2,  Salzburg,  Graz,  Innsbruck, 
Triest,  Prag,  Pilsen  2,  Bielitz,  Krakau  und 
Czernowitz,  Ijemberg,  Smichow,  Pardubitz, 
letztere  beide  1899  eröffnet,  grosste  in  Reichen- 
berg). Diese  Schulen  sind  nicht  unter  sich 
gleich  organisiert,  wie  Gymnasien  oder  Real- 
gymnasien, sondern  in  demselben  Gebäude, 
unter  derselben  Verwaltung  und  Leitung  und 
teilweise  unter  denselben  Lehrern  vereinigte 
Fachschulen.  Der  Name  Staatsgewerbe- 
schule bezeichnet  daher  keinen  didaktischen, 
sondern  einen  administrativen  Begriff:  die 
Vereinigung  von  höheren  Gewerbeschulen, 
Werkmeisterschulen,  offenen  Zeichenschulen, 
ßpecialkursen ,  gewerblichen  Fortbildungs- 
schiüen  und  einigen  sonstigen  Lehrabteilungen 
(s.  oben  sub  2,  g).  Von  den  Staatsgewerbe- 
schulen enthalten  8  höhere  Gewerbeschulen 
(1.  Jahi'gang  542  Schiller,  baugewerbl.  Abt.  607, 
mech.-techn.  Abt.  734,  chem.-techn.  Abt.  239 
zus.  2122  Schiller),  16  Werkmeisterschulen 
(3130  Schüler),  18  gewerbliche  Fortbildungs- 
schulen (3316  Schüler),  10  Specialkurse 
(2437  Schüler),  4  offene  Zeichensäle  (182 
Besucher),  6  sonstige  Ijehrabteilungen  (336 
männlicihe  imd  weibliche  Schüler),  Gesamt- 
zahl der  Besucher  der  Staatsgewerbeschulen 

1898  99:  11523.  Die  Staatsg-ewerbcschiden 
bilden  die  Mittelpunkte  für  die  Organisation 
der  kleineren  gewerblichen  Bildungsanstalten 


in  den  umliegenden  Gebieten.  Selten  ist 
im  gewerblichen  Schulwesen  ein  Plan  so 
gross,  zweckmässig  und  klar  angelegt  und 
so  folgerichtig  durchgeführt  worden  wie 
dieser.  In  ü  n  g  a  r  n  2  Staatägewerbeschiden 
mit  392  Schülern.  —  Schweiz:  Technikum 
Winterthur,  1874  errichtet,  712  Schüler. 
Biel  Technikum,  1890  begründet.  418 
Schüler,  Burgdorf,  1892  errichtet,  287 
Schüler. 

23.  Handelsschulen.  Die  Handels- 
schulen, welche  zumeist  von  kaufmännischen 
Vereinen  und  Korporationen,  vielfach  von 
Einzelnen,  seltener  von  Gemeinden  emchtet 
worden  sind,  legen  ein  rühmliches  Zeugnis 
von  dem  Bildungsbedürfnisse  des  Handels- 
standes ab.  Sie  sind  eines  der  wirksamsten 
Sichenmgsmittel  gegen  das  Heranwachsen 
eines  sozial  und  wirtschaftlich  sehr  nach- 
teiligen kaufmännischen  Proletariats,  das  bei 
der  leichten  Zugänglichkeit  des  kaufmän- 
nischen Berufes  zahlreich  ist,  und  fördern 
den  Weitblick  der  jungen  Kaufleute  ebenso 
wie  ihren  Sinn  für  Berufspflicht  und  Be- 
rufsehre. Die  Handelsschulen  zerfallen  in 
Fortbildungs-  oder  Lehrlingsschulen  mit  er- 
gänzendem Unterrichte,  der  neben  der  prak- 
tischen Lehre  hergeht,  und  Tagesschulen, 
welche  die  Zeit  ihrer  Schüler  auf  2—3  Jahre 
vollständig  in  Anspruch  nehmen.  Erstere 
führen  vorwiegend  dem  Grosshandel,  letztere 
dem  mittleren  und  Kleinhandel  Hilfskräfte 
zu.  —  Ein  schweres  Hemmnis  der  kauf- 
männischen Fortbildungsschulen  ist  die 
mangelhafte  Vorbildung  vieler  ihrer  Zöglinge. 
Gute  Plandelsschulen  vermitteln  die  für 
jimge  Kaufleute  erforderlichen  Kenntnisse 
vollständiger,  planmässiger  und  raelir  in 
ihrem  gegenseitigen,  wissenschaftlichen  Zu- 
sammenhange, als  es  die  praktische  Lehre 
in  einem  kaufmännischen  Geschäfte,  selbst 
beim  besten  Wollen  und  Können  eines 
tüchtigen  Lehrherrn,  vermag.  Der  Verein 
von  Direktoren  Sächsischer  Handelsschulen 
stellte  1881  den  »Entwurf  eines  Lehrplans 
für  den  Fachunterricht  der  Sächsischen 
Handelslehrlings-Schulen«  auf.  Danach  sind 
die  notwendigsten  Lelu'fächer:  kaufmänni- 
sches Rechnen,  Buchhaltung,  Korrespondenz 
mit  Kontorarbeiten  und  Handels  Wissen- 
schaft, d.  h.  die  planmässige  Darstellung  des 
Handelsgetriebes  und  der  dasselbe  regeln- 
den staatlichen  und  wirtschaftlichen  Gesetze. 
Das  Schulgeld  ist  bei  den  meisten  Handels- 
schulen sehr  viel  höher  als  bei  gewerblichen 
Schulen,  bis  zu  360  Alark  jährlich  (s.  oben  sub 
7  b).  Die  Gründe  dessen  sind  wohl  hauptsäch- 
lich die,  dass  die  in  Handelsschulen  erworbenen 
Kenntnisse  zum  grössten  Teile  (Handels- 
wissenschaft ,  Buchhaltung ,  Kontorarbeiteo, 
kaufmännisches  Rechnen,  Korrespondenz, 
Sprachen,  Warenkunde,  Wechselrecht.  Schön- 
schreiben)  im   kaufmäimischen   Leben    un- 


Gewerblicher  Unterricht 


603 


mittelbar  angewendet  werden  können,  und 
dass  der  Kaufmannsstand  nicht,  wie  die  In- 
dustriellen, unter  einem  Widerstreite  der 
Intei-essen  im  Stande  selbst  leidet.  Dieser 
Umstand  erleichtert  die  Begründung  von 
Handelsschulen  sehr.  Besondere  Droguisten- 
schiden  in  Dresden,  Leipzig,  Braunschweig 
und  anderwärts.  Aeltestc  deutsche  Handels- 
schule: Gotha  1817  von  Arnoldi,  dem  Be- 
gründer der  Gothaer  Vei-sicherungsanstalten, 
enichtet.  Leipzig  1831,  noch  vor  Entstehen 
der  sächsischen  Realschulen,  von  der  Kramer- 
Innung  begründet.  Nach  der  R.G.O.-Nov. 
V.  17.  Juni  1891  §  154  können  auch  Handels- 
lehrlinge und  Gehilfen  unter  18  Jahren 
statutarisch  zum  Besuche  einer  Fortbildungs- 
schule verpflichtet  werden  (s.  oben  sub  6). 
Ton  grosser  Bedeutung  für  die  Anregung 
und  Förderung  der  Handelsschulen  ist  der 
1895  begründete  »Deutsche  Verband  für 
das  kaufmännische  Unterrichtswesen« ,  der 
auch  die  Errichtung  deutscher  Handels- 
hochschulen vorbereitete.  Die  erste 
deutsche  Handelshochschule  wim:le  im  April 
189S  im  Ansclüusse  an  die  Universität 
Ijcipzig,  die  zweite  im  Oktober  1898  im 
Ansclüusse  an  die  Technische  Hochschule 
Aachen  errichtet.  Zahl  der  Studierenden 
im  Dezember  1899  in  Leipzig  248,  in  Aachen 
20.  Verwandt  sind  die  geplante  »Akademie 
für  Social-  und  Handels  Wissenschaften«  zu 
Frankfiul  a.  M.,  die  eine  Lerngelegenheit 
für  Beamte  und  Kaufleute  und  eine  geistige 
Brücke  zwischen  diesen  werden  soll,  und 
die  aus  v.  Mevissens  Vermächtnis  zu  er- 
richtende Handelsakademie  zu  Köln.  Von 
den  Handelshochschulen  ist  auch  die  Aus- 
bildung tüchtiger  Handelslehi'er  zu  erhoffen. 
An  der  technischen  Hochschule  zu  Riga  be- 
steht schon  lange  eine  Handelsabteilung 
(1895  199  Studierende). 

Harry  Schmitt  führte  (1892)  166  kauf- 
männische Fortbildungsschulen  in  Deutsch- 
land an,  von  denen  ß  vor  1871,  114  seit  1871 
begründet  wurden;  bei  3  Gründungsjahr  un- 
bekannt. Nach  ihm  entfiel  damals  je  eine  kauf- 
männische Fortbildungsschule  in  Sachsen  auf 
100000,  in  Baden  auf  150000,  in  Hessen-Darm- 
stadt auf  166000,  in  Württemberg  auf  286000, 
in  Preussen  auf  368000,  in  Bayern  auf  500000 
Einwohner.  In  Preussen  (Dezember  1897) 
186  kaufmännische  Fortbildungsschulen  (8 — 12 
Stunden  wöchentlich  in  jeder  Klasse,  leider 
noch  meist  Abendunterricht)  mit  14  93ö  Schülern 
und  591  Schülerinnen,  4  Handelsschulen  (Berlin, 
Erfurt,  Osnabrück,  Köln)  mit  738  Schülern,  und 
3  höhere  Handelsschnlen  (Frankfurt  a.  M.,  Aachen, 
Köln)  mit  37  Schülern.  Der  ScKnlbesuch  ist  in 
107  Schulen  freiwillig,  in  73  obligatorisch,  in  6 
entbindet  er  vom  Besuche  der  obligatorischen 
gewerblichen  Fortbildungsschule.  111  preussi- 
sche  Städte  mit  mehr  als  10000  Einwohnern, 
darunter  14  mit  mehr  als  30000  Einwohnern, 
haben  noch  keine  kaufmännische  Fortbildungs- 
schule.    In    Sachsen    haben    22    Städte    unter 


10000  Einwohnern  Handelslehrlings -Schulen. 
In  Bayern  (1899)  1  höhere  Handelsschule 
(Abteilung  der  Industrieschule  zu  München), 
11  Handelsschulen  (4  Öffentliche,  7  private),  16 
HandelsabteÜnngen  an  6klassi^en  Kealschulen, 
11  Handelsabt^ilungen  gewerblicher,  mit  Real- 
schulen verbundener  Fortbildungsschulen,  zahl- 
reiche kaufmännische  Abteilungen  selbständiger 
fewerblicher  Fortbildungsschulen.  Sachsen: 
höhere  Handelsschulen  mit  569,  47  Handels- 
lehrlingsschnlen  mit  4744,  alle  zusammen  mit 
5313  Schülern  und  3321  wöchentlichen  Unter- 
richtsstunden. Württemberg:  In  18  Städten 
kaufmännische  Fortbildungsschulen,  doch  (ausser 
in  Stuttgart  und  Heilbronn)  nur  als  besondere 
Abteilungen  der  gewerblichen  Fortbildungs- 
schulen. Baden  (1899)  14  Handelsschulen. 
Handelskurse  für  Frauen  und  Mädchen  an  der 
Gewerbeschule  zu  Karlsruhe  und  zeitweilig 
durch  den  Badischen  Frauenverein.  In  den 
thürinfi^ischen  Staaten  (1897)  4  höhere 
Handelsschulen  und  17  kaufmännische  Fort- 
bildungsschulen. In  Braunschweig  10  kauf- 
männische Fortbildungsschulen  r880  Schüler), 
mit  Ausnahme  von  3  älteren.  1896  von  der 
Handelskammer  errichtet.  Zuschüsse  leisten  in 
gleicher  Höhe  Staat,  Gemeinden  und  Handels- 
kammer. Jahreskost^n  41800  Mark,  Zuschüsse 
1 1 900  Mark.  S.  -W  e  i  m  a  r :  4  Handelsschulen.  — 
Die  Zahl  der  wöchentlich  erteilten  Lehrstunden 
ist  nach  Schmitt  am  grössten  in  Dresden  456, 
Leipzig  437,  Chemnitz  274,  Beriin  1 138,  München 
132,  Stuttgart  125,  Nürnberg  118,  Plauen  i.  V. 
106,  Bautzen  102;  am  geringsten  in  Sagan  3'/», 
Bur^  IV'o.  m  Oesterreich  (1899)  20  höhere 
dreiklassige  Handelsschulen  (3800  Schüler),  52 
sonstige  kaufmännische  Tagesschulen  (7600 
Schüler)  und  58  kaufmännische  Fortbildungs- 
schulen (7000  Schüler),  zusammen  130  Schulen 
mit  18400  Schülern.  In  Ungarn  (1897)  35 
höhere  Handelsschulen  (4983  Schüler),  74Handels- 
lehrlings-Schulen  (4699  Schüler).  In  ungarischen 
Städten,  die  wenigfer  als  50  Handlungslehrlinge 
zählen,  müssen  diese  die  gewerblichen  Lehr- 
lingsschulen besuchen,  die  hierfür  einen  eigenen 
Lchrplau  haben.  Eine  orientalische  Handels- 
schule in  Budapest.  Eine  verderbliche  Wirkung 
des  Einjährig-Freiwilligen-Kechts  auf 
die  Entwickelung  des  Handelsschulwesens  be- 
obachtete man  (Dr.  Zehden)  in  Oesterreich.  Wegen 
dieser  Militärbegünstigung  wurden  viele  zwei- 
klassige  Handelsschulen  in  dreiklassige  höhere 
Handelsschulen  umgewandelt.  Man  befürchtet 
davon  ein  Ueberaü gebot  der  höheren  kauf- 
männischen Beamten  und  einen  Mangel  der  viel 
begehrten  Hilfskräfte  des  mittleren  Handels  und 
sucht  dem  abzuhelfen  durch  die  Förderung  vier- 
jähriger Kurse  an  höheren  und  zweijähriger 
Kurse  mit  einer  Vorbereitungsklasse  an  den 
anderen  Handels-Tagesschulen.  In  der  Schweiz 
(1898)  14  Handelsschulen  mit  1130  Schülern, 
meist  Kantons  -  Unternehmungen.  Bei  den  4 
grössten  deckt  das  Schulgeld  nahezu  Vi?  bei  den 
10  kleineren  nur  \'ig  der  Gesamtausgaben.  Von 
den  Gesamtausgaben  514000  Francs  wurden  nur 
78000  durch  das  sehr  niedrige  Schulgeld  auf- 
gebracht, 306000  durch  die  Kantone  oder  Ge- 
meinden, 130000  Francs  durch  den  Bund. 
Ausserdem  kaufmännische  Fortbildungsschulen 
mit  4613  Schülern  und  281000  Francs  Aus- 
gaben.    Belebend  wirkte  der   Bundesbeschluss 


604 


Gewerblicher  Unterricht 


betrefif^d  Förderung  der  kommerziellen  Bildung 
vom  15.  AprU  1891. 

F.  Kunstgewerbeschulen,   -vereine  und 

-museen. 

24.  Kunstgewerbeschulen  und  -ver- 
eine. Gelegentlich  der  Weltausstellungen 
von  1851,  55  und  62  erkannte  man  (zuerst 
in  England,  dann  in  Oesterreich,  dann  in 
Deutschland),  dass  das  heimische  Kunstge- 
werbe bei  aller  technischen  Tüchtigkeit  doch 
im  Geschmacke  dem  französiscjhen  sehr 
nachstehe,  dass  Frankreichs  Vorsprung  nicht 
auf  angeborener,  sondern  auf  Jahrhundei-te 
lang  (seit  Colbert)  anerzogener  Geschmacks- 
bildung beruhe  und  dass  niu'  durch  Unter- 
richt und  Vorbilder  jener  Mangel  ausge- 
glichen werden  könne.  Das  vom  Prinzen- 
Gemahl  Albert  1857  begründete  South-Ken- 
sington-Museum  (Museum,  Schule  und  Lehrer- 
bildungsanstalt),  mit  welchem  zahlreiche 
Kunstschulen  und  Kunstgewerbemuseen  in 
kleineren  Städten  in  Verbindung  stellen, 
äusserte  schon  bei  der  Londoner  Weltaus- 
stellung 1862  sehr  günstige  Wirkungen.  Es 
erhielt  1861—63  jährlich  680  000  Mark.  Bei 
der  Organisation  des  englischen  Volksschul- 
wesens von  1870  wurde  das  Zeichnen  neben 
dem  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  einer 
der  vier  Gnmdpfeiler  des  Lehrplanes.  Frank- 
i-eich  bewilligte  1862  dem  Conservatoire  des 
arts  et  m^tiers  4000000  Mark  und  120000 
Mark  zu  Ankäufen  auf  der  Londoner  Aus- 
stellung. Auf  des  verdienstvollen  v.  Eitel- 
bergers  Antrag  gründete  Oesterreich  1868  sein 
Museum  für  Kunst  und  Industrie,  1868  die 
damit  verbundene  Kunstg-ewerbeschule.  Si)ä- 
ter  folgten  deutsche  Staaten  nach.  1865  die 
Gewerbehalle  zu  Karlsruhe;  1867,  zuerst 
als  Privaümternehmen ,  das  Kunstgewerbe- 
museum zu  Berlin  und  das  Nationalmuseum 
zu  München. 

Von  den  deutschen,  österreichischen  und 
schweizerischen  Kunstgewerbeschulen  stanv- 
men  6  aus  den  Jahren  1868 — 71  (Wien, 
München,  Berlin,  Genf,  Chaux  de  Fonds 
und  Leipzig),  24  aus  den  Jahren  1875—90, 
4  aus  der  Zeit  von  1894—97.  Vor  dem 
Eintritt  in  die  »Fachklassen«  meist  eine 
»allgemeine  Abteilung«  oder  »Vorschule«. 
Für  die  Schüler,  welche  den  Vollunterricht 
wegen  Mangel  an  Zeit  und  Geld  nicht  be- 
nutzen können  und  den  Tag  über  erwerbs- 
thätig  sein  müssen,  besteht  an  vielen  Kunst- 
gewerbeschulen Abenduntenicht. 

Zweck  der  Kunstgewerbeschulen  ist  die 
Belobung  des  Kunstsinnes  unter  den  Ge- 
werbetreibenden und  des  Verständnisses 
für  die  Forderungen  des  Kunstgewerbes 
unter  den  Künstlern.  Die  Ausbildung  des 
Gewerbetreibenden  zum  Künstler  seines 
Faches  ist  anzustreben,  nic.ht  die  Aufpfrop- 
fung der  Kunst   auf  die   Gewerbe   (Steck- 


bauer). Es  ist  daran  festzuhalten,  nur  solche 
Schüler  aufzunehmen,  welche  eine  längere 
praktische  Lehrzeit  hinter  sich  haben.  Da 
die  gewerbliche  Kunst  in  der  Anwendung 
der  Gesetze  der  Architektm*,  Plastik  und 
Malerei  auf  Gewerbserzeugnisse  besteht,  so 
hat  die  Kunstgewerbeschule  diese  drei  Ge- 
biete zu  pflegen.  Die  Kunstgewerbeschulen 
müssen  enge  und  dauernde  Fühlung  mit  der 
hohen  Kunst  haben  (nur  eine  mächtige 
Hauptader  kann  viele  kleine  Kanäle  speisen ; 
andernfalls  wird  erst  Vollblut,  dann  Halb- 
bhit,  dann  Viei-telblut  etc.  erzeugt),  aber  sie 
müssen,  um  gedeihlich  wirken  zu  können, 
sowohl  von  Kunstakademieen  als  von  tech- 
nischen Anstalten,  mit  denen  sie  anfänglich 
verbunden  w^aren,  unabhängig  sein.  Auch 
müssen  sie  sich  davor  hüten,  den  geschicht- 
lich auf  einander  folgenden  Stüarten  allzu- 
sehr nachzugehen,  da  sie  ihren  Schülern 
sonst  Unbefangenheit  und  Freiheit  des 
Schaffens  rauben.  Deswegen  empfiehlt 
neuerdings  insbesondere  M.  Meurer,  dass 
die  in  Stiltraditionen  gealterte  Kunstrich- 
tung zui'  Quelle  der  Natur  zurückkehre,  um 
verjüngt  zu  weixlen.  Der  beständige  Stil- 
weohsel  des  neueren  Kunstgewerbes,  das 
Herumprobieren  mit  den  künstlerischen 
Ausdrucksmitteln  aller  Zeiten  und  Völker 
sind  zumeist  durch  Vernachlässigung  des 
Natm^tudiums  verschuldet.  Museen  wühlen 
(M.  V.  Schwind)  mit  ihrer  überwältigen- 
den Fülle  den  Gnmd  um  die  keimende 
Kraft  auf  und  wirken  wie  50  Klimas  auf 
eine  Pflanze,  die  meist  nur  in  einem  KUma 
gedeihen  kann.  Die  zahlreichen  neuei-en 
Sammelwerke  sind  zum  kleinsten  Teile  Lehr- 
w^erke,  meist  Eselsbrücken  zur  Beschaffung 
des  Tagesbedai'fes.  Statt  der  Stallfütterung 
mit  Vorlagen  empfiehlt  danmi  Meurer  die 
Weidenahrung  der  Natur.  Von  den  Schu- 
len soll  man  auch  hier  nicht  zu  viel  erhof- 
fen. Denn  die  %'ielbe wunderten  kunstge- 
werblichen Arbeiten  minder  gebildeter  nrien- 
tahscher  Völker  zeigen,  dass  eine  nie  abge- 
brochene Kunst  Überlieferung  wesentliche 
Bedingung  kunstgewerblicher  Tüchtigkeit  ist. 
Die  hauptsächlichsten  E  i  n  w  ü  r  f  e  gegen 
das  auf  gedankenloser  Nachahmimg  be- 
ruhende Kunstgewerbe  wenlen  von  Neiiei-en 
zusammengefasst  in  folgende  Tadel  werte: 
»Wiederkäuen  früherer  Stilformen;  Kreislauf 
der  Stile;  Ueberladung  mit  Zierat:  Gute- 
Stuben  -  Kunstgewerl)e ;  Restauraut-JRenais- 
sanc^ ;  Architektur  -  Möbelstil ;  Stoff  widrige 
Nachahmungen;  Nippsachen,  diegefälu'lichen 
Bazillen  des  Kunstgew^erbes ;  TjTannei 
des  Tapeziers ;  Mangel  an  künstlerischer  Ein- 
heit räumlich  vereinigter  Gegenstände:  Ver- 
wendung geringwertiger  Ei-satzstoffe  zur 
Erzielung  unwaliren  Pnuikes;  Bürgerwoh- 
nungen als  Zerrbilder  füi-stlicher  Woh- 
nungen ;  Mängel  an  Selbstbewusstsein,  Schön- 


Gewerblicher  Unterricht 


605 


heitssina  und  künstlerischer  Wahrheitsliebe.« 
Das  Kunstgewerbe  beginnt  neuerdings  von 
der  blossen  Nachahmung  der  Erzeugnisse 
früherer  Zeiten  sich  zu  selbständigem  Erfin- 
den und  Schaffen  neuer  Konstruktionen  zu 
erheben.  Damit  steht  in  Verbindung  das  Ein- 
dringen des  Kunstgewerbes  in  die  neueren 
Kunstausstellungen,  aber  auch  eine  unge- 
rechte und  unnatürliche  Untei*schätzung  der 
üeberlieferungen  und  eine  gefährliche 
Ueberschätzung  einzelner  Künstler.  Die 
eigenartige  Entwickelung  der  einzelnen 
Schüler -Persönlichkeiten,  das  höchste  Ziel 
jeder  Kunstgewerbeschule,  wurde  früher 
durch  eine  übertriebene  Pflege  der  geschicht- 
lichen Stile,  neuerdings  bisweilen  dadurch 
gefährdet,  dass  einzelne  hervorragende 
Lehrer  seitens  der  Schüler  nachgeahmt 
werden.  Von  hoher  Bedeutung  für  die 
Schulung  zur  Selbständigkeit  sind  die  an 
Kunstgewerbeschulen  üblichen  Schüler- 
w^ettbewerbe  mit  gleicher  Aufgabe  so  wie 
späterer  Ausstellung  und  Besprechung  der 
Wettbewerbs- Arbeiten  in  der  Klasse,  mitunter 
als  Schnellentwerfen  imter  Clausur  behandelt. 

PreuBsen:  16  „Handwerker-  und  Kunst- 
gewerbeschuleu"  mit  (1898)  11700  Schülern. 
Aachen  1886,  Barmen  1894,  Berlin  1868,  Bres- 
lau 1876,  Düsseldorf  1883,  Elberfeld  1896,  Frank- 
furt a.  M.  1879,  Hanau  1889,  Hannover  1890, 
Iserlohn  1881,  Cassel  1882,  Köln  1879,  Königs- 
berg i.  Pr.  1886,  Magdeburg  1887  errichtet. 
Bayern:  München  1B2  männliche,  118  weib- 
liche Schüler,  seit  1868,  und  Nürnberg  (1662 
als  Privatakademie  begründet,  1716  durch  eine 
Zeichenschnle  für  Handwerker  ergänzt,  1819 
vom  Staate  übernommen,  1876  unter  Gnauth  in 
eine  Kunsteewerbeschule  umgewandelt),  175 
Schüler.  Kunstgewerbliche  Facbschule  zu 
Kaiserslautem,  verbunden  mit  der  Baogewerk- 
schul e,  85  Schüler.  Sachsen:  Leipzig,  187 1 U  m- 
Wandlung  der  kleinen  Kunstakademie  in  eine 
blühende  Kunstgewerbeschule,  vorzugsweise  für 
die  Buchgewerbe,  auph  für  die  photomechanischen 
Vervielfältigungs-Verfabren,  276,  Dresden.  1875 
errichtet,  278,  Vorschule  Dresden  99  Schüler. 
Planen  i.  V.  (1877  als  kunstgewerbliche  Fach- 
zeichenschule begründet,  seit  1890  Knnstge- 
werbeschule  für  das  Erzj^ebirge  und  Vogtland) 
165  Schüler.  (Plauens  Abteilungen  s.  oben  sub  2,  g.) 
Von  2887  im  Jahre  1895  im  Deutschen  Reiche 
thätigen  Musterzeichnern  entfielen  1390  auf 
Sachsen,  783  auf  Preussen.  Sachsen  das  wich- 
tigste Land  der  deutschen  Textilindustrie! 
Württemberg:  Stuttgart  121  Schüler.  In 
Württemberg  sind  die  gewerblichen  Fortbil- 
dnn^schulen  da,  wo  ein  besonderes  Kunst- 
handwerk vorherrscht,  auch  mit  Lehrstätten  für 
Modellieren,  Ciselieren,  Gravieren  und  Holz- 
schnitzen  verbunden.  Baden:  Karlsruhe  (mit 
Kunstgewerbemuseum),  seit  1878  selbständige 
Anstalt,  269,  Pforzheim,  1877  errichtet,  235 
Schüler  (1899).  Hessen-Darmstadt:  Mainz 
256  S.hüler,  1879,  Offenbach,  185  Schüler,  1877 
errichtet.  Anhalt:  Dessau,  Handwerker- 
und Kunst^ewerbeschule ,  1897  errichtet,  185 
Schüler.      Hamburg:     1895    errichtet,    64 


Schüler.  Elsass-Lothringen:  Strassburg 
1890  errichtet,  127  männliche,  56  weibliche 
Schüler,  Mülhausen,  1881  errichtet.  Oest er- 
reich: Wien,  1868  errichtet,  254,  Prag  281, 
Graphische  Lehr-  und  Versuchsanstalt  (für  rhoto- 
graphie,  Reprodnktions verfahren,  Buch-  und 
Illnstrationsgewerbe)  in  Wien  151  Schüler. 
Ausserdem  an  6  Staatsgewerbe-(  Werkmeister-) 
Schulen  330  Schüler.  Ungarn:  Budapest  59 
Schüler.  Schweiz:  Basel,  Bern,  Genf  2,  Luzern, 
Zürich,  la  Chaux-de-Fonds.  In  Italien  (1898) 
87  Schulen  für  dekorative  Kunst  und  Kunst- 
gewerbe mit  12000  Schülern,  fast  alle  nach  1870 
begründet,  insbesondere  in  Venezien,  in  der 
Lombardei  und  Piemont.  Ausserdem  215  Zeichen- 
schulen, auch  für  Modellieren,  mit  18  500  Schülern. 

Deutsche  Kunstgewerbevereine, 
seit  1883  zu  einem  Verbände  zusammenge- 
treten. Grösste  Vereine  in  München,  Pforz- 
heim, Frankfurt  a.  M.,  Karlsruhe,  Stuttgart, 
Berlin,  Oldenburg,  Dresden. 

25.  Kunstgewerbemuseen  (deren  Be- 
gründung 8.  im  Art.  Ausstellungen 
oben  Bd.  II,  S.  59)  in  Verbindung  mit 
Kunstgewerbe-Bibliotheken  tmd  Ornament- 
stichsammlungen, sind  notwendige  Ergän- 
zungen der  Kunstgewerbeschulen,  die  sonst 
blosse  Zeichen-  und  Modellierschulen  blei- 
ben. Ohne  Kunstgewerbeschule  büssen 
die  Museen  einen  grossen  Teil  ihrer  Wir- 
kung ein.  Kunstgewerbemuseen  sollen 
kunstgewerbliche  Schätze  erhalten,  ordnen 
und  verwerten.  Das  Publikum  (Käufer  und 
Besteller  kunstgewerblicher  Arbeiten!)  zu 
Verständnis  und  Geschmack  zu  erziehen 
(durch  vergleichende  Vorfühnmgen,  Einzel- 
vorträge imd  Vortragsreihen),  wird  selten 
versucht  und  erreicht.  Vielfach  gewann  bei 
Anlegung  und  Vervollständigung  der  Museen 
das  Sammlerinteresse,  welches  sich  auf 
Vollständigkeit  und  Seltenheit  richtet,  und 
das  wissenschaftlich-gescldchtliche  Interesse, 
welches  ein  möglichst  zusammenhängendes 
und  treues  Bild  des  Vergangenen  und  seiner 
Entwickelung  geben  möchte,  die  Oberhand 
über  die  praktische  Förderung  des  heutigen 
Kunstgewerbes.  Keinesfalls  sind  rauster- 
giltige  Erzeugnisse  der  Gegenwart  grund- 
sätzlich auszuschliessen.  (Beschluss  des 
Verbandes  der  deutschen  Kunstgewerbever- 
eine 1893  in  Weimar.)  Sonst  bieten  die 
Schaufenster  grossstädtischer  Verkaufsläden 
dem  Praktiker  mehr  erreichbare  Anregun- 
gen als  die  Kunstgewerbemuseen.  Gedruckte 
Führer  und  Erläuterungen  an  den  Gegen- 
ständen der  Museen  selbst  sind  rasch  ver- 
altenden Katalogen  vorzuziehen.  Historische, 
antiquarische  und  ethnograpliische  Gesichts- 
punkte sind  in  den  Führern  nur  nebensäch- 
lich zu  beliandeln;  Förderung  des  Kunst- 
gewerbes muss  auch  hier  die  Hauptsache 
sein.  Deshalb  sind  Hinweise  auf  die  Tech- 
nik und  den  Zusammenhang  zwischen  Stoff 
und  Zierform,  Gebrauchszweck  und  Zierform 
kunstgewerblicher   Gegenstände  viel    wich- 


606 


Gewerblicher  Unterricht 


tiger  als  die  unsichere  Bestimmung  von 
Entstehungszeit  und  -ort.  Hinweise  auf 
Vorlagen  werke,  Zeitschriften  und  sonstige 
Druckschriften  der  mit  dem  Museum  ver- 
bundenen Bibliothek  sind  dem  Führer  anzu- 
fügen. Die  Verwalter  vieler  Kunstgewerbe- 
museen in  Deutschland  und  der  Schweiz 
sind  ermächtifft,  Kunsthandwerkern  und 
sonstigen  Bestellern  Skizzen,  Entwürfe  und 
Detailzeichnungen  kunstgewerblicher  Arbei- 
ten anzufertigen  oder  zu  begutachten.  —  Die 
älteren  Kunstgewerbemuseen  ordnen  nach 
dem  Londoner  Vorbilde  zmn  Vorteile  der 
Praktiker  ihren  Inhalt  nach  Stoffen  und 
Techniken  (Keramik,  Eisenarbeiten,  Edel- 
metallarbeiten, Textilindustrie,  Möbel,  Buch- 
gewerbe u.  s.  w.).  Hier  findet  der  Gewerb- 
treibende  die  Arbeiten  seines  Faches  bequem 
und  übersichtlich  beisammen.  Neuerdings 
wird  die  malerische  Anordnung  nach  kul- 
turgeschichtlichen Gruppen,  Stil- 
pericM3en  (romanische ,  gotische,  Kenaissance-, 
Kokoko-  u.  s.  w.  Zimmer)  empfohlen  und 
angewendet.  Letzteres  erfordert  mehr  Räume 
und  vollständigere  Anschaffungen  von  Stücken' 
desselben  Stiles,  verleitet  auch  beim  Fehlen 
echter  alter  Stücke  zu  selbstgefertigten  Er- 
gänzungen von  zweifelhaftem  Werte,  ist  aber 
füi'  das  grossere  Publikum  anziehender  und 
lehrreicher.  Eine  Verbindung  beider  Ver- 
fahren, Vorherrschen  der  Vorftihrung  in 
Schränken  und  Vitrinen,  aber  mit  Unter- 
brechung durch  malerisch  angeordnete  Stil- 
zimmer, erscheint  am  zweckmässigsten.  Ver- 
suche, die  Gegenstände  nach  Gebrauchs- 
zwecken, z.  B.  Sitzmöbel,  Beleuchtungs- 
gegenstände ,  u.  s.  w.  zusammenzustellen, 
können  nicht  als  nachahmenswert  gelten. 
Die  beachtlichsten  Mängel  von  Kunstge- 
w^erbemuseen  sind  nach  W.  Bode :  es  wird  zu 
viel  und  zu  planlos  (in  allen  Gattungen  und 
Richtungen)  gesammelt;  zu  viele  Gelegen- 
heitskäufe. Kleine  Museen  streben  ver- 
kehrterweise und  erfolglos  den  vielseitigen 
alten  Sammlungen,  Berlin,  München,  Nürn- 
berg nach,  statt  die  besonderen  Bedürfnisse 
örtlicher  Handwerke  und  Industrieen  zu  be- 
rücksichtigen. Statt  Pi-achtarbeiten  aus 
fürstlichen  Schlössern  sollten  mehr  einfache 
Arbeiten  von  feinen  Fonnen  und  vorzüg- 
licher Arbeit,  Gegenstände  des  täglichen, 
häuslichen  Gebrauchs,  vorgeführt  werden. 
Neben  der  Förderung  der  Verfertiger  sollte 
die  Förderimg  dos  \  erständniases  und  des 
Geschmackes  des  grösseren  Publikvuns  mehr 
angestrebt  werden. 

Am  meisten  entwickelt  ist  die  planmässige 
Deeentralisierung  der  Kunstgewerbe- 
museen und  deren  Aiipassung  an  die  ört- 
lichen Bedürfnisse  in  England  (Förderung  der 
66  kleineren  MuvSeen  des  I^andes  durch  Aus- 
leihungen des  South  Kensington -Museums) 
und  in  Sachsen.    Hier  bestehen   neben  den 


3  grösseren  Museen  in  Dresden,  Leipzig 
und  Plauen  i.  V.  10  kleinere,  mit  Vorbilder- 
sammluugen  und  Bibliotheken  verbundene 
Kunstgewerbemuseen  in  Annaberg,  Auer- 
bach, Chemnitz,  Eibenstock,  Faikensteiu, 
Franken berg,  Glauchau,  Meerane,  Reichen- 
bach und  Zittau,  die  vorwiegend  aer  Textil- 
industrie dienen  und  meist  von  dem,  1888 
begründeten  vogtländisch-  erzgebirgischen 
Industrievereine  zu  Plauen  i.  V.  befruchtet 
werden.  Dieser  Verein  hält  alljährlich 
kunstgewerbliche  Wanderausstellungen  in 
Sächsischen  Industrieorten  ab. 

G.  Teohnische  Hoohschulen. 

26.  Im  Deutschen  Reiche  bestehen  9 
technische  Hochschulen,  denen  sich  6  öster- 
reichische, 1  schweizerische  und  1  deutsch- 
russische anreihen.  Keine  dieser  Anstalten 
reicht  über  das  19.  Jahrhundert  zurück.  Die 
1716  errichtete  6cole  des  ponts  et  chaussees 
und  die  1794  errichtete  ecole  polytechnique  zu 
Paris,  eine  Vorbereitungsanstalt  für  eine  kleine 
Anzahl  von  Ingenieuren  des  Militär-  und 
Civilstaatsdienstes,  welche  ihre  weitere  Aus- 
bildung in  Artillerie-,  Generalstabs-,  Berg-, 
Brückenbau-  und  Strassenbauschulen  erhal- 
ten, schritten  nicht  bloss  zeitlich  voran.  Dem 
Alter  nach  folgten  Prag  1806,  Graz  1811, 
Wien  1815,  Berlin  1821,  Karlsruhe  1825, 
Darmstadt  1826,  München  1827,  Dresden 
1828,  Stuttgart  1829,  Hannover  1831,  Brunn 
1850,  Zürich  1855,  Braunschweig  1862,  Riga 
1862,  Aachen  1870. 

Mit  Ausnahme  von  Aachen  sind  die 
deutschen  technischen  Hochschulen  sämtlich 
aus  niederen  und  mittleren  gewerblichen 
Schulen  hervorgegangen.  An  mehreren  der- 
selben (Berlin,  Dresden,  Hannover)  wollte 
man  ursprünglich  Handwerker  und  Leiter 
grosser  Bauten  und  Fabriken  gleichzeitig 
ausbilden.  Es  war  ein  schwerer  Uebelstand, 
dass  die  Schiüen,  welche  -für  die  Polytech- 
niken hauptsächlich  vorbereiten,  die  Real- 
anstalten, erst  später  ins  Leben  traten.  Das 
Königreich  Saclisen  z.  B.  hatte  bis  1834 
keine,  bis  1843  niu*  eine  Realschule.  Die 
erste  preussische  Realschide  entstand  1832 
in  Berlin.  Infolgedessen  mussten  die  Poly- 
techniken ihre  Aufnahme-Bedingimgen  und 
Ziele  lange  Zeit  unzweckmässig  niedrig  fest- 
setzen. Die  Entwickeluug  der  Pclj^techniken 
zu  höheren  Zielen  wmxlc  insbesondere  durch 
die  Eisenbahnen  vemnlasst.  Sie  stellten 
der  Technik  grosse  Aufgaben  im  Bau  von 
Brücken,  Lokomotiven  und  Maschinen  etc. 
Hierzu  kamen  die  Grossstädte,  welche  mit 
ihren  Bauten  und  Leitungen  füi*  Gas,  Was- 
ser und  Elektricität  die  Technik  mächtig 
anregten.  Bahnbrechend  wirkten  in  der 
Uebergangszeit  die  ecole  polytechnicme  zu 
Paris  diu-ch  streng  wissenschaftliche  Pflege 
der   Mathematik    und   Naturwissenschaften, 


Gewerblicher  Üntenicht 


607 


auf  welchen  die  gesamten  technischen 
Wissenschaften  beruhen,  Wien  diu'ch  die 
Vereinigung  der  technischen  Wissen- 
schaften zu  einer  in  verschiedene  Gebiete 
organisch  gegliederten  Einheit,  Karlsruhe 
und  Zürich  durch  Pflege  der  allgemeinen 
Bildung,  wissenschaftlichen  Geist,  Steigerung 
der  Aufnahme-Anforderungen  und  freie  Ver- 
fassung mit  Lehr-  und  Lemfreiheit.  Aus 
den  anfänglich  errichteten  »technischen  Lehr- 
anstalten« wurden  nach  und  nach  »Poly- 
technische Schulen«  und  später  (Graz  1864, 
Zürich  1866,  München  1868,  Aachen  1870, 
Dresden  1871,  Darmstadt  1877,  Hannover 
1879)  »Technische  Hoclischiden«.  1877—80 
fanden,  auch  von  Oesterreich  und  der 
Schweiz  beschickte,  Beratungen  sämtlicher 
technischen  Hochsduüen  statt,  welche  die 
einheitliche  Gestaltung  derselben  förderten. 

Die  technischen  Hochschulen  sollen  die 
höchste  Ausbildung  für  den  technischen 
Beruf  gewähren,  welche  im  Staats-  und  Ge- 
meindedienste und  in  der  Industrie  erfor- 
derlich ist,  und  die  technischen  Wissen- 
schaften und  Künste  pflegen  und  fördern. 
Sie  gliedern  sich  gewöhnhch  in  die  4  Ab- 
teilungen für  Hochbau  (Architektur),  Bau- 
ingenieiuwesen  (Strassen-,  Eisenbahn-,  Was- 
ser-, Brückenbau),  mechanische  Technik  und 
chemische  Technik.  (Ueber  das  Verhältnis 
der  technischen  Hochschulen  zu  den  tech- 
nischen Mittelschulen  s.  oben  sub  22).    • 

Wie  Sachkundige  (z.  B.  v.  Steinbeis)  be- 
merken, ist  es  ein  verhängnisvoller  üebel- 
stand,  dass  sehr  vielen  Studierenden  deut- 
scher technischer  Hochschulen  die  der  theo- 
retischen Ausbildung  voraus  oder  neben  ihr 
her  gehende  Erwerbung  praktischer  Fähig- 
keiten sowie  die  Ausbildung  im  gewerb- 
lichen Haushalte  fehlt.  Demgemäss  sind 
viele  wohl  für  den  Konstruktionstisch  gut, 
für  den  praktischen  Betrieb  und  die  Vei^ 
waltung  aber  nur  wenig  vorgebildet.  Ge- 
nauck  führt  hierauf  die  Beobachtung  zurück, 
dass  auf  technischen  Hochschulen  ausge- 
bildete Maschineningenieure  selten  eme 
Fabrik  oder  Werkstatt  auf  eigene  Rechnung 
betrieben,  während  praktisch  erfahrene 
Techniker  von  viel  geringerer  theoretischer 
Vorbildung  einträglichere  Stellungen  ein- 
nähmen. Hochgebildete  Architekten  stehen 
ebenfalls  wegen  Mangels  an  praktischer 
Erfahrung  und  Uebung  nicht  selten  im 
Dienste  minder  gebildeler  Baugewerks- 
meister.  In  der  »Zeitschrift  des  Vereins 
deutscher  Ingenieure«  (1888  u.  f.)  ist  auf 
die  Gefahren,  welche  die  Benutzung  der 
technischen  BLochschulen  an  Stelle  der  tech- 
nischen Mittelschulen  für  die  mittlere  In- 
dustrie hervornift,  mehrfach  hingewiesen 
worden. 


Winter  1898/99 

Aachen 

Berlin 

Brannschweig 

Darmstadt 

Dresden 

Hannover 

Karlsruhe 

München 

Stuttgart 


Ordentl.        Ausserord. 
Studierende 


341 
2425 

279 

I  307 

683 

856 

894 
1  694 

514 


105 
647 

114 
102 

136 
223 

85 
257 


zas. 

446 
3072 

393 
1409 

819 

1079 

979 

1845 
771 


Deutsches  Reich 

8993 

I  820 

10  813 

Brunn 

286 

57 

343 

Graz 

330 

14 

344 

Lemberg 

496 

18 

514 

Prag  deutsch 

424 

45 

469 

„      böhmisch 

1027 

74 

I  lOI 

Wien 

1583 

98 

1681 

Oesterreich 

Zürich 
Riga  (1895) 


4146 

871 
I  081 


306 

5 


4452 
1086 


Die  Vergleichbarkeit  der  Besuchszahlen 
ist  deshalb  eng  begrenzt,  weil  die  Auf- 
nahme-Anforderungen verschieden  sind,  und 
einige  Hochschulen  Abteilungen  besitzen 
(Aachen  und  Berlin  für  Hüttenwesen, 
Braunschweig  und  Darmstadt  für  Pharmazie, 
Karlsruhe  für  Forstwesen,  München  für 
LÄnd Wirtschaft,  Riga  für  Handel),  die  an 
anderen  Hochschulen  fehlen. 

Die  9  technischen  Hochschulen  Deutsch- 
lands hatten  1882/aS  2826,  1897/98  10000 
Studierende  und  Hospitanten.  Davon  ent- 
fielen auf  die  Abteilungen  für  Maschinenbau, 
Schiffbau  und  Elektrotechnik  1882/83  781, 
1897/98  5090.  Die  üeberfüllung  der  ge- 
nannten Abteilungen  wird  an  einigen  Hoch- 
schulen (Berlin,  München,  Darmstadt,  Han- 
nover) sehr  fühlbar  durch  die  ünterrichts- 
weise  (Konstniktions-  und  Laboratoriums- 
üebungen).  Der  Verein  deutscher  Ingenieure 
empfahl  (25.  Juni  1898)  zur  Abhilfe:  Er- 
richtung neuer  technischer  Hoch- 
schulen, etwa  in  Danzig  und  Breslau. 
(Bayern,  Sachsen,  Württembei-g ,  Baden, 
llessen  und  Braunschweig  haben  15  Mil- 
lionen Einwohner  und  6  technische  Hoch- 
schulen, also  eine  auf  2,5  Millionen  Ein- 
wohner; die  westlichen  Provinzen  Preussens 
mit  Brandenburg  und  Berlin  und  den  übri- 
gen deutschen  Staaten  ohne  technische 
Hochschulen  auf  21  Millionen  Einwohner 
nur  3  technische  Hochschulen,  also  eine  auf 
7  Millionen ,  die  5  östlichen  Provinzen 
Preussens  auf  11  Millionen  Einwohner  keine 
technische  Hochschule).  Aber  keine  Bruch- 
stücke technischer  Hochschulen,  die  blosse 
Fachschulen  sein  würden,  auch  keine  An- 
gliedenmg  technischer  Fakultäten  an  ein- 
zelne Universitäten,  die  den  praktischen  Be- 
dürfnissen nicht  genügen  würden,  sondern 
volle  technische  Hochschulen,  deren  einzelne 
Fachabteilungen    befi-uchtend  auf   einander 


€08 


Grewerblicher  Unterricht 


wirken.  Ferner  empfahl  der  Yerein  eine 
Verschärfung  der  Auf  nähme-  und  Prü- 
fungsbedingungen (für  Maschinenin- 
genieure mindestens  einjährige,  vor  Beginn 
der  Fachstudien  beendete  praktische  Werk- 
stattthätigkeit,  wie  sie  von  den  meisten 
deutschen  technischen  Hochschulen  bisher 
nicht  gefordert,  sondern  nur  empfohlen 
wird)  und ,  als  eine  besonders  wichtige 
Massregel,  Errichtung  technischer 
Mittelschulen  in  Berlin  und  anderen 
Stätten  stark  entwickelter  Grossindustrie. 

Deutsche  Faclüeute,  die  anlässiich  der 
Weltausstellung  von  Chicago  1893  nord- 
amerikanische Ingenieurschulen  prüften,  ins- 
besondere Riedler,  wiesen  auf  die  reichere  Aus- 
stattung dieser  Schulen  mit  Laboratorien, 
auf  die  bessere  Ausbildung  des  Beobachtungs- 
sinnes und  die  freiere  Entwickelung  der 
natürlichen  Fähigkeiten  bei  ihnen  hin  und 
warnten  unsere  technischen  Hochschulen 
vor  der  übertriebenen  Einbildung  auf  wissen- 
schaftliche Methoden  und  vor  der  künstlich 
anerzogenen  Aengstlichkeit  beim  praktischen 
Schaffen,  zwei  Folgen  der  einseitig  intellek- 
tuellen Ausbildung,  der  Yiellernerei  ohne 
Rücksicht  auf  die  Forderungen  der  Wirk- 
lichkeit. Die  praktischen  üebungeu,  die  an 
amerikanischen  Ingenieurschulen  sehr  um- 
fänglich gepflegt  werden,  kamen  1893  an 
Deutschlands  technischen  Hochschulen  fast 
gar  nicht  vor.  Während  vorher  nur  Stutt- 
gart (seit  1864)  ein  kleines  Maschinen-Labora- 
torium, München  (seit  1868/73)  ein  mecha- 
nisch-technisches Laboratorium  hatten,  wur- 
den seit  1896  kleine  Maschinen-Laboratorien 
in  Hannover  und  Aachen,  grosse  Neubauten 
für  diese  Zwecke  aber  in  Dresden,  Stuttgai't, 
Karlsnihe,  Darmstadt  und  Berlin  errichtet 
oder  vorbereitet.  Diese  Laboratorien  sollen 
nicht  die  praktische  Ausbildung  der  In- 
genieure in  Werkstätten  ersetzen,  sondern 
die  Studierenden  in  Messung  und  Beobach- 
tung, in  Durchführung  und  wissenschaft- 
licher Verarbeitung  von  Versuchen  etc.  üben. 
Weiter  forderten  Riedler  und  mit  ihm  andere 
Fachleute,  dass  bei  der  Vorbildung  zur 
technischen  Hochschule  an  Stelle  abstrakter 
Schulung  und  blosser  mündlicher  Belehrung 
in  Wissensstoffen ,  einseitiger  Verstandes- 
übung und  vorzeitiger,  oberflächlicher  Urteils- 
bildung eine  Erziehung  der  künftigen  In- 
genieure zu  frühzeitiger,  gründlicher,  selb- 
ständiger Arbeit  und  Beobachtung,  zur  Aus- 
bildung aller  Sinne  und  zu  fruchtbringender 
Thätigkeit  trete.  Im  Unterrichte  der  vorbe- 
reitenden Mittelschulen  müsse  die  Anschau- 
img, die  räumliche  Vorstellung,  das  Er- 
kennen und  Begreifen  der  Wirklichkeit  in 
den  Vorderginind  gestellt  werden.  Hierzu 
sei  es  u.  a.  erforderlich,  dass  die  Lehrer 
<ler  Mathematik,  Physik  und  Chemie  an 
Mittelschulen    einen   Teil    ihrer  Studienzeit 


auch  auf  einer  technischen  Hochschule  zu- 
bringen könnten,  was  in  Sachsen  und  den 
süddeutschen  Staaten  schon  galt,  in  Preussen 
aber  erst  diu-ch  die  Prüfungs-O.  v.  12.  Sep- 
tember 1898  anerkannt  wuixie.  Die  Eleven- 
oder Volontärzeit  in  der  Werkstätte 
dürfe  nicht  als  lästige  Zugabe  zur  theoreti- 
schen Schulbildung,  sondern  müsse  als  deren 
notwendige  Ergänzung  betrachtet  werden. 
Die  deutschen  technischen  Hochschulen 
müssten  jetzt  trotz  8 — 9  jähriger  Vorbildung 
zu  viel  Zeit  (im  ersten  Jahre  23—41  %)  auf 
die  Wiederholung  der  theoretischen  Vor- 
bildungsgegenstände verwenden,  die  eigent- 
lich schon  von  der  vorbereitenden  Mittel- 
schule mitgebracht  werden  sollten.  Auch 
seien  die  Prüfungen  der  Ingenieure  in 
Deutschland  zu  einseitig  auf  den  Staats- 
dienst zugeschnitten,  der  mit  seiner  not- 
wendig bureaukratischen  Verwaltung  auf 
völlig  anderem  Grunde  ruhe  als  die  schaf- 
fende Thätigkeit  der  an  Wettbewerb,  Ver- 
zinsung und  andere  Erschwerungen  gebun- 
denen Privatindustrie.  Dass  seit  der  Schaf- 
fung der  Titel  eines  »Diplom-Ingenieurs«  und 
»Doktor-Ingenieurs«  (1899,  zuerst  anlässlich, 
der  Hundeiljahrfeier  der  technischen  Hoch- 
schule zu  Berlin)  der  Beamtentitel  nicht 
mehr  der  einzige  Nachweis  technischer 
Hochschulstudien  ist,  wurde  als  wichtiger 
Fortschritt  begrüsst.  Für  beide  Titel  ver- 
langt, soweit  es  sich  um  Maschinen-Ingeniem^e 
handelt,  der  Verein  deutscher  Ingenieure 
mindestens  einjährige  Werkstattthätigkeit 
als  Vorbedingung. 

Die  Verschmelzung  der  technischen  Hoch- 
schiden  mit  den  Universitäten  wird  nicht 
bloss  mit  Rücksicht  auf  die  Einsparung  von 
Lehrkräften  und  Lehrmitteln  (Bibliotheken, 
botanischen  Gärten,  chemischen  und  physi- 
kalischen Laboratorien,  mineralogischen,  geo- 
logischen, kunstgeschichtlichen  Sammlungen 
etc.),  sondern  (W.  Röscher)  insbesondere  auch 
»im  Interesse  einheitlicher  Volksbildung 
empfohlen,  damit  unter  den  geistigen  Spitzen 
der  bisher  überwiegenden  Volkskreise  (Theo- 
logen, Juristen,  Mediciner  etc.)  und  den 
geistig  neu  heranwachsenden  (Landwirten, 
Technikern,  Kaufleuten)  keine  Kluft  gegen- 
seitiger Unkenntnis  und  darum  Gering- 
schätzung entstehe«.  Doch  ist  dieser  Wunsch 
bisher  noch  nirgends  verwirklicht  worden. 
Gegen  das  an  der  Universität  Göttingen 
durch  Klein  1896  errichtete  »Laboratorium 
für  technische  Physik«  ist,  insoweit  es 
nicht  nur  der  Ausbildung  von  Lehrern  dienen 
will,  geltend  gemacht  worden,  dass  die 
blosse  Möglichkeit,  Forschungsergebnisse  an- 
zuwenden, der  Praxis  nicht  gentige;  die 
Wirtschaftlichkeit  ihrer  Anwendung  könne 
aber  nur  von  Ingenieuren  beurteilt  werden, 
die  in  der  Industrie  Erfalirungen  gesammelt 
hätten.     In   Nordamerika   besteht   nach 


Gewerblicher  Unterricht 


609 


Riedler  eine  starke  Reformbeweguug,  die 
alle  Ingenieurschulen,  aber  mit  organisch 
angegliedertem  Werkstätten-  und  Laboi-a- 
toriumsunterricht,  mit  den  Universitäten  ver- 
einigen möchte. 

Von  922  im  Dezember  1894  in  der 
deutschen  chemischen  Industrie  beschäftigten 
Chemikern  hatten  (nach  Hempel-Witt)  ihre 
Vorbildung  erhalten :  390  (42  %)  auf  Uni- 
vei-sitäten,  338  (37  ®/o)  auf  technischen  Hoch- 
schulen, 194  (21  ®/o)  auf  anderen  technischen 
Lehranstalten. 

Litteratnr:  /.  Allgemeine  Schriften:  K, 
Preusker,  Bausteine,  2.  Aufl.,  Leipzig  18S5 
(Anführung  älterer  Schriften  über  Gewerbeschulen 
seit  1781),  —  K,  Kamtarsch,  Ueber  techn. 
Lehranstalten,  in  seiner  Geschichte  der  Techno- 
logie, München  1872.  —  Lorenz  v.  Stein, 
Ueber  Beruf sbihdungswesen,  in  seiner  Verwal- 
tungslehre,  5,  Teil.  —  W,  Roseher,  System  III, 
7.  Aufl.  von  Stieda,  §  161  ff.  —  Schönberg, 
Ueber  geteerbliche  Ausbildung,  in  seinem  Hand- 
buche,  2.  Bd.  —  Sehtnids  Encyklopädie  des 
Ertiehungs-  und  Unterrichtswesens,  Gotha.  Bd.  IL 
Art.:  Gewerbeschulen  (1.  Aufl.  von  A.  Lange, 
2.  Aufl.  von  GaUenkamp)  und  Gewerbl.  Fort- 
bildungsschulen  (von  Gugler).  —  Central- 
blatt  für  dcLS  gewerbl.  Unterrichtswesen  «i 
Oesterreich,  Wien  1883 ff.  (Amtlich.)  —  Zeit- 
schrift für  den  gewerbl.  Unterricht,  1886 ff. 
(Organ  des  Verbandes  deutscher  Gewerbschul- 
männer). —  tla  hrbuch  des  höheren  Unterrichts- 
wesens in  Oesterreich,  mit  Einschluss  der  ge- 
werblichen Fachschulen,  Wien  seit  1887.  — 
Zeitschrift  des  Vereins  deutscher  Ingenieure, 
Berlin  (bes.  Jahrge.  I864,  1865,  1876,  1887 f., 
viele  Aufsätze  und  Beratungen  über  techn. 
Hochschiden  und  Mittelschulen).  —  nlXe  ge- 
werbliche Fortbildungsschulen,  Zürich  (von  Prof. 
Humiker).  —  Compte  rendu  du  Congrls 
internat.  pour  Venseignement  technique,  eommer- 
cial  et  industriel,  20. — 25.  Sept.  1886,  Paris  1887. 
—  C.  F,  Nebenius,  Ueber  technische  Lehr- 
anstalten, Karlsruhe  1833.  —  F,  v.  Stelnbels, 
Die  Elemente  der  Gewerbebeförderung,  Stuttgart 
1853.  —  A,  Sachse,  n  Gewerbliches  Unterrichts- 
wesen^  t?i  v.  Stengels  Wörterbuch  des  deutschen 
Verwaltungsrechts,  Freiburg  i.  B.  1890.  —  H. 
Lohr,  Gewerblicher  Unterricht,  1898.  —  Der 
Zeichenunterricht  in  der  Gegenwart  (Abdr.  aus 
Beins  Encykl.  Handb.  der  Pädagogik),  Langen- 
salza 1900.  —  Thieme^Breull,  Utensilien, 
Modelle,  Vorlagen  und  methodische  Werke  ßir 
den  Zeichenunterricht,  Dresden  1898. 

II.  Niedere  und  mittlere  gewerb- 
liche Schulen,  a)  Im  allgemeinen.  E, 
JVilda,  Wahrnehmungen  und  Gedanken  über 
tcchnisch-ge werbt.  Schulwesen,  Leipzig  1879.  — 
j4.  Ernst,  Kampf  und  Vorurteile  gegen  die 
höhere  Gewerbeschiäe,  Berlin  1881.  —  H.  Qrothe, 
Die  techn.  Fachschulen  in  Eurojxi  und  Amerika, 
1882.  —  P,  Bartholdy,  Gewerbl.  Ausbildung 
durch  Schule  und  Werkstatt,  Colmar  1889.  — 
Gvunow,  Die  getcerbl.  Fortbildungsschule  oder 
Sonniayshandwerksschule ,  Weimar  1867.  — 
Jürgen  Bona  Meyer,  Die  Fortbildungsschule 
in  unserer  Zeit,  Berlin  187S.  —  Nagel,  Die 
gewerblichen  Fortbildungsschulen  Deutschlands, 
Eisenach  1877.  —  C.  Schröder,  Hervorragende 

Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


F&rderungsstätten  des  deutschen  Handwerks, 
Dresden  1878.  —  Das  gewerbliche  Fortbildungs- 
wesen.    Sehr,  des    Ver.  für  Sozialp.  XV,  1879. 

—  Oöck,  Die  gewerbl.  Fortbildungsschulen  und 
verwandten  Anstalten  in  Deutschland,  Belgien 
und  der  Schweiz,  Wien  1882.  —  RUcklin,  Die 
Volksgewerbeschule,  Leipzig  1888.  —  Ä  Setiöne, 
Geh.  O.R.R.,  Der  Zeichenunterricht  in  der 
Volksschule.  Preuss.  Jahrb.  Bd.  XLI,  1878, 
S.  281  ff.  —  Cr.  Faulet,  L'enseignement  pri- 
maire  professionel,  Paris  1889.  —  O.  Fache, 
Handbuch  des  deutschen  Fortbildungsschulwesens, 
4  Teile,  Wittenberg  1896—1899  (Gesetze,  Ver- 
ordnungen und  Statistik.  Auch  gewerbl.  Fach- 
schulen berücksichtigend).  —  Faul  Seheven f 
Die  Lehrwerkstätte,  1.  Bd.,  Tübingen  1894.  — 
Haedicke'Remscheid,  Die  Stellung  der  Lehr- 
werkstätten zu  den  neuesten  sozialpolitischen 
Bewegungen,  Elber/eld  1896.  —  b)  In  einzel- 
nen Ländern:  Preuss en.  O,  Sehmoller, 
Ein  Wort  über  den  neuen  Organisationsplan 
für  die  preussischen  Provimialgewerbeschulen 
in  d.  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.  1870,  S.  268 ff.  — 
Oeisenheinter,  Die  preuss.  Fachschulen,  Bres- 
lau 1877.  —  Ffuhl,  Die  Fach-  und  Gewerbe- 
schulen  Preussens,  Königsberg  1878.  —  A,  Thun, 
Die  Industrie  am  Niederrhein,  Bd.  II,  S.  213  ff., 
Leipzig  1879.  (Das  gewerbl.  Bildungswesen  und 
die   Verfassung   der  Mode-  und  Kunstindttstrie.) 

—  O,  Sehmoller,  Das  untere  und  mittlere 
gewerbl.  Schulwesen  in  Preussen  in  d.  Jahrb.  für 
Ges.  u.  Vene.  V,  S.  1259  ff.  —  Der  gewerbl. 
Unterricht  unter  dem  Handelsminister  Fürsten 
Bismarck  in  d.  Jahrb.  für  Ges.  u.  Verw.  XIV,  S. 
855 ff.  —  Denkschrift  über  die  Entwickelung 
der  Fortbildungsschulen  und  der  gewerbl.  Fach- 
schulen in  Preussen,  sotoeit  dieselben  z.  Min.  f. 
Handel  und  Gexcerbe  gekoren,  Berlin,  Aprü 
1891.  —  Denkschrift  über  die  Entwickelung 
V.  1891 — 95  mit  Verhandlungen  der  ständigen 
Kommission  für  das  techn.  Unterrichtswesen  vom 
Juni  1891.  —  Verhandlungen  dieser  Kommission 
vom  Januar  1896.  —  Uebcrsicht  über  die  kauf- 
männischen Unterrichtsanstalten  in  Preussen 
nach   dem  Stande   vom  Dezember  1897.  —   Ver- 

a 

handlungen  über''  das  kaufm.  Unterrichtswesen 
in  Preussen  vom  Januar  1898.  —  Verhandlungen 
über  die  Organisation  der  preuss.  Maschinen- 
bauschulen  vom  Mai  1898.  —  Reg.-Rat  Richter^ 
Beichenberg,  Das  gewerbl.  Bildungswesen  in 
Preu>ssen,  im  Oesterr.  Centralbl.,  X.  Suppl.  — 
Bayern.  Horvdth,  Das  bayer.  techn.  Unter- 
richts-wesen, Nürnberg  1875.  —  Die  Hauptergeb- 
nisse der  Unterrichtsstatistik  im  Eonigr.  Bayern, 
in  der  Zeitschr.  d.  kgl.  bayer.  stat.  Bureaus.  — 
Sachsen.  Verzeichnis  der  Gewerbe-,  Land" 
wirtschafts-  und  Handelsschulen  im  Geschäfts- 
bereiche des  königl.  sächs.  Min.  d,  Innern, 
Dresden  1898.  —  Vierter  Bericht  über  die 
gesamten  Unterrichts-  und  Erziehungsanstalten  im 
Kim igreich  SacJisen,  Dresden  1900.  (Beide  nicht  im 
Handel.)  —  Mitteilungen  über  die  Ausstel- 
lungen gewerbl.  Schulen  des  Konigr.  Sachsen, 
Dresden  1888  und  1898.  (Nicht  im  Handel.)  — 
W  ü  rttemberg.  Vincher ,  Die  industrielle 
Entwickelung  im  Kf'migreich  Württemberg,  Stutt- 
gart 1875.  —  Genauclc,  Die  gewerbl.  Erziehung 
im   Königreich    Württemberg,   Reichenberg   1882. 

—  Die  Entstehung  und  Entwickelung  der  ge- 
werblichen FortbildungsschiUen  und  Frauen- 
arbeitsschulen in  Württemberg,   2.  Aufl.,   Stuttg, 

Auflage.    IV.  39 


610 


Gewerblicher  Unterricht 


18S9.  (Amtlich.)  —  Katalog  der  (Württemberg.) 
LandeMchulausslellung,  Stuttg.  1899.  —  StatiS' 
tik  des  Unterrichts-  und  Erziehungswesens  im 
Königreich  Württemberg.  Auf  das  Schuljahr 
1897 j98  (amilich),  StuttgaH  1899.  —  Baden. 
Genauek,  Die  gewerbl»  Erziehung  im  Gross- 
herzogtum  Baden,  Reichenberg  1882.  —  Jahres- 
bericht des  GrossherzogL  badischen  Min.  des 
Innern  för  1889 — 96,  mit  eingehenden  Mitteilungen 
über  gewerbl,  Unterricht.  —  Statist.  Jahr- 
buch für  das  Grossherzogtum  Baden.  —  H. 
OeseUf  Präs.  der  Handelskammer  Pforzheim, 
Vorschläge  zur  Hebung  des  badischen  Gewerbe- 
wesens ,  Pforzheim  1891  (mit  Statistik).  — 
Hessen-Darmstadt.  Fink,  Die  Hand- 
werkerschulen, die  Landesgewerkschule  und  die 
Kunstgewerbeschulen  im  Grossherzogtum  Hessen, 
Darmstadt  1887.  —  (JährU  Statistik  der  gewerbl. 
UnterriArhlsanstalten   im  Gross  herzogtum  Hessen. 

—  (Jährt.)  Bericht  über  die  Thätigkeit  des  Ge- 
werbevereins für  das  Gross  herzogtum  Hessen  und 
der  grossherz.  CentralsteUe  für  die  Gewerbe.  — 
Oesterreich.  Biedermanfif  Die  techn.  Bil- 
dung im  Kaisertum  Oesterreich,  1854.  —  A,  F. 
Frhr,  v.  IHimretcher,  Die  P/lege  des  gewerbl. 
FortbUdungs-  und  Mittelschulwesens  durch  den 
österreichischen  Staat ^  Wien  1873.  —  Auszug 
aus  einem  ExposS  über  die  Organisation  des 
gewerblichen  Unterrichts  in  Oesterreich,  S.  Aufl., 
Wien  1876.  (Abdruck  aus  dem  Jahresberichte 
des  Kultusmin.)  —  v.  Dumreicher,  Ueber  die 
Aufgaben  der  Unterrichtspolitik  im  Industrie- 
staate Oesterreich,  Wien  1881.  —  Zur  Reorgani- 
sation des  geiverbl.  Unterrichts  in  Oesterreich. 
Bericht  der  Beichenberger  Handels-  und  Ge- 
werbekammer, Reichenberg  1881.  —  Organisation 
und  Budget  des  industriellen  Büdungstcesens  in 
Oesterreich  im  Jahre  1885,  Reichenberg  i.  B. 
1885.  —  Ad,  MÜUer,  Das  industrielle 
Bildungswesen  in  Oesterreich  1898.  (Abdruck 
aus  Mayrhofers  Verwaltungshandbuch.)  —  Her- 
selbe.  Das  gewerbl.  Bildungswesen  in  Oester- 
reich 1900.  (Oesterr.  Katalog  der  Pariser  Welt- 
ausstellung.) —  Reg.-Rat.  Frz,  Richter- Reichen- 
berg, Das  Gewerbeschulwesen  1895.  (Abdruck  aus 
dem  österr.  Staatswörterbuche  von  Mischler  und 
Ulbrich.)  —  Reg.-Rat  Zehden,  Zur  Ge- 
schichte des  kommerziellen  Bildungswesens  in 
Oesterreich  von  1848 — 98,  1897.  (Abdruck  aus 
dem  Centralbl.  f.  das  gewerbl.  Unterrichtswesen.) 

—  Die  gewerbl.  Fortbildungsschulen  in  Oester- 
reich. (Wichtigste  Normrcn  und  zulässige  Lehr- 
mittel.) Amtlich,  Wien  1897.  —  F,  Frhr,  x\ 
Klitnhurg,  Die  Entwickelung  des  gewerblichen 
Unterrichtswesens  in  Oesterreich,   Tübingen  1900. 

—  Ungarn.  Das  ungarische  Unterrichtswesen 
1885 — 87.  —  Aujizu^  aus  dem  Jahresberichte  des 
königl.  ungar.  Min.  f.  Kultus  und  Unterricht, 
Budapest  1888.  —  Jo8.  Szter^yiy  Landes- 
Oberstudiendirektor ,  Industrie  gewerbl.  und 
kommerzieller  Unterrichtswesen  in  Ungarn,  1897. 

—  Belgien.  Rapport  sur  la  Situation  de 
V  enseignement  industriel  et  pro/essionel  en 
Belgique  1884 — ^6>  Brux.  1897.  —  Schweiz. 
H,  Berulelt  Zur  Fra^e  der  gewerbl.  Erziehung 
in  der  Schweiz,  Winterthur  188S.  —  A,  Fur-rer, 
Volkswirtschafts-Lexikon  der  Schweiz,  Bern  1886. 
(Gewerbl.   Bildungswesen   Bd.  I,    S.    253 — S74.) 

—  Kataloge  der  Schweiz.  Aussteltungen  der 
gewerbl.  Schulen,  Zürich  1890,  Basel  189^,  Genf 
1896.  —  Verhandlungen  der  Schlusskonferenz  der 


1.  Schweiz.  Ausstellung  des  gewerblichen 
Fortbildungsschulwesens,  veröffentlicht  von  der 
Ausstellungskommission,  Zürich  1890.  —  H, 
Bendely  Heranbildung  von  Lehrkräften  für  dcu 
gewerbliche  und  industrielle  Bildungs^wesen, 
Bern  189S.  —  (Jährl.)  Berichte  des  eidgenöss. 
Handels-,  Industrie-  und  Landwirtschaftsdeparte- 
ments über  seine  Geschäftsgebarung.  —  Frank- 
reich. K,  Bücher,  Lehrling^rage  und  ge- 
werbliche Bildung  in  Frankreich,  Eisenach  1878. 

—  A.  Frhr,  v,  JHinireicher,  Ueber  den 
französischen  Nationcdwohlstand  als  Werk  der 
Erziehung,  Wien  1879  I.  —  W.  v,  N&rdlingy 
Ueber  das  technische  Schul-  und  Vereinswesen 
Frankreichs,  Wien  1881.  —  M.  Weigert,  Die 
Volksschule  und  der  geicerbliche  Unterricht  in 
Frankreich,  Berlin  1890.  —  Gobat  und  Hun^ 
ziker,  Bericht  über  den  öffenüichen  Unterrieht 
auf  der  Weltausstellung  1889  in  Paris,  Biel. 
1890  (besonders  über  die  französischen  Unter- 
richtsanstalten). —  England.  A.  Tyior,  In- 
dustrie und  Schule.  Müteilungen  atis  England, 
Stuttgart  1865.  —  Record  of  technieal  and  se- 
condary  educaiion,  London  1890 ff.  (6  Hefte 
jährlich).  —  Belgien.  C,  Oenauck,  Die  ge- 
wer bliclie  Erziehung  im  Königreich  Belgien, 
S Bde.,  Reichenberg  1886187.  —  A^o rdamerika. 
H,  Bach,  Der  gewerblich  •  technische  Unter- 
richt in  der  Nordamerikanischen  Union,  Frank- 
furt   a.    M.    1896.    —    c)     Webschulen.    H, 

Orothe,  Fachschulen  und  Unterrichtsanstalten 
für  TextüindustHe,  Berlin  1879.  —  d)  Weib- 
liche G ewerbeschulen.  C.  Schniid~Lin~ 
der,  Ueber  Einführung  von  Frauenarbeitsschulen 
(Abdruck  aus  der  Schweiz.  Zeitschr.  für  Ge- 
meinnütz.), Zürich  1886.  —  JR.  IHetrich,  Die 
schweizerischen  Schulen  und  Kurse  für  aügem. 
hausw.  und  beruß.  Fort-  und  Ausbildung  drs 
weiblichen  Geschlechts  (Abdruck  aus  derselben 
Zeitschr.),  Zürich  1892.  —  e)  Baugewerk- 
schulen. K,  MölUnger ,  Die  Baugewerk- 
schule als  Lehranstalt  zur  Ausbildung  von  Bau- 
handwerkstneistem,  Halle  1868.  —  Denkschr  ift, 
zur  Reorganisation  der  Baugewerkschulen,  im 
Attftrage  des  Verbandes  deutscher  Baugewerks- 
meister,  bearbeitet  von  Fetisch  und  Gramberg, 
Berlin  1877.  —  Beurteilung  der  1888  abgehal- 
tenen Auss  tellung  der  königl.  sächs.  Bau- 
gewerkenschulen,  Dresden  1888  (nicht  im  Handel). 

—  f)  Ha  n  de 8 schule  n.  J»  Cl<i88en,  Die 
Handelsakademie  von  Busch,  1865.  —  J»  Steg-- 
fried ,  Les  echtes  superieures  de  commerce, 
Mtdhouse  J870.  —  John  Yeats,  Higher  com- 
mercial  educaiion.  Journal  of  the  Society  of 
Arts  1878,  p.  207,  London.  —  H.  Lef^vre, 
Quelques  mots  sur  l' enseignement  commerrial  en 
France,  Paris  1879.  —  Jourdan  et  JDwmont, 
Etüde  sur  les  ecoles  de  commerce,  Paris  1886.  — 
E,  L/^autey ,  L* enseignement  commercial  en 
France  et  dans  le  monde  entier,  Paris  1887.  — 
A.  Lasche,  Das  kaufmännische  Bildungswesen 
in  der  Schiceiz,  Bern  1889.  —  Harry  Schmitt, 
Das  kaufm.  Fortbildungsschulwe^en  Deutschlands, 
Berlin  1892.  —  Veröffentlichungen  des  Deut- 
schen Verbandes  für  das  kaufmännische 
Unterrichtswesen.  Von  Oktober  1895  bii>  Oktober 
1899  10  Bde.  und  1  Uebersichtskarte.  —  Zeit- 
schrift für  das  gesamte  kaufmännische  Unter- 
richtswesen, Braunschweig  seit  1898.  —  JB. 
Zieger,  Handelsschden,  in  Beins  Encyklopäd. 
Handbuch  der  Pädagogik,  Langensalza  1897.  — 


Gewerblicher  Untemclit — Gewerkvereiae  (Allgemeines) 


611 


Derselbe,  LiUeratur  Über  das  gesamte  kau/m. 
r^nterrichts Wesen,  sowie  über  dk  1895 — 99  er- 
schienenen Lehrbücher  und  Lehrmittel  für  kauf- 
männische VnterricIUsanstalten ,  Bra  u  nsch  weig 
1899.  —  H,  M,  Richter,  Die  Entwickelung 
des  kaufmännischen  Unterrichts  in  Oesterreich, 
Wien-  188S,  —  JP.  Glasser,  Das  kommerzielle 
Bildungsweseti  in  Oesterreich  -  Ungarn  189S.  — 
A.  Klelbelf  Denkschrift  über  die  Entwickelung 
des  österreichischen  Handelsschulwesens  1848 — 98, 
Wien  1899.  —  C.  Zehden,  Zur  Geschichte  des 
kommerziellen  Bildungsiresens  in  Oesterreich 
1848  —  98.  —  Les  ecoles  de  commerce  et  Ven- 
seignement complemcntaire commercial en  Suisse , 
Beme  1896,  —  Ed.  J,  James,  Edncation  oj 
business  men.,  4  Bde.,  Xew-York  1891 — 9S,  ä. 
Aufl.  1898.  —  Ed.  tTourdan  et  O.  IHimont, 
Etüde  sur  les  ecoles  de  commerce  en  Allemagne 
ete.  (VEurope  moins  la  France)  et  aux  EUUs- 
Unis  d'Amerique,  Paris.  —  Becker,  Der  ge werbt, 
und  kaufmännische  Unterricht  in  England,  in 
Wychgrams  Deutscher  Zcitschr.  für  ausländ. 
Unterrichtswesen,  5.  Jahrg.  189911900.  —  Englische 
Cons^Uarberichte  Xr.  ^Pi — 508  über  kaufmänn. 
Unterrichtswesen.  —  Böhmert,  Handelshoch- 
schulen, Dresden  1897.  —  g)  Kunstgewerbe- 
schulen und  -museen.  Sehwabe,  Die  För- 
derung der  Kunstindustrie  in  England,  Berlin 
1866.  —  A,  V.  Zahn,  Bericht  über  die  Resul- 
tate des  KunstgewerbeunterricfUs  nach  den  Er- 
gebnissen der  Pariser  Ausstellung  von  1867, 
Leipzig  1868.  —  R,  Eitelbergers  v.  Edel" 
berg  gesammelte  kunsthistarische  Schriften,  IL 
Bd.,  Wien  1879.  —  A.  Itg,  Die  kunstgewerbl. 
Fachschulen   des  k.  k.  Handelsmin.,   Wien  1876. 

—  Das  k.  k.  österretchische  Museum  für  Kunst 
und  Industrie  und  die  k.  k.  Ktinstgewerbeschule 
in  Wien,  Wien  1886.  —  Das  k.  k.  österreichische 
Museum  für  Kunst  und  Industrie.  Festschrift, 
Wien  1889.  —  Das  Ilamburgische  Museum  für 
Kunst  und  Gewerbe,  Hamburg  188:^.  —  A. 
Ilfff  Studien  auf  dem  Gebiete  des  kunstgewerbl. 
UnterrielUs  in  Italien,  Wien  1875.  —  J. 
Falke,  JXe  Kunstindustrie  der  Gegenwart, 
1S68.  —  Derselbe j  Die  Kunst  im  Hause,  1872. 

—  Derselbe,  Aesthetik  des  Kunstgewerbes,  188S. 

—  B.  Bucher,  Die  Kunst  im  Handwerk,  S. 
Aufl.,  1888.  —  Derselbe,  Ueber  kunstgewerb- 
liche Fachbildung  in  den  preus»ischcn  Jahrb., 
Bd.  41.  —  W.  Lübcke,  Das  Kunsthandwerk 
in  Vergangenheit  und  Gegenwart,  1879.  —  Af. 
Meurer,  Iku  Studium  der  Nalurfonnen  an 
kunstgewerblichen  Schulen,  Berlin  1889.  — 
Marlus  Vachon,  Rapports  sur  les  Musees  et 
les  ecoles  d'art  industriel  en  Belgique  et  Hollande, 
Paris  1888.  —  Kunstgewerbeblatt,  Beiblatt  der 
Zeitschrift  für  bildende  Kunst,  N.  Folge,  1889 
und  ff.,  Leipzig.  —  Kunsthandbuch  für 
Deuisc/Uand,  5.  Aufl.  1897  (von  den  Kgl.  Museen 
in  Berlin  herausgegeben). 

III.  Technische  Hochschulen.  F,  B, 
W.  Hermann,  Ueber  polytechnische  Institute, 
1826.  —  Koristka,  Der  höhere  polytechnische 
Unterricht  in  Deutschland,  der  Schweiz,  Frank- 
reich, Belgien  und  England,  Gotha  186S.  — 
JK.  Karmarsch,  Die  polytechnische  Schule  in 
Hannover,  2.  Aufl.,  Hannover  1856.  —  Oberbau- 
rat Prof,  Baumeister,  Die  technischen  Hoch- 
schulen, Berlin  1886.  —  Festschriften  der 
technischen  Hochschulen  zu  Berlin,  Braunschweig, 
Darmstadt,     Dresden,     Hannover,     Karlsruhe, 


Zürich  etc.  —  Zöller,  Die  Universitäten  und 
technischen  Hochschulen,  Berlin  1891.  — 
Engineering  Edncation.  Proceeding  of  the 
World's  Eng.  Congress,  held  in  Chicago  1893. 
Colunibia  1894.  —  Engels,  Techn.  Hochschulen 
in  den  Verein.  St.  Xordamerika>s.    Leipzig  1894. 

—  Internat.  Congress  on  technical  edueation. 
Proceedings  nf  the  IV.  Meeting.  Held  in  London 
1897.  London  1897.  —  Hempel^Witt,  Die 
Vorbildung  der  Chemiker  für  die  Indtistrie 
(Chemische  Industrie  1896  Nr.  1).  —  Richard 
Lepsius,  Ueber  die  Methoden  des  Unterrichts 
auf  der  Technischen  Hochschule.  Darmstadt, 
1896.  —  Sclieffler,  Sachsens  Techn.  Hochschule 
1828—1898.  Dresden  1899.  —  A.  Riedlers 
Schriften:  Amerikanische  technische  Schulen, 
189S.  —  Zur  Frage  der  Ingenieurerziehung, 
1895.  —  Unsere  Hochschulen  und  die  Anforde- 
rungen des  20.  Jahrhunderts,  1898.  —  Die  tech- 
nischen Hochschulen  und  ihre  icissenschafüichen 
Bestrebungen,  1899.  —  Ueber  die  geschichtliche 
und  zukünßige  Bedeutung  der  Technik,  1900.  — 
Damm,  Die  technischen  Hochschulen  in  Preussen 
(Geschichte  und  Organisation),  Berlin  1899.  — 
Arnold,  Das  elektrotechnische  Institut  der 
technischen  Hochschule  in  Karlsruhe,  1899.  — 
JPourcy,  Histoire  de  l'eeole  polytechnique,  1828. 

—  JPinet,  Histoire  de  l'eeole  polytechnique, 
Paris  1887.  Carl  Rosclier. 


Gewerkschaft 

s.  Bergbau  oben  Bd.  II  S.  547 ff.  und  die 
folgenden  Artt.  Gewerkvereine. 


Gewerkvereine. 

I.  Die  G.  im  allgemeinen  (dogmatisch,  that- 
sächlich  und  kritisch)  (S.  611).  IL  Die  G.  in 
den  einzelnen  Staaten  (S.  623). 

L 

Die  Oewerkvereine  im  allgemeinen 

(dogmatisch,  thatsächlich  und 

kritisch). 

1.  Begriifliches.  2.  Die  rechtliche  und  wirt- 
schaftliche Auffassang  vom  freien  Arbeitsvertrag 
seitens  der  Gesetzgebung.  3.  Die  Auffassung  der 
Gesetzgebung  und  die  Wirklichkeit.  A.  Die  Gleich- 
berechtigung. B.  Der  nicht  organisierte  Arbeiter 
als  Verkäufer.  (Der  nicht  organisierte  Arbeiter 
und  die  Herrschaft  des  Arbeitgebers  über 
sein  nersönliches  Leben.  Die  Anpassung  des 
Angebots  der  Arbeit  an  die  Nachfrage.  Das 
Aufsuchen  des  besten  Marktes.  Regelung  des 
Arbeitsangebots  durch  Beschränkung  der  Nach- 
kommenschaf t.  Der  Arbeitsverkäufer  bei  sinken- 
der Nachfrage.  Bei  steigender  Nachfrage.)  C. 
Die  Gemeinsamkeit  der  Arbeitsbedingungen.  D. 
Die  Sicherheit  des  Arbeitsvertrags.  4.  Die  Or- 
ganisation der  G.  5.  Die  Bedeutung  dieser  Or- 
ganisation für  den  Arbeiter  als  Verkäufer.  6. 
Der  Schutz  der  Arbeitswilligen  und  der  Gilde- 
charakter der  G.  7.  Die  Organisationen  der 
Arbeitgeber.,  8.  Nachteile  und  Vorteile  der 
Arbeitskämpfe.  9.  Die  Stellung  der  G.  im 
Schieds-  und  Eini^ngsverfahren.  10.  Die  G. 
und  der  freie  Arbeitsvertrag. 

39* 


612 


Gewerkvereine  (Allgemeines) 


1.  Behilfliches.  Die  Gewerkvereine 
(Gewerkschaften,  Fachvereine)  sind  der  Ver- 
such der  lohnerhaltenden  Arbeiterklasse,  von 
Gewerbe  zu  Gewerbe  sich  korporativ  zu 
gestalten.  Indem  sie  ihre  Mitglieder,  falls 
sie  arbeitslos  weitlen,  unterstützen,  geben 
sie  dem  Lohnai'beiter  bei  Wahrnehmung 
seiner  Interessen  den  Rückhalt,  welchen 
andere  Interessenten  im  Besitze  eines  Ver- 
mögens finden.  An  einigen  Orten  hat  man 
neuerdings  kommunale  Versicherungen  für 
den  Fall  der  Arbeitslosigkeit  ins  Leben  ge- 
rufen. Der  Zweck  dieser  Versicherungen 
ist  mit  dem  der  Gewerkvereine  nicht  iden- 
tisch und  macht  sie  nicht  überflüssig.  Sie 
beschränken  ilire  Fürsorge  auf  das,  was  man 
wenig  treffend  unverschuldete  Arbeitslosig- 
keit nennt,  d.  h.  eine  Arbeitslosigkeit,  welche 
in  anderem  als  der  fehlenden  üeberein- 
stinmiung  von  Arbeitgebern  und  Arbeitern 
über  die  Arbeitsbedingungen  ihren  Grund 
hat.  Der  Begriff  der  unverechuldeten  Ar- 
beitslosigkeit setzt  somit  die  Existenz  von 
anerkannten  normalen  Arbeitsbedingungen 
voraus,  zu  denen  Arbeit  nicht  erhältlich  ist, 
einerlei  ob  diese  Arbeitsbedingungen  auf 
staatlicher  Festsetzung  beruhen  oder  ob, 
wie  in  England,  die  sogenannten  Gewerk- 
vereinslöhne  und  die  übrigen  Arbeitsbe- 
dingungen, auf  denen  die  Gewerkvereine 
bestehen,  als  die  normalen  Arbeitsbedingun- 
gen gelten;  ohne  Voraussetzung  von  nor- 
malen Arbeitsbedingungen  ist  eine  Feststel- 
lung des  Begriffs  der  unverschuldeten  Ar- 
beitslosigkeit nicht  denkbar:  denn  Arbeit, 
bei  welcher  von  einer  entsprechenden  Gegen- 
leistung abgesehen  \s'ird,  ist  allzeit  zu  finden. 
Wo  der  Staat  die  Arbeitsbedingungen,  ein- 
schliesslich des  Lohnes,  nicht  regelt,  setzt  die 
Versicherung  für  den  Fall  der  Arbeitslosig- 
keit also  die  Existenz  von  Gewerkvereinen 
voraus.  W^o  eine  solche  Versicheining  be- 
steht, nimmt  sie  dann  dem  Gewerkverein 
einen  Teil  der  ihm  zustehenden  Aufgabe 
ab,  nämlich  die  Fürsorge  für  diejenigen,  welche 
nicht  zu  den  anerkannt  normalen  Arbeits- 
bedingungen Arbeit  finden ;  den  Gewerkver- 
einen bleibt  alsdann  nur  die  Gewährung 
von  Zuschüssen  zu  der  von  ioner  Arbeits- 
losenversichorimg  gewährten  Unterstützung 
und  vor  allem  die  Unterstützung  derjenigen, 
die  aus  Anlass  der  Feststellung  jener  nor- 
malen Arbeitsbedingungen  beschäftigungslos 
werden.  Wo  es  dagegen  an  jener  Arbeits- 
losenversicherung fehlt,  ist  es  Aufgabe  der 
Ge  werk  vereine,  die  Arbeitslosen  zu  unter- 
stützen, gleichviel  ob  die  Ui-sache  ihrer  Ar- 
beit**losigkeit  in  der  allgenieinen  Ijage  des 
ArbeitsmiU'ktos  oder  in  felilender  Ueberein- 
stimmung  zwischen  Ai'beitgebor  und  Arbei- 
ter liegou  mag.  Somit  v^n-steht  man  unter 
Ge  werk  vereinen  Interessentenverbände,  be- 
stehend aus  Ijohnarbeitern  eines  und  des- 


selben Gewerbes,  die  durch  Fürsorge  füi' 
ihre  Mitglieder  bei  Arbeitslosigkeit  deren 
geraeinsame  Interessen,  namentlich  beim 
Abschluss  des  Arbeitsvertrages,  wahren. 

Die  Entstehung  und  Ent^ackelung  der 
Gewerkvereine  wird  bei  der  Erörterung  der 
Gewerkvereine  der  einzelnen  Länder  darge- 
legt werden.  Die  Rechtfertigung  ihres  Be- 
stehens liegt  darin,  dass  nur  diu-ch  sie  die 
Voraussetzimgen  verwirklicht  werden,  von 
denen  die  moderne  Gesetzgebung  über  den 
Arbeitsvertrag  ausgeht. 

2.  Die  rechtliche  und  wirtschaftliche 
Anffassang  vom  freien  Arbeitsvertrag 
seitens  der  Gesetzgebung.  Die  Geschichte 
kennt  nur  zwei  Arten  von  Arbeitsverhält- 
nissen. Bei  der  einen  beruht  die  Arbeit  auf 
einer  Pflicht  des  Arbeitenden,  bei  der  an- 
deren auf  Freiwilligkeit.  Die  erstere  ist 
das  Arbeitsverhältnis  der  Unfreiheit;  die 
zweite  beruht  auf  dem  freien  Vertrage 
zwischen  dem  Verkäufer  der  Arbeit  und 
deren  Käufer. 

Schon  die  römischen  Juristen  der 
Kaiserzeit  haben  hervorgehoben,  dass  die- 
selben Regeln  wie  für  den  Kaufvertrag 
für  den  Ai'beitsvertrag  des  Freien  oder  die 
Dienstmiete  massgebend  seien  (vgl.  Princ. 
I.  ni  24  de  locatione  et  conductione,  1.  2, 
D.  locati  conducti  19,  2,  Gaius  Inst  lll  142), 
und  ausdrücklich  erklärt,  wie  es  beim  Kauf 
und  Verkauf  naturgemäss  erlaubt  sei,  billiger 
zu  kaufen  imd  etwas,  was  weniger  wert  sei, 
tem*er  zu  verkaufen,  so  auch  beim  Arbeits- 
verti-ag  (1.  22,  §  3  D.  loc.  19,  2).  Hierauf 
kam  eine  Periode,  in  welcher  das  Arbeits- 
verhältnis nicht  auf  einem  Vertrag  zwischen 
Verkäufer  und  Käufer  der  Arbeit  beruhte, 
sondern  auf  Herrschaft  und  Pflicht.  Die 
deutsche  Rechtsentwickelung  hat  wieder 
mit  der  Unfreiheit  des  Arbeitsverhältnisses 
begonnen.  Anfänglich  gab  es  bei  den 
Germanen  keinen  Arbeitsvertrag.  Der  Ar- 
beiter war  Sklave.  Verträge  wurden  nicht 
mit  ihm,  sondern  über  ihn  abgeschlossen. 
Das  was  verkauft  wurde,  war  nicht  die  Ar- 
beit, sondern  die  Arbeitskraft.  Der  Käufer 
der  letzteren  erlangte  mit  dem  Kaufe  eine 
Herrschaft  tlber  den  Arbeiter  in  seiner 
zweifachen  RoUe  als  Produktionsmittel  und 
als  Mensch ;  in  beiden  Beziehungen  war  der 
Ai'beiter  ihm  unterworfen  wie  eine  Sache. 
Dafür  genoss  der  Arbeiter  je  nach  seinem 
Werte  alle  die  Sorgfalt,  welche  der  Eigen- 
tümer einem  nnihr  oder  minder  kostbai-en  Ver- 
mögensstück zu  teil  werden  lässt.  Allein 
bald  drängte  die  meusclüiche  Seite  des  Gutes, 
in  dem  hier  gehandelt  wird,  sich  in  den 
Vordergrund.  Sachen  krmnen  sich  nicht 
selbst  verwenden,  sondern  bedürfen  eines 
Geistes,  der  sie  verwendet ;  der  Sklave  kann 
sicih  selbst  verwenden,  wenn  er  nur  wiD. 
Die  Frage  ist,  wie  diesen  AVillen  am  zweck- 


Gewerkvereine  (Allgemeines) 


613 


massigsten  erzeugen.  Sie  fand  zunächst 
ihre  Lösung,  indem  an  die  Steile  der  Trieb- 
feder des  physischen  Zwanges  ein  gewisses 
eigenes  Interesse  an  der  Arbeit  gesetzt 
wurde ;  der  Kolone,  der  Hörige  erhielt  eine 
Wirtschaft  für  sich,  für  die  er  Dienste  und 
Abgaben  zu  entrichten  hatte.  Allein  obwohl 
der  Herr  nunmehr  nur  einen  Teil  des  Er- 
trags der  Arbeit  seines  Arbeiters  erhielt,  war 
dieser  Teil  grösser  als  der  ganze  Ertrag,  den 
er  vordem  von  ihm  bezog ;  denn  das  Selbst- 
interesse ist  ein  mächtigerer  Sporn  zur  Arbeit 
als  der  physische  Zwang.  So  wurde  dann  im 
Sklaven  der  Mensch  anerkannt  An  Stelle 
des  Sklaven  trat  der  Hörige.  Das  Arbeitsver- 
hältnis blieb  noch  das  reine  Herrschafts- 
verhältnis. Allein  der  Hörige  war  nicht  mehr 
Sache;  er  hatte  einen  Stand  und  damit  ein 
Recht.  Dieses  zog  der  Herrschaft,  die 
das  Arbeitsverhältnis  über  ihn  verhängt, 
die  Grenzen,  sowohl  der  Herrschaft  über 
ihn  als  Produktionsmittel  als  auch  der 
Herrschaft  über  ihn  als  Mensch.  Dabei  be- 
stand noch  ein  Interesse  des  Herrn,  für  ihn 
als  Produktionsinstniment,  und  eine  Pflicht 
desselben,  für  ihn  als  einen  rechtlich  Ab- 
hängigen zu  sorgen.  Die  weitere  Entwicke- 
iimg  von  der  Unfreiheit  wiu-de  dann  in  allen 
ihren  Einzelheiten  von  demselben  Interesse 
ah  (quantitativ  und  qualitativ  gesteigerten 
Arbeitsleistungen  beherrscht.  In  dem  Masse, 
in  dem  mit  der  Entwickelung  der  Volks- 
wirtschaft das  Bedürfnis  nach  grösserer 
und  besserer  Arbeit  eintrat,  wurde  daß  Selbst- 
interesse an  der  Arbeit  mehr  und  mehr  an 
die  Stelle  äusserer  Zwangsmittel  gesetzt, 
oder  mit  anderen  Worten  die  Hörigkeit 
wurde  gemildert  und  der  Mensch  mehr  und 
mehr  frei.  Schliesslich  erschien  es  als  ein 
Vorteil,  statt  missmutiger  Fröner  freie  Tag- 
löhner  zu  besitzen,  die  für  iliren  täglichen 
Unterhalt  davon  abhängig  waren,  ob  sie  ge- 
mietet wurden.  Dabei  liatte  man  den  weiteren 
Vorteil,  dass  man  den  Fröner,  der  in  Not 
geraten  war,  unterhalten  musste,  gegenüber 
dem  freien  Taglöhner  aber  die  Unter- 
stützungspflicht in  Notfällen  für  denjenigen, 
der  ihn  beschäftigte,  wegfiel.  Das  führte 
zur  Veränderung  des  rechtlichen  Charakters 
des  Arbeitsverhältnisses.  An  Stelle  des 
Vertrags  über  den  Arbeiter  trat  der  mit 
dem  Arbeiter,  an  Stelle  des  Verkaufes  der 
Arbeitskraft  der  Verkauf  der  Arbeit;  aus 
einem  Herrschaftsverhältnis  wurde  das  Ar- 
beitsverhältnis rechtlich  ein  blosses  Miets- 
verhältnis :  es  entstanden  der  Arbeitsvertrag 
und  die  Selbstverantwortlichkeit  des  Arbei- 
ters, für  den  Fall  der  Nol  für  sich  selbst 
zu  sorgen. 

Diese  Entwickelung  ist  in  der  Landwirt- 
schaft erst  im  19.  Jahrhundert  zum  Ab- 
schluss  gelangt.  Im  Gewerbe  begann  sie, 
als  die  Städter  ihrp  Freiheit  erkämpften  und 


damit  auch  aus  den  hörigen  Handwerkern 
der  in  den  Städten  gelegenen  Fronhöfe 
freie  Gewerbetreibende  wurden.  Allein  hier 
trat  an  Stelle  des  rechtlichen  Herrschafts- 
verhältnisses nicht  sofort  der  »freie« 
Arbeitsvertrag.  Das  Arbeitsverhältnis  blieb 
zunächst  auch  rechtlich  noch  ein  Herrschafts- 
verhältnis; der  Arbeitgeber  war  der  Herr, 
der  Arbeiter  der  Knecht ;  der  einzige  Unter- 
schied war,  dass  das  Arbeitsverhältnis  nicht 
auf  Geburt  beruhte,  sondern  vertragsmässig 
eingegangen  wurde.  Da  die  öffentliche 
Ordnung  es  aber  als  ein  Hen-schaftsverhält- 
nis  ansah,  zog  sie  der  Herrschaft,  die  hier 
über  einen  Freien  geübt  wurde,  auch  recht- 
lich Schranken.  Wir  haben,  vielfach  bis  in 
das  19.  Jahi'hundert,  ein  oft  bis  ins  Minu- 
tiöseste geregeltes  Recht  über  den  Ai-beits- 
verti'ag  der  gewerblichen  Arbeiter.  Nicht 
bloss  die  Zunftartikel  und  die  Innungsord- 
nungen enthalten  ein  Gesellenrecht.  Auch 
das  preussische  Landrecht  enthält  bis  tins 
einzelne  gehende  Vorschriften  über  An- 
nahme und  Entlassung  von  Lehrlingen  und 
Gesellen,  über  das  Recht  derselben  auf  die 
vorhandene  Arbeit,  über  Lohn  und  Kost  der 
Gesellen,  über  Verpflegung  der  erkrankten 
Gesellen,  über  Sonntagsarbeit  und  der- 
gleichen. Die  Entwickelung  dieses  Arbeiter- 
rechts im  Gewerbe  stand  unter  einem 
doppelten  Einflüsse;  unter  dem  der  Be- 
dürfnisse der  immer  intensiver  werdenden 
Volkswirtschaft  und  imter  dem  der  Ideeen 
der  in  den  Städten  sich  entwickelnden 
Civilisation.  Beide  vereinigten  sich  seit  dem 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  in  denselben 
Forderungen.  Die  Civilisation  verlangte  die 
Beseitigung  des  Herrschaftsverhältnisses  des 
Arbeitgebers  über  den  Arbeiter  im  Namen 
von  dessen  Recht  und  sittlicher  Pflicht, 
seine  Arbeitskraft  aufs  beste  auszunutzen 
und  seine  Fähigkeiten  zur  grösstmöglichen 
Entfaltung  zu  bringen.  Der  entstehende 
Grossbetneb  verlangte  das  gleiche,  um  durch 
die  von  der  alten  rechtlichen  Ordnung  seiner 
Herrschaft  gezogenen  Schranken  und  aufer- 
legten Lasten  nicht  beliindert  zu  w^erden. 
Da  kam  die  Gesetzgebung  des  19.  Jahr- 
hunderts, proklamierte  die  Gleichberechtigung 
von  Arbeitgeber  und  Arbeiter  beim  Ab- 
schluss  des  Arbeitsvertrags  und  beseitigte 
die  ganze  alte  rechtliche  Oixlnung  des 
Arbeitsverhältnisses.  Nun  wurde  aus  der 
Herrschaft,  dem  Herrn,  dem  Meister  der 
Arbeitgeber,  aus  dem  Knecht  und  Gesellen 
der  Arbeiter.  Nun  fielen  alle  Rechte  und 
Pflichten  auf  beiden  Seiten  ausser  denen, 
die  im  Kontiukt  zwischen  beiden  willkürlich 
vereinbart  werden.  Nun  wurde  aus  dem 
Herrschaftsverhältnis  rechtlich  das  reine 
Mietsverhältnis.  Damit  erhielten  an  Stelle  des 
alten  bestimmungsreichen  Arbeitsrechts  die 
Regeln  des  römischen  Rechts  über  den  Ar- 


614 


Gewerkvereine  (Allgemeines) 


beitsvertrag  des  Freien  wieder  praktische 
Oiltigkeit  Es  war  dies  naturgeraäss.  Schon 
Gaius  hebt  hervor,  dass  sie  bei  allen  Völkern 
dieselben  seien.  Daher  gelangten  sie  auch 
bei  Völkern  zur  Geltung,  welche,  wie  die 
Engländer,  das  römische  Recht  nie  recipiert 
hatten.  Diese  Aenderung  wurde  gestützt  von 
der  Auffassung  der  modernen  Nationalöko- 
nomie seit  Adam  Smith,  wonach  die  Arbeit  als 
ein  verkäufliches  Gut  wie  jedes  andere,  der 
Arbeiter  als  ein  Verkäufer,  der  Arbeitgeber 
als  der  Käufer  der  Arbeit  erschien.  In 
Deutschland  war  es  namentlich  Hermann, 
der  in  seinen  berühmten  staatswirtschaft- 
lichen Untersuchungen  die  Auffassung  des 
Arbeitsvertrags  als  Kaufvertrag,  des  Arbeiters 
als  eines  Verkäufers,  des  Arbeitgebers  als 
eines  Käufers  scharf  zur  Durcliführung  ge- 
bracht hat.  Entsprechend  dieser  Auffassung 
sagte  der  §  105  der  deutschen  Gewerbe- 
ordnung vom  21.  Juli  1869 :  »die  Festsetzung 
der  Verhältnisse  zwischen  den  selbständigen 
Gewerbetreibenden  und  ihren  Gesellen,  Ge- 
hülfen und  Lehrlingen  ist  Gegenstand  freier 
Uebereinkunft«. 

Somit  ist  der  Arbeiter  heute  nicht  mehr 
zur  Arbeit  verpflichtet,  ausser  soweit  er 
durch  Vertrag  solche  Verpflichtung  auf  sich 
nimmt.  Es  steht  daher  in  schreiendem 
Widerspruch  zur  bestehenden  Rechts-  und 
Wirtschaftsordnung,  wenn  man  in  neuester 
Zeit  (G.  von  Mayr,  Die  Pflicht  im  Wirt- 
schaftsieben,  Tübingen  1900)  zu  bestreiten 
sucht,  dass  das  heutige  Arbeitsverhältnis  das 
Verhältnis  zwischen  einem  Verkäufer  und 
einem  Käufer  sei,  und  den  Arbeitsvertrag 
als  auf  Grund  einer  Pflicht  des  Arbeiters, 
zu  arbeiten,  beruhend  hinstellt.  Eine 
solche  A\iffassung  erscheint  nur  verständlich, 
wenn  man  mit  Rodbertus  statt  von  der  Be- 
trachtung des  Seienden  auszugehen  ein  Ideal 
des  Seinsollenden  zum  Ausgangspunkt 
nimmt.  In  der  bestehenden  Ordnung  er- 
scheint die  Volkswirtschaft  als  die  Summe 
der  auf  Eigentum  und  Freiheit  beruhenden 
Einzelwirtschaften  von  Volksgenossen,  welche 
durch  Arbeitsteilung  und  Tausch  zu  einem 
Ganzen  verbunden  sind;  indem  jeder  ein- 
zelne unter  Achtung  des  gleichen  Rechts  der 
übrigen  ausschhesslich  seine  Interessen  ver- 
folgt, arbeitet  er  an  der  gemeinsamen  Be- 
friedigimg der  Bedürfnisse  der  ganzen 
Nation.  Nach  Rodbertus  erseheint  die  Volks- 
wirtschaft als  die  Wirtschaft  des  Volks  als 
Ganzes  gedacht,  bei  welcher  einem  jeden 
Stand  und  jedem  einzelnen  innerhalb  eines 
solchen  von  der  Gesamtheit  gewisse  wirt- 
scliaftliche  Funktionen  zur  Erfüllung  zuge- 
wiesen sind.  Eine  solche  Auffassung  steht 
ebenso  mit  den  Rechtsgrundlagen  der  l>e- 
stehenden  Gesellschaftsordnung  wie  mit  der 
Wirklichkeit  des  heutigen  Wirtschaftslebens 
in  Widerspnicli.     Niemand  hat  die  Auffas- 


sung von  der  Volkswirtschaft  als  von  einer 
in  einem  bestimmten  Subjekte  konC/entiierten 
Thätigkeit  schärfer  abgewiesen  als  Hermann 
in  der  von  G.  von  MajT  selbst  herausge- 
gebenen zweiten  Auflage  seiner  Staatswissen- 
schaftlichen Untersuchungen  (S.  33  ff.).  Etwas 
ähnliches  wie  die  geforderte,  auf  Pflicht  be- 
ruhende Wirtschafts-  und  Gesellschaftsord- 
nung hat  im  Mittelalter  bestanden ;  sie  hatte 
die  Unfreiheit  zur  Voraussetzung.  Damit 
zeigt  sich,  was  ihre  Einführung  in  der  Zu- 
kunft bedeuten  würde.  Es  wibde  dies  den 
Umsturz  der  Rechtsgrundlagen  der  bestehen- 
den Ordnimg  bedeuten  und  die  Einführung 
einer  Unfreiheit  der  Arbeiter,  ja  aller  ein- 
zelnen gegenüber  der  Gesamtheit  Nach 
dem  geltenden  Recht  hat  der  Arbeiter  keine 
andere  Pflicht  zur  Arbeit  als  die  in  freiem 
Vertrage  übernommene  und  ist  er  rechtlich 
vöUig  frei  und  un  verpflichtet,  einen  solchen 
Vertrag  abzuschliessen. 

3.  Die  Auffassung  der  Gesetzgebung 
und  die  Wirklichkeit  Die  Ersetzung  des 
alten  Arbeitsrechts  durch  das  Mietsrecht 
und  des  alten  Hen-schaftsverhältnisses  durch 
das  Verliältnis  zwischen  einem  Käufer  und 
einem  Verkäufer  bedeutete  für  die  Arbeiter 
nach  der  formalrechtlichen  Seite  einen  enor- 
men Fortschritt.  Damit  war  die  Gleichbe- 
rechtigung des  Arbeiters  mit  dem  Arbeitgeber 
durch  die  Gesetzgebung  principiell  anerkannt 
Wie  es  zwischen  dem  Vermieter  und  Mieter 
und  dem  Verkäufer  und  Käufer  kein  Ver- 
hältnis der  Unter-  und  Ueberordnung  giebt, 
so  war  damit  die  i-echtliche  Gleichheit  von 
Arbeiter  und  Arbeitgeber  beim  Abscliluss 
des  Arbeitsvertrags  offiziell  proklamiert. 
Allein  im  Gegensatz  zu  diesem  formalen 
Fortschritt  bedeutete  die  Aendenmg  eine 
grosse  materielle  Verschlechterung.  Die 
Voraussetzungen,  von  denen  die  Gesetz- 
gebung ausging,  als  sie  mit  der  Proklamie- 
rung der  Freiheit  des  Arbeitsvertrags  alle 
Bedingungen  gegeben  glaubte,  die  notwendig 
seien,  um  die  Kräfte  und  den  Wohlstand 
eines  jeden  zur  grösstmöglichen  Entfaltung 
zu  bringen,  fanden  in  der  Wirklichkeit  nicht 
ihre  Bestütigung. 

A.  Die  Gleichberechtigung.  Auf  der 
einen  Seite  steht  der  Arbeitgeber,  gewohnt, 
die  Arbeitsbedingungen  einseitig  festzustellen. 
Freilich,  in  dem  ihm  nunmehr  zustehenden 
Rechte,  bei  überfüUtem  Arbeitsmarkte  den 
Lohn  der  Marktlage  entsprechend  herabzu- 
setzen, ist  er  niu'  zu  bereit,  lediglich  die 
Anerkennung  un^\^de^stehlich  wirkender 
Naturgesetze  seitens  der  Gesetzgebung  zu 
erblicken;  dagegen  sieht  er,  erfüllt  von  Er- 
innerungen an  seine  fi-ühei^  Stellung  als 
Herr,  in  dem  Verlangen  der  Arbeiter,  dass 
der  Lohn  bei  steigender  Nachfrage  der 
Marktlage  entsprechend  erhöht  werde,  eine 
unberechtigte    Anmassur\g    und    in   ihrem 


öewerkvereine  (Allgemeines) 


615 


Anspruch,  bei  Feststellung  der  Arbeitsbe- 
dingungen mitzureden,  eine  unerträgliche 
ünbotmässigkeit  Er  verweigert  dem  Ar- 
beiter die  praktische  Anerkennung  der  ihm 
von  der  Gesetzgebung  zugewiesenen  Stellung. 
Ganz  ebenso  verhalten  sich  vielfach  auch 
noch  Behörden  imd  öffentliche  Meinung. 
Sie  sind  noch  weit  entfernt ,  ausnahmslos 
dem  Arbeiter  das  Recht  zuzuerkennen,  gleich 
jedem  anderen  Verkäufer  bei  steigender 
Kachfrage  bessere  Bedingungen  zu  fordern ; 
und  noch  häufiger  gaben  sie  Denunziationen 
Gehör,  wenn  Arbeiter  der  unberechtigten 
Einmischung  in  die  Betriebsleitung  be- 
schuldigt werden,  wo  sie  über  Arbeitsbe- 
dingungen, welche  ihre  Existenz  ebenso 
ernstlich  wie  die  Dauer  der  Arbeitszeit  oder 
die  Lohnhöhe  beeinflussen,  mitzureden  be- 
anspruchen. 

B.  Der  nicht  organisierte  Arbeiter 
als  Verkäufer.  Auf  der  anderen  Seite 
unterscheidet  sich  der  Arbeiter  als  Ver- 
käufer durch  zwei  Besonderheiteo.  Das 
Gut,  welches  der  Arbeiter  verkauft,  seine 
Arbeit,  ist  untrennbar  von  seiner  Per- 
son. Dabei  hat  der  Arbeiter  regelmässig 
nichts,  wovon  er  leben  kann,  als  den  Ver- 
kauf seiner  Arbeit.  Somit  ist  der  Arbeiter 
für  das  Gut,  das  er  verkauft,  nicht  verant^ 
wortlich.  Ohne  sein  Zuthun  kommt  er  zur 
Welt ;  indem  er  heranwächst,  entwickelt  sich 
mit  ihm  seine  Arbeitskraft,  während  seine 
Armut  ihn  nötigt,  die  Nutzung  derselben, 
seine  Arbeit,  fortwährend  zu  Markt  zu 
bringen,  um  nur  leben  zu  können.  Es  war 
also  wie  Hohn,  wenn  man  den  Arbeiter 
gleich  jedem  anderen  Verkäufer  für  die 
Verkaufsbedingungen,  die  er  erzielte,  in- 
dividuell verantwortlich  machte. 

Dieser  Fehler  in  den  Voraussetzungen 
der  Gesetzgebung  machte  in  doppelter  Weise 
sich  fühlbar.  Einmal  bringt  die  untrenn- 
bare Verbindung  der  Arbeit  mit  der  Person 
ihres  Verkäufers  es  mit  sich,  dass  deijenige, 
der  die  Arbeit  kauft,  damit,  und  zwar  not- 
wendig, auch  eine  Herrschaft  über  die  Per- 
son des  Arbeiters  erlangt.  Der  Ort,  an  dem 
die  Arbeit  geleistet  wird,  ist  notwendig 
auch  der  Aufenthaltsort  der  Person  des  Ar- 
beiters; seine  Beschaffenheit  ist  grundbe- 
dingend für  Leib  und  Leben  derselben.  Die 
Arbeitszeit  bestimmt  nicht  nur  die  Dauer, 
füi*  welche  die  Arbeit  geleistet  wird,  son- 
dern auch  das  Mass  der  Erschöpfung  der 
Person  des  Arbeiters,  das  Mass  der  Zeit, 
welche  ihm  zur  Erneuerung  seiner  Kräfte, 
zur  Erholung,  Erheiterung  und  Bildung,  zur 
Erfüllung  seiner  Pflichten  gegen  seine  Fa- 
milie, gegen  Gemeinde  und  Staat  bleibt. 
Die  Umgebung  des  Arbeiters  bei  seiner  Ar- 
beit, seine  Arbeitsgenossen,  bedeuten  nicht 
mvr  Förderung  oder  Beeinträchtigung  seiner 
Leistung,  sondern  auch  das  Mass,  in  dem 


ihm  Leib  xmd  Leben,  Denken  und  Sittüch- 
keit  während  der  Arbeitsleistung  durch  die, 
welchß  mit  üim  arbeiten,  gefährtlet  werden. 
Wer  die  Arbeitsbedingungen  bestimmt,  be- 
stimmt also  nicht  bloss  Mass  und  Preis  der 
Arbeit,  sondern  gleichzeitig  über  das  ganze 
physische,  geistige,  moralische  und  büi'ger- 
liche  Dasein    des  Arbeitei-s.     Bald  zeigten 
sich  die  Nachteile  der  einseitigen  Bestim- 
mung dieser  Arbeitsbedingungen  durch  den 
Arbeitgeber   so  gross,   dass  der  Staat  sich 
genötigt    sah,     gesetzliche    Bestinunungen 
zum  Schutze  der  Person   des  Arbeiters  zu 
erlassen.    Es  ist  der  Zweck  der  Arbeiter- 
schutzgesetzgebung, der  Herrschaft  des  Ar- 
beitgebers  über  die  Person    des  Arbeitere 
gesetzliche  Grenzen  zu  ziehen.  Daher  denn 
der  §  105  der  deutschen   Gewerbeordnung 
in   neuer  Fassung   dahin   geändert  wurde: 
»Die  Festsetzung  der  Verhältnisse  zwischen 
den    selbständigen   Gewerbetreibenden  und 
den  gewerblichen  Arbeitern  ist,  vorbelialtlich 
der  durch   Reichsgesetz    begründeten    Be- 
schränkungen,  Gegenstand  freier  Ueberein- 
kunft«.  Die  meisten  dieser  gesetzlichen  Be- 
schränkungen beziehen  sich  indes  nur  auf 
Frauen  und  Kinder;  es  bleibt  sonach  noch 
in  weitem  Masse  den  Arbeitern  selbst  über- 
lassen, sich  der  Hen^schaft  des  Arbeitgebers 
über  ihr  persönliches  Leben  zu  erwehren. 
Sodann,  da  die  Arbeitskraft  untrennbar 
ist  von  der  Person   ihres  Verkäufers  und 
mit  diesem  ziu*  Welt  kommt,  sich  entwickelt 
und  wä(;hst    und   die  regelmässige  Armut 
des  Arbeiters  ihn  zwingt,  die  Nutzung  seiner 
Arbeitskraft  fortwährend  zum  Verkauf  auf  den 
Markt  zu  bringen,  um  sein  Leben  zu  fristen, 
fehlt,  wo  er  sich  selbst  überlassen  ist,  die 
Voraussetzung,  von  der  die  Nationalökonomie 
und    die     Gesetzgebung    ausgingen,    dass 
nämlich  der  Arbeiter  gleich  anderen  Ver- 
käufern im  Stande  sei,  das  Angebot  des  von 
ihm  verkauftenGuts  der  Nachfrage  anzupassen. 
Dies  hat  da,wonichtmehr  das  Herkommen 
den  Lohnsatz  bestimmt   und   noch  nicht 
die  Organisation  der  Arbeiter  den  Druck  der 
Beschäftigungslosen  abhält,  für  den  mit  Durch- 
schnittseigenschaften  begabten  Arbeiter  fol- 
gende Wirkungen :  Wo  und  in  welchem  Ge- 
werbe der  Arbeiter  die  Nutzung  seiner  Ar- 
beitskraft zum  Verkaufe  zu  Markte  bringt, 
hängt  nicht  ab  von  der  Marktlage  des  Ge- 
werbes, denn  seine  Armut  ermöglicht  ihm 
weder  diese  zu  kennen  noch  auszunutzen.    Er 
bietet  seine  Arbeit  in  einem  Gewerbe  und 
an  einem  Orte   entsprechend  den  Verhält- 
nissen  an,   in   die   er  hineingeboren  wird. 
Hat  er  einmal  ein  Gewerbe  erlernt,  so  ist 
es  ihm  schwer,  oft   unmöglich,   zu  einem 
anderen   überzugehen;    ja  häufig  giebt  es 
auf  einander  folgende  Generationen,  die  trotz 
dironischea  Sinkens  ihres  Gewerbes  immer 
in  demßelben  ausharren.    Desgleichen  setzt 


616 


Gewerkvereine  (Allgemeines) 


ihn  seine  Annut  meist  ausser  stand,  einen 
anderen  Markt  für  das  Gut,  das  er  verkauft, 
aufzusuchen.  Das  UtopistiscliBte  aber  ist,  dass 
er  im  stände  wäre,  durch  Beschränkung  in 
der  Nachkommenschaft  auf  den  Arbeits- 
markt einzuwirken;  denn  würde  auch  der 
einzelne  auf  die  Ehe  völlig  verzichten,  so 
schüfe  das  nur  um  so  mehr  Raum  für  die 
Nachkommenschaft  anderer,  und  das  Selbste 
interesse  des  einzelnen  veranlasst  diese 
anderen  gerade,  zu  heiraten;  denn  einmal 
wird  damit  ilir  Einkommen  um  das  der 
Arbeiterin  vermehrt,  während  fürs  erste  die 
Ausgaben  in  vei'einter  Wirtschaft  geringer 
werden,  und  sodann  kennen  sie  bei  ihrer 
grossen  Armut  ausser  den  geschlechtlichen 
keine  Genüsse.  Aber  selbst,  wenn  alle  Ar- 
beiter eines  Landes  sich  des  Kinderzeugens 
enthielten,  würde  ilir  Verhalten  nur  erfolg- 
reich sein,  wenn  man  nicht  fremde  Arbeiter 
in  dem  Masse  heranzöge,  als  eine  Minde- 
rung der  Arbeiterzahl  eintreten  würde.  Der 
geschlechtliche  Strike  müsste  also  ein  inter- 
nationaler seiij,  und  selbst  dann  würde  dies 
bestenfalls  erst  das  Arbeitsangebot  einer  zu- 
künftigen Generation  mindern.  Sinkt  die 
Nachfrage  nach  Arbeit,  so  ist  der  vereinzelte 
Arbeiter  ferner  völlig  ausser  stand,  sein 
Angebot  zu  mindern;  im  Gegenteü,  nimmt 
die  Nachfrage  ab,  so  nimmt  sein  Angebot 
notwendig  zu,  denn  um  zu  der  geringeren 
Zahl  zu  gehören,  die  nun  Beschäftigung 
findet,  m\iss  er  mehr  Arbeit  für  einen  ge- 
ringeren Preis  als  andere  bieten.  Dies  führt 
zu  einer  Verlängerung  der  Arbeitszeit,  d.  h. 
zu  einer  Mehrung  des  Angebotes  von  Arbeit, 
infolge  deren  noch  mehr  Arbeiter  iKJSchäf- 
tigungslos  bleiben  und  der  Lohn  noch  tiefer 
sinkt.  So  führt  denn,  einerlei  was  die  Ur- 
sache des  Sinkens  sein  mag,  ob  ein  Ausfall 
in  der  Nachfrage  nach  dem  Produkt  oder  die 
Einführung  von  Maschinen,  ein  jedes  Sinken 
in  der  Nachfrage  nach  Arbeit  ziu:  Entstehung 
einer  Reservearmee  von  Unbeschäftigten, 
die  von  der  Armenpflege,  durch  Laster  imd 
Verbrechen  erhalten  werden  und  deren  Vor- 
handensein den  Lohn  der  Beschäftigten 
drückt.  Steigt  aber  die  Nachfrage  nach  Ar- 
beit, so  sind  die  vereinzelt  auftretenden 
Arbeiter  nicht  wie  die  Verkäufer  anderer 
Waren  im  stand,  sobald  die  Nachfi-age  steigt, 
eine  Erhöhung  der  Preise  zu  erzielen.  Denn 
nun  erhält  zunächst  nur  die  Zahl  der  Un- 
beschäftigten, welche  beim  vorhergehenden 
Sinken  der  Nachfrage  ihre  Arbeit  verlor, 
wieder  Beschäftigung.  Es  rückt  jene  Re- 
servearmee zunächst  wieder  ein.  Erst  wenn 
die  Nachfrage  in  so  beträchtlichem  Masse 
steigt,  dass  diese  Reservearmee  zu  ihrer 
Befriedigimg  nicht  ausreicht,  also  nicht  bei 
jedem  Steigen  der  Nachfrage,  vergleichs- 
weise spät  und  viel  unerheblicher  wie  der 
Preis  anderer  Waren,  steigt  auch  der  Preis 


der  Arbeit.  Ist  die  Lohnerhöhung  von 
Dauer,  so  kann  nun  die  Lebenshaltung  er- 
höht und  die  Grenze,  unter  die  der  Lohn 
nicht  mehr  sinkt,  hinausgerückt  werden. 
Währt  die  Lohnerhöhung  aber  nur  kurz  — 
und  durch  die  Verspätung  ihres  Eintretens 
wird  ihre  Dauer  verkürzt  —  so  hat  dies 
nur  die  Wirkung,  dass  die  neuen  Arbeiter, 
welche  bei  steigendem  Lohne  aus  anderen 
Beschäftigungen  in  das  Gewerbe,  in  dem 
die  Lohnerhöhung  stattfand,  und  aus  frem- 
den Ländern  herangezogen  woi*den  sind, 
nun  beim  Wiedersinken  der  Nachfrage  die 
Zahl  der  Beschäftigimgslosen  vermehren. 
Durch  den  Wettbewerb  einer  grösseren 
Zahl  von  Arbeitern,  die,  um  Beschäftigung 
zu  finden,  sich  auf  dem  Markte  gegenseitig 
unterbieten,  sinkt  dann  der  Lohn  um  so 
rascher  auf  das  Mass  des  nach  der  Lebens- 
haltung, d.  h.  des  zur  Fristung  des  Lebens 
und  zur  Fortpflanzung  der  Arbeiterbevölke- 
rung gewohnheitsmässig  Unentbehrlichen 
herab.  Dass  da,  wo  der  Arbeitgeber  mit 
Leichtigkeit  Arbeitswillige  findet,  die  selbst 
einer  plötzlichen  Vermehrung  in  den  Be- 
stellungen genügen,  der  Lohn  sogar  unter 
das  Minimum  dessen  sinken  kann,  was  zu 
einem  ehrbaren  Leben  nötig  ist,  zeigen  die 
Zustände,  wie  sie  z.  B.  in  der  Konfektions- 
industrie herrschen. 

C.  Die  Ghemeinsamkeit  der  Arbeits- 
bedingungen. Als  Turgot  und  A.  Smith 
im  Interesse  des  Arbeiters  die  Ersetzung 
der  gesetzhchen  Regehmg  der  Arbeitsbe- 
dingungen durch  die  Freiheit  der  Arbeit 
und  den  freien  Arbeitsvertrag  verlaugten, 
hatten  sie  kleingewerblicho  Verhältnisse  vor 
Augen.  Die  tiberwiegende  Mehrzahl  der 
selbständigen  Gewerbetreibenden  bestand  aus 
AUeinmeistern ;  die  übrigen  hatten  als  Regel 
nur  1  bis  2  Arbeiter.  Selbst  in  der  Manu- 
faktur und  Hausindustrie  Englands  kamen 
noch  1806  auf  einen  Meister  regelmässig 
nur  bis  zu  10  Arbeitern  und  Lehrlingen. 
Da  es  weit  weniger  Ai-beiter  als  Meister 
gab  und  jeder  Meister,  wenn  er  überhaupt 
Arbeiter  beschäftigte,  nur  eine  geringfügige 
Anzahl  beschäftigte,  war  der  Vertrag  zwischen 
Arbeitgeber  imd  Arbeiter  ein  individueller. 
Die  Arbeitsbedingungen,  die  in  ihm  festge- 
setzt wurden,  konnten  für  jeden  Arbeiter 
besondere  sein.  Es  konnte  also  der  Ge- 
danke entstehen,  dass  es  genüge,  die  bis- 
herigen Eingriffe  der  Behörden  in  die  Ar- 
beitsbedingungen zu  beseitigen,  um  die  Frei- 
heit der  Arbeit  zur  Wahrheit  zu  machen. 
Bei  der  geringfügigen  Zahl  der  Arbeiter  im- 
Verhältnis  zur  Zahl  der  Meister  erschien 
dies  ausreichend,  um  jeden  in  stand  zu 
setzen,  sein  Interesse  zu  wahren.  Waren 
die  Lohnbedingungen  zu  schlecht,  so  blieb, 
sobald  die  gesetzlichen  Schranken  selbstän- 
diger gewerblicher  Niederlassung  beseitigt 


Gewerkvereiae  (Allgemeines) 


617 


waren,  ja  jedem  Arbeiter  die  Möglichkeit, 
sich  als  Alleinmeister  in  seinem  Gewerbe 
niederzulassen. 

Allein  nun  trat  an  Stelle  des  gewerb- 
lichen Kleinbetriebes  der  Grossbetrieb;  an 
Stelle  von  Älleinmeistem  oder  Meistern,  die 
nur  eine  geringfügige  Zahl  von  Gesellen 
beschäftigten,  traten  gewerblicheünternehraer 
mit  Hunderten,  ja  mitunter  Tausenden  von 
Arbeitern;  an  die  SteUe  von  individuellen 
Arbeitsbedingungen  traten  solche,  welche 
für  diese  Hunderte  und  Tausende  gemein- 
sam waren.  Denn  im  modernen  Gewerbe- 
betriebe können  die  Arbeitsbedingungen  nur 
noch  ausnahmsweise  individuelle  sein.  Ist 
doch  die  gesamte  Produktion  eine  gemein- 
same und  erheischt  eine  gleichmässige  Be- 
handlung der  darin  beschäftigten  Arbeiter 
zugleich.  Es  gilt  dies  sowohl  für  Lohner- 
höhungen und  Lohnherabsetzungen  als  auch 
für  die  übrigen  Ai'beitsbedingimgen.  Daher 
denn  auch  durch  das  thatsächliche  Verhalten 
der  Arbeitgeber  wie  der  Gesetzgebung  an- 
erkannt ist,  dass  es,  von  gewissen  Aus- 
nahmefällen abgesehen,  im  gewerblichen 
Grossbetrieb  individuelle  Arbeitsbedingimgen 
gar  nicht  mehr  giebt.  Sie  sind  in  den 
meisten  FäUen  heute  weder  technisch  noch 
ökonomisch  mehr  möglich.  Dabei  ist  jeder 
einzelne  unter  den  Hunderten  und  Tausen- 
den, welche  unter  gemeinsamen  Bedingungen 
arbeiten,  durch  andere  beliebig  ersetzhch. 
Die  Folge  einer  Festsetzung  der  einer  Ge- 
samtheit von  Arbeitern  gemeinsamen  Ar- 
beitsbedingungen mit  jedem  einzelnen  dieser 
Gesamtheit  ist  daher,  dass  die  Bedingungen, 
auf  welche  die  Schwächsten  dieser  Gesamt- 
heit sich  einzulassen  sich  genötigt  sehen,  für 
alle  massgebend  werden. 

D.  Die  Sicherheit  des  Arbeitsvertrags. 
A.  Smith  hatte,,  um  dem  Arbeiter  gleiche 
Berechtigung  und  Einfluss  bei  Festsetzung 
des  Arbeitsvertrags  zu  verschaffen,  nichts 
anderes  als  Freiheit  des  einzelnen  verlangt. 
AUein  weit  entfernt,  dass  der  Arbeiter  im 
Stande  wäre,  das  Ajigebot  des  Gutes^  das  er  ver- 
kauft, der  Nachfrage  anzupassen,  ist  der  ver- 
einzelte Arbeiter  gezwungen,  seine  Arbeit  vor- 
behaltlos anzubieten,  und  vermöge  der  Gemein- 
samkeit der  heutigen  Produktionsbedingungen 
werden  die  mit  dem  Schwächsten  unter  den 
vereinzelten  Arbeitern  vereinbarten  Arbeits- 
bedingungen massgebend  für  alle.  So  ist 
an  die  Stelle  des  »heiligsten  und  unver- 
letzlichsten Hechts«  eines  jeden,  seine  Ar- 
beitskraft möglichst  gut  zu  verwerten,  die 
Unfähigkeit  der  vereinzelten  Arbeiter,  auf 
diese  Verwertung  überhaupt  Einfluss  zu 
üben,  getreten,  an  die  Stelle  der  Freiheit 
der  Arbeit  die  Freiheit  ihres  Käufers,  des 
Arbeitgebers,  der  Arbeit  die  Bedingungen 
einseitig  zu  diktieren.  Es  ist  dann  lediglich 
Sache  des  Charakters  des  in  Frage  kommen- 


den Arbeitgebers,  ob  die  Arbeiter  auf  das 
Minimum  der  Lebensnotdurft  herabgedrückt 
werden.  Davon  hat  aber  nicht  nur  der  Ar- 
beiter schweren  Nachteil,  sondern  unter 
Umständen  auch  der  Arbeitgeber;  denn  der 
Arbeiter  ist  wenig  geneigt,  die  ihm  so  ein- 
seitig auferlegten,  ungenügenden  Arbeitsbe- 
dingungen als  gerechte  und  ihn  sittlich 
bindende  anzuerkennen.  Er  bricht  diesen 
Arbeitsvertrag,  sobald  ihm  dies  aus  dem 
einen  oder  anderen  Gnmd  als  vorteilhaft 
erscheint;  und  während  das  Recht  den  Ar- 
beitgeber für  die  Sicherung  des  Arbeitsver- 
trags darauf  verweist,  dass  er  vom  Vertrags- 
brüchigen Arbeiter  Schadenersatz  erlangt, 
ist  da,  wo  der  Arbeiter  sich  selbst  über- 
lassen ist,  keinerlei  Sicherheit  vorhanden, 
dass  der  Arbeiter  den  ihm  einseitig  aufer- 
legten Arbeitsvertrag  beachte. 

4.  Die  Organisatioii  der  6.  Alle  diese 
Missstände  werden  durch  die  Organisation 
der  Arbeiter  in  Gewerkvereine  behoben. 
Nimmt  man  die  am  vollkommensten  organi- 
sierten Gewerkvereine  zum  Muster,  so  lässt 
sich  die  Organisation  und  Thätigkeit  der 
Gewerkvereine  als  die  folgende  bezeichnen : 

Der  Gewerkverein  umfasst  nur  die  in 
dem  Gewerbe  thätigen  Arbeiter,  deren  ge- 
werbliche Interessen  völlig  identisch  sind, 
hat  dagegen  die  Tendenz,  alle  diese  Arbeiter 
an  allen  Orten   eines  Landes   zu  umfassen. 

An  jedem  Orte  des  Landes,  an  dem  das 
beti'effende  Gewerbe  betrieben  wird  und  an 
dem  Mitglieder  wohnen,  werden  Zweig- 
vereine gegründet.  Für  je  eine  bestimmte 
Zahl  von  Mitgliedern  an  einem  Orte  besteht 
ein  besonderer  Zweigverein.  Die  Leitung 
jedes  Zweigvereins  ruht  bei  der  Zweigver- 
sammlung und  dem  Zweigsekretär. 

Der  Ort  des  Landes,  an  dem  ein  Ge- 
werbe seinen  Wohnsitz  hat,  ist  der  Sitz  des 
Exekutivausschusses  des  Gewerkvereins.  Die 
Mitglieder  und  der  Präsident  desselben  wer- 
den von  den  verschiedenen  Zweigvereinen 
des  Hauptortes  aus  ihrer  Mitte  für  gewisse 
kurze  Perioden  gewählt.  Der  Generalsekre- 
tär wird  durch  allgemeine  Abstimmung  der 
Mitglieder  des  ganzen  Gewerkvereins  für 
Penoden  von  10  Jahren  gewählt  und  be- 
soldet. Er  korrespondiert  mit  den  Zweig- 
vereinen und  referiert  dem  Exekutivaus- 
schuss.  Dieser  hat  die  Entscheidung.  Doch 
ist  das  Votum  des  Generalsekretärs  als  des  ver- 
möge seiner  dauernden  Stellung  an  der  Spitze 
grössten  Sachverständigen  regelmässig  von 
massgebendem  Einfluss.  Mitunter  steht  dem 
Generalsekretär  ein  Stab  von  weiteren  Sach- 
verständigen für  einzelne  Distrikte  und  von 
ihm  untei-geordneten  Organisatoren  zur  Seite. 

Die  Mitglieder  der  Gewerkvereine  zahlen 
Eintrittsgelder  und  wöchentliche  Beiträge. 
Ausserdem  bestimmen  die  Statuten,  dass,  im 
Falle    die   Unterstützung    der    Arbeitslosen 


618 


Gewerkvereine  (Allgemeines) 


einmal  vorilbergehend  mehr  Gelder  bean- 
spruchen sollte,  als  deren  Quellen  ergeben, 
der  Exekutivausschuss,  nachdem  die  Mehr- 
heit der  Mitglieder  in  allgemeiner  Abstim- 
mimg zugestimmt  hat,  eine  ausserordentliche 
Umlage  von  allen  Mitgliedern  ausschreiben 
soU.  Die  Zweigvereine  haben  alle  eingehen- 
den Gelder  einzunehmen  und  zu  verwalten. 
Doch  gehören  dieselben  nicht  den  Zweig- 
vereinen, sondern  dem  Gewerkvereine ;  der 
Exekutivausschuss  kann  jeden  AugenbUck 
über  die  Gelder  jedes  Zweiges  verfügen; 
früher  fand  alle  halbe  Jahre  oder  alle  Jahre 
die  Ausgleichung  der  Gelder  statt,  d.  h.  das 
vorhandene  Vermögen  wurde  an  die  einzel- 
nen Zweige  im  Verhältnis  zu  ihrer  Mit- 
gliederzahl verteilt;  heute  wird  es,  wo  die 
Gewerkvereine  Rechtsfähigkeit  erlangt  haben, 
auf  ihren  Namen  bei  Banken  angelegt. 

Nicht  jeder  Arbeiter  wird  als  Mitglied 
aufgenommen,  sondern  mu*  derjenige,  der 
seine  Tüchtigkeit  als  Arbeiter  nachweisen 
kann:  durch  die  Bürgschaft  zweier  Mit- 
glieder, dass  der  Aufzunehmende  ein  tüch- 
tiger Arbeiter  ist,  und  durch  den  Nachweis, 
dass  er  den  in  diesem  Distrikte  herrschen- 
den allgemeinen  Lohnsatz  verdienen  kann. 
Stellt  sich  nach  der  Aufnahme  heraus,  dass 
der  Aufgenommene  wegen  üntüchtigkeit 
hierzu  nicht  im  stände  ist,  so  wird  er  aus- 
geschlossen. Die  Gewerkvereine  fordern 
also  ein  Lohnminimum,  sie  fordern  es  aber 
nicht  von  den  Arbeitgebern,  sondern  von 
den  Arbeitern,  und  zwar  weil  die  Erfahrung 
gelehrt  hat,  dass  das  Angebot  von  Arbeit 
zu  niedrigerem  Lohne  seitens  untüchtiger 
Arbeiter  von  Arbeitgebern  mit  Erfolg  dazu 
benutzt  werden  kann,  den  Lohn  der  Tüch- 
tigen herabzudnicken.  In  den  Gewerben, 
in  denen  eine  Lehrzeit  vorkommt,  kommt 
zu  diesen  Erfordernissen  der  Aufnahme 
noch  der  Nachweis  der  zurückgelegten  Lehr- 
zeit. Für  die  ungelernten  Arbeiter  dagegen 
ist  der  Bescliiuss  des  Exekutivausschusses 
des  Londoner  Dockarbeitervereins  vom 
August  1890  charakteristisch :  »In  Anbetracht, 
dass  die  Zahl  der  Mitglieder  des  Ijondoner 
Dockarbeitervereins  der  Nachfrage  nach 
Dockarbeit  in  London  völlig  entspi^echend 
ist,  sind  die  Zweig vei-einssekretäre  ange- 
wiesen, nach  dem  13.  August  1890  keine 
Kandidaten  für  die  Mitgliedschaft  mehr  an- 
zrmehmen  ausser  auf  Grund  specieller  Ge- 
nehmigung seitens  der  Distriktausschüsse, 
imd  die  Distriktausschüsse  zu  belehren,  dass 
Männer,  die  als  physisch  schwach  oder  aus 
anderen  Gründen  untüchtig  bekannt  sind, 
unter  keinen  Umständen  zuzulassen  sind«L ; 
mit  anderen  Worten  zu  der  Sorge,  die  Un- 
tüchtigen vom  Gewerbe  fernzuhalten,  gesellt 
sich  die  Tendenz,  einer  Ueberfülluug  des- 
selben durch  Schliessen  der  MitgUederzahl 
des  Gewerkvereins  vorzubeugen  und  für  die 


so  Ausgeschlossenen  andei-weitige  Beschäf- 
tigimg zu  bescliaffen. 

Glaubt  ein  Mitglied,  welches  ein  tüch- 
tiger Arbeiter  ist,  den  seiner  Arbeit  ent- 
sprechenden Lohn  nicht  zu  erhalten,  so  kann 
es  dem  Zweige  des  Gewerkvereins,  dem  es 
angehört  seine  Beschwerde  vortragen.  Findet 
dör  Zweig  dieselbe  gerecht  und  wird  der 
einzelne  hierauf  mit  einer  Bitte  um  Lohn- 
erhöhung zurückgewiesen,  so  erhält  er  Unter- 
stützung, wenn  er  die  Arbeit  verJässt,  bis 
er  wieder  Arbeit  findet  —  das  sogenannte 
Geschenk  (donation).  Findet  der  Zweig  je- 
doch, dass  er  nach  Verdienst  gelolmt  wird, 
so  yvii'd  seine  Beschwerde  zurückgewiesen 
und  er  erhält  nichts,  wenn  er  die  Arbeit 
einstellt  Ganz  ebenso  ist  der  Hergang, 
wenn  andere  Arbeitsbedinij'ungen  als  der 
Lohn  ein  Mitglied  zur  Niederlegung  der 
Arbeit  veranlassen.  Und  wenn  es  wegen 
mangelnder  Nachfrage  nach  Arbeit  zu  den 
vom  Gewerkvereine  festgelialtenen  Bedin- 
gungen Arbeit  nicht  findet,  erhält  es,  so- 
lange es  arbeitslos  ist,  gleichfalls  das  Ge- 
schenk. 

Um  die  Ausgaben,  welche  diese  Unter- 
stützung verursacht,  zu  mindern,  muss  an 
jedem  Orte,  an  dem  ein  Zweig  eines  Ge- 
werkvereins besteht  der  Zweigsekretär  über 
die  Mitglieder,  die  ausser  Arbeit  sind.  Buch 
führen,  und  sobald  in  ii'gend  einer  Werk- 
stätte des  Ortes  eine  Arbeitsstelle  erledigt 
ist,  wird  ein  Arbeiter  hinbeordert,  um  nach 
Arbeit  zu  fi-agen.  Von  grösserer  Bedeutung 
ist,  dass  die  Zweigsekretäre  jeden  Monat 
die  Zahl  der  arbeitslosen  Mitglieder  ihres 
Zweiges  und  der  unbesetzten  ArbeitssteUeu 
am  Orte  anzeigen,  die  Qualität  der  unl)e- 
schi^tigten  Arbeiter  und  der  erledigten  Ar- 
beitsstellen genau  bezeichnen  und  mit  kurzen 
Worten  über  den  Stand  des  Gewerbes  ly- 
nchten müssen.  Sobald  der  Generalsekretär 
diese  Berichte  erhält,  sendet  er  die  be- 
schäftigungslosen Mitglieder  auf  Kosten  des 
Vereins  von  einem  Oii«,  wo  das  Gewerbe 
schlecht  steht,  an  einen  anderen,  wo  Ar- 
iKjiter  begehrt  weixlen. 

Ist  al)er  ein  Zweig  der  Meinung,  die 
allgemeine  Lage  des  Gewerbes  rechtfertige 
es,  wenn  die  in  demselben  bescliäftigten 
Arl)eiter  eine  allgemeine  Lohnerhöhung  um 
bestimmte  Prozentsätze  oder  die  Besserung 
anderer  Arbeitsbedingimgen  verlangten  oder 
einer  aUgeraeinen  Lohnherabsetzung  oder 
der  Verschlechterung  anderer  Arbeitsbedin- 
gungen sich  zu  fügen  verweigerten,  so  muss 
der  Zweig  an  den  Exekutivausschuss  des 
Vereins  berichten.  Billigt  dieser  das  Vor- 
haben der  Zweigmitglieder  nicht,  so  erhalten 
dieselben  keine  Unterstützung,  faUs  es  zu 
einer  Arl)eitseinstellung  oder  Ausspemmg 
kommt  Stimmt  der  Exekutivausschuss  da- 
gegen dem  Vorliaben  zu,  so  entsenden  die 


Gewerkvereine  (Allgemeines) 


619 


Arbeiter  an  dem  Orte  des  betreffenden 
Zweiges  eine  Deputation  an  den  oder  die 
in  Frage  stehenden  Arbeitgeber,  um  ihre 
Beschwerde  vorzutragen.  Die  Sache  wird 
dann  hin-  und  herbesprochen,  und  oft  er- 
halten die  Arbeiter,  was  sie  begehren,  oder 
€s  kommt  ein  Ausgleich  zu  stände.  Ist  dies 
aber  nicht  der  Fall  oder  weigern  sich  die 
Arbeitgeber,  die  Deputation  zu  empfangen, 
so  legen  die  Arbeiter  die  Arbeit  nieder  und 
erlialten  für  die  Dauer  der  Arbeitseinstellung 
vom  Exekutivausschuss  das  Geschenk.  Um 
Zuzug  abzuhalten,  wird  die  Thatsac^he  des 
Ai-beitsstülstandes  in  den  von  den  Arbeitern 
des  Gewerbes  gelesenen  Blättern  bekannt 
gemacht,  imd  Schild  wachen  w^erden  aus- 
gestellt, um  Zuwandernde  über  den  Streit- 
fall zu  unterrichten.  Die  grossen  Mittel, 
welche  die  das  Gewerbe  des  ganzen  Landes 
umfassende  Organisation  dem  Exekutivaus- 
schuss an  die  Hand  giebt,  füliren  dann 
häufig  zum  Siege  der  Arbeiter  oder  machen 
"wenigstens  den  Arbeitgebern  ihren  Triumph 
so  teuer,  dass  sie  nicht  so  leic^ht  den  Kampf 
mit  den  Arl)eitern  wieder  aufnehmen  und 
deren  Vorstellungen  ein  geneigtes  Ohr  leihen. 

Dabei  bilden  die  Gewerkvereine,  auch 
wenn  sie  nicht  alle  Fachgenossen  um- 
schliessen,  thatsächlich  die  organisierten 
Stäbe,  deren  Vorgehen  bei  Arbeitsstreitig- 
keiten für  alle  massgebend  ist  und  an  welche 
:alle  sich  anschliessen. 

5.  Die  Bedeutung  dieser  Organisation 
für  den  Arbeiter  als  Verkäufer.  Durch 
diese  Organisation  werden  die  beiden 
HauptnachteUe,  unter  welchen  der  Arbeiter 
als  Verkäufer  leidet,  beseitigt,  nämlich 
einmal  die  Vorbehaltlosigkeit  seines  An- 
gel »ots:  Die  Gewerkvereine  geben  den  Ar- 
beitern die  Möglichkeit,  gleich  anderen  Waren- 
verkäufern selbständig  ihre  Verkaufsbedin- 
gtmgen  geltend  zu  machen,  eintretende  Ver- 
l:)esserungen  des  Marktes  sofort  zu  benutzen 
und  bei  zu  niedrigem  Kauf  geböte  mit  dem 
Verkauf  ihrer  Wai*e  zurückzuhalten. 

Ebenso  aber  wird  durch  die  Gewerk  vereine 
die  Unfähigkeit  der  Arbeiter,  das  Angebot  des 
Gutes,  das  sie  vierkaufen,  der  gegenwärtigen 
Nachfrage  anzupassen  und  auf  das  2ukünftige 
Angebot  derselben  Einfluss  zu  üben,  beseitigt. 
Das  erste  geschieht,  indem  die  Gewerk- 
vereine, wie  dargelegt,  die  Arbeit  von  Orten, 
wo  sie  nicht  begehrt  wird,  zurückziehen, 
um  sie  an  Orten,  wo  Nachfrage  besteht, 
auszubieten,  imd  indem  sie  bei  sinkender 
Nachfrage  nach  Arbeit  die  Arbeiter,  die  in- 
folge des  Rückganges  beschäftigungslos  sind, 
aus  ihren  Mitteln  erhalten  oder  eine  Ver- 
kürzung der  Arbeitszeit  aller  Bescliäftigteu 
herbeiführen,  bei  steigender  Nachfrage  in 
umgekehrter  Weise  das  Angebot  steigern. 
Das  zukünftige  Angebot  von  Arbeit  wird 
durch  sie  beeinflusst,  indem  ihre  Mitglieder 


sich  weigern,  die  Lehrlinge  zu  unterrichten 
und  überhaupt  in  einer  Werkstätte  zu  ar- 
beiten, wenn  die  Zahl  der  Lehrlinge  in 
einem  grösseren  als  in  einem  bestimmten 
Verhältnisse  zur  Zahl  der  in  der  Werkstätte 
beschäftigten  Arbeiter  steht,  oder,  in  den 
ungelernten  Gewerben,  die  Mitgliederzahl 
des  Gewerkvereins  schliessen  und  für  die 
Ausgeschlossenen  anderweitige  Beschäftigung 
beanspruchen ;  bei  beiden  Arten  von  Arbeiten, 
indem  sie  die  Auswanderung  beschäftigungs- 
loser Mitglieder  fördern,  wenn  ein  zu  grosses 
Angebot  von  Arbeit  ohne  Aussicht  auf 
Steigen  der  Nachfrage  vorhanden  ist. 

Die  Gewerkvereine  also  versetzen  die 
Mitglieder  beim  Abschluss  des  Arbeitsver- 
trags in  dieselbe  Lage,  bei  der  sich  die  Ver- 
käufer anderer  Waren  beim  Verkaufe  der- 
selben befinden.  Durch  sie  werden  die  nach- 
teiligen Wirkungen  der  Eigentümlichkeiten 
der  Arbeit  als  Gut,  welches  verkauft  wird, 
und  des  Arbeiters  als  Verkäufer  beseitigt, 
und  erst  damit  wird  einerseits  die  Arbeit 
ein  Verkaufsgut  wie  andere,  andererseits 
der  Arbeiter  Mensch. 

Ausserdem  wird  die  Gewerkvereins- 
organisation  der  Thatsache  gerecht,  dass  in 
den  modernen  Produktionsverhältnissen  die 
Arbeitsbedingungen  der  grossen  Masse  der 
mit  Durchschnittseigenschaften  begabten 
Arbeiter  nicht  mehr  individuelle,  sondern 
gemeinsame  sind  und  die  meisten  Arbeits- 
bedingungen andere  als  gemeinsame  gar 
nicht  mehr  sein  können.  Sie  zieht  die 
logische  Folgerung  aus  dieser  Thatsache, 
indem  sie  die  kollektive  Behandlung  aller 
Fragen  zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber 
an  Stelle  des  Einzelvertrags  zu  setzen  be- 
strebt ist.  Keine  Neuordnung  des  Arbeits- 
verhältnisses kann  Befriedigimg  schaffen, 
die  nicht  auf  dem  Princip  der  Feststellung 
der  Arbeitsbedingungen  mit  der  Gesamtheit 
der  Arbeiter,  die  sie  angeht,  beruht. 

6.  Der  Schutz  der  Arbeitswilligen 
und  der  Gildecharakter  der  Gewerk- 
vereine. Schon  zu  Zunftzeiten  haben  die 
Gesellen  zur  Wahnmg  ihrer  besonderen  Ge- 
seUeuinteressen  sich  in  Gesellenladen  zu- 
sammengeschlossen und,  wenn  nötig,  durch 
Arbeitseinstellungen  ihren  Forderungen  Nach- 
druck zu  geben  versucht.  So  lange  die  Ar- 
beitsbedingungen durch  die  Behörden  oder 
durch  die  Zünfte  kraft  delegierter  staatlicher 
Autorität  festgesetzt  wurden,  war  eine  Ar- 
beitseinstellung eine  Auflehnung  gegen  eine 
Anordnung  der  öffentlichen  Autorität.  Sie 
waren  in  allen  Ländern  mit  strengen  Stra- 
fen bedroht,  die  sich  dann  auch  gegen  die 
besonderen  Gesellenorganisationen ,  von 
denen  sie  ausgingen,  richteten.  Mit  der 
Proklamierung  der  Fi-eiheit  des  Arbeitsver- 
trags hätten  diese  Verbote  und  Stralbe- 
stimmungen    gleichfeUs    beseitigt    werden 


J 


620 


Gewerkvereine  (Allgemeines) 


müssen.  Allein  die  physiokratische  Doktrin 
hatte  gelelirt,  dass  der  volkswirtschaftliche 
Prozess  mir  auf  der  isolierten  Aktion  der 
Individuen  beruhe  und  jedwede  Yereinigung 
von  Yerkäufem  oder  Käufern,  Arbeitern  und 
Arbeitgebera,  als  Störung  desselben  zu  ver- 
bieten sei.  Da  brachte  die  französische  Re- 
volution sie  zur  Herrschaft,  und  nun  besei- 
tigte das  Gesetz  nicht  nur  die  allen  Korpo- 
rationen, sondern  verbot  auch  jede  weitere 
Association  von  Arbeitern,  Arbeitgebern  und 
Wareninhabern  sowie  jedwede  Koalition 
von  Genossen  desselben  Gewerbes.  Aehn- 
lich  die  von  analogem  Geiste  erfüllte  Gesetz- 
gebung der  übrigen  emx)päischen  Staaten. 
Ueberall  beseitigte  man  die  Zünfte,  behielt 
aber  die  Koalitionsyerbote  bei.  In  einzel- 
nen Ländern,  in  denen  man  die  Gleichbe- 
rechtigung von  Arbeitsverkäufer  und  Ar- 
beitskäufer noch  nicht  einmal  formal  wenig- 
stens anerkannte,  ging  man  noch  weiter;  so 
entliält  die  bayerische  Gesetzsammlung  eine 
Bekanntmachung  vom  13.  August  1822,  in 
der  die  Arbeitgeber  zur  Bildung  von  Ver- 
einen zur  Herabdrückung  des  ^Lohnes  auf- 
gefordert, während  Verabredungen  der  Ar- 
beiter zur  Erzielung  höherer  Löhne  mit 
Strafe  bedroht  werden.  Allein  auch  da,  wo 
die  Koalitionsverbote  sich  formal  gleich- 
massig  gegen  Arbeitgeber  wie  Arbeiter 
richteten,  war  es  thatsächlich  niclit  anders, 
denn  diese  Verbote  gelangten  stets  nur 
gegen  die  letzteren  zur  Anwendimg.  Nichts- 
destoweniger haben  die  Arbeiter  der  Ijchre, 
dass  die  freie  Konkurrenz  isoliei'ter  Indivi- 
duen ihrem  eigenen  Interesse  wie  dem  der 
Gesamtheit  am  meisten  dienlich  sei,  allzeit 
die  Anerkennung  versagt  Wie  die  drako- 
nischen Koalitionsverbote  des  18.  Jahrb.,  so 
vermochten  die  des  19.  ihr  Zusammenhalten 
nicht  zu  erechüttem,  und  gegenüber  allen 
nationalökonomischen  Predigten  über  die 
Vorzüge  des  Konkun-enzprincips  blieb  ihr 
Wahlspruch  stets:  Einer  für  Alle,  Alle  für 
Einen.  In  einigen  Fällen  hat  ihre  Gewerk- 
vereinsorganisation  sich  unmittelbar  aus  jenen 
alten  Gesellen  Verbindungen  entwickelt,  wie 
sie  zur  Zunftzeit,  sei  es  geduldet,  sei  es 
verboten,  existierten;  in  anderen  Fällen  hat 
der  alte  Geist  der  Solidarität  völlig  neue 
Vereinsbildungen  geschaffen.  Unter  oft 
furchtbaren  Entbehrungen,  trotz  Gefängnis, 
ja  selbst  trotz  Androhung  von  Todesstrafe 
sind  sie  ihnen  treu  geblieben.  Hier  ist  es 
nicht  nötig  gewesen,  xünstüch  Innungen  ins 
Leben  zu  nifen  mit  der  besonderen  Auf- 
gabe, das  Gemeingefühl  zu  wecken  und 
Standesinteressen  und  Standesehre  gegen- 
über den  abweichenden  Interessen  einzelner 
zu  wahren.  Die  Gilden  sind  hier  spontan 
aus  dem  Bedürfnisse  der  Arbeiter  erwach- 
sen. Schliesslich  sah  sich  die  Gesetzgebung 
allenthalben    genötigt,    den    Arbeitern    das 


Koalitionsrecht ,  dessen  die  Arbeitgeber  sich 
stets  bedienten,  ebenso  wie  diesen  formal 
zuzugestehen.  Aber  nun  zeigte  der  Gesetz- 
geber die  unliebenswürdige  Miene  des  durch 
die  Thatsachen  zwar  überwundenen,  aber 
innerlich  nicht  bekelirten  Doktrinärs.  Konnte 
er  sich  der  ünentbehrlichkeit  der  Koalitionen 
nicht  verschliessen,  so  wollteer  doch  nicht, 
dass  Koalitionen  stattfänden.  Er  gestattete 
daher  zwar  Preis-  und  Lohnverabredungen, 
erklärte  sie  aber  gleichzeitig  für  unverbind- 
lich. So  in  allen  Ländern.  Ja  er  ging  noch 
weiter.  Es  giebt  in  allen  Klassen  Personen, 
welche  es  vorziehen,  zu  den  Opfern  nicht 
beizutragen,  welche  mit  der  Emngung  von 
Vorteilen,  an  denen  sie  selbst  teilnehmen, 
verbunden  sind ;  desgleichen  giebt  es  in  allen 
Klassen  Personen,  welche  den  Verpflichtun- 
gen untreu  werden,  welche  sie  zur  Wahrung 
gemeinsamer  Interessen  übernommen  liaben. 
Gegen  solche  Personen  richteten  sich  bereits 
zu  Zunftzeiten  die  Massnahmen  der  Korpo- 
rationen. Heute  gelten  in  allen  Kreisen  die- 
jenigen als  verächtlich,  die  aus  egoistischen 
Motiven  die  Interessen  ihrer  Kameraden 
opfern.  AUein  während  in  allen  anderen 
Kreisen  solche  Personen  straflos  getadelt 
werden  können,  ist  dies  Arbeitern  bei  stren- 
gen Sti'afen  verboten.  Der  Gesetzgeber  liat 
den  Preis-  und  Lohnverabredungen  der  Ar- 
beiter also  nicht  nur  die  Klagbarkeit  ver- 
sagt und  sie  somit  lediglich  auf  die  Ehi-e  der 
Kontrahenten  gestellt,  sondern  ihnen  auch 
die  Mittel  verboten,  deren  die  übrigen  Ge- 
sellschaftsklassen gegenüber  Verti-agsbrüchi- 
gen  sich  straflos  bedienen.  Ferner,  während 
wirkliche  Verbrechen  und  Vergehen,  wenn 
von  anderen  gelegentlich  der  Walirnehmuug 
berechtigter  Interessen  begangen,  milder  be- 
urteilt werden,  hat  er  bestimmt,  dass  es  als 
ein  erechwerender  Umstand  gelten  soU, 
wenn  sie  von  Arbeitern  im  Kampf  um  l»es- 
sere  Arbeitsbedingungen  verübt  wei*den. 
Während  er  ferner  den  Arbeitskäufern  ge- 
stattet, einander  die  Namen  von  Arbeitern 
mitzuteilen,  um  deren  Beschäftigimg  zu 
verhindern,  wii-d  vielfach  jede  Mitteilung 
der  Arbeiter  in  der  Presse,  um  bei  Aus- 
ständen Zuzug  abzuhalten,  und  das  Strike- 
poslenstehen ,  auch  dann  wenn  die  Posten- 
stehenden sich  jedweder  Drehungen,  Ehr- 
verletzungen und  Thätlichkeiten  entlialten, 
bestraft.  Man  nennt  dies  den  Schutz  der 
Arbeitswilligen.  Da  aber  tretz  dieser  Straf- 
massregeln das,  was  verhindert  werden  soll, 
nicht  unterbleibt,  sucht  man  diese  Straf- 
massregeln zu  steigern.  Während  man  sonst 
nicht  genug  über  das  Verderbliche  des  In- 
dividualismus zu  klagen  vermag  und,  wo  es 
sich  um  Handwerksmeister  handelt,  das 
Innungsprincip  eventuell  sogar  durch  stiuvt- 
lichen  Zwang  zur  Geltung  zu  bringen  ver- 
sucht, scheut  man  also  vor  einer  Verletzung 


Gewerkvereine  (ÄJlgemeiaes) 


621 


der  Rechtsgleichheit  nicht  zurück,  sobald  es 
Arbeiter  sind,  welche  zum  Innungsprincip 
sich  bekennen.  Die  ganze  Schwierigkeit 
aber  ist  beseitigt,  sobald  man  das  sonst  so 
verherrlichte  Gildeprincip  auch  da  anerkennt, 
wo  es  ganz  von  selbst  gedeiht,  bei  den  Ar- 
beiteni,  und  den  Verabredungen  der  Arbeiter 
über  ihre  Arbeitsbedingungen  denselben 
Rechtsschutz  zu  teil  werden  lässt,  der  allen 
anderen  nicht  gegen  die  guten  Sitten  ver- 
stossenden  Vertr^en  zu  teil  wii'd.  Dann 
fällt  die  Notwendigkeit  besonderer  Strafbe- 
stimmung wegen  Ehrverletzung  und  Ver- 
rufeerklärung  von  selbst  weg,  und  gegen 
wirkliche  Vergehen  und  Verbrechen,  be- 
gangen in  Verbindung  mit  Koalitionen,  ge- 
nügen die  Bestimmungen  des  gemeinen 
Stiafi-echts. 

Allein  nicht  nur  in  dem  Geist,  der  sie 
beseelt,  zeigt  sich  der  Qildecliarakter  der 
Gewerkvereine,  sondern  nicht  minder  in  den 
Zielen,  die  sie  umfassen.  Ihre  Wirksam- 
keit beschränkt  sich  nicht  bloss  auf  Steige- 
nmg  der  Löhne  und  Küi'zung  der  Arbeits- 
zeit, auf  die  Regelung  der  Lohnsysteme, 
der  Kündigung  des  Arbeitsvertrags  und  der 
Methode  des  Arbeitens.  Sie  worden  zum 
Organe  zur  Wahrung  aller  Arbeiterinteressen, 
die  der  Unterstützung  von  selten  einer  Or- 
ganisation der  Arbeiter  bedürfen.  So  ist  es 
vielfach  nur  ihrer  Mitwirkung  zu  verdanken, 
wo  es  gelungen  ist,  die  Truckverbote  zur 
Anerkennung  zu  bringen.  So  bilden  sie  in 
zahlreichen  Fällen  eine  ganz  unentbehrliche 
Hilfsorganisation  ziu*  Durchführung  der 
Fabrikgesetze  dim^h  die  Fabrikinspektoren. 
Nicht  minder  sind  sie  in  England  die  Organe, 
mittelst  deren  die  Arbeiter  ihren  Wünschen 
Ausdruck  verleihen,  wo  immer  es  sich  um 
politische  Massnahmen  im  Interesse  der 
Arbeiter  handelt.  Auch  haben  dort  die  Ge- 
werkvereine die  Fürsorge  für  diejenigen  all- 
gemeinen menschlichen  Bedürfnisse  der  Ar- 
beiter, welche  wie  Krankheit,  Unfall,  Alter 
besondere  Organisationen  notwendig  machen, 
übernommen.  Sie  haben  somit  die  Tendenz, 
ähnlich  den  alten  Güden,  den  ganzen  Men- 
schen zu  ergreifen. 

7.  Die  Organisationen  der  Arbeit- 
geber. Allein  gegenüber  den  Gewerkver- 
einen der  Arbeiter  erheben  sich  Vereine  zur 
Wahrung  der  Interessen  der  Arbeitgeber, 
sei  es,  dass  sie  neu  entstehen,  sei  es,  dass 
zu  anderen  Zwecken  bestehende  Vereine 
ihren  Zweck  auf  die  Wahrung  dieser  In- 
teressen gegenüber  den  Arbeitern  ausdehnen. 
Diese  Arbeitgeber  vereine  setzten  sich  die 
Aufgabe,  Lohnerhöhungen  und  jeder  Ver- 
besserung der  Arbeitsbedingungen,  welche 
zu  einer  Verteuerung  der  Produktionskosten 
ffihi-en  könnte,  zu  widerstehen,  Lohnherab- 
setzungen und  Ausdehnung  der  Arbeitszeit 
diu:chzusetzen  imd  insbesondere,  wo  mög- 


lich, die  Gewerkvereine  der  Arbeiter  zu 
unterdrücken.  Zu  letzterem  Zwecke  ver- 
suchen sie,  die  Arbeitsvermittelung  aus- 
schliesslich in  die  Hand  zu  bekommen,  das 
Lehrlingswesen  einseitig  zu  regeln,  Arbeits- 
bücher, in  denen  geheime  Zeichen  über  die 
Stellung  des  Inhabers  zu  den  Gewerk- 
vereinen Auskunft  einteilen,  einzuführen  so- 
wie die  Wiedereinführung  der  kriminellen 
Bestrafung  des  Arbeitsvertragsbruchs,  von 
der  sie  die  Unterdrückung  der  Arbeitsein- 
stellungen erwarten,  vor  allem  aber  den  im 
vorstehenden  erörterten  »Schutz  der  Ar- 
beitswilligen« zu  veranlassen.  Der  Lohn 
und  die  übrigen  Arbeitsbedingungen  werden 
im  Vereine  vereinbart.  Wer  melir  gewährt, 
verfällt  in  Strafe.  Jedes  Mitglied,  dessen 
Arbeiter  eine  Lohnerhöhung  oder  irgend 
eine  andere  Konzession,  deren  Bewilligung 
zu  einer  allgemeinen  Lohnerhöhung  führen 
könnte,  verlangen  oder  dessen  Arbeiter  sich 
einer  beschlossenen  Lohnherabsetzung  zu  fü- 
gen sich  weigern,  muss  die  Angelegenheit  dem 
Verein  unterbreiten.  Empfiehlt  der  Aus- 
schuss  desselben  Widerstand  und  kommt 
es  zum  Arbeitsstillstande,  so  erhält  das 
Mitglied  auf  zweifache  Weise  Unterstützung 
von  seinem  Vereine.  Entweder  es  erhält 
entsprechend  der  Grösse  seiner  Fabrik  eine 
Entschädigung,  zu  deren  Bestreitung  jedes 
Mitglied  beim  Bankier  des  Vereins  einen 
trockenen  Wechsel  hinterlegen  muss.  Oder 
häufiger,  es  kommt  zur  Aussperiimg,  d.  h. 
um  die  Hilfsmittel  der  Arbeitenden  rascher 
zu  erschöpfen  und  diese  zur  Unterwerfung 
zu  zwingen,  sperren  sämtliche  Mitglieder 
des  Vereins  ihre  Werkstätten  so  lange,  bis 
die  Arbeiter  jener  Fabrik,  in  der  die  Ar- 
beitseinstellung stattfand,  äie  Arbeit  wieder 
aufnehmen.  Aehnlich  wie  die  Gewerk- 
vereine durch  Strikeposten  Arbeitsuchende 
vor  einer  Fabrik,  in  der  die  Arbeit  nieder- 
gelegt worden  ist,  warnen,  erlassen  die 
Vereine  der  Arbeitgeber  telephonische  Mit- 
teilungen oder  schriftliche  Cirkulare,  in 
denen  sie  von  der  Beschäftigung  der  einzeln 
namhaft  gemachten  Arbeiter  abzustehen 
bitten.  Es  tritt  das  völlige  Gegenstück  ymv 
Taktik  der  Arbeiter  hervor. 

8.  Nachteile  und  Vorteile  der  Ar- 
beitskämpfe. Allein  die  Kämpfe  zwischen 
Gewerkvereinen  und  Vereinen  der  Arbeit- 
geber sind  nicht  ohne  schwerwiegende  Nach- 
teile. Gewiss  sind  die  Arbeitseinstellungen 
oft  unentbehrlich,  um  das  Interesse  der  Ar- 
beiter l)ei  Abschluss  des  Arbeitsvertrags  zu 
wahren,  und  nicht  minder  notwendig  sind 
oft  die  Aussperrungen,  um  zu  hindern,  dass 
die  Gewerkvereine  ebenso  tyrannisch  wie 
umgekehrt  viele  Arbeitgeber  werden :  trotz- 
dem sind  Arbeitsstillstände  selbst  für  die 
Partei,  die  als  Sieger  aus  dem  Kampfe 
hervorgeht,  eine  Waffe,  deren  Benutzung 


622 


Grewerk vereine  (Allgemeines) 


meist  schwere  Entbehrungen  und  Verluste 
auferlegt,  während  sie  für  die  unterliegende 
Partei  oft  den  Ruin  und  selbst  für  das 
draussen  stehende  Publikum  eine  Störung 
bedeuten.  Daher  es  keinen  Menschen  giebt, 
der  in  Arbeitseinstellungen  und  Aussper- 
rungen etwas  an  sich  Gutes  erblickte. 
Niemand,  der  sie  nicht  durch  Besseres  er- 
setzt zu  sehen  wünschte.  Alle,  auch  die 
energischsten  Verteidiger  der  Koalitions- 
freiheit, treten  für  diese  nur  ein,  weil  es 
die  grösste  Ungerechtigkeit  ist,  wenn  den 
Arbeitern,  bis  dieses  Bessere  da  ist,  die 
Koalitionsfreiheit  versagt  wird,  weil  jede 
bessere  Neuordnung,  welche  Arbeitsein- 
stellungen und  Aussperrungen  unnötig  zu 
machen  vermag,  die  Koalitionsfreiheit  zur 
notwendigen  Voraussetzimg  hat  und  Ar- 
beitskämpfe eine  durch  nichts  zu  ersetzende 
Wirkung  auf  beide  Parteien  ausüben,  welche 
den  Eintritt  dieser  besseren  Ordnung  be- 
schleunigt. Die  Arbeitgeber  werden  durch 
die  Logik  der  Thatsachen  zur  praktischen 
An(Tkennung  jener  Gleichberechtigimg  der 
Arbeiter  beim  Abschluss  des  Arbeitsvertrags 
erzogen,  welche  diesen  die  Gesetzgebung 
schon  lange  zuerkannt  hat.  Die  Arbeiter 
werden  zur  Erkenntnis  der  Grenzen  erzogen, 
welche  die  Natur  der  Dinge  der  Erfüllung 
ihrer  Forderungen  und  Wünsche  entgegen- 
stellt. Das  Ergebnis  dieser  beiderseitigen 
Einziehung  ist  die  Geneigtheit,  welche  die 
Arbeitskämpfe  bei  beiden  Parteien  hervor- 
rufen, den  Kampf  durch  ein  besseres  Mittel 
zur  Feststellung  der  Arbeitsbedingungen  zu 
ersetzen :  durch  das  Schieds-  und  Einigungs- 
verfahren. 

9.  Die  Stellung  der  6.  im  Schieds- 
nnd  Eini^ngsverfahren.  Der  Zweck 
dieses  Verfahrens  ist,  auf  dem  Wege  der 
Feststellung  der  wirtschaftlichen  Machtver- 
hältnisse, von  denen  der  Ausgang  eines 
Arbeitsstillstandes  bedingt  wird,  —  gleich- 
viel ob  diese  in  der  Marktlage  (der  Kon- 
junktui-,  dem  Stande  des  Arbeitsmarkts  und 
der  Stärke  der  Parteioi^anisation)  wiu-zeln 
oder  in  der  Sympathie,  deren  sich  die 
Sache  der  einen  oder  anderen  Partei  seitens 
der  öffentlichen  Meinung  erfreut,  —  das- 
selbe Ergebnis  herbeizuführen,  das  sich 
ohnedies  erst  als  das  Resultat  eines  oft 
langen  und  empfindlichen  Arbeitsstillstandes 
herausstellen  würde.  Seit  seiner  modernen 
Begründung  durch  Mundella  und  Kettle  hat 
dasselbe  verschiedene  Formen  entwickelt,  die 
je  nach  den  konkreten  Verhältnissen  vei-schie- 
den  anwendbar  sind  (vgl.  den  Art.  Eini- 
gungsämter oben  Bd.  III  S.  336  ff.).  Für 
alle  diese  Formen  aber  ist  die  unentbehrliche 
Voraussetzungeines  gedeDüicheu  Wirkens  das 
Bestehen  von  Organisationen  der  Arbeiter  und 
der  Arbeitgeber.  Denn  einmal  würde  ohne 
Gewerkvereine,  auf  die  sie  eventuell  zurück- 


fallen können,  das  Wort  der  Arbeiter  im 
Scliieds-  und  Einigungsverfahren  bedeutungs- 
los sein;  der  Gewerkverein  liefeit  erst  den 
wii-tschaftlichen  Machtfaktor,  der  bei  Fest- 
stellung der  Marktlage  und  der  daraus  sich 
ergebenden  Arbeitsbedingungen  zu  Gunsten 
der  Arbeiter  in  die  Wagschale  fällt.  So- 
dann zeigt  die  Erfahrung  in  England  wie 
im  deutschen  Buchdruckergewerbe,  dass 
ohne  Organisationen  von  Arbeitern  und  Ar- 
beitgebern, welche  gegenüber  ihi-en  eigenen 
Mitgliedern  durch  Geldstrafen  und  An- 
drohung von  Ausschluss  auf  der  strengen 
Beachtung  der  im  Schieds-  und  Einigungs- 
verfahren vereinbarten  Arbeitsbedingimgen 
bestehen,  an  deren  Diuxihführung  nicht  zu 
denken  ist. 

Dabei  ist  es  nicht  erforderlich,  dass  die 
Gewerkvrereine  nnd  die  Arbeitgebervereine 
die  Arbeiter  resp.  Arbeitgeber  formell  im 
Schieds-  imd  Einigungsverfahren  vertreten. 
Die  Vertreter  beider  Parteien  mögen  immer- 
hin, wie  dies  in  England  die  Regel  ist,  in 
allgemeinen  Versammlungen  der  Arbeiter 
resp.  Arbeitgeber  des  betreffenden  Ge- 
werbes oder  wie  nach  einem  österreichi- 
schen Entwürfe  durch  Genossenschaften, 
welche  sämtliche  Arbeiter  resp.  Arbeitgeber 
umfassen,  gewählt  werden.  Wo  Gewerk- 
vereine und  Vereine  von  Arbeitgebern  be- 
stehen, werden  stets  deren  Vertrauensper- 
sonen zu  solchen  Vertretern  gewählt  werden, 
und  nur  wo  dies  der  Fall  ist,  besteht  eine 
Sicherheit  für  die  Durchfühnmg  der  im 
Schieds-  und  Einigimgsverfahren  getroffenen 
Bestimmungen.  Dieselbe  würde  allerdings 
noch  in  erhöhtem  Masse  vorhanden  sein, 
wenn  man  die  Gewerkvereine  und  die  Ver- 
eine der  Arbeitgeber  als  die  offiziellen  Ver- 
treter der  Arbeiter  und  Arbeitgeber  im 
Schieds-  und  Einigungsverfahren  anerkennte 
und  ihnen  Korporationsrechte  verliehe  unter 
der  Bedingung,  dass  sie  mit  ihrem  Vermögen 
für  die  Erfüllung  der  von  ihnen  vereinbai-ton 
Ai'beitsbedingungen  seitens  ihrer  Mitglieder 
hafteten. 

10.  Die  G.  und  der  freie  Arbeits- 
vertrag. So  gelangt  der  Arbeitsvertrag 
dureh  die  Gewerkvereine  zu  der  Entwicke- 
lung,  zu  der  er  nach  der  ökonomischen 
Natur  des  Vertragsobjektes  naturgemäss  ge- 
langen muss.  Er  wird  nicht  mehr  von  dem 
einzelnen  Ai'beitgeber  dem  einzelnen  Ar- 
beiter diktiert,  sondern  in  dem  auf  Gewerk- 
vereine und  Organisationen  der  Arbeitgeber 
sich  stützenden  Schieds-  und  Einigungsver- 
fahron  für  alle  Mitglieder  dieser  Organi- 
sationen vereinbart.  Damit  erst  wird  jene 
Gleichberechtigung  der  Parteien  beim  Ab- 
scliluss  des  Arbeitsvertrags  zur  Wahrheit, 
von  der  die  Gesetzgebung  ausging,  als  sie 
die  Freiheit  des  Arbeitsvertrags  proklamierte. 
Damit  erst  wird  die  ihr  zu  Gnmde  liegende 


Gewerkvereine  (Allgemeines — England) 


623 


nationalökonomische  Vorstellung  von  dem 
Arbeiter  als  einem  Verkäufer  imd  dem  Ar- 
beitgeber als  einem  Käufer  verwirklicht.  Da- 
mit erst  erhält  der  Arbeitgeber  die  ihm 
heute  fehlende  Sicherheit  für  die  Innehaltung 
des  Arbeitsvertrags  seitens  des  Arbeiters. 
Damit  also  wird  erst  die  Dissonanz  zwischen 
Recht  und  Wirklichkeit,  die  unsere  heutigen 
sozialen  Verhältnisse  zerrüttet,  soweit  der 
Arbeitsvertrag  ein  Kaufvertrag  ist,  behoben, 
und  gleichzeitig  sind  erst  damit  die  Be- 
dingungen gegeben,  an  die  sich  die  Er- 
füllung jener  Hoffnung  knüpfen  kann,  von 
der  die  Gesetzgebung  ausging,  als  sie  den 
5>freien  Arbeitsvertrag«  proklamierte,  dass 
dei-selbe  dazu  fühi-en  werde,  die  Kräfte  und 
den  Wohlstand  eines  jeden  zur  grösstmög- 
lichen  Entfaltung  zu  bringen. 

Litteratar:  T.  J,  Ihinningf  Trade»'  Union» 
and  Strikes:  their  philosophy  and  inteniicn, 
London    1860.   —    H,  C  VVeeming    Jenkitit 

Trade  Unions:  How  far  legitimate.  The  North 
£rilüh   Review   voL  XLVIII,    Edinburgh   1868. 

—  Graphic  Represent4ition  of  the  laws  of  Snpply 
and  Dunaud f  in  A.  Grant,  Recess  Studies, 
Edinburgh  1870.  Beide  Aufsätze  auch  in  seinen 
hinterla^senen  Schriften  nPapera«,  herausgegeben 
ron  Sidney  Colvin  und  J.  A.  Euoijig,  London 
1887.  —  Tfiomtony  Die  Arbeit,  ihre  unbe- 
rechtigten Ansprüche  und  ihre  berechtigten 
Forderungen,  ihre  wirkliche  Gegenwart  und  ihre 
mögliche  Zukunft.  Deutsch  von  Schramm,  Leip- 
zig 1870.  —  Brentafto,  Die  Arbeitergilden 
der  Gegenwart,  'i.  Bd.,  Leipzig  1872.  —  Der- 
selhCf  Das  Arbeitsverhältnis  gemäss  dem  heutigen 
Recht,  Leipzig  1877,  S.  182  ff.  und  Die  Sicherung 
des  Arbeitt' ertrage»,  im  7.  Bande  der  Schrift,  d. 
Ver.  f.  Sozialpolitik.  —  George  Howell,  The 
Conflicts  of  Capital  and  Labour,  2.  ed.,  London 
1890,  Chapt.  in.  —  nerMlbCf  Trade  Unionism 
new  and  old,  Londcm  1891,  S.  70 ff.  —  Bren^ 
tano,  Der  Schutz  der  Arbeitswilligen,  Berlin 
1899.  —  Derselbe,  Reaktion  oder  Reform f 
Gegen  die  Zuchthausvorla^je,  Berlin- Schöneberg 
1899.  —  Th,  Löwenfeiilf  Kontraktbruch  und 
Koalitionjf recht,  Brauns  Archiv  f.  soziale  Gesetz- 
gebung und  Statistik  III,  S.  883  ff.  —  Derselbe, 
Koalitionsrecht  und  Strafrecht,  in  demselben 
Archiv,  XIV,  S.  471  ff.  —  Brentano,  Arbeits- 
einstellungen und  Fortbildung  des  Arbeitsver- 
trages, 46.  Bd.  der  Schrift,  d.  Ver.  f.  Sozialpol., 
Leipzig  1890,  und  Verhandlungen  der 
G  e  neralv  er  Sammlung  des  Vereins  für 
Sozialpolitik,  47-  Bd.  der  Schriften,  I^eip- 
zig  1890,    76.  Bd.    der  Schriften,    Leipzig   1898. 

—  Ein  Komplott  gegen  die  deutsche 
Arbeiterklasse.  Aktenstücke  über  eine  Koa- 
lition deutscher  Metalluntemehmerverbände  mit 
königl.  preuss.  Behörden,  London  1891.  —  Sidney 
and  Beatrice  Webb,  hidustrial  Democracy 
2.  vols.,  London  1897;  deutsch  unter  dem  Titel 
Theorie  und  Praxis  der  englischen  Gewerkver- 
eine. Darin  eine  hinsichtlich  der  englischen 
Litteraiur  erschöpfende  Bibliographie.  —  W. 
Kuiemann,  Die  Gewerkschaftsbewegung,  Jena 
1890.  —  Weitere  Litteralurangaben  siehe  am 
Schlüsse  des  Artikels  über  die  Gewerkvereine  in 
England.  Lujo  Brentano. 


IL 

Die  Gewerkvereine  in  den 
einzelnen  Staaten. 

I.  Die  G.  in  England  (S.  623).  II.  Die  G. 
in  Deutschland  (S.  644).  III.  Die  G.  in  Oester- 
reich  (S.  677).  IV.  Die  G.  in  Frankreich 
(S.  687).  V.  Die  G.  in  Belgien  (S.  694).  VI. 
Die  G.  in  der  Schweiz  (S.  699).  VII.  Die  G.  in 
anderen  europäischen  Ländern  und  in  Australien 
(S.  705).  VIII.  Die  G.  in  den  Vereinigten 
Staaten  (711). 

I.   Die  6ewerkTei*eine    in  England» 

1.  Gesellenverbindungen  in  England.  2.  Auf- 
kommen der  Hausindustrie.  Ihre  gewerbliche 
Ordnung.  3.  Aenderun^  in  den  Absatzverhält- 
nissen und  der  Technik  und  Auflösung  der 
alten  gewerblichen  Ordnung.  4.  Arbeitsein- 
stellungen und  Koalitionsverbote  im  18.  Jahr- 
hundert. Das  Koalitions  verbot  von  1800.  5. 
Die  ersten  G.  und  die  Abschaffung  der  alten 
gewerblichen  Ordnung.  6.  Verfassung  der 
ersten  G.  7.  Abschaffung  der  Koalitionsverbote. 
8.  Das  Gesetz  von  1825  über  Koalitionen  der  Ar- 
beiter und  Arbeitgeber.  9.  Die  Periode  der 
fehlgeschlagenen  Arbeiterbewegungen.  10.  Die 
Entwickelung  der  Verfassung  der  G.  von  1825 
bis  1850.  11.  Wandlung  im  Geiste  der  G. 
12.  Die  G.  und  die  öffentliche  Meinung  von 
1825—1868.  13.  Die  gesetzliche  Anerkennung 
der  G.  14.  Die  Anerkennung  der  G.  in  der 
„Gesellschaft".  15.  Die  G.  und  die  gewerbliche 
Depression  1873—1888.  16.  Lokale,  nationale 
und  internationale  Verbindungen  unter  den  G. 
17.  G.  der  weiblichen  Arbeiter.  18.  G.  der  un- 
gelernten Arbeiter.  Ihre  Rückwirkung  auf  die 
alten  G.  19.  Wirkungen  der  Neuerungen.  20. 
Synchronistische  Uebersicht  zur  Entwickelung 
der  englischen  G.    21.  Statistik  der  G. 

1.  Gesellenverbindungen  in  England. 

Vor  dem  18.  Jahrhundert  finden  wir  in 
Englaud  zwei  Arten  von  gewerblichen  Be- 
triebsformen :  das  Handwerk  und  die  Haus- 
industrie. Die  ältere  wai*  das  Handwerk. 
Es  hatte  seinen  Sitz  in  den  Städten  und 
war  zünftig  organisiert  Wir  finden  in  Eng- 
land die  üblichen  Entwickelungsstufen  des 
Handwerkers:  den  Lehrling,  den  Knecht 
oder  Gesellen,  den  Meister.  Um  dieselbe 
Zeit  wie  auf  dem  Kontinent,  d.  h.  im  Laufe 
des  14.  Jahrhunderts,  gelangten  die  eng- 
lischen Handwerker  zu  massgebendem  Ein- 
fluss  auf  das  städtische  Leben.  Zu  der- 
selben Zeit  ferner,  da  auf  dem  Kontinent 
die  Hörigen  nach  den  Städten  flüchteten, 
fand  das  gleiche  in  England  statt,  und 
ebenso  wie  auf  dem  Kontinent  niissbrauch- 
ten  in  England  die  Zünfte  die  erlangte  Ge- 
werbeautonomie,  um  ihr  Gewerbe  gegen  die 
Konkurrenz  neuer  Genossen  zu  schützen. 
Damit  entstand  eine  Klasse  lebenslänglicher 
liohnarbeiter  mit  Sonderinteressen ;  der 
Stand  des  Knechts  oder  Gesellen  hörte  auf^ 
nur  eine  Durchgangsstufe  zur  Meisterschaft 
zu  sein:   er  wurde  ein  Lebensberuf.    Wie 


624 


Gewerkvereine  (England) 


auf  dem  Kontinent  entstanden  in  England 
nun  besondere  Organisationen  dieser  Knechte 
oder  Gesellen,  wie  die  zahlreichen  Verbote 
derselben  beweisen,  und  zwar  entstanden 
sie  zuerst  zu  geselligen  Zwecken,  dann  zur 
Wahrnehmung  jener  Sonderinteressen.  Des- 
gleichen finden  sich  Belege,  dass  in  Eng- 
land wie  auf  dem  Kontinent  diese  besonde- 
ren Briiderschaften  der  Knechte  sclüiesslich 
als  solche  anerkannt  und  in  die  Zünfte  ein- 
gegliedert wurden  und  unter  der  Oberauf- 
sicht der  Zünfte  der  Wahrung  der  besonde- 
ren Klasseninteressen  der  Knechte  oder  Ge- 
sellen dienten :  auf  das  Verbot  »unerlaubter 
Versaramhmgen,  Brüderschaften,  Ansamm- 
lungen und  Aufläufe«  folgte  nach  Jahrhun- 
derten auch  hier  die  Bestimmung:  »die 
Zunftvorsteher  und  ihre  Beisitzer  soUen  den 
Vorsteher  der  Gesellenschaft  erwählen;  sie 
sollen  die  Gesellenscliaft  auf  solche  Weise 
regieren,  wie  dies  in  früheren  Zeiten  üblich 
gewesen«.  Endlich  finden  wir  bei  einer  An- 
zahl englischer  Gewerkvereine,  namentlich 
des  Baugewerbes,  dieselben  Ceremonien,  die 
der  Reichsschluss  von  1731  den  deutschen 
QeseUenladen  zum  Vorwurf  macht  und  die 
auch  der  Kompagnonnage  in  Frankreich 
aufweist ;  ihre  Organisation  ist  ganz  ähnlich 
wie  die  der  deutschen  Gesellenladen:  und 
noch  heute  heisst,  wie  bei  diesen,  bei  allen 
englischen  Gewerkvereinen  die  Unterstützung 
bei  Arbeitslosigkeit  »das  Geschenk«  (dona- 
üon).  Da  die  englischen  Gesellenverbindun- 
gen  im  18.  Jahrhundert  aufs  neue  verboten 
wurden  und  verbotene  Gesellenschaften  im 
damaligen  England  das  Princip  hatten, 
nichts  zu  Papier  zu  bringen,  ist  es  nicht 
möglich,  eine  Geschichte  derselben  zu 
schreiben.  Alle  angeführten  Thatsachen 
deuten  indes  darauf  hin,  dass  die  ei^sten 
Gewerkvereine  die  Gesellenladen  waren, 
die  bei  Beginn  der  Differenzierung  der  In- 
teressen von  Meistern  und  Knechten  ins 
Leben  traten,  zunächst  um  die  besonderen 
Standesansprüche  der  Arbeiter  zu  wahren; 
als  dann  die  alte  gewerbliche  Oidnung  fiel, 
war  das  Vorbild  für  den  modernen  Gewerk- 
verein da.  Es  trat  nur  an  die  Stelle  des 
Kampfes  um  das  Standesrecht  der  um  die 
Lebenshaltung  und  Gleichberechtigung.  Aber 
nur  den  Rahmen,  das  Muster,  den  Geist 
haben  die  Gesellenladen  der  Zunftzeit  den 
entstehenden  Gewerkvereinen  geliefert.  Da- 
gegen ist  es  nur  in  wenigen  Gewerben,  wie 
bei  den  Buchdruckern,  vielleicht  auch  bei 
den  Hiitmachern  und  Schneidern  wahr- 
scheinlich, dass  ihre  ersten  modernen  Oe- 
werkvereine  direkt  aus  alten  Gesollenladen 
hervorgegangen  sind. 

2.  Aufkommen  der  Hausindustrie. 
Ihre  gewerbliche  Ordnunj^.  Wie  der  mo- 
derne Industriebetrieb  sich  zuerst  nicht  aus 
dem  Handwerk,  sondern  aus  der  Hausin- 


dustrie hei-aus  entwickelte  oder  in  ganz 
neuen  Industrieen  seinen  ürspnmg  nahm, 
so  sind  der  klassische  Boden  der  Entstehung 
der  modernen  Gewerkvereine  nicht  die  Ge- 
werbe, die  bis  dahin  handwerksmässig,  son- 
dern diejenigen,  die  hausindustriell  betrieben 
worden  waren.  Woher  kamen  diese  Gewerbe  ? 
Aus  der  Verändenmg  in  den  Absatzverhält- 
nissen. Die  englischen  Gewerbeprodukte 
des  Mittelalters  waren  nicht  oder  doch  nur 
in  sehr  unerheblichem  Masse  ins  Ausland 
gegangen;  die  englische  Ausfuhr  bestand 
im  Mittelalter  aus  Rohprodukten,  namentlich 
Wolle;  das  Gewerbe  arbeitete  für  einen  lo- 
kalen Markt.  Es  war  zünftig  geregelt ; 
Preise,  Löhne,  Arbeitszeit,  Lehrlingswesen, 
Vei-dingungs-  und  Kündigungstermine  — 
alles  war  behördlich  geregelt.  Die  Preise, 
welche  auf  dem  lokal  beschränkten  Markte 
erzielt  wurden,  ermöglichten  auch  die  Ar- 
beitsbedingungen in  einer  Weise  zu  regeln, 
bei  der  der  Geselle  sein  Auskommen  fand. 
Eine  Aendenmg  trat  ein,  als  infolge  der  seit 
Eduard  TV.  ergriffenen  Schutzmassregeln 
die  englische  Tuchmanufaktur  aufzublüiien 
begann.  Damit  entstand  ein  Absatz  ins 
Ausland.  Kaufleute  statt  des  Konsiunenten 
beschäftigten  nunmehr  den  Handwerker. 
Sie  erwarben  Landgüter,  verwandelten  Acker- 
in Weideland  und  liessen  ihre  Wolle  im 
hausindustriellen  Betriebe  auf  dem  Lande 
verarbeiten.  Sie  unterlagen  da  nicht  den 
Vorschriften  der  Zünfte.  Da  wurde  der 
5  Eliz.  c.  4  (1562),  das  sogenannte  Lehr- 
lingsgesetz, erlassen,  welches  für  alle  damals 
vorhandenen,  nicht  zünftig  geregelten  Ge- 
werbe folgende  Bestimmungen  traf:  Niemand 
sollte  als  Meistor  oder  Arbeiter  irgend  ein 
Handwerk  oder  Gewerbe  betreiben,  der 
nicht  sieben  Jahre  als  Lehrling  dazu  heran- 
gebildet worden.  Jeder  Haushalter  durfte 
Lehrlinge  annehmen;  wer  indes  drei  Lehr- 
linge hatte,  musste  einen  Gesellen  halten 
mid  für  jeden  Lelu-ling  über  di*ei  wieder 
einen.  Niemand  sollte  einen  Gesellen  für 
weniger  als  ein  ganzes  Jahr  dingen,  mit 
beiderseitiger  vierteljähriger  Kündigung. 
Die  Arbeitszeit  wiu'de  festgesetzt  auf  zwölf 
Stunden  im  Sommer  und  auf  von  Tagesan- 
bruch bis  Nacht  im  Winter.  Der  Lohn 
sollte  jährlicii  von  den  Friedensrichtern  und 
Stadtmagistraten  testgesetzt  werden.  Diese 
Behörden  sollten  auch  alle  Sti-eitigkeiten 
zwischen  Meü^tern  imd  Lehrlingen  schlich- 
ten und  die  letztei*en  beschützen.  Arbeit- 
geber, welche  mehr  als  den  festgesetzten 
Lohn  zahlten ,  sollten  mit  10 .  Arbeiter, 
welclie  einen  höheren  Lohn  nahmen,  mit 
21  Tagen  Gefängnis  bestraft  werden.  Durch 
ein  Gesetz  von  1()Ü3— 1604  (1  Jac.  1.  c.  6) 
wurde  die  !Macht  der  Friedensrichter  und 
Stadtmagistrate,  den  Lohn  festzustellen,  noch 
einmal  ausdrücklich  auf  den  Lohnsatz  aller 


Gewerkvereine  (England) 


625 


nnd  jeglicher,  ungelernter  und  gelernter 
Arbeiter  ausgedehnt  und  weiter  bestimmt, 
dass  kein  Tuchfabrikaut  als  Friedensrichter 
den  Lohn  irgend  eines  in  der  Tuchfabrika- 
tion beschäftigten  Arbeiters  feststellen  dürfe. 
3.  Aenderang  in  den  Absatzverhält- 
nissen  nnd  der  Technik  nnd  Anflösnng 
der  alten  gewerblichen  Ordnung.  War 
die  Arbeit  in  den  handwerksraässig  betrie- 
benen Gewerben  durch  die  zünftigen  Ord- 
nungen geregelt,  so  lassen  sich  diese  Ge- 
setze Elisabeths  und  Jakobs  I.  als  die  Oi^d- 
nung  der  Arbeitsverhältnisse  in  Hausindus- 
trie und  Landwirtschaft  bezeichnen.  Gewiss 
bestätigte  die  Einseitigkeit,  mit  der  nur  das 
Bezahlen  höherer,  nicht  aber  niedrigerer 
als  der  festgesetzten  Löhne  mit  Strafe  be- 
droht war,  A.  Smiths  Bemerkung,  dass  »so 
oft  die  Gesetzgebung  die  Zwistigkeiten 
zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu 
regeln  unternahm,  die  Ratgeber  Arbeitgeber 
waren«.  Indes,  was  immer  die  Absicht  des 
Gesetzgebers  beim  ersten  Erlass  des  Ge- 
setzes gewesen  sein  mag,  die  Bestimmung 
desselben,  dass  der  Lohn  so  festgesetzt 
werden  solle,  dass  »der  gedungenen  Person 
sowohl  in  Zeiten  des  Mangels  wie  des 
üeberflusses  ein  hinlänglicher  Lohn  zu  teil 
werde«,  sowie  die  über  Lehrlinge,  Arbeits- 
zeit und  lange  Yerdingimgstermine  ver- 
änderten die  Bedeutung  des  Gesetzes,  als 
der  Dnick  der  Konkurrenz  auf  dem  Welt- 
markte und  das  Auftreten  von  Absatz- 
stockungen die  Tuchfabrikanten  veranlassten, 
die  Arbeitsbedingungen  zu  drücken  und  die 
Arbeiter  in  Massen  zu  entlassen.  Nunmehr 
betrachteten  die  Arbeiter  das  Gesetz  als 
eine  Massregel  zur  Wahning  ihrer  Interessen, 
die  Arbeitgeber  betrachteten  es  als  ein 
Hemmnis.  Zuerst  setzten  die  hausindus- 
triellen Meister  sich  über  die  Bestimmungen 
hinweg,  welche  die  Zahl  der  Lehrlinge  im 
Verhältnis  zur  Zahl  der  erwachsenen  männ- 
lichen Arbeiter  regelten.  Dies  fand  statt 
namentlich  mit  dem  Aufkommen  der  Manu- 
&ktur  —  der  auf  Arbeitsteilung  beruhenden 
grossen  Werkstätte  —  an  Stelle  der  alten 
Hausindustrie.  Dann  kam  die  Regelung  der 
Löhne  durch  die  Behörden  ausser  Gebra\ich, 
und  seit  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  sehen 
wir  die  Arbeiter,  namentlich  die  der  Stapel- 
industrie  Englands,  der  Tuchfabrikation,  im 
Kampfe  mit  den  Arbeitgebern ,  um  die 
Durchführung  der  Bestimmungen  des  Lehr- 
lingsgesetzes zu  erzwingen.  Die  Friedens- 
richter verweigern  es  häufig,  diesem  Ver- 
langen der  Arbeiter  Folge  zu  geben.  Darauf 
Arbeitseinstellungen  und  Tumulte  seitens 
der  Arbeiter.  Hierauf  Koalitionsverbote 
seitens  der  Gesetzgebung  und  neue  Anwei- 
sungen an  die  Friedensrichter,  den  Lohn- 
satz festzustellen,  und  abermaliges  Versagen 
der  letzteren.   Von  einer  Durchführung  des 

Handwörterbuch  der  StaatswisseiiBchafteii.    Zweite 


Lehrlingsgesetzes  ist  um  so  weniger  die 
Rede,  als  nunmehi-  die  Manufaktur  sich  zum 
Fabriksystera  mit  Maschinenbetrieb  zu  ent- 
entwickeln und  das  hausindustrielle  System 
mehr  und  mehr  zu  verdrängen  beginnt. 
In  dem  Masse  aber,  in  dem  die  durch  das 
Lehrlingsgesetz  getroffene  gewerbliche  Ord- 
nung in  den  einzelnen  Gewerben  ausser 
Gebrauch  kommt,  finden  sich  nun  Arbeits- 
einstellungen in  denselben,  um  deren  Be- 
stimmimgen  aufrecht  zu  erhalten.  Schlagen 
sie  fehl,  so  treibt  die  Not  wieder  zu  neuen 
Petitionen  an  die  Friedensrichter  und  dann 
ans  Parlament,  und,  wie  Sheridan  in  diesem 
sagte,  »vom  Augenblick,  dass  die  Arbeiter 
fanden,  dass  ihre  Petitionen  berücksichtigt 
wurden,  und  irgend  Ursache  zur  Hoffnung 
fühlten,  dass  ihre  Beschwerden  ehrlich  in 
Betracht  gezogen  wurden,  hörten  alle  Koa- 
litionen auf,  und  ihre  Zuversicht  auf  Ab- 
hilfe stützte  sich  gänzlich  auf  die  Gerech- 
tigkeit und  Liberalität  des  Parlaments«. 
Zeigte  sich  aber  auch  diese  Hoffnung  wieder- 
holt als  eitiBl,  so  trieb  das  aussichtslose  Elend 
die  erbitterten  Arbeiter  auch  mitunter  zu  Ge- 
waltthätigkeiten,  Revolten,  ja  Brandstiftungen. 
4.  Arbeitsei  nstellangen  und  Koali- 
tionsverbote im  18.  Jahrhandert  Das 
Koalitionsverbot  von  1800.  Als  Träger 
des  Vorgehens  der  Arbeiter  finden  wir  in 
einer  Reihe  von  Gewerben  in  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  Vereinsorgani- 
sationen, sei  es,  dass,  wie  dies  in  einigen 
Gewerben,  wie  z.  B.  bei  den  Hutmachem, 
wahrscheinlich  ist,  alte  Gesellenladen  sich 
umgestalteten,  sei  es,  dass,  wie  namentlich 
bei  den  Tuchmachern  der  Hausindustrie- 
gegenden, neue  Vereine  entstanden.  Da 
machten  sich  die  Arbeitgeber  die  durch  die 
Revolution  in  Frankreich  bei  den  herrschen- 
den Klassen  Englands  entstandene  Furcht 
zu  nutze.  Nachdem  1720  für  die  Schnei- 
der, 1725  für  die  Tuchmacher,  1749  für  die 
Färber,  Walker  und  alle  in  der  Hut-,  Wol- 
len-, Leinen-,  BaumwoUe-,  Eisen-  und  Leder-, 
Pelz-,  Hanf-,  Flachs-,  Mohair-  und  Seiden- 
fabrikation beschäftigte  Personen,  1766  aber- 
mals für  die  Tuchmacher,  1768  abermals 
für  die  Schneider,  1773  für  die  Seidenar- 
beiter, 1777  abermals  für  die  Hutmacher, 
1792  abermals  für  die  Seidenarbeiter,  1796 
für  die  in  der  Papierfabrikation  Beschäftig- 
ten besondere  Koalitionsverbote  erlassen 
worden  waren,  setzten  sie  1799  ein  Gesetz 
durch,  wonach  die  ersten  Gewerkvereins- 
bildungen  unterdrückt  und  auf  ihr  Vermögen 
gefahndet  werden  sollte.  Das  letztere  Ge- 
setz wurde  dann  1800  durch  ein  weiteres, 
noch  drakonischeres  Koalitionsverbot  ersetzt, 
das  alle  Verabredungen ,  Versammlungen 
und  Vereine  von  Lohnarbeitern  zum  Zwecke, 
eine  Lohnaufbesserung  herbeizuführen,  mit 
Zuchthausstrafe   bedrohte;    Koalitionen   der 

Annage.    IV.  40 


626 


Gewerkvereine  (England) 


Arbeitgeber  dagegen  waren  nur  mit  Greld- 
strafen  bedroht.  Als  trotz  alledem  die  Koa- 
litionen und  Koalitionsvereine  der  Arbeiter 
nicht  aufhörten,  wurden  sogar  die  Bestim- 
mungen des  gegen  die  jakobinischen  Ver- 
bindungen erlassenen  Verbotes  geheimer 
GreseUschaften  auf  Arbeiter,  die  zu  Koalitions- 
zwecken Briefe  wechselten,  angewandt. 

5.  Die  ersten  6.  und  die  Abschal- 
fong  der  sJten  gewerblichen  Ordnung. 
Immer  aber  standen  noch  die  gesetzlichen 
Bestimmungen  über  das  Lehrlingswesen  und 
die  Lohnregelungen  durch  die  Behörden  in 
Kraft.  Es  bildeten  sich  nun  neue  Vereine 
unter  dem  Scheine  von  Kranken-  und  Be- 
gräbniskassen, um  die  üebertreter  dieser 
Bestimmungen  gerichtlich  zu  verfolgen. 
Auch  wurden  mehrere  Tuchfabrikanten  ver- 
urteilt Da  wandten  sich  die  Arbeitgeber 
der  Wollenindustrie  an  das  Parlament,  um 
die  Aufhebung  dieser  Gesetze  herbeizufüh- 
ren. Auf  Grund  ihrer  Petitionen  wurden 
die  das  Wollengewerbe  regelnden  Gesetze 
1803,  1804,  1805  u.  s.  f.  zunächst  je  auf 
ein  Jahr  suspendiert,  bis  sie  1809  gänzlich 
abgeschafft  wurden.  Im  Jahre  1814  wurde 
entgegen  den  Petitionen  der  Arbeiter  das 
Lelurhngsgesetz  der  Elisabeth  und  damit  die 
alte  gesetzliche  Ordnimg  für  alle  Gewerbe 
beseitigt.  Nunmehr  entstanden  Koalitionen 
und  Gewerkvereine  in  allen  Gewerben. 

6.  Verfassung  der  ersten  G.  Ent- 
standen die  ersten  Koalitionen  somit  im 
18.  imd  zu  Anfang  des  19.  Jahrhun- 
derts, sobald  Versuche  zur  Beseitigung  der 
überkommenen  gewerblichen  Ordnung  ge- 
macht wurden,  so  war  ihr  erster  Zweck 
die  Aufrechterhaltung  des  bestehenden 
Rechtszustandes  auf  gesetzlichem  Wege, 
als  diese  verweigert  wurde,  die  Einstellung 
der  Arbeit.  Diese  Koalitionen  waren  an- 
fänglich ephemer.  Die  Feiernden  wurden 
von  den  Gewerbsgenossen,  die  in  Arbeit 
waren,  unterstützt.  War  der  Zweck  er- 
reicht oder  war  die  Arbeitseinstellung  miss- 
glückt^  so  verschwand  die  Koalition  wieder 
mit  dem  Anlass,  der  sie  hervorgerufen  hatte. 
Allein  die  auf  diese  Weise  erhobenen  Unter- 
stützungen reichten  bei  langdauernden 
Arbeitseinstellungen  nicht  aus.  Auch  waren 
die  Summen,  welche  die  Petitionen  ans 
Parlament  verschlangen,  zu  gross,  um  durch 
einmalige  Beisteuern  seitens  armer  Arbeiter 
gedeckt  werden  zu  können.  Endlich  er- 
forderte auch  die  Wiederkehr  der  Älissstände 
eine  dauernde  Organisation  zu  ihrer  Bekäm- 
pfung. Statt  der  anfänglichen  ephemeren  Koa- 
litionen entstanden  doshalb  bleibende  Vereine. 

Diese  Vereine  umfassten  anfänglich  alle 
Arbeiter  eines  Gewerbes  an  einem  Orte. 
Auch  waren  die  Beiträge  anfangs  lediglich 
freiwillige.  In  Friedenszeiten  erschlaffte 
dann    das    Gemeingefühl    der    Lässigeren, 


während  die  Eifrigen  oft  verhältnismässig 
hohe  Beiträge  gaben:  so  entstanden  engere, 
geschlossene  Genossenschaften  mit  bestimm- 
ten, festen  Beiträgen  unter  den  Eifrigeren. 
Im  Falle  von  Zwistigkeiten  mit  Arbeit- 
gebern schlössen  sich  aber  die  Arbeiter,  die 
nicht  Mitglieder  waren,  regelmässig  an  die 
Genossenschaft  an.  Abgesehen  von  dem 
Petitionieren  an  das  Parlament,  der  gericht- 
lichen Verfolgung  von  Arbeitgebern,  die  das 
Gesetz  verletzten,  und  der  Unterstützung 
der  Feiernden  bei  Ausständen  war  ihr  Zweck 
die  Unterstützung  von  Genossen,  die  Arbeit 
suchend  sich  an  andere  Orte  begaben,  fernier 
die  Unterstützung  der  kranken  und  die  Be- 
streitung der  Begräbniskosten  der  gestorbenen 
Mitglieder. 

Als  nun  die  drakonische  Gesetzgebung 
von  1800  gegen  die  Arbeiter  zur  Anwendung 
gebracht  wurde,  änderte  sich  der  Charakter 
der  Koalitionsvereine.  Sie  hörten  nicht  auf ; 
vielmehr  wurden  sie,  zumal  nachdem  das 
Lehrlin^^sgesetz  1814  beseitigt  worden  war, 
allgemem ;  aber  was  früher  offen  war,  wurde 
nunmehr  geheim.  Noch  vor  30  Jahren  er- 
zählten Arbeiter,  wie  sie  in  ihrer  Jugend 
die  Bücher  und  Protokolle  ihres  Gewerk- 
vereins in  dem  Moorland  von  Bolton  in 
Lancashire  zu  vergraben  hatten,  wie  bei  der 
Aufnahme  in  den  Verein  furchtbare  Eide 
geschworen  wurden  und  wie  Arbeiter  ins 
Zuchthaus  geschickt  wurden,  bloss  weil  sie 
einen  Brief,  der  um  Unterstützung  bat,  an 
die  in  einer  anderen  Stadt  wohnenden 
Arbeiter  getragen  hatten.  Die  Arbeitgeber 
dagegen,  die  der  Koalition  ziu»  Herab- 
drückung  der  Löhne  überführt,  waren, 
wuixien  von  den  Friedensrichtern,  die  über 
ihre  Standesgenossen  zu  urteilen  hatten,  stets 
freigesprochen.  »Es  ist  uns«,  so  heisst  es 
im  Ünterhausbericht  von  1824,  »eine  Reihe 
von  Fällen  vorgeführt  worden,  in  denen 
Arbeitgeber  wegen  Koalierens  ziu*  Herab- 
drückung  der  Löhne  und  Verlängerung  der 
Arbeitszeit  angeklagt  wiuxlen;  aber  kein 
Fall  konnte  beigebracht  weixlen,  in  dem 
irgend  ein  Arbeitgeber  für  diese  Gesetzüber- 
tretung bestraft  worden  wäre«.  So  wurde 
das  ungerechte  Gesetz,  das  die  Arbeiter,  die 
sich  der  Selbsthilfe,  auf  die  sie  seit  1814 
verwiesen  waren,  bedienten,  wie  Verbi-echer 
behandelte,  auch  noch  ungerecht  angewandt. 
Begreiflicherweise  war  seine  einzige  Wirkung, 
die  Gefühle  der  Ai'beiter  gegen  die  übrigen 
Gesellschaftsklassen  zu  verbittern,  den  Geist 
des  Misstrauens,  des  Hasses  imd  der  Ver- 
zweiflung unter  ihnen  zu  säen,  den  Sinn 
für  Recht  und  Unrecht  in  ihnen  zu  ertöten. 
Wurden  sie  doch  bestraft,  gleich\del  ob  sie 
eine  einfache  Koalition  eingingen  oder  Ge- 
waltthaten  begingen.  Was  Wunder,  dass 
die  im  Kampfe  ums  Dasein  aufs  äusserste 
Bedrängten  rücksichtslos  die  Mittel  wählten, 


Gtewerkvereine  (England) 


627 


von  denen  ihre  Kiirzsichtigkeit  die  kräftigste 
Hilfe  erwartete. 

Im  übrigen  trug  die  gewerbliche  Politik 
der  Arbeiterorganisationen  noch  ein  rein 
zünftlerisches  Gepräge.  Auch  ist  dies  nicht 
zu  verwundern.  Es  war  die  Zeit,  da  die 
alten  gewerblichen  Betriebsformen,  das 
Handwerk  und  die  Hausindustrie,  in  dem 
letzten  Stadium  ihres  Todeskampfes  mit  dem 
aufkommenden  Fabrikbetrieb  sich  befanden. 
Was  war  natürlicher,  als  dass  die  darunter 
leidenden  Arbeiter  zunächst  an  den  Mitteln 
festhielten,  in  denen  die  vorausgegangenen 
Jahrhunderte  das  Heil  erblickt  und  gefimden 
hatten:  an  der  Beschränkung  der  Lehrlings- 
zahl, am  Ausschluss  nicht  richtig  ausge- 
lemter  Arbeiter,  am  gesetzlichen  Lohn- 
minimum, an  Verboten  von  arbeitssparenden 
Maschinen!  Als  der  Protest  gegen  letztere 
im  Zerschlagen  derselben  sich  äusserte,  kam 
»das  grosse  Specificum,  das  nie  fehlbare 
Universalrezept  aller  Staatsquacksalber  von 
den  Tagen  Dracos  bis  auf  unsere  Tage«,  es 
wurde  ein  besonderes  Gesetz  erlassen,  das 
die  Zerstörung  der  Maschinen  mit  dem  Tode 
bestrafte.  Die  Arbeiter  aber  hatten  damals 
keinen  Freund  ausser  Bj^ron,  der  in  seiner 
grossherzigen,  Indignation  und  Talent 
sprühenden  Jungfernrede  im  Oberhaus,  wenn 
auch  vergeblich,  dagegen  protestierte. 

7.  Abschaffung  der  Koalitionsyerbote. 
Aber  balcl  sollten  die  Arbeiterkoalitionen 
einen  wirksameren  Freund  erhalten :  Francis 
Place,  seinem  bürgerlichen  Berufe  nach 
Schneidermeister,  im  politischen  Leben 
orthodoxer  Oekonomist  und  Radikaler,  der 
Freund  Benthams,  James  Mills,  Joseph 
Humes,  Ricardos  und  Mac  Cullochs,  einer  cfer 
thatkräftigsten  und  geschicktesten  politischen 
Organisatoren  des  19.  Jahrhunderts.  Zehn 
JaJ&e  widmete  Place  der  sorgfältigen  V^or- 
bereitung  der  Aufhebung  der  Koalitionsver- 
bote. Bei  seinem  Bestreben  erfreute  er  sich 
keinerlei  Unterstützung  seitens  der  Arbeiter. 
Diese  waren  zu  verwildert,  als  dass  sie  die 
Tragweite  einer  Beseitigung  der  Koalitions- 
verbote so  weit  hätten  begreifen  können,  um 
sich  dafür  zu  begeistern  und  Opfer  zu 
bringen.  Und  vielleicht  war  diese  ihre 
Teilnahmlosigkeit  etwas,  was  die  Auf- 
hebung der  Koalitionsverbote  gerade  er- 
leichterte. Der  Geist  der  Demagogenver- 
folgung, der  seit  den  Kriegen  mit  Frankreich 
England  kaum  minder  ^s  die  Länder  der 
heiligen  Allianz  geschändet  hatte,  war  im 
Aussterben.  Gerade  die  Teilnahmlosigkeit 
der  Arbeiter  verhinderte,  dass  dieser  Geist 
neue  Nahrung  erhielt,  indem  die  Aufmerk- 
samkeit der  aussterbenden  Demoki-atenhetzer 
der  Frage  sich  zuwandte.  So  gelang  es 
Hume,  die  Aufhebung  zusammen  mit  der 
Aufhebung  der  Verbote  der  Auswanderung 
gelernter  Arbeiter  und  der  Maschinenausfuhr 


durchs  Parlament  durchzuschmuggeln.  Durch 
den  5.  Geo.  IV.  c.  95  wiuxie  bestimmt,  dass 
Arbeiter,  die  eine  Koalition  betreffend  irgend 
eine  ihrer  Arbeitsbedingungen  eingingen,  von 
nun  an  keinerlei  Bestrafung  wegen  Ver- 
schwörung oder  irgend  welcher  anderer 
krimineller  Untersuchung  oder  Bestrafung 
ausgesetzt  sein  sollten.  Nur  die  Anwendung 
von  Gewalt  gegen  Personen  oder  Eigentum, 
von  Drohungen  oder  Einschüchterungen,  sei 
es,  um  andere  zur  Teilnahme  an  der  Koali- 
tion, sei  es,  um  den  oder  die  Arbeitgeber 
oder  deren  Beauftragten  ziu*  Bewilligung 
der  Wünsche  der  Arbeiter  zu  zwingen, 
wurde  mit  Gefängnis,  eventuell  mit  Ge- 
fängnis verbunden  mit  Zwangsarbeit  nicht 
über  2  Monate  bedroht. 

8.  Das  Gesetz  von  1825  über  Koali- 
tionen der  Arbeiter  und  Arbeitgeber. 
Die  Zeit,  da  die  Koalitionsverbote  beseitigt 
wiuxien,  war  eine  Zeit  des  wirtschaftlichen 
Aufschwungs  und  des  gleichzeiti^n  Steigens 
der  Lebensmittelpreise.  Von  emem  Ende 
des  Landes  zum  anderen  fanden  Arbeitsein- 
stellungen statt,  um  Lohnerhöhimgen  zu  er- 
zielen. Die  Arbeitgeber  wurden  mit  Schrecken 
erfüllt,  als  sie  fanden,  dass  kein  Ghesetz  mehr 
bestehe,  das  solche  Arbeitseinstellungen  ver- 
bot. Sie  verlangten  dringend  nach  Wieder- 
einführung der  Koalitionsverbote.  Da  be- 
antragte Huskisson  1825  die  Niedersetzimg 
eines  neuen  Parlamentsausschusses  zur  Unter- 
suchung der  Koalitionen,  und  einen  Augen- 
blick schien  es,  als  ob  die  Koalitionsfreiheit 
wieder  beseitigt  werden  sollte.  Aber  waren 
die  Arbeiter  gleichgiltig,  als  es  sich  um  die 
Beseitigung  der  Koalitionsverbote  handelte, 
so  waren  sie  das  Gegenteil  gegenüber  diesen 
reaktionären  Bestrebungen.  Sie  bestürmten 
das  Parlament  mit  Petitionen,  und  so  unter- 
stützt gelang  es  Hume,  die  Gesetzentwürfe 
der  Arbeitgeber  zum  Scheitern  zu  bringen; 
die  Koalitionsfreiheit  wurde  aufrecht  er- 
halten, allein  der  Act  von  1824.  allerdings 
dui-ch  den  6  Geo.  IV.  c.  129  von  1825  er- 
setzt, der  in  wichtigen  Punkten  das  gemeine 
Recht  über  Verachwörungen  für  Koalitionen 
wieder  in  Kraft  setzte.  In  der  That  er- 
scheinen danach  von  Strafen  nur  befi'eit 
Personen,  welche  zusammenkommen,  um  die 
Löhne  imd  die  Arbeitszeit  festzustellen, 
welche  die  bei  der  Zusammenkunft  persön- 
lich Gegenwärtigen  verlangen  oder  gewähren 
sollen  und  die  eine  Vereinbarung  zu  diesem 
Zwecke  unter  sich  selbst  treffen.  Alle 
anderen  Koalitionen  oder  Vereinbarungen 
zum  Nachteil  dritter  Personen  wurden 
wieder  als  Verschwörungen  und  für  straf- 
bar erklärt.  Somit  sollten  als  Verschwörungen 
behandelt  w^erden  aUe  Versanunhmgen  oder 
Vereinbarungen  über  die  Arbeitsbedingungen 
nicht  anwesender  Personen,  femer  über*  die 
Personen,  die  ein  Arbeitgeber  beschäftigen 

40* 


628 


Gewerkvereine  (England) 


oder  nicht  beschäftigen,  über  die  Maschinen, 
die  er  verwenden  solle,  ferner  alle  Verein- 
barungen, mit  einer  bestimmten  Pei'son  nicht 
zusammen  zu  arbeiten,  sowie  andere  Personen 
zur  Einstellung  der  Arbeit  oder  zur  Nicht- 
annahme von  Arbeit  zu  bewegen.  Kurz  es 
gab  kaum  eine  Handlung,  welche  zur  wirk- 
samen Thätigkeit  der  Gewerkvereine  not- 
wendig ist,  die  nicht  als  Verschwörung  be- 
handelt werden  sollte.  Dazu  kam,  dass  die 
Strafe  für  üebertretung  des  Gesetzes  von  2 
auf  3  Monate  ausgedehnt  und  bestimmt 
wurde,  dass  eine  Verurteilung  auf  Gnmd 
des  Eides  einer  einzigen  Person  und  ebenso 
auf  Gnmd  des  Nachweises,  dass  Gefahr  sei, 
dass  der  Angeklagte  sich  durch  Flucht  ent- 
zieht, sollte  stattfinden  können.  Die  Kon- 
zession, dass  der  Veriu'teilte  an  das  Schwur- 
gericht sollte  appellieren  können,  wurde 
wenig  geschätzt,  weil  die  Geschworenen  als 
Eegel  derselben  Gesellschaftsklasse  wie  die 
Friedensrichter  angehörten. 

9.  Die  Periode  der  fehlgeschlagenen 
Arbeiterbewegungen.  Nunmehr  beginnt  die 
Periode  der  tiefsten  Entmutigimg  der  eng- 
lischen Arbeiterklasse.  Ende  des  Jahres  1825 
folgte  auf  den  vorausgegangenen  wirtschaft- 
lichen Aufschwung  der  Niedergang  und  da- 
mit das  Fehlschlagen  der  Arbeitseinstellungen. 
Damit  brach  nicht  nur  die  damalige  Ge- 
werk Vereinsbewegung  zusammen,  es  schien 
der  praktische  Beweis  erbracht,  dass  es  un- 
möglich sei,  auf  Grundlage  der  von  Place 
vertretenen  klassischen  Nationalökonomie  die 
Lage  der  Arbeiter  zu  bessern,  und  so  wandten 
diese  sich  revolutionären  Bestrebungen  zu. 

Da  war  zunächst  Cobbett  mit  seiner 
Agitation  für  Parlamentsreform.  Mit  In- 
bnmst  schloss  man  sich  der  Bewegimg  an, 
von  der  man  das  allgemeine  Wahlrecht 
erhoffte.  Allein  das  Reform^esetz  von  1832 
brachte  nicht  das  aUgememe  Wahlrecht, 
und  nun  folgten  eine  Keihe  teüs  sozialer, 
teils  politischer  revolutionärer  Bestrebungen, 
die  die  ihr  Ziel  nicht  erreichen  konnten, 
aber  durch  die  erziehliche  Wirkung,  welche 
sie  ausübten,  von  nachhaltigem  Einfluss 
wurden. 

Zunächst  entstand  eine  neue  Gewerkver- 
einßbewegung,  die  von  1829 — 1834  in  einem 
Anlauf  den  Himmel  zu  stünnen  hoffte. 
Man  erstrebte  eine  nationale  Organisation 
der  Lohnarbeiter  aller  Gewerbe.  So  etwas 
konnte  als  Resultat  einer  Entwickelung, 
welche  die  Arbeiter  der  einzelnen  Gewerbe 
vorerst  in  Sonderorganisationen  erzogen 
hatte,  sich  einmal  ergeben.  Einstweilen 
-war  das  Projekt  verfrüht.  Trotz  der  Hun- 
derttausende, die  in  kürzester  Zeit  dem 
grossen  Nationalverein  der  konsolidierten 
Gewerbe  beitraten,  ging  er  alsbald  an  seinen 
inneren  Schwächen,  an  dem  Mangel  an 
Mitteln,   Disciplin,   Opferwilligkeit    und   an 


Sektionsstreitigkeiten  zu  Grunde.  Das  ein- 
zige, was  er  zur  Folge  hatte,  war,  dass  er 
den  herrschenden  Klassen  einen  heiUosen 
Schrecken  einjagte  imd  —  da  das  Whig- 
ministerium den  Mut  nicht  hatte,  ein  Aus- 
nahmegesetz einzubringen  —  ziu*  sj'stemati- 
schen  Ausbildung  jener  Verfolgiing  der 
Gewerkvereine  als  Verschwörungen  auf 
Grundlage  des  gemeinen  Hechts  den  Anstoss 
gab,  unter  der  die  Gewerkvereine  für  De- 
cennien  leiden  sollten. 

Als  dann  die  hinunelströmende  Strike- 
bewegung  des  grossen  Nationalgewerkver- 
eins zusammengebrochen,  erhielten  Robert 
Owens  Anschauungen  in  ihm  die  Oberhand. 
Zwar  gab  es  in  den  vierziger  Jahren  einen 
neuen  Versuch,  einen  Verband  aller  Ge- 
werkvereine in  der  »Nationalen  Association  der 
Vereinigten  Gewerkvereine«  zu  schaffen. 
Er  erhielt  indes  nie  rechte  Bedeutung. 
Im  Gegensatz  zu  seinen  Methoden  wurde 
vielmehr  der  Strike  als  Emanzipationsmittel 
nunmehr  perhorresziert ;  der  genossenschaft- 
liche Kommunismus  Owens  mit  seiner  Kul- 
mination in  den  Arbeitsbörsen,  an  denen 
die  Produkte  nach  der  Menge  gesellschaft- 
licher Arbeitszeit,  die  ihre  Herstellimg 
gekostet,  gegeneinander  umgesetzt  werden 
sollten,  wurde  das  Ideal.  Owen  setzte  seine 
Hoffnung  auf  die  Verwirklichung  seiner 
Projekte  durch  die  Gewerkvereine,  imd  diese 
ergingen  sich,  voll  Siegesgewissheit,  bereits 
in  den  übermütigsten  Reden.  Da  erfolgte 
auch  hier  das  Felüsclüagen  aUer  Experi- 
mente, —  nicht  ohne  dass  Owen  fruchtbare 
Keime  für  eine  neue  Politik  der  Gewerk- 
vereine zurücklassen  sollte. 

Dann  kam  aufs  neue  ein  Augenblick 
der  Bedrohung  der  Gewerkvereine  dureh 
die  Gesetzgebung.  Von  der  Erneuerung 
einzelner  drakonischer  Bestimmungen  gegen 
die  freie  Ausgestaltung  der  Gewerkvereine, 
welche  das  Gesetz  von  1825  gebracht  hatte, 
wurde  in  der  Praxis  reichlich  Gebrauch  ge- 
macht Die  Prezesse  und  kriminellen  Ver- 
urteilungen von  Arbeitern  wegen  üebertre- 
tung des  Koalitionsgesetzes  und  der  Ver- 
schwörungsgesetze hssen  nicht  ab,  und  die 
Verbitterung,  die  sie  erzeugten,  rief  wie  vor 
1824  Heimlichkeit,  verbotene  Eide  und  die 
scheusslichsten  Greuelthaten  auf  seite  der 
Arbeiter  hervor,  die  sich  in  den  30  er  Jahren 
bis  zum  Begiessen  Abtrünniger  mit  Vitriol 
seitens  der  BaumwoUspinner  Glasgows  stei- 
gerten. O'Connell,  der  mit  den  irischen 
Gewerkvereinen  unzufrieden  zu  sein  Veran- 
lassung hatte,  benutzte  dies  zu  einem  hefti- 
gen Angriff  auf  die  Gewerkvereine  im 
Unterhaus.  Ein  üntersuchungsausschuss 
wurde  niedergesetzt  Aber  abgesehen  von 
2  Bänden  Zeugenaussagen  hat  dieser  Aus- 
schuss  nichts  zur  Folge  gehabt. 

Da  kam  der  gresse  wirtschaftliche  Nie- 


Gewerkvereine  (England) 


629 


dergang  zu  Ende  der  30  er  Jahre.  Damit 
gingen  auch  die  Gewerkvereine  zurück,  und 
wenn  sie  auch  als  solche  keinen  Anteil 
iiahmen  an  der  Chartistenbewegung,  so 
wandten  ihre  Mitglieder  doch  angesichts 
des  Fehlschlagens  aller  übrigen  Bestrebun- 
gen des  letzten  Decenniums  der  Bewegung 
sich  zu,  welche  von  der  Eroberung  der 
politischen  Gewalt  durch  die  ArbeiterKlasse 
die  wii-tschaftliche  und  soziale  Emanci- 
pation  derselben  erwartete.  Aber  auch  diese 
Bewegung  —  die  erste  eigentlich  sozialdemo- 
kratische Bewegimg  der  Neuzeit  —  musste 
fehlschlagen.  (Vgl.  den  Art.  Cliartismus 
oben  Bd.  ni  S.  14  ff.)  Trotzdem  hat  sie 
wichtige  Resiütate  auch  für  die  Entwickelung 
der  Gewerkvereine  gebracht.  Einmal  hat  sie 
die  Wirkung  gehabt,  die  englische  Arbeiter- 
klasse bis  in  die  entlegensten  Winkel  desLaudes 
aus  den  überkommenen  Anschauungen  der 
Unterwürfigkeit  aufzurütt-eln  und  zum  Be- 
wusstsein  ihrer  besonderen  Klasseninteressen 
zu  bringen,  sodann  machten  einzelne  unter 
den  Chartistenführern,  wie  Bronterre  O'Brien, 
selbst  den  zurückgebliebensten  englischen 
Arbeitern  klar,  dass  es  sich  bei  der  sozialen 
Bewegung  nicht  um  ein  Zurücklenken  in 
die  Geleise  veralteter  Wirtscliaftspolitik, 
sondern  um  eine  neue  gesellschaftliche  Or- 
ganisation handle. 

10.  Die  Entwickelung  der  Verfassung 
der  G.  von  1825—1850.  Trotz  aller  die- 
ser Irrungen  ist  die  Zeit  von  1825 — 1850 
die  der  allmählichen  zweckdienlichen  Aus- 
bildung derGewerkvemnsorganisation.  Noch 
in  den  Jahren  1824 — 1830  gehörten  zu 
einem  Gewerkvereine  nur  die  Arbeiter,  die 
an  demselben  Orte  dei'selben  Beschäftigung 
oblagen:  die  Gewerkvereine  waren  nur  lo- 
kale Gesellschaften.  Sie  gewährten  noch 
niclit  alle  Unterstützungen,  welche  sie  heute 
gewähren.  Ihre  Hauptaufgabe  war  die 
Unterstützung  ihrer  Mitglieder,  die,  sei  es 
infolge  der  Lage  des  Marktes,  sei  es  infolge 
von  ArbeitseinsteUung  brotlos  waren. 
Ausserdem  unterstützten  sie  nur  noch  die 
Mitglieder,  die  ohne  eigene  Schuld  von  ei- 
nem Unglücke,  das  sie  arbeitsunfähig  machte, 
betroffen  worden  waren,  und  zahlten  beim 
Tode  eines  Mitgliedes  oder  der  Frau  eines 
solchen  eine  Summe  zur  Bestreitung  der 
Begräbniskosten.  Die  hierzu  nötigen  Gelder 
wimien  teils  durch  Eintrittsgelder,  teils 
durch  geringe  wöchentliche  Beiträge,  teÜs 
dimjh  ausserordentliche  Umlagen  im  Be- 
dürfnisfalle aufgebracht.  Die  Leitung  des 
Vereins  lag  in  der  Versammlung  aller  Ge- 
nossen. 

In  Gewerben,  die  über  das  ganze  Land 
verbreitet  imd  die  häufigen  Schwankungen 
ausgesetzt  waren,  konnten  diese  Vereine  die 
Bedürfnisse  der  Arbeiter  indes  nur  unge- 
nügend befriedigen.    Solche  Gewerbe  brach- 


ten notwendig  das  Wandern  der  in  ihnen 
Bescliäftigten  nach  anderen  Orten  mit  sich, 
und  begab  sich  der  Arbeiter  an  einen  ande- 
ren Ort,  so  musste  er,  um  sich  im  Falle 
der  Not  eine  Unterstützung  zu  sichern, 
einem  neuen  Vereine  beitreten.  Trat  ferner 
aus  irgend  einem  Grunde  ein  Arbeitsstill- 
stand an  einem  Orte  ein,  so  waren  die  zur 
Unterstützung  der  Feiernden  verfügbaren 
Mittel  eines  auf  den  Ort  beschränkten  Ver- 
eins bald  erschöpft.  Bereits  zu  Ende  der 
20  er  Jahre  versuchte  man  deshalb  in  eini- 
gen Gewerben,  durch  eine  Art  Konföderation 
der  an  verschiedenen  Orten  bestehenden 
selbständigen  Gesellschaften  diesen  Missstän- 
den zu  begegnen.  Doch  hatten  diese  Kon- 
föderationen keinen  Bestand.  Eine  Ausbrei- 
tnng  der  Gewerkvereine  auf  mehrere  Orte 
wurde  vielmehr  erst  zu  Anfang  der  80  er 
Jahre  dadurch  bewerkstelligt,  dass  die  Mit- 
glieder eines  Vereins,  die  sich  an  einen 
anderen  Ort  begaben,  daselbst  einen  Zweig- 
verein desselben  begründeten.  Hierdimih 
verbreiteten  sich  die  Ge  werk  vereine  all- 
mählich an  allen  Orten  des  Landes,  an 
denen  das  betreffende  Gewerbe  betrieben 
wurde. 

Die  Vorteile  dieser  Ausbreitung  der  Ge- 
werkvereine für  den  Arbeiter  waren  ausser- 
oi-dentlich.  Nun  erst  wurden  die  Gewerk- 
vereine für  den  Arbeiter  wirklich  eine 
Stütze ;  denn  nun  erst  wurde  die  Freizügig- 
keit zur  Walirheit.  Nicht  nur,  dass  er  seine 
Anrechte  auf  Unterstützung  nicht  verlor, 
wenn  er  an  einen  anderen  Ort  sich  begab, 
um  dort  Arbeit  zu  suchen,  er  erhielt  noch 
Unterstützung,  um  dahin  wandern  zu  können, 
und  fand  dort  sofort  Genossen,  die  ihm  ziu* 
Seite  standen.  Die  Unterstützungen,  welche 
die  Vereine  gewährten,  wurden  nun  grösser 
und  nachhaltiger,  denn  die  Lasten  derselben 
verteilten  sich  auf  eine  weit  grössere  An- 
zahl von  Schidtem.  Stellten  z.  B.  die  Ar- 
beiter an  einem  Orte  die  Arbeit  ein,  so  wur- 
den sie  nun  von  den  Arbeitern  aller  Orte, 
an  denen  Zweige  bestanden,  unterstützt, 
konnten  deshalb  viel  länger  ausharren  und 
hatten  grössere  Aussicht  zu  siegen.  Auch 
wurde  es  nun  möglich,  den  Mitgliedern 
ausser  den  bisherigen  Unterstützimgen 
Kranken-  und  Invalidenunterstützungen  zu 
gewähren.  Alle  von  den  einzelnen  Zweigen 
verausgabten  Unterstützungen  werden  seit- 
dem durch  die  Gesamtheit  derselben  ge- 
tragen, nnd  alle  halbe  Jahre  wird  das  ge- 
samte Vereinsvermögen  auf  die  einzelnen 
Zweige  nach  Verhältnis  ihrer  Mitgliedei'zahl 
gleichmässig  aufs  neue  verteilt. 

Mit  der  Ausbreitung  der  Gewerkvereine 
auf  mehrere  Orte  wurden  aber  auch  Aende- 
nmgen  in  der  Leitung  derselben  notwendig. 
Bisher  lag  diese  Leitung  in  den  Händen  der 
Vei*sammlung    aller  Mitglieder.      Die  Ver- 


630 


Gewerkvereine  (England) 


Sammlung  der  Mitglieder  an  einem  Orte 
behielt  nunmehr  nur  die  Ordnung  der  Orts- 
angelegenheiten;  die  der  Vereinsangelegen- 
heiten erhielt  die  Versammlung  von  Dele- 
gierten sämtlicher  Zweige,  welche  alle  zwei 
Jahi*e  zusammentrat.  In  ihrer  Abwesenheit 
sollte  zuerst  der  leitende  Zweig  die  oberste 
Behörde  sein,  und  dieser  sollte  diu'ch  die 
Delegiertenversammlung  alle  zwei  Jahre  aufs 
neue  gewählt  werden.  Dann  wurde  der 
Zweigverein  am  Hauptorte  des  Gewerbes 
dauernd  zum  leitenden  Zweige  ernannt.  Zu- 
letzt aber,  bei  noch  gi'össerer  Ausbreitung 
des  Vereins,  behielten  auch  die  Zweige  an 
den  Hauptorten  der  verschiedenen  Indus- 
trieen  nur  die  Ordnung  der  eigenen  Ange- 
legenheiten; für  die  Vereinsangelegenheiten 
wurden  besondere  ständige  Behörden  er- 
nannt, ein  Generalsekretär  und  ein  Exekutiv- 
ausRchuss,  welche  durch  die  Gesamtheit  der 
Mitglieder  gewählt  wurden. 

Diese  Entwickelung  brachte  es  indes  mit 
sich,  dass  allmählich  in  jedem  Gewerbe  eine 
Mehrheit  von  Qewerkvereinen  entstand,  in- 
dem von  verschiedenen  Orten  aus  Gewerk- 
vereine desselben  Gewerbes  über  das  ganze 
Land  sich  verbreiteten.  Ferner  hatten  die 
Arbeiter  der  verscliiedenen  Bescliäftigungen 
in  ein  und  derselben  Industrie  ihre  beson- 
deren Gewerkvereine  gebildet;  so  hatten 
z.  B.  in  der  Masclünenindustrie  die  Schmiede, 
die  Maschinenarbeiter,  die  Metalldreher,  die 
Modelltischler  etc.  alle  ihre  besonderen 
Vereine,  und  die  Eifersüchteleien  und  Zwis- 
tigkeiten  unter  diesen  ^delen  Vereinen  der 
Arbeiter  desselben  Gewerbes  brachten  den- 
selben den  mannigfachsten  Schaden.  In  der 
Maschineuindustrie  hatten  einzelne  Gewerk- 
vereine deshalb  schon  zu  Beginn  der  vier- 
ziger Jahre  eine  Vereinigung  mit  anderen 
Vereinen  ihres  Gewerbes  erstrebt.  Erst 
eine  langwierige  Arbeitseinstellung  im  Jahre 
1844  aber  brachte  die  Notwendigkeit  einer 
solchen  Vereinigung  zum  Bewusstsein  der 
Mehrheit  der  in  der  Maschinenindustrie  Be- 
schäftigten, und  nach  langen  Verhandhnigen 
wurde  endlich  1850  die  Verschmelzung  aller 
Gewerkvereine  der  zur  Maschinenindustrie 
gehörigen  Arbeiter  in  einen  einzigen  Verein 
beschlossen.  Die  am  1.  Januar  1851  ins 
Leben  getretene  Vereinigte  Gesellschaft  der 
Maschinenbauer  umfasst  nicht  niu*  die  grosse 
Mehrheit  aller  Maschinenbauer  von  (}toss- 
britannien  und  Irland,  sondern  auch  auf 
Canada,  die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika, 
Australien,  den  Norden  Frankreiclis  und  den 
Orient  ei-strecken  sich  ihre  Zweige.  Wohin 
immer  englische  Maschinenbauer  kommen,  da- 
hin nehmen  sie  ihren  Gewerkverein  mit. 
Nach  diesem  Vorgange  der  Maschinenbauer 
liaben  sich  seitdem  in  den  meisten  Gewerben 
Englands  die  Gewerkvereine  zu  einer  ein- 
zigen, die  grosso  Melu'zahl  der  Arbeiter  des 


Gewerbes  umfassenden  Gesellschaft  vereinigt, 
üeber  das  Wirken  der  Gewerkvereine  auf 
Gnind  dieser  Verfassung  vgl.  den  Art.  Ge- 
werkvereine im  allgemeinen  sub  4. 
oben  S.  617  ff. 

11.  Wandlung  im  Geiste  der  G. 
Nach  dem  Fehlschlagen  der  sozialen  und 
politischen  Bestrebungen  der  30  er  und 
40  er  Jahre  trat  ein  Umschwung  im  Geiste, 
der  die  Gewerkvereine  beseelte,  hervor.  Das 
Ehepaar  Webb  schildert  ihn  mit  folgenden 
Worten:  »Die  Gewerkvereine  liessen  aDe 
Projekte  sozialer  Revolution  bei  Seite, 
setzten  resolut  ihre  ganze  Kraft  ein,  den 
schlimmsten  gesetzlichen  und  wirtschaft- 
lichen Bedrückungen,  unter  denen  sie  litten, 
Widerstand  zu  leisten,  und  bauten  langsam 
die  Organisationen  aus,  die  ein  integrieren- 
der Teil  der  modernen  Wirtschaftsorganisa- 
tion geworden  sind.  Wir  sehen  die  Haupt- 
ursache dieses  Erfolges  in  der  Ausbreitimg 
von  Bildung  unter  der  Masse  und  in  den 
praktischen  Gesichtspunkten,  die  seit  1892 
m  der  Gewerkvereinswelt  die  Oberhand  er- 
lüelten.  Indes  dürfen  wir  die  Wirkungen 
der  eintretenden  wirtschaftlichen  Verände- 
rung nicht  übersehen.  Die  Periode  1825 
bis  1848  ist  durch  die  Häufigkeit  imd  Hef- 
tigkeit der  wirtschaftlichen  Krisen  bemerkens- 
wert. Seit  1850  (d.  h.  seit  Begrinn  der 
Aera  des  Freihandels)  war  der  wirtschaft- 
liche Aufschwung  für  viele  Jahre  grösser 
und  stetiger  als  in  jeder  vorausgegangenen 
Periode.  Es  ist  kein  blosser  Zufall,  dass 
diese  Jahre  des  Wohlstandes  die  Annahme 
eines  »neuen  Musters«  der  Organisation 
seitens  der  GewerkN-ereinswelt  sehen,  einer 
Organisation,  unter  der  die  Gewerkvereine 
eine  finanzielle  Stärke,  einen  gelernten  Stab 
besoldeter  Beamter  und  einen  bleibenden 
Bestand  von  Mitgliedern  erhielten,  wie  sie 
bisher  unbekannt  waren«.  »Es  entstanden 
die  grösseren  »Vereinigten  Gesellschaften« 
aller  gelernter  Arbeiter  zusammengehöriger 
Gewerbe,  welche  Hilfskassenzwecke  mit  Ge- 
werkvereinszweckeu  verbanden  und,  wo 
immer  möglich,  »eine  industrielle  Diplo- 
matie« an  die  Stelle  der  rauheren  Methode 
des  Klassenkriegs  setzten«. 

Dabei  darf  man  aber  nicht  glauben^  dass 
sich  mit  dieser  Wandlung  zum  Praktischen 
auch  die  Ideale  dorGewerkvereinler  geändert 
hätten.  Von  Wichtigkeit  ist  dabei  insbe- 
sondere, zu  bemerken,  dass  Owens  Agitation 
gegen  die  auf  der  Konkurrenz  beruhende 
Wirtschaftsorganisation  in  den  englischen 
Arbeitern  ein  nachhaltiges  Verlangen  nach 
planmässigor  Regelung  der  Produktion  her- 
vorgerufen hat.  So  verlangte  1844  der  Ver- 
ein der  Grubenarbeiter  in  einer  an  die 
Grubenbesitzer  gerichteten  Adresse  ein 
Lohnminimum;  dazu  sollen  die  Grubenbe- 
sitzer so  viel  drauf  schlagen,  als  sie  als  ge- 


Gewerkvereine  (England) 


631 


hörigen  und  vernünftigen  Gewinn  ihres 
Kapitals  ansehen ,  und  um  die  Kohlenpreise 
auf  einem  Satze  zu  halten,  der  sie  in  stand 
setzt,  diese  Löhne  zu  zahlen  und  diesen 
Gewinn  zu  realisieren,  sollen  sie  sich,  statt 
mit  einander  zu  konkurrieren,  kartellieren. 
Diese  Auflassimg  haben  wichtige  Bnichteile 
der  englischen  Gewerkvereine  seitdem  unun- 
terbrochen festgehalten.  Desgleichen  ist  zu 
betonen,  dass  gerade  die  leitenden  Geister, 
welche  das  »neue  Muster«  ausgebildet  und 
mit  unübertrefflicher  Geschicklichkeit  ge- 
leitet haben,  überzeugte  Oweniten  waren 
und  blieben.  Aber  der  Unterschied  gegen 
die  30  er  Jahre  war  der,  dass  die  0 wenschen 
Ideeeu  den  Charakter  von  Idealen,  von 
»Sonnta^ideeen«  annahmen,  denen  man  wie 
süssen  Träumen  an  ein  besseres  Jenseits 
sich  hingab,  während  man  an  Werktagen 
äusserst  opportunistisch  seine  Politik  den 
gegebenen  Verhältnissen  des  Augenblickes 
anpasste.  In  den  praktischen  Fragen  des  täg- 
lichen Lebens  stellte  man  sich  resolut  auf  die 
Basis  der  herrschenden  ökonomischen  Doktrin, 
dass  der  Lohn  durch  Angebot  und  Nach- 
frage bestimmt  werde.  Dagegen  anzu- 
kämpfen fiel  niemand  mehr  ein.  Allein  man 
verlangte  nur,  ebenso  wie  andere  Warenver- 
käufer das  Angebot  ihrer  Ware,  so  das  der 
Arbeit  der  Nachfrage  anpassen  zu  können, 
und  zu  diesem  Zweck  hielt  man  teils  an 
Einrichtungen,  die  aus  der  alten  gewerb- 
lichen Ordnung  überkommen  wai^en  —  wie 
an  der  Regelung  der  Lehrlingszahl  und 
an  dem  Ausscliluss  nicht  gelernter  Arbeiter 

—  fest,  teils  suchte  man  durch  moderne 
Massnahmen  —  wie  Regelung  der  Arbeits- 
zeit, insbesondere  des  üeberzeitarbeitens, 
und  dm'ch  Organisation  der  Auswanderung 

—  auf  das  Angebot  einen  Einfluss  zu  ge- 
winnen. So  hoffte  man,  in  stand  gesetzt 
zu  werden,  eventuell  wie  andere  Warenver- 
käufer bei  ungenügendem  Preise  seine  Ware 
vom  Markte  zurückhalten  zu  können,  bis 
deren  Preis  wieder  stieg.  Man  bildete  den 
Gewerkverein  aus  zur  natürlichen  und  not- 
wendigen Ergänzung  der  Nationalökonomie 
auf  Grundlage  vollkommener  Freiheit.  Da- 
bei waren  es  nunmehr  gerade  die  Gewerk- 
vereine, welche  den  Arbeitgebern  vorzu- 
führen suchten,  dass  die  Interessen  von  Ar- 
beitgebern und  Arbeitern  identisch  seien. 
Man  suchte  die  alte  gesetzliche  Lohnrege- 
lung, wie  sie  sich  am  längsten  bei  den  Sei- 
denwebem  erhalten  hatte,  zeitgemäss  umzu- 
gestalten, indem  man  nach  Lohnregelung 
in  Schieds-  und  Einigungsämtern  durch  eine 
gleiche  Anzahl  von  Arbeitgebern  und  Arbei- 
tern verlangte.  Auf  Seiten  der  Gewerkver- 
eine entstand  ein  allgemeines  Verlangen, 
die  ftVr  die  Lage  der  Arbeiter  massgebenden 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Thatsachen 
kennen  zu  lernen.    Wie  alle  Arbeitsbedin- 


gimgen,  so  sollten  die  Schieds-  imd  Eini- 
gungsämter insbesondere  die  Lohnsätze  auf 
Grund  dieser  Thatsachen  den  Principien  der 
Nationalökonomie  gemäss  festsetzen. 

Nicht  minder  opportunistisch  verfulir 
man  in  politischen  Dingen.  Es  ist  fast 
selbstverständlich,  dass  die  enorme  Mehrzahl 
der  Ge  werk  verein  1er  allezeit  für  das  allge- 
meine Wahlrecht  und  sonstige  weitgehende 
politische  Forderungen  war.  Aber  dies 
waren  sie  nur  individuell  —  als  private 
Bürger.  Dagegen  hielt  man  streng  auf  die 
Fernhaltung  aller  Politik  und  aUer  Religion 
von  den  Gewerkvereinen  als  solchen.  Die 
Erfahrung  hatte  gelehrt,  dass  nur  bei  sol- 
chem Verhalten  innerhalb  der  Gewerkver- 
eine die  nötige  Eintracht  zu  erhalten  und 
von  den  herrschenden  Parteien  die  im  In- 
teresse der  Gewerkvereind  unentbehrlichen 
gesetzlichen  Reformen  zu  erreichen  seien. 
So  gelang  es,  den  Gewerkverein  zu  dem  zu 
machen,  was  er  wirklich  geworden  ist,  zur 
Organisation  der  Arbeiterklasse. 

12.  Die  G.  nnd  die  öffentliche  Meinung 
von  1826—1868.  In  den  30er und 40er  Jahren 
des  19.  Jalirhunderts  litten  die  Gewerkvereino 
unter  der  äussersten  Ungunst  seitens  der 
öffentlichen  Meinung  und  der  Gesetzgebung. 
Wenige  Tage  nachdem  Lord  Melbourne,  der 
Whigminister,  1830  sein  Amt  angetreten, 
that  er  Schritte,  um  womöglich  die  Gewerk- 
vereine imterdrücken  zu  können.  1838 
wurde  ein  Parlamentsausschuss  in  gleicher 
Hoffnung  niedergesetzt,  desgleichen  1856. 
Die  Tagespresse  wie  die  Monats-  und  Vier- 
teljahrsschriften waren  voll  von  überschäu- 
menden Denunziationen  der  Gewerkvereine. 
Nachdem  die  christlichen  Sozialisten  1851 
den  ersten  Versuch  gemacht  hatten,  das 
Publikum  zu  einer  gerechteren  Beurteilung 
zu  veranlassen,  setzte  im  Gefolge  des  Ar- 
beitsstillstandes im  Londoner  Baugewerbe 
1859  die  Gesellschaft  zur  Fördenmg  der 
Sozialwissenschaften  einen  Ausschuss  zur 
Untersuchung  der  Gewerkvereine  ein.  Ihm 
gehörten  neben  den  clu-istiichen  Sozialisten 
Maurice,  Hughes  und  Ludlow,  die  National- 
ökonomen Fawcett  und  Jevons,  12  spätere 
Parlamentsmitglieder,  4  spätere  Minister, 
5  spätere  Kronbeamte,  12  Männer  der 
Wissenschaft  und  Litteratur  an.  Sein  Be- 
richt,  der  1860  veröffentlicht  wurde,   war 

7  » 

der  erste  systematische  Versuch,  die  Ge- 
werkvereine gerecht  zu  beurteilen,  und  wurde 
der  Ausgangspunkt  alles  ehrlichen  Studiums 
der  Arbeitemage.  Allein  die  den  Arbeit- 
gebern so  genehme  Beurteilungsweise  Hess 
sich  aus  der  öffentlichen  Meinung  nicht  so 
leicht  verdrängen.  Da  traten  Ereignisse  ein, 
welche  den  Arbeitgebern  noch  einmal  — 
es  war  dies  das  letzte  Mal  —  Gelegenheit 
geben  sollten,  die  öffentiiche  Entrüstung 
gegen  die  Gewerkvereine  als  kriminelle  Ver- 


632 


Gewerkvereine  (England) 


schwörungen  zu  entfesseln.  Die  zurück- 
gebliebenen Organisationen  der  Ziegel- 
sti'eicher  zu  ^lanchester  und  der  Sägen- 
ßchleifer  zu  Sheffield  hatten  eine  Anzahl 
nichtswürdiger  Verbrechen  gegen  Nicht- 
gewerkvereinler  begehen  lassen  und  die 
Vollzieher  ihrer  Befehle  aus  Vereinsmitteln 
dafür  bezahlt.  Abermals  ging  ein  Schrei 
des  Entsetzens  durch  das  Land,  und  die 
Arbeitgeber  verlangten  ungestüm  nach  Unter- 
drückung aller  Gewerkvereine  durch  Gesetz. 
Eine  üntersuchungskommission  wvuxle  nieder- 
gesetzt, um  das  dazu  nötige  Material  zu 
beschaffen,  und  nur  mit  Mühe  gelang  es, 
dem  christlichen  Sozialisten  Thomas  Hughes 
luid  dem  Positivisten  Froderic  Harrison  als 
Verteidigern  der  Gewerkvereine  Sitz  und 
Stinmie  in  dicvser  Kommission  zu  verschaffen. 
Gleichzeitig  erklä^ten  die  Gerichte,  dass  die 
Gewerkvereine  kein  Recht  hätten,  ihre  Be- 
amten, wenn  sie  Ge  werk  Vereinsgelder  unter- 
schliigen,  gerichtlich  zu  verfolgen.  Indes 
die  Einleitung  der  Untersuchung,  welche 
die  Schande  der  G^werkvereine  enthüllen 
sollte,  endete  zu  deren  Ruhm.  Die  Unter- 
suchungakommission  musste  konstatieren, 
dass  Gesetzesverletzungen  wie  die  von  Man- 
chester und  Sheffield  früher  allgemein,  jetzt 
aber  bei  den  Arbeitern  keines  anderen  Ge- 
werbes und  keines  anderen  Ortes  melir  vor- 
kämen. Die  gegen  die  Gewerkvereine  ge- 
richteten Anklagen  brachen  angesichts  der 
Ergebnisse  der  Untersuchung  zusammen,  und 
umgekehrt  verlangten  die  Angeklagten  nun- 
mehr Gerechtigkeit.  Statt  eines  scharf- 
sinnig erfundenen  und  kräftig  diu'chgeführten 
Systems  der  Unterdrückung  der  Arbeiter- 
koalitionen,  wonach  viele  verlangt  hatten, 
traten  Aenderungen  in  der  entgegengesetzten 
Richümg  ein. 

18.  Die  gesetzliche  Anerkennniig  der 
G.  Die  erste  Folge  der  stattgefundenen 
üntereuchung  war  ein  provisorisches  Gesetz 
von  1869  zum  Schutze  des  Gewerkvereins- 
vermogens  gegen  Diebstahl  und  Unter- 
schlagung. Es  ist  ein  Ruhmesblatt  in  der 
Geschichte  der  englischen  Arbeiterbewegimg, 
dass,  wie  soeben  bemerkt,  die  Gelder  der 
Ge  werk  vereine  bis  dahin  jedweden  gesetz- 
lichen Schutzes  entbehrt  hatten;  allein,  ob- 
wohl ihre  Gelder  somit  vogelfrei  waren, 
erecheint  die  Zahl  der  Diebstähle  und  Unter- 
schlagimgen,  die  stattgefunden  hatten,  mini- 
mal, auch  ohne  dass  man  sie  mit  den  zahl- 
reichen Fällen  von  Diebstahl  imd  Unter- 
schlagimg  bei  den  so  sorgfältig  geschützten 
Versichenmgs-  oder  Aktiengesellschaften 
vergleicht.  Allein  der  Triumph  der  Gewerk- 
vei-eine  erfolgte  erst  in  dem  Trade  Union 
Act  von  1871,  zu  dem  1876  eine  Novelle 
89  und  40  Vict.  c.  22  erlassen  wurde. 
Durch  ihn  wurden  die  Gewerkvereine  aus- 
<lrücklich  für  nicht  kriminell  erklärt.   Ferner 


wurde  bestimmt:  >^Die  Zwecke  eines  Ge- 
werkvereins sollen  nicht  deshalb,  weil  sie 
eine  Beschränkung  der  Gewerbefreiheit  be-- 
deuten,  als  ungesetzlich  erachtet  werden,  so 
dass  sie  irgend  eine  Vereinbarung  oder 
Geldanlage  derselben  ungültig  machen.« 
Dagegen  wurden  die  von  den  Mitgliedern 
der  Gewerkvereine  getroffenen  Vereinba- 
rungen über  die  Arbeitsbedingungen  für 
nach  wie  vor  unklagbar  erklärt.  Diejenigen 
Grewerkvereine,  welche  ihre  Statuten  regis- 
trieren lassen  würden,  erhielten  ausserdem 
Korporationsrechte ;  sie  erhielten  den  Schutz 
ihrer  Gelder,  das  Recht,  Land  zu  erwerben, 
und  das  jus  standi  in  judicio. 

Diesem  Gesetze  trat  ein  anderes  gleich- 
zeitig erlassenes  ergänzend  zur  Seite,  um 
die  strafrechtlichen  Bestimmungen  über  Ge- 
walt, Drohungen  und  Belästigungen  zu  ver- 
bessern. Allein  da  dieses  Gesetz  von  1871 
in  der  Hand  gewerkvereinsfeindlicher  Advo- 
katen und  Richter  noch  zu  Missdeutungen 
Anlass  gegeben,  wurde  es  durch  das  Ver- 
schwörungsgesetz von  1375  beseitigt.  Im 
III.  Abschnitte  desselben  werden  alle  auf 
Förderung  der  Koalitionszwecke  gerichteten 
Handlungen  legalisiert,  welche  nicht  durch 
das  Gesetz  ausdrücklich  für  strafbar  erklärt 
sind.  Für  strafbar  erklärt  wu*d  nämlich 
nur  der  Zwang,  wenn  die  zu  seiner  Ver- 
wirklichung angewendeten  Mittel  bestehen 
1.  in  Gewalt,  Bedrohung  der  Person  und 
Vermögensbeschädigung,  oder  2.  in  unlieb- 
samen, als  Belästigung  zu  charakterisierenden. 
Massnahmen  gegen  die  Person  oder  deren 
Erwerbsthätigkeit.  Massnahmen  der  letzt- 
gedachten Art  sind  im  näheren  bezeichnet 
als  a)  unablässiges  Nachgehen  von  Ort  zu 
Ort;  b)  Versteck  von  Werkzeug,  Kleidungs- 
oder sonstigen  Vermögensstücken  l)ezw. 
deren  Fortnahme  (in  nicht  diebischer  Absicht) 
oder  Verhinderung  an  dem  Gebrauche  der- 
selben; c)  Ueberwachung  oder  Umstellung 
des  Wohnhauses  bezw.  des  Arbeits-  und 
Geschäftsraumes  oder  der  Zugänge  zu  der- 
artigen Räumen  (Ausstellen  von  Schild- 
wachen), wohin  jedoch  das  Ausstellen  von 
Schild  wachen  in  der  Nähe  des  Hauses  oder 
ein  Warten  bei  demselben  lediglich  in  der 
Absicht  der  Erlangung  oder  Vermittelung 
von  Nachrichten  nicht  zu  rechnen  ist;  d) 
Verfolgimg  in  Begleitung  zweier  oder 
mehrerer  Personen  auf  ungehörige  Art  durch 
die  Strassen.  Der  Bruch  des  Arbeitsver- 
trages wird  nur  noch  für  strafbar  für  den 
Fall  erklärt,  dass  die  Handlung  in  vorbe- 
dachter und  böslicher  Weise  geschieht  oder 
der  Handelnde,  gleichviel  ob  er  allein  oder 
in  Gemeinschaft  mit  anderen  verfährt,  davon 
Kenntnis  oder  doch  zu  der  Annahme  hin- 
reichenden Grimd  hat,  dass  die  wahrschein- 
liche Folge  seines  Vertragsbruches  sein 
wei-de,  Menschenleben  zu    gefährden    oder 


Gewerkvereine  (England) 


633 


Menschen  ernstliclien  Körpersohaden  zuzu- 
fügen oder  wertvolle  Vernaögensstücke, 
gleichviel  ob  beweglicher  oder  unbeweglicher 
Art,  der  Zerstöning  oder  ernstlichem  Schaden 
auszusetzen.  Die  gleiche  Strafe  soll  bei 
Arbeitsvertragsbruch  Personen  treffen,  wel- 
che im  Dienste  städtischer  Gas-  oder  Wasser- 
leitimgsuntemehraungen  angestellt,  Kenntnis 
oder  doch  zu  der  Annahme  hinreichenden 
Grund  haben,  dass  die  wahrscheinliche  Folge 
ihres  Vertragsbruches  die  sein  wtirde,  den 
Bewohnern  der  Ortschaft  die  Gas-  oder 
Wasserzufuhr  gänzlich  oder  in  erheblicher 
Weise  abzuschneiden. 

14.  Die  Anerkennung  der  6.  in  der 
„Gesellschaft".  Eine  weitere  Folge  der 
Untei*suchung  durch  die  königliche  Kom- 
mission war,  dass  die  Gewerkvereine  von 
den  herrschenden  Klassen  als  regelmässiges 
Glied  der  bestehenden  Gesellscliaftsorgani- 
sation  recipiert  wurden.  Einer  der  Gewerk- 
verein ssekretäre  wurde  zum  Unterstaats- 
sekretär gemacht,  ein  anderer  zum  Vor- 
stande der  Abteilung  filr  Arbeit  im  Handels- 
ministerium, wieder  andere  zu  Friedens- 
richtern, zu  Fabrikinspektoren;  um  es  kurz 
zu  sagen,  wie  die  übrigen  als  »respectable« 
angesehenen  Gesellschaftsklassen  erhielten 
sie  einen  Anteil  an  der  Regierung  und 
Verwaltung  des  Landes,  —  der  zahlreichen 
Gewerkschaftssekretäre,  die  ins  Parlament 
eintraten,  ganz  zu  geschweigen.  In  allen 
die  Arbeiter  eines  Gewerbes  betreffenden 
Angelegenheiten  gelten  ferner  die  Gewerk- 
vereine als  die  Organisationen  des  betreffen- 
den Gewerbes  und  ihre  Führer  als  die 
legitimen  Vertreter  derselben.  Damit  hängt 
zusammen,  dass  die  Behörden  die  Arbeits- 
bedingungen in  Bezug  auf  Arbeitslohn  und 
Arbeitszeit,  auf  welchen  die  Gewerkvereine 
als  auf  den  Arbeitsbedingungen  ihres  Ge- 
werbes bestehen,  den  von  ihnen  abge- 
schlossenen Kontrakten  zu  Grunde  zu 
legen  beginnen. 

15.  Die  G.  nnd  die  gewerbliche  De- 
pression 1873 — 1888.  Eine  kritische  Zeit 
bildete  für  die  Gewerkvereine  die  Periode 
der  Depression,  die  nach  1873  eintrat  und 
1878 — 79  ihren  Höhepunkt  erreichte.  Die 
Zahl  der  arbeitslosen  Mitglieder  stieg  in 
einzelnen  Gewerkvereinen  bis  auf  22^/o  der 
Mitgliederzahl,  der  Betrag  der  den  Arbeits- 
losen gewährten  Unterstützung  belief  sich 
in  einigen  Gewerkvereinen  bis  auf  4  £  13  sh 
8^/4  d  pro  Kopf  der  Mit^üederzahl,  und  der 
Gesamtbetrag  der  an  die  Arbeitslosen  ge- 
währten Unterstützungen  war  während  des 
Jahwes  1879  selbst  in  den  bestorganisierten 
Gewerkvereinen  grösser  als  die  Jalu'esein- 
nahme.  Die  Feinde  der  Gewerkvereine,  die 
von  der  rechten  wie  die  von  der  linken 
Seite,  jubelten  laut  auf;  der  Bankerott  der 
Gewerkvereine    schien   vor   der   Thüre    zu 


stehen,  und  in  der  That  gingen  eine  Anzahl 
schlecht  organisierter  Gewerkvereine  zu 
Grunde.  Allein  die  auf  der  oben  geschil- 
derten Grundlage  organisierten  Vereine  be- 
standen die  Prüfung,  und  als  der  indus- 
trielle Aufschwung  von  1888 — 90  einsetzte, 
wurde  durch  die  statutenmässig  vorgesehenen 
Umlagen  der  Reservefonds  soweit  wieder 
gefüllt,  um  einer  abermals  herannahenden 
Periode  der  Depression  begegnen  zu  können. 
16.  Lokale,  national^  nnd  internationale 
Verbindungen  unter  den  G.  In  die  Zeit 
nach  1870  fällt  gleichfalls  die  grössere  Ver- 
breitung von  lokalen  Gewerkvereins- 
verbänden  (Trades*  Councils)  und  die  Ent- 
wickelung  der  Gewerkverein skongresse.  Die 
ersteren  sind  lokale  Verbände  der  an  einem 
Orte  vertretenen  Gewerkvereine,  welche  den- 
selben beitreten  wollen.  Sie  haben  kein 
Recht,  in  die  inneren  Angelegenheiten  der 
einzelnen  Gewerkvereine  einzureden.  Auch 
die  Beschlüsse,  die  sie  innerhalb  ihrer 
Sphäre  fassen,  haben  für  die  ihnen  zuge- 
hörigen Gewerkvereine  keine  bindende  Kraft. 
Sie  dienen  besonders  dazu,  die  Berechtigung 
der  Arbeitsstreitigkeiten  solcher  Gewerkver- 
eine zu  prüfen,  welche  von  anderen  Ver- 
einen Unterstützung  begehren,  sowie  eine 
solche  Unterstützung  eventuell  zu  vermitteln. 
Auch  dienen  sie  der  Beilegung  von  Streitig- 
keiten der  verschiedenen  Gewerkvereine 
untereinander.  —  Der  erste  Gewerk- 
verein skongress  trat  1868  in  Manches- 
ter zusammen,  um  das  Verhalten  der  Ge- 
werkvereine gegenüber  der  oben  erwähnten, 
1867  niedergesetzten  königlichen  Kommission 
zur  Untersuchung  der  Gewerkvereine  zu 
beraten.  Seitdem  tagt  er  alljährlich  in  einer 
anderen  Stadt.  Der  Zweck  dieser  Kongresse 
ist  in  erster  Linie,  der  Stellung  Ausdruck 
zu  geben,  welche  die  Gewerkvereine  zu  den 
die  Arbeiterinteressen  berührenden  Vorlagen 
im  Parlamente  nehmen,  und  Gesetzesvor- 
lagen im  Arbeiterinteresse  anzm^gen.  Auf 
jedem  Kongresse  wird  zu  diesem  Zwecke 
ein  bleibender  Ausschuss  mit  einem  be- 
zahlten Sekretär  an  der  Spitze  gewählt,  der 
die  vom  Kongresse  gefassten  Beschlüsse 
auszuführen  und  die  laufenden  Arbeiter- 
interessen im  Parlamente  wahrzunehmen 
hat.  —  Weitergehende  Verbindungen  der 
Gewerkvereine  unter  einander  sind  seit  1846 
wiederholt  versucht,  aber  bis  jetzt  stets 
alsbald  wieder  aufgegeben  worden.  —  Die 
Gewerkvereine  haben  seit  1883  wiederholt 
verschiedene  aUgeraeine  oder  fachmässige 
internationale  Arbeiterkongresse  beschickt 
und  bilden  auf  denselben  regelmässig  das 
sachverständige  und  konservative  Element. 
Ihr  Zweck  dabei  ist,  den  internationalen 
Kartellen  der  Arbeitgeber  mit  internationalen 
Verbänden  zur  Wahrung  der  Arbeiterinte- 
ressen entgegenzutreten.    Auch  pflegen  sie 


634 


Gewerkvereine  (England) 


sti'ikende  Fachgenossen  auf  dem  Kontinente 
in  Fragen,  die  ihre  Intei'essen  berühren, 
mit  Geldsendungen  zu  unterstützen;  so 
sandten  sie  über  3000  £  an  die  deutschen 
Buchdrackergehillen  während  des  Ausstan- 
des von  1891;  umgekehrt  erliielten  die 
englischen  Maschinenbauer  während  der 
Aussperrung  von  1897/98  von  auswärts 
Unterstützungen  im  Betrage  von  28399  £, 
darunter  14575  £  aus  Deutschland. 

17.  G.  der  weiblichen  Arbeiter.  Die 
gesellschaftliche  Anerkennung,  deren  sich 
die  Gewerkvereine  seit  Beginn  der  70  er 
Jahre  erfreuten,  kam  auch  einer  Klasse  von 
Ai'beitern  zu  gute,  welche  bis  dahin  von  der 
Gewerkvereinsbewegung  völlig  vernach- 
lässigt worden  war.  Bis  dahin  waren  die 
Gewerkvereine  den  weiblichen  Arbeitern 
feindlich  gegenübergestanden.  Es  war  bis 
dahin  das  Bestreben  der  englisclien  Arbeiter 
gewesen,  die  Frauen  von  der  Erwerbsarbeit 
auszuschliessen,  weil  die  Frau  ins  Haus 
gehöre.  Wenn  ihre  Konkurrenz  gegen  die 
männliche  Arbeit  aufhöre,  werde  der  Lohn 
der  Männer  auch  so  hoch  steigen,  dass  die 
Mitarbeit  der  Frau  zur  Ernähnmg  der 
Familie  nicht  mehr  notwendig  sei.  Allein 
nur  in  der  Bergwerksarbeit  wurde  dies  Ziel 
insofern  erreicht,  als  der  Staat  die  Beschäf- 
tigung von  Frauen  zuerst  unter  Tag  und 
dann  auch  an  der  Grubenmündung  verbot; 
dafür  giebt  es  freilich  besonders  viel  Frauen 
von  Grubenarbeitern  als  Arbeiterinnen  in 
der  Textilindustrie.  Da  kam  eine  ehemalige 
Arbeiterin,  Miss  Smith,  die  später  einen 
Drucker  Paterson  heiratete,  auf  den  Ge- 
danken, Gewerkvereine  unter  den  weib- 
lichen Arbeitern  zu  gnlnden.  Der  Gedanke 
war  der,  die  Löhne  der  Frauen  mittelst  der 
Gewerkvereine  auf  die  Höhe  derjenigen  der 
Männer  zu  heben.  Und  nichts  kann  den 
Fortschritt,  den  die  Gewerkvereinsbewegung 
in  der  öffentlichen  Meinung  gemacht  hatte, 
besser  zeigen,  als  dass  nunmehr  Damen  der 
vornehmsten  Kreise  ihre  bisherigen  kost- 
spieligen Lieblingsversuche  zur  Besserung 
des  Lohnes  der  weiblichen  Arbeiter,  die 
bestenfalls  darin  endeten,  die  bisherigen 
Betriebe  mit  weiblichen  Arbeitern  auf  dem 
Markte  zu  unterbieten  und  dadurch  den 
Lohn  der  nicht  patronisierten  Arbeiterinnen 
noch  mehr  herabzudrücken,  verliessen  und 
sich  an  die  Spitze  einer  Bewegung  zur 
Organisation  der  weiblichen  Arbeiter  in  Ge- 
workvereine  stellten.  So  entstand  die 
Women's  Trades  Union  Provident  League, 
an  deren  Spitze  liady  Dilke,  die  Gräfin 
Buchan,  die  Gräfin  Portsmouth,  Mrs.  BcvSant, 
Miss  Abraham,  Miss  Black,  Gräfin  Aberdeen, 
Miss  Simeon  u.  a.  stehen.  Unter  den  Nähe- 
rinnen, Wäscherinnen,  Ladnerinnen,  Ci- 
gan-en-  und  Zündholzarbeiterinnen  u.  a. 
wurden  besondere  Gewerkvereine  ins  Leben 


gerufen,  während  die  Weberinnen  in  York- 
shire  dem  dortigen  Gewerkvereine  der  Weber 
beitraten.  Nun  fingen  auch  die  Gewerk- 
vereine der  Männer  an,  zu  erkennen,  dass 
die  Organisation  der  weiblichen  Arbeiter 
ebenso  in  ihrem  eigenen  wie  in  deren  In- 
teresse gelegen  sei,  indem  dadurch  die 
Herabdrückung  der  Arbeitsbedingungen  der 
Männer  diu*ch  die  Konkurrenz  der  Frauen 
verhindert  werde.  Daher  beschloss  der  Ge- 
werkvereinskongress  zu  Dundee  (1889) "  die 
Organisation  der  weiblichen  Arbeit  und  ihre 
Unterstützung  durch  die  bestehenden  Ge- 
werkvereine. Aber  bis  jetzt  sind  die  Er- 
folge der  Gewerkvereinsbewegung  unter  den 
englischen  Arbeiterinnen  noch  nicht  gross. 
Vgl.  unten  sub  21  die  Statistik. 

18.  6.  der  nni^eleniteii  Arbeiter.  Ihre 
Riickwirkiui^  anf  die  alten  G.  Bedeu- 
tungsvoller als  die  Gewerkvereinsbewegung 
unter  den  weiblichen  war  die  seit  1887/88 
beginnende  Organisation  der  ungelernten 
Arbeiter  in  Gewerkvereine.  Bis  dahin  war 
es  der  Vorwurf  gewesen,  den  alle  Gegner 
der  Gewerkvereine  gegen  diese  erhoben, 
dass  sie  unfähig  seien,  zur  Hebung  der  Un- 
gelernten zu  dienen ;  und  in  der  That,  wäh- 
rend die  Ansprüche,  welche  an  die  er- 
worbene Geschicklichkeit  der  Gelernten  ge- 
stellt werden,  die  unbegrenzte  Konkurrenz 
anderer  Arbeiter  naturgemäss  ausschliessen, 
wird  den  Ungelernten  die  Abschliessung 
nach  unten,  die  ftlr  eine  starke  Gewerk- 
vereinsorganisation  unentbehrlich  ist,  un- 
gemein schwer.  Auch  waren  die  Erfolge 
der  Güwerkvereine  der  ländlichen  Arbeiter 
in  den  70  er  Jahren  keine  bleibenden  ge- 
wesen. Da  gründete  Ben  Tillet  1887  The 
Tea  Operatives  and  General  Ijabourers  Union. 
Aber  erst  nachdem  mit  Hilfe  der  ausser- 
ordentlichsten  Sympathie  des  Publikums  1889 
die  Dockarbeiter  den  grossen  Strike  ge- 
wonnen hatten,  kam  die  Gewerkvereins- 
bewegung der  Ungelernten  in  Fluss.  In- 
folge dieses  Sieges  schössen  allenthalben 
Gewerkvereine  der  Ungelernten  wie  Pilze 
über  Nacht  hervor  und  erreichten  wie  im 
Handumdrehen  bis  dahin  unerhörte  Mit- 
gliederzahlen. Diese  Gewerkvereine  der 
Ungelernten,  die  sogenannten  »neuen  Ge- 
werkvereine«, unterscheiden  sich  von  den 
Gelernten  durch  verschiedene  Merkmale, 
von  denen  einzelne  allerdings  nur  histori- 
scher Natur  sein,  andere  dagegen  einen 
inneren  Grund  haben  dürften. 

Es  Miirde  oben  (sub  10)  erzählt,  dass 
die  Ge  werk  vereine  der  Gelernten  ursprüng- 
lich nur  Strikeunterstützung,  später  nur 
Strike-  und  Arbeitslosigkeits-  und  Begräbnis- 
unterstützung gewährten  und  erst  nach 
langer  Erfahrung  dazu  kamen,  mit  diesen 
Unterstützungen  au(*h  die  für  den  Fall  von 
Krankheit,  Unfall  und  Alter  zu  verbinden. 


Gewerkvereine  (England) 


635 


Dies  hatte  die  Wirkung,  die  Mitglieder  der 
Gewerkvereine  auch  in  ruhigen  Zeiten  bei 
der  Fahne  zu  halten,  sie  damit  f(ir  den 
Kriegsfall  zu  stärken,  andererseits  aber  hat 
es  die  alten  Gewerkvereine  äusserst  konser- 
vativ und  vorsichtig  gemacht,  nicht  durch 
mutwillige  Arbeitseinstellungen  ihre  Solvenz 
zu  gefährden.  Dabei  übersah  man,  dass 
gerade  das  resolute  Eintreten  für  Besserung 
(ler  Arbeitsbedingungen  geeignet  sei,  den 
alten  Gewerkvereinen  den  wechselnden  Zu- 
tritt Jüngerer  zu  schaffen,  die  bereit  waren, 
durch  ausserordentliche  Umlagen  die  Mittel 
zu  liefeiTi,  die  der  Verein  benötigte,  um 
den  an  ihn  gestellten  Ansprüchen  jederzeit 
genügen  zu  können.  Diese  vorsichtige 
Politik  rief  die  lebhafte  Opposition  gei'ade 
der  Jüngeren  hervor.  Als  nun  neue  Ge- 
werkvereine aufkamen  unter  Arbeiterklassen, 
die  fürs  erste  noch  nicht  im  stände  sind, 
die  für  so  vielfache  Versichenuig  nötigen 
höheren  Beiträge  zu  leisten,  suchten  sie  aus 
der  Not  eine  Tugend  zu  machen  und  wiesen 
die  Verbindung  anderer  Unterstützungen  mit 
der  Strikeuntei-stützung  principiell  ziu'ück, 
indem  sie  geltend  machten,  diese  Verbindung 
raaclie  die  Gewerkvereine  zu  bedächtig,  eine 
Arbeitseinstellung  zu  beginnen.  Sie  be- 
fanden sich  also  thatsäclüich  in  dem  Stadium 
wie  die  alten  Gewerkvereine  vor  etwa  60 
Jahren,  waren  möglichst  aggressiv,  wie  diese 
es  damals  waren,  und  verlangten,  dass  der 
Staat  für  jene  übrigen  UnterstützungszwecKe 
fürsorge.  Die  Erfahrungen  mit  dem  Dock- 
arbeitervereine während  des  Wintei-s  1890/91 
haben  dann  denen  recht  gegeben,  welche 
von  dem  Rückgange  der  Industrie  er- 
waiieten,  dass  er  den  aggressiven  Cliarakter 
der  Ungelernten  erheblich  dämpfen  werde, 
und  die  Notwendigkeit  die  Leute  bei  der 
Fahne  zu  halten,  hat  auch  bei  den  »Neuen« 
vielfach  den  Wunsch  zum  Ausdruck  gebracht, 
sobald  die  verbesserte  Lage  der  Arbeiter  es 
erlaubt,  noch  andere  Unterstützungen  mit 
der  Strike-  und  Begräbnisunterstützung  zu 
verbinden.  Daher  denn  auch  die  Gewerk- 
vereine der  Ungelernten  anfangen ,Hilfskassen- 
zwecke  mit  ihren  Organisationen  zu  ver- 
binden. 

Dagegen  bildet  der  ungelernte  Chai-akter 
der  Arbeit  der  Mitglieder  der  »neuen  Ge- 
werkvereine« eine  bleibende  Schwäche  ihrer 
Organisationen,  und  es  muss  zweifelhaft 
bleiben,  ob  es  möglich  sein  wird,  derselben 
durch  Schliessung  der  Mitgliederzahl  der 
Gewerkvereine  dauernd  vorzubeugen.  Das 
Gefühl  dieser  Schwäche  bewirkt  eine  ver- 
schiedene Haltung  der  neuen  Gewerkvereine 
sowohl  rücksichtlich  des  Schieds-  und 
Einigimgsverfahrens  als ,  auch  der  Staats- 
intervention zu  Gunsten  der  Arbeiter.  Die 
Ungelernten  sind  sich  bewusst,  im  Dock- 
strike  von   1889  ebenso  wie  im  Omnibus- 


strike  von  1891  niu*  mit  Hilfe  der  Sympathie 
des  Publikums  den  Sieg  erfochten  zu  haben ; 
sie  glauben  sich  sicher,  diese  Sympathie 
stets  bei  einem  ausserhalb  der  Parteien 
Stehenden  zu  finden,  während  gleichzeitig 
die  Beschäftigimgen ,  in  denen  sie  thätig 
sind,  von  selten  des  Schiedsrichters  nicht 
so  sehr  sorgfältige  Abschätzungen  der  Markt- 
lagen als  vielmelir  Erwägungen  dessen,  was 
die  öffentliche  Meinung  als  zu  einer  ge- 
sitteten Lebenshaltung  unentbehrlich  er- 
achtet, erheischen.  Die  neuen  Gewerkver- 
eine glauben  also  gut  zu  fahren,  wenn  der 
Schiedsspruch  eines  draussen  Stehenden  in 
Arbeitsstreitigkeiten  entscheidet,  und  sind 
daher  für  staatliche  oder  kommunale  Schieds- 
und Einigungskammem  mit  gewerbsfremden 
Unparteiischen.  In  den  gelernten  Gewerben 
dagegen,  in  denen  technische  Kenntnisse 
und  Kenntnisse  der  Marktlage  zur  Fälhmg 
des  richtigen  Entscheides  unentbehrlich  sind, 
sind  die  Gewerkvereine  heute  aufs  heftigste 
gegen  die.  Schlichtung  von  Arbeitsstreitig- 
keiten durch  Gewerbsfremde;  sie  glauben 
Differenzen  in  direkter  Verhandlung  zwischen 
den  beiderseitigen  Organisationen  der  Ar- 
beiter und  Arbeitgeber  allseitig  befriedigen- 
der beseitigen  zu  können. 

Sodann  nahm  die  Agitation  für  eine  ge- 
setzliche Begrenzung  des  Arbeitstags  mehi* 
und  mehr  zu.  Nach  heftigem  Widerstand 
der  alten  Gewerkvereinler  erzielte  dieselbe 
auf  den  Gewerkvereinskongressen  stets 
wachsende  Majoritäten.  Aber  andererseits 
erkannte  man,  dass  die  Frage,  ob  die  von 
allen  gleichmässig  gewünschte  Herabsetzung 
des  Arbeitstags  durch  Gesetz  oder  Gewerk- 
vereinsmittel  stattfinden  solle,  weniger  eine 
Principien-  als  eine  Zweckmässigkeitsfrage 
sei;  man  ist  übereingekommen,  dass  diese 
Frage  der  Entscheidung  eines  jeden  Ge- 
werbes zu  überlassen  sei,  und  der  Streit 
dreht  sich  nunmehr  darum,  ob  gesetzlich 
bestimmt  werden  solle,  dass  es  von  der 
Mehrheit  eines  Gewerbes  abhänge,  ob  der 
Achtstundentag  in  ihm  zur  Anwendung 
kommen  solle,  oder  ob  das  Gesetz  den 
Achtstundentag  einführen  und  bestimmen 
solle,  dass  es  von  der  Mehrheit  eines  Ge- 
werbes abhänge,  ob  er  in  ihm  nicht  ziu* 
Anwendung  kommen  solle. 

Noch  wichtiger  ist  die  Entwickelung  der 
Frage  des  Lohuminimums.  Als  die  Kon- 
junktur zu  Beginn  der  90  er  Jahre  wieder 
zmückging,  zeigte  sich,  dass  die  Gruben- 
besitzer mit  Rücksicht  auf  den  erwarteten 
Rückgang  lange  Kontrakte  abgeschlossen 
hatten  und  zwar  zu  exorbitant  niedrigen 
Preisen,  um  sich  auch  bei  rückgängiger 
Konjunktur  einen  steten  Absatz  zu  sichern. 
Da  die  in  der  englischen  Bergwerksindustrie 
vielfach  zur  Anwendung  kommenden  Lohn- 
skalen es  mit  sich  brachten,  dass  die  Löhne 


636 


Gewerkvereine  (England) 


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638 


Gewerkvereine  (England) 


entsprechend  den  sinkenden  Preisen  herab- 
gingen, waren  die  Gnibenbesitzer  im  stände, 
sich  für  die  niedrigen  Kontraktpreise  schad- 
los zu  halten,  und  wälzten  so  das  Risiko 
der  niedergehenden  Konjunktur  vom  Unter- 
nehmer auf  den  Arbeiter  ab.  Da  trat  die 
Bedeutung  eines  Lohnminimums,  unter 
welches  die  Lohnskala  niemals  herabgehen 
dürfe,  wieder  hervor.  Als  bedeutungsvolles 
Symptom  zeigte  sich  ferner  das  Wiederauf- 
tauchen des  Projektes  einer  planmässigen 
Regelung  der  Produktion  durch  Kartelle, 
welche  die  Grubenarbeiter  bereits  1844  ge- 
fordert hatten.  Aber  diesmal  waren  es 
nicht  die  Grubenarbeiter,  welche  sie  for- 
derten, sondern  Sir  George  EUiot,  einer  der 
grössten  Grubenbesitzer  Englands. 

Als  letztes  sei  endlich  genannt  das 
Schwinden  des  exklusiven  Geistes  in  den 
alten  Gewerkvereinen  und  ihr  Streben,  an 
Stelle  der  minimalen  Arbeitsbedingungen, 
was  Lohn  imd  Arbeitszeit  angeht,  auf  denen 
sie  bisher  zu  Gunsten  ihrer  Mitglieder  be- 
standen, die  Forderung  zu  setzen,  dass  Staat 
und  Gemeinden  keine  Arbeiter  zu  anderen 
als  diesen  Bedingungen  beschäftigen  imd 
dass  sie  Arbeiten  nur  an  solche  Arbeitgeber 
begeben,  die  diese  Minimalbedingungen  be- 
willi^n.  Vermöge  des  Einflusses,  den  die 
Arbeiter  mit  dem  geschilderten  Siege  ihrer 
Gewerkvereine  seit  Beginn  der  70  er  Jahre 
in  Staat  und  Gemeinde  erlangt  haben,  sahen 
sie  diese  ihre  Forderung  in  steigendem 
Masse  erfüllt. 

19.  Wirknni^eii  der  Neaernngen.  Im 
Juni  1891  wurde,  wesentlich  veranlasst 
durch  das  Auftreten  der  neuen  Gewerk- 
vereine, abermals  eine  königliche  Kommission 
niedergesetzt,  um  die  Arbeiterverhältnisse 
imd  Arbeiterorganisationen  einer  erneuten 
Untereuchung  zu  unterziehen.  Es  ist  be- 
merkenswert, dass  zu  der  Zahl  der  Kom- 
missare nicht  bloss  hervorragende  Paila- 
mentarier,  Professoren,  Beamte  und  Arbeit- 
geber, sondern  auch  hervorragende  Führer 
der  alten  wie  der  neuen  Ge  werk  vereine  ge- 
hörten. Die  Untersuchung  hat  keine  andere 
Folge  gehabt  als  die  Veröffentlichung 
äusserst  umfangreichen  und  wertvollen 
Materials  über  Organisationen  von  Arbeitern 
und  Arbeitgebern  in  aller  Herren  Ländern, 
namentlich  aber  in  England. 

Ferner  haben  die  Triumphe,  welche  die 
Gewerkvereine  im  Parlament  und  bei  ihren 
Bestrebungen,  die  Lage  der  Arbeiter  zu 
bessern,  feierten,  viele  Arbeitgeber  mit  Ent- 
setzen erfüllt.  Bereits  Ende  1873  war  ein 
>Nationaler  Bund  vereinigter  Arbeitgeber« 
gegründet  worden,  da  die  »freiwilligen  und 
intermittierenden  Anstrengungen  einzelner 
Arbeitgeber«,  ja  selbst  die  von  Arbeitgeber- 
vereinen, wenn  sie  sich  nur  auf  ein  Ge- 
werbe 0(ler  einen  Ort  beschränkten,  lülflos 


seien  gegenüber  »der  ausserordentlichen  Ent- 
wickelung,  den  weitgehenden,  eingestandenen 
Absichten  und  der  durchgearbeiteten  Organi- 
sation  der   Gewerkvereine«.     Dieser  Bund 
hat  nie  andere  Bedeutung  erlangt  als  die, 
durch   seine   üebertreibimgen   für   die  Ge- 
werkvereine   Propaganda    unter   den    eng- 
lischen Ai'beitem  zu  machen.    Als  dann  die 
deutsche   Industrie    seit  den   70  er  Jahren 
Riesenfortschritte    machte,    blickten    viele 
englische  Arbeitgeber  mit  Neid  nach  Deutsch- 
land und  sahen  statt  in  den  enormen  tech- 
nischen Fortschritten  vielfach  in  dem  that- 
sächlichen  Fehlen  der  Koalitions-  und  Or- 
ganisationsfreiheit   der   deutschen   Arbeiter 
die   Ursache   des    deutschen  Aufschwungs. 
Die  Folge  war  eine  atomistische  Reaktion: 
an  die   Stelle  des  kollektiven  Abschlusses 
des  Arbeitsvertrags  sollte  wieder  die  Ver- 
handlung   mit  isolierten   Arbeitern    treten. 
Das  Bestreben,  die  Gewerkvereine  zu  »zer- 
schmettern«, kam  wieder  auf.     Die  Folge 
war  die  Aussperrung  der  Maschinenbauer 
im  Jahre  1897/98.    Endete  diese  auch  mit 
einer  Niederlage   der  Arbeiter   in  Einzel- 
heiten,  so  wurde   in  dem  Friedensschluss 
die  Politik  des  »Zerschmetterns  der  Gewerk- 
vereine«   doch   aufgegeben.     Es   wurde  in 
diesem    1.   das    Pnncip    des    gemeinsamen 
Verhandeins  der  Arbeiter  ausdrücklich  an- 
erkannt:  2.  desgleichen  das  Recht  des  Ge- 
werkvereins, in  jedem  Streite  oder  bei  einem 
angeblichen    Missstand     zu    intervenieren; 
3.  es  wiu'de  ausgesprochen,  dass  die  Ar- 
beitgeber keine  besonders  bevorzugte  Klasse 
von   Arbeitern   (Nichtgewerkvereinlern)   ins 
Leben  rufen  würden,  und  4.  Gewicht  darauf 
gelegt,  dass  die  alten  Beziehungen,  wie  sie 
vor  der  Aussperrung  bestanden,  forterhalten 
würden.    Damit  ist  der  alte  Ruf  der  eng- 
lischen Arbeitgeber,  dass  sie  keine  roman- 
tische Politik  der  Wiedereinführung  unter- 
gegangener     Herrschaftsverhältnisse     ver- 
folgten, wiederhergestellt. 

21.  Statistik  der  G.  Es  ist  nicht  mög- 
lich, eine  vollständige  Statistik  der  Mitglieder- 
zahl der  Gewerkvereine  in  den  verschiedenen 
Perioden  zusammenzustellen.  Die  Eisen- 
giesser  allein  besitzen  zuverlässige  Ziffern 
fiir  die  Zeit  seit  ihrer  Gründung  im  Jahre 
1809;  einige  andere  noch  besitzen  ein  paar 
Ziffern  aus  älterer  Zeit.  Aber  es  giebt 
keine  Ziffern,  die  sich  auf  die  Gesamtheit 
der  Gewerkvereine  in  früherer  Zeit  be- 
ziehen und  die  mit  denen  der  Gegenwart 
verglichen  werden  könnten.  Im  Jahre  1887 
hat  das  engüsche  Handelsamt  die  erste 
Statistik  der  Gewerkvereine  veröffentlicht. 
Seit  der  Zeit  wird  für  jedes  Jahr  ein  Bt^ 
rieht  veröffentlicht. 

In  dem  ersten  Berichte  waren  niu'  18 
der  grössten  Gewerkvereine  behandelt;  der 
Bericht   für   1898  behandelt  nicht  weniger 


Gewerkvereiae  (England) 


639 


als  1267.  Zu  Beginn  des  Jahres  1898  waren 
dem  Handelsamt  1307  Gewerkvereine  be- 
kannt; Ende  1898  nur  noch  1267.  Die  Ab- 
nahme von  40  erklärt  sich  daraus,  dass  die 
Zahl  der  im  Laufe  des  Jahres  aufgelösten 
Vereine  (56)  zusammen  mit  der  Zäiil  der- 
jenigen, die  sich  mit  anderen  verschmolzen 
haben  (19)  um  40  die  Zahl  (35)  der  im 
Jahre  neugebildeten  Vereine  übertroffeu  hat. 
In  derselben  Zeit  ist  aber  die  Zahl  der 
Zweigvereine  von  13335  auf  13738,  die  Zahl 
der  Mitglieder  von  1611384  auf  1644591 
gestiegen.  Von  der  Gesamtzahl  der  Ende 
1898  existierenden  Gewerkvereine  waren  594 
mit  1234635  Mitgliedern  registriert,  die 
übrigen  nicht  registriert. 

140  Gewerkvereine  hatten  auch  weibliche 
Mitglieder  und  zwar  116016.  Die  ^sse 
Zahl  dieser  gehört  der  Textilindustrie  an, 
nämlich  106470,  und  hiervon  gehören  87% 
zur  Baumwollindustrie.  Die  Melirzahl  der 
weiblichen  Gewerkvereine  gehörten  zu  Ver- 
einen, welche  sowohl  Männer  wie  Frauen 
umfassten.    Nur  29  Vereine  mit  7785  Mit- 


gliedern bestanden  ausschliesslich  aus  Ar- 
beitern weiblichen  Geschlechts. 

Was  das  Verhältnis  der  Zahl  der  Ge- 
werkvereine zur  Gesamtzahl  der  Arbeiter 
der  betreffenden  Gewerbe  angeht,  so  ist  es 
nicht  möglich,  exakte  Angaben  zu  machen; 
die  Schwierigkeit  wurzelt  in  der  Bestim- 
mung der  Zahl  der  Ai^beiter,  mit  der  die 
der  Gewerkvereinler  zu  vergleichen  ist. 
Die  Zahl  der  Arbeiter  eines  Gewerbes, 
welche  Mitglieder  der  Gewerkvereine  wer- 
den könnten,  kann  nicht  genau  angegeben 
werden.  Nach  einer  Schätzung  des  Han- 
delsamts gehört  ein  Fünftel  der  Arbeiter- 
schaft den  Gewerkvereinen  an;  sieht  man 
vom  Ackerbau  ab:  ein  Viertel.  Von  den 
in  Fabriken  und  Werkstätten  beschäftigten 
Frauen  gehört  ein  Zehntel  zu  den  Gewerk- 
vereinen. 

Die  folgende  Tabelle  giebt  die  Zahl  der 
Mitglieder  sämtlicher  Gewerkvereine,  wie 
sie  sich  auf  die  verschiedenen  gewerblichen 
Gruppen  am  Ende  eines  jeden  der  Jahre 
1892—1898  verteilten: 


Gewerbliche  Gruppe 

Baugewerbe  .... 
Bergwerksindnstrie  .  . 
Metallg^ewerbe  .... 
Textilindustrie  .  .  . 
Bekleidimgsge  werbe 

Verkehrsgewerbe 

a)  Eisenbahnen     .    . 

b)  anderer  Verkehr  . 

Druckerei 

Holzarbeiter     .... 
Arbeiter  im  allgemeinen 
Verschiedene  Gewerbe  . 

Summe 


1892 

1893 

1894 

1895 

1896 

1897 

1898 

160388 

175379 

181  648 

181  901 

196  274 

219  401 

235  862 

315098 

318  142 

307  772 

279  559 

279429 

282  432 

352  826 

278  159 

265  256 

263  027 

«67  983 

302471 

318  180 

307  902 

204  039 

205431 

215289 

218709 

218233 

217  7j6 

213776 

83  114 

80580 

81  591 

78361 

76708 

75619 

70344 

46453 

47765 

53893 

51  220 

58852 

loi  880 

67944 

107  484 

94074 

69883 

69  132 

75  974 

81993 

79  354 

45291 

46725 

47886 

49060 

50956 

52570 

53970 

31  811 

.  31890 

30696 

31839 

36618 

38564 

37841 

100909 

84880 

75420 

66  192 

74169 

92862 

97080 

128337 

128  814 

III  561 

112  691 

123691 

130  167 

127  692 

1  501  083 

I  478  936 

I  438  666 

I  406  647 

I  493  375 

I  611  384 

1644591 

Von  den  Arbeitern  in  Staats-  und 
Kommunalbetrieben  waren  im  Jahre  1898 
41038  in  32  Gewerkvereinen  organisiert, 
wovon  10  registriert,  22  nicht  registriert 
waren.  15  dieser  Gewerkveieine  kamen 
auf  die  Betriebe  der  Admiralität,  1  auf  die 
Artillerie  Werkstätten,  6  auf  den  Postbetrieb, 
3  auf  Betriebe  des  Kriegsministeriums,  1  auf 


Jahr 


1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 


Einnahmen 


I  459214 
I  619798 
I  632  243 
I  559914 

I  675  535 
I  981  251 

1915455 


Prozentuale  Zunahme  (+)  ^  ^«q«  / v 

resp.    Abnahme    {—)    von  }  -,2qo  >  1  <  ^7, 
1898  verglichen  mit       j  ^^^  (+^  ^1,3 


die  Zollamtsbediensteten,  8  auf  englische, 
1  auf '  schottische,  4  auf  irische  Kommunal- 
betriebe. 

Die  folgende  Tabelle  giebt  eine  Ueber- 
sicht  über  die  finanzielle  Lage  von  100  der 
gnSssten  Gewerkvereine  während  der  7  Jahre 
1892—1898. 


Ausgaben 

£ 

1  421  169 
I  854  999 
I  435  804 
I  391  908 
I  235  720 
I  898  095 
I  489  67 1 

(-)  21,5 
(+)  4,8 


Vermögens- 

beptand  am 

Ende  des 

Jahres 

£ 
1  616800 
I  381  599 
I  578  038 

1  746  044 

2  185  859 
2269015 
2  694  799 

(+)  18,8 
(+)  66,7 


Mitglieder- 
zahl am  Ende 
des  Jahres 

909648 

914311 
928  105 

917950 

964809 

I  065910 

1  043  476 

(-)  2,1 
(+)  14,7 


640 


Gewerkvereine  (Englaad) 


Von   den   hier    verzeichneten   Ausgaben  !  2  473  036  £'  oder  23**/o,  auf  die  von  Arbeits- 
fielen  auf  die  Unterstützung  in  Streitigkeiten  j  losen  und  andere  Unterstützungen  6358609  £ 

Uebersicht  über  die  Ausgaben  des  Gewerkvereins  der  "Vereinigten  Maschinen- 


Zahl 

Geschenk 

Kranken  - 

Alters- 

1 

ünfaU- 

der 

Unterstützung 

unterstützong 

Unterstütznng 

Jahr 

Mit- 
glie- 
der 

Jährl. 
Be- 

pro 

Jährl. 
Bp- 

pro 

Jährl. 

pro 

JährL 

pro 

trag 

Mitglied 

trag 

Mitglied 

Betrag 

Mitglied 

Betrag 

Mitglied 

£ 

£  sh.    d. 

£ 

1 

'  sh.    d. 

£ 

sh.    d. 

£ 

sh.    d. 

1861 

II  829 

5111 

0 

8     7% 

2809 

1 

4    9 

120 

0      2V. 

350 

0   77« 

1852 

Jan. 

II  617 

43  559 

3 

14    8 

1987 

t    3     5 

179 

0    3'/, 

100 

0  2V4 

Dez. 

9  737 

3111 

0 

6    4V2 

I  802 

3    8V4 

206 

0    5 

250 

0   6 

1863 

10757 

2622 

0 

4  loV, 

4047 

7     6V4 

503 

0  uV, 

200 

0    4Vä 

18Ö4 

II  617 

4364 

0 

7     6V4 

4232 

7     37« 

518 

0    IO»/4 

100 

0    2 

18oö 

12553 

12278 

0 

19    6V4 

5045 

t    8    07, 

585 

0    Il'/4 

300 

0   57« 

1866 

13405 

12803 

0 

19     1V4 

5292 

7  10«  4 

714 

I      0»/4 

450 

0   8 

1857 

14299 

14  160 

0 

19      9*/4 

5980 

8    474 

898 

I    3 

I  150 

I    7  Vi 

1868 

15  194 

35390 

2 

6     7 

6778 

,     8  II 

1449 

I   II 

I  400 

I  10 

1869 

17790 

15863 

0 

17  10 

8094 

9     1 

2  109 

2     4V. 

600 

0   8V4 

1860 

20935 

7841 

0 

7     5'/4 

8421 

8    oVa 

2370 

2     3V4 

900 

0  I0'/4 

1861 

22862 

20474 

0 

17    H 

9816 

8     7 

2439 

2     l'/. 

700 

0     7V4 

1862 

24234 

39  116 

I 

12      3V4 

10847 

8  ii»'b 

2654 

a    2'/i 

I  200 

I     2 

1863 

26058 

32653 

I 

5     1V4 

12580 

9    8 

3105 

2    4V. 

1800 

1  4';« 

1864 

28815 

16425 

0 

11       4»/4 

13  612 

9     5V4 

3902 

2    8V, 

I  100 

0     9'/4 

1865 

30984 

14  070 

0 

9     I 

13785 

8  II 

5184 

3  .4 

I  800 

I  2 

1866 

33007 

22782 

I 

13     9% 

13712 

8     374 

5232 

3    2 

I  600 

Oll«/. 

1867 

33325 

58243 

I 

14  iiV« 

15557 

9     4 

5982 

3    7 

1  000 

0     7'/4 

1868 

33  474 

64979 

I 

18    9% 

16992 

10     174 

7123 

4    3 

I  000 

0  7V4 

1869 

33  539 

59980 

I 

15     9V4 

17777 

10     7V4 

8055 

4     0V4 

I  600 

OIlV, 

1870 

34  711 

32707 

0 

18  10V4 

18  195 

10     574 

8994 

5    2V4 

I  600 

0  II 

1871 

37790 

12357 

0 

6    6V4 

18496 

9    9'« 

8942 

4    8»/4 

700 

0   4Vi 

1872 

41075 

»5  377 

0 

7     5'/4 

18563 

9    oV« 

9  116 

4    SV4 

I  100 

0   6V. 

1873 

42382 

15562 

0 

7    ^, 

18022 

8    6 

9  477 

4    5% 

1800 

0  10V4 

1874 

43150 

21093 

0 

9     9V4' 

20014 

9     3V4 

10430 

4  zo 

I  300 

0   7V4 

1875 

44032 

31560 

0 

14    4 

22395 

10    27, 

II  109 

5    oV. 

1800 

0    974 

1876 

44578 

45036 

I 

0     2V4 

23242 

10     5 

12538 

5    7V4 

I  100 

0   6 

1877 

45071 

54470 

I 

4    2 

26  257 

10     374 

13858 

6     174 

2200 

OIl'/4 

1878 

45408 

75552 

I 

13     3V4 

24054 

10    7'/4 

15706 

6  II 

I  500 

0   8 

1879 

44078 

149  931 

3 

8    0V4 

25514 

12      074 

17730 

9    oV, 

1800 

0  97« 

1880 

44692 

62  113 

I 

7     9V2 

24202 

10  lo 

20958 

8    47« 

I  900 

0  10V4 

1881 

46  10 1 

40017 

0 

17    4V4 

25672 

II  174 

23524 

10     2V8 

2500 

I    I 

1882 

48388 

23043 

0 

9    67, 

26272 

10    Io74 

26311 

10  II 

I  800 

0   9 

1883 

50418 

35252 

0 

14    0V4 

27448 

10    I1V4 

28496 

11     4V4 

1  500 

0   7V4 

1884 

50681 

62310 

I 

4     7V4 

29074 

11       5'/4 

30519 

12   o7j 

2  100 

0  10 

1H85 

51689 

78669 

I 

10     5V4 

30877 

II    II74 

32608 

12     77« 

1800 

0  874 

1886 

52019 

86460 

I 

17  1174 

30462 

13      474 

33951 

14  II 

1450 

0  7  Vi 

1887 

51869 

80458 

I 

15     3-/4 

31  138 

13    87« 

36163 

15  1074 

1850 

0  974 

1888 

53740 

54740 

I 

2      7"'4 

32  160 

13  3V4 

38343 

15  10 

3053 

3   3V4 

1889 

60728 

29733 

0 

10    7V« 

30992 

II  074 

40  170 

14    47« 

2177 

0   9'/t 

1890     67  928 

33524 

0 

10    8 

36553 

11  4V4 

42778 

19     7 

1890 

0  8 

1891 

71  221 

59451 

0 

16    8V4 

41  761 

II       874 

44221 

12     5 

1561 

0   5V4 

1892 

70909 

132905 

I 

17      5*4 

40200 

1 1       374 

47388 

13    47« 

1959 

0   5V4 

1893 

73526 

136006 

1 

17    0 

43560 

II  I0V4 

52159 

14     27, 

4000 

I    I 

1894 

75510 

141  465 

I 

17      574 

41324 

10  IIV4 

55432 

14   8V4 

I  900 

0   6 

1895 

79134 

108947 

I 

7    6V3 

47199 

II  II 

58990 

14  II 

2700 

0   8 

1896 

87313 

66436 

0 

15      2^', 

44  377 

10  174 

63747 

14   7 

2010 

0  57. 

1897 

91944 

281  177 

3 

I  1% 

42  166 

9    2 

68760 

14  iiV« 

2  700 

0     7'/4 

1898 

83564 

120874 

I 

8  11V4 

42573 

10    2 

74688 

17  107« 

2643 

0   77. 

2573049 

52 

15      9'/4 

1060427 

474  11 

990  433 

348   3 

74085 

36    774 

Gesamtbetrag  der  Ausgaben  in  48  Jahren  5  319300  £,  pro  Mitglied  114  £  13  s  674  d. 


Gewerkvereine  (England) 


641 


oder  59  ®/o,  auf  Verwaltnngskosten  1 895721 1 
(Hier  18  »/o. 


Die   Höhe   der  Mitgliederbeiträge  ist  in 
den    einzelnen    Gewerkvereinen    selir    ver- 


hauer während  48  Jahre  und  der  Teberschüsse  am  Ende  jedes  Jahres. 


Begräbnis- 

WohlthStigkeits- 

Unterstützung 

Betrag 

Unterstützung 

kasse 

aiiuci  ex 

Gewerbe 

Ueberschüsse 
am  Eude 

der 
Ueber- 

Jährl 

schüsse 

JährL 

pro 

Jfthrl. 

pro 

Be- 

pro 

jedes  Jahres 

pro 

Betrag 

Mitglied 

Betrag 

Mitglied 

trag 

Mitglied 

Mitglied 

£ 

sh. 

d. 

£ 

sh.      d. 

£ 

sh. 

d. 

£        sh. 

d. 

£  sh.  d. 

847 

I 

6^'2 

m 

i 

■ 

1 

• 

21 705     4 

11V2 

I  16    8 

533 

0 

iiVi 

• 

• 

• 

• 

I  721     2 

II 

464 

0 

II  Vi 

• 

1 

• 

■ 

5382     1 

3V« 

p  II    0V4 

1304 

2 

5 

1                             • 

• 

296 

0 

6'/»  \    17  812    16 

7 

\  13    1V2 

1295 

2 

2  /i 

181 

i     0       37i 

1075 

1 

1 

10V4 

20202.  II 

9 

I   14    9V« 

1  300 

2 

I 

148 

'       0          2V, 

145 

1 

0 

274 

35695     I 

11 

2  16  10»/, 

I  561 

2 

4 

277 

1     °       5 

200 

0 

3'/. 

43207    18 

3V2 

3    4     5V2 

1593 

2 

2'/i 

178 

1     0       3 

263 

0 

47. 

47  947      4 

10V2 

3     7    0% 

2351 

3 

iVi 

105 

0       1«; 

193 

0 

3 

30353    12 

iV. 

I   19  10% 

2547 

2 

IO»4 

315 

0       4' 4 

2626 

2 

"7. 

36831    19 

8 

2     I     4V4 

2372 

2 

3Vi 

275 

0       3  Vi 

1385 

I 

374 

60 198      I 

6 

2  17     6 

2998 

2 

7V2 

394 

0       4Vi 

447 

0 

474 

73  398      I 

0V2 

342 

3031 

2 

6 

1086 

0        lO*/4 

398 

0 

67. 

67  615    16 

6 

2  15     9Va 

3  593 

2 

9 

1  526 

I           2 

208 

0 

27. 

67410     3 

8 

2  11     8V4 

3924 

2 

8«/i 

1095 

1       0          9V4 

639 

0 

574 

86947    15 

0 

3     0    4V4 

4887 

3 

2 

820 

0          6V4 

468 

0 

37. 

115357    13 

10V2 

3  14    5V2 

5319 

3 

2  /l 

851 

0       6»/4 

I  360 

0 

97. 

138 113     8 

3 

4     3     4Vi 

5282 

3 

2 

2249 

I        4Vi 

600 

0 

474 

1,25  263     2 

7    • 

3  15     2 

5049 

3 

0 

3026 

I        97i 

• 

• 

98699     2 

1V2 

2  18  11V4 

5600 

3 

4 

2351 

I        4'/i 

50 

0 

074 

76 176     7 

10 

2    5     1V2 

5792 

3 

4 

I  662 

0      11  Vs 

384 

0 

274 

82  467      6 

ii'/i 

2     7    6V4 

6205 

3 

3V9 

I  241 

0       7  Vi 

30 

0 

074 

116  326     6 

7Vi 

3     I     6V4 

6273 

3 

o7i 

1337 

0       7V4 

297 

0 

•74 

158313    15 

10V4 

3  17     I 

6567 

3 

iVi 

1436 

0       8V2 

694 

0 

4         200  923      I 

6Vi 

4  14    9*/* 

6684 

3 

iVi 

1907 

0     10V2 

1459 

0 

874 

238  989    10 

9Vi 

5  10    9V4 

7889 

3 

7 

2737 

I       3 

3592 

I 

7';. 

264641    17 

I 

6    0    2V4 

7  539 

3 

4  /2 

3  755 

I       8V4 

1815 

0 

97« 

275146    15 

9Vi 

6    3     5yi 

7659 

3 

4'/4 

3983 

I       9V4 

1515 

0 

8 

275  270     0 

27« 

6    2     i»/. 

7874 

3 

sV 

4089 

I        9Vi 

2681 

I 

»74 

215675     8 

6% 

5  10  10V4 

7387 

3 

4'/4 

6378 

2        10»/4 

20576 

9 

1 

4 

I41  116      6 

10 

3    4   oy* 

6553 

2 

"'/4 

3  473 

I           6»/4 

4344 

I 

^'1'* 

130074     0 

2'/i 

2  18    2V« 

7863 

3 

5 

2052 

0        IO'»/4 

510 

0 

2Vi 

145  957      4 

5Vi 

3    3    3'/* 

7648 

3 

2 

1931 

0       9V. 

389 

0 

2 

168200     6 

3 

3    9    6V4 

8620 

3 

3'/4 

2259 

0        IO»/4 

4  775 

I 

I0»/4 

178  125      7 

10V4 

3  10    7»/4 

8253 

3 

3',4 

3297 

I       3'/t 

20579 

8 

0 

162  768    10 

7V2 

3    4    2»/^ 

8689 

3 

4'/4 

4  160 

0    ru 

9673 

3 

874 

119  130     9 

2 

261 

8881 

3 

IO'/4 

3361 

I       57. 

324 

0 

174 

III  678    16 

i'/i 

2   2  II Vi 

9021 

3 

"V. 

2554 

I        oV, 

607 

0 

374 

125  120     7 

10V4 

283 

9381 

3 

10'/, 

2059 

I         IO'/4 

75 

0 

?/* 

158769    19 

3 

2    19       I 

9209 

3 

8'/4 

2050 

0       8»/, 

1920. 

0 

8 

209779    13 

0 

291 

II  632 

3 

3'/4 

2323 

0       9 

5688 

I 

97.    339509     7 

2^/4 

3  10    6V4 

12060 

3 

4'/t 

2364 

0       8V4 

9067 

2 

67. 

237251      9 

5> 

3     6     7V4 

II  387 

3 

2V9 

4333 

1       2'/« 

4356 

I 

*7. 

214344     5 

uV, 

3   0   5y4 

12976 

3 

6V4 

5897 

I            7',4 

4868 

I 

374 

185  854     2 

11 

2  10    6V2 

11  lOI 

2 

"74 

5896 

I       6»/« 

1568 

0 

5       161 093  19 

3 

228 

12375 

3 

IV. 

3867 

0        II»/4    1 

16353 

4 

'7.    170577  «3 

4V« 

2    3     1V4 

12799 

3 

0       1 

2663 

0         774 

27437 

6 

37. 

254156    16 

3 

2  18    3V2 

12735 

2 

9 

2134 

0       57. 

119  712 

26 

0 

105274    10 

4V2 

I     2  10V4 

13402 

3 

*V4 

2784 

0       8 

34152 

8 

2 

120453     5 

10 

I     8  10 

322  259 

144 

5 

102859 

43       774 

309865 

94 

77. 

Handwö] 

rterbnch  der  Sti 

lAtBWiBSeilBCh 

•ften.   Zweite 

Auflage. 

IV. 

41 

642 


Gewerkvereine  (England) 


n.  Monatsdurchschnittszahl  der  Mitglieder  der  Gewerkvereine  der  Vereinigten  Maschineo- 
bauer,  welche  von  1851 — 1898  das  Geschenk,  die  Kranken-  und  die  Altersunterstütziing 
erhielten,  Verhältnis  derselben  zur  Gesamtzahl  der  Mitglieder,  Betrag  der  verschiedenen 

Einnahmequellen  und  der  Ausgaben. 


§S 

Durchschnittszahl 

1 

§-S 

1 

«08 

der  Mitglieder, 
welche  erhielten: 

JährUche 

Jahr 

itglie( 
jedes  J 

Ge- 
schenk 

Kran- 
ken- 
unterst. 

Alters- 
unterst. 

Gesamtes  Ji 
einkomm 

inahm< 

Lrägen 

dem  n 

läge 

§2 

'S. 

Ausgaben 

hlderlkj 
Ende  j 

pro 
Monat 

1 
pro 
[onat 

pro 
Lonat 

3|ä 

Gesamtbetr. 

Einual 
trit 

oe 

Gesamt- 
betrag 

Betrag 

pro 
MitgUed 

ce 

^ 

^ 

£ 

£ 

£ 

£ 

£ 

£ 

1851 

u  829 

193 

171 

II 

22  107 

19658 

1 
2  248   136 

II  488 

0 

19,4 

ia52 

9  737 

823 

145 

26 

52606 

31390 

500 

154 

47224 

4 

17,0 

1853 

10757 

87 

164 

35 

24801 

22  719 

I  926 

107 

12492 

I 

3,2 

1854 

11  617 

158 

177 

38 

27778 

25  553 

1647 

343 

16388 

I 

9,2 

1855 

12553 

441 

210 

42 

29837 

27345 

I  726 

555 

23345 

I 

17.2 

1856 

13405 

434 

225 

53 

32500 

29750 

1 610   933 

24967 

I 

17,3 

1857 

14299 

529 

247 

58 

34898 

31938 

I  687  I  089 

30179 

2 

2,2 

1858 

15194 

1499 

358 

77 

34123 

30994 

I  693  1  1  266 

51716 

3 

8,1 

1859 

17790 

610 

307 

110 

42833 

38998 

2  720  '  648 

36  355 

2 

0,8 

1860 

20935 

256 

329 

125 

52594 

48806 

3410;  848 

29228 

I 

7,9 

1861 

22862 

724 

388 

130 

56133 

51642 

2632 

I  401 

42939 

I 

17,6 

1862 

24234 

I  590 

435 

139 

57783 

53683 

2331 

1580 

63  565 

2 

12,5 

1863 

26o;;8 

I  412 

508 

168 

61974 

57  777 

2  444  i  I  448 

62  380 

2 

7,9 

1864 

28815 

658 

524 

196 

71  056 

65  296 

3  323  1  I  992 

51518 

I 

15,8 

1865 

30984 

560 

555 

251 

77  373 

70975 

3073 

2756 

49172 

I 

11.8 

1866 

33007 

808 

554 

250 

83203 

75436 

3348 

3658 

60448 

I 

16,6 

1867 

33325 

2209 

632 

280 

86255 

78803 

2068 

3000 

99061 

2 

19,5 

1868- 

33  474 

2777 

690 

330 

83  245 

78276 

1594 

2532 

109309 

3 

5,3 

1869 

33  539 

2619 

703 

368 

82406 

77  549 

1857 

2274 

104929 

3 

2,6 

1870 

34711 

I  466 

732 

408 

85329 

80336 

2482 

I  701 

79039 

2 

5,6 

1871 

37790 

510 

740 

416 

91  271 

84609 

4255 

1738 

57412 

I 

10,3 

1872 

41075 

397 

698 

414 

105  377 

97  147 

4871 

2567 

63390 

I 

10,8 

1873 

42382 

465 

711 

437 

109  809 

101  983 

3605 

3851 

65875 

I 

II, I 

1874 

43150 

674 

785 

449 

118556 

108  752 

3143 

5005 

80489 

I 

17,3 

1875 

44032 

1077 

862 

487 

120024 

1 10  665 

3019 

5512 

94157 

2 

2,8 

1876 

44578 

1627 

906 

541 

120206 

HO  724 

2715 

5  977 

109208 

2 

9,0 

1877 

45071 

2  118 

934 

604 

121  215 

HO  779 

2  508 

5996 

120805 

2 

13,6 

1878 

45408 

2974 

987 

696 

123  881 

113485 

2653 

6294 

146967 

3 

4,7 

1879 

44078 

5879 

I  098 

799 

135267 

126056 

2084 

5626 

245  598 

5 

11,4 

1880 

44692 

2646 

I  005 

928 

128  047 

120  414 

2  712 

4032 

138629 

3 

2,0 

1881 

46  lOI 

I  630 

I  042 

I029 

132506 

124  109 

3378 

3641 

116  293 

2 

10,5 

1882 

48388 

889 

I  069 

I  162 

124408 

115  176 

4  437 

3  497 

loi  971 

2 

2,3 

1883 

50418 

I  177 

I  117 

1235 

134649 

124504 

4297 

4  181 

123  215 

2 

9,1 

1884 

50681 

2591 

I  168 

1338 

157484 

147  818 

2898 

4103 

172200 

3 

7,9 

1885 

51689 

3240 

1275 

1405 

144  639 

136513 

3088 

3696 

187312 

3 

12,4 

1886 

52019 

3859 

I  291 

I  480 

173937 

166  638 

2  720 

2842 

180964 

3 

9,4 

1887 

51869 

3292 

1287 

1553 

188805 

181  864 

2578 

2473 

175364 

3 

7,6 

1888 

53740 

2239 

1345 

1641 

189  732 

181  683 

3709 

2685 

156083 

2 

18,1 

1889 

60728 

I  208 

1352 

1755 

183  651 

170869 

7792 

3309 

132642 

2 

3,7 

1890 

67928 

I  126 

1551 

I  871 

183469 

168350 

9103 

4  359 

153  739 

2 

5,3 

1891 

71  221 

2  156 

1783 

1967 

189  773 

175  220 

6023 

5204 

192031 

2 

13,11 

1892 

70909 

4879 

1732 

2  100 

245  667 

234  420 

3938 

5485 

268  576 

3 

15,9 

1893 

73526 

5924 

1798 

2312 

265  214 

253901 

4633 

4845 

282  10  ( 

3 

16,9 

1894 

75510 

6454 

1800 

2430 

268371 

258  954 

3458 

4481 

281  524 

3 

14,7 

1895 

79135 

4969 

2049 

2604 

296  959 

285  446 

4238 

4  III 

278  696 

3 

10,5 

1896 

87313 

2708 

1893 

2774 

347  867 

330916 

7632 

4356 

248  100 

2 

16,10 

1897 

91944 

13  612 

2  160 

3006 

559  368 

441940 

5  754 

6270 

690399 

7 

10,2 

1898 

83564 

6851 

1845 

3193 

450  727 

378  872 

3  394 

3398 

417457 

5 

0,0 

Gewerkvereine  (England) 


643 


schieden.  Der  höchste  Diirchschnittsbetrag, 
der  in  einem  der  100  Vereine  entrichtet 
'wnirde,  bezifferte  sich  auf  4  £  10  sh  pro 
Kopf,  der  niedrigste  auf  weniger  als  5  sh. 
Der  Durchschnitt  der  Mitgliederbeiträge  in 
den  100  Vereinen  betnig  im  Jahre  1898  1  £ 
13  sh  2  d  gegen  1  £  12  sh  9^/2  d  im  Vor- 
jahre und   1  £  8  sh  7»/4  d  im  Jahre  1892. 

Die  Zahl  der  lokalen  Ge  werk  Vereins  ver- 
bände (trades  Councils)  stieg  im  Jahre  1898 
von  155  auf  156,  die  Zahl  ihrer  Mitglieder 
von  701289  auf  701717.  Die  Zahl  der 
Föderationen  unter  Gewerkvereinen,  welche 
dem  Handelsamt  bekannt  wai-en,  betnig 
im  Jahre  1898  112  mit  1009690  Mitgliedern, 
eine  Abnahme  gegen  das  Vorjalir  mit  120 
Föderationen,  denen  1 089  583  Mitglieder  an- 
gehörten. 

um  dem  Leser  ein  ziffernmässiges  Bild 
von  der  Entwickelimg  eines  Gewerkvereins 
zu  geben,  folge  hier  zum  Scliluss  die  Sta- 
tistik desjenigen  Gewerkvereins,  dessen 
Verfassung  das  Muster  der  übrigen  Gewerk- 
vereine geworden  ist,  seit  der  Einführung 
dieser  Verfassung  im  Jahre  1851.  (S.  die 
Tabellen  auf  den  SS.  640—642.)  DaV>ei 
bemerke  ich,  dass  die  im  folgenden  ange- 
gebenen Unterstützungen  bestritten  werden 
aus  dem  Ergebnisse  von  Eintrittsgeldern, 
die  bei  den  Vereinigten  Maschinenbauern 
zwischen  15  sh.  für  Personen  unter  25 
Jahren  und  50  sh.  für  Personen  im  40.  Le- 
bensjahr je  nach  dem  Alter  des  Eintretenden 
verschieden  sind,  und  aus  wöchentlichen 
Beiträgen  von  1  sh.  pro  Mitglied.  Dazu 
kommen  ausserordentliche  Umlagen,  sobald 
der  Kassenbestand  und  die  Bedürfnisse 
solche  erheischen.  Dafür  erhalten  die  Mit- 
glieder das  »Geschenk«  bei  Arbeitslosigkeit 
und  zwar  während  14  Wochen  je  lU  sh., 
während  der  folgenden  30  Wochen  je  7  sh. 
und  für  jede  Woche  dariiber  je  6  sh. ;  ferner 
bei  Krankheit  während  26  Wochen  je  10  sh., 
und  5  sh.  für  jede  Woche,  welche  die  Krank- 
heit länger  dauert;  ferner  bei  Unfall,  der 
dauernde  Arbeitsunfähigkeit  zur  Folge  hat, 
100  £;  femer  erhält  jedes  Mitglied,  das 
18  Jahre  der  Gesellschaft  angehört,  das  50. 
Lebensjahr  erreicht  und  unfähig  ist,  »den 
gewöhnlichen  Lohnsatz«  des  Gewerbes  zu 
verdienen,  7  sh.  die  Woche ;  hat  es  der  Ge- 
sellschaft länger  als  25  Jahre  angehört,  so 
erhält  es  8  sh.,  wenn  30  Jahre  9  sh.  die 
"Woche.  Beim  Tode  eines  Mitgliedes  erhal- 
ten die  Hinterbliebenen  15  £;  beim  Tode 
der  Frau  erhält  das  Mitglied  5  £;  doch 
werden  bei  seinem  Tode  seinen  Hinterblie- 
benen dann  nur  noch  7  £  ausbezahlt.  Be- 
ziffert sich  das  Vermögen  des  Gewerkver- 
eins auf  mehr  als  3  £  pro  Mitglied,  so 
erhalten  Mitglieder,  welche  auswandern 
wollen,  eine  Unterstützung  von  6  £.  Auch 
werden  gelegentlich  Unterstützungen  an 
andere  Gewerkvereine  bewilligt. 


Lltteratnr:  Report  of  the  CommiUee  on  Trades' 
Societies  appointed  hy  the  National  Association 
for  the  promotion  of  social  science  1860,  London 
1860,  —  L,e  Camte  de  Paris,  Les  OMociations 
ouvrieres   en   Angleterre   (Trades- Union s),  Paris 
1869.   —    Brentatio,    Die    Arbeitergilden    der 
Gegenwart,   1.  Bd.,  Leipzig  1871.   —  Howell, 
The   Conßicts   of   Capital    and  Lahour,    8.    ed., 
Lond<yn  1890.    Bei  Hoiccll  S.  582  auch  ein  Ver- 
zeichnis    der    auf    Gewerki^ereine     bezüglichen 
Blaubücher    von   1824  -  1875.   —    Viktor    von 
Bojanowski,    Unternehmer  und  Arbeiter  nach 
englischem  Recht,   Stuttgart  1877.  —  A,  Heid, 
Zwei  Bücher  zur  sozialen  Geschichte  Englands, 
Leipzig   1881.    —   Toynbee,    Lectures    on    the 
industricU  revolution,  London  1884-  —  Qerhart 
von  Schulze^  Qävernttjgf  Zum  sozialen  Frieden, 
2.  Bd.,  S.  224ff.,  Leipzig  1890.  —  Brentano, 
Arbeüseinstelluiigen  und  Fortbildung  des  Arbeits- 
Vertrags,  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.  45.  Bd.,  Leipzig 
1890.  —  Sidney   and  Beatrice    Wehh,    The 
Hktory  of  Trade  Unionism,  London  1894,  über- 
setzt von  E.  Bernstein,  Stuttgart  1895.    Da- 
selbst    eine     erschöpfende    Bibliogra- 
phie.    Vgl.  zu  diesem   Werke  Brentano,  Ent- 
wickelung    und    Geist    der    englischen    Arbeiter- 
organisationen, Brauns  Arch.  f.  soz.  Ges.  u.  Stat. 
VIII,  7 5 ff.  —  Wallas,  Francis  Place,  London 
1898.  —  Vgl.  femer  Dyhrenfurthf  Ein  Blick 
in  die  geicerkschaftliche  Bewegung  der  englischen 
Arbeiter   und  Arbeiterinnen,    Schmollers  Jahrb. 
f.    Gesetzg.,   Verwaltung  u.   Volkswirtschaft  1895, 
S.  917 — 941,   und  Dieselbe,    die  gewcrkschaftl. 
Bewegung  unter   den    englischen   Arbeiterinnen, 
Brauns  Archiv,  1895.  —  Olivier,    The  Miners 
Baitle    and   öfter,    Contemporary   Beview,    Nov. 
1898.  —  Nash,   The  Lock-out  in  the  Cool  Trade, 
FortnighÜy  Review,  November  1893.  —  Amal- 
gamated  Society  of  Engineers,  Notes  on 
the  Engineering   Lock-out  1897/98,   London,  89 
Stamford  Street.  —   Soziale   Praxis,   Jahrg. 
1897\98.    —    Hoget*    von    Boch,     Geschichte 
der  Töpferarbeiter  von  Staffordshire  im  19.  Jahrh., 
Stuttgart   1899.   —   KiUemann,    Die    Gewerk- 
schaftsbetoegung,   Jena  1900,  S.  1 — 68.  —  Ueber 
den  Aufsehen  erregenden  sogenannten  Mymouth 
intimidation    case   vgl.    Judgment    delivered  in 
the.    high   court    of  justice    by   the  Lord    Chief 
Justice   of  England   in  the   casss  of  Connor  v. 
Kent,    Gibson  v.  Lawso7i,  Curran  v.    Treleaven, 
wüh  preface  by  George  Shipton,  London  1891. 

—  Ueber   den   Fall   Flood   and    Taylor    versus 
Allan,  vgt.  The  Law  Times  Bd.  77,  S.  717 ff. 

—  Für  Statistik  vgl.  folgende  Publikationen  des 
Board  of  Trade  (Ldbour  Department):  Vor 
aüem  den  seil  1887  erscheinenden  Report  by  the 
Chief  Labour  Correspondent  of  the  Board  of 
Trade  on  Trade  Unions,  bis  jetzt  11  Berichte, 
sowie  die  nLabour  Gazetten;  sodann  die  Ab- 
stracts  of  Lahour  Statistics  of  the  United  King- 
dom (seit  189S  94),  die  zwei  Reports  on  the 
Conciliation  (Trade  Disputes)  Act,  1896,  die  11 
seit  1888  erschienenen  Reports  on  Strikes  andLock- 
outs.  Die  stenographischen  Protokolle  der  im 
Juni  1891  eingesetzten  Lahour  Commission,  unter 
dem  Titel:  Minutes  of  Evidence  taken  before  the 
Royal  Commission  on  Labour,  London  bei  Eyre 
et  Spottiswoode,  umfassen  23  Bde.  in  Folio. 
Einen  kurzen  Auszug  daraus  giebt  Spyers, 
The  Labour  Question,  London  1894.  —  Eine 
umfassendere  Bearbeitung  enthält  das  vom  Sekre- 
tär der  Kommission  Qeoffrey  Droge  verfasste 

41* 


644 


Grewerkverfeine  (England-^Deutschland) 


Buch  The  Labour  Problem,  Zondon  1896.  — 
Alljährlich  ertcheinen  gedruckle  Jahreshenchte 
der  meisten  Gewerkvereine  sowie  Berichte  Über 
die   Verhandlungen    der    Gewer kv er einskongresse, 

ZiVjo  Brentano, 


U.  Die  GewerkTereine  in  Deutschland. 

1.  Einleitung.  2.  Die  Hirsch-Dunckerschen 
G.  3.  Die  sozialistischen  Gewerkschaften, 
a)  Die  Entwickelung-  bis  1890.  b)  Die  Ent- 
wickelang nach  1890.  c)  Statistik,  d)  Die 
Lokalorganisationen.  4.  Der  Buchdruckerver- 
band. 6.  Die  christlichen  G.  6.  Sonstige  gewerk- 
schaftliche Organisationen.    7.  Abschluss. 

1.  Einleitong.  Die  Gewerkvereinsbe- 
wegung  in  Deutschland  ist  ein  Erzeugnis 
der  sosdalen  Entwickelung  der  Neuzeit  und 
insbesondere  ihres  verschärften  Gegensatzes 
zwischen  Unternehmer  und  Arbeiter;  ein 
Zusammenhang  mit  älmlichen  Erscheinungen 
früherer  Jahrhunderte,  insbesondere  den 
Gesellen-Innungen  imd  -Brüderschaften,  ist 
nicht  nachzuweisen.  Aber  sie  ist  ferner 
nicht  eigentlich  auf  deutschem  Boden  er- 
wachsen, sondern  im  wesentlichen  nach 
dem  englischen  Vorbilde  geschaffen.  Aller- 
dings trifft  dies  nicht  zu  für  die  beiden 
ältesten  Vereinigungen  dieser  Art,  nämlich 
den  1865  von  Fritzsche  begründeten  Tabak- 
arbeiterverein  und  den  1866  ins  Leben 
gerufenen  Verband  der  deutschen  Buch- 
drucker, von  denen  gerade  der  letztere 
eine  besondere  Bedeutung  erlangt  hat.  Für 
beide  ist  ein  Zusammenhang  mit  englischen 
Verhältnissen  nicht  ersichtlich.  Im  übrigen  aber 
ist  die  Gewerkvereinsbewegung  in  Deutsch- 
land entstanden  in  unmittelbarem  Anschlüsse 
an  eine  Studienreise,  die  Dr.  Max  Hirsch 
im  Frühjahr  1868  nach  England  unternahm. 
Dieselbe  war  gar  nicht  hierauf  gerichtet, 
sondern  verfolgte  den  Zweck,  die  englischen 
Genossenschaften  näher  kennen  zu  lernen ; 
aber  bei  dieser  Gelegenheit  fand  Dr.  Hirsch 
nach  seiner  eigenen  Angabe  etwas,  was  ihm 
wichtiger  als  diese  erschien,  nämlich  die 
englischen  trade  unions,  von  deren  Bestehen 
man  damals  in  Deutschland  noch  .kaum 
etwas  wusste.  Es  war  deshalb  begreiflich, 
dass  die  Reisebriefe,  die  Dr.  Hirsch  über 
seine  Entdeckung  in  der  Berliner  Volks- 
zeitung veröffenllichte,  ein  allgemeines  Inte- 
resse fanden  und  zu  ähnlichen  Versuchen 
anregten.  Aber  diesen  Ei'folg  hatten  sie 
nicht  allein  unter  den  politischen  Gesinnungs- 
genossen des  Briefschreibers,  nämlich  in 
den  Kreisen  der  Fortschrittsi)artei,  sondern 
ebenso  innerhalb  der  jungen  Sozialdemokratie, 
insbesondere  bei  Herrn  v.  Schweitzer, 
dem  Nachfolger  Lassalles  im  Präsidium  des 
»Allgemeinen  deutschon  Arbeitervereins«. 
In  Gemeinschaft  mit  Fritzsche  beantragte 
er  bei  der  am  23.  August  1868  in  Hamburg 


tagenden  Generalversammlung  seines  Vereins, 
mit  der  Gründimg  von  Gewerkschaften  vor- 
zugehen. Allerdings  fand  er  hier  den  ent- 
schiedensten Widerspruch,  indem  man  ihm 
entgegenhielt,  dass  nach  dem  sozialdemo- 
kratischen Grundgedanken  eine  Besserung 
der  Lage  der  Arbeiter  auf  dem  Boden  der 
bestehenden  Gesellschaftsordnung,  wie  die 
Gewerkvereine  sie  anstrebten,  nidit  möglich 
und  deshalb  ein  solcher  Versuch  princip- 
widrig  sei.  Aber  obgleich  aus  diesem  Grunde 
der  Verein  als  solcher  es  ablehnte,  sich 
mit  der  Sache  zu  befassen,  beriefen  dennoch 
V.  Schweitzer  und  Fritzsche  einen  deutschen 
Arbeiterkongress  »zur  Begründung  allge- 
meiner, nach  den  verschiedenen  Berufsaiten 
gegliederter  Gewerkschaften«,  der  am  26. 
September  1868  in  Berlin  stattfand.  Auf 
demselben  erschien  auch  Max  Hirsch,  um 
seinen  Standpunkt  zu  vertreten,  aber  obgleich 
er  insbesondere  an  den  Maschinenbau- 
und  Metallarbeitern  eine  starke  Stütze  besass, 
so  befand  er  sich  doch  mit  seinen  Anhängern 
in  ausgesprochener  Minderzahl  imd  war 
schliesslich  gezwungen,  die  Versammlung 
zu  verlassen.  Er  berief  darauf  seinerseits 
auf  den  28.  desselben  Monats  einen  Kon- 
gress,  der  unter  dem  Vorsitze  des  Abge- 
ordneten Franz  Duncker  tagte  und  die  von 
Hirsch  entworfenen  »Grundzüge  für  die 
Konstituienmg  der  deutschen  Gewerkvereine« 
mit  grosser  Mehrheit  annahm. 

So  waren  also  gleichzeitig  zwei  ver- 
sclüedene  Bewegungen  ins  Leben  getreten, 
die  beide  eine  Interessenvertretung  der  Ar- 
beiter bezweckten.  Aber  wie  sie  sich  schon 
in  ihren  Namen  unterschieden,  indem  die 
von  Hirsch  begründeten  und  ^'wohnlich 
nach  ihm  und  ihrem  zweiten  geistigen  Vater 
als  Hirsch-Dunckersche  bezeichneten  Ver- 
eine sich  »Geworkvereine«  nannten, 
während  die  Schweitzerschen  sich  den 
Namen  »Arbeiterschaften«  oder  »Ge- 
werkschaften« beilegten,  so  waren  beide 
Organisationen  auch  in  ihrem  Charakter 
wesentlich  verschieden.  Insbesondere  gilt 
dies  hinsichtlich  der  beiderseitigen  Stellung 
zum  Strike.  Schweitzer  bezeichnete  in 
seiner  öffentlichen  Aufforderung  zur  Be- 
schickung des  einbenifenen  Kongresses  als 
dessen  Ziel  »die  umfassende  festbegründete 
Organisation  der  gesamten  Arbeiterschaft 
Deutschlands  durch  und  in  sich  selbst  ziun 
Zwecke  gemeinsamenFortschreitens  mittelst* 
der  Arbeitseinstellungen«.  Während  also 
die  Aufgabe  der  »Gewerkschaften«  geradezu 
als  Organisation  des  Strikes  bezeichnet  wer- 
den kann,  gehen  umgekehrt  die  »Gewerk- 
vereine« davon  aus,  dass  zwischen  den  In- 
teressen der  Arbeiter  und  der  Arbeitgeber 
•3ine  natürliche  Harmonie  bestehe,  weslialb 
sie  von  ihren  Gegnern  höhnisch  als  »Har- 
monieapostel« bezeichnet  werden,  und  ver- 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


645 


treten  deshalb  den  Standpunkt,  dass  eine 
Yerbesserung  der  Lage  der  Arbeiter  thun- 
lichst  in  friedlicher  Entwickelung  erfolgen 
und  ein  Ausgleich  etwa  entstehender  Streitig- 
keiten durch  Schiedsgerichte  oder  Einigungs- 
ämter geschehen  müsse. 

Andererseits  haben  beide  Organisationen 
das  Gemeinsame,  dass,  wie  ihre  Begi'ünder 
ausgesprochene  politischeParteimänner  waren, 
so  auch  bei  den  Vereinen  selbst  eine  be- 
stimmte politische  Richtung  mehr  oder 
weniger  scharf  hervortritt.  Am  zweifel- 
losesten ist  dies  hinsichtlich  der  »Ge- 
werkschaften«, die  deshalb  aucli  meist 
als  sozialistische  oder  gar  sozialdemokratische 
bezeichnet  werden,  obgleich  das  Verhältnis 
zur  Sozialdemokratie  sich  in  den  letzten 
Jahren  wesentlich  gelockert  hat.  Aber  auch 
die  »Ge  werk  vereine« ,  obgleich  auf  den 
Verbandstagen  wiederholt  der  Ausschluss 
aller  Parteipolitik  betont  ist,  liaben  ihren 
politischen  Charakter  und  damit  zugleich 
ihren  Gegensatz  zu  den  »Gewerkschaften« 
schon  dadurch  zum  Ausdruck  gebrac^ht,  dass 
sie  von  ihren  Mitgliedern  bei  der  Aufnahme 
die  Unterzeichmmg  eines  Reverses  fordern, 
dass  der  Betreffende  weder  Mitglied  noch 
Anliänger  der  Sozialdemokratie  sei.  Ver- 
suche, eine  Aufhebung  dieser  statutarischen 
Voi'schrift  herbeizuführen,  wie  sie  wieder- 
holt und  noch  auf  dem  letzten  am  30.  Mai 
1898  in  Magdebiu'g  abgehaltenen  Verbands- 
tage gemacht  sind,  haben  bisher  keinen  Er- 
folg gehabt,  indem  man  sich  darauf  berief, 
dass  die  Sozialdemokraten,  wenn  man  sie 
zuliesse,  sich  bemühen  würden,  die  Vereine 
in  das  sozialdemokratische  Lager  überzu- 
führen. 

Die  Folge  dieser  politischen  Abhängigkeit 
beider  Gnippen  ist  es  gewesen,  dass  m  den 
letzten  Jahren  noch  eine  dritte  Art  von 
Organisationen  ins  Leben  genifen  ist,  die  sich 
entweder  ausdrücklich  als  »christlich- 
soziale«  oder  kurz  »christliche  Ge- 
werkvereine« bezeichnen  oder  wenigstens 
in  ihren  Statuten  diesen  Gedanken  und 
ihren  Gegensatz  insbesondere  gegen  die 
Sozialdemokratie  zum  Ausdruck  bringen. 
Mit  dem  gewerkschaftlichen  Grundgedanken 
einer  Vertretung  der  gemeinsamen  Berufs- 
interessen auf  dem  Boden  der  bestehenden 
Verhältnisse  hat  zweifellos  der  religiöse 
Standpimkt  der  Mitglieder  eben  so  wenig 
etwas  zu  thun  wie  der  politische.  Es  trifft 
deshalb  die  christlichen  Gewerkvereine  der- 
selbe Vorwurf  wie  die  beiden  anderen 
Gruppen,  dass  sie  dem  Wesen  der  Ver- 
einigung ein  fremdes  Element  beimischen, 
und  dieser  Vorwurf  ist  nicht  bloss  theo- 
retischer Natur,  sondern  hat  eine  ungemeine 
praktische  Bedeutung,  denn  die  wirksame 
Vertretung  der  Arbeiterinteressen  wird  durch 
jede  Zersplitterung  beeinträchtigt.  Immerhin 


kann  man  zu  Gunsten  der  christlichen  Vereine 
geltend  machen,  dass  sie  diesen  fehlerhaften 
Zustand  vorfanden  und  nur  gegen  die  Ein- 
seitigkeit ihrer  Gegner  durch  eine  andere 
Einseitigkeit  reagieren.  In  der  That,  so 
lange  die  »Gewerkschaften«  sich  von  dem 
sozialdemokratischen  Einflüsse  noch  nicht 
völlig  frei  gemacht  haben,  kann  man  Ar- 
beitern, die  auf  einem  anderen  Standpunkte 
stehen,  nicht  empfehlen,  ihnen  beizutreten, 
da  sie  naturgemäss  sich  zunächst  in  der 
Minderzahl  befinden  und  Einflüssen  ausge- 
setzt sein  würden,  denen  sie  sich  zu  ent- 
ziehen wünschen.  Deshalb  kann  es  zur  Zeit 
noch  je  nach  den  Verhältnissen,  die  in  den 
einzelnen  Orten  und  Berufen  vei'schieden 
sind,  als  das  Richtigste  erscheinen,  dass 
die  nicht  sozialistischen  Arbeiter  sich  selb- 
ständig organisieren  und  dass  nur  für  die 
praktische  Vertretung  der  gemeinsamen  In- 
teressen eine  möglichst  enge  Fühlung  aller 
Arten  von  Organisationen  angestrebt  wird. 

Das  Ziel  dagegen  ist  zweifellos 
der  reine  Berufsverein  unter  Aus- 
schluss aller  politischen  und  reli- 
giösen Beimischungen.  Diesem  Ziele 
wird  man  in  dem  Masse  näher  kommen,  in 
w^elchem  die  »Gewerkschaften«  sich  von  dem 
Einflüsse  der  Sozialdemokratie  nicht  bloss 
statutenmässig,  sondern  auch  thatsächlich 
frei  machen,  denn  damit  verliert  auch  der 
Gegensatz  der  übrigen  Gruppen  zu  ihnen 
ihre  Unterlage. 

Auf  Seiten  der  Arbeitgeber  haben  die 
gewerkschaftlichen  Organisationen  der  Ar- 
beiter von  jeher  kein  Entgegenkommen, 
sondern  eine  Gegnerschaft  gefunden,  die 
gegen  die  Hirsch-Uunckerschen  und  christ- 
lich-sozialen Vereine  kaum  weniger  schroff 
ist  als  gegen  die  sozialistischen.  In  Wahr- 
heit ist  dies  auf  den  einseitigen  Unternehmer- 
Standpunkt  zurückzuführen,  der  kein  anderes 
als  das  eigene  egoistische  Interesse  als  be- 
rechtigt anerkennt  Theoretisch  freüich 
sucht  man  die  Ablehnung  durch  die  Be- 
liauptung  der  Interessenidentität 
zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber  zu 
begründen,  aus  der  sich  ergebe,  dass 
die  ereteren  keiner  Organisation  bedürften, 
vielmehr  ihre  Interessen  am  besten  von  den 
Arbeitgebern  wahrgenommen  würden.  Um- 
gekehrt stehen  die  »Gewerkschaften»  auf 
dem  Standpunkte  des  »Klassenkampfes«, 
d.  h.  sie  behaupten  einen  absoluten  und 
unversöhnlichen  Gegensatz  der  beiderseitigen 
Interessen.  Das  eine  Extrem  ist  so  unrich- 
tig wie  das  andere.  Einerseits  haben  Ar- 
beiter und  Unternehmer  gleiche  Interessen^ 
indem  sie  beide  gemeinsam  als  Faktoren 
der  Produktion  der  Konsumtion  als  natür- 
liche Gegner  gegenüber  stehen'  und  hohe 
Preise  der  Erzeugnisse  wünschen  müssen; 
andererseits  sind  aber  ihre  Interessen  zu- 


646 


Gewerkvereine  (Deutschlaad) 


gleich  gegensätzliche,  insoweit  es  sich 
darum  handelt,  die  durch  hohe  Preise  er- 
zielte Vergütung  der  gemeinsamen  Produk- 
tionsarbeit unter  die  beiden  Faktoren  der- 
selben zu  verteilen,  denn  dabei  bleibt  natilr- 
lich  für  den  einen  um  so  weniger  übrig,  je 
mehr  er  dem  anderen  abgeben  muss.  Da 
der  Grundgedanke  aller  Organisation  die 
Vertretung  von  Interessen  ist  imd  deshalb 
nur  diejenige  Art  der  Organisation  gesund 
ist,  die  dem  natürlichen  Verhältnisse  der 
Interessen  entspricht,  so  ergiebt  sich  von 
selbst  als  Ideal  eine  doppelte  Form, 
nämlich  einerseits  eine  gesonderte  Organi- 
sation beider  Klassen  zur  Vertretung  der 
gegensätzlichen  und  andererseits  eine  ge- 
meinsame Organisation  zur  Vertretung 
der  gemeinsamen  Interessen. 

Diesem  Ideal  kommen  am  nächsten  die  Ver- 
hältnisse im  Buchdruckergewerbe ,  nnd  schon 
deshalb  rechtfertigt  es  sich,  dem  ,,Verbande 
der  deutschen  Buchdrucker'',  der  ausser- 
dem der  weitaus  bestorganisierte  unter  allen 
Arbeiterberufsvereinen  ist,  einen  besonderen  Ab- 
schnitt zu  widmen,  wodurch  es  ermöglicht  wird, 
zugleich  auch  über  die  gemeinsame  Org^anisation 
zwischen  Gehilfen  und  Prinzipalen  das  Wich- 
tijgste  mitzuteilen.  Im  übrigen  entfallen  sowohl 
die  Unternehmervereinigungen  wie  die 
fi^emeinsamen  Organisationen  von  Ar- 
beitern und  ArbeitgeSern  ans  dem  Bahmen  der 
vorliegenden  DarsteUung. 

Das  gleiche  gilt  von  den  untrer  den  Ar- 
beiterveremen  der  verschiedenen  Länder  be- 
stehenden internationalen  Beziehungen. 
Solche  sind  in  einer  ganzen  Reihe  von  Berufs- 
zweigen angeknüpft  und  finden  zum  Teil  ihren 
Ausdruck  in  internationalen  Kongressen,    die 

J 'ährlich  oder  in  Zwischenräumen  von  mehreren 
ahren  abgehalten  werden.  Im  ganzen  haben 
aber  auch  auf  diesem  Gebiete  allein  die  Buch- 
drucker Erfolge  von  einiger  Bedeutung  erzielt, 
während  es  sich  in  den  übrigen  Berufen  vor- 
läufig noch  um  schüchterne  versuche  handelt, 
die  so  lange  keinen  erheblichen  Fortschritt  auf- 
weisen werden,  wie  nicht  die  nationale  Organi- 
sation in  den  einzelnen  Ländern  besser  als  bis- 
her ausgebaut  ist. 

Kommen,  wie  bemerkt,  die  Buchdrucker 
dem  gewerkschaftlichen  Ideal  und  dem  Vor- 
bilde der  grossen  englischen  Gewerkvereine  am 
nächsten,  so  besteht  auch  unter  den  übrigen 
Organisationen  eine  sehr  weitgehende  Abstufnng 
hinsichtlich  des  Grades,  in  welchem  sie  ihrem 
natürlichen  Ziele  sich  nähern.  Ja  diese  Ab- 
stufnng von  den  unvollkommensten  zu  den  voll- 
kommeneren Formen  ist  eine  so  allmähliche, 
dass  es  völlig  unmöglich  ist,  die  Organisationen, 
die  bereits  ausgesprochen  den  gewerkschaftlichen 
Charakter  tragen,  scharf  und  sicher  zu  unter- 
scheiden von  denjenigen,  die  sich  gewissermassen 
noch  im  Embryonalzustande  bennden.  Da  es 
über  den  g^ezogenen  Bahmen  hinausgehen  würde, 
auch  die  letzteren  hier  zu  behandeln,  so  blieb 
nichts  übrig,  als  mit  einer  gewissen  Willkürlich- 
keit eine  von  der  Natur  nicht  gegebene  Grenze 
zu  ziehen  und  im  wesentlichen  nur  diejenigen 
Organisationen  zu  erwähnen,  die  selbst,  insbe- 


sondere durch  ihre  Bezeichnung,  den  Anspruch 
erheben,  als  Gewerkvereine  zu  gelten,  andere 
dagegen,  obgleich  sie  vielleicht  kein  gerinpperes 
Anrecht  hierauf  hätten,  aus  der  Darstellung 
auszuschliessen.  Dies  sfilt  insbesondere  von  den 
kaufmännischen  Vereinen,  von  denen  es 
eine  grosse  Zahl  giebt  und  unter  denen  einzelne 
entschieden  gewerkschaftlichen  Charakter  tragen, 
während  andere  mehr  der  Bildung  oder  der  Ge- 
selligkeit dienen.  Ebenso  sind  im  wesentlichen 
unberücksichtigt  geblieben  die  vielfachen  Ver- 
einignngen  von  Beamten  höherer  oder  niederer 
Art  im  privaten  oder  im  öffentlichen  Dienste, 
da  sie  nach  dem  Sprachgebrauche  nicht  zn  den 
Arbeitern  gezählt  werden,  obgleich  volkswirt- 
schaftlich ein  Unterschied  nicht  besteht.  Um 
wenigstens  auf  diese  Organisationen  aufioierksam 
zu  machen,  sind  am  Schlüsse  die  wichtigsten 
derselben  kurz  erwähnt 

2.  Die  Hirsch-Dnnckerschen  G.  Nach 
den  auf  dem  Kongress  v.  28.  September 
1868  angenommenen  Grundsätzen  sollte 
eine  Organisation  der  gesamten  deutschen 
Arbeiterschaft  mit  beruflicher  Gliederung 
angestrebt  werden.  Die  Einheit  bildet 
deshalb  der  nationale  Gewerkver- 
ein eines  bestimmten,  in  sich  abge- 
schlossenen Gewerbes.  Er  stützt  sich  auf 
Orts  vereine,  und  zwar  sind  mindestens 
5  solche  zur  Bildung  eines  Gew^erkvereins 
erforderlich.  Es  ^ebt  übrigens  auch  »selb^ 
ständige«  d.  h.  nicht  zu  einem  Gewerkver- 
ein vereinigte  Ortsvereine.  Eine  Mittel- 
stufe, die  Bezirksvereine,  sind  später 
fallen  gelassen.  Dagegen  giebt  es  noch 
Ol  tsver  bände  d.  h.  Vereinigungen  der  an 
einem  Orte  oder  in  einem  Bezirke  vorhandenen 
Ortsvereine,  ziu- Vertretung  der  gemeinsamen 
örtlichen  Interessen,  denen  insbesondere  das 
Bildungswesen,  die  Erteilung  von  Rechtsbei- 
stand, die  Stellungnahme  gegenüber  Angriffen 
von  aussen,  dasHerbergswesen  undderArbeits- 
nachweis  übertragen  ist.  Der  frühere  Zwang 
zum  Beitritt  ist  1892  aufgehoben.  Ausser- 
dem hat  man  noch  sogenannte  »Ausbrei- 
tungsverbände« für  Provinzen  und 
grössere  Bezirke,  denen  hauptsächlich  die 
Agitation  obliegt,  doch  leiden  sie  unter  der 
Konkurrenz  der  von  einzelnen  grosseren  Ge- 
werkvereinen seit  1893  eingeführten  »Be- 
zirksleiter«. Es  bestehen  z.  Z.  190  Orts- 
und 6  Ausbreitungsverbände.  An  der  Spitze 
jedes  Gewerk Vereins  steht  der  Generalrat, 
welcher  auf  der  alle  3 — 5  Jahre  zusammen- 
tretenden Generalversammlung  ge- 
wählt wird.  Eine  Gesamtvertretung  aÜer 
Gewerkvereine  war  von  Anfang  an  beab- 
sichtigt und  wurde  schon  Pfingsten  1869 
durch  Gründung  des  »Verbandes  der 
deutschen  Gewerkvereine«  geschaf- 
fen. Die  Spitze  desselben  ist  der  Cen- 
tralrat,  dem  derVerbandsanwalt  mit 
beratender  Stimme  zur  Seite  steht.  Diesen 
Posten  bekleidet  seit  der  Gründung  Dr.  Max 
Hirsch,  der  auch  zugleich  Herausgeber  des 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


647 


Yerbandsorganes  »Der  Gewerkverein« 
ist.  Die  regelmässige  Versammlung  des 
Verbandes  ist  der  Verbandstag.  Auf 
ihm  wird  jedesmal  der  von  den  einzelnen 
Gewerkvereinen  an  die  Verbandskasse  zu 
zahlende  Beitrag  festgestellt;  derselbe  darf 
aber  den  Satz  von  5  Pfennig  vierteljährlich 
auf  den  Kopf  des  Mitgliedes  nicht  über- 
steigen. Die  Verbandstage  finden  jetzt  alle 
3  Jahre  statt  und  nehmen  regelmässig  eine 
ganze  Woche  in  Anspruch.  Ausser  der 
konstituierenden  Versammlung,  die  am  18. 
Mai  1869  in  Berlin  stattfand,  sind  bis  jetzt 
12  ordentliche  Verbandstage  abgehalten. 

Der  Grundgedanke  der  Organisation  ist 
möglichste  Selbständigkeit  der  Ortsvereine; 
nur  das  Kassenwesen  ist  centralisiert. 

Der  Zweck  der  Gewerkvereine  ist  nach 
den  Normalstat  Uten  »der  Schutz  und  die 
Förderung  der  Rechte  und  Interessen  seiner 
Mitglieder  auf  gesetzlichem  Wege.«  Aus 
den  »leitenden  Grundsätzen«  ist  folgendes 
hervorzuheben : 

Es  soll  ein  Arbeitslohn  angestrebt 
werden,  der  zum  Unterhalte  des  Arbeiters 
und  seiner  Familie  ausreicht  mit  Einschluss 
der  Versicherung  gegen  jede  Art  von  Ar- 
beitsunfähigkeit sowie  der  nötigen  Erholung 
und  humanen  Bildimg.  Die  Arbeitszeit 
ist  auf  10  Stunden  zu  beschränken ;  Sonn- 
tags- und  Nachtarbeit  ist  möglichst  zu 
beseitigen.  Weiblichen  und  uner- 
wachsenen Arbeitern  ist  der  erforder- 
liche Schutz  zu  gewähren.  Zuchthaus- 
arbeit soll  der  freien  Arbeit  keine  Kon- 
kurrenz bereiten.  Fabrik-  und  Arbeits- 
ordnungen sind  mit  den  Arbeitern  zu 
vereinbaren.  Ziu:  Erledigung  von  Streitig- 
keiten ist  ein  von  beiden  Teilen  zu  besetzen- 
des stehendes  Schiedsgericht  unter 
einem  unparteiischen  Obmann  zu  bilden. 

Die  Vereine  haben  von  Anfang  an  der 
Ausbildung  des  Kassenwesens  ihrePür- 
sorge  gewidmet,  und  hierauf  ist  es  in  erster 
Linie  zurückzuführen,  dass  ihr  Mitglieder- 
bestand viel  weniger  Schwankungen  unter- 
worfen ist  als  der  der  sozialistischen  Ge- 
werkschaften. Das  G.  V.  7.  Aprü  1876  über 
die  eingeschriebenen  HiLfskassen  ist  wesent- 
lich auif  den  Einfluss  der  Gewerkvereine 
zurückzuführen.  Dagegen  fand  die  staat- 
liche Zwangsversicherung  den  entschieden- 
sten Widerspruch,  bis  man  in  neuerer  Zeit 
begonnen  hat,  sich  mit  derselben  auszusöh- 
nen. Hinsichtlich  der  Frage  der  Arbeits- 
losenversicherung wird  noch  jetzt  der  ab- 
lehnende Standpunkt  aufrecht  erhalten  und 
deren  staatliche  Regelung  um  so  mehr  be- 
kämpft, als  man  diesen  Zweig  der  Thätig- 
keit  als  ein  Hauptanziehungsmittel  der  Ver- 
eine ansieht  und  fürchtet,  dass  diese  letzte- 
ren bei  der  Uebertragimg  auf  andere  Fak- 
toren   gewissermassen  das   Rückgrat  ihrer 


Bedeutung  verlieren  würden.  Man  hat  des- 
halb schon  früh  die  Einführung  der  Ar- 
beitslosenunterstützung bei  den  Ge- 
werkvereinen beschlossen,  allein  obgleich 
SLvd  dem  Verbandstage  in  Nürnberg  1879 
das  von  einer  Kommission  ausgearbeitete 
Statut  einer  »Verbandskasse  für  Reisende 
imd  Arbeitslose«  zur  Annahme  gelangte,  so 
ist  letztere  doch  mangels  ausreichender  Be- 
teiligung nicht  ins  Leben  getreten.  Dagegen 
haben  seit  1881,  wo  die  Tischler  damit  be- 
gannen, die  einzelnen  Gewerkvereine  eine 
Ai'beitslosenunterstützung  eingerichtet,  und 
auf  dem  Verbandstage  in  Danzig  1895 
konnte  der  Verbandsanwalt  feststellen,  dass 
sie  nunmehr  bei  allen  Vereinen  durchge- 
führt sei.  Dieselbe  beläuft  sich  meist  auf 
wöchentlich  7,50  Mark  imd  wird  bis  zur 
Dauer  von  13  Wochen  gewährt.  Mit  ihr 
verbunden  ist  eine  Reiseunterstützung 
bei  Ortswechsel  und  eine  üebersiede- 
lungsbeihilfe  für  die  Angehörigen. 
Kranken-  und  Sterbekassen  bestehen 
bei  jedem  Gewerkverein.  Eine  Invaliden- 
kasse hatte  am  1.  Juli  1869  sowohl  der 
Gewerkverein  der  Maschinenbau-  und 
Metallarbeiter  als  auch  gleichzeitig  der 
Verband  ins  Leben  genifen,  allein  nach 
Einführung  der  staatlichen  Invaliditätsver- 
sicherung beschloss  zunächst  am  8.  Sep- 
tember 1889  der  Verband  und  später  im 
November  1893  auch  der  bezeichnete  Ge- 
werkverein die  Li(juidation  der  Kasse,  bei 
der  übrigens  die  Mitglieder  76  %  bezw.  alle 
gezahlten  Beiträge  zurück  erhielten.  End- 
lich giebt  es  noch  eine  Unterstützung 
in  besonderen  Notfällen.  Hinsicht- 
lich der  Krankenunterstützung  unterscheiden 
sich  die  Einrichtungen  der  einzelnen  Ge- 
werkvereine sehr  wesentlich  von  einander, 
und  zwar  zerfallen  sie  danach  in  3  Gruppen : 
die  erste  (z.  B.  Fabrik-  und  Handarbeiter, 
Stuhlarbeiter,  Schneider,  Graphische  Berufe) 
haben  »Vollkassen«  d.  h.  solche  eingeschrie- 
bene Hilfskassen,  die  dem  §  75  des  Kranken- 
versicherungsgesetzes genügen.  Die  zweite 
(z.  B,  die  Maschinenbau-  und  Metallarbeiter, 
Tischler,  Schuhmacher)  haben  sogenannte 
Zuschusskassen,  die  dem  §  75  nicht 
genügen.  Die  dritte  (z.B.  Klempner  imd 
Metallarbeiter,  Bildhauer,  Bergarbeitei*)  haben 
überhaupt  keine  selbständige  Hil/skasse. 
sondern  gewähren  Kranken-  und  Sterbegela 
aus  einem  mit  dem  Gewerkvereine  organisch 
verbundenen  »Beihilfefonds«  gegen  besondere 
Beiträge.  Die  Kellner  haben  gar  keine 
Kranken-  und  Sterbeunterstützung.  Die  von 
den  Gewerkvereinen  geschaffenen  Hilfskassen 
haben,  um  gemeinsam  ihre  Interessen  zu 
vertreten  und  insbesondere  auch  die  Gesetz- 
gebmig  zu  beeinflussen,  zunächst  ein  Kattell 
und  seit  1892  den  »Verband  der  Deutschen 
Gewerkvereins-Hilfskassen«  begi-ündet. 


648 


Grewerkvereiue  (Deutschland) 


Die  Gewerkvereine  stehen  grundsätzlich 
auf  dem  Boden  der  Selbsthilfe  und  lehnen 
die  Staatshilfe  ab.  Trat  dies  schon  bei 
dem  Kassen wesen  insofern  zu  Tage,  als 
man  liier  die  staatliche  Zwangsversicherung 
bekämpfte,  so  gilt  es  in  noch  höherem 
Grade  bei  der  Frage  des  Maximalar- 
beitstages, nur  hat  sich  hier  noch  z wei- 
feDüser  im  Laufe  de»  Zeit  ein  Umschwung 
der  Ansichten  vollzogen,  der  zu  einem 
Gegensatze  sowohl  innerhalb  der  Vereine 
als  auch  zwischen  der  Mehrheit  des  Central- 
rates  und  dem  Verbandsanwalt  geftihrt  hat. 

War  man  auch  von  jeher  für  ener^schen 
Arbeiterschutz  eingetreten,  soweit  es  sich  um 
Schutz  für  Leben  und  Gesundheit,  um  Truck- 
verbot  und  dergleichen  handelt,  ja  hatte  man 
sich  allmählich  überzeugt,  dass  selbst  der 
Sonntags-  und  Nachtarbeit  nur  durch  staat- 
liches Verbot  wirksam  entgegengetreten  werden 
könne,  so  hielt  man  doch  Tange  daran  fest,  dass 
eine  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitsdauer  nur 
für  un erwachsene  und  weibliche  Personen  zu- 
lässig sei,  für  erwachsene  Männer  dagegen  dem 
Grundsatze  der  Selbsthilfe  zuwiderlaufe.  Aber 
obgleich  der  Verbandsanwalt  mit  grosser  Ent- 
schiedenheit diesen  Standpunkt  vertritt  und  ihm 
eine  eigene  Broschüre  gewidmet  hat,  so  fand 
doch  innerhalb  der  Vereine  die  entgegengesetzte 
Auffassung  immer  mehr  Vertreter,  und  es  kam 
zu  langwierigen,  zum  Teil  sogur  erregten  Ver- 
handlungen im  Centralrate.  Diese  haben  dann 
einen  vorläufigen  Abschluss  gefunden  in  einer 
auch  dem  Reichstage  eingereichten  Resolu- 
tion, nach  welcher  die  Re^^elung  der  Arbeits- 
zeit erwachsener  Männer  bei  vollem  Koalitions- 
rechte in  erster  Linie  Sache  der  Berufsvereine 
ist,  wobei  möglichst  die  Hilfe  von  Einig^ungs- 
ämtem  nachzusuchen  ist;  daneben  wird  aber 
ein  beruflich-sanitärer  Maximalar- 
beitstag mittelst  staatlicher  Anordnung  für 
solche  Gewerbe  gefordert,  in  welchen  durch 
übermässige  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  die 
Gesundheit  der  Arbeiter  gefährdet  wir/i.  Auf 
diesem  Standpunkte  steht  bekanntlich  auch  das 
Arbeiterschutzgesetz  vom  1.  Juni  1890.  Bei 
den  Streitigkeiten,  zu  welchen  die  durch  dieses 
Gesetz  dem  Bundesrate  eingeräumten  Befug- 
hisse geftihrt  haben,  und  insbesondere  bei  den 
Verhandlungen  über  die  berühmte  Bäckereiver- 
ordnung, sind  die  Gewerkvereine  nachdrücklich 
für  die  staatliche  Regelung  eingetreten. 

Hatte  hier  der  Verbandsanwalt  sich  durch 
einen  Eompromiss  abgefunden,  so  erlitt  er  da- 
gegen in  der  mit  dem  Maximalarbeitstage  eng 
zusammenhängenden  Frage  des  Acht-Uhr- 
Ladenschlusses  für  Kau%eschäfte,  wie  ihn 
die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  vorge- 
schlagen hatte,  eine  Niederlage,  indem  in  der 
Sitzung  des  Centralrats  vom  21.  Mai  1896  mit 
15  gegen  12  Stimmen  dieser  von  dem  General- 
rate der  Kaufleute  vertretene  Standpunkt  An- 
nahme fand,  während  der  Anwalt  freilich  dem 
Grundsatze  der  gesetzlichen  Feststellung  der 
Ladenschlusszeit  zustimmen,  aber  die  Tageszeit 
der  „Bestimmung  auf  dem  Wege  der  örtlichen 
Selbstverwaltung  unter  Mitwirkung  der  betei- 
ligten Prinzipale  und  Gehilfen"  vorbehalten  wollte. 

Mit  Nachdruck  sind  die  Gewerkvereine  stets 


für  die  gesetzliche  Einführung  von  Schieds- 
gerichten nnd  Einigungsämtern  einge- 
treten, insbesondere  fordern  sie  deren  obliga- 
torische Einrichtung  und  die  Befugnis,  bei  aus- 
brechenden Arbeitsstreitigkeiten  auch  ohne  An- 
rufen der  Beteiligten  Einigungsversnche  zu 
unternehmen. 

Mit  derFragederArbeitse  in  Stellungen 
hat  sich  insbesondere  der  Verbandstag  in  Magde- 
burg 1898  eingehend  beschäftigt.  Es  wurde 
den  Ge  werk  vereinen  empfohlen,  stets  den  Weg 
der  V^erständignng  und  Einigung  zu  beschreiten 
und  erst  bei  Erfolglosigkeit  aller  friedlichen 
Versuche  und  beim  Vorhandensein  günstiger 
Aussichten  und  genügender  Mittel  in  den  Aus- 
stand zu  treten.  Dem  Gteneralrate  ist  sofort 
bei  jeder  auftauchenden  Streitigkeit  Mitteilung 
zu  machen;  dessen  Rat  oder  Anweisungen  sind 
stets  einzuholen  und  streng  zu  befolgen.  Die 
Unterstützung  von  Strikes  anderer  Organisa- 
tionen ist  davon  abhängig  zu  machen,  dass  die 
beteiligten  Ortsvereine  bei  den  V^erhandlungen 
zur  Mitwirkung  zugezogen  sind. 

Hinsichtlich  der  gewerblichen  Frauen- 
arbeit vertreten  die  Gewerkvereine  den  Stand- 
punkt, dass  der  Beruf  der  Frau  ihre  Thätigkeit 
innerhalb  der  Familie  sei,  dass  auch  die  wirk- 
samste Lösung  der  Frage  in  der  Hebung  der 
wirtschaftlichen  Lage  des  Mannes  gesehen  wer- 
den müsse.  Solanjge  die  sozialen  Verhältnisse 
einen  bedeutenden  Teil  der  weiblichen  Bevölke- 
rimg zur  Lohnarbeit  nötigen,  ist  für  sie  ein 
wirksamer  Schutz  anzustreben,  insbesondere  ist 
die  Arbeitszeit  auf  höchstens  8  Stunden  festzu- 
setzen. Weibliche  Fabrikinspektoren  sind  neben 
Durchführunfi:  der  Berufsorganisation  der  Ar- 
beiterinnen das  wichtigste  Mittel  zur  Hebung 
ihrer  Lage.  Die  Entlohnung  der  weiblichen 
Arbeiter  muss  bei  gleichen  Leistungen  der  der 
männlichen  gleichkommen. 

Die  Gewerkvereine  haben  sich  eifrig  des 
Genossenschaftswesens  angenommen. 
Allerdings  haben  von  Produktivgenossenschaften 
nur  die  in  Burg  begründeten  Vereinigungen  der 
Tuchmacher,  der  Cigarrenarbeiter  und  der  Gold- 
leistenverfertiger  Erfolge  erzielt,  dagegen  hat 
man  mehrfach  Kredit-,  Rohstoff-  und  Magazin- 
verei^e,  Konsumvereine  und  Baugenossenschaften 
ins  Leben  gerufen. 

Auch  dem  Volksbildungswesen  hat 
man  grosse  Aufmerksamkeit  zugewendet;  die 
Geweävereine  stehen  in  engster  Fühlung 
mit  der  „Gesellschaft  für  Verbreitung  von  Volks- 
bildung". 

Als  sehr  nützlich  haben  sich  die  Einrich- 
tungen zur  Gewährung  von  Rechtsschutz 
erwiesen.  Die  Ortsvereine  oder  noch  häufiger 
die  Orts-  und  Bezirksverbände  bestellen  einen 
geeigneten  Rech  tsvers  tändigen,  bei  dem  die 
Mitglieder  unentgeltlich  Rechtsrat  erhalten; 
auch  übernehmen  die  Verbände  unter  Umständen 
selbst  die  Durchführung  der  Prozesse. 

Die  Arbeitsvermittelnng  nehmen  die 
Gewerkvereine  grundsätzlich  nicht  für  sich  allein 
in  Anspruch,  sondern  fordern  für  dieselbe  eine 
gemeinsame  Thätigkeit  von  Arbeitgeber-  und 
Arbeitnehmervereinen ;  bei  staatlichen  und  kom- 
munalen Einrichtungen  dieser  Art  soll  beiden 
Parteien  ein  ausreichendes  Mitbestimmungsrecht 
eiugeränmt  werden.  Vorläufig  hat  man  bei 
allen    Ortsvereinen    den   Arbeitsnachweis   den 


Gewerkvereioe  (Deutschland) 


649 


Sekretären  übertrag-en,  doch  sind  ausserdem  90 
besondere  Nachweisestellen  geschaiFen,  Auch 
eine  Ausdehnung  über  den  örtlichen  Rahmen 
hinaus  mit  Hilfe  der  Generalsekretäre  wird  an- 
gestrebt, doch  haben  bisher  nur  die  Kaufleute 
und  Kellner  ernsthafte  Versuche  in  dieser  Rich- 
tung unternommen. 

Die  Ge  werk  vereine  sind  vor  allem  bestrebt, 
sich  selbst  eine  gesicherte  rechtliche  Grundlage 
zu  verschaffen,  indem  sie  den  Erlass  eines  Ge- 
setzes über  die  Zulassung  von  „Berufsver- 
einen" fordern,  dessen  Grundg^edanke  darin  be- 
steht, dass  Vereine,  welche  die  beruflichen  In- 
teressen ihrer  Mitglieder  vertreten,  unter  den 
durch  Gesetz  festzustellenden  Voraussetzungen 
ihre  Eintragung  in  ein  öffentliches  Register 
nachsuchen  können  und  durch  dieselbe)  ihre 
Rechtsfähigkeit  erlangen.  Durch  die  Vorschriften 
des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  ist  diesem  Ver- 
langen nur  in  beschränktem  Masse  Rechnung 
getragen,  weil  der  Gesetzgeber  geglaubt  hat, 
den  Schutz  gegen  staatsgefährliche  Bestrebungen 
nicht  auf  das  öffentliche  Recht  beschränken, 
sondern  auch  auf  das  Privatrecht  ausdehnen  zu 
müssen.  Die  Gewerkvereine  halten  deshalb  ibre 
Forderungen  auch  jetzt  noch  aufrecht. 

Die  Sicherung  und  Erweiterung  des  Koa- 
litionsrechts ist  stets  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  der  Gew^erkvereine  gewesen ;  dieselben 
haben  deshalb  gegen  dessen  Verkümmerung 
durch  die  preussische  Vereinsgesetznovelle  und 
das  Gesetz  zum  Schutze  der  Arbeitswilligen 
energisch  Front  gemacht.  Der  Verband  ist  dem 
Verein  für  Sozialpolitik  beigetreten;  einzelne 
Gewerkvereine  sind  auch  Mitglieder  der  inter- 
nationalen Friedensgesellschaft.  Dagegen  hat 
man  sich  von  den  internationalen  Arbeiter- 
kongressen bisher  fem  gehalten,  weil  man  dort 
ein  Uebergewicht  der  Sozialdemokratie  be- 
fürchtete, wie  denn  das  Verhältnis  zu  dieser 
noch  nichts  von  seiner  ursprünglichen  Schroff- 
heit verloren  hat. 

Sehr  wertvoll  ist  die  von  dem  Verbands- 
anwalt ausgearbeitete  und  in  regelmässigen 
Zwischenräumen  veröffentlichte  Arbeits- 
statistik,  insbesondere  die  Erhebungen  über 
den  Umfang  der  Arbeitslosigkeit. 

Der  äussere  Umfang  des  Verbandes  ist 
mehrfachen  Schwankungen  unterworfen  gewesen. 
Gewaltig  war  bei  dem  ersten  Auftauchen  des 
Gedankens  der  Zulauf  und  die  Begeisterung, 
80  dass  Ende  1869,  also  nach  etwa  einjährigem 
Bestehen,  die  Leitung  auf  258  Ortsvereine  mit 
rund  30000  Mitgliedern,  gegliedert  in  13  Ge- 
werkvereine und  9  selbständige  Ortsvereine, 
herabblicken  konnte.  Aber  die  Bewegung  wurde 
in  ihrer  Blüte  gebrochen  durch  den  unglück- 
lichen Waldenburger  Strike,  der  am  1.  Dezember 
1869  von  7000  Bergarbeitern  infolge  des  von 
den  Grubenbesitzern  an  sie  gestellten  Verlangens, 
aus  dem  Gewerkverein  auszutreten,  begonnen 
wurde,  aber  nach  acht  Wochen  mit  einer  völligen 
Niederlage  endigte.  Der  Centralrat  hatte  es 
an  Bemühungen,  zunächst  durch  Vermitt^lung; 
bei  den  Bergwerksbesitzem  und  nachher  durch 
Mahnungen  bei  den  Arbeitern,  den  von  An- 
fang an  aussichtslosen  Strike  zu  vermeiden, 
nicht  fehlen  lassen,  auch  nach  Ausbruch  des- 
selben nach  Kräften  Gelder  für  die  Ausständigen 
gesammelt,  aber  er  konnte  es  nicht  hindern, 
dass  man  den  unglücklichen  Ausgang  den  Ge- 


werkvereinen zur  I^ast  legte,  dass  man  von 
Seiten  der  Arbeiter  das  Zutrauen  zu  ihnen  ver- 
lor und  von  selten  der  Unternehmer  sie  als  Be- 
förderer von  Strikes  anklagte.  Auch  der  fran- 
zösische Krieg  wirkte  ungünstig  ein,  und  so 
war  denn  am  Ende  desselben  die  Mitgliederzahl 
von  30000  auf  etwa  6000  zurückgegangen. 
Ende  1872  war  man  jedoch  schon  wieder  zu 
279  Orts  vereinen  mit  19000  Mitgliedern  und 
Ende  1874  zu  357  Ortsvereinen  mit  22000  Mit- 
gliedern emporgestiegen.  Aber  mit  dem  wirt- 
schaftlichen Rückgange  der  folgenden  Jahre 
trat  auch  für  die  Gewerkvereine  wieder  eine 
Abwärtsbewegung  ein,  so  dass  Ende  1878  frei- 
lich die  Ortsvereine  auf  365  gestiegen,  die  Mit- 
gliederzahl aber  auf  16500  herabgegangen  war. 
Ein  Aufschwung  wurde  dann  erst  wieder  durch 
die  KrankenversicheruDgsgesetzgebung  begrün- 
det, indem  durch  dieselbe  der  Zulauf  zu  den 
Hilfskassen  der  Gewerkvereine  und  dadurch 
auch  zu  diesen  selbst  wesentlich  gesteigert 
wurde,  so  dass  Ende  1885  953  Ortsvereine  mit 
51000  Mitgliedern  bestanden,  die  sich  Ende 
1891  auf  1350  Ortsvereine  mit  63  000  Mitgliedern 
vermehrt  hatten.  Der  Austritt  des  Gewerk- 
vereins der  Porzellanarbeiter,  der  am  1.  Januar 
1893  in  das  sozialdemokratische  Lager  ab- 
schwenkte, brachte  dann  einen  Verlust  von 
4000  Mitgliedern,  so  dass  Ende  1891  nur  1315 
Ortsvereine  mit  58000  Mitgliedern  vorhanden 
waren.  Seitdem  hat  eine  regelmässige  und 
wachsende  Ausdehnung  stattgefunden.  Aller- 
dings ist  1895  der  554  Mitglieder  zählende  Ge- 
werkverein  der  Berg-  und  Grubenarbeiter  wegen 
statutenwidrigen  Verhaltens  aus  dem  ver- 
bände ausgeschlossen,  doch  ist  dafür  der  1894 
gegründete  Ge  werk  verein  der  deutschen  Berg- 
arbeiter beigetreten.  Ende  1894  hatte  der  Ver- 
band 1436  Ortsvereine  mit  67000  Mitgliedern, 
Ende  1897  1633  Ortsvereine  mit  80000  Mit- 
gliedern und  am  30.  März  1898  1673  Ortsvereine 
mit  81150  Mitgliedern.  Am  31.  Dezember  1898 
betrug  die  Mitgliederzahl  82755;  am  31.  De- 
zember 1899  war  sie  auf  86  777  gestiegen.  Der 
Kassenabschluss  für  den  1.  April  19()0  ergiebt 
einen  Mftgliederbestand  von  8ö279. 

Die  Verteilung  auf  die  einzelnen 
Gewerbe  ergiebt  sich  aus  der  auf  S.  651 
folgenden  Tabelle. 

Ueber  die  Leistungen  der  Vereine  giebt 
für  die  sechs  Jahre  1892—1897  die  Tabelle  auf 
S.  650  eine  üebersicht. 

Die  Gesamteinnahme  für  die  Jahre  1869 
bis  1899  belief  sich  auf  27000000  Mark,  die 
Gesamtausgabe  (einschliesslich  zurückgezahlte 
Invalidenkassenbeiträge  auf  24 150000  Mark,  so 
dass  ein  Vermögen  von  2850000  Mark  verblieb. 
Von  den  Ausgaben  entfielen  14250000  Mark 
auf  Kranken-  und  Begräbnisgelder,  1750000 
Mark  auf  Invalidenunterstützung,  3750000  Mark 
auf  Rechtsschutz,  Bildungszwecke,  Reise-,  Not- 
stands- und  Arbeitslosenunterstützung. 

Das  Verbandsvermögen  belief  sich  am  1. 
April  1899  auf  54977  Mark  4  Pfennig  neben 
einem  Bestände  der  Organkasse  von  8322  Mark 
76  Pfennig.  Das  Gesamtvermögen  der  Vereine 
mit  Ausschluss  der  Kranken-  und  Begräbnis- 
kassen betrug  Ende  1898  999639,83  Mark,  d.  h. 
mehr  als  12  Mark  auf  den  Kopf. 

Neben  dem  Verbandsorgan,  dem  „Gewerk- 
verein", der  1899  im  31.  Jahrgange  erschien, 


öewerkvereioe  (DeutscUand) 


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Gewerkvereine  (Deutschland) 


651 


Ende 
1872 


Anf^ 
187i 


31./12. 
1892 


31./12. 
1893 


31./12. 
1894 


31,/12. 
1895 


31./12. 
1896 


31./12. 
1897 


31./12. 
1898 


31./12. 
1899 


Maschinenban-  u.  Me- 
tallarbeiter .    .    .    . 

Fabrik-  u.  Handarbeiter 

Tischler  u.  verw.  Berufe 

Schnhmacher  n.  Leder- 
arbeiter    

Textilarbeiter  u.  ver- 
wandte Berufe     .    . 

Schneider  u.  verwandte 
Berufe 

Baubandwerker  .    .    . 

GraphischeBerufe^Maler 
u.  verwandte  Berufe 

Cigarren-  u.  Tabakarb. 

Töpfer 

Berg-  u.  Grubenarbeiter 

Schiffszimmerer  u.  verw. 
Berufe 

Klempner  u.  Metallarb. 

Bildhauer  u.  verw.  Ber. 

Kaufleute 

Konditoren  und  verw. 
Berufe 

Selbständ.  Ortsvereine*) 


4468 

3  543 
2019 

306 

1571 

438 
2521 

2S9 
102 
266 

633 


3  749 
2423 
2879 

666 
I  129 

457 
I  642 

1058 

125 

43 

239 

240 

x8o 

28 

13 
41 


12  129 
9908 

4  795 

3845 

3403 

2415 
1709 

i486 

I  212 

890 

727 

170 
2508 

234 
183« 

484 
54 


24  163  27  836 
10  080  '  1 1  339 

4  393     4  733 


3  6.70    3  900 
3  002     2  788 


2595 
2090 

I  612 

I  121 

843 
554 

173 
2346 

194 
3951 


313 
54 


3060 
2226 

1655 
I  145 

916 

455 

163 
2472 

221 
3820 

263 
66 


27000 

11833 
4880 

4200 

2899 

3000 
I  629 

1918 
I  230 
I  021 


173 
2667 

243 
3620 

305 
114 


28  127 
13284 

5423 
4620 

3022 

3010 
I  624 

1944 

1344 

1  139 
182 

181 

3  103 
299 

4085 

256 
124 


30837 

15006 

6010 

5300 

3330 

3350 
2300 

1  900 
X  408 

1324 
21,0 

193 

3134 

387 
4298 

254 
312 


32938 

15415 
6152 

5690 

3  434 

3360 
1985 

1951 
1  462 

1487 
257 

190 
3225 

376 
4382 

247 
204 


34025 

16758 

6431 

6000 

3623 

3  660 
1958 

1941 

1576 

1588 

301 

159 

3  455 

371 
4600 

260 
171 


*)  Dazu  gehören  die  Bureauarbeiter,  Reepschläger,  Vergolder  und  Kellner.    Die  letzteren 
bilden  seit  Anfang  1898  einen  Grewerkverein. 

Den  Vermögensbestand  am  31.  Dezember  1898  zeigt  die  folgende  Tabelle: 


Gewerkvereine 


Gewerk- 
vereinskasse 

Mk.     i  Pf. 


Kranken-  u. 
Begräbnis- 
kasse 

Mk.     I  Pf. 


Begräbnis- 
kasse 

Mk.     I  Pf. 


Gesamt- 
vermögen 

Mk.      I  Pt 


Maschinenbau-  und  Metallarbeiter 
Fabrik-  und  Handarbeiter    .... 

Tischler 

Schuhmacher  und  Lederarbeiter    .    . 

Kaufiente 

Stuhl-(Textil-)Arbeiter 

Schneider 

Klempner  und  Metallarbeiter    .    .    . 

Bauhandwerker 

Cigarren-  und  Tabakarbeiter    .    .    . 

Graphische  Berufe 

Töpfer 

Bildbauer    . 

Konditoren 

Schiffszimmerer 

Bergarbeiter 

Verband  der  Deutschen  Gewerkvereine 


417457 

37 

384  697 

191 157 

29 

252  586 

91  091 

98 

82489 

28676 

78 

91  380 

73828 

58 

75  494 

35321 

63 

46605 

45580 

41 

95514 

43340 

99 

— 

19289 

90 

16837 

16474 

99 

29484 

11265 

12 

33919 

14991 

34 

24071 

5274 

23 

5970 

1464 

81 

1  501 

2559 

51 

371 

1864 

90 

64375 

94 

— • 

I  064015 

77 

1  140925 

39 
20 

57 

32 

74 

17 
90 

49 
10 

21 

78 

59 

77 

77 


343  356 
38903 
44017 


3331 

7  696 
18771 


708 
48454 


56 

89 
42 


51 

65 
34 


66 


77 


145 
482 

217 
120 

149 
81 

141 
43 
39 
45 
52 

57 

II 

2 

3 
I 

112 


511 
647 

598 
057 

323 
926 

095 
340 
458 

959 
880 

834 

244 
966 

639 
864 

830 


32 
38 

97 
10 

32 
80 

31 

99 
90 

09 
98 
46 
82 
58 

94 
90 

71 


haben  noch  sechs  Gewerkvereine  ihre  besonderen 
Fachblätter.  Die  Gesamtauflage  beträgt  74  800. 
Ausserdem  besteht  noch  eine  zur  Benutzung 
durch  die  Tagespresse  bestimmte  „Gewerkvereins- 
korre^pondenz",  die  nach  Bedarf  ausgegeben  und 
allen  sich  dafür  interessierenden  Blättern  un- 
entgeltlich zugesandt  wird. 


505240    80  2  710 181    57 


3.  Die   sozialistischen  Gewerkschal- 
ten. 

a)  Die  Entwickelung  bis  1890.    Auf 

dem  oben  erwähaten  am  26.  September 
1868  in  Berlin  abgehaltenen  Kongresse,  auf 
dem  142008  Arbeiter  in  110  Orten  durcli 


652 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


206  Abgeordnete  vertreten  waren,  ^\'^l^de 
nach  Entfernung  der  Hirschschen  Anhänger 
der  von  v.  Schweitzer  ausgearbeitete  Plan 
ohne  erheblichen  Widerspruch  angenommen. 
Nach  demselben  sollten  für  jedes  Gewerbe 
ganz  Deutschland  umfassende  Berufs- 
gruppen, und  zwar  82  an  der  Zahl,  gebildet 
werden,  die  als  »Arbeiterschaften«  bezeichnet 
waren.  Ihre  Zusammenfassimg  erhielten  sie 
in  dem  »Deutschen  Gewerkschafts- 
bunde«. Auf  dem  Kongresse  wiu*den  so- 
gleich 10  Arbeiterschafteu  gegründet.  Aber 
der  fernere  Verlauf  entsprach  nicht  diesem 
günstigen  Anfange,  und  obgleich  in  der  Ende 

1869  m  Cassel  abgehaltenen  ersten  Dele- 
giertenversamnüuug  immerhin  35232  Mit- 
glieder vertreten  waren,  so  wurde  auf  An- 
trag V.  Schweitzers  die  Auflösung  aller  be- 
stehenden Gewerkschaften  und  zugleich  die 
Gründung  eines  »Allgemeinen  deut- 
schen A  rbeiter  unters  ttttzungsve  r- 
bandes«  beschlossen,  der  mit  dem  »All- 
gemeinen deutschen  Arbeiterverein«  durch 
Personalunion  der  Präsidenten  verbunden  sein 
und  auch  sonst  mit  ihm  in  engster  Fühlung 
stehen  sollte.  Aber  auch  diese  Schöpfung 
hatte  keinen  Bestand,  und  während  auf  der 

1870  in  Berlin  abgehaltenen  ersten  General- 
versammlung immerhin  noch  20657  Mit- 
glieder gezählt  wui-den,  war  diese  Zalü  am 
25.  Mai  1871  bereits  auf  4257  herabgegangen. 
Schliesslich  löste  Hasenclever,  der  Nach- 
folger V.  Schweitzers  im  Präsidium,  am 
8.  September  1874  den  Verein  formell  auf. 

Auch  die  Marxisten  hatten  früh  die 
grosse  praktische  Bedeutung  des  Gewerk- 
schaftswesens erkannt,  aber  auch  für  sie 
bot  sich  die  grosse  Schwierigkeit,  dasselbe 
mit  ihrem  theoretischen  Grundgedanken  von 
der  Unmöglichkeit  einer  Besserung  des  Ar- 
beiterloses auf  dem  Boden  der  bestehenden 
Wirtschaftsordnung  in  Einklang  zu  bringen. 
Schliesslich  fand  man  einen  Ausweg  in  der 
Foraiulierung,  dass  die  Gewerkschaften 
freilich  keine  Besserung  herbeizuführen, 
aber  doch  einer  weiteren  Verschlechterung 
vorzubeugen  im  stände  seien,  dass  sie  aber 
vor  allem  Schulen  bildeten,  um  die  Arbeiter 
zum  Verständnisse  ihrer  Lage  zu  bringen 
und  für  die  politischen  Aufgaben  vorzube- 
reiten. Eine  andere  Richtung  freilich  be- 
stritt einen  positiven  Nutzen  der  Gewerk- 
schaften und  sah  ihren  Wert  nur  darin,  dass 
sie  den  Arbeitern  die  Unmöglichkeit,  inner- 
halb der  bestehenden  Ordnung  Abliilfe  für 
ihre  Beschwerden  zu  erlangen,  gewisser- 
masson  experimentell  bewiesen. 

Eine  wesentliche  Verschiedenheit  der 
Marxistischen  Gewerkschaften  gegenüber 
denjenigen  der  Lassalleaner  beruhte  insbe- 
sondere darin,  dass  die  letzteren  sich  auf 
den  nationalen  Rahmen  beschränkten, 
während   die  ersteren   die  Internationalität 


nicht  allein  als  Ziel  ins  Auge  fassten,  son- 
dern sogar  die  internationale  Organi- 
sation zum  Ausgangspunkte  nahmen.  So  be- 
schloss  man  auf  den  Kongressen  der  »Inter- 
nationalen Arbeiterassociation«  in  Genf  1866 
und  Brüssel  1868  die  Gründung  von  »In- 
ternationalen Gewerbsgenossen- 
schaften«. Auch  der  am  5.  September 
1868  in  Nürnberg  abgehaltene  Vereinstag 
der  deutschen  Arbeitervereine,  auf  dem  sich 
der  Uebergang  dieser  früher  unter  dem 
Einflüsse  der  Fortschrittspartei  stehenden 
Vereine  in  das  Lager  der  Sozialdemokratie 
vollzog,  und  der  konstituierende  Kongress 
der  sozialdemokratischen  Arbeiterpartei  in 
Eisenach  (7.-9.  August  1869)  stellten  sich 
auf  diesen  Standpunkt. 

Aber  abgesehen  davon,  dass  der  inter- 
nationale Zusammenschluss  nicht  der  Aus- 
gangspunkt, sondern  erst  der  Abschluss  der 
gewerkschaftlichen  Organisation  sein  kann, 
machte  man  noch  den  weiteren  verhängnis- 
vollen Fehler,  dass  man  nicht  berufsmässig 
abgegrenzte  Vereinigungen  erstrebte,  von 
denen  man  annahm,  dass  sie  als  auf  fal- 
schem »Kastengeist«  beruhend  den  Grund- 
sätzen der  aUgemeinen  Solidarität  der  Ar- 
beiterklasse zuwiderliefen,  sondern  allgemeine 
Arbeiterverbände,  die  sich  von  den  politischen 
nur  durch  ihr  zunächst  in  Angriff  genom- 
menes Arbeitsgebiet  unterschieden. 

Eine  abweichende  Richtung  verfolgte  der 
Tischler  York  in  Harburg,  der  freilich  selbst 
eifriges  Mitglied  der  ^larxistischen  Sozial- 
demokratie war,  aber  trotzdem  einsah,  dass 
die  Gewerkscliaftsbewegung  nur  dann  Er- 
folg haben  könne,  wenn  sie  sich  auf  das 
rein  wirtschaftliche  Gebiet  bescliränke  und 
von  politischen  Einflüssen  jeder  Art  dm'ch- 
aus  frei  halte.  Er  erstrebte  deslialb  die 
Verbindung  der  bestehenden  Fachverbände 
zu  einer  »G e  w  e r k s c ha f  t s u  n i o n« ,  deren 
Aufgabe  vor  allem  in  der  einheitlichen 
Regelung  der  Lohnkämpfe,  planmässigen 
Agitation,  gemeinsamen  statistischen  Er- 
hebungen und  einer  einheitlichen  Wander- 
imterstützung  bestehen  sollte.  Dabei  sollten 
auf  dem  Boden  einer  neuti:alen  Gewerk- 
scliaftsorganisation  alle  Parteigegensätze  aus- 
geschlossen und  alle  Arbeiter,  ob  konser- 
vativ, liberal  oder  sozialdemokratisch,  zuge- 
lassen sein.  Die  Union  sollte  unter  einem 
leitenden  Ausschusse  stehen,  jährliche  Kon- 
gresse abhalten  und  ein  gemeinsames  Press- 
organ »Die  Union«  haben.  Es  gelang  York, 
einen  Gewerkschaftskongress  zur 
Beratung  seines  Pi-ogrammes  zusammenzu- 
berufen,  der  vom  15. — 17.  Juni  1872  in 
Erfurt  tagte  und  von  51  Abgeordneten  mit 
65  Mandaten  als  Vertretern  von  11 358' Ar- 
beitern besucht  war.  Es  wiirde  in  der  That 
die  Gründung  der  Union  als  eines  Central- 
verbandes  aller  Gewerkschaften    mit   dem 


Gre werkvereine  (Deutschland) 


653 


Sitze  in  Leipzig  sowie  die  Erhebung  einer 
Unionssteuer  von  wöchentlich  8  Pfennig  be- 
schlossen und  zur  Beratung  des  Statutes 
eine  Kommission  eingesetzt,  aber  diese  hat 
ihre  Aufgabe  niemals  beendigt,  und  obgleich 
es  York  gelang,  noch  einen  zweiten  Kon- 
gress  zu  berufen,  der  Pfingsten  1874  in 
Magdeburg  tagte,  setzte  sein  am  1.  Januar 
1875  erfolgter  Tod  allen  seinen  Bestrebungen 
ein  Ziel. 

Nachdem  die  politischen  Parteien  der 
Lassalleaner  und  Marxisten  auf  dem  Kon- 
gress  in  Gotha  ihre  Einigung  vollzogen 
hatten,  versuchte  man  auch  (üe  beiderseitigen 
Gewerkschaften  zu  verschmelzen,  und  eine 
im  Anschluss  an  den  Kongress  am  29.  Mai 
1875  in  Gotha  abgehaltene  Gewerk- 
schaftskonferenz erklärte  diese  "Ver- 
schmelzung fiir  Pflicht  aUer  Organisationen. 
Man  forderte  allerdings  Ausschluss  der 
Politik  aus  den  Gewerkschaften,  empfahl 
aber  den  Anschluss  der  Mitglieder  an  die 
Sozialdemokratie.  Eine  eingesetzte  Kom- 
mission sollte  einen  allgemeinen  Gewerk- 
schaftskongress  vorbereiten. 

Alle  diese  Bestrebungen  fielen  aber  dem 
am  21.  Oktober  1878  erlassenen  Sozia- 
listengesetze zum  Opfer.  Bekanntlich 
soUte  dasselbe  nicht  einmal  die  sozialdemo- 
kratischen Bestrebungen  als  solche  treffen, 
sondern  nur  soweit,  wie  sie  »auf  den  Um- 
sturz der  bestehenden  Staats-  und  Gesell- 
schaftsordnung gerichtet«  waren,  und  noch 
weniger  konnte  das  Gesetz  nach  seinem 
Wortlaute  und  seiner  Begriindung  Anwen- 
dung finden  auf  Vereinigungen,  die  gnmd- 
sätzhch  auf  dem  Boden  der  heutigen  Wirt- 
schaftsordnung standen,  selbst  wenn  mau 
den  statutenmässigen  Ausschluss  der  Politik 
nicht  als  ernstlich  gemeint  gelten  lassen 
wollte.  Aber  obgleich  bei  der  Beratung  des 
Gesetzes  in  dieser  Richtung  seitens  der  Re- 
gierungsvertreter die  bündigsten  Ver- 
sprechungen gegeben  waren,  so  wurde  doch 
das  Gesetz,  sobald  es  erlassen  war,  wie  ein 
eiserner  Besen  behandelt,  mit  dem  man 
nicht  allein  alles  ausfegte,  was  zu  der  So- 
zialdemokratie nur  in  der  allerentferntesten 
Beziehung  stand,  sondern  sogar  Bestrebungen 
traf,  die  sich  zu  ihr  in  dem  zweifellosesten 
Gegensatze  befanden,  sobald  sie  nur  die 
Förderung  der  Arbeiterinteressen  bezweck- 
ten. Als  Beispiele  braucht  nui*  an  das  Ver- 
bot von  Schäifles  »Quintessenz  des  Sozialis- 
mus« imd  die  unten  noch  zu  erwähnende 
Auflösung  des  Buchdruckerverbandes  er- 
innert zu  werden.  So  wurden  auch  von 
den  bestehenden  gewerkschaftlichen  Organi- 
sationen die  meisten  polizeilich  unterdrückt^ 
und  die  übrigen  lösten  sich  grösstenteils 
freiwillig  auf,  weil  sie  bei  der  eingerissenen 
Verfolgungswut  doch  keine  weitere  Thätig- 
keit  für  möglich  hielten. 


Schien  so  jede  Organisation  der  Arbeiter 
zerstört,  so  lernten  diese  doch  bald,  sich  selbst 
einem  solchen  ünterdrückungssystem  anzu- 
passen. Zunächst  hatten  sich  immerhin 
einige  gewerkschaftliche  Fachblätter  aus  der 
hereingebrochenen  Sintflut  gerettet,  indem 
sie  ängstlich  jede  Erörterung  nicht  rein 
fachlicher  Fragen  vermieden.  Aehnlich 
ging  es  mit  einer  Anzahl  örtlicher  Fach- 
vereine, die  schon  seit  längerer  Zeit  bestan- 
den und  neben  den  oben  erwähnten  Gentra- 
lisationsbestrebungen  keine  rechte  Beachtung 
gefunden  hatten,  jetzt  aber  die  günstigste 
Form  boten,  die  gegenseitige  Fühlung  unter 
den  Arbeitern  aufrecht  zu  erhalten,  weil  sie 
durch  das  Verbindungsverbot  der  Vereins- 
gesetze nicht  berührt  wurden.  Man  rief 
deshalb  solche  örtliche  Vereine  jetzt  vielfach 
ins  Leben,  und  obgleich  auch  sie  häufig  genug 
unterdrückt  wurden,  so  bildeten  sie  doch 
einen  wertvollen  Krystallisationspunkt  für 
die  Arbeiterorganisation  auf  gewerkschaft- 
lichem wie  selbst  auf  politischem  Gebiete. 

Ein  gewisser  Umschwung  wurde  ange- 
bahnt durch  die  1880  von  Stock  er  und 
Henrici  ins  Leben  gerufene  »Berliner 
Bewegung«  und  die  Gründung  der 
»christlich-sozialen  Partei«,  der  man 
anfangs  in  Regierungskreisen  nicht  unsym- 
pathisch gegenüberstand,  so  dass  man  die 
Handhabung  der  Versammlungspolizei  etwas 
lockerte.  In  Verbindung  hiermit  steht  das 
Auftreten  des  Vergolders  Ewald,  der  An- 
fang 1882  mit  dem  Vorschlage  hervortrat, 
die  Berliner  Arbeiter  möchten  an  den  Fürsten 
Bismarck  und  den  Reichstag  eine  Petition 
senden,  in  der  sie  ihre  Wünsche  und 
Beschwerden  in  loyaler  Weise  zum  Aus- 
druck brächten.  In  der  That  wurde  in  einer 
am  31.  März  1882  abgehaltenen  Versamm- 
lung, an  der  sich  von  den  bestehenden  28 
Fachvereinen  9  beteiligten,  zur  Ausarbeitung 
des  Petition  sent  wurf es  ein  »General- 
komitee der  Berliner  Gewerkschaf- 
ten« eingesetzt,  in  welches  neben  7  Mit- 
gliedern der  Fachvereine  auch  2  christlich- 
soziale Vertreter  gewählt  wurden.  Bald 
freilich  ging  man  seitens  der  Polizei  auch 
gegen  Ewald  und  das  Generalkomitee  mit 
Strafen  und  Auflösung  vor,  aber  immerhin 
hat  die  Bewegung  zu  einer  lebhaften  An- 
regung des  Interesses  gefülirt  und  ein  An- 
wachsen der  Fachvereine  bis  Ende  1882  von 
18  auf  50  zur  Folge  geliabt. 

Auch  mit  Abhaltung  von  Fachkongressen 
wagte  man  sich  allmählich  wieder  hervor. 
Den  Anfang  machten  solche  Organisationen, 
die  zu  der  Sozialdemokratie  in  ausgesproche- 
nem Gegensatze  standen,  wie  die  Buch- 
drucker; dann  kamen  andere,  die  sich 
einigermassen  neutral  gehalten  hatten,  wie 
die  Hutmacher  und  Bildhauer.  Endlich 
folgte  mit  dem  Tischlerkongresse  Weihnach- 


654 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


ten  1883  unter  dem  Vorsitze  von  Kloss  eine 
Arbeiterschaft,  in  der  unzweifelhaft  sozial- 
demokratische Anschauungen  vertreten 
waren ;  1884  thaten  dann  die  Zimmerer, .  die 
Manufaktiutirbeiter,  die  Schneider,  die  Stein- 
metzen, die  Schuhmacher  und  die  Tabak- 
arbeiter den  gleichen  Schritt.  Selbstver- 
ständlich beschränkte  man  sich  streng  auf 
die  Erörtenmg  von  Schlichen  Interessen: 
Arbeitslosenunterstützung,  Reisegeld,  Eiechts- 
schutz,  Stellenvermittelung  u.  s.  w.  Am 
schwierigsten  war  die  Behandlung  der 
Strikefrs^e.  Ganz  sicher  hat  sie  mit  der 
Politik  oder  gar  mit  Umsturzbestrebungen 
nichts  zu  thun,  aber  da  der  Strike  ftir  die 
Arbeitgeber  eine  besonders  unangenehme 
Sache  ist  und  das  damalige  Regierungssystera 
deren  Interessen  mit  denen  des  Staates 
identifizierte,  so  brachte  der  berühmte 
Puttkamersche  Strikeerlass  vom  11. 
April  1886  das  Kunststück  fertig,  auch  den 
Strike  unter  die  revolutionären  Bestrebungen 
zu  stellen,  die  nach  dem  Sozialistengesetze 
zu  behandeln  seien. 

Um  sich,  so  gut  es  gehen  wollte,  gegen 
iesö  Praxis  zu  schützen,  ging  man  seitens 
der  Arbeiterschaft  dazu  über,  die  Beratung 
don  Strikes  aus  der  Thätigkeit  der  organi- 
vierten  Vereine  ganz  auszuscliliessen  und 
sie  in  allgemeine  Versammlungen  zu  ver- 
segen,  zu  denen  alle  Mitglieder  des  betref- 
lenden  Gewerl)es  eingeladen  wurden.  In 
diesen  wurden  die  massgebenden  Beschlüsse 
gefasstund  Strike-  oder  Kontrollkom- 
missionen gewählt;  obgleich  deren  Auf- 
gabe eigentlich  auf  den  einzelnen  Strike  be- 
schränkt war,  so  behielten  sie  doch  ihre 
Funktionen  in  der  Form  einer  allgemeinen 
Leitung  häufig  auch  nach  dessen  Erledigimg 
bei,  indem  sie  von  Zeit  zu  Zeit  Vei^amm- 
lungen  einberiefen  und  mittelst  »Sammel- 
listen« und  »Quittungsmarken«  die  Auf- 
bringung der  Geldmittel  besorgten.  Eine 
ähnliche  Einrichtung  waren  die  Vertrau- 
ensmänner, die  el>enfalls  in  allgemeinen 
Versammlungen  gewählt  wurden  und  zu- 
weilen nur  einen  begrenzten  Auftrag,  öfters 
aber  auch  die  Stellung  einer  allgemeinen 
Leitung  erhielten. 

b)  Die  Entwiokelung  nach  1890.  Als 
mit  dem  1.  Oktober  1890  die  Herrschaft 
des  Sozialistengesetzes  aufhörte,  glaubte 
man  endlich  die  Ausgestaltung  der  Organi- 
sation in  die  Hand  nehmen  zu  können. 
Eine  am  16.  und  17.  November  1890  in 
Berlin  tagende  Gewerkschaftskonfe- 
renz setzte  als  Centralinstanz  die  »Gene- 
ralkommission derGewerkschaf  ten 
Deutschlands«  in  Hamburg  ein  mit 
dem  Auftrage,  ein  Organisationsstatut  aus- 
zuarbeiten und  einem  demnächst  einzube- 
rufenden Kongresse  zur  Beratung  vorzulegen. 
Dieser      erste       Gewerkschaftskon- 


gress  hat  dann  imter  Beteiligung  von  208 
Abgeordneten  als  Vertretern  von  305  519  Mit- 
gliedern vom  14.— 18.  März  1892  in  Hal- 
ber Stadt  stattgefunden  und  ist  als  Beginn 
einer  neuen  Entwickelungsperiode  in  der 
deutschen  Gewerkscliaftsbewegung  zu  be- 
trachten. 

Aus  dem  von  der  Generalkommission  für  die 
Zeit  vom  17.  November  1890  bis  1.  März  1892 
erstatteten  Berichte  ist  folgendes  zn  erwähnen. 
Die  Kommission,  deren  Vorsitzender  der  Keichs- 
tagsab^eordnete  Legien  ist,  hat  ihre  erste  Auf- 
gabe in  der  Anbahnung  einer  umfassenden 
Statistik  gesehen,  deren  Ergebnisse  unten  zu 
erwähnen  sein  werden.  Eine  Strikestatistik  ist 
an  dem  mangelnden  Entgegenkommen  der 
Vereine  gescheitert.  Die  Kommission  bat  die 
ausgebrochenen  Abwehrstrikes  unterstützt  und 
für  31  solcher  Stiikes  184  396  Mark  ausgegeben. 
Nach  dem  Beschlüsse  der  Konferenz  sollten 
diese  Ausgaben  von  sämtlichen  Gewerkschaften 
nach  dem  Verhältnisse  der  Mitgliederzahl  auf- 
gebracht werden,  aber  da  die  ausgeschriebenen 
Seiträge  nicht  in  ausreichendem  Masse  ein- 
gingen, so  hat  sich  die  Kommission  genötigt 
gesehen,  ein  Anlehen  von  106  950  Mark  aufzu- 
nehmen. Da  sich  die  Ansicht  geltend  machte, 
dass  die  Kommission  bei  Unterstützung  von 
Strikes  zu  freigebig  sei,  so  sind  auf  einer  am 
7.  8.  September  1891  in  Halberstadt  abgehaltenen 
Zusammenkunft  von  Gewerkschafts- 
vertretern hierfür  bestimmte  einschränkende 
Grundsätze  aufgestellt.  Andere  Mittel  hat  man 
durch  die  Sammlungen  zu  dem  „Maifonds'' 
zu  gewinnen  gesucht,  indem  man  für  die  Feier 
des  von  dem  internationalen  Arbeiterkongress 
in  Paris  1889  beschlossenen  und  auf  den  1 .  Mai 
festgesetzten  Weltfeiertages  gewisse  Abzeichen 
verkaufte,  doch  ist  auch  hier  der  Erfolg  nicht 
befriedigend  gewesen  und  hat  nicht  einmal  aus- 
gereicht, um  das  erwähnte  Anlehen  zurückzu- 
zahlen. In  dem  „Correspondenzblatte 
der  Generalkommission  der  Gewerk- 
schaften Deutschland s"*  hat  sich  die 
Kommission  ein  eigenes  Organ  ereschaffen,  das 
wöchentlich  ausgegeben  und  an  die  Vertrauens- 
leute der  Gewerkschaften  und  die  Redaktionen 
der  Arbeiterzeitungen  unentgeltlich  geliefert 
wird.  Die  Auflage  hat  sich  von  400  auf  7600 
gehoben. 

Bei  den  Verhandlungen  des  Gewerkschafts- 
kongresses lag  naturgemäss  der  Schwerpunkt 
in  der  Frage  der  Organisation.  Diese  war 
scheinbar  eine  Angelegenheit  von  rein  prak- 
tischer Bedeutung,  in  Wahrheit  dagegen  be- 
rührte sie  die  principielle  Grundlage  der  ganzen 
Arbeiterbewegung.  Nach  der  bekannten,  erst 
mit  dem  1.  Januar  1900  in  Wegfall  gekommenen 
Bestimmung  der  meisten  deutschen  Vereinsffe- 
setze  war  es  Vereinen,  die  sich  mit  Politik  be- 
schäftigen, verboten,  mit  einander  in  Verbindung 
zn  treten.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  der 
gewerkschaftliche  Zweck,  die  Verteidi^^ung  der 
Arbeiterinteressen  gegenüber  den  Arbeitgeoem, 
sich  von  örtlich  begrenzten  Vereinen  nur  sehr 
unvollkommen  erreichen  lässt,  vielmehr  eine 
möglichst  umfassende  Centralisation  erfordert. 
Sah  man  also  wirklich  diesen  Zweck  als  den 
wesentlichen  an,  so  musste  man  ihm  zu  Liebe 
auf  die  politische  Bethätigung  verzichten.   Hielt 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


655 


man  dagegen  umgekehrt  die  letztere  für  das 
Wichtigere,  so  musste  man  sich  mit  lokalen 
Organisationen  begnügen.  Offenbar  berührt 
diese  Entscheidung  auf  das  engste  die  prin- 
cipielle  Stellung  gegenüber  der  bestehenden 
Wirtschaftsordnung.  Wer  der  Ansicht  ist,  dass 
unter  deren  Herrschaft  keine  wesentliche 
Besserung  der  Lage  der  Arbeiterklasse  zu  er- 
zielen ist,  muss  ihre  Beseitigung  für  die  Haupt- 
sache halten  und,  da  diese  nur  auf  politischem 
Wege  zu  erzielen  ist,  auf  die  Centralorganisa- 
tion  verzichten.  Wer  dies  nicht  will,  sondern 
im  Gegenteil  die  politische  Beschäftigung  preis- 
giebt,  kann  vernünftigerweise  den  bezeichneten 
Ausgangspunkt  nicht  anerkennen.  Hiemach  ist 
es  onne  weiteres  einleuchtend,  dass  der  Kampf 
zwischen  centraler  und  lokaler  Organi- 
sation, wie  er  sich  auf  dem  Kongresse  ab- 
spielte, in  Wahrheit  den  Gegensatz  m  den 
Grundanschauungen  darstellt.  Dem  entspricht 
es  denn  auch,  dass  nicht  allein  die  Vertreter 
der  Lokalorganisation  ihren  Gegnern  in  erster 
Linie  den  Vorwurf  machten,  dass  sie  das  sozial- 
demokratische Princip  verleugneten,  sondern 
dass  auch  die  politische  Sozialdemokratie  den 
Bestrebungen  der  die  Mehrheit  bildenden  An- 
hänger der  Centralisation  mit  offen  ausge- 
sprochenem Misstrauen  gegenüberstand.  Als 
der  Kongress  sich  mit  bedeutender  Mehrheit 
für  die  Centralisation  entschied,  verliessen  die 
Vertreter  der  Lokalorganisation  unter  Protest 
die  Versammlung. 

Aber  auch  unter  den  Vertretern  der 
Centralisation  gab  es  noch  einen  Gegensatz,  der 
neben  seiner  praktischen  zugleich  eine  prin- 
cipielle  Bedeutung  hatte,  nämlich  zwischen  dem 
System  der  Branchenorganisation  und 
dem  der  Industrieverbände.  Bei  den 
letzteren  bilden  nicht  die  Einzelberufe,  z.  B. 
Tischler,  Zimmerer,  Drechsler,  Stellmacher,  ge- 
sonderte Organisationen,  sondern  sie  werden  zu 
gemeinsamen  Verbänden  z.  B.  der  Holzarbeiter 
zusammengefasst.  Die  Generalkommission  hatte 
sich  für  die  ßranchenorganisation  entschieden 
und  einen  entsprechenden  Entwurf  ausgearbeitet. 
Als  Gründe  wurden  neben  dem  Umstände,  dass 
die  damit  verknüpfte  Verminderung  der  Fach- 
blätter von  58  auf  etwa  12—15  eine  erhebliche 
Kostenersparnis     bedeuten    würde,     besonders 

fettend  gemacht,  dass  das  Zusammengehörig- 
eitsgefühl  in  den  Einzelberufen  viel  stärker 
entwickelt  sei,  ja  dass  zwischen  diesen,  selbst 
wenn  sie  demselben  Industriezweige  angehörten, 

gar  nicht  selten  erhebliche  Gegensätze  beständen, 
ie  Anhänger  der  gegnerischen  Anschauung 
konnten  diese  Thatsache  als  solche  nicht  be- 
streiten, bezeichneten  sie  aber  als  „Kastengeist" 
und  „Berufsdünkel",  den  man  aus  principiellen 
Gründen  bekämpfen  müsse. 

Die  Generalkommission  wollte  übrigens  die 
Berufsverbände  derselben  Industrie  ebenfalls  zu 
einer  höheren  Einheit  zusammenfassen,  nämlich 
zu  den  sogenannten  „Unionen",  aber  diese 
unterscheiden  sich  dadurch  von  den  Industrie- 
verbänden, dass  bei  ihnen  die  einzelnen  zu- 
nächst zu  selbständigen  Berufsgruppen  ver- 
einigt werden  und  erst  diese  zu  der  Union  zu- 
sammentreten,  während  der  Industrieverband 
jene  Zwischenstufe  ganz  fallen  lässt.  Bei  ihnen 
sind  Mitglieder  die  einzelnen  Personen,  bei  den 
Unionen  dagegen  die  Berufsgruppen.    Offenbar 


bedeutet  der  Industrieverband  eine  straffere 
Zusammenfassung  und  deshalb  eine  grössere 
Kräftekoncentration ,  setzt  aber  zugleich  eine 
höhere  Stufe  des  SolidaritätsgefühlB  voraus  und 
tritt  dem  „Kastengeist  und  Beruf sdtinkel" 
noch  entschiedener  entgegen  als  die  Branchen- 
organisation. 

Endlich  wurde  eine  noch  losere  Form  der 
Verbindung  der  Berufsgriippen  vorgeschlagen, 
bei  welcher  diese  nicht  zu  festen  Verbänden  zu- 
sammengefasst, sondern  nur  durch  gegenseitige 
Kartellverträge  mit  einander  in  Beziehung 
gesetzt  wurden. 

Der  Kongress  entschied  sich  mit  148  ^egen 
37  Stimmen  für  das  System  der  Industnever- 
bände,  erkannte  dasselbe  aber  nur  als  das  an- 
zustrebende Ziel  an,  dessen  Verwirklichung 
überall  da  zu  versuchen  ist,  wo  die  Verhältnisse 
es  zulassen,  beschränkt«  sich  aber  im  übrigen 
auf  die  Empfehlung  der  blossen  Kartellverträge, 
indem  er  die  Fra^e,  ob  die  spätere  Vereinigung 
der  Berufsorganisationen  zu  Unionen  oder 
Industrieverbänden  stattzufinden  habe,  der 
weiteren  Entwickelung  vorbehielt.  Wo  der 
Bildung  von  Centralverbänden  gesetzliche 
Hindernisse  entgegenstehen,  soll  die  Centrali- 
sation auf  dem  Wege  des  Vertrauensmänner- 
systems stattfinden. 

Die  Generalkommission  wurde  als 
ständige  Einrichtung  beibehalten,  aber  erst 
nach  hartnäckigen  Kämpfen  und  unter  mehr- 
facher Einschräuknng  ihrer  Befugnisse,  insbe- 
sondere wurde  ihr  die  Unterstützung  von  Strikes 
entzogen  und  diese  vielmehr  den  einzelnen 
Centralverbänden  übertragen.  Aufgaben  der 
Kommission,  die  aus  7  Mitgliedern  besteht,  sind : 
1.  die  Betreibung  der  Agitation,  2.  die  Führung 
einer  einheitlichen  Gewerkschaftsstatistik,  3.  die 
Anbahnung  einer  Strikestatistik,  4.  die  Heraus- 
gabe eines  Blattes,  welches  insbesondere  die 
Beziehungen  der  Gewerkschaften  unter  ein- 
ander unterhalten  soll,  5.  die  Bekämpfung  und 
Unterhaltung  internationaler  Beziehungen.  Die 
Centralverbände  haben  für  jedes  Mitglied  viertel- 
jährlich 5  Pfennig  an  die  Kommission  abzu- 
fahren. Diese  hat  unter  Zustimmung  der 
Mehrheit  der  Centralverbände  die  Gewerkschafts- 
kongresse zu  berufen. 

Als  Gegenstand  der  Kartellver- 
träge wurde  empfohlen:  1.  die  Unterstützung 
bei  Ausständen  und  Aussperrungen,  2.  die 
Unterstützung  reisender  Mitglieder,  3.  die  Be- 
treibung der  Agitation,  4.  die  Veranstaltung 
statistischer  Erhebungen,  5.  die  Centralisierung 
von  Herberten  und  Arbeitsnachweisen,  6.  die 
Schaffung  eines  gemeinsamen  Organes,  7.  die 
Erleichterung  des  Uebertrittes  von  einer  Or- 
ganisation in  die  andere. 

Die  bisher  schon  übliche  Einrichtung  der 
Kontrollmarken  d.  h.  eines  an  den  Fabri- 
katen angebrachten  Zeichens  dafür,  dass  der 
Fabrikant  in  seinem  Betriebe  die  von  den  Ge- 
werkschaften geforderten  Arbeitsbedingungen 
eingeftUirt  hat,  ohne  welches  die  Arbeiter  die 
Waren  nicht  kaufen  sollen,  wurde  allgemein 
empfohlen.  Die  Beseitigung  der  Akkord- 
arbeit wurde  einstimmig  j^efordert. 

Hinsichtlich  der  weiblichen  Arbeiter, 
von  denen  eine  Vertreterin  in  die  General- 
kommission aufgenommen  wurde,  empfahl  man, 
von  Bildung  besonderer  Organisationen  abzu- 


656 


Gewerkvereiae  (Deutschland) 


sehen  und  die  Franen  als  gleichherechtigfte 
Mitglieder  in  die  bestehenden  Gewerkschaften 
aufzunehmen.  — 

Hatte  schon  auf  dem  Kongresse  der  Gegen- 
satz der  Grundanschauungen  insofern  die  Haupt- 
rolle gespielt,  als  es  sich  darum  handelte,  ob 
man  den  Schwerpunkt  in  die  gewerkschaftlichen 
oder  in  die  politischen  Ziele  zu  legen  habe,  so 
verschärfte  sich  dies  in  den  nächsten  Jahren 
noch  ganz  erheblich  und  führte  zu  sehr  ge- 
reizten Auseinandersetzungen  zwischen  der 
Generalkonimission  und  dem  Parteivorstande, 
die  in  einem  Briefwechsel  zwischen  Legien  und 
Auer  ihren  Ausdruck  fanden.  Seitens  des 
ParteivoTstandes  beschuldigte  man  die  General- 
kommission,  dass  sie  die  Gewerkschaften  in 
eine  Rivalitätsstellung  zu  der  Partei  drängen 
und  dadurch  eine  Spaltung  der  Arbeiterschaft 
herbeiführen  wolle.  Man  sprach  von  „dunkeln 
Plänen",  die  in  Hamburg  verfolgt  würden,  und 
brachte  in  der  That  eine  solche  Aufregung  zu- 
stande, dass  unter  dem  Drucke  des  erregten 
Argwohns  die  Anfrage  der  Generalkommission 
wegen  eines  1895  abzuhaltenden  Kongresses  von 
der  Mehrzal  der  Centralverbände  ablehnend  be- 
antwortet wurde,  obgleich  man  doch  eine  solche 
Wiederholung  in  Halberstadt  ausdrücklich  be- 
schlossen hatte.  Auch  auf  dem  1895  in  Köln 
abgehaltenen  sozialdemokratischen  Parteitage 
wurde  über  Legien  und  seine  Mitschuldigen, 
die  es  wagten,  auch  ausserhalb  des  allein  selig 
machenden  Parteidogmas  Heil  zu  erhoffen,  ein 
strenges  Gericht  gehalten. 

Im  folgenden  Jahre  hatten  sich  dann  die 
Gemüter  soweit  beruhigt,  dass  vom  4. — 8.  Mai 
1606  der  zweite  Gewerkschaf  tskongress 
in  Berlin  abgehalten  werden  konnte.  Auf 
demselben  waren  48  Centralverbände  und  6 
Lokalorganisationen,  sowie  11  Zweigvereine  der 
Tabakaroeiter  mit  insgesamt  271 141  Mitgliedern 
durch  139  Abgeordnete  vertreten.  Naturgemäss 
machte  sich  hier  der  Wellenschlag  des  voran- 
gegangenen Sturmes  noch  lebhaft  bemerkbar, 
und  wenn  der  Schwerpunkt  des  ersten  Kongresses 
in  der  Organisationsirage  gelegen  hatte,  so  lag 
er  bei  dem  zweiten  in  der  Erörterung  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Gewerkschaft  und  Partei, 
die  zu  scharfen  Auseinandersetzungen  führte. 
Während  die  Opposition,  die  hauptsächlich  von 
den  Metallarbeitern  geführt  wurde,  der  Gene- 
ralkommission  den  Vorwurf  machte,  dass  sie  ein 
Gegengewicht  gegen  den  Parteivorstand  bilden 
wolle,  und  einfach  ihre  Aufhebung  und  die 
Ersetzung  durch  einen  blossen  Generalsekretär 
oder  einen  aus  den  Vorsitzenden  der  einzelnen 
Centralverbände  bestehenden  Gewerkschaftsbund 
forderte,  traten  umgekehrt  die  Maler,  die  Gold- 
arbeiter und  insbesondere  die  Buchdnicker  nicht 
allein  warm  für  die  Generalkommission  ein, 
sondern  wehrten  sich  in  scharfen  Ausdrücken 
dagegen,  dass  „die  Gewerkschaften  zum  politi- 
schen Hausknecht  degradiert"  würden  und  er- 
klärten: „Wir  Gewerkschaften  dürfen*  nicht 
unter  die  Botmässigkeit  der  Partei  kommen; 
\^ir  sind  ein  souveränes  Volk  und  brauchen 
keinen  Rat  und  keine  Bevormundung  von  anderen 
Seiten."  Das  Ergebnis  des  zweitägigen 
Kampfes  war,  dass,  nachdem  zunächst  die  Not- 
wendigkeit einer  Gesamtvertretung  der  Ge- 
werkschaften mit  133  gegen  5  Stimmen  aner- 
kannt war,  der  Antrag,  dieselbe  einem  Gewerk- 


schaftsausschusse zu  übertrafen,  mit  Stimmen- 
gleichheit abgelehnt  und  endlich  die  Beibehal- 
tung der  Generalkommission  beschlossen  wurde, 
dagegen  wurde  deren  Mitgliederzahl  von  7  auf 
ö  herabgesetzt  und  ihr  ein  Ausschuss  aus 
Vertretern  der  Centralverbände  zur  Seite  ^- 
stellt.  Der  Beitrag  wurde  von  6  auf  3  Pfennige 
ermässi^t.  Der  Autrag  der  Generalkommission 
auf  Errichtung  eines  gemeinsamen  Strikefonds 
wurde  mit  104  gegen  18  Stimmen  abgelehnt. 
Die  Gewerkschaftskongresse  sollen  alle  3  Jahre 
stattfinden;  zu  ihnen  haben  die  einzelnen  Ge- 
werkschatten auf  je  3000  Mitglieder  einen  Ver- 
treter zu  wählen. 

Auch  die  Frage  der  Arbeitslosenunter- 
stützung führte  zu  lebhaften  Auseinander- 
setzungen, indem  man  sie  als  eine  kapitalistische, 
dem  Klassencharakter  der  modernen  Arbeiterbe- 
wegung zuwiderlaufende  Einrichtung  bekämpfte 
und  behauptete,  dass  sie  die  Arbeiter  von  dem  ziele 
der  endgiitigen  Befreiung  der  Arbeiterklasse 
ablenke.  Trotzdem  wurde  aber  mit  grosser 
Mehrheit  eine  Resolution  angenommen,  die  den 
Gewerkschaften  die  Einführung  überall  da 
empfiehlt,  wo  sich  keine  Schwierigkeiten  er- 
geben. 

Hinsichtlich  der  Arbeits vermittelung 
wurde  die  Uebertragnng  auf  die  Gemeinden 
gegen  wenige  Stimmen  abgelehnt  und  der 
Arbeitsnachweis  ausschliesslich  für  die  Gewerk- 
schaften in  Anspruch  genommen,  wobei  der 
Staat  oder  die  Gemeinden  die  erforderlichen 
Geldmittel  zur  Verfügung  zu  stellen  haben. 

Aus  den  Mitteilungen  der  Generalkom mission 
ist  noch  zu  erwähnen,  dass  dieselbe  auch  die 
internationalen  Beziehungen  gepflegt 
und  mit  der  Gewerkschaftskommission  in  Oester- 
reich,  dem  Schweizerischen  Gewerkschaftsbunde, 
der  Fed^ration  des  bourses  du  travail  in  Paris 
und  den  Syndicats  et  groupes  corporatifs  de 
France  in  Troyes,  mit  dem  Board  of  trade  und 
dem  Trade  unions  con^ress  parliamentary 
committee  in  England  sowie  mit  der  American 
federation  of  labor  Verbindungen  angeknüpft 
und  Nachrichten  ausgetauscht  hat.  — 

Auch  der  vom  8.— 13.  Mai  1899  in  Frank- 
furt a.  M.  abgehaltene  dritte  Gewerk- 
schaf tskongress.  auf  dem  130  Abgeordnete 
495 138  Mitglieder  vertraten,  hatte  es  vorwiegend 
mit  Fragen  von  principieUer  Bedeutung  zu  Üiun. 
Dies  war  schon  dadurch  gegeben,  dass  der 
Kongress  Stellung  zu  nehmen  hatte  zu  den 
unten  noch  näher  zu  erörternden,  innerhalb  des 
Buchdruckerverbandes  ausgebrocheuen 
Streitigkeiten,  bei  denen  es  sich  im  wesentlichen 
um  den  Gegensatz  der  gewerkschaftlichen  und 
der  sozialdemokratischen  Richtung  handelte,  der 
in  dem  persönlichen  Gegensatze  zwischen  Gasch 
bezw.  der  von  ihm  begründeten  Buchdrucker- 
gewerkschaft und  dem  Verbände  zum  Ausdruck 
kam.  Um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  muss 
hier  auf  die  spätere  Darstellung  verwiesen 
werden.  Der  Kongress  stellte  sich  mit  grosser 
Mehrheit  auf  die  Seite  des  Verbandes,  indem  er 
mit  96  gegen  26  Stimmen  ihn  als  die  allein  be- 
rechtigte Vertretung  der  Buchdrucker  aner- 
kannte und  das  Mandat  PoUenders,  des  Abge- 
sandten der  Buchdruckergewerkschaft,  für  un- 
giltig  erklärte. 

Aber  hatte  man  bei  diesem  Beschlüsse 
immerhin     den     eigentlichen    Kernpunkt    des 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


657 


Streites,  nämlich  die  ^undsätzliche  Auffassung 
des  Verhältnisses  zwischen  Arbeiter  und  Ar- 
beitgeber dadurch  umgehen  können,  dass  man 
sich  auf  den  mehr  formalen  Gesichtspunkt 
stützte,  jede  Organisation  habe  nach  eigenem 
Ermessen  ihre  Angelegenheiten  zu  bestimmen, 
wobei  die  Mehrheit  sich  der  Minderheit  zu 
fügen  habe,  so  war  dies  bei  dem  folgenden 
und  wichtigsten  Punkte  der  Tagesordnung: 
„Tarife  und  Tarif gemeinschafteh" 
nicht  möglich,  denn  hier  blieb  keine  Wahl,  als 
entweder  das  alte  sozialdemokratische  Dogma 
von  dem  unversöhnlichen  Gegensatze  der  Inte- 
ressen beider  Klassen  aufrecht  zu  erhalten  — 
dann  musste  man  Tarif gemeinschaften  als  einen 
inneren  Widerspruch  verwerfen,  oder  sie  zu 
billigen  —  dann  Hess  man  jenen  Standpunkt 
stillschweigend  in  der  Versenkung  verschwinden. 
Es  ist  bezeichnend  für  die  Fortschritte  der  ge- 
sunden Entwickeln ng ,  dass  selbst  Pollender, 
den  man  ids  Diskussionsredner  zugelassen  hatte, 
nicht  die  Tarifgemeinschaft  als  solche,  sondern 
nur  die  näheren  Bedingungen,  unter  denen  die 
Buchdrucker  sie  abgeschlossen  hatten,  bekämpfte 
und  dass  der  Beschluss,  welcher  tarifliche  Ver- 
einbarungen zwischen  Arbeitern  und  Arbeil- 
ffebem  als  Anerkennung  der  Gleichberechtigung 
ror  alle  Berufe  für  erstrebenswert  erklärt,  in 
denen  starke  Organisationen  beider  Teile  vor- 
handen sind  und  die  Gewähr  für  Aufrechterhal- 
tung und  Durchführung  des  Vereinbarten  bieten, 
mit  allen  gegen  vier  Stimmen  Annahme  fand. 

Auch  bei  der  Frage  der  Arbeitsver- 
mittelung trat  der  Fortschritt  gegen  den 
Berliner  Kongress  insofern  offen  zu  Tage,  als 
der  Beferent  Leipart  (Holzarbeiter)  ausdrücklich 
den  dort  gefassten  Beschluss  als  einen  „über- 
triebenen Radikalismus"  bezeichnete  und  die 
angenommene  Besolution  freilich  formell  an 
dem  principiellen  Standpunkte,  dass  der  Arbeits- 
nachweis den  Arbeiterorganisationen  gebühre, 
festhält,  aber  thatsächlich  diese  Forderung  in- 
sofern fallen  lasst,  als  er  nicht  allein  kommunale, 
sondern  auch  gemeinschaftliche  (paritätische) 
Arbeitsnachweise  zulässt  und  nur  gewisse  durch- 
aus berechtigte  Bedingungen  stellt,  die  im 
wesentlichen  nichts  weiteres  als  die  Sicherung 
der  Gleichberechtigung  beider  Teile  verlangen. 
Nicht  einmal  die  berühmte  Strikeklausel  ist 
unter  dieselben  aufgenommen. 

W^eniger  Erfolg  erzielte  die  gemässigte 
Richtung  bei  den  Verhandlungen  über  die 
Schaffung  einer  Centralstelle  für  Ar- 
beiterversicherun^  und  Arbeiter- 
schatz. Die  Frage,  ob  die  Beschäftigung  mit 
dieser  Angelegenheit  den  Gewerkschaften  oder 
der  Partei  gebühre,  hatte  schon  früher  in  An- 
lass  eines  von  Dr.  Quarck  gemachten  Vor- 
schlages, durch  ihre  Behandlung  in  den  Gewerk- 
schaftoversammlungen  das  Interesse  an  diesen 
zu  beleben ,  eine  lebhafte  Auseinandersetzung 
hervorgerufen.  Jetzt  hatte  eine  von  den  Re- 
dakteuren der  Gewerkschaftspresse  am  17.  August 
1898  in  Gotha  abgehaltene  Konferenz  sich  auf 
einen  ähnlichen  Standpunkt  gestellt,  indem  be- 
schlossen war,  bei  dem  Kongresse  zu  beantragen, 
dass  in  Verbindung  mit  der  Generalkommission 
eine  Centralstelle  errichtet  werde,  welche  die 
Arbeiterschutz-  und  Versicherun^sgesetze  in 
gemeinverständlicher  Weise  bearbeiten  und  da- 
durch eine  nutzbringende  Beeinflussung  dieser 


Gesetze  und  ihrer  Handhabung  herbeiführet  so- 
wie die  Wahlen  zu  den  Vertretungskörper- 
schaften organisieren  sollte.  Aber  wie  man  dem 
Quarckschen  Vorschlage  entgegengehalten  hatte, 
dass  er  in  die  Sphäre  der  politischen  Partei 
eingreife,  so  wurde  der  gleiche  Einwand  auch 
jetzt  erhoben  und  in  dem  Antrage  ein  Miss- 
trauensvotum  gegen  die  Reichstagsfraktion  ge- 
funden. Obgleich  auch  hier  von  der  anderen 
Seite,  insbesondere  von  den  Buchdruckern  be- 
tont wurde,  dass  die  Gewerkschaften  „nicht  ein 
Anhängsel  irgend  einer  politischen  Partei,  son- 
dern vollkommen  selbständige  Institutionen'' 
seien,  so  drang  doch  der  Antrag  nicht  durch, 
sondern  man  beschränkte  sich  darauf,  die  Auf- 
klärung der  Arbeiter  über  die  bezeichneten  An- 
gelegenheiten und  die  Beeinflussung  der  be- 
zügkchen  Wahlen  unter  die  Aufgaben  der  Gene- 
ralKommission  aufzunehmen. 

Dagegen  ist  es  als  ein  Erfolg  der  ge- 
mässigten Richtung  anzusehen,  dass  der  Kon- 
gress die  von  den  Gewerkschaftskartellen 
erhobenen  Ansprüche  entschieden  zurückwies. 
Es  sind  dies  örtliche  Organisationen,  in  welche 
alle  am  Orte  vertretenen  Gewerkschaften  je 
nach  ihrer  Stärke  Vertreter  entsenden.  Diese 
Kartelle  hatten  allmählich  eine  erhebliche  Macht 
und  insbesondere  einen  grossen  Einfluss  auf  die 
Behandlung  der  Strikes  erlangt,  indem  sie  die 
Strikegelder  sammelten  und  verteilten.  Diese 
Machtstellung  zei^e  sich  darin,  dass  sie  auf 
dem  Kongresse  eine  besondere  Vertretung^  ge- 
fordert und,  als  diese  von  der  General kommission 
abgelehnt  war,  sogar  mit  Einberufung  eines 
Gegenkongresses  gedroht  hatten.  Nun  handelte 
es  sich  freilich  bei  diesem  Streite  in  erster  Linie 
um  die  Rivalität  zwischen  den  Kartellen  und 
den  Central  verbänden,  denn  die  wachsende  Macht 
der  ersteren  wurde  von  den  letzteren  als  Ein- 

friff  in  ihre  Rechte  empfunden.  Aber  zugleich 
am  dabei  die  Behandlung  der  Strikes  in  Frage, 
denn  die  Kartelle  hatten  schon  häufig  Strikes 
beschlossen  oder  fortgesetzt,  die  von  den  be- 
teiligten Central  verbänden  als  aussichtslos  wider- 
raten waren:  es  entspricht  das  der  Erfahrung, 
dass  Zwistigkeiten  zwischen  Arbeitern  und  Ar- 
beitgebern leichter  beizulegen  sind,  wenn  sie 
auf  die  unmittelbar  Beteiligten  beschränkt  wer- 
den, als  wenn  Gewerbsfremde  sich  einmischen. 
Der  Referent  Päplow  (Maurer)  forderte  durch- 
aus, dass  nicht  innerlich  verlorene  Strikes 
noch  künstlich  aufrecht  erhalten  würden  und 
dass  nicht  stets  der  Klingelbeutel  umher  gehe, 
wollte  vielmehr  einen  Stnke  nur  dann  als  be- 
rechtigt anerkennen,  wenn  die  beteiligte  Or- 
ganisation selbst  die  Mittel  zur  Durchführung 
besitze ;  deshalb  sollte  den  Kartellen  jeder  Ein- 
fluss auf  die  Strikes  entzogen  werden.  In  der 
That  wurde  diese  Auffassung  vom  Kongresse 
gebilligt,  die  Beschlussfassung  über  Strikes  aus- 
schliesslich den  Centralverbänden  übertragen 
und  dagegen  als  Aufgaben  der  Kartelle  die 
Regelung  des  Arbeitsnachweises  und  des  Her- 
bergswesens, die  Pflege  der  Statistik^  die  Er- 
richtung von  Bibliotheken  und  Arbeitersekre- 
tariaten sowie  die  Vertretung  der  Arbeiter- 
interessen gegenüber  den  Behörden  und  bei  den 
Wahlen  zu  aen  Versicherungsorganen  bezeichnet. 
Während  die  englischen  trade  unions  ihre 
grossartige  Entwickelung  zum  grossen  Teile 
ihren  ständig  angestellten  und  gut  bezahlten 


Handworterbnch  der  StaatswiBsenechaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


42 


658 


Qewerkvereine  (Deutschland) 


Beaftiten  verdanken,  hatte  man  bei  den  deutschen 
Gewerkschaften  bisher  nicht  nur  sehr  geringe 
Besoldungen  gewährt,  sondern  auch  die  Posten 
ohne  Hücksicht  auf  persönliche  Befähigung  als 
Versorgung  für  gemassregelte  Parteigenossen 
behandelt.  Obgleich  gegen  das  englische  System 
geltend  gemacht  wurde,  eine  derartige  Stellung 
der  Beamten  führe  dahin,  dass  ihnen  „  das  prole- 
tarische Gefühl  verloren  gehe",  indem  sie  ver- 
leitet würden,  sich  in  bürgerlich-bureaukratischer 
Weise  Über  den  Arbeiterstand  zu  erheben,  wurde 
doch  mit  allen  gegen  vier  Stimmen  beschlossen, 
den  Gewerkschaften  das  englische  Vorbild  zu 
empfehlen. 

Die  bereits  in  Berlin  beschlossene  Befür- 
wortung der  Arbeitslosenunterstützung  wurde 
wiederholt;  ebenso  wurden  die  Arbeitersekre- 
tariate als  eine  nützliche  Einrichtung  anerkannt. 
Die  Stellung  der  Generalkommission 
hatte  sich  inzwischen  soweit  befestigt,  dass 
Angriffe  ^e^en  sie  kaum  mehr  erhoben  wurden ; 
die  Mitgliederzahl  wurde  wieder  von  5  auf  7 
erhöht.  Ebenso  wurde  neben  den  bisherigen 
beiden  noch  ein  dritter  bezahlter  Beamter  an- 
gestellt. Das  „Correspondenzblatt"  wurde  er- 
weitert zu  einem  Organe,  welches  über  alle  die 
Arbeiterbewegung  des  In-  und  Auslandes  be- 
rührenden Angelegenheiten  r^elmässige  Be- 
richte bringen  soll.  Ausserdem  hat  die  Generai- 
kommission  Jahresberichte  herauszugeben  mit 
statistischen  Angaben  über  Zahl  und  Stärke  der 
Organisationen  und  die  stattgehabten  Strikes. 
Die  principielle  Bedeutung  des  Kongresses 
tritt  recht  deutlich  zu  Tage  in  dem  Schluss- 
worte des  Vorsitzenden  Bömelburg.  Er  betonte 
den  ungemeinen  Fortschritt,  den  die  Gewerk- 
schaftsbewegung seit  den  ersten  beiden  Kon- 
fressen  gemacht  habe;  ihre  Macht  und  ebenso 
le  Notwendigkeit  einer  einheitlichen  Spitze 
würde  von  keiner  Seite  mehr  beanstandet,  ja 
die  „dunkeln  Pläne '^j  die  damals  der  General- 
kommission so  heftige  Angriffe  zugezogen  hätten, 
seien  auf  diesem  Kongresse  verwirklicht.  Die 
Gewerkschaften  wollten  hinsichtlich  der  poli- 
tischen und  religiösen  Ueberzeugnngen  keinerlei 
Zwang  ausüben  und  hiessen  konservative,  frei- 
sinnige, ultramontane,  protestantische  und 
atheistische  Mitglieder  in  ihren  Keihen  will- 
kommen. Bisher  sei  allerdings  in  den  gewerk- 
schaftlichen Kreisen  die  Sozialdemokratie  als 
die  beste  Vertreterin  der  arbeitenden  Bevölke- 
rung betrachtet,  und  dies  werde  wohl  auch  für 
die  Folgezeit  so  bleiben ;  deshalb  seien  die  Mit- 
glieder der  Gewerkschaften  zum  grössten  Teile 
Sozialdemokraten.  — 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen, 
dass  die  deutsche  Gewerkscihaftsbewegung 
seit  1890  ausserordentliche  Fortschritte  ge- 
macht hat.  Man  hat  sich  von  vielen  Vor- 
urteilen der  früheren  Zeit  losgesagt  und 
insbesondere  von  der  Macht  der  revolutionäi-en 
Phrase  fi-ei  gemacht,  indem  man  sich  offen 
auf  den  allein  m()glichen  Boden  aller  ge- 
werkschaftlichen Thätigkeit  stellt,  nämlich 
im  Kahmen  der  bestehenden  Verhältnisse 
und  ohne  Rücksicht  auf  doren  principielle 
Borechtigung  oder  Xichtberechtigmig  durch 
Zusammenfassung  der  Kräfte  eine  möglichst 
weitgehende   Besserung   in  der  wirtscliaft- 


lichen  Lage  der  Arbeiterklasse  herbeizu- 
führen. Man  ist  sich  dabei  des  natürlichen 
Gegensatzes  gegen  das  Unternehmertum 
voll  bewusst  geblieben,  hat  aber  anerkannt, 
das  daneben  auch  gemeinsame  Interessen 
bestehen,  zu  deren  Förderung  das  Zusammen- 
wirken mit  den  Arbeitgebern  das  innerlich 
berechtigte  Mittel  ist  Zählen  sich  auch  die 
Mitglieder  der  Gewerkschaften  überwiegend 
zur  sozialdemokratischen  Partei,  was  ihnen 
solange  nicht  zu  verargen  ist,  als  es  keine 
andere  Arbeiterpartei  giebt,  so  ist  doch  die 
Grenze  zwischen  der  gewerkschaftlichen  \md 
der  politischen  Organisation  scharf  gezogen. 
Ein  weiteres  Auseinandergehen  der  beider- 
seitigen Wege  ist  solange  nicht  wahrschein- 
lich, >Äde  auch  die  Sozialdemokratie  ihre 
Zukunftspläne  »in  den  Silberschrank  der 
guten  Stube«  stellt,  das  »Endziel«  nichts 
weiter  sein  lässt  als  einen  schönen  Traum 
und  den  Schwerpunkt  in  die  praktische 
Arbeiterpolitik  verlegt,  insbesondere  aber  so 
lange,  wie  die  herrschende  Sozialpolitik  und 
die  besitzenden  Klassen  auch  ihrerseits  einen 
Unterschied  zwischen  gewerkschaftlichen 
und  sozialdemokratischen  Bestrebungen  nicht 
anerkennen  und  beide  mit  dem  Fanatismus 
des  engherzigen  Klassenegoismus  verfolgen. 
Dagegen  bildet  das  Bestehen  einer  starken 
Gewerkschaftsbewegung  die  sicherste  Ge- 
währ dafür,  dass  die  Sozialdemokratie  die 
bezeichnete  praktische  Richtung  dauernd 
verfolgen  und  allmählich  sich  zu  einer  Par- 
tei entwickeln  wird,  die  freilich  formell 
ihren  Protest  gegen  die  bestehende  Staats- 
und Gesellschaftsordnung  aufrecht  erhält, 
aber  thatsäcldich  sich  mit  ihr  abfindet  und 
immer  weniger  daran  denkt,  ernsthaft  ihre  Be* 
seitigung  anzustreben. 

o)  Statistik.  Die  Statistik  ist,  wie  oben 
mitgeteilt,  eine  der  der  Generalkommission 
überwiesenen  Aufgaben,  aber  erst  in  den 
letzten  Jahren  ist  es  ihr  gelungen,  dieselbe 
einigennassen  den  berechtigten  Ansprüchen 
entsprechend  zu  gestalten.  Dagegen  fehlt 
es  vor  dieser  Zeit  selir  an  einigermassen 
brauchbarem  Material. 

Für  die  Zeit  vor  Erhiss  des  Sozialisten- 
gesetzes ist  die  wertvollste  Quelle  eine  von 
dem  Hamburger  Buchhändler  A.  Geib  im  Jalir© 
1 879  auf  privatem  Wege  veranstaltete  und  in 
Nr.  4  des  »Pionier«  vom  2G.  Januar  1878 
veröffentlichte,  neuerdin^  in  dem  Gonxjspon- 
denzblatte  der  Generalkomraission  Nr.  30 
von  1893  wieder  abgedruckten  Statistik. 
Nacth  ihr  gab  es  damals  27)  Gewerkschaften 
und  5  Lokalorganisationen ,  die  zusamme4i 
49055  Mitglieder  in  1206  Ortsgruppen  um- 
fassten;  18  derselben  mit  22145  Mitgliedern 
halten  einen  Monatsbeitrag  bis  zu  40  Pfeiniig, 
luu"  8  erhoben  GO  Pfennig  oder  darüber. 
Die  Monatseinnahme  betrug  33551  Mark, 
der  monatliche  Ueberschuss  rund  8000  Mai-k, 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


659 


wovon  aber  3538  Mark  allein  auf  die  Bucli- 
dnicker  entfielen.  Es  erschienen  15  Ge- 
werkschaftsblätter mit  37  025  Auflage.  Die 
Anzahl  der  damals  in  den  betreffenden  Be- 
nifen  beschäftigten  Arbeiter  wird  auf 
20000(K)  angegeben,  so  dass  etwa  2^/2 ®/o 
organisiert  waren.  Nur  die  Buchdrucker 
und  die  Schiffszimmerer  eiTeichten  eine 
Beteiligung  von  etwa  50®/o.  Die  absolut 
genommen  stärkste  Organisation  war  die  der 
Tabakarbeiter  mit  81Ü0  Mitgliedern  in  170 
Orten. 

Nach  einer  anderen  Quelle  ^)  zählten  die 
Gewerkschaften  damals  58000  Mitglieder 
in  29  Verbänden  und  1300  Zweigvereinen 
mit  15  Fachblättern. 

Ueber  die  lokalen  Fachvereine  fehlen 
alle  Angaben,  doch  geht  ihre  nicht  geringe 
Bedeutung  daraus  hervor,  dass  auf  dem  von 
York  einberufenen  Erfurter  Gewerkschafts- 
kongress  1872  von  den  insgesamt  ver- 
tretenen 11358  Mitgliedern  der  Marxschen 
Organisation  6152  den  internationalen  Ge- 
werksgenossenschaften,  dagegen  3768  lokalen 
Fachvereinen  und  1438  freien  Yereinigimgen 
angehörten. 

Nach  Zacher^)  soll  die  Anzahl  der  unter 
sozialdemokratischem  Einflüsse  organisierten 
Arbeiter  1886  81 200  1888  89  700  und  1889 
121647  betragen  haben. 


'       Oldenberg  hat  in  seinem  Ai*t.  Gewerk- 
'  vereine  im  L  Ergänzungs-Band  der  I.  Auf- 
I  läge  dieses  Werkes  aus  den  Berichten  der 
Polizeibehörden  Ziffern  mitgeteilt,  die  zum 
■  Teil  von  den  Angaben  der  Generalkommission 
\  abweichen,   und  zwar  meist  höher  sind,   da 
I  sie  auch  die  lokalorganisierten  Arbeiter  um- 
fassen.    Er  berechnet  nach   diesen  beiden 
I  Quellen    folgende  Durchschnittszahlen ,   die 
I  der  üebersicht  wegen  hier   w'iedergegeben 
werden  mögen: 


1885/86 

1887/88 
Frühjahr  1889 
1890 
Ende  1890 
Frühjahr,  1891 
Ende  1891 


100356 
103  330 

135353 
277098 

320213 

277  474 
269  988 


Frühjahr  1892 
März  1892 
Ende  1892 
Frühjahr  1893 
Ende  18^)3 
Frühjahr  1894 
Letztes  Datum 


300815 
279  594 
236516 

242  555 
249  985 
255  622 

273451 


Die  Angaben  der  Generalkommission  sind, 
wie  bereits  erwähnt,  in  den  ersten  Jahren  noch 
sehr  nnsicher,  da  die  Verbände  in  Beantwortnng 
der  Anfragen  sehr  nachlässig  waren,  und  werden 
erst  später  genauer.  Sie  sind  am  einfachsten 
zn  ersehen  aus  den  folp^enden  beiden  Tabellen 
der  Organisation  und  ihrer  Mitglieder  einer- 
seits und  der  Einnahmen  sowie  der  hauptsäch- 
lichsten Ansgabeposten  andererseits. 

Zu  diesen  Ziffern  ist  zu  bemerken,  dass 
in  den  ersten  Jahren  nicht  alle  Organisationen 
Angaben  gemacht  hatten,  nämlich  1891  nur 
Ö5,   1892  nur  52,    1893  nur  50,    1894  nur  46, 


Jahr 

Centralorga- 
nisationen 

Zweigvereine 

Mitglieder 

Darunter 
weibliche 

In  Lokal- 
vereinen 

Zusammen 

1891 

62 

277  659 

1  , 

lOOOO 

287  659 

1892 

56 

3  959 

237094 

4  355 

7640 

244  734 

1893 

51 

4133 

223  530 

5384 

6280 

229810 

1894 

54 

4350 

246  494 

5251 

5550 

252044 

1895 

53 

4819 

259175 

6697 

10  781 

269  956 

1896 

51 

5430 

329230 

15265 

5858 

335088 

1897 

56 

6151 

412359 

14644 

6803 

419  162 

1898 

59 

6756 

491  955 

13009 

15792 

507  747 

1895  nur  49.    Die  Mitgliederzahlen  sind  für  die 
fehlenden  Organisationen  durch  Schätzungen  er- 

fänzt,  dagegen  beziehen  sich  die  Ziffern  für 
iinnahroen  und  Ausgaben  nur  auf  diejenigen 
Verbände,  von  denen  Angaben  gemacht  sind. 
Der  Rückgang  in  der  Mitgliederzahl  von  1891 
auf  1892  um  mehr  als  40000  entfällt  über- 
wiegend auf  .den  Bergarbeiterverband  in  West- 
falen, dessen  Mitgliederbestand  sich  von  45000 
auf  15  300  vermindert  hatte.  Die  Verminderung 
der  Gentralverbände  beruht  auf  der  Ver- 
schmelzung verwandter  Organisationen.  Das- 
selbe ^It  für  1893,  indem  sieh  auf  dem  am 
4.  Apnl  1893  in  Cassel  abgehaltenen  Kongresse 
die  Bürstenmacher,  Drechsler,  Stellmacher  und 
Tischler  zu  dem  deutschen  Holzarbeiterverbande 
vereinigt  hatten.   Die  Verbände  der  Gasarbeiter 

^)  Vgl.  Schmöle:  die  sozialdemokratischen 
Gewerkschaften.    Einleitung  S.  XVI. 
^)  Die  rote  Internationale.    S.  85, 


und  der  Posamentierer  hatten  sich  aufgelöst. 
Der  Centralverein  der  Frauen  und  Mädchen  ist, 
als  lediglich  Bildungszwecken  dienend,  nicht 
mehr  mitgezählt,  die  Bergarbeiter  in  Westfalen 
waren  noch  weiter  auf  11174  zurückgegangen, 
der  Rechtsschutzverein  der  Bergleute  im  Saar- 
gebiete mit  22  400  Mitgliedern  hatte  sich  auf- 
gelöst. Im  Jahre  1894  war  auch  der  sächsische 
Bergarbeiterverband  mit  8821  Mitgliedern  auf- 
gelöst, dagegen  hatten  sich  die  Verbände  der 
Schlachter,  der  süddeutschen  Mühlenarbeiter, 
der  Flösser  und  Binnenschiffer  und  der  Burean- 
angestellten  neu  gebildet.  Die  Steinarbeiter 
sind,  da  sie  keine  Zweigvereine,  sondern  nur 
Vertrauensmänner  in  einzelnen  Orten  besitzen, 
nicht  mehr  mitgezählt.  Im  Jahre  1895  hatten 
sich  die  Verbände  der  Kürschner  und  Plätte- 
rinnen infolge  geringer  Beteiligung  aufgelöst: 
der  Verband  der  Schlachter  ist  als  eingegangen 
betrachtet.  Die  Formenstecher  hatten  sich  den 
Lithographen,  die  Korbmacher  den  Holzarbeitern, 

42* 


660 


Gewerkvereine  (Deuiscliland) 


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die  süddeutschen  Müller  dem  allgemeinen 
Müllerverbande  angeschlossen.  1896  sind  die 
Verbände  der  Werftarbeiter  nnd  der  Gasarbeiter 
neu  gegründet.  Die  Seiler  hatten  sich  dem 
TextiTarbeiterverbande  angeschlossen.  1897  sind 
die  Verbände  der  Gastwirtsgehilfen,  der  Graveure, 
der  Handlungsgehilfen,  der  Handelshilfsarbeiter 
und  der  Seeleute  durch  Zusaramenschluss  von 
Lokalvereiuen  begründet.  1898  hat  sich  der 
Verband  der  Mösser  wieder  aufgelöst.  Die 
Xylographen  haben  sich  lokal  organisiert  und 
sind  deshalb  aus  dem  Verzeichnisse  fortgelassen, 
dagegen  sind  die  BuchdruckereiMlfsarbeiter,  die 
Formenstecher,  die  ihre  Verbindung  mit  den 
Lithographen  gelöst  haben,  und  die  Maschinisten 
und  Heizer  neu  aufgenommen.  Die  Zunahme 
in  der  Zahl  der  Lokalorganisierten  von  1887 
auf  1898  ist  nur  scheinbar,  denn  sie  beruht  nur 
darauf  dass  Vereine  mit  insgesamt  10  070  Mit- 
gliedern, die  früher  nicht  berücksichtigt  waren, 
jetzt  mitgezählt  sind. 

Die  Mitgliederzablen,  sowie  die  Einnahme 
und  Ausgabe  der  einzelnen  Gewerkschaften  er- 
giebt  die  folgende  Tabelle  I,  während  in  Ta- 
belle II  die  Verteilung  der  einzelnen  Ausgabe- 
posten sowie  die  Kassenbestände  zusammenge- 
stellt siMd. 

Aus  diesen  Zahlen  ergiebt  sich,  dass  es 
durchaus  unberechtigt  ist,  die  Gewerkschaften 
als  reine  Strikevereine  darzustellen.  Allerdings 
haben  1898  die  Centralverbände  1073290  Mark 
für  Strikes  ausgegeben,  aber  diese  Summe  ist 
nur  ziemlich  genau  */4  der  Gesamtausgaben, 
insbesondere  stehen  ihr  an  Unterstützungen 
gegenüber 


Rechtsschutz 

Gemassregeltenunterstütznng 

Reiseun  terstützung 

Arbeitslosenunterstützung 

Krankenunterstützung 

Invalidenunterstützung 

Umzugskosten  etc. 


Verbände 

M. 

39 

43378 

30 

39978 

36 

283  267 

17 

275  404 

12 

491634 

3 

795S7 

54 

78419 

1  291  667 


Noch  günstiger  stellt  sich  die  Rechnung, 
wenn  man  den  Unterstützungen  die  Kosten 
für  die  Verbandsorgane  hinzurechnet ;  es  stehen 
dann  den  1073290  M.  für  Strikes  1810616  M. 
auf  der  anderen  Seite  gegenüber.  In  den  acht 
Jahren  1891 — 1898  haben  die  Gewerkschaften 
für  Strikes  4490077  M.,  dagegen  für  Unter- 
stützungen 7981976  M.  und  für  die  Verbands- 
organe 2592918  M.,  zusammen  also  10574894  M. 
verausgabt. 

Die  Beiträge  schwanken  zwischen  6,9  Pf. 
und  1  M.  10  Pf.  wöchentlich.  Sie  betragen  bei 
den  Buchdruckern  1  M.  10  Pf.,  den  Bildhauern 
50  Pf.,  den  Hafenarbeitern  9,2  Pf.,  den  Kupfer- 
schmieden 25 — 30  Pf.,  den  Handschuhmachern 
35  Pf.,  den  Lithographen  20  Pf.,  den  PorzeUan- 
arbeitern  10—35  Pf.,  den  Steinsetzern  10,11  Pf., 
den  Hutmachem  25—45  Pf ,  den  Seeleuten  19  Pf., 
den  Tabakarbeitem  10—20  Pf.,  den  Cigarren- 
sortierern  25—75  Pf.,  den  SchiflFszimmerem  15  Pf., 
den  Werftarbeitern  10  Pf.,  den  Buchbindern 
35  Pf.,  den  Böttchern  11,5  Pf.,  den  Töpfern 
15 -20  Pf.,  den  Maurern  15— 20  Pf.,  den  Brauern 
20  Pf.,  den  Zimmerern  10—30  Pf.,  den  Stucka^ 
teuren  10-20  Pf.,  den  Holzarbeitern  (Verband) 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


661 


Tabelle  I.  Zahl  der  Mitglieder,  Jahreseinnahme  und  Ausgabe  im  Jahre  1898. 


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Name  der  Organisation 


*  Zahl  der  Mitglieder 
der  Organisation 


männl. 


weibl. 


zns. 


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M. 


Pf. 


Jahresaus- 
gabe der 
Organisation 


M. 


Pf. 


1 
2 
3 
4 
o 
6 
7 
8 
9 
10 
11 
12 
13 
14 
15 
16 
17 
18 
19 
20 
21 
22 
23 
24 
25 
26 
27 
28 
29 
30 
31 
32 
33 
34 
35 
36 
37 
38 
39 
40 
41 
42 
43 
44 
45 
46 
47 
48 
49 
50 
51 
52 
53 
54 

00 

56 
57 


Bäcker 

Barbiere 

Bauarbeiter 

Bergarbeiter 

Bildhauer 

Böttcher 

Brauer 

Buchbinder 

Buchdrucker 

Buchdruckereihilfsarbeiter 
Bureauangestelite  .  .  . 
Cigarrensortierer .  .  .  . 
Dachdecker  ...... 

Fabrikarbeiter 

Former 

Fonnenstecher 

Gärtner 

Gastwirtsgehilfen  .  .  . 
Gemeindebetriebsarbeiter  . 

Glasarbeiter 

Glaser 

Gold-  und  Silberarbeiter  . 
Graveure  und  Ciseleure    . 

Hafenarbeiter 

Handelshilfsarbeiter .    .    . 
Handlungsgehilfen    .    .    . 
Handschuhmacher     .    .    . 
Holzarbeiter  (Verband) 
Holzarbeiter  (Hilfsarbeiter) 


2  533 
I  ooo 

7866 

27300 

3572 
4168 

7645 
5270 

24020 

750 
278I 

8501 

I  800 
15  101' 

6I55I 
243 

300 

1328 

I  611 

3566 

I  630 
1  244 

849 

I0037I 

5087, 

255.' 

2998I 

48589 

974 


Hutmacher I  2403 

Konditoren I  432 

Kupferschmiede    .    .    .    .1  3287 

Lagerhalter 312 

Lederarbeiter 4826 

Lithographen 4224 

Maler 8291 

Maschinisten  und  Heizer  .  3  700 

Maurer '  60  175 

Metallarbeiter |  74  160 

Müller i  1048 

Porzellanarbeiter  ....  8  442' 

Sattler  und  Tapezierer     .|  2  275  j 

SchifFszimmerer    .    .     .    .1  i  400- 

Schmiede (2  500I 

Schneider I  9057 

Schuhmacher I  13  727 

Seeleute \  i  921 

Steinarbeiter j  10000 

Steinsetzer I  2  943 

Stukkateure !  2  000 

Tabakarbeiter ;  15  613 

Tapezierer !  2  249 


Textilarbeiter 
Töpfer      .    . 
Vergolder 
Werftarbeiter 
Zimmerer 


27  679 
4891 

984 

2599 

22  104 


1328 

583 
2 

62 
3071 


34 


147 


45 
149 

399 

4 

85 
8 


I  271 

415 
10 


438 
1083 


3000 
1328 


16 


') 


2533 
I  000 

7866 

27  300 

3572 
4168 

7645 
6598 

24020 

1333 
280 

912 

I  800 

18  172 

6155 
243 
300 

1328 

I  611 
3  600 
I  630 

1391 

849 
10037 

5087 
300 

3  147 


49 

116 
? 

93 
99 
96 

66 

960 

II 

4 

25 
90 

176 

108 

15 

9 

13 

14 

65 
67 

17 

24 
40 

33 

15 
42 


48988    496 


978 
2488 

440 

3287 

315 
4826 

4224 

8291 

3700 

60  175 

75431 
I  048 

8857 
2285 

1  400 

2  500 

9  495 


7 

45 
12 

62 

14 

94 

91 

182 

73 
725 

454 

44 

136 
60 

16 

35 
210 


14810'   219 
6 
170 
96 

39 
385 

58 
212 

128 

18 

14 
408 


I  921' 
10  000 

2943 
2000 

18613 
2249 

29007 
4891' 
1  000' 

2599 
22  104 


140 
9 


120 
650 


25 


500 


300 

30 
I  200 
3164 


28264 
2015 

76749 

»)    57840 

92855 

50632 

76308 

95  118 

1  350  242 

*)      2  672 

2  180 

19262 

II  178 

104  989 

54706 

2433 
I  822 

27  605 

7736 
30630 
13  041 

7419 

15244 

17  154 
46063 

4312 

56411 

483  225 

6  120 
t    84287 

4832 
48708 

2092 

60918 

58  325 

75589 
12206 

621  061 

594  983 

9  143 

t  157  260 

18097 

13  626 

19  331 
62  212 

95863 

17033 
')  107  164 

—  18 190 
?      I       12775 

—  t  198972 
80 '         6  669 

000  158858 

200  36  859 

—  6138 
150  16  418 
100  246  804 


50 


3291 
9 


9 
? 

1  500 


I480261I  13481      I493742I6756     I    1750 


5  508  667 


76 
60 

54 
56 
74 
51 
54 
05 
65 
15 
35 
99 

Ol 

21 

95 

44 

44 

37 
82 

86 

24 
23 
41 
61 

75 
81 

32 
45 
35 
42 

77 
04 

72 
70 

63 
98 

45 
47 
27 
79 
12 

94 
97 
59 
76 

95 

74 

31 

85 

55 
6«; 

II 

02 

72 
12 
22 
07 


') 


*) 


') 


26379  17 

I  647  46 

68  049  82 

48  078  — 

87894  45 

40 167  66 

76913  33 

60  153  04 

842  744  48 

I  494  82 

I  688  54 

14840  65 

9  081  42 

73  445  18 

50  343  72 

1  140  67 

I  876  56 

19  209  77 

6  340  60 

29  797  56 

12635  32 

9  208  I  78 

8  032  '  2 1 

16408  I  24 

37  340  I  73 

4  378  92 

33  050  I  92 

409  882  I  03 

4  057  !  59 

75  618  I  47 

36251  78 

38935  16 

1  438 I -41 

44  025  45 

46531  45 

69319'  77 

12  206  I  45 

554  135  '  67 

3799131  86 


9  161 

118  147 

14442 

11798 

13210 


97 
17 
19 
97 
70 


46  072  I  33 


97  375 
13  123 

99304 
20003 

II  899 

187  199 
5910 

131414 

32  195 
8321 

10674 

227  439 


29 
16 

14 
28 

60 

71 
II 

15 
66 

67 
22 

76 


64  I  4  279  726  I   19 


*)  Es  ist  die  Mitgliederzahl  im  Jahresdurchschnitt  und  nicht  am  Ende  des  Jahres  ange- 
geben. ^)  Die  Einnahmen  für  eine  getrennt  gehaltene  Kasse  zur  Krankenunterstützung  sind 
hier  mit  einbezogen,  weil  die  Ausgaben  für  diese  Unterstützung  in  Tabelle  II  und  in  der  Ge- 
samtausgabe angeführt  sind.  •)  Für  11  Monate.  *)  Für  6  Monate.  *)  Nach  Schätzung,  f)  Nur 
Einnahme  der  Centralkasse. 


662 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


Tabelle  H. 


Ausgaben  und  Kassenbestand  der  Greverkschafts- 


1 
2 
3 
4 
5 
6 
7 
8 
9 

10 
11 
12 
13 
14 
15 
16 
17 
18 
19 
•20 
21 
22 
23 
24 
25 
26 
27 
28 
29 
30 
31 
32 
33 
34 
35 
36 
37 
38 
39 
40 
41 
42 
43 
44 
45 
46 
47 
48 
49 
50 
51 
62 
53 
54 
55 
56 
57 


Strike- 
unterstützung 


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M.     I    M. 


Bäcker 
Barbiere 

Bauarbeiter 

Bergarbeiter 

Bild)iauer 

Böttcher 

Brauer 

Buchbinder 

Buchdrucker 

Buehd  ruckerei  hilf  sarheiter 
Bureauangestellte  .  .  . 
Cigarrensortierer  .... 

Dachdecker 

Fabrikarbeiter 

Former 

Formenstecher 

Gärtner 

Gastwirtsgehilfen  .  .  . 
Gemeindebetriebsarbeiter  . 

Glasarbeiter 

Glaser 

Gold-  und  Silberarheit^r  . 
Graveure  und  Oiseleure 

Hafen  arbeit-er 

Handelshilfsarbeiter .  .  . 
Handlungsgehilfen  .  .  . 
Handschuhmacher  .  .  . 
Holzarbeiter  fV^erband).  . 
Holzarbeiter  (Hilfsarbeiter) 

Hutmacher 

Konditoren 

Kupferschmiede    .... 

Lagerhalter 

Lederarbeiter 

Lithographen 

Maler 

Maschinisten  u.  Heizer 

Maurer 

Metallarbeiter 

Müller 

Porzellanarbeiter  .... 
Sattler  u.  Tapezierer  .  . 
Schiffszimmerer    .    .    .    . 

Schmiede 

Schneider 

Schuhmacher 

Seeleute 

Steinarheiter 

Steinsetzer 

Stukkateure 

Tabakarbeiter 

Tapezierer 

Textilarbeiter 

Töpfer 

Vergolder 

Werftarbeiter 

Zimmerer         


4050 


I2  309| 

20499 
6999' 

74841 

1 1  220; 

12  161I 

371 
816 

240I 

2  3141 
86081 

10076 
569' 

1  i53i 

4  020| 

1323 

8493 
4205 

3900 

2153 

913 

3816 

2094, 

4569, 

46  125 

42 

5368 

952, 
4079; 

338| 
3951' 
7  747 
I2  437i 

3  3431 
59728 

73  654' 

2  396' 
8013 
30141 
2090 

5586; 

10942, 

17  651 

900. 

8464, 

5  122 

2961I 

30537 
2899 

27  4"3- 

5372, 

1081, 

")     76' 

32442' 


') 


1694 
8658 

1  346 

2377 
4822 

27551 

3  i"i 

342' 

1031 

42; 

397! 

2  294 1 

33021 
62: 


') 


45465 

7470 
17042 

9  737 


*)  4i;399 


2374 
10  189 

8744 

161 


2  165 
150I 
619, 

58, 
400; 

767' 

I  195' 
4406 

926 

193; 
9662 

123! 
149I 

334 

19 
468. 

1717 
521' 

3675 
580; 

21324I 

'2371' 

447' 
I  135 
1445 

365' 
442' 

3647 
532' 

6048 

I  719 
416, 

82II> 

143 
7823 

I  165 

139, 

251 

7  267! 


') 


68 

II  482 

1052 

73 
124 

4»5 
665 


:      I  091   I       5  822I  486 


100  I 
3300 

900  ' 

35001 

12  150  I 

30 


184 

3  130 

I  032 

670 

59 

797 


3051        836 


34651 
2785, 


7  445 
5051 

I  418 


115  177 


140 


300  j 

330' 
50  I. 


53 

575 
956 


lOOi 

7771 
648, 


968 

63 
34U 
7342 

50 


80 


50 


20 
372 
130 


8x77 
142  068 ' 

408 

')     2  774 

477  I 
I442| 

15  132  I 

II 017 ; 
19478' 

320  776 
68708 

20339 
I  040 

6373 
400 

I  256 

31  297 

161 

68905 

1 265 

4968 
20961 

I  086 
28392 

6505 
1439 
1 186 

87574 


25 
2582. 

100 


2825 1 
200 


I 


100 


2000 . 
I  700 ' 

2600 1 

200 1 

350 

100 

1 000 


1 029 
705 

17 

72 

6685 

24 
434 

45 
96 

452 

433 

278 

162 

7  997 
6049 

281 

1539 
695 


209 

170 


1077 
114 
644 


33518 

7158 

*)I4  833 
141  688 


4188 


214 


206      2  059 

2  986  19  q02 
61;       -1 

—  I  3  041 

—  (  59 
116,    7648 

—  12089 

600;  8  417 
294        876 

3173'     2285 

4  5^7'  27340 

281      — 


1370 


4053 
632 

I  116 

I  408 

7810 


13157 

524 

8942 

1519 


1237 


8237 

4024 

372  138 


4  349 


67949 


1468 


3588 


18723 
362 


3465 


*)33  407    30513 


—     '       819       — 


65!        926 
47      6308 
5677 


161 

549 
100 

I  400 

100 

300 

1337 
200 

100 

332 


123 

79 
90 

210 

I  220 

787 


3988: 


370       - 

4".        454 

—     I        419 

80091  29745 

50        383 
2  408      6  274 


66I1 
200 

405 
950 


3196 
182 

935 


316 


44451 


11013 
625 


1518  949  136  329;  1  034  1 14  |39  176  I  43  378     39  978,283  267    275  404I491  634I  79  587 

I  073  290 
*)  Einschliesslich  GemassregeltenunterstUtzung.     ')  Einschliesslich   Anschaffung  neuer  Maschinen  für 
zahltes  Darlehen,    ^j  Darunter  2  50()  M.  für  internationale  Agitation.     ')  Für  6  Monate.    '*)  Inklusive  Gra* 
des  vierteljährlich  erscheinenden  Blattes. 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


Orsa.i 

satiooen  iir 

Jahr 

e  1898 

£-« 

1 

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1385 

18Ö 

1 496 1    ■  848 

3  759 

3887;  13 

1  886,  03 

368    14 

368I  14 

170 

662 

;6S 

1535 

4331 

22969I  92 

22969,  92 

1280 

4392 

=)9i'9 

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2969,  28 

2415 

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100 1           50 

1320    15 

1320I   15 

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80 

414 

456 

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2357 

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79 

241 

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2160^      2475 

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17  278.  05 

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3  490  1      5  023 

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3971 

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1965 

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19993 

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30 

27828 

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3  779 

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— 

— 

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1727 

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83715 

103459 

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78419 

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107  759 

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41665 

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140423 

.659^6 

733  .01 

4373313 

IT 

3880092 

47 

fe  Drockerei.    *)  Inklusive  Beitrag  an  die  Generalkommission.    *)   Und  Reixenut^rsttltzung.    ^;  ZurOckge- 
-  iökation  fUr  den  Vorstand  fUr  189t>/97.    ■)  Für  ein  Quartal.    '"J  Für  zwei  Quartale.     ")  FUr  eine  Nummer 


664 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


20  Pf.,  den  Glasern  15  Pf.,  den  Lederarbeitern 
25  Pf.,  den  Metallarbeitern  20  Pf.,  den  Stein- 
arbeitern 10 — 50  Pf.,  den  Schuhmachern  15  Pf., 
den  Glasarbeitern  30  Pf.,  den  Dachdeckern  10,4  Pf., 
den  Graveuren  30  Pf.,  den  Gasarbeitem  15  Pf., 
den  Fabrikarbeitern  10  Pf.,  den  Malern  10  bis 
20  Pf.,  den  Formern  20  Pf.,  den  Tapezierern 
15  Pf.,  den  Vergoldem  20  Pf.,  den  Sattlern 
15  Pf.,  den  Gold-  und  Silberarbeitern  20  Pf., 
den  Bergarbeitern  6,9  Pf.,  den  Textilarbeitern 
10  Pf.,  den  Schneidern  15  Pf.,  den  Konditoren 
30  Pf.,  den  Barbieren  20  Pf.,  den  Schmieden 
20  Pf.,  den  Müllern  13,8  Pf.,  den  Handelshilfs- 
arbeitem  20  Pf.,  den  Holzarbeitern  (Hilfsarbeiter) 
15  Pf.,  den  Bäckern  18,11  Pf.,  den  Bauarbeitern 
15  Pf.,  den  Gärtnern  15—20  Pf.,  den  Gastwirts- 
gehilfen 30  Pf.,  den  Handlungsgehilfen  23  Pf. 
und  den  Lägerhaltern  11,5  Pf. 

d)  Die  Lokalorganiaationen.  Seit 
ihrer  Trennung  auf  dem  Halberstädter  Ge- 
werkschaftskongress  besteht  zwischen  den 
Lokalorganisationen  und  den  Centralverbän- 
den  eine  bittere  Feindschaft,  die  soweit 
geht,  dass  das  Berliner  Gewerkschaftskartell, 
in  welchem  die  ersteren  die  Mehrheit  haben. 

4 

es  ablehnte,  die  Vorbereitungen  für  den 
Berliner  Gewerkschaftskongress  in  die  Hand 
zu  nehmen,  so  dass  ein  besonderes  Komitee 
gebildet  werden  musste.  Der  Grund  des 
Gegensatzes  beider  Richtungen  ist  oben  be- 
reits bezeichnet.  Die  Lokalorganisierten 
haben  bisher  3  Kongresse  abgehalten; 
in  Halle  a.  S.  vom  17.— 19.  :M:ai  1897, 
in  Berlin  vom  12.— 14.  April  1898  und 
in  Braunschweig  vom  4. — 6.  April  1899. 
Auf  dem  ersten  waren  88  Abgeoi'dnete  aus 
13  Orten,  auf  dem  zweiten  28  Abgeordnete 
aus  16  Orten,  auf  dem  dritten  29  Abgeord- 
nete aus  18  Orten  anwesend.  Ueber  die 
Zahl  der  vertretenen  Mitglieder  wurden  auf 
den  Kongressen  keine  Angaben  gemacht, 
offenbar,  weil  man  sich  scheute,  deren  Ge- 
ringfügigkeit einzugestehen.  Nach  den  oben 
mitgeteilten  Angaben  der  Generalkommission 
winl  die  Gesamtzahl  der  Lokalorganisierten 
für  1891  auf  10000,  für  1892  auf  7640,  für 
1893  auf  6280,  für  1894  auf  5550,  für  1895 
auf  10  787,  für  1896  auf  5858,  für  1897  auf 
6S03  und  für  1898  auf  15792  geschätzt, 
doch  werden  diese  Ziffern  ausdrticklich  als 
^höchst  unzuverlässig«  bezeichnet.    Die  An- 

fiben  der  Vertreter  auf  dem  Halberstädter 
ongress,  dass  die  Zahl  der  Mitglieder 
32  805  betrage,  ist  zweifellos  viel  zu  hoch 
gegriffen.  Früher  bildete  den  Hauptstamm 
der  Berliner  Lokalverband  der  Maurer  mit 
9000  üflitgliedem,  doch  hat  derselbe  auf  der 
Generalversammlung  in  Braunschweig  vom 
20. — 24.  April  1896  seinen  Anschhiss  an  den 
Central  verband  vollzogen.  Der  Haupt  Wort- 
führer ist  der  Regierungsbaumeistor  a.  D. 
Kessler.  Das  Organ  der  Gruppe  ist  die 
»Einigkeit«,  die  nach  den  auf  dem  dritten 
Kongresse  gemachten  Angaben  in  einer  Auf- 
lage  von    5140  erscheint.     Der  Pressfonds 


hatte  eine  Einnahme  von  11 129  Mark  und 
eine  Ausgabe  von  10200  Mark  gehabt.  Die 
übrigen  Einnahmen  sollen  7345  Mark,  die 
Ausgaben  6876  Mark  betragen  haben.  Die 
Leitung  liegt  in  den  Händen  einer  »Ge- 
schäftskommission«, die  in  Berlin  ihren  Sitz 
hat  und  an  die  jede  Organisation  viertel- 
jährlich 5  Pfennig  für  jedes  Mitgliefl  abzu- 
führen hat. 

In  den  Verhandlimgen  der  Kongresse 
trat  die  bereits  bezeichnete  Grundauffassung 
deutlich  zu  Tage,  insbesondere  erklärte  man, 
der  gewerkschaftliche  Kampf  sei  von  dem 
politischen  nicht  zu  trennen,  da  er  als 
Klassenkampf  der  Arbeiter  gegen  ihre  Aus- 
beuter anzusehen  sei,  deshalb  sei  er  nur 
im  engsten  Anschlüsse  an  die  sozialdemo- 
kratische Partei  mit  Aussicht  auf  Erfolg  zu 
führen.  Den  Schwerpimkt  bildeten  stets  die 
denkbai'  schäi'fsten  Angriffe  gegen  die  Cen- 
tralorganisationen,  hinsichtlich  deren  man  in 
Braunschweig  erklärte,  für  die  Zukunft  jede 
Rücksicht  auf  ein  friedliches  Zusammen- 
gehen fallen  lassen  zu  wollen.  Auch  inner- 
halb der  Vereine  hat  bisher  dieser  Kampf 
den  Hauptteil  der  Thätigkeit  gebildet;  ausser 
ihm  ist  nur  die  Einführung  der  Reiseunter- 
stützung zu  erwähnen.  Die  Arbeitslosen- 
untei-stützung  hat  man  als  »Vereumpfung« 
abgelehnt.  Bei  Strikes  wül  man  sich 
gegenseitig  unterstützen,  doch  hat  über  Auf- 
bringimg und  Verteilung  der  Greldmittel 
jeder  Ort  und  jeder  Beruf  selbständig  zu 
bestimmen. 

4.  Der  Buchdrackerverband^  Das  Buch- 
druckergewerbe hat  stets  insofern  eine  bevor- 
zugte Stellung  eingenommen,  als  seine  Mit- 
glieder auf  einer  den  Durchschnitt  überragen- 
den Stufe  der  Intelligenz  stehen.  Dies  gilt  ins- 
besondere auch  von  den  Gehilfen,  die  in  den 
meisten  Ländern  und  jedenfaUs  in  Deutsch- 
land als  Elite  der  Arbeiterschaft  betrachtet 
werden  müssen.  Es  ist  wohl  die  Folge 
hiervon,  dass  auch  das  Verhältnis  zwischen 
Prinzipalen  und  Gehilfen  sich  hier  günstiger 
gestaltet  hat  als  in  anderen  Gewerben. 
Jedenfeills  verdienen  die  Buchdrucker  in 
sozialpolitischer  Hinsicht  ein  hervorragendes 
Interesse,  da  sie  nicht  allein  dem  Vorbüde 
der  grossen  englischen  trade  unions,  sondern 
überhaupt  dem  Ideale  der  gewerkschaftlichen 
Entwickelung  unter  allen  Berufen  in  Deutsch- 
land bei  weitem  am  nächsten  gekommen 
sind.  Insbesondere  hat  man  hier  schon 
lange  das  erkannt  und  berücksichtigt,  was 
oben  (s.  S.  646)  als  Gnmdlage  für  die  Organi- 
sation bezeichnet  wurde,  dass  Arbeiter  imd 
Arbeitgeber  sowohl  gemeinsame  wie  wider- 
streitende Interessen  haben  und  dass  deshalb 
einerseits  jede  von  beiden  Gruppen  für 
sich  organisiert  sein  muss,  dass  aber 
andei-ersoits  auch  eine  gemeinsame  Organi- 
sation erforderlich  ist,  die  freilich  auf  der- 


(Jewerkvereine  (Deutschland) 


665 


jenigen  der  beiden  Gnipi)en  beniht,  aber 
formell  von  ihr  unabliängig  ist.  Dass  die 
Notwendigkeit  einer  solchen  Gestaltung  im 
Laufe  der  geschichtlichen  Entwickeluug  sich 
immer  wieder  ganz  von  selbst  aufgedrängt 
und  allen  Hindernissen  zumTrotz  sich  schliess- 
lich durchgesetzt  hat,  darin  liegt  der  unge- 
meine Wert  dieses  Beispieles.  Eng  damit 
verbunden  ist  die  fernere  Beobachtimg, 
dass  der  Einfluss  der  Sozialdemokratie  auf 
die  Gehilfenschaft  steigt  oder  fällt,  je  nach- 
dem jene  natürliche  Interessenorganisation 
zurückgedrängt  oder  wieder  in  ihr  Recht 
eingesetzt  wird.  Aus  diesen  Gründen  recht- 
fertigt es  sich,  den  Verhältnissen  im  Buch- 
druckgewerbe eine  gesonderte  Darstellung 
zu  widmen.  — 

Die  älteste  Form  der  Organisation  war 
das  »Postulat<v,  so  genannt  nach  dem 
Aufnahmeakte  der  Gesellen.  Durch  ihn 
wurde  der  Lehrling  zugleich  >Iitglied  der 
Gesellenbrüderschaft,  die  unter  der  Aufsicht 
der  Innung  stand  und  in  FäUen  der  Krank- 
heit, des  Alters  und  der  Arbeitsunfähigkeit, 
insbesondere  bei  Reisen  und  bei  Arbeitslosig- 
keit Unterstützungen  gewährte.  Die  Buch- 
dnickerordnungen  enthielten  genaue  Vor- 
schriften  über  Arbeitslohn   und  Arbeitszeit. 

Nachdem  die  Gesetzgebung  unseres  Jahr- 
hunderts diese  alten  Formen  zerstört  hatte, 
wurde  der  erste  Vei'Such  einer  gemeinsamen 
Organisation  unternommen  durch  die  von 
den  Mainzer  Gehilfen  einberufene,  am  11. 
Juni  1848  in  Mainz  abgehaltene  und  von 
44  Abgeordneten  als  Vertretern  von  10  000 
Gehilfen  besuchte  Versammlung,  in  welcher 
man  den  »Deutschen  Nationalbuchdrucker- 
verein« ins  Leben  rief.  Dereelbe  war  für 
Gehilfen  und  Prinzipale  bestimmt,  aber  die 
letzteren  verhielten  sich  überwiegend  ab- 
lehnend, und  obgleich  es  auf  einer  von  beiden 
Teilen  beschickten  Versammlung,  die  am 
27.  August  1848  in  Frankfurt,  a.  M.  tagte, 
gelang,  einen  Teil  der  Prinzipale  für  den 
Gedanken  zu  gewinnen,  so  scheiterte  doch 
der  ganze  Plan  daran,  dass  schon  im  folgen- 
den Monate  eine  neue  Versammlung  in 
Berlin  von  der  Polizei  aufgelöst  wurde. 

Die  jetzige  Organisation  verdankt  ihre 
Existenz  dem  Vorgehen  des  Anfang  1862  in 
Leipzig  gegründeten  „Fortbildungs Vereins  für 
Buchdrucker",  der  seit  1.  Januar  1863  unter 
dem  Namen  „Correspondent"  ein  regelmässiges 
Organ  herausgab.    Er  berief  1866  einen  all- 

femeinen  deutschen  Buchdruckertag, 
er  vom  20. — 22.  Mai  in  Leipzig  unter  Be- 
teiligung von  B4  Abgeordneten  als  Vertretern 
von  3187  Gehilfen  in  18ö  Städten  tagte  und 
die  Gründung  des  deutschen  Buchdrucker- 
verbandes bescbloss,  der  mit  dem  1.  Januar 
1867  ins  Leben  trat.  Nach  dem  Statut  will  der 
Verband  die  materielle  Besserung  und  geistige 
Hebung  der  Mitpflieder  erreichen  durch  Ver- 
einigung der  Gehilfen  eventuell  mit  den  Prinzi- 
palen.     Als    besondere   Aufgaben    werden    be- 


zeichnet: Feststellung  entsprechender  Arbeits- 
löhne, Sicherung  gegen  masslose  Konkurrenz, 
Abschaffung  der  regelmässigen  Sonntagsarbeit, 
Regelung  des  Lehrlingswesens,  Einrichtung  von 
Unterstützungskassen,  Bibliotheken,  Unternchts- 
kursen  und  Produktivgenossenschaften.  Organ 
ist  der  „Correspondent  für  Deutschlands  Buch- 
drucker und  Schriftgiesser".  Der  Verband  hat 
diesem  Programm  gemäss  seit  1868  eine  In- 
validenkasse und  seit  1.  Oktober  1875  eine 
Reisekasse  errichtet.  Da  die  Invalidenkasse 
in  Bayern  verboten  wurde,  so  gründete  man 
dort  eine  besondere  Invalidenkasse.  Später  hat 
man  noch  eine  Centralkrankenkasse 
(1.  Juli  1881)  und  eine  Stelle  für  Gewährung 
von  Rechtsschutz  (1.  Juli  1885)  geschaffen. 

Das  Vorbild  der  Gehilfen  regte  auch  die 
Prinzipale  zu  gleichem  Vorgehen  an,  und  so  wurde 
auf  einer  am  15.  August  1869  in  Mainz  tagen- 
den, von  8ö  Prinzipalen  besuchten  Versamm- 
lung der  „Deutsche  Buchdruckerverein" 
begründet.  Derselbe  hat  seinen  Sitz  in  Leipzig. 
Organ  waren  zunächst  die  „Annalen  der  Typo- 
graphie", dann  von  1876 — 1888  die  „Mitteilungen 
des  deutschen  Buchdruckervereins"  und  seit  1889 
die  „Zeitschrift  für  Deutschlands  Buchdrucker". 
Der  Verein  stellt  sich  zur  Aufgabe  eine  „ge- 
ordnete Organisation"  sowie  „thunlichste  Förde- 
rung der  materiellen  und  geistigen  Interessen 
der  Gehilfen",  aber  die  zu  diesen  Zwecken 
zu  begründenden  Unterstntzungskassen  sollen 
allen  Gehilfen  zu  statten  kommen.  Dieser 
Punkt  hat  von  Anfang  an  den  Hauptgegen- 
stand für  Streitigkeiten  gebildet,  insbesondere 
handelte  es  sich  dabei  um  das  sogenannte 
„Viatikum",  d.  h.  die  Reiseunterstützung. 
Der  Prinzipalverein  nahm  nicht  allein  diese  für 
sich  in  Anspruch,  sondern  wollte  vor  allem  den 
Gehilfen  verband  nicht  als  Vertretung  der  Ge- 
hilfen anerkennen,  obgleich  er  selbst  doch  für 
sich  die  Vertretung  der  Prinzipale  beanspruchte, 
während  er  niemals  einen  so  hohen  Prozentsatz 
der  Beteiligten  in  sich  vereinigte  wie  jener. 

Den  ersten  Anlass  zum  Streite  bildete  die 
Frage  der  Lohnregulierung.  Man  bezahlte  den 
Lohn  teils  in  dem  „gewissen  Gelde",  d.  h.  einem 
festen  Wochensatz,  teils  mittelst  „Berechnen", 
d.  h.  als  Akkordlohn.  Die  Gehilfen  forderten 
nun  für  das  letztere  die  Ersetzung  des  „1000  n- 
Tarifes",  bei  dem  der  Raum  mit  dem  Normal- 
masse des  n  gemessen  wird,  durch  den  „ Alpha- 
bettarif ^,  bei  dem  die  Gesamtheit  der  Alphabet- 
buchstaben die  Einheit  bildet.  Der  Prinzipal- 
verein wollte  nur  mit  Vertretern  der  gesamten 
Gehilfenschaft  verhandeln,  aber  nachdem  die 
Mehrzahl  der  Leipziger  Gehilfen  am  1.  Februar 
1873  gekündigt  hatte,  erwies  sich  die  Macht 
des  Prinzipal  Vereins  als  unzureichend,  um  die 
statutengemäss  vorgeschriebene  allgemeine  Aus- 
sperrung durchzuführen,  und  so  musste  er  nach- 
geben. Der  neue  Tarif  trat  am  9.  Mai  1873  in 
Kraft  und  sollte  nur  durch  vierteljährliche 
Kündigung  aufgehoben  werden  kOnnen.  Zur 
Entscheidung  von  Streitigkeiten  wurde  für  jeden 
der  12  Kreise,  in  welche  beide  Organisationen 
das  Deutsche  Reich  eingeteilt  hatten,  ein 
Schiedsamt  gegründet,  gegen  dessen  Urteile 
ein  Rekurs  an  das  Einigungsamt  in  Leipzig 
stattfand.  Das  letztere  hatte,  falls  eine  A^ 
änderung  des  Tarifs  verlangt  wird,  zugleich  als 
Tarifrevisionskommission     einzutreten 


666 


Öewerkvereine  (Deutschland) 


doch  sind  deren  Beschlüsse  der  Urabstimmung 
unterworfen.  In  allen  diesen  Organen  waren 
Prinzipale  und  Gehilfen  in  gleicher  Zahl  ver- 
treten. 

Aber  diese  wohldurchdachte  Organisation 
scheiterte  daran,  dass  der  Prinzipalverein  nicht 
genügende  Macht  über  seine  Mitglieder  besass, 
um  die  gefassten  Beschlüsse  durchzuführen,  und 
80  Hess  man  1878  die  Schiedsämter  und 
das  Einigungsamt  wieder  fallen  und 
schuf  eine  besondere  Tarifrevisionskommission 
aus  24  Mitgliedern. 

Eine  schwere  Zeit  für  den  Gehilfen  verband 
brachte  das  Sozialistengesetz,  das,  vne 
bereits  oben  (S.  6ö3)  erwähnt,  in  unverständiger 
Verfolgungssucht  gegen  alle  Arbeiterorgani- 
sationen ohne  Unterschied  angewandt  wurde. 
Um  dem  zu  entgehen,  beschloss  der  Verband 
am  21.  November  1878  seine  Auflösung,  indem 
man  gleichzeitig  den  „Unterstützungs- 
verein deutscher  Buchdrucker"  be- 
gründete, der  sich  lediglich  auf  Unterstützungs- 
zwecke beschränken  sollte.  Aber  man  hatte 
nicht  bedacht,  dass  gerade  die  sächsischen  Be- 
hörden in  jener  Verfolgungssucht  alle  anderen 
weit  übertrafen,  und  hatte  deshalb  den  Fehler 
gemacht,  den  Sitz  des  neuen  Vereins  ebenfalls 
nach  Leipzig  zu  verlegen.  So  wurde  der  letztere 
am  5.  März  1879  polizeilich  aufgelöst.  Mau 
verlegte  deshalb  den  Sitz  des  Vereins  nach 
Stuttgart  und  1885  nach  Berlin. 

Aber  die  Unentbebrlichkeit  der  1878  auf- 
gehobenen schiedsgerichtlichen  Einrichtung 
macht«  sich  doch  je  länger  um  so  zwingender 
geltend,  und  so  wurde  1886  die  Wied  erb  er- 
st ellungder  örtliche  nSchiedsge  richte 
und  des  Einigungsamtes  beschlossen. 
Dabei  wurde  aber  zugleich  eine  wesentliche 
Aenderung  getroffen,  indem  bei  den  Wahlen 
nicht,  wie  früher,  alle  Prinzipale  und  Gehilfen, 
sondern  nur  diejenigen  stimmberechtigt  sein 
sollten,  die  den  Tarif  anerkannten.  Auf  diese 
Weise  war  eine  ganz  neue,  von  den  beider- 
seitigen Verbänden  zu  unterscheidende  und  von 
ihnen  mehr  oder  weniger  unabhängige  Organi- 
sation geschaffen,  nämlich  die  Tarifgemein- 
schaft,  die  demnächst  eine  immer  grössere 
Bedeutung  erlangen  sollte.  Zugleich  traf  man 
eine  wichtige  Verbesserung  in  der  Festsetzung 
einer  Lehrlingsskala. 

Die  in  der  Mitte  der  80  er  Jahre  einsetzende 
soziale  Versicherun^sgesetzgebung 
hatte  zunächst  für  die  beiderseitigen  Organi- 
sationen eine  erhebliche  Steigerung  der  Mit- 
fliederzahl  zur  Folge,  wobei  auf  selten  der  Ge- 
ilfen  als  Hauptgrund  wirkte,  dass  man  sich 
dadurch  den  unbeliebten  Zwangskassen  entzog. 
Aber  der  Prinzipal  verein  that  bei  dieser  Ge- 
legenheit einen  verhängnisvollen  Schritt,  indem 
er  seine  frühere  mit  der  in  der  Berufsge- 
nossenschaft geschaffenen  neuen  Organisation  in 
engste  Beziehung  setzte,  die  soweit  giug,  dass 
er  nicht  allein  im  Anschluss  an  die  für  die  Be- 
rufsgenossenschaft eingerichteten  neun  Sektionen 
auch  neun  Kreise  des  Vereins  bildete,  sondern 
sogar  die  Vorstände  der  Sektionen  zugleich  zu 
solchen  der  Kreise  machte.  Nun  befanden  sich 
aber  naturgemäss  unter  den  durch  den  gesetz- 
lichen Zwang  zugeführten  Prinzipalen  sehr 
viele,  die  eine  von  der  bisherigen  sozialpoliti- 
schen Haltung   des  Vereins   sehr   abweichende 


Auffassung  hatten  und  insbesondere  nicht  die 
Verständigung  mit  den  Gehilfen  auf  dem  Boden 
der  Gleichberechtigung  wollten,  sondern  den 
engherzigen  ünternehmerstandpunkt  vertraten. 
Diese  Elemente  haben  von  jeher  in  allen  Be- 
rufen vorzugsweise  in  Rheinland -Westfalen 
ihren  Sitz  gehabt,  und  so  dauerte  es  denn  nicht 
lange,  dass  auch  in  dem  deutschen  Buchdrucker- 
verein die  Sektion  II  (Rheinland- Westfalen)  sich 
zur  Wortführerin  dieses  Standpunktes  machte 
und  dadurch  nicht  allein  die  Gesamthaltung  des 
Vereins  ungünstig  beeinflusste,  sondern  sogar, 
als  dessen  Mehrheit  trotzdem  im  wesentlichen 
an  den  alten  Traditionen  festhielt,  die  Fahne 
der  offenen  Opposition  entfaltete,  bis  es  endlich 
1896  gelang,  die  Führer  der  letzteren  zum 
Austritte  aus  dem  Verein  zu  zwingen. 

Von  grosser  Bedeutung  für  das  Verhältnis 
zwischen  Prinzipalen  und  Gehilfen  waren  die 
nach  Kündigung  des  Tarifs  seitens  der  Ge- 
hilfen vom  11.— 14.  September  1889  in  Stettin 
geführten  beiderseitigen  Verhandlungen,  die  zu 
dem  wichtigen  Beschlüsse  führten,  dass  die 
tariftreuen  Prinzipale  nur  solche  Gehilfen  be- 
schäftigen dürften,  die  nachweislich  zu  tarif- 
mässigen  Bedingungen  gearbeitet  hätten  und 
in  tariftreuen  Geschäften  ausgebildet  wären, 
wie  umgekehrt  die  Gehilfen  nur  bei  tarif treuen 
Prinzipalen  arbeiten  dürften.  Der  weitergehende 
Antrag  der  Gehilfen,  es  sollten  künftig  Tarif- 
verhandlungen nicht  mehr  seitens  der  Gesamt- 
heiten der  Prinzipale  und  Gehilfen  geführt 
werden,  sondern  äie  beiderseitigen  Organisa- 
tionen als  Vertragsschliessende  Teile  an  deren 
Stelle  treten,  wurde  seitens  der  Prinzipale  ab- 
gelehnt. Dagegen  wurde  in  den  Tarif  die  Be- 
stimmung autgenommen,  dass  der  Prinzipal  ver- 
pflichtet ist,  die  von  ihm  angenommenen  Ge- 
hilfen voll  zu  beschäftigen  und  bei  unzureichen- 
der Arbeit  für  Zeitverlust  zu  entschädigen. 

Die  bisherige  günstige  Ent Wickelung  im 
Buchdruckgewerbe  wurde  nun  leider  durch  den 
grossen  Strike  in  bedauerlicher  Weise  unter- 
brochen, bis  es  nach  vier  Jahren  schliess- 
lich gelang,  an  die  alten  Traditionen  wieder 
anzulmüpfen.  Die  Gehilfen  hatten  auf  ihrer 
vom  23. — 25.  Juni  1891  in  Berlin  abgehaltenen 
Generalversammlung  mit  Rücksicht  auf  die 
steigende  ArbeiUlosigkeit  beschlossen,  die  Herab- 
setzung der  Arbeitszeit  von  10  auf  9  Stunden 
zu  fordern.  Die  zur  Beratung  der  Angelegen- 
heit zusammengetretene  Tarifkommission  konnte 
bei  ihren  vom  6.-8.  Oktober  1891  in  Leipzig 
abgehaltenen  Verhandlungen  nicht  zur  gütlichen 
Erledigung  gelangen,  indem  die  Prinzipale  wohl 
eine  Lohnerhöhung  von  7Va%,  nicht  aber  die 
Verkürzung  der  Arbeitszeit  zugestehen  wollten, 
obgleich  die  Gehilfen  bereit  waren,  sich  mit 
einer  Ermässigung  auf  d^lq  Stunden  neben  einer 
Lohnerhöhung  von  5%  zu  begnügen.  Darauf- 
hin wurde  der  Tarif  am  24.  Oktober  1891  von 
12000  Gehilfen  gekündigt,  während  3000  ihre 
Forderungen  bewilligt  erhielten.  Aber  die  Ge- 
hilfen hatten  zu  sehr  auf  ihre  gefüllten  Kassen 
vertraut  und  deshalb  eine  zu  hohe  Strikeunter- 
stützung  von  2  Mark  täglich  bezahlt.  Ausser- 
dem griffen  überall,  und  insbesondere  nachdem 
im  „Correspondent^  immer  mehr  eine  Anlehnung 
an  die  Sozialdemokratie  zu  Tage  getreten  war, 
die  Behörden  zu  Ungunsten  der  Gehilfen  ein, 
insbesondere  verbot  das  Berliner  Polizeipräsidium 


Grewerkvereine  (Deutschland) 


667 


«m  30.  Dezember  1891  die  weitere  Gewährung 
von  Unterstützungen  aus  Vereinsmitteln  sowie 
die  Erhebung  von  Extrasteuem.  Oberleich  später 
diese  Massregel  durch  die  Urteile  des  Bezirks- 
ausschusses und  des  Oberverwaltungsgerichts 
für  rechtswidrig  erklärt  wurde,  bedeutete  es 
doch  für  die  Gehilfen  einen  vernichtenden  Schlag, 
und  nachdem  mehrfach  von  dritter  Seite  unter- 
nommenene  Vermittelungs versuche  an  der  Ab- 
lehnung seitens  der  Prinzipale  gescheitert  waren, 
mussten  sie  sich  zum  Nachgeben  entschliessen 
und  am  18.  Januar  1892  die  Arbeit  wieder 
aufnehmen. 

Der  Strike  hatte  nieht  allein  ausserordent- 
liche Opfer  —  der  „Correspondent"  berechnet 
sie  auf  2741 119  Mark  —  gekostet,  sondern  vor 
allem  das  frühere  gute  Verhältnis  gründlich  zer- 
stört. Da  die  Gehilfen  zu  den  früheren  Aemtern 
dieselben  Personen  wiederwählten,  so  erklärte 
der  Prinzipalverein  die  Tarifkommission  für  auf- 

felüst.  Ausserdem  gründete  man  eine  Invaliden- 
asse und  eine  Unterstützungskasse  für  Arbeits- 
lose, zu  deren  Eintritt  man  die  Gehilfen  zu 
zwingen  versuchte,  ohne  ihnen  eine  Mitwirkung 
an  den  Beschlüssen  einzuräumen.  So  war  es 
denn  erklärlich,  dass  die  Gehilfen,  um  sich 
künftig  polizeilichen  Eingriffen  in  ihre  Kassen- 
verwaitung  zu  entziehen,  auf  ihrer  vom  28.  Juni 
bis  2.  Juli  1892  in  Stuttgart  abgehaltenen 
Generalversammlung  den  später  in  Urabstim- 
mung mit  13085  von  insgesamt  13722  Stimmen 
genehmigten  Beschluss  fassten ,  den  Unter- 
stützungsverein  deutscher  Buch- 
drucker aufzulösen  und  unter  Anlehnung 
an  den  Zustand  vor  1878  den  „Verband 
deutscher  Buchdrucker"  zu  gründen. 
Zugleich  löste  man  auch  die  bestehenden  Kassen 
auf,  übernahm  alle  ihre  Leistungen  auf  die  Ver- 
bandskasse und  beseitigte  das  bisherige  klag- 
bare Recht  auf  Unterstützung,  stellte  diese 
vielmehr  in  das  freie  Ermessen  des  Vorstandes. 
Da  man  das  Bedürfnis  empfand,  sich  mit  den 
ttbrigenArbeiterorganisationeu  in  engereFühlung 
zu  setzen,  so  hat  der  Verband  sich  den  unter 
der  Generalkommission  zusammengefassten  Ge- 
werkschaften angeschlossen. 

Aber  bald  machte  sich  doch  bei  den  Ge- 
hilfen wie  bei  den  Prinzipalen  der  Eindruck 
geltend,  dass  man  bei  dem  gegenseitigen  Kampfe 
zu  immer  schlimmeren  Zuständen  gelangen 
müsse.  Der  Gehilfenverband  berechnete,  dass 
allein  5000  Lehrlinge  über  die  früher  vereinbarte 
Skala  hinaus  gehaften  würden,  und  die  Prinzi- 

Sale  sahen,  dass  die  sozialdemokratischen  Ein- 
üsse  unter  den  Gehilfen  immer  mehr  um  sich 
friffen.  So  dräng^ter  die  Entwickelung  dfer  Ver- 
ältnisse  zur  Wiederanknüpfung  des  früheren 
Verhältnisses.  Freilich  scheiterte  zunächst  die 
im  Herbst  1894  versuchte  Verständi^ng  daran, 
dass  der  Prinzipalverein  nur  mit  einem  Tarif- 
ausschusse verhandeln  wollte,  zu  dem  der  Ver- 
band 5  Mitglieder  stellt,  während  die  übrigen  4 
aus  allgemeinen  Wahlen  der  Gehilfen  hervor- 
gehen sollten.  Aber  nachdem  Anfang  März  1896 
mehrere  grosse  Gehilfenversammlungen  sich  da- 
hin schlüssig  gemacht  hatten,  auf  Grundlage 
näher  bezeichneter  Forderungen,  insbesondere 
Verkürzung  der  Arbeitszeit,  mit  dem  Prinzipal- 
verein in  Unterhandlungen  zu  treten,  ging  der 
letztere  auf  diese  Anregung  ein,  und  so  traten 
am  11.  März  1896  zum   ersten  Male  seit  vier 


Jahren  wieder  Vertreter  der  Gehilfen  mit  solchen 
der  Prinzipale  zu  einer  gemeinsamen  Beratung 
zusammen.  Das  Ergebnis  war,  dass  das  städtische 
Einigungsamt  in  Leipzig  gebeten  wurde,  die 
Wahl  von  Vertretern  der  gesamten  Gehilfen- 
schaft auszuschi'eiben.  Diese  sollten  mit  dem 
Tarifausschusse  des  Prinzipalvereins  unter  Zu- 
lassung von  je  zwei  Vertretern  des  letzteren 
sowie  des  Gehilfenverbandes  und  der  Nichtver- 
bandsgehilfen,  dieser  sechs  jedoch  nur  mit  be- 
ratender Stimme,  zil  gemeinsamer  Verhand- 
lung zusammentreten.  Die  ausgeschriebenen 
Wahlen  ergaben  ausnahmslos  Verbandsmit- 
glieder; der  von  den  Prinzipalen  begünstigte 
„Gutenbergbund"  erwies  sich  als  machtlos. 

Obgleich  bei  den  Wahlen  unter  den  Ge- 
hilfen die  einer  Verständigung  geneigte  Richtung 
gesiegt  hatte,  ergaben  sich  doch  bei  den  vom 
15.-17.  April  1896  in  Leipzig  geführten  Ver- 
handlungen grosse  Schwierigkeiten,  bis  es 
schliesslich  gelang,  sich  über  die  Grundfragen 
zu  einigen.  Hierzu  gehörte  insbesondere  die 
Herabsetzung  der  Arbeitszeit  auf  neun  Stunden 
sowie  eine  massige  Lohnerhöhung.  Der  Tarif 
sollte  auf  fünf  Jahre  gelten;  nur  wenn  nach 
dreijähriger  Dauer  sich  ergeben  sollte^  dass  die 
Zahl  der  den  Tarif  befolgenden  Prinzipale  und 
Gehilfen  nicht  fortgesetzt  grösser  geworden  sei, 
sollte  schon  eine  Kündigung  auf  den  1.  Oktober 
1899  stattfinden  können.  Nach  fünf  Jahren  gilt 
der  Tarif  stets  auf  ein  ferneres  Jahr  mit  drei- 
monatlicher Kündigung.  Als  Or^an  zur  Fest- 
setzung des  Tarifs  wird  der  aus  je  neun  Prinzi- 
palen und  Gehilfen  bestehende  „Tarifaus- 
schuss"  gewählt,  der  seinerseits  zur  Ausfüh- 
rung der  gefassten  Beschlüsse  das  „Tarifamt" 
aus  je  drei  Prinzipalen  und  Gehilfen  einsetzt. 
Zur  Schlichtung  von  Streitigkeiten  in  Bezug 
auf  Auslegung  des  Tarifs  sind  mindestens  an 
allen  Kreisorten  Schiedsgerichte  zu  be- 
stellen, gegen  deren  Entscheidung  Berufung  an 
das  Tarifamt  stattfindet.  Die  bestehenden  Ar- 
beitsnachweise müssen  sich  verpflichten, 
nur  tariftreue  Gehilfen  in  tariftreuen  Dnicke- 
reien  unterzubringen  und  stets  in  erster  Linie 
diejenigen  Gehilfen  zu  berücksichtigen,  die  durch 
ihr  Eintreten  für  den  Tarif  arbeitslos  geworden 
sind.  Der  neue  Tarif  ist  mit  dem  1.  Juli  1896 
in  Kraft  getreten. 

Ein  Nachspiel  hatte  diese  Einigung  noch 
in  den  Verhandlungen  der  vom  13. — 18.  Juli 
1896  in  Halle  a.  S.  abgehaltenen  ausser- 
ordentlichen Generalversammlung  des 
Gehilfenverbandes.  In  dem  letzteren  bestand 
eine  Gegenströmung  gegen  den  Vorstand,  die 
besonders  von  Gasch,  dem  bisherigen  Redak- 
teur des  „Correspondent",  geführt  wurde  und 
nicht  allein  das  Abkommen  mit  den  Prinzipalen 
missbilligte,  sondern  gegen  den  Vorstand  den 
Vorwurf  erhob,  dass  er  „nicht  auf  dem  Boden 
der  modernen  Arbeiterbewegung  stehe'*;  der 
Vorsitzende  Döblin  habe  offen  ausgesprochen, 
dass  er  von  der  Sozialdemokratie  nichts  wissen 
wolle.  Demgegenüber  forderte  Gasch,  dass  man 
sich  auf  die  letztere  stützen  müsse.  Aber  in 
der  Greneralversammlung  wurde  nicht  allein  die 
Tarif^emeinschaft  mit  45  gegen  22  Stimmen 
gebilligt,  sondern  auch  Gasen  seines  Amtes  ent- 
hoben und  durch  Rexhäuser  ersetzt.  Gasch 
setzte  dann  seine  Angriffe  in  der  Presse  und 
insbesondere   in   der   von  ihm  seit  15.  August 


668 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


1896  herausgegebenen  „Buchdruckerwacht"  fort, 
veranstaltete  auch  am  7.  Juni  1897  in  Leipzig 
einen  eigenen  Kongress  der  Opposition,  so  dass 
dem  Verbandsvorstande  nichts  übrig  blieb,  als 
gegen  ihn  und  seine  Anhänger  den  Ausschluss 
aus  dem  Verbände  zu  beantragen,  der  auch  bei 
der  Ende  September  veranstäteten  Urabstim- 
mung mit  132Ö1  gegen  5164  Stimmen  be- 
schlossen wurde.  Die  Opposition  begründete 
dann  am  30.  Oktober  1897  eine  Gegenorgani- 
sation, die  „Gewerkschaft  der  Buch- 
drucker, Schrif tgiesser  und  ver- 
wandter Berufsgenossen"  mit  dem  Sitze 
in  Leipzig,  welche  die  „Buchdruckerwacht"  zu 
ihrem  Organ  erklärte.  Als  im  Anschluss  an 
diese  Verhandlungen  ein  Teil  der  sozialdemo- 
kratischen Blätter,  insbesondere  der  „Vorwärts", 
auf  die  Seite  von  Gasch  traten,  wurde  im 
„Correspondent"  jede  Einmischung  der  Partei 
mit  scharfen  Worten  zurückgewiesen,  ja  in  den 


Nummern  vom  November  1898  wird  geradezu 
erklärt,  wenn  die  Mehrzahl  der  sozialdemokra- 
tischen Blätter  von  ihrer  Bekämpfung  des  Ver- 
bandes und  seiner  Leitung  nicht  ablasse,  werde 
dieser  aufhören  müssen,  in  der  sozialdemokra- 
tischen Partei  die  Vertreterin  seiner  Interessen 
zu  erblicken. 

Die  Buchdruckergewerkschaft  hat  am  10. 
April  1898  in  Halle  a.  S.  ihre  erste  General- 
versammlung abgehalten,  auf  der  aber  nur  220 
Mitglieder  durch  neun  Abgeordnete  vertreten 
waren ;  bei  der  am  6.  August  1899  in  Hannover 
abgehaltenen  zweiten  Generalversammlung 
wurde  die  Mitgliederzafal  auf  226,  der  Kassen- 
bestand auf  8^8  Mark  angegeben.  Irgend  eine 
Bedeutung  wird  die  neue  Organisation  kaum 
erlangen.  — 

Das  allmähliche  Wachstum  des  Verbandes 
und  seine  Leistungen  ergeben  sich  aus  der 
folgenden  Tabelle: 


Unter- 

Kranken- 

Jahr 

Mitglieder- 
zahl im 
Jahresmittel 

Stützung  zur 
Aufrecht- 

Arbeits- 
losenunter- 

Reise- 
unter- 

Invaliden- 
Unter- 

unter- 
stützung 

erhai  tung 
des  Tarifs 

stützung 

stützung 

stützung 

einschl. 
Sterbegeld 

■ 

M. 

M. 

M. 

M. 

M. 

1867 

3192 

1 
1 

1 

1 

_ 

1868 

5000 

8751 

1 

1869 

6589 

2529 

— 

— 

1870 

• 

7952 

— 

1871 

6227 

1  042 

— 

1872 

7471 

21  946 

— 

— 

1873 

7030 

1 24  746 

— 

1874 

7325 

43090 

— 

1875 

7276 

45082 

28737 

1876 

6386 

5617 

120250 

— 

1877 

5511 

66711 

44017 

— 

1878 

5696 

6963   1 

— 

47871 

— 

1879 

5724 

1038 

62005 

— 

1880 

6278 

9  590 

16806 

52500 

102 

1881 

8762 

1  605 

14  156 

64974 

829 

13  351 

1882 

9021 

9035 

24  619 

114651 

2314 

147  932 

1883 

10  116 

22024 

28532 

132  191 

8882 

226  947 

1884 

10648 

34252 

34832 

125  584 

15404 

239  145  . 

1885 

11423 

18355    1 

35763 

107081 

22231 

271  813 

1886 

12824 

21  824 

56448 

92237 

50670 

320  942 

1887 

II  856 

266  344   1 

130861 

147  418 

75  349 

329  396 

1888 

u  643   1 

26282 

76687 

83496 

68954 

305  399 

1889 

1 2  792    ; 

17664 

56512 

62421 

78648 

300377 

1890 

15377 

39  5M^^   ' 

56  394 

86  190 

83661 

347  424 

1891 

16921 

835  679') 

.  51333 

90482 

97285 

377  574 

1892 

15  188 

218042^) 

235  528«) 

121  164 

116  330 

455  303') 

i»m 

15749 

9143 

92906 

100712 

124  232 

316820^) 

1894 

17354 

16920 

101  562 

•  114914 

131  123 

318484 

1895 

IQ  188 

22  782 

97702 

110843 

127  260 

326447 

1896 

21437 

74689 

127  342«) 

138491*)  1 

129529 

327918 

1897 

22854 

63044 

132  779 

137388   1 

138942 

365  152 

,  1898 

24  942 ') 

49154 

141  688 

115177 

67949 

391  336*) 

1899 

26344 

33  834 

159206 

114  882 

82632 

455  299*) 

*)  Die  Höhe  der  Ziffern  erklärt  sich  durch  den  grossen  Strike  und  die  nach  demselben 
verbliebenen  Opfer. 

*)  Die  Erhöhung  gegen  das  Jahr  1895  hat  ihren  Grund  fast  ausschliesslich  darin,  dass 
nach  den  Beschlüssen  der  Breslaner  Generalversammlung  die  Karenzzeit  von  150  auf  100  Wochen 
herabgesetzt  und  die  Reiseunterstützung  um  täglich  5  Pf.  erhöht  ist. 

•^)  Die  auffällige  Abnahme  erklärt  sich  daraus,  dass  vom  1.  Januar  1893  ab  das  Kranken- 
geld von  2  M.  auf  1  M.  ö()  Pf.  herabgesetzt  wurde. 

*)  In  den  hier  aufgeführten  Beträgen  sind  auch  die  Leistungen  der  in  Liquidation  be- 
findlichen Centralinvalidenkasse  enthalten. 

*)  Die  Mit^liederzahl  am  31.  Dezember  1899  betnig  27 187  in  963  Druckorten. 


Geworkvereine  (Deutschland) 


669 


Da  nach  der  Berufszählang  von  189Ö  in 
6303  Buchdruckereien  43183  männliche  und 
10249  weihliche  Gehilfen  sowie  14512  Lehrlinge 
beschäftigt  waren,  so  entspricht  die  Mitglieder- 
zahl von  27187  einem  Satze  von  62%.  Die 
Gehilfen  haben  ihrerseits  mehrfach  Erhebungen 
veranstaltet.  Die  neueste  vom  Dezember  1898 
erstreckte  sich  auf  3826  Druckereien  und  ergab : 
1589  Faktoren,  902  Korrektoren,  26481  Setzer, 
5393  Drucker,  lOtK)  Schweizerdegen,  277  Stereo- 
typeure  und  168  Maschinensetzer.  Von  der  Ge- 
samtziffer  zu  35870  waren  21217  Mitglieder 
des  Verbandes,  während  14653  ihm  nicht  an- 
gehörten. Ausserdem  gab  es  8189  Setzerlehr- 
Imge  und  2371  Druckerlehrlinge. 

Obgleich  der  grosse  Strike  die  Mittel  des 
Verbandes  sehr  geschwächt  hatt«,  so  dass  der 
Vermögensbestand  der  Allgemeinen  Kasse,  der 
am  31.  März  1891  412411,92  M.  betragen  hatte, 
am  31.  März  1892  auf  3025,25  M.  gesunken 
war,  ist  derselbe  doch  rasch  wieder  gestiegen, 
indem  er  betrug:  am  31.  März  1893  20769,^5  M., 
am  31.  März  1894  56567.53  M.,  am  31.  März  1895 
578197,13  M.,  am  31.  März  1896  931082,18  M., 
am  31.  März  1897  1204141,28  M.,  am  3l.  März 
1898  1594201,26  M.,  am  31.  März  18JJ9 
2106822,89  M.  und  am  31.  März  1900 
2688251,14  M.  Allerdings  sind  die  zuletzt 
genannten  Zahlen  mit  den  früheren  nicht  un- 
mittelbar vergleichbar;  wie  erwähnt,  sind  die 
beiden  früher  selbständigen  Kassen,  die  Ver- 
bands-Kranken- und  Begräbniskasse  und  die 
Centralinvalidenkasse  sowie  die  Invalidenkasse 
des  Gaues  Bayern  1892  und  1893  aufgelöst; 
dabei  ist  das  Vermögen  der  ersteren  infolge 
Verzichts  der  Berechtigten  im  Betrage  von 
276923,51  M.  ohne  Gegenleistung  auf  die  Ver- 
bandskasse übergegangen.  Im  Jahre  1899  ist 
die  Liquidation  der  bayerischen  Invalidenkasse 
beendigt  und  auch  deren  Vermögen  mit 
123  60u  M.  in  die  Verbandskasse  j^eflossen.  Die 
Verbands- Invalidenkasse  wird  freilich  zunächst 
noch  fortgeführt,  aber  nur  zu  dem  Zwecke, 
die  bestehenden  Verpflichtungen  abzuwickeln. 
Der  Vermögensbestand  derselben  betrug  am 
31.  März  1896  947835,75  M.,  am  31.  März 
1897  883423,94  M.,  am  31.  März  1898 
8253aS.27  M.,  am  31.  März  1899  769365,16  M. 
und  am  31.  März  1900  712ö05,aS  M.  Die  Ge- 
samtausgabe hatte  im  Jahre  1895/96 111 573,35  M., 
im  Jahre  1896/97  97  978,01  M.,  im  Jahre  1897/98 
88742,81  M.,  1898/99  82660^  M.  und  1899/1900 
82027,19  M.  betragen.  Die  Gesamtzahl  der 
Invaliden  war  Ende  Dezember  1895  auf  262, 
Ende  Dezember  1896  auf  239,  Ende  Dezember 
1897  auf  220,  Ende  Dezember  1898  auf  199  und 
Ende  Dezember  1899  auf  186  herab^egangen. 
Seit  Auflösung:  der  Invalidenkasse  fliessen  die 
Invaliditätsbeiträge  in  die  Verbandskasse. 

Der  Verband  hat  in  den  fünf  Jahren  seines 
Bestehens  (1895 — 1899)  an  B^iseuntersttttzung 
616781 M.,  für  Arbeitslosenunterstützung  658376 
M.,  für  Umzugskosten  and  Gemassregelten- 
Hnterstützung  254741  M.,  für  Kranken-  und 
Sterbegeld  1866152  M.,  an  Invalidenunter- 
stütznng  546312  M.  ausgegeben.  Trotzdem 
war  lw8  ein  Ueberschuss  von  500000  M. 
erzielt,  den  man  auf  der  vom  19. — 24.  Juni  1899 
in  Mainz  abgehaltenen  Generalversammlung  zur 
Erhöhung  der  Unterstützungsgelder  benutzte, 
weil  man  glaubte,   dadurch  am  besten  die  Mit- 


glieder an  den  Verband  zu  fesseln,  während 
man  fürchtete,  dass  die  alizugrosse  Anhäufung 
von  Geldern  insofern  eine  Gefahr  bedeute,  als 
dadurch  die  Versuchung  erhöht  werde,  sich  bei 
Strikelust  allzu  sehr  auf  die  gefüllte  Verbands- 
kasse zu  verlassen. 

Der  „Correspondent"  erscheint  in  einer  Auf- 
lage von  18000. 

5.  Die  christlichen  G.  Von  katho- 
lischer wie  von  evangelischer  Seite  hat 
mau  seit  Ende  der  GOer  bezw.  Anfang 
der  80er  Jahi*e  begonnen,  Arbeitervereine 
zu  gründen,  die  aber  den  Schwerpunkt  in 
religiöse  Beeinf hissung  legen  und  deshalb 
als  Gewerkvereine  nicht  anzusehen  sind. 
In  neuester  Zeit  hat  man  aber  angefangen, 
innerhalb  dieser  Vereine  Fachsektionen 
zu  bilden,  die  den  Zweck  haben,  neben 
Fördening  der  Fachbildung  auch  die  Inte- 
ressen ihrer  Mitglieder  gegenüber  Behörden 
und  Arbeitgebern  nötigenfalls  mittelst  Arbeits- 
einstellung zu  wählten.  Leitsätze,  in  denen 
die  Ziele  eingehend  bezeichnet  sind,  wurden 
übereinstimmend  sowohl  auf  der  General- 
versammlung der  Präsides  der  katholischen 
Gesellen  vereine  in  Würzburg  am  21.  Sep- 
tember 1894  als  von  dem  Gesamtverbande 
der  evangelischen  Ai'beitervereine  in  der 
Sitzung  am  11.  Oktober  1894  in  Köln  als 
gemeinsames  Programm  angenommen. 

Sind  schon  diese  Faclisektionen  als  ge- 
werkschaftliche Bildungen  zu  betrachten,  so 
hat  man  aber  auch  bereits  eigentliche  Ge- 
werkvereine,  die  sich  selbst  als  solche 
bezeichnen,  begründet.  Sie  stehen  nach 
ihren  Statuten  auf  interkonfessionell  christ- 
lichem Boden,  verfolgen  aber  im  übrigen 
lediglich  gewerkschaftliche  Zwecke,  insbe- 
sondere sind  religiöse  und  politische  Er- 
örterungen ausgeschlossen.  Hiernach  ist  die 
Bezeichnung  »christlich«  nicht  sowohl  in 
dem  Sinne  zu  verstehen,  als  ob  die  Vereine 
einen  religiös  erbaulichen  Charakter  trügen, 
sondern  der  Ausdruck  ist  nur  gewählt,  um 
den  Gegensatz  gegen  die  Sozialdemokratie 
zu  bezeichnen,  wie  denn  in  den  Statuten 
meist  deren  Anhänger  ausdrücklich  ausge- 
schlossen sind.  Standen  deshalb  diese  Ver- 
eine zu  den  sozialistischen  Gewerkschaften 
anfan^  in  dem  schärfsten  Gegensatze,  so 
hat  sich  dieser  doch  in  den  letzten  Jahren 
erheblich  abgeschwächt,  und  zwar  ist  an 
der  Verbindungsbrücke  von  beiden  Seiten 
gebaut.  Einerseits  haben  die  »Gewerkschaf- 
ten«, wie  oben  nachgewiesen,  ihr  Verhältnis 
zur  Sozialdemokratie  stark  gelockert,  und 
andererseits  haben  die  Arbeit^ber,  die  den 
christlichen  Gewerkvereinen  nicht  irgendwie 
weniger  schroff  entgegentraten  als  den 
sozialistischen,  bei  den  ersteren  die  Üeber- 
zeugung  zur  Geltung  gebracht,  dass  ihr  In- 
teresse sie  darauf  anweise,  bei  der  Durch- 
führung praktischer  Forderungen  mit  ihren 
principiellen    Gegnern   Hand    in   Hand    zu 


670 


Grewerkvei^ine  (Deutschland) 


g^^ien.  So  hat  Hian  denn  beiderseits  be- 
gonnen, die  gegenseitige  Bekämpfung  auf- 
zugeben, und  handelt  nach  dem  Grundsatze : 
Getrennt  rnarschieren  und  Tereint  schlagen. 

Der  Raum  gestattet  nicht,  uns  mit  den 
einzelnen  Vereinen  zu  beschäftigen ;  es  seien 
deshalb  nur  hinsichtlich  der  grossesten 
einige  Thatsachen  anzuführen,  während  bei 
den  kleineren  die  einfache  Erwähnung  ge- 
ntigen rauss. 

Der  älteste  und  bedeutendste  ist  der 
»Gewerkverein  christlicher  Berg- 
arbeiter für  den  Oberbergamtsbe- 
zirk Dortmund«.  Er  wurde  am  28.  Ok- 
tober 1894  in  Essen  gegründet  imd  bezweckt 
die  Hebung  der  moralischen  und  sozialen 
Lage  der  Bergarbeiter  auf  christlicher  und 
gesetzlicher  Grundlage  sowie  Anbahmmg 
mid  Erhaltung  einer  friedlichen  Ueberein- 
kunft  zwischen  Arbeitgebern  imd  Arbeitern. 
Insbesondere  wird  erstrebt:  die  Herbeifüh- 
rung eines  gerechten  Lohnes,  Einschränkung 
der  Schichtdauer,  Mitbestimmungsrecht  bei 
der  Verwaltung  und  Reform  des  Knapp- 
schaftswesens. Der  Verein  steht  treu  zu 
Kaiser  und  Reich.  Im  übrigen  ist  die  Er- 
örterung konfessioneller  und  politischer  Par- 
teiangelegenheiten ausgeschlossen.  Durch 
den  Eintritt  bekennen  die  Mitglieder  sich 
als  Gegner  der  sozialdemokratischen  Grund- 
sätze. Organe  sind  die  Generalversammlung, 
der  Centralvorstand  und  der  Ehrenrat;  in 
den  letzteren  können  auch  Nichtarl)eiter  ge- 
wählt werden.  Für  die  Besetzung  sämt- 
licher Organe  gilt  Parität  der  beiden  Be- 
kenntnisse. Der  Vorsitzende ,  Bergmann 
August  Brust  in  Altenessen,  ist  zugleich 
Redakteur  des  vom  Vereine  herausgegebenen, 
wöchentlich  erscheinenden  Blattes  »Der 
Bergknappe«.  Der  Verein  besitzt  eine 
Krankengeldzuscliusskasse  und  eine  Spar- 
nnd  Sterbekasse.  Obgleich  der  Verein  mit 
grosser  Mässigung  \md  Vorsicht  auftrat, 
insbesondere  die  gelegentlich  auftauchenden 
Strikeneigimgen  energisch  bekämpfte,  sind 
ihm  doch  die  Grubenbesitzer  von  Anfang 
an  schroff  entgegengetreten.  Dies  hat  zur 
Folge  gehabt,  dass  allmählich  die  Haltung 
des  Vereins  oppositioneller  wurde,  während 
umgekehrt  das  Verhältnis  zu  dem  sozialis- 
tischen Verbände  der  Berg-  imd  Hütten- 
arbeiter (dem  sogenannten  »Alten  Verbände«), 
mit  dem  man  sich  anfangs  imaufh(">rlich  in 
den  Haaren  lag,  sich  wesentlich  besserte. 
Bei  den  letzten  Knapj)schaftswahlen  ist  man 
sogar  gemeinschaftlich  vorgegangen.  Ob- 
gleich der  Verein  selbst  noch  keine  Arbeits- 
einstellung eingeleitet  hat,  so  hat  er  doch 
in  den  am  12.  April  iJSOH  ausgebi-oclienen 
Strike  am  Piesbergc  habhaft  ein,i::egriffen, 
was  zur  Folge  hatte,  djiss  Pfarrer  Weber  in 
München-!  tladbach  ans  dem  Ehren  rate  aus- 
trat und  einen  eigenen  evangelisclien  Berg- 


arbeiterverein zu  gründen  suchte,  jedoch  ist 
das  Unternehmen  gescheitert.  Die  Bergbe- 
hörde stellte  sich  anfangs  freundlich  zu  dem 
Vereine,  doch  ist  dieses  Verhältnis  mit  der 
veränderten  Sozialpolitik  der  Regierung  küh- 
ler geworden. 

Der  Verein  hat  auch  versucht,  eine 
christliche  Organisation  der  Bergarbeiter  für 
ganz  Deutschland  herbeizuführen  durch 
den  am  31.  Januar  1897  in  Bochum  abge- 
haltenen Delegiertentag  christlicher 
BergarbeitervereineDeutschlands, 
doch  scheiterte  der  Plan  zunächst,  und  es 
wurde  nur  eine  engere  FiUilungnahme  an- 
gebahnt. Immerhin  hat  der  Verein  liier 
den  Namen  Gewerkverein  christ- 
licher Bergarbeiter  Deutschlands 
angenommen.  Der  Umfang  des  Vereins  ist 
anfangs  langsam,  dann  aber  ziemlich  rasch 
gewachsen.  Während  am  31.  März  1895, 
also  ein  halbes  Jahr  nach  der  Gründung. 
4000  und  am  16.  Dezember  1895  54Ö0  Mit- 
glieder gezälüt  wurden,  hatte  sich  diese 
Zahl  am  1.  Febniar  1897  bereits  auf  8270, 
am  26.  Juni  1897  auf  15000,  am  l.  Januar 
1898  auf  21439  und  am  27.  November  1898 
auf  27  983  gehoben.  Hierbei  sollen  jedoch 
Ungenauigkeiten  untergelaufen  sein,  und  so 
winl  der  Mitgliederbestand  Ende  1899  auf 
22  000  und  am  1.  Apiil  1900  auf  23  000  an- 
gegeben. Der  Kassenbestand  belief  sich  am 
1.  Januar  1899  auf  16771  Mark. 

Das  Beispiel  des  Ruhrprebietes  hat  zur 
Folge  gehabt,  dass  sich  auch  im  Siegerlande 
eine  ähnliche  Organisation  bildete,  indem  am 
1.  Mai  1897  der  „Verein  christlicher  Beiy-, 
Eisen-,  und  Metallarbeiter  im  Sieg-Haller  In- 
dustriebezirke"  begründet  wurde,  der  am 
1.  Januar  1898  den  Namen:  „Gewerkver- 
ein der  christlichen  Berg-,  Eisen- 
und  Metallarbeiter  für  den  Oberberg- 
amtsbezirk Bonn**  annahm.  Der  Verein 
hatte  bei  seiner  Gründung  400,  am  17.  Juli  1898 
4000,  am  9.  Juli  1899  7000,  Ende  1899  8000 
und  am  1.  April  1900  10450  Mitglieder.  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  für  1898  betrugen 
4010  Mark  bezw.  2220  Mark,  Kassenbestand 
1790  Mark. 

Erheblichen  Erfolg  hat  die  christliche  Ge- 
werkschaftsbewegung unter  den  Eisenbahn- 
arbeitern  gehabt.  Kann  man  freilich  den  schon 
am  1.  Mai  1884  gegründeten  „Verband 
deutscher  Eisenbahnhandwerker  und 
Arbeiter**,  der  in  Trier  seinen  Sitz  hat,  und 
heute  2Ö638  Mitgflieder  zählt,  nicht  eigfentlich 
hierher  rechnen,  da  »seineZiele  nur  in  der  Förderung 
treuer  vaterländischer  (lesinnung  und  des  Ein- 
vernehmens mit  den  Behörden  sowie  in  der 
Pfleo^e  des  Unterst ützungfswesens  bestehen,  so 
beabsichtiget  dat^  ejjfen  der  I^ayerischeEisen- 
bahner verband,  der  Weihnachten  1896  ge- 
S:ründet  wurde,  neben  der  Schaffung  von  Unt er- 
st ützunj^skassen  luid  der  Hebung  des  Standes- 
bewusstseins auch  „Erzielung-  möjrhchst  günstiger 
Lohn-  und  Arbeitsbedingunffen**.  Der  Verein 
steht  treu  zu  Kaiser  und  Keich.  Durch  den 
Eintritt  bekennen  die  Mitglieder  sich  als  Gegner 


Gewerkvereiae  (Deutschland) 


671 


der  sozialdemokratischen  BestrebuDgfen.  Er- 
örterung konfessioneller  und  religiöser  Partei- 
angelegenheiten ist  ausgeschlossen.  Der  Ver- 
band  zählte   Ende   1897   9500,   im    September 

1898  11 000  am  31.  Dezember  1898  15  919,  Ende 

1899  17  500  und  am  1.  April  15KX)  25  0Ü0  Mit- 
glieder. Einnahme  und  Ausgabe  für  1898  be- 
trugen 11  081  Mark  bezw.  8982  Mark,  das  Bar- 
vermögen 2098  Mark.  Der  Verband  besitzt  eine 
am  1.  Oktober  1897  ins  Leben  getretene  Kranken-, 
Invaliden-  und  Sterbeunterstützungskasse,  der 
9001)  Mitglieder  angehören,  und  hat  10  Bau- 
und  Sparvereiue  begründet.  Verbandsorgan  ist 
„Der  Eisenbahner"  mit  einer  Auflage  von  12500; 
das  Blatt  bezeichnet  sich  ausdrücklich  als  ein 
„gewerkschaftliches  Organ". 

Nach  dem  Vorbilde  des  Bayerischen  hat 
sich  auch  ein  „Verband  Badischer  Eisen- 
bahnbedieusteter"  gebildet,  der  am 25.  Sep- 
tember 1898  in  Karlsruhe  gegründet  wurde,  am 
17.  November  1898  1300,  am  20.  Juli  1899 
3124,  Ende  1899  4239  und  am  1.  April  1900 
6000  Mitglieder  zählte.  Organ  des  Verbandes 
ist  ebenfalls  „Der  Eisenbahner". 

Ebenso  ist  am  18.  Februar  1900  in  Stutt- 
gart ein  „Verband  Württembergischer 
Eisenbahnbediensteter"  jfegründet,  der 
am  1.  April  1900  schon  5300  Mitglieder  zählte. 

Günstigen  Boden  haben  die  christlichen 
Gewerkvereine  auch  unter  den  Textilarbeitern 
gefunden.  Der  bedeutendste  derselben  ist  der 
am  24.  April  1898  gegründete  „Nieder- 
rheinische Verband  christlicher  Tex- 
tilarbeiter" in  Krefeld.  Derselbe  hat  den 
Zweck,  „auf  dem  Boden  der  christlichen  Sozial- 
politik und  der  gegenwärtigen  Gesellschafts- 
ordnung[  auf  gesetzlichem  Wege  die  sozialen 
und  wirtschaMichen  Interessen  seiner  Mit- 
glieder zu  fördern."  Die  Erörterung  kon- 
fessioneller und  parteipolitischer  Fragen  ist  aus- 
feschlossen.  Die  Mitglieder  bekennen  sich 
urch  ihren  Eintritt  als  Gegner  der  sozial- 
demokratischen Bestrebungen.  Es  soll  ein  ge- 
rechter und  angemessener  Lohn  und  die  Be- 
seitigung begründeter  Beschwerden  in  allen 
Arbeitsverhältnissen  angestrebt  werden.  Der 
Verband  hat  sich  bei  dem  am  16.  Januar  1899 
ausgebrochenen  grossen  Strike  der  Sammetweber 
beteiligt,  der  Ende  April  1899  mit  einem  teil- 
weisen Erfolge  endete;  dabei  wurde  übrigens 
ein  unmittelbares  Zusammengehen  mit  den 
übrigen  Gruppen,  insbesondere  dem  sozialistischen 
„Deutschen   Textilarbeiter  verbände"   abgelehnt. 

Der  Verband  zählte  im  April  1899  6400, 
Ende  1899  8500  und  am  1.  Aprü  1900  8600 
Mitglieder^  besitzt  auch  in  dem  „Christlichen 
Textilarbeiter"  ein  eigenes  Organ. 

Am  20.  November  1^98  ist  der  „Christ- 
lich-soziale Textilarbeiterverein  in 
München-Gladbach"  gegründet.  Zweck  ist 
„die  Hebung  der  wirtschaftlichen  Lage  der 
Textilarbeiter  auf  christlicher  und  gesetzlicher 
Grundlage"  möglichst  durch  Erhaltung  des 
friedlichen  Einvernehmens  mit  den  Arbeit- 
gebern und  gemeinsame  Verhandlung  über 
Wünsche  und  Beschwerden.  Der  Verband  zählte 
im  April  1899  3000  und  Ende  1899  5000  Mit- 
glieder. Organ  ist  „Der  Christliche  Textil- 
arbeiter" in  Krefeld. 

Auch  in  Bayern  hat  man  die  Organisation 
in  die  Hand  genommen  und  im  Jahre  1897  den 


„Verband  der  Textil  -  Arbeiter  und 
-Arbeiterinnenin  Bayern"  mit  dem  Sitze 
in  Augsburg  gegründet'.  Der  Verband  bezweckt 
„die  geistige  Ausbildung  und  die  Verbesserung 
der  materiellen  Lage  der  Mitglieder  auf  christ- 
licher und  gesetzlicher  Grundlage"  durch  Ver- 
handlungen jnit  den  Arbeitgebern  in  Lohn- 
fragen  sowie  bei  berechtigten  Wünschen  und 
Beschwerden.  Er  hat  eine  Krankenunter- 
stützungskasse und  eine  Gemassregeltenunter- 
stützung  ins  Leben  gerufen.  Organ  ist  „Der 
Arbeiter".  Die  Mitgliederzahl  betrug  im  April 
1899  etwa  4000,  Ende  1899  2000  und  am 
1.  April  1900  2500. 

Noch  etwas  älter  ist  der  „Chris  tl  ich - 
soziale  Textilarbeiterverband  für 
Aachen-Burtscheid",  der  am  27.  Dezember 
1897  gegründet  wurde.  Auch  er  bezweckt  Er- 
haltung friedlicher  Verhältnisse  zwischen 
Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  durch  Ein- 
setzung einer  Vermittelungsinstanz,  auskömm- 
lichen Lohn,  Begrenzung  der  Arbeitszeit  und 
Besserung  der  Arbeitsverhältnisse.  Jedes  Mit- 
glied muss  sich  „feierlich  und  öffentlich  als 
Gegner  der  ümsturzparteien  aller  Art  bekennen." 
Eine  Strikekommission  soll  über  Berechtigung 
etwa  beabsichtigter  Strikes  entscheiden,  bisher 
sind  durch  dieselbe  2  Strikes  beigelegt.  Die 
Mitgliederzahl  wird  für  April  18£&  auf  etwa 
4000,  Ende  1899  auf  2500  und  am  1.  April  1900 
auf  2700  angegeben. 

Zu  den  christlichen  Gewerkvereinen  ist 
jetzt  auch  der  im  Anschluss  an  den  grossen 
oberschlesischen  Bergarbeit erstrike  im  Mai  1889 
gegründete  „Oberschlesische  christliche 
Arbeiterverein  zu  gegenseitiger 
Hilfe"  in  Beuthen  zu  zählen,  der  freilich  nach 
seinem  Statut  vom  21.  April  189Ö  nur  Unter- 
stützungszwecke verfolgt,  aber  in  seiner  General- 
versammlung vom  27.  August  1899  seine 
Haltung  wesentlich  verändert  hat  und  nach  diesen 
Beschlüssen  einen  ausgesprochen  gewerkschaft- 
lichen Charakter  trägt,  insbesondere  die  Erzielung 
angemessener  Löhne  und  die  Einführung  der 
achtstündigen  Arbeitsschicht  erstrebt.  Der 
Verein  ist  auch  auf  dem  am  31.  Januar  1897  in 
Bochum  abgehaltenen  Delegiertentage  christ- 
licher Bergarbeitervereine  Deutsch^nds  ver- 
treten gewesen.  Die  Mitgliederzahl  betrug  am 
1.  April  1900  etwa  15000,  das  Vermögen 
70  000  Mark. 

Bei  den  bisher  genannten  Vereinen  ist  die 
Initiative  der  Gründung  von  katholischer  Seite 
ausgegangen,  und  obgleich  meist  in  den  Statuten 
ausdrücklich  die  Parität  der  beiden  Bekennt- 
nisse für  die  Besetzung  des  Vorstandes  ausge- 
sprochen ist,  so  sind  doch  die  meisten  Mit- 
glieder katholisch  und  überwiegt  deshalb  der 
katholische  Einiluss.  Entgegengesetzt  liefen 
die  Verhältnisse  in  dem  „Gewerkvereine 
der  Ziegler  in  Lippe",  dem  umgekehrt  fast 
nur  evangelische  Mitglieder  angehören.  Er  ist 
in  mehrfacher  Hinsicht  von  besonderem  Interesse, 
insbesondere  deshalb,  weil  er  eine  gemeinsame 
Organisation  von  Ziegelmeistem  und  Zieglern 
darstellt,  die  ihre  Interessen  gegenüber  den 
Ziegeleibesitzern  zu  wahren  suchen.  Zwischen 
Meistern  und  Zieglem  besteht,  soweit  es  sich 
nicht  um  Maschinen-,  sondern  um  Handziegeleien 
handelt,  ein  eigentümliches  Vertragsverhältnis, 
indem  der  Lebensunterhalt  —  alle  müssen  sich^ 


672 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


ja  während  der  Campagne  ausserhalb  ihres 
Wohnortes  aufhalten  —  gemeinsam  bestritten 
wird  (die  sog.  Kommunie),  während  von  dem 
erzielten  Gewinn  zunächst  der  „Meistervorzug" 
sowie  die  übrigen  „Vorzüge"  abgezogen,  der 
Rest  dagegen  gleichmässig  verteilt  wird.  Dies 
alles  gilt  allerdings  nur  für  die  sogenannten 
„Annehmer"  d.  h.  den  festen  Stamm  der  Arbeiter, 
etwa  Va  der  Gesamtzahl,  neben  denen  es  noch 
reine  Lohnarbeiter  giebt.  >  Obgleich  die  Inte- 
ressen zwischen  Meistern  und  Zieglem  nicht  die- 
selben sind,  ist  doch  bisher  ein  Gegensatz  nicht 
hervorgetreten,  vielmehr  hat  sich  die  höchst 
patriarchalische  Einrichtung  bewährt. 

Der  Gewerk verein  wurde  am  11.  Dezember 
1895  in  Lage  gegründet.  Zweck  desselben  ist 
„die  Hebung  der  wirtschaftlichen  Lage  des 
Zieglerstandes  und  Beseitigung  der  sozialen 
Schäden  im  Zieglergewerbe  auf  christlich-patrio- 
tischer und  gesetzlicher  Grundlage",  insbeson- 
dere Sicherung  eines  angemessenen  Verdienstes 
und  Eegelung  der  Arbeitszeit  sowie  Erhaltung 
eines  guten  Verhältnisses  zwischen  Meistern 
und  Zieglern.  Eine  Hauptschwierigkeit  bietet 
für  den  Verein  der  eigentümliche  Umstand,  dass 
die  Ziegler  überwiegend  sich  einer  weitgehen- 
den Besserung  ihrer  Verhältnisse  aus  dem 
Grunde  abgeneigt  zeigen,  weil  sie  gerade  in 
den  vorhandenen  Mängeln,  insbesondere  in  der 
übertrieben  langen  Arbeitszeit  ein  Schutzmittel 
geffen  Konkurrenz  sehen  und  bei  deren  Ab- 
stellung Ueberflutung  aus  anderen  Gegenden 
und  Berufen  fürchten.  So  wurde  im  Statut 
unter  Ablehnung  weitergehender  Anträge  nur 
eine  Arbeitszeit  von  14  Stunden  als  Ziel  aufge- 
nommen. Die  Lippesche  Regierung  steht  dem 
Vereine  sehr  günstig  gegenüber  und  ist 
in  allen  Vereins  Versammlungen  vertreten.  Der 
Verein  hat  durch  ein  Uebereinkommen  mit  den 
Ziegeleibesitzern  in  der  That  für  das  Gebiet  der 
Unterelbe  eine  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  von 
16  auf  14  und  für  1898  sogar  auf  18  '/«Stunden  unter 
gleichzeitiger  Erhöhung  der  Akkordsätze  um 
18%  erreicht.  Auch  ist  ein  Arbeitsnachweis 
und  Erteilung  von  Rechtsrat  eingerichtet.  Zur 
Regelung  des  Kommunieverhältnisses  ist  be- 
schlossen, die  Meister  zur  Führung  eines 
Kommnniebuches  zu  verpflichten;  ein  weiter- 
gehender Antrag,  den  Einkauf  der  Lebensmittel 
einer  gemeinschaftlichen  Kommission  zu  über- 
tragnen, wurde  als  geeignet,  die  Autorität  des 
Meisters  zu  untergraben,  abgelehnt.  In  Lemgo 
ist  mit  staatlicher  Hilfe  eine  Zieglerschule  er- 
richtet. 

Die  Organisation  der  Ziegeleibesitzer,  der 
Verband  der  Thonindustriellen,  hat  sich  ge^en 
den  Verein  in  schroffen  Gegensatz  gestellt,  ins- 
besondere die  Errichtung  eines  gemeinschaft- 
lichen Arbeitsnachweises  abgelehnt.  Ernstere 
Streitigkeiten  sind  bisher  nur  deshalb  unter- 
blieben, weil  die  Regierung  zu  Gunsten  des 
Vereins  ihren  Einflnss  geltend  gemacht  hat. 

Der  Verein  hat  seinen  Sitz  in  Lage. 
Er  zählte  am  10.  März  1896  2500,  am  18. 
Februar  1897  3500  Mitglieder,  doch  hat  sich 
diese'^Zahl  vermindert,  seitdem  nur  die  ihre 
Beiträge  zahlenden  gezählt  werden.  Solche 
gab  es  am  1.  Januar  1898  2623,  am  17.  Januar 
1899  3112  und  am  1.  Januar  1900  3180. 

Organe  des  Vereins  sind  die  „Lippesche 
Zieglerzeitung"  und  „Gut  Brand".    Der  Verein 


hat  sich  in  neuester  Zeit  auch  über  das  Fürsten- 
tum Lippe  hinaus  auf  die  Provinzen  Hessen, 
Westfalen  und  Hannover  ausjjedehnt  und  einen 
Landesverein  für  Hessen-Thüringen  gebildet  mit 
^iner  eigenen  Kranken-  und  Sterbekasse.  — 

Die  übrigen  Vereine  sind  aus  dem  folgenden 
Verzeichnisse  zu  ersehen,  welches  alle  am  1. 
April  1900  bestehenden  christlichen  Gewerkver- 
eine nebst  den  derzeitigen  Mitgliedziffem  ent- 
halt. Neben  jedem  Vereine  ist  das  Jahr  der 
Gründung  angegeben. 

Mitglieder 

Gewerkverein  christlicher  Bergarbeiter 
Deutschlands,  Sitz  Altenessen  (1894) .   25  200 

Verband  deutscher  Eisen bahnhand werker 
u.  -arbeiter,  Sitz  Trier  (1894)    ...   25  638 

Bayerischer  Eisenbahn  verband,  Sitz  Mün- 
chen (1896) 25  000 

Verband  badischer  Eisenbahnbediensteter, 
Sitz  Karisruhe  (1898) 6000 

Württembergischer  Eisenbahner  verband, 
Sitz  Stuttgart  (1900) s  300 

Christlicher  Gewerkverein  der  Ziegler 
in  Lippe,  Sitz  Lage  in  Lippe  (1895) .     3  180 

Niederrheinischer  Verband  christlicher 
Textilarbeiter,  Sitz  Krefeld  (1898) .    .     8  600 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterverband 
für  M.-Gladbach  und  Umgegend  (1898)     5  806 

Verein  der  Textilarbeiter  und  -arbeite- 
rinnen  in  Bayern,  Sitz  München  (1896)     2  500 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterverband 
für  Aachen,  Burtscheid  u.  Umgegend 
(1897) 2700 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterinnen- 
verband für  Aachen,  Burtscheid  und 
Umgegend  (1898) 300 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterverband 
für  Düren  und  Umgehend  (1898)  .    .        800 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterverband 
für  Eupeu  und  Umgegend  (1897)  .    .        750 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterinnen- 
verband für  Eupen  u.  Umgegend  (1898)        130 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterverbana 
für  Wipperfürth  und  Umgegend  (1898)        100 

Christlich-sozialer  Textilarbeiterverband 
für  Bocholt  und  Umgegend  (Ende  1899)     i  500 

Gewerkverein  christlicher  Berg-,  Eisen- 
und  Metallarbeiter  im  Oberbergamts- 
bezirk Bonn,  Sitz  Eiserfeld  a.  d.  Sieg 
(1897) 10650 

Sauerländischer  Gewerkverein  der  Metall- 
arbeiter (1899) 2  100 

Christlich-sozialer  Verband  der  Metall- 
arbeiter Deutschlands,  Sitz  Duisburg 
(Ende  1899) .  ^ 4  100 

Christlich-sozialer  Fach  verein  der  Former 
in  Duisburg  (1888) 83 

Berufsverband  d.  christlich-sozialen  Blei-, 
Zink-  und  chemischen  Fabrikarbeiter 
für  Stolberg  (Rheinland)  (1899)      .    .        700 

Christlicher  Holzarbeiterverband  in 
Deutschland,  Sitz  München  (Ende  1899)     2  100 

Christi.  Uhrenindus  triearbeiterverband 
Schwarzwald,  Sitz  Villingen  (1899)    .        520 

Verband  christlicher  Maurer  Deutsch- 
lands, SiU  Beriin  (1899) 2  900 

Gewerkverein  christlicher  Maurer  und 
verwandter  Berufe,  Centrale  Köln  (1898)        600 

Gewerkverein  christlicher  Metallarbeiter, 
Sitz  Köln  (1898) 100 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


673 


Mitglieder 

Berufsverein  christlicher  Schuhmacher  in 
Dortmund,  Düsseldorf,  Sitz  Köln  (1899) 
zusammen  ca.        200 

Gewerk verein  christlicher  Arbeiter  der 
Schuh-  und  liederindustrie  (Gau ver- 
band Pfalz)  (1899) 500 

Christlicher  Verein  der  Gerbereiarbeiter 
und  verwandter  Berufe  für  Siegen  u. 
Umgegend 283 

Christlich-sozialer  Verband  der  Tabak- 
und  Cigarrenarbeiter  Deutschlands,  Be- 
zirksverband Niederrhein,  Sitz  Geldern 
(Ende  1899)      .    .    .    .* 740 

Bayerischer  Verband  der  Post-  und  Tele- 
graphenbediensteten,  Sitz  München 
(1900) ? 

Gewerk  verein  christlicher  Steinarbeiter, 
Sitz  Honnef  (1900) 450 

Oberschlesischer  christlicher  Arbeiterver- 
ein, Sitz  Beuthen  (1889)    .    .         ..    15000 

Christi.  Gewerkschaft  in  Frankfurt  a.  M. 

(1899) 400 

Ausserdem  bestehen: 

Verein  Arbeiterschutz  mit  Sektionen  der 
Schneider,  Schneiderinnen  und  Kon- 
fektionsarbeiter, der  Bauhandwerker, 
Metallarbeiter,  Hafner,  Schuhmacher, 
städtischen  Arbeiter  etc.  in  München 
(1896) zusammen     2  503 

Verein  Arbeiterschutz  mit  Sektionen  der 
Bauhandwerker,  Metallarbeiter,  Holz- 
arbeiter, Textilarbeiter  in  Stuttgart 
zusammen  ca.        300 

Verein  Arbeiterschutz  mit  Fachsektionen 
der  Metallarbeiter ,  Holzarbeiter, 
Schneider,  Schlächtergesellen  und  ge- 
mischte Gruppe  in  Berlin 610 

Berufsverein  christlicher  Gastwirtsge- 
hilfen, Köln;  Verband  der  in  kauf- 
männischen Gewerben  etc.  beschäftig- 
ten Arbeiter;  Berufsverein  der  graphi- 
schen Gewerbe ca.        150 

Dazu  kommen  noch  die  Arbeiterschutz- 
vereine in  Regensburg  mit  300,  Stuttgart 
mit  400,  Freiburg  mit  400,  Amberg  mit 
200,   Würzburg,  Augsburg  und  Nürnberg 


mit  zusammen  500  Mitgliedern.  In  aller- 
neuester  Zeit  haben  sich  in  Württemberg 
christliche  Vereine  gebildet,  von  denen  die 
Holzarbeiter  260,  die  Bauhandwerker  408, 
die  Metallarbeiter  338,  die  Textilarbeiter  218 
Mitglieder  zählen. 

Hiernach  ist  die  Gesamtzahl  der  am 
1.  Apiil  1900  in  christlichen  (Jewerkvereinen 
zusammengefassten  Arbeiter  auf  161517  zu 
berechnen.  Soweit  die  Vereine  nicht  ihre 
eigenen  Organe  besitzen,  bedienen  sie  sich 
als  solcher  der  oben  genannten  Blätter: 
»Der  Arbeiter*  und  »Der  Eisenbahner«, 
sowie  des  in  Köln  erscheinenden  »Christ- 
lichen Arbeiterfreundes«.  — 

So  jung  die  Bewegung  bis  jetzt  noch  ist, 
so  hat  man  doch  bereits  nach  dem  Muster 
der  sozialistischen  Gewerkschaften  und  der 
Hirsch-Dunckerschen  Vereine  die  Bildung 
eines  Gesamtverbandes  der  christ- 


lichen Gewerkvereine  ins  Auge  ge- 
ilst. Nachdem  man  sich  auf  den  beiden 
am  8.  Dezember  1898  in  Köln  und  am  12. 
desselben  Monats  in  Ulm  stattgefimdenen 
Vorkonferenzen  über  die  Grundfragen  ver- 
ständigt hatte,  wurde  dann  am  21.  und  22, 
IVIai  1899  der  erste  Kongress  christ- 
licher Gewerkvereine  Deutsch- 
lands abgehalten  unter  Beteiligung  von  30 
norddeutschen  und  18  süddeutschen  Abge- 
ordneten als  Vertretern  von  37  Gewerk- 
vereinen bezw.  Fachabteilungen,  wovon  19 
mit  55661  Mitgliedern  auf  Norddeutschland 
entfielen.^) 

Man  einigte  sich  über  folgende  Leitsätze: 

1.  „Die  Gewerkvereine  sind  interkonfessionell 
und  politisch  unparteiisch. 

2.  Es  ist  die  Vereinigung  gleichartiger 
Gewerkvereine  in  Centralverbänden  anzustrefcn. 

3.  Die  Aufgabe  der  christlichen  Gewerk- 
vereine besteht  in  der  wirtschaftlichen,  geistigen 
und  sittlichen  Hebung  des  Arbeiterstandes. 
Dieselbe  ist  zu  erstreben  durch 

a)  Durchführung  der  bestehenden  gesetz- 
lichen Bestimmungen  und  Förderung  des 
weiteren  Ausbaues  der  Arbeiterschutzge- 
setzgebung, 

b)  genossenschaftliche  Selbsthilfe  (Unter- 
stützungsergänzungskassen), 

c)  Sicherung  der  Redite  und  Freiheit  des 
Arbeiters  bei  Abschluss  des  Arbeitsver- 
trages. 

4.  Die  p^esamte  Thätigkeit  der  christlichen 
Gewerkvereme  ist  getragen  von  der  Aner- 
kennung gleicher  beiderseitiger  Rechte  und 
Pflichten  von  Arbeitern  und  Arbeitgebern. 
Arbeit  und  Kapital  sind  die  aufeinander  an- 
gewiesenen Faktoren  der  Produktion." 

Es  wurde  ein  Centralausschuss  aus  7  nord- 
deutschen und  6  süddeutschen  Mitgliedern  ge- 
wählt, um  die  weitere  Förderung  der  Sache  in 
die  Hand  zu  nehmen. 

Am  18.  März  1900  hat  dann  in  HOnchen 
der  erste  Kongress  der  christlichen 
Gewerkvereine  Bayerns  stattgefunden, 
auf  dem  beschlossen  wurde,  ein  bayerisches  Ge- 
werkschaftskartell mit  dem  Sitze  in  München 
zu  begründen,  das  aus  einem  besoldeten  Sekretäj* 
und  7  Ausschussmitgliedem  bestehen  soll. 

6.  Sonstige  gewerkschaftliche  Organi- 
sationen. Ausser  den  bisher  unter  1 — 5 
behandelten  Vereinigungen  giebt  es  noch 
einige,  die  sich  keiner  dieser  Gruppen  zu- 
zählen lassen  und  die  deshalb  hier  kurz  er- 
wähnt werden  sollen. 

Die  erste  derselben  ist  der  bereits  im 
Zusammenhange  mit  dem  deutschen  Buch- 
druckerverbande berührte  Gutenberg- 
bund.  Gelegentlich  des  grossen  Strikes 
traten  manche  Mitglieder  aus  dem  Verbände 
aus,  die  mit  dessen  Haltimg  nicht  zufrieden 
waren.  Ausserdem  gab  es  schon  vorher 
eine  »Freie  Vereinigung«  und  mehrere  Orts- 
verbände.    Für  diese   Nichtmitglieder    be- 

^)  Die  Ziffer  für  Süddeutschland  ist  in  dem 
Berichte  nicht  angegeben. 


Handwörterbnch  der  Staatswiasenschaften.    Zweite  Aallage.    lY. 


4S 


674 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


stand  auch  ein  Organ,  der  »Typograph«.  End- 
lich gründete  man  am  3.  September  1893 
in  Erfurt  den  »Gntenbergbund«  zu  dem 
Zwecke,  einen  Zusammenschluss  für  alle 
diejenigen  Buchdruckergehilfen  herzustellen, 
die  dem  Verbände  und  der  Gewerkschaft 
nicht  angehören.    Der  Bund  will  Kranken-, 


Invaliden-  und  Arbeitslosenunterstützung 
gewählten  und  Arbeitsnachweise  einrichten. 
Sitz  des  Bundes  ist  Berlin.  Zum  Organ 
wurde  der  »Typograph«  bestimmt. 

Die  bisherige  Entwickelung  zeigt  folgende 
Tabelle : 

Es  ergaben  sich  am  Schlüsse  des 


Jahres 

Orts- 
vereiue 

Mitglieder 

Einnahmen 

aus 
Beiträgen 

M. 

Geleistete 

Unter- 
stützungen 

M. 

1 

Vermögens- 
bestand 

M. 

1894 
1896 
1896 
1897 
1898 

27 

34 
40 

57 
69 

I  200 
I  420 
1570 

1925 
2800 

9222 

15  176 

36899 
46283 

64000 

2314 

14033 
24  109 

28000 

7400 

17495 
29919 

40909 

63000 

Der  Umstand,  dass  der  oben  (S.  670) 
erwähnte  »bayerische  Eisenbahnerverband«, 
obgleich  er  nach  seinen  Statuten  unpolitisch 
und  ohne  religiöse  Färbung  sein  will,  doch 
thatsächlich  der  Centrumspartei  nahe  steht, 
hat  eine  Anzahl  von  Eisenbahnarbeitern 
vom  Beitritte  femgehalten  und  zur  Bildung 
einer  Gegenorganisation  in  dem  »Verband 
baverischerEisenbahn  Werkstätten- 
und  Betriebsarbeiter«  geführt.  Der- 
selbe ist  am  23.  Oktober  1898  in  Nürnberg 
gegründet  und  bezweckt  die  Verfolgimg  rein 
gewerkschaftlicherziele,  unabhängig  von  jeder 
politischen  und  religiösen  Richtung.  Der 
Verband  ist  bestrebt,  möglichst  günstige 
Lohn-  und  Arbeitsbedingiuigen  zu  erlangen, 
will  aber  das  gute  Einvernehmen  mit  allen 
Behörden  aufrecht  erhalten.  Er  besitzt  eine 
Sterbekasse  und  ein  eigenes  Organ,  die 
»Verbandszeitung  bayerischer  Eisenbahn- 
werkstätten- und  Betriebsarbeiter«.  Die  Mit- 
gUederzahl  betrug  Ende  Juli  1899  1600  = 
40^/0  der  in  Frage  kommenden  Arbeiter. 

Der  Jahresbericht  der  Goneralkommission 
der  Gewerkschaften  für  1898  versucht  eine 
Uebersicht  aller  bestehenden  gewerkschaft- 
lichen Organisationen  zu  geben  und  stellt 
deshalb  ausser  den  eigenen  Zahlen  noch  die- 
jenigen der  Hirseh-Dunckerschen  und  der 
christlichen  Gewerkvereine  zusammen.  End- 
lich werden  noch  nach  Angaben  der  Central- 
verbände  folgende  > nicht  auf  dem  Boden 
der  modernen  Arbeiterbewegung  stehende <v 
Arbeiterorganisationen  aufgeführt. 

bei  den  Vereine  Mitglieder 

Brauern 28  3  200 

Buchdruckern 2  2  000 

Gärtnern 1  800 

Hafenarbeitern 1  140 

Konditoren 2  700 

Porzellanarbeitem    ....  21  518 

Steinsetzern 3  300 

zusammen      58  7  658 


Unter  den  beiden  Buchdruckervereinen 
sind  wahrscheinlich  der  Gutenbergbund  imd 
der  Senefelder  Bund  (Lithographen)  verstan- 
den; über  die  übrigen  Vereme  ist  nichts 
Näheres  bekannt.^) 

Eine  wichtige  Gruppe  für  die  gewerk- 
schaftliche Bewegung  bilden  die  Hand- 
lungsgehilfen. Betrachten  sie  sich  auch 
als  sozial  höher  stehend  als  die  Arbeiter 
imd  haben  sie  sich  deshalb  bisher  der  Ar- 
beiterbewegung fern  gehalten,  so  ist  doch 
volkswirtschaftlich  ein  Unterschied  nicht 
anzuerkennen.  Demgemäss  tritt  auch  in 
neuerer  Zeit  ein  merkbarer  Umschwung  in 
der  Auffassung  ein,  denn  während  früher 
die  kaufmännischen  Vereinigungen  aus- 
schliesslich gesellige  Büdungs-  und  Unter- 
stützungszwecke verfolgten,  macht  sich  jetzt 
die  Neigung  zu  sozialpolitischen  Bestrebungen 
geltend,  die  durchaus  einen  gewerkschaft- 
lichen Charakter  tragen.  Man  muss  deshalb 
2  Gruppen  von  Vereinen  unterecheiden,  eine 
ältere  Richtung,  die  noch  den  früheren 
Standpunkt  vertritt,  obgleich  auch  bei  ihnen 
schon  der  moderne  Geist  anfängt,  sich  gel- 
tend zu  machen,  und  eine  jüngere,  die 
von  den  eigentlichen  Gewerkvereinen  kaum 
verschieden  ist.  Vertreter  der  letzteren  Rich- 
tung ist  ausser  dem  zu  dem  Hirseh-Duncker- 
schen Verbände  gehörigen  »Vereine  deutscher 
Kaufleute<'  mit  4G00  Mitgliedern  und  dem 
der  Generalkommission  angeschlossenen 
'Central verbände  der  Handlungsgehilfen  und 
Geliilf innen  Deutschlands«  mit  1000  Mit- 
gliedern sowie  endlich  dem  '> Verein  für 
kaufmännische  Angestellte <.  in  Frankfurt  a.M, 
mit  319  Mitgliedern  hauptsächlich  der 
>  d  e  u  t  s  c  h  -  n  a  t  i  0  n  a  1  e  H  a  n  d  1  u  n  g  s  g  e  - 
hilfen verbände,   der   in   5  Jahren   sich 

')  Bezüglich  der  Brauer,  Gärtner  und 
Konditoren  vgl.  Oldenberg  im  L  Erg. -Band 
der  I.  Aufl.  dieses  Werkes  S.  395. 


Ge werkvei*eine  (Den tschlan d) 


6 


iO 


^ 


bis  zu  einer  Mitglieclerzalil  von  34559  (1. 
April  19(»0)  axifgesch\^ningen  hat,  offenbar  die 
thtitkräftigsten  Elemente  des  Handlungs- 
gehilfenstandes  in  sich  schliesst  und  aller 
Wahrscheinliclikeit  nach  bald  alle  übrigen 
Vereine  dieser  Art  überflügeln  wird. 

Es  liegt  nicht  im  Rahmen  dieser  Arbeit, 
die  kaufmännischen  Vereine  näher  zu  ver- 
folgen; sie  bedürfen  nur  der  Erwähnung,  um 
einen  Ueberblick  über  den  gegenwärtigen  Stand 
der  gewerkschaftlichen  Bewegung  in  Deutsch- 
land zu  geben;  deshalb  sollen  wenigstens 
die  zeitigen  Mitgliederzahlen  auch  für  die 
Vereine  der  älteren  Richtung  hier  angegeben 
werden.  Die  meisten  derselben,  und  unter 
ihnen  der  grosseste,  nämlich  der  „Verein  für 
Handlungskommis  von  1858'^  in  Hamburg,  der 
allein  58  000  Mit-glieder  besitzt,  sind  zusammen- 
geschlossen in  dem  „Deutschen  Verbände  kauf- 
männischer Vereine"  in  Frankfurt  a.  M.,  der 
im  Mai  1899  98  Vereine  (darunter  2  öster- 
reichische) mit  24832  Prinzipalen,  95528  Ge- 
hilfen, 4893  Lehrlingen  und  1862  Nichtkaufleuten, 
insgesamt  also  127115  Mitgliedern  umfasste. 
Unabhängig  von  ihm  sind  der  „Verband 
deutscher  Handlungsgehilfen"  in  Leipzig  mit 
49  406  Mitgliedern  (darunter  356  stiftenden  und 
ausserordentlichen  sowie  689  Lehrlingen),  femer 
der  „Verband  reisender  Kaufleute"  in  Leipzig 
mit  8337  Mitgliedern  (darunter  28  stiftenden) 
und  der  „Kaufmännische  Hilfsverein"  in  Berlin 
mit  8467  ordentlichen  Mitgliedern  (Gehilfen). 

Hiernach  giebt  es  in  Deutschland  362  935 
organisierte  Handlungsgehilfen,  von  denen 
man  mindestens  40860  als  im  eigentlichen 
Sinne  gewerkschaftlich  organisiert  ansehen  mnss. 
Der  üebergang  von  den  Organisation s- 
formeu,  die  bereits  ansgesprochen  gewerk- 
schaftlichen Charakter  haben,  zu  denjenigen, 
die  nur  den  Keim  zu  solcher  Entwickelnng 
in  sich  tragen  und  deshalb  als  Vorstufen 
anzusehen  sind,  ist  sehr  allmählich,  wie  es 
auch  schwer  zu  bestimmen  ist,  ob  eine  Ver- 
einigung ein  ausreichendes  Mass  von  ge- 
werkschaftlichen Elementen  zeigt,  um  sie 
auch  nur  als  solche  Vorstufe  anzusehen. 
Die  Abgrenzung  ist  deshalb  mehr  oder 
minder  willkürlich.  Um  wenigstens  einen 
Anhalt  für  die  Beiu-teilung  zu  geben, 
in  "welcher  Entwickelungsphase  sich  die 
Gewerkschaftsbildung  zur  Zeit  in  Deutsch- 
land befindet,  mögen  hier  die  Zahlen  einiger 
Organisationen  mitgeteilt  w^erden,  die  man 
zu  den  ge\verkschaftlichen  Vorstufen  wird 
rechnen  dürfen.    Es  sind  dies: 

Mitgl. 

1.  der  Verband  reichstreuer  Berg- 
arbeitervereine im  Bezirke  des 
niederschlesischen  Bergreviers  .    .       i  138 

2.  der  Verband  deutscher  Post-  und 
Teleß:raphenas8istenten    ....      14000 

3.  der  Bayerische  Verkehrsbeamten- 
verein            5  772 

4.  der  Verband  deutscher  Post-  und 
Telegraphenunterbeamten     .    .    .       6000 

5.  der  deutsche  Eisenbahnbeamten- 
verein            9000 


6.  Verein  deutscher  LokomotiA-führer 

7.  Eisenbahnverein  in  Cassel,  Arns- 
berg, Göttingen,  i*aderborn  und 
Soest  

8.  der  deutsche  Privatbeamtenverein 

9.  der  deutsche  Werkmeisterverband 

10.  Evangelische  Arbeitervereine  (359) 

11.  Katholische  Arbeitervereine  (790) 


i.-; 


640 


4600 

15234 
34962 

76998 
152969 


330313 


Die  Knappschafts  vereine,  die  Ende  1894 
477 186  Mitglieder  umfassten ,  sind  reine 
Unterstützungsvereine,  die  hier  nicht  in 
Betracht  kommen. 

7.  Abschlass.  So  unsicher  die  oben 
im  einzelnen  mitgeteilten  Ziffern  sind,  so 
hat  es  doch  Interesse,  sie  zu  dem  Zwecke 
zusammenzustellen,  um  einen  Ueberblick 
über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Gewerk- 
schaftsbewegung zu  erhalten,  insbesondere 
aber  das  Verhältnis  der  organisierten  zu 
den  nicht  organisierten  Arbeitern  zu  er- 
mitteln. 

Beschränken  wir  uns  zunächst  auf  die- 
jenigen Organisationen,  denen  wir  einen 
ausgesprochen  gewerkschaftlichen  Charakter 
glaubten  beimessen  zu  düifen,  so  erhalten 
wir  folgendes  Ergebnis: 

Mitglieder 

1.  Hirsch-Dunckersche  Gewerkvereine     88279 

2.  Sozialistische  Gewerkschaften: 

a)  Centralorganisationen  .    .    .   493  742 

b)  Lokalorganisationen     .    .    .      17500 

3.  Christliche  Gewerkvereine   .    .    .    161  517 

4.  Gutenbergbund 2  800 

5.  Verband  bayerischer  Eisenbahn- 
werkstättenarbeiter            1 600 

6.  die  übrigen  oben  (S.  674)  aufge- 
führten Organisationen  (nach  Ab- 
zug  von   rund   1800   Mitgliedern 

für  den  Gutenbergbund)  ....       5  858 

7.  gewerkschaftl.  organisierte  Hand- 
lungsgehilfen   35  260 

8Ö6"556~ 

Diese  Zahlen  sind  aber  aus  dem  Grunde 
zu  niedrig,  weil  es  in  sehr  vielen  Orten 
kleine  Vereinigimgen  von  Arbeitern  der  ver- 
schiedensten Berufe  giebt,  die  sich  bisher 
der  öffentlichen  Kenntnis  entzogen  haben. 
Oldenbcrg  in  seinem  Artikel  a.  a.  0.  S.  397 
legt  die  Angaben  des  Polizeipräsidenten  in 
Berlin  zu  Grunde  und  erhält  danach  noch 
120000  Mitglieder  solcher  lokaler  Vereine, 
die  er  mit  Rücksicht  auf  wahrscheinliche 
Doppelzählungen  auf  40—80000  ermässigt. 
Setzen  wir  sie  unseren  eigenen  Ziffern  liin- 
zu,  so  ergiebt  sich  eine  Gesamtzahl  von. 
etwa  850  000.  Berücksichtigen  wir  da- 
gegen auch  noch  die  oben  erwähnten  Ver- 
einigungen, die  wir  als  Vorstufen  der  ge- 
werkschaftlichen Organisation  bezeichneten, 
und  bringen  von  der  dort  ermittelten  Ziffer 
zu  330313  mit  Rücksicht  darauf,  dass  ins- 
besondere von  den  Angehörigen  der  katho- 

43* 


676 


Gewerkvereine  (Deutschland) 


lischen  und  evangelischen  Arbeitervereine 
eine  Anzahl  zugleich  Mitglieder  der  christ- 
lichen Gewerkvereiue  sein  werden  und  dass 
die  dort  aufgeführten  Beamtenvereine  zum 
Teil  Personen  enthalten,  die  auch  nicht  im 
weiteren  Sinne  zum  Arbeiterstande  zu  rech- 
nen sind,  etwa  30000  in  Abzug,  so  erhalten 
\vir  noch  ferner  rund  300000  organisierte 
Arbeiter.  Fügen  wir  endlich  von  den 
362935  Handlungsgehilfen  die  nach  Abzug 
der  bereits  benicksichtigten  40860  noch 
verbleibenden  322075  hinzu,  so  erhöht  sich 
diese  Ziffer  auf  rund  620000  halb  Organi- 
sierte gegenüber  nmd  850000  voll  Organi- 
sierten. 

Da  es  nach  der  Benifszählung  vom 
14.  Juni  1895  in  Deutschland  12808452 
»niedere  Hilfspersonen«  giebt,  die  also  für 
die  Vergleichung  in  Betracht  kommen,  so 
entsprechen  die  850  000  bezw.  1  470  000  ge- 
werkschaftlich organisierten  Arbeiter  einem 
Verhältnis  von  6,64  bezw.  ll,46®/o.  Bringen  wir 
dagegen  die  in  den  obigen  Ziffern  enthaltenen 
weiblichen  Personen  in  Abzug  und  stellen 
die  sich  danach  ergebende  Ziffer  von  830000 
bezw.  1450000  in  Vergleich  zu  den  männ- 
lichen niederen  Hilfspersonen,  die  1895 
9071038  betrugen,  so  steigt  das  Anteils- 
verhältnis auf  9,1  bezw.  15,77  ^/o. 

Endlich  ist  aber  zu  berücksichtigen,  dass 
die  gewerkschaftliche  Organisation  sich  bis- 
her so  gut  wie  ausschliesslich  auf  Industrie 
und  Handel  beschränkt,  während  sie  für 
die  Landwirtschaft  noch  kaum  existiert,  — 
besitzen  doch  in  den  meisten  Staaten  die 
landwirtschaftlichen  Arbeiter  noch  nicht  das 
Koalitionsrecht  — ,  so  ergiebt  sich  ein  we- 
sentlich höherer  Satz,  denn  da  1895  in  In- 
dustrie und  Handel  zusammen  5831392 
männliche  »niedere Hilfspersonen«  beschäftigt 
wurden,  so  erhalten  wir  ein  Verhältnis  von 
14,24  bezw\  24,41  %. 

Ist  auch  selbst  diese  Ziffer  noch  nicht 
sehr  gross,  so  ist  doch  zu  berücksichtigen, 
dass  die  Führung  in  der  gewerkschaftlichen 
Bewegung  naturgemäss  den  grösseren  Städten 
zufällt  und  die  dort  erzielten  Errungen- 
schaften allmählich  auch  den  übrigen  Ar- 
beitern zu  gute  kommen.  Um  deshalb  die 
eigentlich  entscheidenden  Zahlen  zu  ge- 
winnen, müsste  man  die  Berechnung  auf  die 
grösseren  Städte  beschränken.  Das  Material 
hierfür  würde  kaum  zu  beschaffen  sein, 
aber  zweifellos  ist  der  Einfluss  der  organi- 
sierten Arbeiterschaft  auf  die  Gestaltung 
der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  wesentlich 
grösser,  als  es  nach  den  ermittelten  Ziffern 
scheinen  könnte,  und  ebenso  sicher  bewegt 
sich  die  gewerkschaftliche  Entwickelung 
in  Deutschland  zur  Zeit  in  stark  aufsteigender 
Richtung. 

Litter atnr :  l.  An  einer  2U8a m m e nfa säenden 
Bearbeitung     des    deutschen    Gewerksehafts- 


wesens  fehlte  es  bisher.  I>ieselbe  ist  ver- 
sucht in  dem  Buche  des  Unterzeichneten:  nDie 
Gewerkschaftsbewegung.  Darstellung  der  ge^cerk- 
schaftlichen  Organisalion  der  Arbeiter  und  der 
Arbeitgeber  aller  Ländern  (Jena  1900,  Fischer), 
wo  auch  die  in  der  obigen  Darstellung  als  U7i- 
enttpickelte  Gewerkvereine  bezeichneten  Organi- 
sationen behandelt  sind;  zugleich  ist  ein  lieber- 
blick  über  die  bisherigen  internationalen  Be- 
ziehungen gegeben.  Die  wertvollste  Materialien- 
Sammlung  für  alle  Arten  der  Organisationen 
enthält  das  von  H.' Braun  begründete  n  Sozial- 
politische CentralblcUtn,  das  seit  1.  April  1895 
unter  dem  Titel  n  Soziale  Praxis»  erscheint  xind 
jetzt  von  E.  Francke  herausgegeben  icird;  leider 
sind  meist  die  Originalquellen,  aus  denen  ge- 
schöpft ist,  nicht  angegeben. 

2.  Hirsch-Dunckersche  Gew  erkver- 
eine:  Police,  Die  deutschen  Geiperkvereine, 
StuttgaH  1879.  —  Karl  Walcker,  Die  Arbeiter- 
frage mit  besonderer  Berücksichtigung  der  deut- 
schen Gewerkvereine  (Hirsch-Duncker),  Fisenaeh 
1887.  —  Jfoop  Hirsch  f  Die  hauptsächlichsten 
Streitfragen  der  Arbeiterbewegung,  Berlin  1886.  — 
Derselbe,  Was  bezwecken  die  Gewerkvereine f 
10.  Aufl.,  Berlin  1887.  —  Derselbe,  Die  Ar- 
beiterfrage und  die  deutschen  Gewerkvereine, 
Leipzig  189S  (Festschrift),  —  Fortlaufende  Be- 
richte bringt  das  Verbandsorgan:  nDer  Gewerk- 
vereinn.  —  Eine  Vergleichung  mit  den  englischen 
trade  unions  enthält  die  Schrift  von  Max 
Hirsch,  Die  Entwickelung  der  Arbeiterberufs- 
vereine in  GrossbrUannien  und  Deutschland, 
Berlin  1896. 

8.  Die  sozialistischen  Gewerkschaf- 
ten. Das  umfassendste  Werk  ist  das  Buch  von 
Schmöle,  Die  sozialdemokratischen  Gewerk- 
schaften in  Deutschland  seit  dem  ErUisse  de» 
Sozialistengesetzes  (Jena  1896,  Fischer),  von 
dem  bis  jetzt  der  erste  vorbereitende  Teil,  der 
übrigens  auch  wertvolles  Material  aus  der  2kit 
vor  1878  enthält,  und  der  zweite,  den  Zimmerer- 
verband behandelnde  Band  erschienen  ist.  —  Seit 
1891  erscheint  das  nCorrespondenzblatt  der 
Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutsch- 
landsii,  Redaktion  und  Verlag  von  E.  Legten, 
Hamburg,  als  offizielles  Organ  der  CentrcU- 
organisaiio7ien.  lieber  die  S  Gewerkschaftskon- 
gresse 1892,  1896  und  1899  sind  im  Verlage  von 
E.  Legien  die  offiziellen  Verhandlungsberichte 
erschienen.  Bezüglich  des  Erfurter  Gewerkschafts- 
kongresses 1872  liegt  ein  im  Verlage  von  W. 
Bracke  in  Braunschweig  erschienener  Bericht 
vor.  Daneben  kommen  die  Parteiblätter,  insbe- 
sondere » Vorwärts n  und  nEchou  in  Betracht, 
Die  Arbeiterinnenbeiregung  behandeln  AdeUne 
Berger,  Die  20jährige  Ari>eiterinnenbetvegung 
Berlins,  1889,  Selbstverlag,  und  Em/ma  Ihrer, 
Die  Organisation  der  Arbeiterinnen  Deutschlands, 
Berlin  1898,  Selbstverlag. 

4.  Buchdruckerverband.  Als  Material- 
sammlung ist  wertvoll  die  von  dem  Verbands- 
vorstande herausgegebene  Schrift:  Zur  Arbeiter- 
versicherung. Geschichte  und  Wirken  eines  deut- 
schen Gewerkvereins  von  1866 — 1891.  Dan^fen 
kommen  in  Betracht  das  Verbandsorgan,  der 
M  Correspondentfür  Deutschlands  Buchdrucker  und 
Schriftgiesseru,  insbesondere  die  zur  Feier  des 
25  jährigen  Bestehens  herausgegebenen  Fest^ 
nummer  vom  20.  Mai  1891,  und  das  Organ  des 
Prinzipalvereins,    nämlich   bis   1888    die    »Mit- 


Gewerkvereine  (Deutschland — Oesterreich) 


677 


teilungen  des  deutschen  Buchdruckervereinsn  und 
seitdem  die  ^a  Zeitschrift  für  Deutschlands  Buch- 
drucker li.     Litterarische    Bearbeitungen    bieten: 

1.  Zahn,  yiDie  Organisation  der  Prinzipale 
und  Gehilfen  im  deutschen  Bucftdruckgewerben, 
in  Band  46  der  Schriften  des  Vereins  f.  Sozial- 
politik, Leipzig,  Duncker  u,  HumbloL  2.  A, 
Qerstenberg,  »Die  neuere  Entwickelung  des 
deutschen  Buchdruckgeicerbes  in  statistischer 
und  sozialer  Beziehung«,  Jena  189£,  Fischer. 
3.  Eine  eingehende  Ikirstellung  des  grossen 
Strikes  von  1891  und  der  dabei  in  Betracht 
kommenden  Verhältnisse  giebt  Tiedemann  in 
der  Zeiisehr,  f.  d.  ges.  SU-  W.  Jahrg.  öS,  S.  209 
—286. 

6.  Für  die  christlichen  Gewerkver- 
eine besteht  ausser  dem  eingangs  erwähnten 
Buche  des  Unterzeichneten  keine  litterarisehe 
Darstellung,  das  Material  muss  deshalb  aus  den 
im  Texte  angegebenen  Organen  der  einzelnen 
Vereine  n Bergknappen,  m Eisenbahnern ^  vt Arbeiter m, 
nDer  christliehe  Arbeitern,  yt  Christlicher  Arbeiter- 
freundn,  n  Westdeutsche  Arbeiterzeitung n,  n Lippe- 
sehe Zieglerzeitung n ,  » GiU  Brandn  u.  a.  ent- 
nommen werden.  Auch  einige  katholische  Tages- 
blätter, z.  B.  die  yi Kolnische  Volkszeitung n,  die 
n  Westfälische  Volkszeitung n  u.  a.  sowie  die  von 
Hit^e  herausgegebene  Zeitschrift  nArbeiterwoMn 
bringen  häufig  einschlägige  Mitteilungen.  Eine 
im  Verlage  der  »Westdeutschen  Arbeiterzeitung n 
erschienene  kleine  Schrift:  n Christliche  Gewerk- 
vereinen,  S.  Aufl.,   1900  (Arbeiterbibliothek  1.  u. 

2.  Heft)  und  eine  Broschüre  unter  gleichem  Titel 
von  F.  Weinhausenf  Berlin  1900,  Verlag  der 
itffilfen,  bieten  neben  den  neuesten  Mitglieder- 
zahlen auch  geschichtliche  Notizen  und  principielle 
Erörterungen. 

6.  Sonstige  gewerkschaftliche  Or- 
ganisationen. Auch  hier  fehlt  es  ausser  dem 
Buche  des  Unterzeichneten  an  einer  litterarischen 
Behandlung.  Materied  liefern  die  Organe  der 
im  Texte  erwähnten   Vereine. 

W,  Kutemann, 


lU.  Die  Gewerkvereine  in  Oesterreich. 

1.  Nationale,  wirtschaftliche  nnd  rechtliche 
Voraussetzungen.  2.  Vorgeschichte  und  äussere 
Entwickelung.  3.  Organisation  und  Ziele.  4. 
Die  Organisation  in  den  einzelnen  Berufen. 

1*  Kationale^  wlrtschafiliclie  nnd  recht- 
liche Toranssetrangen*  Die  Verschiedenheit 
der  Nationalitäten  macht  sich  hegreiflicherweise 
vielfach  als  Hindernis  für  die  Fortschritte  der 
Osterreichischen  Gewerkschaftsorganisationen 
geltend.  Trotz  der  unleugbaren  £rfolge  der 
internationalen  sozialdemokratischen  Bewegung 
'  sind  doch  bei  der  Vertiefung  der  nationalen 
Kämpfe  in  den  letzten  Jahren  die  Reibungen 
nationaler  Art  selbst  unter  den  sozialistischen 
Arbeitern  immer  häufiger  geworden  und  haben 
zu  einer  Sezession  der  czecho-sl  avischen  Arbeiter 
auf  politischem  wie  gewerkschaftlichem  Gebiete 
geführt.  Und  selbst  dort.,  wo  das  proletarische 
Bewusstsein  vor  dem  nationalen  sich  behauptet 
und  der  beste  Wille  zu  gegenseitiger  Verstän- 
digung vorhanden  ist,  erschwert  eben  doch  die 
Verschiedenheit  der  Sprache  ein  gemeinsames 


Vorgehen  in  hohem  Grade.  Auch  die  Ent- 
wickelung der  Fachpresse  leidet  darunter.  So 
mag  in  manchen  Berufen  die  Zahl  der  organi- 
sierten Arbeiter  beträchtlich  genug  sein,  um  die 
Herausgabe  eines  Fachblattes  zu  gestatten. 
Allein  ein  nur  in  deutscher  Sprache  ei  scheinen- 
des Organ  kann  den  slavischen  Arbeitern  des- 
selben Berufes  nicht  genügen.  So  werden  denn 
für  die  Arbeiter  eines  einzigen  Berufes  z.  B. 
bei  den  Buchdruckern,  selbst  vier  Organe  (deutsch, 
czechisch,  polnisch,  italienisch]  notwendig.  In 
der  Regel  bestehen  aber  wenigstens  für  jeden 
Beruf  deutsche  und  czechische  Blätter.  Mag 
auch  der  Inhalt  oft  derselbe  sein,  so  verursachen 
doch  Uebersetzung,  Satz  und  Druck  besondere 
Kosten.  Es  ist  deshalb  verständlich,  wenn  viele 
Gewerkschaftsblätter  nur  schwer  einen  ihren 
Bestand  vollkommen  sichernden  Leserkreis  ge- 
winnen. 

In  der  Regel  bedeutet  der  Gegensatz  der 
Nationalität  auch  einen  Unterschied  der  Lebens- 
haltung und  Bildung.  Der  deutsche  Arbeiter 
fühlt  sich  möglicherweise  bei  Arbeitsbedingungen 
schon  schwer  gedrückt,  welche  für  manche  seiner 
polnischen,  slovenischen  oder  italienischen  Ka- 
meraden eine  erfreuliche  Verbesserung  darstellen 
würden.  So  können  Bestrebungen  der  deutschen 
Arbeiter,  ihre  Lage  zu  verbessern,  durch  das 
reichliche  Angebot  genügsamerer  Arbeiter  an- 
derer Nationaütät  durchkreuzt  werden.  Solche 
Vorgänge  müssen  naturgemäss  die  vorhandenen 
nationalen  Gegensätze  vertiefen  und  ein  gemein- 
sames Vorgehen  in  Bezug  auf  den  Arbeitsver- 
trag fast  ausschliessen. 

Mag  auch  iu  den  letzten  Jahrzehnten  die 
Industrie  Oesterreichs  Fortschritte  zu  verzeichnen 
haben  (in  der  Zeit  von  1869  bis  1892  stieg  die 
Eisenerzproduktion  von  6,8  auf  9,B,  die  Braun- 
kohlenförderung von  31,2  auf  161,  die  Stein- 
kohlenförderung von  34,7  auf  92,4,  die  Produktion 
von  Frisch-Roheisen  von  2,4  auf  5,3  und  diejenige 
von  Gussroheisen  von  0,3  auf  1  Millionen  Meter- 
centner;  die  Zahl  der  Baumwollspindeln  wuchs 
von  1876  bis  1895  von  1,057000  auf  3,108000, 
diejenige  der  Feinspindeln  der  Kammgarnin- 
dustrie  innerhalb  1870—1892  von  77410  auf 
288318;  in  der  Baum  Wollweberei  zählte  man 
1876  ca.  20000.  im  Jahre  1895  65402  mecha- 
nische Webstühle,  in  der  Kammgarn weberei 
1870  4424,  1892  15300  mechanische  Webstühle), 
so  bilden  doch  auch  nach  der  letzten  Berufs- 
statistik des  Jahres  1890  die  in  der  Landwirt- 
schaft thätigen  Personen  noch  62,4%,  während 
auf  Industrie  nur  21,2,  auf  Handel  und  Ver- 
kehr 6,27o.  entfallen.  Tritt  also  die  gewerb- 
liche Thätigkeit  an  und  für  sich  schon  gegen- 
über der  landwirtschaftlichen  Produktion  in  den 
Hintergrund,  so  ist  noch  zu  beachten,  dass  inner- 
halb des  Gewerbes  handwerksmässi^e  und  haus- 
industrielle Betriebsformen  überwiegen.  Der 
fabrikmässige  Betrieb  ist,  abgesehen  von  den 
grösseren  Städten,  der  Hauptsache  nach  auf 
Nordböhmen,  Vorarlberg,  einzelne  Gebiete  Mäh- 
rens, Nieder-Oesterreicns ,  Schlesiens  und  der 
Steiermark  beschränkt.  Mögen  nun  auch  im 
Kleingewerbe  durchaus  nicht  so  gute  Zustände 
herrschen,  dass  die  Arbeiter  auf  eine  besondere 
Vertretung  ihrer  Klasseninteressen  verzichten 
könnten,  so  verhindert  doch  gerade  hier  die  oft 
allerdings  recht  trügerische  Hoffnung,  noch  ein- 
mal Meister  zu  werden,  so  manchen  Arbeiter 


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Gewerkvereine  (Oesterreicli) 


daran,  sich  hingebungsvoll  an  der  Gewerkver- 
einssache  za  beteiligen.  In  der  Hausindustrie 
lässt  wieder  das  Uebermass  wirtschaftlichen  und 
geistigen  Elends  eine  zielbewusste  und  kraft- 
volle Organisation  nur  selten  emporkommen. 

Die  unbestimmte  Fassung  des  österreichi- 
schen Vereinsgesetzes  stellt  die  gewerkschaft- 
liche Organisation  thatsächlich  ganz  in  das  Be- 
lieben der  Behörden.  Wenn  der  §  6  des  Ver- 
einsgesetzes (15.  November  1867  R.  134)  auch 
nur  Vereine,  welche  nach  ihrem  Zweck  oder 
ihrer  Einrichtung  gesetz-  oder  rechtswidrig  oder 
staatsgetährlich  sind,  verbietet,  so  haben  die 
Behörden  diesen  Begriffen  doch  oft  eine  so  weit- 
gehende Auslegung  gegeben,  dass  der  Gewerk- 
schaftsbewegung die  rechtlichen  Grundlagen 
entzogen  wurden.  Nicht  ohne  Bedeutung  ist 
auch  der  §  20  des  Vereinsgesetzes.  Derselbe 
verbietet  Vereinen,  Beschlüsse  zu  fassen,  durch 
welche  nach  Form  oder  Inhalt  der  Verein  in 
einem  Zweige  der  Gesetzgebungs-  oder  der 
Exekutivgewalt  sich  eine  Autorität  anmasse. 
Unter  Berufung  auf  diese  Bestimmung  ver- 
mochte die  Wiener  Behörde  den  Fachverein  der 
Bäcker  polizeilich  zu  sistieren,  weil  derselbe 
eine  statistische  Erhebung  über  die  Lage  der 
in  Bäckereien  beschäftigten  Arbeiter  unternom- 
men hatte! 

In  den  letzten  Jahren  haben  die  Behörden 
allerdings  ein  grösseres  Verständnis  für  die  Be- 
deutung der  Gewerkschaften  an  den  Tag  ge- 
legt und  zu  wiederholten  Malen  auch  amtliche 
Beziehungen  zu  Gewerkschaftsvertretungen  an- 

feknüpft.  So  hat  das  statistische  Departement 
es  k.  k.  Handelsministeriums  die  Gewerkschafts- 
kommission um  eine  Erhebung  über  die  von 
den  Arbeitervereinen  betriebene  Arbeits vermitte- 
lung  ersucht.  In  den  Beirat  des  arbeitsstatis- 
tischen Amtes  sind  zwei  Vertreter  der  Gewerk- 
schaftskommission ben>fen  worden,  und  es  kommt 
vor,  dass  das  Handelsministerium  die  Gewerk- 
schaf tskommission  zu  gutachtlichen  Aeusse- 
rungen  auffordert. 

Immerhin  bleiben  den  Gewerkschaften  die 
besonderen  Bestimmungen  gefährlich,  welche 
für  politische  Vereine  gelten.  Nach  §  33  des 
Vereinsgesetzes  ist  es  diesen  untersagt,  Zweig- 
vereine (Filialen)  zu  gründen.  Verbände  unter 
sich  zu  bilden  oder  selbst  mit  anderen  Vereinen, 
sei  es  durch  schriftlichen  Verkehr,  sei  es  durch 
Abgeordnete,  in  Verbindung  zu  treten.  Ob 
aber  ein  Verein  als  politischer  anzusehen  ist, 
das  bleibt  dem  Ermessen  der  Behörde  überlassen. 
Streben  nun  die  Arbeiter,  wie  es  ihre  Inter- 
essen erfordern,  nach  einer  die  lokalen  Fach- 
vereine zusammenfassenden  Organisation,  so 
müssen  sie  auf  das  sorgfältigste  alles  vermeiden, 
was  ihre  Thätigkeit  in  den  Augen  der  Behörden 
irgendwie  zu  einer  .  politischen  stempeln 
könnte. 

Zwar  ist  durch  G.  v.  7.  April  1870  das 
früher  bestandene  Koalitionsverbot  aufgehoben 
und  nach  dieser  Hinsicht  ein  dem  reichsdeut- 
schen  ähnlicher  Kechtszustand  herbeigeführt 
worden.  Dennoch  dürfte  der  österreichische 
Arbeiter  auch  in  diesem  Falle  ungünstiger  ge- 
stellt sein  als  der  deutsche.  Es  steht  nämlich 
den  Behörden  gegen  ausweis-  und  bestimmungs- 
lose Personen  ohne  erlaubten  Erwerb  und  ohne 
Einkommen  das  Recht  der  Abschiebung  in  die 
Heimatsgemeinde   zu.     Nicht  selten  wird  von 


dieser  Befugnis  gegen  strikende  Arbeiter  Ge- 
brauch gemacht. 

Eine  wichtige  Veränderung^  haben  die  recht- 
lichen Grundlagen  der  österreichischen  Gewerk- 
schaftsbewegung erfahren  durch  das  Gesetz  be- 
treffend die  Abänderung  und  Ergänzung  der 
Gew.-O.  V.  15.  März  1883.  Durch  dasselbe  werden 
für  die  Angehörigen  des  Kleingewerbes  die  Ge- 
nossenschaften obligatorisch  gemacht.  Inner- 
halb der  Genossenschaft  haben  sich  die  selb- 
ständigen Gewerbetreibenden  als  Genossen- 
schaftsversammlung, die  Gehilfen  als  Gehilfen- 
versammlung zu  konstituieren.  Die  Gehilfen- 
versammlung wählt  einen  Gehilf enaus.schuss 
und  ist  zur  Wahrnehmung  und  Erörterung  der 
Interessen  der  zur  Genossenschaft  gehörigen  Ge- 
hilfen, „soweit  die  Förderung  dieser  Interessen 
den  Zwecken  der  Genossenschaft  nicht  wider- 
streitet", befugt.  Die  genannte  Einschränkung 
unterwirft  die  Thätigkeit  der  gesetzlich  orga- 
nisierten Arbeiter  freilich  wieder  dem  Ermessen 
der  Behörden,  üeberdies  besitzen  noch  die 
Arbeitgeber  in  der  Entlassung  eine  Handhabe, 
um  sich  derjenigen  Arbeiter,  die  ihnen  etwa 
im  Gehilfenausschuss  oder  in  der  Gehilfenver- 
sammlung unbequem  werden,  leicht  zu  entle- 
digen. Gehilfen,  welche  sechs  Wochen  hindurch 
ausser  Arbeit  stehen,  dürfen  nämlich  an  der 
Gehilfenversammlung  nicht  teilnehmen  und 
gehen  auch  der  ihnen  etwa  anvertrauten  Funk- 
tionen als  Ausschussmitglieder  verlustig. 

Unter  diesen  Verhältnissen  haben  sich  die 
Arbeiter,  denen  die  staatlich  oktroyierte  Form 
der  gewerkschaftlichen  Organisation  ohnehin 
unsympathisch  war,  ursprünglich  von  jeder 
Thätigkeit  innerhalb  der  Genossenschaft  fern 
gehalten. 

Später  ist  aber  ein  Umschwung  eingetreten. 
Bei  dem  geringen  Spielraum,  welchen  die  Ver- 
einsgesetze den  Arbeitern  gewähren,  hat  man 
einsehen  gelernt,  dass  der  wenn  auch  sehr  be- 
schränkte gesetzliche  Boden,  den  die  Gewerbe- 
ordnung für  die  Gehilfenorganisation  einräumt, 
keineswegs  ganz  wertlos  ist.  Vielfach  haben 
nunmehr  die  Gehilfeuausschüsse  eine  rege  Thätig- 
keit zur  Verbesserung  der  Lage  der  Gehilfen 
unternommen,  und  die  Behörden  haben  im  all- 
gemeinen eine  neutrale  Haltung  bewahrt.  So 
wird  folgende  Resolution  verständlich,  welche 
ziemlich  übereinstimmend  mehrere  im  Jahre 
1890  abgehaltene  Gewerkschaftstage  gefasst 
haben : 

„Die  Zwangsgenossenschaften  sind  überall 
aucü  zur  Organisation  zu  benützen.  Wo  eine 
kräftige  Gewerkschaft  möglich  ist  oder  schon 
besteht,  darf  die  Genossenschaft  schon  darum 
nicht  vernachlässigt  werden, '  weil  damit  den 
Gegnern  ein  möglicherweise  sehr  gefährlicher 
Machtposten  ausgeliefert  würde.  Wo  die  Ge- 
werkschaft aus  irgend  welchen  Gründen  noch 
nicht  vorhanden  ist,  muss  die  Zwang^genossen- 
schaft  benützt  werden,  um  sie  teilweise  zu  er- 
setzen. Innerhalb  der  Genossenschaft  sind  mög- 
lichst dieselben  Ziele  zu  verfolgen,  welche  die 
Gewerkschaft  hat.  Insbesondere  sind  folgende 
Vorteile  der  Genossenschaft  kräftig  auszu- 
nutzen. 

1.  Der  Umstand,  dass  in  ihr  von  Gesetzes- 
wegeji  sämtliche  Arbeiter  vereinigt  sind,  nicht 
wie  meist  nur  in  den  Gewerkschaften  nur  die 
klarer  Denkenden  und  Energischeren.    Es  wird 


L 


Gewerkvereine  (Oesterreicli) 


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also  dort  schon  eine  Wirkung  in  die  Breite 
möglich. 

2.  Ist  der  Gehilfenausschuss  eine  ofüziell 
anerkannte  Behörde,  welcher  eine  Reihe  von 
Verhandlungen  und  Verfügungen  ohne  weiteres 
anvertraut  werden. 

Auf  die  Zusammensetzung  des  Gehilfenaus- 
schusses aus  zielbewussten  Genossen  ist  darum 
in  erster  Linie  und  überall  hinzuwirken.  Der- 
«elbe  wird  dann  die  ihm  von  der  Gewerbeord- 
nung eingeräumten  Befugnisse  im  Sinne  der 
wahren  Interessen  der  Arbeiterschaft  ausnutzen. 
Vor  allem  wird  er  überall  die  Arbeitsvermitte- 
lung, die  Regelung  des  Lehrlingswesens  und 
die  Herstellung  einer  Statistik  in  die  Hand 
nehmen."* 

Zwei  von  der  Regierung  am  17.  Juni  1891 
eingebrachte  Vorlagen  („Gesetz  betr.  die  Ein- 
führung von  Einrichtungen  zur  Förderung  des 
Einvernehmens  zwischen  den  Gewerhsunter- 
nehmern  und  ihren  Arbeitern",  Beilage  191  z. 
d.  stenogr.  Protok.  d.  öst.  Abgeordnetenh.  XL 
Session,  1891  und  „Gesetz  betr.  die  Errichtung 
von  Genossenschaften  beim  Bergbau",  Beil.  190) 
heabsichtigten  die  bei  der  staatlichen  Organi- 
sation des  Kleingewerbes  zum  Ausdrucke  ge- 
langten Grundgedanken  auf  Grossindustrie  und 
Bergbau  zu  erstrecken. 

Es  ist  indes  nur  der  Gesetzentwurf  hin- 
sichtlich des  Bergbaues  am  14.  August  1896 
zum  Gesetz  erhoben  worden.  Auch  hier  hat 
sich  die  Arbeiterschaft  ursprünglich  ablehnend 
verhalten,  beginnt  aber  neuerdings  den  passiven 
Widerstand  fallen  zu  lassen.  So  nahm  eine  am 
25.  Juni  1899  in  Kladno  ahgehaltene  Konferenz 
der  Bergarbeiter  des  Kladnoer,  Smichover  und 
Schlauer  Steinkohlenrevieres  folgende  Resolution 
an:  „Die  Konferenz  verwirft  die  Institution 
der  Bergbaugenossenschaften  als  eine  reaktionäre 
Massregel  und  perhorresciert  deren  Errichtung. 
Da  jedoch   diese  Institution  zwangsweise  und 

fegen  den  Willen  der  Arbeiter  errichtet  und 
ie  Wahlen  von  der  Behörde  durchgeführt  wer- 
den könnten,  geben  die  Bergarbeiter  der  ge- 
nannten Reviere  ihre  bisherige  passive  Haltung 
gegenüber  den  Bergbaugenossenschaften  auf  und 
werden  sich  an  den  Wahlen  beteiligen,  um  eine 
Handhabung  des  Gesetzes  zum  Nachteile  der 
Arbeiter  zu  verhindern." 

2.  Yorgesehiclite  und  äussere  Entwicke- 
lung.  Die  äussere  Entwickelung  des  Gewerk- 
Bchafts Wesens  läuft  in  Oesterreich  so  ziemlich 
mit  der  allgemeinen  politischen  Arbeiterbewe- 
gung parallel.  Die  Anfänge  beider  Bewegungen 
fallen  in  die  60  er  Jahre,  in  welchen  die  reichs- 
deutsche  Arbeiterbewegung  in  Oesterreich  einen 
starken  Wiederhall  fand.  Die  berühmte  grosse 
Demonstration  der  Wiener  Arbeiter  vor  dem 
Parlamente  im  Jahre  1869  verschaifte  der  öster- 
reichischen Arbeiterschaft  das  Koalitionsrecht, 
und  der  wirtschaftliche  Aufschwung  jener  Zeit 
gewährte  zur  erfolgreichen  Ausnutzung  des- 
selben bald  auch  den  nötigen  wirtschaftlichen 
Rückhalt  Nach  einer  Uebersicht,  welche  aus 
dem  Jahre  1874  stammt,  gab  es  in  Wien  eine 
grössere  Zahl  von  Gewerkvereinen.  Organisiert 
erscheinen  die  Anstreicher ,  Gold-  und  Metall- 
schläger, Lackierer,  Maler  und  Vergolderge- 
hilfen, die  Buchbinder,  die  Buchdnicker  und 
Schriftgiesser ,  die  Geschäftsdiener,  die  Glaser, 
die  Gold-  und  Silberarbeiter,  die  Handschuh- 


macher, die  Manufakturarbeiter,  die  Metallar- 
beiter, die  Musikinstrumentenmacher,  die  Sattier, 
die  Schuhmacher  etc.  Auch  in  den  Provinzial- 
hauptstädten  bestanden  Fachvereine.  Noch  war 
aber  das  Verständnis  für  den  Wert  dauernder 
Organisationen  unter  den  Arbeitern  wenig  ent- 
wickelt. Viele  traten  einem  Gewerkverein  nur 
hei,  um  dessen  Unterstützung  bei  irgend  einer 
Forderung  zu  erlangen.  War  diese  erfüllt,  so 
Hessen  sie  sich  nicht  mehr  im  Vereine  sehen. 
Der  bleibende  Erfolg  dieser  ersten  Gewerkver- 
einsbewegung  war  immerhin  der,  dass  fast  über- 
all eine  würdigere  und  anständigere  Behand- 
lung der  Arbeiter  durchgesetzt  und  die  Arbeits- 
zeit reduziert  wurde.  Die  etwa  errungenen 
Lohnerhöhungen  verschwanden  allerdings  gröss- 
tenteils wieder  nach  dem  Eintreten  der  wirtschaft- 
lichen Krise. 

Die  langandauemde  Krise  entzog  den  Ar- 
beitern indes  nicht  nur  die  bereits  gewonnenen 
Positionen,  sie  rief  auch  eine  Spaltung  in  der 
Arbeiterbewegung  selbst  hervor.  Der  Anarchis- 
mus gewann  in  ihr  schliesslich  das  Ueberge- 
wicht,  und  die  anarchistischen  Verbrechen  führ- 
ten zur  Verhängung  eines  Ausnahmezustandes. 
So  wurden  viele  Vereine  teils  von  den  Be- 
hörden aufgelöst,  teils  verloren  sie  so  viele  Mit- 
glieder, dass,  wenn  überhaupt  noch  von  einer 
Existenz,  jedenfalls  nur  von  einer  Scheinexistenz 
gesprochen  werden  konnte. 

Erst  Ende  der  80  er  Jahre  nahm  die  öster- 
reichische Arbeiterbewegung  mit  dem  Eintritte 
Dr.  V.  Adlers  in  dieselbe  einen  neuen  Auf- 
schwung. Die  anarchistischen  Elemente  wurden 
zurückgedrängt  oder  wieder  als  fügsame  Glieder 
in  die  sozialdemokratische  Organisation  einge- 
ordnet. 

Auf  dem  Parteitage  zu  Hainfeld  im  Jahre 

1888  gelang  es,  diese  Reorganisation  der  Partei 
zum  Abschlüsse  zu  bringen.  Für  die  Förde- 
rung gewerkschaftlicher  Verbände  gewann  in- 
des erst  das  Jahr  1890  eine  grössere  Bedeutung. 
Die    zahlreichen    Arbeitseinstellungen,    welche 

1889  auch  von  selten  der  österreichischen  Ar- 
beiter unternommen  worden  waren,  wegen  un- 
genügender Organisation  aber  nur  selten  zu 
Erfolgen  geführt  hatten,  einerseits,  die  glänzend 
ausgefallene  Maidemonstration  des  JalLres  1890 
andererseits  scheinen  der  Parteileitung  die 
Ueberzeugung  verschafft  zu  haben,  dass  der 
Zeitpunkt  gekommen,  um  neben  der  politischen 
Organisation  auch  wieder  eine  fachgewerbliche 
zu  begründen.  Am  7.  und  8.  September  1890 
„tagten"  in  Wien  bereit«  die  Bäcker,  die  Tischler, 
die  Drechsler,  die  Schuhmacher  und  die  Hut- 
macher. Alle  diese  Versammlungen,  die  aus 
allen  Teilen  der  Monarchie  gut  beschickt  waren, 
berieten  über  eine  das  .ganze  Reich  umfassende 
Gewerkschaftsorganisation  der  betreffenden  Ar- 
beiter. In  Kuttenberg  tagten  die  Töpfer.  Am 
1.  und  2.  November  mnd  in  Brunn  eine  Öster- 
reichische Textilarbeiterversammlung  statt ;  am 

7.  und  8.  Dezember  in  Wien  ein  Bergarbeiter-    , 
kongress,  während  der  Weihnachtsfeiertage  in 
Brunn  ein  Metall-  und  Hüttenarbeitertag  und 
ein  solcher  der  Porzellan-  und  Glasmaler.    Am 

8.  und  9.  März  1891  endlich  berieten  in  W^ien 
die  Bürsten-  und  Pinselmacher  über  ihre  Or- 
ganisation. Auch  während  des  Jahres  1891 
hatte  die  Bewegung  erhebliche  Fortschritte 
aufzuweisen.   In  Wien  tagten :  Töpfer,  Schmiede, 


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Gewerkvereine  (Oesterreicli) 


Feilenhauer  und  Bauarbeiter;  in  Prag:  Müller, 
Tischler,  Berg-  und  Hüttenarbeiter;  in  Stein- 
schönau  die  Arbeiter  der  Glas-  und  Keramik- 
warenbranche. 

Unter  diesen  Umständen  wurde  vom 
zweiten  österreichischen  sozialdemokratischen 
Parteitage  (Wien  28.  bis  30.  Juni  1891)  die 
Besprechung  der  Gewerkschaftsfrage  auf 
die  Tagesordnung  gesetzt.  Auf  ein  Referat 
des  Buchdruckers  Höger  hin  gelangte  eine 
ausfühi'liche  Resolution  ziu:  Annahme,  in 
welcher  den  Parteigenossen  der  AnschJuss 
an  die  bestehenden  gewerkschaftlichen  Or- 
ganisationen und,  wo  solche  noch  nicht  be- 
standen, deren  Gründung  empfohlen  wm'de. 
Man  ging  dabei  von  der  Erwägung  aus, 
»dass  die  gewerkschaftliche  Organisation 
einerseits  erzieherisch  und  materiell  bessernd 
zu  wirken  vermag,  dass  dieselbe,  wenn  sie 
im  sozialdemokratischen  Sinne  gehandhabt 
wird,  auf  das  politische  Leben  vorzubereiten 
imstande  ist.  Doch  erklärt  der  Parteitag 
ausdrücklich,  dass  durch  die  Gewerk- 
schaflsorganisation  die  sozialde- 
mokratische Bewegung  in  keiner 
Weise  hintangesetzt  werden  darf.« 

Eine  massgebende  Stellung  ftir  die  wei- 
tere Entwickelung  der  Dinge  gewann  die  in 
Wien  zu  stände  gekommene  Gewerkschafts- 
kommission. Als  nämlich  der  Kongress  der 
englischen  Gewerkvereine  in  Glasgow  be- 
schlossen hatte,  gleichzeitig  mit  dem  Inter- 
nationalen   Sozialisten -Kongress   in    Zürich 

1892  einen  internationalen  Gewerkschafts- 
kongress  nach  London  einzubenifen,  glaubten 
die  österreichischen  sozialdemokratischen  Ge- 
werkschaften dagegen  eine  Protestkund- 
gebung grossen  Stiles  inscenieren  zu  müssen. 
Es  wurde  zu  diesem  Zwecke  aus  den  Wiener 
Gewerkschaften  heraus  ein  Komitee  gebildet, 
dass  sich  indes  mit  der  bezeichneten  Aufgabe 
nicht  begnügte,  sondern  Fragen  der  gewerk- 
schaftlichen Organisation  überhaupt  besprach. 
Man  erachtete  eine  Centralstelle  für  die  ge- 
werkschaftliche Bewegung  als  notwendig, 
und  so  fungierte  schliesslich  dieses  Komitee 
als  provisorische  Gewerkschaftskom- 
mission  bis  zum  ersten  österreichi- 
schen  Gewerkschaftskongresse, 
der    in   Wien    vom    24    bis   26.  Dezember 

1893  stattfand.  Dieser  Kongress  ent- 
warf, entsprechend  den  Anträgen  der  Kom- 
mission, einen  allgemeinen  Plan  für  die 
gewerkschaftliche  Organisation  der  öster- 
reicliischen  Arbeiterschaft  und  boschloss, 
eine  Gewerkschaftskommission  zu  bilden,  in 
welche  aus  jeder  Industriegruppe  mindestens 
ein  Vertreter  entsendet  werden  sollte.  That- 
sächlich  wurde  die  Kommission,  da  in  einigen 
Industriegruppen  noch  gar  keine  nennens- 
werte Organisation  vorhanden  war,  nur  aus 
11  Mitgliedern  gebildet,  welche  die  Metall- 
arbeiter, Holzarbeiter,  Bekleidungsindustrie, 


Textilarbeiter,  Glas-  und  keramische  Branche, 
Lebensmittelbranche,  Bauarbeiter,  Polygra- 
phische Gewerbe,  Chemische  Industrie,  Eisen- 
bahner und  Handelsangestellte  vertraten.  Als 
Exekutivorgane  in  der  Provinz  bestimmte  die 
Kommission  in  Oberösterreich,  Niederöster- 
reich, Salzburg,  Steiermark,  Kärnthen  und  Bu- 
kowina je  1,  in  Tirol  mit  Vorarlberg,  Schlesien 
und  Galizien  je  2,  in  Mähren  5  und  in  Böh- 
men 6  Landesveilrauensmänner.  Diese  pro- 
vinziale  Exekutivorganisation  hat  in  den 
letzten  Jahren  eine  Umgestaltung  in  dem 
Sinne  erfahi-en,  dass  in  Aussig  a.  d.  Elbe, 
Reichenberg,  Brunn,  Krakau,  Graz  imd 
Trient  Landessekretäre  angestellt  worden 
sind,  neben  denen  noch  17  Distriktsver- 
trauensmänner wirken.  Die  Kommission 
errichtete  ferner  nicht  nur  ein  Sekretariat, 
aus  einem  Sekretär  (Anton  Hueber),  einem 
Kanzleibeamten  für  die  czechische  Organi- 
sation und  Korrespondenz  imd  einem  Hilfs- 
beamten bestehend,  sondern  schuf  sich  auch  in 
der  »Gewerkschaft«  ein  eigenes  Organ, 
Die  Einnahmen  der  Gewerkschaftskommission 
bestanden  in  den  Beiträgen  derjenigen  Or- 
ganisationen, aus  denen  sie  hervorgegangen 
war.  Für  jedes  einzelne  Mitglied  war  pro 
Monat  1  kr.  zu  entrichten.  Zufolge  dieser 
Bestimmung     nahm     sie     1894    4499   fl., 

1895  7818  fl.,  1896  bis  31.  Oktober 
bereits  9293  fl.  ein.  Ausserdem  fungierte 
die  Kommission  noch  als  Sammelstelle 
für  Strikeunterstützungen.  Innerhalb  der 
Zeit   vom   l.  Januar  1894   bis  31.  Oktober 

1896  gingen  bei  ihr  ein  45371  fl.  Beson- 
derer Beachtung  sind  die  Erhebungen  wert, 
welche  die  Kommission  über  die  Arbeits- 
vermittelung der  Ai'beitervereine,  über  Stärke 
und  Leistimgsfähigkeit  der  Gewerkschaften 
und  Arbeiterbild ungs vereine  und  die  vor- 
gefallenen Strikes  unternommen  hat. 

Ende  1895  ergab  sich  bei  sämtlichen  Ge- 
werkschaften eine  Mitgliederzahl  von  8881.8 
Personen,  ein  halbes  Jahr  später  bereits 
99434.  Neben  den  Gewerkschaften  wirken, 
zum  Teile  mit  verwandten  Aufgaben  befasst, 
zahlreiche  Büdungsvei*eine  mit  ungefähr 
31900  Mitgliedern.  Die  Gesamteinnahmen 
der  statistisch  erfassten  Gewerkschaften 
betrugen  vom  1.  Januar  bis  30.  Juni  1896 
492  585,88  fl.,  die  Ausgaben  300760,76  fL 
Von  den  Einnahmen  wurden  verausgabt 
9,0^/0  für  die  Fachblätter,  3,6^/0  für  Agitation, 
0,7^/0  für  Rechtsschutz,  2,8 »/o  für  Reise- 
unterstützung, 10,1  ^'o  für  Arbeitslosenunter- 
stützung, 14,3  ^/o  für  Kranken-  und  Inva- 
lidenunterstützung, 1,4  ^/o  für  Umzugskosten 
in  Sterbe-  und  Notfällen,  3,5^/0  für  Gehälter, 
0,2^/0  für  Arbeitsvermittelung,  0,9 «/o  für 
Konferenzen  und  Generalversammlungen, 
12,0  «/o  für  Kanzleierfordernisse,  12,5  ^/o  fi\r 
sonstige  Ausgaben;  39,0%  bildeten  den 
Kassestand. 


Gewerkvereine  (Oesterreich) 


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Auf  dem  vom  25.  bis  29.  Dezember  J896 
in  Wien  tagenden  IL  österreichischen 
Gewerkschaftskongress  brachen  we- 
gen Anstellung  eines  besondei*en  czechischen 
Gewerkschaftssekretärs  Zwistigkeiten  unter 
den  deutschen  und  czecliischen  Delegierten 
aus.  Der  von  dem  Kongresse  angenommene 
Kompromiss  Vorschlag :  »Die  Kommission 
wählt  einen  Sekretär  und  einen  Stellvertreter. 
Einer  von  beiden  Sekretären  muss  der 
czechischen  Sprache  in  Wort  und  Schrift 
vollkommen  mächtig  sein«  und  »die  czechi- 
schen Genossen  sollen  als  solche  durch 
zwei  Delegierte  in  der  Kommission  ver- 
treten sein«  befriedigte  die  Czechen  nicht. 
Sie  beklagten  sicli  überhaupt  über  Ver- 
nachlässigung durch  die  Kommission,  welche 
unter  ihren  6  Vertrauensmännern  in  Böhmen 
nur  einen  Czechen  habe,  während  die  Kom- 
mission den  Czechen  wieder  mangelhafte 
Beantwortung  der  ausgesendeten  statistischen 
Fragebogen  vorwarf.  Von  den  czechischen 
Arbeiterbildungsvereinen  hatten  nur  28®/o, 
von  den  deutschen  aber  70%  die  Frage- 
bogen beantwortet.  In  weiterer  Folge  haben 
die  Czechen,  wohl  infolge  der  1896  in  Wien 
mit  grosser  Schärfe  hervorgehobenen  centra- 
listischen  Tendenzen,  einen  besonderen  »Kon- 
gress  der  czecho-slavischen  Gewerkschafts- 
und Bildungs vereine«  abgehalten  und  eine 
czechische  Gewerkschaftskommission  ins  Le- 
ben gerufen.  Für  1900  weixien  sowohl  von 
der  Wiener  wie  von  der  Prager  (czechischen) 
Gewerkschaftskommission  Gewerkschaftskon- 
gresse in  Aussicht  genommen. 

3.  Organisation  und  Ziele.  Bis  auf 
die  Gegenwart  herab  hat  die  seit  Ende  der 
80  er  Jahre  in  Fluss  gekommene  Gewerk- 
schaftsbewegimg immer  und  immer  wieder 
das  Organisationsproblem  erörtern  müssen, 
und  allem  Anscheine  nach  wird  es  noch 
lange  die  Geister  beschäftigen.  Fragt  man, 
welche  Ideeen  über  Organisation  und  Auf- 
gaben der  Gewerkschaften  von  den  ver- 
schiedenen Anfang  der  90  er  Jahre  stattge- 
fundenen Berufstagen  vertreten  worden  sind, 
so  lässt  sich  folgendes  sagen: 

Allgemein  war  man  durchdmugen  von  der 
Notwendigkeit  einer  Centralisation.  Für  die 
einzelnen  Kronländer  oder  die  grösseren  Pro- 
duktionsgebiete sollten  Gewerkschaften  errichtet 
werden  mit  lokalen  Filialen,  Sektionen  oder 
Ortsgruppen.  Die  verschiedenen  Landesver- 
bände hätten  aber  in  Verbindung  zu  treten 
und  in  Wien  eine  Centralstelle  zu  errichten. 

Selbstverständlich  konnten  diese  Pl^e  nur 
zur  Ausführung  gelangen,  wenn  die  Behörde 
diese  Organisation  nicht  als  politische  ansah. 
Abgesehen  von  den  rechtlichen  Hindernissen 
waren  auch  diejenigen  nicht  zu  unterschätzen, 
welche  die  nationalen  Verschiedenheiten  be- 
dingen. Bekanntlich  sind  die  Kronländer  keines- 
wegs national  geschlossene  Gebiete. 

Als  Ziele  der  Fachorganisation  wurden 
folgende  genannt: 


1.  Die  Erweckung  und  Hebung  des  Klassen- 
bewusstseins  bei  der  gesamten  Arbeiterschaft 
des  Gewerbes. 

2.  Die  Vermittelung  von  Wissen,  Aufklä- 
rung und  BUdung. 

3.  Die  Zusammenfassung  der  Kräfte  aller 
einzelnen  zu  einer  Macht,  welche  die  wirkliche 
Durchführung  des  gesetzlichen  Arbeiterschutzes 
und  darüber  hinaus  den  stetigen  Fortschritt 
in  Bezug  auf  die  Arbeitsbedingungen,  insbe- 
sondere Abkürzung  der  Arbeitszeit  und  Erhöhung 
des  Lohnes  erzwingt  imd  so  die  gesamte  Lebens- 
haltung erhöht. 

Als  näheres  Ziel  wurde  die  zehnstündige, 
als  weiteres  die  achtstündige  Arbeitszeit  be- 
zeichnet. Sodann  sollte  auf  die  Festsetzung 
von  Minimallöhnen,  verschieden  bemessen  nach 
lokalen  Verhältnissen,  und  auf  die  Beseitigung 
der  Akkordarbeit  hingewirkt  werden. 

Die  Gewerkschaft  sollte  die  Gesamtheit  der 
im  Fache  thätigen  Arbeiter  umfassen,  also  auch 
die  Frauen  und  die  ungelernten  Hilfsarbeiter. 
Um  in  die  Verhältnisse  des  Arbeitsmarktes  die 
erforderliche  Einsicht  zu  gewinnen,  wurde  die 
Einführung  einer  Lohnstatistik  und  eine  Sta- 
tistik der  Arbeitslosen  geplant.  Im  Zusammen- 
hange damit  strebte  die  Gewerkschaft  auch  da- 
nach, die  Arbeitsvermittelung  ausschliesslich  in 
ihre  Hand  zu  bekommen.  Ferner  sollte  ein 
Fonds  zur  Unters tütznn^  der  Arbeitslosen,  eine 
Widerstandskasse  und  eine  centralistisch  orga- 
nisierte Reiseunterstützung  geschaffen  werden. 

Eine  weitere  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete 
des  Unterstützungsweseus  zu  entfalten,  lag  nicht 
im  Sinne  der  sozialdemokratischen  Leiter  der 
Bewegung.  Man  wollte  keine  „Kassensimpelei^ 
erziehen.  Vereine,  welche  eine  solche  treiben, 
machten  konservativ.  ,,Der  ihnen  Angehörige 
fühlt  sich  gegen  alle  Lebenslagen  geschützt, 
er  denkt  kaum  daran,  dass  der  Staat,  die  Ge- 
sellschaft dazu  verpflichtet  wäre,  er  wird  be- 
geisterter Apostel  der  ominösen  „Selbsthüfe" 
und  Gegner  des  Sozialismus ;  statt  des  Klassen- 
bewusstseins  wird  der  Kastengeist  in  ihm  er- 
weckt." (Kralik,  Nutzen  und  Bedeutung  der 
Gewerkschaften,  Wien  1891,  S.  15  und  16.) 

Durch  tüchtige  Organisationen  hofft  man 
den  Strike  in  sehr  vielen  Fällen  von  vornherein 
überflüssig  zu  machen,  weil  die  Arbeitgeber 
einer  geschlossenen  Organisation  gegenüber  in 
sehr  vielen  Fällen  eher  zur  Verhandlung  und 
Nachgiebigkeit  geneigt  sein  würden.  Wo  der 
Strike  aher  unvermeidlich,  sollte  er  nicht  ohne 
vorhergehendes  Einvernehmen  und  Einverständ- 
nis der  Centralstelle  der  Organisation  unter- 
nommen werden.  Arbeitseinstellungen,  die  ohne 
solche  Zustimmung  unternommen  würden,  sei 
die  Unterstützung  zu  verweigern. 

Manche  Gewerkschaften  beabsichtigten  auch 
Rechtsschutz  zu  gewähren.  Der  Fachpresse 
wurde  allgemein  grosse  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt. 

In  Bezug  auf  all  diese  Punkte  hatten  die 
verschiedenen  Arbeitertage  eine  vollkommene 
Uebereinstimmung  ergeben. 

Die  gleichen  Gedanken  kamen  in  der 
vom  IL  österreichischen  sozialdemokratischen 
Parteitage  angenommenen  Gewerkschafts- 
resolution zum  Ausdrucke. 

Man  darf  diese  Pläne  vielleicht  als  ge- 


682 


Gewerkvereine  (Oesteireich) 


mässigt  centralistische  bezeichnen.  Wo  sie 
verwirklicht  wonlen  sind,  wie  z.  B.  bei  den 
Buchdruckern,  Buchbindern  und  Hutmachern, 
haben  sie  sich  bewährt. 

Mit  der  Grilndung  der  Gewerkschafts- 
konimission kam  aber  eine  extrem  centra- 
lisierende  Richtung  zm*  HeiTschaft.  Man 
begnügte  sich  nicht  mehr  damit,  dass  die 
Arbeiter  des  gleichen  Berufes  in  ganz  Oester- 
reich  in  irgend  einer  Weise  zusammenge- 
fasst  würden,  sondern  stellte  die  Einordnung 
sämtlicher  Arbeiter  in  XVII  Industriever- 
bände oder  Gruppen  als  Ziel  auf.  (I.  Bau- 
arbeiter, IL  Bekleidungsindustrie,  III.  Berg- 
arbeiter, IV.  Chemische  Industrie,  V.  Eisen- 
und  Metallindustrie,  VI.  Gas-  und  Wasserarbeiter, 

VII.  Glas-,  Porzellan-  und  Thonwareniudustrie, 

VIII.  Graphische  Fächer  und   Papierindustrie, 

IX.  Handelsgewerbe  und  Angestellte,  X.  Holz- 
arbeiter, XI.Horn-,  Bein-  und  Schüdkrot-Industrie, 
XII.  Laudwirtschaftliche  Gruppe,  XIII.  Ijebens- 
mittelbranche,  XV.  Textilindustrie,  XVI.  Ver- 
kehrs- und  Transportwesen,  XVII.  Weibliche 
Hand-  und  Maschinenindustrie.^  Alle  verwandten 
Berufsorganisationen  sollten  sich  unter  einander 
verbinden  und  Verbände  bilden,  welche  sich 
über  das  ganze  Reich  erstreckten.  Die  Gründung 
von  kleinen  Organisationen  für  einzelne  Berufe 
sei  nur  aus  taktischen  Gründen  zu  befürworten. 
Statistik ,  Arbeitsvennittelung,  Reisennterstüt- 
zung  und  Errichtung  von  Herbergen  sollten  an 
solche  Industrieverbände  übergehen. 

Da  der  Kongrcss  von  1893  diese  Vor- 
schläge annahm,  glaubte  die  Gewerkschafts- 
koramission  1896  noch  weiter  gehen  zu 
dürfen  imd  brachte  die  vollständige  Ver- 
schmelzung aller  in  einem  Industriever- 
bande befindlichen'  Benife  in  Unionen  in 
Vorschlag.  So  sollten  z.  B.  Porzellan  maier, 
Glasschleifer  und  Ziegelarbeiter;  Kellner, 
Bäcker,  Müller,  Metzger  und  Brauer;  Buch- 
drucker, Buchbinder  und  Arbeiter  der  Papier- 
fabriken, Zimmermaler  und  Maurer  auf  jede 
besondere  Berufsorganisation  verzichten  und 
sich  lediglich  in  der  Union  der  kemmischen 
Branche,  oder  der  graphischen  Fächer  und 
Papierindustrie,  der  Lebensmittelbranche  oder 
der  Baugewerbe  zusammenfinden.  Die  über 
das  ganze  Reich  gespannten  Unionen  hätten 
als  untere  Instanzen  nur  die  Ortsgruppen 
zu  entwickeln.  Dieser  Plan  wairde  als  der 
»fortgeschritten ste<'  bezeichnet.  Man  müsse 
die  V engherzigen  Berufsorganisationen«  auf- 
geben, den  Kock  der  Branchen  abwerfen 
und  den  Menschen  hervorkehren,  an  Stelle 
des  > Schuster-  und  Schneiderstandpunktes 
müsse  der  denkende  Mensch  treten.«  Das 
war  denn  nun  selbst  centralistisch  gesinnten 
Sozialdemokraten  zu  viel  zugemutet.  Die 
Unionen  wnu*den  vom  Konp^sse  mit  37  163 
Stimmen  gegen  36555  Stimmen  bei  11221 
nicht  abgegebenen  Stimmen  verworfen. 
Ebenso  wenig  Erfolg  hatte  die  Gewerk- 
sciiaftskommissiou    mit    dem    Antrage,    die 


Beitragsleistungen  zu  iliren  Gunsten  um 
die  Hälfte  zu  erhöhen. 

Auch  die  Versuche,  auf  dem  Gebiete  der 
Arbeitskämpfe  zu  einer  massgebenderen 
Stellung  zu  gelangen,  hatten  nur  teilweise 
Erfolg. 

Schon   der    I.   Gewerkschaftskougress    von 

1893  war  genötigt  gewesen,  gegen  das  gras- 
sierende Strikefieber  Stellung  zu  nehmen.  Man 
beschloss,  dass  beabsichtigte  Strikes  bei  den 
Kronlandscentralleitungen  d.  h.  den  Kronlands- 
Vertrauensmännern  der  Gewerkschaftskomnüs- 
sion  oder  bei  dieser  selbst  angemeldet  werden 
müssten.  AngriflFsstrikes  sollten  nur  unter- 
nommen werden,  wenn  sie  von  der  Kommission 
gutgeheissen  würden.  Hielte  man  diese  Ver- 
pflichtungen nicht  ein,  so  ginge  man  des  Rech- 
tes, durch  die  Kommission  unterstützt  zu  werden, 
verlustig.  Diese  Bestimmungen  erreichten 
keineswegs  ihren  Zweck.    Auch  in  den  Jahren 

1894  und  1895  wurde  auf  die  unüberlegteste 
und  planloseste  Weise  weiter  gestriket.  So 
kam  es,  dass  von  der  Gesamtzahl  der  Striken- 
den  nur  10,82 ^o  einen  vollen,  45,10 °'o  einen 
teil  weisen  und  44,08  *>'o  gar  keinen  Erfolg  er- 
zielten. Die  Kommission  schlug  deshalb  dem 
II.  Gewerkschaftstage  ein  Strikereglement  vor, 
weUbes  bestimmte:  1.  Jede  Organisation  hat, 
wenn  sie  einen  Strike  beabsichtigt,  hiervon  die 
Gewerkschaftskommission  zu  verständigen.  Jeder 
beabsichtigte,  insbesondere  jeder  Angriifsstrike, 
welcher  von  der  Kommission  unterstützt  werden 
soll,  ist  spätestens  6Wochen  vorseinem 
Beginne  bei  der  Kronlandscentralleitung  (Lan- 
desvertrauensmännern) und  bei  der  Kommission 
anzumelden  sowie  die  Zustimmung  der  letzteren 
zum  Strike  einzuholen. 

2.  Die  Kronlandscentralleitungen  haben 
über  jeden  ihnen  zur  Anmeldung  gebrachten 
Fall  umgehend  genaue  Erhebungen  zu  pflegen, 
und  zwar  über  a)  die  veranlassende  Ursache 
zum  Strike,  b)  die  Löhne,  c)  die  Arbeitszeit, 
d)  die  Zahl  der  eventuell  am  Strike  Teü- 
nehmenden,  e)  die  Zahl  der  Verheirateten  und 
der  Kinder,  f)  die  für  den  Strike  besonders 
günstigen  oder  ungünstigen  Geschäfts-  sowie 
lokalen  Verhältnisse  und  nach  gepflogener  Er- 
hebung sofort  an  die  Gewerkschaftskommission 
Bericht  zu  erstatten  und  ihr  Gutachten  beizu- 
fügen. 

3.  Strikes,  welche  nicht  rechtzeitig  an- 
gemeldet oder  ohne  Zustimmung  der  Gewerk- 
schaftskommission begonnen  werden,  haben 
keinen  Anspruch  auf  materielle  Unterstützunff. 

Die  Drohung  konnte  ihren  Zweck  freilich 
nur  dann  vollkommen  erreichen,  wenn  die  Kom- 
mission über  reiche  Mittel  verfügte.  Sie  be- 
antragte deshalb  auch  die  Gründung  eines 
ihrer  Verfügung  unterstehenden  Reichscentral- 
strikefonds.  Dieser  sollte  durch  Beiträge  der 
einzeluen  Mitglieder  in  der  Höhe  von  1  Kr. 
pro  Monat  angesammelt  werden. 

Die  gekennzeichneten  Pläne  fanden  die 
Billigung  des  Kongresses  keineswegs  in  aUen 
Punkten.  So  wui3en  die  6  wöchentliche  An- 
meldefrist und  der  Reichscentralstrikefonds  ge- 
strichen, in  Bezug  auf  die  Abwehrstrikes  aber 
schärfere  Bestimmungen  angenommen,  als  die 
Kommission  vorgeschlagen  hatte.  Während 
man  diese  Abwehrstrikes  und  solche  Strikes,  für 


Gewerkvereine  (Oesterreich) 


683 


welche  die  Unterstützung  durch  die  Kommission 
nicht  in  Anspruch  genommen  würde,  von  der 
Anmeldepflicht  entbinden  wollte,  entschied  der 
Konerress,  dass  auch  in  Abwehrstrikes  erst  dann 
eingetreten  werden  dürfe,  wenn  eine  vorherige 
gütliche  Beilegung  des  Konfliktes  nicht  mög- 
lich war  und  der  Verband  der  betreffenden 
Branche  sich  von  der  Unmöglichkeit  einer 
solchen  Beilegung  überzeugt  hat. 

Diese  Darlegungen  lassen  erkennen,  wie 
wenig  auch  in  der  österreichischen  Gewerk- 
schaftsbewegung noch  die  Einsicht  Wurzel 
gefasst  hat,  dass  eine  zweckentsprechende 
Senifsorganisation  nicht  von  oben  herab  de- 
kretiert und  reglementiert  werden,  sondern 
von  unten  auf  organisch  erwachsen  muss. 
Es  soll  alles  möglichst  schnell  gehen  und 
sich  durcliaus  in  den  Formen,  welche  einige 
an  der  Spitze  der  Bewegung  stehende  Per- 
sönliclikeiten  für  die  besten  halten,  vollziehen. 
So  kommt  man  schliesslich  dazu,  den  unge- 
heuerlichen Gedanken  der  »Union«  zu  ver- 
treten. Weil  z.  B.  noch  wenig  Bäcker, 
Metzger,  Müller  und  Brauer  der  gewerk- 
scliaftlichen  Organisation  geneigt  sind,  dem- 
nach leistungsfähige  Müller-,  Brauer-  u.  s.  w. 
Organisationen  in  ziemlicher  Ferne  stehen, 
so  soll  eine  imponierende  Ziffer  dadurch 
gewonnen  werden,  dass  alle  diese  innerlich 
sehr  wenig  verwandten  Berufsarten  unter 
der  Flagge  der  »Lebensmittelbranche«  ver- 
einigt werden.  Innerhalb  einer  so  bunt 
zusammengewürfelten  Gesellschaft  kann  ein 
richtiges  Gewerkschaftsleben  natürlich  gar 
nicht  aufkommen.  Die  Organe  einer  Union 
sind  bei  ausbrechenden  Streitigkeiten  keines- 
wegs unbedingte  Sachverständige.  Es  hat 
also  auch  wenig  zu  sagen,  wenn  schliess- 
lich nicht  die  Ünionsorgane,  sondern  die 
allgemeinen  Gewerkschaftsorgane  (Gewerk- 
schaftskommission und  ihre  Sekretäre)  die 
Fülirung  übernehmen.  Ein  Erfolg  kann  ja 
doch  nur  durch  die  Opferwilligkeit  aller 
sozialdemokratischen  Arbeiter  überhaupt  er- 
reicht werden.  Dieses  proletarische  Soli- 
daritätsgefühl anzufeuern  ist  aber  einem 
allgemeinen  Organe  leichter  möglich  als 
einem  Fach-  oder  Unionsorgane.  Mit 
dieser  Taktik  kann  gewiss  hier  und  da  ein 
Erfolg  errungen  werden.  Der  einzelne 
Unternehmer  mag  auch  einer  noch  unvoll- 
kommen organisierten  Arbeiterschaft  nach- 
geben, wenn  er  fürchten  muss,  dass  die 
ganze  sozialistische  Arbeiterwelt  überhaupt 
für  sie  eintreten  wird.  Aber  diese  Nach- 
giebigkeit wird  rasch  ihr  Eiide  linden, 
wenn  die  Solidarität  gleichzeitig  auch  noch 
von  sehr  vielen  anderen  Arbeitern  in  An- 
spruch genommen  wird  und  die  Unter- 
nehmerkreise ebenfalls  mehr  und  mehr 
jeden  einzelnen  Strike  als  gegen  das  Unter- 
nehmertum überhau))t  gerichtet  ansehen 
und  dementsprechend  vorgehen.  Es  sind 
also    im    besten   Falle    gefährliche   Augen- 


blickserfolge, die  auf  solchen  Wegen  erzielt 
werden  können,  gefährlich,  weil  sie  die 
Gegenseite  schliesslich  zu  der  gleichen  So- 
lidarität zwingen  und  im  eigenen  Lager 
den  rationellen, .  soliden  Ausbau  der  beruf- 
lichen Organisation  zurückdrängen.  Es  ist 
auch  gar  nicht  abzusehen,  wie  so  roh  orga- 
nisierte Verbände,  wie  die  Unionen,  zu  dem 
Ideale  jeder  echt  gewerkschaftliclien  Be- 
wegung, zu  einem  körperschaftlichen  Ab- 
schluss  des  Ai'beitsvertrages  kommen  sollen. 
Eine  Vereinigung  von  Ziegeleibesitzern  kann 
doch  nicht  mit  einer  Union,  in  welcher  viel- 
leicht Porzellanmaler  und  Glasschleifer  das 
grosse  Wort  fülu-en,  über  das  Arbeitsver- 
hältnis in  den  Ziegeleien  Verträge  ab- 
schliessen,  Einigungsämter  einsetzen  u.s.w. 
Ja  es  ist  überhaupt  von  den  Anhängern  des 
Unionsgedankens  unlogisch,  selbst  nur  In- 
dustrieunionen zuzugestehen.  Was  man 
gegen  die  engeren  ßranchenorganisationen 
geltend  macht,  das  lässt  sich  schliesslich  ja 
auch  gegen  die  Unionen  ins  Feld  führen. 
Warum  soU  es  nicht  gestattet  sein,  einen 
Buchdrucker-,  Buchbinder-  oder  Papierar- 
beiterstandpunkt  einzunehmen,  wolü  aber 
einen  solchen  der  »Gxaphischen  Fächer  und 
Papierindustrie«?  Vereinigt  man  einmal 
Berufe  miteinander,  die  innerlich  gar  keine 
Verwandtschaft  besitzen,  so  hat  es  gar  kei- 
nen Sinn,  noch  Grenzen  zu  ziehen.  Die 
Vorteile  der  »Centralisation«  würden  ja  bei 
allgemeinen  Gewerkschaftsvereinen  jedenfalls 
noch  grösser  sein. 

Es  ist  nun  freilich  nicht  zu  fürchten, 
dass  die  östen^eichisciie  Gewerkschaftsbe- 
wegung dauernd  auf  solche  Abwege  gerät. 
Die  Irrtümer  der  Führer  finden  an  der  un- 
erbittlichen Logik  der  Thatsacheu  eine 
schneidige  Kritik.  Schon  jetzt  sind  dort, 
wo  man  die  Unionen  durchzusetzen 
versucht  hat  (bei  den  Metaliarbeitern 
und  den  Angehörigen  der  keramischen 
Branche)  die  Erfahnmgen  recht  ungünstig. 

So  stehen  der  „Union"  in  der  keramischen 
Branche  mit  6600  Mitgliedern  ungefähr  3(X)0 
lokalorganisierte    Berufe    derselben    Industrie 

fegenüber.  Femer  sind  die  Ziegelarbeiter  aus 
er  Union  ausgetreten  und  haben  eine  eigene 
Organisation  gegründet.  Aelmlich  steht  es  bei 
den  Metallarbeitern.  Auch  hier  haben  z.  B. 
Maschinisten,  Maschinenwärter  und  Heizer,  ferner 
Giesser  und  Metalldrucker  besondere  Vereini- 
gungen ausserhalb  der  Union  ins  Leben  gerufen. 
In  den  graphischen  Gewerben  haben  die  Buch- 
drucker die  von  den  Buchbindern  in  Aussicht 
genommene  Union  vereitelt,  und  alles  Geschimpfe 
der  „vorgeschrittenen"  Elemente  über  Reaktion, 
,,Zünftlertum",  „Berufsdünkel"  kann  an  dieser 
Abneigung  der  Arbeiter  gegen  Unionen  nichts 
ändern.  £s  scheint  mir ,  nebenbei  bemerkt, 
auch  nicht  sehr  menschlich  zu  sein,  wenn  man 
den  Arbeitern,  deren  Befriedigung  über  ihre 
Arbeitsverrichtungen  durch  die  überhand  neh- 
mende Arbeitsteilung  und  die  maschinelle  Pro- 


684 


Gewerkvereine  (Oesterreich) 


dnktion  ohnehin  schon  stark  beeinträchtig 
werden  muss,  noch  das  bischen  Berufsstolz,  die 
dürftigen  Beste  der  alten  „Handwerksehre^^ 
austreiben  will.  Ohne  Corps^eist  kommt  über- 
haupt keine  tüchtige  Organisation  zu  stände. 
Neuerdings  jagen  auch  die  Führer  der  Textil- 
arbeiter dem  Phantome  der  „Union"  nach,  wie 
die  Beschlüsse  des  am  28.  Dezember  1899  in 
Wien  abgehaltenen  Textilarbeiterkongresses 
zeigen. 

Eine  bedenkliche  Folge  der  übertriebenen 
Centralisations-  und  Schablonisierungsbestre- 
bungen  ist  auch  in  dem  Umstände  zu  er- 
blicken, dass  die  Centralorgane  der  Unionen, 
ohne  Rücksicht  auf  die  geographische  Ver- 
breitung der  vertretenen  Industrieen,  ihren 
Sitz  in  Wien  nehmen.  Es  kann  der  Ent- 
wickelung  der  Dinge  aber  wenig  frommen, 
wenn  die  gewerkschaftliche  Bewegung  einer 
Industrie,  die,  wie  z.  B.  die  Glasindustrie, 
in  Nordböhmen  koncentriert  ist,  ihre  beste 
Kraft  nach  Wien  abgeben  muss,  wo  diese 
den  persönlichen  Kontakt  mit  den  Arbeitern 
des  Berufes  verliert. 

Endlich  ist  es  unter  den  geschilderten 
Verhältnissen  auch  nicht  möglich,  das  plan- 
lose Striken  zu  verhindern.  Freilich  giebt 
es  merkwürdigerweise  auch  Gewerkschafts- 
führer, welche  dieses  Ziel  gar  nicht  an- 
streben. So  erklärte  auf  dem  zweiten  Gewerk- 
schaftskongresse der  Buchdrucker  Spitzkopf : 

„Was  das  Strikewesen  selbst  anlangt,  ge- 
stehen wir,  dass  wir  gegen  die  ceiitralisierte 
Strikemethode  Überhaupt  sind.  Wir  sehen  näm- 
lich nicht  ein,  warum  wir  nur  allgemeine  Strikes 
führen  sollen.  Warum  sollen  wir  dem  Unter- 
nehmertume  nicht  mit  der  gleichen  Brutalität 
entgegentreten:  durch  überraschende  Arbeits- 
einstellungen? Wir  müssen  sagen:  Heute  ge- 
fällt es  uns  da,  morgen  dort  zu  striken,  selbst 
auf  die  Gefahr  hin,  dass  wir  den  Strike  ver- 
lieren. Wir  müssen  die  Unternehmer  be- 
unruhigen, sie  nicht  organisieren  lassen,  und 
kein  Unternehmer  soll  wissen,  ob  nicht  morgen 
oder  Übermorgen  ein  Strike  bei  ihm  ausbricht." 
Mögen  so  unbesonnene  Elemente  auch  die 
Minderheit  bilden,  so  lange  es  üblich  ist, 
der  Hauptsache  nach  nicht  aus  eigenen 
Kassen,  sondern  auf  Kosten  der  Gesamt- 
arbeiterschaft die  Arbeitskämpfe  zu  führen, 
wird  ein  ewiges  Drängen  zum  Strike  be- 
stehen. Die  einzelnen  sagen  sich,  dass  sie 
nun  schon  so  und  so  oft  andere  Arbeiter 
bei  Strikes  unterstützt  haben,  nun  soll  die 
Solidai'ität  auch  ihnen  selbst  einmal  zu 
statten  kommen.  Und  wenn  die  Gewerk- 
schaftskommission auch  durch  die  Kronlands- 
centralleitungen  alle  möglichen  Erhebungen 
pflegen  lassen  imd  erst  auf  Grund  der  ein- 
gelieferten Akten  die  Strike-Erlaubnis  erteilen 
will,  so  ist  es  ja  klar,  dass  all  diese  Pläne 
im  •  Ernste  gar  nicht  durchgeführt  werden 
können.  Das  könnte  nicht  einmal  innerhalb 
der  ursprünglich  von  der  Kommission  ver- 
langten sechswöchentlichen  Anmeldefrist  ge- 


leistet werden.  Man  muss  sich  nur  die 
Unbehilflichkeit  selbst  tüchtiger  Handarbei- 
ter im  schriftlichen  Verkehre  vorstellen,  be- 
denken, dass  in  der  Regel  die  »Kronlands- 
oentralleituDg«  mit  den  speciellen  Verhält- 
nissen der  Industrie,  über  die  sie  nun  in 
aller  Eile  zuverlässiges  Material  beschaffen 
soll,  gar  nicht  vertraut  ist  und  dass  inner- 
halb der  7 — 8  Persönlichkeiten,  welche  in 
der  Gewerkschaftskommission  auf  Grund 
der  schriftlichen  Berichte  den  entscheiden^ 
den  Beschluss  fassen  sollen,  auch  nur  aus- 
nahmsweise jemand  gerade  mit  dem  frag- 
lichen Gewerbe  intimer  bekannt  sein  wird. 
Man  ist  also  in  den  meisten  Fällen  gar 
nicht  imstande,  auf  Grund  vollendeter 
Sachkenntnis  ein  Urteil  zu  fällen,  und  wird 
im  Zweifel  umso  eher  geneigt  sein,  die  Zu- 
stimmung zu  erteilen,  als  man  durch  sie 
ja  nur  zur  Ausschreibung  von  Sammlungen 
verpflichtet  wird.  In  der  That  zeigen  auch 
die  Ergebnisse  der  neuesten  österreichischen 
Strikestatistik,  dass  von  den  66251  im  Laufe 
des  Jahres  1898  in  Strike  getretenen  Arbeitern 
nur  4,6**/o  einen  vollen,  62,8  ^/o  einen  teil- 
weisen und  32,6  ^/o  gar  keinen  Erfolg  er- 
zielt haben.  Diese  Ziffern  deuten  nicht  da- 
rauf hin,  dass  es  der  Gewerkschaftskom- 
mission bereits  gelungen  ist,  den  Ausbruch 
aussichtsloser  Strikes  zu  verhüten. 

Wenn  somit  die  gegenwärtige  Organisa- 
tion der  österreichischen  Gewerkschafts- 
bewegiing,  von  einem  rein  gewerk- 
schaftlichen Standpunkte  aus  beurteilt, 
noch  grosse  Mängel  aufweist,  so  soll 
nicht  verkannt  werden,  dass  sie  vom 
sozialdemokratischen  Parteistandpunkte  eine 
ungleich    bessere    Censur    erhalten    muss. 

Der  Gedanke,  welcher  auf  dem  II.  österreichi- 
schen sozialdemokratischen  Parteitage  ausge- 
sprochen worden  ist,  nämlich,  dass  die  Gewerk- 
schaftsbewegung im  sozialdemokratischen  Sinne 
gehandhabt  werden  solle  und  dnrch  sie  die 
sozialdemokratische  Bewegung  in  keiner  Weise 
hintangesetzt  werden  dtirfe^  er  ist  in  Oesterreich 
gewiss  vollkommener  realisiert  worden  als  in 
irgend  einem  anderen  Lande.  Die  straffe  Cen- 
tralisation ,  die  Vereinigung  der  für  das  Ge- 
werkschafteleben massgebenden  Persönlichkeiten 
in  Wien,  dem  Sitze  der  politischen  Parteileitung, 
die  Unterstützung  der  Strikes  vorzugsweise 
durch  Sammlungen,  für  deren  Resultat  natürlich 
auch  die  Haltung  der  politischen  Parteiprease 
von  entscheidendem  Einflüsse  ist,  die  Bekämpfunsf 
selbständiger  auf  wirklicher  Berufs^meinschaft 
aufgebauter  Organisationen,  all  das  hat  das 
Aun^ommen  politisch  neutraler  oder  von  anderen 
Parteien,  etwa  der  christlich-sozialen  Richtung 
beeinflusster  Gewerkschaften  wenigstens  unter 
den  von  Wien  aus  regierten  deutschen  Arbeitern 
aufs  wirksamste  verhindert.  Einen  gewissen 
Einfluss  haben  die  Christlich-Sozialen  bis  jetzt 
nur  in  der  Eisenbahner-  und  der  Brünner  Weber- 
bewegung gewonnen.  Die  Befestigung,  welche 
die  politische  Arbeiterpartei  erfährt,  wenn  die 
Gewerkschaftsbewegung,    wie    in   Oesterreich, 


Gewerkvereine  (Oesterreich) 


685 


ganz  in  ihren  Dienst  gestellt  wird^  kann  ja  in 
einem  politisch  leistungsfähigen  Staatswesen 
nicht  zu  unterschätzende  Vorteile  zeitigen.  In 
einem  Staate  aher.  der  durch  eine  seinen  that- 
sächlichen  Bedürfnissen  so  wenig  angepasste 
Verfassung  seit  Jahren  bereits  zur  Sterilität 
verurteilt  wird,  läge  der  Ausbau  von  leistungs- 
fähigen Gewerkschaften,  die  unberührt  von  den 
Ereignissen  des  politischen,  konfessionellen  und 
nationalen  Lebens  ausschliesslich,  aber  mit  Nach- 
druck, die  Verbesserung  der  konkreten  Arbeits- 
bedingungen betreiben  würden,  wohl  weit  mehr 
im  Interesse  der  Arbeiterklasse. 

Immerhin  darf  eines  nicht  verkannt  wer- 
den: hinsichtlich  der  Pflege  des  Unter- 
slützungswesens  durch  die  Gewerkschaften 
ist  gegenüber  der  früher  in  sozialdemokra- 
tischen Kreisen  üblichen  Anfeindung  der 
»Kassensimpelei«  ein  beträchtlicher  Fort- 
scliritt  gemacht  worden.  Organisationen 
wie  diejenigen  der  Buchdnicker  und  der 
Hutmacher,  welche  sich  in  dieser  Beziehung 
schon  lange  des  rechten  Weges  bewusst 
sind,  werden  jetzt  nicht  mehr  verspottet, 
sondern  auch  offiziell  als  nachahmungswür- 
dige Muster  hingestellt.  Da  diese  Muster 
aber  nicht  von  Unionen,  sondern  nur  von 
wirklichen  Fachvereinigungen  befolgt  wer- 
den können,  besteht  die  Hoffnung,  dass  es 
schliesslich  auch  der  österreichischen  Ge- 
werkschaftsbewegung gelingen  wird,  Irrwege 
zu  vermeiden,  von  welchen  die  deutsche 
und  namentlich  die  schweizerische  Gewerk- 
schaftsbewegung, die  ursprünglich  ähnliche 
Gebrechen  wie  die  österreichische  aufzu- 
weisen hatten,  sich  bereits  abzuwenden  be- 
ginnen. 

4*  Die  Organisation  in  den  einzelnen 
Berufen«  Nachdem  die  Bäcker  1890  und 
1893  Kongresse  veranstaltet  hatten,  wurde  unter 
ihrer  Führung  1896  ein  Kongress  der  Arbeiter 
in  den  Lehensmittelbranchen  einberufen.  Nach- 
dem es  aber  nicht  gelang,  entsprechend  den  Be- 
schlüssen dieses  Kongresses,  die  Angehörigen  der 
anderen  Berufe  dieser  Industriegruppe  derartig 
zu  organisieren,  dass  sie  einen  gewichtigen  TeU 
der  G^amtorganisation  ausgemacht  hätten,  be- 
gnügte man  sich  damit,  1898  wieder  einen 
blossen  Bäckertag  einzuberufen.  Der  Kongress 
wurde  von  den  Czechen  nicht  beschickt,  da  sie 
1897  in  Prag  einen  eigenen  Kongress  der  Lebens- 
mittelarbeiter Böhmens  und  Mährens  veranstaltet 
hatten.  In  Prag  soll  es  sich  gezeigt  haben,  dass 
die  Kellner,  Brauer,  Fleischselcher  u.  s.  w.  noch 
auf  einem  „rückständigen"  Standpunkte  ver- 
harrten und  national  gesinnt  seien.  Immerhin 
hat  auch  der  deutsche  Verband  der  Lebens- 
mittelindustrie nur  in  Wien  einen  Fachverein 
der  Fleischselchergehüfen  und  in  Niederösterreich 
eine  GewerkschsSt  der  Mühlenarbeiter  zum 
Beitritte  zu  bewegen  vermocht  und  besteht  so- 
mit ganz  überwiegend  aus  Bäckern.  Die  Ge- 
werkschaft der  Bäckerarbeiter  in  Niederöster- 
reich hat  in  Verbindung  mit  den  Schwester- 
oreanisationen  eine  gute  statistische  Zusammen- 
stellnng  über  die  Arbeits-  und  Lohnverhältnisse 
im  Bä(äergewerbe,  Wien  1898,  herausgegeben. 
Der  Verein  ist  aber  so  schwach,  dass  er  1899 


nahe  daran  war,  die  Arbeitslosenunterstützung 
wieder  fallen  zu  lassen. 

Die  Berg-  und  Hüttenarbeiter  haben 
seit  1890  zu  wiederholten  Malen  allgemeine 
Kongresse  abgehalten,  wo  sie  in  der  üblichen 
Weise  einen  ganz  Oesterreich  umfassenden  Cen- 
tral verband  '  beschlossen ,  aber  infolge  meist 
unglücklich  verlaufener  Strikebewegungen  bis 
jetzt  noch  wenig  Positives  erreicht.  An  Zwis- 
tigkeiten  zwischen  Deutschen  iind  Czechen  hat 
es  namentlich  auf  dem  Wiener  Kongress  1895 
nicht  gefehlt. 

Im  Januar  1900  ist  ein  Generalstrike  der 
Kohlenarbeiter  ausgebrochen,  der  Äur  Zeit  (Mitte 
März)  noch  anhält.  Auch  in  diesem  Falle  sind 
es  nicht  die  Organisationen,  sondern  die  reich- 
lichen Unterstützungen  aus  Arbeiter-  und  Bürger- 
kreisen, welche  ein  so  langes  Ausharren  der  ca. 
60000  Strikenden  möglich  machen.  Ob  der 
St;rike  wesentliche  Verbesserungen  erringen 
wird,  ist  zweifelhaft.  Das  Abgeordnetenhaus 
ist  einer  Sozialgesetzgebung  zu  Gunsten  der 
Bergarbeiter  geneigt,  desgleichen  die  Regierung. 
Es  ist  aber  noch  fraglich,  ob  das  Herrenhaus 
zustimmt. 

Günstigere  Ergebnisse  haben  die  Buch- 
binder erzielt.  Nachdem  1896  in  Wien  ein 
Kongress  der  Vereine  der  Buchbinder  und  ver- 
wandten Berufe  Oesterreich-Ungarns  stattge- 
funden hatte,  ist  ein  Verband  der  Vereine  der 
Buchbinder  und  verwandten  Berufe  Oesterreichs 
zu  Stande  gekommen,  welcher  Ende  1898  9 
Landesvereiue  mit  14  Zahlstellen  und  1081  Mit- 
gliedern zählte.  Der  Verband  gewährt  Reise- 
Unterstützung  im  Betrage  von  40  Kreuzer  ])ro 
Ta^  an  diejenigen  Mitglieder,  welche  beim 
Reiseantritte  mindestens  ö2  W^ochen  der  Orga- 
nisation angehören.  Die  Centraiisation  der 
Konditionslosenunterstützung  wird  geplant.  Die 
beabsichtigte  Union  mit  dem  Verbände  der 
Buchdrucker  wurde  von  letzterem  abgelehnt. 

Wie  im  Deutschen  Reiche  und  in  der 
Schweiz,  so  haben  auch  in  Oesterreich  die  Buch- 
drucker den  ältesten  und  leistungsfähigsten, 
voll  entwickelten  Gewerkverein  geschaflfen.  Der 
niederösterreichische  Verein  geht  auf  das  Jahr 
1842  zurück.  Da  er  1891  Mitglieder,  welche 
wegen  der  Maifeier  gemassregelt  worden  waren, 
unterstützte,  wurde  er  von  der  Behörde  aufge- 
löst, aber  am  28.  November  1891  neu  begründet. 
Ein  Gesamtverband  der  österreichischen  Buch- 
druckervereine war  schon  1881  angeregt  wor- 
den. Die  1883  ausgearbeiteten  Statuten  wur- 
den aber  ebensowenig  wie  die  eine  Centralisie- 
rung  der  Reiseunterstützung  bezweckenden  Be- 
schlüsse von  1890  von  der  Behörde  fi^nehmi^. 
Erst  1894  gelang  es,  den  „Verband  der  Vereine 
der  Buchdrucker  und  Schriftgiesser  und  ver- 
wandter Berufe  Oesterreichs"  durchzusetzen.  Er 
besteht  aus  13  Kronlandsvereinen  und  beschränkt 
sich  thatsächlich  auf  Buchdrucker  und  Schrift- 
giesser. Vom  1.  Januar  1896  ab  wurde  mit 
dem  Prinzipalvereine  für  ganz  Oesterreich  ein 
Normallohntarif,  die  9  stündige  Arbeitszeit,  ein 
Lehrlingsregulativ  und  ein  Tarifeinigungsamt 
vereinbart.  Für  Ende  1899  ist  der  Vertrag 
von  den  Gehilfen  gekündigt  worden,  und  unter 
Hinweis  auf  die  durch  die  Einführung  der  Setz- 
maschinen gesteigerte  Arbeitslosigkeit  werden 
Lohnaufbesserungen  (von  20%)  und  Herab- 
setzungen der  Arbeitszeit  (auf  8^/«  Stunden)  ge- 


686 


Ge  werk  vereine  (OesteiTeicli) 


fordert.  Der  Prozentsatz  der  nichtorg:ani8ierteii 
Buchdrucker  hat  sich  seit  189'2  ständig  ver- 
mindert: 1892  28,8  «0,  1893  21,56  °o,  1894 
19,570/0,  1895  18,86  0/0,  1896  16,97%,  1897 
15%.  Die  grössten  Vereine  sind  diejenigen  in 
Niederösterreich  und  Böhmen.  Die  Einnahmen 
des  ersteren  betrugen  1898  152055,97  Gulden, 
die  Gesamtausgaben  115831,93  Gulden,  und 
zwar  a)  für  Unterstützungen  84656,50  Gulden 
(Sterbegelder:  6575  Gulden,  Krankengelder 
37277  Gulden,  Invalidengelder  17242  Gulden, 
Waisengelder  3828  Gulden,  Arbeitslosenunter- 
stützung am  Orte  17028  Gulden,  Reiseunter- 
stützung 2122  Gulden);  b)  für  Bildungs-  und 
Organisationszwecke  15477,96  Gulden;  c)  für 
Verwaltung  7000,68  Gulden;  d)  für  ausseror- 
dentliche Ausgaben  8696,79  Gulden.  Der  Ver- 
mögensstand betrug  am  31.  Dezember  1898 
263955,57  Gulden.  Der  böhmische  Verein  ver- 
ausgabte 1898  an  Krankengeldern  23  347  Gulden, 
Invalidengeldern  8479  Gulden,  Witwen-  und 
Waisengeldern  9768  Gulden,  Arbeitslosenunter- 
stützung 9974  Gulden.  Die  Arbeitsvermittelung 
funktioniert  befriedigend,  der  Mitgliedsbeitrag 
beläuft   sich   pro  Woche  nahezu  auf  1  Gulden. 

Die  Eisenbahnbediensteten  hielten 
1896  in  Wien  einen  Kongress  ab,  auf  welchem 
20000  organisierte  Eisenbahner  vertreten  waren. 
Im  Jahre  1897  wurden  sämtliche  Organisationen 
mit  der  Begründung  aufgelöst,  dass  sie  „Ten- 
denzen verfolgen,  welche  mit  den  Staatsinteressen 
unvereinbar  sind".  Es  erfolgte  aber  eine  Neu- 
gründung, der  ,, Allgemeine  Rechtsschutz-  und 
Gewerkschafts  verein  für  Oesterreich".  In  der 
Eisenbahnerbewegung  kämpfen  sozialdemokra- 
tische und  Chris tlich-sozialeEmilüsse  mit  einander. 

Die  Arbeiter  der  Glas-,  keramischen 
und  verwandten  Industrieen  haben 
unter  dem  Einflüsse  der  Wiener  Porzellan-  und 
Glasindustriemaler  sich  zu  einer  Union  bestimmen 
lassen,  die  indes  „mit  dem  Misätrauen  und 
Widerwillen  der  Provinzgenossen"  zu  kämpfen 
hatte.  Wie  wenig  gefestigt  die  Verhältnisse 
sind,  zeigt  die  Thatsache,  dass  bei  einem  Mit- 
gliederstande von  66U0  im  Jahre  1898  4176 
ausgetreten  und  3570  eingetreten  sind.  Den 
grossen  Verschiedenheiten  in  den  Lohnbezügen 
der  Mitglieder  sucht  die  Union  durch  Aufstel- 
lung von  5  Klassen  gerecht  zu  werden,  nach 
denen  Beiträge  und  Rechte  verschieden  be- 
messen sind.  Das  Maximum  des  W^ochenbei- 
trags  beträgt 20 Kreuzer,  das  Minimum  7  Kreuzer. 
Nach  52  wöchentlicher  Mitgliedschaft  bezieht  der 
Arbeitslose  6  Gulden  bezw.  1  Gulden  20  Kreuzer. 
Die  Arbeitseinstellungen  in  der  nordwestböhmi- 
schen Porzellanindustrie  sind  unglücklich  ver- 
lauf t'n.  Dagegen  haben  die  Glasarbeiter  des 
Isergebirges  Erfolge  erzielt,  vielleicht  weil  die 
leitende  Persönlichkeit  der  Union  aus  den  Glas- 
arbeitern dieser  Gegend  hervorgegangen  ist. 

Vereine,  deren  Leistungsfähigkeit  den  Buch- 
druckern sehr  nahe  kommt,  besitzen  die  Hand- 
schuhmacher und  die  Hutni acher.  Der 
,,  Verein  für  alle  in  der  Hut-  und  Filzwaren  In- 
dustrie beschäftigten  Arbeiter  Niederösterreichs'' 
blickt  bereits  auf  einen  25  jährigen  Bestand  zu- 
rück. Innerhalb  dieser  Zeit  hat  er  verausgabt 
628552  (dulden,  und  zwar  für  Reiseunterstützung 
102397  (lulden,  für  Krankenunterstützung  und 
St»*rbesrelder  171(597  (xulden,  für  Invaliden  seit 
1885   23979  Gulden,   für  Arbeitslose    am   Orte 


seit  1882  251293  Gulden."  Der  Jahresbeitrag 
eines  Mitgliedes'  betrug  1875  21,76,  1884  35,56, 
1899  40  Gulden. 

Die  gewerkschaftlichen  Bestrebungen  der 
Metallarbeiter  gehen  auf  das  Jahr  1890  zu- 
rück, in  welchem  ein  Metallarbeiterkongress  in 
Brunn  stattfand.  Nachdem  Anfang  1892  die 
Gründung  eines  Verbandes  der  Metallarbeiter- 
vereine beschlossen  worden,  fand  Ende  Oktober 
desselben  Jahres  der  erste  konstituierende  Ver- 
bandstag in  Wien  statt,  auf  dem  18  Vereine 
mit  8500  Mitgliedern  vertreten  waren.  Nach- 
dem schon  1895  die  Umgestaltung  der  bestehen- 
den Landes-  und  sonstigen  Vereine  in  eine 
Union  angestrebt  worden  war,  gelang  es  erst 
1897  auf  dem  III.  Verbandstage  in  Wien,  diesem 
Gedanken  allgemeine  Zustimmung  zu  verschaifen. 
Die  Ausführung  ist  indes  sehr  unvoUkommen 
zu  Stande  gebracht  worden.  Teils  ist  es  der 
Widerwille  gegen  die  Union  an  und  für  sich, 
teils  die  Abneigung  der  für  die  Metallindustrie 
sehr  wichtigen  czechischen  Arbeiterschaft,  sich 
von  Wien  aus  regieren  zu  lassen,  welche  die 
Wirksamkeit  der  Union  auf  W'ien.  die  Alpen- 
länder und  einige  deutsch-böhmische  Gebiete 
beschränkt  hat.  So  besitzt  die  Organisation 
der  Metallarbeiter,  im  Gegensatze  zu  den  reichs- 
deutschen,  schweizerischen  und  englischen  Ver- 
hältnissen, in  Oesterreich  nur  geringe  Bedeutung. 

Auch  unter  den  Schneidern  haben  die 
nationalen  Gegensätze  den  Fortschritten  der 
Organisation  sehr  gescliadet.  Es  besteht  ein 
1891  in  Wien  beschlossener  Reichsverband. 
Derselbe  scheint  es  aber  ebensowenig  wie  die 
böhmischen  und  mährischen  Landesorganisationen 
zu  einer  erheblichen  Thätigkeit  gebracht  zu 
haben.  Das  gleiche  trifft  für  die  so  überaus 
zahlreichen  Arbeiter  der  Textilindustrie 
zu.  Der  glückliche  Verlauf  der  10-Stundenbe- 
wegung  in  der  Brtinner  Weberei  ist  nicht  einer 
ausgebildeten  Organisation,  sondern  einer  p^üns- 
tigen  Konjunktur,  sehr  entschiedener  Unter- 
stützung durch  die  sozialdemokratische  und 
christlich-soziale  Partei  und  endlich  einer  wohl- 
wollenden Haltung  der  Regierung  zuzuschreiben. 

Die  Holzarbeiter  bezw.  Tischler  haben 
1899  in  Wien  ihren  IV.  Verbandstag  abgehalten 
und  rüsten  zur  Erkämpfung  des  9-Stundentages. 
Centralisationsbestrebungen  haben  auch  in  dieser 
Gruppe  wenig  Anklang  gefunden.  Die  Arbeits- 
losenunterstützung und  Arbeitsvermittelung  soll 
in  Zukunft  überall  innerhalb  des  Verbandes  ge- 
pflegt werden. 

Die  gewerkschaftliche  Bewegung  verfügt 
über  die  folgende  Presse:  Arbeiterpresse  (Organ 
der  Textilarbeiter),  Reichenberg;  Bauarbeiter, 
Wien;  Bekleidungsindustrie,  Wien;  Dekorateur, 
Wien;  Einigkeit  (Organ  der  Buchbinder),  Wien; 
Eisenbahner,  Wien ;  Fachzeitung  der  Gerber, 
Wien ;  Die  Gewerkschaft :  Organ  der  gewerblichen 
Arbeitervereine  Oesterreichs,  Wien,  1893  ge- 
gründet und  seit  7.  April  1899  als  Revue  für 
Sozialpolitik,  Organ  der  (lewerkschaft^^kommis- 
sion  Oesterreichs  und  der  Vereine  der  (iewerbe- 
richter,  redigiert  von  Dr.  B.  Karpeles,  erschei- 
nend ;  (ilück  auf.  (Organ  derBergarl)eiter),  Falke- 
nau;  Handlungsgehilfe,  Wien;  Metallarbeiter, 
Wien;  Neue  Graphische  Nachrichten,  Wien; 
Oesterreich-Ungarische  Musikerzeitung,  W^ien; 
Papierarbeiter,  Wien;  Peitsche  (Organ  der 
Kut*?cherj,  Wien ;  Solidarität  (Organ  aller  Glas- 


Gewerkvereine  (OesteiTeich — Frankreich) 


687 


und  keramischen  Branchen),  Wien;  Verbands- 
organ (Holzindustrie),  Wien;  Vorwärts  (Organ 
der  Buchdrucker),  Wien;  Wahrheit  (Organ  der 
Drechsler),  Wien;  Zeitgeist  (Organ  der  Lebens- 
mittelindustrie). 

In  czechischer  Sprache :  Brevodelnik  (Holz- 
arbeiter), Prag;  Kovodelnik  (Metallarbeiter), 
Prag;  Nov^  Kovodelnik  (Neuer  Metallarbeiter); 
List  zelezniönich  zrizencü  (Eisenbahner),  Prag; 
Koiedelnik  (Lederarbeiter),  Prag ;  Odborov^  zdru- 
ieni  (Die  Gewerkschaft),  Prag ;  Knihaf sky  Obzor 
(Buchbinder-Kevue).  Prag;  Obuvnik  ^(Schuh- 
macher) ;  Odevnik  (l^leiderraacher),  Prag ;  Organ 
obchodnlho  pomocnictva  (Orgfan  der  Handlungs- 
gehilfen), Prag;  Potravodefnik  (Lebensmittel- 
arbeiter), Prag;  Stavebnik  (Bauarbeiter),  Prag; 
Veleslavin  (Buchdruckerzeitung),  Prag;  Nazdar! 
(Glück  auf!),  Mährisch-Ostrau ;  Textilnik  (Textil- 
arbeiter), Brunn. 

In  polnischer  Sprache:  Ognisko  (Buch- 
druckerorgan), Lemberg;  Pomocnik  handlowy, 
Lemberg. 

In  slovenischer  Sprache:  Delavec,  Triest; 
Svoboda,  Triest. 

In  italienischer  Sprache:  Kisveglio  (Buch- 
dmckerorgan),  Triest. 

Lltteratnr:  Ausser  der  genannten  Fachpresse 
bieten  das  hesU  Material  zum  Studium  der 
österreichischen  Gewerkschaftsbewegung  die  zum 
Teil  im  Buchhandel  erschienenen  Protokolle  der 
Gewerkschaftstage,  insbesondeie  aber  der  t\Thätig- 
keilsbericht  der  Gewerkschaßskommission  Ocster- 
reichs  für  1894-1896  und  Protokoll  des  IL 
österreichischen  Gewerkschaftskongresses  abgehal- 
ten vom  25. — 29.  Dezember  1896  in  Wieim.  Wien 
1897  und  nDie  Gewerkschaft^.  —  Aus  den  Be- 
arbeitungen seien  hervorgehoben:  Meyer,  Der 
Emanzipationskampf  den  vierten  i^ndes  II, 
Berlin  1875.  S.  87—100.  —  Obet*windev,  Die 
Arbeiterbewegung  in  Oesterreich,  Wien  1875,  ins- 
besondere S.  35—37,  S.  69.  —  Kautzky,  Die 
Arbeiterbewegung  in  Oesterreich,  Neue  Zeit  VIII, 
SiuUgart  1890.  S,  49ff.,  S.  97 ff.,  S.  Iö4ff.  — 
Brdff  Studien  über  nordböhmische  Arbeiterver- 
häUnisse,  Prag  1881,  S.  147 ff.  —  Kralik,  Nutzen 
und  Bedeutung  der  Gewerkschaften,  Wien  1891. 
—  Höger  K,,  Aus  eigener  Kraft.  Geschichte 
eines  Österreich.  Arbeitervereins  (Buchdrucker) 
seit  50  Jahren,  Wien  1892.  —  Ingwer*,  Der  II. 
Oesterreichische  Gewerkschaftskongress,  Neue  Zeit 
XV,  1,  S.  539 ff.  —  Kulemann,  Die  Gewerk- 
schaftsbewegung, Jena  1900,  S.  85 — 111.  Vgl. 
auch  die  im  Art.  Arbeitseinstellungen  in 
Oesterreich  oben  Bd.  I.  S.  78)i  genannte 
Litteratur. 

H.  Herkner, 


IV.  Die  Gewcrkvereine  in 
Frankreich. 

1.  Die  altere  Gesetzgebung.  2.  Duldung 
der  Fachvereine  der  Arbeitgeber.  3.  Bis  zur 
Duldung  der  Fachvereine  der  Arbeiter.  4.  Die 
Fachvereine  unter  der  dritten  Republik.  5.  Das 
Gesetz  von  1884.  6.  Die  Wirkungen  des  Gesetzes. 
7.  Entwickelung  der  ge  werk  vereinlichen  Arbeiter- 
partei.  8.  Neuere  Gesetzentwürfe.    9.  Statistik. 

1.  Die  altere  Gesetzgebung.    Die  Ver- 
eine hatten  ihren  Todesstoss  in  der  berilhm- 


I  ten  Nacht  des  4.  August  1789  erhalten. 
I  Eudgiltig  abgeschafft  wunleu  sie  durch  das 
G.  V.  2. — 17.  März  1791,  das  zum  ersten 
Mal  den  Grundsatz  der  Freiheit  der  Arbeit 
zur  Geltung  brachte,  der  eine  der  Grund- 
lagen unseres  moderneu  Staats\nrtschafts- 
systems  geworden  ist.  Vereinigungen  von 
Maui-ern  und  Zimmerleuten,  die  seit  den 
ersten  Monaten  des  Jahres  1791  die  Yer- 
mittelung  der  öffentlichen  Gewalt  in  An- 
spruch nahmen,  liessen  befürchten,  dass 
unter  dem  Schutze  der  Versammlungsfrei- 
heit die  Vereine  wieder  hergestellt  würden. 
In  diesem  Sinne  nahm  die  Nationalversamm- 
lung am  14.  Juni  1791  das  unter  dem  Na- 
men seines  Crhebei-s  Chapelier  bekannte 
Gesetz  an,  das  die  fachgenossenschaftlichen 
Vereinigungen  der  Staatsbürger  zur  Vertre- 
timg ihrer  angeblichen  gemeinsamen 
Berufsinteressen  untersagte. 

Dies  ganz  gelegentliche  Gesetz  verhin- 
derte in  Frankreich  lange  Jahre  hindurch 
die  Entwickelung  der  Arbeitergenossenschaf- 
ten. Während  die  anderen  Staatsbürger  sich 
bis  zu  zwanzig  Personen  und  mit  polizei- 
licher Genehmigung  zu  mehr  als  zwanzig 
Personen  ungehindert  vereinigen  konnten, 
war  es  also  den  Fachgenossen  entschieden 
verboten  sich  zusammenzuthun. 

Die  behördliche  Genehmigung  selbst 
würde  sie  von  dieser  Beschränkung  nicht 
haben  entbinden  können.  Wenn  indes  die 
Berufsvereinigungen  von  der  Polizei  gediddet 
oder  unbeachtet  gelassen  wurden  und  wenn 
sie  über  Lohn  oder  Arbeit  in  Streitigkeiten 
gerieten,  so  machten  sie  sich  der  Ueber- 
tretung  des  Koalitionsverbots  schuldig,  das 
im  Gewerbogesetz  des  Jahres  XI  und  dann 
in  den  Artikeln  414—416  des  Code  Penal 
ausgesprochen  w^ar  und  in  seiner,  Arbeit- 
geber und  Arbeiter  wenigstens  gleich  be- 
handelnden Fassung  von  1849  jede  Koalition 
der  Arbeitgeber  zur  Herabdrückung  des  Ar- 
beitslohnes wie  jede  Koalition  der  Arbeiter 
zu  gleichzeitiger  Niederlegung  der  Arbeit, 
Beeinflussung  der  Ai*beitszeit  oder  überhaupt 
zur  Verhinderung  oder  Verteuerung  der 
Arbeit  sowie  —  Artikel  416  —  das  Aus- 
sprechen von  Bussen,  Verrufserklärungen 
oder  Sperren  gegen  Arbeitgeber  oder  Ar- 
beiter unter  Strafe  stellte. 

2.  Duldung  der  Fachvereine  der  Ar- 
beitgeber. Thatsäcldich  wunle  das  Gesetz 
Chapelier  niemals  unumschränkt  ziu'  An- 
wendung gebracht.  Einerseits  erlaubte  die 
Regierung  direkt  oder  indirekt  die  Vereini- 
gung von  Fachgenossen,  wenn  es  sich  um 
Arbeitgeber  handelte,  andererseits  bestanden 
immer  unter  dem  Namen  gegenseitiger 
Hilfsgenossenscliaften  Arbeitervereinigungen, 
die  mehr  oder  weniger  die  Roüe  von  Ver- 
einen siüelten. 

Das  Consulat  und  das  Kaiserreich  unter- 


688 


Gewerkvereine  (Frankreich) 


warf  zum  Zweck  der  allgemeinen  Ordnung 
und  Sicherheit  eine  gewisse  Anzahl  von 
Gewerben  einer  gesetzlichen  Regelung,  unter 
anderen  die  Bäcker  und  Sclüächter  von 
Paris,  die  Staatskörper  bildeten  im  Besitz 
eines  Monopols.  Dann  setzten  die  Zinmier- 
meister  (1808),  die  Maurermeister  (1809)  und 
die  Steinsetzer  (1810)  mit  Genehmigung  des 
Polizeipräfekten  »Syndikatskammern«  ein, 
die,  ohne  wirkliche  Korporationen  zu  bilden, 
der  Verwaltung  bekannt  waren  und  von 
ihr  geduldet  wurden.  Nach  vergeblichen 
Versuchen,  eine  gesicherte  gesetzliche  Stel- 
lung zu  erlangen,  begnügten  sie  sich  mit 
der  einfachen  Duldung,  und  mit  anderen 
Gruppen  von  Arbeitgebern  der  Bauindustrie 
bildeten  sie  eine  Vereinigung,  die  von 
Sainte  Chapelle,  mit  der  seit  dem 
Jahre  1840  die  Behörden  in  regelmässiger 
Beziehung  standen,  vornehmlich  die  Stadt 
in  Bezug  auf  die  Preisliste  für  die 
öffentlichen  Arbeiten.  Diesem  Beispiel 
folgte  man  in  vielen  anderen  einzelnen  Ge- 
werben. Im  Jahre  1859  erhielt  die  Vereins- 
bewegung der  Arbeitgeber  einen  neuen  An- 
stoss  durch  die  Gründung  der  Union 
nationale  du  Commerce  et  de  Tln- 
dustrie,  die  unter  der  Form  einer  Han- 
delsagentur zur  Erlangung  von  Patenten 
und  Musterschutz,  zur  Auskunft  über  Kitj- 
ditverhältnisse ,  zum  Abschluss  von  Ver- 
sicherungen und  zur  Vertretung  kaufmänni- 
scher Interessen  an  auswärtigen  Plätzen 
üire  Klienten  in  Fach  vereine  einzuteilen 
begann.  1867  wurde  zur  Vereiuigimg  der 
Kräfte  aller,  auch  der  isolierten  Syndikate 
das  Centralkomitee  der  Arbeitgeberverbände 
gegründet.  Das  Beispiel  von  Paris  fand  in 
der  Provinz  Nachahmung,  und  die  Syndi- 
kaie, die  bei  jeder  Gelegenheit  und  insbe- 
sondere im  öffentlichen  Leben  als  die  zu- 
ständigen Vertreter  der  Berufsinteressen 
auftreten,  werden  schliesslich  vori  der  öffent- 
lichen Meinung  und  den  Behörden  als 
solche  anerkannt,  sie  beginnen  das  Unter- 
nehmertum bei  den  Wahlen  zu  den  offizi- 
ellen Organen  für  Handel  imd  Gewerbe, 
der  Handelskammer  und  dem  Handelsge- 
richt mit  Erfolg  zu  vertreten,  von  welch 
letzterem  sie  zu  regelmässiger  Hilfsleistung 
durch  sachverständige  und  schiedsrichter- 
liche Gutachten  in  erheblichem  Umfang 
herangezogen  werden:  sie  erlangen  vom 
Standpunkt  ihrer  »Facninteressen  aus  Ein- 
fluss  auf  alle  Zoll-  und  Steuerfragen. 

8.  Bis  zur  Duldung  der  Fachvereine 
der  Arbeiter.  Dieser  ungesetzlichen  Dul- 
dung der  Arbeitgeberverbände  von  seiten 
der  Behörde  muss  man  die  Härte  gegen- 
überstellen, mit  der  die  Arbeiter  belmndelt 
wurden.  Wenn  es  wahr  ist,  dass  die  Ar- 
beitervereinigung, deren  Ursprünge 
in  die  alte  Regierungsform   ziu*ückreichen, 


in  gewissen  Gewerken,  n^jnentlich  in  den 
Hängewerken,  noch  fortdauerte,  so  geschah 
dies  unter  dem  Schutze  des  vollkommensten 
Geheimnisses  und  unter  der  Bedingung,  da- 
rauf zu  verzichten,  auf  die  Löhne  und  die 
Arbeitsbedingungen  einzuwirken.  Verfol- 
gungen wurden  ihr  übrigens  nicht  erspart 
In  Bezug  auf  die  Arbeiter,  die  durch  Ar- 
beitseinstellung oder  durch  Berufsverbände 
ihr  Los  zu  verbessern  suchten ,  wandte 
man  mit  Strenge  das  Koalitionsverbot  an: 
von  1825  bis  1848  wurden  1 251  Fälle  dieser 
Art  durch  die  Gerichte  entschieden,  in  die 
7148  Angeklagte  verwickelt  waren.  Von 
diesen  wurden  nur  1987  freigesprochen  und 
4460  zu  Gefängnisstrafe  verurteilt  Die 
zweite  Republik  selbst  und  das  Kaiserreich 
bis  zum  Jahre  1864  blieben  nicht  zurück: 
von  1848  bis  1864  wurden  1144  Koalitions- 
fälle entschieden  mit  6812  Angeklagten,  von 
denen  1034  freigesprochen  und  4845  zu  Ge- 
fängnisstrafe veriurteilt  wurden. 

Das  einzige  Mittel,  das  den  Arbeitern 
blieb,  war  die  Bildung  von  gegenseitigen 
Hilfsgenossenschaften,  gegen  die  sich  die 
verschiedenen  politischen  Regierungsformen 
wohlwollender  zeigten.  Einigen  von  ihnen 
gelang  es,  eine  berufsmässige  Form  anzu- 
nehmen und  als  Verteidigungsorgane  einen 
gewissen  Einfluss  zu  erlangen.  Solche  sind 
unter  anderen  die  beiden  Genossenschaften, 
denen  später  die  mächtigsten  Syndikate 
ihre  Entstehung  verdankten:  die  Soci6t6 
typographique  de  Paris  (gegründet 
1841)  und  die  Sociöte  gön^rale  de  la 
Chapelle rie  (gegründet  1848). 

Die  Bestimmungen  der  Regienmg  änder- 
ten sich  gegen  1860,  bei  Gelegenheit  des 
grossen  Ausstandes  der  Typographen  und 
der  Londoner  allgemeinen  Weltausstellimg, 
zu  der  man  den  Arbeitern  eine  freigewählte 
Deputation  von  200  Mitgliedern  zu  entsen- 
den gestattete.  Das  auf  die  ausdrückliche 
Vermittelung  des  Kaisers,  der  anfing,  sich 
auf  die  Arbeiterklasse  stützen  zu  wollen, 
beschlossene  G.  v.  25.  Mai  1864  war  der 
erste  wichtige  Fortschritt:  es  modifizierte 
die  Artikel  414—416  des  Code  Pönal  dahin, 
dass  nur  noch  solche  Koalitionen,  die  durch 
betrügerische  oder  gewaltthätige  Massnahmen 
unterhalten  werden,  und  —  416  —  solche 
vereinbarte  Sperren,  Bussen  und  Verrufser- 
klärungen, die  die  Freiheit  der  Arbeit  be- 
einträchtigen,  mit  Strafe  bedroht  bleiben, 
die  Koalition  zur  Vertretung  gemeinsamer 
Interessen  aber  nicht  mehr  an  sich  schon 
strafbar  war.  Und  als  diesem  Gesetz  eine 
Zeit  wilder  Ausstandsbewe^ung,  regelloser 
Strikes  folgt,  als  die  zui-  Panser  Ausstellung 
in  förmlichem  Parlament  versammelten  Ar- 
beiterdelegierten erklären,  dass  nur  geord- 
nete Organisation  Mass  und  Ziel  in  diese 
Bewegung  *  bringen  könne,  erfolgt  1868  die 


Gewerkvereine  (Frankreich) 


689 


amtliche  Erkläning,  dass  Faclivereine  der 
Arbeiter,  sofern  sie  sich  vom  politischen 
Gebiet  fernhalten  und  die  Freiheit  der  Ar- 
beit nicht  beeinträchtigen,  ebenso  geduldet 
werden  sollen  wie  bisher  schon  die  Faeh- 
vereine  der  Unternehmer. 

4.  Die  Fachvereine  unter  der  dritten 
Republik.  Die  dritte  Eepublik  wuKle  mit 
einer  Reaktionsperiode  eröffnet,  in  der  die 
Zahl  der  Arbeitervereine  sich  nicht  eben 
vermehrte.  Im  Jahre  1873  versteigerte  die 
Kammer  einer  Arbeiterdeputation  für  die 
Wiener  Ausstellung  ihre  Untersttitzung. 
Das  Gesetz  gegen  die  Internationale  (1872) 
bedrohte  ausserdem  jeden  Versuch  eines 
Einvernehmens  zwischen  den  französischen 
und  den  fremden  Arbeitern.  Dies  Gesetz 
rief  man  an,  um  einen  internationalen  Kon- 
gress  aufzulösen,  der  im  Jahre  1878  von 
den  Vereinen  organisiert  war.  Die  Vereine 
wuchsen  indessen  an  Zahl;  im  Jahre  1876 
begann  in  Paris  die  Aera  der  Arbeiterkon- 
gresse, die  zugleich  zur  Entwickelung  der 
Vereine  und  des  Sozialismus  führen  musste. 
In  Paris  im  Jahre  1876,  in  Lyon  im  Jahre 
1878  haben  die  Vereine  noch  den  wichtigsten 
Platz  unter  den  Arbeiterfordenmgen.  Aber 
in  Marseille  im  Jahre  1879  wird  die  Auf- 
hebung des  Lohn  Verhältnisses  und  die  Na- 
tionalisierung der  Produktionsmittel  offen 
als  die  Ziele  der  Arbeiterbewegung  erklärt. 
Die  meisten  Vereine  hatten  gegen  diesen 
Beschluss  gestimmt:  auf  dem  Kongress  zu 
Havre  im  Jahi-e  1880,  wo  M.  Jules  Guesde 
die  Annahme  eines  politischen  Programms 
durchsetzte,  das  das  Werk  von  Karl  Marx 
und  Benoit  Malon  war,  vollzog  sich  eine 
völlige  Spaltung  zwischen  den  KoUektivisten 
imd  den  »Syndikaien«,  von  denen  jede  einen 
KonCTess  besonders  abhielten. 

Während  die  ersteren  die  Federation  du 
parti  Bocialiste  rövolutionnaire  fran9ais  grün- 
deten, scharten  sich  die  Gemässigten  um  die 
Union  des  chambres  syndicales  ouvri^res  de 
France,  der  es  gelang,  an  200  Vereine  zu 
vereinigen.  Auf  diese  Gruppe  gemässigter 
Arbeiter  stützten  sich  alle  Parlamentarier, 
die  entschlossen  waren,  die  gesetzliche  Stel- 
lung der  Vereine  zu  regeln,  um  sie,  wenn 
möglich^  in  eine  andere  ßalm  als  die  der 
Revolution  zu  leiten. 

5.  Das  Gesetz  von  1884.  Die  ersten 
Entwürfe,  die  darauf  zielten,  die  Gesetz- 
gebimg abzuändern,  datieren  vom  Jahre  1876 
(Entwurf  Lokroy).  Im  Jahre  1880  legte  das 
Ministerium  Tirard  der  Kammer  eins  vor, 
das,  nach  und  nach  von  der  Kammer  und 
dem  Senat  abgeändert,  unter  dem  Ministerium 
Ferry  und  dank  der  geschickten  und  er- 
folgreichen Vermittelung  Waldeck-Rousseaus, 
des  damaligen  Ministers  des  Innern,  zum 
G.  V.  21.  März  1884  wurde. 

Unter  Aufhebung  des  G.  v.  17.  Juni  1791 

Handwörterbuch  der  StaatswiBsenscbaften.    Zweite 


und  des  Artikels  416  des  Code  p6nal,  die 
die  Beeinträchtigung  der  Freiheit  der  Arbeit 
durch  vereinbarte  Sperren,  Bussen  oder  Ver- 
rufserklärungen unter  Strafe  stellten,  be- 
stimmt das  Gesetz,  dass  Fachvereine  zm* 
ausschliesslichen  Verfolgung  wirtschaftlicher, 
gewerblicher,  kaufmännischer  oder  land- 
wirtschaftlicher Interessen  von  Fachgenossen 
eines  und  desselben  oder  ähnlicher,  oder 
zur  Herstellung  bestimmter  Fabrikate  zu- 
sammenwirkender Gewerbe  ohne  polizeiliche 
Genehmigung  sich  bilden  dürfen.  Nur  ist 
Anmeldung  des  Vereins  bei  der  Ortspolizei- 
behörde unter  Üeberreichung  eines  Statuten- 
exemplars und  Angabe  der  geschäftsleiten- 
den Mitglieder,  die  Franzosen  und  im  Besitz 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  sein  müssen, 
erforderlich.  Die  Fachvereine  dürfen  zu 
Verbänden  zusammentreten ,  die  sich  in 
gleicher  Weise  anzumelden  und  die  ange- 
hörigen  Vereine  zu  nennen  haben.  Die  Ver- 
eine —  nicht  die  Verbände  von  Vereinen 
—  haben  Prozess-  und  Vermögensfähigkeit, 
die  indes  hinsichtlich  der  Immobilien  auf 
den  Besitz  der  für  Versammlungen,  Fach- 
schulen und  Bibliotheken  erforderlichen 
Grundstücke  beschränkt  ist.  Sie  dürfen 
ohne  besondere  Erlaubnis  Arbeitsnachweis- 
bureaus und  unter  Berücksichtigung  der 
diesbezüglichen  Gesetze  Hilfskassen  gründen, 
und  können  über  alle  Streitigkeiten  und 
Angelegenheiten,  die  ihr  Gewerbe  betreffen, 
gutachtlich  gehört  werden.  Jederzeit  steht 
den  Mitgliedern  der  Austritt  frei,  ohne  dass 
dadurch  die  Befugnis  der  fortgesetzten  Teil- 
nahme an  den  etwa  eingerichteten  Hilfs- 
kassen verloren  ginge,  und  es  kann  dies 
durch  entgegenstehende  Abreden  nicht  aus- 
geschlossen werden.  Doch  besteht  die  Ver- 
pflichtung zur  Zahlung  des  laufenden  Jahres- 
beitrags, und  durch  die  erwähnte  Aufhebung 
des  Artikels  416  des  Code  penal  ist  die 
Möglichkeit  gegeben,  durch  Sperren,  Kon- 
ventionalstrafen und  ähnliche  Massnahmen 
einen  Druck  auf  die  Befolgung  gefasster 
Beschlüsse  auszuüben,  sofern  nur  nicht  die 
allgemeinen  Strafgesetze  oder  die  Artikel 
414 — 415  des  Code  p^nal  dadurch  verletzt 
werden.  Gegen  üeberlretung  der  Vor- 
schriften des  Gesetzes  sind  Geldstrafen  vor- 
gesehen ;  auch  kann  durch  gerichtliches  Ur- 
teil die  Auflösung  der  Vereine  ausgesprochen 
werden. 

Die  Bildung  von  Fachvereinen  der  Ar- 
beitgeber wie  der  Arbeiter  war  sonach  ge- 
setzlich gestattetj  eine  Festigung  der  Ver- 
bände in  mannigfachster  Hinsicht  durch 
Verleihung  der  juristischen  Persönlichkeit 
ermöglicht,  und  der  Entwickelung  neuer 
sozialer  Formen  war  die  öffentlichrecht- 
liche Grundlage  gegeben.  Freilich  geschah 
dies  nicht  ohne  heftigen  und  namenüich  im 
Senat  hervortretenden  Widerstand,  der  aus 

Aaflage.    lY.  44 


690 


Öewerkvereine  (Frankreich) 


individualistischen  Anschauungen  und  dem 
Bedenken  hervorging,  es  möchte  das  Gesetz 
die  revolutionäre  Arbeiterbewegung  fördern, 
ein  Widerstand,  der  nur  durch  das  sehr 
energische  •  Auftreten  der  Regierung ,  die 
auch  die  üntemehraerverbände  zu  schhessen 
drohte,  durch  die  kluge  Mässiguug  der 
Union  der  Fachvereine  und  die  feste  Hal- 
tung der  Kammer  überwunden  werden 
konnte,  in  der  sowohl  die  Linke  wie  die 
Parteien  der  Rechten  lebhaft  für  das  Gesetz 
eintraten,  von  dem  letztere  eine  weitere 
Entwicklung  der  gemischten,  Arbeitgeber 
und  Arbeiter  umfassenden  Fachvereine  und 
katholischen  Gesellenverbände  erhofften,  die 
im  Interesse  des  sozialen  Friedens  von 
kirchlicher  Seite  eifrigst  gefördert  worden 
waren. 

6.  Die  Wirkungen  des  Gesetzes.  Die 
wichtigsten  Wirkungen  machten  sich  in 
einer  Richtung  fühlbar,  wo  man  am  wenig- 
sten daran  dachte.  Mit  den  Industrie-  und 
Handelsvereinen,  für  die  man  hauptsächlich 
die  gesetzlichen  Wohlthaten  bestimmte,  hatte 
man  die  landwirtschaftlichen  Vereine  ver- 
bunden, lediglich  nur  um  die  Landwirtschaft 
nicht  zu  vergessen  zu  scheinen.  Vor  dem 
Gesetze  gab  es  unter  Bauern,  Pächtern  oder 
Grundbesitzern  keinen  Verein..  Schon  in 
den  ersten  Jahren  der  Anwendung  des  Ge- 
setzes ergriff  man  geschickt  die  Gelegenheit, 
die  Landwirte  zu  gruppieren;  die  Thätig- 
keit  dieser  Vereine  zeigte  sich  in  fühlbaren 
Wohltha,ten,  die  für  das  Gesetz  von  1884 
wahrhaft  Reklame  machten:  bald  wurde 
Frankreich  mit  landwirtschaftlichen  Vereinen 
bedeckt,  die  Düngemittel,  Sämereien  und 
Mascliinen  ankauften,  um  sie  ohne  Nutzen 
wieder  an  ihre  Mitglieder  zu  verkaufen, 
und  einen  mächtigen  Verband  bildeten. 
Mau  kann  sagen,  dass  der  wichtigste  und 
Haupterfolg  des  Gesetzes  die  Gruppierung 
der  Landwirte  war.  Es  ist  hier  nicht  der 
Ort,  die  Tragweite  dieses  Erfolges  zu  zeigen, 
aber  es  ist  nützlich,  ihn  jenem  anderen 
gegenüber  zu  stellen,  den  man  von  selten 
der  Arbeitgeber  und  der  Arbeiter  der  In- 
dustrie und  des  Handels  erlangt  hatte.  Des- 
halb findet  sich  in  der  Tabelle  auf  Seite 
692  die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Ver- 
eine und  ihrer  Mitglieder  neben  den  an- 
deren eingetragen. 

Nach  den  Landwirten  fand  das  Gesetz 
die  lebhafteste  Aufnahme  bei  den  Arbeit- 
gebern. Wie  die  Tabelle  auf  Seite  692  zeigt, 
verdreifachte  sich  die  Anzahl  der  Arbeit- 
gebervereine im  ersten  Jahre  und  brauchte 
nicht  sechs  Jahre,  um  sich  zu  verzehnfachen. 
Man  hat  zwai*  die  Ziffer  der  Mitglieder  dieser 
Vereine  vor  1890  nicht,  doch  schätzt  man 
sie  auf  20  000  im  Augenblick  der  Diskussion 
über  das  Gesetz.  Sie  würde  sich  also  in 
derselben  Zeit  fast  verfünffacht  haben. 


Bei  den  Arbeitern  dagegen  blieb  wäh- 
rend der  beiden  ersten  Jahre  die  Anzalü 
der  Vereine  fast  auf  demselben  Punkte ; 
das  Gesetz  war  von  den  Revolutionären  als 
ein  reaktionäres  Gesetz,  als  ein  »Polizeige- 
setz« erklärt,  und  nur  mit  Misstrauen  be- 
quemten sich  die  Arbeiter  ihm  an.  Anfangs 
maten  es  allein  die  gemässigten  Vereine 
(Union  nationale)  und  wurden  beschuldigt, 
von  einem  Bureau  des  Ministeriums  des 
Innern  unterstützt  zu  werden,  dessen  Chef 
M.  Barberet  war.  »Barberettiste«  wurde 
gleichbedeutend  mit  »Spion«. 

7.  Entwickelung  der  gewerkverein- 
lichen  Arbeiterpartei.  Sie  beriefen  im 
Jahre  1886  nach  Lyon  einen  Kongress,  der 
in  die  Gewalt  ihrer  Gegner,  der  Koüekti- 
visten,  fiel,  denen  es  gelang,  sie  zu  ver- 
treiben. Unter  dem  Einfluss  innerer  Strei- 
tigkeiten, wobei  persönliche  Fra^n  herr- 
schend sind,  nahmen  die  in  Vereme  gnip- 
pierten  Arbeiter  sehr  verschiedene  Rich- 
tungen an,  die  in  den  verschiedenen  Arbeiter- 
kongressen zu  Tage  traten.  Der  National- 
verband der  Vereine  und  korporativen 
Gruppen  fand  sich  dabei  oft  als  die  Gegnerin 
der  Guesdisten,  die  vollständige  Erfolge  auf 
den  Kongressen  zu  Montlu9on  (1887),  Bor- 
deaux (1888)  und  Calais  (1890)  davontrugen. 
Allmählich  wiu'de  er  von  der  Partei  J. 
Guesdes  abhängig.  Er  befand  sich  bald 
einer  neuen  Organisation  gegenüber:  der 
Vereinigung  der  Arbeitsbörsen.  Diese  Börsen, 
die  geschaffen  waren,  einfache  Stellenver- 
mittelungsbureaus zu  sein,  sind  der  Mittel- 
punkt der  gesamten  Vereinsthätigkeit  der 
grossen  Städte  geworden.  Im  Anfang  des 
Jahres  1892  gab  es  14  Arbeitsbörsen,  von  denen 
die  ältesten,  die  von  Paris  und  von  Nimes, 
aus  dem  Jahre  1886  datierten.  Die  Idee  hatte 
zwischen  diesen  Organisationen  ein  Band 
geschaffen,  und  der  Kongress  von  Saint 
Etienne  (1892)  schuf  die  Föderation  des 
Bourses,  die  noch  heute  die  stärkste  fran- 
zösische Arbeitereinrichtung  ist.  Nach  zwei 
vereinzelten  Kongressen  im  Jahre  1893  fand 
1894  in  Paris  ein  »Congres  d'Union«  statt, 
kurze  Zeit  nach  der  Scliliessung  der  Arbeits- 
börse durch  das  Kabinett  Dupuy.  Damals 
dankte  Jules  Guesde  Herrn  Dupuy,  »poli- 
zeilich die  vereinliche  und  korporative  Sack- 
gasse gespeni;  zu  haben,  in  die  sich  eine 
zu  grosse  Anzahl  Arbeiter  zu  veriiTcn 
drohten«. 

Man  darf  indes  nicht  glauben,  dass  die 
»Syndikaleu«  der  Kongi^esse  »gemässigte« 
geblieben  seien.  Sie  haben  eine  andere 
Politik  als  J.  Guesde  und  die  Parlamentarier, 
aber  sie  schloss  nicht  Gewaltthätigkeit  aus. 
So  wurde  auf  dem  Kongress  zu  Nantes,  wo 
1662  Vereine  vertreten  waren ,  die  Ent- 
scheidimgsschlacht  zwischen  Guesdisten  und 
Syndikaien    geliefert:    diese    stimmten    für 


Gewerkvereine  (Frankreich) 


691 


den  allgemeinen  Ausstand,  gegen  den  sich 
J.  Guesde  erklärt  hatte.  Diese  Frage  des 
allgemeinen  Ausatandes  kehi-t  seitdem  perio- 
disch in  den  Vereinskongressen  wieder.  Man 
will  besonders  auf  die  Bergwerksarbeiter, 
die  Gasarbeiter  und  die  Eisenbahnarbeiter 
einwirken,  sie  zu  einem  Ausstand  zu  be- 
wegen, der  plötzlich  das  wirtschaftLche 
Leben  von  ganz  Frankreich  hemmen  würde. 
Der  letzte  im  Jahre  1898  von  dem  Eisen- 
bahnverein gemachte  Versuch  ist  kläglich 
gescheitert. 

Seit  dem  Kongress  von  Nantes  hat  die 
Föderation  des  Boiu^es  du  travail  einen 
festen  Sitz  in  Paris  und  einen  ständigen, 
honorierten  Schriftführer,  der  bis  jetzt  jedes 
Jahr  wiedergewählt  ist. 

Es  braucht  nicht  bemerkt  zu  werden, 
dass  die  Tendenzen,  die  im  allgemeinen  die 
französischen  Vereine  kimdgeben,  keines- 
w^e^  den  Hoffnungen  der  gemässigten  und 
radikalen  Republikaner  entsprechen,  die 
ihnen  im  Jahre  1884  mit  der  Existenz  ge- 
setzliche Vorrechte  bewilligt  haben.  In 
ihrer  Gesamtheit  ähneln  die  französischen 
Vereine  in  nichts  den  trade  unions,  die  man 
ihnen  so  gern  als  Muster  aufstellte.  Daher 
ist  es  auch  nicht  zu  verwundern,  dass  sie  im 
allgemeinen  keinen  Einfluss  auf  die  Löhne 
und  die  Arbeitsbedingungen  haben.  Es  ist 
selten,  dass  es  an  ein  und  derselben  Oert- 
lichkeit  für  ein  und  dasselbe  Gewerbe  nicht 
mehrere  Vereine  giebt,  die  sich  bekriegen. 
Daher  ist  es  nur  ausnahmsweise,  z.  B.  bei 
den  Typographen  und  den  Hutmachem  von 
Paris,  dass  man  Vereinen  begegnet,  die  von 
den  Arbeitgebern  vorteilhafte  und  dauernde 
Arbeitsbedingungen  erhalten  haben.  Der 
beharrlichen  Thätigkeit  gewerblicher  Ver- 
einigung, die  aus  j>ersönlichen  Anstrengun- 
gen und  Opfern  resultiert,  zieht  der  fran- 
zösische Arbeiter  den  Aufruf  an  die  öffent- 
liche Macht  vor,  die  Aufsehen  erregenden 
Ausstände,  wobei  man  den  Schiedsspruch 
eines  Ministers  hervorrufen  kann. 

8.  Neuere  Gesetzentwürfe.  Seit  1886 
war  die  Rede  davon,  das  G.  v.  21.  März 
1884  abzuändern.  Während  im  Senat  Marcel 
Barthe  vorschlug,  den  Artikel  416  des  Code 
penal  wiederherzustellen  —  ohne  die  ge- 
ringste Aussicht  auf  Erfolg  bei  der  Kammer 
— ,  schlug  Bovier-Lapierre  vor,  Strafbestim- 
mungen gegen  die  festzusetzen,  die  einen 
anderen  hindern  würden,  die  von  dem  Ge- 
setz anerkannten  Rechte  zu  geniessen. 
Dieser  Entwurf  zielte  auf  die  Arbeitgeber, 
die  ihren  Arbeitern  untersagen,  an  Vereinen 
sich  zu  beteiligen;  mehrere  Male  von  der 
Xammer  angenommen,  ist  er  immer  wieder 
vom  Senat  verworfen.  Er  erhielt  jedoch  die 
Unterstützung  des  radikalen  Ministeriums 
Bourgeois.  Vor  kurzem  hatWaldeck-Rousseau 
ihn  zum  Teü  wieder  aufgenommen,  indem 


er  einen  bedeutungsvollen  Antrag  hinzu- 
fügte :  den  nämlich,  den  Vereinen  den  Cha- 
rakter einer  juristischen  Person  ohne  irgend 
welche  Einschränkung  zu  verleihen  und 
ihnen  zu  erlauben,  für  ihre  Rechnung  Han- 
delsgeschäfte zu  treiben.  Diese  kühne 
Neuerung  ist  offenbar  versucht,  um  die 
Vereine  von  der  revolutionären  Politik  ab- 
zuwenden und  sie  auf  die  Bahn  praktischer 
Reformen  zu  lenken. 

9.  Statistik.  Seit  1889  veröffentlicht 
das  Arbeitsbureau  von  Frankreich  (Minis- 
terium für  Handel  und  Industrie)  ein  Jahr- 
buch der  gemäss  dem  G.  v.  21.  März 
1884  in  Frankreich  und  den  Kolo- 
nieen  gegründeten  gewerblichen, 
industriellen,  Handels-  und  land- 
wirtschaftlichen Vereine. 

Da  die  Angaben,  die  es  ei^thält,  alle  auf 
den  Erklärungen  der  Vereine  beruhen,  so 
ist  seine  Statistik  nicht  streng  genau: 

1.  umfasst  sie  nur  die  Vereine,  die  sich 
nach  dem  Gesetz  gerichtet  haben;  die  An- 
zahl der  freien  Arbeitervereine  namentlich 
zwischen  1884  und  1890  musste  ziemlich 
beträchtlich  sein.  Sie  ist  heute  viel  ge- 
ringer als  in  den  ersten  Jahren  der  An- 
wendung des  Gesetzes  von  1884,  da  den 
meisten  sozialistischen  Vereinen  selbst  daran 
gelegen  ist,  sich  anerkennen  zu  lassen,  um 
an  den  Arbeitsbörsen  teilzunehmen. 

2.  kann  eine  gewisse  Anzahl  von  Ver- 
einen aufgehört  haben  zu  existieren  und 
doch  noch  weiter  geführt  werden.  Solches 
Aufhören  muss  oft  vorgekommen  sein,  na- 
mentlich unter  den  Arbeitervereinen,  da  für 
das  Jahr  1897  allein  163  Auflösungen  der 
Verwaltung  bekannt  waren. 

3.  kann  die  Mitgliederzahl  nur  eine  an- 
nähernde sein,  da  sie  —  und  auch  nicht 
regelmässig  —  ohne  Kontrolle  von  den  Ver- 
einen geliefert  wird. 

Jedoch,  diese  Statistik  ist  die  einzige. 

Die  Gesamtzahl  der  einem  Verein  ange- 
hörigen  Arbeiter  beläuft  sich  im  Jahre  1897 
auf  431 794  und  beträgt  ungefähr  10  %  der 
Arbeiterbevölkerung.  Die  amtlichen  Doku- 
mente geben  nicht  das  Verhältnis  der  Ver- 
einsangehörigen nach  ihrem  Gewerbe.  Die 
allgemeine  Angabe  genügt,  um  zu  zeigen,  dass 
nur  ausnahmsweise  die  Vereinsangehörigen 
die  Majorität  bilden. 

Die  Industrieen,  in  denen  die  Vereine 
am  mächtigsten  sind,  sind  die,  in  denen 
es  ihnen  gelungen  ist ,  einen  nationalen  Ver- 
band zu  bilden:  die  Streichholzarbeiter,  die 
Holzhauer,  die  Hutmacher,  die  Möbel-  und 
Bauarbeiter,  die  Bäcker,  die  Schuhwerkzu- 
schneider, die  Schuhmacher,  die  Leder-  und 
Pelzarbeiter,  die  Köche,  die  Kupferarbeiter, 
die  Handelsgehilfen,  die  Klempner,  die 
Handschuhmacher,  die  Gasarbeiter,  die 
Schneider,  die  Lithographen,  die  Marmor- 

44* 


Ge  werk  vereine  (Fraukreich) 


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I  I  I  -  I  I  I  I  I  I  M  I  I 


IS 


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11 


Grewerkvereine  (Frankreich) 


693 


arbeiter,  die  Weissgerber,  die  Metallarbeiter, 
die  Gelbgiesser,  die  Gemeindearbeiter,  die 
Tabaksarbeiter,  die  Glasarbeiter  und  die 
Wagenarbeiter. 

Was  die  Arbeitgebervereine  betrifft,  so 
sind  sie  besonders  in  den  Manufakturindus- 
trieen  verbreitet.    Die  Grossindwstrie  bedarf 


dieses  Organismus,  um  sich  zu  verteidigen, 
nicht. 

Die  folgende  Tabelle  bietet  eine  ziffer- 
mässige  Zusammenstellung  von  der  Thätig- 
keit  der  verschiedenen  Vei'eine,  indem  sie 
die  Anzahl  ihrer  Sohöpfimgen  und  Institu- 
tionen angiebt. 


Verschiedene  Institutionen  und  Schöpfungen  der  gewerblichen  Vereine  (ausser  den 
landwirtschaftlichen)  in  Frankreich  am  1.  Juli  1897. 


Gründer 

Vereine 

Verbände  von  Vereinen 

Art  der  Institutionen 

.t^S3 

s 

0 

•tia 

u 
^ 

^  $ 

.^4 

92 

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0} 

0? 

03 

i 

<5  bD 

< 

0 

^  tß 

< 

Reiseunterstützung  (viaticum) 

100 

I 

Gegenseitige  Hilfsvereine  oder  Kassen.    .    .    . 

67 

330 

52 

4 

2 

Sparkassen 

8 

45 

I 

2 

Strikekassen 

I 

128 

2 

— 

2 

___ 

Gegenseitige  Kredit-  oder  Vorschuss- Vereine  oder 

• 

Kassen 

I 
8 

8 
32 

8 
4 

I 

Pensions-  und  Alterskassen 

Wohlthätigkeitskassen 

14 

2 

I 

Gegenseitige  Versicherungs- Vereine  oder  Kassen 

für  Arbeitsunfälle 

13 

7 

I 

-^ 

Gegenseitige  Versicherungs- Vereine  oder  Kassen 

gegen  Brandschäden 

4 

Genossenschaftliche  Konsumvereine 

6 

47 

8 

2 

I 

Genossenschaftliche  Vereine  für  Produktion  .    . 

21 

I 

1 

Gewerbeschulen 

i8 

8 

I 

— 

Gewerbliche  Vorlesungen  und  Vorträge    .    .    . 

39 

142 

10 

I 

6 

Verteidig^ung  vor  Gericht 

Gewerbhcher  Wettbewerb   für   Lehrlinge;  ge- 

I 

— 

werbliche  Prüfungen 

17 

I 

4 

-^ 

Lehrlingsschulen  und  Vorträge    t\ir  Lehrlinge 

5 

I 

I 

— 

— 

— 

Waisenhäuser 

I 

I 

1 

1 

Handels-   und    Industrie-Museen    und    Muster- 

i 

sammlun&ren 

4 

2 

I 

I 
2 



Vereinsausstellunfi^en 

Vereinswerkstätten 

1 

I 

4 

I 

__ 

Bibliotheken 

74 

>     418 

12 

4 

II 

2 

Stellen  vermittelungsbureaus 

105 

'     380 

24 

2 

9 

I 

Kommerzielle  Auskunftsbureaus 

9 

5 

— 

I 

■-^ 

Laboratorien  für  Analysen  und  Untersuchungen 

durch  Sachverständige 

19 

— 

2 

1 

— 

Beistand  in  Streitsachen 

22 

4 

2 

I 

Schiedsgerichte;    Kommissionen    für  Sühnever- 
suche    

1 

1 

17 

5 

5 

— 

Medizinische,  klinische  etc.  Dienstleistungen 

7 

5 

2 

I 

Verschiedene  Publikationen  (Bulletins,  Journale, 

1 

Jahrbücher) 

136 

42 

12 

3 

6 

1 

an  notleidende  Kinder 

3 

I 

. — 

— 

I 

— 

— 



Volkssekretariat 

I 

— . 

Verschiedene 

18 

— 

8 

Litt€ratlir8  Der  vorstehende  Artikel  ist  nach  dem 
Aufsatz  von  von  der  Osten  in  der  ersten 
Außage  des  JTandirörterhuchs  frei  bearbeitet.  — 
W,  Ltea^iSy  Geirerkr ereine  und  Uyiternehmerrer- 
bände  in  Frankreich,  Leipzig  1879  (Schriften 
de*  Vereins  ß'tr  Sozialpolitik,  XVII.)  Mit  aus- 
filhrlicher  Litteraturangabe.  —  van  iler  Osten^ 


Die  Fachvereine  und  die  soziale  Bewegung  in 
Frankreich  (SchmoU^s  Jahrbiichei'  1891,  S.  10.il ff.) 
und  die  daselbst  aufgeführten  Werke.  —  Etnuest 
Mahaiftif  Etudes  surVassociation professuynneüe, 
Lihje  1891.  —  Etienne  Martln^Saint^L^any 
Ilistoire  des  Corporation«  et  tn^tiers  depuis  leurs 
origines  Jtisqu'ä  leur  suppression  en  1701,  »uivie 


694 


Gewerkvereine  (Frankreich — Belgien) 


d'une  Stude  sur  VSvolution  de  Videe  corporative 
au  XIX  e  Hede  et  sur  les  syndicat^  professionnela, 
Paris  1897,  1.  Bd.  —  Rnoul  Jay,  THe  Syndi- 
kate der  Arbeiter  und  Unternehmer  in  JbVank- 
reich  (Brauns  Archiv  für  soziale  Gesetzgebung 
1891,  S.  ^OSff.).  —  Jaäon  de  SeUhac,  Les 
Congres  ouvriers  en  France  (1876 — 1897).  Paris 
(Bibliotheque  du  Musee  social)  1899,  1.  Bd.  — 
JDevselbe,  Devolution  du  parti  syndical  en 
France  (Le  Correspondant ,  Juület  1899).  — 
Ministere  du  Commerce  et  de  L* In- 
dustrie (Office  du  travail) ,  Annuaire  des 
Syndicats  professionnels ,  industriels,  commer- 
ciaux  et  agricolcs  constitues  conformement  d  la 
loi  du  21.  Mars  1884  en  France  et  en  Algerie, 
Paris.  —  Dasselbe,  Les  associations  pro/es- 
»ionnelles  ouvrieres.  T.  1.  Agriculture.  — 
Mines.  —  Alimentations.  —  Produils  chimi- 
quejf.  —  Industries  polygraphiques,  Paris  1899. 
Lattich.  Emest  Mahahn, 


y.  Die  Gewerkvereine  in  Belgien. 

1.  Geschichtliches.  2.  Gesetzgebung.  3. 
Statistik.  4.  Allgemeine  Charaktenstik.  5.  G. 
von  Arbeitgebern. 

1.  Geschichtliches.  In  Belgien,  aber 
ausschliesslich  in  dem.  flamländischen  Ge- 
biet, bestehen  noch  einige  Vereine,  deren 
ürspnmge  in  das  Mittelalter  zurückreichen. 
In  Brügge,  in  Teuren,  in  Lier,  in  Mecheln, 
in  Gent,  in  Antwerpen  findet  man  Spuren 
alter  Aemter,  deren  Monopol  nicht  mehr 
rechtlich  besteht,  manchmal  aber  thatsächüch 
nocli  fortdauert:  fast  alle  sind  aus  Bürgern 
zusammengesetzt  und  der  Beitrittspreis  ist 
sehr  hoch.  Die  wichtigsten  sind  die  Natien 
von  Antwerpen,  die,  ungefähr  50  an  Zahl, 
wirkliche  Speditionsgeschäfte  sind,  in  denen 
das  Recht  der  Mitgliedschaft  mit  30—40000 
Francs  bezahlt  wird. 

Ausserdem  giebt  es  in  Brügge  einen 
Verein  von  Bäckern  (Gemeenzaamheid  van 
het  Bakkers  Ambacht),  der  bis  ins  13.  Jahr- 
hundert hinaufreicht  und  etwas  mehr  als 
die  Hälfte  der  Bäcker  der  Stadt  umfasst. 

Fischer  in  den  kleinen  Kiistenstädten 
bewahren  auch  noch  Reste  ihrer  mittel- 
alterlichen Einrichtungen. 

Kein  eigentlicher  Gewerkverein  leitet  sich 
direkt  aus  den  Korporationen  her.  Die  ältesten 
Syndikate,  die  heute  existieren,  datieren  aus 
den  vierziger  Jahi-en.  In  dieser  Zeit  bildeten 
sich  einige  Hilfsvereine  (oder  Krankenkassen) 
auf  berufsmässiger  Grundlage,  woraus  infolge 
von  Arbeitseinstellungen  wirkliche  Strike- 
kassen  hervorgingen. 

Solche  sind  die  Union  philanthro- 
pique  des  chapeliers  und  die  Asso- 
ciation des  compositeiu^-typographes  von 
Brüssel.  Die BrüderlicheVereinigung 
der  Weber  von  Gent  datiert  vom  Jahre 
1857  und  steht  im  Zusammenliang  mit  der 


Agitation,  die  sich  auf  die  Einführung  des 
Freihandels  bezieht. 

Von  1865  an  machte  sich  der  Einfluss 
der  Internationale  in  der  ganzen  Ar- 
beiterbevölkerung bemerkbar.  Es  wurde 
eine  grosse  Anzalil  von  Arbeitervereinen 
gegründet,  aber  sehr  wenige  unter  ihnen 
unter  berufsmässiger  Form.  Diese  Vereine 
sind  übrigens,  nachdem  sie  4  oder  5  Jahre 
lang  Sclirecken  unter  der  Bürgerschaft  ver- 
breitet hatten,  verschwunden,  ohne  lebens- 
fähige Spuren  im  Gewerkvereinswesen  zu 
hinterlassen. 

Erst  seit  der  Schöpfung  der  Arbeiter- 
partei (1885)  hat  sich  die  Arbeiterbewegung 
aen  Vereinen  zugewendet.  Auch  ist  zu  be- 
merken, dass  sich  die  Arbeiterpartei  nicht 
in  berufliche  Gruppen  geordnet  hat:  von 
Anfang  an  liat  sie  Genossenschaften  ge- 
gründet, namentlich  der  Bäckereien,  deren 
finanzieller  Erfolg  wesentlich  dazu  beige- 
tragen hat,  den  politischen  Erfolg  der  Par- 
tei zu  sichern.  Bekanntlich  ist  dies  einer 
der  charakteristischen  Züge  der  Organisation 
des  Soziahsmus  in  Belgien,  der  sie  nament- 
lich von  der  deutschen  Sozialdemokratie 
und  dem  französischen  Sozialismus  unter- 
scheidet. 

Nichtsdestoweniger  bot  die  Gruppierung 
nach  Berufen,  selbst  vom  Gesichtspunkt  der 
politischen  Propaganda  aus,  zu  viel  Vorteile, 
um  unbeachtet  gelassen  zu  werden.  Auch 
sehen  wir  neben  den  Arbeiterverbinduugen, 
die  die  Sozialisten  eines  und  desselben  Ortes 
oder  einer  und  derselben  Gegend  ohne 
Unterschied  des  Berufes  vereinigten,  seit 
1885  eine  Anzahl  wirklicher  Vereine  hervor- 
treten. Bald  vermehrten  sie  sich,  um  so 
mehr  als  das  Gesetz  von  1884  in  Frankreich 
ebenfalls  die  französischen  Arbeiter  dahin 
brachte,  Vereine  zu  gründen. 

Die  katholische  Partei  begriff  sofort,  dass 
der  Erfolg  der  sozialistischen  Bewegung 
ihre  politische  Macht  furchtbar  bedrohte, 
mehr  vielleicht  als  die  frühere  liberale  Par- 
tei, die  dui'ch  die  industrielle  Bürgerschaft 
untei*stützt  wurde.  Auch  suchte  sie  von 
1888  bis  1890  mit  den  Volksmassen  in  Be- 
rtlhrung  zu  treten,  indem  sie  von  den  So- 
zialisten die  Mittel  entlehnte.  Gegen  die 
Genossenschaft  des  Vooruit  (Gent)  gründete' 
und  unterstützte  sie  eine  katholische  Ge- 
nossenschaft; neben  den  »patronages«  oder 
Arbeiterklubs,  die  von  Geistlichen  und  Po- 
litikern geleitet  wurden,  schuf  sie  auch  Ver- 
eine. Alle  diese  vereinigten  Gruppen  bil- 
deten die  ligue  democratique  chr6- 
tienne  (1891),  deren  demokratische  Ten- 
denzen der  konservativen  Regierung  eine 
oft  schwierige  Stellung  bereiteten.  Man 
kann  jedoch  sagen,  dass  im  ganzen  diese 
Liga  die  allgemeine  Politik  der  Regierung 
eher  unterstützte:  aber  ein  Teü,  besonders 


Gewerkvereiae  (Belgien) 


695 


der  landwirtschaftlichen  Arbeiter,  der  Zie- 
geleiarbeiter und  der  flamländischen  Arbeiter, 
unter  der  Führung  des  Abbe  Daens  von 
Alost,  ven'iet  jedoch  eine  fast  sozialistische, 
den  Konservativen,  die  am  Ruder  waren, 
oft  feindselige  Bewegung. 

Die  liberale  Partei  hat  sich  dieser  Be- 
wegung nicht  entziehen  können:  seit  1893 
bildete  sich  in  Gent  die  defense  ouvriere 
liberale,,  in  der  die  Arbeiter  nach  Ge- 
werben gruppiert  wurden,  und  etwas  später 
eine  liberale  Arbeiterpartei,  die  auch  einige 
Vereine  umfasste  und  die  anfängt.  Genossen- 
schaften zu  haben. 

Alles  in  allem  also  kann  man  behaupten, 
dass  ausser  einigen  Handwerkervereinen 
(Typographen,  Handschuhmacher,  Juweliere, 
Hutmacher  etc.),  die  seit  lange  in  Brüssel 
bestehen,  die  meisten  belgischen  Vereine 
dem  Zusammenwirken  der  politischen  Par- 
teien ihren  Ursprung  verdanken. 

Man  darf  indes  nicht  glauben,  dass  alle 
diese  Vereine  nur  politische  Klubs  wären. 
Es  kommt  oft  vor,  besonders  in  Gent,  dass 
aus  politischen  Gegnern  zusammen- 
gesetzte Vereine  einmütig  gegen  die  Arbeit- 
geber vorgehen,  um  gemeinsame  wirt- 
schaftliche Interessen  zu  verteidigen. 
Wenn  es  wahr  ist,  dass  theoretisch  die 
Teilung  der  Arbeiter  desselben  Fachs  in 
verschiedene  Vereine  eine  Ursache  der 
Schwäche  ist,  so  ist  es  auch  wahr,  dass  sie 
die  verschiedenen  konservativen  Parteien 
zwingt,  öftei'  die  Verteidigung  der  Arbeiter 
ihren  Arbeitgebern  gegenüber  zu  übernehmen. 

2.  Gesetzgebung.  Das  unter  dem  Na- 
men Gesetz  Chapelier  bekannte  französische 
Gesetz  {14.--17.  Juni  1791),  das  die  Ver- 
einigungen und  Genossenschaften  von  Leuten 
desselben  Gewerbes  untersagte,  wai*  in 
Belgien  gütig  seit  der  Vereinigung  mit 
Frankreich  (1794)  bis  zur  Revolution  von 
1880.  Es  wurde  aufgehoben  durch  die 
Konstitution  von  1831,  deren  Artikel  20  das 
Vereinsrecht  auf  das  entschiedenste  guthiess. 
»Die  Belgier  haben  das  Recht  sich  zu  ver- 
einigen ;  dies  Recht  kann  keiner  Präventiv- 
massregel unterworfen  werden.« 

Es  ist  bemerkenswert,  dass  die  belgischen 
Arbeiter  aus  dieser  Freiheit,  die  damals  in 
England,  Frankreich  und  Deutschland  un- 
bekannt war,  nicht  den  Nutzen  zog,  Vereine 
zu  bilden. 

Allerdings  fuhr  der  französische  Code 
p^nal  bis  1867  fort,  Belgien  zu  regieren  und 
die  Verbindungen  zu  bestrafen,  die  zimi 
Zwecke  hatten,  von  den  Arbeitslöhnen  eine 
Abgabe  zu  erheben.  Der  Artikel  310 
des  belgischen  Code  penal  bezeichnete 
einen  wesentlichen  Fortschritt,  indem  er 
nur  Gewalttätigkeiten,  Geldbussen  imd 
Sperren  gegen  solche,  die  arbeiten  und  ar- 
beiten lassen,  bestraft. 


Unter  diesem  System  des  allgemeinen 
Rechts  lebten  und  leben  noch  die  stärksten 
neutralen  Strikeverbände  und  die  allmählich 
durch  die  politischen  Parteien  gebildeten 
Vereine. 

Seit  1886  aber,  bei  der  grossen  Arbeits- 
kommission, die  infolge  der  revolutionären 
Strikes  ernannt  wurde,  empfand  man  das 
Bedürfnis,  die  gesetzliche  Stellung  der  Ver- 
eine zu  sichern,  indem  man  ihnen  die  Rechte 
einer  juristischen  Person  bewilligte.  Ein 
Antrag  in  diesem  Sinne,  den  man  Pro- 
fessor Prins  zu  verdanken  hat  find  der  die 
meisten  seiner  Bestimmungen  dem  fran- 
zösischen G.  V.  21.  März  1884  entlehnt,  er- 
hielt die  Zustimmung  aller  Parteien. 

Im  Jahre  1889  legte  der  Justizminister 
Jules  Lejeune  der  Kammer  einen  Gesetz- 
entwurf vor,  der  in  demselben  Sinne  ab- 
gefasst  war.  Von  der  Centralabteilung  der 
Kammer  geprüft,  erfuhr  er  nur  wenige  Ab- 
änderungen, und  zwar  vielmehr  in  einem 
den  Vereinen  günstigen  Sinne.  So  beantragte 
man,  ihnen  zu  erlauben,  die  wirtschaft- 
lichen Interessen  ihrer  Mitglieder  neben 
den  rein  gewerblichen  zu  vertreten. 

Im  Jahre  1894  wurde  dieser  Entwurf 
durch  einen  anderen  ersetzt,  der  von  dem 
Justizminister  Begerem,  Lejeunes  Nachfolger, 
vorgelegt  wurde.  Dieser  Entwurf  ging  noch 
viel  weiter  als  die  vorigen:  er  verlieh 
den  Charakter  einer  juristischen  Person 
nicht  nur  den  Industrie-,  Handels-  und  land- 
wirtschaftlichen Vereinen,  sondern  auch  den 
Gewerkvereinen  jeder  Art.  Er  gestattete 
ihnen,  Handelsgeschäfte  zu  treiben  und  hob 
im  Artikel  310  des  Code  pönal  die  Straf- 
bestimmungen gegen  die  auf,  die  Geld- 
bussen, Verbote,  Interdikte  oder  Achts- 
erklänmgen   irgend  einer  Art  aussprechen. 

Mit  Hilfe  dieses  Entwurfs  wollte  man, 
wie  es  scheint,  den  freien  Universitäten  und 
den  Klöstern  den  Charakter  einer  juristischen 
Person  verleihen.  Er  wiuxle  lebhaft  be- 
kämpft von  den  Liberalen  und  den 
Industriellen  und  von  einem  Teü  der 
Rechten. 

Die  Centralabteilung  der  Kammer  änderte 
ihn  im  Jahre  1896  im  Sinne  der  Reaktion 
gründlich  um.  Das  Gesetz,  das  nach  vier- 
monatlicher Diskussion  im  Jahre  1898  an- 
genommen wurde  und  das  Datum  des 
31.  März  1898  trägt,  ist  das  Resultat  eines 
Kompromisses  zwischen  der  Regierung  und 
einem  Teü  der  Rechten,  nach  demokratischen 
Tendenzen. 

Nach  diesem  Gesetz  haben  die  Vereine 
die  Rechte  einer  juristischen  Person  in  den 
Grenzen  und  unter  den  Bedingimgen,  die 
durch  das  Gesetz  auferlegt  werden.  Ge- 
werbliche Vereinigung  nennt  man  »eine  Ver- 
einigung, die  ausschliesslich  zum  Be- 
triebe, ziun  Schutz  und  zur  Entwickelung  ihrer 


696 


Gowerkvereiae  (Belgien) 


Benifsiüteressen  zwischen  Pei'sonen  gebildet 
ist,  die  in  der  Industrie,  im  Handel,  in  der 
Landwirtschaft  oder  in  den  fi-eien  Berufen 
mit  einem  Erwerbszweck  entweder  den- 
selben oder  ähnliche  Berufe,  entweder  das- 
selbe Gewerbe  oder  solche  ausüben,  die  auf 
die  Herstellung  derselben  Produkte  abzielen.« 

Durch  das  Wort  »ausschliesslich«  sind 
also  die  Vereine,  die  einen  politischen  Cha- 
i*akter  tragen,  von  der  Wohlthat  des  Gesetzes 
ausgeschlossen.  Diese  Bestimmung  nimmt 
dem  Gesetz  also  fast  jede  praktische  Wir- 
kung, da  die  grosse  Mehrzahl  der  Vereine 
sich  an  eine  politische  Partei  anschliesst. 
Freilich  hat  man  in  der  Kammer  diesen 
Artikel  sehr  parteiisch  interpretiert:  Sobald 
ein  Teil  des  Vereinsvermögens  in  die  Kasse 
einer  politischen  Partei  wandere,  sobald  ein 
Verein  Kandidaten  für  eine  Gemeinde-, 
Provinzial-,  Kammerwahl  empfelile,  treibe 
er  aktive  Politik  und  sei  nicht  mehr  »aus- 
schliesslich« Berufsverein.  Es  heisse  in- 
dessen nicht  Politik  treiben,  wenn  gefordert 
werde,  dass  die  Mitglieder  eines  Vereins 
unter  aUen  Umständen  das  Privateigentum, 
die  Familie,  die  Religion  verteidigen.  Dies 
seien  lediglich  Bürgscliaften,  die  begreiflicher- 
weise für  den  Eintritt  in  den  Verein  ver- 
langt würtlen. 

Der  streng  berufliche  Charakter  ist  da- 
durch betont  worden,  dass  die  Kammer  ab- 
gelehnt hat,  dass  die  Vereine  neben  den 
Berufsinteressen  ihrer  Mitglieder  auch  deren 
wirtschaftliche  Interessen  wahrnehmen, 
wie  dies  der  ursprüngliche  Plan  zuliess  und 
das  französische  Gesetz  gestattet.  Die  Unter- 
scheidung ist  sehr  subtil.  Das  belgische 
Gesetz  erlaubt  den  Personen,  die  freie  Be- 
rufe mit  der  Absicht  des  Gewinns 
betreiben,  einen  Berufsverein  zu  begründen. 
Dies  können  also  Joiu'nalisten,  Schriftsteller, 
Erfinder.  Was  das  Lehrfach  betrifft,  so 
muss  man  unterscheiden:  Lehrer  und  Fvo- 
fessoren  an  öffentlichen  Anstalten  dürfen  es 
nicht,  ebensowenig  Pei-sone'n,  die  gratis,  aus 
reiner  Hingabe  an  die  Sache,  Unterricht  er- 
teilen ;  wohl  aber  dürfen  es  die  Professoren 
der  freien  Anstalten,  sobald  sie  Gehalt 
beziehen.  i 

So  ist  also  des  gesetzlichen  Von^echts 
würdig  nur  diejenige  V^ereinigung,  die  zimi 
Zweck  das  Studium,  den  Schutz  und  die 
Fördenmg  der  Berufsinteressen  im  engsten 
Sinne  des  Wortes  hat.  Dies  Princip  be- 
herrscht das  ganze  Gesetz  und  hat  die  Mehr- 
zalil  der  Bestimmungen  bedingt^  dergestalt, 
dass  der  dem  Gesetz  entsprechende  Berufs- 
verein nichts  weiter  ist  als  eine  Kasse  für 
Wid (erstand  und  Arbeitslosigkeit. 

So  können  die  Vereine  auch  nicht  sich 
als  Gesellschaften  zu  gegenseitiger  Hilfe 
(Krankenkassen)  konstituieren  noch  Kassen 
zur    Versichenmg   gegen    Unfälle   und    für 


Altersversorgung  bilden.  Der  Grund,  warum 
dies  ausgeschlossen  ist,  liegt  in  der  Sorge 
der  Regieiiuig  für  die  Berufsvereine,  in  der 
Angst,  dass  deren  Kassen  durch  kostspielige 
Sti-ikes  ruiniert  werden  könnten. 

Ein  anderes  Verbot  aber  steht  im  Art.  2: 
„Die  Vereine  dürfen  selbst  weder  einen  Beruf 
noch  ein  Gewerbe  ausüben."  Dies  wird  im  Aus- 
lande nicht  befremden,  wo  es  den  Vereinen  (ab- 
gesehen von  einer  Anzahl  landwirtschaftlicher 
Vereine  in  Frankreich)  nicht  in  den  Sinn  kommt, 
Handel  oder  Gewerbe  zu  treiben.  Diese  Be- 
stimmung verdankt  ihre  Entstehung  der  schar- 
fen Opposition,  die  die  Mehrheit  der  Rechten 
den  Anträgen  der  Minderheit,  den  Christiich- 
Demokraten  unter  der  Führung  der  Abgeord- 
neten Helleputte.  Carton  de  Wiart  und  Renkin 
machte.  Diese  Männer  betrachten  den  Berufs- 
verein als  ein  Werkzeug  der  Emancipation  für 
die  Arbeiter,  die  Handwerker  und  die  Bauern. 
Sie  wollen  ihn  gleichermassen  zu  einer  Unter- 
stUtzungsgesellschaft  und  zur  Produktivge- 
nossenschäft  machen  —  eine  Auffassung,  die, 
von  den  Sozialisten  unterstützt,  ganz  ofi'en  re- 
volutionär auftrat.  So  verbietet  man  grund- 
sätzlich den  gesetzlich  anerkannten  Vereinen, 
Handelsgeschälte  zu  treiben,  und  in  der  Be- 
sorgnis, dass  sie  sich  in  Handelsoperationen  ein- 
lassen, die  für  ihr  Vermögen  gefährlich  werden 
können,  untersagt  man  ihnen,  Anteilscheine 
oder  Aktien  in  Handelsuuternehmungen,  ano- 
nymen Gesellschaften,  Kommanditen  und  selbst 
Genossenschaften  zu  erwerben.  Alles,  was  sie 
thun  dürfen,  ist,  dass  sie  Anlehen  zu  festem 
Zinsfuss  machen  können,  z.  B.  Obligationen  oder 
Staatspapiere  aufnehmen. 

Natürlich  dürfen  dieselben  Personen,  die 
einen  Berufsverein  bilden,  daneben  eine  Ge- 
nossenschaft gründen,  aber  dann  ist  dies  eben 
eine  neue  Vereinigung,  die  den  Forderungen 
des  Gesetzes  von  lb73  genügen  muss.  Indessen 
hat  doch  das  Präcedens  der  landwirtschaftlichen 
Vereine  in  Frankreich  und  der  Bauembünde  in 
Flandern  die  Regierung  bewogen,  eine  Aus- 
nahme zu  machen.  Die  Berufsvereine  dürfen 
zum  Wiederverkauf  an  ihre  Mitglieder  Roh- 
stoffe, Sämereien,  Düngemittel,  Haustiere,  Ma- 
schinen und  andere  Werkzeuge  ankaufen ;  ebenso 
dürfen  sie  Erzeugnisse  des  eigenen  Berufes 
kaufen  und  an  das  Publikum  verkaufen,  sie 
können  Lehrwerkstätten  unterhalten  —  alles 
aber  unter  der  ausdrücklichen  Bedingung,  da- 
raus keinen  Gewinn  zu  ziehen.  Für  diese  Ope- 
rationen muss  der  Verein  eine  besondere  Rech- 
nung fähren.  Die  Furcht,  dass  die  Vereine  ein 
Gewerbe  ausüben  könnten,  ist  so  gross  gewesen, 
dass  mau  ihnen  die  Möglichkeit  genommen  hat, 
Arbeitsstätten  für  Arbeitslose  zu  errichten,  weil 
daraus  ständige  Produktionsstätt-en  werden 
könnten. 

Junge  Leute  von  16  Jahren  an  und  Ehe- 
frauen sind  nur  dann  zugelassen,  wenn  der 
Vater  oder  der  Gatte  nicht  Einspruch  erhebt. 
Der  Minderjährige  hat  keine  beschliessendtt 
Stimme.  Der  Verein  kann  Ehrenmitglieder  er- 
nennen, selbst  wenn  sie  nicht  dem  Berufe  an- 
gehören, doch  darf  ihre  Zahl  nicht  ein  Viertel 
der  Zahl  der  wirklichen  Mitglieder  überschreiten. 
Schankwirte  können  nicht  Ehrenmitglieder 
werden,  wenn    sie   nicht  mindestens    während 


Gewerkvereine  (Belgien) 


697 


vier  Jahre  den  betreffenden  Beruf  ausgeübt 
haben. 

Was  die  Form  der  „Anerkennung**  betrifft, 
so  muss  der  Berufsverein  als  gemäss  dem  Ge- 
setz gebildet  durch  den  Bergwerksrat  (Conseil 
des  Mines)  erklärt  werden^  der  in  Belgien  die 
Aufgaben  des  Ke^strars  in  England  und  des 
Bureaus  der  Syndikate  im  französischen  Minis- 
terium ausübt.  Seine  Aufgabe  besteht  einfach 
darin,  sich  zu  vergewissem,  ob  die  gesetzlichen 
Bestimmungen  erfüllt  worden  sind.  Zu  diesem 
Zweck  müssen  die  Berufs  vereine  bei  ihm  ihre 
Satzungen,  eine  Liste  aller  ihrer  Mitglieder  und 
eine  Erklärung  einreichen,  dass  alle  Mitglieder 
eines  Vereins  auch  wirklich  demselben  Berufe 
angehören.  Um  giltig  zu  sein,  müssen  die 
Statuten  eine  Reihe  von  Vorschriften  erfüllen, 
die  hauptsächlich  in  Art.  4  aufgezählt  sind, 
nämlich:  Name,  Domizil,  Zweck  des  Vereins, 
Bedingungen  des  Ein-  und  Austritts  der  Mit- 
glieder, Organisation  der  Vorstandschaft,  Modus 
ihrer  Ernennung,  Dauer  ihres  Amtes,  Art  der 
Vermögensanlage,  Rechnungslegung,  Geschäfts- 
ordnung *für  Statutenänderungen,  die  vom  Ver- 
ein gebilligten  Bestimmungen  für  die  Beobach- 
tung seiner  Geschäftsordnung,  endlich  „die  Ver- 
pfliciitung,  gemeinsam  mit  der  Gegenpartei  die 
Mittel  und  Wege  zu  suchen,  um  jede  Streitig- 
keit, die  den  Verein  angeht  und  die  Arbeitsbe- 
dingungen betrifft,  sei  es  durch  Einigung, 
sei  es  durch  Schiedsgericht  beizulegen." 

Die  Veröffentlichung  der  Vereinsstatuten 
erfolgt  im  „Staatsanzeiger".  Alljährlich  muss 
der  Verein  dem  Bergwerksrat  eine  Abrechnung 
über  die  Einnahmen  und  Ausgaben  sowie  die 
Liste  seiner  Vorstandsmitglieder  einreichen. 
Diese  letzteren  müssen  Belgier  oder,  wenn  sie 
Ausländer  sind,  zum  Wohnsitz  in  Belgien  be- 
fugt sein.  Schankwirte,  gewisse  Kategorieen 
von  Verurteilten,  Bankrotteure  dürfen  nicht  im 
Vorstand  eines  Berufsvereins  sitzen.  Nach  dem 
Eommissionsentwurf  sollte  auch  eine  vollstän- 
dige Namensliste  sämtlicher  Mitglieder  vorge- 
legt werden.  Diese  Bestimmung  stiess  auf  den 
lebhaftesten  Widerstand  bei  den  Sozialisten. 
Schliesslich  entschloss  man  sich  nur  zu  dem 
Verlangen,  dass  im  Vereinslokal  eine  auf  dem 
Laufenden  gehaltene  Mitgliederliste  angelegt 
werden  müsse,  die  den  Mitgliedern  zur  Einsicht 
offen  stehen  soll. 

Die  Artt.  10,  11  und  12  bestimmen  die 
Rechte  der  Berufsvereine  als  juristischer  Person. 
„Der  Verein  darf  als  Kläger  oder  Verteidiger 
zum  Schutz  der  individuellen  Rechte,  die  seine 
Mitglieder  in  ihrer  Eigenschaft  als  Mitglieder 
besitzen,  vor  Gericht  zugelassen  werden.  Das 
trifft  im  besonderen  zu  für  die  gerichtlichen 
Schritte  zur  Ausführung  der  vom  Verein  für 
seine  Mitglieder  abgeschlossenen  Verträge  und 
für  die  Schadenersatzklagen,  die  durch  Nicht- 
erfüllung dieser  Vorlage  verursacht  werden." 
Die  schwierige  Frage  nach  den  Rechten  und 
der  Verantwortlichkeit  der  Berufsvereine  hat 
man  der  Würdigung  der  Gerichte  zu  entschei- 
den überlassen. 

Der  Verein  darf,  „als  Eigentum  oder  sonst- 
wie" (z.  B.  in  Miete)  keine  anderen  Immobilien 
besitzen  als  solche,  die  erforderlich  sind  „zur 
Enichtung  seiner  Versammlungslokale,  Bureaus, 
gewerblichen  Schulen,  Bibliotheken,  Sammlun- 
gen, Laboratorien,  Versuchsfelder,  Unterkunft 


für  Haustiere,  Maschinen  und  Werkzeuge, 
Stellennachweise,Arbeit8börsen,Lehrwerkstätten, 
Herbergen  und  Krankenhäuser." 

Der  Verein  darf  Geschenke  und  Legate 
annehmen,  aber  er  muss  dazu  in  jedem  einzel- 
nen Falle  durch  königliche  Verordnung  ermäch- 
tigt werden.  Der  Geschenkgeber  oder  Erblasser 
kann  zu  seinem  oder  seiner  Erben  Nutzen  sich 
das  Recht  vorbehalten,  im  Fall  einer  Auflösung 
des  Vereins  eine  dem  Wert  des  vermachten 
Gutes  entsprechende  Summe  zu  verlangen.  Als 
Entschädigung  der  Besitzveränderungsgebühr 
erhebt  der  Staat  eine  Jahrestaxe  von  4%  des 
katasteimässigen  Einkommens  von  den  dem 
Verein  gehörigen  Grundstücken. 

Die  Artt.  14,  15,  16  behandeln  die  Auf- 
lösung des  Vereins,  die  von  den  Gerichten  ver- 
fügt werden  kann,  wenn  der  Verein  sich  nicht 
den  Vorschriften  des  Gesetzes  fügt,  wenn  sein 
Vermögen  zu  einem  anderen  Zwecke,  als  für 
die  der  Verein  gegründet  worden  ist,  verwendet 
wird,  wenn  die  Leitung  sich  nicht  im  Rahmen 
des  Gesetzes  hält.  Was  die  Liquidation  be- 
trifft, so  ist  zu  bemerken,  dass  der  Aktivrest, 
nach  Abzug  der  Schulden,  einem  ähnlichen  oder 
verwandten  Institute  zugeführt  wird,  das  ent- 
weder die  Statuten  oder  die  Generalversamm- 
lung bestimmt.  Mangels  einer  solchen  Bestim- 
mung nimmt  der  Staat  das  Vereinsvermögen 
an  sich,  um  es  Zwecken  des  gewerblichen  Un- 
terrichts zuzuwenden. 

Den  ersteren  Entwürfen  entgegen,  hat  die 
Regierung,  aus  Besorgnis  vor  Missbräuchen, 
den  Art.  310  des  Strafgesetzes  unverändert  bei- 
behalten lassen.  Die  Vereine  können  demnach 
Strafbestimmungen  gegen  ihre  Mitglieder  er- 
lassen, aber  „sie  dürfen  sich  nicht  auf  Ab- 
machungen oder  Thatsachen  berufen,  die  ge- 
eignet sein  würden,  die  Rechte  von  Personen 
ausserhalb  der  Vereine  zu  schädigen."  Es  wird 
interessant  sein,  zu  verfolgen,  welchen  Gebrauch 
die  Gerichte  von  diesem  Zwiespalt  zwischen 
dem  Strafgesetz  und  dem  neuen  Gesetz  machen. 
Von  ihrer  Auffassung  wird  es  abhängen,  ob  die 
ohnehin  auf  die  R^lle  von  Strikekassen  be- 
schränkten Vereine  nicht  einmal  im  stände 
sind,  wirksam  Widerstand  zu  leisten. 

Es  ist  nicht  zu  verwundern,  dass  dies 
Gesetz  von  den  bestehenden  Vereinen  nicht 
günstig  aufgenommen  worden  ist,  da  es 
leichter  ist,  zu  wissen,  was  ihnen  verboten, 
als  was  ilinen  erlaubt  ist.  Die  Sozialisten 
liaben  erklärt,  sie  würden,  keinen  Nutzen 
daraus  ziehen:  die  Vorteile  der  juristischen 
Person  sind  zu  gering  den  Uebelständen 
der  gesetzlichen  Anerkennung  gegenüber. 

Bis  jetzt  sind  die  einzigen  anerkannten 
Genossenschaften  landwirtschaftliche  Vereine, 
Vereine  von  Arbeitgebern,  von  Beamten, 
von  Pharmazeuten  u.  s.  w.  Einige  Arbeiter- 
vereine, die  der  demokratisch-christlichen 
Verbindung  angehören,  haben  schliesslich, 
ihre  Statuten  mit  dem  Gesetz  in  Einklang 
gesetzt,  sie  sind  aber  wenig  zahlreich. 

3.  Statistik.  Es  ist  unmöglich,  sich 
eine  ganz  genaue  Vorstellung  von  der  An- 
zahl   der    Vereine    und    ilirer    Starke     zu 


698 


Gewerkvereine  (Belgien) 


machen.     In  Belgien,  wie  überall,  sind  sie 
äusserst  veränderlich  und  wechselnd. 

Im  Jahre  1891  schätzte  Emile  Yander- 
velde  die  Zahl  der  Vereinsangehörigen  Ar- 
beiter auf  70000  im  ganzen.  Seitdem  hat 
die  Yereinsbewegimg  eine  ge\nsse  Zaiü  von 
Industrieen  gewonnen,  andere  aber  verloren. 
So  sind  die  meisten  Bergwerksarbeitervereine 
infolge  der  unglücklichen  Stnkes  umge- 
schlagen. 

Ich  glaube,  wenn  man  die  Gesamtzahl 
der  Vereinsangehörigen  Arbeiter  jedes  Be- 
rufs auf  90—100000  schätzt,  befindet  man 
sich  vielmehr  über  als  unter  der  Wahrheit. 
Diese  Zahl  ergiebt  10  bis  11%  der  Zalü 
der  Arbeiter. 

Die  Arbeiterpartei  gruppiert  ungefälir 
60000  Leute  in  120  Vereinen;  die  katho- 
lische Partei  25000  in  30  Vereinen;  die 
Daensisten  mit  etwa  10  Vereinen  betragen 
nicht  mehr  als  5 — 6000;  etwa  40  neutrale 
Vei-eine  umfassen  höchstens  10 — 15  000  Ar- 
beiter. 

In  geographischer  Hinsicht  sind  die 
Mittelpunkte  der  Organisation  Brüssel  und 
Gent.  Im  Wallonischen,  namentlich  im  Ge- 
biet von  Lüttich,  sind  die  Vereine  weniger 
zahlreich,  weniger  stark  und  weniger  gut 
geleitet  als  in  dem  flamländischen  Gebiet. 
Indes  findet  für  den  Augenblick  ein  Wachs- 
tum der  Vereinsbewegung  bei  den  wallo- 
nischen Berg  Werksarbeitern  statt.  In  Ant- 
werpen mehrt  sich  die  Zahl  der  Vereins- 
angehörigen, besondere  der  Dockarbeiter,  be- 
trächtlich. 

Die  Industrieen,  in  denen  die  Vereine 
am  mächtigsten  sind,  sind  die  Luxusindus- 
trieen,  namentlich  in  Brüssel,  wo  es  den 
Vereinen  der  Handschuhmacher,  Juweliere, 
Erzgiesser  (Sozialisten  700  Mitglieder)  ge- 
lungen ist,  fast  die  Gesamtheit  der  Berufs- 
angehörigen aufzunehmen.  Die  Brüsseler 
.Typographen  umfassen  ungefälir  90®/o  der 
beschäftigten  Arbeiter  und  haben  schon 
lange  einen  von  den  Arbeitgebern  bewilligten 
Lohntarif.  In  der  Textilindustrie  und  be- 
sonders in  Gent  steigert  sich  die  Propor- 
tionalzalü  der  Vereinsangehörigen  (50%). 
Die  Steinbrecher  und  seit  kurzem  die  Dock- 
arbeiter (Antwerpen  und  Gent)  sind  auch 
verhältnismässig  zahlreich.  Ueberall  sonst, 
kann  man  sagen,  erreicht  die  Zahl  der 
Vereinsangehörigen  nicht  10%  der  Berufs- 
genossen. 

Eine  gewisse  Anzahl  von  Berufen  haben 
Vei-einsverbände :  der  älteste  ist  der  Ver- 
band der  Typographen;  ausserdem  giebt  es 
einen  Glasarbeiterverband  (2000  Mitglieder), 
den  Verband  der  Bergwerksarbeiter,  der 
fast  nur  noch  dem  Namen  nach  besteht,  und 
die  der  Arbeiterpartei  angeschlossenen  Ver- 
bände: der  Steinarbeiter,  der  Tabakarbeiter, 


der  Ledei-arbeiter,  der  Holzarbeiter,  der 
Maurer  und  Metallarbeiter. 

4.  Allgemeine  Charakteristik.  Alles 
in  allem  halten  die  belgischen  Vereine  die 
Mitte  zwischen  den  franz^>sischen  Vereinen 
und  den  trade  unions.  Eine  gute  Zahl  sind 
nur  politische  Klubs  und  haben  keinen  Ein- 
fluss  auf  die  Lohnfrage;  einige  nur  üben 
mit  Erfolg  den  »collective  bargaining«  aus 
und  haben  zahlreiche,  mannigfaltige  und 
ziemlich  reiche  Hilfskassen;  eine  kleinere 
Anzahl  hat,  obwohl  sie  Parteipolitik  betreibt 
auch  eine  wirksame  Wirtschaftspolitik  und 
ziemlich  blüliende  Kassen.  Es  scheint,  dass 
sich  eine  sehr  deutliche  Bewegung  in  dieser 
Richtung  bemerkbar  macht:  die  Summen, 
die  zur  Unterstützung  für  Arbeitslosigkeit 
ausserhalb  der  Strikes  verteilt  werden,  wer- 
den beträchtlicher;  sehr  viele  sozialistische 
Vereine  haben  besclilossen,  ihre  Beisteuer 
zu  erhöhen  und  ständige  honorierte 
Sekretäre  zu  ernennen;  ihrem  Beispiel  sind 
katholische  Vereine  gefolgt.  Es  ist  viel- 
leicht der  Anfang  einer  neuen  Aera,  wo  die 
Wirksamkeit  der  Vereine  auf  die  Ijöhne 
und  die  Arbeitsbedingimgen  nachdrücklicher 
werden  wird. 

6.  G.  von  Arbeitgebern.  In  Belgien 
giebt  es  eine  grosse  Anzahl  von  Arbeitgeber- 
verbänden, die  mehr  oder  weniger  einen  ge- 
werkschaftlichen Charakter  haben.  Leider 
giobt  es  darüber  keine  Statistik.  Ihre  Thätig- 
keit,  verbunden  mit  der  der  Handelskammern, 
richtet  sich  viel  mehr  auf  die  Erlangung  von 
Von'echten  und  Vorteilen  von  selten  der 
öffentlichen  Macht  als  auf  den  Widerstand 
gegen  die  Arbeiter.  Im  Fall  einer  Gefahr, 
z.  B.  im  Fall  eines  Strikes,  bilden  die  Ar- 
beitgeber eine  natürliche  Vereinigung,  ohne 
dass  sie  nötig  hätten,  einen  eigentlichen 
Verein  zu  büden. 

Seit  1894  besteht  ein  industrielles  Central- 
arboitskomitee,  das  ein  monatliches  Bulletin 
veröffentlicht  und  das  bei  jeder  Gelegenheit 
thatkräftig  eingreift,  um  die  Arbeitgeber  im 
allgemeinen  und  besonders  die  der  Gross- 
industrie zu  verteidigen. 

Litteratar:  Emil^  Vandervelde,  Let  Associa- 
tions  professwnnelles  d'artisans  et  d'ouvriera  en 
Belgigiie,  Brturelles  1891,  2  Bde.  (mit  vollstän- 
diger Lüteraturangabe).  —  £Hmest  Mahniuif 
Etudes  sur  Vassociation  professionnellef  Liege 
1891.  (Besonders  Chap.  Vf.,  Les  Uniojis  pro- 
festtioneUe»  en  Belgique).  —  Soeiete  d*  etudes 
sociales  et  politiques,  Proch-verbaux  des  s^nccs. 
Projet  de  toi  srtr  les  Unions  pro/essionnelles  «» 
1895,  Bnixelles  1896.  —  Comit^  central  du 
travail  tndiistriel:  Unions  professiomielles, 
Bnixelles  1896.  —  E.  Baudaux  et  H.  Lam^ 
bertf  les  syndicats  professionnels  et  Vfvolntion 
corporative,  Bntxelles  1896.  —  Dieselben^  les 
syndicats  pro/essionriels  et  le  rSgime  general  des 
assodations  modernem  Bnixelles  1897.  —  -EL 
Vandervelde n    le  projet  de  loi  sur  les  unions 


Gre  werk  vereine  (Belgien — Schweiz) 


699 


profesHonnelles  devant  le  parlement  beUje.  (Le 
Dcvenir  social,  Octobre  1897.)  Auch  deutsch  : 
Der  Gesetzentwurf  über  die  Berufsvereine  vor 
dem  belgischen  Parlament  (Brauns  Archiv  für 
soziale  Gesetzgebung  1897).  —  E,  Mahaim,  Die 
Berufsvereine  in  Belgien  (Soziale  Praxis.  VII. 
Jahrg.  Nr.  9,  Dez.  1897).  —  Ver seihe,  Das 
belgische  (resetz  über  die  Berufsvereine  (ebenda. 
VII.  Jahrg.  iV>.  S,  Okt.  1898).  —  Annales 
parlcmentaires,  Chambre  des  Representants. 
Doctiments:  Sessions  1888 — 1889,  Nr.  287;  ses- 
sions  1890 — 1891,  Nr.  127 ;  sessions  1894—1895, 
No.  4.  —  Discussions,  sess^ions  1896 — 1897  pp. 
2259  f.  und  1897^1898  ab  init.  —  Senat  1897 
— 1898  pp.  137  f.  —  Th.  ThäatCf  les  unions 
professionnelles  (Revue  pratiqv^  des  SociStes  ci- 
viles  1898  und  1899),  Bruxelles.  —  L,  Varlez, 
le  plan  social  de  Gand.  S.  partic:  Syndicais 
d'ouvriers  et  d'employes.  ResumS  »uccinct. 
Gand  1897.  —  Die  seit  Januar  1896  vom  Office 
du  travail  de  Belgique  (Ministere  de  F Industrie 
et  du  travail)  herausgegebene  Revue  du  travail 
veröffentlicht  manaUich  einen  Bericht  über  die 
geicerkvereinliche  Bewegung,  —  Parti  ouvrier 
Beige.  Comptcs-rendus  des  Congrhs  annuels. 
Bruxelles.  —  Ligue  democratigue  Beige. 
Annuaires  et  Almanachs,  Gand,  Het  Volk.  — 
Co  mite  centr  al  du  travail  indu^triel.  Bulle- 
tin merutuel,  Bruxelles  1894ff'. 

Lattich.  Emesi  Mahaitn, 


Tl.  Die  Gewerkrereine  in  der  Schweiz. 

1.  Allgemeine  Vorbedingungen.  2.  Beruf- 
liche Centralverbände.  3.  Der  allgemeine  üe- 
werkschaftsbund  und  die  allgemeine  Arbeiter- 
reservekasse. 4.  Bestrebungen  zur  weiteren 
Entwickelung  des  Gewerkachaftswesens. 

1.  AllgemeineTorbedlngungen.  In  r  e  c  h  t  - 
lieber  Hinsicht  bietet  die  Schweiz  jedenfalls  die 
yorteilhaf testen  Bedingungen  zur  Entwickelung 
des  Gewerkschaftswesens  dar.  Nach  Art.  5B 
der  Bundesverfassung  besteht  weitgehende  Ver- 
einsfreiheit. Ge  werk  vereine  können  sich  überall 
ohne  jede  obrigkeitliche  Genehmigung  bilden. 
Die  juristische  Persönlichkeit  wird  durch  Ein- 
tragung in  das  Handelsregister  aufs  einfachste 
erworben.  Da  das  Straf  recht  zur  Zeit  noch 
eine  kantonale  Angelegenheit  bildet,  unterliegen 
die  bei  Arbeitseinstellungen  etwa  vorkommenden 
Ausschreitungen  von  Kanton  zu  Kanton  einer 
yerschiedenen  Beurteilung.  Die  Allgemeine 
Polizeiverordnung  der  Stadt  Zürich  vom  5.  April 
1894  trifft  beispielsweise  folgende  Bestimmungen 
zum  Schutze  der  Arbeitswilligen :  „Art.  27.  Es 
Ist  untersagt,  fremde  Wohnungen  und  Werk- 
stätten, Geschäftslokale,  Bauplätze,  Lagerplätze 
oder  andere  Lokale  zu  betreten  oder  zu  um- 
stellen, um  Arbeiter  oder  Arbeitgeber  in  der 
Ausübung  ihres  Berufes  zu  hindern  oder  zu 
stören.  Art.  28.  Ebenso  ist  verboten,  gegen- 
über Arbeitern  irgend  welchen  Zwang  anzuwen- 
den, um  sie  von  der  Arbeit  abzumahnen  oder 
abzuhalten,  denselben  zu  diesem  Zwecke  abzu- 
passen, sie  zu  verfolgen,  sie  gegen  ihren  Willen 
zu  begleiten  oder  sonst  zu  belästigen.  Art.  29. 
Uebertretungen  dieser  Vorschriften  unterliegen, 
vorbehaltlich   der   strafrechtlichen  Verfolgung, 


den  Bestimmungen  über  den  Vollzug  der  allge- 
meinen Polizeiverordnung.  Ausländer  sollen  im 
Wiederholungsfalle  der  kantonalen  Polizeibe- 
hörde mit  dem  Antrage  auf  sofortige  Wegwei- 
sung zugeführt  werden." 

Da  Uebertretungen  dieser  Polizei  Verordnung 
mit  einer  Busse  von  nur  2  bis  15  Francs  bestraft 
werden  und  überdies  in  „leichteren  Fällen"  die 
Polizei  bei  Verhängung  der  Busse  eine  Ver- 
warnung vorausgehen  lassen  kann,  so  wird  von 
einer  Beeinträchtigung  der  Koalitionsfreiheit 
nicht  gesprochen  werden  dürfen.  Etwas  schär- 
fer ist  eine  Berner  Polizeiverordnung  gefasst. 
Immerhin  hört  man  auch  in  der  Arbeiterpresse 
nur  selten  über  behördliches  Einschreiten  bei 
Arbeitseinstellungen  Klage  führen.  Der  Ver- 
such eines  Baseler  Polizeigerichtspräsidenten, 
die  im  eidgenössischen  Fabrikgesetze  Art.  19 
vorgesehenen  Bussen  auch  dann  zu  verhängen, 
wenn  Arbeiter  die  im  Art.  9  desselben  Gesetzes 
vorgesehene  14tägige  Kündigungsfrist  nicht 
einhalten,  ist  durch  die  eidgenössische  Behörde 
zurückgewiesen  worden. 

Wenn  also  das  bestehende  Recht  und 
dessen  Handhabung  den  Gewerkschaften  und 
ihren  Kampfmitteln  keine  nennenswerten  Schwie- 
rigkeiten in  den  Weg  legen,  so  haben  immer- 
hin manche  Unternehmer  danach  gestrebt,  durch 
Aechtung  derjenigen  Arbeiter,  welche  an  Ge- 
werkschaften teilnahmen,  die  Entwickelung  der 
Berufsorganisationen  aufzuhalten.  Es  ist  des- 
halb von  Seite  der  Arbeiterpartei  die  Forderung 
aufgestellt  worden,  „dass  in  dem  Entwürfe  des 
eidgenössischen  Strafrechtes  eine  Bestimmung 
aufgenommen  werde,  wonach  derjenige  Arbeits- 
herr, der  seinen  Arbeitern  den  Beitritt  zu  einem 
politischen  oder  gewerkschaftlichen  Vereine  ver- 
bietet oder  die  Gründung  eines  solchen  Vereines 
verhindert,  indem  er  jenen  mit  Entzug  der  Ar- 
beit droht  oder  wirklich  Kündigungen  vor- 
nimmt, bestraft  werden  kann".  In  der  Kom- 
missionsberatung des  Strafgesetzentwurfes  hat 
Professor  Zürcher  dieses  Begehren  unterstützt, 
aber  bei  der  Mehrheit  kein  Entgegenkommen 
gefunden.  Auf  der  anderen  Seite,  in  den  Ünter- 
nehmerkreisen  und  der  ihnen  nahestehenden 
Presse,  wird  wohl  hie  und  da  ein  grösserer 
„Schutz  der  Arbeitswilligen"  gewünscht. 

Weniger  günstig  liegen  die  Verhältnisse 
nach  der  wirtschaftlichen  Seite  hin.  Noch 
kommt  dem  Verlagssysteme,  namentlich  in  der 
Seiden-,  Uhren-  und  Stickereiindustrie,  eine 
nicht  unbeträchtliche  Ausdehnung  zu.  Die  mit 
dieser  Betriebsform  gegebene  Decentralisation 
der  Arbeitskräfte  und  der  Umstand,  dass  letztere 
in  den  genannten  Exportindustrieen  von  dem 
häufigen  Wechsel  der  Marktkonjunkturen  be- 
sonders hart  getroffen  werden,  stellen  sich  der 
Ausbildung:  leistungsfähiger  Ar  heiter  verbände 
vielfach  hindernd  entgegen.  Mag  auch  die  Fa- 
brik dem  Verlagssysteme  immer  mehr  Boden 
abringen,  so  bilden  sich  doch  keine  grossen 
Fabrikstädte  aus.  Die  Industrie  muss  bei  der 
schwierigen  Beschaffung  der  Kohlen  die  vor- 
handenen Wasserkräfte  möglichst  ausnutzen 
und  demzufolge  die  koncentrische  Anhäufung 
grosser  Anlagen  vermeiden.  Das  städtische 
Handwerk  beschäftigte  nach  der  Zählung  von 
1888  mindestens  51,6%  der  gewerblichen  Ar- 
beiter. Hier  hofft  noch  ein  guter  Teil  der  Ar- 
beiter im  Laufe  der  Zeit  selbständig  zu  wer- 


700 


Gewerkvereine  (Schweiz) 


den  und  beknndet  deshalb  fUr  die  Förderung 
der  gewerkschaftlichen  Aufgaben  nur  ein  mas- 
siges Interesse. 

Dazu  kommt,  dass  viele  schweizerische  Ar- 
beiter, namentlich  wenn  sie,  was  auf  dem  Lande 
nicht  selten  der  Fall  ist,  einen  kleinen  Grund- 
und  Hausbesitz  oder  Allmendgennss  innehaben, 
sich  weit  mehr  als  schweizerische 
Bürger  denn  als  Arbeiter  fühlen 
und  den  allgemeinen  Fragen  der  eidgenös- 
sischen, kantonalen  und  kommunalen  Politik 
frössere  Aufmerksamkeit  als  ihren  besonderen 
lasseninteressen  widmen.  Sodann  sind  viele 
Schweizer  auch  dadurch  von  den  Gewerk- 
schaften abgehalten  worden,  dass  diese  stets 
sozialistische  Politik  getrieben  haben.  Ver- 
gegenwärtigt man  sich  endlich,  dass  die  aus 
dem  Auslande  (Deutschland,  Oesterreich,  Italien) 
stammenden  Arbeiter,  denen  gegenüber  der 
autochthone  Schweizer  gern  eine  gewisse  Zu- 
rückhaltung bewahrt,  besonders  in  den  grösseren 
Städten  einen  erheblichen  Bruchteil  der  Arbeiter- 
bevölkerung ^)  ausmachen  und  dass  auch  die 
Arbeiter  schweizerischen  Ursprunges  durch 
Unterschiede  der  Nationalität  und  Konfession 
sowie  durch' allerlei  kantonale  Eivalitäten  und 
Gegensätze  auf  den  Gebieten  der  eidgl^nössi sehen 
und  kantonalen  Politik  gespalten  werden,  so 
wird  man  nicht  darüber  erstaunen,  dass  die 
Ge  werk  vereine  in  der  Schweiz  nicht  weiter 
gekommen  sind,  sondern  darüber,  dass  sie  es  so 
weit  gebracht  haben. 

2.  Bemfliche  Centralverbände.  Wie 
im  Deutschen  Reiche  und  in  OesteiTeich, 
so  haben  die  Buchdrucker  auch  in  der 
Schweiz  als  die  ersten  unter  allen  Arbeitern, 
nämlich  schon  seit  1858,  eine  tüchtige  Be- 
rufsorganisation, den  Schweizerischen  Typo- 
gi*aphenbund,  zu  stände  gebracht.  Die  vom 
Berufe  geforderte  und  geförderte  höhere 
geistige  Entwickelung  sowie  der  Umstand, 
dass  die  Arbeit  in  hohem  Masse  eine  ge- 
lernte ist,  lassen  diese  Erscheinung  leicht 
verstehen.  Der  Typographenbund  strebt  vor 
allem  danach,  eine  auskömmliche  Höhe  des 

*)  Nach  der  Volkszählung  von  1888  waren 
von  den  nachstehenden  in  Basel -Stadt  gezählten 
Arbeiterklassen  im  Deutschen  Reiche  geboren: 
Bäcker-  und  Metzgerburschen  57,9 %;  andere 
Arbeiter  im  Kleingewerbe  46,8  ^Z^,;  männliche 
Fabrikarbeiter  in  der  Textilindustrie  20,8%, 
weibliche  Fabrikarbeiter  in  der  Textilindustrie 
19,6  <^/o;  andere  Fabrikarbeiter  40,4%,  andere 
Fabrikarbeiterinnen  41,8%;  männliche  Arbeiter 
überhaupt  37,2  %.  Vergl.  K.  Bücher,  Die  Be- 
völkerung des  Kt.  Basel-Stadt  am  1.  Dezember 
1888,  Basel  1890,  S.  72.  Noch  stärker  ist  der 
Anteil  der  Ausländer  innerhalb  gewisser  Berufe 
in  Zürich  nach  den  Ergebnissen  der  Volkszählung 
vom  1.  Juni  1894.  Von  den  nachstehenden 
Arbeiterklassen  waren  im  Auslande  geboren: 
tnännliche  Arbeiter  der  Bekleidungse:e werbe 
61,4%;  der  Holzbearbeitung  46,4%;  der  Bau- 
gewerbe 65,1%.  Von  den  Angehörigen  der 
industriellen  Berufe  bilden  die  Ausländer  in 
Zürich  37,9%.  Vergl.  Ergebnisse  der  Volks- 
zählung in  der  Stadt  Zürich  vom  1.  Juni  1894, 
I.  Teil  S.  154,  155,  II.  Teil  S.  68,  Zürich  1897  98. 


Lohnes  zu  sichern.  Als  Grundlage  dient 
ein  Normaltarif,  nach  welchem  jeder  Zweig- 
verein entsprechend  den  besonderen  lokalen 
Verliältnissen  den  Lohn  i-egelt.  In  dem 
lokalen  Lohntarife  werden  auch  noch  andere 
Arbeitsbedingimgen,  namentlich  die  Arbeits- 
zeit, festgesetzt  Die  Beseitigung  der  Sonn- 
tagsarbeit hat,  dank  der  Organisation,  bereits 
1866  stattgefunden.  Um  die  günstigeren 
Arbeitsbedingungen  dauernd  zu  behaupten, 
nimmt  der  Verein  nur  solche  Buchdnicker 
auf,  welche  den  Minimallohn  verdienen 
können  und  die  Lehrlingspriifung  bestanden 
haben.  In  der  gleichen  Absicht  ist  ein  Ein- 
fluss  auf  die  Lehrlingsverhältnisse  erstrebt 
worden.  Im  Jalire  1887  ist  im  Vereine  mit 
den  gleichfalls- organisierten  Prinzipalen  ein 
Ijeliriingsregulativ  festgesetzt  worden,  nach 
welchem  die  Lehrzeit  vier  Jahre  dauert. 
Nach  Ablauf  derselben  hat  der  Lelirling 
eine  Prüfung  vor  einer  aus  Prinzipalen  und 
Gehilfen  zusammengesetzten  Kommission  ab- 
zulegen. Auf  je  fünf  Setzer  soll  höchstens 
ein  Setzerlehrling,  auf  zwei  Maschinenmeister 
ein  Druckerlehrling  entfallen.  Keine  Dnickerei 
darf  aljer  im  ganzen  mehr  als  fünf  Setzer- 
und    zwei    Druckerlehrlinge    beschäftigen. 

Nach  einer  vom  Schweizerischen  Gewerbe- 
vereine aufgenommenen,  freilich  nicht  ganz  voll- 
ständigen Statistik  zählte  man  1898  auf  2599 
Setzer  491  Lehrlinge,  auf  424  Maschinenmeister 
179  Lehrlinge.  Es  scheinen  also  die  Bestim- 
muugen  des  Lehrlingsregulatives  in  der  R^gel 
beachtet  zu  werden.  Lohnbewegungen  im  Jahre 
1889  haben  zu  Lohnaufbesserungen  um  20 — 
«^«">**'o  geführt.  Die  Arbeitszeit  wurde  1892 
vielerorts  von  10  auf  9  Stunden  herabgesetzt, 
und  die  „berechnenden"  Setzer  erzielten  eine 
prozentuale  Lohnerhöhung.  Nach  Mitteilungen 
des  Schweizerischen  Gewerbevereines  beziehen 
die  Buchdrucker  in  den  Städten  30  -  37  Francs, 
auf  dem  Lande  27—32  Francs  Wochenlohn. 
Die  Dauer  der  Arbeitszeit  beträgt  nach  der 
gleichen  Quelle  bei  2  Firmen  48  Stunden ;  bei  7 
48»/.>— 51;  bei  169  5172—54;  bei  85  54^'o-57; 
bei  129  57%— 60;  bei  4  60»;2-63;  bei  6  6372— 
66  und  bei  einer  Firma  über  QiD  Stunden  in  der 
Woche.  Auf  dem  Lande  wird  in  der  Kegel 
länger  als  in  der  Stadt  gearbeitet. 

Nach  der  Lohnbewegung  von  1889  hat  der 
Prinzipal  verein  eine  Unterstützungskasse  für 
diejenigen  Arbeiter,  welche  dem  Typographen- 
bunde  nicht  angehören  oder  angehören  können, 
begründet.  A\'enn  dabei  die  Erwartung  ob- 
gewaltet haben  sollte,  auf  diesem  Wege  der 
Gehilfenorganisation  eine  gefährliche  Konkur- 
renz zu  schaffen,  so  hat  die  thatsächliche  Ent- 
wickelung einen  anderen  Gang  genommen.  Der 
Bruchteil  der  nicht  dem  Typographenbunde  an- 
gehörenden Arbeiter  hat  von  Jahr  zu  Jahr  ab- 
genommen. Im  Jahre  181K)  waren  1034  organi- 
siert und  524  ausserhalb  der  Organisation,  1897 
1563  gegenüber  519.  Ein  ständiges  Eini&:ungs- 
amt,  bestehend  aus  Vertretern  beider  Verbände, 
wurde  18iK)  und  1891  in  Aussicht  genommen, 
ist  aber  noch  nicht  ins  Leben  getreten.  Die 
Ordnung  des  Ünterstützungswesens  stimmt  in 


Gewerkvereine  (Schweiz) 


701 


der  Hauptsache  mit  den  Einrichtungen  der 
deutschen  Buchdrucker  überein.  Der  Wochen - 
beitrat  für  alle  Zwecke  (Unterstützung  bei 
Krankheit  und  im  Sterbefalle^  bei  Ai'beitslosig"- 
keit  und  auf  der  Beise  sowie  bei  Invalidität) 
beträgt  2  Francs.  Die  Typographen  besitzen 
eine  Vereinsdruckerei  in  Basel  und  wiesen  am 
81.  Dezember  1897  ein  Vermögen  von  37000 
Francs  aus  neben  100654  Francs  der  Kranken-, 
Invaliden-  und  Sterbekassen,  die  seit  1896  zu 
einer  einzigen  Kasse  vereinigt  worden  sind. 
An  den  Bestrebungen  zur  Begründung  einer 
intern  atienalen  Buchdrucker  Organisation  haben 
die  Schweizer  lebhaften  Anteil  genommen.  Der 
zweite  internationale  Buchdruckerkongress  fand 
in  Bern  am  25.  August  1892  statt,  unci  Bern 
ist  auch  zum  Sitze  des  am  10.  Dezember  1893 
errichteten  internationalen  Buchdruckersekre- 
tariats erkoren  worden.  Mit  dem  sozialdemo- 
kratischen Allgemeinen  Gewerkschaftsbunde 
haben  die  Buchdrucker  nur  während  der  Jahre 
1892 — 1895  in  Verbindung  gestanden,  nachdem 
sie  schon  1889  der  Allgemeinen  Arbeiterreserve- 
kasse beigetreten  waren.  Neuere  Versuche,  mit 
dem  Gewerkschaftsbunde  ein  Kartell  Verhältnis 
anzubahnen,  sind  bis  letzt  ohne  Ergebnis  ge- 
blieben. Das  Organ  des  Vereines  ist  die  in 
Basel  erscheinende  und  jetzt  (1899)  im  42.  Jahr- 
gange stehende  „Helvetische  Typographia". 

Die  romanische  Schwesterorganisation  des 
Typographenbundes  bildet  die  Soci6t6  fedörative 
des  Typographes  de  la  Suisse  Romande  mit 
ungefähr  580  Mitgliedern,  denen  150  nicht 
organisierte  Buchdrucker  gegenüberstehen.  Die- 
ser Verband  ist  1873  begründet  worden  und 
giebt  als  Fachblatt  „Le  Gutenberg",  jetzt  (1899) 
im  27.  Jahrgange  st-ehend,  heraus.  In  der 
italienischen  Schweiz  bestehen  zwei  Vereine 
von  „Bucharbeitem",  in  denen  Buchdrucker, 
Lithographen  und  Buchbinder  organisiert  sind. 

In  der  ührenindustrie,  welche  31500 
Arbeitskräfte  beschäftigt,  haben  die  Graveure 
und  Guillocheure  schon  1868  eine  Vereinigung 
geschaffen.  Die  zunehmende  Verdrängung  der 
Hausindustrie  durch  die  Fabrik  und  die  üble 
Lage  der  ganzen  Industrie  überhaupt  haben  in 
den  80  er  Jahren  den  Gedanken  der  beruflichen 
Organisation  gefördert  und  zwar  bei  Arbeitern 
wie  Arbeitgebern.  Die  Schalenmacher  (monteurs 
de  boites),  die  Bemonteure  und  Repasseure,  die 
Hemmungsarbeiter  (faiseurs  d'echappements)  und 
die  Zifferblattarbeiter  (faiseurs  de  cadrans)  grün- 
deten interlokale  Vereine ,  und  im  Jahre  1886 
kam  schliesslich  eine  F6d6ration  horlog^re  zu 
Stande,  welche  alle  in  der  Uhrenindustrie  thä- 
tigen  Elemente  in  ähnlicher  Weise  und  mit 
amtlichen  Zwecken,  wie  sie  der  Stickereiverband 
in  der  Ostschweiz  verfolgte,  zusammenzufassen 
versuchte.  Allein  schon  1888  gründeten  die 
Arbeiter  innerhalb  der  F^d^ration  horlog^re 
mixte  einen  besonderen  Arbeiterbund,  die 
FM^ration  ouvri^re. 

All  diesen  Gründungen  war  nur  ein 
ephemäres  Dasein  beschieden.  Es  gelang  dem 
Gentralausschusse  nicht,  sich  zu  einer  autorita- 
tiven Stellung  emporzuarbeiten.  Weder  die 
Arbeiter  noch  die  Unternehmer  stellten  ein  ge- 
nügendes Kontingent  zum  Verbände.  Im  An- 
schüsse an  die  grosse  Erregung,  die  ein  Strike 
in  Grenchen  1892  unter  den  ührenarbeitem 
bewirkt  hatte,  wurde  nochmals  die  Gründung 


einer  Federation  ouvri^re  horlog^re  unternommen. 
Indessen  brach  auch  diese  in  heftigen  Kämpfen 
mit  den  Unternehmern  zusammen.  Besser  als 
die  Gesamt-Uhrenarbeiterverbände  entwickelten 
sich  Vereine  derjenigen  Uhrenarbeiter,  welche 
die  nämlichen  Uhrenbestandteile  herstellen. 
Einige  dieser  Verbände  (Föderation  des  ouvriers 
graveurs  et  guülocheurs,  11  Sektionen  und  941 
Mitglieder,  Federation  des  ouvriers  remonteurs, 
demonteurs  etc.,  10  Sektionen  und  627;  Föde- 
ration des  ouvriers  ömailleurs,  4  Sektionen  und 
108  Mitglieder,  sämtlich  mit  dem  Sitze  in  Biel) 
gehören  dem  Allgemeinen  Gewerkschaftsbunde 
an.  Andere,  wie  die  Föderation  des  ouvriers 
monteurs  de  boites  mit  dem  Sitze  in  Chauxdefonds, 
11  Sektionen  und  1466  Mit^gliedem,  und  die 
Föderation  des  ouvriers  faiseurs  de  pendants 
in  Biel  mit  4  Sektionen  und  180  Mitgliedern 
sind  selbständig  verblieben.  In  der  Presse  ver- 
tritt die  gut  geleitete  „Solidarite  horlogöre"  die 
Interessen  der  Uhrenarbeiter.  Wie  aus  vor- 
stehenden Angaben  ersichtlich  ist,  lassen  die 
Uhrmacherorganisationen  in  Bezug  auf  Voll- 
ständigkeit und  Leistungsfähigkeit  noch  viel 
zu  wünschen  übrig. 

Eine  an  und  für  sich  äusserst  interessante, 
freilich  nicht  durchaus  unter  den  Begriff  eines 
Gewerkvereines  zu  subsumierende  Organisation 
hatte  sich  innerhalb  der  ostschweizerischen 
Stick ereiindustrie  ausgebildet,  nämlich  der 
Centralverband  der  Stickereiindustrie  der  Ost- 
schweiz und  des  Vorarlberg.  Die  Stickerei 
wird  teils  fabrikmässig ,  teils  hausindustriell 
betrieben.  Eine  ständige  Ueberproduktion  hatte 
das  ganze  Gewerbe  1884  in  die  grösste  Gefahr 
gebracht.  Kaufleute,  Maschinenbesitzer  und 
Fabrikanten  vereinigten  sich  daher  zu  einem 
Verbände,  um  die  Produktion  einzuschränken, 
die  Arbeitszeit  abzukürzen  und  einen  Minimal- 
lohn zu  sichern.  Insofern  trägt  der  Verband 
die  Züge  eines  hausindustriellen  Kartells  und 
kommt  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  in  Betracht. 
Eine  Bedeutung  für  das  eigentliche  Gewerk- 
schaftswesen erlangte  der  Verband  aber  dadurch, 
dass  die  in  den  fabrikmässig  betriebenen 
Stickereien  beschäftigten  Arbeiter,  die  nicht 
selbst  Mitglieder  des  Verbandes  waren,  durch 
die  Begründung  eines  Gewerkvereines,  des 
„Gewerkvereines  der  Fabriksticker**,  versuchten, 
an  den  Verbesserungen,  welche  ihre  Arbeitgeber 
durch  den  Verband  erzielt  hatten,  einen  Anteil 
zu  gewinnen.  Dieser  Verein,  welcher  1887 
20  Sektionen  mit  700  Mitgliedern  aufwies,  ver- 
lor indessen  bald  wieder  an  Bedeutung.  Im 
Jahre  1892  trat  Vorarlberg  aus  dem  Verbände 
aus,  und  da  bald  auch  viele  Schweizer  diesem 
Beispiele  folgten,  konnte  der  Stickerei  verband 
die  Bestimmungen  Über  den  Minimallohn  nicht 
mehr  durchführen.  In  den  letzten  Jahren  sind 
von  verschiedenen  Seiten  Versuche  zu  neuen 
Organisationen  unternommen  worden.  Es  scheint 
aber  nur  den  Schifflistickem  in  St.  Gallen  ge- 
lungen zu  sein,  einen  mehrere  Sektionen  um- 
fassenden Centralverband  ins  Leben  zu  rufen. 

Ausser  den  eingehender  besprochenen  Cen- 
tralverbänden  sind  noch  folgende  zu  nennen: 


702 


Gewerkvereine  (Schweiz) 


Name  Sit 

Buchbinder- Verband 

Schuhmacher- Verband 

Steinarbeiter- Verband 

Coiffeurgehilfen- Verband  *) 

Schweiz.  Heizer-  und  Maschinisten- Verein -) 

Schweiz.  Bäckergehilfen- Verband 

Schweiz.  Konditoren- Verband') 

Schweiz.  Küfer- Verband 

Schweiz.  Gärtner- Verband 

Föderation  romande  des  ouvriers  menuisiers 

*)  Pressorgan :  Der  CoifFeurgehilfe. 

*)  Der  Verein  hat  eine  Sterbekasse  und  ein  Verbandsorgan  „Dampf",  das  im  11.  Jahr- 
gange steht. 

')  Pressorgan:  Der  Konditorgehilfe. 


des  Verbandes 

Zahl  der 
Sektionen 

Mitglied 

St  Gallen 

lO 

437 

Zürich 

15 

617 

Zürich 

II 

885 

Zürich 

18 

413 

Zürich 

23 

1313 

Zürich 

19 

9 

• 

? 

3 

100 

? 

7 

150 

? 

9 

150 

9 

• 

9 

630 

Grosse  Fortschritte  hat  die  berufliche  Or- 

fanisation  während  der  90  er  Jahre  unter  dem 
ersonale  der  Eisenbahnen^)  aufzuweisen 
gehabt.  Nachdem  die  Lokomotivführer  schon 
seit  1876  einen  Verein  mit  Unterstützungskasse 
gegründet,  ist  1885  ein  Verband  des  Schweize- 
rischen Zugpersonals  gefolgft.  Die  Lokomotiv- 
führer zahlen  pro  Quartal  vom  angetretenen 
25.  bis  zum  vollendeten  30.  Jahre  6  Francs, 
vom  31.— 40.  Jahre  7,  vom  41.  Jahre  und  darüber 
8  Francs  in  die  Unterstützungskasse.  Dagegen 
bezahlt  diese  an  Mit&^lieder,  die  durch  Unfall 
gänzlich  erwerbsunfäni^  geworden  sind,  oder 
im  Todesfalle  eines  Mit^edes  an  dessen  Witwe, 
Kinder  oder  beglaubigte  Eltern  oder  Geschwister 
1000  Francs.  Eine  Versicherung  gegen  Arbeits- 
losigkeit scheint  bei  den  stabileren  Arbeits- 
verhältnissen dieses  Berufes  kein  Bedürfnis  zu 
sein.  Der  Verein  des  Zugpersonales  gewährt 
Kranken-,  Sterbe-  und  unter  Umständen  auch 
Invalidengelder.  Die  Sterbegelder  steigen  mit 
der  Dauer  der  Mitgliedschaft  und  erreichen  im 
9.  .Tahre  1001)  Francs.  Der  Monatsbeitrag  be- 
trägt  2   Francs.     Im   Jahre   1889   wurde   der 

Name 

Verein  Schweiz.  Eisenbahn-Angestellter 
Schweiz.  Zugpersonal- Verein 
Verein  Schweiz.  Lokomotivführer 
Verein  Schweiz.  Lokomotivheizer 
Verein  Schweiz.  Weichen-  und  Bahnwärter 
Schweiz.  K  angierpersonal- Verein 

Die  Stärke  dieser  Vereinigungen  beruht  nicht 
auf  specifisch  gewerkschaftlichen  Veraicherungs- 
und  Unterstützungseinrichtungen,  sondern  mehr 
darauf,  dass  die  Organisation  beinahe  alle  Be- 
rufsangehörigen umfasst  und  in  der  Person  des 
Generalsekretärs  Dr.  Sourbeck  einen  geschickten 
und  rührigen  Anwalt  besitzt.  Der  glänzende 
Erfolg,  welchen  die  Eisenbahner  gegenüber  der 
Nordostbahn  davongetragen  (vgl.  d.-  Art.  Ar- 
beitseinstellungen in  der  Schweiz  oben 
Bd.  I.  S.  842 ff.),  hat  das  Ansehen  der  Organi- 
sationen  des   Bahnpersonales  überaus  gehoben. 

Von  den  Mitgliedern  der  Verbandsvereine 


Verband  schweizerischer  Lokomotivheizer  und 
der  Verein  schweizerischer  Eisenbahn-  und 
Dampfschiffangestellter  gegründet;  1896  kamen 
die  Arbeiterunion  schweizerischer  Transport- 
anstalten, 1897  der  Verband  schweizerischer 
Wagfenvisiteure,  1899  der  Verein  schweizerischer 
Weichen-  und  Bahnwärter  und  der  Schweizerische 
Rangierpersonalverein  zu  stände.  Die  jüngeren 
Vereine  besitzen  zur  Zeit  noch  keine  Unter- 
stützungseinrichtungen. Von  grosser  Bedeutung 
für  die  Interessen  des  Eisenbahnpersonales  ist 
die  189Ö  erfolgte  Zusammenfassung  der  ver- 
schiedenen Organisationen  in  einen  Verband 
des  Personales  schweizerischer  Transportanstal- 
ten. Der  Verband  hat  ein  Generalsekretariat 
geschaffen  und  lässt  die  „Schweizerische  Eisen- 
bahnzeitung" und  das  „Journal  suisse  des 
chemins  de  fer"  als  Fachblätter  des  Personales 
herausgeben.  Nachdem  die  „Arbeiterunion 
schweizerischer  Transportanstalten'^  aus  dem 
Verbände  wieder  ausgetreten  ist,  da  sie  das 
Obligatorium  des  Verbandsorganes  nicht  an- 
erkennen wollte,  besteht  der  Verband  Ende  1899 
aus  folgenden  Vereinigungen: 


Sitz 

Zahl  der 

Zahl  der 

Sektionen 

Mitglieder 
8526 

Bern 

68 

Luzem 

32 

1678 

Zürich 

24 

893 

Zürich 

19 

742 

Winterthur 

14 

1262 

Basel 

14 

441 

I  ist  1897  eine  Genossenschaft  „Erholungsstation 
I  schweizerischer  Eisenbahner  auf  Grubisalm  am 
'  Eigiberge"  mit  dem  Sitze  in  Luzem  gegründet 
i  worden. 

Nachdem  wegen  des  bevorstehenden  Ueber- 

ganges  der  meisten  schweizerischen  Bahnen  an 

die    Eidgenossenschaft    der    Bundesrat    bereits 

mittelst  Botschaft  vom  1.  Dezember   1899  ein 

„Gesetz  betreffend  die  Besoldungen  der  Beamten 

und  Angestellten  der  schweizerischen  Bundes- 

'  bahnen"  vorgelegt  hat  und  auch  die  Arbeitszeit 

I  beim   Betriebe   der  Transportanstalten   gesetz- 

I  lieber  Regelung  unterliegt  *),  werden  die  Eisen- 


*)   Für  die  gütige  Uebersendung  diverser  *)  Das  Bundesgesetz  betreffend  die  Arbeits- 

Drucksachen,  welche  in  die  Organisationen  des  zeit  beim  Betriebe  der  Eisenbahnen  und  anderen 
Eisenbahnpersonales  Einsicht  gewähren,  bin  ich  Verkehrsanstalten,  welches  die  Revision  des 
dem  Generalsekretär  Herrn  Dr.  Sourbeck  in  ,  G.  v.  27.  Juni  1890  in  einer,  wie  das  Organ 
Bern  verpflichtet.  1  der   Eisenbahner    anerkennt ,    „dem    Personale 


Üewerkvereine  (Schweiz) 


10^ 


bahner,  ähnlich  wie  andere  Angestellte  des 
Bundes,  sich  vermutlich  damit  begnügen  dürfen, 
bei  der  Bnndesbehörde  und  dem  Publikum  das 
Interesse  für  ihre  besonderen  Angelegenheiten 
stets  wachzuhalten.  Der  Vollständigkeit  wegen 
sei  noch  erwähnt,  dass  die  eidgenössischen  Be- 


amten und  Angestellten  ebenfalls  einen  General- 
verband  gebildet  haben,  dessen  Sitz  Basel  ist 
und  der  bei  59  Sektionen  4309  Mitglieder  zählt. 
Ueber  die  in  dem  Generalverbande  zusammen- 
gefassten  Vereine  bezw.  Verbände  giebt  nach- 
stehende Uebersicht  Aufschluss: 


Name 

Verein  seh w.  Post-,  Telegr.-  u.  Zoll-Angestellter') 

Verband  Schweiz.  Zollbeamter 

Schweiz,  Telegraphisten- Verein 

Verband  eidgen.  Arbeiter 

Verband  eidgen.  Telephonarbeiter 

Verband  eidgen.  Beamter  u.  Angestellter  in  Wallis 


Sitz  des  Verbandes 

Basel 
Basel 
Bern 
Bern 
Bern 
Sitten 


Zahl  der 

Sektionen 

iu  itgiiec 

36 

3286 

2 

186 

7 

192 

4 

291 

9 

238 

I 

99 

*)  Als  Verbandsorgan  erscheint  das  „Posthorn"  in  Zürich  und  „Le  cor  du  pöstillon"  in 
Lausanne. 


Ausserdem  besteht  noch  ein  Verband  schwei- 
zerischer Postbeamter  mit  Sitz  in  Zürich,  19 
Sektionen  und  1316  Mitgliedern. 

Die  genannten  Berufsorganisationen  ver- 
halten sich  religiös  und  politisch  neutral,  d.  h. 
sie  haben  in  ihren  S.tatuten  keine  Bestimmungen 
religiösen  oder  politischen  Inhaltes.  Dagegen 
werden  einige  der  Verbandsorgane,  z.  B.  die 
Helvetische  Typographia  und  die  Solidarit^ 
horlog^re  in  gemässigt  sozialdemokratischem 
Sinne  redigiert. 

3.  Der  allgemeine  Gewerkschaftsbund 
und  die  allgemeine  Arbeiterreserve- 
kasse.  Neben  den  eben  genannten  be- 
ruflichen Centralverbänden  hatten  sich  be- 
sonders seit  Beginn  der  70er  Jahre  auch  an 
vielen  Orten  lediglich  lokale  Fachvereine 
entwickelt.  Nachdem  der  »Schweizerische 
Arbeiterbund«  der  Aufgabe,  diesen  verein- 
zelten Vereinen  einen  gemeinsamen  Mittel- 
punkt zu  bieten,  nicht  entsprochen  hatte, 
wurde  nach  Auflösung  des  Bundes  1880 
unter  sozialdemoki-atischem  Einflüsse  ein 
allgemeiner  Gewerkschaftsbund  errichtet,  der 
die  Öewerkscliaftsbewegimg  unter  den  sozia- 
listisch gesinnten  Arbeitern  fördern  sollte. 
Ueber  Organisation  und  Thätigkeit  dieses 
Oewerkschaftsbundes  \md  seine  Beziehungen 
zur  Arbeiten*escrvekasse  unterrichtet  ein- 
gehend der  Ai-t.  Arbeitseinstellungen 
in  der  Schweiz  von  Prof.  Bücher  (oben 
Bd.  L  S.  844, 845).  Seit  1.  Januar  1897  besteht 
ein  ständiges,  besoldetes  Sekretariat.  Der 
Beitrag  der  Mitglieder  beträgt  60  Rappen 
pro  Quartal.  Davon  wurden  nach  den  Be- 
stimmungen von  1890  50  Rappen  filr  die 
Reservekasse,  10  Rappen  für  die  Bundes- 
verwaltung bestimmt.  Seit  1896  erhält  die 
Reservekasse  nur  48,  die  Bundesverwaltung 
aber  12  Rappen.  Ausser  den  Bundesbeiträgen 
haben  die  Mitglieder  noch  Zahlungen  an 
ihre  Berufs  verbände  zu  entrichten.  Fiir 
Arbeit.«?losenunterstützung  w^enlen  von  man- 


chen Gewerkschaften  in  der  Woche  10 — 20 
Rappen  bezogen.  Unterstützung  wird  erst 
nach  52  Wochenbeiträgen  imd  nur  für  5  bis 
10  Wochen  ausbezahlt.  Als  Pressor^n  des 
Allgemeinen  Gewerkschaftsbundes  wirkt  die 
»Arbeiterstimme«  in  Zürich.  Die  äussere 
Entwickelung  des  Allgemeinen  Gewerk- 
schaftsbundes wird  durch  folgende  Ziffern 
gekennzeichnet : 


Jahr 

1887 

1888 

1889 

1890 

1891 

1892/93 

1894  9ö 

1896/97 

1898 

1899 


Diese  22000  Mitglieder  verteilen  sich  folgen- 
dermassen : 

Mit-  Sitz  des 

glieder-       Central- 

zahl        Komitees 


Zahl  der 

Zahl  der 

Sektionen 

Mitglieder 

56 

1958 

84 

2315 

102 

4400 

125 

? 

196 

6950 

197 

9  495*) 

266 

9  293^) 

269 

12900 

330 

16470 

350 

22000 

wohlgesinnter  Weise"  eriedigt,  ist  am  26.  De- 
zember 1899  im  Natiunalrate  einstimmig  an- 
genommen worden. 


Metallarbeiter- Verband 
Holzarbeiter- Verband 
Schneider- Verband 
Brauer-Verband 
Remonteur-Verband 
Graveur-  u.  Guillocheur- 

Verband 
Müll  er- Verband 
Lithographen-Bund 
Glaser-Verband 
Korbmacher- Verband 
Steinhauer- Verband 
Tabakarbei  ter- Verband 
Email  leur- Verband 
Textilarbeiter- Verband 
Granitsteinhauer-Verein 
Hafner-Verband 
Andere  Vereine 


4500 

2500 

600 

500 

600 

600 

350 
250 

150 

150 

I  000 

300 

150 
500 

I  200 

250 

6000 


•Bern 

Basel 

Zürich 

Bern 

Biel 

Biel 

Bern 

Zürich 
St.  Gallen 

Basel 

Zürich 

Meuziken 

Biel 

Zürich 
Osogna 

Bern 


*)    einschliesslich    des    ührenarbeiter- Ver- 
bandes. 

*)  nach  Austritt  des  Typographenbundes. 


704 


Gewerkvereine  (Schweiz) 


So  stellt  sich  die  Stärke  nach  den  Mit- 
teilungen des  Grütlianerkalenders  für  1900  dar. 
Die  Statistik  des  Arbeitersekretariats  zählt  nnr 
17028  männliche  und  423  weibliche  Mitglieder 
in  327  Sektionen,  bemerkt  aber,  dass  diese  An- 
gaben unvollständig  seien  und  mindestens  um 
5000  zu  wenig  enthielten.  Da  die  Bundesbeiträge 
nach  der  Mitgliederzahl  der  Verbände  zu  ent- 
richten sind,  pflegen  diese  einen  möglichst  nie- 
drigen Mitgliederstand  mitzuteilen.  In  der 
französischen  Schweiz  besteht  seit  1891  noch 
eine  besondere  Föderation  romande  des  syndicats 

Srofessionnels ,  die  1897  20  Sektionen  mit  1700 
[itgliedem  zählte. 

4.  Bestrebungen  zur  weiteren  Ent- 
wickelang des  Gewerkschaftswesens. 
Ijassen  die  vorgeführten  Thatsachea  eine 
aufsteigende  Entwickelung  des  schweize- 
rischen Gewerkschaftswesens  schon  unter 
den  bestehenden  Verhältnissen  deutlich 
w^ahmehmen,  so  dürfte  noch  eine  wesent- 
liche Befestigung  zu  erwarten  sein,  wenn 
die  auf  dem  schweizerischen  Arbeitertage  ^) 
in  Luzern  (3.  April  1899)  beschlossenen 
Gnmdsätze  verwirklicht  weraen  sollten.  Nach 
eingehenden  Referaten  des  Arbeitereekretärs 
H.  Greulich  und  des  katholischen  Professors 
Dr.  Beck  wurde  mit  allen  gegen  7  Stimmen 
beschlossen : 

^Es  ist  Pflicht  des  Schweizerischen  Ar- 
beiterbimdes,  seiner  Behörden  und  Organe 
sowie  seiner  Verbände  und  Vereine,  mit 
allen  Kräften  für  eine  einheitliche  und  um- 
fassende gewerkschaftliche  Organisation  der 
Arbeiter  aller  Berufe  in  der  Schweiz  zu 
wii'ken. 

Sobald  der  Schweizerische  Ge- 
werkschaftsbund und  seine  Berufs- 
verbände  und  Vereine  sich  auf 
parteipolitisch  und  religiös  neu- 
tralen Boden  stellen,  sollen  alle 
bestehenden  wie  alle  neu  zu 
bildenden  Berufsverbände  und 
Vereine  zum  Anschlüsse  an  den 
Gewerkschaftsbund  bewogen  wer- 
den. 

Der  Bundesvorstand  wird  beauftragt, 
unverzüglich  eine  Kommission  zu  bestellen 
zur  Unterhandlung  mit  den  Vorständen  des 
Gewerkschaftsbundes  und  der  anderen  Be- 
rufsverbände sowie  zur  Anhandnahme  einer 
planmässigen  Propaganda  für  Bildung  neuer 
ßerufsverbände  und  Vereine«. 

Entsprechend  diesen  Beschlüssen  ist 
vom  Arbeitersekretariate  ein  neuer  Statuten- 
entwurf für  den  Gewerkschaftsbund  ausge- 


')  Es  handelt  sich  um  die  Tagnng  des 
Schweizerischen  Arbeiterhnndes.  der  aus  Kran- 
kenkassen, Gewerkschaften,  GrüÜi-  und  aJl- 
gemeinen  Arbeitervereinen  und  den  katholischen 
Arbeitervereinen  besteht.  Dieser  Verband  von 
Verbänden  hat  die  Basis  für  das  vom  Bunde 
subventionierte  eidgenössische  Arbeitersekreta- 
riat abzugeben. 


arbeitet  worden,  der  ziu*  Zeit  (Ende  1899) 
noch  der  Diskussion  unterliegt.  Es  kommt 
dabei,  abgesehen  von  der  politischen  und 
konfessionellen  Neutralisierung,  auch  noch 
darauf  an,  den  Berufsverbänden  im  Bunde 
eine  selbständigere  Stellung  zu  verschaffen. 
Sie  sollen  ihr  Kassen-  und  Unterstützungs- 
wesen besser  ausbilden  und  die  Lohnbe- 
wegungen in  erster  Linie  aus  eigenen  Mitteln 
bestreiten.  Für  leistungsfähige  Verbände  ist 
eine  Minderung  der  Beiträge  an  den  Bund 
in  Aussicht  genommen.  Während  die  letzt- 
genannten Veränderungen  geringen  Wider- 
stand zu  finden  scheinen,  erregt  die  Neu- 
tralisierung in  den  Kreisen  der  sozialisti- 
schen Gewerkscliaften  noch  viele  Bedenken. 
Namentlich  sträubt  man  sich  dagegen,  dass 
die  Verbandsorgane  »parteipolitisch  und 
religiös  die  strengste  Neutralität«  wahren 
sollen,  wie  es  Artikel  3  des  neuen  Ent- 
wurfes vorschreibt,  und  dass  Mitglieder, 
welche  sich  »durch  das  Vorgehen  oder  die 
Einrichtungen  der  Organisationen  in  ihrer 
politischen  oder  religiösen  üeberzeugung 
verletzt  fühlen«,  ein  Beschwerderecht  in 
erster  Instanz  an  den  Verbandsvorstand  mit 
Weiterzug  an  das  Bundeskomitee  imd  in 
letzter  Instanz  an  den  Bundesausschuss  er- 
halten. Es  ist  somit  noch  keineswegs  sicher, 
ob  die  angestrebte  Sammlung  aller  schwei- 
zerischen Arbeiter  in  ein  politisch  und 
konfessionell  durchaus  neutrales,  lediglich 
gewerkschaftliche  Ziele  verfolgendes  Lager 
thatsächlich  gelingen  wird. 

Eine  erhebliche  Bedeutung  für  die  För- 
denmg  der  gewerkschaftlichen  Bestrebungen 
gewinnt  die  1897  gegründete  »Arbeits- 
kammer der  Stadt  Zürich«,  eine  Ver- 
einigung von  (Ende  1898)  65  Gewerkschaften 
mit  6240  Mitgliedern,  welche  die  Interessen 
der  Stadtzüricherischen  Arbeiterschaft  nach 
verschiedenen  Richtimgen  (Arbeitsvermitte- 
lung, Auskunftserteilung,  Handhabung  der 
kantonalen  und  eidgenössischen  Arbeiter- 
schutzgesetze, Vorbereitimg  der  Wahlen  der 
gewerblichen  Schiedsrichter  u.  s.  w.)  wahr- 
nimmt. Mehrere  Gewerkschaften  haben  der 
Kanmier  die  Auszahlung  der  Reise-  und 
Arbeitslosenunterstützung  übertragen.  Die 
Kammer  steht  religiös  und  parteipolitisch 
auf  neutralem  Boden. 

In  dem  vorliegenden  Artikel  konnten 
nur  die  zu  Centralverbänden  zusammenge- 
fassten  Gewerkschaften  berücksichtigt  wer- 
den. Es  giebt  auch  zahlreiche  rein  lokale 
Vereine,  über  deren  Verhältnisse  aber  selbst 
die  mitten  in  der  Arbeiterbewegung  stehen- 
den Persönlichkeiten  keine  Auskunft  zu 
geben  bezw.  zu  erhalten  vermögen. 

Litteratnr*  Jahresberi^jhte  des  Ausacftustet  det 
schweizerischen  Arbeiterbundes  und  des  Sehweite- 
riechen  ArbeüersekretariaAs  I — XIL  ZUrich 
1888 — 1889,  —  Der  schweizerische  Arbeiiertag  in 


Gewerkvereine  (Schweiz—andere  europäische  Länder  und  Australien) 


705 


Luxem»  Zürich  1899.  —  Ergebnuse  einer  Enquete 
über  wirtschaftliche  und  materielle  Leistungen  der 
J^eservekcutse  des  Schweiz,  Geircrkschaftsbundes 
soicie   seiner    Verbände   und   Sektionen.     Zürich 

1896.  —  Bericht  des  Bundeskomitees  an  die  Sektio- 
nen erstattet  an  den  in  Solnthum  am  10.  und  11. 
April  1898  stattfindenden  Gewerkschaftskongress. 
Zürich  1898.  — Monatsbl^itt^r  des  Schweiz.  Arbeiter- 
Sekretariats,  L  Jahrg.  1899,  insltesondere  Xo.  8, 
welche  eine  Statistik  der  GewerkscJiaften  enthalten. 

—  Ztceiter  Jahresbericht  der  Arbeitskammer  der 
Stadt  Zürich  1899.  —  Zu  berücksichtigen  sind  ferner 
die  im  Texte  genannten  FacJtbUiticr.  —  Aus  den 
Bearbeitungen  des  Gegenstandes  sind  herrorzn- 
hcben:  BechUe,  I>ie  Gewerkvereine  in  der 
Schweiz  (Staatsw.  Studien  II,  1),  Jena  1888.  — 
Berg  hoff' Tsingf  Die  sozialistische  Arbeiter- 
bewegung in  der  Schweiz,  Leipzig  1895.  —  K, 
Bücher^  Die  Schweiz.  Arbeiterorganisationen, 
Zeitschrift  für  die  gesamte  Staatsicissenschaft, 
44.  Bd.  1888,  S.  609—674.  —  GreuUch,  Die 
Arbeilskammcr    der    Stadt   Zürich,  Zürich  1899. 

—  W,  Kulentanfif  Die  Gexterkschaftsbewe- 
gung,  Jena  1900,  S.  111—185,  64S—651,  652 
— 654.  —  ^*  Platter,  Der  allgem.  Schweiz.  Ge- 
werkschaftsbund. Das  Hrmdelsmiiseum  Bd.  II, 
No.  iSl  und  S2.  —  M.  Steck,  Die  heutige  Ge- 
werkschaftsbewegung in  der  Schweiz.  Archiv  f. 
soz.  Gesetzgebung  und  Statistik,    X.  Bd.,  Berlin 

1897,  S.  886—986.  —  Derselbe,  Etwas  über 
die  Schweiz.  Gewerkschaftsorganisation.  Der 
Grütlianerkalendcr  für  1899,  Zürich  1898,  S. 
19 — ^4.  —  A.  Sivaine,  Die  Arbeits-  unl  Wirt- 
schaf tsrerhältnisse  der  Einzelsticker  in  der  Nord- 
ostschweiz und   Vorarlberg,  Strassburg  1895. 

H,  Hericner, 

Vn.  Die  Gewerkvereine 

in  anderen  europäischen  Ländern 

und  in  Australien. 

1.  Italien.  2.  Holland.  3.  Die  skandinavischen 
Länder    4.  Die  G.  in  Anstralien. 

1.  Italien.  Die  seit  alter  Zeit  bestehen- 
den fasci,  denen  Arbeiter  und  Arbeitgeber 
angehören,  verfolgen  im  wesentlichen  Bil- 
duugs-  und  Unterstützungszwecke  und  sind 
deshalb  als  Gewerkvereine  nicht  anzusehen, 
jedoch  mit  Ausnahme  der  fasci  deila- 
voratori  inSiciüen,  die  sich  die  Eningimg 
besserer  Arbeitsbedingungen  zum  Ziele  ge- 
setzt haben,  obgleich  sie  daneben  auch  ünter- 
stützungseinrichtungen  besitzen.  Sie  haben 
einen  gemeinsamen  Ausschuss,  unter  der 
Leitung  von  Garibaldi  Bosco. 

Aehnlich  steht  es  mit  den  zahlreichenHilfs- 
und  ünterstützungsvereinen  (societä  di 
mutuo  soccorso),  obgleich  sie  zuweilen 
Unterstützung  auch  in  Stnkef allen  gewähren, 
aber  da  ihnen  überwiegend  Handwerker 
und  Kleingewerbtreibende,  auch  Bauern  an- 
gehören, so  haben  sie  im  ganzen  einen  klein- 
bürgerlichen Charakter,  obgleich  viele  sich 
der  Arbeiterpartei  angeschlossen  haben. 

Wirkliche  Gewerkvereine,  die  eine  allge- 
meine Hebung  des  Arbeiterstandes  und  die 
Erringung  günstiger  Arbeitsbecüngungen  ver- 


folgen, sind  die  societä  di  resistenza, 
die  schon  diux;h  den  Namen  ihren  Kampf- 
zweck bezeichnen  und  sich  in  erster  Linie 
die  Durchführung  von  Strikes  zur  Aufgabe 
stellen.  Der  älteste  Verein  dieser  Art  ist 
der  Hutmacherverband  (federazione  dei 
capellai),  der  1891  85  Zweig  vereine  mit 
5000  Mitgliedern  (==  29  ^/o)  besass.  An  der 
Spitze  der  Bewegung  stehen  die  Buch- 
dnicker.  Die  einzelnen  Vereine  entrichten 
an  ein  Centralkomitee  nach  der  Mitglieder- 
zahl bemessene  Beiträge,  aus  denen  Strikes 
unterstützt  werden.  Der  Mitgliederbestand 
betrug  1878  2238,  1881  2958,  1885  3752 
(26  ^/o).  Infolge  des  grossen  Ausstandos  im 
Jahre  1896  wurde  der  Gewerkverein  der 
Metallarbeiter  in  Mailand  (federazione  di 
resistenza  agil  operai  metallurgici  di  Milano) 
begründet.  Bei  den  Eisenbahnarbeitem  ist 
recht  deutlich  die  allgemeine  Richtung  der 
Entwickelung  zu  verfolgen.  Der  alte  fascio 
ferroviero  war  wesentlich  Büdungsverein, 
Die  später  gegründete  unione  dei  ferrovieri 
stand  auf  rein  gewerkschaftlichem  Boden,  bis 
sie  im  Lanfe  der  Zeit  auch  politische  Be- 
strebungen aufnahm.  Endlich  ist  auf  dem 
am  27.  April  1894  in  Mailand  abgehaltenen 
Kongresse  ein  Verband  sämtlicher  italienischer 
Eisenbahnarbeitervereine  (Lega  dei  ferrovieri) 
gebildet. 

Einen  gewerkschaftlichen  Chai-akter 
trugen  auch  die  seit  1891  in  vielen  Städten 
(Mailand,  Bologna,  Brescia,  Ci-emona,  Florenz, 
Monza,  Parma,  Pavia,  Piacenza,  Rom,  Turin, 
Venedig,  Neapel,  Padua  und  San  Pier 
d'Arena)  gegründeten  Arbeiterkammem 
(camere  di  lavoro),  die  1893  einen  Ge- 
samtverband (federazione  italianadelle  camere 
di  lavoro)  schufen,  ein  Arbeitersekretariat 
(segrctario  dei  lavoro)  einrichteten,  jährliche 
Delegiertenkonferenzen  abhielten  und  eine 
eigene  Zeitschrift  (giornale  deUe  camere 
di  lavoro)  herausgaben.  Als  Aufgaben 
wurde  in  den  Statuten  bezeichnet :  1.  Samm- 
lung von  Nachrichten  über  die  Lage  des 
Arbeitsmarktes,  2.  Errichtung  von  Arbeits- 
nachweisen, 3.  Beeinflussung  der  sozialen 
Gesetzgebung,  4.  Verhandlungen  mit  den 
Unternehmern,  5.  Thätigkeit  als  Schiedsge- 
richte und  Einigimgsämter,  6.  Fördenmg 
des  Genossenschaftswesens.  7.  Pflege  der 
geistigen  Interessen.  Politische  und  religiöse 
Fragen  sind  ausgeschlossen.  Im  Jahre  1895 
betrug  die  Mitgliederzahl  in  Bologna  9628, 
in  Cremona  4494,  in  Florenz  4000,  in  Mai- 
land 12000,  in  Neapel  2600,  in  Parma  1800, 
in  Pavia  1134,  in  Rom  10782,  in  Turin 
4806,  in  Venedig  9163.  Die  Unterstützungs- 
vereine, die  Kampfvereine  und  die  Genossen- 
schaften standen  zu  den  Kammern  meist  im 
Verhältnis  als  »societä  äderen ti«.  Obgleich 
vielfach  ausgesprochene  Sozialdemokraten 
die  Führung  hatten,  so  standen  die  Kammern 


Hand  Wörterbuch  der  StaatswiaseiiBchaften.   Zweite  Auflage.    lY. 


45 


j 


706 


Gewerkvereine  (andere  europäische  Länder  und  Australien) 


zu  den  Gemeindebehörden,  die  jenen  meist 
jährliche  Zuschüsse  gewährten,  in  durchaus 
freundlichen  Beziehungen.  Trotzdem  hat 
unter  dem  Einflüsse  der  neuerdings  in  Italien 
hervorgetretenen  reaktionären  Regierungs- 
politik der  Minister  des  Innern  durch  Erlass 
vom  28.  November  1896  die  Arbeiterkammern 
aufgehoben. 

Sowohl  die  von  Mazzini  begründete  Patto 
di  fratellanza  als  auch  die  aus  der  Anregung 
der  Lega  socialista  hervorgegangene  und  auf 
dem  Kongress  in  Genua  am  15.  August  1892 
ins  Leben  gerufene  italienische  Arbeiter- 
partei (partito  dei  lavoratori  italiani)  die 
nach  ihrer  durch  Beschluss  der  Regierung 
vom  22.  Oktober  1894  erfolgten  Auflösung 
den  Namen  partito  socialista  italiano  ange- 
nommen hat,  haben  die  Schaffung  von  6e- 
werkvereiuen  in  ihr  Programm  aufgenommen. 
Die  Arbeiterpartei  will  dabei  die  gewerk- 
schaftliche imd  die  politische  Thätigkeit 
streng  getrennt  halten  und  hat  die  erstere 
besonderen  Organisationen  zugewiesen. 

2.  Holland.  In  Holland  ist  die  Gewerk- 
schaftsbewegimg noch  wenig  entwickelt,  was 
sich  daraus  erklärt,  dass  die  Bevölkenmg 
vorzugsweise  aus  Landarbeitern,  Klein- 
bürgern, Handels-  und  Seeleuten  besteht, 
während  die  Industrie  nur  schwach  ver- 
treten ist.  Infolge  hiervon  war  es  bis  noch 
vor  einigen  Jahren  schwer,  Nachrichten 
über  die  holländischen  Verhältnisse  zu  er- 
halten, bis  1892  durch  Königliche  Verfügung 
die  »Centralkommission  für  Statistik«  ein- 
gesetzt wurde,  die  seitdem  wertvolle  Er- 
hebungen veranstaltet  hat.  Nach  ihren  1894 
und  1896  erstatteten  beiden  Berichten  be- 
standen vor  1811  in  Holland  keine  Arbeiter- 
vereine. Von  1811 — 1855,  wo  das  Koalitions- 
verbot aufgehoben  wurde,  sind  13,  von 
1855—1865  7,  von  1865—1875  37,  von 
1875—1885  23  und  von  1885—1896  245 
gegründet.  Daneben  gab  es  343  Vereine, 
über  die  keine  Angaben  zu  erlangen  ge- 
wesen waren. 

Die  Mitgliederzahl  betnig,  soweit  genaue 
Angaben  gemacht  wiu-den,  im  Jalire  1894: 
bei  265  allgemeinen  Vereinen    .    .    .       42712 

„    133  Gewerkschaften 10 106 

„    181  Hilfskassen 63  201 

„    103  Geselligkeitsvereinen     ...         5  601 

„     29  anderen  Vereinen 5049 

insgesamt  bei  711  Vereinen  ....     126669 

Die  angegebenen  Mitgliederzahlen  sind 
infolge  von  Doppelzählungen  wesentlich  zu 
hoch.  Die  Gesamtzahl  der  Gewerkschaften 
wurde  1894  auf  226  ermittelt.  Der  Bericht 
von  1896  erwähnt  266  Gewerkschaften  mit 
16494  IVlitgliedem. 

Es  bestehen  4  grosse  Arbeiterverbände: 
1.  Het  algeraeen  nederlandsch  werklieden- 
verbond  mit  23  Zweigvereinen  und  2500  Mit- 
gliedern. 2.  De  nederlandsche  roomsch-katho- 


lieke  volksbönd  mit  12  Zweigvereinen  und 
11000  Mitgliedern.  3.  Ilet  nederlandsch 
werkliedenverbond  »Patrimoniimi«  mit  160 
Zweigvereinen  und  12000  Mitgliedern. 
4.  De  sociaaldemokratische  bond  mit  99  Zweig- 
vereinen, die  aber  ihre  Mitgliederzahl  geheim 
halten. 

In  einer  am  27.  August  1893  abgehaltenen 
Konferenz,  zu  welcher  alle  Arbeiterorgani- 
sationen ohne  Unterschied  der  Parteistellung 
eingeladen  waren,  wurde  das  »Nationale 
Arbeitersekretariat«  gegründet,  dessen 
Zweck  darin  besteht  eine  Verbindung  der 
verschiedenen  Organisationen  unter  einander 
herzustellen,  statistische  Erhebungen  zu  ver- 
anstalten und  mit  den  Arbeitersekretariaten 
anderer  Ijänder  in  Austausch  zu  treten,  auch 
nach  Ermessen  Versammlungen  der  Central- 
vorstände  der  Verbände  einzuberufen.  Dem 
Sekretariate  waren  nach  dem  Berichte  vom 
Februar  1893  22  Verbände  mit  330  Zweig- 
vereinen und  15728  Mitgliedern  ange- 
schlossen. Ende  1895  betrug  die  Zalü  31 
Verbände  mit  18  700  Mitgliedern ;  am  28.  Fe- 
bruar 1897  wird  sie  auf  44  Verbände  mit 
17  553  Mitgliedern  angegeben  mit  dem  Be- 
merken, dass  die  früheren  Ziffern  infolge 
von  Doppelzählungen  zu  hoch  gegriffen  ge- 
wesen seien.  1898  waren  es  dagegen  nur 
40  Verbände  mit  12950  Älitgliedern. 

Unter  den  einzelnen  Organisationen 
stehen  weitaus  im  Vordergründe  die  Dia- 
mantarbeiter, die  Anfang  1898  7500  Mit- 
glieder zählten.  Der  Typographenbund  hatte 
1716,  der  Zimmererverband  2500,  der  änti- 
sozialdemokratische  Eisenbahnarbeiterver- 
band 1260,  der  Möbelarbeiterverband  600, 
der  Bäckerverband  931  Mitglieder. 

Diuxih  Gesetz  vom  2.  Mai  1897  ist  die 
Errichtung  von  Arbeiterkammern  an- 
geordnet, die  aus  Arbeitgebern  und  Arbeit- 
nehmern in  gleicher  Zahl  zusammengesetzt 
sind  und  neben  der  Erstattung  von  Be- 
richten an  die  Behörden  auch  die  Verhütung 
und  Beilegung  von  Arbeitsstreitigkeiten 
zur  Aufgabe  haben.  Ende  1899  bestanden 
62  derartige  Kammern,  wovon  8  auf  Amster- 
dam, 6  aiS  Rotterdam,  5  auf  Haarlem  und 
je  4  auf  Dortrecht,  Leiden,  Utrecht  und 
Haag  entfielen. 

3.  Die  skandinavischen  Länder.  In 
Dänemark  ist  der  Anstoss  ziu*  gewerk- 
schaftlichen Organisation  von  der  Inter- 
nationale ausgegangen,  indem  1871  der 
»Internationale  Arbeiterverein  für  Dänemark« 
gebildet  wurde,  der,  in  eine  Reihe  von 
Sektionen  für  die  verschiedenen  Gewerbe 
eingeteilt,  die  Befördenmg  von  Arbeits- 
einstellungen und  die  Gründimg  von  Pro- 
duktivassociationen  als  seine  Aufgabe  ansah. 
Als  1873  die  Internationale  polizeilich  auf- 
gelöst wurde,  bildeten  die  einzelneu  Sek- 
tionen selbständige  Gewerkvereine,  deren  es 


Qewerkvereine  (andere  europäische  Länder  und  Australien) 


707 


damals  27  gab,  von  denen  aber  die  Mehrzahl 
sich  später  wieder  zu  einem  ^sozialdemo- 
kratiscnen  Bunde«  zusammensclüosseu.  Seit 
1880  ist  die  Gewerkschaftsbewegimg  stärker 
gewonlen  und  es  liaben  sich  in  den  meisten 
Gewerben  Gewerkvereine  gebildet.  Auf  dem 
sozialdemokratischen  Kongi'ess  in  Kopenhagen 
Ende  1892  w^urden  die  Zahl  der  Paitei- 
angehörigen  auf  15000,  die  der  gewerk- 
schaftlich organisierten  Arbeiter  auf  32000 
angegeben.  Die  Fortsehritte  in  den  letzten 
Jahren  ergaben  folgende  .Zahlen: 

1894  1896 

Die  Mitgliederzahl  der 
Gewerkvereine  betmg    27841  63377 

Davon  waren  in 

Centralverbänden     .    25576  54  757 

in  einzelstehenden  Lo- 
kalvereinen   .    .    .      2265  8620 
Centralisierte     Vereine 

gab  es 426  802 

die    sich    zu    Ver- 
bänden zusammen- 
geschlossen hatten  .23  40 
Loktuvereine  gab  es     .          45  53 
die  Jahreseinnahme  be- 
trug in  Kronen  ...  3^7  372,14      7"  063,61 
die   Jahresausgahe    be- 
trug in  Kronen  .    .    .261  862,97      586669.83 

Ausserdem  bestanden  noch  Centralver- 
bände  der  Weissgerber,  der  Lithographen 
und  der  Dienstboten  mit  12  Vereinen  imd 
etwa  1000  Mitgliedern.  Vom  3. — 5.  Januar 
1898  ist  in  Kopenhagen  der  erste  reine  Ge- 
werkschaftskongress  abgehalten,  auf  dem 
943  gewerkscliaftliche  Organisationen  mit 
69720  Mitgliedern  durch  403  Abgeordnete 
veiixeten  waren.  Hier  wurde  der  Zusammen- 
sclüuss  zu  einem  einheitlichen  Verbände 
unter  dem  Namen  »Vereinigte  Fachvereine 
Dänemarks«  erreicht.  Ausserhalb  des  Ver- 
bandes stehen  noch  52  lokale  Vereine  in 
Kopenhagen  mit  etwa  20  000  Mitgliedern.  — 

In  Norwegen  hatten  bis  1886  nur  die 
Buchdrucker  eine  schon  1871  begründete 
gewerkschaftliche  Organisation.  Seitdem 
haben  sich  eine  Anzahl  Lokalvereine  gebildet, 
die  seit  1890  sich  auch  meist  zu  Central- 
verbänden zusammengeschlossen  haben.  Sol- 
che gab  es  1898  für  die 

Vereine       Mitglieder 

Buchdrucker    ....  20  i  400 

Metallarbeiter      ...  13  1 200 

Tischler 12  1 000 

Schneider 12  1 000 

Schuhmacher  ....  12  1 000 

Maler 6  900 

Eisenbahnarbeiter    ,    .  16  rooo 

Bäcker 24  900 

Steinhaner 10  800 

Former 4  500 

Klempner 3  400 

Buchbinder      ....  3  400 

Hafenarbeiter  ....   7 1  600 

Zusammen      142  12  icx) 


Daneben  giebt  es  noch  in  Christiania 
einen  Verband  unter  dem  Namen  >De 
samwirkende  Fagforeninger  i  Kristiania«  mit 
50  Vereinen  und  6000  Mitgliedern,  die  aber 
zum  Teil  zugleich  den  oben  aufgeführten 
Vereinen,  soweit  sie  in  Christiania  ilu*en  Sitz 
haben,  angehören.  Endlich  besteht  noch 
der  »Norsk  Fagforbund«  mit  30  Vereinen 
und  etwa  2000  Mitglietlern,  die  weder  den 
Centralverbänden  noch  den  »Samwirkende 
Fagforeninger«  angehören.  Insgesamt  giebt 
es  in  Norwegen  etwa  270  Fachvereine  mit 
ungefähr  24000  Mitgliedern.  Auf  dem  am 
2.  April  1899  in  Christiania  abgehaltenen 
Oewerkscliaftskongrosse,  auf  dem  73  Vereine 
mit  rund  20000  Mitgliedern  durch  113  Ab- 
geordnete vertreten  waren,  wurde  unter  dem 
Namen  »Laudesorganisation  der  norwegischen 
Fachvereine«  ein  Gesamtverband  für  das 
ganze  Land  gebildet. 

Bei  den  meisten  der  oben  genannten 
Centralverbände ,  mit  Ausnahme  dei"  Buch- 
drucker, und  ebenso  in  den  »Sam>\arkende 
Fagforeninger«  überwiegt  der  sozialdemo- 
kratische Einfluss,  w^rend  der  »Norsk 
Fagforbund«  mehr  auf  dem  Boden  der  liberalen 
Partei  steht.  — 

In  Schweden  hat  sowohl  die  politische 
wie  die  gewerkschaftliche  Arbeiterbewegung 
erst  seit  1883  begonnen.  Gewerkschaftliche 
Centi-al verbände  gab  es  1895  für  die  Metall- 
arbeiter, die  Giesser,  die  Klempner  und 
Blecharbeiter,  die  Holzarbeiter,  die  Schuh- 
macher, die  Schneider,  die  Sattler  und 
Tapezierer,  die  Erd-  und  Hafenarbeiter,  die 
Maurer,  die  Maler,  die  Töpfer,  die  Böttcher, 
die  Bäcker,  die  Buchdrucker,  die  Buchbinder 
und  die  Kellner.  Die  Tabakarbeiter  besitzen 
einen  Verband  für  die  3  skandinavischen 
Länder. 

Ueber  die  Mitgliederzahlen  liegen  nur 
Angaben  vor  von  den  in  Stockholm  bestehen- 
den Ortsvereinen.  Von  diesen  hatten  die 
Metallarbeiter  9  Vereine  mit  843  Mitgliedern, 
die  Giesser  240  Mitglieder,  die  Klempner 
und  Blecliarbeiter  2  Vereine  mit  101  Mit- 
gliedern, die  Holzarbeiter  7  Vereine  mit  385 
Mitgliedern,  die  Schuhmacher  2  Vereine  mit 
2G6  Mitgliedern,  die  Schneider  461  Mitglieder, 
die  Sattler  und  Tapezierer  2  Vereine  mit 
72  Mitgliedern,  die  Erd-  und  Hafenarbeiter 
2  Vereine  mit  350  Mitgliedern,  die  Maurer 
240  Mitglieder,  die  Maler  508  Mitglieder, 
die  Bötticher  44  Mitglieder,  die  Tabakarbeiter 
125  Mitglieder.  Ausserdem  gab  es  noch 
36  Vereine,  die  keinem  Verbände  angehöiten, 
mit  etwa  1000  Mitgliedern.  Die  meisten 
Mitglieder  gehören  zugleich  der  sozialdemo- 
kratischen Partei  an. 

Auf  dem  vom  5. — 8.  August  1898  in 
Stockholm  abgehaltenen  Gewerkschaftskon- 
gresse, auf  dem  23  Centiulverbände ,  13 
l^kalvereine    und    19   »Arbeitergemeinden« 

45* 


708 


Gewerkvereine  (andere  europäische  Länder  und  Australien) 


(lokale  Gesamtverbände,  entsprechend  den 
deutschen  Gewerkschaftskartellen)  mit  insge- 
samt über  50000  Mitgliedern  durch  269  Ab- 
geordnete vertreten  waren,  ist  eine  einheit- 
heitliche  Landesorganisation  mit  einem 
Sekretariat  begründet.  Mit  173  gegen  83 
Stimmen  wurde  beschlossen,  den  Vereinen 
die  Zugehörigkeit  zur  sozialdemokratischen 
Pai'tei  zur  Pflicht  zu  machen.  — 

Seit  einigen  Jahren  hat  man  den  Plan 
gefasst,eine gemeinsame  Organisation 
der  drei  skandinavischen  Länder 
zu  begründen,  die  man  zimächst  durch  ge- 
meinsame Kongresse  vorzubereiten  sucht. 
So  wurde  auf  dem  am  18.  August  1892  in 
Malmö  abgehaltenen  skandinavischen  Sozia- 
listenkongresse der  Zusammensclüuss  der 
Fachvereine  aller  drei  Länder  namentlich 
zum  Zwecke  gemeinsamen  A^orgehens  in 
Lolinfragen  beschlossen  und  dieser  Beschluss 
auf  dem  skandinavischen  Arbeiterkongi-esse 
am  19.— 22.  Juni  1867  in  Stockholm  wieder- 
holt. 

4.  Die  G.  in  Anstralien.  Die  Zustände 
in  Australien  verdienen  das  lebhafteste  In- 
teresse, weil  dort  infolge  des  Fehlens  einer 
geschichtlichen  Tradition  die  sozialen  Ver- 
hältnisse sich  ge Wissermassen  auf  jungfräu- 
lichem Boden  entwickelt  haben.  Das  Er- 
gebnis ist  ein  durchaus  günstiges  gewesen. 
Nicht  allein  sind  dort  manche  Arbeiter- 
forderungen verwirklicht  die  man  in  Europa 
als  undurcihführbar  anzusehen  pflegt,  sondern, 
obgleich  es  ohne  Kämpfe  zwischen  Arbeitern 
und  Arbeitgebern  nicht  abging,  sind  doch 
mit  dem  Geschaffenen  heute  beide  Teile 
zufrieden.  Dies  gilt  insbesondere  von  der 
Durchfühnmg  des  Achtstundentages.  Die 
ersten,  die  diese  Forderung  erhoben  und 
schon  1856  ohne  nennenswerten  Widerstand 
durchsetzten,  waren  die  Bauhandwerker,  auf 
sie  folgten  die  Maschinenbauer,  die  Eisen- 
giesser  und  die  Schiffbauer.  Nach  einem 
Rückschläge,  der  Anfang  der  60er  Jahre 
durch  das  massenhafte  Zurückströmen  der 
Arbeiter  von  den  erschöpften  Goldfeldern 
des  Innern  herbeigeführt  wurde,  beginnt 
seit  1869  die  Ausdehnung  auf  alle  Arbeiter- 
klassen. Heute  sind  von  wichtigen  Ge- 
werben nur  noch  die  Textilarbeiter  zurück- 
geblieben. Der  Besitz  des  Achtstundentages 
ist  die  Vorbedingung  für  die  Anerkennung 
der  betreffenden  Organisation  als  Gewerk- 
verein und  Aufnahme  in  den  Centi-alaus- 
schuss ,  in  welchem  über  60  Vereine  ver- 
treten sind.  Der  Tag,  an  welchem  im  Jahre 
1856  die  Bauhandwerker  den  Achtstundentag 
errangen,  der  23.  April,  wird  als  sogenannter 
demonstration  day  jährlich  als  allgemeiner 
Festtag  der  gesamten  Arbeiterschaft  Austra- 
liens mit  grossem  Pomp  gefeiert,  wobei 
nicht  nur  die  höchsten  Spitzen  der  Behörden 
imd  der  Statthalter,  sondern  auch   die  Ge- 


werkvereine der  Arbeitgeber  sich  durch  Ver- 
treter beteiligen. 

Auch  die  Löhne  haben  in  Australien 
eine  Höhe,  die  selbst  die  englischen  und 
amerikanischen  übersteigt.     Interessant  ist, 
dass  man  in  Neu-Seeland  mit  Erfolg  den 
Versuch    gemacht    hat,    dieselben    durch 
Richterspruch    festzusetzen.     Nach 
einem  1891  erlassenen  Gesetze  hat  bei  aus- 
brechenden Streitigkeiten  sowohl  der  Unter- 
nehmer wie  der  Gewerkverein  der  Arbeiter 
das  Recht,  eine  Verhandlung  vor  dem  Be- 
zirksamte (district  board)  zu  fordern.    Aller- 
dings kann   dessen  Spruch   nicht  zwangs- 
weise durchgefülirt  werden,  aber  wenn  er 
nicht  befolgt  wird,  so  kann  die  Entscheidung 
des  court  of  arbitration  angerufen  werden, 
welches    aus    einem   Richter  des   obersten 
Gerichtshofes  als  Vorsitzendem  und  je  einem 
von   den    organisierten   Unternehmern   und 
dem  Verbände  der  Gewerkvereine  gewählten 
Beisitzer  besteht  und  die  Befugnis  liat,  falls 
er  die  Sache  für  dazu  angethan   erachtet, 
die  Befolgung  seines  Spruches  durch  Geld- 
strafen bis  zu  500  Pfund  Sterling  zu  er- 
zwingen.    Die  Befugnis   des  Gerichtshofes 
ist  übrigens  nicht  auf  die  Höhe  des  Lohnes 
beschränkt,  sondern  bezieht  sich  auch  auf 
die   Entscheidung   über   Akkordlohn    sowie 
über  die  Arbeitszeit,  die  Feiertage,  die  Zahl 
der   Lehrlinge,    die  Verpflichtung   des  Ar- 
beiters, Unterstützungskassen  beizutreten,  und 
das  Recht  des  Unternehmers,   organisierte 
Arbeiter  auszuschliessen  oder  nicht  organi- 
sierte  zu  beschäftigen.     Die   mit   einer   so 
wichtigen    Entscheidung   betrauten   Richter 
haben    bisher   viel   Takt   und   Umsicht  be- 
wiesen, und  so  sind   die  bisherigen  Erfah- 
ningen  über  die  Einrichtung  in  Neu-Seeland 
durchaus  günstig,  w^ährend  sie  sich  in  Neu- 
Süd- Wales  nicht  bewährt  hat 

In  Victoria  hat  man  seit  1897  in  ver- 
schiedenen Gewerbszweigen*  gesetzliche 
Mindestlöhne  eingeführt,  und  nach  dem 
Berichte  des  Fabrikinspektors  für  1898  waren 
solche  für  11000  von  den  insgesamt  be- 
schäftigten 45000  Arbeitern  in  Kraft.  In 
Neu-Seeland  hat  ein  G.  v.  21.  Oktober  1899 
sich  diesem  Vorbilde  zunächst  für  die  Ar- 
beiter \md  Arbeiterinnen  unter  18  Jahren 
angeschlossen. 

Eine  natürhche  Folge  dieser  Verhältnisse 
ist,  dass  einerseits  die  Arbeiterschaft  sich 
auf  einer  selbst  in  England  unbekannten 
hohen  Stufe  des  Wolüstandes  und  der  Bil- 
dung befindet,  und  dass  anderei*seits  die 
sozialistischen  Ideeen  in  Austra- 
lien so  gut  wie  gar  keinen  Boden 
gefunden  haben,  ja  dass  sogar  Mass- 
regeln des  Arbeiterschutzes,  die  in  Deutsch- 
land seitens  der  Gesetzgebung  getroffen  sind, 
dort  von  den  Arbeitern  nicht  gewünscht 
werden,  indem  man  vorzieht,  das  Erforder- 


Gewerkvereine  (andere  europäische  Länder  und  Australien) 


09 


liehe  durch  Verhandlungen  mit  den  Arbeit- 
gebern zu  erreichen.  Strikes  sind  allerdings 
auch  in  Australien  nicht  unbekannt^  ja  der- 
jenige der  WoDscherer  im  Jahre  1890  er- 
langte sogar  einen  grossen  Umfang,  indem 
allmählich  auch  andere  Gewerbe  mit  hinein- 
gezogen wurden,  bis  er  infolge  der  üeber- 
spannung  der  Arbeiterforderun^n  und  des 
dadurch  bewirkten  Umschlages  m  der  öffent- 
lichen Meinung  schliesslich  mit  einem  Miss- 
erfolge  der  Arbeiter  endigte.  Aber  immer- 
hin sind  Streitigkeiten  dieser  Art  wesentlich 
seltener  als  in  Europa,  und  selbst  solche 
Kämpfe  haben  bisher  nicht  vermocht,  dem 
sozialistischen  Gedanken  Boden  zu  ver- 
schaffen. Die  Statuten  aller  Gewerkverehie 
bezeichnen  ausdrücklich  als  ihren  Zweck 
die  Aufrechterhaltung  des  Achtstundentages 
und  die  Erringung  günstiger  Arbeitsbe- 
«lingungen  durch  Beförderung  des  guten 
Einvernehmens  mit  den  Arbeitgebern  unter 
möglichster  Vermeidung  von  Strikes. 

Die  oberste  Leitung  liegt  in  den  Händen 
der  für  jede  Provinz  bestehenden  Central- 
ausschüsse,  denen  eine  fast  unbeschränkte 
Macht  über  die  Mitglieder  eingeräumt  ist. 
Das  Recht  der  juristischen  Persönlichkeit 
ist  den  Gewerkvereinen  schon  längst  ein- 
geräumt: man  ist  jetzt  bestrebt,  ihnen  auch 
das  Besteuenmgsrecht  gegenüber  den  Mit- 
gliedern zu  gewähren  und  sie  dadurch  zu 
staatlichen  Faktoren  zu  erheben.  Dagegen 
hat  man  das  Kasse nwesen  wenig  ausge- 
bildet, indem  die  Mitglieder  der  Gewerk- 
vereine meistens  gleichzeitig  Versicherungs- 
gesellschaften (frieudly  societies)  angehören. 
In  derselben  Weise  wie  die  Arbeiter  sind 
aucli  die  Arbeitgeber  durchgängig  in  Ge- 
werkvereinen organisiert. 

In  Australien  ist,  wie  in  anderen  Ländern, 
die  Gewerkschaftsbewegung  von  den  ge- 
lernten Arbeitern  ausgegangen,  doch  haben 
sich  insbesondere  seit  1890  auch  die  un- 
gelernten der  Organisation  zugewandt, 
und  es  besteht  jetzt  ein  Central  verband 
derselben,  die  General  labor  union.  Auch 
die  landwirtschaftlichen  Arbeiter  (bush  la- 
bourers)  und  insbesondere  die  schon  ge- 
nannten WoUscherer  haben  seit  Ende  der 
80  er  Jahre  Gewerkvereine  gebildet.  End- 
lich ist  man  in  neuester  Zeit  bestrebt,  an 
Stelle  der  kolonialen  Ausschüsse  eine  ein- 
heitliche Centralinstanz  aller 
australischen  Gew  erk vereine 
zu  setzen,  aber  der  1890  mit  der  Gründung 
der  Australian  labor  federation  gemachte 
Versuch  hatte  keinen  befriedigenden  Erfolg, 
weil  die  entwoi-fenen  Statuten  eine  ausge- 
sprochen sozialistische  Tendenz  hatten  und 
deshidb  wenig  Beifall  fanden.  Im  September 
1895  haben  sich  auf  einer  Konferenz  in 
Sidney  die  CentraJausschusse  von  Queens- 
land und  Neu-Süd- Wales  sowie  zwei  lokale 


Gewerkvereine  Südaustraliens  zu  einem  festen 
Bunde  zusammeogeschlossen,  der  beabsich-* 
tigt ,  die  Gesamtvereinigungsbestrebungeii 
energisch  in  die  Hand  zu  nehmen. 

Auch  der  Vorschlag  einer  gemein- 
schaftlichen Organisation  von  Ar- 
beitern und  Arbeitgebern  ist  bereits 
gemacht  durch  ein  Gesetz  der  Kolonie 
Victoria  v.  28.  Juli  1896,  welches  den  Gouver- 
neur ermächtigt,  für  eine  Reihe  von  Ge- 
werben eine  je  zur  Hälfte  aus  beiden  Teilen 
gebildete  Behörde  einzusetzen,  die  das  Recht 
hat,  die  Mindestsätze  von  Zeit-  und  Akkord- 
lohn zu  bestimmen.  Uebertretungen  werden 
mit  Geldstiufe  bis  zu  100  Pfund  Sterling 
bedroht.  Nach  dem  Berichte  des  Fabrik- 
inspektors vom  1.  Juli  1898  ist  von  dieser 
Befugnis  u.  a.  für  die  Bäcker,  Schuhmacher, 
Tischler  und  die  Wäsche-  und  Bekleidungs- 
industrie mit  befriedigendem  Erfolge  Ge- 
brauch gemacht. 

Statistische  Angaben  liegen  nur 
hinsichtlich  einzelner  Vercine  vor.  So  be- 
sass  nach  dem  erwähnten  Berichte  der  Ge- 
samtverband der  Bergleute  im  Febniar  1891 
94  Zweigvereine  mit  etwa  25000  Mitgliedern, 
die  sich  über  alle  Kolonieen  verteilten.  Nach 
dem  auf  dem  Delegiertentage  am  24.  Februar 
1891  erstatteten  Bericht  hatte  der  Verband 
seit  seinem  damals  18  jährigen  Bestehen 
insgesamt  71293  £  für  Unfallentschädigung, 
13929  £  für  Sterbegeld,  15329  £  für  andere 
ünterstützungszwecke  und  nur  6614  £  für 
Strikes  ausgegeben.  Die  WoUscherer  be- 
sassen  einen  Verband  für  Südaustralien, 
Victoria  und  Neu-Süd-Wales  mit  25000  und 
einen  solchen  für  Queensland  und  Neu- 
seeland mit  10000  Mitgliedern.  Insgesamt 
schätzt  man  die  Zahl  der  organisierten  auf 
75  ^/o  aller  Arbeiter. 

Litteratur  :  i.  It  alien.  Dieselbe  ist  äusserst  dürftig 
(vergl.  Biermer  im  II.  Erg.  Bande  zur  I.  Aufl.  d. 
Werkes  S.  4'^7).  Die  beste  deutsche  Quelle  bilden 
die  Aufsätze  von  Sombart  in  der  ^Sozialen  P-f*ajrisa 
soivie  in  Brauns  Archiv  für  sozUüe  Gesetz- 
gebung,  insbesondere  VI  209,  215,  549,  557 
VIII  52L  Ausserdem  Virglli  daselbst  XX 
7iä6.  —  W*  Kulentann,  Die  Gewerkschafts- 
bewegung. Darstellung  der  gewerkscfiaftlichen 
Organisationen  der  Arbeiter  und  der  Arbeit- 
geber  aller  Länder,  Jena  1900,  Fischer.  — 
Mitteilungen  über  die  italienischen  Gewerkverein6 
finden  sich  in  C,  F.  Ferraris,  Saggi  dt  eco- 
nomia  statistica,  übersetzt  von  Eheberg  in 
SchmoUers  Jahrb.  V  S47,  sowie  in  der  JStatistica 
delle  societu  di  mutuo  soccorso,  Rom  1888,  S,  XV 
und  in  Colnaghi:  Italy ,  the  condition  of 
labour  1891.  —  Einen  reberblick  über  die  Ent- 
Wickelung  der  italienischen  sozialistischen  Partei, 
bei  der  auch  die  gewerkschaftlichen  Verhältnisse 
Berücksichtigung  finden,  giebt  der  für  den  inter- 
nationalen Arbeiterkongress  in  Ijondon  1896  er- 
stattete Bericht  vom  27.  Juli  1896,  Mailand, 
Druckerei  des  Vorstandes  der  sozi^ilist ischen 
Partei. 


710      Gewerkvereine  (and.  eur.  Länder  u.  Australien — Ver.  Staaten  von  Amerika) 


2.  Ho  Hand.  Diewwhtigste  Quelle  süid  die  im 
*     Texte  erwähnten  Benekte  der  nCe^itralkommünon 

für  Statütti'ku,  die  für  1894  und  1896  unter  dem 
Titel  nBijdragen  tot  de  Statistiek  van  Nederland« 
im  Verlage  von  v.  Wedden  en  Mhufelen  in 
*8  Gravenhage  erschienen  sind.  Vergl.  ausserdem 
H,  Polak  in  der  nXeuen  Zeitn  1894(95  Nr.  2 
S.  54.  —  Falkenberg  und  Mayer  in  Brauns 
Archiv  f.  soz.  Ges.  XI  750.  —  W.  Ktilemann, 
Die  Getcerkschaftsbewegung.  —  Das  n  Nationaal 
Arbeid8-tk'cretariaa4,  in  Nederlanda  (Sekretär 
<r,  van  E r k e l •  Amsterdam)  veröffentlicht  seit 
189J  regelmässige  Berichte. 

3.  Die  skandinavischen  Länder. 
W.    KulentanUf    Die  Gewerkschaftsbewegung. 

4.  Australien.  £ine  vorzügliche  Dar- 
stellung der  australischen  Arbeiterverhältnisse, 
insbesondere  hinsichtlich  der  geir er ksc haftliehen 
Entwickelung  giebt  O.  Ruhi<äid  in  seinem 
Aufsätze:  Achtstundentag  und  Fabrikgesetz- 
gebung in  Australien,  Zeitschrift  für  das 
gcs.  JStaatsir.,  Jahrg.  47,  S.  279 ff.  Vergl.  ausser- 
dem Charles  JDilke  in  der  Bevue  sociale  et 
poUtique,  Bnlssel  1891,  H.  2;  H.  H.  Clmmpiorif 
The  crushing  defect  of  trade  unionism  in  Aus- 
tralia,  Ninetcenth  Century  Februar  1891 ;  W.  P. 
Steves  in  Brauns  Archiv  f.  soz.  Ges.  XI  635. 
—  W.  Kulem-ann,  Die  Getcerkschaftsbewegung. 

W,  KuLemann. 


VIII.  Die  Gewerkvereine  in  den  Ver- 
einigten Staaten  Ton  Amerika. 

1.  Geschichte.    2.  Die  American  Federation 
of  Labor.    3.  Allgemeine  Charakteristik. 

1.  Geschichte.  Bis  in  die  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts  ist  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika  das  Gewerkvereins- 
wesen  entsprechend  den  Thatsacheu,  dass 
die  Grossindustrie  nur  imvoUkommeo  aus- 
gebildet war  und  dass  das  Handwerk  in  den 
östlichen  Grossstädten  infolge  des  liäufigen 
Fortzuges  seiner  Angehörigen  nac;li  dem 
"Westen  und  des  zwar  gleichzeitigen,  aber 
doch  zunächst  stets  ungenügenden  Ersatzes 
durch  landesunkundige  Einwanderer  nur 
wenig  soziale  Festigkeit  hatte,  kaum  über 
ein  durch  lokale  Zersplitterung  und  gedank- 
liche Unreife  gekennzeichnetes  Anfangs- 
stadium  hinausgekommen. 

Wenn  auch  schon  am  Ende  des  achtzehnten 
Jalu'himderts  in  den  Arbeiterunterstützungs- 
vereinen von  Schuhmachern,  Schneidern, 
Küfern,  Maurern  imd  Hutmachern  das 
Interesse  ihrer  Mitglieder  den  Arbeitgebern 
gegenüber  wahrgenommen  und  die  Gewerk- 
schaft der  Schiffszimmerleute  von  New- York 
schon  1803,  in  Boston  1822  durch  das  Ge- 
setz anerkannt  wurde,  wenn  ferner  von 
zahlreichen  Strikes  zur  Abkürzung  der  Ar- 
beitszeit und  zur  Erhöhung  der  Löhne  in  den 
ersten  vier  Jahrzehnten  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts berichtet  wird  und  selbst  schon 
1S33  und  1834  in  New-York,  Boston,  Balti- 


more und  Philadelphia  »General  Trades 
Unions«,  d.  h.  städtische  Verbände  verschie- 
dener lokaler  Gtewerkvereine  bestanden,  so 
entbehrten  doch  alle  diese  Erscheinungen 
der  Nachhaltigkeit  und  vermochten  allge- 
meine wirtschaftliche  Stockungen  wie  die 
Freihandelsperiode  von  1816 — 1824  und  die 
Handelskrisis  von  1837  nicht  zu  überstehen. 

In  den  fünfziger  Jahren  verzeichnet  die 
Geschichte  der  amerikanischen  Industrie  zu- 
gleich mit  der  Ausbildung  des  Eisenbahn- 
wesens einen  grossartigen  Aufschwung  der 
Pmduktion  und  damit  auch  eine  lokale  Zu- 
sammenziehung von  Arbeitermassen,  welche 
die  Gefahr  der  individuellen  Konkurrenz  bei 
der  Nachfrage  nach  Arbeit  empfinden  und 
nach  dem  Princip  »in  unity  strength«  sich 
Koalitionen  schaffen.  1860  waren  schon 
mehrere  nationale  und  internationale  (d.  h. 
besonders  auch  Canada  umfassende)  Gewerk- 
vereine gegründet  worden,  von  denen  der 
der  Buchdrucker  (1850),  der  Hutmacher 
(1854),  der  Nagelschmiede  (1854),  der  Eisen-, 
Stahl-  und  Zinnarbeiter  (1858),  der  Former 
(1859)  an  erster  Stelle  zu  nennen  sind. 

Der  Secessionskrieg  drängte  zwar  durch 
die  Unterbrechung  der  industriellen  Thätig- 
keit  und  durch  Absorbierung  des  sozialen 
Kleinkampfes  die  Gewerkvereinsbestrebungen 
auf  einige  Jahre  zurück,  seine  Folgen  wirk- 
ten aber  nicht  bloss  auf  die  Verstärkung  des 
Koalitions Wesens  ein,  sondern  erzeugten  auch 
in  demselben  eine  allgemeine  politische  Ar- 
beiterbewegimg.  Die  Befreiung  der  Neger- 
sklaven hatte  einen  solchen  Enthusiasmus 
für  Humanität  und  Freiheit  hervorgebracht, 
dass  auch  für  diejenigen  Lohnarbeiter,  wel- 
che sich  in  abhängiger  Lage  befanden,  eine 
Verbesserung  der  Lebensweise  von  Politikern 
und  von  den  Betroffenen  selbst  gefordert 
wurde.  Der  Sieg  des  industriellen  Nordens 
bedeutete  femer  die  dauernde  Einführung 
des  Schutzzollsystems  für  seine  Fabrikate, 
damit  eine  Verstärkung  der  industriellen 
Kräfte,  ein  Wachsen  des  Grossbetriebes,  ein 
Anschwellen  der  städtischen  Bevölkerung 
und  damit  eine  Vermehiimg  der  zusammen- 
lebenden, gleich  interessierten  Fabrikarbeiter. 
Schliesslich  hatte  die  Papiergeldausgabe 
während  der  Kriegsjahre  die  Preise  der 
Lebensmittel,  nicht  aber  in  entsprechender 
Weise  die  Löhne  erhöht,  so  dass  ein  Miss- 
verhältnis bei  den  Einnahmen  imd  Ausgaben 
der  Arbeiter  vorhanden  war,  w^elches  zu 
fortgesetzten  Differenzen  zwischen  ihnen  und 
ihren  Arbeitgebern  führte. 

Es  erfolgte  jetzt  eine  Verstärkung  der 
alten  und  die  Gründung  ^'ieler  neuer  ünions. 
Man  veranschlagte  1868  die  Summe  aller 
lokaler  Arbeiterkoalitionen  auf  3000,  von 
denen  viele  nationalen  und  internationalen 
Verbänden  angehörten.  Zu  denselben  waren 
als    die    wichtigsten    die  Brüderschaft  der 


Gewerkvereine  (Vereinigte  Staaten  von  Amerika) 


711 


Lokomotivfülu'er  und  der  Cigarrenmacher- 
verein  (1864),  der  Verband  der  Zimmerleute 
und  Maurer  (1865),  der  der  Eisenbahn- 
kondukteure (1868),  der  Wollhutmacher,  der 
Möbelarbeiter,  der  Schuhmacher  (1869),  der 
Böttcher  (1870)  hinzugekommen.  1873  waren 
als  nationale  Vereine  ferner  vorhanden  die- 
jenigen der  Lokomotivheizer,  Stukkateure, 
Zimmerleute,  Kesselmacher,  Stubenmaler, 
Maroquinarbeiter ,  Bergleute ,  Grlasbläser, 
Holzschneider,  Wagenbauer,  Koffermacher, 
Sattler  und  Spinner. 

Die  politische  Arbeiterbewegung  begann 
im  Jahre  1864.  Nachdem  im  Hinblick  auf 
eine  solche,  auf  Anregung  der  Maschinen- 
bauer-Gewerkschaft die  nur  kiu-ze  Zeit  be- 
stehende »Labor  Reform  Association«  ge- 
scliaffen  worden  war,  wiu'de  1866  auf  einem 
von  dem  Präsidenten  der  Wagenmacher  ein- 
berufenen Arbeiterkongress  die  »National 
Labor  Union«  gegründet,  welche  als  Haupt- 
zweck verfolgte,  für  die  Abkürzung  der  Arbeits- 
zeit zu  agitieren,  daneben  aber  auch  die 
Bildung  von  Konsumvereinen,  die  Errichtung 
staatlicher  arbeitsstatistischer  Bureaus,  eine 
Aenderung  der  Systeme  der  Gefängnisarbeit, 
das  Reservieren  des  öffentlichen  Landes  für 
-wirkliche  Ansiedler  befürwortete.  Beson- 
ders durch  die  unermüdliche  Thätigkeit  des 
Präsidenten  des  Formervereins,  William  U. 
Sylvis,  des  hervorragendsten  amerikanischen 
Arbeiterführers  in  den  60  er  Jahren,  wurde 
die  National  Labor  Union  zum  selbständigen 

S^litischen  Handeln  gedrängt  und  schiiess- 
ch  auch  mit  der  europäischen  Internatio- 
nalen in  Berührung  gebracht.  Gleichzeitig 
waren  die  Leiter  des  Verbandes  bemüht, 
das  Gewerkvereinswesen  zu  vervollkommnen 
und  durch  Schiedsgerichte,  eventuell  durch 
Strikes  die  Arbeitsbedingungen  günstiger  zu 
gestalten.  Nach  dem  Tode  von  Sylvis  (1869) 
bestand  zwar  die  in  der  National  Labor 
Union  geschaffene  Centralisation  der  Gewerk- 
vereine, w^elche  damals  178  571  Mitglieder 
umfasste,  noch  einige  Jahre  fort,  ihre  Einig- 
keit wurde  aber  bald  bei  dem  Mangel  an 
geeigneten  Führern  durch  das  Eindringen 
sogenannter  Geschäftspolitiker,  die  im  Dienste 
der  demokratischen  und  republikanischen 
Partei  standen,  durchbrochen.  Dann  kam 
die  wirtschaftliche  Hausse  von  1871 — 1873, 
die  zwar  die  Gewerkvereine  numerisch  und 
finanziell  kräftigte,  aber  auch  viele  der  bei 
den  hohen  Löhnen  sozial  zufriedengestellten 
Arbeiter  der  von  der  National  Labor  Union 
begründeten  politischen  Pai-tei  entfremdete, 
überhaupt  gegen  ,die  Arbeiterpolitik  gleich- 
giltig  machte.  Der  letzte  Kongi^ess  im  Zu- 
sammenhang mit  der  gescheiterten  Arbeiter- 
bewegimg war  1874  zu  Rochester  (N.  Y.), 
stützte  sich  nur  noch  auf  wenige  Ijohnar- 
beiter  und  gedachte  deren  Interessen  in 
w^enig  geeigneter  Weise. 


Wälu^nd  der  grossen  Geschäftsstockung 
von  1874 — 1879  lösten  sich  nach  verlorenen 
Ausständen  und  bei  der  Erschöpfimg  des 
Kassenwesens  zahlreiche  Gewerkvereine  auf, 
z.  B.  von  der  nationalen  diejenigen  der 
Maschinenbauer,  Böttcher,  Steinhauer,  Berg- 
leute, Schuhmacher,  Wagenmacher.  Fast 
alle  übrigen  verloren  au  Mitgliedern,  mehrere 
schlössen  sich  in  der  Not  zusammen.  Nur 
ganz  wenige  Vereine  wurden  \mter  der  Vor- 
aussetzung lokaler  und  gewerblicher  Be- 
sonderheiten in  dieser  Periode  gegründet. 
Gewaltthätige  Arbeiterausstände  und  Ge- 
heimbünde (die  MoUy  Maguii^es  in  den 
Kohlenrevieren  Pennsylvaniens)  kennzeichnen 
den  durch  die  Arbeitslosigkeit  erzeugten 
Druck.  Den  Höhepunkt  der  sozialen  Unzu- 
friedenheit bilden  die  grossen  Strikes  im 
Sommer  1877,  welche  von  Eisenbahnarbeitern 
des  Ostens  ausgingen,  sich  dann  über  die 
ganze  Union  erstreckten  und  viele  andei^e 
Gewerbe  in  Mitleidenschaft  zogen.  Die 
Brüderschaft  der  Lokomotivführer  war  stark 
bei  den  Ausständen  beteiligt,  war  aber  nicht, 
wie  öfters  behauptet  worden  ist,  der  An- 
stifter und  fortgesetzte  Schürer  derselben, 
sondern  zeichnete  sich  während  des  Strikes 
durch  Ruhe  und  Besonnenheit  aus. 

Der  nordamerikanische  Census  von  1880 
kennt  nur  12  nationale  resp.  internationale 
Gewerkvereine.  Von  nun  an  schreitet  aber 
die  Bewegung  von  neuem  rasch  vorwärts. 
Zwar  war  1884  und  1885  wiederum  eine 
aDgemeinere  Produktionsstörung  eingetreten, 
sie  wirkte  aber  einerseits  nicht  so  intensiv 
und  extensiv  wie  die  vorhergehende, 
andererseits  hatten  die  Arbeiterverbände  in 
der  V^oraussicht  derselben  die  Widerstands- 
kassen gefüllt  und  das  Gefühl  der  Solidari- 
tät unter  den  Mitgliedern  gepflegt,  so  dass 
die  Krisis  ihnen  nur  wenig  Schaden  zufüg^. 

Die  American  Review  vom  1.  Januar 
1884  giebt  in  einer  Statistik  über  die  Ge- 
werkvereine die  Zahl  der  nationalen  auf  26, 
der  internationalen  auf  15  an  mit  einer 
Gesamtmitgliedschaft  von  434  500  Personen. 
Dazu  kamen  noch  die  zahlreichen  ausschliess- 
lich lokalen  Vereine,  welche  meist  zu  loka- 
len Centralisationen  verbunden  waren. 

Die  Entwickelung  der  amerikanischen 
Gewerkschaften  in  den  80  er  Jahi-en  wird 
abgesehen  von  der  Gründung  neuer  und  von 
der  Wiederbelebung  und  Verstärkung  alter 
Verbände,  dadurch  besondere  als  fortschrei- 
tend gekennzeichnet,  dass  sie  nach  mancher- 
lei ephemeren  Versuchen  in  den  vorher- 
gehenden Jahren,  unter  einander  dauernde 
Verbindungen  anknüpfen  und  damit  sich  in 
weitei-e  gewerbliche,  lokale,  staatliche  und 
nationale  Organisationen  eingliedern.  Die 
Gründe  dazu  sind  sowohl  in  dem  erwünsch- 
ten Ausschluss  der  Konkurrenz  verschieden 
Bescliäftigter    zu    suchen,    welche    bei  der 


712 


Gewerkvereine  (Vereinigte  Staaten  von  Amerika) 


fortschreitenden  Arbeitsteilung  und  der  da- 
mit vielfach  verbundenen  Vereinfachung 
der  Arbeit  immer  schärfer  hervortrat,  als 
auch  in  dem  Besti^eben,  politischen  Einfliiss 
zu  gewinnen.  So  haben  z.  B.  die  verschie- 
denen Kategorieen  der  Eisen-  und  Stalil- 
arbeiter  oder  der  Hafenarbeiter  oder  der 
Eisenbahnleute  Verbände  geschaffen;  so 
finden  wir  in  vielen  Grossstädten  die  kon- 
servativen Trades  Assemblies,  die  den  eng- 
lischen Trades  Councils  entsprechen,  und 
die  umfassenderen  Central  Labor  ünions, 
welche  alle  Arten  Koalitionen  —  nicht  bloss 
Gewerkvereine  wie  die  ersteren  —  gelernter 
und  ungelernter  Arbeiter,  feste  Vereine  mit 
geordnetem  Kassenwesen  und  lose  Strike- 
vereine,  solche  mit  gemässigten  mid  solche 
mit  sozialistischen  Tendenzen  enthalten; 
ferner  die  State  Trades  Assemblies,  Gewerk- 
schaftscentralisationen  in  den  Einzelstaaten 
zur  Ausübung  einzel staatlicher  Politik  (z.  B. 
in  New- York,  New- Jersey,  Pennsylvanien, 
Ohio,  Illinois),  endlich  die  American  Fede- 
ration  of  Labor  für  das  ganze  Gebiet  der 
Union. 

Dazu  kommen  die  Ritter  der  Arbeit, 
deren  Organisation  zwar  im  Princip  auf 
dem  lokalen  Zusammenleben  der  Lohnarbei- 
ter beruht,  die  aber  auch  Gewerkvereine  an 
sich  angegliedert  haben  (vgl.  d.  Art.  K  n  i  g  h  t  s 
of  Labor). 

Die  New  -  Yorker  Volkszeitimg  (vgl. 
Wochenblatt  vom  27.  August  1892)  hat  eine 
Enquete  darüber  veranstaltet,  wie  gross  die 
Zahl  der  in  Gewerkvereinen  imd  ähnlichen 
Verbänden  organisierten  Lohnarbeiter  in  den 
Vereinigten  Staaten  und  Canada  im  Jahre 
1892  gewesen  ist,  imd  ist  dann  nach  kriti- 
scher Pnifung  der  eingegangenen  Berichte 
und  mit  ergänzender  Schätzung  derjenigen 
Vereine,  welche  keine  Antwort  gegeben 
hatten,  zu  folgenden  Resultaten  im  einzelnen 
gekommen : 

1.  Die  American  Federation  of  Labor 
umfasst  350000  Mitglieder,  von  denen  306000 
nationalen  und  internationalen  Gewerkver- 
einen und  der  Rest  800  nur  lokalen  Ver- 
bänden angehören.  Die  bedeutendsten  der 
ersteren  Art  sind  die  Brotherhood  of  Cai*- 
penters  and  Joiners  mit  51313,  die  Amal- 
ganiated  Association  of  Iron  and  Steel 
Workers  mit  30  000,  die  International  Typo- 
graphical  Union  mit  29  000,  die  Cigarmakers 
International  Union  mit  24000,  die  United 
Mine  Workera  mit  20000,  die  Journevmen 
Taüors  of  America  mit  16000,  die  Brother- 
hood of  Painters  and  Decorators  mit  16694, 
die  Lasters  Protective  Union  mit  10000,  die 
Boüermakers  International  Union  mit  10  000 
Mitgliedern. 

2.  Die  Knights  of  Labor  haben  205000 
Mitglieder. 

3.  Eine  Anzahl   von  internationalen  und 


nationalen  Vereinen,  welche  den  beiden  ge- 
nannten Centralvereinen  nicht  angehören, 
umfasst  266871  Personen.  Darunter  sind  die 
International  Bricklayers  and  Stonemasons 
Union  mit  35000,  die  Brotherhood  of  Loco- 
motive  Engiueers  mit  31000,  die  Brother- 
hood of  Locomotive  Firemen  mit  25071,  die 
Brotherhood  of  Railroad  Trainmen  mit 
23500.  der  Order  of  Railway  Telegraphers 
mit  22506,  die  Granite  Cutters  National 
Union  mit  20000,  die  Operative  Plasters 
International  Union  mit  14000,  die  Musicians 
National  League  mit  11000,  der  Omder  of 
Railroad  Conductors  mit  10000,  die  National 
Association  of  Machinists  mit  10000,  die 
Brotherhood  of  Railroad  Carmen  mit  10000 
Mitgliedern. 

4.  14  Vereine,  von  denen  nicht  ermittelt 
wurde,  ob  sie  der  Föderation  angehören  oder 
nicht,  lunfassen  55900  Teilnehmer. 

5.  Vereine,  deren  Namen  nicht  aUgemeia 
bekannt  sind,  Geheimorden  etc.  sind  auf 
50000  Mitglieder  abgeschätzt. 

Diese  5  Posten  zusanunen  machen  926900 
aus,  jedoch  sind  in  ihnen  25000  Personen 
zweimal  gezählt  worden,  weü  sie  sich  zwei 
Organisationen  zugleich  angeschlossen  haben, 
z.  B.  den  Arbeitsrittem  und  der  Föderation. 
Demnach  gelangen  wir  zu  der  Summe  von 
rund  900  000.  Dieselbe  ist  vermutlich  etwas 
zu  hoch  gegriffen,  da  einige  der  Vereine, 
um  ihr  Ansehen  zu  erhöhen,  wohl  zu  hohe 
Angaben  gemacht  haben. 

Die  Volkszeitung  kommt  zu  dem  approxi- 
mativen Resultate  von  825000  und  glaubt, 
dass  ca.  lO^/o  der  Lohnarbeiter  des  Landes 
einer  Organisation  zuzm'echnen  seieo. 

Nach  der  Geschäftskrisis  von  1893  nahm 
die  Zahl  der  Gewerkvereinsmitglieder 
wiedenim  erheblich  ab.  Im  Sommer  1896 
wurde  sie  ohne  Arbeitsritter  auf  452000 
veranschlagt.  Der  Verlust  betrug  demnach 
ungefähr  ein  Drittel,  während  er  in  der 
Geschäftsdepression  der  70  er  Jahre  auf  65  ®/o 
berechnet  worden  ist.  An  Stelle  der  acht 
nationalen  Unions  von  1878  gab  es  jetzt  72, 
von  denen  56  der  amerikanischen  Föderation 
angehörten.  Nicht  bloss  die  Zunahme  der 
Zalil,  sondern  auch  der  Festigkeit  der  Ai'- 
beiterverbände  ergiebt  sich  hieraus.  Seit 
1896  sind  sie  von  neuem  in  einem  starken 
Wachstum  begriffen.  Das  arbeitsstatistische 
Bureau  des  Staates  New- York  berichtet  für 
September  1897  nur  in  diesem  Staate  allein 
von  1009  Organisationen  mit  168454  und 
für  ein  Jahr  später  von  1087  Organisationen 
mit  171067  3^Iitgüedern.  Im  Herbst  1899 
wurden  sogai-  1320  Verbände  mit  209 120 
Gewerkschaftsgenossen  gezählt.  Nach  der- 
selben Quelle  waren  dies  15  "/o  der  organi- 
sierten Arbeiterschaft  der  Vereinigten  Staa- 
ten, die  also  mit  der  Jahrhimdertwende  auf 
etwa   14(X)000   zu  veranschlagen  ist     Im 


Gewerkvereine  (Vereinigte  Staaten  von  Amerika) 


713 


Sommer  1899  betrug  die  Zahl  der  nationalen 
imd  internationalen  Gewerkvereine  84. 
2.  Die  American  Federation  of  Labor. 

Nach  dem  Untergang  der  nationalen  Arbei- 
ter-Union besassen  die  Gewerkvereine  keine 
umfassende  Gesamtorganisation  bis  zum 
Jahre  1881,  in  welchem  auf  der  Zusammen- 
kunft in  Pittsburg,  besonders  unter  dem 
Konkiurenzdruck  der  Arbeitsritter,  deren 
Erfolge,  die  Arbeiterscharen  zu  sammeln,  ge- 
rade damals  sehr  hervortraten  und  ein  Auf- 
saugen der  beruflichen  Vereine  fürchten 
Hessen,  die  Federation  of  organised  Trades 
and  Labor  Unions  of  the  United  States  and 
Cauada  geschaffen  wurde.  Die  Arbeitsritter 
nahmen  an  der  Konvention  teil,  hielten  sich 
aber  in  den  nächsten  Jaltren  mehr  und 
*melir  von  den  Jahresversammlungen  des 
Verbandes  fern,  je  mehr  derselbe  die  Hege- 
monie über  die  Arbeiterschaft  des  Landes 
zu  gewinnen  anstrebte.  Ihr  hauptsäch- 
lichstes Ziel  sah  die  Föderation  in  der 
Gründung  von  Vereinen  gelernter  und  un- 
gelernter Arbeiter,  von  städtischen  Verbän- 
den der  Arbeitervereine  und  von  nationalen 
oder  internationalen  Gewerkschaften,  die  sich 
natürlich  alle  ihr  anschliessen  sollten. 
Aussei-dem  sollte  auf  die  Gesetzgebung  der 
nord amerikanischen  Union  und  der  einzelnen 
Staaten  ein  fortgesetzter  Druck  vermittelst 
Stimmenabgabe  bei  den  Walüen  ausgeübt 
werden,  um  den  Lohnarbeitern  nützliche  Be- 
stinmiungen  zu  erwirken.  Es  wurden  ver- 
schiedene Forderungen  aufgestellt,  wie  z.  B. 
gesetzliche  Inkorporierung  von  Gewerk-  \md 
Arbeitervereineh,  Verbot  der  Arbeit  von  Kin- 
dern unter  vierzehn  Jahren,  Durchfühi'ung  des 
nationalen  Achtstundengesetzes,  Aufhebung 
aller  Verschwörungsgesetzc.  Die  Föderation 
hatte  ein  ständiges  Bureau,  das  legislative 
Komitee,  besondei-e,  wenn  auch  geringe  Ein- 
nahmen, die  zu  einer  Strikeunterstützung 
angeschlossener  Mitgliedschaften  durchaus 
nicht  ausreichten.  In  den  bis  1886  folgenden 
Jahreskongresseu  wurden  zwar  Einzelheiten 
des  Prograrames  und  der  Statuten  abge- 
ändert, aber  der  Charakter  der  Einrichtimg 
im  allgemeinen  streng  gewahrt.  Der  Ver- 
such, aus  dem  ökonomisch  sozialen  Verbände 
eine  politische  Partei  zu  machen  imd  das 
Programm  mehr  sozialistisch  zu  fassen, 
schlug  fehl.  Boykott  und  Label  (Schutz- 
marke für  die  von  Unionsleuten  angefertig- 
ten Waren)  w^urden  wiederholt  und  eifrig 
unterstützt;  vor  allem  aber  wurde  für  die 
Erkämpfung  der  Achtstundenai-beit  agitiert, 
und  es  war  insbesondere  der  grosse  Acht- 
stimdenkampf  vom  1.  Mai  1886  ein  Werk 
der  Föderation. 

In  demselben  Jahre  schuf  sie  sich,  als 
die  Arbeitsritter  angefangen  hatten,  Gewerk- 
vereine in  sich  aufzunehmen,  eine  festere 
Form   und   trug  seitdem  den  Namen  The 


American  Federation  of  Labor.  Um 
theoretische  Sti'oitigkeiten  über  die  Zweck- 
mässigkeit einzelner  Arbeiterfordenmgen 
auszuschliessen,  wurde  die  bisherige  dahin- 
bezügliche,  umfangreiche  Liste  durch  die 
Worte  »Gesetzgebung  zu  Gunsten  der  or- 
ganisierten Arbeiter  auf  friedliche  und  ge- 
setzliche Weise«  ersetzt;  es  wurden  ferner 
die  Beiträge  erhöht,  besoldete  Beamte, 
darunter  ein  Präsident  mit  relativ  weit- 
gehenden Mac^itbefugnissen  eingesetzt.  Die 
Neugründung  von  Arbeitervereinen  bleibt 
nach  wie  vor  das  nächste  \md  wichtigste 
Ziel,  insbesondere  sollen  auch  die  lokalen 
Gewerkvereine  möglichst  zu  nationalen  zu- 
sammengeschmolzen werden,  denen  zu- 
gleich vollständige  Autonomie  für  ihre  Be- 
rufsangelegenheiten zugesichert  wird.  Für 
den  Fall,  dass  Mitglieder  der  Födci-ation  in 
einen  Ausstand  verwickelt  werden,  welchen 
die  Exekutive  gutheisst,  sollen  alle  ange- 
schlossenen Verbände  zur  Unterstützung 
aufgefordert  werden. 

Von  dieser  Befugnis  hat  der  Präsident 
nur  einige  Male  von  1886 — 1899,  insbesondere 
zur  Erkämpfung  des  Achtstundentages  Ge- 
brauch gemacht,  und  auch  in  diesen  wenigen 
Fällen  kamen  die  Beiträge  nur  un regel- 
mässig ein.  Bessere  Erfolge  wnirden  im 
ganzen  durch  die  den  Lohnarbeitern  nichts 
kostende  Boykottierung  solcher  Geschäfte 
erzielt,  welche  sich  den  Anforderungen 
ihrer  Angestellten  entgegensetzten.  Mit  dem 
Wachsen  der  Föderation  an  Mitgliedern  wird 
diese  Aechtung  für  die  Unternehmer  bedenk- 
licher, mit  ihrer  Abnahme  schwindet  die 
Gefahr.  In  wirtschaftlich  guten  Jahren, 
während  welcher  die  Arbeitslosigkeit  nur 
gering  ist,  nehmen  die  Arbeiterverbände  an 
Zalil  und  Umfang  zu  und  gleichzeitig  ge- 
winnt der  Boykott  an  Bedeutung.  Dabei 
wei-den  immer  am  meisten  diejenigen  Fir- 
men betroffen,  deren  Absatz  überwiegend 
ein  lokaler  ist,  während  solche,  die  weithin 
versenden  und  für  das  Ausland  produzieren, 
nur  wenig  davon  berührt  werden.  Aus 
letzterem  Grunde  hat  in  England  der  Boy- 
kott niemals  solche  Verbreitung  angenommen 
als  in  den  Vereinigten  Staaten,  deren 
industrielle  Produkte  bis  vor  kurzem  nur 
ausnahmsweise  für  den  Weltmarkt  herge- 
stellt wurden. 

Nach  den  offiziellen,  jedenfalls  reichlich 
hoch  bemessenen  Angaben  der  Föderation 
musterte  sie  bei  ihrer  Reorganisation  unge- 
fähr 600000  Mitglieder,  dann  tritt  bis  1896 
ein  ziemlich  erhebücher  Rückgang  ein,  der 
zeitweise  den  Verband  bis  auf  240000 
herunterbrachte.  Nun  folgt  von  netiem  ein 
Aufschwung,  welcher  die  früheren  Ziffern 
wieder  erreichen  liess.  Im  Dezember  1898 
wurde  auf  dem  Jahreskongress  zu  Kansas 
City   von   dem  Präsidenten  berichtet,   dass 


714 


Gewerkvereine  (Vereinigte  Staaten  von  Amerika) 


zur  Zeit  67  nationale  und  internationale  Ge- 
werkvereinc  mit  10500  Ortsvereinen  ange- 
schlossen seien,  ausserdem  10  staatliclie 
und  82  städtische  Centralisationen  von  Ge- 
werk-  und  Arbeitervereinen,  315  Ortsver- 
bände, die  ohne  nationale  Gliederung  sind, 
109  gemischte  Vereine,  in  denen  sich  Ar- 
beiter verschiedener  Beschäftigung  befinden. 
Die  Zusammensetzung  zeigt,  dass  zwar  das 
eigentlich  gewerkvereinliche  —  berufsge- 
nossenschaftliche —  Element  die  Grundlage 
der  Föderation  bildet,  dass  aber  das  Orts- 
princip  daneben  eine  grosse  Anerkennung 
erlangt  hat,  mithin  von  ihr  der  Grundge- 
danke der  einst  so  mächtigen  Arbeitsritter, 
deren  Bedeutung  heutzutage  ganz  dahinge- 
schmolzen  ist,  aufgenommen  worden  ist.  Auf 
dem  Kongress  zu  Detroit  vom  Dezember 
1899  wurde  mitgeteilt,  dass  im  laufenden 
Jahre  73  nationale  und  internationale  Ge- 
werkvereine, 11  State  Federations  of  Labor, 
118  Central  Labor  ünions  und  Trades 
Assemblies,  595  Local  Unions  ohne  Verbin- 
dung mit  nationalen  Verbänden  \md  202 
Federal  Labor  ünions  (gemischte  Vereine) 
bestanden  haben. 

Seit  1886  ist  Sara.  Gompeis  mit  Aus- 
nahme des  Jahres  1895  Präsident  gewesen, 
ein  Mann  von  unbestrittenem  Organisations- 
talente, grosser  Mässigimg  und  ginindlicher 
Kenntnis  der  amerikanischen  politischen 
Zustände.  Seiner  fortgesetzten  Wachsamkeit 
ist  es  bisher  stets  gelungen,  die  direkte 
Verbindung  der  Föderation  mit  politischen 
Parteien  zu  verhindern,  welchem  Gedanken 
ein  im  Sommer  1896  veröffentlichtes  Cirku- 
lar  darin  Ausdruck  gab :  »Beschlossen,  dass 
Parteipolitik,  ob  solche  demokratisch,  repu- 
blikanisch, sozialistisch,  populistisch,  pro- 
hibitionistisch  oder  irgend  welcher  anderen 
Art  ist,  in  den  Konventionen  der  American 
Federation  of  Labor  keinen  Platz  haben  soll.« 

Indessen  muss  man  nicht  glauben,  dass 
deshalb  nun  alle  allgemeinen  politischen 
Fragen  aus  ihren  Verhandlungen  ausge- 
schlossen wären,  vielmehr  sind  z.  B. 
SchutzzoD,  Freisilberprägung,  Verstaatlichung 
von  Verkehrsmitteln.  Imperialismus  der 
Diskussion  in  der  Exekutive  und  den  Jahres- 
kougressen  oft  unterworfen  worden,  und  an 
Beschlüssen  für  und  gegen  hat  es  nicht  ge- 
fehlt. Die  Föderation  tritt  nicht  für  »trade 
unionism  pure  and  simple«  ein,  wie  die 
amerikanischen  Sozialisten  es  von  ihr  be- 
haupten, sondern  sie  ist  eine  soziale  Cen- 
tralisation  von  Arbeitern,  deren  Führer  sehr 
wohl  wissen,  dass  durch  den  Stimmzettel 
im  Wege  der  Pressionspolitik  manc^hes  zu 
erreichen  ist,  dass  aber  die  beiden  grossen 
politischen  Parteien  des  Landes  gewaltige 
Maschinerieen  sind,  in  deren  läderwerk 
einzugreifen  für  sie  durchaus  nutzlos  ist. 
Eine   unabhängige   politische  Arbeiterpartei 


zu  begründen  traut  sich  die  American 
Federation  nicht  zu,  als  Ziel  für  die  Zukunft 
ist  eine  solche  jedoch  in  Anspruch  ge- 
nommen. 

Erfolge  des  Verbandes  zu  Gunsten  der 
ihm  angeschlossenen  Arbeiter  sind  unver- 
kennbar teils  auf  dem  Gebiete  der  Schutz- 
gesetzgebung in  den  Einzelstaaten,  teils  in 
dem  Kampf  um  die  Abkürzung  der  Arbeits- 
zeit und  um  Lohnerhöhung.  Auch  hat  er 
die  Gewerk-  und  Arbeitervereinsbildung  in 
Gegenden  und  Gewerbe  verpflanzt,  in  denen 
sie  bis  dahin  ganz  unbekannt  war. 

8.  Allgemeine  Charakteristik.  Wenn 
man  bedenkt,  dass  in  den  Vereinigten  Staaten, 
wo  mit  der  öffentlichen  Agitation  und  Re- 
klame ein  jeder  von  Jugend  auf  vertraut  ist, 
seitens  der  Gewerkvereinsleute  öffentlich  für* 
ihre  Sache  vielleicht  mehr  gethan  ist  als  in 
den  anderen  Ländern,  —  haben  doch  ^t 
alle  hervorragenden  Vereine  ihre  eigenen 
Wochen-  oder  Monatsblätter  —  und  wenn 
man  ferner  nicht  bloss  die  leidenschaftliche, 
durch  Freiheitsgedanken  genährte  Selbstver- 
teidigung ihret  Rechte  gegen  die  Ansprüche 
ihrer  Arbeitgeber,  sondern  auch  iliren  Sinn 
für  die  Ausbildung  des  Associationswesens, 
der  dem  ganzen  Volke  eigen  ist,  berücksich- 
tigt, so  wird  man  die  Resultate  einer  fast 
vierzigjährigen  Agitation  nicht  sehr  bedeu- 
tend finden.  Hindernd  hat  der  Gewerk- 
vereinsbewegung  zunächst  entgegengestanden 
die  bunte  Zusammensetzung  der  Lohnar- 
beiterbevölkerung aus  verschiedenen  Rassen 
und  Nationalitäten.  Teils  war  es  die  Rassen- 
antipathie, teils  die  Verschiedenheit  der 
Sprache,  welche  der  Gründung  und  Erhal- 
tung der  Koalitionen  Schwierigkeiten  be- 
reiteten. Ferner  haben  die  schnellen  Fort- 
schritte der  Produktionstechnik,  insbesondere 
der  gewerblichen  Arbeitsteilung  und  das 
damit  fortdauernde,  oft  sprunghaft  eintre- 
tende Ersetzen  der  gelernten  durch  unge- 
lernte Handarbeiter  den  auf  Berufsgemein- 
schaft begründeten  Gewerkvereinen  insofern 
geschadet,  als  sie  immer  wieder  unerwar- 
teten Konkurrenten  gegenüberstanden.  Die 
Verschiedenartigkeit  der  Gesetzgebung  in 
den  vielen  Einzelstaaten  wirkte  auch  er- 
schwerend auf  die  Bildung  der  nationalen 
Gewerkvereine. 

Schliesslich  hat  die  ünfertigkeit  der  ame- 
rikanischen Kultur,  insbesondere  die  un- 
gleichmässige  Ausbildung  der  Volkswirt- 
schaft dazu  beigetragen,  den  Gewerkvereinen 
den  Charakter  des  Veränderlichen  und  bis- 
weilen des  Veränderungssüchtigen  zu  geben. 
Der  im  Vergleich  zu  Europa  häufige  Berufe- 
wechsel des  einzelnen  und  der  Uebergang 
von  der  Stellung  eines  Lohnarbeiters  zu  der 
des  kleinen  Unternehmers  oder  der  des 
Politikers,  der  Fortzug  der  Familien  aus 
dem  industriellen  Osten  in  die  Kolonialge- 


Gewerkvereine  (Yereinigte  Staaten  von  Amerika) 


715 


biete  des  Westens  entziehen  den  Gewerk- 
schaften oft  dann  die  Mitglieder,  wenn  sie 
deren  am  meisten  bedürfea,  und  zugleich 
haben  aus  den  gleichen  Gründen  diejenigen, 
welche  zurückbleiben,  wenig  Neigung,  Mittel 
für  Einrichtungen  aufzuwenden,  aus  denen 
sie  vielleicht  bald  keinen  Nutzen  mehr  ziehen 
können.  Daher  sind  die  ziu*  Sparsamkeit 
und  Vorsorglichkeit  erziehenden  Unter- 
stützungskassen besondere  für  Invalide  und 
Altersschwache  im  Vergleich  zu  England 
wenig  von  den  Koalitionen  ausgebildet.  Wer 
Mitglied  der  letzteren  ist,  hat  wohl  die 
Kosten  der  allgemeinen  VenÄ^altung  zu  tragen 
und  dem  Strikefonds  seine  Beiträge  zu  ent- 
richten, kann  sich  aber  in  der  Regel  ganz 
nach  seinem  Ermessen  den  etwa  sonst  be- 
stehenden Versicherungskassen  anschliessen 
oder  davon  fernbleiben.  Die  meisten  ]^Iit- 
glieder  ziehen  es  vor,  ihre  Kräfte  denjenigen 
Vereinszielen  zuzuwenden,  deren  Erreichung 
ihnen  unter  allen  Umständen  zweckmässig 
ei-scheint:  der  Erhöhung  resp.  der  Erhal- 
tung des  Lohnes  imd  der  Verkürzung  der 
Arbeitszeit. 

Strike  und  Boykott  sind  häufige  Vor- 
kommnisse des  transatlantischen  Lebens,  sie 
sind  oft  von  gewaltiger  Ausdehnung.  Die 
Gewerkvereine  empfehlen  in  ihren  Statuten 
fast  durchweg  den  friedlichen  Ausgleich  bei 
Streitigkeiten  mit  den  Arbeitgebern,  aber 
Schiedsgerichte  und  Einiglingskammern  haben 
infolge  der  bisherigen  Unstetigkeit  der  ame- 
rikanischen Volkswirtschaft  noch  keine  rechte 
Bedeutimg  gewinnen  können. 

Eine  besondere  Erscheinung  der  nord- 
amerikanischen G^werkvereine  ist  ihre  oben 
sub  2  geschilderte  Föderation.  Dieselbe  ist 
ganz  etwas  anderes  als  der  Gewerkvereinskon- 
gress  in  England.  Beide  haben  freilich  ge- 
raeinsam, dass  sie  zu  der  Arbeitergesetz- 
febung  des  Landes  Stellung  nehmen  und  zu 
brtschritten  derselben  immer  von  neuem 
anregen,  aber  während  in  England  damit 
der  Zweck  des  gemeinsamen  Vorgehens  er- 
schöpft ist,  gehen  die  amerikanischen  Vereine 
viel  weiter,  indem  sie  einerseits  zu  Gunsten 
der  Centralisation  ihre  sozialen  Ziele  und 
Handlungen  einer  Beschränkung  unterwerfen, 
also  ein  Stück  ihrer  Autonomie  aufgeben, 
andererseits  die  besondere  Aufgabe  der  Ar- 
beitervereinsbildung ihrem  Gesamtverbande 
erteilt  haben.  Derselbe  überwacht  die  so- 
ziale Thätigkeit  seiner  Mitgliedschaften  und 
greift  in  deren  Interesse,  wie  bei  der  Acht- 
stundenbewegung und  den  Boykotts,  positiv 
ein.  Das  Bestreben,  die  Macht  der  Lohn- 
arbeiter möglichst  zu  koncentrieren,  war 
bei  den  Arbeitsrittem  ebenfalls  hervorge- 
treten, und  an  anderen  Versuchen  in  gleicher 
Richtimg  hat  es  keineswegs  gefehlt.  Es  sei 
nur  an  die  American  Railwav  Union  von 
1893    und    1894   erinnert,    und    seit    1896 


machte  eine  Socialist  Trade  and  Labor  Alli- 
ance  von  sich  reden,  in  welcher  aussclüiess- 
lich  Gewerkschaften  mit  sozialistischen  Mhr 
gliedern  vereinigt  werden  soDten.  Dieser  Ver- 
band hat  es  aber  zu  keiner  rechten  Bedeu- 
tung bringen  können,  da  eigentlich  nur  unter 
den  deutsch  sprechenden  Arbeitern  zahl- 
reiche Sozialisten  und  diese  nur  in  einzelnen 
grossen  Städten  politisch  regsam  sind.  A^er- 
schiedene  Programme  des  Sozialismus  wer- 
den zwar  auch  von  Zeit  zu  Zeit  von  ame- 
rikanischen Arbeiterführern  entworfen  und 
für  einige  Monate  fehlt  es  nicht  an  Enthu- 
siasmus bei  der  Propaganda,  aber  die  Ge- 
werkvereine als  solche  stehen  alledem  sehr 
kühl  gegenüber  und  denken  nicht  damn, 
ihre  mühsam  geschaffene  Organisation  zu 
Gunsten  irgend  einer  noch  so  verlockenden 
sozialistischen  Idee  preiszugeben. 

Litteratur:  A,  v,  Studnitz,  Nordamerikanüche 
ÄrheitcrverhältnUse,  Leipzig  1877.  —  H,  W» 
Famant,  Die  amerikanischen  Gewerkvereine, 
Leipzig  1879,  —  A»  Sartorius  von  Walters-' 
hausetif  Die  nordamerikanischen  Gewerkschaften 
unter  dem  Einfluss  der  fortschreitenden  Pro- 
duktionstechnik, Berlin  1886.  (Mit  Angabe  der 
Speciaüitteratur.J  —  Derselbe,  Der  moderne 
Sozialismus  in  den  Vereinigten  Stauen  von 
Ametnka,  Berlin  1890.  —  Ricliard  T.  Ely, 
The  Lfibor  Movement  in  America,  yew-Vork 
1896,  —  John  Mar  T'irar,  The  Origin  and 
Progress  of  the  Typographical  Union  1891.  — 
Geo.  Mar  NeUl,  The  Labor  Movement  1897. 
—  W»  T,  Steadf  Der  Krieg  zwischen  Arbeit 
und  Kapital  in  den  Vereinigten  Staaten,  deutsch 
von  M.  Pannwitz,  1894.  —  Caroll  D»  Wrlght, 
fron  and  Steel  Workers  im  Quaterly  Journal  of 
Economics,  1892.  —  Derselbe,  Die  grosse  Ar- 
beitseinsteUung  in  Chicago  in  nDie  Zeita,  Wien 
1894,  yo.  1.  North  American  Review,  1892: 
Buffalo  Strike;  Homestead ;  Organised  Labor; 
Ethics  of  the  girat  Strikes;  1893:  Populist 
Party;  Ann  Arbor  Strike;  Labor  Problem; 
Labor  Organisations ;  1894:  The  causes  of  the 
receut  Strike.  —  F,  A,  Sorge,  eine  Anzahl  von 
Aufsätzen  in  der  Neuen  Zeit,  1892—1897,  be- 
sonders :  Homestead  und  Coeur  d^Alene ;  Buffalo 
und  Tencssee;  Aus  den  Vereinigten  Staaten.  — 
Handworterb^ich  der  Staatswissenschaften,  L  Aufl., 
die  Artt.  Gewerkvereine  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  A,  Sartorius  v.  W alter %hau»en(t 
und  M,  Biemier,  —  T.  A,  Carroll,  Gmcilia- 
tio7i  and  Arbritration  in  the  boot  and  shoe 
industry,  Bulletin  of  the  Department  of  Labor 
2807,  —  j.  o,  Brooks,  The  Trade  Union 
Label,  Bulletin  1898.  —  E»  R.  Johnson, 
Brotherhood  relief  and  insurance  of  railway  em- 
ployers,  Bulletin  1898.  —  E,  If.  Bemis, 
Benefit  Features  of  American  Trade  Unions, 
Bulletin  1899.  —  Louis  Vigourotuc,  La  Con- 
ceniration  des  forces  ourrieres  dans  l'Amerique 
du  Nord,  Paris  1899.  —  Vielerlei  Details  finden 
sich  auch  in  den  Berichten  der  einzelstaatlichen 
arbeitsstatistischen  Bureaus, 

A,  Sartarius  v,  Waltershausen, 


716 


Gewinnbeteiligung 


Gewinnbeteiligung. 

1.  Begriflf  und  Wesen  der  G.  2.  Zweck 
und  Aufgaben  der  G.  3.  Die  bisherigen  prak- 
tischen Versuche  mit  der  G.  4.  Schwierigkeiten, 
Vorzüge  und  Nachteile  der  G.  im  allgemeinen. 
5.  Schlussergebnis. 

1.  Begriff  und  Wesen   der  G.     Die 

Beteiligung  am  Gewinn  eines  wirtschaftlichen 
Unternehmens  seitens  anderer  als  der  eigent- 
lichen Unternehmer  kann  unter  den  ver- 
schiedensten wirtschaftlichen  Voraussetzun- 
gen und  i-echtlichen  Formen  vorkommen. 
Vielfach  gründet  sieh  die  Gewinnbeteiligimg 
auf  eine  Beteiligung  mit  Kapital.  Aber  auch 
der  Arbeit  kann  eine  Gewinnbeteiligung  zu- 
gestanden werden ;  imd  zwar  handelt  es  sich 
in  solchen  Fällen  um  eine  eigenartige  Me- 
thode der  Entlohnung  der  Angestellten. 
Unter  Gewinnbeteiligung  ist  darnach  diejenige 
Einrichtung  zu  verstehen,  nach  welcher 
Angestellte  (Beamte,  Gehilfen,  Arbeiter)  eines 
wirtschaftlichen  Unternehmens  neben  ihrem 
ausbedungenen  Lohne  und  als  Zusatz  zu 
demselben  einen  Anteil  am  Geschäftsge\^4nne 
erhalten,  und  zwar  mit  der  Massgabe,  dass 
nicht  nur  die  Grösse  dieses  Anteils  als 
Quote  des  jeweiligen  gesamten  Geschäfts- 
gewinnes fest  normiert  ist,  sondern  auch 
(iie  Verteilung  unter  die  einzelnen  An- 
gestellten nach  gauz  bestimmten  rech- 
nerischen Gnmdsätzen  erfolgt. 

Die  eigentümliche  Verbindung  von  be- 
dungenem und  freiem  Arbeitseinkommen 
geh()rt  zum  Wesen  unserer  Gewinnbeteili- 
gung. Mit  der  völligen  Beseitigung  des 
feston  Lohnsatzes  würde  das  seine  An- 
gestellten am  Gewinn  beteiligende  Geschäft 
den  Charakter  einer  Produktivgenossenschaft 
erlialten.  Zwischen  dieser  und  dem  reinen 
Lohnsystem  nimmt  die  Gewinnbeteiligung 
sowohl  begrifflich  wie  hinsichtlich  des 
Zweckes  eine  vermittelnde  Stellung  ein. 
Nicht  zu  empfehlen  ist  die  Bezeichnung  der 
Gewinnbeteiligimg  als  einer  eigentümlichen 
Unternehmungsform  neben  den  Kommandit-, 
Aktiengesellschaften,  Genossenschaften  etc., 
da  die  am  Gewinn  beteiligten  Lohnai'beiter 
keinerlei  Unternehmerfunktionen  ausüben, 
die  gleichzeitige  Kapitalbeteiligung  dereelben 
(s.  unten)  aber  unwesentlich  ist.  Auch  fehlt 
es  für  die  Gewinnbeteiligung,  im  Gegensatz 
zu  jenen  und  ähnlichen  Untemehmungs- 
formen,  an  besonderen  i'echtlichen  Normen. 
Für  die  weitere  Betrachtung  war  es  geboten, 
die  Forderung  eines  vertragsmässig  festgelegten 
Beteiligungs-  und  Verteilungsmassstabes  in  die 
BegrifFsbestimmung  aufzunehmen.  Gratifika- 
tionen gelegentlich  der  Feststellung  der  Jahres- 
bilanz und  sonstige  nach  dem  jeweiligen  Gut- 
dünken des  Unternehmers  unter  die  Angestellten 
verteilte  ausserordentliche  Lohnzuschüsse  ge- 
hören auch  dann  nicht  hierher,  wenn  die  Quote 
des  Gesamtgewinns  oder  aber  der  Verteilungs- 
modus genau  feststehen  sollten.    So  sehr  man 


auch  mit  Rücksicht  auf  den  Sprachgehrauch 
darüber  streiten  mag,  ob  in  diesen  Fällen  gleich- 
falls das  Vorhandensein  einer  Gewinnbeteiligung[ 
anzunehmen  ist,  so  geht  thatsächlich  doch  bei 
willkürlicher  Festsetzung  des  Gewinnanteils  der 
direkte  Zusammenhang  mit  der  schwankenden 
Höhe  des  Geschäftsertrages  verloren ;  unser  An- 
teilsystem  wird  hierdurch  seiner  wesentlichsten 
Eigentümlichkeiten  beraubt. 

Unzweifelhaft  gehört  zum  Begriff  der  Ge- 
winnbeteiligung, dass  eine  Verteilung  der  Ge- 
winnquote auf  die  einzelnen  Angestellten  vor- 
gesehen ist.  Allgemeine  Wohlfahrtseinrich- 
tungen jeder  Art,  Dotierung  von  Versor^ungs- 
kassen  etc.  im  Interesse  der  Gesamtheit  der 
Angestellten  sind  von  völlig  anderen  Gesichts- 
punkten aus  zu  betrachten.  Dagegen  ist  kei- 
neswegs erforderlich,  dass  der  dem  einzelnen 
Angestellten  zufallende  Anteil  diesem  jedesmal 
bar  ausgezahlt  wird.  Vielmehr  begründet  es 
gerade  die  Mannigfaltigkeit  der  auftretenden 
Gewinn beteiligungsfomien,  dass  statt  dessen  der 
Bonus  ganz  oder  zum  Teil,  sei  es  einer  selbst- 
ständigen oder  mit  dem  Unternehmen  verbun- 
denen Spar-,  Kranken-,  Alters-  oder  ähnlichen 
Kasse  zugewandt,  sei  es  im  Geschäft  selbst 
zinstragend  (nach  dem  landesüblichen  Zinsfuss 
oder  entsprechend  dem  Geschäftsgewinn)  ange- 
legt und  dann,  wie  es  mitunter  geschieht,  zum 
Ankauf  von  Geschäftsanteilen  verwandt  wird. 

Die    oben    definierte   Gewinnbeteiligung 
nimmt  als  eine  seit  lange  bewährte  Einrich- 
tung in  der  Praxis  des  heutigen  Wirtschafts- 
lebens  einen   breiten   Raum   ein.     Freilich 
beschränkt    sich    ihre   Anwendung    in    der 
Regel  auf  höhere,  insbesondere  kaufmännische 
Angestellte  (Beamte)  des  Geschäfts,  die  nicht 
nur  hinsichtlich   ihrer  sozialen  Lage   dem 
Unternelmior    nälier    stehen    und    vielfach 
Vertrauensposten   bekleiden,   sondern  auch 
ähnlich  jenem  eine  den  Gang  und  das  Ge- 
deihen d(^s  Unternehmens  mehr  oder  minder 
stark    beeinflussende    Thätigkeit    ausüben. 
Der  Gewinnanteil  heisst   dann  gewöhnlich 
»Tantieme«  ;  das  bekannteste  Beispiel  liefern 
die  Direktoren  von  Aktiengesellschaften.  Nicht 
von  diesen  Gewinnbeteiligungsfällen  indessen 
soll  im  folgenden  die  Rede  sein.    Sie  ver- 
danken  ihre   Entstehung   und   V^erbreitimg 
dem    durchaus    gerechtfertigten    und   wohl 
kaum    angefochtenen    Bestreben,    mit    der 
Qualität  der  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
durch   höhere   soziale   Pflichten    gebotenen 
Leistungen  die  materielle  Entschädjgung  für 
dieselben  in  Einklang  zu  bringen.    Ein  noch, 
nicht  befriedigend  gelöstes  Problem  ist  da- 
gegen die  Beteiligung  der  Lohnarbeiter  am 
Unternehmergewinn.      Da    zu    diesen    hier 
auch  das  technisch  besser  vorbereitete  und 
geschulte  Personal  gerechnet  werden  muss, 
so  ^\^rd  in  der  Praxis  eine  scharfe  Trennung 
zwischen   dieser  Art  von  Fällen    und  den 
obigen  insofern  allerdings  nicht  durchfülir- 
bar  sein,  als  je  nach  der  wii-tschaftlichea 
Thätigkeit  und  Lage  der  Angestellten  ein 
allmählic?her    Uebergang    stattfindet.       In- 


Gewin  iibeteiligimg 


717 


dessen  ist  doch  diese  Crewinnbeteili- 
gung  der  Arbeiter,  um  welche  es  sich 
weiterhin  ausschliesslich  handeln  wird,  hin- 
sichtlich sowohl  ihrer  sozialpolitischen  Auf- 
gaben als  ihrer  praktischen  Durchführbarkeit 
von  eigenartiger  Bedeutung  und  hat  dem- 
entsprechend zu  lebhaften  Erörterungen  auf 
Gnmd  vielfacher  praktischer  Versuche 
Anlass  gegeben. 

2.  Zweck  nnd  Aufgaben  der  G.  Es 
gehört  bekanntlich  zum  Wesen  der  Organi- 
sation unserer  Volkswirtschaft,  dass  der 
Unternehmer  die  in  seinem  Betriebe  thätigen 
fremden  Arbeitskräfte  (und  Kapitalien)  nicht 
entsprechend  dem  jedesmaligen  Avirtschaft- 
lichen  Werte  der  hergestellten  Produkte 
bezw.  der  von  ihm  übernommeneu  Leistungen 
entlohnt,  vielmehr,  ohne  das  Endergebnis 
seiner  Produktion  abzuwarten,  die  Arbeiter 
für  ihre  Dienste  vorweg  entschädigt.  Diese 
gesonderte  Befi'iedigung  der  Arbeiter  erweist 
sich  nun  nicht  allein  als  technisch  notwendig 
wegen  des  Fehlens  eines  allgemein  giltigen 
Massstabes  für  die  gerechte  Verteilung  des 
Ertrages  auf  die  Produktionsfaktoren  sow^ie 
angesichts  der  Unmöglichkeit,  die  ent- 
sprechende Teilung  desselben,  selbst  wenn 
theoretische  Schwierigkeiten  nicht  im  Wege 
stünden,  im  einzelnen  Falle  praktisch  durch- 
zuführen; sie  hat  vielmelir  auch  aus  wirt- 
schaftlichen Oriinden  ihre  volle  Berechtigimg. 
Zunächst  kommt  hierbei  in  Betracht,  dass 
der  finanzielle  Ertrag  eines  Unternehmens,  wie 
er  durch  die  Bilanzen  am  Ende  der  Geschäfts- 
periode festgestellt  zu  werden  pflegt,  nicht  nur 
mehr  oder  weniger  erheblichen  Schwankungen 
unterliegt,  sondern  auch  in  Verluste  umschlägt. 
Der  die  Produktton  bestimmende  und  leitende 
Unternehmer  hat  die  günstigen  wie  ungünstigen 
Folgen  dieser  zum  Teil  auch  dem  Wechsel  der 
Konjunkturen  zuzuschreibenden  Schwankungen 
allein  zu  tragen,  sofern  nicht  Arbeiterent- 
lassungen und  Lohnreduktionen  notwendig^  wer- 
den. Und  dies  mit  vollem  Eecht.  (In  Bezug 
auf  die  Stellung  des  Unternehmers  innerhalb 
der  Volkswirtschaft  und  die  daraus  abzuleitende 
ökonomische  Berechtigung  seines  Gewinnes  s. 
d.    Art.     Unternehmer,     Unternehmer- 

fewinn.)  Ihm  gegenüber  sind  nämlich  die  Ar- 
eiter,  ihren  Fähigkeiten  und  Leistungen  ent- 
sprechend, auf  jene  Verschiedenheiten  des  Er- 
trages im  allgemeinen  ohne  Einfluss.  Ein  sol- 
cher wäre  insofern  möglich,  als  sie  die  ihnen 
obliegenden  Verrichtungen  quantitativ  und  quali- 
tativ nach  ihrem  Beheben  erheblich  steigern 
oder  vermindern  könnten.  Dies  ist  jedoch  in 
der  Regel  nicht  der  Fall,  da  es  vielmehr  Sache 
deB  Unternehmers  ist,  durch  gut  bemessene 
Löhne  und  zweckmässige  Lohnmethoden  sowie 
durch  passende  Auswahl  des  Personals  und  ge- 
eignete Beaufsichtigung  desselben  dafür  Sorge 
zu  tragen,  dass  Normales  geleistet  wird.  Unter- 
lässt  er  dies,  scheidet  er  insbesondere  die  un- 
tüchtigen und  pflichtvergessenen  Arbeiter  nicht 
aus,  so  ist  es  seine  Schuld,  wenn  die  Produktion 
darunter  leidet  und  der  Gewinn  zurückgeht, 
nicht  aber  die  der  Arbeiterschaft.    Angesichts 


eines  ungünstigeren  Geschäftsergebnisses  können 
in  der  Kegel  die  Arbeiter  mit  Recht  darauf 
hinweisen,  dass  sie  nach  wie  vor  ihre  Pflicht 
gethau  haben  und  somit  für  eingetretene  Miss- 
erfolge nicht  verantwortlich  zu  machen  sind. 
Von  diesen,  für  die  grosse  Masse  der  Unter- 
nehmungen massgebenden  Gesichtspunkten  aus 
erscheint  es  also  durchaus  sachgemäss,  den 
Arbeiter  mit  einem  festen  Lohnsatz  abzu- 
finden. 

Dieses  System  vermeidet  überdies  die  schwer- 
wiegenden Nachteile,  welche  mit  einem  starken 
Schwankungen  unterliegenden  Einkommen  für 
die  ökonomische  Lage  des  Arbeiters  verbunden 
sein  würden.  Dasselbe  müsste  eine  geordnete 
Hauswirtschaft  zur  Unmöglichkeit  machen,  da 
selbst  bei  Bethätigung  eines  idealen  Sparsinns 
die  notwendige  Regelmässigkeit  in  der  Lebens- 
haltung undurchführbar  wäre.  Zu  den  Gefahren 
der  Arbeitslosigkeit  käme  für  den  Arbeiter  ein 
neues  Moment  der  Unsicherheit  hinzu. —     . 

Trotz  dieser  durchschlaffenden  Vorzüge  des 
Lohnsysteras  haften  demselben  indessen  auch 
unverkennbare  Mängel  an.  Nicht  nur  dass  der 
Arbeiter,  welcher  mit  der  Lohnzahlung  endgiltig 
von  dem  Werke  seiner  Hände  getrennt  wird, 
dem  Gedeihen  des  Unternehmens  gleichgiltig 
gegenübersteht.  Vor  allem  wird  dadurch,  dass 
Arbeitslohn  bezw.  Unternehmergewinn  ein  jeder 
auf  Kosten  des  anderen  erhöht  werden  kann, 
ein  schroifer  Widerstreit  der  Interessen  zwischen 
den  beiden  wirtschaftlichen  Parteien  statuiert, 
welcher  die  durch  sonstige  Gegensätze  (Eigen- 
tum, Bildung)  bedingte  Kluft  noch  erweitert.  Der 
Lohnarbeiter  ist  bestrebt,  bei  möff liebst  kurzer 
Arbeitszeit  einen  möglichst  hohen  Lohn  und  zwar 
geeigneten  Falls  auf  dem  Wege  der  gemeinsamen 
Arbeitseinstellung  etc.  zu  erringen ;  das  Gedeihen 
des  einzelnen  Unternehmens  kümmert  ihn  wenig. 
So  sehr  man  auch  die  Berechtigung  jener  auf 
die  Erkämpfung  günstigerer  Arbeitsbedingungen 
gerichteten  Bestrebungen  grundsätzlich  anzu- 
erkennen hat,  so  zeigen  sich  in  ihnen  doch  die 
in  sozialer  Hinsicht  gefahrdrohenden  Schatten- 
seiten des  Lohnsystems.  Dasselbe  wird  ferner 
denjenigen  Ausnahmefällen  nicht  gerecht,  in 
welchen  der  einzelne  Arbeiter  einen  Einfluss  auf 
die  Höhe  des  Geschäftsgewinnes  ausübt  bezw. 
ausüben  kann.  Ein  solcher  Einflnss  ist  dann 
entweder  ein  direkter,  d.  h.  durch  besonders 
qualifizierte  Leistungen  bei  verhältnismässigem 
Zurücktreten  der  Wirkung  von  Konjunkturen 
hervorgerufener,  oder  ein  indirekter.  In  letzterer 
Beziehung  wird  es  sich  namentlich  um  solche 
Fälle  handeln,  in  denen  es  nicht  möglich  ist, 
durch  geeignete  Lohnmethoden  und  Beauf- 
sichtigung des  Personals  dasselbe  zu  Fieiss, 
Sorgfalt  und  Ehrlichkeit  wirksam  anzuhalten, 
oder  jene  Mittel  sich  nicht  als  ausreichend  er- 
wiesen haben. 

Die  Beseitigung  oder  doch  Milderung  dieser 
Schattenseiten  des  Lohnsystems  auf  rein  öko- 
nomischem Wege  bildet  das  eigenartige  Ziel 
der  Gewinnbeteiligung.  Ohne  den  bewährten 
Boden  jenes  Systems  zu  verlassen,  sucht  sie  in 
der  oben  angegebenen  Weise  zwischen  den  In- 
teressen der  Arbeitgeber  und  -nehmer  zu  ver- 
mitteln und  damit  eine  hervorragende  sozial- 
politische Mission  zu  erfüllen.  Freilich  hat  sie 
im  Vergleich  zu  der  unendlich  grossen  Zahl  der 
vorhandenen  Unternehmungen  bisher  nur  einen 


718 


Gewinnbeteüigimg 


sehr  bescheidenen  Wirkungskreis  zu  gewinnen 
vermocht. 

3.  Die  bisherigen  praktischen  Ver- 
suche mit  der  G.  Obgleich  schon  in  den 
dreissiger  Jahren  die  Frage  der  Gewinn- 
beteiligung der  Arbeiter  auf  Grund  einzelner 
Versuche  in  England  erörtert  worden  war 
und  diese  Einrichtung  sowohl  dort  wie  auch 
in  Deutschland  (R.  von  Mohl)  damals  be- 
reits Fürsprecher  gefimden  hatte,  dauerte 
es  doch  noch  längere  Zeit,  ehe  das  neue 
Lohnsystem  allgemeine  Beachtung  fand. 
Erst  gegen  Ende  der  sechziger  und  Anfang 
der  siebziger  Jahre  erfolgte  ein  Anstoss  zur 
öffentlichen  Besprechung  der  GewinnbeteiK- 
gungsfrage,  und  zwar  durch  das  Bekannt- 
werden weiterer  praktischer  Versuche,  wel- 
che allem  Anscheine  nach  solch  giinstige 
Erfolge  aufzuweisen  hatten,  dass  diese  Mo- 
difizienmg  des  Lohnsystems  bald  vielfach 
(unter  anderem  von  Engel,  Böhmer!,  J.  St.  Mill, 
Jevons,  Leroy-Beaidieu,  Charles  Robert)  als 
ein  durchgreifendes  Mittel  zur  Anbahnung 
bezw.  Befestigung  guter  Beziehimgen  zwi- 
schen Arbeitgebern  und  -nehmem  gepriesen 
wurde.  Vereinzelt  ging  man  sogar  soweit, 
von  diesem  Verfahren  die  »Lösung  der  so- 
zialen Frage«  zu  erhoffen.  In  Deutschland 
trat  unter  anderem  der  Verein  für  Sozial- 
politik der  Fi-age  durch  Einziehung  von  Gut- 
achten näher.  Professor  Victor  Böhmert 
kam  1878  der  an  ihn  ergangenen  Auf- 
forderung nach  durch  Veranstaltung  einer 
privaten  Enquete,  welche  die  auf  die  Ge- 
winnbeteiligung und  verwandte  Lohnme- 
thoden bezüglichen  praktischen  Erfahrungen 
zum  ersten  Male  der  Oeffentlichkeit  zugäng- 
lich machte.  Sie  beruht  auf  der  schrift- 
liclien  Beantwortung  eines  an  zaliireiche 
Privatleute ,  Aktiengesellschaften ,  Vereine 
und  Zeitungen  versandten  Fragebogens. 
Diesen  überaus  verdienstlichen  Untersuch- 
ungen trat  1883  die  vom  französischen 
Ministerium  des  Innern  veranlasste,  übrigens 
auf  Frankreich  beschränkte  Enc|uete  zur 
Seite,  die  zum  -weitaus  grössten  Teile  aus 
mündlicher  Befragung  der  Arbeitgeber  her- 
vorgegangen ist  Seitdem  ist  unter  dem 
Einfluss  der  fortgesetzten  Diskussion  von 
amtlicher  wie  von  privater  Seite  in  zahl- 
reichen Einzelwerken  und  Zeitschriften 
weiteres  Material  über  die  praktischen  Er- 
fahrungen auf  dem  Gebiete  der  Gewinn- 
beteiligung gesammelt  worden  (s.  Litteratur). 
In  Paris  besteht  seit  1879  in  der  *Societe 
formee  pour  faciliter  Tetude  pratiquc  des 
divei-ses  methodes  de  partici|)aiion  du 
personnel  dans  les  benefices  de  l'entreprise« 
eine  Vereinigung  von  Geschäftsleuten,  wel- 
che ihre  Bestrebungen  unter  anderem  auch 
durch  Herausgabo  eines  eigenen  Organes 
(Bulletin  de  la  participation  aux  benefices) 
zu  fördern  sucht.    Auch  die  Pariser  »Societö 


du  Mus6e  social«  ist  zu  Gunsten  der  wei- 
teren Verbreitung  der  Gewinnbeteiligungs- 
idee  thätig.  Nach  französischem  Vorgange 
sind  dann  1892  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  die  dortigen  Anhänger  des 
Systems  zu  einem  Verein,  der  »Association 
for  the  promotion  of  profit-sharing«  zu- 
sammengetreten. Die  zu  Agitationszwecken 
von  Gilman,  dem  Schriftführer  jenes  Vereins 
herausgegebeneVierteljahrsschrift»Employer 
and  Employed«  ist  bereits  1896  wieder  ein- 
gegangen. In  Deutschland  bringt  namentlich 
der  von  Victor  Böhmert  herausgegebene 
»Arbeiterfreund«  regelmässige  Berichte  über 
den  Stand  der  Gewinnbeteiligungsfrage  und 
darf  als  Organ  der  deutschen  Förderer 
dieses  Systems  betrachtet  werden. 

Nachdem  in  Frankreich  zu  Anfang  der 
vierziger  Jahre  die  ersten  erfolgreichen  Ver- 
suche mit  der  Gewinnbeteiligung  gemacht 
waren,  fand  das  System  nicht  nur  in  diesem 
Lande,  sondern  bald  auch  in  Deutschland, 
England  und  später  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika  sowie  in  einzelnen 
andern  Ländern  Eingang.  Nicht  wenige 
Versuche  wurden  allerdings  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  wieder  aufgegeben,  teils 
weil  man  fand,  dass  die  Einrichtung  für 
den  betreffenden  Betrieb  sich  nicht  eigne, 
teils  aus  anderen  Gründen  sachlicher  oder 
pei-sönlicher  Art  (infolge  von  Arbeitsein- 
stellung der  Angestellten,  von  ungünstigen 
Gescliäftsverhältnissen  u.  s.  w.).  Es  ist 
hierbei  zu  berücksichtigen,  dass  in  manchen 
Fällen  die  Einführung  der  Gewinnbeteiligung 
weniger  rein  praktischen  Erwägungen  als 
vielmehr  bestimmten  sozialökonomischen  An- 
schauungen der  betreffenden  Unternehmer 
zu  danken  ist,  welcher  Umstand  den  dau- 
ernden Fortbestand  der  Einrichtung  natür- 
lich nicht  begünstigt.  Was  nun  die  Zahl 
der  Unternehmungen  anbetrifft,  welche  die 
Gewinnbeteiligung  eingeführt  haben,  so  lässt 
sich  dieselbe  mit  Genauigkeit  nicht  bestim- 
men. In  manchen  Sammelwerken  sind 
nämlich  einerseits  Fälle  mit  aufgeführt,  deren 
nähere  Beschreibung  erkennen  lässt,  dass 
keine  Gewinnbeteiligung,  sondern  ein  ver- 
wandtes Lohnsystera  vorliegt,  und  wo  es 
sich  namentlich  um  jährliche  Zuwendungen 
eines  mehr  oder  weniger  bestimmtx^n  Teiles 
des  Reingewinnes  an  Kranken-,  Alterever- 
sorgungskassen  oder  ähnliche  Wohlthätig- 
keitsanstalten  handelt;  andererseits  sind  die 
Nachrichten  über  manclic  Versuche  so 
dürftig,  dass  ein  Urteil  über  die  Art  des 
Verfahrens  nicht  möglich  ist.  Nach  der 
günstigsten  Schätzung  beträgt  die  Gesamt- 
zahl aller  Gewdnnbeteiligungsfirmen  über- 
haupt nmd  400;  von  denen  etwa  130  auf 
Frankreich,  110  auf  England,  45  auf  die 
Vereinigten  Staaten,  35  auf  Deutschland 
und  der  Rest  auf  die  Schweiz  und  einige 


Ge  wi  nnbeteiligiing 


719 


andere  Lander  entfallen.  Selbst  bei  Annahme 
dieser  vielleicht  zu  hohen  Ziffern  ist  die 
Zahl  der  Gewin nbeteüigim^sfirmen ,  wie 
man  sieht,  eine  verhältnismässig  sehr  ge- 
ringe; namentlich  hat  die  Einrichtimg  in 
Deutschland  im  Laufe  der  Jahrzehnte  nur 
massige  Fortschritte  gemacht,  wenn  auch 
neuerdings  von  einzelnen  jüngeren  Versuchen 
viel  die  Rede  ist.  V.  Böhmert  glaubt  diese 
geringen  Erfolge  in  Deutschland  auf  die 
gegnerische  SteDungnahme  der  einfluss- 
reichen sozialdemokratischen  Partei  und  da- 
neben auf  die  starke  Belastung  der  Unter- 
nehmer mit  den  Kosten  der  staatlichen 
Arbeiterversicherung  zurückführen  zu  sollen, 
welche  beiden  Umstände  allerdings  nicht 
geeignet  sein  mögen,  die  Arbeitgeber  zu 
weitergehenden  Opfern  im  Sinne  einer  Ge- 
winnbeteiligimg der  Arbeiter  geneigt  zu 
machen. 

Die  bisherigen  Gewinnbeteiligungsfälle 
verteilen  sich  auf  die  verschiedensten  Pro- 
duktionszweige in  bunter  Reihe;  Landwirt- 
schaft, Fischerei,  Industiie,  Handwerk  imd 
Handel,  und  zwar  sowohl  Kleinbetriebe  wie 
Grossbetriebe  haben  das  System  aufgenom- 
men. YieUfew^h  erscheint  die  Gewinnbe- 
teiligung in  Verbindung  mit  sonstigen  um- 
fangreichen "Wohlfahrtseinrichtungen  im  In- 
teresse der  Arbeiter.  In  einzelnen,  besonders 
in  älteren  Fällen  sind  die  Arbeiter  auch 
noch  dadurch  am  Geschäftsgewinne  be- 
teiligt, dass  sie  Kapitaleinlagen  machen 
können;  es  wird  diese  Kapitalbeteiligung 
auch  wohl  zur  Vorbedingung  für  den  Bezug 
des  Lohnzuschlags  gemacht. 

Schon  seit  lai^er  Zeit  ist  die  Gewinnbe- 
teiligung in  der  Fischerei  und  zwar  ins- 
besondere in  der  Seefischerei,  beim  Walfisch- 
fang u.  s.  w.  üblich;  hier  hat  sie  fast  in  allen 
Ländern  ausgedehnte  Anwendung  gefunden. 
Kapitäne  und  Mannschaften  der  grösseren 
Fischereiunternehmungen,  welche  letztere  ihre 
Angestellten  auf  hoher  See  nicht  beaufsichtigen 
können,  werden  durch  die  Aussicht  auf  Gewmn 
neben  ihrem  festen  Lohn  zu  erhöhtem  Fleiss, 
grösserer  Sorgfalt  und  strengerer  Disciplin  an- 
gehalten, Eigenschaften,  welche  auf  das  Ergebnis 
eines  Fischereiunternehmens  von  sehr  wesent- 
lichem Einfluss  sind. 

Auch  in  der  Landwirtschaft  hat  das 
System  zu  mehrfachen  Versuchen  geführt,  welche 
teilweise  von  bestem  Erfolge  begleitet  waren. 
Als  erster  war  es  Johann  Heinrich  von  Thünen, 
der  berühmte  Verfasser  des  „Isolierten  Staates", 
welcher  auf  seiner  Gutswirtschaft  zu  Tellow  in 
Mecklenburg-Schwerin,  und  zwar  bereits  im 
Jahre  1847  die  Anteilswirtschaft  im  Interesse 
der  auf  seinem  Gute  arbeitenden  Dorfbewohner 
einführte.  Nach  seinen  Anordnungen  erhält 
jeder  der  etwa  20-30  Arbeiter,  falls  die  reinen 
Einnahmen  des  Gutes  einen  bestimmten  Betrag 
Hetzt  18000  Mark)  tiberschreiten,  \'o%  des 
Üeberschusses.  Während  dieser  Anteil  selbst 
einer  Sparkasse  zufiiesst,  werden  die  Zinsen  bar 
ausbezahlt.     Den  Berechtigten   steht  mit  dem 


sechzigsten  Lebensjahre  die  ersparte  Summe  zur 
Verfügung.  Thünen  wollte  die  Dorfbewohner 
au  dem  Wohl  und  Wehe  des  Gutsherrn  teU- 
nehraen  lassen  und  ihnen  neben  höherem  Ver- 
dienste zugleich  ein  sorgenfreies  Alter  sichern. 
In  diesem  äinne  hat  sich  das  System  noch  heute 
bewährt;  dasselbe  erzeugt,  wie  berichtet  wird, 
Freude  zur  Arbeit  und  hält  Ausschreitungen 
und  Widersetzlichkeiten  fern. 

Sehr  mannigfaltig  sind  die  Zweige  der  In- 
dustrie und  des  Handels,  in  denen  die  Ge- 
winnbeteiligung versucht  worden  ist.  Die  che- 
mische, die  Maschinen-,  die  Textil-,  die  Be- 
kleidungsindustrie, das  Buchdruckergewerbe  und 
manche  andere  Gewerbsgruppen  sind  hierbei 
vertreten.  Wirklich  durchschlagende  Erfolge 
sind  aber  nur  bei  einzelnen  Unternehmungen 
eingetreten,  wo  die  Natur  des  Geschäfts  und 
sonstige  Umstände  dem  System  besonders 
günstig  waren.  In  dieser  Beziehung  ist  vor 
allem  als  ältestes  und  berühmtestes,  noch  jetzt 
bestehendes  Gemnnbeteiligungsuntemehmen  die 
Gebäudemalerei  von  Kedouly  &  Co.,  vormals 
Leclaire  in  Paris  zu  nennen,  welches  Geschäft 
schon  im  Jahre  1843  für  seine  Angestellten 
(Maler,  Anstreicher,  Tapezierer,  Glaser,  Dekora- 
teure u.  8.  w.)  die  Gewinnbeteiligung  einführte 
und  zwar  zu  dem  Zwecke,  um  diese  Arbeiter, 
welche  fast  stets  ausserhalb  des  Geschäftshauses 
und  vielfach  in  anderen  Städten  arbeiten,  also 
schwierig  zu  beaufsichtigen  sind,  zu  grösserem 
Fleisse  anzuhalten.  Mit  dieser  Gewinnbeteiligung 
ist  auch  eine  beträchtliche  Kapitalbeteiligung 
der  besseren,  erprobten  Angestellten  verbunden, 
denen  überhaupt  sehr  weitgehende  Befugnisse 
eingeräumt  sind.  Es  wird  dem  Anteilsystem  in 
Verbindung  mit  den  sonstigen  Unterstützungs- 
einrichtungen der  Firma  zugeschrieben,  dass 
die  Arbeiter  zu  regelmässiger,  sorgfältiger 
Thätigkeit  erzogen  werden,  indem  sie  sich 
scharf  überwachen  und  jede  Stöning  der  Ord- 
nung zur  Anzeige  bringen.  —  W^ährend  in  dem 
hier  bezeichneten  Falle  ein  handwerksmässiges 
Unternehmen  vorliegt,  gehört  die  Gewinnbe- 
teiligung der  Firma  Dequenne  &  Co ,  Fabrik 
für  Heizvorrichtungen,  Haus-  und  Küchengeräte, 
zu  Guise  (Dep.  Aisne)  in  Frankreich  der  Gross- 
industrie an.  Diese  von  J.  B.  A.  Godin  1840 
in  kleinem  Massstabe  begründete  Fabrik  ent- 
wickelte sich  allmählich  zu  einem  grossen  Unter- 
nehmen, welches  bei  Godins  Tode  (1888)  etwa 
1600  Personen  beschäftigte.  Die  im  Jahre  1876 
eingeführte  Gewinnbeteiligung  bildet  einen 
wesentlichen  Bestandteil  der  von  Godin  im 
Laufe  der  Jahi*e  geschaffenen  grossartigen  Wohl- 
fahrtseinrichtungen. Durch  Fouriers  Ideeen  an- 
geregt, war  Godin  von  Anfang  an  bestrebt, 
sein  Unternehmen  nach  genossenschaftlichen 
Principien  umzugestalten.  1860  gründete  er 
ein  Arbeiter  Wohnhaus  („Familistere"),  ausge- 
dehnte Konsumeinrichtungen,  Versicherun^s- 
kassen,  Schulen,  Kinderbewahranstalten,  Biblio- 
theken, Theater  u.  s.  w.  Godin  hat  durch  sein 
Gewinnbeteiligungssystem  dafür  gesorgt,  dass 
das  Unternehmen  durch  Erwerb  von  immer 
weiteren  Kapitalanteilen  seitens  der  Arbeiter  • 
vor  und  nach  in  deren  Hände  übergegangen  ist, 
welche  an  der  Leitung  desselben  je  nach  ihrer 
ßangstellung  in  verschiedener  Weise  beteiligt 
sind.  —  Von  den  französischen  Gewinnbe- 
teiligungsunternehmungen verdient  hier  weiter- 


720 


Gewinnbeteiligua 


hin  auch  noch  das  bekannte  grosse  Manufaktur- 
Warenhaus  „Au  hon  marche"  in  Paris  Erwähnung, 
welches  seit  1876  dem  Verkaufspersonal  nach 
dem  Erlös  der  verkauften  Artikel  eine  Tantieme 
zugesteht  und  das  Verwaltung«-  und  Aufsichts- 
personal an  dem  Gewinn  in  jedem  Warenlager 
teilnehmen  lässt. 

Von  den  in  England  mit  der  Gewinnbe- 
teiligung unternommenen  Versuchen  sei  hier 
nur  auf  den  vielbesprochenen  Fall  der  Stein- 
kohlenbergwerke von  Henry  Briggs  Son  &  Co. 
in  Westyorkshire  hingewiesen,  wo  nach  viel- 
fachen Arbeiterstreitigkeiten  im  Jahre  1865  die 
Gewinnbeteiligung  eingeführt  wurde,  um  ein 
besseres  Verhältnis  zwischen  den  Prinzipalen 
und  den  Arbeitern  anzubahnen  und  die  letzteren 
von  den  Gewerkvereinsbestrebungen  abwendig 
zu  machen.  Hierbei  wurde  das  unternehmen 
in  eine  Aktiengesellschaft  umgewandelt,  derart, 
dass  die  Herren  Briggs  zwei  Drittel  der  Aktien 
för  sich  behielten,  und  den  Rest  unter  die  An- 
gestellten und  die  Kunden  des  Geschäftes  sowie 
an  das  Publikum  abgaben.  Der  Versuch  schlug 
anfänglich  in  jeder  Hinsicht  zur  allseitigen 
Zufriedenheit  aus  und  fand  allgemeine  Be- 
achtung. Zu  Beginn  der  siebziger  «fahre  kam  es 
iedoch  schon  zu  Streitigkeiten  zwischen  den  Ar- 
beitern, wegen  deren  Beteiligung  an  den  Ge- 
werkvereinsbestrebungen, was  187o  zur  Aufgabe 
der  Gewinnbeteiligung  führte. 

Um  dieselbe  Zeit  wurde  auch  in  Deutsch- 
land ein  viel  beachteter  Versuch  mit  der  Ge- 
winnbeteiligung in  einem  industriellen  unter- 
nehmen gemacht.  Durch  das  obi^e  englische 
Beispiel  angeregt,  führten  die  Messinff«verke 
von  W.  Borchert  junior  in  Berlin  1867  die  Ge- 
winnbeteiligung der  Arbeiter  ein  in  der  Absicht, 
den  Interessengegensatz  zwischen  Arbeit- 
geber und  Arbeithehraem  thunlichst  auszu- 
gleichen. Der  nach  Abzug  von  6*'/«  Kapital- 
zinsen verbleibende  Reingewinn  fiel  darnach 
zur  Hälfte  an  die  Unterbeamten  und  Arbeiter 
nach  dem  Verhältnis  ihrer  Gehälter  und  Löhne. 
Auch  konnten  die  Arbeiter  Kapitaleinlagen 
machen.  Doch  schon  nach  fünfjährigem  Be- 
stehen wurden  diese  Einrichtungen  wieder  be- 
seitigt, da  die  Erfahrungen  das  Unbefriedigende 
derselben  dargethan  hatten.  Einerseits  wurde 
nämlich  die  Verteilung  des  Bonus  am  Jahres- 
schluss  von  vielen  Arbeitern  als  etwas  in  so 
ferner  Zukunft  liegendes  und  so  unbestimmtes 
betrachtet,  dass  sie  ihnen  kein  hinlänglicher 
Antrieb  zur  Entfaltung  eines  Maximums  von 
Fleiss  und  Sorgfalt  während  eines  ganzen 
Jahres  war;  andererseits  erschien  es  dem  Fir- 
meninhaber  ungerechtfertigt,  dass  die  Extrabe- 
lohnung der  Arbeiter  an  Umstände  geknüpft 
war,  auf  welche  sie  keinen  Einfluss  hatten 
(Ein-  und  Verkauf  der  Waren  u.  s.  w.).  -—  Aus 
neuerer  Zeit  verdient  sodann  die  seit  1890  be- 
stehende Gewinnbeteiligungseinrichtung  der 
Halleschen  Maschinenfabrik  und  Eiseogiesserei 
in  Halle  a.  S.  Erwähnung,  welche  nach  dem 
Urteil  des  Direktors  hauptsächlich  den  Vorteil 
gebracht  hat,  dass  seitens  der  Arbeiter  bessere 
Leistungen  erzielt  werden  und  eine  grössere 
Stabilität  in  der  Arbeiterschaft  herbeigeführt 
wird.  —  Auch  die  Jalousiefabrik  von  H.  Freese 
in  Berlin  hat  nach  dem  Zeugnisse  des  Inhabers 
mit  der  seit  mehr  als  10  Jahren  bestehenden 
"Gewinnbeteiligung  gute  Erfahrungen  gemacht. 


Freese  erblickt  in  der  Gewinnbeteiligung  „das 
wirksamste  Mittel  zur  Versöhnung  zwischen 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmern  und  eines  der 
wirksamsten  zur  Hebung  der  Lage  der  arbeitenden 
Klassen".  —  Nach  einer  neueren  Mitteilung  im 
„Arbeiterfreund"  hat  die  bekannte  grossindus- 
trielle Firma  Siemens  &  Halske  in  Berlin  schon 
seit  1872  die  Gewinnbeteiligung  eingeführt. 

'  Die  vorstehenden  kurzen  Angaben  über 
einzelne,  teils  erfolgreiche,  teils  missglückt« 
Versuche  mit  der  Gewinnbeteiligung  haben  nur 
den  Zweck,  auf  diejenigen  Fälle  hinzuweisen, 
welche  als  charakteristische  oder  neuere  Bei- 
spiele mit  Vorliebe  angeführt  werden.  Als  Be- 
weismittel für  oder  gegen  das  System  als  sol- 
ches genügen  sie  selbstverständlich  nicht;  viel- 
mehr ist,  um  ein  abschliessendes  Urteil  zu 
gewinnen,  eine  nähere  Prüfung  aller  bisherigen 
Erfahrungen,  nicht  minder  aber  auch  ein  Ein- 
gehen auf  die  für  die  Betrachtung  massgeben- 
den allgemeinen  Gesichtspunkte  '  erforderlich. 
Wenn  nun  auch  jede  Einzeluntersuchung  hier 
unterbleiben  muss,  umsomehr  als  die  unten  be- 
zeichneten Sammelwerke  ein  reiches,  wohlge- 
ordnetes Material  enthalten,  so  soll  doch  in 
folgendem  auf  die  für  die  Beurteilung  des  Ge- 
winnbeteiligungssystems in  Betracht  zu  ziehen- 
den allgemeinen  Fragen  noch  näher  eingegangen 
werden.  Eine  völlig  objektive  Behandlung 
dieser  Materie  ist  aber  um  so  mehr  geboten,  a£ 
die  Bestrebungen  der  ausgesprochenen  Gewinn- 
beteiligungsfreunde immer  mehr  einen  agita- 
torischen Charakter  annehmen.  Bei  den  „Parti- 
zipationskämpen" ist  das  Eintreten  für  die 
Gewinnbeteiligung  vor  allem  Glaubens-  und 
Herzenssache,  und  die  verhältnismässig  geringe 
Zahl  der  Gesinnungsgenossen  erleichtert  £e 
persönliche  und  litterarische  Verbindung  unter- 
einander. In  den  von  diesen  ausgehenden 
zahlreichen  Schriften  (s.  unten)  spiegeln  sich 
jene  propagandistischen  Bestrebungen  unver- 
kennbar wieder.  Die  mannigfachen  Bedenken, 
welche  gegen  eine  allgemeine  Einführung  der 
Gewinnbeteiligung  sprechen,  werden  bestenfalls 
wohlwollend  aufgenommen,  aber  auch  gern 
wieder  vergessen.  Immer  von  neuem  klingt 
die  Auffassung  durch,  dass  die  Gregner  des 
Systems  entweder  aus  Unkenntnis  der  Verhält- 
nisse oder  aus  Mangel  an  gutem  Willeu,  jeden- 
falls aber  nicht  aus  rein  sachlichen  Gründen  an 
den  Segnungen  der  gepriesenen  Lohnmethode 
zweifeln.  Mit  der  Einführung  der  Gewinnbe- 
teiligung erfülle  man  nur  einen  Akt  der  Ge- 
rechtigkeit, und  Ch.  Robert  erklärt  den  eng- 
lischen Genossenschaften,  dass  sie  bei  Ablehnung 
der  Gewinnbeteiligung  nicht  mehr  seien  als 
ausbeuterische  Kapitalisten.  Solche  einseitige 
Auffassungen  bei  anerkannt  massgebenden 
Freunden  der  Gewinnbeteiligung  können  nicht 
dazu  dienen,  dem  System  viele  neue  Anhänger 
zu  erwerben,  und  sind  nur  geeignet,  innerhalb 
der  Untemehmerwelt  Misstrauen  und  Voreinge- 
nommenheit gegenüber  den  Bestrebungen  der 
Gewinnbeteiligungsfreunde  zu  erwecken.  Im 
Interesse  einer  besonnenen  Fortsetzung  der  Ver- 
suche wäre  dies  nur  zu  beklagen. 

4.  Schwierigkeiten^Vorzüge  und  Nach- 
teile der  G.  im  allgemeinen.  Es  wurde 
bereits  hervorgehoben,  dass  die  Gewinn- 
beteiligimgsidee  in  der  Praxis  trotz  der  zu 


Ge^vinIlbeteiligUQg 


72t 


ihren  Gunsten  unterhaltenen  lebhaften  Agi- 
tation zum  Teil  einflussreicher  Theoretiker 
und  Praktiker  bisher  nur  geringe  Verbrei- 
tung gefunden  hat.  Geht  man  auf  die  Grfinde 
dieser  Erscheinimg  zurück,  so  zeigt  sich 
zunächst,  dass  es  fast  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  sind,  welche  der  Einfühlung 
der  Gewinnbeteiligung  überall  da  im  Wege 
stehen,  wo  nicht  der  einzelne  Arbeiter  einen 
mitbeherrschenden  Einfluss  auf  das  Gedeihen 
des  Unternehmens  ausübt  bezw.  ausüben 
kann,  und  zwar  derart,  dass  die  durch  den 
Gewinnanteil  herbeigeführte  Erhöhung  des 
Einkommens  des  Ai'beiters  durch  tüchtige 
Leistungen  und  besseres  Verhalten  ökono- 
misch gerechtfertigt  ist,  was  indessen,  wie 
oben  näher  begründet,  nur  ausnahmsweise 
zutrifft.  Im  allgemeinen  verbietet  dem  ein- 
zelnen Unternehmer  schon  die  zwingende 
Rücksichtnahme  auf  die  Konkurrenz,  dem 
Arbeiter  im  Gewinnanteil  einen  erheb- 
lichen Zuschlag  zum  üblichen  Lohn  zu  be- 
willigen, von  solchen  gut  situierten  Unter- 
nehmern, welche  sich  diese  Mehrkosten 
ohne  Bedenken  gestatten  können,  selbstver- 
ständlich abgesehen.  Der  Einwand,  dass 
mit  der  Einführung  der  Gewinnbeteüigung 
eine  Hebung  der  körperlichen  und  geistigen 
Kräfte  sowie  der  sittlichen  Eigenschaften 
des  einzelnen  Arbeiters  naturgemäss  verbun- 
den sei,  ist  um  so  weniger  zutreffend,  als 
selbst  die  ständige  Erhöhung  des  Arbeits- 
lohns erfahrungsgemäss  nur  unter  ganz  be- 
stimmten, hier  nicht  zu  erörternden  Voraus- 
setzungen entsprechende  Mehrleistungen  des 
Arbeiters  zur  Folge  hat.  Andererseits  liegt 
auf  der  Hand,  dass  die  Aussicht  auf  eine 
im  Verhältnis  zum  Lohne  unerhebliche  Ge- 
winnquote, und  mehr  würden  —  wenn 
überhaupt  etwas  —  die  meisten  Unter- 
nehmungen, insbesondere  auf  dem  Gebiete 
der  Grossindustrie  nicht  zu  bieten  vermögen, 
kein  hinreichendes  Anreizungsmittel  bildet 
und  deshalb  wirkungslos  bleiben  müsste. 
Ein  Ausweg  aus  diesen  Schwierigkeiten 
könnte  in  einer  entsprechenden  Herabsetzung 
des  festen  Lohnsatzes  gefunden  werden, 
durch  welche  der  berechtigte  Einwand,  dass 
die  am  Gewinn  beteiligten  Arbeiter  nicht 
-auch  am  Verlust  des  Unternehmens  parti- 
zipieren, allerdings  beseitigt  sein  würde. 
Diese  Lösung  der  Frage  dürfte  jedoch  nicht 
allein  der  entschiedensten  Opposition  der 
Arbeiter  selbst  begegnen,  sondern  müsste 
auch  als  eine  Gefährdung  ihrer  mtihsam 
errungenen  Lebenshaltung  vom  volkswirt- 
schaftlichen Standpunkte  aus  verurteilt 
werden. 

Andererseits  lehren  die  praktischen  Ver- 
suche, dass  sich  die  Gewinnbeteiligung,  auf 
die  verschiedenartigsten  Unternehmungen 
angewandt,  nachhaltig  bewährt  hat.  Freilich 
handelt  es  sich  in  der  Hauptsache  um  sol- 

Handwörterbnch  der  StaAtswiwenschaften.    Zweite 


che  Fälle,  in  denen  die  bisher  in  Uebung 
gewesene  Lohnmethode  der  Beschäftigungs- 
weise und  den  Leistungen  der  Arbeiter 
nicht  entsprach ;  faßt  übereinstimmend  wer- 
den befriedigende,  zum  Teil  überrascheöde 
Erfolge  nach  dieser  Seite  hin  berichtet. 
Ueberhaupt  sind  jene  Versuche  wohl  geeig- 
net, der,  wenn  auch  beschränkten  sozial- 
politischen Bedeutubg  des  Systemes  zur 
Anerkennung  zu  verhelfen.  In  denjenigen 
Fällen  nun,  wo  die  Umstände  eine.  Gewinn- 
beteiligung der  Arbeiter  für  die  Zukunft 
wünschenswert  und  durchführbar  erscheinen 
lassen,  wird  die  Beachtung  namentlich  fol- 
gender, mit  Hilfe  der  bisherigen  Erfahrungen 
gewonnener  Gesichtspunkte  das  praktische 
Vorgehen  begleiten  müssen. 

a)  Vorzüge  der  G.  Abgesehen  von 
der  unter  Umständen  zu  erwartenden  güns^ 
tigen  Einwirkung  auf  die  Leistungen  der 
Angestellten  erscheint  die  Gewinnbeteiligung 
zweckmässig,  um  beim  Arbeiter  das  Interesse 
für  das  Gedeihen  des  Geschäftes  und  somit 
auch  sein  Pflichtgefühl  zu  wecken  und  zu 
heben.  Er  wird  namentlich  dann,  wenn 
ihm  ein  Einblick  in»  den  Verlauf  des  Ge- 
schäftsjahres seiner  Firma  ermogheht  ist, 
mehr  als  bisher  ein  Verständnis  dafür  zu 
gewinnen  vermögen,  dass  die  schwierige 
und  verantwortungsvolle  Thätigkeit  des 
Unternehmers  ihren  angemessenen  Lolin 
und  ebenso  die  Unsicherheit  des  Produktiona- 
erfolges  ihre  Kompeusation  erhalten  muss. 
Wenn  schon  diese  Einsicht  beide  Parteien 
einander  innerlich  näher  bringt  und  dadurch 
das  gegenseitige  Verhältnis  befriedigender 
gestalten  hilft,  so  sorgt  die  Gewinnbeteiligung 
weiterhin  dafür,  dass  anstatt  der  oft  unter 
heftigen  Störungen  vor  sich  gehenden  Ver- 
schiebungen der  festen  Lohnsätze  die  Regu- 
lierung ähnlich  ^ie  bei  der  beweglichen 
Lohnskala  (s.  d.  Art.)  ohne  irgend  ein  Ein- 
greifen gewissermassen  von  selbst  sich  voll- 
zieht. —  Verschieden  zu  beurteilen  sind  die 
hinsichtlich  der  Verwendung  des  Gewinn- 
anteils möglichen  Verfahrungsweisen.  Ohne 
Zweifel  werden  die  erwähnten  Vorteile  um 
so  sicherer  erreicht,  je  unmittelbarer  den 
Arbeitern  der  Mehrverdienst  zu  gute  kommt. 
Wird  derselbe  dagegen  nicht  bar  ausbezahlt, 
sondern  einer  Kasse  überwiesen,  so  zwingt 
man  damit  den  Arbeiter  unter  Vermeidung 
jeden  Eingriffs  in  seine  bisherige  Haushalts- 
führung zur  Ansammlung  eines  kleinen 
Kapitals,  was  in  Anbetracht  des  in  Arbeiter- 
kreisen vielfach  noch  sehr  wenig  entwickel- 
ten Sparsinnes  nicht  hoch  genug  anzuschlar 
gen  ist.  Zugleich  sichert  sich  der  Unter- 
nehmer dadurch,  dass  er  seine  Leute  an 
das  Geschäft  fesselt,  vor  häufigem,  den  Be- 
trieb störendem  Arbeiterwechsel.  In  noch 
gesteigertem  Masse  machen  sich  manche 
Vorteile    des   Anteilsystems    dann   geltend, 

Auflage.    IV.  46 


722 


Gewinnbeteiligung 


wenn  der  Arbeiter  durch  eigene  Kapitalein- 
lagen in  die  engste  Beziehung  zum  Unter- 
nehmen tritt,  von  dessen  Gedeihen  in  die- 
sem Falle  unter  umständen  das  Schicksal 
seiner  Ersparnisse  abhängt. 

b)  Nachteile  der  G.  Die  Bedenken, 
welche  im  einzelnen  gegen  die  Gewinnbetei- 
lung  geltend  zu  machen  sind,  entspringen  in 
der  Hauptsache  denselben  Eigentümlichkeiten 
des  Systems,  welche  auch  seine  Vorzüge  be- 
gründen .  Bei  unmittelbarer  Verabfolgung  des 
Gewinnanteils  entsteht  leicht  ein^  erhebliche 
Schwankung  in  dem  jährlichen  Budget  des 
Arbeiters,  welche  namentlich  dann  bedenklich 
wird,  wenn  dieser  sich  mit  seinen  Ausgaben 
auf  einen  bestimmten  Einkommenszuschuss 
einrichtet  und  unzufrieden  wird,  falls  der 
erhoffte  Mehrverdienst  ausbleibt.  Dem 
etwaigen  Misstrauen  in  die  Leitung  durch 
Mitkontrolle  seitens  des  Arbeiters  zu  begeg- 
nen, hat  wegen  der  hiermit  verbundenen 
Gefährdung  des  Geschäftsgeheimnisses  und 
der  unerlässlichen  Selbständigkeit  und  Auto- 
rität des  Unternehmers  seine  grossen  Be- 
denken, ganz  abgesehen  davon,  dass  der  Ar- 
beiter vielfach  gar  nicht  befähigt  ist,  ein 
verständiges  Ürteü  über  den  Stand  der 
Dinge  und  die  einwirkenden  Ursachen  sich 
zu  bilden.  Schon  der  Umstand,  dass  diese 
Forderung  einer  Kontrolle  begreiflicherweise 
ganz  besonders  von  den  mit  Geschäftsan- 
teilen ausgestatteten  Arbeitern  erhoben  wer- 
den wird,  spricht  gegen  eine  solche  Kapital- 
beteiligung. Es  tritt  hinzu,  dass  einem 
schwankenden  und  niemals  zweifellos  siche- 
ren gewerblichen  Unternehmen  die  Erspar- 
nisse der  Ai'beiter  anvertraut  werden,  die 
eben  hierdurch  einen  wesentlichen  Rückhalt 
gegenüber  den  Gefahren  der  Arbeitslosigkeit 
verlieren,  gegen  welche  auch  die  Gewinn- 
beteiligung keinerlei  Schutz  zu  bieten  ver- 
mag. Gleichzeitig  hindern  diese  Einlagen 
den  Arbeiter  (welcher  günstigere  Arbeits- 
bedingungen erstrebt)  sowohl  wie  den  Un- 
ternehmer (bei  notwendig  werdenden  Ent- 
lassungen) in  empfindlicher  Weise  an  freier 
Bewegung.  Letzteres  ist  besonders  auch 
dann  der  Fall,  wena  bei  Ueberführung  des 
Gewinnes  in  eine  Sparkasse  mit  dem  vor- 
zeitigen Austritt  der  Verlust  des  Guthabens 
verbunden  ist.  Die  organisierten  Arbeiter- 
verbände sind  deshalb  auch  fast  durchweg 
Gegner  der  Gewinnbeteiligungsidee.  End- 
lich wäre  zu  beachten,  dass  es  ja  ein  abso- 
lut gerechtes  Mass  für  die  Höhe  der  Ge- 
winnbeteiligung überhaupt  nicht  giebt,  wie 
denn  auch  gerade  in  diesem  Punkte  die 
bisherigen  Versuche  die  grössten  Verschie- 
denheiten zeigen.  Es  bleibt  deshalb  ein 
Aulass  ziu"  Unzufriedenheit  der  Arbeiter, 
wenn  auch  nicht  mit  dem  System  selbst, 
so  doch  mit  der  Grösse  ihres  Anteils  be- 
stehen. 


5.  Schlnssergebnis.  Bei  aller  Aner- 
kennung der  Vorzüge  im  allgemeinen  und 
der  erfreulichen  praktischen  Resultate  der 
Gewinnbeteiligung  in  manchen  für  ihre 
Diu'chfuhrung  besonders  günstig  liegenden 
Einzelfällen,  darf  nicht  übersehen  werden, 
dass  die  ihr  entgegenstehenden  Schwierig- 
keiten und  Bedenken  eine  Ausdehnimg  und 
Popularisierung  des  Systems  weit  über  den 
jetzigen  Anwendungsbereich  hinaus  fast  un- 
möglich erscheinen  lassen.  In  der  Land- 
wirtschaft legen  die  Schwierigkeiten  der 
Reinertragsermittelung,  vielfach  auch  der 
starke  Wechsel  der  freien  Arbeiter  besondere 
Hindernisse  in  den  Weg.  In  den  übrigen 
Gewerbszweigen  bieten  sich  dort  die  meis- 
ten Aussichten,  wo  die  Leistungen  der  ein- 
zelnen Arbeiter  besonders  qualifizierte  sind, 
also  gewöhnlich  im  Handwerk  mehr  als  in 
der  Industrie.  Indessen  wird  auch  hier  die 
Einfühnmg  des  Anteilsystems  in  Erwägung 
zu  ziehen  sein,  wenn  es  sich  darum  liandelt, 
einen  Stamm  von  Arbeitern  dauernd  an  das 
Unternehmen  zu  fesseln,  welcher  als  Ver- 
mittelungs-  und  Bindeglied  zwischen  dem 
Unternehmer  und  dem  Gros  der  Arbeitö* 
gute  Dienste  leisten  kann. 

So  hoch  man  auch  die  erzieherische 
Wirkung  der  Gewinnbeteiligung  schätzen 
mag,  ein  gewisses  Mass  von  Einsicht  imd 
Verständnis  seitens  der  Arbeiter  ist  schon 
die  notwendige  Vorbedingung  für  ihr  Ge- 
lingen. Hier  können  nun  verfeinerte  Lohn- 
methoden, Prämien  etc.,  welche  auch  in  Ver- 
bindung mit  der  Gewinnbeteiligung  sich  be- 
währt haben,  dieser  unter  Umständen  den 
Boden  ebnen. 

Andererseits  werden  aber  auch  von 
Seiten  vieler  Arbeitgeber  die  Vorzüge  der 
Gewinnbeteiligung  noch  nicht  genügend  ge- 
würdigt und  berücksichtigt.  Die  Bemühun- 
gen der  Freunde  des  Systems,  demselben  in 
diesen  massgebenden  Kreisen  grössere  Ver- 
breitung zu  sichern,  verdienen  daher  alle  An- 
erkennung. Freilich  dürfte  bei  der  jetzigen 
sozialdemokratischen  Strömung  innerhalb  der 
Arbeiterwelt  die  Geneigtheit  der  Unterneh- 
mer zu  einem  Versuche  mit  diesem  System 
um  so  geringer  sein,  als  sie  nicht  ohne  Ur- 
sache befürchten  müssen,  dass  der  Gewinn- 
anteil von  vielen  Arbeitern  doch  nur  als 
eine  dürftige  Abschlagszahlung  auf  den  un- 
gerechterweise vorenthaltenen  »Mehrwert« 
angesehen  ^ärd. 

Litteratur:  Ueber  BeleiUg^mg  der  Arbeiter  am 
Untern ehmergewinn,  Chitachten  auf  Veranlassung 
des  V.  f.  Sozialp.,  abgegeben  von  E.  von  Plener, 
M.  Weigert ,  J.  Neumann,  J.  Wertheim, 
Sehr.  d.  V.  /.  Sozialp.  VI,  Leipzig  1874..  — 
Victor  Böhmertf  Die  GewinnbetetUgung. 
Untersuchungen  über  Arbeitslohn  und  Unter- 
nehmergeicinn,  3  Teile,  Leipzig  1878.  —  Her- 
8eib€f   Enquete  aber  Gewinnbeteiligung  der  Ar- 


Gewinnbeteiligung 


723 


beitnehmer  und  andere  neue  Lohnzahlungs- 
meihoden  mit  besonderer  Bückgicht  auf  die  schwei- 
zerischen Vertmche,  Zürich  187$.  —  JS.  Engel, 
Der  Arbeitsvertrag  und  die  ArbeitsgeseU^chaft, 
Vortrag,  erschienen  im  Arbeiterfreund,  V.  Jahrg., 
HaUe  1867,  S.  129-154.  —  W,  Runge,  f>6e?- 
die  Beteiligung  der  Arbeiter  am  Beingevnnn  in- 
dustrieller Unternehmungen,  Breslau  1869.  — 
A,  Schulz,  Ueber  die  Beteiligung  der  länd- 
lichen Arbeitnehmer  an  dem  Gvtsertrage,  Leip- 
zig 1871.  —  Freiherr  Th.  t?on  der  Goltz, 
Die  ländliche  Arbeiterfrage  und  ihre  Lösung, 
S.  Aufl.,  Danzig  1874.  —  ■**.  Worthniann, 
Die  Beteiligung  der  Arbeiter  am  Gewinn,  Jena 
1878.  —  Paul  Schiff,  Zur  Gewinnbeteüigungs- 
frage.  Eine  Untersuchung,  Berlin  1883.  —  J^'. 
Frommer,  Die  Gewinnheteiligung,  ihre  prak- 
tische Anwendung  und  theoretische  Berechtigung 
auf  Grund  der  bisher  gemachten  Erfahrungen 
untersucht,  Leipzig  1886.  —  A.  Wirminghaus, 
Das  Unternehmen,  der  Untemehmergewinn  und 
die  Beteiligung  der  Arbeiter  am  Untemehmer- 
gewinn, Jena  1886.  —  O,  Sehmoller,  Zur 
Sozial-  und  Gewerbepolitik  der  GegenwarL  Beden 
und  Aufsätze,  Leipzig  1890,  S.  44I—46I:  Ueber 
Gewinnbeteiligung  (1890).  —  A'.  P.  Qilmun, 
Die  Teilung  des  Geschäflsgeioinnes  zwischen 
Unternehmer  und  Angestellten.  Ein  praktischer 
Beitrag  zur  Arbeiter-  und  Lohnfrage.  MU  Er- 
laubnis des  Verfassers  umgearbeitet  und  auf  den 
neuesten  Stand  ergänzt  von  Leopold  Kat- 
scher,  Leipzig  1891  (vgl.  das  unten  angegebene 
Originalwerk)  . —  Heinr,  Freese,  Fabrikanten- 
sorgen, Eieenc^h  1896.  —  Derselbe,  Fabrikanten- 
glück, Eisenaeh  1899.  —  Rud,  Einhauser, 
Die  Gewinnbeteiligung,  ihr  Einfluss  auf  den 
Untemehmergewinn  und  auf  die  Beziehungen 
zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber,  Tübingen 
1898  (auch  in  der  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Staatsw., 
54.  Jahrg.).  —  E.  A,  Fuhr,  Ueber  Gewinn- 
beteiligung in  der  deutschen  Grossindustrie,  in 
der  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Staalswissenschaft ,  66. 
Jahrg.,  S.  694 ß.).  —  »Der  Arbeite rfr eun du, 
Organ  der  Ceniralv.  f.  d,  Wohl  d.  arbeitenden 
Klassen,  herausgeg.  von  Victor  Böhmert; 
jetzt  in  S8.  Jahrg.,  Berlin  1900.  —  Charles 
Hobert,  La  suppression  des  greves  par  l'asso- 
datUm  aux  bSneßces,  Paris  1870.  —  Derselbe, 
Le  partage  des  fruits  du  travail.  Etüde  sur  la 
participatUm  des  mnployes  et  ouvriers  dans  les 
bSnefices,  prisentSe  ä  l'AssembUe  gSnSrale  de  Ui 
Societe  prottstante  du  travail,  le  4  o-vril  1878, 
Paris.  —  Derselbe,  Le  contrat  de  participation 
aux  bhiefices,  Paris  1890.  —  A,  de  Courey, 
La  vraie  question  sociale,  Paris  1871.  —  Der^ 
selbe,  L'institiution  des  caisses  de  pr^voyance, 
Paris  1876.  —  Leclaire,  tk>ciet6  de  secours 
mutuels  interessee  dans  une  entreprise  industrielle. 
Association  de  Vouvrier  aux  beneßces  du  pairon, 
S.  edit.,  Paris  1877.  —  J.  Billon,  Participation 
des  ouvriers  aux  benSfices  des  patrons,  Geneve 
1877.  —  •/.  B,  Godin,  Mutualiti  sociale  et 
association  du  capital  et  du  travail  .  .  .  .,  Paris 
1880.  —  A.  Fougerou»se,  Patrons  et  ouvriers 
de  Paris,  Paris  1880.  —  J,  C,  van  Marken, 
La  question  ouvriere.  Essai  de  Solution  pratique, 
Paris  1881.  —  Le  Rousseau,  L'association  de 
l'ouvrier  aux  benefices  du  patron.  Edit.  nou- 
velle,  Paris  1886.  —  M.  Block,  Les  facteurs 
de  la  production  et  la  participation  de  l'ouvrier 
aux  binefices   de   l'entrepreneur,   Paris  1886  (in 


der  Hauptsache  identisch  mit  einem  Aufsatze 
desselben  Verfassers  im  88.  Bd.  der  Viert,  für 
Volksw.).  —  Victor  Böhmert,  La  participation 
aux  benefices.  Traduit  et  mis  ä  jour  par  A. 
Trombert.  Avcc  une  preface  de  Charles 
Robert,  Paris  1888  (vgl.  das  oben  angegebene 
Originalwerk).  —  Enquete  de  la  commiesion 
extraparlementaire  des  nssociations  ourrikres, 
2  vol.,  Paris,  Imprimerie  nationale  188S.  — • 
Modes  de  remuneration  du  travail  des  ouvHers 
et  employes  de  Sod^tes  coopercUives  de  con- 
sommaUon,  Paris  189£.  —  Albert  Trombert, 
Guide  pratique  pour  l'applicatüm  de  la  parti- 
cipation aux  beneßces,  Paris  189fi.  —  Derselbe, 
Les  applications  de  la  participation  aux  bene- 
fices, Paris  1896.  —  A,  Cazeneuve,  Les  entre- 
prises  agricoles  et  la  partieipalion  du  personnel 
aux  betUßces,  Paris  1889.  —  L6on  Sahler, 
La  participation  aux  beneßces  et  ses  resultcUs 
pratiques,  Paris  1891.  —  Charles  Robert, 
La  participation  aux  benifices  de  Vindustrie,  du 
commerce  et  de  l'agriculture,  Paris  1892.  — 
A.  Poindron,  Determination  de  la  formule 
minimum  de  la  partieipalion  aux  benefices,  Paris 
1893.  —  M,  Masearel,  Etüde  sur  la  participation 
aux  beneßces,  Angers  1894.  —  Em^ile  WaX" 
weiter,  La  participation  aux  benißces,  con- 
tribution  ä  Vetude  des  modes  de  remuneration 
du  travail,  Paris  1898.  —  Maurice  Vanltter, 
La  participation  aux  binSfices,  Paris  1898.  — 
Paul  Bureau,  L'associaiion  de  l'ouvrier  aux 
proßts  du  patron,  Paris  1898.  —  Bjoger  MsT" 
lin,  Le  mftayage  et  la  participation  aux  beneßces, 
Parisl898.  — Bulletin  de  la  participation 
aux  bSn Sfi ces,  Jahrg.  I bis  XXI,  Paris  1879 — 
1899  (wird  fortgesetzt).  —  W,  Stanley  Jevons, 
On  Industrial  partnerships,  London  1870.  — 
Sedley  Taylor,  PtofU-sharing  between  capital 
and  labour,  six  essays,  to  which  is  added  a 
memorandum  on  the  industrial  pärtnership  at  the 
Whitwood  ooUieries  (1865  -1874)  ^  ^-  Briggs 
and  the'  late  H.  C.  Briggs,  together  with 
remarks  on  the  memorandum  by  Sedley  Taylor, 
London  I884.  —  T.  W.  Bushill,  Description 
of  profU-sharing  scheme  introduced  by  Th.  BushiU 
&  Sons  Manufacturing  stationers,  Coventry,  on 
october  ISth,  1888.  —  With  lists  of  profit-sharing 
ßrms,  2d  edition,  London  1889.  —  Report  to 
the  Board  of  Trade  on  proßl-sharing, 
Presented  to  Parliament,  London  1891.  —  N, 
O.  Nelson,  ProfU  sharing,  St.  Louis,  Mo,  1887. 

—  Hi Story  of  Cooperation  in  the  United 
States.  Publication  Agency  of  John  Hopkins 
University,  Baltimore  1888.  —  N,  JP.  Oilm^an, 
Proßt  sharing  between  employer  and  employed, 
a  study  in  the  evolution  of  the  wages  System, 
Boston  and  New-York  1889.  —  Henry  Raw^ 
son,  Proßt  sharing  Precedents  with  Notes,  1891. 

—  David  F,  Schloss,  Methodes  of  Industrial 
remuneration,  London,  8.  Aufl.,  1898.  —  Der~ 
seihe,  Report  on  I'rofU-sharing.  Presentet  to 
Parliament,  London  I894.  —  Derselbe,  Report 
on  gain-sharing  and  ceriain  other  Systems  of 
bonux  on  production.  Presented  to  Parliament, 
London  I894.  —  T,  W,  Bushill,  Proßt-sharing 
and  the  labour  question,  London  189S.  —  T,  B. 
Shuttleworth ,  Proßt-shat  ing,  London  1893.  — 
Employ  er  and  Employed,  Boston  1892 — 
1896  (eingegaiMjeyi),  —  P.  Manfredi,  Della 
partecipazione  del  operajo  al  proßtto  delV  im- 
presa,    Padova    1876,   —    C.    Morpurgo,    La 

46* 


724 


Ge^Äinnbeteiligung — Gilbait 


parteciptLzione  al  proßtlo,  Genova  1888.  —  A, 
Avogadro,  Far  la  pace  fra  capüale  e  lavoro. 
ExperimeiUi  e  rimUati,  Como  1893.  —  Vitt" 
censo  Caniannif  La  partecipaztone  dei  la- 
voranti  cd  proßtio  deW  impresa,  Roma  1897.  — 
«/.  Xto  van  Marhetif  Durch  die  Arbeit  ßir  die 
Arbeit.  Ein  Versuch  praktischer  Durchföhrung 
der  Gewinnbeteiligung  der  Arbeiter  (deutsche 
Uebersetzung  atis  dem  Holländischen),  Dessau. 
—  «7.  €,  Eringaard,  Holländische  Muster- 
Stätten  persönlicher  Fürsorge  von  Arbeitgebern 
für  ihre  Angehörigen,  Delft  1896.  —  Bericht  an 
den  Bundesrat  Emil  Frey  über  die  Frage  der 
Betätigung  der  Arbeiter  und  Angestellten  in  den 
Regiewerkstätten  des  Müitärdepartements  an  dem 
Betriebsergebnisse,  erstattet  von  A,  tTegher, 
Zürich  1892. 

A.   Wivminghaus, 


Gide,  Charles, 

geb.  am  29.  VI.  1847  zu  Uzes  (Departement 
üard).  Von  1874—1880  Professor  an  der 
Becbtsfakultät  zu  Bordeaux;  seit  1880  Professor 
der  politiscben  Oekonomie  an  der  Kecbtsfakaltät 
.in  Montpellier,  seit  dem  2,  Semester  1898  Pro- 
fessor der  Sozialökonomie  an  der  Universität  zu 
.Paris. 

Gide  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
licben  Schriften  in  Buchform: 

Le  Droit  d  association  en  matiere  reli^euse. 
Paris  1874.  —  Principes  d'economie  pohtiqae. 
Paris  1884;  dass.  2.  ed.  1889;  dasselbe,  S.  ed. 
.1890;  dass.  4.  ed.  1893:  dass.  5.  ed  1896;  dass. 
.6.  ed.  1898;  dass.  in  engl.  Uebers.  von  £. 
Percy  Jacobsen,  Boston  1891;  dass.  in  holländ. 
Uebers.  der  6.  Aufl.  von  C.  R.  C.  Herckenrath, 
Groningen  1899.  —  Etüde  sur  l'Act  Torrens, 
Paris  1886.  —  Les  Propheties  de  Fourier, 
Nimes  1886.  —  L'avenir  de  la  Cooperation, 
Nimes  1888.  —  Discours  d'inauguratlon  du 
Congr^s  International  des  soci^t^s  cooperatives 
de  1889.  Nimes  1889.  (Die  drei  letztgenannten 
Veröffentlichungen  erschienen  in  der  „Biblio- 
th^que  coop6rative  de  l'Emancipation  ")  —  „La 
nouvelle  ^cole",  abgedruckt  in  „Qnatre  ecoles 
d'economie  sociale**,  Genöve  1890.  Femer  gab 
Gide  heraus :  Oeuvres  choisies  de  Fourier.  Paris 
1889. 

Gide  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Artikeln  in  folgenden  Zeitschriften: 
a)  Economic  Journal,  Vol.  V,  1895;  Agricul- 
tural  syndicates  and  cooperative  societies  in 
France.  —  b)  Handelsmuseum^  Bd.  XII,  1897, 
Mai ;  Die  Arbeitsvermittelung  in  Frankreich  — 
c)  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Verw.,  Jahrg.  XIX,  1895: 
Die  neuere  volkswirtschaftliche  Litteratur 
Frankreichs.  —  d)  Journ.  d'  Econ.:  1883,  Mai; 
De  quelques  doctrines  nouvelles  sur  la  propri6t6 
fonci^re.  —  e)  Political  Science  Quarterly, 
Vol.  V,  no  4,  December  1890:  Political  economy 
in  France.  —  f )  Quarterly  Journal  of  Economics, 
1889,  November:  Productive  co-operation  in 
France.  —  g)  Revue  d'economie  politique  (zu 
deren  Gründern  Gide  gehörte)  3«  annee,  1889, 
no.  5:  De  la  Cooperation  et  des  transforma- 
tions  quelle  est  appelee  ä  realiser  dans  Tordre 
economique.  —  5«  annee^  1891,  no.  910:  Alfred 
Jourdan.  —  La  protection  sans  droits  protec- 


teurs.  —  7e  ann^e,  1893,  no.  1;  Le  mouvement 
cooperatif  en  France  dans  les  dix  demieres 
annees.  —  Le  Congres  socialiste  de  Berlin,  etc. 
(gemeinsam  mit  Maur.  Lambert.)  —  8e  annee, 
1894,  no.  5:  Le  n^o-coUectivisme.  —  8e  annee,  no. 
9/10 :  La  premidre  statistique  des  societes  coope- 
ratives de  consommation  en  France.  — 10©  annee, 
1896,  no.  7/8 :  L'impöt  sur  la  rente.  — 10«  aimee, 
no.  11:  Henri  Saint-Marc.  —  11«  annee,  1897, 
no.  12 :  Necrologie :  Ugo  Rabbeno.  —  12«  annee, 
1898,  no.  8/9:  Maurice  Lambert.  —  h)  Revue 
de  Geographie,  janvier  et  fevrier  1886:  A  quoi 
servent  des  colonies?  —  i)  Revue  intemat.  de 
sociolo^ie,  Ire  annee,  1893,  no.  5:  L'idee  de 
solidant«  en  tant  que  programme  economique.  — 

Die  1.  u.  2,  Aufl.  dieses  H.W.B.  der  Staats- 
wissenschaften, Bd.  II,  S.  204  ff.  bezw.  Bd.  II, 
S.  380  ff.  (Jena  1891  u.  1900)  verdankt  Gide  den 
gemeinschaftlich  mit  Cauwes  verfassten  Artikel: 
„Bauernbefreiung  in  Frankreich**. 

Red, 


Gifte   s.  Gewerbegesetzgebung  oben 

Bd.  IV  S.  410  ff. 


Gilbart,  James  William, 

geboren  am  31.  III.  1791  und  gestorben  am  8. 
VIII.  1863  in  London.  1813  trat  er  als  Klerk 
in  eine  Londoner  Bank  ein,  war  1825.  Kassierer 
eines  Bankhauses  in  Birmingham,  wurde  1827 
Direktor  der  irischen  Provinzialbank  zu  Kil- 
kenny  und  übernahm  10.  III.  1834  die  Ober- 
leitung der  Oktober  1833  gegründeten  London 
und  Westminster-Bank  in  London,  die  sich 
unter  seiner  Direktion  zu  einer  der  bedeutend- 
sten Aktienbanken  des  Vereinigten  K.öni^ichs 
entwickelte  Juni  1837  beteiligte  er  sich  als 
Sachverständiger  an  der  parlamentarischen 
Enquete  über  Aktienbanken;  1854  gelang  es 
seinen  langjährigen  Bemühungen,  die  Zulassung 
der  englischen  Aktienbanken  zu  dem  Checkver- 
kehr des  Londoner  Clearinghouse  herbeizuführen. 
1860  wurde  Gilbart,  in  Anerkennung  seiner 
grossen  Verdienste  um  die  Stellung  der  eng- 
lischen Aktienbanken  auf  dem  Geldmarkte,  mit 
einer  lebenslänglichen  Pension  von  jährlich 
1500  Pfd.  Sterling  pensioniert. 

Gilbart  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  a)  in  Buchform: 

A  practical  treatise  on  banking ;  o^ntaining 
an  account  of  the  London  and  country  banks. 
a  view  of  the  joint-stock  banks  of  Scotland  ana 
Ireland,  with  a  summary  of  the  evidence  deli- 
vered  before  the  Parliamentary  Committees,  re- 
lative to  the  suppression  of  notes  nnder  five 
pounds  in  those  countries,  London  1827;  6. 
Aufl.  in  2  Bdn.,  1859 ;  dasselbe,  Neubearbeitung, 
bezw.  7.  Aufl.  unter  dem  Titel:  Principles  and 
practice  of  banking,  1871.  —  The  history  and 
principles  of  banking,  laws  of  the  currency,  etc. 
London  1834;  3.  Aufl.  1837.  —  History  of  ban- 
king in  Ireland,  London  1836.  The  history  of 
banking  in  America;  with  an  inquiry  how  for 
the  banking  institutions  of  America  aie  adapted 
to  this  country;  and  a  review  of  the  canses  of 
the  recent  pressure  on  the  money  market, 
London  1837.  —  Lectures  on  the  history  and 
principles  of  ancient  commerce,   London  1847. 


Gübart— Güden 


725 


—  Logic  of  banking;  exposition  of  the  prin- 
ciples  of  reasoning,  and  their  application  to  the 
art  and  science  of  banking,  London  1859.  — 
Logic  for  the  million,  with  an  appendix  on  the 
philosophy  of  language,  London  1865.  —  Lec- 
tures  and  essays,  London  1865  (Inhalt:  Lectures 
on  the  history  and  principles  of  ancient  commerce ; 
the  social  enects  of  reformation ;  the  philosophy 
of  history.  —  etc.).  —  Complete  works,  6  Bde., 
London  1865.  —  20  Jahre  nach  seinem  Tode 
erschien  eine  zn  einem  Werk  kombinierte  Nen- 
bearbeitnn^  seiner  beiden  Hauptwerke :  History 
and  principles  of  banking  und  Treatise  on 
banking  u.  d.  T. :  The  history,  principles,  and 
practice  of  bankinfif,  by  A.  S.  Michie  (Direktor 
der  „Royal  Bank  of  Scotland"  in  London)  2  Bde., 
London  1882. 

Giibart  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen  Artikeln  b)  in  Zeitschriften  und 
zwar  ausschliesslich  im  „Journal  of  the  Statisti- 
cal Society":  On  the  laws  of  the  currency  in 
Ireland,  as  exemplified  in  the  changes  in  the 
amount  of  bank  notes  in  circulation  in  Ireland 
since  the  Act  of  1845,  Bd.  XV,  1852,  S.  307  ff. 

—  The  laws  of  the  currency  in  Ireland,  as 
exemplified  in  the  circulation  of  country  bank 
notes  in  England,  since  the  passing  of  the  Act 
of  1844,  Bd.  XVII,  1854,  S.  289  ff.  —  A  ten 
years'  retrospect  of  London  banking,  Bd.  XVIII, 
1855,  S.  133  ff.  —  The  laws  of  the  currency  in 
Scotland,  Bd.  XIX,  1856,  S.  144  ff. 

Vgl.  über  Gilbart:  Mac  Culloch.  the  litera- 
ture  of  political  economy,  London  1845,  S.  180  f. 

—  Sandelin,  Repertoire  gen6ral  d 'economic  poli- 
tique,  Bd.  IV,  Haag  1847,  S.  144.  —  Palgrave, 
Dictionary  of  polit.  econ.,  vol.  II,  London  1896, 
p.  208. 

lAppert, 


Gilden. 


1.  Entstehung  und  Frühzeit  der  G.   2.  Arten 
und  Bedeutung  der  mittelalterlichen  G. 

1.  Entstehung  nnd  Frühzeit  der  G. 

Als  Gilden  (convivia)  bezeichnete  man  in 
der  heidnischen  Zeit  des  nordischen  Alter- 
tums feierliche,  regelmässig  mit  gottesdienst- 
lichen Handlungen  —  man  trank  den  Göttern 
»Mnne«  —  verbundene  Gelage,  wie  sie 
bei  Eheschliessungen,  Totenfeiern  und  ähn- 
lichen Anlässen,  namentlich  auch  bei  den 
Opferversammlungen  auf  den  grossen  Ge- 
richts- und  Markttagen  stattfanden.  Das 
Wort  »Gilde«  pflegt  man  entweder  abzuleiten 
von  der  Verpflichtung  der  Gelagsgenossen 
zur  Zahlung  eines  Beitrags  (geldan,  gyldan, 
gelten  =  zahlen)  oder  von  der  Verbindimg 
des  Trinkgelages  mit  dem  heidnischen 
Opfer  (gield,  ^Idi,  kelt  =  Vergeltung,  Opfer). 
Bis  jetzt  ist  keine  Spur  einer  mit  diesen 
uralten  Öelagen  verbundenen  genossenschaft- 
lichen Organisation  gefunden  worden,  wes- 
halb die  meisten  Forscher  einen  unmittel- 
baren Zusammenhang  derselben  mit  den 
späteren,  als   Gilden  bezeichneten  Körper- 


schaften in  Abrede  stellen ;  indes  bildete  das 
Gelage  auch  späterhin  stets  einen  so  vrich- 
tigeu  Bestandteil  der  Gilde,  dass  schon  des- 
halb ein  Zusammenhang  mit  jenen  heid- 
nischen Trinkgilden  wahrscheinlich  ist 

Die  ältesten  eigentlichen  Gilden  entstan- 
den in  einer  Zeit,  als  den  einzelnen  der 
Geschlechtsverband  nicht  mehr,  das  ünter- 
thans-  bezw.  Vasallenverhältnis  und  der 
städtische  Verband  noch  nicht  ausreichenden 
Schutz  gewährten;  doch  behielten  sie  das 
ganze  Mittelalter  hindurch  eine  weitum- 
fassende Bedeutung,  weil  die  Form  der 
Gilde  sich  nach  einander  für  die  verschie- 
densten Zwecke  nutzbar  machen  Hess.  Die 
Gilden  waren  die  ersten  imd  wichtigsten 
»Einungen«,  welche  an  die  Stelle  der  uralten 
Geschlechts-Genossenschaften  traten.  Sie  er- 
griffen den  ganzen  Menschen  imd  erstreckten 
sich  auf  alle  Seiten  des  Lebens.  »Jede 
germanische^  Gilde  hatte  zugleich  religiöse, 
sittliche,  privatrechtliche  und  politische 
Zwecke.  Auch  als  später  sich  besondere 
Klassen  absonderten,  religiöse  und  weltliche, 
und  imter  den  letzteren  Schutz-  und  Ge- 
w^erbsgilden  schärfer  getrennt  wurden,  war 
es  nur  der  Hauptzweck,  welcher  verschie- 
denen Gebieten  angehörte,  während  daneben 
noch  lange  die  Verbindung  sich  in  allen 
anderen  Beziehungen  wirksam  zeigte.«  Mit 
einigen  Einschränkungen  wird  man  diese 
Ansicht  Gierkes  ftlr  die  Frühzeit  der  Gilden 
als  zutreffend  anerkennen  können,  wenn- 
gleich bei  den  meisten  Gilden  auch  in  der 
ältesten  Zeit  ein  einzelner  Zweck  im  Vorder- 
grunde gestanden  zu  haben  scheint.  In 
solcher  Gestalt  ist  die  Gilde  vermutlich 
eine  rein  germanische  Erscheinung.  In- 
des bedarf  es  noch  vergleichender  Einzel- 
untersuchungen der  zum  Teil  älteren  ähn- 
lichen Gemeinschaften,  w^elche  auch  in 
den  romanischen  und  slawischen  Ländern 
aUer  Orten  bestanden  haben,  zum  Teil  noch 
bestehen.  Für  Nordfrankreich  hat  Hegel 
neuerdings  den  Beweis  erbracht,  dass  die 
dortigen  Kommunen  nicht  eigentliche  Gilden, 
sondern  Friedensverbindungen  der  Stadt- 
gemeinden waren. 

Das  religiöse  Element  ist  wesentlich 
für  jede  echte  Gilde,  einesteils  in  Gestalt 
gottesdienstlicher  Handlungen,  die  vielleicht 
unmittelbar  aus  den  altheidnischen  Ge- 
bräuchen hervorgegangen  sind,  andernteils 
in  Gestalt  guter  Werke.  Auch  das  Trink- 
gelage blieb  als  geselliges  Element  in 
jeder  Gilde  übrig.  Aber  die  wichtigste 
Triebkraft  war  vermutlich  das  Schutzbedürf- 
nis: Die  Gilden  waren  Schwurgenossen- 
schaften zu  gegenseitigem  Schutze. 
Sie  wurden  im  fränkischen  Reiche  schon 
von  den  Karolingern  mehrfach  als  »eonspira- 
tiones«  oder  »conjurationes«  und  auch  später 
in  Frankreich  und  Deutschland  von   weit- 


726 


Qüden 


liehen  wie  von  geistlichen  Gewalten  wieder- 
holt untersagt,  während  sie  in  England  — 
hier  vielleicht  abgesehen  von  der  Regierung 
Wilhelms  des  Eroberers  —  und  in  den 
skandinavischen  Eeichen  anerkannt  oder  so- 
gar begünstigt  wurden. 
•  In  England  müssen  schon  sehr  früh 
eigentliche  Gilden  vorhanden  gewesen  sein, 
wenn  man  die  »gegildan«  (congildones  =: 
consocii)  in  den  Gesetzen  der  Könige  Ine 
und  Aelfred  auf  sie  beziehen  darf.  Auch 
die  »judicia  civitatis  Lundonia«,  welche  in  der 
Zeit  König  Aethelstans  (925—940)  nieder- 
geschrieben sind,  weisen  auf  das  Vorhanden- 
sein einer  Gilde  hin,  deren  Mitglieder  sich 
zu  einer  Art  w^echselseitiger  Assekuranz 
gegen  Eaub  verpflichten.  Aus  dem  10.  Jahr- 
hundert sind  uns  noch  mancherlei  ähnliche 
Nachrichten  erhalten  geblieben,  und  aus  dem 
Anfange  des  11.  besitzen  wir  schon  die 
vollständigen  Statuten  von  vier  englischen 
Gilden:  in  Abbotsbury,  Exeter,  Cambridge 
und  Woodbury. 

Auf  deutschem  Boden  sind  sichere 
Spuren  von  Gilden  erst  aus  dem  12.  Jahr- 
hundert nach'weisbar,  und  zwar  werden  hier 
zuerst  Gew^erbsgilden  erwähnt  (Magdeburg, 
Köln ,  Braunschweig  und  andere).  Für  N  o  r  - 
wiegen  reichen  die  Nachrichten  von  Gilden 
(Schutzgilden)  bis  ins  11.,  für  Dänemark 
bis  ins  12.,  für  Schweden  nur  bis  ins 
14  Jahrhundert  zurück. 

Alle  diese  späteren  Gilden  sind  in 
Städten  entstanden.  Dagegen  ist  die  von 
"Wilda  aufgestellte,  von  Gierke,  Nitzsch  und 
andere  aus-  und  umgebildete  sogenannte 
»Gildetheorie«  für  die  Entstehung  der 
Stadtgemeinden,  -wonach  letztere  aus  Gilden 
hervorgegangen  sein  sollen,  durch  die 
neuesten  Forschungen  von  Hegel,  Gross  und 
von  Below  beseitigt  worden, 

2.  Arten  und  Bedeutnng  der  mittel- 
alterlichen  G.  Die  überwiegend  religiösen 
GDden,  vorzugsweise  »Brüderschaften«  ge- 
nannt«, waren  im  Mittelalter  ungemein  zahl- 
i-eich;  so  soll  es  deren  in  Köln  an  80,  in 
Lübeck  70,  in  Hamburg  gar  über  100  ge- 
geben haben.  »Jede  solche  Gilde  hatte  einen 
Heiligen  als  Schutzpatron,  der  ihr  meist 
den  Namen  gab,  und  bei  dem  man  schwur, 
und  einen  besonderen  Altar,  den  sie  unter- 
hielt (oft  auch  eine  eigene  Kapelle.  E.).  Die 
Stiftung  von  Wohlthätigkeits-lnstituten  oder 
Vikaiien,  ewigen  Messen  und  ähnlichem, 
Schenkungen  und  Oblationen  an  die  Kirche, 
Almosengeben  imd  Unterstützung  von  Wall- 
fahrten, die  Beschaffung  der  gehörigen  Ker- 
zen für  den  Gottesdienst  und  andere  fromme 
Handlungen  waren  Vereinssache  und  Vereins- 
zweck. Sorge  für  das  Begräbnis  und  nach 
diesem  für  das  Seolenheü  eines  verstorbenen 
Genossen  war  eine  der  Hauptpflichten,  wel- 
che  der  Gesamtheit   oblag.     Endlich   aber 


waren  bei  jeder  Gilde  regelmässige  Zu- 
sammenkünfte üblich,  welche  teils  in  Er- 
innerung heidnischer  Opfer-  und  Totenmalüe, 
teils  als  christliche  Liebesmahle  einen  reli- 
giösen Charakter  wahrten«  (Qierke). 

Weit  weniger  zahlreich,  aber  um  so  be- 
deutsamer waren  die  vorwiegend  welt- 
lichen Gilden.  Sie  sind  einzuteilen  in 
eigentliche  Schutzgilden,  in  politische 
und  in  Gewerbsgilden;  doch  ist  auch 
hier  die  Zuteilung  im  einzelnen  oft  schwierig. 

Als  eigentliche  Schutzgilden  sind  die 
vorhin  erwähnten  ältesten  Gilden  der  Franken 
und  Angelsachsen,  sowie  von  den  späteren 
wohl  die  meisten  der  uns  bekannten  skan- 
dinavischen Gilden  zu  kennzeichnen .  Sie 
bezweckten  den  Schutz  der  Genossen  gegen 
Dritte,  ihre  ünterstützimg  bei  Vermögens- 
not und  die  Wahrung  des  Rechts  in  ihrem 
Verhältnisse  zu  einander,  woneben  dann 
noch  religiöse  Pflichten  zur  gegenseitigen 
Unterstützung  der  Gildebrüder  auferlegt 
w^urden.  Eine  der  ältesten  englischen 
Gilden,  die  von  Cambridge^  bezweckte,  die 
dem  Geschleehte  früher  obliegende  Wergeid- 
pflicht zu  übernehmen,  falls  ein  Gildebruder 
erschlagen  worden  war  oder  einen  anderen 
im  Rechte  erschlagen  hatte.  Die  ungefähr 
ebenso  alte  Gilde  von  Exeter  leistete  schon 
Hilfe  bei  Feuersbrunst ;  doch  sind  die  eigent- 
lichen Brandgilden  oder  Brandkassen 
weit  jüngeren  Ursprungs;  ihre  Entstehung 
fällt  in  das  16.  und  17.,  vereinzelt  auch 
schon  in  das  15.  Jahrhundert.  Hier  wäre 
auch  unserer  Schützengilden  zu  ge- 
denken, welche  aus  alten  zur  Waffenübung 
gebildeten  Schutzgilden  der  Bürger  hervor- 
gegangen sind. 

Zu  den  politischen  Gilden  gehören 
die  sehr  alten  herrschenden  Gilden  (summa 
convivia)  in  Schleswig  und  Canterbury  und 
die  patricischen  Altbürgergilden  in  manchen 
deutschen  Städten,  wie  die  kölner  Richer- 
zeche,  die  süddeutschen  Herrenstuben,  die 
Constoffeln  in  Strassburg  und  Zürich  etc. 
Sie  scheinen  ausser  geselligen  Zwecken 
hauptsächlich  die  Aufrechterhaltung  der 
herrschenden  politischen  und  sozialen  Rang- 
stellung ihrer  Mitglieder  im  Auge  gehabt 
zu  haben.  Dagegen  sind  die  nordostdeutschen 
Artushöfe  und  Junkerkompagnieen  zum  Teil 
wohl  mehr  zu  den  kaufmännischen  Gilden 
zu  zählen. 

Die  Gewerbsgilden  zer^dllen  wieder 
in  Handels-  oder  Kaufmanns-  und  in 
Hand  werksgilden,  über  welche  letztere 
der  Art.  Zunftwesen  zu  vergleichen  ist. 
Hier  haben  wir  es  nur  noch  mit  den  Handels- 
gilden zu  thun,  die  nebst  den  Zünften  wohl 
die  wichtigsten  aller  Gilden  gewesen  sind. 

Die  allgemeinen  Handelsgilden 
fanden  namentlich  in  England  nach  der 
Eroberung    ungemein    starke    Verbreitimg. 


Gilden — Gioja 


727 


Ihre  wirtschaftliche  Bedeutung  bestand  haupt- 
sächlich darin,  dass  nur  die  Angehörigen 
der  Gilde  das  Recht  zum  Kleinverkauf  der 
wiclitigsten  Waren  hatten  und  dass  sie  auch 
im  Grosshandel  oft  Vorrechte  besassen :  Zoll- 
privilegien, das  ausschliessliche  Recht,  mit 
Fremden  Handel  zu  treiben,  und  anderes 
mehr.  Der  Inbegriff  dieser  Rechte  wird 
vielfach  als  Hanse  bezeichnet,  welches 
Wort  indes  noch  andere  Bedeutungen  an- 
nahm (vgl.  den  Art.  Hanse).  Einen  Gilde- 
charakter hatten  auch  die  im  13.  und 
14.  Jahrhundert  entstandenen  grossen  Com- 
panies  der  Merchants  of  the  Staple  und  der 
Mercliant  Adventiu^rs,  nach  deren  Vorbild 
namentlich  seit  dem  16.  Jahrhundert  zahl- 
reiche solche  »regulated  companies«  sich 
bildeten ;  diese  bezw^eckten,  durch  Regulierung 
von  Angebot  und  Nachfrage,  durch  Bestim- 
mung der  Zahl  der  auszusendenden  Schiffe 
etc.  den  Markt  zu  leiten,  insbesondere  die  aus- 
ländischen Märkte  für  die  grossen  englischen 
Stapelartikel  Wolle  und  Tuch  vor  Ueber- 
fülirung  und  Preisdruck  zu  bewahren  (vgl. 
den    Art.  Handelsgesellschaften  II). 

In  Deutschland  gab  es  im  Mittel- 
alter nur  wenige  allgemeine  Handels- 
gilden. Dagegen  finden  sich  sehr  häufig 
Gilden  der  Detailhändler,  besonders  der 
Tuclihändler  (Gewandschneider)  und  Kramer. 
Später  traten  in  den  niederdeutschen  See- 
städten die  Kaufleute  und  Reeder,  welche 
mit  einem  und  demselben  Lande  verkehrten, 
zu  Gilden  zusammen  als  FJanderfahrer,  Eng- 
landsfahrer, Schonenfahrer,  Bergen falirer  etc. 
Sie  bezweckten  wohl  hauptsächlich  den 
gegenseitigen  Schutz  auf  der  See,  gehören 
also  insofern  mehr  zu  den  Schutzgilden; 
indes  werden  auch  andere  kommerzielle 
Aufgaben  erwähnt,  woneben  dann  noch  die 
geselligen  Pflichten  stark  in  den  Vorder- 
grund traten.  Letztere  scheinen  nebst 
politischen  Zwecken  bei  den  süddeutschen 
»Kaufleutestuben«  die  Hauptrolle  gespielt 
zu  haben. 

So  waren  die  Gilden  während  ihrer 
Blütezeit  beschaffen.  Sie  füllten  überall  die 
CTossen  Lücken  der  obrigkeitlichen 
Fürsorge  aus  und  leisteten  dabei  viel  mehr, 
als  diese  jemals  hätten  leisten  können.  Sie 
umfassten  und  durchdrangen  einen  grossen 
Teil  des  öffentlichen  und  privaten  Lebens 
mit  einer  genossenschaftlichen  Organisation, 
wie  sie  niemals  sonst  erreicht  worden  ist. 
Als  ihre  Aufgaben  am  Ende  des  Mittelalters 
mehr  und  mehr  von  modernen  Verbänden 
und  Behörden  übernommen  wiutlen,  blieben 
viele  Gilden  als  blosse  Geselligkeitsvereine 
oder  Versorgungsanstalten  bestehen,  teil- 
weise bis  zum  heutigen  Tage. 

Litteratnr:  Wilda,  Das  Güdeivweaen  im  Mittel- 
aller,  Halle  18S1.  —  Waitz,  Deutsche  Ver/aa- 
sangsijeschichte,  V.  365  ff,,  VII.  401ff.  —  Gierke, 


Deutsclies  Genossenschaflsrechi  I,  2S0ff,,  SSI  ff. 
S44ff.  —  Toulvtin  Sniith,  English  gilds. 
The  original  ordinances  of  more  than  one  Awn- 
dred  early  etiglish  gilds,  with  a  prelim.  essay 
by  IaiJo  BrentanOf  London  1870.  —  €Jh,  Gross, 
Gilda  mcrcaioria,  GöUingen  188S.  —  Derselbe, 
The  Gild  Merchani,  2  Bde.,  Oxford  1890. 
(Hauptwerk  für  England).  —  Nitzsch,  Uebei' 
die  niederdeutschen  Genossenschaften  d.  li.  u. 
13.  Jahrh.  (Monatsberichte  d.  BerU  Äkad.  d.' 
Wiss.  1879,  S.  5  ff.).  —  Derselbe,  Ueber 
niederdeutsche  Kaufgüden  (l.  c.  1880,  S.  370 ff.). 
—  Derselbe,  Die  niederdeutsche  Kaufgilde 
(Zeitschr.  d.  Savigny-Stiftung  f.  Rechtsgesch., 
German.  Abt.  13,  Iff.).  —  Pappenheim,  Dis 
altdänischen  Schutzgilden,  Breslau  1880.  — 
Derselbe,  Ein  altmorwegisches  Schutzgildestatvl, 
BresUtu  1888.  —  G,  von  Below,  Die  Bedeu- 
tung der  Gilden  für  die  Entstehung  der  deutschen 
Stadtverfassur.g  (Jahrb.  f.  iVa^  u.  Stat.,  3.  F., 
3.  Bd.,  1892,  S.  56  ff.).  —  A,  Doren,  Unter' 
suchungen  z.  Geschichte  d.  Kaufmaniisgilden  d. 
Mittelalters  (Staats-  u.  soz.-wiss.  Zeitschr.  von 
SchmoUer  XII  2),  1893.  —  Neuestes  Hauptwerk 
für  die  ganze  Materie :  Karl  Hegel,  Städte  u. 
Gilden  der  germanischen  Völker  im  Mittelalter, 
2  Bde.,  Leipzig  1891.  —  Vgl.  jetzt  auch  Röscher, 
NÖ.  d.  Handels-  u.  Geicerbeßeisses ,  7.  Aufl., 
herausgegeben  von  Stieda,  1899,  S.  16  ff.,  25, 
173  ff.,    795  ff. 

Riehard  Ehrenberg, 


Gioja,  Melchiorre, 

geb.  20.  IX.  1767  zu  Piacenza,  studierte  in 
Pavia  Theologie,  Mathematik  und  Physik,  er- 
hielt 1796  die  priesterlichen  Weihen,  verzichtete 
noch  in  dem  nämlichen  Jahre,  nach  Errichtung 
der  Cisalpiüischen  Republik  durch  Bonaparte, 
auf  das  geistliche  Gewand  und  ging  nach  Mai- 
land, wo  er  sich  staatswirtschaftlichen  Studien 
hingab.  Im  Jahre  IHOl  wurde  er  mit  der  Er- 
richtung eines  statistischen  Bureaus  für  den 
italienischen  Freistaat  beauftracft,  das  aber  erst 
1803  ins  Leben  trat,  zunächst  für  die  cisalpini- 
sche  Republik  und  Mai  1805  für  das  Königreich 
Italien.  Er  war  Direktor  dieses  Bureaus  bis 
zum  Jahre  1809,  wo  Dissonanzen  mit  dem 
Minister  des  Innern,  Arborio  de  Breme,  seine 
Enthebung  von  dieser  Stellung  herbeiführten. 
Gioja  rächte  sich  an  dem  Minister  durch  das 
Pasquill :  „II  povero  diavolo",  was  ihn  in  einen 
peinlichen  Prozess  verwickelte,  dessen  Kon- 
sequenzen er  sich  Anfang  1811  durch  die  Flucht 
entzog.  1813  amnestiert  und  durch  den  Nach- 
folger ArborioB  de  Breme,  Minister  Vaccari, 
nach  Italien  zurückberufen,  nahm  er  hier  seine 
publizistische  Thätigkeit  wieder  auf  und  ver- 
öffentlichte das  nationalökonomische  Hauptwerk 
seines  Lebens:  Nuovo  prospetto  delle  science 
economiche  (s.  u.).  1818  wurde  er  Mitarbeiter 
an  dem  im  nämlichen  Jahre  von  Silvio  Pellico 
gegründeten,  mit  dem  Karbonarismus  sympa- 
thisierenden Tageblatt:  „il  Conciliatore",  wo- 
durch er  in  die  Revolution  von  1820  verwickelt 
und  zu  einer  mehrmonatlichen  Einsperrung  im 
„Spielberg"  verurteilt  wurde.  Er  starb  2.  I. 
1829  in  MaUand. 

Gioja  war  ein  Gegner  der  Einseitigkeit  des 


J 


728 


Gioja — Giroverkehr 


Indnstriesystems,  dessen  Gründer  er  ebenso  be- 
kämpfte wie  Smiths  Dolmetsch  für  Frankreich: 
J.  B.  Say.  Die  Superiorität  der  Absatzquellen- 
theorie Say^s  wird  u.  a.  von  Gioja  zu  Gunsten 
Bandinis  angefochten.  Pecchio  (s.  u.)  sagt  von 
Gioja,  dass  er  zuerst  von  den  Nationalökonomen 
Italiens  für  die  wirtschaftliche  Prävalenz  der 
Industrie  vor  der  Landwirtschaft  und  für  die 
Bedeutung  der  wirtschaftlichen  Association  als 
Hauptfaktor  der  Produktion  mit  Entschiedenheit 
eingetreten  sei. 

Als  Statistiker  leg^  er,  wie  Achenwall, 
das  Hauptgewicht  der  Statistik  auf  das  Staats- 
wohl, im  Gegensatze  zu  der  von  deutschen  und 
französischen  Autoren  vertretenen  Auffassung, 
dass  in  erster  Reihe  statistische  Untersuchungen 
den  Grnndkräften,  d  h.  der  Grösse  und  Macht 
der  Staaten  zu  gelten  hätten,  weshalb  er  denn 
auch  einen  grossen  Apparat  topographischer,  geo- 
graphischer, wirtschaftlicher  und  ethischer  Zu- 
standsschilderung  und  deren  Wechselwirkung 
(vgl.  seine  Filosofia  della  statistica  [s.  u.])  zur 
Beweisführung  heranzieht  und  daraus  das  Recht 
und  die  Pflicht  des  Staates  deduziert,  die 
Wohlfahrt  der  Unterthanen  durch  die  Staats- 
kräfte zu  fördern  und  zu  erhalten. 

Gioja  veröffentlichte  auf  Staatswissenschaft 
bezügliche  Schriften  in  Buchform: 

Quadro  politico  de  1798,  Mailand  1797.  — 
I  Russi,  i  Tedeschi  ed  i  Francesi,  ebenda  1801. 
—  Sul  commercio  de'  commestibile  e  sul  caro 
prezzo  del  vitto,  2  Bde.,  Mail.  1801—2.  —  Dis- 
cnssione  economica  sul  dipaitimento  deir  Olona, 
Mail.  1803.  —  Discussione  economica  sul  di- 
partimento  del  Lario,  Mail.  1804.  —  Teoria  civile 
e  penale  de  divorzio,  ossia  necessitä,  cause, 
nuova  maniera  di  organizzarlo  seguita  dair 
analisi  della  legge  francese,  del  anno  XI,  Mail. 
1803.  —  n  Rappresentante  Pozzi  all  govemo, 
aila  nazione,  sulla  dimissione  dei  commissarj 
del  tesoro  nazionale,  Mail.  1804.  —  Cenni 
morali  e  politici  sulP  Inghilterra,  estratti  dagli 
scrittori  inglesi,  Mail.  1805.  —  Dissertazione 
sul  problema  dell'  amministrazione  generale 
della  Lombardia,  Mail.  1808.  —  Tavole  statistiche 
ossia  norme  per  descrivere,  calcolare,  classificare 
tutti  gli  oggetti  d'amministrazione  privata  e 
pubblica,  Mail.  1808;  2.  Aufl.  1827.  —  Lo^ca 
statistica,  Mail.  1808.  —  Esame  d'un'  opinione 
intomo  all'  indole,  estensione  e  vantaggi  delle 
statistiche,  Mail.  1809;  Neudruck  1826 ;  Wieder- 
abdruck in  Articoli  varj  di  statistica  ed  eco- 
nomia,  Bd.  11  (s.  u.).  (Letztere  Schrift  enthält 
eine  Widerlegung  der  ersten,  den  Nutzen  der 
Statistik  herabsetzenden  Streitschrift  Tamassia's. 
Die  bezügliche  Schrift  Tamassia^s :  Del  fine  delle 
statistiche,  Mailand  1808,  sowie  dessen  Dnplik 
auf  die  Gioja'sche  Erwiderung:  Esame  della 
confutazione  del  fine  delle  statistiche,  Mail. 
1809  finden  sich  abgedruckt  ebenfalls  in  Articoli 
varj  etc.,  Bd.  II  [s.  u.])  —  Problema:  Quali 
sono  i  mezzi  piü  spedid  piit  efficaci,  piü  econo- 
mici  per  alleviare  Tattuale  miseria  del  popolo 
in  Europa,  Mail.  1817.  —  Nuovo  prospetto  delle 
science  economiche  ossia  somma  totale  delle 
idee  teoriche  e  pratiche  in  ogni  ramo  d'ammi- 
nistrazioue  privata  e  pubblica,  divise  in  altret- 
tante  classi,  unite  in  sistema  ragionato  e  gene- 
rale, 6  Bde.,  Mail,  1815—17.  —  Sulle  manifatture 
nazionali  e  tariffe  daziarie,  Mail.  1819.  —  DeP 
ingiuria,  dei  danni  del  sottisfacimento  e  relative 


basi  di  stima  avanti  ai  tribunali  civil!,  2  Bde. 
Mail.  1821.  —  Filosofia  deUa  statistica,  2  Bde. 
Mail.  1826;  2.  Aufl.  1829;  3.  Aufl.  1831;  4.  Aufl. 
1837 ;  5.  Aufl.  1839 ;  6.  Aufl.  1852.  (Gioja  kon- 
struiert ans  dem  Eausalitätsverhältnisse  den 
Grundsatz,  dass  die  Philosophie  der  Statistik 
aus  2  Teilen,  einem  symptomatischen  (zustand- 
schildemden)  und  einem  den  ersteren  begründen- 
den besteht.)  —  Trattato  delP  amministrazione 
rurale,  Mail.  1829  (aus  seinem  Nachlass  ver- 
öffentlicht). —  Memoria  sulla  crescente  popola- 
zione,  Mail.  1830  (aus  seinem  Nachlass  ver- 
öffentlichte, Malthus  bekämpfende  Bevölkerungs- 
studie). —  Opere  minori,  17  Bde.,  Lauis  (Lugano) 
1832—37.  —  Opere  complete  (2.  Sammlung)  16 
Bde.,  ebd.  1838  bis  1849.  —  Articoli  varj  di 
statistica  ed  economia,  estratti  da  varj  giomali 
ed  aggiuntevi  le  tavole  statistiche,  2  Bde.,  ebd. 
1834.  —  Dettati  politici,  filosofici,  statistici, 
tratti  dalle  opere  minori,  2  Bde.,  ebd.  1850. 

Gioja  veröffentlichte  zahlreiche  staatswissen- 
schaftiiche  Artikel  in  den  Zeitschriften :  „Monitore 
Italiano,"  „Annali  di  statistica",  „Biblioteca 
Italiana",  „Giornale  di  statistica." 

Vergl.  über  Gioja:  Mone,  Historia 
statisticae  adumbrata,  Brüssel  1828,  S.  194.  — 
Pecchio,  Storia  della  economia  pubblica  in 
Italia,  Lauis  1829.  —  Sacchi,  Cenni  sulla 
vita  e  sulle  opere  de  Melchiorre  Gioja,  Mailand 
1829.  —  Rosniini,  Opuscoli  filosofici,  Bd.  III, 
Mailand  1814  (darin  Bekämpfung  des  Gioia'schen 
Sensualismus).  —  Blanqni,  Histoire  ae  l'eco- 
nomie  politique  en  Europe,  Bd.  II,  3.  Aufl., 
Paris  1848,  S.  305.  —  Ersch  und  Gruber, 
Encyklopädie,  I.  Sektion,  Teil  67,  Leipzig  1858, 
S.  375  ff.  —  V.  Mohl,  Geschichte  und  Littera- 
tur  der  Staatswissenschaften,  Bd.  III,  Erlangen 
1858,  S.  661  ff.  —  Lampertico.  Sulla  statistica 
teorica  in  generale  e  in  Melcniorre  Gioja  in 
particolare,  Venedig  1870.  —  Morpurgo,  Die 
Statistik  und  die  Sozialwissenschaft,  Jena  1877, 
S.  35  ff.  —  John,  Geschichte  der  Statistik, 
Bd.  I,  Stuttgart  1884,  S.  139 ff.  —  Salpace, 
Uso  ed  abuso  della  statistica,  Rom  1885,  S.  14. 

—  Mayr,  G.  und  Salvioni,  La  statistica  e 
la  vita  sociale,  2.  Aufl.,  Turin  1886.  —  Ga- 
baglia,  Teoria  generale  della  statistica,  2. 
Aufl.,  Bd.  I,  Maüand  1888,  S.  96  ff.  und  104  ff. 

—  Calatabiano,  Teoria  della  statistica,  Rom 
1889,  S.  35  ff.  —  Graziani,  A,  Le  idee  econo- 
miche etc.  Modena  1893  (darin  das  Kapitel: 
Melchiorre  Gioja,  G.  D.  Romagnosi  e  P.  Rnffini). 

Lippert, 


OiroTerkehr. 

1.  Begriff;  Geschichtliches;  Wirkungen  des 
Systems.  2.  G.  der  Prenssischen  Bank.  3.  G. 
der  deutschen  Reichsbank.  4.  G.  anderer  deut- 
scher Banken.  5.  Postcheckverkehr.  6.  G.  in 
Oesterreich-Ungam.  7.  G.  in  Italien.  8.  G.  in 
Frankreich.  9.  G.  in  Belgien.  10.  G.  in  Eng- 
land.   11.  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 

1.  Betriff;  Geschichtliches;  Wir- 
kungen des  Systems.  Det  Giroverkehr 
ist  einer  der  wichtigsten  Geschäftszweige 
der  heutigen  Banken.  Der  Kern  desselben 
besteht  in  der  Vermittelung  von  Zahlungen 


Giroverkehr 


729 


(in  weiterem  Sinne)  unter  den  Kunden  der 
Bank  (Conteinhabern)  durch  Ab-  und  Zu- 
schi-eibung  in  den  ßankbüchern  auf  der 
Grundlage  von  Depositen  (früher  ausschliess- 
lich in  Edelmetall,  oft  in  BaiTonform,  heut- 
zutage in  barem  Gelde  überhaupt).  Man 
nennt  dies  technisch  »Girozahlung«.  An 
dieselbe  knüpft  sich  in  der  Regel  auch  die 
Annahme  bezw.  das  Incasso  und  die  Gut- 
schrift von  Zahlungen  Dritter  sowie  von 
sonstigen  Aktivposten  für  Rechnung  des 
Girokunden.  Ueber  sein  Guthaben  kann 
letzterer  im  heutigen  Giroverkehr  nicht  bloss 
durch  Giroanweisung  (behufs  Girozalilung), 
sondern  auch  durch  bare  Abhebung  gegen 
Checks  (s.  d.  Art.  oben  Bd.  m  S.  20  ff.) 
oder  mittelst  Zahlbarstellung  von  Wechseln 
und  anderen  Papieren,  aus  welchen  er  zu 
einer  Zahlung  verpflichtet  ist,  bei  der  sein 
Conto  führenden  Bank  verfügen. 

Der  Giroverkehr  findet  sich  bereits  im 
Altertum.  Dass  in  Rom  die  argentarii,  bei 
welchen  der  grösste  Teil  des  baren  Geldes 
hinterlegt  war,  die  Zahlungen  unter  ihren 
Geschäftsfreunden  im  Wege  der  Umschrei- 
bung in  ihren  Büchern  zu  vermitteln  pfleg- 
ten, ergiebt  sich  aus  Plautus,  Terenz,  Cicero 
und  anderen  Schriftstellern.  Am  Ende  des 
Mittelalters  tiitt  als  treibender  Grund  die 
zunehmende  Münzverschlechterung  und  all- 
gemeine Unsicherheit  hinzu.  Aus  den  De- 
positen bildet  sich  ein  eigenes  »Bankgeld« 
(nach  dem  Feingehalt).  Die  Girozahlung 
wird  in  den  Statuten  italienischer  Städte 
als  der  Barzahlung  gleich  wirksam  anerkannt. 
Gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  entsteht 
die  erste  öffentliche  Girobank  in  Venedig 
(banco  di  Rialto,  dem  1619  der  banco  Giro 
folgt).  Weiter  ausgebildet  ist  die  reine 
Girobank  in  der  Amsterdamer  Wechselbank 
(1609),  der  Hamburger  Girobank  (1619),  auch 
der  Nürnberger  Girobank  (1621).  Mit  der 
fortschreitenden  Münzverbesserung  fiel  später 
zwar  das  Bedürfnis  besonderer  Giro- 
banken hinweg.  Nur  die  Hambui-ger  Giro- 
bank hat  bis  ziu*  Verschmelzung  mit  der 
Reichsbank  (1875)  fortgedauert.  Aber  das 
Girowesen  hat  nichtsdestoweniger  eine  gross- 
artige Ausdehnung  iu  folge  der  Umbildung 
der  Geldbanken  in  Kreditbanken  sowie  in- 
folge der  Verbindung  erfahren,  welche  es 
mit  dem  modernen  Depositen-  und  Zettel- 
bankwesen eingegangen  ist.  In  der  Aus- 
bildung des  damit  eng  zusammenhängenden 
Checkverkehrs  vorangegangen  ist  nament- 
lich England,  besonders  seit  der  Be- 
schränkung der  dortigen  Notenausgabe  durch 
die  Peels  Akte  (1844).  Der  Check,  welcher 
immerhin  noch  auf  einer  gewissen  Kredit- 
gewährimg beruht,  ist  dort  selbst  in  den 
Kleinverkehr  eingedrungen  und  ersetzt  seit 
langen  Jahren  vielfach  die  Banknote  als 
ümlaufsmittel.    Hauptträger  der  Entwicke- 


lung  nach  dem  eigentlichen  Girosystem  hin 
ist  Deutschland  mit  dem  von  Jahr  zu 
Jahr  mächtig  fortschreitenden  Giroverkehr 
der  Reichsbank,  welche  vermöge  ihrer 
zahlreichen,  über  das  ganze  Reichsgebiet 
verbreiteten  Zweiganstalten  (Ende  1899 :  311) 
Uebertragungen  von  Platz  zu  Platz  kosten- 
frei vermittelt  und  dadurch  nach  einem  oft 
angeführten  Wort  Deutschland  zu  einem  ein- 
zigen Giroplatze  gemacht  hat.  In  der  Ver- 
einigimg mehrerer  Girobanken  zu  den  von  der 
Reichsbank  geleiteten  und  bei  ihr  sich  schliess- 
lich alle  Tage  ausgleichenden  Abrechnungs- 
stellen (s.  d.  Art.  oben  Bd.  I  S.  7  ff.)  findet 
die  Methode  ihre  Krönung.  (Vgl.  unten  sub  3.) 

Die  Wirkungen  dieses  sich  mehr  und 
mehr  ausbreitenden  Systems  in  volkswirt- 
schaftlicher Hinsicht  sind  die  segensreichsten. 
Ein  sehr  grosser  Teil  aUer  Zahlungen  über- 
haupt vollzieht  sich  im  Wege  der  Giro- 
zahlimg.  Dadurch  wird  das  Metallgeld  zum 
grossen  Teil  entbehrlich  gemacht  und  dessen 
Abnutzung  verhindert.  Ebenso  mindert  sich 
der  Banknotenumlauf  und  die  Gefahr  über- 
mässiger Ausdehnung  desselben.  Zeit,  Kosten 
und  Gefahl*  der  Aufbewahnmg,  der  Prüfung 
und  Beförderung  des  Geldes  verschwinden 
oder  werden  wesentlich  gemindert.  Die 
Zahlungen  werden  in  den  Büchern  der  Bank, 
welche  die  Buchung  erst  nach  Prüfimg  des 
Guthabens  vornimmt,  sicher  beurkundet. 
Schlechte  Geschäftsgewohnheiten  und  Miss- 
bräuche bei  der  Regulierung  eingegangener 
Verpflichtungen  werden  abgestellt.  Der 
Geschäftsmann  gewöhnt  sich  daran,  grössere 
Kasse  zu  halten  und  per  Kasse  zu  kaufen. 
Der  gesamte  Geldverkehr  im  Lande  wird 
auf  eine  solidere  Grundlage  gestellt.  End- 
lich dient  das  Girogeld  in  den  Händen  der 
Banken  produktiven  Zwecken  und  erleichtert 
die  Ermässigung  des  Zinsfusses. 

2.  G.  der  Prenssisehen  Baak.  In 
Preussen  liatte  zwar  Friedrich  der  Grosse 
zur  Hebung  des  Handels  im  Jahre  1765  die  • 
»Königliche  Giro-  und  Lehnbank  in  Berlin« 
und  im  Jahre  nachher  eine  solche  in  Breslau 
(mit  einer  gewissen  Abhängigkeit  von  der 
ersteren)  errichtet.  Der  Giroverkehr  blieb 
indessen  bei  dem  herrschenden  Mangel  an 
Vertrauen  hinter  den  gehegten  Erwartungen 
zurück  und  erlosch  ganz  nach  2  Jahren. 
Erst  nachdem  das  Bedürfnis  einer  Giroan- 
stalt in  Berlin  zur  Gründung  des  »Berliner 
Kassenvereins«  geführt  hatte  (1824),  wurde 
infolge  des  gesteigerten  Geschäftsverkehrs 
auf  Wunsch  des  Handelsstandes  der  Giro- 
verkehr in  Berlin  und  Breslau  wiederum 
eröffnet  (1834),  später  (1837)  auch  bei  den 
Königlichen  Bankkontoren  in  Danzig,  Königs- 
berg, Stettin  und  Magdeburg. 

Im  ersten  Jahre  betrug  der  Umsatz  38 
Millionen  Thaler  bei  einem  durchschnitt- 
lichen Bestände  von  44  600   Thalem.     Im 


730 


Giroverkehr 


Jahre  1837  wurden  alle  Gebühren  im  Giro- 
verkehr aufgehoben.  Um  dem  durch  Ein- 
ziehung der  Bankkassenscheine  eingetretenen 
Mangel  an  Zahlmitteln  abzuhelfen,  wurden 
seit  1838  »Giroquittungen«  mit  längerer 
ümlaufszeit  (bis  zu  6  Monaten)  ausgegeben. 
Im  Jahre  1841  erhielt  die  Königliche  Bank 
die  Befugnis,  die  von  Girot^ünehmern  auf 
ihr  Guthaben  gezogenen,  an  jeden  Inhaber 
zahlbaren  ^Giroanweisungen«  zu  acceptieren. 
Im  Jahre  1853  liefen  davon  5V2  Millionen 
Thaler  um  —  bei  einem  Giroumsatz  von 
110  Millionen  Thaler.  Die  Bankordnung 
von  1846  hatte  es  im  wesentlichen  bei  den 
hinsichtlich  des  Giroverkehrs  bestehenden 
Bestimmungen  belassen.  Der  letztere  be- 
schränkte sich  hauptsächlich  auf  Berlin  (seit 
1870  bestanden  ausserdem  nur  noch  die 
schwach  benutzten  Giroanstalten  in  Danzig 
und  —  von  1871  ab  —  Mtllhausen  i.  E.), 
umfasste  nur  einen  kleinen  Kreis  von  Be- 
teiligten und  gelangte  zu  keiner  wirklichen 
Bedeutung : 

TT„,o«+^  Durchschnitts- 

im  Jahre  Umsatz  guthaben 

M.  M. 

1867  188711012,65  1485000 

1868  190729751,90  833700 

1869  220  764 165,75  774  300 

1870  416516110,60  4637700 

In  den  Jahren  1871—1875  stiegen  die 
Zahlen  zwar  infolge  vorübergehender  Ver- 
hältnisse, namentlich  der  durch  die  Kriegs- 
entschädigungsgelder bewirkten  Anschwel- 
limg  der  Regierungsgelder.  Im  Jahre  1875 
aber  zeigt  sich  bereits  wieder  ein  bedeuten- 
der Rückgang. 

3.  6.  der  dentschen  Reichsbank.  Den 
Ausgangspunkt  einer  neuen  Entwickelung 
bildet  erst  die  mit  dem  1.  Januar  1876  voll- 
zogene ümwandelung  der  Preussischen  Bank 
in  die  Reichsbank.  Das  Bankgesetz  v.  14. 
März  1875  hob  nicht  bloss  den  Giroverkehr 
als  einen  Geschäftszweig  der  Reichsbank 
hervor  (§  13  *Die  Reichsbank  ist  befugt, 
folgende  Geschäfte  zu  betreiben :  1  bis  6,  7, 
»verzinsliche  und  unverzinsliche  Gelder  im 
Depositengeschäft  und  im  Giroverkehr  an- 
zunehmen«), sondern  bezeichnet  es  als  ihre 
Aufgabe,  »die  Zahlungsausgleichungen  zu 
erleichtem  und  für  die  Nutzbarmachung 
verfügbaren  Kapitals  zu  sorgen«.  Einen 
beinahe  zwingenden  Anlass  zur  Erweiterung 
ihres  Giroverkehrs,  zumal  nach  dem  Weg- 
fall der  gerichtlichen  Depositengelder,  welche 
einen  sehr  erheblichen  Teü  des  Betriebs- 
kapitals der  Preussischen  Bank  gebildet 
hatten,  bot  die  in  dem  Bankgesetz  enthaltene 
indirekte  ^  Kontingentierung  der  Notenaus- 
gabe. Mit  dem  ihr  danach  zugewiesenen 
Böchstbetrage  metallisch  ungedeckter  Noten 
(250  Millionen,  infolge  Zuwachsens  des  An- 
teils anderer  Banken  293,4  Millionen,  gemäss 


Art.  5  des  G.  v.  7.  Juni  1899  vom  1.  Januar 
1901   ab   450   Millionen   Mark)   konnte  die 
Reichsbank  den  wachsenden  Anforderungen 
des  Verkehrs  nicht  genügen.    In  den  Giro- 
guthaben iiat  sie  —  bei  steter  vorsorglicher 
Deckung  —  ein  Mittel  gefunden,  die  ge- 
setzliche Schranke  in  gewissem  Grade  un- 
schädlich zu   machen.    Hierzu  bedurfte  es 
aber  solcher  Einrichtungen,  welche  imstande 
waren,  fort  und  fort  entsprechende  Summen 
heranzuziehen.      Eine    blosse    Nachbildung 
der    englischen   Einrichtungen    hätte    dazu 
nicht    lüngereicht.      Der    Giroverkehr    der 
Reichsbank  bietet  vielmehr  in  mancher  Be- 
ziehung Neues  und  Eigentümliches.    Wäh- 
rend in  England  der  Verkehr  mittelst  Checks 
überwiegt,   spielen  bei  uns  die  Buchüber- 
tragimgen  die  weitaus  bedeutendere  Rolle. 
Hervorgehoben  ist  bereits  (sub  1)  die  kosten- 
freie Ueberweisung  von  Platz  zu  Platz,  wo- 
durch die  Leichtigkeit  des  Geldverkehrs  in 
Deutschland  in  geradezu  einziger  Weise  ge- 
wonnen hat.     Aber  auch  die  übrigen  Be- 
stimmungen, welche  im  Jahre  1883  in  Ver- 
bindimg mit  der  Errichtung  von  Abrechnungs- 
stellen (s.  d.  Art.  a.  a.  0.)  eine  erhebliche  Er- 
gänzung  und   Fortbildung   erfahren   haben, 
verfolgen  in  konsequenter  Weise  das  Ziel, 
die  Reichsbank   zur   Verwalterin  der  Bar- 
reserve  ihrer  Kunden   zu  machen,   derge- 
stalt,   dass   die   Giroconten   ein   thunlichst 
vollständiges  Bild  des  gesamten  Geschäfts- 
verkehrs  der  Gontoinhaber  mit  der  Reichs- 
bank gewähren.    Von  den  Girokunden  der 
Reichsbank  sind  viele  selbst  Giroanstalten 
mit    zalüreichen    Klienten,    so    dass     die 
Buchungen  bei  der  Reichsbank  vielfach  nur 
die  Resultate  eines  vielgegliederten  Zahlungs- 
verkehrs   darstellen    imd    die    Reichsbank 
selbst  als  ein  grosses  Clearingliaus  erscheint. 
In   den  grossen  Städten  gipfelt  das  System 
in    den    Abrechnungsstellen,    deren    Saldi 
täglich   gleichfalls   auf  Reichsbankgiroconto 
zur  Ausgleichung  gelangen. 

»Die  grossartige  Entfaltung,  wozu  die 
Reichsbank  ihren  Giroverkehr  zu  bringen 
verstanden  hat,  ist  ein  in  der  Bankge- 
schichte einzig  dastehendes  Beispiel  von 
einer  planmässig  und  konsequent  durchge- 
fülirten  Organisation  des  Zahlungsprozesses 
eines  gewaltigen  Wirtschaftsgebiets«  (Rauch- 
berg). 

Die  Formen,  in  welchen  sich  der  Giro- 
verkehr der  Reichsbank  bewegt,  sind  ziem- 
lich einfach.  Die  Grundlage  bildet  die  zum 
Zeichen  des  Vertragssclüusses  erforderliche 
Vollziehung  der  gedruckten  »Bestimmungen 
für  den  Giroverkehr  der  Reichsbank«  mit 
dem  Zusatz  »Kenntnis  genommen«,  durch 
den  Contoinhaber.  Daran  knüpft  sich  die 
Niederlegung  der  Unterschriften  bezw.  Voll- 
machten der  zur  Vertretung  desselben  be- 
rechtigten Personen.    Der  Kunde  erhält  zwei 


Giroverkehr 


731 


Checkbücher,  das  eine  7ai Uebertragungea 
bestimmt,,  mit  i-oten  Blättern,  das  andere 
mit  weissen  Blättern  zu  baren  Abhebungen. 
(Die  noch  vorkommenden  blauen,  grünen 
und  gelben  Checks  dienen  nur  dem  Giro- 
verkehr mit  Reichs-  und  Staatskassen.)  Die 
Blätter  sind  an  der  zum  Abreissen  be- 
stimmten. Stelle  durchlöchert.  Auf  dem 
zurückbleibenden  »Stamme«  pflegt  man  beim 
Abreissen  Summe  und  Datum  sowie  die 
Person  des  Empfängers  zu  vermerken. 
Ausserdem  erhält  der  Kunde  ein  »Gonto- 
gegenbuch«,  in  welches  alle  für  ihn  ein- 

fehenden  Gelder  auf  der  Kreditseite,   alle 
alilungen    oder    üebertragungen    auf    der 
Debetseite  einzutragen  sind. 

Als  Guthaben  ist  zunächst  —  dies  ist 
wesentlich  für  das  Zustandekommen  des 
Contoeröffnungsvertrags  —  ein  Barbetrag 
einzulegen.  Zur  Gutschrift,  gelangen  aber 
ausser  diesem  und  den  späteren  (von  dem 
Kunden  oder  für  dessen  Rechnung  von 
Dritten  eingehenden)  baren  Einzahlungen 
alle  von  dem  Contoinhaber  beiderReichs- 
bank  auf  Wechsel,  Lombarddarlehen  oder 
Checks  zu  erhebenden  Beträge  sowie  nach 
Eingang  die  Beträge  der  von  ihm  eingelie- 
ferten Incassopapiere  (Checks,  Wechsel, 
Anweisungen,  Rechnungen  etc.). 

Die  Verfügungen  des  Contoinhabers 
können  in  beliebigen  Beträgen  innerhalb  des 
Guthabens  erfolgen: 

1.  entweder  mittelst  weissen  Checks 

—  einer  Anweisung  eigentümlicher  Art  (an 
eine  bestimmte  Person  »oder  üeberbringer« 
lautend).  [Der  Inhalt  ist  ein  Zahlungs- 
auftrag; der  weisse  Check  kann  aber  auch 
zur  Gutschrift  auf  ein  anderes  Platzconto 
benutzt  werden.  Enthält  er  den  Zusatz  »nur 
zur  Yerrechnung«  quer  über  dem  Text  auf 
der  Vorderseite,  so  ist  Zahlung  verboten  und 
der  Checkbetrag  darf  nur  —  nach  Bestim- 
mung des  Contoinhabers  —  verrechnet 
werden], 

2.  oder  dadurch,  dass  der  Contoinhaber 
Wechsel,  welche  er  als  Wechsel  ver- 
bundener oder  Domiziliat  zu  bezahlen  hat, 
mit  einem  Zahlbarkeitsvermerke  (bei 
der  Reichsbank)  versieht  und  dieser  avisiert. 
[In  dieser  Beziehung  erwartet  die  Reichs- 
bank, dass  der  Contoinhaber  sich  entweder 
ihrer  oder  eines  mit  ihr  im  täglichen  Ab- 
rechnungsverkehr stebenden  Bankhauses  zur 
Bezahlung  seiner  Wechsel  bedient], 

3.  oder  endlich  mittelst  rotenChecks 

—  einer  auf  den  Namen  lautenden  unüber- 
tragbaren Giroanweisung  in  eigentlichem 
Sinne;  sei  es:  a)  behufs  üeberweisung  auf 
ein  Giroconto  am  Platze,  sofern  hierzu  nicht 
ein  weisser  Check  benutzt  wird  (s.  oben 
zu  1),  b)  oder  zur  üebertragung  auf  das 
Conto  eines  Girokunden  bei  einer  aus- 
wärtigen Reichsbankanstalt.  Die  Einliefenmg 


erfolgt  —  gleichviel  durch  wen  —  bei  der 
Bankanstalt,  welche  das  Conto  des  Aus- 
stellers führt.  Diese  veranlasst  dann  das 
Nötige  wegen  der  Gutschrift.  (Weisse 
Checks  auf  eine  auswärtige  Anstalt  zieht 
die  Reichsbank  gegen  Provision  ein ;  auch 
für  die  Einlösung  von  ausserhalb  ein- 
gehender weisser  Checks  erhebt  sie  eine 
Provision.  Beide  Formen  stellen  keine 
regelmässige  Leistung  im  Giroverkehr  dar.) 

Das  Entgelt  für  die  mannigfaltigen 
Leistungen  der  Reichsbank  besteht  in  der 
zinsfreien  Benutzung  der  Girogelder.  Die 
Kunden  sind  gehalten,  einen  angemessenen 
Betrag  stehen  zu  lassen,  ohne  dass  stets 
eine  Vereinbarung  wegen  eines  Mindest- 
guthabens besteht.  Je  besser  die  K unden 
die  Bedeutung  des  Giroverkehrs  und  die 
Aufgabe  der  Reichsbank  als  Kasseführerin 
verstehen,  desto  weniger  erweisen  sie  sich 
schwierig  in  Erfüllung  dieser  Erwartung. 

In  dieser  Gestalt  hat  sich  der  Girover- 
kehr der  Reichsbank  fort  und  fort  neue 
Freunde  gewonnen  und  ist  zu  einem  unent- 
behrlichen Teil  der  fiir  den  Handelsverkehr 
im  weitesten  Sinne  getroffenen  Einrichtungen 
geworden.  Damit  möglichst  viele  Plätze 
der  Wohlthaten  des  Giroverkehrs  teilhaftig 
werden,  hat  die  Reichsbankverwaltung  ihn 
auf  die  mit  eigenen  Kassen  versehenen  Neben- 
stellen mit  gewissen  durch  deren  Ver- 
fassung gebotenen  Beschränkungen  ausge- 
dehnt und,  um  auch  an  diesen  (212) 
Nebenplätzen  die  Verfügung  über  die  Gut- 
haben nicht  zu  verzögern,  seit  längerer  Zeit 
die  direkte  Avisierung  von  üeberweisungen 
nach  ausserhalb  anstatt,  wie  bisher,  durch 
Vermittelung  der  vorgesetzten  Bankanstalt 
in  gewissen  Grenzen  gestattet.  Die  Zahl 
der  Girokunden  ist  infolgedessen  in  stetem 
Wachsen.  Ausser  Kaufleuten  und  Privat- 
personen, Berufsgenossenschaften,  Versiche- 
rungsanstalten etc.  machten  bald  auch  Be- 
hörden, wie  die  Reichspostverwaltung,  die 
preussischen  Eisenbahnbehörden,  Militärver- 
waltungen und  Truppenteile  von  der  Giro- 
einrichtung Gebrauch.  Der  Verkehr  mit 
den  staatlichen  Kassen  entwickelte  sich  aber 
langsam.  Zum  Anschluss  des  ganzen 
Systems  der  Kassen  des  Reichs,  Preussens, 
Badens  und  der  Reichspostverwaltung  an 
den  allgemeinen  Giroverkehr  der  Reichs- 
bank ist  es  erst  in  den  letzten  Jahren  ge- 
kommen. 

Auf  Wimsch  der  Girointeressenten  ist 
es  überdies  an  manchen  Plätzen  schon  seit 
1887  mit  der  Postverwaltung  vereinbart,  dass 
Postanweisimgsbeträge  von  der  Post  auf 
das  Conto  der  Empfänger  eingezahlt  werden, 
wie  diese  den  Betrag  der  bei  den  Post- 
ämtern eingelieferten  Postanweisungen  in 
Checks  auf  die  Reichsbank  entrichten  dürfen. 
Im  Jahre   1896/97   haben  die  Gutschriften 


732 


Giroverkehr 


von  auszuzahlenden  Postanweisungsbeträgen 
auf  den  Conten  der  Empfänger  655  Mimo- 
nen  Mark,  die  mittelst  Checks  eingezahlten 
Postanweisungsbeträge  nur  8  Millionen  Mark 
betragen. 

Die  Auszahlung  der  Schiddbuclizinsen 
seitens  der  preussischen  Staatsschuldenver- 
waltung und  der  Reichsschuldenverwaltung 


erfolgt  zum  Teil  ebenfalls  je  nach  Wunsch 
der  Empfänger  auf  dem  Wege  des  Girover- 
kehrs. 

Die  folgenden  Uebersichten  geben  Zahlen, 
welche  für  die  Entwickelung  des  Girover- 
kehrs bei  der  Reichsbank  von  besonderem 
Interesse  sind. 


Tabelle  I.    Gesamtgiroverkehr  der  Reicbsbank,  die  Öffentlichen  Kassen  mit  inbegri£fen. 


Anf  Giroconto  sind  vereinnahmt 
(in  Tausenden  der  Stückzahl  und  des  Betrages): 


Jahr 

durch 
Barzahlungen 

durch  Ver- 
rechnungen ^) 

durch  ein-    dnrch  üebpr- 
Wechflel  u.  tragungen  a.  Platz 

d.  Uebertrag. 

von  anderen 

Plätzen 

Zu- 
sammen 

St. 

M. 

St.     M. 

St. 

M.   St. 

M. 

St. 

M. 

M. 

1876 

3  285  139 

3  079  775 

2  027  364 

8  392  278 

1880 

353 

6  047  004 

445 

5  453  67 1 

644 

6  117  733ii7  618408 

1883 

473 

7737313 

482 

7  243  488 

895 

6922329.21  903  130 

1886 

399 

5  849  979 

216 

2798419 

739932641 

543 

10690307   1131 

835420528625551 

1889 

790 

7520813 

335 

3  937  578 

335  882  708 

731 

14434374 

1609 

1 1  079  562 

37  855  035 

1890 

894 

8  125  404 

378 

4  749  388 

4i2'923  993 

781 

15033986^ 

1757 

11044257 

39877028 

1891 

939 

8  369  267 

405 

4  704  343 

428912466 

868 

15359993 

1860 

II  162948 

40509017 

1892  9S6 

7  849  808 
6370261') 

426 

4  165  360 

461:958855 

861 
866 

14567727 
10427308*) 

2012 
2159 

1 1  550  440 
II  710881 

39092  190 

1893i  770 

St.  1087 

M.  12684440 

41  192890 

1894 

797 

6  638  553 

1124 

II  942  166 

903 

1 1  032  928 

2317 

12  623  714 

42237361 

1895 

830 

6  785  505 

1217 

13428913 

1022 

12597654 

2648 

14050639 

46862  711 

1896  859 

7  557  955 

1328 

1 5  801  780 

1027 

13794360 

2859 

15673  114 

52  827  209 

1897  915 

8  211  625 

1307 

16689233 

IIOI 

1 5  234  438 

3082 

17507667 

57  642  963 

1898  1021 

8  827  360 

1355 

20  149  783 

1281 

19094879 

3431 

20  829  886 

68901  908 

1899 

985 

10216  726 

1049 

21  7 

17733 

2170 

22481  239 

3837 

23  594  335 

78010033 

Fortsetzung. 


Auf  Giroconto  sind  verausgabt 
(in  Tausenden  der  Stückzahl  und  des  Betrages): 


'    durch 

durch  Ver- 

durch üebertra- 

Be- 

d.  Uebertrag.  \      Zu-   !  stand*) 

TS  TS 

Jahr  Barzahlungen 

rechnungen*) 

gnngen  am  Platz 

a.  and.  Plätze  '  sammen 

am  Ende 
d.  Jahres 

2S 

,  St. 

1 

M. 

St. 

M. 

St.  ,    M. 

St.  !   M.   '   M. 

M. 

1876 

3317912 

3079776 

1 
I  921  279  8318967,  92302 

• 

1880 

432 

7  063  964 

1 

487 

5453671 

367'  509821217615847,131153 

5251 

1883 

619 

8  853  096 

1 

434 

7  243  488 

518'  5793895,21890479,144166 

5646 

1886 

489 

9  330  233 

240 .  I  167  799 

318 

10  690  307 

750'  7415952  28604291  215  776 

6689 

1889 

670 

11  941  330 

262 

I  407  936 

459 

14434374 

1107I10037644J37821  284248  149 

7983 

1890 

752 

13  141  971 

292 

1  787  348 

500 

15033986 

121  ii  9909168139872473252704 

8583 

1891 

803 

13  178  776 

308 

I  988  128 

526 

15  359  993 

1293'  9976863140503760257961 

9509 

1892 

815 

12  341  831 

319 

I  861  193 

531 

14  567  727 

i437'io352  145'39  122896,227255 

10037 

1893 

706 

9592219») 

528 

10775499') 

559 

10427  308*) 

i546jio375  354|4i  170380249765 

I044I 

1894 

737 

9  486  450 

595 

10403750 

587 

1 1  032  928 

]  700;  1 1  289  069142  212  197  274  929 

10794 

1895 

770 

10237646 

565 

11  328175 

669 

12597654 

1976,12  672083I46  835  558  302  o82j 

II 498 

1896 

842  1 1  974  460 

628 

12908477 

666 

13794360 

2164  14  098  167  52  775  464 

353  827 

12292 

18971  88312704319 

655 

13826376  ' 

747 

15234438 

236615  899  552  57  664685 

332  105 

13205 

1898,  954  14  Ol  7  481 

726 

16767410 

914 

19094  880 

2695I19002  158  68  881  929 

352084 

13967 

1899' 

1012 

15  145625 

763 

18411  718 

1544 

22  481  239 

3022  21  938  178  77  976  760 

1 

385  357 

14987 

*)  Bis  mit  1892  nur  diskontierte  Wechsel. 

')  Bis  mit  1892  nur  eingelöste  Domizile. 

^)  Aenderung  in  der  Art  und  Weise  der  Verbuchung  der  Barzahlungen,  Verrechnungen 
und  Uebertragungen  Am  Platz. 

*)  Ausschliesslich  der  „schwebenden",  noch  nicht  zur  Gutschrift  gelangten  Giroüber- 
tragnngen. 


Giroverkehr 


733 


Tabelle  la.  Gliederung  der  Giroumsätze  in  Prozenten. 

Auf  Giro-Conto  vereinnahmt 

Auf  Giro-Conto  verausgabt 

Im 

durch 

durch 

i  >:  c 

durch 

durch 

1 

ber- 
n  a. 
itze 

Bar- 

Ver- 

durch Pli 
Über- 
tragung 

zu- 

Bar- 

Ver- 

Sfti 

zu- 

Jahre 

zah- 

rech- 

sammen 

zah- 

rech- 

^l& 

^iS 

sammen 

lungen 

nungen 

durc 
trag 
audi 

lungen 

nungen 

durc 
tra 

in  Prozenten 

1876. 

9,2 

36,7 

24,1 

100,0 

39,9 

37,0 

23,1 

ICX),0 

1880 

34,4 

30,9 

34,7 

100,0 

4C 

S2 

30,9 

28,9 

100,0 

1883 

35,3 

33,1 
37,3 

31,6 
29,2 

100,0 
100,0 

40,4 

33,1 
37,4 

26,5 
25,9 

100,0 

1886 

20,4          13,1 

32,6 

4,1 

100,0 

1889 

19,9          12,7 

38,1 

29,3 

100,0 

31,6 

3,7 

38,2 

26,5 

100,0 

1890 

20,4           14,2 

37,7 

27,7 

100,0 

32,9 

4,5 

37,7 

24,9 

100,0 

1891 

2o,6          13,9 

37,9 

27,6 

100,0 

32,5 

4,9 

38,0 

24,6 

100,0 

1892 

20,i          13,1 

37,3 

29,5 

100,0 

31,5 

4,8 

37,3 

26,4 

100,0 

1893 

15,5          30,8 

25,3 

28,4 

100,0 

23,3 

26,2 

25,3 

25,2 

100,0 

1894 

15,7 

28,2 

26,1 

30,0 

100,0 

22,5 

24,7 

26,1 

26,7 

1CX),0 

'  1895 

14,5 

28,7 

26,9 

29,9 

100,0 

21,8 

24,2 

26,9 

27,1 

100,0 

1896 

U-3     ;     29,9 

26,1 

29,7 

100,0 

22,7 

24,5 

26,1 

26,7 

100,0 

1897 

14,2 

29,0 

26,4 

30.4 

100,0 

22,0 

24,0 

26,4 

27,6 

icx>,o 

1898 

12,8 

29,2 

27,7 

30,3 

100,0 

20,3 

24,3 

27,7 

27,7 

100,0 

1899 

13,1 

27,8 

28,8 

30,3 

100,0 

1 

19,4 

23,6 

28,8 

1 

28,2 

100,0 

Die  Tabellen  la  und  Ib  enthalten  eine 
Darstellung  jener  Eutwickelung  von  der 
Einführung  des  Giroverkehrs  im  Jahre  1876 
bis  zum  Jahre  1899. 

Während  der  Umsatz  im  Jahre  1876 
Mark  16  711000  000  betrug,  stellte  er  sich 
1899  auf  Mark  155  987  000  000,  also  neun- 
mal so  hoch. 

Der  Girobestand  war  am  31.  Dezem- 
ber 1876  Mark  92  000  000  und  am  31. 
Dezember  1899  Mark  385  000000. 

Die  Anzahl  der  Girokunden  belief 
sich  Anfang  1877  auf  3245  und  Ende 
Dezember  1899  auf  14987. 

-  Die  erheblich  wachsenden  Um  satzzahlen 
nach  1883  erklären  sich  zum  Teil  durch  die 
•  seit  dem  genannten  Jahre  ^Itenden  Bestim- 
mungen. Gegen  36  Milliarden  im  Jahre 
1882  stieg  der  Umsatz  schon  im  Jahre  1884 
auf  52  Milliarden. 

Nach  den  neuen  Girobestimmungen  wird 
nämlich  die  Valuta  diskontierter  Wechsel 
und  erteilter  Lombarddarlehen  nicht  mehr 
bar  ausgezahlt,  sondern  dem  Giroconto  gut- 
geschrieben. Der  Contoinhaber  muss  nun- 
mehr in  den  Formen  des  Giroverkehrs 
darüber  verfügen.  Accepte  der  Girokunden 
waren  fortan  bei  der  Reichsbank  (oder  bei 
den  Mitgliedern  der  neu  eingerichteten 
Abrechnungsstellen)  zahlbar  zu  stellen  (s. 
oben). 

Dazu  kam  in  demselben  Jahre  die  Ein- 
fühlung des  beschränkten  Giroverkelirs  bei 
den  Nebenstellen.  Dieser  ist  vom  Jalire  1895 
ab,  dem  Jahre  beginnenden  wirtschaftlichen 
Aufschwunges,  bei  einer  von  Jahr  zu  Jahr 


steigenden  Anzahl  von  Nebenstellen  (mit 
mehreren  Beamten)  in  den  erweiterten  Giro- 
verkehr  umgewandelt  worden,  welcher  mit 
dem  Giroverkehr  der  selbständigen  Anstalten 
im  wesentlichen  übereinstimmt. 

Die  Steigerung  des  Giroumsatzes  hat 
übrigens  nicht  ein  gleich  grosses  Steigen 
des  Girobestandes  zur  Folge,  wie  sich  aus 
Tabelle  Ib  ergebt. 

Bei  Vergleichung  des  Giroverkehrs  bei 
der  Beichsbankhauptstelle  in  Hamburg 
mit  dem  bei  den  übrigen  Bankanstalten  er- 
geben sich  interessante  Resiütate. 

Bekanntlich  wurde  die  alte  Hamburger 
Girobank  von  der  Reichsbank  übernommen. 
Die  Gliederung  der  Umsätze  auf  dem  Ham- 
burger Giroconto  kann  bei  der  Jahrhun- 
derte alten  Gewöhnung  des  dortigen  Han- 
delsstandes als  Vorbild  füi*  die  anderen 
Bankstellen  dienen.  Während  im  Jalire  1876 
in  Hamburg  die  Barzahlungen  in  Ein- 
nahme und  Ausgabe  11  ^/o  und  12%  des 
Umsatzes  betragen,  betragen  sie  bei  den 
übrigen  Bankstellen  noch  54  %.  Die  U  e  b  e  r  - 
tragungen  am  Platz  dagegen  machen 
in  Hamburg  81  %  der  Gesamteinnahme  und 
84%  der  (Gesamtausgabe,  bei  den  übrigen 
Bankstellen  nur  13%  aus.  Aber  auch  die 
Uebertragungen  von  ausserhalb 
und  auf  andere  Plätze  haben  sich  in 
Hamburg  steigenden  Beifalls  erfreut.  Der 
Prozentsatz  wächst  bis  zum  Jahre  1881  von 
8%  auf  18%  der  Einnahme  und  von  4% 
auf  17%  der  Ausgabe. 

Dementsprechend  sinkt  das  Verhältnis 
der  Uebertragungen  am  Platze,  die  in  der 


734 


Giroverkehr 


Tabelle  Ib.  Beichsbank. 

Giroverkehr  mit  Ausschluss  der  öffentlichen 

Kassen. 

Durch- 

Zu  100  000  M. 

Gesamt- 

schnittl. Be- 

Umsatz 

Jahr 

umsatz 

stand  der 

genügt  ein 

Guthaben  1) 

Guthaben 

in  Tausend  Mark 

von  M. 

1876 

16711  245 

70594 

430 

1877 

27  022  029 

99070 

360 

1878 

27291  913 

109  999 

400 

1879 

30410203 

128  796 

420 

1880 

35234255 

124993 

350 

1881 

37  458  776 

126  962 

340 

1882 

36  190  142 

III  960 

310 

1883 

43  793  609 

129809 

300 

1884 

52  637  790 

155  213 

290 

1885 

53  847  522 

162  469 

300 

1886 

57  229  843 

206  557 

360 

1887 

58843133 

229  121 

390 

1888 

63  824  977 

235  088 

370 

1889 

75676319 

239  998 

310 

1890 

79749501 

208  767 

260 

1891 

81  012  777 

237  853 

290 

1892 

78215087 

264  397 

340 

1893 

82  363  270 

248  935 

300 

1894 

84  449  559 

262  488 

310 

1895 

93  698  269 

289  970 

310 

1896 

98249  164 

239  027 

240 

1897 

103  902  571 

235  443 

230 

1898 

120828029 

248  114 

200 

1899 

131  501  117 

253981 

190 

Summe  sich  ziemlich  gleich  bleiben,  von 
81%  und  840/0  im  Jahre  1876  auf  71% 
und  71  %  im  Jalire  1881,  wogegen  die  Bar- 
zahlungen auch  jetzt  noch  11%  und  12% 
betragen.  Letztere  ermässigen  sich  bei  den 
übrigen  Bankstellen  von  54%  auf  41%  in 
Einnahme  und  von  54%  auf  48%  in  Aus- 
gabe; es  steigen  dafür  die  Uebertragimgen 
am  Platze  von  13%  auf  19%. 

Nach  zehnjährigem  Bestehen  des  Giro- 
verkehrs im  Jalire  1886  bildet  der  Umsatz 
von  Hamburg  nur  noch  12%  des  Gesamt- 
umsatzes in  Deutschland  gegen  35%  im 
Jahre  1876  und  jetzt,  nach  24  Jahren,  nur 
noch  9,6  %.  Mehr  und  mehr  nähert  sich  der 
Giroverkehr  der  übrigen  Reichsbankanstalten 
den  Hamburger  Normalzahlen.  Besonders 
tritt  dies  hervor  bei  den  Bankplätzen  mit 
Abrechnungsstellen,  wie  sich  aus  Tabelle  II 
ergiebt. 

Im  ganzen  verhalten  sich  die  Barzah- 
lungen in  ihren  Prozentsätzen  bei  den 
Bankanstalten  mit  Abrechnungsstelle,  deren 
Zahl  sich  im  Jahre  1893  von  9  auf  10  er- 
höht hat,  zu  denen  bei  Bankanstalten  ohne 
Abrcchnungsstelle  in  Einnahme  und  Aus- 
gabe wie  1  :  2. 

Ein  weiterer  wesentlicher  Unterschied 
besteht  bei   den  Uebertnignngen  am  Platze 

*)  Ausschliesslich  der  jeweils  „schwebenden", 
noch  nicht  zur  Gutschrift  gelangten  Giroüber- 
tragungen. 


und  bei  den  Uebertragungen  von  mid  nach 
ausserhalb : 

Die    Uebertragungen    am    Platze 

betmgen : 

1899  bei  den  10  Abrechnunfirsstellen  34  %  der 

Einnahme  (gegen  4ö,67o  in  1890j ;  bei 

den  übrigen  60  Bankstellen  17  ^/^  (gegen 

9,50/0  in  1890). 

DieUebertragungen  von  und  nach 
ausserhalb  betrugen: 
1899  bei  den  10  Abrechnungsstellen  25%  und 
240/0  der  Einnahme  und  Ausgabe  (gegen 
230/0  und  22%  in  1890);  bei  den  üb- 
rigen 60  Bankstellen  41%  und  38% 
(gegen  41,5  und  35  «/o  in  1890). 

Der  Zweck  der  Abrechnungsstellen,  die 
Kompensation  von  Platzzahlungen  zu  be- 
wirken, ist  somit  in  erheblichem  Umfange 
erreicht.  Freilich  überwiegt  an  den  10  Orten 
mit  Abrechnungsstellen  der  eigentliche  Han- 
del, und  dieselben  sind  zugleich  Punkte,  an 
denen  sich  der  Bankverkehr  der  einzelnen 
Bundesstaaten  und  Provinzen  koncentriert, 
so  dass  mehr  Material  zu  Komj)ensierungs- 
zwecken  vorhanden  ist  als  in  reinen  Indus- 
triestädten. 

Der  Unterschied  zwischen  dem  Girover- 
kehr der  Bankanstalten  mit  Abrechnungs- 
stelle und  den  übrigen  Bankstellen  ver- 
wischt sich  indes  mehr  und  mehr.  Die 
Entwickelung  seit  1890  zeigt  dies  mit  über- 
raschender Deutlichkeit.  Der  prozentuale 
Anteil  der  Platzübertragungen  an  der  Ge- 
samtbewegung tritt  an  den  Bankanstalton 
mit  Abrechnungsstelle  mehr  und  mehr  zu- 
rück, während  er  sich  bei  den  übrigen 
Bankanstalten  beträchtlich  steigert.  Dagegen 
steigt  der  prozentuale  Anteil  der  Ueber- 
tragungen von  und  nach  ausserhalb  fast  all- 
gemein, an  den  Plätzen  mit  einer  Abrech- 
nungsstelle aber  relativ  stärker  als  an  den 
übrigen  Bankplätzen,  an  deren  Giroverkelu: 
die  Uebertragungen  von  und  nach  ausser- 
halb einen  ungewöhnlich  breiten  Raum  ein- 
nehmen. Es  findet  also  mehr  imd  mehr 
eine  Annäherung  statt. 

Diese  Verschiebungen  sind  zum  Teil  durch 
das  Anschwellen  der  Verrechnungen  mit 
der  Reichsbank,  welches  an  Orten  mit  einer 
Abrechnungsstelle  in  weit  rascherem  Tempo 
vor  sich  gin^  als  an  den  übrigen  Bankan- 
stalten, herl)eigeführt.  worden. 

Der  prozentuale  Anteil  der  Platzüber- 
tragungen an  den  Gesamtumsätzen  ist  hier- 
durch in  den  verkehrsreichsten  Orten  stär- 
ker herabgedrückt  worden  als  in  den  kleinen 
Provinzialstädten,  an  welchen  der  Platzüber- 
tragungsverkehr sich  relativ  auch  noch  viel 
lebhafter  entwickelt  hat  als  an  jenen  Plätzen 
mit  einem  stark  ausgebildeten  Bankwesen, 
wo  er  bereits  bald  nach  Eröffnung  des  Ver- 
kehi-s  eine  hohe  Stufe  der  Vollkommenheit 
erreicht  hatte. 

Während  in  Hamburg  beispielsweise  die 


Giroverkehr 


735 


Tabelle  IE.    Gesamtgiroverkehr  der  Reichsbank,  die  öfFentlichen  Kassen  mit  inbegriffen. 

Auf  Giroconto  sind  vereinnahmt  (in  1000  M.) 
I  durch 


1899 

Bar- 
zahlungen 

Verrechnungen 

der  Bank  mit 

den  Conto-ln- 

habem 

Platztiber- 
tragungen 

üebertrag.  v. 
and.  Bank- 
anstalten 

• 

Zusammen 

A.   Bei  den  Abrechnungs- 

stellen 

Berlin 

2  668  598 

10  713  792 

8  139726 

6  158  158 

27  680  274 

Bremen 

163  153 

367  525 

449618 

434  376 

1  414672 

Breslau 

267  072 

868  846 

550312 

551565 

2  237  795 

Köln 

233  664 

•       617543 

756  201 

887804 

2495  212 

Dresden 

342298 

214371 

817872 

456  262 

1  830  803 

Elberfeld 

108  404 

233  160 

278  147 

601  217 

1  220  928 

Frankfurt  a.  M. 

787  555 

902993 

I  819  461 

1476716 

4  986  725 

Leipzig 

255  959 

967  205 

213337 

743  829 

2  180330 

Stuttgart 

199995 

349  133 

130740 

339271 

I  019  139 

5  026  698 

15234568 

13  155  414 

11  649  198 

45  065  878 

Hamburg 

395  654 

785  622 

4  869  664 

1  416  768 

7  467  708 

5  422  352 

16020  190 

18  025  078 

13065966 

52  533  586 

B.  Bei  den  übrigen  Bank- 

anstalten 

4  794  374 

5  697  543 

4456  161 

10  528  369 

25  476  447 

10  216  726 

21  717  733 

22481  239 

23  594  335 

78010033 

A.  Abrechnungsstellen 

10% 

31% 

34% 

25% 

loo^o 

B.  Die  übr.  Bankanstalten 

19% 

23% 

>7% 

41% 

100% 

Fortsetzung 


Auf  Giroconto  sind  verausgabt  (in  1000  M.) 


durch 

1899 

Bar- 
zahlungen 

Verrechnungen 

der  Bank  mit 

den  Conto-In- 

babem 

Platzüber- 
tragongen 

Üebertrag.  a. 
and.  Bank- 
anstalten 

Zusammen 

A.    Bei  den  Abrechnungs- 

stellen 

Berlin 

4  506  834 

9082019 

8  139726 

5  940  854 

27  669  433 

Bremen 

149026 

374  288 

449619 

441287 

I  414220 

Breslau 

460  358 

713314 

550312 

513062 

2  237  046 

Köln 

386  702 

651093 

756  201 

701  273 

2  495  269 

Dresden 

254  258 

404  752 

817872 

353  143 

1  830  025 

Elberfeld 

254291 

262215 

278  147 

426  325 

I  220  978 

Frankfurt  a.  M. 

796  722 

902990 

I  819461 

1  463  684 

4  982  857 

Leipzig 

404  379 

971  419 

213336 

591  437 

2  180571 

Stuttgart 

269  138 

313927 

130  740 

301  909 

1015714 

7  481  708 

13676017 

13  155  414 

10  732  974 

45046113 

Hamburg 

437  333 

645  260 

4  869  664 

1517235 

7  469  492 

7919041 

14321  277 

18025078 

12250209 

52515605 

B.  Bei  den  übrigen  Bank- 

anstalten 

7  226  584 

4090441 

4456  161 

9  687  969 

25461  155 

15  145625 

18411  718 

22  48 1  239 

21938178 

77  976  760 

A.  Abrechnungsstellen  • 

i5% 

27% 

34% 

24% 

100% 

B.  Die  übr.  Bankanstalten 

28% 

16% 

18% 

38% 

100% 

Uebertragungen  am  Platze  auch  jetzt  noch 
wie  im  Jahre  1890  etwa  das  Vierfache  der 
Uebertragungen  nach  auswärts  ausmachen, 


sind  letztere  in  Industriestädten  wie  Chem- 
nitz und  Dortmund  nur  noch  4  bezw.  3  mal 
grosser  als  die  Uebertragungen  am  Platze, 


736 


Giroverkelir 


gegen  das  Siebenfache  im  Jahre  1890.  An 
zahlreichen  anderen  Plätzen  ist  das  üeber- 
gewicht  der  interlokalen  Ueberweisungen 
über  die  Platzübertragungen  in  weit  stärke- 
rem Grade  verringert  worden.  Der  Schwer- 
punkt des  Giroverkehrs  liegt  an  vielen  die- 
ser Orte,  namentlich  aber  im  Osten  Deutsch- 
lands, indes  immer  noch  in  den  Uebertra- 
gungen  von  und  nach  ausserhalb,  welche 
die  Vorteile  des  Giroverkehrs  der  Reichsbank 
am  klai-sten  hervortreten  lassen.  An  dem- 
selben können  eben  auch  die  Girokunden 
der  kleinen  Provinzialstädte  mit  Nutzen  teil- 
nelunen,  an  welchen  die  Vorbedingungen 
eines  selbständigen  lokalen  Giroverkehrs, 
hinlängliches  Material  zu  Kompensations- 
zwecken, fehlen. 

Die  in  den  Clearing-Häusern  von  London 
und  New- York  umgesetzten  Summen  über- 
ragen ja  bei  weitem  die  Umsätze  der  deut- 
schen Abrechnungsstellen;  es  ist  aber  hier- 
bei zu  berücksichtigen,  dass  bei  uns  die  im 
Uebertragimgsverkehr  nach  auswärts  umge- 
setzten Summen  (pro  1899  ca.  47,3  Milliarden) 
genau  genommen  hinzugerechnet  werden 
müssen  dem  Umsätze  von  30,2  Milliarden 
im  lokalen  Abrechnungsverkehr.  Denn  der 
rote  Check  dient  in  Deutscliland  als  Ersatz 
des  in  England  und  Amerika  gebräuchlichen 
Distanzchecks. 

Bei  der  Reichsbank  lautet  der  weisse 
Check,  der  meistens  zur  Auszahlung  prä- 
sentiert wird,  immer  noch  wie  im  Jahre  1876 
durchschnittlich  über  eine  Summe  von  Mark 
15000.  Der  durchschnittliche  Betrag  des 
roten  Checks  ist  dagegen  gesunken,  von 
Mark  12500  im  Jahre  1876  auf  Mark  7200 
im  Jahre  1899.  Die  diutjhschnittliche  Grösse 
der  Bareinzahlungen  wie  der  Ueberti-agun- 
gen  am  Platze  weist  ähnhche  Rückgänge  auf. 

Während  der  Check  nur  langsam  in  die 
kleinen  Geschäftski'eise  eindringt,  wächst 
das  Verständnis  der  Conteninhaber  für  eine 
sinngemässe  Benutzung  der  Giroeinrichtun- 
gen um  so  rascher.  Die  geldersparende 
Wirkung  des  Giroverkehrs  steigert  sich  in- 
folgedessen, während  die  Bewegungen  der 
Giroguthaben  an  Stetigkeit  gewinnen  und 
die  Girogelder  für  die  Bank  als  Faktor  der 
Diskontpolitik  immer  wertvoller  werden. 
Diese  Entwickelung  hat  durch  den  Beitritt 
der  Kassen  des  Reichs,  Preussens  imd 
Badens  zum  vollen  Giroverkehr  der  Reichs- 
bank, wodurch  die  Zusammenfassung  der 
wichtigsten,  nicht  im  unmittelbaren  Verkehr 
stehenden  Zahlungsmittel  in  den  Händen 
der  Bank  bewirkt  worden  ist,  eine  kräftige 
Stütze  erfaliren. 

Der  Ueberblick  über  die  Verschiebungen 
in  der  Gliedenmg  des  Giroverkehrs  der 
Bank  ist  diurch  die  wiederholten  Aenderun- 
gen  in  der  Art  und  Weise  der  Verbuchun- 
gen  der  Barzahlungen  wie  der  Verrechnun- 


gen stark  getrübt  Durch  denAnschluss  der 
staatlichen  Kassen  ist  der  Ueberblick  weiter 
beeinträchtigt  worden.  Gleichwohl  treten 
die  charakteristischen  Grundzüge  der  Ent- 
wickelung ziemlich  klar  hervor.  Die  eine 
Geldersparnis  bewirkenden  Girovorgänge, 
die  Uebertragungen  von  einem  Conto  auf 
das  andere,  insbesondere  aber  die  Verrech- 
nungen wachsen,  die  Bareinzahlungen  gehen 
in  Einnahme  und  Ausgabe  kontinuierlich  zu- 
rück, letztere  insbesondere  an  Orten,  welche 
sich  durch  eine  hohe  wirtschaftliche  und 
kommerzielle  Thätigkeit  auszeichnen.  All- 
gemein aber  geht  der  Zug  der  Entwicke- 
lung dahin,  dass  die  Beziehungen  der  Bank 
zu  ihren  Klienten  immer  inniger  werden 
und  der  Giroverkehr  selbst  immer  mehr  mit 
den  übrigen  Geschäften  zu  einer  organischen 
Einheit  verwächst. 

Eine  Ersparnis  und  Schonung  der  Zah- 
lungsmittel ist  in  grösstem  Umfange  einge- 
treten. Zugleich  ist  das  andere  Ziel  welches 
die  Reichsbank  mit  der  Einführung  ihres 
Giroverkehrs  anstrebte,  die  weite  Hinaus- 
schiebung der  Grenze  steuerfreier  Notenaus- 
gabe, eiTcicht  worden.  Die  durchschnittliche 
Höhe  des  Gesamtgirobestandes  nimmt  infolge 
der  wachsenden  Zahl  der  Conten  und  der 
zunehmenden  Koncentration  des  Zahlungs- 
verkehrs bei  der  Bank  stetig  zu,  während 
die  Grenzen,  in  welchen  sich  die  Schwan- 
kungen der  Guthaben  vollziehen,  aus  dem 
gleichen  Grund  enger  werden. 

Die  Natur  der  Giroguthaben,  bestehend 
in  der  Zusammenfassung  der  bedeutendsten 
für  den  unmittelbaren  Zahlungsdienst  be- 
stimmten Gelder  der  Girointeressenten,  bringt 
es  mit  sich,  dass  diese  um  die  Zeit  der 
grossen  Zahltermine  Deutschlands,  der  Quar- 
talswechsel, zu  welchen  die  Kreditansprüche 
und  damit  die  Schwächung  der  Bankmittel 
ihren  Höhepimkt  erreichen,  in  der  Regel 
anschwellen. 

Die  Girogelder  werden  nicht,  wie  die 
vielfach  den  Charakter  der  Spargelder  an 
sich  tragenden  verzinslichen  Depositen,  der 
Bank  gerade  zu  der  Zeit  untreu,  in  welcher 
diese  von  ihnen  den  nutzbringendstenG^ebrauch 
machen  könnte.  Zu  Zalüungszwecken  wer- 
den vielmehr  um  die  Zeit  der  Quartals- 
wechsel die  höchsten  -Guthaben  auf  den 
Conten  vereinigt,  der  Zahlungsausgleich 
geht  gerade  dann  am  intensivsten  vor  sich, 
die  interlokalen  Ueberweisungen  erreichen 
die  grössten  Beträge.  Die  von  dem  über- 
weisenden Conto  abgeschriebenen,  dem 
empfangenden  Conto  wegen  des  Postenlaufes 
noch  nicht  gut  gebrachten  und  deshalb 
der  Verfügung  des  Empfängers  entzogenen 
Ueberweisungen  erreichen  daher  jetzt  gleich- 
falls das  Maximum.  Diese  »schwebenden« 
Ueberweisungen  müssen  den  Guthaben  zu- 
gezählt werden,  welche  unter  diesen  Um- 


Giroverkehr 


737 


ständen  einen  Hochstand  erreichen  in  der 
Zeit,  in  welcher  die  Notenreserve  ilirem 
tiefsten  Stande  zustrebt  und  die  staatlichen 
Kassen  die  aufgesammelten  öffentlichen 
Gelder  der  Bank  entziehen.  Notenreserve 
und  Guthaben  bewegen  sich  in  entgegenge- 
setzter Richtung.  Die  Girodepositen  bei 
der  Heichsbank  ändern  sich  nach  anderen 
Gesetzen  als  ihr  Banknotenumlauf.  »Es 
wäre  daher  widersinnig,  sie  nach  den  glei- 
chen Gesichtspunkten  zu  reglementieren« 
(Rauchber^).  Der  heftige  Rückgang  der 
Reserve  wird  durch  die  steigenden  Girogut- 
haben teilweise  aufgehoben.  Das  Herab- 
sinken der  Girogelder  auf  das  normale 
Niveau  oder  danmter  tritt  erst  ein,  wenn 
der  heftige  Geldbedarf  am  Quartalswechsel 
oder  in  erregten  Zeiten  befriedigt  ist  und 
der  beginnende  Rückfluss  aus  den  Anlagen 
den  steuerpflichtigen  Notenumlauf  ver- 
schwinden oezw.  die  Reserve  wieder  an- 
schwellen lässt. 

Das  Zusammenwirken  der  GLrobestände 
und  Notenreserve  ist  deswegen  nicht  unzu- 
treffend mit  den  Wirkungen  eines  Korapen- 
sationspendels  verglichen  und  als  eine 
Garantie  ftlr  die  ruhige  und  ungestörte  Ab- 
wickelung des  Zahlungsverkehrs  betrachtet 
worden. 

Die  Giroumsätze  betrugen  im  Jahre  1899 
87®/o  des  gesamten  Kassenumsatzes,  gegen 
46^/0  in  1876.  Der  Verkehr  der  Bank  voll- 
zieht sich  immer  mehr  in  den  elastischen 
Formen  des  Giroverkehrs.  Gegenüber  der 
steigenden  Bedeutung  der  Giroguthaben  und 
des  Checks  treten  die  Banknoten,  wenngleich 
der  absolute  Umlauf  derselben,  in  den  letz- 
ten Jahren  auch  der  ungedeckten  Noten  im 
Wachsen  begriffen  ist,  mehr  in  den  Hinter- 
grund. Wie  weit  der  Umlauf  derselben  seit 
Einführung  des  Giroverkehrs  der  Reichs- 
bank im  Verhältnis  zu  dem  gesamten  Kassen- 
umsatz gesunken  ist,  ergiebt  die  Tabelle  III. 
Auch  seit  Errichtung  der  Abrechnungsstellen 
zeiget  sich  eine  nicht  unerhebliche  Abnahme. 

4.  6.  anderer  deutscher  Banken. 
Neben  der  Reichsbank  pflegen  in  Deutsch- 
land noch  zahlreiche  andere  Bankinstitute 
den  Giroverkehr.  Zu  diesen  gehört,  wie 
schon  erwähnt,  die  im  Jahre  1824  in  Berlin 
errichtete,  gerade  durch  das  Bedürfnis  des 
Giroverkehrs  hervorgerufene  Bank  des 
Berliner  Kassenvereins.  Ihr  Zweck 
sollte  nach  den  Statuten  sein:  »Das  Zah- 
lungsgeschäft in  Handel  und  Wandel  da- 
durch zu  erleichtern,  dass  die  Zahlungen  in 
barem  Gelde  aus  einer  Hand  in  die  andere 
entbehrlich  gemacht  werden,  die  dazu 
dienenden  Fonds  aber  mit  der  erforderlichen 
Sicherheit  und  Vorsicht   benutzt   werden. <: 

Der  Kassenverein,  welcher  auch  der  Ber- 
liner Abrechmmgsstelle  angehört  und  Cheek- 
formulare  nach  Art  der  Reichsbank  ausgiebt, 


Jahr 


Tabelle  III.    Beichsbank. 
Gesamt-     Ti„,«Va/.ii«u+i    Zu  lOOüOO  M. 
Kassen-     Ä 'Ä5  Umsatz  genü- 
Umsatz      Notenumlauf    gen  an  Noten 

in  Millionen  Mark  Mark 


18&4 

9645 

348 

3600 

1869 

13  121 

435 

3300 

1870 

16396 

490 

3000 

1871 

19098 

607 

3200 

1872») 

27852 

760 

2700 

1875 

29228 

754 

2500 

1876«) 

36685 

685 

I  800 

1877 

47542 

695 

1  400 

1880 

52194 

735 

I  400 

1881 

56336 

740 

i  300 

1882 

56006 

747 

I  300 

1883») 

62620 

737 

I  200 

1884 

71  591 

733 

I  000 

1885 

73199 

727 

900 

1886 

76565 

802 

I  000 

1887 

79839 

861 

X  100 

1888 

84338 

933 

I  100 

1889 

99709 

987 

I  000 

1890 

108595 

984 

900 

1891 

109933 

972 

880 

1892 

104489 

985 

940 

1893 

HO  942 

985 

890 

1894 

HO  784 

I  000 

900 

1895 

121  313 

I  096 

900 

1896 

131499 

1083 

830 

1897 

142  III 

1086 

770 

1898 

163  396 

I  125 

690 

1899 

179633 

I  142 

640 

dient,  nachdem  im  Jahre  1876  bei  der 
Reichsbank  der  Giroverkelir  auf  veräiiderter 
Grundlage  eingeführt  worden,  besonders  dem 
Börsenverkehr.  Seine  Giroumsätze  schwan- 
ken daher  mit  der  Lage  des  Börsengeschäf- 
tes auf  und  ab.  Auch  bei  den  Einlieferun- 
gen  von  Wechseln,  Effekten  etc.,  die  übri- 
gens nicht  über  Gii'oconto  gehen ,  tritt  dies 
hervor.  Die  Bai-mittelersparnis  ist  hierbei 
nicht  unbedeutend.  Wie  nachstehende  Ta- 
belle lY  ergiebt,  sind  1872  nur  76,9  %  durch 
Abrechnung  geordnet;  im  Jahre  1899  ist 
der  Pit)zentsatz  auf  9^,70  ®/o  gestiegen.  Bei 
den  Giroumsätzen  zeigt  sich  eiue  ähnliche 
Erscheinung  wie  bei  der  Reichsbank,  dass 
mit  den  steigeoden  Umsätzen  die  Bestände 
sich  nicht  notwendig  gleichfalls  vermeliren. 
1872  bildet  der  Bestand  noch  0,44%  vom 
Umsätze,  1899  nur  0,13%. 

Die  gleiche  Wahrnehmung  macht  man 
bei  der  Frankfurter  Bank,  die  am 
frühesten  dem  Girogeschäft  ihre  Aufmerk- 
samkeit geschenkt  hat  und  für  Frankfurt 
ungefähr  dasselbe  bedeutet  wie  der  Kassen- 
verein für  Berlin.  Die  grössten  Privatnoten- 
banken haben  sich  verliältnismässig  spät  zur 
Einführung  des  Giroverkehrs  —  am  Haupt- 
sitz und  bei  den  Filialen  —  entschlossen 
(obwohl    wenigstens    bei    der    Bayerischen 

^)  Einführung  der  Goldwährung. 
*)  Einführung  des  Giroverkehrs. 
')  Einfuhrung  der  Abrechnungsstellen. 


Handwörterbuch  der  StastewiBgenschaften.    Zweite  Auflage.    lY.  47 


738 


Giroverkelir 


Notenbank  schon  seit  1876  verwandte  Ein- 
richtungen vorhanden  wai*en),  die  Baye- 
rische Bank  1883  und  die  Sächsische 
Bank  zu  Dresden  erst  1888.  Es  sind  dies 
die  beiden  einzigen  deutschen  Privat- 
notenbanken,  welche  vermöge  ihres  aus- 
gedehnten Netzes  von  Zweiganstalten  einen 
Giroverkehr  nach  dem  Vorbilde  der  Reichs- 
bank zu  organisieren  vermochten.  Soweit 
das  Verhältnis  des  Umsatzes  zum  Girobe- 
stande in  Betracht  kommt,  sind  die  Resul- 
tate nicht  sehr  befriedigend,  obwohl  beide 
Banken  ihren  Giroteilnehmern  Zinsen  für 
das  Guthaben  vergüten.  (Näheres  ergiebt 
Tabelle  IV).  Dieses  Verh^tnis  ist  ungüns- 
tiger als  bei  dem  Berliner  Kassenverein  und 
der  Frankfurter  Bank.  Während  bei  diesen 
beiden  Instituten  der  Girobestand  in  einem 
Jahre  400 — 7 00 mal  umgesetzt  wird,  ge- 
schieht dies  bei  der  Sächsischen  und  Baye- 
rischen Bank  nur  70 — 90  mal.  Es  rührt 
dies  wohl  daher,  dass  die  beiden  erstge- 
nannten Banken  dem  grossstädtischen  Börsen- 
verkehr dienen,  letztere  dagegen  mehr  dem 
Warenhandel  und  der  Industrie  ihrer  Länder. 
Demgegenüber  erreicht  die  Verwendung 
nicht  fiduziaren,  sondern  auf  dem  Wege  des 
Giroverkehrs  erlangten  Geldes  —  neben  den 
Depositen  auf  Kündigimg  —  für  die  Kredit- 
gewährung bei  der  Sächsischen  Bank  von 
Jahr  zu  Jahr  grössere  Bedeutung.  Die 
Bayerische  Notenbank  ist  in  dieser  Hinsicht 
zurückgeblieben. 

Von  den  übrigen  Privatnotenbanken  hat 
die  Bank  für  Süddeutschland  die 
Heranziehung  von  Depositen  auf  dem  Wege 
des  Giroverkehrs  bis  jetzt  ganz  vernachläs- 
sigt. Die  Braunschweigische  Bank, 
bekanntlich  die  einzige  noch  jetzt  fortbe- 
stehende Privatnotenbank,  welche  das  Nor- 
malstatut des  Bankgesetzes  (§  44)  nicht  an- 
genommen hat,  pflegte  diesen  Geschäfts- 
zweig von  Anfang  an.  Die  Württem- 
bergische Notenbank  hat  den  Girover- 
kehr bereits  im  Jahre  1873  bei  sich  einge- 
führt. Eine  Verzinsung  der  Guthaben  fand 
nicht  statt.  Mit  der  Organisation  des  Giro- 
verkehre der  Reichsbank,  insbesondere  der 
Stuttgarter  Abrechnungsstelle,  hat  sich  die 
Bedeutung  dieses  Verkehrs,  der  nie  sonder- 
lich gross  war,  rasch  verringert.  Im  Jahre 
1883  eröffnete  die  Bank  sodann  den  Gheck- 
verkelu*  auf  Grund  verzinslicher  Depositen, 
mit  welchem  sie  in  den  letzten  Jahren  be- 
trächtliche Forts(;hritte  erzielt  hat.  Auch 
der  verzinsliche  Checkverkehr  der  Badi- 
schen  Bank,  welcher  im  gleichen  Jahre 
begründet  worden  ist,  hat  vseitdem  zuneh- 
mende* Bedeutung  erlangt. 

5.  Postcheckverkehr.  Ein  neuer 
Abschnitt  in  der  Entwickelung  des 
Giroverkehi-s  in  Deutschland  in  der 
Richtung  der  Einbürgerung   des  Checks  in 


Tabelle  IV.   1.  Bank  des  Berliner  Kassen  verein«. 


s 

o 

bn.  Bestand 
roguthaben 

ncasso  ein- 
te Wechsel, 
tten  etc. 

ervon  sind 
ch  Abrech- 
g  geordnet 

Durchsc 
der  Gi 

Nä 

Tausende  von  Mark 


872  12 


876 
880 
884 
888 
892 
896 
897 
898 
899 


4 

7 
8 

lo 

8 

II 

13 
15 
17 


397  975 
756  624 

467  132 

395542 
577420 

575  640 
308210 

140476 

495  643 
264  325 


55030 
20927 

17450 

14666 

28063 

28  411 

21  064 

21695 

22407 

22833 


13  433  402  10  335 

4045793  2795 

7  354  595!  5628 

7918425'  6  172 

IG  165  171]  8762 

8081676  7039 

II  652552  10560 

13556672112421 

15  176733114084 

18210520I16881 


966 
862 
856 
030 
972 
647 
224 
421 

175 
283 


76,9 
69,1 

76,5 

78 
86 

87,10 
90,62 
91,63 
92,5a 
92,70 


2.  Frankfurter  Bank. 


Jahr 


Giroumsatz 


Durchschnittlicher 
Bestand  der 
Giroguthaben 


Tausende  von  Mark 


1876 

3  460  984 

9409 

1880 

3776919 

4988 

1884 

2  764  726 

4632 

1888 

3  278  511 

5867 

1892 

2  133462 

5  773 

1896 

2  286  374 

5848 

1897 

2  454  650 

4820 

1898 

2  474  883 

5721 

1899 

2  566  797 

3865 

3.  l 

Sächsische  Bank 

zu  Dresden. 

Jahr 


I    (h  od 


t  I 


Tausende  von  Mark 


1888 
1892 
1896 
1897 

1898 
1899 


I  113 

4452 

12  760 

7051 
6174 
6  762 


24  1521  8219 
73  261  I  20223 
107  225  I  26  844 
116  209  I  31  188 
123283  33  411 
166  596  '  45  885 


247  046 

668  736 

I  012  848 

952373 
I  103298 

I  « 55  056 


5426 

7  106 

14813 

13675 

15  155 
17088 


4.  Bayerische  Notenbank  in  München. 


Jahr 

'         Gesamt- 

Gutbabenbestand 

Giroumsatz 

1 

im 

Durchschnitt 

Tausende  von 

Mark 

1875/76 

234075 

I  204 

1880 

160  201 

662 

1884 

41 1  072 

9401 

1888 

445  181 

7587 

1892 

536731 

7740 

1896 

723  142 

qo2q 

1897 

739  873 

8657 

1898 

792  668 

8531 

1899     1 

757  531 

7  793 

Giroverkehr 


739 


die  breitesten  Schichten  der  Bevölkerung 
dürfte  mit  der  Einrichtung!;  eines  Post- 
checkverkehrs im  Gebiet  der  Reichspost 
sowie  in  Bayern  und  Württemberc:  beginnen. 
Die  Organisation  soll  in  den  Grimdzilgen 
folgende  sein:  Zur  Vermittelung  des  Ver- 
kehrs wird  an  neun  der  grossen  Verkehrs- 
Centren  des  Reichspostgebiets  je  ein  Post- 
checkamt errichtet  Für  jeden  Inhaber  eines 
Checkcontos  wird  die  Möglichkeit  geboten, 
dass  alle  bei  den  Postanstalten  für  ihn  ge- 
machten Einzahlungen  bei  dem  Postcheck- 
amte durch  Gutschrift  auf  sein  Conto  zu 
einem  Guthaben  angesammelt  werden,  über 
das  er  mittelst  Checks  jederzeit  in  beliebigen 
Teilbeträgen  verfügen  kann,  sei  es  durch 
bare  Abhebung  oder  durch  Ueberweisung 
auf  ein  anderes  Conto  oder  durch  Auszah- 
lung an  einen  dritten,  den  der  Contoinhaber 
im  Check  benennen  kann,  bei  irgend  einem 
Postamte. 

Es  handelt  sich  demnach  um  einen  Ver- 
kehr, welcher  mit  dem  Giroverkehr,  insbe- 
sondere dem  üebertragungsverkehr^  der 
Reichsbank  grosse  Aehnlichkeit  haben  würde. 

Bayern  und  Württemberg  werden  eigene 
Postcheckämter  errichten,  im  übrigen  aber 
den  Verkehr  in  enger  Anlehnung  an  den 
Postcheck  verkehr  der  Reichspost  organisieren, 
damit  die  drei  Verwaltungsgebiete  in  Aus- 
gleichsverkehr treten  können. 

6.  G.  in  Oesterreich-Ungam.  Wie  die 
frühere  OesterreicJiische  Nationalbank,  so  liat 
auch  deren  Nachfolgerin,  die  Oester- 
reichisch  -  ungarische  Bank  einen 
Giroverkehr  eingerichtet.  Bis  zum  Jahre 
1888  war  derselbe  jedoch  thatsächlich  niu- 
auf  Wien  beschränkt,  wo  16  Firmen  daran 
teilnahmen.  Die  Umsätze  waren  daher  nur 
massig  und  eine  Fortentwickelung  nicht  er- 
kennbar. Der  Gesamtumsatz  auf  Giroconto 
belief  sich  nur  auf  ca.  700—900  Millionen 
Gulden,  also  ca.  IV'4 — l^/t  Milliarden  Mark. 

Erst  mit  dem  Inkrafttreten  des  Bank-G. 
V.  21.  Mai  1887,  welches  nach  Art  des 
deutschen  Bankgesetzes  eine  üeberschreitung 
des  Noten kontingents  gefi^en.  eine  fünfpro- 
zentige  Steuer  gestattet  und  dadurch  auch 
dem  Giroverkehr  einen  gewissen  Rückhalt 
schuf,  wurde  am  2.  Januar  1888  der  Giro- 
verkehr bei  sämtlichen  selbständigen  Bank- 
anstalten der  Oesterreichisch  -  ungarischen 
Bank  eröffnet,  -wobei  man  die  technische 
Einrichtung  der  deutschen  Reichsbank  als 
Muster  nahm. 

Schon  im  ersten  Jahre  stiegen  die  Um- 
sätze auf  3  Milliarden,  das  Vierfache  des 
Jahres  1887,  im  Jahre  1899  auf  fast  11^/2 
Milliaixien  Gulden. 

Eine  starke  Vermehning  der  Zahl  der 
Giroconten  wie  der  Umsätze  vollzog  sich  im 
Jahre  1893,  in  welchem  die  Bank  die 
Wechselkredit  in  Anspruch  nehmenden  Per- 


sonen und  Firmen  nachdrucklich  zum  An- 
schluss  an  den  Giroverkehr  aufforderte. 
Der  Besitz  eines  Girocontos  bei  der  zu- 
ständigen Bankanstalt  ist  seitdem,  wie  bei 
der  deutschen  Reichsbank,  eine  Bedingimg, 
w^elche  in  der  Regel  jeder  zu  erfüllen  hat, 
der  mit  der  Bank  in  Diskontverkehr  treten 
wül. 

Im  Jahre  1898  trat  die  k.  k.  österreichi- 
sche Finanzverwaltung  dem  Gü'overband  der 
Bank  bei.  Auch  der  Anschluss  der  ungari- 
schen Finanz  Verwaltung  ist  inzwischen  er- 
folgt. Die  versuchsweise  Ausdehnung  des 
Giroverkehrs  auf  die  Nebenstellen  nach  dem 
Vorbilde  der  deutschen  Reichsbank  ist  im 
Jahre  1896  angekündigt,  bis  jetzt  aber  nicht 
durchgeführt  worden. 

In  der  Zusammensetzung  der  Barzahlun- 
gen und  sonstigen  Verrechnungen ,  der 
üebertragungen  am  Platz  und  nach  aus- 
wärts hatten  in  den  ersten  Jahren  nach  der 
Reorganisation  des  Giroverkehrs  Aenderungen 
von  einiger  Bedeutung  nicht  stattgefunden. 
Seit  Einführung  des  Girozwanges  im  Jahre 
1893  sind  indes  bemerkenswerte  Verschie- 
bungen zu  bemerken.  Die  Barzahlungen, 
welche  im  Jahre  1892  in  der  Einnahme 
31  ^/o  und  in  der  Ausgabe  41,9  °/o  der  Um- 
sätze ausmachten,  sind  bis  zum  Jahre  1899 
auf  27  bezw.  40  %  zurückgegangen.  Sie 
zeigten  bis  zum  Jahre  1897  fallende  Tendenz, 
wie  in  Deutschland,  sind  seitdem  aber  im 
Steigen  begriffen,  während  die  Giroübertra- 
gungen der  Bankanstalten  unter  sich  ent- 
sprechend an  Bedeutung  verlieren.  Die 
Verringerung  des  prozentualen  Anteils  der- 
Bareinzahlungen  an  den  Gesamteinnahmen 
ist  bis  dahin  stetig  vor  sich  gegangen, 
während  der  prozentuale  Anteil  der  Baraus- 
zahlungen an  der  Gesamtausgabe  bis  zum 
Jahre  1894  noch  beträchtlich  gestiegen  ist. 
Der  Eintritt  sämtlicher  mit  der  Bank 
im  Diskontverkehr  stehenden  Personen 
und  Firmen,  welche  bisher  mit  dem 
Wesen  des  Gu'O  Verkehrs  wohl  zum 
Teil  wenig  vertraut  waren,  in  den  Giro- 
verkehr des  Institutes  im  Jahre  1893  hatte 
durch  die  rasche  Steigerung  der  Gutschrif- 
ten der  Valuten,  von  diskontierten  Wechseln 
etc.  zunächst  zu  einer  Vermehrung  der 
baren  Abhebungen  mittelst  weissen  Checks 
geführt.  Eine  Ursache  der  langsamen  Ent- 
w^ickelung  liegt  wohl  darin,  dass  der  Ver- 
kehr infolge  der  ausgedehnten  Papiergeld- 
cirkulation  sich  an  dieses  bequeme  Zahl- 
mittel gewöhnt  hat  und  daher  schwerer  zu 
dem  Gebrauch  des  Checks  als  Zahlungs- 
mittel übergeht,  und  auf  der  anderen  Seite 
darin,  dass  der  Check  mit  einer  Stempel- 
steuer von  2  Ki'euzern  belegt  worden  ist,  ehe 
er  sich  wirklich  eingebürgert  hatte.  Folge- 
weise dient  der  weisse  Check  nicht  als 
Zahl  mittel,   sondern  fast  nur  als  Mittel  zur 

47* 


740 


Giroverkehr 


Abhebung  baren  Geldes,  während  der  eben-  I  Platzübertragiingen  an  den  Provinzialbank- 
falls  ßtempelpflichtige  rote  Check  nicht  zu  stellen  auf  J,9  ^/o  des  Umsatzes,  nur  in  Wien 


Uebertragungen  am  Platz,  sondeni  aus- 
schliesslich zu  Uebertragungen  nach  aus- 
wärts benutzt  'v^'i^d.    So  belaufen   sich  die 


Dank  der  Thäügkeit  des  Saldierungsvereins 
auf  16,4  o/o. 


Tabelle  Y.    Oesterrelchisch-ungarische  Bank. 
(In  1000  Gulden.) 


Auf  Giroconto  sind  vereinnahmt 

Be- 
stand 

Durch- 
schnitt- 

1 

An- 
zahl 
der 
Giro- 
kun- 
den 

Bar- 

Verrech- 

üeber-           Ueber-      j 

am 

licher 

Jahr 

zahlungen 

nungen 

Tagungen      tragungen 

1 

Summe 

Ende 
des 

Bestand 
der 

'      aus 
0/     Diver-      0; 
'0       sen         '^ 

am 
Platze 

in 

/o 

von  andr. 
Plätzen 

in 

/o 

Jahres 

Giro- 
guthaben 

1886 

175  451 

43 

136  586 

33,6 

95261 

23,4 

• 

• 

407  298 

62 

1744 

• 

1889 

617827 

32 

536067 

27,7 

169504 

8,8 

611  082 

31,5 

I  934  480 

10060 

7150 

1643 

1892 

815  188 

31 

738  187 

28 

210553 

8 

867225,33 

2631  153 

6249 

8369 

2724 

1893 

970  399 

28.4 

I  029  171 

30,1 

293  570 

8,6 

I  122207,32,9 

3415348 

8128 

II  126 

4  018 

1896 

I  021  951 

25,7 

I  459  586 

36,8 

353  401 

8,9 

I  134  545 

28,6 

3  969  483 

6186 

II  120 

4875 

1897  I  123  197 

25,6 

I  586  025 

36,2 

389  757 

8.9 

I  286  422 

29,3 

4  385  401 

6949 

II  928 

4  945 

1898  1  296  055 

26,3 

I  891  737 

38,3 

363  240 

7,4 

I  382  297 

c8 

4  933  329 

6489 

12486 

4987 

1899  1 1427  379 

1 

27,0 

I  983  922j37,5 

429  737 

8,1 

I  448  626 

27,4 

5  289  664 

13065 

17994 

4992 

in 
Wien 

1 

1 

1899 

660872 

29,1 

914497 

40,2 

372515 

i6,4 

'    325369 

H,3 

2  273  253 

5  479 

• 

• 

Auf  Giroconto  sind  verausgabt 


Bar- 

Eingelöste 

Ver-          i 

Ueber 

^ 

Ueber- 

zahlungen 

Domizile 

rechnungen 

tragungen 

tragungen 

Jahr 

1 

1 

Summe 

in 

m 

aus  Di-       in 

am 

in 

auf  andre     in 

'0 

0/ 
'0 

versen       % 

Platze 

0 

Plätze    1   '»/o 

1886 

314  643  1  76,8 

• 

1 
i    . 

95  261 

23,2 

• 

• 

409904 

1889 

766945    39,8 

55172 

2,8 

322  827  ■  16,7  1 

169  504 

8,8 

612663 

31,8 

I  927  1 1 1 

1892 

I  101903    41,9 

1 13  338 

4,3 

336  597    12,8  1 

210553 

8 

867  998 

33 

2  630  389 

1893 

1456  177    42,7 

155596 

4,6 

384771    11,2 

293  570 

8,6 

I  123355 

32,9 

3413469 

1896 

1635  136    41,2 

219626 

5,5 

629012    ii;,8 

353400 

8,9 

I  134  731 

28,6 

3971905 

1897 

I  717  881    39,2 

233642 

5,3 

757408    17,3 

389  7S7 

8,9 

I  285  95I 

29,3 

4  384  639 

1898 

1960619    39,7 

252  445 

5,1 

974  636  1  19,8  1 

363  240 

7,4 

I  382  849 

28 

4  933  789 

1899 

2 1 1 1  582 

40,0 

272  432 

5,2 

I  016  482    19,2 

429  737 

8,1 

I  452  855 

27,5 

5  283  088 

in 
Wien 

1899 

602423 

26,5 

• 

• 

609693 

26,9 

372515 

16,4 

685312 

30,2 

2  269  943 

^)  Mit  Ausschluss  der  wegen  Postenlanfes  noch  nicht  zur  Gutschrift  gelangten  Ueber- 
tragungen. 


Der  Giroverkehr  der  Oesterreichisch- 
iingarischen  Bank  hat,  soweit  die  Zahl  der 
Conten,  die  Umsätze  und  in  den  letzten 
Jahren  auch  die  Guthaben  in  Betracht  kom- 
men, stetige  Fortschritte  gemacht,  gleichwohl 
befindet  er  sich  immer  noch  in  einem  ziem- 
lich unfertigen  Zustande.  Am  31.  Dezember 
1896  kam  auf  92  von  4875  Gii-oconten  der 
Bank  ein  Bestand  von  insgesamt  3906234 
(dulden    —    63,1  ^.'0    des    Gesamtbestandes. 


Auf  die  übrigen  4783  Conten  kamen  nur 
2279  700  Giüden  Guthaben.  Eine  durch- 
greifende Aendening  ist  seitdem  nicht  ein- 
getreten. An  dem  Girobestand  der  Bank 
sind  die  grossen  Guthaben  auf  einigen 
wenigen  Conten  übermässig  stark  beteiligt, 
auf  welchen  sich  die  für  die  Höhe  der  Ge- 
samtguthaben ausschlaggebenden  Bewegun- 
gen vollziehen.  Die  Wahrscheinlichkeit,  dass 
gleichzeitig     ausgleichende    Schwankungen 


L 


Grii-overkehr 


741 


Dach  der  entgegengesetzten  Seite  hin  statt- 
finden, durch  welche  eine  gewisse  Bestän- 
digkeit in  der  Höhe  der  GKithaben  herbei- 
geführt wird,  ist  daher  im  Giroverkehr  der 
Oesterreichisch- ungarischen  Bank  gering. 
Die  Höhe  des  Girobestandes  der  Bank  hat 
denn  auch  stets  ausserordentlich  stark  ge- 
schwankt Aus  diesen  Gründen  sowie  wegen 
der  relativen  Geringfügigkeit  der  Girogut- 
haben haben  letztere  die  Bankpoiitik  bisher 
nicht  wesentlich  zu  beeinflussen  vermocht. 

Seit  dem  Anschluss  der  Finanzverwal- 
tungen •  beider  Keichshälften  an  den  Giro- 
verkehr der  Bank  gewinnt  dieser  indessen 
eine  grössere  Ausdehnung  und  Stetigkeit 
imd  damit  auch  eine  wachsende  Bedeutung 
als  Faktor  für  die  Diskontpolitik  der  Bank. 

Weitere  Fortscliritte  im  Sinne  eines  sinn- 
gemässen Gebrauches  der  Giroeinrichtungen 
der  Bank  dürften  erst  durch  den  zunehmen- 
den Hartgddiunlauf,  sobald  die  Währungs- 
reform durchgeführt  sein  wird,  hervortreten. 

Zwischen  dem  Giroverkehr  der  Oester- 
mchisch-uugarischen  Bank  und  dem  im 
Jahre  1887  begründeten  Checkvorkehr  des 
k.  k.  österreichischen  Postspar- 
kassenamtes  mid  der  im  Jahre  1889 
errichteten  ungarischen  Postspar- 
kasse besteht  ein  wechselseitiger  Giro- 
überweisungsverkehr, insofern  es  jedem 
Teilnehmer  einer  der  drei  Organisationen 
gestattet  ist,  von  seinem  Conto  auf.  das 
Conto  des  Teilnehmer  einer  der  beiden 
anderen  Organisationen  Giroübertragungen 
zu  bewerkstelligen. 

Eine  nichtige  Giroanstalt  bestellt  schon 
seit  1872  in  dem  Wiener  Giro-  und 
Kassen  verein,  welcher  insbesondere  als 
Centralstelle  für  das  Incasso  von  Wechseln 
und  Anweisungen  grosse  Bedeutimg  für  den 
Wiener  Platzverkehr  erlangt  hat.  Nach  dem 
Muster  desselben  ist  im  Jahi^e  1894  auch 
in  Budapest  eine  gleiche  Anstalt  unter 
der  Firma  >Budapester  Giro-  und 
Kassen -Verein,  Aktiengesell- 
schaft^,  errichtet.  Im  folgenden  Jahre 
erfolgte  auf  Ani-egung  der  Bank  nach  dem 
gleichen  Vorbilde  die  Errichtung  der  Sal- 
dierungsvereine  in  Brunn  und  Prag,  wo- 
mit ein  weiterer  Furtschritt  des  Girover- 
kehrs in  Verbindung  mit  dem  Abrechnungs- 
verkehi'  eingetreten  ist. 

7.  G.  in  Italien.  Die  Entwickelung  des 
Giroverkehre  und  des  Clearingwesens  ist  in 
Italien  durch  eine  Uebersättigung  des  Ver- 
kehrs mit  papiernen  Geldzeichen  gehemmt 
woitlen.  Die  aus  der  Abrechnung  der  Ab- 
rechnungsstellen (Stanze  di  Compensazione) 
sich  ergebenden  Salden  werden  zum  Teil 
über  das  Kontokorrent  der  Notenbanken  aus- 
geglichen. Für  die  Abrechnimgsstellen  kommt 
zur  Zeit  nur  die  Bank  von  Italien  in  Be- 
tracht.   Dieses  Institut  errichtet  wie  seine 


Vorgängerin,  die  Nationalbank,  zinsbringende 
Conten  (Conti  correnti  ad  Interesse)  und 
zinslose  Conten  (Conti  con-enti  disponibili). 

Die  Abhebung  von  Guthaben  auf  den 
ersteren  Conten  ist  im  aUgemeinen  an  eine 
Kündigimgsfrist  gebunden.  Die  Bank  ge- 
währte im  Jahre  1898  eine  Verainsung  von 
^/4®/o.  Im  gleichen  Jahre  betrug  der  Ge- 
samtumsatz, Einnahme  und  Ausgabe, 
1815203000  Lire.  Am  Ende  des  Jahres 
verblieb  ein  Bestand  von  122178000  Lii-e. 
Dem  deutschen  Giroverkehr  zu  vergleichen 
sind  die  Umsätze  auf  den  zinslosen  Conten. 
Einnahmen  und  Ausgaben  zusammen  be- 
trugen auf  diesen  Conten  im  Jahre  1898  ' 
die  Summe  von  3995691(X)0  Lire,  wobei 
sich  am  Ende  des  Jahres  ein  Bestand  von 
nur  6598000  Lire  ergab.  Den  Hauptein- 
nahmeposten bilden  hierbei  die  von  der 
Bank  diskontierten  Wechsel. 

Unter  diesen  Umständen  haben  die  Ein- 
schränkungen, welchen  sich  die  Bank  infolge 
umfangreiclier  Festlegung  ihrer  Kapitalien 
in  Immobilien  und  uneinbringbaren  Forde- 
rungen im  Diskontverkehr  unterziehen  muss, 
in  den  letzten  Jahren  zu  einer  erheblichen 
Verringenmg  des  Umsatzes  gefülirt. 

Ein  starker  Verkehr  besteht  in  den  auf 
den  Namen  des  Deponenten  oder  einer 
dritten  Person  lautenden  vaglia  cambiari, 
Bankanweisungen,  durch  welche  die  Ein- 
zahlung von  Geldern  im  Giroverkehr  be- 
urkun(let  wird.  Sie  bilden  nächst  den  um- 
laufenden Noten  den  bedeutendsten  Posten 
unter  den  täglich  fälügen  Verbindlichkeiten 
des  Bankstatus.  Sie  werden  frei  von  Ge- 
bühren ausgegeben,  sind  indossabel  und 
werden  bei  der  Centrale,  den  Succursalen 
(z.  Z.  81)  und  bei  den  Korrespondenten  der 
Bank  bezahlt. 

Der  Umsatz  in  diesen  Urkunden  betrug 
im  Jahre  1898  3423701000  Lire  in  Ein- 
nahme, 3408283000  Lire  in  Ausgabe.  Am 
Ende  des  Jahres  waren  96  601 000  Lire  aus- 
stehend. 

Die  Umsätze  im  Giroverkehr  waren  in 
der  letzten  Zeit  starken  Schwankungen  unter- 
worfen. Im  Jahre  1898  hat  auf  beiden 
Arten  von  Conten  eine  gewaltige  Erhöhung 
der  Umsätze  von  *  insgesamt  4387  Millionen 
auf  5810  Millionen  Lire  stattgefunden. 

8.  G.  in  Frankreich.  Die  Bank  von 
Frankreich,  deren  Gireverkehr  wie  der- 
jenige der  Reichsbank  ungefähr  die  Aufgabe 
eines  nationalen  Clearing-house  erfüllt,  eröffnet 
den  Personen  und  Firmen,  welche  ihren  Sitz 
an  einem  Bankplatz  haben,  comptes  courants 
simples,  comptes  coiu^nts  avec  faculte  d'es- 
compte  und  comptes  com^nts  d'avances.  Den 
nicht  am  Sitze  einer  Bankanstalt  wohnenden 
Personen  werden,  jedoch  nur  bei  den  Succ^ur- 
salen,  sogenannte  comptes  coiu^nts  exteri- 
eurs    eröffnet,    welche    dem    Inhaber    alle 


742 


Giroverkehr 


Tabelle  VI,   Bank  von  Italien. 
Umsätze  auf  beiden  Conten  zusammen. 


1892 

1893 

1895 

Tausend  Lire 

Guthaben  beiBe- 

1 

ginn  d.  Jahres 

108919      106020'     139 117 

Kinnahme : 

^ 

1.  Diskontierte 

Wechsel 

I  631  279    1938108      999  443 

2.  Einzahlungen 

und   Verrech- 

i 

rechnung.  etc. 

856521     971 816  1 178424 

1 

2596719 

3015944 

2316984 

Ausgabe : 

2  490  699 

2  904  732 

2  175  128 

Bestand  a.  Ende 

_ 

des  Jahres 

106020 

111  212 

141  856 

Rechte  der  Besitzer  der  gewöhnlichen 
comptes  courants  verleihen.  Auf  den 
comptes  courants  d'avances  sind  die  Debet- 
salden zum  Bankdiskont  zu  verzinsen.  Das 
Guthaben  wird  nicht  verzinst.  Der  Conto- 
inhaber  kann  darüber  ohne  Einschränkung 
verfügen ;  er  ist  nicht  gehalten,  einen  Minimal- 
saldo stellen  zu  lassen.  Die  Leistungen  der 
Bank  für  die  Teilnehmer  sind  dement- 
sprechend auch  geringer.  Dem  Conto  wer- 
den bare  Einzalüungen  zugeschrieben,  ferner 
Ueberweisungen  von  anderen  Conten  am 
Platze  oder  von  auswärtigen  Plätzen,  der 
Beti-ag  von  Lombarddarlehen  etc.  Die  Bank 
übernimmt  femer  die  Eiuziehimg  von  Wech- 
seln auf  denselben  Platz ;  die  Grutschrift  er- 
folgt sofort,  doch  dai-f  darüber  erst  am 
zweiten  Tage  nach  Verfall  disponiert  werden. 
Seit  dem  Jahre  1879  wird  hierfüi'  eine 
Provision  von  Vi^/oo,  für  Wechsel  unter 
400  Francs  eine  solche  von  10  Cts.  er- 
hoben. Der  Betrag  der  eingezogenen  Wechsel, 
der  im  Jalire  1878  noch  auf  1400  Millionen 
Francs  sich  belief,  fiel  infolge  dieser  Mass- 
regel im  Jahre  1881  auf  444  Millionen  und 
liat  sich  über  700  Millionen  nicht  mehr  er- 
hoben. In  dem  nämlichen  Jalu^e  1879  er- 
hielten die  Inhaber  von  comptes  coiu-ants 
die  Befugnis  der  freien  üeberweisung  auf 
auswärtige  Conten  bis  zum  Betrage  der  ziu* 
Diskontierung  oder  Einziehung  eingelieferten 
Wechsel  innerhalb  der  nächsten  5  Tage. 
Im  Jahre  1897  ist  diese  Frist  auf  10  Tage 
erweitert  worden.  In  allen  anderen  FäUen 
muss  eine  Gebühr  von  Vi^'/oo,  mindestens 
von  25  Cts.  entrichtet  werden.  Aus  diesem 
Grunde  sowie  bei  der  Geringfügigkeil  des 
Giroverkehrs  der  Zweiganstalten  stehen  die 
interlokalen  üebertragungen  hinter  den  Platz- 
übertragungen weit  zurück.  Erstere  betru- 
gen im  Jahre  1899  —  die  Uebertragimgen 
für  Nichtconteninhaber  mit  einbegiiffen  — 
nur  3588  Millionen  Francs. 


Im  Jahre  1894  hat  die  Bank  noch 
comptes  de  depöts,  einfache  Checkconteu, 
eingerichtet,  w^elche  jedem,  der  eine  ei-ste 
Einzahlung  von  500  Francs  macht,  ohne  die 
Förmlichkeiten  eröffnet  werden,  an  deren 
Erfüllung  die  Errichtung  eines  compte 
croui-ant  geknüpft  ist.  Der  Besitz  eines 
compte  de  depöts  verleüit  die  Rechte  eines 
compte  courant  nicht. 

Einen  vollkommenen  Einblick  in  die  Ent- 
wickelung  dieses  Yerkehrs  kann  man  aus 
den  Jahresberichten  der  Bank  nicht  ge- 
winnen. Es  werden  nur  die  \'iremeifts  (d.  s. 
die  üebertragungen  von  einem  Conto  auf 
ein  anderes,  sei  es  am  Platz  oder  nach 
ausserhalb),  die  üebertragungen  auf  aus- 
wärtige Plätze,  die  eingezogenen  Wechsel, 
die  Minimal-  und  Maximalsaldi  der  comptes 
courants,  seit  1893  auch  die  Gesamtumsätze 
und  die  durchschnittlichen  Guthaben  nach- 
gewiesen. Letztere  betrugen  in  diesem 
Jahre  405  Millionen  Francs,  sind  bis  1896 
auf  566  Millionen  Francs  angestiegen  und 
bis   1899  auf  478  Millionen  Jrancs  zurück- 


gegangen. 

Tabelle  VIT. 

Bank  von 

Frankreich. 

Einkas- 

VirementsM 

sierte 

Guthaben  der 

Jahr 

1000  Frcs. 

Wechsel 

Kunden 

Paris  und 

1000  Frcs. 

Mül 

Frcs. 

Succursalen 

Paris  und 

Succursalen 

Min. 

Max. 

1858 

19934587* 

I  257000 

111,1 

175,7 

1865 

1 5  934  596  * 

I  736  860 

130,8 

221,4 

1870 

19037  215* 

I  792241 

322,1 

625,2«) 

1871 

18976726 

505  112*) 

255,9 

735.6 

1877 

22239259 

1  400  563 

345,9 

695,6 

1879 

29  426  909 

957020 

334,1 

536,2 

1881 

47  577  140 

444  430') 

366,6 

765,6 

1886 

35552055 

603097 

^97,6 

I  461,6'^) 

1889 

41  291  403 

597  007 

343,1 

645,3 

1891 

48  745  Ol  I 

606  702 

252,5 

I  442,6»j 

1898 

38  090  500 

614154 

329,8 

501,5 

1894 

46  170042 

599617 

35», 9 

I  083,5*) 

1895 

52  472  659 

576923 

395,4 

I  688,1») 

1896 

42629  145 

553253 

418,0 

976,7') 

1897 

43  137  997 

570344 

432,9 

611,4 

1898 

93  594  205*) 

557314 

400,0 

641,4 

1899 

102  620961 

593  452 

417,9 

608.2 

Welche  Anteile  Paris  einei'seits  und  die 
Succursalen  andererseits  an  den  Yirements 
und  Wechseliucassos  liaben,  zeigt  die  fol- 
gende Uebei-sicht. 


*)  Nur  Paris. 

^)  Das    sind    üebertragungen    von    einem 
Conto  auf  das  andere. 

^)  Vom  24.  März  bis  5.  Juli  unterbrochen. 

•*)  Seit  dem  10.  September  1879  wird  eine 
Incassogebühr  von  V4%p  erhoben. 

*)  Virements   in  Einnahme  un< 
bis  1897  nur  Einnahme. 

'')  Die  abnorm  hohen  Maxima  der  Guthaben 


d  Ausgabe, 


Giroverkehr 


743 


Jahr 


Virements  0  Einkassierte  Wechsel 

Succur- 
saleii 


Paris 


Paris 


Succur- 
salen 


Jahr 


1881 
1886 
1889 
1891 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


in  1000  Francs 

985  Ol  I 
725  936 

1  014728 

2  125  254 
854472 

854  233 
890225 

750  171 

1  019  899 
861  299 

875  843 
983  099^ 

2  063  840*) 

2  320  102 


Anzahl  der  Conto-      Uehertragungen  •) 
inhaber  auf  andere 

Succur-       Zu-         Bankplätze 
salen    sammen    in  1000  Fres. 


1871 

17991  715 

1877 

21513323 

1879 

28412  181 

1881 

45451887 

1886 

34  697  584 

18^<9 

40437  170 

1891 

47  854  786 

1893 

37340329 

1894 

45  «50  143 

1895 

51  611  360 

1896 

41753302 

1897 

4215489:5 

1898 

91530365*) 

1899 

100300859 

555818 

47279 

563  026 

33981 

575  116 

31586 

562  366 

51788 

555  730 

43887 

530  161 

46  762 

514230 

39023 

540612 

29732 

528  555 

28759 

559  045 

34407 

Paris 


2193 
3806 

4157 
4992 

5254 

5404 

6633 

7444 
8092 


5061 

6481 

8077 

9229 

10260 

10568 

13  716 

16674 

19212 


7254 
10287 

12234 

14  221 

15514 
15960 

20349 
24  118 

27304 
31486 

37290 


I  569  013 

1  903  998 

2255  181 

2  601  085 

2476955 
2684215 

2  928  823 

2813087 

2  832  970 
3269  110 

3  588  004 


In  der  Form  ihrer  Checks  hat  die  Bank 
in  neuester  Zeit  Aendenmgen  eintreten 
lassen.  Früher  gab  sie  ilu-en  Klienten  nur 
mandats  rouges  zur  üeberweisung  und 
mandats  blancs  ziu:  baren  Abhebung;  gegen- 
wärtig giebt  sie  jedoch  drei  Sorten  von 
Checkformidaren  aus,  und  zwar  solche  auf 
rotem  Papiere  (bons  de  virement),  aus- 
schliesslich zui'  Uebertragimg  am  Platz,  auf 
den  Namen  gestellt;  zweitens  auf  violettem 
Pajüer  ziu*  bai*en  Abhebung  am  Platz  seitens 
des  Inhabers  des  Checks  (innerhalb  der  ge- 
setzlichen Präsentationsfrist  von  5  Tagen). 
Die  dritte  Art,  auf  n)sa  Papier,  lautet  auf 
Order  und  ist  nur  bei  einer  anderen  Bank- 
anstalt zahlbai-.  Diese  letzteren  Checks 
werden  bei  der  das  Conto  führenden  Bank- 
anstalt präsentiert,  um  erst  abgestempelt 
und  dann  in  Umlauf  gesetzt  zu  werden.  Es 
ist  dies  eine  Art  Beglaubigimg  des  Checks, 
der  dadurch  der  Bankjiote  ähnlich  wird. 
Dergleichen  Checks,  sogenannte  cheques 
indirects,  wurden  im  Jahre  1881  bei  der 
Bank  von  Frankreich  eingeführt  und  er- 
freuen sich  steigender  Beliebtheit.  Dieselben 
können  auf  die  Centralbank  oder  eine  der  126 


sind  durch  die  Ausgabe  grosser  Anleihen  her- 
beigeführt worden. 

•*)  Billets    ä   ordre,   virements   et  cheques 
indirects  (d^plac^s)  zusammen. 


Succursalen  der  Bank  gezogen  werden  und 
bilden  so  in  umgekehrter  Richtung  gewisser- 
massen  das  Korrelat  zu  den  Einzalüungen  von 
Nichtcontoinhabern  behufs  Üeberweisung  an 
auswärtige  Klienten  der  deutschen  Reichs- 
bank, indem  sie  Zahlungen  von  Contoinhabeni 
an  auswärtige  Nichtcontoinhaber  vennitteln. 
Die  Bank  besorgt  die  üeberweisung  nicht 
selbst,  sondern  begnügt  sich  mit  der  Ab- 
stempelung und  überlÄsst  das  Weitere  dem 
Aussteller.  Ein  anderer  Vorteil  dieses  Checks 
besteht  darin,  dass  er  an  Oi*dre  gestellt 
wii'd;  er  hat  somit  Aehnlichkeit  mit  dem 
in  England  gebräuchlichen  Distanzcheck, 
hat  aber  vor  diesem  voraus,  dass  er  von  der 
Bank  verifiziert  wird,  ehe  er  in  Umlauf 
kommt. 

9.  G.  In  Belgien.  In  Belgien  hat  das 
Giroweson  eine  grosse  Bedeutung  erlangt, 
während  das  Clearingwesen  wie  in  Frank- 
reich nicht  recht  Wurzeln  zu  fassen  vermag. 
Der  Giroverkehr  vollzieht  sich  auf  den 
Comptes  courants,  welche  die  Bank  an  allen 
ihren  Sitzen  (zur  Zeit  41)  eröffnet.  Die 
Guthaben  werden  nicht  verzinst,  aber  un- 
entgeltlich verwaltet.  Gebührenfrei  erfolgen 
ferner  die  Uebei-tragungen  am  Platz  und 
nach  ausserhalb,  die  Einzahlungen  von  Nicht- 
contoinhabern,  auch  wenn  der  Giro- 
interossent  seinen  Sitz  an  einem  anderen 
Bankplatz  hat,  die  Einziehung  von  Platz- 
wechseln in  Brüssel,  während  auf  die  Ein- 
ziehung von  Platzwechseln  an  anderen  Orten 
sowie  von  Wechseln,  welche  versandt  werden 
müssen,  eine  Gebühr  zu  entrichten  ist.  üeber 
das  Guthaben  kann  nur  mittelst  Checks, 
welche  auf  den  Inhaber  oder  an  Ordre 
lauten,  verfügt  werden.  Uebertragimgen 
nach  ausserhalb  erfolgen  gegen  Abgabe  eines 
Checks  nebst  einem  recepissö  de  transfert, 
welches  der  Einmcher  visiert  zurückerhält. 

Nationalhank  von  Belgien. 


Giroverkehr  (mit  Aus- 
nahme des  compte 
courant  des  Staates) 


ei 


Jahr 


:o8'2  S 

00  0  ca 

0  0;  oc 


I 

s  a 

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OD  ci 

1^  «^^ 


es 

-  00 

'S  « 


Accreditive 

wurden 
ausgestellt 


Stück 


Millionen  Francs 


MUlio- 

nen 

Francs 


1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


10938 
10421 
10812 

12773 
14  495 


916 

932 

963 
II 72 

1246 


37,6 
38,8 

324  346 
341808 

'  42,9 

48,5 
41,2 

355  940 
371  929 
390796 

1023 
1086 

1170 
1278 
1400 


Mit  dem  Giroverkehr  der  Bank  eng  ver- 


744 


Gii-overkehr 


knüpft  und  mit  diesem  dem  gleichen 
Zwecke  dienend,  ist  das  Geschäft  in 
Accreditiven ,  welche  die  Bank  bei  allen 
ihren  Niederlassungen  jedermann  unent^ 
geltlich  ausstellt  Die  Accreditive  sind 
durch  Indossament  übertragbar.  Ueber 
kleinere  Beträge  als  100  Francs  werden  sie 
nicht  erteilt. 

10.  6.  in  England.  In  der  Ausbildung 
des  Systems,  die  Kassenfülirung  von  Privat- 
peraonen  den  Banken  zu  übertragen,  ist 
England  dem  Kontinent  weit  voraus.  Wäli- 
rend  in  Deutschland  diese  Aufgabe  zum 
grössten  Teü  der  Reichsbank,  also  der  Cen- 
tralnotenbank  dos  Landes  zuge&dlen  ist,  sind 
es  in  England  eine  grosse  Anzahl  von  Baif- 
ken,  die  sich  diesem  Geschäftszweige  unter- 
ziehen. Die  meisten  von  ihnen  haben  ihren 
Hauptsitz  in  London  und  ausserdem  Filialen 
im  Lande;  umgekelirt  nötigte  die  vorherr- 
schende Stellung  Londons  auf  dem  Welt- 
mai*kt  auch  die  Provinzialbanken ,  Filialen 
oder  mindestens  Agenten  in  London  zu 
halten,  die  ftlr  sie  die  dortigen  Geschäfte 
besorgen  und  bei  denen  sie  für  ihre  Dis- 
positionen stets  ein  Guthaben  halten.  Von 
den  Londoner  Banken  hat  mm  jede  ein  Conto 
bei  der  Bank  von  England,  der  sie  ihre 
entbehrlichen  Kassenvorräte  und  somit  ilire 
eigene  Reserve  überweisen.  Infolge  dieser 
Entwickelung  hat  sich  in  England  haupt^ 
sächlich  das  System  der  Zahlung  durch 
Bankanweisung  (Check)  ausgebildet.  Das 
System  der  blossen  Umschreibung  (Giro- 
zahlung) besteht  in  grösserem  Massstabe 
hauptsächlich  nur  l)ei  der  Bank  von  England 
an  ihrem  Hauptsitze  und  bei  den  wenigen 
Filialen,  an  deren  Sitze  sich  ein  Clearing- 
liouse  befindet.  Alle  Personen,  die  laufende 
Rechnung  (current  account)  bei  einer  Bank 
haben,  pflegen  untereinander  in  Checks  zu 
zahlen,  w^elche  der  Nohmer  seiner  Bank  zur 
Einziehimg  übergiebt. 

Beide  Systeme  haben  ihre  Vorteile  und 
ihre  Nachteile.  Ein  Vorteil  des  Systems 
der  Umschreibiuig  gegen  das  der  Zahlungs- 
anweisung liegt  darin,  dass  bei  jenem  der 
Zahlungsleistende  von  dem  Augenblick  an, 
wo  der  Betrag  dem  Conto  seines  Gläubigers 
gutgeschrieben  ist,  seiner  Verpflichtung 
gegen  diesen  ledig  ist.  Es  ist  also  wesent- 
lich in  die  Hand  dos  Schuldners  gelegt,  den 
Zeitpunkt  der  Zahlung  zu  bestimmen.  Bei 
der  Zahlung  durch  Checks  liegt  es  dagegen, 
wenigstens  in  Ländern,  in  denen  es  ein 
Checkgesetz  und  deshalb  auch  eine  Präsen- 
tation sfrist  noch  nicht  giebt,  fast  ganz  in  dem 
Belieben  des  Empfängers,  wann  er  durch 
Präsentation  des  in  seinen  Händen  befind- 
lichen Checks  den  Zalilenden  definitiv  be- 
freien will.  Soweit  schon  die  Uebergabe 
des  Checks  als  Zahlimg  gut,  kreditiert  frei- 


lich der  Empfänger  bis  zur  Einlösung  so- 
wohl dem  Schuldner  wie  der  Checkbank 
im  Vertrauen  auf  genügende  Deckung. 

Auf  der  anderen  Seite  kann  der  Auftrag- 
geber die  üeberweisung  wieder  rückgängig 
machen,  solange  die  Buchung  auf  dem 
Conto  des  Empfängers  noch  nicht  erfolgt 
ist,  ein  Umstand,  der  besonders  bei  Ueber- 
Weisungen  nach  auswärts  von  Wichtigkeit 
ist.  Diese  Möglichkeit  wird  ihm  bei  Stäh- 
lung mittelst  Checks  konsequenterweise  be- 
nommen, obschon  in  England  (einstweilen 
auch  in  Deutschland)  auch  hier  ein  Wider- 
ruf (countermand)  gestattet  ist.  Von  prak- 
tischem Interesse  ist  dies,  abgesehen  von 
dem  Abhandenkommen  eines  Checks,  in 
Fällen,  wo  der  Schuldner  oder  die  bezogene 
Bank  oder  derjenige,  für  den  die  Zahlung 
bezw.  Üeberweisung  bestimmt  ist,  in  der 
Zwischenzeit  in  Konkurs  geraten. 

Ein  Nachteil  des  AnweLsungssystems  be- 
steht darin,  -dass  die  Checks,  die  auf  den 
Inhaber  oder  an  Order  gestellt  sind,  ver- 
loren gehen  und  von  einem  Unberechtigten 
zur  Zahlung  präsentiert  werden  können,  dass 
das  Guthaben  zurückgezogen  w^erden,  die 
Bank  in  Konkurs  vertäuen  kann.  Vorteil- 
haft ist  die  Zahlungsanweisung  (Check) 
wiederum  dadurch,  dass  man  nicht  auf  den 
Kundenkreis  seiner  Bank  beschränkt  ist, 
sondern  auch  an  beliebige  andere  Personen 
Zalilung  durch  Checks  leisten  kann. 

Für  England  mit  seinen  vielen  Banken 
empfiehlt  sich  der  Checkverkehr  mehi'  als 
der  Ueberweisungs verkehr,  der  nur  bei  dem 
Einbanksj'stem  überwiegende  Vorteile  hat. 

Den  erforderlichen  Mittelpunkt,  wo  die 
in  Zahlung  genommenen  und  den  Banken 
zur  Einziehung  übergebenen  Checks  aus- 
getauscht werden,  bildet  das  Clearing-house 
in  London  (s.  den  Art.  oben  Bd.  III  S.  55  ff.). 

Allen  voran  sind  es  von  jeher  die  Joiut- 
Stock-Banks  gewesen,  die  den  Depositen- 
und  Checkverkehr  pflegten;  diesell>en  ver- 
güten ebensowenig  wie  die  Bank  von  Eng- 
land Zinsen  für  die  Einlagen,  beanspnichen 
vielmehr  für  die  vielfachen  Dienste,  die  sie 
ihren  Kunden  leisten,  ein  entsprechendes 
Guthaben  (a  good  balance).  Von  der  Höhe 
desselben  hängen  wiederum  die  Vorteile  ab, 
welche  die  Bank  den  customers  im  Diskont- 
und  Ijombardverkehr  gewährt.  In  den  Land- 
städten ist  es  noch  gebräuclüich ,  dass  der 
Bankier  Zinsen  auf  den  Saldo  vergütet,  da- 
für berechnet  er  aber  ^'4 — Va^.'o  Provision 
von  der  Debetseite  des  Contos.  Die  Summe 
der  Depositen  bei  den  Joint-Stock-Banks  in 
England,  Wales  und  der  Insel  Man  betrug  nach 
dem  »Economist«  am  21.  Oktober  1899  627,2 
Millionen  £,  bei  den  Banken  in  Schottland 
99,2  Millionen  £',  bei  den  Banken  in  Irland 
46,9  Millionen  £,  in  Summa  also  773,3  Mil- 
lionen £',  demnach  ungefähr  13  mal  so  viel 


Giroverkehr — Griasversicherung 


745 


-wie  in  Deutschland.  Unter  den  erstgenann- 
ten Banken  steht  obenan  die  Bank  von  Eng- 
land mit  53,7  Millionen  £';  es  folgen  die 
National-Provinzialbank  51,3  Millionen  £,  die 
London-  und  Countybank  45,4  Millionen  £, 
Lloyds  Bank  40,9  Mmionen  £,  Summa  191,3 
Millionen  £.  Auf  diese  vier  Banken  kommt 
also  nahezu  der  dritte  Teü  sämtlicher  bei 
den  87  Joint-Stock-Banks  von  England  und 
Wales  mit  der  Insel  Man  stehenden  Depositen. 
11.  Auch  in  den  Vereinigen  Staaten 
von  Amerika  wächst  für  £e  Gestaltung 
des  Zahlungswesens  immer  mehr  die  Be- 
deutung der  Buchdepositen  und  Checks. 
Guten  Aufschluss  geben  darüber  die  Ver- 
öffentlichungen des  Comptroller  of  the 
Currency  seit  1892.  Der  kreditwirtschaft- 
liche Verkehr  umfasst  dort  bereits  alle 
Schichten  des  Volkes  fast  noch  in  grösserem 
Umfange  als  in  England.  —  Vgl.  auch  die 
statistisclien  Angaben  in  den  Art.  tlber  das 
Bankwesen  der  wichtigsten  Länder 
(oben  Bd.  II  S.  132  ff.),  insbesondere  über 
die  BarvoiTäte  der  Banken.  Schätzungen 
des  gesamten  Goldvorrates  findet  man  in 
dem  Art.  Gold  und  Goldwährung  unten 
S.  748  ff.,  Angaben  über  den  Süberumlauf  in 
dem  Art.  Silber. 

Litteratur:  J^.  d.  Lüteralur  zu  den  Artt.  Ab- 
rechnung 88  teilen,  oben Bd,Ij S. UjlS,  Ch eck, 
Bd.  HI  iS.  S8ff.,  Clearing- Ho  use  dcuselb8t  S, 
61l62.  —  G,  Cohn  in  Endemann,  Handbuch  III, 
S.  1041—1056.  —  Ä.  Koch,  Veber  Giroverkehr  u.  d. 
Gebrauch  von  Check/i  als  Zahlungsmittel  (Berlin 
1878).  —  Derselbe,  «.  r.  Giroverkehr  in  von 
HoUzendorff,  ReclUalexikon,  S.  Ausg.  —  I>er- 
»elbe,  Vorträge  und  AufsäUe  (Berlin  1892),  S. 
140— 398.  —  Härtung,  Der  Check-  und  Giro- 
verkehr der  deutschen  Beichsbunk.  —  Derselbe, 
in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  S.  Folge,  Bd.  I,  Ä'. 
ITOß'.  —  Glauert,  Die  Bedeutung  des  Check- 
verkehrs für  Deutschland,  daselbst  II,  S.  269 ff. 
—  Rauchbevg,  Der  Clearing-  und  Giroverkehr 
(Wien  1886).  —  Derselbe,  Die  Entwickelung 
des  Clearing-  und  Giroverkehrs  in  den  Jahren 
1887  und  1888  (Wien  1890).  —  Derselbe,  Der 
ClcaHng-  und  Giroverkehr  in  Oestcrreich- Ungarn 
und  im  Auslande  (Wien  1897).  —  F.  Bubenik, 
Die  Technik  des  Giroverkehrs  bei  der  Oester- 
reichisch-ungarischen  Bank,  Wien  1888.  —  »1. 
Kanitz,  Die  BedetUung  des  Giroverkehrs.  Vortrag 
(Wien  1894).  —  Derselbe,  Die  Technik 
des  Giroverkehrs.  Vortrag  (Wien  1896).  — 
Blum,  Stat.  leiten,  über  die  Erweiterung  und 
Ausbreitnug  des  Giroverkehrs  der  deutschen  Beichs- 
bank  in  Annale n  des  Deutschen  Reichs  1896,  S. 
16.5 ff.  —  M.  Schinckel,  Beichsbank  und  Giro- 
verkehr, Hamburg  1898.  —  A.  Wagner  in 
Sch&nberg,  3.  Aufl.,  I  (1890),  S.  425—428.  — 
Röscher,  I,  22.  Aufl.  (1897),  ^  128,  S.  855.  — 
Derselbe,    III,  7.  Aufl.  (1899)',  ^  62,  S.  873 ff. 

R.  Koch. 


Glasversicherang 

(auch  Spiegelglas  Versicherung). 

Die  bedeutenden  Fortschritte,  welche  die 
Glasindustrie  und  besonders  die  Bereitung 
von  Tafelglas,  demzufolge  aber  auch  die 
Verblendung  von  Glas,  namentlich  in  der 
Baukunst,  in  diesem  Jahrhundert  gemacht 
liat,  ferner  aber  der  umstand,  dass  dieses 
immerhin  doch  ziemlich  teure  Fabrikat  leicht 
zerbrechlich  ist,  leiteten  in  einer  Zeit,  wo 
das  Versicherungsprincip  immer  vielseitigere 
praktische  Anwendung  fand,  die  Gedanken 
auch  auf  die  VenÄ^ertung  dieses  Princips 
zur  Ausgleichung  von  Vermögensverlusten, 
welche  fort  und  fort  aus  der  Zerstoning  von 
Glas,  namentlich  Tafel-  und  Spiegelglas, 
durch  Elementarereignisse  und  Fahrlässig- 
keit erwuchsen.  Fast  gleichzeitig  zu  Anfang 
der  zweiten  Hälfte  unseres  Jalu'hunderts  ent- 
standen zuerst  in  England  und  Frankreich 
Glasversicherungsgesellsc^haften ;  bald  aber 
wai-d  auch  in  Deutschland,  der  Schweiz  und 
in  den  übrigen  Kulturländern  der  Erde  die 
Glasversicherung  heimisch. 

Der  Zweck  der  Glasversicherung  leuchtet 
ohne  weiteres  ein ;  es  handelt  sich  dabei  um 
Ersatz  von  Vermögensverlusten,  die  untei* 
gewissen  Umständen  durch  gewisse  Formen 
der  Zerstörung  des  dermaligen  Gebrauchs- 
wertes von  Glaserzeugnissen  entstehen,  und 
zwar  um  Einsatz  aus  Fonds,  zu  denen  viele, 
welche  solchen  Verhisten  ausgesetzt  sind, 
beigesteuert  haben  —  gleichviel,  ob  lediglich 
als  Kunden  einer  Versicherungsanstalt  oder 
ob  als  Kunden  —  Versicherungsnehmer  — 
und  Vei*sicherer  zugleich. 

Das  Risiko  bei  der  Glasversichenmg 
pflegt  nicht  jede  Zerstönmg  des  dermaligen 
Gebrauchswertes  vei-sicherter  Glasfabrikate 
schlechthin,  sondern  die  Zerstörung  durch 
Zerbrechen  —  also  nicht  die  Vernichtung 
der  Spiegelkraft  von  Spiegelglas,  der  Durch- 
sichtigkeit anderen  Tafelglases  —  zu  sein, 
und  auch  nur  das  Zerbrechen  durch  elemen- 
tare Gewalt,  durch  Fahrlässigkeit  oder 
Bös^^'illigkeit  Dritter,  durch  nicht  schuldbare 
Fahrlässigkeit  des  Versicherungsnehmers. 
Auch  pflegt  der  Versicherer  nicht  aufzu- 
kommen fiu'  Schäden,  welche  während  eines 
Krieges  durch  kriegerische  Massregeln,  in- 
folge von  Aufrulir,  Landfriedensbruch,  Erd- 
beben, Vulkanausbruch  oder  Zusammensturz 
der  Versicherungslokalitäten,  sowie  für  solche, 
welche  durch  Translokation  der  Gläser  oder 
durch  Handwerksarbeiten  an  den  versicherten 
Gegenständen  verursacht  werden.  Man 
sieht:  das  Versicheningsrisiko  ist  hier  zur 
Zeit  noch  ziemlich  eng  begrenzt  und  doch 
ist  der  Versicherer  noch  in  sehr  hohem 
Grade  abhängig  von  der  Ehrlichkeit  des 
Vei-sichorungsnehmers ,  durch  dessen  Bös- 
willigkeit leicht  namhafte  Schäden  herbei- 


746 


Glasversicherung 


geführt  werden  können,  ohne  dass  dem 
Versicherer,  wenn  diesem  die  Beweislast 
obliegt,  der  Beweis  gelingt.  Sein  Schutz 
liegt  darin,  dass  der  unrechtmässige  Ge- 
winn, den  der  Versicherungsnehmer  beab- 
sichtigen könnte,  hier  meist  nicht  im  Ver- 
hältnis steht  zu  der  Gefahr  der  Entdeckung 
des  Betruges. 

Manche  Versicheningsanstalten  überneh- 
men nur  Deckung  von  Schäden,  die  ah 
Tafel-,  andere  auch  solche,  die  an  Hohlglas 
entstehen. 

Die  Art  des  Risikos  bestimmt  die  Ent- 
schädigung. Da  Zerbrechen  Bedingung 
der  Entschädigung  ist  und  Glasfabrikate 
diu'ch  jedes  Zerbrechen  in  ihi*em  dermalgen 
Gebrauchswerte  vernichtet  werden,  so  ist 
hier  jeder  Schaden  ein  Totalschaden  und 
also  für  die  Entschädigung  die  Versicherungs- 
summe massgebend,  sofern  dieselbe  den 
"Wert  nicht  übersteigt,  welchen  der  ver- 
sicherte Gegenstand  vor  Eintiitt  des  Schadens 
hatte.  Dem  Vereicherer  gehören  aber  die 
beschädigten  Gegenstände;  zugleich  stellt 
ihm  das  Rückgriffsrecht  gegen  schuldige 
Dritte  zu. 

Zur  BemCvSsung  zutreffender  Prämien- 
tarife  fehlt  in  der  Glasversichenmg  noch 
jeder  exakte  Massstab.  Statistische  Hilfs- 
mittel bieten  hier  nur  die  eigenen  Erfahrungen 
der  Versicherer.  Und  auch  die  bestver- 
werteten solchen  Erfahrungen  gewähren 
doch  nur  einen  notdürftigen  Anhalt  zu  em- 
pirischen Schlüssen.  Dass  im  allgemeinen 
gutgeleitete  Glasversicherungsgesellscliaften 
mit  leidlichem  Gewinn  arbeiten,  lässt  einiger- 
massen  darauf  schliessen,  dass  die  empirisch 
gebildeten  Prämientarife  das  Risiko  über- 
schätzen. Freilich  erfordert  die  Notwendig- 
keit grosser  Risiken  Verteilung,  also  der  Auf- 
nahme des  Geschäfts  in  geographisch  aus- 
gedehnten Gebieten,  verhältnismässig  grosvso 
Verwaltungsaufwände.  Auch  um  deswillen 
pflegt,  wenn  nicht  die  Risikoprämie,  so  doch 
die  Gesamtprämie,  reic^hlich  bemessen  zu 
werden.  Es  bedarf  dann  besonders  sach- 
kundiger Kritik,  um  zu  beurteilen,  ob  im 
einzelnen  Falle  der  Gewinn  aus  der  Risiko- 
prämie oder  aus  hohen  Verwaltungskosten- 
zuschlägen stammt.  Als  Schade nreserve 
pflegen  die  Glasversichenmgsgesellschaften 
die  Versichenmgssumme  für  die  bis  zum 
Rech  nun  gssehlusse  erwachsenen,  aber  noch 
nicht  bezalilten  Schäden  zurückzustellen,  als 
Prämienreserve  die  Summe  derjenigen 
Teile  der  im  Laufe  des  Rechnungsjahres  im 
voraus  gezahlten  Jahresprämien,  welche  für 
den  über  den  Rechnungsschluss  hinaus- 
reichenden Teil  des  Versicherungsjahros 
validieren.  Die  Kapitalreserve  wird 
ebenso  wie  bei  allen  andei-en  Zweigen  der 
Schadensversicherung  gebildet. 

Mit  grossen  technischen  Schwierigkeiten 


hat  bei  der  Glasversicherung  weder  die 
Risikenabscliätzung  und  -verteihmg  noch  die 
Schadenermittelung  zu  kämpfen.  Die  ent- 
stehenden Rechtsstreitigkeiten  über  die  Ent- 
schädigungspflicht können  erhebliche  sach- 
liche, nicht  aber  erhebliche  juristische 
Schwierigkeiten  bieten. 

In  der  Brämerschen  üebereicht  der  Er- 
gebnisse der  deutschen  Vei*sicherungsan- 
stalten  im  Jahre  1888  (Zeitschr.  des  Kön. 
Preuss.  Statist.  Bureaus  1890,  HI)  sind  für 
jenes  Jalir  14  deutsche  Glasversicherungs- 
anstalten namhaft  gemacht,  und  zwar  3 
Gegenseitigkeits-und  11  Aktiengesellschaften, 
von  denen  aber  ihrer  sechs  nicht  niu*  die 
Glasversicherung,  sondern  auch  andere  Ele- 
mentarversicherungszweige ,  namentlich  die 
Feuerversicherung,  betreiben.  (Die  Glas  Ver- 
sicherung, um  dies  gleich  hier  mit  zu  be- 
merken, eignet  sich  vollkommen  für  den 
Betrieb  auf  Gegenseitigkeit  und  würde,  im 
gif)ssten  Umfange  so  betrieben,  am  ersten 
zu  angemessener  Prämienbestimmung  ge- 
langen. Bei  der  im  ganxen  doch  nicht 
sonderlich  ins  Gewicht  fallenden  wirtschaft- 
lichen Bedeutung  dieses  Versicherungs- 
zweiges verdient  jedoch  die  Frage  nac»h  der 
grösseren  Berechtigung  der  einen  oder 
anderen  Betriebsform  kaum  eingehende  Er- 
örterung.) '  Für  die  Mehrzahl  jener  14  An- 
stalten ist  die  Versicherungssumme  nicht 
angegeben.  Ihre  Einnahmen  betrugen  ins- 
gesamt 887  754  Mark,  darunter  827  256  Mark 
Prämien.  Die  Ausgaben  betrugen  831 387 
Mark,  darunter  518  335  Mark  für  Scliäden. 
Drei  der  aufgeführten  Anstalten  arbeiteten 
im  Jahre  1888  mit  kleinen  Verlusten. 

F(\r  das  Jahr  1898  führt  B.  Iranyi  (die 
deutschen  PrivatversicherungsgeseDscliaften 
i.  J.  1898.  Wien.  Selbstverlag  d.  Verf. 
1899)  16  Glasvei-sicherungsgesellschaften  auf. 
davon  4  Gegenseitigkeits-,  12  Aktiengesell- 
schaften. Sie  hatten  in  jenem  Jalire  zu- 
sammen eine  Prämieneinnahme  von  2,67 
Millionen  Mark  und  zahlten  1,47  Millionen 
Mark  an  Schäden.  Die  Ueberschüsse  be- 
zifferten sich  auf  228  546  Mark.  Die  An- 
gabe der  Vei'sicherungssumme  feWt.  Wahr- 
scheinlich vei'pflichten  sich  einige  Gesell- 
scliaften  znm  Schadensersatz  in  natura,  so 
dass  Versichenmgssummen  teilweise  gar 
nicht  in  Frage  kommen. 

Das  eidgenössische  Vei^icherungsamt 
giebt  in  seinem  Jahresbericht  für  1897  (Bern. 
Kommiss-  v.  Schmid  &  Franke  1899.)  Nach- 
richt über  die  Geschäftsgebahrung  von  einer 
schweizerischen  und  von  sieben  deutschen 
Gesellschaften.  Alle  diese  Gesellschaften 
erzielten  im  Berichtsjahre  Ueberschüsse  und 
zwar  in  Höhe  von  12,5  ®/o  der  Prämie :  33  *^/o 
betrugen  die  Verwaltungskosten:  freilich 
erhob  sich  auch  die  durchschnittliche  Ver- 
sicherungssumme auf  die  Police  nicht  über 


G-lasversicheruTjg — Godwin 


747 


sehr  kleine  Beträge.  Im  ganzen  betnig  der 
Yersicherungsbestand  jener  8  Gesellschaften 
in  der  Schweiz  nur  etwa  6  Millionen  Franken. 

Fiir  Grossbritannien  maclit  Bournes  Handv 
Assm^ance  Manual  ohne  jede  nähere  Angabe 
18  Glasvereicherungsgesellschaften  (»Plate 
glass  Offices«)  naraliaft,  die  älteste  1861,  die 
jüngste  18S8  gegründet.  Eingehendere 
statistische  Nachrichten  über  die  englische 
Glasversichening  haben  auch  neuerdings  nicht 
ermittelt  werden  können. 

Die  Glasversicherung  ist  noch  kaum 
Gegenstand  litterarischer  Bearbeitung  ge- 
worden und  eignet  sich  dazu  auch  höchstens 
hingesehen  auf  ilire  thatsächliclien  Ergeb- 
nisse. Nach  dieser  Seite  ist  sie  ausser  von 
Brämer  in  der  Ztsclu*.  d.  Preuss.  Stat.  B. 
und  vom  eidgen.  Versichenmgsamte  in 
dessen  Jahresberichten  auch  noch  von  Ehren- 
zweig in  dessen  Assekuranzjahrbuch,  über- 
all jedoch  unvoUstündig,  behandelt. 

.1.  Emniinffhaua. 


Glücksspiel 

s.  Spiel  und  Wette. 

Godin,  Jean  Baptiste  Aiidr^, 

geboren  zu  Esquehiries,  französisches  Departe- 
ment Aisne,  1817,  begann  seine  Laufbahn  als 
einfacher  Arbeiter  und  kämpfte  sich  zum  grossen 
Fabrikanten,  zum  Besitzer  von  Hüttenwerken 
in  Frankreich  und  Belgien  empor.  Er  gründete, 
als  Anhänger  Fouriers,  in  Nachahmung  von 
dessen  ^Phalansterium",  1862  zu  Guise,  Departe- 
ment Aisne,  Arrondissement  Vervins,  den  Fa- 
milist^re,  eine  auf  das  Princip  von  Bonus  und 
Dividende  und  gegenseitiger  kommunaler  Ver- 
sicherung sich  stützende  Genossenschaftskolonie 
von  einigen  tausend  Arbeitern  mit  einem  Jahres- 
umsatz von  12  bis  15  Millionen  Frcs.  Godin 
starb  als  Generalrat  am  15.  I.  1888  zu 
Guise,  mit  Hinterlassung  einer  Witwe,  Marie, 
^eb.  Moret,  welche  die  Verwaltung  des  Fami- 
listere  im  Sinne  des  Verstorbenen  fortführt. 

Er  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform: 

Reforme  generale  des  impots,  comprenant 
l'abolition  de  Timpöt  du  sei,  des  octrois  et  des 
cotisatious  personnelles  dans  los  campagnes, 
Ltittich  1849.  —  Du  credit  public  et  des  valeurs 
mobilieres,  du  travail  materiel,  du  luxe  et  du 
respect  de  la  propriete  dans  leurs  rapports  avec 
la  paix  et  la  civilisation  etc.,  Paris  1858.  — 
Associations  ouvriöres.  Enqu§te  de  la  Com- 
mission  extra-parlementaire  au  Minist^re  de 
rint^rieur,  Paris  (187.).  —  Le  familistere  de 
Guise.  Solution  de  la  question  ouvriöre,  Paris 
(187.).  —  L  heredite  de  l'Etat  ou  la  reforme  de 
Timpöt,  Paris  (187.).  —  La  reforme  electorale 
et  la  r6 Vision  constitutionnelle,  Paris  (187.).  — 
Solutions  sociales,  Paris  1871. ' —  Les  socialistes 
et  les  droits  du  travail,  Paris  1874.  —  La 
politique  du  travail  et  la  politique  des  Privi- 


leges, Paris  1875.  —  La  richesse  du  peuple,  le 
familistere,  Paris  1876.  —  Mutualite  sociale  et 
association  du  capital  et  du  travail,  ou  extinction 
du  paup^risme  par  la  consecration  du  droit 
naturel  des  faibles  an  necessaire  et  du  droit  des 
travailleurs  ä  participer  aux  benefices  de  la 
production,  Paris  1880;  dasselbe  2.  Aufl.,  Guise 
1891.  —  Le  gouvernement,  ce  qu'il  a  6t6,  ce 
qi^'il  doit  ^tre,  et  le  vrai  socialisme  en  action, 
Paris  188B.  —  Mutualite  nationale  contre  la 
misfere,  Paris  ISK-i.  —  La  republique  du  travail 
et  la  reforme  parleraentaire,  raris  1889.  (Dieses 
aus  Godins  Nachlasse  von  seiner  Witwe  heraus- 
gegebene Werk  bildet  gleichsam  sein  social- 
politisches  Testament;  es  besteht  aus  5  Kapiteln, 
deren  zweites  von  der  gerechten  Einrichtung 
der  Hilfsquellen  des  Staates  und  der  Organi- 
sation des  Rechts  zu  leben  handelt.  Die  Durch- 
führung der  Lösung  dieser  beiden  Probleme 
erreicht  Godin  durch  eine  auf  das  staatliche 
Erbrecht  begründete  Expropriation  des  grossen 
und  mittleren  Grundeigentums,  indem  er  für 
die  grossen  Veimögen  von  100 (XX)  Frcs.  auf- 
wärts bis  zu  5  Millionen  eine  progressions- 
mässige  Erbschaftssteuer  von  30  bis  ansteigend 
50  °o,  für  die  kleinen  Hinterlassenschaften  aber 
nur  eine  ganz  geringe  Stenerquote  in  Aussicht 
nimmt  Der  Staat,  der  als  alleiniger  Nutzniesser 
des  Eisenbahn-,  Post-  und  Telegraphenregals 
sowie  als  Regulator  der  Bodenrente  gedacht 
wird,  fruktifiziert  den  von  ihm  monopolisierten 
und  durch  die  Erbschaftssteuer  okkupierten 
Milliardensegen  zur  Wohlfahrt  der  Besitzlosen 
bezw.  zur  Herstellung  des  Gleichgewichts 
zwischen  Produktion  und  Konsumtion  etc.  Mit 
anderen  Worten  fordert  Godin  vom  Staate  die 
Expropriation  des  Reichtums,  wie  H.  George 
die  entschädigungslose  Expropriation  des  Grund- 
eigentums.) _ 

Vergl.  über  Godin:  Reybaud,  Etudes 
sur  le  regime  des  manufactures,  Bd.  IV,  Paris 
1874.  (Darin  die  Abhandlung:  Le  familistere 
de  Guise.)  — Stöpel,  Die  soziale  Frage,  Berlin 
1888,  S.  138.  —  Bernardot,  Le  familistfere 
de  Guise,  association  du  capital  et  du  travail, 
et  son  fondateur  J.  B.  A.  Godin.  Etüde  faite 
au  nom  de  la  Societe  du  familistere  de  Guise, 
Dequenne  &  Cie.,  Paris  1889.  —  Förster, 
Die  Vereinigung  von  Kapital  und  Arbeit  im 
Farailisljcrium  zu  Guise,  in  Arbeiterfreund, 
Jahrgang  XXVIII,  Berlin  1890.  —  Nouveau 
dictionnaire  d'economie  politique,  Bd.  I,  Paris 
1891,  S.  1104.  Uppert 


Oodwin,  William, 

geboren  am  3.  III.  1756  zu  Wisbeacb,  in  der 
englischen  Grafschaft  Cambridge,  wurde  1778 
Prediger  einer  Dissentergemeinde  zu  Suffolk, 
gab  das  Prediger  am  t  auf  und  ging  1782  nach 
London,  wo  er  unter  dem  Ministerium  Grey 
eine  Subalternbeamtenstelle  erhielt.  1796  ver- 
heiratete er  sich  mit  Mary  Wolstoncraft,  be- 
kannt als  Vorkämpferin  der  Frauenemancipation 
in  der  Schrift:  Vindication  of  the  rights  of 
women  with  strictures  on  political  and  inoral 
subjects,  I.  (einziger)  Teil,  London  1792.  1798 
gründete  er  zu  London  eine  Verlagsbuchhand- 


748 


Godwin^ — Gold  und  Goldwähiiing 


lung  und  wurde  hier  der  Selbstverlecer  einer 
unter  dem  Pseudonym  Edward  Baldwin  er- 
schienenen Anzahl  Jugendschriften.  Auf  seine 
alten  Tage  erhielt  er  noch  eine  Sinekure  im 
Schatzamt  und  starb  am  7.  lY.  1836  in  London. 
Godwin,  Anhänger  der  sozialen  Spekulationen 
Condorcets  und  Wallaces,  zeichnete  sich  auf 
dreierlei  litterarischen  Gebieten:  dem  sozialis- 
tischen, dem  historischen  und  dem  schönwissen- 
schaftlichen (darunter  sein  berühmter  Bomän 
Caleb  Williams)  aus. 

£r  veröfTentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform : 

Enquiry  concemin^  political  iustice,  and 
its  influence  on  general  virtue  and  happiness, 
2  Bde.,  London  1?92— 93  (Hauptkapitel :  Rights 
of  man;  Forms  of  government;  Doctrine  of 
necessity;  Of  property;  Of  population),  2.  Aufl., 
die  folgende  Titelveränderung  statt  on  general 
virtue :  „on  morals"  aufweist,  1794 ;  3.  Aufl.  1797 ; 
4.  Aufl.  1798;  dasselbe,  deutsche  Uebersetzung 
mit  Anmerkungen  und  Zusätzen  von  G.  M. 
Weber,  Bd.  I  (einziger),  Würzburjj  1803.  (An 
eine   aus  der  Gegenwirkung  der  \ermehrungs- 

fesetze  und  sozialen  Lage  der  Bevölkerung 
onstruierte  pessimistische  Darstellung  der 
menschlichen  Gesellschaft  knüpft  Godwin  in 
dieser  Schrift  die  Grundprincipien  seines  kom- 
munistischen Systems,  das  zunächst  das  Recht 
auf  Existenz,  sodann  das  Recht  auf  den  vollen 
Arbeitsertrag  und  drittens  Teilunp^  des  Eigen- 
tums nach  Massgabe  der  Bedürfnisse  der  ein- 
zelnen Individuen  von  einer  von  jeder  staat- 
lichen und  wirtschaftlichen  Eigentumsverfassung 
abstrahierenden  Gesellschaftsorgauisation  ver- 
langt, das  ferner  für  Förderung  der  freien  Liebe 
mit  ihren  günstigen  Konsequenzen  für  die 
Volksvermehrung  eintritt.  Inkonsequenzen  zeigt 
das  Godwinsche  kommunistisch-anarchistische 
System  der  Art,  dass  z.  B.  das  ganze  Gebäude 
seiner  kommunistischen  Gesellschaft  dadurch 
auf  den  Kopf  gestellt  wird,  dass  er  im  Gefüge 
derselben  die  Individual Wirtschaft  und  das 
Privateigentum  unter  den  Genossen  fortbestehen 
lassen  will,  dass  er  den  Umsturz  gutheisst,  aber 
vor  Gewältthätigkeiten  zurückschreckt,  dass  er 
den  Ehezwang  verdammt  und  trotzdem  in  sei- 
nem sittenlosen  Komraunistenstaate  die  ethischen 
und  kulturellen  Ueberlieferungen  konservieren 
will.  Godwin  bestritt  die  Möglichkeit  des  Ein- 
tretens einer  Uebervölkerung  wegen  unzu- 
reichender Unterhaltsmittel  in  seinem  geplanten 
Kommunistenstaate,  und  hierauf  antwortete 
Malthus  (s.  d.)  durch  das  Werk:  ,,An  essay  on 
the  principle  of  population **.)  —  The  enquirer: 
reflexions  on  education,  manners  and  literature, 
London  1797  und  Fortsetzung  1823.  —  On 
population.  An  enquiry  concerning  the  power 
of  increase  in  the  numbers  of  mankind,  being 
a  answer  of  Malthus's  essay  on  that  subject, 
London  1820;  dasselbe  in  französischer  Ueber- 
setzung unter  dem  Titel:  Recherches  sur  la 
population  et  sur  la  faculte  d'accroissement  de 
l'esp^ce  humaine;  contenant  une  refutation  des 
doctrines  de  Malthus  sur  cette  matiere;  traduit 
de  l'anglais  par  F.  C.  Constancio,  2  Bde.,  Paris 
1821  (Replik  auf  das  Malthussche  Bevölkerungs- 
gesetz). —  Thoughts  on  man,  his  nature,  pro- 
ductions,  and  drscoveries,  interspersed  with  some 
particulars  respecting  the  author,  London  1831. 


VergL  über  Godwin:  Everett:  New 
ideas  on  population  with  remarks  on  thß  theories 
of  Malthus  and  Godwin,  London  1823.  —  The 
annual  Register,  Jahrg.  1836,  Appendix  zur 
Chronik,  1837,  S.  197.  —  Blanqui,  Histoire 
de  Teconomie  polit.  en  Enrope,  Bd.  11,  Paris 
184Ö.  —  W.  Godwin,  his  friends  and  contem- 
poraries,  2  Bde.,  London  1876.  —  Held,  Zwei 
bücher  zur  sozialen  Geschichte  Englands,  Leipzifi^ 
1881,  S.  890^.  —  Ingram,  History  of  politicsu 
economy,  Edinburg  1888,  S.  112 f.  —  Menger, 
Das  Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag,  2.  Aufl., 
Stuttgart  1891,  S.  41  ff. 

Lippert 


Gold  nnd  Goldwährnng. 

1.  Die  Goldproduktion  im  Altertum  und  im 
Mittelalter.  2.  Von  1500  bis  1848.  3.  Die  Gold- 
produktion seit  1848.  4.  Goldprägung  und  Gold- 
währung. 5.  Industrieller  Verbrauch  des  Goldes. 
6.  Gold  Vorrat.  7.  Barrenhandel.  Ein-  ,und  Aus- 
fuhr. 

1.  Die  Goldprodnktion  im  Altertum 
nnd  im  Mittelalter.  Das  (rold  ist  ohne 
Zweifel  das  erste  Metall  gewesen,  das  die 
Aufmerksamkeit  des  Menschen  auf  sich  ge- 
zogen und  das  er,  wenn  auch  nur  in  rohestor 
Weise,  zu  vei'arbeiten  gelernt  hat.  Es 
kommt,  abgesehen  von  der  seltenen  Telliir- 
verbindung,  nur  im  gediegenen  Zustande, 
allerdings  meistens  mit  mehr  oder  weniger 
Silber  legiert,  in  der  Natur  vor,  nnd  zwar 
zu  einem  grossen  Teil  und  ursprünglich 
noch  weit  mehr  als  gegenw^ai-tig  in  leicht 
zugänglichen  Fundstätten,  im  Sand  und 
Kies  der  Flüsse  und  in  dem  oberflächlichen 
Schwemmlande.  Als  edles  Metall  behält  es 
trotz  des  Einwirken s  von  Luft  und  Wasser 
seinen  Glanz  und  seine  Farbe,  und  so  konnte 
es,  wo  es  durch  den  von  der  Natur  voll- 
zogeneu Schlemmungsprozess  sich  in  grosserer 
Menge  in  Alluvialbildungen  angesammelt 
hatte,  dem  Auge  des  primitiven  Menschen 
nicht  entgehen.  Einer  metallurgischen  Be- 
handlung, wie  sie  für  Silbererze  erforderlich 
ist,  bedurfte  es  nicht,  seine  leichte  Formbar- 
keil durch  Hämmern  war  von  vomhei'ein 
augenfällig  und  auch  seine  Schmelzbarkeit 
musste  bald  entdeckt  werden.  Das  Gold 
kam  freilich  in  zu  geringer  Menge  vor,  als 
dass  es  für  praktische  Zwecke  des  wirt- 
schaftlichen Lebens  hätte  dienen  können; 
al)er  es  fand  von  Anfang  an  Verwendung 
zur  Befriedigung  des  bei  dem  i*ohen  Natur- 
menschen sehr  lebhaften  Schmuckbedürf- 
nisses. So  fanden  die  Si)anier  bei  den  Ein- 
geborenen Westindiens,  die  im  übrigen  noch 
als  Wilde  zu  bezeichnen  waren,  schon  Gold- 
Vdättchen  als  Schmuckgegenstände  vor.  Auf 
einer  höheren  Kultiu^tufe  wird  das  Gold  als 
Luxusstoff  in  >veiterem  Umfange  verwendet, 
nämlich  nicht  nur  zum  persönlichen  Schmucke, 


Gold  und  Goldwährung 


■49 


sondern  auch  zu  Gefässen,  Geräten  und 
Kunstwerken  der  verschiedensten  Art.  Diese 
Phase  zeigt  sich  uns  in  einer  späteren  Zeit 
noch  in  Peru,  wo  sogar  die  Wände  einiger 
Tempel  mit  Goldplatten  belegt  wai-en,  aas 
Gold  jedoch  nicht  als  Tauschmittel  diente. 
Die  hervorragende  Tauglichkeit  des  Goldes 
zur  Befriedigimg  von  Luxusbedürfnissen 
einerseits  und  seine  natfirliche  Seltenheit 
andererseits  erzeugten  schon  in  der  Zeit  der 
ersten  Kultiu^nfänge  für  dieses  Metall  ein 
Verhältnis  von  Nachfrage  und  Angebot,  das 
ihm  einen  ausserordentlich  hohen  Verkehrs- 
wert verschaffte,  wie  dies  aus  denselben 
Gründen  ja  auch  bei  Edelsteinen  und  Perlen 
der  Fall  war  und  noch  ist.  So  wurde  das 
Gold  zu  einem  der  am  höchsten  geschätzten 
Träger  des  Reichtums  und  als  solcher  sam- 
melte es  sich,  sowohl  künstlich  geformt  wie 
in  einfachen  Barren,  Ringen,  Körnern  etc. 
schon  viele  Jahrhunderte  vor  Christi  Geburt 
in  den  Schatzkammern  der  Fflrsten  und 
TempelVorderasiens,  Egyptens  und  Griechen- 
lands in  beträchtlicher  Menge  an.  Die 
Legenden  von  der  goldenen  Riesenstatue  der 
Semiramis  und  ähnliche  phantastische  Er- 
zählungen aus  den  ältesten  Zeiten  haben 
natürlich  keinen  statistischen  Wert.  Die 
älteste  zuverlässige  Nachricht  über  einen 
Goldtribut  dürfte  die  aus  dem  16.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  stammende  Inschrift  des 
Tempels  von  Karnak  über  die  Siegp  Tuth- 
mosis  III.  in  Asien  enthalten,  und  in  dieser 
kommen  niu:  sehr  massige  Zahlen  vor.  Wenn 
Posten  von  4 — 5  kg  Güld  im  Gesamtwerte 
von  kaum  66  000  Mark  so  feierlich  verzeich- 
net werden,  so  darf  man  daraus  für  jene 
Zeit  auf  eine  sehr  grosse  Seltenheit  des- 
selben in  Vorderasien  wie  in  Aegypten 
schliessen.  Das  Gold  diente  aber  schon  in 
dieser  Periode  als  Wertübertragungsmittel, 
wenn  auch  noch  nicht  als  allgemein  ge- 
brauchtes Tauschmittel.  Es  wurde  zu  diesem 
Zwecke  hauptsächlich  in  die  Form  von 
»Ziegeln«  oder  Ringen  gebracht,  die  an- 
nähernd bestimmte  runde  Gewichte  dar- 
stellten. Das  zu  Grunde  liegende  Gewichts- 
system war  das  babylonische,  jedoch  wurde 
für  Gold  ein  anderes  Talent  angenommen 
als  für  Silber,  und  das  gew^öhiüiche  Ge- 
wichtstalent war  wieder  von  diesen  beiden 
verschieden.  Das  leichte  Goldtalent  (die 
Hälfte  des  schweren),  eingeteilt  in  60 
Minen  zu  50  Sekel,  wog  nach  Brandis 
25,246  kg,  nach  Bnigsch  24,559  kg,  würde 
also  bei  völliger  Reinheit  des  Metalls  einen 
Wert  von  etwa  70  000  Mark  darstellen.  Wenn 
Sanherib.dem  jüdischen  König  Hiskiah  eine 
Kontribution  von  80  Talenten  Gold,  also 
etwa  21  Millionen  Mark  auferlegt  hat  — 
eine  Angabe,  die  durch  eine  Keilinschrift 
bestätigt  sein  soll  —  so  muss  die  Ansamm- 
lung dieses  Metalls  in  Vorderasien  im  8.  Jahr- 


hundert V.  Chr.  schon  ziemlich  bedeutend 
gewesen  sein.  Die  Goldschätze  der  lydischen 
Könige  sind  ohne  Zweifel  schon  sehr  be- 
trächtlich gewesen,  da  im  7.  und  6.  Jalu*- 
hundert  Avahrscheinlich  reiche,  aber  rasch 
erschöpfte  Alluvialgoldlager  am  Tmolus  aus- 
gebeutet worden  sind.  Ob  aber  die  An- 
giben  Herodots  über  die  von  Krösus  nach 
elphi  wie  an  andere  Tempel  gesandten  Ge- 
schenke wirklich  genau  sind,  muss  dahin- 
gestellt bleiben,  üebrigens  war  das  lydische 
Gold  grösstenteils  Weissgold  oder  Elektron 
mit  einer  natürlichen  Silberbeimischung  von 
20  und  mehr  Prozent  Im  7.  Jahrhundert 
V.  Chr.  wimie  die  Funktion  des  Goldes  als 
Tauschmittel  wesentlich  erleichtert  und  er- 
weitert durch  Ausprägung  von  Münzen  aus 
diesem  Metall,  mag  dies  nun  zuerst  bei  den 
kleinasiatischen  Griechen  (in  Phokäa)  oder 
in  Lydien  geschehen  sein.  Während  in  der 
älteren  Zeit  in  Babylonien  und  Assyrien 
eine  Art  von  Doppelwähning  (s.  d.  Art.  oben 
Bd.  III  S.  237)  m  ungeprägten  Barren  und 
Ringen  bestanden  hatte,  war  im  persischen 
Reiche,  das  die  Münzprägung  von  Lydien 
übernahm,  das  Gold  als  Münzmetall  vor- 
herrschend. Man  kann  in  gewissem  Sinne 
von  einer  persischen  Goldwährung  sprechen, 
da  der  Grosskönig  sich  die  Prägung  dieses 
Metalls  ausschliesslich  vorbehalten  hatte, 
wälirend  Silbermünzen  auch  von  den  Satrapen 
geprägt  wurden.  Auffallend  erscheint,  dass 
nach  Herodot  von  den  20  Satrapieen  des 
Reiches  19  ihren  Tribut  in  Silbertalenten 
entrichteten  und  nur  die  indische  Provinz 
Gold  geliefert  haben  soll.  Daraus  könnte 
man  schliessen,  dass  damals  die  Goldpro- 
duktion Lydiens  imd  Aegyptens  schon  keine 
Bedeutimg  mehr  hatte.  Das  phantastische 
Beiwerk  zu  dem  Bericht  Herodots  über  das 
indische  Gold  erweckt  kein  günstiges  Vor- 
urteil für  die  Angabe,  dass  jährlich  360 
Talente  (dem  Gewichte  nach,  also  etwa  24 
Millionen  Mark)  aus  dieser  Provinz  ein^- 
gangen  seien.  Wenn  die  Notiz  richtig  ist, 
so  hat  es  sich  wahrscheinlich  um  Goldstaub 
(denn  von  solchem  ist  ausdrücklich  die  Rede) 
gehandelt,  der  grösstenteils  nicht  in  der 
östlichen  Grenzmark  selbst  gewonnen  wurde, 
sondern  aus  Tybet,  Ostturkestan,  vielleicht 
sogar  vom  Altai  stammte.  —  Wenn  Pythios 
von  Kelänä  wirklich,  w^ie  Herodot  berichtet, 
3993000  Golddareiken  (etw^a  90  Millionen 
Mark)  in  seinem  Schatze  hatte,  so  müssen 
diese  Münzen  in  ausserordentlich  grosser 
Menge  geprägt  worden  sein.  '—  Von  dem 
mittelst  der  Arbeit  von  Sklaven  oder  Ver- 
brochern betriebenen  Goldbergbau  in  Ober- 
ägypten giebt  Diodor  eine  furchtbare  Schilde- 
rung, die  sich  aber  wahrscheinlich  auf  eine 
weit  zurückliegende  Zeit  bezieht  Es  handelt 
sich  hier  nicht  um  Goldwäscherei,  sondern 
um  den  Abbau  von  goldhaltigen  Quarzgängen. 


■50 


Gold  und  Groldwährung 


Die  Uebcrreste  eines  solchen  alten  Berg- 
baues sind  in  der  neueren  Zeit  in  Nubien 
mit  Sicherheit  nachgewiesen  worden.  Strabo 
und  Diodor  führen  nacli  Agatharchides  — 
der  seinerseits  wahrscheinlich  ältere  Berichte 
abgeschrieben  hat  —  auch  Arabien  als  Gold- 
produktionsland an.  Namentlich  sollen  die 
Aliläer  und  Kasandrer  an  der  Westküste 
ungewöhnlich  grosse  Goldkörner  in  geringer 
Tiefe  im  Schwemmlande  gefunden  haben. 
Agathai'chides  spricht  auch  von  einem  Gold 
in  reichlicher  Menge  führenden  Flusse  in 
dieser  Gegend.  Soetbeer  glaubt  in  diesen 
Fundstätten,  von  denen  sich  übrigens  heute 
keine  Spuren  mehr  auffinden  lassen,  das 
biblische  Ophir  erkennen  zu  dürfen.  Andere 
verlegen  dieses  Goldland  nach  Indien,  K.  E. 
V.  Baer  sogar  nach  der  Halbinsel  Malacca, 
die  man  für  die  fabelhafte  Insel  Chryse 
hält ;  andere  endlich  nach  Südafrika,  wo  der 
Name  Sofala  an  Sopara,  wie  die  Septuaginta 
Ophir  nennt,  erinnert  Positivere  Nachrichten 
finden  wir  bei  Herodot  über  die  Goldgruben 
auf  Thasos  und  die  den  Thasiern  gehörenden 
auf  dem  benachbarten  Festlande.  Letztere 
sollen  zu  Herodots  Zeit  jährlich  80  Talente 
(wahrscheinlich  dem  Silber  werte  nach) 
eingebracht  haben,  die  auf  Thasos  selbst 
aber,  die  schon  in  alter  Zeit  von  den 
Phöniziern  in  Angriff  genommen  waren, 
halten  einen  geringeren  Ertrag.  In  Thracien 
führte  der  Hebrus  Gold.  Wichtiger  aber 
w^aren  die  Bergwerke  am  E^angaeon.  Sie 
waren  ebenfalls  schon  von  den  Phöniziern 
abgebaut  worden,  ergaben  aber  erst  unter 
Philipp  IL  einen  reichlichen  Ertrag,  nach 
Diodor  jährlich  1000  Talente  (4700000  Mark). 
Auch  imter  Philipp  IIL  (221—179  v.  Chr.) 
waren  die  macedonischen  Goldminen  noch 
ergiebig  und  unter  der  römischen  Herrschaft 
wurden  noch  neue  eröffnet.  —  Ein  reiches 
Alluvialgoldlager  wurde  zur  Zeit  des  Polybius 
in  der  Gegend  von  Ac^uileja  entdeckt,  walir- 
scheinlich  aber  schon  in  wenigen  Jahren 
erschöpft.  —  Von  besonderer  Wichtigkeit 
war  im  Altertum  die  Goldpreduktion  in 
Spanien.  Nach  den  Beschreibungen  bei 
Strabo  und  Plinius  wimle  das  Gold  teils 
durch  Waschen  des  Sandes  vieler  Flüsse, 
teils  durch  einen  an  das  heutige  hydraulische 
Verfahren  in  Amerika  erinnernden  Prozess 
gewonnen,  teils  aber  auch  dm-ch  einen 
höchst  schwierigen  Bergbau  auf  Quarzgängen. 
Nach  Plinius  wurden  in  Asturien,  Galicien 
und  Lusitanien  jährlich  20000  Pfund  Gold 
(18  Millionen  Mark)  gewonnen.  Jedoch  ent- 
nimmt er  diese  Angabe  älteren  Schriftstellern 
und  sie  galt  sicherlich  nicht  mehr  für  seine 
Zeit.  —  in  Gallien  führton  mehrere  Flüsse 
Gold,  aber  es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass 
Caesar  so  grosse  Goldschätze  aus  diesem 
I^ande  mitgebracht  habe,  wie  erzählt  wird. 
Beim  Beginn  der  römischen  Kaiserzeit  war- 


jedenfalls  die  Goldproduktion  in  allen  be- 
kannten Fundstätten  schon  stark  zurück- 
gegangen. Nehmen  wir  an,  was  nach  den 
obigen  Notizen  wohl  glaubhaft  erscheint, 
dass  die  jährliche  Produktion  im  ganzen 
Gebiete  der  alten  Welt  vom  Jahre  600  bis 
zu  Christi  Gebm-t  diu'chschnittlicii  20  Mil- 
lionen Mark  beti-agen  habe,  so  findet  man, 
wenn  man  den  unten  für  die  neuere  Zeit 
annähernd  geschätzten  Abgangskoeffizienten 
füi*  das  Altertum  um  ^.4,  also  auf  25  ^;o  für 
ein  Jahrhundert  erhöht,  dass  der  gesamte 
Vorrat  an  gemünztem  und  verarbeitetem 
Golde  im  römischen  Reiche  im  Anfang  der 
Kaiserzeit  annähernd  5750  Mülioneü  Mark 
betragen  habe,  d.  h.  ungefähr  100  Mark  auf 
den  Kopf  der  Bevölkerung,  soviel  wie  gegen- 
wärtig diese  Quote  (in  Münzen  und  Gold- 
waren) etwa  in  Deutschland  beträgt  und 
mehr  als  doppelt  soviel,  als  sie  im  Jahre 
1800  für  die  Bevölkerung  Europas  betnig. 
Die  obige  Schätzung  erscheint  aaher  trotz 
der  Anekdoten  über  den  Reichtum  und  die 
Verschwendung  einzelner  römischer  Grossen 
weit  eher  zu  hoch  als  zu  niedrig.  —  Der 
römische  Goldbergbau  in  den  norischen 
Alpen,  d.  h.  im  Salzburgischen  und  in 
Kärnthen,  fällt  wahrscheinlich  hauptsächlich 
in  das  1.  Jahrhundert  n.  Chr.,  für  welches 
man  vielleicht  noch  eine  Produktion  von 
15  Millionen  Mark  jährlich  annehmen  darf. 
Im  2.  Jahrhundert  wunlen  die  dacischen 
Bergwerke  bearbeitet.  Die  in  den  römischen 
Gruben  bei  Vöröspatak  gefundenen  Holz- 
und  Waclistäfelchen  datieren  aus  den  Jahren 
131  bis  167,  und  nach  dieser  Zeit  ist  wahr- 
scheinlich dieser  Bergbau  infolge  des  Mai'ko- 
manneukrieges  gänzlich  ins  Stocken  geraten. 
Im  südlichen  Dacien  und  überhaupt  auf  der 
Balkanhalbinsel  dauerte  jedoch  der  Gold- 
bergbau oder  wenigstens  die  Goldwäscherei 
noch  im  4.  und  5.  Jahrhundert  fort. 

Wenn  für  das  zweite  Jahrhundert  viel- 
leicht auch  dieselbe  Durchschnittsproduktion 
angenommen  werden  kann  wie  für  das  ei-ste, 
so  wird  man  für  die  folgenden  Jahrhunderte, 
in  denen  wahrscheinlich  die  wenig  ergiebige 
Goldwäscherei  an  den  gallischen  und  spani- 
schen Flüssen  und  eine  gewisse  Einfuhr  aus 
dem  östlichen  und  inneren  Afrika  die  Haupt- 
quellen der  Goldgewinnung  bildeten,  zu 
einer  bedeutend  niedrigeren  Scliätzung  greifen 
und  bis  zu  der  Ertragsziffer  von  5  Millionen 
Mark  jährlich,  schliesslich  vielleicht  noch 
tiefer,  hinabgehen  müssen.  Der  Abgang 
wurde  nun  bei  weitem  nicht  mehr  durch 
die  Zufuhr  gedeckt  Leberdies  bewirkte 
die  Gründung  von  Konstantinopel  eine 
wesentliche  Aenderung  der  Verteilung  des 
vorhandenen  Goldes  zum  Nachteile  der 
westlichen  Länder.  Hier  wurde  es  immer 
seltener,  das  Silbergeld  verdrängte  in  Frank- 
reich den  Goldsolidus,  den  die  Merovinger 


Gold  und  Goldwähning 


751 


noch  beizubehalten  suchten,  imd  die  von 
Karl  dem  Grossen  eingeführte  Rechnung 
nach  Pfund  Silber  zu  20  Schillingen  und 
240  Pfennigen  bürgerte  sich  auch  in  Italien 
ein,  was  beweist,  dass  auch  hier  das  Gold 
um  diese  Zeit  weit  zurückgetreten  war. 
Eine  bedeutende  neue  Zufuhr  kam  zunächst 
aus  Böhmen,  wo  nach  unbeglaubigten  Sagen 
schon  im  8.  Jahrhundert  reiche  Funde  bei 
Pisek  gemacht  worden  sein  sollen,  seit  dem 
11.  Jahrhundert  die  Goldwlkschereien  bei 
Eule  einen  reichlichen  Erti-ag  lieferten  und 
der  Höhepunkt  der  Produktion  im  14.  Jahr- 
hundert erreicht  worden  sein  dürfte.  Auch 
in  Ungarn  und  Siebenbürgen  soll  der  Gold- 
bergbau schon  im  8.  Jahrhundert  wieder 
aufgenommen  worden  sein;  seine  grösste 
Bedeutung  erlangte  er  jedoch  erst  im  15. 
Jahrhundert.  In  demselben  Jahrhundert 
nahmen  auch  die  Salzburgischen  Bei-gwerke 
einen  grösseren  Aufschwung;  ihre  Blütezeit 
fällt  in  die  Jahre  1460  bis  1560.  Die  Gold- 
wäscherei in  mehreren  deutschen  und  franzö- 
sischen Flüssen  scheint  bis  zum  Ende  des 
15.  Jahrhunderts  einen  wesentlich  höheren 
Ertrag  geliefert  zu  haben  als  in  der  neueren 
Zeit.  —  In  Macedonien  wiuxle  am  Ausgange 
des  Mittelalters  ebenfalls  Gold  in  erheb- 
licher Menge  gewonnen.  Ein  nicht  unbe- 
trächtliches Quantiun  kam  ferner  aus  Sofala 
nach  Aegypten  und  aus  den  Nigerländem 
nach  den  w^estlichen  Küstenländern  Afrikas, 
und  der  Handel  brachte  w'enigstens  einen 
Teil  dieses  Goldes  nach  Europa.  Nach  dem 
einigermassen  bekannten  Staude  der  Pro- 
duktion am  Anfange  des  16.  Jahrhundert« 
und  mit  Rücksicht  auf  den  Umfang  der 
Goldausmünzungen  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert, über  die  unten  einige  Angaben 
folgen,  wird  man  die  jährliche  Goldgewinnung 
Europas  nebst  der  Einfuhr  aus  Afrika  in 
diesen  beiden  Jahrhunderten  auf  durch- 
schnittlich mindestens  10  Millionen  Mark  zu 
schätzen  geneigt  sein.  Unter  dieser  Voraus- 
setzung aber  w^ürde  sich  bei  Benutzung  des 
oben  angegebenen  Abgangskoeffizienten  allein 
aus  dieser  Periode  eine  Goldansaramlung 
von  1530  Milhonen  Mark  für  das  Jahr  150Ö 
bereclmeu.  Wenn  im  13.  Jahrhundert  der 
jährliche  Zugang  auch  nur  5  Millionen  Mark 
und  der  ganze  Vorrat  Euroj)as  an  gemünztem 
und  verarbeitetem  Golde  am  Anfang  dieses 
Jahrhunderts  nur  200  Millionen  Mark  be- 
tragen hätte,  so  würden  zu  der  obigen  Zahl 
noch  360  Millionen  Mark  hinzukommen  und 
demnach  der  europäische  Goldbestand  am 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts  sicli  auf  1900 
Millionen  Mark  stellen,  allerdings  bedeutend 
höher  als  nach  der  gewöhnlichen  Annahme. 
M.  Chevalier  und  andere  schätzen  diesen 
Bestand  nur  auf  300  3Iillionen  Francs,  was 
unzweifelhaft  ein  zu  niedriger  Anschlag  ist. 
2.  Von  1500  bis  1848.     Mit  der  Ent- 


deckung Amerikas  beginnt  für  die  Gold- 
gewinnung eine  neue  Periode,  wenn  die- 
selbe auch  im  16.  und  17.  Jahrhundert  neben 
der  ungeheueren  Entwickelung  der  Silber- 
produktion in  der  neuen  Welt  nur  eine 
untergeordnet-e  Rolle  spielte.  In  den  ersten 
Jahrzehnten  nach  der  Fahrt  des  Columbus 
diente  allerdings  ausschliesslich  das  Gold 
als  Lockmittel  für  die  spanischen  Eroberer, 
die  immer  wieder  ein  Dorado  zu  finden 
hofften,  so  oft  auch  ihre  Erwartungen  ge- 
täuscht wurden.  Die  Fundstätten  von  Wasch- 
gold, zu  deren  Ausbeutung  sie  mit  rück- 
sichtsloser Grausamkeit  die  Zwangsarbeit 
der  Eingeborenen  benutzten,  waren  im  ganzen 
wenig  ergiebig  und  rasch  erschöpft.  Am 
wichtigsten  war  in  dieser  Periode  die  Gold- 
produktion auf  Hispaniola  (in  Cibao),  die 
1499  in  grösserem  Massstabe  begann,  1516 
ihren  Höhepunkt  erreichte  und  dann  rasch 
abnahm.  Indes  ist  ihr  Durchschnittsergebnis 
nicht  höher  als  auf  jährlich  etwa  250—300  000 
Pesos  (zu  1/50  Mark  (Gew.)  Gold  von  21 — 22 
Karat,  etwa  11,50  Mark)  zu  veranschlagen. 
Auf  den  übrigen  westindischen  Inseln  war 
die  Ausbeute  unbedeutend,  und  auch  in 
Mittelamerika,  selbst  in  dem  hoffnungsvoll 
so  genannten  Castilla  del  oro  musste  mau 
sich  mit  einzelnen  Funden  und  Erpressungen 
begnügen.  Im  ganzen  ist  es  sicherlich  eher 
zu  hoch  als  zu  niedrig  gerechnet,  wenn  wir 
den  ganzen  Goldertrag  Amerikas  von  1500 
bis  1521  auf  100  Millionen  Mark  schätzen. 
—  Auch  in  Mexico  war  sowohl  die  von 
den  Eroberern  erbeutete  als  die  später  aus 
den  Minen  jährlich  gewonnene  Goldquantität 
von  sehr  mfissigom  Betrage.  Nimmt  man 
an,  dass  bis  zur  Eröffnung  der  Silbergruben 
von  Zacatecas  (1548)  der  königliche  Quinto 
ganz  überwiegend  aus  Gold  bestanden  hat, 
so  wird  man  nach  der  Liste  der  Sendungen 
an  die  königliche  Kasse  den  Wert  des  in 
Mexico  erbeuteten  und  gewonnenen  Goldes 
von  1522  bis  1547  höchstens  auf  80  Millionen 
Mark  schätzen  dürfen.  Von  1548  bis  1700 
darf  man  den  durchschnittlichen  jährlichen 
Goldertrag  Mexicos  nach  dem  für  das  vorige 
Jahrhundert  geltenden  ziemlich  stetigen  Ver- 
hältnis der  Gold-  und  Silberproduktion  auf 
höchstens  1  Million  Mark  ansetzen,  im  Laufe 
des  18.  Jahrhunderts  aber  stieg  er  allmählich 
bis  auf  4  Millionen  Mark.  —  Gi-osse  Ueber- 
treibungen  finden  sich  in  den  Berichten 
mancher  Schriftsteller,  namentlich  Garcilassos 
de  la  Vega,  über  deu  Goldreichtura  Perus 
und  die  von  den  Spaniern  erbeuteten  Schätze. 
In  Wirklichkeit  betrug  das  Lösegeld  Atahual- 
pas  ausser  51G10  Mark  (Gew.)  Silber  nur 
1326539  Goldpesos,  im  W^erte  von  etwa 
16  Millionen  Mark.  Die  vielgerühmte  Beute 
von  Cuzco  enthielt  nach  Soetbeer  an  Gold 
nur  242 160  Goldpesos  im  Werte  von  höchstens 
2  8(X)  000  Mark.    Die  gesamte  Goldbeute  der 


752 


Gold  und  Goldwährung 


Spanier  in  Peru  dürfte  20  Millionen  Mark 
nicht  erheblich  überstiegen  haben.  Nach 
der  Eroberung  war  die  Goldproduktion  in 
dem  das  heutige  Bolivia  und  Ecuador  mit 
umfassenden  Gebiet  des  Viceköni^ichs  Peru 
im  16.  Jahrhundert  zeitweilig  infolge  der 
Ausbeutung  reicher  Waschgoldlager  nicht 
unbeträchtlich,  und  man  darf  sie  von  1534 
bis  1600  mit  Einschluss  der  Kriegsbeute  im 
Anschluss  an  Soetbeer  auf  230  Millionen 
Mark  schätzen.  Für  das  17.  Jahrhundert 
nehmen  wir  sie  zu  etwa  450  Millionen,  für 
das  18.  Jahrhundert  zu  370  Millionen  Mark 
an.  Sehr  gerühmt  wurde  schon  im  16.  Jahr- 
hundert der  Goldreichtum  Neugranadas,  in- 
des betrug  hier  die  Gesamtproduktion  nach 
einer  neueren  Schätzung  in  einer  amtlichen 
Quelle  von  1537  bis  1600  nur  200  Millionen 
Mark,  während  sie  im  17.  Jahrhundert  680 
Millionen  und  im  18.  Jahrhundert  etwa  780 
Millionen  Mark  erreichte.  Soetbeer  nimmt 
nicht  unerheblich  höhere  Zahlen  an.  —  Die 
Goldproduktion  in  Cliile,  die  in  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  einige  Bedeutung 
erlangte,  mag  nach  Soetbeers  Schätzung  bis 
1600  etwa  130  MilUonen  Mark,  im  17.  Jahr- 
hundert im  ganzen  100  Millionen  und  im 
18.  Jahrhundert  240  Millionen  Mark  betragen 
haben. 

Eine  vorher  gänzlich  unerhörte  Entwicke- 
lung  nahm  die  Goldproduktion  im  vorigen 
Jahrhundert  durch  die  Ausbeutung  der 
reichen  Lagerstätten  Brasiliens.  Die  An- 
fänge derselben  reichen  bis  1691  zurück, 
doch  belief  sich  der  Goldertrag  von  1691 
bis  1700  im  ganzen  nur  auf  etwa  40  Mil- 
lionen Mark.  Filr  das  18.  Jahrhundert  folgen 
nachstehend  mit  einfachen  Abrundungen  die 
von  Soetbeer  gegebenen  Zahlen. 

Goldproduktion  von  Brasilien: 
von  1701—1720  im  ganzen  150  Mül.  M. 

1741—1760   «         «       816 


1761—1780 
1781—1800 


n 
n 


71 

580 

n 
n 

n 
n 

n 

300 

n 

n 

In  Europa  lieferte  in  der  Periode  von 
1500  bis  1800  hauptsäclüich  Siebenbürgen 
einen  einigermassen  erheblichen  Goldertrag. 
Nur  in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts kommt  daneben  auch  noch  die 
Produktion  im  Salzburgischen  in  Betracht. 
Soetbeer  schätzt  die  gesamte  Goldgewinnung 
in  denJjändern  der  österreichisch-ungarischen 
Monarchie  in  den  Jahren  15(M)  bis  1520  auf 
durchschnittlich  jälu'lich  2000  kg,  von  1521 
bis  1544  auf  jährlich  1500  kg,  von  da  bis 
1780  auf  1000  kg  und  von  1781  bis  1800 
auf  1280  kg.  Das  Waschgold,  das  in  Deutsch- 
land, Frankreich  und  anderen  europäischen 
Ländern  gefunden  wurde,  sowie  das  aus 
Silbererzen  abgescliiedene  Gold  machte  jähr- 
lich nur  einige  hunderttausend   Älark   aus. 


Die  russische  Goldproduktion  im  Ural  be- 
gann erst  1751  und  ergab  im  ersten  Jahr- 
zehnt durchschnittlich  jährlich  etwa  200000 
Mark,  später  aber  1  bis  IV3  Million  Mark. 
Die  gesamte  Goldproduktion  Amerikas  und 
Europas  mit  Einschluss  der  spanischen 
Kriegsbeute  dürfte  für  die  angegebene 
Periode  durch  die  folgenden  Zahlen  an- 
nähernd dargestellt  werden. 

1501—1520  210  Mill.  M. 

1521-1550  330 

1551—1600  670 

1601—1700  K20 

1701—1720  480 

1721—1740  930 

1741-1760  1160 

1761—1780  loio 

1781—1800  825 


n 


r 


n 


n 

n 
n 
n 
n 
n 
n 
n 


Die  Goldzufuhr  aus  Afrika  nach  Europa 
war  in  diesen  drei  Jahrhunderten  jedenfalls 
nicht  ganz  unerheblich,  wenn  sie  sich  auch 
nur  in  sehr  unsicherer  Weise  schätzen  lässt. 
Die  Portugiesen  sollen  im  16.  Jahrhundert 
aus  dem  südöstlichen  Afrika  beträchtliche 
Smnmen  bezogen  haben,  und  ein  grosser 
Teil  des  in  der  zweiten  Hälfte  des  17. 
Jahrhunderts  in  England  geprägten  Goldes 
stammt  ohne  Zweifel  aus  Oberguiuea.  Im 
16.  Jahrhundert  kam  auch  noch  immer 
Gold  in  erheblicher  Quantität  über  Tim- 
buktu  nach  der  Mittelmeerküste.  Wir  blei- 
ben bei  der  Schätzung  Soetbeers  stellen, 
nach  welcher  die  Einfuhr  an  afrikanischem 
Gold  nach  Europa  im  16.  Jahrhundert  etwa 
690  Millionen,  im  17.  Jahrhundert  ungefähr 
560  Millionen  und  im  18.  Jahrhundert  etwa 
480  Millionen  Mark  betrug.  —  Del  Mar  hat 
auch  auf  den  Goldzufluss  aus  Japan  hin- 
gewiesen, der  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
in  der  That  nicht  unbedeutend  war.  Zwar 
ist  es  eine  offenbare  üebertreibung,  wenn 
Kämpfer  behauptet,  die  Portugiesen  hätten 
in  der  ersten  Periode  ihres  Handels  mit 
Japan  aus  diesem  I^ande  jährlich  300  Tonneu 
Goldes  (zu  100000  Gulden,  die  aber  auch 
in  Silber  dargestellt  sein  können)  gezogen. 
Dagegen  erscheint  die  Angabe  von  Martin 
(China,  political  etc.,  London  1847)  annehm- 
bai'er,  nach  welcher  die  Goldausfuhr  aus 
Nagasaki  von  1611  bis  1706  sich  auf 
6192800  Koban  (bis  1696  zu  rund  45 
Mark)  und  112268700  Kronen  (taels)  in 
Silber  belaufen  habe.  Nach  einem  engli- 
schen Gesandtschaftsbericht  von  Plumkett 
sollen  im  16.  und  17.  Jahrhundert  die  Hol- 
länder für  15482250  £  Gold  und  für 
28000000  £  Silber,  die  Portugiesen  aber 
für  59  500000  £  Gold  und  Silber  ausge- 
führt haben. 

Nach  Rathgen  (Japans  Volkswirtschaft 
und  Staatshaushalt),  der  die  obigen  An- 
gaben über  die  portugiesische  und  hollän- 
dische  Edelmetallausfuhr    bezweifelt,    sind 


Grold  und  Goldwährung 


753 


nach  den  japanischen  Münzberichten  von 
1601  bis  1695  14727000  Koban,  ungefähr 
634  Millionen  Mark,  geprägt  worden.  Der 
grösste  Teil  dieser  Summe  ist  jedenfalls 
ausgeführt  worden,  zumal  da  die  Ausfuhr 
von  Silber  seit  1671  verboten  wai%  die  von 
Gold  aber  bei  einem  für  die  Holländer  vor- 
teilhaften Wertverhältnisse  gestattet  blieb. 
Immerhin  erscheint  es  nach  den  vorstehen- 
den und  anderen  älmlichen  Daten  nicht  un- 
glaublich, dass  in  der  zweiten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  etwa  300  Millionen  und 
im  17.  Jahrhundert  etwa  400  Millionen 
Mark  aus  Japan  nach  Europa  gekommen 
seien.  Im  18.  Jahrhundert  war  diese  Zu- 
fuhr unbedeutend,  da  die  Yerringenmg  des 
Feingehalts  des  Koban  im  Jahre  1696  ein 
die  Goldausfuhr  erschwerendes  Wertverhält- 
nis der  Edelmetalle  herstellte  und  die 
eigene  Goldproduktion  Japans  immer  ge- 
ringer wurde.  Diese  halte  im  Jahre  736 
n.  Chr.  ihren  Anfang  genommen  und  muss 
zeitweise,  besonders  auf  der  Insel  Sado, 
eine  ansehnliche  Höhe  erreicht  haben. 

In  den  ersten  Jahrzehnten  des  gegen- 
wärtigen Jahrhunderts  ging  die  Goldpro- 
duktion infolge  der  politischen  Bewegungen 
im  spanischen  Amerika  und  der  fortschrei- 
tenden Erschöpfung  der  Lagerstätten  Bra- 
siliens mehr  und  mehr  zurück.  Erst  in 
den  zwanziger  Jahren  trat  eine  neue  Wen- 
dung ein,  indem  im  russischen  Reich  ziem- 
lich ergiebige  Waschgoldlager,  zuerst  am 
Ural  und  dann  auch  in  Sibirien,  zunächst 
am  Altai,  in  Angiiff  genommen  wurden. 
Von  1801  bis  1820  hatte  die  russische  Gold- 
produktion mit  Einschluss  des  aus  Silber- 
erzen geschiedenen  Goldes  nur  37  Milüouen 
Mark  ergeben;  dann  ti-at  eine  rasche  Zu- 
nahme ein,  aber  erst  in  den  dreissiger  und 
vierziger  Jahren  gelangte  die  sibirische 
Wäscherei  zu  einer  solchen  Entwickekmg, 
dass  das  russische  Reich  in  die  ei-ste  Reihe 
der  Goldproduktionsländer  trat.  Die  jähr- 
liche Gewinnung  von  Legaturgold  betrug  in 
Pud  (zu  16,38  kg): 


1816—1820 

I  384  Kilogramm 

1821  1825 

10327     w 

1826-1830 

24  182 

1831-1835 

33  297     „ 

1836—1^40 

37  602 

1841—1845 

88  193 

1846-1850     132  592  „ 

Die  gesamte  Goldproduktion  Amerikas, 
Europas  und  Sibiriens  nebst  einem  Zuschlag 
wegen  Afrikas  betrug  nach  Soetbeer  in  der 
Periode : 

1801-1810  496  MiU.  M. 

1811-1820  319     „      „ 

1821-1830  397     „       n 

1831-1840  566     ^      „ 

1841-1847  721      „      „ 


1821 

28 

1830 

360 

1839 

496 

1822 

54 

1831 

368 

1840 

568 

1823 

106 

1832 

386 

1841 

646 

1824 

207 

1833 

379 

1842 

909 

1825 

238 

1834 

375 

1843 

1241 

1826 

232 

1835 

386 

1844 

1280 

1827 

284 

1836 

399 

1845 

1307 

1828 

291 

1837 

443 

1846 

1612 

1829 

290 

1838 

493 

1847 

1757 

Die  Feinheit  des  sibirischen  Legaturgol- 
des  ist  in  der  neueren  Zeit  durchschnittlich 
etwa  11/12  und  der  Wert  des  Puds  stellt 
sich  auf  rund  42800  Mark.  Nach  der 
neuesten  russischen  amtlichen  Quelle,  die 
von  den  obigen  Angaben  nicht  wesentlich 
abweicht,  betrug  die  Produktion  in  Kilo- 
gramm zu  11/12  Feinheit  im  ganzen: 


Was  das  nichtrussische  Asien  betrifft,  so 
kann  China,  wo  stets  eine  gewisse  Gold- 
produktion stattgefunden  hat,  in  diesem 
Zeiträume  noch  ganz  ausser  acht  bleiben, 
da  damals  wohl  kein  chinesisches  Gold  der 
europäischen  Kulturwelt  zugeflossen  ist. 
Dasselbe  gilt  von  der  geringfügigen  Pro- 
duktion Japans  und  auch  von  dem  zeitweise 
in  grösserer  Menge  gewonnenen  Golde 
Borneos  und  Sumatras.  Nach  Crawford 
wurden  in  den  Jahren  1801 — 1814  aus  Su- 
matra 34130  und  aus  Borneo  112165  Unzen 
Gold  in  Kalkutta  eingeführt,  also  durch- 
schnittlich jähriich  ungefähr  für  800000 
Mark.  Ausserdem  sollen  nach  demselben 
Schriftsteller  jährlich  über  70000  Unzen 
aus  Borneo  nach  China  geschickt  worden 
sein.  Diese  letztere  Angabe  beniht  jedoch 
el»enso  wie  die  Schätzung  der  gesamten 
jährlichen  Goldproduktiou  der  Sundainseln 
(658000  £)  auf  sehr  unsicheren  Grundlagen 
und  war  wahrscheinlich  auch  schon  für  die 
ersten  Jahrzehnte  dieses  Jahrhunderts  zu 
hoch,  wie  sie  es  unzweifelhaft  für  die 
Gegenwart  ist.  Aber  auch  wenn  sie  richtig 
wäre,  würde  jenes  Gold,  weil  es  in  Asien 
blieb,  für  uns  hier  weiter  nicht  in  Betracht 
kommen. 

3.  Die  Goldproduktion  seit  1848. 
Abermals  beginnt  eine  neue,  und  zwar  die 
bedeutendste  Phase  der  Goldproduktion  mit 
der  Entdeckung  der  kalifornischen  Schätze, 
denen  bald  die  Erschliessung  ebenso  reicher 
Fundstätten  in  Australien  folgte.  Auch 
andere  Gebiete  und  Staaten  des  pacifischen 
Nordamerikas  erhielten  seit  1860  erheb- 
lichen Anteil  an  der  Goldgewinnung;  so 
besonders  Colorado,  Dakota,  Montana,  Ne- 
vada, letzterer  Staat  namentlich  zeitweise 
vermöge  der  dem  Werte  nach  etwa  ein 
Drittel  Gold  haltenden  Silbererze  des  reichen 
Comstockganges. 

Die  gesamte  Gold  Produktion  der  Ver- 
einigten Staaten  betrug  nach  den  amtlichen 
Angaben,  die  übrigens  für  die  ersten  Jahre 
ziemlich  unsicher  sind,  in  Millionen  Dollars : 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Aaflaj^.    IV. 


48 


754 


Grold  und   GoldAvährang 


1848 

■io,o 

1866 

53,5 

1884 

30,8 

1849 

40,0 

1867 

51,7 

1885 

31,8 

1850 

50,0 

1868 

48,0 

1886 

35,0 

1851 

55,0 

1869 

49,5 

1887 

33,0 

1852 

60,0 

1870 

50,0 

1888 

33,2 

ia)3 

65,0 

1871 

43,5 

1889 

32,8 

1854 

60,0 

1872 

36,0 

1890 

32,8 

1855 

55,0 

1873 

16,7^) 

1891 

33,2 

1856 

55,0 

1874 

33,5 

1892 

33,0 

1857 

55,0 

1875 

39,9 

1893 

36,0 

1858 

50,0 

1876 

46,9 

1894 

39,5 

1859 

50,0 

1877 

51,2 

1895 

46,6 

1860 

46.0 

1878 

38,9 

1896 

53,1 

1861 

43,0 

1879 

36,0 

1897 

57,4 

1862 

39,2 

1880 

18,0') 

1898 

64,5 

1863 

40,0 

1881 

34,7 

1899 

(70,0) 

1864 

46,1 

1882 

32,5 

1865 

53,2 

1883 

30,0 

In  den  letzten  Jahren  ist  Colorado  in 
der  Goldprodiiktion  der  Vereinigten  Staaten 
an  die  erste  Stelle  genickt.  Dieser  Staat 
lieferte  z.  B.  1897  für  19,1  Millionen  Dollar, 
Kalifornien  dagegen,  das  ursprunglich  obenan 
stand,  nur  für  14,6  Millionen,  üebrigens 
hat  sich  die  Produktion  Kaliforniens  merk- 
lich gehoben,  nachdem  auf  Grund  eines  im 
März  1893  vom  Kongress  angenommenen 
Gesetzes  die  Anwendung  des  hydraulischen 
Verfahrens  unter  gewissen  Beschränkungen 
und  Vorsichtsmassregeln  auch  in  den  Be- 
zirken, in  denen  es  seit  1882  verboten  war, 
wieder  gestattet  worden  ist.  Der  Schwer- 
punkt des  gegenwärtigen  und  künftigen 
(joldbergbaues  in  Kalifornien  liegt  jedoch, 
wie  auch  in  den  wichtigsten  andei'en  Pro- 
duktionsgebieten, im  Quarzbergbau. 

Die  australische  Goldproduktion  begann 
1851  in  Victoria  und  Neusüdwales  und 
stieg  in  der  ersteron  Kolonie  von  1852  auf 
2  286  535  Unzen  (die  Unze  kann  rund  zu  80 
Mark  gerechnet  werden).  Ihren  Höhepunkt 
erreichte  sie  in  Victoria  1857  mit  2830213 
Unzen.  Seitdem  aber  nahm  die  dortige 
Produktion  immer  mehr  ab,  1890  war  sie 
auf  588  560  Unzen  gesunken,  dann  aber 
stieg  sie  für  1898  wieder  auf  837  298  Unzen, 
Neusüdwales  liefei-te  1852  818751  Unzen, 
1890  nur  noch  127  460  Unzen,  1898  jedoch 
wieder  340494  Unzen.  Die  Produktion  in 
Neuseeland  begann  1857,  erreichte  1866  die 
Ziffer  von  735376  Unzen,  stand  1890  auf 
193193  und  1898  auf  2S0175  Unzen.  Der 
Ertrag  von  Queensland  wurde  erst  seit  dem 
Ende  der  sechziger  Jahre  erheblich,  wett- 
eiferte dann  aber  mit  Victoi'ia  und  stieg 
1898  sogar  auf  920048  Unzen.  In  West- 
australien wurde  die  Goldproduktion  erst 
1890  nennenswert,  dann  aber  nahm  sie 
einen   ausserordentlichen    Aufschwung,    er- 

^)  6  Monate ;  die  folgenden  Zahlen  beziehen 
sich  auf  Fiskaljahre,  die  am  30.  Juni  enden. 

*)  6  Monate;  die  folgenden  Zahlen  beziehen 
sich  wieder  auf  Kalenderjahre. 


langte  schon  1898  den  ersten  Rang  unter 
den  australischen  Kolonieen  mit  einer  Pro- 
duktion von  1 050 184  Unzen,  die  sich  1899 
auf  1643875  Unzen  steigerte.  Die  Gold- 
produktion Südaustraliens  und  Tasmaniens 
ist  von  geringem  Belange.  Die  Gesarat- 
menge des  in  Australien  gewonnenen  Gol- 
des betrug  nach  den  amtlichen  Angaben  (in 
1000  Unzen): 


1443 
1390 

1437 
1502 

1739 
1588 
1651 
1796 
1877 
2239 
2356 
2376 
2930 

3547 
(4350) 


1851 

357 

1868 

2579 

1885 

1852 

3105 

1869 

2411 

1886 

1853 

3292 

1870 

2091 

1887 

1854 

2456 

1871 

2429 

1888 

1855 

2991 

1872 

221 1 

1889 

1856 

3238 

1873 

2042 

1890 

1857 

3017 

1874 

1758 

1891 

1858 

2897 

1875 

1671 

1892 

1859 

2685 

1876 

1474 

1893 

1860 

2613 

1877 

1323 

1894 

1861 

2695 

1878 

1534 

1895 

1862 

2782 

1879 

1519 

1896 

1863 

2'r89 

1880 

1586 

1897 

1864 

2443 

1881 

1598 

1898 

1865 

2506 

1882 

1546 

1899 

1866 

2573 

1883 

1428 

1867 

2462 

1884 

1487 

Auch  in  Australien  sind  die  oberfläch- 
lichen Ablagerungen  fast  gänzlich  erschöpft 
Das  gewonnene  Gold  stammt  zum  Teil  aus 
DüuviaJschichten  (old  leads),  in  der  neueren 
Zeit  aber  mehr  und  mehr  aus  Quarzgängen. 
So  liefert  Queensland  (insbesondere  die 
reiche  Mount-Morgan-Mine)  so  gut  wie  aus- 
schliesslich Quarzgold,  ebenso  Westaustralien, 
und  in  Victoria  macht  dasselbe  schon  etwa 
zwei  Drittel  des  Gesamtertrage«  aus. 

Das  Gold  Sibiriens  wird  fast  aus- 
schliesslich aus  dem  Schwemmlande  ge- 
wonnen, jedoch  aus  Diluvialschichten,  die 
20  und  mehr  Fuss  unter  der  Oberfläche 
liegen.  Die  Produktion  des  russischen 
Reiches  betrug  in  Pud: 


1848 

1685 

1865 

1576 

1882 

2207 

1849 

1588 

1866 

1659 

1883 

2182 

1850 

1454 

1867 

1650 

1884 

2178 

1851 

1474 

1868 

1711 

1885 

2016 

1852 

1367 

1869 

2029 

1886 

2042 

1853 

1463 

1870 

2163 

1887 

2128 

1854 

1596 

1871 

2401 

1888 

2147 

1855 

1649 

1872 

2331 

1889 

2274 

ia56 

1655 

1873 

2025 

1890 

2404 

1857 

1734 

1874 

2028 

1891 

2386 

ia58 

1688 

1875 

1996 

1892 

2625 

1859 

1542 

1876 

2054 

1893 

2739* 

1860 

1491 

1877 

2515 

1894 

2622 

1861 

1456 

1878 

2572 

1895 

2510 

1862 

1461 

1879 

2632 

1896 

2272 

1863 

1459 

1880 

2642 

1897 

2326 

1864 

1398 

1881 

2244 

1898 

2346 

Die  obigen  Zahlen  beziehen  sich  bis 
18G0  auf  Legaturgold  von  etwa  11  12  Fein- 
heit und  dem  oben  angegebenen  Werte,  für 
die   folgenden   Jalire   aber  auf   Schlickgold 


Gold  lind  Goldwäliruiig 


lüO 


n 


n 
n 


von  ungefälir  8/9  Feinheit  im  Worte  von 
rund  41600  Mark  das  Pud.  Die  gesamte 
Produktion  von  Feingold  in  den  Jaliren  1861 
bis  1898  belief  sich  auf  1185281  kg. 

Als  wichtiges  neues  Produktionsgebiet 
hat  sich  in  den  neunziger  Jahren  Transvaal 
entwickelt,  wo  fast  nur  Quarzbergbau  be- 
trieben wird.  Der  Golderti^  wurde  erst  im 
Jahre  1886  nennenswert;  1887  erreichte  er 
nur  60000  Unzen,  dagegen  belief  er  sich 
allein  für  den  Witwatei-srandbezirk  1888 
schon  auf  230640,  1889  auf  383544,  1890 
auf  581992  Unzen  und  für  1891  auf  729238 
Unzen.  Dazu  kamen  1891  noch  etwa  104000 
Unzen  aus  dem  de  Kaap  und  dem  Lyden- 
burger  und  anderen  Bezirken. 

Die  weitere  Entwickelung  der  Produk- 
tion von  AVitwatersrand  war  folgende: 

1892  1  210867  Unzen 

1893  1 478  473      „ 

1894  2024159 

1895  2  238  430 
18U6  2  282  533 

1897  3  034  674 

1898  4  295  602 

1899  (6  Monate)     2  585  861       „ 

Die  für  1898  angegebene  Zahl  entspriclit 
133605  kg  im  Werte  von  313  Millionen 
Mark.  Man  rechnet  gewöhnlich  die  Unze 
Transvaalsches  Rohgold  zu  3^/2  £.  Die 
Produktion  in  den  übrigen  Bezirken  belief 
sich  1898  auf  ungefähr  22  Millionen  Mark. 

Durch  den  Krieg  ist  die  Goldgewinnung 
in  Transvaal  im  letzten  Quartal  des  Jahres 
1899  ins  Stocken  geraten,  doch  wird  sie  in 
dem  ganzen  Jahre  noch  immer  auf  etwa 
300  Millionen  gekommen  sein. 

Seit  1871  gelangte  auch  die  Goldpro- 
duktion Venezuelas  zeitweilig  zu  einer 
grosseren  Bedeutung,  hauptsächlich  durch 
die  reichen  Erträge  der  Grube  El  Callao. 
Ihren  Höhepunkt  erreichte  diese  Produktion 
(hauptsächlich  Quarzbei-gbau)  im  Jahre  1884 
mit  7033  kg  im  Werte  von  beinahe  20 
Millionen  Mark.  Dann  aber  nahm  die  Er- 
giebigkeit der  Callaomine  immer  mehr  ab, 
imd  in  den  letzten  Jahren  hat  Venezuela 
nur  noch  für  4  Millionen  Mark  Gold  ge- 
liefert. 

Seit  1888  haben  auch  die  lange  vergeb- 
lich gebliebenen  Versuche,  Gold  in  Indien 
zu  gewinnen,  einen  allmählich  steigenden 
Erfolg  gehabt.  Die  Ertrag  bringenden 
Gniben  liegen  fast  alle  im  Staate  Mysore, 
nach  dem  die  bedeutendste  derselben  auch 
genannt  ist.  Die  Produktion  belief  sich  1888 
nur  auf  2780000  Mark,  1890  aber  war  sie 
schon  auf  8120000  Mail',  1895  auf  21,3 
Millionen  und  1898  auf  35,5  Millionen  Mark 
gestiegen. 

Aus  China,  wo  seit  1884  auch  neu  ent- 
deckte Waschgoldlager  im  Amurgebiet  aus- 
gebeutet werden,  sind  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten  erhebliche  Summen   in  Gold  nach 


Eiu'opa  eingeführt  worden,  unter  denen  sich 
aber  wahrscheinlich  auch  australisches  so- 
wie japanisches  Gold  befand,  das  in  den 
siebziger  Jahren  infolge  der  Währungsver- 
hältnisse  stark  ausgeführt  wurde.  Die 
cliinesische  Goldprodiiktion  wird  vom  ameri- 
kanischen Münzdirektor  in  den  letzten 
Jahren  auf  2,2  bis  3,5  Millionen  Dollar  ge- 
schätzt, und  die  Goldeinfuhr  von  China  und 
Hongkong  nach  England  betrug  im  Jahre 
1885  2060000  £  und  in  den  folgenden 
Jahren  700000  bis  1 100000  £.  Ausserdem 
wurde  in  manchen  Jahren  für  mehr  als  1 
Million  £  chinesisches  Gold  nach  Indien 
eingeführt. 

Als  neues  bedeutendes  Produktionsgebiet 
ist  seit  einigen  Jahren  das  Revier  von 
Klondike  in  Canada  hinzugekommen,  dem 
sich  auch  weitere  Fundstätten  am  Yukon  in 
dem  amerikanischen  Territorium  Alaska  an- 
schliessen.  In  den  Jahren  1897  und  1898 
wurden  nach  der  amtlichen  Statistik  Canadas 
in  der  ganzen  Dominion  6190000  Dollar 
und  13700000  Dollar  Gold  gewonnen,  und 
von  diesen  Beträgen  kamen  auf  Klondike 
ungefähr  2,5  bezw.  10  Millionen  Dollar. 
Die  letztere  Zahl  beruht  nur  auf  einer  vor- 
läufigen Schätzung.  Nach  neueren  Angaben 
stellte  sich  diese  Produktion  1898  bereits 
auf  55  Millionen  Mark.  Es  handelt  sich 
übrigens  zunächst  nur  um  die  Ausbeutung 
obertlächlicher  AlluviaUager ,  die  durch  die 
klimatischen  Verhältnisse  sehr  erschwert 
wird  und  sich  auch  wahrscheinlich  nicht 
als  sehr  nachhaltig  erweisen  wird. 

Die  gesamte  Goldproduktion,  die  für  das 
Gebiet  der  europäischen  Kultur  in  Betracht 
kommt,  ist  im  folgenden  der  Hauptsache 
nach  im  Ansclüuss  an  Soetbeer  für  die 
neueste  Zeit  zusammengestellt.  Die  chine- 
sische und  koreanische  Produktion  ist  gänz- 
lich bei  Seite  gelassen.    In  Millionen  Mark : 

1848  150  1876-80  481  1890  464 

1849  265  1881     419  1891  521 

1850  300  1882    404  1892  581 
durch-  1883    393  1893  632 

schnittlich:  1884  406  1894  720 

1851—55  557  1885  410  1895  817 

1856-60  564  1886  426  1896  836 

1861-65  516  1887  420  1897  9»5 

1866—70  544  1888  440  18ü8  1140 

1871—75  485  1889  474  1899  (1225) 

Demnach  ergiebt  sich  die  gesamte  in 
Betracht  kommende  Goldproduktion  in  den 
verschiedenen  Perioden,  wenn  wir  auch  die 
ältere  Einfuhr  aus  Afrika  und  Japan  mit 
berücksichtigen : 

1501—1550  85p  Mill.  M 

1551—1600  1250     „  „ 

IGOl— 1700  2480     „  „ 

1701-1800  4900     „  , 

1801—1847  2500     „  „ 

1848-1890  20710     „  „ 

1891-1899  7  457     „  n 

48* 


Gold  und  Goldwährung 


Im  ganzen  also  40147  Millionen  Mark, 
von  welcher  Summe  sieben  Zehntel  allein 
auf  die  beiden  letzten,  kürzesten  Perioden 
kommen. 

Die  Zimalime  der  Goldproduktion  in  den 
letzten  Jahren  ist  keineswegs  allein  den 
neuen  Entdeckungen  in  Transvaal,  Australien 
u.  s.  w.  zu  verdanken,  sondern  es  hat  sich 
auch  die  Ergiebigkeit  der  älteren  Produk- 
tionsgebiete zum  Teil  sehr  erheblich  ge- 
steigert, wozu  auch  die  Fortschritte  der 
metallurgischen  Methoden  beigetragen  haben. 
Es  ergiebt  sich  daher,  dass  Suess  »die  Zu- 
kunft des  Goldes«  zu  imgünstig  beurteilt 
hat.  Er  wies  namentlich  darauf  hin,  dass 
der  weitaus  grösste  Teil  desselben  aus  den 
Alluviallagern  gewonnen  sei,  in  denen  sich 
hier  und  da  das  Edelmetall  in  ungewöhn- 
lich reichen  Ansammhmgen  vorgefunden 
habe,  die  dann  aber  mit  verhältnismässig 
leichter  Arbeit  in  kiu^er  Zeit  erschöpft 
worden  seien.  Es  werde  nun  aber,  je 
weiter  die  Durchforschung  aller  Erdteile 
gediehen  sei,  um  so  unwahrscheinlicher, 
dass  man  so  ausgedehnte  und  reiche  Wasch- 
goldlager wie  die  kalifornischen  und  austra- 
lischen nochmals  irgendwo  entdecken  werde, 
und  daher  müsse  man  sich  auf  eine  fort- 
wälirende  allmähliche  Abnahme  der  Gold- 
produktion gefasst  machen.  Seit  dem  Er- 
scheinen des  Suessschen  Werkes  hat  sich 
indes  das  Verhältnis  der  Goldgewinnung 
aus  dem  Schwemmlande  zu  der  aus  den 
Quarzgängen  wesentlich  geändert,  wie  ich 
schon  1886  (in  einer  Abhandlung  in  Schraol- 
lers  Jalirbuch)  hervorgehoben  habe.  Wenn 
früher  nach  Suess  neun  Zehntel  alles  Goldes 
aus  den  Wäschereien  stammte,  so  werden 
gegenwärtig  vier  Fünftel  des  ausserhalb 
Sibiriens  gewonnenen  Goldes  durch  den 
Quarzbergbau  geliefert,  und  da  man  jetzt 
im  Staude  ist,  Quarz  mit  Vorteil  zu  ver- 
arbeiten, das  nur  \i  Unze  Gold  auf  die 
Tonne  enthält,  und  auch  das  in  Schwefel- 
kiesen enthaltene,  dem  gewöhnlichen  Amal- 
gamationsverfahren  nicht  erreichbai-e  Gold 
durch  neue  Methoden  immer  vollständiger 
extrahiert  wiixl,  so  ist  eine  bedeutende  und 
nachhaltige  Goldproduktion  noch  auf  viele 
Jahrzehnte,  vielleicht  auf  Jahrhunderte  ge- 
sichert. Neuere  Nachweisimgen  über  diesen 
Punkt  hat  Ruhland  in  der  Tübinger  Zeit- 
schrift gegeben.  Auch  haben  sich  die 
früher  herrschenden  Ansichten  über  die 
Verarmung  der  Gänge  in  der  Tiefe  weder 
in  Transvaal  noch  in  Kalifornien  bestätigt, 
vielmehr  wird,  wenn  der  Gehalt  auch  oft 
Schwankungen  unterliegt,  der  Abbau  mit 
Erfolg  soweit  betrieben  werden  können,  als 
sich  die  Gänge  überhaupt  in  die  Tiefe  ver- 
folgen lassen.  Die  gegenwärtige  Zunahme 
der  Produktion  kann  natürlich  nicht  lange 
fortdauern,  auch  wird  die  Entdeckung  neuer 


reicher  Fundstätten  in  der  Zukunft  immer 
seltener  werden,  wähi-end  sich  die  alten 
allmählich  erschöpfen  müssen.  Aber  eine 
wirkliehe  Goldknappheit  liegt  in  so  weiter 
Ferne,  dass  sie  für  die  wirtschaftlichen 
Fragen  der  Gegenwart  ebensowenig  in  Be- 
tracht kommt  wie  etwa  die  Erschöpfung 
der  Kohlenlager  der  Erde. 

4.  Goldprägung  und  Goldwährung. 
Die  wirtschaftlich  wichtigste  Verwendung 
des  Goldes  ist  ohne  Zweifel  die  Benutzung 
desselben  als  Geldstoff,  insbesondere  die 
Münzprägung.  Es  ist  zwar  unrichtig,  was  viele 
glauben,  dass  mu'ein  kleiner  Bruchteil  des  vor- 
handenen und  neu  gewonnenen  Goldes  nicht 
dem  Geldverkehre  diene,  aber  das  in  der 
Form  von  Geld  vorhandene  Gold  bestimmt 
bei  entwickelter  Geldwirtschaft  fast  aus- 
schliesslich den  Verkehrswert  dieses  Metalls 
überhaupt,  also  auch  des  als  Rohstoff  für 
Luxus  waren  dienenden  Teiles.  In  den 
Kulturländern  Vorderasiens  wurden  ursprüng- 
lich beide  Edelmetalle  als  Geldstoffe,  wenn 
auch  ohne  Prägimg  verwendet  (s.  d.  Art 
Doppelwährung  oben  Bd.  III.  S.  237). 
In  Lydien  und  den  griechischen  Küsten- 
staaten begann  das  Münzwesen  mit  der  Gold- 
wähnmg.  Im  persischen  Reiche  nahm  jeden- 
falls seit  Darius  die  Goldmünze,  wie  schon 
erwähnt,  die  erste  Stelle  ein.  In  Griechenland 
herrschte  die  Silberwährung,  jedoch  wurden 
in  Athen  auch  zeitweise  in  beschränkter 
Menge  Goldmünzen  geprägt,  und  allmählich 
drangen  auch  Dareiken,  Kyzikener  und 
macedonische  Goldstatere,  mit  deren  Prä- 
gung schon  Philipp  II.  begann,  mehr  und 
mehr  in  den  Verkehr  ein. 

Dass  die  Römer  im  Jahre  189  v.  Chr. 
den  Aetolern  als  eine  Erleichterung  ge- 
statteten, den  dritten  Teil  der  Kontribution 
statt  in  Silber  nach  dem  Wertverhältnisse 
von  10  :  1  in  Gold  zu  entrichten,  lässt 
schliessen,  dass  damals  in  Griechenland 
noch  verhältnismässig  viel  Gold  vorhanden 
war.  In  Rom  bildeten '  Goldbari-en  schon 
in  älterer  Zeit  einen  wertvollen  Bestandteil 
des  Staatsschatzes.  Die  Prägung  von  Gold- 
münzen jedoch  reicht  nicht  weiter  als  bis 
zum  Jahre  217  v.  Chr.  zurück  und  sie  feind 
bis  in  die  letzte  Zeit  der  Republik  nur 
ausnahmsweise  und  in  gering-em  Umfange 
statt.  Cäsar  liess  Goldmünzen  reichlich 
sohlten,  und  sein  Aureus  wiu'de  mit  einiger 
Verringening  (von  Vio  auf  ^/is  Pfund)  der 
Typus  für  die  Hauptmünze  der  Kaiserzeit. 
In  dieser  entstand  namentlich  seit  Nero 
eine  faktische  Goldwährung,  indem  im 
Gross  verkehr  das  Gold  zum  alleinigen  Wert- 
massstab wurde,  während  die  immer  mehi* 
sich  verachlechternden  Silbermünzen  den 
Cliarakter  von  Kreditgeld  erhielten  und 
thatsächlich  zu  Sciheidemünzen  wurden, 
wenn  auch  keine  gesetzliche  Beschränkung 


Gold  und  Goldwährung 


757 


ihrer  Zahhmgskraft  stattfand.  Seit  Cara- 
calla  wurde  auch  der  Aureus  immer  mehr 
verringert  und  das  Münzwesen  geriet  in 
solchen  Verfall,  dass  man  im  Verkehre 
wieder  zur  Wage  griff. 

Eine  durchgreifende  Reform  fand  erst 
unter  Konstantin  statt,  der  den  Solidus  (V72 
Pfund  =  4,55  g  Gold)  als  Haupti-eichs- 
münze  einführte.  Es  wurde  damit  w^ieder 
die  Goldwährung  hergestellt,  w^enn  auch 
nicht  in  strengem  Sinne,  da  die  Silber- 
münzen —  namentlich  seit  Julian  —  zwar 
überwertetes  Kreditgeld,  aber  doch  nicht 
im  heutigen  gesetzlichen  Sinne  Scheide- 
münzen waren.  Im  oströmischen  Reiche 
hat  sich  der  Goldsolidus  viele  Jahrhunderte 
hindurch  behauptet  und  er  verbreitete  sich 
von  dort  aus  unter  dem  Namen  Besant  oder 
Bisanter  auch  über  die  westlichen  Länder, 
bis  er  durch  den  leichteren  Florentiner 
Goldgulden  verdrängt  wurde.  Auch  im 
Frankenreiche  war  unter  den  Merowingern 
der  goldene  Solidus  (der  hier  im  6.  Jahr- 
hundert auf  h'si  Pfund  herabgesetzt  wurde) 
die  Hauptmünze.  Unter  den  Karolingern 
aber  kam  infolge  des  immer  fühlbarer  wer- 
denden Mangels  an  Gold  die  Silberwährung 
zur  Herrschaft. 

Seit  der  Periode  der  Kreuzzüge  führte 
der  lebhafte  Verkehr  mit  dem  Orient  wieder 
grossere  Mengen  Gold  nach  dem  Abendlande, 
zunächst  nach  Italien  und  Frankreich,  und 
auch  die  eigene  Produktion  Europas  nahm 
zu  und  erreichte  im  14.  Jahrhundert  eine 
ansehnliche  Höhe.  Der  seit  1252  geprägte 
Florentiner  Goldgulden  (Münzen  mit  dem 
Namen  Floreni  kommen  in  Frankreich  schon 
im  12.  Jahrhundert  vor),  von  einer  Feinheit 
von  mindestens  23^/i  Karat  und  im  Werte 
von  nmd  10  Mark  wurde  ein  besonders 
beliebter  T\t)us,  von  welchem  der  Dukat 
und  der  Zecchin  nur  Varietäten  bilden.  Die 
Einbürgerung  der  Goldmünzen  wurde  be- 
sonders durch  die  fortwälireude  Vei-schlechte- 
nmg  des  Silbergeldes  begünstigt,  und  so 
bildete  sich  im  grossen  Verkehr  im  14.  und 
15.  Jalu'hundert  in  allen  eiu-opäischen  Län- 
dern die  faktische  Goldwährung  aus.  Man 
rechnete  teils  nach  wirkliehen  Goldmünzen, 
teils  auch  nach  einem  Rechnungsgeld,  das  nur 
durch  bestimmte  Goldmünzen  dargestellt 
werden  durfte.  Vergebens  versuchte  man 
in  Fi-ankreich  das  Livre  von  20  Sols  und 
240  Deniers  in  Silber  als  allein  gesetzliche 
Rechnungsmünze  aufrecht  zu  erhalten  und 
die  Goldmünzen  danach  zu  tarifieren.  Man 
konnte  nicht  verhindern,  dass  diese  bei  jeder 
Verschlechterung  des  Kurantgeldes  ein  ent- 
sprechendes Agio  erzielten.  Allerdings  fan- 
den auch  Verschlechterungen  der  Gold- 
münzen statt,  aber  selbst  in  Frankreich  in 
der  schlimmsten  Zeit  der  Münzwirren  nur 
in    verhältnismässig  geringem   Masse.     Die 


Goldmünzen  solcher  Staaten,  deren  Prägung 
als  besondei-s  zuverlässig  galt,  bildeten  da- 
her ein  in  allen  Ländern  verbreitetes  imd 
beliebtes  Zahlungsmittel. 

Der  umfang  der  Goldprägung  war  im 
14.  und  15.  Jahrhundert  verhältnismässig 
bedeutend.  Die  bei  Sanudo  dem  Dogen 
Mocenigo  in  den  Mund  gelegte  Angabe,  dass 
man  in  Venedig  jedes  Jalir  eine  Million. 
Dukaten  geschlagen  habe,  klingt  stark  wie 
rhetorische  üebertreibung,  wenn  sie  auch 
vielleicht  für  einzelne  Jahre  zutreffen  mag. 
Wenn  ViUani  erwähnt,  dass  in  Florenz  jähr- 
lich 350—400000  Goldgidden  geprägt  wür- 
den, so  geht  dies  ebenfalls  über  die  be- 
kannten positiven  Daten  in  betreff  der 
Thätigkeit  der  Florentiner  Münze  weit 
hinaus:  nach  diesen  wurden  nämlich  in  46 
Halbjahren  im  ganzen  nur  649281  Gold- 
gidden, also  durchschnittlich  jährlich  nur 
28230  ausgemünzt.  Sehr  beträchtlich  er- 
scheint die  Goldprägung  Frankreichs,  wenn 
man  das  von  De  Saulcy  angegebene  Ver- 
hältnis der  Zahl  der  Stücke  in  den  Probe- 
büchsen zu  der  Zahl  der  geprägten  als  in 
allen  Fällen  geltend  annehmen  darf.  Es 
ergiebt  sich  dann  z.  B.,  dass  allein  in  Paris 
in  den  Jahren  1311  bis  1319  ausschliesslich 
2378000  Aignels  (zu  ungefähr  11  Mark) 
geprägt  wurden.  Dazu  kamen  in  den  Jaliren 
1316  bis  1318  noch  nachweislich  356000 
Stück  aus  den  Münzstätten  von  Tournay 
und  Montpellier,  und  somit  hätte  also  die 
Prägung  zeitweise  jährlich  beinahe  480000 
Aignels  ergeben.  Vom  November  1338  bis 
Juni  1339  wurden  in  neun  Münzstätten  so- 
gar 1348000  Lions  (zu  ungefähr  13  Mark) 
geprägt.  AUerdings  handelte  es  sich  hier 
um  eine  neue  Münzsorte,  die  hauptsächlich 
durch  Uraprägung  anderer  Münzen  herge- 
stellt wurde.  Auf  diese  in  Fi-ankreich  be- 
sonders häufig  vorkommenden  Umprägungen 
ist  natürlich  immer  Rücksicht  zu  nehmen, 
wenn  man  aus  den  Prägimgszahlen  auf 
den  Münzvorrat  schliessen  will.  Ebenso  ist 
bei  der  Schätzung  des  ganzen  Münzbestan- 
des in  Europa  zu  beachten,  dass  in  jedem 
Lande  die  fremden  Münzen  in  grosser  Menge 
eingeschmolzen  werden.  Die  mittlere  Um- 
lauf sdauer  einer  Goldmünze  darf  daher  nicht 
hoch  veranschlagt  wenlen.  —  In  Deutsch- 
land wurden  von  1429  bis  1443  in  ungefähr 
12^/2  Jahren  auf  der  Reichsmünzstätte  zu 
Frankfurt  5365  Mark  Münzgold  (zu  19  Karat), 
also  jährlich  ungefähr  429  Mark  und  auf 
der  Reichsmünzstätte  zu  Basel  4039  ^lark 
Feingold  (zu  652  Mark)  also  jährlich  517 
Mark  vermünzt.  Dazu  kam  dann  noch  die 
Goldprägung  der  Fürsten,  namentlich  der 
rheinischen  Kui*fürsten  und  des  Erzbischofs 
von  Salzburg.  Von  1503  bis  1513  Hessen 
die  rheinischen  Fürsten  7996  Mark  Münz- 
gold  prägen,  jährlich  durchschnittlich  ülier 


758 


Gold  und  Goldwährung 


800  Mark  (da  die  Nachweise  für  drei  Pro- 
bationsta^re  fehlen),  und  von  jener  Quantität 
kamen  4813  Mark  allein  auf  Kurköln.  — 
Ziemlich  gering  ist  die  Beteiligung  Eng- 
lands an  der  mittelalterlichen  Goldprägung: 
dieselbe  belief  sich  z.  B.  in  32  Jahren  inner- 
halb des  Zeitraums  von  1345  bis  1425  nach 
Eudings  nicht  ganz  klaren  Tabellen  nur  auf 
ungefälir  223000  £  nach  heutigem  Gelde. 
Uebrigens  wuixle  von  1419  bis  1448  eine 
ziemlich  bedeutende  Summe  an  Goldmünzen 
(nachweislich  über  900000  Saluts  zu  nicht 
ganz  10  Mark)  im  Namen  Heinrichs  V.  und 
Heinrichs  VI.  in  Frankreich  geprägt,  von 
denen  auch  viele  nach  England  kamen.  Im 
16.  Jalu-hundert  wurde  das  Gold  in  Deutsch- 
land und  Italien  ans  seiner  vorherrschenden 
vStellung  zurückgedrängt,  was  zunächst 
durch  den  bedeutenden  Aufschwung  der 
deutschen  Silberproduktion  in  den  letzten 
Jahrzehnten  des  15.  Jahrhunderts  bedingt 
war.  In  F r  a  n  k  r  e  i  c h  dauerten  die  Goldprä- 
gungen in  ziemlich  l:)eträchtlichem  Massstabe 
(jährlich  12 — 1500  Gewichtsmark)  fort,  und 
unter  Heinrich  III.  wurde  hier  sogar  ein 
Versuch  mit  einer  fast  vollständigen  Gold- 
wälirmig  gemacht,  indem  man  (1577)  den 
goldenen  Ecu  au  soleil  zur  gesetzlichen 
\Verteinheit  erklärte,  nach  welcher  alle 
Rechmmgen  und  Bücher  geführt  werden 
mussten.  Alleitlings  konnte  dieser  Ecu  bei 
allen  Zalilungen  imbeschränkt  durch  grobe 
Silber  münzen  ersetzt  werden.  Im  Jahre 
1602  wurde  dieses  System  wieder  aufge- 
geben ujid  die  Rechnung  mit  Livres  und 
Sols  wieder  hergestellt,  jedoch  fuhr  man 
fort,  verhältnismässig  viel  Gold  zu  prägen. 
Ueber  die  französischen  Ausmünzungen  im 
18.  und  19.  Jahrhundert  s.  d.  Art.  Dop- 
pelwährung (oben  Bd.  lU,  S.  241  ff.), 
t^ter  Napoleon  III.  wui'den  von  1851  bis 
1870  6 151 961 600  Francs,  unter  der  Repu- 
blik bis  zum  1.  Juli  1899  1794  693850 
Francs  in  Gold  geprägt.  In  den  Jahren 
1872,  1873,  18S0,  1883  und  1884  fanden 
überhaupt  keine  Goldprägungen  statt.  In 
den  übrigen  Jahren  betrugen  sie  in  Millionen 
Francs : 


1871 
1874 
1875 
1876 
1877 
1878 
1879 
1881 


50,17 

24,32 

234,91 

176,49 

255,18 

185,32 

24,61 

2,17 


1882 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 


3,74 
0,29 

23,59 
24,67 

0,55 
17,48 
20,60 

17,42 


1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 


4,51 
50,94 

9,83 
108,01 

112,54 

221,38 

177,33 


1899  (6  Mon.)   38,64 


und  dieselbe  belief  sich  von  dessen  Regie- 
rungsantritt (1603)  bis  zum  Tode  Wilhelms 
III.  (1701)  auf  15764357  £.  GesetzUch 
war  jedoch  das  Silber  noch  immer  das 
Hauptwälirungsmetall,  und  1695  wurde  noch 
ein  Versuch  gemacht,  durch  Umpräguug 
der  meistens  abgenutzten  und  beschnittenen 
Silbermünzen  das  Geldwesen  zu  reformieren, 
wobei  die  Goldprägung  sogar  zeitweise  — 
mit  einer  Ausnahme  zu  Gunsten  der  afri- 
kanischen Gesellschaft  —  verboten  wurde. 
Das  vollwichtige  neue  Silbergeld  wurde  je- 
doch bald  wieder  ausgefülirt,  und  die  1717 
nach  dem  Vorsclilage  Newtons  vorgenommene 
Herabsetzung  des  Kurewertes  der  Guinee 
(s.  d.  Art.  Doppelwährung  oben  Bd.  III. 
S.  238)  genügte  nicht,  um  den  Abfhiss  des 
Silbers  aufzuhalten.  Im  Jahre  1774  gelangte 
die  Goldwährung  schon  zu  einem  beinahe 
vollständigen  Siege  durch  den  Act  14  Georg 
III.  eap.  42,  nach  welchem  die  nicht  voll- 
wichtigen Silbennünzen  (und  andere  waren 
im  Verkehr  nicht  vorhanden)  bei  Zahlungen 
von  mehr  als  25  £  nur  nach  dem  Gewichte 
(die  Unze  Münzsilber  zu  62  Penoe)  ange- 
nommen zu  werden  brauchten.  Diese  1^- 
stimmung  wurde  mehrere  Male  erneuert  und 
1798  dauernd  in  Kraft  gesetzt.  Schon  1797 
aber  war  (38  George  III.  cap.  59)  die  Süber- 
prägung  gesetzlich  suspendiert  und  damit 
princij)iell  die  Goldwälirung  eingeführt  wor- 
den. Die  normale  Wirksamkeit  derselben 
wurde  allerdings  zunächst  dm*ch  die  Papier- 
geld wii-tschaft  verhindert.  Das  G.  v.  22. 
Juni  1S16  (56  Georg  III.  cap.  68),  welches 
das  gegenwäi'tig  bestehende  englische  Münz- 
system herstellte,  hielt  an  der  Goldwährung 
fest  und  fühlte  sie  zum  ersten  Male  in 
der  Geschichte  in  aller  Strenge  durch,  in- 
dem es  Silbermünzen  nur  als  Scheidemün- 
zen mit  (auf  40  Schilling)  bescliränkter 
Zahlungskraft  zidiess. 

Von  1701  bis  1816  beliefen  sich  die  Gold- 
prägungen in  England  auf  90  003  318  i;. 
Es  wmxlen  dann  nach  dem  neuen  Typus 
geprägt : 

Unter  Georg  III.  (1817—1820)  8  083  794  £ 

Unter  Georg  IV.  (1821—1830)  36395  iio  „ 

Unter  Wilhelm  IV.  (1830—1837)  12266000  „ 

Unter  Victoria  1838—1847  33  488  500 

Seit  dem  Beginn  der  neuen  Goldent- 
deckungen betrugen  die  Prägmigen  in  Eng- 
land (in  1000  £•)': 


Die  Prägungen  liaben  also,  abgesehen 
von  den  Jalu-en  1875  bis  1878,  nur  in  der 
neuesten  Zeit  wieder  die  Summe  von  100 
Millionen  übei-schritten. 

In  England  begann  die  Goldprägung 
im    grossen   Massstabe  eret  unter  Jakob  I., 


1848 
1849 
1850 
1851 
1852 
1853 
1854 
1855 
1856 


2453 
2178 
1492 
4400 
8742 
1 1  952 

4152 
9009 

6002 


1857 
1858 
1859 
1860 
18(ü 
1862 
1863 
1864 
1865 


4860 
I  231 
2650 
3  122 
8  190 

7836 
6997 

9536 
2368 


1866 
1867 
1868 
1869 
1870 
1871 
1872 
1873 
1874 


5075 
496 

^653 

7372 

2213 

9920 

15  261 

3384 
I  462 


Gold  und  Goldwälinmc: 


759 


1875 

243 

1883 

1404 

1891 

6723 

1872 

21  813 

1881 

96851 

1890 

20467 

1876 

4697 

1884 

2324 

1892 

13908 

1873 

57023 

1882 

65888 

1891 

29222 

1877 

981 

1885 

2973 

1893 

9266 

1874 

35  255 

1883 

29242 

1892 

34787 

1878 

2265 

1886 

0 

1894 

5678 

1875 

32952 

1884 

23992 

1893 

56997 

1879 

35 

1887 

1909 

1895 

3811 

1876 

46579 

I8a5 

27773 

mn 

79546 

1880 

4  150 

1888 

2033 

1896 

4809 

1877 

44000 

1886 

28946 

1895 

59616 

lasi 

0 

1889 

7501 

1897 

1778 

1878 

49786 

1887 

23972 

1896 

47  053 

1882 

0 

1890 

7680 

1898 

5781 

1879 

39080 

1888 

31  381 

1897 

76028 

-r 

r  1      1 

1  r^f\.-\     _ 

-1 

.    .1  ^ 

TWT 

1880 

62308 

1889 

21  414 

1898 

77986 

pr%ungen  3248437  £'  in  älteren  abgenutz- 
ten Münzen  umgei)rägt.  Die  UmpnSgungen 
beJiefen  sich  in  den  Jahi-en  1887,  1888  und 
18S9  auf  2301000,  1677  000  und  603000  i'. 
Fiir  die  frilheren  Jaiu-e  sind  sie  in  den  oben 
angeführten  Zahlen  mit  inbegiiffen,  und 
zwai-  machen  sie  den  weitaus  grössteu  Teil 
der  unter  1884  und  1885  angefülu-ten  Sura- 
men aus. 

El>enso  sind  in  den  obigen  Zahlen  die 
ümprägimgen  mit  entlialten,  die  auf  Grund 
des  Gesetzes  von  1891  (nach  welchem  die 
abgenutzten  Goldmünzen,  sofern  ihr  Ge- 
wichtsverlust nicht  auf  unerlaubtem  Wege 
verursacht  ist,  zu  ihrem  Nominalwert  zur 
ümprägimg  angenommen  werden)  stattge- 
funden haben.  Diese  Zurückziehungen  be- 
liefen sich  von  1892  bis  1898  im  ganzen 
auf  37  002  812  £,  während  45030  570  £  von 
der  Londoner  Münze  ausgegeben  wurden. 
Die  Vermehrung  des  Goldunüaufs  betrug 
hiernach  in  diesen  7  Jahren  nur  7  967  758  f. 

Ausser  in  London  werden  aber  auch 
grosse  SiuTimen  in  den  beiden  australischen 
Münzstatten  Sydney  (seit  1855)  und  Mel- 
bourne (seit  1872)  gei)rägt,  von  denen  stets 
ein  grosser  Teil  nach  England  eingeführt 
wird.  Diese  australischen  Ausprägungen 
betrugen  (in  1000  £): 


ia55— 1860      6716 
1861—1865    10  602 


und 

1876 
1877 
1878 
1879 
1880 
1881 
1882 
1883 


in  den 

3767 

3117 

3493 

4153 

4552 

3737 

3843 
3268 


folgenden 

1884 
1885 
1886 
1887 
1888 
1889 
1890 
1891 


1866—1870  10  130 
1871—1875  15276 

Jahren : 


4561 

4458 
4624 

4953 

5013 
6002 

5277 
5423 


1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 


6326 
6688 

7234 
6924 

7110 

7663 

8107 


Li  den  Vereinigten  Staaten  be- 
stand die  GoldwähiTing  gesetzlich  in  den 
Jahren  1873  bis  1878,  aber  nur  nomineU, 
da  thatsäclüich  das  Papiergeld  mit  Zwangs- 
kurs die  Herrschaft  hatte.  Ueber  die 
früheren  Goldprägimgen  der  Union  s.  d.  Art. 
Doppelwährung  (oben  Bd.  III,  S.  230 ff.). 

Es  wiuxlen  femer  gei)rägt  (lOOO  Dollar) : 

1854    25916         1860  23474         1866    31439 

1861  83396 

1862  20  876 

1863  2244s 

1864  20  081 

1865  28295 


1855  29388 

1856  36858 

1857  32214 

1858  22  938 

1859  14781 


1867  23821 

1868  19  376 

1869  17583 

1870  23  199 

1871  21033 


Von  1848  bis  1898  wurden  im  ganzen 
1 878  411 000  Dollar  geprägt.  Das  Gesetz  vom 
14.  März  1900  erkennt  den  Golddollar  als 
die  eigentliche  Währungseinheit  an. 

Der  Umstand,  dass  auch  IVankreich  und 
die  Vereinigten  Stiuiten  infolge  des  gestie- 
genen Silberwertes  in  den  fünfziger  und 
sechziger  Jahren  übenviegend  Goldcirkiüa- 
tion  erhielten  imd  alles  darauf  hindeutete, 
dass  diese  Ijänder  auch  gesetzlich  die  Gold- 
w^ährung  annehmen  und  sich  somit  dem 
englischen  System  ansclüiessen  würden,  bil- 
dete den  Hauptgrund,  weshalb  auch  in 
Deutschland  die  öffentliche  Meinung  sich 
mehr  und  melu*  zu  Gunsten  der  Goldwäli- 
rung  entschied.  Auch  wurde  für  dieselde 
die  grössere  Bequemlichkeit  geltend  ge- 
macht, die  bei  dem  heutigen  Massstabe  der 
Umsätze  dm-ch  den  höheren  specifischen 
Wert  des  Goldes  im  Vergleich  mit  dem 
schwerfälligen  Silber  dargeboten  werde. 
Dazu  kam  noch  bei  manchen  die  Erwägung, 
dass  die  nach  den  kalifornischen  und  austra- 
lischen Entdeckungen  ziemlich  allgemein 
befürchtete  Wertverminderung  des  Goldes 
am  besten  durch  möglichst  allgemeine  Aus- 
dehnung der  Verwendung  desselben  als 
Geld  Stoff  verhindert  werden  könne.  Im  vo- 
rigen Jahrhundert  waren  im  nördlichen 
Deutschland  die  Goldmünzen  im  grösseren 
Verkehr  entschieden  tiberwiegend.  In 
Preussen  wurden  von  1764—1798  42018000 
Tlialer  Gold  (ein  Friedrichd'or  zu  5  Thalern) 
mid  von  1799—1806  noch  13  306  000  Thaler 
Gold  geprägt.  In  Hannover  dauerten  die 
Goldprägungen  (in  Pistolen  zu  5  Thalem 
Gold)  auch  in  diesem  Jahrhundert  in  bedeu- 
tendem Umfange  fort  und  beliefcn  sich  von 
1817—1848  auf  38352724  Thaler.  Die 
nach  dem  Münzvertrag  von  1857  geprägten 
deutschen  Goldkrenen  (im  ganzen  bis  1871 
im  Werte  von  28885817  Mark)  galten  nur 
als  Handelsmünzen,  in  Bremen  jedoch,  wo 
eine  allerdings  nicht  ganz  streng  durchge- 
führte Goldwährung  bestand,  wai'en  sie  als 
gesetzliches  Zalüungsmittel  anerkannt.  Die 
neuen  deutschen  Goldprägimgen  begannen 
auf  Grund  des  G.  v.  4.  Dezember  1871,  und 
die  Reichsgoldwährung  wunle  principiell 
dureh  das  G.  v.  3.  Juli  1873  eingeführt,  ist 
aber  bisher  noch  nicht  vollständig  durchge- 
setzt, da  die  noch  im  Verkehr  gebliebenen 
Tlialer  (etwa  360  Millionen  Mark)  noch  un- 


760 


Gold  und  Goldwährung 


beschränkte    Zahlungskraft    besitzen.      Die 
Prägungen  betnigen  (in  1000  Mark): 


1872 

421  474 

1881 

15  521 

1890 

99  349 

1873 

594  363 

1882 

13307 

1891 

59988 

1874 

93507 

1883 

88288 

1892 

37243 

1876 

166  421 

1884 

57  662 

1893 

110  421 

1876 

159424 

1885 

8149 

1894 

152  819 

1877 

112540 

1886 

35740 

1895 

114  780 

1878 

125  131 

1887 

118215 

1896 

89854 

1879 

46387 

1888 

144289 

1897 

139617 

1880 

27  992 

188^3 

202  379 

1898 

188983 

Die  Gesamtsumme  der  Goldprägungen 
bis  Ende  März  1899  belief  sich  auf  3  467  559  400 
Mark,  von  denen  30150000  Mark  (haupt- 
sächlich 5-Markstücke)  mittlerweile  >\ieder 
eingezogen  worden  sind. 

Ausser  Deutschland  nahmen  auch  die 
drei  skandinavischen  Staaten  1872 
und  1873  die  Goldwähning  an,  die  bis 
Ende  1898  123  242  930  Kronen  (zu  1,125  M.) 
geprägt  haben.  Auch  die  Niederlande 
bereiteten  1875  den  Uebergang  zur  Gold- 
währung vor,  indem  sie  die  Ausmünzung 
von  Goldmünzen  mit  gesetzlicher  Zahlungs- 
kraft begannen  (bis  Ende  1885  74984  860 
Gulden  imd  dann  bis  1898  noch  4  364  220 
Gulden)  und  die  Silberprägungen  einstellten. 
Ein  Abschhiss  der  Münzreform  ist  bisher 
noch  nicht  erfolgt.  Rumänien  hat  1890  die 
Goldwähning  cYurch  Verkauf  seines  über- 
schüssigen bilbei-s  durchgesetzt.  In  der 
Türkei  bildet  Gold  im  grossen  Verkehr  das 
Hauptzalüungsmittel ;  die  Silberprägungen 
sind  seit  mehreren  Jahren  eingestellt.  Por- 
tugal hat  seit  1854  Goldwährung,  ist  aber 
gegenwärtig  der  Papiergeldwirtschaft  ver- 
ifallen.  Dasselbe  gilt  von  Brasilien,  wo  die 
Goldwährung  gesetzlich  schon  seit  1849 
besteht. 

Russland  ist  nunmehr  durch  das  Ge- 
setz vom  7./ 19.  Juni  1899  förmlich  zur  Gold- 
währung tibergegangen,  nachdem  wschon 
durch  den  Ukas  vom  3./ 15.  Januar  1897 
eine  neue,  der  bereits  vorher  bCvStehenden 
Tarifierung  des  Kreditrubels  gof^on  Gold 
entsprechende  Münzeinheit,  nämlich  ein 
Goldrubel  im  Werte  von  2,16  Mark  einge- 
führt worden  war.  Es  werden  Goldmünzen 
geprägt  im  Werte  von  15,  7^,2  (die  alten 
Imperialen  und  Halbhnperialen),  10  und  5 
neuen  Rubeln.  An  Silberraünzcn  soll  nicht 
mehr  als  3  Rubel  auf  den  Kopf  der  Be- 
völkerung ausgegeben  werden,  und  die  bis- 
herigen Silbereourantmünzen  haben  nur  noch 
bis  zum  Betrage  von  25  Rubel,  die  kleineren 
bis  zu  3  Rubel  Privaten  gegenüber  gesetz- 
liche Zahlungski'aft. 

Russland  hat  stets  einen  grossen  Beitrag 
zu  der  jährlichen  Gesamtsumme  der  Gold- 
ausmünzungen  geliefert,  da  fast  die  ganze 
Masse  seiner  eigenen  Goldproduktion  zu 
Münzen    geprägt    wird.      So    betnigen    die 


Prägiuigen  (in   1(X)0  alten  Rubel   Gold 
zu  3,24  Mark  — ): 


1880 

31  300 

1886 

19  126 

1892 

720 

1881 

27  144 

1887 

26055 

1893 

3000 

188^ 

19835 

1888 

26  510 

1894 

3091 

1883 

30407 

1889 

24430 

1896 

50000 

1884 

23  126 

1890 

28  150 

1896 

I 

1885 

26802 

1891 

2735 

i. 


In  neuen  Goldrubeln  zu  2,16  Mark  wurden 

1897  331577  500  und  1898  263  890000 
Rubel  geprägt. 

Bis  zum  Ende  der  achtziger  Jalire  hatten 
die  russischen  Goldmünzen  thatsächlich  nur 
die  Bedeutimg  von  Barrenmetall,  da  sie  fast 
sämtlidi  ausgeführt  und  eingeschmolzen 
werden.  Dann  aber  begann  die  Ansammlung 
eines  grossartigen  Goldvorrats. 

Oesterreich-Ungarn  hat  durch  G. 
V.  2.  August  1892  ebenfalls  im  Princip  die 
Goldwähnmg  angenommen,  imd  vom  1.  Januar 
1900  ist  auch  die  obligatorische  Rechnung 
nach  der  neuen  Münzeinheit  der  Krone 
(sehr  nahe  85  Pfennig)  eingeführt  worden. 
Von  den  neuen  Goldmünzen  wurden  von 
1892—1898  im  ganzen  1004991740  Kronen 
geprägt,  sie  befinden  sich  jedoch  noch  wenig 
im  Verkehr,  weil  die  österreichisch-unga- 
rische Bank  ihre  Barzahlungen  noch  nicht 
wieder  aufgenommen  hat. 

Chili  hat  durch  das  G.  v.  11.  Februar 
1805  den  Versuch  gemacht,  zur  Goldwäh- 
rung überzugehen,  der  aber  als  gescheitert 
zu  betrachten  ist,  da  das  Land  wieiler  in 
die  Papierwirtschaft  zurückgefallen  ist.  Der 
Pari  wert  des  neuen  Gold  peso  ist  18  Pence, 
der  Wechselkurs  auf  London  konnte  aber 
diesen  Stand  nie  beliaupten  und  er  ist  schon 

1898  bis  12^/^  Pence  gesunken.  Von  1895 
—1898  wurden  im  ganzen  42  699  520  Pesos 
in  neuen  Goldmünzen  geprägt. 

Auch  Japan  hat  sich  durch  das  G.  v. 
8.  !März  1897  für  die  Goldwährung  entschie- 
den. Der  neue  Yen  entliält  750  Milligramm 
Fcnngold  mid  hat  demnach  einen  ^Vert  von 
2,080  Mark.  Geprägt  wurden  nach  diesem 
Tyi)us  in  den  Jahren  1897  und  1898 
70  544600  Yen.  Es  bleibt  abzuwarten,  ob 
sich  das  Gold  effektiv  im  Umlauf  wii-d  er- 
halten können. 

Sehr  wichtig  ist  die  Anbalmung  der 
Goldwährung  in  Britisch- Indien  durch 
Einführung  der  hinkenden  Wähnmg.  Die 
Kommission  zur  Prüfung  der  indischen 
Währungsfrage   hat   sic^h  in  ihrem  im  Juli 

1 899  erstatteten  Bericht  dahin  ausgesprochen, 
dass  die  indischen  Münzstätten  für  die  freie 
Prägung  von  Sovereigns  z\i  öffnen  seien. 
Die  Rupie  behält  den  1893  festgesetzten 
Kurs  von  10  Pence  als  gesetzliches  Zalüungs- 
mittel,  und  man  kann  auch  Rupien  zu  die- 
sem  Kurse   gegen  Gold  eintauschen.     Die 


Gold  und  Goldwährung 


761 


britische  sowohl  wie  die  indische  Regierung 
;ind  mit  diesem  Systeme  einverstanden. 

Die  (gesamte  Goldprägung  in  allen  Län- 
dern tlor  Erde  betrug  nach  den  Tabellen  des 
amerikanischen  Münzdirektors  (in  Millionen 
Mark): 


1882 

4io,7 

i8sr> 

397,5 

1890 

625,8 

leSB 

440,2 

.H87 

525,0 

1895 

970,6 

1884 

417,6 

1888 

556,3 

1896 

822,8 

1885 

402,2 

1889 

709,4 

1897 

1838,3 

Mit  Rücksicht  auf  die  gleichzeitige  Grosse 
der  Produktion  und  die  anderweitige  Gold- 
verwendung muss  man  schliessen,  dass  die 
Hälfte  bis  zwei  Drittel  dieser  Summen  durch 
ümprägung  schon  vorhandener  Münzen 
oder  überhaupt  aus  älterem  Golde  entstan- 
den sind. 

5.  Industrieller  Verbranch  des  Goldes. 
Was  den  Verbrauch  von  Gold  zu  industriellen 
Zwecken  betrifft,  so  sind  lüi mittelbare  Er- 
hebungen über  diese  Yni^j^e  zuei-st  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  Zeit  zu  Zeit  ver- 
anstaltet worden,  und  es  hat  sich  hier  seit 
1878  längere  Zeit  eine  stetige  Vermehnmg 
des  industriellen  Goldbedarfs  ergeben.  Im 
Jahre  1891  wunle  derselbe  zu  19686916 
Dollar  veranschlagt.  Dann  aber  trat  ein 
Rückgang  ein,  und  1897  ging  die  Schätzung 
nur  bis  11870231  Dollar  mit  Einschluss 
von  2r)71428  Dollar  an  altem  Material. 
Für  die  meisten  übrigen  Länder  hat  Soet- 
beer  1885  Schätzungen  gegeben.  Hiernach 
hatte  die  Industrie  im  Jahre  1888  im  ganzen 
110(XJ0  kg  Gold  verwendet,  von  denen  etwa 
20000  kg  von  alten  Goldwaren  herrührten. 
Den  Anteil  Deutschlands  schätzte  Soetbeer 
zu  15000  kg.  Diese  Schätzung  stimmt  be- 
friedigend mit  einer  in  den  Jahren  1896  und 
1897  veranstalteten  Erhebung,  nacth  welcher 
der  industrielle  Gold  verbrauch  Deutschlands 
16000  kg  im  Werte  von  45  Millionen  Mark 
betrug.  Jedoch  war  ungefähr  ein  Drittel 
dieses  Goldes  altes  Material,  das  also  von 
grösserer  Bedeutung  ist,  als  Soetbeer  ange- 
nommen hat.  Andererseits  kamen  ungefähr 
4800  kg  im  Werte  von  13,5  Millionen  Mark 
auf  solche  Verwendungen,  wie  Fabrikation 
von  Blattgold,  Vergoldung  u.  s.  w.,  durch 
welche  das  Gold  gänzlich  verloren  geht. 
In  Oest erreich  -  Ungarn  war  der  nachge- 
wiesene industrielle  Gold  verbrauch  1897 
3743  kg,  für  die  Schweiz  wird  er  auf 
10900  kg  geschätzt.  Nimmt  man  für  die 
übrigen  Staaten  die  Schätzungen  des  ameri- 
kanischen Münzdirektors  an  (für  England 
15500  kg,  für  Frankreich  16000  kg,  für 
Italien  5000  kg  u.  s.  w.),  so  ergiebt  sich  für 
1897  im  ganzen  ein  industrieller  Verbrauch 
von  98,6  Millionen  kg  im  Werte  von  267 
Millionen  Mark.  Ein  Viertel  dieser  Quanti- 
tät wird  jedoch  auf  altes  Material  zu  rech- 
nen sein,  imd  der  Verbrauch  von  Goldmünze 


und  neuem  Barrengolde  würde  also  etwa 
200  Millionen  Mark  betragen.  Wahrschein- 
lich ist  er  jedoch  erheblich  grösser,  da  z.  ß. 
der  Bedarf  Indiens  und  überhaupt  der 
asiatischen  Länder  nicht  mit  in  Anschlag 
gebracht  ist.  Man  wird  also  immerhin  die 
Soetbeersche  Schätzung  —  etwa  250  Milli- 
onen Mark  —  nach  Abzug  des  alten  Ma- 
terials, wenn  sie  auch  uraprünglich  vielleicht 
zu  hoch  war,  für  die  Gegenwart  festhalten 
dürfen.  Es  ist  dies  ungefähr  ein  Viertel 
der  Jahresproduktion  von  1897 ;  wahrschein- 
lich aber  ist  von  der  früheren  geringeren 
Produktion  ein  erheblich  grösserer  Bruchteil 
für  die  Industrie  verwendet  worden. 

Die  jährliche  Vermehrung  des  Welt- 
vorrates an  gemünztem  Golde  aber  ist 
annähernd  gleich  der  Differenz  zwischen  der 
jährlichen  Produktion  und  dem  industriellen 
Verbrauche:  denn  soweit  für  diesen  letzte- 
ren Münzen  eingeschmolzen  wei-den,  muss 
der  Geldvorrat  durch  die  Neuprägungen  zu- 
erst wieder  auf  seinen  imsprünglichen 
Standpunkt  gebracht  werden,  und  die  Ver- 
münzung  älterer  Barreu  wird  annähernd 
ausgeglichen  dinch  die  Zurücklegimg  von 
neu  produzierten  Bairen.  Unberiicksichtigt 
bleibt  nur  die  Münzprägung  aus  einge- 
schmolzenen alten  Goldwaren,  die  aber  nicht 
bedeutend  ist. 

Was  nun  die  Abnutzung  der  Goldmünzen 
betrifft,  so  haben  in  England  die  neuosteu 
Einziehungen  der  vor  der  Hegierun;;  «"Ir*^ 
Königin  Victoria  geprägten  Münzen  bei  Sd- 
vereigns  einen  Verlust  von  1,8  und  bei  dcii 
lialben  Sovereigns  einen  solchen  von  4,9 -Vo 
ergeben,  und  da  die  diu'chschnittliche  üm- 
laufszeit  62  Jahre  beträgt,  so  findet  man  bei 
den  ersteren  eine  durchschnittliche  jährliche 
Abnützung  von  nahezu  ^/loooo  und  bei  den 
letzteren  eine  solche  von  nahezu  ®/ioooo.  In 
Frankreich  und  in  der  Schweiz  hat  man  bei 
den  20-Francsstücken  die  jähi'liche  Abnutzung 
gleich  *^/ 10  000  gefunden.  Da  in  der  älteren 
Zeit  die  sich  stärker  abnutzenden  Goldstücke 
von  etwa  der  Grösse  des  lialben  Sovereign 
überwogen,  so  wird  man  im  allgemeinen 
wohl  einen  Verlust  von  jährlich  ^/ 10  000  an- 
nehmen düi-fen,  zumal  wenn  man  auch  den 
frülier  stärkeren  Abgang  durch  Umschmel- 
zung  einrechnet.  Bei  stets  getiBgenen  Rin- 
gen, Uhren,  Ketten  etc.  ist  der  Verlust  noch 
grösser  als  bei  den  Münzen,  bei  anderen 
Schmucksachen  und  Geräten  aber  kleiner, 
und  man  wird  daher  auch  für  das  verar- 
beitete Gold  den  eben  angegebenen  Ab- 
nutzungskoeffizienten gelten  lassen  dürfen. 
Der  grösste  Teil  des  Goldverlustes  aber  in 
der  Gegenwart  wie  in  der  Vergangenheit 
entsteht  durch  die  Vergoldung. 

Nach  den  amerikanischen  Erhebungen 
kommen  ungefähr  7^/2^/0  des  industriell  ver- 
wendeten Goldes  auf  die  Blattgoldfabrikation. 


762 


Gold  und  Goldwährung 


Dazu  kommt  der  Verbrauch  für  die  galva- 
nische und  andere  Arten  der  Vergoldung. 
Nach  den  oben  erwähnten  Erhebungen  wird 
in  Deutschland  die  Gesamtmenge  des  soge- 
nannten Verlustgoldes  sogar  auf  30  ^/o  des 
jährlichen  industriellen  Verbrauchs  geschätzt. 
Nimmt  man  sie  durchschnittlich  auch  nur 
zu  20%  an,  so  macht  dies  filr  die  ganze 
Kulturwelt  jährlich  eine  endgiltige  Kon- 
sumtion von  50  Millionen  Mark.  Es  ist  dies 
etwa  Vtoo  des  wahrscheinlichen  gesamten 
Goldvon'ates  (in  Münzen  und  Schmuck- 
sachen etc.)  der  heutigen  Kulturwelt,  und 
man  wird  dieses  Verhältnis  auch  auf  die 
Vei'gangenheit  anwenden  dürfen.  Die 
sonstigen  Verluste  an  Gold,  etwa  durch 
Schiffbrüche,  Vergrabungen  etc.  betragen 
gegenwärtig  jedenfalls  niu*  wenige  MiDionen 
Mark  jährlich,  sind  also  im  Verhältnis  zum 
ganzen  Bestände  sehr  klein,  wähi^end  früher 
die  letzterwähnten  Ursachen  vielleicht  etwas 
grössere  Bedeutung  hatten.  Sowolü  das  zu 
Vergoldungen  dienende  als  das  übrige  ver- 
loren gehende  (lold  dürfte  in  stärkerem 
Verhält  nis.se  dem  Münz  vorrate  als  dem  Be- 
stände an  verarbeitetem  Golde  entnouimen 
werden,  doch  ist  es  nicht  nötig,  diesen 
Untei-schied  hier  weiter  zu  berücksichtigen. 
6.  Goldvorrat.  Wir  dürfen  nach  dem 
obigen  mit  genügender  Sicherheit  sagen, 
dass  der  gesamte  Verlust  gegenwäi'tig  un- 
zweifelhaft und  wahrscheinlicli  auch  in  der 
Vergangenheit  mit  durchschnittlich  jährlich 
2  KHK)  des  Gesamtvorrates  an  gemünztem  und 
verarbeitetem  Golde  nicht  zu  hoch  ver- 
anschlagt ist.  Für  den  Zeitraum  eines 
Jahrhundei-ts  kann  man  ohne  erheblichen 
Fehler  den  Verlust  nach  diesem  Ver- 
hältnisse (mit  Eücksicht  auf  die  Art,  wie 
es  gefunden  worden)  in  arithmetischer 
Progression  berechnen,  also  in  KMi  Jahren 
einen  Abgang  von  ^.5  des  Anfangsbestandes 
annehmen.  Setzt  man  dann  den  Vorrat 
Europas  an  gemünztem  und  verarbeitetem 
(xolde  im  Jahre  1500  gleich  1000  Millionen 
Mark  und  nimmt  innerhalb  der  folgenden 
Perioden  von  50  oder  100  Jahren  annähernd 
gleichmässige  Produktion  an,  so  berechnet 
sich  nach  jenem  Abnutzuugsverhältnisse  und 
den  oben  angeführten  Produktionszahlen  der 
gesiimte  Goldvorrat  von  der  abendländischen 
Kultur  aufgenommen  wie  folgt: 


1550  1710  Mill. 
1600  2720 
17(X)  4410 


M. 


w 


n 


1800  7  940  Mill.  M 
J848  9  s6o 
1890  28  560 


r> 


n 


n 


Für  1900  sind  etwa  35  500  Millionen  an- 
zunehmen. 

Zur  Pmbe  auf  dicvse  Rechnung  wollen 
wir.  auch  den  gegenwärtigen  Goldbestand 
der  Kulturwelt  unmittelbar  zu  schätzen  ver- 
suchen.   Nach  den  Untersuchungen  von  Pal- 


grave  und  ^lartin  ist  der  BarvoiTat  Eng- 
lands an  Gold  noch  kleiner,  als  man  bis- 
her anzunehmen  pflegte,  und  man  Avird  ihn 
mit  Einschluss  der  Barren  und  fremden 
Münzen  in  der  Bank  auch  für  das  Jahr  1900 
nicht  höher  als  zu  2000  Millionen  Mark  an- 
setzen dürfen.  Den  Vorrat  Frankreichs 
an  Goldmünzen  hat  Foville  1891  (Econo- 
miste  fran^ais,  19.  September  1891)  nur  zu 
4<X)0  Millionen  Francs  und  in  einem  amt- 
lichen Bericht  für  1897  auf  4200  Francs 
geschätzt;  jedenfalls  wird  der  monetäre 
Goldbestand  in  den  Ländern  des  lateinischen 
Münzbuudes  zusammen  nicht  mehr  als  4(KK) 
Millionen  Mark  betragen.  In  den  Verei- 
nigten Staaten  stellte  der  Vorrat  an 
Goldmünzen  nebst  den  im  Schatzamte  la- 
gernden Barren  nach  der  Scliätzung  des 
Münzdirektors  im  Jahi-e  1898  die  Summe 
von  925  Millionen  DoUar  dar.  Diese  Schät- 
zung dürfte  aber  in  ihren  älteren  Grund- 
lagen ungenau  und  um  50 — 00  Millionen 
Dollar  zu  hoch  sein,  so  dass  sich  der  wirk- 
liche Goldbestand  der  Union  auf  etwa  3GCK) 
Millionen  Mark  belaufen  würde.  Der  Gold- 
vorrat Deutschlands  am  Ende  des  Jahr- 
hunderts ist  mit  Einschluss  des  Besitzes  der 
Reichsbahk  an  Barren  und  fremden  Münzen 
auf  etwa  3100  Millionen  Mark  zu  veran- 
schlagen. Die  nachgewiesenen  Einschmel- 
zungen  von  deutschen  Goldmünzen  an 
fremden  Münzstätten  belaufen  sich  nach 
einer  amtlichen  Ermittelung  bis  Ende  1898 
auf  3S6  Millionen  Mark.  Der  Goldvorrat 
Geste rreich-  U n garn s  (hauptsächlich 
niu*  in  den  Kassen  der  Bank  und  des  Staats) 
wird  auf  900  Millionen  Mark  gescliätzt.^ 

Die  gross te  jemals  dagewesene  GolUau- 
sammlung  hat  in  Russland  stattgefunden, 
wo  die  Keichsbank  mit  Einschluss  des  ihr 
zur  Aufbewahnmg  übergebenen  Goldes  der 
Reichsrentei  im  September  1897  einen  Gold- 
vorrat von  1131,7  Millionen  Rubel  (zu  2,1  ü 
Mark)  besass.  Seitdem  hat  infolge  der  Wieder- 
aufnahme der  Barzalüungen  tler  VoiTat  bei 
der  Reichsbank  abgenommen,  dagegen  be- 
findet sich  jetzt  eine  bedeutende  Summe  in 
Gold  im  Umlauf.  Für  Ende  1899  w^urde 
diese  in  dem  Bericht  des  Finanzministere 
a\if  639  Millionen  Rubel  geschätzt;  dazu 
kamen  927  Millionen  in  Münzen  und  BaiTon 
l)ei  der  Reichsbank  und  den  Staatskassen, 
so  dass  sich  ein  Gesamtbestand  von  1560 
Millionen  Rubel  oder  rund  3380  Millionen 
ergiebt. 

Auf  die  übrigen  em'opäischen  Ijänder 
kommen  etwa  800  Millionen  und  auf  die 
britischen  Kolonieen  mit  Ausschluss  von 
Indien  und  die  übrigen  amerikanischen 
Länder  imgefähr  1201»  Millionen  Mai*k.  So 
ergiebt  sich  ein  Gesamtbestand  an  Gold- 
münzen und  Baukbarren  von  16980  Milli- 
onen Mark.    Da  nun  aber  auch  mindestens 


Gold  imd  Goldwälirung 


763 


IV  2  Milliarden  Mai-k  aus  dem  Gebiet  der 
europäischen  Kultur  nach  Ostasien  abge- 
flossen sind,  so  würde  sich  ans  dieser 
Schätzung  in  Yerbindung  mit  der  obigen 
ergeben,  dass  der  Wert  der  in  diesem  Ge- 
biet vorliandenen,  zum  Teil  seit  Jahrhun- 
derten angesimimelten  Gold  waren  aller  Art 
ungefähr  dem  Werte  des  zu  monetären 
Zwecken  dienenden  Bestandes  gleich  sei, 
was  auch  aus  anderen  Gnmden  annehmbar 
scheint.  Dass  bei  den  gegenwärtigen  und 
den  wahi'scheinlichen  künftigen  Verhältnissen 
der  Goldpi-oduktion  von  einer  Goldknappheit 
nicht  die  Rede  sein  kann,  ist  jetzt  wohl 
selbstverständlich.  Die  zeitweilige  Knapp- 
heit an  flüssigem  Kapital,  die  sich  in  hohen 
Diskontsätzen  äussert,  hängt  mit  einer  an- 
geblichen »aj)preciation«  des  Goldes  ganz 
und  gar  nicht  zusammen  und  sie  ist  übri- 
gens gleichzeitig  mit  einer  allgemeinen 
Erhöhung  des  Niveaus  der  Warenpreise 
aufgetreten.  Die  Gold  an  Sammlungen  zur 
Wiederherstellung  der  A'aluta  in  Kussland 
und  Oesterreich  sind  ohne  Schwierigkeit 
von  statten  gegangen.  Selbst  ein  verstärk- 
ter Abfluss  von  Gold  nach  Indien,  wie  er 
bei  der  oben  erwähnten  Währungsreform 
in  Aussicht  steht,  ei-scheint  irnter  den  heu- 
tigen Umständen  nicht  mehr  bedenklich. 
Indien  hat  in  den  Jahren  1881—1898 
diu'chschnittlich  jährlich  für  ungefähr  42 
Millionen  Mark  melu*  Gold  eingeführt  als 
ausgeführi ;  bei  einer  PiTjduktion  von  mehr 
als  1  MiUtarde  Mark  würde  aber  auch  ein 
doppelt  so  grosser  Abfluss  nach  Indien  für 
die  euroj)äischen  Geldverliältnisse  nicht 
störend  sein. 

7.  ßarrenhandel.  Ein-  und  Ausfuhr. 
Was  die  Technik  des  (loldban-enhandels  be- 
trifft, so  werden  dieselben  in  London  nach 
der  Unze  Standard  (22  Karat  oder  0,9167 
fein)  notiert.  Da  aus  einer  solchen  Unze 
3  £•  17  sh.  10^/2  d.  ge])rägt  werden,  so 
kann  der  Preis  derselben  nie  über  diesen 
Betrag  hinausgehen,  solange  vollwichtige 
Goldmünzen  das  allgemeine  Zahlungsmittel 
bilden,  da  man  dann  ja  beliebig  viele  Barren 
durch  Einschmelzung  solcher  Münzen  er- 
halten kann.  Die  untere  Grenze  des  Preises 
der  Barren  aber  ist  3  £  17  sh.  9  d.,  da 
(abgesehen  von  der  unentgeltlichen,  aber 
mit  einem  kleinen  Zinsverlust  verbundenen 
Prägung)  die  Bank  von  England  verpflich- 
tet ist,  jedes  ihr  angebotene  Quantum  zu 
diesem  Preise  mit  ihren  stets  einlöslichen 
Xoten  anzukaufen.  Das  Gewicht  der  in 
den  grossen  Verkehr  kommenden  Banken 
betnigt  gewöhnlicli  200  Unzen,  ungefähr 
6  Kilo.  Die  fremden  Goldmünzen  wenlen 
nach  Unzen  brutto  notiert. 

In  Paris  wird  das  Barrengold  nach 
Kilo  von  1000/ lOuo  Feinheit  notiert,  dabei 
aber  nicht   die    ^unme   zu  Gnmde   gelegt, 


die  aus  einem  Kilo  Feingold  geprägt  wird 
(3444,44  Francs),  sondern  es  wird  davon  die 
Prägungsgebühr,  0,70  Francs,  für  ein  Kilo 
Münzgold  oder  7,44  Francs  für  ein  Kilo 
Feingold  abgezogen.  So  ergiebt  sich  als 
Münzpreis  eines  Kilo  fein  3437  Francs,  und 
die  Börsennotiz  giebt  nun  an,  lun  wieviel 
pro  Mille  Prämie  das  Feingold  höher  steht 
als  diese.  Grundzahl.  Bis  1841  wurde  nach 
dem  ältei-en  Prägungstarif  ein  Grundpreis 
von  3434,44  angenommen,  obwohl  in  M'irk- 
lichkeit  der  Müiizpieis  des  Feingoldes  seit 
1835  auf  3437,77  Francs  stand.  Bei  dem 
jetzigen  Münzpreis  kann  die  notierte  Prä- 
mie nicht  bis  3  pro  MiUe  steigen,  solange 
die  franztisisclien  Alünzen  in  gutem  Stande 
sind.  Da  aber  die  Bank  von  Frankreich  ilux) 
Noten  oft  überwiegend  mit  einigerraassen 
abgenutzten  Zehnfrancsstücken  einlöst,  so 
stand  z.  B.  im  September  1891  die  Prämie 
auf  ö — ()  pro  Mille.  Die  Probierkosten  be- 
tragen in  Paris  für  Gold  1,65  Francs,  die 
Schmelzkosten  1  Franc  für  das  Kilo,  die 
Affiuierungskosten  6  Francs  für  das  Kilo. 

In  Deutschland  ist  die  Beichsbank  ver- 
pflichtet, alles  ihr  angebotene  Gold  zu  dem 
Pi-eise  von  1392  Mark  für  ein  halbes  Kilo 
(das  frühere  Zoll-  und  Münzpfund)  von 
1000/ lOOU  anzukaufen,  während  der  Aus-* 
münzungswerl  dieses  Goldquantums  1395 
Mark  beträgt.  In  der  ei-sten  Zeit  nach  der 
Münzreform,  als  die  wirklichen  Zahlungs- 
mittel noch  überwiegend  Silber-  und  Papier- 
geld waren,  stieg  der  Goldpreis  auf  1400 — 
1405  Mark,  doch  war  dies  nur  eine  vorüber- 
gehende Erscheinung.  —  In  Bezug  auf  die 
Versendungskosten  des  Goldes  sei  bi^uerkt, 
dass  sie  nicht  viel  weniger  als  die  des  Sil- 
bers betragen,  weil  sie  sich  im  wesentlichen 
nach  dem  Werte  und  nicht  nach  dem  Ge- 
wichte richten.  Sie  beti'agen  z.  B.  von 
Amsterdam  nach  Berlin  1  pro  Mille  (für 
Silber  1^/4  pro  ^liUe),  von  Paris  nach  Ber- 
lin V;4—V!2  pro  Mülo  (für  Silber  2V'2  pi-o 
Mille),  von  London  nach  Berlin  V.'-i  pro 
Mille  (bei  Silber  2^2  pro  Mille),  von  2sew- 
Tork  nach  Hamburg  6  pro  Mille  (für  Silber 
7  pro  Mille). 

Der  Centralpunkt  des  internationalen 
Verkehrs  in  Goldban-en  und  -münzen  ist 
die  Bank  von  England,  üeberhaupt  ist 
England  dasjenige  Liand,  wohin  der  grösste 
Teil  des  neu  gewonnenen  Goldes  aus  den 
Produktionsländern  zuei*st  zusammenfliesst 
und  von  wo  aus  die  übrigen  euroi)äischen 
Länder  hauptsäclilich  ihren  Anteil  an  diesem 
Metall  beziehen.  Die  Statistik  der  Goldein- 
fuhr und  -ausfuhr  ist  indes  auch  in  England 
noch  unsicher  genug,  wenn  sie  auch  im 
ganzen  dort  einen  höheren  Grad  von  Ge- 
nauigkeit besitzen  dürfte  als  in  den  Staaten 
des  Kontinents.  Wir  begnügen  uns  hier, 
die  Gesamtsummen  der  britischen  Ein-  und 


u 


764 


Gold  lind  Goldwälming— Groschen 


Ausfuhr  von  Gold  in  1000  £  für  eine  Reihe 
von  Jahren  zusammenzustelleu. 

Jahr  Emfuhr  Ausfuhr  Jahr  Einfuhr  Ausfuhr 

1877  15442,0  20361,4  1888    15788,0  14944,1 

187820871,4   14968,5  1889    17914,014455,3 

1879  13368,7    17578,8  1890   23568,0  14306,7 

1880  9  454,9    11828,8  1891    30275,624167,9 

1881  9963,0    15498,8  1892   21583,2  14832,1 

1882  14373,6    12023,8  1893  24834,7  19502,3 

1883  7  755,8     7091,4  1894   27572,3  15647,6 

1884  10744,4    12012,8  1895   36009,3  21369,3 


1885  13376,6    11  930,8 

1886  13392,3    13783,7 

1887  9955,3     9323,7 


1896  24468.6  30123,9 

1897  30808,9  30808,6 

1898  43  723,0  36  590,1 

Die  Goldeinfuhr  und  -ausfuhr  der  Vereinigten 

Staaten  betrug  in  1000  Dollars: 
Jahr  Einfuhr  Ausfuhr      Jahr  Einfuhr  Ausfuhr 


1881 
1882 
1883 
1884 
1885 
188H 
1887 
1888 
1889 


100  031 

34  377 

17734 
22831 

26692 

20743 

42911 

43  934 
10284 


2565 
32588 
II  600 
41  082 

8478 
42952 

9701 
18376 

59952 


1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
189Ö 
1896 
1897 
1898 


17274 
86363 

50  195 
108  686 

76978 
66468 
112  410 
40362 
15406 


Die    Zukunft    des    Goldes,    Zeitschr,  f.    d.    ges. 
Staatsw.  1891,  Heft  IIL  —  J.   G.  Hoffmann, 
Die  Zeichen   der  Zeit  im  deutschen  Müruicesen, 
Berlin  1891.  —  Der  Uebergang  zur  Goldwährung 
(PreisschHßen   von    Grotte,    Miüauer,  Weibezahn 
und    Bach),     Berlin    1868.    —    Bamberg  er, 
Reichsgold,   Leipzig   1876.  —  Jevons,    On   the 
condition   of  the  metallic  eoinage  of  the  United 
Kingdom.  Joum.  of  the  Stat.  Soc.  (1868)  XXXI, 
part  IV.  —  Haupt,    Arbitrages  et  paritis.     6, 
ed.,  Paris  1883.  —  Heifferieh,  Die  Reform  des 
deutschen    Geldwesens.     I.  Geschichte   der  de^Ur 
sehen   Geldreform,   Leipzig  1898.     II.   Beiträge 
zur  Geschichte   der  deutschen  Geldreform,  Leip- 
zig 1898.  —  Biedermann,    Die  Statistik  der 
Edelmetalle  als  Materialien  zur  Beurteilung  der 
Währungsfrage,  Berlin  1898.  —  Amüiche  Denk- 
schriften über  die  Attsßihrung  des  Gesetzes  über 
die   deutsche   Münzreform  I — IX,   abgedruckt  in 
Hirths  Ann.  1871^188£.  —  Deutsches  Handels- 
archiv,  Berlin.  —   Verhandlungen  der  deutschen 
SUberkommüsion,  Berlin  1894 .  —  Raffalovich, 
Le  marche  ßnancier  en  1898—1899,  Paris  1899, 
—  Annual  Report   of  the  Deputy  Master  of  the 
Mint,  London.  —  Annual  Report  of  the  Director 
of  the  Mint,   Washington.  —  Report  of  the  Direc- 
tor of  the  Mint  upon  the  Prodnction  ofthc  precious 
metnU    in   the  United  States,    Washington  (jähr- 
lich   seit    1880).  —  Bulletin  de  staiistique  et  de 
legishtion  comparee,  Paris.  ■—  AdministratiMi  des 
monnaies   et    medailles.      Rapport    au    ministre 
lies  ßnances.    IV.  Annce,    Paris  1899.  —  Bulle- 
tin  russe    de  staiistique  financihre.     VI.  Annee, 
Pt'tersbourg    1899.    —    The   Russian  Journal   of 
Financial  Statistics,  St.  Petersburg  1900. 

Lencis. 


12943 
18233 

49699 
21  174 

72449 

36385 

33525 
85015 

120392 

Litteratnr:  Ausser  den  bei   den  ArU.  Doppel- 
w ä h  rung     und     Edelmetalle     angegebenen 
Schriften    (siehe  oben  Bd.  III,    Seite  j^öljöi  U7id 
^65)    rergl.    Jacob,    Histor.    Inquiry    into    the 
production  and  ccnismnption  of  the  precious  me- 
tals,  London  18S1.  —  A,  \\  Humboldt,    Ueber 
die  Schwankungen  der  Goldproduktion,  Deutsche 
Viertcljahrsschrift  1888.  —  HeifetHch,    Von  den 
periodischen  Schwanhmgen  im   Werte  der  edlen 
Metalle,  yUrnberg  I84S.  —  J  et  L,  Sabatier, 
Productum  de  Vor,  de  Vargent  et  du  cuivre  chez 
les  anciens,  St.  Peter sbonrg  1850.  —  Levassear, 
La  question  de  Vor,  Paris  1858.  —  M.   Cheva- 
lier, De  la  baisse  probable  de  Vor,  Paris  1890. 

—  LauVf  De  la  production  des  metaux  pr^ci- 
fuj-  en  Californie  Pari^  1862.  —  LandtHn, 
Traitc  de  Vor,  Paris  18ÜS.  —  Jloswag ,  Lcs 
nirtaux  precieux,  Paris  1865.  —  Soetbeer,  Das 
Gold  (in  der  Brockhausschen  nGegenwartu  1856). 

—  Derselbe,  Die  Goldfrage  etc.  Zeitschr.  f. 
Stduf^.r.  h<:i,J.  —  Der  selbe,  Denkschrift  betr. 
deutsche    Miinzeinigung ,    181,9    (im    Namen    des 

Aif^.^<nusses    des    deutschen    Ilandchtages ,    auch  /^         u  /^  t         i.» 

in  Ilirths  Auy..  :.  '->  abgedruckt).  —  Derselbe,  IjOSClieil,    IxBOrg  JoaCümi, 

^:nr  Stat.  dn-  Eiii.w-i.Jir^  Jahrb.  f  Not.  u.  Stat.  \irQ\)orm  am  10.  VIII.  1831  ZU  London,  aber 
isri,  ^.  F.  IL  und  jiJ.  Bd.  —  />er»elbc,  I  deutscher  Abstammung  und  Enkel  des  Leipziger 
KdelmvtaUijewinnung  uuo  Vrnrrndung  ebenda  Buchhändlers  Georg  Joachim  Göschen,  studierte 
X.  !>.  I.  Bd.  ~  Derselbe,  Jms  <;oUUand  Ojir,  in  Oxford,  widmete  sich  dem  Bankfache  und 
Vierteljahrsschrift  f  Volk^w.  :::n^  .A'/..v .  AT//.  1  ward  durch  seine  Schrift  über  den  Nutzen  der 

—  Derselbe,  Materialien  iur  [:nnuterHu<j  And\i\,\\<^\s'ixn\gQri   Wechselkurse    (s.    u.)   schnell    be- 


s. 


Goldpräniienpolitik 

Diskonto  und  Diskontopolitik 
sub  II,  8  oben  Bd.  III  S.  179  ff. 


Gold  und  Silberwaren 

s.  Feingehalt  der  Edelmetalle 
oben  Bd.  III   S.  825  ff. 


Beurteilung  der  EdebaelaUverhr':yJ,^ac,  2.  Ausg., 
Berlin  18S6.  —  Derselbe,  LittduturnachuHis 
über  Geld-  und  Münztresen,  Berlin  :>'oj.  — 
Xeller,    Die   Frage    der   internationalen  JJinn- 


kannt.  18<>5  wurde  er  Vizepräsident  des  Han- 
delsamts, 1H68  unter  Gladstone  Präsident  des 
Armenamts,  1871  bis  zum  Sturze  Gladstones  (1874) 
erster  Lord  der  Admiralität,  1877  Präsident  der 


einigung,  Stutt^jart  1869.  —  Die   *«^e;'n«/io««/r   vom  Unterhause  einsresetztenSilber-Enquetekom- 


Münzkonferenz  zu  Paris  1807.  Vebcrsetzung  ron 
Geschwender,  Erlangen  1869.  —  Sucss,  Die 
Zukunft  des  Goldes,  Wien  1877.  —  Del  Mar, 
Histnry  of  precious  Mct(d.s,  Londmi  188(K  — 
Lexts,  Die  Edeimetnlle  im  auswärtigen  Handel 
Russlands,  Jahrb.  f.  Xat.  u.  Stat.  1877,  Bd. 
XXIX.    —    Derselbe,    Beiträge   zitr  Stat.  der 


Edelmetalle,  ebenda  Bd.  A'A'AVT.  —  Ruhland,  '  schaftlichen  Schriften: 


mission,  Mai  11^80  ao.  Botschafter  in  Koustanti- 
nopel  und  Ende  Dezember  1886  Schatzkanzler.  Am 
2iK  VI.  18^5  trat  er,  nach  seiner  abermaligen 
Ernennung:  zum  ersten  Lord  der  Admiralität, 
als  Kabinettsminister  in  das  III.  Ministerium 
Lord  Salisburj's  ein. 

Goschen    veröffentlichte   von    Staats  wissen- 


Goschen — Gothenbiirger  Ausschanksystem 


765 


a)  in  Buchform:  The  theory  of  foreign 
exchanges.  1.  und  2.  Aufl.  London  1863;  3.  und 
4.  Aufl.  1864;  5.  Aufl.  1865;  6.  Aufl.  1866;  8. 
Aufl.  1875;  9.  Aufl.  1876;  10.  Aufl.  1879;  11. 
Aufl.  1883;  12.  Aufl.  1886;  13.  Aufl.  1888;  14. 
Aufl.  1890;  15.  Aufl.  1892;  16.  Aufl.  1894;  das- 
selbe in  französischer  Uebersetzun^ :  „avec  in- 
troduction  par  L.  8ay."  Paris  (1863);  dieselbe 
Üebersetzung  mit  dem  Titelzusatze :  suivie  du 
rapport  sur  le  payement  de  Tindemnite  de 
guerre  et  sur  les  Operations  de  change  qui  en 
ont  ete  la  consequence,  par  L.  Say,  Paris  1875; 
dasselbe  in  holländischer  Uebersetzung  von  N. 
G.  Pierson:  De  wisselkoersen ,  Haarlem  1864; 
dasselbe  deutsch:  Theorie  der  auswärtigen 
Wechselkurse,  von  F.  Stöpel,  Frankfurt  a.  M. 
1875;  dasselbe  in  einer  2.  deutschen  Ueber- 
setzung von  J.  Herz,  Wien  1876.  —  Speech 
on  the  bankruptcy  Sequestration,  London  1868. 

—  On  the  progressive  increase  of  local  taxa- 
tion,  with  especial  reference  to  the  propor- 
tion  of  local  and  imperial  burdens  borne  by  the 
diiferent  classes  of  real  property  in  the  United 
Kingdom,  London  1870.  —  Reports  and  speeches 
on  local  taxation,  London  1873.  —  Cultivation 
and  use  of  the  Imagination,  London  1878 ;  2.  Aufl. 
1893.  —  Probable  results  of  an  increase  in 
pnrchasing  power  of  gold,  London  1883.  — 
Addresses  on  educationai  and  economical  sub- 
jects,  London  1885.  —  Condition  and  prospects 
of  trade :  an  address,  London  1885.  —  Political 
Speeches  delivered  during  general  election,  Lon- 
don 1886. 

b)  in  Zeitschriften  1.  (Institute  of  Bankers): 
On  the  probable  result  of  an  increase  of  the 
pnrchasing  power  of  gold,  Jahrg.  1883,  April, 
London.  —  On  currency,  bank  reserves  and  £  1 
notes,  Jahrg.  1891,  Februar.  —  On  the  metallic 
reserve.  Letter  to  the  govemor  of  the  Bank 
of  England,  Jahrg.  1891,  Dezember.  -  2.  (Jour- 
nal of  the  Royal  Statistical  Society) :  The  incre- 
ase of  moderate  incomes,  vol.  50,  1887,  S.  589  fr. 

—  3.  (Journal  des  Economistes) :  Le  regime 
monetaire  de  la  Banque  d'Angleterre ,   Jahrg. 

1891,  März. 

Vergl.  über  Goschen:  Stourm,  Le  bud- 
get,  2.  Aufl. ,  Paris  1891 ,  Vorrede  S.  III,  Text 
SS.  54,  87,  158,  209,  353.  — -  A.  E.  Hake,  M. 
Goschen's  mission,  in  National  Review,  January 

1892,  London.  —-  Gairdner,  Mr.  Goschen s 
scheme  for  reform  of  the  Bank  Acts,  2nd  edition, 
Glasgow  1892.  —  Pownal,  Bank  reserves,  the 
central  stock  of  gold,  and  one  pound  notes, 
London  1892. —  (Die  letzten  drei  Schriften  be- 
ziehen sich  auf  folgende,  durch  die  Erisis  des 
Geldmarktes  von  1890  veranlasste  gesetzgebe- 
rischen Reformprojekte  Goschens:  1.  Erhönung 
des  Reservekapitals,  2.  Verstärkung  des  Gold- 
vorrates. 3)  interimistische  Emission  von  Noten 
a  ein  Pfd.  Sterling  der  Bank  von  England).  -- 
G  M.  Boissevain,  Goschens  voorsteT to  wijzi- 

_  der  Engeische  bankwet  in  „Üe  Economist", 
[aag  1892,  Januar,  S.  22.  Lippert 


gpg 
Haas 


seit  1885  Professor  an  der  technischen  Hoch- 
schule in  Karlsnihe.  Im  Jahre  1890  folgte  Got- 
hein  einem  Rufe  als  Professor  der  Staatswissen- 
schaften an  die  Universität  Bonn. 

Von  seinen  Staats  wissenschaftlichen  und 
kulturgeschichtlichen  Veröffentlichungen  seien 
hier  genannt : 

Der  gemeine  Pfennig  auf  dem  Reichstage 
zu  Worms,  Breslau  1877.  —  Politische  und 
religiöse  Volksbewegungen  vor  der  Reformation, 
Breslau  1878.  —  Der  christlich-soziale  Staat  der 
Jesuiten  in  Paraguay.  (Staats-  und  sozialwis- 
senschaftliche Forschungen,  hrsg.  von  Schmoller, 
IV.  Bd.,  Heft  4),  Leipzig  1883.  —  Bilder  aus 
der  Geschichte  des  Handwerks  in  Baden,  Karls- 
ruhe 1884.  —  Ignatius  von  Loyola.  (Schriften 
des  Vereins  für  Reformationsgeschichtfs ,  14. 
Heft.)  Halle  1886.  —  Die  Kultnrentwickelung 
Süd-Italiens  in  Einzeldarstellungen,  Breslau 
1886.  —  Die  Aufgaben  der  Kulturgeschichte, 
Leipzig  1889.  —  Pforzheims  Vergangenheit. 
Ein  Beitrags  zur  deutschen  Städte-  und  Ge- 
werbe^eschichte.  (Staats-  und  sozial  wissen- 
schaftliche Forschungen,  hrsg.  von  Schmoller, 
IX.  Bd.,  3.  Heft),  Leipzig  1889.  —  Wirtschafts- 
geschichte des  Schwarzwaldes  und  der  angren- 
zenden Landschaften,  1.  Bd.,  Strassburg  1891/92. 
—  Ein  Neu:  Nutzlich  vnd  Lustiges  Colloquium, 
Von  etlichen  Reichstags-Puncten.  Hrsg.  von 
E.  Gothein,  Leipzig  1893  (Brentano  u.  Leser, 
Sammlung  älterer  und  neuerer  Staats  wissen- 
schaftlicher Schriften  des  In-  und  Auslandes, 
Nr.  3.)  —  Ignatius  von  Loyola  und  die  Gegfen- 
reformation,  Halle  1895.  — 

Ausserdem  finden  sich  mehrere  Abhand- 
lung^en  Gotheins  in  der  „Zeitschrift  für  Ge- 
schichte des  Oberrheins",  in  der  „Westdeutschen 
Zeitschrift",  den  „Preussischen  Jahrbüchern" 
und  in  der  „Zeitschrift  für  Kulturgeschichte" 
Neue  (4.)  Folge  Bd.  I  (1893/94)  Heft  1 :  Thomas 
Campanella.  Ein  Dichterphilosoph  der  italieni- 
schen Renaissance. 

Bed. 


Gothein,  Eberhard, 

geb.  185B  zu  Neumarkt  in  Schlesien.   Seit  1878 
war  er  Privatdozent  in  Breslau  und  Strassburg, 


Gothenburger  Ausschanksystem. 

1.  Was  wird  unter  dem  Gothenburffer  Sys- 
tem verstanden?  2.  Entstehung  und  Verbrei- 
tung des  Systems.   3.  Die  Ordnung  im  einzelnen. 

4.  Die  Resultate  der  Ausschankgesellschafren. 

5.  Die  wichtigsten  Angriffspunkte  gegenüber 
dem  Gothenburger  System  und  der  „Saralags"- 
ordnung.    6.  Abschliessende  Kritik. 

1.  Was  wird  nnter  dem  Gothenburger 
System  verstanden?  Obwohl  die  unten 
zu  behandelnde  Onlnung  des  Ausscluuik- 
wesens  schon  früher  in  einzelneu  kleineren 
Städten  Schwedens  (so  z.  B.  schon  1850 
in  Falun)  versucht  worden  war,  erweckte 
sie  doch  erst  nach  ihrer  Einfühning  in 
Gothenburg  im  Jahre  1865  eine  allgemeiuere 
Aufmerksamkeit,  welche  veranlasst  hat,  dass 
man  nachher  diese  Ordnung  durch  den 
Namen  jener  Stadt  gekennzeichnet  hat.  In 
Norwegen  kommt  jedoch  der  Ausdruck 
»Gothenburger    System«    seltener   in 


766 


G  otlieiibiu'ger  Ausschanks^'stem 


der  öffentlichen  Diskussion  über  die  bezüg- 
lichen Fragen  vor;  hier  spricht  man  ge- 
wöhnlich von  der  »Samlagsordnnng« 
(^>Samlag«  ist  —  Gosellschaft) ,  was  damit 
zusammenhängt,  dass  diese  Einrichtiing 
unter  der  in  Norwegen  zur  Anwendung  ge- 
bi'achten  Form  in  melu'ereu  BozieJiungen 
sich  von  derjenigen  Gestaltung  des  Systems, 
welches  in  Schweden  zum  Voi^schein  kommt, 
imterscheidet. 

Wie  aus  diesem  Thatbestande  hervorgeht, 
ist  das  Gothenburger  System  auch  da,  wo 
es  in  seinen  Grundzflgen  angenommen  ist, 
nicht  überall  auf  genau  dieselbe  Weise  durch- 
geführt. Das  System  ruht  auf  einem  Kom- 
plex von  Regeln,  der  in  den  verschiedenen 
Orten  nicht  unbedeutend  variiert  weixien 
kann.  Und  dies  macht  nicht  allein  Schwie- 
rigkeiten bei  der  theoretischen  Begriffs- 
bestimmung, sondern  dieser  Umstand  muss 
stets  im  Auge  behalten  werden  bei  den 
Angriffen,  die  von  verschiedenen  Seiten 
gegen  das  System  gerichtet  worden  sind. 
Untersucht  man  nämlich  diese  Angriffe 
näher,  so  wird  man  oftmals  ersehen,  dass 
dieselben  nicht  sowohl  dem  Kern  des  Svs- 
tems  gelten  als  derjenigen  Art  und  Weise, 
in  welcher  die  Ordnung  hier  oder  da  durch- 
geführt worden  ist. 

Das  konstitutive  Element  des  Systems 
besteht  darin,  dass  j  e  d  w  e  d  e  r  A  u  s  s  c  h  a  n  k 

—  teilweise  auch  der  Detail  verkauf  -^  v  o  n 
Branntwein  oder  überhaupt  Spi- 
rituosen Getränken  in  einer  Stadt 
oder  innerhalb  ein  erLand  komm  uue 
(»hered«)  an  eine  Aktiengesellschaft 
(schwedisch  »Bolag«,  norwegisch  »Sam- 
lag<^)  übertragen  wird,  deren  Mitglieder 
von  dem  eingesetzten  Kapital  nur  begrenzte 
Zinsen  (5"/o)  bekommen,  wälirend  der  er- 
übrigte Nettogewinn  zum  Besten  allgemeiner 
oder  wohlthätiger  Zwec^ke   verwendet  wird, 

—  sowie  ferner,  dass  die  Vorsteher  der 
Ausschankstellen  fest  besoldete  Personen 
sind,  die  von  dem  Ausschank  gar  keinen 
direkten  oder  indirekten  Vorteil  ziehen 
können.  Wo  diese  Regeln  eingeführt  sind, 
ist  man  berechtigt,  die  Ordnung  als  Gothen- 
burger System  zu  bezeichnen.  Damit  aber 
dasselbe  in  seiner  Reinheit  und  mit 
dem  Gedanken  der  ursprünglichen  Stifter 
in  voller  Uebereinstimmung  durchgeführt 
charakterisiert  werden  soll,  muss  noch  fol- 
gendes hinzugefügt  werden :  Die  Direktion 
der  Gesellschaft  muss  über  die  Verwendung 
des  T>berschusses  zu  besdiliessen  haben. 
Diese  Nutzbarmachung  des  Ueberschusses 
muss  vorzüglich  darauf  ausgehen,  teils  die 
!Mässigkeits-  und  Enthaltsamkeitsljestrebun- 
geu  zu  untei*stützen,  teils  in  anderer  Weise 
den  ärmei'en  Klassen  zu  frommen.  Es  muss 
Sorge  dafür  getragen  werden ,  dass  die 
Schanklokale    rein,    luftig    und    ordentlich 


seien,  dass  auf  Kredit  nicht  verkauft  wenle, 
—  dass  berauschten  oder  minderjährigen 
Pei'sonen  nichts  verabreicht  werde.  Pls 
wird  dahin  zu  streben  sein,  dass  sowohl  die 
Zahl  der  Ausschankstellen  als  die  Zeit  in 
welcher  sie  offen  sind,  eingeschränkt  wenle. 

Stellt  man  indessen  dergestalt  strenge 
Forderungen  an  ein  reines  und  durchge- 
führtes Gothenburger  System,  so  möchte, 
wie  es  aus  dem  folgenden  liervorgehen 
\drd,  zu  behaupten  sein,  dass  dasselbe 
überall  oder  beinahe  überall,  wo  es  auf- 
genommen worden  ist,  zur  Zeit  nur  in 
einer  mehr  oder  weniger  modifizierten  Form 
besteht. 

2.  Entstehung  und  Verbreitung  des 
Systems.  Wie  oben  angedeutet,  kann  das 
System,  von  einigen  älteren,  wenig  um- 
fassenden und  wenig  bemerkbaren  Ver- 
suchen abgesehen,  von  seiner  Einführung 
in  Gothenburg  im  Jahre  1865  datiert 
werden. 

Vorgeschlagen  wurde  eine  derartige  Ord- 
nung von  Seiten  eines  Komitees,  das  im 
vorausgehenden  Jahre,  um  die  Ursachen  des 
Pauperismus  in  dieser  Stadt  zu  untersuchen, 
ernannt  war.  Das  Komitee  bezeichnete  die 
Trunksucht  der  Bevölkerung  als  Hauptur- 
sache und  sah  ein  geeignetes  Mittel  zur 
Ablülfe  des  Elends  in  einem  neuen  Aus- 
schanksystem, infolgedessen  der  Ausschank 
einer  Aktiengesellschaft  übergeben  wenlen 
sollte,  »welche  das  Geschäft  nicht  des  Ge- 
winnes wegen  treibe,  sondern  aus  Wohl- 
wollen den  arbeitenden  Klassen  gegenüber <^. 
Indem  die  Konkurrenz  unter  den  privaten 
Schankwirten  wegfiele,  würde  die  Anzahl 
der  Schenken  verringert,  die  Pi-eise  erhöht 
und  dadurch  der  ßranntweinkonsum  ein- 
geschränkt werden  können.  Danel)en  setzte 
man  sich  auch  als  Ziel,  mehr  als  bisher  die 
Schenken,  die  nach  gesunden,  hellen  und 
geräumigen  Lokalen  verlegt  weixien  sollten, 
zu  Speisehäusern  der  arbeitenden  Klassen 
zu  machen.  Ferner  wurde  beabsichtigt,  dass 
der  Ueberschuss  des  Geschäftes,  anstatt  dem 
einzelnen  zu  gute  zu  kommen  und  dadurch 
eine  Klasse  den  Mässigkeitsbestrebungen 
gefährlicher  Schankwirte  zu  schaffen,  zum 
Besten  derjenigen  Klassen  selbst  angewendet 
werden  sollte,  die  das  grösste  Kontingent 
der  Branntweinkonsumenten  abgab.  Und 
schliesslich  wunle  das  Augenmerk  darauf 
gerichtet,  dass  durch  den  Uebergang  des 
Ausschanks  an  eine  derartige  Gesellschaft 
ein  grosserer  Gehorsam  gegenüber  den  ver- 
schiedenen restriktiven  Gesetzesbestimmun- 
gen hervorgerufen  werden  möchte  (Verbot 
des  Ausschankes  an  Minderjährige  oder  Be- 
trunkene, zu  gewissen  Tageszeiten,  auf 
Kredit  oder  gegen  Pfand),  —  Bestimmungen, 
deren  vollständige  Befolgung  zu  kontrollieren 
immer  unmöglich  sein  wirtl  gegenüber  dem 


Gotlienburger  Ausschanksystem 


767 


Zusammenhalten  von  gewinnsüchtigen  Ver- 
käufern und  Käufern. 

Nachdem  diese  Ordnung  in  Gothen- 
burg  eingefülirt  wai*,  hat  dieselbe  sich  bald 
nicht  allein  über  ganz  Schweden,  sondern 
auch  in  den  Nachbarländern  Norwegen 
und  Finland  eingebürgert.  Im  Jahre 
1877  wiu'den  in  Stockholm  alle  nicht 
privilegierten  Schankgerechtigkeiten  von 
einer  nach  dem  Gothenbm-ger  System  ge- 
bildeten Aktiengesellschaft  übernommen,  und 
im  Jalu-e  1886  waren  von  987  Detailhand- 
lungs-  und  Schankgerechtigkeiten  902  im 
Besitze  solcher  »Belage«,  deren  auch  in 
den  Landdistrikten  einzelne  gebildet  waren. 
Mit  wenigen  Ausnahmen  sind  jetzt  in  allen 
schwedischen  Städten  Brauntweinsbolage 
errichtet  worden. 

Das  erste  norwegische  »Brände- 
vins-Samlag«  wurde  in  Kristiansand 
eingerichtet,  kurz  nachdem  die  gesetzlichen 
Hindernisse  gegen  Errichtung  solcher  Ge- 
sellschaften entfernt  worden  waren  durch 
ein  Gesetz  von  1871,  beschlossen  auf  der 
Grundlage  eines  privaten  Vorschlags,  der 
übrigens  weder  auf  das  Gothenburger  Sys- 
tem hinw^eist  noch  auf  Kenntnis  der  6  Jahre 
vorher  in  Gothenburg  eingeführten  Ordmmg 
zu  ruhen  scheint.  Dagegen  wird  auf  die- 
selbe Bezug  genommen  in  dem  Gutachten 
des  betreffenden  Stortingskomitees.  Die 
Anzahl  der  Samlage  stieg  schnell,  und  der- 
gleichen w^aren  im  Jahre  1889  in  sämtlichen 
Städten  errichtet,  nm*  mit  Ausnahme  we- 
niger ganz  kleiner  sowie  einiger  Städte,  wo 
der  Branntweinsverkauf  verboten  war. 

Die  Rechte  und  die  Wirksamkeit  der 
»Belage«  und  der  »Samlage«  in  Schweden 
und  Norwegen  äfbd  jetzt  durch  die  GG. 
bezw.  V.  24.  Mai  1895  und  v.  24.  Juli  1894 
geregelt.  Dem  letztgenannten  norwegischen 
Gesetze  zufolge  soll  es  diu-ch  Abstimmung 
aller  25  Jahre  alten  Männer  und  Weiber 
einer  Stadtgemeinde  fm  5  und  5  Jahre  be- 
stimmt werden,  ob  ein  Samlag  errichtet 
oder  fortgesetzt  werden  oder  jeder  Aus- 
schank und  jeder  Detailverkauf  von  Brannt- 
wein verboten  werden  soll.  Die  Stimmen 
der  Abstinenten  zählen  für  statu«  quo. 
Auf  der  Grundlage  dieser  Vorschriften 
wurde  von  der  Seite  der  Totalisten  und  der 
Anliüuger  der  Verbotsgesetze  in  den  Jahren 
1896 — 99  ein  Stiu'm  gegen  die  Samlage 
erhoben,  von  denen  1896  6  niedervotiert 
wurden.  Schon  im  nächsten  Jahre  hatte 
sich  doch  das  Blatt  gewendet,  und  in  10 
von  12  Abstimmungen  im  Jahre  1897  und 
in  8  von  12  Abstimmungen  im  Jahre  1898 
sieg-ten  die  Samlagsfreunde.  Dieses  war 
auch  der  Fall  bei  der  Abstimmung  in 
Christiania  i.  J.  1899,  wo  niu*  V  5  der  Stimm- 
berechtigten für  die  Abschaffung  des  Sam- 
lags  votierten. 


Auch  in  Finland  sind  Ausschank- 
gesellschaften dieser  Art  allmählich  in  den 
meisten  Städten  ins  Leben  gerufen. 

Dagegen  ist  meines  Wissens  diese  Ord- 
nung bis  jetzt  in  keinem  Lande  ausser  den 
3  genannten  eingeführt  worden,  obgleich 
sie  an  vielen  Orten  (besonders  in  England 
und  Amerika)  warme  Fürsprecher  ge- 
funden hat. 

3«  Die  Ordnung  im  einzelnen«     a)  Der 

Umfang  der  Gerechtsame  derSamlage. 
In  der  Regel  sind  in  der  betreflfenden  Kommune 
die  sämtlichen  Gerechtigkeiten  in  Bezug  auf 
Ausschank  und  Detailhandloug  (in  beiden  Län- 
dern bis  zur  Grenze  von  250  Liter)  von  Brannt- 
wein dem  äamlag  überlassen.  In  einigen  Städten 
(z.  B.  in  Christiania)  bestehen  jedoch  noch 
einzelne  ältere  Schankgerechtsame,  welche  den 
Inhabern  auf  Lebenszeit  verliehen  sind  und  von 
den  Samlagen  noch  nicht  haben  abgelöst  wer- 
den können.  Dass  dieser  ausserhalb  der  Sam- 
lage aufrech tgehalteue  Betrieb  des  Branntwein- 
verkaufs mehrfach  auf  die  Thätigkeit  der  Sam- 
lage hemmend  einwirken  muss,  ist  leicht  zu  er- 
sehen. In  beiden  Ländern  wird  doch  über  die 
Hälfte  —  in  Norwegen  im  Jahre  1897  etwa  60  %  — 
von  dem  im  Lande  verbrauchten  Branntwein 
durch  die  Bolage  und  Samlage  verkauft.  Es 
ist  den  Bolageu  und  Samlagen  ermöglicht,  be- 
dingungsweise eine  gewisse  Anzahl  der  Aus- 
schauks-  und  Kleinverkaufsgerechtsamen  gegen 
eine  Abgabe  anderen  zu  überlassen,  ein  fiecht, 
das  doch  streng  kontrolliert  wird  und  kaum 
irgendwo  in  einer  gegen  die  Gedanken  der  In- 
stitution streitenden  Weise  missbraucbt  wor- 
den ist. 

Das  Gothenburger  System  und  die  Samlags- 
ordnung  waren  von  Anfang  an  ausdrücklich 
nur  gegen  Missbrauch  von  Branntwein  ge- 
richtet. In  Schweden  haben  die  Bolage  in  dem 
Kampfe  gegen  den  Branntwein  sogar  den  B  i  e  r  - 
kons  um  dadurch  zu  begünstigen  gesucht, 
dass  den  Schankvorstehern  die  Einnahme  beim 
Bierausschank  überlassen  wurde.  Nach  und 
nach  hat  man  aber  sowohl  in  Schweden  als  in 
Norwegen  und  Finland  die  Erfahrung  ge- 
macht, dass  das  Biertrinken  in  beunruhigendem 
Grade  zunimmt,  wenn  dem  Branntweinkonsum 
Schranken  gesetzt  werden  (so  ist  in  Schweden 
der  Bierkonsura  von  ll.l  Liter  pro  Kopf  im 
Jahre  1870  bis  42,4  Liter  pro  Kopf  in  1897  ge- 
stiegen), und  es  haben  sich  demgemäss  Bestre- 
bungen geltend  gemacht,  um  den  Bierkonsum 
in  den  Wirkungskreis  der  Samlag'e  hineinzu- 
ziehen. Somit  hat  man  es  in  Norwegen  durch 
die  Bier-  und  Weingesetze  aus  den  Janren  1876 
bis  1884  den  kommunalen  Behörden  sowohl  in 
den  Städten  als  auf  dem  Lande  überlassen,  den 
Ausschank  von  Bier  (samt  Wein,  Met  und 
Gider)  solchen  Samlagen  zu  genehmigen,  deren 
üeberschuss  für  gemeinnützige  Zwecke  ver- 
wendet wird.  Die  meisten  Branntweinssamlagen 
der  Städte  haben  jetzt  auch  solche  Schankrechte 
erlangt.  Bedeutend  kann  aber  die  Wirkung 
hiervon  nicht  sein,  da  eine  grosse  Zahl  älterer 
Biergereclitsame  besteht  und  weil  Verkauf 
von  Bier  (das  nicht  an  Ort  und  Stelle  verzehrt 
wird)  ganz  frei  ist. 

b)  Die  innere  Ordnung  der  Gesell- 


768 


Grothenburger  Ausschanksystem 


Schäften.    In  ihren  Hauptzügen  ist  die  innere 
Organisation  der  „ßolage^  und  „Samlage"  über- 
all die  nämliche.    In  den  Statuten  („Vedtägter") 
der   Gesellschaft,  welche  von  der   betreifenden 
Gemeindebehörde  oder  von  einer  Verwaltungs- 
behörde festzustellen  oder  zu  approbieren  sind, 
pflegt  bestimmt  zu  sein,  dass  nur  gegen  Bar- 
geld verkauft  wird,  nur  an  erwachsene  Personen 
(in  Schweden  setzen  die  Gesellschaften  die  Alters- 
grenze 3  Jahre   höher  hinauf,   als  die  Gesetz- 
gebung  erfordert)  und  nur  an  nüchterne  Per- 
sonen etc.     Von   der  Bedeutung  dieser  Mass- 
regel wird  man  einen  Begriff'  bekommen,  wenn 
bemerkt  wird,  dass  man  in  einer  kleineren  Stadt 
wie   Bergen    in   einem   einzelnen    Jahre    bis 
36000  Individuen  wegfgewiesen  hat  (in  Chris- 
tian ia  1898  über  62000)      Wie  schon  früher 
angedeutet,  wird   dafür  Sorge  getragen,    dass 
die  Lokale  rein,  hell  und  luftig  sind.  Da  Karten- 
spiel  nicht   erlaubt  wird  und  Zeitungen  nicht 
zu  hahen  sind,  werden  die  Gäste  sich  nicht  zu 
längerem  Aufenthalte   versucht  fühlen.     Viel- 
mehr  sind   die  Verkaufsstellen  nach  der   alten 
.  Regel  eingerichtet,  wonach  „die  Gäste  bezahlen, 
trinken  und  gehen  sollen".  In  einzelnen  Städten, 
z.  B.  Gothenburg   und  Bergen,  haben  die 
Gesellschaften  ausser  den  Schanklokalen  Warte- 
und  Lesezimmer  für  die  Arbeiter  eingerichtet, 
wo  Zeitungen   gehalten  werden   und   wo   teil- 
weise auch  Speisen   und   alkoholfreie  Getränke 
verkauft  werden.    Die  Schank Vorsteher  werden 
von  der  Direktion  ernannt,  bekommen  ein  festes 
Gehalt  und  müssen  einen  Kontrakt  unterschreiben, 
in  welchem  es  z.  B.  für  den  Saralag  Christi- 
anias   heisst,   dass   es   „die   Pflicht  des  Vor- 
stehers  sei,  zum  Trinken   nicht  zu   ermuntern, 
sondern  sein  Möglichstes  zu  thun,  um  Betrunken- 
heit zu  hindern".     Es  wird  namentlich  in  den 
nor welschen  Samlagen  dafür  Sorge  getragen, 
dass  die  Vorsteher  weder  direkt  noch  indirekt 
irgend   einen  Vorteil   aus   dem  Branntwein  ver- 
kauf ziehen  können.    In  mehreren  schwedischen 
Bolägen  soll  aber  diese  Massregel  nicht  so  streng 
durchgeführt  sein.    Sowohl  in  norwegischen  als 
in  schwedischen  Gesellschaften  hat  der  Vorsteher 
den  Verdienst  beim  Verkaufe  von  Kaifee,  Thee, 
Milch,  Essen  etc.  dergestalt,  dass  der  Vorsteher 
ein  Interesse  daran  hat,  dass  die  Kunden  diese 
Waren  dem  Branntwein  vorziehen.    Die  für  die 
schwedischen  Bolage  vielfach  bestrittene  Frage, 
ob  man  dahin  wirken  solle,  die  Schanklokale  zu 
Speisestellen   für  Arbeiter  ohne  eigenes  Heim 
zu  machen,  spielt  dagegen  in  Norwegen  keine 
Rolle,  weil  daselbst  kein  besonderes  Bedürfnis 
vorhanden  ist,  durch  die  Samlage  der  ärmeren 
Bevölkerung  gutes  und  billiges  Essen  zu  ver- 
schaflen.     Seitens  vieler  Gesellschaften   zeigen 
sich  Bestrebungen,  um  die  Ausschank  zeit  über 
die  gesetzlichen  Bestimmungen  einzuschränken. 
Nicht   nur   ist   der  Verkauf   an   Sonn-   und 
Feiertagen  wie  an  den  vorausgehenden  Nach- 
mittagen verboten,  sondern   es   kann  beispiels- 
weise   erwähnt   werden,    dass   das    Bolag   zu 
Gothenburg   den  Verkauf  im  Winter  um  6 
Uhr,  im  Sommer  um  7  Uhr  abends  schliesst,  — 
dass   es   in  Norwegen   ganz  gewöhnlich  ist, 
dass  die  Schankstellen  abends  um  7  oder  8  Uhr 
geschlossen  und  morgens  um  8  oder  9  Uhr  ge- 
öffnet werden,  —  und  dass  die  Samlagen  in  den 
meisten  norwegischen  Städten  die  Schenken  an 
Tagen  geschlossen  halten,  an  welchen  grössere 


Menschen massen  in  der  Stadt  sich  versammeln 
(an  Markt-  und  Wahltagen  etc.). 

c)  Die  Disposition  und  Verteilung 
des  Ueberschusses.  Nachdem  die  gewöhn- 
lichen Konsumtionssteuem  an  die  Kommunal- 
kasse bezahlt  und  den  Aktionären  die  oben  ge- 
nannten 5  %  ^^^  Aktienkapitals  ausbezahlt  sind, 
soll  der  ganze  Rest  des  Ueberschusses  zu  Öffent- 
lichen oder  wohlthätigen  Zwecken  verwendet 
werden.  Betreffs  dieser  Verwendung  gelten  in 
Schweden  und  Norwegen  verschiedene  Be- 
stimmungen. Schon  drei  Jahre  nach  seiner 
Gründung  musste  das  Gothenhurger  Bolag  sein 
freies  Dispositionsrecht  üher  den  Ueberschuss 
zu  Gunsten  der  Kommunalrepräsentation  auf- 
geben. Und  der  späteren  schwedischen  Ge- 
setzgebung gemäss  wird  der  Ueberschuss  mit 
bestimmten  Bruchteilen  durch  die  Stadt^  und 
Landgemeinden,  den  „Landsting"  (Kreistag)  und 
die  Landwirtschaft«vereine  der  Provinz  dispo- 
niert. Nach  dem  geltenden  norwegischen 
Gesetze  werden  von  dem  Reingewinne  20  "/o 
durch  die  Samlage  zur  Verteilung  unter  Mässig- 
keits-  und  anderen  gemeinnützigen  Vereinen 
und  Institutionen.  15%  durch  die  Kommunal- 
behörden und  65%  durch  den  Staat  disponiert. 
Die  letztgenannten  65  ^/^  sollen  vorläufig  auf- 
gesammelt und  die  Verwendung  derselben  später 
durch  ein  Gesetz  bestimmt  werden.  Der  von  den 
Samlagen  disponierte  Bruchteil  des  Gewinnes 
darf  Ar  solche  Unternehmen  nicht  verwendet 
werden,  deren  Verwirklichung  die  Pflicht  der 
Kommune  ist.  Dieselbe  Bestimmung  gilt  in 
Finiand. 

4.  Die  Resultate  der  Aasscbankgesell- 
schafteii«  Bevor  wir  in  den  zwei  folgenden 
Abschnitten  zu  einer  Betrachtung  der  gegen 
das  Gothenburger  System  und  die  Samlagsord- 
nung  gerichteten  Angriffe  und  zu  einer  Beur- 
teilung der  Vorzüge  und  Mängel  des  Systems 
übergehen,  müssen  wir  durch  faktische  Angaben, 
welche  die  Resultate  der  Wirksamkeit  der  Ge- 
sellschaften beleuchten  können,  das  Material 
einer  solchen  Beurteilung  Ifcizubringen  suchen. 

a)  Die  Wirkung  des  Systems  in  Be- 
zug auf  den  Branntweinkonsum.  Exakte 
Angaben  hierüber  beizubringen  ist,  wie  leicht 
verständlich,  unmöglich.  Der  Einfluss  der  Ge- 
sellschaften auf  den  Konsum  bietet  jedenfalls 
nur  eines  von  den  vielen  denselben  beeinflussen- 
den Momenten.  Es  lässt  sich  nicht  sagen,  wie 
gross  der  Branntweinkonsum  gewesen  sein 
würde,  falls  die  Samlagsordnun^  nicht  einge- 
führt worden  wäre.  Man  muss  sich  demgemäss 
mit  Vermutungen  begnügen. 

Indessen  kann  auf  einzelne  positive  Resul- 
tate hingewiesen  werden,  deren  Zusammenhang 
mit  dem  Konsum  schwer  verneint  werden  kann. 
Wenn,  wie  früher  erwähnt,  die  Zeit,  in  welcher 
der  Verkauf  von  Branntwein  vorgeht,  durch  die 
von  den  Gesellschaften  angenommenen  Bestim- 
mungen über  die  in  der  Gesetzgebung  vorge- 
schriebenen Grenzen  hinaus  beschränkt  wird 
und  diese  Beschränkung  eben  an  solchen  Tagen 
und  Tageszeiten  eintritt,  wo  am  häufigsten 
Missbrauch  stattfindet,  so  darf  angenommen 
werden,  dass  der  Einschränkung  in  der  Zeit 
eine  ähnliche,  wenn  auch  vielleicht  nicht  pro- 
portioneile des  Konsums  entsprechen  müsse.  In 
gleicher  Weise  wird  man  die  Berechtigung 
eines     Wahrscheinlichkeitsschlusses     aus     der 


Gothenbiirger  Ausschanksystem 


769 


Zahl  der  Schankstellen  auf  den  Konsnm 
zugeben  müssen.  In  dieser  Hinsicht  können 
beispielsweise  folgende  Daten  erwähnt  werden: 
In  Gothenbnrg  war  1865  die  Anzahl  der  Aas- 
schankgerechtsame  60,  von  denen  40  dem  Belage 
überlassen  waren,  welcher  jedoch  nur  28  be- 
nutzte, so  dass  die  Zahl  der  Ausschankstellen 
bis  auf  43  verringert  wurde.  Von  1897  bis 
1898  wurden  von  61  dem  Bolage  zur  Verfügung 
gestellten  Gerechtsamen  19  unbenutzt.  Während 
in  Schweden  in  den  zehn  Jahren  1878  bis  1888 
im  ganzen  103  private  Ausschankgerechtsame 
eingezogen  wurden,  wurden  diejenigen  der  Ge- 
sellschaften nur  um  29  vermehrt.  Und  wie  für 
Gothenburg,  gilt  es  auch  für  die  übrigen  Städte, 
dass  die  Bolage  ihre  Gerechtsame  nicht  vollauf 
ausnützen.  Ueberhaupt  kam  in  Schweden  im 
Jahre  1878—79  eine  Gerechtsame  auf  12626 
Köpfe  der  Landbevölkerung  und  auf  662  der 
Stfiwitbevölkerung,  im  Jahre  1895 — 96  dagegen 
eine  Gerechtsame  auf  25307  Köpfe  der  Landbe- 
völkerung und  auf  1144  der  Stadtbevölkerung. 

In  den  norwegischen  Städten  sind,  wenn 
ein  Branntweinsamlag  gegründet  worden  ist, 
die  Zahl  der  Schenken  in  der  Regel  bis  auf  die 
Hälfte  verringert.  Im  Jahre  1870  —  dem  Jahre, 
bevor  das  Samlagsgesetz  in  Wirksamkeit  trat 
—  waren  in  den  Städten  501  Lokale  für  Aus- 
schank und  Kleinverkauf,  oder  eins  auf  je  591 
Stadteinwohner;  im  Jahre  1890  war  dagegen 
die  Zahl  solcher  Lokale  bis  auf  227  oder  eins 
auf  1413  Einwohner  heruntergegangen.  In 
Bergen  ist  die  Zahl  der  Ausschanklokale  von 
12  (eins  auf  3400  Einwohner)  im  Jahre  1877 
bis  auf  8  (eins  auf  8200  Einwohner)  im  Jahre 
1898  gesunken. 

Ferner  hat  die  Samlagsordnung  eine  be- 
deutende Erhöhung  des  Branntwein- 
preises hervorgerufen  (in  Norwegen  durch- 
schnittlich bis  auf  das  Doppelt e^  wozu  jedoch 
auch  die  Erhöhung  der  Produktionssteuer  bei- 
getragen hat). 

Während  die  Zahl  der  wegen  Betrunken- 
heit Bestraften  nicht  in  allen  Städten  seit  der 
Einführung  des  Systems  vermindert  ist,  gilt 
dies  dagegen  —  wo,  wie  z.  B.  in  Gothen- 
burg, solche  Untersuchungen  gemacht  worden 
sind  —  für  die  Zahl  derjenigen  wegen  Be- 
trunkenheit Bestraften,  die  ihren  Rausch  in 
Schanklokalen  der  Gesellschaften  geholt  haben. 
Gleichzeitig  ist  es  in  betreff  Gotheuburgs 
erwiesen,  dass  die  Zahl  derer,  die  sich  in  pri- 
vaten Bierhäusem  berauscht  haben,  erheblich 
gestiegen  ist. 

Der  Gesamtkonsum  des  Brannt- 
weins hat  in  Schweden  seit  der  Einführung 
des  Gothenburger  Systems  mehrere  Fluktua- 
tionen durchgemacht.  In  den  Jahren  1865  bis 
1868  war  der  Konsum  im  Sinken  begriffen,  stie^ 
aber  dann  in  der  Periode  1868  bis  1874,  seit 
welchem  letzteren  Jahre  er  wieder  im  Sinken 
ist  (11,8  Liter  k  50%  Tralles  pro  Kopf  der  Be- 
völkerung in  den  Jahren  1871  bis  1875;  7,2 
Liter  im  Jahre  1896).  Und  insofern  der  Um- 
satz der  Gesellschaften  in  den  grössten 
Städten  gleichmässig  und  bedeutend  gesunken 
ist  (in  Stockholm  von  26,56  Liter  pro  Kopf 
im  Jahre  1877—78  auf  15,59  Liter  pro 
Kopf  im  Jahre  1896—97,  in  Gothenburg 
von  24,80  im  Jahre  1878  auf  14,59  im  1898), 
deutet  dies  jedenfalls  darauf  hin,  dass  die  Ge- 

Handwörterbach  der  StaatswiBsenschaften.    Zweite 


Seilschaften  in  der  Ausdehnung,  in  welcher  die- 
selben den  Branntweinhandel  beherrschen,  die 
Mässigkeitsbestrebungen  zu  befördern  gesucht 
haben.  In  Norwegen  ist  seit  der  Einführung 
der  Samlagsordnung  ein  sehr  beträchtliches 
Sinken  des  gesamten  Branntweinkonsums  er- 
weisbar, nämlich  von  5  Liter  k  öO*^/o  Tralles 
pro  Kopf  der  Bevölkerung  im  Jahre  1870  auf 
2,6  Liter  im  Jahre  1898  (das  kleinste  Konsum 
aller  europäischen  Länder).  Zu  gleicher  Zeit 
ist  der  Umsatz  für  eine  Mehrzahl  der  Samlage 
verringert  worden.  Beispielsweise  hatten  15 
vor  1876  gegründete  Samlage  in  demselben 
Jahre  einen  Ihnsatz  von  880  0(X)  Liter,  im  Jahre 
1889  dagegen  von  nur  560000  Liter;  7  Samlage 
von  1876  natten  im  Jahre  1877  einen  Umsatz 
von  707000  Litern  und  im  Jahre  1889  von 
510000  Litern  u.  s.  w.  Für  die  neueren  Sam- 
lage stellt  sich  die  Statistik  in  dieser  Beziehung 
nicht  so  günstig. 

b)  Dass  die  Samlagsordnung  dazu  geführt 
hat,  dass  in  den  Branntweinschenken  mehr  Ord- 
nung und  Anstand  herrschen  als  früher,  wird 
kaum  von  jemandem  verneint  werden  können. 
Hierzu  hat  in  gleichem  Grade  beigetragen,  dass 
der  Betrieb  unter  die  strengen  Ordnungsree^eln 
der  Samlage  gestellt  ist,  —  dass  fest  besoldete 
Vorsteher  und  subordinierte  Beamte  an  die 
Stelle  der  Schankwirte  getreten  silid,  —  und 
dass  die  hellen,  luftigen  und  reinen  Lokale  die 
Branntweinspelunken  abgelöst  haben,  in  deren 
Dunkelheit  und  verpesteter  Luft  so  manche 
Verbrechen  und  so  viel  Demoralisation  Nahrung 
gefunden. 

Hier  darf  auch  angeführt  werden,  dass  die 
Besteuerung  des  vollen  umgesetzten  Quantums 
gesichert  wird,  wogegen  es  sowohl  in  Norwegen 
als  in  Schweden  erweisbar  ist,  dass  eine  bedeu- 
tende Quote  des  durch  die  privaten  Schenk- 
wirte verkauften  Quantums  trotz  aller  Kontrolle 
sich  der  Besteuerung  entzieht. 

c)  Der  Ueberschuss  und  dessenVer- 
weudung.  In  den  18  Jahren  1878  bis  1896 
haben  die  schwedischen  Branntweinsbolage 
als  Ueberschuss  ca.  74  Millionen  Kronen  (1  ifr. 
=  1,125  Reichsmark)  und  die  Stenerabgaben 
mit  berechnet  ca.  110  Millionen  Kronen  an 
öffentliche  Kassen  abgegeben,  und  diese  Summe 
ist,  wie  oben  erklärt,  zum  wesentlichen  Teile 
für  kommunale  Zwecke  angewendet  worden. 
Der  Nettogewinn  der  norwegischen  Sam- 
lage betrug  in  den  Jahren  1872  bis  1897  etwas 
über  20  Millionen  Kronen  und  im  Jahre  1898 
über  2  Millionen  Kronen.  Bis  zum  Gesetze  von 
1894  hatten  die  Samlage  selbst  das  Dispositions- 
recht über  den  ganzen  Ueberschuss  und  dispo- 
nieren noch  einen  Bruchteil  derselben.  So  wur- 
den die  Ueberschüsse  in  den  Jahren  1872  bis 
1897  namentlich  zu  folgenden  Zwecken  ver- 
wandt: 1.  Zur  direkten  Beförderung  der  Mässig- 
keitssache  360000  ICronen.  2.  Zu  kirchlichen 
und  religiösen  Zwecken  685  000  Kronen.  3.  Zu 
Arbeitervereinen,  Kranken-  und  Unterstützungs- 
vereinen. Kinderasylen  und  anderen  Anstalten 
zum  besten  der  Interessen  derjenigen  Klassen, 
die  am  meisten  unter  den  Folgen  der  Trunk- 
sucht leiden,  5002000  Kronen.  4.  Für  Institu- 
tionen und  Veranstaltungen  zur  Hebung  des 
Kultumiveaus  der  Bevölkerung,  wie  z.  B.  Biblio- 
theken, Lesezimmer,  öffentliche  Parkanlagen, 
für  Theater,  Museen,  Gesang-  und  Musikvereine, 

Auflage.    IV.  49 


770 


Gothenbui-ger  Ausschaüksystem 


Badeanstalten  etc.  3314000  Kronen.  5.  Für 
Schulen  und  Unterrichtswesen,  darunter  einbe- 
griffen Hausfleiss-,  Haushaltungs-  und  Zeiehen- 
schuleu,  3559000  Kronen.  6.  Für  Gesundheits- 
wesen (Diakonissenanstalten ,  Krankenhäuser, 
Gymnastiklokal  und  dergleichen)  1209000 
Kronen.  7.  Für  Strassen  und  Strassenbeleuch- 
tung,  Wasserwerke,  Feuerwehr  etc.  4834000 
Kronen.  Wenn  mitunter  angeführt  wird,  dass 
beinahe  die  Hälfte  oder  ^ar  noch  mehr  des 
Ueberschusses  der  norwegischen  Samlage  für 
rein  kommunale  Zwecke  benutzt  werde,  so  ist 
dies  nur  richtig,  wenn  man  hier  auch  solche 
Zwecke  heranzieht,  zu  deren  Förderung  aller- 
dings wohlhabende  Kommunen  öfters  beizutragen 
pflegen,  zu  denen  aber  ohne  Beihilfe  der  Sam- 
lage in  der  betreffenden  Ausdehnung  kaum  Bei- 
träge gegeben  worden  wären. 

5.  Die  wiebtigsten  Angriffspunkte  gegen- 
über dem  Gotbenborger  System  ond  der 
y^Samlags^^ordnung«  Hinsichtlich  dieser  Klagen 
müssen  zwei  generelle  Bemerkungen  gemacht 
werden:  1.  dass  dieselben  im  wesentlichen  von 
den  Totalisten  und  den  Anhängern  der  Verbots- 
gesetze herrühren ;  —  2.  dass  sie  mehr  die  Durch- 
führung des  Systems  in  dem  einzelnen  Lande 
oder  der  einzelnen  Stadt  betreffen  als  das  System 
selbst,  insoweit  es  in  seiner  Reinheit  nach  dem 
Plane  der  Begründer  durchgeführt  gedacht 
wird.  Wir  werden  also  hier  punktweise  die 
wichtigsten  Gründe  anführen,  die  öffentlich  in 
Schrift  oder  Vorträgen  gegen  die  hier  behandelte 
Ordnung  lautgeworden  sind. 

a)  Durch  die  direkte  und  indirekte  Ver- 
knüpfung der  kommunalen  Interessen  mit  dem 
Branntwein  verkauf  habe  man  nur  die  egoistische 
Gewinnsucht  von  einer  kollektiven  ablösen 
lassen.  Durch  das  Interesse  der  Gemeinden  an 
einem  möglichst  grossen  Ueberschuss  würden 
sowohl  die  auf  Einschränkung  des  Branntwein- 
konsums gerichteten  Bestrebungen  der  Gesell- 
schafteu  gehemmt  als  auch  die  Mässigkeitsbe- 
wegung  iiberhaupt  und  speciell  der  Kampf  für 
Einführung  von  Verbotsgesetzen  .  gehindert. 
Femer  rufe  dieses  Verhältnis  bei  den  mit  den 
Stadtvertretungen  gewöhnlich  nahe  verbundenen 
Gesellschaftsdirektionen  einen  demoralisierenden 
Streit  hervor  zwischen  Pflicht  und  Interesse: 
zwischen  der  Pflicht,  die  Trunksucht  zu  be- 
schränken, und  dem  Interesse  der  Kommune, 
den  grösstmöglichsten  Umsatz  zu  erreichen. 

b)  Mit  jenem  Einwurfe  gegen  das  System 
in  nahem  Zusammenhange  steht  derjenige,  dass 
durch  die  Bestreitung  ordinärer  kommunaler 
Ausgaben  mittelst  des  bei  dem  Branntwein- 
handel gewonnenen  Ertrages  die  gewöhnlich 
am  meisten  trinkenden  unteren  Klassen  unver- 
hältnismässig besteuert  werden  zu  Gunsten  der 
besser  situierten. 

c)  Dadurch,  dass  angesehene  Männer  an 
der  Spitze  des  Verkaufs  von  Spirituosen  ge- 
stellt seien,  die  Lokale  verbessert,  Ordnung 
durchgeführt  werde  und  der  Ueberschuss  nütz- 
lichen Zielen  zu  gute  komme,  dass  überhaupt 
der  Branntweinverkauf  in  dieser  Weise  organi- 
siert werde,  dadurch  würde  dem  Branntwein- 
handel ein  falscher  Nimbus  der  Moralität  ge- 
geben, welcher  die  Mässigkeitsbestrebungen 
hindere. 

d)  Da  die  Einnahmen  der  Gesellschaften  so 
bedeutend  seien  und  die  Vorstände  an  Sparsam- 


keit kein  Interesse  hätten,  so  werde  man  hier- 
durch zu  unökonomischera  Betriebe  verleitet. 

e)  Wenn  der  Ausschank,  wie  in  Schweden, 
mit  Speisewirtschaft  verbunden  sei,  so  würde 
auch  der  nüchterne  Arbeiter  in  das  Ausschank- 
lokal hingezogen  und  zum  Trinken  verleitet; 
das  Schamgefühl  beim  Besuchen  solcher  Stellen 
falle  fort  und  die  strengeren  Regeln  bezüglich 
der  Schliessung  der  Lokale  etc.,  welche  einem 
mit  Speisewarenverkaufe  nicht  verbundenen 
Schanklokale  gegenüber  zur  Anwendung  ge- 
bracht werden  könnten,  könnten  hier  nicht  auf- 
recht erhalten  werden.  Dazu  komme,  dass  die 
wohlbesoldeten  Vorsteher  der  Bolagslokale  in 
ungeziemender  Weise  mit  den  privaten  Speise- 
wirten konkurrierten,  bei  denen  starke  Getränke 
nicht  serviert  würden,  wodurch  teilweise  ver- 
ursacht werde,  dass  sowohl  von  Schank  Vor- 
stehern als  von  Speisewirten  schlechtes  Essen 
geliefert  werde. 

Es  ist  zu  bemerken,  dass  mehrere  der  obigen 
Angriffe,  soweit  uns  bekannt,  nur  erhoben  wor- 
den sind  in  der  Schrift:  Die  schwedische 
Arbeiterbewegung  von  1883  und  das 
Gothenburger  Ansschanksystem,  einer 
Inauguraldissertation  der  Tübinger  Universität 
von  einem  sonst  unbekannten  Schweden  Dr. 
Otto  Smith.  Es  ist  diese  Arbeit  eine  ein- 
seitige Parteischrift  im  Streite  zwischen  dem 
bekannten  Spritfabrikanten  L.  0.  Smith  in 
Stockholm  und  den  schwedischen  Branntweins- 
bolagen. 

6.  Abscbliessende  ELritik.  Es  wird 
kaum  über  die  Richtigkeit  des  Grundgedan- 
kens in  dem  hier  erörterten  Systeme  Zweifel 
herrschen  können.  Will  man  den  Vertrieb 
einer  Ware  organisieren,  von  welcher  man 
möglichst  wenig  zu  verkaufen  wünscht,  dann 
lege  man  den  Verkauf  in  die  Hände  solcher 
Personen,  die  von  demselben  keinen  Ver- 
dienst haben  können,  von  denen  es  im  Ge- 
genteil vorauszusetzen  ist,  dass  sie  nach, 
einer  Bescdiränkung  des  Umsatzes  hinstreben. 
Grössere  Zweifel  hat  es  erweckt,  ob  dieser 
Grundgedanke  unter  der  UnvoUkommenheit 
aller  menschlichen  Einrichtungen  sich  in 
der  That  durchfüliren  lässt,  ob  nicht  das 
an  den  grösstmöglichen  Umsatz  geknüpfte 
Interesse,  das  man  zur  Hauptthür  hinaus- 
jagt, im  Laufe  der  Zeit  sich  durch  die 
Hinterthüre  hineinschleichen  werde.  Wo 
der  ganze  Ueberechnss  oder  der  grösste 
Teil  desselben  in  öffentliche  Kassen  fliosst, 
darf  es  nicht  geleugnet  werden,  dass  die 
an  einen  bedeutenden  Umsatz  geknüpften 
fiskalischen  Interessen  zu  gross  sind,  um 
nicht  Bedenken  wach  zu  rufen.  Denn,  wie 
es  von  Seiten  der  noi^vegischen  Regierung 
1883  anerkannt  ward:  »Das  Gedeihen  und 
Aufkommen  der  ganzen  auf  privater  Initia- 
tive und  oftmals  bedeutender  Aufopferung 
von  Zeit  und  Arbeit  beruhenden  Samlage- 
ordnnng  hängt  für  einen  überwiegenden 
Teil  davon  ab,  dass  die  Samlage  organisiert 
und  betrieben  werden  als  freie  und  unab- 
hängige    GeseUsfhaf ten ,    die    ohne    fiskale 


öothenburger  Aussclianksystem 


71 


Rücksichten  für  ihr  philanthropisches  Ziel, 
die  Bekämpf  ung  des  Bran  ntweinübels,  arbeiten 
können.«  Glücklicherweise  gehen  die  bis 
jetzt  gemachten  Erfahningen  nicht  in  der 
Kichtung,  dass  die  fiskalischen  Interessen 
den  Kampf  der  Gesellschaften  gegen  die 
Tinmksncht  gelähmt  haben.  Es  muss  ja 
auch  festgehalten  werden,  dass  das  JRecht 
der  Kommnne  oder  des  Staates,  über  den 
X^eberschuss  zu  disponieren,  keineswegs 
damit  gleichbedeutend  ist,  dass  das  Gescliäft 
selbst  in  die  Hände  der  kommunalen  Be- 
hörden gelegt  werde.  Denn  selbst  bei  der 
jetzigen  Ordnung  behält  man  den  Vorteil, 
dass  diejenigen  Belage,  deivn  Vorstände 
vom  rechten  Geiste  beseelt  sind,  auf  gi'össt- 
mögliche  Einschränkung  des  Trinkens  hin- 
zuwirken sich  aufgefonlert  fühlen  werden, 
ohne  Rücksicht  auf  das  Interesse  der  Kom- 
mune an  dem  grösstmöglichen  Ueberschuss. 

Wenn  überhaupt  die  Totalisten  gegen 
das  Gk)thenbm:ger  System  so  ungünstig  ge- 
stimmt sind,  so  beruht  dies  wesentlich  auf 
einer  Verkennung  des  Zwecks  desselben. 
Hält  man  an  Verbotsgesetzen  fest,  so  ist  es 
ja  klar,  dass  man  überhaupt  gar  keine  Or- 
ganisation des  Vertriebs  desjenigen  Getränkas 
billigen  kann,  dessen  Genuss  man  am  lieb- 
sten ganz  abgeschafft  sähe.  Allein  das 
Gothenburger  System  hat  sich  nie  dafür 
ausgegeben,  ein  System  zu  sein  für  die  Ab- 
schaffung des  Gebrauchs  von  Bi'anntwein ; 
dasselbe  will  nur,  soweit  möglich,  den  Miss- 
brauch vermindern  und  dessen  demorali- 
sierenden Wirkungen  entgegenarbeiten.  Für 
die  Anschauung  mancher  Totalisten  aber 
steht  die  Sache  so,  dass  man,  wenn  man 
die  Missbräuche  florieren  Hesse,  vielleicht 
leichteren  Weges  bis  zur  Abschaffimg  alles 
Branntweinhandels  gelangte  als  dnrch  dessen 
Organisierung  in  den  am  wenigsten  an- 
stüssigen  und  demoraJisierenden  Formen. 
Die  Frage  stellt  sich  für  viele  so,  wie  sie 
auf  dem  internationalen  Antialkoholkongress 
in  Christiania  1890  von  einem  Redner  for- 
muliert wurde:  vSoUen  wir  wünschen,  die 
bestehenden  Verhältnisse  ein  wenig  zu  ver- 
bessern oder  sollen  wir  lieber  wünschen, 
dass  die  üebelstände  dauern  sollen,  um  eine 
vollständige  Reaktion  herbeizuführen?« 

Und  dass  das  System  wenigstens  in 
einigem  Gi-ade  den  Zustand  verbessert  liat, 
w^ird  auch  von  vielen  eifrigen  Mässigkeits- 
freunden  anerkannt.  Namentlich  wird  es 
in  betreff  Norwegens  nicht  bestritten, 
dass  die  Samlagsordnnng  Anteil  hat  an  der 
erheblichen  Vormindenmg  des  Bran  nt  wein - 
konsums,  obgleich  es  streitig  ist,  ein  wie 
grosser  Teil  dieser  Ehre  den  Samiagen  zu- 
zuschreiben sei  und  ein  wie  gi'osser  den 
direkten  Mäßsigkeitsl)estrebungen  und  der 
dadurch  hervorgerufenen  grösseren  Nüchtern- 
heit der  Bevölkerung.  Auch  für  S  c  h  w  e  d  e  n 


wii-d  eine  imparfeiische  Beobachtimg  zu  dem 
Residtato  führen ,  dass  der  Konsum  noch 
grösser,  als  er  jetzt  ist,  sein  würde,  wenn 
(las  System  nicht  eingefülirt  worden 
w^äi*e.  Hieran  reihen  sich  dann  die  oben 
sub  4,  b  hervorgehobeneu,  unstreitig  nfitz- 
lichen  Wirkungen  in  Bezug  auf  die  grössere 
Ortin ung  und  Scliicklichkeit ,  mit  welcher 
das  Trinken  vorgeht,  und  dessen  weniger 
demoralisierenden  Einfluss.  Es  liesse  sich 
allerdings  sagen,  dass  man  mittelst  strenger 
restriktiver  imd  Ordnungsregeln  im  Verein 
mit  scharfer  Kontrolle  ähnliche  Resultate 
liätte  erreichen  können,  ohne  das  System 
im  ganzen  aufzunehmen.  So  lange  man 
aber  nicht  einen  solchen  Versuch  glück- 
lich diuxjhgeführt  hat,  liegen  Gründe  genug 
vor,  um  zu  bezweifeln,  dass  man  derjenigen 
Stütze  zur  Aufrechlhaltimg  solcher  Satzungen 
entbehren  könne,  die  darin  liegt,  dass  die 
Vorsteher  des  Ausschanks  selbst  es  sich 
zur  Aufgabe  machen,  jene  Regeln  durch- 
zuführen. 

Was  schliesslich  den  Ertrag  des  Brannt- 
weinhandels betrifft,  so  muss  es  schon  als 
ein  wesentlicher  Vorteil  angesehen  werden, 
dass  derselbe  nicht  einer  Reihe  von 
reichen  Grosskrügern  zufällt,  deren 
blosse  Existenz  demoralisierend 
wirken  und  deren  Macht  immer 
denMässigkeitsbestrebungen  wirk- 
sam entgegentreten  wird,  und  die 
Erspriesslichkeit  der  Einrichtung  wird  ja 
im  wesentlichen  gerade  dadiu'ch  gesteigert, 
dass,  wie  beim  Gothenburger  System,  der 
Gewinn  zu  gemeinnützigen  Zwecken  ge- 
braucht wird.  Und  am  meisten  befriedigend 
wird  ja  diese  Seite  der  Wirkungen  des 
Systems,  wenn  der  Ueberschuss  in  der  Ab- 
sicht angewendet  wird,  um  teils  direkt  oder 
indirekt  die  Trunksucht  zu  bekämpfen,  teils 
die  von  derselben  geschlagenen  Wunden  zu 
heilen  durch  Aufhelfen  der  geistigen  und 
materiellen  Wohlfalirt  der  Arbeiter. 

Dass  diese  Ordnung,  trotz  aller  Vorteile, 
wie  alles  Menschliche  an  Un Vollkommen- 
heiten leiden  kann,  soll  nicht  in  Abrede 
gestellt  werden,  und  besonders  möchte  es 
wohl  der  Fall  sein,  dass  stärkere  Gründe 
gegen  als  für  die  in  Schweden  bestehende 
Kombination  von  Schenken  und  Speise- 
lokalen für  die  Arbeiterklasse  sprechen. 
Ueberhaupt  liegt  ein  reiches  Feld  offen, 
teils  um  durch  Reformen  das  System  dem 
originären  Gedanken  näher  zu  bringen,  teils 
um  die  nach  dessen  Einführung  gemachton 
Erfalu'ungen  auszunützen.  Es  darf  gesagt 
werden,  dass  in  Ländern,  wo  das  System 
einmal  angenommen  ist  und  woselbst  die- 
jenige Decentralisation  der  Ver- 
w^altung,  der  Gemeingeist  und  die 
wirksame  Arbeit  zum  Frommen  der 
Mässigkeitssache      rege     sind,      was 

49* 


772 


Grotlienburger  Ausschanksystem — Graslin 


unerlässliche  Bedingungen  seiner  Wirksam- 
keit sind,  kaum  davon  die  Rede  wird  sein 
können,  dasselbe  aufzugeben,  wenn  man 
nicht  zu  einem  vollständigen  Verbot  über- 
gehen will.  Die  Auffassung  der  Samlags- 
ordnuug  in  Norwegen  wird  in  einem 
Gutachten  der  Regienmg  von  1883  resü- 
miert, wo  es  heisst,  dass  zu  hoffen  ist,  dass 
die  Institution  der  Samlage  »zur  Einschrän- 
kung des  Trinkübels  ein  wesentlicher  Faktor 
sein  und  bleiben  werde«.  Ein  norwegischer 
Verfasser,  H.  E.  Bern  er,  der  kürzlich  die 
bezüglichen  Fragen  behandelt  hat,  schliesst 
seine  Darstellung  mit  folgenden  Worten, 
welche  auch  der  Verfasser  dieses  Aufsatzes 
unterschreiben  kann:  »Wenc  einmal  die 
Geschichte  der  Mässigkeitsarbeit  zu  schreiben 
sein  wird,  wird  es  gewiss  auch  nicht  ver- 
gessen werden,  dass  jene  »Bestrebungen  der 
Mässigkeitsfreunde  in  der  Samlagsordnung 
ein  vorzügliches,  imserer  Selbstverwaltung 
und  unseren  Zeitverhältnissen  besonders  an- 
gemessenes Organ  gehabt  haben,  durch  wel- 
ches in  Wahrheit  Grosses  ziu*  Beförderung 
des  Glücks  unseres  Volkes  geleistet  wonlen 
ist.«  —  Zum  Schlüsse  sei  noch  eines  Gut- 
achtens eines  Ausländers  aus  der  letzten 
Zeit  gedacht,  nämlich  des  Generaldirektors 
des  schweizerischen  Alkohol monopols,  Herrn 
Milliets  Aeusserung  auf  dem  Antialkohol- 
kongress  in  Christiania  1890,  nach  welcher 
der  Redner  »das  Gothenburger  System  für 
die  beste  bis  jetzt  bekannt  gewordene  Lö- 
sung dieser  Fragen  hielt.  —  Die  Ausstel- 
lungen, welche  an  diesem  System  vom 
Standpunkt  der  Wirtschaftspolizei  heute  ge- 
macht wurden,  sind  von  untergeordneter 
Beileutung  und  vermögen  bei  keinem  billig 
Denkenden  den  Eindruck  zu  verwischen, 
dass  das  Svstem  im  Rahmen  seines  natür- 
liehen  Geltungsgebietes  Grosses  geleistet 
hat  und  noch  leistet«. 

Litteratnr:  SigfHed  Wieselgren,  Göieborgs- 
systemet,  des  nppkomsf,  soften  och  rerkningar 
(Das  Gothenburger  System,  dessen  Ursprung, 
Ziele  und  Wirkungen),  Gothenburg  1881.  — 
IßeTselbCf  trän  stridenia  om  svenska  brän- 
vinslagstiftningen  ISSo — 1885  (Aus  den  Kämpfen 
über  die  schwedische  Branntweingesetzgebung 
1836—1885),  Gothenburg  1885.  —  Derselbe, 
Resxdtats  du  Systh.me  de  Gothenbourg ;  rapport 
presente  au  III  ^  congres  international  contre 
Vabtis  des  boissons  alcooliques  d  Christiania  en 
1890;  avec  statistiques  j^isqu'en  1897  (Stockholm 
1898).  Die  Diskussion  über  dieses  Thema  auj 
genanntem  Kongress  siehe  in  dessen  gedruckten 
Verhandlungen  S.  64 — 67  und  lO.i—116.  — 
Otto  Stnithf  Die  schwedische  Arbeiterbeiregung 
von  1888  und  das  Gothenburger  Ausschank»ys- 
tem,  Tübingen  1886.  —  I'orhajidlingeme  paa 
det  nordiske  nationalökonomiskc  Mödc  i  Kjöben- 
havn  1888  (Die  Verhandlungen  auf  der  nordi- 
schen natio7ialÖkonomische7i  Versammlung  zu 
Kopenhagen  1888),  S.  £14 — ^50  —  H.  E.  JBer- 
ner,  Bränderinsbolagene  i  Sorge  (Die  Brannt- 


weinsamlage in  Nonpegen)  in  nXordisk  tidskriß 
für  retenskap,  konst  och  iiidustrin  Jahrg.  1891, 
S.  S04ff.  —  P.  Rygh,  Samlags-Ordningen  og 
dens  Betydning  for  Aedrueligheds-Arbeidcti  vort 
Land  og  särlig  i  Kristiania  (Die  Samlags-Ord- 
nujig  und  die  Bedeutung  derselben  für  die 
Mässigkeitsbe^trebungen  in  unserem  Lande  und 
besonders  in  Christiania),  Christiania  1899.  — 
Gute  und  ziemlich  vollständige  LittercUurüber' 
sieht  in :  J".  Rowntree  und  A,  Sherivell,  The 
Temperance  problem  and  social  reform.  (Third 
edition  London  1899),  S.  694—597. 

Christiania.     Bredo  MargensHeme, 


Gonge,  William  M., 

geboren  am  10.  XI.  1796  in  Philadelphia  (Penn- 
sylvanien),  erhielt  schon  als  junger  Mann  eine 
Anstellung  in  der  Goldprüf ungsabteilung  des 
Schatzmeisteramtes  zu  Washington,  entsagte  im 
30.  Jahre  der  Beamtenkarriere  und  btudierte 
praktisch  und  theoretisch  den  Geld-  und  Noten- 
verkehr der  Vereinigten  Staaten  sowie  die  Ge- 
schichte der  amerikanischen  Banken.  Gonge 
starb  1886  in  Philadelphia. 

Er  veröffentlichte  an  Staats  wissenschaftlichen 
Werken  in  Buchform: 

A  Short  history  of  paper-money  and  banking 
in  the  United  States,  including  an  account  of 
proviucial  and  Continental  paper  money,  Phila- 
delphia 1838;  2.  Aufl  1842;  3.  Aufl.  1853;  Aus- 
gabe für  England  unter  dem  Titel:  The  curse 
of  paper  money  and  banking,  or  a  short  history 
of  banking  in  America,  London  1833;  2.  Aus- 
gabe für  England,  besorgt  von  Cobbett,  1845. 
(Der  geschieh tlicbe  Teil  urafasst  die  Jahre 
1680  1832.)  An  inquiry  into  the  expediency 
of  dispensing  with  bank  agency  and  bank  paper 
in  the  fisciU  concems  of  the  United  States, 
Philadelphia  1837.  —  History  of  tbe  System  of 
banking  in  the  United  States,  Philadelphia  1839. 
—  The  fiscal  history  of  Texas.  Embraciug  an 
account  of  its  revenucs,  debts  and  currency, 
from  the  comraencement  of  the  Revolution  in 
1834  to  1851  -  52,  PhUadelphia  1862. 

Vergl.  über  Gonge:  Walker,  Political 
economy,  London  1833,  S.  180.  —  Nouveau  dic- 
tionnaire  d'economie  polit.,  Bd.  I,  Paris  1891, 
S.  1105. 

lApperU 


Oraslin,  Jean  Joseph  Louis, 

geboren  zu  Tours  1727,  wurde  Parlamentsadvo- 
kat in  Paris  und  starb  1790  als  königlicher 
Generalpächter  in  Nantes. 

Seine  durch  das  Studium  der  Vorläufer 
Adam  Smiths  angeregten  Forschnngen  bestimm- 
ten ihn,  sich  von  den  Lehren  der  physiokrati- 
schen  Schule  abzuwenden  und  seine  wirtschaft- 
lichen Anschauungen  im  Geiste  des  späteren 
Industriesystems  auszubilden. 

Seine  Theorie  von  der  Bildung  des  National- 
reichtums besteht,  im  Gegensatze  zu  der  Quesnays 
und  seiner  Schule,  in  dem  Postulat,  dass  Industrie 
einschliesslich  Landwirtschaft,  Handel  und  Ver- 


Graslin — Graumana 


773 


kehr  in  ihrem  ZosaiDmenwirken  die  Faktoren 
zur  Bildung  des  Nationalreichtnms  ausmachen. 
Die  produzierende  Arbeit  ist  ihm  also,  wie  Adam 
Smith,  die  Mutter  des  Reichtums,  und  es  gilt 
als  erwiesen,  dass  Graslin  mit  dieser  Theorie 
nicht  ein  Nachbeter  des  grossen  Schotten,  der 
erst  1776  seinen  „Wealth  of  nations"  veröffent- 
lichte, sondern  dessen  Vorgänger  gewesen  ist. 

Er  veröffentlichte  an  staatswissenscfaaf  tlichen 
Schriften  in  Buchform: 

Essay  analytique  sur  la  richesse  et  sur 
Fimpot,  oü  l'ou  refute  la  nouvelle  doctrine  eco- 
nomique,  qui  a  fourni  ä  la  Societe  royale  d^agri- 
culture  de  Limoges;  les  principes  d'un  pro- 
^amme  quelle  a  publie  sur  Tenet  des  impöts 
mdirects,  Londres  (recte  Paris)  1767  (erschien 
anonym).  [Preisbewerbungsschrift,  die  unge- 
krönt blieb,  weil  sie  nicht  der  physiokratischen 
Doktrin  huldigte.]  —  Correspondance  cöntradic- 
toire  avec  l'abb^  Baudeau  sur  un  des  principes 
fondamentaux  des  ccouomistes,  Paris  1779  (Ab- 
fertigung seines  wirtschaftlichen  Gegners,  des 
Oekonomisten  Baudeau. 

Vergl.  über  Graslin:  Ephemerides  du 
citoyen,  Teil  X,  hrsg.  von  Abt  N.  Baudeau, 
Pans  1768.  —  Er  seh  und  Gruber,  Encyklo- 
pädie,  I.  Sektion,  Teil  88,  Leipzig  1868,  S.  53. 
—  Nouveau  dictionnaire  d'economie  polit.,  vol. 
I,  Paris  1891,  S.  1108. 

JLippert. 


Graswinckel,  Dirk  Janszoon, 

als  Spross  einer  Patricierfamilie  geboren  1600 
zu  Delft,  studierte  in  Leiden,  wurde  Fiskalan- 
walt  der  holländischen  Staatsdomänen,  dann 
Sekretär  der  zur  Schlichtung  der  Zwistigkeiten 
zwischen  den  spanischen  Niederlanden  und  den 
Generalstaaten  eingesetzten  Kammer  und  starb 
am  12.  X.  (nach  Bayle,  s.  u.,  am  16.  X.)  1666 
zu  Mecheln. 

Graswinckel  war  in  wirtschaftlichen  Fragen 
erklärter  Freihändler  und  als  solcher  ein  Geg- 
ner des  Merkantilsystems.  Die  freie  Bewegung 
im  Komhandel  durfte  nach  ihm  nur  in  Zeiten 
des  Misswachses,  in  Teuerungs-  und  Hunger- 
jahren durch  Aufhebung  der  Getreideausfuhr 
beschränkt  werden;  er  war  ein  Gegner  des 
Komwuchers,  verteidigte  sonst  aber  die  freie 
Entwickelung  des  Zinsfusses  und  trat  mit  Ent- 
schiedenheit für  die  Freiheit  des  Meeres  und 
der  holländischen  Hochseefischerei  ein;  in 
staatspolitischen  Fragen  war  er  eingefleischter, 
die  majestas  principis  schrankenlos  anerkennen- 
der Absolutist. 

Graswinckel  veröffentlichte  von  Staats  wis- 
senschaftlichen Schriften  in  Buchform: 

Liberias  veneta,  sive  Venetorum  in  se  ac 
suos  imperandi  jus  assertum,  Leiden  1634.  — 
Dissertatiü  de  jure  majestatis,  Haag  1642.  — 
Dissertatio  de  jure  praecedentiae  iater  rempub- 
iicam  Venetam  et  ducem  Sabaudiae,  Leiden  1644. 
—  Placcaten,  ordonnantien  ende  reglementen 
op't  stuck  van  de  lijf-tocht,  sulcx  (zulks)  als  de 
selve  van  outs  tot  herwaerts  toe  op  alle  voor- 
vallen  van  hongers-noot  en  dierentijdt  beraerat 
zijn  ende  ghedaen  publiceeren,  ebenda  1651, 
2  Teile  (Sammlung  sämtlicher  in  den  Jahren 


1501—1634  zu  Teuerungszeiten  erlassenen  Korn- 
gesetze und  Getreideansfuhrverbote  Hollands. 
Holländischer  Text  mit  lateinischer  Ueber- 
setzung.  Teil  II  führt  den  Titel:  Aen- 
merckinghen  ende  betractinghen  op  de  placcaten, 
ordonnantien  ende  reglementen  etc.  over't  stuck 
van  kooren  ende  greynen.  (In  diesen  Anmer- 
kungen begründet  Graswinckel  die  Steigerung 
der  Getreidepreise  durch  die  Geldentwertung, 
deren  Ursache  er  in  dem  damaligen  starken 
westindischen  Edelmetallimport  erblickt,  welcher 
die  steigende  Tendenz  des  Warenwertes  im 
Gegensatz  zu  der  sinkenden  des  Geldwertes  her- 
vorgerufen habe.)  —  Maris  liberi  vindiciae  ad- 
yersus  P.  B.  Burgum,  Haag  1652.  —  Maris 
liberi  vindiciae  adversus  G.  Welwodum,  Haag 
1653.  —  Stricturae  adversus  Seldenum,  Amster- 
dam 1653.  (Vorstehende  drei  Streitschriften, 
welche  die  Freiheit  des  Meeres  gegen  die  Ver- 
treter des  durch  Zölle  gebundenen  Meeres  (mare 
clausum)  verteidigen,  richteten  sich  hauptsäch- 
lich gegen  den  Genueser  Burgus  und  den  Eng- 
länder Welwod.  Graswinckel  verwarf  principiell 
jedes  maritime  Hoheitsrecht  und  heischte  sowohl 
ünbehelligung  des  holländischen  Heringsfanges 
in  den  britischen  Gewässern  als  freie  Bewegung 
des  niederländischen  Handelsverkehrs  mit  In- 
dien.) —  Stricturae  ad  censuram  Joannis  ä  Fel- 
den ad  libros  Hugonis  Grotii  de  jure  belli  ac 
pacis,  Amsterdam  1654.  —  Princeps  pacis,  Haag 
1655.  (Zwei  Streitschriften,  welche  die  völker- 
rechtlichen Theorieen  von  Hugo  Grotius  gegen 
die  Angriffe  des  Helmstädter  Professors  Job. 
V.  Felden  verteidigen.)  —  Nasporinge  van  het 
recht  van  de  opperste  macht,  toekomende  de 
staten  van  Holland  en  West-Vriesland ,  2  Bde., 
Rotterdam  1667. 

Graswinckel  war  ferner  durch  kleine  Bei- 
träge beteiligt  an  den  Schriften :  Boxhoru,  Dis- 
sertatio de  trapezitis,  vulgo  Longobardis,  Leiden 
1637,  und  J.  Maresii,  ad  Suerium  dissertatio 
epistolica  de  trapezitis,  ebenda  1641. 

Vergl.  über  Graswinckel:  van  Loon, 
Beschrijving  der  Nederlandsche  historiepennin- 
gen,  1581-1713,  Bd.  II,  Haag  17^5,  S.  234  ff.  — 
von  Schlözer,  Staatsgelehrsamkeit ,  Bd.  I, 
Göttingen  1793,  S.  86.  —  von  Mohl,  Ge- 
schichte und  Litteratur  der  Staatswissenschaf- 
ten, Bd.  I,  Erlangen  1855,  S.  234.  —  Laspey- 
res,  Geschichte  der  volkswirtschaftlichen  An- 
schauungen der  Niederländer,  Leipzig  1863, 
S.  12  und  201  ff.  —  Ersch  und  Gruber,  Ency- 
klopädie,  I.  Sektion,  Teil  88.  ebenda  1868, 
S.  84 ff.  —  F.  S.  Müller,  Mare  clausum.  Bij- 
drage  tof  de  geschiedenis  der  rivaliteit  van 
Engeland  en  Nederland  in  de  XVII  e  eeuw, 
Amsterdam  1872.  —  Eoscher.  Geschichte  der 
Nat.,  S.  223. 

LlpperL 


Graumann,  Johann  Philipp, 

geboren  1689  zu  Braunschweig,  wurde  Kaufmann 
und  erwarb  sich  als  solcher  erst  in  Deutschland, 
dann  in  Holland,  wo  er  ein  Handelsgeschäft 
betrieb,  gründliche  Kenntnisse  von  dem  Geld- 
und  Arbitragewesen,  welcher  er  seine  Verwen- 
dung im  Staatsdienste  verdankte.    Als  braun- 


774 


Grraiiinaiin — Graiuit 


schweig-lüneburgischer  Kommerzkommissar  ar- 
beitete er  ein  neues  für  ganz  Deutschland  mit 
Berücksichtigung  von  dessen  Nachbarstaaten 
bestimmtes  Münzsystem  aus,  was  er  1749  unter 
dem  Titel:  Abdruck  von  einem  Schreiben  etc. 
(s.  u.)  veröffentlichte.  1750,  ein  Jahr  nach  Ein- 
führung seines  neuen  Münzsystems  in  Braun- 
schweig, berief  ihn  Friedrich  II.  als  Finanz- 
und  Domänenrat  und  Generaldirektor  des  Münz- 
wesens nach  Berlin.  An  dieser  Stelle  leitete  er 
die  Einführung  des  von  ihm  berechneten  und 
als  preussisch  Kourant  in  den  Verkehr  treten- 
den neuen  preussischen  Münzfusses,  wonach  an- 
statt zu  12  Thaler  oder  18  Gulden,  wie  nach  dem 
Leipziger  Fusse  gerechnet  wurde,  zu  14  Thaler 
oder  21  Gulden  die  Mark  feines  Silber  auszu- 
prägen war.  Die  wichtigste  Folge  dieser  Neue- 
rung bestand  in  der  Schaffung  einer  Münzpari- 
tät mit  der  Valuta  des  Auslandes,  welche  zu- 
nächst die  Einschränkung  desjenigen  Arbitrage- 
verkehrs herbeiführte,  der  aus  der  vorteilhaften 
Bezugsweise  des  bisherigen  wohlfeilen  deutschen 
Silbers  sich  herausgebildet  hatte.  Graumann 
starb  1762,  als  Vater  des  „Graumannschen  Münz- 
fusses", in  Berlin. 

Graumann  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform: 

Niederel bischer  Arbitragetraktat  oder  der 
Stadt  Hamburg  in-  und  ausländischer  neu 
blühender  Wechsel,  Hamburg  1730.  —  Ausführ- 
liche Geldtabellen  zum  Nutzen  der  Kaufleute, 
2  Teile,  Hamburg  1734.  —  Abdruck  von  einem 
Schreiben,  die  deutsche  und  anderer  Völker 
Münzverfassung  und  insonderheit  die  hochfürst- 
lich braunseh  weigische  Münze  betreftend,  ohne 
Ort  (Braunschweig)  1749  (erschien  anonym); 
dasselbe,  in  französischer  Uebersetzung ,  Berlin 
1752.  —  Vernünftige  Verteidigung  des  Schrei- 
bens, die  teutsclie  Münz  Verfassung  betreffend. 
Nebst  Anhang,  Berlin  1752  (Widerlegung  der 
1751  gegen  seinen  „Abdruck  von  einem  Schrei- 
ben'* etc.  unter  dem  Titel :  „Gründliche  Prüfung 
des  ....  Schreibens"  etc.  veröflfentlichten  Streit- 
schrift.) —  Tabellen  zur  Ausrechnung  des  Sil- 
bers und  Goldes  nach  dem  Gehalte,  Berlin  1761. 
—  Gesammel^^  Briefe  von  dem  Gelde,  von  dem 
Wechsel  und  dessen  Kurs,  von  der  Proportion 
zwischen  Gold  und  Silber,  von  dem  Pari  des 
Geldes  und  den  Münzgesetzen  verschiedener 
Völker  etc.  2  Teile,  Berlin  1762;  dasselbe  in 
französischer  Uebersetzung  Paris  1788.  —  Licht 
des  Kaufmanns,  bestehend  in  Wechsel arbitrage- 
tabellen,  einer  ausführlichen  Nachricht  von  den 
Münzen-  und  Wechselgeldern  der  vornehmsten 
Handelsstädte  von  Europa  etc.,  Berlin  1782. 

Vergl.  über  Graumann:  Mensel,  Lexi- 
kon der  vom  Jahr  1750  bis  18(X)  verstorbenen 
deutschen  Schriftsteller,  Bd.  IV,  Berlin  1808, 
S.  333.  —  Biographie  universelle.  Nouvelle 
edition,  Teil  XVlI.,  Paris  1857,  S.  338.  — 
Er  seh  und  Gruber,  Encvklopädie .  I.  Sek- 
tion. Teil  88,  Leipzig  1868,  S.  220.  —  Ro- 
scher.  Geschichte  der  Nat.,  S.  420.  —  Allge- 
meine deutsehe  Biographie,  Bd.  IX,  Leipzig 
1879.  S.  605. 

JLIppert, 


Oraunt,  John, 

geb.  am  25.  IV.  1620  zu  London,  anfänglich 
Tuchkleinhändler,  seit  16o0  Musiklehrer  am 
Gresham  College,  seit  1666  Kommissar  für  die 
Wasserversorgung  Londons,  gest.  als  Mitglied 
der  Royal  Society  am  18.  IV.  1674  in  London. 

Durch  die  von  ihm  angestellten  Beobach- 
tungen über  die  Bewegungsverhältnisse  der  Be- 
völkerung Londons  und  dessen  Umgebung  hat 
Graunt  den  Weg  zur  Ermittelung  der  Gesetz- 
mässigkeit einer  Anzahl  populationistischer  Vor- 
fänge  gezeigt,  und  dieser  der  Methodik  und 
ystematik  allerdings  entbehrenden  Pionierar- 
beit wegen  gebührt  ihm  das  Prädikat  des 
Vaters  der  politischen  Arithmetik.  Das  Mate- 
rial zu  seinen  Forschungen  boten  ihm  die  Ge- 
burts-  und  Totenlisten,  die  Tauf-  und  Trauungs- 
registep  Londons,  die  fast  durchgängig  sich  in 
einem  Zustande  der  beklagenswertesten  Unzu- 
verlässigkeit  befanden.  Vorzugsweise  schöpfte 
Graunt  seine  Erhebungen  aus  den  Geburts-  und 
Totenlisten ,  welche  letzteren  seit  1629  von 
Totenbeschauerinnen  geführt  wurden,  welche 
auch  Alter  und  Todesursache  der  Gestorbenen 
nach  Gutdünken  registrierten.  Diese  Quellen 
benutzte  er  für  die  Jahre  1603  bis  1628  lücken- 
weise, für  1629  bis  1661  in  regelmässig^er  Auf- 
einanderfolge. Nach  seiner  Mortalitätstafel 
starben  von  100  Neugeborenen  vor  Ablauf  der 
ersten  sechs  Jahre  36,  in  den  darauf  folgenden 
5  Jahrzehnten  24,  15,  9,  6,  5  etc.,  so  dass  im 
56sten  Altersjahre  nur  noch  6  sich  am  Leben 
befinden  werden.  Diese  abnorme  Sterbenswahr- 
scheinlichkeit für  London  im  17.  Jahrhundert 
übertrifft  diejenige  aus  der  zweiten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  um  das  Sechsfache.  Die  un- 
gesunden Wohnungsverhältnisse  der  Graunt- 
schen  Zeit  können  allein  die  Erklärung  für 
diese  gewaltige  Differenz  zwischen  der  Mortali- 
tät des  17.  und  der  des  19.  Jahrhunderts  nicht 
abgeben,  und  da  nach  Graunts  eigenen  Berech- 
nungen kein  Rückgang,  sondern  ein  fortwähren- 
des starkes  Anwachsen  der  Bevölkerung  Lon- 
dons, und  zwar  nicht  nur  durch  Reproduktion, 
sondern  auch  durch  Einwanderung  stattfand, 
offenbart  sich  als  arithmetische  Fehlerquelle  der 
Grauntschen  Zahlen  der  dem  damaligen  primi- 
tiven Statistiker  noch  nicht  zum  Bewusstsein 
gekommene  erhebliche  Unterschied  zwischen 
Operationen  mit  einer  fluktuierenden  und  einer 
konsttanten  Bevölkerung.  Hätten  seine  Berech- 
nungen nur  auf  der  letzteren  gefusst,  würde  er 
aus  den  Totenlisten,  trotz  ihrer  Fehlerhaftigkeit, 
viel  niedrigere  mittlere  Mortolitätszüfern  ge- 
wonnen hÄben.  Von  seinen  sonstigen  Erhe- 
bungen ist  das  Verhältnis  der  Knaben-  zu  den 
Mädchengeburten  =  14  :  13  für  London  und 
15  :  14  für  die  Landgemeinden  in  der  Nähe 
Londons  als  zutreffend  anzunehmen,  während 
die  Folgerungen,  welche  er  aus  den  Todesur- 
sachen zieht,  da  diese  nicht  einmal  von  Medi- 
zinern festgestellt  waren,  selbstredend  als  ima- 
ginär bezeichnet  werden  müssen. 

Graunts  vorstehend  besprochenes  Werk 
führt  folgenden  Titel:  Natural  and  political 
observations  upon  the  bills  of  mortality ;  chiefly 
with  reference  to  the  goverument,  religion, 
trade,  growth,  air,  diseases,  etc  of  the  city  of 
London,  London  1662 ;  dasselbe  2.  Aufl.,  London 
1664;  dasselbe,   Abdruck  der  I.  Aufl.,  London 


Graunt — Grenzniitzen 


775 


1665.  (Mit  diesem  Abdruck  hat  es  folgende 
Bewandnis:  Graant  hatte  die  erste  Auflage 
seiner  Schrift  1662  der  Royal  Society  zur  Prü- 
fung eingereicht,  worauf  in  seiner  Sitzung  vom 
30.  VI.  1665  „the  Council  of  the  Royal  Society 
ordered,  that  the  book  should  be  printed  for 
the  use  of  its  members"),  und  infolge  dieses 
Beschlusses  fiel  das  Erscheinungsjahr  besagten 
Abdruckes  der  I.  Aufl.  mit  dem  der  8.  Aufl. 
(London  1665)  und  der  4.  Aufl.  (Oxford  1665) 
zusammen.  Nach  Graunts  Tode  erschien  teil- 
weise umgearbeitet  und  herausgegeben  von 
William  Petty  die  5.  Aufl.  London  1676.  Ein 
Neudruck  der  „London  bills  of  mortality"  aus 
den  ,.Observations"  befindet  sich  in  dem  von* 
Heberden  veranstalteten  Sammelwerk :  Collection 
of  the  yearly  bills  of  mortality  from  1657  to 
1758,  London  1759.  —  Eine  deutsche  Ueber- 
setzung  der  „Observations**  führt  folgenden 
Titel:  Natürliche  und  politische  Anmerkungen 
über  die  Totenlisten  der  Stadt  London,  ftirnehm- 
lich  ihre  Regierung,  Religion,  Gewerbe,  Luft, 
Krankheiten  und  besondere  Veränderungen  be- 
trefi'end;  anfangs  in  englischer  Sprache  von 
John  Graunt,  nun  aber  ins  Deutsche  übersetzt 
um  des  grossen  Nutzen  willens,  der  dem  ge- 
meinen Wesen  Deutschlands  insgemein  und 
jedes  Ortes  insonderheit  aus  solchen  Totenre- 
gistem  erwachsen  kann,  Leipzig  1702. 


Vgl.  über  Graunt:  Halley,  An  estimate  of 
the  degrees  of  the  mortalit^^  of  mankind,  etc. 
(in  „Philosophical  Transactions  of  the  Royal 
Society'S  Vol.  XVII),  London  1693,  S.  596  [An- 
fechtung der  Autorschaft  Graunts  an  den  „Ob- 
servations"  zu  Gunsten  Pettys].  —  W.  Maitland, 
The  history  of  London,  etc.,  London  1781),  S. 
291.  —  Süssmilch,  Die  göttliche  Ordnung  etc., 
L  Aufl.,  Berlin  1741,  Teil  I.  S.  57,  —  W.  Petty, 
Another  essay  in  politicÄl  arithmetic,  conceming 
the  growth  of  the  city  of  London,  London  1759. 

—  Schlözer,  Theorie  der  Statistik,  Teil  I  (einz.), 
Göttingen  1804,  §  15.  —  Pepys,  Memoirs,  Bd. 
II,  London  1825.  —  Evelyn,  Memoirs,  Bd.  I, 
London  1827.  [Ebenfalls  Anfechtung  der  Autor- 
schaft Graunts  an  den  „Observatious"  zu  Guns- 
ten Pettys.]  —  Ersch  und  Gruber,  Encvklopädie, 
Sektion  I,  Teil  88,  Leipzig  1868,  S.*^227if.  - 
Knapp ,  Theorie  des  Bevölkerungswechsels, 
Braunschweig  1874,  S.  57  u.  121.  —  Martin, 
Births,  deaths,  and  marriages  etc.  (in  „Journal 
of  the  Statistical-  Society",  Bd.  XL),  London 
1877,  S.  594.  (Graunt  wird  darin  als  „founder 
of  registration"  gefeiert.)  —  John.  Geschichte 
der  Statistik,  Bd.  I,  Stuttgart  1884,  S.  161  ff. 
u.  226  ff.  —  Dictionary  of  national  biography, 
Bd.  XXII,  London  1890,  S.  427  ff.  —  Wester- 
gaard,  Theorie  der  Statistik,  Jena  1890,  S.  252  ff. 
~  H.  d.  St.,  1.  Aufl.,  Bd.  IV,  1892,   S.  105 f. 

—  Palgrave,  Dictionary  of  politic.  economy,  Bd. 
II,  London  1896,  S.  257.  —  Ch.  H.  HuU,  Graunt 
or  Petty?  (Political  Science  Quarterly,  vol.  XI, 
Nr.  1),  Boston  1896. 

Lippert, 


Grenznutzen. 

1.  Die  höchste  Ausnützunj^  der  wirtschaft- 
lichen Güter  als  Ziel  der  Wirtschaft.  2.  Die 
elementare  Erscheinung  des  Grenznutzens.  3. 
Die  elementare  Erscheinung  des  wirtschaftlichen 
Wertes.  4.  Nutzen  und  Arbeitsunlust.  5.  Die 
Zurechnung  des  Nntzertrages.  6.  Ertragszu- 
rechnung für  Land,  Kapital  und  Arbeit.  7.  Die 
Kosten  als  Erscheinung  des  Grenznutzens.  8. 
Das  Preisproblem.  9.  Tauschwert  und  Grenz- 
nutzen. 10.  Gesellschaftlicher  Greuznutzen, 
Aufgaben  der  Verwaltung  und  Steuergerechtig- 
keit. 

Im  folgenden  sollen  die  Regeln  ent- 
wickelt werden,  nach  denen  man  den  wirt- 
schaftlichen Nutzen  ordnet  und  rechnet.  Auf 
(iiesen  Regeln  beruht  eine  moderne,  haupt- 
sächlich an  Jevons  und  Menger  anknüpfende 
Theorie  des  Wertes  und  Preises,  die  von 
dem  gemeinsamen  Ausgangspunkte  des  Grenz- 
nutzens, allerdings  von  einzelnen  Autoren 
verschieden  w^eit  geführt,  die  klassische 
Theorie  vom  Grund  aus  umzugestalten  sucht. 
Die  Probleme  des  Wertes  und  Preises  fin- 
den im  Handwörterbuch  ihre  ausführliche 
Bearbeitung  an  anderer  Stelle.  Hier  wird  auf 
dieselben  nur  so  weit  eingegangen,  als  es 
gilt,  die  Grundlagen  ihi*er  Lösung  in  der 
Ordnung  und  Rechnung  des  Nutzens  nach- 
zuweisen. 

1.  Die  höchste  Ausnutzung  der  wirt- 
schaftlichen Güter  als  Ziel  der  Wirt- 
schaft, Dem  Verlangen  der  Menschen  nach 
leiblicher  und  geistiger  Wohlfahrt  tritt  nur 
zu  häufig  ein  eigentümliches  Hindernis  darin 
entgegen,  dass  sie  die  erforderten  äusseren 
Hilfsmittel  in  der  Natur  überlis^upt  nicht 
oder  nicht  in  genügender  Menge  oder  doch 
nicht  gesichert  vorfinden.  Hierdurch  wird 
die  Sorge  angeregt,  den  dürftigen  Besitz 
gegen  Verderb  und  Verlust  zu  sichern  und 
zugleich  thunlichst  sparsam  zu  verwenden, 
d.  h.  mit  möglichster  Verwertung  seines 
Nutzgehaltes  und  mit  allseitig  kluger  Ein- 
schränkung der  Bedürfnisbefriedigungen  auf 
das  Mass  der  gegebenen  Mittel.  Nament- 
lich aber  eröffnet  die  Erfahrung  zunehmend 
den  Weg,  den  Nutzen  dadm:ch  zu  erhöhen, 
dass  man  die  Güterbestände  durch  produk- 
tives Eingreifen  mehrt,  wobei  man  zugleich 
neue  wirksamere  Güterformen  zu  schaffen 
lernt.  Nach  und  nach  greift  die  wirtschaft- 
liche Yorsorge  immer  weiter  aus,  die  Pro- 
duktion wächst  zuletzt  bis  ins  Ungeheure, 
indem  sie  die  natürlichen  Bedingungen  der 
Gilterhervorbringmig  in  immer  entferntere 
Ordnungen  zurück  erkennt  und  dui-ch  Kul- 
turmittel sichert  und  ergänzt  Indem  die 
Menschenzahl  zunimmt  imd  die  ersten  ein- 
fachen Formen  des  Zusammenlebens  ge- 
sprengt werden,  wird  bei  den  wirtschaft- 
lichen Gütern  die  Frage  des  Eigentums  auf- 
geworfen, neben  der  fruchtbaren  Arbeit 
wird  der  Kampf  um  den  Besitz  angeregt. 


776 


Grenznutzeii 


Dazu  tritt  der  Kampf  um  die  i)ei'söiiliche 
Freiheit.  Die  Person  als  Trägerin  der  wich- 
tigsten wirtschaftlichen  Krait  ist  in  die 
Kreise  der  Wirtschaft  vom  Anfang  an  hin- 
eingezogen; gewaltthätige  Zeitalter  unter- 
werfen den  Besiegten  wie  eine  Sache  als 
Sklaven  seinem  Besieger.  Später,  nachdem 
die  personliche  Freiheit  selber  imantastbar 
geworden  ist,  bleibt  doch  der  Kampf  um 
die  Freiheit  des  Erwerbes,  indem  man  die 
eigene  Arbeit  thiinlichst  zu  verwerten, 
fremde  dagegen  auszubeuten  oder  zurückzu- 
drängen bemüht  ist.  Das  Streben  nach  wissen- 
schaiftlicher  Erweiterung  der  wirtschaftlichen 
Kenntnisse,  nach  Verbesserung  von  Wirt- 
schaftsrecht und  Sitte  schafft  andere  und  gross- 
artige Aufgaben.  Dabei  wird  die  Thätigkeit 
des  einzelnen  mehr  imd  mehr  durch  die 
Kraft  der  Vereinigung  und  die  Politik  der 
Gemeinwesen  unterstützt,  und  neben  der 
wirtschaftlichen  Einzelthätigkeit  entwickeln 
sich  gesellschaftliche  Organisationen  und 
volkswirtschaftliche  Verwaltung. 

So  sehr  sich  hiermit  die  Kräfte  und 
Wege  der  Wirtschaft  ausdehnen  und  so 
heftig  sich  auch  die  Einzel  Interessen  kreuzen 
und  bekämpfen  mögen,  so  bleibt  doch  das 
Ziel  jeder  Einzelwu-tschaft  oder  gesclilossenen 
Wiilschaftsgruppe  unbcrfihrt  dasselbe:  die 
Wohlfahrt  derer,  für  die  sie  zu  sorgen 
haben,  dadurch  zu  befördern,  dass  man 
ihren  Besitz  an  wirtschaftlichen  Gütern 
sichert,  spart  und  mehi't.  Aus  jenen  Gütern, 
die  die  Natur  nicht  im  gesicherten  Ueber- 
fluss  zur  Verfügung  stellt  und  die  man  da- 
her nicht  ganz  frei  und  voll  geniessen  kann, 
wenigstens  möglichst  hohen  Nutzen  zu  ge- 
winnen, ist  die  Aufgabe  der  Wirtschaft.  Je 
nach  ihrer  Kraft  und  Kenntnis  werden  ihr 
die  einzelnen  in  vei*schiedener  Weise  ge- 
recht; je  nach  ihrer  sittlichen  Anlage  schrän- 
ken sie  sich  darauf  ein,  Nutzen  für  sich 
imd  ihre  nächsten  Angehörigen  zu  gewinnen 
oder  stellen  ihre  wirtscliaftlichen  Bemühun- 
gen in  den  Dienst  fremder  Bedürftigkeit  und 
gemeinen  Wohles  in  Staat  oder  Gesellschaft. 

2.  Die  elementare  ErHcheinung  de» 
Grenznutzens.  Ein  verbrauchliches  Gut  ist 
schon  nach  einem  einzigen  Nutzakte  aufge- 
zehrt und  erlaubt  somit  immer  nur  eine 
einzige  der  oft  mannigfachen  Verwendungen, 
zu  denen  es  durch  seine  Nützlichkeit  geeignet 
wäre.  Hat  man  nur  ein  einzelnes  Gut  solcher 
Art,  so  soll  man  mit  demselben  ohne 
Zweifel  den  wichtigsten  Nutzakt,  zu  dem  es 
geeignet  ist,  luid  keinen  anderen  vollziehen. 
Jeder  weitere  Zuwachs  an  derartigen  Gütern 
erlaubt  einen  weiteren  Nutzakt:  es  soll 
dieses  immer  der  nächst  wichtige  sein.  Die 
Nützliclikeit  zeigt  alle  die  möglichen  Wege 
der  Verwendung  —  welcher  davon  wirklich 
beschritten  wertlen  soll,  hängt  von  den  Um- 
ständen des  einzebien  Falles  ab,  ohne  deren 


genaueste  Abwägung  die  Absicht,  höchsten 
Güternutzen  zu  gewinnen,  nur  sehr  unvoll- 
kommen erreicht  werden  könnte. 

Wo  ein  Vorrat  den  an  ihn  gewiesenen 
Bedarf  nicht  deckt,  muss  wirtschaftlicher- 
weise der  Bedarf  vor  der  Bedürfnisbefriedi- 
gung gesichtet,  die  Ansprüche  minderer 
Wichtigkeit  müssen  ausgeschieden  und  vor- 
erst, nach  Mass  des  Vorrates,  nur  die  wich- 
tigsten Befriedigimgen  gedeckt  werden. 
Bei  Gütern  mannigfacher  Verwendbarkeit 
ist  diese  Aufgabe  ziemlich  schwierig;  alle 
Gebiete  der  Verwendung  müssen  überblickt 
und  gegen  einander  abgew^ogen  werden,  so 
dass  nirgends  diu-ch  einen  entbehrlicheren 
Genuss  eine  empfindlichere  Entbehrung 
anderswo  notwendig  gemacht  werde.  Bei 
der  Verteilung  von  VoiTäten  auf  die  Be- 
dürfnisse eines  längeren  Zeitraumes,  so 
namentlich  bei  der  Verteilung  des  Einkom- 
mens auf  die  betreffende  Einkommensperiode 
entsteht  die  gleiche  Pflicht  sorgfältiger  Ab- 
wägung der  Bedarfe,  so  dass  Ausgaben  für 
minder  dringende  Zwecke  im  Wirtschafts- 
plane immer  erst  zugelassen  werden  dürfen, 
bis  die  dringenderen  Ausgaben  durchaus  für 
den  ganzen  Zeitraum  gedeckt  sind. 

In  jeder  Wirtscliaft  soll  man  sich  der 
Grenze  bewusst  sein,  bis  zu  welcher  man 
mit  der  Verwendung  wirtschaftlicher  Güter 
jeweils  noch  gehen  darf.  Der  geringste 
Nutzen,  der  jeweils  noch  erlaubt  ist,  hat 
in  der  eingangs  erwähnten  Richtung  der 
Theorie  besondere  Beachtung  gefimden. 
Er  wii-d  im  Englischen  final  Utility,  auch 
terminal  oder  marginal  Utility  genannt,  im 
Deutschen  ist  für  ihn  der  Name  Grenz- 
nutzen üblich  geworden. 

Steigt  der  Vorrat,  so  muss  der  Grenz- 
nutzen sinken,  weil  es  nun  wirtschaftlicher- 
weise erlaubt  wird,  die  Nutzakte  der  nächst- 
folgenden Grade,  die  mau  sich  bisher  ver- 
sagen musste,  zu  geniessen;  winl  das  Ein- 
kommen beträchtlich  vermehrt,  so  kann  man 
z.  B.  auf  der  ganzen  Linie  der  Ausgaben 
von  der  Deckung  der  Existenzanforderungen 
bis  zu  den  Stufen  der  Behaglichkeit  oder 
gai'  eines  leicht  entbelirüchen  Luxus  herab- 
gehen. Nimmt  dagegen  der  Vorrat  ab,  so 
steigt  der  Grenznutzen.  Mit  den  Verände- 
rungen im  Bedarf  steht  er  »im.  geraden  Ver- 
hältnisse«^.  So  nimmt  nicht  erst  der  Güter- 
wert, sondern  schon  der  Grenznutzen  die 
Wirkungen  von  Bedarf  und  Vorrat  in 
sich  auf. 

Es  ist  nun  eine  Thatsache  von  grösster 
Bedeutung,  dass  fortgesetzte  oder  angehäuft-e 
Befriedigung  als  solche,  indem  sie  das  Be- 
düi-fnis  sättigt,  die  Bedeutung  der  Akte  des 
Genusses  oder  des  Güternutzens  mindert; 
ein  Gesetz,  das  zuerst  von  Gossen  in  seinem 
vollen  Inhalt  entwickelt  und  als  entschei- 
dende Grundlage  der  W^erttheorie  verwendet 


Greuznutzen 


777 


wurde  und  das  daher  mit  Recht  das  Gos- 
sensche  Gesetz  der  Bedürfnissättigung  ge- 
nannt werden  darf.  Die  »Sättigungsskala« 
der  Bedürfnisse  ist  sehr  ungleich,  nament- 
lich bei  physischen  Bedürfnissen  anders 
als  bei  geistigen,  periodische  Bedürfnisse 
verhalten  sich  gegenüber  konstanten  eigen- 
tümlich verschieden,  aber  das  Gesetz  der 
Bedüi'fnissättigung  ist  allgemein,  und  über- 
all kann  es  bis  zur  üebersättigung  kommen, 
wobei  sich  das  Begehren  in  sein  Gegenteil, 
Widerwillen  und  Ekel,  verwandelt. 

Die  Vermehnmg  des  Vorrates  bewirkt 
daher  auch  bei  Gütern,  die  mir  einer 
Richtung  des  Bedürfens  dienen,  Minderung 
des  Grenznutzens,  weil  das  Bedürfnis  nun 
stärker  gesättigt  werden  kann  und  auf  nie- 
dere Grade  des  Begehrens  herabgedi-ückt 
wird.  Und  bei  Gütern  vielfacher  Verwen- 
dung wird  durch  die  Vermehrung  des  Vor- 
rates der  Greuznutzen  nicht  nur  deshalb  ge- 
mindert werden  müssen,  weil  neue  bisher 
ausgesclüossene  mindere  Arten  der  Verwen- 
dung zugelassen  werden  dürfen,  sondern 
auch  deshalb,  weil  allenthalben  diu'ch  reich- 
licheren Genuss  der  Aussclüag  der  Nut- 
zungsakte für  das  Begehren  'geringer  ge- 
worden ist. 

3.  Die  elementare  Erseheinun:;  des 
wirtschaftlichen  Wertes.  Für  die  Men- 
schen haben  zunächst  nur  ihre  Befriedigun- 
gen, aber  nicht  auch  die  äusseren  Hilfs- 
mittel dei-selben,  die  Güter,  Bedeutung, 
Wichtigkeit,  Wert.  Die  Menschen  vorhalten 
sich  den  Gütern  gegenüber  als  Egoisten, 
die  den  Freimd  nui*  in  der  Not  scliätzen, 
wenn  sie  ihn  gerade  brauchen.  In  ihren 
Augen  empfangen  daher  überhaupt  nur  wirt- 
schaftliche Güter  Wert,  von  deren  Besitz 
sie  ihre  Bedürfnisbefriedigtmgen  thatsäch- 
lich  abhängig  fühlen;  freie,  im  gesicherten 
Ueberfluss  vorhandene  Güter  werden  ge- 
nossen, ohne  dass  man  um  ihren  Besitz  be- 
soi-gt  wäre  und  ihn  in  Wert  hielte. 

Für  die  W^ertschätzung  der  wirtschaft- 
lichen Güter  selber  kann  nur  jener  Nutzen 
in  Betracht  kommen,  den  sie  nach  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  von  Bedarf  und  Vor- 
rat schaffen  sollen;  solche  Nützlichkeiten, 
die  bei  der  Knappheit  der  vorhandenen  Vor- 
räte nicht  verNdrklicht  werden  können, 
bleiben  überhaupt  ausser  Anschlag.  Aber 
auch  der  Nutzen,  den  sie  wirklich  schaffen 
sollen,  geht  in  der  Regel  nicht  ganz  in  ihren 
Wert  ein.  Angenommen,  ich  hätte  einen 
Vorrat  von  10  unter  einander  gleichen 
Stücken  und  das  Bedürfnis  i-ege  100  Mög- 
lichkeiten der  Verwendung  an,  der  Vorrat 
gestatte  aber  eben  nur  10  derselben  zu  ver- 
wirklichen: hier  muss  ich  mich  dazu  ent- 
schliessen,  die  90  minderen  auszuscheiden 
und  nur  die  10  wichtigsten  zu  vollziehen.  Un- 
möglich könnte  sonach  der  Vorrat  den  Wei*t 


aller  100  Befriedigungen  haben,  er  kann 
höchstens  den  Wert  der  10  wichtigsten  an 
ihn  gewiesenen  Befriedigungen  erhalten. 
Beziffern  wir  die  höchste  derselben  mit  100, 
die  folgende  mit  99  und  so  fort,  und  die 
10.  mit  91,  so  kann  der  Gesamtwert  des 
Vorrates  nicht  höher  als  mit  der  Summe 
100  +  99  +  ...  91  angeschlagen  werden. 
Aber  selbst  mit  dieser  Summe  würde  er 
nur  unter  einer  bestimmten,  selten  zutref- 
fenden Voraussetzung  angeschlagen  werden, 
dass  nämlich  der  Vorrat  als  ein  untrenn- 
bares Ganzes  auf  einmal  praktisch  in  Frage 
käme.  Wenn  ich  ohne  irgend  eine  Mög- 
lichkeit der  Teilung  schlechthin  vor  die 
Wahl  gestellt  werde,  den  Vorrat  ganz  zu 
erwerben  oder  diese  Güter  ganz  zu  ent- 
beliren,  dann  setze  ich  diesen  vollen 
Wert  ein. 

In  der  Regel  aber  leiten  uns  die  Um- 
stände der  Wirtschaft  dazu,  über  die  wirt- 
schaftlichen Güter  nach  Stücken  oder  sons- 
tigen Eiuheiten  und  nach  frei  bestimmten 
Summen  von  Stücken  oder  sonstigen 
Einheiten  zu  verfügen.  Wie  wir  sie  nach 
und  nach  verzeliren,  so  haben  wir  es 
in  unsei*er  Gewalt,  mehr  oder  weniger  von 
ihnen  zu  erzeugen  oder  in  der  Produktion 
zu  verwenden,  einzukaufen  oder  zu  ver- 
kaufen. Die  Gütereinheit  ist  in  aller  Regel 
die  i)raktische  Einheit  des  Wirtscliaftens 
und  daher  auch  der  Wertschätzung,  die  man 
immer  durchaus  nur  als  einen  Akt  prakti- 
scher Wirtschaft  d.  h.  mit  Rücksicht  auf  die 
praktischen  Aufgaben  der  Wirtschaft  voll- 
zieht und  die  eine  Theorie,  welche  wirklich 
auf  Erfahrung  gegründet  sein  will,  denn  auch 
nur  im  realen  Gefüge  der  praktischen  Wirt- 
schaft zu  erklären  hat. 

Wenn  ich  von  jenen  10  Stücken  eines 
verliere,  so  büsse  ich  nach  den  gegebenen 
Verhältnissen  die  Aussicht  ein,  die  letzte 
unter  den  ausgelesenen  10  wichtigsten  Be- 
friedigimgen,  jene,  welche  den  Wert  91  hat, 
zu  vollziehen;  gewinne  ich  zu  den  10 
Stücken  ein  weiteres  hinzu,  so  eröffnet  sich 
mir  die  Aussicht,  die  Befriedigung  des  Wer- 
tes 90  zu  sichern:  mit  dei  Gütereinheit 
kommt  praktisch  immer  nur  der  Grenznut- 
zen in  Frage,  und  der  Grenznutzen  ist  es 
denn,  der  den  Wert  der  Gütereinheit,  dort 
wo  sie  die  Einheit  des  Wirtschaftens  ist, 
entscheidet. 

Da  angenommenermassen  die  10  Güter 
unter  einander  gleich  sind,  so  kann  keines 
grösseren  Wert  haben  als  die  anderen.  Damit 
entsteht  das  uns  allen  praktisch  wohlver- 
traute, theoretisch  aber  zunächst  über- 
raschende Ei'gebnis,  dass  —  solange  der 
Vorrat  eben  aus  10  Stücken  besteht  —  jedes 
Stück  nur  den  Wert  91,  oder  allgemein  ge- 
fasst,  dass  jede  Einheit  den  Wert  des  Grenz- 
nutzens hat.     Die  voUe  Aufkläi-ung  dieses 


1 


778 


Grenzmitzen 


Satzes  kann  nur  durch  eine  ausführliche 
Darlegung  der  Wei'ttheorie  erfolgen,  wo- 
für in  dieser  Abhandlung  kein  Raum  ist, 
die  nur  die  wirtschaftliche  Rechnung  des 
Nutzens  entwickeln  soD,  welche  die  Grund- 
lage der  "Wertrechnung  wird.  Hier  möge 
nur  kurz  folgendes  hervorgehoben  werden. 
Der  Theoretiker  hat,  wenn  er  den  Sinn  der 
praktischen  Wertschätzung  verstehen  will, 
notwendigerweise  die  Anwendungen  zu  be- 
rücksichtigen,  in  Rücksicht  auf  welche  die 
Wertschätzung  praktisch  voDzogen  wird; 
der  Wert  ist  dann  richtig  bemessen,  wenn  er 
die  Wirtschaftszwecke  richtig  erreichen  lässt. 
Indem  ich  nun  alle  Einheiten  eines  Vorrates 
von  Gebrauchsgütern  nach  ihrem  Grenznutzen 
anschlage,  kontrolliere  ich  den  wirtscliaft- 
lich  klugen  Gebrauch  derselben  auf  das  ge- 
naueste, da  von  den  auftauchenden  Regungen 
des  Begehrnis  immer  nur  jene  zur  Befrie- 
digung zugelassen  werden,  die  mindestens 
den  AVert  des  Grenznutzens  haben  —  alle 
minderen  sind  durch  den  Güterwert  ver- 
boten. In  ganz  gleicher  Weise  reguliere 
ich  auch  die  Verwendungen  eines  Vorrates 
wirtschaftlicher  Produktivgüter,  und  ebenso 
^ebt  die  dm-chgängigo  Beziehung  auf  den 
Grenznutzen  das  zutreffende  Mass,  wenn  ich 
einen  Vorrat  irgendwelcher  Güter  zw  er- 
werben, sei  es  zu  erzeugen  sei  es  zu  er- 
kaufen habe  mid  aus  ihrem  Werte  die 
Höhe  der  aufzuwendenden  Erwerbungskosten 
ableiten  will.  Indem  ich  jede  zu  erwer- 
bende Einheit  bloss  mit  dem  Grenznutzen 
anschlage,  schliesse  ich  es  aus,  auch  nur 
für  die  geringste  praktisch  noch  in  Betracht 
kommende  Menge  mehr  auszugeben,  als  sie 
mir  an  Nutzen  einbringt.  Sollte  sie  mich 
mehr  kosten,  als  sie  mir  zu  dem  anderwei- 
tig gesicherten  oder  in  Aussicht  stehenden 
Nutzen  noch  hin  zubringt,  so  thäte  ich  ja 
besser,  auf  ihre  Erwerbung  überhaupt  zu 
verzichten. 

4.  Nutzen  und  Arbeitsnnlust  Eine 
gewisse  Richtung  der  klassischen  National- 
ökonomie (der  sich  hierin  die  sozialistische 
Theorie  anschliesst)  leitet  den  Güterwert 
aus  dem  Interesse  ab,  das  die  Menschen 
haben,  die  Unlust  der  Arbeit  zu  sparen. 
Die  Arbeit,  einerseits  Quelle  höchster  sitt- 
licher, geistiger  und  leiblicher  Wohlfahrt, 
kann  gewiss  durch  ein  Uebermass  von  Plage 
oder  Gefahr  berechtigterweise  Unlustgefühle 
veranlassen.  Ohne  Zweifel  ist  es  ein  prak- 
tisch überaus  bedeutsames  Interesse,  solche 
Anlässe  möglichst  zu  meiden  oder  zu  ver- 
mindern, ohne  Zweifel  lassen  sich  ferner 
Fälle,  nicht  nur  erdenken,  sondern  vsie  kom- 
men praktisch  vor,  wo  von  diesem  Inte- 
resse aus  Gütei-  Wert  erhalten.  Einen  Be- 
sitz zu  verlieren,  der  erst  durch  Arb(»its- 
plage  wieder  erneuert  werden  müsste,  wäre 
empfindlich;   der  Besitz  müsste  gerade  so 


viel  Wert  erhalten,  als  er  Arbeitsunlust  er- 
spart. 

Untersucht  man  alle  Voraussetzungen 
genau,  so  muss  man  zu  dem  Schlüsse  kommen, 
dass  dasselbe  Gut  niemals  zugleich  wegen 
des  von  ihm  abhängigen  Nutzens  und  wegen 
der  durch  seinen  Besitz  erspailen  Arbeits- 
unlust Wert  erlialten  kann.  Seines  Nutzens 
wegen  wird  es  nur  unter  der  Voraussetzung 
geschätzt,  dass  mit  seinem  Besitze  eben 
auch  sein  Nutzen  verloren  ginge  d.  h.  dass 
es  nicht  wieder  einsetzt  werden  könnte. 
Wenn  es  dagegen  wegen  der  Arbeitsunlust 
geschätzt  wird,  die  sein  Besitz  erspart,  so 
geschieht  dieses  in  der  Erwägung,  dass  man 
im  Falle  seines  Verlustes  sich  den  Nutzen 
zwar  durch  erneute  Arb(ut  wieder  sichern 
könnte,  aber  dann  eben  Plage  oder  Gefalir 
wieder  auf  sich  nehmen  muss ;  man  schätzt 
es  unter  der  Voraussetzung  seiner  Wieder- 
ersetzbarkeit. Wenn  jemand  z.  B.  ein 
Manuski'ipt  besitzt,  das  sich  im  Falle  des 
Verlustes  nicht  wieder  heretellen  liesse,  so 
hätte  dasselbe  für  ihn  nach  Mass  seines 
»Nutzens«  Wert  —  wenn  er  dagegen  in 
der  Lage  und  entsclüossen  ist,  es  in  diesem 
Falle  noch  einmal  zu  schreiben,  so  hätte  die 
unverselirte  Aufl^ewahrung  für  ihn  so  viel 
AVei-t,  als  er  Gewicht  darauf  legt,  die  Plage 
der  Arbeit  nicht  noch  einmal  auf  sich  nehmen 
zu  müssen. 

Wären  die  Menschen  in  der  Lage  und 
entschlossen,  die  wirtschaftlichen  Güter 
durch  Arbeit  —  und  durch  blosse  Arbeit! 
—  stets  in  solcher  FüUe  zu  erzeugen,  dass 
ihnen  vom  Standpunkte  des  Beclüi*rnisses 
nichts  zu  wünschen  übrig  bliebe,  so  würden 
sie  die  Güter  ausschlit^sslich  nach  der 
Arbeitsunlust  bewerten,  die  der  einmal  ge- 
wonnene Besitz  für  tlie  Zukunft  erspart 
Wo  sie  aber  walu-nehmen,  dass  sie  die 
wirtschaftlichen  Güter  diu-ch  blosse,  nicht 
selbst  wieder  durch  wirtschaftlichen  Besitz 
unterstützte  Arbeit  überhaupt  nicht  oder 
nicht  in  genügender  Menge  wieder  ei'setzen 
oder  schaffen  können,  da  bewerten  sie  sie 
ausscliliesslich  auf  Grundlage  des  Nutzens 
bezw.  Grenznutzens,  den  sie  ihnen  nach 
Mass  der  Vorräte  zuzurechnen  hal:)en. 

Ohne  Zweifel  kann  die  grosse  Masse  der 
wirtscliaftlichen  Güter  durch  blosse  Arbeit 
nicht  in  freier  Fülle  geschaffen  werden. 
Könnte  sie  das,  so  würde  ja  jedermann 
ausreichendes  Vermögen  zu  gewinnen  im 
Stande  sein,  sofern  er  sich  entschliesst,  die 
notwendige  Arbeitsj)lage  auf  sich  zu  nehmen. 
Die  grosse  Masse  der  wirtschaftlichen  Güter 
wird  daher  nicht  nacih  »Arl)eits werte,  son- 
dern nach  Nutzwert  geschätzt.  Damit  hängt 
es  zusammen,  dass  auch  die  Arbeit  selbst 
in  aller  Regel  nicht  nach  der  mit  ihr  ver- 
bundenen Plage  und  Gefahr,  sondern  nach 


Grenznutzen 


779 


dem  von  ihr  abhängigen  Nutzen  geschätzt 
wird  (vgl.  unten  sub  6). 

5.  Die  Zurechnung  des  Nutzertrages. 

Der  Nutzen,  der  unmittelbar  den  zur  Be- 
dürfnisbefriedigung bestimmten  Produkten 
zugerechnet  wird,  wird  durch  ihre  Yer- 
mittelung  auch  den  wirtschaftlichen  Pro- 
duktivfaktoren zugerechnet,  durch  deren 
Hilfe  sie  gewonnen  werden.  Das  Problem 
der  Zurechnung  des  Nutzertrages  kompliziert 
sich  jedoch  in  eigentümlicher  Art  dadurch, 
dass  bei  einer  Produktion  zumeist  mehrere, 
oft  sogar  sehr  viele  wirtschaftliche  Produktiv- 
faktoren zusammenwirken,  deren  gemeinsame 
Frucht  der  Ertrag  ist.  Wirtschaftliche  Pro- 
dukt ivfaktoren  sind  nach  Mengers  Ausdruck 
komplementär,  sie  bedingen  sich  in  ihrer 
Nutzwirkung  wechselseitig.  Damit  entsteht 
jene  Aufgabe,  welche  man  als  das  Problem 
der  produktiven  Zurechnung  oder  der  Zu- 
rechnung des  Nutzertrages  im  eigentlichen 
Sinne  bezeichnen  kann,  nämlich  das  Problem, 
den  gemeinsam  erzeugten  Ertrag  auf  die 
einzelnen  mitwirkenden  Faktoren  aufzu- 
teilen. 

Man  liat  die  Frage  theoretisch  mitunter 
dahin  missverstanden,  als  ob  es  sich  darum 
handelte,  am  gemeinsamen  Produkt  plij'sisch 
die  AVirkung  der  einzelnen  Stoffe  und  Kräfte 
auseinanderzuhalten;  damit  wäre  die  Frage 
nicht  nur  praktisch  unlösbar,  sondern  in 
sich  unlogisch  gestellt.  Die  richtige  Art 
der  Fragestellung  ist  am  leichtesten  durch 
die  Verweisung  auf  die  strafrechtliche  Zu- 
rechnung verständlich  zu  machen.  Der 
Verbrecher  bedurfte,  um  seine  Handlung  zu 
vollziehen,  der  Werkzeuge,  des  Objektes 
selW,  der  umgebenden  Umstände  u.  s.  f. 
Wenn  ihm  nun  der  ganze  Erfolg,  den  er  doch 
nicht  allein  vollbringen  konnte,  zur  Schuld 
angerechnet  wird,  so  ist  dieses  doch  weder 
unlogisch  noch  unbillig.  Die  Aufgabe  des 
Richters  ist  es,  zu  strafen,  und  wenn  er 
dabei  den  verbrecherischen  Thäter  allein 
herausgreift,  so  erklärt  er  damit  nur,  dass 
dieser  allein  es  sei,  den  zu  bestrafen  das 
Interesse  der  Gesellschaft  fonlere.  Er  führt 
die  That  nicht  allein  auf  ihn  zurück,  aber 
ihm  allein  rechnet  er  sie  zur  Schuld  an. 

Um  die  Analogie  auf  die  wirtscliaftliche 
Zurechnung  zu  ziehen,  möge  es  genügen, 
einen  einfachen,  wenn  auch  vom  Kerne 
des  Problemes  etwas  entfernteren  Fall  zu 
besprechen.  Es  ist  derjenige  Fall,  an  dem 
die  Schule  die  Grundrententheorie  ent- 
wickelt hat,  die  solchergestalt  nichts  anderes 
ist  als  der  erste  Versuch  einer  Theorie 
der  produktiven  Zurechmmg  an  einem 
praktisch  sehi*  hervortretenden,  aber  theo- 
retisch minder  bedeutsamem  Einzelthema. 
Dem  Acker  grösserer  Fruchtbarkeit,  welcher 
mit  demselben  Kostenaufwand  grösseren 
Ertrag  giebt   als  der  anstossende  mindere 


Acker,  wird  der  Mehreiirag  praktisch  ohne 
weiteres  zugerechnet.  In  Wahrheit  ist  auch 
dieser  Mehrertrag  nicht  vom  besseren  Acker 
allein  hervorgebracht,  sondern  ist,  wie  die 
ganze  Ernte,  der  Mitwirkung  aller  ver- 
bundenen Faktoren  zu  danken.  Thatsäch- 
lich  aber  findet  man  sich  unter  den  ge- 
gebenen Umständen  nur  vom  Besitze  des 
besseren  Ackers  abhängig,  wenn  man  mehr 
Ertrag  gewinnen  wiU,  und  das  praktische 
Interesse  ist  wohl  beraten,  wenn  es  ihm 
denselben  ausschliesslich  zurechnet.  Man 
führt  damit  diesen  Teil  der  Fnlchte  keines- 
wegs allein  auf  ilm  zurück,  aber  man  rechnet 
sie  ihm  allein  zu  Wert  an. 

Die  einzelnen  Regeln  der  produktiven 
Zurechnung  können  hier  nicht  entwickelt 
werden,  nur  die  Hauptregel,  deren  Kennt- 
nis für  das  folgende  notwendig  ist,  sei  kurz 
hervorgehoben.  Jedem  zum  Ertrage  mit- 
wirkenden wirtschaftlichen  Produktivfaktor 
muss  irgend  ein  Anteil  des  Produktes  zu- 
gerechnet werden,  keiner  darf  ganz  leer 
ausgehen.  »Wirtschaftliche  Prodiiktivfak- 
toren«  sind  jene,  die  nicht  im  freien  Ueber- 
fluss  vorhanden  sind  und  von  deren  A^oiTat 
daher  kein  merklicher  Teil  wegfallen  dürfte, 
ohne  dass  die  Versorgung  des  Bedarfes 
Abbruch  erlitte.  Freien  Produktivfaktoren, 
die  im  gesicherten  üeberfluss  vorhanden 
sind,  wird  dagegen  niemals  irgend  ein  An- 
teil des  Produktes  zugerechnet,  weil  man 
sich  von  ihnen,  die  man  immer  wieder  zur 
Verfügung  haben  kann,  mit  der  Grösse  des 
Produktes  in  gar  keiner  Weise  abhängig 
findet. 

6.  Ertragsznrechnnni^  für  Land,  Ka- 
pital und  Arbeit.  W^enn  Land,  Kapital 
und  Arbeit  produktiv  zusammenwirken,  muss 
folgerichtig  jedem  von  ihnen  ein  Anteil  am 
Ertrage  zugerechnet  werden,  vorausgesetzt, 
dass  sie  im  »wirtscliaftlichen  Quant itäts Ver- 
hältnisse« stehen,  eine  Voraussetzung,  die 
beim  Lande  geschichtlicli  nicht  immer  ge- 
geben ist.  Bei  der  Arbeit  würde  das  In- 
teresse, Arbeitsunlust  zu  sparen,  selbst  dann 
zur  Zurechnung  führen,  falls  sie  nicht 
im  wirtschaftlichen  Quantitätsverhältnisse 
stünde.  Es  ist  aber  wolü  kein  Zweifel,  dass 
sie  für  die  Masse  des  volkswirtschaftlichen 
Bedarfes  nicht  in  üeberfülle  zur  Verfügung 
steht  und  daher  (vgl.  oben  sub  4)  volkswirt- 
schaftlich nicht  mit  ihrer  Plage  oder  Ge- 
fahr für  die  produktive  Zurechnung  in  Be- 
tracht kommt.  Es  ist  ihre  schaffende  Kraft, 
die  —  freilich  stets  unter  dem  Masse  des 
Grenzgesetzes  —  die  Anteile  bestimmt,  welche 
vom  ganzen  volkswirtschaftlichen  Ertrage 
auf  ihre  Rechnung  zu  stellen  sind. 

In  einem  gewissen  Sinne  ist  die  Arbeit 
die  einzige  scliaffende  Kraft  in  der  W^irt- 
schaft.  Der  Satz,  dass  die  Arbeit  allein 
allen  Ertrag  scliaffe,  ist  insoweit  richtig,  als 


780 


Gi'cnznutzen 


es  der  Mensch  ist,  der  die  Wirtschaft  leitet 
\ind  dabei  Land  und  Kapital  als  tote  Werk- 
zeuge seinem  Willen  unterwirft  und  als 
blosse  Hilfsmittel  seiner  Arbeit  gebraucht. 
Man  giebt  aber  diesem  Satze  einen  über 
seinen  richtigen  Sinn  weit  liinausreichenden 
Inhalt,  wenn  man  meint,  dass  der  Arh>eit 
allein  das  ganze  Produkt  praktisch  zuge- 
rechnet werden  müsse,  und  daher  Grund- 
rente und  Kapitalzins  schlechthin  als  Raub 
an  den  Früchten  der  Arbeit  bezeichnet 
Die  durchgreifenden  wirtschaftlichen  Lite- 
ressen, welche  unter  allen  Umständen  dazu 
Äwingen,  auch  dem  (im  wirtschaftlichen 
Quantitätsverhältuisse  stehenden)  Lande  und 
dem  Kapitale  Ertragsanteile  zuzurechnen, 
werden  von  den  bloss  persönlichen  Interessen 
der  Besitzer  wie  der  Besitzlosen  für  das 
Verständnis  am  besten  dadurch  geschieden, 
dass  man  eine  sozialistische  Oi^anisation 
der  Gesellschaft  verwirklicht  denkt  und  so- 
dann die  Frage  der  produktiven  Zurechnung 
stellt.  Auch  eine  sozialistisch  geordnete 
Gesellschaft  wird  Land  (unter  der  eben  ge- 
gebenen Voraussetzung)  und  Kapital  nicht 
gJs  wertlos  erklären  dürfen.  Man  wird  sie 
im  Gegenteil  als  Besitztümer  grösster  ge- 
sellschaftlicher Wichtigkeit  erkennen,  von 
denen  kein  merklicher  Teil  ohne  Abbruch 
am  Erti*age  verloren  gehen  könnte ;  man  wird 
ihnen  also  Ertragswert  zumessen  d.  h.  ent- 
sprechende Anteile  des  Ertrages  zurechnen. 
Den  besseren  Maschinen  z.  B.  wird  man 
>ihren«  Mehrertrag  zurechnen  müssen,  sonst 
wüsste  man  ja  nicht,  welche  Kosten  man 
auf  ihre  Herstellung  wenden  dürfte.  Ohne 
produktive  Zurechnung  käme  der  Plan  der 
gesellschaftlichen  Produktion  in  ratlose  Ver- 
wirrung. 

Für  die  drei  Produktivfaktoren  Land, 
Kapital  und  Arbeit  gelten  die  gleichen  all- 
gemeinen Regeln  der  Zurechnung.  Ausser- 
dem gelten  füi'  jeden  derselben,  mit  Rücksicht 
auf  die  Verschiedenheit  der  Bedingungen  ihrer 
Entstehung  und  Wirksamkeit,  noch  beson- 
dere Regeln,  die  in  jeder  Wirtschaftsform  Be- 
achtung finden  müssen  und  neben  denen 
allerdings  in  jeder  Wirtschaftsform  noch 
weitere  Besonderheiten  gelten  werden,  je 
nach  den  Verhältnissen  der  rechtlichen  und 
thatsäclüichen  Verfügung  über  Güter  und 
Arbeiten,  die  diese  Wirtschaftsform  gerade 
schafft;  die  Zurechnung  fällt  z.  B.  anders 
für  freie  Arbeit  und  für  Sklavenarbeit  aus. 
Beim  Lande  wii-d  stets  zur  Geltung  kommen 
müssen,  dass  es  vom  Anfang  her  in  seinem 
natüi'lichen  Umfang  und  in  gewissen  Ab- 
stufungen der  Fruchtbarkeit  und  Lage  ge- 
geben und  davSS  es  in  seinem  Bestände 
dauerhaft  ist.  Beim  Kapitale  kommt  zur 
Geltung,  dass  es  geschichtlich  durch  die 
Kidturarbeit  der  Wirtschaft  gebildet  wird, 
sich    bei    seiner    Verwendmig    mehr    oder 


weniger  rasch  verzehrt  und  doch  zumeist 
immer  wieder  ersetzt  werden  kann.  Bei 
der  Arbeit  kommt  zur  Geltung,  dass  sie  ein 
persönlicher  Akt  ist  und  dass  die  Grösse 
ihres  »Vorrates«,  die  Menge,  in  der  sie  zur 
Verfügung  steht,  vor  allem  diu-ch  die 
Menschenzahl  gegeben  ist. 

Unsere  Theorie  beschäftigt  sich  mit 
diesen  Fragen  in  der  sogenannten  »Lehre 
vom  Einkoramen«  vorwiegend  in  der  Weise, 
dass  sie  die  Besonderheiten  voranstellt, 
während  sie  die  verbindenden  allgemeinen 
Gedanken,  die  diese  ganze  Lehre  durch- 
ziehen und  mit  der  vom  Wert  in  den 
Grundlagen  verschmelzen,  nur  wenig  her- 
vorhebt oder  auch  ganz  übersieht.  Dieser 
Haltung  der  Theorie  dürfte  es  vor  allem 
zuzuschreiben  sein,  wenn  die  Lehren  von 
der  Grundrente,  dem  Kapitalzinse  und 
Arbeitslohne  noch  so  sehr  im  Streit  liegen. 
Alle  diese  Lehren  dürften  ilu-e  feste  Grund- 
lage erst  dann  erhalten,  wenn  einmal  die 
produktive  Zurechnung  theoretisch  ganz 
aufgehellt  sein  wird.  Die  Lehre  vom 
Kapitalzins  insbesondere  dürfte  erst  dann 
theoretisch  fundiert  sein,  bis  man  darüber 
klar  geworden  ist,  in  welchem  Sinne  aus 
der  allgemeinen  Ertragszurechnung  eine 
eigentliche  Reinerii'agszurechnung  hervor- 
geht. 

7.  Die  Kosten  als  ErHcheinnng  des 
Grenznntzens.  Es  genügt  nicht,  dass  die 
Theorie  des  Grenznutzens  die  Wirkung  von 
Bedarf  und  Vorrat  erklärt,  sie  muss  auch 
noch  die  Probe  darauf  bestehen,  der  in  die 
Wirtschaftsrechnung  tief  eingreifenden  That- 
sache  der  Kosten  gei-echt  zu  werden.  ^  In 
meinen  imten  angeführten  Arbeiten  habe*ich 
den  Versuch  hierauf  gemacht  und  zu  zeigen 
unternommen,  dass  in  den  Kosten  der  den 
Produktivfaktoren  zugerechnete  Grenznutzen 
ilirer  Produkte  ausgleichend  auf  diese  zuriick- 
gerechnet  wird.  Welche  Zusammenhänge 
liier  bestehen,  ergiebt  sich  aus  folgenden 
einfachen  Erwägimgen. 

Um  >\drtschaft  liehe  Produktivfaktoren, 
die  zur  Herstellung  verschiedenartiger  Pro- 
dukte geeignet  sind,  zu  höchstem  Nutzen  zu 
verwenden,  muss  man  die  Grade  des  Grenz- 
nutzens feststellen  und  gegen  einander  al)- 
wägen,  die  alle  die  verechiedenartigen  Pro- 
dukte, je  nach  dem  voraussichthchen  Bedarf 
und  dem  gei)lanten  Umfang  der  Erzeugimg, 
erwarten  lassen.  Das  Interesse  bucht  den 
Wert  solcher  produktiver  Elemente  mit  dem 
Grenznutzen,  der  sich  aus  der  Gesamtheit 
ihrer  zulässigen  produktiven  Verwendungen 
ergiebt.  Jede  besondere  »Verwendung^  für 
dieses  oder  jenes  bestimmte  Produkt  ver- 
mindert immer  die  Mittel,  die  für  die 
Hervorbringung  der  anderen  noch  gewünsch- 
ten Produkte  übrig  bleibcm,  und  bedeutet 
nach  dieser  Richtung  hin  ein  Opfer,  einen 


Grenznutzen 


781 


Aufwand,  dessen  Grösse  sich  bestimmt,  in- 
dem man  die  in  Anspruch  genommene  Menge 
nach  Mass  des  gegebenen  produktiven  Grenz- 
nutzens anschlägt ;  das  ist  der  Grundgedanke 
der  Kosteurechnung,  der  sich  dann  in  der 
Geldwirtschaft  etwas  komplizierter  gestaltet. 
Als  »Verwendung«  gilt  mit  Recht  aber 
nicht  nur  der  eigentliche  Verbrauch  von 
Arbeit  oder  Kapital,  sondern  auch  schon 
jede  Verfügung,  die  die  Nutzung  von  Land 
oder  Kapital  für  einen  gewissen  Zeitraum 
bindet;  daher  sind  nicht  rnu*  Arbeit  und 
Kapitalverbrauch,  sondern  auch  Land-  und 
Kapital  »nutzungen«  Elemente  der  Kosten- 
rechnung. Uebrigens  ist  der  Anlass  zur 
Kostenrechnung  ebenso  wie  innerhalb  der 
eigentlichen  Produktion   auch  überall  dort 

fegeben,  wo  man  um  einer  herzustellenden 
icistung  willen  derartige  Aufwendungen  zu 
machen  hat,  wie  z.  B.  bei  den  Gestehungs- 
kosten einer  Transportleistung. 

Produkte  oder  Leistungen  nach  ihren 
Kosten  rechnen  heisst  also  sie  gegen  einander 
als  Zusammensetzungen  ihrer  wirtschaft- 
lichen Bildungselemente  vergleichen,  wobei 
als  Bildungselemente  sowohl  die  genutzten 
Stoffe  als  die  genutzten  Kräfte  —  bezw. 
deren  »Nutzungen«  —  in  Betracht  kommen 
und  wobei  alle  Bildiyigselemente  nach  ihrem 
allgemeinen  produktiven  Grenznutzen  ange- 
schlagen werden.  Alle  »produktions  ver- 
wandten« Produkte  sind  gleichsam  allo- 
tropische'Modifikationen  ihrer  produktiven 
Bildungselemente;  Produkte  z.  B.,  die  mit 
Hilfe  von  menschlicher  Arbeit  und  Kohle 
aus  Holz  und  Eisen  erzeugt  werden,  gelten 
uns  in  Rtlcksicht  auf  ihre  Kosten  so  viel  als 
uns  die  erforderten  Mengen  dieser  Elemente 
nach  Mass  der  allgemeinen  Grenze  ihrer 
produktiven  Nutzbarkeit  gelten. 

Niemals  soll  daher  eine  Leistung  her- 
gestellt werden,  deren  Wert  unter  ihren 
Kosten  ,  bleibt ,  d.  h.  deren  unmittelbarer 
Grenznutzen  geringer  ist  als  der-  Grenz- 
nutzen,  den  dieselben  produktiven  Aufwen- 
dungen anderwärts  zu  erreichen  gestatten 
würden.  Man  würde  hierbei  auf  grösseren 
Nutzen  verzichten,  lun  geringeren  zu  ge- 
winnen, also  an  Nutzen  verlieren. 

Findet  man  dagegen,  dass  der  Wert  eines 
geplanten  Produktes  dessen  Kosten  über- 
steigt, so  giebt  die  in  Aussieht  stehende 
höhere  Ausnützung  der  Kostenelemente  zu- 
nächst einen  Antrieb,  die  betreffende  Pro- 
duktion noch  weiter  auszudehnen,  und  zwar 
so  lange,  bis  der  unmittelbare  Grenznutzen 
sich  mit  den  Kosten  deckt,  d.  h.  sich  auf 
die  Marke  des  allgemeinen  produktiven 
Grenznutzens  einstellt. 

Es  könnte  unter  Umständen  aber  auch 
sein,  dass  die  weitere  Ausdehnung  der  Pro- 
duktion sofort  ein  solches  Sinken  des  Grenz- 
DUtzens  zur  Folge  hätte,  bei  dem  die  Kosten 


nicht  mehr  gedeckt  wären.  Es  könnte  z.  B. 
sein,  dass  der  Nutzen  einer  Brücke  oder 
einer  Strasse  oder  einer  Eisenbahn  sich 
zwar  weit  über  die  Kosten  stellt,  dagegen 
derNutzen  einer  zweiten  Verbindung  zwischen 
denselben  Orten  die  Kosten  nicht  mehr  ver- 
gilt. In  solchen  Fällen  werden  wirtschaft- 
licherweise Produkte  hergestellt  werden 
müssen,  deren  unmittelbarer  Nutzen  bezw. 
Grenznutzen  sich  über  die  Kosten  erhebt. 
Da  man  sich  unter  den  gegebenen  Umständen 
im  Falle  ihres  Verlustes  oder  ihrer  Zerstörung 
sofort  entschliessen  würde,  die  Kosten  ilurer 
Wiederherstellung  aufzuwenden,  so  wäre 
man  nicht  dauernd  um  ilu^n  Nutzen  ge- 
bracht, sondern  der  Schaden  bestände  nur 
darin  (von  Störungen  in  der  Zwischenzeit 
abgesehen),  dass  man  die  Kosten  noc^h  einmal 
tragen,  d.  h.  auf  anderweitige  Ausnutzung 
der  betreffenden  produktiven  Elemente  ver- 
zichten müsste.  Nicht  ihr  unmittelbarer 
Nutzen,  sondern  der  produktive  Grenznutzen 
der  Kostenelemente  ist  durch  ihren  Verlust 
in  Frage  gestellt  bezw.  durch  ihren  Besitz 
gesichert,  und  insoweit  sind  es  die  Kosten, 
die  ihrem  Werte  das  Mass  geben  müssen. 

Ist  der  produktive  Zusammenhang  gestört 
oder  dauernd  unterbrochen,  dann  ist  auch 
die  Kette  der  Folgerungen  gestört  oder  dauernd 
unterbrochen,  die  zur  Ausgleichung  von  Wert 
und  Kosten  fühlet 

Immer  wird  in  den  Kosten  der  produktive 
Grenznutzon  im  ganzen,  wie  er  durch  die 
Umstände  als  gegeben  gelten  kann,  im 
»Nutzen«  dagegen  der  unmittelbare  Nutzen 
oder  Grenznutzen  des  Produktes  gerechnet 
und  gewahrt,  das  gerade  in  Frage  steht. 
Es  ist  ebenso  notwendig,  dass  man  in  der 
praktischen  Wirtschaft,  wo  man  immer  be- 
müht sein  muss,  das  einzelne  dem  gegebenen 
Gesamtzustand  der  Wirtschaft  anzupassen, 
Kosten  und  Nutzen  auseinanderhält,  als  der 
Wirtschaftstheoretiker,  der  die  umfassende 
Erklärung  sucht,  das  Wesen  der  Kosten 
dahin  bestimmen  muss,  dass  er  sie  auf  den 
Nutzen  zurückführt.  Mit  geringsten  Kosten 
erzeugen  heisst  schliesslich  so  viel,  als 
auf  höchsten  produktiven  Gesamtnutzen  wirt- 
schaften. 

8.  Das  Preisproblem.  Der  Preis  geht 
aus  den  persönlichen  Werturteilen  aller 
einzelnen  Marktparteien  hervor,  diese  aber 
werden  im  letzten  Gnmde  nach  den  Regeln 
der  Nutzrechnung  gebildet. 

Untersuchen  wir  zuerst  jene  Gruppe  der 
Nachfrage,  die  auf  dem  Markte  Gebrauchs- 
güter zur  Deckung  ihres  persönlichen  Be- 
darfes sucht.  Wer  zu  diesem  Zwecke  eine 
Ware  einkaufen  will,  soll  sich  vorher  be- 
rechnet haben,  was  ihm  die  Ware  in  Geld 
wert  ist;  dieses  persönliche  Geldäquivalent 
der  Ware  ist  die  oberete  Grenze,  das  Maxi- 
mum seiner  Preisanerbietuugen,    Er  findet 


782 


Grrenznutzen 


dasselbe,  indem  er  einerseits  den  Grebraiichs- 
wert  anschlägt,  den  die  zu  erwerbende  Ware 
für  ihn  hat,  und  andererseits  den  Tausch- 
wert, den  die  hinzugebende  Geldsumme  für 
ihn  hat  (vgl.  unten  sub  10).  Der  Gebrauchs- 
wert, der  hierbei  in  Frage  kommt,  ist  nicht  eUva 
blosse  Nützlichkeit  noch  empfängt  er  von 
dieser  sein  Mass,  sondern  ist  echter  wirt- 
schaftlicher Wert,  der  je  nach  dem  Verhält- 
nisse von  Vorrat  und  Bedarf  sein  Mass  vom 
abhängigen  Nutzen  empfängt.  Wo  der  Käufer 
freie  Wahl  hat  —  wie  dies  auf  dem  Markte 
in  aller  Regel  der  Fall  ist  —  seinen  Bedarf 
»stückweise«  einzukaufen  (vgl.  oben  sub  3), 
d.  h.  die  einzukaufende  Menge  nach  seinem 
Belieben,  unter  keinen  Schranken  als  denen 
seiner  Kaufkraft  und  Kauflust  zu  bestimmen, 
wird  er  den  Wert  jeder  Einheit  nach  dem 
Grenznutzen  anschlagen,  wobei  er  die  Grenze 
nach  jenem  Umfange  des  Vorrates  zieht, 
von  dem  er  nach  seiner  Markterfahnmg  an- 
nimmt, dass  er  ihn  werde  zur  Verfügimg 
erhalten  können.  Er  wüi-de  die  Zumutung, 
irgend  ein  Stück  oder  einen  Teil  des  Vor- 
rates über  dem  Grenznutzen  zu  bezahlen, 
zurückweisen  und  lieber  aiü  die  betreffende 
Erwerbung  verzichten,  die  ihm  nur  Schaden 
brächte.  Darin,  dass  der  Grenznutzen  die 
Wirkung  von  Bedarf  und  Vorrat  in  sich 
aufnimmt  und  dass  er  für  alle  Einheiten 
gleich  angesetzt  wird,  ist  somit  die  letzte  Er- 
klärung dafür  zu  finden,  dass  die  Preise 
sich  an  Angebot  und  Nachfrage  anpassen 
und  auf  demselben  Markte  für  die  gleichen 
Mengen  gleicher  Ware  gleich  bedungen 
werden. 

Für  jene  Gruppe  der  Nachfraf^e,  welche 
von  Erwerbtreibenden  gebildet  wird,  ist  der 
Preis,  den  man  als  Erlös  für  das  zu  er- 
zeugende Produkt  oder  die  herzustellende 
Leistung  erwartet,  die  Unterlage,  von  der 
aus  man  das  Geldäquivalent  oder  das  Preis- 
maximimi  berechnet,  welches  man  für  Roh- 
stoffe, Hilfsstoffe,  Maschinen,  Arbeit,  Kapital- 
nutzung, liandpacht  bieten  dürfte.  Aus  dem 
Gesamterlöse  des  Produktes  muss  man  den 
Anteil  herauszurechnen  vermögen,  den  man 
jedem  einzelnen  produktiven  Faktor  zuzu- 
rechnen hat.  Somit  ist  ohne  die  Kenntnis 
der  Regeln  der  produktiven  Zurechnung 
dieser  Teil  der  Motive  der  Preisbildung 
ganz  unverständlich  und  keine  brauchbare 
Preistheorie  möglich. 

Endlich  muss  jeder,  der  eino  Leistung 
für  den  Absatz  erzeugt,  deren  Kosten  ge- 
rechnet haben.  Er  rec^hnet  sie  zunächst  in 
Geld,  die  Unterlage  der  Geldrechnung  ist 
jedocli  die  Rechnung  der  Gestehungskosten 
in  natura.  Es  ist  ein  altbekannter  Lc^hrsatz, 
dass  bei  freier  Konkm-renz  der  Preis  sich 
auf  die  Kosten  sterilen  muss,  weil  die  Kon- 
kuiTenz  es  dem  einzelnen  Verkäufer  un- 
möglich macht,    über  den  Kosten  zu   ver- 


kaufen, während  auf  die  Dauer  niemand 
unter  den  Kosten  verkaufen  will.  Hier  ist 
das  Gewicht  darauf  gelegt,  dass  die  Kosten- 
rechnung, die  der  Produzent  für  sich  selber 
macht,  zuletzt  auch  dem  Käufer  im  Preise 
zu  gute  kommen  muss.  Warum  aber  die 
Produzenten  mit  den  Kosten  rechnen,  was 
es  überhaupt  heisst,  mit  den  Kosten  rechnen, 
ist  damit  noch  nicht  erklärt.  Eine  Preis- 
theorie, die  das  Wesen  der  Kosten  nicht 
erklärt,  würde  aber  ihre  Aufgalje  auf  keinen 
Fall  gelöst  haben. 

Der  Anschhig  der  Geldäquivalente  nach. 
Grenznutzen  und  Kaufkraft  bezw.  auf  Gnmd 
der  produktiven  Zurechnung  und  der  Kosten- 
rechnung setzt  für  alle  Marktparteien  die 
Maxima  und  Minima  der  Preisbildung  fest, 
bis  zu  denen  sie  gehen  dürften.  Keines- 
wegs will  man  aber  gleich  von  Anfang  so  weit 
gehen;  die  Nachfrageparteien  wünschen 
möglichst  billig  zu  erwerben,  die  Angebot- 
parteien möglichst  teuer  abzusetzen.  Nur 
soweit  die  Notwendigkeiten  des  Marktes 
hierzu  zwingen,  soweit  das  Angebot  sich 
der  Zahlkraft  nnd  Intensität  der  Nachfrage, 
soweit  die  Nachfrage  sich  den  Bedingungen 
nachhaltigen  Angebotes  fügen  muss,  und 
soweit  auf  jeder  der  beiden  Seiten  des 
Marktes  der  Wetteifer  der  Konkuirenten 
befürchten  lässt,  dass  äiese  den  Markt  für 
sich  allein  in  Anspruch  nehmen  könnten, 
entschliesst  man  sich  dazu,  sich  jenen 
Grenzen  mehr  oder  weniger  anzunähern. 

Wie  unter  der  Wirkung  aller  dieser 
Motive  der  Preis  endlich  ausfällt,  das  zu 
entwickeln,  ist  nicht  Aufgabe  dieser  Dar- 
stellung. Es  müssen  nur  gewisse  Haupt- 
ergebnisse kurz  hervorgehoben  werden,  um 
die  Rückwirkungen  zeigen  zu  köimen,  die 
die  Preisbildung  auf  die  Erscheinung  des 
Grenz nutzens  ausübt. 

Wird  eine  bestimmte  Menge  von  Waren 
in  der  Absicht  auf  den  Markt  gebracht,  sie 
ganz  abzusetzen,  so  muss  sich  der  Preis  der 
Aufnahmsfähigkeit  des  Marktes  anpassen. 
Die  Geldäquivalente,  die  die  einzelnen 
Käufer  oder  Käuferklassen  bei-echnen.  fallen 
je  nach  Kauflust  und  Kaufkraft  verschieden 
hoch  aus.  Auf  die  höchsten  Kombinationen 
von  Kauflust  imd  Kaufkraft  folgen  stufen- 
weise niedrigere.  Je  mehr  Ware  abgesetzt 
werden  soll,  desto  mehr  Erwerber  und  Er- 
werbungen mit  um  so  tieferen  Aequivalenten 
müssen  zugelassen  werden.  Der  Preis  stellt 
sich  zwischen  die  Ae<iuivalente  für  die  letzten 
oder  schlechtesten  in  den  Kauf  noch  einzu- 
schliessenden  Erwerber  und  Erwerbungen 
einerseits  und  für  die  besten  schon  ausge- 
]  schlossenen  andererseits.  Während  jeder 
j  Käufer  für  sich  bereits  den  Gebrauchswert  der 
Ware  wie  den  Tauschwert  des  Geldes  nach 
seinem  Grenznutzen  berechnet,  führt  der  ge- 
1  sellschafiliche  Preiskampf  in  weiterer  Folge 


Grenznulzeu 


78a 


noch  zu  einer  zweiten  Anwendung  des 
Gi^enzgesetzes,  indem  unter  allen  vei-schie- 
denen  individuellen  Wertschätzungen  jene 
ausschlaggebend  hervortreten,  die  die  unterste 
Grenze  bezeichnen,  bis  zu  der  das  Angebot 
den  Schätzungen  der  Nachfrage  folgen  rauss. 
Der  Preis  solcher  Seltenheitsgüter,  die  all- 
gemein und  eifrig  begehrt  werden  —  ob 
sie  nun  wirklich  kostbare  Lebensgiiter  oder 
entbehrliche  Luxusartikel  sein  mögen  — 
wird  daher  sehr  hoch  getrieben  werden, 
weil  die  Reichen  und  Reichsten  ihre  ganze 
Kaufkraft  aufbieten  müssen,  um  die  Mit- 
bewerber auszuschliessen.  Für  den  Preis 
von  Massengütern  dagegen  entscheidet  die 
Kaufkraft  der  Aermsten,  sobald  der  Markt 
reichlich  genug  für  alle  versehen  ist.  Ist 
aber  etwa  die  Ernte  schlechter  ausgefallen, 
so  zieht  der  Preis  sofort  an,  da  sich  die 
Besitzenden  die  gewohnte  Versorgung  sichern 
woUen,  wobei  die  Versorgung  der  anderen 
Klassen  stufenweise  eingeschränkt  werden 
muss;  im  Falle  einer  Weltmissernte  expor- 
tiert das  ärmere  Jjand  sein  Getreide,  um  es 
auf  Kosten  der  Volksernährung  dem  zalilungs- 
ki-äftigeren  Auslande  zuzuführen.  So  stellt 
sich  der  Preis  immer  auf  einen  bestimmten 
Ausschnitt  der  Werturteile  des  Marktes,  er 
passt  sich  jeweils  der  Schätzung  der  aus- 
schlaggebenden Klasse  von  Erwerbern  für 
die  ausschlaggebende  Reihe  von  Erwer- 
bungen an. 

Wie  auf  dem  Grenznutzen  der  Produkte 
durch  die  produktive  Zurechnung  der  Wert 
der  Produktivfaktoren,  bauen  sich  auf  diesen 
Grenzausschnitten  der  Geldäquivalente  für 
die  Produkte  die  Preise  der  Produktiv- 
faktoren auf;  und  ebenso  wirken  die  Preise 
der  Kosteneinheiten  nach  Mjiss  der  er- 
forderten Kostenmengen  ausgleichend  auf 
das  Angebot  der  Produkte  und  durch  das- 
selbe, ja  unter  Umständen  über  dasselbe  hinaus 
(vgl.  oben  sub  7)  auf  die  Preise  der  Pro- 
dukte zurück ;  insow^eit  wiederholen  sich  für 
die  Preisbildung  die  Gedanken  der  indivi- 
duellen Nutzrechuuug.  Aber  wälirend  einer- 
seits die  tauschgesellschaftliche  Organisation 
der  Arbeit  und  Verwertimg  der  Produktiv- 
faktoren Kräfte  entbindet,  die,  verglichen 
mit  den  Einzelbemühungen,  ungeheuer  sind, 
und  daher  Nutzw^irkimgen  in  Rechnung 
stellt,  wie  sie  in  der  isolierten  Einzelwirt- 
schaft niemals  in  Anschlag  kommen  könnten, 
ist  durch  den  riesigen  Umfang  aller  Ver- 
hältnisse und  die  Vielheit,  ja  den  Gegen- 
satz der  Interessen  anderereeits  der  Verlauf 
des  Prozesses  gar  oft  gestört,  ja  derselbe 
ist  auf  eine  andei-e  Grundlage  gestellt.  An- 
statt des  einfachen  Schlusses  vom  Nutzen 
auf  den  Wert,  den  das  persönliche  Interesse 
zieht,  haben  w^ir  viele  Personen,  deren  jede 
nur  von  den  ihr  nahen  Interessen  bewegt 
wird,  in  einem  wechselseitigen  Ringen  vor 


!  uns,  in  welchem  es  den  einzelnen  bald  da, 
bald  dort  gelingt,  ihr  persönliches  Interesse 
bestmöglich  durchzusetzen.  Nur  unter  dem 
Einfluss  einer  wirklich  fi^eien,  ausgeglichenen, 
verständigen  Konkurronz  kommen  gesunde 
Proise  zu  stände.  Eine  ungünstige  Ver- 
teilung des  Volksvermögens  schafft  extreme 
Preise  der  Luxusartikel,  die  in  weiterer 
Folge  die  Produktion  allzu  sehr  auf  diese 
hinlenkt  und  übermässige  Kosten  aus  den 
Produktivsehätzen  der  Volkswirtschaft  an 
sie  verschwendet.  Jedes  Monopol  gi*eift 
störend  ein;  das  Monopol  des  Angebotes 
vermag  den  Preis  dauernd  über  den  Kosten 
hoch  zu  halten,  bei  mangelhafter  Versorgung 
des  Publikums,  das  Monopol  der  Arbeits- 
nachfrage vermag  den  Lohn  vom  Satze  des 
wirkhchen  produktiven  Ertrages  der  Arbeit 
bis  auf  das  Minimum  der  Lebensnotdurft 
herabzudrücken.  Nach  mannigfachen  Rich- 
tungen vermag  auch  sonst  die  wirtschaft- 
liche Macht,  die  die  Parteien  einzeln  füi' 
sich  oder  durch  ihro  Marktorganisation  be- 
sitzen, die  Preisbildung  zu  beeinflussen  und 
Wirkungen  hervorzubringen,  die  in  der 
Spliäre  der  einzel  wirtschaftlichen  Wert- 
schätzung keine  Analogie  haben.  Insoweit 
sind  der  Proistheorie  Aufgaben  gestellt, 
welche  über  die  der  elementaren  Werttheorie 
weit  hinausgehen. 

9.  Tauschwert  und  Grenznutzen.  Die 
Einzelwirtschaft  muss  auch  für  ihre  internen 
Beziehungen  mit  den  durch  den  Markt  ge- 
gebenen Preisen  rechnen.  In  dieser  Absicht 
wird  aus  den  Preisen  der  Dinge  ihr  Tausch- 
wert abgeleitet.  Jedoch  bringt  man  luerbei 
den  Tauschwert  nicht  einfach  mit  der  ab- 
soluten Proishöhe  in  Ansc-hlag,  sondern 
rechnet  ihn  stets  auf  die  pei-sönliche  Gleichimg 
jeder  Wirtschaft  um.  Wie  das  gleiche  ab- 
solute Gewicht  für  verschiedene  Personen 
je  nach  ihrer  Rüstigkeit  verschiedene  Be- 
lastiuig  bedeutet,  so  hat  der  gleiche  Geld- 
preis oder  die  gleiche  Geldsumme  für  sie 
je  nach  ihrer  wirtschaftlichen  Stärke  ver- 
schieden hohen  Wert.  In  jeder  Wirtschaft 
empfängt  das  Geld  subjektiven  Tauschwert, 
einerseits  nach  Mass  seiner  objektiven  Tausch- 
kraft d.  h.  der  auf  dem  Markte  gegebenen 
Geldpreise  der  Dinge,  und  andererseits  nach 
Mass  der  in  dieser  Wirtschaft  zu  deckenden 
Bediu'fnisse  bezw.  der  durch  Geldausgabe 
zu  deckenden  Bedürfnisse  sowie  des  Geld- 
vorrates, nämlich  nicht  nur  des  BarvoiTates, 
sondern  auch  des  Geldeinkommens,  der 
diuxjh  Kredit  zu  beschaffenden  Summen  und 
des  in  Geld  zu  realisierenden  Vermögens. 
Mit  Rücksicht  auf  alle  diese  Umstände  be- 
stimmt sich  in  jeder  Wirtscliaft  der  Grcnz- 
nutzen,  zu  dessen  Sicherung  die  (leldeinheit 
wirtschaftlicherweise  noch  ausgegeben  wer- 
den darf.  Indem  man  sich  /nach  seinen 
Mitteln  einsduiinkt« ,  zieht  man  eben  diese 


784 


Grenznutzen 


Schranke  des  Grenznutzens  des  Geldes 
durch  alle  Ausgabewege  der  Wirtschaft 
durch.  Auf  dem  subjektiven  Tauschwert 
des  Geldes  beruht  der  subjektive  Tausch- 
wert aller  in  den  Einzelwirtschaften  jeweils 
in  Geld  geschätzten  Dinge.  So  hat  aller 
subjektive  Tauschwert  sein  letztes  Mass  in 
einem  abhängigen  Nutzen  und  ist  dadurch 
unmittelbar  mit  den  Gebrauchswertschätzun- 
^en  jeder  Wirtschaft  vergleichbar.  Damit 
ist  die  einheitliche  Führung  jeder  Wirtschaft 
ermöglicht,  in  ihrem  ganzen  Umfange,  so- 
wohl in  ihren  Beziehungen  zum  Markte  als 
in  ihrem  abgeschlossenen  Innern,  mit  dem 
einen  Ziele,  durchaus  den  höchstmöglichen 
Nutzen  zu  erreichen  und  das  wechselseitige 
Gleichgewicht  aller  Akte  des  Erwerbes  und 
der  Haushaltung  aufrecht  zu  erhalten. 

Die  Mikrokosmen  der  Einzelwirtscliaften 
stehen  durch  den  Makrokosmus  der  Yolks- 
und  Weltwirtschaft  in  beständiger  Cirkula- 
tion ,  sich ,  wenn  auch  zu  vei-schiedenem 
Stande  des  Gedeihens,  wechselseitig  ernäh- 
rend. Indem  im  Zusammenflusse  der  Märkte 
alle  Einzelwirtschaften  in  den  Geldäquiva- 
lenten ihre  Bedüi-fnisse  und  zugleich  ihre 
Kräfte  messen,  bauen  sich  die  Preise  auf. 
Dem  gegebenen  Preisstande  muss  sich  jede 
Einzelwirtschaft  fügen  und  rückgreifend  ihre 
persönliche  Wertschätzung  nach  demselben 
regulieren.  Damit  tritt  die  Schätzung  nach 
Tauschwert  zu  den  elementaren  Formen  der 
Wertschätzung  hinzu,  aber  nicht  nur  äussser- 
iich,  sondern  innerlich  mit  demselben  ver- 
bunden. Auf  erweiterter  und  teilweise  ver- 
änderter Grundlage  wirkt  nach  wie  vor  in 
den  Einzelwirtschaften  das  Bestreben,  nach 
dem  Masse  des  Grenznutzens  die  Nutzungen 
der  Wirtschaft  so  abzugrenzen,  dass  alle 
höchsten  erreichbaren  Nutzungen  einge- 
schlossen werden. 

10.  Gesellschaftlicher  Grenznutzen, 
Aufgaben  der  Verwaltung  und  Steuer- 
gerechtigkeit Zum  Abschluss  muss  noch 
auf  einige  entferntere  Anwendungen  der 
entwickelten  Grundgedanken  hingewiesen 
werden. 

Wenn  das  Ziel  der  Wirtschaft  die  höchste 
Ausnutzung  der  wirtscliaftlichen  Güter  ist 
imd  wenn  die  Verfolgung  dieses  Zieles  zu 
der  Forderung  führt,  das  Niveau  der  Lebens- 
haltung nach  allen  Richtungen  der  Wirt- 
schaft hin  thunlichst  auszugleichen,  so 
scheint  es  auch  gefordert  zu  sein,  dass  die 
wirtschaftliche  Lebenshaltung  der  Individuen, 
die  die  Gesellschaft  bilden,  ausgeglichen 
und  in  diesem  Sinne  gleicher  »gesellschaft- 
licher Grenznutzen«  für  alle  durchgesetzt 
wenle.  Streitet  es  nicht  wider  die  natür- 
liche Zweckbestimmung  der  Güter,  wenn 
ein  Krösus  leichtfertig  verprasst,  was  dem 
Bettler  zur  Deckung  der  Lebensnotdurft 
unentbelirlich  ist?    Ideeen  dieser  Art  drän- 


gen sich  jeder  feineren  Empfindung  unwill- 
kürlich auf  und  haben  seit  jeher  die  religi- 
ösen, utopischen  und  auch  die  wissenschaft- 
lichen Ausbildungen  des  KommimismuR  ge- 
nährt. Sie  sind  schon  so  oft  und  mit  solcher 
Kraft  ausgesprochen  worden,  dass  die  mo- 
derne Theorie  des  Bedürfnisses  und  des 
Grenznutzens  ihnen  zwar  exaktere  wissen- 
schaftliche Fassung,  aber  keineswegs  wirk- 
sameren Ausdruck  zu  verleihen  vermöchte. 
Es  bedarf  aber  wohl  keiner  weiteren  Aus- 
führung, um  zu  erkennen,  dass  derartige 
Forderungen  weit  mehr  verlangen,  als  ver- 
langt \Wrd,  wenn  man  bloss  innerhalb  der 
Einzelwirtschaft  die  thunlichste  Aus- 
gleichung der  Lebenshaltung  foi'dert.  Es 
wird  damit  verlangt,  dass  die  geschichtlich 
und  persönlich  so  verschieden  gestalteten 
Bedingungen,  unter  denen  die  Volksklassen 
und  die  Individuen  den  Erwerb  vollziehen, 
ausgeglichen  werden;  es  wird  weiter  ver- 
langt, dass  die  Individuen  sich  weitgehende 
Beschränkungen  der  Freiheit  des  Erwerbes 
gefallen  lassen  müssen;  es  wird  endlich 
verlangt,  dass  die  Gesellschaft  ihren  Mit- 
gliedern gegenüber  eine  Art  Bürgschaft  für 
das  Mass  ihres  Genusses  übernehme,  gleich- 
giltig  wie  sie  den  Erwerb  geführt  haben: 
mag  man  über  diese  weitergehenden  Forde- 
rungen im  ganzen  oder  im  einzelnen  sich 
wie  immer  entscheiden,  so  ist  es  doch  klar, 
dass  sie  neue  Probleme  stellen,  die  inner- 
halb der  Einzelwirtschaft  für  sich  nicht  ge- 
stellt sein  können. 

üebrigens  hat  die  öffentliche  Verwaltung 
seit  jeher,  wenn  auch  in  wechselndem  Um- 
fange das  Princip  anerkannt,  dass  sie  die 
Deckung  gewisser  dringendster  Bedtlrfnisse, 
ja  sogar  auch  gewisse  Grundlagen  des  Er- 
werbes allen  ohne  Ausnahme  gleichmässig 
zu  sichern  habe.  Zahlreiche  Einrichtungen 
des  Schulwesens,  der  Wohlfahrtspflege,  des 
Verkehrswesens  sind  von  dem  rrincip  ge- 
leitet, gleichmässig  d.  h.  ohne  Rücksicht 
auf  die  Verschiedenheiten  der  Kaufkraft 
oder  Zahlkraft,  bloss  dem  Bedürfnisse  zu 
dienen. 

In  diesem  Zusammenhange  ist  noch  da- 
rauf hinzuweisen,  dass  der  Staatsverwaltung 
mitunter  die  Aufgabe  zugemutet  wird,  durch 
ihre  Steuergewalt  (namentlich  durch  ent^ 
sprechende  Gestaltung  der  Erbsteuer)  auf 
die  thunlichste  Ausgleichung  von  Vermögen 
und  Einkommen  und  damit  schliesslich  der 
Lebenshaltungen  hinzuwirken.  In  der 
Sprache  der  modernen  Theorie  von  Bedürf- 
nis und  Grenznutzen  wäre  dies  so  zu  be- 
gründen, dass  die  durch  die  Steuern  den 
Privatwirtschaften  entzogenen  Gütervorräte 
beim  ärmeren  Bürger  zu  ungleich  wich- 
tigeren Bedürfnisbefriedigungen  dienen  soll- 
ten als  beim  reicheren  und  dass  es  daher 
durch  die  Hegel  des  G^renznutzens  geboten 


Grenznutzen 


785 


wäre,  die  Steuerlast  vorerst  dem  letzteren 
aufzubürden.  Damit  wäre  aber  der  Staats- 
verwallung zugemutet,  dass  sie  sich  in 
KQcksicht  auf  jene  Probleme,  von  denen 
eben  die  Rede  war,  im  Gegensatz  zxu*  herr- 
schenden Rechtsordnung  entscheide.  Der 
Geist  der  Staatsverwaltimg  kann  auf  die 
Dauer  nicht  im  Widerspruch  zur  allgemeinen 
Rechtsordnung  stehen,  imd  so  lange  diese 
das  Privateigentum  anerkennt,  ist  es  aus- 
geschlossen, dass  der  Staat  seine  Steuer 
als  Waffe  gegen  das  Privateigentum  ge- 
brauche. 

Niditsdestoweniger  lässt  die  Theorie  vom 
Grenznutzen  bezw.  die  auf  sie  aufgebaute 
Lehre  vom  subjektiven  Wert  sehr  wichtige 
Anwendungen  auf  die  Steuerlehre  zu,  und 
es  ist  der  Versuch  gemacht  worden,  den 
Forderungen  der  Steuergerechtigkeit  von 
hier  aus  eine  neue  theoretische  Grundlegung 
zu  geben. 

Denkt  man  alle  öffentlichen  und  Privat- 
ausgaben nach  der  Ordnung  ihrer  Wichtig- 
keit in  eine  Reihe  gebracht,  so  erhält  man 
zunächst  ein  allgemeines  Mass  für  die 
Grenze,  bis  zu  welcher  die  öffentlichen 
Körper  durch  die  Steuer  den  Privatwirt- 
schaften Güter  für  ihre  Zwecke  entnehmen 
dürfen ;  die  Ausgaben  der  öffentlichen  Körper 
sollen  gegen  die  der  Privatwirtschaften  so  ab- 
gewogen sein,  dass  durch  keine  der  beiderlei 
Ausgaben  minder  wichtige  Interessen  auf 
Kosten  wichtigerer  befriedigt  werden.  Ist 
damit  die  Grösse  der  Steuerforderung  im 
ganzen  abgegrenzt,  so  lässt  sich  aucli  ein 
Princip  ableiten,  welches  die  Aufteilung 
der  Steuerlast  auf  die  einzelnen  Steuer- 
pflichtigen betrifft.  Dieses  Princip  ist,  dass 
bei  der  Steuerveranlagung  stets  der  auf  den 
Grenznutzen  gegründete  subjektive  Wert  der 
Steuersumme  für  die  einzelnen  Verpflichteten 
l)erücksichtigt  w^erde.  Hierdiu-ch  erhält  man 
eine  neue  theoretische  Unterlage  für  alle  jene 
Forderungen,  die  die  Theorie  vorher  diu^h 
Berufung  auf  die  Grösse  des  »Steueropfers» 
oder  der  »Steuerkraft«  oder  der  »Leistungs- 
fähigkeit« zu  begründen  versucht  hat.  Da  der 
allgemeine  Wertstand  in  jeder  Einzelwirt- 
schaft auf  Bedarf,  Einkoramen  und  Ver- 
mögen beruht,  so  wäre  immer  der  gesamte 
Bedürfnisstand  —  mit  seinen  regelmässigen 
und  seinen  ausserordentlichen  An fordenmgen 
—  sowie  der  Einkommens-  und  Vermögens- 
stand in  Rücksicht  zu  ziehen ;  hierbei  müsste 
aber  ausserdem  der  individuelle  Bedürfnis- 
stand immer  auf  seine  Dringlichkeit  hin 
gegen  die  Bedarfsforderungen  der  Gemein- 
wesen abgewogen  werden.  Hieraus  lässt 
sich  folgern,  dass  nicht  nur  eine  Kopfsteuer, 
sondern  auch  noch  eine  bloss  nach  Mass 
des  Einkommens  verteilte  Steuer  imgerecht 
ist  \md  dass  die  Steuer  in  entsprechender 
Weise,    wie   namentlich    durch   Freigebung 


der  individuellen  Existenzbedürfnisse  und 
durch  progressiven  Steuerfuss,  durch  Berück- 
sichtigung von  Kinderzahl  oder  ausserordent- 
lichen Zufällen  der  Wirtschaft,  dem  Ver- 
hältnisse von  Bedarf  und  Einkommen  sowie 
durch  Vorbelastung  des  fundierten  Einkom- 
mens auch  dem  Vermögensstande  anzu- 
passen sei. 

Litteratur:  BemonilHf  Spedmen  theoriac 
novae  de  mensura  sortu  17S8 ,  deiittfch  von 
Fr  in  geheim,  Leipzig  1896,  —  Oossen,  Ent- 
wickeliing  der  Gesetze  des  menschlichen  Verkehrs, 
neue  Ausgabe,  Berlin  1889,  —  tTevons,  Theory 
of  Fol.  Econ.,  2.  Aufl.,  1879.  —-  Menger, 
Grundsäize  der  Volksrrirtschqftslehre,   Wien  1871. 

—  Li.  WalmSf  EUments  d'Econ.  pol.  pure, 
2.  Aufl.,  Lausanne  1889.  —  Wieser,  lieber  den 
Ursprung  und  die  Hauptgesetze  des  leirtschaft- 
lichen  Wertes,  Wien  1884.  —  Derselbe,  Der 
naiürliche  Wert,  Wien  1889  (s.  dazu  die  Vorrede 
von  W.  Smart  in  der  englischen  Ausgabe, 
London  189SJ.  —  Derselbe ,  Theory  of  Value, 
Annals  of  the  American  Academy ,  Vol.  2.  — 
Böh'ni~Ba%verhf  Grundzüge  der  Theorie  des 
wirtschaftlichen  Gilierwertes,  Jahrb.  f  Nat.-Oek., 
N.  F.  XIIL  —  Derselbe,  Kapital  und  Kapital- 
zins, 2.  Abt.,  Innsbruck  1889.  —  Derselbe, 
Wert,  Kosten  und  Grenznutzen,  Jahrbücher  für 
Nai.-Oek,,  IIL  Folge,  S.  Bd.  —  Derselbe, 
Der  letzte  Massstab  des  Gilierwertes,  Zeiischr.  f. 
Volksw.,  Wien,  S.  Bd.  (s.  dazti  Au  spitz  und 
die  Entgegnung  von  Böhm-Bawerk  ebendas., 
femer  Edgcworth  und  die  Entgegnung  von 
Böhm-Bawerk  im   Economic  Journal  1894) • 

—  Zuckerkanül,  Theorie  des  Freises,  Leipzig 
1889.  —  Derselbe,    Die    klassische  Werttheorie 
und    die    Theorie    vom    Grenznutzen,    Jahrb.   f. 
Nat.-Oek.  X.  F.  21.  —  Dietzel,    Die  klassische 
Werttheorie   und   die    Theorie  vom  Grenznutzen, 
Jahrb.  f.  Nat.-Oek.  N.  F.  20.  —  Derselbe,  Zur 
klassischen   Wert-  und  Freistheorie,  ebendaselbst, 
in.  Folge,    Bd.  1.  —  Derselbe,    Theoretiiche 
Sozialökonomie,   1.  Bd.,   Leipzig  1895.  —  Sax, 
Grundlegung    der  theoretischen  StacUsicirtsehaft, 
Wien    1887.   —  Derselbe,    Die  neuesten  Fort- 
schritte   der  national' ökonomischen   Fortschritte, 
Leipzig  1888.  —  Derselbe.  Die  Frogressivsteuer, 
Zeiischr.  f.   Volksiv.,    Wien,   Bd.   1.   —  Laun- 
hardt.    Mathematische   Begründung   der  Volks- 
tcirtschaftslehre,  Leipzig  1885.  —  Auspitz  und 
lÄeben,    Untersuchungen   über  die  Theorie  des 
Freises,.  Leipzig  1885.  —  KomarzynsM,   Det 
Wert    in    der    isolierten    Wirtschaft,    1889.    — 
PhiHppovich,   Gmndriss  der  politischen  Oeko- 
noniie,  8.  Aufl.,   Freiburg  1899.  —  Lencis,  Art. 
»Grenznutzenn  im  1.  Supplementhand  zum  Hand- 
wörterbuch der  Staaisw.,  Jena  1895.  —  Sulzer, 
Die      wirtschaftlichen      Grundgesetze      in      der 
gegenwärtigen  Fhase  ihrer  Entwickelung,  Zürich 
1805.  —  Stolzntann,    Die  soziale  Kategorie  in 
der   Volkswirtschaftslehre,  Berlin  1896.  —  Pier- 
son,   Leerboek    der  Staathuishoudkunde ,   1.  T. 
2.Aufl.,Haarlem  1896.  —  Cohen  Stuart,  Bijdrage 
tot  delhcorie  der  progressicve  Inkomstenbelasting, 
's  Gravenhage  1889.   —   Mees,    De  progressicve 
Inkomstenbelasting ,     De     Economist     1889.     — 
Wicksellf     Ueber    Wert,    Kapital    und    Rente, 
Jena    1898.   —    Derselbe,     Finanztheoretische 
Untersuchungen,     Jena    1896.    —    Marshall 


Handwörterbach  der  Staatswissenscbaften.   Zweite  Aaflaj?e.    IV 


50 


786 


Grenznutzen — Grossbetrieb  und  Kleinbetrieb 


Principles  oj  Economics,  voL  1,  S,  Aufl.,  London 
1895.  —  Wicksteedf  Alphabet  of  Eeon.  Science, 
I.  Elements  of  the  Theory  of  Value  I884.  — 
Smart,  Introduction  to  the  Theory  of  Value, 
London  1891.  —  Clark,  Phüosophy  of  Value, 
Boston  1887.  —  Derselbe,  The  UUimate  Standard 
of  Value,  Yale  Revue,  189g.  —  Patten,  Theory 
of  Dynamic  Economics,  Philadelphia  1892.  — 
Derselbe,  Cost  and  expense,  Annais  of  the 
American  Academy  1898.  -r-  Irving  Fisher, 
Mathematical  InvestigoMons  in  the  Theory  of 
Value   and  Prices,    Connecticut   Academy    1892. 

—  Macvane,  Marginal  utility  and  Value, 
Quarterly  Journal  of  Ec.  1898.  —  Derselbe, 
The  Austrian  Theory  of  Value,  AnnaXs  of  the 
American  Academy ,  1893.  —  Macfarlane, 
Value  and  DistribtUion,  Philadelphia  1899.  — 
Gidet  Principes  d'Ec.  Pol.,  6.  Aufl.,  1898.  — 
Pantaleoni,  Principii  d*Economia  pol.  pura, 
Florenz  1889.  —  Alessio,  Studi  sulla  teorica 
del  valore  nel  cambio  intemo,  Turi7i  1890.  — 
Mazzola,  Idati  seien  tiflci  della  finama  pubblica, 
Rom  1890.  —  Derselbe,  LHmposta  progressiva 
in  economic  pura  e  sociale,  Rom  1895.  — 
Benini,  H  valore  e  la  sua  attribuzione  ai 
beni  strumenlali,  Bari  1898.  —  Rieea~Salemo, 
La  Teoria  del  Valore,  Rom,  1894.  —  Qraaiani, 
Istiiutioni  di  Sciema  deUe  finanze,  Turin  1897. 

—  Derselbe,  La  ragione  progressiva  u.  s.  f. 
(Giornale  degli  Economisti)  1891.  —  Vgl.  Ehren~ 
fels,  Werttheorie  und  Ethik,  Vierteljahrsschrift  für 
wissenschafÜicJie  Philosophie,  1893  und  1894.  — 
Derselbe,  System  der  Werttheorie,  Leipzig  1897. 

V.   Wieser. 


Griechische  Finanzen 

s.  Finanzen,  griechische  oben 
Bd.  UI  S.  936  ff. 


Grossbetrieb  and  Kleinbetrieb. 

1.  Unterscheidungsmerkmale.  Vorteile  des 
Grossbetriebs.  2.  Existeuzßlhigkeit  des  Klein- 
betriebs. 3.  Die  Motoren  im  Kleinbetrieb.  4.  Sta- 
tistik der  Gross-  und  Kleinbetriebe.  5.  Gross- 
und Kleinbetrieb  in  sozialer  Beziehung. 

L  Unterscheidnngsmerkmale.  Vor- 
teile des  Grosshetriebs.  Die  allge- 
meinste Unterscheidung  des  Grossbetriebs 
vom  Kleinbetrieb  beruht  auf  der  Grösse  des 
in  einem  Unternehmen  angelegten  Kapi- 
tals, wenn  wir  auch  den  Grundbesitz  zum 
Kapitalvermögen  im  privatwirtschaftlichen 
Sinne  rechnen.  Wir  beschäftigen  uns  im 
folgenden  jedoch  nur  mit  den  gewerb- 
lichen Betrieben  in  der  Abgrenzung,  wie 
sie  in  der  Reichsstatistik  angenommen  ist. 
Es  ist  also  keineswegs  ein  notwendiges 
Merkmal  für  den  gewerblichen  Grossbetrieb, 
dass  in  demselben  eine  gi-osse  Anzahl  von 
Arbeitern  beschäftigt  werde,  denn  es  giebt 
Handels-  und  Bankgeschäfte  mit  verhältnis- 
mässig kleinem  Peraonal,  die  aber  wegen 
ihres  nach  Millionen  zählenden  Kapitals  un- 


zweifelhaft zu  den  Grossbetrieben  gehören. 
Ebenso  wird  der  Detailhandel  zum  Gross- 
betrieb, wenn  er  in  seiner  modernen  Ge- 
staltung mit  einem  grossen  Kapital  unter- 
nommen wird.  Auch  die  Verwendung  be- 
deutender Mascliinenkräfte  ist  fQr  den 
Grossbetrieb  nicht  wesentlich  charakteristisch, 
denn  in  vielen  Gewerben  bleibt  die  Hand- 
arbeit vorherrschend,  auch  wenn  sie  in 
grossen  Unternehmungen  betrieben  werden. 
So  insbesondere  in  vielen  hausindustriell 
betriebenen  Produktionszweigen,  in  denen 
die  grösseren  Unternehmer  eine  mehr  kauf- 
männische Stellung  einnehmen  und  oft  gar 
keine  eigenen  Fabrik-  oder  Werkstattein- 
richtungen besitzen.  Aber  in  der  Zeit,  in 
die  sich  der  Uebergang  von  der  älteren  zu 
der  modernen  Gestaltung  der  gewerblichen 
Produktion  voDzog,  erschien  vor  aUem  das 
Maschinenwesen  als  das  dem  Grossbetrieb 
eigentümliche  Hilfs-  und  Kampfmittel,  das 
ihm  überall,  wo  es  ziu:  Anwendung  ge- 
bracht werden  konnte,  den  Sieg  über  den 
Kleinbetrieb  verschaffte.  In  diesen  Fällen 
hing  die  Entscheidung  zwischen  Grossbetrieb 
und  Kleinbetrieb  von  einer  rein  tech- 
nischen Frage  ab.  Sobald  die  Technik 
der  Industrie  die  Möglichkeit  verschaffte, 
mit  grossen  und  teueren  Kraft-  und  Werk- 
zeugmaschinen trotz  der  notwendigen  Ver- 
zinsung dieses  stehenden  Kapitals  die 
Mengeneinheit  ihrer  Erzeugnisse  für  einen 
weit  niedrigeren  Preis  als  nach  der  hand- 
werksmässigen  Produktionsweise  zu  liefern 
und  dabei  ztigleich  die  erzeugte  Menge  in 
früher  unerhörter  Weise  zu  vermehren,  war 
in  einem  solchen  Gewerbezweige  die  Ver- 
drängung des  Kleingewerbes  endgiltig  ent- 
schieden. Wo  eine  auf  der  Höhe  der  Tech- 
nik stehende  Produktion  nur  mit  solchen 
Maschinen  möglich  ist,  sind  nur  Unter- 
nehmungen mit  gix)ssem  Kapital,  d.  h.  also 
Grossbetriebe  existenzfähig.  Neben  der 
Maschinenspinnerei  z.  B.  kann  sich  der  kleine 
Handbetrieb  ebensowenig  noch  behaupten 
wie  das  Frachtfuhrwerk  neben  der  Eisen- 
bah'n,  und  wenn  von  der  gewöhnlichen 
Handweberei  noch  einige  Reste  ein  kläg- 
liches Dasein  fristen,  so  ist  dieser  doch  jede 
Zukunftsaussicht  abgeschnitten. 

Wenn  aber  aiif  vielen  Gebieten  die  Tech- 
nik unmittelbar  das  entscheidende  Wort 
zu  Gunsten  des  Grossbetriebs  ausgesprochen 
hat  so  giebt  es  doch  andere,  auf  denen  der 
Grossbetrieb  nicht  durch  die  unumgänglichen 
Bedingungen  der  Technik,  sondern  durch 
die  Einwirkung  besonderer  wirtschaft- 
licher Umstände  verbreitet  und  befördert 
worden  ist.  Die  Werkzeuge  und  kleinen 
Maschinen,  die  in  der  Kleineisenindustriej 
in  der  Kleider-  und  Modewarenkonfektion, 
in  der  Tischlerei  und  anderen  überwiegend 
auf  Handarbeit  beruhenden  Gewerben  ver- 


Örossbetrieb  und  Kleinbetrieb 


787 


wendet  werden,  sind  auch  dem  kleinen  Be- 
trieb erreichbar,  bei  dem  natürlich  ebenfalls 
ein  gewisses,  seinem  Umfange  angemessenes 
Kapital  vorj^usgesetzt  werden  muss.  Auf 
diesem  Gebiete  sind  also  beide  Betriebs- 
forraen  mit  rationellen  technischen  Hilfs- 
mitteln möglich,  und  hier  spielt  sich  daher 
fast  ausschliesslich  der  Wettkampf  zwischen 
beiden  ab.  Im  ganzen  hat  aucn  hier  der 
Grossbetrieb  immer  mehr  Boden  gewonnen, 
weil  er  sich  infolge  seines  grossen  Kapital- 
besitzes auch  gewisser  rein  ökonomischer 
Vorteile  erfreut.  Diese  Vorteile,  die  dem 
Grossbetrieb  auch  abgesehen  von  dem  Ma- 
schinenwesen zu  gute  kommen,  sind  haupt- 
sächlich folgende:  Er  kann  bei  der  grossen 
Zahl  seiner  Arbeitskräfte  eine  rationelle 
Arbeitsteilung  durchführen  und  dadurch 
zugleich  seine  Arbeitskräfte  gleichmässiger 
und  mit  vollerer  Anspannung  beschäftigen, 
als  es  dem  Kleinbetrieb  möglich  ist.  Auch 
die  fruchtbare  Ausnutzung  der  an  sich  auch 
für  den  letzteren  geeigneten  Maschinen  ist 
in  vielen  Fällen  von  einer  angemessenen 
Arbeitsteilung  abhängig.  Denn  eine  solche 
Maschine,  z.  B.  eine  Kreiss^e,  verrichtet 
nur  eine  bestimmte  einfache  Teilarbeit;  zu 
ihrer  voDen  Ausnutzung  aber  muss  sie 
während  der  ganzen  Arbeitszeit  in  Thätig- 
keit  gehalten  werden,  imd  das  setzt  voraus, 
dass  auch  alle  übrigen  Teilarbeiten  des  be- 
treffenden Gewerbebetriebes  im  gleichen 
Schritt  gefördert  werden,  und  dieses  bedingt 
häufig  eine  Massenhaftigkeit  der  Produktion, 
die  mit  der  geringen  Kapitalkraft  des  Klein- 
betriebs nicht  vereinbar  ist.  Für  den  Klein- 
betrieb sind  ferner,  wenn  er  nicht  die  noch 
zu  erwähnenden  individualisierten  Erzeug- 
nisse liefert,  die  Absatzbedingungen 
weit  ungünstiger  als  für  den  Ghx)ssbetrieb. 
Arbeitet  er  für  den  lokalen  Markt  (also 
nicht  auf  Bestellung),  so  findet  er  die  Kon- 
kurrenz der  im  grossen  he^estellten  »Fa- 
brikwaren«. Sind  aber  seine  Erzeugnisse  für 
den  Weltmarkt  oder  überhaupt  für  den  Ab- 
satz in  der  Feme  bestimmt,  so  stehen  die 
ihn  unternehmenden  Gewerbetreibenden  zu 
den  Kauf  leuten,  die  jenen  Absatz  auf  eigene 
Rechnung  und  Gefahr  übernehmen,  in  einem 
ganz  ähnlichen  Abhängigkeitsverhältnis  wie 
die  Lohnarb»eiter  zu  den  Arbeitgebern,  und 
es  bleibt  ihnen  auf  Grund  ihres  ohnehin 
nur  kleinen  Kapitals  nur  ein  sehr  geringer 
ünternehmergewinn  übrig.  Dem  Grossbetrieb 
dagegen  steht  der  ganze  Apparat  des  mo- 
dernen Handelsmechanismus  zur  Verfügung, 
er  kann  JReisende  nach  allen  Weltteilen  ent- 
senden, Agenturen  unterhalten,  Ausstellungen 
beschicken  u.  s.  w.  Ferner  wird  es  den 
kleinen,  handwerksmäßsigen  Unternehmern 
meistens  schwerer,  tüchtige  und  ge- 
schickte Arbeiter  zu  erhalten,  als  den 
Grossbetrieben.    Ihre  allgemeinen  Kos- 


ten sind  in  der  Regel  verhältnismässig 
höher,  da  z.  B.  eine  grosse  Dampfmaschine 
nicht  fünfzig  oder  hundert  mal  mehr  kostet 
als  fünfzig  oder  hundert  Kleinmotoren,  die 
zusammen  denselben  Krafteffekt  haben. 
Ebenso  stehen  die  Betriebskosten  für  die 
Stunde  und  Pferdekraft  im  umgekehrten 
Verhältnis .  zur  Leistungsfälligkeit  und  Be- 
nutzimgsdauer  der  Maschine.  Auch  die 
Roh-  und  Hilfsstoffe  können  im  grossen 
Betriebe  billiger  bezogen  werden  als  im 
kleinen,  da  der  erstere  im  stände  ist,  sie  in 
grossen  Mengen  und  aus  erster  Hand  anzu- 
kaufen. Dazu  kommt  noch  der  leichte 
und  billige  Kredit,  dessen  sich  der 
Grossbetrieb  vermöge  seines  bedeutenden 
Kapitals  erfreut.  Durch  genossenschaftliche 
Organisationen,  namentlich  diurch  Rohstoff-, 
Magazin-  und  Kreditgenossenschaften  lassen 
sieh  diese  wirtschaftlichen  Nachteile  des 
Kleinbetriebs  allerdings  vermindern,  aber 
keineswegs  völlig  ausgleichen. 

Die  rein  wirtschaftlichen  Vorteile  des 
Grossbetriebs  zeigen  sich  mit  besonderer  Deut- 
lichkeit in  den  in  der  neuesten  Zeit  zu  immer 
grösserer  Bedeutung  gelangten  Grossunter- 
nehmungen für  den  Detaühandel,  in  denen 
Maschinen  und  technische  Hilfsmittel  keine 
oder  keine  nennenswerte  Rolle  spielen.  Die 
grossen  Warenhäuser  üben  überdies  durch 
diese  ganze  Einrichtung  eine  besondere  An- 
ziehungskraft auf  das  Publikum  aus,  dem 
sie  Bequemlichkeiten  und  Annehmlichkeiten 
darbieten,  die  in  kleinen  Läden  nicht  zu 
finden  sind.  Namentlich  aber  sind  sie  in- 
folge der  erwälmten  Vorteile  im  stände, 
dieselben  Warencjualitäten  billiger  zu  liefern 
als  die  Kleinbetriebe,  imd  wegen  der  Not- 
wendigkeit, einen  ihrem  Kapital  entsprechen- 
den grossen  Umsatz  zu  erzielen,  sind  sie 
auch  gezwungen,  dies  wirklich  zu  thun,  imd 
somit  bildet  ihr  Emporkommen  in  den 
grossen  Städten  einen  Gewinn  für  die 
grosse  Masse  der  Konsumenten  und  einen 
volkswirtschaftlichen  Fortschritt.  Dagegen 
findet  auf  dem  Gebiet  des  Kleinbetriebs, 
des  Detailhandels  eine  unwirtschaftliche 
Verwendung  von  Kapital  und  Arbeit  statt, 
wie  sie  auf  keinem  anderen  vorkommt.  In 
den  Städten  werden  fortwährend  neue  Läden 
eröffnet^  deren  Inhaber  den  grössten  Teil 
ihrer  Zeit  mit  vergeblichem  Warten  auf 
Kunden  zubringen,  und  viele  von  ihnen  sind 
bald  wieder  genötigt,  mit  Verlust  ihres 
kleinen  Kapitals  imd  mit  Schädigung  der- 
jenigen, die  ihnen  Waren  auf  Kredit  ge- 
liefert haben,  den  verfehlten  Versuch  wieder 
aufzugeben.  Auf  die  Grösse  des  volkswirt- 
schaftlichen Bedürfnisses  an  Leistungen  des 
Detailhandels  wird  bei  diesen  Versuchen 
keinerlei  Rücksicht  genommen.  Während 
sich  die  Bevölkerung  von  1882  bis  1895  nur 
um    15 ^/o    vermehrte,    ist    die    Zahl    der 

50* 


788 


Grossbetrieb  und  Kleinbetrieb 


Betriebe  mit  1 — 5  Hilfspersonen  in  dieser 
Periode  z.  B.  bei  den  Manufakturwaren- 
geschäften um  43®/o,  bei  den  Kurzwaren- 
geschäften um  70*^/o  gestiegen.  Anderer- 
seits hat  die  Zahl  der  mittieren  Betriebe 
mit  6  bis  50  Gehilfen,  die  dem  eigentlichen 
Mittelstande  angehören,  noch  mehr,  näm- 
lich bei  den  ersterwähnten  Geschäften 
um  80,  bei  den  zweiten  um  100  ®/o  zuge- 
nommen, woraus  folgt,  dass  auch  nach  Er- 
drosselung der  Grossbetriebe  die  Kleinbetriebe 
unter  demselben  Druck  einer  überlegenen 
Konkurrenz  bleiben  würden,  da  sich  die 
kapitalkräftigeren  und  leistungsfähigeren 
Mittelbetriebe  noch  stärker  vermehren  und 
bis  zu  der  Grenze  entwickeln  würden,  an  der 
ihnen  der  weitere  Fortschritt  durch  die 
projektierte  Steuerstrafe  abgeschnitten  würde. 
Im  übrigen  s.  d.  Art.  Warenhäuser. 

2.  Existenzfähigkeit  des  Kleinbe- 
triebs. Gesicherte  Lebensbedingungen  findet 
der  Kleinbetrieb  von  Gewerbe  und  Handel 
in  erster  Linie  noch  in  den  kleineren  Städten 
und  den  grösseren  Dörfern,  die  Landbezirke 
mit  gewerblichen  Erzeugnissen  versorgen. 
Viele  von  den  früher  handwerksmässig  her- 
gestellten Gegenständen  werden  allerdings 
jetzt  auch  in  diesen  Orten  als  Fabrikwaren 
bezogen;  aber  der  Handel  mit  denselben 
wird  in  der  Regel  nur  im  kleinen  und  in 
Verbindung  mit  dem  nächstverwandten 
Handwerk  betrieben,  da  wegen  der  Be- 
schränktheit des  örtlichen  Absatzes  grosse 
Magazine  und  reichhaltige  Lager  nicht  unter- 
halten werden  können.  Aber  auch  in 
grösseren  Städten  behalten  gewisse  Gewerbe 
eine  überwiegend  lokale  Bedeutung  und 
lassen  daher  einen  erfolgreichen  Betrieb  in 
kleinerem  Umfange  zu;  so.  die  Nahrungs- 
gewerbe, die  raschem  Verderben  ausgesetzte 
Lebensmittel  liefern;  ferner  Schuhmacherei 
und  Sclineiderei  und  die  übrigen  Beklei- 
dungsgewerbe, bis  zu  einem  gewissen  Grade 
auch  Schlosserei,  Klempnerei,  Tischlerei  und 
die  Bauhandwerke,  auch  Dnickerei,  Buch- 
binderei etc.  Namentlich  erweist  sich  der 
Kleinbetrieb  in  den  meisten  Fällen  als  kon- 
kurrenzfähig, in  denen  es  sich  um  genaue 
Anpassung  an  das  individuelle  Bedürfnis, 
also  um  Gebrauchsgegenstände  handelt,  die 
nach  Mass  oder  besonderer  Voi^schrift  an- 
gefertigt werden.  Daher  wird  trotz  der  zu- 
nehmenden Konkiurenz  der  Konfektions- 
waren der  handwerksmässige  Kleinbetrieb 
sich  auch  in  den  Bekleidungsgewerben  in 
erheblichem  Umfange  behaupten  können. 
Es  kommt  bei  diesen  individualisierten 
Leistimgen  besondere  auf  die  Gesclücklich- 
keit  und  Gewissenhaftigkeit  des  Verfertigers 
an,  und  ein  selbstarbeitonder  Handwerks- 
mei.ster,  der  diese  Eigenschaften  besitzt,  ist 
häufig  den  grossen  Uifternehmern,  die  sich 
auf  ihre  Lohnarbeiter  verlassen  müssen,  ent- 


schieden überlegen.  Die  eigene  Sachkunde 
des  Meisters  giebt  zugleich  eine  Garantie 
für  bessere  Arbeit  der  Gesellen.  Aehnlich 
ist  das  Verhältnis  bei  der  Herstellung  aJler 
Erzeugnisse,  die  nicht  nach  allgemeinen 
Schablonen,  sondern  in  besonderen,  mehr 
künstlerischen  Formen  erscheinen  oder  in 
allen  ihren  Enzelheiten  mit  besonderer  Ge- 
nauigkeit und  Präcision  angefertigt  werden 
müssen.  Der  wirkliche  Künstler  kann  ja 
überhaupt  nur  als  einzelner  arbeiten,  und 
ein  »Grossbetrieb«,  z.  B.  in  der  Boman- 
schrif tstellerei  nach  der  Methode  des  älteren 
Dumas,  oder  wie  man  ihn  gewissen  Malern 
nachsagt,  fällt  ausserhalb  des  Gebietes  der 
Kunst.  —  Auch  die  nicht  für  individuellen 
Bedarf,  sondern  für  den  durch  den  Handel 
vermittelten  Absatz  arbeitenden  Klein- 
betriebe sind  bei  den  Gegenständen  im 
Vorsprunge,  deren  Anfertigung  besonderen 
Geschmack  oder  besondere  GeschicMichkeit 
oder  Sorgfalt  erfordert,  wenn  zugleich  dabei 
vorzugsweise  Handarbeit  verwendet  wird 
und  der  Rohstoff  billig  ist  oder  wenigstens 
keine  bedeutende  Kapitalanlage  bedingt.  Bei- 
spielsweise gilt  dies  von  vielen  Kurz-  imd  Ga- 
lanteriewaren nach  Art  der  sogenannten  »Pa- 
riser Artikel«,  üeberdies  ist  in  Paris  selbst 
so^de  auch  in  anderen  grossen  Städten  der 
Detaühandel  in  diesen  Artikeln  in  solchem 
Umfange  entwickelt,  dass  die  kleinen  Fa- 
brikanten einen  grossen  Teil  ihrer  Erzeug- 
nisse unmittelbar  an  die  mit  den  letzten 
Abnehmern  verkehrenden  Ladeninhaber  ab- 
setzen können.  Dass  im  hausindustriellen 
Kleinbetrieb  oft  alle  Familienmitglieder  vom 
frühen  Kindesalter  mit  beschäftigt  werden, 
kommt  ihnen  zwar  in  mancher  Beziehung 
zu  statten,  giebt  aber  auch  Anlass  zu  starker 
Herabdrückung  der  Preise  der  Arbeit  und 
zu  vorzeitiger  und  übermässiger  Anstrengung 
der  Kinder. 

Li  der  neuesten  Zeit  erwartet  man  viel- 
fach gix)sse  Förderung  des  Kleinbetriebes 
von  der  ihm  mehr  und  mehr  zugänglich 
gemachten  Anwendung  mechanischer  Mo- 
toren. Frühere  Vorschläge  und  Versuche 
betrafen  gemeinschaftliche  Maschinenanlagen, 
nämlich  Centralstellen,  wo  die  beteiligten 
kleinen  Unternehmer  durch  Dampf  oder 
Wasser  getriebene  Werkzeugmaschinen  für 
ihren  Bedarf  mieten  konnten.  Jeder  wird 
indes  vorziehen,  diese  Hilfsmittel  in  seiner 
eigenen  Werkstätte  zu  benutzen,  und  dazu 
bieten  die  gegenwärtig  in  so  zahlreichen 
Arten  zur  Verfügiuig  stehenden  Kleinmo- 
toren die  Möglichkeit.  Der  Dampfmaschine, 
die  sich  bei  billigem  Betrieb  auf  sehr  koim- 
pendiöse  Formen  bringen  lässt,  ist  in  dieser 
Eigenschaft  der  Vorzug  durch  andere  Mo- 
toren streitig  gemacht  worden,  die  keine 
Kessolanlage  erfordern  imd  fast  gänzlich  ge- 
falu'los  sind.    Die  Heissluftmaschine,  zuerst 


Grossbetrieb  und  Kleinbetrieb 


789 


von  Erikson  erfunden,  hat  allmählich  solche 
Verbesserungen  erfahren,  dass  sie  jetzt  prak- 
tisch verwendbar  ist.  Beliebter  jedoch  ist 
die  durch  Explosion  eines  Gasgemenges  ge- 
triebene Gaskraftmaschine,  von  der  melirere 
Systeme,  namentlich  aber  das  Ottö-Langen- 
sche  im  Gebrauche  sind.  Auch  die  Elektri- 
cität  hat  als  bewegende  Kraft  schon  Ein- 
gang in  den  Kleinbetrieb  gefunden,  mid 
zwar  in  der  Art,  dass  der  Strom  von  einer 
CentralsteDe  aus  den  Einzelmaschinen  zu- 
geführt wird.  Solche  Centralstellen  zur  Ver- 
teilung mechanischer  Kraft  finden  wir  auch 
bei  dem  in  Paris  mit  Erfolg  angewandten 
Poppschen  Druckluftsystem  sowie  auch  bei 
dem  ebenfalls  in  Paris  schon  erprobten 
System  der  Verdünnung  der  liuft  in  einer 
Röhrenleitung.  Diese  •  Kraftzuftihrung  aus 
Centralstellen  hat  selbst  den  grossen  Dampf- 
maschinen gegenüber  den  Vorteil,  dass  die 
Benutzung  des  Motors  nur  für  die  Zeit  be- 
zahlt zu  werden  braucht,  während  welcher 
er  wirklich  gebraucht  worden  ist.  Auch 
Wasserdruckmaschinen  stehen  dem  Klein- 
gewerbe nach  verschiedenen  Systemen  ziu* 
Verfügung.  In  der  Regel  werden  dieselben 
jedoch  nicht  durch  in  der  Nähe  der  Betriebs- 
stelle vorhandene  Wasserkräfte,  sondern 
durch  das  Wasser  der  städtischen  Leitungen 
getrieben,  imd  der  Preis  einer  Pferdekraft 
stellt  sich  daher  durchschnittlich  erheblich 
höher,  als  bei  der  Anwendung  von  kleinen 
Dampf-,  Gas-,  Luft-  und  elektrischen  Ma- 
schinen, welche  alle  hinsichtlich  der  Be- 
triebskosten nicht  weit  von  einander  ab- 
stehen. In  Gebirgsgegenden  und  anderen 
geeigneten  Oertüchkeiten  spielt  auch  die 
immittelbare  Verwendung  der  nattlrlichen 
Wasserkraft  mit  Hilfe  der  alten  Vorrichtungen 
im  Kleinbetriebe  noch  eine  bedeutende  RoUe. 
Namentlich  gut  dies  in  betreff  der  MüUerei, 
die  überdies  in  den  Ebenen  auch  noch  den 
Wind  in  kleinen  Anlagen  verwerten  kann. 
Nach  Petersilie  kamen  1882  in  Preussen 
von  den  kleingewerblichen  Motorenbetrieben 
(mit  höchstens  fünf  Gehilfen)  allein  30651 
auf  die  Getreidemüllerei,  während  alle  übri- 
gen Kleingewerbe  nach  Ausschluss-  der 
Getreide-  und  Oelmüllerei  nur  8594  Motoren, 
0,8  %  der  Zahl  der  kleingewerblichen  Haupt- 
betriebe, verwendeten.  Im  Vergleich  mit 
der  entsprechenden  Zahl  nach  der  Gewerbe- 
statistik von  1875  war  allerdings  eine  Ver- 
mehrung der  letzteren  um  3056  eingetreten, 
aber  gleichwohl  wii-d  man  zugestehen 
müssen,  dass  die  Motoren  in  den  nicht 
schon  von  alters  her  mit  solchen  ausge- 
statteten Kleingewerben  bis  1882  in  Preussen 
noch  sehr  geringe  Verbreitung  gefunden 
hatten.  Seitdem  sind  jedoch  bedeutende 
Fortschritte  gemacht  worden. 

3.  Die  Motoren  im  Kleinbetrieb.  Nach 
den  Angaben  der  fünf  grossten  deutschen 


Motorenfabriken  schätzte  Albrecht  1889  die 
Zahl  der  im  Reiche  in  Betrieb  stehenden 
QtBS'  und  Heissluftmotoren  auf  30000,  von 
denen  ungefälu*  21000  den  Kleinbetrieben 
angehören  dürften,  wenn  man  für  diese  vier 
Pfeixlekräfte  als  obere  Grenze  der  Leistungs- 
fähigkeit annimmt,  was  allerdings  nicht  aJl- 
gemein  zutreffend  sein  wird.  Nach  der  Ge- 
w^erbezählung  vom  14.  Juni  1895  betrug  die 
Zahl  der  Motoren  benutzenden  Hauptbetriebe 
mit  höchstens  fünf  beschäftigten  Pereonen 
im  Deutschen  Reiche  95558  und  die  Zahl 
der  verwendeten  Pferdekräfte  438801.  Diese 
letztere  Zahl  stellt  13  %  der  Gesamtsiunme 
der  in  den  Gewerben  durch  Motoren  ge- 
lieferten Pferdekräfte  dar.  Der  Prozentsatz 
der  Kleinbetriebe  (in  der  angegebenen  Ab- 
grenzimg), die  überhaupt  Motoren  benutzten, 
war  3,3,  oder  wenn  man  die  Alleinbetriebe 
(ohne  jede  Hilfspei'son)  ausscheidet,  7,8. 
Von  den  Betriel)en  mit  6 — 20  Personen 
hatten  29235  (18,1  o/o)  Motoren  mit  375645 
Pferdekräften,  und  für  die  Betriebe  mit  21 
imd  mehr  Pereonen  waren  die  entsprechen- 
den Zahlen  26902  (55,0  o/o)  und  2562881. 
unter  den  Kleinbetrieben  wiesen  auch  jetzt 
wieder  die  Geti'eidemühlen  die  meisten  Mo- 
torenbetriebe auf,  nämlich  41 258  mit  220  773 
Pferdeki-äften,  verliältnismässig  aber  hat 
dieses  üebergewicht  seit  1882  bedeutend 
abgenommen.  Ferner  betrug  u.  a.  die  Zahl 
der  Kleinbetriebe  mit  Motoren  in  der  Säge- 
müllerei 6904,  in  der  OelmüUei-ei  683,  in 
der  Branntweinbi'ennerei  4S02,  bei  den  Ma- 
schinenverleihungsgeschäften 2380,  in  der 
Butter-  und  Käsefabrikation  2036,  in  der 
Schleiferei  3294,  .in  der  Tischlerei  und 
Parkettfabrikation  1156,  in  der  Brauerei  1121, 
im  Zeug-  und  Messerschmiedegewerbe  958, 
in  der  Drechslerei  713,  in  der  Schlosserei 
529,  in  der  Gerberei  523,  in  der  Buch- 
druckerei 511. 

Manche  Kleinbetriebe  erludten  dxvrch  die 
ihnen  angepassten  Masclünen  ohne  Zweifel 
eine  wertvolle  Unteretützung  in  ihrem  Wett- 
bewerb mit  den  Grossbetrieben.  Aber  es 
werden  dadurch  weder  die  (h^nzen  des 
dem  Grossbetrieb  aus  technischen  Gründen 
ausschliesslich  zufallenden  Gebietes  wesent- 
lich eingeengt  noch  die  oben  angeführten 
specifisch  wirtschaftlichen,  durch  die  Absatz-, 
Einkaufs-,  Kredit-,  Arbeiterverhältnisse  be- 
dingten Nachteile  des  Kleingewerbes  aufge- 
hoben. Einige  von  denjenigen  Kleingewerbe- 
treibenden, die  zuerst  im  stände  sind,  sich 
eine  nenerfundene  Maschine  anzuschaffen, 
werden  sich  wahrecheinlich  zu  einer  mitt- 
leren Betriebsstufe  eiuporarbeiten,  also  aus 
der  gewerblichen  Klasse,  der  sie  bisher  an- 
gehörten, ausscheiden;  durch  die  verschärfte 
Konkurrenz  aber  werden  immer  mehr  kleine 
Unternehmer  genötigt,  sich  ebenfalls  mit 
solchen  Maschinen   zu   versehen,   und  wer 


790 


Grossbetrieb  uod  Kleinbetrieb 


nicht  dazu  im  stände  ist,  wird  vielleicht 
überhaupt  nicht  mehr  bestehen  können. 
Wenn  durch  diese  Verdrängung  der  wenigst 
bemittelten  Mitbewerber  vielleicht  auch  eine 
Zeit  lang  die  Verwendung  der  Maschinen  für 
die  übrigen  einen  ungewöhnlich  hohen  Ka- 
pitalgewinn, eine  Art  von  Vorzugsrente  ab- 
werfen mag,  so  w^ird  dies  jedoch  aufhören, 
wenn  die  Benutzung  dieser  Hilfsmittel  sich 
verallgemeinert  hat  und  gewissermassen  eine 
selbstverständliche  Lebensbedingung  für  den 
betreffenden  Betrieb  geworden  ist.  Es  ist 
nicht  abzusehen,  weshalb  dann  das  angelegte 
kleine  Kapital  sich  hoher  als  zu  dem  nor- 
malen Gewinnsatze,  der  auch  bei  der  früheren 
Betriebsform  erreicht  wurde,  verzinsen  sollte. 
Es  wird  sich,  wenn  auch  in  anderen  Grössen- 
verhältnissen,  im  wiesen tlichen  immer  wieder- 
holen, was  man  hinsichtlich  der  Nähmaschine 
beobachten  kann.  Hat  diese  etwa  die  Lage 
der  selbständigen  Näherinnen  dauenid  ver- 
bessert? Keineswegs,  sie  hat  nur  bewirkt, 
dass  eine  Näherin  ohne  Maschine  überhaupt 
nicht  mehr  existieren  kann,  sie  muss  sich 
die  Maschine  nötigenfalls  zu  sehr  ungünstigen 
Bedingungen,  etwa  in  einem  Abzahlungsge- 
schäft anschaffen ;  die  Konkurrenz  ist  daher 
bald  wieder  so  gross  geworden,  dass  trotz 
der  Auslage  für  die  Maschine  keine  nach- 
haltige &höhung  des  Verdienstes  der 
Näherinnen  merkbar  bleibt,  üeberhaupt 
kann  die  wirtschaftliche  Wirkung  der  Ma- 
schinenverwendung in  kleinem  Betriebe  auf 
die  Dauer  keine  andere  sein  als  im  grossen : 
die  Maschine  bewirkt  eine  Steigerung  der 
objektiven  Produktivität  der  menschlichen 
Arbeit,  die  schliesslich  den  Konsumenten 
zu  gute  kommt,  nicht  aber  eine  dauernde 
Erhöhung  der  Rate  des  Kapitalgewinnes 
venu-sacht,  da  die  Konkurrenz  den  Preis 
der  nimmehr  in  grösserer  Menge  produ- 
zierten Erzeugnisse  entsprechend  herab- 
drückt. Nur  in  der  Uebergangszeit  erlangen 
diejenigen,  die  zuerst  die  neuen  technischen 
Hilfsmittel  anwenden,  einen  oft  bedeutenden 
Extragewinn.  Eine  nachhaltige  Vorzugs- 
rente dagegen  kann  niu*  derjenige  kleine 
Gewerbtreibende  erwerben,  der  sicli  diuxjh 
eigene  Arbeitsgeschicklichkeit  und  Geschäfts- 
tüchtigkeit vor  den  übrigen  auszeichnet. 

4.  Statistik  der  Gross-  und  Kleinbe- 
triebe. Wenn  wir  nach  der  thatsächlichen 
Ausdehnung  des  Gross-  und  des  Kleinbe- 
triebs fragen,  so  kann  die  Antwort  nur  auf 
Grund  einer  willkürlichen  Abgrenzung  der 
beiden  Betriebsformen  erfolgen.  Wir  haben 
oben  die  Grösse  des  benutzten  Kapitals  als 
das  unterscheidende  Merkmal  für  dieselben 
angenommen;  aber  wo  soU  die  Grenze 
zwischen  grossem  und  kleinem  Kapital  ge- 
zogen werden?  Immerhin  könnte  man  sich 
über  eine  solche  einigen,  aber  die  statistische 
Erhebung   des  Kapitals  der  einzelnen  Ge- 


werbebetriebe würde,  abgesehen  von  dem 
der  Aktiengesellschaften,  auf  grosse  Schwie- 
rigkeiten stossen.  Es  bleibt  also  nichts 
übrig,  als  sich  zunächst  an  das  reiu  äusser- 
liche  Merkmal  der  Zahl  der  Gehilfen  zu 
lialten,  obwohl  diese  Zahlen  je  nach  der 
Art  des  Unternehmens  sehr  verschiedene 
Bedeutungen  haben,  wie  sich  namentlich  in 
dem  Unterschiede  zwischen  einem  Gross- 
handels- oder  Bankgeschäft  und  einem 
Handwerksbetrieb  mit  derselben  Gehilfen- 
zahl zeigt.  Es  empfiehlt  sich  daher,  noch 
eine  weitere  Unterscheidung  der  Betriebe 
nach  der  Zahl  der  Angestellten  durch- 
zuführen, wenn  unter  diesen,-  wie  in  der 
deutschen  Gewerbestatistik,  das  Verwaltungs- 
und Kontorpersonal  sowie  das  technische 
Aufsichtspersonal  und  die  höheren  Techniker 
zu  verstehen  sind.  Die  Ladengehilfen  jedoch 
wären  auszuschliessen.  Die  Reichsstatistik 
unterscheidet  zunächst  Alleinbetriebe 
und  Gehilfenbetriebe,  wobei  aber  zu 
den  letzteren  auch  die  Betriebe,  in  denen 
Mitinhaber  beschäftigt  sind,  sowie  aUe 
Motorenbetriebe  gerechnet  werden.  Es  giebt 
daher  auch  Gehilfenbetriebe,  in  denen  nur 
eine  Person  beschäftigt  ist,  ein  Fall,  der 
auch  dadurch. eintreten  kann,  dass  der  Ge- 
schäftsinhaber das  Gewerbe  selbst  gar  nicht 
oder  nicht  im  Hauptberuf  betreibt. 

Unter  den  Hauptbetrieben  waren  im 
Jahre  1895  (mit  Einschluss  der  hausindus- 
triellen Betriebe)  1714351  Alleinbctriebe 
und  1430626  G^hilfenbetriebe ,  also  bezw. 
54,5  und  45,5  %  der  Gesamtzahl.  Im  Jahre 
1882  waren  die  entsprechenden  Zahlen 
1 877  872  und  1 127  585  und  die  Prozentver- 
hältnisse 62,5  und  37,5.  Die  Alleinbetriebe 
und  somit  die  kleinsten  Betriebe  hatten  also 
auch  1895  noch  das  Uebergewicht  ihrer 
Zahl  nach,  jedoch  waren  sie  seit  1882  ver- 
hältnismässig zurückgegangen.  Von  den  in 
den  Hauptbetrieben  überliaupt  beschäftigten 
Personen  aber  kamen  1895  niu*  16,7  ^/o  auf 
die  Alleinbetriebe,  gegen  25,6 ®/o  im  Jahre 
1882.  Zu  den  Kleinbetrieben  rechnet 
die  Reichsstatistik  ausser  den  AUeinbetrie- 
ben  noch  die  Gehilfenbetriebe  mit  höchstens 
5  beschäftigten  Personen,  als  Mittelbetriebe 
betrachtet  sie  die  mit  6  bis  50  bescliäftig- 
ten  Personen,  als  Grossbetriobe  die  mit  51 
und  mehr  Personen,  wobei  die  Betriebe  mit 
mehr  als  1000  Personen  auch  als  Riesen- 
betriebe bezeichnet  werden.  Es  betrug  hier- 
nach die  Zahl  der  Hauptbetriebe  und  der 
beschäftigten  Personen: 


Grossbetrieb  und  Kleiabetrieb 


791 


Kiembetriebe 

Mittelbetriebe 

Grossbetriebe 

Kleinbetriebe 

Mittelbetriebe 

Grossbetriebe 


Die  Kleinbetriebe  haben  also  seit  1882 
sowohl  in  ihrer  Zahl  wie  in  ihrem  Personal 
absolut  noch  einigermassen  zugenommen, 
wenn  sie  auch  im  Verhältnis  zu  den  anderen 
Betriebsgrössen  zurückgegangen  sind.  Die 
Mittelbetriebe  aber  sind  in  der  Zahl  um 
09  ^/o,  im  Personal  um  76  %  und  die  Gross- 
betriebe in  der  Zahl  um  98  ^/o,  im  Pei'sonal  um 
89  ^/o  gewachsen. 

5.  Gross-  und  Kleinbetrieb  in  so- 
zialer Beziehung.  So  weit  der  Gross- 
betrieb im  Vergleich  mit  dem  Kleinbetrieb 
die  Produktivität  der  Arbeit  steigert,  also 
soweit  er  bewirkt,  dass  mit  demselben  Auf- 
wand von  Kapital  oder  Arbeit  eine  grössere 
Menge  objektiver  Güter  geschaffen  und  den 
Konsumenten  zur  Verfügung  gestellt  werden 
kann,  bildet  er  unzweifelhaft  einen  volks- 
wirtschaftlichen Fortscliritt,  und  wenn  diese 
Entwickelung  in  der  üebergangsperiode 
auch  oft  viele  privatwirtschaftliche  Interessen 
schädigt,  so  ist  doch  jeder  Versuch,  sie  zu 
unterdrücken,  durchaus  ebenso  zu  beurteilen 
wie  die  Fordening,  dass  im  Interesse  der 
Fi-achtfuhrleute  m\i  Lohnkutscher  auf  den 
Eisenbahnbau  zu  verzichten  sei.  Auf  diesem 
Niveau  stehen  z.  B.  die  gegenwärtig  lebhaft 
hervortretenden  und  durch  das  Vorgehen 
gegen  die  Warenhäuser  ermutigten  Be- 
strebung-en,  den  Kleinbetrieb  der  Müllerei 
durch  eine  Umsatzsteuer  gegen  den  dem 
modernen  Standpunkt  der  Technik  ent- 
sprechenden Grossbetrieb  zu  schützen. 

Dass  die  möglichst  hohe  Steigerung  der 
Produktivität  vor  allem  auch  im  Interesse 
der  Arbeiterklasse  liegt  und  dass  eine  Hem- 
mung dieses  Fortschrittes  gleichbedeutend  ist 
mit  der  Begünstigung  einer  relativ  besitzen- 
den Klasse  auf  Kosten  der  besitzlosen,  ist 
einleuchtend.  Denn  wenn  der  Anteil  der 
Arbeiter  an  den  produzierten  Gütern  ver- 
mehrt werden  soll,  so  ist  die  erste  zu  er- 
füllende Bedingung,  dass  die  Masse  der  von 
einer  gegebenen  Summe  von  Arbeitskräften 
erzeu^n  Güter  vergrössert  w^erde.  üebri- 
gens  ist  auch  thatsächlich  die  durchschnitt- 
liche Lage  der  Arbeiter  in  dem  fabrikmäs- 
sigen  Grossbetrieb  besser  als  die  in  den 
Kleinbetrieben  beschäftigten  sowohl  hin- 
sichtlich der  Löhne  als  auch  der  Einrich- 
tung der  Arbeitslokale  und  häufig  auch  der 
Länge  der  Arbeitszeit.  Dazu  kommen  die 
mannigfaltigen  Wohlfahrtseinrichtnngen,  die 
überhaupt    nur     von     grosskapitalistischen 


Betriebe 

Personen 

1895                      1892 

1895 

1892 

934  723                 2  882  768 

4  770  669 

4  335  822 

191  301                     112  715 

2  454  333 

I  391  720 

18  953                        9  974 

3  044  276 

I  613247 

oder  in  Prozenten 

93,3                        95,9 

46,5 

59,0 

6,1                           3,8 

23,9 

19,0 

ofi                         0,3 

29,6 

22,0 

Unternehmungen  geschaffen  werden  können. 
In  einer  Anzahl  von  Gewerbezweigen  ist 
der  Sieg  des  Grossbetriebs  völlig  entschie- 
den und  der  Widerstand  gegen  diese  natur- 
gemässe  Entwickelung  verschwunden.  Diese 
Thatsache  zeigt  sich  weniger  deutlich  in 
den  Prozentteilen  der  bestehenden  kleinen 
und  grösseren  Betriebe  als  in  der  Verteilung 
der  beschäftigten  Personen.  So  kamen  1895 
auf  1000  Personen  solche,  die  in  Grossbe- 
trieben (im  obigen  Sinne)  beschäftigt  waren : 
im  Steinkohlenbergbau  998,  in  der  Rüben- 
zuckerfabrikation 994,  in  der  Stahl-  und 
Eisenfabrikation  978,  und  diese  Verhältnis- 
zahlen hatten  sich  seit  1882  nicht  erheblich 
erhöht.  In  anderen  Produktionszweigen  da- 
gegen war  die  Verschiebung  merklicher:  so 
betrug  die  Belativzahl  für  die  Dampf- 
maschinenfabrikation 956  im  Jahre  1895 
gegen  916  im  Jahre  1882,  in  der  Baumwoll- 
spinnerei 928  gegen  840,  in  der  Porzellan- 
fabrikation 889  gegen  814,  in  der  Woll- 
spinnerei 780  gegen  606,  im  Wagenbau  und 
der  Fahrradfabrikation  777  gegen  711,  in 
der  Blechwarenfabrikation  720  gegen  528, 
in  der  Baumwollweberei  672  gegen  455,  in 
der  Wollenweberei  638  gegen  475,  in  der 
Seidenweberei  573  gegen  178.  Die  Weberei 
befindet  sich  also  noch  in  einem  üeber- 
gangszustande,  in  dem  namentlich  die  früher 
noch  ziemlich  zahlreichen  (zum  Teil  haus- 
industriellen) Kleinbetriebe  beseitigt  werden, 
deren  Verhältniszahl  z.  B.  in  der  Seiden- 
weberei  1895  auf  365  gegen  758  im  Jahre 
1882  zurückgegangen  war.  Der  üegergang 
vollzieht  sich  indes  in  diesen  Gewerbe- 
zweigen ohne  Kämpfe,  während  er  in  ande- 
ren auf  lebhaften  Widerstand  stösst;  so  in 
der  bereits  erwähnten  Getreidemüllerei,  in 
der  von  1882  bis  1895  die  Relativzahlen  der 
Kleinbetriebe  von  820  auf  715  gesunken, 
dagegen  die  der  Grossbetriebe  von  26  auf 
55,  die  der  Mittelbetriebe  aber  von  154  auf 
230  gestiegen  ist.  Trotz  dieses  relativ 
starken  Fortschritts  gerade  der  Mittelbe- 
triebe sucht  man  in  diesem  wie  in  anderen 
Fällen  eine  technisch  und  volkswirtschaftlich 
begründete  Entwickelung  zu  hemmen,  indem 
man  sich  auf  die  Interessen  des  Mittelstan- 
des beruft.  Es  besteht  in  der  That  ein  so- 
zialpolitisches .Interesse  an  der  Erlialtung 
eines  zahlreichen,  lebensfähigen  Mittelstan- 
des; unter  den  heutigen  Produktions-  und 
Verkehrsverhältnissen     aber     können     die 


792 


Grossbetrieb  und  Kleinbetrieb 


untersten  Schichten  der  Kleinunternehmer 
in  vielen  Gewerbzweigen  kaum  noch  zum 
Mittelstande  gerechnet  werden.  Ihre  Exi- 
stenz ist  häufig  unsicherer  als  die  der  ge- 
wöhnlichen Arbeiter,  und  wenn  sie  wirk- 
lich ruiniert  werden,  so  bilden  diese  De- 
klassierten ein  noch  bedenklicheres  Element 
als  das  unzufriedene  Arbeiterproletariat. 
Dagegen  entsteht  innerlialb  des  Grossbe- 
triebs ein  mehr  und  mehr  wachsender  Zweig 
des  Mittelstandes  in  dem  leitenden  und  auf- 
sichtführenden kaufmännischen  und  tech- 
nischen Personal.  Die  Zahl  der  Ange- 
stellten (in  dem  oben  bezeichneten  Sinne) 
betrug  1895  mit  Einschluss  von  17  350  weib- 
lichen 448944  gegen  205061  (mit  4948 
weiblichen)  im  Jäire  1882,  hat  sich  also  in 
dieser  Zeit  mehr  als  verdoppelt.  Dass  diese 
Angestellten  nicht  die  Eigenschaft  selbstän- 
diger Unternehmer  besitzen,  kann  nicht  als 
ein  gesellschaftlicher  Nachteil  angesehen 
werden,  wenn  im  übrigen  ihi*e  Stellung 
besser  und  gesicherter  ist  als  die  eines 
kleinen  von  übermächtiger  Konkurrenz  be- 
drängten und  vom  Bankerott  bedrohten 
selbständigen  Gewerbetreibenden.  Es  ist 
dafür  zu  sorgen,  dass  der  üebergang  zu  der 
der  modernen  Produktionstechnik  entspre- 
chenden gesellschaftlichen  Gruppienmg  mög- 
lichst schonend  für  die  betroffenen  Inte- 
ressen erfolge,  und  aus  diesem  Gesichts- 
punkte ist  auch  gegen  eine  stärkere  Be- 
steuerung der  (jTOSsbetriebe  in  den  noch  in 
der  üebergangsperiode  stehenden  Gewerbe- 
zweigeu  nichts  einzuwenden,  wenn  diese 
keinen  prohibitiven  Charakter  hat  und  sich 
nach  der  wesentlich  im  Ertrag  und  der 
Grösse  des  Kapitals  zum  Ausdruck  kom- 
menden Leistungsfähigkeit,  nicht  aber  nach 
der  ümsatzziffer  bemisst.  Dagegen  ist  zu 
verhindern,  dass  unhaltbar  gewordene  Formen 
sich  weiter  fortpflanzen  und  ausbreiten  und 
auch  die  Zukunft  belasten.  Jedenfalls  müs- 
sen im  Interesse  des  Gesamtwohls  immer 
ausschliesslicher  die  vollkommensten  und 
wirksamsten  Hilfsmittel  der  Produktion  zur 
Anwendung  gebracht  werden.  Ein  Land, 
das  die  Produktivität  seiner  Arbeit  auf  einer 
niedrigeren  Stufe  erhält,  wird  von  England 
und  namentlich  von  Amerika  immer  weiter 
in  der  wirtscliaftlichen  Kulturentwickelung 
überholt  werden  und  allmählich  in  Chine- 
sentum  versinken. 

Was  die  weitere  Entwickelung  der 
Grossbetriebe  betrifft,  so  ist  zunächst  auf 
die  zunehmende  Tendenz  zur  Bildung  soge- 
nannter Gesamtbetriebe  hinzuweisen.  Man 
findet  es  in  vielen  Fällen  vorteilhaft,  dem 
xu^prünglichen  Stammbetiiebe  mehr  und 
mehi-  andere  Betriebe  anzugliedern,  die  für 
jenen  gewisse  Bedarfsgegenstände,  die  sonst 
gekauft  werden  müssten,  selbst  herstellen. 
So    betreiben    Eisenhüttenwerke     zugleich 


Steinkohlen-  oder  Erzbergwerke,  Maschinen- 
fabriken und  Schiffsbauanstalten  stellen 
selbst  Eisen  und  Stahl  her,  Spinnerei, 
Weberei  und  Färberei  werden  vereinigt  be- 
trieben u.  8.  w. 

Bezeichnet  man  alle  Unternehmungen,  in 
denen  sich  mehrere  gewerbliche  Betriebe 
unterscheiden  lassen,  als  Gesamtbetriebe,  so 
betrug  deren  Zahl  1895  89201,  also  nur 
2,9 ®/o  der  Hauptbetriebe;  aber  es  waren  in 
ihnen  nicht  weniger  als  1696120  Pei-sonea 
und  1209280  Pferdekräfte  verein  i^4.  Diese 
Art  der  Koncentrierung  mehrerer  Gewerbe- 
betriebe in  einem  Unternehmen  iäs>t  sich 
noch  bedeutend  weiter  treiben;  dagegen 
lässt  sich  füi*  jeden  einzelnenProduktionszweig 
die  Grenze  angeben,  bei  welcher  alle  Vor- 
teile, die  in  technischer  und  konkur- 
renz wirtschaftlicher  Beziehung  durch 
möglichst  wirksame  Maschinen,  möglichst 
vollkommene  Arbeitsteilung,  möglichbt  vor- 
teilhaften Vertrieb  etc.  überhaupt  erreicht 
werden  können,  auch  wirklich  erzielt  wer- 
den, so  dass  also  eine  weitere  Ausdehnung 
des  Betriebs  dann  in  dieser  Hinsicht  keine 
Erhöhung  des  Gewinnsatzes  bringt.  Daher 
richtet  sich  jetzt  das  Bestreben  des  grossen 
Unternehmerkapitals  immer  mehr  darauf, 
zu  einer  Organisation  höherer  Ordnung  zu 
gelangen,  deren  Zweck  die  Ueberwindung 
der  bisherigen  Konkurrenzw^irtschaft 
sein  soll,  die  ja  in  der  That  vielfach  die 
Erscheinungen  einer  gemeinschädlichen  Ver- 
kehrsanarchie zu  Tage  fördert.  Andererseits 
aber  besteht  die  Gefahr,  dass  die  fort- 
schreitende Centralisierung  zu  einer  für  die 
allgemeinen  Interessen  ebenfalls  nachteiligen 
Monopolwirtschaft  führt.  Es  giebt  freilich 
nur  wenig  Produktionszweige  von  so  be- 
schränkter Ausdehnung ,  ^  dass  es  möglich 
wird,  dass  für  sie  einzelne  Unternehmer 
durch  die  Grösse  ihrer  Kapitalmacht  die 
Hcn'schaft  über  den  ganzen  Markt  erlangen. 
Weit  häufiger  aber  ist  eine  verhältnismässig 
kleine  Zahl  von  Unternehmungen,  die  sich 
untereinander  vereinbaren,  im  stände,  in 
betreff  ihrer  Erzeugnisse  die  volle  Herr- 
schaft, wenn  auch  nicht  auf  dem  ganzen 
Weltmarkt,  so  doch  in  einem  einzelneu 
Lande  auszuüben,  namentlich  wenn  ihnen 
dies  durch  Schutzzölle  und  andere  handels- 
politische Begünstigungen  erleiclitert  wird. 
Am  weitesten  aber  ist  die  Centraiisation  in 
dem  amerikanischen  Trustsyötem  gediehen, 
in  dem  die  beteiligten  Einzelunternehmungen 
ihre  geschäftliche  Selbständigkeit  tliatsächlich 
verlieren  und  innerhalb  einer  Riesenorgini- 
sation  nur  finanziell  unterschiedene  Teil- 
nehmer bleiben.  So  lauge  diese  monopolis- 
tischen Bildungen  um*  gegen  die  Jahre 
lang  dauernde  übermässige  Herabdnlckung 
der  Preise  gerichtet  waren,  hatten  sie  auch 
volkswirtschaftlich    eine    gewisse   Berechli- 


Grosßbetrieb  und  Kleinbetrieb — Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


793 


gung,  und  als  Verkehrsorganisationen  bilden 
sie  rationelle  Erzeugnisse  der  bestehenden 
technischen  und  wirtschaftlichen  Produk- 
tionsweise, in  denen  vielleicht  künftige 
wirtschaftliche  Formen  ihre  Schatten  vor- 
auswerfen. Fürs  erste  werden  diese  Kon- 
centrierungen  wahrscheinlich  in  vielen 
Fällen  dazu  dienen,  die  weitere  Ausdehnung 
der  grossartigsten  Form  des  modernen 
Grossbetriebs,  des  Staatsbetriebs,  voraube- 
reiten.    S.  die  Artt.  Kartelle,  Trusts. 

Litteratnr:  Schmollerf  Zur  Geschichte  der 
deuUchen  Kleinigeicerhe  im  19.  Jahrhundert, 
Halle  1870.  —  Derselbe,  Die  geschichtliche 
Enlwickelung  der  {'Unternehmung,  Jahrb.  f.  Ges. 
und  Verw.,  Jahrg.  1890 — 9S.  —  KoseheTy  An- 
wehten der  Volkswirtschaft  vom  geschichtliehen 
Standpunkt,  S.  Aufl.,  Bd.  2,  S.  101  ff.  ^  Engel, 
£ku  Zeitalter  des  Dampfes,  Berlin  1880.  —  H, 
Qrothe,  Ueber  die  Bedeutung  der  Kleinmotoren 
für  das  Kleingewerbe,  in  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Vene. 
VIII,  1884,  8.  899.  —  Retileatix,  Die  Ma- 
schine in  der  Arbeiterfrage,  Minden  1885.  — 
SHeda,  Gewerbliche  Zustände  in  der  Gegemrart, 
Preuss.  Jahrb.,  Bd.  57,  1888,  S.  180  ff.  — 
Petersilie,  Zur  Statistik  des  Kleingeicerbes  in 
Pteussen,  Zeitschr.  des  Preuss.  Stal.  Bureaus 
1887,  S.  257 ff.  —  Knoke,  Die  Kraftmaschinen 
des  Kleingewerbes,  Berlin  1887.  —  Albrecht, 
Die  volkswirtschaftliehe  BedeuMing  der  Klein- 
krafimaschinen,  in  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Vene.  XIII, 
1889,  S.  478  ff.  ^  Loach,  Nationale  Produktion 
und  nationale  Berufsgliederung,  Leipzig  1892.  — 
V.  Schulze- Gdvemitg,  Der  Grossbetrieb,  ein 
wirtschaftlicher  und  sozialer  Fortschritt  (Baum- 
Wollindustrie),  Leipzig  1892.  —  Sinzheitner, 
Ueber  die  Grundlagen  der  Weiterbildung  desfabrik- 
mässigen  Grossbetriebs  in  Deutschland,  Stuttgart 

1898.  —  Untersuckun/gen  über  die  Lage  des 
Handwerks  in  Deutschland  mit  besonderer  Bück- 
sicht  auf  seine  Konkurrenzfähigkeit  gegenüber 
der  Grossindustrie.  Sehr,  des  Ver.  f.  Sozialj). 
LXII—LXXI  (Oesterreich),  Leipzig  1895-96. 
—  Mohv,  Die  Entwickelung  des  Grossbetriebs 
in    der    Getreidemilllerei    Deutschlands,    Berlin 

1899.  —  Gewerbe  und  Handel  im  Deutschen 
Reich  nach  der  gewerblichen  Betriebszählung 
vom  14'  Juni  1895,  bearbeitet  im  Kaiserl.  Stat. 
Amte,  Berlin  1899. 

Lexis, 


Grundbesitz. 


$ 


I.    Bodenrechtsordnung.      (Die    Volkswirt* 
scbaftliche  Principienfrage  der  Kechtsordnung.) 
S.  793).    II.  Die  Geschichte  des   G.  (S.  823). 
'n.  Die  Statistik  des  G.  (S.  849). 

L 

Bodenrechtsordnung. 

(Die  volkswirtschaftliche  Principien- 
frage der  Rechtsordnung.) 

1.  Die  Bodenrechtsordnung  als  volkswirt- 
schaftliches und  sozialpolitisches  Problem.  2. 
Der  historische  Charakter  der  Bodenrechts- 
ordnimg.      3.    Bodenrechtsordnung     und    Or- 


ganiiiation  der  Volkswirtschaft.  4.  Die  üblichen 
allgemeinen  Erklärungs-  und  Bechtfertigungs- 
^ründe  des  Privateigentums  in  ihrer  Anwen- 
dung auf  privates  Grundeigentum.  5.  Die 
Unterscheidung  des  Bodens  nach  typischen  Ver- 
wendungszwecken in  ihrer  Bedeutung  für  die 
Fragen  der  Bodenrechtsordnung.  6.  Erste  Boden- 
kategorie: Standorts-  oder  Wohnungsboden.  7. 
Baustellen.  8.  Reformen  für  den  Wohnun^- 
boden  und  sein  Recht.  9.  Zweite  Bodenkategone : 
Bergwerksboden.  10.  Dritte  Bodenkategorie: 
Der  natürliche  (wilde)  Weide-,  Wald-,  Jagd- 
und  ähnlicher  Boden.  1 1.  Vierte  Bodenkategorie : 
Der  landwirtschaftlich  und  (kultur-)  forstlich 
benutzte  Boden.  12.  Die  Principienfrage  der 
Rechtsordnung  für  den  agrarischen  Boden: 
Gemeineigentum  oder  Privateigentum.  13.  Die 
Privat-  und  Gemeineigentumsfrage  gjegenüber 
der  geschichtlich  überkommenen  Verteilung  des 
agrarischen  Grundbesitzes.  14.  Der  Forstboden. 
16.  Fünfte  Bodenkategorie:  Der  Wegeboden. 
16.  Sechste  Bodenkategorie :  Gewässer.  17.  Er- 
gebnis. 

1.  Die  Bodenrechtsordnung  als  volks- 
wirtschaftliches nnd  sozialpolitisches 
Problem.  Unter  dem  Ausdruck  »Boden- 
rechtsordnung« kann  man  alle  Normen  des 
Privat- wie  des  öffentlichen  und  Verwailungs- 
rechtes  hinsichtlich  des  Bodens  eines  Volks- 
wirtschafts-, daher  regelmässig  eines  Staats- 
gebietes zusammenfassen.  Diese  Normen 
sind,  w^ie  alles  Recht,  ein  Produkt  der  ge- 
schichtlichen Entwickelung,  bedingt,  venir- 
sacht,  bestimmt  durch  technische,  ökono- 
mische, soziale,  politische  Umstände  und 
Veriiältnisse  und  mit  diesen  sich  ändernd. 
Aber  auch  umgekehrt,  nach  dem  hier  regel- 
mässig bestehenden  Verhältnis  der  Wechsel- 
wirkung, wirken  diese  Normen  auch  ihrer' 
seits  wieder  auf  diese  Verhältnisse  und  Um- 
stände ein.  Für  die  ims  hier  allein  näher 
beschäftigende  volkswirtschaftliche  und  so- 
zialpolitische Betrachtung  der  Bodenrechts- 
ordnung und  jeder  bestimmten  historisclien 
Form  derselben^  filr  den  Boden  im  allgemeinen 
wie  für  die  emzelnen  nach  Verwendungs- 
zwecken unterschiedenen  Bodenkategorieen  (s. 
unten  sub  5),  so  auch  für  die  Beurteilung 
der  Privateigentumsordnung,  welche 
bei  den  Kidturvölkern  meistens,  insbesondere 
für  den  ländlich-agrarischen  und  den  Boden 
in  den  Wohnplätzen  (Dörfern,  Städten),  zur 
Herrschaft  gekommen  ist,  handelt  es  sich 
immer  um  die  Beziehung  dieser  Rechts- 
ordnung zu  den  beiden  grossen  volkswirt- 
schaftlichen Grundproblemen ,  demjenigen 
der  Produktion  auf  (an,  in)  dem  Boden 
und  demjenigen  der  Verteilung  der  Boden- 
produktionserträge. Diese  Verteüung  ist  die 
soziale  Seite  der  Frage,  weil  von  ihr  die 
soziale  Stellung  der  Teilnehmer  wesentlich 
bedingt  ist.  Die  Aufgabe  der  Wissenschaft 
der  Nationalökonomie  ist  die  kritische  Wür- 
digung des  Wechselwirkungsverhältnisses 
zwischen  der  Bodenrechtsordnung  und  ihren 


794 


Onindbesitz  (Bodenreclitsordnung) 


historischen  Formen  und  dieser  Produktion 
und  Verteilung. 

Wo  verschiedene  Menschen  und  Menschen- 
gruppen (Völkerschaften  mit  ihren  Unter- 
abteilungen, wie  Hundertschaften,  Sippen, 
Familien  der  alten  Deutschen,  überhaupt 
Stämme,  Geschlechter,  Hausgenossenschaften, 
Familien  u.  s.  w.)  auf  demselben  Boden- 
gebiete leben  und  ihre  wirtschaftlichen 
Zwecke  verfolgen,  ist  irgend  eine  ßoden- 
rechtsordnung  schlechterdings  unvermeidlich, 
um  die  Benutzung  des  Bodens  zu  er- 
möglichen und  zu  sichern  und  um  etwaige 
Kollisionen  der  Interessen,  der  Willen  und 
der  Handlungen  der  Gruppen  und  einzelnen 
zu  verhüten  oder  auszugleichen.  Die  Boden- 
rechtsordnung hat  die  Aufgabe,  dm*ch  ihre 
Normen  Bestimmungen  über  das  menschliche 
Herrschaftsverhältnis  in  Bezug  auf  Be- 
nutzung und  Besitz  des  Bodens,  seiner 
verschiedenen  Verwendungszwecken  dienen- 
den Kategorieen  und  einzelnen  Teile,  der 
Grundstücke,  daher  über  die  Bedingmigen, 
die  Formen,  den  Umfang,  den  Inhalt  jenes 
Herrschaftsverhältnisses  zu  treffen.  Für  die 
volkswirtschaftliche  Beurteilung  ist  dabei 
massgebend,  ob  und  wie  diese  Normen  über- 
haupt und  jeweilig  dem  volkswirtschaftlichen 
Interesse  ökonomisch  und  technisch  richtiger, 
zw^eckmässiger  Benutzbarkeit  des  Bodens 
entsprechen,  damit  der  Boden  im  Produk- 
tionsprozess  diejenige  Stellung  erreiche,  der- 
jenigen Verwendung,  Benutzung  und  Be- 
arbeitung unterzogen  werde,  welche  nach 
Zeit  und  Ort  und  Umständen  volkswirt- 
schaftlich möglich  und  geboten  sind,  damit 
die  für  Art  und  Erfolg  der  menschlichen 
Arbeit  wirksamen  Motive  richtig  zur  Geltung 
zu  gelangen  vermögen,  damit  auch  die 
Technik  des  Bodenbaues  sich  richtig  ent- 
wickeln könne.  Da  die  Ausübung  wirt- 
schaftiicher  Arbeit  am  Boden,  ja  des  Lebens, 
des  Aufenthalts  des  Menschen  auf  dem 
Boden  von  den  Rechtsnormen  für  den  Be- 
sitz und  die  Benutzung  des  Bodens  abhängen, 
ergiebt  sich  die  grosse  Bedeutung  der  Boden- 
rechtsordnung für  das  gesamte  Volksleben 
und  für  alle  Verhältnisse  der  wirtschaftlichen 
Produktion  auf  und  an  dem  Boden,  auch, 
soweit  notwendig,  in  ihm  (Bergbau).  Die 
Rechtsnormen  müssen  sich  hier  den  natür- 
lichen Verhältnissen  des  Bodens,  den  sozialen 
und  volkswirtschaftlichen  Bedürfnissen  und 
dem  menschliehen  psychischen  Wesen,  den 
Verhältnissen  des  trieblebens  und  der 
Motive,  anpassen,  damit  der  Boden  dem 
durch  seine  Natur  und  durch  jene  Bedürf- 
nisse bedingten  Verwendungszweck  und  der 
davon  abhängigen  Benutzungsweise  unter- 
zogen werden  kann  und  damit  die  mensch- 
liche Arbeit  nach  den  für  sie  massgebenden 
inneren  seelischen  Motiven  in  möglichst 
zweckentsprechender  Weise,  möglichst  ge- 


mäss der  vom  Verwendungszweck  des 
Bodens  bestimmten  Oekonomik  und  Technik 
und  möglichst  gemäss  dem  jeweilig  erreich- 
ten und  erreichbaren  besten  Stande  dieser 
Oekonomik  und  Technik  ausgeübt  werden 
könne  und  werde.  Die  konkrete  Gestaltimg 
der  Bodenrechtsordnung  im  allgjemeinen  wie 
für  die  einzelnen  Bodenkategorieen ,  so  na- 
mentlich auch  die  Privateigentumsordnung, 
ist  danach  zu  beurteilen,  ob  und  wie  weit 
sie  dies  thut  Ihre  Ordnung,  Fortbildung 
und  bezügliche  »Reformen«  sind  nach  diesem 
Gesichtspunkte  zu  erstreben,  soweit  die 
volkswirtbchaftliche  Frage  des  Produktions- 
interesses  dafür  entscheidet. 

Nicht  minder  ist  aber  auch  die  Beziehung 
zwischen  der  Bodenrechtsordnung,  der  Be- 
sitzregehmg,  deshalb  namentlich  wieder  auch 
bei  Privateigentum  am  Boden,  und  der 
Verteilung  der  Produktionserträge  wichtig. 
Aus  natürlichen  Gründen,  wegen  der  B^ 
schränktheit  des  Bodens  überhaupt  und  ins- 
besondere wegen  der  lokalen  Beschränktheit 
von  Boden  in  günstiger  örtlicher  Lage, 
wegen  der  beschränkten  Ergiebigkeit  spe- 
cieller  Böden  (agrarischen  und  montanisti- 
schen, Jagd-,  Weide-,  Waldbodens,  Walten 
des  »Gesetzes  der  Produktion  auf  Land«) 
ergeben  sich  bei  der  Benutzung  des  Bodens 
eigentümliche  Folgen.  Dieselben  treten  für 
diejenigen,  welche  rechtlich  über  den  Boden, 
namentlich  als  Eigentümer,  verfügen,  in  ge- 
wissen faktischen  Monopolverhältnissen  und 
in  gewissen  Einflüssen  auf  die  Gewinn- 
bildung, daher  auch  auf  die  Wertbildung 
bei  den  Gnmdstücken  hervor:  ökonomische 
Probleme,  welche  unter  dem  Namen  Grund- 
r  e  n  t  e  (s.  den  Art.  unten  S.  870  ff.)  zusammen- 
gefasst  werden.  Es  bilden  sich  Lage-  und 
Qualitäts-  (Fruchtbarkeits-)  Differential- 
renten (v.  Thünen,  Ricardo),  in  verschiedener 
Weise  bei  den  einzelnen  Bodenkategorieen  und 
in  verschiedenem  Masse  nach  allgemeinen  Be- 
darfs- und  Bedarfsdeckungsverhältnissen,  da- 
her nach  ümständeji  der  historischen  und  ört- 
lichen Entwickelung  der  Bevölkerungsdichte 
und  Wohnungskoncentration ,  in  der  Volks- 
wirtschaft und  an  verschiedenen  Orten,  aber 
doch  nach  demselben  Princip.  Diese  Renten 
kommen  durch  Kapitalisierung  auch  für  den 
Wert  des  Bodens,  der  Grundstücke  zur 
Gültimg.  Die  Boclenbesitzer  (Eigentümer) 
beziehen  daher  hier  unter  Umständen  Ein- 
kommen und  erlangen  Vermögen  ganz  ohne 
oder  ohne  wesentliche  Mitwirkung  ihrer 
individuellen  persönlichen  wirtschaftlichen 
Leistung,  ihrer  Arbeit,  ihrer  Eapitalbildungs- 
thätigkeit,  nur  oder  doch  wesentlich  nur  in 
der  Konsequenz  ihrer  ausschliesslichen  recht- 
lichen Herrschaft  über  Boden,  d.  h.  über 
Naturfaktoren,  welche  nur  in  beschränkter 
Menge  und  Ergiebigkeit  überhaupt  oder  an 
bestimmtem  Ort  (örtlicher  Lage)  vorhanden 


Gnindbesitz  (Bodenreclitsordnung) 


795 


sind.  Besteht  Privateigentum  am  Boden, 
so  kommt  dieser  Vorteil,  der  in  fortschrei- 
tenden Volkswirtscliaften  mit  zunehmender 
Bevölkerungsdichtigkeit  und  Wohnungs- 
koncentration ,  trotz  gelegentlicher  zeit- 
weiliger und  lokaler  Rückschläge,  gewöhn- 
lich mehr  oder  weniger  wächst,  den  Privat- 
eigentümern alssolchenzu gute.  M. a.W. : 
die  letzteren  beziehen  in  Konsequenz 
des  Privateigentumspriucips  Ein- 
koramen und  Vermögen  auf  Kosten 
Dritter,  ohne  oder  ohne  angemessene 
persönliche  Gegenleistung  an  diese  Dritten : 
einer  der  Hauptgründe  der  sozialistischen 
und  sonstigen  Polemik  gegen  das  private 
Grundeigentum.  Deshalb  noch  kein  aus- 
schlaggebender Grund  dagegen,  da  mancher- 
lei anderes  mit  in  Betracht  kommt  und  vor 
allem  sich  fragt,  ob  bei  einer  anderen 
Rechtsordnung  am  Boden,  so  bei  dem  statt 
des  Privateigentums  von  den  Sozialisten  be- 
fürworteten »gesellscliaftlichen  Gemeineigen- 
tum«, das  schliesslich  immer  in  erster  Linie 
stehende  Produktionsinteresse  genügend  ge- 
sichert werden,  die  vom  Verwendungszweck 
bedingte  Regelung  der  Benutzung  und  Be- 
arbeitung des  Bodens  ordentlich  erfolgen 
kann,  aber  immerhin  ein  für  die  Entschei- 
dung stark  mit  ins  Gewicht  fallender  Gnmd. 
Es  wird  sich  ergeben,  dass  die  Entscheidung 
von  den  gegebenen  historischen  und  örtlichen 
Verhältnissen,  der  ganzen  allgemeinen  und 
lokalen  Entwickelung  des  Wirtschaftslebens 
und  ferner  namentlich  von  den  verschiedenen 
typischen  Vorwendungszwecken  des  Bodens 
abhängt  und  danach  verschieden,  im  einen 
Fall  zu  Gunsten  mehr  des  Privat-,  im  an- 
deren mehr  des  gesellschaftlichen  Gemein- 
eigentums, ausfällt.  Die  einseitigen  Anhänger 
beider  Rechtsprincipien  begehen  denselben 
Fehler,  ökonomische  Individualisten  >\'ie 
Sozialiston,  sie -generalisieren  zu  sehr,  sie 
unterscheiden  nicht  genug,  mitunter  gar  nicht 
nach  den  angedeuteten  Gesichtspunkten. 

2.  Der  historische  Charakter  der 
Bodenreehtsordnnng.  Die  Vergleichung 
in  der  Zeit,  die  Geschichte  des  Bodeni-echts, 
insbesondere  des  Grimdeigentums(s.Abteihmg 
n  des  Art.  Grundbesitz  unten  S.  823ff.), 
und  im  Raum,  die  geographische  Vergleichung. 
zeigt  mancherlei  Verschiedenheiten  der  Nor- 
men und  selbst  der  leitenden  Principien  der 
Bodenrechtsordnung  und  einen  historischen 
Wechsel  in  der  Zeit,  einen  örtlichen  im 
Raum.  Auch  die  Privateigentumsordnung 
der  Kultiu'völker  für  den  grössten  Teil  des 
nationalen  Bodens,  d.  h.  das  physischen  und 
nichtphysischen  privatrechthchen  Personen 
zustenende  Privateigentum,  besonders  am 
ländlichen  und  Wohnplatzboden,  ist  erst  in 
einem  längeren  histonschen  Prozess  an  die 
Stelle  andei-er  Rechtsprincipien  und  Normen 
getreten   und  zu  ihrer  gegenwärtigen  Ge- 


staltung gekommen.  Man  liat  es  daher  in- 
sofern hier  mit  historischen  und  ört- 
lichen Kategorieen  zu  thun,  mit  Verhält- 
nissen, welche  der  Veränderung  unterliegen, 
demnach  voraussetzungsweise  a  priori  der- 
selben weiter  fähig  und  eventuell  bedüi'ftig 
sind. 

Diese  Auffassung  ist  als  richtig  anzu- 
erkennen und  festzuhalten,  nur  darf  man 
aus  ihr  nicht  zu  weitgehende  Schlüsse 
ziehen,  wie  das  namentlich  wieder  der 
neuere  Sozialismus  und  ihm  nahe  stehende 
Richtungen  in  ihrer  Stellung  zur  Gnmd- 
eigentiimsfrage  zu  thun  geneigt  sind.  Ge- 
wiss haben  die  unbedingten  Anhänger,  so 
diejenigen  aus  der  Schule  des  ökonomischen 
Individualismus  und  Liberalismus,  hier,  wie 
sonst  oft,  den  Fehler  begangen,  unser©  mo- 
derne Rechtsbasis,  das  private  Grundeigen- 
tum, als  etwas  zu  absolut  Notwendiges  und 
Segensreiches  für  Volkswirtschaft  und  Ge- 
sellschaft anzusehen,  die  Zweckmässigkeit, 
Nützlichkeit,  selbst  die  Möglichkeit  einer 
Entwickelmig  darüber  hinaus  ohne  weiteres 
abzulehnen,  die  älteren  Rechtsordnungen 
oder  die  anderswo  etwa  noch  bestehenden, 
von  der  Privateigentumsordnung  abweichen- 
den zu  ungünstig  zu  beiurteüen,  oft  ohne 
weiteres  zu  verurteilen.  Die  historische, 
geographische,  ethnographische  Vergleichung 
lehren  die  Einseitigkeit  und  Unhaltbarkeit 
dieser  Auffassung.  Sie  zeigen  auch,  dass 
man  vorsichtig  sein  muss,  eine  selbst  we- 
sentlich andere,  principiell  verschiedene 
Rechtsordnung  als  die  vorhandene,  an  die 
man  eben  einmal  gewöhnt  ist,  »unmöglich«: 
nach  der  Natur  des  Bodens  und  der  Men- 
schen, die  ilm  benutzen  und  bearbeiten,  zu 
nennen,  und  ebenso  vorsichtig,  die  eine 
oder  andere  Bodenrechtsordnimg  ohne  wei- 
teres als  die  unbedingt  zweckmässigere  zu 
bezeichnen.  Der  Mensch  kann  sich  eben 
auch  hier  in  die  Verhältnisse  schicken, 
mancherlei  Verschiedenheiten  der  Rechts- 
ordnung sich  anpassen.  Die  in  der  neueren 
organischen  imd  historischen  Rechts-  und 
Wirtschaftslehre  gewonnene  Auffassung  vom 
Wirtschaftsleben  und  seiner  Rechtsordnung, 
als  eines  geschichtlichen  Entwickelungs- 
prozesses,  eine  Auffassung,  welcher  auch 
der  wissenschaftliche  Sozialismus  durchaus 
huldigt,  vermeidet  diesen  Fehler,  verfällt 
aber,  besonders  in  der  Evolutionsdogmatik 
des  Sozialismus,  leicht  dem  entgegengesetzten. 
Sie  beachtet  nicht  immer  genügend,  dass 
schliesslich  die  äussere  Natur  —  trotz  aller 
Fortschritte  der  Naturwissenschaften  und 
der  Technik  —  und  die  physisch-psychisch- 
Natur  des  Menschen,  mindestens  in  dene 
jenigen  historischen  Zeiträumen,  mit  denen 
man  in  geschichtlichen  Fragen  allein  zu 
rechnen  hat,  zwar  nichts  Unabänderliches, 
aber  doch  etwas  in  ihrer  Wesensart  Ver- 


796 


Grnindbesitz  (Bodeürechtsordnung) 


bleibendes  sind:  die  äussere  Natiu*,  sagen 
wir  hier  der  Boden  unter  wesentlich,  gleich 
bleibenden  Grundbedingungen  seine  Benut- 
zung nur  gestattet,  seine  Produkte  nur  her- 
giebt,  der  Mensch  aber  als  Arbeitsfaktor  ein 
im  wesentlichen  gegebenes  Triebleben  und 
inneres  psj-chisches  Leben  hat,  zwar  nicht 
mit  durchaus  unveränderlichen  Motiven  und 
Stärkegraden  und  Kombinationen  von  Motiven, 
aber  doch  mit  im  ganzen  wenig  und  jeden- 
falls um"  sehr  langsam  und  nicht  im  Wesen 
sich  verändernden. 

Diese  Erwägung  erklärt  es,  dass  auch  in 
der  Bodenrechtsordnung  gewisse  Grundztige 
mit  Rücksicht  auf  die  doch  in  der  Haupt- 
sache konstante  äussere  Natur  und  die  ebenso 
im  ganzen  konstante  physische 'v^depsycliische 
Natur  des  Menschen  selbst  in  aUem  Wechsel 
der  Rechtsnormen  und  Formen  thatsächlich 
verbleiben  und  verbleiben  müssen.  Und 
diese  Erwägung  mahnt  wieder  zur  Vorsicht 
in  betreff  der  Forderung  principieller 
Reformen  der  historisch  überkonmienen,  ein- 
mal eingelebten  Rechtsordnimg  und  warnt 
vor  der  Annahme,  man  könne  hier  leicht 
beliebig  Veränderungen  durchführen,  weil 
die  Geschichte  Veränderungen  zeigt.  Unter 
anderem  muss  schon  der  grosse  Einfluss 
der  Beschäftigung  gerade  m  der  Boden- 
bearbeitung, besonders  des  ländlichen  Bodens, 
auf  die  hier  lebenden  imd  wirkenden  Men- 
schen, auf  ihre  physische,  geistige,  sittliche 
Art,  es  klar  machen,  dass  in  dieser  Be- 
völkerung ein  stark  konservativer  Zug 
lebt,  wie  auch  alle  Erfahrung  zeigt,  welcher 
sich  Aenderungen,  auch  den  best  begründeten 
Reformen,  mächtig  und  doch  auch  wieder 
aus  manchen  guten  Gründen  entgegenstemmt. 
Auch  der  neuere  wissenschaftliche  Sozialis- 
mus ergeht  sich  hier  in  reinen  utopischen 
Illusionen. 

Aus  dem  allen  folgt  wieder  die  grosse, 
die  wichtigste  Wahrheit  der  »historischen 
Nationalökonomie«,  dass  die  Kritik  auch  der 
Bodenrechtsordnungen,  der  Principien  und 
einzelnen  Normen  dei-selben,  Grund  hat,  sich 
in  besonderem  Masse  vor  apodiktischen, 
absoluten  Urteilen  für  und  gegen  frühere 
wie  bestehende  Gestaltungen  und  vor  der 
Neigung  zum  »Absolutismus  der  Lö- 
sungen« zu  hüten.  »Relativität«  der 
Ansichten,  des  Lobes  und  Tadels,  in  Wissen- 
schaft und  Praxis  ist  auch  hier  das  allem 
Richtige.  Daher  in  der  principiellen  Haupt- 
frage: privates  Grundeigentum  oder  nicht, 
in  der  weiteren  Frage:  freies  oder  be- 
schränktes Privateigentum,  kein  unbedingtes 
Aburteilen,  sondern  eine  Entscheidung  nach 
Erwägimg  aller  Umstände,  auch  hier  immer 
mit  der  der  Theorie  stets  notwendigen  i 
Bescheidenheit  des  >salvo  errore«  und  miti 
der  notwendigen  Selbstbescheidimg  des  Re- 
formen   befürwortenden    Theoretikers    luid 


sie  versuchenden  Praktikers  betreffs  einer 
möglichen  und  wahrecheinlichen  Verbesse- 
rung der  Dinge  bei  noch  so  gut  überlegten 
Reformen,  gegenüber  einem  unerreichbaren 
Vollkommenen,  das  einmal  die  Sprödigkeit 
der  Natur  und  die  Eigenart  des  Menschen, 
der  nicht  Wachs  in  den  Händen  des  Gesetz- 
gebers ist,  ausschliessen.  Eine  solche  Auf- 
fassung aller  Reformfragen  braucht  deshalb 
im  gegebenen  Falle  wahrlich  weder  scharfe 
Kritik  des  Bestehenden  noch  energische 
Veiiretung  von  Reformen  zu  hindern,  nicht 
zu  bequemem  Quietismus  zu  führen.  Wohl 
aber  wird  sie  die  Ünterschätzung  des  Guten, 
im  geschichtlich  Gewordenen,  Bestehenden, 
das  sich  eben  als  solches  allein  schon  er- 
proben konnte,  und  die  üebei*schätzung  des 
Neuen,  wenn  auch  vielleicht  Erreichbaren 
und  Erstrebenswerten  verhüten,  das  eben 
immer  erst  seine  Probe  zu  bestehen  hat 
Bei  der  »Abschaffung«  oder  schärferen 
Modifikation  des  privaten  Grundeigentums, 
auch  in  denjenigen  Fällen,  wo  sie  über- 
wiegende Gründe  haben  mag,  sollte  diese 
Warnung  am  wenigsten  vergessen  werden : 
um  relative,  nicht  um  nach  der  Natur 
der  Dinge  und  Menschen  ausgeschlossene 
absolute  Verbesserungen  kann  es  sich  immer 
nur  handeln.  Damit  reduziert  sich  aber  das 
Mass  für  die  Wertschätzung  auch  der  be- 
deutendsten Reformen  von  vorherein  erheb- 
lich, was  gegenwärtig  sozialistische  Hyper- 
ideologen,  zum  Teil  selbst  manche  sogenannte 
Bodenreform  er,  die  sonst  nicht  Sozialisten 
sind,  auch  in  der  »Bodenfrage«,  besonders 
übersehen. 

3.  Bodenrechtsordnnng  nnd  Organi- 
sation der  Volkswirtschaft.  Bei  der 
durchschlagenden  Bedeutung  der  Boden- 
rechtsordnung  für  die  Besitz-  und  Be- 
nutzungsverhältnisse des  Grund  und  Bodens 
ist  es  begreiflich,  dass  diese  Rechtsordnung 
bedingend  und  verursaijhend  und  wieder 
bedingt  und  verursacht  mit  der  ganzen 
Volkswirtschaft  eng  zusammenhängt,  wie 
wiederum  die  geschichtliche  Betrachtung 
unmittelbar  zeigt,  aber  auch  aus  den  Ver- 
hältnissen abzuleiten  ist.  Namentlich  steht 
die  vorherrschend  privat  wirtschaft- 
liche Organisation  mit  dem  Vorwiegen  des 
privaten  Grundeigenturas ,  besonders  am 
ländlichen  agrarischen  und  am  städtischen 
Boden,  in  deutlicher  Wechselwirkung.  Die 
Verdrängung  und  Ersetzung  dieser  Organi- 
sation durch  die  gemein  wirtschaftliche, 
welche  letztere  ihr  zum  Teil  vorangegangen 
mid  von  ihr  erst  verdrängt  worden  ist,  ist 
mit  dem  Uebergang  von  Privatginmdeigen- 
tum  physischer  Personen,  Erwerbsgesell- 
schaften etc.  in  Staats-,  Gemeinde-  und 
dergleichen,  »öffenthches  Gemeineigentum« 
verbunden.  Principielle  Umänderungen  im 
Bodenrecht,  wie  sie  der  Sozialismus  fordert, 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


797 


werden  demnach  auch  wieder  wegen  dieser 
Zusammenhänffe  mit  der  volkswirtschaftlichen 
Organisation  als  schwierig,  weil  mancherlei 
weitere  Konsequenzen  in  sich  schliessend, 
zu  bezeichnen  und  mit  Vorsicht  zu  beur- 
teilen und  auszuführen  sein. 

Immerhin  ist  indessen  für  die  grosse 
principielle  Hauptfi-age:  ob  Privat-,  ob  ge- 
sellschaftliches Gemeineigentum  an  allen 
oder  an  gewissen  Kategorieen  des  Bodens 
eines  zuzugeben:  selbst  die  vollständige 
»Abschaffung«  alles  Privatgnmdeigentums, 
auch  sogar  an  allem  läncUich-agi'arischen 
Boden,  ist  gewiss  schwierig,  bedenklich, 
vielerlei  völlig  umgestaltend  und  aus  man- 
cherlei psychologischen  und  praktischen 
Gründen  sehr  schwer  ausführbar.  Sie  würde 
aber  immerhin  noch  eher  ausführbar  und 
weniger  bedenklich  sein,  freilich  aber  auch 
nicht  80  teils  gefürehtete,  teils  erhoffte  Wir- 
kungen haben  als  die  Erfüllung  der  analogen 
Fordenmg  des  Sozialismus,  die  Beseitigung 
des  privaten  Kapitaleigentums  und  dessen 
Ersetzung  durch  geseDschaftliches  Gemein- 
eigentum und  die  Beseitigung  aller  Privat- 
imternehmuugen :  der  vom  Sozialismus  ge- 
träumte, in  seinen  Programmen  in  Aussicht 
gestellte  üebergang  aus  der  »kapitalistischen 
Warenproduktion«  in  die  »gesellschaftliche 
Produktionsweise.«  Denn,  wenn  auch  ge- 
wiss privates  Grundeigentum  und  privat- 
wirtschaftliche Organisation  der  Volkswirt- 
schaft, entwickelungsgeschichtlich  wie  that- 
sächlich  in  unserer  Gegenwart,  in  Zusammen- 
hang und  Wechselwirkung  stehen:  die 
privatwirtschaftliche  Organisation  steht  und 
fällt  deswegen  noch  nicht  mit  dem  privaten 
Gnmdeigentum,  auch  selbst  nicht  mit  dem 
agrarischen  und  urbanen,  wie  vollends  nicht 
mit  dem  übrigen.  Sie  wird  dmvh  eine  teil- 
weise Beseitigung  desselben  wohl  mehr  oder 
weniger  modifiziert,  aber  sogar  durch  eine 
völlige  noch  nicht  aufgehoben.  Schlüsse  aus 
analogen  Verliältnissen  —  Trennung  von 
Eigentum  und  Wirtschaft,  Pachtbetrieb  in 
der  Landwirtschaft,  Bodenleihe  (^liete)  und 
Hausbau  durch  den  Bodenmieter  (England)  — 
gestatten  dies  zu  behaupten,  und  weiteres 
Nachdenken  bestätigt  es.  Die  Rückwirkimg 
auf  die  privatwirtschaftliche  Organisation 
würde  sich  unter  anderem  im  Kreditwesen 
und  in  Bezug  auf  das  ganze  bewegliche 
Kapital  zeigen,  wenn  letzteres  nicht  mehr 
zur  Anlage  in  Grundeigentum,  zu  Darlehen 
auf  Grundbesitz  verwendet  werden  könnte: 
weitgreifende,  aber  kaum  durchaus  nach- 
teilige Wirkungen,  auch  Beeinflussimgen  des 
Kapitalzinses,  wenn  auch  nicht  völliger  Weg- 
fall desselben,  wie  wohl  gemeint  woixlen 
ist,  würden  die  Folge  sein.  . 

Jedenfalls    muss    man    zur    objektiven 
W'ürdigung    der    sozialistischen    und    ver- . 
wandter  Forderungen,  auch  von  Theoretikern  ! 


und  Agitatoren  (z.  B.  H.  George,  Flürscheim) 
und  neuerer  sozialpolitischer  Parteien  (für 
*  Nationalisierung«  des  Landes  in  England, 
für  »Bodenbesitzreform«  in  Deutschland) 
das  Gesagte  beachten.  Die  Erfüllung  des 
Postulats  würde  zwar  ungemein  gix)sse,  aber 
doch  solche  radikale  Umgestaltungen  des 
Wirtschaftslebens  und  der  gesamten  sozialen 
Verhältnisse  weder  zur  Voraussetzung  noch 
zur  Folge  haben  wie  die  Erfüllung  des 
ganzen  sozialistischen  Programms  in  be- 
treff der  wirtschaftlichen  Rechtsordnung. 
Je  nach  dem  theoretischen  und  politischen 
Standpunkte  des  ürteilers  wird  das  Postulat 
dann  als  schon  viel  zu  weitgehend  oder  als 
noch  lange  nicht  weit  genug  gehend  be- 
zeichnet werden.  Bedenken  und  Angriffs- 
punkte böte  es  immerhin  noch  genug,  aber 
ohne  Zweifel  weniger  als  die  anderen  sozia- 
listischen Forderungen. 

4.  Die  üblichen  allgemeinen  Erklä- 
rungs-  und  Rechtfertigangspnnkte  des 
Privateigentums  in  ihrer  Anwendung  auf 
privates  Grundeigentum.  Diese  Gründe  (s. 
den  Art.  Eigentum  oben  Bd.  III  S.  294 ff.), 
wie  sie  namentlich  die  Rechtspliilosophie 
der  verschiedenen  Richtungen  gegeben  hat, 
erweisen  sich  bei  genauerer  Betrachtung 
schon  bei  Privateigentum  überhaupt  nicht 
ausreichend,  wenn  sie  auch  einzelne  Mo- 
mente enthalten,  welche  von  der  Rechts- 
bilduug  mit  mehr  oder  weniger  Notwendig- 
keit aus  psychologischen  und  praktischen 
Gründen  berücksichtigt  werden  müssen  ^). 
Beim  Grundeigentum  verlieren  sie  aber  ihre 
Bedeutung  noch  mehr,  werden  noch  unzu- 
reichender, zum  Teil  völlig.  Obgleich  auch 
liier  bei  dieser  Frage  die  Unterscheidung 
nach  Verwendungszwecken  des  Bodens 
passend,  ja  notwendig  ist  (s.  unten  sub  5), 
so  lässt  sich  doch  auch  für  das  gesamte 
Grundeigentum  einiges  Allgemeine  hervor- 
heben. 

Unmöglich  kann  man  das  private  Grund- 
eigentum, auch  nicht  das  agrarische,  als 
eine  notwendige  Konsequenz  der  mensch- 
lichen Natur  überhaupt  ansehen,  gegenüber 
verbreiteten  wichtigen  abweichenden  ge- 
schichtlichen Thatsachen  der  Bodenrechts- 
ordnung. Aus  demselben  Grunde  kann  man 
es  auch  nicht  ohne  weiteres  aus  der  so- 
genannten wirtscliaftlichen  Natur  des  Men- 
schen, dem  Trieb  des  Selbstinteresses  imd  den 
mit  diesem  in  Verbindung  stehenden  Mo- 
tiven, ableiten,  wo  Eigentum  und  Benutzung, 
Bewu'tschaftung  des  Bodens,  auch  des 
agrarischen,  so  vielfach  zwischen  verschie- 
denen Personen  getrennt  sind  (Sklaven-, 
Leibeigenen-,  Fronbetriel),  Pachtverhältnisse 
vereclüedeuer  Art  etc.).    -Wohl  aber  muss 


*)   S.    meine   „Grundlegung*'   3.   Aufl.   II 
S.  210—262. 


798 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


man  schon  zugeben,  dass  die  Schwierigkeiten 
und  Mängel,  welche  man  in  solchen  Ver- 
hältnissen walirnimmt,  mit  wichtigen  psy- 
chologischen Momenten  und  mit  eigentüm- 
lichen, durch  die  Natur  des  Bodens  und 
der  Bodenarbeit  —  namentlich  beim  agra- 
rischen Boden  (s.  unten  sub  11  bis  18)  — 
bedingten  Umständen  zusammenhängen,  wel- 
che eine  nähere  Verbindung  zwischen  Eigen- 
tümern und  Bebauem,  wie  sie  die  Privat- 
eigentumsordnung ergiebt,  psychologisch  und 
praktisch,  ökonomisch-technisch  zweckmässig 
erscheinen  lassen. 

Die  Begründung  auch  des  privaten  Gnmd- 
eigentums  auf  die  menschlicne  Arbeit  (oder 
weiter:  auf  die  wirtschaftliche  Thätigkeit, 
einschliesslich  der  auf  Kapitalbildung  und 
Verwendung  sich  beziehenden),  noch  abge- 
sehen von  dem  Umstände,  dass  hier  nicht 
immer,  oft  gar  nicht,  die  Arbeit  des  Eigen- 
tümers selbst  in  Frage  steht,  erscheint  dagegen 
wieder  nicht  allgemein  zutreffend,  da  es 
sich  hier  um  einen,  noch  dazu  nur  in  be- 
schränkter Menge  vorhandenen  Naturfaktor 
handelt,  welchen  der  Mensch  mit  seiner 
Arbeit  nicht  schafft,  auch  keineswegs  immer 
erst  produktiv,  sondern  nur  etwa  produk- 
tiver macht,  als  er  von  Natur  ist.  Freilich 
tritt  auch  hier  wieder  ein  Punkt  hervor, 
der  doch  für  die  Frage  seine  Bedeutung  hat : 
die  notwendige  Mitwirkung  der  menschlichen 
Arbeit  und  Kapitalvenvendung  am  Boden, 
um  ihn  zu  benutzen,  namentlich  auch,  um 
ihm  im  Ackerbau  Erträge  abzugewinnen, 
wol>ei  dann  wieder  das  Privateigentum  we- 
nigstens unter  den  Gesichtspunkt  der  psycho- 
logischen und  praktischen  Zweckmässigkeit 
rückt  (s.  wieder-  unten  sub  11 — 18).  An- 
dererseits ist  freilich  gerade  der  Umstand, 
dass  die  Erträge  der  einzelnen  Grundstücke 
von  Lage  und  Beschaffenheit,  also  von 
Naturthatsachen ,  dann  von  allgemeinen  so- 
zialen Verhältnissen  so  wesentlich  mit  ab- 
hängen, oder  ist  mit  anderen  Worten  wieder 
das  »Grundrentenproblem«  misslich  und  der 
private  Grundrentenbezug  zur  principieUen 
Begründung  des  Privateigentums  wenig  ge- 
eignet. 

Der  erste  Besitztitel,  mittelst  Occupatiou, 
trifft  beim  Boden  als  Rechtfertigungsgrund 
des  Privateigentums  schon  deswegen  meist 
nicht  zu,  weil  regelmässig  nicht  der  ein- 
zelne, sondern  Gemeinschaften  (Volk,  Stamm, 
Geschlecht  etc.)  diese  Occupation  vorge- 
nommen, wenn  auch  dann  den  Boden  zur 
Nutzung  oder  selbst  zum  dauernden  Besitz 
den  einzelnen  (Völkerschaftsabteilungen, 
Hundertschaften,  Sippen,  Familienverbänden, 
wie  in  der  altdeutschen  Welt,  allgemein 
Dorfgemeinden,  Geschlechtern,  Hauskommu- 
nionen, Familien)  überlassen  nahen:  womit 
man  dann  aber  eher  Gemeinschaftsrechte, 
auch  Gemeineigentum,  teils  des   grösseren 


Ganzen,  teils  seiner  Abteilungen,  als  aus- 
schliessliche Individuali-echte ,  wie  Privat- 
eigentum, begründen  könnte. 

Gegen  alle  diese  »Begnmdungsversuche« 
des  Privateigentums  wird  ferner  auch  wolil, 
und  nicht  mit  Unrecht,  geltend  gemacht,  sie 
setzten  doch,  wenn  sie  für  die  Eigentums- 
verhältnisse späterer  Geschlechter  Bedeuttmg 
haben  sollten,  schon  eine  umfassende  Er- 
werbs- und  Erbrechtsordnung  voraus,  auf 
Grund  deren  die  Rechtsnachfolger  ihr  »Pri- 
vateigentum« mittelst  abgeleiteten  i*echts- 
giltigen  Erwerbs  und  Erbrechts  zu  Recht 
besässen.  Dabei  habe  aber  der  WDle  der 
»Gemeinschaft«  als  der  eigentliche  Rechts- 
bildner vollends  mit  zu  bestimmen. 

Die  unbedingten  Gegner  des  heutigen 
Privateigentums  am  Boden  ai-gumentieren 
dann  auch  wohl  weiter  so,  dass  sie  hervor- 
heben, der  Boden  stehe  »heute«  gar  nicht 
im  Eigentum  der  rechtmässigen  Rechtsnach- 
folger der  ersten  Occupanten,  Beurbarer, 
Bearbeiter,  sondern  gehöre  ganz  anderen 
Personen,  bezw.  den  Rechtsnachfolgern 
anderer,  nämlich  solcher,  welche  ihn  privat- 
rechtswidrig, mit  allen  Mitteln  der  Gewalt 
oder  bloss  nach  falscher  formalistischer  Aus- 
legimg des  Rechts  den  ursprünglichen  Be- 
sitzern und  deren  rechtmässigen  Rechts- 
nachfolgern entrissen,  enteignet  hätten. 
Durch  Hinweis  auf  die  Geschichte  des 
Grundbesitzes,  besonders  die  Entstehung 
des  Grossgrundbesitzes  einzelner  Länder 
(britische  Inseln,  besonders  Schottland,  Ir- 
land, keltische  Verhältnisse,  deutsches 
Bauernlegen)  wird  das  dann  »historisch«  zu 
beweisen  gesucht.  Und  unter  dem  weiteren 
Hinweis  auf  neuere  und  noch  beständig  sich 
ereignende  Vorgänge,  auf  die  Folgen  der 
Verschuldung  des  bäuerlichen  Besitzes,  des 
freilich  viel  zu  allgemein  behaupteten,  gros- 
senteils  ganz  unrichtig  behaupteten  Sieges 
des  Grossbetriebes  auch  in  der  Landwirt- 
schaft, der  üebermacht  des  Privatkapitals, 
das  den  Bauern  und  Kleinbesitzer  übeiuU 
auskaufe,  wird  dann  wohl  behauptet,  wenn 
auch  in  den  legalen  Formen  des  Privat- 
rechtes,  des  Prozess-  und  Konkursrechtes, 
gehe  dieser  »Enterbungs-  und  Enteignungs- 
prozess«  der  Kleinen  zu  Gunsten  der  Grossen 
weiter  vor  sich,  ja  gerade  wohl  erst  recht 
heute  unter  dem  Einflüsse  des  freien  Ver- 
kehrs und  seines  Rechtes  (System  der  freien 
Konkurrenz). 

Dieser  fälschlich  sogenannten"  »realisti- 
schen« ,  »historischen«  Beweisführung  ist 
indessen  mit  Recht  der  Vorwurf  zu  machen, 
dass  sie  teilweise  wahre  Thatsachen  viel  zu 
sehr  veraUgemeinert ;  die  nicht  rechtswid- 
rige und  gewaltthätige,  sondern  rechtmäs- 
sige und  organische,  mit  der  Entwiekelung 
des  Bodenanbaues,  besonders  des  Anbaues 
des  Wohnungs-  und  agrarischen  Bodens  in  tier 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


799 


Beziehung  von  Wirkung  und  Ursache  —  und 
dann  auch  wieder  Wechsel  Wirkung — stehende 
Entwickehmg  des  privaten  Gi'undeigen- 
tums  ignoriert;  dass  sie  die  ganze  frimere 
Geschichte  immer  nur  vom  Standpunkt  der 
Gegenw^art  beurteilt,  dabei  übersieht,  dass 
die  Gewährung  von  genügendem  Rechts- 
schutz für  die  Kleinen  eben,  wohl  oder  übel, 
selbst  erst  das  Ergebnis  einer  langen,  müh- 
samen geschichtlichen  Entwickehmg  ist; 
dass  man  aber  deswegen,  weil  da  und  dort 
imd  dann  und  wann  und  weil  mitunter 
selbst  allgemeiner  bei  der  Bildung  des 
Grundbesitzes  Gewaltthätiges,   Rechts-w-idri- 

fes,  falsche  Auslegung  des  Rechts  vorge- 
ommen  ist,  doch  nicht  immer  wieder  die 
ganze  geschichtliche  Entwickelung  sozusagen 
von  rückwärts  aufrollen  und  das  Bestehende 
so  ohne  weiteres  wegen  seines  bisweilen 
zweifelhaft  rechtmässigen  Urspnmgs  besei- 
tigen kann  und  darf.  Weiter  ist  einzuwen- 
den, dass  bei  der  Annahme  einer  der  Ueber- 
macht  des  Privatkapitals  und  des  Grossbe- 
triebes zur  Last  zu  legenden  Fortdauer  eines 
formal  rechtmässigen  Euteignungs-  und  Ent- 
erbungsprozesses des  (namentlich  ländlichen) 
kleineren  und  mittleren  Besitzes  wiederum 
viel  zu  viel  generalisiert  wird.  So  ist  z.  B. 
die  von  gegebenen  anderen  historischen  und 
RechtsverhältnissenabhängigebritischeAgrar- 
geschichte  keineswegs  tyjjisch  für  allge- 
meine Entwickelungen.  Ferner  hat  auch  der 
Grossbetrieb,  zumaJ  in  der  Landwirtschaft, 
nicht  so  aDgemeine  noch  so  schwerwiegende 
ökonomisch -technische  Vorzüge  als  in  der 
Industrie,  wie  jetzt  wohl  wieder  allgemein 
anerkannt,  von  Conrad,  Sering  imd  anderen 
bewiesen  worden  ist.  Andererseits  hat  der 
agrarische  Mittel-  und  Kleinbetrieb  mehr  als 
in  analogem  FaU  in  der  Industrie  wieder 
seine  sjpecifischen  Vorzüge,  so  namentlich 
in  gewissen  intensiven ,  auf  höherer  Ent- 
wickelungsstufe  der  Volkswirtschaft  immer 
wichtiger  werdenden  Specialkulturen,  auch 
in  Zweigen  der  Viehwirtschaft. 

Endlich  aber,  soweit  die  sozialistische 
und  sonstige  Polemik  in  ihren  einzelnen 
Argmnenten  historischer, 'rechtlicher,  ökono- 
misch-technischer Art  im  Rechte  ist,  wie  es 
gewiss  teilweise  nicht  bestritten  werden 
kann  und  darf,  beweist  sie  für  ihre  eigent- 
liche These,  die  »Abschafhmg«  des  Privat- 
eigentums noch  nicht  viel,  sondern  trifft  nur 
Missstände  der  privaten  Grundbesitzvertei- 
lung und  der  positiven  Rechtsordnung  in 
Bezug  auf  das  Grundeigentumsrecht.  In 
dieser  Beziehung  müssten  dann,  und  müs- 
sen in  der  That,  Reformen  des  Grundeigen- 
tumsrechts, aber  unter  Festhaltung  desPri- 
vateigentumsprincips,  wenigstens  indem  im 
ganzen  doch  wichtigsten  Falle,  beim  länd- 
lich-agrarischen Boden,  verlangt  werden. 
Selbst  wenn  aber,  wie  voraussichtlich,  solche 


Reformen  schwierig  und  nur  teilweise  von 
Erfolg  sind,  ergiebt  sich  auch  daraus  noch 
nicht,  dass  jene  These  der  Abscliaffung  des 
privaten  Grundeigentums  und  die  Fordenmg 
seiner  Ersetzung  durch  allgemeines  ge- 
sellschaftliches Gemeineigentum,  auch  an 
allem  ländlichen  Boden,  richtig  sei.  Viel- 
mehr müsste  man  dann  den  Schluss  ziehen, 
einmal  dass  man  doch  vielleicht  das  private 
Grundeigentum  trotz  verbleibender  vieler 
Mängel  beibehalten  muss,  weil  hier,  wie  so 
oft,  üebles  und  Gutes  untrennbar  verbunden 
sind ;  sodann  aber  dass  die  Regelung  des  ge- 
sellschaftlichen Gemeineigentums  am  Boden, 
neben  Vorteilen,  wieder  andere  und  grössere 
Bedenken  und  Schwierigkeiten,  mindestens 
in  vielen  FäDen  und  zumal  bei  der  Haupt- 
kategorie, dem  ländlichen  Boden,  bietet  und 
gerade  an  letzterem  aus  psychologischen  und 
praktischen,  mit  eminentesten  Produktion s- 
mteressen  in  Verbindung  stehenden  Gründen 
überaus  schwierig,  wenn  überhaupt  aus- 
führbar erscheint.  Der  Sozialismus  ignoriert 
das  alles. 

5.  Die  Unterscheidung  des  Bodens 
nach  typischen  Verwendungszwecken 
in  ihrer  Bedentang  für  die  Fragen  der 
Bodenrechtsordnnng.  Das  uns  hier  be- 
schäftigende Problem  dieser  Rechtsordnung 
ist  ein  einheitliches,  den  gesamten 
Boden  umfassendes.  Jede  Darstellung  und 
Kritik  hat  das  zu  beachten,  was  bei  der 
früher  meist  allein  üblichen  Beschränkung 
der  Untersuchung  auf  den  ländlich-agrari- 
schen Boden  nicht  genügend  geschehen  ist. 
Gewisse  gleiche  Verhältnisse  und  Einzel- 
fragen kehren  auch  bei  allem  Boden  wieder 
und  zeigen  die  Einheitlichkeit  des  ganzen 
Problems. 

Aber  andererseits  sind  die  natürlichen 
ökonomisch-technischen  Verwendungszwecke 
des  Bodens  und  damit  in  Verbindung  stehend 
die  Benutzungsweisen  und  Bearbeitungs- 
arten so  verschieden,  dass  das  auch  in  der 
Elechtsordnung  unmöglich  unbeachtet  bleiben 
kann,  auch  im  positiven  älteren  wie  neueren 
Recht  nicht  geblieben  ist.  Auch  in  den 
Principien fragen.  Privat-  und  Gemeineigen- 
tum, freies  und  beschränktes  Privateigentum, 
liegen  die  Verhältnisse  je  nach  den  Ver- 
wendungszwecken des  Bodens  wesentlich 
verschieden,  muss  daher  auch  Urteil  und 
Schluss  verschieden  ausfallen.  Mehrfach 
treten  Vorteile  des  Privateigentiuns  wie  des 
Gemeineigentums  je  nach  der  Bodenkate- 
gorie weniger,  Nachteile  beider  mehr  her- 
vor. Namentlich  aber  stellen  sich  die 
Schwierigkeiten  der  Durchführung  des  Ge- 
meineigentiuns  darnach  sehr  verschieden 
heraus.  Während  sie  im  einen  Falle,  beim 
agrarischen  Boden,  wohl  sehr  gross  bleiben, 
selbst  unüberwindlich  erscheinen,  vermin- 
dern sie  sich  und  verschwinden  wohl  selbst 


800 


Grrundbesitz  (Bodenrechtsordmmg) 


in  anderen  Fällen,  wenn  man  dem  Gemein- 
eigentum die  richtige  Ausgestaltung  giebt, 
wie  es  thatsächlieh  möglich,  wenn  auch 
keineswegs  immer  so  einfach  ist. 

Allerdings  wird  der  Boden  oder  werden 
einzelne  Gnmdstücke  mehrfach  gewöhnlich 
erst  in  einem  gewissen  Stadium  der  Ent- 
wickelung  des  Volks-  und  Wirtschaftslebens 
im  wesentlichen  dauernd  einer  bestimm- 
ten Verwendung  gewidmet,  nämlich  wenn 
feste  Ansiedelung  an  bestimmten  Oertlich- 
keiten  erfolgt  ist,  das  Volk  in  diesem  Sinne 
sesshaft  geworden.  Dies  gilt  namentlich 
vom  agrarischen  und  Wohnungsboden,  zum 
Teil  auch  von  Wald-  imd  Wegeboden,  da- 
her in  der  Stufe  des  Ackerbaues  mit  festen 
Wohnsitzen  und  dem  Betrieb  der  Landwirt- 
schaft, auch  der  Weide-  und  der  Forstwirt- 
schaft —  soweit  von  letzterer  schon  zu 
reden  —  von  diesen  Sitzen  aus.  Insofern 
hat  man  es  auch  hier  mit  historischen 
Erscheinungen  und  Kategorieen  des  Wirt- 
schaftslebens zu  fhim.  In  längeren  Zeit- 
räumen gehen  auch  nach  der  ganzen  Lebens- 
geschichte eines  Volkes  immer  wieder  grös- 
sere Verändenmgen  mit  dem  Boden,  den 
einzelnen  Grundstücken  und  ihrer  Benutzung 
zu  dem  und  dem  Zweck  vor  sich,  wird 
selbst  uralter  Wohnungs-,  Garten-,  Wege- 
boden wieder  einmal  Ackerland,  Weide, 
Wald.  Auch  hat  bei  nicht  durchaus  still 
stehenden  Völkern  die  Entwickelung  der 
A^olkszahl,  der  örtlichen  Verteilung  und 
Koncentration  der  Bevölkerung,  der  Fort- 
schritt der  Technik  im  kleineren  IMasse 
immer  auch  Verändenmgen  in  der  Verwen- 
dung bestimmter  Grundstücke,  namentlich 
solcher  von  specifischer  Lage  (Wegewesen, 
Wohnungsboden)  oder  Beschaffenheit  zur 
Folge^  volkswirtschaftlich  tritt  dabei  ge- 
rade der  Konflikt  des  »öffentlichen  Inte- 
resses« mit  wohl  erworbenen  (Privat)- 
Rechten,  wie  denjenigen  des  Privatgrund- 
eigentümers, in  der  Weise  eigentümlich  her- 
vor, dass  es  sich  darum  handelt,  eine  alte 
bestehende  Verwendung  durch  eine  neue  zu 
ersetzen,  welche  für  das  Gesamtinte- 
resse wichtiger  als  die  bisherige  ist:  die 
gerade  für  die  volkswirtschaftliche 
Betrachtung  des  Enteignungsrechts 
wichtigste  Seite  des  letzteren  i). 

Allein  von  dieser  immer  im  Fluss  be- 
findlichen Entwickelung  der  Dinge  auch  auf 
diesem  Gebiete  abgesehen,  darf  man  doch 
sagen:  es  giebt  gewisse  typische  natür- 
liche und  ökonomisch-technische  Verwen- 
dungszwecke des  Bodens,  der  einzelnen 
Grundstficke,  welche  wenigstens  für  lange 

')  S.  d.  Art.  Enteignung  (oben  Bd.  III  S. 
621  if.)  und  zur  Ergänzung  nach  obiger  Seite 
meine  Grundlegung  in  dem  Abschnitt  tlber  Ent- 
eignung, 3.  Aufl.  II,  S.  527  fl.). 


Zeiträume  die  Bedeutung  von  absoluten 
Kategorieen  gewinnen  und  gerade  als  solche 
für  die  Fragen  der  Bodenrechtsordnung  so 
wichtig  werden.  Denn  man  hat  es  hier 
doch  mit  dauernden Thatsachen  zu  thun, 
welche  durch  die  Natiu-  selbst  (Lage,  Be- 
schaffenheit. Inhalt  des  Bodens)  oder  durch 
im  wesentlichen,  wenigstens  für  lange 
Zeitendauer  und  unter  normalen  Verhält- 
nissen, abgeschlossene  historische  Ent- 
wickelungen  bedingt  sind,  wie  es  die  defi- 
nitive An-  und  Besiedelung  des  Landes, 
die  Wahl  der  Wohnplätze  (Dörfer,  Höfe, 
Städte),  die  Anlage  der  letzteren  (Strassen- 
züge  etc.)  sind. 

Solcher  typischer  Verwendungszwecke 
sind  fünf,  mit  Einbeziehung  der  Gewässer 
s  e  c  h  s  zu  unterscheiden.  Dabei  können  aber 
mitunter  dieselben  Gnmdstücke  gleichzeitig 
oder  im  Laufe  des  Jahres  nacheinander  ver- 
schiedener Verwendung,  wenn  auch  gewöhn- 
lich einer  in  besonderem  Masse  dienen,  zu- 
mal in  primitiveren,  teilweise  aber  selbst 
noch  in  späteren  höher  entwickelten  Ver- 
hältnissen (Ackerland,  auch  ziu*  Weide 
dienend,  Wald  desgleichen,  Jagd  auf  agrari- 
schem Boden  etc.).  Bei  einigen  Kategorieen 
kommen  ferner  ausser  den  rein  natürlichen 
und  den  ökonomisch-technischen  auch  noch 
andere  Verschiedenheiten  für  die  allgemeine 
rechtliche  Principienfrage  in  Betracht,  so 
nach  den  Besitzverhältnissen  (Grösse)  beim 
agrarischen,  auch  beim  Forst-,  dem  monta- 
nistischen Boden,  nach  den  Grössenverhält- 
nissen  der  Wohnortsbevölkeruug  beim  Woh- 
nungsboden. 

Die  einzelnen  sechs  typischen  Kategorieen 
sind:  der  Standorts-  oder  Wohnungs - 
boden,  der  Bergwerksboden,  der  na- 
türliche (»w^lde«)  Weide-,  Wald-, 
Forst-  und  äluüicher  Boden,  der  land- 
wirtschaftlich und  (kultiu--)  forstlich 
beimtzte  Boden,  der  Wegeboden,  der  von 
Gewässern  eingenommene  Boden. 

Auch  für  die  Fragen  der  Rechtsordnung 
sind  nun  die  natürlichen  imd  die  ökono- 
misch-technischen Verschiedenheiten  dieser 
Bodenkategorieen  und  der  auf  ihnen  und  an 
ihnen  sich  vollziehenden  menschlichen  Be- 
nutzungsweise und  Bebauungsart  von  mehr 
oder  weniger  entscheidender  Bedeutung. 

Der  Wohnungs-  und  Wegeboden  erscheint 
unmittelbar  nur  als  Träger  der  Menschen 
selbst,  ihrer  Einrichtungen  und  Thätigkeiten. 
Das  bedingt  die  grosse  Bedeutung  der  ört- 
lichen Lage  der  betreffenden  Gnmdstücke  und 
eigentümliche  davon  abhängige  Renten-  und 
Wert  Verhältnisse ,  während  für  diesen  Ver- 
wendungszweck die  Beschaffenheit  des 
Bodens  zwai*  nicht  unwichtig  ist,  aber  docli 
au  Bedeutung  im  ganzen  zurücktritt.  Eine 
im  wesentlichen  nur  einmalige  Arbeit  (und 
Kapitalverwendung)  am  Boden  macht  ihn  zu 


Gnindbesitz  (Bodenrechtsördming) 


801 


seiner  Verwendung  für  lange  Zeit  geeignet, 
€8  bedarf  hinterher  nur  einer  geringeren 
Erhalt\ings-  und  Reparatui-arbeit,  um  ihm 
diese  Geeignetheit  zu  belassen.  Zur  ersten 
Herstellung  der  Geeignetheit  ist  überwiegend 
stehendes,  im  geringeren  Masse  umlaufendes 
Kapital  erforderlich,  was  wichtige  weitere 
ökonomisch-technische  Folgen  hat;,  umge- 
kehrt geht  es  bei  der  Reparaturarbeit, 

Der  Bergwerksboden  fungiert  als  Be- 
hälter von  Stoffen,  welche  schon  in  ihrer 
natürlichen  FoiTn  einen  gewissen  Gebrauchs- 
wert haben,  wenn  auch  weitere  Verarbeitung 
der  Stoffe  diesen  Gebrauchswert  erst  völlig 
entwickelt.  Aber  der  Boden  enthält  diese 
Stoffe  nur  in  gegebenen  Mengen,  wenigstens 
für  unsere  geologische  Periode,  also  durch 
die  Wegnahme  ei-schöpft  er.  Dieser  Boden 
bedingt  aber  neben  der  ersten  Arbeit  und 
Kapitalanlage  zur  Ersclüiessung  seiner  Gaben 
eine  fortdauernde,  technisch  meistens  be- 
sonders eigentümliche  Aneignungsarbeit  und 
Kapital  verwend  ung. 

Der  natürliche  Weide-,  Wald-,  Jagdbo- 
den etc.  wie  der  agraiische  und  (kultur-) 
forstliche  haben  die  doppelte  Funktion  als 
Behältei*  von  Stoffen  und  zugleich  als 
Vermittler  der  Umbildung  von  Stoffen 
noch  nicht  oder  nicht  mehr  gebrauchs- 
•wertiger  Form  aus  Boden  und  Luft  in  ge- 
braueliswertige  Form,  zunächst  in  pflanz- 
liche, eventuell  dann  weiter  in  tierische, 
zu  dienen.  Aber  bei  der  ersten  Kategorie 
(Nr.  3  der  Reihe)  erfolgt  die  Umbildung 
spontan  durch  die  Kräfte  der  Natur  un- 
mittelbar. Für  den  Menschen  handelt  es 
sich  hier  daher  nur,  wie  bei  dem  Berg- 
werksboden, um  Aneignung  fertiger 
Natiu-produkte  mittelst  specifischer ,  nach 
den  Objekten  sich  richtender  Arbeit  (Pflan- 
zensammeln ,  Holzfällen ,  Jagd ,  Fischfang 
u.  s.  w\)  sowie  um  gewisse  Schonungs- 
rücksichten, um  die  spontane  Natur- 
thätigkeit  nicht  zu  hindern  oder  gar  zum 
Stillstand  zu  bringen.  Bei  dem  agrarischen 
etc.  Boden  muss  dagegen  die  menschliche 
Thätigkeit  die  beabsichtigte  Formumbildung 
mid  Formverbindung  erst  selbst  künstlich 
herbeiführen,  indem  sie  die  Bedingungen 
<lafür  erfüllt,  dass  der  Boden  und  die  Natur- 
kiitfte  so  und  so  wii'ken  können.  Dazu  be- 
darf es  ausser  der  ersten  Vorbereitung  des 
Bodens  hierfür  einer  fortdauernden,  sich 
immer  wiederholenden  menschlichen  Arbeit, 
ausser  der  ersten  Kapitalanlage  einer  immer 
erneuten  Zuführung  von  Kapital,  stehendem 
wie  insbesondere  umlaufendem,  bis  dann 
schliesslich  noch  die  Aneignungsarbeit 
(»Ernten«)  auch  hier  hinzukommt.  Alles 
das  bedingt  ein  wesentlich  anderes  ökono- 
misch-teclmisches  Verhältnis  der  mensch- 
lichen Arbeit  imd  Kapitalverwendung  zum 
Boden    wie    in    den  anderen  besprochenen 

Handwörterbach  der  Staatswigsenschafteo.    Zweite 


Fällen;  ein  Verhältnis,  welches  dann  für 
die  Gestaltung  der  Rechtsordnung  aus  psy- 
chologischen und  praktischen  Gründen  seine 
Beachtung  verlangt. 

Aus  dem  Vorhergehenden  ergeben  sich 
die  Aehnlichkeiten  und  die  Verschieden- 
heiten, \velche  die  Bodenkategorieen  beim 
Vei^leich  mit  einander  zeigen.  Daraus  sind 
audi  für  die  Fragen  der  Rechtsordnung  imd 
für  die  kritische  Beiu^eilung  der  Haupt- 
principieu  wichtige  Schlüsse  abzuleiten. 

Der  diesem  Artikel  zugemessene  Raum 
gestattet  es  nicht,  die  Verhältnisse  jeder 
einzelnen  Bodenkategorie  liier  eingehender 
zu  behandeln.  Bei  einigen  muss  es  an 
w^enigen  weiteren  Bemerkungen  genügen. 
Nur  der  Wohnungsboden  wird  etwas  ge- 
nauer betrachtet,  für  den  agrarischen  wenig- 
stens das  Wichtigste  hervorgehoben  werden, 
obwohl  freilich  bei  dieser  Hauptkategori'e 
des  Bodens  erst  die  Erörtenmg  des  einzel- 
nen eine  ausreichende  Begründung  der  An- 
sichten bezüghch  der  Rechtsordnung  ermög- 
licht. Für  alles  weitere  und  insbesondere 
auch  für  die  historische,  statistische,  legis- 
lative Seite  der  betreffenden  Fragen  ist  auf 
die  folgende  Abteilung  des  Artikels  Gnmdbe- 
sitz  (Geschichte)  und  auf  die  zahlreichen  ein- 
schlägigen Specialartikel  dieses  Werkes  zu 
verweisen,  namentlich  auf  die  über  den 
agrarischen  Boden,  seine  Rechtsordnung 
und  dei-en  Geschichte,  seine  Benutzung  und 
die  dabei  in  Betracht  kommenden  techni- 
schen, ökonomischen  und  i-echtlichen  Fragen, 
über  Landwirtschaft  u.  s.  w.,  daher  auf 
alle  agrar-,  forst-,  bergwerks-,  wege-,  wasser- 
technischen, -rechtlichen  und  -politischen 
Artikel,  auf  die  über  Wohnungswesen,  Städte. 
Dörfer  u.  s.  w. 

6.  £r8te  Bodenkategorie:  Standorts- 
oder  Wohnungsboden.  Diese  erste  Kate- 
gorie imifasst  die  Gnmdstücke,  welche  als 
Standort  für  den  Menschen,  daher  als  regel- 
mässiger Aufenthaltsoll;,  demgemäss  insbe- 
sondere als  Platz  für  die  Wohnungen 
oder  Wohngebäude,  ferner  als  Standort 
für  die  Gewerbe  aller  Art  und  für  die 
diesen  gewidmeten  Gebäude  etc.  dienen.  An 
diesen  Platz  für  die  Gebäude  selbst  (Tenne, 
Area)  schliesst  sich  der  Boden  für  solche 
Zwecke  an,  welche  mit  dem  Wohn-  oder  ge- 
werblichen Zwecke  in  unmittelbarer  örtlicher 
Verbindung  stehen,  Hausgärten,  Höfe,  Lager- 
plätze und  dergleichen.  In  der  Hauptsache 
gehört  demnach  hierher  der  Hofstattboden 
(Hofraite)  in  den  Dörfern  und  auf  den  Ein- 
zelhöfen, auch  auf  den  grösseren  (Land-) 
Gutshöfen ,  vor  allem  aber  der  städtische 
Wohnungsboden. 

Die  bleibende  Zweckbestimmung  dieses 
Bodens  nach  einmal  erfolgter  fester  Anle- 
gimg der  Wohnplätze.  Bestimmung  der 
Strassenzüge  etc.  für  Gebäudeanlagen,   die 

Aunage.    IV.  51 


802 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordimng) 


Notwendigkeit  eines  ei-sten  einmaligen  grös- 
seren Kapitalaufwands  für  letztere  und  da- 
bei die  Verwandlung  umlaufenden  in  ste- 
hendes Kapital,  die  ünentbehrlichkeit  dieses 
Bodens  für  die  lokalen  Wohn-  und  gewerb- 
lichen Zwecke  giebt  diesem  Boden  und  den 
einzelnen  dazu  gehörigen  Grundstücken  eine 
eigentümliche  ökonomisch -technische  Stel- 
lung und  Funktion,  welche  regelmässig  auch 
zu  einer  besonderen  Stellung  und  Behand- 
lung desselben  in  der  Rechtsordnung  ge- 
führt hat. 

Gerade  an  diesem  Boden  hat  sich  auch 
da,  wo  der  gesamte  Boden  ursprünglich  im 
Gemeineigentum  örtlicher  oder  weiterer  Ge- 
meinschaften stand,  am  ersten  und  vollstän- 
digsten eine  festere  Beziehung  zum  Inhaber 
und  seiner  Familie,  ein  Ausschluss  aus  dem 
sonstigen  Gemeineigentum  und  aus  der 
etwaigen  periodischen  Teilung  des  sonstigen 
Bodens  bloss  zur  Nutzung  und  am  frühesten 
Privateigentum  entwickelt. 

Andererseits  haben  die  Verhältnisse  der 
räumlichen  Nähe,  die  daraus  hervorgehen- 
den Lebensbedingungen  gewisse  »lokale  Ge- 
meinbedürfnisse« hier  ebenfalls  am  frühes- 
ten entwickelt,  gewisse  gegenseitige  Be- 
ziehungen und  Rücksichtnahmen  bedingt. 
Das  hat  beides  zu  entsprechenden,  die  Ver- 
fügungsgewalt des  Inhabers  oder  Eigen- 
tümers einscliränkenden  Normen  in  der 
Rechtsordnung,  im  Privatrecht  wie  im 
dörflichen ,  städtischen  Verwaltungsrecht 
(Polizeimassregeln)  gefühi-t  (Reinlichkeits-, 
Sanitäts-,  Feuer-,  Bau-,  Wasser-,  stras- 
senrechtliche  [zum  Teil  auch  privatrecht- 
liche, Nachbarrechte  etc.]  und  polizeiliche 
Bestimmungen  imd  dergleichen  melir).  Das 
betreffende  (»städtische«)  Privateigentum  am 
Boden  ist  daher  doch  naturgemäss  immer 
ein  durch  die  Rücksichten  des  gesellschaft- 
lichen Zusammenlebens  mehr  oder  weniger 
beschränktes  gewesen  und  im  Laufe  der 
Entwickelung  dies  selbst  immer  mehr  ge- 
worden. Die  enge  lokale  Anhäufung  der 
Menschen  und  ihrer  Berufsstätten,  Gewerbe-  j 
betriebe,  die  daraus  hervorgehenden  Ge- 
fahren und  Uebelstände,  die  neuere  natur- 
wissenschaftliche Erkenntnis  der  Einflüsse 
von  Boden,  Luft,  Wasser,  Licht  etc.  auf 
die  Gesundheit  bedingen  eine  wachsende 
Einflussnahme  der  öffentlichen  Gewalt  und 
demgemäss  der  Rechtsordnung  auf  die  Ver- 
hältnisse dieses  Bodens  und  der  darauf 
stehenden  Gebäude.  Wo,  wie  bei  unserer 
Bauweise  —  im  Unterschied  zu  anderen 
Ländern ,  z.  B.  Japan  —  die  Gebäude  im 
wesentlichen  fest  mit  dem  Boden  verbunden 
und  insofern  im  ökonomisch -technischen 
Sinne  w  a h  r e  Immobilien  sind  ,  ist  bei 
einmal  bebauten  (rrundstücken  aucli  in  der 
Reclitsordnun^  dieser  Umstand  zu  beachten, 
weshalb  die  Fragen  vom  städtisciien  Grund- 


eigentum und  Gebäudeeigentum  eng  zusam- 
menhängen und  zum  Teil  zu  einer  einheit- 
lichen Frage  der  Rechtsordnung  werden. 

Die  Gesamtheit  der  Wiitschafts-  und 
Lebensverhältnisse  in  den  Wohnorten,  vom 
kleinen  Dorf  bis  zur  AVeltstadt,  bringt  es 
mit  sich,  dass  für  die  wirtschaftliche  Be- 
deutung, daher  für  den  Wert  des  »Woh- 
nungsbodens« ein  Faktor  eine  ganz  besondere^ 
zum  Teil  ausschlaggebende  Wichtigkeit  er- 
langt, zwar  nicht  allein,  aber  mehr  und 
stärker  als  so  ziemlich  bei  allem  übrigen 
Boden:  die  örtliche  Lage  des  eiuzelneu 
Grundstücks.  Der  andere  sonst  massgebende 
Faktor,  die  (nati'irliche)  Beschaffenheit  des 
Bodens,  verliert  zwar  auch  beim  Wohnungs- 
boden seine  Bedeutung  nicht  ganz  (Trag- 
fähigkeit, Erfordernis  betreffs  der  Fiui- 
damentierungsarbeiten  imd  dergleichen),  aber 
tritt  doch  hier  in  seinem  Einfluss  auf  die 
Benutzbarkeit  und  daher  den  Ertrag  und 
Wert  wesentlich  zurück.  Es  spielt  deshalb 
beim  Wohnungsboden  die  »Grundrente 
der  Lage«  eine  besonders  hervorragende, 
zum  Teil  selbst  specifisch  eigentümliche  Rolle 
(s.  d.  Art.  Grundrente  a.  a.  0.).  Die  Lage 
äussert  ihren  Einfluss  doppelt,  einmal  nach 
der  ganzen  Art  der  Ortschaft  (Dorf — Stadt, 
Klein-,  Mittel-,  Gross-,  Weltstadt),  dann  nach 
der  lokalen  Lage  innerhalb  der  Ortschaft 
(städtische  Verhältnisse!).  In  beiderlei  Be- 
ziehung bedingt  die  Lage  die  Benutzbarkeit 
für  gewisse  Wirtschafts-  und  persönliche 
Zwecke  in  oft  so  gut  wie  entsciheidendeni 
Masse.  Li  Verbindung  mit  diesem  Moment 
der  Lage  hat  daher  auch  die  Institution  des 
Privateigentums  am  Boden  wirtschaftliche 
und  rechtliche  Konseciuenzen ,  wie  sie  bei 
anderem  Boden  die  Lage  (z.  B.  bei  >»Aus- 
sichtsgrundstücken«,  Bergpunkten,  Wasser- 
fällen und  dergleichen)  und  die  Beschaffen- 
heit (z.  B.  Kohlen-,  Metalb-eichtum ,  Wein- 
bergsboden) nur  ausnahmsweise  ähnlich 
zeigen.  Im  städtischen,  vollends  gross-  und 
weit  städtischen  Boden  tritt  so  der  >>  Mono- 
polcharakter« des  Grund  und  Bodf^i^ 
m  ganz  besonderem  Grade  hervor:  ein  für 
die  Würdigung  der  Fragen  der  Rechtsoixl- 
nung,  si)eciell  des  Privateigentums,  wiederum 
besonders  wichtiger  Punkt.  Die  ȟrtli(:he 
I>age«  ist  eine  reine  Natuithatsache,  und  die 
wirtschaftliche  Bedeutung  dieser  Lage  hängt 
ganz  überwiegend,  öfters  ausschliesslich 
von  allgemeinen  Entwickelungen  des  Wirt- 
schaftslebens, der  j»olitischen  Geschichte 
(Hauptstädte),  der  Bevölkerungsbewegung, 
der  Verkehrsmittel  etc.,  nicht  oder  fast  nicht 
von  wirtschaftlichen  Leistungen  des  ein- 
zehuMi  Eigentümei*s  al).  Daraus  ergiebt  sich 
bei  diesem  Boden  vollends,  dass  dai?  Privat- 
eigentum an  demselben  dem  Eigentümer 
ganz  ohne  seine  oder  ohne  wesentliche 
Thätiefkoit    sciinciseits    wirtschaftliche    Ge- 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


803 


winne  zuführen  kann  und  oft  zuffihrt,  wel- 
che demselben  rein  als  Konsequenz  des 
Privateigentumsprincips  und  speciell  des 
Privateigentumsrechts  an  einem,  noch  dazu 
beschninkt  vorhandenen,  eben  deshalb  zum 
Monopol  werdenden  Naturfaktor  zufallen, 
also  Ökonomisch  insofern  von  ihm,  dem 
Eigentümer,  nicht  oder  fast  nicht  »verdient« 
Find.  Kolossale  Werte,  so  dass  selbst  ein 
auf  solchem  Grundstück  stehendes  grosses 
Prachtgebäude  weniger  zu  bauen  kosten 
kann,  als  der  Preis  der  bevorzugt  gelegenen 
Baustelle  beträgt,  auf  der  es  sich  erhebt  (30  bis 
40000  Mark  für  die  Quadratrute  in  Berlin 
schon  vor  Jahren)  i),  riesige  Wertsteigerungen 
auch  binnen  kurzer  Zeit  unter  günstigen  Um- 
ständen kommen  daher  hier  gelegentlich,  in 
den  Mittelpunkten  und  selbst  an  der  Peri- 
pherie rasch  wachsender  Grossstädte  in 
häufigeren  Fällen  zum  Vorschein.  Um- 
gekehrt tiifft  ein  allgemeiner  Rückgang  der 
Verhältnisse  eines  Orts,  einer  Gegend  darum 
freilich  den  Privatgnmdeigentümer  auch  mit 
ähnlichen  ökonomisch  und  persönlich  »unver- 
schuldeten« Verlusten. 

Lauter  Verhältnisse,  welche  das  private 
städtische  Gnmdeigentum,  zirnial  in  Gross- 
städten, allerdings  misslich  erscheinen  lassen. 
Denn  natürlich  werden  jene  steigenden 
Werte  nicht  a\is  dem  Nichts  geschaffen, 
sondern  sind  in  letzter  Linie  anticipativ 
kapitalisierte  Zaldungen,  welche  die  Be- 
n  Ti  t  z  e r  der  Häuser,  die  M  i  e  t e  r ,  in  hohen, 
steigenden,  ihnen  durch  die  Z  w  a  n  g s  1  a g e , 
i:i  welcher  sie  eich  dem  Boden-  und  Haus- 
nionopol  gegenüber  befinden,  abgerungenen 
Mieten  entrichten  müssen.  Durch  Weiter- 
wülzung  dieser  I^asten  auf  die  Käufer  ihrer 
Arbeitsprodukte  und  Leistungen  können  und 
werden  diese  Mieter  zwar  ihre  Abnehmer 
mitbelasten ,  aber  volkswirtschaftlich  und 
sozialpolitisch  aufgefasst  wird  die  Sache 
dadurch  sogar  eher  noch  bedenklicher.  Denn 
schliesslich  wird  so  direkt  und  indirekt  die 
halbe  oder  ganze  Bevölkerung  den  relativ 
wenig  zahlreichen  städtischen  Grund-  und 
Gebäudeeigentümern  tributpflichtig,  —  und 
zwar  nicht  für  eine  wirtschaftliche  Leistung 
derselben  an  sie,  sondern  für  die  Ueber- 
lassung  eines  direkten  oder  indirekten  An- 
teils an  der  Benutzung  desjenigen  Bodens, 
we^lchen  die  Rechtsordnung  den  Eigentümern 
privateigentümlich  ziu*  Ausübung  ihrer  Uerr- 
Rchaft  und  damit  zur  Erhebung  jenes  Tri- 
buts, einer  wahren  Privatsteuer  ohne  Gegen- 
leistung, überlassen  hat. 

M  Icli  verweise  auf  demnächst  erscheinende 
Untersuchuntren  von  Dr.  P.  Voigt  über  die 
Entwickelnug  der  Bodenwertverhältnisse  in  den 
westlichen  Teilen  und  Vororten  Berlins  mit 
Thtitsachen,  die  einen  frappanten  Beleg  zu 
obigen  Ausführungen  bilden  (Kurfürstendanim, 
Grunewald  I). 


Bei  dem  Umstände,  dass  staatliche  und 
kommunale  »öffentliche«  Verwendungen  für 
mancherlei  der  Avichtigsten  Zwecke  direkt 
und  indirekt  wiederum  vornehmlich  dem 
örtlichen  Gnmdeigentum  in  Renten-  und 
Wertsteigerungen  zu  gute  kommen,  während 
die  Steuern,  mittelst  deren  diese  Verwen- 
dungen erfolgen,  wenn  nicht  ganz,  so  doch 
grossenteils  von  der  Gesamtheit  aufgebracht 
werden,  treten  die  angedeuteten  Wirkungen 
nur  noch  drastischer  hervor.  Zwar  mildert, 
sich  das  aus  diesen  Verhältnissen  hervor- 
gehende Bedenken,  wenn  demgemäss  wenig- 
stens die  Steuern  solchen  Sondervorteilen 
des  Grundeigentums  entsprechend  in  beson- 
derem Masse  auf  die  Eigentümer  des  letz- 
teren gelegt  werden.  Das  wird  denn  auch, 
und  principiell  ganz  mit  Recht,  verlangt 
und  m  unserem  neueren  Koramunalsteuer- 
recht  vorgeschrieben  (Verwendung  von  Real- 
steuem  hierfür).  Aber  nicht  nur  ist  diese 
Forderung  in  der  Regel  thatsächlich  bisher 
nur  in  geringem  Masse,  öfters  gar  nicht 
erfüllt:  sie  kann  auch  aus  steuertechnischen 
und  anderen  Gründen  nur  in  beschränktem 
Grade  und  unvollkommen  erfüllt  werden. 
Das  Bedenken  bleibt  also  in  der  Hauptsache 
bestehen. 

In  moderner,  namentlich  der  neuesten 
Zeit,  sind  alle  diese  Verhältnisse  noch  miss- 
licher geworden.  Einmal,  weil  der  Ueber- 
gang  von  der  vorwaltend  agrarischen  und 
klein^ewerblichen  ^handwerklichen)  zur  in- 
dustriellen Stufe  aer  Volkswirtschaft  und 
weil  die  dadurch  und  durch  das  moderne 
(Dampf-)  Kommunikation swesen  und  die 
diesen  Faktoren  sich  anpassende  Rechts- 
ordn\mg  des  freien  persönlichen  Verkehrs 
bedingte  örtliche  Bevölkerungsbewegung 
(Freizügigkeit,  interlokale  und  internationale 
Bevölkerungsbewegung)  das  starke  und 
rasche  Anschwellen  der  lokalen  Bevölkerung 
an  begünstigten  Orten  (Gross-  und  Welt- 
städte, Industriesitze)  in  ganz  ausserordent- 
lichem Masse  gesteigert  haben.  Sodann, 
w^eil  die  Entwickolung  des  Kreditwesens  und 
seiner  Organisation,  der  wirtschaftlichen  Ver- 
kehrsfreiheit,  auch  der  bezüglichen  Ein- 
richtimgen  und  Normen  des  Rechts,  selbst 
des  Privati-echts ,  die  städtischen  »Immo- 
bilien« mehr  und  mehr  »mobil«  gemacht, 
zu  häufigem  und  leichtem  Besitzwechsel, 
bequemer  Verpfändbarkeit  deivselben  gefülirt 
haben,  so  dass  mitunter,  der  bisherigen 
wirtschaftlichen  Natur  des  Handels  und  den 
Normen  des  Handelsrechts  zuwider,  diese 
Immobilien  selbst  förmlich  Gegenstand  des 
Handels  geworden  sind.  Zu  den  natur- 
gemtlssen  Faktoren,  welche  die  Renten-  und 
die  Wertsteigerung  dieser  Objekte  bedingen, 
tritt  infolgedessen  noch  der  S  p  e  k  u  1  a  t  i  o  u  s  - 
faktor.  Die  Mieten,  die  Renten,  die  Werte 
werden   dadurch  noch   weiter  und  rascher. 


804 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


wenigstens  in  Zeiten  günstiger  Konjunkturen, 
^villföl^igen  Kredits  und  in  Orten  aussichts- 
reicher Entwickelun^  emporgetrieben.  Die 
»Gnindstückspekuiation«  nimmt  wohl  selbst 
einen  gewerbsmässigen   Charakter  an. 

Alles  das  hat  dann  natürlich  vollends 
nachteilige  Wirkungen  für  die  Mieter,  d.  h. 
für  die  grosse  Masse  der  städtischen  Be- 
völkenmg,  nicht  einmal  bloss  in  betreff  der 
Yerteuerimg  der  Befriedigimg  des  Wohn- 
bedürfnisses, sondern  auch  in  Hinsicht  der 
Abhängigkeit  vom  Grund-  und  Hauseigen- 
tümer, der  Unsicherheit  des  Innehabens  der 
Wohnung  u.  v.  a.  m.  (grossstädtische  chikanöse 
Miets vertrage,  mitunter  wahre  Löwenverträge 
zu  Gunsten  des  Vermieters).  Schon  aus 
den  allgemeinen Yerhältnissen  des  städtischen 
Bau-  und  Wohnungswesens  folgt,  dass  in 
Städten,  zumal  in  den  grösseren,  die  Mehr- 
zahl der  Bevölkerung  zur  Miete  wohnt,  also 
dies  zweit-  oder  drittwiehtigste  materielle 
Bedürfnis  nicht,  wie  fast  in  allen  anderen 
Fällen,  mittelst  des  Kaufvertrags,  sondern 
mittelst  des  Mietvei-trags  zur  Befriedigung 
bringt.  Die  geschilderte  Entwickelung  der 
Dinge  macht  das  Miet Wohnungswesen  im 
Gegensatz  zum  Eigenwohnen  im  eigenen 
Hause,  wenigstens  in  Grossstädten i  aber 
vollends  zur  fast  allgemeinen  Notwendigkeit. 
Denn  die  ungeheuere  Höhe  der  Grundrente 
bezw.  des  Bodenwerts  verteuert  das  AUeiu- 
bewohnen  eines  Hauses  zu  selir  und  nötigt 
wieder  zur  möglichsten  Ausnutzung  des 
Raumes  durch  verwertbare  Gebäude,  daher 
zur  »Mietkaserne«,  mit  engsten,  klein- 
sten Höfen  —  »Lichthöfen «,  lucus  a  non 
luceudo  — ,  möglichst  grosser  Zahl  der 
Stockwerke  übereinander  etc.  Diese  Bau- 
art steigert  dann  ihrerseits  wieder  die  Stei- 
gerungsfähigkeit des  Bodenwertes  noch,  so 
dass  man  tuer  auf  eine  immer  verhängnis- 
vollere Bahn  kommt.  Die  Mietkaserne  be- 
dingt aber  wieder  eine  Menge  sozialer, 
ethischer,  sanitärer  und  sonstiger llebclstände. 
Sie  ist  jedoch  ein  notwendiges  Produkt  der 
weitgehenden  »Freiheit  des  städtischen  pri- 
vaten Gnmdeigentums« ,  eine  Freiheit,  die 
die  Interessenten  in  beschränkenden  Bau- 
ordnungen aber  dann  wie  durch  einen  »rechts- 
widrigen Eingriff«  in  das  »Privateigentum« 
gefährdet  sehen. 

7.  Banstellen.  Die  eigentümlichsten 
imd  wieder  noch  besonders  nachteiligen 
Folgen  treten  in  solchen  Verhältnissen  bei 
uo('h  unbebauten  Grundstücken  ein. 
Regelmässig  liegt  sonst  beim  Grundeigentum 
<ler  wirtschaftliche  Vorteil  nicht  im  blossen 
Haben  oder  Besitzen,  sondern  in  der  Be- 
nutzung zu  einem  solchen  Zweck,  welcher 
oiuen  laufendenErtrag  giebt,  also  auch 
in  beständiger  Arbeitszuwendung.  Bei  der 
raschen  und  bedeutenden  Wertsteigerung  des 
städtischen  Bodens  unter  günstigen  Verhält- 


nissen lohnt  es  dagegen,  selbst  unter  völligem 
Verzicht  auf  laufende  Erträge,  Grundstücke 
nur  zu  besitzen  und  zu  erwerben  und  sie  ganz 
—  oder  im  wesentlichen  —  unbenutzt,  daher 
ohne  laufenden  Ertrag  zu  lassen,  in  der  Er- 
wartung, dass  die  Entwickelung  der  städ- 
tischen Grundstückwerte  bald  oder  wenig- 
stens über  kurz  oder  lang  eine  gewinnreiche 
Veräusserung  gestatten  werde,  aus  der  weit 
mehr  als  aus  den  üblichen,  doch  meist  nur 
geringen  laufenden  Erträgen  erzielt  wird. 
So  entwickelt  sich  eine  förmlich  spekulative 
und  gewerbsmässige  Kapitalanlage  in  »Bau- 
stellen«, natürlich  vornehmlich  in  solchen 
örtlichen  Lagen  einer  sich  gut  entwickeln- 
den Stadt,  wo  noch  billig  zu  kaufen,  nach 
einiger  Zeit  aber  wegen  des  Bedarfs  der 
wachsenden  Bevölkerung  nach  Boden  für 
neue  Gebäudeanlagen  gut  zu  verkaufen  ist. 
Einstweilen  winl  der  betreffende  Boden 
»aus  dem  Markte  gehalten«,  was  dann  auch 
wieder  dem  Monopol  der  übrigen  Gnmd- 
stück-  und  Gebäudebesitzer  zu  gute  kommt. 
Bauordnungen,  welche  eine  übermässige 
Ausnutzung  des  Bodens  für  Gebäude  ge- 
statten, Steuerverfassungen,  wie  die  meist 
bei  uns  bestehenden  (Grundsteuer),  welche 
solche  Baustellen  nach  den  niedrigen  Sätzen 
des  agrarischen  Bodens,  vielleicht  noch  da- 
zu geringer  Qualität  ^Berlin)  belegen,  be- 
günstigen direkt  und  inairekt  diese  ungesunde 
Entwickelung,  namentlich  die  spekulative 
Kapitalanlage  in  Baustellen.  Verkehrs- 
verbesserungen und  Verwohlfeilerungen  (bil- 
liger Lokaltarif  der  Pferde-  und  Dampf- 
bahnen), welche  das  Entfern t^^ohnen  von 
Berufs-  und  Arbeitsstätte,  vielleicht  sehr 
erwünscht,  ermöglichen  und  die  »interne« 
Bodenrente  etwas  drücken,  begünstigen 
wieder  die  Baustellenspekidation  an  der 
städtischen  Peripherie  und  helfen  so  selbst 
ihren  eigentlichen  Zweck  zu  vereiteln.  Ein 
förmlicher  Handel  in  solchen  Grundstücken 
(»Terrains<v)  bildet  sich  und  hat  seine 
Hausse-  und  Baissekonjunkturen,  seine 
»Ringe«^  u.  s.  w. ! 

In  und  bei  grossen,  ontwickelungsfähigen 
Städten,  unter  besonders  günstigen  Um- 
ständen (Berlin !),  werden  dann  wohl  grosse 
Bodenflächen  von  kleinen  und  grossen  Kapi- 
talisten, Banken  etc.  als  Baustellen  erworben, 
einstweilen  gar  nicht  oder  nur  zum  Schein 
oder  zu  Nebenzwecken  (Niederlagsplätze  füi- 
Brennstoffe,  Baumaterialien  u.  dgl.)  benutzt, 
nicht  einmal  n^gel massig  agrarisch  oder 
gärtnerisch,  und  schliesslich  mit  öfters 
enormem  Gewinn  veräussert,  der  natürlicli 
endlose  Mietergenerationen  belastet. 

Das  private  Gnmdeigentum,  zumal  das 
durch  Bauordnungen  wenig  beschränkte, 
diu'ch  Steuern  wenig  belastete  und  dem 
Eigentfimer  möglichst  frei  zu  seiner  Ver- 
fügung stehende,  hat  hier  unleugbai*  hoch 


Gmndbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


805 


bedenkliche  volkswirtschaftliche  und  soziale 
Konsequenzen.  Es  gewährt  ohne  oder  ohne 
wesentliche  Leistungen  seinem  Herrn  grosse 
Gewinne,  führt  zu  Einkommen-  und  Yer- 
mögensbildungen  auf  Kosten  Dritter  und 
lässt  sich  kaum  irgendwie  mit  einem  der- 
jenigen Gründe,  welche  für  die  sonstigen  mo- 
dernen Arten  privaten  Grundeigentums  doch 
mehr  oder  weniger  zutreffen,   rechtfertigen. 

8.  Reformen  für  den  Wohnnngsboden 
nnd  sein  Recht  Es  ist  begreiflich,  dass, 
je  mehr  die  Einsicht  in  diese  Zusammen- 
hänge jedem  halbwegs  vonuteilsfreien 
ruhigen  Beobachter  durch  den  Augenschein 
und  handgreifliche  Thatsachen  Mar  wird, 
desto  mehr  Keformbestrebungen  auf- 
tauchen. Darauf  kann  an  dieser  Stelle  nicht 
näher  eingegangen  werden.  (S.  u.  a.  die  Artt. 
Baupolizei  (oben  Bd.  II  S.  515ff.),  Ent- 
eignung (oben  Bd.  m  S.  621  ff.),  Woh- 
nungsfrage.) Es  muss  hier  an  einigen  Be- 
merkungen darüber  genügen. 

Die  einen,  die  Gemässigteren, 
wollen  das  private  städtische  Gnmdeigentum 
beibehalten,  aber  teils  durch  wirtschafts- 
politische Massregeln,  besonders  durch  die 
Entwickelung  guten  und  biUigen  lokalen 
Verkehrswesens,  die  faktischen  Monopole 
bevorzugter  Ijagen  brechen,  —  was  leider 
nicht  in  genügendem  Grade  möglich  ist, 
ohne  durch  das  Mittel  selbst  anderswo  und 
noch  ausgedehntere  neue,  wenn  auch  in  ge- 
ringerem Masse  bevorzugte  Lagen  zu 
schaffen  und  so  die  alten  üebel  noch  zu 
verbreiten,  wenn  auch  sie  allgemein,  nament- 
lich im  Innern  der  Städte,  etwas  zu  vei'- 
mindem.  Teils  gehen  auch  diese  Reformer 
bereits  weiter-  und  verlangen  auch  ihrer- 
seits schon  rechtliche  Reformen  auf  Ge- 
bieten, welche  mit  den  städtischen  Boden- 
verhältnissen in  Verbindung  stehen :  bessere, 
die  Raumausnutzung  beschränkende,  die  ge- 
sundheitlichen Bedingungen  mehr  verbür- 
gende, den  sozialen,'  den  sittlichen  Lebens- 
verhältnissen mehr  Rechnung  tragende  Bau- 
ordnungen, Aendenmgen  der  Steuer- 
verfassung, wodurch  die  »Konjunkturen- 
werte« imd  »Spekulationswerte«  aer  Grund- 
stücke mehr  erfasst,  die  blossen  Baustellen 
nach  dem  wirklichen  Wert  besteuert,  die 
Gewinne  aus  Grundstückgeschäften  zur  Ein- 
kommensteuer herangezogen  werden  (preus- 
sische  Einkommensteuer  von  1891,  Ver- 
mögenssteuer von  1893,  Kommunalsteuer 
von  1893,  die  sich  mit  in  dieser  Richtung 
bewegen;  sonst  überhaupt  als  Mittel  zum 
besagten  Zweck  Grundsteuer-,  Gebäude- 
eteuer-,  Einkommensteuerreformen,  Bau- 
stellensteuern, Besitz  wechselsteuer,  Kon- 
junktmrgewinnsteuern  u.  dgl.  m.):  an  sich 
beides  principiell  und  praktisch  zweck- 
mässige, aber  technisch  schwierige  und 
immerhin  nicht  ausreichende  Mittel. 


Die  Interessen  der  besonders  durch  die 
geschilderten  Verhältnisse  bedrückten  imteren 
Volksklassen  sollen  daneben  durch  Leis- 
tungen Wühlwollender  Arbeitgeber  —  Bau 
von  Arbeiterwohnungen  — ,  durch  »gemein- 
nützige Baugesellschaften«  durch  Massregeln 
des  ^>Vohmtarismus<s  durch  Baugenossen- 
schaften, durch  Realsteuerfreiheiten  u.  dgl.  m. 
besser  wahrgenommen  werden.  Dadurch 
will  man  indirekt  dem  faktischen  Mono- 
pol des  privaten  Grundbesitzes  entgegen- 
wirken, richtet  aber  regelmässig  den  durch 
die  dargelegten  Verliältnisse  geschaffenen 
übermässigen  Bodenwerten  gegenüber  nichts 
Genügendes  aus,  ja  scheitert  wohl  fönnlich : 
besten  Falles  ein  Tropfen  auf  den  heissen 
Stein.  Endlich,  aber  seltener  und  zaghafter, 
fasst  man  auch  hier  schon  direkte  Leis- 
tungen des  Staates,  der  Gemeinde 
im  eigenen  Bau  von  Wohnimgen  ins  Auge, 
wozu  es  aber,  wenigstens  bisher,  an  Bereit- 
willigkeit, praktischer  Fähigkeit,  genügenden 
Mitteln  in  den  beteiligten  massgebenden 
Kreisen  der  Staats-  und  Kommunalverwal- 
tungen und  Vertretimgen  meistens  noch 
fehlt.  Die  einflussreiche  Stellung,  welche 
die  Grundbesitzer  nach  unseren  Gemeinde- 
ordnungen zu  haben  pflegen,  erweist  sdch 
hier  öfters  schädlich.  Zum  Teil  wird  denn 
gerade  i)rincipiell  auch  eine  gegnerische 
Stellung  zu  derartigen  Massnahmen  in  diesen 
Kreisen  eingenommen,  weil  man  darin  be- 
reits eine  zu  weitgehende  Hinneigung  zum 
»Sozialismus«,  mindestens  einen  Sehritt  auf 
einer  schiefen  Bahn,  auf  der  man  sich  vom 
privatwirtschaftlichen  System  schon  zu  weit 
entferne,  erblickt.  Fehlt  es  an  entsprechend 
gelegenem  Staats-  und  Gemeindeland,  wie 
so  oft,  so  kommt  man  freilich  ohnehin  auch 
mit  diesem  Mittel  wieder  mit  den  Folgen 
des  privaten  städtischen  Grundeigentums, 
den  übermässigen  Boden  werten,  welche  den 
Ankauf  von  Grundstücken  zu  sehr  verteuern, 
in  Konflikt  und  scheitert  an  dieser  Schwie- 
rigkeit. 

Die  anderen,  die  Weitergehen- 
den, einsehend,  dass  man  auf  den  eben 
angedeuteten  Wegen  doch  keine  durchgrei- 
fende Besserungen  erreicht,  nui'  an  den 
Symptomen  kuriert,  nur  Palliativmassregeln 
unternimmt,  greifen  principiell  das 
Privateigentum  am  städtischen,  zumal  gross- 
städtischen Wohnungsboden,  an  den  Bau- 
stellen etc.  selbst  an,  weil  sie  darin  den 
Kern  des  Uebels  sehen.  Nennt  man  eine 
derartige  Auffassung  und  Stellung  eine 
»sozialistische«,  so  ist  nicht  zu  leugnen, 
dass  dieselbe  von  zahlreicher  werdenden 
Theoretikern  und  Praktikern  und  Personen 
des  Publikums  im  allgemeinen  geteilt  w^ird, 
welche  sonst  nicht  für  das  bekannte,  die 
Eigeutumsordnung  betreffende  Progi-amm 
des  Avissenschaftlichen  und  politischen  Sozia- 


806 


Grrnndbesitz  (Bodenrec^htsordnung) 


lismus  eintreten,  also  keineswegs,  weder 
theoretische  noch  politische,  »Sozialisten«  sind, 
und  darunter  auch  von  vielen  solchen  Per- 
sonen, welche  ffir  andere  Bodenkategorieen, 
besonders  für  den  ländlichen  oder  agrarischen 
Boden,  am  Pri\'ateigentura  festhalten.  Schon 
diese  Sachlage  zeigt,  dass  die  Frage  des 
städtischen  Wohnungsbodens  jeden- 
falls anders  liegt  als  namentlich  diejenige 
des  ländlichen. 

Das  besonders  Beachtenswerte  ist  dabei, 
dass  hier  nicht  sowohl,  Avenn  auch  mit  aus 
Bedenken  hinsichtlich  der  üblen  Verhältnisse 
des  Wohnungswesens,  denen  man  durch 
sanitäts-,  baupob'zeiliche  und  dergleichen  Mass- 
regeln doch  auch  mehr  oder  weniger  begegnen 
kann  —  s.  d.  Artt.  Baupolizei  (a.  a.  0.), 
Wohnungsfrage  — ^  sondern  eben  prin- 
cipiell  wegen  der  sozial  nachteiligen 
Funktion  des  Privateigentums  für  die  Be- 
friedigung des  Wohn  Bedürfnisses  und  für 
die  Verteilung  des  Volkseinkommens  und 
Volksvermögens  gegen  dies  Privateigentum 
auf  diesem  Gebiete  die  gegnerische,  die 
sogenannte  »sozialistische«  Stellung  einge- 
nommen wird.  Auch  die  Frage  der  (Zwangs-) 
Enteignung,  die  alsdann  hier  auftaucht, 
liegt  aus  diesem  Grunde  hier  eigentümlich, 
wenngleich  auch  hier  so  und  gerade  recht 
so,  dass  das  »öffentliche  Interesso<'  den 
massgebenden  Gesichtspunkt  bildet  (s.  Art. 
Enteignung  a.  a.  0.).  In  der  deutschen 
Bewegung  der  Bodenbesitzreform  ist  gerade 
diese  städtische  Grundeigentumsfrage  zum 
Gegenstand  der  Bescliäftigung  und  derAngriffe 
gemacht  worden.  In  England  ist  der  eigen- 
tümliche Umstand,  dass  grosse  Teile  städ- 
tischen Bodens  (London)  alten  Grundaristo- 
kraten auch  jetzt  noch  gehören  und  nur  auf 
längere  Perioden  (oft  auf  99  Jahre)  zur  Be- 
bauung mit  Gebäuden  an  Dritte  vermietet 
werden  (Bodenleihe),  freilich  der  Anlass, 
dass  nun  vollends  norriblo  Konse<iuenzen 
zu  Gunsten  jener  Magnaten  hervortreten. 
Aber  anderei'seits  liegen  die  Dinge  dort 
gerade  wegen  dieses  Verhältnisses  der  Boden- 
mieie  anders  als  bei  uns  und  zeigt  es  sich 
dabei  jedenfalls  als  ausführbar,  was  bei  uns 
A^elfach  als  unlösbares  Problem  gilt  und 
allerdings  auch  ein  ökonomisch-technisch  und 
rechtlich  schwieriges  Problem  ist,  Boden- 
oi  gen  tum  und  Hauseigentum  bezw. 
Hausbau  zu  trennen.^) 

Denn  gerade  durch  die  unvermeidliche 
Verbindung   der  Frage  vom   Hausbau    und 

')  Das  „uneamert  increment"  bei  Boden 
findet  übrigens  gerade  auch  in  England  (s.  die 
Schrift  von  Dawson)  und  Amerika  (George) 
eine  ähnliche  Auffassung  und  Angriffe  in  der 
Wissenschaft  und  Praxis  wie  bei  uns.  Die  Be- 
wegung der  ^nationalisation"  des  Bodens,  der 
„Single  tax"  findet  darin  namentlich  mit  ihre 
Begründung. 


Hauseigentum  mit  der  Frage  vom  Eigentum 
am  städtischen  Wohnungsboden  kompliziert 
sich  letztere  Frage  freilich  noch  erhebhch. 
Wie  so  oft  zeigt  sich  dann,  dass  die  scharfe 
Kiitik  der  auf  der  Privateigentumsoixinung 
beruhenden  Verhältnisse  und  der  aus  dieser 
Ordnung  hervorgehenden  Konsequenzen  ganz 
richtig  sein  kann,  ohne  dass  man  daraus 
gleich  den  Schluss  ziehen  darf,  man  müsse 
deshalb  diese  Rechtsordnung  verlassen  und 
zu  einer  anderen,  derjenigen  des  Gemein- 
eigentums, hier  etwa  des  kommunalen, 
übergehen.  Das  setzt  doch  immer  voraus, 
dass  man  letztere  Rechtsordnung  ordentlich 
durchführen  und  praktisch  zur  Lösung  der 
vorliegenden  Aufgaben  geeignet  machen 
kann.  Hierin  liegt  in  der  Regel  die  Schwierig- 
keit, über  welche  sich  der  wesentlich  auf 
Kritik  des  Bestehenden  sich  beschränkende 
Sozialismus  gewöhnlich  viel  zu  leicht  hin- 
wegsetzt. Jedes  Princip  der  Rechtsordnung 
hat  notwendig  wieder  seine  besonderen 
Konsequenzen,  so  dasjenige  öffentlichen 
(staatlichen,  kommunalen)  Gemeineigentums 
am  Boden  weitgehende  und  eigentümliche 
für  die  Regelung  des  Hausbaus,  der  Boden- 
leih- (Bodenmiet-),  der  Haus-  und  Wohnungs- 
mietverhältnisse. Erst  die  Wüi*digung  aller 
dieser  Konsequenzen,  die  Auseinandersetzung 
mit  ihnen,  die  Erwägung  der  vei'schiedenen 
Möglichkeiten  und  Zweckmässigkeitsfragen 
bei  der  Regelung  des  Bau-  und  Mietswesens 
lässt  es  zur  Genüge  erkennen,  welche 
grossen  Schwierigkeiten  die  Aimahnie  des 
Gemeineigentums-  statt  des  Privateigentums- 
princips  hätte.  Der  wissenschaftliche  wie 
agitatorische  Sozialismus  berücksichtigen 
dies  niemals. 

Wir  können  das  hier,  unter  Berufung 
auf  Ausfühnuigen  über  diese  Punkte  und 
Fragen  an  anderer  Stelle^),  nicht  genauer 
ins  einzelne  verfolgen.  Es  sei  hier  niu*  be- 
merkt, dass  namentlich  zwei  Eventualitäten 
bei  Annahme  des  Gemeineigentiunsprincips 
für  städtischen  Wohnungsboden  vorliegen 
w^ürden.  Beide  böten  verschiedene,  es  ist 
nicht  ohne  weiteix^s  einfach  zu  sagen,  wel- 
che davon  die  geringeren  Sch\s-ierigkeiten, 
beide  jedenfalls  sehr  erhebliche. 

Im  einen  Falle  würde  es  sich,  imter 
gleichzeitiger  Einführung  genauer,  alle  ali- 
gemeineren Interessen  wahrnehmender  Be- 
bauungs-  und  BauorduTingen,  darum  handeln, 
für  den  Häuserbau  seihst  die  privatwirt- 
schaftliche Thätigkeit  der  Privaten  (also  auch 
der  Kapitalisten)  festzuhalten.   Daher  wären 

»)  S.  meine  „Grundlegung"  2.  Aufl.  S.  745 
—772  und  besonders  3.  Aufl.  II  S.  470-512,  wo 
neben  und  nach  der  Kritik  des  Bestehenden  die 
Schwierigkeiten  imd  Bedenken  eines  Verlassens 
des  Privatgrundeigentums  vom  Wohnungsboden 
und  des  L'ebergauges  zu  Gemeineigentum  noch 
schärfer  hervorgehoben  werden. 


Grundbesitz  (BodenrechtsordnuDg) 


80: 


diesen  unter  näheren  Bedingungen  über  den 
Preis,  die  Zeitdauer,  die  etwaige  Entschä- 
digung beim  Heimfall,  die  Verhältnisse  der 
Vermietiuig  der  Wohnungen  etc.,  Grund- 
stücke auf  Zeit  zu  vermieten  (»Boden- 
leihe«),  mit  der  Verpflichtung,  die  Grund- 
stücke bis  da  und  da  in  der  und  der  Art 
mit  Gebäuden  zu  besetzen.  An  diese  Even- 
tualität denken  die  sonst  nicht  auf  sozialis- 
tischem Boden  stehenden  Anhänger  öffent- 
lichen städtischen  Grundeigentums,  z.  B. 
der  Verein  für  Bodenbesitzreform,  zum  Teil 
unter  Hinweis  auf  englische  und  ameri- 
kanische Verhältnisse  (leases).  Erhebliche 
Schwierigkeiten  und  Bedenken  würden  hier 
entfallen,  welche  bei  der  zweiten  Eventuali- 
tät auftauchen.  Für  das  Bauwesen  und  die 
Verwaltung  der  Gebäude  verbliebe  die  — 
geregelte  —  Privatwirtschaft  in  Funktion, 
was  bekannte  Vorzüge,  freilich  auch  wieder 
einige  der  bisherigen  Nachteile  hätte.  Die 
Hauptschwierigkeit  wäre  die  richtige  Rege- 
lung des  Preises  für  die  Boden benutzun^, 
der  Zeitdauer  der  letzteren,  der  Amorti- 
sationen und  Entschädigmigen  in  betreff  des 
Baukapitals.  Ohne  eine  gewisse  Sicherung 
des  Besitzes,  daher  seiner  Dauer  und  aus- 
reichende Entschädigung  bei  Heimfall  w^ürde 
der  HäusorbckU  gefährdet.  Bei  langer  Be- 
sitzdauer käme  aber  wieder  die  etw^aige 
Grundrenten  st  eigening,  wie  bei  langen  land- 
wirtschaftlichen Pachten,  dem  Bodenmieter 
zu  gute.  Man  könnte  indessen  hier  an  perio- 
dische Revisionen  des  Bodenzinses  denken, 
was  zu  verwirklichen  freilich  auch  nicht  so 
leicht  und  einfach  ist.  Auch  die  genügende 
Wahrnehmung  der  Interessen  der  Haus-  und 
Wohnungsmieter  gegenüber  deuBodenmietern 
und  Hausbesitzern  wäre  keine  leichte  und 
einfache  Sache.  Ein  Monopol  der  letzteren 
wäre  von  demjenigen  der  jetzigen  Haus-  und 
Gnmdeigentümer  wenig  verschieden  und 
müsste  natürlich  möglichst  vermieden  werden. 
•  ^  Die  zweite  Eventualität  müsste  der  »volle 
Sozialismus«  ins  Augo  fassen :  Uebertragimg 
auch  des  Bauwesens,  des  Gebäudeeigentums 
mit  dem  Bodeneigentum  an  die  öffentliche 
Gemein  Wirtschaft,  z.  B.  die  Gemeinde.  Die 
strengere  Konse<iuenz  des  angenommenen 
Princips  wäre  das  wohl.  Einige  der  eben 
angedeuteten  Schwierigkeiten  und  Bedenken 
fielen  hier  fort  oder  verminderten  sich.  An- 
dere tauchten  aber  auf  oder  würden  noch 
grosser.  Die  ökonomisch-technischen  Auf- 
gaben, welche  Bau  und  Verwaltung  der 
Gebäude  bedingen,  sind  zwar,  weil  es  sich 
bei  einem  Bau  wesentlich  um  eine  einmalige 
grössere  technische  Aufgabe  mit  Verwand- 
lung von  umlaufendem  in  stehendes  Ka- 
j)itai,  hinterher  niu*  um  Erhaltungs-,  Re- 
paraturarbeiten etc.  handelt,  gerade  für  eine 
Behörde  eher  lösbar  als  z.  B.  die  Leitung 
des  Ackerbaues,   und   um   eine    »Behörde« 


oder  etwas  Aehnliches  handelte  es  sich  doch. 
Aber  Schwierigkeiten,  und  mehr  als  bei 
privatem  Hauseigentum,  verblieben  gleich- 
wohl. Auch  die  Regelung  der  Mietverhält- 
nisse böte  melir  Schwierigkeiten,  als  die  An- 
hänger dieses  Systems  sich  vorstellen  oder 
zugeben  wollen. 

Nebenbei  bemerkt,  würde  z.  B.  rein 
kommunales  Gemeineigentum  statt  staat- 
lichen auch  wieder  zu  misslichen  Konse- 
quenzen zwischen  den  verschiedenen  Ge- 
meinden führen,  indem  die  zum  Teil  direkt 
und  indirekt  auf  Staatsthätigkeiten  ziuiick- 
zuführenden  oder  aus  ganz  allgemeinen 
Verhältnissen  herrührenden  Vorteile  ein- 
zelner bevorzugter  Orte  dann  doch  diesen 
als  selbständigen  Gemeinschaften  allein  zu- 
fielen (Hauptstädte ,  Verkehrsmittelpunkte, 
l)esonders  günstig  gelegene  Städte).  Es 
taucht  daher  immer  auch  noch  die  Special- 
frage auf:  ob  Staats-  oder  ob  Kommunal- 
eigentum am  Boden,  oder  wenigstens  ob 
eine  Mitbeteiligun^  des  Staates  am  Kommu- 
nalboden, was  die  allgemeine  Frage  vom 
Gemeineigentum    -^deder    mehr  verwickelt. 

Immerhin  glauben  wir,  dürften  auch 
Anhänger  der  JPriyateigentumsordnung  ein- 
räumen, dass  alle  diese  Schwierigkeiten 
und  Bedenken,  auch  diejenigen  betreffs  der 
Wahl  zwischen  den  erwähnten  beiden  Even- 
tualitäten sich  schliesslich  überwinden  lassen 
würden  und  dass  man  nicht*)  ohne  weiteres 
wird  behaupten  dürfen,  der  gegenwärtige 
Rechtszustand  des  städtischen,  zumal  gross- 
städtischen Grund-  und  Gebäudeeigentums 
verdiene  nach  allen  seinen  dargelegten  nach- 
teiligen Folgen  den  Vorzug  vor  jedwedem 
Gemeineigentumssystem.  In  dieses  Star 
dium  der  Beurteilimg  möchte  die  Frage  vom 
Standorts-  und  Wohnimgshoden  bereits  ein- 
getreten sein. 

Wenn  man  aber  am  Privateigentum  fest- 
liält,  so  muss  um  so  mehr  gerade  bei  dieser 
Bodenkategorie  die  Anwendung  des  üblichen 
»absoluten  Eigentumsbegriffes«  abgewiesen 
werden.  Vollends  hier  ist  es  unhaltbar, 
von  der  Idee  einer  souveränen  Herrschafts- 
befugnis des  Eigentümers  in  Bezug  auf  sein 
Eigentumsobjekt,  wonach  mit  letzterem  ganz 
nach  Belieben  geschaltet  und  gew^altet  wer- 
den könne,  auszugehen.  Das  ist  auch  nie 
und  nirgends  positives  Recht  gewesen.  Ge- 
rade dies  Privateigentum  stand  und  steht 
in  den  »Banden  der  Gesellschaft«.  Scharfe, 
einschneidende,  nicht  bloss  sanitäre,  feuer- 
polizeiliche, baupolizeiliche  etc.  Interessen, 
sondern  die  mitspielenden  sozialen  und 
volkswirtschaftlichen    Interessen    sichernde 


»)  In  der  I.  Aufl.  Bd.  IV  S.  125  Sp.  2 
stand  hier  infolge  eines  Druckfehlers  „auch" 
statt  „nicht",  wodurch  der  Sinn  des  Satzes  iu 
sein  Gegenteil  verkehrt  war. 


808 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


Bebauuugs-,  Bauordnungen,  Be- 
steuerungen, Beschränkungs-  und 
Entei^nungsrechte  sind  gerade  diesem 
Gbnindeigentum  gegenüber  dringend  geboten, 
auch,  um  die  Grrundwerte  nicht  so  steigen 
und  die  Objekte  nicht  so  zum  Spekulations- 
gegenstand werden  zu  lassen.  Und  diese 
Normen  und  Massregeln  sollten  nicht  nach 
den  Interessen,  Wünschen.  Prätensionen  und 
der  puren  Gewinnsucht  des  aus  seinem 
Eigentumsrecht  falsche,  viel  zu  weit  gehende 
Rechte  ableitenden  Grund-  und  Gebäude- 
eigentümers unterbleiben  oder  danach  zu 
sehr  gemildert  werden.  Die  berechtigten 
gesellschaftlichen  Interessen  müssten  vollends 
hier  voran  stehen. 

9.  Zweite  Bodenkategorie:  Berg- 
werksbbden.  Der  Bergwerksboden  und 
seine  Bearbeitung  sind  oben  schon  in  Kürze 
charakterisiert  worden.  Hinzuzufügen  ist 
noch,  weil  auch  von  Bedeutung  für  die 
Bechtsfragen ,  dass  neben  dem  Umstand 
»gegebener«  Mengen  irreproducibler  (un- 
organischer) Naturstoffe  in  bereits  natur- 
fertiger, einigermassen  gebrauchswertiger 
Form  die  Art  der  Zugänglichkeit  und  die 
Qualität  der  Stoffe,  die  doppelartige  Arbeit 
der  Auffindung  (Aufsuchung)  am  Fundort 
und  der  Gewinnung  daselbst  und  der  Um- 
stand in  Betracht  kommen,  dass  die  betreffen- 
den Stoffe  meistens  sogenannte  natürliche 
Erwerbs-(Produktions-)mittel  sind,  nur  aus- 
nahmsweise, wie  Salz,  Steinöl,  ein  Teil  der 
Mineralstoffe,  bereits  natürliche  Genuss- 
mittel der  Konsumenten. 

Auch  für  die  allein  hier  zu  unserer  Be- 
trachtung gehörigen  allgemeinsten  volks- 
wirtschaftlichen und  sozialpolitischen  Fragen 
der  Rechtsordnung  dieses  Bodens  sind  die 
natürlichen  Lagerungs-,  Verteilungs-  und 
dadurch  bedingten  Zugänglichkeitsverhält- 
nisse  jener  Stoffe  im  Boden,  in  horizontaler 
wie  vertikaler  Richtung,  die  —  wenigstens 
für  unsere  geologische  Periode,  mit  der  wir 
hier  natürlich  allein  zu  rechnen  haben  — 
gegebenen  Arten,  Mengen  und  Qualitäten 
dieser  Stoffe  und  die  ökonomisch-tech- 
nischen Gewinnungsverhältnisse  derselben 
von  entscheidender  Bedeutung. 

Die  Lagerungs-  und  Verteilungsverhält- 
nisse, insbesondere  zunächst  schon  in  geo- 
graphischer, horizontaler  Beziehung,  sind 
einigermassen  für  alle  diese  Stoffe,  insbe- 
sondere gerade  für  einige  und  darunter 
die  wichtigsten  (fossile  Kohlen,  metall- 
haltige Erze)  bekanntlich  derartige,  dass  sich 
die  Stoffe  überhaupt  oder  in  entsprechender 
Zugänglichkeit,  Menge  und  Beschaffenheit 
nur  an  bestimmten  Stellen  des  Bodens 
in  einem  Volkswirtschaftsgebieto  finden. 
Werden  sie  hier  niclit  gewonnen,  so  über- 
haupt im  Lande  nicht.  Die  Natur  selbst 
hat  also  hier  bestimmt,   was    >  Bergwerks- 


boden« sei,  ohne  jedoch  das  nach  der  hori- 
zontalen und  vertikalen  Verteilung  und 
Lagerung  der  Stoffe  im  Boden  immer  gleich, 
sichtbar  oder  auch  nur  leicht  bestimmbar 
zu  machen.  Darin  liegt  der  wesentRche 
Unterschied  von  diesem  und  dem  meisten 
sonstigen  Boden,  besonders  dem  Wohnungs- 
und dem  agrarischen  Boden.  Demgemäss 
liegt  hier  ein  gesellschaftliches  und  volks- 
wirtschaftliches Bedürfnis,  ein  allgemeines 
Produktionsinteresse  vor,  die  Rechtsonlnung 
in  Bezug  auf  den  Bergwerksboden  so  ge- 
staltet zu  sehen,  dass  die  Auffindung  und 
Gewinnung  der  betreffenden  Stoffe  auf  ihren 
natürlichen  Lagerstätten  möglichst  gesichert 
sei  und  da,  wo  es  zweckmässig  ist,  wirklich 
erfolge.  Das  ist  ein  wesentlich  audorer 
Sachverhalt  als  bei  dem  meisten  sonstigen, 
namentlich  wieder  dem  agrarischen  Boden. 
In  diesem  Sachverhalt  liegt  der  letzte  und 
entscheidende  Grund  dafür,  dass  die  Rechts- 
ordnung für  Bergwerksboden  vielfacli  seit 
Uralters  imd  sehr  allgemein,  wenn  auch 
weder  überall  noch  immer,  abweichend  von 
derjenigen  für  sonstigen,  insbesondei-e 
agrarischen  Boden  nach  der  geschichtlichen 
Ent Wickelung  gestaltet  woixlen  ist  Namentlich 
enthält  sie  Handhaben,  um  eventuell  auch 
gegen  den  Willen  des  privaten  Grundeigen- 
tümers, d.  h.  des  Oberflächeneigentümers, 
eine  Auffindung  und  Gewinnung  von  Mineral- 
stoffen zu  ermöglichen  und  die  eine,  die 
Benutzung  zum  Bergbau,  dann  an  die  Stelle 
einer  anderen,  der  bisherigen,  der  dem 
Eigentümer  genehmen,  z.  B.  der  agrarischen, 
zu  setzen.  Der  Wille,  die  ökonomische  und 
technische  Fähigkeit  des  Grundeigentümers 
soUen  also  hier  nicht  entscheidend  für  den 
wirklichen  Verwendungszweck  und  die 
wirkliche  Benutzung  des  Bodens  sein. 

In  der  Einrichtung  des  Bergregals 
und  der  Freierklärung  des  Bergbaues 
und  in  der  betreffenden  Gestaltung  des 
Schürf-,  Beleih.ungs-  und  Enteig- 
nungsrechts tritt  diejenige  Rechtsordnung 
des  Bergwerksbodens  in  der  Rechtsgeschichte 
und  im  positiven  Rechte  hervor,  welche  die 
Konsequenz  der  angedeuteten  Gesichtsi)unkte 
ist  und  als  die  naturgemäss  angemessenste 
und  praktisch  gut  erprobte  bezeichnet  werden 
kann.  Sie  ist  zugleich  ein  wichtiges  und 
allgemein  interessantes  Beispiel  für  die  An- 
passung der  Rechtsordnung  an  »die  Zwecke 
im  Recht«.  Dass  sie  nicht  die  einzig  mög- 
liche ist,  beweist  der  Umstand,  dass  wir  sie 
nicht  immer  und  überall  finden  und  gleicli- 
wohl  der  Bergbau  sich  auch  auf  der  Grund- 
lage anderer  Rechtsordnungen  entwickeln 
konnte,  wenn  auch  wolü  meistens  mit 
grösseren  Schwierigkeiten  und  Hemmnissen. 

Auf  weitere  Einzelheiten,  auch  auf  die 
hier  besonders  naheliegende  Frage  des 
unbedingten   Vorbehalts   des   Bergwerksbo- 


Grundbesitz  (Bodenrechfsordnung) 


809. 


dens  bezw.  der  GewiQming  von  Mineral- 
stoffen für  die  (staatliche)  Gemeinschaft  und 
schon  demgemäss  weiter  einer  allgemeinen 
»Verstaatlichung«  des  gesamten  Bergbaues 
gehen  wir  hier  unter  Hinweis  auf  den  Art. 
Bergbau  (oben  Bd.  II  S.  547 ff.),  mit  dessen 
bezüglichen  Ausführungen  wir  vielfach,  aber 
nicht  durchweg,  einverstanden  sind,  nicht  ein. 
Nur  davon  ist  hier  noch  besonders  Akt  zu 
nehmen,  dass  die  erwähnte,  uralt  historische 
Rechtsordnung  des  Bergbaues  (Regal,  Berg- 
baufreiheit) ein  Beleg  dafür  ist,  dass  auf 
diesem  wichtigen  Gebiete  bereits  seit  Altere 
nicht  das  »private  (Oberflächen-)  Grund- 
eigentum« herrscht,  oder  in  der  üblichen, 
aber  nicht  ganz  korrekten  Terminologie,  dass 
dieses  letztere  weitgehenden  Beschränkungen 
unterliegt,  indem  es  sich  ausdrücklich,  .gegen 
den  sonst  üblichen  Eigentumsbegriff,  nicht 
mit  auf  die  im  Boden  befindlichen  iVIineral- 
stoffe  (aUe  oder  wenigstens  bestimmte  wich- 
tigste Arten)  bezieht. 

Eigentümliche  Konsequenzen  für  die  Fra- 
gen der  Rechtsordnung  des  Bergwerksbodens 
folgen  aber  auch  noch  aus  dem  oben  ge- 
nannten zweiten  charakteristischenMoment, 
den  gegebenen  Mengen  der  betreffen- 
den Stoffe  in  einer  Lokalität,  in  Verbindung 
mit  der  gegebenen  specielleren  Verteilung, 
Lagerung,  der  davon  wieder  bedingten  Mög- 
lichkeit und  Schwierigkeit,  daher  Kost- 
spieligkeit der  Gewinnung  (Zugänglichkeit, 
Mächtigkeit,  Streichungsrichtung,  vertikale 
Ausdehnung,  Tiefe  unter  der  Oberfläche  etc. 
der  Flötze,  der  Erzadern).  Dazu  kommt 
auch  noch,  dass  es  sich  um  ungemein  wich- 
tige, zum  Teil  unentbehrliche  Stoffe  (Kohlen, 
Eisen,  andere  Metalle)  handelt,  deren  öko- 
nomisch-technische Bedeutung  besonders  in 
unserer  Zeit  eine  ungeahnte  geworden  ist 
(Maschinenwesen,  Dampf-,  Elektricitätsver- 
wendung  etc.).  Derjenige,  welcher  tiber  den 
Bergwerksboden  rechtlich  verfügt,  hat  also 
beschränkt  vorhandene,  sich  nicht 
erneuernde  reine  Naturgaben,  die  mit  jeder 
Fortnahme  von  der  Fundstätte  geringer 
werden,  mithin  erschöpf! iche  Vorräte 
von  Stoffen  grösster  und  mit  der  Entwicke- 
lung  der  Produktionstechnik  wachsender 
Bedeutung  zur  Ausbeutung  in  seiner  Hand. 
Die  Frage  der  Gewinne  und  Renten,  welche 
der  Bergwerksboden  seinem  Besitzer  ab- 
wirft, tritt  durch  diesen  Sachverhalt  wieder 
in  ein  besonderes  Stadium,  anders  als 
namentlich  beim  agrarischen  Boden.  Für 
die  Rentenfrage,  specieU  die  Frage  der  Höhe 
der  Renten,  wird  dabei  auch  der  Einfluss 
der  Zugänglichkeit  und  der  technischen 
Gewinnimgsbedingungen  der  Stoffe  auf  die 
Kosten  der  Gewinnung  besonders  wichtig. 
Bei  gegebenem  Bedarfe  treten  nach  der 
Verschiedenheit  dieser  Verhältnisse  hier 
besonders   scharfe    FäUe   der  »Differential- 


gnmdrente«  hervor,  derjenigen,  welche  aus 
der  Verschiedenheit  der  lokalen  Gewinnungs- 
kosten, wie  auch  derjenigen,  welche  aus 
der  verschiedenen  Örtlichen  Lage  der  Berg- 
werke zum  Absatzorte  hervorgehen.  Auch 
der  Einfluss  allgemeiner  Verhältnisse  der 
volkswirtschaftlichen  Entwickelung,  beson- 
ders der  Kommunikations-  und  Transport- 
mittel, macht  sich  bei  der  Schwere,  Vo- 
luminosität  und  der  Niedrigkeit  des  speci- 
fischen  Wertes  der  meisten  Bergwerkspro- 
dukte für  die  Gewinne  und  Renten  des 
Bergbaues  eigentümlich  geltend.  Aus  dem 
allen,  vollends  in  Verbindung  mit  der 
ökonomisch-technischen  Unentbehrlichkeit 
mancher  dieser  Produkte  (Kohlen)  folgt,  dass 
beim  Bergwerksboden  leicht  wieder  in  be- 
sonderem Grade,  nicht  immer  ganz  unähn- 
lich wie  beim  Wohnungsboden,  monopo- 
listische Verhältnisse  zum  Vorschein 
kommen.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass 
unter  Erwägung  aller  dieser  Umstände  der 
Bergwerksboden  nicht  eben  als  ein  geeig- 
netes Objekt  reinen  und  voUen  Privateigen- 
tums einzelner  physischer  und  nichtphysi- 
scher privatreohtlicher  Personen  (Ber^e- 
werkschaften,  Aktiengesellschaften)  erscheint. 
Die  Mobilisierung  des  Bergwerkseigentums 
mittelst  der  neueren  Gesellschaftsformen, 
besonders  der  Aktie,  auch  des  Cuxes,  hat 
dies  Objekt  zum  Gegenstande  der  Spekula- 
tion, des  Börsenspiels  gemacht,  wodurch  die 
Rechtfertigungsgründe  privaten  Grund- 
eigentums hier  jedenfalls  nicht  verstärkt 
worden  sind. 

Die  ökonomisch-technischen  Gewinnungs- 
verhältnisse der  Mineralstoffe  im  Bergwerks- 
boden endlich  sind  so  beschaffen,  dass  schon 
im  Interesse  der  möglichst  gesicherten  Fort- 
dauer des  Betriebes,  der  Verhütung  un- 
nötigen Raubbaues,  des  Schutzes  der  oft 
besonders  gefährdeten  Arbeiter  etc.  eine 
gewisse  obrigkeitliche  Regelung  und  Beauf- 
sichtigimg des  Betriebes  geboten  erscheint, 
welche  in  Verbindung  mit  Staatseigentum 
und  staatlichem  Eigenbetrieb  am  besten  und 
ohne  sonst  schwer  ganz  zu  vermeidende 
Störungen  eingerichtet  werden  können. 
Auch  ist  die  ganze  naturgemässe  Oekonomik 
und  Technik  des  Bergbaues  und  sind  die 
Bedingungen  dafür,  der  Kapitalaufwand,  die 
Festlegimg  eines  grossen  Teils  des  Kapitals 
in  stehenden  Anlagen,  das  öftere  Warten- 
müssen auf  Rente  bei  kostspieligen  Voraus- 
lagen, gewisse  gemeinsame  grössere  An- 
lagen für  einen  ganzen  Bergwerksdistrikt 
(Wasserwerke)  u.  dgl.  m.  derart,  dass  die 
sonstigen  wirtschaftlichen  und  technischen 
Vorzüge  des  Privateigentums  und  der  ge- 
wöhnlichen Privatwirtschaft  vor  dem  öffent- 
lichen, dem  Staatseigentume  und  dem  Staats- 
betriebe hier  zurücktreten  und  eher  umge- 
kehrt specifische  Vorzüge  der  letzteren  sich 


810 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


zeigen.  Der  grosse,  oft  massgebende  Ein- 
fluss  der  Konjunkturen  für  den  Wert  (Preis) 
der  Bergwerksprodukte,  zumal  unter  unseren 
heutigen  Verhältnissen,  fuhrt  bei  privatwirt- 
schaftlicher Organisation  des  Bergbaues 
wegen  seines  Einflusses  auf  die  den  Be- 
sitzern zufallenden,  ökonomisch  uiiveixlienten 
Gewinne  auch  hier  wiederum,  ähnlich,  wenn 
auch  selten  so  stark  wie  beim  Wohnimgs- 
boden,  zu  misslichen  Konse<[uenzen  des 
Privateigentumsprincips. 

Wo,  wie  bei  Kohlen  und  im  wesentlichen 
bei  Salz,  sofort  oder  nach  einfachen  Verar- 
beitungsprozessen fertige,  unmittelbar  für 
den  Verbrauch  geeignete  Produkte  gewonnen 
werden,  wo  es  sich,  wie  bei  den  genannten 
Produkten,  um  Gegenstände  allgemeinster 
volkswirtschaftlicher  Bedeutung  handelt, 
deren  privatwirtschaftliche  faktische  Mono- 
polisierung durch  private  Grossbetriebe  mit 
ihren  Kartellen  etc.  besonders  bedenkliche 
Folgen  hat,  wo,  wie  vielfach  bei  Salz,  eine 
Verbrauchssteuer  in  Monopol-  oder  sonstiger 
Form  sich  anschiiesst,  wo  die  Grossbetriebs- 
koncentration  aus  ökonomischen  und  tech- 
nischen Gründen  besonders  erwünscht  ist, 
ergeben  sich  wiederum  ebenso  viele  Gründe 
für  Staatseigentum  und  meistens  auch  für 
Staatsbetrieb.  Die  Frage  liegt  insofern  wohl 
im  ganzen  zu  Gunsten  dieser  beiden  bei 
Kohlen  und  Salz,  mehr  als  bei  Erzen. 
Denn  diese  bedürfen  vielfach  an  Ort  und 
Stelle  gleich  einer  Verhüttimg  und  die 
daraus  gewonnenen  Produkte,  die  Metalle, 
imterliegen,  zumal  bei  unseren  heutigen 
Kommunikations-  und  Handelsverhältnissen, 
mehr  dem  Spekulationseinflusse  beim  Ab- 
satz, in  welchen  Fällen  immer  der  Betrieb 
durch  öffentliche  Wirtschaften ,  Behörden 
des  Staates  etc.  besondere  Schwierigkeiten 
bietet 

Wo  der  Bergwerksboden  indessen  im 
Privateigentum  der  physischen  Personen 
und  privatrechtlicher  nicht-physischer  wie 
der  Erwerbsgesellschaften  bleibt,  da  ist 
vollends  wenigstens,  wie  aus  dem  Gesagten 
impHcite  folgt,  eine  Beschränkung  der 
A^erfügmigsbefugnisse,  insbesondere  auch  bei 
der  Benutzung,  beim  Bergwerksbetrieb,  eine 
demgemässe  staatliche  Aufsicht  nach 
den  natürlichen  ökonomisch -technischen 
Eigenschaften  dieses  Privateigentumsobjekts 
dringend  geboten.  Zu  verhüten  wird 
namentlich  auch  sein  —  ein  den  Verhält- 
nissen der  Baustellen  des  Wohnungsbodens 
analoger  Fall  — ,  dass  die  Verleihung  von 
Bergrechten  (Grubenfeldern),  dem  ganzen 
Zweck  der  eigentümlichen  Gestaltung  des 
Bergrechts  zuwider,  nicht  zu  eigennützigen 
Manipulationen ,  spekulativem  ünbebaut- 
Liegenlassen,  übertriebener  Besitzanhäufimg 
in  einer  Hand,  Ausnutzimg  des  verliehenen 
Rechts   nicht   zum   Betriebe,    sondern    zur 


teueren,  gewinnbringenden  Weiterbegebung 
an  Dritte,  insofern  wieder  zum  Bezug  von 
Einkommen  und  Vermögen  ohne  wirtschaft- 
liche Leistungen  bloss  in  der  Konsecjuenz 
des  Piivateigentumsrechts,  führe  (s.  die  im 
Art.  Bergbau  (a.  a.  0.)  geschilderten  miss- 
lichen Verhältnisse  in  betreff  dieses  Punktes). 

10.  Dritte  Bodenkateg^orie :  Der  na- 
türliche (wilde)  Weide-,  Wald-,  Ja^d- 
nnd  ähnlicher  Boden.  Diese  dritte  der 
oben  unterschiedenen  Bodenkategorieen  und 
die  darauf  stattfindende  Arbeit  ist  ebenfalls 
oben  schon  kurz  charakterisiert  worden. 
Als  auch  für  die  Rechtsfragen  beachtens- 
wert ist  noch  hinzuzufügen,  dass  die  be- 
treffenden organischen  Stoffe,  wilde  Pflan- 
zen und  Tiere,  zum  Teil  gleich  unmittel- 
bar »fertige«  natürliche  Genussmiltel, 
namentlich  Nahrungsmittel,  und  für 
gewisse  Völker  Hauptnahrungsmittel  sind. 
Sie  gelangen  dann  durch  die  Arbeit  des 
Auffindens,  Aufsuchens  am  Standort  imd 
der  Aneignung,  in  der  specieDen,  vornelim- 
lich  nach  den  Objekten,  aber  auch  mit  nach 
den  Bodenverhältnissen  sich  richtenden  Form, 
des  Sammeins,  Ijesens,  Jagens,  Fällens,  der 
Aufzehrung  durch  das  weidende,  beauf- 
sichtigte Vieh  etc.  in  die  Verfügung  des 
Menschen.  Natürliche  Fischerei- 
gründe in  den  heimischen  Gewässern 
schliessen  sich  an  diese  Bodenkategorie  zu- 
nächst an. 

Auch  hier  sind  bezüglich  der  Gestaltung 
der  Rechtsordnung  für  den  betreffenden 
Boden  und  für  seine  Benutzung  regelmässig 
von  entscheidender  Bedeutung  die  natür- 
lichen Verhältnisse  der  Bildung  und  Er- 
neuerung der  bezüglichen  Stoffe,  der  Pflanzen 
und  Tiere,  der  Verteilung  dieser  Objekte 
nach  Stand-  oder  Aufenthaltsorten  sowie  die 
durch  die  Bodenverhältnisse,  namentlich  auch 
iie  horizontale  und  vertikale  Bodenkonfigii- 
ration  und  durch  die  Natur  der  einzelnen 
Objekte  bedingten  ökonomisch-technischen 
Auffindungs-  und  Aneignungsarten  und  die 
dabei  aufzuwendende  Arbeit.  Die  volks- 
wirtschaftliche Beurteilung  einer  konkreten 
Rechtsordnung  muss.  sich  wesentlich  nach 
dem  Masse  der  Anpassung  an  die  ange- 
deuteten Verhältnisse  und  Umstände  richten. 

Da  dieselben  Gnindstücke  gleichzeitig 
mehreren  hierher  gehörigen  Verwendungen 
dienen  können,  z.  B.  der  (nomadischen)  Vieh- 
wirtschaft und  Jagd,  der  Holzge'winnung, 
Viehweide,  dem  Pflanzen-  und  Beerensam- 
meln und  der  Jagd,  oder  auch  Boden,  welcher 
vornehmlich  anderen  Zwecken  dient,  mit 
für  einzelne  der  eben  genannten  Zwecke  in 
Betracht  kommt,  z.  B.  der  landwirtschaft- 
lich benutzte  Boden  zu  Zeiten  für  die  Vieh- 
weide (Brachweide,  Stoppelweide)  und  für 
die  Jagd,  ebenso  der  Kulturwaldboden,  so 
entstehen  aber  leicht  Kollisionen  zwischen 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


811 


den  verschiedenen  Benutzungen.  Mit  deren 
Ausgleichung  und  deingemäss  rait  der  ent- 
sprechenden Regelung  der  Benutzung  hat 
es  daher  die  Rechtsonlnung  für  diesen  I3oden 
ebenfalls  zu  thun.  Die  schwierige  Aufgabe 
in  dieser  Hinsicht  wird  dadurch  erleichtert, 
dass  nach  verschiedenen  historischen 
Phasen  der  gesamten  volkswirtschaftlichen 
Entwickelung  allgemein  imd  wieder  specieU 
an  den  und  den  in  Betracht  kommenden 
Oertlichkeiten  der  privat-  und  volks- 
wirtschaftliche Wert  der  verschiedenen 
Benutzungsarten  wechselt,  z.  B.  derjenige 
der  Benutzung  des  Bodens  zur  Jagd,  zum 
Viehtrieb  hinter  dem  der  Benutzung  zur 
Landwirtscliaft,  zur  Forstwirtschaft  mit 
höherer  Entwickelung  zurilcktritt.  Aber  teils 
die  jeweils  gegebene  Gestaltung  der  Eigen- 
tums- und  Nutzungsrechte,  teils  nicht- wirt- 
schaftliche Rücksichten,  wie  bei  der  Jagd, 
stellen  sich  einer  Regelung  nach  Massgabe 
des  volkswirtschaftlichen  Interessengesiclits- 
punktes  häufig  scharf  hemmend  entgegen, 
wie  die  Konflikte  zwischen  fremden  Jagd- 
rechten und  Eigenturasrechten,  zwischen 
letzteren  und  Viehweiderechten  zeigen. 

Unter  Verweisung  auf  die  einzelnen  be- 
züglichen Artikel  dieses  Werkes  für  die 
hierhergehörigen  Specialfragen  der  Rechts- 
ordnung (u.  a.  Jagd,  Fischerei,  Forsten  etc.  etc.), 
werden  hier  nur  einige,  dieser  ganzen  Boden- 
kategorie mehr  oder  weniger  gemeinsamen 
natürliclien  imd  von  der  darauf  stattfindenden 
menschlichen  Gewinnungsarbeit  abhängigen 
gemeinsamen  ökonomisc»h-technischen  Eigen- 
tümliclikeiten  hervorgehoben,  welche  für  die 
allgemeinen  Prineipionpimkte  der  Rechts- 
ordnung dieses  Bodens  wichtig  sind. 

Da  wir  es  hier  mit  spontaner  Re- 
produktions  thätigkeit  und  demgemäss 
-kraft  der  Natur  zu  thun  haben,  so  sind  für 
die  menschliche  Aneignung  der  betreffenden 
Stoffe  und  für  die  Gestaltung  der  Rechts- 
ordnung bezüglich  des  Bodens  und  seiner 
Benutzung  die  Beding^mgen,  unter  denen 
die  Natur  diese  Thätigkeit  überhaupt  und 
fortdauernd  ausübt,  von  besonderer  Bedeu- 
tung. Klima,  Beschaiffenheit,  Fnichtbarkeit  des 
Bodens,  Fortpflanzungsverhältnisse,  Lebens-, 
Nahrungs-  und  Entwickelungsbedingimgen 
der  Pflanzen  imd  Tiere,  Zeitdauer  der  Ent- 
wickeln ngsstadien  u.  dgl.  m.  sind  daher  hier 
von  Wichtigkeit.  In  verschiedenem  Grade 
nach  allen  diesen  Verhältnissen  und  wieder 
verschieden  nach  den  einzelnen  Objekten, 
um  die  es  sich  für  die  menschliche  Aneig- 
nung handelt,  gestatten  doch  alle  diese  Stoffe 
(Pflanzen  und  Tiere)  eine  regelmässige  und 
dauernde  Ausnutzung  durch  den  Menschen 
nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade.  Geht 
die  Ausnutzung  weiter,  so  stockt  die  natür- 
liche Reproduktion,  schliesslich  erfolgt  dabei 
eine  dauernde  Verminderung  der  Bestände, 


ein  Aussterben  der  Pflanzen  und  Tiei-e. 
eventuell  auch  ein  Auswandern  der  letzteren. 
Die  steigende  Ausnutzung  auf  demselben 
Gebiete  ist  regelmässig  schon  mit  grösseren 
Kosten  verbunden  —  das  Hervoilreten  des 
sogenannten  ^ Grund-  und  Bodengesetzes«, 
des  »Gesetzes  der  Produktion  auf  Land< 
auch  hier.  Die  Interessengegensätze  der 
auf  demselben  Gebiete  (Jagd-,  Fischerei- 
reviere, Weideland)  der  Aueignimg  der 
Naturstoffe  nachgehenden  Menschen  oder 
Menschengruppen  (Stämme,  Geschlechter) 
verschärfen  sich  um  so  mehr,  da  die  be- 
treffenden Stoffe  vornehmlich  zur  Ernäh- 
rung dienen  und  \ieUeicht  die  Hauptnah- 
rung bilden.  Uebervölkerung  droht  leicht, 
selbst  bei  sehr  dünner  Volksdichtigkeit,  bei 
einiger  lokaler  Vermehnmg  oder  Zusammen- 
strömung von  Menschen,  und  zumal  bei 
geringer  Reproduktionskraft  der  Natiu*  in 
Bezug  auf  jene  Stoffe  und  bei  lokal  oder 
temporär  ungünstigen  äusseren  Verhältnissen, 
so  der  Witterung.  Wie  diese  Umstände 
dann  zur  Sesshaftigkeit  und  zum  Ackerbau 
drängen,  wenn  eine  Weiterentwickelung 
möglich  werden  soll,  um  die  spontane,  nicht 
hinlänglich  ergiebige  Natur  zur  Reproduk- 
tion der  Pflanzen  etc.  anzuleiten,  so  be- 
dingen sie,  solange  dieser  Schritt  nicht  ge- 
than  ist  oder  Auswanderung,  Fortzug  der 
Menschen  nicht  abhilft,  aber  auch  wo  es 
sich  auch  hinterher,  wie  bei  Viehweiden, 
W^ald,  Jagd,  Fischerei,  noch  um  Erhaltung 
der  rein  spontanen  Natiulhätigkeit  handelt, 
eine  Rechtsordnung,  welche  den  erwähnten 
Verhältnissen  gemäss  die  Fortdauer  dieser 
spontanen  Naturthätigkeit  verbürgt  und  die 
Ausnutzung  der  Naturstoffe  regelt. 

Daher  findet  sich  hier  zu  diesem  Zweck 
teils  statt  des  Privateigentums  am  betreffen- 
den Boilen  Gemeineigenfhm  von  grösseren 
und  kleineren  lokalen  Gemeinschaften,  Völ- 
kern, Stämmen,  Geschlechtern,  Ortschaften 
für  die  Wald-,  Weide-  und  die  Jagdreviere 
der  Nomaden-  und  Jägervölker,  auch  noch 
bei  den  Völkern  primitiverer  fester  Ansiede- 
lungen und  Ackerbaus  für  dieselben  Boden- 
stücke rait  genauer  Regelung  der  Nutzungs- 
rechte der  Familien  und  einzelnen  im  Ge- 
meinwald, auf  der  Gemeinweide,  bei  den 
Feldersystemen  mit  ewiger  Weide.  Und 
auch  wo  der  betreffende  Boden  als  Acker- 
land, Wiese,  Fönst  etwa  bereits  zu  melu* 
oder  weniger  vollständigem  Privateigentum 
wenigstens  für  seine  Hauptbenutzungsail; 
geworden  ist,  verbleiben  wolil  für  die  ört- 
lichen Gemeinschaften  und  die  ihnen  Ange- 
hörigen auch  auf  diesen  Grundstücken  genau 
geregelte  gemeinsarae  Nutzungsrechte  der 
Viehweide,  des  Holzlesens,  des  Pflanzen- 
sammelns,  der  Jagd,  Fischerei.  Durch  ge- 
setzliche Schonzeiten  für  Wald,  Weide, 
Jagd,  Fischfang,  durch  bezügliche  obrigkeit- 


812 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


liehe  Aufsicht,  Strafbestiuunungen  ^^i^d  den 
Verhältnissen  und  Bedingungen  der  spon- 
tanen Reproduktionsthätigkeit  und  der  dauern- 
den Reproduktionskraft  der  Natur  Rechnung 
getragen.  Das  Privateigentum  bleibt  daher 
hier  oder  wird  selbst  wieder  melir  ein  be- 
schränktes, gemäss  dem  gesellschaft- 
lichen und  volkswirtschaftlichen  Interesse 
an  der  Gewinnung  jener  Stoffe  und  an  der 
Erhaltung  der  natürüchen  Bedingmigen  da- 
für. Denn  auch  die  Bestimmungen  über 
Schonzeiten  erscheinen  in  einer  Hinsicht  als 
solche  Beschränkungen  des  Privateigentums 
an  dem  bezüglichen  Boden,  soweit  sie  den 
Eigentümer  selbst  treffen,  so  auch  bei  der 
Jagd  auf  eigenem  Boden,  wo  das  Jagdrecht 
Pertinenz  des  Grundeigentums  ist. 

Natürlich  verliert  aber  diese  ganze  diitte 
Bodenkategorie  in  älteren,  allgemein  besie- 
delten Ländern,  wie  den-  unsrigen  in  heu- 
tiger Zeit,  ihre  selbständige  Bedeutung  fast 
ganz.  Der  Weideboden  wird  ein  TeÜ  des 
im  weiteren  Sinne  landwirtschaftlichen,  der 
wilde  Wald  (Urwald)  wird  Kulturwald,  die 
Jagd  wird  wesentlich  Yei'gnügungssache  und 
tritt  auch  als  Faktor  für  die  Ernährung  etc. 
hinter  wichtigeren  Verwendungen  des  Bo- 
dens, auf  der  sie  stattfindet,  zurück. 

11.  Vierte  Bodenkateg^orie :  Der  land- 
wirtschaftlich nnd  (kultnr-)  forstlich 
benntzte  Boden.  Diese  vierte  Boden- 
kategorie und  die  auf  ihr  stattfindende  Ar- 
beit und  Kapitalverwendung  ist  ebenfalls 
oben  bereits  kurz  chai-akterisiert  worden. 
Aus  dem  dort  Gesagten,  das  hier  noch  etwas 
weiter  auszuführen  ist,  folgt,  dass  aus  natür- 
lichen und  ökonomisch-technischen  Gründen 
die  Fragen  der  Rechtsordnung  hier  wesent- 
lich anders  als  bei  den  drei  ersten  und 
auch  als  bei  der  fünften  Kategorie  liegen, 
insbesondere  auch  als  bei  der  dritten,  wenn 
es  sich  auch  um  dieselben  zu  gewinnenden 
Stoffe  und  um  die  principiell  gleiche  Mit- 
wirkung des  Bodens  und  der  Naturkräfte 
wie  bei  dieser  dritten  handelt. 

Principiell  ist  die  Stellung  der  mensch- 
lichen Arbeit  zum  landwirtschaftlichen  und 
zum  forstwirtschaftlichen  Boden  dieselbe. 
Aber  dem  Grade  nach  verbleiben  definitiv 
zwischen  beiden  hier  erhebliche  Verschieden- 
heiten. Die  spontane  Naturthätigkeit  spielt 
auch  im  Kulturwald  wie  in  der  mit  dem 
landwirtschaftlichen  Boden  etwa  verbundenen 
Naturweide  dauernd  eine  grössere  Rolle, 
Menge  und  Quahtät  der  menschlichen  Ar- 
beit, Kapitalaufwand  treten  zurück,  ver- 
glichen mit  den  Verhältnissen  der  Land- 
wirtschaft. 

Unter  den  natürlichen  und  ökonomisch- 
technischen Verhältnissen  des  landwirtschfift- 
lichen  Bodens  und  seiner  Bearbeitung  sind 
nach  definitiver  Ansiedelung  und  im  wesent- 
lichen   endgiltiger    Bestimmung    derselben 


Grundstücke  zum  Ackerbau  folgende  Punkte 
auch  für  die  allgemeinen  Fragen  der  Rechts- 
ordnung dieser  Bodenkategorie  von  beson- 
derer Bedeutung. 

Die  agrarische  Arbeit  teilt  sich  notwen- 
dig in  vier  Stadien,  von  denen  mindestens 
die  zwei  letzten  eine  sich  immer  regelmässig 
wiederholende  Arbeit  und  damit  verbunden 
eine  sich  erneuernde  Kapitalverwendung)  er- 
heischen, während  im  ersten,  zum  Teil  auch 
im  zweiten,  im  ganzen  mehr  eine  einmalige 
Arbeit  imd  Kapitalver  wen  düng  stattfindet: 
1.  Urbarung;  2.  Erhaltung  und  even- 
tuell weitere  künstliche  Verbesserung  der 
Bodenkraft  und  ihi'er  Wirksamkeit,  d.  h. 
der  Fähigkeit  des  Bodens,  Pflanzen  zu 
tragen  und  zu  ernähren  durch  dauernd  wir- 
kende, meist  grössere  Meliorationen  (z.  B. 
Ent-  und  Bewässerung);  3.  regelmässige 
periodische  (meist  jährliche)  Bearbeitung 
des  Bodens,  um  ihm  die  jeweils  verlangten 
Produkte  abzugewinnen  (Feldbestellung, 
Düngung,  Pflügen,  Besämung,Bepflanzung  etc. 
des  Bodens  und  Pflege  während  der  Vege- 
tationszeit) ;  endlich  4.  Einbringung  und  Auf- 
bewahrung der  Ernten.  Von  der  Vornahme 
und  richtigen  Ausführung  dieser  vier  Stadien 
der  Arbeit  und  Kapitalverwendung,  w^elche 
zeitlich  auf  einander  folgen,  liängt  es  ab,  ob 
und  wie  weit  der  agrarische  Boden  seine 
land-  und  volkswirtschaftliche  Fimktion 
richtig  erfüllt  Besonders  wichtig  ist  dabei 
die  Thatsache,  dass,  von  Einfuhren  von 
Agrarprodukten  aus  anderen  Ländern  ab- 
gesehen, in  entwickelten  Verhältnissen  vor- 
nehmlich nur  der  agrarische  Boden  die  er- 
forderlichen mensclilichen  und  tierischen 
Hauptnahrungsmittel  und  wesentliche  Teile 
der  Gewerksstoffe  liefert,  also  von  der  Er- 
füllung jener  Funktion  die  Lebens-  und  Be- 
schäftigungsweise so\vie  die  Vfermehrbarkeit 
der  Bevölkerung  abhängt.  An  die  Rechts- 
ordnung ist  daher  die  Anforderung  zu 
stellen,  dass  sie  die  gute  Erfüllung  dieser. 
Funktion  des  agrarischen  Bodens  möglichst 
sichert. 

Solange  das  der  neuesten  Naturwissen- 
schaft und  Technik  allerdings  wohl  bis- 
weilen schon  —  nicht  einmad  bloss  mein- 
in  ihren  Pliautasieen,  sondern  selbst  in  theo- 
retischen Erörterungen  auf  wissenschaft- 
licher Grundlage  —  vorschwebende  Problem 
nicht  gelöst  ist,  die  agrarischen  pÜanzhchen 
Nahrungsmittel  und  Gewerksstoffe  unmittel- 
bar aus  den  Ur-  und  Grundstoffen  der 
Natur,  ohne  andere  Mitwirkung  des  Bodens 
denn  als  Standort  und  eventuell  Mit  Lieferant 
der  Grundstoffe,  aber  ohne  Vermittelung 
der  niu:  landwirtschaftlich  gewonnenen 
Pflanzen,  also  w^ie  in  der  Industrie,  herzu- 
stellen, —  und  bis  dahin  hat  es  ja  wohl 
noch  gute  WeUe!  —  ist  die  Menschheit 
darauf  angewiesen,  in  den  erwähnten  vier 


Grundbesitz  (Bodeurechtsordnung) 


813 


Stadion  der  landwirtschaftlichen  Arbeit  den 
agrarischen  Boden  zu  benutzen,  um  Pflanzen 
zu  gewinnen.  Wir  haben  es  dabei  also  im 
wesentlichen  mit  absoluten  ökonomisch- 
technischen Kategorieen  zu  thun.  Daraus 
folgt  auch  für  die  Rechtsordnung  des  agra- 
rischen Bodens  eine  weitgehende  »Natur- 
gebundenheit<.y  nicht  nur  mehr  als  in 
Industrie  und  Handel,  sondern  auch  als  in 
"Wohnungs-,  Bei-g-,  Wegebau.  An  diesem 
Sachverhalt  ändert  es  auch  nichts,  dass 
auch  auf  dem  agi'arischen  Boden  natur- 
wissenschaftliche und  technische  Fortschritte 
die  menschliche  Arbeit  produktiver  in  Be- 
zug auf  Menge,  Art,  Güte  und  (natürliche) 
Produktionskosten  der  Produkte  macheu 
können.  Nach  der  naturgegebenen  Art  der 
Mitwirkung  des  agrarischen  Bodens  an  der 
Hinüberführnng  der  ürstoffe  in  die  ge- 
brauchswertige pflanzliche  Form  sind  die 
praktischen  Erfolge  solcher  Fortschritte 
auch  beschränkter.  Mit  einzelnen  ohnehin 
nur  si)ärlich  anwendbaren  Prozeduren  der 
künstlichen  Lufterwärmung,  des  Treib-  und 
Gewächshausbetriebs,  womit  wohl  Sozialisten 
(Bebel)  argumentieren,  ist  hier  wenig  zu  be- 
weisen. Das  gerade  in  der  Landwirtschaft 
bei  der  Benutzung  dei-selben  Grundstücke 
so  deutlich  hervortretende  > Gesetz  der  Pro- 
duktion auf  Land«,  wonach  die  Produktions- 
kosten, der  Arbeits-  und  Kapitalaufwand 
regelmässig  stärker  wachsen  als  die  Erträge, 
lässt  sich  nicht  aufheben.  Wenn  auch  wohl 
seine  Wirksamkeit  durch  solche  Fortschritte, 
ohnehin  übrigens  gewöhnlich  nur  mit  wach- 
senden Schwierigkeiten,  hinausschieben.  (8. 
den  All.  Landwirtschaft.) 

Mit  diesen  Verhältnissen,  sodann  mit  den 
Bedürfnissen  nach  verschiedenen  Arten  und 
Qualitäten  der  Bodenprodukte,  welche  auch 
meistens  nicht  nach  einander  innerhalb  der 
vom  Klima  etc.  bedingten  pflanzlichen  Vege- 
tationsperiode auf  denselben  Grundstücken 
in  demselben  Jahre,  wenigstens  in  unseren 
KJimaten,  gewonnen  w^ei-den  können,  hängt 
aber  auch  noch  ein  anderer,  für  die  Rechts- 
fragen wichtiger  Umstand  zusammen:  die 
räumlich  weite  und  grosse  Ausdeh- 
nung der  agrarischen  Bodenflächen  und 
die  zerstreu  teLage  der  Land  wii-tschaf  ts- 
betriebe,  der  Gehöfte,  Wohnplätze  etc.,  von 
denen  aus  jene  Fläc;hen  bewirtschaftet  wer- 
den. Allerdings  sind  hierauf  die  konkreten 
An-  und  Besiedelungsverhältnisse,  so  das 
Dorf-  und  Ei nzelhof System,  die  geschicht- 
liche Grundbesitzverteilung,  die  Wahl  und 
Anlageart  der  Wohnplätze,  auch  die  ört- 
liche Lage  der  Absatzorte  städtischer,  in- 
dustrieller etc.  Art,  wohin  die  Agrarprodukte 
zu  bringen  sind,  von  grossem  Einfluss.  Eine 
Aendenmg  aller  dieser  Momente  kann  auch 
eine  andere  Gestaltung  der  agrarischen  Bo- 
denflächen und  der  Landwirtschaftsbetriebe 


herbeiführen  und  zweckmässig,  selbst  not- 
wendig machen.  Der  Sozialismus  denkt  — 
und  muss  folgerichtig  denken  —  bei  seineu 
Ideeen  einer  Beseitigung  des  ländlichen  pi*i- 
vaten  Gnindeigentuniis  an  eine  tiefgehende 
Aendenmg  dieser  Dinge.  Aber  auch  er  kommt 
über  die  nicht  durchaus  absolut,  jedoch  in 
weitem  Masse  vorhandene  >Xaturgebunden- 
heit'<  aller  dieser  Verhältnisse  nicht  hinaus. 
Ist  die  geschichtliche  An-  und  Besiedelungs- 
weise  und  Gnmdbesitzverteilung  entscheidend 
für  die  Auswahl,  die  Ausdehnung  der  agra- 
rischen Bodenflächen  und  für  die  Gestaltimg 
der  Betriebe,  die  Lage  der  W^irtschaftshöfe, 
von  denen  aus  der  einzelne  Landwirtschafts- 
betrieb erfolgt,  so  ist  auch  umgekehrt  ge- 
rade das  alles  massgebend  vom  Vorlianden- 
sein  geeigneten  agrarischen  Bodens,  »der 
ganzen  horizontalen  und  vertikalen  Boden- 
konfiguration, der  örtlichen  Lage  und  Be- 
schaffenheit der  Grundstücke  (Fruchtbarkeit, 
Wassernälie,  Bodenart  und  Zusammensetzung, 
Geeignetheit  für  die  und  die  Produkte,  Wie- 
senbau etc.),  der  Lage  zu  den  Absatzorten 
(Städten)  abhängig  und  in  der  konkreten 
geschichtlichen  Entwickelung  davon  immer 
abhängig  gewesen.  An  den  so  überkom- 
menen, im  einzelnen  ja  gewiss  mannigfach 
zufälligen  Verhältnissen,  —  auf  die  dann 
auch  die  Entwickelung  des  privaten  länd- 
lichen Grundbesitzes  mit  eingewirkt  hat  und 
keineswegs  immer  landwirtschaftlich-tech- 
nisch und  volkswirtschaftlich  günstig  (über- 
mässige Bodenzersplitterung,  zeretreute  Lage 
der  Parzellen,  ungünstige  Lage  zum  Wii-t- 
schaftshof,  wie  in  der  deutschen  dörflichen 
Agi'arverfassung  [Hufen  mit  Gewannen  und 
Feldstreifen,  umgekehrt,  w^ie  zum  Teil  im 
deutschen  Osten,  wieder  zu  starke  Koncen- 
tration zu  zu  grossen,  auch  wohl  schlecht  arron- 
dieii;en  Besitz-  und  Betriebseinheiten  etc.)| 
— ,  kann  und  darf  mitunter  sicherlich  nach 
ökonomisch-technischen  Rücksichten,  die  frei- 
lich hier  nicht  allein  in  Betracht  kommen 
dürfen  und  nicht  einmal  können,  manches 
verbessert  werden.  Aber  selbst  wenn  bei 
einer  Beseitigung  des  agrarischen  privaten 
Grundeigentums  nm-  solche  Rücksichten  für 
die  ne'ue  Einrichhmg  der  Landwirtschafts- 
betriebe genommen  werden  könnten,  —  was 
unter  anderem  ein  teilweises  Verlassen  der 
bisherigen  Gehöfte,  Dörfer  einen  entsprechen- 
den Verlust  an  Nationalkapital  und  neuen 
Kapitalaufwand  für  Neuanlage  der  Woh- 
nungen, Wirtschaftsgebäude  etc.  erheischte, 
wie  im  agrarischen  System  des  soge- 
I  nannten  Ausbaues  (der  ^>Vereinödung«)  der 
Höfe  auf  die  Feldflur,  aus  dem  bisherigen 
Dorfe  fort,  wo  es  sich  schon  schwierig  genug 
gezeigt  hat  — :  im  wesentlichen  müsste 
man  doch  an  der  weiten  Ausdehnung  der 
Acker-  und  Wiesenflächen,  an  der  zerstreuten 
örtlichen  Lage  der  Betriebe,  Wohnorie  und 


814 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnung) 


Wohnungen  der  ländlichen  Bevölkerung  fest- 
halten. Denn  das  ist  eben  »naturgebunden«, 
wird  bedingt  dui*ch  die  Natur  des  agrarischen 
Bodens,  die  notwendig  von  Lage  und  Be- 
schaffenheit mit  und  massgebend  mit  be- 
stimmte Walil  der  ländwirtschaftlich  be- 
nutzten Grundstücke  sowie  durch  die  Un- 
möglichkeit, auch  bei  höchst  intensiver  Wirt- 
schaft den  Betrieb  auf  wesentlich  kleihei^e 
Bodenflächen  als  bisher  zu  koncentrieren, 
was  eben  durch  die  Wirksamkeit  des  ^Gmnd- 
und  Bodengesetzes«  gehemmt  wird. 

Mit  allen  diesen  Yei-hältnissen  und  mit 
den  sonstigen  Bedingimgen  der  agrarischen 
Bodenarbeit  hängen  alsdann  aber  wieder  als 
Wirkung  —  und  freilich  darauf  auch  wie- 
der als  Ursache,  also  in  Wechselwirkung 
stehend  —  gewisse  Verhältnisse  und  Eigen- 
tümlichkeiten der  ländlichen  Bevölke- 
rung zusammen,  welche  von  grosser  Be- 
deutimg für  die  Bodenrechtsfrage  sind. 
Diese  Bevölkerung  ist  unvermeidlich 
als  Leiter,  Mitleiter,  Arbeiter  aller  Art  im 
Landwirtschaftsbetriebe  und  demgemäss  auch 
als  Famüienangehörige  dieser  Perjonen  mehr 
oder  weniger  weit  zerstreut  über  das  ganze 
Bodengebiet  und  kann  wegen  der  entschei- 
denden Bedeutung  der  Lage  für  die  zu  be- 
bauenden Grundstücke,  der  Entfernungen 
der  Wohnplätze  und  Gehöfte  von  diesen, 
nur  massig  lokal  koncentriert  leben,  auch 
bei  intensiver,  mit  kleineren  Betriebsfläehen 
arbeitender  Kultur.  Die  naturgegebene  Nach- 
einanderfolge  der  agrarischen  Arbeit  hemmt, 
neben  anderen  Umständen,  wie  wiederum 
namentlich  der  gebotenen  räumlichen  Aus- 
dehnung der  Feldarbeiten,  die  Arbeitsteilung 
imter  den  Hilfskräften  weit  mehr  iils  in  der 
Industrie  mit  ihrem  Nebeneinander  der 
Arbeiten.  Aber  eine  Verminderung  der 
Arbeiter  geht  daraus  bei  der  räumlichen 
Ausdehnung  und  VeTteilung  der  Oi>erationen, 
der  im  Vergleich  mit  der  Industrie  nur  be- 
gi^enzteren  Ersetzbarkeit  der  menschlichen 
Arbeit  durch  Naturkräfte  imd  Maschinen  in 
der  Landwirtschaft  wieder  nicht  in  dem 
Masse  wie  unter  gleichen  Verhältnissen  in 
der  Industrie  hervor.  Das  Arbeiterpersonal 
muss  auch  an  die  eigentümliche  agnuische 
Arbeit  gewöhnt,  muss  .•>wetterliart<'.  sein  otc. 
Städter,  Industriearbeiter  sind  wenig  brauch- 
bar dafür.  Daher  doch  ein  naturgcbun- 
d  e  n  e  r  grosser  Bedarf  an  höheren  und  nie- 
deren Arbeitskräften  aller  Art  für  den  Acker- 
bau, von  Mensclien,  die  dauernd  auf  dem 
Lande  leben  müssen,  und  damit  wieder  die 
Notwendigkeit,  dass  von  der  Gesamtbevölke- 
rung eines  Landes,  wenigstens  solange  der 
inländische  Boden  der  Hauptlieferant  der 
agrarischen  Nahruogs-  und  Gewerksstoffe 
ist  und  sein  und  l)leiben  muss,  ein  erheb- 
licher Teil ,  auch  im  lieutigen  industriellen 
West-     und    Mitteleuro{)a    n(jeh    öfters    die 


Hälfte  und  mehr,  auf  dem  Lande  oder  iu 
kleinen  Land-  und  Ackerstädten  lebt  und 
leben  muss.  Je  nach  Bodenart,  Kultur,  Be- 
triebssystem,  auch  nach  Besitz-  und  Be- 
triebsgrössen  und  -Verhältnissen  ergel>en 
sich  z  warVerschiedenheiten  in  betreff  der  länd- 
lichen Bevölkerung,  ihrer  Zahl,  Art,  Bildung, 
Fachfähigkeit,  Arbeitslust,  mitspielenden  psy- 
chischen Motive.  Bei  intensivei-er  Whlschaf t 
steigt  der  Bedarf  an  Zahl  und  der  Anspruch 
an  Leistungsfähigkeit  und  Tüchtigkeit  der 
Arbeitskräfte  aller  Art.  Ein  relativ  stärkei'er 
Ersatz  von  Arbeitern  durch  Maschinen  und 
dergleichen  ist  aber  gerade  bei  vielen  Special- 
kulturen intensiverer  Wirtschaft  nur  in  ge- 
ringem Grade,  meist  weniger  als  bei  den 
grossen  allgemeinen  Kulturen  (Körnerbau) 
möglich.  Auch  in  der  Viehwrtschaft  kann 
die  Mascliine  vornehmlich  nur  bei  der  Ver- 
arbeitimg des  Futters,  der  Herstellung  ein- 
zelner Viehprodukte  (Butter,  Käse,  Fleisch- 
hackerei  und  dergleicnen  mehr)  Verwendung 
finden.  So  wird  wiederum  eine  starke  Be- 
völkerung durch  die  ländliche  Arbeit  und 
auf  dem  Lande  gebunden. 

Die  örtliche  Zerstreuung  der  ländlichen 
Arbeiten  und  Arbeiter  über  grössere  Bodeii- 
f lachen  erschwert  dann  die  Leitung  und  Be- 
aufsichtigung und  bedingt  die  Wirksam- 
machung  anderer  psychis(;her  Motive  bei 
den  Bodenbearbeitern  als  in  der  Industrie 
und  als  zum  Teil  auch  bei  anderen  Boden- 
kategorieen.  Auch  das  ist  wichtig  für  die 
Regelung  der  Rechtsordnung  des  agTarischen 
Bodens  und  des  ländlichen  Arbeiterrechts. 
Die  geringere  Möglichkeit  der  Betriebskou- 
centration,  die  zwar  auch  hier  vorhandenen, 
aber  geringeren  Vorteile  des  Grossbetriebes, 
welche  hier  auch  durch  specifische  Nach- 
teile desselben  und  specifische  Vorteile  des 
Kleinbetriebes  mehr  oder  weniger,  bei  ge- 
wissen Kulturen  völlig  aufgewogen  werden, 
sind  wiederum  Punkte  von  Bedeutung  für 
die  Fragen  der  Rechtsordnung.  Die  Auf- 
saugung, Verdrängung  der  Mittel-  und  Klein- 
betri(»be  auch  bei  Jändlichem  Privateigentum 
droht  nicht  in  gleichem  blasse  wie  in  aude- 
i-en  Fällen,  und  diese  Betriebe  stehen  an 
Leistungsfähigkeit  nicht  so  allgemein  zurück, 
wie  sonst  wohl  in  dov  Industrie  etc.,  mehr- 
fach selbst  voran. 

Die  naturgebundene  Lebens-  und  Be- 
schäftigungsweise der  ländlichen  Bevölke- 
rung übt  nun  wieder  einen  cntseheidendeu 
S2)ec-ifi sehen  Einfluss  auf  die  physischt^  und 
])sy einsehe  Art,  auf  Charakter,  Denken, 
bYdden ,  Wollen,  sittliclie  und  religiöse  An- 
schauungen, kurz  auf  das  ganze  Wesen 
dieser  Bevölkerung  aus.  Die  körj)orlieh 
härtere  und  nu'ihsaniere  Arbeit  ist  doch  viel- 
faeh  i)hysiseh  und  sittlich  gesunder  als  die 
städtiseh-industriello.  Die  ländliche  Bevöl- 
kerung bekommt  ihren  bckminten   au sge- 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnuiig) 


815 


prägten  Typus,  der  sich  zwar  nach  der 
sozifiden  und  Arbeitsstellung,  nach  Besitz 
und  Bildung  der  einzelnen,  der  Familien, 
Sippen,  Geschlechter,  daher  in  letzter  Linie 
vornehmlich  nach  den  Grundbesitzverhält- 
nissen, etwas  auch  nach  den  Bodenkulturen 
imd  Betriebssystemen  differenziert  und 
ändert,  aber  doch  als  ein  allen  gemeinsamer 
Gnindtypus  verbleibt  und  im  ganzen  sich 
wenig  und  nur  sehr  langsam  ändert. 

Dank    diesen    Verhältnissen    wird    aber 
auch  die  ländliche  Bevölkerung  so  wichtig 
für   die   ganze   Bevölkerung    und    ffir   den 
Staat,  sie  bildet  die  grosse  Reserve  mensch- 
licher Kraft,  physischer  wie  psychischer,  auch 
geschonter   Nerven,   den   Jungbrunnen   zur 
Rekrutierung  und  Erneuerung  der  städtisch- 
industriellen Bevölkenmg,  sie  liefert  für  so 
vielerlei  Zwecke  das  geeignetste  Menschen- 
material, auch  in  der  höhereii  wie  niederen 
Kriegs-  und  Friedensarbeit  der  Nation,   in 
der  Leitung  der  Staatsgeschäfte  etc.,  wie  in 
der  Kriegsführung,  vom  »Junker«  bis  zum 
letzten  Ackerknecht.      Daher   die  Wichtig- 
keit, die  Bodeurechtsordnung  so  zu  gestal- 
ten, um  diese  Landbevölkeriuig   möglichst 
tüchtig  luid  leistungsfähig  für  die  landwirt- 
schaftliche Arbeit  zu  machen  und  zu  erhal- 
ten,  aber  ihr  auch  zu   ermöglichen,   eine 
solche    weitere   Funktion    für    das    ganze 
Volksleben    auszuüben.     Die   Bodenrechts- 
ordnung,  die  Agrarverfassungen  bei  Privat- 
eigentum,  die   Normen   des  Besitz-,  Erb-, 
Schuld-,    Produktenabsatz-,    Markt-,    Zoll- 
rechts etc.  erlangen  eben  deshalb  hier  eine 
gleichmässig  gix)sse  Bedeutung  für  das  land- 
und  volkswirtscliaftliche  Produktionsinteresse 
wie  für  die  höchsten  Interessen  des  ganzen 
Volks-  und  Staatslebens, 

Und  nf\ch  diesen  Gesichtspunkten  sind 
die  betroffenden  Fragen  in  erster  Linie  zu 
beurteilen  und  eventuell  zu  entscheiden. 
Die  »Vorteüungsinteressen«,  die  Grundren- 
tenverhältnisse und  Verwandtes  fallen  ge- 
wiss auch  hier  ins  Gewicht,  aber  doch  erst 
in  zweiter  I^nie.  Bedenken,  welche  aus 
ihnen  etwa  abgeleitet  werden,  können  auch 
für  Fragen  der  Rocht»ordnung,  der  Agrar- 
verfassung  ei'st  entscheidender  mit  in  Be- 
tracht kommen,  wenn  andei*s  das  Produk- 
tionsinteresse und  jene  allgemeinen  Inte- 
ressen gesichert  oder  wenigstens  nicht 
gefährdet  erscheinen.  Ein  (lesichtsj)unkt, 
welcher  namentlich  in  der  Frage:  Privat- 
eigentum oder  Gemeineigentum  am  Boden, 
wichtig  wird  und  trotz  der  aus  den 
Grundrenten  Verhältnissen  i^twa  entnomme- 
nen Bedenken  im  ganzen  für  ländliches,  zu- 
mal mittleres  und  kleineres ,  bäuerliches, 
aber  doch  aucli  in  gewissem  Umfang  und 
unter  gewissen  besonderen  Bedingungen  für 
grossgr  und  besitzliches,  in  beiden 
Fällen,  zumal  im  etzteren  freilich  dann  auch  j 


ftir     selbstbewirtschaftetes     Privat- 
eigentum spricht. 

Das  Grundrentenproblem  tritt  in 
seiner  Bedeutung  für  den  Verteilungsprozess 
aucli  beim  agrarischen  Boden  hervor,  aber 
meistens  dem  Grade  nach  nicht  so  stark 
als  beim  Wohnungsboden.  Roh-  und  Rein- 
erträge, Produktionskosten,  Werte  hängen 
auch  hier  bei  den  einzelnen  Grundstücken 
in  erheblichem  Masse  von  der  Boden  be- 
schaffenheit  und  der  dadurch  bedingten 
Fruchtbarkeit,  ferner  von  der  örtlichen  Lage 
—  zum  Wirtschaftshofe,  von  dem  aus  die 
Felder  bewirtschaftet  werden,  zum  Bezugs- 
orte der  Verarbeitungs- ,  Düngstoffe  etc., 
zum  Absatzorte  der  Produkte  —  ab.  Die 
aus  diesen  Verhältnissen  sich  ergebenden 
»Fruchtbarkeits«-  und  »Lagedifferentialren- 
ten«  sind  daher  doch  auch  hier  wieder  die 
Folgen  von  Naturthatsachen  oder  von  allge- 
meinen gesellschaftiichen ,  volkswirtschjvft- 
lichen,  politischen  etc.  Thatsachen  in  betreff 
der  Bevölkerungsdichtigkeit,  örtlichen  Kon- 
centration, des  Aommunikations-  und  Trans- 
portwesens etc.  Diese  Folgen  führen  bei 
Privateigentum  am  Boden  dem  Eigentümer 
auch  hier  von  ilim  persönlich  ökonomisch 
nicht  verdiente  Gewinne,  wie  andererseits 
freilich  auch,  bei  absteigender  Konjunktur, 
ökonomisch  von  ihm  nicht  verechuldete  Ver- 
luste an  Einkommen  und  Vermögen  zu: 
beides  immer  missliche  Konsequenzen  des 
Privateigentumsprincips. 

Indessen,  wenn  auch  im  Princip  dieselben, 
wie  bei  allem  im  Privateigentum  stehenden 
Boden,  sind  diese  Konsequenzen  doch  ge- 
wöhnlich bei  den  sich  hier  langsamer  und 
schwächer  vollziehenden  Entwickelungen 
dem  Grade  nacjh  Ider  weniger  schroff.  Je 
nach  der  Grund  besitz  Verteilung  ergeben  sich 
ferner  beachtenswerte  Unterschiede,  bei 
Gi-oss-,  Mittel-,  Kleinbesitz,  bäuerlichem  Be- 
sitz. Bei  dem  ersteren  koncentriert  und 
steigert  sich  dadurch  die  Wirkung  der 
Grundrente  auf  Einkommen  und  Vermögen 
(Grund  Stücks  wert),  bei  den  anderen  zerstreut, 
verteilt  und  vermindert  sie  sich.  Danach 
erscheint  vom  Standpunkt  des  Grundrenten- 
Problems  betrachtet  das  Privateigentum  bei 
diesem  Besitze  weniger,  bei  jenem  im 
höheren  Grade  misslich.  Besondere  Be- 
denken auch  betreffs  des  Privateigentums- 
princips treten  hervor,  wenn  die  von  allge- 
meinen Verhältnissen  abhängigen  Renten- 
steigerungen und  —  besonders  unter  Mit- 
wirkung von  Zinsfuss Verminderungen  —  die 
entsprechenden  Grundwertsteigerungen  auch 
hier  zum  spekulativen  Besitzwuchsel  führen, 
das  Immobil  zum  Mobil  werden  lassen  und 
bei  entgegengc^setzten  Bewegungen  von 
Rente  und  Zinsfuss  notgedruugene  Ver- 
äusserungen  und  Verluste  dabei  eintreten 
(Rodbeitus'     Lehi'en).     Auch    die    ersteren, 


816 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordiiiing) 


die  aufstei^nden  Entwickelungen  pflegen 
meistens  nicht  so  rasch  und  so  stark  als 
bei  städtischem  Bodeu  zu  sein,  aber  im 
Princip  sind  sie  doch  die  gleichen.  Der- 
artige Verhältnisse  dienen,  wenn  die  Privat- 
eigentumsfrage mit  Rücksicht  auf  sie  be- 
urteilt wird,  nicht  zur  Stützung  des  Prin- 
cips.  Namentlich  wenn  der  ländliche  Gross- 
^•undbesitz  so  zum  Objekt  des  spekulativen 
Besitzwechsels  wird,  treten  erhebliche  Be- 
denken gegen  ihn  hervor. 

12.  Die  Principienfirage  der  Rechts- 
ordnnng  für  den  agrarischen  Boden: 
Gemeineigentum  oder  Privateigentnm. 
Unter  Hinweis  auf  die  einschlagenden  Special- 
artikel dieses  Werks  über  alle  anderen  Seiten 
der  Agrarverfassung,  welche  freilich  mit  dieser 
Principienfrage  eng  zusammenhängen  imd 
in  Verbindung  mit  welchen  behandelt  diese 
Frage  erst  erschöpfend  erörtei-t  werden 
kann  (s.  u.  a.  Agrarverfassung,  Agrarpolitik 
[hier  auch  Hinweis  auf  die  weiteren  Special- 
artikel], Ansiedelung,  Bauern,  Bauernbefrei- 
ung, Bauerngut,  Landwirtschaft  u.  v.  a.  m.) 
eröi-tem  wir  hier  nur  in  aller  Kürze  die 
Eigentumsfrage  im  Zusammenhange  mit  den 
geschilderten  natürlichen  und  ökonomisch- 
technischen  Verhältnissen  des  agrarischen 
Bodens  und  seiner  Bearbeitung.  Daran 
werden  dann  noch  einige  Bemerkungen  über 
die  verschiedene  Lage  der  Eigentiunsfrage 
je  nach  der  historischen  Entwickelung  und 
dem  daraus  hervorgegangenen  Stande  der 
privaten  Grund  besitzverteilung  geknüpft 
(unter  sub  13). 

Die  konkrete  geschichtliche  Entwickelung 
lind  jeweilige  Gestaltung  der  agrarischen 
Gnindeigentumsverhältnisse,  der  Entstehung 
und  Entwickelung  des  Privateigentums  und 
der  speciellen  Rechtsnormen  dafür  sowie 
der  Verteilung  des  privaten  Gnmdbesitzes 
ist  das  Produkt  mannigfacher,  teils  in  der- 
selben Richtung  wirkender,  teils  sich  kreu- 
zender Faktoren,  der  ganzen  An-  und  Be- 
siedelungsweise ,  politischer  Momente  etc. 
Aber  die  natürlichen  und  die  ökonomisch- 
technischen Verhältnisse  des  agrarischen 
Bodens  und  seiner  Bearbeitung  haben  dabei 
doch  regelmässig  einen  starken  Einfluss  mit 
ausgeübt  und  mehr  oder  weniger,  nament- 
lich lange  Perioden  der  Entwickelung  be- 
trachtet, die  letztere  beherrscht. 

Das  wird  auch  begreiflich,  wenn  man 
die  Beziehungen  zwischen  den  leitenden 
Hauptprincipien  der  Rechtsordnung  für  den 
Bodeu  und  seine  Bearbeitung  —  Gemein- 
eigentum örtlicher  Gemeinschaften  imd  be- 
ycliränkteres  wie  unbeschränkteres  Privat- 
eigentum einzelner  physischer  Personen, 
Familien,  andererseits  persönliche  Unfreiheit 
der  Arbeiter  in  verschiedenen  Stufen,  per- 
srmliche  Freiheit  in  verschiedenem  Masse  — 
und    jenen    natürlichen    und    ökonomisch- 


technischen Verhältnissen  beachtet  und 
die  massgebende  Bedeutung  der 
menschlichen  Triebe  und  Motive 
im  wirtschaftlichen  Leben  verfolgt.^) 
Von  der  Wirksamkeit  dieser  Triebe  und 
Motive,  welche  bei  verschiedenen  Rechts- 
ordnungen für  den  Boden  und  seine  Bear- 
beitung eine  verschiedene  ist,  liängt  der  Elr- 
folg  dieser  Bearbeitung  schliesslich  doch 
immer  wesentlich  mit  ab.  Denn  selbst  der 
Einfluss  der  Bodenbeschaffenheit  wirkt  doch 
bei  Agrarboden,  welcher  seinem  Wesen  nach 
immer  eine  menschliche  Bethätigung  dazu 
voraussetzt,  dass  die  Boden-  und  Natur- 
kräfte in  Funktion  treten,  nur  nach  Mass- 
fibe  jener  Wii'ksamkeit  der  menschlichen 
riebe  und  Motive,  welche  bei  der  Boden- 
bearbeitung, und  liier  eben  häufig  durch 
das  Medium  der  Besitzrechte  am  Boden  be- 
stimmt, zur  Geltung  kommen.  Auch  wenn 
sich  nun  der  Mensch  den  aus  der  Rechts- 
ordnung für  Boden  und  Bodenbearbeitung 
hervorgehenden  Verhältnissen  anpassen  kann, 
so  hat  diese  Anpassungsfähigkeit  doch  gerade 
in  den  mensclüichen  Trieben  und  Motiven 
ihre  Begrenzung.  Eben  deshalb  muss  sich 
diesen  Verhältnissen  auch  im  volkswirtschaft- 
lichen wie  geseUschaftlichen  Interesse  wieder 
jene  Rechtsordnung  anpassen,  und  die  ge- 
schichtliche Entwickelung  der  letzteren  zeigt, 
dass  sie  das  im  grossen  und  ganzen  auch 
zu  thun  strebt  und  gethan  hat. 

Das  Gemeineigentum  örtlicher  Gemein- 
schaften am  agrarischen  Boden  (Aeckero, 
Wiesen,  ausser  den  Weiden),  welches  viel- 
fach in  primitiveren  Verhältnissen  bei  ver- 
schiedenen Völkern  gefunden  wird  und  sich 
auch  hier  und  da  bis  in  späte  Zeiten  er- 
halten hat,  ist  öfters  in  der  Weise  vorge- 
kommen, dass  auch  die  Bearbeitung  selbst 
eine  gemeinsame  war  und  dann  etwa  nur 
die  Ernteerträge  nach  bestimmten  Mass- 
stäben (Bedürfnis  u.  a.)  verteilt  worden  sind : 
/-Gemeingut,  Gemeinbenutzung  und 
Gemeingenuss«,  welcher  letztere  aber 
doch  unvermeidlich  mehr  oder  weniger  voll- 
ständig Privatgenuss  ^vird.  Die  Voraus- 
setzung hierfür  ist  einmal  eine  einfache, 
gleichmässige  Gestaltung  des  Betriebes, 
wenig  Kapitalaufwand,  sodann  und  vor  allem 
starke  Autorität  und  Gewalt  wie  in  patiiar- 


^)  Auf  den  Zusammenhang  des  hier  be- 
handelten, aber  überhaupt  aller  in  diesem  Ar- 
tikel erörterten  Probleme  mit  dem  menschlichen 
Triebleben  und  der  Motivation  bei  den  wirt- 
Hchaftlichen  Handlungen  [yde  bei  gewissen 
Unterlassungen)  lege  ich  ganz  besonderes  Ge- 
wicht, auch  für  alle  erforderlichen  Auseinander- 
setzungen mit  dem  Sozialismus.  Zur  Stützung 
dieser  Ansicht  beziehe  ich  mich  auf  die 
Ausführungen  über  „ökonomische  Psychologie" 
und  Motivationstheorie  in  der  dritten  Auflage 
meiner  „Grundlegung"  I,  S.  70— 1B7. 


Grundbesitz  (Bodenrechtsordnuug) 


817 


chalen  Yerbältnissen,  verbunden  mit  wirk- 
lielier  oder  von  den  Abhängigen  ange- 
nommener »geglaubter«  überlegener  Intelli- 
genz imd  Macht  bei  den  Leitern  des  Ganzen, 
dem  Herrscher  und  seinen  Beamten,  dem 
Stammes-  oder  Geschlechtshaupt,  dem  Haupte 
der  grossen  Hauskommunionen,  bei  den  et- 
waigen aus  der  Gemeinschaft  selbst  hervor- 
gehenden, vielleicht  sogar  frei  gewählten 
Vorstehern  gegenüber  den  ausführenden 
Arbeitskräften  und  gegenüber  allen  denen, 
welche  nach  einem  bestimmten  Massstab 
an  der  Verteilung  des  Produkts  beteiligt 
sind.  Fehlen  diese  Voraussetzungen,  so 
versagt  das  System  teilweise  oder  ganz  den 
Dienst.  Für  Fortschritte,  auch  in  der 
agrarischen  Oekonomik  und  Technik,  bereitet 
es  grosse  Schwierigkeiten  und  wohl  mit 
deswegen  weicht  es  einem  anderen,  wie 
etwa  zunächst  dem  gleich  zu  besprechenden 
zweiten.  Beachtenswert  ist,  dass  bei  pri- 
vatem Grossgrundbesitz  und  Bearbeitung 
desselben  durch  persönlich  unfreie  und 
Abhängige  verschi^enen  Gh»des  (Sklaven, 
Kolonen,  Leibeigene,  Erbunterthänige,  Fröner) 
etwa  dieselben  Voraussetzungen  und  Schwie- 
rigkeiten vorliegen.  Nicht  minder  beachtens- 
wert, dass  etwa  dasselbe  von  dem  vom 
Sozialismus  .erstrebten  und  geplanten  agra- 
rischen Gemeineigentum  gelten  müsste,  nur 
dass  hier  etwa  noch,  mehr  erschwerend  als 
erleichternd,  eine  vom  Gesamtinteresse  ge- 
forderte und  der  soziaUstischen  Idee  der 
»geregelten«  Produktion  entsprechende  cen- 
trale Oberleitung  des  ganzen  Bodenanbaues 
im  Lande  hinzutreten  würde.  Man  braucht 
das  Problem  nur  so  zu  stellen,  um  an  seiner 
psychologischen  und  Ökonomisch-technischen 
Ausführkeit  zweifeln  zu  müssen,  zumal  unter 
unseren  »modernen«  europäiscnen  Bevölke- 
rungen und  deren  Abkömmlingen  in  anderen 
Weltteilen  in  der  Gegenwart. 

Die  zweite  Form  des  Gemeineigentums 
zeigt  sich  verbunden  mit  periodischen 
Teilungen  des  Acker-  und  eventuell  auch 
des  Wiesenlandes  —  bei  welchem  die  erste 
Form  eher  verbleiben  kann  —  zur  zeit- 
weiligen Benutzung,  daher  auch  Bearbei- 
tung unter  den  der  Gemeinschaft  angehöri- 
gen  Geschlechtern,  Familien,  einzelnen: 
»Gemeingut,  Privatnutzung  und 
Privatgenuss«.  Auch  hier  sind  die  öko- 
nomisch-technischen und  die  psychologischen 
Voraussetzungen  doch  noch  ähnliche  wie 
bei  der  ersten  Form:  auch  noch  einfacher, 
gleichmässiger,  extensiver,  schablonenhafter 
Anbau  und  Betrieb,  wenig  Kapitalaufwand, 
zumal  für  grössere,  länger  wirkende  Melio- 
i:ationen  mit  nur  geringer  und  allmählicher 
Eitragssteigerung  dadurch;  dann,  vor- 
nehmlich wieder  für  die  Anleitung,  dieAn- 
eiferung  zur  Arbeit  und  für  die  Ausführung 
der  periodischen  BodenteÜungen  zm*  Nutzung 


starke  Macht  von  Gewohnheit,  Sitte,  Tradi- 
tion, von  religiösen  und  sittlichen  Anschau- 
ungen, grosse  Achtung  vor  den  leitenden 
Autoritäten,  vor  deren  Verständnis,  Unpar- 
teilichkeit, Furcht  vor  deren  Macht,  Zwang 
und  Strafen,  selbst  blinder  »Glaube«  an 
diese  Eigenschaften  dieser  Autoritäten,  keine 
»Kritik«  derselben.  Nur  imter  solchen  Vor- 
aussetzungen,  wie  sie  etwa  auch  in  Ver- 
bindung mit  persönlicher  Unfreiheit  und  mit 
Abhängigkeit  von  privaten  Grossgrundbe- 
sitzern vorliegen  können  (Russland  bis  1861), 
wird  ein  solches  System  sich  land-  und 
volkswirtschaftlich  bewähren,  aber  dem 
ökonomisch-technischen  Fortschritt  wird  es 
auch  kaum  gerecht  werden  können.  Ver- 
ändern sich  und  fehlen  allmählich  mehr 
oder  weniger  diese  Voraussetzimgen ,  so 
versagt  auch  dies  System  den  Dienst,  wie- 
derum psychologisch  und  praktisch  ganz 
begreiflich.  Die  Schwierigkeiten,  wdche 
sich  bei  der  Festhaltung  dieses  Systems  seit 
Aufhebung  der  Leibeigenschaft  und  der  da- 
bei dem  Öutsherrn  gegebenen  Gewalt  über 
die  Bauemgemeinde  in  den  (gross-)  russi- 
schen Dorfgemeinden  zeigen,  sind  ein  neues 
Beispiel  füi*  eine  alte  Erfahrung  und  eine 
Bestätigung  deduktiver  Schlüsse.  Die  ört- 
liche Eigentums-  oder  Besitzgemeinschaft  so 
zu  organisieren,  dass  sie  das  System  für 
sich  allein  ordentlich  einrichtet,  diu-chführt 
und  die  Bodenbearbeitung  und  Kapitalan- 
wendimg ihrer  periodischen  Nutzniesser  be- 
aufsichtigt, erscneint  ja  zwar  nicht  unmög- 
lich, aber  wiederum  höchst  schwierig,  vol- 
lends in  einer  Gemeinschaft  von  Familien 
und  Individuen,  in  welchen  sich  individua- 
listischer Sinn,  privat  wirtschaftlicher  Er- 
werbsgeistj  Emancipation  von  Glauben,  Sitte, 
Gewohnheit,  kritische  Neigung,  Unbotmässig- 
keit  gegen  Autoritäten,  zumaä  gegen  selbst- 

E-jwählte,  schon  verbreitet.  Daran  wiixi  die 
ösung  des  Problems  scheitern  oder  bei 
solchen  Verhältnissen  unbefriedigend  bleiben, 
das  Produktionsinteresse  nicht  erfüllt,  die 
Vermehrung,  Verbesserung,  Verwohlfeilerung 
der  Produktion  nicht,  und  mutmasslich 
jedenfalls  weniger  als  bei  eigentlichem  Pacht- 
wesen und  bei  Privateigentum  erreicht  wer- 
den. —  Wiederum  ist  es  beachtenswert,  dass 
der  Sozialismus  eventuell,  obgleich  kaum 
nach  seinen  Principien  ganz  folgerichtig, 
auch  ein  derartiges  System  nach  seiner  Ab- 
schaffung des  ländlichen  Privateigentums 
wählen  könnte.  Die  Schwierigkeiten  psy- 
chologischer und  praktischer  Art  würden 
dann  wohl  etwas  verringert  werden,  schwer- 
lich indessen  entfernt  soweit,  um  erwarten 
zu  können,  dass  dem  land-  und  volkswirt- 
schaftlichen Produktionsinteresse  und  dem 
landwirtschaftlichen  Fortschiitt  dabei  besser 
als  unter  unseren  bestehenden  Verhältnissen 
gedient  würde,  vermutlich  ganz  im  Gegenteil. 


Handwcrterbach  der  Staatsv^isseiischafteii.    Zweite  Auflage.    IV. 


52 


818 


Grnmdbesitz  (Bodenrechtsordnuugj 


In  beiden  besprochenen  Fällen,  bei  Ge- 
meineigentum und  Gemeinbenutzung  wie  bei 
•Gemeineigentum  und  Privatbenutzung,  lassen 
sich  ja  einige  Vorteile  erreichen:  bessere 
Feldeinteilung,  intelligentere  Leitung,  mehr 
Kapital  Zuführung  —  wenn  die  »leitenden 
Instanzen«  über  die  Fähigkeit  und  die  Mittel 
genügend  verfügen!  —  mehr  Anpassung 
der  Kulturen  und  der  Betriebe  an  die  Be- 
darfs Verhältnisse  —  wenn  diese  zuvor 
richtig  ermittelt  sind !  —  und  an  die  Boden- 
beschaffenheit, richtigere  Betriebsgrössen 
und  anderes  mehr.  Die  betreffenden  Auf- 
gaben müsste  der  Sozialismus  bei  seinen 
Plänen  agrarischen  Gemeineigentums  jeden- 
falls allem  zuvor  lösen.  Schwierig  genug, 
wenn  auch  für  sehr  intelligente,  objektiv 
urteilende,  unparteiische  Ki*äfte  nicht  un- 
lösbar, wäre  ihre  Erfüllung  immerhin.  Aber 
nun  die  unendlich  viel  schwierigere  Aufgabe : 
die  Herstelhmg  unvermeidlicher  Autoritäts- 
verhältnisse bei  der  Bodenzuteilung,  der 
Ernteverteilung  (wenigstens  beim  ereten 
System),  ferner  solcher  Verhältnisse  und  der 
erforderlichen  Disciphn  bei  der  Bodenbear- 
beitung selbst,  und  das  alles  unter  möglich- 
stem Ausschluss  einer  Bethätigung  des  Trie- 
bes des  Selbstinteresses,  des  Motivs  des 
eigenen  wirtschaftlichen  Vorteils  und  unter 
einer  schliesslich  doch  trotz  —  und  wegen ! 
— alles  Sozialismus  durchaus  individualistisch 
gesinnten  modernen  Bevölkerung,  w^elcher 
man  möglichst  die  Geringschätzung  aller 
Autoritäten,  die  Verachtimg  von  Glauben, 
Religion,  Gewohnheit,  Sitte  gelehrt,  welche 
man  immer  nur  auf  »Kritik  nach  oben«,  an 
den  Leitern  hingewiesen,  dazu  förmlich  ge- 
schult hat  und  welche  ihi^e  »zeitweiligen 
Autoritäten«  immer  möglichst  direkt  selbst 
wählen  soll.  Es  gehört  eine  eigentümliche 
Logik,  eine  merkwürdige  Unkenntnis  mensch- 
lichen Wesens,  Trieblebens,  menschlicher 
Motivationen  dazu,  um  an  einen  Erfolg  zu 

flauben.  Andere  Motive,  wie  Pflichtgefühl, 
Ihrgefühl,  Thätigkeitsdrang,  Gemeinsinn 
müssten  eine  unerhörte  Stärke  gewinnen, 
wenn  man  soU  annehmen  dürfen,  ländliches 
Gemeineigentum  in  der  einen  oder  anderen 
dieser  beiden  Weisen  liesse  sich  bei  mis  in 
heutiger  Zeit  durchführen  und  könnte  sich 
bewähren  und  besser  bewähren  als  das 
heutige  »Landsystem«.  Versagen  solche 
andere  Motive,  so  ist  es  psychologisch  gar 
nicht  anders  möglich,  als  dass  auf  das  Motiv 
der  —  Furcht,  auf  Zwang  und  Strafe, 
und  zwar  in  schärfster  Form,  zurückgegriffen 
wird.  Darin  haben  die  principiellen  Gegner 
des  Sozialismus  hier  Recht  und  zwar  nach 
der  Natur  des  agrarischen  Bodens  und  der 
für  ihn  erforderlichen  Arbeit  und  Kapital- 
zufühnmg,  nach  der  unvermeidlichen,  natur- 
bedingten Verteilung  und  Zerstreuung  zahl- 
reicher Landwirtschaftsbetriebe   und  damit 


verbundener  Wohnplätze  über  das  ganze 
Gebiet  bei  jedwedem  agrarischen  »Land- 
systera«  mehr  Recht  als  bei  den  anderen 
Benutzungsarten  des  Bodens  und  als  in  der 
Industrie,  wo  sich  Technik,  Oekonomik,  Be- 
triebskoncentration,  Arbeitsaufsicht  etc.  den 
notwendigen  Bedingimgen  sozialistischer 
Produktionsweise  immer  noch  schwierig  ge- 
nug, aber  leichter  als  in  der  Landwirtschaft 
und  unter  ländlicher  Bevölkerung  anpassen 
würden. 

Aus  dieser  Beweisführung  gegen  länd- 
liches Gemeineigentum  folgen  implicite  die 
ausschlaggebenden  Gründe  für  ländliches 
Privateigentum  am  Böden  und  für  privat- 
wirtschaftliche statt  gemeinwirtschaftiicher 
Organisation  der  ländlichen  Betriebe  und 
Arbeiten,  vollends  in  der  Gegenwart  für 
unsere  modernen  (west-  und  mitteleuropä- 
ischen, nordamerikanischen)  Verhältnisse  der 
Bevölkerung,  der  psycliischen  Seiten  der- 
selben, und  imter  den  Anforderungen,  wel- 
che vom  Standpunkte  des  Produktions- 
interesses hier  an  die  Erträge  des  Bodens 
zu  stellen  sind.  Nur  eine  Form  des  länd- 
lichen Gemeineigentums  und  einer  damit 
verbundenen  Benutzungsweise  des  Bodens 
könnte  eine  Ausnahme  von  diesem  Verdikt 
bilden:  nicht  die  vom  »neuesten«  Sozialis- 
mus ja  auch  nicht  mehr  geplante  allgemeine 
üebertragung  der  Benutzung  des  Bodens 
an  agrarische  Produktivgenossenschaften,  — 
denn  dabei  verblieben  für  die  Einrichtung, 
Organisation,  Funktion,  für  die  Regelung 
der  Konkurrenzverhältnisse  ebenfalls  fast 
unüberwindliche  Schwierigkeiten,  —  wohl 
aber  die  Verzeitpachtung  des  »ein- 
gezogenen« und  etwa  dann  besser  zu  zweck- 
mässigen Betriebseinheiten  eingeteilten  länd- 
lichen Bodens  an  Private,  unter  denen 
hie  und  da  auch  wohl  einmal  eine  gewöhn- 
liche Produktivgenossenschaft  jetziger  Art 
sein  könnte.  Allein  hier  verbliebe  eben  doch 
in  der  Hauptsache  die  privatwirtschaftliche 
Organisation  mit  allen  ihren  Eigentümlich- 
keiten. Schon  die  Feststellung  der  Pacht- 
summe würde  kaum  anders  als  mittelst 
Versteigerung  oder  eines  ähnlichen  Ver- 
fahrens erfolgen  können.  Die  praktische 
Durchführung  bei  einer  Unzahl  von  Betrieben 
böte  aber  enorme  Schwierigkeiten,  ganz 
andere  als  jetzt  bei  den  Domänen.  Aller- 
dings würde  der  Zuwachs  der  Grundrente 
und  der  Boden wertstei^erung,  erwünschter- 
massen,  der  Gesamtheit  auf  die  Dauer  in 
der  Hauptsache  zufallen.  Aber  wie  bei 
allen  Zeitpachten  müsste  doch  eine  gewisse, 
nicht  zu  kleine  Besitzdauer  gewährt  werden, 
auch  im  volkswirt«*chaftlichen  und  im  Inte- 
resse des  Bodens  selbst  (Meliorationen,  Ver- 
hütung zu  starker  Ausnutzung),  und  wäh- 
rend dieser  Dauer  würde  der  Pächter  die 
etwa  steigende  Rente  geniessen.   Ein  solches 


Grundbesitz  (Bodeurechtsordnung) 


819 


allgemeines  Zeitpachtsystem  verlangte  dann 
aber  auch  wieder  unvermeidliche  schwierige 
Kontrollen.  Es  würde  gerade  wegen  des 
fehlenden  Eigenttimerinteresses  die  bekannten 
mehr  oder  weniger  unvermeidlichen  Nach- 
teile des  Pachtbetriebs  haben.  Mögen  diese 
durch  specifische  land-  und  volkswii-tschaft- 
liche  Vorteile,  wie  bei  Grossgütern  (Do- 
mänen), etwa  aufgewogen  werden:  bei  der 
Masse  unvermeidlicher  Mittel-  und  Klein- 
betriebe jedenfalls  nicht.  Wollte  man  letztere 
deshalb  vermeiden  und  allen  agrarischen 
»Gemeinboden«  mur  in  Grossbetrieben  an 
Private  verpachten,  so  entspräche  «las  ein- 
mal durchaus  nicht  überall  den  land-  und 
volkswirtschaftlichen  Interessen  und  Be- 
dürfnissen ;  ferner  würden  dabei  ja  vollends 
grosse  Mengen  von  Leuten,  die  heute  Eigen- 
tümer oder  Pächter  sind,  verdrängt  oder  zu 
abhängigen  Arbeitern  gemacht,  nicht  gehoben, 
sondern  herabgedrückt.  Und  bliebe  man 
eben  deswegen  beim  Klein-  und  Mittelbetrieb 
durch  Zeitpächter  auch  bei  agrarischem 
Gemeineigentum,  so  würde  ein  deixirtiger 
Massenstand  von  Pächtern,  auch  wenn  er 
mehr  als  Pächter  von  Privateigentümern 
geschützt  würde,  eben  aus  psychologischen 
und  praktischen  Gründen  der  Produktion 
nicht  so  gut  dienen  können  als  ein  ent- 
sprechender Stand  von  Eigentümern,  Bauern. 
Vor  allem  aber  würde  er  ein  unendlich 
weniger  wertvolles,  weil  viel  abhängigeres, 
weniger  sesshaftes  und  mit  dem  Boden  ver- 
wachsenes, der  Konkurrenz  beim  Ablauf 
der  Pachtzeiten  viel  mehr  unterliegendes 
soziales  Element  als  ein  solcher  Eigentümer- 
stand sein.  Die  Wahrnehmung  des  Gesamt- 
interesses verlangte  aber  eine  Stellung  der 
Pächter  und  der  Pachtpreise  unter  den  Ein- 
fluss  der  Konkurrenz. 

So  kommt  man  zum  Ergebnis,  gerade 
,  vollends  für  unsere  heutigen  Verhältnisse: 
I  Privateigentum,  Privatbenutzung, 
Privatgen u SS  verdient  am  agrarischen 
Boden  im  allgemeinen  den  Vorzug  vor  jenen 
anderen  Bechtssystemen  und  damit  auch  vor 
jedem  wie  immer  eingerichteten  und  durch- 
geführten »sozialistischen«  Geraeineigentum 
und  »sozialistischer«  Bewirtschaftungs weise. 
Die  übrig"en  Fragen  der  ländlichen  Boden- 
rechtsordnung betreffen  dann  eine  dem  Pro- 
duktions- wie  dem  sozialpolitischen  und  Ver- 
teilungsinteresse möglichst  entsprechende 
Agrarverfassung  und  passende  Rechtsnormen 
für  alle  einzelnen  Punkte  derselben  auf  der 
Grundlage  des  Privateigentumsprincips,  be- 
sonders in  betreff  der  Grundbesitzverteilung, 
des  Erb-,  Schuld-,  Pachtrechts,  der  Arbeiter- 
verhältnisse etc.  Dafür  ist  hier  ganz  auf 
die  agrarpolitischen  Specialartikel  dieses 
Werkes  zu  verweisen.  Hier  muss  nur  noch 
ein  Punkt  in  Bezug  auf  die  principielle 
Eigentumsfrage  berührt  werden,  der  folgende. 


13.  Die  Privat-  nnd  Gemeineigentnnis- 
frage  gegenüber  der  geschichtlich  über- 
kommenen Verteilung  des  agrarischen 
Grandbesitzes.  Wir  beschränken  uns  hier 
auf  die  beiden  Hauptkategorieeu  des  privaten 
Grundbesitzes,  den  kleinen  und  mittleren, 
bäuerlichen  einer-  und  den  Grossgrundbesitz 
andererseits,  der  zum  Teil  der  ehedem  pri- 
vilegierte war,  obwohl  bei  einer  eingehen- 
deren Behandlimg  des  Problems  noch  weiter, 
unter  anderem  auch  zwischen  mittlerem  und 
kleinerem  Besitze  zu  unterscheiden  wäre. 
Das  Ergebnis,  das  hier  voraugesteDt  wird, 
ist,  dass  die  Entscheidung  für  Privateigen- 
tum statt  Gemeineigentums  mit  gewich- 
tigeren Gründen  bei  bäuerlichen  als  bei 
Grossgnmdbesitzverhältnissen  zu  stützen  ist. 
Denn  bei  ersterem  lässt  sich  das  land- 
und  volks'^'irtschaf tliche  Produktionsinteresse 
nicht  so  gut  als  bei  letzterem  auch  mittelst 
Pachtbetnebs  statt  Eigenhetriebs  wahr- 
nehmen; femer  zersplittert  sich  der  Bezug 
der  Grundrente  und  der  damit  und  mit  dem 
Privateigentumsprincip  in  Verbindung  ste- 
hende Gewinn  bei  Besitzwechsel  dort  unter 
viele  Pei-soncn,  hier,  was  bedenklicher  ist, 
koncentriert  er  sich  auf  wenige;  und  end- 
lich ist  die  soziale  Funktion  des  Bauern- 
standes doch  wichtiger  als  selbst  die  gut 
erfüllte  des  Grossgrundbesitzerstandes  — 
damit  die  letztere  noch  durchaus  nicht  un- 
wichtig —  für  das  gesamte  Volksleben. 

Im  Produktionsinteresse  kann,  wie  schon 
oben  betont  ward,  dem  Mittel-  und  Klein- 
oder dem  Grossbetriebe  kein  unbedingter 
allgemeiner  Vorzug  vor  dem  anderen  ge- 
geben werden.  Im  ganzen  hat  nur  je  nach 
den  Kulturen  der  eine  oder  der  andere  mehr 
für  sich,  der  Kleinbetrieb  namentlich  bei 
gewissen  intensiven  Specialkulturen  einer 
höheren  wirtschaftlichen  Entwickelung.  Ver- 
besserungen der  bäuerlichen  allgemeinen, 
ökonomischen  und  technischen  Bildung,  Zu- 
führung von  Kapital  für  Meliorationen  dm-cli 
den  bäuerlichen  Besitz  nicht  gefährdende 
Kreditorganisationen  sind  die  im  allgemeinen 
Produktionsinteresse  hegenden  und  nicht 
unlösbaren  Aufgaben,  bei  deren  Erfüllung 
aber  dann  gerade  ein  Eigentümerstand  das 
Beste  leisten  kann.  Kommen  hierzu  richtige 
Bestimmungen  des  Erb-,  Schuld-,  Zusammen- 
legungs-,  Teüungsrechts,  genügender  Schutz, 
eventuell  auch  durch  ZöUe,  gegen  über- 
mässige Konkurrenz  von  Ländern  extensiven 
Bodenanbaues  hinzu,  so  liegt  auch  keine 
allgemeine  Gefalu:  vor,  den  mittleren  und 
kleineren  Besitzerstand  vom  Grossgnm<l- 
besitz  und  beweglichen  Kapital  aufgesogen 
und  ausgekauft  oder  ausgewuchert  zu  sehen, 
—  womit  einer  der  praktischen  sozial- 
politischen Gesichtspunkte  in  der  Eigen- 
tumsstreitfrage, der  für  Gemeineigentum 
sprechen  soll,  entfällt.    Zeitpacht  an  Private 

52* 


820 


GruQdbesitz  (Bodenrechtsoi-dnung) 


bei  letzterem  würde  freilich  die  Grund- 
rente etc.  der  Gesamtheit  vorbehalten,  aber, 
wie  bemerkt,  nur  mit  den  grössten  Schwierig- 
keiten und  Bedenken  einzurichten  sein,  ganz 
anders  als  bei  Grosspachten ,  und  mittlere 
und  kleinere  Zeitpächter  eines  solchen  Sys- 
tems würden  für  die  Produktion  im  ganzen 
weniger,  für  die  sozialen  Interessen  des 
Volkes  unvergleichlich  weniger  Wert  haben. 
Erhaltung  eines  leistimgsMhigen  Bauern- 
standes mittleren  und  kleineren  Besitzes  ist 
so  im  Gesamtinteresse  einem  agrarischen 
Gemeineigentum  mit  Mittel-  imd  Klein- 
betrieben irgend  einer  anderen  Art ,  auch 
zeitpächterlichem,  gewiss  vorzuziehen.  Ge- 
nossenschaftliche Einrichtungen,  soweit  sie 
leistungsfähig  und  wünschenswert,  lassen 
sich  auch  mit  einem  System  bäuerlichen 
Besitzes  verbinden,  verbreiten  sich  neuer- 
dings bei  uns  stark  und  haben  gute  Erfolge 
(Mdkereigenossenschaften  und  anderes  mehr). 

Nicht  so  günstig  stellt  sich  die  Entschei- 
dung für  Privateigentum  beim  Grossgrund- 
besitz. Für  das  Produktionsinteresse  ist  er 
eher  entbehrlich,  weil  dasselbe,  was  er,  hier 
der  Grosspachtbetrieb  leisten  kann,  und 
dieser  zum  Teil  noch  besser  als  er,  aus  ver- 
schiedenen, zum  Teil  rein  privatökonomischen 
Gründen ,  die  hier  nicht  weiter  verfolgt 
werden  können  (England,  deutsche  Domänen- 
pachten).  Die  allgemeine  Verpachtung  des 
agrarischen  Bodens  zu  privaten  Grossbe- 
trieben auch  bei  Gemeineigentum  am  Boden, 
würde  nach  Analogie  der  Domänenpachten 
vor  sich  gehen  können  und  weder  die  tech- 
nischen Schwierigkeiten  noch  die  sozial- 
politischen Bedenken  wie  die  Massen  Mittel- 
und  Kleinpachten  bieten,  während  sie  der 
Gesamtheit  den  Bezug  der  Grundrente  etc. 
verschaffte.  Die  Koncentration  dieses  Be- 
zugs auf  verhältnismässig  wenige  Besitzer 
ist  aber  hier  gerade  ein  Bedenken  gegen 
Privateigentum.  Wo  vollends  der  private 
Grossgrundbesitz  allgemeiner  verpachtet  ist, 
da  wird  dadurch  schon  die  Möglichkeit  der 
genügenden  Förderung  des  land-  und 
volkswirtschaftlichen  Interesses  bei  Verpach- 
tung erwiesen,  während  bei  solcher  fehlen- 
der Selbstwirtschaft  manche  andere  Gründe 
fiir  privaten  Grossgrundbositz  entfallen  oder 
doch  an  Bedeutmig  verlieren.  Bei  allge- 
raeiner  Verbreitung  des  Zeitpachtwesens  im 
privaten,  zumal  Grossgrundbesitz  würde 
eine  Ersetzung  des  Privateigentums  durch 
gesellschaftliches  Gemeineigentum  und  Bei- 
behaltung der  Zeitpacht  überhaupt  wenig 
andere  als  die  doch  günstigen  Folgen  haben, 
den  Bezug  der  Grundrente  den  Privatbe- 
.sitzern  zu  entziehen  und  der  Allgemeinheit 
zuzuführen  (britische  Inseln,  Italien). 

Kommt  liinzu  ungenügende  Selbstbewirt- 
schaftung, Tuipassende  Grosse  und  schlechte 
Arrondierung  der  Gi-ossgtlter,  zu  starke  An- 


häufung und  Vinkulierung  in  Fideikommis- 
sen,  übles  proletarisches  Kleinpachtwesen, 
Nichtaufentbialt  der  Besitzer  auf  den  Gütern, 
spekulativer  Besitzwechsel  bei  günstigen 
Konjunktiiren,  Anlegung  neuer,  etwa  an  der 
Börse  und  dergleichen  erworbener  beweg- 
licher Vermögen  in  Grundbesitz,  Benutzung 
desselben  wesentlich  nur  zu  Jagdgründen, 
Parks,  Vergnügungszwecken,  Mangel  an 
Boden  für  die  bäuerliches  Eigentum  oder 
Pacht  erstrebende  Bevölkerung,  um  so 
stärkerer  Abzug  der  Landbevölkenmg  iu  die 
Städte,  Industoiesitze,  über  See  infolge  zu 
starken  Vorwaltens  des  Grossgrundbesitzes, 
so  sinkt  die  Wagschale  zu  Gunsten  länd- 
lichen Gemein-(Staats-,Kommunal-)Eigentums 
gegenüber  solchen  Verhältnissen  des  privaten 
Grossgrundbesitzes  allerdings  erhebUch.  Es 
müssten  dann  schon  sehr  gewichtige  soziale 
und  politische,  auch  für  das  Gesamtinteresse 
stark  mitspielende  Faktoren  sein,  welche 
hier  noch  dem  Grossgnmdbesitze  und  seinem 
Eigencümerstand  den  Vorzug  erteilen  könn- 
ten. Aber  eine  Gefahr  für  den  Grossgrund- 
besitz ist  nicht  zu  verkennen,  wenn  Symp- 
tome wie  die  genannten  allgemeiner  her- 
vortreten. 

Immerhin  kann  die  Sache  auch  hier  noch 
so  liegen,  dass  die  Entscheidung  im  Urteil 
für  den  Grossgnmdbeailz  ausfäUt  Ein 
Grossgrundbesitzerstand,  der  tüchtige  Pioniere 
landwirtschaftlichen  Fortschritts,  Vorbilder 
ftir  die  Bauern,  liefert,  tüchtige  Elemente 
demMilitär-und  Staatsdienste  stellt.  Au^ben 
und  Pflichten,  nicht  nur  persönliche  An- 
sprüche, einer  guten  Aristokratie  vertritt, 
an  der  politischen  Arbeit  und  den  Ehren- 
ämtern der  Selbstregierung,  an  den  Leistun- 
gen der  Caritas  und  der  Geisteskultur  des 
Volkes  teilnimmt,  seine  Güter  überwiegend 
selbst  bewirtschaftet,  das  Erbe  seiner  Väter 
möglichst  in  der  Familie  erhält  und  nicht 
als  Müssiggänger  bloss  seine  Pachtrenten 
aufzehrt,  —  ein  solcher  Grossgrundbesitzer- 
stand zeigt  aber  auch  wieder  specifische 
Vorteile  der  Institution  des  privaten  Grund- 
eigentums im  Gesamtinteresse  des  Volkes, 
die  wohl  in  der  Principienfrage  der  Rechts- 
ordnung des  agrarischen  Bodens  zu  Gunsten 
dieser  Institution  ins  Gewicht  fallen. 

14.  Der  Forstboden  (s.  alles  Nähere  in 
den  Specialartikeln).  Bei  dieser  vierten 
Bodenkategorie  liegt  die  Frage  weit  mehr 
als  bei  Agrarbodcn  günstig  für  öffentliches 
gesellschaftliches  Gemeineigentum  in  der 
form  von  Staats-,  daneben  auch  von  Kom- 
munaleigentum, mit  staatlicher  und  kommu- 
naler Eigenverwaltung.  Die  geschichtliche 
Entwickelung  hat  das  schon  mit  bewiesen, 
indem  sie  auch  in  unsern  Ländern,  wo  der 
Agrarboden  grösstenteils  Privateigentum 
einzelner  physischer  Personen  gewoitlen  ist, 
grosse  und  wichtige  Waldmassen  im  Staats- 


Grundbesitz  (Bodenreclitsordnung) 


821 


und  Komniunaleigentum  erhalten  hat,  auch 
noch  heute  in  grossen  Teilen  Europas,  in 
''Deutschland  annähernd  die  Hälfte  aller  Wal- 
dungen. Die  in  unsern  Ländern  im  ganzen 
bestehende  Notwendigkeit  und  Zweckmässig- 
keit, den  noch  vorhandenen  Waldbestand 
zu  erhalten,  wofür  klimatologische  und  all- 
gemein volkswirtschaftliche,  die  Fimktion  des 
Waldes  als  Schutzwald  im  weitesten  Sinne 
betreffende  Gründe  sprechen,  geben  hier  den 
Ausschlag  für  »öffentlichen  Waldbesitz«, 
welcher  diese  Aufgabe  der  Erhaltung  der 
Wälder  am  besten  löst.  Eijie  Reihe  privat- 
ökonomischer und  technischer  Gründe  der 
Forstwirtschaft  tritt  für  diese  Entscheidung 
unterstützend  hinzu.  So  kann  das  forst- 
und  volkswirtschaftliche  Produktionsinteresse 
bei  Staatseigentum  am  Walde  und  bei  der 
hier  wiedenun  aus  ähnlichen  Gründen  der 
Privatwirtschaft  überlegenen ,  Ökonomisch- 
technisch nicht  nur  möglichen,  sondern  be- 
sonders leistungsfähigen,  auch  allgemein 
üblichen  Eigenbewirtschaftung  durch  Staats- 
organe sogar  in  bevorzugtem  Masse  befrie- 
digt werden.  Da  die  EntwickeluDg  der 
reinen  Waldrente  ferner  vornehmlich  wieder, 
so  auch  nach  der  Natur  der  schweren, 
voluminösen,  relativ  geringwei-tigen  Wald- 
produkte, von  allgemeinen  Entwickelungen 
der  Volkswirtschart  (Kommunikationswesen, 
gesamte  Verhältnisse  der  technischen  Holz- 
verwenduug,  Volkszunahme  und  Volksdichtig- 
keit etc.)  und  von  Verwendung  öffentlicher 
Mittel  für  Einrichtungen,  welche  der  Ver- 
wertung der  Waldpredukte  zu  gute  kommen 
(Kommunikationswesen),  abhängt,  so  spre- 
chen auch  diese  Umstände  für  Staatswald 
etc.  und  gegen  Privatwald  ^). 

15.  Füjofte  ßodenkategorie:  Der 
Wegeboden  (s.  auch  darüber  vornehmlich 
die  Specialartikel,  Wege,  Eisenbahnen  und 
andere  mehr),  die  fünfte  Bodenkategorie. 
Auch  bei  diesem  Boden,  soweit  es  sich  um 
Wege  für  den  »öffentlichen  Verkelir«  han- 
delt, liegt  die  Frage  diu'chaus  und  beinahe 
ausschliesslich  zu  Gunsten  öffentlichen,  ge- 
sellschaftlichen Gemeineigentums,  in  Form 
von  Staats-,  Kommunal-,  Komniunalverbands- 
eigentum,  und  die  gesclüchtliche  Entwicke- 
lung  hat  regelmässig  auch  so  entschieden. 
Wo  Ausnahmen  bestehen,  wie  bei  Eisen- 
bahnen, Kanälen,  hier  und  da  Chausseeen, 
liaben  diese  sich  im  ganzen  nicht  bewährt 
und  bestätigen  so  die  Richtigkeit  der  Regel. 
Oekonomisch-technisch  sind  Staat,  Gemeinde 
etc.  durchaus,  und  zum  Teil  in  besonderem 
Grade  befähigt,  durch  ihi-e  Organe  alle  Arten 
Wege,  vom  gewöhnlichen  Landweg  und  der 


^)  Eingehendere  Erörterung  der  Eigeutums- 
frage  nach  diesen  Gesichtspunkteu  betreffs  des 
Waldes  in  meiner  Finauzwisseuschaft  1,  3.  Aufl., 
S.  671—585. 


Ortßstrasse  bis  zur  Eisenbahn,  zu  bauen,  zu 
erhalten,  zu  verwalten.  Nur  bei  öffentlichem 
Eigentum  .können  die  Verkehrsinteressen 
allseitig  richtig  wahrgenommen,  das  Stras- 
sen- und  Bahnnetz  richtig  systematisch  aus- 
gestaltet, die  Kapitalverwendung  dafür  zeit- 
lich regelmässig,  nicht  nur  abhängig  von  Spe- 
kulationsmoraenten  geregelt  werden.  Die 
etwaigen  Einnahmen,  Renten  aus  Wegen 
(Eisenbahnen)  hängen  wieder  ganz  vorzugs- 
weise von  gegebenen  Naturverhältnissen  der 
Lage,  der  Bodenbeschaffenheit  —  die  die 
Baukosten  etc.  wesentlich  bestimmt  —  und 
von  allgemeinen  Entwickelungen  der  gesam- 
ten Volkswirtschaft,  des  ganzen  Volkslebens 
ab,  kommen  daher,  wie  in  solchen  Fällen 
immer,  durch  Vermittelung  des  Rechtgprin- 
cips  des  Staatseigentums  der  Gesamtheit  am 
richtigsten  zu  gute,  so  jetzt  bei  der  ȟeber- 
schusswirtschaft«  der  Staatseisenbahnen 
(Preussen!).  Da  ein  grösseres  Wegenetz 
(Eisenbahnnetz)  unvermeidlich  gflnstige  imd 
ungünstige,  in  Bau  und  Betrieb  wohlfeile 
und  teure,  verkehrsreiche  und  -arme,  ren- 
table und  unrentable,  aktive  und  passive 
Lduien  etc.  vereinigt,  so  führt  auch  die  Kon- 
centration in  einer  Hand,  des  Staats,  zur 
Ausgleichung  dieser  günstigen  und  ungüns- 
tigen Fälle  und  ermöglicht  so  die  grössere 
Ausdehnung  des  Netzes,  nützt  alßo  dem 
Produktionsinteresse  j  während  die  ähnliche 
Koncentration  in  Pnvathänden  d.  h.  dann 
regelmässig  bei  Aktiengesellschaften,  fak- 
tische Monopole  schafft,  welche  hier  für  die 
Gesamtheit  nachteilig  sind.  Wo,  wie  bei 
den  Eisenbahnen,  Weg  und  Verkehrsanstalt 
darauf  aus  betriebstechnischen  Gründen  in 
einer  Hand  sein  müssen,  verstärken  sich  die 
Gründe  für  Staatseigentum  —  und  folge- 
richtig, wie  auch  noch  aus  specieUen  Grün- 
den für  hier  recht  wohl  leistungsfähigen 
Staatsbetrieb  —  nur  noch  mehr^). 

16.  Sechste  Bodenkategorie :  Gewäs- 
ser. Hinsichtlich  des  Bodens  der  Gewässer, 
der  sechsten  Kategorie,  der  dabei  in  Be- 
tracht '  kommenden  wasserrechtlichen  Ver- 
hältnisse, welche  die  Benutzung  des 
Wassers  zu  den  verechiedenen  ökonomisch- 
technischen Zwecken  betreffen,  sowie  auch 
bezüglich  der  Fischerei  (für  welche  zum 
Teil  ähnliche  Gesichtspunkte  wie  für  die 
Jagd  gelten)  muss  hier  ganz  auf  die  Special- 
artikel verwiesen  werden.  Es  sei  nur  be- 
merkt, wie  die  beginnende  Benutzung  der 
natürlichen  Gewässer  und  ihrer  natüi'Hchen 
und  künstlichen  GefäUe,  Fluktuationen  (Ebbe 
und  Flut!)  als  Kraftquelle  der  Elektrici- 


*)  Auch  über  die  hier  wichtigste  Frage: 
Staats-  oder  Privat-  (d.  h.  Aktiengesellschafte-) 
Bahnen  umfassende  allseitige  Erörterung  nach 
obigen  Gesichtspunkten  im  gen.  Bd.  1  meiner 
Finanzwissenschaft,  S.  661 — 705. 


822 


Grrundbesitz  (Bodenrechtsordnutig) 


tat  hier  vermutlich  sehr  wichtige  neue 
Rechtsfragen  wird  hervortreten  lassen.  Da 
liegt  dann  die  Frage  eines  Staats regals 
(Monopols)  bezw.  einer  »Verstaatlichung« 
der  Wasserkräfte  für  diesen  Zweck  nahe, 
um  zu  verhüten,  dass  diese  neu  in  den 
Dienst  des  Menschen  tretende  Naturkraft 
einseitig  zu  sehr,  wie  die  Dampf  kraft  zum 
Teil,  zu  privatwirtschaftlichen  Vorteilen  der 
Privatbesitzer  des  beweglichen  Kapitals  aus- 
gebeutet werde.  Bezugliche  Gedanken  und 
Bestrebungen  einer  solchen,  das  Gesamt- 
interesse vertretenden  Rechtsordnung  für  die 
Wasserbenutzung  als  Quelle  der  Elektricität 
sind  bereits  aufgetaucht. 

17.  Ergebnis.  Das  Ergebnis  der  Er- 
örterungen in  diesem  Artikel  ist,  dass  die 
Boden rechtsordnung  speciell  bei  der  Wahl 
zwischen  den  zwei  grossen  Rechtsprincipien 
des  Gemein-  und  des  Privateigentums  wie 
historisch  und  örtlich,  so  vor  allem  nach 
Bodenkategorieen  unterscheiden  muss,  worauf 
auch  regelmässig  die  geschichtliche  Rechts- 
onlnung  des  Bodens  hindrängt.  Eine  ein- 
zige Antwort,  wesentlich  ganz  für  Privat- 
eigentum, wie  der  ökonomische  Individualis- 
mus, ganz  für  Gemeineigentum,  wie  der 
ökonomische  Sozialismus  will,  ist  nicht  zu 
geben.  Die  nat(irlichen  und  die  ökonomisch- 
technischen Verhältnisse  der  Bodenkategorieen 
und  der  Bearbeitung  einer  jeden,  die  allge- 
meinen wirtschaftlichen  Entwickelungsver- 
hältnisse  müssen  entscheiden.  Ueberall 
sollte  möglichst  der  Leitstern  bei  der  Ent- 
scheidung das  wahre  allgemeine  Produk- 
tionsinteresse und  das  mit  der  Verteilung 
des  Bodenertrages  enge  zusammenhängende 
Interesse  der  ganzen  Gesellschaft  sein.  Und 
halb  instinktiv  früher,  bewusst  heute,  wo 
'\^^r  die  Zusammenhänge  erkennen,  drängt 
die  Entwickelung  auch  darauf  liinaus.  Ein 
richtiges  Enteigmmgsrecht  muss  zu  Hilfe 
kommen,  um  wohlerworbenen  Privatrechten 
gegenüber  den  Boden  der  jeweilig  für  die 
Gesamtheit  nützlichsten  Verwendung  zu- 
führen zu  können,  wenn  das  vertragsmässig 
nicht  zu  erreichen  ist.  In  allen  Fällen  aber 
wird  immer  zu  bedenken  sein,  dass  der 
Boden  stets  erst  durch  das  Medium  mensch- 
licher Arbeit  seine  Dienste  leistet  und  dass 
daher,  um  ein  Maximum  in  Quantum  und 
Quäle  dieser  Dienste  und  ihres  ökonomischen 
Erfolges  zu  erreichen,  die  Bodenrechtsord- 
nung notwendig  dem  menschlichen 
Triebleben  und  den  für  die  Aus- 
übung menschlicher  Arbeit  wirk- 
samen Motiven  an  gepasst  sein  muss. 
Das  darf  auch  bei  der  sozialistischen  Forde- 
rung des  »gesellscliaftlichen  Gemeineigen- 
tums« am  Boden  niemals  vergessen  werden, 
wie  es  der  Sozialismus   selbst  immer  thut. 

Litteratur :    *S'.  auch  daßlr  vornehmlich  die  hier 
nicht    zu    wiederholenden  grösstenteils   aber   mit 


hierher  gehörigen  Angaben  bei  den  Special- 
artikeln,  besonders  bei  dem  über  die  Gtschiekte 
des  Grundbesitzes  unten  S.  849,  über  Ansiedelung 
oben  Bd,  I  S.  S75 ;  femer  über  Sozialismus. 
Hier  sind  nur  etwa  aus  der  grossen  agrar- 
geschichtlichen,  rechtshistorischen, 
auch  ethnologischen,  kultur-  und  wirt- 
schaftsgeschichtlichen  Litteratur,  her- 
vorzuheben für  das  Allgemeine:  JE,  de 
Lav^leyCf  de  la  propi^StS  et  de  ses  formes  pri- 
mitives, 1.  ed.,  Paris  1874  (4.  Sd.  Paris  1891), 
besonders  in  der  deutschen  Bearbeitung  von  K. 
BUeheTf  Das  Ureigentum,  Leipzig  1879.  —  Die 
Schriften  v,  Maurers ,  G,  Hanssens,  G. 
WaitzSf  V.  Inanta-Sterneggs  (Deutsche  Wirt- 
schaftsgeschichte), M.  Webers  (römische  Agrar- 
geschichte) ,  die  deutsche  Rechtsgeschichte  von 
Brunner,  Sehröder,  —  Lewis  Morgan, 
(ancient  society).  —  Fr.  Engels,  Ursprung 
der  Familie  etc.  —  (Crosse,  Formen  der  Familie 
und  der  Wirtschaft,  1896.  —  E,  Hahn,  Haus- 
tiere und  ihre  Beziehungen  zur  WirtscJuift,  1896. 

—  K.  BücJier,  Entstehung  der  Volksicirtschaft, 
S.  A.,  1898,  bes.  Kap.  1  u.  2.  —  Felix,  Eni- 
wickelungsgeschichte  des  Eigentums.  —  Arnold, 
Zur  Geschichte  des  Eigentums  in  den  deutschen 
Städten  1861.  —  Lipperts  Kulturgeschiehle.  — 
Effertx,  Boden  ujid  Arbeit.  —  Das  grosse  Werk 
von  A.  Meitzen,  Siedehtng  und  Agrarwesen 
der  West-  und  Ostgermanen,  S  Bde.,  1895.  — 
La/mprecht,  Deutsche  Geschichte,  Bd.  1.  —  B. 
Hildebrand,  Reclit  und  Sitte  auf  den  ver- 
schiedenen wirtschaftlichen  Kulturstufen,  1.  Bd., 
1896.  —  Mueke,  Horde  und  Familie,  1895.  — 
Derselbe,  Urgeschichte  des  Ackerbaues  und  der 
Viehzucht.  —  Revision  der  Lehre  von .  der  Ge- 
schichte des  Grundeigentums  in  dem  Aufs,  von 
Rachfahl  in  Jahrb.  f.  Nal.  u.  Stat.,  S.  Jbolge, 
Bd.  19,  1900.  —  Ueber  die  allgemein  wiehtigen 
und  lehrreichen  Verhältnisse  des  russischen 
l  ändlichen  Gemeindebesitzes,  nament- 
lich J,  V.  Keussler,  Zur  Geschichte  und  Kritik 
des  bätierlichen  Gemeindebesitzes  in  Bussland, 
S  Bde.,  Riga,  Petersburg  1876—1887.  —  Sim- 
khawitsch,  Fcldgemeinschaß  in  Russland,  1895. 

—  V,  Schulze  ^Qävemitz ,  VolkstcirtschafÜiche 
Studi-en  aus  Russland,  1899,  Kap.  5.  —  Aus  der 
sozialistischen  LittenUur  passim  Aus- 
führungen in  den  Hauptwerken  von  Marx,  Rod^ 
bertus,  auch  Engels,  Bebel,  Die  Frau,  JLieb^ 
hnechi,  Zur  Grund-  und  Bodenfrage,  2.  Auß., 
Leipzig  1876.  —  Die  neuere  agrarpolUische 
Litteratur  des  Sozialismus,  daraus  bes.  ICautsky, 
Agrarfrage,  1899,  Bernstein  u.  a.,  darüber 
Serings  Kritik  in  dem-  Aufs,  in  Jahrb.  f.  Gesetsg.  u. 
Venralt.  1899.  —  Verhandlungen  auf  sozialdemo- 
kratischen Kongressen,  so  1869  in  BaseL  —  Aus 
der  Litteratur  anderer  principieller  Gegner 
des  Grundeigentums:  H.  George,  Progressand 
poverty,  deutsch  von  Gütschow,  FortschriU  u. 
Armut,  Berlin  1881,  f.  Aufl.  I884.  —  Flur" 
sheims  Schriften,  bes.  nDer  einzige  Rettungi- 
wegu,  Dresden  und  Leipzig  1890.  Zeüschrijt 
yiFreilandu    des    Vereins  ßir  Bodenbesitzreform. 

—  Hertzha,  Freiland,  Haupt-  und  kleine  Aus- 
gabe, 1890.  Ebei}falls  Zeitschrift  nFreilandn  (Wieik). 

—  Ueber  die  ganze  Litteratur :  Conrad,  JHeM, 
in    den   Jahrb.  f.   Not.   u.    StaL,    Bd.   50  und 
Bd.  58.  —  Ueber  städtische   Grtindstückpreise 
und  Notstände  (Berlin)  G.  Freese  eb.    1898,  II 
F.,  Bd.  61.  —  Schneider,    Wohnungsmietrecht 


Grundbesitz  (Boden rechtsordniing — Geschichte) 


823 


n.  80Z.  Reform,  18 9S.  —  Eberstadt  in  Pr^u^fts. 
Jahrb.  1892,  Bd.  70.  —  Derselbe,  Städti- 
sche Bodenfrage,  1894.  —  Preuss,  Boden- 
heiUzrefomi,  1890.  —  Adickes ,  ZeiUchr.  f. 
StaaUwüs.,  Bd.  50  n.  Brauns  Archiv,  B.  VI. 
—  Wallacei  land  nazionalisation  (öjtern).  — 
Dawsorif  Uneamed  ineremenl  etc.,  1S90.  — 
JDanuisehhef  Gemeindesozialismus  1899.  — 
^Deutsche  Volksstimmen,  Zeitschrift,  Organ 
des  Bundes  deutscher  Bodenreformer.  —  Siehe 
jetzt  bes.  den  Art.  von  JHeM,  Bodenbes^ilzreform, 
i«  diesem  Jfandwörterbuch,  oben  Bd.  II  S.  950, 
auch  für  weitere  LiUeraiurnachiceise  S.  961.  —  Ein- 
gehende principielle  Erörterung  der  ganzen  Boden- 
rechtsfi'age  in  meiner  n  Grundlegung <<  der  allge- 
meinen und  theoretischen  Volkswirtschaftslehre, 
2.  Anfi.,  Ijeipzig  1879,  S.  64S—821,  S.  Aufl., 
II,  1894,  S.  S47 — 568,  woselbst  zahlreiche  weitere 
LiUeraturangaben  (übrigens  auch  Modifikationen 
der  zu  einseitigen  Auffassungen  in  meiner  gegen 
den  Sozialismus  polemischen  Schrift  »Die  Ab- 
schaffung des  privaten  Grundeigentums^,  Leipzig 
1870).  Obiger  Artikel  im  wesentlichen  eine 
Quintessenz  der  Ausführungen  in  der  nGrund- 
legung«. 

Adolph  Wagner, 


n. 

Oescliichte  des  Grundbesitzes. 

1.  Erstmalige  Bildung  von  Grundbesitz  auf 
kommunistischer  Grundlage;  bis  zum  ö.  Jahrh. 
n.  Chr.  2.  Verschiebung  der  Eigentumsrechte 
am  Grund  und  Boden ;  Entwickelung  einer  aus- 
gedehnten agrarischen  Arbeitsteilung;  Bildung 
von  Klein-  und  Grossbesitz;  5.-9.  Jahrh.  3. 
Kolonisation  und  Ausbau  des  Mutterlandes  vom 
9.  zum  12.  Jahrh. ;  ihre  Wirkungen  auf  die  ße- 
sitzverhältnisse.  4.  Aus-  und  Umgestaltung 
des  grundherrschaftlichen  Grossbesitzes,  Auf- 
kommen freierer  Verhältnisse  der  Grundholden, 
freie  Pachten  im  Mutterland;  11.— 14.  Jahrb. 
5.  Kolonisation  des  Ostens,  anfängliche  Aus- 
gestaltung der  Grundbesitz  Verhältnisse  im  Osten ; 
12.— 14.  Jahrh.  6.  Verfall  der  bäuerlichen  Be- 
sitzverhältnisse im  Mutterlande ;  14. — 16.  Jahrh. 
7.  Verschlechterung^  der  bäuerlichen  Besitzver- 
hältnisse auf  kolonialem  Boden ,  Entstehung  der 
ländlichen  Grosswirtschaften ;  15.— 17.  Jahrh.  8. 
Eingreifen  des  aufgeklärten  Absolutismus,  An- 
fänge der  Bauernbefreiung;   17.  und  18.  Jahrb. 

1.  Erstmalige  Bildung  von  Grund- 
besitz auf  Icommunistiseher  Grundlage: 
bis  zum  5.  Jahrh.  n.  Chr.  Die  älteste  Ge- 
schichte des  deutschen  Gnindbesitzes  führt 
noch  in  die  Zeit  der  Besitzergreifung.  Mass- 
gebend für  diese  waren  die  schon  bestehen- 
den natürlich-genealogischen ,  militärischen 
und  politischen  Institutionen  der  Urzeit. 

Der  Staat  der  Urzeit  war  die  Völker- 
schaft, ein  etwa  30 — 40000  Seelen  um- 
fassender, der  Regel  nach  völlig  ftir  sich 
bestehender  Teil  der  Nation.  Seine  waffen- 
fähigen Angehörigen  bildeten  insgr^samt  das 
Heer;  da  nur  Waffenfähigkeit  volle  Staats- 
bürgerschaft gab,  so  fielen  Heer  und  Volk 


als  politischer  Begriff  zusammen.  Die  Völker- 
schaft zerfiel  in  Hundertschaften,  in  der 
Zeit  unserer  frühesten  geschichtlichen  Zeug- 
nisse militärische  Unterabteilungen  des  Ge- 
samtheeres  von  bestimmter  Stärke,  nach 
Ausweis  völkerkundlich  interpretierter  Reste 
vorgeschichtlicher  Verfassungserscheinungen 
einst  zugleich  Geschlechter  der  Völkerschaft. 
Die  Himdertschaften  ihrerseits  zerfielen  dann 
w'ieder  in  einzelne  Familien  bezw.  kleinere 
jüngere  Gesclilechter. 

Die  Verteilung  des  Grundbesitzes  er- 
folgte nach  Einnahme  eines  bestimmten 
Landes  auf  Grund  militärischer  Rücksichten: 
wie  der  Herzog,  der  Oberanführer  des  völker- 
schaftlichen  Heeres,  mit  Hilfe  der  Häupt- 
linge (principes)  der  einzehien  Hundert- 
schaften die  Beute  überhaupt  verteilte,  so 
verteilte  er  auch  das  Land. 

Die  Folgen  der  militärisch-kameradschaft- 
lichen Aufteilung  waren,  dass  jeder  Krieger 
gleichviel  Rechte  am  Grund  und  Boden  er- 
hielt mit  Ausnahme  der  besser  dotierten 
Führer  und  dass  ferner  die  Aufteilung  des 
ganzen  *  Landes  zunächst  nach  Hundert- 
scliaften,  innerhalb  dieser  nach  Familien 
(deren  Angehörige  auch  im  Heere  neben 
einander  standen)  undEinzelkriegern  stattfand. 

Es  wurde  mithin  das  völkerschaftliche, 
neu  gewonnene  Gebiet  zunächst  in  Hundert- 
scliaftsbezirke  geteilt.  In  ihnen  Hessen  sich 
nach  den  Angaben  Caesars  die  einzelnen 
Hundertschaften  noch  nicht  dauernd  nieder, 
vielmehr  fand  ein  jährlicher  Sitzwechsel  der 
Hundertscliaften  statt:  noch  beruhte  das 
Eigentum  am  Staatsgebiet  ausschliesslich  bei 
der  Völkerschaft;  diese  wies  durch  ihre 
Organe  den  einzelnen  Hundertschaften  nur 
Jahresnutzungen  zu,  anscheinend  nach  be- 
stimmtem Turnus. 

In  der  Zeit,  über  welche  Tacitus  be- 
richtet (1.  Jahrh.  n.  Chr.),  ist  die  Lage  schon 
andere  geworden.  Jetzt  sitzen  die  einzelnen 
Hundeilschaften  fest  auf  bestimmten  Ge- 
bieten des  staatlichen  Bezirks;  die  Völker- 
schaft besitzt  bloss  noch  ein  völkerrecht- 
liches Eigentum  und  ein  privatrechtliches 
Obereigen  (Ursprung  des  Bodenregals!)  am 
Staatsgebiete;  dessen  einzelne  Teile  sind  in 
das  Untereigentum  der  Hundertschaften  über- 
gegangen: Die  Hundertschaften  sind  nun 
nicht  bloss  militärische  Abteilungen,  sondern 
zugleich  —  imd  bald  vorwiegend  —  agra- 
rische Abteilungen,  Markgenossenschaften: 
der  lokale  wirtschaftliche  Verband  beginnt 
den  peraönlichen,  militärischen  zu  verdrängen. 

In  weicher  Art  die  Hundertschaften  ihr 
Gebiet  anfangs  nutzten,  ist  bestritten.  Die 
wahrscheinlichste  Deutung  der  einschlägigen 
Nachrichten  ergiebt,  dass  dies  zunächst  sehr 
extensiv  und  kommunistisch  geschah;  die 
gesamten  Hundertschaftsgenossen  scheinen 
einen   besonders   fruchtbaren  Teil  des  Ge- 


824 


Grundbesitz  (Geschichte) 


bietes  gemeinsam  urbar  ^macht,  bebaut 
und  abgeerntet  zu  haben  bis  zu  dessen  Er- 
schöpfung; dann  suchten  sie  eine  andere 
Stelle  zu  gleichem  Zwecke  auf.  Es  ist 
dabei  zu  bedenken,  dass  die  Wirtschaft  der 
Germanen  in  dieser  Zeit  wenigstens  viel- 
fach noch  überwiegend  nomadisch  war ;  da- 
mit war  ein  ümherzielien  innerhalb  der 
Hundertschaftsmark  gewiss  häufig  noch  not- 
wendig. 

Indes  allmählich  ward  man  sesshafter. 
Nun  Hess  sich  manchmal  wohl  die  ganze 
Himdertschaft  an  einem  Orte,  in  den  meisten 
Fällen  indes  wohl  jedes  Geschlecht  der- 
selben für  sich  an  verschiedenen  Orten  in 
Hundertschjrftsgebiete nieder:  im  allgemeinen 
begannen  sich  aus  der  alten  Hundertschafts- 
mark besondere  Dorfmarken  auszusondern. 
Gleichzeitig  erfolgte  eine  festere  Abgrenzung 
zwischen  Feldflur  und  Weide-  und  Wald- 
gebiet: Weide  und  Wald  bleiben  der  ge- 
samten Hundertschaftsbevölkerung  noch  lange 
—  in  einzelnen  Fällen  reichen  Keste  noch 
bis  zur  Gegenwart  —  gemeinsam,  die  Feld- 
flur ging  in  den  Sonderbesitz  der  einzelnen 
Ansiedelungen  über. 

Die  Feldflur  ward  nunmehr  ziu*  hervor- 
ragendsten Entwickelimgsstätte  des  eigent- 
lidien,  individualen  Gnmdbesitzes.  Sie 
wurde  ursprünglich  wohl  noch  von  allen 
Bewohnern  derselben  Ansiedelung  gemein- 
sam bebaut.  Doch  bald  begann  man  die 
einzelnen  Gewanne  je  nach  der  Zahl  voll- 
berechtigter Siedler  zu  teilen:  jedem  sollte 
in  jeder  Gewanne  ein  gleich  grosser  Anteil 
zufallen.  Um  völlig  gerecht  zu  verfahren, 
hat  man  sogar  in  analogen  Verhältnissen 
auf  deutschem  Boden  die  einzelnen  Anteile 
noch  lange  Zeit  unter  die  Berechtigten  ver- 
lost. Indes  noch  vor  der  Aufzeichnung 
unserer  ältesten  Volksrechte  ist  dieses  Ver- 
fahren, wenn  es  bestand,  jedenfalls  veraltet 
gewesen ;  das  salische  Redit  aus  dem  Ende 
des  5.  Jahrhunderts  weist  anscheinend  nur 
noch  archaische  Erwähnungen  der  Losung 
und  des  Gemeineigens  an  den  Feldern  auf. 
Statt  dessen  legte  man  neue  Gewanne  jetzt 
von  vornherein  so  an,  dass  jedem  Berech- 
tigten an  der  Weglage  ein  gleich  breites 
Stück  zur  Urbarmig  zugemessen  ward  (Ent- 
stehung des  Morgens). 

Die  Folge  war,  dass  nun  ein  wii'kliches 
Individualeigen  jedes  Berechtigten  an  Feld- 
besitz hergestellt  war;  es  war  naturgemäss 
so  gross,  dass  er  wohl  von  ihm  leben 
konnte  —  eben  hierzu  genügend  hatte  man 
ja  von  jeher  gerodet  — ,  und  es  verknüpfte 
sich  mit  der  Aussicht  auf  anständigen  Ge- 
nuss  der  noch  ungeteilten  Weide  und  des 
Waldes.  Einen  solchen  Komplex  von  Rechten, 
gegn\ndot  auf  einen  Hof  im  Dorfe,  auf  Feld 
in  der  Flur,  auf  Nutzung  in  Wald  und 
Weide,  nannte  man  Hufe. 


Die  Hufe  ist  der  ursprüngliche  reguläre 
Grundbesitz  jedes  waffenfähigen  Deutschen ; 
sie  reichte  zur  Ernährung  einer  Familie  aus 
und  umfasste  später  gewöhnlich  30 — 40 
Morgen.  Grösseren  Grundbesitz  hatten  in 
der  Urzeit  wohl  nur  die  Häuptlinge  und 
deren  Geschlechter. 

2.  Verschiebung  der  Eigentumsrechte 
am  Gnmd  und  Boden;  Entwickelang 
einer  ausgedehnten  agrarischen  Ar- 
beitsteilung; Bildung  von  Klein-  und 
Grossbesitz:  5. — 9.  Jahrh.  Der  fränkisch- 
merowingische  Staat  begann  mit  dem  Rechts- 
gnmdsatz  des  Bodenr^als,  in  dessen  Kon- 
struktion altgermanische  Vorstellungen  vom 
Obereigen  der  Völkerschaften  bezw.  ihrer 
Oberhäupter  an  den  Völkerschaftsbezirk  zu- 
sammengefallen waren  mit  der  römischen 
Auffassung,  welche  die  Provinzen  als  Eigen- 
tum des  Imperiums,  der  herrschenden 
Centralgewalt  betrachtete. 

So  wurde  noch  aller  Boden  als  im  Gnmde 
staatlich  oder  königlich  angesehen;  und  an 
die  Gerechtigkeit  des  Herrschers  erhob  sich 
der  ideale  Anspruch,  dass  dieser  Boden  in 
völlig  gleicher  Weise  an  alle  gleichbei\?ch- 
tigten  Staatsbürger,  alle  IVeien  zu  verteilen 
sei.  Obereigentum  des  Königs  an  Grund 
und  Boden,  kollektivistische,  ja  kommunis- 
tische Ausnutzung  der  Landeskräfte  diu'ch 
die  Unterthanen :  das  war,  wenn  auch  keines- 
wegs die  Wirklichkeit,  so  doch  das  Ziel  noch 
des  frühesten  fränkischen  Staatslebens. 

Wie  ganz  anders  sah  die  Welt  in  den 
Verfallzeiten  des  fränkischen  Universalstaates 
gegen  Ende  des  9.  Jahrhunderts  aus!  Im 
beginnenden  Lehnsstaate  dieser  Zeit  war  der 
Gedanke  eines  königlichen  Bodenregals  zu 
leerem  Anspruch  verblasst  und  im  wesent- 
lichen mu*  noch  in  mageren  Resten  ver- 
zettelter Grundsteuern  (Dema,  Septima 
agrorum  u.  s.  w.)  wirksam ;  die  Staatsgewalt 
hatte  nicht  bloss  das  Obereigentum  am 
Grund  und  Boden,  sondern  auch  grosse 
Teile  ihres  ihr  unmittelbar  unterstehenden 
Gnmdeigens  verloren. 

Statt  dessen  war  der  Grund  und  Boden 
in  Eigentum  mid  Nutzung  höchst  ungleich 
auf  die  Angehörigen  des  Staates  verteilt; 
und  seit  Generationen  war  seine  Ueberfüile 
in  den  Händen  der  Grossen  zur  Zerstörung 
der  Staatsgewalt  erfolgreich  missbraueht 
worden. 

Kaum  grössere  Gegensätze  lassen  sich 
denken ;  noch  gegen  Ende  des  5.  Jahrhimderts 
ein  weithin  reichendes  Obereigentum  des 
Königs,  eine  weitgehende  Nutzungsgleich- 
heit  aller  Unterthanen  am  Grund  und  Boden ; 
vier  Jahrhunderte  darauf  eine  schon  höchst 
bedenkliche  Depossedierung  der  Centi-al- 
gewalt  aus  dem  direkt  fiskalischen  Boden, 
ein    Ueberwuchern    des    Grossgrundeigens 


Grundbesitz  (Geschichte) 


825 


über  die  Staatsgewalt  und  den  Gnmdbesitz 
der  einfachen  freien  Staatseingesessenen. 

Diese  Gegensätze  werden  geschichtlich 
vennittelt  durch  eine  enorme  Verschiebung 
der  Eigentumsrechte  an  Grund  und  Boden 
und  dui'ch  die  Ent Wickelung  einer  immer 
leistungsfähigeren  agrarischen  Organisation 
des  Grossgrundbesitzes.  Dem  kollektivisti- 
schen Zeitalter  der  Natmul Wirtschaft,  wie 
es  durch  die  Blüte  der  hundertschaftlichen 
Älarkgenossenschaft  vertreten  gewesen  war, 
fol^  ein  individualistisches  oder  organisa- 
torisches Zeitalter  der  Naturalwirtschaft,  als 
dessen  eigenartigster  Ausdruck  die  Gross- 
gnmdherrschaft  erscheint. 

In  der  merowingischen  imd  karolingischen 
Zeit  sind  noch  nicht  alle  Erinnerungen  an 
die  früheren  Wirtschaftsalter  der  N'ation 
verschwunden;  Weide  bedeutet  noch  soviel 
als  Jagd  und  Fischfang,  d.  h.  Gelegenheit, 
menscnliche  Nahrung  zu  gewinnen  j  das 
friesische  Recht  scheidet  noch  zwischen 
Baub  und  Diebstahl  imd  findet  eigentlich 
nur  den  letzteren  ehrenrührig,  die  bessere 
W^ürdigung  des  Raubes  erinnert  noch  an  das 
heldenhaft  räuberische  Nomadenzeitalter. 

Auch  kennen  die  Lex  salica  und  der 
ursprüngliche  Bestandteil  der  Lex  Ribuario- 
rum  noch  nicht  den  Immobiliarprozess ;  erst 
seit  dem  7.  Jahrhundert  scheint  er  bei  ver- 
schiedenen Stämmen  gleichmässig  ausge- 
bildet worden  zu  sein.  Aber  auch  dann 
fehlt  noch  überall  nach  Volksrecht  die  Mög- 
lichkeit einer  Zwangsvollstreckung  in  Im- 
mobilien; erst  langsam  wird  sie  im  König- 
reiche der  Merowinger  aufgenommen,  in 
dem  der  Karolinger  vollendet. 

Gleichwohl  kann  man  sagen,  dass  seit 
etwa  dem  6.  Jahrhundert  unser  Volk  an- 
fängt, überwiegend  ein  Ackerbauvolk  zu 
werden;  Ackerbau  w^inl  die  vornehmste 
Arbeit,  Grund  und  Boden  der  vornehmste 
Besitz  der  Nation.  Mit  diesem  Zeitpunkte 
setzen  darum  sofort  merkbar  die  grössten 
Veränderungen  im  Eigentum  an  Grund  und 
Boden  ein;  sobald  dieser  zum  hauptsäch- 
lichsten sozialen  und  politischen  Machtmittel 
innerhalb  der  Nation  wird,  ist  es  begreiflich, 
dass  sich  auf  ihn  sofort  alle  soziäen  und 
politischen  Aspirationen  stürzen. 

Die  eigenartigsten  und  in  ihren  Konse- 
(juenzen  auch  wichtigsten  Verändeningen 
gehen  zunächst  im  Besitz  der  grossen  Masse 
der  Freien  vor  sich.  Das  Hufeneigentum 
derselben  (im  Gegensatz  zu  dem  im  Walde 
Gewonnenen  im  Anbeginn  freieren  Eigentum 

IRottlandJ)  wird  zunächst  seit  dem  6.  Jahr- 
lundert  immer   mehr   verselbständigt,   aus 
seinen  Gebundenlieiten  befreit. 

Galt  für  dasselbe  ursprüngHch  nur  das 
Erbrecht  der  Söhne,  nicht  einmal  der  Enkel, 
trat  bei  Mangel  an  Söhnen  vielmehr  Rück- 
fall  an   die  Markgemeinde  ein,   so  wurde 


i'etzt  das  Erbrecht  der  Enkel  imd  auch  der 
Brüder  des  Erblassers  durchgesetzt;  der 
Anspruch  der  Markgemeinde  trat  allmählich 
zurück  und  wurde  schliesslich  vergessen. 
Das  gleiche  galt  für  den  Rechtsanteil  des 
Geschlechtes  und  der  Familie;  auch  hier 
begannen  die  Einspruchsrechte,  welche  ge- 
legentlich der  Veräusserung  oder  anderer 
Rechtsgeschäfte  am  Grundeigentum  erhoben 
werden  konnten,  in  gewissen  Fällen,  na- 
mentlich zu  Gunsten  der  Kirche,  zu  schwinden. 

Der  tiefste  Grund  für  alle  diese  Vor- 
gänge war,  dass  der  merowingische  Staat 
nicht  mehr  das  alte  Recht  kommunistischer 
Konstruktion  des  Genusses  an  Grund  und 
Boden  aufrecht  erhalten  konnte ;  ihre  Folge, 
dass  der  Freie,  wie  auch  immer  noch  in 
Bewirtschaftung  und  rechtlicher  Disposition 
des  Grundeigentums  gebunden,  dennoch  im 
Vergleiche  gegen  früher  wirtschaftlich  etwas 
freier  ward.  Und  schon  war  diese  Freiheit 
so  grcss,  dass  sie  eine  merkliche  Verschie- 
bung in  der  bisherigen  Gleichheit  des  Grund- 
besitzes herbeiführte:  Hufen  wurden  ver- 
kleinert und  zersplittert,  arrondiert  und  ver- 
grössert ;  bald  gab  es  auch  im  altgermanischen 
Dorfe  mehr  und  minder  reiche  Hüfner. 

Dieser  langsamen,  aber  schliesslich  grund- 
stürzenden Wandlung  der  Rechtsordnung 
von  rein  komöiunistischen  zu  schon  ein 
wenig  individualistischen  Principien  des 
Rechtsgenusses  lief  ein  wirtschaftlicher  Vor- 
gang parallel,  der  die  Ungleichheit  des  Grund- 
eigentums wohl  noch  stärker  förderte. 

Dem  freien  Markgenossen  war  es  in  den 
ältesten  Zeiten  nach  Gründung  seines  heimat- 
lichen Dorfes  unbenommen,  in  den  noch  un- 
bebauten Teüen  der  Mark,  welche  der  ge- 
meinsamen Wald-  und  Weidenutzung  unter- 
lagen, für  seine  Rechnung  zu  roden,  zu 
pflanzen,  zu  ernten.  Noch  herrschte  die 
Anschauung  vor,  dass  Grund  und  Boden 
eigentlich  virtuelles  Eigentum  aUer  sei  und 
dass  jeder  dadurch,  dass  er  auf  einen  Teil 
desselben  persönliche  Mühe  und  Arbeit  ver- 
wende, dessen  rechtlich  vöDig  gesicherte 
Nutzimg,  ja  bei  längerer  Mühewaltung  dessen 
thatsächliches  Eigentum  erwerbe. 

Indem  besonders  thatkräftige  Wirte  unter 
den  freien  Markgenossen  sich  diese  An- 
schauung zu  nutze  machten,  rodeten  sie  in 
ihren  heimatlichen  Marken  gewaltige  Striche 
Landes  ausser  dem  engbegrenzten  Flursystem 
der  ursprünglichen  Hufenäcker:  neben  dem 
Hufenland  wuchs  immer  gewaltiger  das 
Rottland  empor,  und  mit  seinem  Wachstum 
wuchsen  die  Besitz-  und  Eigentumsimter- 
schiede  der  freien  Bauern, 

Es  waren  Vorgänge,  welche  bis  zum 
Beginn  der  Karolingerzeit  schon  zur  völligen 
wirtschaftlichen  Differenzierung  der  altfreien, 
urgermanisch-kommunistischen  Bauernschaf- 
ten geführt  haben. 


826 


Grundbesitz  (Geschichte) 


Während  aber  diese  Entwickelung  in  der 
Stille  reifte,  unheilschwanger  für  ein  König- 
tum, das  seinen  ünterthanen  noch  gleich- 
massig  dieselben  urgermanischen  Pflichten 
abforderte  und  Rechte  zuzuerkennen  gehalten 
war,  liatten  über  sie  hinaus  Vorgänge  poli- 
tischer und  wirtschaftlicher  Art  eingesetzt, 
welche  die  Aufmerksamkeit  der  spätmero- 
wingischen  und  frühkarolingischen  Zeitge- 
nossen viel  stärker  gefimden  haben. 

üeber  die  wirtschaftlich  differenzierten 
Freien  erhob  sich  immer  drohender  ein 
wahrhafter  Grrossgnmdbesitz.  Es  war  eine 
Entwickelung,  die  zunächst  auf  romanischem 
Boden  einsetzte.  Hier  erwarben  Franken 
und  Burgunder  mit  Recht  und  Unrecht  aus- 
gedehnte Latifundien  römischer  Anlage ;  hier 
brachte  die  Kirche  aus  ihrer  römischen  Ver- 
gangenheit ein  reiches  Erbgut  an  Grund 
und  Boden,  an  Kolonaten  und  sonstigen 
Freigütern  mit. 

Aber  bald  verbreitete  sich  die  neue  Ent- 
wickelung auch  in  die  eigentlich  germani- 
schen LandesteUe.  Der  Kirche  fielen  auch 
hier  reiche  Schenkungen  zu;  Fulda,  das 
Kloster  des  heiligen  Bonifatius,  besass  nicht 
lange  nach  der  Gründung  schon  15000  Hufen. 
War  die  Kirche  in  ihrem  Grundbesitz  vielfach 
Rechtsnachfolgerin  von  nur  mittelbegüterten 
Freien,  welche  durch  Schenkungen  ilir  Seelen- 
heil gefördert  wissen  wollten,  lagen  ihre 
Besitzungen  weit  zerstreut  und  gemengt  mit 
den  Hufen  der  Freien,  wie  sie  der  Zufall 
des  Erwerbes  und  der  Schenkung  ihr  in 
den  Schoss  geworfen,  so  stand  neben  ihrem 
Grossgrundbesitz  das  geschlossenere  Grund- 
eigen des  Laienadels. 

Der  König  hatte  kraft  des  Bodenregals 
von  jeher  ein  Eigentum  vornehmlich  über 
alles  von  anderen  noch  nicht  eingehender 
ausgenutzte  Land  behauptet  und,  sobald  es 
ihm  beliebte,  daniber  thatsächlich  verfügt. 
Auch  abgesehen  von  der  ungeheueren  Masse 
von  Ländereien,  welche  ihm  auf  diese  Weise 
zu  Gebote  stand,  besass  er  den  weitgehendsten 
Grundbesitz  als  Rechtsnachfolger  des  römi- 
schen Fiskus,  aus  Konfiskationen  und  auf 
Gnmd  anderer  Rechtstitel.  Ein  schier  un- 
erschöpflicher Schatz  von  Land  schien  den 
Königen  des  Merowingerreiches  zur  Ver- 
fügung zu  stehen,  zumal  sie  noch  von  allem 
ihnen  nicht  speciell  gehörendem  Baulande 
die  umfassende  Naturalsteuer  von  V?  des 
Ertrages  bezogen. 

Aus  dem  Gefühl  dieser  Unerschöpflich- 
keit ihrer  Mittel  heraus  pflegten  sie  zu 
handeln.  Sie  verschenkten  ganze  Quadrat- 
meilen Landes  an  Grosse,  deren  Sympathieen 
ihnen  wertvoll  erschienen,  und  sie  glaubten 
sich  zu  solchen  Handlungen  augenblicklicher 
Zweckmässigkeit  um  so  eher  berechtigt,  als 
die  Schenkung  des  frühgermanischen  Rechtes 
den  Charakter  der  Widerruflichkeit  bei  Un- 


dankbarkeit des  Beschenkten  wie  in  manchen 
anderen  FäUen  zuzulassen  schien.  Allein  in 
Wahrheit  erwarben  die  Grossen  nach  dem- 
selben frühgermanischen  Rechte  doch  zu- 
meist rasch  unverbrüchliches  Eigentumsrecht 
an  den  geschenkten  Ländereien.  Sie  brachen 
die  wilde  Kraft  des  Urwaldes,  sie  ent- 
wässerten Sümpfe  imd  Bäche,  sie  führten 
den  Bergöden  eine  sorgende  Bevölkerung 
zu;  sie  machten  das  I^and  des  Köni^  erst 
zum  wirklichen,  fruchtbringenden,  politisch 
wägenden  Lande.  So  wani  es  ihr  wohl- 
gewonnenes Gut,  ihre  Emmgenschaft ; 
nimmermehr  konnte  es  der  König  ihnen 
entreissen. 

Schon  in  der  ei'sten  Hälfte  des  7.  Jahi-- 
hunderts  stand  das  Ergebnis  der  immer 
noch  andauernden  Bewegung  fest;  nicht 
bloss  auf  dem  alten  Boden  des  Imperiums 
in  Gallien,  auch  am  Rhein  und  darüber 
hinaus  im  Osten  war  ein  neuer,  gesicherter 
Grossgrundbesitz  entstanden.  Und  dieser 
neue  Gnmdbesitz  war  wesentlich  in  die 
Hände  des  Adels,  die  an  sich  durch  Amt 
und  Geburt  führende  Erlasse  gelangt.  Wohl 
haben  die  Könige  auch  kleinen  Freien  viel- 
fach Rodeprivilegien  für  Wald  und  Gebirge 
erteilt;  gegen  geringe  Abgaben  stand  den 
überschüssigen  Söhnen  der  Markbauern  der 
Zutritt  in  fiskalisches  Rottland  offen:  allein 
ti'otzdem  überwogen  doch  im  ganzen  Besitz- 
überweisungen und  Schenkungen  an  Grosse ; 
erst  in  der  Karolingerzeit  ist  die  Königs- 
hufe, die  besondere  Rottform  der  kleinen 
Freien  auf  Königsland,  recht  eigentlich  ent- 
wickelt worden. 

Der  adlige  Grossgrundbesitz  aber  schritt 
nun  vornehmlich  seit  den  Zeiten  der  Karo- 
linger zur  thatkräftigsten  Ausbeutung  seines 
neuen  Besitzes.  Er  legte  planmässig  grosse 
Rodungen  im  Urwald  an,  die  als  sogenannte 
Bifänge  mit  festen  Zäunen  gegen  die  Unbill 
äsenden  W^ildes  geschützt  wurden ;  er  grün- 
dete Kolonialkirchen  mitten  im  Dunkel  des 
dichtesten  Tannes  und  stattete  sie  mit  gott- 
seligen Einsiedlern  aus,  deren  Ruf  manchen 
Ansiedler  herbeizog,  er  baute  ganze  Dörfer 
aus:  bis  endlich  seit  dem  9.  und  10.  Jahr- 
hundert das  Land  weithin  besiedelt  war 
und  die  Könige  dem  weiteren  Vordringen 
in  die  ungelichteten  Teile  der  Berg^'älder 
durch  Einforstung  ein  Ziel  setzten. 

Und  für  diesen  neuen  Besitz  entwickelte 
nun  der  Adel  eine  neue  Organisation  des 
Betriebes. 

Die  alte  Ackerwirtschaft  des  Gennanen 
hatte  einer  grösseren  Organisation  nicht  be- 
durft. Wie  sie  sich  selbst  genügte,  wie  sie 
keiner  Verbindung  mit  Handel  und  Verkehr 
bedurfte,  um  ihren  Angehörigen  des  Lebens 
Notdm^  und  Nahrung  zu  liefeim,  so  war 
sie  auch  in  sich  abgeschlossen. 


Grundbesitz  (Geschichte) 


82- 


"Wie  änderte  sich  das  mit  dem  Aufkom- 
men des  Gn>ssgmndbesitzes. 

Die  Grundlage  des  neuen  Grosseigens 
waren  in  den  ehemals  römischen  Provinzen 
mehr  oder  minder  gleichmässig  die  alten 
Latifimdien  der  kaiserlichen  Zeit:  geschlos- 
sene grosse  Landbezirke  mit  einem  gelegent- 
lich ins  Grosse  gehenden  Plauhetrieb  oder 
aber  mit  einer  Zerstückelung  in  einzelne 
Kolonate,  die  doch  streng  als  ein  Ganzes, 
im  Sinne  einer  einzigen  Wirtscliaftseinheit 
organisiert  wai-en. 

Konnten  die  Germanen  einen  solchen 
Betrieb  fortsetzen?  Ihre  wirtschaftliche 
Bildung  befähigte  sie  nirgends  dazu;  in 
Spanien  und  Italien,  wolü  auch  im  centi'alen 
südlichen  Gallien  haben  sie  diese  Latifun- 
dien des  Besitzes  und  Betriebes  zugleich 
zumeist  durch  Verpachtung  an  routinierte 
Provinzialen  genutzt.  Anders  in  Deutsch- 
land, am  Rhein  und  in  dessen  westlichen 
Nachbargebieten.  Hier  hielten  sich  relativ 
nur  Vf'enige  Latifundien  in  der  Hand  des 
Königs  und  vielleicht  der  Bischöfe;  die 
meisten  wurden  l)ald'  zerschlagen  und  dem 
germanischen  Wirtscliaftssystem  eingeoixlnet. 
Die  Germanen  hatten  schon  in  Taciteischer 
Zeit  einen  Anbau  grösseren  Landbesitzes 
durch  Unfreie  gekannt.  Das  System  war 
freilich  einfach  genug  gewesen.  Das  Ijand 
war  in  Hafen  ausgeteilt  oder  ward  in  sie 
zerschlagen ;  auf  Hofgut ,  meist  wohl  von 
der  halben  Grösse  des  freien  Hofgutes,  sass 
der  Unfreie,  baute  es  wie  ein  Freier  und 
war  seinem  Herrn  nur  zu  geringen  Ab- 
gaben und  Diensten  verpflichtet.  Er  lebte 
wirtschaftlich  betrachtet  wie  ein  Pächter; 
sein  Pachtzins  bestand  in  Naturalien  seines 
Anbaues  und  in  dienstlichen  Leistungen 
seiner  Hand,  seiner  Familie,    seines  Viehes. 

Dies  einfache  Svstcm  wanl  nunmehr  für 
den  gallischen  Besitz  wie  für  den  sich 
mehrenden  Grossgrundbesitz  in  deutschem 
Lande  nicht  aufgegeben,  sondern  nur  um 
eine  Stufe  erweitert.  Auch  im  Grossgrund- 
besitz, dessen  einzelne  Hufen  und  Anbau- 
flächen oft  über  viele  Quadratmeilen  imd 
Hunderte  von  Dörfern  zei-strout  lagen,  liess 
sich  eine  Nutzung  nur  in  Paehtform  denken : 
die  Hufen  wurtlen  an  einzelne  Bebauer  in 
den  Formen  rechtlicli  mannigfach  vei^schie- 
dener  Leihe  ausgethan. 

Nur  war  es  nun  nicht  melu%  wie  im  ur- 
zeitlichen Betrieb,  möglich,  dass  der  Grund- 
herr alle  Ijcistungen  und  Naturalpächte  per- 
sönlich in  Empfang  nahm:  das  verboten 
Zahl  und  Entfernung  der  beliehenen  Hüfner. 
So  stellte  er  füi*  jede  Gnippe  benachbarter 
Leihbauern  eine  Empfangsstelle  her:  eine 
Hufe  ward  einem  seiner  Diener,  der  meist 
den  Namen  Meier  fühi-te,  übergeben:  er 
nahm  die  Naturalabgaben  ein  \md  ven-ech- 
nete  sie  dem  Herrn,  er  l)eaufsichtigte  die 


Leistung  der  Pflug-  und  Erntefix)nden  auf 
den  herrschaftlichen  Rottfeldern  seiner  oder 
benachbarter  Marken. 

So  breitete  sich  unter  der  gnmdhen*- 
lichen  Centralstelle  ein  Netz  von  Meiei-eien 
aus:  es  ist  der  Anfang  der  mittelalterlichen 
Organisation  der  Grossgrundherrschaft.  Bald 
kamen  zu  den  Meiern  andere  Unterstellte 
verwandter  Gattung:  Fischer,  Jäger;  Ross- 
hirten, Schäfer;  Weinbauern,  Gärtner;  ihro 
Betriebe  stellten  sich  als  freiere  Sonderbe- 
triebe neben  die  Meiereien  mit  ihrem  bäuer- 
lichen Hufenzubehör. 

So   staffelte   sich   die   Organisation   des 
•Grossgrundbesitzes  nicht  bloss,  sie  differen- 
zierte sich  auch. 

Und  mehr  noch.  Innerhalb  des  Josen, 
im  Verhältnis  der  einzelnen  Genossenschaft 
zur  anderen  völlig  selbständigen  und  ein- 
spännigen Getriebes  der  Markgenossenschaf- 
ten bildete  der  gi^Dssgrundherrschaftliche 
Betrieb  die  einzige  wahrhaft  grosse,  und 
zugleich  überhaupt  die  erstmalige  weiter- 
greifende Organisation  wirtschaftlicher  Inter- 
essen. Von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
bildeten  die  Gi-undherrschaften  mächtige 
Gebüde  nicht  nur  innerhalb  der  sonst  iso- 
lierten wirtschaftlichen  Literessen  der  Nation, 
sie  waren  auch  dem  Staate  selbst  an  Inten- 
sität der  Verwaltung  und  Straffheit  der 
Gliederung  weit  überlegen. 

Es  war  eine  Lage,  welche  sich  um  so 
mehr  zu  Gunsten  der  Grundherrschaften 
geltend  machen  musste,  je  mehr  der  frän- 
kische Staat  verfiel.  In  der  2.  Hälfte  des 
7.  Jahrhunderts  war  man  so  weit  gelangt, 
dass  die  Gnmdherrschaften  in  der  allge- 
meinen Auflösung  staatlichen  Ijobens  schon 
wie  embrj'onale  Bildungsgrundlagen  künf- 
tiger Kleinstaaten  erschienen.  Doch  wir 
haben  hier  die  politische  und  soziale  Bedeu- 
tung der  neuen  Bildung  nicht  zu  verfolgen : 
genug,  da^s  sie  auf  Jahrhunderte  eines  der 
beherrschenden  Momente  unserer  Entwicke- 
lung  blieb. 

Inzwischen  aber  begann  sich  in  letzl- 
uiaJiger  grosser  Kolonisation  und  Urbarung 
des  Landes  ein  neuer  Grundbesitz  zu  bilden. 

3.  Kolonisation  und  Ausbau  des  Mut- 
terlandes vom  9.  zum  12.  Jahrhundert: 
ihre  Wirkungen  auf  die  Besitzverhält- 
nisse. Die  Besiedelung  des  deutschen 
Landes  durch  die  Germanen  war  im.  wesent- 
lichen zunächst  so  erfolgt,  dass  die  einzie- 
henden Völkergnippen  sich  womöglich  schon 
geurbartes  Land  angeeignet  hatten.  Weder 
links  noch  rechts  des  Rheines  bis  ziu*  Elbe 
fehlte  es  an  solchem;  wie  auf  einst  römi- 
schem Boden  noch  die  heutigen  deutschen 
Ansiedelungen  vielfach  in  der  Lage  der 
Häuser  und  Höfe  wie  der  Fluren  ungerma- 
nische Bedürfnisse  wiederspiegeln,  so  weist 
das    Hofsvstem    Westfalens    und    manche 


828 


Grundbesitz  (Geschichte) 


Eigenheit     mitteldeutscher     Ansiedelungen 
noch  auf  die  Kelten  zurück. 

Freilich  spielte  daneben  der  Wildbruch 
im  Walde  bereits  eine  immer  grössere  Rolle ; 
in  den  Vordergrund  aber  trat  er  erst  nach 
voller  Sesshaftmachung  des  Volkes,  seit  etwa 
dem  5. — 6.  Jahrhundert  Seitdem  ziehen 
Generationen  auf  Generationen  nachgebore- 
ner Söhne  in  den  Urwald  und  sengen  und 
roden.  Das  7. — 9.  Jahrhimdert  sieht  einen 
ersten  grossen  Ausbau  des  Landes  hinein 
in  die  unerschöpflichen  Bestände  der  Berg- 
wälder. 

Allein  auch  mit  Ausgang  der  Karolinger- 
zeit war  die  Urkraft  des  Waldes  noch  längst 
nicht  gebrochen.  Noch  immer  galt  der  Wald 
als  unabsehbar  reiche  Vorratskammer  der 
Nation : 

Dem  riehen  walt  es  lützel  schadet 
Ob  sich  ein  man  mit  holze  ladet, 
heisst  es  noch  in  Vridanks  Bescheidenheit 
aus  dem  Zeitalter  Kaiser  Friedrichs  II.  Nir- 
gends fehlte  noch  bis  auf  diese  Zeit  immer 
wieder  aufsprossende  Wildnis;  noch  viel 
später  denkt  sich  der  Deutsche  die  Mächte 
der  Unkultur  im  Walde  hausend;  erst  um 
die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  wird  ge- 
legentliche Klage  über  Waldmangel  laut. 
Und  noch  heute  ist  Deutschland  von  aUen 
Kulturländern  wie  das  an  Gebirgsschön- 
heiten  mannigfachste,  so  das  an  Wäldern 
weitaus  reichste,  und  noch  heute  weiss  unser 
Volk  von  den  Schrecken  und  Lockungen 
der  Waldeinsamkeit  zu  erzählen,  die  sich 
fnlheren  Generationen  zu  tausend  Gestalten 
heimischer  Sage  verkörperten. 

So  konnte  noch  in  der  deutschen  Kaiser- 
zeit, und  vornehmlich  im  Zeitalter  der  Salier 
und  Staufer  eine  neue  grosse  Periode  des 
Waldausbaues  einsetzen,  ehe  den  deutschen 
Urwäldern  das  Wirtschaftsgut  einer  wirklich 
vollendeten  Wohnlichkeit  des  Landes  abge- 
stritten war. 

Freilich  war  diese  zweite  und  letzte 
grosse  Ausbauperiode  imserer  Wälder  von 
der  ersten  mannigfach  verschieden.  Im 
6. — 8.  Jahrhundert  war  vor  allem  der  Ge- 
meinfreie Träger  der  Waldsiedelung  ge- 
wesen; in  genossenschaftlichem  Verband 
hatten  die  jungen  Männer  des  Volkes  ein 
neues  Heim  in  den  Tiefen  der  Waldesthäler 
gesucht.  Diese  Art  des  Ausbaues  hörte 
auch  jetzt  noch  nicht  völlig  auf ;  namentlich 
im  Osten  der  Mittelgebirge  wie  der  Alpen 
erlebte  sie  noch  eine  Nachblüte. 

Im  allgemeinen  aber  ging  der  freie 
Mann  anders  vor,  soweit  er  sich  am  Wald- 
ausbau dieser  Periode  noch  beteiligte.  Wie 
lange  schon  waren  die  alten  mai'kgenossen- 
öchaftlichen  Gliederungen  der  döiilichen 
Nachbarn  im  Zerfall  begriffen!  Wie  indi- 
ndualistisch  war  bereits,  im  Vergleich  gegen 
früher,  die  Wirtschaft  des  einzelnen  Bauern 


geworden !  Wie  der  Freie  selbständiger  ge- 
worden war  im  heimatlichen  Dorf,  so  ging 
er  auch,  nur  von  eigenen  Kräften  getragen, 
nach  persönlichem  Plan  im  Neubruch  vor. 
Dem  amerikanischen  Squatter  gleich  brach 
er  in  das  natürliche  Gehege  des  Urwaldes, 
allein  erbaute  er  sich  den  Hof  auf  einsamem 
Rottfeld. 

Es  war  eine  Bewegung,  die  vornehmlich 
die  Anfangszeiten  der  zweiten  grossen  Be- 
siedelungsperiode ,  das  9. — 11.  Jahrhundert, 
nodi  füllte.  Sie  war  naturgemäss  sehr  un- 
regelmässig, sie  hatte  etwas  urwüchsig  Ge- 
waltsames, sie  ward  darum  schliesslich  sei- 
tens der  herrschenden  staatlichen  und  halb- 
staatlichen Mächte  imterbunden. 

Die  Könige,  die  kraft  alten  Bodenregals 
noch  immer  ein  grundsätzliches  Eigentum 
an  allem  unbebauten  Lande  behaupteten, 
erklärten  jetzt  dies  Eigentumsrecht  formell 
über  alle  noch  vorhandenen  Urwälder,  vor- 
nehmlich der  Gebirgsgegenden.  So  wurden 
Spessart  und  Franken wald,  Ardennen  und 
Soonwald,  Hagenauer  Wald  und  Dreieich  zu 
Reichsforsten:  nur  mit  besonderer  könig- 
licher Erlaubnis  soUte  in  ihnen  noch  gerodet 
werden. 

Die  damit  gegebene  Bewegung  setzte 
sich  von  der  Centralgewalt  auf  die  Landes- 
mächte, Herzöge  und  Markgrafen,  Graien 
und  Bischöfe  mit  gräflichen  Rechten  fort; 
und  wie  auf  anderen  Gebieten,  so  über- 
flügelte auch  hier  die  Thätigkeit  dieser 
intermediären  Mächte  bald  das  Ansehen  des 
Königs.  Schon  mit  der  ersten  Hälfte  des 
11.  Jahrhunderts  hören  die  Einforstungen 
zu  Gunsten  des  Reiches  auf,  königliche 
Wildbannprivilegien  für  die  Grossen  in 
immer  abgeschwächterer  Form  reichen  noch 
bis  zum  Ende  dieses  Jahrhunderts.  Seit- 
dem gut  das  Einforstimgsrecht  grosser 
Wälder  wesentlich  als  Recht  der  Grossen; 
die  Initiative  des  Königs  ist  lahm  gelegt. 

Natürlich  ging  damit  der  Ausbau  des 
Waldes  in  der  Blütezeit  der  zweiten  Periode, 
unter  Saliern  imd  Staufern,  fast  ausschliess- 
lich an  die  Grossen,  d.  h.  die  Grundherr- 
schaften über. 

Es  war  eine  gewaltige  expansive  Thätig- 
keit, die  binnen  etwa  dre^i  Jahrhunderten 
das  Dunkel  unserer  Wälder  auch  in  unzu- 
gänglichen Gebirgsgegenden  lichtete.  Und 
schon  ging  man  am  Schluss  der  Periode, 
unter  den  späteren  Staufern,  über  das  Mass 
des  natürlich  Zulässigen  hinaus.  Eine 
Menge  der  damals  begi-ündeten  Ortschaften 
sind,  weil  auf  unfruchtbarem  Boden  unwirt- 
schaftlich angelegt,  wieder  zu  Grunde  ge- 
gangen; manch  abgewirtschaftetes  Oedland 
unsei-er  Hochmoore  und  Haiden  fülirt  seinen 
Ursprung  auf  eine  verfehlte  Anlage  dieser 
Zeit  zurück. 

Indes  erschöpften  sich  die  Fortscluitte 


Grundbesitz  (Geschichte) 


829 


der  landwirtschaftlichen  Thätigkeit  im  10. 
bis  13.  Jahrhundert  keineswegs  in  der  Be- 
siedelung  von  ürwaldstrecken.  Der  Koloni- 
sation jungfräulicher  Gegenden  ging  der 
nicht,  minder  eifrig  betriebene,  wenn  auch 
minder  auffällige  Ausbau  der  alten  Dorf- 
roarken  zur  Seite. 

Schon  längst  war  die  alte  strenge  Rege- 
lung des  genossenschaftlichen  Ausbaues 
aller  Hüfner  dahin.  Zwar  herrschte  immer 
noch  der  Flurzwang,  alle  Hofbesitzer  waren 
genötigt,  in  demselben  Teile  der  Flur  die 
gleiche  Frucht  zu  bauen :  es  war  eine  Kon- 
sequenz der  ursprünglichen  Fluranlage,  die 
bis  ans  Ende  des  18.  Jahrhunderts  vielfach 
nicht  hat  beseitigt  werden  können. 

Allein  diese  feste  wirtschaftliche  Bin- 
dung an  eine  genossenschaftlich  geregelte, 
allen  gemeinsame  Thätigkeit  war  doch  nicht 
mehr  so  stark  und  allseitig,  dass  sie  nicht 
besonders  tüchtigen  Wirten  eine  persönlich 
w^eiter  gehende  Fördenmg  ihres  Anbaues 
gestattet  hätte.  Wer  wollte  einem  solchen 
Wirt  verwehren,  sich  in  den  verhältnis- 
mässig friedlichen  Zeiten  des  10.  bis  12. 
Jahrhunderts  aus  dem  Dorfe  auszubauen  auf 
die  gemeinen  Teile  der  Dorfmark,  die  noch 
immer  zur  Verfügung  jedes  Genossen  aus 
dem  Dorfe  standen?  Errichtete  er  aber 
hier  seinen  Hof,  schuf  er  sich  wenigstens 
hier  ein  gesondertes  Feld  des  Anbaus,  so 
vermochte  er  weit  freier  und  weit  kräftiger 
zu  produzieren  als  die  gemeinen  Genossen 
des  Dorfes. 

Solche  Erwägun^n  wurden  von  kräfti- 
gen Wirten  der  Kaiserzeit^  vornehmlich  in 
den  fortgeschritteneren  Gegenden  der  grossen 
Flussthäler  und  der  reichen  Fruchtebeuen, 
häufig  angestellt.  So  entstanden  grössere 
Bauerngüter  auf  freier  Mark,  so  begannen 
sich  Specialkulturen  in  Hanf  und  W^aid  und 
Viehhöfe  innerhalb  wohlgepflegter  Wiesen 
zu  erheben ;  vor  allem  aber  erblühte  so  der 
Weinbau  im  tiefgründigen  Boden  der  Pfalz 
und  auf  den  steilen  Felsterrassen  des  Rheins 
und  der  Mosel. 

Und  die  wirtschaftliche  Energie,  die  sich 
der  Dorfallmenden  bemächtigte,  flutete 
rückwärts  und  befruchtete  auch  die  Thätig- 
keit auf  dem  Boden  der  alten  Dorfflur. 
Zusehends  nahm  die  Intensität  der  Bestel- 
lung zu,  immer  häufiger  im  Jahre  durch- 
furchte die  Pflugschar  die  klarere  Krume 
des  Ackers,  immer  mehr  war  man  darauf 
bedacht,  die  Bodenkräfte  durch  angemesse- 
nes Düngen  zu  erhalten  und  zu  steigern. 
Schon  galt  überall  das  Wirtschaftssystem 
einer  wohl  ausgebildeten  Dreifelderwirt- 
schaft. Die  alte,  extensive  Feldgraswirt- 
schaft, die  dem  Boden  nur  in  Perioden  von 
G — 12  und  melir  Jahren  spärliche  Frucht 
abnötigte,  die  keinen  anderen  Dung  kannte 
als  die  Asche  des  abgesengten  Grases,  sie 


war  jetzt  nur  noch  auf  den  Höhen  der 
Mittelgebirge  zu  finden  sowie  in  den  Alpen 
und  in  der  Moorkultur  des  friesischen  Nord- 
westens. 

Regstes  Leben  herrschte  in  den  alten 
Centren  des  Anbaus,  und  in  den  geseg- 
netsten Gegenden  des  Reiches  begann  die 
alte  Flurverfassung  bereits  zu  verblassen. 
Am  Rhein  lassen  sich  die  alten  Hufen  mit 
ihrem  ursprünglichen  Feldbehör  seit  dem 
12.  Jahrhundert  kaum  noch  feststellen,  so 
stark  hatte  die  immer  wachsende  rechtliche 
Mobilisierung  des  Grundes  und  Bodens  ihre 
Bestandteile  zerspellt  und  durcheinander 
gerfittelt;  schon  wurde  auch  der  einst  so 
reich  bemessene  Boden  der  Dorfallmenden 
für  die  Bedürfnisse  der  Dorfgenossen  zu 
knapp. 

Hier  und  da  schlössen  die  Gemeinden 
des  Oberrheinthals,  der  Mosel  und  des 
Niederrheins  bereits  ihre  Allmenden  vor 
der  individuellen  Besitznahme  einzelner 
Landstücke  durch  die  Hand  eines  Genossen 
oder  sie  gestatteten  sie  nur  kärglich  noch, 
auf  die  Weite  eines  von  kräftiger  Hand  ge- 
thanen  Hammerwurfs.  Und  wie  bei  dieser 
Gelegenheit  eine  uralte,  symbolische  Mass- 
bestimmimg des  deutschen  Rechts  wieder 
auflebte,  so  trat  seit  dieser  Zeit  an  Stelle 
des  persönlichen  Rechtes  der  Bodenaneig- 
nung auf  der  Allmende  auch  gern  wieder 
das  uralte  koDektive.  Gemeinsam  vrieder, 
wie  in  der  Fiilhzeit  des  Dorfbaues,  schuf 
man  AUmendeland  um  zu  Wechselacker 
und  Wechselwiese:  war  es  einst  der  ge- 
meinsame Kampf  gegen  die  Urgewalt  einer 
wilden  Natur  gewesen,  der  zu  genossen- 
schaftlichem Anschluss  zwang  und  gemein- 
samer Nutzung,  so  war  es  jetzt  das  stark 
entwickelte  und  individuelle  Interesse  aller 
an  der  gründlichen  Ausbeutung  der  letzten 
gemeinsamen  Nutzungen,  das  uralte  Formen 
in  neuer  Bedeutung  wieder  aufleben 
Hess. 

Kaum  vier  bis  fünf  Generationen  später 
aber  sprengte  der  individuelle  Wettbewerb 
völlig  die  alten  Fesseln.  Schon  in  der 
zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhimderts  begin- 
nen in  fortgeschrittenen  Gegenden  die  alten 
Allmenden  geteilt  zu  werden ;  Streitigkeiten 
erheben  sich  über  deren  Recht  und  Besitz 
zwischen  (Gemeinden  und  Genossen.  Der 
Zerfall  der  alten  markgenossenschaftlichen 
Betriebsgemeinschaft,  die  Entwickelimg  ganz 
anderer  Wirtschaftsmächte  tritt  zu  Tage. 

In  der  That  hatte  Kolonisation  und  Aus- 
bau während  des  10.  bis  13.  Jalirhunderts 
die  wirtscliaftliche  Lage  der  Bewohner  des 
platten  Landes  völlig  geändert.  Hatte  man 
noch  in  der  KaroUngerzeit  Wald  und  Land 
als  unerechöpfliches  Gut  der  Nation  be- 
trachtet, wie  Sonne,  Luft  und  Wasser,  so 
zeigte  sich  jetzt  immer  deutlicher   die  Be- 


830 


Grundbesitz'  (Geschichte) 


grenztheit    der    geographischen    Grundlage  | 
des  nationalen  Lebens. 

Der  agrarische  Nahrungsspielraum,  einst 
unermesslich,  verengte  sich,  zumeist  und 
zuerat  am  Rhein,  in  Schwaben  und  Franken, 
später  in  Sachsen,  endlich  auch  in  Bayern, 
Tirol  und  Steiermark;  es  galt,  sich  auf  be- 
grenztem Baume  einzurichten. 

Noch  mehr  als  bisher  erschien  der  Bo- 
den als  wirtschaftlicher  Wert;  unabhängig 
steigerte  sich  deshalb  sein  Preis;  vom  9. 
bis  zum  12.  Jahrhundert  scheint  er  in  reich 
entwickelten  Gegenden  um  das  Zwölffache 
gestiegen  zu  sein,  und  noch  später  bis  zur 
zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  lässt 
sich  ein  Emporschnellen  um  etwa  40  ®/o 
wahrnehmen. 

Erwägt  man,  dass  gleichzeitig  der  Boden 
noch  immer  als  einzige  Grundlage  sozialen 
und  politischen  Einflusses  in  der  Meinung 
namentlich  der  führenden  Schichten  des 
Yolkes  galt,  während  freilich  schon  langsam 
andere  Quellen  grosser  wirtschaftlicher  Ein- 
kommen emporbrachen,  so  begreift  sich, 
wie  lebhaft  in  dieser  Periode  der  Kampf 
um  den  Besitz  des  Bodens  entbrennen 
musste. 

Verlief  die  wirtschaftliche  Entwickeluug 
gleichwohl  nihig,  so  hängt  das  mit  der 
Schwäche  der  Centralgewalt,  der  über- 
wiegenden Bedeutung  der  Grossgrundherr- 
schaft schon  in  kaix)lingischer  Zeit  sowie 
der  anfangs  sehr  gedrückten  Stellung  der 
landbauenden  Bevölkerung  zusammen. 

Nur  bis  zum  Ausgang  der  Karolinger 
beherrschten  oder  beeinflussten  die  Könige 
das  Problem  der  Verteilung  des  Gnuides 
und  Bodens  unter  die  Volksgenossen  wesent-. 
lieh  durch  Behandlung  ihrer  Bannwälder, 
durch  die  soziale  Gesetzgebung  über  die 
Grossgrundherrschaften  und  diu*ch  den 
Versuch  von  Massregeln  zum  Schutze  der 
freien  Bestandteile  der  Nation.  Seitdem 
schwand  der  Einfluss  des  Königtiuns  mehr 
und  mehr;  und  der  fiskalische  Grundbesitz, 
der  im  10.  Jahrhundert  ausschliesslich  der 
Bannwälder  noch  mindestens  ein  Viertel 
aJlen  Grundes  und  Bodens  betragen  haben 
mag,  ging  stark  zurück. 

Statt  dessen  trat  mit  der  eigentlichen 
deutschen  Kaiserzeit  die  Grossgrundhen*- 
schaft  die  Herrschaft  an.  üebersdilägt  man, 
dass  in  der  Blütezeit  der  Grossgnmdherr- 
schaft  ein  Gnmdbesitz  von  9 — 18000  Mor- 
gen in  geistlichen  Händen  die  Regel,  ein 
solcher  von  30—60000  Morgen  keine  allzu 
seltene  Ausnahme  war,  berechnet  man  den 
Umfang  kleiner  Laiengruudherrschaften  auf 
mindestens  3000  Morgen,  während  fürstliche 
Grundherrschaften  noch  über  die  Norm 
geistlichen  Besitzes  hinausragten,  so  mag 
die  Behauptung,  dass  im  11.  und  12.  Jahr- 
hundert weit  über  die  Hälfte  alles  deutschen 


Landes  gi*undheiTlieh  gewesen  sei,  noch 
weit  hinter  der  Wirklichkeit  zurückbleiben. 

Doch  nur  von  dieser  Seite  her  betrach- 
tet, war  die  gi-ossgrundherrliche  Entwicke- 
lung  eine  walirhafte  Gefahr  für  die  Natioa. 
Im  übrig-en  trug  sie  in  ihrer  Organisation 
und  in  den  Wandlungen  üirer  Verfassung 
nicht  bloss  das  Korrektiv  ihrer  ungemesse- 
uen  Ausdehnung  in  sich;  ihr  Schicksal  ura- 
schloss  zugleich  die  Emancipation  der  höri- 
gen Klassen  und  die  Möglichkeit  der  Bil- 
dung eines  neuen,  freien  Grundbesitzes  auf 
dem  platten  Laude. 

4.  Aus-  und  Uiiigestaltaiig  des  grnnd- 
herrschaftlichen  Grossbesitzes ;  Auf- 
liommen  freierer  Verhältnisse  der  Grund- 
holden, freie  Pachten  im  Mutterlande; 
11.  bis  14.  Jahrhundert.  Mit  dem  Emi)or- 
kommen  des  Deutschen  Reiches  der  Ottoneii 
war  die  Grundherrschaft  auf  die  Höhe  ilirer 
Entwickeluug  gelangt.  Die  energische  Or- 
ganisation der  kaiserlichen  Fiskalverwaltung 
durch  Karl  den  Grossen,  der  gesetzliche 
Zwang  zu  gei'egelter  Verwaltung,  den  die 
karolingischen  Kapitularien  gegenüber  den 
Grundhenschaften  der  Grossen  entwickelten, 
beides  liatte  seine  Früchte  getragen. 

Eine  eigenartige  Verwaltung  *  war  über 
dem  weitzerstreuten  und  sehr  mannigfachen 
Besitz  der  Gnindherren  entstanden.  Wo 
nur  immer  ein  Grundherr  in  einem  Orte, 
einer  Dorfmark  mehrere  Hufen  besass,  da 
hatte  er  eine  von  ihnen  mit  einem  iluu  be- 
sondei^  verpflichteten  Grundhörigen  besetzt 
und  ihn  als  Meier  mit  der  Beaufsichtigimg 
des  übrigen  Hufeubesitzes  beauftragt.  Meist 
waren  zugleich  zei*streute  Hufen  der  näch- 
sten Dörfer,  die  dem  Grundherren  gehörten, 
der  Aufsicht  des  Meiers  mit  unterstellt 
worden. 

Auf  diese  Weise  zerfiel  jede  Grundherr- 
schaft in  eine  Anzahl  hufenmässig,  nicht 
räumlich  geschlossener  Meiereibezirke;  die 
Meiereien  bildeten  den  durchgehenden 
Kalimen  der  unteren  Verwaltung;  niu*  ge- 
legentlich waren  Verwaltimgen  grosser 
Forsten  oder  ausgedehnter  Weinberge,  Be- 
triebe von  mehi-eren  Handwerken  oder  von 
Bergbau  und  Salinen  sowie  verwandter  Ein- 
richtungen ihnen  nebengeordnet. 

Der  Meier,  zumeist  ein  Grundholder  wie 
die  anderen  Bauern,  erhob  in  seinem  Be- 
zirk die  Zinse;  er  war  der  Richter  in  dem 
Ding  der  Zinsgenossen;  auf  den  Acker 
seines  Hofes,  des  Fronhofes,  wurden  die 
persönlichen  und  die  Pflugdienste  der  un- 
tergeordneten Bauernhöfe  geleistet.  So  war 
er  auf  der  einen  Seite  der  natural  wirt- 
schaftliche Einnelmier  gleiclisam  der  Gnuid- 
heri-schaft,  sein  Fronhof  eine  heiTSchaftliche 
Receptur. 

Hinausgehoben  über  diesen  Cliarakter 
w^urde  der  Fronhof  andererseits  durch  die 


Grimdbeöitz  (Geschichte) 


831 


ihm  erfallenden  Dienste  der  Hofbanern :  um 
sie  nutzbar  zu  machen,  bedurfte  es  alsbald 
eines  ausgedehnteren  Landes,  als  es  die 
übrigen  Höfe  besassen.  So  wuchs  der  kleine 
Hof  hinaus  über  das  gemeine  Mass  der 
Hufe;  schon  im  regelmässigen  Hufschlag 
der  Flur,  in  dem  eigentlichen  Felderbezirk 
der  Mark,  pflegte  er  die  Nachbarhufen  an 
Grt>sse  zu  überragen. 

Allein  auch  bei  solcher  Ausdehnung  ver- 
mochte das  Land  des  Fronhofs  in  den 
meisten  Fällen  nicht  die  Ackerdienste  der 
Zinsbauern  in  sich  aufzunehmen;  hierzu 
musste  weiteres  Land  verfügbar  gemacht 
werden.  So  begann  der  Grundherr  in  allen 
Marken,  welche  Fronhöfe  seiner  HeiTSchaft 
aufwiesen,  gleich  manchen  andren  Mark- 
genossen in  der  gemeinen  Mark  im  Walde 
des  Dorfes  zu  roden.  Schon  Ende  des 
9.  Jahrhunderts  ist  diese  Thätigkeit  in 
fortgeschrittenen  Teilen  des  Landes  im 
Gange. 

Natürlich  hielten  sich  diese  Rodun^n, 
mit  gewaltigen  Kräften  unternommen,  nicht 
in  dem  bescheidenen  Hahmen  bäuerlichen 
Anbaus ;  weite  Waldflächen  fielen  ihnen  zum 
Opfer:  grosse  rainlose  Felder  gleich  den 
Breiten  unserer  Rittergüter  entstanden,  sie 
wurden  Beunden  genannt.  Auf  sie  ergossen 
sich  nunmehr  die  Dienste  grundhöriger  Ar- 
beit, von  ihnen  aus  füllten  sich  Keller  und 
Scheuer  des  grundherrlichen  Fronhofs,  und 
die  Verfügung  über  ihren  Anbau  gab  dem 
Meier  das  höhere  Ansehen  eines,  wenn  auch 
abhängigen  Grossbauern. 

Die  Meierei  bildete  die  einzige  regel- 
mässige Betriebsverwaltung  der  Grundherr- 
schaft. Zwar  kamen  über  ihr  und  über  den 
früher  genannten  Specialverwaltungen  in  sehr 
grossen  und  sehr  zerstreuten  Grundherr- 
schaften noch  zusammenfe,ssende  Zwischen- 
ämter, meist  Propsteien  genannt,  vor;  im 
allgemeinen  aber  standen  über  den  ünter- 
verwaltungen  sofort  der  Grundherr  und  die 
dienenden  Kräfte  seines  Hauses,  der  Mar- 
schall, der  Känmierer  oder  Truchsess,  als 
oberste  Stelle.  Sie  bildeten  den  gnmdherr- 
lichen  Hof;  schon  im  9.  und  10.  Jahr'.iundert 
befand  er  sich  mit  Vorliebe  auf  einer  festen 
Burg  inmitten  der  dichtesten  Schichtung 
des  grundherrlichen  Besitzes. 

Nach  dem  Hofe  strömten  die  üeber- 
schüsse  der  grundherrlichen  Verwaltimg, 
ziuneist  in  der  Form  von  Naturalabgaben, 
zusammen;  vom  Hofe  aus  erfolgten  die 
Weisungen  an  die  einzelnen  Meier  zur  Wah- 
rung der  ^mdherrlichen  Gerechtsame  wie 
zur  periodischen  Versorgung  des  Hofes  mit 
den  Erträgen  des  Ackerbaues,  der  Viehzucht 
und  des  grund hörigen  Handwerks. 

So  bedurfte  jede  Grundherrschaft  eines 
eigenen  Nachrichtendienstes  und  eines  be- 
sonderen   Transportsystems.      Beides    ent- 


wickelte sie  langsam  seit  dem  9.  Jahrhun- 
dert. Eine  Anzahl  Grundholder  wurde  ver- 
pflichtet, Pferde  zum  Botenreiten,  Schnell- 
kähne zur  Beförderung  von  Nachi'ichten  zu 
unterhalten:  es  sind  die  Scharmannen,  bald 
auf  Grund  ihres  vornehmlichen  Dienstes  zu 
Boss  reissige  Mannen  und  Krieger  der 
immer  mehr  rittermässig  gestalteten  Heere. 

Der  Transportdienst  aber  wird  allen 
grundhurigen  Bauern  auferlegt:  zu  bestimm- 
ten Zeiten  fahren  sie  Holz  aus  dem  Walde, 
Getreide  und  andere  Feldfrucht  von  ihrem 
Meierhofe  zum  Burgsitz  des  Grundherren; 
im  Winter  thun  sie  oft  weite  Fahrten  zur 
nächsten  Saline,  um  das  entbehrliche  Ge- 
würz zu  holen,  oder  in  die  nächste  Gross- 
stadt zum  Verkauf  von  Landeserzeugnissen, 
zum  Einkauf  der  Schätze  des  Handels  und 
Handwerks. 

So  erscheinen  die  Gnindherrschaften  des 
10.  Jahrhunderts  festgefügt  in  ihrer  Ver- 
waltung und  in  lebendiger  Bewegung  je 
nach  den  wechselnden  Aufgaben  der  Jahres- 
zeit: sie  erfüllen  das  wirtschaftliche  Dasein 
der  Nation.  Denn  räumlich  eng  durch  ein- 
ander verflochten  erscheint  Besitz  und  Ver- 
waltung der  einzelnen  Grundherren;  in  be- 
lebten und  höher  kultivierten  Gegenden  be- 
finden sich  nicht  selten  ein  halbes  Dutzend 
und  mehr  Fronhöfe  verschiedener  Grund- 
herren im  selben  Dorfe. 

Doch  sclion  das  11.  Jahrhundert  sah 
den  beginnenden  wirtschaftlichen  Verfall 
der  grossen  Grundherrschaften,  wenngleich 
einzelne  geistliche  Orden,  vor  allem  die 
Gislercienser ,  dem  Institut  sogar  noch  im 
12.  Jahrhundert  zu  einer  kurzen  wirtschaft- 
lichen Nachblüte,  doch  in  veränderten  For- 
men, verholfen  haben. 

Es  zeigte  sich,  dass  die  Grossgrundherr- 
schaften ihrem  innersten  Wesen  nach  immer- 
hin nicht  eigentlich  wirtschaftliche  Institu- 
tionen waren.  Nicht  um  den  Ackerbau  zu 
organisieren,  hatte  der  hohe  Adel  des  7. 
und  y.  Jahrhunderts  nach  umfassendem 
Landbesitz  gestrebt,  vielmehr  hatte  er  nur 
Grund  und  Boden  klar  als  den  einzigen 
Machtbesitz  der  Zeit  erkannt  und  deshalb 
versucht,  sich  seiner  zu  bemächtigen. 

Nun  war  ihm  das  in  weitreichendem 
Masse  gelungen;  und  was  dem  Adel  an 
Landübermacht  etwa  noch  fehlte,  das  er- 
warb er  in  den  gewaltigen  Kolonisationen 
des  11.  bis  13.  Jahrhunderts.  Damit  war 
das  Ziel  seines  Strebens  erreicht:  er  gebot 
über  das  Land  und  seine  Bebauer;  eine 
ökonomische  Ausbreitung  seiner  Herrschaft 
über  das  Mass  notwendigen  Lebensunter- 
halts hinaus  lag  ihm  fem:  er  strebte  nach, 
der  Stellung  des  Hofherren,  des  Kriegers, 
des  Trägers  höherer  Bildung ;  speciell  wirt- 
schaftliche Interessen,  die  über  die  Her- 
stellung   einer    materiellen    Grundlage    für 


832 


Grundbesitz  (Geschichte) 


diese  Zwecke  hinausgegangea  wären,  besass 
er  nicht. 

So  ging  er  wesentlich  in  extensiver 
Wirtschaft  auf  und  so  war  seine  volkswirt- 
schaftliche Eolle  erfüllt,  als  der  Höhepimkt 
agrarischer  Ausdehnung  mit  dem  12.  Jahr- 
hundert erreicht  war.  Seitdem  verwandelt 
sich  die  Grundherrschaft  in  ein  blosses 
Renteninstitut  Und  schon  ein  Jahrhundert 
vorher  hatte  sie  begonnen^  in  der  Verfassung 
ihrer  Grundholden,  wie  im  Charakter  ihrer 
Verwaltung  eine  dahingehende  Richtung 
einzuschlagen. 

Mit  dem  Beginn  des  10.  Jahrhunderts 
etwa  war  aus  den  Klassen  der  unfreien 
Ldten  und  freien  Hintersassen,  die  sich  in 
der  Grossgrundherrschaft  getroffen  hatten, 
der  eine,  weitausgedehnte  Stand  der  grund- 
holden Bauern  hervorgegangen.  Ursprüng- 
lich in  seinen  Rechten  noch  stark  begrenzt, 
begann  er  sich  seit  der  2.  Hälfte  des 
10.  Jahrhunderts  allmählich  zu  heben. 

Die  naturgemässe  Gnmdlage  seiner  wei- 
teren Entwickelung  wurde  durch  die  Or- 
ganisation der  Grundherrschaft  selbst  ge- 
boten. Wie  die  Zinse  und  Dienste  der 
Grundholden  nach  Meiereien  erhoben  wurden, 
so  fand  jeder  Grundholde  zunächst  in  dem 
Meierbezirke,  welchem  er  angehörte,  den 
natürlichen  Rahmen  gemeinsamen  Lebens 
mit  seinen  Genossen :  jeder  Meierei  entsprach 
eine  grundholde  Genossenschaft  der  Ein- 
gesessenen, jeder  Fronhof  ward  zum  Mittel- 
punkt einer  grundholden  Gerichtsbildung, 
jeder  Meier  zum  Vorsitzenden  eines  Fron- 
hofsdinges. 

Diese  genossenschaftliche  Konsolidation 
führte  bald  über  sich  hinaus  zu  starkem 
gesellschaftlichen  Fortschritt.  Noch  in  der 
ersten  Hälfte  des  10.  Jahrhunderts  waren 
die  grundherrschaftlichen  Hintersassen  kei- 
neswegs sicher  gewesen  vor  Veräusserungen 
ihrer  Person  ohne  das  von  ihnen  bewirt- 
schaftete Gut;  me  späterhin  nur  noch  sla- 
wische Herrscher,  so  verfügte  König  Hein- 
rich I.  frei  über  Dienst  und  Aufenthalt  sogar 
seiner  hörigen  bäuerlichen  Krieger. 

Demgegenüber  gab  jetzt  die  Entwickelung 
der  Fronhofsgenossenschaft  jedem  ihrer  Mit- 
glieder eine  ganz  andere  Sicherheit;  die 
Bindung  an  den  Boden  wurde  durchgesetzt, 
nur  mit  seinem  Gute  zusammen  durfte  der 
Hörige  dem  Verband  der  Meierei  entzogen 
und  veräussert  -werden:  so  wuKle  mit  Be- 
ginn des  11.  Jahrhunderts  das  Grundholdcn- 
tum  im  vollsten  Sinn  erst  begründet. 

Es  war  ein  ausserordentlicher  Fortschritt. 
Nun  wurde  die  rechtliche  Persönliclikeit 
des  Gnmdholden  erst  grundsätzlich  und  bald 
auch  immer  mehr  thatsächlich  anerkannt. 
Nun  sj)rach  man  ihm,  sprach  er  sich  selbst 
in  seinem  Fronhofsding  das  Erbrecht  an 
seiner  Zinshufe  zu,  nun  behauptete  er  ein 


weitgehendes  Eigentum  an  seiner  Errungen- 
schaft und  beschränkte  die  Forderungen,  die 
der  Gnmdherr  bisher  darauf  geltend  ge- 
macht hatte,  auf  geringe  Leistungen,  vor- 
nehmlich auf  die  Abgabe  des  besten  Stückes 
der  Hinterlassenschaft,  das  Besthaupt  oder 
die  Kurmede. 

Aus  all  diesen  Wandlungen  heraus  bil- 
dete sich  die  Vorstellung,  dass  der  Grund- 
herr nicht  anders  als  der  Freie  in  einem 
wohl  umschriebenen  Kreise  von  Rechten  lebe, 
den  er  selbst,  im  Gericht  seiner  Genossen, 
abzugrenzen  befugt  sei:  und  seine  Stellung 
zum  Grrundherrn  beschränkte  sich  somit 
immer  mehr  auf  die  blossen  Beziehungen 
der  agrarischen  Arbeitsleistungen  und  Lasten 
sowie  auf  eine  genüge  persönliche  Abhän^g- 
keit,  die,  finanziell  genau  umgrenzt,  ihm 
rechtlich  vornehmlich  die  Freizügigkeit  ver- 
sagte. 

Waren  nun  Grundholde  auf  dieser  Stufe 
der  Entwickelung  noch  nützliche  Mitglieder 
und  Unterthanen  der  Grundherrschaft?  Sie 
waren  wirtschaftlich  fast  volle  Herren  des 
Gutes  und  trotz  aller  Fronden  wenigstens 
zur  Hälfte  Herren  ihrer'  wirtschafflichen 
Zeit  und  Arbeitskraft.  Sie  waren  weiter 
mit  Zinsen  nur  gering  belastet.  Ursprüng- 
lich einmal,  im  9.  oder  auch  10.  Jahrhundert, 
hatten  freilich  ihre  Zinsen  der  Höhe  nach 
etwa  die  Bedeutung  einer  Pachtsumme  für 
das  bewirtschaftete  Gut  gehabt.  Jetzt  war 
das  die  Auffassung  verMingener  Zeiten. 
Ausserordentlich  war  die  Bodenrente  über- 
all vom  9.  bis  11.  und  12.  Jahrhundert 
stiegen,  die  Abgaben  der  Grundholden 
gegen  waren  die  alten  geblieben :  sie  waren 
jetzt  Bestandteil  ihres  besonderen  Fronhof- 
rechtes geworden,  und  sie  wurden  in  ihrer 
alten  Niedrigkeit  energisch  verteidigt  gegen 
jeden  Versuch  der  Grundherren,  sie  zu  er- 
höhen. Die  Folge  war,  dass  schon  seit  Be- 
ginn des  12.  Jahrhunderts  die  Grundherren 
sich  keineswegs  noch  im  Besitze  der  Grund- 
rente ihres  Bodeneigens  befanden :  sie  waren 
Avirtschaftlich  enterbt,  während  der  grund- 
holde Bauer  in  Fülle  lebte. 

Lag  es  nun  gleichwohl  im  sozialen  Inter- 
esse des  Grundherrn,  die  Grundholden  zwar 
wirtschaftlich  nahezu  frei,  doch  persönlidi 
von  sich  abhängig  zu  erhalten?  Wir  sahen, 
dass  auch  die  soziale  und  rechtliche  Lage 
der  Grundholden  sich  von  Tag  zu  Tage  hob, 
dass  sie  zum  Losreissen  aus  den  grund- 
herrschaftlichen Banden  drängte. 

In  diesem  Moment  haben,  seit  Mitte  des 
11.  Jahrhunderts  vornehmlich,  Gr-undholde 
und  GrundheiTon  der  fortgeschrittensten 
Landesteile  sich  zu  neuer,  freier  Verein- 
banmg  zusammengefunden.  Das  Gnmd- 
holdontum  ward  bald  völlig,  bald  teilweise 
imd  bis  auf  einige  Formalitäten  aufgegeben, 
freier    Zug    gewährt,    und    der   ehemalige 


Grundbesitz  (Geschichte) 


833 


Grundholde  blieb  als  fi-eier  Pächter  auf 
seinem  bisherigen  Gute.  So  gelangte  der 
Grundherr  auf  dem  Wege  der  Zeitpacht 
und  bis  zum  gewissen  Grade  auch  auf  dem 
der  Lehns-  und  Erbpacht  wieder  in  den 
VoUgenuss  der  Rente  seines  Grundeigens, 
und  es  blieb  ihm,  bei  der  Zeitpacht  vor- 
nehmlich, die  Möglichkeit  offen,  nach  jedes- 
maligera  Ablauf  der  Pachtfrist  die  Pacht- 
summe im  Ausmass  der  mittlerweile  ge- 
stiegenen Grundrente  zu  erhöhen.  Der 
Grundholde  aber  gewann  das  Gut  einer 
neuen  bäuerlichen  Freiheit. 

Es  versteht  sich,  dass  diese  Vorgänge 
da,  wo  sie  häufiger  vorkamen,  zum  voJlen 
Verfalle  der  alten  grossgnmdherrlichen  Or- 
ganisationen führen  mussten,  soweit  diese 
rein  wirtschaftlicher  Natur  waren.  Wurden 
die  Grundholden  auch  nur  zum  Teil  freie 
Pächter:  wer  sollte  dann  noch  die  Felder 
des  Fronhofes,  wer  gar  die  alten  Beunden 
bebauen?  Selbst  die  noch  verbleibenden 
Gnindholden  waren  dazu  nicht  im  stände, 
denn  auch  sie  lösten  jetzt  ihre  Lasten  und 
noch  vielmehr  ihre  persönlichen  Dienste  mit 
Vorliebe  in  Geld  ab. 

So  wiu-den  die  Grundherren  zwar  kapi- 
talreicher in  ihren  Einnahmen:  aber  in 
einer  Zeit  noch  vorwiegend  naturalwirt- 
schaftlichen Daseins  vermochten  solche 
Einnahmen  nicht  den  Mangel  der  einst  so 
zahlreichen  unfreien  Arbeitskräfte  zu  er- 
setzen. Es  blieb  nichts  übrig,  als  den 
Eigenbetrieb  der  Beunden  aufzugeben.  Man 
verpachtete  oder  verkaufte  sie,  teilweise  an 
kleine  Leute  des  Dorfes,  die  auf  den  zer- 
splitterten Feldern  des  Grossgrundbesitzes 
rege  Häuslerwirtschaften  errichteten,  teil- 
weise an  die  ehemalige  Hofgenossenschaft, 
die  sie  gemeinsam  weiter  zu  bebauen  pflegte, 
(s.  d.  Art.  Gehöferschaften  oben  Bd.  IV 
S.  59/60),  teilweise  an  die  Meier. 

Indem  man  aber  die  Beunden  an  den 
Meier  verkaufte,  indem  man  ihn  somit  selb- 
ständig machte:  zerstörte  man  damit  nicht 
die  gesamte  Verwaltung-sorganisation  der 
Grundherrschaft  ? 

Man  brauchte  davor  nicht  mehr  ziuiick- 
znscheuen:  schon  längst  war  diese  Organi- 
sation im  Verfall,  schon  längst  thateti  die 
Scharmänner  keine  Botendienste,  die  Bauern 
keine  Transportdienste  mehr:  was  hätten 
sie  melden,  was  verfrachten  sollen?  In 
der  Wurzel  zernagt  war  schon  im  Laufe 
des  11.  Jahrhunderts  grundherrlicher  Meier- 
dienst und  grund herrliche  Verwaltung. 

Sieht  man  von  der  persönlichen  Thätig- 
keit  der  Grundherren  selbst  ab,  so  war  die 
gnmdherrliche  Verwaltung  seit  dem  10. 
Jahrhundert  getragen  gewesen  durch  grund- 
hörige Kräfte.  Hatte  der  Herr  früher  mili- 
tärischen Schutz  für  seine  Hintersassen  ge- 
braucht, hatte  er  Aufsichtsbeamte  für  seine 


Einnahmen  gesucht,  so  hatten  ihm  zunächst 
wohl  die  Vasallen  zu  Gebote  gestanden,  so- 
lange sie  noch  sein  persönliches,  am  Hofe 
lebendes  Gefolge  büoeten.  Allein  das  war 
höchstens  bis  zum  Ausgang  des  9.  Jahr- 
hunderts der  Fall.  Seitdem  hatten  die  Vair 
saDen  sich  von  den  Höfen  zurückgezogen 
und  lebten  über  das  Land  zerstreut  der 
Eigenwirtschaft  ihrer  Güter. 

Die  dadurch  in  der  grundherrlichen  Ver- 
waltung entstehende  Ijücke  wimle  durch 
die  höheren  Ministerialen  ausgefüllt.  Von 
jeher  hatte  der  Herr  gewisse  niedere  Dienste 
am  Hofe,  gewisse  Handwerksarbeiten  von 
Unfreien  besorgen  lassen;  es  war  eine  an- 
dere Art  ihrer  Verwendung  gewesen  neben 
ihrer  Ansetzung  auf  Ackei-gütem.  Jetzt 
fielen  der  grunahörigen  Klasse  des  10.  Jahr- 
hunderts, der  Nachfolgerin  der  alten  Un- 
freiheit, auch  die  höheren  Verwaltungs- 
stellen zu,  tüchtige  Kräfte  aus  ihr  erhielten 
die  Botenhufen  und  die  Meiereien ,  auch 
eine  grundholde  Reiterei  wurde  aus  ross- 
häbigen  Hintersassen  gebildet. 

Unter  diesem  Wechsel  der  Verwaltungs- 
kräfte blülite  die  grundherrliche  Verwal- 
tung im  10.  Jahrhundert  empor  zu  höchster 
Vollendung.  Allein  es  begreift  sich,  dass 
die  neue  Beamtenklasse  grundholder  Dienst- 
mannen eben  in  der  gewählteren  Beschäfti- 
gung die  Auffordenmg  sah,  noch  höhere 
Ziele,  womöglich  die  volle  gesellschaftliche 
Emancipation  aus  dem  gnmdhörigen  Ver- 
hältnis zu  erstreben.  War  sie  doch  schon 
durch  die  blosse  Thatsache  des  Waffen- 
dienstes, der  bald  für  aUe  ihi*  Angehörigen 
durchdrang,  weit  über  die  gewöhnliche 
grundholde  Menge  gehoben ;  hatte  sich  doch 
schon  im  10.  Jahrhundert  imter  den  geist- 
lichen Gnmdherrschaften  über  sie  das  Wort 
verbreitet:  servi,  si  non  timent,  tument 
(Gas.  S,  Galli  c.  48). 

So  kam  es  zur  langsamen  Emancipation 
dieser  Klasse.  Schon  im  11.  Jahrhundert 
beansprucht  sie  dauernd  eine  feststehende 
Entschädigung  für  ihre  Dienstleistungen  in 
den  sogenannten  Dienstlehen,  und  die  Be- 
gründung dieser  Lehen  reisst  eine  neue 
Lücke  in  den  Zusammenhang  der  grund- 
herrlichen  Verwaltung.  Seit  Mitte  des  12. 
Jahrhunderts  aber  erscheint  die  Dienstmann- 
schaft mit  Lehen  gesättigt ;  sie  bildet  einen 
ersten  Krystallisationspunkt  für  die  neue 
gesellschaftliche  Bildung  der  Ritter,  sie 
wird,  erblich  auf  ihren  Lehnsgütem,  sie 
tritt  im  Laufe  der  Stauferzeit  in  den  ge- 
wöhnlichen Lehnsverband  ein.  Schon  um 
das  Jahr  1200  ist  sie  damit  der  Verwal- 
tungspraxis der  Grundherrscliaften  ent- 
wachsen. 

Ein  Vorgang  von  ausserordentlicher  Be- 
deutung. Die  Organisation  des  grossgnmd- 
herrlichen   Besitzes     hat    die    gnmdholde 


Handwörterbacb  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Aafla,?e.    IV. 


53 


834 


Grundbesitz  (Geschichte) 


Klasse  differenziei-t :  durch  höhere  Tliätig- 
keit  wie  näheren  Zusammenhang  mit  der 
Person  des  Grundherrn  aus  der  gleichartigen 
Macht  der  GrimdhÖrigen  hervorgehoben  er- 
scheinen die  Dienstmannen  als  neue  soziale 
Schicht.  Aber  indem  die  Grundherrschaft 
gesell schaftsbüdend  wirkt,  verblutet  sie  sich 
zugleich  an  dieser  Aufgabe.  Indem  sie  die 
eigentlich  staatliche  Pf  licht  sozialer  Schöpfun- 
gen auf  sich  nimmt,  verliert  sie  ihr  Yer- 
waltungspersonal  und  damit  den  Rahmen 
ihrer  wirtschaftlichen  Bethätigung. 

Nirgends  erscheint  dieser  Zusammen- 
hang deutlicher  wie  im  Verfall  der  Meier- 
ämter. 

Die  grundholden  Meier  waren  ursprüng- 
lich absolut  abhängige  Diener  ihres  Grimd- 
herrn;  sie  lieferten,  was  dessen  Hof  zu 
liefern  ihnen  jeweils  aufgab.  Allein  bald 
wurden  diese  Lieferungen  fixiert:  Die  Be- 
quemliclikeit  imd  Lotterie  jeder  naturalwirt- 
Bchaftlichen  Budgetierung,  die  zum  Stiftungs- 
charakter der  Einnahme  hindrängt,  wie  die 
Selbständigkeitsgelüste  der  Meier  führten 
gleichmässig  zu  diesem  Ergebnis. 

So  l)etrachtete  sich  denn  der  einzelne 
Meier  bald  als  der  eigentlich  selbständige 
Vei'walter  des  Fronhofs ;  er  schien  nm-  noch 
durch  die  regelmässigen  Leistungen  an  den 
Herrn  gebunden,  diese  Leistungen  selbst  er- 
schienen im  Sinne  einer  Rente  oder  Pacht; 
nicht  minder  \ne  für  die  Bauerngüter  trat 
für  den  Fronhof  der  Gesichtspunkt  blosser 
Rentberechtigung  der  Grundherren  in  den 
Yordergnmd. 

Diese  wirtschaftliche  Emancipation  er- 
hielt dann  durch  die  oben  geschilderte  so- 
ziale Loslösung  volleren  Inhalt  und  weitere 
Bedeutung.  Als  Lehnsmann  des  Grund- 
herrn erscliien  der  Meier  mit  dem  Fronhof 
nunmehr  erblieh  bewidraet,  ja  wusste  sich 
schliesslich  oft,  zumeist  im  Laufe  des  13. 
Jahrhunderts,  auch  noch  vom  Lehnsnexus 
zu  befreien. 

Aber  auch  wo  das  nicht  geschah,  sahen 
kräftige  Meier  sich  gleichwohl  als  Herren 
ihres  Fronhofs  an;  sie  erweiterten  dessen 
Hufenumfang  aufs  Doppelte  und  Dreifache; 
sie  brachten  die  alt  gerodeten  grimdherrlichen 
Beunden  sowohl  diu'ch  gesetzliche  Mittel 
als  durch  Gewalt  an  sich,  sie  erblickten  in 
den  Zinsbauern  ihre  Gnuidholdon. 

So  erweiterten  sich  die  alten  Meierhöfe 
zu  den  Rittergütern  des  westlichen  Deutsch- 
land, wie  sie  seit  dem  14.  Jahrhundert 
vielfach,  gleichsam  aus  der  Erde  gestampft, 
sich  finden,  und  um  das  Rittergut  legte 
sich  die  Fronhofsgenossenschaft  der  Zins- 
leute als  gnindholdes  Zubehör  des  neuen 
Betriebes ;  nicht  selten  erschienen  die  alten 
Grundheii-schaften ,  namentlich  diejenigen 
kirchlichen  Charakters,  nunmehr  zum  Ent- 
setzen ihrer  Inhaber  vCiDig  in  kleine  ritter- 


schaftliche Grundherrschaften  fremden  Eigen- 
tums zersprengt. 

Aber  auch  wo  sich  die  alten  Grossgrund- 
herrschaften  mehr  oder  minder  gut  erhielten, 
waren  sie  doch  diu'ch  den  Verlust  des  alten 
Beamten  Personals  wie  infolge  der  allmäh- 
lichen Befreiung  der  grundhörigen  Höfe  in 
ihrem  wirtschaftlichen  Wesen  gänzlich  ver- 
ändert. 

War  die  Grossgrundherrschaft  urspriing- 
lich  eine  Institution,  in  welcher  der  Gnuid- 
hen-  selbst  noch  als  wirtscliaftlicher  Unter- 
nehmer erscheint,  so  wurde  sie  nunmelir 
zum  blossen  Renteninstitut.  Noch  im  1(). 
Jahrhundert  hatten  die  Fortschritte  der 
Landwirtschaft  von  Einsicht  und  Thatkraft 
der  Grossgrundherren  abgehangen;  auch 
die  Besiedelung  und  der  Ausbau  der  Hei- 
mat im  11.  und  12.  Jalu^hundert  war  noch 
zum  grossen  Teil  eine  glänzende  wirtschaft- 
liche That  der  Grossgrundherrschaft  ge- 
wesen. Es  war  die  .letzte.  Schon  seit  tler 
zweiten  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts  be- 
gannen die  Grundherren  sich  von  der  wiit- 
schaftlichen  Bethätigung  an  Wolü  und  Wehe 
ihres  Gnmdbesitzes  ziu'ückzuziehen :  immer 
mehr  begnügten  sie  sich  mit  den  fixierten 
Leistungen  der  Meier,  den  Zinsen  der 
bäuerlichen  Klassen ;  Bauern  und  Meier  er- 
schienen nun  als  Unternehmer,  ihnen  fiel 
darum  auch  der  ünternehmergewimi  zu, 
während  dem  Grundherrn  nur  noch  der 
Genuss  der  Bodenrente  verblieb. 

Mit  dieser  Teilung  des  wii-tschaftlichen 
Gewinnes  aus  dem  Ackerbau  setzte  eine 
ausseiest  folgenreiche  Entwickelung  ein :  der 
Unterschied  zwischen  Bodenrente  und  länd- 
lichem Unternehmergewinn  begann  etwa 
zur  selben  Zeit  zu  wirken,  wo  neben  die 
bisherige  rein  ländliche  Kultur  die  städtische 
Landwirtschaft  trat. 

Der  Umschwung  machte  sich  auf  dem 
Lande  schon  seit  Mitte  des  11.  Jahrhunderts 
bemerklich  in  der  steigenden  Decentralisa- 
tion  der  alten  GrundheiTschaft ;  auf  ihrem 
Boden  begannen  sich  Ministerialien  und 
Grundholde,  Häusler  und  Tfigelöhner,  Vögte 
und  Freie  immer  selbständiger  wh'tschaft- 
lich  zu  entwickeln.  Dementsprechend  l)e- 
gann  die  Grundherrschaft  ihre  Verwaltungs- 
zusaramenhänge  aufzugeben;  im  12.  Jahr- 
hundert verfielen  Transportsystem  und  Nach- 
richtendienst. Ihnen  nach  stürzte  die  bis- 
herige grundheniiche  Eigenwirtschaft;  nur 
in  den  Y)esonderen  Betrieben  der  Viehzucht 
und  des  Wiesenbaues  schienen  vereinzelt 
noch  Fortscluitte  gemacht  zu  werden. 

Endlich  steht  die  Eigenverwaltung  slill ; 
der  grundherrliche  Boden  ist  für  den 
Grundherrn  nur  noch  eine  Unterlage  von 
Renten;  die  Meiereien  sind  blosse  Renten- 
recepturen  und  im  günstigsten  Falle  neben- 
her Pachtungen  geworden.  Dementsprechend 


Grundbesitz  (Geschichte) 


835 


bildet  sich  seit  Mitte  des  12.  Jahrhunderts 
ein  konstanter  Zinsfuss  für  ländliche  Renten 
aus,  bep^innen  die  Grnndherrschaften  unter 
den  Staufern  Rentengeschäfte  der  mannig- 
fachsten Art  zu  betreiben. 

Einige  Generationen  weiter,  spätestens 
etwa  um  das  Jahr  1300,  ist  der  Prozess 
völlig  abgelaufen.  Nun  sind  die  Grund- 
herrschaften reine  Rentherrschaften ,  nun 
begründet  man  umfassende  Systeme  von 
Rentanweisungen  ohne  Rücksicht  auf  den 
wirtscliaftliclien  Charakter,  den  Zusammen- 
hang der  Rentensubstrate;  von  einem  öko- 
nomischen Grossbetrieb  im  Rahmen  der 
alten  Entwickelung  ist  keine  Rede  mehr. 

Doch  in  demselben  Masse,  in  dem  auch 
die  grössten  GrundheiTschaften  ihre  wirt- 
schaftliche Wichtigkeit  verloren  hatten,  liat- 
ten  doch  gerade  diese  auch  andererseits  ihre 
politische  und  mittelbar  ihre  soziale  Bedeu- 
tung gestäi'kt,  waren  sie  zu  immer  festeren 
GruncUagen  halbstaatlicher  Territorialent- 
wickeluugen  des  frühereu  Mittelalters  ge- 
worden. 

5.  Kolonisation  des  Ostens,  anfängliche 
Ausgestaltung  der  Grundbesitzverliält- 
nisse  im  Osten;  12. — 14.  Jahrhundert 
Die  Ent Wickelungen  auf  mutterländischem 
Boden,  welche  sub  3  und  4  geschildert  sind, 
hatten  die  beiden  grossen  Listitute  der  ur- 
zeitlicheu  und  der  frühmittelalterlichen  Ver- 
fassung, die  alte  Markgenossenschaft  und 
die  Grundherrschaft,  in  ihrem  Charakter 
wesentlich  verändert  und  in  ihrem  Wesen 
gespL*engt.  An  die  Stelle  des  alten  durch 
sie  gebundenen  Wirtschaftslebens  war  eine 
neue,  freie  Art  im  Grundbesitz  getreten. 

Ihren  Ausdruck  fand  sie  wirtschaftlich 
im  Einzelansbau  bezw.  in  der  Begründung 
von  Ortschaften,  deren  Hufen  thimlichst 
oder  ganz  der  Gemengelage  entzogen  wur- 
den, rechtlich  in  freieren  Formen  der  Land- 
leihe. Beide  Momente  hatten  sich  nirgends 
früher  und  nirgends  energischer  geltend 
gemacht  als  im  Ausbau  des  Mutterlandes. 
Sie  waren  hier  in  der  specifischen  Form 
des  Königshufenbaues  und  der  Landsiedel- 
leihe  zu  Tage  getreten. 

Die  Königshufe  kommt  schon  im  8.  imd 
9.  Jahrhundert  vor;  sie  besteht  in  einem 
meist  zusammenhängend  ausgeworfenen 
LandkompJex  von  nicht  über  50  ha,  der, 
mit  der  virga  regalis  vermessen,  zumeist 
und  anfangs  stets  ans  königlichem  Forst 
zum  Anbau  ausgesondert  wird  und  als 
extensiv  anzubauende  Kolonialhufe  die  ge- 
meine, schon  längst  intensiv  bewirtschaftete 
Volkshufe  um  mindestens  das  Doppelte  an 
Umfang  überragt. 

Die  Landsiedelleihe  ist  eine  Leiheform, 
die  namentlich  am  Rhein  und  im  Hessischen 
früh  ausgebildet  wird  und  die  dem  ur- 
barenden Kolonisten   einer  Hufe  auf  frem- 


dem Grund  und  Boden  die  erbliche  Nut- 
zimg dieser  Hufe  gegen  verhältnismässig 
geringen  Zins  und  ohne  Verlust  der  per- 
sönlichen Standesrechte,  nach  einer  Reihe 
von  Freijahren  ziu*  ersten  Einrichtung,  ge- 
stattet. 

In  der  Königshufe  und  der  Landsiedel- 
leihe hatte  das  8. — 12.  Jahrhundert  ausser- 
ordentlich \vdrksame  Mittel  agrarischer 
Kolonisation  entwickelt. 

Höchst  eigenartige  und  besonders  frei- 
heitliche Formen  aber  hatten  beide  Institute 
in  Flandern  und  Holland  angenommen. 
Flandern  ward  im  Laufe  des  11.  und  12. 
Jahrhunderts  zum  ersten  Industriestaat  der 
nordeuropäischen  Kultur.  Reich  an  Sumpf 
und  Moor  und  ausser  diesen  ursprünglich 
bedeckt  mit  fast  unabsehbaren  Wäldern, 
hatte  das  Land  die  wachsende  Bevölkerung 
in  agrarischer,  hier  nur  mit  grossen  Mitteln 
an  Kapital  zu  ermöglichender  Kultur  nicht 
zu  ernähren  vermocht.  Schon  früh  war 
deshalb  aus  diesem  besonderen  Grunde  ein 
städtisches  Leben  erwacht;  zu  glänzender 
Blüte  erhob  es  sich  unter  dem  Einfluss 
internationaler  Handelsbeziehungen  im  12. 
Jahrhundert.  Damit  wurden  neue  Kapitalien 
fi'ei  zur  kostspieligen  ürbarung  der  heimi- 
schen Moore  und  Wüsten  (Woestinen);  ener- 
gisch ward  diese  seit  dem  11.  Jahrhundert 
in  Angriff  genommen.  Indem  aber  bürger- 
liche Mittel  die  Kultiu*  durchführten,  indem 
jeder  Anbauer  des  neu  eroberten  Bodens  in 
der  Verfrachtung  des  gewonnenen  Torfes, 
in  der  Benutzung  der  Kanäle,  die  das  Moor 
durchzogen,  selbst  halb  büi^gerlichem  Dasein 
zuneigte,  ergaben  sich  für  die  Kolonisation 
von  vornherein  ungemein  freie  wirtschaft- 
liche und  rechtliche  Formen.  Was  aber  für 
Flandern  galt,  das  traf  teilweise,  wenn  schon 
unter  veränderten  wirtschaftlichen  Voraus- 
setzungen, auch  für  HoDand  zu:  der  äus- 
serste  Nordwesten  des  deutschen  Bodens 
übertrumpfte  die  centralen  Gegenden  des 
Westens  noch  in  Bereitstellung  äusserst 
wirkungsvoller  kolonisatorischer  Mittel. 

Gleichzeitig  aber  wiesen  diese  Gegenden 
seit  mindestens  der  Mitte  des  11.  Jahrhun- 
derts einen  steigenden  üeberschuss  an  Be- 
völkerung auf.  Sie  drängte  in  die  Städte; 
sie  suchte  über  den  städtischen  Erwerb  hin- 
aus Unterschlupf  in  neuer  ländlicher  Thä- 
tigkeit  auf  neuem  Boden. 

Es  erschloss  sich  da  zunächst  das  Ge- 
biet des  damals  äussersten  deutschen  Ostens: 
Oesterreich  bis  zu  den  Obstabhängen  des 
Wiener  Waldes  und  Sachsen  bis  zur  Elbe. 
Vornehmlich  im  Norden  vermochten  Hol- 
länder und  Vlamen  ilire  alte  Kunst  der 
Moorkultur  zu  erweisen.  Schon  der  grosse 
Erzbischof  Adalbert  von  Bremen  hatte  sich 
im  Jahre  1064  die  Moore  um  Bremen  von 
kaiserlicher  Huld  schenken  lassen,   vermut- 

53* 


836 


Grundbesitz  (Geschichte) 


lieh  lim  Moorkolonieen  anzulegen ;  nicht  zwei 
Generationen  später  begann  dann  wirklich 
die  Kolonisation  dieser  Strecken,  und  bald 
folgte  die  Kultivierung  der  Moore  links  des 
Unterlaufes  der  Elbe.  Dann  zogen  sich  die 
Leute  des  Westens  auch  tiefer  in  säch«i- 
sches  Land  hinein ;  bereits  um  die  Mitte 
des  12.  Jahrhunderts  erreichten  sie  Thilrin- 
gen  und  das  altgermanische  Land  Meissen, 
den  heutigen  linkselbischen  Teil  des  König- 
reichs Sachsen. 

Allein  dieses  äusserste  östliche  Gebiet 
deutschen  Namens  genügte  der  Ausdeh- 
nungskraft der  westlichen  Bevölkerungen 
keineswegs;  und  die  politischen  Kräfte 
standen  bereit,  ihnen  eine  gewaltige  Ver- 
breitung jenseits  der  Elbe,  im  Slawenlande 
zu  sichern. 

Die  alte  karolingische  Reichspolitik, 
welche  sich  im  wesentlichen  mit  der  Elb- 
und  Saalgrenze  gegenüber  den  Slawen  be- 
gnügt hatte,  war  von  den  Ottonen  alsbald 
verlassen  worden.  Heinrich  I.  und  Otto  der 
Grosse  hatten  die  kräftigste  Initiative  ergrif- 
fen; das  heutige  Königreich  Sachsen  auch 
rechts  der  Elbe  sowie  grosse  Teile  Branden- 
burgs und  Mecklenburgs  waren  erobert, 
deutscher  Einfluss  bis  zur  Oder  begründet 
und  für  die  Bekehrung  der  Eibslawen  ein 
episkopales  System  mit  den  Bistümern  Zeitz- 
Naumburg,  Merseburg,  Brandenburg  und 
Havelberg,  sowie  das  Erzbistmn  Magdeburg 
geschaffen  worden,  das  im  Verein  mit  der 
nordgermanischen  Mission  der  bremisch- 
hamburgischen  Kirche  seine  Ein^^^rkungen 
weit  noch  über  die  politische  Einflusssi)hüre 
des  Reiches  erstreckte. 

Nim  gingen  diese  Errungenscliaften  frei- 
lich schon  unter  den  späteren  Ottonen  ver- 
loren, ein  Opfer  der  neuen  kaiserlichen,  nach 
Italien  weisenden  Universalpolitik ;  und  auch 
die  fränkischen  Kaiser,  den  Sachsen  anfangs 
unsympathisch,  später  abhold,  haben  die 
grosse  Politik  der  Ottonen  nicht  wieder  auf- 
genommen. Indes  mit  Lothar  von  Supplin- 
burg  kam  im  Jahre  1125  der  sächsische 
Herzogsstamm  von  neuem  in  den  Besitz  der 
Krone;  die  alte  Konstellation  der  Ottonen 
schien  für  die  Politik  an  der  Ostgrenze 
wieder  aufzuleben.  Kam  es  nun  hierzu 
nicht,  da  auf  den  sölmelosen  Lothar  das 
süddeutsclie  Geschlecht  der  Staufer  folgte, 
so  begann  doch  mit  dem  kräftigen,  wenn 
au(ih  kurzen  Eingreifen  Lothars  für  die  Ost- 
grenze eine  neue  Zeit.  Lothar,  auch  unter 
dem  kaiserlichen  Piu'pur  allzeit  ein  getreuer 
Herzog  der  Sachsen,  wies  die  Fürsten  des 
Stammes  den  gewinn-  und  einflussbringen- 
den  Weg  slawischer  Eroberung ;  als  er  starb, 
ward  seine  Politik  von  den  Machthalx?rn  an 
der  Elbe  aufgenommen. 

Die  ei-sten  gn)sseren  Erfolge  wurden  jen- 
seits des  Unterlaufes  der  Elbe  eri*oicht ;  hier 


begründete  Graf  Adolf  aus  dem  Geschlechte 
der  Schauenburger  eine  glänzende  Herrschaft 
in  Holstein  und  am  südöstlichen  Winkel 
der  Ostseegestades:  er  hat  in  Lübeck  die 
erste  deutsche  Stadt  an  der  Ostsee  erstehen 
lassen. 

Aber  bald  wurden  seine  Erfolge  über- 
holt durch  Albrecht  von  Ballerlstedt,  den 
Bären,  den  Begründer  der  Mark  Branden- 
burg. Von  der  Altmark  und  Mittelelbe  her 
drang  er  vor  schon  bis  zur  Nähe  der  Oder; 
weniger  gewaltsam  im  Krieg  als  in  der 
Kultivation  und  Organisation  des  erworbenen 
Landes,  übertrug  er  die  besonders  selbstän- 
digen Rechte  des  deutschen  Markgrafen  auf 
das  neue  Gebiet. 

Zwischen  ihn  und  den  Schauenburger 
keilte  sich  Heinrich  der  Löwe,  als  Herzog 
von  Sachsen,  ein ;  er  nahm  fast  ganz  Meck- 
lenburg in  Besitz,  er  verdrängte  und  unter- 
drückte die  scliauenburgische  Herrschaft  in 
Holstein :  ihm  schien  die  Krone  eines  ersten 
grossen  deutschen  Ostseereiches  zu  winken. 
Und  schon  waren  um  diese  Zeit,  in  den 
siebziger  Jahren  des  12.  Jahrhunderts,  deutsch- 
autonome  Kräfte  von  Lübeck  her  weiter 
längs  der  Ostsoeküste  vorgedrungen.  Auf 
dem  Wege  von  Wisby  nach  Nowgorod  hat- 
ten deutsche  Kaufleute  die  Mündung  der 
Düna  angesegelt,  sie  begannen  in  Ldvland 
Einfluss  zu  gewinnen,  sie  brachten  den 
Völkerechaften  der  Liven  und  Esthen  die 
Botschaft  des  Christentums,  sie  standen  im 
Begriff,  vermöge  agrarischen  Nachschubs 
aus  der  Heimat  eine  Ackerbaukolonie  zu 
begründen. 

In  diesem  Augenblick  ward  Heinrich  der 
Löwe  gestürzt  (1180).  Die  nächste  Folge 
war  das  Stocken  aller  deutschen  Unterneh- 
mungen an  der  Ostsee;  vergebens  suchte 
es  Kaiser  Friedrich  I.  durch  persönliche  An- 
wesenheit in  Lübeck  und  Begabung  der 
Stadt  mit  reichsstädtischer  Freiheit  zu  ver- 
hindeiTi.  Denn  alsbald  drang  der  gewaltige 
Dänenkönig  Waldemar  nach  dem  Rate  seines 
Kanzlers  Absalon,  des  späteren  Erzbischofes 
von  Lund  hervor  imd  vernichtete  fast  über- 
all dio  deutschen  Anfänge.  Die  gesamte, 
bis  dahin  deutsche  Ostseeküste  wurde 
dänisch,  der  Auswandererhafen  für  Livland, 
Lübeck,  den  Deutschen  gesperrt,  Livland 
selbst  geriet  in  Gefahr,  in  dänische  Hände 
zu  gelangen. 

In  dieser  Xot  brachten  zwei  Entwicke- 
lungen  einen  den  Deutschen  günstigen  Um- 
schwung. Von  3Iecklenburg  und  Holstein 
her  wai"d  Waldemar  von  der  deutschen  Ost- 
seeküste verdrängt  (Schlacht  von  Bornhöved 
1227),  und  in  Preussen  trat,  von  den  Polen 
herbeigerufen,  der  Deutsche  Orden  auf,  um 
von  der  Weichselniederimg  um  Thorn  aus 
zunächst  die  untere  Weichselgegend  bis  zum 
Meere,  daTui  dc^sscn  östliches  Gestade   bis 


Grundbesitz  (Geschichte) 


837 


zum  Ende  der  beiden  Haffe  zu  erobern  und 
von  hier  aus  dem  livischen  Schwertritter- 
orden hilfreiche  Hand  zu  leisten.  Die 
fcriegerischen  Ereignisse,  die  an  diese  Vor- 
gänge in  Preussen  anknüpfen,  füllen  noch 
das  ganze  13.  Jahrhundert,  am  Schlüsse  des- 
selben waren  Livland  wie  Preussen  dem 
deutschen  Einflüsse  dauernd  geöffnet. 

Inzwischen  aber  war  über  Brandenburg 
hinaus  auch  Pommern,  nicht  zum  geringsten 
durch  den  stillen  civilisatorischen  Einfluss 
der  Cistercienserklöster,  den  Deutschen  ge- 
wonnen worden :  das  Südgestade  der  Ostsee 
selbst  ein  vorzugsweise  deutsches  Meer  ge- 
worden. Ferner  waren  auch  im  Binnenland 
des  Ostens  grosse  Eroberungen  gemacht 
worden.  Schlesien,  unter  eine  Anzahl  herr- 
schende Fürsten  piastischen  Stammes  ge- 
teilt, hatte  sich  immer  mehr  von  Polen  ab- 
gewendet, seit  etwa  1240  konnte  es  als  der 
germanischen  Kultur  verfallen  gelten.  In 
Böhmen  und  Mähren  waren  die  Deutschen 
als  Begründer  städtischen  Lebens  wie 
deutsch-ländlicher  Kultur  innerhalb  der 
grossen  ehemaligen  Grenzwälder  der  einzel- 
nen Stämme,  die  beide  Länder  durchzogen, 
aufgetreten,  als  bürgerliches  Ferment  wenig- 
stens hatten  sie  auch  in  Südpolen  (War- 
schau etc.)  gewirkt.  In  Ungarn  endlich 
hatten  sie  Platz  gefunden  in  den  inneren 
Karpathenabhängen  des  Westens  und  Nor- 
dens, vornehmlich  in  der  Zips,  und  strömten 
massenweise  nach  der  östlichen  Vorburg 
des  Landes,  nach  Siebenbürgen.     * 

Wie  aber  im  Süden  noch  vereinzelt,  so 
drangen  sie  im  Norden  in  das  Land 
zwischen  Elbe  und  Oder,  nach  Preussen  und 
Schlesien,  minder  nach  Pommern  und  Liv- 
land in  kompakter  Masse  vor.  Hier  vor 
aUem  kam  es  zu  einer  neueren  Ausbildung 
ländlichen  Lebens  und  Gnmdbesitzes  im 
deutsch-kolonisatorischen  Sinne. 

Am  frühesten,  soweit  deutsches  Recht 
in  Betracht  kommt  im  wesentlichen  typisch 
für  den  gesamten  Osten,  w^enn  auch  in  Ein- 
zelheiten wieder  eigenartig,  entwickeln  sich 
die  Verhältnisse  in  Brandenbiu*g.  Branden- 
burg war  das  erste  Territorium,  wo  die  alte 
freie  Stellung  des  markgräfhcheu  Amtes  zu 
einer  fast  völligen  Exemtion  der  Verwal- 
tung vom  Einfluss  des  Reiches  geführt 
hatte.  Darum  gipfelte  die  Verfassung  in 
der  Person  des  Markgrafen;  der  Markgraf 
schuf  die  ßezirkseinteüimg  des  Landes,  von 
ihm  hingen  die  Beamten  ab,  ihm  gehörte 
alles  Land  wohl  anfangs  in  Obereigentum. 
Der  Weg  zu  territorialem  Absolutismus 
wäre  möglich  gewesen,  hätte  die  Verfassung 
auch  die  hervorragenden  kriegerischen  Kräfte 
geliefert,  deren  gerade  die  Mark  dauernd 
bedurfte. 

Allein  liier  bestand  eine  Lücke.  Man 
konnte  nicht  umhin,  sie  schon  bei  der  Occu- 


pation  des  Landes  zu  berücksichtigen. 
Neben  den  Bauernschaften,  welche  unter 
ihren  Unternehmern,  den  künftigen  Erb- 
schulzen, ins  Land  zogen  und  Dörfer  grün- 
deten, wurden  zahlreich  an  einzelne  ein- 
wandernde Freie  wie  Ministerialen,  die  des 
Dienstes  zu  Ross  mächtig  waren,  Landstücke 
in  der  Ausdehnung  von  mindestens  4  oder 
6  Hufen  vergeben. 

Fast  regelmässig  trat  so  neben  die  Neu- 
gründung eines  Dorfes  aus  rauher  Wurzel 
das  gelegentlich  wohl  schon  für  sich  be- 
stehende, in  zusammenhängender  Landmasse 
liegende  Gut  des  Knappen  oder  Ritters. 
Seine  Besitzer  hatten  nach  Bestinmiungen 
der  Jalire  1280  und  1283,  wenn  Knappen, 
mit  zwei  bis  drei  Spiessjungen,  wenn  Kitter, 
mit  drei  bis  vier  reisigen  Knechten  anzu- 
reiten, dafür  genossen  sie  ihres  Landes  und 
waren  für  dessen  normalen  Umfang  bedefrei 
und  frei  von  den  Lasten  bäuerlichen  Zinses 
und  Kriegsdienst.  Neben  die  bäuerliche 
Bevölkerung,  die  dem  Markgrafen  unter  dem 
Gebote  seiner  Schulzen  imd  Landvögte  zinste, 
steuerte  und  staatlich  frondete,  trat  damit 
eine  neue  Gruppe  l|lndlicher  Siedler.  Re- 
krutierte sie  sich  vielfach  aus  den  ungemein 
zahlreichen  Dienstmannengeschlechtern  des 
Mutterlandes  und  vornehmlich  Sachsens, 
war  sie  also  ursprünglich  meist  unfreiem 
Stamme  entsprossen,  wie  sie  denn  auch  im 
Mutterlande  noch  lange  als  unfrei  galt :  hier 
auf  kolonialem  Boden  fragte  man  wenig 
nach  Vorgeschichte  und  einstiger  Stellung, 
nur  der  feste  Arm,  die  kriegerische  Bedeu- 
tung, die  das  Bauerngut  vielfadi  überragende 
Grösse  des  Besitzes  galten:  fast  ohne  wei- 
teres wurden  die  reisigen  Inhaber  des  Vier- 
und  Sechshufenlandes  zur  geseUschaftUch 
führenden  Schicht,  zum  Adel  des  platten 
Landes.  Freüich  waren  sie  dabei  anfangs 
noch  in  keiner  Weise  persönlich  bevorrech- 
tet: in  gleiches  Gericht  zogen  sie  mit  den 
Bauern,  die  gleich  vollkommen  erschienen 
in  ihrem  Rechte.  Aber  doch  war  schon  der 
Anfang  einer  beiderseitigen  Absondenmg 
gegeben,  auf  dem  Boden  rechtlicher  wie 
politischer  Beziehungen.  Die  Bauern  sassen 
auf  ihren  Hufen  unter  dem  Obereigentum 
des  Markgrafen  kraft  Erbzinsrechts,  so  sass 
auch  ihr  Schulze,  nur  sein  Amt,  nicht  auch 
sein  Gut  ging  vom  3Iarkgrafen  zu  Lehen. 
Der  Ritter  dagegen  nutzte  sein  Gut  unter 
dem  Obereigentum  des  Markgrafen  kraft 
Lehnsrechts:  so  stand  er  in  Lehnssachen 
von  vornherein  vor  dem  VasaUenhof  des 
Landes,  vor  dem  Hofgericht,  zu  Rechte, 
unter  dem  Markgrafen  als  persönlichem 
Richter.  Nach  dieser  Seite  hin  war,  ausser 
seinen  besseren  sozialen  Beziehungen,  auch 
rechtlich  seine  Stellung  dem  Markgrafen 
gegenüber  bevorzugt  neben  dem  Bauern. 
Politisch  bevorzugt  erschien  sie  sehr  leicht 


838 


Grrundbesitz  (Geschichte) 


hinsichtlich  der  öffentlichen  Lasten.  Dem 
Bitter,  der  mit  seinen  Keisigen  die  Sorgen 
der  Landesverteidigimg  trng,  war  neben 
dem  Ertrag  seiner  sechs  Hufen  zugleich 
die  Freiheit  derselben  von  direkter  Besteue- 
rung zugesprochen  worden.  War  das  an- 
fang-s  nm*  im  Sinne  finanzieller  Erleichte- 
rung gedacht  gewesen,  so  erschien  es  doch 
gar  bald  im  Lichte  politischer  Bevorrech- 
tung —  die  Steuerfreiheit  schien  ein  Privi- 
legium des  Ritterstandes  als  solchen.  Von 
diesem  Ansprüche  aus  begann  eine  Ent- 
wickelung,  die  neben  anderen  Momenten  den 
ursprünglichen  Aufbau  des  markgräflichen 
Staats  schon  vor  Schluss  des  13.  Jahrhun- 
derts unterwühlt,  im  14.  Jalirhundert  ge- 
stürzt hat.  Die  Ritter  begnügten  sich  mit 
nichten  auf  lange  mit  der  allerdings  ihi'e 
Dienste  nur  kärglich  lohnenden  Ausstattung 
im  Sechshufenland.  Zu  kriegsfreien  Zeiten 
im  Besitz  ausreichender  Arbeitskräfte,  be- 
gannen sie,  je  friedliclier  die  Lage  w^urde, 
um  so  mehr  über  deren  ursprünglichen  Be- 
sitz hinaus  zu  roden:  schon  in  der  zweiten 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  sind  Rittergüter 
von  zwanzig  Hufen  (600  Morgen)  keine 
Seltenheit;  im  neumärkischen  Landbuche 
vom  Jahre  1337  finden  sich  solche  bis  zu 
dreissig  Hufen.  Und  schon  früh  beanspruch- 
ten die  Ritter  die  Steuerfreiheit  auch  dieses 
neuen  Erwerbes;  durchgesetzt  wurde  sie 
überall  im  14.  Jahrhundert.  Liess  sich  bei 
so  privilegierter  Stellung  noch  der  Gerichts- 
stand der  Ritter  vor  den  gemeinen  Gerich- 
ten halten?  Immer  mehr  wurden  die 
Sachen  der  Ritter  nur  noch  vor  dem  Hof- 
gericht des  Markgrafen  verhandelt,  schon 
der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts 
erschien  ihr  besonderer  Stand  vor  diesem 
(jericht  als  fast  selbstverständlich ;  sie  wur- 
den zu  eximierten  Gerichts-  und  Rechtsge- 
nossen: das  neue  Standesbewusstsein  fand 
die  dem  sozialen  Yorstellungsver mögen  des 
13.  Jahrhunderts  entsprechenden  korpora- 
tiven Formen.  Mit  alledem  waren  die  Ritter 
zu  einem  voUen  Landesadel  im  mittelalter- 
lichen Sinne  geworden.  Aber  mochten  sie 
nun  in  dieser  Eigenschaft  die  Entschlies- 
sungen  der  Landesherren  mehr  oder  minder 
verfassungsmässig  zu  beeinflussen  suchen : 
die  Verfassung  als  solche  durchbrochen 
hatten  sie  immerhin  noch  nicht.  Hierzu 
bedm-fte  es  erst  der  finanziellen  Nöte  der 
Markgrafen  seit  den  fortwährenden  Landes- 
teilungen in  der  zweiten  Hälfte  des  13. 
Jahrhunderts.  Wie  den  Landesherren  des 
Mutterlandes,  so  galt  auch  den  Landesherren 
der  Kolonialgebietc,  mit  Ausnahme  teilweise 
dos  deutschen  Onlens,  die  landesherrliche 
Gewalt  nur  als  ein  Komplex  von  nutzbaren 
Rechten :  die  Idee  des  modernen  Staates 
war  auch  den  askanisohen  Herrschern  fremd. 
In    wirtschaftlicher    Verlegenheit   begannen 


sie  daher,  wie  die  Fürsten  jenseits  der  Elbe, 
die  Liquidation  dieses  Komplexes  staatlicher 
Rechte,  ohne  zu  bedenken,  dass  ein  solches 
Vorgehen  in  dem  straffer  organisierten 
Kolonialstaate  von  besonders  verheerender 
Wirkung  sein  rausste.  Abnehmer  der  landes- 
fürstlichen Rechte,  die  sie  veräusserten, 
fanden  sich  überall  im  Lande  selbst:  es 
waren  zunächst  die  Ritter.  Sie  kauften  die 
ihnen  näherliegenden  Rechte.  Sie  erwarben 
das  Schulzenlehn  des  Dorfes;  dem  ihr 
Rittergut  nachbarlich  angrenzte;  sie  sicher- 
ten sich  die  staatlichen  Fronden  der  Bauern- 
schaft sie  kauften  den  markgräflichen  Erb- 
zins der  Hufen,  sie  kauften  die  Bede.  Sie 
traten  in  ihrem  Dorfe  an  des  Markgrafen 
Statt :  und  sofort  verkürzte  sich  die  Perspek- 
tive, von  der  aus  die  staatlichen  Pflichten 
der  Bauern  einst  konstruiert  waren,  ins 
Grundhf?rrliclie.  Der  Ritter  ward  der  Grund- 
herr seines  Dorfes,  die  Bauern  seine  Grund- 
holden. Nur  war  es  nicht  die  behagliche, 
korporativ  unendlich  reich  ausgestaltete, 
von  unten  her  konstruierte,  in  Recht  und 
Pflicht  vielfach  ins  Humoristische  gezogene 
Grundhörigkoit  der  späteren  Zeiten  des 
Mutterlandes.  Die  neuen  auf  die  Ritter 
übertragenen  Rechte  waren  an  sich  unge- 
messen: ursprünglich  staatlich  gedacht, 
hatten  sie  an  dem  staatlichen  Interesse  des 
öffentlichen  Wohles  ihre  virtuell  völlig 
sichere  Grenze  finden  sollen.  Diese  Grenze 
bestand  jetzt  nicht  mehr.  Welche  Rechts- 
vorstellung sollte  jetzt  hindern,  dass  ein 
Ritter  die  privat  gewordenen  Kriegsfronden 
zu  ungemessenen  Ackerdiensten  umwandelte? 
Warum  sollte  das  im  Erbzinsrechte  aner- 
kannte Oberoigontum  des  Markgrafen,  nun 
mit  diesem  Rechte  an  den  Ritter  überge- 
gangen, l)ei  der  grösseren,  durch  die  Nach- 
barschaft bedingten  Einwirkungsfälligkeit  des 
Ritters  auf  die  Bauern  nicht  ungleich 
strengere,  l)isher  ungejihnte  Formen  an- 
nehmen? Selbstverständlich  gar  war  es, 
dass  aus  der  Uebernalime  des  Erbschidzen- 
amtes  sich  volle  Patrimonialgerichtsbarkeit 
entwickelte.  Das  waren  die  Aussichten,  mit 
denen  die  Periode  der  Askanier  in  Branden- 
burg abscliloss.  Keine  Fi-age,  dass  sie  im 
vollen  Gegensatz  standen  zu  dem  ursprüng- 
lichen Charakter  der  kolonialen  Kultur  des 
Ostens.  Grnndstürzend  noch  einmal  hatte 
im  Verlauf  der  Eutwickelung  von  zwei 
Jahrhunderten  gewirkt,  dass  kriegerische 
Dienste  im  früheren  Mittelalter  nicht  anders 
als  durch  Landschenkungen  gelohnt  werden 
konnten.  Wie  die  Besiodelung  des  Ostens 
aus  einer  mittelalterlichen  Kultiu'  her  er- 
folgte, so  trug  sie  in  sich  Ent>\4okelungs- 
keime  der  Naturalwirtschaft,  dieselben  Keime, 
deren  Entfaltung  einst  das  Universalreich 
der  Karlinge  und  jüngst  die  kaiserliehe 
Monarchie   der  Staufer   gestürzt   hatte.    Es 


Grundbesitz  (Greschichte) 


839 


war  das  letzte  Mal,  dass  natiiralwirtschaft- 
liche  Faktoren  eine  junge  Staatsbildung  auf 
deutschem  Boden  herrschend  beeinflussten : 
schon  begann  der  handeltreibende  und 
kriegerische  Ordensstaat  in  Preussen,  be- 
gannen einige  fortgeschrittene  Territorien 
im  geldwirtschaftlich  emporsteigenden  Wes- 
ten neue  Wege  staatlicher  Selbständigkeit 
zu  suchen.  Brandenburg  aber  war  in  seinem 
Verfall  während  der  ersten  Hälfte  des  14. 
Jahrhunderts  für  den  Osten  mit  Ausnahme 
Preussens  nur  das  grösste  Beispiel  einer 
Ent Wickelung,  die  sich  auch  in  den  anderen 
kolonisierten  Territorien  ähnlich  vollzog: 
ungelenk  und  in  sich  verzehrt  erwarteten 
diese  Lande  die  weitere  Verfügung  über  ihr 
Schicksal  von  fremder  Hand ;  allerorten  fand 
die  gix)sse  kolonisatorische  Bewegung  der 
Stauferzeit  ein  jähes  Ende. 

6.  Verfall  der  bäuerlichen  Besitzver- 
hältnisse  im  Mntterlande;  14. — ^16.  Jahr- 
hundert Indes  während  die  agrarische 
Entwickelung  auf  kolonisatorischem  Boden, 
wesentlich  infolge  einer  Verschlechterung 
der  Besitz  Verhältnisse,  doch  erst  den  Anfängen 
unglückhcher  Entwickelung  entgegenging, 
trat  im  Mutterland  schon  der  völlige  Ruin 
der  alten  Verfassung  zu  Tage. 

Schon  seit  dem  13.  Jahrhundert  hatte 
infolge  starken  Ausbaues  im  Mutterlande  die 
Möglichkeit  aufgehört,  eine  wachsende  länd- 
liche Bevölkerung  mit  den  Mitteln  der  bis- 
herigen Landeskultur  unterzubringen  und  zu 
versorgen:  massenhaft  sind  im  14.  Jahrhun- 
dert unproduktive,  später  wieder  einge- 
gangene Höfe  und  Dörfer  angelegt  worden, 
namentlich  in  Süddeutschland.  Und  wäh- 
rend die  damit  drohenden  Verlegenheiten 
im  Laufe  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  noch 
eine  Lösung  gefimden  hatten  durch  den 
grossen  Abzug  der  ländlichen  Bevölkerung 
in  die  Städte  und  zur  Kolonisation  des  Os- 
tens, fielen  diese  Auswege  seit  Beginn  des 
14.  Jahrhunderts  immer  mehr  hinweg. 
Gegen  die  östliche  Kolonisation  erhob  sich 
immer  drohender  die  Reaktion  der  slawi- 
schen A^ölker;  in  den  Städten  der  Heimat 
aber  klärte  sich  die  stüi-mische  btlrgerUche 
Bewegung  seit  spätestens  Mitte  des  14. 
Jalirhunderts  zu  einer  Ruhe  ab,  die  keines- 
wegs starken  Bevölkerungszuschusses  be- 
durfte. 

So  nahm  denn  die  Bevölkerung  des 
platten  Landes  reissend  zu,  und  baJd  er- 
gaben sich  aus  den  wachsenden  Ueber- 
schüssen  beängstigende  Folgen.  Schon  längst 
war  die  alte  Harmonie  ursprünglich  einheit- 
licher Bezirkseinteilung  des  flachen  Landes 
für  Gerichtspflege,  Heeresaufgebot  und  Wirt- 
scliaftsproduktion  zugleich  zerfallen.  Die 
alten  Hundertschaften,  die  dem  freien  Hufen- 
besitzer zugleich  die  Ausübung  seiner  staats- 
bürgerlichen Pflichten  in  Heer  und  Gericht 


verbürgt  hatten,  kannte  man  in  den  meisten 
Gegenden  nicht  mehi';  von  den  alten  politi- 
schen Pflichten  des  Landmanns  im  früheren 
Zusammenliang  war  nicht  mehr  die  Rede. 
Aber  immer  hatten  sich  doch  noch  bis  ins 
14.  Jahrhundert  hinein  vielfach  Gix)ssmarken 
erhalten,  die  eine  Anzahl  von  Dorfgemeinden 
umfassten:  konnte  man  in  ihnen  auch  nicht 
mehr  roden,  so  bildeten  sie  doch  mit  ihrem 
Fonds  von  gemeinen  Rechten  noch  immer 
eine  Sparkasse  gleichsam  der  Bevölkerung, 
deren  Ausbeutung  diu*ch  Zeiten  besonderer 
Not  hindurchretten  konnte.  Jetzt,  mit 
steigender  Bevölkerung,  wurden  auch  diese 
alten  rein  wirtschaftlichen  Zusammenhänge 
vielfach  zerstört  Je  grösser  die  einzelnen 
Dörfer  an  Volkszahl  wurden,  um  so  mehr 
erhob  sich  der  Ruf  nach  Selbständigkeit: 
das  14.  und  15.  Jahrhundert  sind  durch 
eine  unendliche  Menge  von  Streitigkeiten 
und  Trennungsprozessen  in  gemeiner  Mark 
bezeichnet. 

Jedoch  was  schlimmer  war,  die  alte 
Markgenossenschaft  begann  auch  dann  zu 
zerfallen,  wenn  sich  ihre  Ausdehnung  nur 
auf  ein  Dorf  beschränkte.  Gegenüber  den 
neuen  Bildungen  der  Einzelhöfe  und  des 
Kolonialdorfes  mit  getrennter  Ackerlage  der 
einzelnen  Hufen,  die  eine  bei  weitem  mehr 
individualistische  Wirtschaft  ermöglichten, 
erschien  ihre  Dorfanlage  mit  Flurzwang  und 
Gemengelage  von  vornherein  veraltet.  Halten 
hätte  sie  sich  nur  können,  wenn  bei  dem 
allgemeinen  Drängen  der  Zeit  zu  mehr 
individuahstischen  Wirtschaftsformen  für  sie 
der  konmiunistische  Charakter  der  lu-spning- 
lichen  genossenschaftlichen  Anlage  erst  recht 
erhalten  worden  wäre. 

Davon  aber  war  keine  Rede.  Hatte  noch 
im  12.  Jahrhundert  der  Bauer  sich  durch- 
schnittlich, wenigstens  in  nicht  allzu  stark 
besiedelten  (regenden,  des  Vollgenusses  einer 
ganzen  Hufe,  des  alten  markgenossenschaft- 
lichen  Substrates,  erfreut:  jetzt  trat  mit 
steigender  Bevölkerung  und  aufhörendem 
Ausbau  unausweichlich  die  Zersplitterung 
der  alt^n  Hufenbestände  ein;  im  15.  Jahr- 
hundert besass  der  Bauer  kultivierterer 
Gegenden  der  Regel  nach  nur  noch  eine 
halbe  oder  Viertelshufe.  Zugleich  aber  kam 
eine  Masse  Minder-  oder  Nicht  shäbiger 
empor;  es  bildete  sich  ein  ländliches  Prole- 
tariat, eine  Abstufung  auch  der  Besitzenden 
in  bis  dahin  nicht  gekannten  Formen:  eine 
Dorfaristokratie  sonderte  sich  langsam  aus 
gegenüber  einem  Kreise  von  schlechter  Be- 
rechtigten. 

Es  war  der  Ruin  der  alten  Markgenossen- 
schaft. Es  verstand  sich,  dass  die  kleinen 
Leute  ktlrzer  gehalten  wurden  im  gemeinen 
Genuss  der  Allmende,  wenn  sich  nicht  etwa 
gar  die  alten  Hufenbesitzer  der  gemeinen 
Nutzungen  völlig  bemächtigten  und  sich  in 


840 


Grundbesitz  (Geschichte) 


ihrem  Besitz  als  eine  Reaigemeinde  hinaus- 
hoben über  die  Häusler  und  Büdner  des 
Dorfes. 

Wurde  durch  diese  inneren  Entwicke- 
lungen  eine  Fülle  von  Gärungsstoffen  in  die 
kleine  Welt  jedes  Dorfes  getragen,  so  sorgten 
die  von  aussen  kommenden  Einwirkungen 
der  Gnindherrschaft  dafür,  diese  zu  ver- 
stärken. In  der  Auflösung  aer  alten  Grund- 
herrschaft mit  ihrem  wenigstens  teilweise 
rein  wirtschaftlichen  Charakter  war  der 
Grundherr,  soweit  seine  Einnahmen  aus  ur- 
sprünglich hörigem  Besitze  in  Betracht 
kamen,  zum  blossen  Eentenbesitzer  ge- 
worden. Das  Wohl  und  Wehe  der  Land- 
wirtschaft kümmerte  ihn  wenig  mehr;  mit 
dem  Erlös  der  Renten  trieb  er  nicht  selten 
Geldgeschäfte:  alle  unheilvollen  Folgen 
machten  sich  geltend,  die  bei  der  Trennung 
der  Grundrente  von  dem  Arbeitsgenuss  des 
Landmanns  zu  entstehen  pflegen. 

Sie  wirkten  um  so  stärker,  als  die  Grund- 
herren, obwohl  sie  sich  wirtschaftlich  zu- 
rückzogen, ihre  herrschaftlichen  Rechte  und 
die  daraus  erfliessenden  Einnahmen  keines- 
wegs aufzugeben  geneigt  waren.  Ja  sie 
machten  sie  vielmehr  gerade  jetzt,  gegen- 
über der  zunehmenden  Tendenz  der  Stücke- 
lung der  alten  Hufengüter,  in  besonders 
verhängnisvoller  Weise  geltend.  Den  Hen*en 
konnte  an  einer  weitgehenden  Teilung  der 
alten  Güter  nicht  gelegen  sein*  da  die 
Renten  auf  dem  Gute  ruhten,  so  nätten  sie 
bei  deren  zu  weit  gehender  Teilung  leicht 
in  deren  Verlust  geraten  können  oder 
wenigstens  grosse  Schwierigkeiten  bei  der 
Eintreibung  zu  besorgen  gehabt.  Sie  schlössen 
daher  bald  den  Umfang  des  Erbganges  in 
diese  Güter;  mehr  wie  Viertelung  sollte  in 
der  Regel  nicht  erlaubt  sein;  mit  der  Ein- 
sammlung und  Abheferung  der  Zinse  aller 
Teilbesitzer  wurde  der  Restinhaber  des  alten 
Hofes  beauftragt.  Die  Folge  war,  dass  eine 
grosse  Anzahl  von  Grundliolden,  alle  stark 
nachgeborenen  Söhne,  alle  entfernteren  Erben, 
von  der  Nachfolge  in  Landbesitz  ausge- 
schlossen wTU'den:  ein  grundhöriges  imd 
doch  landloses  Proletariat  wuchs  heran. 

Damit  nicht  genug.  Ln  Laufe  einer 
über  vier  Jahrhunderte  langen  Entwicke- 
lung  waren  die  lu-sprunglich  vielfach  per- 
sönlichen Lasten  des  Hörigen  auf  das  von 
ihm  bewirtschaftete  Gut  übertragen  w^orden : 
es  ist  ein  Vorgang,  in  dem  sich  eine  Seite 
der  allmählichen  Befreiung  der  Grund  holden 
zu  besserem  Lose  darstellt.  Wie  wäre  es 
jetzt  möglich  gewesen,  gegenüber  den  land- 
losen Hörigen  diesen  Standpunkt  festzu- 
halten? Ihnen  gegenüber  niusste  man  zu 
dem  alten  Standpunkte  der  Personalbelastung 
zurückgreifen;  von  neuem  erw^uclis  somit 
ein  Stand  rein  persönlich  abhängiger  Leute : 
zum  ersten   Male  innerhalb   der   deutschen 


Sozialgeschichte  wii-d  das  Wort  Leibeigen- 
schaft laut. 

Wurde  aber  so  das  neue  ländliche  Prole- 
tariat zum  grossen  Teile,  beginnend  seit  An- 
fang des  14.  Jahrhunderts,  leibeigen:  war 
es  da  denkbar,  dass  die  Herren  den  neuen 
Standpunkt  nun  nicht  auch  gegenüber  dem 
wirklich  noch  gnmdhörigen  Teile  der  länd- 
lichen Bevölkerung  Nachdruck  sollten  ver- 
liehen haben?  Auch  hier  hielt  man  wieder 
mehr  auf  strenge  Abhängigkeit,  vor  allem 
von  Seiten  der  jetzt  stadtgesessenen  Grund- 
herren, die  sich  berufen  fühlten,  die  schnei- 
digen Grundsätze  der  neuen  städtischen, 
bald  kapitalistisdi  werdenden  Wirtschaft  auch 
auf  dem  Lande  zur  Geltung  zu  bringen. 

Zerstörten  so  die  neueren  gnindherr- 
schaftlichen  und  markgenossenschaftlichen 
Richtungen  die  inneren  Triebe  des  alten 
ländlichen  Daseins  und  seine  Grundbesitz- 
formen, so  dass  eine  tiefgreifende  Umwand- 
lung unvermeidlich  bevorstand,  so  bewirkte 
der  Druck  mehr  äusserlicher  Gewalten,  dass 
diese  Umwandlung  den  Charakter  offener 
Revolution  annahm. 

Die  Kirche,  bis  ins  12.  Jalirhundert  die 
Trägerin  der  höhereu  geistigen  Bildung,  ja 
die  einzige  Lehrmeisterin  der  Nation,  mit 
allen  materiellen  Mitteln  eines  so  hohen  Be- 
rufes reichlich  ausgestattet,  behielt  diesen 
Reichtum  bei,  als  sie  sich  längst  ihrer 
früheren  RoUe  entkleidet  sah.  Ihre  für  die 
Nation  nun  teilweise  unproduktiven  Aus- 
gaben aber  wai*en  vornehmlich  agrarischer 
Natur  und  drückten  das  Land  um  so  mehr, 
als  sich  der  Klerus  vielfach  unter  Vernach- 
lässigimg des  flachen  Landes  den  Städten 
zugewandt  hatte  und  seine  neuen  Organi- 
sationen mit  bürgerlich  geborenen  Geist- 
lichen anfüllte. 

Der  Adel,  im  12.  imd  13.  Jahrhundert, 
in  der  Zeit  der  italienischen  Stauferzüge  und 
der  Minnesinger,  Träger  des  ersten  grossen 
nationalen  Geisteslebens,  war  seit  Beginn 
des  14.  Jahrhunderts  in  jenem  langandauern- 
den Verfall  begriffen,  der  erst  mit  der 
zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  von 
einer  Nachblüte  abgelöst  ward.  Auch  er 
drückte  das  Land;  agrarischer  Herkunft, 
nahm  er  sich  gleichwohl  ländlicher  Into 
essen  nicht  an;  sogar  in  seinen  Bildungs- 
zielen ward  er  dem  Bauer  fremd. 

Wie  viel  mehr  musste  das  dann  von 
einem  Bürgertum  gelten,  das  ja  eben  im 
Gegensatz  zum  platten  Lande  gross  ge- 
worden war :  mit  Erfolg  bestrebte  sich  dieses 
seit  dem  Ausgang  des  14.  Jahrhunderts,  die 
gegenseitige  Durchdringung  ländlicher  und 
städtischer  Wiilschaftsinteiessen  zu  unter- 
drücken, wie  sie  in  der  natürlichen  Folge 
des  danials  erfolgenden  enormen  Verkehre- 
aufschwunges gelegen  haben  würde. 

So  konnte  aem  Bauer  diuxjh  die  empor- 


Grundbesitz  (Geschichte) 


841 


blühende  fürstliche  Gewalt  allein  Hilfe  er- 
wachsen. Indes  gerade  von  dieser  Seite 
sah  er  sich,  je  länger,  um  so  herber  be- 
drängt Der  fürstlichen  Gewalt  zur  Seite 
erwuchsen  die  Stände  des  Adels,  des  höheren 
Klerus,  der  landgesessenen  Städte:  eben 
jene  Schichten,  die  von  vornherein  dem 
Bauer  entgegentraten,  wurden  unentbehrliche 
Stützen  der  Territoiialgewalt  bis  tief  hinein 
in  die  zweite  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts. 
Diese  Stände  bewilligten  dem  Fürsten  die 
Mittel  zur  Aufstellung  von  Kriegsheeren  und 
damit  zur  Führung  einer  energischen  aus- 
wärtigen Politik:  es  war  darum  selbstver- 
ständlich, dass  der  Fürst  mit  ihnen  einver- 
standen war,  dass  diese  Mittel  vornehmlich 
vom  Bauern  aufzubringen  seien.  So  be- 
drückte eine  Steuerabwälzung  schlimmster 
Art  in  immer  steigendem  Fortschritt  den 
ländlichen  Grundbesitz,  der  sich  zumeist 
schon  nicht  mehr  des  Genusses  der  Grund- 
rente erfreute;  es  entwickelten  sich  uner- 
trägliche Zustände. 

Zugleich  aber  begann  eine  fürstliche  Ge- 
setzgebung unter  Mitwirkung  und  gemäss 
den  sozialen  und  wirtschaftlichen  Bedürf- 
nissen der  Stände  zu  erfliessen,  und  die 
fürstliche  Verwaltung  schickte  sich  zur 
Unterdrückung  der  althergebrachten  auto- 
nomen Yerwaltungen  an.  Die  erste  Rich- 
tung verstärkte  den  Gegensatz  zwischen 
Stadt  und  Land,  sicherte  die  grundherr- 
lichen Rechte,  soweit  sie  privatrechtlicher 
Natur  waren,  und  dehnte  sie  ins  Staats- 
rechtliche aus;  die  zweite  Richtung  stellte 
die  markgenossenschaftliche  Yerfassung  unter 
staatliche  Aufsicht,  beschnitt  sie  durch  all- 
gemeine Verordnimgen  über  Waldnutzung 
und  Weidegang,  über  Dorfpolizei  imd  Wirt- 
schaftspflege überhaupt,  niahm  ihr,  wo  es 
anging,  langsam  allen  Gemeinbesitz,  der  sich 
nicht  urkundlich  oder  sonst  authentisch  als 
solcher  nachweisen  hess,  und  schritt  schliess- 
lich dazu  fort,  ganz  allgemein  das  genossen- 
schaftliche Gtemeindeleben  zu  imterdrücken. 

Es  waren  langsam  wirkende  Tötungs- 
mittel für  das  alte  ländliche  Dasein  um  so 
mehr,  als  der  Bauer  an  den  grossen  geistigen 
wie  wirtschaftlichen  Kräften  der  neuen  Zeit, 
die  er  zu  Hilfe  hätte  rufen  können,  keinen  Teil 
mehr  erhielt.  Seit  dem  13.  Jahrhundert  ent- 
wickelte sieh  immer  mächtiger  in  den  Städten 
die  Geld  Wirtschaft ;  der  Bauer  hätte  ihrer 
wohlthätigen  Einwirkung  zur  Entfaltung 
eines  angemessenen  ländlichen  Kredites  wohl 
bedurft.  Aher  nur  die  schlimmsten  agrar- 
feindlichen  Formen  des  Kredites,  der  Ken- 
tenkauf,  der  nur  dem  Gläubiger  Kündigung 
sichert,  und  der  kurzläufige  Kredit  auf  die 
Ernte  im  Halm  und  die  WoUe  auf  dem 
Schafe  drangen  aufs  Land;  schon  im  14. 
Jahrhundert  sind  sie,  in  Süddeutschland 
namentlich,    weithin    verbreitet,    irni    den 


Bauer  gegen  Schluss  des  15.  Jahrhunderts 
vollends   zu  ruinieren. 

Nicht  minder  versagte  gegenüber  dem 
Bauer  die  neue  geistige  Entwickeluug  des 
Humanismus.  War  dem  Bauersmann  schon 
die  kirchliche  Bildung  des  frühmittelalter- 
lichen Klerus  wie  die  weltliche  Büdung'  des 
Adels  in  der  Stauferzeit  mehr  oder  minder 
fern  geblieben,  so  hatten  sie  ihm  doch 
wenigstens  nicht  unmittelbar  geschadet. 
Jetzt  aber  kam  mit  dem  Humanismus  das 
römische  Recht.  An  sich  nicht  bauernfeind- 
lich, wirkte  es  doch  schon  durch  seine  ab- 
strakten Formen  und  das  Fremdländische 
seines  Wesens  auf  die  ländliche  Be- 
völkerung verblüffend,  zumal  diese  es  von 
den  fürstlichen  Dienern,  Söhnen  des  Adels 
und  des  Bürgertums,  gehandhabt  sah.  Ausser- 
dem aber  besass  es  gerade  für  die  ländlichen 
Besitzverhältnisse,  wie  sie  sich  seit  dem 
13.  Jahrhundert  entwickelt  hatten,  keine 
entsprechenden  Begriffe,  und  diejenigen  Be- 
griffe, die  aus  ihm  subsidiär  herangezogen 
werden  mussten,  waren  meist  so  chf^akteri- 
siert,  dass  sie  dem  Bauer  eher  zum  Nach- 
teil gereichten  als  zum  Vorteil.  Endlich 
aber  war  den  einheitlichen  Anschauungen 
der  römischen  Jiuisprudenz  die  bunte  Viel- 
heit germanisch-bäuerlicher  Rechtsbüdung 
ein  unerträglicher  Greuel ;  darum  nivellierte 
und  unifizierte  man  das  deutsche  Recht, 
brachte  es  hübsch  »auf  gemeinen  Fuss« 
durch  dem  Bauer  völlig  unverständliche  De- 
duktionen untl  nahm  das  Niveau  der  neuen 
Gleichheit  meist  weit  unter  der  durch- 
schnittlichen Wohlthat  rechtlichen  Herkom- 
mens. 

So  führte  man  den  Bauer  durch  Druck 
und  Plage  hinein  in  eine  ihm  fremde  Welt 
anderen  Daseins:  verarmt,  verlassen,  ent- 
täuscht, ward  er  schliesslich  unwirsch.  Und 
fehlte  ihm  noch  der  Mut  der  Selbsthilfe,  so 
-Ä-inkten  ihm  frohe  Beispiele  aus  der  Peri- 
pherie deutschen  Wesens.  Hatten  nicht  die 
Dithmarschen  sich  vor  Generationen  freies 
Heim  und  sorgenloses  Dasein  gegen  die 
Grossen  erstritten?  Und  jetzt  standen  die 
Schweizer  auf  der  Schanze,  allen  vorweg 
das  freie,  echt  bäuerliche  Volk  der  Appen- 
zeller; sie  hatten  die  Habsbm-ger  des  Landes 
vertrieben,  sie  waren  aufgestanden  gegen 
den  hochmütigen  Burgunderfürsten;  sie 
sahen  stolz  ins  deutsche  Land  hinein,  und 
geheime  Kunde  flog  von  ihnen  herbei  über 
Kampf  und  Aufruhr. 

So  versuchten  es  auch  die  deutschen 
Bauern.  Aufstand  auf  Aufstand  drängte 
herbei  bis  zu  dem  tollen  Jahre  1525.  Und 
noch  einmal  bewährte  sich  dem  deutschen 
Bauer  in  dieser  Lage  die  alte  genossen- 
schaftliche Verfassung.  Er  redete  frei  unter 
seinen  Genossen,  er  nahm  das  alte  Gewaffen 
von  der  Wand,   dessen  Gebrauch  ihm  noch 


842 


Örimdbesitz  (Greschicht<») 


immer  zuatand ;  er  kam  nach  Landesgeschrei 
zu  Hanfe.  Waffenrecht  und  Versammlungs- 
recht thaten  ihm  ihre  Dienste. 

Freilich,  am  Ende  ohne  Erfolg.  Wie  der 
Bauer  wirtschaftlich  und  geistig  der  neuen 
Zeit  erlegen  war,  so  unterlag  er  ihr  auch 
militärisch.  Doch  nicht  vergebens  hat  er 
gekämpft.  Er  wahrte  sich  durch  seinen 
verzweifelten  Widerstand  wenigstens  die 
Ijage  der  Gegenwart  im  wesentlichen  noch 
auf  lange  Zeiten.  Erst  die  neuere  Zeit  hat 
im  Mutterland  —  aber  unter  ganz  ver- 
änderten Formen  —  die  Ziele  erreichen 
sehen,  die  dem  Andrang  namentlich  des 
Fürstentums  schon  im  15.  Jahi'hundert 
dunkel  vorechwebten,  die  Zerstönmg  der 
alten  Selbstverwaltung  und  die  Begründung 
der  Personalgemeinde  an  Stelle  der  alten 
genossenscliaftJichon  Bildung. 

7.  Verschlechtenmg  der  bäuerlichen 
Beaitzverhältnisse  auf  kolonialemBoden ; 
Entstehung  der  ländlichen  Grosswirt- 
schaften; 15. — 17.  Jahrhundert  Während 
im  Mutterlande  sich  vom  15.  zum  16.  Jahr- 
hundert die  unglückliche  Lage  der  länd- 
lichen Verhältnisse  in  langandauemden  revo- 
lutionären Zuckungen  äusserte,  nahm  die 
Eutwickehmg  im  kolonialen  Osten  einen  ab- 
'weicheuden  Verlauf. 

Die  GnmdheiTlichkeit  des  Mutterlandes 
war  im  wesentlichen  autonom,  von  unten 
her  entstanden.  Indem  die  Grundherren  die 
anfangs  von  ihnen  geschaffene  Organisation 
ihrer  Grundholden  der  Weiterbildung  durch 
Selbstverwaltung  und  weitreichend  autonome 
Rechtsfindung  überüessen,  stärkten  sie  in 
den  unteren  ländlichen  Klassen  das  Bewusst- 
sein,  ja  das  Recht  eigener  Existenz  und 
solbstthätigen  Widerstandes.  Zwar  wurden 
die  Gnmdherren  schon  früh  auch  mit  ein- 
zelnen staatlichen  Rechten  ausgestattet,  aber 
DIU"  langsam  wandten  sie  diese  an  imd  er- 
weiterten sie  zu  einer  allgemeinen  Hoheit, 
die  dann  sofort  staatsrechtlich  gefasst  ward. 
Dadurch  wurden  die  Grundholden  gerade  der 
grössten  Grundherrschaften  im  Mutterland 
seit  Beginn  des  14.  Jahrhunderts  »arme 
Leute«,  d.  h.  Unterthanen  ihres  Herren,  der 
meist  Landeshen-  geworden  war,  im  Sinne 
öffentlichen  Rechtes. 

Geradezu  entgegengesetzt  verläuft  die  Ent- 
Wickelung  im  Kolonialgebiet  des  Ostens. 
Hier  sind  die  deutschen  Siedelmannen  an- 
fangs persönlich  frei,  wirtschaftlich  nur  im 
Sinne  eines  weitherzig  konstruierten  Erb- 
zinsrechtes gebunden.  Aber  schon  im  13. 
und  14.  Jahrhundert  erwirken  sich  die  Ritter 
der  einzelnen  Dörfer,  die  anfangs  nur  einige 
Hufen  im  gewöhnlichen  Dorfgenossenrechte 
besitzen,  hoheitliche  Rechte,  ja  in  praxi  zu- 
meist das  gesamte  hoheitliche  Recht  über 
das  Dorf  ihres  Sitzes  und  oft  noch  über  eine 
Fülle  anderer  Dörfer.    Indem  sie  dann  diese 


Hoheit  ZTU*  Ausbildung  grundherrlicher 
Rechte  von  oben  her  benutzen,  begrilnden 
sie  schon  im  Laufe  des  spätei-en  Mittelalters 
die  Anfänge  einer  weit  enei-gischeren  Grund- 
herrüchkeit,  als  sie  im  Mutterlande  jemals 
bestanden  hat. 

Seit  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  spätestens 
aber  tritt  eine  Reihe  neuer  Motive  hinzu, 
um  die  Ausbildung  dieser  neuen  Gnmd- 
herrlichkeit,  die  in  sich,  weil  hoheitlich  l)e- 
dingt,  kaum  Grenzen  kennt,  wesentlich  zu 
verschärfen. 

Vor  allem  wird  der  Adel  zur  wirtschaft- 
lichen Ausnutzung  und  Vergrösserung  des 
ihm  unmittelbar  unterstehenden  Besitzes  ge- 
drängt. Bis  zu  den  Husiten  kriegen  war  der 
Edelmann  der  geborene  Krieger  gewesen; 
eben  im  militärischen  Dienste  zu  lioss  war 
er  zum  Landesadligen  erwachsen.  Nun 
hatte  aber  eine  FüUe  von  Niederlagen  des 
Adels  in  den  Kämpfen  von  Azincourt  und 
Sempach  ab  gezeigt,  dass  die  Zeit  der 
Ritterheere  vorüber  war;  seit  den  Hiisiten- 
kriegen  war  daran  auch  im  Osten  Deutsch- 
lands kein  Zw^eifel  mehr  möglich.  Die 
Fürsten  sahen  sich  auf  die  Errichtung  von 
Fussheeren  liingc wiesen ;  der  Dienst  des 
Ritters,  bisher  vielfach  dauernde  Beschäf- 
tigung und  eigentlicher  Beruf,  verkümmerte. 
Das  um  so  mehr,  als  gleichzeitig  dessen 
unberechtigte  Ausübung  im  Raubrittertum 
und  Ste^eifritterwesen  vereitelt  waitl:  es 
ist  die  Periode  mächtig  erblühenden  Ver- 
kehrs und  stärker  betonten  Reichs-  und 
Landesfriedens.  So  musste  der  Ritter,  wie 
der  Germane  einst  der  Urzeit,  vom  kriege- 
rischen Leben  sich  friedlichem  Landbau  zu- 
wenden. Indem  er  das  aber  tliat,  griff  er 
den  neuen  Beruf  im  organisatorischen  Stil 
der  fortschreitenden  Volkswirtschaft  an;  so- 
fort ward  er  Adept  des  Grossbetriebes; 
alsbald  suchte  er  zu  seinem  bisherigen  Klein- 
gut Land  hinzuzuerwerben  und  aus  dem  Be- 
sitze vieler  Hufen  heraus  für  den  Markt  zu 
produzieren. 

Das  war  nicht  möglich  ohne  energische 
Störung  der  bisherigen  Besitzrechte  der 
Bauern.  Nun  standen  diese  zwar  gewohn- 
heitsrechtlich fest.  Der  deutsche  Kolonist 
besass  von  Anbeginn  ein  festes  Erbrecht, 
höchstens  wenn  em  Auswärtiger,  nicht  dem 
Dorfe  Eingesessener  erbte,  gebühi-te  der 
Hen'schaft  ein  gr(5sserer  Anteil  des  Erbes. 

Allein  diese  Lage  hatte  die  mit  Ho- 
heitsrechten ausgestatteten  ritterlichen 
Gutsherren  schon  des  15.  Jahi-hunderts  nicht 
mehr  gestört.  Indem  sie  die  Lehre  ent- 
wickelten, alle  Bauern  seien  auf  ursprüng- 
lichem Ritteracker  angesetzt,  mithin  sich 
das  Bodenregal  im  Dorfe  zuschrieben, 
glaubten  sie  sich  zur  Enteignung  der  Bauern- 
güter mindestens  in  gewissen  Fällen,  z.  B. 
im  Fall  bäuerlichen  Ungehorsams  oder  zur 


Grundbesitz  (Oescliichte) 


843 


Herstellung  erweiterter  ritterlicher  Wohnsitze, 
gegen  Zahlung  des  Gutswertes  bei'echtigt. 
Ueber  diese  Sclu^anken  ging  man  dajin  im 
16.  Jahrhundert,  voruehinlich  in  dem  fried- 
lichen Zeitalter  nach  den  Religionskriegen, 
noch  weit  hinaus :  ein  allgemeines  Auskaufs- 
(Ijegungs-)  Recht  gegenüber  den  Bauern- 
gütern ward  entwickelt  und  bei  der  Aus- 
übung desselben  »grosser  Missbrauch  und 
ünortlnung  gespuret»  ^).  In  der  That  war 
die  durch  das  Legungsi-echt  herbeigeführte 
Veränderung  der  Besitzrechte  in  vielen  Tei- 
len des  Ostens  gross;  in  der  Mittelmark 
z.  B.  wuchs  das  gutsherrliche  Areal  in  den 
letzten  zwei  Generationen  vor  dem  dreissig- 

i 'ährigen  Kriege  um  die  Hälfte  seines  bis- 
lerigen  Bestandes. 

Indem  aber  die  ritterlichen  Gutsherren 
ihren  Besitz  mehrten,  erhob  sich  sofort  die 
Frage  nach  der  Möglichkeit  seines  agrari- 
schen Betriebes.  Das  Land  war  noch  dünn 
l)evölkert,  und  spärlich  verteilt  war  die  Zahl 
freier  Lohnarbeiter.  Von  Fronden  aber 
standen  dem  Gutsherrn  ursprünglich  nur  die 
staatsrechtlichen  Dienste  der  Bauern  beim 
Heeresauszug,  zur  Instandhaltung  öffentlicher 
Wege  und  dergleichen  zu  Gebote. 

Nim  wai'en  freilich  die  bäuerlichen  Fron- 
den wohl  schon  durchweg  im  Mittelalter 
über  diesen  Stand  hinaus  entwackelt  worden ; 
der  Ritter  hatte  kraft  allgemeinen  Hoheits- 
rechts schon  Ackerdienste  für  sein  Gut  in 
Anspruch  angenommen.  Indes  sie  direkt 
zu  erhöhen  trug  man  doch  zunächst  Boden- 
ken; erst  seit  Mitte  des  16.  Jahrhunderts, 
nachdem  durch  das  römische  Recht  die  Prä- 
sumtion ungemessener  Fronden  allgemein 
geläufig  geworden  war,  ist  man  zu  erlieb- 
iicher  Steigerung  geschritten.  Zunächst  da- 
gegen —  wie  auch  fürderhin  neben  der 
Steigerung  der  Frondienste  —  half  man  sich 
von  anderer  Seite  her. 

Schon  früh  hatte  man  die  Anfänge  einer 
allgemeinen  Finanz-  tmd  Polizeihoheit  über 
die  Bauern  entwickelt.  Trat  an  den  Adel 
die  harte  Notwendigkeit  der  Bewilligung 
neuer  ständischer  Steuern  für  den  Ijandes- 
herrn  heran,  so  wusste  er  sich  des  Druckes 
auf  den  eigenen  Beutel  durch  Abwälzung 
der  Steuer  auf  die  »ITnterthanen«,  d;  h. 
seine  Bauern,  zu  entledigen:  es  war  eine 
Praxis,  die  Albrecht  AchiUes  ausdrücklich 
gebilligt  liat:  sonst  werde  der  Adel  aufsäs- 
sig. Was  Wunder,  wenn  der  Adel  nun  auch 
nach  anderen  Seiten  hin,  ohne  fürstliche 
Bewilligung  oder  Duldung,  die  Bauern 
glaubte  belasten  zu  dürfen. 

Neben  dieser  Anschauung  bildete  sich 
vornehmlich  seit  Wende  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts die  weitere,  dass  der  GutsheiT  über 


')  Brandenburg  1606,  vgl.  Grossmann,  S.  27, 
Anm.  ö. 


die  Dorfbauern  absolute  polizeiliche  Autorität 
l^esitze.  Zunächst  aus  dem  autoritären  Geist 
des  römischen  Rechtes  entwickelt,  fand  sie 
zunehmende  Ei-mutigung  im  Vergleich  mit 
dem  eben  in  Entfaltung  begriffenen  patri- 
archalischen Absolutismus  des  Fürsten ;  was 
der  Fürst  im  Temtorium  zu  sein  erstrebte ; 
Vorsehung,  alles  regelnde  Obergewalt,  das 
kopierte  der  Gutsherr  im  Dorfe. 

Aus  diesen  Motiven  heraus  erwuchs  das 
Bestreben ,  die  Patrimonialgerichtsbarkeit 
immer  straffer  anzuspannen,  ergab  sich  eine 
bis  ins  kleinste  hinein  ordnende  Luxusgesetz- 
gebung und  eine  Ordnung  der  dörflichen 
Selbstverwaltung,  die  diese  ertötete.  Vor 
allem  aber  waitl  die  neue  Vorstellung  all- 
gemeiner Polizeigewalt  nutzbar  gemacht  zur 
vollsten  Verfügung  über  die  Arbeitskräfte 
des  Dorfes. 

Schon  in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahr- 
hunderts tritt  zu  diesem  Zwecke  das  ge- 
legentliche Bestreben  auf,  den  Bauern  an 
die  Scholle  zu  fesseln ;  erreicht  ward  es  in 
Brandenburg  z.  B.  in  den  Landtagsrezessen 
der  Jahre  1536,  38,  39,  72,  1602.  Wurden 
dadureh  die  bäuerlichen  Fronden  für  immer 
lückenlos  festgelegt,  so  ging  man  bald 
weiter.  Man  verbot  einerseits  die  Aufnahme 
von  freien  Arbeitern  im  Dorfe,  andererseits 
normierte  man  die  Gesindelöhne  auf  nie- 
drigste Taxen.  Der  Gedanke  konnte  dabei 
nur  sein,  diese  niedrigen  Löhne  der  Herr- 
schaft zu  gute  kommen  zu  lassen.  In 
diesem  Falle  aber  bedurfte  es  der  Ergänzung 
dieser  Massregel  durch  Einführung  des 
Zwanges  für  alle  bäuerlichen,  noch  nicht 
selbständig  gewordenen  Arbeitskräfte,  der 
Herrschaft  zu  dienen.  Das  war  es,  was 
schon  im  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  (in 
Brandenbm-g  der  Hauptsache  nach  im  Jahre 
1518)  erreicht  ward.  Nun  standen  dem 
Gutshen-n  Arbeitskräfte  zur  Genüge  zur 
Verfügung:  war  er  anfangs  an  die  Frage 
des  Gesindezwanges  noch  vielfach  gebunden 
—  der  Zwang  war  auf  gewisse  Jahre  be- 
grenzt, er  durfte  niu»  gegen  den  Entgelt 
eines  wenn  auch  geringen  Lohnes  ausgeübt 
werden  — ,  so  gelang  es  doch  in  den  meisten 
Fällen,  diese  Unbequemlichkeiten  über  kurz 
oder  lang  zu  beseitigen.  Das  Schlussergebnis 
w^ar  im  allgemeinen,  dass  dem  Gutsherrn 
die  für  den  erweiterten  Betrieb  notwendigen 
Arbeitskräfte  im  wesentlichen  im  eigenen 
Dorfe  gegen  geringste  Vergütung  in.  Bereit- 
schaft standen. 

Was  aber  war  im  Verlauf  dieser  Um- 
gestaltungen aus  dem  Erbzinsbauer  der 
Kolonial  zeit  geworden!  Er  war  gebunden 
diu*ch  ritterliche  Polizei  und  Gerichtsbarkeit, 
beschwert  durch  wachsende  Fronden,  ver- 
pflichtet zur  Hergabe  seiner  noch  unselb- 
ständigen Kinder  in  gutsherrliche.  Dienste : 
einst  ein   freier  Siedler,  war  er  zimi  erb- 


844 


Grundbesitz  (Geschichte) 


iinterthänigen  Hintersassen  seines  gnädigen 
Herrn  entartet. 

und  doch  drohten  seinem  Dasein  noch 
grössere  Gefahren.  Noch  immer  war  er 
erbsässig,  noch  war  er  wirtschaftlich  nicht 
vor  den  Ruin  gestellt,  noch  sind  bis  Schlnss 
des  dritten  Viertels  des  16.  Jahrhunderts 
Bauern  aus  dem  Mutterland  in  die  Mark 
Brandenburg  eingewandert  in  so  reichem 
Masse,  dass  trotz  aller  Legung  von  Höfen 
doch  die  Zahl  der  Bauerngüter  nicht  in 
Abnahme  erschien ;  und  noch  Kantzow  konnte 
die  Lage  der  pommerschen  Erbzinsbauem 
mit  den  Worten  schildern:^)  »die  pawren 
stehen  in  diesem  lande  (so)  wohl  ....  dass 
offte  ein  armer  edelman  einem  reichen 
pawren  siene  tochter  gibt  und  die  kinder 
sich  darnach  halbedel  achten.« 

Was  den  Bauern  der  deutschen  Siedelung 
seit  Abschluss  der  Kolonisation  immer  furcht- 
barer zu  drohen  begann,  das  war  die  Ver- 
mischung mit  den  slawischen  und  sonstigen 
fremdländischen  Volksresten  des"  Landes  und 
mit  der  von  ihnen  teilweis  in  die  neuen 
deutschen  Verhältnisse  liinübergeretteten 
minderwertigen  Kultur. 

Lange  Zeit  hindurch  hatten  die  Slawen, 
Preussen  und  Litauer  auf  der  einen  Seite, 
auf  der  anderen  die  Deutschen  sich  unver- 
mischt  gegenübergestanden.  Unter  diesen 
Verhältnissen  waren  fremde  Siedehmgen 
zwischen  den  neuen  deutschen  Anlagen  wie 
zwischen  germanisierten  Fremddörfern  ruhig 
bestehen  geblieben,  je  weiter  gegen  Osten, 
um  so  mehr,  soweit  der  Eroberer  den  alten 
Einwohnern  nicht  sein  eigenes,  besseres 
Recht  bewilligt  hatte.  Es  war  gleichsam 
eine  andere  Welt,  die  den  deutschen  Siedler 
nicht  berührte  •  mit  Verachtung  sah  er  auf 
sie  herab,  die  Teilnehmer  an  ihr  galten  dem 
deutschen  Recht  vielfach  als  unehrlich. 

Dieser  Standpunkt  liess  sich  mm  im 
Laufe  der  nächsten  Jahrhunderte  nach  dem 
Zeitalter  der  Kolonisation  je  länger  je  we- 
niger aufrecht  erhalten.  Die  fremden 
Sprachen  starben  aus  oder  zogen  sich  auf 
wenige  geschlossene  Sprachinseln  zurück, 
die  meisten  Slawen  und  Preussen  nahmen 
deutsche  Prägung  an,  wurden  ein  Teil  der 
Nation.  Es  ging  nicht  anders  an,  denn  sie 
als  solche  zu  betrachten,  schon  das  16.  Jahr- 
himdert  hat  sich  dieser  Konse(_[uenz  nicht 
mehr  entziehen  können. 

AUein  trotz  dieser  Amalgamierung  auf 
sprachlichem  und  geistigem  Gebiete  blieb 
den  ehemaligen  Fremden  des  platten  Landes 
doch  ihr  altes,  minderwertiges,  ursprünglich 
nichtnationales  Recht  Sie  waren  \'ielfach 
völlig  unfrei,  sie  darbten  erblichen  Rechtes 
an  iliren  Gütern,  nur  dass  dieses  Recht  jetzt 
nicht  mehr  als  aussernational  erschien.    In- 


M  Pomnieriana  II,  433. 


dem  seine  Träger  Deutsche  geworden  wareu, 
erschienen  sie  nun  als  Bauern  zweiter 
Klasse  eines  immerhin  nationalen  Rechtes, 
und  die  Frage  trat  auf,  warum  denn  die 
m'sprünglich  deutschen  Siedelleute  besseren 
Rechtes  genössen.  Die  Antwort,  wie  sie 
die  Gutsherren  darauf  erteilten,  ist  im  all- 
gemeinen überall  dieselbe,  leicht  begreifliche 
gewesen.  Sie  sahen  das  Ideal  des  Bauern- 
standes, dem  sie  als  Grossgutsbesitzer  zu- 
strebten, in  der  niedrigeren  Klasse  der  ur- 
sprünglich aussernationälen  Landleute  er- 
reicht, sie  betrachteten  den  besseren  Stand 
der  altdeutschen  Siedelleute  nicht  als  ein 
natürliches  Ergebnis  der  Entwickelung,  son- 
dern als  Ausgeburt  eines  unerklärlichen  und 
unerträglichen  Privilegs,  und  sie  versuchten 
ihn  demgemäss  auf  das  Niveau  der  minder 
berechteten  Fremdbauern  hinabzudrücken. 
Die  Folgen  dieser  Anschauung  waren  für 
den  deutschen  Erbzinsbauer  einfach  und 
traurig;  mit  allen  Mitteln  wiu^e  er  unter- 
drückt; eben  mit  Hinsicht  darauf  berichtet 
ein  vorurteilsloser  Berichterstatter  aus  Pom- 
mern von  der  Mitte  des  16.  Jahrhimderts : 
»itzund  deit  men,  wat  men  wilP)«. 

Unter  diesen  Umständen  ward  es  für  die 
Länder  östlich  der  Elbe  eigentlich  erst  jetzt 
von  der  grössten  Bedeutung,  in  welchem 
Prozentsatz  sich  ursprünglich  deutsche 
Siedelleute  in  ihnen  als  Erbzinsbauem  neben 
der  alteinheimischen  Bevölkenmg  nieder- 
gelassen hatten.  Denn  je  geringer  dieser 
Prozentsatz  war,  um  so  eher  siegte  jetzt 
das  fremde  schlechtere  Recht. 

Am  günstigsten  war  da  die  Lage  in 
Brandenburg.  Hier  war  fast  das  ganze  Land 
der  Besiedelung  diu»ch  Deutsche  anheim- 
gefallen; nur  in  der  Neumark  und  Ucker- 
mark, in  den  Herrschaften  Beeskow  und 
Storkow,  wie  um  Kottbus  hielten  sich  Reste 
der  slawischen  Bevölkerung.  Darum  siegte 
auch  hier  dauernd  das  deutsche  Siedelrecht^ 
wenngleich  in  der  gutsherrlichen  Beschnei- 
dung des  16.  Jahrhunderts ;  die  Schilderung, 
welche  oben  über  die  Lage  der  Kolonial- 
bauern und  ihre  Versclilechterung  ent- 
worfen ist,  gilt  darum  in  fast  allen  ihren 
Zügen  vornehmlich  und  zuerst  für  Branden- 
bm-g. 

Anders  und  um  vieles  schlechter  ge- 
stalteten sich  die  Dinge  in  Holstein  und  noch 
melir  in  Mecklenburg,  Pommern  und  Livlaiid. 
Hier  hatte  die  deutsche  Kolonisation  je 
weiter  nach  Osten,  um  so  weniger  intensiv 
gewirkt;  schon  in  Pommern  waren  eigent- 
lich nur  die  Hagendörfer  auf  vornehmlich 
geistlichem  Boden  von  deutschen  Bauern 
neu  begründet  worden.  Hier  drang  darmn 
der  Mangel  eines  festen  Besitzrechtes,  w^ie 
er  die  slawischen  Verhältnisse  bezeichnete, 

*)  Normann  bei  Fuchs,  S.  63. 


Gnmdl>esitz  (Geschichte) 


845 


auch  für  die  deutschen  Siedler  schliesslich 
so  gut  wie  allgemein  durch ;  zugleich  wiu^en 
die  Fronden  ungemessen,  wurde  die  Schollen- 
pflichtigkeit  ausgesprochen,  wiutle  der  Bauer 
tiberhaupt  als  einfache  Pertinenz  des  dörf- 
lichen Kittergutes  betrachtet.  Es  war  eine 
Entwickelung,  deren  systematischer  Durch- 
bildung die  Reception  des  römischen  Rechtes 
vielfach  -wirksam  zu  Hilfe  kam,  indem  sie 
das  bäuerliche  Besitzrecht  nach  der  Form 
der  Emphyteuse  konstruierte  und  daneben 
höchstens  den  contractus  libellarius  der 
langobanlisclien  Lehnrechtsquellen  gelten 
liess.  So  geschah  es  in  Mecklenburg  vor- 
nehmlich infolge  der  Schrift  des  ilusanus 
vom  Jahre  1590  imd  in  Pommern  infolge 
des  Buchs  des  David  Mevius  vom  Jahre  1645. 

Die  Praxis  aber  war  schon  längst  über 
die  Systematik  des  Rechtes  hinausgegangen, 
indem  sie  für  den  Rechtszustand  der  Bauern 
den  Begiiff  oder  wenigstens  die  (begrifflich 
nicht  völlig  abgeklärte)  Anschauung  einer 
neuen,  angeblich  von  jeher  bestandenen 
Leibeigenschaft  schuf.  Was  diese  im  Leben 
bedeuten  konnte,  das  lässt  eine  Bestimmung 
der  pommerschen  Gemeindeordnung  vom 
Jahre  1646  erkennen,  die  man  im  Jahre 
1694  zu  erneuern  für  gut  befand;  nach  ihr 
sollten  entwichene  Unterthanen  und  Bauem- 
kinder,  die  sich  binnen  drei  Monaten  nicht 
freiwillig  ziun  Zwangsdienst  oder  zur  Füh- 
rung eines  Hofgutes  stellten,  diuxsh  An- 
schlagung ihres  Namens  am  Galgen  un- 
ehrlich gemacht  und  vom  Scharfrichter  mit 
Brandmalen  in  den  Backen  versehen  werden.^) 

Von  weniger  unglücklichen  Folgen  war 
die  Beimischung  fremder  Bauern  in  Schlesien 
und  Preussen. 

In  Schlesien  gewährten  die  zahlreichen 
urkundlichen  Verträge  den  eingewanderten, 
übrigens  meist  kompakt  aneinandersitzenden 
deutschen  Siedlern  vielfach  Sicherheit  gegen 
Minderung  der  ursprünglichen  Rechte;  zu- 
dem war  hier  ausnahmsweise  die  landes- 
fürstliche Gewalt  schon  früh  darauf  bedacht, 
den  deutschen  Bauern  auch  in  stark  slawisch 
gebliebenen  Gegenden  den  erblichen  Besitz 
ihrer  Höfe  zu  sichern.^)  So  versteht  es  sich, 
wenn  sich  gerade  in  Schlesien  später,  na- 
mentlich auch  im  Norden,  viele  Erbpächter 
und  Erbzinser  besseren  Rechtes  finden. 

In  Preussen  endlich  hat  die  besondere 
Art  der  Erobenmg  eigenartige  Verhältnisse 
geschaffen.  Mehrfache  Empörungen  brachten 
hier  die  alteingesessene  Bevölkerung  um 
den  Genuss  der  milderen,  deutschem  Rechte 
etwa  entsi)rechenden  Hörigkeit,  die  sie  an- 
fangs  besass:   an   ihrer   Statt   ward  schon 


^)  Fuchs,  S.  126. 

*;  Verordnung  Kaiser  Ferdinands  I.  vom 
Jahre  1562  für  Oppeln  und  Ratibor,  v.  Brünneck 
in  Conrads  Jahrbüchern,  N.  F.  16,  369. 


im  13.  Jahrhundert  die  Leibeigenschaft  ginmd- 
sätzlich  eingefülirt  und  späterhin,  namentlich 
nach  dem  Frieden  von  Thom  (1466)  unter 
dem  Einfluss  der  polnischen  unbedingten 
Knechtschaft  in  ihren  Wirkungen  noch  we- 
sentlich verstärkt.  Damit  war  zwischen  den 
eingewanderten  deutschen  Siedelleuten  und 
der  einheimischen  Bevölkerung  eine  Kluft 

fBSchaffen,  die  unüberbrückbar  blieb.  Die 
olge  war  auf  deutscher  Seite  die  volle 
Au&echterhaltung  des  lu^prün glichen ,  un- 
gemein frei  konstruierten  Siedelrechtes,  wie 
es  zuerst  in  der  kulmischen  Handveste  vom 
Jahre  1233  festgestellt  war.  Unter  seinem 
Schutze  lebte  die  deutsch-ländliche  Bevölke- 
rung Preussens  auch  noch  im  16?  und 
17.  Jahrhundert;  die  Bauern  bewahrten  die 
alte  Freiheit  der  Person  imd  die  Unab- 
hängigkeit von  jederlei  dinglich  fundierten 
Ansprüchen  irgend  einer  Grundherrschaft, 
und  selbst  der  Adel  besass  vielfach  seine 
weitausgedehnten  Güter  nur  nach  kulmischem 
Rechte. 

Ueberblicken  wir  die  weiten  Gebiete  der 
östlichen  Kolonisation  nach  der  sozialen  und 
materiellen  Lage  ihrer  bäuerlichen  Bevölke- 
rung um  die  Mitte  etwa  des  17.  Jahrhun- 
derts, so  ergiebt  sich,  dass  auf  deren  Ver- 
änderung seit  Ausgang  des  Mittelalters,  ab- 
gesehen von  der  sozialen  Endosmose  der 
deutschen  und  fremden  Elemente,  vornehm- 
lich der  Adel  eingewirkt  hat.  Der  ritter- 
liche Gutsherr  ist  in  dieser  Periode  noch 
gesellschaftlich  und  politisch  der  Beherrscher 
des  platten  Landes.  Er  fürchtet  noch  nicht 
die  Landesgewalt ;  wo  sie  ihm  entgegentritt, 
da  weiss  er  sie  durch  seine  Haltung  ge- 
legentlich der  ständischen  Fragen  des  Ter- 
ritoriums in  ihrer  Einwirkung  unsicher 
und  stutzig  zu  machen. 

Eine  fürstliche  Fürsorge  für  das  platte 
Land,  eine  wahre  Bauernpolitik  vornehm- 
lich im  Sinne  einer  Gegenwirkung  gegen 
die  Gutsherren  beginnt  auf  dem  kolonialen 
Boden  Norddeutschlands  erst  im  Zeitalter 
des  aufgeklärten  Despotismus. 

Ehe  indes  der  aufgeklärte  Despotismus 
zu  wirken  begann,  hatten  die  Verwüstungen 
des  30  jährigen  Krieges  und  ihre  Folgen 
eine  noch  schlimmere  Lage  schaffen  helfen. 

8.  Einseifen  des  aufgeklärten  Ab- 
solntismus ;  Anfänge  der  ßanembefrei- 
nng;  17.  und  18.  Jahrhundert  Die  Nach- 
wirkungen des  30  jährigen  Krieges  waren 
für  die  Kolonialgebiete  vielfach  fast  noch 
verhängnisvoller  als  für  das  Mutterland. 
üeberaU  herrschte  Verwüstung  und  Ent- 
völkerung, vornehmlich  auf  dem  flachen 
Lande.  Bei  den  Domanialämtern  der  Kur- 
und  Neumark  hatten  vor  dem  Kriege  3000 
Ackerleute  und  3097  Kossäten  gedient,  im 
Jahre  1652  dienten  nur  noch  1550  und 
1769.    In  der  Grafschaft  Ruppin  galten  da- 


846 


Grundbesitz  (Geschichte) 


mals  nur  noch  vier  Dörfer  als  besetzt,  in 
Eugen  wurden  schon  im  Jahre  1629  von 
1900  Hufen  bloss  noch  300  bestellt,  und 
der  kaiserliche  Oberst  Götz  konnte  sich 
prahlend  anheischig  machen,  die  Hörner 
jeder  Kuh,  die  auf  der  Insel  noch  lebte, 
mit  Gold  überziehen  zu  lassen. 

Die  Vorteile  dieser  unglaublichen  Ver- 
wüstung, deren  Folgen  noch  nach  zwei 
Generationen  kaum  als  ausgeglichen  gelten 
konnten ,  fielen  dem  Adel  zu.  Er  zog 
überall  im  Lande  die  wüsten  Hufen  ein; 
es  war  eine  ungeahnt  günstige  Gelegenheit 
zur  Vergrössenmg  des  eigenen  Betriebes 
und  Besitzes;  erst  von  jetzt  ab  wird  die 
ländliche  Grosskultur  recht  eigentlich  um- 
fassender entwickelt. 

Freilich  gebrach  es  dazu  vielfach  an 
Arbeitskräften.  Um  sie  zu  erlialten,  ward 
zunächst  die  Leibeigenschaft  da,  wo  sie  be- 
stand, strenger  betont;  jeder  leibeigene 
Arbeiter  erschien  dem  Adel  nunmehr  als 
unveräusserliches  Stück  eines  eisernen  Guts- 
inventares. 

Land  aber,  das  man  eingezogen  hatte 
und  noch  nicht  unmittelbar  zu  bestellen  in 
der  Lage  war,  musste  man  freilich  wiederum 
vergeben.  Es  w^ar  eine  Lage  in  man- 
cher Hinsicht  ähnlich  der  des  Zeitalters 
der  Kolonisation  im  12.  bis  14.  Jahrhundert. 
Wie  damals,  gab  es  auch  jetzt  wüstes  Land 
in  Fiille,  und  selbst  Rodearbeit  musste  viel- 
fach erneut  gethan  werden ;  denn  der  lange 
Stillstand  des  Pfluges  hatte  Wäldern  und 
Haiden  Zeit  gelassen,  sich  von  neuem  aus- 
zubreiten. Nur  darin  war  die  neue  Be- 
ßiedelungsperiode  der  alten  unähnlich,  dass 
ihr  nicht  mehr  eine  Auswahl  so  wohlhaben- 
der Siedelleute  zu  Gebote  stand  wie  dem 
12.  und  18.  Jahrhundeii:.  Jetzt  hiess  es  zu- 
greifen und  in  die  Güter  setzen,  wen  man 
auftrieb,  alte  Ijandsknechte  und  Herum- 
treiber aller  Art  neben  ärmlichem,  einhei- 
mischem Volke. 

Diese  Kandidaten  der  Landeskultur 
brachten  fast  durchweg  nicht  die  Mittel 
mit,  um  die  Hof  Wirtschaft  von  sich  aus  in 
Gang  zu  setzen.  Wo  sie  ausnahmsweise 
dazu  imstande  waren,  da  wurden  sie  gern 
als  freie  Pächter  angesetzt,  so  namentlich 
in  Hinterpommern  und  wohl  auch  in  der 
Uckermark.  Freilich  haben  sie  sich,  dürftig, 
wie  auch  sie  waren,  vielfach  nicht  lange  in 
freiem  Stand  zu  halten  gewusst  und  sind 
der  Erbunlerthänigk(nt  verfallen.  Doch  hat 
andererseits  die  Ueberführung  von  unter- 
thänigen  Bauern  in  freie  Pacht  noch  wäh- 
rend des  ganzen  18.  Jahrhunderts  ange- 
dauert, namentlich  da,  wo  dem  Gutsherrn 
aus  irgend  einem  Grunde  mehr  an  Gutsein- 
nahmen denn  an  Fronden  und  NaturaJ- 
lieferuugon  gelegen  war. 

Den  meisten  Siedelleuten  indes,  die  nach 


dem  30  jährigen  Kriege  neu  angesetzt  wur- 
den, blülite  ein  sclilechteres  Los.  Aller 
Mittel  entblösst,  erhielten  sie  ihren  Hof  von 
dem  Gutsherrn  neu  eingerichtet  und  ver- 
sehen mit  dem  nötigsten  Inventare ;  es  war 
selbstverständlich,  dass  sie  da  keine  grossen 
Rechte  beanspruchen  konnten.  Vielleicht 
nach  Analogie  altslawischen  Bauemrechtes 
Sassen  sie  darum  in  ihrem  Hofe  nur  gegen 
Entgelt  und  Dienste  auf  Lebenszeit,  ver- 
erbensunfähig  dem  Rechte  nach :  sie  diu-ften 
über  den  Hof  nicht  von  Todes  wegen  ver- 
fügen, sie  durften  ihn  aber  auch  nicht  bei 
Lebenszeit  verlassen  ohne  Stellung  eines 
Nachfolgers,  der  zu  gleichem  Rechte  einzu- 
treten gewillt  war.  So  entstand  die  weit- 
verbreitete neue  Klasse  der  sogenannten 
lassitischen  Bauern;  soweit  sie  spannfähig 
blieben,  bildeten  sie  um  das  Jahr  1820  in 
Oberschlesien  etwa  54  ^/o ,  in  Brandenburg 
etwa  40  ^/o ,  in  Pommern  etwa  53  ^'o ,  in 
Preussen  etwa  30  ^Vo  aller  spannfähip:en 
Bauern ;  vor  der  Ablösung  der  preussischen 
Domanialbauern  im  18.  Jahrhundert  müssen 
sie  noch  weitaus  höhere  Prozentsätze  er- 
geben haben  ^).  Dabei  blieb  ihr  unerbliches 
Verhältnis,  wenn  auch  hei  vielfach  that- 
sächlicher  Erbfolge,  so  doch  rechtlich  als 
solches  für  fast  alle  Länder  des  Ostens  be- 
stehen; nur  in  Brandenburg  erlangten  sie, 
zum  grossen  Teil  infolge  der  immer  wieder- 
holten fürstlichen  Verbote  des  Bauernlegens, 
ein  schliesslich  auch  gesetzlich  anerkanntos 
Erbrecht. 

Es  begreift  sich,  dass  die  Bildung  dieser 
neuen  Klasse  von  minder  berechteten 
Bauern  für  die  grosse  Menge  der  alten  Erb- 
zinsbauern deutschen  Rechtes  von  verhäng- 
nisvoller Bedeutung  werden  musste.  ILitten 
die  Erbzinsbaueru  schon  seit  spätestens 
dem  16.  Jahrhundert  schwer  an  ihix»n 
Rechten  gehtten  durch  den  sich  aufdrängen- 
den Vergleich  mit  den  Bauern  halbslawi- 
schen Rechtes;  waren  jetzt  diese  fremd- 
rechtlichen Bauern  mit  bestimmend  gi^ 
Wesen  für  und  mit  eingegangen  in  die  Bil- 
dung der  Lassiten:  so  musste  nun  das 
Streben  der  Gutsherren  ganz  selbstver- 
ständlich daliin  gerichtet  sein,  Lassiten  mul 
Erbzinsleute  zu  einem  Stande  zu  ver- 
schmelzen. 

Die  Umstände  lagen,  vornehmlich  in  der 
zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts,  hierfür 
günstig  genug.  Bei  dem  Mangel  an  länd- 
lichen Arbeitskräften  gelang  es,  den  Ge- 
sindedienstzwang von  den  bisher  zumeist 
geltenden  drei  Jahren  auf  die  ganze  Zeit 
wirtschaftlicher  Unselbständigkeit  der  erb- 
zinshchen  Bauernkinder  zu  erstrecken : 
gleichzeitig  erfuhren  die  Fi-onden,  schon 
längst  als  ungemessen  betrachtet,   nunmehr 

^)  Vgl.  Knapp,  Bauernbefreiung  T,  S.  262  ff. 


Grundbesitz  (Gesclüchte) 


847 


thatsächlich  infolge  der  Erweiterung  der 
Gutswirtschaft  eine  immer  beträchtlichere 
Vermehrung.  Zur  selben  Zeit  begannen 
auch  die  staatlichen  Lasten,  die  vom  Junker 
auf  den  Bauer  abgewälzt  wiuxlen,  immer 
stärker  zu  drücken,  da  sie  einmal  an  sich 
fast  überall  Steigerung  erfuhren,  dann  aber 
nach  Legung  so  vieler  Bauernhöfe  auch  auf 
«ine  immer  geringere  Anzahl  Belasteter 
verteilt  wurden. 

Das  waren  Vorgänge  zunächst  und  vor- 
nehmlich auf  wirtschaftlichem  Gebiet,  die 
den  Bauer  schon  veranlassen  konnten,  sein 
Gut  zu  räumen.  Aber  eben  diesen  Ausweg 
vei-stopfte  ihm  die  ständische  Gesetzgebung 
mit  derselben  Konsequenz,  wie  ihn  einst 
die  kaiserliche  Gesetzgebung  des  späteren 
römischen  Imperiums  Bauern  wie  Bürgern 
imter  verwandten  Umständen  verbaut  hatte. 
Schon  die  märkische  Gesindeordnung  vom 
Jahre  1651  z.  B.  hatte  für  die  erbzinsbäuer- 
üchen  Erben  die  Alternative  aufgestellt,  dass 
sie  entweder  das  Gut  ohne  Entschädigung 
verlassen  müssten  oder  gezwungen  sein 
sollten,  die  Nachfolge  mit  allen  daran 
klebenden  Lasten  zu  übernehmen.  Aber 
schon  im  Laufe  der  zweiten  Hälfte  des  17. 
Jahrhunderts  ging  man  weiter:  es  wurde 
einfach  die  Bindung  an  die  Scholle  auch 
für  den  Erbzinsbauern  ausgesprochen,  und 
bald  folgten  sich  Edikte  über  Edikte  »wider 
das  freventliche  Entlaufen  der  Bauern  imd 
Kossäten«.  Der  Unterschied  zwischen  Lassit 
und  Erbzinsbauer  war  infolgedessen  darauf 
zurückgeschraubt ,  dass  der  Erbzinsbauer 
Eigentum  an  seinem  Gute  hatte,  der  Lassit 
aber  meistens  nicht. 

Nim  hat  allerdings  die  rechtliche  Dok- 
trin, namentlich  in  Brandenburg,  sich  diesen 
Entwickelungen  noch  länger  mit  Definitionen 
entgegengestellt,  wonach  die  Erbzinsbauern 
etwa  erklärt  wurden  als  non  vere  liberi, 
non  vere  servi,  ratione  Status  pro  liberis, 
ratione  servitioriun  j^ro  servis  habendi  ^). 
Allein  diese  Anwaltscliaft  verschlug  nicht 
viel.  Wahre  Hilfe  gedieh  dem  Bauernstand 
erst,  anfangs  unzureichend,  später  grund- 
sätzlicher, von  der  aufgeklärten  Monarchie. 
Der  aufgeklärte  Despotismus  im  Nordosten 
Deutschlands  aber  entwuchs  fast  ausschliess- 
lich preussischer,  brandenburgischer  Wurzel ; 
indem  die  Entwickelimg  der  bäuerlichen 
Verhältnisse  von  der  absoluten  Monarchie 
abhängig  wurde,  empfing  sie  darum  fast  für 
den  gesamten  Osten  ihr  Schicksal  aus  der 
Hand  der  grossen  Hohenzollern  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts. 

Der  Standpunkt,  von  dem  die  Reihe 
dieser  Fürsten  ausging,  war  anfangs  rein 
fiskalisch-finanziell.   Man  wandte  sich  gegen 


^)  Müller   in  seiner  Practica  civilis  rerum 
Marchicamm,  1678. 


das  Legen  der  Bauernhöfe,  um  nicht  das 
tragende  Substrat  der  ständischen  Besteue- 
rung des  platten  Ijandes  zu  verlieren.  In 
dieser  Absicht  ergingen  schon  unter  Fried- 
rich I.  Edikte  betreffend  Herstellung  und 
Wiederbesetzung  der  wüsten  und  zemssenen 
Bauerngüter.  Zum  eigentlichen  Schutz  der 
Bauernstellen  kam  es  dann  unterFriedrichAVil- 
helm  L;  doch  trat  die  wirkliche  Hand- 
habung des  Legimgsverbotes  mit  vollem 
Erfolge  doch  erst  unter  Friedrich  dem 
Grossen,  seit  dem  Jahre  1749,  ein,  abge- 
sehen von  Ostpreussen,  wo  die  Frage  in 
Vergessenheit  geriet^).  Im  Jahre  1764 
wurde  das  Verbot  dann  verstärkt  durch  die 
positive  Weisimg,  alle  während  des  sieben- 
jährigen Krieges  wüst  gewordenen  Güter 
binnen  Jahresüdst  wieder  zu  besetzen:  eine 
Massregel,  von  deren  Durchführung  ab  man 
den  absoluten  Schutz  der  Bauernstellen  in 
Preussen  bis  zu  den  Edikten  der  Stein- 
Hardenbergischen  Gesetzgebung  datieren 
kann. 

Im  Laufe  dieser  langandauernden  Mass- 
nahmen aber  hatte  sich  der  ursprüngliche 
Gesichtspunkt,  von  dem  man  ausgegangen, 
schon  etwas  verschoben.  Die  rein  finanz- 
politischen Motive  traten  allmählich  zuiiick, 
je  weniger  die  Stände  noch  die  Finanz- 
gebaning  der  Krone  beschränkten:  in  den 
Vordergrund  rückte  die  volkswirtscliaftliche 
und  nulitärische  Absicht  auf  Peuplienmg 
des  Landes.  Dieser  Anschauung  wurde 
dann  auch  eine  weitere  Reihe  positiver 
Massregeln  verdankt,  die  sehr  geeignet 
waren,  den  Bauernstand  insgesamt  und  an 
sich  zu  heben.  Schon  der  grosse  Kurfürst 
hatte  gegen  Ende  seiner  Regierung  begonnen, 
neue  Ansiedler  in  wüste  Teile  seines  Lan- 
des zu  setzen  2).  König  Friedrich  I.  fuhr 
damit  fort;  gi'ossartig  aber  wurde  dieser 
Teil  der  inneren  Politik  vornehmlich  unter 
Friedrich  Wilhelm  II.  und  seinem  Sohne 
betrieben.  Im  Verlaufe  der  damals  unter- 
nommenen Kolonisationen  entstand  weit  ver- 
streut durch  das  Land  und  vielfach  gerade 
in  Gegenden  schlechteren  Bauenirechtes  an- 
sässig eine  neue,  wohlliäbige  Bevölkenmg; 
sie  war  fast  stets  persönlich  frei  und  nur 
zu  gemessenen  Diensten  und  Abgaben  ge- 
mäss ihren  Hofbriefen  verpflichtet ;  sie  wies 
sozusagen  einen  wiedererstandenen  Stand 
freier  Erbzinsleute  und  Erbpächter  auf:  sie 
musste  aufs  günstigste  auf  die  Lage  der 
schon  angesessenen  Bauern  wirken. 

Und  schon  hatten  die  preussischen  Herr- 
scher diese  in  ihren  leitenden  Gesichts- 
punkten immerhin  noch  engbegrenzte  agra- 
rische Politik  verlassen  und  ihren  Mass- 
nahmen    zunächst    hinsichtlich    der    ihnen 


^)  Knapp,  Bauernbefreiung  I,  54. 

*)  SchmoUer,  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.  31,  Iff. 


848 


Grundbesitz  (Greschichte) 


unterstehenden  Domanialbauem  eine  soziale 
Wendung  gegeben. 

Von  jeher  hatten  die  Domänenbauem 
eine  Stellung  etwas  über  dem  sonstigen 
Durchschnitt  eingenommen,  ähnlich  wie  die 
fiskalischen  Qrundholden  des  Mittelalters 
sich  einiger  Vorzüge  vor  ihren  einfach- 
grundherrlichen  Standesgenossen  erfreuten. 
Ihr  Gesindezwangsdienst  war  auf  drei  Jahre 
begrenzt,  ihre  Pflichten  pflegten  bei  Un- 
glücksfällen ermässigt  zu  werden:  schon 
im  Jahre  1647  wird  der  Missbrauch  der  für 
sie  bestehenden  gemessenen  Fronden  durch 
Kabinettsordre  verhindert.  Darüber  liinaus 
erfolgten  mit  dem  Beginn  des  18.  Jahrhun- 
derts mehrmals  leidenschaftliche  Yorstösse 
zur  Verbesserung  des  sozialen  Loses  dieser 
Bauern:  der  Plan  der  Vererbpachtung  der 
Domänen  in  bäuerlichen  "Wirtschaftsgrossen 
vom  Jahre  1703  und  der  Freilassungsbefehl 
vom  Jahre  1709 :  beide  ohne  Erfolg.  Fried- 
rich Wilhelm  I.  hat  die  Reform  dann  be- 
sonnener verfolgt,  wenn  auch  mit  der  gan- 
zen Energie  seines  Wesens,  die  sich  alles 
»elende  Räsonnieren«  der  Behörden  dagegen 
verbat.  Er  ging  von  der  Thatsache  aus, 
dass  die  Domänenbauem  in  Brandenburg 
zumeist  Erbzinsleute,  sonst  dagegen  Lassiten 
waren,  und  er  fand  den  ersten  notwendigen 
Schritt  darin,  dass  auch  diese  sonstigen 
lassitischen  Domänenbauem  zu  Erbzinsleuten 
gemacht  werden  sollten.  Das  ist  es,  was 
er  imter  der  immer  wiederholten  Absicht 
versteht,  alle  Domänenbauem  auf  den  mär- 
kischen Fuss  zu  bringen.  Gehmgen  ist  ihm 
freüich  diese  Absicht  nur  für  wenige  Gegen- 
den; er  scheiterte  noch  an  der  Schwer- 
fälligkeit und  dem  Routinetum  seiner  Be- 
amten. 

Anders  Friedrich  der  Grosse.  Unter  ihm 
kam  es  für  die  Domanialbauem  überall  zu 
einer  vollen  Erbunterthänigkeit  sehr  ge- 
mässigten Charakters;  und  sciu  zweiter 
Nachfolger,  Friedrich  Wilhelm  III.,  ver- 
mochte daraufhin  in  den  Jahren  1799 — 1808 
die  Befreiung  der  Domanialbauem  auch  aus 
der  Erbunterthänigkeit  diu-chzusetzen. 

Es  war  ein  rundes  Ergebnis;  der  Be- 
weis für  die  sozialpolitischen  Fähigkeiten 
des  aufgeklärten  Despotismus  an  dessen 
eigenstem  Körper  gleichsam  war  geliefert. 
Wird  aber  die  Krone  stark  genug  sein,  die 
gleiche  P]mancipation  auch  gegenüber  den 
Bauern  dos  Adels  durchzusetzen  V 

Schon  1726  erging  von  Friedrich  Wil- 
helm I.  ein  Edikt  das  den  Gutsherren  ver- 
bot, die  Hoflasten  ^villkü^lich  zu  erhöhen, 
und  ihnen  deren  Nachlass  befahl  im  Fall 
von  Unglücksfällen  und  Neubauten  der 
Bauern  auf  so  lange,  als  dio  königliche 
Kreiskasse  den  Betroffenen  Erlass  ihrer 
staatliehen  Pflichten  gewähren  würde.  Es 
war   ein    verheissnngsvoller  Anfang;    indes 


wie  so  manche  andere  blieb  er  im  wesent- 
lichen auf  dem  Papiere. 

Die  eigentliche  Wendung  fällt  auch  hier 
erst  in  die  Tage  Friedrichs  des  Grossen. 
Er  hob  im  Jahre  1748  (8.  Dezember)  za- 
nächst  für  Schlesien  die  SchoUenpflichtig- 
keit  der  Gutsimteilhanen  auf;  den  Herren 
wurde  nur  das  Recht  zugestanden,  von  dem. 
aufbrechenden  Unterthan  ein  massiges  Los- 
kaufgeld  zu  fordern,  grundsätzlich  war  die 
Lösbarkeit  des  Unterthanenverhältnisses  aus- 
gesprochen. Dieser  Grundsatz  wurde  dann 
im  Jahre  1773  auf  Ostpreussen  und  das 
1772  aus  der  polnischen  Teilung  erworbene 
Westpreussen  nebst  dem  Netzedistrikt  über- 
tragen —  auch  hier  tief  einschneidend  in 
die  stark  leibeigenen  Verhältnisse  des  alten 
Ordenslandes  und  die  Knechtschaft  der  ehe- 
mals polnischen  Gebietsteile. 

Es  waren  so  starke  Schritte,  wie  sie 
dem  grossen  König  in  den  östlichen  Kern- 
landen seines  Reiches  und  auch  in  Pommern 
(Yersuch  vom  Jahre  1763)  noch  nicht  ge- 
langen. Immerhin  aber  hatte  Friedrich  doch 
den  Anlass  zu  einer  principieUen  Erörterung 
gegeben,  deren  Inhalt  auf  die  Aufhebimg 
nicht  bloss  der  Leibeigenschaft,  sondern 
auch  der  Erbunterthänigkeit  hinauslief.  Da 
diesen  Reformen  aber  die  Ablösung  der 
Reallasten  notwendig  folgen  musste,  so  lag 
die  gesamte  Reform  der  ländlichen  Verhält- 
nisse damit  der  Zeit  vor  dem  Tode  Fried- 
richs des  Grossen  immerhin  schon  als  prak- 
tisches Progranmi  nahe. 

Ihr  Ende  freilich  hat  der  aufgeklärte 
Despotismus  nicht  mehr  gesehen.  Eine 
Verordnung  über  die  Abschaffimg  der  Erb- 
unterthänigkeit in  ganz  Preussen,  deren 
Ausarbeitimg  im  Jahre  1798  befohlen  wurde, 
ist  nie  vollzogen  worden:  erst  die  Pforten 
eines  neuen  Zeitalters  haben  im  Beginn 
unseres  Jahrhunderts  über  Erbunterthänigkeit 
\md  Leibeigenschaft  endgiltig  hinausgeffihrt 
(vergl.  denArtikelBauernbefreiung  oben 
Bd.  II  S.  843  ff.). 

Immerhin  aber  war  in  den  Ländem  des 
aufgeklärten  preuFsischen  Despotismus  bis 
zum  Schlüsse  des  vorigen  Jahrhunderts 
ganz  anderes  geleistet  als  in  den  Adelsre- 
pubhken  Holstein,  Mecklenburg,  Schwedisch- 
Pommern  \md  Livland,  die  unter  mehr  oder 
minder  illusorischer  monai-chischer  Spitze 
den  gn>ssten  Teil  des  sfldlichen  Ostseege- 
stades umsäumten.  Hier  waren  inzwischen 
die  zur  Leibeigenschaft  drängenden  Zustände 
der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts 
von  der  regierenden  Landesaristokratie  folge- 
richtig zu  voller  Knechtschaft  weiter  ent- 
wickelt worden.  Im  Jahre  1723  wird  in 
Pommern  zum  ersten  Male  ein  landloser 
I  Leibeigener  um  80  Reichsthaler  erb-  und 
eigentümlich  vorkauft,  cediert  und  abge- 
i  treten;  nicht  viel  später  kam  es  in  Holstein 


Grundbesitz  (GtescMchte — Statistik) 


849 


vor,  dass  die  Junker  im  Kai'tenspiel  gelegent- 
lich statt  um  Geld  um  Menschen  spielten. 
Freilich  auch  hier  erzwang  schliesslich 
die  Logik  des  allgemeinen  Fortschrittes, 
was  in  Preussen  der  pfHchtbewusste  und 
aufgeklärte  Sinn  der  Monarchen  herbeige- 
führt hatte.  Seit  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
wirkt  die  Öffentliche  Meinung  wie  der  lang- 
sam erkannte  eigene  Vorteil  vielfach  günstig 
ein  auf  die  Abschwächung  der  Leibeigen- 
schaft; in  Holstein  ist  es  unter  diesen  Ein- 
drücken zu  spontanen  Reformen  gekommen, 
und  im  entlegenen  Livland  war  die  Ent- 
wickelung  ähnlich,  wenn  sie  sich  auch  bis 
tief  ins  19.  Jahrhundert  hineinzog.  In 
Mecklenburg  und  Schwedisch-Pommern  da- 
gegen schloss  das  18.  Jahrhundert  mit  einem 
Bauernlegen  von  bis  dahin  kaum  erreichter 
Ausdehnung  ab  —  bis  auch  hier  die  neue 
Zeit  den  völligen  Bruch  mit  den  ländlichen 
Standesv^hältnissen  des  18.  Jahrhunderts 
herbeiführte. 

Litteratnr:    v.    Inafna-Stemegg ,    DeuUrhe 

WirtschafUgeschichte ,  Bd.  1—2,  1879  ff.  — 
Liatnprecht,  Deutßches  Wirtschaftsleben,  4  Bde., 

1886.  —  Hanssen,  Agrarhistorische  Abhand- 
lungen, 2  Bde.,  1880.  —  lAimvpre^ht  in  Zeit- 
schrift des  Bergischen  Gesehichtsi^ereins,  Bd.  16. 
—  Öierhe,  Erbrecht  und  Vicinenreeht,  in  Zeit- 
schrift f.  Rechtsgesch.,  12;  wie  überhaupt  die 
LiUeratur  bei  Schröder,  Deutsche  Rechtsgesch., 
S.  Aufl.,  S.  62.  —  V.  Incntta-Stemegg,  Aus- 
bildung der  grossen  Grundherrschaften  (SchmoUers 
Staats-  u.  sozialioissensch.  Forschungen  1, 1),  sofci-e 
die  Lüteratur  bei  Schröder  a.  a.  O.,  S.  199.  — 
OcUiein,  Die  Lage  des  Bauernstandes  am  Ende 
des  Mittelalters,  vornehmlich  in  Südwestdeutsch- 
land, in  Westdeutsche  Zeitschr.  4'  —  Lavnp" 
recht,  Das  Schieksal  des  deutschen  Bauern- 
standes bis  zu  den  agrarischen  Unruhen  des  16. 
und  16.  Jahrh.,  in  Preuss.  Jahrb.  56,  17 8 ff.; 
Entwickelung  des  rheinischen  Bauernstandes 
während  des  MittekUters,  in  Westd.  Zeitsehr.  6, 
18  ff.,  sowie  die  Lüteratur  bei  Schröder  a.  a.  O., 
S.  418 — 19.  —  Gothein,  Wirtschaftsgeschichte 
des  Schwarzwaldes,  Bd.  1,  1890 ff.  —  A.  Va/n~ 
houtte,  Le  droit  flamand  et  hollandais  dans 
les  Chartes  de  (Kolonisation  en  Allemagne  au 
XII*  et  XIII*  siecle  (Annales  de  la  Soc.  d* Emu- 
lation pour  Vhude  de  l'hist.  et  des  ant.  de  la 
Flandre  Bd.  49,  1899).  Daselbst  Anfilhrung  der 
neueren  Litteratur  zur  Geschichte  der  Kolonisation 
des  deutschen  Ostens.  —  W.  WtUtch,  Länd- 
liche Verfassung  Niedersa>chsens  und  Organisation 
des  Amtes  im  18.  Jahrh.,  Strassb.  Diss.  1891,  — 
F.  J.  Haun,  Bauer  und  Gutsherr  in  Kur- 
sachsen. Abh.  aus  dem  Strassb.  staatsw.  Seminar, 
H^  9.  —  Hugenbevg  f  Innere  Kolonisation 
im  Nordwesten  Deutschlands.  Abh.  aus  dem 
Strassb.  staatsw.  Seminar,  Heft  8.  —  HauS" 
mann,  Die  grundherrliche  Verfassung  Bayerns 
in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrh.,  Strassb. 
Diss.  1888.  —  G,  F,  Knapp,  Die  Bauern- 
befreiung und  der  Ursprung  der  Landarbeiter 
in  den  älteren  Teilen  Preussens,  2  Teile,  Leipzig 

1887.  (Dazu  Knapp,  Zur  Gesch.  der  Bauern- 
befreiung in  den  älteren  Teilen  Preussens, 
Forschungen     zur    brandenb.-preuss.     Gesch.    1, 


249  ff-  ^'^d  Die  Handarbeiter  in  Knechtschaft 
und  Freiheit,  Leipzig  1891,  21  ff.)  Man  vergl. 
femer  zu  Knapp:  Schmoller  in  Köln.  Ztg.  1888 
Nr.  IS  und  in  seinen  Jahrb.,  Bd.  12,  645  ff., 
S(immel)  in  Baltische  Monatssehr.  S5,  Heft  4; 
Kahlukow  in  Arch.  f.  soz.  Ges.  und  Stat.  1, 
185 ff. ;  V.  Brünneck  in  Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.  50, 
6S8ff.;  Bomhak  in  Preuss,  Jahrb,  Bd.  61.  — 
van  JBrünneek,  Die  Leibeigenschaft  in  Ost- 
preussen,  Zeitschr.  der  Savigny Stiftung,  german. 
Abt.  8;  Die  Leibeigenschaft  in  Pommern,  ebenda 
Bd.  9;  Die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  durch 
die  Gesetzgebung  Friedrichs  des  Gitossen  und 
das  AUgem.  preuss.  Landrecht,  ebenda  Bd.  10 
und  11;  Zur  Geschi4^hte  des  Grundeigentums  in 
Ost-  wid  Westpreussen  I,  Die  Kölmischen  Gilter, 
1891.  —  O,  Hanssen,  Die  Aufheb^vng  der 
Leibeigenschaft  in  Schleswig  und  Holstein,'  1861. 
—  F.  V.  Bil&w,  Oeschichtliehe  Entwickelung 
der  AbgabenverhäUnisse  in  Pommern  und  Bilgen, 
I843.  —  C.  «/".  F%iehs,  Der  Untergang  des 
Bauernstandes  und  das  Aufkommen  der  Guis- 
herrschaften in  Neuvorpommem  und  Bilgen. 
Abh.  a.  d.  Strassb.  staatsw.  Seminar,  Heft  6.  — 
Kam,  Geschichte  der  bäuerlichen  Bechtsver- 
häUnisse  in  der  Mark  Brandenburg,  Zeitschr.  f. 
Rechtsgesch.  Bd.  U,  1873.  —  OrossnMinn, 
Ueber  die  gutsherrlich-bäuerlichen  Rechtsverhält- 
nisse in  der  Mark  Brandenburg  vom  16.  bis  18. 
Jahrh.,  Schmollers  Staats-  und  sozialw.  For- 
schungen IX,  4t  1890;  dazu  Fuchs  in  Zeitschr. 
der  Savigny  Stiftung,  german.  Abt.  12,  17  ff.  — 
V.  Tr ansehe' Roseneck,  Gutsherr  und  Bauer 
in  Livland  im  17.  und  18.  Jahrh.  Abh.  a.  d. 
Strassb.  staatsw.  Seminar  Heft  7.  Zudem  vergl. 
noch  Schröder  a.  a.  O.  S.  779  Anm.  15. 

LMtnprecht. 


III. 

Statistik  des  Grundbesitzes. 

I.  Allgemeines.  II.  Statistik  des 
Grundbesitzes  in  den  einzelnen 
Staaten.  1.  Deutsches  Eeich.  a)  Prenssen; 
b)  Bayern;  c)  Sachsen;  d)  Württemberg; 
e)    Baden;   f)   die  übrigen  deutschen  Staaten; 

f)  der  städtische  G.    2.  Oesterreich.    3.  Ungarn. 
.   Grossbritannien  und  Irland.    6.  Italien.    6. 
Frankreich.  7.  Rassland.  8.  Die  übrigen  Staaten. 

I.  Allgemeines. 

Die  hohe  Bedeutung,  welche  die  Gestal- 
tung der  Grundeigentumsverhältnisse  für 
die  sozialen,  insbesondere  wirtschaftlichen 
Zustände  eines  Volkes  besitzt,  weist  auf 
eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  statis- 
tischen Forschimg  überhaupt  hin.  Insofern 
als  das  Gnindeigentum  vor  allem  zum  Be- 
trieb der  Landwirtschaft  in  engster  Wech- 
selbeziehung steht,  gehört  die  statistische 
Ermittelung  und  Darstellung  desselben  zu  den 
Gegenständen  der  Agrarstatistik  (s.  den  Art. 
oben  Bd.  I  S.  125  ff.).  Ueber  diesen  Rahmen 
würde  nun  aber  eine  erschöpfende  Erhebung 
aller  auf  das  Grundeigentum  bezüglichen 
Thatsachen  in  mehrfacher  Hinsicht  hioaus- 
reichen    und    namentlich    folgende   Haupt- 


Handwörterbach  der  StaatswiflsexiBchaftexi.   Zweite  Auflage.    lY.  54 


850 


Grundbesitz  (Statistik) 


momente  zu  berücksichtigen  haben:  Zahl 
und  Flächengrösse  der  Liegenschaften  und 
ihrer  einzelnen  Parzellen,  Kulturarten  und 
Bonitätsklassen,  Ertrag  und  Wert  der  Liegen- 
schaften, Zahl,  Bescliaffenheit,  Bestimmung 
und  Wert  der  Gebäude,  die  Verschiedenheit 
des  Grundbesitzes  nach  der  politischen  und 
sozialen  Qualität  der  Eigentümer,  die  Belas- 
tung des  Grundeigentums  mit  öffentlichen 
Abgaben,  die  privatrechtlichen  Belastungen 
und  Beschränkungen  sowie  die  Verschul- 
dung und  endlich  die  Besitzverhältnisse 
desselben  (Eigenbetrieb,  Pachtung). 

Im  einzelnen  ist  an  dieser  Stelle  in  Bezug 
auf  die  statistische  Ermittelung  des  Grund- 
eigentums folgendes  hervorzuheben. 

Am  nächsten  liegt  es,  das  Verfahren  einer 
unmittelbaren  Befragung  der  beteiligten  Per- 
sonen einzuschlagen.  Dieselben  werden  indessen 
vielfach  teils  gar  nicht  in  der  Lage,  teils,  na- 
mentlich ans  steuerlichen  oder  kreditwirtschaft- 
lichen Eücksichten,  auch  nicht  gewillt  sein, 
über  alle  in  Betracht  kommenden  Verhältnisse 

genaue  Auskunft  zu  geben.  Es  tritt  hinzu, 
ass  selbst  die  Feststelluni^  der  Zahl  der  Eigen- 
tümer, wie  sie  durch  die  Volkszählung  bis- 
weilen erhoben  zu  werden  pflegt,  dadurch  er- 
schwert und  in  ihrem  Werte  beeinträchtigt 
wird,  dass  dabei  neben  dem  Alleineigentum 
auch  das  Mieteigentum  in  Frage  kommt.    Eine 

Geeignetere  Grundlage  für  die  Ermittelung  bilden 
ie  Anschreibnngen  der  Verwaltung  überall  da, 
wo  der  Stand  und  die  Veränderung  der  Grund- 
eigentums Verhältnisse  sowie  die  dingliche  Be- 
lastung desselben  in  amtlich  geführten  Ver- 
zeichnissen (Grund-  und  Hypotheken büchem) 
evident  gehalten  werden.  Aber  auch  mit  Hilfe 
dieser  Quellen  lassen  sich  die  Aufgaben  der 
Grundeigentumsstatistik  nur  dann  vollauf  be- 
friedigend lösen,  wenn  einesfenaue  Katastrierung, 
wie  sie  das  moderne  Grund-  und  Gebäudesteuer- 
wesen verlangt,  voraufgegangen  ist  und  alle 
wünschenswerten  Einzelancfaben  in  Bezug  auf 
Grösse,  Kulturart,  Roh-  oder  Reinertrag  u.  s.  w. 
geliefert  bat. 

Bei  Feststellung  der  Zahl  und  der  Grösse 
der  Besitzungen  eines  Eigentümers  entsteht 
die  Frage,  auf  welche  Einheit  die  Ermittelungen 
zurückgehen  müssen.  Wie  einerseits  das  von 
einem  Punkte  aus  bewirtschaftete  Gut  mehreren 
von  einander  unabhängigen  Eigentümern  ge- 
hören kann,  so  zerfällt  bekanntlich  andererseits 
der  gesamte,  in  der  Hand  eines  Eigentümers 
befindliche  Besitz  vielfach  in  mehrere  räumlich 
und  wirtschaftlich  getrennte  Grundstücke.  Es 
ist  deshalb  womöglich  von  jedem  einzelnen, 
einer  Person  gehörigen,  durch  Ländereien  frem- 
der Eigentümer  umschlossenen  Besitzstück  aus- 
zugehen, welches  innerhalb  des  Ansnahmebe- 
zirks,  d.  h.  in  der  Regel  also  der  Gemeinde  be- 
legen ist.  Bei  Ermittelung  der  Gesamtzahl  der 
Grundeigentümer  eines  Landes  uud  der  Grösse 
ihres  Besitzes  ist  dann  weiter  zu  berücksichti- 
gen, dass  der  letztere  nicht  selten  in  mehreren 
Gemeinden  zerstreut  liegt. 

Die  Unterscheidung  des  Grundbesitzes  nach 
der  politischen  und  sozialen  Qualität  des  Eigen- 
tümers ist  heute,  wo  die  ehemals  an  den  Grund- 
besitz   geknüpften   Vorrechte,    namentlich    der 


Gegensatz  zwischen  Ritter-  und  Bauerngut, 
fast  in  allen  Kulturländern  bis  auf  wenige 
Reste  verschwunden  sind,  von  verhältnismässig 
geringer  Bedeutung.  Wertvoll  ist  indessen 
auch  jetzt  noch  eine  Trennung  der  Angaben 
nach  der  Person  des  Eigentümers  in  der  Weise, 
dass  etwa  unterschieden  werden:  Krone,  Staat, 
Kirche,  Schule  und  Stiftuneren,  Standesherr- 
schaften, städtische  und  ländliche  Gemeinden, 
andere  politische  Korporationen,  juristische  Per- 
sonen (Handelsgesellschaften.  Genossenschaften 
etc.)  und  Privatpersonen. 

Zu  den  schwierigsten  Aufgaben  der  Grund- 
besitzstatistik  gehört  die  Beantwortung  der 
wichtigen  Frage  nach  dem  Ertrage  und  Wert 
des  Bodens.  Man  wird  zu  diesem  Zwecke  auf 
die  GrundsteuereinschätzuBgen  zurückzugehen 
haben.  Hier  ist  nun  zu  beachten,  dass  nicht 
nur  der  Reinertrag  der  landwirtschaftlich  be- 
nutzten Grundstücke  bekanntlich  überhaupt 
sehr  schwer  genau  festzustellen  ist,  sondern 
auch  jene  Einschätzungen  auf  einem  mehr  oder 
weniger  summarischen  Verfahren  t>eruhen, 
welches  überdies  viel  zu  selten  wiederholt  oder 
revidiert  zu  werden  pflegt,  als  dass  die  im 
Laufe  der  Zeit  vor  sich  gehenden  Ertrags-  und 
Wertveräuderungen  des  Bodens  angemessene 
Berücksichtigung  finden  köunten.  Obgleich 
daher  die  bezüglichen  Angaben  des  Grundsteuer- 
katasters von  den  thatsächlichen  Verhältnissen 
mehr  oder  weniger  abweichen,  sind  sie  doch 
als  Grundlage  für  die  statistische  Erhebung  von 
^össter  Bedeutung,  da  nur  sie  allein  die  Mög- 
uchkeit  bieten,  den  „Ertragswert**  des  Grund- 
besitzes eines  fi^anzen  Landes  statistisch  zur 
Darstellung;  zu  bringen.  Zum  Zwecke  der  not- 
wendigen Korrektur  und  Ergänzung  jener  Ka- 
tasterangaben bedarf  es  dann,  neben  der  Er- 
mittelung des  Standes  der  Grundeigentumsver- 
hältnisse, auch  der  statistischen  Feststellung 
der  Eigentumsveränderungen  durch  Kauf,  Erb- 
schaftsregulierungen ,  Zwangsversteigerungen 
oder  Expropriationen  (Bewegung  des  Grund- 
eigentums) sowie  des  Pachtwechsels,  um  auf 
diese  Weise  über  die  gegenwärtigen  Kauf-  und 
Pachtpreise  des  Bodens  Angaben  gewinnen  und 
ihre  Entwickelunof  statistisch  verfolgen  zu 
können.  Endlich  lassen  sich  auch  die  seitans 
der  landwirtschaftlichen  Kreditinstitute  vorge- 
nommenen Taxationen  des  Bodenwertes  für  den 
vorliegenden  Zweck  ausnutzen,  wobei  freilich 
zu  bedenken  ist,  dass  solche  „Kredittaxen" 
hinter  dem  wirklichen  Kapital  werte  des  Bodens 
in  der  Regel  erheblich  zurückbleiben. 

Was  für  die  Ermittelung  des  Bodenwertes 
gilt,  trifft  in  analoger  Weise  auch  für  die  Ge- 
bäudestatistik zu,  vor  allem  bezüglich  der  länd- 
lichen Wirtschafts-  und  Wohngebäude.  In  deu 
Städten  sind  es  besonders  die  Mietpreise,  welche 
einen  brauchbaren  Anhalt  -für  die  Beurteilung 
des  Wertes  der  Gebäude  liefern.  Eine  allge- 
meine, namentlich  in  den  Grossstädten  zum 
Zweck  der  Untersuchung  der  Wohnungszustände 
sehr  eingehend  gestaltete  Erhebung  der  Zahl, 
Beschaffenheit  und  Benutzung  der  Wohnge- 
bäude pflegt  vielfach  mit  den  Volkszählungen 
verbunden  zu  werden.  Auch  die  im  Interesse 
der  Feuerversicherung  bewirkten  Anschreibun- 
gen  können  unter  Umständen  eine  allgemeine 
Bedeutung  für  die  Gebäudestatistik  gewinnen. 


Grundbesitz  (Statistik) 


851 


In  enger  Beziehung  zur  Frage  der  Wert- 
slatislik  des  Grundeigentums  steht  die  Er- 
mittehmg  der  Verschuldung  desselben  (s. 
liieniber  den  Art.  Hypothekenstatistik). 

"Wie  sich  aus  voi-stehendem  bereits  er- 
giebt,  ist  die  Vorualime  einer  Statistik  des 
Grundeigentums  durchaus  abhängig  von  ge- 
wissen staatlichen  Einrichtungen  (Kataster- 
und  Grundbuchwesen,  Hypothekenordnung 
etc.),  welche  in  vielen  Staaten  erst  neuer- 
dings einigermassen  befriedigend  gestaltet 
worden  sind.  Dieser  Umstand  sowie  die 
sonstigen  erheblichen  technischen  Schwierig- 
keiten dieser  Statistik  erklären  es,  weshalb 
sie  trotz  ihrer  grossen  Bedeutung  in  den 
meisten  Ländern  bisher  nur  imvoUkommen 
oder  gar  nicht  ausgebildet  ist  und  man  in 
Bezug  auf  die  Verteilung  und  Benutzung 
des  Grundeigentums  vielmch  lediglich  auf 
die  landwirtschaftliche  Betriebsstatistik  hin- 
gewiesen ist,  welche  jedoch  nur  dort  als 
Anhalt  für  die  Beurteilung  der  ländlichen 
Eigentumsverhältnisse  dienen  kann,  wo  die 
Pachtungen  gegenüber  den  Eigenbetrieben 
stark  zurücktreten.  (Für  das  Deutsche 
Reich  kommt  hier  vor  allem  die  Betriebs- 
statistik vom  5.  Juni  1882  und  14.  Juni  1895 
in  Beti'acht.) 

Die  nachfolgende  Besprechung  der  ein- 
zelnen Länder  wird  von  den  Ergebnissen 
der  Statistik  hauptsächlich  die  wichtige 
Frage  der  Verteilung  des  Grundeigentums 
ins  Auge  fassen. 

II.  Statistik  des  Grundbesitzes  in  den 
einzelnen  Staaten. 

1.   Deutsches    Reich,     a)   Freussen. 

Hier  fanden  die  ereten  Erhebungen  über 
das  Grundeigentum,  anschliessend  an  die 
gleichzeitigen  Bevölkenmgsaufnahmen,  in 
den  Jahren  1849,  1852,  1855  und  1858  statt 
imd  bezogen  sich  auf  die  Zahl  der  länd- 
lichen Besitzungen  (mit  Unterscheidung  von 
fünf  Grössenklassen)  und  die  Art  der  Be- 
nutzung der  Gnmdstücke.  Diese  Ermitte- 
lungen litten  indes  unter  wesentliclien 
Mängeln  sowohl  der  statistischen  Unterlagen 
als  auch  der  Art  der  Erhebung  und  sind, 
wohl  deshalb,  später  nicht  wiederholt  wor- 
den. Erst  nachdem  mit  der  Vollendung 
des  grossen  Werkes  der  Katastrienmg  des 
Grundbesitzes  (1851 — 18G5  in  den  alten,  bis 
1878  in  den  neuen  Provinzen)  bef riegende 
Gnmdlagen  geschaffen  waren,  konnte  man 
mit  Aussieht  auf  besseren  Erfolg  der  Vor- 
nahme einer  Grundbesitzstatistik  nähertreten. 
Unter  den  im  Anscliluss  an  diese  Kataster- 
aufnahmen veröffentlichten  älteren  Er- 
hebungen verdient,  neben  der  eingehenden 
amtiiclien  Gebäudestatistik,  das  Werk  A. 
Meitzens  über  den  Boden  und  die  landwirt- 
schaftlichen  Verhältnisse   des   preussischen 


Staates,  in  Anbetracht  der  reichen  FüUe  des 
dort  verarbeiteten  Materials,  besondere  Her- 
vorhebung. Eine  auf  die  ganze  Monarclüe 
sich  erstreckende  Statistik  des  Grundeigen- 
tums und  der  Gebäude  wurde  jedoch  eret 
1889,  und  zwar  nach  dem  Stande  vom 
Jahre  1878,  publiziert.  Sie  enthält  Xach- 
w^eisungen  über  Zahl  (bezw.  auch  Grösse) 
der  nadi  ihren  Eigentumsverhältnissen  ge- 
sonderten Besitzungen  und  Gebäude.  Ferner 
werden  die  »ländlichen  Privatbesitzungen« 
nach  zahlreichen  Grundsteuerreinertrags- 
klassen undGrössenklassen  getrennt  ersichtlich 
gemacht  und  mit  Rücksicht  auf  ihre  Rein- 
erträge (sowie  auf  sonstige  Verhältnisse) 
wieder  in  »selbständige«  und  »unselbstän- 
dige« geschieden,  je  nachdem  der  Erti-ag 
zum  Unterhalte  der  Besitzer  vöUig  zureicht 
oder  dieselben  genötigt  sind,  dazu  noch 
anderen  Verdienst  dmxjh  Tagelohn  etc. 
suchen  zu  müssen.  Die  besondere  Statistik 
der  Gebäude  betrifft  deren  Bestimmung,  die 
Zahl  ihrer  Stockwerke  und  ilire  Bauart 
Die  nämlichen  Ermittelungen  sind  nach  dem 
Stande  von  1893  wiederholt-  bisher  (1898) 
aber  erst  liinsichtiich  des  Grundeigentums 
(nicht  auch  schon  der  Gebäude)  veröffent- 
licht worden.  Schon  seit  Anfang  der  sech- 
ziger Jahre  und  teilweise  bis  in  die  neueste 
Zeit  hinein  hat  die  amtliche  Statistik  aus 
verschiedenen  Quellen  Nachweisungen  über 
die  Bewegung  und  den  Wert  des  Grund- 
eigentums, die  Regulierungen,  Ablösungen, 
Gemeinheitsteilungen  etc.  gebracht. 

Die  hauptsäcldichsten  Thatsachen  nach 
den  neuesten  Erhebungen  sind  folgende. 
Im  Gebiete  des  preussischen  Staates  (ohne 
Hohenzollern  und  Helgoland)  sind  1893  (in 
Klammern  1878)  Besitzungen  ermittelt 
worden:  im  ganzen  3197  761  (2917  852), 
darunter  öffentliche  aller  Art  16944^^  oder 
5,3^/0  (149605  oder  5,1  ^/o)  und  3028318 
oder  94,7^/0  (2768264  oder  94,9  ^/o)  privater 
einschliesslich  29444  (17  305)  von  wirt- 
schaftlichen Genossenschaften.  Von  den 
öffentlichen  Besitzungen  hatten  39  588  nutz- 
bare Gnmdstücke  von  2  256  581  (2 117  421)  ha 
Umfang,  von  den  privaten  1619767 
(1568  215)  mit  24002032  (23984789)  ha. 
An  Gebäuden  wurden  festgestellt:  8521822 
(7  608228),  davon  410  466  oder  4,8^/0 
(343  990  oder  4,5  o/o)  öffentliche  und  8111  856 
oder  95,2  <>/o  (7  264838  oder  95,5^/0)  private. 
Die  ländlichen  Besitzungen  lassen  sich  der- 
art giuppieren,  dass  als  Gressgnmd besitz  die 
Besitzungen  mit  eineniGrundsteueiTcinertrage 
von  über  500  Thalern,  als  mittierer  Besitz  die 
mit  einem  solchen  von  KiO — 5(X)  Thalern  und 
als  Kleinbesitz  die  selbständigen  Besitzungen 
mit  einem  Reinertrage  von  unter  100  Thalern 
zusammengefasst  werden,  während  auf  der 
untersten  Stufe  die  sogenannten  unselb- 
ständigen  Besitzungen    (s.   oben)    und    der 

54* 


852 


Grundbesitz  (Statistik) 


Parzellenbesitz  erscheinen.  Die  ländlichen 
Privatbesitzungen  verteilen  sich  dann  nach 


Zahl  und  umfang  (nutzbare  Fläche)  für  1893 
folgendermassen : 


Provinzen 

OstpreuBsen 

Westpreossen 

Brandenburg 

Pommern 

Posen 

Schlesien 

Sachsen 

Schleswig-Holstein 

Hannover 

Westfalen 

Hessen-Nassau 

Bheinland 

Preussen  zusammen 

1893 


Grossgmnd- 
besitz 


1878 


fZahl 
1   ha 
)Zahl 
1  ha 
/Zahl 
^    ha 
f  Zahl 
\   ha 
I  Zahl 
\   ha 
)Zahl 
)   ha 
/Zahl 
{   ha 
}  Zahl 
i   ha 
/Zahl 
\  ha 
/Zahl 
\  ha 
/  Zahl 
\  ha 
/Zahl 
\  ha 

/Zahl 
l  ha 
/Zahl 
\  ha 


2 

941 

2 

8oi 

2 

I  146 

2 

1338 
I 

1  296 

4 
1639 

4 
613 

4 

444 

3 

341 
1 

273 

74 
2 

207 


138 

712,5 
iSi 

844,7 

138 

881,0 

262 

022,3 

982 

797,7 
205 

587,9 

ii5 

835,8 

510 

228,5 

730 
739,0 

743 

063,3 
420 

725,8 

523 
056,2 


31947 
9119494,7 

32488 

9073187 


mittlerer 
Besitz 

12697 

799  680,4 

6839 

393  307,4 

16336 
739  170,1 

6825 
362  682,3 

5087 
280  583,6 

19740 

577531,2 

20528 

587  923,3 

18236 
731  246,6 
29  117 
I  386  379.6 

16439 
601  008,8 

8382 

173  452,4 
16016 

291  888,5 

176242 
6924854,2 

182  410 
7  112  150 


Klein- 
besitz 

29344 
730  184,3 

14744 
389  033,5 

25374 
535  420,3 

16751 
337  188,4 

24613 
447871,0 

40426 

494  7'*9,3 
23  762 

268851,1 

12  542 

214459,1 

33  779 
629916,7 

22322 
340641,4 

22725 
210411,4 

48347 
408  399,3 

314  731 
5  007  125,8 

266  187 

4509869 


nnselbst. 
Besitz 

63720 
239  829,3 

47  198 
214685,2 

74610 
239  621,9 

40340 
148  382,0 

55331 

219483,3 
182301 

489  144,2 

85157 
141  826.7 

35018 

"7  »37,5 
96804 

312329,3 

82360 

229  422,7 

loi  475 

185  107,4 

232  529 

413445,4 

I  096  843 

29505*4,9 
1  078  627 
3  238  236 


Dies  führt  zu  nachstehenden  Verhältnisberechnnngen. 

Von  100  Besitzungen  entfallen 
auf  den 


m 


Gross- 
gmnd' 
besitz 


Ostpreussen 2,0 

Westpreussen 3,1 

Brandenburg 1,8 

Pommern 3,4 

Posen 2,3 

Schlesien 1,7 

Sachsen 3,1 

Schleswig-Holstein   ...  6,4 

Hannover 2,3 

Westfalen 1,4 

Hessen-Nassau 0,4 

Bheinland 0,9 

Preussen  zusammen: 

1893  2,0 

1878  2,1 


mitt- 
leren 
Besitz 

11,8 

9,6 

13,8 

10,3 

5,8 

8,0 

15,4 
25,9 
17,8 

^3,4 
6,3 
5,3 

10,9 
",7 


Klein- 
besitz 

27,1 
20,8 

21,4 

25,5 
28,3 
16,4 

17,8 

17,9 
20,7 

18,2 

17,0 

16,1 

19,4 
17,3 


un- 
selbst. 
Besitz 

59,1 
66,5 
63,0 
60,8 

63,6 
73,9 
63,7 
49,8 
59,2 
67,0 

76,3 
77,7 

68 
69 


Von  100  ha  nutzbarer  Fläche 
entfallen  auf  den 

Gross-      mitt-      K;iein-       ^^' 
grund-      leren      flaffT     selbst, 
besitz     Besitz      °®^^^      Besitz 


35 

45 

43 
61 

58 

51 
38 
30 
13 
19 
12 

15 

38 
38 


30 
22 
28 

17 

13 
18 

36 
49 
52 
42 
27 
22 

29 
29 


27 
22 

20 

15 
20 

15 
26 

20 

29 

24 
32 
30 

21 
19 


9 
12 

9 

7 
10 

15 
9 
8 

12 
16 
29 

31 

12 
13 


Nach  den  vorstehenden  Angaben  zeigen 
die  einzelnen  Landesteile  erhebliche  Ver- 
schiedenheiten, welche  sich  kurz  dahin 
charakterisieren  lassen,  dass  im  Osten  der 
Monarchie  der  grosse  Grundbesitz,  im  Westen 
und  in  den  neuen  Provinzen  die  kleineren 
und  unselbständigen  Besitzungen  stärker 
hervortreten.  Gegen  1878  macht  sich  eine 
Zunahme  des  Kleinbesitzes  und  eine  Ab- 
nahme des  unselbständigen  Besitztums  be- 


I  merkbar.  Uebrigens  ist  zu  bemerken,  dass 
!  die  Statistik  grundsätzlich  melirere  im 
i  Eigentum  einer  Person  befindliche  selb- 
!  ständig  bewirtschaftete  Besitzungen  als  jede 
für  sich  bestehend  betrachtet 

Auch  hinsichtlich  des  Ertragswertes  des 
Bodens  steht  der  Osten  zum  Westen  im 
Gegensatz.  Es  entfällt  (1878)  nämlich  fol- 
gender Grundsteuerreinertrag  auf  1  ha  nutz- 
barer Fläche  bei  dem 


Gnindbesitz  (Statistik) 


853 


p  Grossgnind- 

y^  besitz 

vinzen:  v 

Ostprenssen  9,3^ 

Westprenssen  10,20 

Brandenburg  10,71 

Pommern  10,33 

Posen  9,11 

Schlesien  13,88 

Sachsen  29,48 

Schlw.-Holst.  34,53 

Hannover  32,30 

Westfalen  22,38 

Hess -Nassau  19,25 

Rheinland  42,05 

Preussen  15,01 


mittleren 

Besitz 

M. 

9,31 
10,85 

12,71 

11,62 

9,71 
20,28 

22,08 

17,69 

13,30 
17,82 

26,14 

32.76 

15,83 


Klein- 
besitz 
M. 

5,82 

5,20 

8,04 

6,95 
8,40 

'3,73 

15,07 
11,58 

9,71 
11,24 

18,25 
18,68 
10,01 


nnselbst. 

Besitz 

M. 

5,04 

3,95 

7,69 

6,59 
6,40 

11,91 
18,44 
10,68 
8,65 
9,88 
15,62 
15,48 
10,47 


Bei  Beurteüung  der  Ertragsverschieden- 
heiten zwischen  dem  grösseren  und  kleineren 
Besitz  ist  zu  beachten,  dass  als  Massstab 
für  die  letztere  Unterscheidung  die  Grund- 
steuerreinerträge selbst  gewählt  worden  sind. 

b)  Bayern.  Die  Grundbesitzstatistik  ist 
hier  erst  noch  wenig  ausgebDdet.  Einige 
Feststellungen  über  die  Besitzverhältnisse 
und  die  Stückeliuig  des  Bodens  haben  ge- 
legentlich der  grösseren  landwirtschaftlichen 
Erhebungen  von  1853  und  1863  auf  Gnind 
des  damals  eben  fertiggestellten  Steuer- 
katasters stattgefunden.  Sie  beziehen  sich 
auf  das  landwirtschaftlich  benutzte  Areal 
und  die  Waldungen,  unterscheiden  den 
Privatbesitz  und  den  Besitz  des  Staates 
sowie  der  Korporationen  etc.  und  macheu 
die  Zahl  der  Besitzer,  der  Tagewerke  und 
der  Parzellen  ersichtlich.  Mit  den  meisten 
älteren  Yolkszählungen  sind  auch  besondere 
Gebäudezählungen  verbunden  worden.  Seit 
jenen  Jahren  haben  erst  die  Erhebungen 
von  1883  bezw.  1882  über  die  Bodenbe- 
nutzung und  die  Betriebe  in  der  Landwii't- 
schaft  wieder  zu  einem  beschränkten  Aus- 
weis des  Grundbesitzes  geführt,  indem  für 
jede  Gemeinde  die  gesarate  luid  die  land- 
wirtscliaftlich  benutzte  Fläche  die  Zahl  der 
der  Gemeinde  angehörigen  und  nicht  ange- 
hörigen  Grundbesitzer  sowie  der  Flächen- 
inhalt des  grössten  und  kleinsten  Besitztums 
erhoben  wurden.  Wir  benutzen  dieses 
neueste  Material  zu  nebenstehender  Zu- 
sammenstellung. 

Hier  sind  nur  die  >der  Gemeinde  ange- 
hörigen« Grundbesitzer  berücksichtigt,  die 
Forensen  also  ausgeschlossen,  so  dass  in  den 
Durchschnittszahlen  der  wirkliche  Umfang 
eines  jeden  Besitztums  im  wesentlichen  zu- 
ti'effend  zum  Ausdruck  kommen  wird.  (In 
der  bezüglichen  amtlichen  Veröffentlichung 
fehlt  es  leider  an  jeder  Andeutung  über  die 
Art  der  Erhebung  und  die  Brauchbarkeit 
des  Materials.)  Die  Angaben  über  die 
Durchschnittsgrösse  eines  Betriebes,  und 
zwar  der  landwirtschaftlich  benutzten  Fläche 
desselben,  sind  der  Betriebsstatistik  ent- 
nommen.   Durchschnittlich  sind  die  Betriebe 


a> 

Auf  einen  Grund- 

Ö.^ 

besitzer  entfallen 

Regierungs- 
bezirke 

Zahl  d 
Grundbes 

ha  der 
Gesamt-  landw. 

irchsch] 
rosse  e 
Betriel 

fläche 

Fläche 

ö^ 

Oberbayeirn 

114  863 

13,19 

8,98 

9,3 

Niederbayem 

96044 

10,97 

7,30 

«,2 

Pfalz 

162  195 

3,51 

2,08 

2,9 

Oberpfalz 
Oberiranken 

76068 

12,12 

7,51 

7,9 

83301 

7,59 

5,19 

5,7 

Mittel  franken 

88375 

7,99 

5.41 

6,2 

Unterfranken 

124872 

5,92 

3,99 

4,7 

Schwaben 

106  149 

9,02 

6,70 

6,7 

Bayern 

851867 

8,33 

5,59 

6,3 

umfangreicher  als  die  Besitzungen,  wie  denn 
auch  die  Gesamtzahl  der  ersteren  (681521) 
erheblich  hinter  der  der  Grundeigentümer 
zurücksteht.  Die  weitgehende  Zerstückelung 
des  Grundbesitzes  in  einigen  Teilen  Bayerns 
und  vor  allem  in  der  Pfalz  tritt  aus  den 
obigen  Zahlen  deutlich  hervor. 

o)  Sachsen.  Die  Unterlagen,  welche 
in  Sachsen  w^ährend  der  Jahre  1839 — 1843 
durch  Aufstellung  des  Grundsteuerkatastei-s 
geliefert  wurden,  sind  für  die  Zwecke  unserer 
Statistik  lange  Zeit  unbenutzt  geblieben.  An 
vereinzelten  Bemühungen,  aus  anderen 
Quellen  eine  Kenntnis  der  bezüglichen  Ver- 
hältnisse zu  schöpfen,  liat  es  dagegen  nicht 
gefehlt.  Den  bedeutsamsten  dieser  Ver- 
suclie  bilden  die  gelegen tlicli  der  A'ieh- 
zählung  von  1853  veranstalteten  Erhebungen 
über  die  Anzalü  der  viehbesitzenden  Land- 
gniudbesitzer  und  Landgrundpächter  mit 
Rücksicht  auf  die  Grosse  ihi'es  Besitzes 
(22  Klassen).  Indessen  bietet  eine  solche 
Betriebsstatistik  doch  nur  einen  unvoll- 
kommenen Ersatz.  Eret  im  Jahre  1877 
wurde  auf  Grund  der  Katasterangaben  (mit 
Unterscheidung  von  61  Besitzklassen)  die 
Zahl  der  Eigentümer  derjenigen  landwiii:- 
schaftlichen  Gnmdstücke  festgestellt,  auf 
denen  nach  Abrechnung  der  die  Gebäude 
samt  den  Hofräumen  treffenden  Einheiten 
mindestens  120  Steuereinheiten  haften. 
Nach  dem  am  1.  Januar  1844  in  Kraft  ge- 
tretenen Grundsteuergesetz  sollte  eine  solche 
Einheit  dem  Reinerti-age  von  ^3  Thaler 
(—  1  M.)  gleichzuachten  sein.  Die  Zahl 
der  Grundeigentümer  gedachter  Art  betrug 
i877  im  ganzen  52  332  mit  29  325  983 
Steuereinheiten.  Beide  verteilen  sich  in 
nachstehender  Weise: 
auf  einen         Grundeigen- 

ttiraer 
Zahl        0/0 

69,16 

21,73 
6,30 


Besitz  von 
Steuerein- 
heiten 
120—500 
500—1000 
1000-2000 
2000— KXXX) 
über  10000 


Steuereinheiten 
Zahl 


0' 
/O 


36189 

11373 

3299 

1341 
130 


2,56 
0,25 


9502819  32,40 

7  794  209  26,58 

4371 9H  14,91 

5504562  18,77 

2152482  7,34 


854 


Grundbesitz  (Statistik) 


Abgesehen  davon,  dass  die  Bevölkerungs- 
vermehrung,  der  gewaltige  Aufschwung  der 
Industrie  sowie  die  YervoUkonimnung  der 
Verkehi-smittel  seit  Anfang  der  vierziger 
Jahre  den  Reinertrag  des  Bodens  beträcht- 
lich gesteigert  haben,  leidet  jene  Erhebung 
vor  allem  daran,  dass  der  Grrundbesitz  mit 
weniger  als  120  Mark  Reinertrag  und  da- 
mit ein  erheblicher  Teil  der  kleineren  Eigen- 
tümer vöDig  unbeachtet  gelassen  ist.  Aller- 
dings enthält  auch  die  erste  der  obigen 
Gruppen  noch  viel  Kleinbesitz  und  nament- 
lich auch  wohl  die  Mehrzahl  der  in  den 
Stadtfluren  belegenen  Güter  und  Grund- 
stücke. In  der  zweiten  Gruppe  wird  vor- 
nehmlich der  mittlere,  in  der  dritten  der 
besonders  wohlliabende  Bauernstand  und  die 
kleinen  Rittergüter  vertreten  sein,  während 
in  der  vierten  und  fünften  Gruppe  haupt- 
säcldich  die  mittleren  bezw.  selir  grossen 
Rittergüter  zur  Erscheinung  gelangen.  Im 
ganzen  zeigen  die  Verhältnisse  eine  glück- 
liche Mischung  von  grösserem,  mittlerem 
und  kleinerem  Besitz. 

d)  Württemberg.  Zu  den  Ländern 
mit  vorwiegend  kleinem  Gnmdeigentum  ge- 
hören Württemberg  und  das  nachfolgende 
Baden.  Dort  wurde  im  Jahre  1857  unter 
Zuhilfenahme  der  Grundbücher  eine  Statistik 
des  Grundeigentums  imd  zwar  in  der  Weise 
aufgestellt,  dass  die  Zahl  der  Eigentümer 
in  ihrer  Yerteilung  auf  7  Grössenklassen 
des  landwirtschaftlich  benutzten  Bodens 
nachgewiesen  wuwle.  Diese  Erhebung  hatte 
namentlich  den  grossen  Misstand,  dass  alle 
sogenannten  Ausmärker,  d.  h.  alle  diejenigen, 
welche  Grundstücke  auf  melu'eren  Gemar- 
kiuigen  besassen,  melirere  Male  als  Grund- 
eigentümer gezählt  wurden,  die  wirkliche 
Zahl  der  letzteren  also  weit  geringer  war 
als  449  594,  welche  die  Statistik  ergab ;  es 
ist  dies  auch  daraus  zu  entnehmen,  dass 
Württemberg  um  dieselbe  Zeit  überhaupt 
nur  359  000  Familien  zählte.  Ein  im  Jahr- 
gang 1860  der  Jahrbücher  (s.  Litteratur) 
anonym  ei-schienener  Aufsatz  Rümelins  sucht 
die  Mängel  jener  Statistik  zu  heben.  Hier- 
nach reduziert  sich  die  Zahl  der  Grund- 
eigentümer auf  etwa  329  650.  Von  diesen 
haben  180  000  oder  54®/o  ein  Besitztum  von 
weniger  als  5  Morgen  (1  württemb.  Morgen 
=  0,315  ha),  ferner  ein  j^olches  von  5 — 10 
Morgen  66  000  oder  2()<>/o,  von  10—30 
Morgen  55  000  oder  11%,  von  30—50 
Morgen  15  000  oder  5"/o,  von  50—100 
Morgen  10  400  oder  S^/o,  von  100  bis  200 
Morgen  2600  oder  0.8  ^Vo  und  endlich  von 
über  200  Morgen  650  oder  0,2  »/o.  Jene 
IwO  000  kleinen  Grundeigentümer  sind  haupt- 
sächlich solche  Gewerbetreibende  und  Lohn- 
arbeiter, welche  ihr  Einkommen  durch  land- 
wirtschaftliche Nebenbeschäftigung  ergänzen. 
An     neueren    Ermittelungen     feldt    es    in 


Württemberg.  Die  gelegentlich  der  Vieh- 
zählung am  10.  Januar  1873  veranstaltete 
Erhebung  über  die  Vei^teilung  des  landwirt*- 
schaftlich  benutzten  Grundbesitzes  erstreckte 
sich  auf  die  Zahl  und  die  Grösse  der  vor- 
handenen Wirtschaften,  d.  h.  auf  den  Um- 
fang der  von  einer  Haushaltung  aus  be- 
triebenen Land'wirtschaft.  Es  wurden  also 
nicht  die  Eigentums-,  sondern  die  Betriebs- 
verhältnisse berücksichtigt.  Man  zählte  im 
ganzen  313  519  Wirtschaften ,  darunter 
145  085  oder  46,28  %  mit  einem  Besitz  von 
IV2  und  weniger  ha,  141809  oder  45,23  <^/o 
mit  einem  solchen  von  IV2 — 10  ha  und 
26  625  oder  8,49  ®/o  mit  einem  solchen  von 
mehr  als  10  ha.  Diese  Zahlen  stehen  mit 
den  obigen  Angaben  über  die  Eigentums- 
verteüung  im  Einklang. 

e)  Baden.  Im  Grossherzogtum  sind 
umfassendere  Erhebungen  über  den  Grund- 
besitz bisher  noch  nicht  veranstaltet  wor- 
den. Insbesondere  fehlt  es  in  Bezug  auf 
die  wichtige  Frage  der  Eigentumsverteilung 
des  Bodens  an  direkten  Ermittelungen. 
Einen  gewissen  Ei*satz  bietet  indessen  die 
gelegentlich  der  Viehzählimg  am  10.  Januar 
i873  vorgenommene  Statistik  der  landwirt- 
schaftlichen Haushaltungen  sowie  die  land- 
wirtscliaftliche  Betriebsstatistik  vom  5.  Juni 
1882  und  14.  Juni  1895.  Weü  die  Ergeb- 
nisse der  letzteren  in  den  Artt.  Agrar- 
statistik,  Bauerngut  und  Bodenzer- 
splitterung berücksichtigt  sind,  beschrän- 
ken wir  uns  auf  einige  Mitteilungen  aus  den 
Veröffentlichungen  über  jene  ältere  Erhebimg. 
Darnac'h  gab  es: 


Besitzgruppen 

Land  wir  tsch. 

Landwirtsch. 

nach  der  Grösse  in 

Betriebe 

Fläche 

Morgen        ha 

Zahl 

0/ 
,0 

ha         % 

0-10       0    3,6 

160  581 

72,0 

227313     28,5 

10    20    3,6—7,2 

38900 

17,5 

193923    24,3 

20—50    7,2    18 

18346 

8,3 

193936    24,3 

50-100   18—36 

3721 

1,6 

90152     11,3 

100—500  36—180 

I  177 

0,5 

65671      8.4 

über  500    über  180 

21 

0,01 

5  542      0,6 

Gemeindeall- 

mend  etc. 

21 060      2,6 

zusammen 

222  746 

100,0 

797  597  100,0 

Da  von  der  gesamten  landwirtscliaftlichen 
Fläche  628  450  ha  oder  78,8  %  im  Eigentum 
des  Bewirtschafters  sich  befanden,  so  können 
die  obigen  Zahlen  annähernd  auch  für  die 
Eigentunisverteilung  als  zuti'effend  gelten. 
In  Baden  heiTScht  eine  selu*  weitgehende 
Teilung  des  Gnmdbesitzes.  Der  Schwer- 
punkt der  Landwirtschaft  liegt  in  den  eigent- 
lich bäuerlichen  Betrieben  von  10  bis  100 
Morgen,  welche  wesentlich  mehr  als  die 
Hälfte  des  landwirtschaftlichen  Areals  um- 
fassen. Der  Grossgrundbesitz  tiitt  völlig 
zurück.  Bei  den  äusserst  zahli'eichen  Haus- 
haltungen der  untersten  Gruppe  handelt  es 


Grundbesitz  (Statistik) 


855 


sich  um  solche  kleine  Grrundeigentümer, 
welche  ausser  in  der  Landwirtschaft  auch 
noch  in  anderen  Erwerbszweigen,  als  Hand- 
werker, Tagelöhner  etc.,  ihren  Lebensunter- 
halt suchen  müssen  (gemischte  Betriebe). 

f)  Die  übrigen  deutschen  Staaten. 
Eine  vortreffliche,  systematisch  ausgebildete 
Agrarstatistik,  welche  auch  die  Grundeigen- 
tumsverhältnisse eingehend  berücksichtigt, 
liegt  für  die  thüringischen  Staaten 
vor.  Daneben  sind  die  reichhaltigen  Yer- 
öffentlichungen  aus  Braun  schweig,  Ol- 
denburg und  Bremen  zu  nennen.  Die 
über  Mecklenburg-Schwerin  publi- 
zierten Arbeiten  beschränken  sich  fast  alle 
auf  das  Domanhim,  dessen  Verliältnisse 
allerdings  recht  umfangreiche  Darstellungen 
erfahi*en  haben.  In  den  bisher  nicht  ge- 
nannten Teilen  des  Deutschen  Reiches  sind 
über  das  Gnmdeigentum  entweder  gar  keine 
oder  doch  nur  geringfügige  statistische  Er- 
mittelungen veranstaltet  w^orden,  so  dass 
hier,  wie  teilweise  auch  schon  in  den  früher 
behandelten  Staaten,  die  Betriebsstatistik 
aushelfen  muss.  —  Wa6  die  Lage  des 
Gnindeigentums  selbst  betrifft,  so  sind  im 
Grossherzogtum  Hessen,  in  Thüringen  sowie 
in  den  Reichslanden  (mit  Ausnahme  des 
Lothi'inger  Bezirkes)  vorwiegend  kleinere 
Besitzer  vertreten  und  die  Zei^splitterung 
des  Bodens  ist  dort  vielfach  eine  sehr  weit- 
gehende. In  schroffem  Gegensatz  hierzu 
steht  Mecklenburg,  wo  der  Boden  im  Eigen- 
tum verhältnismässig  weniger  sich  befindet. 
Tebrigens  lebt  auf  dem  neben  den  gi'ossen 
Rittergütern  vor  allem  in  Betracht  kommen- 
den grossherzoglichen  Domanium  ein  gut 
entwickelter  Stand  kleinerer  Bauern  als 
Erl:>-  oder  Zeitpächter.  Die  übrigen  Staaten, 
namentlich  Oldenburg  und  Braunschweig, 
haben  eine  vorteilhafte  Mischung  von 
grösserem  imd  kleinerem  Gnmdeigentum 
und  insbesondere  einen  kräftigen  Bauern- 
stand aufzuweisen. 

g)  Der  städtische  G.  Die  eigen- 
tümlichen Verhältnisse  des  städtischen, 
vorzugsweise  in  Gebäuden  bestehenden 
Lnmobiliarbesitzes  und  insbesondere  die 
engen  Beziehungen  desselben  zur  Wohnungs- 
frage haben  vor  allem  in  den  Grossstädten 
zu  eingehenden  statistischen  Erhebungen 
geführt,  namentlich  seitdem  in  zalilreichen 
Städten  des  In-  und  Auslandes  besondere 
statistische  Aemter  begründet  woixlen  sind, 
welche  die  Erforschung  jenes  Gebietes  zu 
einer  ihrer  Hauptaufgaben  gemacht  haben. 
So  ist  bereits  ein  überaus  wertvolles 
Material  für  die  Beurteilung  der  sozialen 
Zustände  innerhalb  der  städtischen  Gemein- 
wesen zusammengetragen.  Allerdings  sind 
die  bisher  von  den  einzelnen  Städten  unter- 
nommenen Ermittelungen  imter  einander 
noch   sehr  ungleich,   so  dass  z.  B.   selbst 


innerhalb  des  deutschen  Reichsgebietes  über 
die  Zahl  der  grossstädtischen  Grundeigen- 
tümer in  befriedigendem  Umfange  vergleich- 
bare Daten  sich  nicht  beibringen  lassen. 
Ein  allgemeineres  Interesse  bietet  folgende, 
der  neueren  Neefeschen  Arbeit  (s.  Litteratur) 
entnommene  Uebersicht,  welche  die  Ent- 
wickelung  der  Bauthätigkeit  im  Vergleich 
zur  Bevölkerungszunahme  wälirend  des 
Zeiti-aumes  1880  85  zur  Anschauung  bringt 
und  ziu*  Genüge  erkennen  lässt,  dass  beide 
keineswegs  überall  in  befriedigender  Weise 
einander  entsprochen  haben. 


Es  beträgt 

die: 

Zunahme  der 

Städte: 

Bevölkerung 

bewohnt.  Gebäude 

absolut 

0/ 

/oo 

absolut 

/oo 

Berlin 

192  957 

172 

923 

37 

Hamburg 

61  300 

149 

I  178 

45 

Breslau 

26  728 

98 

959 

117 

München 

31958 

139 

384 

45 

Frankfurt  a.  M. 

17694 

129 

892 

100 

Dresden 

25268 

114 

973 

115 

Leipzig 

21  259 

143 

349 

92 

Bremen 

5942 

53 

181 

II 

2.  Oesterreich.  Aus  älterer  Zeit  liegen 
nur  für  einzelne  Länder  der  österreicliischen 
Monarclüe  statistische  Erhebimgen  über  das 
Grundeigentum  vor,  so  namentlich  für  Ga- 
lizien  (nach  den  beiden  1819  und  1847 — 59 
vorgenommenen  Katastervermessungen)  und 
für  Böhmen  (nach  den  A'ermessimgen  aus 
den  sechziger  Jahren).  Erst  nachdem  zu 
Beginn  der  achtziger  Jahre  das  1869  in 
Angriff  genommene  Werk  der  allgemeinen 
GrundsteueiTegulierung  für  ganz  Oesterreich 
zu  Ende  gefülirt  worden,  waren  gleich- 
massige  und  voDständige  Unterlagen  für 
imsere  Statistik  gewonnen,  welche  letztere 
denn  auch  seitdem  eine  sehr  eingehende 
Ausgestaltung,  unter  Berücksichtigung  der 
Bodenverhältnisse  und  Kulturarten,  der 
Grundsteuerreinerträge,  der  Eigentumsver- 
teilung (leider  ohne  Untei-scheidung  von 
Grössenklassen)  und  der  Besitzarten  er- 
fehren  hat.  Ueber  die  Bewegung  des  Grund- 
eigentums, d.  h.  die  Veränderungen  im  Be- 
sitz- und  Lastenstande  der  Realitäten,  finden 
bereits  seit  mehreren  Jahraehnten  fortlaufende 
Ermittelungen  statt  Auch  über  das  Ver- 
hältnis der  Steuerwerte  zu  den  Verkaufs- 
preisen sind  wertvolle  Daten  gesammelt 
worden.  Ein  ungefähres  Büd  von  der  Ver- 
teilung des  landwirtschafthch  benutzten 
Grundl)esitzes  in  den  einzelnen  Ländern 
nach  dem  Stande  des  Jahres  1883  gewährt 
die  nachfolgende  Uebersicht,  bei  welcher 
insofern  Doppelzählungen  vorkommen,  als 
ein  Grundsteuerträger  nicht  selten  in  meh- 
reren Steueramtsbezirken  vertreten  ist. 


856 


Grundbesitz  (Statistik) 


Zahl       Auf  1  GrundW 

der        sitzer  entfallen 

Länder  Grund-  stenerbare      Eein- 

t^  Flache  In  ertrag 
.P®"         Joch  (zu  in 

Sitzer        0.58  ha)  Gulden 

Niederösterreich  266461  12,48  74,09 

Oberösterreich  11 1657  17,33  106,35 

Salzburg  24424  43,27  60,54 

Tirol  194879  19,29  24,49 

Vorarlberg  31 763  12,56  20,60 

öteiennark  188947  19,21  56,66 

Kärnten  49321  33,24  60,63 

Krain  106558  15,51  26,42 

Triest  9  434  1,60  10,33 

Görz  u.  Gradiska  46015  9,74  34,09 

Istrien  11 0800  7,51  11,88 

Dalmatien  112814  i9,34  12,60 

Böhmen  754  556  11,58  67.39 

Mähren  457  728  8,18  53,41 

Schlesien  77  552  11,19  46,54 

Galizien  1420021  9,28  17,25 

Bukowina  163286  11,47  13,77 

Oesterreich  4116216  11,94  40,07 

Grösser  als  cüe  obige  Zahl  der  Grund- 
steuerträger ei-scheint  infolge  von  Doppel- 
zählungeu  die  Zahl  der  in  einer  Steiierge- 
meinde  vertretenen  Gnindbesitzer.  Sie  be- 
trug 1883:  5198  904;  auf  den  einzelnen 
entfielen  an  Grundfläche  überhaupt  10,0,  an 
steuerbarer  Fläche  9,5  Joch,  gegen  14,0  bezw. 
13,2  Joch  im  Jahre  1857.  Die  Zersplitterung 
hat  also  im  ganzen  erhebliche  Fortschritte 
gemacht.  Und  auch  für  die  Folgezeit  ist 
solche  ersichtlich,  da  sich  1896  die  (obige, 
kleinere)  Zahl  der  Grundsteuerträger  auf 
4  642  176,  die  der  steuerpflichtigen  Fläche 
auf  48  706  455  Joch,  mithin  für  einen  Grund- 
steuerträger auf  10,50  Joch  stellte. 

3.  Ungarn.  Die  Statistik  Ungarns,  wel- 
che sich  auf  die  vorläufigen  und  endgiltigen 
Katasteraufnahraen,  das  Grundsteuerprovi- 
soriuni  von  1850  und  die  1869  durchgeführ- 
ten Revisionen  stützt,  liefert  eingehende 
Nachweise  über  die  Zahl  der  ländlichen 
Grund besitzungen  nach  Grössen-  und  Rein- 
ertragsklassen, die  Kultiutu'ten  und  die 
rechtliche  Natur  des  Besitzers.  Aussei-dem 
werden,  wie  in  Oesterreich,  alljährlich  Er- 
hebungen über  die  Zahl  un^  den  Geldwert 
der  Veränderungen  im  Besitz-  und  Lasten- 
stande veranstaltet.  Für  Ungarn  und  Sieben- 
bürgen, also  mit  Ausschluss  von  Kroatien 
und  Slavonien,  betrug  nach  den  obigen  Fest- 
stellungen die  (lesamtzahl  der  Grundbe- 
sitzungen 2  186265  mit  einer  Gesamtfläche 
von  46  597  889  Joch  (hiervon  43477  475  er- 
tragsfäliig  und  3120414  unbenutzbar);  dem 
entspricht  eine  Durchschnittsgrcisse  von 
18,74  Joch.  Die  A^erteilung  auf  die  einzel- 
nen GWissenkalegorieen  ergi(»bt  folgendes : 

ßesitzgruppen  nach  der  Gruntlbesitzungen 

Grösse  in  Joch  Zahl  % 

bis  zu  5 I  444  400    58,09 

5     lo 643091     25,87 

15 — 30 260619     10,48 

30—50 77280      3,11 


Besitzgruppen  nach  der  Grundbesitzon^en 

Grdsse  in  Joch  Zahl  ^|o 

50 — 100 30336  1,22 

100—500 20611  0,83 

500—1000 4502  0,18 

1000-10000 5  195  0,21 

über  10000 231  0,01 

Inwieweit  hier  Doppelzählungen  von  Be- 
deutung sind,  lassen  die  amtlichen  Ausweise 
nicht  erkennen. 

4.  Grossbritannien  und  Irland.  Hier 
mangelte  es  bis  zu  Anfang  der  siebziger 
Jahre  in  betreff  der  Gnmdeigentumsverhält- 
nisse  trotz  ilu-er  Eigenartigkeit  an  jeder 
sicheren  Kenntnis.  Es  liaben  dann,  haupt- 
sächlich auf  Anregung  des  Parlamentes,  Er- 
hebungen stattgefunden,  welche,  da  eine 
allgemeine  Landesvermessung  felilte,  hin- 
siclitlich  der  Grösse  des  Besitzes  auf  blosse 
Schätzungen  angewiesen  waren,  während 
die  Jahreserträge  den  Steuerlisten  entnom- 
men werden  konnten.  Das  Material  leidet 
aber  auch  noch  an  sonstigen  schwerwiegen- 
den Mängeln.  Die  Zahl  der  Besitzer  er- 
scheint infolge  von  Doppelzählungen,  der 
Jahresertrag  um  deswillen  erheblich  zu 
gross,  weil  die  Einkünfte  aus  nichtlandwirt- 
schaftlichen Quellen  (Bergwerken  u.  s.  w.) 
mit  eingerechnet  sind.  In  Schottland  ist  die 
kultivierte  Fläche,  welche  dort  nur  ^4  der 
Gosiimtfläche  ausmacht,  überhaupt  nicht  aus- 
geschieden. Für  England  und  Wales  wiuxle 
das  städtische  Grundeigentiun  von  dem 
übrigen  nicht  gesondert.  (Nur  London  wird 
von  der  Statistik  nicht  boti-offen.)  Die  Erb- 
pächter u.  s.  w.  sind  den  Eigentümern  zu- 
gerechnet, ohne  dass  eine  Trennung  der  ge- 
rade für  England  so  charakteristischen  Arten 
des  Grundeigentums  versucht  wäi-e.  Trotz 
dieser  und  anderer  Mängel  erweisen  sich 
die  Zahlen  zur  ungefäliren  Beiui:eilung  der 
thatsächlichen  Verhältnisse  als  ausreichend. 
Wir  geben  folgende  Uebersicht  (1  Aciv  = 
0,4  ha). 

Besitzpuppen  Grundbesitzer  ^P.^^^"   Ertra- 
nach  der     ^*""""^°*w.^»     gnisse     ^'.""» 

Grosse  in        „  ..      01       in  1000    0;    ilSin  t 
Acres  ^'^^^       '0       Acres         0  ^^^  ** 

a)  England 
und  Wales 

bis  zn  1     703289     72,3       155       0,5  28475 

1-1000     264340    27,214741   44,743969 

1000— lOaX)      4917  0,5  13974  42,3  2»  554 

über  10000         290  0,0    4 141  12,5     5333 

zusammen     972836  100,033013  100,099352 

b)  Schottland 

bis  zu  1  76732  81,1         22      0,1  2098 

1—1000  16 158  17,1     1452      7,7  4533 

1000—10000  1425  1,5    4355    23,0  3882 

über  10000  326  0,3  13095    69,2  3002 

zusammen  94641  100,0  18925  100,0  13  516 

c)  Irland 

bis  zu  1  36 144  52,6          9      0,0    1 350 

1 — 1000  28822  41,9    4345    21,6    4400 

10(K)— 10000  3453  5,1     9344    46,4    5000 

über  10000  292  0,4    6458    32,0    2600 

zu.sammen  68  711  100,0  20156  100,0  13350 


Grundbesitz  (Statistik) 


857 


Die  kleinsten  Besitzungen  bis  zu  1  Acre 
bestehen  fast  ausschliesslich  in  Hauseigen- 
tum. Auch  bei  der  folgenden  Gruppe  han- 
delt es  sich  vielfach  nicht  um  landwirtschaft- 
lichen Besitz,  sondern  um  Fabriken,  Land- 
häuser u.  s.  w.  Was  insbesondere  Schott- 
land anbetrifft,  so  wurden  hier  im  ganzen 
132230  Eigentümer  gezählt,  indem  37  589 
mit  einem  Areal  von  21000  Acres  und 
einem  Jahreserti'age  von  über  5  Millionen  £ 
auf  die  neun  Städte  des  Landes  mit  über 
20000  Einwolmern  entfielen.  In  Irland  ist 
zwar,  wie  in  England,  das  gesamte  städtische 
Gnmdeigentum  mit  eingerechnet,  lässt  sich 
dort  aber  auch  getrennt  nachweisen,  und 
zwar  wiu-den  in  Irland  (im  Jahre  1870)  nur 
19547  ländliche  Grundeigentümer  (28,4  <^/o 
aller)  mit  einem  Areal  von  fast  20  Millionen 
Acres  und  über  10  Millionen  £  Rente  ge- 
zählt, darunter  5982  mit  je  einem  Besitz 
von  unter  100  Acres.  Von  den  übrigen 
13565  hielten  sich,  soweit  ermittelt,  mu* 
5589  mit  annähernd  9  Millionen  Acres  ge- 
wöhnlich auf  ihren  Besitziuigen  auf  (s.  d. 
Art.  Absentismus  oben  Bd.  I  S.  13/14). 
Die  Zahlen  lassen  erkennen,  dass  im  vereinig- 
ten Königreiche  der  Boden  grösstenteils,  in 
Irland  sogar  fast  völUg  in  den  Händen  ver- 
hältnismässig weniger  Grossgrundbesitzer 
vei-einigt  ist,  welche  denselben  bekanntlich 
in  der  Regel  von  Pächtern  bewirtschaften 
lassen.  fUeber  Zahl  und  umfang  der  Be- 
triebe vgl.  d.  Art.  Boden  Zersplitterung 
oben  Bd.  II,  S.  971.) 

6.  Italien.  Obwohl  bereits  in  den  sieb- 
ziger Jahren  der  Plan  einer  systematischen 
Gnindeigenturasstatistik  eingehend  erwogen 
w^urde,  ist  es  zu  einer  solchen  Erhebung 
bisher  noch  nicht  gekommen.  Die  techni- 
schen Sch^vierigkeiten  derselben  beruhen, 
wie  es  scheint,  hauptsächlich  auf  dem  Man- 
gel eines  vollständigen  gleichm&ssigen  und 
zuverlässigen  Grundkatasters  für  das  ganze 
Königreich.  Nur  über  die  hypothekarische 
Belastung  des  Eigentums  liegen,  und  zwar 
seit  einer  Reihe  von  Jahren,  sehr  vollsiän- 
digo  statistische  Nachrichten  vor.  Einige 
Kenntnis  von  der  Verteilung  des  Grundbe- 
sitzes verdankt  man  der  in  den  siebziger 
Jahren  veranstalteten  grossen  landwirtschaft- 
lichen Enquete,  welche  bezüglich  dieser 
Frage  namentlich  aus  den  Grundsteuerrollen 
und  den  für  einige  Provinzen  aus  älterer 
Zeit  vorliegenden  agrarstatistischen  Erhebun- 
gen schöpft.  Die  Artikelzalü  der  Steuer- 
listen wird  für  1880  auf  5157  293  angege- 
l)en,  welche  eine  Bodeuf lache  von  29  625403 
ha  und  eine  Grundsteuer  von  124695028 
Lire  repräsentieren,  so  dass  diu'chschnittlich 
auf  jeden  Artikel  5,74  ha  bezw.  24,17 
Lire  entfallen.  Am  geringsten  ist  die  Grösse 
des  steuerpflichtigen  Grundes  in  den  Pro- 
vinzen Neapel  (2,19  ha)  und  Como  (2,11  ha). 


am  beträchtlichsten  in  Grosseto  (22,07  ha) 
und  Siena  (27,99  ha).  Wesentlich  kleiner  als 
die  Zahl  der  Artikel  ist  selbstverständlich 
die  der  Steuerpflichtigen.  Sie  betrug  1880 
im  ganzen  3586560,  von  denen  2909584 
oder  81,120/0  weniger  als  20  Lire,  368776 
oder  10,28^/0  20—40  Lire  und  308  200  oder 
8,60  o/o  mehr  als  40  Lire  an  Steuern  zahlten. 
Uebrigens  werden  auch  hier  noch  vielfach 
Doppelzählungen  vorgekommen  sein.  Im 
ganzen  ist  der  Boden  Italiens  ausserordent- 
lich zerstückelt,  besonders  in  Nord-  und 
Süditalien  sowie  auf  Sardinien.  Der  Gross- 
grundbesitz macht  sich  fast  nur  im  Gebiete 
des  früheren  Kirchenstaates  stärker  geltend. 

6.  Frankreich.  Die  doi-tige  Gnmdbe- 
sitzstatistik  entstammt  zum  Teil  den  fort- 
laufenden Anschreibungen  der  Steuerver- 
waltung. Ausserdem  sind  wiederholt  sta- 
tistische Specialerhebungen  veranstaltet, 
welche,  ebenso  wie  die  grossen  landwirt- 
schaftlichen Enqueten  der  Jahre  1866 — 1870 
und  1879 — 1880,  ein  reiches  Material  zu 
Tage  gefördert  haben.  Bezüglich  der  Grund- 
eigentumsverteilung ist  man  trotzdem  auch 
heute  noch  auf  die  Cotes  foncieres,  d.  h.  die 
selbständigen  Grund steuerbeträge  jeder  Ge- 
meinde als  Erhebungsobjekt  angewiesen, 
dei-en  Gesamtzahl  regelmässig  veröffentlicht 
zu  werden  pflegt.  Daneben  wurde  in  den 
Jahren  1835,  1842  und  1858  eine  Klassifi- 
zierung der  Cotes  nach  Wertgrössenklassen 
(^in  Francs)  vorgenommen,  wohingegen  bei 
einer  ähnlichen  neuen  Ermittelung  (1884) 
die  Flächengrösse  als  Massstab  gedient  hat. 
Eine  umfassende  statistische  Erhebung  des 
steuerbaren  Grundeigentums  nach  den  An- 
gaben des  Katasters  wurde  durch  G.  v.  9. 
April  1879  angeordnet.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit ist,  nach  einem  Voi'gange  des  Jahres 
1851,  neben  dem  Reinertrag  auch  der  Ver- 
kaufswert des  Bodens  ermittelt  worden. 
Ueber  die  Pachtertrilge  sowie  über  die  hypo- 
thekarische Belastimg  haben  die  Enqueten 
gleichfalls  wertvolle  Daten  geliefert. 

Die  Erhebung  des  Jahres  1884,  welche 
sich  auf  ganz  Frankreich  mit  Ausnahme  von 
Paris  und  364  anderen,  noch  nicht  ka- 
tastriej'ten  Gemeinden  Korsikas  und  Savo- 
yens  erstreckt,  verteilt  die  Cotes  auf  21 
Grössenklassen.  Im  folgenden  sind  dieselben 
derart  zusammengefasst,  dass  das  sehr  kleine, 
mittlere,  grosse  und  sehr  grosse  Grundeigen- 
tum thun liehst  zur  Ei-sclieinung  gelangt 
Man  erhält  dann: 


n.K«„«  ;«  i.«C^otes  foncieres 
Grösse  m  ha  ^^^^^^^        o/^ 

steuerbare  Fläche 
ha            % 

0—2       10426368 

74,09 

5211456     10,53 

2    6        2  174  188 

I5;47 

7  543  347     15,26 

6—50       135M99 

9,58 

19  217  902     38,94 

50-200        105070 

0,74 

9398057     19,04 

über  200         17676 

0,12 

8017542     16,23 

zusammen  15  074  801 

100,00 

49388304  100.00 

858 


Grnindbesitz  (Statistik) 


In  Bezug  auf  die  Beurteilung  dieser 
Zahlen  vgl.  die  Ausführungen  in  Bd.  11 
S.  569  ff.  Der  durchschnittliche  Reinertrag 
des  unbebauten  Grundeigenturas  ist  pro  ha 
von  38,04  Francs  im  Jahre  1851  auf  52,87 
Francs  im  Jahre  1879,  der  Yerkaufswert  in 
der  gleichen  Zeit  von  1282,29  auf  1830,39 
Francis  gestiegen.  Am  bedeutendsten  war 
die  Zunahme  beim  Acker-  und  Weinlande. 
Nur  sehr  wenige  Departements  zeigen  einen 
Rückgang  des  Bodenwertes.  Der  Pachter- 
trag pro  ha  stieg  von  63,02  Francs  im  Jahre 
1867  auf  73,50  Francs  im  Jahre  1877.  Nach 
den  neuesten  Angaben  des  Annuaire  sta- 
tistique  von  1898  verteilt  sich  die  kultivierte 
Fläche  im  Belaufe  von  44241720  ha  derart, 
dass  auf  den  Staat  1116708,  auf  die  De- 
partements 8243,  auf  die  Gemeinden 
2  982  657,  auf  die  etablissements  hospitaliers 
208100,  auf  die  Privaten  39758043  und 
auf  sonstige  Eigentümerklassen  167  969  ha 
entfallen. 

7.  Russland.  Hauptsäclüich  zu  dem 
Zwecke,  den  Einfluss  der  Aufhebung  der 
Leibeigenschaft  auf  den  Besitz  Wechsel  kennen 
zu  lernen,  ist  im  euroimschen  Kussland 
wälu-end-  der  Jahre  1877 — 1880  eine  umfas- 
sende Enquete  veranstaltet  w^orden,  welche 
über  die  Gesamtlage  des  Grundeigentums 
die  wertvollsten  statistischen  Aufschlüsse 
erteilt.  Insbesondere  sind  auch  die  einzel- 
nen Kategorieen  der  Eigentümer  nach  dem 
Umfange  ihres  Besitzes  in  mehi'ere  Gruppen 
unterschieden.  Ferner  finden  über  den 
Wert  und  die  hj-pothekarische  Belastung 
des  Grundeigentums  fortlaufend  besondere 
Ermittelungen  statt.  Uebrigens  ist  jene  Er- 
hebung insofern  unvollständig  gewesen,  als 
von  der  Gesamtfläche  im  Umfang  von 
417  499993  Dessätinen  (1000  D.  =  1093  ha) 
nur  391103966  berücksichtigt  wurden. 
Letztere  verteilen  sich  derart,  dass  entfallen 
auf  den  Staat  150409977  oder  38,5^/0,  auf 
die  kaiserliche  Familie  7  368740  oder  1,9  ®/o 
und  auf  die  Bauerngemeinden  131372457 
oder  33,6  ^/o.  Von  dem  Rest  im  Betrage  von 
101953792  Dessätinen  oder  26,0  ^/o  sind 
91605845  im  Privateigentum  einzelner  und 
verteilen  sich  auf  folgende: 


Gruppen 


Besitzer 
Zahl 


Adlige  114  716 

Kauflente  12  630 

Stadtbürger        58  004 
Bauern  273  074 

nicht  klassiert    22  934 
zusammeu        481 358 


0/ 
/o 

23,8 

2,6 

12,1 

56,7 
4,8 

lOO.O 


Flächengrösse 
Dessätinen     ®/o 

73  163  744 

9  793  961 
1  909603 
5  005  824 

I  732713 
91  605  845 


79,9 
10,7 

2,1 

5,4 

1,9 
100,0 


Die  Durchschnitt sgrösse  einer  Besitzung 
beträgt  demnach  bei  den  Adligen  638,  den 
Kaufleuten  775,  den  Stadtbürgern  33  und 
den  Bauern  18  Dessätinen. 


8.  Die  übrigen  Staaten.  Aus  der  bis- 
herigen Darstellung  lässt  sich  bereits  ent- 
nehmen, in  welcher  versclüedenartigen  Weise 
die  Grundbesitzstatistik  ihre  Aufgaben  zu 
erfüllen  sucht.  Sie  ist  keineswegs  in  allen 
beobachteten  Staaten  ihren  Zielen  näher  ge- 
treten ;  nur  vereinzelt  hat  sie  dieselben  er- 
reicht und  insbesondei-e  die  wichtige  Frage 
der  Grundeigen tiunsverteilung  befriedigend 
beantwortet.  Vielfach  mussten  die  land- 
wirtschaftliche Betriebsstatistik  imd  die  un- 
verarbeiteten Angaben  der  Grundsteuerrollen 
aushelfen.  In  dieser  Lage  befindet  sich 
denn  auch  die  Mehrzahl  der  oben  nicht  auf- 
geführten Staaten.  Wenn  mm  in  Belgien 
gleichfalls  die  Grundeigentümer  nach  ihrer 
Zahl  in  Verbindung  mit  der  Grösse  ihres 
Besitzes  noch  nicht  ermittelt  sind,  so  ist 
doch  im  übrigen  unsere  Statistik  gerade 
dort  auf  das  sorgfältigste  gepflegt  worden. 
Dem  Kataster  konnten  alle  wünschenswer- 
ten Angaben  über  den  Umfang  und  die 
Kulturflächen  des  Bodens,  die  Zahl  der 
Parzellen  und  der  Cotes  foncieres  etc.  ent- 
nommen werden.  Daneben  haben  die  vor- 
trefflichen Agi'arstatistiken  der  Jahre  1846, 
1866  und  1880  auch  über  die  landwirt- 
schaftlichen Betriebsverhältnisse  (mit  durch- 
,  gängiger  Unterscheidung,  ob  Eigenbetrieb 
!  oder  3Pachtinig),  sowie  über  die  Verkaufs- 
und Pachtpreise  der  Güter  die  eingehendsten 
Nachweise  geliefert.  Die  Zahl  der  Besitzer, 
welche  in  den  Rollen  jeder  Gemeinde  und 
I  zwar  so  oft,  als  sie  in  den  einzelnen  Ge- 
I  meinden  Besitz  haben,  eingeschrieben  sind, 
\yetrng  1850  953380,  1870  1118113  und 
1896  1183  668.  Von  dem  Gesamtgebiet 
(2945516  ha)  entfielen  1864:  auf  den  Staat 
39  289  (1,3  «;o),  auf  Provinzen  und  Gemein- 
den 290  592  (9,9  ^/o),  auf  Armen-  und  Kran- 
kenanstalten 77  037  (2,6  «;o),  auf  kirchliche 
Anstalten  46  541  (0,9  0/0),  auf  sonstige  Stif- 
tungen und  Anstalten  3181  (0.1 »  0),  auf  Pri- 
vate 2419779  (82,2  0/0),  auf  öffentliche  Wege 
\md  Gewässer  86502  (2,9  "/o).  Auch  in 
den  Niederlanden  musste  man  sich  auf 
die  Ermittelung  der  Betriebe  (mit  Unter- 
scheidung der  Eigenbetriebe  und  Pachtungen) 
beschränken.  Ein  gleiches  ist  in  Schwe- 
den geschehen.  Weit  vollständiger  liat 
Dänemark  die  Aufgabe  gelöst.  Die  bis- 
her für  die  Jahre  1850,  1860,  1873,  1885 
und  1895  vorliegende  Statistik  der  (>rund- 
eigentumsverteilung  gnippiert  die  Eigen- 
tümer eines  jeden  Bezirks  nach  der  Zalü 
der  durch  das  Besitztum  repräsentierten 
»Tonnen  Hartkorn«  (ein  -die  Basis  der 
Grundsteuer  bildendes  Mass,  welches  je 
nach  der  Lage  und  Güte  des  Bodens  eine 
sehr  verschiedene  Flächengrösse  ausdrückt). 
Daneben  werden  dann  die  Besitzungen  nach 
der  Art  der  Bewirtschaftung  (durch  den 
Eigentümer  selbst,  durch  Pächter  etc.)  unter- 


Grundbesitz  (Statistik) 


859 


schieden.    Hiernach  waren  in   den  Landge-  j  Besitzungen  mit  vollem  (a)  und  beschränktem 
meinden    des    Königreichs    ohne  Bornholm  j  Eigentum  (b)  nach  Tonnen  Hartkom : 


Grössenklasse 

blosser  Haiisbesitz 
bis  1  Tonne 

1-2  „ 
2-4  „ 
4-8  , 
8—12  ,. 

12-20  „ 

20—30 

über  30 


1895 


1885 


1873 


n 


n 


a 

20271 

141  939 
20464 

22  621 

21  045 

3  433 
I  107 

344 
550 


12  675 

17  208 

720 

752 

2593 
230 

22 

6 

2 


a 

23237 
129612 

19  720 

22  167 

20956 

3432 
I  042 

344 
528 


12092 

20648 

889 

964 

3264 

286 

31 
6 


a 


19638 
106477 
18086 
20750 
20046 

3293 
978 

324 
503 


n  615 

24685 

I  267 

1568 

5  445 

504 

43 
6 


Zusammen 


231  774 


64208 


221  038  38  182 


190095 


45135 


In  Norwegen,  wo  das  Kataster-  und 
Fortschreibungswesen  aufs  beste  Jahrhun- 
ist,  werden  schon  seit  Anfang  des  geordnet 
derts  über  das  Grundeigentum  Ermittelun- 
gen veranstaltet,  welche  in  fünfjährigen 
Perioden  wiederholt  zu  wertlen  pflegen  und 
alle  wichtigen  Fragen  berücksichtigen.  Ueber 
die  Verteilung  des  Grundeigentums,  und 
zwar  nach  der  Grösse  der  Besitzungen  (in 
Skylddaler,  der  norwegischen  Katasterein- 
heit), liegen  nur  aus*  den  Jahren  1819,  1838, 
1870  uncl  1871  Angaben  vor,  deren  Wert 
übrigens  durch  Doppelzählungen  erheblich 
beeintiächligt  wird.  Innerhalb  der  Schweiz 
verfügt  nur  der  Kanton  Bern  über  eine  Sta- 
tistik des  Gnmdeigentums  (aus  dem  Jahre 
18SH),  welche  namentlich  seine  Vei-teilung, 
Zerstückelung,  Bewertung  und  Yerechul- 
dung,  sowie  die  Vcrpachtungsverhältuisse 
des  Privatbesitzes,  und  zwar  in  tadelloser 
Weise  zur  Darstellung  bringt.  Spanien 
besitzt  schon  seit  melireren  Jalirzehnteu 
eine  bis  auf  die  Gegenwart  fortgeführte 
Statistik  der  Gnindsteuerquoten,  unter  Be- 
rücksichtigung der  vei-schiedenen  Grösse 
derselben,  sowie  eingehende  Nachweise  über 
die  Bewegung  nnd  die  hyix>thekari6che  Be- 
lastung des  Grundeigentums.  Die  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika  ver- 
anstalten im  Rahmen  des  bekanntlich  alle 
zehn  Jahre  stattfindenden  allgemeinen  Cen- 
8US  regelmässig  auch  eine  grosse  landwirt- 
schaftliche Enquete,  welche  zwar  die  Be- 
triebe zum  Ausgangspunkt  für  die  Statistik 
der  Bodenverteilung  nimmt,  indessen  auch 
für  die  Beurteilung  der  Eigentumsverhält- 
nisse einen  genügenden  Anhalt  bietet.  Darnach 
-wunlen  im  Jahre  1890  von  allen  4504641 
Fai-men  3269728  oder  71,63  0;o  von  ihren 
Eigentümern  bewirtschaftet,  4r)4  6r)9  oder 
9,96  «'0  für  Geld  und  840254  oder  18,41^/0 
auf  Anteil  verpachtet.  Und  zwar  verteilen 
sich  der  Grösse  nach  die  Farmen,  welche 
werden : 


in  solche 


unter  10  Acres 

10—20     „ 

20—50     „ 

50-100   „ 

100—500   „ 

500-1000  „ 

über  1000« 


vom 
Eigen- 
tümer 
bewirt- 
schaftet 
98990 
132970 

505  313 
840178 

i  594  641 

70911 

26725 


für 
Geld 


ge^en 
Anteil 


verpachtet 


26  181 

46921 

137709 

100613 

135748 
5216 

2271 


25023 

85659 

259755 
180694 

278  30^ 

8268 

2550 


Uebeitiies  wurde  durch  den  Census  von 
1890  zum  ersten  Male  festgestellt  die  Zahl 
der  Familien,  welche  inne  hatten: 


eigentümhch 

pachtweise 

zusammen 


Farmen 

3  142  746 
I  624  433 
4767  179 


Hänser 
2  923  67 1 
4  999  302 
7  922  973 


Auch  sind  die  persönlichen  Yerhältnisse 
dieser  Besitzer  Gegenstand  der  Erhebung 
gewesen. 

Schliesslich  mag  darauf  hingewiesen 
werden,  dass  die  in  mehrfacher  Hinsicht 
i  nteressanten  Grundeigentumsverhältnisse 
Japans  neuerdings  durch  verschiedene  Pri- 
vatarbeiten der  Kenntnis  des  europäischen 
Lesers  nähergebracht  worden  sind. 

Das  wichtigste  aus  den  Ergebnissen 
der  Statistik  Belgiens,  der  ^Niederlande, 
Dänemarks  und  der  Vereinigten  Staaten 
wurde  in  den  Artt.  Bauerngut  und 
Bodenzersplitterung  oben  Bd.  U 
S.  437  ff.  und  S.  965  ff.  mitgeteüt. 

Litteratur:  Zu  I:  RechenschaflsheHcht  über  die 
drifte  Versammlung  des  intemalionalen  Kon- 
gresses für  Si^jlistik,  abgehalten  zu  Wien  vom 
31.  August  bis  5.  September  1857,  verÖffentlieht 
durch  J>r.  Adolf  Ficker,  Wien  1858.  —  Rechen- 
schaftsbericht über  die  fünfte  JSüzungsperiode  des 
iulei^iationalcn  statistischen  Kongresses  zu  Berlin 
vom  Jf..  bis  lü.  September  1863,  veröffentlicht  von 
nr,  Engel,  2  Bde.,  Berlin  1865.  —  Bulletin  de 
l'Institut    international    de  statistique,    Tome   T, 


860 


Grundbesitz  (Statistik) 


1  ere  et  iSi^fM  Uvraüons,  Ann^e  1886,  Borne  1886. 
Tonte  II,  li^f*  livraison.  Armee  1887,  Rome  1887. 
Tome  IV,  deuxikme  et  demiere  livraUon,  Annee 
1887,  Rome  1889. 

Zu  II:  Tabellen  und  amtliche  Nachrichten 
über  den  preitssischen  Staat,  Jahrgg.  1849,  185g, 
1855  und  1858  (Gewerbetabellen),  fferausgegeben 
von  dem  statistUchen  Bureau  zu  Berlin,  Berlin 
1854 — 1860.  —  Die  soziale  und  politische  *  Ver- 
schieden fieit  des  Grundeigentums  im  preussischen 
Staate,  in  der  Zeitschrift  des  königlich  preussi- 
schen  statistischen  Bureaus,  I.  Jahrg.  1861,  Ber- 
lin 1861.  —  Land  und  Leute  des  prcussischen 
Staates  und  seiner  Provinzen,  IV.  —  Da^  Grund- 
eigentum, ebenda,  III.  Jahrg.  1868,  Berlin  1863. 
—  Veränderungen,  welche  die  spannfähigen 
bäuerlichen  Nahrungen  in  den  sechs  Östlichen 
Provinzen  der  prcussischen  Monarchie  und  in 
der  Provinz  Westfalen  durch  die  Bodenbmoegung 
während  des  Zeitraumes  von  1816  bis  Ende  1859 
nach  Ausweis  der  im  Jahre  1860  aufgenommenen 
Matrikeln  erlitten  haben,  ebenda  V.  Jahrg.  1865, 
Berlin  1865.  —  Engelf  Die  Grösse,  Beschaffen- 
heit und  Besteuerung  der  FUiche  des  prcussischen 
Staatsgebietes,  ebenda  VI.  Jahrg.  1866,  Berlin 
1866.  —  Die  Bewegung  des  Grundeigentums, 
ebenda  VI.  Jahrg.  1871,  Berlin  1871.  —  Das 
Ergebnis  der  Probeerhebung  einer  Statistik  des 
Grundeigentums  und  der  Gebäude  in  den  Be- 
gierungsbezirken   Dnnzig   und    Aachen,    ebenda 

XXIII.  Jahrg.  188S,  Berlin  1888.  —  H,  von 
Scheel,  Die  bisherigen  statistischen  Leistungen 
über  Verteilung  des  Grundeigentums  in  Deutsch- 
land, Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.  5  (1865).  —  A.  Meitzenj 
Der  Boden  und  die  landioirtschaftlichen  Verhält- 
nisse des  preussischen  Staates  nach  dem  Gebiets- 
umfang  vor  1866,  4  Bde.,  Berlin  1868 — 1869.  — 
Die  Gebäude  im  preussischen  Staate  nach  den 
Aufnahmen  der  Gebäudesteuerveranlagung  auf 
Grund  des  G.  v.  21.  Mai  1861,  in  der  pretissi- 
schen  Statistik  (amtliches  Quellenwerk).  Ileraus- 
gegcben  vom  königl.  statistischen  Bureau  in  Ber- 
Un,  Heft  XVIJI,  Berlin  187L  —  Grundeigen- 
tum und  Gebäude  im  preussischen  Staate  auf 
Grund  der  Materialien  der  Gebäudesteuerrevision 
vom  Jahre  1878  und  1893,  ebenda  Heft  WS  und 
146,  I  und  II,  Berlin  1889  und  1898.  —  Jahr- 
buch für  die  amtliche  Statistik  des  preussischen 
Staates;  herausgegebcji  vom  königl.  statistischen 
Bureau,  Jahrgg.  I,  II f,  IV  und  V,  Berlin 
180S  —  1883.  —  StatiHisches  Handbuch  für  den 
preussischen  Staat;  heraxt^gegeben  vom  königl. 
statistischen  Bureau,  Bd.  I,  Berlin  1888.  — 
Vgl.  ausserdem  «7.  Conrads  Die  Latifundien  im 

preussischen  Osten,  Jahrb.  f.  Nut.  u.  Stat.  N.  F.  16 
(1888).  —  Derselbe,  Agrarxtatistisehc  Unter- 
suchungen, ebsnda  III.  F.  Bde.  2,  4,  (?,  10,  15.  — 
Derselbe,  Die  Fideikommisse  in  den  östlichen 
Provinzen  Preussens,  in  der  »Festgabe  für  (reorg 
Hanssemi,  THlbingen  1889.  —  Beiträge  zur  Sta- 
tistik des  Königreichs  Bayern,  heratLsgcgeben 
von  r.  Hermann,  Heft  VII,  München  1857 
(enthält  u.  a.  Angaben  über  die  Besitzverhält- 
nisse und  Stückelung  de^  Bodens).  —  Die  Ern- 
ten im  Königreiche  Bayern  und  in  rinigen 
anderen  Ländern.  Eine  statistische  Studie  von 
V.  Hetnnannf  ebenda  Heft  XV,  München  1806. 
—  Statistische  Xachweisungen  über  den  Vollzug 
der  Bodenkultur gesetze  in  Bayern.  Mit  einer 
Einleitung  von  Georg  v,   Mayr,    ebenda  Heft 

XXIV,  München  1871.  —  H,  v.  Scheel,  a.  a. 


O.   4    (1865).    —    Statistischer    Abriss  für   das 
Königreich  Bayern;   herausgegeben   vom  königl. 
statistischen    Bureau,     zweite    Lieferung,     III. 
Grundeigentum,  München  1876.  —  Die  landwirt- 
schaftliche Bodenbenutzung  in  Bayern  nach  der 
Erhebung   des   Jahres   188S   und   die   landwirt- 
schaftlichen Betriebe  in  Bayern,    Ergebnisse  der 
Berufszählung    t^om    6.    Juni    1882,    IV.    Teil, 
herausgegeben   vom  königl.  statistischen  Bureau, 
mit  erläuternden  Bemerkungen   von  dessen   Vor- 
stand Karl  Rasp,  Heft  LI  der  Beiträge,  Mün- 
chen 1887,  —  Die   Verteilung   des  Grundbesitzes 
im  Königreiche  Sachsen,   in   der  Zeiischrifi   des 
statistischen    Bureaus     des     königl.    sächsischen 
Ministeriums   des   Innern,   redigiert  von  Ernst 
Engelf  I.  Jahrg.  1855,  Leipzig  1855.  —  H.  v, 
Seheelf    a.  a.  Ö.  4   (1865).  —    F.  Böhmertf 
Die     Verteilung    des    sächsischen    Grundbesitzen 
nach    Grundsteuereinheiten,    in   der  Zeitschrift, 
XXVI.  Jahrg.  1880,   Dresden.   —   Paul  Sickf 
Die   Verteilung    des    landwirtschaftlich  benutzten 
Grundeigentums  im  Königreich   Württemberg  im 
Jahre  1857,  in  den  württsrnbergischen  Jahrbüchern, 
herausgegeben  vom  königl.  statistisch-topographi- 
schen   Bureau,   Jahrg.   1857,    Stuttgart  1858.  — 
Untersuchungen   über  die    Verteilung   des   land- 
wirtschaftlich  benutzten  Grundeigentums  in  Würt' 
temberg,   ebenda    JaJirg.  1860,   Stuttgart  1861.  — 
Statistik  des   Königreichs    Württemberg,    ebenda 
Jahrgg.    1877,    1878  und   1880,    Stuttgart   1878, 
1879  und  1880.   —  H,   v,  Scheelf    a.  a.   O.  4 
(1865).       Das    Königreich     Württemberg.      Eine 
Beschreibung  von  Land,   Volk  und  Staat,  heraus- 
gegeben von  dem  königl.  statistisch-topographischen 
Bureau,    Stuttgart   1868.  —  Xeue  Ausgabe,   III. 
Buch,   Stuttgart  I884.  —  KtUlf  Die  Verteilung 
des  landwirtschaftlich  benutzten  Grundbesitzes  in 
Württemberg    iiach    der  Aufnahme   vom   10.  Ja- 
nuar 1878,  in  den  Württemb.  Jahrb.,  Jahrg.  1881, 
Stuttgart  1881,  —  Die  landxcirtschaftlichen  Haus- 
haltungen   im    Grossherzogtum  Baden   nach    der 
Aufnahme    vom   10.  Januar  1878,  herausgegeben 
von    dem  Handelsministerium,  in  den  Beiträgen 
zur  Statistik  der  inneren  Verwaltung  des  Gross- 
herzogtums   Baden,    XXXVII.    Heft,    Karlsruhe 
1878.  —   Ergebnisse   der   berufsstatistischen   Er- 
hebung   vom    5.   Juni    1882    im    Grossherzogtum 
Baden,  erster  Teil,   ebenda  XLIV.  Heft,   Karls- 
ruhe  1885.    —    Ergebnisse  d^r  Erhebungen  über 
die  Lage  der  Landwirtschaft  im  Grossherzogtum 
Baden  1888.   —    G.  v.    Viebahn,  Statistik  des 
zollvereinten  und  nördlichen  Deutschlands,  Teil  S, 
Berlin   1862.  —  H.  V.  Scheel,  a.  a.  O.  —  A. 
V,  Miaskowskif  Das  Erbrecht  und  die  Grund' 
eigentumsverteiiung  im  Deutschen  Reiche,  I.  Ab- 
teilung, in  den  Sehr,  d,   V.  f.  Sozialp.  20,  Leip- 
zig 188S.  —  Bäuerliche  Zustände  in  Deutschland. 
Berichte,    veröffenÜicM    vom    V.  f.    Sozialp.    in 
seinen  Schriften  22 — 84,  Leipzig  1888.  —  Agrar- 
statistik    Thüringens,    erste  Hälfte,   in   den  Mit- 
teilungen   des    statistischen   Bureaus    vereinigter 
Thitringischer  Staaten,   herausgeg.    von  Bruno 
HiUlehrandf    Bd.  II,   Jena   187L  —  Statistik 
des  land-  und  forstwirtschaftlichen  Grundbesitzes 
im  Herzogtum  Braunschweig,   in   den  Beiträgen 
zur     Statistik     des     Herzogtums    Braunschweig, 
herausgegeben  vom  statistischen  Bureau  des  her- 
zoglichen Staatsministeriums,  Heft  III,  1876.  — 
Paul  KoHmannf    Die  Verteilung  des  Bodens 
und   Viehstandes  im  Herzogtum  Oldenburg,  gra- 
phisch  dargestellt   mit  beigefügten  Erklärungen, 


Grundbesitz  (Statistik) 


861 


Oldenburg  1874.  —  Derselbe,  Da*  Herzogtum 
Oldenburg  in  seiner  wirtschufüichen  Entwicke- 
hing  während  der  letzten  25  Jahre,  auf  atjotUt. 
Grundlctge  dargestellt,  Oldenburg  1878,  —  Da>8 
bevorzugte  Erbrecht  am  Grundeigentum  im  Her- 
zogtum Oldenburg.  Statistische  Darstellung  der 
Reformen  des  Erbrechts  am  Grund  und  Boden 
und  ihrer  Wirkungen,  herausgegeben  vom  grossh. 
oldenb.  statistischen  Bureau,  Oldenburg  1875.  — 
Die  Anwendung  des  bevorzugten  Erbrechts  am 
Grundeigentum  im  Herzogtum  Oldenburg  zu  An- 
fang des  Jahres  1880,  Mitteilung  des  grossh. 
oldtnb,  statistischen  Bureaus,  bearbeitet  von  Paul 
KoUmann,  Oldenburg  1888.  —  Statistisches  Jahr- 
buch für  das  Herzogtum  Anhalt,  herausgeg.  von 
dem  herzoglichen  statistischen  Bureau,  Heft  2, 
Dessau  1890,  —  Beiträge  zur  Statistik  Meclden- 
bwrgs;  vom  grossherzogl.  statistischen  Bureau  zu 
Schwerin,  I.  Bd.  8.  Heft.  III.  Bd.  8.  Heß,  IV. 
Bd,  1.  und  '2,  Heft,  V.  Bd.  1.  und  2.  Heft, 
Schwerin  1859 — 1867,  —  Statistisches  Handbuch 
für  Elsass- Lothringen,  herausgeg.  vom  statisti- 
schen Bureau  des  kaiserlichen  Ministeriums  für 
Elsass-Lothrijigen,  I.  Jahrg.,  Strassburg  1885,  — 
Statistisches  Handbuch  für  den  Hamburgischen 
SUuii,  herausgeg.  i^on  dem  statistischen  Bureau 
der  iSleuerdeputation,  vierte  Ausgabe,  Hamburg 
1891.  —  Jahrbuch  für  bremische  Statistik,  heraus- 
gegeben vom  Bureau  für  bremische  Statistik, 
Jahrg.  1889,  II.  Heft,  Bremen  1890  (vgl.  auch 
ältere  Jahrgänge).  —  M.  Neefe,  Hauptergeb- 
nisse der  Wohnungsstatistik  deutscher  Grossstädte, 
in  den  Sehr,  d,  V.  f.  SozicUp.  SO.  —  Derselbe, 
Die  Grundstücke  und  Gebäude,  in  dem  von  ihm 
herausgegebenen  Statistischen  Jahrbuch  deutscher 
Städte,  I.  Jahrg.,  Breslau  1890.  —  Oesterreichi- 
sches  Städtebuch,  statistische  Berichte  der  grösseren 
österreichischen  Städte,  I.  und  ff.  Jahrgg.,  Wien 
1887  f.  —  Vgl.  ausserdem  die  Veröffentlichungen 
der  einzelnen  städtischen  statistischen  Behörden. 
—  Mitteilungen  aus  dem  Gebiete  der  Statistik, 
Jahrg.  1^20,  Wien  1852-^1874.  —  Statistisches 
Jahrbuch  der  österreichischen  Monarchie,  Jahrg. 
186S— 1881,  Wien  1868—1882.—  Oesterreichisches 
statistisches  Handbuch,  Jahrg.  1 — 17,  Wien  188S 
— 1899.  —  Statistisches  Handbuch  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie,  N.  F.,  Wien 
1888.  —  Statistische  Monatsschrift.  Sämtliche 
fünf  Werke  sind  vf/n  der  k.  k.  statistischen  Cen- 
tralkommission  in  Wien  herausgegeben.  Von  den 
im  der  Monatsschrift  veröffentlichten  Arbeiten 
sind  namentlich  hervorzuheben:  v.  Marass^, 
Grundbesitzverhältnisse  in  Galizien,  I,  1875; 
V.  Inama-Stemegg  f  Die  definitiven  Ergebe 
nisse  der  Grundsteuerregelung  in  Oesterreieh,  X, 
1884;  V,  Ro8chmann-H&rtntrg,  Der  Boden- 
wert Oesterreichs,  XI,  1885;  «/".  Winckler, 
Realitätenverkehr  und  RealitätenbekLstung  in  den 
Jahren  1885—1889,  XVI,  1890.  —  Vgl.  ausser- 
dem V.  Scheel  f  a.  a.  O.  (betreffend  Statistik 
Böhmens)  u.  Karl  Foltz,  Statistik  der  Boden- 
Produktion  in  Oberösterreich,  Wien  1878.  — 
Statistisches  Jahrbuch  für  Ungarn,  verfasst  und 
herausgegeben  durch  das  königl.  ungar.  Statist. 
Bureau,  II.  und  III.  Jahrg.,  Budapest  1874 
und  1875.  —  Die  folgenden  Jahrgänge  behandeln 
nur  die  Bewegung  des  Grundeigentums.  Sta- 
tutisches Handbuch  der  österreichisch-ungarischen 
Monarchie,  N.  F.,  Wien  1888.  —  Landowners 
in  England  and  Wales;  Retum  of  the  Otoners 
of  Land   of  one  acre  and  upwards  in  England 


and  Wales;  2  vols.,  London  1876.  —  Landow- 
ners in  Ireland;  Retum  of  the  Owners  of  Land 
of  one  acre  and  upwards  in  Scotland,  Edin- 
burgh 1875.  —  Landowners  in  Ireland;  Retum 
of  the  Owners  of  Land  of  one  CLcre  and  up- 
wards in  Ireland,  Dublin  1876.  —  Miscellaneous 
Statistics  of  the  United  Kingdom,  u.  o.  Part 
VIII,  London  1872.  -  J.  Conrad,  Die  Be- 
sitzverhältnisse an  Grund  und  Boden  in  Schott- 
land, in  den  Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.  86.  —  Der- 
selbe, Die  Grundbesitzverhältnisse  im  britischen 
Reiche,  ebenda  27.  —  Erwin  Nasae,  Agrarische 
und  landwirtschaftliche  Zustände  in  England, 
in  den  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.  27.  —  Annali 
del  Ministcro  di  agricoltura,  industria  e  com- 
mercio.  Anno  1877.  Primo  scmestre,  Numero 
88,  Statistica,  Roma  1877.  —  AUi  della  Com- 
missüme  Parlamentäre  per  Vinchiesta  agraria 
istituita  con  la  legge  del  15  marzo  1877,  15  vol., 
Roma  1881 — 1885.  —  Annuario  statistico  italiano. 
Ministero  di  agric.,  ind.  e  comm.,  Roma.  — 
K,  Th,  Eheberg,  Agrarische  Zustände  in 
Italien,  in  den  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.  29.  — 
Annuaire  statistique  de  la  France,  VII.  und 
VIII.  Jahrg.,  Paris  1884  und  1885.  —  A, 
Legoyt,  Du  morcellement  de  la  propriete  en 
Europe  im  Journal  de  la  SociSte  de  statistique 
de  Paris,  Jahrgg.  III  und  IV,  Paris  1862  und 
1863.  —  Li.  de  Lavergne,  Economic  rurale 
de  la  France  depuis  1789,  8  ed.,  Paris  1866.  — 
V.  Scheel,  Zur  Statistik  der  Bodenverteilung  in 
Frankreich,  in  den  Jahrb.  /.  Nat.  u.  Stat.  8.  — 
C  Gimel,  De  la  nouveüe  evcduation  du  revenu 
foncier  des  proprietes  non  baties,  im  Journal  de 
la  Soc.  de  stcu.,  Jahrg.  XXV,  Paris  I884.  — 
A,  de  Foville,  Le  morcellement,  Paris  1885.  — 
Derselbe,  La  statistique  de .  la  division  de  la 
propriete  en  France  et  dans  la  Grande- Bretagne, 
im  Bulletin  de  Vinst.  intern,  de  staL,  Tome  I, 
Rome  1886.  —  Anmiaire  statistique  de  la  France 
(zuletzt)  Paris  1898.  —  L,  Sbr€^av€Lcea,  Sul 
valore  della  proprietä  fondiaria  rustica  .  .  .  in 
alcuni  sUUi,  ebenda.  —  O.  Koebner,  Die  Me- 
thode der  letzten  französischen  Bodenbewertung 
(Staatsw.  Studien,  III,  2.),  Jena  1889.  —  Frhr. 
van  Reitzenstein ,  Agrarische  Zustände  in 
Frankreich,  in  den  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.  27 
(hi-er  auch  ein  ausführlicher  Hinweis  auf  die 
amilichen  Quellen).  —  Statistik  des  Grundeigen- 
tums und  der  Wohnplätze  des  russischen  Reiches, 
herausgegeben  vom  kaiserl.  statistischen  Central- 
komitee,  Petersburg  1866  (in  russ.  Sprcuihe).  — 
Annuaire  statistique  de  la  Russie,  PStersbourg 
1895  (und  früher).  —  W.  Stieda,  Der  ländliche 
Grundbesitz  in  Russland,  in  Jahrb.  f.  Ges.  u. 
Verw.  6.  —  Das  Grundeigentum  im  europäischen 
Russland,  in  der  Zeitschr.  des  königl.  preussi- 
sehen  statistischen  BureoAis  1887,  S.  15  und  88. 
—  Statistique  de  la  Belgique.  Agriculture.  Re- 
censement  giniral  (für  I846,  1866  und  1880), 
BruxeUes  I846,  1871,  1885.  —  Documents  sta- 
tistiques,  tome  X,  Bruxelles  1866.  —  Expose  de 
la  Situation  du  royaume  de  1861  ä  1875,  tome 
II,  Bruxelles  1885.  —  Annuaire  stalistique  de 
la  Belgique,  Bruxelles  1897.  —  Statistik  Tabel- 
vaerk.  Ny  Raekke,  Femfte.  Bind;  Tredie  Raekke, 
Tjerde  Bind;  Tredie  Raekke,  To  og  tredivte 
Bind:  Tabeller  over  Hartkomets  og  Jordeien- 
dommencs  Fordeling  .  .  .  .  i  Kongeriget  Dan- 
viark.  Xj0benhavn  185g,  I864  und  1877.  — 
Danmarks    Statistik:    Danmarks  jordbru^/,    ord- 


862 


Grundbesitz  (Statistik)— Grundbuch 


nende  eft^r  storrchen  af  derct  hartkorn  den  1. 
Jamtar  187S,  1885,  1895.  Kj&henhavn  1875,  1888, 
1896.  —  Borges  ojßcielle  statütik.  Tnbell^r  ved- 
kommende  de  fa»te  eiendomme  i  aarene  1865 — 
1870,  1871—1875,  1876—1885  und  1.  Januar 
1891,  Christiania  187S,  1880,  1888,  1896.  —  O. 
«7.  Brochf  Le  Royauitie  de  yorvcge  et  le  peuple 
norvegien,  Christiania  1876.  —  Grundbesitzsta- 
tistik des  Kantons  Bern  nach  der  Aufnahme  vom 
Jahre  1888,  in  den  Mitteilungen  des  bemischen 
statistischen  Bureaus,  Jahrg.  1890,  Lieferung  II, 
Bern  1890.  —  Rescha  geografica  y  estadistica 
de  Espana,  por  la  Direccion  general  del  Instituto 
geogräßco  y  estadistico,  Madrid  1888.  —  D, 
JPcLZOS  Oareia,  Ensayo  sobre  la  estadistica  de 
los  registros  de  la  propriedad  en  Espana  y  en 
cl  eslranjero,  Madrid  1889.  —  Report  on  the 
statistics  of  agricuUure  in  the  Uniled  states  at 
the  Eleventh  Census  (June  1,  1890).  Departe- 
ment of  the  Interior,  Cenxus  Office,  Washington 
1895.  —  Report  on  farms  and  homes:  proprie- 
torship  and  indebtedness  in  the  United  states  at 
the  eleventh  census:  1890,  Washington  1896. 
—  Sartorius  von  Waltershausen,  Die 
Verteilung  des  landlichen  Grundeigentums 
in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  in  den 
Jahrb.  /.  Nat.  u.  Stat.,  N.  F.  6.  —  M.  Shin- 
Ictei  Nagai,  Die  Landwirtschaft  Japans,  ihre 
Gegentcart  und  ihre  Zukunft,  Dresden  1887.  — 
Inazo  Ota-Nitob€f  Ueber  den  japanischen 
Grundbesitz,  dessen  Verteilung  und  landwirt- 
schaftliche Verwertung,  Halle  1890  (Dissertation).  — 
Karl  Rattigen,  Japans  Volkswirtschaft  und 
Staatshaushalt,  in  den  Staats-  und  sozialwissen- 
schaftlichen Forschungen,  herausgegeben  von  G. 
Schmoller,  Bd.  X,  Heft  4>  Leipzig  1891. 

A.   Wtmilnghati>8, 
ergänzt:  PatU  Kollniann, 


Grnndbnch. 


Man  versteht  unter  Grundbuch  ein  von 
einer  öffentlichen  Behörde  für  einen  be- 
stimmten Bezirk  geführteö  Buch,  welches 
zur  A^eröffentlichung  der  dinglichen  Rechts- 
verhältnisse der  zu  dem  Bezirk  gehörigen 
Grundstücke,  also  derjenigen  imbeweglichen 
Sachen,  welche  körperliche  Unterabgren- 
zungen des  beweglichen  Planeten  Erde  sind, 
sowie  der  den  Grundstücken  gesetzlich 
gleichgestellten  Gegenstunde  bestimmt  ist. 
Der  Zweck  dieser  Veröffentlichung  ist 
Sichei-ung  des  auf  Grundstücke  bezüglichen 
Verkehrs  und  des  Kealkredits.  Jedermann, 
welcher  hinsichtlich  eines  Grimdstücks 
Rechtsverhältnisse  eingeht,  soll  zur  Einsicht 
des  darüber  gefühilen  Grundbuchs  befugt 
(formelle  Publicität),  aber  auch  verpflichtet 
sein,  sodass  niemand  mit  Unkenntnis  des 
Grundbuchs  sich  entschuldigen  kann.  Auch 
sollen  an  die  Vornahme  der  Eintragung 
gewisse  Vorteile,  an  ihre  Unterlassung  ge- 
wisse Nachti^ile  geknüpft  sein  (materielle 
Publicität),  um  möglichste  Richtigki^it  mid 
Vollständigkeit  dos  Buchs  zu  eiTeichen.  Man 
hatte    dabei    in    Deutschland    verschiedene 


Wege  eingesclilagen.    Ein  Teil  der  Gesetze 
erstrebte  die  Garantie  der  Richtigkeit  durcli 
Aufstellung  des  Princips  der  formalen  Rechts- 
kraft der  Eiutragimgen,  d.  h.  des  Grundsatzes, 
dass  eine  Eintragung  durch  sich  selbst  und 
losgelöst    von    ihren    materiellen    Voraus- 
setzungen dasjenige  Recht  wirkt,  welches 
sie    beiu'kundet.      Der    grössere    Teil    der 
Gesetze  aber  verwarf  dieses  Pnncip  wegen 
seiner  Zweischneidigkeit  und  stellte  dafür 
den  Gnmdsatz  auf,  dass  derjenige,  der  ia 
gutem  Glauben  an  die  Richtigkeit  des  Gmnd- 
buchs  und  gegen  Entgelt  Rechte  an  einem 
Grundstück  erwirbt,  gegen  jede  Anfechtung* 
seines   Rechts  auf  Grund   unrichtiger  Vor- 
eintragungen    gefeit     sein    soD.      Diesem 
letzteren  Standpunkt  hat  sich  das  Bürger- 
liche Gesetzbuch   für  das  Deutsche  Reich 
vom  18.  August  1896  —  mit  Gesetzeskraft 
vom  1.  Januar  1900  —  angeschlossen,  jedoeli 
mit  der  Massgabe,  dass  es  auf  die  Entgelt- 
lichkeit des  Erwerbs  nicht  mehr  ankommt. 
Die  Garantie  der  Vollständigkeit  des  Buchs 
aber  sucht  man  zu  eiTcichen  entweder  durch 
Aufstellung   des  Eintragirngsprindps,   d.  li. 
des   Grundsatzes,   dass  Rechte  an   Grund- 
stücken und  diesen  gleichgestellten  Gegen- 
ständen ohne  Eintragung  im  Buch  nicht  ent- 
stehen und  ohne  Löschimg  nicht  untergehen, 
oder  dadurch,  dass  man  sie  zwar  ausserhalb 
des  Buchs  entstehen  und  untergehen  lässt, 
die    Wirksamkeit    dieser    Thatsachen    aber 
entweder  gegen  jeden   Dritten   von   ihrem 
Vermerk   im   Buch    abhängig    maclit   oder 
wenigstens,  so  lange  ihre  Eintragung  nicht 
erfolgt  ist,  demjenigen  gegenüber ausschliesst, 
welcher   in   gutem    Glauben    an   die  Voll- 
ständigkeit des  Buchs  und  nach  früherem 
Recht  auch  entgeltlich  ein  Recht  an  dem 
Grundstück  erworben  hat.  —  Darüber,  dass 
alle   diese  Grundsätze    nur   mit   Ziüassung 
zahlreicher  Ausnahmen  durchführbar  sind, 
vergl.      den     Art.    Hypotheken-     und 
G  r  u  n  d  b  u  c  h  w  e  s  e  n . 

Den  Grundbüchern  liegen  meistens  die 
Steuerbücher  zu  Grunde,  denn  sie  geben 
den  sichersten  Aufsclduss  über  das  ins 
Grundbuch  einzutragende  Grundstück,  seine 
Bestandteile,  seine  Grösse,  seinen  Wert  etc. 
Die  ^Einrichtung  der  Grimdbücher  ist  aber 
in  folgender  Weise  erfolgt: 

Die  Grundbücher  werden  nach  geogra- 
phisch abgegi^enzten  Bezii-ken  geführt.  In 
ein  Grundbuch,  welches  mehrere  ftinde 
umfassen  kann,  werden  die  zu  einem  solchen 
Bezirk  gehörigen  Grundstücke  regelmässig 
in  der  Weise  eingetragen,  dass  jedes  Grund- 
stück sein  besonderes  Blatt  (folium)  erhält. 
Das  Grundbuch  eines  Bezirks  zerfällt  also 
in  Blätter,  regelmässig  in  so  viel  Blätter,  als 
selbständige  Grundstücke  zu  dem  Bezirke 
gehöien.  Ein  Grundbuchblatt  aber  winl 
durch    Linien    in    verschiedene   Felder    — 


Grundbuch 


863 


regelmässig  3 — 4  —  eingeteilt,  von  denen 
das  erste  Feld  in  Preussen  und  denjenigen 
Staaten,  welche  der  preussischen  Gesetz- 
gebung gefolgt  sind,  als  Titel  bezeichnet 
wird,  während  die  übrige^  Felder  die  Be- 
zeichnung Abteüiuig  fühi-en.  Je  nach  dem 
Inhalt  des  Titels  unterscheidet  man  nun 
ßeal-  und  Personalfolien.  Enthält  der  Titel 
die  Bezeichnung  des  Grundstücks  mit  Be- 
standteilen, Grösse,  Reinertrag  etc.,  die 
erste  Abteilung  dagegen  die  Bezeichnung 
des  Eigentümers  sowie  Zeit,  Grund  und 
Preis  seines  Erwerbs,  so  liegt  ein  Realfolium 
vor.  Steht  dagegen  der  Eigentümer  auf 
dem  Titel,  das  Grundstück  aber  in  der 
ersten  Abteilung  eingetragen,  so  hat  man 
ein  Personalfolium  vor  sich.  Die  Regel 
bildet  das  Realfolium.  Die  zweite  Ab- 
teilung enthält  in  fortlaufender  Reihenfolge 
die  dauernden  Lasten  und  die  Einschrän- 
kungen des  Eigentums  (z.  B.  Lehns-  oder 
Fideikommissguteigenschaft),  ausserdem  aber 
zwei  Unterabteilungen,  von  denen  die  eine 
zur  Aufnahme  der  eingetretenen  Ver- 
änderungen, die  andere  zur  Aufnahme  der 
Löschungen  bestimmt  ist.  Die  dritte  Ab- 
teilung ist  formell  ebenso  eingerichtet  wie 
die  zweite,  enthält  aber  die  Hypotheken  und 
Grundschulden.  In  OesteiTcich,  dem  König- 
reich Sachsen,  in  Coburg-Gotha,  Sachsen- 
Altenburg,  Reuss  ä.  L.,  Sondershausen  und 
teilweise  in  Mecklenburg  sind  die  zweite 
und  dritte  Abteilung  zu  einer  einzigen  ver- 
einigt, welche  alle  Belastungen  des  Grund- 
stücks in  fortlaufender  Reihenfolge  enthält. 
Nicht  immer  übrigens  erhält  jedes  selb- 
ständige Grundstück  ein  eigenes  Grund- 
buchblatt.. Vielmehr  ist  es  zur  Erleichterung 
des  Verfahrens  und  zur  Vermeidung  der 
Kosten  bisweilen  gestattet,  für  die  im  Be- 
zirk derselben  Buchbehörde  liegenden  Grund- 
stücke desselben  Eigentümers  auf  dessen 
Antiag  ein  gemeinschaftliches  Blatt  als 
Realfolium  anzulegen.  Weiter  hat  man  in 
Preussen  für  sogenannte  -walzende  Grund- 
stücke den  Versuch  gemacht,  ein  Grund- 
buchblatt zu  konstruieren,  welches  einerseits 
sämtliche  einem  Eigentümer  gehörige  Grund- 
stücke auf  dasselbe  Blatt  bringt  und  zu- 
gleich das  Ausscheiden  oder  Hinzutreten 
einzelner  Parzellen  leicht  übersichtlich  macht, 
andererseits  auch  die  Beziehung  der  ding- 
lichen Belastungen  zu  jeder  einzelnen  Par- 
zelle leicht  auffinden  und  erkennen  lässt. 
Man  hat  zu  diesem  Behuf  eine  Vei'schmel- 
zung  des  Personalfoliums  mit  dem  Real- 
folium bewirkt  und  sich  dabei  an  die  Grund- 
stücksmutten-olle  angelehnt.  Dieselbe  ist 
nämlich  in  sogenannte  Artikel  eingeteilt, 
und  jeder  Artikel  weist  die  sämtlichen 
Grundstücke  nach,  welche  einer  bestimmten 
Person  in  dem  Bezirk  der  Mutterrolle  ge- 
hören.    Nach  dem  Fonnular  für  walzende 


Grundstücke  wird  nun  diese  Artikelnummer 
und  der  Name  des  Eigentümers  auf  dem 
Titelblatt  im  Grundbuch  eingetragen.  Die 
erste  Abteilung  aber  enthält  unter  latifender 
Nummer  das  Verzeichnis  der  Ländereien 
des  Eigentümers  unter  Verweisung  auf  das 
Flurbuch  und  die  Flurkarten  sowie  die  Be- 
sclu-eibung  der  Ländereien  und  die  Kolonne 
»Abschreibungen«  für  den  Fall,  dass  Teile 
dieser  Ländei^ien  an  einen  anderen  Eigen- 
tümer (durch  Erbgang,  Veräusserung)  ge- 
langen und  demgemäss  auf  ein  anderes 
Grundbuchblatt  übertragen  werden  sollten. 
In  der  zweiten  und  dritten  Abteilung  endlich 
erfolgen  die  Eintragungen  unter  Bezugnahme 
auf  die  laufende  Nummer  der  verhafteten 
Parzelle  aus  der  ersten  Abteilung. 

Da  die  deutsche  Grundbuch-0.  v.  24. 
März  1897  von  der  einheitlichen  Regelung 
der  Grundbücher  absieht  und  nur  gewisse 
Normativbestimmungen  trifft,  an  welche 
die  einzelnen  Landesjustizverwaltungen  bei 
der  Einrichtung  der  Grundbücher  gebimden 
sind,  so  ist  eine  verschiedene  Gestaltung 
der  Grundbücher  in  den  einzelnen  deutschen 
Staaten  auch  für  die  Zukunft  nicht  ausge- 
schlossen. Denn  die  gemeinsamen,  gnmd- 
legenden  Bestimmungen  sind  nur  folgende: 

a)  Die  Grundbücher  sind  für  Bezirke 
einzurichten  (§  2  Abs.  1  G.B.O.).  Ob  die- 
selben wirtschaftlicher  oder  i^litischer  Natur 
sein  sollen  (Steuererhebungsbezirke,  Gemein- 
den, selbständige  Gutsbezirke)  ist  nicht  vor- 
gesehen. Auch  kann  durch  landesherrliche 
Verordnung  bestimmt  werden,  dass  für  ge- 
wisse Gattungen  von  Gnindstücken  beson- 
dere, nicht  für  Bezirke  eingerichtete  Grund- 
bücher geführt  werden  (§  85  G.B.O.).  So 
z.  B.  in  Mecklenburg,  wo  für  gewisse  Grund- 
stücke (Rittergüter,  Klostergüter)  für  den 
ganzen  Staat  fortlaufende  Rubriken  und 
Matrikeln  gefuhrt  werden  und  also  in  Zu- 
kunft auch  besondere  Grundbücher  für  die 
betreffende  Gattung  von  Grundstücken, 
welche  das  ganze  Staatsgebiet  umfassen, 
geführt  werden  können. 

b)  Die  Grundlage  der  Grundbücher  soll 
ein  amtliches  Verzeichnis  bilden,  in  welchem 
die  Grundstücke  unter  Nummern  oder  Buch- 
staben aufgeführt  sind  (§  2  Abs.  2  G.B.O. 
Flurbuch,  Lagerbuch,  Fundbuch,  Messi'egis- 
ter,  Primärkataster).  In  Bayern  entspricht 
das  Sachregister  zu  den  Hypothekenbüchern 
den  Voraussetzungen  des  §  2  Abs.  2  G.B.O. 
Justizminist  erialbekanntmachungen  v.  20. 
August  18G3  (J.M.Bl.  S.  85),  v.  17.  Oktober 
1868  (J.M.B1.  S.  243)  und  v.  18.  Juli  1898 
(J.M.Bl.  S.  225). 

c)  Jedes  Gnindstück  muss  im  Grundbuch 
eine  besondere  Stelle  erhalten  (GnuKlbuch- 
blatt),  §  3  G.B.O.  Damit  ist  das  sogenannte 
Realfolium  zur  Geltung  gebracht.  Jedoch 
gilt  diese  Regel  nicht  ausnahmslos,  da  nach 


864 


Grundbuch 


§  4  der  Grundbuchordnung  über  mehrere 
Grundstücke  desselben  Eigentümei-s,  die  im 
Bezirk  desselben  Grundbuchamtes  gelegen 
sind,  ein  gemeinschaftliches  Grundbuchblatt 
geführt  werden  kann,  solange  hiervon  Ver- 
wirrung nicht  zu  besorgen  ist.  Wird  ein 
solches  gemeinschaftliches  Grundbuchblatt 
geführt,  so  verzeichnet  der  Titel  die  Person 
des  Eigentümers,  während  die  Giaindstücke 
in  der  ersten  Abteilung  eingetragen  werden 
(sogenanntes  Personalfolium).  Auch  kann 
(§  86  G.B.O.)  durch  landesherrliche  Verord- 
nung die  Vorschrift  des  §  4  G.B.O.  auf  Grund- 
stücke desselben  Eigentümers  in  den  Be- 
zirken verschiedener  Grundbuchämter  aus- 
gedehnt werden.  Dies  ist  wichtig  für  die- 
jenigen Staaten,  welche,  wie  z.  B.  Bayern 
es  thim  wird,  ihre  bisherigen  Hypotheken- 
bücher als  Grundbücher  weiter  führen  und 
die  Gerichtsbarkeit  eines  Grundbucharates 
auf  Grund buchobjekte  ausserhalb  seines  Be- 
zirkes erstrecken.  Vgl.  bayerisches  H.G. 
§§  86,  121—123;  §  87  G.B.Ö.;  bayerisches 
G.  V.  18.  Juni  1898,  die  Vorbereitung  der 
Anlegung  des  Grundbuchs  in  den  Landes- 
teilen rechts  des  Rheines  betreffend. 

Danach  wird  also  auch  in  Zukunft  na- 
mentlich die  Zahl  der  Abteilungen  der 
Grundbücher  in  den  Einzelstaaten  schwan- 
ken. Doch  hat  sich  z.  B.  Bayern  im  An- 
schluss  an  die  längst  bestehende  preussi- 
sche  Einrichtimg  für  vier  Abteilungen  ent- 
schieden, weim  man  den  Titel  einrechnet. 
Denn  nach  der  J.M.-Entschliessung  v.  12. 
Januar  1898  (§§  7,  12—15),  in  Kraft  seit 
1.  Dezember  1898,  dürfen  neue  Hypotheken- 
buchblätter  in  die  bereits  in  Gebrauch  be- 
findlichen Hypothekenbücher  niu-  nach  die- 
sem Formular  eingefügt  werden. 

Gleich  den  Gnmdstücken  können,  mit 
Unterschieden  in  den  einzelnen  Landesge- 
setzgebungen, ein  besonderes  Folium  erhal- 
ten: selbständige  Gerechtigkeiten,  d.  h. 
solche,  welche  für  sich  veräusserlich  und 
verpfändbar,  also  nicht  unti-ennbar  mit  einem 
Grundstück  verbunden  sind  (Schiffsmühlen- 
gerechtigkeiten, Fähr-  und  Fischereigerech- 
tigkeiten, Apothekergerechtigkeiten),  die  in 
Bayern  vorkommenden,  sogenannten  realen 
Gewerberedite,  d.  h.  das  dingliche,  vererb- 
Jiche  und  veräusserliche,  einer  Person  un- 
vermittelt durch  den  Besitz  eines  Grund- 
stückes zustehende  Recht  auf  den  Betrieb 
eines  bestimmten  Gewerbes,  femer  Berg- 
werkseigentum, Erbpacht-,  Büdner-  und  Häus- 
lerrechte. Nach  den  neuen  Gesetzen  müssen 
von  diesen  Rechten  die  Erbpacht-,  Büdner- 
und  Häuslerrechte,  ebenso  wie  das  Erbbau- 
recht und  die  landesrechtlichen  vererblichen 
und  veräusserlichen  Rechte  zur  Gewinnung 
eines  den  bergrechtlichen  Vorschriften  nicht 
unterliegenden  Minerals  ein  besonderes 
Blatt  im  Grundbuch  erhalten,  entweder  auf 


Antrag  oder  im  Fall  ihrer  Veräusserung 
oder  Belastung  (§§  7  und  84  G.B.O.  und 
§  1017  B.G.B.).  Ob  dagegen  die  übrigen 
vorher  erwähnten  Rechte  ein  besonderes 
Blatt  erhalten  sqllen  oder  nicht,  das  richtet 
sich  lediglich  nach  der  Landesgesetzgebung 
(vgl.  §  83  G.B.O.  Art.  17  des  bayerischen  E.G. 
zur  G.B.O.  und  Artt.  65,  66,  69,  74  E.G. 
zum  B.G.B.).  In  Oesterreich  werden  auch 
die  vom  Grundeigentum  am  Naphthafelde 
abgetrennten  Gewinnungsrechte  auf  Erd- 
harze in  besondere,  öffentliche  Bücher,  die 
sogenannten  Naphthabücher,  eingetragen. 

Der  Gnmdsatz,  dass  jedes  Grimdstück 
im  Grundbuch  stehen  soU,  ist  übrigens  noch 
keineswegs  ausnalimslos  durchgeführt.  Da 
nämlich  die  Buchungspflichtigkeit  der  Grund- 
stücke nur  zur  Sicherung  des  Privatverkehrs 
mit  Gnmdstücken  und  des  Realkredits  ge- 
fordert wird,  so  haben  viele  Gesetzgebungen, 
um  Arbeit  und  Kosten  zu  ersparen,  Aus- 
nahmen von  dem  Grundsatz  der  Buchungs- 
pflichtigkeit für  diejenigen  Arten  von  Grund- 
stücken anerkannt,  welche  wegen  der  Rechts- 
stellung ihres  Eigentümers  oder  ihrer  Zweck- 
bestimmung regelmässig  nicht  Gegenstände 
des  Privatverkehrs  sind.  Dahin  gehören 
namentlich  die  fiskalischen  Grundstücke, 
der  Grundbesitz  der  Landesherren  und  ihrer 
FamÜien,  soweit  er  zum  Haus-  und  Familien- 
vermögen gehört  —  so  wenigstens  in  Olden- 
burg — ,  die  Grundstücke  der  Kirchen, 
Klöster,  Universitäten,  Schulen  und  Gemein- 
den, die  immatrikulierten  standesherrlichen 
und  .ritterschaftlichen  Güter,  welche  ganz 
steuerfrei  oder  unmittelbar  zu  der  Ajmts- 
körperschaft  steuerpflichtig  sind  —  so 
wenigstens  in  Württemberg  —  sowie  die 
für  Eisenbahnen  oder  öffentliche  Landwege 
bestimmten  oder  verwendeten  Grundstücke. 
Aber  auch  für  sie  bedarf  es  der  Anlegung 
eines  Gnmdbuchblattes  dann,  wenn  der, 
welchem  ein  eintragungsfähiges  Recht  am 
Grundstück,  z.  B.  eine  Grundgerechtigkeit 
der  Niessbrauqh,  oder  ein  Anspruch  auf 
Konstituierung  eines  dinglichen  Rechts  am 
Grundstück,  z.  B.  ein  Titel  auf  eine  Judi- 
katshypothek zusteht,  sie  verlangt.  Auch 
kann  der  Eigentümer  des  Grundstückes 
selbst  dieses  nur  dann  belasten,  wenn  das- 
selbe vorher  auf  seinen  Namen  gebucht  ist ; 
dies  selbst  dann ,  wenn  die  Verä»isserung 
wieder  an  einen  solchen  erfolgen  soll, 
dessen  Gnmdstücke  der  Buehungspflicht 
nicht  unterliegen.  Dieser  Zustand  wird  im 
wesentlichen  auch  nach  dem  deutschen 
Grundbuchrecht  erhalten  bleiben.  Denn  den 
Einzelstaaten  ist  durch  §  90  G.B.O.  das 
Recht  eingeräumt,  durch  landesherrliche 
Verordnung  zu  bestimmen,  dass  nur  auf 
Antrag  ein  Grundbuchblatt  erhalten:  die 
Grundstücke  des  Reichs-  oder  Landesfiskus, 
gewisser  juristischer  Personen,  die  öffent- 


Grundbuch — Grundgerechtigkeiten 


865 


liehen  Wege  und  Gewässer,  solche  Grund- 
stücke, welche  einem  dem  öffentliciien  Ver- 
kehr dienenden  Bahnunternehmen  gewidmet 
sind,  endlich  die  Gnmdstiicke  eines  Landes- 
herrn und  diejenigen,  welche  zum  Hansgut 
oder  Familiengut  einer  landesherrlichen 
Familie,  der  fürsthchen  Familie  HohenzoUern 
oder  der  Familie  des  vormaligen  hannover- 
schen Königshauses,  des  vormaligen  kur- 
hessischen und  des  vormaligen  hei-zoglich 
nassauischen  Fürstenhauses  gehören.  Ein 
solches  grundbuchfreies  Grundstück  ist, 
wenn  es  ins  Gnmdbuch  eingetragen  war, 
auf  Antrag  seines  Eigentümers  jederzeit 
wieder  aus  dem  Gnmdbuch  zu  entfernen, 
solange  es  noch  nicht  oder  nicht  mehr  mit 
einer  Eintragung  belastet  ist.  Dasselbe  gilt 
für  den  an  einen  der  befi*eiten  Personen 
unbelastet  aufgelassenen  Teil  eines  einge- 
tragenen Grundstückes.  In  solchem  Fall 
erfolgt  die  Ausscheidung  des  aufgelassenen 
Teiles  durch  Schliessung  des  Blattes  hin- 
sichtlich des  aufgelassenen  Teiles.  Nach 
§  1  Abs.  2  der  königlich  bayerischen  V.  v. 
1.  Juli  1898  sind  juristische  Personen  im 
Sinne  des  §  90  Abs.  1  G.B.O.:  die  Kreis- 
und  Distriktsgemeinden,  die  politischen  und 
Kirchengemeinden ,  die  Ortschaften ,  die 
öffentlichen  Stiftungen,  die  Klöster  und  die 
Vereichenrngsanstalten  fiir  Invaüditäts-  und 
Altersversidierung.  Nach  §  2  der  preussi- 
schen  G.B.O.  v.  5.  Mai  1872  sind  buchungs- 
frei die  Domänen  und  andere  dem  Staat 
gehörigen  Gnmdstücke,  das  Grundeigentum 
der  Gemeinden  und  anderer  Kommunal- 
verbände, der  Kirchen,  Klöster  und  Schulen, 
die  Öffentlichen  Landwege  und  die  Eisenbahn- 
grundstücke. Art.  1  der  Y.O.  betreffend  das 
Grundbuchwesen  v.  13.  November  1899  fügt 
noch  die  Grundstücke  des  Reichs  hinzu.  Auch 
das  preussische  G.  v.  19.  August  1895,  nach 
welchem  Privateisenbahnen  und  Kleinbahnen, 
deren  Betrieb  obligatorisch  ist,  mit  den  dem 
Bahnunternehmen  gewidmeten  Gegeüständen 
eine  Bahneinheit  bilden,  zum  unbeweglichen 
Vermögen  gehören  und  der  besonderen  Ein- 
tragung in  Bahngrundbücher  fähig  sind, 
wird  durch  Art.  112  des  E.G.  zum  B.G.B. 
aufrecht  erhalten.  Auch  das  österreichische 
Kecht  erkennt  die  Eisenbahnbücher  an. 

Da  in  einzelnen  Teilen  Deutsclilands, 
z.  B.  in  Bayern,  Württemberg,  Sachsen- 
Weimar,  das  Hypothekenbuchsystem  gilt,  so 
werden  vom  1.  Januar  1900,  dem  Tage  des 
Inkrafttretens  des  B.G.B. ,  keineswegs  in 
ganz  Deutschland  Grundbücher  vorhanden 
sein.  Denn  ihre  Anlegung  nimmt  längere 
Zeit  in  Anspruch.  Immerhin  kann  nach 
§  87  G.B.O.  durch  landesherrliche  Verord- 
nung bestimmt  werden,  dass  ein  bisher  ge- 
führtes Buch  oder  mehi'ere  bisher  gefiihi-te 
Bücher  für  sich  allein  oder  zusammen  mit 
einem   neuen   Buch  oder   mehreren   neuen 


Büchern  als  Grundbuch  gelten  soll.  Soweit 
eine  solche  Bestimmung  nicht  ergeht,  hat 
die  Anlegung  der  Grundbücher  in  einem 
für  jeden  Bundesstaat  durch  landesherrliche 
Verordnung  zu  regelnden  Verfahren  zu  er- 
folgen. Ein  Grundbuch  gilt  erst  dann  als 
angelegt,  wenn  landesherrliche  Vorordnimg 
dies  ausspricht  (Art.  186  E.G.  zum  B.G.B.). 
Bis  daliin  bleiben  hinsichtlich  des  Verkehre 
mit  Grundstücken  und  den  ihnen  gleichge- 
stellten Gegenständen  die  Landesgesetze  in 
Kraft.  Nur  dürfen  nach  dem  1.  Januar 
1900  solche  Rechte ,  welche  das  B.G.B. 
nicht  zulässt,  z.  B.  Emphyteusen,  nicht 
mehr  begründet  werden  (Art.  189  E.G.  zum 
B.G.B.). 

Vgl.  des  näheren  den  Art.  Hypothe- 
ken- und  Grundbuchwesen,  wo  auch 
die  Litteratur  nachzusehen  ist 

Schollmeyer. 


Grandgerechtigkeiten. 

1.  Begriff.  2.  AUgemeine  Grundsätze.  3. 
Eint€ilnn£^  der  G.  4.  Entstehung  der  G.  5. 
Die  einzelnen  Arten  der  G.  6.  Die  Aufhebung 
der  G.    7.  Schutz  der  G. 

I.Begriff.  Grundgerechtigkeiten  (Grund- 
dienstbarkeiten) sind  dingliche  Rechte  an 
fremden  Grundstücken,  bestimmt,  anderen 
Grundstücken,  mit  welchen  sie  verknüpft 
sind,  einen  Vorteil  zu  gewähren.  Sie  setzen 
demnach  ein  herrschendes  und  ein  dienendes 
Grundstück  voraus.  Mit  dem  Eigentum  an 
ersterem  sind  sie  dergestalt  untrennbar  ver- 
bunden, dass  sie  einerseits  mit  ihm  not- 
w^endig  auf  jeden  neuen  Erwerber  über- 
gehen, andererseits  ohne  dasselbe  nicht  ver- 
äussert werden  können.  Die  gleiche  Un- 
trennbarkeit  besteht  zwischen  der  Grund- 
gerechtigkeit und  dem  damit  belasteten 
Grundstück. 

2.  Allgemeine  Grundsätze.  1.  Das 
R.  R.  stellte  die  Anforderung,  dass  der 
Nutzen,  den  das  herrschende  Grundstück 
aus  dem  dienenden  zog,  in  einer  dauernden 
natürlichen  Beschaffenheit  (causa  perpetua) 
des  letzterem  beruht  (1,  28  D.  de  serv.  pr. 
urb.  [8,  2]).  So  konnten  z.  B.  Wasser- 
servatuten  nicht  an  Teichen  oder  Cisternen, 
die  erst  Menschenhand  geschaffen  hatte, 
begründet  werden.  Unser  heutiges  Recht 
sieht  darüber  hinweg.  Es  konmit  nach  dem 
B.G.B.  nicht  darauf  an,  ob  das  dienende 
Grundstück  vermöge  einer  ihm  beiwohnen- 
den natürlichen  Eigenschaft  oder  erst  durch 
eine  vom  Besitzer  hergerichtete  Anstalt  in 
den  Stand  gesetzt  ist,  dem  herrschenden 
Grundstück  zu  nützen.  Nur  darf  die  durch 
Menschenwerk  dem  dienenden  Grundstück 


HandwÖrterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


55 


866 


Grundgerechtigkeiten 


gegebene  Eigenschaft  keine  bloss  vorüber- 
gehende, sie  muss  eine  bleibende  oder  doch 
eine  solche  sein,  die  eine  Benutzung  fttr 
längere  Zeit  sicherstellt. 

2.  Wie  Dienstbarkeiten  überhaupt,  können 
auch  Grundgerechtigkeiten  nicht  ein  Thun 
oder  Leisten  des  Eigentümers  der  dienenden 
Sache  zum  Gegenstande  haben.  Dieser 
römische  Satz  gilt  auch  nach  dem  B.G.B. 
Doch  hat  er  nicht  mehr  die  Tragweite  wie 
im  R.  R.  Während  die  Römer,  von  der 
Ausnahme  der  serv.  oneris  ferendi  abgesehen, 
die  sich  allein  aus  der  Geschichte  ihres 
Rechts  erklären  lässt  (Pernice,  Labeo  I, 
S.  474,  478—479),  es  für  unstatthaft  hielten, 
den  Eigentümer  des  belasteten  Grundstücks 
zu  einer  Mitwirkung  oder  imterstützenden 
Thätigkeit  bei  der  Entstehung  oder  Wieder- 
herstellung der  dienenden  Sache  heranzu- 
ziehen, kann  jetzt,  wenn  zur  Ausübung  einer 
Grundgerechtigkeit  eine«  Anlage  auf  dem 
belasteten  Grundstück  gehört,  bestimmt 
werden,  dass  der  Eigentümer  des  letzteren 
die  Anlage  zu  unterhalten  hat.  Freilich  ist 
diese  Unterhaltungspflicht  keine  Grund- 
gerechtigkeit, sondern  eine  Reallast.  Der 
Belastung  eines  Grundstücks  aber  in  der 
Weise,  dass  mit  der  auf  ihm  ruhenden 
Grundgerechtigkeit  eine  Reallast  verbunden 
wird,  steht  nichts  im  Wege  (§  1021  B.G.B.). 

3.  Die  Grundgerechtigkeit  setzt  ihrem 
Begriff  nach  die  Belastung  eines  Grund- 
stücks voraus,  die  für  die  Benutzung  des 
Grundstücks  des  Berechtigten  einen  Vorteil 
bietet  (§  1019  S.  1  B.G.B.).  In  Betracht 
kommt  hier  alles,  was  geeignet  ist,  den  Er- 
trag des  herrschenden  Grundstücks  zu  heben, 
entweder  unmittelbar,  indem  das  dienende 
Grundstück  mit  seinen  Erzeugnissen  aus- 
hilft, oder  nur  mittelbar  durch  Gewährung 
wirtschaftlicher  Erleichterungen.  Doch  selbst 
in  blossen  Annehmlichkeiten,  sofern  diese 
allgemein  geschätzt  sind,  kann  der  Nutzen 
einer  Grundgerechtigkeit  bestehen. 

4.  Wie  für  die  Grundgerechtigkeit  über- 
haupt, so  ist  für  den  Umfang  und  das  Mass 
ihrer  Ausübung  der  Vorteil  des  herrschenden 
Grundstücks  bestimmend.  Sein  Bedürfnis 
entscheidet  über  die  Benutzung  des  dienen- 
den Gnmdstücks  dm-ch  den  Berechtigten. 
Ueber  das  sich  danach  ergebende  Mass 
hinaus  kann  ihr  Inhalt  nicht  erstreckt  werden. 
(§  1019  S.  2  B.G.B.). 

5.  Der  Nutzen  einer  Grundgerechtigkeit 
für  die  Volkswirtschaft  ist  davon  bedingt, 
dass  ihr  Vorteil  für  das  herrschende  Grund- 
stück den  Nachteil  für  das  dienende  über- 
wiegt. •  Diese  an  sich  wirtschaftliche  Er- 
wägimg ist  nicht  ohne  Einfluss  auf  das 
Recht.  Wie  schon  das  R.  R.  macht  das 
B.G.B.  §  1020,  I  dem  Berechtigten  die 
pflegliche  Behandlung  des  dienenden  Gnmd- 
stücks zur  Pflicht.    Hält  er  zur  Ausübung 


der  Gnindgerechtigkeit  eine  Anlage  auf  dem 
belasteten  Grundstück,  so  hat  er  sie  in 
ordnungsmässigem  Zustande  zu  erhalten, 
soweit  das  Interesse  des  Eigentümers  es 
erfordert  und  nicht  diesem  die  ünterhaltungs- 
pfücht  obliegt  (§  1020, 11  B.G.B.).  Nicht  we- 
niger gehört  hierher  die  Bestimmung,  dass 
da,  wo  die  jeweilige  Ausübung  einer  Ginind- 
gerechtigkeit  sich  auf  einen  Teil  des  be- 
lasteten Grundstücks  beschränkt,  der  Eigen- 
tümer des  letzteren  die  Verlegung  der  Aus- 
übung auf  eine  andere,  füi'  den  Berechtigten 
ebenso  geeignete  Stelle  verlangen  darf,  wenn 
die  Ausübung  an  der  bisherigen  Stelle  für 
ihn  besonders  beschwerlich  ist  (§  1023  B.G.B.). 

6.  Die  Grundgerechtigkeiten  sind  un- 
teilbare Rechte.  Was  bedeutet  dieser 
Rechtssatz?  Er  besagt,  dass  Grundgerech- 
tigkeiten nicht  nach  ideellen  Teilen  erworben 
und  aufgegeben  werden  können.  Eine  ideelle 
Teilung  des  herrschenden  oder  des  dienenden 
Grundstücks  ändert  daher  die  Grundgerech- 
tigkeit nicht.  Wie  verhält  es  sich  aber  im 
FaUe  einer  natürlichen  Teilung  des  einen 
oder  des  anderen  Grundstücks?  Die  Teilung 
des  herrschenden  Grundstücks  berührt 
die  Grundgerechtigkeit  im  allgemeinen  nicht; 
sie  besteht  für  die  einzelnen  Teile  fort 
Gereicht  sie  jedoch  nur  einem  der  Teile 
zum  Vorteil,  so  erlischt  sie  für  die  übrigen 
Teüe  (§  1025  B.G.B.).  Wiid  das  belastete 
Grundstück  geteilt,  so  kommt  es  darauf  an, 
ob  die  Ausübung  der  Grundgerechtigkeit 
sich  auf  dieses  seiner  ganzen  Ausdehnung 
nach  erstreckt  oder  nur  auf  einen  be- 
stimmten Teil  davon  beschränkt.  Im  anderen 
Falle  bleibt  die  Gnmdgerechtigkeit  an  jedem 
einzelnen  Teilgrundstück  bestehen,  ebenso 
wie  dieses  bisher  als  Bestandteil  des  Ganzen 
belastet  war.  Beschränkt  sich  dagegen  die 
Gnmdgerechtigkeit  nur  auf  einen  bestimmten 
Teil  des  belasteten  Grundstücks,  so  werden 
diejenigen  Teile,  welche  ausserhalb  des  Be- 
reiches der  Ausübung  liegen,  von  der  Grund- 
gerechtigkeit frei  (§  1026  B.G.B.). 

8.  Einteilung  der  G.  1.  Die  römischen 
Juristen  unterschieden  nach  der  Beschaffen- 
heit des  herrschenden  Gnmdstücks  Feld- 
dienstbarkeiten  und  Gebäudedienstbarkeiten. 
Diese  Unterscheidung  hat  für  uns  jede  prak- 
tische Bedeutung  verloren.  Kennt  doch 
unser  bürgerliches  Recht  nicht  mehr  das 
vom  R.  R.  ftlr  Felddieustbarkeiten  auf- 
gestellte Erfordernis,  dass  das  dienende 
Grundstück  dem  herrschenden  benachbart 
sein  muss.  Auch  bei  Felddieustbarkeiten 
genügt  jetzt  eine  Lage,  bei  welcher,  ohne 
dass  das  dienende  Grundstück  an  das 
herrschende  unmittelbar  angrenzt,  es  dem 
Eigentümer  des  herrschenden  Grundstücks 
möglich  wird,  für  dieses  aus  dem  dienenden 
einen  Nutzen  zu  gewinnen. 

2.  Geht  man  von  dem  dienenden  Grund-- 


Grundgerechtigkeiten 


86' 


stück  und  dem  Inhalte  seiner  Belastung 
aus,  so  muss  mau  unterscheiden:  Gnmd- 
gerechtigkeiten ,  durch  welche  der  Eigen- 
tümer des  herrschenden  Grundstücks  in  den 
Stand  gesetzt  wird,  das  dienende  Grund- 
stück in  einzelnen  Beziehungen  zu  benutzen, 
und  andere,  welche  ihn  berechtigen,  dem 
Eigentümer  des  dienenden  Gnmdstücks  die 
Vornahme  gewisser  Handlungen  (z.  B.  das 
Errichten  eines  Bauwerks  über  eine  gewisse 
Höhe  hinaus)  zu  verbieten.  Dazu  kommen 
dann  aber  als  eine  dritte  Art  noch  solche 
Grundgerechtigkeiten  hinzu,  welche  die  Be- 
seitigung gesetzlicher  Beschränkungen  be- 
zwecken, denen  sonst  das  Eigentum  eines 
Grundstücks  im  Verhältnis  zu  einem  anderen 
unterliegt  (§  1018  B.G.B.,  vgl.  hierzu  E.G. 
Art.  124).  Die  Mögjlichkeit  cler  Entstehung 
dieser  Grundgerechtigkeiten  ist  da  gegeben, 
wo  den  gesetzlichen  Vorschriften,  worin 
sich  Eigentumsbeschränkungen  gründen,  nicht 
zwingende  Kraft,  sondern  nur  dispositive 
Bedeutung  zukommt,  so  dass  sie  nur  soweit 
Anwendung  finden,  als  der  Wille  der  be- 
teiligten Grundeigentümer  nicht  eine  Eini- 
gung entgegengesetzten  Inhalts  -und  darauf- 
hin eine  Eintragung  im  Grundbuch  herbei- 
führt. 

4.  £iitstehiuig  der  6.  Grundgerechtig- 
keiten wurden  nach  dem  bisherigen  Recht 
durch  Rechtsgeschäft  (Vertrag  oder  letzt- 
willige Verfügung),  Ersitzung  oder  richter- 
liche Verfügung  bezw.  durch  anderweitige 
obrigkeitliche  Anordnung  erworben.  Prak- 
tisch bedeutsam  war  besonders  die  Ersitzung, 
weU  sie  den  Nachweis  der  rechtiichen  Be- 
gründung, der  oft  wegen  des  Alters  der 
Servitut  nicht  zu  erbringen  war,  ersetzte. 
Durch  Ersitzung  wurden  Gnmdgerechtig- 
keiten  erworben,  wenn  jemand  während 
einer  vom  objektiven  Recht  bestimmten  Zeit 
(Ersitzungszeit)  sich  in  deren  Besitz  befun- 
den hatte.  Der  Besitz  aber  bestand  hier 
in  der  Ausübung.  Diese  musste  eine  un- 
unterbrochene und  ungestörte  gewesen  sein, 
sie  musste  femer  offen,  ohne  Widerspruch 
des  Eigentümers  des  dienenden  Grundstücks 
mid  nicht  infolge  einer  blossen  Vergünsti- 
gung stattgefunden  haben.  Auch  musste 
nach  einer  dem  kanon.  Recht  (c.  20  X.  de 
praescr.  [2,261)  entiehnten  Vorschrift  der 
Ausübende  sich  in  gutem  Glauben  über  das 
von  ihm  beanspruchte  Recht  befunden  liaben. 
Die  Ersitzungszeit  betrug  10  oder  20  Jahre, 
je  nachdem  die  Personen,  für  resp.  gegen 
welche  die  Ersitzung  eintreten  sollte,  ihren 
Wohnsitz  innerhalb  oder  ausserhalb  dessel- 
ben Oberlandesgerichtsbezirks  hatten. 

Auf  diese  älteren  Rechtsvorschriften  ist 
noch  zurückzugehen,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  ob  eine  Gnindgerechtigkeit  am  1. 
Januar  1900  als  dem  Zeitpunkt  der  begin- 
nenden Geltung   des  B.G.B.  bestanden  hat 


oder  nicht.  Aber  auch  für  die  Zukunft  ent- 
behren sie  noch  nicht  jeder  Bedeutung. 
Wie  nämlich  das  E.G.  Art.  128  zum 
B.G.B.  bestimmt,  vollzieht  sich  die  Be- 
gründung von  Gnmdgerechtigkeiten  in  Fällen, 
wo  die  belasteten  Gnmdstücke  im  Grund- 
buche nicht  eingetragen  werden  müssen,, 
nach  dem  bisherigen  Recht. 

Dahingegen  können  an  Grundstücken, 
welche  dem  Eintragungszwange  unterliegen, 
Grundgerechtigkeiten  jetzt  nicht  anders 
mehr  denn  durch  Eintragung  im  Grund- 
buche entstehen.  Die  Eintragung  setzt  einen 
dinglichen  Vertrag  (Einigung)  des  Eigen- 
tümers des  zu  belastenden  Grundstücks  mit 
dem  Eigentümer  des  Grundstücks,  das  das 
herrschende  werden  soll,  voraus  (§  873 
B.G.B.).  Die  obligatorische  Verpflichtung 
zur  Abgabe  der  Erklärung  der  Einigung 
und  Bewilligung  der  Eintragimg  durch  den 
Eigentümer  des  zu  belastenden  Grundstücks 
kann  in  einem  Vertrag  der  beteiligten 
Grundeigentümer  benihen.  Dieser  bedarf  zu 
seinem  Abschluss  keiner  besonderen  Form. 
Es  ist  aber  auch  denkbar  und  möglich,  dass 
ein  Erblasser  durch  letztwillige  Verfügung 
den  Erben  oder  Vermächtnisnehmer  ver- 
pflichtet, an  seinem  Grundstück  zum  Vor- 
teil des  Eigentümers  eines  anderen  Grund- 
stücks (mag  dieses  nun  ein  Miterbe  oder 
ein  Dritter  sein)  eine  Grundgerechtigkeit  zu 
bestellen. 

5.  Die  einxelnen  Arten  der  G«  Das  E.G. 
Art.  llö  zum  B.G.B.  lässt  die  landesgesetz- 
lichen Vorschriften,  welche  den  Inhalt  und  das 
Mass  der  Grundgerechtigkeiten  näher  bestimmen, 
unberührt.  Es  behält  so  wegen  der  einzelnen 
Arten  der  Grandgerechtigkeiten  sein  Bewenden 
bei  dem  bisherigen  Recht.  1.  Unter  den  Gnmd- 
gerechtigkeiten,  die  gewöhnlich  Grundstöcke 
belasten,  welche  land-  oder  forstwirtschaftlich 
genutzt  werden,  sind  die  wichtigsten  die  W  e  g  e  - , 
Weide-  und  Holzgerechtigkeiten,  a) 
Wegerechte.  Die  Eömer  kannten  drei  Arten 
von  Wegen:  iter,  Fnsssteig,  actus,  Viehtrift, 
via,  Fahrweg.  Jeder  derselben  hatte  seine  be- 
sondere Bestimmung,  der  entsprechend  das  Mass 
des  Wegerechts  verschieden  bemessen  war. 
Während  man  beim  iter  zum  Gehen  und  Reiten 
befugt  war,  begriff  das  Recht  auf  den  actus 
regelmässig  zugleich  die  Befugnis  ztun  Gehen, 
ja  sogar  zum  Fahren  in  sich.  Das  umfassendste 
Recht  war  das  des  Fahrwegs  (via).  Es  er- 
mächtigte ausser  zum  Fahren  zum  Gehen  und 
Vieh  treiben.  Auch  wir  unterscheiden:  Fnsssteig, 
Viehtrift  und  Fahrweg.  Unser  Recht  weicht 
aber  darin  vom  römischen  ab,  dass  es  der  Be- 
nutzung dieser  verschiedenen  Wege  engere 
Grenzen  steckt.  Des  Fnsssteiges  soll  man  sich 
nur  noch  zum  Gehen,  nicht  auch  zum  Reiten 
bedienen.  Die  Viehtrift  ist  allein  nur  für  diesen 
Zweck  bestimmt.  Sie  kann  nicht  auch  zum 
Fahren  beansprucht  werden.  Hinwiederum 
schliesst  das  Recht  auf  den  Fahrweg  nicht  zu- 
gleich das  Recht  ein,  darauf  ungekoppeltes  Vieh 
zu  treiben,  'b)  Die  Weide-  oder  Hütungs- 
gerechtigkeiten  beziehen  sich  entweder  auf 

55* 


868 


Grundgerechtigkeiten 


land-  oder  auf  forstwirtschaftlich  benutzte 
Grundstücke.  Der  Eigentümer  des  dienenden 
Grundstücks  darf  darauf  keine  Eulturverände- 
rung  vornehmen,  durch  welche  die  Servitut  un- 
möglich gemacht  oder  erheblich  verringert  wird. 
Wohl  aber  ist  es  zulässig,  dass  er  dem  Be- 
rechtigten zur  Weide  andere  als  die  seither 
benutzten  Ländereien  anweist,  falls  hierin  keine 
Erschwerung  liegt.  Namentlich  steht  es  dem 
Forsteigentümer  frei,  einzelne  Teüe  des  Pflich- 
tigen Waldes  in  Schonung  zu  legen  und  davon 
den  Weideberechtigten  auszuschliessen.  —  Der 
tJmfang  der  Weidegerechtigkeiten  ist  ein  ver- 
schiedener. Selten  nur  geht  er  .so  weit,  dass 
der  Berechtigte  die  Weiden  des  dienenden  Gutes 
für  das  Bedürfnis  des  herrschenden  Grundstücks 
allein  und  ausschliesslich  zu  beanspruchen  hat. 
Wo  solche  Ausschliesslichkeit  nicht  begründet 
ist,  behält  der  Besitzer  des  Pflichtigen  ßrundes 
das  Recht  der  Mithut.  Vermöge  desselben 
ist  es  ihm  erlaubt,  das  eigene  Vieh  gleichfalls 
auf  die  Weide  zu  treiben.  Immer  darf  das 
jedoch  nur  so  geschehen,  dass  dem  Servitut- 
berechtigten  die  Möglichkeit  der  unbeschränkten 
Ausübung  seines  Rechts  gewahrt  bleibt.  Tritt 
daher  eine  Minderung  der  Weide  ein,  so  muss 
der  Eigentümer  des  dienenden  Grundstücks  so- 
weit zurückstehen,  als  notwendig  ist,  um  zuvor 
das  Bedürfnis  des  herrschenden  Grundstücks  zu 
befriedigen.  Es  kann  femer  die  Zahl  des  auf- 
zutreibenden Viehs  bestimmt  oder  aber  un- 
bestimmt gelassen  sein.  Im  letzteren  Falle 
ist  der  Weideberechtigte  befugt,  so  viel  Vieh 
aufzutreiben,  als  er  mit  dem  auf  dem  eigenen, 
herrschenden  Gute  gewonnenen  Futter  zu  durch- 
wintern vermag.  Wie  für  den  Umfang  der 
Weidegerechtigkeit  die  Viehzahl,  so  ist  für  den 
Inhalt  derselben  die  Art  des  aufzutreibenden 
Viehs  von  Einflusa.  Die  der  Weide  dienenden 
Gräser  werden  mehr  oder  weniger  intensiv  an- 
gegriffen, je  nachdem  sie  dem  Klein-  oder  Gross- 
vieh (Schafen  oder  Rindern  und  Pferden)  zur 
Nahrung  dienen.  Manche  Tiere,  namentlich 
Schweine  und  Gänse,  sind  der  Weide  geradezu 
schädlich,  indem  sie  die  Wurzeln  der  Gräser 
herausreissen  und  zerstören.  In  Fällen,  wo  die 
Weidegerechtigkeit  eine  Einschränkung  auf  be- 
stimmte Vieharten  sonst  nicht  erfahren  hat, 
sollen  sie  überhaupt  nicht  aufgetrieben  werden. 
Ein  Weideberechtigter,  der  die  Weide  auch  für 
sie  beansprucht,  muss  daher  nachweisen,  dass 
er  das  Recht  dafür  besonders  erworben  hat. 
Bildet,  wie  vorhin  bemerkt  wurde,  die  Weide- 
fferechtigkeit  im  allgemeinen  kein  Hindernis 
&r  den  Eigentümer  des  dienenden  Gutes,  dieses 
ebenfalls  zur  Weide  für  sein  Vieh  zu  benutzen, 
so  ist  es  andererseits  auch  möglich,  dass  ausser 
einem  Servitutberechtigten  noch  andere  Per- 
sonen Weiderechte  auf  dem  Gute  desselben 
Eigentümers  erwerben.  Man  nennt  ein  solches 
von  mehreren  gemeinschaftlich  auf  Mem  Areal 
eines  Dritten  ausgeübtes  Weiderecht  einK  o  p  p  e  1  - 
hutrecht.  Nicht  damit  zu  verwechseln  ist  die 
Koppelhut.  Man  versteht  darunter  die  wechsel- 
seitige Berechtigung  mehrerer  Grundbesitzer, 
auf  den  Grundstücken  der  anderen  die  Hütung 
auszuüben.  Indem  an  der  hergestellten  Weide- 
Gemeinschaft  jeder  von  ihnen  als  Eigentümer 
des  herrschenden  me  des  dienenden  Grundstücks 
teilnimmt,  ist  er  als  ServitutinhaÜer  zugleich 
berechtigt,    als    Grundeigentümer    verpflichtet. 


c)  Die  Holzgerechtigkeiten  bilden  den 
Inhalt  von  Grundgerechtigkeiten,  wenn  der 
Eigentümer  des  herrschenden  Gutes  bei  der 
Ausübung  seines  Nutzungsrechts  in  fremden 
Forsten  auf  die  eigene  Thätigkeit  angewiesen 
ist.  Dahingegen  ist  das  Recht,  von  dem  Forst- 
eigentümer zu  verlangen,  dass  dieser  selbst  dem 
Berechtigten  das  Holz  aus  seinem  Walde  liefert, 
eine  Reallast,  nicht  eine  Grundgerechtigkeit. 
Andererseits  wird  der  Begriff  der  Grundgerechtig- 
keit nicht  dadurch  beeinträchtigt,  dass  der 
Nutzende  nur  nach  Anweisung  des  Forstherm 
oder  seiner  Beamten  sein  Holzrecht  ausüben 
darf,  also  zunächst  diese  Anweisung  zu  fordern 
hat.  Wo  allein  das  Bedürfnis  des  herrschenden 
Gutes  den  Massstab  giebt,  kann  der  Berechtigte 
dem  fremden  Walde  sowohl  Bau-  wie  Brenn- 
holz entnehmen.  Meist  aber  wird  der  Umfang 
der  Holzgerechtigkeit  nach  der  Art  und  Be- 
schaffenheit des  Holzes  und  dem  Zwecke  be- 
messen sein,  zu  dem  es  verwendet  werden  soll. 
So  kann  dem  einen  allein  das  Recht  auf  Bau- 
und  Nutzholz,  einem  anderen  nur  auf  Brenn- 
holz zustehen.  Das  letztere  Recht  ist  häufig 
dahin  beschränkt,  dass  bloss  das  von  den 
Bäumen  fallende  und  abgestorbene  Holz  (Raff- 
und  Leseholz)  oder  das  Holz  solcher  Bäume 
entnommen  werden  darf,  welche  vor  Alter  oder 
durch  den  Wand  umgestürzt  sind  (Lagerholz, 
Windbruch).  Wie  das  Holz  selbst,  können  auch 
die  Holzprodukte,  so  namentlich  Laub  und 
Nadeln,  Gegenstand  einer  Holzgerechtigkeit  sein, 
die,  wenn  sie  sich  allein  hierauf  erstreckt,  mit 
dem  Namen  der  Streugerechtigkeit  bezeichnet 
wird. 

2.  Grandgerechtigkeiten,  bei  welchen  das 
herrschende  wie  das  dienende  Grundstück  ein 
Gebäude  zu  sein  pflegt,  sind  entweder  solche, 
zu  deren  Ausübung  das  Haben  einer  auf  dem 
dienenden  Grundstück  befindlichen  Anlage  ge- 
hört; oder  sie  bestehen  in  dem  Rechte,  aus  dem 
herrschenden  Grundstück  dem  dienenden  Wasser 
oder  andere  Stoffe  zuzuführen,  welche  aufzu- 
nehmen und  zu  dulden  sein  Eigentümer  sonst 
nicht  verpflichtet  wäre;  teils  kommen  sie  mit 
Verbietungsrechten  überein,  oder  endlich  sie 
schliessen  die  Ausübung  eines  Rechts  aus, 
welches  sich  aus  dem  Eigentum  an  einem  Ge- 
bäude einem  anderen  Gebäude  gegenüber  wegen 
einer  bestehenden  gesetzlichen  Eigentunisbe- 
schränkung ergiebt.  Zu  den  Grundgerechtiff- 
keiten,  deren  Ausübung  mittelst  einer  Anstswt 
auf  dem  dienenden  Grundstück  vor  sich  geht, 
gehört  das  Recht,  sich  der  Mauer  oder  eines 
sonstigen  Gebäudeteils  (z  B.  eines  Pfeilers)  des 
Nachbarhauses  als  Stütze  für  die  Giebelmauer 
oder  die  Balken  des  eigenen  Hauses  zu  be- 
dienen (serv.  oneris  ferendi).  Damit  ist  regel- 
mässig für  den  Eigentümer  des  dienenden  Ge- 
bäudes die  Verbindlichkeit  verknüpft,  die 
stützende  Anlage  in  tragfähigem  Zustande  zu 
erhalten.  Unter  den  Grundgerechtigkeiten, 
welche  dem  Berechtigten  eine  Immission  in  das 
Nachbargrundstück  ermöglichen,  ist  die  wich- 
tigste und  zufi^leich  häufigste  die  der  Dach- 
traufe. Sie  beschränkt  sich  entweder  auf  die 
Befugnis,  das  natürlich  abfliessende  Regenwasser 
von  dem  Dache  des  eigenen  Hauses  auf  das 
Nachbargrundstück  abtropfen  zu  lassen,  oder 
sie  ermächtigt  den  Berechtigten,  das  auf  dem 
eigenen   Grundstück   gesammelte  Regenwasser 


Griindgereclitigkeiten 


869 


dem  dienenden  Grundstück  mittelst  einer  Bohren- 
leitung  zuzuführen.  Von  anderen  eine  Immission 
erlaubenden  Grundgerechtigkeiten  mag  hier  noch 
das  Hecht  erwähnt  sein,  dem  Nachbar  mehr  und 
stärkeren  Rauch  zuzuführen,  als  dieser  bei  ge- 
wöhnlicher Benutzung  der  Feuerungsanlagen 
auf  dem  herrschenden  Grundstück  zu  dulden 
hätte  und  wegen  gesetzlicher  Eigentumsbe- 
schränkung sich  gefallen  lassen  müsste.  —  Die 
Verbietungsr echte  sind  sehr  mannigfacher  Art. 
Es  sind  dahin  zu  rechnen:  Das  ßecht,  dem 
Nachbar  das  Höherbauen  zu  verwehren, 
entweder  schlechthin  oder  über  eine  gewisse 
Höhe  hinaus,  ferner  das  Licht-  und  das  ihm 
verwandte  Aussichtsrecht.  Ebenso  mannig- 
faltig sind  die  auf  Beseitigung  von  gesetzlichen 
Eigentumsbeschränkun^en  bei  Gebäuden  ab- 
zielenden Grundgerechtigkeiten.  Es  gehört  dahin 
z.  B.  das  Recht,  ein  Gebäude  unmittelbar  an 
der  Grenze  des  Nachbargrundstücks  zu  er- 
richten, statt,  wie  es  sonst  zu  geschehen  hätte, 
einen  bestimmten  Abstand  von  der  Grenze 
inne  zu  halten  (E.G.  Art.  124). 

6.  Die  Anfhebnng  der  G.  Die  Auf- 
hebuDg  von  Gninclgerechtigkeiten  vollzieht 
sich  anders,  wenn  diese  im  Grundbuch  ein- 
getragen sind,  und  anders,  wenn  solches 
nicht  zutrifft. 

1.  Die  regelmässige  Beendigung  eingetrage- 
ner Gmndgerechtigkeiten  geschieht  durch 
Löschung  im  Gnindbuch.  Diese  setzt 
eine  Erklänmg  des  Berechtigten  voraus, 
dass  er  die  Grundgerechtigkeit  aufgebe.  Er 
hat  diese  dem  Grundbuchamt  oder  demjeni- 
gen gegenüber  abzugeben,  zu  dessen  Gunsten 
sie  erfolgt.  Sie  genügt,  wenn  das  herr- 
schende Grundstück  lastenfrei  oder  zwar  mit 
Hypotheken  oder  anderen  dinglichen  Rech- 
ten beschwert  ist,  diese  Rechte  aber  durch 
die  Aufhebung  der  Grund gerechtigkeit  nicht 
berührt  werden.  Andernfalls  muss  zu  dem 
Verzicht  auf  die  Grundgerechtigkeit  und  die 
sie  aussprechende  Erklärung  des  Berechtig- 
ten noch  die  Zustimmung  des  Hypotheken- 
gläubigers oder  des  sonstwie  dinglich  be- 
rechtigten Dritten  hinzukommen  (§§  875, 
876  B.G.B.), 

Eine  Ausnahme  von  der  Regel,  dass  ein- 
getragene Grundgercchtigkeiten  nur  durch 
L()schung  aufgehoben  werden,  greift  Platz, 
wenn  auf  dem  dienenden  Grundstück  eine 
Anlage  enichtet  wird,  welche  die  Grundge- 
rechtigkeit beeinträchtigt.  Dann  soll  der 
Anspnich  auf  Beseitigung  der  Anlage  imge- 
achtet  der  Eintragung  der  dadurch  beein- 
trächtigten Grundgerechtigkeit  der  Yerjäh- 
niug  unterliegen.  Infolgedessen  erlischt 
die  Gnmdgerechtigkeit,  soweit  der  Bestand 
der  Anlage  mit  ihr  in  Widerspnich  steht 
(§  1028  B.G.B.). 

2.  Wegen  der  zur  Zeit  der  eintretenden 
Gesetzeskraft  des  B.G.B.  noch  nicht  im 
Gnmdbuch  eingetragenen  Grundgercchtig- 
keiten und  wegen  der  Gnindgerechtigkeilen 
an  Grundstücken,  die  nach  den  Vorschriften 


der  Grundbuchordnung  nicht  eingeti'agen 
Averden  müssen,  behalten  die  Vorschriften 
des  bisherigen  Rechts  ilire  Geltung.  Auf 
diese  ist  jetzt  noch  mit  einigen  Worten  ein- 
zugehen. 

Eine  auf  Zeit  oder  unter  einer  auflösen- 
den Bedingimg  bestellte  Grundgerechtigkeit 
erlischt  mit  Ablauf  der  Zeit  oder  mit  dem 
Eintritt  der-  Bedingung.  Von  dieser  Mög- 
lichkeit abgesehen,  werden  nach  römi- 
schem und  gemeinem  deutschen 
Rechte  Grundgerechtigkeiten  aufgehol)en : 
durch  Konfusion,  Verzicht,  letzt- 
willige Verfügung  und  Verjährung. 
1.  Durch  Konfusion  erlöschen  Grund- 
gerechtigkeiten, wenn  sich  das  alleinige 
Eigentum  an  dem  herrschenden  und  dem 
dienenden  Gnmdstück  in  einer  Person  ver- 
einigt 2.  Der  Verzicht  bewirbt  die  Auf- 
hebung von  Grundgereclitigkeiten ,  wenn 
der  Alleineigentümer  oder  die  mehreren 
Miteigentümer  des  herrschenden  Grundstücks 
sämtlich  im  Einverständnis  mit  dem  Eigen- 
tümer des  dienenden  Grundstücks  ihren 
Willen  ausdrücklich  oder  stillschweigend 
durch  konkludente  Handlungen  dahin  erklä- 
ren, dass  sie  das  ihnen  gegen  das  dienende 
Grundstück  zustehende  Recht  aufgeben. 
B.  Grimdgerechtigkeiten,  welche  zu  einzelnen, 
sich  wiederholenden  Handlungen  ermächti- 
gen, erlöschen  durch  ununterbrechene 
Nichtausübung  während  der  Verjäh- 
rungszeit. Diese  beträgt  10  oder  20 
Jahre,  je  nachdem  die  Personen,  für  und 
gegen  welche  sie  läuft,  demselben  oder  ver- 
schiedenen Oberlandesgerichtsbezirken  ange- 
hören. Nicht  die  gleiche  Bewandnis  hat  es 
mit  den  Grundgercchtigkeiten  des  meist  bei 
Gebäuden  vorkommenden  Inhalts,  bestehend 
in  dem  Recht  auf  Erhaltung  eines  datiern- 
den  Zustandes  der  herrschenden  oder  der 
dienenden  Sache.  Der  Eigentümer  des 
herrschenden  Gnmdstücks,  welcher  zum  Be- 
sitz einer  Anstalt  auf  diesem  oder  dem  die- 
nenden Grundstück  befugt  ist,  vermöge 
deren  er  dessen  Eigentümer  zu  einem  Diü- 
den  nötigt,  verliert  seine  Gnmdgerechtigkeit 
durch  den  blossen  Nichtgebrauch  allein  noch 
nicht.  Ebensowenig  der,  w^elcher  berechtigt 
ist,  dem  Eigentümer  des  dienenden  Grund- 
stücks die  Vornahme  gewisser  Handlungen 
zu  verbieten.  Die  Endigimg  der  Grundge- 
rechtigkeiten des  bezeichneten  Inhalts  tritt 
vielmehr  erst  ein,  w^enn  sich  der  Eigentümer 
oder  Besitzer  des  dienenden  Gnmdstücks 
während  der  Verjähnutgszeit  im  Besitze  des 
servitutfreien  Zustandes  befand  (usucapio 
libertatiö). 

Ein  e  besondere  dem  Partikular  recht 
der  einzelnen  deutschen  Staaten  eigentüm- 
liche Auf hebungsart  ist  die  A  b  1  ö  s  u  n  g  der 
Grimdgerechtigkeiten  gegen  Entschädigung 
auf   Grund   gesetzlicher   Anordnung. 


870 


Grundgerechtigkeiten — Grundrente 


In  Preussen  bat  die  Gemeinheitsteilungs- 
ordnung  vom  7.  Juni  1821  die  einem  ratio- 
nellen Betrieb  der  Land-  und  Forstwirt- 
schaft binderlicben  Weiderecbte  und  mehrere 
der  Kultur  besonders  nachteilige  Holzgerech- 
tigkeiten (so  z.  B.  das  Recht  auf  Raff-  und 
Leseholz  und  auf  Waldstreu)  der  Ablösimg 
unterworfen.  Der  Antrag  auf  Ablösung 
kann  entweder  vom  Berechtigten  oder  vom 
Belasteten  ausgehen.  Er  ist  bei  der  hierfür 
eingesetzten  Auseinaudersetzungsbehörde 
(Generalkommission)  anzubringen.  Diese 
hat  die  Aufhebung  der  betreffenden  Grund- 
gerechtigkeiten zu  verfügen,  indem  sie 
gleichzeitig  die  Entschädigrmg  festsetzt, 
welche  vom  Eigentümer  des  beiasteten 
Gutes  dem  Servitutberechtigten  für  den 
Verlust  seiner  Grundgerechtigkeit  zu  ge- 
währen ist.  Die  Entschädigung  erfolgt  der 
Regel  nach  in  Land,  aushilfsweise  auch  in 
Rente.  Eine  nicht  geringe  Anzahl  anderer 
Berechtigungen,  deren  Beseitigung  im  In- 
teresse der  Landeskidtur  ebenfalls  wün- 
schenswert erschien,  hat  das  G.  v.  2.  März 
1850  betr.  die  Ergänzung  der  Gemeinheits- 
teihmgsordnung  für  ablösbar  erklärt  Es 
gehören  dahin  z.  B.  das  Recht  zur  Gräserei, 
zum  Harzscharren  in  Wäldern  und  zur  Torf- 
nutzung.   Vgl.  hierzu  E.G.  Art.  113 — 115. 

7.  Schutz  der  G.  Wegen  Störung  oder, 
was  hier  dasselbe  ist,  thatsächlicher  Beein- 
trächtigung der  Grundgerechtigkeiten  giebt 
das  B.ö.B.  eine  dem  Vorbilde  der  Eigenttmis- 
freiheitsklage  nachgebildete  Servitutenklage. 
(§  1027  vgl.  mit  §  1004.)  Kläger  ist  der  Eigen- 
tümer des  herrschenden  Grundstücks,  mag  er 
dessen  Besitzer  sein  oder  nicht.  Beklagter 
ist.  wer  die  Servitut  stört,  einerlei  ob  ihn 
ein  Verschulden  trifft  oder  nicht.  Gegen- 
stand der  Klage  ist  die  Beseitigung  der 
Störung,  insbesondere  die  einer  störenden 
Anlage.  Sind  weitere  Beeinträchtigungen 
zu  befürchten,  so  kann  der  Kläger  auf 
Unterlassung  klagen.  Soweit  ferner  der 
Beklagte  zur  Unterhaltung  von  Anlagen  auf 
dem  dienenden  Grundstück  verbunden  ist, 
kann  die  Klage  auch  auf  Erfüllung  dieser 
Verpflichtung  gerichtet  werden.  Massgebend 
sind  hierfür  die  Grundsätze  der  Reallasten. 

Wie  aber  ist  es,  wenn  der  Eigentümer 
des  angeblich  belasteten  Grundstücks  das 
Bestehen  oder  Fortbestehen  einer  Grund- 
gereclitigkeit  überhaupt  bestreitet,  sei  es  in 
Verbindung  mit  einer  gleichzeitigen  Störung 
oder  unabhängig  davon?  Die  Servituten- 
klage reicht  da  nicht  aus.  Der  Eigentümer 
des  hen-scheuden  Gnmdstücks  wird  nur 
zum  Ziel  kommen,  wenn  er  auf  Grund  des 
§  256  (231)  C.P.O.  wider  den  Eigentümer 
des  belasteten  Grundstücks  die  Feststellungs- 
klage erhebt  und  beantragt,  diesen  zur  An- 
erkennung der  von  ihm,  dem  Kläger,  be- 
haupteten Grundgerechtigkeit  zu  verurteilen. 


Diese  Klage  kann  mit  der  Servitutenklage 
verbunden  werden,  wenn  der  Beklagte  sich 
nicht  darauf  beschränkt,  die  Existenz  der 
Gnmdgerechtigkeit  zu  bestreiten,  sondern 
auch  deren  Ausübung  thatsächlich  beein- 
trächtigt 

Neben  der  Servitutenklage  kennt  das 
B.G.B.  auch  einen  Besitzschutz  der  Grund- 
gerechtigkeiten. Dieser  gestaltet  sich  ver- 
schieden, je  nachdem,  ob  es  sich  um  Gnind- 
gerechtigkeiten  handelt,  welche  im  Gnmd- 
buche  eingetragen  oder  nicht  eingetragen 
sind.  Wird  der  Besitzer  des  herrschenden 
Grundstücks  in  der  Ausübung  einer  einge- 
tragenen Grundgerechtigkeit  gestört,  so 
finden  die  für  den  Besitzschutz  geltenden 
Vorschriften  Anwendung,  soweit  die  Grund- 
gerechtigkeit innerhalb  eines  Jahres  vor  der 
Störung,  sei  es  auch  nur  einmal  ausgeübt 
worden  ist.  (§  1029  B.G.B.)  Die  Besitz- 
klage hat  jeder  Besitzer  des  herrschenden 
Grundstücks,  der  unmittelbare  so  gut  ^ie 
der  mittelbare  Besitzer. 

Es  darf  mithin  neben  und  ausser  dem 
Eigenbesitzer  auch  der  Pächter  oder  Mieter 
des  herrschenden  Grundstücks  wegen  Be- 
sitzstönmg  der  für  dieses  in  Anspruch  ge- 
nommenen Grundgerechtigkeit  klagen.  Nicht 
eingetragene  Grundgerechtigkeiten  haben 
gleichfalls  einen  dem  Sachbesitz  ent- 
sprechenden Besitzschutz.  Erforderlich  ist 
aber,  wenn  die  Besitzklage  deshalb  mit  Er- 
folg angestrengt  werden  soll,  dass  es  sich 
entweder  um  eine  Grundgerechtigkeit  han- 
delt, mit  der  das  Halten  einer  dauernden 
Anlage  verbunden  ist,  oder  dass  die  Grund- 
gerechtigkeit in  jedem  der  3  letzten  Jahre 
vor  der  Stöning  mindestens  einmal  ausgeübt 
worden  ist  (E.G.  Art.  191  vgl  mit  Art 
128,  187.) 

Litteratar:  Elvers,  Die  römische  Servituten' 
lehre,  1856.  —  Sehönemann,  Die  Servituten, 
1866.  —  Stobbe,  Handbuch  des  deutseh,  Privatr. 
IJ  (zweite  Aufl.)  §  98,  —  Demburg,  Das 
bürgert,  R.  des  deutsch,  Reichs  und  Preussens  III, 
§§  162—188, 

V,  Brünneck, 


Grundrente. 

Erster  Abschnitt.  1.  Begriff  der  G. 
2.  Entstehung  und  Bemessung  der  Höhe  der 
G.  3.  Arten  der  G.  Zweiter  Abschnitt. 
1.  Die  Veränderungen  der  G.  2.  Die  Kapita- 
lisierung und  die  privatwirtschaftliche  Ans- 
gleichung  der  G.  3.  Das  ^monopolistische  Ele- 
ment in  der  G.  4.  XJebefsicht  der  Entwicke- 
lung  der  Lehre  von  der  G. 

Erster  Abschnitt 

1.  Begriff  der  G.  Für  die  Zwecke 
menschlicher  Wirtschaft  ist  die  Natur  mit 


Grundrente 


871 


ihren  Stoffen  und  Kräften,  ist  insonderheit 
der  Grund  imd  Boden  unumgänglich  nötig. 
Der  Boden  besitzt  infolgedessen  einen  natür- 
lichen Nutzwert,  der  unter  bestimmten  Be- 
dingungen ein  Einkommen  gewähren  kann. 
Dies  aus  dem  natürlichen  Nutzwert  des 
Bodens  entspringende  Einkommen  wird  von 
der  Wissenschaft  als  Grundrente  bezeichnet 
Nach  dem  Sprachgebrauche  des  gewöhn- 
lichen Lebens  bedeutet  Grundrente  das  ge- 
samte Einkommen,  das  der  Grundbesitzer 
aus  dem  Grund  und  Boden  bezieht;  diese 
Grundi^ente  im  weiteren  Sinne  fasst  daher 
das  auf  dem  natürlichen  Nutzwert  des 
Bodens  beruhende  und  das  aus  dem  gesam- 
ten Produktionsaufwande  an  Arbeit  und 
Kapital  auf  dem  Boden  hervorgehende  Ein- 
kommen ungetrennt  zusammen.  Im  folgen- 
den wird  unter  Grundrente  ausschliesslich 
der  engere  wissenschaftliche  Begriff  der 
Grundrente  verstanden. 

Der  Boden,  wie  er  von  Natur  darge- 
boten wird,  dient  den  Menschen  vornehmlich 
in  dreifacher  Weise.  Er  ist  der  Träger 
menschlichen  Lebens  und  wirtschaftlicher 
Thätigkeit  auf  allen  ihren  Gebieten,  in  Acker- 
bau und  Industrie,  in  Handel  und  Verkehr; 
er  ist  das  Gefäss,  in  welchem  durch  die 
Vegetationskräfte  die  Pflanzen  erzeugt  wer- 
den ;  er  birgt  in  seinem  Schosse  wertvolle 
Stofte,  wie  die  mineralischen  Nährstoffe  der 
Pflanze,  Erze,  Kohlen,  Steine,  Oele  etc.  Der 
Boden  besitzt  in  seiner  Tragfähigkeit,  seiner 
Kraft  der  Pflanzenerzeugimg  (Fruchtbarkeit) 
und  seinem  Reichtum  an  Stoffen  Eigen- 
schaften, die  ursprünglich  und  zum  Teil 
auch  unvergänglich  sind,  die  also  nicht  auf 
menschliche  Thätigkeit,  nicht  auf  Arbeits- 
und Kapitalaufwand  zurückzuführen  sind. 
Ursprünglich  und  unerschöpflich  ist  die 
Tragfähigkeit,  sind  die  im  Boden  wirkenden 
Vegetationskräfte,  und  sind  die  physikali- 
schen Eigenschaften  desselben,  ursprünglich, 
doch  nicJ^t  unerschöpflich  ist  aber  der  Ge- 
halt an  mineralischen  Pflanzennährstoffen 
und  an  den  im  Boden  ruhenden  Erzen, 
Kohlen  etc.  Die  Frage  der  ünerschöpfUch- 
keit  der  Grundrente  bildenden  Nutzleistung 
des  Bodens  ist  deshalb  von  Bedeutung,  weü 
der  Begriff  der  Grundrente  von  der  Wissen- 
schaft auf  das  Einkommen  aus  dem  natür- 
lichen Nutzwerte  des  Bodens  eingeschränkt 
ist,  soweit  derselbe  auf  der  Unerschöpflich- 
keit der  Kräfte  und  Stoffe  des  Bodens  be- 
ruht. Ricardos  Definition  der  Grundrente 
lautet  denn  auch:  »Die  Grundrente  ist  der- 
jenige Teü  des  Erzeugnisses  der  Erde  oder 
die  Vergütung,  welche  dem  Grundherrn  für 
die  Benutzung  der  urspnlnglichen  und  un- 
erschöpflichen Kräfte  des  Bodens  bezahlt 
wird.c  Diese  Einschränkung  ist  nötig,  um 
das  Ghrundrenteneinkommen  begrifflich  scharf 
zu  sondern  von  dem  Einkommen,  das  aus 


der  Verwendung  von  Kapital  herrülirt  Die 
einzelnen  Grundstücke  besitzen  nun  aber  die 
angeführten  Eigenschaften  —  und  das  ist 
für  die  Bildung  der  Gnmdrente  von  ent- 
scheidender Bedeutung  —  in  sehr  verschie- 
denem Grade.  Verschieden  ist  üire  Frucht- 
barkeit, ihr  Reichtum  an  Stoffen  und  auch 
ihre  Tragfähigkeit  insofern,  als  die  Lage, 
wo  die  Tragfähigkeit  benutzt  wird,  der 
»Standort«  verschieden  ist. 

Der  Grundbesitzer  bezieht  die  Gnmd- 
rente bei  eigener  Verwendung  des  Bodens 
in  dem  Gesamtertrage  desselben.  Den  Teil 
seines  Gesamteinkommens  vom  Boden,  der 
lediglich  auf  die  natürliche  Nutzleistung  des- 
selben zurückzuführen  ist,  die  Grundrente, 
kann  er  ziffernmässig  aus  dem  Gesamtein- 
kommen vom  Boden  ausscheiden,  indem  er  von 
demselben  den  üblichen  Unternehmergewinn 
uad  den  üblichen  Zins  und  Lohn  für  sämt- 
liche Kapital-  und  Arbeitsverwendungen  in 
Abzug  bringt.  »Grundrente  nennen  wu* 
denjenigen  Teü  vom  regelmässigen  Reiner- 
trage eines  Grundstückes,  welcher  nach  Ab- 
zug aller  darin  steckenden  Arbeitslöhne  und 
Kapitalzinsen  übrig  bleibt«  (Röscher).  Ueber- 
lässt  dagegen  der  Besitzer  die  Benutzung 
seines  Bodens  einem  anderen ,  einem  Päch- 
ter, so  bezahlt  dieser  für  die  natürliche 
Nutzleistung  des  Bodens,  die  nun  ihm  zu- 
fällt, einen  Preis,  der  die  bedungene  Grund- 
rente bildet.  Der  Begriff  der  Grundrente 
kann  daher  auch  so  gefasst  werden :  »Grund- 
rente ist  der  für  die  ursprüngliche  und  un- 
erschöpfliche Nutzleistung  des  Bodens  inner- 
halb einer  gewissen  Periode,  in  der  Regel 
eines  Jahres  gezahlte  Preis.«  Die  bedungene 
Gnmdrente  ist  für  gewöhnlich  nicht  iden- 
tisch mit  der  gezahlten  Pacht,  da  auf  dem 
dem  Pächter  überlassenen  Boden,  zumal  bei 
dem  zum  Landbau  benutzten  und  in  alter 
Kultur  befindlichen  oft  in  grossem  Umfange 
Kapital  verwandt  und  mehr  oder  weniger 
fest  mit  ihm  verbunden  ist.  In  der  Pacht 
steckt  daher  auch  der  Zins  für  solches 
Kapital  an  Gebäuden,  Umzäunungen,  Drai- 
nage etc.  Die  Gnmdrente  muss  dalier  auch 
bei  der  Verpachtung  des  Bodens  erst 
rechnerisch  aus  der  Pachtsumme  geschieden 
werden. 

2.  Entstehung  und  Bemessung  der 
Höhe  der  6.  Die  natürliche  Nutzleistung 
des  Bodens  kann  nun  aber  nicht  immer  ein 
Einkommen,  die  Grundrente,  gewähren.  Für 
die  Ueberlassung  der  Nutzimg  des  nattir- 
lichen  Nutzwertes  des  Bodens  wird  nur 
dann  eine  Vergütung  gezahlt  werden,  wenn 
Boden  mit  höchstem  nattlrlichen  Nutzwerte 
nicht  frei  zur  Verfügung  steht  Erst  wenn 
nur  Boden  mit  geringerem  Nutzwert  unent- 
geltlich benutzt  werden  kann,  wird  für  die 
Ueberlassung  des  ersteren  ein  Entgelt  gezahlt 
werden.    Und  selbst  für  die  Ueberlassung 


872 


Grundrente 


von  Boden  mit  niedrigstem  natürlichen  Nutz- 
wert wird  eine  Vergütung  gewährt  werden, 
wird  auf  ihm  also  die  Grundrente  entstehen, 
wenn  doch  noch  Begehr  nach  ihm  ist  und 
er  nicht  frei  zur  verfugung  steht.  Die 
entscheidende  Ursache  der  Entstehung  der 
Grundrente  ist  demnach  die  relative  Selten- 
heit des  natürlichen  Nutzwertes  des  Bodens. 
Für  die  Hervorbringung  der  Güter  ist  der 
natürliche  Nutzwert  des  Bodens,  überhaupt 
der  Naturfaktor  stets  von  Bedeutung,  da  ein 
Teil  des  Gütererzeugnisses  immer  auf  die 
Wirkung  des  Naturfaktors  zurückzuführen 
ist,  für  die  Verteilung  der  Güter  gewinnt 
er  aber  erst  dann  Einfluss,  gewährt  er  also 
erst  ein  Einkommen,  wenn  er  relativ,  d.  h. 
im  Verhältnis  zum  Begehr,  selten  ist.  Nicht 
weil  der  natürliche  Nutzwert  des  Bodens 
für  die  wirtschaftlichen  Zwecke  des  Men- 
schen von  Nutzen  ist,  erzeugt  er  Grund- 
rente, sondern  weü  er  nicht  in  beliebiger 
Menge  und  von  gleicher  Wirksamkeit  vor- 
handen ist.  »Die  Arbeit  der  Natur  wird 
bezahlt,  nicht  weil  sie  viel,  sondern  weü  sie 
wenig  thut.  Ln  nämlichen  Verhältnisse,  als 
sie  mit  ihren  Gaben  kargen  wird,  erzwingt 
sie  auch  für  ihr  Werk  einen  höheren  Preis. 
Wo  sie  grossmütig  wohlthätig  ist,  arbeitet 
sie  immer  umsonst«  (Ricardo). 

Die  Höhe  der  bedungenen  Gnmdrente 
als  des  Preises  der  periodischen  naturalen 
Nutzleistung  des  Bodens  hängt  von  dem 
Verhältnis  von  Angebot  und  Nachfrage  ab, 
die  durch  die  bekannten  Preisbestimmungs- 
gründe  bestimmt  werden,  nur  dass  das  An- 
gebot hier  nicht  von  den  Produktionskosten, 
sondern  von  der  Schätzung  des  natürlichen 
Nutzwertes  abhängt,  da  dieser  seinem  Be- 
griffe nach  von  Natur  gegeben,  nicht  aber 
produziert  ist.  Bei  der  Benutzung  des 
Bodens  zur  Erzeugung  landwirtschaftlicher 
Produkte  kommt  hier  der  natürliche  Nutz- 
wert, die  Fruchtbarkeit  und  die  Lage  in 
Betracht.  Je  grösser  die  erstere  und  je 
günstiger  die  letztere,  um  so  wirksamer  er- 
weist sich  der  auf  beiden  benihende  natür- 
liche Nutzwert  des  Bodens  zur  Erzeugung 
imd  zum  Absatz  der  landwirtschaftlichen 
Produkte.  Daher  werden  bei  gleicher  Ge- 
schicklichkeit des  Bebauers  und  bei  gleichem 
Arbeits-  und  Kapitalaufwande  von  Gnind- 
stücken  ungleicher  Fruchtbarkeit  und  Lage 
imgleiche  Mengen  Bodenprodukte  gleicher 
Güte  gewonnen  oder  in  anderem  Ausdrucke, 
die  gleichen  Mengen  Bodenprodukte  werden 
auf  den  vei-schiedenen  Grundstücken  mit 
einem  ungleichen  Aufwände  von  Arbeit  und 
Kapital  erzeugt.  Zwingt  nun  die  wachsende 
Nachfrage  nach  Bodenprodukten,  nicht  nur 
den  fruchtbai-ston  imd  günstigst  gelegenen 
Boden,  sondern  immer  unfnichtbareren  und 
ungünstiger  gelegenen  mit  immer  geringerem 
Ertrage  in  Kultur  zu  nehmen,  so   entsteht 


auf  den  bevorzugten  Ländereien  Grundrente, 
deren  Höhe  auf  den  einzelnen  Ländereien 
gleich  dem  Unterschiede  zwischen  ihrenti 
Ertrage  imd  dem  des  unfruchtbarsten  und 
ungünstigsten  Bodens  ist,  der  aber  zur  Be- 
friedigimg des  Gesamtbedarfes  noch  ange- 
baut, werden  muss.  Statt  bei  steigender 
Nachfrage  nacli  Bodenprodukten  zum  Anbau 
von  unfruchtbareren  und  imgünstiger  gele- 
genen Grundstücken  überzugehen,  kann  es 
vorteilhafter  sein,  auf  dem  bisher  bebauten 
Boden  durch  Steigerung  des  Produktions- 
aufwandes an  Kapital  und  Arbeit  eine  grös- 
sere Produktenmenge  zu  erzeugen.  Lieferte 
jeder  spätere  Aufwand  von  Kapital  und 
Arbeit  auf  dem  nämlichen  Boden  gleichen 
oder  gar  einen  höheren  Ertrag,  so  würde 
ebensowenig  eine  Gnmdrente  entstehen 
können,  als  wenn  fruchtbarster  und  best- 
gelegener Boden  in  unerschöpflicher  Menge 
vorhanden  wäre.  Nun  giebt  es  aber  stets 
eine  Grenze,  von  der  ab  jeder  neue  Zusatz 
von  Arbeit  und  Kapital  früher  oder  später 
einen  relativ  abnehmenden  Ertrag  liefert 
Je  schlechter  der  Boden  ist,  um  so  früher 
tritt  diese  Grenze  ein.  Sie  kann  durch  eine 
verbesserte  landwirtschaftliche  Technik  hin- 
ausgerückt werden,  stets  muss  aber  ein 
Zeitpunkt  eintreten,  bei  dem  sie  erreicht 
wird.  In  der  abnehmenden  Produktivität 
der  Arbeits-  und  Kapitalverwendimg  bei 
der  Erzeugimg  landwirtschaftlicher  Produkte 
ist  eine  üi*sache  der  Entstehung  der  Grund- 
rente zu  finden  wie  in  der  Nötigung,  zuno. 
Anbau  schlechteren  Bodens  überzugehen. 
Zwingt  der  steigende  Bedarf  an  Bodener- 
zeugnissen, auf  dem  bisher  bebauten  Boden 
eine  grössere  Menge  Bodenprodukte  zu  er- 
zeugen, deren  Zuwachs  aber  nur  durch  einen 
relativ  grösseren  Produktionsaufwand  ge- 
wonnen werden  kann,  so  ist  auf  diesem  Boden 
schon  vorher  eine  Grundi-ente  entstanden ; 
sie  geht  hervor  aus  dem  Unterschiede  in 
den  Erträgen  des  bisherigen  und  des  neuen 
Produktionsaufwandes.  GeAvährte  der  Boden 
bereits  früher  eine  Grundrente,  so  \\'ird 
deren  Botrag  sich  um  diese  Diiferenz  er- 
höhen. 

Für  die  Herleitung  der  Entstehung  der 
Grundrente  und  ihrer  Höhe  ist  es  gleieh- 
giltig,  ob  die  Grundrente,  welche  bei  Selbst- 
bewirtschaftung in  dem  Gesamteinkommen 
des  Unternehmers  steckt,  oder  bei  der  Ver- 
pachtung des  Bodens  die  in  der  gezahlten 
Pacht  enthaltene  Grundrente  ins  Auge  ge- 
fasst  ist.  Winl  auf  besserem  Boden  bei 
gleichem  Arbeits-  und  Kapitalaufwande  ein 
höherer  Ertrag  erzielt  als  auf  schlechterem 
Boden,  so  kann  der  Pächter  diese  Differenz 
in  den  Erträgen  dem  Besitzer  des  besseren 
Bodens  als  Grundrente  entrichten,  da  er  auf 
dem  eigenen,  aber  schlechteren  Boden  seine 
Kapitalnutzungen  und  Arbeitsleistungen  ein- 


Grundrente 


873 


schliesslich  des  üblichen  ünternehmerge- 
winnes  nicht  höher  verwerten  könnte.  Für 
die  Herleitung  der  Entstehung  und  Höhe 
der  Grundrente  ist  es  ferner  gleichgütig, 
ob  der  Betrachtung  Produktionsmengen  oder 
deren  Geldwert  zu  Grunde  gelegt  wird, 
denn  die  Produktionsmenge  und  ihr  Geld- 
wert stehen  genau  im  Verhältnis  zu  ein- 
ander. Da  nämlich  auf  demselben  Markt- 
gebiete bei  freiem  Wettbewerbe  der  Preis 
fi\T  die  gleichen  Produkte  der  gleiche  ist, 
wie  verschieden  auch  ihre  Herstellungskosten 
sein  mögen,  so  ist  auch  der  Geldbetrag  der 
auf  den  verschiedenen  Gnmdstücken  erzeug- 
ten ungleichen  Produktenmengen  ein  den 
verschiedenen  Produktenmengen  entspre- 
chend verschiedener.  Der  auf  dem  Markt- 
gebiete geltende  Preis  der  Produkte  wird 
diu-chdie  Produktionskosten  bestimmt,  welche 
die  Erzeugimg  der  Produkte  auf  den  un- 
günstigst gelegenen  Grundstücken  erfordert, 
deren  Anbau  aber  ziu-  Befriedigiuig  des  Ge- 
samtbedarfs noch  nötig  ist.  Denn  offenbar 
werden  die  Gnmdstücke  geringsten  natür- 
lichen Nutzwertes  nur  dann  angebaut  wer- 
den, wenn  der  Preis  der  Produkte  so  hoch 
gestiegen  ist,  dass  der  Anbau  dieser  Grund- 
stücke die  aufzuwendenden  Produktions- 
kosten ersetzt  Hieraus  fol^t  der  wichtige 
Grundsatz,  dass  hohe  Preise  die  Ursache 
hoher  Grundrente  sind,  dass  aber  hohe 
Grundrente  nicht  die  Ursache  hoher  Preise 
ist.  Die  beiden  Elemente  des  natürlichen 
Nutzwertes  des  Bodens  bei  der  landwirt- 
schaftlichen Yerwendung  desselben,  Frucht- 
barkeit und  Lage,  bestimmen  durch  ihr  Zu- 
sammenwirken die  Bildung  der  Grundrente 
und  ihre  Höhe.  Die  Gunst  der  Lage  kann 
mit  dem  Vorzuge  der  Fruchtbarkeit  zusam- 
mentreffen, und  dann  wirken  beide  Elemente 
in  gleicher  Richtung  auf  die  Höhe  der 
Grundrente,  oder  der  Vorzug  des  einen 
Elements  kann  durch  die  Ungunst  des  ande- 
ren zum  Teil  oder  ganz  aufgehoben  w^erden. 
Immer  aber  wird  die  Höhe  der  Grundreute 
durch  den  Vorzug  bestimmt,  den  Boden  in 
Bezug  auf  Lage  und  Fnichtbarkeit  vor  dem 
unfruchtbarsten  und  ungünstigst  gelegenen 
besitzt,  der  aber  zur  Befriedigung  des  Be- 
darfs noch  bebaut  werden  muss. 

3.  Arten  der  G.  In  erster  Linie  steht 
die  landwirtschaftliche  Gnmdrente. 
Ob  der  Boden  zum  Acker-  oder  Weinbau, 
zu  Weide-  oder  Waldbau  benutzt  wird,  ist 
für  die  Entstehung  der  Grundrente  und  die 
Bemessung  ihi-er  Höhe  ohne  Belang.  Immer 
wird  bei  allen  diesen  Benutzungsweisen  des 
Bodens  Grundrente  entstehen,  wenn  Böden 
ungleicher  Fnichtbarkeit  und  Lage  angebaut 
werden,  infolgedessen  der  gleiche  Arbeits- 
und  Kapitalaufwand  auf  ihnen  ungleiche  Er- 
träge liefert.  Es  kann  aber  ein  bestimmtes 
Grundstück  für  eine   gewisse  Kulturart  be- 


sonders geeignet  sein  und  bei  dieser  Art 
der  Verwendung  eine  höhere  Grundrente 
ergeben  als  bei  jeder  anderen.  —  Bei  der 
Verwendung  des  natürlichen  Nutzwertes  des 
Bodens  beim  Bergbau  kommen  die  beiden 
Elemente  derselben,  der  Reichtum  an  mine- 
ralischen Stoffen  und  die  Lage,  in  Betracht. 
In  Bezug  auf  die  Wirkung  des  ersteren 
Elements  zur  Bildung  der  Grundrente  und 
der  Bemessung  ihrer  Höhe,  der  Berg- 
werksrente, ist  zu  beachten,  dass  die 
Stoffe  (Erze,  Kohlen  etc.)  im  Anbau  dem 
Boden  entnommen  und  nicht  wieder  ersetzt 
werden,  dass  daher  die  Unerschöpflichkeit 
dieses  Elements  des  Nutzwertes  nicht  vor- 
ausgesetzt werden  darf,  wie  dies  bei  dem 
natürlichen  Nutzwerte  des  Bodens  beim 
Ijandbau  geschehen  kann,  weil  durch  die 
Ernten  freilich  auch  dem  Boden  wertvolle 
Stoffe,  die  mineralischen  Pflanzennährstoffe 
entnommen,  diese  ihm  aber  im  geregelten 
Anbau  durch  die  Düngung  ersetzt  werden. 
Die  dem  Boden  beim  Bergbau  entnommenen 
Stoffe  müssen  bei  der  Ermittelung  der 
Bergwerksrente  als  ein  Kapitalaufwand  an- 
gesehen werden,  bei  dessen  Bemessung  die 
längere  oder  kürzere  Zeitdauer  bis  ziu* 
gänzlichen  Erschöpfung  der  Stoffe  und  da- 
mit zur  Wertlosigkeit  des  Bergwerks  zu  be- 
riicksichtigen  ist.  Im  übrigen  gelten  die 
nämlichen  Regeln,  die  für  die  Bildung  der 
Grundrente  und  ihrer  Höhe  entwickelt 
wurden,  auch  beim  Bergbau.  Auch  bei 
ihm  gewäliren  die  einzelnen  Bergwerke 
infolge  der  Verschiedenheit  ihres  Reichs- 
tums  an  Stoffen,  ihrer  Schwierigkeit  der 
Ausbeute  und  ihrer  Lage  bei  gleichem 
Produklionsaufwand  verschiedene  Erträge, 
und  die  Höhe  der  Grundrente  wird  be- 
messen nach  der  Differenz  in  diesen  Er- 
trägen. 

Am  reinsten  und  am  wenigsten  durch 
störende  Einflüsse  getrübt  zeigt  sich  die 
Grundientenbildung  bei  dem  Boden,  der  als 
Baugrund  benutzt  wird.  Das  Element 
des  ursprünglichen  und  unerschöpflichen 
Nutzwertes  des  Bodens,  das  hier  im  wesent- 
lichen allein  in  Betracht  kommt,  ist  die 
Lage  des  Bodens,  sein  Standort.  Er  ist  für 
jede  wirtschaftliche  Tliätigkeit  wichtig,  da 
von  ihm  die  grössere  oder  geringere  Leich- 
tigkeit des  Absatzes  der  Produkte  und  der 
Zufuhr  des  zum  Betriebe  erforderlichen 
Kapitals  abhängt.  Die  auf  dem  Boden  auf- 
geführten Baulichkeiten  zum  Wohnen  oder 
zu  gewerblichen  Zwecken  sind  nicht  dem 
Gesetze  der  Grundrente  unterworfen;  sie 
sind  Kapital,  können  beliebig  vermehrt  wer- 
den und  sind  vom  Boden  zu  trennen.  Nur 
der  Baugrund  unterliegt  der  Gnindreuten- 
bildung.  Wie  diese  Baugrund-  oder 
Hausplatzrente  entsteht  und  Avächst, 
lässt  sich  bei  jeder  aufblühenden  Stadt  und 


874 


(Grundrente 


namentlich  der  Grossstadt  mit  grosser  Schärfe 
"wahrnehmen.  Bei  der  Baugnmdrente  ist 
auch  leichter  und  deutliclier  als  bei  den  an- 
deren Grundrentenarten  zu  erkennen,  dass 
die  Bildung  und  das  Wachstum  der  Grund- 
rente nicht  auf  entsprechende  Arbeits-  und 
Kapitalverwendung  des  Bodenbesitzers,  nicht 
auf  sein  Verdienst  ziwöckzuführen  ist.  Ihr 
gegenüber  erweisen  sich  die  verschiedenen 
Versuche,  die  Ricardosche  Grundrentenlehi-e 
zu  bekämpfen,  machtlos.  Da  nun  die  Lage 
ihre  Grundrente  bildende  Kraft  bei  jeder 
Form  der  wirtschaftlichen  Thätigkeit  zeigt, 
sie  neben  der  Fruchtbarkeit  auch  beim  LAnd- 
bau  und  neben  dem  Reichtum  an  Mineral- 
gehalt auch  beim  Bergbau  Grundrente  er- 
zeugt, so  ist  sie  von  den  drei  Elementen 
des  Gnmdrente  erzeugenden  lu^prünglichen 
und  unerschöpflichen  Nutzwertes  des  Bodens 
das  wichtigste. 

Da  nun  auch  der  Ertrag  der  meisten 
gewerblichen  Unternehmungen  mehr  oder 
weniger  durch  ihre  örtliche  Lage  beeinflusst 
wird,  80  findet  sich  ein  Gnmdrentenelement 
auch  in  dem  Gewinne  aus  solchen  Geschäfts- 
betrieben, die  man  gewöhnlich  als  kapita- 
listische betrachtet.  Ueber  die  weitere  Aus- 
dehmmg  des  Begriffes  der  Grundrente  auf 
alle  bevorzugten  Erwerbsstellungen  s.  d.  Art. 
Vorzugsrente. 

Tli.  Mitho/f. 

Zweiter  Abschnitt 

1.  Die  Verändenuigen  der  G.  Be- 
trachtet man  ein  Land  von  gegebener  Aus- 
dehnung, so  ist  bei  zunehmender  Bevölke- 
rung desselben  —  was  in  der  Kulturwelt 
den  normalen  Fall  bildet  —  im  allgemeinen 
ein  Steigen  der  Grundrente  zu  erwarten,  da 
der  Boden  als  eine  in  diesen  Grenzen  un- 
veränderliche Grösse  im  Verhältnis  zu  den 
Bedürfnissen  der  wachsenden  Einwohner- 
zahl einen  immer  grösser  werdenden  Grad 
von  Seltenheit  erlangt.  Es  schliesst  dies 
allerdings  nicht  aus,  dass  in  einzelnen 
Landesteilen  die  Grundrente  dieser  Bewegung 
nicht  folgt,  sondern  sogar  abnehmen  kann, 
wie  Abnahmen  z.  B.  in  Industriestaaten 
auch  in  der  lokalen  Verteilung  der  Bevölke- 
rung, trotz  der  Zunahme  der  Gesamtzahl 
derselben,  beobachtet  werden  können.  Wenn 
ein  Land  imstande  ist,  einen  sehr  grossen 
oder  sogar  den  grössten  Teil  seines  Be- 
darfes an  Nahrungsstoffen  durch  Austausch 
gegen  seine  Industrieerzeugnisse  zu  beziehen, 
so  kann  längere  Zeit  hindurch  die  Be- 
deutimg seines  eigenen  Bodens  für  die  Ge- 
winnung landwirtschaftlicher  Produkte  zu- 
rücktreten; andererseits  wird  sich  die  Be- 
völkerung dann  immer  mehr  in  den  in- 
dustriellen Centren  und  in  den  durch  Handel 
und  Verkehr  bedeutenden  Städten  zusammen- 


drängen, und  in  diesen  en^n  Räumen  wird 
die  reine  Platzrente  sich  mit  desto  grösserer 
Intensität  entwickein,  so  dass  dadurch  die 
etwaige  Abnahme  der  ländlichen  Grundrente 
für  das  ganze  Staatsgebiet  in  der  Regel 
mehr  als  ausgeglichen  wird. 

Was  die  besonderen  Verhältnisse  der 
landwirtschaftlichen  Grundrente  be- 
trifft, so  wächst  dieselbe  in  den  Agrikultur- 
staaten im  Zusammenhange  mit  der  Volks- 
vermehrung —  die  aber  in  diesen  Ländern 
in  der  Regel  langsamer  fortschreitet  als  in 
den  Industriestaaten  —  und  mit  der  Ent- 
wickelung  der  Ausfuhr;  in  den  auf  grosse 
Einfuhr  von  Nahrungsmitteln  angewiesenen 
Industriestaaten  aber  lässt  sich  diese  Grund- 
rente im  grossen  und  ganzen  nur  durch  das 
künstliche  Mittel  der  landwirtschaftlichea 
Schutzzölle  steigern,  da  der  Freihandelspreis 
des  Getreides  in  solchen  Ländern  nur  in  ge- 
ringem Masse  von  den  inländischen  Produk- 
tionsbedingungen, vielmehr  hauptsächlich 
von  den  ausländischen  Marktverhältnissen 
abhängt.  Innerhalb  eines  gegebenen  Landes 
zeigt  auch  die  landwirtschaftliche  Grund- 
rente in  der  Umgebimg  anwachsender  Städte 
in  der  Regel  eine  aufsteigende  Bewegung, 
wenigstens  wenn  der  landwirtschaftliche 
Betrieb  den  besonderen  Bedingungen  dieser 
Zone  entspricht,  also  auf  die  Erzeugung  von 
Milch,  Gemüsen,  Obst,  Geflügel  etc.  be- 
sonderes Gewicht  legt.  Mehr  oder  weniger 
werden  freilich  die  Vorteile  der  Nähe  eines 
grossen  städtischen  Marktes  wieder  aufge- 
hoben durch  die  höheren  Löhne,  die  unter 
dem  Einfluss  der  Anziehungskraft  der  Stadt 
zu  bezahlen  sind.  Auch  ha,t  sich  die  Zone, 
aus  welcher  eine  grosse  Stadt  ihren  Bedarf 
an  frischen  Erzeugnissen  der  Landwirtschaft 
beziehen  kann,  bei  der  heutigen  Ausbildung 
des  Transportwesens  ausserordentlich  er- 
weitert, und  wertvoUere  Produkte  dieser 
Art  können  sogar  aus  dem  Auslande  \md 
aus  Entfernungen  von  Hunderten  von  Meilen 
bezogen  werden.  Ueberhaupt  liegt  in  der 
Beschleunigung,  Erleichterung  und  Ver- 
biUigung  des  Transportes  der  wichtigste 
Faktor  für  die  Veränderung  der  landwirt- 
schaftlichen Grundrente,  und  zwar  können 
dadurch  die  natürlichen  Produktionsvorteile 
der  Grundstücke  sowohl  zu  höherer  Geltung 
gebracht  als  auch  —  durch  die  Ermög- 
lichimg einer  Konkurrenz  aus  der  Feme  — 
herabgedrückt  werden.  —  Was  die  land- 
wirtschaftlichen Meliorationen  betrifft, 
so  haben  diese  zunächst  den  Charakter  von 
Kapitalanlagen,  und  die  Grundrente 
wird  durch  solche  nur  insoweit  erhöht,  als 
der  Mehrertrag  der  Wirtschaft  dadurch  über 
den  landesüblichen  Kapitalgewinn  (nicht  den 
blossen  Zins)  hinaus  gesteigert  wird.  In 
manchen  Fällen  kann  dies  in  bedeutendem 
Masse   zutreffen,    z.  B.   wenn   dmxih  Ent- 


Grundrente 


875 


sumpfnng  oder  künstliche  Entwässerung  ein 
ungewöhnlicli  fruchtbares  Neuland  gewonnen 
wird.  Man  kann  aber  auf  einer  gegebenen 
Bodenfläche  die  Meliorationen  niemals  ins 
Unbegrenzte  mit  solchem  Erfolge  fortsetzen ; 
vielmehr  wird  man  immer  schliesslich  zu 
einem  Punkte  gelangen,  jenseits  dessen 
höchstens  noch  der  normale  Kapitalgewinn 
und  demnach  keine  weitere  Erhöhung  der 
Grundrente  mehr  zu  erzielen  ist.  Aber 
auch  eine  solche  Melioration,  die  für  eine 
Einzelwirtschaft  eine  Erhöhimg  der  Grund- 
rente hervorbringt,  wird  wenigstens  zeit- 
weise eine  Verminderung  selbst  des  anfäng- 
lichen Standes  der  Rente  verursachen,  wenn 
sie  in  einer  grossen  Anzahl  von  Wirt- 
schaften oder  in  einem  ganzen  Gebiete 
ausgeführt  wird.  Es  treten  dann  dieselben 
Folgen  ein,  wie  wenn  eine  gewisse  Fläche 
von  besserem  landwirtschaftlichen  Boden 
dem  Lande  zugesetzt  worden  und  mit  in 
Konkurrenz  getreten  wäre ;  das  Angebot  von 
Bodenerzeugnissen  hätte  sich  mehr  als  die 
Nachfrage  vergrössert,  der  Preis  derselben 
müsste  sinken.  Der  Ertrag  der  Einzelwirt- 
schaften und  somit  auch  deren  Grundrente 
(die  als  Extragewinn  immer  zuerst  betroffen 
wird)  müsste  also  zurückgehen,  und  wahr- 
scheinlich würde  jetzt  ein  Teil  des  mit  dem 
Boden  für  immer  verschmolzenen  Meliora- 
tionskapitals nicht  einmal  mehr  den  normalen 
Gewinn  bringen,  vielleicht  sogar  nicht  mehr 
den  einfachen  Zins  decken. 

Die  Grundrente  von  fruchtbarem  Neu- 
lande, das  bei  Baubbaubetrieb  mit  weniger 
begünstigten  Wirtschaften  konkurriert,  w^ird 
gewöhnlich  bald  abnehmen  infolge  der 
Bodenerschöpfung.  Geht  man  dann  zur 
Düngimg  über,  so  Äann  dadurch  zwar  der 
frühere  Ertrag  wieder  hergestellt  werden, 
nicht  aber  —  bei  sonst  gleich  bleibenden 
Umständen  —  die  frühere  Gnmdrente ;  denn 
die  Produktionskosten  haben  sich  nunmehr 
dauernd  vergrössert,  bei  gleichem  Preise 
des  Produktes  muss  also  der  Reinertrag  und 
folglich  auch  die  Grundrente  kleiner  sein 
als  früher.  Wenn  die  Wii-tschaft  ausschliess- 
lich mit  selbstgewonnenem  Dünger  betrieben 
wüitle  und  so  der  Bodengehalt  in  dauerndem 
Gleichgewicht  bleiben  könnte,  so  würden 
die  Mehrkosten  nur  dem  Gewinn  aus  einem 
massigen  Zusclilage  zu  dem  umlaufenden 
Kapital  entsprechen.  Werden  aber  die 
Bodenerzeugnisse  aus  dem  Lande  gefuhrt, 
so  ist  ein  solcher  sich  selbst  erhaltender 
Beharrungszustand  nicht  möglich,  es  muss 
notwendig  Dünger  von  aussen  zugeführt 
werden,  und  die  Produktionskosten  steigen 
also»  nicht  nur  um  die  Verzinsung  des  zu- 
sätzlichen Betriebskapitals,  sondern  ausser- 
dem um  den  vollen  Wert  des  Düngers,  der 
ziu*  Erzeugung  des  ausgeführten  Teiles  der 
Produkte  gedient  hat,  und  diese  Mehrkosten 


bleiben   dauernd  bestehen  und  vermindern 
um  ihren  Betrag  die  Grundrente. 

Eine  Erscheinung  von  ungewöhnlicher 
Bedeutung  ist  der  seit  einigen  Jahi'zehnten 
eingetretene  allgemeine  Rückgang  der  land- 
wirtschaftlichen Grundrente  in  sämtlichen 
alten  Kulturländern.  Es  ist  dies  eine  That- 
sache  von  konkret  historischem  Charakter, 
die  in  gleicher  Art  sich  nicht  wiederholen 
kann,  weil  ihre  Ursache,  nämlich  die  Er- 
schliessung grosser  überseeischer  Produk- 
tionsgebiete, besonders  in  den  Vereinigten 
Staaten  und  in  Argentinien,  als  Bezugs- 
queUen  für  den  europäischen  Getreidebedarf 
eine  nur  einmal  erscheinende,  durch  den 
Fortschritt  des  modernen  Transportwesens 
hervoi^rufene  Phase  der  weltwirtschaft- 
lichen Entwickelung  bildet  Im  amerika- 
nischen Westen  kann  jungfräulicher  Boden 
noch  füi"  einen  sehr  niedrigen  Preis,  als 
Heimstättenland  sogar  noch  unentgeltlich 
erworben  werden,  und  dieses  Land  kann 
bei  guter  Qualität  zehn  Jahre  ununterbrochen 
ohne  Brache  und  vielleicht  dreissig  Jahre 
lang  ohne  Düngung  zum  Weizenbau  ver- 
wendet werden.  Obwohl  diesen  Vorteilen 
auch  manche  ungünstige  Faktoren  entgegen- 
wirken, so  würden  die  Produzenten  in 
diesen  Gebieten,  wenn  sie  ihren  Weizen  in 
Europa  zu  dem  früheren  durchschnittlichen 
Normalpreise  verkaufen  könnten,  einen  un- 
gewöhnlichen Gewinn,  also  eine  Grundrente 
erzielen  können,  obwohl  die  Kosten  des 
weiten  Transports  ihnen  zur  Last  fallen. 
Aber  in  Europa  wirkte  diese  neue  Kon- 
kurrenz wieder  wie  eine  Vermehrung  des 
Landes  von  besserer  Qualität;  der  Preis 
des  Weizens  wiuxle  herabgedrückt,  zumal 
auch  noch  der  Mitbewerb  Ostindiens  neu 
hinzutrat,  und  so  wurde  nicht  nur  die 
Grundrente  in  Europa  vermindert  und  die 
Bewirtschaftung  der  geringeren  Bodenklassen 
unrentabel  gemacht,  sondern  auch  der 
amerikanische  Rentengewinn  grösstenteils 
oder  vollständig  gleichsam  schon  im  Keime 
vernichtet.  Dieser  Rückschlag  der  Grund- 
rente, den  Ricardo  schwerlich  in  solcher 
Grösse  und  Dauer  für  möglich  gehalten 
haben  würde,  muss  indes  theoretisch  als 
eine  vorübergehende  Anomalie  gelten.  Auch 
in  den  Agrikulturländern  nimmt  die  Be- 
völkerung allmählich  mehr  und  mehr  zu, 
und  damit  vermindert  sich  die  Ausfuhr- 
fähigkeit derselben,  während  das  Bedürfnis 
der  Industrieländer  nach  Einfuhr  von  Nah- 
rungsmitteln immer  wieder  steigt.  Wenn 
man  also  den  wahrscheinlichen  Verlauf  der 
Dinge  in  einer  längeren  Reihe  von  Jahr- 
zehnten erwägt,  so  wird  man  nur  ein  trotz 
erheblicher  Schwankungen  fortschreitendes 
Steigen  der  landwirtschaftlichen  Grundrente 
erwarten  dürfen,  es  sei  denn,  dass  die  nor- 
male  Entwickelung   der    Bevölkerung    der 


876 


Grundi'ente 


Kulturwelt  durch  grosse  Katastrophen, 
Seuchen  etc.  zum  Stillstande  gebracht 
werde. 

Die  Aenderungen  der  städtischen 
Grundrente  hängen  von  höchst  mannigfal- 
tigen lokalen  Umständen  ab,  und  es  lässt 
sich  daher  wenig  Allgeraeines  darüber  sagen. 
Zunehmende  Bevölkerung  ist  die  erste  Be- 
dingimg für  das  Steigen  der  städtischen 
Grundrente,  und  zwar  ist  es  nicht  immer 
nötig,  dass  sich  unter  den  Zuziehenden 
wohlhabende  Personen  befinden ;  denn  that- 
sächlich  bezahlen  in  vielen  Städten  die  Ar- 
men den  Quadratfuss  ihres  Wohnraumes 
mit  einer  höheren  Miete  als  die  Reichen. 
Abnahme  der  Einwohnerzahl  einer  Stadt, 
mit  der  auch  allgemeiner  wirtschaftlicher 
Niedergang  verbunden  zu  sein  pflegt,  zieht 
natürlich  Vermindenmg  der  Grundrente 
nach  sich.  Dieselbe  unterliegt  aber  auch 
bei  befriedigender  Entwickelung  der  Stadt 
mannigfaltiger  innerer  Verschiebungen.  Die 
Geschäftsviertel  weisen  im  ganzen  ein  noch 
schnelleres  Fortschreiten  der  Gnmdrente 
auf  als  die  meistens  an  der  Peripherie  der 
Stadt  liegenden  imd  daher  einer  leichteren 
Ausdehnung  fähigen  eleganten  Modeviertel. 
In  den  Geschäftsvierteln  sind  aber  in  erster 
Linie  die  Vorteile  des  Absatzes,  nicht 
die  Rücksichten  auf  die  Produktion  für  die 
Gunst  der  Lage  und  die  dadurch  bedingte 
Grundrente  entscheidend.  Hauptsächlich 
kommt  es  also  auf  die  Aussichten  der 
offenen  Ladengeschäfte  an. 

Die  Oertlichkeiten,  wo  sich  regelmässig 
viele  Kaufltistige  einzufinden  pflegen,  bieten 
die  bevorzugten  Verkauf  stellen  dar,  für  die 
oft  enorm  hohe  Mieten  als  Grundrente  be- 
zahlt werden;  so  z.  B.  die  Marktplätze, 
welche  die  zum  Wochenmarkt  kommenden 
Landleute  besuchen  und  die  Hauptverkehrs- 
strassen  in  den  grossen  oder  auch  in  den 
viele  Vergnügungsreisende  anziehenden  klei- 
neren Städten.  Auch  Wirts-  und  Gasthäuser 
finden  hier  die  besten  Geschäftsbedingungen. 
In  manchen  Städten  hat  sich  von  Alters 
her,  zum  Teil  aus  der  Zunftzeit,  auch  die 
Eigentümlichkeit  erhalten,  dass  in  gewissen 
Strassen  oder  Bezirken  vorzugsweise  be- 
stimmte Arten  von  Geschäften,  und  zwar 
auch  Grossbetriebe  angesiedelt  sind,  und  es 
bildet  dann  trotz  der  immittelbaren  Nähe 
der  Konkurrenten  für  ein  Unternehmen  dieser 
Art  einen  Vorteil,  in  dieser  Gegend  seinen 
Sitz  zu  haben,  weü  die  Käufer  sich  immer 
zimächst  hierher  wenden.  Auch  die 
städtischen  hausindustriellen  Produzenten 
suchen  möglichst  in  der  Nähe  der  Läden 
oder  Lager  zu  wohnen,  für  welche  sie  ar- 
beiten. Die  in  den  gn^ssen  und  kleinen 
Betrioben  der  inneren  Stadtteile  beschäftigten 
Arbeiter  suchen  ebenfalls,  wenn  es  irgend 
angeht,  sich  ein  Unterkommen  in  der  Nähe 


ihrer  Arbeitsstätte  zu  verschaffen.  Denn 
das  Wohnen  in  den  Vorstädten  hat  für  sie, 
selbst  bei  der  Benutzung  von  Strassen- 
bahnen,  oft  einen  bedeutenden  Zeitverlust 
und  keineswegs  unerhebliche  Kosten  zur 
Folge.  Bei  den  grossen  Kaufleuten, 
Bankiers  etc.  der  Grossstädte  dagegen  zeigt 
sich  immer  mehr  die  Neigung,  ihre  Woh- 
nung von  dem  Geschäftslokal  zu  trennen 
und  die  erstere  sogar  ganz  ausserhalb  der 
Stadt  zu  legen,  da  sie  die  dadurch  be- 
dingten Opfer  an  Zeit  und  Geld  ohne 
Schwierigkeiten  tragen  können.  So  entsteht 
die  bereits  erwähnte  Erecheinung,  dass  die 
in  den  inneren  Stadtteilen  zusammenge- 
drängten Arbeiter  und  kleinen  Hausgewerbe- 
treibenden häufig  verhältnismässig  die  höchste 
Wohnungsmiete  bezahlen. 

Die  Berg  Werksrente  zeigt  in  ihrer 
Bewegimg  noch  weit  w^eniger  Stetigkeit,  als 
die  landwirtschaftliche  Grundrente  weil  sie 
mit  den  wechselnden  Konjunkturen  der  In- 
dustrie in  immittelbarem  Zusammenhange 
steht.  Für  eine  gegebene  Bevölkenmg  ist 
der  jährliche  Getreidebedarf  in  ziemlich 
engen  Grenzen  bestimmt.  Der  Bedarf  an 
Kohlen  und  Eisen  aber  ist  je  nach  der  all- 
gemeinen wirtschaftlichen  Lage  einer  be- 
deutenden Ausdehnung  oder  Zusammen- 
ziehung fähig,  und  von  den  dadiu'ch  be- 
dingten Preisbewegungen  hängt  die  Rente 
der  betreffenden  Bergwerke  ab.  So  finden 
wir,  dass  bei  einem  westfälischen  Kohlen- 
bergwerk in  15  Jahren  die  Dividende  von 
IV2  bis  19  ®/o  geschwankt  hat.  Im  allge- 
meinen aber  hat  man  bei  jedem  einzelnen 
Bergwerke  mit  gegebenem  Felde  auf  die 
Dauer  eine  Abnahme  mid  endlich  das  vöUige 
Verschwinden  der  Rente  zu  erwarten.  Denn 
auch  abgesehen  davon,  dass  die  Ab- 
schi'eibungen  wegen  des  Substanz  Verlustes 
häufig  nur  auf  ungenauen  Schätzungen  be- 
nihen  und  in  der  günstigen  Periode  dos 
Betriebes  nicht  immer  hoch  genug  ange- 
setzt werden,  wird  der  Betrieb  selbst  in 
der  Regel  wegen  der  zvmehmenden  Tiefe 
der  Gruben,  der  steigenden  Schwierigkeit 
der  Föi*denmg  und  Wasserhaltung  etc.  all- 
mählich immer  teuerer,  und  diese  Mehr- 
kosten gehen  von  der  Rente  ab.  Wenn 
allerdings  die  reichen  und  leicht  abzu- 
bauenden Lager  des  betreffenden  Minerals 
überall  erschöpft  wären,  so  könnte  die  Rente 
einzelner  Gruben  trotz  der  erhöhten  Pro- 
duktionskosten sich  vielleicht  behaupten  oder 
gar  bis  zur  völligen  Erschöpfung  wieder 
zunehmen. 

Bemerkenswert  ist  noch  in  betreff  der 
Bergwerksi*ente,  dass  sie  häufig  mit  yjelu* 
oder  weniger  vollständigen  Monopolbildungen 
in  Zusammenbang  steht.  Die  landwirtschaft- 
lichen Produkte  werden  im  allgemeinen  in 
zu  grosser  Massenliaftigkeit  und  in  zu  vielen 


Gnmdrente 


877 


Einzeliinternehmnngen  erzeugt,  als  dass  eine 
planmässige  gemeinschaftliche  Preisstelliing, 
sei  es  von  Seiten  der  Produzenten  oder  der 
Händler,  mit  nachhaltigem  Erfolge  ausführ- 
bar wäre.  Monopolpreise  kommen  daher 
nur  für  ganz  lokale  Produkte  dieser  Klasse 
(z.  B.  feine  AVeine)  vor.  Der  Bergwerksbe- 
trieb ist  aber  in  der  neueren  Zeit  meistens 
in  der  Hand  einer  verhältnismässig  kleinen 
Zahl  grosser  Gesellschaften  und  Cnternehmer 
koncentriert,  und  es  vnvd  daher  eine  ge- 
meinschaftliche Taktik  zur  Behauptung  oder 
Erhöhung  des  Preises  des  Produktes  mög- 
lich, wodurch  für  die  günstig  stehenden 
Unternehmungen  eine  monopolistische  Steige- 
ning  ihrer  Rente  entstehen  kann.  Gewisse 
Mineralstoffe  werden  überhaupt  an  so 
wenigen  Stellen  und  in  so  massiger  Menge 
gefimden,  dass  die  ganze  Produktion  von 
einem  oder  wenigen  mächtigen  Kapitalisten 
behen'scht  werden  kann.  So  besass  das 
Londoner  Haus  Rothschild  längere  Zeit 
durch  Vereinbarung  mit  den  staatlichen 
Bergwerken  von  Ümaden  und  Idria  ein 
förmliches  Monopol  für  Quecksilber.  Auch 
das  Zinn  ist  ein  im  monopolistischen  Sinne 
»leicht  zu  handhabender  Artikel«,  wie  ein 
grosser  Londoner  Spekulant  sagte.  Eine 
Monopolisierung  des  Kupfers  wunle  bekannt- 
lich im  Jahre  1887  und  1888  mit  vorüber- 
gehendem Erfolge  versucht,  und  die  damalige 
bedeutende  Preissteigerung  desselben  kam 
keineswegs  bloss  dem  spekulierenden  Syn- 
dikat zu  gute,  sondern  trieb  auch  die  Rente 
der  guten  Kupferbergwerke  während  einiger 
Jahre  bedeutend  empor.  Nur  bei  den  als 
allgemein  anerkannte  Geldstoffe  dienenden 
Edelmetallen,  also  eigentlich  gegenwärtig 
nur  noch  bei  dem  Golde,  ist  trotz  der  kleinen 
Menge  der  jährlichen  Gesamtpi-oduktion  keine 
monopolistische  Beeinflussung  dos  Verkehrs- 
wertes möglich,  weil  eben  die  Jahrespro- 
duktion im  Vergleich  zu  der  als  Geld  im 
Verkehre  befindlichen  Masse  des  Metalls 
nur  gering  ist  und  daher  eine  Zurückhaltung 
des  neugewonnenen  Goldes  keine  merkliche 
Werterhöhung  desselben  bewirken  könnte. 
Im  übrigen  zeigt  sich  bei  der  Goldproduktion 
in  den  nebeneinander  bestehenden  Betrieben 
die  längste  und  mannigfaltigste  Reihe  der 
Abstufungen  der  Bergwerksrente,  von  den 
zahlreichen  mit  Zubusse  arbeitenden  Gruben 
Amerikas  imd  Australiens  bis  zu  der  Morgan- 
Mine  in  Queensland  und  anderen  Gruben, 
aus  denen  mit  geringen  Kosten  enorme 
Schätze  gehoben  wurden.  Freilich  sind  diese 
reichen  Erträge  im  allgemeinen  •  rasch  vor- 
übergehende Erecheinungen :  aber  auch  wenn 
eine  solche  Bonanza-Mine  völlig  erschöpft 
ist,  bleibt  das  kolossale  üebergewicht  des 
Gesamtertrages  über  die  Gesamtkosten  mit 
Einschluss  des  üblichen  Gewinnes  von  dem 
wirklich  verwendeten  Kapital  als  Mass  der 


hier  entstandenen  GKnindrente  bestehen,  was 
freilich  nicht  ausschliesst,  dass  die  letzten 
Aktionäre,  die  ihre  Anteile  vielleicht  zu 
hohen  Preisen  gekauft  haben,  nicht  nur 
keinen  Anteil  an  diesem  Rentengewinn  er- 
halten, sondern  bedeutenden  Verlust  er- 
leiden. 

2.  Die  Kapitalisierung  und  die  privat- 
wirtschaftliche  Ausgleichnng  der  G. 
Da  der  Eigentümer  eines  Grundstückes  durch 
die  von  diesem,  sei  es  bei  Selbstbewirt- 
schaftung, sei  es  bei  Verpac^htung,  abge- 
worfene Grundreute  ein  Einkommen  erliält, 
so  lässt  sich  auch  stets  für  diese  Rente  ein 
Kapital  wert  bestimmen,  mit  welchem  sie 
in  den  gegenwärtigen  Gesamtwert  des  Ver- 
mögens des  Besitzers  eingeht  Die  Art 
der  Berechnung  dieses  Kapitalwertes  wird 
natürlich  von  den  wahrscheinlichen  Aus- 
sichten auf  künftige  Erhöhung  oder  Er- 
niedrigimg des  jährlichen  Rentenbetrags 
abhängen.  Nimmt  man  den  letzteren  als 
dauernd  konstant  an,  so  wird  der  Kapitali- 
sierungsfaktor mindestens  dem  Zinsfusse 
entsprechen,  der  bei  den  allersichersten 
Kapitalanlagen  üblich  ist,  häufig  sogar  noch 
darüber  hinausgehen,  wenn  z.  B.  das  mit 
einem  Gnind besitz  verbundene  Ansehen  und 
andere  nicht  wirtschaftliche,  aber  doch  all- 
gemein anerkannte  Vorteile  neben  der  in 
Geld  einziehbaren  Gnmdrente  mit  in  An- 
schlag gebracht  werden.  Darf  man  auf  ein 
künftiges  Steigen  der  Grundrente  rechnen, 
so  wird  man  den  Kapitalisienmgsfaktor 
schätzunpweise  entsprechend  höher  an- 
setzen; ist  Abnahme  und  schliesslich  Ver- 
schwinden der  Rente  zu  erwarten,  so  muss 
bei  rationeller  Wirtschaft  von  ihrem  Betrage 
jährlich  soviel  abgezogen  und  ziu^ckgelegt 
werden,  dass  aus  diesen  Amortisationsciuoten 
und  ihren  Zinsen  beim  Aufhören  der  Rente 
der  ursprüngliche  Kapital  wert  derselben 
wieder  hergestellt  wird.  —  Das  Rente 
bringende  Grundstück  ist  also  vom  privat- 
wirtschaftlichen Standpunkte  einfach  ein  Teil 
des  Kapitalvermögens,  der  sich  von 
dem  übrigen  Kapital  in  seiner  privatwirt- 
schaftlichen Eigenschaft  nicht  wesentlich 
unterscheidet,  besonders  wenn  auch  der 
Verkehr  mit  Grundstücken  von  den  ihn 
früher  vielfach  hemmenden  Fesseln  befreit 
ist.  Wird  das  Grundstück  wirklich  ver- 
kauft, so  mag  freilich  der  vom  Eigentümer 
geschätzte  Kapitalwert  desselben  nicht  imnier 
realisiert  werden,  zuweilen  aber  auch  eine 
Ceberschreitung  desselben  sich  ergeben.  Es 
kommt  hier  einerseits  auf  die  Verscliieden- 
heit  der  subjektiven  Schätzung  der  Zu- 
kunftsaussichten, andererseits  aber  auf  das 
mehr  oder  weniger  dringende  Bedürfnis  der 
Verkäufer  nach  gegenwärtig  flüssigem  Ka- 
pital an,  da  sich  nach  diesem  Bedürfnis 
der   Zinsfuss   bemisst,    nach   welchem   die 


878 


Grundrente 


Zukunftswerte  auf  die  Gegenwart  diskontiert 
werden.  Bei  Expropriationen  hat  der  Eigen- 
tümer berechtigten  Anspruch  auf  vollen  Er- 
satz des  gegenwärtigen  Wertes  der  wahr- 
scheinlichen künftigen  Werterhöhung  des 
Grundstücks.  Die  Ausfiihrung  des  von 
Gossen  aufgestellten  Plans  einer  allgemeinen 
Verstaatlichung  des  Grundeigentums,  nach 
welchem  die  Amortisierung  des  Kaufpreises 
durch  die  weitere  Steigerung  der  Grund- 
rente gedeckt  werden  soll,  würde  daher, 
wie  schon  Walras  bemerkt  hat,  keineswegs 
mit  einer  den  heutigen  privatrechtlichen 
Anschauungen  entsprechenden  vollstän- 
digen Entschädigimg  der  Grundeigentümer 
verbunden  sein  können. 

Wenn  nun  der  ursprüngliche  Besitzer 
eines  Kente  einbringenden  Grundstückes 
dieses  für  einen  Preis  verkauft  hat,  der 
ausser  dem  übrigen  Werte  desselben  (wegen 
der  Meliorationen,  Gebäulichkeiten  etc.)  auch 
den  vollen  Kapitalwert  der  Grundrente  ein- 
schiesst,  so  wird  diese  letztere  in  dem  Ein- 
kommen und  Vermögea  des  neuen  Besitzers 
vollständig  aufgewogen  dm-ch  den  Zins- 
verlust, den  er  infolge  der  Hingabe  des 
betreffenden  Kapitalteiles  erleidet  Wenn 
andererseits  der  Verkäufer  die  als  kapitali- 
sierte Grundrente  empfangene  Summe  ver- 
schwendet oder  auf  andere  Art  verliert,  so 
hat  schliesslich  niemand  mehr  in  privat- 
wirtschaftlichem Sinne  einen  erkennbaren 
Vorteil  von  dieser  Grundrente.  Dennoch 
besteht  dieselbe  im  volkswirtschaftiichen 
Sinne  unverändert  fort,  sofern  die  objektiv 
vorhandene  besondere  Tauglichkeit  eines 
Grundstücks  für  eine  gewisse  Art  der  Pro- 
duktion oder  des  Verkehrs  nach  wie  vor 
ihre  Wirkung  ausübt.  Aber  auch  privat- 
wirtschaftlich fällt  die  Grundrente  dem 
neuen  Besitzer  wirklich  zu,  nur  wird  seine 
Vermögenslage  dadurch  nicht  verbessert, 
weil  er  sie  eben  nach  ihrem  vollen  Werte 
bezahlt  hat.  Das  Verhältnis  ist  im  wesent- 
lichen das  gleiche,  wenn  der  ursprüngliche 
Besitzer  eine  Schuld  aufnimmt,  deren  Ver- 
zinsung die  Gnindrente  verzehrt ;  die  letztere 
bleibt  dann  allerdings  äusserlich  erkennbai- 
in  der  jährlichen  Zinszahlung  an  den  Gläu- 
biger, doch  hat  aiich  dieser,  wenn  das  dar- 
geliehene Kapital  dem  wirklichen  Werte  der 
Kente  entspricht,  keine  Verraögensverbesse- 
nmg  erlangt.  Privalwirtschaftliche  Kapital- 
gewinne durch  neue  Entstehung  von  Grund- 
renten unter  den  Händen  eines  Besitzers 
kommen  bei  dem  landwirtschaftlichen  Boden 
in  den  alten  Kulturländern  fast  nur  noch 
in  dem  Falle  vor,  wenn  das  Land  viele 
Jahrzehnte  hindurch  sich  in  derselben 
Familie  vererbt.  Beim  Bergbau  finden 
rentenerzeugende  neue  Aufsclüüsse  imd 
Entdeckungen  auch  in  den  alten  Ländern 
noch  immer  statt:  man  denke  z.  B.  an  den 


Stassfurter  Bezirk.    Gewöhnlich  aber  werdea 
solche  neuen  Bergwerksanlagen   als  Grün- 
dungsobjekte   an     Aktiengesellschaften    zu 
einem  Preise   übertragen,    durch   den   die 
Grundrente     gänzlich    ausgeglichen     wird. 
Weitaus  am  häufigsten  aber  findet  sich  die 
rasche  Entstehung  von  Glücksrenten  in  den 
grossen  Städten,   wo  dann   die  Baustellen 
einen    oft    enormen    Kapitalwert    erhalten. 
Aber  hier  findet  auch  meistens  ein  rascher 
Besitzwechsel   der   Bauplätze    und   Häuser 
statt,  und  wenn  diese  in  feste  Hände  ge- 
langen, so  bringt  die  Miete  dem  Eigentümer 
meistens   nur  noch   den  normalen   Gewinn 
aus  dem  als  Kaufpreis  angelegtrin  Kapital 
ein.     üeberhaupt  tritt  die  Grundrente  unter 
den    heutigen   Verhältnissen    hauptsächlidi 
als  Gegenstand  der  Spekulation  hervor. 
Sie  bildet  für  den  Unternehmungsgeist  ein 
wirksames  Anregungs-  und  Lockmittel,  giebt 
aber  andererseits  nicht  selten  Veranlassung 
zu  Missbräuchen  und  Schwindel    Im  ganzen 
aber  geht  in  der  modernen  Volkswirtschaft 
die  Tendenz  dahin,  dass  die  natürlichen  Vor- 
züge der  Beschaffenheit,  des  Inhalts  oder 
der  Lage  der  Preduktionsstätten  durch  einen 
entsprechend  grösseren  Kapitalansclüag  aus- 
geghchen  werden,  so  dass  schliesslich  die 
einzelnen  Unternehmer  trotz  der  natürlichen 
Verschiedenheit  ihrer  wirtschaftlichen  Lage 
doch  annähernd  denselben  verliältnismässigen 
Gewinn  aus  dem  von  ihnen  angelegten 
Kapital    erzielen.      Dabei     betrachten    sie 
meistens   den   für  den  Boden  als  solchen 
bezahlten    Preis    ebenfalls    als    eigentliche 
Kapitalanlage,  erwarten  also  von  demselben 
nicht  bloss  den  einfachen  Zins,  sondern  den 
normalen  Kapitalgewinn,  was  insoweit  be- 
rechtigt ist,  als  die  Grundrente  unter  den 
heutigen  Verhältnissen  erheblichen  Schwan- 
kungen und  Rückschlägen  unterworfen,  das 
für    den    Boden    verausgabte    Kapital   also 
einem  entsprechenden  Risiko  ausgesetzt  ist. 
Daher  der  so  häufige  Fall,  dass  der  Käufer 
eines  Landgutes  nur  einen  massigen  Bnich- 
teü  des  Preises  bezahlt  und  den  Rest  als 
Hypothekenschuld   stehen   lässt,   indem   er 
erwartete,  dass  ihm  auch  dieser  Kapitalteil 
einen    Ueberschuss    über   die   von   ihm   zu 
bezalilenden  Zinsen  einbringen  werde.   Unter 
den  heutigen  Verhältnissen,  bei  rückläufiger 
Bewegung  der  landwirtschaftlichen  Grund- 
rente in  den  alten  Ländern,  erweist  sich 
diese   Rechnung    freilich   oft    als    ein    ver- 
hängnisvoller Irrtum.     Doch   wenlen   auch 
jetzt  noch  Bauernstellen  und  Landparzellen 
zu  Preisen  gekauft,  bei  denen  das  ani2:elegte 
Kapital  nicht  einmal  den  für  die  sichersten 
Anlagen   geltenden    Zinsfuss   abwirft,   weil 
die    kleinen    Bauern    in    dem    Grundbesitz 
hauptsächlich    ein    Mittel    zur   Verwertung 
ihrer  Arbeitskraft  sehen  imd,  wie  Brentano 
hervorhebt,    überhaupt   nicht    kapitalistisch 


Grundrente 


879 


rechnen.  Auch  weist  Brentano  darauf  hin, 
dass  sich  bei  der  mittelalterlichen  Agrar- 
verfassung  und  der  damaligen  Verschieden- 
heit der  Standesrechte  die  der  Grundrente 
entsprechenden  Abgaben  und  Dienste  nach 
anderen  Gnmdsätzen  bestimmten  als  die 
heutige  kapitalistische  Pachtrente,  die  übri- 
gens ja  normaler  Weise  immer  grosser  ist 
als  die  eigentliche  Grundrente.  Indes 
hätte  man  auch  unter  den  mittelalterlichen 
Verhältnissen  eine  von  der  wirklichen 
Leistung  des  Landbebauers  unabhängige, 
auf  der  verschiedenen  Beschaffenheit  und 
Lage  der  Gnmdstücke  beruhende,  gewisser- 
massen  objektive  Grundrente  theoretisch 
aussondern  können. 

Die  Vorstellung  der  Verstaatlichung  des 
gesamten  Bodens  eines  Landes,  obwohl 
praktisch  bedeutungslos,  ist  immerhin  ge- 
eignet, das  Wesen  der  Grundrente  näher  zu 
beleuchten.  Wenn  ein  grosser  Unternehmer 
mehrere  Betriebe  von  verschiedener  Renta- 
bilität unterhält,  so  kann  er  zwar  buch- 
mässig  den  Grundrentenertrag  eines  jeden 
einzelnen  besonders  feststellen,  aber  für  sein 
Gesamteinkommen  und  seine  gesamte  privat- 
wirtschaftliche Vermögenslage  besteht  ^enau 
dasselbe  Verhältnis,  als  wenn  jeder  Emzel- 
betrieb  eine  gleiche  Rente  von  einem  mitt- 
leren Betrage  ergäbe.  Beispiele  dieser  Art 
im  grössten  Massstabe  haben  wir  in  den 
modernen  Staatsbahnsystemen,  wenn  wir 
hier  davon  absehen,  dass  sich  die  Vorzugs- 
renten der  Eisenbahnen  nicht  vollständig 
auf  Gnmdrenten  im  eigentlichen  Sinne  zu- 
rückführen lassen.  Miänche  Linien  eines 
solchen  Systems  würden  für  sich  allein  be- 
trieben  eine  ungewöhnlich  hohe  Rente  über 
den  normalen  Eapitalgewinn  hinaus  ab- 
werfen, während  andere  vielleicht  nicht  ein- 
mal die  Betriebskosten  decken  würden. 
Nehmen  wir  aber  an,  dass  auch  die  am 
wenigsten  ergiebigen  Linien  noch  die  Ver- 
zinsung und  Amortisation  des  in  ihnen  an- 
gelegten Kapitals  einbringen,  so  wtlrde  der 
Staat  von  seinem  ganzen  Betriebe  noch 
einen  üeberschuss  erzielen,  der  den  Cha- 
rakter einer  Gnindrente  trüge  und  der  bei 
zersplittertem  Privatbetriebe  sich  auf  die 
Aktionäre  der  besonders  vorteilhaften  Linien 
verteilen  würde.  Der  Staat  aber  wäre,  we- 
nigstens theoretisch,  imstande,  auf  diesen 
Rentengewinn  zu  vernichten  und  daher  durch 
allgemeine  Herabsetzung  der  Tarife  der 
Gesamtheit  einen  wirtschaftlichen  Vorteil 
zuzuwenden,  wobei  dann  die  §phlechten 
Linien  thatsächlich  Zuschüsse  erfordern 
würden.  In  ähnlicher  Weise  könnte,  wenn 
wir  das  Phantasiebild  der  Bodenverstaat- 
lichung gelten  lassen,  theoretisch  diurch 
Abschneidung  der  Grundrente  eine  Herab- 
setzimg des  Preises  der  landwirtschaftlichen 
Prorlukte  erfolgen,  unter  der  Voraussetzung, 


dass  der  Staat  selbst  die  ganze  Landwirt- 
schaft als  ein  einziges  Riesenunternehmen 
betriebe  und  nicht  etwa  die  einzelnen  Güter 
verpachte.     Im  letzteren  Falle  müsste  der 
Preis  so  hoch  bleiben,  dass  auch  die  Päch- 
ter der  unter  den  ungünstigsten  Bedingungen 
stehenden  Ländereien    noch   den  normden 
Gewinn  aus  ihrem  Betriebskapital  erzielen 
könnten,    und   dadurch   würde  ja   für  die 
besseren    Grundstücke    eine    Vorzugsrente 
entstehen,  gleichviel,  ob  diese  den  Pächtern 
bliebe    oder   etwa    durch   eine    besondere. 
Steuer  vom  Staate  eingezogen  würde.    Bei 
der  ersteren  Annahme  aber  würde  der  Staat 
als  einziger  selbständiger  Unternehmer  die 
Preise  des  Getreides,  des  Fleisches  etc.  so 
weit  herabsetzen  können,  dass  er  im  ganzen 
nur  die  Verzinsung  und  Amortisation  seines 
angelegten   Kapitals    erhielte;    das   Deficit, 
das  sich  bei  diesen  Preisen  aus  der  Bewirt- 
schaftung der  untersten  Klassen  der  Län- 
dereien ergeben  müsste,  würde  durch  die 
bei  den  besseren  Klassen  noch  bleibenden 
Ueberschüsse  ausgeglichen.    Wenn  freilich 
der  Staat  bei  der  Expropriation  des  Grund- 
besitzes  den  Kapitalwei*t   der    Grundrente 
herausgezahlt   hätte,    so  wäre    sein    neues 
Eigentum  so  schwer  belastet,  dass  er  erst 
nach  Tilgung  eines  bedeutenden  Teiles  seiner 
Schuld  zu  einer  Erniedrigung  des  Preises 
seiner  Erzeugnisse  übergehen  könnte.    Setzt 
man  aber  in  dieser  idealen  Staatswirtschaft 
lediglich  die  bei  der  Behandlung  der  Grund- 
rententheorie in  den  Einzelwirtschaften  an- 
genommenen Verhältnisse  voraus,  so  kommt 
für   sie    nur  das   Kapital    im    eigentlichen 
Sinne  (Meliorationskapital,  Gebäulichkeiten, 
Inventar,  umlaufendes  Kapital)  in  Rechnung, 
und  es  erscheint  also  dann  als  theoretisch 
möglich,  den  Gesamtpreis  der  Produkte  um 
den  vollen  Betrag  der  bei  Privateigentum 
bestehenden  Grundrente  zu  vermindern.   Der 
Satz,  dass  die  Grundrente  keinen  Bestand- 
teil des  Preises  der  Bodenprodukte   bilde, 
dass  dieser  Preis  vielmehr  sich  unabhängig 
von  der  Gnindrente  bestimme  und  seiner- 
seits  erst   die   Grundrente   hervorrufe,    ist 
also   theoretisch  (und  zwar  nur  mit   einer 
unten  noch  zu  erwähnenden  Beschränkung) 
nur  für  die  bestehende  Wirtschaftsordnung 
mit  privatem  Gnmdeigentum   richtig,   wie 
dies  auch  Röscher  nach  ümpfenbach  nervor- 
hebt,  und  man  darf  daneben  den  Satz  auf- 
stellen,  dass   infolge   dieser   Ordnung   der 
Gtesamtpreis    der    Boden  produkte    um    den 
Gesamtbetrag  der  Grundrente  höher  steht, 
als    er   sich  theoretisch   in    einem   idealen 
einheitiichen  Betriebe  stellen  könnte,  in  dem 
im  übrigen   die  Verwendung   von   Kapital 
und  Arbeit  imgeändert  bliebe. 

3.  Das  monopolistische  Element  in 
der  G.  Dies  führt  zu  der  Frage,  wie  weit 
die  Grundrente  auf  einer  Monopol  Wirkung. 


880 


Grundrente 


beruhe,  die  durch  die  ausschliessliche  An- 
eignung eines  nur  in  beschränktem  Masse 
vorhandenen  Produktionsfaktors  entstehen 
kann.  Wenn  gewisse  von  vielen  begehrte 
Erzeugnisse  nur  an  einer  einzigen  Stelle 
gewonnen  werden  können,  wie  besonders 
feine  Weinsorten  oder  besonders  wirksame 
Mineralwasser,  so  gehen  die  Besitzer  dieser 
Produktionsstellen  ohne  Zweifel  mit  ihrem 
Preise  so  hoch,  dass  sie  bei  noch  weiterer 
Steigerung  durch  die  Abnahme  des  Ab- 
satzes mehr  verlieren  als  gewinnen  w^iirden, 
d.  h.  sie  stellen  Monopolpreise  und  erhalten 
in  diesen  eine  mehr  oder  weniger  bedeutende 
Grundrente.  Der  Kapitalwert  dieser  Grund- 
rente bildet  offenbar,  wenn  wir  von  der 
etwaigen  Ausfuhr  des  Produktes  absehen, 
keine  objektive  Yermehrung  des  National- 
reichtmns,  sondern  ihm  entspricht  eine  Be- 
lastung der  Konsumenten,  die  in  dem  Mo- 
nopolaufschlage des  Preises  ebensoviel  ver- 
lieren, als  der  Monopolinhaber  an  unge- 
wöhnlichem Gewinn  erhält.  Dasselbe  gilt 
von  dem  Werte  der  aussergewöhnlich 
günstig  gelegenen  Baustellen  in  grossen 
Städten,  da  die  hohe  Grundrente,  die  der 
Eigentümer  der  auf  solchen  gebauten  Häu- 
ser bezieht,  durch  eine  ungewöhnlich  hohe 
Belastung  der  Mieter  entsteht.  Die  Mieter 
halten  sich  wieder  als  Geschäftsleute  häufig 
durch  hohe  Preise  ihrer  Waren,  also  eben- 
falls auf  Kosten  des  Publikums  schadlos, 
in  vielen  Fällen  aber  ermöglicht  die  güns- 
tigere Lage  einen  rascheren  Umsatz  und 
dadurch  einen  gi*üsseren  Gew^inn  ohne  Er- 
höhimg der  Wai'en preise  im  Vergleich  mit 
anderen  ähnlichen  Geschäften.  Die  Vor- 
zugsrente für  den  Grundbesitzer  bleibt  je- 
doch auch  dann  ebenso  bestehen  wie  bei 
einem  besonders  fruchtbaren  Grundstücke : 
Denn  wenn  beliebig  viele  Geschäfte  in 
gleich  günstiger  Lage  gegründet  werden 
könnten,  so  würde  deren  Konkurrenz  den 
Warenpreis  soweit  herabdrücken,  dass  nur 
der  normale  Kapitalgewinn  übrig  bliebe. 
Bei  den  für  den  gewöhnlichen  Landwirt- 
schaftsbetrieb benutzten  Grundstücken  kann 
unter  den  heutigen  Verhältnissen  noch  nicht 
von  dauernden  eigentUchen  Monopolen  die 
Rede  sein,  weil  noch  immer  neue  Konkur- 
renz durch  die  Erleichterung  des  Transports 
aus  fernen  Ländern  hinzutreten  und  die  von 
den  begünstigten  Grundstücken  erreichte 
Kente  wieder  herabdrücken  kann ;  immerhin 
aber  wird  bei  fortwährend  zunehmender 
Bevölkerung  die  Nachfrage  schliesslich 
stärker  wachsen  als  das  Angebot  der  zu 
der  gegebenen  Zeit  bestehenden  Betriebe, 
deren  Zahl  wegen  der  Beschränktheit  des 
guten  und  günstig  gelegenen  Bodens  in 
jedem  Ijande  niu*  durch  solche  vermehrt 
w^erden  kann,  die  unter  ungünstigeren  Be- 
dingimgen  arbeiten.    Zunächst  können  dann 


die  bestehenden  Unternehmungen  eine  Mo- 
nopolstellung ausnutzen  und  den  Preis  ihrer 
Erzeugnisse  erhöhen;  bei  einem  gewissen 
Punkte  wird  jedoch  dieser  Bewegung  Halt 
geboten,  indem  nunmehr  eine  neue,  weniger 
günstig  gestellte  Konkurrenz  eintritt  und 
das  Gleichgewicht  zwischen  Angebot  und 
Nachfrage  bis  auf  weiteres  herstellt.  Jene 
Preissteigerung  aber,  die  eine  Erhöhung  der 
Grundrente  für  die  bevorzugten  Be&ebe 
erzeugt  hat,  ist  keineswegs  einfach  automa- 
tisch, bei  völlig  passivem  Verhalten  der  be- 
günstigten Produzenten,  sondern  unter  eif- 
riger Mitwirkung  dieser  letzteren  entstanden, 
die  den  Preis  so  hoch  wie  irgend  möglich 
emi)orzubringen  suchten..  Nicht  selten  ent- 
steht übrigens  der  Kapitalvermögenswert 
eines  Grundstückes  nicht  durch  Kapitali- 
sierung eines  bereits  vorliandenen  Renten- 
ertrages, sondern  unmittelbar  durch  die 
Schätzung  eines  erst  zu  erwartenden 
Nutzungsw^ertes  mit  Berücksichtigung  der 
Seltenheit  gleichartiger  oder  gleichgelegener 
Grundstücke,  also  eines  relativen  Monopol- 
verhältnisses. Daher  haben  in  dicht  bevöl- 
kerten Ländern  auch  die  gänzlich  unbe- 
nutzten und  für  jetzt  noch  gänzlich  un- 
brauchbaren Grundstücke  einen  Preis, 
weil  sie  möglicherweise  in  der  Zukunft 
einmal  auf  irgend  eine  Art  nutzbar  ver- 
w^endet  werden  können.  Von  den  möglichen 
Monopolen  im  Bergwerksbetrieb  ist  schon 
oben  die  Rede  gewesen.  —  Ein  relativ 
monopolistisches  Element  ist  also  ohne 
Zweifel  bei  der  Entstehung  der  Grundrente 
mit  wirksam,  und  wenn,  sie  den  Nominal- 
betrag des  Nationaleinkommens  erhöht,  so 
erzeugt  sie  doch  objektiv  nm*  eine  Aende- 
rung  der  Güterverteüung  zu  Gunsten  der 
Renteninhaber  auf  Kosten  der  höhere  Preise 
bezahlenden  Konsumenten.  Aber  die  Preis- 
bildung nach  den  Kosten  unter  den  un- 
günstigsten Bedingungen,  unter  denen  zur 
Befriedigimg  des  Bedarfs  noch  produziert 
werden  muss,  ist  nun  einmal  unabänderlich, 
wenn  Grund  und  Boden  im  Privateigentum 
stehen,  und  demnach  lässt  sich  zur  Recht- 
fertigung der  Grundrente  alles  das  geltend 
machen,  was  für  das  private  Grundeigentum 
spricht.  In  neuen,  noch  nicht  vollständig 
der  Kultur  unterworfenen  Ländern  spielt 
auch  die  landw^irtschaftliche  Gnmdjrente 
noch  eine  bedeutende  Rolle  als  Reizmittel 
für  die  wirtschaftliche  Energie  imd  Unter- 
nehmungslust. Wer  aber  an  dem  monopo- 
listischen Element  der  Grundrente  Anstoss 
nimmt,  mag  die  bereits  erwähnte  That- 
sache  erwägen,  dass  die  positiven  privat- 
wirtschaftlichen Monopolgewinne  in  der 
Regel  nur  als  vorübergehende  Erscheinungen 
auftreten  imd  die  Grundstücke  mehr  oder 
weniger  rasch  in  die  Hände  von  Eigen- 
tümern gelangen,  die  wegen  des  bezahlten 


Grundrente 


881 


hohen  Preises  privatwirtschaftlich  von  dem 
monopolistischen  Element  der  Grundrente 
keinen  Vorteil  mehr  haben.  Nimmt  die 
Grundrente  im  Laufe  der  Zeit  stärker  zu, 
als  bei  dem  Verkauf  des  Grundstückes  ver- 
mutet worden  ist,  so  fällt  dieses  Mehr 
allerdings  dem  Erwerber  als  eigentlicher 
Rentengewinn  zu,  mid  erst  bei  der  folgen- 
den Veräusserung  wird  dem  neuen  Käufer 
durch  den  höheren  Preis,  den  er  filr  das 
Grundstück  zu  bezahlen  hat,  dieser  Mehr- 
gewinn privatwirtschaftlich  wieder  entzogen. 
Bei  dieser  privatwirtschaftHchen  Ausglei- 
chung der  Grundrente  bleibt  aber  als  volks- 
wirtschaftliche Wirkung  derselben  bestehen, 
dass  für  die  unter  günstigeren  Bedingungen 
produzierten  Güter  trotz  der  geringeren 
Erzeugungskosten  derselbe  Preis  gezalüt 
werden  muss  wie  für  die  gleichartigen 
Produkte,  die  unter  den  ungünstigsten  Be- 
dingungen und  mit  den  höchsten  Kosten 
hergestellt  worden  sind.  Ob  die  die  Grund- 
rente erhöhende  Preissteigerung  der  Boden- 
produkte und  der  Wohnungen  eine  Herab- 
drückung  der  Lebenshaltung  der  Arbeiter 
nach  sich  zieht  oder  ob  diese  durch  eine 
Lohnerhöhung  vermieden,  dafür  aber  der 
Kapitalgewinn  um  diesen  Lohnzuschlag  ver- 
mindert wird,  hängt  von  dem  jeweiligen 
ökonomischen  Machtverhältnis  des  Kapitals 
und  der  Arbeit  ab.  Fassen  wir  Kapital 
und  Arbeit  zusammen,  so  wächst  der  Ge- 
samtanteil dieser  beiden  Faktoren  an  dem 
Nationalprodukt  im  allgemeinen  mit  der 
Bevölkerung  und  mit  der  Steigerung 
der  Produktivität  der  Arbeit  durch  Vervoll- 
kommnung der  Technik.  W^ieweit  mm  trotz 
dem  durdi  die  Volksvermehrung  ebenfalls 
bedingten  Wachsen  der  Grundrente  sich 
noch  eine  Zunahme  dieses  Gesamtanteils 
von  Kapital  und  Arbeit  ergiebt,  hängt  von 
den  konkreten  geschichtlichen  und  natür- 
lichen Verhältnissen  der  einzelnen  Länder 
ab  und  lässt  sich  nicht  auf  einen  allgemein- 
giltigen  Ausdruck  bringen.  Malthus  be- 
hauptet, dass  die  Quote  des  Gesamter- 
trages des  Bodens,  die  als  Grundrente  ab- 
islle^  bei  Ausdehnung  des  Anbaues  immer 
kleiner  werde.  Dieser  Satz  aber  ist,  selbst 
mit  dem  beschränkenden  Zusätze  »wenn 
nicht  durch  ausserordentliche  Verbesserun- 
gen des  Anbaues  im  anderen  Sinne  gewirkt 
wtlrde«,  im  allgemeinen  falsch,  wenn  der 
Preis  der  ganzen  Masse  des  erzeugten  Ge- 
treides nach  und  nach  immer  mehr  steigt 
und  zur  Ernährung  der  Bevölkerung 
schlechtere  Bodenklassen  in  Anbau  genom- 
men werden  müssen.  Jene  Quote  nimmt 
dann  mit  jeder  neuen  absteigenden  Produk- 
tionsstufe mehr  oder  weniger  zu.  Nur  so- 
lange der  Preis  nicht  steigt,  weil  noch 
immer  mehr  Land  der  jeweiligen  letzten 
Bodenklasse    zur   Befriedigimg    der   Nach- 

Handwörterbnch  der  St-aatswissenschaften.    Zweite 


frage  der  wachsenden  Bevölkerung  benutzt 
werden  kann,  nimmt  der  auf  die  Grund- 
rente entfallende  Bruchteil  des  Gesamter- 
trages einigermassen  ab,  weil  dann  auch 
die  absolute  Grösse  der  Grundrentensumme 
nicht  steigt. 

4.  Ueberaicht  der  Entwickelung  der 
Lehre  von  der  G.  Die  Grundrente  beniht 
auf  der  Occupation  eines  in  seiner  gegebe- 
nen Art  in  beschränktem  Masse  vorhande- 
nen natürlichen  Produktionsfaktora ,  der 
Kapitalgewinu  dagegen  auf  der  Verfügung 
über  produzierte  Produktionsmittel,  die, 
praktisch  betrachtet,  in  unbeschränkter 
Menge  hergestellt  werden  können.  Die 
volkswirtschaftliche  Theorie  hat  diesen 
wichtigen  Unterschied  der  beiden  Einkom- 
menszweige schon  in  ihrer  ersten  Ent- 
wickelungsperiode  instinktiv  empfunden, 
aber  dennoch  lange  Zeit  nicht  zu  einem 
klaren  Ausdruck  bringen  können.  Einige 
Keime  des  Rentenprincips  finden  sich,  wie 
Röscher  bemerkt  hat,  schon  bei  Bois- 
guillebert.  Die  Physiokraten  be- 
trachten die  Natur,  insbesondere  den  Boden 
als  den  alleinigen  wirklichen  Produktions- 
faktor; dieser  allein  soll  einen  Ueberschuss 
über  die  Produktionskosten  liefern.  So 
kamen  sie  schon  zu  der  Anschauung,  dass 
die  Gnmdrente  keinen  Bestandteil  des  Ge- 
treidepreises bildet,  wie  deutlich  aus  einigen 
von  Leser  angeführten  Stellen  hen-orgeht. 
Der  Landwirt  hat  nach  physiokratischer 
Anschauung  den  Ueberschuss,  der  ihm  nach 
Abzug  der  Produktionskosten  bleibt,  an  den 
Grundeigentümer  für  die  Erlaubnis,  dessen 
Land  zu  benutzen,  abzugeben.  Dabei  wird 
zwischen  der  eigentlichen  Grundrente  und 
dem  Pachtzins  noch  kein  Unterschied  ge- 
macht. Auch  Adam  Smith  setzt  die 
Grundrente  gleich  dem  Pachtzins  und  lässt 
den  Fall  der  Bewirtschaftung  des  Bodens 
durch  den  Eigentümer  selbst  ganz  ausser 
Betracht.  In  Bezug  auf  das  Verhältnis  der 
Grundrente  zum  Preise  drückt  er  sich  im 
6.  Kapitel  des  ersten  Buches  missverständ- 
lich aus,  später  aber  (Kapitel  11)  sagt  er, 
wie  schon  Koscher  hervorgehoben  hat,  mit 
bestinmiten  Worten,  dass  hohe  oder  niedrige 
Rente  die  Wirkung  eines  hohen  oder 
niedrigen  Preises  der  Produkte  sei,  wälirend 
hoher  oder  niedriger  Kapitalgewinn  xmd 
Lohn  die  Ursache  des  hohen  oder  niedri- 
gen Preises  seien.  Dieser  Satz  ist  in  einem 
gewissen  Sinne  richtig,  nur  verdeckt  er, 
wie  schon  oben  angedeutet,  zu  sehr  die 
taktische  Mitw^irkung  der  Besitzer  des  be- 
günstigten Bodens  bei  der  Preissteigerung. 
Dass  die  Nahrungsmittel  überhaupt  einen 
über  die  Produktionskosten  hinausgehenden 
Preis  erlangen  können,  erklärt  Smith  diu-ch 
die  besonders  starke  Nachfrage,  die  für  sie 
im  Vergleich   mit   den   weniger  nichtigen 

Auflage.    IV.  56 


882 


Grundrente 


Waren  bestehe.  Auf  die  Verschiedenheit 
der  Beschaffenheit  und  Lage  des  Bodens 
gegenüber  dem  gleichen  Marktpreise  des 
Produkts  nimmt  er  in  betreff  der  landwirt- 
schaftlichen Produktion  keine  Rücksicht, 
dagegen  hebt  er  die  verschiedene  Ergiebig- 
keit der  Bergwerke  hervor  und  sagt  bei 
dieser  Gelegenheit,  dass  die  reichhaltigste 
Kohlengrube  den  Kohlenpreis  für  alle  an- 
deren Gruben  in  der  Nachbarschaft  be- 
stimme, weil  diese  bei  solcher  Konkurrenz 
nicht  iui  stände  wäre,  zu  einem  höheren 
Preise  zu  verkaufen.  Dieser  Satz  wider- 
spricht zwar  der  Ricardo'schen  Theorie,  ist 
aber  praktisch  häufig  durchaus  zutrefiend, 
weil  nicht  einmal  für  Kohlen  und  Eisen, 
noch  weniger  aber  für  die  übrigen  Berg- 
werkserzeugnisse ein  auch  nur  annähernd 
fest  bestimmter  Bedarf  besteht,  wie  dies 
für  die  landwirtschaftlichen  Erzeugnisse  bei 
gegebener  Bevölkerung  der  Fall  ist,  imd 
weil  andererseits  die  reichen  Bergwerke 
weit  mehr  als  die  landwirtschaftlichen  Be- 
triebe imstande  sind,  ihre  Produktion  rasch 
auszudehnen.  Für  sie  kann  es  daher  unter 
Umständen  lohnend  sein,  durch  billiges  An- 
gebot die  schwächeren  Konkurrenten  zu 
verdrängen,  um  später  aus  einer  wenigstens 
zeitweihgen  Monopolstellung  einen  desto 
grösseren  Gewinn  zu  ziehen.  Durch  Ver- 
einigung mehrerer  bedeutender  Zechen 
können  solche  Operationen  in  CTOssem  Mass- 
stabe ausgeführt  werden.  —  Der  erste,  der 
die  Rententheorie  in  ihren  wesentlichen 
Punkten  richtig  erkannte,  war  Adam  Smiths 
Zeitgenosse  James  Anderson,  der  in 
mehreren  Schriften  das  Grundprincip  der- 
selben darlegte,  dass  das  auf  Boden  von 
verschiedener  Fruchtbarkeit  erzeugte  Ge- 
treide verschiedene  Produktionskosten  er- 
fordert und  doch  den  gleichen  Marktpreis 
erhält,  und  zwar  denjenigen,  bei  dem  die 
Kultur  auf  dem  unfruchtbarsten  Boden  zur 
Befriedigimg  des  Bedarfs  aufrecht  erhalten 
werden  kann.  Er  sah  in  der  Gnindrente 
einen  nützlichen  Antrieb  zu  Meliorationen, 
durch  die  sie  sich  erhöhen  lasse,  ohne  dass 
der  Getreidepreis  zu  steigen  brauche.  Da- 
bei rechnete  er  aber  den  Gewinn  aus  dem 
Meliorationskapital  mit  zur  Grundrente,  was 
dem  richtigen  Bcgi'iff  derselben  nicht  ent- 
spricht, und  er  nimmt  irrtümlicherweise  an, 
dass  der  Ertrag  der  verschiedenen  Boden- 
klassen durch  Meliorationen  nach  Verhältnis 
ihres  verschiedenen  bereits  vorhandenen  Er- 
trags gesteigert  werde  imd  dass  der  noch 
angebaute  unfnichtbarste  Boden  überhaupt 
nicht  melioriert  werden  könne.  Allerdings 
winl  dieser  infolge  der  Melioration  keine 
Grrundrente  abwerfen,  aber  er  kann  bei  dem 
gegebenen  Preise  der  Einheit  des  Produktes 
durch  Vermehrung  der  Menge  desselben 
den  normalen  Gewinn  aus  dem  Meliorations- 


kapital liefern.  Andersons  theoretische  An- 
sichten wurden  wenig  beachtet,  weil  er  sie 
nur  gelegentiich  bei  der  Erörterung  prak- 
tischer agrarpolitischer  Fragen  vorbrachte. 
So  vergingen  fast  40  Jahre,  bis  die  richtigen 
Anschauungen  über  die  Grundrente  sich 
endlich  Bahn  brachen.  Es  geschah  dies 
zuerst  diu-ch  die  im  Jahre  1815  erschiene- 
nen Schriften  von  Torrens,  John  West  und 
Malthus.  Insbesondere  ist  es  Malthus, 
wie  Leser  nachgewiesen  hat,  der  in  der 
Broschüre  Jnquiry  into  the  nature  and  pro- 
gress  of  rent  die  Grundrententiieorie  in 
ihrer  klassischen  Form  vollständig  zum  Ab- 
schluss  gebracht  hat.  Ricardo  hat  dies 
in  seiner  (ebenfalls  noch  1815  erschienenen) 
Schrift  über  den  Einfluss  der  niedrigen 
Kompreise  auf  den  Kapitalgewinn  auch  aus- 
drücklich anerkannt  und  in  seinen  Principles 
of  political  economy  in  keiner  Weise  be- 
stritten. Wenn  gleichwohl  die  Theorie  all- 
gemein nach  ihm  benannt  worden  ist,  so 
rührt  dies  wohl  hauptsächlich  daher,  dass 
er  sie  in  eleganter  Fassung  an  ihrem  rech- 
ten Platze  in  seine  mit  Recht  bewunderte 
abstrakte  Volkswirtschaftstheorie  eingefügt 
hat.  Ergänzt  hat  er  sie  in  Bezug  auf  die 
Bergwerksrente,  da  Malthus  seinem  Zwecke 
gemäss  nur  die  landwirtschaftliche  Grund- 
rente im  Auge  hatte.  In  Deutschland  er- 
hielt die  Grundi-ententheorie  eine  wesent- 
liche Förderung  diu*ch  J.  fl.  v.  Thünen, 
der  im  genauen  Anschluss  an  die  thatsäeh- 
lichen  Verh^tnisse  der  Landwirtschaft, 
unter  Berücksichtigung  der  Lage  und  der 
Beschaffenheit  der  Grundstücke,  der  Be- 
triebsart und  des  Bedarfs  der  Bevölkerung, 
also  gewissermassen  auf  induktivem  Wege, 
wenn  auch  auf  Grund  der  Fiktion  des 
isolierten  Staates,  die  Lehren  der  abstrakten 
englischen  Schule  bestätigte.  Im  Gegen- 
satze zu  dieser  nimmt  er  jedoch  an,  dass 
auch  die  unterste  noch  angebaute  Boden- 
klasse noch  Grundrente  und  nicht  bloss 
Kapitalgewinn  abwerfe,  eine  Ansicht,  die 
auch  Röscher  und  andere  teilen.  Wenn 
man  indes  die  bei  Ricardo  selbstverständ- 
liche Voraussetzung  annimmt,  dass  von  dem 
Boden  der  letzten  Klasse  noch  üeberfluss 
vorhanden  sei  und  jedermann  noch  solchen 
occupieren  könne,  so  erscheint  die  Auf- 
fassung der  englischen  Schule  theoretisch 
gerechtfertigt,  da  freier  Boden  dieser  Art 
vor  dem  Beginn  seines  Anbaues  noch  gar 
keinen  Vermögenswert  hat.  Stillschweigend 
liegt  freilich  bei  Ricardo  auch  die  Annahme 
zu  Gnmde ,  dass  die  Gnmdstücke  der 
letzten  Klasse  auch  in  Bezug  auf  ihre 
Marktlage  völlig  gleichartig  sind.  Wenn 
indes  auch  diese  Bedingung  erfüllt  wäre, 
so  könnte  allerdings  dadurch ,  dass  der 
überschüssige  Boden  dieser  Klasse  bereits 
im    Eigentum    einzelner   Personen    stände, 


Grundrente 


883 


auch  für  diesen  eine  Gnindrente  erzwungen 
werden,  indem  die  Eigentümer  denselben 
nicht  in  dem  Masse  anbauen  liessen  oder 
selbst  anbauten,  wie  es  der  fortschreiten- 
den Nachfrage  der  Bevölkerung  entspräche. 
Diese  Möglichkeit  ist  aber  eben  von  fiicardo 
nicht  vorausgesetzt. 

Einen  ernstlichen  Angriff  erfuhr  die 
Ricardosche  Theorie  von  Carey,  der  na- 
mentlich die  Keihenfolge  des  Anbaues  vom 
guten  zum  schlechten  Boden  bestritt.  Die 
ersten  Ansiedler  in  einem  Lande  hätten  mit 
dem  Anbau  des  schlechtesten,  nämlich  des 
leichten  und  hochgelegenen  Bodens  be- 
gonnen und  erst  durch  die  Fortschritte 
ihrer  Macht  über  die  Natur  seien  die  Men- 
schen in  stand  gesetzt  worden,  die  frucht- 
baren Niederungen  unter  den  Pflug  zu 
nehmen,  die  ursprünglich  mit  schwer  zu 
rollenden  Urwäldern  bedeckt  waren  oder 
schwieriger  Entwässerungen  oder  Bewässe- 
rungen bedurften.  Die  geschichtliche  Be- 
weisführung, die  Carey  für  seinen  Satz  ver- 
sucht, ist  für  die  alten  Länder  durchaus 
imzulänglich ;  richtig  aber  ist  es,  dass  die 
Besiedlung  neuer  Gebiete  in  vielen  Fällen, 
aber  keineswegs  immer  mit  dem  weniger 
fruchtbaren,  aber  leichtei  zu  bearbeitenden 
Boden  begonnen  hat.  Aber  für  die  richtig 
aufgefasste  Rententheorie  kommt  es  auf  die 
historische  Reihenfolge  des  Anbaues  über- 
haupt nicht  an.  Das  wesentliche  ist,  dass 
IVoduktionsbetriebe  unter  mehr  oder  weniger 
günstigen  natürlichen  Bedingimgen  zu  einer 
gegebenen  Zeit  nebeneinander  bestehen, 
wSirend  ihre  Produkte  den  gleichen  Preis 
haben.  Tritt  nachträglich  etwa  noch  ein 
gewisses  Mass  von  Boden  der  meistbegüns- 
tigten Gattung  in  Konkiurenz,  so  wird  da- 
durch nur  die  bis  dahin  bestehende  Art  der 
Rentenbildung  geändert,  indem  eine  oder 
einige  der  wenigst  begünstigten  Bodenklassen 
bis  auf  weiteres  gänzlich  untauglich  zum 
Anbau  werden  und  die  Rente  der  besseren 
Klassen  vermindert  wird.  Dieselben  Folgen 
treten  ein,  wenn  von  gewissen  schon  ange- 
bauten Bodenflächen  infolge  von  Meliorationen, 
neuen  Düngungsmitteln  etc.  mit  gleichem 
Kapital  ein  grösserer  Naturalertrag  mit 
gleichen  Kosten  erzielt  werden  kann.  Wenn 
dagegen  die  Produktivität  der  landwirtschaft- 
lichen Arbeit  in  der  Art  stiege,  dass  auf 
der  bewirtschafteten  Fläche  der  gleiche 
Natiualertrag  mit  weniger  Arbeits- 
kräften und  ohne  eine  die  Ijohnersparnis 
ausgleichende  Yermehrung  der  sonstigen 
Kapitalverwendung  erlangt  würde,  so  nähme 
der  Preis  der  Produkte  ab,  ohne  dass  die 
Gnmdrente  eine  .Veränderung  erlitte.  — 
Auch  Rodbert  US  liat  Ricardos  Renten- 
lehre angefochten  und  diu-ch  eine  andere 
Theorie  zu  ersetzen  gesucht.  Um  die  Un- 
haltbarkeit  der  ersteren  zu  beweisen,  nimmt 


er  eine  vollständig  isolierte  Insel  mit  durchaus 
gleichartigem  Boden  an,  auf  welcher  Güter 
von  gleicher  Grösse  in  gleichem  Abstände 
von  der  das  Centrum  einnehmenden,  allein 
die  Gewerbe  betreibenden  Stadt  liegen. 
Unter  diesen  Umständen  soll  aber  dennoch 
Grundrente  abfallen.  Dies  ist  auch  in  der 
That  möglich,  aber  eiufacii  als  Folge  des  in 
diesem  Falle  monopolistisch  wirkenden 
Eigentumsrechts  der  Grundbesitzer.  Wenn 
der  Bedarf  der  Bevölkerung  so  gross  ge- 
worden ist,  dass  zur  Befriedigung  derselben 
alle  Eigentümer  ihren  gesamten  Boden  be- 
stellen milssen,  so  ist  nicht  einmal  eine 
Koalition  nötig,  um  eine  Monopolwirkung 
des  Grundbesitzes  zu  erzeugen.  Das  Bei- 
spiel kann  aber  überhaupt  nicht  gegen  die 
Ricardosche  Theorie  angeführt  werden,  weil 
es  eine  wesentliche  Voraussetzung  derselben 
ausschliesst,  nämlich  dos  Vorhandensein 
von  schlechterem  Boden,  dessen  Anbau  bei 
einem  gewissen  Preisstande  der  Produkte 
das  w^eitere  Fortschreiten  des  Monopol- 
gewinnes der  begünstigten  Besitzer  verhin- 
dert. In  der  Wirklichkeit  würde  übrigens 
natürlich  an  die  Stelle  des  Anbaues  von 
neuem  Boden  auf  der  Insel  bei  fortwähren- 
dem Zunehmen  der  Bevölkerung  die  Einfuhr 
von  Getreide  aus  vielleicht  sehr  grosser 
Entfernung  und  mit  grossen  Kosten 
treten.  Die  eigene  Grundrententheorie  Rod- 
bertus'  ist  im  wesentlichen  folgende:  Die 
von  dem  Fabrikanten  und  dem  Rohstoff- 
produzenten aus  dem  Werte  des  fertigen 
Produktes  bezogenen  Gewinnanteile  verhal- 
ten sich  nach  der  Rodbertusschen  Wertlehre 
wie  die  von  beiden  verwendeten  Arbeits- 
grössen ;  sind  diese  gleich,  so  berechnet  der 
Fabrikant  prozentmässig  seinen  Gewinn  auf 
ein  Kapital,  welches  gleich  ist  der  von  ihm 
gezahlten  Lohnsumme  und  dem  Wei'te  des 
gelieferten  Rohstoffes;  der  I^andwirt  da- 
gegen, der  kein  Rohmaterial  anzuschaffen 
braucht,  berechnet  eben  deswegen  die  gleiche 
absolute  Gewinngrosse  auf  ein  kleineres 
Kapital,  der  prozentmässige  Gewinnsatz 
erscheint  daher  bei  ihm  grösser  als  der 
normale  Kapitalgewinn,  und  der  so  sich 
herausstellende  überschüssige  Gewinn  ist 
eben  die  Grundrente.  Bei  dieser  Ableitung 
ist  ausdrücklich  vorausgesetzt,  dass  der 
Wert  der  Rohprodukte  sowohl  wie  der  Fa- 
brikationsleistung  sich  lediglich  nach  der  in 
den  beiden  Produktionsabschnitten  aufg-e- 
wendeten  Arbeit  bemesse.  Rodbertus  hat 
später  aber  selbst  zugestanden,  dass  eine 
solche  Wertbestimmung  innerhalb  der  Pro- 
duktionsstufen eines  Gutes  jiicht  stattfindet, 
und  damit  ist,  ganz  abgesehen  von  den 
sonst  noch  möglichen  Einwendungen,  seiner 
Theorie  der  Boden  entzogen.  —  Was  die 
Erweiterung  des  Grundrentenbegriffs  auf 
afle    bevorzugten    Erwerbsverhältnisse    be- 

56* 


884 


Grundrente 


trifft,  80  hat  schon  Buchanan  in  seiner  Aus- 
gabe des  Werkes  von  Adam  Smith  die  ersten 
Schritte  in  dieser  Richtung  gethan ;  genauer 
ausgeführt  wurde  diese  Anschauung  in  der 
neueren  Zeit  namentlich  von  Schaffte.  — 
Zu  den  von  den  neueren  Sozialisten  und 
Halbsozialisten  ausgegangenen  Angriffen 
gegen  das  Grundeigentum  hat  natürlich  das 
monopolistische  Element  in  der  Grundrente 
vielfache  Handhaben  geboten.  Henry  George 
nimmt  die  Ricardosche  Theorie  ohne  wei- 
teres an  und  verlangt  daraufhin  nicht  so- 
wohl Aufhebung  des  privaten  Grundeigen- 
tums an  sich,  sondern  Abschneidung  der 
Grundrente  mittelst  einer  Steuer.  Er  lässt 
dabei  gänzlich  die  praktische  Schwierigkeit 
ausser  aclit,  dass  die  Grundrente  in  Wirk- 
lichkeit keineswegs  den  regelmässigen  Fort- 
schritt nach  dem  Ricardoschen  Schema  auf- 
weist, sondern  infolge  weltwirtschaftlicher 
wie  lokaler  Konjunktiu^n  grossen  Schwan- 
kungen und  Rückschlägen  unterworfen  ist, 
die  zwar  nach  dem  Leben  eines  Yolkes  be- 
messen nur  als  von  kurzer  Dauer  erscheinen 
mögen,  aber  doch  während  ganzer  Menschen- 
alter die  Einkommensverteilung  imd  die 
Steuerfähigkeit  der  Rentenbezieher  wesent- 
lich verändern  können.  In  eigentümlicher 
Weise  glaubt  Hertzka  in  seinem  Utopien 
»Freiland«,  wo  weder  privates  noch  staat- 
liches Grundeigentum,  jedoch  keineswegs 
Kommunismus  bestehen  soll,  die  Ausglei- 
chung der  die  Gnmdrente  erzeugenden  Ver- 
schiedenheit der  natürlichen  Bodenbescliaffen- 
heit  erwarten  zu  dürfen.  Da  sich  nämlich 
jeder  nadi  seinem  Gutdünken  irgend  einer 
der  freUändischen  Produktivassociationen 
anschliessen  kann,  so  werden  die  einen  be- 
sonders guten  Boden  bewirtschaftenden  Ge- 
nossenschaften den  meisten  Zulauf  haben, 
also  ihren  Ertrag  unter  eine  grossere  An- 
zahl von  Mitgliedern  verteilen  müssen,  als 
es  bei  den  weniger  günstig  gestellten  Gruppen 
der  Fall  ist.  Wenn  aber  auch  wirklich  alle 
eigennützigen  Absperrungsneigimgen  seitens 
der  bevorzugten  Genossenschaften  ausge- 
schlossen blieben,  so  würde  dieses  System 
doch  in  ^•ielen  Fällen  daliin  führen,  dass  die 
Mitglieder  verschiedener  Genossenschaften 
denselben  Ertragsanteil  bei  ver- 
schiedener Arbeitsleisümg  erhielten.  Denn 
schliesslich  giebt  es  für  jedes  Grundstück 
ein  Maximum  von  Arbeit,  das  auf  demselben 
rationeller  Weise  und  fnichtbringend  ver- 
wertet werden  kann.  Dabei  kann  aber  der 
Ertrag  desselben  noch  immer  ungewöhnlich 
hoch  sein.  Werden  nun  noch  mehr  Arbeiter 
auf  diesen  Ertrag  angewiesen,  so  kann  also 
die  Arbeitszeit  des  einzelnen  vermindert 
werden.  Wenn  aber  diese  Annehmlichkeit 
den  Zudrang  zu  der  begünstigten  Genossen- 
schaft noch  weiter  beförderte,  so  würden 
die  Mitglieder  die  grössere  Musvse  sclüiess- 
lich  mit  einer  Verminderung  ihres  Ertrags- 


anteils unter  das  bei  den  übrigen  geltende 
Mass  erkaufen  müssen.  So  würde  also 
wieder  ein  Grund  zu  Unzufriedenheit  und 
Reibungen  entstehen,  ganz  abgesehen  von 
der  volkswirtscliaftlich  nachteiligen  Brach- 
legung von  Arbeitskraft.  —  Marx  imter- 
scheidet  zunächst  zwei  Differentialrenten, 
die  den  Anschauungen  der  englischen  Schule 
entsprechen,  nämlich  bedingt  sind  durch  die 
Verschiedenheit  der  Bodenqualitäten  und 
durch  die  verschiedene  Produktivität  der 
gleichen,  aber  nacheinander  auf  dasselbe 
Grundstück  verwendeten  Kapital^ssen, 
fenier  eine  absolute  Gnmdrente,  die  allen 
Gi-undbesitzern ,  auch  den  Besitzern  des 
schlechtesten  Bodens  auf  Grund  ihres 
Eigeutiuns  zufällt  und  endlich  eine  eigent- 
liche Monopolrente,  die  aus  dem  Monopol- 
preis des  Produktes  entsteht. 

Litteratur:  Anderson,  Inquiry  into  the  natttre 
of  the  com  laws,  1777 ;  deuUch  herausgegeben 
mit  EinMivng  vnd  Anmerhingen  t'07i  L.  Bren- 
tano :  Drei  Schrißen  über  Komgefetze  und  Grund- 
rente, Leipzig  189a.  —  Torrena,  An  Essay  on 
the  extemal  com  trade,  1815,  —  West,  Essay 
on  the  application  of  capital  so  land,  1815.  — 
MaHhu4t,  Inqniry  mto  the  nature  and  progress 
of  rent,  1815.  —  Ricardo,  On  the  influence  of 
a  law  price  oj  com  on  the  profUs  on  stock  1815 
(Oeuvres  in  der  Guillaumin sehen  SamjnJitng  S. 
541  ff.);  Principles  of  pol.  er.,  besonders  Cap,  11 
und  XXIV.  —  d,  H,  V,  Thünen,  Der  isolierte 
Staat,  I.  Aufl.,  1826.  —  Carey,  The  Fast,  the 
Prese^ü  and  the  Future,  I848.  —  Rodbertus, 
Zur  Beleuchtung  der  sozialen  Frage,  1875  (Ab- 
druck des  1850151  erschienenen  zireiten  und 
dritten  sozialen  Briefes  an  v.  Kirchmann).  — 
Wolkoff,   Oprtseules  stir  la  rente  fonciere,  1854- 

—  BoutTim,   Theorie  de  la  rente  fonciere,  1867. 

—  Schäffle,  Njtionalokonomische  Theorie  der 
ausschliessenden  AbaatzverhäUnisse,  1867.  — 
Trunk,  Geschichte  und  Kritik  der  Lehre  von 
der  Grundrente  in  Jahrb.  f.  Xat,  u.  Stat., 
Bd.  6  und  10,  1866  und  1868.  —  Berens, 
Versuch  einer  kritischen  Dogmengeschichte  der 
Grtmdrente,  1868.  —  Knies,  Der  Kredit,  IL 
Hfilfte,  1879,  S.  307 ff.  —  Leser,  Untersuchmtgen 
zur  Geschichte  der  Xaiional^konoMie  (Malthus 
als  Entdecker  der  modernen  Grundrentenlehre), 
1881.  —  Lexis,  Zur  Kritik  der  Bodbertus' sehen 
Theorieen,  Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.  N.  F.  Bd.  IX, 
S.  463 ff.  —  V,  Schnllem'SchraUenhofen, 
Untersuchungen  über  Begriff  und  Wesen  der 
Grundrente,  1889  (vom  Standpunkt  der  Wert- 
lehre der  österreichischen  Theoretiker).  —  Ijoria, 
La  rendita  fondiaria  e  la  sua  elisione  'naiurale, 
1879.  —  Derselbe,  Analisi  deüa  proprieiä 
capitalisia,  1889.  (Der  Verfasser  betrachtet  das 
private  Grundeigentum  in  Verbindung  mit  der 
Zunahme  der  Bevölkerung  als  den  entscheidenden 
Faktor  ßlr  die  Art  der  Gäterverteüung  überhaupt 
und  für  die  ganze  Gestaltung  des  inneren  unrt- 
schaftlichen  Organismus.)  —  Hertzka,  Freiland, 
1890,  S.  159.  —  Marx,  Das  Kapital,  II L  Bd., 
3.  Teil,  S.  152 ff.  —  Diehl,  Die  Gmndrenien- 
theorie  im  Ökonomischen  System  von  K.  Marx, 
Jahrb.  für  Nat.  u.  Stat.  IIL  Folge  Bd.  XVIL 
S.  ^J?.v/. 


Grundsteuer 


885 


Grnndschnld 

ß.    Hypotheken-     und    Grundbuch- 
wesen. 

GrnndBtener. 

I.  Allgemeines.  Begriff  und  Natur  der 
G.  2.  Objekt  der  G.  3.  Subjekt  der  G.  4. 
Aufgaben  der  Veranlagung  der  G.  5.  Aeltere 
Methoden  der  Veranlagung.  6.  Moderne  Ver- 
anlagungsmethode:  Eatastrierung  der  Grund- 
stücke. 7.  Einleitende  Schritte  zur  Herstellung 
des  Katasters.  8.  Vermessung  der  Parzellen; 
Herstellung  von  Flurkarten.  9.  Berücksichtigung 
der  Kulturgattnngen.  10.  Abechluss  der  Vor- 
bereitungen zur  Ertragsschätzung.  11.  Die  Er- 
tragsschätzung im  allgemeinen.  12.  Ertrags- 
kataster oder  Wertkataster?  13.  Die  Ertrags- 
schätzung: a)  die  Aufstellung  der  Bonitäts- 
klassen.  b)  Die  Einreihung  der  einzelnen  Par- 
zellen in  die  Bonitätsklassen.  14.  Vollendung 
des  Katasters.  15  Einhebung  der  G.  16.  Evi- 
denzhaltung und  B^vision  des  Katasters.  17. 
Nutzen  des  Katasters  für  andere  als  Besteue- 
rungszwecke. 18.  Kritik  der  G.  19.  Die  G. 
als  üemeindeabgabe.  II.  DieGesetzgebung 
der  einzelnen  Staaten.  A.Deutschland. 
20.  Preussen.  21.  Bayern.  22.  Königreich 
Sachsen.  23.  Württemberg.  24.  Baden.  25. 
Hessen.  B.  Ausserdentsche  Staaten.  26. 
Oesterreich-Ungarn.  a)  Oesterreich.  b)  Ungarn. 
27.  Frankreich.  28.  Italien.  29.  Grossbritannien. 
30.  Russland.  31.  Vereinige  Staaten  von  Nord- 
amerika.   32.  Britisch-Indien. 

I.  Allgemeines. 

1.  Begriff  und  Natur  der  G.    Da  die 

Gewinnung  der  Erzeugnisse  des  Bodens 
einen  der  ui-sprünglichsten  Zweige  der  Er- 
werbsthätigkeit  der  Mensehen  bildet,  so  ist 
es  begreiflieh,  dass  das  Erträgnis  dieses  Er- 
werbszweiges als  eine  der  ältesten  Quellen 
des  Staatsein komraens  erscheint.  Die  Form 
der  Ausnützung  dieser  Einuahmsquelle  durch 
den  Staat  hat  im  Laufe  der  Zeit  freilich 
häufige  und  beträchtliche  Wandlungen  er- 
fahren. Auf  niedrigeren  Stufen  der  staat- 
lichen Entwickelung  erfolgte  diese  Aus- 
nützung in  anderer  Weise  als  auf  höheren. 
Dort  begegnet  uns  die  Uebernahme  eines 
Teiles  des  nationalen  Bodens  durch  den 
Staat  zur  eigenen  Bewirtschaftung  (Domanial- 
wirt Schaft)  sowie  die  Vorbindung  der  Ver- 
pflichtung der  Individuen  zu  verschiedenen 
persönlichen  und  sachlichen  Leistungen  mit 
dem  individuellen  Besitze  von  (rrundeigen- 
tum  (Ijelmswesen ,  Hörigkeit  etc.);  auch 
das  ganze  grosse  Gebiet  der  verschiedenen, 
auf  einzelne  Gnmdstücke  gelegten  und  durch 
den  jeweiligen  Nutzniesser  oder  Kigentümer 
derselben  aufzubringenden,  zur  Bestreitung 
von  Ausgaben  für  öffentliche  Zwecke  be- 
stimmten Reallasten  (Giebigkeiten  der  ver- 
schiedensten Art,  Zehnten,  Fronden  etc.) 
^hört  hierher.  Erst  der  höher  ent^Ääckelte 
)taat  der  Neuzeit   mit  seiner  stramm   or- 


ganisierten RegieiTingsgewalt  beginnt,  ent- 
sprechend seinem  Streben,  die  Mittel  zur 
Bestreitung  seiner  Bedüi-fnisse  bei  seinen 
Angehörigen  mit  Hilfe  eines  möglichst  ra- 
tionell entwickelten  Steuereystems  aufzu- 
bringen, mit  den  Bemühungen,  auch,  der 
Heranziehung  eines  Teiles  des  Bodenertrages 
für  seine  Zwecke  nach  Möglichkeit  die  Form 
einer  nach  bestimmten,  als  die  richtigen 
angesehenen  Grundsätzen  eingerichteten 
Steuer  zu  geben.  Diese  die  Ueberweisung 
eines  Teiles  des  Bodenertrages  an  den  Staatr 
behufs  Verwendung  für  dessen  Bedürfnisse 
bezweckende  Steuer  heisst  die  Grund- 
steuer. 

Die  Grundsteuer  ist  liiernach  diejenige 
Steuer,  welche  der  Staat  auf  den  Ertrag  des 
seinen  Angehörigen  zur  Verfügimg  stehenden 
Bodens  gelegt  hat.  Sie  ist  also  eine  Er- 
tragssteuer, d.  h.  eine  Steuer,  welche  ohne 
Berücksichtigrimg  der  individuellen  Einkom- 
mens- und  sonstigen  Verhältnisse  derjenigen 
Personen,  in  deren  Händen  sich  die  das 
Steuerobjekt  bildende  Quelle  des  von  ihr 
betroffenen  Ertrages  befindet,  auf  diesen 
Ertrag  gelegt  wird.  Sie  besteht  in  einem 
aliquoten,  an  den  Staat  oder  andere  mit  dem  Be- 
steuerungsrechte ausgerüstete  Gemeinschaf- 
ten abzuführenden  Teile  des  Bodenertrages. 

2.  Objekt  der  G.  Objekt  der  Grund- 
steuer ist  also  der  Bodenerti-ag.  Es  fi-agt 
sich  nun,  was  eigentlich  unter  diesem  durch 
die  Grundsteuer  zu  treffenden  Bodenertrage 
zu  verstehen  ist. 

Dem  Wortsinne  nach  sollte  die  Antwort 
auf  diese  Frage  eigentlich  dahin  lauten,  dass 
als  Bodenertrag  der  Gewinn  aus  jeder  wie 
immer  gearteten  Nutzung  des  Bodens  auzu- 
seheu  ist,  wonach  also  der  Grundsteuer  so- 
wolü  der  im  Wege  des  Bergbaues  als  auch 
der  im  Wege  der  Landwirtschaft  oder  der 
Venvendung  ate  Baugrund  flu-  Wohnhäuser 
erzielte  Ertrag  zu  unterliegen  hätte.  Es  ist 
aber  sowohl  in  der  Theorie  als  auch  in  der 
Praxis  schon  längst  feststehende  Uebung 
gewonlen,  denjenigen  Teil  des  Bodenertrages, 
welcher  im  Wege  des  Bergbaues  gewonnen 
wird,  dem  durch  die  Grundsteuer  zu  treffen- 
den nicht  zuzurechnen,  also  nicht  als  Ob- 
jekt dei-selben  zu  bt^handeln. 

Ebenso  j)flegt  neuerlich  in  der  Regel 
von  der  Erfassung  durch  die  Grundsteuer 
ausgeschlossen  zu  werden  derjenige,  in  der 
Gegenwart  so  schwer  ins  Gewicht  fallende, 
Teil  des  Bodenerti-ages,  welcher  diu-ch  die 
Baugründe  resp.  durch  die  darauf  errichte- 
ten Gebäude  geliefert  wh'd.  Die  Praxis 
hat  fi-eilich  häufig  —  und  zwar  auch  noch 
in  der  neuesten  Zeit  —  auch  diesen  Teil 
des  Bodenerti-ages  als  Objekt  einer  als 
Grundsteuer  bezeichneten  Abgabe  behandelt. 
In  der  Theorie  gilt  derselbe  aber  —  wohl 
mit  vollem  Rechte  —  derzeit  schon  ganz 


886 


Grundsteuer 


aUgemein  als  eine  Steuerquelle ,  welche 
durch  die  am  besten  einer  selbständigen 
Beurteilung  und  Regelung  zu  unterziehende 
Besteuerung  der  Gebäude  mit  erfasst  wer- 
den soll.  Demgemäss  wird  in  den  Erörte- 
rungen über  die  Regelung  dieses  Teiles  des 
Ertragssteuersystems  so  gut  wie  ausnahms- 
los auch  auf  die  Heranziehung  des  im  Er- 
trägnisse der  Gebäude  steckenden  Ertrages 
der  mit  diesen  besetzten  Grundstücke  Be- 
dacht genommen  (s.  den  Art.  Gebäude- 
steuer oben  Bd.  lY.  S.  6  ff.).  Wir  brauchen 
denselben  daher  hier  ebenfalls  nicht  weiter 
zu  berücksichtigen. 

Aus  dem  eben  Gesagten  ergiebt  sich 
von  selbst,  dass  wii*  hier  niu»  den  vom 
Boden  im  Wege  der  Landwirtschaft  zu 
liefernden  Ertrag  zu  berücksichtigen  haben. 
Hierbei  müssen  aber  die  Worte  »vom  Boden« 
besonders  betont  werden,  weil  es  häufig 
vorkommt,  dass  die  Begriffe  »Bodenertrag« 
und  »Ertrag  der  Landwirtschaft«  als  iden- 
tisch angesehen  werden,  was  sie  doch  nicht 
sind.  Im  Ertrage  der  Landwirtschaft  steckt 
stets  auch  der  Ertrag  der  in  derselben  auf- 
gewendeten menschlichen  Arbeit;  dieser 
Arbeitsertrag  muss  vom  Bodenertrage  ge- 
trennt werden  und  kann  nicht  Objekt  einer 
Steuer  sein,  welche  nur  den  letzteren  zu 
treffen  hat.  Also  nur  derjenige  Teil  des 
im  Wege  der  landwirtschaftlichen  Nutzung 
des  Bodens  zu  gewinnenden  Ertrages  darf 
als  Objekt  der  Grundsteuer  aufgefasst  wer- 
den, welchen  ein  Grundbesitzer  aus  dem 
Boden  ziehen  kann,  ohne  sich  selbst  mit 
der  Bewirtschaftung  desselben  zu  beschäf- 
tigen. Dieser  Teil  des  Erti-ages  der  land- 
wirtschaftlichen Bodennutzung  fällt  aber 
zusammen  mit  der  auf  diesem  Wege  zu 
erzielenden  Grundrente,  und  wir  können 
daher  sagen,  dass  dieser  Teil  der  im  Terri- 
torium eines  Staates  den  Gnmtlbesitzeru 
zufliessenden  Grundrente  das  Objekt  der 
Gnmdsteuer  bildet. 

Wir  liaben  uns  also  hier  nur  mit  der 
vom  landwirtschaftlich  benutzbaren  Boden 
gelieferten  Grundrente  zu  befassen.  Dies- 
bezüglich ist  nun  zunächst  zu  bemerken, 
dass  das  Wort  »Grundrente«  hier,  wo  es 
sich  um  die  Erfassung  des  ganzen  Ertrages 
handelt,  welchen  der  mit  der  Gnmdsteuer 
belastete  Boden  an  sich  liefern  kann,  in 
jenem  weiteren  Sinne  zu  vei-stehen  ist,  in 
welchem  es  die  Rente  des  Bodens  in  seiner 
zur  Zeit  der  jeweiligen  Auflegung  der 
Gnmdsteuer  bestehenden  Beschaffenheit  und 
imter  den  zu  dieser  Zeit  obwaltenden  Ver- 
hältnissen umfasst.  Die  ganze  so  viel  er- 
örterte Streitfrage  über  die  eigentliche  Na- 
tur der  Grundrt^nte  hat  also  hier  gar  keine 
Bedeutung.  Vom  Standpunkte  der  Gnmd- 
steuerveranlagung  aus  ist  es  ganz  gleich- 
giltig,  ob  die  jeweilig  mögliche  Bodenrente 


ganz  oder  teilweise  als  Ausfluss  der  Pro- 
duktionskraft des  im  Boden  investierten 
Kapitals  und  als  Erträgnis  der  früher  daran 
gewendeten  Arbeit  oder  aber  als  Ausdi'uck 
der  dem  Boden  als  solchem  innewohnenden 
Ertragsfähigkeit  anzusehen  ist.  Es  handelt 
sich  hier  eben  nicht  um  die  Besteuenmg 
einer  theoretisch  zu  konstnüerenden  Grund- 
rente im  Sinne  einer  der  diesbezüglich  aus 
Anlass  der  wissenschaftlichen  Behandlung 
dieses  Themas  aufgestellten  Lehrmeinungen, 
sondern  danim,  das  den  Charakter  einer 
Rente  in  der  allgemeinsten  Bedeutung  dieses 
Wortes  an  sich  tragende  Erträgnis  zu  be- 
steuern, welches  der  Boden  seinem  jeweili- 
gen Eigentümer,  ohne  dass  dieser  zum 
Zwecke  der  Ausbeutung  der  Ertragsfähig- 
keit desselben  mit  seiner  eigenen  Arbeits- 
kraft in  Thätigkeit  tritt,  zu  liefern  vermag. 
Hier  kann  aber  nicht  verschwiegen  wer- 
den, dass  die  Praxis  die  Konsequenzen, 
welche  sich  aus  der  oben  entwickelten  Be- 
grenzung des  Objektes  der  Grundsteuer  er- 
geben, niu"  ausnahmsweise  gezogen  hat. 
Von  dieser  wird  die  Gnmdsteuer  meist  so 
aufgefasst,  als  ob  sie  eine  Besteuerung  des 
Ertrages  der  ganzen  Landwirtschaft  wäre,  d.  h. 
also  so,  als  ob  auch  das  Produkt  der  land- 
wirtschaftlichen Thätigkeit  des  Grundbe- 
sitzers durch  sie  .besteuert  werden  solle. 
Diese  Auffassung  der  Praxis  äussert  ilire 
Wirkung  dadurch,  dass  von  einer  besonde- 
ren Besteuerung  des  Ertrages  jener  Thätig- 
keit meist  abgesehen  wird,  obwohl  doch 
auch  die  sonstigen  Arten  der  dem  Erwerbe 
gewidmeten  Thätigkeit  der  Staatsbürger 
durchweg  Objekte  der  Ertragsbesteuerung 
zu  bilden  pflegen  und  dieser  demgemäss  in 
Beriicksichtigung  der  Principien  der  Gleich- 
mässigkeit  und  Allgemeinheit  der  Besteue- 
nmg  auch  die  Thätigkeit  des  Landwirtes 
unterworfen  werden  sollte.  Eine  l)esondei"e 
Besteuerung  des  Ertrages  dieser  Thätigkeit 
kommt  selten  vor,  obwohl  sie  doch  bei 
konsecjuenter  Durchbildung  des  Ertrags- 
steuersystems durch  die  eigentliche  Natur 
der  Gnmdsteuer  geradezu  geboten  wäre. 
Hier  und  da  hat  die  Praxis  sich  diesem 
Gebote  in  der  Weise  gefügt,  dass  sie  die 
lanfl  wirtschaftliche  Thätigkeit  wenigstens  in 
denjenigen  Fällen,  in  welchen  sich  deren 
Charakter  als  besondere,  neben  der  Renta- 
bilität des  Bodens  an  sich  noch  bestehende 
Ertrags(]uelle  besonders  deutlich  zeigt,  sepa- 
rat besteuert.  Es  sind  hier  die  Pachtungen 
gemeint,  welche  mitunter  auch  dann  beson- 
ders besteuert  werden,  wenn  sonst  die  be- 
sondere Besteuerung  der  landwirtschaftlichen 
Thätigkeit  nicht  gebräuchlich  ist.  Es  er- 
hellt, dass  hier  eine  grobe  Ungleichmässig- 
keit  vorliegt:  es  ist  gar  kein  in  der  Natur 
der  Sache  liegender  Grund  vorhanden,  die 
durch  den  Grundbesitzer  selbst  ausgeübte 


Grundsteuer 


887 


landwirtschaftliche  Thätigkeit  anders  zu 
behandeln  als  die  gleiche  Thätigkeit  eines 
Gutspächters. 

Dieses  Vorgehen  der  Praxis  ist  um  so 
mehr  zu  bedauern,  als  dadurch  unter  den 
selbst  wirtschaftenden  Landwirten  selbst  eine 
Ungleichmässigkeit  geschaffen  wird,  die 
nicht  als  in  der  Natur  der  Grundsteuer 
liegend  anerkannt  werden  kann.  Denn 
diese  Steuer  mit  ihrer  Abstraktion  von  den 
persönlichen  Eigenschaften  der  Landwirte 
behandelt  alle  Grundstücke  gleichmässig 
unter  alleiniger  Berücksichtigung  der  ihnen 
in  Gemässheit  ihrer  eigenen  Eigenschaften 
und  Umgebung  innewohnenden  Ertrags- 
fähigkeit, welche  man  berechtigt  ist,  als 
eine  gegebene,  von  den  Eigenschaften  des 
jeweiligen  Besitzers  unabhängige  Grösse  an- 
zusehen. Trotz  dieser  Unabhängigkeit  der 
eigenen  Ertragsfähigkeit  der  Grundstücke 
von  den  Persönlichkeiten  ihrer  Besitzer  kann 
aber  doch,  wie  allgemein  bekannt  ist,  von 
einer  gleichen  Unabhängigkeit  des  wirklichen 
Ertrages  der  Bewirtschaftung  der  Grund- 
stücke von  diesem  Faktor  keine  Rede  sein. 
Der  Ertrag  der  Landwirtschaft  wird  ebenso 
wie  der  jeder  anderen  auf  Erwerb  im  Wege 
einer  selbständigen  Unternehmung  gerichteten 
Thätigkeit  in  erster  Linie  und  am  wesent- 
lichsten durch  die  Persönlichkeit  des  wirt- 
schaftenden Individuums  bestimmt.  Ebenso 
nun,  wie  die  anderen  Arten  der  zur  Er- 
fassung der  Resultate  der  Erwerbsihätigkeit 
der  Individuen  bestimmten  Ertragssteuern 
auch  auf  die  pereönlichen  Eigenschaften  der 
Betreffenden  Rücksicht  nehmen,  muss  dies 
auch  eine  Besteuerung  der  Landwirtschaft 
thun,  wenn  sie  nicht  durch  Nichtberück- 
sichtigung einer  einen  so  grossen  Einfluss 
ausübenden  Verschiedenheit  zu  Resultaten 
führen  will,  welche  ihr  den  begründeten 
Vorwurf  der  Ungleichmässigkeit  zuziehen 
müssen.  Die  Identifizierung  der  Besteue- 
rung der  Landwirtschaft  mit  der  im  Wege 
der  Grundsteuer  zu  bewirkenden  Besteue- 
rung der  Grundrente  beruht  nun  eben  auf 
einer  solchen  Nichtberücksichtigiuig  jener 
Verschiedenheit.  Die  sich  hieraus  ergebende 
Ungleichmässigkeit  ist  auch  oft  genug  er- 
kannt und  —  weil  bei  der  praktischen 
Durchführung  der  Grundsteuer  meistens 
vorlianden  —  als  ein  dieser  selbst  anhängen- 
der Mangel  aufgefasst  worden.  Nach  dem 
Gesagten  ist  es  aber  klar,  dass  dieser  Mangel 
durchaus  nicht  unvermeidlich  mit  der 
Grundsteuer  verbunden  ist,  sondern  bei 
einer  richtigen,  sich  an  die  Eigenschaft  der- 
selben als  Steuer  von  der  Bodenrente  hal- 
tenden Ausführung  vermieden  werden  würde. 

3.  Subjekt  der  G.  Da  die  Bodenrente 
das  Objekt  der  Gnmdsteuer  bildet,  so  ist 
als  das  ziu-  Tragung  derselben  berufene 
Subjekt  selbstverständlich  der  zum  Bezüge 


der  Bodenrente  Berechtigte  anzusehen;  als 
solcher  erscheint  in  der  Regel  der  Gnmd- 
besitzer,  weshalb  man  kurz  sagen  kann: 
Subjekt  der  Grundsteuer  ist  in  der  Regel 
der  Grundbesitzer.  Die  Theorie  und  Praxis 
haben  diese  Regel  mit  einer  —  gleich  zu 
erwähnenden  —  Ausnahme  als  allgemein 
giltig  behandelt:  die  Grundsteuer  wird  fast 
ausnahmslos  nur  vom  Grundbesitzer  allein 
gefordert.  Die  Ausnahme  von  der  alleinigen 
Inanspruchnahme  des  Grundbesitzers  zur 
Tragung  der  Grundsteuer  besteht  darin, 
dass  hie  und  da  auf  jene  Trennung  der 
Grundrente  Rücksicht  genommen  wird, 
welche  in  früherer  Zeit  so  häufig  vorge- 
kommen ist  und  darin  bestanden  hat,  dass 
der  Bebauer  des  Bodens  einen  Teil  des  Er- 
trages desselben  an  einen  anderen,  als  dessen 
eigentlichen  Herrn  angesehenen  Berechtigten 
abliefern  musste,  also  zur  Leistung  von  so- 
genannten Gefällen  an  denselben  verpflichtet 
war.  Es  war  und  ist  nur  gerechtfertigt, 
wenn  der  durch  diese  Gefälle  repräsentierte 
Teil  der  Bodenrente  zum  Objekte  des  ent- 
sprechenden Teiles  der  Grundsteuer  ge- 
macht wurde  resp.  noch  wird.  Auch  da- 
gegen kann  nichts  eingewendet  werden, 
w^enn  dieser  Teil  der  Grundsteuer  einen 
besonderen  Namen  (den  der  »Gefällensteuer«) 
erhält.  Diese  ganze  Einrichtung  hat  übri- 
gens, wie  die  Gefälle  selbst,  derzeit  nicht 
mehr  viel  anderes  als  historisches  Interesse. 
Auf  sonstige  Fälle  der  Teilung  der  Grund- 
rente zwischen  dem  Grundbesitzer  und  einem 
anderen  Berechtigten  wird  aber  bei  der 
Veranlagung  der  Grundsteuer  keine  Rück- 
sicht genommen.  Es  muss  bezweifelt  wer- 
den, ob  dies  Vorgehen  gerechtfertigt  ist. 
Denn  auch  ein  verschuldeter  Grundbesitzer 
muss  die  Bodenrente  ganz  oder  teilweise 
an  andere  Berechtigte  —  an  seinen  oder 
seine  Gläubiger  —  abführen.  Die  Aufnahme 
eines  Hypothekardarlehens  ist  ja  —  wirt- 
schaftlich genommen  —  ihrem  Wesen  nach 
nichts  anderes  als  die  Abtretung  eines 
Teües  der  Rente  des  betreffenden  Grund- 
stückes an  den  Darlehensgeber.  Es  ist  ein 
Ausfluss  der  jiuistischen  Beurteilung  der 
einschlägigen  Verliältnisse,  wenn  diese  Tei- 
lung der  Grundrente  bei  der  Veranlagung 
der  Grundsteuer  anders  beurteilt  wird  als 
diejenige,  die  zwischen  dem  zur  Leistung 
von  Gefällen  Verpflichteten  imd  dem  zum 
Empfange  derselben  Berechtigten  stattge- 
funden hat  Weil  im  letzteren  Falle  die 
Juristen  angenommen  haben,  dass  das  Grund- 
eigentum zwischen  den  beiden  zum  Renten- 
bezuge  berechtigten  Personen  geteüt  sei, 
wurde  auch  die  Steuerlast  geteilt,  während 
dies  im  Falle  der  Verschuldung  deshalb 
nicht  geschieht,  weil  hier  dem  Juristen  das 
Vorhandensein  einer  Teilung  des  Grund- 
eigentiuns  formalrechtlich  als  nicht  vorhan- 


888 


Grundsteuer 


den  gilt,  der  verschuldete  Besitzer  von  ihm 
vielmehr  geradeso  als  alleiniger  Eigentümer 
seines  Grundstückes  angesehen  wird  wie 
der  unverschuldete  und  demzufolge  dieser 
ihm  auch  als  der  aUein  zur  Tr^ung  der 
betreffenden  Grundsteuer  Berufene  erscheint. 
Der  wirtschaftlichen  Natur  des  zwischen 
Hypothekargläubiger  und  -Schuldner  be- 
stehenden Verhältnisses  würde  es  aber 
offenbar  viel  besser  entsprechen,  wenn  beide 
nach  den  jedem  von  ihnen  zufliessenden 
Anteilen  der  Bodenrente  als  Subjekte  der 
Grundsteuer  behandelt  werden  würden. 
Hierdurch  könnte  zugleich  ein  weiterer 
unter  den  Vorwürfen,  welche  der  Grund- 
steuer —  wie  den  Ertragssteuern  überhaupt 
—  gemacht  zu  werden  pflegen,  entkräftet 
werden :  der  der  Nichtberücksichtigung  der 
Verschuldung  der  Grundbesitzer  nämlich. 
Auch  dieser  oft  hervorgehobene  Mangel  der 
Grundsteuer  ist  demnach  kein  derselben 
schon  infolge  ihrer  Natur  anliängender,  son- 
dern nur  ein  durch  die  herkömmliche 
mangelhafte  Ausführung  derselben  verui'sach- 
ter.  Allerdings  darf  hier  nicht  unbeachtet 
gelassen  werden,  dass  die  Gläubiger,  wie 
die  Erfahnmg  gelehi-t  hat,  es  fast  immer 
verstanden  haben,  Steuerlasten,  die  ihnen 
aus  Anlass  ihrer  Berechtigung,  von  ihren 
Schuldnern  Leistungen  zu  verlangen,  auf- 
erlegt worden  sind  (Steuer  von  Zinsen 
hypothekarisch  sichergestellter  Kapitalien!), 
auf  diese  zu  überwälzen.  Es  muss  daher 
als  eine  offene  Frage  hingestellt  werden, 
ob  eine  etwaige  Heranziehung  der  Gläubiger 
zur  Tragimg  eines  Teiles  der  Grundsteuer 
besser  ausfallen  würde. 

Nach  dieser  Definition  des  Subjekts  der 
Grundsteuer  muss  auch  der  Staat  selbst, 
insoweit  er  Grundbesitzer  ist  (und  er  ist 
dies  ja  bekanntlich  vielfach  noch  in  sehr 
grossem  Umfange) ,  als  zur  Bezahlung  der 
Grundsteuer  verpflichtet  angesehen  werden; 
in  noch  höherem  Grade  gilt  dies  natürlich 
von  den  untergeordneten  Gemeinschaften 
öffentlich-rechtlicher  Natur.  Da  es  aber 
anderei^eits  doch  wieder  als  widemunig 
oder  doch  wenigstens  als  eine  weitgetriebene 
Principienreiterei  erscheint,  wenn  Einkünfte, 
die  selbst  schon  zur  Bestreitung  eben  der- 
selben Bedürfnisse,  welchen  die  Steuern 
dienen,  beistimmt  sind,  besteuert  werden,  so 
kann  man  der  Praxis  keinen  besonderen 
Vorwurf  daraus  machen ,  wenn  sie  diese 
sich  aus  der  Natur  der  Grundsteuer  eigent- 
lich ergebende  Konsequenz  nicht  immer  ge- 
zogen hat.  Jedenfalls  hat  die  Besteuerung 
dos  Gnindeigentums  des  Staates  nur  den 
Charakter  einer  Kassen  Operation :  der  Steuer- 
kassa wird  gegeben,  der  Domänenkassa  wird 
genommen.  Doch  besteht  ein  gewichtiger 
Grund  für  die  Besteuerung  des  staatlichen 
Grundbesitzers   —    wie   anderer  privat  wirt- 


schaftlicher Erwerbsquellen  des  Staates  — - 
darin,  dass  es  als  wünschenswert  angesehen 
werden  muss,  volle  Klarheit  darüber  zu  er- 
langen, wie  sich  der  Ertrag  desselben  im 
Vero:leiche  mit  demjenigen  des  in  den  Händen 
der  einzelnen  Bürger  befindlichen  gleicharti- 
gen werbenden  Vermögens  stellt  Dieser  Ver- 
gleich —  der  ja  für  die  praktische  Lösung 
der  Frage  nach  der  Angemessenheit  staat- 
lichen Grundeigentums  so  wichtig  ist  — 
wird  durch  die  etwaige  SteuerfreÄeit  des- 
selben sehr  erschwert,  wenn  nicht  ganz 
unmöglich  gemacht.  Allerdings  fällt  dieses 
gegen  die  gedachte  Steuerfreiheit  sprechende 
Argument  fort  bei  jenem  Teile  des  staat- 
lichen (oder  sonstigen  einer  Gemeinschaft 
öffentlich-rechtlicher  Natur  gehörigen)  Grund- 
l)esitzes,  dem  der  Charakter  einer  privat- 
wirtschafthchen  Erwerbsquelle  fehlt,  beim 
sogenannten  öffentlichen  Gute  nämlich 
(Strassen  und  sonstige  öffentliche  Wege, 
Friedhöfe,  als  öffentliches  Gut  behandelte 
Gewässer  und  dergleichen).  Diesem  Teile 
des  in  Rede  stehenden  Grundbesitzes  pflegt 
denn  auch  die  Befreiung  von  der  Grund- 
steuer ganz  allgemein  zugestanden  zu  werden. 

Ausser  der  oben  gemachten  giebt  es 
übrigens  noch  eine  Erwägung,  welche  die 
Freilassung  des  staatlichen  Grundbesitzes 
von  der  (jrundsteuer  häufig  als  unthunlich 
erscheinen  lässt:  diejenige  nämlich,  welche 
dadurch  hervorgerufen  wird,  dass  die  inner- 
halb des  Staates  bestehenden  öffentlich- 
rechtlichen Verbände  niedrigerer  Ordnung 
(Gemeinden  u.  s.  w.)  zur  Deckung  ihrer  Be- 
dürfnisse ^^elfach  auf  die  Einhebung  von 
Zuschlägen  zu  den  Staatssteuern  angewiesen 
sind  imd  aus  verschiedenen  Gründen  nicht 
darauf  verzichten  k()nnen,  auch  den  inner- 
halb ihrer  respektiven  Gebiete  befindlichen 
staatlichen  Grundbesitz  zur  Bezahlung  tlieser 
Zuschläge  heranzuziehen  (s.  den  Art.  Ge- 
meindefinanzen oben  Bd.  IV  S.  lOGff.); 
die  ümlegung  dieser  Zuschläge  auf  jenen  Be- 
sitz hat  mm  die  Veranlagung  der  staatlichen 
Grundsteuer  auf  denselben  zur  notwendigen 
Voraussetzung;  allerdings  würde  für  diesen 
Zweck  die  bloss  ideelle  Durcliführung  jener 
Veranlagiuig  genügen,  während  von  der  fak- 
tischen Einhebung  der  staatlichen  Grund- 
steuer ohne  Gefährdung  der  Eri-eichiuig 
desselben  Umgang  genommen  werden  könnte. 

4.  Aufgraben  der  Veranlagung  der  G. 
Es  ist  selbstverständlich,  dass  bei  der  Gnmd- 
steuer  ebenso  wie  bei  den  anderen  Steuer- 
arten das  bei  der  Veranlagung  dersell»en 
anzustrebende  Ziel  in  der  Realisierung  des 
Princips  der  Gerechtigkeit  der  Besteuerung 
besteht.  Es  fi-agt  sich  nun,  was  hier  unter 
einer  gerechten  Veranlagung  zu  verstehen  ist 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  ergiebt  sieh 
ans  der  Natur  der  Grundsteuer  von  selbst. 
Sie  ist  eine  zur  Erfassung  der  Bodenrente 


Grundsteuer 


.889 


bestimmte  Erlragssteuer ;  vormöge  dieser 
ihrer  Natur  braucht  bei  ihr  auf  die  Her- 
stellung einer  materiellen  Gerechtigkeit  in 
der  Veranlagimg,  welche  nur  in  einer  der 
wirklichen  Leistungsfäliigkeit  der  Steuer- 
träger entsprechenden  Verteilung  der  Steuer- 
last bestehen  könnte,  keine  Rücksicht  ge- 
nommen zu  werden:  bei  ihr  ist  vielmehr 
mu"  auf  jene  formelle  Gerechtigkeit  in  der 
Veranlagung  zu  sehen,  welche  sich  ergiebt, 
wenn  für  die  aUgemeine  und  gleichmässige 
Belastung  aller  einzelnen  Teile  ihres  Ob- 
jektes Sorge  getragen  wird.  Die  bei  der 
Veranlagimg  der  Gnmdsteuer  zu  lösende 
Aufgabe  besteht  also  darin,  jeden  einzelnen 
Teil  der  vom  Boden  eines  Staates  geliefer- 
ten Rente  mit  einem  eine  gleiche  Quote 
desselben  repräsentierenden  Steuerbetrage 
zu  belasten,  d.  h.  auf  jedes  einzelne  Grund- 
stück denjenigen  Gnmdsteuerbetrag  zu 
legen,  welcher  jener  Quote  der  gesamten 
Bodenrente  des  Staates,  die  durch  die  ge- 
samte Grundsteuerforderung  desselben  re- 
präsentiert wiixl,  gleichkommt 

Erst  in  der  neueren  Zeit  sind  in  den 
europäischen  Staaten  zum  Zwecke  der  Er- 
reichung dieses  Zieles  Massnahmen  einge- 
leitet worden,  welche  als  ernst  zu  nehmende 
Schritte  in  dieser  Richtung  angesehen  wer- 
den können.  Für  den  jener  sti-ammen  Or- 
ganisierung der  Regierungsgew^alt,  wie  sie 
gegenwärtig  in  diesen  Staaten  überall  zu 
finden  ist,  entbehrenden  mittelalterlichen 
Staat  erwies  sich  diese  Aufgabe  als  unlösbar, 
und  selbst  der  dem  Feudalismus  nachge- 
folgte aufgeklärte  Absolutismus  brachte  es 
nicht  weiter  als  zur  Anbahnung  des  zum 
Ziele  führenden  Weges,  auf  dem  der  mo- 
derne Staat  dann  fortgearbeitet  hat. 

Diese  Schwierigkeit  der  Durchfiihnmg 
einer  befiiedigenden  Veranlagimg  der  Gnmd- 
steuer hängt  damit  zusammen,  dass  die  Er- 
tragsfähigkeit der  einzelnen  Teile  des  wirt- 
schaftlich benutzten  Bodens  —  der  Güter 
oder  Grundstücke  —  nicht  gar  so  leicht  zu 
erkennen  ist,  als  man  auf  den  ersten  Blick 
meinen  möchte.  Wenn  man  der  Sache  nicht 
auf  den  Gnmd  sieht,  so  möchte  man  glau- 
ben, dass  es  gar  nicht  möglich  sei,  den  Er- 
trag der  Grundstücke  in  irgend  einer  Rich- 
tung der  allgemeinen  Kenntnis,  also  auch 
der  Erforschung  durch  den  Staat  zu  ent- 
ziehen. Die  Erfahmng  hat  nun  aber  schon 
längst  das  Gegenteil  gelehrt. 

Der  Staat  in  seiner  Eigenschaft  als  die 
Steuerhoheit  ausübendes  Gemeinwesen  wird 
nämlich  seitens  der  Grundbesitzer  nicht 
anders  behandelt  als  seitens  aller  übrigen 
Biu-ger,  an  welche  er  sich  mit  seinen  Steuer- 
forderungen wendet;  wenn  sie  auch  alle 
ihm  mit  mehr  oder  weniger  Bereitwilligkeit 
das  Recht  der  Einhebung  von  Steuern 
principiell  zugestehen,  so  betrachtet  es  doch 


jeder  einzelne  als  sein  gutes  Recht  —  oder 
doch  mindestens  als  kein  Unrecht  —  alles 
aufzubieten,  um  die  staatlichen  Fimktionäre 
zu  überaeugen ,  dass  speciell  diejenigen 
Steuerobjekte,  an  denen  er  interessiert  ist, 
ihn  in  besonders  geringem  Masse  zur  Steuer- 
zahlung befähigen.  Jeder  einzelne  Gnind- 
besitz3r  bestrebt  sich  also,  sobald  der  Staat 
die  Absicht  an  den  Tag  legt,  zum  Zwecke 
der  Veranlagung  der  Grundsteuer  die  Er- 
tragsfähigkeit der  Grundstticke  kennen  zu 
lernen,  den  mit  der  Ausführung  der  dies- 
bezüglichen Erhebungen  betrauten  Funktio- 
nären den  Ertrag,  der  aus  seinem  Besitztum 
gezogen  werden  kann,  so  gering  als  möglich 
erscheinen  zu  lassen.  Durch  diese  Be- 
mühungen der  Grundbesitzer  werden  mm 
dem  Staate  bei  der  Realisierung  jener  Ab- 
sichten Schwierigkeiten  in  den  Weg  gelegt, 
die  sich  als  gross  genug  erwiesen  haben, 
um  die  Frage  als  berechtigt  erscheinen  zu 
lassen,  ob  es  dem  Staate  überhaupt  möglich 
ist,  den  Ertrag  der  einzelnen  Grundstücke 
zum  Zwecke  der  Grundsteuerveranlagimg 
zuverlässig  zu  ermitteln.  Nun  ist  es  aber 
selbstvei-ständlich,  dass  ohne  eine  genaue 
Erkenntnis  dieses  Ertrags  von  einer  zuver- 
lässigen Feststellung  der  auf  jedes  einzelne 
Grundstück  bei  gerechter  Verteilung  der 
Last  entfallenden  Grundsteuer  nicht  die 
Rede  sein  kann.  Zu  dieser  Erkenntnis  des 
Ertrages  der  einzelnen  Grundstücke  zu  ge- 
langen muss  also  jeder  Staat  streben,  der 
die  Gnmdsteuer  in  gerechter  Weise  veran- 
lagen will.  Mit  der  Lösung  dieser  Aufgabe 
ist  die  Hauptsache  gethan;  die  Bestimmung 
der  auf  die  einzelnen  Grimdstücke  bei 
gleichmässiger  Verteilung  der  Steuerlast 
entfallenden  Leistung  ist,  wenn  einmal  der 
Ertrag  eines  jeden  der  ersteren  bekannt  ist, 
nur  noch  eine  ganz  einfache  Rechenaufgabe. 
5.  Aeltere  Methoden  der  Veranla^unj^. 
Der  Feudal-  und  Patrimonialstaat  suchte 
nun,  da  er  sich  zur  direkten  Lösung  der 
hier  gestellten  Aufgabe  ausser  stände  sah, 
dieselbe  häufig  auf  indirektem  Wege  zu 
lösen.  El'  ging  nämlich  regelmässig  nur 
von  einer  Schätzung  der  Leistungsfälligkeit 
ganzer  grosser  Gebietsteile  —  in  der  Regel 
der  einzelnen  kleineren  politischen  Gebilde, 
aus  welchen  er  entstanden  war  (Kronländer, 
Provinzen  und  dergleichen)  —  aus;  er 
glaubte  eben,  mit  genügender  Zuverlässig- 
keit beurteilen  zu  können,  wie  sich  die 
wirtschaftliche  Entwickelung  jedes  einzelnen 
dieser  Gebietsteile  zu  der  der  anderen  ver- 
halte; demzufolge  verteilte  er  jene  Gesamt- 
summe, welche  er  im  Wege  der  Grund- 
steuer hereinbringen  wollte ,  auf  Grund 
dieses  seines  Urteils  über  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Territorien  auf  diese,  den  Ver- 
tretungen derselben  die  weitere  Verteilung 
auf  kleinere   Gebiete   und   schliesslich   auf 


890 


Grundsteuer 


die  Individuen  überlassend.  Er  setzte  also 
eine  gewisse,  nach  seinen  Bedürfnissen  oder 
auf  Grund  einer  nach  irgend  welchen  An- 
haltspunkten vorgenommenen  Schätzung  der 
Leistungsfähigkeit  der  Gesamtheit  des  Grund- 
besitzes im  Staate  ermittelte  Grundsteuer- 
summe fest,  schrieb  einer  jeden  seiner  Pro- 
vinzen einen  bestimmten  Teilbetrag  der- 
selben zur  Aufbringimg  vor  und  kümmerte 
sich  weiterhin  nur  um  das  Einfliessen  die- 
ser einzelnen  Tangenten  der  ganzen  erwar- 
teten Grundsteuersumme.  Er  ging  hierbei 
von  der  —  an  sich  gewiss  nicht  unberech- 
tigten —  Voraussetzung  aus,  dass  es  den 
Angehörigen  der  einzelnen  Territorien  ver- 
möge ihrer  besseren  Kenntnis  der  bei  der 
Beurteilung  der  Angemessenheit  der  weite- 
ren Verteilung  der  aufzubringenden  Steuer- 
summe in  Betracht  kommenden  lokalen  Ver- 
hältnisse leichter  möglich  sein  werde,  hier- 
bei das  Richtige  zu  finden  als  ihm. 

Die  Provinzen  gingen  dann,  wenn  ihre 
Grösse  die  sofortige  Verteilung  der  aufzu- 
bringenden Steuersumme  auf  die  Individuen 
als  nicht  thunlich  erscheinen  Hess,  ihrer- 
seits wieder  in  derselben  Weise  vor  wie 
der  Staat;  sie  verteilten  die  ihnen  aufer- 
legte Leistung  in  gleicher  Weise  auf  die 
nächststehenden  staatlichen  Organismen 
(Kreise  und  dergleichen),  woran  sich  viel- 
leicht' noch  eine  weitere  Verteilung  an  nie- 
driger stehende  derlei  Organismen  (Bezirke, 
Gemeinden)  anschloss,  bevor  es  endlich  zur 
individuellen  Verteilung  kam.  Diese  sollte 
erst  im  kleinsten  Kreise  von  den  betreffen- 
den beteiligten  Grundbesitzern  unter  sich 
vorgenommen  werden ,  indem  von  diesen 
vorausgesetzt  wurde,  dass  sie  sich  hierbei 
über  die  individuellen  Leistungen  auf  Grund 
gegenseitiger,  der  Wahrheit  entsprechender 
Schätzung  der  Erträge  der  einzelnen  Güter 
aufs  beste  einigen  würden.  Bei  diesem 
Verfahren  —  das  als  eine  in  geradezu  typi- 
scher Weise  durchgeführte  Kontingentierung 
zu  bezeichnen  ist  —  wurde  also  seitens  des 
Staates  nicht  der  Ertrag  der  einzelnen 
Grundstücke ,  sondern  der  des  gesamten 
daselbst  und  in  den  einzelnen  jenen  büden- 
den  grösseren  und  kleineren  Territorien 
vorhandenen  Grundbesitzes  geschätzt.  Selbst 
bei  der  zuletzt  erfolgenden,  individuellen 
Verteilung  fand  kaum  jemals  eine  Schätzung 
des  Ertrages  der  Grundstücke  statt;  denn 
da  es  zuletzt  einzelnen  Gruppen  von  Guts- 
*  besitzen!  überlassen  wui-de,  die  ihnen  auf- 
erlegte Grundsteuer  unter  sich  zu  verteilen, 
so  iiatten  diese  kein  Interesse,  sich  bei  der 
Ermittelung  der  einen  jeden  von  ihnen 
treffenden  Steuerlast  auf  weitere  Detaüs 
einzulassen,  als  zur  Einigung  hierüber  nötig 
war;  hierzu  genügte  aber  offenbar  eine 
ganz  allgemein  gehaltene,  nur  den  Gesamt- 
besitz  jedes   einzelnen   —   das  Gut  —  in 


Betracht  ziehende  Beurteilung  seiner  Leis- 
tungsfähigkeit; eine  etwaige  Ertrags- 
schätzung erstreckte  sich  also  hier  nur  auf 
die  einzelnen  Güter,  nicht  auf  die  ParzeUea 
—  vorausgesetzt,  dass  sie  überhaupt  statt- 
fand und  die  einzelnen  Gutsbesitzer  sich 
nicht  (was  vielleicht  die  Regel  bildete)  ohne 
ausdrückliche  Einschätzung  der  Erträge 
ihrer  Güter  mit  einer  ganz  aUgemeinen 
Vergleichung  der  Ertragsfähigkeit  derselben 
begnügten. 

Es  bedarf  nicht  vieler  Worte,  um  nach- 
zuweisen, dass  dieses  System  der  Veran- 
lagung der  Grundsteuer  auf  die  Dauer  nicht 
befriedigen  konnte.  Dasselbe  beruhte  ja 
auf  lauter  höchst  vagen  Annahmen  und 
Schätzungen.  Schon  die  erste  Feststellung, 
die  des  Ertrages,  welcher  von  der  Grund- 
steuer im  ganzen  Staate  erwartet  wurde 
(der  Gnmdsteiierhauptsumme) ,  musste  in 
einer  Weise  erfolgen ,  welche  vor  einer 
irgend  ernsten  Prüfung  nicht  standhalten 
konnte  und  nicht  anders  denn  als  willkür- 
lich zu  bezeichnen  war.  Und  diese  Will- 
kürlichkeit kennzeichnete  das  ganze  System 
in  allen  seinen  einzelnen  Teilen:  willkür- 
lich war  die  Schätzung  der  Provinzen, 
ebenso  willkürlich  war  auch  die  der  Kreise, 
Bezirke  und  Gemeinden.  Ja  selbst  hinsicht- 
lich der  Schlussverteilung  der  Steuerlast 
auf  die  Individuen  bot  dieses  System  gar 
keine  Garantie  der  Erzielung  jener  Gleich- 
mässigkeit  in  der  Verteilung  der  Steuerlast, 
welche  allein  den  Forderungen  der  Gerech- 
tigkeit entsprechen  kann;  das  Individuum 
war  ganz  dem  guten  Willen  seiner  Genossen 
überantwortet,  welche  es  in  der  Hand 
hatten,  durch  Einigung  unter  einander  über 
eine  beliebige  Annahme  hinsichtlich  des 
Ertrages  seiner  Grundstücke  ihm  eine  über- 
grosse Steuerlast  zuzuwälzen,  die  ihrige 
aber  ebenso  ungebührlich  zu  verringern. 
Wer  aus  was  immer  für  Gründen  innerhalb 
jener  Gemeinscliaft  von  Steuerzahlern,  zu 
der  er  gehörte,  eine  ungünstige  Position 
hatte,  war  der  (Gefahr  der  grössten  Benach- 
teiligung geradezu  schutzlos  preisgegeben. 
Es  erhellt,  dass  die  Folge  einer  längeren 
Herrschaft  dieses  Systems  schliesslich  eine 
ganz  unerträgliche  Ungleichmässigkeit  in 
der  Verteilung  der  Steuerlast  sein  musste. 

Uebrigens  kamen  auch  schon  im  Feudal- 
und  Patrimonialstaate  Versuche  vor,  die 
Grundsteuer  in  vollkommenerer  Weise  umzu- 
legen, als  mit  Hilfe  des  eben  geschilderten 
rohen  Repartierungssystems  möglich  war. 
Insbesondere  wurde  schon  frühzeitig  ver- 
sucht, die  Grundsteuer  als  Quotitätssteuer 
zu  veranlagen.  Doch  geschah  auch  dies 
stets  nur  mit  Hilfe  einer  mehr  oder  minder 
rohen  Schätzung  von  Gütererträgen.  An 
eine  Steuerveranlagung  im  Wege  der  ge- 
nauen  Ermittelung    der    vom  Ertrage    der 


Grundsteuer 


891 


einzelnen  Grrund stücke  abzuführenden  Quoten 
vnyrdo  nicht  gedacht,  schon  dämm  nicht, 
-weil  der  damalige  Staat  keine  Mittel  hatte, 
den  Ertrag  der  Grundstücke  zu  ermitteln. 
Auch  die  als  Quotitätssteuer  umgelegte 
Grundsteuer  hatte  geradeso  wie  die  im 
"Wege  der  Repartierung  umgelegte  den 
Charakter  einer  Gütersteuer,  nicht  den 
einer  eigentlichen  Grundsteuer.  Sie  war 
also  überhaupt  nicht,  wie  die  moderne 
Gnmdsteuer,  eine  Belastung  einzelner,  in- 
dividuell scharf  gesonderter  Ertragsobiekte, 
sondern  eine  solche  einzelner  ganzer  Wirt- 
schaftsköi"per  und  näherte  sich  hiermit 
schon  sehr  dem  Charakter  einer  Besteuerung 
der  Eigentümer  dieser  Wirtschaftskörper 
nach  deren  durch  diese  ihre  Stellung  be- 
dingter allgemeiner  Leistungsfähigkeit.  Sie 
war  auch  meist  als  solche  gememt;  wenn 
sie  in  einer  Form  auftrat,  die  sie  als  Grund- 
steuer erscheinen  liess,  so  hatte  dies  seinen 
Grund  in  der  überragenden  Bedeutung, 
welche  dem  Grundbesitze  im  Wirtscliafts- 
systeme  jener  Zeit  zukam.  Der  Grundbe- 
sitz war  ja  damals  nicht  nur  eine  einzelne 
Art  von  Vermögen ,  sondern  —  •  nahezu 
wenigstens  —  das  Vermögen  überhaupt. 
Die  Besteuerung  des  Ei-trags  aus  Grundbe- 
sitz war  also  fast  identisch  mit  einer  allge- 
meinen Ertragsbesteuerung.  Es  lag  für  den 
alten  Staat  wenig  Anlass  vor,  jene  scharfe 
Scheidimg  zwischen  den  einzelnen  Ertrags- 
quellen vorzunehmen,  welche  der  moderne 
glaubt  vornehmen  zu  müssen;  insbesondefe 
bei  den  Gutsbesitzern,  welche  damals  noch 
nicht  so  wie  heutzutage  neben  der  Be- 
bauung ihres  Bodens  noch  allerlei  gewerb- 
liche Thätigkeit  ausübten,  war  die  Veran- 
lassung zu  einer  solchen  Scheidung  eine  so 
geringe,  dass  der  Staat,  dem  es  damals 
übei-dies  auch  noch  an  der  technischen 
Eignung  zu  einem  eindringlicheren  Vor- 
gehen fehlte,  sich  füglich  für  berechtigt 
halten  konnte,  ganz  darüber  hinwegzugehen. 
So  konnte  er  sich  denn  am  Ende  wirklich 
bei  der  Umlegung  der  Grundsteuer  nach 
Massgabe  des  Ertrags  der  Güter  beruhigen. 

üebrigens  wurde  der  alte  Staat  durch 
die  Unvollkommenheit  seiner  Organe  auch 
noch  obendrein  genötigt,  meistenteils  selbst 
auf  die  Cmlegung  der  Grundsteuer  nacli 
Massgabe  der  Bodenrente  zu  verzichten.  Er 
sah  sich  vielmehr  in  der  Regel  veranlasst, 
die  Grundsteuer  —  resp.  die  sonstigen  mit 
derselben  in  Parallele  zu  stellenden  Leistungen 
der  Individuen  an  ihn  —  nach  Massgabe 
des  Bruttoertrags  der  Gnmdstücke  umzu- 
legen. Dieser  ist  leichter  zu  eruieren  als 
die  Bodenrente  und  bot  sich  somit  dem 
Staate  als  ein  leichter  zu  handhabender 
Massstab  der  Veranlagung  dar. 

Es  bedarf  nicht  vieler  Worte,  um  dar- 
zuthun,  dass  auch  diese  Systeme  zu  keinen 


befriedigenden  Resultaten  führen  konnten. 
Es  sei  hierbei  ganz  abgesehen  von  der  tech- 
nischen Unvollkommenheit  der  Ausführung, 
welche  bewirkte,  dass  mittelst  der  in  Rede 
stehenden  Methode  thatsächlich  nicht  ein- 
mal jenes  Mass  von  Gleichmässigkeit  der 
Veranlagimg  erzielt  werden  konnte,  welches 
durch  dieselbe  der  Natur  der  Sache  nach 
immerhin  erzielbar  war.  Aber  auch  dieses 
erreichbare  Mass  kann  als  kein  befriedigendes 
bezeichnet  werden.  Eher  noch  bei  der 
Steuerveranlagung  auf  Grund  einer  Schätzung 
des  reinen  Güterertrags.  Es  ist  am  Ende 
denkbar,  dass  der  Nettoertrag  der  Güter  in 
einer  Weise  gleichmässig  eruiert  wu'd, 
welche  auch  eine  gleichmässige  Steuer- 
verteiiung  möglich  macht ;  freihch  erscheint 
für  die  Praxis  die  Schwierigkeit  der  Lösung 
dieser  Aufgabe  als  eine  fast  unüberwind- 
liche ;  ein  ganzes  Gut  ist  ja  immer  ein  sehr 
komplizierter  Wirtschaftskörper,  dessen  Er- 
tragsfähigkeit auf  Grund  einer  blossen  Be- 
urteilung der  Gesamtheit  desselben  so 
schwer  abzuschätzen  ist,  dass  diese  Ab- 
scliätzung  kaum  beim  bereitwilligsten  Ent>- 
gegenkommen  aller  Beteiligten  mit  be- 
friedigender Sicherheit  möglich  ist ;  wie  die 
Resultate  der  Beurteilung  dann  ausfallen 
müssen,  wenn  dieses  Entgegenkommen  nicht 
vorhanden  ist ,  ja  geradezu  das  Gegenteü 
hiervon  sich  fühlbai-  macht,  ist  leicht  ein- 
zusehen. Noch  schlimmer  steht  die  Sache 
aber  bei  der  Veranlagung  auf  Grund  des 
Bruttoertrags.  Diese  ist  eine  schon  im 
Principe  verfehlte  Massregel,  Die  Grund- 
steuer soll  ja  eine  Besteuerung  der  Grund- 
rente sein.  Es  ist  klar,  dass  diese  auf 
Grund  der  Veranlagung  nach  dem  Roh- 
ertrage des  Grundbesitzes  in  befriedigender 
Weise  nur  dann  erfolgen  könnte,  wenn 
zwischen  Rohertrag  und  Rente  bei  allen 
Grundstücken  das  gleiche  Verhältnis  bestände. 
Davon  kann  aber  bekanntlich  nicht  die 
Rede  sein;  dieses  Verhältnis  ist  ein  sehr 
verscliiedenes  bei  den  verschiedenen  Grund- 
stücken, und  deshalb  muss  auch  die  Steuer- 
veranlagung nach  dem  Rohertrage  mit 
Natui'notwendigkeit  zu  den  grössten  Un- 
gleichmässigkeiten  führen. 

6.  Moderne  Veranla^migsmethode : 
Katastrienmg  der  Grundstücke.  Die 
Staaten  haben  denn  auch  schliesslich  die 
Unvollkommenheit  der  bisherigen  Veran- 
lagungsmethoden erkannt.  Mit  dem  18.  Jahr- 
hundert beginnen  die  Versuche,  zu  einem 
besseren  Systeme  zu  gelangen,  und  gegen- 
wärtig ist  allgemein  die  Ansicht  zur  Geltung 
gekommen,  dass  eine  befriedigende  Veran- 
lagung der  Gnmdsteuer  nicht  anders  mög- 
lich sei  als  auf  Grund  einer  möglichst  ge- 
nauen Ermittelung  der  Rente  der  einzelnen 
Grundstücke,  welche  ihrerseits  wieder  nur 
mit  Hilfe   einer  genauen  Vermessung  und 


892 


Ginindsteuer 


Ennittelung  der  wesentlichsten,  den  Ertrag 
beeinflussenden  Verhältnisse  jedes  einzelnen 
derselben  bewerkstelligt  werden  kann.  Diese 
eine  Beschreibung  der  einzelnen  Gnindstücke 
bildenden  Daten  werden  in  eine  Zusammen- 
stellung (Kataster)  aufgenommen,  welche 
eine  Uebersicht  derselben  biJ.det  und  auf 
Gnmd  deren  dann  die  auf  jedes  Grundstück 
entfallende  Grundsteuerziffer  als  Quote  des 
Ertrags  berechnet  werden  kann.  Die  mo- 
derne Grundsteuer  beruht  also  auf  der  Her- 
stellung eines  detaillierten  Grundstückka- 
tasters. Diese  bildet  die  —  nicht  leicht  zu 
lösende  —  Hauptaufgabe,  welche  der  Finanz- 
verwaltung hinsichtlich  der  Veranlagung 
der  Grundsteuer  gegenwärtig  gestellt  ist. 

7.  Einleitende  Schritte  znr  Her- 
stellung des  Katasters.  Die  ersten  Schritte 
zur  Lösung  dieser  Aufgabe  bieten  freilich 
keine  besonderen  Schwierigkeiten.  Die- 
selben bestehen  in  der  Konstatienmg  und 
Bezeichnung  der  Grundstücke.  In  allen  hier 
in  Betracht  kommenden  Staaten  ist  der 
Grundbesitz  durchaus  in  genau  abgegrenzte 
Abschnitte  (Parzellen)  geteilt,  deren  jede 
ein  Bewirtschaftungsobjekt  für  sich  bildet. 
Diese  Parzellen  ohne  Ausnahme  aufzunehmen 
und  zu  verzeichnen,  fällt  der  modernen 
Staatsverwaltung  nicht  schwer.  Es  bedarf 
hierzu  nur  der  Herstellung  genauer,  in 
einem  die  Ersichtlichmacliung  aller  Parzellen 
ermöglichenden  Massstabe  anzufertigender 
Karten  (Flurkarten,  Mappen).  Diese  Karten 
haben  die  Form  und  gegenseitige  Lage  aller 
Parzellen  auszuweisen;  ausserdem  müssen 
sie  noch  die  Nummern  derselben  enthalten. 
Diese  haben  den  Zweck,  die  jederzeitige 
leichte  Auffindung  jeder  einzelnen  Parzelle 
im  zweiten  Hauptbestandteile  des  ganzen 
Katasterwerkes,  als  welches  ein  genaues, 
die  Parzellen  nach  der  Nummernordnung 
anführendes  Verzeichnis  anzusehen  ist,  zu 
ermöglichen.  Die  Sorge  dafür,  dass  keine 
Parzelle  der  Aufnahme  in  die  Karte  und 
in  das  Verzeichnis  entzogen  werde,  ist  Sache 
einer  Kontrolle  durch  entsprechend  technisch 
gebildete  Organe  (Feldmesser,  Geometer), 
welchen  selbstverständlich  auch  die  Her- 
stellung der  Katastralkarten  obüegt.  Sache 
dieser  Funktionäre  ist  es,  das  Ten^ain  zu 
begehen,  die  Situationspläue  an  Ort  und 
Stelle  aufzunehmen  und  dafür  zu  sorgen, 
dass  die  Karte  keine  Lücke  aufweise  und 
ein  genaues  Bild  der  gegenseitigen  Lage 
und  Begrenzung  aller  einzelnen  Parzellen 
biete. 

Es  ist  allerdings  denkbar  und  auch  schon 
geschehen ,  dass  ein  Kataster  ohne  Karte 
nur  auf  Grund  des  Parzellen  Verzeichnisses 
hergestellt  worden  ist.  Es  ist  ja  ganz  gut 
möglieli,  auf  Grund  einer  blossen  Begehung 
des  Torrains  zu  konstatieren,  dass  in  einer 
gewissen  Gegend  (Flur,  Ried  und  dergleichen) 


so  und  so  viele  Parzellen,  welche  in  dieser 
oder  jener  Reihenfolge  neben  einander  liegen, 
vorhanden  sind.  Es  ist  aber  leicht  einzusehen, 
dass  ein  solches  Parzellenverzeichnis  ohne 
Karte  niemals  jene  Gewähr  für  die  Aus- 
schliessung von  Lücken  bietet,  welche  durch 
die  Heranziehung  der  Karte  zur  Kontrolle 
geboten  werden  kann.  Auch  bietet  ein 
ohne  Karte  hergestelltes  Parzellenverzeichnis 
keine  Möglichkeit,  nach  Verlauf  eines  mir 
halbwegs  erheblichen  Zeitraums  nach  seiner 
HersteJiung  noch  etwaigen  Anfechtungen 
seiner  Angaben  entgegenzutreten.  Es  ist 
ja  selbstverständlich,  dass  ein  jeden  Zweifel 
ausschliessender  Beweis  dafür,  welche  im 
Terrain  befindliche  Parzelle  mit  irgend  einer 
im  Verzeichnisse  angeführten  identisch  ist, 
nur  mit  Hilfe  einer  zu  diesem  Verzeich- 
nisse gehörigen  Karte  geführt  werden  kann. 

8.  Vermessung  der  ParzeUen;  Her- 
stellung von  Flurkarten.  Mit  der  Auf- 
nahme der  Parzellen  in  die  Karte  geht  die 
Vermessung  derselben  Hand  in  Hand.  Es 
leuchtet  ein,  dass  einen  der  Hauptfaktoren 
des  Ertrages  der  Parzellen  deren  Grösse 
bildet.  Die  Ermittelung  derselben  muss 
also  seitens  der  mit  der  Veranlagung  der 
Gnmd  Steuer  betrauten  Organe  mit  grösster 
Genauigkeit  erfolgen,  w^elche  lunsomehr  ge- 
fordert werden  kann,  als  sie  leicht  möglich 
ist.    Die  Feldmesskunst  —  die  ja  uralt  ist 

—  gestattet  die  vollkommenste  Lösung  dieser 
Aufgabe,  welche  übrigens  zugleich  mit  der 
Herstelhmg  der  Karte  erfolgt  und  von  dieser 
gar  nicht  zu  trennen  ist,  wenn  die  Karte 
mehr  sein  soll  als  ein  blosses  Croquis.  Denn 
auch  die  gegenseitigen  Grössen  Verhältnisse 
der  Parzellen  —  durch  deren  genaue  Ein- 
haltung auf  der  Karte  ja  die  richtige  Dar- 
stellung der  Form  und  gegenseitigen  Lage 
dei-selben  bedingt  ist  —  können  nm*  mit 
Hilfe  einer  genauen  Vermessung  der  Grenzen 
richtig  zur  bildlichen  Darstellung  gobi'aoht 
wenlen.  Die  blosse  Beurteilung  nach  dem 
Augenmasse  oder  Messungen  mit  unvoll- 
kommenen Hilfsmitteln  —  Abzählen  der 
Schritte  und  dergleichen  —  liefern  nur  un- 
genaue Resultate.  Dies  wird  gegenwärtig 
auch  von  der  Praxis  anerkannt,  in  welcher 
dermalen  eine  andere  Vermessimg  als  die 
diu-ch  Geometer  von  Fach  wolil  kaum  mehr 
vorkommt.  Bei  den  ersten  Vorsuchen  zur 
Umlegung  der  Grundsteuer  mit  Hilfe  von 
Parzellen  katastern  glaubte  man  sich  aller- 
dings auch  mit  einer  roheren  Vermessung 
der  Parzellen  —  deren  Vornahme  sogjir 
dem  Interessenten   selbst   überlassen  wunie 

—  behelfen  zu  können.  Die  Resultate  einer 
I  solchen  Vermessung  sind  aber  längst  als 
j  unbefriedigend  anerkannt  worden. 

9.  Berücksichtigung  der  Kultur- 
gattungen.  Neben  der  Grösse  der  ParzeUen 
bildet  einen   weiteren   Hauptfaktor   des   zu 


Gnindsteiier 


893 


ermittelnden  Ertrages  die  Art  der  Bewirt- 
schaftung derselben,  die  Kulturgattung.  Die 
wirtschaftliche  Ausnützung  des  Bodens  er- 
folgt ja  in  der  verschiedensten  Weise:  als 
Wäd,  Wiese,  Weide,  Acker,  Garten  (W^ein-, 
Obst-,  Gemüse-,  Blumengarten)  etc.  Es  ist 
bekannt,  dass  die  Einträglichkeit  dieser  ver- 
schiedenen Kulturgattungen  eine  sehr  ver- 
schiedene ist.  Welche  Kulturgattung  immer 
aber  auf  dieser  oder  jener  Parzelle  vorkommt, 
so  kann  es  doch  keinem  Zweifel  unterliegen, 
dass  die  jeweils  vorkommende  stets  die- 
jenige ist,  von  welcher  der  Eigentümer  der 
betreffenden  Parzelle  nach  den  ihm  zu  Ge- 
bote stehenden  Erfahnmgen  den  grössten 
Ertrag  erwartet  und  dass  —  da  diese  Er- 
wartimg wohl  nur  ausnahmsweise  auf  einer 
irrigen  Beurteilung  der  einschlägigen  Ver- 
hältnisse beruht  —  in  der  Regel  auch  an- 
genommen werden  muss,  dass  der  durch 
jene  Kulturgattung  erzielbare  Ertrag  mit 
dem  höchsten,  auf  der  in  Betracht  kommen- 
den Parzelle  momentan  überhaupt  erzielbaren 
identisch  ist.  Eine  Ausnahme  hiervon  machen 
nur  die  zu  Vergnügungs-  und  Erholungs- 
zwecken dienenden  und  diesen  entsprechend 
behandelten  Ländereien.  Von  dieser  gering- 
fügigen Ausnahme  abgesehen,  ist  bei  allen 
Grundstücken  der  Scliluss  gestattet,  dass 
eben  die  Rücksicht  auf  den  darauf  zu  er- 
zielenden Ertrag  die  Wahl  der  Kulturgattung 
bestimmt  hat;  hieraus  ergiebt  sich  dann 
von  selbst,  welche  wichtige  EloUe  bei  der 
Ermittelung  des  Ertrags  der  Grundstücke 
der  Kenntnis  der  darauf  zur  Anwendung 
gelangenden  Kulturgattung  zukommt. 

Die  Eruieruug  der  Kulturgattungen  durch 
die  Oi'gane  der  Steuer  Verwaltung  bietet  nun 
auch  noch  keine  besonderen  Schwierigkeiten. 
Sie  sind  ja  äusserlich  gerade  so  wahrnehm- 
bar wie  das  Grundstück  an  sich,  seine 
Lage,  Form  und  Grosse.  Hier  hat  die 
Katastrienmg  also  noch  immer  eine  leichte 
Aufgabe. 

Da  die  Kulturgattung  bei  der  Beurteilung 
des  Ertrages  der  Grundstücke  eine  so  wich- 
tige RoUe  spielt,  so  ist  es  leicht  begreiflich, 
dass  sie  ebenso  wie  die  einer  jeden  Parzelle 
auf  der  Flurkarte  beigefügte  Nummer  und 
die  Grosse  der  ersteren  zu  den  im  Kataster 
ersichtlich  zu  machenden  Daten  über  die 
Verhältnisse  der  einzelnen  Parzellen  zu 
zählen  ist.  Diese  Ersichtlichmachung  wird 
dadurch  vollzogen,  dass  im  Parzellenver- 
zeichnisse bei  jeder  Nummer  auch  die  Grösse 
der  betreffenden  Parzelle  und  die  Kultur- 
gattung, in  welche  dieselbe  gehört,  einge- 
tragen werden. 

10.  Abschlnss  der  Vorbereitangen 
zur  ErtragsschätzuDg.  Das  mit  den  bis- 
her besprochenen  Daten  versehene  Parzellen- 
verzeichnis hat  selbstverständlich  keine  an- 
dere Bedeutung  als  die  einer  zweckmässigen 


Handhabe  zur  Durchführung  der  den  Zweck 
der  ganzen  Katastrienmg  bildenden  Schätzung 
des  Ertrages  der  Parzellen.  Es  soll  die- 
jenigen auf  diese  bezüglichen  Daten  zu- 
sammenstellen, welche  für  jene  Schätzung 
von  Bedeutung  und  äusserlich  leicht  wahr- 
nehmbar sind  und  überdies  mit  Worten 
oder  Ziffern  leicht  ausgedrückt  werden 
können;  andererseits  hat  die  Katastralkarte 
über  diejenigen  Verhältnisse  Aufschluss  zu 
geben,  welche  nur  mit  Hilfe  bildlicher  Dai*- 
stellimg  zum  Ausdrucke  gebracht  werden 
können,  also  über  die  Form  und  gegenseitige 
Lage  der  Parzellen.  In  letzterer  Beziehung 
kann  die  Handlichkeit  des  ganzen  Kataster- 
werkes nicht  unwesentlich  dadm*ch  gefördert 
werden,  dass  Karte  und  Parzellenverzeichuis 
ausser  mit  den  in  erster  Linie  ziu*  Ermög- 
lichung der  Aufsuchung  der  Parzellen  in 
beiden  bestimmten  Nummern  auch  noch  mit 
möglichst  genauen  Bezeichnungen  der  Oert- 
lichkeiten,  in  welchen  die  einzelnen  Parzellen 
sich  befinden,  ausgestattet  werden.  Das 
Nächstliegende  ist  hier  natürlich  die  Be- 
zeichnung der  Gemeinde.  Es  ist  aber  mit 
ganz  geringer  Mühe  verbunden  und  dabei 
doch  selu*  nützlich,  wenn  die  Bezeichnung 
eine  noch  genauere  ist  und  sich  auch  auf 
die  Aufnahme  der  Namen  einzelner  Gegen- 
den (Riede,  Fluren  etc.)  innerhalb  der  Ge- 
meinden erstreckt.  Jedenfalls  ist  eine  solche 
nähere  Bezeichnung  bei  Gemeinden  mit 
ausgedehntem  Gebiete  am  Platze. 

Mit  der  Anfertigung  der  Karte  und  des 
Parzellenverzeichnisses  erscheinen  die  Vor- 
bereitungen für  die  Ertragsermittelung  ab- 
geschlossen und  das  Katasterwerk  reif  zur 
Verwendung  als  Grundlage  für  diesen 
weiteren  und  wichtigsten  Teil  der  ganzen 
Veranlagungsarbeit. 

11.  Die  Ertragsschätzung  im  allge- 
meinen. Da  die  Aufgabe  des  Katasters 
darin  besteht,  das  Material  für  die  Veran- 
lagung der  Grundsteuer  nach  Massgabe  des 
Ertrages  zu  liefern,  so  kann  das  Kataster 
selbstverständlich  erst  dann  als  abgeschlossen 
betrachtet  werden,  wenn  es  auch  diesen  bei 
einem  jeden  Grundstücke  ersichtlich  macht. 
Ja  strenge  genommen  brauchte  es  ausser 
der  Bezeichnung  der  Grundstücke  überhaupt 
nichts  weiter  zu  enthalten  als  die  Angaben 
über  den  ermittelten  Ertrag.  Die  Aufnahme 
von  Angaben  in  betreff  der  Form,  Lage, 
Grösse  und  Kultm-gattung  bezweckt  nm*  die 
Herbeischaffung  von  Materialien  zur  befrie- 
digenden Durchführung  der  Ermittelung  des 
Ertrages.  Denn  gerade  bei  der  Lösung 
dieser  Hauptaufgabe  der  ganzen  Veranlagungs- 
arbeit beginnen  erst  die  Schwierigkeiten 
derselben.  Eben  diese  sind  es,  welche  die 
bisher  besprochenen  Vorbereitungsarbeiten 
notwendig  machen.  Beständen  dieselben 
nicht,  wäre  die  Feststellung   des  Ertrages 


894 


Grundsteuer 


der  Grundstücke  eben  so  leicht,  wie  die- 
jenige der  äusseren  Kennzeichen  derselben, 
80  könnte  unmittelbar  an  jene  gegangen 
werden. 

Wodurch  die  Schwierigkeiten  der  Ertrags- 
ermittelung herbeigeführt  werden,  wurde 
schon  oben  auseinandergesetzt.  Es  handelt 
sich  also  jetzt  nur  melir  um  das  behufs 
üeberwindung  jener  Schwierigkeiten  Vorzu- 
kehrende. 

Es  ist  klar,  dass  die  Lösung  der  Auf- 
gabe, vor  welche  die  Staatsgewalt  hier  ge- 
stellt ist,  eigentlich  nur  dann  eine  voll- 
ständig befriedigende  wäre,  wenn  der  Ertrag 
eines  jeden  Gnmdstückes  durch  eine  voll- 
ständig sichere  ziffermässige  Feststellung 
ermittelt  werden  würde.  Die  Praxis  hat 
es  aber  kaum  jemals  versucht,  eine  derartige 
Ertragsermittelung  durchzuführen,  weil  sie 
über  die  Schwierigkeiten,  die  eiuem  der- 
artigen unternehmen  entgegenstehen  würden, 
durch  die  Erfahrung  in  genügendem  Masse 
belehrt  worden  war,  um  auf  dasselbe  von 
vornherein  zu  verzichten. 

Die  auf  die  möglichste  Yermindenmg 
der  eigenen  Steuerlast  gerichteten  Bestre- 
bungen aller  einzelnen  Steuerträger  machen 
nämlich  dem  Staate  schon  von  vornherein 
eine  eigentliche  »Ermittelung«  des  Ertrages 
der  Grundstücke  unmöglich.  Infolgedessen 
ist  die  Staatsverwaltung  darauf  angewiesen, 
sich  mit  blossen  schätzungsweisen  Feststel- 
lungen zu  begnügen.  Die  Ermittelung  des 
Grundertrages  erfolgt  also  nur  im  Wege 
einer  Schätzung  desselben. 

Uebrigens  wird  selbst  diese  blosse  Er- 
tragsschätzung in  der  Praxis  nicht  in 
jener  Weise  durchgeführt,  welche  im  Hin- 
blick auf  das  dabei  verfolgte  Ziel  eigentlich 
angewendet  werden  sollte.  Hierzu  wäre  ja 
im  Grunde  genommen  die  individuelle 
Schätzung  einer  jeden  einzelnen  Parzelle 
notwendig.  Die  Praxis  hat  aber  auch  diese 
als  undurchführbar  erkannt  und  sich  dem- 
gemäss  ganz  allgemein  für  ein  Schätzungs- 
verfahren entschieden,  bei  welchem  nur  auf 
die  generellen  Merkmale  der  Ertragsfähigkeit 
Rücksicht  genommen  wird  und  die  Grund- 
stücke demnach  nicht  individuell,  sondern 
nur  generell  beurteilt  werden. 

12.  Ertrag-skataster  oder  Wertka- 
taster? Uebrigens  hat  auch  die  bloss 
generell  durchzuführende  unmittelbare  Schät- 
zung des  Ertrages  der  Parzellen  sich  in  der 
Praxis  stets  als  ein  so  schwieriges  Werk 
erwiesen,  dass  mehrfach  daran  gedacht  wor- 
den ist,  diese  Lösung  auf  indirektem  Wege 
zu  vereuchen.  Ausgehend  nämlich  von  der 
Annahme,  dass  zwischen  dem  Ertrage  und 
dem  Werte  der  Grundstücke  eine  derart 
feste  Relation  besteht,  dass  von  diesem 
Werte  auf  jenen  Erfrag  geschlossen  werden 
könne,   ist   angenommen    worden,    dass    es 


zweckmässiger  sei,  statt  des  Ertrages  den 
Wert  abzuschätzen  und  die  Grundsteuer  auf 
Grund  der  Resultate  dieser  Wertermitte- 
lung umzulegen,  weO  der  Wert  der  Grund- 
stücke leichter  zu  ermitteln  sei  als  ilir  Er- 
trag. 

In  der  Praxis  hat  diese  Argumentation 
freilich  nicht  viel  Beifall  gefunden.    Nicht 
als  ob  schlechthin  hätte  bestritten  wei-den 
wollen,   dass   die   Ermittelung   des  Wertes 
der   Grundstücke   leichter   sei  als  die   des 
Ertrages.    Für    die  Wertermittelung  bieten 
Kaufverti'äge,  Erbteilungen  und  dergleichen 
so  viele  verhältnismässig   leicht   erfassbare 
Anhaltspunkte,  dass  jene  Behauptung  immer- 
hin als  eine  mit  guten  Gründen  verfechtbare 
angesehen    werden    muss.     Aber    die   An- 
nahme,   dass    der    Wert    der    Grundstücke 
einen  sicheren  Anhaltspunkt  für  die  Beiur- 
teüung    des    Ertrages    derselben  biete,    ist 
ganz  unhaltbar.    Es  ist  ja  allgemein  bekannt^ 
dass  jener  Wert  sich  durchaus  nicht  nach 
diesem  Ertrage  allein  richtet,  sondern  noch 
von  verschiedenen  anderen  Momenten  beein- 
fiusst  wird.    Man   unterscheidet  ja  vielfach 
geradezu    zwischen    einem    Ertrags-    und 
einem  Verkehrswerte  der  Grundstücke.   Da 
man  nun  bei  keiner  von  jenen  geschäftlichen 
Transaktionen,    welche   Gelegenheit   bieten 
könnten,    bestimmte   Auskünfte   über   eine 
gewissen  Realitäten  seitens  der  Interessenten 
zu  teil  gewordene  Schätzung  zu  erlangen, 
wissen    kann,     welche    Momente    dieselbe 
eigentlich  beeinflusst  haben,  so  bliebe  doch 
in  allen  einzelnen  Fällen  behufs  Erreichung 
einer  zweckentsprechenden  Ertragssehätzung 
nichts  übrig,  als  den  Ertrags  wert  speciell 
zu  ermitteln.    Dies  ist  aber  offenbar  nicht 
anders   möglich  als  —  durch  vorherige  Er- 
mittelung des  Ertrages. 

Hierzu  kommt  dann  noch,  dass  eine 
Hauptgrundlage  der  ganzen,  für  den  Ver- 
zicht auf  die  direkte  Ertragsschätzung  zu 
Gunsten  einer  Wertermittelung  ins  Feld 
geführten  Argumentation  als  eine  sehr  un- 
sichere bezeichnet  werden  muss.  Die  An- 
nahme des  Bestandes  einer  festen  Relation 
zwischen  dem  Werte  und  dem  Ertrage  der 
Grundstücke  beruht  nämlich  auf  der  Vor- 
aussetzung, dass  die  Bodenerträge,  welche 
den  Bezugsberechtigten  zufliessen,  eine 
diu*chwegs  gleichmässige  Verzinsung  des 
durch  die  Grundstücke  repräsentierten  Ka- 
pitals darstellen.  Hiervon  kann  aber  im 
Hinblick  auf  die  grossen  Verschiedenheiten^ 
welche  der  Zinsfuss  unter  verschiedenen 
örtlichen  und  zeitlichen  Verhältnissen  auf- 
weist, doch  offenbar  keine  Rede  sein. 

Allerdings  ist  die  Ermittelung  des  Er- 
trages der  Grundstücke  auf  Grund  des 
Wertes  derselben  durchaus  keine  unerläss- 
liche  Bedingung  der  Veranlagung  der  Grund- 
steuer   mit    Hilfe     einer    Wertermittelung. 


Grundsteuer 


895 


Es  ist  vielmehr  ganz  gut  ^möglich  —  und 
in  der  Praxis  auch  schon  unternommen 
worden  — ,  die  Grundsteuer  direkt  aut  Grund 
des  ermittelten  Wertes  zu  veranlagen  resp. 
sie  als  Quote  desselben  umzulegen.  Es  er- 
hellt aber  sofort,  dass  hiermit  die  Schwierig- 
keit, welche  sich  aus  der  Ungewissheit  über 
die  Relation  zwischen  Ertrag  und  Wert  er- 
giebt,  nur  umgangen,  nicht  behoben  wird. 
Denn  auch  bei  einem  derartigen  Vorgehen 
muss  ia  schliesslich  doch  der  Ertrag  als  die 
eigentliche  Basis  der  Steuer  —  die  doch 
immer  aus  diesem  bezahlt  werden  soll  — 
ins  Auge  gefasst  werden.  Die  immittelbare 
Umlegung  der  Steuer  nach  Massgabe  des 
Wertes  kann  daher  nur  durch  die  Annahme 
gerechtfertigt  werden,  dass  zwischen  diesem 
und  dem  Ertrage  stets  dasselbe  Verhältnis 
besteht;  denn  nur  in  diesem  Falle  kann 
eine  gleichmässige  ümlegung  nach  dem 
Werte  zugleich  auch  als  eine  gleichmässige 
Belastung  des  Ertrags  gelten.  Das  hier  be- 
sprochene Vorgehen  beruht  mithin  ganz 
imd  gar  auf  jener  Supposition,  deren  Un- 
richtigkeit soeben  schon  ein  unwiderleg- 
bares Argument  gegen  die  Annahme, 
dass  die  Veranlagung  der  Grundsteuer  nach 
dem  Bodenwerte  zweckmässig  sei,  geliefert 
hat. 

Hierzu  kommt  noch  die  weitere  Erwä- 
gimg, dass  die  zuverlässige  Ermittelung  des 
Wertes  der  Gnmd stücke  nicht  einmal  so 
leicht  ist,  wie  die  Anhänger  des  Wertka- 
tasters glauben  machen  wollen.  Insbeson- 
dere ist  es  nicht  so  leicht,  dafür  jene  feste 
Grundlage,  welche  allein  der  Grundsteuer- 
veranlagimg auf  Gnmd  eines  Wertkatasters 
einen  wesentlichen  Vorzug  vor  derjenigen 
auf  Grund  eines  Ertragskatasters  verschaffen 
könnte  —  nämlich  Daten  aus  thatsächlich 
abgeschlossenen  Kaufverträgen  —  in  aus- 
reichendem Masse  zu  beschaffen.  An  sich 
ist  es  gewiss  nicht  allzuschwer,  die  Beträge, 
um  welche  Grundstücke  gelegentlich  ver- 
kauft worden  sind,  zu  ermitteln.  Aber 
wenn  auf  dieses  Hilfsmittel  eine  allgemeine 
Wertermittelung  basiert  werden  soll,  so  ist 
es  ja  eben  notwendig,  im  ganzen  Gebiete 
des  betreffenden  Staates  eine  grosse  Anzahl 
von  Kaufverträgen,  die  sich  auf  Grundstücke 
der  verschiedensten  Art  in  den  verechie- 
densten  Gegenden  beziehen,  herbeizuschaffen. 
Nun  geht  aber  bekanntlich  der  Besitzwechsel 
von  Grundstucken  auch  in  unserer  Zeit 
noch  durchaus  nicht  so  rasch  von  statten, 
dass  es  leicht  möglich  wäre,  dieser  For- 
derung zu  genügen  —  insbesondere  dann, 
wenn  es  sich  um  Verträge  handelt,  die 
sämtlich  aus  einem  nicht  gerade  sehr  langen 
Zeitraume  herrühren.  Dass  letzteres  der 
Fall  sei,  muss  aber  verlangt  werden,  weil 
ja  auch  der  Boden  in  seinem  Werte 
scliwankt  und  daher  auf  einen  langen  Zeit- 


raum    verteilte    Daten     der     notwendigen 
Gleichmässigkeit  entbehren. 

Dazu  kommt  dann  noch,  dass  die  Käufe 
und  Verkäufe  von  Gnindstücken  in  den 
weitaus  meisten  Fällen  nicht  bloss  Parzellen 
umfassen,  sondern  sich  auf  ganze  —  mehr 
oder  weniger  grosse  —  Güter  erstrecken, 
also  nur  für  eine  Schätzung  von  Gütern, 
nicht  aber  von  Parzellen  Material  liefern. 
Auf  dieser  Grundlage  könnte  also  die  Ver- 
anlagung der  Grundsteuer  nur  in  einer 
Form  realisiert  werden,  welche  der  moderne 
Staat  längst  schon  als  ungenügend  erkannt 
hat. 

Noch  weniger  als  die  aus  Anla^s  von 
Käufen  und  Verkäufen  erfolgten  sind  die 
l>ei  anderen  Gelegenheiten  stattgefundenen 
Bewertungen  von  Grundstücken  als  Basis 
der  Veranlagung  der  Grundsteuer  verwert- 
bar. Es  ist  ja  bekannt  genug,  dass  diese 
Bewertungen  oft  Resultate  zu  Tage  fördern, 
die  vom  wirklichen  Werte  der  betreffenden 
Objekte  sehr  weit  entfernt  sind. 

Alle  diese  Erwägungen  haben  die  Praxis 
bestimmt,  meistenteils  die  Grundsteuerver- 
anlagung mit  Hilfe  der  Ennittelung  des 
Wertes  der  Parzellen  zu  verwerfen  und  sich 
für  die  Feststellung  des  Ertrages  derselben 
zu  entscheiden. 

13.  Die  Ertragsschätznng.  a)  Die 
Aufstellting  der  Bonitätsklassen.  Das 
Verfahren  bei  der  Durchführung  der  Er- 
tragsschätzung im  Wege  der  von  der  Praxis 
bevorzugten  generellen  Beurteilung  der 
Gnindstücke  besteht  in  der  Aufstellung  von 
Klassen  von  solchen  und  in  der  Einreihung 
jedes  einzelnen  in  eine  dieser  Klassen. 

Unter  einer  »Klasse«  von  Gnindstücken 
ist  die  Gesamtheit  aller  derjenigen  in  eine 
Kulturgattung  gehörenden  zu  verstehen, 
deren  Ertragsfähigkeit  bei  gleich  grosser 
Fläche  die  gleiche  ist.  Eigentlich  kann 
kaum  die  Rede  davon  sein,  dass  es  auch 
nur  zwei  Grundstücke  gebe,  bei  denen  diese 
Voraussetzung  vollständig  zutrifft.  Eben 
die  Aufstellung  der  Annahme,  dass  es 
dennoch  zidässig  sei,  solche  Klassen  zu  bil- 
den, macht  das  Wesen  der  generellen  Er- 
tragsschätzung aus.  Es  wird  hierbei  ange- 
nommen, dass  für  jede  Kulturgattung  ge- 
wisse Abstufungen  der  Produktionskraft 
(Bonität)  bestehen,  für  deren  jede  eine  ge- 
wisse Ertragsziffer  pro  Flächeneinheit  als 
typisch  hingestellt  wird.  Natürlich  winl  es 
hierbei  als  zulässig  angesehen,  sich  darüber, 
dass  nur  wenige  Grundstücke  diese  typische 
Ertragsziffer  wirklich  haben,  hinwegzusetzen. 
Diese  Ertragsziffer  ist  eben  als  Durchschnitt 
der  für  alle  Grundstücke,  welche  auf  die 
gleiche  Stufe  der  Bonität  gestellt  werden 
sollen,  anzunehmenden  aufzufassen.  Wenn 
diese  Durchschnittsziffern  nicht  allzuweit 
auseinanderliegen,  so  kann  auch  zweifellos 


896 


Grundsteuer 


über  die  Abweichungen  der  wirklichen  Er- 
träge der  einzelnen  Grundstücke  von  den 
als  typisch  hingestellten  hinweggegangen 
werden,  ohne  dass  diese  Abweichungen  eine 
irgend  erhebliche  Ungleichmässigkeit  der 
Veranlagung  verschulden  können. 

um  nun  in  dieser  Beziehung  ein  hin- 
reichendes Mass  von  Genauigkeit  zu  ver- 
langen, wird  das  Territorium  eines  grösseren 
Staates  vorerst  in  kleine  Abschnitte  (Schät- 
zungsbezirke) geteilt,  deren  jeder  innerhalb 
seiner  Grenzen  eine  gewisse  Gleichmässig- 
keit  der  Bedingungen  der  Bewirtschaftung 
des  Bodens  aufweist  und  allzu  grelle  Diffe- 
renzen in  dieser  Beziehung  ausscliliesst. 
Wird  bei  der  Bestimmimg  dieser  Bezirke, 
deren  jeder  als  ein  in  sich  abgeschlossenes 
Gebiet  der  Schätzungsthätigkeit  der  mit  der 
Yeranlagung  der  Grundsteuer  zu  betrauen- 
den Organe  anzusehen  ist,  in  rationeller 
Weise  vorgegangen,  so  kann  man  mit  ver- 
hältnismässig wenig  Bonitätsklassen  —  die 
dann  eben  für  jeden  Sehätzungsbezirk  be- 
sonders aufgestellt  werden  —  das  Auslan- 
gen finden.  Die  Piuxis  hat  sich  für  die 
Annahme  von  6 — 8  solcher  Klassen  ent- 
schieden. 

Die  Skala  dieser  Bonitätsklassen  hat  also 
bereits  ziffermässige  Angaben  über  die  Er- 
träge zu  enthalten,  welche  auf  jeder  Flächen- 
einheit nutzbaren  Bodens  bei  ortsüblicher 
Bewirtschaftungsart  je  nach  der  Bonität  des 
Bodens  zu  er\yarten  sind.  Es  ist  selbstver- 
ständlich, dass  die  Feststellung  der  in  diese 
Skala  (in  den  Klassifikationstarif)  aufzu- 
nehmenden Beträge  bereits  von  entschei- 
dender Bedeutung  füi*  das  Gelingen  des 
ganzen  Werkes  ist. 

Zu  diesem  Zwecke  werden  überall  als 
Repräsentanten  der  einzelnen  Bonitätsklassen 
geeignete  Parzellen  (Normal-  oder  Muster- 

frundstücke)  ausgewählt  und  diese  als 
ypen  für  alle  anderen  in  dieselbe  Klasse 
einzureihenden  behandelt.  Nur  die  Erträge 
dieser  Mustergrundstücke  werden  effektiv 
geschätzt,  während  die  Veranlagungsarbeit 
hinsichtlich  aller  aüderen  Parzellen  sich  auf 
die  Lösung  der  Frage  beschränkt,  welchem 
der  Mustergrundstücke  jede  dei-selben  gleich- 
zustellen ist. 

Bei  dieser  Ermittelung  der  Reinerträge 
der  Mustergrundstücke  zeigt  sich  nun  die 
ganze  Schwierigkeit  der  Durchführung  der 
Schätzung.  Wohl  ist  es  leicht,  als  allge- 
meinen Grundsatz  hierfür  die  selbstver- 
ständliche Elegel  aufzustellen,  dass  als  Rein- 
ertrag aller  in  eine  bestimmte  Bonitätsklasse 
gehörenden  Grundstücke  jene  Geldsumme 
anzunehmen  ist,  welche  bei  dm^chschnitt- 
Hclier  Tüchtigkeit  des  ein  solches  bewirt- 
schaftenden Individuums  nach  den  ortsüb- 
lichen Bewirtschaftungsmethoden  vom  Ver- 
kaufs werte    der   im   Jahre   durchschnittlich 


zu  erwartenden  Produkte  nach  Abzug  der 
unter  gleichen  Voraussetzungen  auf  die  Er- 
zielung derselben  zu  verwendenden  Kosten 
übrig  bleibt.  Desto  schwieriger  ist  aber  die 
praktische  Durchführung  der  Regel.  Die 
leichtere  Hälfte  dieser  Aufgabe  büdet  noch 
die  Ermittelung  des  Wertes  der  zu  er- 
wai-tenden  Produkte  (des  Bruttoertrages). 
Die  von  einer  bestimmten  Bodenfläche  all- 
jährlich zu  erwartende  Menge  von  Produkten 
ist  doch  so  weit  notorisch,  dass  ein  mit  den 
einschlägigen  Verhältnissen  lialbwegs  Ver- 
trauter hierüber  nicht  leicht  in  allzu  hohem 
Masse  hinters  lAcht  geführt  werden  kann, 
während  hinsidithch  der  Preise  derselben 
geradezu  von  vollständiger  Notorietät  ge- 
sprochen werden  darf. 

Desto  schwieriger  sind  aber  die  Pro- 
duktionskosten festzustellen.  Hat  doch  ein 
grosser  Teil  der  Landwirte  hierüber  selbst 
kein  ganz  klares  Urteil.  Insbesondere  gilt 
dies  von  der  so  zahlreichen  Klasse  der  Uiren 
Boden  mit  eigener  Hand  bebauenden  Land- 
wirte, denen  meistenteils  jener  Grad  wirt- 
schaftlicher Bildung  abgeht,  welcher  nötig 
wäre,  um  sie  zu  einem  solchen  Urteile  zu 
befähigen.  Andererseits  handelt  es  sich  hier 
nicht  um  offenkundige,  sondern  vielmehr  um 
solche  Thatsachen,  welche  sich  der  allge- 
meinen Kenntnis  fast  vollständig  entziehen. 
Hier  bietet  sich  demnach  den  Interessenten 
nur  zu  viel  Gelegenheit,  die  Ertragsfähig- 
keit ihrer  Grundstücke  viel  geringer  er- 
scheinen zu  lassen,  als  sie  wirküch  ist.  Und 
dass  diese  Gelegenheit  seitens  der  Beteiligten 
in  vollstem  Masse  benutzt  wird,  liat  die  Er- 
fahrung reichlich  gelehrt.  Dieselben  waren 
stets  bestrebt,  ilu-e  Bewirtschaftungskosten 
möglichst  hoch  erscheinen  zu  lassen  —  ein 
Streben,  das  auch  meist  von  Erfolg  begleitet 
war  und  zu  Klassifikationstarifen  geführt 
hat^  welche  hinter  der  Wirklichkeit  oft  sehr 
weit  zurückbleiben. 

Besondere  Eigentümlichkeiten  bietet  die 
Ertragsschätzung  bei  den  Waldungen.  Die 
langen  Betriebsperioden  der  Forstwirtschaft, 
die  eine  jährhche  Aussaat  imd  Ernte  aus- 
schliessen,  machen  liier  die  Ermittelung 
eines  jähi'üch  wiederkelirenden  Reinertrags 
ganz  unmöglich.  Kein  Mensch  kann  vor- 
aussehen, welchen  Preis  das  Holz  zur  Zeit 
des  Abtriebes  haben  wird  und  wie  sich 
dann  die  Bringungskosten  —  die  ja  bei  den 
Wäldern  im  allgemeinen  den  am  schwersten 
ins  Gewicht  fallenden  Teil  der  Preduktions- 
auslagen  ausmachen  —  stellen  werden.  Es 
bleibt  daher  bei  den  Waldungen  nichts 
übrig,  als  jenes  Holzquantmn,  welches  auf 
jeder  einzelnen  Parzelle  alljährlich  zuwächst 
(den  jährlichen  Holzzuwachs),  festzustellen 
und  hieraus  unter  Zugrundelegung  der  ziu: 
Zeit  der  Schätzimg  bestehenden  Preisver- 
hältnisse des  Holzes  und  mit  Hilfe  einer  in 


L 


Grundsteuer 


897 


analoger  Weise  erfolgenden  Berechnung  der 
Bringungs-  und  sonstigen  Produktionskosten 
einen  fiktiven  jährlichen  Beinertrag  zu  be- 
rechnen. Streng  genommen  sollten  hierbei 
die  Nebennutzungen  des  Waldes  auch  noch 
mit  in  Bechnung  gezogen  werden;  in  der 
Praxis  ist  dies  aber  meistens  unterlassen 
worden.  Es  ist  hienach  klar,  dass  die  Er- 
mittelung des  Beinertrages  bei  den  Wäldern 
noch  schwerer  mit  Verlässlichkeit  durchzu- 
führen ist  als  bei  den  anderen  Kultur- 
gattungen. Der  jährliche  Holzzuwachs  ist 
eine  so  wenig  greifbare  Grösse,  dass  es 
schon  ganz  besonderer  Sachkenntnis  bedarf, 
lun  ihn  mit  einiger  Garantie  der  Bichtigkeit 
abzuschätzen. 

b)  Die  Einreihung  der  einzelnen 
Parzellen  in  die  Bonitätsklassen.  Nach 
der  Feststellung  der  Bonitätsklassen  erübrigt 
noch  der  Abschluss  des  ganzen  Schätzungs- 
geschäftes: die  Einreihung  der  einzelnen 
Parzellen  in  den  Tarif  (die  Bonitierung  oder 
Klassifizierung  derselben).  Diese  Arbeit 
bietet  keine  besonderen  Schwierigkeiten 
mehr.  Sie  findet  in  kleinen  Sprengern  und 
unter  unmittelbarer  gegenseitiger  Beauf- 
sichtigung durch  die  einzelnen  Interessenten 
statt,  welche  um  so  wirksamer  ist,  als  es 
sich  ja  hier  nur  mehr  um  die  Feststellung 
des  Verhältnisses  handelt,  in  welchem  die 
einzelnen  Gnmdstücke  hinsichtlich  ihrer 
Güte  zu  einander  stehen  —  eines  Verhält- 
nisses, das  innerhalb  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Sprengel  ein  ziemlich  notorisches 
zu  sein  pflegt.  Bei  dieser  Arbeit  dürften 
daher  die  mit  der  Veranlagung  betrauten 
Organe  in  der  Begel  zu  Resultaten  gelangen 
können,  welche  eine  ziemliche  Garantie  der 
Verlässlichkeit  bieten. 

Eine  hier  zu  beantwortende  Frage  be- 
trifft die  Behandlung  jener  Gnmdstücke, 
bei  welchen  der  Eigentümer  auf  jeden  Er- 
trag absichtlich  verzichtet,  weil  er  sie 
anderen  als  den  Zwecken  der  Bewirtschaf- 
tung (dem  Vergnügen)  widmet.  Diese  Frage 
wird  allgemein  dahin  beantwortet,  dass  hier 
auf  dieses  Vorgehen  des  Grundbesitzers 
keine  Rücksicht  zu  nehmen  ist,  sondern  die 
Grundstücke  so  zu  behandeln  sind,  als  wenn 
sie  zu  jener  Kultmr,  zu  welcher  sie  sich 
ihrer  Beschaffenheit  nach  eignen,  wirklich 
verwendet  würden. 

14.  Vollendiuig  des  Katasters.  Was 
nach  der  Bonitierung  der  (Grundstücke  noch 
zu  thim  übrig  bleibt,  um  das  Kataster  zu 
vollenden  und  die  (Grundsteuer  ins  Leben 
zu  rufen,  sind  nur  noch  unbedeutende 
Manij)ulationsarbeiten.  Es  handelt  sich  daim 
lun  die  Ermittelung  der  für  jedes  einzelne 
Grundstück  nach  dem  Resultate  seiner  Ver- 
messung imd  Klassifizierung  zu  berechnen- 
den Reinertrags-  und  der  aus  dieser  und 
dem   zur  Anwendung  gelangenden  Steuer- 


fusse  —  welcher  seinen  Ausdruck  in  der 
Normierung  der  Höhe  der  Grundsteuer-  in 
Prozenten  des  Reinertrags  zu  finden  hat  — 
zu  berechnenden  Steuerziffer.  Mit  der  Ein- 
setzung dieser  Ziffern  neben  die  sonstigen, 
in  betreff  jeder  Paraelle  anzuführenden 
Daten  —  zu  welchen  auch  noch  der  Name 
des  Eigentümers  gerechnet  zu  werden 
pflegt  —  wird  das  Kataster  gewöhnlich  als 
vollendet  angesehen.  Doch  kommt  es  vor, 
dass  ausser  dieser  Fertigstellung  der  die 
Parzellen  betreffenden  Verzeichnisse  auch 
noch  besondere,  die  Gtiter  betreffende  (Flu- 
renbücher) angelegt  werden,  welche  alle  in 
den  ersteren  Verzeichnissen  hinsichtlich  der 
Parzellen  ausgewiesenen  Daten  auch  hin- 
sichtlich der  Güter  enthalten  und  ausserdem 
noch  die  ParzeUen,  aus  welchen  diese  be- 
stehen, ersehen  lassen. 

16.  Einhebung  der  G.  Auch  diese 
bietet  keine  Schwierigkeiten  mehr.  Nach- 
dem die  Grundbesitzer  einmal  von  der 
Höhe  der  für  jede  einzelne  ihrer  Parzellen 
ermittelten  Grundsteuer  verständigt  worden 
smd,  treten  die  Steuereinhebungsorgane  des 
Staates  in  ihre  Funktion,  welche  vermöge 
der  Sicherheit,  die  das  Objekt  der  Grund- 
steuer, das  natürlich  stets  für  dieselbe  zu 
haften  hat,  bietet,  eine  selir  leichte  ist. 
Schwierigkeiten  können  sich  höchstens  im 
FaUe  des  Eintrittes  einer  jener  Katastrophen 
ergeben,  welche  den  Ertrag  eines  Jahres  — 
bei  Wäldern  auch  vieler  Jalire  —  gänzlich 
oder  grossenteUs  vernichten :  Ueberschwem- 
mungen,  Hagelschläge,  Brände,  Fröste,  In- 
sektenfrass  etc.  Da  die  meisten  dieser  Ka- 
tastrophen innerhalb  gewisser,  freilich  oft 
sehr  weit  auseinanderliegender  Zeiträume 
wiederzukehren  pflegen,  so  wäre  es  theore- 
tisch eigentlich  am  richtigsten,  schon  bei 
der  Reinertragsermittelung  hierauf  Rück- 
sicht zu  nehmen.  Da  aber  in  derlei  Fällen  die 
Grundbesitzer  häufig  in  schwere  Notlage 
geraten  imd  geradezu  zahlungsunfäliig 
werden,  so  wurde  es  mehrfach  als  zweck- 
mässiger angesehen,  den  Weg  der  direkten 
Berücksichtigimg  jedes  einzelnen  derartigen 
Ereignisses  einzuschlagen  und  den  Be- 
troffenen aus  diesem  Titel  entsprechende 
Nachlässe  an  der  Grundsteuer  (oder  Ersätze 
der  Steuerzahlungen)  zu  gewähren. 

16.  Evidenzhaütnng  und  Revision  des 
Katasters.  Die  Anfertigung  eines  Parzellen- 
katasters ist,  wie  sich  aus  der  vorstehenden 
Darstellung  der  dabei  auszuführenden  Ar- 
beiten ergiebt,  ein  so  schwieriges,  zeit- 
raubendes und  mit  solchem  Arbeits-  und 
Kostenaufwande  verbundenes  Werk,  dass  es 
als  ganz  selbstverständlich  erscheint,  dass 
das  einmal  vollendete  Kataster  stets  für 
längere  Zeit  Geltung  haben  soll.  Nun  er- 
geben sich  aber  in  den  Verhältnissen  der 
Grundstücke    stets    so    viele   Aenderungen, 


Handwörterbnch  der  StaatswiasexischafteiL.     Zweite  Auflage.    IV. 


57 


898 


Grundsteuer 


dass  ein  Kataster,  in  welchem  diese  nicht 
berücksichtigt  werden,  nach  kurzer  Zeit 
viele  unrichtige  Daten  enthalten  muss.  In 
mancher  Beziehung  liegt  es  in  der  Natur 
des  Katasters,  dass  jene  Aenderungen  darin 
nicht  berücksichtigt  werden  können.  Es 
gilt  dies  vor  allem  von  den  beiden  Haupt- 
ergebnissen der  Katastrierungsarbeit :  der 
Ermittelung  der  Klassifikationstarife  und  der 
Klassifizierung  der  Parzellen.  Die  Ertrags- 
schätzimg ist  bei  jeder  Katasterveranlagung 
in  betreff  jeder  einzelnen  Parzelle  im  Zu- 
sammenhange mit  der  Schätzung  aller  üb- 
rigen erfolgt,  und  eine  etwaige  Veränderung 
am  Ertrage  einer  einzelnen  Parzelle  kann 
daher  auch  nicht  anders  berücksichtigt 
werden  als  eben  wieder  im  Wege  einer 
Vergleichung  desselben  mit  dem  Ertrage 
aller  übrigen  Parzellen.  Es  kann  sich  mit- 
hin bei  der  Berücksichtigung  der  Verände- 
rungen an  den  einzelnen  Parzellen  im  Ka- 
taster (bei  der  Evidenzhaltung  desselben) 
nur  um  Veränderungen  an  denjenigen  in 
dieses  aufgenommenen  Daten  handeln,  bei 
welchen  eine  solche  gesonderte  Berück- 
sichtigung möglich  ist,  ohne  dass  hierdurch 
solche  Teile  des  Katasterwerkes  berührt 
werden,  deren  Zusammenhang  mit  den  üb- 
rigen jene  Berichtigimg  als  unthunlich  er- 
scheinen lässt.  Die  Daten,  bei  denen  dies 
zweifeDos  der  Fall  ist,  sind :  die  Person  des 
Besitzers,  das  etwaige  gänzliche  Ver- 
schwinden oder  die  Neuentstehung  einzelner 
Parzellen,  endlich  die  Abgrenzung  und  der 
Umfang  derselben.  Diese  Daten  bilden 
denn  auch  in  der  Praxis  die  gewöhnlichen 
Objekte  der  Evidenzhaltungsthätigkeit.  Auch 
Aenderungen  in  den  Kulturgattungen  könnten 
ohne  sonderlichen  Anstand  bei  derselben 
Berücksichtigung  finden.  Die  Praxis  hat 
sich  aber  vorwiegend  für  die  Nichtberück- 
sichtigung dieser  Aenderungen  entschieden : 
hauptsächlich  in  der  Erwägung,  dass  Kul- 
turänderungen in  unserer  Zeit  des  Fort- 
schrittes fast  ausnahmslos  in  der  Richtung 
des  üeberganges  von  einer  weniger  rentablen 
zu  einer  rentableren  Kulturgattung  erfolgen 
und  dass  es  wünschenswert  sei,  die  Grund- 
besitzer zu  solchen  Aenderungen  dadurch 
aufzumuntern,  dass  ihnen  die  Vorteile  aus 
denselben  eine  gewisse  Zeit  hindurch  ohne 
sofortige  Erhöhung  ihrer  Steuerlast  zu- 
fliessen. 

Diese  Beschränkung  der  Evidenzhaltungs- 
thätigkeit bringt  es  mit  sich,  dass  jedes 
Kataster  nach  Verlauf  einer  gewissen  Zeit 
veraltet.  Die  Ertragsverhältnisse  der  ein- 
zelnen Parzellen  ändern  sich  allmählich  und 
zwar  nicht  nur  absolut,  sondern  auch  relativ. 
Infolgedessen  muss  eine  ursprünglich  in 
gleichmässiger  Weise  erfolgte  Verteilung 
der  Gnmdsteuerlast  auf  die  einzelnen  Par- 
zellen allraählich  zu  einer  ungleichmässigen 


Belastung  derselben  werden.  Diesem  Uebel- 
stande  kann  nur  eine  zeitweilige  Revision 
der  ganzen  Schätzung  abhelfen.  Die  Vor- 
nahme solcher  Revisionen  nach  Ablauf  be- 
stimmter Zeiträume  ist  denn  auch  hie  imd 
da  geradezu  gesetzlich  angeordnet  worden. 

17.  Nützen  des  Katasters  für  andere 
als  Besteuemngssswecke.  Wenn  das 
Kataster  auch  in  erster  Linie  den  Zwecken 
der  ümlegung  der  G-rundsteuer  zu  dienen 
hat,  so  ist  sein  Nutzen  doch  durch  diese 
Verwendung  nicht  erschöpft.  Es  spielt 
nämlich  auch  eine  wichtige  RoUe  bei  der 
zweckentsprechenden  Einrichtung  jener  für 
die  befriedigende  Gestaltung  der  Verhält- 
nisse des  Bodenkredits  so  wichtigen  öffent- 
lichen Aufzeichnungen  über  die  beim  Im- 
mobilienbesitze bestehenden  Eigentums-  imd 
Belastungsverhältnisse,  welche  unter  dem 
Namen  Grundbücher  (auch  Flur-,  Ge- 
währ-, Pfand-  etc.  Bücher  oder  Landtafeln) 
bekannt  sind.  Sollen  diese  Bücher  ihrem 
Zwecke,  einem  ziu-  Gewähnmg  von  Hy- 
pothekardarlehen geneigten  Kapitfidisten  jeder- 
zeit Auskunft  über  die  Sicherheit  zu  geben, 
welche  die  als  Pfand  angebotene  Realität 
zu  gewähren  imstande  ist,  genügen,  so  muss 
aus  denselben  nicht  nm*  der  Eigentümer 
und  der  Lastenstand,  sondern  auch  der 
Wert  dieser  Realität  entnommen  werden 
können.  Zur  Beurteilung  des  letzteren 
bieten  nun  die  Daten  des  Katasters,  so 
ungenau  die  darin  niedergelegten  Ertrags- 
schälzungen auch  sein  mögen,  stets  einige 
Anhaltspunkte.  Um  diese  Anhaltspunkte 
den  Zwecken  des  Hypothekarkredits  dienst- 
bar zu  machen,  ist  weiter  nichts  notwendig 
als  die  Publicität  des  Katasters  und  die 
Herstellung  eines  entsprechenden  Zusammen- 
hanges zwischen  den  in  diesem  und  in-  den 
Grundbüchern  vorkommenden  Realitäten- 
bezeichnimgen.  Das  letztere  Ziel  kann,  da 
die  Grundbücher  nur  über  die  an  den 
Gütern  bestehenden  Rechtsverhältnisse  A\\&- 
kimft  zu  geben  bestimmt  sind,  schon  da- 
durch allein  erreicht  werden,  dass  darin 
bei  jedem  Gute  auch  die  Parzellen,  aus 
welchen  dasselbe  besteht,  mit  ihren  Ka- 
tastralbezeichnungen  ersichtlich  gemacht 
werden ;  doch  kommt  auch  die  unmittelbare 
Aufnahme  der  Grösse  und  des  Ertrags  der 
Güter  in  die  Grundbücher  vor,  welche  in 
solchen  Fällen  schon  auch  selbst  als  Be- 
standteil des  Katasterwerkes  anzusehen  sind. 

18.  Kritik  der  G.  Bei  einer  Kritik  der 
Grundsteuer  ist  in  erster  Linie  daran  zu 
erinnern,  dass  sie  eine  Ertragssteuer  ist. 
Alles,  was  über  diese  allgemeines  gesagt 
werden  kann,  trifft  auch  bei  jener  zu  und 
es  kann  daher  hier  in  dieser  Beziehung  auf 
das  oben  im  Art.  Ertragssteuern  Bd.  LH 
S.  7 28  ff.  Gesagte  verwiesen  werden. 

Besonders  hervorzuheben  wäi^  nm\  dass 


Gnindsteuer 


899 


die  den  Ertragsstenern  eigene  Starrheit  bei 
der  Ghnindsteuer  in  ganz  hervorragendem 
Masse  hervortiitt.  Die  Unmöglichkeit  einer 
regelmässigen  Berücksichtigung  der  an  ihrer 
Veranlagungsbasis  eintretenden  Aendeningen 
lässt  bei  ihr  eine  der  etwaigen  Vergrösserung 
des  Staatsbedarfes  sich  anschmiegende  Er- 
höhung als  ganz  unthunlich  erscheinen,  weil 
durch  eine  solche  die  aus  jenen  Aendeningen 
entspringenden  Unregelmässigkeiten  nur 
noch  potenziert  werden  würden.  Anderer- 
seits hat  aber  gerade  diese  Unthunlichkeit 
von  Aendeningen  an  der  Gnindsteuer  die 
Folge,  dass  dieselbe  mehr  als  jede  andere 
Ertragssteuer  der  Gefahr  unterworfen  ist, 
zu  einer  auf  ihrem  Objekte  haftenden  Real- 
last zu  werden.  Diese  Gefahr  ist  bei  ihr 
um  so  grösser,  als  der  unmittelbare  Zu- 
sammenhang der  Verpflichtung  zur  Leistung 
der  betreffenden  Zahlungen  mit  einem  be- 
stimmten, einen  Ertrag  liefernden  Objekte 
hier  in  ganz  besonderem  Masse  wahrnehm- 
bar ist,  ein  Umstand,  der  es  mit  sich  bringt, 
dass  jede  Grundsteuer  nach  Ablauf  einer 
gewissen  Zeit  zu  einem,  den  Kapitalswert 
der  Gnmdstücke  beeinflussenden  Faktor 
wird,  als  solcher  bei  jedem  Besitzwechsel 
Berücksichtigung  findet  und  als  amortisiert 
erscheinen  muss,  sobald  ein  erheblicher  Teil 
der  Grundstücke  nach  der  Auflegiing  der 
Steuer  seinen  Besitzer  gewechselt  hat.  Ks 
kann  daher  nicht  wunder  nehmen,  dass  es 
vorgekommen  ist,  dass  die  Grundsteuer  auch 
in  Staaten,  welche  sonst  alle  Ertragsstenern 
aufgegeben  und  durch  eine  Einkommensteuer 
ersetzt  haben,  beibehalten,  ja  geradezu  als 
eine  Reallast  wie  jede  andere  behandelt 
und  infolgedessen  für  ablösbar  erklärt 
worden  ist. 

Aber  auch  abgesehen  von  diesem  aus 
der  Natur  der  Grundsteuer  als  einer  Ertrags- 
steuer hervorgehenden  und  ihren  Charakter 
als  Steuer  völlig  in  Fftige  stellenden  Ge- 
brechen leidet  die  Grundsteuer  an  dem 
schweren  Mangel,  dass  ihre  auch  nur  dem 
Grundgedanken  des  Ertragssteuersystems 
entsprechende  Durchführung  sich  in  der 
Praxis  als  ein  geradezu  unlösbares  Problem 
herausgestellt  hat.  Sie  soU  eine  gleich- 
massige  Belastung  aller  einzelnen  Teile  des 
innerhalb  des  betreffenden  Staates  erziel- 
baren Grundertrags  bilden.  Nim  hat  sich 
aber  bereits  wiederholt  gezeigt,  dass  — 
wenigstens  mit  Hilfe  der  bisher  zur  An- 
wendung gelangten  Veranlagungsmethoden 
—  das  angestrebte  Ziel  nicht  erreicht  werden 
kann.  Denn  der  Egoismus  der  Interessenten 
hat  sich  immer  noch  als  stärker  erwiesen 
als  alle  Massregeln,  welche  der  Staat  zum 
Zwecke  der  sicheren  Ermittelung  des  Rein- 
ertrages der  Grundstücke  ausfindig  machen 
konnte.  In  dieser  Beziehung  hat  auch  das 
ParzeUenkataster    keine  besonders  befriedi- 


genden Resultate  geliefert.  Die  Gelegenheit 
zur  Erlangung  einer  niedrigen  Ertrags- 
schätzung,  welche  die  Aufstellung  der  Klassi- 
fikationstarife bietet,  ist  von  den  Beteiligten 
stets  reichlich  ausgenützt  worden.  Die 
Bildung  dieser  Tarife  kann  der  Natur  der 
Sache  nach  nur  mit  Hilfe  von  Sachverstän- 
digen, die  aus  der  Mitte  der  Interessenten 
innerhalb  der  jeweils  in  Betracht  kommen- 
den Schätzungsbezirke  genommen  werden, 
erfolgen,  und  jeder  dieser  Sachverständigen 
ist  naturgemäss  stets  bestrebt,  seinem  Be- 
zirke hierbei  möglichst  niedrige  Ein- 
schätzungsziffem  zuzuwenden.  Es  ist  hier 
der  wahre  Tummelplatz  der  rivalisierenden 
lokalen  Interessen,  deren  Ueberwuchern  um 
so  schwerer  hintanzuhalten  ist,  als  es  dabei 
eigentlich  keine  Möglichkeit  einer  zuver- 
lässigen Kontrolle  giebt.  Denn  eine  solche 
Kontrolle  könnte  nur  durch  Unparteiische 
vorgenommen  werden.  Solche  sind  aber 
innerhalb  der  betreffenden  Schätzungs- 
bezirke kaum  zu  erlangen,  da  Sachver- 
ständige, welche  nicht  zugleich  Interessenten 
an  der  Grundsteuerveranlagimg  oder  doch 
Sachwalter  von  solchen  sind,  nur  in  äusserst 
geringer  Zahl  aufgetrieben  werden  können. 
Die  Kontrollorgane  müssen  also  ausserhalb 
der  zu  kontrollierenden  Bezirke  aufgesucht 
werden.  Den  Angehörigen  anderer  Bezirke 
fehlt;  nun  aber  —  abgesehen  von  der  auch 
nicht  zu  verachtenden  Rücksichtnahme  auf 
die  Gegenseitigkeit  in  der  Schonung  der 
respektiyen  Interessen  seitens  der  aus  ver- 
schiedenen Bezirken  genommenen  Kontroll- 
personen —  fast  immer  diejenige  Lokal- 
kenntnis, ohne  welche  ein  Urteil  über  den 
Gnindertrag  mit  genügender  Sicherheit  nun 
einmal  nicht  abgegeben  werden  kann.  So 
ist  denn  geradezu  mit  Sicherheit  zu  er- 
warten, dass  die  Eh'tragsschätzungen,  welche 
der  Bildung  der  Klassifikationstarife  zu 
Grunde  gelegt  werden  soUen,  stets  erheblich 
hinter  der  Wirklichkeit  zunickbleiben. 

Hieran  wäre  nun  freilich,  bloss  vom 
Standpunkte  des  Strebens  nach  gleich- 
massiger  Veranlagung  aus  betrachtet,  nicht 
aUzu  viel  gelegen.  Diesem  Standpunkte 
könnte  ja  auch  bei  einer  hinter  der  Wirk- 
lichkeit weit  zurückbleibenden  Einschätzung 
vollständig  Rechnung  getragen  werden, 
wenn  nur  jenes  Zurückbleiben  ein  gleich- 
massiges  wäre.  Dies  ist  aber  nicht  zu  ge- 
wärtigen; es  geht  hier  wie  überall,  wo  aus 
egoistischen  Gründen  von  der  Wahrheit  ab- 
gegangen wird:  es  hängt  dann  nur  vom 
grösseren  oder  geringeren  Grade  der  Rück- 
sichtslosigkeit und  Findigkeit  in  der  Ver- 
tretung der  Privatinteressen  ab,  ob  dieses 
Abgehen  von  der  Walirheit  in  stärkerem 
oder  schwächerem  Masse  stattfindet.  Auch 
die  Individualität  der  mit  der  Ueberwachung 
und   Leitung   der  Thätigkeit   der  Sachver- 

57* 


900 


Grundsteuer 


ständigen  betrauten  Organe  des  Fiskus  — 
dieser  einzigen  unparteiischen  unter  den 
hieran  beteiligten  Parteien  —  spielt  hier 
eine  wesentliche  Rolle,  weil  diese  durch 
energisches  und  mit  Intelligenz  erfolgendes 
Eingreifen  in  die  betreffenden  Verhandlungen 
ganz  gewiss  einen  wesentlichen  Einfluss 
auf  das  Auftreten  der  Sachverständigen  aus- 
üben können.  Schliesslich  kommt  dann, 
wenn  es  sich,  wie  vielfach  bei  den  in 
neuerer  Zeit  erfolgten  Grundsteuerveran- 
lagungen, eigentlich  nur  um  eine  gründliche 
Katasterrevision  handelt,  auch  noch  die 
Rücksicht  auf  die  bisherige  Steuerveranlagung 
in  Betracht;  denn  in  allen  jenen  Bezirken, 
deren  Angehörige  —  mit  Recht  oder  Un- 
recht —  sich  für  durch  diese  benachteiligt 
erachten,  wird  die  Neueinschätzung  als  eine 
w^illkommene  Gelegenheit  zur  Beseitigung 
dieser  — wirklichen  oder  vermeintlichen  — 
üngleichmässigkeit  angesehen  werden  und 
das  Streben  nach  Erlangung  von  Vorteilen 
bei  der  neuen  Schätzung  ein  besonders  leb- 
haftes sein.  So  bestehen  denn  Faktoren 
genug,  welche  darauf  lünwirken,  dass  bei 
der  Schätzung  in  den  verschiedenen  Be- 
zirken in  sehr  ungleichem  Masse  von  der 
Wahrheit  abgewichen  und  hierdiu'ch  auch 
eine  sehr  ungleichmässige  Veranlagungs- 
basis geschaffen  wird.  Die  Praxis  hat  diesen 
Uebelstand  auch  sehr  wohl  erkannt  und 
demselben  diu-ch  Schaffung  von  Organen 
abzuhelfen  gesucht,  bei  welchen  Beschwer- 
den (Reklamationen)  über  diese  Ungleich- 
mässigkeiten  vorgebracht  werden  können 
und  deren  Aufgabe  es  ist,  diesen  abzuhelfen. 
Diese  Organe  müssen  naturgemäss  ihre 
Thatigkeit  über  weit  grössere  Gebiete,  als 
die  Schätzungsbezirke  sind  (ganze  Provinzen, 
Kronländer  u.  dergl.),  ausdehnen.  Hiermit 
ist  aber  der  Uebelstand  verbunden,  dass  den 
zur  Entscheidung  über  die  Reklamationen 
berufenen  Organen  nicht  mehr  jene  intime 
Kenntnis  der  einschlägigen  lokalen  Verhält- 
nisse zukommt,  -welche  jedermann  sich  nur 
in  einem  intimen  Kreise  erwerben  kann,  und 
dass  sie  daher  eigentlich  nicht  mehr  im 
Detail  schätzen,  sondern  nur  nach  allge- 
meinen Gesichtspunkten  ein  mehr  oder 
weniger  gut  begründetes  Urteil  über  die 
Richtigkeit  der  bereits  in  den  kleinen  Be- 
zirken erfolgten  Detailschätzungen  abgeben 
können.  Es  erheUt,  dass  hiermit  ein  Ele- 
ment der  Wülküi-lichkeit  in  den  ganzen 
Vorgang  hineingetragen  wird,  welches  dem- 
selben nach  der  ihm  zu  Grunde  hegenden 
Absicht  eigenthch  fern  bleiben  sollte.  Die 
Einsetzung  und  Thatigkeit  der  Reklamations- 
organe erscheint  daher  nur  als  ein  sehr  un- 
vollkommenes Palliativ  gegen  die  Gefahren 
des  Eindringens  egoistischer  Interessen  in 
die  Thatigkeit  der  Schätzungsorgane.  Sie 
ist   dies   umso   mehr,   als   schliesslich  die- 


selben Gründe,  welche  zur  Bezweiflung  der 
Gleichmässigkeit  der  von  diesen  in  den 
einzelnen  Bezirken  erzielten  Schätzungs- 
resultate nötigen,  auch  zwischen  den  grosseren 
Teilgebieten  eines  grossen  Staates  wirksam 
sind.  In  einem  solchen  wird  nun  diesem 
Uebelstande  durch  Schaffung  eines  Central- 
organs  abzuhelfen  gesucht,  welchem  gegen- 
über den  Reklamationsormuien  dieselben 
Funktionen  obliegen  wie  diesen  gegenüber 
den  Schätzungsorganen  und  dessen  Quali- 
fikation zur  Lösung  seiner  Aufgabe  sich 
naturgemäss  zu  derjenigen  der  Reklamations- 
organe zur  Lösung  der  ihrigen  ebenso  ver- 
hält wie  diese  zur  gleichen  Qualifikation 
der  Schätzungsorgane,  d.  h.  wieder  erheblich 
geringer  ist.  Es  findet  hier  eben  eine  be- 
ständige Appellation  von  einer  weniger  un- 
parteiischen zu  einer  unparteiischeren,  dafür 
aber  auch  von  einer  besser  unterrichteten 
zu  einer  weniger  luiterrichteten  Instanz  statt. 
Das  Resultat  ist,  dass  die  letzte  Instanz 
schliesshch  das  ganze  mühsam,  mit  riesigen 
Arbeits-  imd  Geidopfem  hergestellte  Pai-- 
zellenkataster  nur  als  einen  Behelf  bei  der 
Abgabe  ihres  Urteils  über  die  gesamte  Ver- 
anlagimgsbasis  betrachtet  und  diese  nach 
aUgemeinen  Erwägungen  über  die  Leistungs- 
fähigkeit der  einzelnen  Teile  des  Staates, 
d.  h.  in  ziemlich  derselben,  auf  ganz  vager 
Beurteilung  der  Sachlage  beruhenden  Weise 
richtig  stellt,  in  welcher  vorgegangen  werden 
würde,  wenn  überhaupt  gar  keine  Parzellen- 
schätzung stattgefunden  hätte.  Wie  es  da 
mit  den  Garantieen  der  Gleichmässigkeit  der 
Veranlagung  beschaffen  ist,  welche  das 
Parzellenkataster  gewähren  soll,  kann  mau 
sich  vorstellen. 

Schliesslich  sind  auch  jene  Ungleich- 
mässigkeiten,  zu  welchen  die  Klassifizierung 
der  einzelnen  Grundstücke  Gelegenlieit  bietet, 
nicht  ganz  gering  anzuschlagen.  Die  grössere 
oder  geringere  Rücksichtslosigkeit  und  Reg- 
samkeit des  Individuums  büdet  eben  auch 
hier  einen  Faktor,  der  nicht  ganz  ignoriert 
werden  darf,  wenn  auch  der  den  Privat- 
interessen gebotene  Spielraum  hier  ein  viel 
geringerer  ist  als  bei  der  Aufstellung  der 
Klassifikationstarife. 

AUe  diese  Umstände  berechtigen  wolü 
zu  dem  Urteüe,  dass  die  Grundsteuer  nur 
als  eine  sehr  unvoDkommene  Form  der  Be- 
steuerung angesehen  werden  kann.  Sie  ist 
dies  in  einem  Grade,  dass  die  Frage  nach 
der  Opportunität  ihrer  etwaigen  Neuein- 
führung in  einem  Lande,  in  welchem  sie 
noch  nicht  besteht  kaum  anders  als  ver- 
neinend beantwortet  werden  könnte,  wenn 
die  verhältnismässige  Leichtigkeit,  dem 
Staate  diu'ch  sie  eine  sichere  und  immerhin 
erhebliche  Einnahme  zu  verschaffen,  nicht 
wäre.  Angesichts  des  dringenden  Bedürf- 
nisses der  Staaten  nach  solchen  EinnaJmien 


Gnindsteuer 


901 


und  des  Umstandes,  dass  diese  nach  dem 
gegenwärtigen  Stande  der  Erkenntnis  allein 
durch  solche  Mittel,  welche  vor  einer  strengen 
Kritik  als  einwandfreie  bestehen  könnten, 
überhaupt  nicht  beschafft  wei-den  können, 
die  praktische  Finanzpolitik  somit  auch  in 
der  (legenwart  im  Grunde  genommen  noch 
immer  darauf  lünausläuft,  das  Geld  dort  zu 
nehmen,  wo  es  am  leichtesten  gefimden 
werden  kann,  muss  freilich  das  auf  die 
Mangelhaftigkeit  der  Grundsteuer  begrAüdete 
Bedenken  gegen  dieselbe  zurücktreten.  So 
lange  die  Staaten,  wie  dies  gegenwärtig 
zweifellos  vielfach  der  Fall  ist,  die  Be- 
schaffung der  Mittel  zm'  Bestreitung  ihrer 
Bedürfnisse  durch  Ausnützung  vonEinnahms- 
ijuellen  zuwege  bringen  müssen,  welche 
noch  schlechter  sind  als  die  Grundsteuer, 
wird  man  dieser  die  Existenzberechtigimg 
nicht  absprechen  können. 

Uebrigens  bildet  auch  das  Alter  der 
Grundsteuer  ein  schwerwiegendes  Ai'gument 
für  die  Existenzberechtigung  derselben.  Auf 
sie  kann  der  Ausspruch,  dass  jede  alte 
Steuer  gut  sei,  vielleicht  mit  mehr  Berech- 
tigung angewendet  werden  als  auf  jede 
andore  Steuer.  Ihre  Beseitigimg  oder  auch 
nur  erhebliche  Verminderung  würde  ver- 
möge ihrer  Reallastnatm'  einfach  oin  Ge- 
sclienk  an  die  Grundbesitzer  bedeuten,  also 
an  eine  Klasse  von  Leuten,  welche  in 
unseren  modernen  an  drückenden  Steuern 
so  reichen  Staaten  im  allgemeinen  sicherlich 
nicht  cols  die  eines  solchen  Nachlasses  am 
meisten  Bedürftigen  bezeichnet  werden 
können.  Die  gänzliche  oder  teilweise  Be- 
seitigung der  Grundsteuer  kann  überdies  dort, 
wo  sie  neben  anderen  ebenso  drückenden 
oder  noch  drückenderen  Steuern  besteht,  schon 
deshalb  nicht  empfohlen  werden,  weil  sie  die 
Vorwegnahme  eines  Teils  der  Bodenrente 
für  die  Bedürfnisse  der  Gesamtheit  bedeutet 
und  vermöge  dieser  Eigenschaft  ganz  geeig- 
net ist,  als  Konzession  an  die  von  sozialis- 
tischer Seite  ausgehenden  Anfechtungen  der 
Berechtigung  des  Privateigentums  an  Grund 
und  Boden,  also  gewissermassen  als  teil- 
weise Erfüllung  einer  der  Hauptforderungen, 
welche  seitens  der  die  herrschende  Wirt- 
schaftsordnung angreifenden  Parteien  erhoben 
werden,  zu  erscheinen.  Freilich  wäre  eine 
auf  solche  Gesichtspunkte  gestützte  Gnmd- 
steuer  eigentlich  keine  Steuer  melu*,  sondern 
eine  auf  sozialpolitischen  Erwägungen  be- 
ruhende und  derlei  Zwecke  verfolgende 
Institution.  In  dieser  Eigenschaft  wird 
sie  vielleicht  noch  fortbestehen,  ja  sogar 
noch  weiter  entwickelt  werden,  wenn  sie 
als  Steuer  im  engeren  Sinne  längst  zu  be- 
stehen aufgehört  haben  wird  —  eine  Ent- 
wickelung,  mit  der  wieder  zum  ursprüng- 
lichen Ausgangspunkte  der  althergebrachten 
Belastung  des  Grundbesitzes  eines  Volkes  für 


Zwecke,  welche  der  Gesamtheit  desselben  ge- 
meinsam sind  —  der  ja  wohl  auch  eher  in 
der  Auffassung  des  Bodens  als  Gemeingut 
des  ganzen  Volkes  als  in  der  erst  spät  zum 
Dm'chbruche  gelangten  Annahme  eines  Be- 
steuerungsrechtes aes  Staates  im  modernen 
Sinne  bestand  —  zurückgekehrt  werden 
wtirde. 

19.  Die  6.  als  Gemeindeabgabe.  Die 
Mängel,  welche  der  Grundsteuer  bei  ihrer 
Ausgestaltung  als  Staatssteuer  ankleben, 
einerseits  und  die  immer  grösser  werden- 
den Schwierigkeiten  der  Deckung  der  Ge- 
meindebedürfnisse andererseits  haben  viel- 
fach die  Veranlassung  dafür  gebildet,  dass 
die  Forderung  erhoben  worden  ist,  die  Grund- 
steuer solle  ganz  den  Gemeinden  überwiesen, 
also  nur  als  Gemeindeabgabe  eingehoben 
werden.  Diese  Foixlerung  wird  hauptsäch- 
lich mit  dem  Hinweise  dai-auf  motiviert, 
dass  die  Tliätigkeit  der  Gemeinden  ihrer 
ganzen  Natur  nacb  eine  solche  sei,  welche 
in  besonderem  Masse  dem  Grundbesitze  zu 
gute  komme.  Es  kann  nicht  geleugnet 
wei-den,  dass  diese  Behauptung  in  hohem 
Grade  begründet  ist.  Dieselbe  führt  aber 
ebenfalls  dahin,  der  Grundsteuer  einen 
Charakter  zu  geben,  diu^ch  dessen  Annahme 
sie  aufhören  würde,  eine  Steuer  im  engeren 
Sinne  zu  sein.  Denn  auf  Grund  dieser 
Motivienmg  der  Ueberweisimg  der  Grund- 
steuer an  die  Gemeinden  müsste  dieselbe 
nach  dem  Masse  des  Interesses  des  Be- 
sitzers des  einzelnen  Grundstückes  an  den 
von  der  Gemeinde  zu  treffenden  Veran- 
staltungen umgelegt  werden.  Damit  aber 
wiirde  sie  in  die  Reihe  jener  Abgaben  treten, 
welche  man  besser  als  »Beiträge«  denn  als 
»Steuern«  bezeichnet.  Als  solche  beitrags- 
artige Gemeindeabgabe  ist  die  Grundsteuer 
sicher  vollauf  berechtigt.  Und  hier  stehen 
ihrer  zielgerechten  Durchfühinmg  auch  ganz 
gewiss  nur  sehr  geringe,  vielleicht  überhaupt 
nicht  nennenswerte  Schwierigkeiten  ent- 
gegen. Denn  es  handelt  sich  ja  hierbei 
doch  nm*  um  die  Bekämpfung  egoistischer 
Indiddualbestrebungen  in.  einem  Kreise,  der 
noch  kleiner  ist,  als  Schätzungsbezirke  zu 
sein  pflegen,  in  welchem  also  eine  wirk- 
same Kontrolle  noch  leichter  durchgeführt 
werden  kann  als  bei  der  schon  oben  als 
eine  verhältnismässig  leichte  Aufgabe  be- 
zeichneten Diu'chführung  der  Einreihung 
der  einzelnen  in  einem  solchen  Bezirke  vor- 
handenen Grundstücke  in  die  für  denselben 
aufgestellten  Klassifikationstarife.  In  einem 
so  engen  Kreise  sind  die  Verhältnisse  der 
einzelnen  Grundstücke  allen  Interessenten 
viel  zu  gut  bekannt,  als  dass  von  einer 
Mögüchkeit,  dieselben  in  halbwegs  erheb- 
!  lichem  Masse  der  gleichmässigen  Berück- 
I  sichtigimg  bei  der  Verteilung  der  Abgaben- 
1  last  zu  entziehen,  ernstlich  die  Rede  sein 


902 


Gnindsteuer 


könnte.  Und  auch  das  Mass  des  Interesses 
der  einzelnen  Grundstücke  an  den  aus  dem 
Gemeindesäckel  zu  bestreitenden  Ausgaben 
ist  innerhalb  des  Kreises  der  betreffenden 
Gemeindemitglieder  in  der  Regel  recht  genau 
bekannt.  Die  Bestrebungen  wegen  Aus- 
nützung der  Grundsteuer  als  Gemeindeabgabe 
müssen  hiernach  als  in  jeder  Beziehung  be- 
rechtigt anerkannt  werden. 

IL  Die  Gesetzgebmig  der  einzel- 
nen Staaten. 

A.  Deutschland. 

Das  Deutsche  Reich  kennt,  w4e  über- 
haupt keine  direkten  Steuern,  so  auch  keine 
Grundsteuer.  Diese  kommt  hier  nur  als 
einzelstaatliche  EinnahmequeDe  vor,  spielt 
aber  auch  als  solche  keine  so  bedeutende 
Rolle  mehr  wie  noch  vor  wenigen  Jahren, 
da  sie  im  grössten  Bundesstaate  seit  kurzem 
als  Staatssteuer  nicht  mehr  eingehoben 
wird,  sondern  den  Gemeinden  überlassen 
wurde,  welche  sie  nunmehr  unter  Benutzung 
der  diesfalls  in  früheren  Zeiten  durch  den 
Staat  geschaffenen  Einrichtungen  für  ihre 
Zwecke  ausnützen  können.  Das  Fortbe- 
stehen dieser  —  anderwärts  vorbildlich  ge- 
wordenen —  Einrichtungen  sowie  der  Um- 
stand, dass  in  mehreren  anderen  Bundes- 
staaten an  der  Grundsteuer  als  Staatssteuer 
noch  festgehalten  wird,  machen  es  notwen- 
dig, die  auf  sie  bezügüchen  Einrichtungen 
der  wichtigeren  Einzelstaaten  liier  zu  schil- 
dern. 

20.  Preussen.  Entsprechend  dem  erst 
in  einer  verliältnismässig  nicht  weit  zurück- 
liegenden Zeit  erfolgten  Anwachsen  Preus- 
sens  zum  Grossstaate  und  der  Art,  in  wel- 
cher dieses,  mit  der  Aufsaugung  einer  Un- 
zahl kleiner,  unter  den  verschiedensten 
Souveränitäten  gestandener  Territorien  ver- 
bunden gewesene  Anwachsen  vor  sich  ge- 
gangen war,  hatte  Preussen  noch  bis  tief 
m  das  laufende  Jahrhundert  herein  eine 
wahre  Musterkarte  der  verschiedensten 
Grundsteuersvsteme  —  teüs  mit,  teils  ohne 
Einbeziehung  der  Gebäude  unter  die  Grund- 
steuer —  aufzuweisen.  Die  Folge  hiervon 
war  natürlich  die  grosste  Ungleichniässig- 
keit  der  Besteuerung  der  einzelnen  Landes- 
teile. Diese  wiurde  allmählich  in  immer 
höherem.  Grade  als  ein  drückender  Uebel- 
stand  empfunden  und  musste  schliesslich 
zu  Bestrebimgen,  Abhüfe  zu  schaffen,  führen. 
Diesen  Bestrebimgen  entsprach  es,  dass 
schon  im  Finanzedikte  vom  27.  Oktober 
1810  das  Versprechen  der  gleichmässigen 
ümlegimg  der  Grundsteuer  auf  allen  im 
Staate  vorhandenen  Grundbesitz  gegeben 
wurde.  Schon  in  diesem  Edikte  wurde 
übrigens  nicht  nur  die  durch  die  Verschie- 
denheit   der    GiTindsteuersysteme    bedingte 


Ungleichmäsjdgkeit ,  sondern  auch  noch 
eine  weitere,  von  dieser  unabhängige  be- 
ruhig;, welche  in  den  meisten  Teilen  des 
Staates  bestand  und  vielleicht  noch  unan- 
genehmer empfunden  wurde  als  die  Folgen 
jener  Verschiedenheit.  Es  war  dies  die 
durch  die  verschiedensten  Ausnahmebestim- 
mungen den  Rittergütern  zugestandene 
gänzlidie  oder  teilweise  Steuerfreiheit.  Diese 
liatte  ursprünghch  iliren  Grund  hauptsäch- 
lich in  (fer  Verpflichtung  der  Besitzer  zur 
persönlichen  Leistung  von  Kriegsdiensten 
ohne  besonderes  Entgelt  und  war  nach  dem 
durch  die  geänderte  Wehrverfassung  veran- 
lassten Hinwegfallen  dieses  Grundes  zu 
einem  unmotivierten  Privilegium  geworden. 
Demgemäss  wurde  im  angeführten  Edikte 
auch  die  Beseitigung  dieser  Befreiungen  zu- 
gesagt. 

Es  kam  aber  damals  noch  nicht  zur 
Durchführung  der  versprochenen  Neurege- 
lung. Auch  spätere  Anläufe  zu  derselben 
(G.  V.  30.  Mai  1820 ,  betreffend  die  Ein- 
richtung des  Abgaben  Wesens ;  Vorlage  an 
die  Nationalversammlung  vom  20.  Juli  1848, 
betreffend  die  Gleichheit  der  Grundsteuer; 
Art.  100  der  Oktoberverfassung  des  iahres 
1849;  G.  V.  24.  Februai  1850,  betreffend 
die  Aufhebung  der  Grundsteuerbefreiungen) 
führten  nicht  zum  Ziele.  Dieses  wurde  erst 
nach  liarten  Kämpfen  durch  die  GG.  v.  21. 
Mai  1861,  »betreffend  die  anderweite  Rege- 
lung der  Grundsteuer«  und  »beti'effend  die 
für  die  Aufhebung  der  Grundsteuerbefrei- 
ungen und  Bevorzugungen  zu  gewährende 
Entschädigimg«  erreicht.  Diese  Gesetze 
bildeten  nebst  einem  Ergänzungsgesetze  vom 
8.  Februar  1867  und  dem  die  Ausdehnung 
auch  des  ereteren  Gesetzes  auf  die  im  Jahre 
1866  annektierten  Provinzen  aussprechenden 
Gesetze  vom  11.  Februar  1870  bis  in  die 
neueste  Zeit  die  Grundlage  des  preussischen 
Grundsteuersystems. 

Die  wesentliche  Bedeutung  des  G.  v.  21. 
Mai  1861  bestand  in  der  endgiltigen  Tren- 
nung der  Gebäudesteuer  von  der  Grund- 
steuer (die  erstere  wurde  gleichzeitig  einer 
neuen  einheitlichen  Regelung  zugeführt),  in 
der  Anerkennung  des  Anspruches  der  Be- 
sitzer der  begünstigten  Güter  auf  eine  Ent- 
schädigimg für  die  Aufhebung  der  Begün- 
stigungen und  in  der  Kontingentierung  der 
Grimdsteuer  und  Anordnung  der  Verteilung 
des  Kontingents  nach  Massgabe  des  durch 
eine  Parzellarkatastrienmg  zu  ermittelnden 
Reinertrages  der  einzelnen  Grundstücke. 

Bei  der  Anerkennung  der  Pflicht  des 
Staates  zur  Leistung  von  Entschädigimgen 
für  die  aufgehobenen  Befreiungen  —  in  dem 
eine  Zeit  lang  unter  französischer  Herrschaft 
gestandenen  Teile  des  Staates  waren  die- 
selben übrigens  schon  unter  dieser  Herr- 
schaft weggeräumt  worden  —  war  die  Er- 


Grundsteuer 


903 


yfPLgnüg  massgebend,  dass  dieselben  im 
Laufe  der  Zeit  —  wenn  auch  missbräuch- 
licherweise,  aber  eben  thatsächlich  —  den 
Charakter  von  Berechtigungen  der  betreffen- 
den Güter  angenommen  hatten.  Als  Hegel 
mit  hierbei  die  Bezahlung  des  IS^/sfaclien 
Betrages  der  diesen  Gütern  durch  den  Staat 
neu  auferlegten  Belastung.  Ganz  ist  übri- 
gens mit  den  Befreiungen  durch  die  in  Rede 
stehende  Massregel  noch  nicht  aufgeräumt 
worden,  da  dieselbe  sich  auf  die  Domänen 
der  Standesherren  nicht  erstreckt  hat. 

Die  Kontingentierung  hatte  zur  Folge, 
dass  der  Ertrag  der  Grundsteuer  in  Preus- 
sen  —  von  kleinen  Schwankungen  abge- 
sehen —  seither  stabil  geblieben  ist.  Uebri- 
gens  hat  diese  Steuer  dort  durcli  die  Ver- 
anlagung nach  Massgabe  des  Reinertrages 
doch  eigentlich  den  Charakter  einer  Q\iote 
desselben  angenommen,  so  dass  sie  nicht  als 
reine  Repartitionssteuer  erscheint.  Man 
könnte  sie  eine  kontingentierte  Quotitäts- 
steuer  nennen.  Die  Katastrierung  ist  sehr 
rasch  durchgeführt  worden,  so  dass  die  Ein- 
hebung der  Grundsteuer  nach  dem  Ergeb- 
nisse derselben  schon  mit  1.  Januai* '  1865 
beginnen  konnte.  Das  Kontingent  betrug 
für  den  Staat  des  Jahres  1861  10000000 
Thaler;  das  der  neuen  Provinzen  wurde  mit 
3200000  Thalem  festgestellt.  Die  Grund- 
steuer lieferte  also  unter  der  Herrschaft  der 
liier  in  Betracht  gekommenen  Gesetze  zu- 
letzt ca.  2,7  ®/o  der  Gesamteinnahmen  des 
Staates. 

Vom  Inhalte  der  angeführten  Gesetze 
sei  folgendes  mitgeteilt: 

Der  Grundsteuer  unterliegen  alle  ertrags- 
fähigen Grundstücke  mit  Ausnahme  ganz 
kleiner  Hausgärten.  Befreit  sind:  dem 
Staate  gehörige  Grundstücke;  die  Domänen 
der  Standesherren  im  althergebrachten  Um- 
fange; den  Provinzen,  Kreisen,  Gemeinden 
und  selbständigen  Gutsbezirken  gehörige 
Grundstücke,  welche  zu  Öffentlichen  Zwecken 
bestimmt  sind ;  andere  eben  solchen  Zwecken 
gewidmete  Grundstücke,  welche  schon  bis- 
her steuerfrei  waren:  Brücken,  Kunststras- 
seu,  Schienenwege  der  Eisenbahnen  und 
schiffbare  Kanäle;  die  schon  bisher  steuer- 
freien Grundstücke,  welche  schon  früher 
zum  Yermögen  von  Kirchen  und  Schulen 
gehörten;  Grundstücke  des  Reichs;  gebäude- 
steuerpflichtige Grundstücke.  Die  Grund- 
steuerpflicht eines  Grundstückes  hört  dui-ch 
den  Lebergang  desselben  in  die  Gebäude- 
steuerpflicht oder  durch  seinen  Untergang 
oder  durch  die  Vernichtung  seiner  Ei^trags- 
fähigkeit  auf.  Für  jeden  Bezirk  wurde  die 
Anlegung  eines  Flurenbuches  und  einer 
Grundsteuermutterrolle  angeordnet.  Das 
erstere  hatte  alle  Wirtschaften  des  Bezirkes 
samt  deren  Flächeninhalt  und  Reinertrag 
aufzunehmen,    während    die    letztere    die 


einzelnen  Parzellen  mit  den  gleichen  Details 
nachzuweisen  hatte.  Beide  Nachweisungen 
sollten  —  aber  unter  Ausschluss  der  Revi- 
sion der  Ertragsschätzung  —  in  Evidenz 
gehalten  werden ;  zu  den  Kosten  der  Evidenz- 
haltung hatten  die  Interessenten  Beiträge 
zu  leisten.  Als  Reinertrag  eines  Grund- 
stückes war  anzunehmen  der  nach  Abzug 
der  Bewirtschaftungskosten  vom  Rohertrage 
verbleibende  Ueberschuss,  welcher  von  den 
nutzbaren  Wirtschaften  nachhaltig  erzielt 
werden  kann.  Der  Kulturzustand  sollte 
dabei  als  ein  mittlerer  angenommen  werden ; 
Rücksichtnahme  auf  den  wirtschaftlichen 
Zusammenhang  der  Gnindstücke  mit  ande- 
ren Grundstücken  oder  mit  gewerblichen 
Anlagen  war  ebenso  ausgeschlossen  wie  die 
auf  Servituten,  Reallasten  und  dergleichen. 
Die  FeststeDung  der  Reinerträge  sollte  durch 
für  jeden  Kreis  (oder  innerhalb  desselben 
zu  bildenden  Klassifikationsdistrikt)  zusam- 
menzustellende Veranlagungskommissionen 
erfolgen,  deren  Mitglieder  zur  Hälfte  von 
den  kreisständischen  Versammlungen,  zur 
Hälfte  von  der  Finanzverwallung  entsendet 
werden  sollten.  An  Kulturklassen  wurden 
unterschieden :  Aecker,  Gärten,  Wiesen,  Wei- 
den, Holzungen,  Wasserstücke,  Oedland 
(Kalk-,  Sandgruben  und  dergleichen;  Sünipfe 
etc.);  endlich  ertraglose  Grundstücke  (Un- 
land). Die  Zahl  der  für  jede  Kulturklasse 
in  jedem  Kreise  zu  bildenden  Bonitätsklas- 
sen sollte  nach  den  Verhältnissen  bestimmt 
werden,  aber  nicht  mehr  wie  acht  betragen. 
Gegen  die  durch  die  Veranlagungskommis- 
sionen  vorgenommenen  Schätzungen  konnte 
an  die  Bezirkskommissionen  reklamiert  wer- 
den, deren  je  eine  für  jeden  Regierungsbe- 
zirk eingesetzt  wurde ;  sie  sollten  zur  Hälfte 
aus  von  den  Provinziallandtagen  gewählten, 
zur  Hälfte  aus  von  der  Finanzverwaltung 
ernannten  Mitgliedern  bestehen.  Die  Be- 
endigung des  Veranla^mg^eschäftes ,  ins- 
besondere die  endgiltige  Feststellung  der 
Klassifikationstarife  und  Abschätzungsresul- 
tate wurde  einer  Centralkommission  über- 
tragen, welche  aus  vier  vom  Finanzminister 
als  seine  Vertreter  bei  der  ihm  obliegenden 
obersten  Leitung  des  ganzen  Veranlagungs- 
geschäftes  zu  bestellenden  »Geheralkommis- 
sarien«  und  vier  weiteren  von  demselben 
zu  ernennenden  Sachverständigen  und  ausser- 
dem aus  vom  Landtage  gewählten  Mitglie- 
dern bestehen  sollte;  von  diesen  sollte  für 
jede  Provinz  je  eines  vom  Abgeordneten- 
hause und  je  eines  vom  Herrenhause  ge- 
wählt werden.  Die  Tragung  der  Kosten  der 
Einhebung  der  Grundsteuer  wnirde  —  in  der 
Form  der  Einhebung  von  Zuschlägen  zu 
dieser  —  den  Steuerträgern  auferlegt.  Die 
Bewilligung  von  Grundsteuemachlässen  aus 
Anlass  von  Beschädigimgen  des  Bodenertra- 
ges durch  Elementarereignisse  wurde  nicht 


904 


Gniüdsteuer 


zugestanden,  dafür  aber  die  Gewährung  von 
Unterstützungen  anlässlich  derartiger  Yor- 
komranisse  als  zulässig  erklärt. 

Der  durch  die  geschilderten  Einrichtun- 
gen hergestellte  Zustand  erfuhr  eine  gründ- 
liche Aenderung  durch  die  umstürzende 
Reform  der  direkten  Steuern  Preussens, 
welche  der  Finanzminister  v.  Miquel 
neuestens  in  Angriff  genommen  und  durch- 
gesetzt hat;  bildete  doch  die  vollständige 
Aufhebung  der  Grundsteuer  als  Staatssteuer 
unter  gleichzeitiger  Bestimmung  derselben 
zu  einem  Mittel  zur  Deckung  der  Bedürf- 
nisse der  Gemeinden  einen  der  wesentlich- 
sten Bestandteile  jener  Reform.  Die  Be- 
deutsamkeit dieses  Schrittes,  welcher  ein 
weitgehendes  Entgegenkommen  gegen  die 
hinsichtlich  der  Stellung  der  Grundsteuer 
im  Systeme  der  Massregeln,  welche  die 
Deckung  der  verschiedenen  öffentlichen  Be- 
darf e  bezwecken,  in  der  neuesten  Zeit  sei- 
tens der  Wissenschaft  aufgestellten  Forde- 
rungen darstellt,  rechtfertigt  es,  wenn  wir 
bei  den  zur  Begründung  desselben  seitens 
der  Regierung  geltend  gemachten  Erwägim- 
gen  etwas  länger  verweilen. 

Dieselben  wurden  in  der  »Denkschrift 
zu  den  dem  preussischen  Landtage  vorge- 
legten Entwürfen  der  Steuen-eformgesetze« 
(Nr.  8  der  Drucksachen  des  preussischen 
Abgeordnetenhauses:  17.  Legislaturperiode, 
V.  Session,  1892/93)  ausführlich  dargelegt! 
In  einem  eigenen  Kapitel  dieses  Elaborates 
wird  die  ȟnhaltbarkeit  der  staatlichen  Er- 
tragssteuern« behandelt.  Dort  wird  darauf 
hingewiesen,  dass  der  Charakter  der  Er- 
tragssteuern als  reiner  Objektsteuern, 
welche  die  steuerliche  Leistungsfähigkeit 
imd  insbesondere  die  persönlichen  Verhält- 
nisse der  Steuerpflichtigen  grundsätzlicli 
unberücksichtigt  lassen,  sich  im  preussischen 
Ertragssteuersysteme  am  scliärfsten  bei  der 
Grundsteuer  auspräge.  Indem  sodann  alle 
Mängel,  welche  den  Ertragsstenern  ihrer 
Natur  nach  ankleben,  dargelegt  werden,  ge- 
langt die  »Denkschrift«  zu  dem  Resultate, 
dass  ein  den  Anforderungen  der  Gerechtig- 
keit und  Billigkeit  entsprechendes  System 
der  direkten  Staats  steuern  sich  nur  auf 
der  Grundlage  der  persönlichen  Ijoistiuigs- 
fähigkeit  aufbauen  lasse.  Da  es  nun  un- 
möglich sei,  diesem  Grundsatze  mittelst  der 
Ertragssteuern  zu  entsprechen,  so  bleibe 
nur  die  völlige  Beseitigung  der  Ertrags- 
steuorn  als  Staatsstouern  übrig. 

Insbesondere  seien  es  auch  die  Rück- 
sichten auf  die  kommunalen  Steuerbedürf- 
nisse, welche  zum  gleichen  Resultate  führen. 
Gegenwärtig  seien  die  Gemeinden  durch 
die  staatlichen  Ertragssteuern,  vor  allem 
durch  die  Höhe  der  Grund-  und  Gebäude- 
steuer gezwungen ,  ihrerseits  von  der 
Deckung  ihrer  Bedürfnisse  auf  diesem  Wege 


Abstand  zu  nehmen  und  zu  anderen  weniger 
angezeigten  Mitteln  zu  greifen.  Die  Gre- 
meinde  sei  wesentlich  ein  wirtschaftlicher 
Verband.  Ihre  Aufwendungen  bezögen  sich 
zum  grossen  Teile  auf  die  Erfüllimg  solcher 
Vorbedingungen,  auf  denen  das  nachbarliche 
wirtschaftliche  Zusammenleben  und  die 
Erwerbsthätigkeit  ihrer  Einwohner  beruhen ; 
insbesondere  komme  ein  grosser  Teil  ihrer 
Ausgaben  den  mit  der  Gemeinde  untrennbar 
verbundenen  Objekten  —  Grund-  und  Haus- 
besitz und  Gewerbsbetrieb  —  zu  gute  und 
erhöhe  deren  Wert  oder  werde  durch  sie 
veranlasst,  so  dass  es  als  ein  Mangel  der 
bestehenden  Einrichtungen  erscheine,  dass 
die  Wertsteigerungen  namentlich  des  städti- 
schen Gnmdbesitzes,  welche  lediglich  durch 
die  die  Steigerung  der  Ausgaben  wiedenim 
bedingende  fortschreitende  Entwickelung  der 
Gemeinden  hervorgerufen  werden ,  in  der 
Besteuerung  fast  unberücksichtigt  bleiben 
und  damit  den  Gemeinden  eine  bedeutende, 
gerade  mit  dem  Wachstume  der  Ausgaben 
naturgemäss  steigende  Steuerkraft  zum 
grossen  Teile  entzogen  werde. 

Andererseits  ständen  den  Realsteuem 
jene  Mängel,  vermöge  welcher  sie  als  Staats- 
steuern nicht  geeignet  seien,  bei  ihrer  Ver- 
wendung als  Aommunalsteuern  nicht  ent- 
gegen. Insbesondere  trete  die  ungleiche 
Veranlagung  der  Gnmdsteuer  innerhalb  der 
Gemeinde  nicht  hervor.  W^ährend  dieselbe 
als  Staatssteuer  nicht  geeignet  sei,  sich  den 
veränderten  wirtschaftlichen  Verhältnissen 
anzuschlicsson,  sei  es  leicht  ausführbar,  bei 
ihrer  Verwendung  als  Gemeindeabgabe  den 
Veränderungen  in  den  Wert-  und  Ertrags- 
verhältnissen zu  folgen  und  sie  so  zu  einem 
lebendigen  Güede  der  Gemeindeorganismen 
zu  gestalten.  Auch  die  —  als  begründet 
angenommene  —  Fordenmg,  dass  innerlialb 
der  Kommunen  die  Leistungsfähigkeit  nicht 
den  ausscjhliesslichen  Massstab  der  Besteue- 
nmg  bilde,  sondern  derselbe  auch  noch  durch 
den  Grundsatz  der  Leistung  und  Gegen- 
leistung ergänzt  werden  müsse,  dränge  zur 
Aufbringung  eines  angemessenen  Teils  des 
Steuerbedarfs  durch  Realsteuern.  Im  eng- 
begi'enzten  Gemeindebezirke  Hessen  sich 
sowohl  die  besonderen  wirtschaftlichen  Vor- 
teile ,  welche  den  einzelnen  Gütenjuellen 
aus  den  Veranstaltungen  der  Gemeinde  er- 
wüchsen, als  auch  die  derselben  im  Interesse 
des  Grundbesitzes  verursachten  besonderen 
Kosten  mit  hinreichender  Sicherheit  über- 
sehen, um  auf  dieser  Grundlage  das  Aus- 
mass  der  Besteuerung  in  befriedigender 
Weise  feststellen  zu  können. 

Auf  Gnmd  aller  dieser  ELrwSgimgen  ge- 
langt die  »Denkschrift«  zu  dem  Schlüsse, 
dass  die  Realsteuem  überhaupt,  also  auch 
die  Grundsteuer,  aufzugeben  imd  anderen 
öffentlichen  Verbänden  zu  überlassen  seien. 


Grundsteuer 


905 


Diese  Massregel  erscheine  nicht  als  etwas 
Zufälliges  und  Willkürliches,  sondern  als 
eine  innerlieh  begründete,  dem  allgemeinen 
Entwickelungsgange  entsprechende  Notwen- 
digkeit, welcher  Rechnung  getragen  wei'den 
müsse,  wenn  eine  befriedigende  Steuerreform 
durchgeführt  werden  solle,  und  gegen  welche 
aus  anderen  Gesichtspunkten  keine,  ernst- 
liche Beachtung  heischende  Bedenken  er- 
hoben werden  konnten. 

In  dieser  Beziehung  wurde  erstlich 
gegenüber  dem  Hinweise  auf  die  Zuver- 
lässigkeit der  durch  die  Grundsteuer  gebil- 
deten Einnahmsquelle  bemerkt,  dass  die 
hierauf  gegründete  bisherige  Bevorzugung 
dieser  Steuerart  in  der  Hauptsache  auf  Ver- 
hältnisse zurückzuführen  sei,  die  in  frühe- 
ren Zeiten  bestanden,  in  der  Gegenwart 
aber  nicht  niu*  nicht  mehr  in  gleichem  Masse 
vorhanden  seien,  sondern  sich  vielmehr  so 
sehr  geändert  hätten,  dass  gegenwärtig  ge- 
sagt werden  müsse,  dass  gerade  die  Gnind- 
steuer  in  ungünstigen  Zeiten  am  aller- 
wenigsten als  ein  brauchbarer  Massstab  zur 
Verteilung  von  Lasten  angesehen  weixlen 
könne;  weiter  wiuxle  gegenüber  dem  Ein- 
wände, dass  die  Beseitigung  der  Gnmd- 
steuer  im  Hinblicke  auf  den  renteoartigen 
Charakter,  welchen  dieselbe  im  Laufe  der 
Zeit  angenommen  habe,  eigentlich  als  ein 
Geschenk  an  die  Grundbesitzer  anzusehen 
sei,  bemerkt,  dass  von  diesem  rentenartigen 
Charakter  nur  in  den  älteren  Provinzen  des 
Staates  die  Kede  sein  könne  und  dass  es 
sich  bei  der  geplanten  Reform  übrigens  gar 
nicht  um  die  Befreiimg  des  Grundbesitzes 
von  der  Grundsteuer,  sondern  um  die  Ueber- 
tragung  der  Einhebung  deraelben  an  die 
Gemeinden  handle ;  endlich  könne  auch  die 
seiner  Zeit  erfolgte  Leistung  von  Entschädi- 
gimgen  an  die  bis  dahin  von  der  Grund- 
steuer befreit  gewesenen  und  derselben  erst 
nachträglich  unterworfenen  Grimdstücke 
einen  ernsten  Einwand  gegen  die  geplante 
Reform  nicht  liefern,  vielmehr  sei  liieraus 
höchstens  die  Notwendigkeit  der  Rückforde- 
rung der  Entschädigungssiunmen  zu  folgern. 

Diesem  Gedankengange  entsprechen  die 
Bestunnu'.nrren  des  gegenwärtig  in  Geltung 
stehenden  üesotzes  wegen  Aufliebung  direk- 
ter Staatssleuern  v.  14.  Juli  1893,  G.S.  Nr. 
21,  S.  219  und  des  damit  zusammenhängen- 
den Kommunalabgabengesetzes  vom  gleiclien 
Datiun,  a.  a.  0.,  8.  152. 

Von  diesen  Gesetzen  ordnet  das  ci'stere 
im  §  1  an,  dass  imter  anderen  auch  die 
Grundsteuer  »gegenüber  der  Staatskasse 
ausser  Hebung  gesetzt«  werde.  Dagegen 
bestimmt  §  3  dieses  Gesetzes  ausdrücklich, 
dass  die  geltenden  Bestimmungen  über  die 
Gnmdsteuer,  soweit  nicht  in  den  neuen  Ge- 
setzen abweichendes  bestimmt  ist,  in  Kraft 
bleiben  und  dass  die  Veranlagung  und  Ver- 


waltung dieser  Steuer  auch  weiterhin,  »so- 
weit nicht  im  gegenwärtigen  Gesetze  Abwei- 
chendes bestimmt  ist,  unter  Aufrechterhal- 
tung der  dieserhalb  bestehenden  gesetzlichen 
Einrichtungen  vom  Staate  für  die  Zwecke 
der  kommunalen  Besteuerung  ausgeführt« 
werde.  Für  diese  Veranlagung  gelten  (§  4), 
>äoweit  nicht  in  dem  gegenwärtigen  Gesetze 
und  im  Kommunalabgabengesetze  Abwei- 
chendes bestimmt  ist,  die  allgemeinen  ge- 
setzlichen Vorschriften,  welche  bei  der 
Heranziehung«  zur  staatlichen  Grundsteuer 
anzuwenden  gewesen  wären.  Weiter  sind 
folgende  Bestimmungen  anzuführen:  (§  18) 
»die  auf  Grund  der  §§  1 — 4  des  Grund- 
steuerentschädigungsgesetzes vom  21.  Mai 
1861  und  der  §§  1,  15  des  G.  v.  11.  Fe- 
bruar 1870  für  die  Aufhebung  von  Grund- 
steuerbefreiungen luid  Grundsteuerbevor- 
zugungen geleisteten  Entschädigungen  sind 
nach  Massgabe  der  folgenden  Bestimmungen 
an  die  Staatskasse  ziu-ückzuerstatten.  Hier- 
bei ist,  soweit  die  Entschädigimg  durch  Er- 
lass  von  Domänenabgaben  oder  Domänen- 
amortisationsrenten stattgefunden  hat,  das 
zu  erstattende  Entschädigungskapital  nach 
dem  zwanzigfachen  Betrage  der  erlassenen 
Abgabe  bezw.  Rente  zu  berechnen;  (§  19) 
die  Rückerstattung  bleibt  ausgeschlossen 
bezüglich  derjenigen  Güter  imd  Grundstücke, 
welche  nach  erfolgter  Entscliädigung  dmxjh 
lästiges  (entgeltliches)  Rechtsgeschäft  ver- 
äussert worden  sind.  .  .  .  Bezüglich  der- 
jenigen Güter  und  Grundstücke,  deren 
Eigentum  nach  erfolgter  Entscliädigung 
durch  Schenkung,  Vermächtnis,  infolge  von 
Erbteilungen  oder  Gutsüberlassungsverträgen 
übergegangen  ist,  bleibt  die  Rückerstattung 
des  Entschädigungskapitals  zu  demjenigen 
Bruchteile  ausgeschlossen,  zu  welchem  der 
zeitige  Eigentümer  weder  unmittelbar  noch 
mittelbar  Erbe  des  Entschädigten  geworden 
ist.  .  .  .  (§  21)  Solchen  Gemeinden,  welche 
die  Grundsteuerentschädigung  zu  gemein- 
nützigen, keine  entsprechende  Verzinsung 
gewährenden  Einrichtungen  verwendet  haben, 
kann  die  Rückerstattung  durch  den  Finanz- 
minister ganz  oder  teilweise  erlassen  wer- 
den .  .  .;  (§  23)  die  zmiickzuerstattenden 
Kapitalien  sind  seitens  der  Pflichtigen  vom 
1.  April  1895  ab  mit  3^2  vom  Hundert  zu 
verzinsen.  Die  Feststellung  der  ziuückzuer- 
stattenden  Kapitalien  gebührt  dem  Finanz- 
minister. Gegen  die  Feststellung  steht  den 
Pflichtigen  .  .  .  der  Rechtsweg  offen  .  .  .; 
(§  24)  Kapitalbeträge,  welche  den  Betrag 
von  25  Mark  nicht  erreichen,  sowie  Kapital- 
beträge, welche  über  einen  durch  25  ohne 
Rest  teilbaren,  in  Mark  ausgedrückten  Geld- 
betrag hinausgehen,  müssen  binnen  einer 
Frist  von  6  Monaten  nach  erfolgter  •  und 
giltiger  Feststellung  nebst  den  bis  zum 
Zahlungstage     aufgelaufenen     Zinsen     ziu: 


906 


Grundsteuer 


Staatskasse  eingezahlt  werden.  Dem  Yer- 
pflichteten  steht  es  frei,  nach  seiner  Wahl 
entweder 

a)  den  noch  verbleibenden  Betrag  des  zu 
erstattenden  Kapitals  nebst  Zinsen  binnen 
6  Monaten  nach  erfolgter  und  giltiger  Fest- 
stellung ebenfalls  zur  Staatskasse  zurück- 
zuzahlen oder 

b)  statt  dessen  ffli*  die  Zeit  vom  1.  April 
1895  ab  auf  die  Dauer  von  6OV2  Jahren 
eine  in  vierteljährlichen  Teilbeträgen  fällige 
Tügungsrente  von  jährlich  4  vom  Hundert 
des  Kapitals  zu  entrichten,  wodiuxjh  das 
Kapital  mit  3V2  vom  Hundert  verzinst  sowie 
mit  V2  vom  Hundert  getilgt  wird.  Auch 
während  des  Zeitraumes  von  60 ^/s  Jahren 
kann  der  Verpflichtete  die  Tilgungsrente 
ganz  oder  teilweise  ablösen.« 

Hinsichtlich  des  zweiten  der  oben  er- 
wähnten neuen  Gesetze  sei  hervorgehoben, 
dass  dasselbe  einen  besondei-en  Abschnitt 
enthält,  welcher  die  Besteuenmg  des  Grund- 
besitzes durch  die  Gemeinden  beliandelt. 
Daselbst  wird  (§  24)  die  Unterwerfung  der 
Grundstücke  unter  die  Gemeindesteuerpflicht 
mit  einer  Reihe  von  Ausnahmen  statuiert. 
§  25  stellt  es  den  Gemeinden  anheim,  in 
welcher  Weise  sie  die  Gnmdsteuer  imilegen 
wollen.  §  26  ordnet  an,  dass,  wenn  keine 
besonderen  Steuern  vom  Gnmdbesitze  ein- 
geführt sind,  die  Besteuerung  in  Prozenten 
der  Staatssteuer  erfolgt.  §  27  endlich  ver- 
fügt, dass  die  Steuern  vom  Grundbesitze 
nach  gleiclien  Normen  und  Sätzen  zu  ver- 
teilen sind,  dass  aber  »Liegenschaften,  welche 
durch  die  Festsetzimg  von  Baufluchtlinien 
in  ihrem  Werte  erhöht  worden  sind  (Bau- 
plätze) nach  Massgabe  dieses  höheren 
Wertes  zu  einer  höheren  Steuer  als  die 
übrigen  Liegenschaften  herangezogen  wer- 
den« können. 

Zu  erwähnen  wäre  schliesslich  noch,  dass 
seither  ein  —  infolge  des  Widerstandes 
der  Regierung  misslungener  —  Vei-such 
gemacht  worden  ist,  die  Verpfhchtung  zur 
Rückzahlung  der  Entschädigungskapitalien 
für  die  Aufhebung  von  Grundsteuerbegüns- 
tigungen wieder  zu  beseitigen. 

21.  Bayern.  Kaum  geringer  als  in 
Preussen  war  die  Buntscheckigkeit  der  auf 
die  Gnmdsteuer  bezüglichen  Einrichtungen 
vor  der  neuzeitlichen  Feststellung  derselben 
in  Bayern.  Und  auch  hier  bezeichnet  der 
Anfang  des  laufenden  Jahrhunderts  den  Zeit- 
punkt, in  welchem  die  Bestrebungen  zur 
einheitlichen  Regelung  unserer  Steuer  im 
ganzen  Staate  begannen ;  do<^h  führten  diese 
Bestrebungen  hier  viel  frülier  zum  Ziele  als 
in  Preussen.  Schon  in  der  königlichen  V.  v. 
8.  Juni  1807  wurde  nämlich  der  Grundsatz 
der  Allgemeinheit  der  Teilnahme  an  den 
Staatslasten  ausgesprochen  und  mit  dem 
Edikte    vom    18.   Mai    1808    unter   gleich- 


zeitiger Beseitigung  der  einzelnen  Provinzial- 
steuern  eine  allgemeine  Grundsteuer  ein- 
geführt, welche  zunächst  auf  Grundlage 
eines  in  der  Veranlagung  der  Steuer  nach 
dem  aus  dem  Werte  der  Grundstücke  ab- 
geleitetem Reinertrage  bestehenden  Pix)- 
visoriums  veranlagt  werden  sollte,  während 
gleichzeitig  eine  vollständige  Rektifikation 
dieser  Veranlagung  auf  Grund  einer  vor- 
zunehmenden genauen  Detaü  Vermessung 
in  Aussicht  gestellt  wurde.  Diese  Rektifikation 
blieb  aber  zunächst,  nachdem  ein  Anlauf 
zu  dereelben  bald  wieder  aufgegeben  worden 
war,  noch  aus.  Erst  mit  dem  G.  v.  15.  August 
1828  erfolgte  die  Anordnung  einer  definitiven 
Neugestaltung  der  Gnmdsteuer  auf  Grund 
eines  Parzellenertragskatasters,  welche  in 
den  nächsten  Jahren  auch  thatsächlich 
durchgeführt  wurde.  Diese  Regelung  gilt 
im  wesentlichen  noch  heute:  doch  wurden 
an  dem  citierten  Gesetze  mit  dem  späteren 
vom  19.  Mai  1881  einige  nicht  unerhebliche 
Modifikationen  vorgenommen. 

Beide  letztcitierten  Gesetze  enthielten 
übrigens  gleichzeitig  auch  die  auf  die  Ge- 
bäudesteuer bezüglichen  Bestimmungen,  ohne 
aber  diese  beiden  Steuerarten  miteinander 
zu  verschmelzen. 

Der  wesentlichste  Inhalt  des  auf  die 
Grundsteuer  bezüglichen  Teils  dieser  Ge- 
setze besteht  im  folgenden:  Den  Massstab 
der  Besteuenmg  bildet  der  aus  dem  Flächen- 
inhalte und  nach  der  Naturalertragsfähigkeit 
der  Gnuidstücke  ermittelte  Ertrag  derselben : 
wer  Reallaslen  zu  tragen  hat,  ist,  wenn  er 
die  Steuer  hiervon  nach  den  Vorschriften 
des  Grundentlastungsgesetzes  vom  4.  Juni 
1848  nicht  selbst  zu  übernehmen  hat,  be- 
rechtigt, ein  Fünfzehntel  des  betreffenden 
Bezugs  als  Steuerbeitrag  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Der  Flächeninhalt  der  Grundstücke 
wii'd  durch  Parzellenvermessung,  die  natür- 
liche Ertragsfähigkeit  durch  Ausmittelimg 
mit  Hilfe  von  Mustergrundstücken  gefunden ; 
der  Betrag  der  Renten  aus  Fischereirechten 
wird  durch  Liquidierung,  Fatierung  und 
Schätzung  separat  erhoben ;  die  Grundfläche 
aller  Gebäude  und  Hofräume  wird  in  die 
Klasse  der  besten  Grundstücke  der  be- 
treffenden Ortsflur  eingereiht;  dagegen 
werden  Hausgärten  und*  Bauplätze  wie 
andere  Grundstücke  klassifiziert.  Die 
Schätzung  sollte  durch  Taxatoren  geschehen, 
welche  Landwirte  sein  mussten;  jede  Ge- 
meinde eines  Schätzungsbezirkes  soDte  je 
einen  Wahlmann  stellen;  die  auf  diese  Art 
gewählten  Wahlmänner  sollten  aus  ihrer 
Mitte  Schätzleute  wählen,  aus  welchen 
dann  die  Centralkatasterstelle  die  erforder- 
liche Anzahl  von  Taxatoren  zu  berufen  hatte. 
Für  jede  Gemeinde  wurde  ein  eigenes 
Kataster  angefertigt.  Die  Bonitätsklassen 
^imlen  nach  der  Grösse  des  ganzen  mitt- 


Grundsteuer 


907 


leren  Körnerertrags  abgestuft  (bei  Aeckern 
sollte  ein  mitteljähriger  Ertrag  von  ^.s  Scheffel 
f=  27,8  Liter]  Korn  —  im  angenommenen 
Werte  von  1  Gulden  rheinischer  Wähnmg 
—  vom  bayerischen  Tagwerk  [=:  34  Ar]  oder 
der  gleiche  Wert  an  anderen  Getreide- 
sorten nach  Abzug  der  Aussaat  je  eine  ßo- 
nitätsklasse  abgeben;  bei  Wiesen  wurden 
l^.'s  Centner  Heu  einem  Achtel  Scheffel 
Korn  gleich  gesetzt;  bei  Waldungen  sollte 
erhoben  werclen,  welche  Holzmenge  einem 
Achtel  Scheffel  Korn  gleichzusetzen  sei) ;  die 
»Steuen^erhältniszahl«  sollte  bei  den  Gnmd- 
stiicken  dargestellt  werden  diuxih  das  Pro- 
dukt aus  ihrer  Fläche  und  der  Ziffer  ihrer 
BoDitätsklasse ;  die  angeführte  Zahl  sollte 
demnach  den  jährlichen  mittleren  Ertrag  jedes 
Gnmdstückes  in  Achteln  Scheffeln  Korn  (oder 
Gulden)  ausdrücken;  der  jährliche  mittlere 
Ertrag  von  je  euiem  Achtel  Scheffel  Korn 
/oder  Gulden)  wurde  als  die  »Einheit«  der 
öteuerverhältniszalü  bezeichnet ;  dadiu-ch, 
dass  erklärt  wird,  wieviel  Pfennige  für  jede 
solche  Eiaheit  als  Grundsteuer  zu  entrichten 
seien,  sollte  die  Höhe  der  Grundsteuer  be- 
stimmt werden ;  diese  wird  alljährlich  durch 
das  Finanzgesetz  bestimmt.  Gegen  die 
Schätzungen  konnten  Reklamationen  einge- 
bracht werden. 

Der  Ertrag  der  Gnmdsteuer  in  Bayern 
belief  sich  in  den  letzten  Jahren  bei  einem 
Steuerfasse  von  8  Pfennigen  auf  die  Steuer- 
einheit auf  ca.  IIV2  Millionen  Mai'k  oder 
3®/o  der  gesamten  Staatseinnahmen. 

22.  Königreich  Sachsen.  Das  König- 
reich Sachsen  ist  —  nebst  einigen  deutschen 
Kleinstaaten  —  dem  preussischen  Staate 
mit  der  modernen  Ausbildimg  der  Ein- 
kommensteuer vorausgeschritten,  hat  daraus 
aber  nicht  die  Konsequenz  gezogen,  welche 
hier  aus  dieser  Reform  hergeleitet  wurde, 
sondern  hat  die  Grundsteuer  neben  der  Ein- 
kommensteuer als  staatliche  Einnahmsquelle 
beibelialten,  ohne  aber  hieraus  die  Folgerung 
zu  ziehen,  dass  den  Steuerträgem  auch  alle 
übrigen  trtragssteuern  neben  der  Ein- 
kommensteuer aufzuerlegen  seien.  Dem- 
zufolge bildet  die  Grundsteuer  in  Sachsen 
nicht  einen  Teil  eines  mehr  oder  minder 
entwickelten  Ertragssteuersystems,  sondern 
erscheint  im  Vereine  mit  der  Gebäudesteuer 
als  derjenige  Teil  eines  solchen,  welcher 
daselbst  allein  noch  neben  einer  allgemeinen 
Einkommensteuer  besteht,  stellt  afio  —  da 
diese  Einkommensteuer  auch  das  Einkommen 
aus  Grundstücken  und  Gebäuden  mit  um- 
fasst  —  eine  nur  auf  die  von  ihr  getroffenen 
Einkommensquellen  gelegte,  somit  eine  be- 
sondere Belastung  derselben  bildende  direkte 
Steuer  dar  (die  dritte  in  Sachsen  noch  be- 
stehende Steuer,  welche  gesetzlich  ebenfalls 
als  >direkte«  bezeichnet  ist,  die  vom  Ge- 
werbebetriebe im  Umherziehen  nämlich,  hat 


wohl  mehr  den  Charakter  einer  Lizenz- 
gebühr). Das  die  Grundsteuer  (vereint  mit 
der  dort  als  Teil  derselben  behandelten  Ge- 
bäudesteuer) regelnde  Gesetz  trägt  das  Datum 
vom  9.  September  1843 ;  einige  Modifikationen 
an  demselben  wurden  durch  das  G.  v.  3. 
Juli  1878  vorgenommen. 

Der  wesentliche  Inhalt  des  modifizierten 
sächsischen  Grundsteuergesetzes*  besteht  in 
folgendem :  Als  Gegenstand  der  Gnmdsteuer 
sind  anzusehen  die  Erträgnisse  des  land- 
wirtschaftlich benutzten  Bodens  sowie  an- 
derer ertragsfähiger  Boden  flächen  (auch 
Steinbrüche  u.  dergL),  Teiche  und  für  Ge- 
werbe bestimmten  (Jewässer,  endlich  der 
Gebäude.  Die  Grundsteuer  wird  vom  Rein- 
ertrage nach  Steuereinheiten  erhoben;  auf 
je  10  Groschen  des  Reinertrags  wird  eine 
Steuereinheit  gelegt;  sie  beträgt  4  Pfennige 
jährlich  von  jeder  Steuereinheit.  Befreit 
sind  (soweit  es  sich  um  Grundstücke  handelt) 
die  dem  Staate  gehörigen  Güter;  zu  öffent- 
lichen Zwecken  bestimmte  Oberfläche; 
steriler  Boden;  die  nicht  ausdrücklich  füi* 
steuerpflichtig  erklärten  Gewässer.  Die  Zahl 
der  für  ein  Grundstück  im  Kataster  in  An- 
satz stehenden  Steuereinheiten  bleibt  unver- 
ändert. Ausgenommen  hiervon  sind:  der 
Fall  des  Nachweises  wesentlicher  Irrtümer; 
wenn  infolge  der  Zusammenlegung  von 
(hnindstücken  eine  neue  Feststellung  der 
Steuereinheiten  für  das  aus  der  Zusammen- 
legung entstandene  erforderlich  wird;  Sub- 
stanzverlust durch  ein  Elementarereignis; 
Erlangung  der  Steuerfreiheit ;  Trockenlegung 
von  Flussbetten.  In  das  Kataster  wurden 
die  einzelnen  Steuerobjekte  nebst  ihren 
Steuereinheiten  aufgenommen;  zu  diesem 
Zwecke  mussten  Verzeichnisse  (dort  Flur- 
bücher genannt)  angelegt  werden,  in  wel- 
chen Lage  und  Figur  einer  jeden  Parzelle, 
dann  ihre  Grösse,  Kulturart,  Bonität,  gene- 
reller und  definitiver  Reinertrag  ersichtlich 
zu  machen  waren;  der  Flächeninhalt  war 
auf  Gnmd  der  bereits  vorhandenen  Ver- 
messung aufzunehmen.  Erlässe  an  der 
Gnmdsteuer  können  wegen  besonderer  un- 
verschuldeter Unglücksfälle,  welche  ein 
Grimdstück  oder  die  Person  des  Besitzers 
betreffen  und  durch  welche  der  letztere 
zahlungsunfähig  wird,  zugestanden  werden. 
Ein  solcher  Erlass  darf  in  der  Regel  den 
einjährigen  Betrag  der .  zu  entrichtenden 
Gnmdsteuer  nicht  übersteigen. 

Der  Ertrag  der  Gnmdsteuer  in  Sachsen 
ist  übrigens  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
zur  Hälfte  den  Schulgemeiuden  überwiesen 
worden. 

23.  Württemberg.  In  Württemberg  ist 
die  Grundsteuer  geregelt  worden  durch  das 
G.  V.  28.  April  1873.  Nach  demsfiben 
unterliegen  der  Gnmdsteuer  alle  ertrags- 
fähigen  Grundstücke   und    die   Realrechte. 


908 


Grundsteuer 


Befreit  sind  die  Güter  der  Krondotation, 
Staatsgüter,  zum  öffentlichen  Gebrauche 
dienende  Grundflächen  und  die  als  Besol- 
dung von  Beamten  dienenden  Grundstücke 
(die  Erträge  der  letzteren  Grundstücke  imter- 
liegen  der  Besoldungssteuer).  Die  Besteuerung 
erfolgt  nach  dem  jälirlichen  Reinertrage. 
Für  dessen  Einschätzung  bestehen  besondere 
Vorschriften  in  betreff  der  Wälder  und 
anderen  Güter. 

1.  In  betreff  der  nicht  als  Wälder  anzu- 
sehenden Grundstücke  wurde  folgendes  an- 
geordnet :  Die  für  die  Einschätzung  nötigen 
Vorarbeiten  sollten  die  Gemeindebehörden 
liefern;  hierbei  sollten  sie,  wo  nicht  schon 
von  früher  her  eine  entsprechende  Klassenein- 
teilung der  Grundstücke  bestand,  eine  solche 
sofort  herstellen.  Die  Steuereinschätzung 
selbst  sollte  in  der  Art  erfolgen,  dass  die 
Grundstücke  jeder  Kulturart  in  Klassen  ge- 
teilt, für  alle  Kulturarten  und  Klassen  die 
der  Veranlagung  zu  Grunde  zu  legenden 
Reinerträge  (Steueranschläge)  pro  Heklai' 
festgesetzt,  durch  Anwendung  dieser  Steuer- 
anschläge auf  die  einzelnen  Parzellen  deren 
Steuerkapitale  berechnet  und  hiervon  die 
abzuschätzenden  Grundlasten  abgezogen  wer- 
den. Folgende  Kultiuarten  wurden  unter- 
schieden: Aecker,  Wiesen,  Weinberge, 
Gärten,  Baumgüter,  Hopfengärten,  Wechsel- 
felder und  Weiden.  Der  Berechnung  des 
Steueranschlags  sollte  die  des  Rohertrags 
imd  der  Kulturkosten  —  teilweise  auf  Grund 
langjähriger  Durchschnitte  —  vorausgehen. 
Bauplätze  sollten  wie  Hausgärten,  Arbeits- 
und andere  Lagerplätze  sowie  Torffelder 
als  Gnmdstücke  jener  Kiüturart  und  -klasse 
behandelt  werden,  der  sie  ohne  diese  Be- 
nutzung angehören  würden;  Steinbrüche, 
Fischwässer  u.  dergl.  sollten  nach  ihrer 
Pachtrente  eingeschätzt  werden.  Organe 
der  Einschätzimg  waren:  eine  aus  Beamten 
durch  den  Finanzminister  gebildete  Kataster- 
kommission; vom  Finanzminister  auf  Vor- 
schlag der  Katasterkommission  aus  der 
Mitte  der  Landwirte  genommene  Landes- 
schätzer; endlich  aus  je  4  Mitgliedern  — 
wovon  zwei  durch  die  Katasterkommission 
berufen  werden  sollten,  eines  auf  Gnmd 
von  Vorschlägen  der  Amtsversanmilung  durch 
den  Steuerkommissär  und  eines  jeweils  vom 
Gemeinderate  der  beteiligten  Gemeinde  zu 
bestimmen  war  —  und  einem  (von  der 
Katasterkommission  zu  ernennenden)  »Steuer- 
kommissär« bestehende  Bezirksschätzungs- 
kommissionen. Der  Katasterkommission  war 
die  oberste  Leitung  und  vor  allem  die  Sorge 
für  die  Gleichmässigkeit  der  Einschätzung 
libertnigen;  die  Laudesschätzer  hatten  in 
ihren  Distrikten  die  Schätzungsarbeiten  zu 
übef  wachen  und  im  Falle  von  Beschwerden 
den  Nach  Schätzungen  beizuwohnen.  Die 
Schätzungsbezirke  sollten  in  der  Regel  mit 


den  Gemeindegebieten  identisch  sein;  je 
mehrere  solcher  Bezirke  büdeten  je  einen 
Hauptschätzungsbezirk.  In  jedem  Bezirke 
der  letzteren  Kategorie  sollten  unter  un- 
mittelbarer Aufsicht  der  Katasterkommission 
»Musterschätzungen«  vorgenommen  werden; 
an  der  Hand  derselben  hatte  dann  die 
Schätzung  der  einzelnen  Grundstücke  zu 
erfolgen.  Gegen  die  Schätzungen  konnten 
Beschwerden  an  die  Katasterkonmiission 
und  schliesslich  noch  an  das  Finanzminis- 
terium eingebracht  werden. 

2.  Auf  Waldungen  hatten  im  allgemeinen 
auch  die  vorstehenden  Anordnungen  ^n- 
Wendung  zu  finden.  Die  Besonderheiten 
bestanden  hierbei  darin,  dass  die  für  die 
Wälder  bestimmten  Schätzungskommissionen 
nur  drei  Mitglieder  haben  soUten,  welche 
wie  die  für  diesen  Teil  des  Veranlagungs- 
geschäftes besonders  zu  ernennenden  Lan- 
desschätzer Forstleute  von  Fach  sein  mussten. 

Bei  der  Evidenzhaltung  des  Katasters 
soUen  nicht  niu*  Veränderungen  in  der  Sub- 
stanz der  Grundstücke,  sondern  auch  dauernde 
Kulturändenmgen  berücksichigt  werden.  Für 
Elementarschäden  werden  Nachlässe  be- 
willigt. Ausserdem  wurde  eine  Bewilligimg 
eines  solchen  anlässlich  der  Notlage,  in  wel- 
che (hauptsächlich  infolge  des  Auftretens 
der  Reblaus)  in  neuerer  Zeit  der  Weinbau 
geraten  ist,  auch  noch  für  einen  anderen 
Fall  zugestanden;  im  Artikel  1  des  G.  v. 
29.  Mäi^  1893  lieisst  es  nämlich:  »Wenn 
auf  einem  im  Grundsteuerkataster  veraeich- 
neten  Grundstücke  die  Rebenlage  auf  einer 
Fläehe  von  mindestens  einem  Ar  erneuert 
wird,  so  bleibt  diese  Fläche  auf  Anti-ag  des 
Eigentümers  oder  Nutzniessers  von  dem  auf 
die  Erneuerung  folgenden  Steuerjalu-e  an 
5  Jahre  lang  von  der  Staats-,  Amtskorper- 
scliafts-  und  Gemeindesteuer  frei« ;  die  Giitig- 
keitsdauer  dieses  Gesetzes  wmxie  im  Artikel  2 
desselben  auf  die  Zeit  bis  zum  Jalu-e  1921 
inklusive  beschränkt. 

Die  Höhe  der  Gnmdsteuer  wui-de  fi-üher 
durch  die  Repartierung  des  im  Wege  der- 
selben laut  Bestimmung  im  Finanzgesetze 
jeweils  aufzubringenden  Kontingentes  be- 
stimmt ;  seit  dem  Gesetze  vom  14.  Juni  1887 
ist  sie  mit  einer  Quote  des  »Steueranschlags«^ 
(3,9  ^/o)  festgestellt.  Sie  liefert  nach  diesem 
Steuerfusse  ein  Jahreserträgnis  von  ca. 
3  700  000  Mark  (5  %  aller  Staat«emnalimen). 

24.  Baden.  Das  badische  Grund- 
steuersvstem  unterscheidet  sich  von  den 
bisher  dargestellten  dadiu-ch,  dass  dori  die 
Veranlagung  auf  Grund  eines  Wertkatasters 
durchgeführt  worden  ist,  sowie  dadiux-h, 
dass  die  Gnmdbesitzer  dort  neben  der 
Grundsteuer  noch  eine  besondere  Erwerbs- 
steuer  vom  Betriebe  der  Landwirtschaft  zu 
bezalüen  haben,  die  Grundsteuer  also  den 
Charakter  einer  Besteuenmg  der  Gnmdrenle 


Grundsteuer 


909 


ganz  rein  erkennen  lässt.  Eigentümlich  ist 
ferner,  dass  die  auch  in  Baden  angenommene 
Trennung  der  Grundsteuer  in  zwei  Bestand- 
teile, deren  einer  sich  auf  die  Waldungen 
und  deren  anderer  sich  auf  die  übrigen 
Orundstücke  bezieht,  so  weit  getrieben 
wunle,  dass  jeder  dieser  beiden  Bestandteile 
in  einem  besonderen  Gesetze  geregelt  ist 
(Gesetz,  betreffend  die  »Steuer  vom  land- 
wirtschaftlichen Gelände«,  v.  7.  Mai  1858 
imd  Gesetz,  betreffend  die  »Steuer  von 
Waldungen«,  v.  23.  März  1854). 

A.  Der  Steuer  vom  landwirtschaftlichen 
■Gelände  imterliegt  alles  Land,  welches  nicht 
ausdrücklich  als  Waldung  erklärt  ist;  be- 
freit sind:  sterile  Stücke,  öffentliche  Ge- 
wässer, Strassen  und  Plätze,  Mühlteiche  und 
■dergleichen,  Bergwerke,  verbaute  Plätze. 

Die  Einschätzung  hatte  in  der  Art  zu 
erfolgen,  dass  die  Ländereien  jeder  Kultiu*- 
art  in  Klassen  geteilt  wiu'den  \md  für  jedes 
Gnmd stück  nach  der  Einreihung  desselben 
und  auf  Grund  seiner  Grösse  dessen  eigenes 
»Steuerkapital«  sow^ie  das  durch  die  darauf 
haftenden  Grundlasten  repräsentierte  ermit- 
telt wurde*  nach  diesen  »Steuerkapitalien« 
wiude  die  Gnmdsteuer  einerseits  den  Grund- 
besitzern und  andererseits  den  durch  die 
Grundlasten  Berechtigten  auferlegt.  Der 
dieser  Ennittelung  und  Auferlegung  zu 
Grunde  zu  legende  Steueranschlag  beruhte 
auf  dem  Kapitale  des  Reinertrages,  »wie 
sicli  dasselbe  als  mittlerer  Kaufwert  im 
Durchschnitte  der  Güterpreise  aus  der 
Periode  von  1828—1847  zu  erkennen«  gab. 
Aus  diesen  Güterpreisen  soDte  der  Durch- 
schnittspreis für  je  einen  Morgen  Land  jeder 
Kulturart  und  -klasse  ermittelt  werden ;  die 
aus  den  eruierten  Käufen  ermittelten  Preise 
durften  aber,  wenn  sie  nicht  angemessen 
erschienen,  durch  Schätzungen  richtig  ge- 
stellt werden,  welche  auch  dann  einzutreten 
hatten,  wenn  Kaufpreise  nicht  in  genügen- 
der Zalil  vorlagen  j  doch  mussten  den 
Schätzungen  womöghch  die  Kaufpreise  ähn- 
licher Kulturarten  und  -klassen  zu  Grunde 
gelegt  werden;  war  dies  Mittel  nicht  an- 
wendbar, so  sollte  als  Steuerkapital  das 
Fünfimdzwanzigfache  des  durchschnittlichen 
Pachtertrags  dienen  und  erst,  wenn  auch 
-dies  Mittel  nicht  anw^endbar  war,  sollte  eine 
Reinertragsschätzung  stattfinden;  in  diesem 
Ealle  war  das  Fünfundzwanzigfache  des 
Reinertrags  als  Steuerkapital  anzunehmen; 
bei  den .  Grundlasten  sollte  zum  Teil  der 
achtzehnfache,  zum  Teil  der  fünfundzwanzig- 
fache Jahresbetrag  als  Steuerkapital  dienen. 
Die  Schätzungen  waren  durch  Steuerkom- 
missäre und  von  der  Finanzverwaltung  aus 
der  Mitte  der  Steuerträger  zu  ernennende 
Schätzleute  vorzunehmen ;  das  Resultat  die- 
ser   Schätzimgen    war    durch    eine    eigene 


Ministerialkommission  zu  prüfen  und  end- 
giltig  festzustellen. 

Im  Wege  der  Evidenzhaltung  sind  ausser 
Aenderungen  in  den  Besitzverhältnissen  der 
Grundstücke  und  an  der  Substanz  deraelben 
auch  Kulturänderungen  zu  berücksichtigen. 

Für  Verluste  durch  ausserordentliche 
Vorkommnisse  können  Nachlässe  bewühgt 
werden.  Die  diesbezüglichen  Bestimmungen 
enthält  ein  besonderes  Gesetz  (v.  12.  Mai 
1892,  Nachlass  der  Grundsteuer  wegen 
ausserordentlicher  Unglücksfälle  betreffend 
—  Ges.  und  Ver.-Bl.  Nr.  11).  Dasselbe 
ordnet  im  Art.  1  an:  »Ein  Nachlass  an  der 
Grundsteuer  findet  statt,  wenn  landwirt- 
schaftlich benutztes  Gelände  durch  Hagel- 
schlag ,  Wolkenbruch ,  üeberschwen>mung 
oder,  jedoch  nur  insoweit  es  sich  um  Reb- 
gelände handelt,  durch  Frost  derart  beschä- 
digt wird,  dass  mindestens  der  dritte  Teil 
der  Ernte  der  betroffenen  Grundstücke  als 
zerstört  anzusehen  ist.«  Und  im  Art.  3 
heisst  es:  »Der  Nachlass  beträgt  bei  einer 
Beschädigung  von  einem  Drittel  und  da- 
rüber, aber  unter  zwei  Dritteln  ^/lo,  bei 
einer  solchen  von  zwei  Dritteln  und  darüber 
aber  ®/io  der  Grundsteuer.  Soweit  es  sicli 
um  Rebgelände  handelt,  wird  die  Steuer 
bei  einer  Beschädigung  von  einem  Drittel 
und  darüber,  aber  unter  zwei  Dritteln  zu 
®/io,  bei  einer  solchen  von  zwei  Dritteln 
und  darüber  ganz  nachgelassen«. 

Ausserdem  hat  noch  die  infolge  der 
Verwüstungen  durch  die  Reblaus  einge- 
tretene Notlage  des  Weinbaues  zu  einem 
SpeciaJgesetze  (v.  18.  Juni  1892,  die  Ka- 
tastrierung  neu  angelegten  Rebgeländes  be- 
treffend; Ges.  und  Ver.-Bl.,  Nr.  16)  Anlass 
geboten,  in  dessen  Art.  1  verfügt  wird: 
»Als  Riebgelände  (Weinberge)  katastrierte 
Grundstücke,  auf  denen  die  Rebanlagen  voll- 
ständig erneuert  werden,  bleiben  von  dem 
Jahre  an,  in  dem  die  Neuanpflanzung  soweit 
vorgeschritten  ist,  dass  das  Gelände  wieder 
als  Rebanlage  erscheint,  5  Jahre  lang  von 
der  Grundsteuer  frei«. 

B.  Als  Waldungen  wurden  nicht  nur 
die  Wälder  selbst,  sondern  auch  die  in  den- 
selben befindlichen  Weiden,  Holzlagerplätze, 
Köhlereiplätze,  Steinbrüche  und  Teiche  be- 
handelt. Der  Steueranschlag  soUte  bei  den 
Waldungen  im  fünfzehnfachen  Betrage  des 
Wertes  bestehen,  welchen  der  jährliche 
»Haubarkeitsertrag«  auf  dem  Stocke  hatte; 
andere  Nutzungen  sollten  mit  dem  Fünf- 
undzw^anzigfachen  des  Jahresertrags  veran- 
schlagt werden,  aber  niur  soweit  sie  als 
Hauptnutzungen  erschienen  (Nebennutzungen 
waren  ausser  Betracht  zu  lassen);  hierbei 
waren  die  Durchschnittspreise  aus  den 
Jahren  1845—1847  und  1850—1852  zu 
Grunde  zu  legen;  wo  solche  fehlten,  sollte 
eine  billige  Schätzung  Platz   greifen.    Die 


910 


Grundsteuer 


Schätzleute  mussten  aus  der  Mitte  der  Forst- 
wirte genommen  werden. 

WsQdksteii  waren,  soweit  sie  in  Holz 
bestanden,  zu  Lasten  des  Bezugsberechtigten 
mit  dem  fiinfundzwanzigfachen  jährlichen 
Geldwerte  zu  veranschlagen ;  andere  Lasten 
sollten  niu:  dann  veranschlagt  werden,  wenn 
sie  den  Holzertrag  oder  sonstige  Haupt- 
nutzungen schmälerten;  in  diesem  Fädle 
waren  sie  mit  dem  fünfundzwanzigfachen 
Geldwerte  dieser  durch  sie  jährlich  verur- 
sachten Schmälerung  zu  berechnen. 

Im  übrigen  galten  für  die  Grundsteuer 
von  den  Waldungen  die  allgemeinen  Grund- 
steuemormen^ 

Die  Feststellung  beider  Teile  der  Grund- 
steuer erfolgt  alljährlich  auf  Grund  des 
Verhältnisses  zwischen  dem  für  den  ganzen 
Grundbesitz  des  Landes  ermittelten  Steuer- 
kapitale und  dem  durch  das  Finanzgesetz 
bewilligten  Steuerertrage. 

25.  Hessen.  Auch  in  Hessen  besteht 
die  in  den  meisten  der  übrigen  grösseren 
deutschen  Staaten  gewählte  Form  der  Ver- 
anlagung der  Grundsteuer,  indem  dieselbe 
dort  auf  Grund  eines  Parzellenertragskatas- 
ters umgelegt  wird,  dessen  Herstellung  und 
Einrichtung  durch  das  G.  v.  13.  Mai  1824 
geregelt  worden  ist.  Die  Ertragsschätzung 
erfolgte  im  Wege  der  Vergleichung  der  ein- 
zelnen Parzellen  mit  Mustergrundstücken. 
Da  sich  im  Laufe  der  Zeit  herausgestellt 
hatte,  dass  die  auf  Grund  dieser  Katastrie- 
rung  stattgefundene  Besteuerung  der  Wal- 
dungen infolge  der  seither  durch  die  Er- 
höhung der  Erträge  der  Bewirtschaftung 
derselben  eingetretenen  Aenderung  des  Ver- 
hältnis.ses  zwischen  diesen  Erträgen  und 
denen  der  übrigen  Kulturarten  mit  der  Be- 
steuerung der  letzteren  nicht  mehr  im  rich- 
tigen Verhältnisse  stand,  erfolgte  im  Jahre 
1864  eine  Erhöhung  der  Gnmdsteuer  von 
den  Waldungen  durch  das  einfache  Mittel 
einer  pauschalmässigen  Erhöhimg  des  im 
Wege  der  alten  Katastriernng  festgestellten 
Reinertrags  derselben. 

B.  Ausserdeutsche  Staaten. 

26.  Oesterreich-Ungarn.  a)  Oester- 
reich.  Es  ist  wohl  in  erster  Linie  der 
historischen  Finanznot,  an  welcher  Oester- 
reich  bis  vor  kurzem  litt,  zuzuschreiben, 
dass  hier  frfiher  als  anderswo  die  Be- 
strebungen nach  einer  rationellen,  zweck- 
entsprechenden Veranlagung  der  Grund- 
steuer begannen,  wie  es  andererseits  mit 
den  in  diesem  Staate  stets  so  bedeutend 
gewesenen  Schwierigkeiten  der  inneren 
Politik  resp.  mit  den  Ursachen  derselben 
zusammenhängen  dürfte,  dass  diese  Be- 
strebungen hier  später  als  sonst  irgendwo 
zum  gewünschten  Resultate  geführt  haben. 


Die    Geschichte    der   Gnmdsteuerregu- 
lierung  beginnt  nämlich  in  Oesterreich  schon 
mit  dem  durch  das  kaiserliche  Patent  vom 
7.  September  1718  eingeführten  Censimento 
Milanese,  mit  welchem  bereits  —  allerdings 
nur  für   die  Lombardei   —   die  Anlegimg 
eines   förmlichen,   bereits   alle   noch   heute 
für  wesentlich  erachteten  Erfordernisse  ent- 
haltenden   Parzellenertragskatasters     ange- 
ordnet   worden    ist.     Anläufe    zur  Durch- 
führung einer  ähnlichen  allgemeinen  Gnind- 
steuerregiüierung   im  ganzen  Staatsgebiete 
wurden  imter  Maria  Theresia  und  Joseph  H. 
unternommen.       An     der     theresianischen 
»Steuerrektifikation«  ist  wichtig,  dass  schpn 
durch  sie    der  Steuerimmunität   des  heiT- 
schaftlicheu  Grundbesitzes  ein  Ende  gemacht 
worden   ist;   die  durch   sie   bewirkte  Um- 
legung der  Steuerlast  erwies  sich  aber  bald 
als  höchst  mangelhaft.    Dieselbe  sollte  — 
ehe   sie  noch  vollendet  war  —  durch   die 
von   Joseph  IL   auch  auf  diesem   Gebiete 
unternommene  Reform   verbessert   werden. 
Die  Durchführung  dieser  Reform  soUte  schon 
auf  der  Basis  einer  allgemeinen  Parzellen- 
vermessung     erfolgen     (die    theresianische 
Regulierung  hatte  nämlich  noch  eine  Güter- 
schätzung und  Repartierung  ziir  Grundlage) ; 
doch    wurde    im    Interesse    der   rascheren 
Diux5hführung    von   der  Uebertragung    der 
Vermessung  an  Fachmänner  viel^h  abge- 
sehen,   dieselbe   vielmehr    grossenteüs  den 
Gi-undbesitzern  selbst  überlassen.  Auch  die 
Eitragsschätzung  w^urde  in  wenig  genauer 
Weise    diu-chgefOhrt.      Die    Folge     dieser 
üeberstürzung  der  Reform  war,  dass  die- 
selbe  das   Schicksal   der  meisten   anderen 
Reformen  Josephs  II.  teilte :  sie  wurde  durch 
seinen  Nachfolger  Leopold  11.   wieder   be- 
seitigt.   Zunächst  tmten  wieder  die  alther- 
gebrachten  Methoden    der   Verteilung   der 
Steuerlast  auf  die  einzelnen  Provinzen  und 
innerhalb  derselben  in  Geltung.  Doch  waren 
die   Reformbestrebungen  hieniurch  keines- 
wegs für  immer  beseitigt.    Die  Mängel  des 
geltenden    Systems    brachten    es    vielmehr 
mit  sich,  dass  in  der  an  Reformen  so  reichen 
ersten  Hälfte  der  Regierungszeit  des  Kaisers 
Fi-anz   auch   die   Reform    der  Grundsteuer 
neuerlich  in  Angriff  genommen  wurde.  Am 
23.  Dezember  1817    erschien   ein  die  Ein- 
führung eines  neuen  Systems  derselben  an- 
ordnendes kaiserliches  Patent.    Dasselbe  be- 
zweckte   die   allgemeine  Herstellung  eines 
auf  genauen   Vermessungen   und   fi-mitte- 
lungen  beruhenden  Parzellenertragskatasters, 
welches  allmählich  in  den  einzelnen  Pro- 
vinzen hergestellt  werden  sollte ;  nach  dessen 
Fertigstelhmg  in  einer  derselben  sollte  je- 
weils daselbst  die  Veranlagung  der  Grund- 
steuer muih  dem  Residtate  der  Katastiienmg 
erfolgen;   in  den  anderen  Provinzen  sollte 
bis  dahin  die  Veranlagimg  der  Steuer  nach 


Grundsteuer 


911 


dem  daselbst  althergebrachten  Systeme  bei- 
behalten werden. 

Auch  diese  Massregel  hat  ihi*en  Zweck 
niemals  vollständig  erreicht.  DieKataßtrierung 
wurde  von  Anfang  an  in  so  langsamem  Tempo 
diurchgeführt,  dass  zu  Ende  des  Jahi'es  1847 
die  Veranlagung  der  Grundsteuer  nach  dem 
Patente  vom  23.  Dezember  1817  bloss  in 
den  Alpenprovinzen  (mit  Ausnahme  Tirols 
und  Yoralbergs)  durchgeführt  war.  Im 
Laufe  der  50  er  Jahre  erfolgte  ihre  Diirch- 
fühning  in  den  Ländern  der  böhmischen 
Krone  und  in  Dalmatien.  In  Tirol  mit 
Vorarlberg  und  in  Galizien  und  der  Buko- 
wina kam  es  überhaupt  niemals  zu  dieser 
Durchführung,  weil  noch  vor  Bewerk- 
stelligung derselben  eine  neue  Kat^trierung 
des  ganzen  Staates  eingeleitet  wiu-de. 

Dde  Resultate  der  auf  Grund  des  Patentes 
vom  Jahre  1817  durchgeführten  Katastrierung 
wurden  nämlich  noch  vor  der  Vollendung 
derselben  schon  wieder  allgemein  als  imbe- 
friedigend bezeichnet.  Schon  die  lange 
Dauer  der  Eiitastrierungsarbeiten  allein 
hatte  zur  Folge,  dass  die  Schätzungen, 
welche  in  sehr  weit  auseinander  liegendem 
Zeitraum  stattgefunden  hatten,  auf  sehr  un- 
gleichen Grundlagen  beruhten.  Dazu  kam 
nocli,  dass  dieses  Patent  schon  von  Hause 
aus  an  einem  schweren  Fehler  litt,  indem 
es  das  Erbübel  der  östen-eichischen  Gesetz- 
gebung über  die  direkten  Steuern  —  die 
übermässige  Höhe  des  Steuerfusses  —  ein- 
führte: es  normierte  die  Höhe  der  Gnmd- 
ßtouer  mit  16  Prozent  des  Reinertrages  und 
schuf  damit  einen  unwiderstehlichen  Anreiz 
zur  Täuschung  der  Behörden  über  die  wahre 
Höhe  des  letzteren  und  dadurch  eine  neue 
Quelle  von  üngleichmässigkeiten.  Diese 
wurden  späterhin  noch  empfindlicher  da- 
durch, dass  der  Steuerfuss  allmählich  bis 
auf  26^,3  Prozent  erhöht  wiurde. 

So  wurde  denn  als  das  einzige  Mittel, 
welches  geeignet  war,  den  immer  drängen- 
der gewordenen  Beschwerden  abzuhelfen, 
eine  allgemeine  neue  Katastrierung  erkannt. 
Dieselbe  sollte  nicht  nur  die  üngleichmässig- 
keiten zwischen  den  einzelnen  Kronländern 
beseitigen,  sondern  auch  die  nicht  unbe- 
deutenden Flächen,  welche  bisher  als  er- 
tragslose katastriert  und  demzufolge  unbe- 
steuert  geblieben,  aber  nach  dieser  ihrer 
alten  Katastrierung  urbar  gemacht  worden 
waren,  zur  Besteuerung  hei-anziehen ;  das 
betreffende  Gesetz  trägt  das  Datum  vom 
24.  Mai  1869. 

Auch  die  durch  dieses  Gesetz  angebahnte 
Reform  der  Gnmdsteuer  schien  zunächst 
demselben  Schicksale  verfallen  zu  sollen, 
welches  der  im  Patente  vom  23.  Dezember 
1817  angeordneten  zu  teü  geworden  war. 
Die  Katastrierungsarbeiten  kamen  diu'ch  fast 
10  Jahre  hindurch  nicht  vom  Flecke.    Erst 


gegen  Ende  der  70  er  Jahre  kamen  sie  in 
ein  rascheres  Tempo  und  wurden  von  da 
an  derartig  gefördert,  dass  mit  dem  Gesetze 
vom  17.  Juni  1881  vom  Jahre  1881  an  die 
Ausschreibung  der  Gmndsteuer  nach  der 
neuen  Katastrierung  angeordnet  werden 
konnte.  Da  aber  das  Resultat  dieser  Ka- 
tastrierung von  Seite  derjenigen  Kronländer, 
welche  von  derselben  eme  Erhöhung  ihrer 
bisherigen  Gnmdsteuerleistung  zu  gewäi*tigen 
hatten  —  denn  da  keine  Erhöhung  der  seit- 
herigen Gnmdsteuerleistung  (abgesehen  von 
derjenigen,  welche  sich  aus  der  Heranziehung 
bisher  unbesteuerter  Ländereien  zur  Ver- 
steuerung von  selbst  ergab),  aber  doch  auch 
keine  Verminderung  derselben  geplant  war, 
so  musste  das  Resultat  der  Beseitigung  der 
bisherigen  Ungleiclunässigkeiten  in  der  Be- 
steuerung der  einzelnen  Länder  in  der  Er- 
höhung dei'  Last  der  durch  diese  üngleich- 
mässigkeiten begünstigten  bestehen  —  in 
der  heftigsten  Weise  angefochten  wurde, 
so  wurde  im  citierten  Gesetze  für  das  Gros 
der  durch  die  neue  Regulierung  der  Grund- 
steuer Benachteiligten  die  Begünstigung  ^- 
schaffen,  ihre  SteuerRchuldigkeit  nicht  gleich 
nach  dem  ganzen  neuen  Ausmasse,  sondern 
zunächst  nur  unter  Zuschlag  eines  Teils  der 
auf  sie  entfallenden  Erhöhung  leisten  zu 
dikfen ;  dieser  Zuschlag  sollte  allmählich  bis 
zur  voUen  Realisierung  dieser  Erhöhimg  ge- 
steigert werden.  Erst  mit  dem  Beginne  des 
Jahres  1892  war  diese  üebergangsperiode 
zu  Ende,  so  dass  erst  von  diesem  Jahre  an 
die  Ausschreibung  der  Grundsteuer  auf 
Grund  des  vollen  im  Gesetze  vom  7.  Juni 
1881  ausgeschriebenen  Kontingents  von 
37  500000  fl.  (vor  dem  Jahre  1881  betrug 
die  aus  ihr  stammende  Einnahme  36  800  000  fl.) 
erfolgen  konnte.  Uebrigens  war  die  neue 
Veranlagung  der  Grundsteuer  auch  hiermit 
noch  nicht  vollständig  beendigt.  Die  Aus- 
schreibimg derselben  im  Gesetze  vom  7.  Juni 
1881  war  nämlich  bewirkt  worden,  bevor 
noch  die  Verhandlungen  über  die  Rekla- 
mationen vollständig  abgeschlossen  worden 
waren.  Mit  Rücksicht  hierauf  war  schon 
früher  angeordnet  wonlen,  dass  die  zum 
Zwecke  der  Realisierung  jener  Abschreibung 
auf  Grund  der  damals  vorgelegenen  Ka- 
tastrierungsei'gebnisse  vorgenommene  Re- 
partition  des  Kontingents  nach  Beendigung 
des  Reklamationsverfahrens  einer  ent^ 
sprechenden  Ausgleichung  unterzogen  wer- 
den solle.  Zu  dieser  Ausgleichung  ist  es 
aber  niemals  gekommen,  weü  diejenigen 
Grundbesitzer,  welche  von  der  Durchführung 
derselben  eine  Erhöhung  ihrer  Steuerlast 
zu  erwarten  hatten,  sich  dagegen  sträubten 
und  hierdurch  den  Erfolg  erzielten,  dass 
diese  Durchführung  so  lange  unterblieb,  bis 
sie  diurch  eine  neuerliche,  wenn  auch  nicht 
diurchgreifende,  so  doch  immerhin  ziemlich 


912 


Grundsteuer 


weitgehende  allgemeine  Korrektur  der  Grund- 
lagen der  Steuerumlegung  entbehrlich  ge- 
macht wurde. 

Der  Anstoss  hierzu  wurde  durch  den 
Umstand  geboten,  dass  das  G.  v.  24.  3Iai 
1869  unter  anderem  auch  die  Bestimmimg 
enthielt,  dass  nach  Ablauf  von  15  Jahren 
nacli  dem  Beginne  der  durch  dasselbe  an- 
geordneten neuen  Grundsteuerveranlagmig 
und  auch  weiterhin  alle  15  Jahre  eine  neue 
allgemeine  Revision  des  Katasters  stattfin- 
den solle.  Die  Erfahrungen,  welche  bei  der 
Durchfilhrung  der  auf  Grund  dieses  Gesetzes 
stattgefundenen  Katasterrevision  gemacht 
worden  waren,  hatten  aber  eine  solche  Scheu 
vor  der  vollständigen  Wiederholung  einer 
derartigen  Operation  wachgerufen,  dass 
weder  die  Regierung  noch  das  Parlament 
und  die  Bevölkerung  dieselbe  herbeiwünsch- 
ten; hieran  hatte  der  durch  jene  Revision 
verursachte  riesige  Zeit-,  Arbeits-  und 
Kostenaufwand  einen  eben  so  grossen  An- 
teil wie  der  Umstand,  dass  der  Erfolg  der- 
selben doch  nur  in  der  HersteUung  eines 
Operates  bestand,  welches  weder  die  Steuer- 
träger noch  den  Fiskus  befrieden  konnte. 
Denn  die  ersteren  klagten  nach  dieser  Re- 
vision noch  mehr  über  die  Ungleich mässig- 
keit  der  Steuerverteilung  als  früher;  ins- 
besondere waren  es  die  Vertreter  der 
Alpenländer,  welche  —  wie  zuletzt  allge- 
mein anerkannt  worden  ist,  mit  Recht  — 
tiber  ihre  un verhältnismässige  Ueberbürdung 
Beschwerde  führten.  Vom  Standpunkte  des 
letzteren  aus  musste  es  dagegen  ernste  Be- 
denken erregen,  dass  die  Reinertragsschät- 
zungen —  ohne  Zweifel  hauptsächlich  in- 
folge der  Furcht  vor  einer  etwaigen  Um- 
legung der  Steuer  nach  dem  neu  ermittel- 
ten Ertrage  auf  Grund  des  alten  exorbitan- 
ten Steuerfusses  —  so  niedrig  ausgefallen 
wai'en,  dass  sie  gei-ade  so  wie  die  alten 
als  weit  hinter  der  Wirklichkeit  zurück- 
bleibend angesehen  werden  müssen  und  in- 
folge dessen  das  ausgeschriebene  Steuer- 
kontingent auch  auf  Gnmd  dieser  Schätzun- 
gen nur  mit  Hilfe  eines  gegen  früher  zwar 
etwas  erniedrigten,  aber  noch  immer  exor- 
bitant hohen  Steuerfusses  (22,7  ^/o  des  Rein- 
ertrages) erreicht  werden  konnte. 

Wenn  aber  auch  alle  massgebenden  Fak- 
toren in  dem  Widerwillen  gegen  eine  neue 
allgemeine  Katasterrevision  einig  waren,  so 
wunle  es  doch  teils  infolge  des  Ablaufes 
der  ersten  der  oben  erwähnten  15  jährigen 
Perioden,  teils  infolge  des  schliesslich  un- 
widerstehlich gewordenen  Andi*ängeus  der 
sich  für  überlastet  ei achtenden  Grundbesitzer 
wegen  Berücksichtigung  ihrer  Beschwenlen 
ganz  unvermeidlich,  wenigstens  eine  teil- 
weise Korrektm*  des  in  Wirksamkeit  stehen- 
den Katastoi-operates  durchzuführen.  Bei 
der  Beschlussfassung  über  die  diesfälligen 


Massregeln  wurde  von  der  Erkenntnis  aus- 
gegangen, dass  die  schliesslich  zum  Durch- 
bruche gelangte  Anerkennung  der  Ueber- 
bürdung gewisser  grosser  ^nippen  von 
Grundsteuerträgern,  ja  des  gesamten  Grund- 
besitzes ganzer  Kronländer  keineswegs  zur 
Folge  hatte,  dass  die  un  verhältnismässig 
niedriger  belasteten  Grundbesitzer  geneigt 
geworden  wären,  eine  höhere  Steuerlast,  sds 
sie  auf  Grund  der  in  Geltung  stehenden 
Veranlagung  zu  tragen  hatten,  auf  sich  zu 
nehmen,  dass  vielmehr  jeder  in  dieser  Rich- 
timg sich  bewegende  Vei-such  auf  einen 
unüberwindlichen  Widerstand  der  von  einer 
Mehrbelastung  Bedrohten  stossen  würde  und 
dass  demgemäss  eine  Beseitigung  der  be- 
klagten Ueberbürdung  nur  dann  realisiert 
werden  könnte,  wenn  der  Staat  sich  ent- 
sclüiessen  würde,  den  überbürdeten  Steuer- 
trägern den  verlangten  Steuernachlass  zu 
gewähren,  ohne  den  anderen  eine  Mehrbe- 
lastung aufzuerlegen,  d.  h.  also  auf  einen 
entsprechenden  Teil  des  ihm  auf  Gnmd  der 
geltenden  Veranlagimgsbasis  zukommenden 
Steuei-ertrages  zu  veraichten.  Die  entspre- 
chende Verteilung  des  hiemach  in  Aussicht 
genommenen  Steuernachlasses  auf  diejenigen 
Grundstücke,  welche  sich  thatsächlich  als 
übermässig  besteuert  herausstellen  wüitlen, 
wurde  solün  als  die  Aufgabe  der  einzulei- 
tenden Revisionsaktion  angesehen.  Diese 
sollte  demgemäss  nicht  den  gesamten  im 
Staate  vorhandenen  Grundbesitz,  sondern 
nur  denjenigen,  liinsichtlich  dessen  die 
Ueberbürdungsbeschwerden  sich  als  begrün- 
det herausstellen  würden,  umfassen  und  niu: 
die  Beseitigung  der  Ursachen  dieser  Be- 
schwerden bezwecken,  im  übrigen  aber 
das  vorliandene  Kataster  unberührt  lassen. 
Alle  diese  Erwägungen  sind  schliesslich 
in  dem  die  Revision  des  Grundsteuerkatas- 
tei^s  anordnenden  GG.  v.  12.  Juli  1896 
(R.G.B1.  Nr.  121)  zum  Ausdrucke  gekommen. 
Dasselbe  ordnete  ausdrücklich  an,  dass  eine 
individuelle  Neueinschätzung  aller  Parzellen 
nicht  stattfinden  solle.  Vielmehr  wiu\ie 
angeordnet,  dass  die  als  der  einzige  Zweck 
der  Revision  in  Aussicht  genommene  Be- 
hebung der  zu  Tage  gekonunenen  Ungleich- 
mässigkeiten  in  der  Gnmdsteuen'eranlagung 
teils  im  Wege  der  Berücksichtigimg  der 
seit  der  letzten  Katastrierimg  stattgefimde- 
nen  Kultui-änderungen,  teils  im  Wege  einer 
bloss  mit  Hilfe  allgemeiner  Ei'hebimgen 
über  alle  einschlägigen  Verhältnisse  vorzu- 
nehmenden Neufeststellung  der  Katastral- 
reinerträge,  welche  je  nach  den  Umständen 
generell  für  grössere  oder  kleinere  Gebiets- 
teile und  innerhalb  dieser  für  alle  oderniur 
für  einzelne  Kiütui-arten  oder  Bonitätsklassen 
oder  auch  für  einzelne  Parzellen  vorzu- 
nehmen war,  bewerkstelligt  werden  sollte; 
liierbei  wurde  aber  ausdrücklich  angeordnet, 


Grundsteuer 


913 


dass  die  auf  die  einzelnen  Länder  oder 
Schätzun^srayons  entfallenden  Steuertangen- 
ten  nicht  erhöht  werden  dürfen;  dagegen 
wurde  zum  Zwecke  der  Gewinnung  eines 
Spielraiuns  für  die  neue  Eegelung  der  Ver- 
anlagung die  bestehende  Grundsteuerhaupt- 
summe um  2500000  fl.  herabgesetzt;  diese 
Herabsetzung  sollte  durch  entsprechende 
Erniedrigimg  der  Katastralreinerträge  der 
zu  begünstigenden  Gnmdstücke  bei  unver- 
änderter Beibehaltung  des  in  Geltung  stehen- 
den Steuerfusses  realisiert  werden;  die 
Grundsteuerhauptsumme  sollte  demnach  vom 
Jahre  1897  an  —  in  welchem  die  Neuver- 
anlagiuig  der  Grundsteuer  schon  in  Kraft 
treten  sollte  —  nur  noch  35000000  fl.  be- 
tragen. 

Wie  durch  die  Kontingentierung  des  Ge- 
samtertrages mid  die  im  Wege  einer  Quoti- 
sienmg  erfolgte  Ausschreibung  der  indivi- 
duellen Anteile  an  der  Grundsteuer,  so  er- 
scheint das  G.  v.  24.  Mai  1869  auch  sonst 
hinsichtlich  der  Details  im  wesentlichen  als 
eine  Nachbildung  des  preussischen  Gesetzes 
vom  Jahre  1861.  Von  den  Abweichimgen 
sei  hervorgehoben,  dass  die  Befreiungen 
sich  auf  die  nicht  landwirtschaftlich  benutz- 
baren Flächen  sowie  die  öffentlichen  Wege 
und  Friedhöfe  beschränken.  Auch  die 
Unterscheidung  der  Kulturgattungen  ist  eine 
andere :  Aecker,  Wiesen,  Gärten,  Weingärten, 
Hutweiden,  Alpen,  Waldungen,  stehende 
Gewässer,  Pariflkationsland  (d.  h.  die  nach 
dem  Ertrage  benachbarter  Flächen  abzu- 
schätzenden —  diesen  gleichzustellenden 
oder  zu  parifizierenden  —  Temtorien  der 
Steinbrüche,  Torfstiche,  Lagerplätze,  Eisen- 
bahnanlagen und  dergleichen),  unproduktives 
Land.  • 

Die  Evidenzhaltung  wmtle  in  der  Haupt- 
sache durch  ein  besonderes  Gesetz  (v.  23. 
Mai  1883)  geregelt  und  sollte  sich  hiemach 
auf  die  Aendenmgen  in  den  Besitz-  und 
sonstigen  äusserlich  leicht  wahrnehmbaren 
Verhältnissen  beschränken;  durch  das  Re- 
visionsgesetz vom  12.  Juli  1896  wurden  auch 
noch  die  Kidturänderungen  als  Gegenstand 
der  Evidenzhaltung  erklärt;  diesbezüglich 
wurde  aber  bestimmt,  dass  Steuererhöhun- 
gen, die  sich  etwa  als  Folge  der  Feststel- 
lung von  Kulturänderungen  ergeben  sollten, 
erst  nach  Ablauf  von  10  Jahren  nach  der 
Bewerkstelligung  der  letzteren  in  Kraft  zu 
treten  hätten.  Durch  weitere  Gesetze  (v. 
6.  Juni  1888  und  v.  12.  Jiüi  1896)  sind 
Nachlässe  aus  Anlass  von  Erti-agsboschädi- 
gungen  diuxih  Elementarereignisse  in  be- 
deutendem Umfange  als  zulässig  erklärt 
worden.  Auch  anlässlich  der  in  der  neueren 
Zeit  eingetretenen  Notlage  des  Weinbaues 
überhaupt  und  speciell  der  durch  die  Reb- 
laus angerichteten  Verheerungen  wurde  die 
Bewilligung  von  Begünstigungen   in  bedeu- 


tendem Umfange  zugestanden  (GG.  v.  15. 
Juni  1890,  R.G.B1.  Nr.  143  und  v.  26.  Juni 
1894,  R.G.B1.  Nr.  138),  deren  eine  in  der 
Bewilligung  einer  zehnjährigen  Gnmdsteuer- 
befreiung  fiir  infolge  des  Auftretens  des  ge- 
nannten Schädlings  zerstörte  und  >^'ieder 
hergestellte  Weingärten  bestand,  während 
die  andere  die  Förderung  der  Neuanlegung 
von  Weingärten  auf  bisher  anderen  Kulturen 
gewidmeten  Flächen  dadurch  bezweckte, 
dass  auch  hierfür  unter  gewissen  Bedin- 
gungen eine  zeitliche  Steuerfreiheit  —  in 
der  Dauer  von  6 — 10  Jahren  —  in  Aussicht 
gestellt  wiurde. 

Das  oben  erwähnte  reduzierte  Ausmass 
des  durch  die  Grundsteuer  zu  erzielenden 
Eiirages  hat  seither  noch  eine  weitere 
Reduktion  durch  die  im  Personalsteuerge- 
setze vom  25.  Oktober  1896  enthaltene 
Bewilligung  eines  Nachlasses  von  lO^/o  an 
dem  bestehenden  Stcuerausmasse  erfahren; 
infolge  dieses  Nachlasses  sowie  der  Aus- 
fälle, die  sich  infolge  der  Abschreibungen 
wegen  Elementarschäden  ergeben,  beläuft 
sich  der  reelle  Ertrag  der  Grundsteuer  in 
Oesterreich  nur  noch  auf  28700000  fl. 
(3^/4  ^0  der  gesamten  Staatseinnahmen). 

b)  Ungarn.  Die  Einführung  euier  all- 
gemeinen staatlichen  Besteuerung  des  Bodens 
erfolgte  in  Ungarn  zur  Zeit  der  Herrschaft 
des  centi-alistisch- absolutistischen  Regimes, 
welches  die  Länder  der  Stefanskrone  den 
übrigen  Teilen  des  Reiches  gleichstellte, 
^üt  dem  G.  v.  4.  März  1850-  wiu-de  eine 
provisorische  Grundsteuerveranlagung  nach 
dem  Muster  der  damals  für  Oesterreich  an- 
gestrebten angeordnet  Dieses  Provisorium 
steht  mit  einigen  durch  die  Gesetzartikel 
XXV  vom  Jalu-e  1868,  L  vom  Jahre  1870, 
Vn.  vom  Jahre  1875  uncL  XV  vom  Jahre 
1876  herbeigeführten  M.odifikationen  — 
deren  wichtigste  in  der  durch  das  vorletzte 
der  citierten  Gesetze  angeordneten  Vornahme 
einer  Korrektur  der  Veranlagung  nach  dem 
faktischen  Zustande  und  auf  Grund  einer 
neuen  Feststellung  des  Reinerträgnisses  be- 
stand —  noch  in  Kraft.  Zu  erwähnen  wäre 
von  diesen  Modifikationen  noch  die  Anord- 
nung, dass  Grundstücke,  welche  durch 
ausserordentliche  Kosten  landwirtschaftlich 
brauchbar  gemacht  wurden.  15  Jahre  lang, 
Aufforstungen  durch  20 — 40  Jahre  und  nach 
Feuersbrünsten  neu  angelegte  Wälder  8 — 40 
Jahre  lang  steuerfrei  zu  lassen  seien.  Be- 
sondere Steuerbegünstigungen  w^urden  auch 
(mit  Gesetzartikel  I  vom  Jahre  1891)  den 
Weingartengebieten  gewährt.  Das  Ausmass 
der  Grundsteuer  wurde  auf  Grund  der 
Gesetzartikel  XL  vom  Jalire  1881  und 
XLVI  vom  Jalire  1883  mit  25,5^/0  des 
Katastralreinertrages  festgestellt  und  lieferte 
dem  Staate  im  Jahre   1897   eine  Einnahme 


Hand  Wörterbach  der  Staats  Wissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


58 


9U 


Grundsleuer 


in  der  Höhe  von  34,3  Millionen  fl.  (6  ^o  der 
gesaroten  Staatseinnahmen). 

27.  Frankreich.  Die  einheitliche  Re- 
gelung der  Grundsteuer  erfolgte  iu  Frank- 
reich während  der  Revolution  dm*ch  ein 
G.  V.  1.  Dezember  1790.  An  seine  Stelle 
trat  später  das  —  zugleich  auch  Be- 
ßtimmungen  über  die  Besteuerung  der  Ge- 
bäude enthaltende  —  G.  v.  3.  Frimaire, 
an  VII  (23.  November  1798),  durch  welches 
die  vordem  auch  in  Frankreich  bestandenen 
grossen  provinziellen  Verschiedenheiten  in 
der  Besteuerung  des  Bodens  beseitigt  wurden 
und  das  —  wenigstens  in  dem  ims  hier 
allein  interessierenden  Teile  (die  Gebäude- 
besteuenmg  wiu'de  später  selbständig  ge- 
regelt) —  im  wesentlichen  noch  heute  gilt. 

Durch  dieses  Gesetz  ist  die  Grundsteuer 
—  wie  fast  alle  anderen  direkten  Steuern 
Frankreichs  —  zu  einer  Repartitionssteuer 
erklärt  worden,  deren  Kontingent  alljährlich 
vom  gesetzgebenden  Körper  auszuschreiben 
ist;  diese  Ausschreibung  normiert  auch  die 
Anteile  der  einzelnen  Departements,  während 
die  Repartierung  jedes  dieser  Anteile  inner- 
halb der  letzteren  im  Wege  eines  besonderen 
Verfahrens  durch  die  General-  und  Arron- 
dissementsräte  zu  erfolgen  hat;  die  Repar- 
tition  innerhalb  der  Gemeinden  wird  durch 
einen  besonderen  conseü  de  re^jartiteurs 
bewerkstelligt.  Die  Grundlage  dieser  Re- 
partition  soU  durch  das  Kataster  geliefert 
werden,  dessen  Herstellung  mit  dem  G.  v. 
15.  September  1807  angeordnet  und  durch 
mehrere  spätere  Gesetze  modifiziert  wor- ! 
den  ist.  ! 

Das  durch  dieses  Gesetz  eiugefiihrte ; 
Kataster  beruhte  ebenfalls  auf  der  parzellen-  , 
weisen  Ermittelung  des  Reinerti-ags.  Es  i 
finden  sich  demgemäss  auch  hier  aUe , 
wesentlichen  Elemente  einer  Ertragsermitte- 
lung wieder :  Vermessung  der  Parzellen, ' 
Aufstellung  von  Kulturgattungen  imd  Boni- 1 
tätsklassen  (der  letzteren  durften  nicht  mehr  i 
als  fünf  aufgestellt  werden)  und  Einreibung  I 
der  Parzellen  in  den  auf  diese  Art  ge- ' 
bildeten  Schätzungstarif. 

Das  Resultat  der  Schätzung  gilt  als  un- 
veränderlich bis  zur  Vornahme  der  nächsten, 
welche  nach  Ablauf  von  30  Jahren  seit  der 
Durchführung  der  früheren  erfolgen  soll. 
(Letztere  Bestimmung  ist  ein  toter  Bucli- 
stabe  gebliel)en.)  Nachlässe  wegen  Ertrags- 
beschädigungen werden  nicht  gewährt.  Da- 
gegen ist  aber  für  die  Bildung  eines  Fonds 
zum  Zwecke  der  Gewährmig  von  Ent- 
schädigungen für  die  geleistete  Steuer  in 
derartigen  Fällen  Sorge  getragen. 

Die  Katastrierung  zog  sich  sehr  in  die 
Jjänge ,  da  sie  auf  dem  Festlande  erst  im  i 
Jahre  1850,   in  Corsica  sogai*  erst  im  Jahn* ' 
185S  beendigt   wurde.      Bis  dahin  erfolgte  i 
die  Repartition  auf  die  De])artements  nach  ■ 


althergebrachten,  auf  anderen  Beurteilungs- 
mitteln beruhenden  Schätzungen.    Innerhalb 
der   einzelnen  Departements   griff  die  Re- 
partition   auf    Gnmd   des   Katasters    nach 
Massgabe  der  Vollendung   desselben  Platz. 
Uebngens  wurde  auch  nach  der  Vollen- 
dung  des  Katasters   die  Repartierung  des 
Kontingents  auf  die  Departements  nicht  an 
der   Hand   desselben    vorgenommen.     Bald 
nach  Vollendung  der  Katastrierung  einzelner 
Departements    begannen    auch    schon    die 
Klagen   über  die   bei  den   Einschätzungen 
vorgefallenen  Ungleichmässigkeiten  —  Kla- 
gen, welche  natürlich  durch  die  Vergrösse- 
rung  der  zwischen   der  Katastrierung  der 
einzelnen  Departements  abgelaufenen  Zeit- 
räume an  Berechtigung  und  Intensität  ge- 
wannen.    So  ist  denn  die  Geschichte  der 
Gnmdsteuer  in  Frankreich  gebildet  durch 
einen  bald  nach  dem  Beginne  der  Durch- 
fühnmg  des  G.  v.  15.  September  1807  aus- 
gebrochenen  und   bis  heute  fortdauernden 
Kampf  zwischen  den  einzelnen  Departements 
um  Herabsetzung  ihrer  Anteile  am  Grund- 
steuerkontingente.    Es  würde  viel  zu  weit 
führen,    wollten    w^ir    hier    die    einzelnen 
Stadien  desselben  schildern.     So  sei  denn 
nur  allgemein  erwähnt,  dass  das  Resultat 
dieses   Kampfes    darin    bestand,    dass    das 
Kataster  schliesslich  seiner  ursprünglichen 
Bestimmung,  einen  Massstab  für  die  Ver- 
teilung der  Grundsteuerlast  auf  den  ganzen 
Staat  zu  bilden,   ganz  entfremdet  und  zu 
einem  blossen  Hilfsmittel  für  die  Repartition 
der  Kontingente  der  Departements  innerhalb 
der  letzteren  geworden  ist.   Die  Feststellung 
der    auf    die    Departements     entfallenden 
Kontingente  erfolgt  dagegen  nach  wie  vor 
mit  Hilfe  von  ganz  aUgenieinen  Schätzungen 
der  Leistungsfähigkeit  derselben.    Zeitweilig 
werden   hierbei    diese,    da  in   wieder    jene 
Departements   begünstigt.     Die  letzte   der- 
artige   Regiüierimg    der    Departement skou- 
tingente  erfolgte  mit  dem  G.  v.  8.  August  1890. 
Der    Ertrag    der   Grundsteuer    beziffert 
sich    derzeit    auf    92,83    Millionen    Francs 
(2,7  ^V'o  der  gesamten  Staatseinnahmen). 

28.  Italien.  Die  Geschichte  der  italie- 
nischen Grundsteuer  umfasst  natiu^emäss 
nur  den  verhältnismässig  kurzen  Zeitraum, 
der  seit  der  Gründung  des  Köui^ichs  ver- 
gangen ist.  Vordem  bestanden  m  den  ver- 
schiedenen Teilen  der  Halbinsel  auch  ver- 
schiedene Grundsteuersysteme.  Ja  es  gab 
deitMi  sogar  mehr,  als  Staaten  bestanden 
hatten,  weil  in  manchen  derselben  mehi-ei^e 
Systeme  in  Geltung  waren.  Als  die  Grün- 
dung des  Königi'eichs  erfolgt  war,  konnte 
dieses  selbstverständlich  zunächst  nichts 
thun,  als  die  Grundsteuer  in  den  einzelnen 
Teilen  des  Staates  nach  den  daselbst  von 
den  früheren  Souveränitäten  überkommenen 
Nomien  einzuheben.   Die  Gnmdsteuer  wurde 


Grundsteuer 


915 


mit  einem  der  Simime  ihrer  bisherigen  Er- 
träge in  den  Einzelstaaten  entsprechenden 
Betrage  kontingentiert  und  das  Kontingent 
sohin  auf  die  nunmehrigen  Provinzen  nach 
Massgabe  der  bisher  daselbst  erzielten  Er- 
träge repartiert. 

Es  ist  begreiflich,  dass  bei  einem  der- 
artigen Vorgehen  die  Belastung  des  Grund- 
besitzes zu  einer  sehr  ungleichmässigen 
wurde;  ebenso  begi*eiflich  ist  es,  dass  die- 
jenigen Landesteile,  welche  sich  hierbei  im 
Vergleiche  mit  den  anderen  für  benach- 
teiligt hielten,  danach  strebten,  eine  gleich- 
massigere  Verteilung  der  Steuerlast  herbei- 
zuführen. So  begannen  denn  bald  nach  der 
Gründung  des  Staates  die  Bestrebungen 
nach  einer  zur  Herbeiführung  der  ange- 
strebten Gleichmässigkeit  geeigneten  Neu- 
regelung der  Gnmdsteuer.  Dieselben  stiessen 
aber  alsbald  auf  den  Widerstand  der  im 
Falle  der  Realisierung  dieser  Bestrebungen 
von  einer  Vergrösserung  ihrer  Steuerlast 
bedrohten  Provinzen;  dieser  Wiederstand 
hat  sich  bisher  als  genügend  stark  erwiesen, 
mm  die  Neuregelung  der  Gnmdsteuer  zu 
verhindern.  Wohl  wurden  seitens  der  Re- 
gierung wiederholt  Versuche  gemacht,  um 
ilieselbe  durchzusetzen,  indem  sie  (in  den 
Jahren  1874,  1877  und  1882)  Gesetzentwürfe 
einbrachte,  welche  die  Herstelluug  eines 
Parzellenertragskatasters  zum  Behufe  der 
Gewinnung  der  Basis  für  eine  gleichmässige 
Veranlagung  der  Grundsteuer  im  ganzen 
Staate  bezweckten.  Diese  Versuche  haben 
aber  bisher  nicht  zum  Ziele  geführt. 

Der  Ertrag  der  Gnmdsteuer  beläuft  sich 
auf  107  000000  Lire  (6,30/0  der  gesamten 
Staatseinnahmen). 

29.  Grossbritannien.  England  hat  ge- 
genwärtig keine  eigentliche  Gnmdsteuer 
mehr.  Die  Besteuerung  des  Bodenertrages 
erfolgt  derzeit  daselbst  ausschliesslich  im 
W^ege  der  Einkommensteuer;  Schedula  A 
und  B  der  income-tax  bilden  diejenigen  Be- 
standteile dieser  Steuer,  welche  zur  Be- 
lastung des  Bodenertrages  bestimmt  sind. 
Allerdings  findet  sich  im  englischen  Budget 
noch  ein  geringfügiger  Einnalimeposten,  wel- 
cher seinem  Titel  nach  (land-tax)  als  ein  aus 
einer  Grundsteuer  herrührender  erscheint. 
Diese  land-tax  ist  aber  nur  noch  der 
Rest  einer  solchen  Steuer,  welche  im 
Jahre  1892  eingeführt  worden  war.  Die- 
selbe war  im  Laufe  der  Zeit  durch  lang- 
dauernde ünveränderlichkeit  ihrer  Veran- 
lagimgsbasis  so  ganz  aus  aller  Relation  zum 
wirklichen  Ertrage  der  Grundstücke  getre- 
ten, dass  man  schliesslich  nicht  nur  ihre 
Ungleichmässigkeit  erkannte,  sondern  ge- 
radezu einsah,  dass  sie  überhaupt  aufge- 
hört habe,  eine  Steuer  zu  sein.  Da  zugleich 
auch  ihre  befriedigende  Reformierung  als 
Steuer   für  unmöglich   erachtet   wiu'de,    so 


wurde  sie  im  Jahre  1798  als  eine  ablösbare 
Reallast  erklärt  und  verlor  hierdurch  auch  den 
Schein  ihres  urspranglichen  Steuercharak- 
ters. Die  Ablösungssumme  wurde  auf  den 
vierzigfachen  Jaliresbetrag  in  dreiprozentigen 
Staatspapieren,  auf  den  dreissigfachen  in 
Bargeld  festgesetzt.  Die  Ablösung  ist  übri- 
gens seither  nicht  besonders  rasch  von 
statten  gegangen,  da  bis  jetzt  nicht  viel 
mehr  als  die  Hälfte  der  land-tax  abgelöst 
worden  ist.  Die  Besitzer  der  noch  der  land- 
tax  unterliegenden  Gnmdstücke  haben  übri- 
gens trotz  dieser  Sachlage  im  Jahre  1896 
eine  nicht  unbeträchtliche  Herabsetzung  die- 
ser Abgabe  und  auch  Erleichterungen  der 
Ablösungsbedingungen  durchgesetzt 

30.  Russland.  In  Russland  wurde  die 
Grundsteuer  schon  in  früherer  Zeit  auf  die 
einzelnen  Gouvernements  nach  Massgabe 
eines  für  einzelne  Gruppen  von  solchen  be- 
sonders bestimmten,  auf  jede  Flächeneinheit 
(Dossätine,  beinahe  gleich  einem  Hektar) 
»Nutzland  und  Wald«  durchschnittlich  ent- 
fallenden Steuersatzes  vorgeschrieben;  die 
Repartition  der  sich  aus  dieser  Vorsclirei- 
bung  ergebenden  Grundsteuersummen  inner- 
halb dieser  Gouvernements  lag  besonderen 
hierfür  bestehenden  Behörden  ob  und  war 
von  denselben  in  der  Weise  durchzuführen, 
dass  die  Ländereien  in  denselben  in 
Klassen  geteilt  und  der  auf  jede  Des- 
sätine  der  in  die  einzelnen  Klassen  ge- 
hörigen Grundstücke  entfeilende  Steuer- 
satz in  solcher  Weise  ober-  und  imterhalb 
des  Gouvernementsdurchschnitts  normiert 
wiu'de,  dass  hierdurch  das  für  das  Gouver- 
nement bestimmte  Kontingent  aufgebracht 
werden  konnte.  Alle  diese  Normierungen 
von  Steuersätzen  erfolgten  auf  Grund  all- 
gemeiner Schätzungen  der  Bodenerträge  in 
den  Gouvernements  und  Bezirken,  was  das- 
selbe Resultat  zur  Folge  hatte  wie  das 
anderwärts  sich  aus  einem  derartigen  Vor- 
gehen ergebende :  Klagen  über  die  Ungleich- 
mässigkeit der  Schätzungen. 

Eine  neue  Regelung  der  ümlegung  der 
Gnmdsteuer  erfolgte  durch  das  G.  v.  17. 
(29.)  Januar  1884.  Dasselbe  brachte  in  den 
bisherigen  Modus  der  Vorsclireibung  der  auf 
die  einzelnen  Gouvernements  entfallenden 
Steuersummen  nur  insofern  eine  Aenderung, 
als  eine  grössere  Differenzierung  zwischen 
denselben  hinsichtlich  der  für  sie  bestimm- 
ten durchschnittlichen  Steuersätze  sowie 
eine  Erhöhung  der  letzteren  Platz  griff ;  im 
übrigen  wiuxlo  der  alte  Modus  beibehalten. 
Dagegen  wurde  den  Landschaftsversamm- 
lungen der  Gouvernements  die  Repartierung 
der  Steuer  auf  die  Kreise  und  den  Kreis- 
landämtern die  weitere  Repartierung  auf  die 
Grundbesitzer  nach  den  für  die  Rej)artierung 
der  lokalen  Landschaftssteuern  festgestellten 
Grundsätzen    überlassen.     Die    neue    Fest- 

58* 


916 


Grundsteuer 


Setzung  der  gouveniemenlsmässigen  Durch- 
schnittssätze hatte  ausser  der  Erhöhung  der- 
selben auch  die  Beseitigung  der  in  dieser 
Beziehung  bestehenden  üngleichraässigkeiten 
zum  Zwecke. 

Diese  beiden  Zwecke  wurden  auch  durch 
die  mit  dem  G.  v.  14.  (26.)  Dezember  1887 
für  eine  Anzahl  von  Gouvernements  angeord- 
nete neue  Normierung  der  durchschnitt- 
lichen Steuersätze  angestrebt.  Durch  diese 
wurde  der  Ertrag  der  Grundsteuer  auf  die, 
relativ  allerdings  noch  immer  recht  gering- 
fügige Summe  von  12000000  Rubel  (0,9% 
der  gesamten    Staatseinnahmen)  gesteigert. 

81.  Vereinigte  Staa.ten  von  Nord- 
amerika. In  der  nordamerikanischen  Union 
giebt  es  keine  gesamtstaatliche  Grundsteuer 
(wie  überhaupt  keine  diesen  Charakter  tra- 
gende direkte  Steuer).  Dagegen  wurden  in 
den  Einzelstaaten  wiederholt  mehr  oder 
weniger  gelungene  Versuche  zur  Einführung 
einer  Grundsteuer  unternommen  und  ausge- 
führt. Es  würde  hier  zu  weit  führen,  näher 
auf  dieselben  einzugehen. 

32.  ßritisch-Indien.  Die  Gnmdsteuer- 
verfassung  Indiens  steht  in  engem  Zusam- 
menhange mit  den  dort  von  alters  her  be- 
stehenden Besitz-  und  Wirtschaftssystemen. 
Deren  giebt  es  mehrere.  Am  verbreitetsten 
ist  das  village-system,  welches  auf  räumlich 
zusammenhängenden  Ansiedelungen  beruht. 
Dieselben  bestehen  entweder  aus  völlig  ge- 
trenntem fi-eien  Eigentum  der  einzelnen 
Bebauer  (occupants)  des  Bodens  (rajatwari- 
village)  oder  aus  grösseren  Besitzungen  je 
eines  einzelnen  oder  einer  Familie,  auf  wel- 
chen die  Bebauer  mit  mehr  oder  weniger 
eingeschränkten  Besitzrechten  wohnen  (laud- 
lord-village).  Einen  dritten  Typus  von  Gü- 
tern bilden  die  landlord-estates,  die  eigent- 
lichen Latifundien,  welche  sich  durch  den 
besondere  grossen  Umfang  des  Besitzes, 
das  Vorherrschen  der  Unteilbarkeit  und  den 
höheren  sozialen  Rang  der  Eigentümer  cha- 
rakterisieren. 

Als  steuerpflichtig  erscheint  nun  in  den 
rajatwari-villages  der  occupant,  in  den  land- 
lord-villages  die  Gesamtheit  aller  am  Besitze 
Beteiligten,  vertreten  durch  einen  sogenann- 
ten lambardar,  in  den  landlord-estates  der 
Grundherr  selbst. 

Bei  der  Veranlagimg  der  Steuer  wurde 
nicht  überall  gleich  vorgegangen.  In  Ben- 
galen wurde  einfach  die  althergebrachte,  in 
einem  meist  sehr  betnlchtlicjhen  —  selbst 
bis  zu  einem  Drittel  steigenden  —  Anteile 
am  Rohprodukte  des  Bodens  bestehende 
Steuei-sciiuldigkeit  beibehalten  (permanent 
settlement)  —  ein  Verfahren,  durch  welches 
den  landlord-estates,  die  von  alters  her  mehr 
oder  weniger  weit  gehende  Begthistigungen 
genossen  hatten,  diese  auch  weiterhin  ge- 
sichert wurden.    In  den  übrigen  Provinzen 


hat  die  Grundsteuer  den  Charakter  einer 
veränderlichen  Abgabe  (temporary  settlement) 
erhalten,  indem  ihre  Grundlagen  und  Sätze 
der  zeitweiligen  Revision  unterliegen.  Diese 
geht  von  einer  genauen  Abgrenzung,  Kar- 
tierung, Bonitätsbestimmung  und  Feststel- 
lung der  Besitzrechte  aus,  an  welche  Schritte 
sich  die  Einschätzung  anschloss:  diese  er- 
folgte bei  den  landJord-villages  auf  Grund 
ermittelter  durchschnittlicher  Pachtwerte ; 
bei  den  rajatwari-villages  dagegen  wurde  in 
dieser  Beziehung  in  den  verschiedenen  Pro- 
vinzen verscliieden  vorgegangen :  In  Madras 
legte  man  den  Bodenertrag,  in  Bombay  und 
Biuar  den  Boden  wert  zu  Grunde;  überall 
aber  verzichtete  man  auf  Einzeleinschätzun- 
gen und  begnügte .  sich  mit  Durchschnitts- 
zalilen,  welche  die  massgebenden  Faktoren 
berücksichtigten. 

Die  Grundsteuer  ist  im  allgemeinen  sehr 
hoch  und  erreicht  selbst  50  "/o  des  Pacht- 
wertes und  mehr.  Ihre  Einhebung  erfolgt 
grossenteils  auch  jetzt  noch,  wie  in  alten 
Zeiten,  durch  Pächter,  als  welche  einfluss- 
reiche Gutsbesitzer  (die  Zenindars)  zu  fun- 
gieren pflegen.  (Aus  solchen  sind  die 
meisten  gegenwärtigen  landlords  hervorge- 
gangen.) 

Die  Grundsteuer  liefert  ungefähr  die 
Hälfte  des  gesamten,  sich  auf  jälirlich 
50  000  000  £  belaufenden  Ertrags  der  Staats- 
steuern Britisch-Indiens. 

Litteratur:  Das  Alter  \md  die  allgemeine  Ver- 
breitung der  Grundsteuer  bringen  es  mit  sieh, 
duss  die  Litteratur  ilber  dieselbe  eine  sehr  reich- 
haltige ist.  i^ie  bildet  insbesondere  einen  stäji- 
digen  Abschnitt  in  allen  die  Steuerlehre  im 
ganzen  behandelnden  Werken.  Aber  auch  an 
besonderen,  nur  ihr  —  insbesondere  den  avf  sie 
bezüglichen  Verhältnissen  einzelner  Länder  — 
gewidmeten  Schriften  ist  kein  Mangel.  Aas  der 
Fülle  des  Vorhandenen  sei  folgendes  angeführt: 
Sntith,    Weallh  of  of  tiations,  Bd.    V,  eh.  i. 

—  Ricardo,  Principles,  eh.  12.  —  Craig, 
Grundzüge  der  Prditik,  III,  S.  S^ff.  —  Jacobe 
Sta  atsßnanz  wissen  schaß  j  1,  S.  4^7  ff,,  11,  S. 
86S  ff.  —  Lotz,  Handbuch  der  Staatsicirtschafts- 
lehre,  III,  S.  ^üiff.  —  \\  Kremery  Darstellung 
des  Steuencesens,  S.  1:^1  ff»  —  Murhard,  Theo- 
rie und  Politik  der  Besteuerung,  S,  26^  ff.  — 
V.  Prittwitz,  Theorie  der  Steuern  und  ZiUle, 
S.  lS'2ff.  —  Busch,  Abhandlung  vom  Geldum- 
läufe, I,  S.  406 ff.  —  V,  Malchu»,  Finanz- 
irissvnschaft,  I,  S.  ISO  ff.  —  Monthionf  Quelle 
influencc  out  les  diverses  especes  d'impots  etc., 
S.  SS  ff.  —  Hoffntann^  Lehre  von  den  Ste^iem, 
S.  94  ff.  —  J.  St  MUlf  Principles,  Bd.  V,  eh. 
S,  ^  2.  —  Bau,  Finanzwissenschaß,  II,  ^  SOI  ff. 

—  BergiuSf  Finanzunssenschaß,  S.  501  ff.  — 
rarieiif  Tratte  des  impots,  I,  S.  167 ff,  —  v. 
Stein,  Finanzunssenschaß,  II,  S.  27  ff.  —  Hock, 
OeffenÜiche  Abgaben  und  Schulden,  ^  20,  .^7.  — 
Vinpfenbachf  Finanzwissenschaß,  §  117 ff.  — 
Schaffte,  Steuerj)olitik,  S.  J94ff.  —  Böttcher, 
Finanzwissenschaß,  ^  79 ff.  —  Leroy-BeauHeu, 
Traite    de    la    science   des  ßnances,  I,  eh.  6.  — 


Grundsteuer — Griuidsteuer  in  älterer  Zeit 


917 


Vockef  Abgaben,  Anflogen  und  die  Steuer,  S. 
S24ff,   —    Cohn,    Finamunssenschaß,    §  399  ff, 

—  Schaffte,    Die  Steuern,   bes.  Teil,   S.  170 ff. 

—  Sch&nheTgsches  Handbuch  der  pol.  Oeko^ 
nomie,  III.  Bd.  1.  Ilalbb.  Kapitel  nGrund- 
8  te  ueru  (von  Wagner  beurbeitH).  —  JJen- 
zenherg ,  Ueber  das  Kaiaster,  Bonn  1824.  — 
Spüth,    Ueber   die  Grundsteuer,  München  1818. 

—  Ovävellf  Die  Grundsteuer  und  deren  Ka- 
taster, Leipzig  1821.  —  Gebhard,  Das  Grund- 
Steuerkataster,  München  1824.  —  v.  Gross,  Die 
Beinertragsschätzung  des  Grundbesitzes,  Neustadt 
a.  d.  O.,  1828.  —  Selss,  Grundsätze  zur  Auf- 
nahme und  Erhaltung  von  Grundkatast^rn,  Wesel 
und  Leipzig  I84O.  —  Hoffniann,  Die  ZiUässig- 
keit  einer  landwirtschaftlichen  Gewerbesteuer 
neben  der  Grundsteuer,  Zeitschr.  f.  d.  ges. 
Staats^v.  I854.  —  Kleinwächterf  Zwei  steuer- 
theoretische  Fragen,    Fin.-Arch.   1886,    S.  517  f. 

—  Mascher,  Grundsteuerregelung  in  Preussen, 
Potsdam  1862.  —  von  Jtönne,  StaaUtrecht 
Preussens,  II,  2.  Abt.,  §  527  ff.  —  Wissntann, 
Das  preussi^che  Steuencesen,  Berlin  1886.  — 
St4)h:€ir  von  Neuforn,  Handbuch  der  gesamten 
Finanzverwaltung  im  Königreiche  Bayern  (zu- 
letzt hera-usgegeben  von  Hock),  III,  S.  12  ff.  — 
Maler,  Das  neue  Grund-,  Gebäude-  und  Ge- 
werbesteuergesetz in  Württemberg.  —  Hegenauer, 
Staatshausludt  Badens,  ^  262 ff.  —  Hecht,  Ba- 
disches tSteuersystem.  Die  köfiiglich  sächsischen 
Steuergesetze,  Leipzig  1879.  —  Scfianz,  Die 
direkten  Steuern  Hessens  und  deren  Beform, 
Fin.-Arch.  1885,  S.  2S5ff.  —  Linden,  Grund- 
steuer^erfassung  der  österreichischen  Monarchie, 
Wien  I84O.  —  Chlupp,  Handbuch  der  direkten 
Steuern.  —  Freibet*ger ,  Handbuch  der  öster- 
reichischen direkten  Steuern,  S.  80 ff.  —  von 
Leidgang,  Versuche  zur  Beform  der  direkten 
Steuern  in  Oesterreich,  Fin.-Arch.  1889,  S.  5S8ff. 

—  v.  Hock,  Die  Finanzvcncaltung  Frank- 
reichs, S.  188 ff.  —  V.  Kaufmann,  Die  Fi- 
nanzen Frankreichs,  S.  165  ff.  —  Vignes, 
Traite  des  finances,  I,  S.  SS  ff.  —  Morpurgo, 
La  finanza,  Florenz,  1877,  II,  S.  /fß  ff.  — 
liicca-Salemo,  Die  neue  Begelung  der  Grund- 
steuer und  die  Steuerreform  in  Italien,  Fin.- 
Arch.  1883,  S.  747 ff.  —  Arno,  La  perequazione 
deWimposta  sui  terreni.  —  VocUe,  Geschichte 
der  Steuern  des  britischen  Beichs,  S.  499  ff".  — 
V,  Keusuler,  Die  neuesten  russischen  Gesetze 
über  die  Grundsteuer  etc.,  Fin.-Arch.  1885,  S. 
217 ff.  —  Derselbe,  Erhöhung  der  russischen 
Grundsteuer  etc.,  ebenda  1889,  S.  SSI.  —  So- 
doff shy ,  Die  Staatsliegenschaftssteuer  Buss- 
lands, Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.,  III.  Folge,  1894, 
S.  244 ff.  —  Derselbe,  Die  Besteuerung  der 
städtischen  Liegenschaften  Busslands,  Zeitschr. 
für    Volks^wirtsch.     u.    s.    10.      VIII.     S.     602  ff". 

—  V.  Hock,  Finanzen  der  Vereinigten 
Staaten,  S.  SlO  ff.  —  Huhland,  Aus  dem  Ver- 
fassungs-  und  Verivaltungsrechte  des  britisch- 
indischen Kaiserreichs,  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Staatsw. 
189S,  pag.  22S—252  und  4O8 — 456.  —  Ballen- 
Powell,  B.  H.  A  Short  account  of  the  Land- 
Bevenue  and  its  administration  in  British-India, 
Oxford  1894. 

17.  Lesigang, 


Grundsteuer  in  älterer  Zeit. 

1.  Die  alt«  Bede.  2.  Die  landständische 
Steuer.  3.  Die  städtische  G.  4.  Die  Grund- 
steuerbefreiungen. 5.  Das  Steuerobjekt.  6.  Das 
Steuersubjekt.  7.  Die  Veranlagung.  8.  Steuer- 
register und  ähnliche  Aufzeichnungen.  9.  Die 
Kataster  des  18.  Jahrh.  10.  Die  Erhebung  der 
G.    11.  Schlussbemerkung. 

Eine  Würdigung  der  Grundsteuer  vom 
systematischen  Standpunkte  aus  nebst  einem 
geschichtlichen  üeberblick  über  sie  im  19. 
Jahrhundert  enthielt  der  vorangegangene  Art 
Grundsteuer.  Die  Grund züge  der  allge- 
meinen Steuergeschichte  stellt  der  Art. 
Finanzen  dar;  einiges  dazu  bringt 
auch  der  Art.  Steuer  (s.  unten).  Der 
Zweck  der  folgenden  Ausführung  ist  die 
Schilderung  der  Entwickelung  der  Grund- 
steuer auf  deutschem  Boden  bis  zum  Ende 
des  18.  Jahrhunderts. 

1.  Die  alte  Bede.  In  einigen  der  zum 
späteren  Deutschen  Reiche  gehörigen  Land- 
strichen ist  zur  Zeit  der  Römerherrschaft 
die  römische  Grundsteuer  erhoben  worden. 
Sie  hat  auch  noch  den  Sturz  der  Römer- 
herrschaft überdauert.  Indessen  etw^a  mit 
dem  7.  Jahrhundert  hat  sie  den  Steuer- 
charakter verloren,  ist  zum  Zins  oder  zur 
Rente  geworden^).  Die  Geschichte  der 
deutschen  Gnindsteuer  knüpft  nicht  an  sie 
an,  sondern  an  eine  in  Deutschland  seit 
etwa  dem  12.  Jahi-hundert  (im  westfränki- 
schen Reiche  früher)  nachweisbare,  im  13. 
bestimmt  erkennbare,  von  den  Landesherren 
erhobene  Steuer :  die  meistens  Bede  (petitio, 
precaria),  daneben  Schoss,  Schatz,  exactio 
u.  s.  w.  genannte  Abgabe.  Das  Nähere  über 
sie  ist  oben  Bd.  II,  S.  535  ff.  bemerkt  w^orden 
(Art.  Bede).  Hier  sei  nur  zweierlei  her- 
vorgehoben*^). Ilirer  Art  nach  ist  die  Bede 
überwiegend  Grundsteuer;  wenigstens  nimmt 
in  dem  System  der  Bede  die  Grundsteuer 
regelmässig  die  Haupts  teile  ein;  daneben 
kommen  allerdings  auch  noch  andere  Steuer- 
arten, am  häufigsten  die  Gebäudesteuer,  vor. 
Die  Bede  ist  ferner,  wenigstens  seit  dem 
13.  Jahrhundert,  eine  ordentliche,  von  Be- 
willigung unabhängige,  jährliche,  feste  Ab- 
g-abe.  Erhalten  hat  sich  die  Bede  in  den 
meisten  deutschen  Temtorien  bis  in  den 
Anfang  (teilweise  bis  zur  Mitte)  des  19. 
Jalu-hunderts.  In  einigen  ostdeutschen  Land- 
schaften, z.  B.  in  Brandenburg,  ist  sie  da- 
gegen schon  im  Mittelalter  erloschen,  indem 


^)  Waitz,  Deutsche  Verfassungsgeschichte 
II,  2^  (3.  Aufl.),  S.  271  Anm.  3. 

-)  Gegen  die  irrige  Ansicht,  dass  die  Bede 
keine  Steuer  gewesen  sei,  vergl.  die  treffenden 
Bemerkungen  von  F.  J.  Neumann,  Die  persön- 
lichen Steuern  vom  Einkommen  (Tübingen  1896), 
S.  232  f. 


918 


Grundsteuer  iu  älterer  Zeit 


sie  von  den  Landesherren  entweder  scUecht- 
hin  den  Pflichtigen  erlassen  oder  an  Private 
veräussert  und  zur  einfachen  Reallast  wurde 
und  so,  ähnlich  wie  die  erwähnte  romische 
Grundsteuer,  den  Steuercharakter  verlor. 
|l  ^  2.  Die  landständische  Steuer.  Ver- 
einzelt schon  im  13.,  häufiger  aber  erst  seit 
dem  14.  und  15.  Jahrhundert  erheben  die 
Landesherren  neben  der  ordentlichen  Ab- 
gabe der  Bede  eine  ausserordentliche  Steuer, 
die  von  der  besondei-en  Bewilügimg  der  all- 
mälüich  sich  bildenden  Landstände  abhängig 
ist.  Sie  unterscheidet  sich  von  der  Bede 
aucli  dadurch,  dass  ihi-  ein  weiterer  Kreis 
von  Pflichtigen  unterworfen  wird.  Den 
Namen  teilt  sie  anfangs  noch  ^^elfach  mit 
der  alten  Bede  (specieU  in  Niederdeutsch- 
land); nach  und  nach  wird  der  Ausdruck 
Steuer  herrschend.  Während  die  alte  Bede 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  keine  erhebliche 
Erhöhung  erfährt,  wii-d  die  landständische 
Steuer  fortschreitend  in  wachsender  Höhe 
erhoben,  so  dass  ihr  gegenüber  jene  schliess- 
lich ganz  an  Bedeutung  zurücktritt.  Seit 
der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts 
(vereinzelt  früher)  wird  die  landständische 
Steuer  mehr  imd  mehr  eine  ordentliche, 
regelmässige  Abgabe.  Das  Bewilligungsrecht 
der  Stände  tritt  jetzt  in  den  Hintergrund; 
nur  in  wenigen  Territorien  behauptet  es 
sich.  Wird  so  die  landständische  Steuer 
meistens  zu  einer  landesherrlichen,  so  bleibt 
sie  doch  von  der  alten  Bede  unterschieden. 
Die  Massnahmen  der  landesherrlichen  Steuer- 
verwaltung des  18.  Jahrhunderts  lassen  sich 
unschwer  in  einer  Schilderung  der  land- 
ständischen Steuer  mit  dai-stellen,  da  die 
landeshen-liche  aus  dieser  hervorwächst. 
Was  nun  die  Art  der  landständischen  und 
der  sich  aus  ihr  entwickelnden  landesheiT- 
lichen  Steuer  betrifft,  so  nimmt  hier  die 
Grundsteuer  nicht  mehr  die  beherrschende 
Stellung  wie  bei  der  alten  Bede  ein.  Denn 
abgesehen  davon,  dass,  namentlich  seit  dem 
16.  Jahrhundert,  in  steigendem  Masse  in- 
direkte Steuern  erhoben  werden,  so  ist  die 
Form,  unter  der  die  landständische  Steuer 
bewilligt  wird,  meistens  die  einer  Kombi- 
nation von  Vermögens-  uad  verschiedenen 
Personalsteuem ,  seltener  die  einer  reinen 
Grundsteuer.  Indessen  führten  die  Verhält- 
nisse dahin,  dass  innerhalb  des  Systems  der 
direkten  landständischen  Steuern  die  Grund- 
steuer doch  noch  immer  den  Hauptplatz  be- 
hielt. »Die  Landsteuer  verlor  den  bisheri- 
gen Cliarakter  einer  personalen  Vermögens- 
steuer mehr  und  mehr  und  nahm  dafür  den 
einer  Realsteuer,  die  auf  dem  steuerpflich- 
tigen Objekt  haftete,  an«  (Wenmsky  S.  143). 
»Die  Schätzung  öntfernte  sich  immer  mehr 
von  ihrem  eigentlichen  Charakter  als  der 
Deklaration  der  Vermögensverhältnisse  der 
einzelnen    Steuersubjekte    und    nahm    den 


eines  auf  ein  bestimmtes  Gut  gelegten  mul 
eingeschriebenen  Steuerkapitals,  einer  ständi- 
gen Reallast,  an«  (Rachfalü  S.  300).  »Statt 
der  alten  Vermögenssteuern  hören  wir  in 
Brandenburg  von  einem  Hufen-  und  Giebel- 
schoss,  in  Ostpreussen  von  einem  Hufengeld, 
von  Kopf  schössen ,  von  Hörn-  und  Klauen- 
schössen« (Schmoller,  Epochen  S.  49).  »So 
war  man  nach  und  nach  (in  Hessen)  von 
einer  allgemeinen  Vennögens-  und  Einkom- 
mensteuer zu  einer  Grund-,  Gefälle-,  Ge- 
werbe- und  Viehsteuer  übergegangen* 
(Hildebrand  S.  304).  Diejenigen  Grund- 
stücke, die  die  alte  Bede  zahlten,  trugen 
nun  seit  Eiufühnmg  der  landständischen 
Steuei"  zwei  Grundsteuern.  Mitunter  aber 
wurden  von  demselben  Grundstücke  auch 
zwei  landständische  Gnmdsteuem  erhoben. 
In  Brandenburg  z.  B.  ti-at  zu  dem  »Hufen- 
schoss« ,  der  ersten  landständischen  Gnmd- 
steuer,  im  17.  Jahrhundert  eine  zweite:  die 
»Kontributionen. 

3.  Die  stadtische  G.  Im  städtischen 
Steuerwesen  sind  die  Steuern  für  den  Lan- 
desherrn imd  die  für  die  Bedürfnisse  der 
Stadtgemeinde  zu  unterscheiden,  a)  Obwohl 
die  Bürger  im  allgemeinen  zu  den  der  alten 
Bede  unterworfenen  Pei-sonenkreisen  gehör- 
ten, haben  die  Landesheri-en  diese  Abgabe 
doch  zu  Gunsten  der  Städte  vielfach  heral»- 
gesetzt,  oft  sie  ihnen  auch  vollkommen  er- 
lassen. Im  letzteren  Falle  fiel  dann  iu  den 
betreffenden  Gemeinden  die  Grimdsteuer 
entweder  ganz  weg,  oder  sie  wurde  fortan 
zu  Gunsten  der  Stadt  erhoben.  Soweit  die 
Städte  zur  Zahlung  der  alten  Bede  ver- 
pflichtet blieben,  ist  sie  im  Laufe  der  Zeit 
mitunter  in  eine  andei^e  Steuer  (Accise)  ver- 
wandelt worden.  Als  dann  die  landständi- 
schen Steuern  aufkamen,  wurde  in  manchen 
Territorien  von  vornherein  ein  Steuersystem 
füi'  die  Städte  aufgestellt,  das  von  dem  für 
das  platte  Land  bestimmten  abwich.  In 
anderen  wollte  man  für  die  Besteuerung 
von  Stadt  und  Land  im  wesentlichen  die 
gleichen  Grundsätze  gelten  lassen.  Allein 
die  Gewalt  der  abweichenden  Verhältnisse 
brachte  auch  hier  im  Erfolg  Verschieden- 
heiten hervor.  Namentlich  wurde  iu  den 
Städten  der  Ertrag  aus  der  Grundsteuer 
von  dem  aus  der  Gebäudesteuer  übertroffen, 
üeber  die  interessante  Stellung  der  branden- 
burgischen Städte  innerhalb  des  Systems 
der  landständischen  Steuer  s.  Näheres  in 
den  Artikeln  Hufenschoss  und  Kontri- 
but i  o  n.  b)  Abgesehen  davon,  dass  gelten t- 
lich  die  (von  Haus  aus  landesherrliche)  alte 
Bede  in  eine  Steuer  für  die  Stadtgemeinde 
verwandelt  wiixi,  befiiedigen  die  Städte  in 
den  ersten  Jahrhunderten  ihre  eigenen  Be- 
dürfnisse regelmässig  diux^h  eine  indirekte 
Steuer,  die  Accise.  Anfangs  sind  ilir  nur 
wenige  Gegenstände  unterworfen ;  allmählich 


Grundsteuer  üi  älterer  Zeit 


919 


erweitert  sie  sich  fortschreitend ;  sie  gelangt 
zu  einer  grossartigen  Entwickelimg  und  hat 
in  mehrfacher  Hinsicht  das  Muster  für  die 
später  in  den  Territorien  eingeführten  in- 
direkten Steuern  abgegeben.  Sie  ist  die 
specifisch  städtische  Steuer  des  Mittelaltei's 
und  in  weitem  Umfange  auch  der  folgenden 
Zeit.  Daneben  aber,  etwa  seit  dem  14. 
Jahrhundert,  werden  für  den  StadtsäckeL 
am  häufigsten,  wie  es  scheint,  in  den  Reichs- 
städten, Yermögens-  und  Pei-sonalsteuem 
(regelmässig  kombiniert)  erhoben.  Anfangs 
sind  sie  ausserordentliche  Abgaben;  bald 
aber  —  und  zwar  früher  als  die  landstän- 
dischen Vermögenssteuern  —  werden  sie 
ordentliche.  Innerhalb  dieser  Yermögens- 
steuern  spielt  nun  auch  die  Grundsteuer 
eine  Rolle,  aber  eine  geringere  als  inner- 
halb der  gleichzeitigen  landständischen 
Steuern. 

4.  Die  Gmndstenerbefreiangen.  Cha- 
rakteristisch nicht  bloss  für  das  Mittelalter, 
sondern  auch  noch  für  die  drei  folgenden  Jalir- 
himderte  ist  die  Durclüöcherung  aller  Steuer- 
systeme durch  ausgedehnte  Befreiungen. 
Man  klassifizierte  die  Bevölkerung  geradezu 
nai^h  der  Steuerpflicht  resp.  der  Freiheit 
davon.  Wie  in  Frankreich  die  Ausdrücke 
taillable ,  rotiu-e,  roturier  die  Bedeutung  von 
Standesbezeichnungen  hatten,  wie  in  Spanien 
die  arbeitenden  Klassen  (pechei*os)  ihren 
Namen  vom  Steuerzahlen  führten,  so  gab 
es  auch  in  Deutschland  entsprechende  Be- 
nennungen (vergl.  einerseits  die  technisch 
sogenannten  »Freien«,  andererseits  die  Pfleg- 
haften, Biergelden,  Schatzleute). 

Hauptsächlich  sind  es  zwei  grosse 
Klassen,  die  mehr  oder  weniger  umfassende 
Steuerfreiheit  geniessen:  Geistlichkeit  und 
Adel;  dazu  gesellen  sich  aber  noch  weitere 
Ki-eise  von  zahlreichen  Personen,  die  etwa 
durch  besonderes  Privileg  für  steuerfrei 
erklärt  worden  sind.  In  erster  Linie  be- 
ziehen sich  die  Freiheiten  immer  auf  die 
Gnmdsteuer.  Sie  sind  teils  persönlicher, 
teils  dinglicher  Natur.  Es  werden  z.  B. 
das  eine  Mal  alle  diejenigen  Grundstücke  als 
steuerfrei  angesehen,  die  sich  zeitweilig  im 
Besitz  von  Ritterbürtigen  befinden,  das 
andere  Mal  ohne  Rücksicht  auf  den  Be- 
sitzer diejenigen,  denen  saclilich  die  Eigen- 
schaft von  Rittergütern  beigelegt  wird.  Im 
allgemeinen  lässt  sich  hinsichtlich  der  Steuer- 
freiheiten eine  doppelte  Entwickelungsreilie 
konstatieren,  wiewohl  die  Bewegung  keinen 
vöUig  konsequenten  Verlauf  nimmt,  Rück- 
schläge nicht  ausbleiben.  Erstens  wird  die 
Steuerfreiheit  fortschreitend  eingeschränkt. 
Bei  der  alten  Bede  hat  sie  die  gi-össte  Aus- 
dehnung. Bei  der  landständischen  Steuer 
dagegen  kontribuieren  Personen  resp.  Gnmd- 
stücke  (wenn  auch  nicht  zu  dem  vollen 
Satze  wie  die  zur  alten  Bede  verpflichteten). 


die  von  jener  fi'ei  gewesen  waren.    In  den 
Städten  ist  (h'e  Steuerfreiheit  am  stärksten 
eingeschränkt.      Als    Mittel     dazu    hatten 
ausser    einem    bewussten    Fernhalten    der 
Adligen  namentlich   die  gegen   den  kirch- 
lichen   Besitz     gerichteten     Amortisations- 
gesetze gedient,   die  in  den  Städten   eine 
grossere  Wirksamkeit   entfaltet    haben    als 
auf  dem  platten  Lande.    Zweitens  tritt  im 
Laufe  der  Zeit  immer  stärker  das  Bestreben 
hervor,  die  Steuerfreilieit  nur  noch  als  eine 
dingliche    gelten    zu    lassen.     Im   übrigen 
zeigen  die  Verhältnisse  in  den  verschiedenen 
Territorien  eine  sehr  gix)sse  Mannigfaltigkeit. 
Um  eine  östliche  und  eine  westliche  Land- 
schaft gegenüberzustellen,  so  war  in  Branden- 
burg die  Hofländerei  aller  Rittergüter  frei, 
während     die    Gnmdstücke     der     hörigen 
Bauern    der    Ritterschaft   die    Gnmdsteuer 
trugen.     In  Jülich-Berg  dagegen  w^ar  (we- 
nigstens seit  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts) 
nicht  die  Hofländerei  aller  Rittergüter  frei, 
sondern  nur   die   je   eines   der  von  einem 
Ritterbürtigen  besessenen  Schlösser ;  die  der 
alten  Bede  unterworfenen  bäuerliclien  Be- 
sitzungen der  Ritterschaft  ti'ugen  die  volle 
Grundsteuer,    ihre    bedefreien    bäuerlichen 
Besitzungen   die   sogenannte   Gewinn-   und 
Gewerbsteuer  (s.  nachher).    Hinzuzunehmen 
ist  hierbei,  dass  die  Hofländerei  der  Ritter- 
güter   in    Brandenburg    bei    w^eitem    aus- 
gedehnter als  in  Jülich-Berg  war.  —  Der 
landesherrliche  Grundbesitz  erfuhr  im  grossen 
und  ganzen  dieselbe  Behandlung   wie  der 
ritterschaftliche;    wenigstens    insofern,    als 
hinsichtlich   des  zugehörigen  Bauemlandes 
im   allgemeinen    dieselben   Grundsätze    be- 
standen. 

6.  Das  Steuerobjekt.  Soweit  die  Frage 
nach  dem  Steuerebjekt  mit  den  Steuerbe- 
freiungen zusammenhängt,  haben  wir  sie 
soeben  erörtert.  Wenn  die  Theorie  heute 
das  Problem  auf  wirft,  ob  nicht  die  land- 
wirtschaftliche Thätigkeit  als  besondere, 
neben  der  Rentabilität  des  Bodens  an  sich 
noch  bestehende  Erwerbsquelle  für  sich  zu 
besteuern  sei,  so  hat  die  Yergangenheit 
diesen  Gedanken  schon  verwirklicht.  Es 
kommt  hier  die  »Gewinn-  und  Gew^erbsteuer« 
des  Niederrheins  ^)  in  Betracht.  Diese  ist 
dem  Begriffe  nach  Gewerbesteuer;  sie  wird 
ausdrficklich  in  Gegensatz  zur  Grundsteuer 
gestellt.  Die  Pächter  und  Zinsleute  der 
bedefreien  Güter  des  Klerus,  der  Ritter- 
schaft und  des  Landesherrn  zahlen  sie.  Der 
bedefreie  Grundbesitz  kann  dem  Begriffe 
nach  auch  der  in  der  landständischen  Steuer 
enthaltenen  Gnmdsteuer  nicht  unterworfen 
werden;  seine  Inhaber  zahlen  eine  (land- 
wirtschaftliche)   Gewerbesteuer.      Indessen 


»)  S.   meine   Idstd.  Verf.  IH,   2.   S.  29 ff.; 
Walter  S.  182  ff.  und  421. 


920 


Griiüdsteuer  in  älterer  Zeit 


ist  diese  doch  nur  teilweise  aiif  eine  selb- 
ständige Art,  nämlich  nach  der  Höhe  des 
Pachtzinses,  berechnet  worden.  Anderswo 
erfolgte  die  Berechnung  (wenigstens  seit  der 
Zeit,  für  die  wir  nähere  Nachrichten  be- 
sitzen) in  der  Form  einer,  nur  ermässigten, 
Gnmdsteuer:  die  »Gewinn-  und  Gewerbe- 
steuer« wurde  als  Grundsteuer  von  nur 
einem  Teile,  dem  zweiten,  dritten  bis  achten 
Morgen  (lokal  verschieden),  des  gepachteten 
Gnmdbesitzes  erhoben.  In  diesem  Zu- 
sammenhange verdient  es  weiter  Erwähnung, 
dass  gelegentlich  die  Gebäudesteuer  als 
Ghnindsteuer  konstruiert  worden  ist,  indem 
sie  in  der  Form  erhoben  wurde,  dass  man 
die  Hausplätze  doppelt  rechnete.  Bemerkens- 
wert ist  es  endlich,  dass  man  in  den  ersten 
Jahrhunderten  die  Allmende  meistens  steuer- 
frei Hess.  Jm  18.  Jahrhundert  wendet  man 
der  Frage  ihrer  Besteuerung  erhöhte  Auf- 
merksamkeit zu^). 

6.  DbtS  Steuersubjekt  Es  ist  ein 
durchgreifender  Grundsatz  der  älteren  Ver- 
fassung, dass  die  Grundsteuer  regelmässig 
von  dem  Inhaber,  nicht  von  dem  Eigen- 
tümer des  Gnmdstücks  verlangt  wird.  Die 
Beobachtung  dieses  Princips  wird  sich  teils 
aus  dem  technischen  Gesichtspunkte  er- 
klären, dass  die  Regierung  den  Inhaber 
leichter  haftbar  machen  könne,  teils  durch 
die  Vorrechte  der  gi-össten  Gnmdbesitzer 
(des  Klerus  und  des  Adels),  die  ihnen 
Steuerfreiheit  gewährten,  veranlasst  worden 
sein.  Es  hat  nun  zwar  keineswegs  an  Ver- 
suchen der  Inhaber  gefelilt,  die  Steuer  auf 
den  Eigentümer  abzuwälzen  —  die  seit  dem 
12.  Jalu-hundert  darüber  vorliegenden  Nach- 
richten zeugen  für  die  Lebhaftigkeit  der 
Erörterungen.  Im  einzelnen  Fall  ist  die 
Abwälzung  auch  zweifellos  nicht  selten  ge- 
lungen (in  Westdeutschland  wohl  mehr  als 
in  Ostdeutsclüand).  Allein  im  Princip 
wunlen  doch  immer  die  Inhaber  als  die 
Steuersubjekte  angesehen.  Die  Regierungen 
haben  sich  wiederholt  ausdi-ücklich  dahin 
ausgesprochen  2).  Nicht  ganz  konseijuent 
stellte  man  sich  hinsichtlich  der  Frage,  ob 
wegen  der  auf  dem  Grundstücke  lastenden 
Schulden  ein  Abzug  an  der  Steuer  gemacht 
werden  düi-fe.  Die  eine  Regierung  erkläi-t 
einen  Abzug  ausdrücklich  für  zulässig^). 
Eine  andere  lehnt  ein  Eingehen  auf  diese 


Frage  ab^).  Dagegen  scheint  man,  ab- 
gesehen von  einem  in  den  ersten  Anfängen 
zu  beobachtenden  Schwanken,  regelmässig 
eine  Doppelbesteuerung  in  dem  Smne  ver- 
mieden zu  haben,  dass  man  da,  wo  ein 
Steuersystem  neben  der  Grundsteuer  eine 
Rentensteuer  enthielt,  bei  dem  betreffenden 
Grundstück  nur  die  eine  Steuer  erhob*). 
Hier  nimmt  also  die  Besteuenmg  auf  die 
vorhandene  Teilung  der  Grundrente  Rück- 
sicht. Als  eine  Besonderheit  der  älteren 
Steuerverfassung  mag  schliesslich  noch  die 
relativ  stärkere  Heranziehung  der  Ausländer, 
die  im  Lande  Grundbesitz  haben,  erwähnt 
werden. 

7.  Die  Yeranla^ng.  Die  Steuereinheit 
ist  sehr  verschiedener  Art.  Die  Abweichungen 
erklären  sich  zum  grossen  Teil  aus  den  be- 
sonderen wirtschaftlichen  und  nationalen 
Verhältnissen  der  verschiedenen  Land- 
schaften. Am  Rhein,  wo  die  Zersplitterung 
des  Bodens  ziemlich  stark  ist,  wird  die 
Grundsteuer  nach  Morgen  umgelegt.  Im 
'  sächsischen  Stammesgebiet  imd  im  kolonialen 
Deutschland  ist  die  Hufe  sehr  häufig  Steuer- 
einheit. Daneben  findet  sich  hier  (z.  B.  im 
Hannoverschen  und  in  Holstein)  der  Pflug. 
Auf  altem  Slawenland  (z.  B.  in  Livland) 
steht  an  dessen  Stelle  der  Haken  3).  Die 
Hufe  kommt  aber  auch  in  Süddeutschland 
vor.  Dieses  kennt  femer  den  Hof*M,  der 
wiederum  auch  NoixldeutscMand  bekannt 
ist.  Mitunter  (z.  B.  in  manchen  Gegenden 
von  Brandenburg)  ist  ein  bestimmtes  Mass 
der  Aussaat  Steuereinheit.  In  Böhmen 
finden  wir  die  »Ansässigkeit« ,  d.  h.  eine 
Ackerfläche,  die  einer  bestimmten  Aussaat 
(80  Strich  im  Flachlande,  55  im  Mittel- 
gebu-ge,  40  im  Hochgebirge)  entsprach.  Die 
einzelnen  Masse,  wie  die  Hufe,  waren 
übrigens  örtlich  verschieden  gross.  Wenn, 
wie  wir  sehen,  die  Steuerverfassung  einer- 
seits Ausdruck  der  allgemeinen  Verhältnisse 
ist,  so  hat  sie  andererseits  wieder  die  stän- 
dische Gliedenmg  mit  bestimmt.  »Die  Ein- 
führung dieser  Steuer  (der  Kontribution)« 
—  sagt  z.  B.  Wittich  (S.  98)  —  »liatte  in 
Lünebiu-g,  Hoya  und  Diepholz,  wo  sie  nach 
den  Höfeklassen  der  Voll-,  Halbhöfe,  Köter 
und  Brinksitzer  ausgeschlagen  wiuxie,  die 
Abschliessung  und  Konstituierung  dieser 
Bauernklassen  vollendet,  imd  auch  in  den 


^)  Ueber  die  Besteuerung  der  Allmende 
vergl.  Bielfeld,  S.  156;  Metzen  S.  54;  G.  v. 
Below,  Ldstd.  Verf.  III,  2,  S.  27  f. 

*)  Zur  Litteratur  über  diese  interessante 
Frage  vergl.  Werunskj',  S.  139;  G.  v.  Below, 
Ldstd.  Verf.  III,  1,  S.  34;  2,  S.  18 f.  und  S.  40f. ; 
Knipping,  Westdeutsche  Zeitschr.  13,  S.  376; 
Droysen,  Gesch.  der  preuss.  Politik  II,  2,  S.  201. 
Vergl.   übrigens  auch  Bücher  S.  126,  Anm.  2. 

3}  Kries,  S.  45;  Walter,  S,  197. 


»)  G.  V.  Below,  a.  a.  0.  III,  2,  S.  19  f. 

«)  Hoffmann,  S.  193 f.  (vergl.  auch  S.  68); 
G.  V.  Below  a.  a.  0.  III,  2,  S.  20  f.  Anders, 
wie  es  scheint,  bei  v.  Sparre,  S.  122. 

^)  Sehr  interessant  ist  Meyer,  Winsener 
Schatzregister,  S.  löOf.:  hier,  wo  Deutsche 
und  Slawen  sich  mischen,  kommen  auch  neben, 
einander  Pflug  und  Haken  als  Steuereinheit  vor. 

*)  Vergl.  z.  B,  Werunsky,  S.  139:  „Hof, 
Hube,  Lehen,  Hofstatt,  Joch  bei  Weinbergen". 


Grundsteuer  in  älterer  Zeit 


921 


übrigen  Landesteilen,  wo  die  Höfeklassen 
nur  zum  Teil  die  Steuereinheiten  bildeten, 
war  die  Einbeziehung  der  Köter  in  die 
Kontribution  für  die  Stellung  dieser  Bauern- 
klasse in  der  Gemeinde  von  grosser  Wich- 
tigkeit gewoMen«.  Was  den  Steuerfuss 
betrifft,  so  war  er  in  den  verschiedenen 
Territorien  und  bei  den  verschiedenen  Steuern 
(hier  übrigens  ziemlich  konstant  steigend) 
verschieden  hoch;  das  lag  in  der  Natur 
der  Sache.  ADein  er  war  auch  innerhalb 
desselben  Territoriums  sehr  ungleich.  Die 
Klagen  darüber  sind  allgemein.  Im  Jahre 
1555  schreibt  z.  B.  ein  schlesischer  Beamter, 
»dass  die  Ungleichheit  erschrecklich  sei«. 
Im  Jahre  1541  beschweren  sich  die  Ein- 
gesessenen eines  Jülicher  Amtsbezirkes,  dass, 
während  die  ünterthanen  in  benachbarten 
Aemtern  auf  B,  4,  höchstens  5  oder  6  Gold- 
gulden gesetzt  seien,  die  in  ihrem  Amte 
6,  8,  10,  12  oder  gar  noch  mehr  geben' 
müssten.  Die  Ursachen  der  Ungleichheit' 
lagen  hauptsächlich  in  folgendem.  Die  land- ! 
ständischen  Steuern  waren  sehr  häufig, 
vielleicht  sogar  meistens  Repartitionssteuern : 
man  verteilte  die  für  das  Territorium  be- 
willigte Summe  auf  die  einzelnen  Amts- 
bezirke, innerhalb  derselben  auf  die  ein- 
zelnen Gemeinden,  beides  nach  einer  unvoll- 
kommenen, im  Laufe  der  Jahrhunderte  nur 
wenig  geänderten  Matrikel.  Der  Ursprung 
der  letzteren  ist  dunkel.  Manches  spricht 
dafür,  dass  man  sie  hier  und  da  nach  Mass- 
gabe der  Summen,  die  die  einzelnen  Ge- 
meinden zu  der  alten  Bede  lieferten,  auf- 
gestellt hat.  Dann  würde  die  Frage  nach 
dem  Ui-spning  der  landständischen  Steuer- 
matrikel identisch  sein  mit  der  nach  dem 
Urspnmg  der  alten  Bedematrikel.  Ueber 
diesen  befinden  wir  uns  vollends  im  Un- 
klaren. Es  ist  die  Vermutung  ausgesprochen 
worden,  dass  die  Bede  im  Verhältnis  zu 
dem  Hufenzins,  den  die  abhängigen  Bauern 
zahlen,  erhoben  worden  sei.  Allein  auf 
diesem  Wege  könnte  man  zu  einer  für  das 
ganze  Territorium  genügenden  Bedematrikcl 
doch  nur  da  gelangt  sein,  wo  aussclüiesslich 
abhängige  Bauern  bedepflichtig  waren.  Jeden- 
falls wui'de  auch  die  Berechnung  nach  dem 
Hufenzins  den  Anfordenmgen  der  Gerech- 
tigkeit nicht  entsprechen.  Und  das  ist  es 
im  letzten  Gininde  überhaupt,  was  die  uu- 
gleichmässige  Belastimg  der  Grundstücke 
erklärt:  das  Fehlen  einer  sachgeraässen 
Schätzung  der  Leistungsfähigkeit  des  Bodens. 
Ganz  liberw'iegend  sind  es  äussere  Umstände, 
nach  denen  die  Steuern  veranlagt  werden. 
Es  lassen  sich  zwar  vereinzelte  Anfänge 
einer  Bonitierung  schon  für  das  Mittelalter, 
schon  für  die  alte  Bede*)  nachweisen.    In- 


^)  Ueber  Bonitierungen  bei  der  alten  Bede 


dessen  scheint  sie  noch  keineswegs  überall 
üblich  gewesen  zu  sein ;  und  wo  sie  vorkam, 
war  sie  noch  sehr  roher  Natur.  Für  die 
städtische  und  *die  landständische  Steuer, 
etwa  seit  dem  16.  Jahrhundert,  mehren  sich 
die  Nachrichten  1).  Die  Bonitienmg  macht 
nun  allmählich  Fortschritte.  Freilich  wird 
sie  noch  nicht  allgemein.  Die  immer  noch 
imvoUkommene  Art,  wie  der  Grundbesitz 
für  die  Zwecke  der  Besteuerung  jetzt  ge- 
schätzt wiu^e,  erhält  seine  Charakterisierung 
durch  die  beiden  Momente,  dass  man  sich 
an  den  Bruttoertrag  hielt  und  dass  von 
einer  durchgreifenden  Vermessung  des 
Bodens  noch  keineswegs  die  Rede  war.  Die 
Organe  für  die  Schätzung  des  Grundbesitzes 
waren  teils  technisch  nicht  geschulte  staat- 
liche, teils  Gemeinde-,  teils  grundherrliche 
Orgaue;  teilweise  aber  begnügte  man  sich 
auch  mit  einfachen  Angaben  der  Pflichtigen 
Personen.  In  allen  diesen  Beziehungen  trat 
eine  wesentliche  Besserung  erst  mit  der 
Wende  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  ein, 
d.  h.  mit  der  Einführung  von  Katastern. 

8.  Steuerre^ster  und  ähnliche  Auf- 
zeichnungen. Aufzeichnungen  mannig- 
facher Art  besass  man  allerdings  auch  schon 
vor  der  Einführung  der  Kataster.  Zunächst 
gab  es  Bederegister.  Teils  waren  das  Auf- 
zeichnungen, die  nur  der  Bede  gewidmet 
waren.  Teils  bezogen  sie  sich  auf  die  Bede 
und  andere  öffentliche  sowie  die  grundherr- 
lichen Einnahmen  des  Landesherrn  zugleich. 
Teilweise  waren  darin  nur  Personennamen 
mit  Angabe  der  von  ihnen  zu  zahlenden 
Beträge  vorzeichnet,  teilweise  auch  Mit- 
teilungen über  die  Grösse  der  Pflichtigen 
Grundstücke  gemacht.  Im  allgemeinen 
wird  man  sagen  dürfen,  dass  die  Aufzeich- 
nungen über  die  grundherrlichen  Rechte 
des  Landesherrn  eingehender  als  die  über 
die  Bedepflicht  sind,  was  offenbar  daran 
liegt,  dass  an  jenen  die  Regiening  wegen 
ihres  Eigentiunsrechtes  ein  gi'össeres  Inte- 
resse hatte. 

In  ihrer  ausführlichsten  Form  werden 
jene  Aufzeichnungen  Lager-,  Amt-,  Erd- 
bücher genannt  Dass  die  Lagerbücher  zu- 
gleich der  Grundstücksübertragung  (dem 
Fortschreiben  betreffs  des  Eigentums)  dienen, 
kommt  wolü  erst  in  späterer  Zeit  vor.^j 
Uebrigens  liegen  Anzeichen  dafür  vor,  dass 


vergl.  Hetzen,  S.  59  und  83;  Weis,  S.  64 f.; 
G.  V.  Below  a.  a.  0.  III,  1,  S.  31  f. 

^)  Ueber  das  16.  Jahrh.  s.  G.  v.  Below  III, 
2,  S.  25 f.;  Schäfer,  S.  127.  Ueber  eine  etwas 
spätere  Zeit  s.  Schmoller,  Epochen  S.  57 f.; 
Burkhard,  S.  21 ;  A.  v.  Transehe,  S.  241 ;  anderer- 
seits Metterhausen,  S.  11.  Vergl.  auch  das  vor- 
hin über  die  „Ansässigkeit"  in  Böhmen  Gesagte 
und  Röscher,  S.  322. 

*)  Vgl.  von  Sparre  S.  124. 


922 


Grundsteuer  iii  älterer  Zeit 


während  des  Mittelalters  in  manchen  Dis- 
trikten die  Bede  ohne  die  Stütze  eines  Ver- 
zeichnisses erhoben  worden,  ist. 

Die  landständischen  Steuern  konnten 
anfangs  nicht  Aufnahme  in  die  Lagerbücher 
finden,  da  sie  nur  bei  ausserordentlichen 
Anlässen  bewilligt  wurden,  nicht  zu  den 
feststehenden  Abgaben  gehörten.  Wir  be- 
merken sogar,  dass  man  es  mit  Bewusstsein 
vermeidet,  Aufzeichnungen  über  eine  ausser- 
ordentliche landständische  Steuer  dauernde 
Geltung  zu  geben.  Es  wird  öfters  bestimmt, 
dass  die  Steuerzettel  nach  der  Erhebung 
vernichtet  werden  sollen ;  offenbar,  weil  die 
Steuerzahler  fürchten,  die  ausserordentliche 
Steuer  könnte,  weil  über  sie  nun  einmal, 
wie  über  die  alte  Bede,  Aufzeichnungen 
beständen,  fortan  wie  jene  als  ordentliche 
Abgabe  erhoben  werden.  Jedenfalls  ist  es 
in  der  ersten  Zeit  der  land ständischen 
Steuer  mit  den  Aufzeichnungen  über  diese 
schlechter  bestellt  als  mit  denen  über  die 
alte  Bede.  Bezeichnenderweise  werden  bei 
der  Erhebung  landständischer  Steuern  alte 
Bederegister  mit  zu  Grunde  gelegt.  Seitdem 
aber  die  Steuerbewilligungen  sich  häufiger 
wiederholten,  entstanden  auch  mehr  und 
mehr  Aufzeichnungen  von  grösserem  Wert 
für  die  landständische  Steuer;  vollends  ge- 
schah das,  als  diese  zur  jährlichen  Abgabe 
geworden  war.  In  die  anfangs  überaus 
dürftigen  Verzeichnisse  dringen  allmählich 
Mitteilungen  über  den  Flächeninhalt  und 
den  Ertrag  der  Immobilien  ein.  Die  Steuer- 
register des  17.  Jahrhunderts  sind  schon 
reichhaltig  und  können  als  Vorstufe  der 
späteren  Kataster  gelten.  Man  beschäftigt 
sich  bereits  eifrig  mit  ihrer  Revision.  Von 
den  Katastern  aber  unterscheiden  sie  sich, 
abgesehen  von  der  Art  der  Anlage,  nament- 
lich auch  durch  den  anderen  Zweck.  Das 
alte  Steuerregister  ist  treffend  »das  Resultat 
einer  rein  kamenüen  Bestrebung«,  das 
Kataster  »das  Fundament  wirtschaftlichen 
Wesens«  genannt  worden.  Eben  der  fis- 
kalische Gesichtspunkt,  die  Immobilien 
schärfer  und  korrekter  zur  Steuer  heran- 
zuziehen, war  das  Entscheidende  bei  der 
Aufstellung  der  Register.  Eine  ganz  klare 
Grenze  zwischen  den  »Registern«  und  den 
Katastern  lässt  sich  freilich  nicht  ziehen, 
um  so  weniger,  als  diese  sich  vielfach  auf 
jene  stützen.  Es  sind  z.  B.  gelegentlich  die 
Bonitätsklassen,  die  sich  im  17.  Jahrhundert 
allmählich  herausgebildet  hatten,  bei  der 
Katastrierung  im  18.  Jahrhundert  genau  bei- 
behalten worden  (vergl.  Burkhardt  S.  37 
Anm.  1). 

9.  Die  Kataster  des  18.  Jahrhunderts. 

Das  18.  Jahrhundert  ist  das  Zeitalter  der 
Einfiihnmg  der  Kataster.  Das  beriihmteste 
aus    diesem    Säkulum    ist    der    censimento 


milanese,  der  unter  Kaiser  Karl  VI.  im 
Jahre  1719  im  Mailändischen  begonnen  und 
im  Jahre  1760  vollendet  wurde.  Er  beruht 
auf  den  beiden  Gedanken,  dass  die  zu 
schätzenden  Gnindstücke  zu  vermessen,  mid 
zwar  durch  technisch  gebildete  Geometor 
zu  vermessen  und  dass  der  Reinertrag  zu 
gewinnen  sei.  Er  ist  ein,  fi-eüich  nicht  er- 
reichtes, Vorbild  für  Reformen  in  den  deutsch- 
österreichischen Pronnzen  geworden.  Hier 
sind,  nach  weniger  bedeutenden  Katastrie- 
rungsarbeiten  in  der  ersten  Hälfte  des  18. 
Jahrhunderts,  die  Steuerrektifikadon.  unter 
Maria  Theresia  und  die  Steuerregulierung 
unter  Joseph  II.  zu  nennen  (beide  werden 
anderen  Orts  genauer  besprochen).  Aus  Preus- 
sen  verdient  die  ruhmvollste  Erwähnung  das  in 
den  Jahren  1715 — 1719  unter  Friedrich 
Wilhelm  I.  hergestellte  ostpreussische  Katas- 
terwerk. Ihm  folgten  Katastrienmgsarbeiten 
in  Pommern,  Schlesien,  Westpreussen.  In 
Magdeburg  wurden  Arbeiten,  die  zur  Zeit 
des  grossen  Kurfürsten  begonnen  worden 
waren,  unter  Friedrich  Wühelm  I.  beendigt. 
In  Brandenburg  unterzog  man  die  im  Jahre 
1680  re\'idierten  Steuerregister  nicht  gerade 
einer  erheblichen  Fortbildung.^)  Wenn  wir 
eine  Würdigung  der  Katasterarbeiten  des 
18.  Jahrhimderts  unternehmen  wollen,  so 
wird  zu  betonen  sein,  dass  bei  ilirer  Her- 
stellung allgemeine  wirtschaftliche  Motive 
nicht  fehlen.  Allein  ein  sehr  starkes,  ja 
wohl  zweifellos  noch  das  stärkste  Motiv  ist 
das  Bestreben  der  Regierungen,  dabei  die 
Steuerfreiheit  der  privilegierten  Klassen  zu 
beseitigen  oder  wenigstens  einzuschränken. 
Der  Kiimpf  um  das  Kataster  kann  in  weitem 
Umfange  als  ein  Kampf  gegen  die  Steuer- 
freiheit des  Adels  bezeichnet  werden.  Klas- 
sische Beispiele  liefern  dafür  die  Geschichte 
der  ostpreussischen  und  die  der  öster- 
reichischen Reformen.  Wenn  sich  die  Be- 
deutung der  theresianischen  und  der  jo- 
sephinischen  Reform  dahin  bestimmen  lässt, 
dass  Maria  Theresia  für  das  Princip  der 
Allgemeinheit  der  Grundsteuerpflicht,  Joseph 
für  das  ihrer  Gleichheit  eintrat,  so  richten 
sich  beide  eben  gegen  jene  Privilegien.  Die 
grossartig  gedachte  Reform  Josephs  ist  denn 
auch  ganz  wesentlich  durch  die  Gegen- 
wirkungen der  Gutsherren  wieder  rückgängig 
gemacht  worden.  Vielfach  haben  die  Re- 
gierungen in  diesen  Kämpfen  grosse  Erfolge 
emmgen  (z.  B.  in  Ostpreussen),  mitunter 
gar  keine,  mitunter  halbe.    Es  kommt  vor. 


*)  Es  sei  femer  verwiesen  auf  die  Katastrie- 
ningsarbeiten  in  Württemberg  (Tröltsch,  die 
Calwer  Zeughandlungskompagnie  und  ihre  Ar- 
beiter (Jena  1897),  S.  348  ff.),  Hessen  (s.  Hilde- 
brand) und  Weimar  (s.  Burkhardt;  besonders 
lehrreich)  und  die  (älteren)  Deskriptionen  in 
Kurköln  (s.  Walter). 


Grundsteuer  in  älterer  Zeit 


923 


dass  man  sich  daliin  einigt,  den  ritterechaft- 
lichen  Besitz  bei  der  Katastrieruiig  ganz 
auszulassen.^)  Uebrigens  ist  zu  berücksich- 
tigen, dass  auch  die  bäuerliche  Bevölkerung 
gelegentlich  den  Reformen  Widerstand  ent- 
gegenzusetzen suchte.  Mit  den  KatasSter- 
arbeiten  und  der  dabei  bezweckten  Ein- 
schränkung der  Steuei-freiheiten  verband  sich 
mehrfach  zugleich  das  Bestreben,  eine  Yer- 
bessenuig  der  Besteuerungsform  an  sich 
herbeizufülireu.  Das  klassische  Beispiel 
dafür  ist  die  Ersetzung  eines  selu*  kompli- 
zierten und  unzweckmässigen  Steuersystems 
in  Ostpreussen  durch  den  GeneraUiufen- 
schoss.  Neben  der  Einschränkung  der 
Steuerfreiheiten  und  der  Yerbesseruug  der 
Steuerform  haben  die  Arbeiten  des  18.  Jahr- 
hunderts nocli  Erfolge  anderer  Art  aufzu- 
weisen. Die  neuen  Aufnahmen  stellten  fest, 
dass  eine  bedeutende  Zahl  steuerpflichtiger 
Hufen  bisher  einfach  verschwiegen,  dass  in 
grosser  Menge  diu-ch  allmähliche  Kulturen 
Wald-  und  Weideland  in  (steuerpflichtiges) 
Ackerland  verwandelt  worden  war.*)  Einige 
Nachrichten  aus  dem  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts mögen  als  Beispiele  einerseits 
dafür  dienen,  wieviel  durch  die  Keformen 
erreicht  worden  ist,  andei-erseits  aber  doch 
auch  dafi\r,  in  wie  unvollkommenen  Ver- 
hältnissen man  sich  vielfach  noch  während 
dieses  Jahrhunderts  befunden  hat.  Die  eine 
Nachricht  (vom  NiedeiTheiu,  aus  dem  Jahre 
1800)  lautet:  >>Den  Anlass  zui*  Anlage  des 
neuen  Katasters  gab  ein  schwerer  Ilagel- 
schJag,  der  gewisse  zu  Düsseldorf  gehörige 
Felder  im  Jahre  1774  traf.  Bei  der  Besich- 
tigung des  Feldschadens  ergab  sich,  dass 
merklich  mehr  Morgen  beschädigt  als  in 
den  Steuerkatastern  veraeichnet  waren.  Yor 
ca.  IT)  Jahren  ist  dann  das  neue  Kataster 
zu  Stande  gekommen.  Durch  dasselbe  ist 
beinahe  ein  alterum  tantum  der  bisherigen 
steuerbaren  Gründe  aufgeklärt  worden.«^) 
Das  andei-e  Beisjuel  entnehmen  wir  Oester- 
reich:  anlässlich  der  josephinischen  Regu- 
lienuigs-  und  Yennessungsarbeiten  stellte 
sich  heraus,  dass  in  Böhmen  nicht  weniger 
als  36  und  in  Mähren  gar  38®/o  aller  pro- 
duktiven Gründe  bisher  verschwiegen  und 
der  Besteuerung  entzogen  worden  waren.*) 
In  technischer  Beziehung  werden  die  deut- 
schen Kataster  des  18.  Jahrhunderts  den 
Mailändischen  im  allgemeinen  wohl  nicht 
erreichen.  Denn  wenn  jetzt  auch  die  Yer- 
messungen    weit    umfassender    waren    als 


^)  Ygl.  Burkhardt   S.  36  Anm.  1;    Hilde- 
brand S.  303. 

*)  Vgl.  z.  B.  Burkhardt  S.  24 ;  Grünberg  I, 
S.  149. 

•'•)  G.  v.  Below  a.  a.  0.  IH,  2,  S.  94. 

*)  Grünberg  I,  S.  316. 


früher  und  durch  geschulte  Geometer  vor- 
genommen wurden,  so  ist  die  Grösse  des  zu 
schätzenden  Landes  doch  nicht  durchweg 
durch  Yorraessung  festgestellt  woixlen.^) 
Ferner  hat  man  wohl  meistens,  aber  nicht 
immer,  den  Reinertrag  ermittelt.  Unter 
Joseph  II.  wollte  man  ursprihiglich  nur  den 
Reinertrag  besteuern.  Man  begnügte  sich 
dann  jedoch  mit  der  Erhebung  des  Brutto- 
ertrages, u.  a.  weil  man  fürchtete,  dass  eine 
Abrechnung  des  Bi*ot-  und  Saatkorns  zur 
Steuerfreiheit  eines  gi-ossen  Teiles  des  Gnm- 
des  und  Bfxlens  von  schlechter  Qualität  und 
zur  Ueberwälzung  der  Grundsteuer  auf  die 
guten  und  mittleren  Grundstücke  allein 
führen  würde.  Teilweise  lassen  die  In- 
stniktionen  jener  Zeit  Zweifel  darüber  be- 
stehen, ob  nach  ihnen  der  Roh-  oder  der 
Reinertrag  der  Besteuerung  unterliege 
(Hildobrand  S.  30o).  Endlich  sind  auch 
noch  nicht  einmal  alle  Territorien  im  18. 
Jahrhundert  zu  wirklichen  Katastern  gelangt. 
10.  Die  Erhebung  der  G.  Obwohl  die 
Frage  der  Erhebimg  der  Grundsteuer  in  die 
Erörtenmg  über  die  allgemeine  Steuerver- 
waltung gehört,  so  bietet  sie  doch  manches, 
was  zur  Charakterisierung  des  AVosens  der 
uns  hier  beschäftigenden  Abgabe  dient.  Zu- 
nächst ist  zu  erwähnen,  dass  man  die  Er- 
hebungstermine nach  Möglichkeit  auf  die 
Erate  oder  die  Yollendung  der  Drescharbeiteu 
folgen  liess.  Auch  in  den  Städten  kommt  das 
vor  (Bücher  S.  139).  Dagegen  trügt  man 
dem  landwirtschaftlichen  Betrieb  nicht  soweit 
Rechnung,  däss  man  die  Grundsteuer  etwa 
regelmässig  in  Naturalien  erhebt.  Dies  ist 
vielmehr  im  wesentlichen  Ausnahme  ge- 
wesen. Wohl  sind  mancherlei  Öffentliche 
Abgaben  von  geringerer  Bedeutung  in  natura 
erhoben  worden.  Wohl  hat  man  die  Natural- 
liefenmg  vereinzelt  auch  bei  der  eigentlichen 
Grundsteuer,  namentlich  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten ihrer  Existenz,  zugelassen.  Allein 
man  wird  sagen  dürfen,  dass  die  Landes- 
herren von  Haus  aus  die  Gnmdsteuer  aus- 
drücklich mit  zu  dem  Zweck  eingeführt 
haben,  um  bares  Geld  zu  erhalten.  Jeden- 
faUs  überwiegt  nachweislich  bereits  seit  der 
Mitte  des  13.  Jahrhunderts,  und  zwar  sclion 
für  die  alte  Bede,  weitaus  die  Geldzahlung. 
—  Hinsichtlich  der  Organe,  die  die  Steuer 
erheben,  bestehen  Unterschiede,  die  mit  den 
sozialen  Yerhältnissen  zusammenhängen.  Im 
östlichen  Deutschland,  wo  die  Macht  der 
Gutsherren  so  gross  ist,  besitzen  diese  das 
Recht,  die  Grundsteuer  von  ihren  Bauern 
zu  erheben.  Und  da  sich  hier  so  ziemlich 
der  gesamte  Bauernstand  in  Abhängigkeit 
befindet,  so  besteht  liier  auch  kaum  eine 
andere  Art  der  Erhebung  als  die  durch  die 

*)  Yergl.  z.  B.  Hanssen   S.  194;   Wagner 
S.  115;  d'Elvert  S.  583;  Grttnberg  a.  a.  0. 


924 


Grundsteuer  in  älterer  Zeit 


(seien  es  private,  seien  es  landesherrliche) 
Patrimonialherrschaften.  In  Westdeutsch- 
land, wo  die  Grundherrschaften  nicht  so 
weit  reichen,  bleibt  von  vornherein  nicht  so 
viel  Raum  für  eine  Steuererhebung  durch 
Grundherren.  In  den  Territorien,  in  denen 
sie  vorkommt,  stehen  daneben  staatliche  und 
Gemeindeorgane.  In  einigen  Landschaften 
drängen  diese  im  Laufe  der  Zeit  die  Gnmd- 
herren  von  der  Steuererhebung  zurück.  In 
einigen  aber  haben  die  staatlichen  und  Ge- 
meindeorgane die  Erhebung  auch  von  An- 
fang an  besorgt  (auch  betreffs  der  gnmd- 
herrlichen  Bauern).  Hier  fehlen  die  Miss- 
bräuche, die  jenem  ins  collectandi  der  Guts- 
resp.  Grundherren  anhaften  und  über  die 
viel  Klagen  laut  geworden  sind. 

11.  Schlussbemerkung.  AVir  haben  ge- 
sehen, wie  im  Laufe  der  Zeit  das  Grund- 
steuerwesen eine  fortschreitende  Verbesse- 
rung erfahren  hat.  Andererseits  hat  sich 
uns  gezeigt,  dass  die  Grundsteuer  nach  und 
nach  aus  der  beherrschenden  Stellung,  die 
sie  anfangs  im  öffentlichen  Haushalt  ein- 
nahm, verdrängt  worden  ist.  Im  18.  Jahr- 
hundert, das  der  Grundsteuer  durch  die 
Schaffung  der  Kataster  erhöhte  Aufmerk- 
samkeit zuwandte,  eröffneten  sich  die  Landes- 
herren daneben  weitere  neue  Einnahme- 
quellen. Vor  allem  aber  ist  ein  Umschlag 
im  19.  Jahrhundert  eingetreten:  jetzt  ver- 
ändert sich  ihre  Stellimg  vollständig;  nur 
noch  in  einigen  Staaten  bleibt  sie  die  wich- 
tigste direkte  Steuer.  Wenn  trotzdem  ge- 
rade das  19.  Jahrhundert  das  Zeitalter  der 
höchsten  Ausbildung  der  Kataster  ist  so  ist 
diese  Ei-scheinung  nur  ein  Ausdruck  der 
Thatsache,  dass  die  neueste  Zeit  allen  ein- 
zelnen Zweigen  der  Staatsverwaltung  eine 
vollendete  Gestalt  zu  geben  sucht. 

Litteratnr :  I:  Die  alte  Bede.  S.  die  Litte •  ^ 
ratur  bei  dem  Art.  Bede,  oben  Bd.  II,  S.  SS8.  — 
Brenneckef  Die  ordentl.  StaaUsteucr  in  Mecklen- 
bfirg  bis  zum  14-  Jahrhundert.  Marbtrrger  Diaser- 
tation von  1900.  —  EggerSf  Das  ütetterwesen  der 
Grafsch/i/t  Iloya.  Marburger  Disserta t i'On  von  1899. 

—  Zum  Teil  kommen  auch  die  im  folgenden  ge-  \ 
nannten  Srhriften  für  die  alte  Bede  in  Betracht. 

JI.  Die  lands  t  und  Ische  un  d  d  i  e 
8 1 ä d tische  Grundsteuer.  Ign,  Beidtel, 
Geschichte  der  österreichischen  Staatsverwaltung 
1740 — IS48,  herausg.  ro7i  A.  lluber ,  Bd.  I, 
Innsbrucie  1896.  —  (?.  v.  Below,  Die  land- 
ständische VerfasS7tng  in  Jülich  u,  Berg,  Teil  III, 
und  2.  Heß,  Düsseldorf  1890191.  —  Derselbe, 
Beiträge  zur  Verfassungs-,  VencaUungs-  und 
Wirtschaftsgeschichte  des  Niederrheins  vom  16. 
bis  zum  18.  Jahrh.,  Beiträge  zur  Geschichte  des 
yiederrheins,  Bd.  VII,  Düsseldorf  189S.  — 
Derselbe,  Art.  Rittergut  (s.  unten). — Der- 
selbe,   Territorium   und   Stadt,   München   1900. 

—  H,  Bielfeld,  Geschichte  des  Magdeburgischen 
Steueriresens,  Ijeipzig  1888.  —  Barnhak,  Ge- 
schichte des  preussischen  Verwaltungsrechts,  S 
Bde.,    Berlin    1884186.   —    K,    BCieher,    Zwei 


mittelalterliche    ^Verordnungen,    in:     Kleinere 
Beiträge   zur  Geschichte  (Festschrift  zum  Uisto- 
rikertage  in  Leipzig),   Leipzig  1894»  —  Ä*rlc- 
liardt,    Das  weimarische  Gru7idbuch,  Jahrb.  /. 
Not.  65.  —  Chr,  d'Elvert,  Zur  österreichischen 
FtTianzgeschichle,   mit  besonderer  Rücksicht  curf 
die  böhmischen  Länder,  Brunn  1881.  —  Franke, 
Das  rote   Buch  von    Weimar,    Gotha    1891.  — 
Grossmann,    Ueber  die  gutsherrlich-bäuerUchen 
Rechtsverhältnisse     in    der    Mark    Brandenburg 
vom  16.    bis  18.  Jahrhundert,   Leipzig   1890.  — 
Orünberg,    Die    Bauernbefreiung  in   Böhmen, 
Mähren  und  Schlesien,  2  Bde.,  Leipzig  1894'  — 
G,  Hanssen,  Deut  Amt  Bordesholm  im  Herzog' 
lAim  Holstein,  Kiel  I84S.  —  J.  Härtung,  Die 
Augsburgische  Vermögenssteuer  und  die  Enttcicke- 
lung  der  Besitzverhältnisse  im  16.  Jahrh.,  Jahrb. 
f.    Ges.    und    Vena.    19—22,    S.    867Jf.    —    B, 
Hildebrand,    Die     Vermögenssteuer    und    die 
Steuerverfassung  in  Althessen   während   des   16. 
und  17.   Jahrh.,    und    die    aus   der'  Vermögens' 
Steuer     Hessens     hervorgegangene     Grundsteuer, 
Jahrb.  f.  Not.  u.  Stat.25  (vergl.  hierzu  auch  Schanz, 
Finanzarchiv  2,    S.    2S6).    —    L,,    Hoffmann, 
Geschichte  der  direkten  Steuern  in  Bayern  vorn 
Ende    des  18.  bis  zum  Beginn   de^   19.   Jahrh,, 
Leipzig  1883.  —  X.  A.  Kiefer,    Steuern,  Ab- 
gaben und  Gefälle  in  der  ehemaligen  Grafschaft 
Hanau- Lichtenberg ,    Strassburg   i.    E.    1891.  — 
Th.    Knapp,    Die    vormalige     Verfassung    der 
Landorte     des    jetzigen     Oberamts     Heilbronn. 
Württembergische  Jahrbücher  für   Statistik   und 
Landeskunde,     Jahrgang     1899,      Heß     1.     — 
K,    G,    KHes,    Historische    Entwickelung    der 
Steuerverfassung    in   Schlesien  unter   Teilnahme 
der  aUgemeinen  Landtagsversammlungen,  Breslau 
18 42.    —   A,    Meli,    Die    Lage    des    steirischen 
Vnterthanenstandes    seit    Beginn     der     neueren 
Zeit   bis    in   die  Mitte   des  17.  Jahrh.,   Weimar 
1896.  —  JP.    Vrhr,   v,    MLensi,    Die   Finanzen 
Oesterrdchs  von  1701    bis   1740,  Wi^m  1890.  — 
W.  Metterhausen,  Die  direkten  Landcsstetiem 
im    Gross  her  zogtum    Mecklenburg- Schwerin     seit 
dem    landesgrundgesetzlichen    Erbvergleich    vom 
18.  IV.  1755,    Marburger  Dissertation   von  1894' 

—  Meyer,  Das  Winsener  Schatzregister,  Lüne- 
burg 1891.  —  Just/iis  Moser,  Sind  die  Gemein- 
heiten nach  geschehener  Teilung  mit  Steuern  zu 
zu  belegen  oder  nicht  f  Patriotische  Phantaj^ien 
II,  Berlin  1778,  S.  192 ff.  —  Fetsker,  Zur 
Sozialgeschichte  Böhmens,  Zeitschr.  f.  Sozial-  u. 
Wirtschaftsgeschichte,  Bd.  5,  Weimar  1897.  —  G.  v. 
Petersdorff,  Steuerwe^en  der  Mark  im  30 jähr. 
Kriege,  Forschungen  zur  brandenburgischen  und 
preussischen  Geschichte  II,  S.  2,iff.,  Leipzig  1S89. 

—  F.  Bachfahl,  Die  Organisation  der  Ge- 
samtstaatsvenvaltung  Schlemens  vor  dem  SOfähr. 
Kriege,  Leipzig  I894.  —  Riezler,  Geschichte 
Bayerns,  Bd.  III,  Gotha  18S9.  —  Röscher, 
SysUm  IV,  ^  79 ff.-- F.  Schäfer,  WirtschafU- 
und  Mnanzgeschichte  der  Reichsstadt  Ueherlingcn 
in  den  Jahren  1550—1628,  Breslau  189^.  — 
G,  H,  Schmidt,  Zur  Agrargeschichte  Litbecks 
und  Ostholsteins,  Zürich  1887.  —  G.  Schmoller, 
Die  Epochen  der  preussischen  Fi^ianzpolitik, 
Jahrb.  f.  Ges.  und  Vene.  1.  —  Derselbe,  Die 
Verwaltung  Ostpreussens  unter  Friedrich  Wil- 
helm I.,  ITistor.  Zeitschr.,  Bd.  SO.  —  Wieder 
abgedruckt  in:  Umrisse  und  Untersuchungen, 
Leipzig  1899.  —  Cr.  Schönberg,  Finanz  Ver- 
hältnisse der  Stadt  Basel  im  14-  und  15.  Jahrh., 


Grundsteuer  in  älterer  Zeit — Guicciardini 


925 


Tübingen  1879.  —  E.  O.  Schulze,  Die  Koloni- 
»ierung  und  Gemianiaierwig  der  Gebiete  ncischen 
Saale  und  Elbe,  Leipzig  1896.  —  v,  Sparre, 
Geschichtliche  Darstellung  der  Grundeigentums' 
und  der  Grtmdsteuerverfassvjig  des  Kreises 
Wetzlar,  Jahrbücher  f.  d.  preuss.  Gesetzgebung 
(herausg.  von  v.  Kampiz),  Bd.  49,  S.  111  jf.  — 
Stieda,  SUidtische  Finanzen  im  Mittelalter, 
Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.  72.  —  jF.  Thudtchuntt 
Rechtsgeschichte    der  Wetterau,  Tübingen  1867 ff. 

—  A,  Tille  t  Die  bäuerliche  Wirtschaftsver- 
fassu7ig  des  Vintschgaues  vornehmlich  in  der 
zuteilen  Hälfte  des  Mittelalters,  Innsbruck  1895 
(vergl.  dazu  lii.  Cbl.  1896,  Sp.  45).  —  A,  x\ 
Transehe-Hoseneckf  Gutsherr  und  Bauer  in 
Livland  im  17.  und  18.  Jahrh.,  Strassburg  1890. 

—  Ad.  Wagner,  Finanzwissenschaft,  S.  Teil, 
1.  Heft  (Steuergeschichte) ,  Leipzig  1886.  —  F. 
Walter,  Das  alte  Erzstift  und  die  Reichsstadt 
Köln  (S.  195  ff.),  Bonn  1866.  —  E.  Werunsky, 
Oesterr eichische  Reichs-  und  Rechtsgeschichte, 
Wien  1896.  —  W,  Wittich,  Die  Grundherr- 
Schaft  in  Nordicestdeutschland,  Leipzig  1896.  — 
Zalerzewski,  Die  wichtigeren  preussischen  Re- 
formen der  direkten  ländlichen  Steuern  im  18. 
Jahrh.,  Leipzig  1887.  —  Im  Vorstehenden  ist 
nur  eine  Auswahl  der  hier  in  Betracht  kommen- 
den Liiteratur  gegeben.  Wollte  man  rollständige 
Angaben  mxichen,  so  würde  der  grösste  Teil  der 
gesamten  ortsgeschichtlichen  Litteratur  zu  nennen 
sein.  Zu  verweisen  ist  hier  aber  noch  auf  die 
Artikel  Finanzen,  JTufenschoss,  Kon- 
tribution,  Steuer. 

Q.  V,  Below. 


Grnndstücke,  ZusammenlegiiDg 
derselben 

s.  Zusammenlegung  der 
Grundstücke. 


Gründung 

s.  Aktiengesellschaften    oben   Bd.  I 

S.  143ff.  und  Emissionsgeschäft 

Bd.  ni  S.  602  ff. 


Gruppenakkord 

8.  Arbeitslohn  oben  Bd.  I  S.  863ff. 


Guerry,  Andr6  Michel, 

geboren  1802  in  Tours,  war  Advokat  am  Cour 
royale  in  Paris  und  starb  1867  in  Paris,  als 
korrespondierendes  Mitglied  der  französischen 
Akademie  sowie  Ehrenmitglied  der  Statistical 
Society  in  London. 

Guerry  abstrahiert  bei  seinen  moralstatisti- 
schen Untersuchungen  von  dem  a  priori  in 
jedem  gesellschaftlichen  Verbände  wurzelnden 
Hange  zum  Verbrechen  und  entwickelt  nur  aus 
den  gesammelten  kriminalstatistischen  Daten 
die  antisittlichen  Gravitation.spunkte  der  staat- 
lichen Gemeinschaften.  In  der  Moralstatistik 
sieht  er  eine  Unterabteilung  der  Kulturge- 
schichte zur  Bestimmung  der  kulturhistorischen 
Konstanten,   und  unter   analytischer  Statistik 


begreift   er   diejenigen   sozialstatistischen   Be- 
gnflfsgesetze,  mit  denen  die  spekulative  Ethik' 
experimentiert.    Guerry  bediente  sich  noch  vor 
Quetelet  der  Bezeichnung  „statistique  m orale" 
für  diesen  Zweig  der  statistischen  Wissenschaft. 

Guerry  veröffentlichte  von  Staats  wissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform: 

Essai  sur  la  statistique  morale  de  la  France. 
Preced6  d*un  rapport  a  l'Academie  des  sciences, 
par  MM.  Lacroix,  Silvestre  et  Girard,  Paris  1833 
(mit  dem  Preis  Montyon  ausgezeichnete  Arbeit). 
—  Statistique  morale  de  l'Anffleterre  compar^e 
avec  la  statidtique  morale  de  la  France,  d'apres 
les  comptes  de  Tad  minist  rat  ion  de  la  justice 
criminelle  en  Angleterre  et  en  France;  les 
comptes  de  la  police  de  Londres,  de  Liverpool, 
de  Manchester  etc.,  les  proc^s-verbaux  de  la 
cour  criminelle  centrale  et  divers  autres  docu- 
ments  administratifs  et  judiciaires.  Atlas  (17 
cartes  et  constructions  graphiques)  representant 
les  resultats  generaux  des  tableaux  num6riques, 
Paris  (gr.  Folio)  1860  (dieser  Arbeit  wurde 
ebenfalls  der  Preis  Montyon  zuerkannt);  das- 
selbe 2.  Aufl.  ebenda  1864. 

Gemeinsam  mit  dem  Italiener  Balbi  ver- 
öffentlichte er :  Statistique  compar6  de  Tetat  de 
'rinstruction  et  du  nombre  des  crimes  dans  les 
divers  arrondissements  des  cours  royales  et  des 
academies  universitaires  de  France,  Paris  1829. 

Vgl.  über  Guerry:  Quetelet,  Sur 
l'homme  etc.,  Bd.  II,  Brüssel  ia%,  S.  261.  — 
Messedaglia,  Kelazione  critica  suir  opera 
di  Guerry,  negli  atti  dell'  Istituto  veneto,  Ve- 
nedig 1865.  —  H.  Diard,  Statistique  morale 
de  1 'Angleterre  etc.  par  Guerry.  Etudes  sur 
cet  ouvrage,  Tours  1866.  —  Guerry,  Notice  of 
his  death,  etc.  (in  Journal  of  the  Statistical 
Society,  Bd.  XXXI,  London  1868,  S.  123.  —  G. 
F.  Knapp,  Quetelet  als  Theoretiker  (in  „Jahrb. 
für  Nat.  u.  Stat.«,  Bd.  XVIII),  Jena  1872,  S. 
91  ff.  —  John,  Geschichte  der  Statistik,  Bd.  I, 
Stuttgart  1884,  S.  367ff.  —  Gabaglio,  Teoria 
generale  della  statistica,  Bd.  I,  Mailand  1888, 
S.  180  ff. 

Lippert, 


Guicciardini^  Francesco^ 

geboren  am  6.  III.  1482  in  Florenz.  Nach  be- 
endig[tem  Studium  der  Rechte  wurde  er  1505 
in  seiner  Vaterstadt  Professor  der  Rechte,  dann 
1509  Advokat  des  florentinischen  Kapitels  und 
1512  Gesandter  am  Hofe  König  Ferdinands  von 
Aragonien.  Papst  Leo  X.  ernannte  ihn  1516 
zum  Statthalter  von  Modena  und  Papst  Cle- 
mens VII.,  1523,  zum  Gouverneur  der  Romagna. 
Von  1526  ab  gehörte  seine  staatsmännische 
Thätigkeit  fast  ausschliesslich  dem  wechsel- 
vollen Schicksal  der  Republik  Florenz.  Seiner 
Politik,  welche  die  Erhaltung  der  aristokratisch- 
konservativen Partei  der  Optimaten  mit  der 
Befestigung  der  nominellen  Herrschaft  der  Me- 
dici  über  Florenz  zu  vereinigen  suchte,  ver- 
dankte Guicciardini  die  Ungnade  des  Medicäers 
Cosimo,  nach  dessen  Erhebung  zum  Herzog  von 
Florenz,  wegen  der  von  Guicciardini  bewirkten 
Beschränkungen  der  Souveränität  Cosimos  durch 
die  Regierungsgewalt  der  Optimaten.  Guicci- 
ardini starb  am  17.  V.  1540,  angeblich  an  einem 


926 


Giücciardini — Gut 


Fieber,  thatsächlich  durch  Selbstmord  auf  seiner 
'Villa  zu  Arcetri  bei  Florenz. 

Guicciardinis  Schriften  traten  erst  nach 
seinem  Tode  an  die  Oeffentlichkeit  und  zwar  1. 
das  mit  den  Staatswissenschaften  nur  in  losem 
Zusammenhange  stehende  grosse  Geschichts- 
werk: La  historia  d'ltalia,  editio  princeps, 
Florenz,  L.  Torrentino,  1561,  wovon  in  den 
Jahren  1565—1844  von  den  verschiedensten 
Herausgebern  16  Ausgaben  und  11  lateinische, 
spanische,  französische,  englische,  holländische 
und  deutsche  Uebersetzungen  erschienen.  Fort- 
setzungen des  Guicciardinischen  Geschichts- 
werkes ,  das  die  Jahre  1494 — 1532  umfasst, 
lieferten  J.  B.  Adriani  (Florenz  1583)  und  Carlo 
Botta  in  Storia  d'ltalia,  continuata  da  quella 
del  Guicciardini,  sine  al  1789,  15  Bde.,  Paris 
1832.  (Die  manni^achen  Schwächen  der  historia 
d'ltalia  Guicciardinis  sind  hauptsächlich  durch 
Eanke  [s.  unten]  aufgedeckt,  seine  Vorzüge  be- 
stehen im  wesentlichen  in  den  geistvollen,  an 
wichtige  Daten  zu  deren  Erläuterung  an- 
knüpfenden Diskursen).  Die  vollständige  Ver- 
öffentlichung seines  ferneren  handschriftlichen 
Nachlasses  ist  erst  in  neuerer  Zeit  erfolgt  in 
2.  dem  Werke:  Opere  inedite  di  Francesco 
Guicciardini,  illustrati  da  G.  Canestrini  e  pub-- 
blicate  per  cura  dei  conti  P.  e  L.  Guicciardini, 
10  Bde.,  Florenz  1857—1867.  Abhandlungen 
Staats  wissenschaftlichen  Charakters  wären  da- 
raus anzuführen:  a)  Eelazione  di  Spagna  (in 
Form  eines  Gesandtschaftsberichts  geographisch- 
demographisch-kulturgeschichtliche  Schilderung 
des  damaligen  Spaniens,  insbesondere  Aragons 
und  Kastiliens,  mit  Bemerkungen  über  Bevölke- 
rung, Auswanderung,  Pauperismus  etc.).  —  b) 
La  presidenza  della  Romagna  ossia  carteggio 
tenuto  dal  Guicciardini  deputato  al  govemo  di 
quelle  provincia  da  demente  VlI.,  1524—25.  — 
c)  Del  reggimeuto  di  Firenze,  c.  1526.  (Guicci- 
ardini tritt  in  dieser  Schrift  für  die  gerechte 
Verteilung  der  Steuerlasten  ein  und  entscheidet 
sich,  davon  ausgehend,  dass  die  Immobiliensteuer 
wohl  für  Ortschaften  mit  grossem  Grundbesitz, 
nicht  aber  für  das  florentinische  Gemeinwesen, 
des  geringen  Ertrages  wegen,  §:enüge,  für  das 
Ausgleichsverfahren,  den  Immobiliars  teuerer  trag 
durch  indirekte  Abgaben  von  den  Hauptkonsum- 
artikeln (Mehl  und  Salz)  der  Florentiner  zu  er- 
höhen. Die  Bemessungsgrundlage  der  dortigeji  Im- 
mobiliarsteuer  wechselte  übrigens  jß  nach  der  ße- 
^erungsform,  und  sobald  die  Demokraten  am 
Kuder  waren,  erhoben  sie  Progressivsteuern  von 
den  grossen  Immobilien  vermögen.)    Guicciardini 

fiebt  in  den  zwei  Reden:  d)  Delle  imposte  (di 
irenze)  c.  1537  und  La  decima  scalata,  c.  1538), 
nach  eingehender  Untersuchung  der  Vorzüge 
und  Nachteile  der  Progressivsteuer,  nicht  dieser, 
sondern  der  Proportionalstener  den  Vorzug. 

Schliesslich  ist  in  Bezug  auf  sein  freiwilliges 
Ende  auf  die  Abhandlung  in  Bd.  X  des  Nach- 
lasses hinzuweisen:  Del  suicidio  par  ragione  di 
libertä  o  di  servitu.  — 


Vgl.  über  Guicciardini:  seine  Autobio- 
graphie in  Bd.  X  der  Opere  inedite  unter  dem 
Titel:  Ricordi  autobiografici  e  di  famiglia  (bis 
1531  reichend.  —  L.  v.  Porcacchi,  Vita  di 
Guicciardini,  Venedig  1573.  —  Remigius 
(Florentiner  Mönch),  Vita  di  Guicciardini,  Ve- 


nedig 1592.  —  Manni,  Vita  del  Guicciardini, 
Venedig  1738.  —  K.  L.  v.  Woltmann,  Ge- 
schichte und  Politik,  Bd.  II,  Beriin  1802,  S. 
346  ff.  —  Rosini,  Saggio  sul  Guicciardini, 
Pisa  1819.  —  P.  Pozzetti,  Opuscoli  letterati 
di  Bologna,  Bd.  III,  Bologna  1820.  —  Segni, 
Vita  da  Capponi,  Mailand  1834,  S.  208  ff.  — 
Derselbe,  Storie  fiorentine,  ebenda  1834, 
Buch  8.  —  V.  Reumont,  Italienische  Diplo- 
maten bis  1850  (Raumers  histor.  Taschenbuch, 
Jahry.  1841),  Leipzig  1841.  —  Montaigne, 
Essais,  Paris  1843,  Such  II,  Kapitel  10.  —  E. 
Benoist,  Etüde  sur  Guichardin,  historien  et 
homme  d*Etat  Italien,  Marseille  1862.  —  v. 
Reumont,  Geschichte  Toskanas,  Bd.  I,  Leipzig 
1876.  —  Capponi,  Geschichte  der  floreutim- 
schen  Republik,  deutsch  von  Dütschke,  Bd.  II, 
Leipzig  1876.  —  Er  seh  und  Gruber,  Ency- 
klopädie,  I.  Sektion,  Teil  96  (Verfasser  R.  Pall- 
mann),  Leipzig  1877,  S.  Ö49ff.  —  Gioda, 
Guicciardini  e  le  sue  opere  inedite,  Mailand 
1880.  —  L.  V.  Ranke,  Geschichte  der  romani- 
schen und  germanischen  Völker  von  1494—1533, 
Bd.  I,  3.  Aufl.,  Leipzig  1885.  —  Derselbe, 
Zur  Kritik  neuerer  Geschichtschreiber,  3.  Aufl., 
Leipzig  1885. 

Llppevt 


6at. 

1.  Begriff.     2.   Die   wichtigsten  Erschei- 
nungen. 

1.  ßegriff.  Der  Nationalökonom  spricht 
vom  Gute  in  einem  anderen  Sinne  als  der 
Philosoph,  der  das  »höchste  Gute  sucht, 
oder  der  Dichter,  der  die  ^> Güter  des  Lebens« 
besingt.  Diese  meinen  die  Zustände  be- 
friedigten Daseins,  die  Zwecke  oder  Ziele 
des  Lebens,  jener  die  Mittel,  die  dahin 
führen,  die  »Mittel  der  Bedürfnisbefriedi- 
gung«. Die  Verbindung  beider  Begriffe  wird 
dadurch  hergestellt,  dass  die  »Mittel  der 
Bedürfnisbefriedigung«,  insoweit  sie  der 
Wirtschaft  zugehören,  ihrerseits  Zwecke  oder 
Ziele  der  Wirtschaft  sind. 

Es  gehört  zu  den  notwendigsten,  müh- 
samsten* und  undankbarsten  Aufgaben  der 
Volkswirtschaftslehre,  die  dem  allgemeinen 
Sprachgebrauche  entnommenen  Grundbe- 
griffe der  Wirtschaft  und  namentlich  auch 
den  des  Gutes  für  den  wissenschaftlichen 
Gebrauch  auszubilden.  Ohne  ilass  mau  auf- 
hören darf,  und  zwar  im  Sinne  des  feinsten 
Sprachgefühles  gemeinverständlich  zu  bleiben, 
muss  man  doch  gerade  die  wissenschaftlich 
belangreichen  Merkmale  hers'orkehreo,  und 
dies  schon  zu  einer  Zeit,  wo  die  AVissen- 
schaft  noch  nicht  genügend  gereift  ist.  um 
zu  erkennen,  was  immer  erst  zum  Sclilusse 
erkannt  werden  kann,  welches  die  belang- 
reichen Grundbeziehungon  sind.  Es  ist  fast 
unmöglich,  nicht  scholastisch  noch  dialektisch 
zu  werden. 

Der    Begriff    des    Gutes    (welcher   der 


Gut 


927 


deutschen  Nationalökonomie  vorzugsweise 
eigen  ist)  ist  auch  heute  wissenschaftlich 
noch  nicht  vollends  fest  geworden.  Im 
ranzen  stimmt  man  jedoch,  indem  man  die 
Güter  als  Mittel  der  Bediirfnisbefriedigimg 
erklärt,  dahin  überein,  ihn  auf  den  Begiiff 
des  Bedürfnisses  aufzubauen .  Bedürfnis 
wird  dabei  ausserordentlich  weit  gefasst,  es 
mnfasst  jede  Lust,  die  befriedigt,  jede  Un- 
lust, die  abgewehrt  werden  soll.  Nicht  bloss 
die  leibliehen,  sondern  auch  die  geistigen 
und  gemütlichen,  nicht  bloss  die  diinglichen, 
sondern  auch  die  entbehrlichen  und  launen- 
liaften,  nicht  bloss  die  erlaubten,  sondern 
auch  die  unerlaubten  Kegungen  sind  gemeint. 
Ganz  entsprechend  geht  der  Begriff  der 
Nützlichkeit  und  des  Nutzens.  Alles, 
wodurch  ein  Bedürfnis  befriedigt  weitlen 
kann,  ist  nützlich  und  giebt  Nutzen,  auch 
das  Notwendige,  das  Schöne,  das  Erliabene 
oder  das  Spielzeug  des  übersättigten  Luxus. 

Ferner  stimmt  man  wohl  darin  überein, 
nur  solche  Mittel  der  Bedürfnisbefriedigung 
als  Güter  zu  erklären,  deren  Nützlichkeit  er- 
kannt ist  Es  schlägt  hierbei  die  Anschauung 
durch,  dass  die  Guter  Zwecke  oder  Ziele  der 
Wirtschaft  seien,  die  sich  doch  nur  auf  die 
uns  bekannten  Mittel  der  Wohlfahrt  richten 
kann.  Die  in  der  Natiu*  vorbereiteten,  aber 
von  den  Menschen  noch  nicht  aufgefundenen 
Wohlfcihrtsmittel  kann  man  latente  Güter 
nennen.  Endlich  stimmt  man  wohl  noch  so 
ziemlich  darin  überein,  dass  man  Gut  nicht 
nennen  kann,  was  ganz  ausserlialb  des  Macht- 
bereiches der  Wirtschaft  ist,  wie  etwa  die 
Sonne  u.  s.  f.  Auch  hier  schlägt  dieselbe 
Anschauung  durch,  die  die  Güter  als  Ziele 
der  Wirtschaft  nimmt.  In  allen  übrigen 
Punkten  bestehen  entweder  grundsätzliche 
Meinungsverschiedenheiten,  oder  ist  doch 
über  die  genauen  Abgi-enzungen  keine  IJeber- 
einstimmung.  Es  handelt  sich  hauptsächlich 
um  folgendes: 

1.  Es  giebt  mancherlei  nützliche  Dinge, 
die  wir  wahrnehmen,  ergreifen  und  ver- 
wenden, auf  die  sich  aber  unsere  Wirtschaft 
dennoch  nicht  richtet;  nämlich  alle  diejenigen, 
die  die  Natur  uns  in  einem  freien  Ueber- 
fluss  zu  teil  werden  lässt,  so  dass  jedermann 
sie  nach  seinem  Belieben  haben  kann,  wie 
etwa  Wasser  an  manchen  Orten  u.  s.  f.  Der- 
artige Güter  nennt  man  in  der  deutschen 
Nationalökonomie  freie  Güter.  Sie  werden 
genossen,  soweit  man  ihrer  bedarf,  und  auch 
sonst  wirtschaftlich  verwendet,  namentlich 
auch  bei  der  Erzeugung  anderer  Güter  (die 
Luft  als  Triebkraft),  aber  .sie  werden  nicht 
im  strengen  Sinne  bewirtschaftet,  man  er- 
greift an  ihnen  nicht  Eigentum,  sie  werden 
nicht  aufbewahrt,  nicht  gespart,  nicht  er- 
zeugt, nicht  gekauft,  so  wie  die  anderen 
Güter,  die  man  deshalb  als  wirtschaftliche 
bezeichnet  und   ihnen  gegenüberstellt.    Die 


meisten  Sdiriftsteller  definieren  das  Gut 
so,  dass  freie  und  wir'tseliaftliche  Güter  ein- 
geschlossen sind.  Es  wird  jedodi  auch  die 
gegenteilige  Ansicht  vertreten,  dass  nur  wirt- 
scliaftliche  Güter  Güter  zu  nennen  seien. 

2.  Neben  den  Gütern,  die  unmittelbar 
dem  Bedürfnisse  dienen,  wie  die  Nahrungs- 
mittel u.  s.  f.,  giebt  es  eine  überaus  grosse 
Anzahl  von  anderen,  die  demselben  nm* 
mittelbar  dienen,  dadiu*ch,  dass  sie  den  Er- 
werb jener  ersten  ermöglichen.  Auch  der 
Acker,  die  Maschine,  der  Rohstoff,  das  Geld 
sind  Güter.  In  diesem  Sinne  unterscheidet 
man  Gebrauchsgüter,  Genussgüter  von  den 
Produktivgütern,  Erwerbsgütern.  Die  Aus- 
dehnung des  Gutsbegriffes  auf  die  letzteren 
ist  theoretisch  von  grösstem  Belange.  Sind 
schon  die  gemeinen  Begriffe  von  v  ermögen 
und  Reichtum  so  weit  gefasst,  dass  sie  auch 
die  Erwerbsgüter  umschliessen,  bezeugt  also 
schon  das  gemeine  Urteil,  dass  Gebrauchs- 
und Erwerbsgüter  für  die  grundsätzliche 
Betrachtung  zusammengehören,  so  hätten 
sich  die  theoretischen  Aufgaben,  zumal  der 
Erklärung  des  Wertes  der  Güter,  niemals 
ohne  diese  Weite  der  Auffassung  erledigen 
lassen. 

Neben  dem  Begriffe  der  Produktivgüler 
wird  in  zahlreichen  volkswirtschaftlichen 
Werken  der  der  »Produktivfaktoren«  fest- 
gehalten, ohne  dass  die  Beziehung  beider 
hinlänglich  ins  Klare  gestellt  worden  wäre. 
3Ian  bezeichnet  Land,  Kapital  und  Arbeit 
als  die  drei  Produktivfaktoren,  man  nennt 
aber  ausser  ihnen  noch  manche  andere, 
namentlich  auch  moralische  und  gesellschaft- 
liche. Zum  Teil  im  gleichen  Sinne,  zum 
Teil  allerdings  abweichend  spricht  man  von 
den  natürlichen,  geistigen,  gesellschaftlichen 
»Bedingungen«  der  Produktion  wie  der 
Wirtschaft  überhaupt.  Eine  strengere  Be- 
griffsbildung thut  hier  dringend  not.  Der 
Begriff  der  Produktivgüter  dürfte  etwas 
mehr  eingeschränkt  werden  müssen,  als  es- 
z.  B.  von  solchen  Schriftstellern  geschieht, 
die  die  »Natur«,  den  »Staat«  unter  sie 
i*echnen.  Im  Sprachgebrauche  schlägt  die 
Anschauung,  die  die  Güter  als  Zwecke  und 
Ziele  der  Wirtschaft  nimmt,  wie  schon  oben 
gezeigt  wurde,  so  sehr  durch,  dass  doch  niu* 
das  als  Gut  bezeichnet  werden  kann,  was 
mit  wirtschaftlichen  Mitteln  be- 
herrschbar ist.  Was  dagegen  so  mächtig 
ist,  dass  es  seinerseits  die  Wirtschaft  be- 
herrscht, kann  nicht  mehr  Gut  genannt 
werden,  so  fördernd  es  auch  in  die  Wirt- 
schaft eingreifen  mag.  Um  auch  von  sol- 
chen Mächten  sprechen  zu  können,  mag  der 
(lehnbarere  Begriff  der  Produktivfaktoren  — 
oder  auch  der  Wirtschaftsfaktoren  —  wie 
der  noch  weitere  der  Bedingungen  von 
Produktion  und  Wirtschaft  dienen. 

3.  Eine  der  weitläufigsten  und  uuerriuick- 


928  Gut 

lichßten  Streitsachen  in  unserer  Wissenschaft  j  denen  jede  Betrachtung  der  Wirtschaft  be- 
gilt der  Frage,  ob  man  nur  materielle,  i  ginnt  und  denen  zuwider  keine  zur  Geltung 
äussere,  Sachgüter  oder  auch  immaterielle]  kommen  könnte. 

Güter  anzuerkennen  habe ;  zumal  ob  die  |  4.  Im  Verkehre  kauft  und  verkauft  man 
menschliche  Arbeit  ein  Gut  sei,'  Ein  grosser  i  nicht  nur  körperliche  Sachen,  sondern  auch 
Teil  der  hierbei  früher  gebrauchten  Beweis- 1  »Rechte«,  z.  B.  Servituten,  Geldforderungen, 
gründe  ist  heute  wohl  beweisunkräftig  ge- 1  und  man  zählt  diese  mit  den  körperliclien 
worden  und  braucht  nicht  weiter  berührt  j  Sachen  zusammen  ins  Vermögen ;  ähnlich 
zu  werden.  Man  hatte  noch  zu  wenig  wirt-  I  werden  auch  manche  sogenannte  Verhält- 
schaftliche  Begriffe  gewonnen  und  wollte  i  nisse,  wie  z.  B.  die  Kundschaft  eines  Qe- 
tmter  diese  den  ganzen  Reichtum  der  wirt-  schäftsmannes,  behandelt.  Es  ist  daher  ge- 
scliaftlichen  Thatsachen  unterbringen,  was  |  sagt  worden,  »Rechte«  und  »Verhält- 
ohne  Zwang  nicht  gehen  konnte.  nisse«    seien   gleichfalls  Güter,   allerdings 

Dafür,  die  Arbeit  als  Gut  zu  bezeichnen, ,  nur  im  Sinne  des  Individuums,  der  Privat- 
spricht, dass  sie  einer  der  wichtigsten  Fak-  i  Wirtschaft,  während  sie  für  die  Volkswirt- 
toi*en  der  Produktion  und  der  Wirtschaft ;  schaft  und  vollends  für  die  Weltwirtschaft 
ist  und  dass  sie  bis  zu  einem  weiten  Masse  i  nicht  in  Betracht  kämen,  indem  für  diese 
»bewirtschaftet«  wird.  Man  muss  die  Ver- 1  der  Kreis  der  Güter  mit  den  nützlichen 
Wendung  der  Arbeit,  und  nicht  bloss  die ,  Sachen  ersch()pft  sei.  Richtiger  dürfte  der 
der  fremden,  sondern  auch  die  der  eigenen,  |  Gegensatz  etwas  anders  zu  fassen  sein, 
wirtschaftlich  überlegen,  wie  die  Ver- 1  Man  hat  in  der  praktischen  Wirtschaft  nicht 
Wendung  eines  Sachgutes,  z.  B.  einer  Ma-  i  immer  die  »ganze«  Sache  im  Auge,  z.  B. 
schine.  Man  mus§  den  Wert  der  Arbeit,  i  nicht  das  ganze  Grundstück,  sondern  niu: 
und  wiederum  nicht  bloss  den  der  fremden, ,  einen  gewissen  Dienst  derselben,  z.  B.  als 
sondern  ebenso  den  der  eigenen,  so  sti-enge  Wegeverbindung.  Man  operiert  dann  mit 
abschätzen  wie  den  irgend  eines  Sachgutes. ,  »Gutsteilen«  oder  »Teilgütern«.  Güter 
Man  kauft  sogar  Arbeit  wie  eine  Ware,  und ,  können  entweder  körperlich  geteilt  werden, 
nicht  bloss  die  des  Sklaven,  sondern  auch ,  in  Stücke,  oder  sie  können  ideell  zwischen 
die  des  freien,  geachteten  Mannes.  ,  Miteigentümer   zu   gleichem  Rechte   geteilt 

Dagegen  ist  zu  bedenken,  dass  ein  Gut ,  werden ;  oder  aber,  und  das  interessiert  uns 
uns  ein  llittel  unserer  Zwecke  ist,  genauer  hier,  auch  so,  dass  ihr  Nutzgehalt  geteilt 
ein  blosses  Mittel,  das  will  sagen:  eine  Sache.  I  wird,  indem  z.  B.  einer,  der  Servitutbe- 
Die  Arbeit  wird  von  uns,  mit  Recht,  bis  zu  |  rechtigte,  die  Wegebenutzung,  die  Weide 
einem  weiten  blasse  in  der  Wirtschaft  vsach- .  u.  s.  f.  erhält,  ein  anderer,  der  Eigentümer, 
lieh  angesehen,  als  Mittel  unserer  Zwecke,  |  alles  Uebrige.  Bei  Geldfordenmgen  ist  die 
das    wir   mit   nüchterner  Klugheit   zu  ver- i  Teilung  zeitlich  gemacht :  einer,  der  Schuld- 


wenden liaben;  aber  sie  darf  doch  nicht 
durchaus  sachlich  angesehen  werden,  sie  ist 
und  bleibt  ein  persimliches  Ereignis,  dem 
gegenüber   auch   das    (lefühl    seine   Rechte 


ner,  darf  mit  dem  Gelde  bis  ziun  Fälligkeits- 
termine operieren,  nachher  fällt  es  wieder 
für  alle  Zukimft  der  Verfügimg  des  Gläu- 
bigers zu.    Während  der  Servitutsberechtigte 


und  Pflichten  hat.  jVIan  kann  sprachrichtig :  aber  sich  sein  »Teilrecht«  als  Vermögens- 
doch  nur  sagen,  die  Arbeit  gelte  in  vielen  I  gegenständ  anrechnet,  rechnet  sich  der 
Beziehungen  wie  ein  Gut,  aber  nicht  sie  |  Eigentümer  der  servitutpflichtigen  Sache 
sei  schlechthin  ein  Gut.  Das  beste  Zeugnis  zunächst  die  ganze  Sache  an,  bringt  aber 
für  das  Sprachgefühl,  das  in  diesem  Punkte ,  davon  die  Servitut  als  Last  in  Abzug, 
geradezu  von  sittlicher  Feinfühligkeit  ist.  Ebenso  rechnet  sich  der  Gläubiger  das 
geben  diejenigen  Schriftsteller,   die  —  wie  Fordemngsrecht  an,  der  Schuldner  dagegen 


es   der   Verfasser   dieses   Aufsatzes    bisher 


die  Sache  (die  Geldsumme  oder  was  an  ihre 


selbst  gethan  hat  —  die  Arbeit  als  Gut  er-  Stelle  getreten  ist  das  Aktivum),  bringt 
klären.  Keiner  von  ihnen  vermag  in  Wahr- >  aber  den  Forderungsbetrag  als  Schuld, 
heit  diesen  seinen  Begriff  folgerichtig  fest-! als  Pas sivum- in  Abzug.  So  entstehen  die 
zuhalten,  jeder  fällt  immer  wieder  in  den  I  verwickeltsten  Vermögensberechnungen  aus 
Sprachsinn  des  Wortes  zuriick.  Von  den  !  dem  Umstände,  dass  die  Wirtscliaft  die  Güter 
meisten  Schriftstellern  z.  B.  wird  der  Inhalt '  so  mannigfach  geteilt  erfasst. 
der  Volkswirtschaft  in  seinen  grossen  Zügen  '  Man  muss  daher  zwischen  »Gut«  und 
beschrieben  mit  den  Worten :  Erzeugung  der '  »Vermögensgegenstand«  unterscheiden  und 
»Crüter«,  Verteilung  der  »Güter«,  Verzehrung  I  sagen,  dass  die  Vermögen  teils  aus  Gütern 
der  »Güter«.  Welche  Aufgabe  ist  hierbei '  (ganzen  Sachen),  teils  aus  Güterteilen  (Rech- 
der  Arbeit  zugedacht?  Die  Arbeit  ist  hierlten,  Forderungen  u.  s.  f.)  bestehen.  Auch 
offenbar  gedacht  als  die  Macht,  mit  der  der  für  die  volks-  und  weltwirtschaftliche  Be- 
Mensch von  aussen  in  die  Welt  der  Güter  •  trachtung  ist  die  Thatsache  entscheidend, 
eingreift.  Mensch  und  Natur,  Arbeit  und  •  dass  die  Vermögen  infolge  der  mannigfachen 
Güter,  das  sind  die  Grundvorstellungon,  mit '  Formen  der  Güterteilung  mit  Rechten  und 


Gut 


929 


Lasten,  mit  Forderungen  und  Schulden  in- 
einander greifen. 

Wer  seine  »Kundschaft«  verkauft,  erhält 
die  Bezahlung  auf  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Erwerbes  künftiger  Qeschäftsgewinne, 
das  ist  künftiger  Güter  hin. 

Wie  mit  Güterteilen,  so  operiert  man 
anderei-seits    auch    mit    Gütergesamtheiten. 

2.  Die  wichtigsten  Erscheiniuigen. 
Nur  für  wenige  Bedürfnisse  lässt  die  Natur 
dem  Menschen  die  Befriedigungsmittel  in 
freiem  üeberfluss  zu  teU  werden;  für  die 
meisten  Bedürfnisse  findet  der  Mensch  ent- 
weder gar  kein  Befriedigungsmittel  fertig 
vorbereitet  oder  die  fertig  vorbereiteten  sind 
nicht  im  üeberfluss  da,  sondern  verstreut 
und  selten.  Wohl  aber  bietet  sich  überaus 
häufig  die  Möglichkeit,  was  felüt,  durch 
Arbeit  zu  beschaffen,  indem  die  Natur  die 
Keime  und  Rohstoffe,  die  Werkzeugmittel 
und  Kräfte  darbietet.  So  ist  durch  die  Art 
und  Weise  des  Gütervorkommens  der 
Mensch  auf  den  Weg  der  Produktion  ge- 
wiesen. Ausserdem  aber  sind  durch  die 
Art  und  Weise  des  Gütervorkommens  auch 
noch  die  gi'ossen '  Züge  der  Produktion  ge- 
wiesen, die  dieselbe  annehmen  muss,  wenn 
sie  gedeihen  soll.  Um  Befriedigimgsmittel 
zu  gewinnen,  muss  man  die  natürlichen 
Keime  gewisse  Verwandlungen  durchmachen 
lassen.  Um  zahkeiche,  gesicherte  und  ver- 
feinerte Befricdigungsmittel  zu  gewinnen, 
sind  überaus  mannigfache  Yerwandlimgs- 
prozesse  erfordert,  z.  B.  auch  solche,  die 
den  Genuss  bloss  in  entferntester  Weise 
vorbereiten,  indem  sie  ei'st  Strassen,  Fahr- 
zeuge, Werkzeuge  schaffen.  Güter,  die  auf 
einer  und  derselben  Verwandlungsstufe 
stehen,  kann  man  nun  in  eine  »Ordnung« 
zusammenfassen  und  die  sämtlichen  Güter 
somit  in  so  viele  Ordnungen  zerlegt  denken 
—  die  sich  übereinander  aufbauen  — ,  als 
es  Verwandlungsstufen  giebt.  Die  unmittel- 
baren Befriedigungsmittel  der  Bedürfnisse 
bilden  die  dem  Bediü-fnisse  nächste,  die 
erste  Ordnung;  je  weiter  zurück  im  Pro- 
duktionsprozesse man  auf  die  letzten  zur 
Wirksamkeit  gebrachten  Mittel  geht,  in  so 
entferntere  Ordnungen  der  Güter  gelangt 
man.  Es  lässt  sich  aber  das  Gesetz  be- 
haupten, dass  die  Produktion  um  so  er- 
giebiger ist,  je  mehr  Verwandlungsprozesse 
sie  die  Güterkeime  diu:chmachen  lässt  oder 
in  je  entferntere  Ordnungen  sie  zurückgreift. 
Dieses  Gesetz  beruht  wieder  auf  einem  Ge- 
setze des  Gütervorkommens,  nämlich  auf 
dem,  dass  die  Güterkeime  in  der  Natur 
zahlreicher  vorhanden  sind  als  die  zum  Ge- 
nüsse fertigen  Güter  und  dass  die  ent- 
fernteren Güterkeime  zahlreicher  sind  als 
die  näheren.  Die  Natur  ist  in  ihren  offenen 
Gaben,  in  den  nächsten  Ordmmgen  der 
Güter  am  kärgsten,  in  ihren  verdecktesten 


Schätzen,  in  den  entferntesten  Ordnungen 
am  freigebigsten. 

Derart  ist  der  Fortschritt  der  Produktion 
von  den  extensiven  Formen  zu  den  intensiven 
natürlich  begründet.  Es  ist  aber  noch  ein 
weiteres  Verhältnis  des  Giltervorkommens 
hervorzuheben,  durch  welches  die  Eutwicke- 
lung  der  produktiven  Technik  ebenso  mäch- 
tig beeinflusst  wird.  Die  Güter  bedingen 
sich  in  ihrer  Wirksamkeit  wechselseitig,  sie 
sind  »komplementär«.  "Ein  Gut  für  sich 
bewirkt  kerne  produktive  Veränderung,  es 
müssen  ihrer  mehrere  zusammengebracht 
werden,  abgesehen  davon,  dass  die  mensch- 
liche Arbeit  mit  verbunden  werden  muss. 
Die  wirksamsten  Produktionsprozesse  sind 
jedoch  diejenigen,  bei  denen  die  zahlreichsten 
Güter  zusammengebracht  werden.  Die  Pro- 
duktion im  grossen  erhält  hierdiwch  ihre 
technische  üeberlegenheit  über  die  Produk- 
tion im  kleinen.  Von  hier  aus  ist  der  Zug 
der  Produktion  zur  Koncentrierung  zu  er- 
klären, infolgedessen  auch  die  Produzenten 
zu  immer  innigeren  Vereinigungen  in  den 
wechselndsten  Formen  sich  angetrieben 
fühlen.  Die  Solidarität  der  A^Trtsclmftlichen 
Intei-essen  ist  die  Folge  der  Komplementarität 
der  Güter. 

Die  natürlichen  Befriedigungsmittel  sind 
zumeist  roh.  Die  Menschen  haben  sie  zu- 
meist selir  verfeinert  und  sie  haben  für  noch 
zahlrei(jhere  Bedürfnisse,  für  die  die  Natur 
überhaupt  unmittelbar  gar  nicht  vorgesorgt 
hatte,  erst  die  Güterformen  ersonnen.  So 
entstanden  neben  den  Naturgütern  die  Kul- 
turgüter. Auch  die  meisten  Produktiv- 
güter sind  Kulturgüter,  durch  Menschengeist 
ersonnen  und  von  Menschenhand  geformt. 

Der  menschliche  Güterbesitz  verdankt 
seine  Vemielirung  nicht  bloss  der  formenden 
Produktion,  er  nimmt  auch  zu  diu^ch  Ent- 
deckungen und  Erfindungen,  durch  welche 
latente  Güter  zu  wahrhaften  Gütern  werden 
mid  die  formende  Produktion  neue  Aufgaben 
erhält.  Vermöge  der  Komplementarität  der 
Güter  w^irkt  jede  neue  Entdeckung  und 
ebenso  jede  neue  Erw^erbung  auch  auf  die 
bessere  Ausnützung  der  altbesessenen  Güter 
hin.  Manche  Güter  haben  vorzugsweise  die 
Eigenschaft,  dadurch,  dass  sie  neu  in  den 
Besitz  hinzutreten,  die  bra(*hliegenden  kom- 
plementären Kräfte  anderer  zu  entbinden, 
z.  B.  Strassen  imd  Wege,  um  nur  das  ein- 
fachste Beispiel  zu  nennen.  Die  Arbeit  hat 
insbesondere  die  Kraft,  den  komplementären 
natürlichen  Reichtum  zu  wecken,  und  unter 
den  Ai'beiten  ist  es  wieder  die  leitende 
Arbeit  —  von  der  des  Entdeckers  abgesehen 
—  die  diese  Fähigkeit  am  stärksten  hat, 
wie  sie  ja  auch  erst  den  ganzen  Reichtum 
der  wirtschaftlichen  Volksbegabung  belebt 
und  durch  Ordnung  und  Schulung  ver- 
wertet.   Es  ist  daher  in  der  Art  und  Weise 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Aaflage.    IV. 


59 


930 


Gut — Gutsherrschaft 


des  Gütervorkommeus  tief  begründet,  wenn 
neben  den  regelmässigen  Früchten  der  über- 
^  kommenen  Produktionen  von  Zeit  zu  Zeit, 
und  oft  geiudezu  im  Sprunge,  ungeheuere 
Güterzuwächse  durch  Fortscluitte  der  wirt- 
schaftlichen Erkenntnis  und  Unternehmungs- 
kraft gemacht  werden.  Die  wirtschaftliche 
Politik  des  grossen  Staatsmannes  ist  vor- 
zugsweise darauf  gerichtet,  unbenutzte  Güter 
und  Güterkräfte  zu  entbinden  und  dem 
Machtbereiche  dör  Volkswirtschaft  einzu- 
verleiben. 

Litteratnr :  (Mit  Hinipeglastung  des  bloss  dogmen- 
geschichtlich Interessanten,)  Erörterungen  finden 
sich  in  jedem  deutschen  Lehrbuch  und  System. 
S.  unter  diesen  insbesondere  die  Werke  von 
Roseher,  Schäffle,  Wagner,  Philippo- 
Vieh  und  das  Schönbergsche  Handbuch. 
Ausserdem  sind  zu  nennen:  Menger,  Grund- 
sätze der  Volkswirtschaftslehre,  1871,  S.  1—S2. 
—  Böhm  ~  JßawerU  ^  Rechte  und  Verhält- 
nisse vom  Standpunkte  der  volksw.  Gilterlehre 
1881.  —  Wieeev,  Ueber  den  Urspriing  und 
die  Hauptgesetze  des  wirtsch.  Wertes,  1884,  S. 
42 — 69.  —  Sax,  Grundlegung  der  theor.  Staats- 
vnrtsehafi,  1887,  S.  199 — ^49.  —  Meyer,  Wesen 
des  Einkommens,  1887,  S.  168 — 185.  —  Neu- 
mann,  Grundlagen  der  Volkswirtschaftslehre, 
1889,  S.  S4  —  122.  —  Die  fremdländische  Litte- 
nUur  behandelt  den  Gutsbegriff  nur  wenig, 
erörtert  aber  manche  der  oben  besprochenen 
Fragen  bei  den  verwandten  Begriffen  wealih, 
richesses,  produit  u.  s.  f.  Siehe  u.  a.  Turgeon, 
Des  prete7idues  richesses  immathneües,  Revue 
d' Economic  politique  III,  3.  —  Maazola,  I 
daii  scientifici  deüa  finanza  puhblica  1890  (im 
Anhang)  mit  weiteren  Litteraturangahen ,  und 
Irving  Fisher,  Senses  of  Capital,  Economic 
Journal  1897. 

V.   Wieser. 


Gntsherrschaft 

(Grundherrschaft,  Leibeigenschaft, 
Eigenbehörigkeit     und    Erbunter- 

thänigkeit). 

Grundherrschaft  und  Gutsherrechaft 
waren  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
die  beiden  wichtigsten  und  chai*akteristisch- 
sten  Institutionen  der  ländlichen  Verfassung 
in  den  meisten  deutschen  Staaten. 

Die  grosvse  Melirzahl  der  deutschen 
Bauern  besass  ihi*e  Bauerngüter  nicht  als 
freies  Eigentum,  sondern  musste  für  die 
Nutzung  derselben  Abgaben  und  Dienste  an 
einen  Grund-  oder  Gutsherrn  leisten. 

Die    beiden    wichtigsten    bei    der   guts- 
wie   bei  der  gi-undherrlichen  Verfassung  in 
Betracht    kommenden    Personen    sind    also  i 
einerseits   Grund-    oder   GutsheiT,   anderer- ! 
seits  der  Nutzniesser  des  betroff  enden  Gutes,  j 
der   Bauer,    welcher    in    seiner    Beziehung  | 


zum  Guts-  oder  Grundherrn  Gutsunterthan 
oder  Hintersasse  genannt  wurde.  Guts-  und 
Grundherrschaft  waren  ursprünglich  be- 
stimmte Formen  der  wirtschaftlichen  Aus- 
nutzung des  Grossgrundbesitzes,  d.  h.  Guts- 
oder Grundherren  hatten  das  ihnen  eigen- 
tümlich zustehende  Gut  dem  Bauer  gegen 
bestimmte  oder  unbestimmte  Leistungen  zur 
Nutzniessung  überlassen.  Jedoch  war  dies 
nicht  die  einzige  Entstehungsweise  der  Guts- 
oder Grundherrschaft. 

Nicht  selten  wurden  grundherrliche  Be- 
rechtigungen und  Bezüge  durch  die  im 
Mittelalter  so  häufigen  bald  privat-,  bald 
öffentlichrechtlichen  Abhängigkeitsverhält- 
nisse begründet,  ohne  dass  der  später  als 
Grund-  oder  Gutsherr  erscheinende  Berech- 
tigte jemals  wirklicher  Eigentümer  des  be- 
treffenden Bauerngutes  gewesen  wäre. 

Die  Gesamtheit  der  dem  Bauer  und 
seiner  Familie  am  Gut  zustehenden  Ver- 
fügungs-  und  Nutzungsberechtigungen  be- 
zeichnete man  als  das  bäuerliche  Besitzrecht, 
welches  je  nach  Umfang  imd  Zahl  dieser 
Berechtigungen  ein  gutes  bezw.  schlechtes 
Besitzrecht  genannt  wrmie. 

Die  Verschiedenheit  unter  den  unzähli- 
gen Besitzrechten  Deutschlands  war  sehr 
bedeutend.  Während  der  Bauer  Neu  Vor- 
pommerns am  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
nur  Zeitpächter  seines  Hofes  war,  hatten 
die  Grundherren  vieler  süd-  und  mittel- 
deutscher Bauerngüter  nur  ein  wesenloses 
Obereigentum  über  dieselben  bewahrt,  das 
ihnen  einige  geringe,  seit  alter  Zeit  festge- 
setzte Zinsgefälle  einbrachte.  Für  die  be- 
griffliche Scheidung  der  bisher  synonym  ge- 
brauchten Bezeichnungen  Gutsherrschaft  und 
Grundherrschaft  sind  folgende  wirtschaft- 
liche Gesichtspimkte  massgebend. 

Die  Grundherrschaft  liefert  in  der  Haupt- 
sache ein  dii'ekt  konsumierbares  Einkommen. 
Der  Grundherr  benutzt  die  ihm  kraft  der 
Grundherrschaft  zustehenden  Leistungen  der 
Bauern  und  seine  Berechtigungen  am 
Bauerngut  entweder  gar  nicht  oder  doch 
nur  nebenbei  zur  Schaffung  einer  landwirt- 
schaftlichen Produktionsunternehmung. 

Zwar  besitzt  auch  der  Grundherr  in  der 
Regel  eigenen  Ackerbau,  der  vermittelst 
bäuerlicher  Frondienste  betrieben  wird. 
Aber  dieser  Landwirtschaftsbetrieb  dient 
meistens  dazu,  die  ausgedehnten  Natural- 
bedürfnisse  des  grundheiTlichen  Haushalts 
zu  befriedigen.  Nur  der  Ueberfluss  geht 
auf  den  Markt. 

Selbst  wenn  bei  der  grundherrlichen 
Verfassung  in  AusnaJimefällen  eine  regel- 
mässige Produktion  für  den  Markt  statt- 
findet, so  spielt  doch  der  Ertrag  des  Eigen- 
betriebes im  Gesamtbudget  des  Grundhenn 
keine  irgendwie  hervorragende  Rolle.  Der 
überwiegende  Teil  seiner  Einkünfte  besteht 


Gutsherrschaft 


931 


in  Geld-  oder  Naturalzinsea  der  abhängigen 
Bauernhöfe. 

Im  Gegensatz  zur  grundherrlichen  Ver- 
fassung entsteht  die  Gutsherrschaft  dann, 
wenn  die  eigene  Wirtschaft  des  Grund- 
herrn sich  im  Sinne  eines  kapitalistischen, 
d.  h.  ausschliesslich  oder  gi*üsstenteils  für 
den  Markt  arbeitenden  Grossbetriebes  zu 
entwickeln  beginnt.  Der  ehemals  im  bedeu- 
tende Eigenbetrieb  rückt  immer  mehr  in 
den  Mittelpunkt  aller  Interessen,  und  bald 
beruht  ausschliesslich  auf  ihm  die  wirt- 
schaftliche Machtstellung  des  Gutsherrn. 
Der  Bauer,  jetzt  meistens  Erbunterthan  ge- 
nannt, zahlt  seltener  Natural-  oder  Geld- 
zinsen, dagegen  leistet  er  um  so  mehr  Fron- 
dienste. Da  der  Gutsherr  zum  Zwecke  der 
Grossproduktion  mehr  Ackerland  braucht,  so 
sucht  er  durch  das  Areal  abhängiger  Bauern- 
höfe seine  Gutsländerei  zu  vergrössem  und 
beschränkt  zu  diesem  Zwecke  das  bäuerliche 
ßesitzrecht 

Die  Gutsherrschaft,  die  als  eine  durch 
wirtschaftliche  Gründe  hervorgerufene  und 
in  ihrer  Entwickelimg  beeinflusste  Fortbil- 
dung der  Grundherrschaft  erscheint,  ist  in 
ungleich  höherem  Masse  als  diese  ein  Bauer 
und  Gut  ergreifendes  Herrschaftsrecht.  Nicht 
nur  die  Natur  der  Leistungen  des  Bauein 
wird  verändert  und  sein  Besitzrecht  ver- 
schlechtert, sondern  auch  seine  persönliche 
Freiheit  ist  im  Interesse  des  entstehenden 
gutsherrlichen  Grossbetriebes  durch  Bin- 
dung an  die  Scholle  (glebae  adscriptio)  ge- 
mindert. 

Schon  aus  dem  Gesäßen  ergiebt  sich, 
dass  die  Gutsherrschaft  eme  jüngere  Wirt- 
schaftsinstitution ist  als  die  Grundherrschaft, 
ja,  vom  produktionstechnischen  Standpunkte 
aus  gesehen,  einen  Fortschritt  gegenüber 
dieser  bedeutet. 

Auch  die  Wirtschaftsgeschichte  zeigt, 
dass  der  landwirtschaftliche  Grossbetrieb, 
der  die  Gutsherrschaft  hervorgebracht  hat, 
erst  dann  in  einem  Lande  entstehen  konnte, 
wenn  infolge  günstiger  Transport-  und  Aus- 
fuhrverhältnisse oder  infolge  eigener,  meist 
städtischer  gewerblicher  Entwickelung  die 
Naturalwirtschaft  der  Geldwirtschaft  zu 
weichen  begann. 

Aber  so  sehr  auch  die  Entwickelung  der 
Gutsherrschaft  aus  der  Grundherrschaft  in 
ihrem  innersten  Wesen  eine  rein  wirtschaft- 
liche gewesen  ist,  ebenso  sehr  haben  die 
verschiedensten  natürüchen,  politischen  und 
sozialen  Verhältnisse  auf  diese  Entwickelung 
bald  hemmend  und  hindernd,  bald  beför- 
dernd gewirkt.  Hier  wie  überall  im  wirt- 
schaftlichen Leben  vollzog  sich  die  rein 
wirtschaftliche  Entwickelung  unter  der  Ein- 
wirkung fremder,  d.  h.  nicht  wirtschaftlicher 
Einflüsse.  Im  Gebiete  des  heutigen  Deut- 
schen Reiches  finden  wir  im  Mittelalter  mit 


verschwindenden  Ausnahmen  fast  überall 
die  grundherrliche  Verfassung.  Im  Laufe 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  vollzog  sich 
im  Nordosten  Deutschlands,  durch  wirt- 
schaftliche Verhtütnisse  bedingt  und  durch 
politische  und  sonstige  Einflüsse  begünstigt, 
die  Ausbildung  des  landwirtschaftlichen 
GiKösbetriebes,  und  mit  ihm  entstand  die 
Gutsherrschaft. 

Obwohl  der  Westen  und  Süden  Deutsch- 
lands in  seiner  allgemeinen  wirtschaftlichen 
Entwickelung  dem  Nordosten  voraus  war^ 
blieb  hier  die  Grundherrschaft  bestehen. 
Eine  erechöpfende  Klarstellung  der  Ursachen 
dieser  Erscheinung  ist  heute  noch  nicht 
möglich.  Sie  liegen  auf  politischem,  so- 
zialem und  wirtschaftlichem  Gebiete.  Da- 
gegen soll  im  folgenden  eine  eingehende 
Schilderung  der  guts-  wie  der  grundherr- 
lichen Verfassung  Deutschlands  im  18.  Jahr- 
hundert gegeben  werden. 

Wir  wählen  diese  Epoche,  weil  sie  als 
die  unserer  Zeit  zunächst  liegende  am  besteu 
bekannt  ist  und  deshalb  für  die  klare  Er- 
kenntnis des  Wesens  beider  Institutionen 
am  geeignetsten  erscheint. 

In  dieser  Zeit  zerfiel  Deutschland  he- 
züglich  der  guts-  und  grundherrlichen  Ver- 
fassung in  verschiedene  grosse  Gebiete. 

Im  Osten  und  Nordosten,  in  den  soge- 
nannten alten  Provinzen  Preussens  (Pom- 
mern, Mark  Brandenburg  mit  Ausnahme 
der  Altmark,  Preussen,  Schlesien  und  pol- 
nische Gebietsteile),  herrschte  ebenso  wie 
in  Mecklenburg,  Schleswig-Holstein,  Neu- 
vorpommern und  in  der  Oberlausitz  die 
gutsherrliche  Verfassung.  In  dem  kleinen 
damals  zu  Hannover  gehörigen  Herzogtum 
Lauenbiu'g,  in  der  liukselbischen  Altmark 
und  im  Nordosten  der  heutigen  Provinz 
Sachsen  bestanden  der  gutsherrlichen  Ver- 
fassung nahestehende  üebergangszustände, 
während  das  Kurfürstentum  Sachsen  zwar 
nicht  ganz  klare,  aber  doch  entschieden 
näher  mit  der  grundherrlichen  Verfassung 
verwandte  Verhältnisse  zeigte.  Nieder- 
sachsen und  Westfalen,  Hessen-Cassel  und 
die  übrigen  kleinen  Staaten  Nordwestdeutsch- 
lands, der  Niederrhein  von  Dusseldorf  an, 
ferner  Altbayern  und  die  schwäbisch-baye- 
rische Hochebene  hatten  eine  rein  grund- 
herrliche Verfassung.  In  Thüringen,  im 
Mainthal,  am  Ober-  und  Mittelrhein  und 
überhaupt  in  den  meisten  Gegenden  Süd- 
westdeutschlands war  die  Grundherrschaft 
einem  völligen  Versteigerungsprozess  an- 
heimgefallen, der  sie  in  ein  Konglomerat 
von  Rentenberechtigungen  verwandelt  und 
dem  Gnmdherrn  jede  direkte  Einwirkung 
auf  das  abhängige  Bauerngut  entzogen  hatte. 

Von  jedem  grundherrlichen  Verhältnis 
freie  Bauerngüter  fanden  sich  vereinzelt  in 
allen  diesen  Gebieten,  jedoch  niu:  die  Dith- 

59* 


932 


Gutsherrschaft 


marschen,  die  bremischen  Marschbauern  und 
die  Bewohner  Ostfrieslands  waren  grössten- 
teils freie  Eigentümer  ihrer  Hufe. 

Yon  dem  Wesen  und  der  wirtschaft- 
lichen Bedeutung  der  Grundherrschaft ,  die 
wir  als  die  ältere  Bildung  zunächst  ins 
Auge  fassen  wollen,  giebt  uns  die  ländliche 
Verfassung  Niedersachsens  zu  Ausgang 
des  18.  Jalirhunderts  eine  völlig  klare  Vor- 
stellung. 

Die  Rechte  und  Pflichten  von  Grundherr 
und  Bauer  waren  durch  das  im  ganzen 
nordwestlichen  Deutsclüand  geltende  Meier- 
recht  geregelt.  Der  Bauer  hatte  ein  erb- 
liches Nutzungsrecht  am  Gute  und  durfte 
dieses  ohne  Zustimmung  des  Grundherrn 
nicht  veräussern  oder  belasten.  Die  Erb- 
folge war  durch  das  provinziell  ver- 
schiedene Anerbenrecht  in  der  Weise  ge- 
regelt, dass  das  nach  Landesgesetz  unteil- 
bare Bauerngut  an  eines  der  Kinder  des 
Meiers  überging,  welches  seine  Geschwister 
mit  sehr  geringen  Beträgen  abfand.  Die 
Fälle,  in  denen  der  Bauer  des  Gutes  ver- 
lustig ging,  waren  gesetzlich  bestimmt,  und 
die  »Abmeienuig«  durfte  erst  nach  voraus- 
gegangener gerichtlicher  Untersuchung  er- 
folgen. Auch  war  der  Grundherr  zur  so- 
fortigen Wiederbesetzung  dos  erledigten 
Hofes  mit  einem  neuen  Meier  unter  den 
alten  Bedingungen  verbunden.  Die  Leistung 
des  Meiers  für  die  Nutzung  des  Gutes  be- 
stand in  Zins  und  Frondiensten.  Femer 
musste  er  häufig  dem  vom  Grundherrn  ver- 
schiedenen Gerichtsherrn  Frondienste  leisten 
und  war  zur  Ti^agung  der  auf  dem  Gute 
ruhenden  Staats-  und  Gemeindelasten  ver- 
pflichtet. 

Der  sogenannte  Meierzins  bestand  häufig 
in  Naturalien  und  wai-  ziemlich  bedeutend. 
Der  Frondienst  war  nicht  selten  zu  Geld 
gesetzt,  doch  wurde  er  im  Süden  Nieder- 
sachsens und  in  Hessen  -  Cassel  vielfach 
noch  in  natura  geleistet,  währcnd  im  Nor- 
den Hannovers  und  im  grössten  Teil  West- 
falens von  den  Pflichtigen  überwiegend 
Dienstgeld  statt  des  Naturaldienstes  ent- 
richtet wurde. 

Eine  völlige  Zugeidsetzung  des  Natural- 
frondienstes  scheint  im  Verbreitungsgebiete 
der  gnmdherrlichen  Verfassung  nm-  da  statt- 
gefunden zu  haben,  wo  eine  Verwertung 
desselben  in  der  Eigenwirtschaft  des  Grund- 
herrn wegen  der  entfernten  Lage  des  Hofes 
unmöglich  war  oder  der  Grundherr  über- 
haupt keine  solche  Eigenwirtschaft  besass. 
Im  allgemeinen  ist  es  cliarakteristisch,  dass 
überall  da,  wo  die  grundheiTliche  Verfcis- 
sung  sich  lebensfähig  gezeigt  hatte,  auch 
der  aus  dem  grund-  oder  gerichtsherrlichen 
Verhältnis  entspringende  Naturalfrondienst 
nicht  völlig  verschwunden  war.  Der  Grund- 
herr   besass   in   der  Regel   einen   eigenen, 


mehr  oder  minder  bedeutenden  Landwirt- 
schaftsbetrieb, das  Rittergut.  Die  Wirt- 
schaft wurde  hier  in  altherkömmlipher 
Weise  mit  den  Frondiensten  der  nächst- 
wohnenden Meier  betrieben.  Eine  völlige 
Abwesenheit  gnmdherrlicher  Eigenbetriebe 
würde  schon  mit  dem  altertümlichen,  vor- 
wiegend naturalwirtschaftlichen  Charakter 
der  grundherrlichen  Verfassung  im  Wider- 
spruch gestanden  haben.  Der  mittelalter- 
liche Grundherr  lebte  ebenso  wie  sein 
Hintersasse  mit  Gesinde  und  Familie  von 
selbsterzeugtem  Brot  und  Fleisch  und  trank 
das  auf  dem  Gutshofe  gebraute  Bier.  Noch 
im  Jahre  1686  liess  sich  die  hannoversch- 
kalenbergische  Ritterschaft  bei  Einführung 
des  Konsumtionslizentes  mit  der  Lizentfrei- 
heit  aller  auf  dem  Rittergute  erzeugter  und 
daselbst  verzehrter  Nahrungsmittel  privile- 
gieren. 

Mit  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  zogen 
die  niedei^öächsischen  Gutsherren  von  den 
Rittergütern  in  die  Städte  und  verpachteten 
vielfach  ihre  Eigenbetriebe.  Nirgends  im 
Verbreitungsgebiete  der  grundherrlichen 
Verfassung  besass  der  Eigenbetrieb  des 
Grundherrn  eine  die  anderen  eigentlich 
gnmdherrlichen  Institutionen  und  Bezüge 
(Geld-  und  Naturalzins,  Dienstgelder  und 
Zehnten)  in  den  Hintei:grund  drängende  Be- 
deutung, höchst  selten  stand  er  sds  gleich- 
berechtigter Faktor  des  ganzen  grimdherr- 
lichon  Wirtschaftßorganismus  neben  ihnen. 

Die  persönliche  Stellung  des  nieder- 
sächsischen  Bauernstandes  erlitt  durch  das 
gi'undherrliche  Verhältnis  nicht  die  geringste 
Einbusse  oder  Beeinflussung. 

Der  nicdersächsisclie  Bauer  war  persön- 
lich frei,  die  Reste  alter  Hörigkeit,  die  sich 
in  der  luldesheimischen  Halseigenschaft  oder 
in  einigen  zu  Reallastcn  des  Bauerngutes 
gewordenen  Abgaben  wie  Kurmede  und 
ßaulebung  erhalten  liatten,  waren  ohne  jede 
wirtschaftliche  und  soziale  Bedeutung. 

In  Westfalen  bestand  bei  dem  grösseren 
Teil  der  bäuerlichen  Bevölkerung  seit  alter 
Zeit  die  sogenannte  Eigenbehörigkeit.  Grös- 
sere Verbreitung  und  wirkliche  Bedeutung 
scheint  sie  nur  in  den  Bistümern  Osnabrück 
und  Münster,  in  den  preussischen  Provinzen 
Minden  und  Ravensberg  und  in  einigen 
kleineren  reichsunmittelbaren  Herrschaften 
gehabt  zu  liaben.  In  dem  Bistum  Pader- 
born imd  in  der  Reichsabtei  Korvey  war  sie 
ebenso  wie  in  den  hannoverschen  Provinzen 
Hoya  und  Diepholz  zum  bedeutungslosen 
Rechtsaltertum  geworden.  Auch  in  den 
obengenannten  Territorien  war  nur  ein 
Bruchteil  der  bäuerlichen  Bevölkerung  eigen- 
behörig.  In  den  preussischen  Provinzen 
Minden  und  Ravensberg  wurde  nahezii  die 
Hälfte  sämtb'cher  Bauernhöfe  von  Freien 
bewohnt,  die  ilire  Höfe  teils  zu  Meierrecht, 


GutsheiTSchaft 


933 


teils  als  zinspflichtiges  Eigentum  inne  hatten. 
Hier  wie  in  Münster  und  Osnabrück  waren 
im  17.  und  18.  Jahrhundert  Rechte  und 
Pflichten  der  Eigenbehörigen  durch  soge- 
nannte Eigentumsordnungen  genau  festge- 
setzt worden.  Diese  Gesetze  wichen  nur 
in  unbedeutenden  Einzelheiten  von  ein- 
ander ab.  Der  Eigenbehörige  hatte  ein 
gutes  Besitzrecht  am  Bauerngut.  In  seinen 
Snmdzügen  stimmte  es  völlig  mit  dem 
niedersächsischen  Meierrecht  überein,  nur 
war  der  Jüngste  Sohn  in  der  Regel  Anerbe. 

Die  Eigenbehörigkeit  kam  in  folgenden 
FäUen  zum  Vorschein :  beim  Tod  des  Eigen- 
behörigen  oder  seiner  Frau  fiel  die  Hälfte 
des  Mobiliarvermögens  an  den  Leibherm, 
und  der  Anerbe  musste,  wenn  er  nicht  in 
natura  leisten  wollte,  das  Recht  des  Herrn 
diux*.h  eine  frei  zu  vereinbarende  Summe 
ablösen  (den  Sterbfall  dingen).  Die  Kinder 
des  Eigenbehörigen  waren  häufig  zu  einem 
geringfügigen,  m  der  Regel  halbjährigen 
Zwangsgesindedienst  verpflichtet  und  muss- 
ten,  wenn  sie  den  Hof  verliessen,  einen 
Freikauf  zahlen.  Die  Freilassung  dui-fte  in 
der  Regel  nicht  verweigert  werden.  Die 
Geschwister  erhielten  vom  Anerben  eine 
Abfindung  (Brautschatz  oder  Auslobung)  und 
verloren  mit  der  Freilassung  Dir  Erbrecht 
am  Bauerngut.  Gingen  si*  ohne  Freikauf 
vom  Gute  weg,  so  konnte  der  Gutsherr 
sein  Recht  diu-ch  quasivindicatio  geltend 
machen,  d.  h.  sie  wurden,  wo  sie  sich  auch 
immer  befanden,  beim  Todesfall  geerbteüt. 

In  Rücksicht  auf  den  SterbfaU  war  dem 
Eigenbehörigen  verboten,  Testamente  zu 
machen  oder  mortis  causa  zu  verschenken. 
Dagegen  konnte  er  zu  Lebzeiten  über  seine 
Fahrhabe  bis  zur  Hälfte  durch  Schenkung 
verfügen.  Die  auf  den  Hof  heiratende  Frau 
musste  für  das  Recht  am  Gute,  das  sie 
nach  dem  in  Westfalen  geltenden  System 
der  ehelichen  Gütergemeinschaft  erhielt, 
einen  Weinkauf  an  den  Gutsherrn  entrich- 
ten. Wohl  hauptsächlich  infolge  dieses 
diu*ch  Heirat  entstehenden  Rechtes  der 
Frau  auf  das  Gut  bediuite  der  Eigenbe- 
hörige des  gutsherrlichen  Ehekonsenses. 

Veräussenmg  der  Güter  mit  den  Eigen- 
behörigen war  selbstverständlich  gestattet. 
Jedoch  durften  die  Lasten  des  Eigenbeliörigen, 
besonders  die  Dienste  und  Abgaben  durch  die 
Yeräusserung  nicht  erschwert  werden.  Eine 
Veräusserung  der  Eigenbehörigen  ohne  Gut 
war  teüs  ausdrücklich  verboten,  teils  dwich 
das  überall  bestehende  feste  Besitzrecht  des 
Eigenbehörigen  an  einem  individuellen  Gut 
vöUig  ausgeschlossen.  In  Minden  -  Ravens- 
berg  wurde  1741  ausdrücklich  bestimmt, 
dass  im  Fall  der  durch  gerichtliches  Er- 
kenntnis erfolgten  Entsetzung  des  Eigenbe- 
hörigen dieser  mit  seinen  Kindern  frei 
werde,  weil  er  nur  wegen  des  Hofes  sich 


eigen  begeben  habe.  Dienst  imd  Zinsen 
diuiten  nicht  erhöht  werden.  Der  Dienst 
war,  wie  es  seheint,  zum  Teil  zu  Geld  ge- 
setzt und  im  allgemeinen  geringer  als  im 
südlichen  Niedersachsen. 

Der  Eigenbehörige  unterstand  der  öffent- 
lichen Gerichtsbarkeit,  die  Hauszucht  der 
Iieib(Guts)-Herren  war  auf  24  stündiges  Ein- 
sperren oder  geringe  Züchtigung  beschränkt. 
Die  Hauptlast  waren  die  sogenannten  un- 
gewissen Gefälle  (Freikauf,  Weinkauf  und 
besonders  Sterbfall).  Sie  büdeten  eine 
ausserordentlich  drückende  materielle  Ver- 
pflichtung des  Eigenbehörigen.  Dagegen 
war  das  Besitzrecht  gut,  Dienst  und  Zinsen 
nicht  sehr  bedeutend  und  die  persönliche 
Abhängigkeit  verschwindend,  wenn  auch  die 
Beschränkung  der  persönlichen  Handlungs- 
fähigkeit in  ihrer  rechtlichen  Festsetzimg 
drückend  erscheint.  Wie.  sich  aus  dem  Ge- 
sagten ergiebt,  war  die  westfälische  Eigen- 
behörigkeit trotz  ihres  Namens  ein  vor- 
wiegend grundherrliches  Abhängigkeitsver- 
hältnis, das  die  Person  nur  insoweit  ergriff, 
als  es  besondere,  nicht  direkt  aus  der  Guts- 
nutzung entspringende  Leistungen  des  Eigen- 
behörigen betraf. 

Diese  imgewissen  Gefälle  gaben  der 
westfälischen  Eigenbehörigkeit  ihren  eigen- 
artigen Charakter,  sie  bildeten  den  Haupt- 
unterschied zwischen  Eigenbehörigen  und 
Fi-eimeiem,  aus  ihnen  erklärten  sich  die 
verschiedenen  unleugbar  vorhandenen  Frei- 
heitsbeschränkungen. Abgesehen  von  eini- 
gen altertümlichen  und  praktisch  nicht  sehr 
ins  Gewicht  fallenden  leibherrlichen  Rech- 
ten, wie  geringem  Gesindezwangsdienst  und 
Züchtigimgsrecht ,  hatte  das  ganze  Verhält- 
nis mit  wirklicher  Leibeigenschaft,  d.  h.  ndt 
einem  unbedingten  Herrscliaftsrechte  über 
Bauer  und  Gut  nichts  gemein. 

In  Niedersachsen  und  Westfalen  waren 
häufig  Grundhen-schaft  über  Meierhöfe  und 
Patiimonialgerichtsbarkeit  über  ganze  Dörfer 
in  einer  Hand  vereinigt.  Auf  die  persön- 
liche Stellung  der  ländlichen  Bevölkerung 
hatte  die  Vereinigung  beider  Gerechtsame 
keinen  Einfluss  gehabt.  Dagegen  hatte  die 
Gerichtsherrschaft  über  eines  oder  mehrere 
Dörfer  im  Süden  Hannovers  insofern  eine 
wirtschaftliche  Bedeutung,  als  hier  der 
Frondienst  der  Gerichtsunterthanen  dem 
Gerichtsherrn  als  fructus  iurisdictionis  zu- 
stand. Im  allgemeinen  gab  hier  die  Grund- 
hen^chaft  über  Meierhöfe  keine  Dienst- 
berechtigung, sondern  nur  Anspruch  auf 
Meierzins. 

In  ganz  Niedersachsen  und  ziun  Teil 
auch  in  Westfalen  war  die  Grundherrschaft 
über  Meierhöfe  mehr  oder  minder  Streu- 
besitz; ein  Grundherr  vemnigte  selten  das 
Obereigentum  über  alle  Höfe  eines  Dorfes 
in  seiner  Hand,   sondern  er  besass  in  ver- 


934 


Grutsherrscliatt 


schiedenen,  oft  weit  von  einander  gelegenen 
Ortschaften  einzelne  Meiergüter.  Dagegen 
bildete  das  Patrimonialgericht  des  südlichen 
Niedersachsens  ein  lokal  abgeschlossenes 
HeiTSchaftsgebiet,  nnd  der  innerhalb  dem 
öerichtsherm  von  allen  Bauer  zu  leistende 
Frondienst  besass  eine  hohe  wirtschaftliche 
"Verwertbarkeit  für  den  etwa  vorhandenen 
gerichtsherrlichen  Eigenbetrieb.  Wahr- 
scheinlich ist  hierauf  die  grosse  Zahl  statt- 
licher Rittergutswirtschaften  zurückzuführen, 
der  wir  im  18.  Jahrhundert  im  südlichen 
Niedersachsen  begegnen. 

Dies  ist  in  ihren  Hauptzügen  die  grund- 
heiTÜche  Verfassung,  wie  sie  im  18.  Jahrh. 
in  Nordwestdeutschland  bestanden  hat.  Ver- 
gleichen wir  mit  ihr  die  gutsherrliche  Ver- 
fassung in  den  alten  Provinzen  Preussens 
zu  derselben  Zeit. 

Das  ganze  Gebiet,  innerhalb  dessen  dem 
Gutsherrn  die  Gutsherrschaft  zustand,  führte 
den  Namen  Rittergut. 

Es  umschloss  nicht  nur  den  vom  Guts- 
herrn landwirtschaftlich  benutzten  Grund 
und  Boden,  sondern  auch  eine  oder  mehrere 
Dorfgemarkungen. 

Wirtschaftlich  und  rechtlich  war  der 
eigene  Landwirtschaftsbetrieb  des  Gutsherrn 
die  Hauptsache,  die  gutsherrlich  abhängigen 
Bauern  bildeten  mit  ihren  Höfen  ein  Zu- 
behör des  Rittergutes.  Daher  war  das 
preussische  Rittergut  meistens  ein  Herr- 
schaftsgebiet im  Gegensatz  zum  nieder- 
sächsischen adligen  Gute,  das  sehr  häufig 
ohne  zugehörige  Meier  oder  Gerichtsunter- 
thanen  begrifflich  nur  als  privilegierter 
Ghrundbesitz  angesehen  werden  konnte. 

Der  Inhalt  des  dem  Rittergutsbesitzer 
tmd  Gutsherrn  über  seine  erbunterthänigen 
Bauern  zustehenden  Herrschaftsrechts  war 
folgender:  sämtliche  bäuerliche  Bewohner 
der  zum  Rittergute  gehörigen  Dörfer  er- 
kannten hinsichtlich  ihrer  unter  den  ver- 
schiedenartigsten Bedingungen  besessenen 
Höfe  den  Rittergutsbesitzer  als  ihi'en  Grund- 
herrn an.  An  ihn  entrichteten  sie  Abgaben 
und  leisteten  Frondienste.  AUe  Bauern  und 
in  der  Regel  die  übrigen  der  ländlichen 
Bevölkerung  angehörigen  Bewohner  des  Guts- 
bezirks wai'en  dem  Rittergutsbesitzer  erb- 
unterthänig,  d.  h.  sie  durften  ohne  Erlaub- 
nis des  Gutsherrn  den  Gutsbezirk  nicht 
verlassen,  und  ihre  Kinder  mussten  dem 
Gutsherrn  einige  Jahre  lang  Gesindedienste 
leisten. 

Femer  bedurfte  der  Erbunterthan  zu 
seiner  Verheiratung  des  gutsherrlichen  Kon- 
senses und  musste  auf  Verlangen  des  Guts- 
herrn eine  bäuerliche  Stelle  annehmen. 
Endlich  hatte  der  Gutsherr  niedere  Gerichts- 
barkeit innerhalb  seines  Gutsbezirks  und 
besass  sonstige  weniger  wichtige  private  und 
öffentliche  Gerechtsame  und  Befiignisse. 


Die  drei  für  den  Begriff  der  Gutsherr- 
schaft wichtigsten  Momente  waren:  Ober- 
eigentum über  sämtliche  Bauernhöfe  des 
Gutsbezirks,  Erbunterthänigkeit  der  Be- 
wohner und  niedere  Gerichtsbarkeit  über 
dieselben. 

Die  Leistung  der  erbunterthänigen  Bauern 
für  die  Nutzimg  des  Bauerngutes  bestand 
in  überwiegendem  Masse  in  Frondiensten, 
die  alle  für  den  landwirtschaftlichen  Betrieb 
des  Rittergutes  in  natura  verbmucht  wurden. 
In  den  östlichen  Provinzen  Preussens  waren 
diese  Dienste  ungemessen,  im  Westen  zwar 
gemessen,  aber  doch  noch  sehr  bedeutend, 
mindestens  3  bis  4  Tage  in  der  Woche. 

Das  Besitzrecht  des  Bauern  am  Gute 
war  sehr  verschiedenartig.  Es  schwankte 
von  einem  dem  Eigentume  nahestehenden 
Erbzins-  oder  Erbpachtrecht  bis  zur  reinen 
römischrechtlichen  Zeitpacht. 

Am  häufigsten  war  der  bald  erbliche, 
bald  unerbliche  Lassbesitz,  ursprünglich 
begründete  er  ein  dem  niedersächsischen 
Meierrechte  durchaus  ähnliches  erbliches 
Nutzungsrecht  am  Bauerngute,  Das  Bedürf- 
nis der  Gutsherren  nach  Bauernland  zur 
Vergrösserung  ihrer  eigenen  Wirtschaft 
hatte  dem  Lassbauern  (Lassiten)  sehr  häufig 
das  Erbrecht  geraubt,  und  vielfach  war 
man  bestrebt,  den  Lassiten  auf  halbjährliche 
Kündigung  zu  setzen  oder  in  einen  Zeit- 
pächter auf  beschränkte  Zahl  von  Jahren  zu 
verwandeln.  Erst  in  der  zweiten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  gelang  es  Friedrich  dem 
Grossen,  durch  das  Verbot  des  Einziehens 
von  Bauernland  zum  Rittergute  die  be- 
stehenden Bauernhöfe  zu  erhalten  imd  auf 
diese  Weise  der  zunehmenden  Verschlechte- 
rung des  bäuerlichen  Besitzrechts  wenigstens 
indirekt  ein  Ziel  zu  setzen. 

Eine  noch  intensivere  Ausbildung  guts- 
herrlicher Herrschaftsrechte  finden  wir  um 
dieselbe  Zeit  in  Schleswig-Holstein,  Mecklen- 
burg und  Neuvorpommem. 

In  diesen  Staaten,  wo  die  Stände,  be- 
sonders die  Ritterschaft  ungestört  von  dem 
teils  zu  entfernt  wohnenden,  teüs  ohnmäch- 
tigen Landesherm  ilire  gutsherrlichen  G^ 
rechtsame  ausbildeten,  näherte  sich  der 
persönliche  Zustand  der  Bauern  der  Leib- 
eigenschaft im  Sinne  römischrechtlidier 
Sklaverei.  Der  Bauer,  der  in  Preussen  an 
die  Scholle  gebunden  w^ar  und  nur  in  Ver- 
bindung mit  dem  Gute  veräussert  werden 
durfte,  wurde  hier  mitunter  einzeln  ohne 
Hof  verkauft.  Der  Verkauf  der  Bauern 
ohne  Gut  war  in  Neuvorpommem  und 
Mecklenburg  während  des  ganzen  18.  Jahr- 
himderts,  wenn  auch  nicht  gesetzlich  aner- 
kannt, so  doch  durchaus  üblich  und  ge- 
wohnheitsrechtlich gestattet.  Nur  die  recht- 
lich anerkannte  Vermögensfähigkeit  der 
Bauern  unterschied  ihren  Zustand  von  dem 


GiitvSherrschaft 


935 


Tölliger  Sklaverei.  Ihr  Besitzrecht  am  Gute 
war  das  denkbar  schlechteste;  sie  konnten 
jederzeit  von  der  Giitsherrschaft  abgesetzt 
lind  mit  imgemessenen  Frondiensten  belastet 
werden,  üeberhanpt  wurden  sie  als  leiden- 
des Inventar  des  Rittergutes  angesehen, 
dessen  bestmögliche  Ausnutzung  in  keiner 
"Weise  verhindert  werden  durfte.  Im  üb- 
rigen war  die  gutsherrliche  Verfassung 
organisch  von  der  preussischen  nicht  ver- 
schieden. 

Einen  völligen  Gegensatz  zu  dieser  ost- 
deutschen Gutsherrschaft  bildete  die  in 
Südwestdeutschland   allgemein  herrschende 

fnindherrliche  Yerfassmig.  Wenn  auch  die 
enntnis  der  bäuerlichen  Verhältnisse  Süd- 
und  Mitteldeutschlands  zu  Ende  des  18. 
Jahrhunderts  noch  unvollständig  ist,  so  lässt 
sich  der  altertümlich  gnmdherrliche  Cha- 
rakter der  ländlichen  Verfassung  in  den 
meisten  Gegenden  mit  Sicherheit  annehmen. 
Unter  altertümlich  grundherrlicher  Ver- 
fassung sind  im  Gegensatz  zur  neueren  nord- 
westdeutschen Grundherrscliaft  solche  gnmd- 
herrliche Verhältnisse  zu  verstehen,  welche 
die  Vei*fiigungsfreiheit  des  Bauern  über 
sein  Gut  weniger  als  die  niedersächsischen 
und  westfälischen  Besitzrechte  beschränkten. 
So  konnte  er  —  freilich  meistens  von 
lokalem  Herkommen  geleitet  —  Dispositionen 
über  die  Erbfolge  treffen.  Nicht  selten  w^ar 
ihm  Veräusserung  oder  Belastung  des  Gutes 
gestattet;  ja  so^  der  Teilung  oder  Ver- 
äusserung von  Teilen  wurden  häufig  nur 
geringe  Hindernisse  in  den  Weg  gelegt. 
Der  Begriff  des  unteilbaren  Bauerngutes,  an 
dem  der  Bauer  und  seine  Familie  ein  erb- 
liches Nutzungsrecht  hatten,  verschwindet, 
sobald  wir  die  Territorien  mit  vorwiegend 
sächsischen  Stammeseigentümlichkeiten  ver- 
lassen. Erst  in  Südostdeutschland,  im  Süd- 
osten Württembergs  und  in  Altbayem  finden 
sich  wieder  ähnliche  Institutionen.  War 
auch  das  thatsächliche  Verfügungsrecht  des 
nordwestdeutschen  Grundherrn  über  das 
Meiergut  durch  landespolizeiliche  Verord- 
nungen fast  ebenso  seiir  beschränkt  wie 
das  des  süd-  und  mitteldeutschen  Obereigen- 
tümers, so  hatte  er  doch  rechtlich  sein 
ursprüngliches  Eigentum  afn  Gute  besser 
bewahrt. 

Der  Meier  Niedersachsens  erhielt  bis  zum 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  von  der  herrschen- 
den Rechtsanschauung  nur  ein  erbliches 
Pachtrecht  ohne  dingliche  Wirkung  zuge- 
billigt. 

Im  Zusammenhang  damit  stand,  dass  das 
Aequivalent  für  die  Gutsnutzung,  mochte  es 
nun  in  Meierzins  und  Diensten  wie  in 
Niedersachsen  oder  in  ungewissen  Gefällen 
wie  in  Westfalen  bestehen,  trotz  der  (erst 
im  18.  Jahrhundert  erfolgten)  Steigerungs- 
verbote in  weitaus  angemessenerem  Verhält- 


nis zum  thatsächlich  vorhandenen  Gutswerte 
stand  als  in  Süd-  und  Mitteldeutschland, 
wo  Zins  und  Gilt  vielfach  nur  den  Charakter 
der  Rekognitionsgebühr  trugen. 

Jedoch  soU  damit  nicht  gesagt  sein,  dass 
der  süd-  und  mitteldeutsche  Bauer  weniger 
schwer  belastet  gewesen  sei  als  der  nieder- 
sächsische Meier.  Ausser  den  eigentlich 
grundherrlichen  Lasten  ruhten  eine  Reihe 
der  verschiedenartigsten  Verpflichtungen  als 
Reallasten  auf  dem  Bauerngute.  Soge- 
nannte Gi-undzinsen ,  vogteiliche  Abgaben, 
Zehnten,  alte  Leibeigenschaftsgefälle  und 
gerichts-  und  grundherrliche  Dienste  Hessen 
auch  ihn  selten  seines  Lebens  froh  werden. 
Nur  das  alte,  in  Nordwestdeutschland  ziem- 
lich klare  Verhältnis  zwischen  Grundherr 
und  Meier  hatte  sich  hier  %delfach  verdunkelt, 
und  die  eigentlich  grundherrlichen  Abgaben 
waren  vor  den  übrigen  als  Reallasten  des 
Gutes  bestehenden  Leistungsverpflichtungen 
in  den  Hintergrund  getreten. 

Aus  der  verwirrenden  Fülle  süd-  und 
mitteldeutscher  Besitzrechte  sind  als  die 
wichtigsten  Arten  ausser  dem  in  Masse  vor- 
handenen zinspflichtigen  Eigentum  der 
bäuerliche  Lehnsbesitz,  das  oft  nach  Analogie 
der  Emphyteuse  konstruierte  Erbzinsrecht 
und  endlich  die  mannigfaltigen  hofrecht- 
lichen, nach  alten  Weistümern  geregelten 
Besitzrechte  hervorzuheben. 

Bei  den  drei  letztgenannten  Besitzarten  . 
hatte  der  Bauer  nach  der  Theorie  vom  ge- 
teilten Eigentum  das  dominium  utile  und 
weitgehende  Nutzungs-  und  Belastungs- 
befugnisse. Die  Erbfolge  fand  entweder 
nach  lokalen  Rechtssätzen,  Gewohnheit  oder 
nach  Disposition  des  Besitzers  statt. 

Die  Veräusserung  des  ganzen  Gutes  war 
einer  Anzeigepflicht  unterworfen,  zur  Tei- 
lung oder  Veräusserung  von  Stücken  war 
in  der  Regel  gutsherrlicher  Konsens  er- 
forderlich. In  Thüringen  und  Oberhesseu 
Immen  unter  dem  Namen  Lassbesitz  und 
Landsiedelleihe  zwei  dem  Meierrechte  nicht 
un^nliche  Besitzformen  vor.  Im  Süden 
gab  es  einige  unerbliche  Besitzrechte,  wie 
das  schwäbische  Schupf-  und  Falllehn  und 
die  bayerischen  Freistifte,  Neustifte  und 
Leibgedinge.  Doch  scheint  auch  bei  diesen 
Besitzverhäitnissen  die  Vererbimg  faktisch 
die  Regel  gewesen  zu  sein.  In  den  Ländern 
fränkischen  Rechts  hatte  die  beim  Erbgang 
übliche  Naturalteilung  des  ganzes  Besitzes 
viel  zur  Zersetzung  der  Gnmdherrschaft 
beigetragen.  Die  Grundherren  mussten 
diesem  Charakterzug  des  Stammes  gerecht 
werden*  sie  Hessen  die  Teilbarkeit  zu  und 
legten  den  Zins  auf  die  einzelnen  Morgen. 
Auch  die  freie  Veräusserlichkeit  von  Stücken 
des  Gutes  wurde  auf  diese  Weise  ermög- 
licht; die  Grundherren  behielten  sich  m 
diesem    Falle    Umsatzgebühren    vor.     Das 


936 


Gutßherrschaft 


Hintersaßsenverhältnis  der  Besitzer  solcher 
Gutstrümraer  kam  allmählich  in  Vergessen- 
heit, die  einzelnen  Stücke  wurden  zins- 
pflichliges  Eigentum. 

Im  Gegensatz  zu  dieser  hauptsächlich  in 
Mittel-  und  Südwestdeutschland,  ferner  in 
den  Rheinlanden  herrschenden  Güterzer- 
splittenmg  stand  der  grösste  Teil  der  alt- 
bayerischen  Provinzen,  besonders  Ober-  und 
Niederbayern,  die  Oberpfalz,  Schwaben- 
Neuburg,"  femer  der  südöstlichste  Teil  von 
Württemberg  und  der  Schwarzwald.  Hier 
auf  der  grossen  schwäbisch -bayerischen 
Hochebene  und  in  den  Thälem  der  süd- 
deutschen Mittelgebirge  wurden  die  Bauern- 
güter zusammengehalten,  blieben  oft  Jahr- 
hunderte lang  in  derselben  Familie,  und 
häufig  entwickelte  sich  wie  in  Niedersachsen 
ein  Anerbenrecht  des  ältesten  oder  jüngsten 
Sohnes. 

In  der  That  war  hier  die  grundherrliche 
Verfassung  der  Zersplitterung  zumeist  wenig 
günstig.  Schwaben-Neuburg  und  der  er- 
wähnte Teil  von  Württemberg  waren  die 
Heimat  der  Schupf-  und  Falllehen,  im  Süden 
Bayerns  waren  Freistift  und  Leibgeding  üb- 
lich. Auch  das  in  Niederbayem  und  der 
Oberpfalz  weitaus  häufigere  sogenannte  Erb- 
recht, ein  emphyteutisches  Besitz  Verhältnis, 
wirkte  der  Teüung  entgegen.  Aber  im 
Schwarzwalde  sowohl  wie  in  der  Mehrzalil 
der  genannten  Provinzen  Bayerns  und 
Württembergs  mochten  vor  allem  die  natür- 
lichen Bedingungen  der  Landwii'tschaft,  die 
vielfach  nur  gr()ssere,  auf  ausgedelmte  Vieh- 
zucht begründete  Betriebe  zuliessen,  die  Er- 
haltung grösserer  Bauerngüter  begünstigt 
haben. . 

In  den  meisten  süd-  und  mitteldeutschen 
Staaten  bestand  bei  einem  Teil  der  bäuer- 
lichen Bevölkenmg  die  Leibeigen scliaft.  Sie 
hatte  hier  ül)ei'all  jede  tliatsächliclie,  ihrem 
Namen  angemessene  Bedcnitung  verloren ' 
und  verpflichtete  den  Leibeigenen  lediglich , 
zu  kleinen  Abgaben,  Mortuarien  und  zu  ge- 
ringen festgesetzten  Abzugs-  und  I/)skaufs- 
geldern. 

Auf  die  persönliche  und  wirtschaftliche 
Stellung  der  Bauern  hatte  die  Leibeigen- 
schaft keinen  Einfluss  mehr,  sie  war  in  dieser 
Hinsicht  völlig  bedeutungslos  geworden. 

Die  aus  der  Grundherrschaft  über  Bauern- 
höfe entspringenden  Frondienste  waren  selu- 
unbedeutend,  meist  eine  oder  melirere  Fuhren 
im  Jahre.  Sehr  häufig  hatte  man  sie  in 
ein  Dienstgeld  verwandelt. 

Der  eigene  Landwirtschaftsbetrieb  des 
Grundherrn  war  daher  im  allgemeinen 
wenig  entwickelt  und  gründete  sich  da,  wo 
er  bestand,  nicht  auf  die  grundheirliche, 
sondern,  wie  wir  es  schon  im  südlichen  Han- 
nover bemerkt  haben,  auf  die  gerichtsherr- 
lichen Frondienste. 


Da  diese  gerichtsherrlichen  Fronen  neben 
Grundzinsen  und  Zehnten  zur  Zeit  der  Ab- 
lösung die  Hauptlast  des  süddeutschenBauem- 
standes  bildeten,  so  muss  ihre  Entstehung 
imd  Verbreitimg  mit  kurzen  Worten  geschil- 
dert werden.  Auch  das  Wesen  des  süd-  und 
mitteldeutschen  Patrimonialgerichts  und  der 
kleinen  Territorialherrschaft,  Welche  beiden 
Institutionen  in  einigen  Zügen  gewisse 
Aehnlichkeit  mit  dem  preussischen  Ritter- 
gute aufweisen,  wird  hierdurch  am  besten 
charakterisiert  werden  können. 

So  wenig  die  Grundherrschaft  in  Süd- 
imd  Mitteldeutschland  sich  zu  einem  zm* 
landwirtschaftlichen  Eigenpro- 
duktion nutzbaren  Herrscliaftsrechte  über 
Land  und  Leute  hatte  entwickeln  können, 
so  sehr  hatte  sie  bei  Abwesenheit  jeder 
kräftigen  Staatsgewalt  zur  Bildung  kleinster 
staatsähnlicher  Herrscliaftsbezirke  AnJass  ge- 
geben. 

Dies  geschah  in  doppelter  Weise :  einer- 
seits hatten  der  Kaiser  oder  grössere  Landen 
herren  schon  früh  die  Gerichtsbarkeit  zu 
Lehn  gegeben  oder  auf  andere  Weise  ver- 
äussei-t. 

Besonders  die  Geldnot  der  grossen  Terri- 
torialherren liatte  dem  Adel  die  Gelegenheit 
geboten,  an  Orten,  wo  seine  grundherrlichea 
Jierechtigungen  am  zahlreichsten  waren, 
diesen  wichtigsten  Bestandteil  der  Staats- 
gewalt zu  erlangen.  Aber  auch  ohne  eigene 
grundherrliche  Berechtigimgen  gelang  es 
dem  Adel,  sich  solche  Gerichtsbezirke  zu 
schaffen.  Das  Mittel  bildete  die  Vogtei, 
d.  h.  die  GerichtsheiTSchaft  über  geistliche 
Bositzimgen,  welche  nach  Zerfall  der  geist- 
lichen Grundherrschaft  in  der  Regel  als 
Patrimonialgericht  in  dem  Besitze  des  be- 
treffenden Vogtes  zuiückblieb.  Auch  hier 
gab  die  Grundherrsehaft,  freilich  die  eines 
Dritten,  Anlass  ziu*  Bildung  des  Patrimonial- 
gerichts. 

Viele  dieser  Gerichtsherrschaften  wunlen 
die  Grundlage  kleinster  selbständiger  Staats- 
gebilde, die  meisten  jedoch  blieben  den  mäch- 
tigen Territorialherren  unterworfen  oder 
wiirden  von  den  am  Ende  des  Mittelalters 
kräftiger  werdenden  Ijandesstaatsgewalten 
>landsässig«  gemacht.  So  entstanden  einer- 
seits die  vielen  Reichsritter  und  Reichs- 
gi*afen,  die  bis  zum  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts ilu*e  Selbständigkeit  bewahrten, 
andererseits  aber  behielten  auch  die  land- 
sässigen  Dynasten  in  ihren  Gerichtsbezirken 
eine  Fülle  öffentlichrechtlicher  Befugnisse. 
Diese  HeiTschaftsrechte  benutzten,  reiclis- 
unmittelbare  wie  landsässige  Dynasten  nicht 
wie  die  preussischen  Rittergutsbesitzer  zur 
Unterjochung  des  einzeüien  Bauern,  sondern 
zur  Beherrsc^iung  der  im  ganzen  nichtkoloni- 
sierten  Deutschland  so  wichtigen  Landge- 
meinde. Vor  allem  erlangten  sie  das  Eigen- 


Gutsherrschaft — Güterschlächterei 


937 


tum  am  Gemeindebesitz  an  Wald  und  Weide. 
Ursprünglich  niu:  bevorzugte  Nutzniesser 
oder  höchstens  sogenannte  Obereigentümer 
der  Allmend,  wurden  sie  bald  zu  wirklichen 
Eigentümern,  und  die  Rechte  der  Gemeinde 
wurden  von  dienstwilligen  Juristen  als  Ser- 
vituten konstruiert.  Für  die  Gestattung 
dieser  Servitut  und  im  Zusammenhang  mit 
dem  alten  ßechtssatze,  dass  der  Genchts- 
herr  (Vogt)  den  Dienst  der  Gerichtsunter- 
thanen  zu  beanspruchen  habe,  verlangten  sie 
den  Frondienst  aller  Gerichtseingesessenen, 
einerlei,  in  welchem  grundherrlichen  Verhält- 
nis diese  standen.  Eine  besonders  drückende 
Last  war  dieser  Dienst  nicht,  da  nirgends 
hervorragende  Landwirtschaftsbetriebe  ent- 
standen. Man  brauchte  den  Bauer  zu  allen 
Fuhren,  Kommissionen  und  geringfügigem 
Ackerwerk,  wie  man  seiner  bedurfte,  und 
allmälilich.  bildeten  Bedürfnis  und  Gewohn- 
heit ein  gewisses  3tlaßs  heraus,  das  selten 
überschritten  wurde. 

Zu  einem  der  Gutsherrschaft  ähnlichen 
Herrschaftsrecht  konnte  die  süddeutsche  Ge- 
richtsherrschaft, von  allen  anderen  Momenten 
abgesehen,  schon  deshalb  sich  nicht  ent- 
wickeln, weil  dem  Gerichtsherrn  in  der 
Regel  nur  der  kleinere  Teil  der  unzähl- 
baren im  Gerichtsbezirk  vorhandenen  gnmd- 
herrlichen  Berechtigungen  zustand.  Der 
Umstand,  dass  eine  Reihe  fremder  Grund- 
herren sich  zwischen  Bauer  und  Geiichts- 
herrn  schob,  hat  diesem  die  Möglichkeit  ge- 
nommen, Gutsherr  seiner  gerichtsunter- 
thänigen  Bauern  zu  werden. 

Diese  Verhältnisse  scheinen  in  Süd- 
deutschland allgemein  verbreitet  gewesen 
zu  sein,  und  die  Anfänge  der  Allmendusur- 
pation  finden  sich  schon  in  den  12  Artikeln 
der  Odenwälder  Bauern  gekennzeichnet. 

Wie  man  leicht  sieht,  konnte  von  einer 
grösseren  wirtschaftlichen  Bedeutung  der 
Gnmdherrschaft  nur  in  einzelnen  Gegenden 
Süd-  und  Mitteldeutschlands  die  Rede  sein. 
Meistens  war  sie  zu  einem  Komplex  unver- 
änderlicher Rentberechtigungen  geworden. 
Für  die  Schaffung  ländlicher  Abhängigkeits- 
verhältnisse hatten  hier  hauptsächlich  die 
kleinste  Territorialstaatsgewalt  und  die  Ge- 
richtsherrschaft, gewirkt,  ohne  däss  beide  je- 
mals eine  gleiche  wirtschaftliche  Bedeutung 
wie  die  Griuidherrschaft  im  Nordwesten  imd 
die  Gutsherrschaft  im  Nordosten  Deutsch- 
lands gewonnen  hätten. 

Vgl.  den  Art.  Bauernbefreiung, 
oben  Bd.  II  S.  343  ff. 

Litteratnr:  Allgemeines.  Die  Vererbung  des 
lündlichen  Grundbesitzes  im  Königreich  Preussen. 
Im  Aujtrage  des  Kgl.  Ministeriums  für  Land- 
wirtschaft, Domänen  und  Forsten,  herausgegeben 
von  Prof.  Dr.  M,  Sering,  Berlin  1897,  soweit 
erschienen.  —  C.  «/.  Fu<;h8f  Die  Epochen  der 
deutschen     Agrargeschichte     und    Agrarpolitik, 


Jena  1898.  —  CJf.  v.  Below,  Territorium  und 
Stadt,  München  und  Leipzig  1900,  Historische 
Bibliothek  Bd.  XL 

Gutsherrschaft.  G,  F,  Knapp,  Die 
Bauernbefreiung  und  der  Ursprung  der  Land- 
arbeiter in  den  älteren  Teilen  Preussens,  Leipzig 

1887,  2  Bde.  —  Derselbe ,  Die  Landarbeiter 
in  Knechtschaft  und  Freiheit,  Leipzig  1891.  — 
Derselbe,  Grundherrschaft  und  Rittergut,  Leip- 
zig 1897.  —  Orosaniann,  Die  gutsherrlich- 
bäuerlichen  Rechtsverhältnisse  vom  16.  bis  zum 
18.  Jahrh.,  Leipzig  1890  (Schmollers  Forschungen 
IX,  4)'  —  C,  «7".  Fuchs,  Der  Untergang  des 
BauerTispandes  etc.  in  Neuvorpommern,  Strassburg 

1888.  —  Q.  Haussen,  Die  Aufhebung  der 
Leibeigenschaft  in  Schleswig  und  Holstein,  St. 
Petersbtirg  1861.  —  Ha/un,  Bauer  und  GutS" 
herr  in  Kursachsen,  Strassburg  1892.  —  A, 
KraatZf  Bauerngut  und  Frondienste  in  Anhalt 
vom  16.  bis  zum  19.  Jahrh.,  Jena  1898.  —  JK. 
Orünberg,  Die  Bauernbefreiung  in  Böhmen, 
Mähren  und  Schlesien,  Leipzig  1893 — 94,  2  Bde. 

Grundherrschaft.  Stüve,  Lasten  des 
Grundeigentums  ete.,  1830.  —  Wittich,  Die 
Grundherrscfiaft  in  Nordwestdeutschland,  Leipzig 
1896.  —  JB.  Allmers,  Die  Unfreiheit  der 
Friesen,  Stuttgart  1896. 

Süd-  und  westdeutsche  Grund-  und 
Gerichtsherrschaft.  Rheinland:  E, 
Gothein,  Agrarpolitische  Wanderungen  im 
Rheinland  (Festgabe  für  Knies  ed.  0.  v.  Bocnigk). 
—  Wittich,  Beitrag  zum  Verständnis  der  länd- 
lichen Verfassung  Hessens  im  18.  Jahrhundert, 
Quartalblätter  des  historischen  Vereins  für  das 
Grossherzogtum  Hessen,  Heft  V  von  189^.  — 
Liantprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  im 
Mittelalter,  3  Bde.,  Leipzig  1886. 

Bayern:  Fick' Brentano,  Die  bäuerliche 
Erbfolge  im  rechtsrheinischen  Bayern,  Stuttgart 
1895.  —  G.  Hausstnann,  Die  Grundcnüastung 
in  Bayern,  Leipzig  1892. 

Württemberg:  Th,  Knapp,  Das  ritter- 
schaftliche  Dorf  Hauerheim  in  Schwaben  (Wilrttem- 
bergische  Vi^teljahrshefte   1896.    Heft  1  und  2). 

Baden:  Theodor  Ludwig,  Der  badische 
Bauer  im  18.  Jahrhundert,    Strassburg  1896. 

Lothringen:  JP.  Darmsta^edter,  Die 
Befreiung  der  Leibeigenen  in  Savoyen,  der 
Schweiz  und  Lothringen,  Strassburg  1897. 

Elsas  s:  Schmidt ,  Les  seigneurs ,  les 
paysans    et    la  propriet^  rurale  en  Alsace  1897. 

W.   Wittich, 


Gflterschlächterei. 

Das  gewerbsmässige  Aufkaufen  von  Land- 
gütern, um  sie  in  Parzellen  zu  teilen  und 
mit  Gewinn  zu  verkaufen,  bezeichnet  mau 
als  »Güterschlächterei«  oder  »Hofmetzgerei«. 

Wo  durch  gesetzliche  Beschränkungen 
der  freien  Teilbarkeit  oder  durch  Sitte  und 
Gewohnheit  im  Erbgange  ein  vorhandenes 
Bedürfnis  nach  kleinen  Besitzesstücken  bis- 
her nicht  befriedigt  werden  konnte  imd  wo 
die  Gnmdbesitzer  weder  die  nötige  Sach- 
kenntnis noch  die  Lust  dazu  haben,  die 
Parzellierung  ihi*er  Hufen  selbst  vorzunehmen. 


^38 


Gütersclüächterei 


oder  wo  es  ihnen  an  dem  nötigen  Kapital 
fehlt,  um  die  zu  veräussernden  Teilstücke 
hj^otheken-  und  lastenfrei  zu  machen,  da 
kann  die  Thätigkeit  des  Güterschlächters 
eine  volkswirtschaftlich  vollauf  berechtigte 
und  nützliche  sein.  Der  hohe  Gewinn,  den 
sie  abzuwerfen  pflegt,  würde  bei  sonst  ge- 
sunden volkswirtschaftlichen  Verhältnissen 
nur  beweisen,  wie  gross  das  Bedürfnis  nach 
einer  Aufteilung  gewesen  ist,  und  könnte 
nicht  als  Beleg  dafür  dienen,  dass  eine 
wucherische  Ausbeutung  vorliegt.  Denn  im 
allgemeinen  kann  eine  Parzelle  höher  be- 
zahlt werden  als  ein  grösserer  Landkomplex, 
und  wo  diese  Teilstücke  in  den  Händen 
einer  ländlichen  oder  städtischen  Arbeiter- 
bevölkerung zu  Obst-,  Gemüse-,  und  Handels- 
gewächsbau benutzt  werden  können,  wird 
durch  die  Zerschlagimg  grösserer,  geschlos- 
sener Güter  in  wirtschaftlicher,  sozialer  und 
pohtischer  Beziehung  viel  Gutes  geschaffen 
werden  können.  (S.  d.  Art.  Bodenzer- 
splitterung  oben  Bd.  II  S.  965ff.) 

Yiel  häufiger  aber  vnrd  die  Güter- 
schlächterei zu  einer  ungesunden,  nicht 
wünschenswerten  Bodenzersplitterung,  zu 
einer  schädlichen  Vernichtung  des  Mittel- 
standes, zur  Schaffung  von  Zwergwirtschaften 
und  zu  wucherischer  Ausbeutung  der  Land- 
bevölkerung führen,  die  es  erklärlich  macht, 
dass  die  gewerbsmässigen  Güterschlächter 
unter  ihren  Mitbürgern  wenig  in  Achtung 
stehen  und  die  Gesetzgebung  einzelner 
Staaten  ihrem  Treiben  mit  Zwangsmass- 
regeln entgegengetreten  ist.  Denn  sie  finden 
gerade  da  ihr  besonderes  Feld  der  Thätig- 
keit, wo  Zwergwirtschaft  und  Kleinbetrieb 
vorherrschen,  wo  bei  einer  dichtgedrängten 
Bevölkerung  das  an  sich  berechtigte  Streben, 
Grundbesitz  zu  erwerben  oder  den  vor- 
handenen zu  vergrössern,  zu  einem  unge- 
sunden Landhunger  ausgeartet  ist  und  die 
Käufer  der  kleinen  Besitzesstücke  sich  ver- 
leiten lassen,  Preise  zu  zahlen,  die  in  gar 
keinem  Verhältnis  zu  dem  wirtschaftlichen 
Werte  des  erworbenen  Bodens  stehen. 

Hier  drängt  sich  der  Güterschlächter  an 
den  Bauern  heran,  sucht  ihn  durch  Angebot 
eines  relativ  hohen,  den  Ertragswert  über- 
steigenden Preises  ziun  Verkaiä  der  väter- 
lichen Scholle  zu  verlocken,  und  weiss  zu- 
meist die  Zeit  richtig  zu  wählen,  in  welcher 
der  Besitzer  durch  ungünstige  Konjimkturen, 
diu*ch  persönliches  Unglüä  oder  durch 
Familienverhältnisse  zum  Verkauf  geneigt 
oder  genötigt  ist.  In  vielen  Distrikten  wi«i 
der  Plan  zur  Ausschlachtung  geeigneter 
Bauernhöfe  auch  von  langer  Hand  vorbe- 
reitet. Der  Besitzer  wird  durch  Gelddar- 
lehen, durch  Vieh-  und  Warenwucher  in  die 
Netze  des  Wucherers  gelockt  und  immer 
tiefer  hineingezogen,  bis  dieser  bei  Gelegen- 
heit die  Schlinge  zuzieht    und  den  Hot  zu 


billigem  Preise  ersteht.  Durch  alle  mög- 
lichen Manipulationen  werden  dann  die 
Käufer  der  Parzellen  zu  völlig  unwirtschaft- 
lichen Geboten  verleitet  und  nicht  selten  bei 
ihnen,  wenn  sie  die  eingegangenen  Ver- 
pflichtungen nicht  erfüllen  können,  das 
wucherische  Gebaren  fortgesetzt. 

In  den  westlichen  Teüen  Deutschlands 
mit  weitgehender  Bodenzersplitterung,  na- 
mentlich in  einzelnen  Distrikten  der  Rhein- 
provinz, Bayerns,  Hessens  und  Elsass-Loth- 
ringens  waren  diese  Versteigerungen  geradezu 
zu  einer  Kalamität  und  zum  öffentlichen 
Skandal  geworden. 

In  den  Wirtshäusern  wurde  der  Verkauf 
vorgenommen,  durch  unentgeltliche  Verab- 
folgung von  Speisen  und  geistigen  Ge- 
tränken die  Lust  zum  Bieten  gesteigert,  be- 
zahlte Helfershelfer  oder  schon  in  den  Händen 
der  Wucherer  befindliche  Ijeute  mussten 
mitbieten  und  die  bereits  trunkenen  Be- 
werber zu  immer  höheren  Geboten  auf- 
stacheln. Scheinbar  günstige  Zahlungsbe- 
dingungen mit  kleinen  Anzahlungen  und 
langen  Abzahlungsfristen  verlockten  zu  un- 
verhältnismässigen Geboten,  und  wenn  dann 
die  Erwerber  nicht  im  stände  waren,  eine 
der  bedungenen  Teilzahlungen  zu  entrichten, 
so  nahm  der  Wucherer,  wie  das  in  den 
Versteigerungsprotokollen  vorgesehen  war, 
das  Grundstück  wieder  an  sich  und  alle 
bisherigen  Leistungen  waren  verfallen^). 

So  wurde  die  Güterschlächterei  mit  all 
ihren  Auswüchsen  zum  Unheil  für  ganze 
Distrikte  und  lieferte  ganze  Landstriche  den 
Händen  der  Wucherer  aus. 

Die  Vereine  zur  Bekämpfung  des  Wuchers 
haben  in  letzter  Zeit,  nachdem  auch  die 
öffentliche  Meinung  aufmerksam  geworden, 
diesem  schändlichen  Gebaren  vielfach  nait 
Erfolg  entgegentreten  können.  Aber  es  ist 
mit  einer  Verfolgung  der  Wucherer  und 
des  Wuchers  ^ein  nicht  gethan,  vor  allem 
wird  die  ausgewucherle  Landbevölkerung 
selbst  zum  Widerstände  erzogen  werden 
müssen,  indem  sie  über  das  Treiben  derer, 
die  sich  an  sie  herandrängen,  sowie  über 
den  wahren  Wert  der  Grundstücke  aufge- 
klärt wird.  Gute  Hypothekenverhältnisse 
und  zweckmässige  Kreditorganisationen  kön- 
nen den  Kampf  gegen  den  Grundstücks- 
wucher wesenüich  unterstützen. 

Die  Gesetzgebung  ist  bisher  nur  aus- 
nahmsweise gegen  die  Güterschlächterei 
vorgegangen.  Am  bekanntesten  ist  das 
württembergische  G.  v.  1.  Juli  1853,  welches 


*)  In  einem  oberbayeriachen  Dorfe  sollen 
„innerhalb  15  Jahren  sämtliche  Anwesen  durch 
einen  und  denselben  israeUtischen  Handelsmann 
zweimal  gekauft,  zertrümmert  und  verkauft 
worden  sem".  Vergl.  Sehr.  d.  V.  f.  Sorialpolitik 
35,  S.  97. 


Güterschlächterei 


939 


zunächst  bestimmt,  dass  alle  Kauf-  und 
Pachtverträge  über  (jnmdstücke  schriftlich 
zu  machen  sind,  dass  bei  Versteigerungen 
von  Grund  und  Boden  ein  Notar  oder  Ge- 
meindebeamter zugegen  sein  muss,  dass  nur 
im  I^athaus  oder  ähnlichen  Lokalen  die  Ver- 
steigerung stattfinden  darf  und  dass  jede 
Verabreichung  von  Speisen  und  Getränken 
in  oder  in  der  Nähe  des  Lokales  sowie 
Zahlung  für  Mitbieten  etc.  bei  Strafe  ver- 
boten sein  soll.  Wer  Grundstücke  von 
wenigstens  10  Morgen  Fläche  erwirbt,  darf 
dieselben  innerhalb  dreier  Jahre  nur  im  ganzen 
oder  nicht  mehr  als  den  vierten  Teil  davon 
verkaufen,  es  sei  denn,  dass  die  Kreisre- 
gierung die  besondere  Erlaubnis  zur  Par- 
zellierung erteilt.  Der  §  13  bestimmt  so- 
gar: »Wer  die  verbotene  stückweise  Ver- 
äusserung  von  Gutskomplexen  gewerbs- 
mässig betreibt  oder  derselben  Vorschub 
leistet,  soll  zu  3  Monaten  Gefängnis  und 
500  fl.  bestraft  werden.«  Professor  Heitz 
betonte  zwar  bei  den  Verhandlungen  des  Ver- 
eins für  Sozialpolitik  1888,  dass  auch  diese  Be- 
stimmungen umgangen  würden,  dass  die 
Kreisregierungeu  ausnahmslos  die  Parzel- 
lierungen gestattet  hätten;  aber  trotzdem 
werden  die  dort  erlassenen  gesetzlichen  Be- 


stimmungen, namentlich  das  Verbot  der 
Versteigerung  im  Wirtshaus,  des  Wein- 
kaufs etc.  sowie  der  Zwang,  durch  öffent- 
liche Beamte  die  Versteigerung  vornehmen 
zu  lassen,  endlich  das  Verbot  der  Parzel- 
lierung vor  mehrjährigem  Besitz  die  ersten 
Mittel  sein,  die  von  der  Gesetzgebung  zu 
ergreifen  sind,  um  einer  ungesunden  Güter- 
schlächterei entgegenzutreten. 

Auf  die  Nachteile  eines  Verbotes  der 
Parzellierung  zur  Vermeid\mg  der  Güter- 
schlächterei  brauchen  wir  hier  nicht  einzu- 
gehen und  verweisen  auf  den  Artikel  Bo- 
do nzersplitterung  a.  a.  0.;  ein  solches 
Verbot  könnte  gar  leicht  an  die  Stelle  des 
ungesunden  Zwergbesitzes  den  noch 
viel  ungesunderen  Zustand  der  Zwerg- 
pacht setzen. 

Litteratnr:  Bäuerliche  Ztutände  in  DeuUchland, 
Schriften  des  Vereins  für  Sozicdpolüik,  Bd.  Si, 
SS  u.  24.  —  Der  Wucher  auf  dem  Lande,  Sehr, 
d.  Ver.  f.  Sotialpolitik,  Bd,  S5,  —  Verhandlungen 
des  Vereins  f.  Sonalpolüik  über  Wucher,  1888, 
Schriften  Bd.  SS.  —  Koecher,  NaiionaiÖkono' 
mik  des  Ackerbaues  §§  146f.  —  Weitere  LiUe- 
raiur  siehe  beim  Art.  Bodenzersplitterung, 
oben  Bd.  IT  S.  975  und  Bauerngut  und 
Bauernstand,  oben  Bd.  II  S.  4^7 j68. 

H,  PcMBche. 


H. 


Häfen 

(VersvaltuDg,  Polizei  und  Abgaben). 

1.  Vorbemerkung.  2.  Die  rechtliche  Stellung 
der  H.  3.  Bau  und  Verwaltung  der  H.  4.  Hafen- 
gesetze.   5.  Hafenpolizei.    6.  Hafenabgaben. 

1.  Yorbemerkang.  Einen  Hafen  kann 
man  überhaupt  jeden  für  Schiffe  zugäng- 
lichen Platz  nennen,  welcher,  einen  guten 
Ankergrund  darbietend,  durch  seine  Um- 
gebung Schutz  gegen  Wind  und  Sturm 
gewährt,  mit  anderen  Worten,  wo  unter 
Verhältnissen,  die  das  Vornehmen  oder 
die  Fortsetzung  der  Reise  eines  Schiffes 
verhindern,  eine  gesicherte  Lage  erhalten 
werden  kann.  Im  eigentlichen  Sinne  des 
W^ortes  versteht  man  jedoch  unter  Hafen 
ein  solches  von  der  Natur  geschaffenes  und 
durch  Menschenhand  verbessertes  oder  ganz 
künstlich  hergestelltes  Wasserbecken,  wo 
durch  vorgenommene  Anstalten  verschiedener 
Art  der  sichere  Ein-  und  Ausgang  der 
Schiffe  ermöglicht  und  ihre  Vertauimg  an 
Land  und  Bewegung  innerhalb  des  Platzes 
erleichtert  wird,  wo  ferner  für  eine  leichte 
und  bequeme  Personenverbindung  zwischen 
Schiff  und  Land  und  bequeme  und  schnelle 
Behandlung  der  Ladungen  der  Schiffe  bei 
Ein-  und  Ausfuhi'  gesorgt  ist  und  endlich 
auch  Gelegenheit  zu  Bau,  Reparatiir  und 
Ausriistung  der  Schiffe  sowie  zu  Auflegen 
und  Aufbewahrung  der  zu  löschenden  und 
zu  ladenden  Güter  vorhanden  ist.  —  Unter 
den  öffentlichen  Verkehrsanstalten  nehmen ! 
die  Häfen  einen  besonders  hervorragenden 
Platz  ein.  Als  Stationen  für  die  Schiffahrt 
imd  Endpunkte  der  grossen  Verkehrswege 
im  Lande  vermitteln  dieselben  einen  erheb- 
lichen Teil  des  Warenaustausches  und  Ver- 
kehrs mit  In-  und  Ausland.  Denjenigen 
Ländern,  welche  für  ihre  Verbindungen  mit 
dem  Auslande  allein  oder  hauptsäclilich  auf 
die  Schiffalirt  angewiesen  sind,  werden  sie 
gewissermassen  Pforten  der  ganzen  oder 
wesentlichsten  Ein-  und  Ausfuhi-.  —  Je  nach 


dem  Gebrauche  und  den  besonderen  Ein- 
richtungen unterscheidet  man  Handelshäfen, 
Kriegshäfen,  Winter-  imd  Nothäfen  sowie 
Quarantänehäfen.  —  Für  den  Transit-  oder 
Zwischenhandel  besonders  geeignet  ist  der 
Freihafen,  d.  h.  ein  Hafenplatz,  welcher  er- 
klärt ist,  ausserlialb  der  Zollgrenze  zu  liegen 
und  infolgedessen  von  der  Zollbehörde  in  aUen 
Hinsichten  als  Ausland  betrachtet  wird.  (Vgl. 
d.  Art.  Freihäfen  oben  Bd.  III  S.  1244ff.) 
2.  Die  rechtliche  SteUung  der  H.  Die 
Buchten  und  Einschnitte  des  Meeres  in  den 
Küsten  eines  Staates  bilden  gleich  ^^^e  die 
grösseren  Ströme  in  ihrem  unteren  Wasser- 
laufe einen  Teü  des  Territoriums  dieses 
Staates,  dessen  Eigengewässer.  Dieselben 
sind  nach  übereinstimmenden  Landesgesetz- 
gebungen Staatseigentum,  stehen  aber  als 
öffentliche  Gewässer  zu  freier  allgemeiner 
Benutzung  der  Staatsangehörigen. 

Der  Teil  des  offenen  Meeres,  welcher 
dem  Festlande  zunächst  und  ausserhalb  der 
genannten  Eigengewässer  liegt,  gehört  dem 
Küstenstaate  nicht,  sondern  ist  ein  freies 
Bewegungsgebiet.  Dieses  Küstengewässer 
wird  aber  nach  allgemein  erkannter  Staaten- 
praxis dem  angrenzenden  Staate  auf  eine 
gewisse  Strecke  hinaus  zugerechnet.  Die 
Grenze,  bis  an  welche  der  Küstenstaat  seine 
Autorität  also  geltend  machen  kann,  (die 
Seegrenze)  ist  doch  hier  nicht  ein-  für  alle- 
mal zu  fixieren.  Nach  früheren  völkerrecht- 
lichen Nonnen  sollte  diese  Grenze  so  weit 
liinaus  liegen,  als  das  Meer  durch  Kriegs- 
mittel von  der  Küste  aus  beheiTScht  werden 
konnte.  Die  gegenwärtige  juristische  Auf- 
fassung macht  die  Grenze  abhängig  von  der 
Pflicht  des  betreffenden  Staates,  die  wirt- 
schaftlichen Literessen  seiner  Angehörigen 
und  seine  eigenen  Verwaltungsinteresseu  zu 
wahren.  Dieses  Gewässer  erstreckt  sich 
also  so  weit  hinaus,  als  der  Staat  es  für  not- 
wendig erachtet,  durch  Rechts-  und  Ver- 
waltungsvorschriften die  wirtschaftliche 
Thätigkeit  zur  See  seiner  Angehörigen  zu 


Häfen 


941 


ordnen  und  zu  schützen  (Fischerei,  Küsten- 
schiffahrt) oder  seine  eigenen  über  den  mari- 
timen Verkehr  sich  erstreckenden  Yer- 
waJtungseinrichtungen  zu  regeln  (Zoll-,  Lot- 
sen-, Quarantänewesen  u.  s.  w.).  (Vgl.  d.  Art. 
Gewässer  oben  Bd.  IV  S.  348 ff.)  —Der 
Strand  dieses  Gewässers  d.  h.  derjenige  Strich 
des  Landes,  den  das  Meer  je  nach  Flut  und 
Ebbe  abwechselnd  bespült  imd  trocken  lässt, 
ist  nach  nationaler  Gesetzgebung  Staatseigen- 
tum. 

Dasselbe  gilt  für  die  in  den  obenerwälmten 
Gewässern  sowie  in  den  öffentlichen,  für  die 
freie  allgemeine  Schiffahrt  eröffneten  Strömen 
hergestellten  Hafenanlagen  und  dazu  ge- 
hörenden Reeden,  und  hierbei  macht  es  prin- 
cipiell  keinen  unterschied  aus,  ob  die  Hafen- 
amage  mit  Staats-  oder  Privatmitteln  — 
letzteres  ist  übrigens  nur  ausnahmsweise 
der  Fall  —  ausgeführt  worden  ist  (L.  c). 

Was  das  Eigentumsrecht  und  die  Kom- 
petenz des  Staates  über  die  Häfen  betrifft, 
ist  folgendes  aus  den  einzelnen  Gesetz- 
gebungen zu  entnehmen. 

Das  preussische  allgemeine  Landrecht 
(II,  Tit.  15,  §  80)  enthält  nur  den  Satz,  dass 
die  Häfen  und  Meeresufer  Eigentum  des 
Staates  sind.  Pläne  zu  Nenanlagen  und  zu 
Aenderungen  der  Häfen  unterliegen  höherer 
Bestätigung.  —  Das  französische  Gesetz  er- 
klärt den  bei  Ebbe  und  Flut  vom  Meere  ab- 
und  zugedeckten  Teil  des  Meeresufers,  die  See- 
und  Flusshäfen,  Reeden  samt  segel-  und  flöss- 
baren Ströme  als  Staatseigentum  (dependances 
du  domaine  public)  (Code  Nap.  Art.  538).  — 
In  Italien  gehören  nach  dem  Civilgesetze  zu 
den  Domänengütem  des  Staates  das  Meeresufer, 
Häfen,  Buchten,  Seeküste,  alle  Bauten  in  den 
Häfen,  d.  h.  Molen,  Dämme,  Wellenbrecher, 
Kanäle,  Feuertürme  n.  s.  w.  und  femer  segel- 
bare und  für  Transport  geeignete  Flüsse. 
Nicht  allein  die  immer  bedeckte  Wasserlage, 
sondern  auch  das  Feld  zwischen  dem  höchsten 
und  niedrigsten  Wasserstand  ist  Staatseigen- 
tum. —  In  Spanien  ist  Staatseigentum  zum 
öffentlichen  Gebrauch  (dominio  nacional  y  uso 
publico)  das  Gebiet  der  Meeresküste,  welches 
bei  Ebbe  und  Flut  blossgelegt  und  bedeckt 
oder  bei  Sturm  von  den  Wellen  berührt  wird, 
die  Flussufer,  soweit  die  Flüsse  schiffbar  sind 
oder  die  Einwirkung  der  Hebung  oder  Senkung 
des  Meerwassers  erfahren  (zona  maritime 
terreatre),  femer  das  Wasser  in  der  ganzen, 
nach  dem  Völkerrecht  geltenden  Ausdehnung 
nebst  den  innerhalb  dieses  Gebietes  befindlichen 
Beeden,  Häfen  und  anderen  Schutzplätzen,  wo- 
von die  Schiffahrt  Vorteil  ziehen  kann  (zona 
maritimo).  Als  Häfen  werden  alle  durch  ihre 
natürliche  Lage  und  durch  zweckmässige  An- 
lagen mehr  oder  weniger  g^chUtzten  Plätze  an 
der  Küste  angesehen,  wo  ein  geordneter  Schiffs- 
verkehr stattfindet,  und  ebenso  haben  die  Flnss- 
mündungen  den  Charakter  der  Häfen,  so  weit 
als  der  Strom  vom  Steigen  und  Fallen  des 
Meeres  beeinflusst  wird,  oder,  wenn  dies  nicht 
der  Fall  ist,  so  weit  als  das  Meerwasser  bei 
gewöhnlichen  Stürmen  das  Wasser  des  Flusses 


zu  beunruhigen  vermag  (G.  v.  7.  Mai  1880).  — 
In  England  darf  keine  Hafen-,  Dock-  oder 
Pieranlage  oder  irgend  ein  Teil  davon,  auch 
keine  in  Verbindung  damit  stehende  Anlage 
auf  einem  Teil  der  Meeresküste  oder  in  einem 
Meerbusen,  Bucht  oder  Arm  des  Meeres  oder 
in  einem  darin  ausmündenden  segelbaren 
Flusse  so  weit  hinauf,  als  das  Hochwasser 
merkbar  ist,  ohne  staatliche  Genehmigung  her- 
gestellt werden.  Baupläne  sowie  etwaige  Aen- 
derangen  darin  müssen  in  derselben  Weise  ge- 
nehmigt werden  (10  Vict.  c.  27).  —  In 
Dänemark  (G.  v.  26.  Mai  1868)  und  in  Nor- 
wegen (G.  V.  10.  Juli  1894)  können  Häfen 
auch  nicht  hergestellt  oder  verändert  werden 
ohne  staatliche  Erlaubnis.  —  Dasselbe  gilt  auch 
in  Schweden,  wo  keine  Hafenanlage  und 
keine  die  Veränderung  eines  Hafens  bewirkende 
Massregeln  irgend  welcher  Art  vorgenommen 
werden  dürfen  ohne  Einwilligung  der  königlichen 
Lotsenbehörde,  welcher  die  Oberaufsicht  über 
die  Fahrwasser  und  Häfen  —  Kriegjshäfen  aus- 
genommen —  übertragen  worden  ist  (König- 
licher Eriass  vom  18.  Mai  1878). 

Nach  vöIkeiTechtlichen  Grundsätzen  ste- 
hen die  Häfen  auch  fremden  Staatsangehörigen 
offen.  Durch  Staatsverträge  werden  öfters 
die  fremden  Schiffe  hinsichtlich  der  Ent- 
richtung der  Abgaben  den  nationalen  gleich- 
gestellt. 

3.  Ban  und  Yerwaltnng  der  H.     In 

den  meisten  Ländern  ist  der  Staat  un- 
mittelbar thätig  riicksichtlich  des  Baues 
und  der  Verwaltung  der  Häfen.  Alles,  was 
zu  deren  Anlage,  Erhaltung  und  Betriebe 
gehört,  wird  dann  ausschliesslich  durch  seine 
eigenen  Organe  ausgeführt  (Staatshäfen).  In 
anderen  Ländern  überlässt  der  Staat  die 
Herstellung  und  Verwaltimg  der  Häfen  ganz 
oder  teilweise  den  Gemeinden  in  Selbstver- 
waltung oder  durch  zu  diesem  Zwecke 
besonders  eingesetzte  Kommissionen,  deren 
Verwaltung  vom  Staate  kontrolliert  wird. 

Die  zum  Bau  und  zur  Erhaltung  der 
Häfen  und  zu  der  Herstellung  und  Erhaltung 
der  besonderen  Anstalten  und  Bequemlich- 
keiten für  den  Hafenverkehr  erforaerlichen 
Mittel  werden  auf  verschiedenen  Wegen 
aufgebracht.  Sie  bestehen  teils  in  Zu- 
wendungen (in  verschiedener  Weise  geregelt) 
seitens  des  Staates  und  der  Kommunalver- 
bände, teils  im  Ertrage  der  Abgaben,  welche 
von  den  in  den  Hafen  einlaufenden  Schiffen 
und  —  was  seltener  der  Fall  ist  —  von  den 
im  Hafen  gelöschten  und  geladenen  Waren 
erhoben  werden  (Hafenabgaben  in  eigent- 
lichem Sinne),  teils  in  Gebühren  für  die 
Benutzung  der  Einrichtungen,  die  für  ge- 
wisse Waren  oder  unter  besonderen  Ver- 
hältnissen erforderlich  sind  oder  bei  Inan- 
spruchnahme besonderer  Hilfsleistungen  vor- 
kommen (z.  B.  bei  Vertauung,  Verholung, 
Ballastarbeiten,  Benutzimg  der  Hebevor- 
richtungen, Dm'chfahren  von  Brücken  etc.), 
ferner  Mieten    für  Lagerplätze    im   Freien 


942 


Häfen 


oder  Lagerungen  in  Speichern  und  Schuppen, 
für  Transporte  auf  dem  Quai-  und  Hafen- 
geleise u.  8.  w. 

Nach    der    deutschen   Reichsverfassnng 

SArt.    ö4)    bilden    die   Kauffahrteischiffe    aller 
Bundesstaaten  eine  einheitliche  Handelsmarinei 
hinsichtlich  welcher  gewisse  allgemeine  seerecht- 
liche und  reglementarische  Vorschriften  erlassen 
sind,  und  gleichfalls  hat  sich  die  Reichsregie- 
rung die  Aufsicht  über  und  die  Gesetzgebung 
betreffend   die   Schiffahrt   auf  den  für  mehrere 
Staaten  gemeinsamen  Wasserstrassen  Torhehai- 
ten.    Das  Hafenwesen  aber  hildet  keine  für  das 
Reich     gemeinsame    Angelegenheit.      Infolge- 
dessen sind  die  einzelnen  deutschen  Staaten  in 
ihrer  Gesetzgebung  auf  diesem  Gebiete  völlig 
unabhängig.     Die  Häfen   der  Hansestädte 
werden  als  Staatseigentum   verwaltet  und  die 
Arbeitskosten   von   der  Staatskasse  bestritten. 
In  Hamburg  liegt  die  Aufsicht  Über  Hafen- 
bau und  Baggerwesen  einer  Abteilung  der  Bau- 
deputation ob)  während  die  Aufsicht  über  den 
Hafen  im  übrigen  und  die  Bewegung  innerhalb 
desselben    der    Deputation     für    Iiandel    und 
Schiffahrt    zukommt.     Hierher   gehörende  Ge- 
schäfte werden  in  Bremen  mit  etwa  derselben 
Zuständigkeit  von  der  Baudeputation  und  der 
Deputation  für  Handel  und  Eisenbahnen  ge- 
handhabt.   Für  Bremerhaven  ist  ein  besonderes 
der  letztgenannten  Deputation  untergeordnetes 
Hafenamt  thätig.    In  Lübeck  ist  die  Aufsicht 
über  das  Hafenwesen   zwischen   der  Baudepu- 
tation und  der  Polizeibehörde  geteilt.    Was  die 
preussischen   Häfen   angeht,    so   werden 
gewöhnlich  dort  die  Arbeiten  besorgt  und  die 
Verwaltung  geleitet  von  besonderen,  unter  Auf- 
sicht der  Magistrate  stehenden  Kommissionen, 
die  verschiedene  Benennungen  führen,  oder  von 
den  Baukommissionen  der  §tä4te  (Stettin :  Bau- 
deputation ;  Kiel :  Hafenkommission ;  Flensburg : 
Hafen-  und  Brückenkommission  etc.).   In  Swine- 
münde   (Staatshafen)   fungiert   eine   königliche 
Schiffahrtskommission     als     Lokalbehörde,     in 
Königsberg  eine  königliche  Hafenpolizeibehörde. 
Die   Arbeitskosten  werden   aus   den  Hafenein- 
nahmen resp.  aus  städtischen  Mittelu  bestritten. 
—   In  Mecklenburg   beschäftigt  sich  die 
Landesregierung   nur   ausnahmsweise  mit   den 
Hafenangelegenheiten,     welche   von  Lokalbe- 
hörden   geführt    werden     (Rostock:    Bauamt; 
Wismar:  Hafendepartement).  —  Die  Häfen  in 
Dänemark  teilen  sich  in  Staat«häfen  (4),   den 
Hafen  von  Kopenhagen,   der  vom  Staate  ver- 
waltet wird,  während  die  Stadt  mitunter  beim 
Ausführen     grosserer     Arbeitsuntemehmungen 
mitwirkt,  und  die  Provinzhäfen,  deren  Bau  und 
Verwaltung  von  Gemeindeausschüssen  (Havneud- 
valg)  besorgt  werden,  stets  unter  Kontrolle  des 
Ministeriums  des  Innern.    Die  nächste  Leitung 
des  Hafenwesens   in  Schweden  ist   bald  be- 
sonderen Kommissionen  (hamnstyr eiser,   hamn- 
direktioner),  bald  dem  allgemeinen  vollziehenden 
Organe  der  Gemeinden  (in  den  Städten :  drätsel- 
kammaren)  überlassen,  deren  Verwaltung  jedoch 
keiner    näheren  Kontrolle   seitens   des   Staates 
unterliegt.  —  Norwegen.     Die  Oberaufsicht 
über  das  Hafenwesen  und  was   damit  in  Ver- 
bindung steht,  ist  einem  zum  Departement  der 
öffentlichen     Arbeiten     gehörenden     Beamten 
(Havnedirektor)   übertragen.     Die   Verwaltung 


der  kleineren  Hafenplätze  kommt  dem  Staate 
allein  zu,   aber    den  Städten  ist  ein   gewisses 
Verfügungsrecht     bezüglich     der    Verwaltung 
der    Häfen   eingeräumt.     In  jeder  Kaufstadt, 
zu  welcher  eine  oder  mehrere  Ladestellen  ge- 
hören    können,     soll     eine     Hafenkommission 
(Havnestyre)    vorhanden    sein,    deren    Zusam- 
mensetzung überall  dieselbe  und  die  in  ihrer 
fesamten  Thätigkeit  kontrolliert  ist  (G.  v.  10. 
Uli   1894).    —    In   Grossbritannien   tritt 
der  Staat   nicht   aktiv   auf  bei  Anlagen  und 
Erweiterungen  der  Häfen,  beschliesst  aber,  was 
ausgeführt   werden    soU,  und    wacht  darüber, 
dass   Abweichungen    von    ergangenen    Bestim- 
mungen   in    dieser  Hinsicht   nicht  geschehen. 
Die  Berechtigung  zum  Ausführen  der  Arbeiten 
wird  durch  besonderes  Gesetz  (special  act)  ge- 
geben und  die  Leitung  der  Arbeiten  einer  be- 
sonderen Kommission  (Harbour  Commissioners, 
H.  trnstees)   überlassen   (10  Vict.  cap.   27).  — 
Die  Niederlande.    Die  Oberaufsicht  über  die 
Wasserstrassen  kommt  dem  „Waterstaate"  zu. 
Daran  beteiligen  sich  aber  die  Provinzräte  (pro- 
vinziale  Staaten)  und  unter  ihrer  Kontrolle  die 
Gemeinde,  je  nachdem  es  sich  handelt  um  Kom- 
munikationen  von  allgemeinem  oder  nur  von 
lokalem  Interesse.    Mit  Ausnahme  der  Staats- 
häfen (3)  werden  die  Kosten  der  Häfen  von  den 
Gemeinden  getragen,  ohne  dass  dies  jedoch  die 
Mitwirkung  des  Staates  zu  Unternehmungen, 
die  ein  aUgemeines  oder  Staatsinteresse  haben, 
ausschliesst.    Da  die  Häfen  indessen  grössten- 
teils an  Flüssen  oder  Kanälen,  über  welche  der 
Staat  Hoheitsrechte  hat,  liefen,  umfasst  das  den 
Gemeinden  zukommende  Verwaltungsrecht  im 
aUgemeinen  nicht  das  ganze  Wassergebiet  der 
Häfen.  —  Belgien.    AUe  Arbeiten,  die  Ver^ 
änderung  der  Meeresküste  oder  Flussufer  be- 
wirken,   also  Anlagen  von  Aussenhäfen,   Qnai- 
strecknngen  die  Flüsse  entlang,  werden  durch 
den  Staat  ausgeführt  entweder  auf  eigene  Kosten 
oder  nach  Vereinbarung   mit  den  betreffenden 
Gemeinden  über  Verteilung  der  Kosten.    Den 
letzteren  kommt  dagegen  Anlage   und  Unter- 
haltung der  Bassins  innerhalb  der  äusseren  Hafen- 
werke, Docks,  aUe  Einrichtungen  und  Anstalten 
für  Löschen  und  Laden  etc.  zu,   ebenso  mehr 
oder    weniger    die   Verwaltungsobliegenheiten. 
Pläne  und  Kostenanschläge  werden  von  Staats- 
ingenieuren (Ingenieurs  des  ponts  et  chaussees) 
ausgearbeitet  und  durch  das  Ministerium  der 
öffentlichen    Arbeiten     weiter     behandelt.    — 
Frankreich.     Die  Ausführung  aller  Hafen- 
bauarbeiten wird  ebenfalls  bewirkt  durch  Staats- 
ingenieure (Ingenieurs  des  ponts  et  chaussees), 
deren  Dienst  auch  Vertiefung  und  Unterhaltung 
der  Häfen,   Aufführung  von   Bauten  zum  Be- 
darfe  des  Verkehrs  etc.   nebst  Ueberwachung 
der  Bewegung  in  den  Häfen  umfasst.    Nicht 
selten  nehmen  die  Städte  oder  Handelskammern 
oder  beide  in  solidarischer  Gemeinschaft  an  den 
Ausgaben  für  die  Hafenanlagen  etc.  teil  mittelst 
Geldbeiträgen  oder  Vorschüssen,  welche  letztere 
teilweise  in  bestimmten  Annuitäten,   teilweise 
mit  dem  Ertrage  einer  besonderen  Abgabe  zu- 
rückerstattet werden,  die  so  lange  dem  Hafen- 
verkehre auferlegt  werden  darf,  als  für  diesen 
Zweck  nötig  ist.    Die  zur  Erleichterung  der  Aus- 
und  Einladung  und  Aufbewahrung  der  Waren  und 
dergl.  erforderlichen  Vorrichtungen  und  Bauten 
gehören  gewöhnlich  nicht  zu  den  auf  Staats- 


Häfen 


943 


kosten  ausgeführten  Arbeiten,  sondern  werden, 
erhaltener  Konzession  gemäss,  von  den  Handels- 
kammern unter  Aufsicht  der  Staatsingenieure 
ausgeführt.    Nach  Ablauf  der  Konzession,  fallen 

1'ene  Anstalten  und  Bauten  dem  Staate  zu.  — 
Portugal,  Sowohl  in  niaterieller  als  tech- 
nischer Hinsicht  sorgt  der  Staat  für  die  Häfen, 
indem  er  allein  alle  Ausgaben  für  Neuanlagen 
und  Unterhaltung  bestreitet,  welche  entweder 
vom  Staate  selbst  oder  unter  Aufsicht  von 
Staatsingenieuren  bewerkstelligt  werden.  —  Die 
Häfen  Spaniens  teilen  sich  in  zwei  Haupt- 
klassen, von  denen  die  eine,  die  in  zwei  Unter- 
abteilungen zerfällt,  Häfen  von  allgemeinem  In- 
teresse (wozu  diejenigen,  welche  mehreren  Pro- 
vinzen nützen  und  in  unmittelbarer  Verbindung 
mit  den  bedeutendsten  Froduktionscentren  des 
Landes  stehen,  gerechnet  werden)  samt  Not- 
häfen in  sich  fasst;  die  andere  Häfen,  welche 
hauptsächlich  dem  Lokalverkehre  dienen.  Ar- 
beiten in  den  Häfen  1.  Klasse  werden  vom 
Staate  ausgeführt,  mitunter  mit  Provinzial-  oder 
Gemeindezuschüssen.  Die  Leitung  dieser  Ar- 
beiten kommt  Staatsingenieuren  (mgenieros  de 
caminos,  canales  y  puertos),  unter  Aufsicht  einer 
Baudirektion  (Junta  de  obras  de  puerto)  zu. 
In  Häfen  2.  Klasse  werden  dieselben  den  Um- 
ständen nach  auch  vom  Staate  ausgeführt,  die 
Kosten  aber  aus  den  Provinzial-  und  Gemeinde- 
kassen, zuweilen  unter  Beihilfe  des  Staates,  be- 
stritten (G.  V.  7.  Mai  1880).  —  Die  italieni- 
schen Häfen  sind  gleichfalls  in  zwei  Haupt- 
gruppen geteilt  Zu  der  ersten  gehören  die, 
welche  lediglich  oder  hauptsächlich  zu  Militär- 
zwecken gebraucht  werden,  nebst  wichtigeren 
Schutz-  und  Nothäfen.  Zu  der  anderen  gehören 
diejenigen,  welche  hauptsächlich  dem  Handel 
zu  dienen  bestimmt  sind.  Die  letzteren  sind 
in  vier  Klassen  geteilt  je  nach  ihrem  Platze  in 
den  grösseren  Kommunikationslinien  und  ihrer 
sonstigen  Bedeutung  für  das  Land  im  ganzen 
oder  für  grössere  oder  kleinere  Landesteile,  je 
nach  der  Grösse  des  durch  sie  vermittelten 
Warenumsatzes.  Unkosten  aller  Art  für  die 
Häfen  der  1.  Abteilung  werden  der  Kegel  nach 
vom  Staate  bestritten,  werden  aber,  was  die  der 
2.  Abteilung  betrifft,  verteilt  zwischen  dem 
Staate  einerseits  und  den  Provinzen  und  Ge- 
meinden andererseits,  wobei  die  Staatszuschüsse 
für  die  verschiedenen  Klassen  sich  auf  80,  70 
und  60,  40  und  30  %  belaufen.  Die  Gemeinden 
können  das  Becht  erhalten,  als  Beitrag  zu  den 
ausserordentlichen  Arbeiten  eine   gewisse  Ab- 

fabe  vom  Schiffsverkehre  zu  erheben  (G.  v.  16. 
Uli  1884).  —  Oesterreich-Ungarn.  Der 
Staat  trägt  die  Kosten  für  alle  zum  Schutz  und 
Befördern  der  maritimen  Schiffahrt  dienenden 
Anlagen  und  Einrichtungen  nebst  den  Ausgaben 
für  das  Hafen-  und  Seesanitätspersonal.  Die 
Fürsorge  und  die  gesamte  Aufsicht  über  die 
Handelsflotte,  darunter  alles,  was  zum  Hafen- 
wesen gehört,  liegen  zweien,  dem  Handels- 
ministerium untergeordneten,  Seebehörden  ob, 
die  eine  in  Triest  für  das  österreichisch-illyrische 
Küstengebiet  (k.  k.  Seebehörde),  die  andere  in 
Fiume  für  das  ungarisch-kroatische  Gebiet 
(J.  R  Govemo  marittimo).  Die  Ausführung 
der  Hafenarbeiten  geschieht  durch  Staatsin- 
genieure unter  Aufsicht  der  besagten  Ver- 
waltungsbehörden (G.  v.  19.  April  1871  und 
26.  August  1872). 


4.  Hafengesetze.  la  mehreren  Ländern 
sind  die  für  die  Häfeii  gemeinschaftlich  an- 
wendbaren Bestimmungen  über  die  Zustän- 
digkeit der  Hafenbehörden,  Erhaltung  der 
Sicherheit  und  Ruhe,  Benutzung  des  Hafens 
durch  Schiffe,  Löschen  und  Laden,  Lagenmg 
und  Wegschaffen  der  Güter,  erlaubte  Arbeits- 
zeit, Schadenersatz,  Erlegung  von  Straf- 
geldern etc.,  in  einem  allgemeinen  Hafen- 
gesetz  erlassen.  —  Dies  ist  der  Fall  in  Nor- 
wegen (G.  v.  10.  Jidi  1894),  Grossbritannien 
(10  Vict.  cap.  27),  Frankreich  (G.  v.  28. 
Februar  1867),  Italien  (G.  v.  20.  November 
1879),  Rumänien  (G.  v.  24.  März  1879), 
Oesterreich-üngarn  (G.  v.  14.  März  1884)^ 
teilweise  auch  in  Dänemark  (G.  v.  26.  Mai 
1868).  Sie  finden  ihre  Ergänzung  in  be- 
sonderen Yeix)rdnungen  (Hafenordnung, 
(special  act,  byelaw),  welche  Bestimmungen 
enthalten,  die  von  lokalen  Verhältnissen  ab- 
hängig sind,  so  Vorschriften  über  den  Ge- 
brauch gewisser  Anstalten,  Aufrechterhaltung 
der  Ordnung  im  Hafen  und  dergl.  —  In 
den  übrigen  Ländern  hat  man  nur  Lokal- 
verordnungen, die  jedoch  mitimter  nach 
einem  einheitlichen  System  aufgestellt  sind 
(Dänemark).  In  Preussen  hat  der  Minister 
für  Handel  und  Gewerbe  Hafenordnungen 
zu  erlassen,  welche  sich  über  das  Gebiet 
einer  einzelnen  Provinz  hinaus  erstrecken, 
der  Oberpräsident  solche,  welche  auf  die 
ganze  Provinz  oder  auf  mehr  als  einen  Re- 
gierungsbezirk sich  erstrecken.  Im  übrigen 
ist  der  Regierungspräsident  zuständig.  Auch 
die  mit  der  Hafenverwaltung  beauftragten, 
dem  Minister  unmittelbar  unterstellten  Be- 
hörden können  Hafenordnungen  erlassen 
(G.  über  die  allg.  Landesverwaltung  v.  30. 
Juli  1883,  §  136,  138,  145). 

5.  Haf enpoUzei.  Die  Hafenpolizei,  welche 
nur  ausnahmsweise  den  Gemeindebehörden 
untergeordnet  ist,  hat  die  Erhaltung  der 
Hafenwerke  zu  überwachen,  die  Ordnung, 
Sicherheit  und  Bequemlichkeit  des  Verkehrs 
innerhalb  des  Landes-  und  Wassergebietes 
des  Hafens  zu  wahren  imd  diesen  Verkehr 
in  verschiedenen  Richtungen  hin  zu  bedienen. 
Oft  ist  die  Aufsicht  über  das  Befolgen  der 
Gesetze  und  Vorschriften  hinsichtlich  der 
Schiffalirt  damit  verbimden.  In  einigen 
Ländern  umfasst  die  Hafenpolizei  auch  die 
Handliabung  eines  besonderen  Zweiges  der 
Gesundheitspolizei  (Seesanitäts-  und  Quaran- 
täneanstalten).  Die  Grenzen  des  Hafen- 
reviers bezeichnen  das  Wassergebiet,  über 
welches  die  Hafeupolizei  ihre  Tliätigkeit  aus- 
zuüben hat. 

Die  Ausübung  der  Hafeupolizei  kommt  in 
mehreren  Ländern  denselben  Behörden  zu, 
welche  die  Vorschriften  über  Beaufsichtigung 
des  staatlichen  See-  und  Küstengebiets  und 
über  die  Handelsmarine  aufrecht  zu  erhalten 
haben.  In  Itali  en  ist  hierfür  ein  Beamt.enkorps 
eingerichtet  mit  demMarineminister  als  höchstem 


944 


Häfen 


Chef.  Die  Kttstenstrecke  ist  in  23  Bezirke 
(compartimenti  marittimi),  eingeteilt  mit  je 
einem  Hauptorte,  wo  ein  Hafenkapitän  (ca^itano 
di  porto)  angestellt  ist.  Die  Bezirke  zerfallen 
in  62  Kreise  (circondari  marittimi),  jeder  mit 
einem  Hauptplatze,  Sitz  eines  dem  Hafenkapitän 
subordinierten  Hafenbeamten  (uffiziale  di  porto). 
In  anderen  wichtigen  Häfen  sind  Unterbeamte 
(uffiziali  di  porti  locali)  den  Kreisbeamten  unter- 
stellt. An  jedem  kleineren  Hafenplatze  wird 
derselbe  von  einem  Bevollmächtigten  (deligato 
di  porto)  vertreten.  Das  gesamte  Bezirksper- 
sonal bildet  eine  Korpsabteilun^  (capitaneria 
di  porto).  Ein  Viertel  der  Stellen,  die  für 
jeden  Grad  in  Klassen  geteilt  sind,  ist  Offizieren 
der  Kriegsflotte  vorbehalten  j  die  Inhaber  der 
übrigen  werden  aus  der  Handelsmarine  ge- 
wählt. Die  seerechtlichen  Geschäfte,  welche 
diese  Beamten  und  deren  Hilfsbeamten  (nocchieri 
u.  a.)  auszuführen  haben,  umfassen:  Matriku- 
lierung.  Auf-  und  Abmusterung,  Prüfungen  etc. 
von  Seeleuten,  die  Ausfertigung  oder  Empfeh- 
lung zu  Befähigungszeugnissen  für  Schiffskapi- 
täne, Schiffsbaumeister  oder  Schiffsmesser,  Re- 
gistrierung der  Schiffe  und  Führimg  der  amt- 
lichen Verzeichnisse  über  Eigentums-  und  andere 
Rechte  auf  dieselben,  die  Besorgung  von  Be- 
sichtigungen der  Passagierschiffe  und  der  für 
längere  Fahrten  ausgerüsteten  Schiffe,  die  Prü- 
fung von  Schiffsjournalen  und  Ausführung  der 
dadurch  veranlassten  Untersuchungen,  die  Kon- 
trolle über  Schiffsbau  und  Schiffsraessungen,  die 
Aufsicht  über  das  Lotsen-,  Feuer-  und  Signal- 
wesen, Rettungswesen,  Verwaltung  der  Stran- 
dungsangelegenheiteu  und  Untersuchungen  der 
Seeunfälie,  die  Verwaltung  des  Invalidenfonds 
der  Handelsflotte,  Aufsicht  auf  Grund  der  Vor- 
schriften über  die  Seefischerei,  die  Entscheidung 
von  Fragen  über  Berechnung  der  Hafenabgaben 
und  von  gewissen  Streitsachen  über  Objekte 
von  geringerem  Werte  nebst  vielerlei  anderen 
Gegenständen.  Hierzu  kommt  die  Ausführung 
des  eigentlichen  Hafendienstes  und  die  Hand- 
habung der  Seesanitätsdienste  unter  Aufsicht 
des  Ministeriums  des  Innern  (G.  v.  24.  Oktober 
1877  und  20.  November  1879).  —  Eine  ähnliche 
Organisation  hat  Spanien  aufzuweisen.  Die 
Küste  ist  hier  in  3  Marinedepartements  mit  je 
einem  Chef  eingeteilt.  In  jeder  zum  Departe- 
ment gehörenden  Provinz  ist  ein  Marinekom- 
mandant (commandante  di  marina)  angestellt, 
und  ein  solcher  findet  sich  in  allen  grösseren 
Häfen.  Die  Provinz  ist  in  Kreise  geteilt  mit 
einem  Unterbeamten  (ayudante)  in  jeder.  Diese 
Marinebehörden,  deren  Beamte  der  Kriegsmarine 
zngehören  mit  Anstellung  nur  für  2  Jahre  (die 
höchsten  Chargen  ausgenommen),  haben,  ausser 
den  allgemeinen  Schiffahrtsgeschäften,  als  Hafen- 
kapitäne (capitan  del  puerto)  die  Ordnung  in 
den  Häfen,  was  deren  Wassergebiete  betrifft, 
zu  überwachen.  Die  Ordnung  innerhalb  des 
Landgebietes  und  die  Benutzung  der  dortigen 
Schiffahrtseinrichtungen  beaufsichtigen  die 
Staatsingenieure  mit  Hilfe  von  Hafenaufsehern 
(guarda-muellos)  und  den  Zollbeamten.  Bezüg- 
lich des  letztßfenannten  Teiles  der  Häfen  haben 
auch  die  Provinzgouverneure  Aufsichts-  und  in 
besonderen  Fällen  Entscheidungsrecht  (G.  v.  7. 
Mai  188()j.  —  Das  Küstenland  Portugals 
ist  in  gleicher  Weise  in  3  Bezirke  geteilt  und 
diese  in  18  Kreise,  jeder  unter  Vorsitz   eines 


Hafenkapitäns  (capitao  do  porto).  Drei  von 
ihnen  sind  zugleich  Bezirksvorsteher,  dem 
Generaldirektor  der  Marine  untergeordnet.  Die 
Hafenkapitäne  und  ihre  Hilfsbeamten  (patroes 
mores)  haben  einen  umfassenden  Dienst.  Auch 
diese  Beamten  werden  nur  für  eine  Zeit  von 
3  Jahren  unter  den  Offizieren  und  Unteroffizieren 
der  Kriegsflotte  ausersehen.  Auf  den  kleineren 
Plätzen  fungieren  Bevollmächtigte  (delegados) 
(G.  V.  27.  Juli  1882).  —  Die  Hafenkapitäne  in 
den  rumänischen  Häfen  (capitaniu  de  port) 
nehmen  eine  gleichartige  Stellung  ein,  stehen 
unter  dem  Minister  der  öffentlichen  Angelegen- 
heiten. —  Die  österr.-dalmat.-illyr.  Küste 
bildet  8  Hafen-  und  Seesanitätsbezirke  (Hafen- 
und  Seekapitanate)  mit  18  Kreisen  (Hafen-  u. 
Seedeputationen)  mit  Unterabteilungen  auf 
weniger  wichtigen  Plätzen  (Hafen-  und  See- 
exposituren).  Die  un^ar.-kroat.  Küste  nm- 
fasst  7  Kapitanate  mit  Unterabteilungen  für 
einige.  Die  Kapitanate,  deren  höhere,  den  Offi- 
zieren der  Kriegsflotte  und  Schiffskapitänen 
entnommenen  Beamten  die  Hafenkapitäne  (capi- 
tani  di  porto),  Vice-Hafenkapitäne  und  Hafen- 
leutnants (tenenti  di  porto)  sind,  stehen  in 
ihren  gesamten  ausgedehnten  Dienstgeschäften 
unter  den  k.  k.  Seeverwaltungen  (G.  v.  19.  April 
1871).  —  In  den  übrigen  Ländern  ist  der  Hafen- 
dienst mit  der  staatlichen  Aufsicht  über  das 
Seewesen  nicht  verbunden.  In  Frankreich, 
wo  die  Aufsicht  über  die  Häfen  von  den  dort 
stationierten  Staatsingenieuren  geführt  wird, 
bilden  die  zur  Hafenpolizei  gehörenden  Beamten 
ein  Korps  von  verschiedenen  Graden  und 
Klassen.  Diese  Beamten,  Hafeukapitäne  (capi- 
taines  de  port),  Hafenleutnants  (lieutenants  de 
port)  und  Hafenmeist-ern  (maStres  de  port), 
werden  teils  aus  den  Offizieren  und  Unter- 
offizieren der  Kriegsmarine,  teils  aus  der  Han- 
delsflotte genommen.  Sie  sind  dem  Minister 
der  öffentlichen  Arbeiten  unterstellt,  aber 
zugleich  verpflichtet,  den  Behörden,  welche  die 
allgemeinen  Schiffahrtsangelegenheiten  ver- 
walten, hierin  behilflich  zu  sein  (G.  v.  15.  Juli 
ISiVl  und  27.  Januar  1876).  —  In  Preussen 
gehört  die  Hafenpolizei  nicht  zur  Ortspolizei 
(Kreisord.  v.  1872  §  59),  sondern  zur  Landes- 
polizei. Sie  wird  gehandhabt  von  dem  Be- 
gierungspräsidenten und  den  ihm  unterstellten 
Uafenpolizeikommissionen.  Ausführungsorgane 
der  letzteren  sind  die  Hafenmeister.  —  Während 
j  diese  in  Norwegen  (Hafnefoged)  vom  Staate  an- 
gestellt sind  und  in  Grossbritannien  (Harbour 
master,  dockmaster)  den  Gemeinden  gegenüber 
völlig  selbständig  stehen,  sind  sie,  ausgenommen 
bei  Staatshäfen,  in  den  Niederlanden  (haven- 
meester),  Belgien  (capitaine  de  port),  Däne- 
mark (havnefoged)  und  besonders  in  Schweden 
(hamnkapten,  hamnästare)  in  ihrer  Amtsthätig- 
keit  von  der  Gemeindeverwaltung  abhängig. 

6.  Haienab^ben.  Diese  Abgaben  treffen 
meist  nur  die  im  Hafen  verkehi-enden  Schiffe, 
selten  deren  Ladungen.  Sie  sind  Gebühren, 
welche  erhoben  werden  teils  für  den  Schutz, 
den  der  Hafen  gewälut,  teils  für  die  Be- 
nutzung der  Quaianlagen.  Die  Abgabetarife 
werden  entweder  dureh  die  Gesetzgebung 
oder  durch  die  Verw^altung  festgesetzt. 
Dass  diese  die  Schiffahrt,  Handel  und  In- 
dustrie belastenden  Abgaben  Grenzen  gehalten 


Häfen 


945 


werden  müssen,  welche  ihr  oben  angegebener 
Zweck  bedingt,  ist  natürlich  und  hat  auch 
in  der  Gesetzgebung  Ausdruck  gefunden. 
So  schreibt  die  deutsche  Reichsverfassung 
(Art.  54)  vor,  dass  die  Abgaben,  welche  in 
den  Seehäfen  von  den  Seescliiffen  oder  deren 
Ladungen  für  die  Benutzung  der  Schiffahrts- 
anstalten erhoben  werden,  die  zur  Unter- 
haltung und  gewöhnlichen  Herstellung  dieser 
Anstalten  erforderlichen  Kosten  nicht  über- 
steigen dürfen. 

A.  Hafenab^aben  für  Schiffe  werden 
nach  sehr  verschiedenen  Systemen  auferlegt. 
Um  die  Forderungen  der  Bil%keit  zu  erfüllen, 
müssen  diese  Abgaben,  wie  jede  andere  Be- 
steuerung, 80  angeordnet  sein,  dass  die  Schiffe 
davon  möglichst  gleichmässig  und  im  Verhält- 
nis zu  ihrer  Steuerfähigkeit  getroffen  werden. 
Dies  scheint  am  besten  dadurch  erreicht  zu 
werden,  dass  der  Abgabesatz  abgestuft  wird 
nach  dem  Gewinne  der  Handelsjj^eschäfte,  wel- 
che das  Schiff  während  der  Heise  ausgeführt 
hat,  und  die  Schiffe  gleichzeitig  nach  ihrer  pro- 
portionsden  Grösse  und  der  davon  abhängigen 
Konkurrenzfähigkeit  in  Klassen  eingeteilt  wer- 
den. Auf  verschiedenen  Wegen  sucht  man  auch 
diesen  Grundsatz  in  Anwendung  zu  bringen. 
Einerseits  glaubt  man  den  Erwerb  der  Handels- 

feschäfte  am  zuverlässigsten  nach  der  Aus- 
ehnuD^  der  Beise  ermitteln  zu  können,  die 
Taxe  wird  eine  Art  ZoDentarif,  und  die  danach 
klassifizierte  Abgabe  wird  nach  dem  Raumgehalt 
resp.  der  Tragfähigkeit  des  Schiffes  festgestellt 
(Liverpool:  Dock  tonnage  rates,  Harbour  rates, 
Wharmites;  Hartlepool:  Dock-  and  harbour  dues, 
und  viele  andere  grossbritannische  Häfen;  die 
französischen  Häfen:  Droit  de  quai*.  Anderer- 
seits wird  die  Abgabe  nach  dem  Verhältnisse 
des  ein-  und  ausgeschifften  Gütergewichts  zum 
Baumgehalt  des  Schiffes  berechnet,  wobei  in 
einem  besonderen  (Bestauungs-)Reglement  die 
der  Erhebungseinheit  (Eeg.  ton  oder  cbm)  ent- 
sprechenden Quantität  jeder  Warenart  ange- 
geben wird.  (Kopenhagen:  Bolverksnen^e  in 
gewöhnlichen  Fällen,  Paelepenge ;  alle  dänischen 
Häfen:  Skibsafgift* ;  die  norwegischen:  Laste- 
og  Fyraf^t*,  Tonnageafgift  für  gewisse 
Schiffe;  die  französischen:  Droit  de  quai*  für 
besondere  Schiffe;  Kiel:  Hafengeld).  Von  den 
übrigen  Systemen  sind  die  folgenden  zu  nennen : 
1.  Zonentarif  und  Zahlung  der  dadurch  klassi- 
fizierten Abgabe  nach  Lasttons  (die  spanischen 
Häfen:  Impnesto  de  descarga*,  Impnesto  de 
navegacion*).  2.  Berechnung  lediglich  nach  der 
Menge  von  den  geladenen  oder  gelöschten 
Gütern  (Bremerhaven :  Lastgeld ;  Emden :  Hafen 
und  Kajegeld).  3.  Besteuerung  nach  dem  Kaum- 

f ehalte  mit  Berücksichtigung,  ob  das  Schiff 
eine  oder  nur  geringere  Ladung  führt  (Lübeck, 
Stralsund.  Swinemünde,  Flensburg:  Hafengeld; 
die  schwedischen  Häfen:  Lastpanningar* ;  die 
italienischen  Häfen :  Tassa  di  ancoracfgio*  u.  a.) ; 
oder  ob  die  Ladung  weniger  wertvoller  Art  ist 
(Hamburg:  Tonnengeld*;  Amsterdam:  Haven- 
geld).  4.  Die  Abgabe  wird  lediglich  nach  der 
Kaumfähigkeit  bestimmt  (die  deutschen  Häfen 


*)  Die  reinen  Staatsabgaben  werden  durch 
dieses  Zeichen  hervorgehoben. 

Hand  Wörterbach  der  Staats  Wissenschaften.   Zweite  Auflage. 


an  der  Unterweser :  Feuer  und  Bakengeld*,  und 
an  der  Ems:  Lastengeld*;  Stettin:  Hafengeld; 
Flensburg:  Tonnen-  und  Bakengeld;  die  dä- 
nischen Häfen  (ausser  Kopenhagen):  Hafneaf- 
gift;  die  schwedischen:  Fyr-  och  Bäkafgift*, 
Hamnafgift;  die  norwegischen  Bingepen&fe: 
Tonuageaf^ft  für  gewisse  Schiffe ;  die  belgischen 
Häfen  an  der  Scheide:  Droit  de  feux*;  Rotter- 
dam :  Havengeld,  Kaaigeld* ;  Ostende :  Droit  de 
quai*.  Droit  de  bassin ;  verschiedene  französische 
Häfen;  Droit  de  tonnage;  die  portugiesischen: 
Direitos  de  tonelagem*;  die  sijanischen  und 
italienischen:  Lokalabgaben;  die  österreichi- 
schen etc.:  Tassa  portuale*).  5.  Die  Abgabe 
wird  zwar  nach  dem  Raumgehalte,  aber  mit 
Rücksicht  auf  die  Länge  des  Aufenthaltes  des 
Schiffes  im  Hafen  normiert  (Bremerhaven: 
Hafengeld;  viele  grossbritannische  Häfen);  oder 
es  ist  ausser  der  gewöhnlichen  eine  besondere  Ab« 
ffabe  zu  entrichten  nach  der  Zeit,  während  welcher 
das  Schiff  Platz  am  Quai  oder  der  Brücke  ein- 
nimmt (die  meisten  grossbritannischen  Häfen 
—  nebst  Zonentarif  — ;  Kopenhagen :  Bolvaerks- 
penge;  die  norwegischen  Häfen:  Bryggepenge). 

6.  Die  Entrichtung  der  Abgrabe  giebt  das  Recht 
während  einer  bestimmten  Zeitdauer  zur  freien 
Fahrt  (die  schwedischen  Häfen:  Tonafgift;  die 
italienischen  und  Österreich-ungarischen  Häfen). 

7.  W^rend  einer  Reise  mit  successiver  Be- 
rührung mehrerer  Häfen  wird  die  Abgabe  nur 
auf  dem  ersten  Bestimmungshafen  gefordert 
[die  französischen,  portugiesischen,  italienischen 
und  österreichischen  Häfen).  8.  Die  Normalab- 
gabensätze werden  nur  für  eine  gewisse  An- 
zahl Reisen  während  der  Jahresfahrt  berichtigt 
und  für  die  folgenden  Befreiung  oder  bedeutenae 
Ermässigung  gewährt  (Lübeck,  Rostock,  Wame- 
münde:  Hafengeld;  die  schwedischen  Häfen: 
Fyr-  och  Bäkafgift*,  Lastpenningar*  in  be- 
sonderen Fällen ;  Christiania:  Havnepolitiaf gift ; 
Aberdeen,  Leith:  Rates  on  vessel;  Antwerpen: 
Droit  de  quai,  Droit  de  bassin;  die  rumänischen 
Häfen).  9.  Die  Abgabe  schliesst  auch  Ver- 
gütung der  Aus-  und  Einbringung  der  Ladung 
ein  (Hamburg :  Quaigebühr,  Quaigeld*).  10.  Ent- 
richtung der  Abgabe  für  Personendampfer  nach 
der  Anzahl  der  an  Bord  befindlichen  Fassagiere 
(kleinere  grossbritannische  Häfen:  ToUs  on 
passenger,  Harbour  rate,  Transit  duty;  B0U7 
logne,  Calais,  Dieppe  und  andere  französische 
Häfen:  Droit  de  quai*;  die  spanischen  Häfen: 
Impnesto  de  descarga*,  Impuesto  de  navega- 
cion*) ;  oder  nach  der  Zahl  der  Passagierplätze 
(Stettin:  Hafengeld  in  gewöhnlichen  Fällen). 
11.  Die  Abgabe  kann  für  einen  bestimmten 
Zeitraum  (als  Abonnement)  entrichtet  werden 
ohne  Rücksicht  der  Anzahl  der  Reisen,  welche 
stattfinden  (Warnemünde:  Armengeld;  Stettin, 
Kiel,  Flensburg,  Brake:  Hafengeld;  Kopen- 
hagen :  Bolvaerkspenge* ;  die  italienischen  Häfen : 
Tassa  di  ancorag^io*).  —  Ausserdem  muss  die 
Schiffahrt  oft  beitragen  zu  den  Kosten  der 
staatlichen  Yorsichtsmassregeln,  gegen  Ein- 
schleppen von  ansteckenden  Krankheiten.  Die  Ab- 
gaben hierfür  (Sanitätsab^ben)  werden  stets 
nach  dem  Raumgehalte  erhoben  (die  belachen 
Häfen :  Droit  de  quarantaine* ;  die  französischen: 
Droit  de  reconnaissance*  und  Droit  de  Station; 
die  portugiesischen:  Direitos  sanitarios*).  — 
Die  Abgabe  für  die  Stationierung  der  Schiffe 
wird  gewöhnlich    nach  Raumgehalt  und  Zeit 

60 


IV. 


946 


Häfen —Haftpflicht 


berechnet  Tdie  deutschen  Häfen:  Winterlao^er- 
geld,  Liegegeld,  Hafengeld :  Kopenhagen :  Win- 
ter- og  Sommerlejeafgift :  andere  dänische  Häfen : 
Overliggelsepenge ;   die  schwedischen:  särskild 
hamnsSgift;  Antwerpen:  Droit  supplementaire. 
-^  £rsatz  für  Herstellnng    nnd  Offenhaltnng 
einer  Segelrinne  dnrch  das  £is  zwischen  Hafen 
und  Meer  ist  entweder  während  einer  bestimmten 
Zeit  des  Jahres  zu  erlegen  (einige  schwedische 
Häfen :  Isafgift ;  Amsterdam :  Ijsgeld) ,  oder  nur 
ao  lange  die  Rinne  benutzt  wird  (Lübeck  und 
Stettin:   £isgebühr:    die  norwegischen   Häfen: 
leafgift,  Raakpenge).  —  Im  übrigen  gestalten 
sich  die  Hafenabgaben,   welche  meistens  dnrch 
die   Zollbehörde   erhoben   werden,    verschieden 
für  Auslands-   und  Küstenfahrer,  für  Dampf- 
und  Segelschiffe,    für   Tourenschiffe    und    für 
Schiffe,   welche  den  Hafen  regelmässig  oder  in 
Beihefahrt  besuchen.    Dieselben  werden  gefor- 
dert beim   Ein-  oder  Ausgange    des    Sdiiffes 
resp.  in  beiden  Fällen  und  ist  auf  den  meisten 
Plätzen    für    kleinere   Schiffe    ermässigt    (die 
Grenze  ist  in  den  deutschen  Häfen  der  Regel 
nach  170 cbmj.  Gleichwie  nach  der  deutschen 
Reichsverfassung  (Art.  54)  die  Kauffahrteischiffe 
sämtlicher  Bundesstaaten  in  den  Seehäfen  und 
auf  aUen  natürlichen  und  ktlnstlichen  Wasser- 
atrassen   der   einzelnen  Bundesstaaten   gleich- 
massig  zugelassen  und  behandelt  werden  sollen, 
80  steht  es  auch  nur  dem  Reiche,   nicht  den 
einzelnen  Bundesstaaten  zu,  auf  fremde  Schiffe 
oder  deren  Ladungen  andere  oder  höhere  Ab- 
gaben zu  legen,  als  von  den  Schiffen  der  Bundes- 
staaten oder  deren  Ladungen  zu  entrichten  sind. 
B.  Hafenabgaben  für  Waren  kommen 
in  den  Häfen  der  Niederlande,  Belgien,  Frank- 
reich,  Portugal,   Spanien,   Italien  und  Oester- 
reich-Ungam  nicht  vor.  Innerhalb  Deutschlands 
werden  solche  erhoben  in  Stettin,  Elbiug  (Bohl- 
werksgeld)  und  Altona  (Kaj-  und  Treppengeld) 
und  auf  etlichen  anderen,  weniger  bedeutenden 
Plätzen.     In  Dänemark   werden    sie    in   allen 
Häfen   erhoben  (Vareafgift  und  Bropenge),   in 
Schweden  in  allen  Häfen  (Hamnafgift),  in  Nor- 
wegen in  den  Häfen  der  Handelsstädte,  doch  nicht 
als  eine  besondere  Gebühr  (ausnahmsweise  auf 
Fischereiprodukte  in  den  nördlichen  Bezirken), 
sondern    als    Zuschlag    zu     den    Zollabgaben 
(Mudder-   og  Havnepenge,   Told-  oder  Havne- 
procentj,    ferner    in    vielen    grossbritannischen 
Häfen  (Rates  on  goods,  Wharfage  rates,  Port 
dnes   on  goods,    Dock   rates    and  Town   dues) 
und  in  den  rumänischen.    Im  allgemeinen  sind 
die    Warenabgaben    auferlegt    nach    Art    und 
Gewicht,    jedoch    immer    mit    Rücksicht    auf 
den  Wert.     In  Dänemark   werden  die  Tarife 
nach  einem  bestimmten  Schema  aufgestellt  und 
jedes  5.  Jahr  revidiert.    Auch  in  Schweden  sind 
sie  derselben  Revision  unterworfen,  die  für  be- 
sondere Landesteile  in  einer  gewissen  Reihen- 
folge geschieht.    Der  der  Warenabgabe  in  Nor- 
wegen entsprechende  Zuschlag   zu   der  Zollab- 
gabe wird  von  den  Gemeinden  beschlossen  imd 
darf    1  %     nicht     überschreiten.     In    einigen 
schwedischen  und   in   den   rumänischen  Häfen 
wird  die  Abgabe  nach  gewissen  Prozenten  des 
Zollsatzes  erhoben.  —  Im;  übrigen  giebt  es  in 
mehreren    Häfen    verschiedene    andere   obliga- 
torische, mehr  oder  weniger  direkt  zu  Handels- 
und Schiffahrtszwecken  bestimmte  Abgaben. 
Litteratar:    Ausser   den    schon    angeßihrten    Ge- 


setzen ist  auf  die  Masse  der  Reglements  und 
Tarife  der  verschiedenen  Häfen  zu  verweisen. 
Eine  die  hier  berührten  Gegenstände  näher  be- 
handelnde Schrift  ist:  A.  Megn^U,  Om  hamn- 
forraltning  och  afgifter  i  hamname  (Ueber  Hafen- 
rertraltuvg  und  Hafenabgaben J,  Mcdmö  1S87. 

A,  Regn^lL 


Haftpflicht 

nach  dem  Reichsgesetz  vom  7.  Juni  1871. 

1.  Vorbemerkung.  2.  Der  Rechtszustand  in 
Deutschland  vor  Erlass  des  Reichshaftpflicht- 
gesetzes. 3.  Das  Reichshiüftpflichtgesetz  v.  7. 
VI.  1871.  4.  Mängel  des  Reichshaftpflichtge- 
setzes. 5.  Das  Haftpflichtgesetz  nach  Erlass  des 
Unfall  Versicherungsgesetzes. 

1.  Vorbemerkung.  Unter  Haftpflicht 
im  allgemeinen  versteht  man  die  gesetzlich 
festgestellte  Yerpflichtung,  für  gewisse  Schär 
den  oder  Nachteile,  die  andere  erlitten  haben, 
aufzukommen.  Das  Bürgerliche  Gesetzbuch 
hat  die  allgemeinen  Normen  für  die  Haftung, 
insbesondere  auch  die  Schadenersatzpflicht 
bei  vorsätzlich  oder  fahrlässig  begangenen 
unerlaubten  Handlungen  (§§  823—853)  auf- 
gestellt und  dieser  Gegenstand  wird  in  dem 
Art.  Schuldverhältnisse  eingehend  be- 
handelt werden.  Dabei  bestehen  aber  noch 
immer,  so  weit  sie  nicht  durch  die  Unfall- 
versicherungsgesetze ausser  Wirksamkeit  ge- 
setzt sind,  die  besonderen  Bestimmungen 
über  die  Verpflichtung  zum  Schadenersatz 
für  die  beim  Betriebe  der  Eisenbahnen, 
Bergwerke  etc.  herbeigeführten  Körper- 
verletzungen und  Tötungen  auf  Grund  des 
Reichsgesetzes  vom  7,  Juni  1871  in  der  ihm 
durch  das  Eänfuhnmgsgesetz  zum  Bürger- 
lichen Gesetzbuch  gegebenen  Fassung.  N  u  r 
von  dieser  Haftpflicht  ist  im  fol- 
genden die  Rede. 

2.  Der  Rechtszustand  in  Dentsclüand 
vor  Erlass  des  Reichshaftpflichtgesetzes. 
Die  Entwickelung  des  Verkehrswesens  imd 
des  grossindustriellen  Betriebes  in  neuerer 
Zeit  hatte  bekanntlich  mannigfache  Gefelu'en 
für  Leben  und  Gesundheit  der  Arbeiter, 
Geliiifen,  aber  auch  anderer  Personen  im 
Gefolge  gehabt.  Diesen  Gefahren  gegenüber 
erwiesen  sich  das  gemeine  Recht  und  die 
meisten  deutschen  Partikularrechte  hinsicht- 
lich des  Schadenersatzes  als  durchaus  un- 
zureichend. 

Man  war  in  ihnen  von  dem  Grund siitz 
ausgegangen,  dass  »für  den  durch  Vorsatz 
oder  Naclilässigkeit  venu-sachten  Schaden 
nur  der  unmittelbare  Urheber  verantwortlich 
zu  machen  sei«  (Mot.  z.  Ilaftpflichtg.).  Dem- 
nach konnte  der  Unternehmer  zur  Haftpflicht 
meist  nur  wegen  Nachlässigkeit  bei  Errich- 
tung der  Anlage,  wegen  Unterlassimg  oder 
mangelhafter  Ausführung  nötiger  Verbesse- 


HaftpfHcht 


947 


Hingen,  wegen  ungenügender  Untersuchung 
der-  beim  Betriebe  zur  Verwendung  ge- 
langenden Werkzeuge,  Gerätschaften,  wegen 
Nachlässigkeit  bei  Auswahl  oder  Beauf- 
sichtigung der  Arbeiter,  Gehilfen  etc.  etc. 
herangezogen  werden.  Der  Arbeitgeber  haf- 
tete somit  nur  bei  eigenem  Ver- 
schulden. War  der  Schadenstift^sr  Ver- 
treter einer  dritten  Person,  Vertreter  des 
Unternehmers,  so  kam  fiir  den  Auftraggeber 
nur  die  culpa  in  eligendo  in  Betracht. 
Weiter  ging  allerdings  das  auch  in  einigen 
deutschen  Landesteilen  geltende  französische 
Recht,  welches  in  Art.  1384  des  Code  civil 
bestimmt,  dass  Eltern,  Erzieher  und  Hand- 
werksmeister für  die  ihrer  Aufsicht  unter- 
stellten Personen  zu  haften  hätten,  dass 
Hausherren  und  Auftraggeber  für  die  Ver- 
richtungen ihrer  Bediensteten  und  An- 
gestellten verantwortlich  zu  machen  seien; 
es  stellt  den  Grundsatz  auf:  on  est  respon- 
sable non-seulement  du  dommage  que  Ton 
cause  par  son  propre  fait,  mais  encore  de 
celui,  qui  est  caus6  par  le  fait  des  personnes 
dont  on  doit  reponclre  .  .  . 

Sehen  wir  indes  von  diesen  Vorschriften 
in  den  Gebieten  des  fi'anzösischen  Rechts 
ab,  so  leuchtet  ein,  dass  die  Haftpflicht  bei 
gi'össeren  Unternehmungen  thatsäclilich  niu* 
äusserst  selten  bis  an  den  eigentlichen 
Leiter  des  Betriebes  heranreichen  konnte, 
dass  daher  die  Ei*satzpflicht  in  den  weitaiis 
meisten  Fällen  sich  als  illusorisch  erweisen 
musste.  — 

Der  preussischen  Gesetzgebung  gebührt 
der  Ruhm,  zunächst  für  den  Eisenbahn- 
betrieb durch  das  Gesetz  tiber  die  Eisen- 
bahnunternehmungen vom  3.  November  1838 
anderweitige  Bestimmungen  über  die  Haft- 
pflicht getroffen  und  damit  eine  Reform  des 
Haftpflichtrechtes  überhaupt  angebahnt  zu 
haben.  Der  §  25  des  eben  genannten  Ge- 
setzes lautet: 

„Die  Gesellschaft  ist  zam  Ersatz  verpflichtet 
für  allen  Schaden,  welcher  bei  der  Beförderung 
auf  der  Bahn  an  den  auf  derselben  beförderten 
Personen  oder  Gütern  oder  auch  anderen  Per- 
sonen und  deren  Sachen  entsteht,  nnd  sie  kann 
sich  von  dieser  Verpflichtung  nur  durch  den 
Beweis  befreien,  dass  der  Schaden  entweder 
durch  die  eigene  Schuld  des  Beschädi&ften  oder 
durch  einen  unabwendbaren  äusseren  Zufall  be- 
wirkt worden  ist.  Die  gefährliche  Natur  der 
Unternehmung  selbst  ist  als  ein  solcher,  von 
dem  Schadenersatz  befreiender  Zufall  nicht  zu 
betrachten." 

• 

Das  Wesentliche  dieser  Bestimmung  liegt 
darin,  dass  die  civilreclitliche  Verantwoit- 
lichkeit  für  Körper-  und  Sachbeschädigung 
boi  der  Beförderung  auf  der  Bahn  auf  den 
Unternelmier  gelegt,  dass  zunächst  einVer- 
schidden  des  Betriebs  angenommen  wird, 
dass  demnach  die  Eisenbahnvenvaltung  als 
ersatzpflichtig  gilt,  es  sei  denn,   dass  sie 


den  Nachweis  führt,  dass  der  Schaden  durch 
>die  eigene  Schuld  des  Beschädigten  oder 
durch  einen  unabwendbaren  äusseren  Zufall 
bewirkt  wonleu  ist.«  Auch  einige  andere 
deutsche  Staaten  (Holstein,  Mecklenburg,  die 
sächsischen  Herzogtümer)  folgten  in  ihrer 
Eisenbahngesetzgebung  diesem  preussischen 
Vorbilde. 

Das  deutsche  Handelsgesetzbuch  hatte 
für  den  Transport  zur  See  gleichfalls  um- 
fassendere Vorschriften  über  die  Haftpflicht 
des  Reedei-s  und  des  Schiffsführers  (Art. 
451,  452,  478,  479)  getreffen,  auf  die  jedoch 
hier  näher  einzugehen  nicht  erforderlich  ist. 

Dass  eine  Erweiterung  der  völlig  unzu- 
reichenden Haftpflichtbestimmungen  drin- 
gend geboten  sei,  wiuxle  allmählich  allseitig 
anerkannt.  Infolge  einer  Petition  des  Aus- 
schusses der  nationalliberalen  Partei  in 
Leipzig  befasste  sich  im  Jahre  1868  der 
Reichstag  des  Norddeutschen  Bundes  mit 
dieser  Angelegenheit,  und  unterm  28.  März 
1871  wurde  »in  ErfüUimg  des  von  dem 
Reichstage  in  der  Sitzung  vom  24.  April 
1808  gefassten  Beschlusses«  der  Entwurf 
eines  Gesetzes,  betreffend  die  Verbindlich- 
keit zum  Schadenersatz  für  die  bei  dem 
Betriebe  von  Eisenbahnen,  Bergwerken  etc. 
herbeigeführten  Tötungen  und  Körperver- 
letzungen, seitens  des  Bundesrates  dem 
Reichstage  ziu*  verfassungsmässigen  Be- 
schlussfassung vorgelegt. 

Die  Mängel  des  bestehenden  Haftpflicht- 
zustandes wurden  in  den  Motiven  zu  diesem 
Gesetzentwurf  anerkannt.  Im  weiteren  aber 
hiess  es:  »Wenn  es  im  Hinblick  auf  die  in 
gleicher  Proportion  mit  der  Entwickelung 
der  industriellen  Anlagen  sich  mehi-endea 
Unglücksfälle  die  Aufgabe  der  Reichsgesetz- 
gebung sei,  der  körperlichen  Integiität  einen 
erhöhten  Rechtsschutz  zu  verleihen,  so  müsse 
davon  abgesehen  werden,  eine  generelle 
Reform  der  Grundsätze  über  die  Verpflich- 
tung zum  Scliadenersatz  herbeizuführen. 
Ein  so  weit  gestecktes  Ziel  würde  nur  im 
Zusammenhange  mit  dem  ganzen  System 
des  Obligationenrechts  sich  erreichen  lassen. 
Zur  Zeit  werde  es  sich  allein  darum  handeln 
können,  im  Wege  eines  Specialgesetzes 
Bestimmungen  zu  treffen,  um  denjenigen, 
welche  bei  mit  ungewöhnlicher  Gefahr 
verbundenen  Unternehmungen  an  Leib  und 
Leben  beschädigt  werden,  bezw.  ihren  Hinter- 
bliebenen, einen  Ersatz  des  erlittenen  Schadens 
zu  sichern.  Hierbei  seien  vorzugsweise  die 
Eisenbahnen,  Bergwerke  und  Fabriken  in 
Betracht  zu  ziehen.« 

Dieser  Gesetzentwurf  wurde  alsdann, 
nachdem  er  nielirfache  Abänderungen  im 
Reichstage  erfahren  hatte,  mit  gix)sser  Majori- 
tät angenommen  und  unterm  7.  Juni  1871 
(R.G.B1.  :^r.  25,  S.  207)  als  Gesetz  publiziert. 

3.  Das  Haftpflicht^esetz  v.  7.  Juni 

60* 


948 


Haftpflicht 


1871.  Dieses  neue  Gresetz,  welches  durch 
ein  besonderes  G.  v.  1.  November  1872  auch 
in  Elsass-Lothringen  eingeführt  wurde  und 
seit  1.  Januar  1873  nunmehr  im  ganzen 
Reiche  galt,  bezeichnet  zunächst  in  den  §§  1 
und  2  die  Unternehmungen,  auf  welche  es 
sich  allein  bezieht.  Es  sind  dies  1.  die 
Eisenbahnunternehmungen  und  2.  die  Berg- 
werks-, Steinbruchs-,  Gräberei-  und  Fabrik- 
unternehmungen . 

Die  Haftpflicht  der  Eisenbahnen  wurde 
in  wesentlich  gleichem  Umfange,  wie  sie 
seit  langer  Zeit  (s.  oben)  in  Preussen  und 
einigen  anderen  deutschen  Staaten  bestand, 
jetzt  auch  auf  die  übrigen  Staaten  (Jes 
Reichsgebietes  ausgedehnt.  Die  Betiiebs- 
unternehmer  von  Eisenbahnen  haften  für 
jeden  bei  dem  Beti'iebe  vorgefallenen  Lebens- 
und Leibesschaden  unbedingt.  Der  Unter- 
nehmer kann  sich  nur  von  dieser  Haftpflicht 
befreien,  wenn  er  den  Nachweis  liefert,  dass 
der  schadenbringende  Unfall  durch  höhere 
Gewalt  oder  diu-ch  eigenes  Verschulden  des 
Beschädigten  verursacht  worden  ist. 

(Janz  anders  ist  die  Haftpflicht  der  sub  2 
genannten  Unternehmungen  geregelt.  Das 
Gesetz  bestimmt :  »  Wer  ein  Bergwerk,  einen 
Steinbruch,  eine  Gräberei  (Grube)  oder  eine 
Fabrik  betreibt,  haftet,  wenn  ein  Bevoll- 
mächtigter oder  ein  Repräsentant  oder  eine 
zur  Leitung  oder  Beaufsichtigung  des  Be- 
triebes oder  der  Arbeiter  angenommene 
Person  diu-ch  ein  Verschulden  in  Aus- 
führim^  der  Dienstverrichtungen  den  Tod 
oder  die  Körperverletzung  eines  Menschen 
herbeigefülirt  hat,  für  den  dadurch  ent- 
standenen Schaden.«  Während,  wie  wir 
sahen,  der  Betriebsuntemehraer  frülier  von 
der  BEaftpflicht  sich  durch  die  Einrede  be- 
freien konnte:  ihn  treffe  keine  culpa  in 
eligendo,  haftet  er  nunmehr  unbedingt  für 
alle  Verschulden  seiner  Vertreter.  Wenn 
indes  bei  den  Eisenbahnen  bereits  die  That- 
sache  der  Beschädigung  den  Haftpflicht- 
anspnich  begründete,  so  muss  in  den  hier 
zuletzt  genannten  Fällen  auch  noch  das  Ver- 
schulden eines  der  im  GcvSetz  bezeichneten 
Angestellten  nachgewiesen  werden. 

Wenngleich  das  Gesetz  in  erster  Linie 
den  Schutz  der  Arbeiter,  der  in  betreffen- 
den Betrieben  angestellten  Personen,  im 
Auge  hatte,  so  beschränkt  es  doch  nicht 
auf  diese  den  Haftpflichtanspruch.  Sowohl 
bei  der  Eisenbahn  wie  in  Bergwerks-,  Stein- 
bruchs- etc.  Unternehmungen  genügt  es, 
dass  der  Tod  oder  die  Körperverletzung 
irgend  eines  »Menschen«  erfolgt  ist,  gleich- 
viel, ob  derselbe  dem  Betriebe  als  Ai-beiter, 
Angestellter  etc.  angehörte  oder  nicht. 

Als  Schadenersatz  ist  (nach  §  3)  zu 
leisten : 

1.  Im  Falle  der  Tötung  durch  Ersatz  der 
Kosten  einer  versuchten  Heilung  und  der  Be- 


erdigung sowie  des  Vermögensnachteils,  wel- 
chen der  Getötete  während  der  Krankheit  durch 
Erwerbsunfähigkeit  oder  Verminderung  der 
Erwerbsfähij^keit  erlitten  hat.  War  der  Getötete 
zur  Zeit  semes  Todes  vermöge  Gesetzes  ver- 
pflichtet, einem  anderen  Unterhalt  zu  gewähren, 
so  kann  dieser  insoweit  Ersatz  fordern,  als  ihm 
infolge  des  Todesfalles  der  Unterhalt  entzogen 
worden  ist; 

2.  im  Falle  einer  Körperverletzung  durch 
Ersatz  der  Heilungskosten  und  des  Vermögens- 
nachteils, welchen  der  Verletzte  durch  eine  in- 
folge der  Verletzung  eingetretene  zeitweise  oder 
dauernde  Erwerbsnnföhigkeit  oder  Verminderung 
der  Erwerbsfähigkeit  erleidet. 

Die  diurch  das  Gesetz  begründete  Haft- 
pflicht darf  nicht  durch  Verträge  (mittelst 
Reglements  oder  durch  besondere  Ueberein- 
kunft)  im  voraus  ausgeschlossen  oder  be- 
schränkt werden  (§  5).  —  Die  Forderungen 
auf  Schadenersatz  verjähren  in  zwei  Jahren 
vom  Tage  des  Unfalls  an.  Gegen  denjenigen, 
welchem  der  Getötete  Unterhalt  zu  ge- 
währen hatte,  beginnt  die  Verjährung  mit 
dem  Todestage  (§  8).  — 

Die  übrigen  Paragi-aphen ,  welche  vor- 
wiegend prozessualische  Bestimmungen  ent- 
halten, bedürfen  an  dieser  Stelle  keiner  be- 
sonderen Hervorhebung. 

4.  Mangel  des  Keichshaftpflichtse- 
setzes.  Wenngleich  das  Haftpflichtgesetz 
gegenüber  den  früher  bestehenden  Zuständen 
wesentliche  Verbesserungen  brachte,  so  er- 
kannte man  doch  bald  die  Unzulänglich- 
keiten der  neuen  Vorschriften,  welche  in 
mehr  wie  einer  Beziehung  hervortraten. 

So  machte  man  u.  a.  darauf  aufmerksam, 
dass  zum  Teil  sehr  gefährliche  Betriebe 
nicht  unter  das  Haftpflichtgesetz  fielen,  so 
das  Baugewerbe,  das  Schornsteinfegerge- 
werbe, auch  die  in  immer  verstärktem  Um- 
fange Maschinen  anwendende  Landwirt- 
schaft etc.  etc.  Vor  allem  aber  machte  die 
mit  Ausnahme  bei  EisenbahnimfäUen  dem 
Verletzten  obliegende  Beweislast  den  Ent- 
schädigungsanspruchvielfach unmöglich.  Die 
Motive  des  dem  Reichstage  im  Jahre  1881 
vorgelegten  Unfallversicherungsgesetzent- 
wurfs saffen  darüber  mit  Recht:  »Die  Be- 
lastimg des  Verletzten  mit  dem  Beweise 
eines  Verschuldens  des  Unternehmers  oder 
seiner  Beauftragten  macht  die  Wohlthat  des 
Gesetzes  für  die  Arbeiter  in  den  meisten 
Fällen  illusorisch.  Dieser  schon  an  sich 
schwierige  Beweis  wird  nicht  selten  und 
gerade  bei  den  durch  elementare  Kräfte 
herbeigeführten  folgenschwersten  Unfällen, 
wie  sie  in  Bergwerken,  in  Anlagen  mit 
Dampfkesseln  und  in  Fabriken  zur  Her- 
stellung von  Explosivstoffen  vorkommen, 
dadurch  unmöglich  gemacht,  dass  der  Zu- 
stand der  Betriebsstätte  und  der  Betriebs- 
einrichtungen,  auf  dessen  Feststellung  es 
für  den   Schuldbeweis   meistens  ankommt, 


Haftpflicht 


949 


durch  den  Unfall  selbst  bis  zur  Unkenntlich- 
keit verändert  ist  und  dass  diejenigen  Per- 
sonen, diux5h  deren  Zeugnis  häufig  aUein  ein 
Verschulden  nachgewiesen  werden  könnte, 
durch  den  Unfall  selbst  getötet  oder  ver- 
letzt und  iin  letzteren  Falle,  auch  wenn  sie 
nicht,  was  die  Regel  ist,  selbst  Partei  sind, 
durch  die  Katasixophe  in  einen  Zustand 
versetzt  sind,  der  sie  zur  Ablegung  eines 
Zeugnisses  unfähig  macht.  Die  Erfahrung 
hat  bis  auf  die  neueste  Zeit  gezeigt,  dass 
das  Gesetz  in  denjenigen  Fällen,  welche 
durch  ihre  Wirkung  auf  die  öffentliche 
Meinung  vorzugsweise  seinen  Erlass  be- 
fördert haben,  und  auf  welclie  es  nach  den 
Motiven  in  erster  Linie  berechnet  war,  regel- 
mässig seinen  Zweck  nicht  erreicht.«  Auch 
die  zweijährige  Verjälirungsfrist  wurde  mehr- 
fach als  unzureichend  deshalb  bezeichnet, 
weil  sie  ermögliche,  dass  gesetzesunkundige 
Arbeiter  von  ihren  Herren  zunächst  hinge- 
halten, endlich  um  den  Schadensersatz  be- 
trogen werden  könnten. 

Gewiss  ist,  dass  das  Haftpflichtgesetz  zu 
zahlreichen  verbitternden  Prozessen  zwischen 
Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  führte, 
dass  somit  die  erhoffte  Verbesserung  in  dem 
Verhältnis  zwischen  beiden  nicht  geschaffen 
wiu-de,  ja  vielfach  gerade  das  Gegenteil 
eintrat. 

Dass  eine  Aenderung  der  Gesetzgebung 
erfolgen  müsste,  wiu-de  fast  allgemein  an- 
erkannt. Um  die  Arbeiter  gegen  die  wirt- 
schaftlichen Folgen  der  bei  der  Arbeit  ein- 
tretenden Unfälle  in  befriedigender  Weise 
zu  schützen,  boten  sich  nun  zwei  Wege. 
Entweder  musste  man  eine  Verschärfung 
des  Haftpflichtgesetzes  in  der  Art  vornehmen, 
dass  die  für  die  Eisenbahnuntemehmimgen 
geltenden  Bestimmungen  auch  für  die  ander- 
weitigen Betriebe  Anwendung  fanden  oder 
man  musste  sich  zur  Einfülirung  einer  öffent- 
lichrechtlich geregelten  allgemeinen  Unfall- 
versichening  der  Arbeiter  entschliessen, 
welche  an  die  Stelle  der  auf  dem  Haft- 
pflichtgesetze beruhenden  Entschädigungs- 
pflicht dor  Arbeitgeber  zu  treten  hatte. 

Bekanntlich  ist  man  durch  Erlass  des 
Unfallversicherungsgesetzes  v.  6.  Juli  1884 
diesen  zweiten  Weg  gegangen. 

5.  Das  Haftpflichtgesetz  nach  Erlass 
des  Unfallversicherangsgesetzes.  Durch 
das  Unfallversicherungsgesetz,  über  welches 
an  anderer  Stelle  (s.  d.  Art.  Unfallver- 
sicherung) eingehend  gehandelt  werden 
wiKl,  ebenso  durch  die  jenes  Gesetz  er- 
gänzenden Gesetze  hat  das  Haftpflichtgesetz 
erheblich  an  Bedeutung  verloren.  Auch  das 
Krankenversicherungsgesetz  v.  15.  Juni  1883 
(s.d.  Art.  Krankenversicherung)  hat  au  f 
die  Bestimmungen  des  Haftj)flichtgesetzes 
einigen  Einfluss  ausgeübt.  Indes  ist  durch 
diese     neuen     Arbeiterversicherungsgesetze 


das  Haftpflichtgesetz  keineswegs  als  aufge- 
hoben zu  betrachten.  Dasselbe  findet  auch 
fernerhin  Anwendung: 

1.  auf  Betriebsimfälle  derjenigen  Per- 
sonen, welche  nicht  in  dem  Betriebe  als 
Arbeiter  oder  Betriebsbeamte  thätig  sind. 
So  ist  insonderheit  bei  dem  Eisenbahnbetrieb 
das  Haftpfiichtgesetz  für  die  Reisenden  nach 
wie  vor  massgebend; 

2.  auf  Betriebsunfälle  von  Betriebsbe- 
amten, deren  Jahresarbeitsverdienst  an  Lohn 
oder  Gehalt  2000  Mark  nicht  übersteigt  und 
auf  welche  nicht  durch  besondere  statuta- 
rische Bestimmung  die  Unfallvei'sicherungs- 
pflicht   erstreckt  worden   ist  (U.V.G.  §  2); 

3.  auf  Betriebsunfälle  derjenigen  Per- 
sonen, welche  in  Betrieben  angesteUt  sind, 
für  die  durch  Beschluss  des  Bundesrats  die 
Versicherungspflicht  ausgeschlossen  ist  (ü. 
V.G.  §  1,  7); 

4.  auf  Betriebsunfälle  derjenigen  Landes- 
und Kommunalbeamten,  welche  mit  festem 
Gehalt  und  Pensionsberechtigxmg  angestellt 
sind  und  für  die  eine  der  Unfallversicherung 
analoge  Unfallfürsorge  noch  nicht  getroffen 
ist  (U.V.G.  §§  4)1); 

5.  auf  Betriebsunfälle  aller  nach  Mass- 
gabe des  Unfallversicherungsgesetzes  ver- 
sicherten Personen,  deren  Verletzung  durch 
Betriebsunternehmer,  Bevollmächtigte  oder 
Repräsentanten,  Betriebs-  oder  Arbeitsauf- 
seher —  nach  strafgerichtlichem  Urteil  — 
vorsätzlich  herbeigeführt  worden  ist  (U.V.G. 
§  95); 

6.  auf  Scliadensansprüche ,  welche  die- 
jenigen erheben,  welche  nicht  zu  den 
»Hinterbliebenen«  im  Sinne  des  Unfallver- 
sicherungsgesetzes gehören  und  denen  der 
durch  Unfall  Getötete  Unterhalt  zu  ge- 
währen gesetzlich  verpflichtet  war  2). 


^)  Der  §  4  des  Unfallversicbernngsgesetzes 
lautet:  „Auf  Beamte,  welche  in  Betriebsver- 
waltungeu  des  Eeiches,  eines  Bundesstaates 
oder  eines  Kommimalverbandes  mit  festem  Ge- 
halt und  Pensionsberechtigung  angestellt  sind, 
findet  dieses  Gesetz  keine  Anwendung."  Für 
Betriebsbeamte  des  Reiches  und  für  die  mehrerer 
Bundesstaaten  hat  dieser  Paragraph  keine  Be- 
deutung mehr,  weil  inzwischen  für  diese  Per- 
sonen besondere  Unfallftirsorgegesetze  erlassen 

sind.  (Vgl.  d.  Art.  Unfall  Versicherung.)  I^CS" 
halb  ^ilt  hinsichtlich  dieser  Personenkategorien 
das  Haftpflichtgesetz  nur  in  der  oben  ange- 
gebenen Beschränkung. 

*)  Hinterbliebene  im  Sinne  der  Unfallver- 
sicherungsgesetzes  sind  nur  (s.  §  6  des  U.V.G. 
Abs.  2  a  und  b)  Witwen,  Kinder  und  Ascen- 
deuten.  Der  bez.  §  3  des  Haftpflichtgesetzes 
aber  verlangt  die  Entschädigung  eines  jeden 
Dritten,  zu  dessen  Unterhalt  der  Getötete 
kraft  Gesetzes  verpflichtet  war,  so  weit 
dieser  während  der  mutmasslichen  Dauer  seines 
Lebens  diese  Verpflichtung  zu  erfüllen  gehabt 
hätte.    Da  Geschwister  nach  dem  B.G.B.  nicht 


950 


Haftpflicht — Haftpflichtversicherung 


Durch  den  Ari  42  des  Einführnngsge- 
ßetzes  zum  B.G.B.  haben  mehrere  Para- 
graphen des  Gesetzes  von  1871  Abänderun- 
gen erfahren,  die  hauptsächlich  den  Zweck 
haben,  das  letztere  mit  den  allgemeinen 
Voi-scluiften  des  B.G.B.  in  Debereinstim- 
mung  zu  bringen.  So  erhält  §  3  den  dem 
§  84i  des  B.G.B.  entsprechenden  Zusatz, 
dass  der  Ersatzpflichtige  auch  die  Kosten 
der  Beerdigung  demjenigen  zu  ersetzen  hat, 
dem  die  Verpflichtung  obliegt,  diese  Kosten 
zu  tragen.  Die  Verpflichtung  zur  Schadlos- 
haltung solcher  Personen,  zu  deren  Unter- 
haltung der  Getötete  gesetzlich  verpflich- 
tet war,  w^ird  genauer  präcisiert  und  hinzu- 
gefügt, dass  die  Ersatzpflicht  auch  dann 
eintrete,  wenn  der  zu  entschädigende  Dritte 
zur  Zeit  der  Verletzung  des  Getöteten  er- 
zeugt, aber  noch  nicht  geboren  war.  An  die 
Stelle'  des  §  3  Nr.  2  tritt  ein  neuer  §  3a 
über  den  Schadenersatz  bei  Körperverletzun- 
gen mit  dem  Zusatz,  dass  auch  für  die  et- 
waige Vermehining  der  Bedürfnisse  des 
VeiYetzten  Entschädigung  zu  gewähren  ist. 
Nacli  §  7  in  der  neuen  Fassung  ist  der 
Schadenersatz  für  den  Verletzten  und  den 
entschädigungsberechtigten  Dritten  in  Zu- 
kunft durch  Entrichtung  einer  Geldrente  zu 
leisten.  Dabei  finden  die  Vorschriften  des 
§  843  Abs.  2  bis  4  des  B.G.B.  und  der 
§§  648  Nr.  6  und  749  Abs.  1  Nr.  2  und 
Abs.  3  entsprechende  Anwendung.  Ferner 
wird  die  Berechtigung  zur  Forderung  einer 
Sicherheitsleistung  für  die  Rentenzalilimg 
genauer  formuliert ;  dagegen  fehlt  die  früher 
im  §  7  enthaltene  Stelle,  nach  welcher  der 
Verpflichtete  bei  wesenthcher  Veränderung 
der  Verhältnisse  die  Aufhebung  oder  Min- 
denmg  der  Kente  und  andererseits  der  Ver- 
letzte unter  Umständen  die  Erhölumg  oder 
Wiedergewährung  der  Rente  fordern  konnte. 
Nach  §  8  bleibt  die  Verjähnmgsfrist  auf 
zwei  Jahre  angesetzt.  Im  übrigen  finden 
die  Vorschriften  des  B.G.B.  über  die  Ver- 
jährung Anwendung.  Nach  §  9.  der  früher 
auf  die  Landesgesetze  Bezug  nahm,  bleiben 
die  gesetzlichen  Vorschriften,  nach  welchen 
ausser  den  in  diesem  Gesetze  vorgesehenen 
Fällen  die  betreffenden  Unternehmer  oder 
andere  Personen,  insbesondere  wegen  eines 
eigenen  Vei*schiddens  für  den  durch  Be- 
triebsunfälle entstehenden  Schaden  haften, 
unbeiührt. 

Das  Haftpflichtgesetz  bleibt  also  auch  in 
seiner  jetzigen  Fassung  noch  in  dem  be- 
zeichneten Umfang   in  kraft.    Da  auch  die 


mehr  alimentationsberechtigt  sind,  so  hat  dieser 
Unterschied  jetzt  nur  noch  für  die  Enkel  des 
Getöteten  Bedeutung.  Diese  Vorschrift  des 
Haftpflichtgesetzes  geht  also  doch  immer  noch 
weiter  als  die  betr.  Bestimmungen  des  Ünfall- 
versicherunsgesetzes. 


allgemeinen  civilrechtlichen  Bestimmungen 
"über  die  Haftpflicht  noch  vielfach  Anwen- 
dung finden  können,  so  sind  seit  dem  Erlass 
des  ünfallversicherungsgesetzes  vom  6.  Juni 
1884  industi'ielle  Unternehmer  in  beträcht- 
licher Zahl  wegen  Unfällen,  die  durch  dieses 
Gesetz  nicht  gedeckt  waren,  zu  Entschädi- 
gungsleistungen verurteilt  worden.  Infolge 
davon  wurde  am  28.  Juni  1892  der  Haft- 
pflichtschutzverband deutscher  IndustrieDer 
mit  dem  Sitze  in  Köln  gegründet.  Er  liat 
den  Zweck,  durch  fachwissenschaftliche 
Untersuchungen  und  durch  Verwertung  der 
Erfahrungen  des  praktischen  Lebens  dahin 
zu  wirken,  dass  die  nach  dem  Unfall ver- 
sicherungsgesetz  noch  verbliebene  Haftpflicht 
derart  beschränkt  werde,  dass  sie  nicht  über 
die  Grenze  der  Billigkeit  hinausgehe,  bezw. 
in  den  Kreis  der  berufsgenossenschaftlichen 
Unfallversicherung  einbezogen  werde,  ferner 
den  Verbandsmitgliedern  durch  sachverstän- 
digen Rat  und  Auskunft  möglichst  wirksame 
Unterstützung  in  den  aus  der  Civil-  und 
Strafreehtsgesetzgebung  herrülirenden  Haft- 
streitfäUen  zu  gewähren  oder  zu  vermitteln 
und  endlich  eme  den  Interessen  der  In- 
dustriellen möglichst  vollkommen  ent- 
si)rechende,  alle  möglichen  FäUe  der  Haft- 
pflicht deckende  Versicherung  einzuführen, 
insbesondere  diurch  Aufstellung  von  Norma- 
ti vbedingungen.  Auf  Gnmd  dieser  und  der 
im  Jahre  1898  neu  redigierten  Normativbe- 
stimmungen  liat  der  Verband  mit  einer  An- 
zahl Vei*sicherungsgesellschaften  Veiiräge 
abgeschlossen.  Vgl.  im  übrigen  den  fol- 
genden Art.  Haftpflichtversicherung. 
Ueber  die  Haftpflicht  der  Unternehmer  in 
den  ausserdeutschen  Staaten  s.  den  Art.  U  n  - 
fall  Versicherung. 

Litteratur :  Die  Haftpflicht/rage.  Gutachten  und 
Berichte  veröffentlicht  vom  V.  /.  JSozialp.,  19.  Bd. 
der  Schriften  des  Verein,  Leipzig  1880.  —  Veher 
das  deutsehe  Haftpßichigesetz :  cf.  die  Kommen- 
tare von  Endemanfiy  S.  Avfl.,  Berlin  u.  Leipzig 
1885;  von  Eger,  8.  Aufl.,  Breslau  1886.  — 
Stobbe,  Deutsches  Privatrecht,  2.  Aufl.,  IIL  Bd., 
Berlin  1885,  ^  200  ff.  —  WesterUamp  in  Ende- 
manns  Handbuch  des  deutschen  llandeU-,  See- 
und  Wechselrechts,  III.  Bd.,  Leipzig  1885,  ^  376 ff. 
—  Riesenfeld,  Das  besondere  Haftpflichtrecht 
der  deutschen  Arbeiterv^ersi^herungsgesetze,  Berlin 
1884'  —  Mitteilungen  des  deutschen  Haftpflicht- 
Schutzverbandes,  redigiert  zuerst  von  Schwanck, 
dann  von  B.  ran  der  Borght,  12  Hefte,  Xoln 
und  Berlin  189S — 1900.  Daraus:  van  der 
Borght,  Die  Haftpflicht  der  gciverhlichen  Unter- 
nehmer in  Deutschland,  Berlin  1897. 

Elster»    Lexis. 


Haftpflichtversicherniig. 

1.  BegriflF.     2.  Wesen  und   Eigentümlich- 
keiten.   3.  Wirtschaftliche  Bedeutung.    4.  Ge- 


Haftpflichtversicherung 


951 


schichtliche  Entwickelung.  5.  Unternehmungs- 
formen.  6.  Organisation.  7.  Versicherurig s- 
bedingttngen. 

1.  Begriff.  Unter  Haftpflichtversicherang 
ist  zu  verstehen  dieGesamtheit  derjenigen 
Einrichtungen,  welche  den  Schutz 
des  Menschen  gegen  künftige  und  zu- 
fällige wirtschaftliche  Gefahren 
durchBereitstellun^einerGeldsumme 
bezwecken,  sofern  diese  Gefahren  ent- 
stehen ans  der  rechtlichen  Nötigung, 
einem  anderen  einen  Schaden  zu  er- 
setzen. 

Diese  rechtliche  Nötigung  zum  Schaden- 
ersatz kann  zwei  verschiäenen  Quellen  ent- 
springen, einmal  einem  Rechtsgeschäft, 
einem  Vertrag,  und  dann  einer  Rechtsvor- 
schrift, dem  Gesetze  unmittelbar.  Nur 
in  letzterem  Falle  spricht  man  gewöhnlich 
von  Haftpflichtversicherung.  Allein  auch  die 
Versicherung  gegen  vertragsmässi^e  Schaden- 
ersatzpflicht, d.  i.  die  Rückversicherung, 
fällt  unter  die  Haftpflichtversicherung 
im  weitesten  Sinn,  während  die  Ver- 
sicherung gegen  Schäden  aus  gesetzlicher 
Haftpflicht  als  eigentliche  oder  als  Haft- 
pflichtversicherung im  engeren  Sinne 
zu  bezeichnen  ist.  Nur  von  dieser  Haft- 
pflichtversicherung im  engeren  Sinne  ist  in 
diesem  Artikel  die  Rede.  Ueber  die  Rück- 
versicherung vergleiche  den  Specialartikel. 

Die  eigentliche  Haftpflichtversicherung  zer- 
fällt wieder  in  zahlreiche  Unterarten,  je  nach 
dem  Berufe,  dem  Stand,  der  Beschäftigung  des 
Haftpflichtigen.  Man  unterscheidet  Gruppen 
bei  der  Haftpflichtversicherung,  z.  B.  die  Haft- 
pflichtversicherung der  Hausbesitzer,  Wirte, 
Aerzte,  Beamten  und  dergleichen  mehr.  Eine 
Art  der  Haftpflichtversicherung,  die  gegen 
Schäden  auf  Grund  des  Reichsgesetzes  vom  7. 
Juni  1871  (betreffend  die  Verbindlichkeit  zum 
Schadenersatz  für  die  bei  dem  Betriebe  von 
Eisenbahnen,  Bergwerken,  Fabriken  etc.  herbei- 
geführten Tötung-en  und  Körperverletzungen) 
wird  oft  allein  ins  Auge  gefasst,  wenn  von 
Haftpflichtversicherung  geredet  wird.  Diese 
überaus  begrenzte  Auffassung  ist  gänzlich  un- 
angebracht; denn  die  gewerbliche  Haftpflicht 
der  Betriebsuntemehmer  ist  nur  eine  der  zahl- 
reichen Sonderarten  der  Haftpflicht  überhaupt 
und  bemisst  sich  durchaus  nicht  allein  nach 
dem  erwähnten  Gesetz. 

Der  Schaden,  der  einem  anderen  zu  ersetzen 
ist,  kann  sich  an  einer  Person  in  der  Form  der 
Tötung  oder  Körperverletzung  bethätigen  oder 
aber  an  einer  Sache  in  der  Form  der  Sachbe- 
schädigung. Danach  unterscheidet  man  Ver- 
sicherung gegen  Haftpflicht  aus 
Körperverletzung  und  (jesundheits- 
schädignng  und  Versicherung  gegen 
Haftnflicht  aus  Sachbeschädigung. 
Eine  besondere  Art  der  letzteren  liegt  vor, 
wenn  das  beschädigte  Objekt  ein  fremdes  Ver- 
mögen in  seiner  Gesamtheit  und  durch  fahr- 
lässige Amtsführung  oder  ähnliches  Verhalten 
beschädigt  worden  ist;  dies  ist  bei  der  Haft- 
pflichtversicherung der  Beamten, 
Rechtsanwälte  etc.  der  Fall. 

Von  abstrakter  oder  selbständiger 
Haftpflichtversicherung  spricht  man  in 


allen  bisher  angeführten  Fällen,  indem  man  als 
die  in  Betracht  kommende  Gefahr  nur  die  Haft- 
pflicht als  solche  auffasst.  In  Gegensatz  hierzu 
stellt  man  die  Versicherung  des  Reeders  gegen 
Haftpflicht  aus  Schiffskollisionen,  die  in  der 
Praxis  nicht  als  selbständige  Haftpflichtver- 
sicherung vorkommt,  sondern  in  die  allgemeine, 
gegen  zahlreiche  Gefahren  schützende  Seever- 
sicherung eingeschlossen  ist,  und  die  Ver- 
sicherung der  in  den  französischen  Rechtsge- 
bieten äusserst  wichtigen  risque  locatif,  risque 
des  recours  des  locataires  und  risque  des  recours 
des  voisins,  die  in  die  Feuerversicherung  ein- 
bezogen werden.  Theoretisch  unterscheiden  sich 
aber  diese  beiden  unvollständigen  Haftpflicht- 
arten als  solche  nicht  von  den  übrigen  selb- 
ständigen Arten. 

2,  Wesen  und  Eigentttmllchkeiten.  Zu-* 
nächst  ist  die  Streitfrage  zu  beantworten,  ob 
es  überhaupt  gerechtfertigt  ist,  von  der  Haft- 
pflichtversicherung als  einer  besonderen  Ver^ 
sicherungsgattnng  zu  reden.  Ist  nicht  vielmehr 
jede  Haftpflichtversicherung  Unterart  einer 
anderen  Versicherungsgruppe  ? 

Diese  Frage  aufwei-fen  heisst  sie  verneinen. 
Denn  indem  man  sie  stellt,  vergegenwärtigt 
man  sich  die  juristischen  und  technischen 
Eigentümlichkeiten  jeder  Haftpflichtver- 
sicherung, die  sie  gegenüber  anderen  Ver- 
sicherungsarten hat,  die  ihr  Wesen  ausmachen. 

a)  Während  bei  allen  anderen  VersicheruDgen 
es  sich  stets  nur  um  eine  Ursache  handelt,  die 
den  Schaden  und  damit  den  Ersatzanspruch 
herbeiführt,  müssen  bei  der  Haftpflichtver- 
sicherung stets  zwei  Ursachen  vorhanden 
sein,  damit  mau  von  einem  Haftschadeu  reden 
kann.  Ein  dritter  muss  einen  Schaden  erleiden 
—  causa  remota,  thatsächliche  Ursache  — ,  und 
ein  anderer  muss  durch  eine  positive  Gesetzes- 
vorschrift, eventuell  durch  Richterspruch  — 
causa  proxima,  rechtliche  Ursache  —  verpflichtet 
sein,  den  Schaden  zu  vergüten.  Je  nachdem 
man  nun  die  erste  oder  die  zweite  Ursache  ins 
Auge  fasst,  kann  man  sagen:  die  Haftpflicht- 
versicherung ist  eine  besondere  Versicherungs- 
art, oder  sie  ist  nur  eine  Erscheinungsform 
anderer  Versicherungsarten,  der  Feuer-,  der 
Unfallversicherung  etc.,  sofern  nämlich  die  causa 
remota  ein  Brandschaden  oder  ein  körperlicher 
Unfall  ist,  für  den  nach  dem  Gesetz  eine  Er- 
satzpflicht besteht.  Allein  in  Hinblick  auf  diese 
causa  remota  die  SelbstHndigkeit,  die  Daseins- 
berechtigung einer  Haftpflichtversicherimg 
leugnen  zu  wollen,  ^eht  nicht  an ;  denn  schon  die 
Existenz  von  Versicherungsgesellschaften,  die 
gegen  die  Haftpflicht  schlechthin  versichern, 
ohne  Rücksicht  auf  die  causa  remota,  beweist 
die  Unrichtigkeit  jener  in  der  Theorie  als  über- 
wunden anzusehenden  Konstruktion.  Wenn  in 
der  Praxis  demungeachtet  noch  heute  dieser 
Auffassung  zuwider  gehandelt  wird,  namentlich 
wenn  da^  wo  die  causa  remota  eine  Körperver- 
letzung ist,  die  Haftpflichtversicherung  als  eine 
Unterart  der  Unfallversicherung  auf^efasst  wird, 
z.  B.  von  einer  Kollektiv- Unfdl Versicherung  die 
Rede  ist,  so  legt  dieser  Umstand  nur  die  un- 
genügende wissenschaftliche  Kenntnis  de» 
Wesens  der  Haftpflichtversicherung  bloss. 

b)  Die  Haftpflichtversicherung  Kanneines 
Objektes  entbehren.  Auch  wer  gänzlich 
mittellos    ist,    kann    im  Betrag   ungeheuerer 


952 


Haftpflichtversicherung 


Summen  haftpflichtig  werden.  Er  kann  sich 
geg-en  diese  etwa  entstehende  Haftpflicht  yer- 
sichem,  obwohl  er  in  einem  Haftpflichtfalle 
nichts  zu  zahlen  hätte,  da  er  nichts  zahlen 
könnte.  Das  Vermögen,  wie  es  häufig  ange- 
nommen wird,  kann  also  nicht,  —  wenigstens 
nicht  in  allen  Fällen  —  als  Objekt  der  Haft- 
pflichtversicherung angesehen  werden.  Die 
Haftpflichtversicherung  entbehrt  vielmehr  regel- 
mässige eines  Objektes.  Ein  Objekt  ist  —  was 
allerdings  bestritten  wird  —  nur  vorhanden, 
wenn  ausdrücklich  ein  Haftpflichtgut  bestimmt 
ist,  das  allein  zwecks  Deckung  des  erwachsenen 
Schadens  angegrifien  werden  darf,  wie  bei  der 
Haftpflichtversicherung  des  Reeders  bei  Schiffs- 
koUisionen  nur  das  kollidierende  Schiff. 

c)  Ein  Interessenachweis  ist  zum 
Abschluss  der  Versicherung  nicht  erforder- 
lich. Auch  ohne  dass  der  Versicherte  Be- 
ziehungen zu  einem  Objekt  hat,  kraft  deren  er 
durch  Thatsachen,  die  dieses  Objekt  betreffen, 
einen  Schaden  erleiden  kann,  ist  es  ihm  mög- 
lich, eine  Haftpflichtversicherung  abzuschliessen. 
Das  folgt  schon  aus  dem  Umstand,  dass  ein 
Objekt  fehlen  kann.  In  der  Regel  wird  aller- 
dings das  wirtschaftliche  Interesse  des  Ver- 
sicherten ausschlaggebend  sein  für  den  Ab- 
schluss einer  Haftpflichtversicherung,  aber 
juristisch  ist  ein  Interessenachweis  im  Gegen- 
satz zu  allen  Sachversicherungsarten  nicht 
nötig.  Die  Gründe  hierfür  liegen  in  der  Art 
der  Leistung  der  Ersatzsumme,  in  der  Un- 
wahrscheinlichkeit  eines  Betrugsfalles  hierbei 
von  Seiten  des  Versicherten. 

d)  Das  Risiko,  der  Versicherungs- 
wert kann  gänzlich  unmessbar  sein  und 
ist  es  that^ächlich  in  den  meisten  Fällen.  Bei 
den  Sachversicherungen  ist  ein  Objekt  vor- 
handen ;  mehr  als  dessen  Wert  hat  der  Assekura- 
deur  nie  zu  ersetzen.  Bei  den  Personen  Ver- 
sicherungen ist  stets  eine  feste  Summe  fixiert, 
mag  es  sich  um  Erleben ,  Tod .  oder  Unfall 
handeln.  Anders  bei  der  Haftpflichtversicherung, 
wo  regelmässig  kein  Objekt  vorhanden  ist. 
Ob  der  gegen  Haftpflicht  Versicherte  Millionär 
oder  Bettler  ist,  er  kann  gleichmässig  auf  un- 
begrenzte Summen  haftpflichtig  werden.  Das 
Vermögen  des  Versicherten  bietet  daher  keinen 
Massstab  für  die  Risikobemessung,  wenn  der 
Assekuradeur  die  Haftpflicht  unbegrenzt  über- 
nimmt. Auch  in  dem  meist  unbekannten  Er- 
satzberechtigten findet  der  Assekuradeur  keine 
Hilfe  für  die  Risikoberaessung. 

e)  Die  Unmessbarkeit  des  Risikos  veran- 
lasst häufig  die  Beschränkung  der  Ver- 
sicherungssumme. Mit  dieser  Besch  ränkung 
sinkt  aber  die  Bedeutung  der  Haftpflichtver- 
sicherung naturgemäss.  —  Ist  die  Versicherungs- 
summe unbegrenzt,  so  kann  weder  eine  U  e  b  e  r  - 
Versicherung  noch  eine  Unterversiche- 
rung vorhanden  sein.  Ist  die  Versicherungs- 
summe beschränkt,  so  kann  von  einer  Ueber- 
versicherung  ebenfalls  nicht  die  Rede  sein; 
denn  eine  Bereicherung  des  Versicherten  ist 
der  Natur  der  Sache  nach  ausgeschlossen.  Eine 
Unterversichenmg  ist  bei  beschränkter  Ver- 
sicherungssumme nur  möglich,  falls  aus- 
drücklich eine  Quoten  Versicherung  vereinbart 
w^orden  ist. 

i)  Die  richtige  Prämienbemessung  ist 
äusserst  schwierig;   sofern  keine  Maximalver- 


sicherungssumme vorhanden  ist,  ist  sie  geradezu 
unmöglich.  Hierans  erklärt  sich  die  übliche 
Beschränkung  auf  eine  Maximalsumme,  aber 
auch  in  diesem  Falle  fehlt  es  an  jeder  mathe- 
matischen Berechnungsmöglichkeit.  Die  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung ist  nicht  anwendbar. 
Auch  eine  langjährige  Erfahrungsstatistik  er- 
scheint nicht  durchaus  zuverlässig. 

g)  Die  Gefahr  bei  der  Haftpflichtver- 
sicherung ist  eine  rein  juristische.  Sie  ist 
schon  in  der  Definition  oben  näher  präcisiert. 

h)  Der  Schaden  ist  meist  ein  rein  privat- 
wirtschaftlicher. Der  Versicherte  braucht  Keinen 
Schaden  zu  haben,  z.  B.  ein  Mittelloser  wird 
haftpflichtig.  Der  Bedachte  hingegen  hat  stets 
zunächst  einen  Schaden,  der  ihm  durch  die 
Leistung  der  Ersatzsumme  vergütet  wird. 

Diese  Aufzählung  der  hervor- 
ragendsten Eigentümlichkeiten  der 
Haftpflichtversicherung  zeigt,  dass 
sie  weder  den  Personen- noch  denSach- 
versicherungen  zuzuzählen,  beiden 
vielmehr  als  dritte  selbständige 
Versicherungsgruppe  zur  Seite  zu 
stellen  ist. 

3.  Wirtschaftliche  Bedentnng.  Die  w  1  r  t - 

schaftlicheBedeutung  der  Haft  Pflicht- 
versicherung ist  überaus  gross.  Wenn  die 
Motive,  die  zum  Abschluss  eines  Haftpflicht  Ver- 
sicherungsvertrages führen,  auch  im  Einzelfall 
durchaus  verwerflich  sein  können,  —  man  will 
jede  Verantwortlichkeit  von  sich  abschieben, 
ungeschädigt  gedankenlos  handeln  können  — 
so  sind  die  Wirkungen  doch  in  jedem  Fall 
überaus  gute,  sozial  wertvolle:  die  Versorgung 
der  Mitmenschen,  denen  ein  Schaden  erwachsen 
ist,  ohne  dass  sie  ein  Verschulden  trifft.  Keine 
andere  Versicherung  hat  einen  derartigen  al- 
truistischen Charakterzug. 

Je  nach  der  jofesetzlichen  Normierung  der 
Haftpflicht  kann  die  wirtschaftliche  Bedeutung 
eine  grössere  oder  geringere  sein.  Der  Geist 
der  neueren  deutschen  Gesetze  ist  getragen 
von  dem  Princip  der  sozialen  Verantwortlichkeit, 
und  dementsprechend  ist  die  Haftpflicht  äusserst 
scharf  ausgeprägt  worden ,  so  dass  die  Haft- 
pflichtversicherung geradezu  eine  Notwendigkeit 
für  viele  Bevölkerungsklassen  geworden  ist. 
Hieraus  folgt,  dass  die  Haftpflichtversicherung 
zur  Zeit  in  Deutschland  von  besonders  hoher 
Bedeutung  für  weite  Kreise  ist. 

Die  Aufgabe  des  Schadenersatzes  ist 
eine  doppelte.  Einmal  ist  es  die  Aus- 
gleichung der  in  der  Rechtssphäre  des  Ver- 
letzten eingetreteneu  Störung.  Diese  wird 
durch  die  Haftpflichtversicherung  in  verstärktem 
Masse  und  in  sicherer  Weise  erreicht.  Aber  der 
zweite  Teil  der  Aufgabe  des  Schadenersatzes 
wird  in  sehr  vielen  Fällen  nicht  erreicht,  son- 
dern durch  die  Haftpflichtversicherung  völlig 
verhindert,  nämlich  die  Bekäiqpfung  des  Un- 
rechts. Zweifelsohne  wird  durch  die  Haftpflicht- 
versicherung die  Fahrlässigkeit  häufig  erhöht. 
Wer  sich  durch  eine  Haftpflichtversicherung 
gedeckt  weiss,  namentlich  bei  unbeschränkter 
Versicherungssumme,  wird  leicht  weniger  sorg- 
sam zu  Werke  gehen,  wird  eher  einen  riskanten 
Versuch  wagen  als  der  NichtVersicherte.  Diesem 
psychologischen  Moment  hat  u.  a.  die  preussische 
jkegierung  Rechnung  getragen,  indem  sie  die 


Haftpflichtversicherung 


953 


Haftpflichtversicherung  ihrer  Beamten  mir  bis 
zu  75%  des  eintretenden  Schadens  gestattete. 

4.  Geschiehtliohe  Entwtckeinng.  Die 
Geschichte  der  Haftpflichtversicherung  ist  in 
jeder  Beziehung  analog  der  Geschichte  der  Haft- 
pflicht. Daraus  ergiebt  sich,  dass  die  Haft- 
pflichtversicherung erst  mit  der  neuerdings 
fortschreitend  verschärften  Haftpflichtgesetzge- 
bung  sich  ausgebreitet  hat  und  dass  die  Haft- 
pflichtversicherung namentlich  in  Deutschland 
zu  grosser  Blüte  gelangt  ist. 

Die  erste  Haftplichtversicherunffsgesell- 
schaft  entstand  in  Deutschland  mit  dem  In- 
krafttreten des  Reichshaftpflichtgesetzes  im 
Sommer  1871.  Es  war  die  Allgemeine  Unfall- 
versicherungsbank zu  Leipzig.  Ihre  Organisa- 
tion war  grundlegend  für  alle  späteren  Gesell- 
schaften. Sie  war  auf  Gegenseitigkeit  gegründet 
und  versicherte  lediglich  gegen  die  Folgen  der 

fewerblictten  Haftpflicht.  Eine  Zweiganstalt, 
873  gegründet,  die  deutsche  Unfall versicherungs-' 
genossenschaft ,  versicherte  die  sogenannten 
nichthaftpflichtigen  Unfälle.  Bis  zur  Liquida- 
tion beider  Anstalten  zufolge  der  Sozialgesetz- 
gebung vom  6.  Juli  1884  waren  zu  verzeichnen : 
angemeldete  Unfälle  113 166,  davon  wurden  als 
haftpflichtig  entschädigt  80205  d.  i.  26fid% 
mit  15685174  Mark,  als  nichthaftpflichtig  ent- 
schädigt 66  054,  d.  i.  68,36  <>/  mit  5  294  780  Mark, 
so  dass  unentschädigt  nur  blieben  16  916  Fälle, 
d.  i.  14,95%. 

Neben  diesen  Leipziger  Gesellschaften,  die 
die  erste  Stelle  einnahmen,  waren  in  den  70er 
Jahren  mehrere  andere  Anstalten  vorhanden, 
die  gegen  die  gewerbliche  Haftpflicht  ver- 
sicherten. Zum  Teil  bestehen  diese  noch  heute. 
Aus  den  Lücken  der  Sozialgesetzgebung  und 
den  Haftpflichtbestimmnngen  der  Landesgesetze 
entnahmen  die  Gesellschaften  den  Boden  für 
die  jetzige  Haftpflichtversicherung,  so  die 
Magdeburger  Allgemeine  Versicherungsgesell- 
schaft, jetzt  Wilhelma,  die  Schlesische  öesell- 
schaft,  jetzt  Nordstern  u.  a.  m.  Erst  seit  1893 
wird  die  Haftpflichtvei-sicherung  in  Deutschland 
in  grösserem  Massstabe  betrieben.  Im  Anschluss 
an  die  Unfallversichernngsbranche  nahmen  viele 
Gesellschaften  die  meist  gut  rentierende  Haft- 
pflichtversicherung auf.  Bahnbrechend  wirkte 
der  Allgemeine  Deutsche  Versicherungsverein  in 
Stuttgart,  der  u.  a.  zuerst  und  bisher  allein  die 
Beamtenhaftpflichtversicherung  eingeführt  und 
die  abstrakte  Haftpflichtversicherung  zuerst 
folgerichtig  durchgeführt  hat. 

Ende  1899  sind  an  deutschen  Gesellschaften, 
die  gegen  Haftpflicht  versichern,  zu  zählen  17 
Aktiengesellschaften  und  eine  Gegenseitigkeits- 
gesellschaft. Daneben  bestehen  eine  Anzahl 
Haftpflichtgenossenschaften,  die  ohne  grosse 
Bedeutung  sind.  Ausser  den  deutschen  Ge- 
sellschaften betreiben  4  ausländische  Gesell- 
schaften die  Haftpflichtversicherung  in  Deutsch- 
land. 

Die  Geschichte  der  Haftpflichtversicherung 
in  anderen  Ländern  ist  ohne  Interesse,  da  hier 
die  Entwicklung  des  Haftpflichtrechta  zumeist 
noch  sehr  hinter  dem  deutschen  zurücksteht. 

5«  Ünternehmnngsformeii*  Schon  aus 
dem  vorigen  Abschnitt  erhellt,  dass  die  Haft- 
pflichtversicherung von  Aktien-  und  Gegen- 
seitigkeitsgesellschaften sowie  von  Ge- 
nossenschaften betrieben  wird.    Nach  den 


Bezahlte 
Schäden 


Erfahrungen  in  Deutschland  sind  die  beiden 
ersten  Untemehmungsformen  durchaus  gleich- 
wertig, während  die  Form  der  Genossenschaft 
durchaus  ungeeignet  ist.  Der  Grund  dafür  ist 
zu  finden  in  dem  kleinen  Kreis  der  hier  Ver- 
sicherten, in  den  unverhältnismässig  hohen 
Kosten,  den  zu  grossen  Hisiken  bei  unbe- 
schränkter Haftung,  dem  ungenügenden  Kück- 
halt  bei  beschränkter  Haftung  der  Genossen. 

Zu  erwähnen  sind  an  dieser  Stelle  die 
Haftpflichtverbände,  deren  g^rösster  der 
Deutsche  Haftpflichtschutzverband  ist.  Diesem 
Vereine  gehören  sowohl  Einzelpersonen  wie  in- 
dustrielle und  landwirtschaftliche  Vereinigungen 
als  Mitglieder  an.  Er  bezweckt  die  Wahrung 
der  Interessen  der  haftpflichtigen  Betriebsunter- 
nehmer und  sucht  dieses  u.  a.  dadurch  zu  er- 
reichen, dass  er  mit  Haftpflicht-Versicherun^- 
gesellschaften  in  Verbindung  tritt.  Seine  Mit- 
glieder werden  bei  einer  Anzahl  Gesellschaften 
auf  Grund  eines  vom  Verband  aufgestellten 
Normativstatuts  bei  diesen  Versicherungsanstal- 
ten gegen  die  Gefahren  der  Haftpflicht  zu  Vor- 
zugsprämien bezw.  unter  Gewinnbeteiligung  ver- 
sichert. Diese  Einrichtung  hat  sich  vortrefflich 
bewährt. 

Zahl  der 
Jahr        Verbands-         Prämien 
mitglieder 

1894  425      6o8«;5,25      8421,97 

1895  459      77388,45     15501,03 

1896  512      86626,48     27925,15 

1897  538      98759,16     28902,77 

Gewinnanteil  durchschnittlich  17  Prozent  der 
Prämie. 

6.  Organisation.  Schon  bei  der  Begriffsbe- 
stimmung wurde  darauf  hingewiesen,  dass  die 
Versicherungsgesellschaften  die  Haftpflicht  in 
Gruppen  einteilen.  So  unterscheidet  der  Deut- 
sche Versicherungsverein,  der  in  der  Differenzie- 
rung und  Specialisierung  der  Risiken  am  wei- 
testen geht,  25  Arten  der  Haftpflicht  und  der 
Haftpflichtversicherung,  nämlich  die  folgenden: 
für  Landwirte,  Arbei^eber,  Spediteure,  Fracht- 
führer, Pferde-  und  Fuhrwerksbesitzer,  Haus- 
und Grundbesitzer,  Unternehmer  von  Kuust- 
und  Industrieausstellungen  oder  Theater,  Gast- 
wirte, Hoteliers,  Bauherrn,  Vereine,  Aerzte, 
Apotheker ,  Chemiker ,  Genossenschaftsverwal- 
tungen, Strassenbahnen ,  Gemeinden,  Beamte 
und  Rechtsanwälte  u.  dgl.  m.  Bei  den  Aktien- 
gesellschaften ist  die  Differenzierung  erstaun- 
ücherweise  weitaus  geringer,  während  bei  den 
anderen  Versicherungsgattungen  gerade  die 
Aktiengesellschaften  sich  durch  die  Zerlegung 
der  Risiken  auszeichnen.  Bei  der  Mehrzahl  der 
Haftpflichtgruppen  wird  wieder  unterschieden 
zwischen  der  Haftpflicht  aus  Körperverletzung 
und  solcher  aus  Sachbeschädigung.  Von  Wichtig- 
keit ist,  ob  die  Betriebe  einer  berufsgenossen- 
schaftlichen Versicherung  unterliegen  oder  nicht  ; 
je  nachdem  bestimmen  sich  die  Untereinteilungen. 

Näheres  über  die  Organisation  wird  noch 
aus  der  Besprechung  der  Versicherungsbedin- 
gungen erhellen. 

7«  Tersieherangsbedingnngen.  Die  Ver- 
sicherungsbedingungen der  meisten  Gesellschaf- 
ten stimmen  in  fast  allen  Punkten  im  wesent- 
lichen überein.  Bei  ihrer  Betrachtung  finden 
nur  die  besonders  wichtigen  Sätze  Erwähnung, 


Ü54 


Haftpüichtversichening 


in  denen  die  Haftpflichtversichening  von  den 
anderen  Versicherungsarten  abweicht. 

a)  Umfang  der  Versichernngsbe- 
dingungen.  Der  oberste  Grundsatz  der 
Haftpflichtversicherung  ist,  dass  vorsätzlich 
herbeigeführte  Schäden  nicht  ersetzt  werden. 
Hingegen  werden  alle  durch  Fahrlässigkeit  ver- 
ursachten Haftpflichtschäden  ersetzt.  Im  ein- 
zelnen bestimmt  sich  der  Umfang  der  Ver- 
sicherung nach  der  Haftpflichtgruppe,  der  der 
Versicherte  angehört.    Allgemein  gilt  folgendes. 

1.  Bei  Körperverletzung  und  Ge- 
sundheitsschädigung werden  dem  Ver- 
sicherten diejenigen  Summen  je  nach  dem  Ver- 
trage ganz  oder  teilweise  ersetzt,  für  welche 
er  infolge  Anerkenntnis,  Vergleich  oder  Richter- 
spruch dritten  Personen  oder  deren  Erben 
nach  den  bestehenden  Gesetzen  aufzukommen  hat. 

2.  Bei  Sachbeschädigungen  wird  dem 
Versicherten  regelmässig  ein  Prozentsatz  des 
nachgewiesenen  wirklichen  Schadens  ersetzt. 
Ausser  diesen  Leistungen  vergütet  dieGesellschaft 
etwaige  Kosten  der  Prozessf  ührung.  Der  Deutsche 
Versicherungsverein  zahlt  bei  Körperverletzung 
90^/0,  so  jedoch,  dass  der  Anteil  an  der  Entschädi- 
gung, welche  der  Versicherte  zu  tragen  hat,  in  kei- 
nem Falle  mehr  als  1000  Mark  beträgt.  Ueberstei- 
gen  die  10%  der  Selbstversicherung  diese  Summe, 
so  trägt  der  Verein  den  Mehrbetrag.  Bei  Eisen- 
bahn- und  Schiflsnnglticken  beträgt  die  Maximal- 
leistung des  Vereins  300000  Mark.  Bei  Sach- 
beschädigung zahlt  dieselbe  Gesellschaft  75%, 
höchstens  aber  10000  Mark.  Eine  höhere  Leis- 
tung kann  jedoch  besonders  vereinbart  werden. 
Von  der  Sachschadenversicherung  sind  gewisse 
Schäden  ausgeschlossen. 

3.  Bei  der  Haftpflichtversiche- 
rung ^egen  Fahrlässigkeit  im 
Amte  bilden  den  Gegenstand  der  Versiche- 
rung alle  Schadenersatzansprüche,  welche 
dritt«  Personen  oder  deren  Kechtsnachfolger 
oder  sonstige  Berechtigte,  insbesondere  Staat 
und  Gemeinde,  gegen  den  Versicherten  aus  dem 
Grunde  zu  erhebenoerechtigt  sind,  weil  sie  infolge 
fahrlässiger  Verletzung  der  dem  Versicherten 
obliegenden  Amts-  oder  Berufspflichten,  insbe- 
sondere infolge  ordnungswidriger  Ausführung 
der  von  ihm.  übernommenen  Aufträge,  durch 
ihn  oder  durch  eine  Person,  für  deren  Hand- 
lungen er  verantwortlich  ist,  eine  Vermögens- 
einbusse erlitten  haben ;  auf  Antrag  wird  femer 
Versicherung  gewährt  gegen  Schadenersatz- 
ansprüche, die  aus  der  vor  dem  Vertragsab- 
schluss  verflossenen  Zeit  der  Thätigkeit  des 
Versicherten  an  ihn  gestellt  werden,  sofern  dem 
Versicherten  die  Ursachen  dieser  Ansprüche  zur 
Zeit  des  Vertragfsschlusses  unbekannt  waren, 
sogenannte  Rückwärtsversicherung.  Die  Ver- 
sicherung wird  auf  einen  Höchstoetrag  abge- 
schlossen. Der  Versicherte  kann  aus  der  Ver- 
sicherung während  der  Dauer  des  Vertrags  ins- 

gesamt  nur  diesen  Höchst  betrag  beanspruchen, 
•er  Verein  leistet  in  jedem  Schadenfalle  75% 
bis  zum  Gesamtbetrag  der  vereinbarten  Ver- 
sicherungssumme. Auch  hier  sind  gewisse 
Schäden  ausgeschlossen. 

b)  Prämien.  Bei  den  Versicherten,  welche 
einer  Berufsgenossenschaft  angehören,  kann  der 
an  diese  zu  zahlende  Beitrag,  wenigstens  für 
die  Versicherung  gegen  Haftpflicht  ans  Körper- 
verletzung, als  Massstab  gelten,   wie  dies  bei 


dem  Stuttgarter  Verein  auch  thatsächlich  der 
Fall  ist.  Dieser  verlangt  z.  B.  bei  der  Haft- 
pflichtversicherung der  Landwirte  12 — 30%  des 
Beitrags  zur  Berufsgenossenschaft  und  erhebt 
Zuschlagsprämieu,  falls  der  Betrieb  etwa  mit 
Explosionsgefahr  verbunden  ist.  —  Für  die  Be- 
schädigung fremden  Eigentums  richtet  sich  die 
Prämie  nach  der  Zahl  der  beschäftigten  Personen, 
der  Lohnsumme  und  ähnlichem ;  pro  Person  oder 
pro  1000  Mark  Lohnsumme  ist  bis  zu  10  Personen 
2  Mark  pro  Person  und  Jahr  Prämie  zu  zahlen, 
bei  750 — 1000  Personen  50  Pfennig  pro  Person. 

—  Für  Schaden  durch  Tiere  ist  pro  Pferd 
4  Mark,  pro  Zugtier  40  Pfennig  zu  entrichten. 

—  Radfahrer  zahlen  pro  Rad  4  Mark  für  Körper- 
verletzung, 4  Mark  für  Sachbeschädigung.  — 
Für  einen  Hund  sind  3  Mark  zu  zahlen.  —  Bei 
der  Haftpflichtversicherung  der  Gastwirte  richtet 
sich  die  rrämienhöhe  nach  der  Zahl  der  Zimmer. 

—  Für  Aerzte  ist  der  einheitliche  Satz  von 
30  Mark  aufgestellt.  —  Für  die  Gemeinden 
richtet  sich  die  Prämie  nach  der  Einwohner- 
zahl; für  Körperverletzung  und  Sachbeschä- 
digung sind  je  4,50  Mark  pro  1000  Einwohner 
zu  entrichten.  —  Anwälte  zahlen  bei  einer 
Maximalsumme  von  50000  Mark  50  Mark,  bei 
100000  Mark  116  Mark.  Bei  der  Haftpflicht- 
versicherung der  Richter  ist  die  Anzahl  der 
Amtseingesessenen  massgebend.  Diese  Beispiele 
sind  den  Tabellen  des  Versicherunffsvereins  ent- 
nommen, da  dessen  Risikospecialisierung  am 
weitgehendsten  ist.  Andere  Gesellschaften  ver- 
folgen ähnliche  Principien  bei  der  Prämienbe- 
rechnung. 

Die  übrigen  Versicherungsbedingungen  ent- 
sprechen den  auch  bei  anderen  Versicherungs- 
arten üblichen. 

Da  die  meisten  deutschen  Gesellschaften 
noch  der  Unsitte  huldigen,  die  Geschäfts- 
ergebnisse ihrer  einzelnen  Versicherungs- 
zweige nur  zusammengefasst  in  den  Jahresbe- 
richten mitzuteilen,  und  nur  von  wenigen  Ge- 
sellschaften die  Jahresergebnisse  der  Halt  Pflicht- 
versicherung besonders  vorliegen,  so  muss  hier 
von  einer  Mitteilung  der  Ergebnisse  abgesehen 
werden. 

Littorutur:  Eine  Darstellung  der  Haflpfilchtver- 
»icherung  steht  noch  aus.  Die  wenigen  über  die 
Haftpflichtversicherung  vorhandenen  Milteüungen 
sind  von  äusserster  Dürftigkeit.  Ueber  die  ju- 
ristische Natur  der  Haftpflichtversicherung  hat 
Leibl  in  JEhremweigs  Assekuranzbuch  XIX. 
Jahrg.  einen  grundlegenden  Aufsalz  veröffentlicht^ 
der  sich  an  Ehrenbergs  Rückversicherung 
anschliesst.  Statistische  Angaben  finden  sich  in 
den  3Iittcilungen  des  deutschen  Haftpflichtschuts- 
Verbandes,  jetzt  von  Prof.  van  der  Borght, 
herausgegeben.  Die  geschichtliche  Entwickelung 
behandelt  Lehr  in  einer  Leipziger  Dissertation : 
uius  der  Praxis  der  früheren  Haftpflichtgesets- 
gebung  in  Deutschland  1888.  Eine  kritische 
Betrachtung  über  den  Wert  der  Haftpflichtver- 
sicherung giebt  Elhertahagen  in  der  Zeitschr. 
f.   Versicherungsr.-   u.  -icissensch.   II.  Bd.  1897. 

Alfred  Manes. 


Hagelschädenversichening 


955 


Haftung 

s.  Schiildverhältnisse. 


HagelschädenTersicheriuig. 

1.  Einleitung:.  2.  Geschiebte.  3.  Das  Risiko. 
4.  Die  Prämie.  5.  Versicherer;  üntemehmung^s- 
formen.  6.  Schadenabschätzang:  und  Entschä- 
digung. 7.  Prämien-,  Schäden-  und  Kapital- 
reserve. 8.  Allgemeine  Versicberungsbedingun- 
gen.  9.  Staats-  und  Privatbetrieb.  10.  Sta- 
tistik. 

1.  Einleitung.  Von  den  Yermögensver- 
liisten,  die  durch  sogenannte  Elementar- 
schäden  entstehen,  ist  an  sich  und  abge- 
sehen Ton  den  sich  ergebenden  technischen 
Sch^vierigkeilen  keine  Gfattiing  so  sehr  ge- 
eignet zur  Ausgleichung  auf  dem  Wege  der 
Versicherung  als  die  der  durch  Hagel- 
schlag verursachten.  Verluste  durch  Feuer 
können  leicht  und  in  einer  Weise,  die  den 
Ursprung  verschleiert,  willkürlich  herbeige- 
führt werden;  dasselbe  ist  der  FaU  bei 
Seeschäden;  diese  entziehen  sich  überdies 
meist  einer  rechtzeitigen  Schätzung,  üeber- 
schwommungsschäden  pflegen,  wo  sie  nicht 
periodisch  in  geographisch  begrenzten  Ge- 
bieten wiederkehren  und  dann  in  einem 
Umfange  eintreten,  dem  gegenüber  die  Ver- 
sicherungstechnik ohnmächtig  ist,  zu  selten 
und  vereinzelt  zu  sein,  um  das  Versicherungs- 
bedttrfnis  zu  wecken.  Ebenso  verhält  es 
sich  nut  den  Beschädigungen  durch  Erd- 
beben, Stürme  und  Vulkanausbrüche.  Bei 
den  Hagelschäden  trifft  nahezu  alles  zu- 
sammen, was  auf  Hilfe  durch  Versichenmg 
hinweisen  kann.  Zu  geschweigen,  dass  hier 
jede  willkürliche  Herbeifülming  ausge- 
schlossen ist,  dass  es  sich  hier  also  stets 
nur  um  wahrhafte  sogenannte  Elementar- 
schäden handeln  kann,  ist  auch  das  geo- 
grapliische  Gebiet,  in  welchem  Nieder- 
schläge in  Gestalt  des  Hagels  vorkommen, 
keineswegs  ein  abgegrenztes,  wenn  auch 
das  Zusammentreffen  mancher  diese  Art 
von  Niederschlägen  vorzugsweise  begüns- 
tigenden Bedingungen  manche  Landstriche 
mehr  als  andere  gefährdet  erscheinen  lässt ; 
kein  Teil  der  kultivierten  Erdoberfläche  ist 
wenigstens  in  den  mittlei^n  und  höheren 
Breiten  vor  Hagelschlag  sicher.  Endlich 
wie  ausgedehnt  und  verheerend  zuweilen 
auch  Hagelschäden  eintreten  —  so  gross 
sind  doch  die  dadurch  verursachten  Ver- 
mogensverluste  in  dem  gleichen  Landstriche 
selten,  dass  nicht  eine  grössere  Anzahl 
kapitalkräftiger  Versicherungsanstalten  den 
dadurch  an  sie  herantretenden  Anfordenmgen 
sich  gewachsen  zeigen  könnte.  Eine  grosse 
Schwierigkeit  ei-wächst  hier  der  Versiche- 
nmgstechnik  nur  aus  der  zur  Zeit  noch  be- 
stehenden Unmöglichkeit  einigermassen  zu- 
treffender Vorausberechnung.     Kaum  eine 


andere  kapitalvernichtende  oder  beschä- 
digende im  übrigen  der  Versicherung  zu- 
gängliche, Naturerscheinung  widerstrebt  so 
sehr  der  Vorausscliätzung  nach  Zeit,  Um- 
fang und  Stärke  des  Auftretens.  Und  der 
Umstand,  dass  bisweilen  weite  Länderstrecken 
■viele  Jalire  hindurch  von  dieser  verheeren- 
den Naturerscheinung  ganz  verschont  bleiben, 
schränkt  zimi  Schaden  der  Unternehmimgs- 
lust  der  Versicherer  sowie  der  Billigkeit 
der  Versicherungsgewälirung  die  Zahl  derer 
beträchtlich  ein,  welche  allezeit  darauf  be- 
dacht sind,  sich  gegen  Vermögensverluste 
durch  Hagelschlag  zu  decken.  Eben  des- 
halb scheinen  hier  —  wie  gleich  an  dieser 
Stelle  angedeutet  werden  mag  —  einige 
Momente  für  Zwangs-  und  für  öffent- 
liche, namentlich  Staatsversicherung  zu 
sprechen.  — 

2.  Geschichte.  ^}  Die  Hagelversicherung 
ist  erst  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  des 
letzten  Jahrhunderts,  tmd  zwar,  soviel  be- 
kannt, zuerst  in  Schottland,  zur  Anwendung 
gekommen.  In  Deutschland  scheint  ein 
Mecklenburger  Gutsbesitzer  —  von  Müller- 
Detershagen  —  in  den  neunziger  Jahren  des 
vorigen  Jahrhunderts  den  ersten  umfassen- 
deren praktischen  Versuch  —  Neubrandeu- 
burger  Hagel  Versicherungsgesellschaft,  1797 

—  gemacht  zu  haben ;  dann  folgte  eine  ganze 
Reihe  kleiner,  d.  h.  auf  enges  Gebiet  be- 
schränkter und   daher   meist   missglückter 
Versuche  in  Sachsen,  Anhalt,  Schleswig  etc. 
bis   in    den    zwanziger  Jahren    die   ei-sten 

grösseren  deutschen  —  Gegenseitigkeits 

Anstalten  ins  Leben  traten,  welche  zum  Teil 
noch  heute  bestehen.  — 

Der  Begriff  der  Hagel  versichenmg  be- 
darf der  Erläuterung  nicht.  Es  handelt  «ich 
hier  um  die  Gewähr  eines  Ersatzes  der 
Vermögensverluste,  welche  durch  Hagel- 
schlag entstehen. 

3.  Das  Risiko.  Das  Risiko  bildet 
hier  das  Einti'eten  von  Hagelschlag,  welcher 
Versicherungsnehmer  an  ihrem  Vermögen, 
insoweit  dasselbe  versichert  ist,  schädigt. 

Deckung  kann  in  der  Hagelversicherung 
genommen  werden  gegen  Verluste  oder 
Beschädigungen,  die  an  anstehenden  Feld- 
und  Gartenfrtichten  aller  Art  sowie  gegen 
solche,  die  an  Gebäuden  und  Gebäudeteilen 

—  Fenstern,    Glasdächern    etc.    —   durch 

>)  Die  „Denkschrift",  welche  die  Königl. 
bayerische  Versichernngskammer  anlässlich  des 
hundertjährigen  Bestehens  der  Brandversiche- 
mngsanstalt  über  „die  bayerischen  öffentlichen 
Landesanstalten  für  Brand-,  Hagel-  und  Vieh- 
versicherung" herausgegeben  hat  (München  1899) 
enthält  —  S.  83  ff.  —  eine  Skizze  der  Geschichte 
der  Hagelversicherung,  eine  Uebersicht  der 
sämtlichen  seit  1891  errichteten  deutschen 
Hagel versichernngs- Anstalten  nnd  manche  in- 
struktive Betrachtangen  über  den  Gegenstand. 


956 


Hagelschädenversicherung 


Hagelschlag  entstehen.  Der  unvergleichlich 
wichtigere  Zweig  der  Hagelversicherung  ist 
der  landwirtschaftliche.  Die  Beurteilung 
der  Gefahr  der  üebernahme  von  Ver- 
sicherungen ist  für  den  Yersicherer  eine 
ebenso  wichtige  imd  schwierige  Aufgabe 
wie  die  Verteilung  seiner  Verpflich- 
tungen hingesehen  auf  die  Gegend  und 
den  Umfang.  Ziu-  Lösung  dieser  Aufgaben 
fehlt  es  teils  an  genügenden  exakten  Hilfs- 
mitteln; denn,  wie  schon  gesagt,  die  räum- 
liche Verteilung  der  Hagelschläge  über  die 
verschiedenen  Teile  eines  grösseren  Länder- 
gebietes und  ihre  Intensität  wechselt  von 
Jahr  zu  Jahr  nach  zur  Zeit  noch  nicht  be- 
kannten Gesetzen ;  teils  erfordert  die  Lösung 
jener  Aufgabe,  da  es  sich  bei  der  Hagelver- 
sicherung doch  vorzugsweise  um  Ersatz  von 
Scliäden  am  landwirtschaftlichen  Kapital 
handelt,  eine  sehr  genaue  Kenntnis  des 
landwirtschaftlichen  Betriebes  und  seiner 
besonderen  Eigentümlichkeiten  in  allen  den 
Gegenden,  wo  Versicherungen  geschlossen 
werden  sollen. 

4.  Die  Prämie.  Denselben  Schwierig- 
keiten begegnet  die  Bemessung  der  Prämie, 
d.  h.  der  Gegenleistung,  welche  der  Ver- 
sicherungsnehmer dem  Versicherer  für  die 
Gewälir  der  Entschädigimg  zu  entrichten  hat. 
Es  leuchtet  ein,  dass  das  nämüche  Hagelwetter 
bei  übei'all  in  den  Grenzen  seines  Auf- 
tretens gleicher  Intensität  die  eine  Frucht- 
gattung wesentlich  mehr  beschädigt  als  die 
andere,  die  eine  vielleicht  gänzlich  vernichtet, 
während  es  die  andere  nm-  in  der  Ent- 
wickelung  henmit.  Die  grosse  Mannigfaltig- 
keit der  Einwirkung  je  nach  der  Art  des 
Versieherungsobjekts ,  je  nach  der  Periode 
des  Eintrittes  der  Beschädigimg,  je  nach 
dem  Standorte  der  Kulturgewächse,  je  nach 
der  Kultur  des  Bodens,  den  klimatischen 
Verhältnissen  des  Ortes  etc.  erfordert  einen 
sehr  beweglichen  und  reichhaltigen  Prämien- 
tarif, dessen  einzelne  Sätze  doch  nur  auf 
schwankender  empirischer  Grundlage  an- 
nähernd richtig  bemessen  werden  können 
und  deren  Bemessung  noch  dadurch  wesent- 
lich ei-schwert  wird,  dass  sie  wenigstens 
da,  wo  Deckung  gegen  Bescliädigimgen  an 
Kulturge wachsen  gesucht  wird,  sich  ver- 
ändern muss  je  nach  dem  Zeitpunkte  des 
Versicherungsabschlusses.  Unmittelbar  vor 
der  Zeit  der  Ernte  eines  Kulturgewächses 
ist  die  Gefahr,  welche  der  Versicherer  zu 
tragen  hat,  zwar  eine  kürzere,  aber  eine 
intensiv  grössere,  als  wenn  der  Abscliluss 
zur  Zeit  der  Saat  erfolgt.  Wird  Versicherung 
gegen  Beschädigung  vei-schiedener  Kultur- 
gewächso  gesucht,  so  liat  der  Versicherer, 
abges(^hen  von  den  allgemeinen,  den  Eintritt 
der  Gefalu*  überhaupt  bestimmenden  Mo- 
menten, bei  der  Prämienbemessimg  auch 
noch  die  verschiedenen  Entwickelungsstufeu 


der  verschiedenen  Gewächse  zu  berücksich- 
tigen. Man  sieht:  er  kann  eifrig  bestrebt 
sein,  in  jedem  Einzelfalle  die  Prämienhöhe 
jedem  Individualrisiko  anzupassen  und  da- 
bei allen  den  vielfachen  in  Betracht  kommen- 
den allgemeinen  und  besonderen  Gefahrs- 
momenten Rechnung  zu  tragen;  er  kann 
scharfsinnig  und  sachkundig  alle  einfluss- 
reichen thatsächlichen  Verhältnisse  in  Rück- 
sicht ziehen,  und  eine  reiche  und  vielseitige 
Erfahrung  kann  ihm  eine  Fülle  von  wert- 
vollen Anlialtspunkten  für  jene  Arbeit  bieten ; 
aber  zu  einer  vollen  Sicherheit  darüber,  dass 
hier  und  jetzt  1,5  ^/o  und  dort  und  zu  einer 
anderen  Zeit  l®/o  der  der  Gefalir  ange- 
messene Prämiensatz  sei,  wird  er  niemals 
gelangen.  (Vgl.  übrigens  hierzu  den  Auf- 
satz von  C.  Schranmi :  »Altes  und  Neues  bei 
der  Tarifierung  zu  der  Hagelversicherung« 
in  Elu^nzweigs  Assekuranz-Jahrb.  20.  Jahr- 
gang, Wien  1899.)  Und  der  Umstand,  dass 
liier  neben  dem  Mitwerben  mehrerer  Ver- 
sicherer das  subjektive  ürteü  eine  so  ge- 
wichtige Rolle  spielt  und  daher  häufig 
scheinbar  gleiche  Gefahren  ganz  verschieden- 
artig bemessen  werden,  büdet  einen  der 
Gründe,  warum  es  der  Hagelversicherung 
übei-all,  namentlich  in  bäuerlichen  Kreisen, 
noch  an  der  wünschenswerten  Verbreitimg 
fehlt.  Dass  eine  solche  dazu  beitragen 
würde,  das  an  sich  vollkommen  nie  zu 
lösende  Problem  der  in  jedem  Falle  der 
Gefahr  angemessenen  Prämienbestimmung 
wenigstens  der  Lösung  wesentlich  zu  nähern, 
ist  für  die  Mehrzahl  der  Intei'essenten  oder 
derer,  die  es  werden  sollten,  kein  Motiv, 
ihr  zögerndes  Misstrauen  aufzugeben. 

Die  Prämie  ist  hier,  wie  bei  anderen 
Vereicherungszweigen,  entweder  eigentUche 
Prämie,  feste  Zahlung  ein  für  allemal,  ohne 
Anspnuth  auf  Rückgewähr  und  ohne  Ver- 
pflichtung zu  Nachschüssen,  oder  sie  heisst 
nur  fälsclüich  Prämie  und  ist  thatsächlich 
eine  einstweilige  Beitragszahlung,  die  sich 
je  nach  dem  Ergebnisse  des  Vei*sicherungs- 
geschäftes  in  der  Rechnungsiieriode ,  für 
welche  die  Zahlung  validiert,  un^  einen 
rückgewährten  Beti-ag  vermindern  oder  um 
eine  gefonlerte  Nachzahlung  vermehren  kann. 
Auch  GegenseitigkeitsgeseUscliaften,  welche 
von  ihren  Teilhabern  Beiträge  der  letzteren 
Art,  fälsclüich*  Prämien  genannt,  fonlern, 
pflegen  förmliche  Prämientainfe  aufzustellen, 
die  in  der  Regel  in  den  einzelnen  Ansätzen 
für  das  gleiche  Risiko  etwas  höher  sind 
als  die  eigentlichen  Prämien  der  Aktien- 
gesellschaften. 

5.  Versicherer;  rnternehmongsfor- 
men.  Als  Versicherer  oder  Vei-siche- 
rungsunternehmer  treten  hier  wie  bei  den 
meisten  anderen  Versicherungszweigen  nie- 
mals Einzelpersonen,  sondern  entweder  der 
Staat   (Bayern)    oder  Erwerbs-   (und   zwar 


L 


Hagelschädenversicherung 


957 


ausschliesslich  Aktien-)  oder  Gegenseitig- 
keitsgesellschaften auf.  Das  Gregenseitig- 
keitsprincip  eignet  sich  für  diesen  Yer- 
sicherungszweig  namentlich  in  den  ersten 
Stadien  der  Entwickelung  —  und  diese 
dauern  hier  wegen  der  mannigfaltigen 
Schwierigkeit  der  zu  bewältigenden  Auf- 
gaben sehr  lange  —  vorzugsweise,  weil 
Gewinnverheissungen  hier  nur  sehr  un- 
sicheren Grund  haben.  Gelingt  es  freilich, 
ein  namhaftes  Aktienkapital  aufzubringen, 
so  bieten  vor-  und  umsichtig  verwaltete 
Aktiengesellschaften  für  Hagelversichenmg 
den  Versicherten  auch  wieder  die  beson- 
deren Vorteüe  der  festen  Prämien  und  der 
prompten  und  ungeschmälerten  Schaden- 
zahlung. Grosse  weit  ausgebreitete  und 
rationell  geleitete  Gegenseitigkeitsanstalten 
brauchen  es  freilich  in  letzterem  Stücke 
ebenfalls  nicht  fehlen  zu  lassen  und  bieten 
ausserdem  ihrerseits  wieder  den  Versicherten 
den  Vorteil,  dass  sie  von  ihnen,  wenn  auch 
nicht  feste,  so  doch  nur  die  Risikoprämien 
einschliesslich  der  Verwaltungskosten  zu 
fordern  brauchen,  nicht  noch  Anteile  für 
die  Verzinsung  eines  Aktienkapitals.  Frei- 
lich können  auch  gegenseitige  Gesellschaften 
heutzutage  einen  einigermassen  umfang- 
reichen Betrieb  nicht  ohne  ein  namhaftes 
Garantie-  und  Betriebskapital  beginnen; 
allein  einmal  erhalten  die  Zeichner  für  die 
Anteile  an  solchem  Kapital  nur  massige 
Zinsen  und  dann  pflegt  dasselbe  so  bald 
als  möglich,  d.  h,  bei  einigermassen  ge- 
sichertem Bestände,  aus  den  laufenden  Ein- 
nahmen oder  eigens  dazu  augesammelten 
Rücklagen  getilgt  zu  werden.  Bei  den  18 
deutschen  Gegenseitigkeitsgesellschaften  für 
Hagelversicherung    waren    Ende    1897    im 

Sinzen  4 110  687  Mark  Reserven  vorhanden, 
as  gezeichnete  Aktienkapital  der  5  deut- 
schen Aktiengesellschaften  betrug  28,5 
Millionen  Mark.  Im  Deutschen  Reiche  und 
in  Frankreich  überwiegen  der  Zahl  nach 
imd  nach  der  gezeichneten  Versicherungs- 
summe die  Gegenseitigkeitsanstalten,  in 
Oesterreich-Üngam  die  Aktiengesellschaften. 
Hingesehen  auf  die  gezeichneten  Versiche- 
rungssummen ist  das  üebergewicht  der 
deutschen  gegenseitigen  Gesellschaften  in 
den  letzten  JaJiren  allmählich  gestiegen. 

Ueber  die  Hagelversicherung  als  öffent- 
liche, staatliche  Institution  sollen  weiter 
unten  einige  Betrachtungen  folgen.  — 

6.  Schadenabschätzimg  und  Ent- 
Bchädi^ng.  Die  Abschätzung  des 
Schadens  und  die  gerechte  Bemessung 
und  Gewährung  der  Entschädigung 
stösst  bei  keinem  anderen  Zweige  der 
Sachen-  und  Elementarv^ersicherung  auf  so 
grosse  Schwierigkeiten  vde  bei  der  Hagel- 
versicherung, wenigstens  bei  demjenigen 
Zweige  derselben,  welcher  lediglich  Deckung 


für  Hagelbeschädigung  an  landwirtscliaft- 
lichen  Erzeugnissen  zu  scliaffen  bestimmt 
ist.  Selten,  nicht  einmal  wenn  er  ernte- 
reife Früchte  betraf,  ist  der  eingetretene 
Schaden  alsbald  richtig  abzuscliätzen.  Bei 
Getreide  z.  B.  kann,  was  alsbald  nach  dem 
Hagelschlag  als  Totalschaden  erschien,  sich 
doch  noch  als  Partialschaden  herausstellen, 
wenn  nachmals  mit  dem  nicht  ganz  zer- 
störten Stroh  auch  ein  Teil  der  Körner  sich 
noch  als  verwertbar  erwies.  Viel  schwie- 
riger aber  ist,  imd  im  Augenblick  nach  dem 
Niedergehen  eines  massigen  Hagelwetters 
oft  gar  nicht  möglich,  die  zutreffende  Ab- 
schätzung der  Beschädigimg  an  Kulturge- 
wächsen, welche  noch  in  früheren  Stadien 
ihrer  Entwickelung  stehen.  Ob  und  wieweit 
sich  die  augenbUcUich  bemerkbaren  Scliäden 
etwa  wieder  ausgleichen,  hängt  von  der 
Gattung  der  Kulturpflanze,  von  ihrem  Stand- 
orte, von  der  landwirtschaftlichen  Behand- 
lung in  den  weiteren  Entwickelungsstadien, 
von  den  klimatischen  Verhältnissen  der 
Gegend,  von  der  nachfolgenden  Witterung 
und  mancherlei  anderen  Umständen  ab. 
Wohl  kann  es  vorkommen,  dass  wegen  er- 
heblicher Preisverändening  ein  Schaden,  der 
heute  zu  Vi  gewürdigt  wird,  selbst  bei 
mangelhafter  Ernte  sich  nachmals  noch  voll- 
kommen ausgleicht.  Bedenkt  man  nun, 
dass  auch  die  Frage  im  einzelnen  Schaden- 
falle oft  sehr  schwierig  zu  entscheiden  ist, 
ob  der  Schaden  in  der  That  lediglich  durch 
Hagelschlag,  nicht  vielleicht  durch  Sturm, 
Platzregen,  üeberschwemmung  entstanden, 
sowie  die  andere,  ob  nicht  mangelliafter 
Bestand  vor  Eintritt  des  Unwetters  diu*ch 
dieses  unkenntlich  gemacht  ist,  so  wird  man 
ermessen,  dass  hier  nur  ausserordentlich 
feine  und  scharfsinnige  Beobachtimg  und 
reiche  Erfahrung  einigermassen  das  Rechte 
treffen  kann  und  dass  auch  diese  Eigen- 
schaften durch  viel  gegenseitiges  Vertrauen 
unterstützt  werden  müssen,  wenn  sie  zu 
einer  befriedigenden  Lösung  der  Aufgabe 
führen  sollen.  In  der  Regel  behält  sich 
der  Versicherer  vor,  die  Zeit  der  Schaden- 
abschätzung selbst  zu  bestimmen.  Meistens 
erfolgt  diese  nicht  einseitig  durch  Organe 
des  Versicherers,  sondern  durch  ortskimdige 
Sachverständige,  welche  von  beiden  Teilen 
ernannt  werden. 

7.  Prämien-,  Schäden-  und  Kapital- 
reserve. Wenn  Hagelversicherungsgesell- 
schaften das  Kalenderiahr  als  Rechnungs- 
jahr wählen,  was,  da  die  Zeit,  in  der  Schä- 
den entstehen  können,  in  die  mittleren 
Monate  fällt,  wohl  angezeigt  ist,  so  entfällt 
hier  meist  das  Bedürfnis  der  Prämien- 
und  der  Schädenreserve.  Die  Prämien- 
einnahmen werden  innerhalb  des  Rechnungs- 
jahres konsumiert  imd  die  entstehenden 
Schäden,    insofern   sie    nicht   etwa    länger 


958 


Hagelschädenversicherung 


dauernde  Prozesse  veranlassen,  im  Rech- 
nungsjahre geregelt.  Für  aus  letzterem 
Grunde  etwa  noch  schwebende  Schäden 
würde  allerdings  stets  eine  sogenannte 
Schädenresei've  erforderlich  sein.  Dringend 
geboten  aber  ist  es  hier,  in  günstigen  Jahren 
namhafte  Teile  des  üeberschusses  zur  Bil- 
dung einer  reichlichen  Kapitalreserve 
zu  verwenden,  da  die  Unmöglichkeit  an- 
nähernd zuverlässiger  Vorausschätzung  des 
Gesamtrisikos  der  nächsten  Gescliäftsperiode 
für  die  schlimmsten  Fälle  vorzusorgen  em- 
pfiehlt Aktiengesellschaften  sind,  was  die 
Bemessung  und  Ergänzung  der  Kapitalreserve 
anbelangt,  a  priori  ungebunden.  Die  dies- 
bezüglichen statutarischen  Regelungen  wer- 
den bestimmt  durch  die  strengere  oder 
weniger  strenge  Rücksicht  auf  die  Erhaltung 
des  Aktienkapitals.  Meistens  enthalten  die 
Statuten  die  Bestimmung,  dass  aus  sich  er- 
gebenden Ueberschüssen  in  erster  Linie  die 
Kapitalreserve  bis  zu  einem  Höchstbetrage 
dotiert  oder  wieder  ergänzt  werden  muss. 
Bei  Gegenseitigkeitsgesellschaften  pflegt  die 
weitere  Bestimmung  hinzuzutreten,  dass  sich 
ergebende  Ueberschüsse  ei*st  zur  VerteiluDg 
an  die  Versicherten  gelangen,  wenn  der  sta- 
tutarische Höchstbetrag,  der  hier  gewöhn- 
lich in  einer  festen  Summe  ausgedrückt 
wird,  zweckmässig  aber  in  einem  bestimm- 
ten Verhältnisse  zum  Gesamtrisiko  (also  der 
Versicherungssumme)  stehen  sollte,  erreicht 
oder  ergänzt  ist,  und  die  Vorsicht  würde 
gebieten,  dass  Nachschiisse  schon  dann  er- 
hoben werden  müssen,  wenn  die  Kapital- 
resen'e  durch  die  Anfordenmgen  eines  Ge- 
schäftsjahres bis  zu  einem  gewissen  Betrage 
erschöpft  werden  musste. 

8.  Allgemeine  Versicherangsbediii- 
^ngen.  Von  den  sogenannten  allgemei- 
nen Versicherungsbedingungen, 
also  den  im  Versicherungsvertrage  festzu- 
stellenden Rechten  und  Pflichten  beider 
vertragschliessenden  Teile,  mcigen  noch  fol- 
gende hier  in  Kürze  besprochen  weitlen: 

1.  Der  Versicherun^nehmer  hat  bei  den 
Angaben  über  den  Versicherungsgegenstand 
und  allen  sonstigen  Erklärungen,  welche  zur 
Einleitung  des  Versicherungsvertrages  dienen, 
bei  Strafe  der  Hinfälligkeit  aller  Ansprüche 
aus  dem  Versicherungsvertrage  sich  der 
strengsten  Wahrhaftigkeit  zu  befleissigen. 

2.  Er  ist  verpflichtet,  die  vertragsraässigen 
Leistungen  pünktlich  abzuführen,  als  Ver- 
sicherungsnehmer auf  Gegenseitigkeit  auch  die 
etwa  erforderlichen  Nachschüsse  rechtzeitig 
zu  entrichten. 

8.  Binnen  küraester  Frist  —  gewöhnlich 
innerhalb  vierundzwanzig  Stunden  —  nach 
Eintritt  eines  Schadens,  für  welchen  er  Er- 
Siitz  begehrt,  hat  er  hiervon  Anzeige  bei  der 
von  dem  Vereicherer  zu  dem  Eiule  bezeich- 
neten Stelle  zu  erstatten. 


4.  Alle  Auskünfte,  die  von  ihm  zur  rich- 
tigen Bemessung  des  Schadens  verlangt  wer- 
den, bat  er,  soweit  er  dazu  imstande  ist,  zu 
beschaffen. 

:  5.  Bis  zur  abgeschlossenen  und  aner- 
kannten Feststellung  des  Schadens  hat  sich 
der  Versichenmgsnehmer  jeder  Verfügung 
über  die  beschädigten  Gegenstände  bei  Mei- 
dung des  Verlustes  jeder  Vergütung  ge- 
wissenhaft zu  enthalten. 

6.  Aenderungen,  welche  während  der 
Dauer  der  Versicherung  an  den  Gegenstän- 
den, auf  welche  sich  die  letztere  bezieht,  in 
anderer  als  normaler  und  regelmägsiger 
Weise  eintreten  ^also  z.  B.  nachträgliche 
anderweite  Bestellung  eines  Feldes;  Ver- 
nichtung der  versicherten  Früchte  durch 
andere  Ereignisse  als  Hagelschlag),  hat  er 
dem  Versicherer  alsbald  anzuzeigen.  Ebenso 
sind,  wenn  die  Versichenmg  trotzdem  fort- 
dauern soll,  auch  Aenderungen  in  der  Per- 
son des  Versicherimgsnehmers,  in  den  Eigen- 
tums- oder  Nutzungsverhältnissen  an  den 
versicherten  Gegenständen  ziu»  Anzeige  zu 
bringen. 

7.  Der  Versicherer  haftet  bis  zimi  Be- 
laufe der  Versicherungssumme  für  den  in 
vertragsmässiger  Weise  festgestellten  Scha- 
den, welcher  durch  und  in  unmittelbarer  Folge 
von  Hagelschlag  dem  Vei*sicherungsnehmer 
erwachsen  ist.  (Zu  einem  Gewinne  soll  die. 
Versichenmg  niemals  führen.  Ob  die  Ver- 
sicherungsanstalten einen  vernünftigen  Grund 
haben,  um  deswillen  auch  die  gleich- 
zeitige Versichenmg  der  nämlichen  Gegen- 
stände bei  anderen  Anstalten  zu  verbieten 
—  siehe  jedoch  die  unten  sub  9  besprochene 
Bedingung  —  mag  dahingestellt  sein.  Am 
nächsten  liegt  es ,  anzunehmen ,  dass  jeder 
Versicherer  nur  Anlass  habe,  zu  verlangen^ 
dass  aus  der  von  ihm  gewährten  Versiche- 
rung ein  Gewinn  nicht  erwachse.) 

8.  Den  vertragsmässig  festgestellten 
Schaden  hat  der  Versicherer  so  schnell  als 
möglich  zu  vergüten.  (Die  Versicherungs- 
verträge pflegen  bestimmte  kiu-ze  Fristen 
für  die  Schadenzahlung  festzustellen.) 

9.  Bei  vollem  Ersatz  der  versicherten 
Summe  hat  der  Versicherer  Anspruch  a\if 
den  ganzen  Rückstand  der  vei'sichert  ge- 
wesenen Gegenstände. 

10.  Bei  Gegenseitigkeitsgesellschafteu  hat 
der  Versicherer  dem  Versicherungsnehmer 
im  Ueberschussfalle  den  vertragsmässig  be- 
stimmten Anteil  auf  seine  Prämienzalilung 
zurückzugewähren.  — 

Anlangend  die  Gesetzgebung,  so  er- 
wachsen dem  civil  rechtlichen  Teile  dersel- 
ben in  betreff  der  Hagelversicherung  kaum 
b(\sondere  Aufgaben.  Die  allgemeinen  Be- 
stimmungen über  den  Vei^sicherungsverti-ag 
und  insbesondere  über  die  Schadenversiehe- 
rung  genügen  auch  hier.    Auch  die  öffent- 


Hagelschädenversichening 


959 


lichrechtliche  Gesetzgebung  hat  keinen  An- 
lass,  die  Hagelversicherung  anders  zu  be- 
handeln als  die  anderen  Zweige  der  Seha- 
denversicherung. Wo  sie  die  Konzessions- 
pflicht, eine  Staatsbeaufsichtigung  des  Be- 
triebes der  Yei-sicherungsunternehmungen, 
eine  bestimmte  Art  der  Rechenschaftslegimg 
einzuführen  für  nötig  hält,  bedarf  es  in  allen 
diesen  Stücken  der  Hagelversicherung  gegen- 
über besonderer,  nur  für  diese  geltender  Be- 
stimmungen kaum. 

9.  Staats-  und  Privatbetrieb.  Hervor- 
ragende und  aktuelle  Bedeutung  hat  ge- 
rade in  neuerer  Zeit  die  Frage  gewonnen, 
ob  und  inwieweit  es  geraten  sei,  dass  die 
Staatsgewalt  selbst  den  Betrieb 
der  Hagelschädenversicherung  in 
die  Hand  nehme.  Es  kann  dies  ge- 
schehen so,  dass  die  Staatsregienmg  die 
Hagelversicherung  betreibt  in  Konkurrenz 
mit  Privatinstituten  oder  dass  sie  sich  den 
Betrieb  dieses  Versicherungszw^eiges  aus- 
schliesslich vorbehält.  Es  kann  so  gesche- 
hen, dass  sie  ge^Äisse  Kategorieeu  von  Staats- 
angehörigen zwingt  zur  Versicherung,  oder 
unter  voller  Freigabe  der  Versicherungs- 
nahme.  Wenn  man  die  Gründe  näher  be- 
trachtet, welche  den  Gedanken  der  un- 
mittelbaren Beteiligung  der  Staatsgewalt  an 
der  Deckung  der  aus  Hagelsehlägen  entste- 
henden Vermögensverluste  nahe  gelegt  haben, 
so  wird  man  bei  Bejahung  der  Beteüigungs- 
frage  überhaupt  nur  der  Monopol-  und 
Zwangsversicherung  das  Wort  reden  können. 
I)enn  jene  Gründe  laufen  darauf  hinaus, 
das^  bei  Staatsmitwirkung  das  Bedürfnis 
der  Hagelversicherung  billiger  und  besser 
befriedigt  werde  als  ohne  dieselbe.  Eine 
Staatshagelversicherungsanstalt  aber,  welche 
mit  Privatinstituten  zu  konkurrieren  hat, 
kann,  namentlich  wenn  kein  gesetzlicher 
Zwang  zur  Hagelversicherung  besteht,  jeden- 
falls schon  um  deswillen  nicht  billiger  wirt- 
schaften als  Privatinstitute,  weil  sie  nicht 
die  gesanite  Hagelversicherung  des  Landes 
in  ihrer  Hand  zu  koncentrieren  vermag,  und, 
was  die  bessere  Qualität  der  Leistung  an- 
belangt, so  wird  sie,  vorausgesetzt,  nicht 
zugegeben,  dass  die  natürlichen  Voraus- 
setzungen hierzu  schon  in  der  Staatsthätig- 
keit  als  solcher  liegen,  diuxjh  ihre  —  es  soll 
angenommen  werden  —  musterhaften  Leis- 
tungen ihre  Konkurrenten  nur  zur  Xach- 
eiferung  anspornen  und  hätte  sie  immerhin 
mit  der  Möglichkeit,  zuletzt  auch  in  diesem 
Stücke  übertroffen  zu  werden,  zu  rechnen. 
Wer  die  Aufgabe  des  Staates  soweit  aus- 
dehnt, dass  er  der  Staatsgewalt  die  Befrie- 
digung aller  der  Bedürfnisse  der  Bürger, 
welche  sie  präsumtiv  billiger  und  besser  be- 
friedigen kann  als  die  decentralisierte  imd 
ungehemmte  Privatthätigkeit ,  zuweist  — 
augenscheinlich  die  soziaÜstische  Auffassung 


vom  Staate  — ,  und  wer  überzeugt  ist,  dass 
der  Staat  das  Bedürfnis  der  Hagelversiche- 
nmg  billiger  und  besser  zu  befriedigen  ver- 
möge als  eine  Anzahl  von  innerhalb  des 
Staatsgebietes  wirkenden  Privatinstituteu, 
der  muss  sich  für  das  Hagelversicherungs- 
monopol und  für  gesetzlichen  Zwang  zur 
Versicherung  entscheiden.  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  auf  jene  Frage  der  philosophischen 
Politik  von  den  Grenzen  der  Staatsaufgaben 
näher  einzugehen.  Dagegen  mag  imd  kann 
an  der  Hand  der  vorausgegangenen  Dar- 
stellung des  Wesens  der  Hagelversicherung 
die  Präsumtion  der  billigeren  und  besseren 
Leistung  einer  Monopol-  .und  Zwangsver- 
sicherungs  -  Staatsanstalt  für  diesen  Ver- 
sicherungszweig in  aller  Küi-ze  beleuchtet 
werden.  Bevorwortet  muss  aber  werden, 
dass  schon  der  Zwang  hier  auf  die  aller- 
grössten  Schwierigkeiten  stösst.  Gesetzt 
auch,  dass  er  beschränkt  w^ürde  auf  rein 
landwirtschaftliche  Betriebe  —  wo  ist  die 
Grenze  zwischen  Landwirtschaft  und  Gärt- 
nerei, zwischen  Landwirtschaft  als  Gewerbe 
und  Landwirtschaft  als  Vergnügen  oder  für 
den  Hausbedarf,  zwischen  Landwirtschaft 
und  Obstkultur  und  Winzerei,  zwisclien 
Landwirtschaft  und  Forstwirtschaft?  Will 
man  alle  Personen,  welche  an  Gewächsen^ 
die  zu  ihrem  Vermögensbestande  gehören, 
durch  Hagelschlag  Schaden  leiden  können, 
in  den  Zwang  eiubegreifen ,  so  zwingt  mau 
Unzählige,  die  nicht  das  mindeste  Interesse 
an  der  Hagelversicherung  haben;  will  man 
Kategorieen  ausschliessen ,  so  versetzt  man 
viele,  die  es  bitter  nötig  hätten,  in  die  Lage, 
gar  nicht  versichern  zu  können.  Es  ist 
möglich,  nicht  wahrscheinlich,  dass  der  cen- 
tralisierte  Staatsmonopolbetrieb  der  Hagel- 
versicherung einzelnen  Klassen  von  Ver- 
sicherten geringere  Opfer  auferlegen  \vürde 
als  der  centrahsierte  Privatbetrieb.  Aber 
jedenfalls  würden  die  Opfer  anderer  Klassen 
dann  um  so  grösser  sein  müssen.  An  und 
für  sich  ist  erfahrungsmässig  ausgängig  aller 
Staatsbetrieb  teuerer  als  der  konkurrierende 
Privatbetrieb.  Sollte  die  Konkun*enzlosigkeit 
an  diesem  Verhältnisse  etwas  zu  Gunsten 
des  Staatsbetriebes  ändern?  Jener  Unter- 
schied liegt  schon  in  der  Art,  wie  die  Mehr- 
zahl der  selbst  gewissenhaftesten  Staatsbe- 
amten die  Arbeitspflicht  aufzufassen  pflegt. 
Hier  aber,  in  der  Hagelversicherung,  handelt 
es  sich  um  Arbeit  so  skrupulöser  Art,  um 
Arbeit,  die  so  wenig  sich  in  bestimmte  Zeit- 
masse einscliränken  und  die  so  wenig  auf 
bestimmt  vorgezeichnetem  Wege  sich  aner- 
ziehen lässt,  so  sehr  in  ihrem  Gedeihen  von 
natürlicher  Begabung  des  Arbeiters  abhängt, 
dass  an  ein  Uebergewicht  der  Staatsarbeit 
auch  nur  hingesehen  auf  die  Billigkeit 
schwer  zu  glauben  ist.  Alle  Staatsarbeit 
muss,  schon  der  Kontrolle  wegen,   bis  zu 


960 


Hagelschädenversicherung 


einem  gewissen  Masse  schabionisiert  werden. 
Da  die  Arbeit  der  Eisikoabschätzung  in  der 
Hagelversichening  und  noch  mehr  die  der 
Schadenabschätzung  jeder  Schablone  so  sehr 
widerstrebt,  dass  es  bekanntlich  auch  den 
bestgeleiteten  Hagelversicherungsgesellschaf- 
ten als  eine  besondere  schwierige  Aufgabe 
erscheint,  für  die  mit  solchen  Arbeiten  be- 
trauten Beamten  annähernd  genügende  In- 
struktionen auszuarbeiten,  so  fällt  es  aber 
auch  ferner  schwer,  an  die  bessere  Qualität 
der  Staatsbeamtenarbeit  auf  diesem  Gebiete 
zu  glauben.  Von  Jahr  zu  Jahr  verfeinert 
und  verbessert  sich  heutzutage  in  der  Hagel- 
versicherung die  Privatarbeit  unter  dem  An- 
sporn der  Konkurrenz.  Auch  dieses  Förde- 
rungsmittels würde  die  monopolisierte  Staats- 
leistung entbehren. 

Im  Königreich  Bayern  ist  diu-ch  Ge- 
setz vom  Jahre  1884  eine  staatliche  Hagel- 
versichenmgsanstalt  begründet,  w^elche  kein 
Monopol  besitzt  und  keinen  Zwang  ausübt, 
welche  einen  Garantiefonds  von  1  Million 
Mark  sowie  einen  jährlichen  Beitrag  von 
40000  Mark  zu  den  Kosten  aus  Staatsmit- 
teln zugesichert  erhalten  hat.  Die  Anstalt 
ist  keineswegs  verpflichtet,  alle  ihr  ange- 
botenen Versicherungen  anzunehmen;  sie 
stellt  Flurmaxima  auf  gleich  den  Privat- 
instituten, berücksichtigt  innerhalb  dieser 
Grenzen  die  Anmeldungen  nach  der  Zeit- 
folge, kann  aber  jeden  Antrag  zurückweisen, 
erhebt  feste  Beiträge  und  behält  sich  je 
nach  dem  Verhältnisse  der  Gesamtbeiträge 
zu  den  Gesamtschäden  vor,  die  einzelnen 
Schadenzahlungen  zu  reduzieren.  Sie  hat 
in  den  16  Jahren  von  1884 — 1899  nur  vier- 
mal den  vollen  Schaden,  in  einem  Jalire 
nur  85,  in  drei  Jahren  nur  80  ^/o  desselben 
ersetzen  können.  Ihre  Vei-sicherungsbedin- 
gungen  sind  in  vielen  Stücken  w^eit  weniger 
günstig  als  die  bei  den  Privatanstalten  üb- 


lichen. Das  Experiment  wird  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  hin  mit  der  Zeit 
sehr  lehrreich  werden.  Es  überhaupt  zu 
unternehmen,  ist  von  sachkundigen  Volks- 
vertretern mit  den  schlagendsten  Gründen 
widerraten  worden,  und  unbefangene  Be- 
urteiler erklären  es  schon  jetzt  nundestens 
hingesehen  auf  die  Beschaffenheit  und  auf 
die  Billigkeit  der  Leistungen  für  misslungen 
(vgl.  hierzu  Ehrenzweigs  Assekuranz-Jalir- 
buch  III.,  S.  171  ff.  Günstig  beurteüt  da- 
gegen erklärlicher  Weise  die  oben  citierte 
baverische  Denkschrift  diese  Anstalt,  beson- 
ders S.  99). 

10.  Statistik.  Die  Statistik  der  Hagel- 
versicherung ist,  wie  alle  Versicherungs- 
statistik, recht  unvollkommen.  In  Deutsch- 
land sind  im  Jahre  1899,  von  kleineren 
Anstalten  und  Verbänden  abgesehen ,  18 
Gegenseitigkeits-  und  5  Aktiengesellschaften 
wirksam  gewesen.  Zu  den  ersteren  ist  die 
bayerische  staatlich  geleitete  Anstalt  ge- 
rechnet. Mit  wenigen  Ausnahmen  arbeiten 
diese  23  Anstalten  nur  auf  deutschem  Ge- 
biete. Bei  den  grösseren  deutschen  Hagel- 
versicherungsanstalten,  deren  es  im  Jahre 
1861  nm-  12  gab,  ist  seitdem  bis  1899  die 
Versicherungssumme  von  280  auf  2653  Mil- 
lionen Mark  gestiegen,  bei  den  Aktiengesell- 
schaften, deren  es  1861  4,  von  1861—66 
5,  von  1867—84  6,  von  1885—99  5  gab. 
ist  die  Versicherungssumme  von  303  auf 
1027,4  Millionen  Mark  gestiegen.  Die  Bei- 
träge bezw.  Prämien  und  Gebühren  be- 
tnigen  bei  den  Gegenseitigkeitsanstalten  im 
Jahre  1862  1865000  Mark,  im  Jahre  1899 
17  246703  Mark  einschliesslich  der  Nach- 
schüsse; bei  den  Aktiengesellschaften  im 
Jahre  1861  3498000  Mark,  im  Jahre  1899 
9238818  Mark;  Schadenzahlungen  (ein- 
schliesslich Schadenerhebungskosten)  wurden 
geleistet : 


M. 


M. 


bei  den  Gegenseitigkeitsanstalten      i  505000  (1864)    13  133300  (1884^ 
„     „    Aktiengesellschaften    .    .      1 880  000  (1864)    13002000(1880) 
Die  Schadenzahlung-en  betrugen  in  Promille  der  Versicherungssumme: 

bei  den  Gegenseitigkeitsanstalten  4.3       (1888)  20,0       (1867) 

„     „    Aktiengesellschaften    .    .  3,0       (1888)  17,6        (1880) 


M. 

1899 

12  914  133 

7  985  322 

7,8 
8,0 


Diese  Art  üebersicht  ist  hier  gewählt, 
weil  die  grossen  sich  hier  ergebenden  Ver- 
schiedenheiten besonders  charakteristisch 
sind. 

Die  Jahre  1882 — 85  hatten  bei  den  Gegen- 
seitigkeitsgesellscliaften  überhaupt  keine 
Ueberschüsse  ergeben.  Die  Akliengesell- 1 
Schäften  arbeiteten  in  den  letzten  20  Jahren  | 
auch  wiederholt  mit  Verlust,  welcher  z.  B. 
im  Jahre  1898,  Gewinn  und  Verlust  aller 
Gesellschaften  zusammen  gegenüber  gestellt, 
noch  318914  Mark  betrug.    Die  walu'e  Na- 


tur der  Hagelvereicherung  als  echter  ßle- 
mentarversicherung  kann  man  am  besten  an 
den  Schicksalen,  welche  eine  grosse,  ratio- 
nell geleitete  Hagelversichenmgsgeseilschaft 
in  45jährigem  Bestände  erfahren  hat,  er- 
kennen. Die  Magdeburger  Hagelver- 
sicherungsgesellschaft schloss  in  16 
von  jenen  45  Jahren  (1854—99)  mit  Verlust, 
zweimal  mit  sehr  beträchtlichem  Verlust, 
ab,  und  konnte  ihren  Aktionären  22  mal 
keine  Dividende  gewähren.  10  ^/o  über- 
steigende Di>idende   gewährte   sie   nur  11 


Hagelschädenversicherung — Haller 


961 


mal.  1899  hatte  die  Gesellschaft  93003 
Versicherungen  über  314912923  Mark  ge- 
schlossen. Die  Prämieneinnahme  des  Jahres 
betrug  3 174023  Mark,  die  Schäden  betrugen 
2293923  Mark,  der  Resen-efonds  539282, 
der  Sparfonds  771890  Mark,  die  Dividende 
8V2  0/0.      . 

Oesterreich-Üngarn  hatte  1897  9 
Aktien-  und  8  Gegenseiti^keitsgesellschaften 
für  Hagelversichenmg,  die  ersteren  damals 
mit  einem  Yersicherungsbestand  von  623,6, 
die  anderen  mit  einem  solchen  von  mu: 
106,4  Millionen  Kronen.  In  den  21  Jahren 
von  1876 — 97  erhöhten  sich  die  Prämien- 
einnahmen von  13,67  auf  15,47  Millionen 
Kronen,  üebersdiüsse  ergaben  nur  8  der 
21  Jahre,  zusammen  6,33  Millionen  Kronen ; 
die  Verluste  in  diesem  Zeitraum  betrugen 
aber  26,16  Millionen  Kronen. 

Für  Grossbritannien  macht  Boumes 
Handy  Assurance  Manual  für  1890  ohne 
jede  "nähere  Angabe  3  Ha?elversicherungs- 
gesellschaften  (»Hailstorm  Offices«)  namhaft, 
von  denen  die  älteste  1843,  die  jüngste  1851 
gegründet  worden  ist. 

In  Frankreich  überwiegen  in  der 
Hagelversicherung  die  Gegen seitigkeitsge- 
sel£chaften.  Ehrenzweig  rührt  in  seinem 
Jahrbuche  für  1897  neben  13  Gegenseitig- 
keitsgesellschaften niu:  3  Aktiengesellschaf- 
ten auf.  unter  den  ersteren  befinden  sich 
freilich  einige  ganz  kleine  Gesellschaften. 
Ueberhaupt  aber  ist  das  Hagelversicherungs- 
geschäft m  Frankreich  auch  nicht  annähernd 
so  beträchtlich  entwickelt  wie  in  Deutsch- 
land. InItalien  arbeiteten  im  Jahre  1897 
13  Hagelversicherungsgesellschaften,  meist 
gegenseitige,  mit  Prämieneinnahmen  von 
nicht  eanz  7000  bis  gegen  3  MiDionen  Lire. 
Die  Janresergebnisse  waren  sehr  günstige. 
In  Russland  besteht  nur  eine  grosse 
gegenseitige  Hagelversicherungsgesellschaft 
(in  Moskau).  In  der  Schweiz  arbeitet  nur 
eine  konzessionierte  Hagelversichenmgsge- 
seUschaft,  die  Schweizerische  in  Zürich,  da- 
neben eine  mehr  lokale,  nicht  konzessionierte, 
»Le  Para^le«  in  Neuenburg.  Diese  beiden, 
gegenseitigen,  Gesellschaften  hatten  1896 
einen  Versichenmgsbestand  von  33725790 
und  602087,50  Francs.  Die  schweizerische 
Anstalt,  gesetzlich  vom  Bund  und  den  Kan- 
tonen unteretützt,  arbeitete  in  dem  schäden- 
feichen  Jahre  1896  mit  einem  Ueberschusse 
von  2480  Francs  und  hatte  ein  Vermögen 
von  518268  Francs.  Die  Verwaltungskosten 
betrugen  nur  11,37  %  der  Prämieneinnahme. 
Aus  aen  übrigen  Ländern  Europas  und  aus 
den  Vereinigten  Staaten  sind  einigermassen 
genaue  Daten  aus  der  neuesten  Zeit  nicht 
zu  erlangen  gewesen. 

Litteraturs  Abgesehen  von  dem,  was  die  Fach- 
presse an  te-Us  pragmatischen  Darstellungen, 
teils    polemischen    und    kritischen    Erörterungen 

Handwörterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


enthält,  ist  die  LiUeratur  der  Hagelversicherung 
ziemlieh  dürßig.  Propagandistisch  aus  der  Zeit 
des  Aufkommens  der  ersten  grösseren  deutschen 
Hagelversicherungsanslalten :  J,  Opeltf  Ueber 
Ha^elableiter  und  IfagelschädenversicherungS' 
anstaUen,  Leipzig  18S7,  —  Helm/uth,  Ueber. 
den  Zweck  und  die  Notwendigkeit,  Hagel' 
sehädenversieherungsanstalten  für  jedes  Land  tu 
errichten,  Braunschweig  182S,  —  Oberflächlich 
orientierend:  E.  A.  Masitis,  Systematische 
Darstellung  des  gesamten  Versicherungswesens, 
Leipzig  1857.  —  MassvoUe  und  umsichtige  Be* 
leuchtung  der  Verstaaüichung^frage :  H.  Such»'' 
lavid,  Ueber  die  Verstaatlichung  der  Hagelver' 
Sicherung,  inEhrenzweigs  Assekurenzjahrbuch, 
Wien  1891.  —  Daselbst  Jahrg.  1899,  II,  S.  161  ff. 
auch  der  oben  schon  ang^hrte  Aufsatz  von 
E.  Schvafnm.  —  Statistik  über  die  deutsche 
Hagelversichenmg  findet  sieh  in  der  Zeitseh r. 
d.  k.  preuss,  stat.  Bureaus  (die  neueste 
im  Jahrg.  1890,  IIL).  —  Beleuchtung  des  oben 
erwähnten  bayerischen  Staatsversuchs  in  Eisners 
Zeitsehr.  f.  Versicherungswesen,  Jahrg.  188S  und 
1884  ^^<^  ^^  Barths  Zeilschr.  nNationn,  Jahr- 
gang 188SJ84,  S.  410  u.  Jahrg.  1884185,  Ä  798. 
—  Vergl.  auch  M.  und  K,  Brämer,  »Das 
Versicherungswesen».  (Leipzig  C.  0.  HirscJ^feld 
1894),  S,  301  ff.  —  Interessante  und  lehrreiche, 
auch  theoretische  Betrachtungen  in  den  bisher 
erschienenen  Jahresberichten  des  Eidgen.  Ver" 
sicheningsamtes  zu  Bern. 

A.  Emmingliaus, 


Halbpacht 

s.  Pacht. 


Haller,  Karl  Ludwig  von, 

geb.  am  1.  VIII.  1768  in  Bern,  1792  Le^ations- 
sekretär  der  Repnblik  Bern,  1798  Redakteur 
des  antirevolutionären  Blattes  „Helvetische 
Annalen",  1806—17  ^ofessor  des  allgemeinen 
Staatsrechts  und  der  vaterländischen  Geschichte 
an  der  1S06  gegründeten  Bemer  Akademie, 
1814  nach  Rekonstitnienrng  der  ehemaligen 
Bemischen  Patricierherrschaft  Mitglied  des 
Grossen  Rates  zu  Bern,  1820  Uebertntt  von  der 
protestantischen  znr  katholischen  Religion,  1822 
infolge  dieses  Gkabenswechsels  Verlast  seines 
Amtes,  1825  Auswanderung  nach  Frankreich, 
1829  Professor  an  der  Ecde  des  chartres  ztt 
Paris,  Ende  1830  Rückkehr  nach  der  Schweiz 
und  1834—37  Mitglied  des  Grossen  Rates  zu 
Solothum.  Haller  starb  am  20.  Mai  1854  auf 
seinem  Landgute  zu  Solothum. 

Als  eigenartige  Erscheinung  in  der  Ge- 
schichte der  Staatswissenschaften  und  unter  den 
Vertretern  der  romantischen  Schule  der  National- 
ökonomik steht  Haller  da.  Er  war  ein  Feind 
jedes  Strebertums,  er  buhlte  nicht  um  Würden 
und  Auszeichnung.  Was  er  aus  tiefinnerster 
Ueberzeugung  für  notwendig  erkannt  hatte  zur 
Förderung  seiner  vermeinthchen  g^ten  Sache, 
den  Kampf  gegen  die  revolutionäre  Strömung 
seines  Zeitalters,  das  machte  er  zur  vornehmsten 
Aufgabe  seines  Lebens.  Und  für  was  kämpfte 
er?  für  die  Neubefestigung  des  monarchiscnen 
Princips,    für   die   Omnipotenz   des   absoluten 

Auflage.    IV.  61 


962 


HaUer— HaUev 


Herrschertums.  Seine  sechsbändige  „Restau- 
ration der  Staatswissenschaften"  (s.  u.)  ist  die 
monumentalste  Apologie  der  Reaktion,  die  ie- 
mals  die  Presse  verlassen  und  welche  alles  das 
umstürzen  möchte,  was  der  von  der  französischen 
Revolution  eingesetzte  Gesellschaftsvertrag  an 
destruktiven  Elementen,  welche  die  patrimonial- 
herrliche  Souveränität  der  Fürsten  hinweggefegt, 
in  die  verschiedenen  europäischen  Verfassungen 
hineingetragen.  Die  älteren  und  die  neuzeit- 
lichen Verfassungen  werden  einer  strengen 
Kritik  von  Haller  unterzogen  und  seine  staats- 
rechtlichen Grundsätze  den  von  den  neufränki- 
Bchen  Tendenzen  infizierten  Eonstitutionspara- 
graphen  entgegengesetzt;  seine  ganze  Staats- 

Shilosophie  läuu  im  Grunde  genommen  jedoch 
arauf  hinaus,  dass  es  ein  von  Gott  sanktio- 
niertes Naturgesetz  giebt,  wonach  der  Mächtige 
herrscht,  der  Schwache  aber  dient,  und  dass 
eine  Wiedereinsetzung  der  Fürsten  in  ihre  alten 
angestammten  Privatrechte  nur  durch  Annullie- 
rung sämtlicher  Konstitntionen  zu  erreichen  sei. 
Je  betagter  Haller  wurde,  je  bissiger,  aber  auch 
sophistischer  wurde  der  Ton,  den  er  in  seiner 
Polemik  gegen  die  Verfassungsverleihungen  be- 
gehrenden Wünsche  anschlägt,  welche  die  Unter- 
thanen  von  absoluten  Herrschern  verlautbarten ; 
als  Beispiel  sei  verwiesen  auf  seine  „Staats- 
'  rechtliche  Prüfung  des  vereinigten  pi  eussischen 
Landtages  nebst  redlichem  Rat  an  den  König 
zur  Behauptung  seines  guten  Rechts"  (1847). 

Schwer  ruhte  sein  Zorn  auch  auf  den  Frei- 
maurern, deren  Logen  er  als  Brutstätten  der 
Staatsumstürzler  ansah,  und  auf  denProtestanten ; 
am  schwersten  aber  auf  den  Häuptern  der 
reformatorischen  Bewegung  gegen  das  Papst- 
tum: Luther,  Zwingli  und  Calvin.  Das 
Smithsche  Industriesystem  musste  Haller  schon 
deshalb  verwerfen,  weil  dasselbe  auf  einer  so 
ungebundenen  wirtschaftlichen  Bewegungsfrei- 
heit beruhte,  dass  es  den  restaurierten  Feudal- 
fürsten, der  nur  innerhalb  mittelalterlicher  Wirt- 
schaftsformen zur  souveränen  Machtentfaltung 
gelangen  konnte,  in  seinen  Finanzoperationen 
ttberafi  gehemmt  hätte.  Haller  vertrat  nämlich 
den  Grundsatz,  dass  dem  Fürsten  der  Staats- 
schatz und  die  Staatsdomänen  einschliesslich  der 
Forsten,  Seeen  etc.  privateigentümlich  gehören 
und  dieser  zur  Veränsserung  der  Domänen  auf 
eigene  Rechnung  in  dem  Falle  ermächtigt  sei, 
dass  keine  bestimmten  dynastischen  Hausver- 
träge es  untersagten  (vgl.  seinen  Artikel  „lieber 
die  Domänen  und  Regalien"  in  Jahrg.  I  des 
Litterarischen  Archivs  der  Akademie  zu  Bern 
ri807J).  Zuweilen  trifft  seine  aus  wirtschaft- 
lichen Vorgängen  deduzierte  Logik  aber  auch 
das  Richtiß:e,  z.  B.:  das  Branntweintrinken  ist 
nicht  die  Ursache,  sondern  die  Folge  der  Ver- 
armung ;  den  Ueberfluss  an  Schankstätten  schuf 
die  Gewerbefreiheit ;  die  Erleichterung  der  Ver- 1 
kehrsfreiheit  durch  die  Eisenbahnen  hat  die 
Hälfte  der  ehemaligen  sesshaften  landwirtschaft- 
lichen Arbeiter  zu  Vagabunden  gemacht  etc. 
(vgl.  sein  Schriftchen,  womit  er  seine  publi- 
zistische Thätigkeit  abschloss:  „Die  wahren 
Ursachen  und  die  einzig  wirksamen  Abhilfs- 
mittel  der  allgeiueinen  Verarmung  und  Ver- ' 
dienstlosigkeit  (185()Ji.  ' 

Von    seinen    sonstigen    hierher    gehörigen ' 
Schriften  seien  noch  genannt: 


Projekt  einer  Konstitution  für  die  schweize* 
rische  Republik  Bern,  Bern  1798.  —  Ueber  die 
Notwendigkeit  einer  anderen  obersten  Begrün- 
dung des  allgemeinen  Staatsrechts,  Bern  1807 
(Antrittsrede  zur  Bemer  Professur).  —  Restau- 
ration der  Staatswissenschaft  oder  Theorie  des 
natürlich-geselligen  Zustandes  der  Chimäre  des 
künstlich-bürgerlichen  entgegengestellt,  6  Bde., 
Bern  1816—34;  dasselbe,  2.  Aufl.  ebd.  1820—34; 
dasselbe  in  französ.  Uebersetzung,  Bd.  1 — 3, 
Paris  1830;  auch  je  eine  italienische,  englische 
und  spanische  Uebersetzung  liegt  von  dem 
Werke  vor,  aber  nur  die  erstere  wurde  voll- 
endet. Nach  Ausscheidung  der  nicht  hierher 
gehörigen,  gelegentlich  seines  üebertrittes  zur 
katholischen  Kirche  entstandenen  Konvertitäts- 
litteratur  sowie  seiner  in  das  Gebiet  der  Reli- 
gionsgeschichte gehörigen  Publikationen  bieten 
seine  übrigen  Schriften  weder  für  die  Wissen- 
schaft noch  zur  Kennzeichnung  der  isolierten, 
Stellung  Hallers  in  derselben  etwas  Neues. 

Vgl.  über  Haller:  W.  T.  Krug,  Die  Staats-- 
Wissenschaft  im  Restaurationsprozesse  der  Herren 
von  Haller.  Adam  Müller  und  Konsorten,  Leipzig 
1817.  —  G.  Escher,  lieber  die  Philosophie  des 
Staatsrechts  mit  besonderer  Beziehung  auf  die 
Hallersche  Restauration,  Zürich  1821,  —  J.  G. 
Ratze,  Die  Konstitutionsscheu  des  Herrn  von 
Haller,  Leipzig  1821.  —  Krug,  Dihäapolik  etc., 
Leipzig  1824.  —  K.  Riedel,  v.  HaJlers  staats- 
rechtliche Grundsätze,  Darmstadt  1842.  —  (H. 
de  Raemy  de  Bertigny),  Notice  sur  la  vie  et 
les  Berits  de  Ch.  L.  de  Haller,  Freiburg  1854. 
—  R.  V.  Mohl,  Geschichte  und  Litteratur  der 
Staats^vissenschafteu ,  Bd.  11,  Erlangen  1858. 
S.  530—60.  -  St.W.B.  von  Bluntschli  und 
Brater,  Bd.  IV,  Stuttgart  1859,  S.  622  flF.  —  H. 
Wagener,  Staats-  und  Gesellschaftslexikon,  Bd, 
IX,  Berlin  1862,  S.  38  ff.  —  Bluntschli,  Ge- 
schichte des  allgemeinen  Staatsrechts  und  der 
Politik,  München  1864,  S.  495  ff.  —  Röscher, 
Die  romantische  Schule  der  Nationalökonomik 
in  Deutschland,  VIII.  K.  L.  v.  Haller  (in 
Zeitschr.  f.  Staatsw.,  Bd.  XXVI,  Tübingen  1870, 
S.  93  ff.).  —  V.  Orelli,  Rechtsschule  und  Rechts- 
litteratur,  Zürich  1879.  —  Allgemeine  deutsche 
Biographie,  Bd.  X,  Leipzig  1879,  S.  431  ft*.  — 
H.  d.  St.,  1.  Aufl.,  Bd.  IV,  1892,  S.  255 fl'. 

Lippert 


Halley,  Edmund, 

geb.  am  29.  X.  1656  zu  London,  war  1678 
magister  artium  in  Oxford,  1579  erfolgte  die 
Veröffentlichung  seines  Stemkatalogs  des  süd- 
lichen Himmels  (catalogus  stellarum  australium), 
1681  seine  Berechnung  des  nach  ihm  benannten 
Kometen,  wurde  1703  Professor  der  Mathematik 
in  Oxford  und  1719  kgl.  Astronom  in  Green  wich. 
Halley  starb  als  Mitglied  der  Royal  Society  in 
London  und  als  korrespondierendes  Mitglied  der 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Paris  am  14. 1. 
1746  zu  London. 

Durch  mutmassliche  Vermittclung  von 
Leibniz  war  der  Royal  Society  in  London  ein 
Manuskript  des  Breslauer  Propste«  Kaspar 
Neumann  von  Auszügen  aus  sämtlichen  Bres- 
lauer Kirchenbüchern  zugegangen,  ans  denen 


Hallev — Haltekincler 


963 


Neumann  für  die  Jahre  1687—91    5869  Todes- 
fälle ausgezogen  und  aus  der  Vergleichung  der 
Geburts-  mit  den  Sterbejahren  der  Gestorbenen 
eine  sechsreihige  Tafel  konstruiert  hatte,  welche 
auf  der  1.,  8.  und  5.  Horizontale  mit  7  be- 
ginnende und  mit  100  auslaufende  bestimmte 
Altersjahre    und  daninter  die,    innerhalb   der 
angegebenen     Beobachtungsmethode ,     jährlich 
wiederkehrende  Anzahl  der  Gestorbenen  zeigt. 
Die    nicht    auf   einzelne    Altersiahre   fallende 
numerische  Eegelmässigkeit  der  Todesfälle,  son- 
dern auf  das   Uebergangsalter  von  einem  der 
an  den  bezeichneten  Stellen  angegebeneu  Alters- 
jahre zum  anderen,  zeig:t  auf  der  Tafel  auf  der  2..  4. 
und  6.  Horizontale  die  bezügliche  Sterbedurch- 
schnittsziffer und  darüber  (auf  der  nächstoberen 
Horizontale)^ einen  Punkt.  Hallev  wurde  von  der 
Koyal  Society  mit  der  Berichterstattung  über  diese 
Neumannsche  Arbeit  betraut  und  in  seinen  in 
den  Transactions  der  Society  abgedruckten  zwei 
Gutachten  (s.  u.)  kam  er  dem   Auftrage   der 
Royal  Society  in  der  Weise  nach,  dass  er  zu- 
nächst durch  Umrechnung  des  Neumannschen 
Materials  eine  nach  den  einzelnen  Altersjahren 
von   1  zu  84   (ages  currents)  abgestufte  Ab- 
sterbeordnung gewann  und  dann  aus  der  auf 
Altersklassen  (von  je  7  zu  7  Jahren)  verteilten 
Bevölkerung  des  damaligen  Breslau  seine  be- 
rühmte    Sterbetafel     (ifeberlebenstafel)     kon- 
struierte, deren  Verwendung  er  auch  auf  Er- 
mittelung   von     Leibrenten     und    Lebensver- 
sicherungsprämien ausdehnt.    Die  Summierung 
der    auf    die    einzelnen    Altersjahre    fallenden 
Personen  der  ersten  Tabelle  ergiebt  eine  Be- 
völkerung   des  damaligen  Breslau  von  33893 
Personen,  welche  Halley  für  seine  Sterbetafel 
auf  34  000  Personen  abrundete.   Letztere  Tafel 
schliesst  mit  der  Personenziffer  107,  d.  h.  mit 
107   Ueberlebenden   im   Alter  von  84  bis  100 
Jahren.    Welche.  Ausgleichsmethode  Halley  bei 
seinen  Berechnungen  anw^andte,   ist  nicht  be- 
kannt geworden,  jedenfalls  hat  er  aber  die  Ab- 
rundung  ungleichartiger  zu  Normalwerten  mit 
dem  guten  Rechte  des  Mathematikers  vorge- 
nommen, der  die  Erfahrung  für  sich  hat,  dass 
die  erkennbare  Korrektur  kleiner  arithmetischer 
Unebenheiten  bei  einer  fünfjährigen  Beobach- 
tungsskala, sich  vollständig  verwischt  bei  einer 
zwanzig-    oder    dreissigj ährigen.     Eine   seiner 
wesentlichsten  Umgestaltungen  der  Neumann- 
schen Sterblichkeitszahlen  für  das  13.  bis  17. 
Altersjahr,  die  offenbar  zu  niedrig  waren,   be- 
stand in  deren  Ersatz  durch  diejenigen,  welche 
auf  Beobachtungen  im  Londoner  Christ-Church- 
Hospital  sich  stützten. 

Aus  diesen  Halleyschen  Arbeiten  ging  die 
erste  wissenschaftlich  berechnete  Sterbetafel 
hervor,  deren  mittlere  Lebensdauerresultate  von 
zahlreichen  Lebensversicherungsgesellschaften, 
zuerst  von  dem  „Equitable"  in  London  benutzt 
wurden. 

Halleys  zwei  Gutachten  (s.  o.)  abgedruckt 
in  „Philosophical  transactions  (of  the  Royal 
Society)''  vol.  XVI,  Nr.  196  und  198,  London 
1693  betiteln  sich:  An  estimate  of  the  degress 
of  the  mortality  of  menkind  drawn  from  cnrious 
tables  of  the  births  and  funerals  at  the  city  ot 
Breslaw,  with  an  attempt  to  ascertain  the  price 
of  aunuities  upon  lives.  —  Some  fürt  her  con- 
siderations  on  the  Breslaw  hüls  of  mortalitv. 


Vergl.  über  HaUey:  Gottfr.  Zenner,  Monat- 
liche Novellen  aus  der  gelehrten  und  kuriosen 
Welt,  Zerbst  1694,  Aj)rilheft.  —  D^parcieux, 
Essai  sur  la  probabilite  etc.,  Paris  1746.  — 
Simpson,  Doctrine  of  annuities  and  reverions, 
London,  1752.  —  Wargentin,  Der  kgl.  schwe- 
dischen Akademie  Abhandlungen  aus  der  Natur- 
lehre, übersetzt  von  Kästner,  Bd.  XVII  Nr.  84, 
Leipzig  1755.  —  Montucla,  Historia  mathe- 
maticae,  Bd.  2,  Teil  IV,  Paris  1758,  S.  531  ff. 

—  J.  H.  Lambert,  Beiträge  zum  Gebrauche  der 
Mathematik  und  deren  Anwendung,  Teil  III, 
Berlin  1772,  S.  501  ff.  —  Süssmilch,  Göttliche 
Ordnung,  4.  Aufl.  Berlin  1775-76,  Bd.  II,  S. 
226  ff.,  Bd.  III,  S.  32  u.  ö.  —  Casper,  Beiträge- 
zur  medizinischen  Statistik  etc.,  Bd.  II,  Berlin 
1836,  S.  612  ff.  —  Moser,  Gesetze  der  Lebens- 
dauer, Berlin  1839.  —  Bernoulli,  Populationistik, 
Ulm  1841,  S.  399  ff.  —  Ph.  Fischer,  Grundzüge 
des  auf  die  menschliche  Sterblichkeit  gegrün- 
deten Versicherungswesens,  Oppenheim  1860,. 
S.  29  ff.  —  Wappäus,  Bevölkerungsstatistik. 
Bd.  II,  Leipzig  1861,  S.  23  u.  109.  —  A.  Wüd,. 
Probleme  der  Statistik  etc..  München  1862, 
§  13-16.  —  Quet«let,  Tables  de  mortalitv 
Brüssel  1872.  —  Knapp,  Theorie  des  Be- 
völkerungswechsels, Leipzig  1874,  S.  61  und 
122  ff.  -—  Lexis,  Einleitung  in  die  Theorie  der 
Bevölkerungsstatistik,  Strassburg  1875,  S.  39. 

—  Liagre,  Calcul  des  probabilites,  2.  ed.  Brüssel 
1879.  —  Westergaard,  Lehre  von  der  Mortalität 
u.  Morbidität,  Jena  1881,  S.  19  ff.  —  Graetzer, 
Edmund  Halley  und  Kaspar  Neumann,  Breslau 
1883.  —  John,  Geschichte  der  Statistik.  Bd.  I, 
Stuttgart  1884,  S.  192  ff.  —  R.  Böckh,  Zur 
Feier  des  200  jährigen  Bestehens  von  Halleys 
Sterblichkeitstafel  in  Bulletin  de  Plnstit.  intern, 
de  statistique,  tome  VII.    Rom  1893. 

Lippert 


Halfekinder. 

(Kost-,  Ziehkinder.) 

1.  Einleitung.     2.  Deutschland.    3.  Frank- 
reich.   4.  Grossbritannien.    5.  Dänemark. 

1.  Einleitung.  Unter  Haltekinder 
(Kost-  oder  Ziehkinder)  vei-steht  man  klei- 
nere Kinder,  die  gegen  Entgelt  von  den 
Eltern  oder  Vormündern  in  fremde  Pflege 
gegeben  wei-den.  Bekanntlich  ist  es  m 
Frankreich  eine  weitverbreitete,  in  man- 
chen geseUscliaftlichen  Schichten  fast  all- 
gemeine Sitte,  dass  die  Kinder  bald  nach 
ihrer  Geburt  bis  zu  ihrem  3.  oder  4.  Jahre 
bei  fremden  Personen  zur  Aufziehung  und 
Pflege  untergebracht  werden  (nourrisage 
mercenaire).  Namentlich  in  den  grösseren 
Städten  und  in  erster  Linie  in  Paris  ent- 
ziehen die  Mtitter,  die  den  wohlhabenden 
Ständen  angehören,  aus  gesellschaftlichen 
Rücksichten  sich  der  ersten  ihrer  Pflichten 
und  geben  die  Kinder  auf  das  Land,  um 
der  Beschwerlichkeit  der  Nahrung  und  der 
Kinderpflege  enthoben  zu  sein.  Der  Vor- 
wand, dass  die  Kinder  in  der  reinen  Luft 
des  Landes  besser  gedeihen  als  in  der  un- 

61* 


964 


HalteMnder 


gesunden  Luft  der  Grossstadt,  ist  in  der 
Regel  nur  eine  Beschönigung  der  wahren 
Gründe.  Aber  auch  in  anderen  Ländern  — 
und  so  auch  in  Deutschland  —  ist  die  Zahl 
der  Haltekinder  keine  geringe.  Nicht  selten 
nötigen  die  Familienverhältnisse  dazu,  die 
Kinder  in  fremde  Pflege  unterzubringen. 
Die  unehelichen  Mütter  sehen  sich  hierzu 
meist  gezwungen,  um  durch  Arbeit  ihren 
Lebensunterhalt  verdienen  zu  können.  Die 
armen  Kinder  aber,  die  im  zartesten  Alter 
gegen  einen  möglichst  geringen  Ijohn  frem- 
den Personen  übergeben  werden,  verfallen 
in  grosser  Zahl  durch  mangelhafte  Nahi'ung, 
unverständige  Behandlung,  ungesunde  Woh- 
nung, Mangel  an  rechtzeitiger  ärztlicher 
Hilfe  einem  körperlichen  oder  geistigen 
Elend,  aus  dem  sie  nur  ein  frühzeitiger  Tod 
befreit.  Und  die  Fälle  sind  leider  nicht 
selten,  in  denen  die  Pflegepersonen,  oft  in 
stillschweigendem  Einverständnis  mit  der 
unnatürlichen  Mutter,  durch  strafbare  Unter- 
lassungen und  Handlungen,  meist  durch 
mangelhafte  Naiirung  die  Pfleglinge  in 
kurzer  Zeit  dem  Tode  entgegenführen, 
wenn  es  auch  vielfach  schwer  hält,  die 
Missethat  nachzuweisen.  Ist  die  Sterblich- 
keit der  Kinder  in  dem  ersten  Lebensjahre 
schon  an  sich  eine  grosse  (vgl.  d.  Art. 
Sterblichkeit),  so  ist  sie  bei  den  Halte- 
kinderu,  sofern  nicht  eine  strenge  poli- 
zeiliche üeberwachung  stattfindet,  eine  er- 
schreckende. In  dem  von  Dr.  Roussel  der 
Nationalversammlung  erstatteten  Bericht  vom 
9.  Juni  1874  ward  die  Zahl  der  Todesfälle 
unter  den  Haltekindem  in  Frankreich  auf 
70  bis  80  ®/o  angegeben.  Diese  Verhältnisse 
haben  in  neuerer  Zeit  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gelenkt  und  die  Notwendigkeit, 
Personen,  welche  gegen  Entgelt  Weine 
Kinder  in  Pflege  nehmen,  einer  Aufsicht  zu 
unterwerfen,  dargethan. 

2.  Deutschland.  Obgleich  die  Auf- 
ziehung von  Kindern  gegen  Entgelt  schon 
begrifflich  nicht  zu  den  Gewerbebetrieben 
genört,  so  hat  doch,  um  entstandene  Zweifel 
zu  beseitigen,  das  R.G.  v.  20.  Juli  1879 
ausdrücklich  erklärt,  dass  die  Gewerbeord- 
nung hierauf  keine  Anwendung  findet  (Ge- 
werbeordnung §  6).  In  Bayern  hat  das 
Polizeistrafgesetzbuch  Art.  41,  81  bestimmt, 
dass  die  Annahme  fremder  Kinder  unter  8 
Jahren  gegen  Bezahlung  in  Pflege  oder  Er- 
ziehung nur  mit  Genehmigung  der  Behörde 
stattfinden  darf,  die  jederzeit  zurückge- 
nommen werden  kann.  Auch  sind  Per- 
sonen, welche  die  ihnen  anvertrauten  Kinder 
in  Bezug  auf  Schutz,  Aufsicht,  Verpflegung 
oder  ärztlichen  Beistand  verwahrlosen,  straf- 
bar, und  in  dem  Urteil  kann  die  Polizeibe- 
hörde ermächtig  weixlen,  in  anderer  Weise 
für  die  Unterbringung  der  Kinder  auf  Kosten 
der  Pflichtigen  Sorge  zu  tragen.  In  H  e  s  s  e  n 


(G.  V.  10.  Oktober  1878)  bedürfen  dagegen 
Eltern  und  Vormünder,  die  ein  Kind  unter 
6  Jahren  in  Pflege  gegen  Entgelt  ^  e  b  e  n ,  der 
ortspolizeilichen  Genehmigung,  die  zurückge- 
nommen werden  muss,  wenn  demKinde  die  ge- 
bührende Pflege  und  Fürsorge  nicht  zu  teil 
wird.  Die  Pflegepersonen  haben  bei 
Annahme  eines  ortsfremden  Kindes  nur 
der  Ortspolizeibehörde  Anzeige  zu  machen. 
In  Württemberg  (Polizeistrafgesetz  Art. 
12)  können  nur  Personen,  welche  die  ihrer 
Pflege  übergebenen  Kinder  der  sittlichen 
Verwahrlosung  preisgeben,  angehalten  wer- 
den, die  Kinder  zur  Zwangserziehung  abzu- 
geben. (S.  d.  Art.  Zwangserziehung.) 
Doch  sind  durch  Ministerialerlass  vom  11. 
Juni  1880  die  Ortsvorsteher  angewiesen, 
Verzeichnisse  der  in  ihrer  Gemeinde  unter- 
gebrachten Haltekinder  zu  führen,  und  die 
Oberamtsärzte  haben  letztere  periodisch  zu 
untersuchen  und  über  ihren  Gesundheits- 
stand zu  berichten.  In  Baden  kann  nach 
dem  G.  v.  14.  April  1882  durch  Polizeiver- 
ordnimg die  Üeberwachung  der  entgeltlichen 
Verpflegung  von  Kindern  unter  7  Jahren 
angeordnet  werden.  Durch  den  Bezirksrat 
kann  Personen,  welche  ihnen  angehörige 
oder  anvertraute  Kinder  in  Bezug  auf  Schutz, 
Aufsicht,  Verpflegung  oder  ärztlichen  Bei- 
stand verwaMosen ,  die  entgeltliche  Ver- 
pflegung von  Kindern  unter  7  Jahren  unter- 
sagt werden.  —  In  Preussen  sind  die 
Polizeibehörden  auf  Grund  ihrer  allgemeinen 
Zuständigkdt  (Allg.  Landrecht  H,  Tit  17 
§  10)  ermächtigt,  Polizeiverordnungen  zum 
Schutze  und  zur  Beaufsichtigung  der  in 
fremde  Pflege  gegebenen  Kinder  zu  erlassen. 
(S.  Erlasse  der  Minister  des  Innern  und  der 
Medizinal  -  Angelegenheiten  vom  18.  Juli 
1874  und  vom  25.  August  1880.)  In  den 
meisten  Landesteilen  sind  hiernach  Polizei- 
verordnungen erlassen  worden,  nach  welchen 
für  entgeltliche  Verpflegung  von  Kindern, 
die  das  6.  Jahr  noch  nicht  vollendet  haben 
oder  wegen  geistiger  oder  körperlicher 
Schwäche  die  Schule  nicht  besuchen  können, 
eine  polizeiliche  Genehmigung,  die  nur  auf 
Widerruf  erteilt  wird,  erforderlich  ist.  (S.  die 
Verordnung  des  Polizeipräsidenten  von  Ber- 
lin vom  2.  Dezember  1879,  des  Oberpräsi- 
denten von  Brandenburg  vom  29.  Mai 
1881.)  —  Auch  in  den  anderen  deutschen 
Staaten  bestehen  meist  ähnliche  Bestim- 
mungen. 

So  notwendig  dei^artige  Voradirifteu, 
durch  welche  die  Uebernahme  von  Kindern 
in  Pflege  gegen  Entgelt  an  eine  jederzeit 
widerrufliche  Genehmigung  gebunden  wird, 
sind,  so  reichen  sie  doch  nicht  aus.  Die 
Polizeibehörde  ist  nicht  in  der  Lage,  vor 
Erteilung  der  Genehmigung  aUe  Verhältnisse 
so  eingehend  zu  untersuchen,  wie  es  er- 
forderlich wäre,  um  eine  genügende  Sicher- 


Haltekinder 


965 


heit  zu  erlangen,  dass  der  Antragsteller  eine 
völlig  vertrauenswürdige  Person  ist.  Aber 
sie  l)esitzt  auch  keine  ausreichenden  Mittel, 
um  die  Personen,  welche  Kinder  in  Pflege 
genommen  haben,  ununterbrochen  zu  über- 
wachen. Es  haben  sich  allerdings  an  ein- 
zelnen Orten  Privatvereine  gebildet,  welche 
die  üeberwachung  der  Pflegekinder  zu  ihrer 
Aufgabe  gemacht  haben.  (So  namentlich  in 
Berlin,  Dresden  etc.)  Aber  sie  besitzen 
nicht  das  Recht,  gegen  den  Willen  der 
Pflegepersonen  deren  Wohnung  zu  besuchen 
und  sich  über  die  Verpflegimg  und  Erzie- 
hung der  Pflegekinder  Auskunft  zu  verscliaf- 
fen.  Sie  hängen  von  dem  guten  Willen  der 
Pflegepersonen  ab.  Die  stetige,  eindringende 
üeberwachung  ist  aber  die  Hauptsache,  und 
imsere  Gesetze  bedürfen  einer  Ergänzung, 
damit  den  von  den  Behörden  genehmigten 
Privatvereinen  die  rechtliche  Möglichkeit 
hierzu  gegeben  werden  kann.  In  vortreff- 
licher, vielfach  nachahmenswerter  Weise  ist 
in  Leipzig  die  Aufsicht  über  die  unehe- 
lichen Haltekinder  organisiert.  Die  Leitung 
steht  einer  Deputation  des  Armenamtes  zu,  imd 
die  Üeberwachung  der  gegen  Entgelt  unter- 
gebrachten Kinder  erfolgt  durch  einen  be- 
sonders hierfür  angestellten  Ai*zt  und  durch 
besoldete  Pflegeiinnen,  zu  denen  nur  gebil- 
dete Frauen  genommen  werden.  Die  Armen- 
ärzte sind  zur  unentgeltlichen  Behandlung 
der  Kinder  verpflichtet,  auch  wenn  die 
Mutter  nicht  öffentliche  Armeuunterstützung 
erhält.  Zur  entgeltlichen  Verpflegimg 
unehelicher  Kinder"  ist  zwar  nicht  Greneh- 
migung  erforderlich,  aber  die  Zieheltern, 
die  ein  Kind  aufnehmen,  müssen  dies  der 
Polizeibehörde  melden  und  die  entgeltliche 
Aufnahme  von  Haltekindem  kann  ihnen 
imtersagt  werden,  wenn  sie  die  über  die 
Pflege  der  Kinder  bestehenden  Vorschriften 
nicht  beachten.  —  Der  Vorsitzende  der  De- 
putation wird  zugleich  zum  Vormund  aller 
gegen  Entgelt  untergebrachten  imehelichen 
Kinder  ernannt.  Dadurch  ist  der  Behörde 
die  Möglichkeit  gegeben,  über  die  Pflege 
und  Erziehung  der  Kinder  die  erforderlichen 
Anordnungen  zu  treffen.  Diese  Generalvor- 
mundschaft hat  sich  als  sehr  wirksam  und 
fönlerlich  erwiesen. 

3.  Frankreich.  Die  Sitte  oder  Unsitte, 
Kinder  in  fremde  Pflege  zu  geben,  wai- 
schon  im  vorigen  Jahrhundert  in  Paris  all- 
gemein und  hatte  zahlreiche  Vereixlnungen 
veranlasst,  um  dies  Pflegewe^en  zu  regeln 
und  zu  überwachen.  (Die  hierher  gehörigen 
Verordnungen  sind  in  einem  1781  erschie- 
nenen Code  des  nom-rices  gesammelt.) 
Schon  unter  Ludwig  XIV.  wurden  1715 
Behörden  en-ichtet  zurVermittelung  zwischen 
den  Eltern  und  den  Personen,  die  Kinder 
in  Pflege  zu  nehmen  bereit  wa^-en,  und  zur 
üeberwachung  der  Pflegepersonen,  Behörden, 


die  später  zu  einem  einheitlichen  bureau 
des  nourrices  vereinigt  wurden,  das  der 
Armenverwaltung  zu  Paris  unterstellt  *war. 
Doch  verbanden  sich  damit  zahlreiche  Miss- 
stände, die  im  Jahre  1874  zu  seiner  Auf- 
lösmig  führten.  Das  G.  v.  23.  Dezember 
1874  bezweckt,  die  gewerbsmässige  Verpfle- 
gung kleiner  Kinder  einer  strengen  üeber- 
wachung zu  unterwerfen.  Jedoch  bezieht 
sich  das  Gesetz  nur  auf  Kinder  bis  zu  2 
Jahren  und  nur  auf  solche,  die  ausserhalb 
des  Wohnortes  der  Eltern  in  Pflege  gegeben 
w^erden.  Jede  Person,  die  ein  Kind  in 
Pflege  nehmen  wiU,  muss  eine  ärztliche 
Bescheinigung  sowie  ein  von  dem  Bürger- 
meister auszustellendes  Pflegebuch  besitzen, 
in  welches  Angaben  über  die  Personen,  den 
Lohn  etc.  eingetragen  werden  müssen  und 
in  welches  die  mit  der  üeberwachung  be- 
auftragten Behörden  ihre  periodischen  Be- 
suche einzuzeidinen  haben.  Für  jeden 
Pflegling  muss  ein  besonderes  Büchlein 
ausgesteUt  werden.  In  jeder  Gemeinde  ist 
eine  Aufsichtsbehörde  zu  bilden,  der  zwei 
Familienmütter  angehören  müssen.  In  dem 
Departement  wird  die  Aufsicht  von  dem 
Präfekten  geführt,  dem  ein  Ausschuss  zur 
Seite  steht.  Endlich  ist  im  Ministerium  des 
Innern  ein  besonderer  Centralausschuss  ge- 
bildet worden,  der  über  die  Durchfühnuig 
des  Gesetzes  zu  wachen  hat.  Besondere 
Aerzte  sind  anzustellen,  welche  mindestens 
einmal  jeden  Monat  die  Pflegekinder  zu  be- 
suchen und  über  deren  Befinden  zu  berich- 
ten haben.  Allen  Aufsichtsbeamten  steht 
das  Recht  zu,  jederzeit  die  Wohnung  der 
Pflegepersonen  zu  besuchen.  Die  Stellen- 
vermittler bedürfen  zum  Beti'ieb  ihres  Ge- 
werbes einer  jederzeit  wideiTuflichen  Ge- 
nehmigung, die  von  dem  Präfekten  zu  er- 
teilen ist. 

Hat  das  Gesetz  auch  vielfach  günstige 
Erfolge  erzielt,  so  doch  keineswegs  überall. 
In  manchen  Departements  steht  es  mehr 
auf  dem  Papier  als  es  in  Wirksamkeit  ge- 
setzt ist.  Die  Kosten  der  Ausführimg  des 
Gesetzes  sind  zur  Hälfte  vom  Staate,  ziu* 
Hälfte  von  den  Depai'tements  zu  tragen. 
Da  es  aber  strittig  ist,  ob  die  Departements 
zur  Bewilligung  der  erforderlichen  Mittel 
verpflichtet  sind,  so  ist  das  Gesetz  ^'ielfach 
ein  toter  Buchstabe  geblieben.  Doch  stim- 
men sämtliche  Berichte  über  die  Wirksam- 
keit des  Gesetzes  darin  überein,  dass  über- 
all da,  wo  es  ziu:  Ausfühinmg  gelangt  ist, 
die  Zustände  sich  bedeutend  gebessert  haben 
und  die  Sterblichkeit  der  Haltekinder  in  be- 
trächtlichem Masse  gesunken  ist. 

4.  Grossbritannien.  In  England  sind 
es.  wie  in  Deutschland,  meist  niu*  unehe- 
liche Kinder,  welche  bei  fremden  Personen 
gegen  Entgelt  untergebracht  werden.  Ein 
polizeilicher  Schutz  wird  ihnen  nur  in  ge- 


966 


Haltekinder — ^Hamilton 


•  ••• 

•  ••  • 


•"  • 


•  ••  • 


lingem  Umfange  zu  teil.  Das  im  Jalire  1872 
für  England,  Schottland  imd  Irland  erlassene 
Gesetz  (Act  for  the  better  protection  of  in- 
fant  life)  bezieht  sich  nur  auf  Kinder  bis 
zu  einem  Jahre.  Wer  solche  in  Pflege 
nehmen  will,  bedarf  für  seine  Pereon  imd 
für  die  Wohnung  einer  Genehmigung,  die 
nur  nach  vorhergehender  Untersuchung  der 
Wohnung  erteilt  werden  darf.  Doch  wiitl 
darüber  geklagt,  dass  das  Gesetz  vielfach 
nicht  beachtet  werde.  In  einzelnen  grossen 
Städten  sind  besondere  Inspektoren  ange- 
stellt, die  über  die  Ausfühnmg  des  Gesetzes 
zu  wachen  haben.  Eine  Ergänzung  findet 
das  Gesetz  in  dem  von  1889  (Prevention 
of  cruelty  to  and  protection  of  childern  Act), 
durch  welches  IVIisshandlung  und  Verwahr- 
losung der  Kinder  mit  besonderen  Strafen 
bedroht  sind. 

5.  Dänemark.  Nach  dem  G.  v.  20. 
April  1888  ist  zur  entgeltlichen  Aufnahme 
von  Kindern  bis  zum  voDendeten  14.  Jahre 
Erlaubnis  erfoi-derlich.  Mit  der  Beaufsichti- 
gung von  HalteMndern  werden  vertrauens- 
würdige Männer  und  Frauen  beauftragt, 
welche  berechtigt  sind,  jeder  Zeit  die  Woh- 
nungen der  Leute,  die  Kinder  aufgenommen 
haben,  zu  besichtigen. 

Litteratur:  Loening,  Lehrb.  des  Verwcdtungs- 
rechts f  S.  Sil.  —  Vffelniann  in  Vierteljahrs- 
schrift für  Ges^itrndheitspflege  XV,  1  ff.  —  Ba~ 
ginsky,  ebenda  XVIII,  S37ff.  (über  Berlin).  — 
Nath  in  der  Vierteljahrsschrift  für  gerichü, 
Medizin  XL,  318 ff.  —  Raiidnitz,  tindelpflege, 
1886  (mit  Statist.  Angaben).  —  Taitfte,  Schutz 
der  unehelichen  Kinder  in  Leipzig  189S.  —  H. 
Neumann,    Oeffentl.   Kinderschutz    in    Weyl, 

'  Handbuch  der  Hygieine,  Bd.  VII  (1895),  S. 
486 — 508.  —  Plstor,  Gesundheitswesen  in 
Preussen,  Bd.  II  (1898),  S.  SUff-  —  Ucber 
Frankreich  vgl,  die  nach  dem  G.  v.  2S.  Dezem- 
ber 1874,  ■^T'l'  4  jahrlich  zu  erstattenden  Berichte 
über  die  Kindersterblichkeit  und  die  Ausführung 
des  Gesetzes.  —  Lenoir,  De  la  protection  du 
Premier  (ige.     Loi  du  iiS  Dcc.  1874  (1898). 

E.  Loening, 


Hamilton,  Alexander, 

feb.  am  11.  I.  1757  auf  der  Antilleninsel  Nevis, 
esuchte  das  Columbia  College  in  New- York, 
trat  bei  Ausbruch  des  amerikanischen  Unab- 
hängigkeitskrieges als  Freiwilliger  in  die  Armee 
ein  und  wurde  Sekretär  Washingtons,  der  ihn 
1777  zum  Oberstleutnant  ernannte.  1781  er- 
hielt er  das  Generalspatent  und  entsagte  dem 
MHitärdienst.  1786  wurde  er  Mitglied  der  ge- 
setzgebenden  und  1787  der  konstituierenden 
Versammlung  in  Philadelphia,  in  welcher  letz- 
teren er  die  Führung  der  föderalistischen  Partei 
übernahm,  deren  Propaganda  für  Annahme  des 
Staats^rundgesetzes  er  durch  seine  publizisti- 
sche Thätigkeit  im  „ Federalis t"  wesentlich 
förderte.  1789,  nach  erfolgter  Konstituierung 
der  neuen  Regierung,  trat  Hamilton  als  Schatz- 


sekretär in  das  Kabinett  ein.  Hier  sah  sich 
sein  finanzpolitisches  Genie  vor  die  Aufgabe 
gestellt,  der  Rehabilitierung  des  durch  die  An- 
forderungen des  Krieges  äusserst  geschwächten 
öffentlichen  Kredits  der  Union  seme  ganze  Kraft 
zu  widmen. 

Er  begann  die  Lösung  dieser  Aufgabe  mit 
Gründung  einer  Nationalbank  sowie  Abwälzung 
der  Schulden  der  Einzelstaaten  auf  die  Union 
zwecks  Konsolidierung  und  Fundierung  der 
Staatsschuld.  Die  Staatseinnahmen  durch  He- 
bung der  industriellen  und  landwirtschaftlichen 
Leistungsföhigkeit  der  Union  zu  steigern,  legte 
er  der  gesetzgebenden  Versammlung  am  5.  XII. 
1791  seinen  berühmten  Industriebericht  (s.  u.) 
Tor,  und  das  darin  enthaltene  protektionistische 
Reformprogramm  fand  den  Beifall  sowohl  der 
Föderalisten  als  der  Republikaner. 

1795,  nach  endgiltiger  Regelung  des  Tu- 
gungsverfahrens  der  Staatsschulden,  legte 
Hamilton  sein  Amt  als  Schatzsekretär  nieder. 
Nach  Washingtons  Tode  fiel  ihm  auf  kurze 
Zeit  der  Oberbefehl  über  die  Armee  zu.  1800 
kehrte  er  nach  New- York  zurück  und  beteiligte 
sich,  als  Führer  der  Föderalisten,  wieder  lebhaft 
an  dem  politischen  Parteigetriebe.  Von  den 
sich  1804  gegenseitig  bekämpfenden  zwei  Präsi- 
dentschaftskandidaten Burr  und  Jefferson  war 
letzterer  als  Republikaner  Hamiltons  politischer 
Gegner;  trotzdem  agitierte  Hamilton,  da  er 
Oberst  Burr  nur  als  eorgeizigen  Streber  kannte, 
für  Jeffersons  Wahl.  Nachdem  es  ihm  auch 
gelungen,  aus  zwei  Wahl^ngen  Burr  jedes- 
mal nur  als  Vicepräsident  hervorgehen  zu  sehen, 
kam  es  zwischen  diesem  und  General  Hamilton 
zum  Duell,  und  letzterer  starb  an  einer  darin 
erhaltenen  Wunde  am  11.  VII.  1804. 

Hamilton  yerö£fentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform: 

Report  on  the  establishment  of  a  mint  in 
the  House  of  Representatives  of  the  United 
States,  May  5,  1791,  New- York.  —  Report  of 
the  Secretary  of  the  United  States  on  the  sub- 
iect  of  manufactures,  presented  to  the  House  of 
Representatives,  on  the  öth  December  1791, 
London  1793.  (In  diesem,  in  seiner  amtlichen 
Eigenschaft  als  Staatssekretär  des  Schatzamts 
geüeferten  Bericht  über  Schutz  der  heimischen 
Industrie  und  ihrer  Erzengnisse  bekämpft 
Hamilton  die  Freihandelsdoktrin  zu  Gunsten 
eines  den  amerikanischen  Verhältnissen    ange- 

Sassten  gemässigten  Schutzzolls.  Er  wurde 
adurch  auf  diesem  Gebiete  ein  Vorkämpfer 
Lists,  dessen  Propaganda  für  Schutzzoll  die 
Hamiltonschen  Ausführungen  bekanntlich  stark 
beeinflussten,  dessen  Doktrin  sich  aber  durch 
ein  tieferes  Eindringen  in  die  handelspolitische 
Materie  auch  nach  der  historischen  Seite  hin 
auszeichnet.  In  Hamiltons  Berichte  werden  In- 
dustrie und  Ackerbau  in  reciproker  Beziehung' 
in  eine  Interessensphäre  gebracht,  darin  wird 
ferner  die  irrtümliche  physiokratische  Vorstel- 
lung^ von  der  zweifachen  Ackerbaurente  —  ver- 
schiedene Jahre  bevor  Ricardo  mit  seiner  un- 
sterblichen Theorie  hervortrat  —  durch  Nach- 
weis des  Kapitalbildun&fsprozesses  dahin  wieder- 
legt, dass  der  Kapitedgewinn  zur  Hälfte  auf 
den  Eigentümer,  zur  anderen  Hälfte  auf 
den  Pächter  einer  landwirtschaftlichen  Unter- 
nehmung entfalle  und  diese  doppelte  Rente 
sich  daher  für  jeden  Teilnehmer  vereinfache. 


Hamilton 


967 


Der  Schutzzöllner  Carey  preist  Hamilton  wegen 
dieses  Berichts  als  Colbert  der  Vereinigten 
Staaten.)  —  Letter  concerning  the  public  con- 
duct  and  character  of  (President)  John  Adams, 
1.  und  2.  Aufl.,  New- York  1800.  — 

Hamilton  war  der  Hauptbeteiligte  an 
dem  Sammelwerke :  The  Federalist:  a  collec- 
tion  of  essays,  written  in  favor  of  the  new 
Constitution,  as  agreed  upon  by  the  federal 
Convention,  öeptember  17,  1787,  by  Alex.  Hamil- 
ton, James  Madison,  and  John  Jay,  2  Bde., 
New-York  1788;  dasselbe,  2.  Aufl.,  u.  d.  T.: 
The  Federalist.  a  coUection  of  essays,  etc.,  with 
Pacificus  on  the  proclamation  of  neutrality, 
written  in  1793,  2  Bde.,  1802 ;  dasselbe,  3.  Aufl., 
Washington  1818;  dasselbe,  4.  Aufl.,  Hallowell 
(Maine)  1826;  dasselbe,  5.  Aufl.,  Washington 
1831;  dasselbe,  6.  Aufl.,  Hallowell  1837;  das- 
selbe, 7.  Aufl.,  ebd.  1857;  dasselbe,  8.  Aufl.  u. 
d.  T, :  The  Federalist:  a  commentary  of  the 
Constitution  of  the  United  States.  A  coilection 
of  essays,  also  the  Continentalist  and  other 
papers  by  Alex.  Hamilton.  Edited  by  John  C. 
Hamilton,  Philadelphia  1871 ;  dasselbe ;  9.  Aufl., 
veranstaltet  von  H.  C.  Lodge,  London  1888. 

Hamiltons  Gesamtwerke:  Hamilton,  Ale- 
xander, Works,  comprising  bis  most  impor- 
tant  oMcial  reports ;  an  improved  edition  of  the 
Federalist,  written  in  1788:  and  Pacificus  on 
the  proclamatiouä  of  neutrality,  written  in  1793, 
3  Bde.,  New  York  1810.  —  Hamilton,  Works, 
comprising  bis  correspondence,  and  bis  political 
and  official  writings,  exclusive  of  the  Federalist, 
civil  and  military.  Edited  by  John  C.  Hamil- 
ton, 7  Bde..  New  York  ia50— 51.  —  Hamilton, 
Official  and  other  papers.  Compiled  by  Francis 
L.  Hawks,  Bd.  I  (einziger),  ebd.  1842. 

Ver^l.  über  Hamilton:  Few  remarks  on 
Mr.  Hamiltons  letter,  concerning  the  public  con- 
duct  and  character  of  the  President  (J.  Adams), 
by  Caius  (ps.),  Baltimore  1800.  —  TomCallen- 
d  e  r ,  Letters  to  A.  H.,  King  of  the  Feds,  New- 
York  1802.  —  „Hamilton*^  to  the  Federalis ts 
of  the  United  States  on  the  choice  of  a  Presi- 
dent, ebd.  1812.  —  J.  C.  Hamilton,  Life  of 
Alexander  Hamilton,  2  Bde.,  New-York  1840. 
—  J.  C.  Hamilton,  History  of  the  Eepublic, 
of  the  United  States  of  America,  as  traced  in 
the  writings  of  Alexander  Hamilton  and  bis 
contemporaries,  7  Bde.,  New-York  1857.  — 
Bluntschli  und  Brater.  Staatswörterbuch, 
Bd.  IV,  Stuttgart  1859,  S.  629.  —  Neu  mann, 
Geschichte  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika, 
Bd.  I.  Berlin  1863,  S.  416ff.  —  E.  Laboulaye, 
Histoire  des  Etats-Unis,  2.  Aufl.,  Bd.  III,  Paris 
1867,  S.  210 ff.  —  Greeley,  Essays  designed 
to  elucidate  the  science  of  political  economy, 
Boston  1870,  S.  109  und  305.  —  v.  Holst, 
Verfassung  und  Demokratie  der  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika,  Bd.  I,  Düsseldorf  1873, 
S.  70 ff.  —  Thompson,  Social  science  and  na- 
tional economy,  Philadelphia  1875,  S.  27,  263/64, 
356,8.  —  J.  HPatton,  Concise  history  of  the 
American  people,  New-York  1876,  S.  531  ff.  — 
Morse,  Life  of  Alexander  Hamilton,  2  Bde., 
Boston  1877.  —  H.  C.  Lodge,  Alexander  Ha- 
milton, 2  Bde.,  Boston  1882.  —  F.  A.  Walker, 
Political  economy,  London  1883,  S.  403.  — 
Gilman,  A  histo^'  of  the  American  people, 
Glasgow  1883,  S.  338ff.  u.  ö.  —  Harrower, 


Alexander  Hamilton  als  Nationalökonom,  Halle 
1887.  —  Bastable,  Commerce  of  nations, 
London  1892,  S.  120 ff.  -  E.  G.  Bourne, 
Alexander  Hamilton  and  Adam  Smith,  in  Quart. 
Jonrn.  of  Economics,  1894,  April,  Boston.  — 
E.  C.  Lunt,  Hamilton  as  a  political  economist, 
in  Joum.  of  Pol.  Econ.,  vol.  III,  New-York  1895. 

Lippert. 


Uamiltim,  Robert, 

geb.  1743  in  Edinburg  und  gest.  daselbst  am 
14.  VII.  1829,  trat  nach  Absolvierung  der 
Edinburger  Hochschule,  in  ein  Bankgeschäft 
ein,  worin  er  den  Grund  zu  den  umfassenden 
Studien  im  Handels-,  Geld-  und  Staatsschulden- 
wesen Englands  legte,  die  ihn  später  zu  einer 
schriftstellerischen  Kapazität  auf  dem  Gebiete 
des  englischen  Staatsschuldenwesens  machten. 
1766  entsagte  er  dem  Kaufmannsstand  und 
widmete  sich  ausschliesslich  den  Wissenschaften. 
Nachdem  er  von  1769  bis  1778  als  Bektor  der 
Akademie  zu  Perth  gewirkt  hatte,  bekleidete 
er  1779  bis  gegen  1798  die  Professur  der 
Mathematik  an  der  Universität  zu  Aberdeen. 
Mit  seinem  finanzpolitischen  Hauptwerke  (s.  u.) 
trat     er     erst    1813    an    die    Oeffentlicnkeit. 

Hamilton  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform: 

Indroduction  to  merchandise,  containing  a 
complete  System  of  arithmetic,  with  an  account 
of  the  trade  of  Great-Britain,  Edinburgh  1777. 

—  An  inquiry  concerning  the  rise  and  progress, 
the  redemption  and  present  State,  and  the  ma- 
nagement  of  the  national  debt  of  Great  Britain 
ana  Ireland,  ebd.  1813;  dasselbe,  2.  Aufl.,  ebd. 
1814;  dasselbe,  3.  und  vollständigste  Aufl., 
ebd.  1818;  dasselbe,  Neudruck,  London  1857; 
dasselbe  in  französischer  Uebersetzung  von 
Henri  Lasalle,  Paris  1817.  ^er  Verfasser 
führt  in  diesem  bereits  oben  gedachten  Werke 
und  zwar  zuerst  von  den  englischen  Finanz- 
politikern den  Beweis,  dass  der  Schulden- 
tilgungsfonds, wenn  er  in  keinem  reciproken 
Verhältnis  zum  Ueberschuss  der  Staatseinnahmen 
über  die  Ausgaben  steht,  eher  tlas  Anwachsen 
der  Staatsschuld  zu  fördern  als  deren  Sinken 
herbeizuführen  geeignet  sei,  ein  finanzarith- 
metisches Postulat,  das  auch  eine  gesetzmässige 
Beschränkung  des  Tilj^ngsfonds  für  England 
unter  Georg  IV.  herbeuührte.)  —  The  progress 
of  Society,  Edinburgh  1830  (Inhalt:  Wealth  and 
industry;  distribution  of  wealth;  equalization 
of  wealth,  etc.)  —  Essays,  Aberdeen  1831,  Neu- 
druck, Edinburg  1831.  (Inhalt:  Peace  and  war; 
on  the  management  of  the  poor,  etc.) 

Vgl.  über  Robert  Hamilton:  Mac 
Culloch,  Literature  of  political  economy, 
London  1845,  S.  139  und  337.  —  Röscher, 
Zur  Geschichte  der  englischen  Volkswirtschaft, 
Leipzig  1851,  S.  117.  —  Dictionnaire  de  F^co- 
nomie  politique,  2.  Auflage  von  Coquelin  und 
Guillaumin,   Bd.  I,    Paris  1854,  S.  847/48. 

—  Biographie  universelle,  nouvelle  Edition,  Bd. 
XVIII,  ebd.  1857,  S.410.—Dictionaryof  national 
biography,  Bd.  XXFV,  London  1890,  S.  207. 

Lippert, 


968 


Handel 


Hand-  und  Spanndienste 

B.  Naturalleistungen    und  Bauern- 
befreiung (letzteres  oben  Bd.  11  S.  343  ff.). 


Handel. 

1.  Begriff.  2.  Hauptzweige.  3.  Geschicht- 
liche  Ausgangspunkte    der   Handelsthätigkeit. 

4.  Die  Yolkswirtschaftliche  Bedeutung  des  H. 

5.  Statistik  der  Handelsbetriebe.  6.  Die 
neuzeitliche  Gestaltung  des  H.  A.  Gross- 
handel. B.  Detailhandel.  C.  Specialisiemng 
und  Erweiterung  der  Handelsbetriebe.  D.  Markt- 
handel. E.  Sonstige  Handelszweige.  F.  Schluss- 
betrachtung. 7.  Die  soziale  Frage  beim  Han- 
delsstande. 

1.  Begriff.  Handel  ist  gewerbsmässig 
betrieben  der  Einkauf  und  Eintausch  von 
Gütern  und  die  Wiederveräussening  der- 
selben. Die  leitende  Absicht  ist  also  bei 
Beschaffung  der  Güter  nicht,  sie  zu  ver- 
arbeiten oder  dem  eigenen  Gebrauche  zuzu- 
führen, sondern  sie  wieder  abzusetzen  und 
zwar  mit  einem  Gewinne.  An  den  Gütern 
selbst  können  einzelne  Verändenmgen  vor- 
genommen werden  (Ortsveränderungen,  Um- 
packung,  Zerteilung  oder  Zerlegung  etc.), 
aber  keine  wesentliche  Umgestaltung;  sonst 
liegt  kein  Handel,  zum  mindesten  kein 
blosser  Handel  mehr  vor,  sondern  eine  Er- 
zeugung, eine  Produktion.  Der  Sprachge- 
brauch weicht  öfter  von  dieser  genauen  Auf- 
fassung des  Handels  ab  und  bezieht  in 
diesen  Ausdruck  auch  andere  Formen  des 
Verkehrs  ein,  beispielsweise  wenn  vom  aus- 
wärtigen Handel  eines  Staates  gesprochen 
wird,  wobei  man  an  den  gesamten  Güter- 
verkehr desselben  mit  dem  Auslande  denkt, 
ohne  Unterschied,  ob  dieser  durch  eigene 
Mittelspei-sonen  (Händler)  bewerkstelligt  wird 
oder  nicht. 

2.  Hauptzweige.  Beim  Handel  lässt 
sich  eine  Fülle  von  Arten  und  Zweigen 
unterscheiden,  w^obei  die  Einteilung  bald 
nur  den  Handel  im  eigentlichen  Sinne,  bald 
in  einer  weiteren  Bedeutung  des  Wortes 
(s.  o.)  berührt.  Die  wichtigsten  sich  hier- 
nach ergebenden  Unterscheidungen  sind  die 
folgenden. 

a)  Je  nach  der  Beschaffenheit  der  Güter, 
um  deren  Umsatz  es  sich  handelt,  spricht 
man  vom  Waren-,  vom  Immobilien- 
handel, vom  Handel  mit  Münzen,  AVert- 
papieren  oder  Effekten.  £rstei*er  be- 
trifft den  Umsatz  beweglicher  Sachgüter,  und 
man  denkt  häufig  au  ihn  allein,  wenn  man 
von  Handel  schlechtweg  spricht,  da  er  den 
grössten  Teil  der  Handelsthätigkeit  in  sich 
begreift.  Der  Handel  mit  Immobilien  (Häusern, 
Grundstücken)  unterscheidet  sich  wesentlich 
von  ersterem,  da  es  sich  bei  ihm  weniger 
um  dauernd   zu  wie<l erholende  gleichartige 


Geschäfte  ziu*  Befriedigung  normaler  volks- 
wirtschaftlicher Bedürfnisse  handelt  als  um 
eine  Summe  von  Spekulationsakten  ohne 
regelmässige  Wiederkehr.  Nur  vereinzelt 
gelangt  er  zu  einer  grösseren  Ausdehnung 
und  wird  zu  einer  ständigen  Erwerbsbe- 
schäftigung. Der  Handel  mit  Wertpapieren 
oder  Effekten  (Staatsschuldverschreibungen, 
Aktien,  Wechseln  etc.),  auch  Münzen  und 
Edelmetallen  verbindet  sich  h&ufig  mit  der 
eigentlichen  Bankierthätigkeit,  d.  i.  der 
Kreditvermittelung  und  Organisation  des 
Zahlungswesens  (s.  d.Art.  Banken  oben  Bd. 
n  S.  132  ff.). 

b)  Der  Gross h an del  oder  Handel 
en  gros  setzt  die  Waren  an  Wiederver- 
käufer oder  an  Industrietreibende  zur  Ver- 
arbeitung im  Unternehmen  derselben  ab; 
der  Detailhandel  wendet  sich  an  die 
wirklichen  Verbraucher.  Daran  knüpfen 
sich  wichtige  Unterschiede,  sowohl  was  die 
Art  und  Weise  des  Ablaufes  der  Handels- 
geschäfte als  was  den  Umfang  derselben 
betrifft.  Der  Grosshändler  hat  es  nämlich 
mit  Geschäftsleuten  zu  thun,  welche  mit 
den  Marktverhältnissen,  Eigenschaften  der 
Ware  etc.  gewöhnlich  ganz  anders  bekannt 
und  auf  die  Wahrung  ihres  Vorteils  viel 
melir  bedacht  sind  als  das  grosse  Publikum, 
mit  dem  der  Detailliündler  verkehrt.  Dann 
sind  zumeist  die  einzelnen  Geschäfte  be- 
deutender und  der  Umsatz  im  ganzen  ein 
gi'össerer.  Wir  sagen  zumeist,  denn  dies 
|kann,  muss  aber  nicht  zutreffen.  Denn 
I  einerseits  giebt  es  Detailkunden  mit  grossem 
Bedarf  und  umgekehrt  Artikel,  von  denen 
auch  die  Wiederverkäufer  nur  ganz  geringe 
Mengen  beziehen;  andererseits  kann  auch 
der  Detailhandel  in  selu-  vei*schiedenem  Um- 
fange, in  kleinem  oder  grossem  Stile  be- 
trieben werden.  So  haben  sich  für  Artikel 
der  verecliiedensten  Art  Handelsgeschäfte 
mit  grossem  Umfang  herausgebildet,  und 
man  spricht  da  wolü  von  Warenhäusern 
und  Magazinen  oder  in  ihrer  ol^rsten 
Stufe  von  Grossmagazinen  (s.  unten 
sub  6  B).  Im  allgemeinen  ist  aber  der  Detail- 
handel auch  Kleinhandel,  d.  h.  Gesamt- 
umsatz sowie  die  einzelnen  Geschäfte  er- 
reichen eine  nur  massige  Höhe ;  häufig  wii-d 
daher  auch  der  Ausdinick  Kleinhandel  für 
Detailhandel  gebraucht.  Die  Kramerei 
stellt  den  Detailhandel  mit  geringfügigen 
Mengen  von  Handelsartikeln  dai-,  die  zum 
gewöhuHchen  Lebensbedaii  gehören.  Der 
Detailliandel  kann  übrigens  ^ähnlich  wie  das 
Handwerk)  einen  örtlichen  Cnarakter  an  sich 
tragen,  d.  h.  auf  den  Verkehr  mit  im  Stand- 
orte oder  in  dessen  Umgebung  woluihaften 
Kunden  berechnet  sein  oder  aber  den  Ab- 
!  satz  ganz  oder  teilweise  in  der  Ferne  suchen, 
i  Namentlich  gilt  das  von  gewissen  Unter- 
I  nehmungen,  die  in  gi*ossen  Städten  befind- 


Handel 


969 


lieh  vornehmlich  oder  gar  ausschliesslich  iu 
den  kleineren  Orten  Kuudschaften  zu  ge- 
winnen suchen  oder  von  bestimmten  Handels- 
centren oder  Produktionsorten  aus  syste- 
matisch die  Versendung  von  Waren  nach 
auswärts  im  kleinen  vornehmen  (Versand- 
g  e  s  c  h  ä  f  t  e).  Durch  Eigentümlichkeiten  bei 
Entrichtung  des  Kaufpreises  auf  Seiten  der 
Kunden  unterscheiden  sich  die  sogenannten 
Abzahlungsgeschäfte  (s.  darüber  oben 
Bd,  I  S.  14  ff.). 

Aehnliche  Abstufungen  nach  dem  Ge- 
sichtspunkte des  Handels  im  grossen  und 
kleinen  giebt  es  auch  beim  Effektenhandel, 
nur  dass  die  Trennung  gewöhnlich  nicht  so 
scliarf  hervortritt,  lür  den  Umsatz  im 
kleinen  und  namentlich  zum  Yerkehre  mit 
Personen  ausserhalb  der  Geschäftskreise  be- 
stimmt sind  die  sogenannten  Wechsel- 
stuben. 

c)  Je  nachdem  Ware  gegen  Ware  oder 
Ware  gegen  Geld  hingegeben  wird,  unter- 
scheidet man  Tausch-(Baratto-)Handel 
und  Kaufhandel.  Nur  letzterer  lässt 
beiderseitig  eine  genaue  Berechnung  zu  und 
entspricht  den  Verhältnissen  höherer  Kultur- 
stufen. 

d)  Der  Handel  kann  ferner  als  sess- 
hafter  betrieben  w^erden,  nämlich  wenn 
dies  mit  Hilfe  einer  festen  Handelsnieder- 
lassung geschieht,  oder  alsW  anderhandel, 
wenn  der  Handeltreibende  seine  Geschäfte 
im  Umherziehen  unter  Mitführung  von  Waren 
abwickelt.  Der  Wanderhandel  tritt  in  ver- 
scliiedenen  Formen  auf  und  entspricht  im 
allgemeinen  minder  entwickelten  wirtschaft- 
lichen Verhältnissen,  nämlich  insbesondere 
dann,  wenn  der  Handelsverkehr  noch  kein 
regelmässiger,  ständiger  oder  die  Bevölke- 
rimg zu  dünn  ist,  als  dass  für  eine  feste 
Handelsniederlassung,  die  mehr  oder  weniger 
auf  die  Umgebung  angewiesen  ist,  hinläng- 
lich Beschäftigimg  vorlianden  wäre.  Em 
Wanderhandel  wurde  namentlich  schon  frühe 
durch  die  seefahi'enden  Nationen  betrieben; 
auf  dem  festen  Lande  findet  sich  der  Kara- 
wanenhandel vor.  Ebenso  bringt  der  Besuch 
von  Märkten  oder  Messen  einen  eigenen 
Wanderhandel  zur  Ausbildung.  Der  Hau- 
sierhandel ist  ein  Detailhandel  im  kleinen 
und  betrieben  im  Umherziehen  von  Haus  zu 
Haus,  von  Ort  zu  Ort.  Gewissermassen  in 
der  Mitte  steht  der  Hökerhandel,  welcher 
von  einem  offenen  und  daher  leicht  verleg- 
baren, oft  nicht  dauernd  erlialtenen  Stande 
aus  gewölinUche  liCbensmittel  zum  Verkauf 
briugt. 

e)  Nach  den  Gegenständen  des  Waren- 
handels wird  unterschieden  Kolonial- 
waren-, Materialwaren-,  Buch- 
handel etc.  Der  Handel  mit  bereits  ge- 
brauchten Gegenständen  des  Hausbedarfs, 
zur  Bekleidung  u.  a.  fällt  den  Trödlern  zu. 


f)  Der  Handel  auf  eigene  Rechnung  bildet 
den  Eigen-  oder  Properhandel,  der 
Handel  im  eigenen  Namen,  aber  für  fremde 
Rechnimg  den  Kommissionshandel. 

g)  Die  folgenden  Einteilungen  betreffen 
nicht  mehr  Arten  der  Handelsbetriebe,  son- 
dern beziehen  sich  auf  den  durch  den  Handel 
—  aber  nicht  allein  durch  den  gewerbs- 
mässigen Handel  (s.  o.)  —  bewirkten  Güter- 
umsatz. 

Der  Binnenhandel  begreift  den  in- 
ländischen Verkehr  in  sich;  den  Gegensatz 
hiezu  bildet  der  auswärtige  oder 
Aussenhandel.  Hinsichtlich  des  letzteren 
unterscheidet  man  wieder  Einfuhr-  und 
Ausfuhrhandel,  je  nachdem  Ware  aus 
dem  Auslande  bezogen  oder  in  dasselbe  ab- 
gesetzt wird.  Der  Zi w ischenhandel  ver- 
kauft im  Ausland  gekaufte  Ware  wieder  ans 
Ausland.  Aus-  und  Einfuhr  können  somit 
direkt  oder  indirekt  (über  einen  Zwischen- 
platz) vor  sich  gehen.  Ein  Land  treibt  mit 
einem  anderen  Aktivhandel,  wenn  der 
Handelsverkehr  durchgeführt  wird  dm^ch 
die  ihm  angehörigen  Kaufleute;  für  das 
andere  Land  wird  der  Handel  dann  zum 
Passivhandel.  (Im  allgemeinen  ist  der 
Verkehr  der  reicheren  und  höher  kulti- 
vierten Nationen  mit  den  anderen  auf  der 
Seite  der  ersteren  ein  Aktiv-  und  auf  Seiten 
der  letzteren  ein  Passivhandel.)  Etwas 
anderes  bedeutet  die  Einteilung  vom  Ge- 
sichtspunkte der  Handelsbilanz  (s.  d.)  aus; 
diese  ist  aktiv  oder  passiv,  je  nachdem  der 
Wert  der  Ausfuhr  oder  der  Einfuhr  über- 
wiegt. 

h)  Einzelne  Funktionen  des  Handelsbe- 
triebes haben  sich  im  Laufe  der  Zeiten  zu 
selbständigen  Gewerben  oder  Unterneh- 
mungen und  damit  zu  Hilfsgewerben 
des  eigentlichen  Handels,  des  gewerbs- 
mässigen Güterumsatzes  ent^nckelt.  In  ge- 
wissem Sinne  gilt  dies  vom  Transportwesen 
überhaupt,  indem  anfangs  der  Händler  selbst 
den  Transport  besorgte.  Heute  vermitteln 
selbst  nur  den  Verkehr  mit  den  bestehenden 
Transportanstalten  eigene  Unternehmungen 
(Speditionsgewerbe);  es  bestehen  ferner 
Kreditauskunftsanstalten  (s.  d.  Art.  Aus- 
kunftswesen oben  Bd.  11 S.  46  ff.),  Agenten, 
die  in  fremdem  Namen  und  für  fremde 
Rechnung  Geschäfte  abschliessen  (s.  d.  Art. 
Agenturwesen  oben  Bd.IS. 54 ff.),  Makler, 
welche  Geschäfte  vermitteln;  Banken  und 
Incassogeschäfte  besorgen  die  Einziehung 
von  Forderungen,  Lagerhäuser  übernehmen 
die  Aufbewahrung  der  Waren  etc.  etc.  — 

Die  im  vorstehenden  erwähnten  Unter- 
scheidungen bezogen  sich  auf  Art  und  Gegen- 
stand der  Handelsbetriebe  und  Handels- 
thätigkeit;  daneben  ergeben  sich  aber  auch 
Kategorieen  ingewerberechtl  i  ch  erHin- 
sicht, die  freilich,   bei  der  Verschiedenheit 


970 


Handel 


des  Gewerbereclits  in  den  einzelnen  Staaten, 
nicht  allgemein  giltig  aufgestellt  werden 
können.  Im  wesentlichen  trifft  jedoch  zu, 
dass  gewisse  Handelszweige  (z.  B.  Gift- 
handel, Trödelhandel  u.  s.  w.)  häufig,  was 
Eröffnung  des  Betriebes  und  Ausübung  des 
Gewerbes  anbelangt,  einer  behördlichen  Ein- 
flussnahme  oder  Aufsicht  unterliegen,  wäh- 
rend für  andere  nur  die  allgemeinen  ge- 
werbepolizeilichen Bestimmungen  in  Betracht 
kommen.  S.  darüber  d.  Art.  Gewerbege- 
setzgebung oben  Bd.  IV  S.  410  ff. 

3.  Geschichtliche  Ausgangspunkte 
der  Handelsthätigkeit.  Im  Anfang  der 
wirtschaftlichen  Entwickelung  ist  von  einem 
Handel  nur  wenig  wahrzunehmen.  Sofern 
es  selbst  einen  Verkehr,  einen  Güteraus- 
tausch giebt,  ist  nur  wenig  oder  gar  kein 
eigentlicher  Handel,  d.  i.  Einkauf  zum  Zwecke 
des  Verkaufes  wahrzunehmen,  wie  denn 
auch  ein  wirklicher  Handelsstand,  der  be- 
nifsmässig  Handel  betreibt,  fehlt 

Die  Entstehung  des  eigentlichen  Handels 
knüpft  auch  nicht  an  die  Verkehrsbeziehungen 
zwischen  den  Angehörigen  eines  Stammes 
oder  Volkes  an,  sondern  an  die  zwischen 
den  Angehörigen  verschiedener  Stämme  oder 
Völker,  wobei,  wie  es  scheint,  ursprünglich 
der  Austausch  von  Geschenken  eine  grosse 
Bolle  spielt  und  sich  die  Erscheinung  des 
sogenannten  stummen  Handels  zeigt  (Hinter- 
legung der  zum  Austausche  bestimmten 
Güter  bezw.  der  dafür  angebotenen  Gegen- 
stände an  gewissen  Oertlichkeiten,  Abschluss 
des  Tausches  diu-ch  Wegnahme  des  von  der 
Gegenpartei  Hinterlegten  ohne  persönlichen 
Verkehr).  Der  Grund  davon,  dass  der  Handel 
als  Verkehr  zwischen  verschiedenen  Stämmen 
oder  Völkerschaften  auftritt,  ist  darin  ge- 
legen, dass  hier  die  Verschiedenheit  der 
Erzeugnisse  viel  grösser  ist  und  auch  viel 
bedeutendere  Schwierigkeiten  für  die  wechsel- 
seitige Ergänzung  zu  besiegen  waren,  so  dass 
eben  eine  eigene  auf  Bewerkstelligung  des 
Austausches  gerichtete  Thätigkeit  zunächst 
hier  Anlass  und  Spielraum  zur  Entfaltung 
fand.  Im  Zusammenhang  mit  dem  Mangel 
festen  internationalen  Rechtsschutzes  prägt 
dies  dem  ältesten  Handel  seinen  Charakter  auf. 

So  findet  es  sich  bei  den  untersten 
Kulturstufen  häufig,  dass  die  Fürsten  oder 
Häuptlinge  den  Handel  ausüben ;  der  Handel 
verbmdet  sich  ferner  leicht  mit  Beutezügen 
und  Seeräuberei  und  schliesst  sich  gerne 
an  friedenverbürgende  religiöse  Veranstal- 
tungen an.  Andererseits  ist  der  älteste  ge- 
werbsmässig betriebene  Handel  ein  Verkehr 
von  Ort  zu  Ort,  von  Land  zu  Land.  Na- 
mentlich sind  es  die  seefahrenden  Nationen 
imd  die  Nomadenvölker,  welche  in  der  Aus- 
übung dieses  Berufes  zusammenstehen.  Es 
hängt  ferner  mit  den  Wagnissen  und  Ge- 
fahren des  alten  Handels  sowie  der  UnvoU- 


kommenheit  der  Transportmittel  zusammen, 
dass  es  namentlich  nach  den  Verhältnissen 
jener  Zeiten  hochwertige  Waren  sind,  welche 
die  Gegenstände  der  Handelsthätigkeit  ab- 
geben (Stoffe,  Gewürze,  Edelmetalle,Schmuck- 
sachen,  Waffen  etc.). 

Die  Unsicherheit,  der  mangelhafte  Rechts- 
schutz für  Fremde,  die  Notwendigkeit,  zum 
Zwecke  des  Durchzuges,  der  Grründung  von 
Handelsniederlassungen  (Faktoreien)  beson- 
dere Vorkehiningen  zu  treffen  etc.,  bewirken, 
dass  im  Handel  auf  lange  Zeit  hinaus  ein 
enger  Zusammenschluss  der  Kaufleute  eines 
Stammes  stattfindet.  Ihre  Schiffe  vereinigen 
sich  zu  sogenannten  Admiralschaften ,  zu 
Lande  treten  sie  zu  Karawanen  zusammen. 
Gegenüber  minder  kultivierten  oder  weniger 
widerstandsfähigen  Völkerschaften  kann  es 
zu  einer  förmlichen  Herrschaft  der  fremden 
Kaufleute  kommen. 

Im  Anschlüsse  an  den  Verkehr  mit  den 
fremden  Kaufleuten  und  die  Zunahme  der 
arbeitsteiligen  Produktion  entwickelt  sich 
dann  auch  der  Handel  im  Innern.  Natur- 
gemäss  sind  es  die  Städte,  in  denen  sich 
der  Handel  festsetzt  und  ausbildet.  Die 
alten  Kaufinannsgilden,  die  sich  hier  zeigen, 
tragen  einen  patricischen  Cliarakter  an  sich ; 
von  den  Kaufleuten  zweigen  sich  die  Krämer, 
Höker  u.  s.  w.  ab,  welche  einer  anderen 
sozialen  Schicht  angehören  und  wohl  auch 
und  zwai*  zum  Teile  schon  sehr  frühe  be- 
sondere Gilden  bilden.  Die  ältere  Handels- 
veiiassung  weist  in  mannigfechen  Be- 
ziehungen eine  grosse  Gebundenheit  des 
Verkelu-s  auf  (durch  die  Einrichtung  der 
Kaufhäuser,  den  Bestand  obrigkeitlich  be- 
stellter Hilfs-  und  Mittelspersonen,  wie 
Messer,  Wäger  etc.). 

Einen  Stützpunkt  für  den  älteren  Handel 
geben  die  Märkte  und  Messen  ab.  Ihr  all- 
gemeines Vorkommen  erklärt  sich  aus  der 
Notwendigkeit,  zur  Zeit  geringer  Verkehrs- 
entwickelung Angebot  und  Nachfrage  an  im 
voraus  bestimmten  Orten  zusammenzubrin- 
gen; je  nach  den  mit  ihnen  verbundenen 
geschäftlichen  Zwecken  scheiden  sie  sich  in 
Wochenmärkte,  Jahrmärkte,  Messen.  Ihnen 
wird  durch  die  öffentlichen  Gewalten  mannig- 
fache Unterstützung  zu  teil,  so  im  Interesse 
der  Rechtssicherheit,  durch  Verbote  des 
Verkaufes  marktpflichtiger  Waren  ausser- 
halb des  Marktes,  durch  Befreiung  von  den 
Bann-  und  Zunft  Privilegien  etc. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Ent- 
wickelung des  Handels  war  die  Seeschiffahrt 
wegen  der  unendlichen  Begünstigung,  die 
sie  dem  Waren transnorte  bot  und  die  um 
so  schwerer  in  die  Wagschale  fallen  musste, 
als  die  Laudbeförderungsmittel  so  viel  zu 
wünschen  übrig  Hessen.  Der  eigentliche 
Welthandel  entwickelt  sich  stufenweise  mit 
dem  Voi'dringen  der  Schiffe  in  immer  ent- 


Handel 


971 


ferntere  Gebiete;  er  erhält  den  eigentlichen 
Impuls  im  Zeitalter  der  Entdeckungen.  Im 
Unterschiede  von  der  froheren  Zeit  erobern 
die  wohlfeilen  Massenartikel  eine  wachsende 
Bedeutung  für  Handel  und  Verkehr,  der 
Handel  wird  immer  freier  und  beweglicher 
und  übt  auch  einen  zunehmenden  Emfluss 
auf  das  gesamte  Wirtschaftsleben  aus. 

4.  Die  volkswirtschaftliche  Bedeutung 
des  H.  Bedeutung  imd  Aufgabe  des  Waren- 
h an  d  e  1  s  sind  gegeben  durch  die  Notwendig- 
keit von  Güteriibergängen,  welche  durch  die 
mannigfachsten  Umstände  bewirkt  wird.  Die 
Hauptvoi-anlassung  zu  diesen  Güterüber- 
gängen —  nnd  damit  zum  Vorhandensein 
eines  sich  mit  Vermittelung  desselben  ge- 
werbsmässig befassenden  Handelsstandes  — 
ist  keineswegs  in  zufälligen  oder  neben- 
sächlichen Umständen  gelegen,  sondern  hängt 
mit  der  Organisation  der  Volkswirtschaft 
selbst  zusammen.  Diese  Organisation  beniht 
auf  der  unternehmungsweisen  und  arbeits- 
teiligen Produktion  sowie  der  rechtlichen 
Selbständigkeit  der  Einzelwirtschaft  Der 
einzelne  erzeugt  danach  als  Unternehmer 
nur  bestimmte  Güterarten  oder  wirkt,  wenn 
nicht  selbst  Unternehmer,  mit  seinen  sach- 
lichen Produktionsmitteln  oder  seiner  Person 
im  Dienste  der  Unternehmung  eines  Dritten, 
so  zwar  also,  dass  er  selbständig  im  Wege 
des  Tausches  auf  die  Erzielung  eines  bei 
den  gegenwärtigen  Verhältnissen  zumeist 
in  Geld  bestehenden  Einkommens  und  Be- 
schaffung der  ihm  notwendigen  Güter  be- 
dacht erscheint,  Dass  die  hierdurch  erforder- 
lichen Güterübergänge  überhaupt  stattfinden 
und  zwar  möglichst  in  jener  Weise,  welche 
den  beteiligten  Wirtschaften  zum  thunlichst 
grossen  Vorteil  gereicht,  macht  eine  Reihe 
von  Verrichtungen  Jiotwendig,  welche  mög- 
liclierweise  von  den  Betreffenden  selbst 
besorgt  werden  können,  aber  auch  durch 
Veranstaltungen  eines  Dritten,  des  Händlers. 
Die  Dienste,  welche  letzterer  in  dieser  Be- 
ziehung leistet  und  die  um  so  wichtiger 
und  unentbehrlicher  werden,  je  mehr 
Schwierigkeiten  sich  (durch  Grossbetrieb  bei 
der  Erzeugung,  örtliche  Arbeitsteilung)  dem 
unmittelbaren  Verkehr  zwischen  Produzenten 
und  Verbraucher  entgegenstellen,  bilden  die 
volkswirtschaftliche  Produktivität  des  Han- 
dels. Dieselbe  ist  nicht  gleichzustellen  dem 
Unterschiede  des  Wertes  der  Güter  in  der 
Hand  des  einen  und  der  Hand  des  anderen, 
man  darf  dem  Handel  nicht  schlechtweg 
zu  gute  schreiben,  was  dem  Tausche  gebührt. 
Die  nützliche  Wirksamkeit  des  Handels  ist 
vielmehr  darin  gelegen,  dass  er  den  unter 
allen  Umständen  notwendigen  Austausch  der 
Erzeugnisse  und  den  schon  durch  die  Or- 
ganisation der  Volkswirtschaft  erforderlichen 
Tauschverkehr  imter  den  einzelnen  Privat- 
wirtschaften besorgt  und  zwar  vollkommener 


und  wohlfeiler,  als  es  die  Beteiligten  selbst 
zu  thim  imstande  wären,  in  ähnlicher 
Weise,  wie  die  Bedeutung  der  Eisenbahnen 
sich  nicht  einfach  deckt  mit  der  Bedeutung 
des  durch  sie  vermittelten  Verkehrs,  der  ja 
zum  Teile  auch  ohne  sie  stattfinden  würde, 
sondern  mit  der  Erleichterung  und  Aus- 
dehnung, welche  sie  dem  Verkehr  verschaffen. 
Der  Handel  stellt  sich  uns  als  ein  Geschöpf 
der  Arbeitsteilung  dar,  welches  die  Ver- 
richtung bestimmter,  wirtschaftlich  not- 
wendiger Leistungen  an  sich  zieht  und  zu 
seinem  Berufe  macht.  Die  früher  mehrfach 
aufgestellte  Lehre,  der  Handel  sei  wirt- 
schaftlich unproduktiv,  weil  er  keine  neuen 
Güter  erzeuge,  sondern  bloss  die  schon  vor- 
handenen umsetze,  ist  schon  längst  der 
besseren  Einsicht  gewichen,  dass  zur  Be- 
friedigimg des  menschlichen  Bedarfs  nicht 
bloss  die  physische  Herstellung  von  brauch- 
baren Gegenständen,  sondern  auch  die  Zu- 
gänglichkeit der  letzteren  erheischt  wird; 
diese  ist  aber  wiederum  nicht  bloss  örtlich, 
sondern  auch  rechtlich  und  wirtschaftlicli 
aufzufassen,  die  Güter  müssen  thatsäclilich 
in  den  Verfügungsbereich  des  Verbrauchei'S 
gelangen.  Ehe  nicht  alle  Voraussetzungen 
auch  für  das  letztere  erfüllt  sind,  kann  die 
produktive  Thätigkeit  nicht  als  endgiltig 
abgeschlossen  gedacht  werden. 

Gestützt  auf  diese  Ausführungen  über 
die  Bedeutung  des  Warenhandels  im  all- 
gemeinen können  wir  insbesondere  folgende 
Leistungen  desselben  in  der  heutigen  \  olks- 
wirtschaft  hervorheben: 

1.  Den  Erzeugern  nimmt  der  Handel  die 
Waren  ab,  um  sie  jenen  Orten  und  Personen 
zuzuführen,  in  welchen  und  bei  welchen 
Bedarf  dafür  vorhanden  ist.  Den  Produzenten 
wdrd  es  dadurch  ermöglicht,  sich  mit  Hilfe 
des  einfacheren  Verkehi^s  mit  den  Händlern 
im  wesentlichen  auf  die  ausführende  Arbeit 
zu  beschränken,  was  namentlich  für  die 
Erzeugimg  im  grossen  wichtig  ist. 

2.  Der  Verbraucher  wiederum  erhält 
durch  den  Handel  das,  was  er  benötigt,  und 
zwar  durch  das  assortierte  Lager  des  Kauf- 
mannes, durch  die  von  demselben  vorge- 
nommenen ßienste  des  Zerteilens,  Zerlegens 
etc.  Alles  gerade  in  der  gewünschten  Art 
und  Menge;  das  Dazwischentreten  des 
Händlers  gestattet  dabei  die  koncentrierte 
und  deshalb  wohlfeilere  Besorgimg  des 
Transportes  und  des  Lagerhaltens. 

3.  Der  Handel  wirkt  auf  die  Ausgleichimg 
örtlicher  und  zeitlicher  Preisunterschiede  hin, 
indem  der  Händler  dort  und  dann  einkauft, 
wo  und  wann  Ueberfluss  herrscht,  und  ver- 
kauft, woselbst  sich  Mangel  fühlbar  macht. 
Da  er  insbesondere  nicht  ei-st  einkauft, 
wenn  der  Verbraucher  der  Ware  thatsächlich 
schon  bedarf,  sondern  auch  auf  Vorrat,  so 
ermöglicht  er  dem  Erzeuger  einen  frülieren 


972 


Handel 


Absatz,  als  dies  anderenfalls  eintreten  würde. 
Der  ausgedehnte  Handelsverkehr  erzeugt 
auch  .so  weit  wie  möglich  sozusagen  un- 
persönliche Preise,  das  ist  eine  Preisbildung, 
die  Üiunlichst  frei  ist  von  den  zufälligen 
Einflüssen  aus  der  Persönlichkeit  der  Tausch- 
parteien; damit  gewinnt  der  Verkehr  über- 
haupt an  Leichtigkeit  und  Solidität,  indem 
jedermann  für  seme  Schätzungen  bestimmte 
feste  Anhaltspunkte  erhält.  Wie  anders 
geht  der  Yerkehr  beispielsweise  in  Gegen- 
ständen vor  sich,  hinsichtlich  welcher  ein 
regelmässiger  börsenmässig  geordneter  Han- 
del stattfindet,  im  Vergleiche  mit  den  Ab- 
satzverhältnissen von  solchen,  die  in  den 
Handelsverkehr  nicht  einbezogen  sind! 

4.  Der  Handel  beeinflusst  die  Erzeugung, 
indem  er  ihr  teils  unmittelbar  durch  Be- 
stellungen etc.,  teils  mittelbar  im  Wege  der 
Preisbildung  die  nach  der  Marktl^^e  und 
den  Bedürfnissen  der  Verbraucher  richtigen 
Bahnen  weist;  er  sorgt  also,  kurz  gesagt, 
in  den  verschiedensten  Richtungen  für  die 
Uebereinstimmung  zwischen  Bedarf  und 
Vorrat  und  unterstützt  oft  in  ausgiebiger 
Weise  die  Verbreitung  neuer  Erfindungen  etc. 

Neben  dieser  Wirksamkeit  von  unmittel- 
bar wirtschaftlicher  Bedeutung  übt  der 
Handel  aber  noch  Einflüsse  anderer  Art. 
namentlich  in  kultureller  Beziehung  aus. 
Der  Händler  ist  es  oft  —  um  an  den  letzten 
obiger  Punkte  anzuknüpfen  — ,  welcher 
durch  sein  Streben,  Absatzgelegenheiten  zu 
finden,  die  Kenntnis  von  Gebrauchsgegen- 
ständen vermittelt  und  damit  auf  Bedüi-fnis- 
kreis  und  Civilisation  günstig  einwirkt.  Ins- 
liesondere  zurückgebliebenen  Völkerschaften 
gegenüber  erscheint  der  Händler  als  Pionier 
der  Kultur ;  er  schafft  Beziehungen  zwischen 
den  einzelnen  Gegenden  und  Völkern  und 
befördert  dadurch  eine  wechselseitige  An- 
näherung und  einen  friedlichen  Verkehr. 
Der  Umstand,  dass  das  Handelsunternehmen 
ständig  mit  anderen  Wiitschaften  in  Ver- 
bindung tritt,  das  Erfordernis  genauer  Be- 
rechnung, die  Notwendigkeit  steter  Be- 
obachtung des  Marktes  und  i*ascher  An- 
passung an  die  wechselnden  Konjunkturen 
—  dies  alles  macht  den  Hftndler  zum 
eigentlichen  Träger  des  Geschäftslebens, 
zimi  Vorbild  in  demselben,  wie  denn  auch 
ein  bedeutender  Einfluss  von  ihm  auf  die 
Kechtsbildung  im  Sinne  der  Gewinnung 
klarer  unzweideutiger  Rechtsverhältnisse  und 
i'ascher  verlässlicher  Rechtspflege,  alles  aber 
unter  entsprechender  Berücksichtigung  der 
Verkchi'sgewohnheiten  ausgeht. 

Freilich  bietet  die  Handelsthätigkeit  auch 
gewisse  Schattenseiten  dar.  Der  Handel 
liat  nicht  immer  den  friedlichen  Verkehr 
der  Völker  gefördert,  sondern  die  Handels- 
eifereucht  hat  auch  zu  Kriegen  und  Unter- 
dnickungen   gefülu-t.      Erzeuger    und    Ver- 


braucher haben  durch  den  Zwischenhandel 
nicht  bloss  Vorteile  erlangt,  sondern  sind  von 
dem  gewandteren,  in  der  Bestimmung  der 
Mittel  nicht  immer  wählerischen  Kauäiann 
auch  schon  ausgebeutet  worden.  Der  Handel 
hat  nicht  immer  für  die  Stetigkeit  der 
Preise  gewirkt,  sondern  eine  ungezügelte 
Spekulation  hat  oft  absichtlich  oder  un- 
absichtlich das  gerade  Gegenteil  davon  er- 
zeugt. Nicht  bloss  Kulturbedürfnisse  hat 
der  Kaufmann  verbreitet,  sondern  auch 
Branntwein  und  Sklaverei,  nicht  niu*  neue 
Absatzgelegenheiten  ersonnen,  sondern  auch 
Warenfälscnungen ,  nicht  bloss  irertvoUe 
Dienste  geleistet,  sondern  sich  dieselben 
auch  oft  übermässig  bezahlen  lassen.  Ins- 
besondere beim  Detailhandel,  bei  dem  nicht 
gleich  geschäftskundige  und  geschäits- 
gewandte  Personen  einander  gegenüberstehen, 
nimmt  die  Preisbildung  leicht  eine  dem 
Publikum  nachteilige  Richtung,  indem  sich 
die  durch  die  Marktlage  gebotenen  Preis- 
ermässigungen  nur  mit  Hindernissen  durch- 
setzen und  häufig  die  Konkurrenz  auf  selten 
der  Händler  mehr  zu  einer  Vermehinmg  der 
Geschäfte  und  damit  zm* Teilung  des  Gewinnes 
drängt  als  zu  Preisherabsetzungen,  gleichwie 
dem  Publikum  überhaupt  oft  eme  genügende 
Kenntnis  der  Waren  und  des  Marktes  fehlt, 
was  vom  Händler  dann  missbraucht  werden 
kann.  Angesichts  solcher  Auswüchse  ist 
dieser  Stand  im  Laufe  der  Zeiten  vielerlei 
Anfeindungen  begegnet,  die  freilich  auch 
häufig  Vorurteilen  oder  Abneigimg  wider 
das  Gescliäftsleben  überhaupt  entsprungen 
sind,  das  im  Händler  seinen  ausgepiilgtesten 
Ausdruck  findet. 

Der  Handel  mit  AVertpapieren, 
Münzen  etc.  ist  teils  nur  Gehilfe  des 
Warenhandels,  dem  er  die  geeigneten  Zah- 
lungsmittel darbietet,  teils  entsprielit  er 
selbständigen  Bedürfnissen  und  Zwecken. 
Die  grosse  Bedeutung  der  Wertpapiere  in 
der  Gegenwart,  ihre  Zahl  und  Mannigfaltig- 
keit machen  einen  berufsmässig  organisierten 
Verkehr  in  ihnen  zur  Notwendigkeit.  We- 
niger tritt  dies  beim  Immobilienhandel 
zu  Tage.  Hier  kommt  nicht  so  sehr  ein 
Beruf  in  Frage,  welcher  eine  bestimmte 
volkswirtschaftliche  Aufgabe  zur  Erfüllung 
übernimmt,  als  eine  besondere  Erecheinungs- 
form  der  Spekulation. 

5.  Statistik  der  Handelsbetriebe.  Be- 
triebsstatistische Angaben  stehen  hinsichtlich 
des  Handels  noch  weniger  zu  Gel)ote  als 
rücksichtlich  der  industriellen  Unterneh- 
mungen. Im  Deutschen  Reiche  bestanden 
nach  der  Betriebszählung  vom  14.  Juni  1895 
bei  der  Gruppe  der  Handelsgewerbe  777  495 
Betriebe,  darunter  635209  Hauptbetriebe. 
Gegen  1882  ergiebt  dies  eine  Zunahme  um 
160659  Betriebe,  das  ist  imi  nicht  weniger 
als  26^/0  und  zwar   zählte  man   1895  um 


Handel 


973 


182484  Hauptbetriebe  mehr  und  um  21825 
Nebenbetriebe  weniger.     Auf  100000  Ein-. 


wohner  kamen  1895  1502,   1882  1364  Be- 
triebe. 


Ton  den  Betrieben  entfielen  1895  auf: 

Hauptbetriebe 

Warenhandel 528885 

Geld-  und  Kredithandel % 6829 

Spedition  und  Kommisaion 4  35i 

Buch-  und  Kunsthandel,  Leihbibliotheken,  Zeitungsveriag  .    .    .  10372 

Hausierhandel 34  4^9 

Handelsvermittelung 37  ^75 

Hilfsgewerbe  des  Handels i  790 

Versteigening  etc 11  388 


Nebenbetriebe 

118253 

1  741 
677 

2  204 
4638 

9  559 
929 

4285 


Von  den  Hauptbetrieben  waren  55,2  ®/o 
Allein-  und  44,8  <>/o  Gehilfenbetriebe.  990 
Betriebe  befanden  sich  im  Besitzt  von  Aktien- 
gesellschaften. 

Von  je  100  Betrieben  kamen  nach  Be- 
triebsgrössenklassen  auf  die  Klasse  mit 

1895  1882 

bis  5  Personen 94,9  9^)0 

6—50  Personen 5,0  3,9 

51  und  mehr  Personen    ...      0,1  0,1 

Füi-  Oesterreich  liegen  nicht  Ergeb- 
nisse einer  Betriebsaufnahme,  wohl  aber 
solche  einer  von  den  Handels-  und  Q«werbe- 
kanmiern  auf  Grund  ihrer  Gewerbekataster 
durchgeführten  Gewerbezählung  vor,  die  sich 
also  auf  die  bei  den  Gewerbebehörden  ge- 
machten Anmeldungen  bezw.  auf  die  Fest- 
stellungen bei  dei*  Steuerveranlagung  stützt 
(veröffentlicht  in  »Ergebnisse  der  in  Oester- 
reich vorgenommenen  Gewerbezählung  nach 
dem  Stande  vom  1.  Juni  1897,  verfasst  vom 
Arbeitsstatistischen  Amte«).  Die  Zahl  der 
ermittelten  Gewerbe  deckt  sich  nicht  voll- 
kommen mit  der  Zahl  der  wirklich  vor- 
handenen Betriebe,  es  ist  aber  nicht  mög- 
lich, hier  die  Quellen  der  Abweichungen  zu 
besprechen.  Es  wiurden  nun  gezählt  Ge- 
werbe bei  den  Klassen: 

Warenhandel  mit  fester  Betriebsstätte   261  628 

„  im  Umherziehen     ...    22  367 

Hilfsgewerbe  des  Warenhandels  ...      7  374 

Geld-  und  Kreditwesen 2259 

Die  Ergebnisse  der  in  Frankreich 
vorgenommenen  Gewerbezählung  vom  29. 
März  1896  sind  erst  zum  Teil  veröffentlicht. 

Weitere  statistische  Angaben  über  Han- 
delsberuf und  Handelsbetrieb  siehe  in  den 
Veröffentlichungen  über  die  deutsche  Berufs- 
und Gewerbezählung,  namentlich  in  »Gewerbe 
und  Handel  im  Deutschen  Reich«  (Stat,  des 
Deutschen  Reiches,  Bd.  119,  Berhn  1899); 
vgl.  femer  d.  Artt.  Beruf  und  Be- 
ruf sstatistik  (oben  Bd.  U  S.  592ff.). 
Gewerbestatistik  (oben  Bd. IV  S.510ff.); 

6.  Die  neuzeitliche  Gestaltung  des  H. 
Gegenüber  der  älteren  Gestaltung  des  Waren- 
handels weist  die  Gegenwart  tiefgehende 
Verschiedenheiten   auf.     Der    Güterumsatz 


selbst  ist  gewaltig  gestiegen;  es  hängt  dies 
zusammen  mit  der  Ausdehnung  der  Pro- 
duktion überhaupt,  dem  Vordringen  des 
unternehmungsweisen  Betriebes  und  manchen 
anderen  Erscheinungen  der  modernen  wirt- 
schaftlichen Entwickelung.  Am  deutlichsten 
fast  tritt  dies  bei  der  in  den  Kulturländern 
wachsende  Ziffern  aufweisenden  Statistik  des 
Aussenhandels  zu  Tage,  während  die  aber 
gleichwohl  zweifeDos  vorhandene  Erweite- 
rung des  Verkehrs  im  Innern  sich  einer  ge- 
naueren und  durchgreifenden  zahlenmässigen 
Feststellung  entzieht. 

Die  Ausdehnung  des  Güterverkehrs  ist 
jedoch  nicht  gleichbedeutend  mit  einer  Er- 
weiterung der  Thätigkeit  des  Handelsstandes, 
geschweige,  dass  die  La§e  des  letzteren 
sich  parallel  mit  jener  entwickele.  Vielmehi- 
ist  eine  Fülle  von  neuzeitlichen  Erscheinungen 
füi-  den  Handelsstand  und  seine  Stellung 
bedeutsam  geworden. 

Zunächst  ist  hierüber  zu  bemerken,  dass 
sich  auch  des  Handels  in  wachsendem  Masse 
die  Arbeitsteilung  bemächtigt  hat,  so  dass 
heute  eine  Reihe  von  Aufgaben  als  selb- 
ständige Berufe  oder  Erwerbszweige  ausge- 
übt wird,  welche  früher  vom  Kaufmann 
selbst  besorgt  werden  mussten  (s.  oben  sub 
2,  h).  Selbst  unsere  fortgeschrittene  Ver- 
sicherung spielt  hier  eine  Rolle,  auch  sie 
vereinfacht  gleich  den  erwähnten  Hilfsge- 
werben den  Güterumsatz,  indem  sie  den- 
selben von  manchem  Risiko  entkleidet,  das 
ihm  früher  anhaftete  und  notwendigerweise 
von  jenem  zu  tragen  war,  welcher  jenen 
Umsatz  auf  eigene  Rechnung  besorgte. 

Diese  Entwickelung  der  Hüfsgewerbe, 
welche  den  Güterumsatz  wesentlich  er- 
leichtert, hat  verbunden  mit  der  Vervoll- 
kommnung des  Transport-  und  Nachrichten- 
wesens in  mannigfacher  Hinsicht  eine  ZurQck- 
drängung  des  Handels  als  selbständiger  Be- 
rufsausübung zur  Folge  gehabt. 

A.  Grosshandel.  Vor  allem  wurde 
davon  der  Grosshandel  (Zwischenhandel) 
betroffen.  Während  früher,  beispielsweise 
im  überseeischen  Verkehre,  Monate  vergehen 
konnten,  bis  dass  auch  nur  eine  Antwort 
auf  einen  Brief,  ein  Angebot  oder  dergleichen 


974 


Handel 


eintraf,  das  Einlangen  der  Ware  nicht  mit 
Sicherheit  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte 
zu  erwai-ten  war,  jedenfalls  aber  eine  lange 
Frist  in  Anspruch  nahm,  dem  Reisen  und 
damit  der  Anknüpfung  persönlicher  Bekannt- 
schaften bedeutende  JSindernisse  gegenüber- 
standen, liegen  heute  diesbezüglich  ganz 
andere  Yerhältnisse  vor.  Die  Uebersicht 
über  den  jeweiligen  Stand  des  Marktes  ist 
wegen  der  Fortschritte  im  Nachrichtendienst 
dm-ch  die  Zeitungen  etc.  eine  ganz  andere, 
man  kann  davon  absehen,  was  immer  mit 
Risiko  verbunden,  Warenvon*äte  auf  Lager 
zu  nehmen,  man  braucht  erst  im  letzten 
Augenblick  auf  telegraphischem  Wege  über 
die  Ware  zu  verfügen,  damit  sie  mit 
raschester  Beschleunigimg  jenem  Orte  zu- 
eilt, wo  sie  wirklich  benötigt  wird,  imd 
nicht  irgendwo  sich  aufstapelt,  wo  man  nur 
glaubte,  ihrer  eiustens  zu  bedürfen.  Der 
Transport  ist  durch  die  Versicherung  der 
Gefahr  entkleidet,  die  Yeranschlagung  der 
Kosten  kann  im  voraus  genau  geschehen 
und  wIkI  durch  die  direkten,  zwischen 
mehreren  Transportanstalten  vereinbarten 
Tarife  inmier  mehr  erleichtert,  für  die 
Deckung  gegen  Kursschwankungen  des 
Kaufpreises  ist  durch  die  Bankierthätigkeit 
reichlich  Gelegenheit  geboten,  die  Kenntnis 
der  auswärtigen  Plätze  und  !klärkte  ist  un- 
gemein verallgemeinert.  Alle  diese  Um- 
stände lassen  es  begreiflich  erscheinen,  dass 
im  Grossverkehr,  sei  es  nun  zwischen  ent- 
fernteren oder  näheren  Gegenden,  häufig 
der  Anlass  entfällt,  sich  Mittelspersonen  zu 
bedienen,  deren  Mitwirkrmg  früher  not- 
wendig war:  Fabriken  beziehen  ihre  Roh- 
stoffe direkt  aus  den  Erzeugungsgebieten 
und  nicht  mehr  im  Wege  des  Zwischen- 
handels, man  mngeht  den  Importeur  im 
fremden  Lande  und  knüpft  unmittelbai*e 
Beziehungen  mit  den  dortigen  Kunden  an, 
und  ganz  besondei-s  zeigt  sich  auch  beim 
Binnenhandel  die  Tendenz,  dass  die  Er- 
zeuger (Fabrikanten,  Landwirte)  dii-ekt  mit 
dem  Detailhändler  oder  jenem  Gewerbe- 
treibenden in  Verbindung  treten,  welcher 
ihre  Waren  weiter  verarbeitet.  Diese  Er- 
scheinungen sind  die  notwendige  Folge  der 
Verbessenmg  des  Transportwesens,  der 
Rechtspflege,  der  den  Verkelu*  erleichtern- 
den Institute,  wie  der  Börsen  etc. ;  in  Län- 
dern, welche  in  dieser  Beziehung  zurück- 
geblieben sind,  wo  also  der  Verkehr  mit 
allerlei  Schwierigkeiten  zu  käm{)fen  hat, 
zeigt  sich  regelmässig  zur  Bewerkstelligimg 
desselben  die  Thätigkeit  eigener  sachkundiger 
^littelspersonen  in  unvermindertem  Masse 
als  erspriesslich  und  notwendig.  Zugegeben 
mus's  freilich  werden,  dass  an  dem  Umgehen 
des  Kaufmannes  oftmals  nur  eine  unbe- 
dachte Sucht,  den  Gewinn  desselben  zu  er-  i 
sparen,  mitwirkt  die  dann  vielleicht  teuer 


bezahlt  werden  muss.  Xamentlich  wuitle 
schon  deutschen  und  österreichischen  In- 
dustrieUen  vorgeworfen,  dass  sie  beim  Ex- 
porte zu  wenig  die  Unterstützung  des  Kauf- 
mannes zu  wHirdigen  wissen  und  die  Ab- 
wickelung des  Absatzes  zu  sehr  in  der  Hand 
bÄaJten  wollen,  wälu'end  es  für  sie  vorteil- 
hafter wäre,  sich  auf  ihr  Gebiet  —  das  der 
Erzeugung  —  zu  beschränken  und  dem 
Kaufmanne  die  Sorge  des  Absatzes  zu  über- 
lassen. Diese  Klage  mag  im  einzelnen  be- 
rechtigt oder,  wie  man  vielleicht  richtiger 
sagen  muss,  noch  berechtigt  sein.  Als  all- 
gemeiner Grundsatz  aber  verstösst  sie  gegen 
die  Tendenz  der  modernen  Entwickelung, 
welche  eben  wegen  der  vervollkommneten 
Verkehrsmittel  und  Verkehrseinrichtungen 
aller  Art  zu  einer  einfacheren  Abwickelung 
der  Geschäfte  und  Ersparnis  überflüssig  ge- 
wordener Mittelspersonen  drängt,  bestärkt 
darin  noch  durch  die  rege  Konkun-enz, 
welche  ziu"  thunlichsten  Herabsetzung  aUer 
Kosten  nötigt. 

In  dem  gleichen  Sinne  wirken  die  Fort- 
schritte im  Associationswesen ,  welche  zu 
genossenschaftlichen  Organisationen  für  den 
Ein-  oder  Verkauf  führen,  wodurch  eben- 
falls die  Thätigkeit  des  Grosshändlerstandes 
eine  Einengung  erfahren  kann.  Hier  zu 
nennen  sind  namentlich  die  bedeutsamen 
britischen  Grosseinkaufsgenossenschaften  (s. 
oben  Bd.  III  S.  738) ,  dan»  aber  noch  andere 
Vereinigimgen  für  gemeinsamen  Warenabsatz 
oder  Wai-enbezug  (Einkaufsvereine  von  Händ- 
lern oder  Handwerkern  etc.). 

Auch  die  sogleich  zu  erwähnenden  Neue- 
rungen beim  Detaühandel  äussern  endlich 
eine  Rückwirkung  auf  den  Grosshandel. 

B.  DetailhandeL  Aehnliche  Erschei- 
nungen wie  beim  Grosshandel  zeigen  sich 
auch  beim  Detailhandel.  Schon  seit  langem 
thun  demselben  die  Konsumvereine  (s.  d.) 
und  ähnliche  Schöpfungen  Abbruch,  d.  i. 
die  Vereinigungen  von  Konsumenten,  um 
diuxsh  gemeinsamen  Bezug  von  Waren  in 
grösseren  Posten  und  Austeilung  derselben 
an  die  einzelnen  Mitglieder  den  Detailhandel 
zu  umgehen.  Diese  Einrichtungen  sind  ein 
notwendiges  Erzeugnis  der  erleichterten  Ver- 
kehrsbeziehungen und  der  wachsenden  wirt- 
schaftlichen Einsicht,  welche  darnach  strel>en 
lässt,  sich  gegen  die  im  Handelsverkehr  oft 
vorkommenden  gressen  Preisaufschläge  und 
die  Warenverfälschungen  zu  schützen.  Das 
Konsumvereinsprincip  >^ird  nicht  nur  im 
wachsenden  blasse  angewendet,  sondern 
greift  sogar  schon,  wie  bereits  fnlher  ange- 
deutet, auf  den  Gresshandel  hinüber. 

Auch  von  einer  anderen  Seite  her  ergiebt 
sich  eine  Verschiebung  zu  Ungunsten  des 
Detailhandels,  insofern  nändich  auch  viele 
Preduzenten  den  unmittelbaren  Verkauf  ihrer 
Erzeugnisse    an    die    Verbraucher   organi- 


Handel 


975 


siei*en,  wie  Fabriksimlernelimungen  durch 
die  Errichtung  von  Fabriksniederlageii  für 
den  Detailabsatz  oder  die  Pflege  des  Ver- 
sandgescliäfts.  Diese  Bewegimg  zeigt  sich 
nicht  bloss  bei  der  Industrie,  sondern  auch 
l)ei  der  Landwirtscliaft. 

Endlich  bricht  sich  auch  im  Detailhandel 
der  Grossbetrieb  Bahn  und  wirkt  im  Sinne 
einer  Beschränkung  der  selbständigen  Han- 
dels- und  Gewerbebetriebe,  welche  an  Ab- 
satzgelegenheit zu  Gunsten  der  grossen  Ver- 
kaufsniederlagen einbüssen.  Selbst  die  im 
Grosshandel  thätigen  Personen  werden  hier- 
von betroffen,  da  die  ganz  grossen  Detail- 
geschäfte  eben  aus  erster  Hand,  d.  i.  thun- 
lichst  beim  Erzeuger,  selbst  bei  jenem  im 
fremden  Lande,  unmittelbar  einkaufen. 

Derartige  grosse  Detailgeschäfte  treten 
insbesondere  als  Waisenhäuser,  Magazine, 
Grossbazare  oder  dergleichen  auf,  d.  i.  als 
kaufmännische  Unternehmungen  mit  grossem 
Lager,  die  auch  Artikel  führen,  che  man 
früher  nach  Mass  und  Bestellung  zu  kaufen 
gewohnt  war,  so  namentlich  Kleider,  Wäsche, 
Schuhe,  Möbel  u.  s.  w.  —  Unternehmungen, 
deren  Geschäft«umfang  zum  Teil  eine  früher 
ungeahnte  Ausdehnung  en*eicht.  Der  eigent- 
liche Warenhaus-  oder  Grossmagazinstypus 
begreift  di'3  Vei*einigung  zahlreicher  Ge- 
schäftszweige in  einem  Unternehmen  in 
sich,  obgleich  es  aber  auch  umgekehrt  an 
Detailgeschäften  grossen  und  gix)ssten  Um- 
fanges  mit  Beschränkung  auf  einzelne 
Branchen  nicht  fehlt.  In  erster  Linie  kommen 
als  Sitz  der  erwähnten  Unternehmungen  die 
grossen  Städte  in  Betracht ;  aber  auch  kleinere 
Orte  bleiben  von  der  Einwirkung  der  Detail- 
handels^ssbetriebe  nicht  unberührt,  und 
zwar  teils  durch  die  Emchtung  von  Filialen, 
die  einen  Zusammenhang  mit  dem  Stamm- 
unternehmen aufrechterhalten,  teils  durch 
die  Entwickelung  des  Versandgeschäfts, 
welches  einen  Verkehr  mit  Kunden  ohne 
Unterschied  des  Wohnortes  gestattet. 

Die  entwickeltsten  Detailhandelsbetriebe 
im  grossen  finden  sich  in  Frankreich,  Eng- 
land, Nordamerika,  Deutschland  vor;  aber 
auch  in  anderen  Ländern  zeigt  sich  die 
Tendenz  zur  Bildung  grosser  und  grösster 
Detailhandelsgeschäfte  sehr  deutlich.  Eine 
ähnliche  Stelltmg  wie  die  von  Erwerbsunter- 
nehmungen gehaltenen  ^lagazine  nehmen 
auch  oft  die  ganz  grossen  Konsumvereine 
ein,  vrie  sie  sich  namentlich  in  England  für 
Beamte  und  Offiziere,  dann  aber  auch  in 
anderen  Ländern,  wenngleich  noch  in  ge- 
ringerem Umfang,  herausgebildet  haben. 
Diese  grossen  Anstalten  verlieren  eben  leicht 
den  eigentlichen  Konsumvereinscharakter, 
das  ist  den  einer  Association  der  Mitglieder, 
sondern  füliren  ein  selbständiges  wirtschaft- 
liches Dasein,  das  sich  insbesondere  diux*h 
den   Verkauf   an    Nichtmitglieder,   in    der 


Scheidung  der  zur  Teilnahme  an  der  Leitung 
und  Verwaltung  Berufenen  von  der  gi^ossen 
Mgisse  der  Abnehmer,  in  der  Ei-zielung  be- 
deutender Gewinne  für  das  Geschäftskapital, 
in  der  Vemaclilässigung  der  von  den  kleineren 
Konsumvei-einen  als  Hauptartikel  gefühi-ten 
Waren  für  den  gewöhnlichen  Haushaltungs- 
bedai'f  zu  Gunsten  von  Gegenständen  clor 
Konfektion,  des  Luxusbedarfs  und  dergleichen, 
die  eine  strammere,  mehr  kaufmännische 
Geschäftsleitung  erfoixiern,  und  anderes 
äussert.  In  den  für  den  Absatz  im  grossen 
eingerichteten  Anstalten  findet  eben  ein 
Keichtum  an  Formen  statt,  so  dass  sich  in 
der  Praxis  die  Uebergänge  leicht  verwischen. 
Möge  aber  die  Organisation  der  gix)ssen 
Verkaufsstellen  im  einzelnen  Verschieden- 
heiten aufweisen,  geraeinsam  ist  allen  die 
Begünstigung  durch  den  Einkauf  im  gix)ssen 
und  bei  verschiedenen  Posten  der  Geneitd- 
kosten  des  Betriebes,  gleichwie  ihnen 
mancherlei  Vorteile  aus  der  Vereinigung 
zahlreicher  Artikel,  aus  der  herrschenden 
Stellung  im  Geschäftsleben  etc.  erwachsen. 
Werden  auch  diese  Begünstigungen  häufig 
wieder  gesclimälert  durch  hohe  Kosten  füi- 
die  Geschäftsleitung,  die  Reklame  und  der- 
gleichen, so  kommt  dem  Publikum  doch 
ohne  Zweifel  zu  gute  die  Notorietät  der 
Leistungen  der  einzelnen  Magazine,  der 
Zwang  zur  Gleichbehandluhg  der  Käufer, 
das  System  der  festen  Preise  und,  wie  man 
wohl  auch  sagen  kann,  der  Barzahlung, 
welche  die  Grossbetriebe  im  eigenen  Inte- 
resse fordern,  die  aber  auch  der  Gesamtheit 
der  Kunden  nützt. 

C.  Speoialisienmg  \md  Erweite- 
rung der  Handelsbetriebe.  Auch  bei 
der  äusseren  Form  des  Handelsbetriebes 
sind  Wandlungen  zu  verzeichnen,  die  in 
einer  veränderten  Gruppierung  der  von  einem 
Handelsgeschäft  geführten  Waren  zu  Tage 
treten.  Hierbei  ist  sowohl  eine  Tendenz 
zur  Specialisierung  wie  zur  Erweiterung 
des  Geschäftskreises  der  Handelsbetriebe 
wahrzunehmen. 

Der  Tendenz  zur  Specialisienmg  ent- 
sprang schon  die  bereits  öfter  erwähnte 
Bildung  von  eigenen  Hilfsgewerben  des 
Handels  und  Güterverkehrs,  wodurch  eben 
gewisse  früher  vereint  mit  anderen  ausgeübte 
Verrichtungen  zu  selbständigen  Berufs-  und 
Erwerbszweigen  umgewandelt  wurden.  Sie 
greift  aber  auch  auf  dem  dem  eigentiichen 
Handel  übrig  gebliebenen  Gebiete  deutlich 
um  sich  und  führt  —  namentlich  in  den 
grossen  Städten  —  zur  Bildung  von  Special- 
geschäften, die  sich  auf  einen  ganz  engen 
Kreis  von  zusammengehörigen  Waren  bezw. 
auf  bestimmten  örtlichen  und  individuellen 
Bedürfnissen  angepasste  Kombinationen  von 
Handelsgegenständen  begrenzten  Umfauges 
beschränken.      Eine    beiläufige  Vorstellung 


976 


Handel 


der  Vielseitigkeit,  welche  sieh  namentlich 
wegen  dieser  Tendenz  für  die  Handels- 
iintemelimungen  ergiebt,  mag  die  Thatsache 
gewähren,  dass  die  Zahl  der  Gewerbe- 
benennungen bei  den  »Handelsgewerben« 
bei  der  deutschen  Betriebszählung  von  1882 
1310,  bei  der  Aufnahme  von  1895  1497  be- 
tnig.  Nur  eine  besondere  Seite  der  Spe- 
cialisierung  ist  das  Entstehen  von  Handels- 
betrieben für  Kunden  bestimmter  Art  (Luxus- 
geschftfte  etc.). 

Umgekehrt  finden  aber  auch  Neugnip- 
pierungen  statt,  die  eine  Erweiterung  des 
Oeschäftsbereiches ,  eine  Zusammenfassung 
früher  getrennt  geführter  Artikel  darstellen, 
wobei  Rücksichten  auf  die  Bequemlichkeit 
der  Käufer  u.  s.  w.  ins  Spiel  kommen. 
Namentlich  ist  dies  bei  den  als  Warenhäuser, 
Bazare ,  Magazine  und  dergleichen  bezeich- 
neten Unternehmungen  der  FjJl. 

Die  Specialisierung  der  Handelsbetriebe 
hat  natürlich  ihre  Vorteile  wie  jeder  Fort- 
schritt in  der  Arbeitsteilung.  Sie  ermöglicht, 
dass  der  einzelne  Handeltreibende  sein  ganzes 
Wissen  und  Können  auf  einen  beschränkten 
Kreis  von  Artikeln  richte  und  eben  damit 
seine  Leistungsfähigkeit,  was  Kenntnis  des 
Marktes,  passende  Wahl  der  Verkaufsstätte, 
Lager  etc.  anbetrifft,  aufs  höchste  steigere. 
Namentlich  kann  hierin  auch  für  den  klei- 
neren Handeltreibenden  ein  Mittel  gelegen 
sein,  seine  Konkurrenzfähigkeit  gegenüber 
dem  Magazinsystem  zu  stützen.  Dieses 
letztere  ist  freilich,  trotz  der  Vereinigung 
vieler  Geschäftszweige  in  einem  Etablisse- 
ment, eben  wegen  der  Grösse  desselben 
nicht  als  ein  Verstoss  gegen  das  Gebot  der 
Arbeitsteilung  aufzufassen,  sondern  vielmehr 
als  ein  Produkt  der  Vereinigung  der  Mittel, 
als  gemeinsamer  Betrieb,  indem  jede  ein- 
zelne Branche  gross  genug  ist,  um  sich  die 
Vorteile  des  Grossbetriebes  anzueignen,  an- 
dererseits die  gemeinsame  Bewältigung  so 
vieler  Handelszweige  durch  einen  Organis- 
mus jeden  einzelnen  stützt  und  zu  mannig- 
fachen Vorteilen  für  die  Käufer  sowohl  wie 
für  das  Unternehmen  Anlass  giebt. 

D.  Markthandel.  Der  Markthandel 
tritt  in  neuerer  Zeit  wesentlich  an  Be- 
deutung zurück;  Käufer  und  Verkäufer 
können  —  Dank  sei  es  den  verbesserten 
Transportmitteln  etc.  —  auch  ohne  solche 
periodischen  Zusammenkünfte  hinlänglich  be- 
quem mit  einander  verkehren  und  würden 
die  Nötigung  zum  Abwarten  bestimmter 
Termine  nur  mehr  als  ein  Hindernis  fühlen. 
Niu:  vereinzelt  gelingt  es  namentlich  Special- 
märkten, sich  eine  höhere  Bedeutung  zu  er- 
halten, aber  auch  da  liegt  der  Grund  vor- 
nehmlich in  der  durch  sie  gebotenen  Ge- 
legenheit, gewisse  Stände  —  insbesondere 
kleinere  ürproduzenten,  wie  Landwirte,  Vieh- 
züchter — ,  die  sich  die  modernen  Verkehrs- 


einrichtungen weniger  zu  nutze  machen 
können,  in  geeigneter  Weise  zur  Abwicke- 
lung der  Transaktionen  heranzuziehen  (Woll- 
märkte, Viehmärkte  und  anderes).  Wochen- 
und  Jahrmärkte  dienen  überhaupt  nur  einem 
ganz  örtlichen  Bedürfnis  und  verlieren  sicht- 
lich an  Bedeutung.  —  Soweit  persönlicher 
Verkehr  notwendig  ist,  dienen  dem  modernen 
Bedürfnis  viel  höher  entwickelte  Einrich- 
tungen, die  Börsen  (s.  d.  Art.  Börsen- 
wesen oben  Bd.  n  S.  1023  ff.). 

E.  Sonstige  Handelszweige.  Hin- 
sichtlich jener  Zweige  der  Handelsthätigkeit, 
welche  nicht  zum  Warenhandel  gehören, 
mag  hier  auf  die  einschlägigen  Fachartikel 
verwiesen  werden.  Es  wäre  nur  im  An- 
schlüsse an  das  über  den  Warenhandel  Ge- 
sagte zu  bemerken,  dass  sich  auch  da  viel- 
fach, so  bei  den  Hilfsgewerben  des  Handels 
und  dem  sich  an  das  Bankwesen  anlehnen- 
den Handel  mit  Wertpapieren  u.  s.  w.,  die 
Tendenz  zur  Zusammenfassung  der  Greschäfte 
in  grossen  Betrieben  zeigt. 

F.  Sohlussbetrachtung.  Ueberblickt 
man  adl  das  Gesagte,  so  wird  man  die  öfter 
aufgestellte  Behauptung,  dass  im  Waren- 
handel (soweit  er  regelmässige  und  nicht 
Spekulationsgeschäfte  betreibt)  die  Gewinne 
einer  Ermässigung  zugehen,  begreiflich  fin- 
den. Je  glatter  im  allgemeinen  der  Verkehr 
vor  sich  geht  \md  je  ausgebildeter  und  über- 
sichtlicher die  Verkehrseinrichtungen  sind, 
je  geschulter  und  aufgeklärter  das  Publikum 
wird,  mit  desto  geringerem  Gewinn  muss 
sich  die  Mittelsperson  begnügen,  will  sie 
nicht  Gefahr  laufen,  dass  man  auf  ihre 
Dienste  gänzlich  verzichtet.  Nur  in  unent- 
wickelten Zuständen  kann  grosser  Gewinn 
auf  einmal  gemacht  werden,  für  fortge- 
schrittene Verhältnisse  gilt  das  Wort,  dass 
es  besser  ist  für  die  Million,  als  für  die 
Millionäre  zu  arbeiten,  das  heisst  mehr  auf 
die  Grösse  des  Umsatzes  als  des  Gewinn- 
satzes zu  achten.  Zweifellos  liegt  diese 
Tendenz  im  allgemeinen  Interesse,  gleich- 
wie demselben  auch  die  Entfernung  von  un- 
nötig gewordenen  Mittelsgliedern  dient  Diese 
rückläufige  Bewegung  in  der  Bedeutung  des 
Handels  wird  jedoch  in  absehbarer  Zeit  ge- 
wissen Schranken,  ja  Gegentendenzen  be- 
gegnen. Letztere  liegen  vor  allem  in  dem 
raschen  Wachstum  der  umzusetzendenWaren- 
menge,  in  den  erhöhten  und  vielseitigeren 
Ansprüchen  des  Publikums,  in  dem  starken 
Einfluss,  welchen  Mode  und  ähnliche  Kon- 
junkturen auf  viele  Handelszweige  ausüben, 
wodim^h  die  Initiative  und  der  Unterneh- 
mungsgeist des  selbständigen,  auf  eigene 
Wagnis  arbeitenden  Kaufmannes  ein  reiches 
Feld  zur  Bethätigimg  finden.  Insbesondere 
der  Grossbetrieb  des  Detailhandels  beg^net 
gleichfalls  mancherlei  Schwierigkeiten,  so 
namentlich  in  betreff  jener  Kundschaft,  die 


Handel 


977 


eine  melu*  individualisierende  Behandlung 
erfordert,  dann  in  betreff  kleiner  Orte  sowie 
solcher  Artikel,  bei  welchen  zur  Bequem- 
lichkeit des  Publikums  eine  Menge  bei  der 
Hand  befindHcher  und  darum  kleinerer  Ver- 
kaufsstätten nötig  ist.  Es  ist  zwar  auch 
denkbar  und  kommt  auch  thatsächlich  viel- 
fach vor,  dass  letztere  in  Form  von  Depen- 
denzen  eines  grossen  Unternehmens  betrieben 
werden,  doch  bliebe  auch  dann  noch  immer 
Raum  für  selbständige  kleinere  und  mittlere 
Geschäfte.  Auch  Specialisierung  und  Ar- 
beitsteilung (s.  oben  sub  6.  C)  können  den 
Bestand  von  solchen  erleichtern.  (Vgl.  die 
statistischen  Angaben  über  die  Zunahme 
der  Handelsbetriebe  in  Deutschland  oben 
sub  5.) 

Daneben  ist  noch  einer  anderen  Erschei- 
nung zu  gedenken,  die  sich  freilich  nicht 
bloss  beim  Handel  im  eigentlichen  Sinne, 
sondern  mehr  oder  weniger  allgemein  beim 
heutigen  Geschäftsleben  zeigt.  Sie  besteht 
darin,  dass  ein  gewisser  ruhiger,  sich  in 
alten  und  gewohnten  Formen  und  Pfaden 
fortbewegender  Geschäftsbetrieb  immer  we- 
niger genügt,  sondern  es  immer  mehr  auf 
Initiative,  Ersinnung  von  Neuheiten,  Ge- 
winnung neuer,  den  gesteigerten  Produktiv- 
kräften Spielraum  gewährender  Absatzver- 
hältnisse u.  s.  w.  ankommt.  Dies  gilt  so- 
wohl für  den  Gross-  wie  für  den  Klein- 
handel, in  beiden  Zweigen  reisst  immer 
mehr  jene  Art  des  Geschäftsbetriebes  die 
Herrschaft  an  sich,  welche  Leroy-BeauUeu 
in  Gegensatz  zu  dem  an  der  Routine  kleben- 
den commerce  passif  gestellt  liat.  Mit  der 
bezeichneten  Erscheinung  hängen  die  bereits 
erwähnten  Thatsachen,  wie  das  Aufkommen 
der  Warenhäuser  mit  ihrem  rührigen  Ge- 
schäftsbetrieb und  den  mannigfachen  Neue- 
rungen gegenüber  dem  überlieferten  Detail- 
handel oder  die  Vereinfachung  von  Ver- 
kehrsbeziehungen durch  Ausstossung  ent- 
behrlicher Mittelsglieder,  aufs  innigste  zu- 
sammen ;  zum  TeÜ  erstrecken  sich  aber  die 
Wirkungen  noch  auf  andere  Gebiete.  Ins- 
besondere wird  es  —  von  einzelnen  bevor- 
zugten Unternehmungen  etwa  abgesehen  — 
immer  weniger  mögüch,  das  Kommen  der 
Kundschaft  bloss  abzuwarten,  sondern  heisst 
es  umgekehrt  immer  mehr  an  die  Käufer 
heranzutreten  imd  dieselben  zum  Bezüge  zu 
veranlassen;  damit  steht  wieder  die  grosse 
Entwickelung  des  Bekanntmachungs-  und 
Reklamewesens  in  Zusammenhang,  dann 
aber  auch  z.  B.  die  wachsende  Bedeutung 
der  Reisenden  und  Verkäufer  für  das  Ge- 
schäftsleben und  innerhalb  des  Handlungs- 
personales, gleichwie  das  Aufsuchen  von 
Bestellungen  bei  der  Privatkundschaft  (durch 
sogenannte  Detailreisende)  sich  bereits  einen 
weiten  Platz  erobert  hat. 

Nicht   zu  verkennen   ist,  dass,  je  reger 

Handwörterbuch  der  StaatswisseiLschaften.    Zweite 


der  Unternehmungsgeist  sich  bethätigt,  um 
so  umfassender  auch  die  Aufgaben  erfüllt 
werden,  die  dem  Handelsstand  obliegen,  um 
so  mehr  Nutzen  also  auch  dieser  der  Volks- 
wirtschaft erweisen  kann.  JVeilich  fehlt  es 
dabei  aber  auch  nicht  an  einer  Kehrseite: 
der  scharfe  Mitbewerb  wird  bisweilen  zu 
einem  unlauteren  und  der  Aufwand  für 
Reklame,  für  sonstige  Mittel  den  Absatz  an 
sich  zu  ziehen  u.  s.  w.  ist  nur  zum  Teile 
ein  produktiver,  insoweit  nämlich  dadurch 
das  Geschäftsleben  eine  wirklich  im  Vorteil 
der  Allgemeinheit  gelegene  Förderung  er- 
fährt und  das  Publikiun  daraus  Nutzen  zieht. 
—  Auf  diesen  Gegenstand  wird  übrigens 
später  (s.  sub  7)  noch  zm^ückzukommen  sein. 

7.  Die  soziale  Fra^e  beim  Handels- 
stande.  Auch  der  Handelsstand  hat  seine 
soziale  Frage;  sie  weist  eine  doppelte  Be- 
ziehung auf.  Die  eine  davon  betrifft  die 
Lage  des  Handlungspersonales,  wobei  jedoch 
hier  auf  den  Art.  Bfandelsgehilfe  unten 
S.  984  ff.  zu  verweisen  ist,  die  andere  die  Be- 
drängnisse der  durch  die  neuzeitliche  Ent- 
wickelung Zurückgesetzten  oder  Bedrohten 
unter  den  selbständigen  Handeltreibenden. 
Namentlich  gilt  letzteres  für  den  ausge- 
dehnten Stand  der  kleineren  Detailhändler, 
deren  Mittel  häufig  beschränkt  sind  und  die 
daher  eine  etwaige  Ungunst  der  Zeiten  oder 
Verhältnisse  schwer  empfinden. 

Ihi*e  Stellung  erscheint  vor  allem  be- 
drängt infolge  der  (oben  sub  6)  geschilderten 
Umwälzung  der  warenausteilung  durch  das 
Entstehen  unmittelbarer Verkehrsbeziehu ngen 
zwischen  Verbrauchern  und  Erzeugern  mit 
Umgehung  des  Detailhändlerstandes  durch 
Konsumvereine  u.  s.  w.,  dann  durch  das 
Vordringen  des  Grossbetriebes  im  Detail- 
handel. Daneben  machen  sich  auch  noch 
die  anderen  früher  angefülirten  Erschei- 
nungen geltend,  um  die  Lage  der  Klein- 
händler zu  erscnweren.  Die  enemsche,  oft 
rücksichtslose  Konkurrenz  der  Gegenwart 
auf  dem  Gebiete  des  Handels  erfolgt  dabei 
in  mannigfachen  und  zahlreichen  Formen; 
begreiflicherweise  leiden  darunter  aber  die 
aus  irgend  einem  Grunde  schwächeren  Ele- 
mente, welche  entweder  von  vornherein  zu- 
rückstehen oder  den  Wettkampf  mit  unge- 
nügenden Mitteln  aufnehmen  müssen.  Sie 
empfinden  schwer  die  wachsenden  An- 
sprüche des  Publikums  hinsichtlich  der  Aus- 
stattung der  Läden,  der  ziu-  Auswahl  ge- 
stellten Waren  u.  s.  w.  Eine  oft  vordring- 
liche, in  ihren  Mitteln  nicht  immer  wähle- 
rische Spekulation  entzieht  durch  Veran- 
staltung von  oft  fiktiven  sogenannten  Aus- 
verkäufen und  Auktionen,  durch  Wander- 
lager in  kleineren  Orten  (temporal«  Handels- 
betriebe, die  eben  wegen  des  Weclisels  des 
Standortes  einen  verhältnismässig  gi-ossen 
Rayon  ausnützen),  diu-ch  aufdringliche  Re- 

AuHage.    IV.  62 


978 


Handel 


klame,  durch  Pflege  des  Ratengeschäftes, 
durch  besonders  energisch  organisierten  Ver- 
trieb vermittelst  Reisender  und  Agenten  etc. 
den  kleineren,  auf  ruhigen  Geschäftsbetrieb 
angewiesenen  Händlern  die  gewohnte  Kund- 
schaft. Auch  der  Vertrieb  nachgeahmter, 
verfälschter,  nicht  vollständig  masshaltiger 
Ware  (z.  B.  Webwaren  mit  geringerer  als 
der  usuellen  Breite,  Schreibfedern,  Näh- 
nadeln etc.  in  geringerer  Zahl,  als  der 
Käufer  einer  Schachtel,  Päckchens  etc.  den 
bestehenden  Gewohnheiten  nach  voraussetzt 
ü.  dgl.  mehr)  ei-schwert  die  Lage  aller  der- 
jenigen, welche  von  solchen  Mitteln  keinen 
Gebrauch  machen,  zu  Gunsten  von 
solchen,  die  den  Konkurrenzkampf  n\ck- 
sichtslos  ausfechten  w^ollen.  Dem  sesshaften 
Händler  erwächst  endlich  in  manchen  Orten 
ein  gefährlicher  Mitbewerb  aus  dem  Hausier- 
betrieb. Letztere  Erscheinung  ist  lun  so 
bedenklicher,  als  die  Konkiurenzfähigkeit 
des  letzteren  oft  nicht  auf  der  wirtscnaft- 
lichen  Üeberlegenheit  dieser  Betriebsform 
beruht  (wie  etwa  in  sehr  wenig  entwickelten 
Gegenden  mit  dünner  Bevölkerung,  wo  eine 
feste  Handelsniederlassung  mit  grossen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hätte),  sondern 
auf  der  Anwendung  einer  tiefer  stehenden 
kaufmännischen  Moral  und  minderen  Lebens- 
haltung. Den  sesshaften  Händler  trifft  eben 
eine  viel  schärfere  und  praktischere  Veraut- 
w^ortung  für  die  von  ihm  geHeferte  Ware 
als  den  herumwandernden  Hausierer,  der  so 
häufig  mit  Personen  verkehrt,  die  ihn  nie- 
mals wieder  nach  dem  Abschlüsse  des  Ge- 
schäftes zu  Gesicht  bekommen;  jener  kann 
solche  Zudringlichkeit  und  Kunstgriffe  nicht 
anwenden,  er  kann  seinen  Bedürfniskreis  nicht 
so  verengem  wie  der  bei  jeder  Thüre  an- 
klopfende, mit  einem  Pack  beladen e  Hau- 
sierer. Die  bedürfnislosere,  auf  die  nach 
dem  jew^eiligen  Kiütui-zustande  normalen 
Lebensbedingimgen  verzichtende  Arbeit  ist 
immer  ein  gefährlicher  Konkurrent  der  mit 
höheren  Anspriichen  ausgestatteten,  der  volks- 
wirtschaftliche Gewinn  aus  der  Verdrängung 
der  letzteren  durch  die  erstere  immer  ein 
sehr  fraglicher. 

Ein  Hauptgrund  oder  vielleicht  der 
Hauptgnmd  für  die  erschwerte  Lage  des 
Kleinhandels  ist  endlich  die  vielfach  be- 
merkte, volkswirtschaftlich  genommen  un- 
ökonomische Üeberfüllung  des  Standes,  die 
zusammenhängt  mit  der  Anziehung,  Avelche 
derselbe  ausübt  durch  die  Abwesenheit 
schwerer  körperlicher  Arbeit,  durch  die 
Möglichkeit  der  Verwertung  eines  kleinen 
Kapitals  oder  einer  gewissen  Scliulbikhing 
und  Geschäftsgewandtheit,  durch  die  Zu- 
gänglichkeit auch  ohne  längere  streng  be- 
rufsmässige Ausbildung  und  die  in  der 
(regen wart  erleichterte  Gelegenheit  Kredit 
zu  finden. 


Alle  diese  Umstände  machen  die  Lage 
der  kleineren  Kaufmannschaft  vielfach  zu 
einer  recht  schwierigen,  was  sich  auch  aus 
dem  an  zahli'eichen  Orten  beobachteten 
raschen  Wechsel  in  der  Person  der  Handel- 
treibenden äussert. 

Anlass  und  Gelegenheit  zu  einem  wirk- 
samen staatlichen  Eingi^ifen  sind  jedoch 
ziemlich  gering  vorhanden.  Die  vei'schie- 
denen  Mittel  einer  wirklich  unlauteren  Kon- 
kurrenz sollen  freilich  durch  den  Staat 
möglichst  unterbunden  werden,  und  es  wäre  in 
dieser  Hinsicht  auf  eine  Reihe  von  im 
Deutschen  Reiche  und  in  Oesterreich  in 
neuerer  Zeit  getroffenen  Massnahmen  hinzu- 
weisen, w^elche  Auswüchse  im  G^eschäft8- 
leben  bekämpfen  und  mehr  oder  weniger 
auch  für  Beschwerden  des  Kleinliändler- 
standes  Abhilfe  bieten  sollten.  Inhalt  und 
Erfolg  dieser  Vorkehnmgen  im  einzelnen  zu 
schildern,  geht  hier  jedoch  nicht  an.  Andere 
Wünsche  und  Versuche  zielen  darauf  ab, 
im  Wege  der  Besteuerung  dem  Umsich- 
greifen des  Grossbetriebes  auf  dem  Gebiete 
des  Detailhandels  entgegenzuwirken.  Dieser 
Weg  wurde  schon  vor  Jahren  in  Frankreich 
betreten ;  gegenwärtig  wird  ferner  im  Deut- 
schen Reiche  die  Fi-age  der  •  Besteuerung 
der  Warenhäuser  u.  s.  w.  viel  verhandelt 
(Grewerbesteuergesetz  in  Bayern  v.  9.  Juni 
1899,  Entwurf  eines  Gresetzes,  betreffend  die 
Warenhaussteuer,  im  Februar  1900  dem 
preussischenAbgeordnetenhause  zugegangen). 
Gegen  Besteuerungsmassnahmen  nun,  die 
niu"  den  Zweck  haben,  eine  etwa  vorhan- 
dene Zmiicksetzung  der  kleinei-en  und 
mittleren  Kaufmannschaft  wieder  gut  zu 
machen  und  eine  der  Leistimgsfähigkeit  etc. 
entsprechende  Verteilung  der  Steuerlasten 
zu  bewirken,  ist  natürlich  nichts  einzu- 
wenden, sie  wälzen  vielmehr  nur  zu  unter- 
stützen. Sofern  aber  Steiierprojekte  über 
diesen  Rahmen  hinausgehen  und  eine  Waffe 
gegen  eine  bestimmte  Art  von  Betriol)en 
liefern  sollen,  begegnen  sie  schon  gewich- 
tigen grundsätzlichen  Einwendungen,  die 
sich  auf  Bedenken  hinsichtlich  der  Ver- 
wendung des  Steuerwesens  zu  derartigen  wirt- 
schaftspolitischen Zwecken  stützen,  gleich- 
wie gefährliche  Folgerungen  für  ein  ana- 
loges Vorgehen  in  anderen  Fällen  miss- 
liebiger  Konkurrenz  daraus  gezogen  werden 
könnten.  Auch  steht  solchen  Projekten  die  Er- 
wägung entgegen,  dass  eine  massige  Mehr- 
besteuerung ohne  nennenswerten  Einfluss 
auf  die  wirtscliaftliche  Ent Wickelung  bliebe, 
eine  zu  schroffe  Belastung  hingegen  einem 
wachsenden  Widerstand  begegnen  würde, 
der  sich  keineswegs  bloss  auf  die  Ki-eise 
der  unmittelbar  Beteiligten  beschränken 
dürfte;  auch  würden  daim  noch  die  olme- 
hin  vorhandenen  Schwierigkeiten  einer  steuer- 
tochnisch   befiiedigenflen    Veranlagmig    zu- 


Handel 


979 


nehmeD,  sowohl  was  die  Auswahl  der  der 
Sonderbesteuening  zu  unteraiehenden  Be- 
triebe als  was  die  Bestimmung  der  Be- 
messungsgrundlage anbetrifft.  —  Sehr  be- 
denklich wiii*de  bei  der  wirtschafts-  und 
sozialpolitischen  Bedeutung  des  Konsum- 
vereinswesens eine  Einengung  desselben 
sein. 

üeberhaupt  muss  gesagt  werden,  dass 
die  Quellen  des  gefühlten  Druckes,  wie 
die  Zurückdtäugimg  des  Kleinhandels  durch 
die  Konsumvereine  und  den  Grossbetrieb, 
die  scliarfe  KonkiUTcnz,  ausgehend  von 
einzelnen,  mit  regem  Unternehmungsgeist 
geleiteten  Betrieben,  die  sich  die  mo- 
dernen Verkehrseinrichtungen  und  Reklame- 
mittel besonders  zu  nutze  machen  etc., 
sich  nicht  anders,  möge  man  nun  steuer- 
politische oder  andere  Vorkehrungen  im 
Auge  haben,  als  durch  allerlei  Gew^altmass- 
regeln  verstopfen  Hessen,  die,  selbst  wenn 
ihre  Diu*chfuhrbarkeit  auf  die  Dauer  fest- 
stünde, was  äusserst  fraglich,  jedenfalls  be- 
1  echtigte  andere  Interessen  verletzen  würden. 
Der  Stand  der  Dinge  müsste  sich  aber  ganz 
besonders  bedenklich  gestalten,  wenn  es  in 
der  That  gelänge,  die  Ent Wickelung  ziuück- 
zidialten,  und  dieser  Epoche  dann  ein  um 
so  mehr  unvermittelter  und  jäher  Ueber- 
gang  zur  neuen  Gestaltung  des  Geschäfls- 
lebens  folgte. 

Richtiger  erscheint  es,  die  wii-tschaft^ 
liehe  Entwickelung  anzuerliennen  und  sich 
ihr  zu  fügen.  Das  Entstehen  neuer  Ver- 
kehrs- und  Geschäftsformen  mag  hiernach 
in  der  That  eine  Einengung  des  früheren 
Thätigkeitsbereiches  des  kleinen  und  mittleren 
Handels  mit  sich  bringen;  sich  als  wirk- 
lich lebensfähig  erweisen  können  diese  Formen 
aber  doch  nur,  wenn  sie  gleichzeitig  eine 
bessere  und  wohlfeilere  Besorgung  des 
Prozesses  der  Zuführung  der  Waren  an  die 
Konsumenten  hervorrufen,  w^as  dem  allge- 
ineinen  Interesse  entspricht. 

Was  die  Lage  des  Handlungsper- 
sonals anbelangt,  so  verweisen  wir,  wie 
schon  früher  gesagt,  auf  den  Art.  Handels- 
gehilfe. 

Litteratnr:  Die  nationalökonomUtche  Litteratur 
über  den  Handel  hier  aufzmählen  ist  ganz  un- 
thunlich,  da  sich  seit  allem  Anfange  an  die 
volksicirtschaßlichen  Werke  allgemeinen  Charak- 
ters sowie  SpeciaUchriften  aller  Art  mit  diesem 
Gegenstände  befasst  haben.  Aus  der  neuesten 
Litteratur  wären  etwa  folgende  eingehende  Dar- 
stellungen hervorzuheben:  R,  van  der  Borghtf 
Mandel  u.  HandeUpolitik  (mit  einer  Biblio- 
graphie), Leipzig  1900.  —  Gtistav  Cohn,  Nat. 
Oek.  des  Handels-  und  Verkehrswesens,  Stuttgart 
1S98.  —  W,  LexiSf  Abtlg.  nHandeh  in  Schön- 
bergs Handbuch  der  pol.  Oek.  ü.  Aufl.  — 
Wilhelm  MoHCher ,  yationalökonomik  des 
Handels  «.  Gewerbfleisses.  7.  Aufl.  bearbeitet 
von    W.  Stieda,  Stuttgart  1899.  —    Vgl.  ferner 


Mich,  Ehrenherg ,  Der  Handel,  seine  tcirt- 
schaftliche  Bedeutung,  seine  nationalen  Pflichten 
u,  sein  Verhältnis  zum  Staate.  —  K.  Rathgen, 
Art.  nHandeln  im  Wört^rb.  der  V.  W.  L  — 
Paul  Leroy'-BeaulleUf  Tratte  thSoriqnc  et 
pratique  d'Sconomie  politique.  2^  edit.,  Fari^ 
1896.  —  No uveau  dictionnaire  d'Econo- 
mie  politique.  Art.  Commerce,  Granu s  Ma- 
gasins  u.  a,  —  Dictionnaire  du  comme rce 
de  l* industrie  et  de  la  banque  (unter  der 
Leitung  von  Yves  Guyot  und  A.  Ba^'alorich  im 
Erscheinen  begriffen).  —  Ch.  LetoumeaUf 
L*evolution  du  commerce  datis  Ics  diverses  races 
humaines,   Paris  1897. 

Di€     moderne     HandelsetUwUkelung     sowie 
sonstige  der  oben  berührten  Fragen  betreffen  noch 
insbesondere  folgende   Schriften  (zum  Teile  aber 
nur  Gelegenheitsbroschilren   über   die  Frage   der 
Warenhäuser  u.  deren  Besteuerung  ohne  grösseren 
oder    gar    dauernden    Wert):     Georg    Adler, 
Der  Kampf  wider   den  Zwischenhandel,   Berlin 
1896.    —    O,    dWvenel,    Le   mecani-sme   de   la 
vie     moderne,     Paris    1896.     —    Th,    Barth, 
Wandlungen    im    Welthandel,    Berlin    189ä.    — 
JP.    Bleichen,    Der  Handel   auf  altruistischer 
Grundlage,    Leipzig    1898.    —     W.    Borgius, 
Wandlungen  im  modernen  Detailhandel.    Archiv 
für  soz,  Gesetzgebung  u.  Statistik,  XIII,  Berlin 
1899.   —    Paul  Dehn,    Die    Grossbazarc   und 
Massenzweiggeschäfte,  Berlin  1899.  —  Edniond 
DemolinSf    La  question   des  grands  magasins, 
Paris   1890.   —   Max   Erhardt,    Die    Waren- 
hausumsatzstmter,  Berlin  1900.  —  P.  Erfurth, 
Warenhaus    und    Kleinhandel,    Berlin.    —    A, 
GrävMl,    Zum  Kampf  gegen  die   Warenhäuser, 
Dresden  1899.  —  F,   GugenJieim,  Warenhaus- 
steuer,  Berlin.   —   •/.    W.    Hauschildt,    Der 
Kampf  gegen   die   Warenhäuser,   I^riedebei'g.    — 
F,    C.    Huber,    Warenhaus    und   Kleinhandel, 
Berlin  1899.  —  Eugen  J'äger,  Die  bayerische 
Steuerreform  von  1899,  Speyer  1900.  —  Walter 
C    tfdh,    Die    Grossbazare    und    Warenhäuser, 
ihre  Berechtigung,    ihre  Besteuerung.     Jahrbuch 
f.  Gesetzgebung^   Verw.  «.  Volksto.  im  Deutschen 
Reich,   Leipzig  1900.   —  1*.  du  Maroussem, 
La   question   mtvriere,   Paris  1892,   1894;    Tiers 
etat    commercial    et    grands    magasins.      Revue 
intern,    de    sociologie,    Paris   1898.   —    Victor 
Mataja,  Gross^magcuine  u.  Kleinhandel,  Leipzig 
1891.     (Französische   Bearbeitung   in   der  Revue 
d' economic    politique,    Paris    1891.)    —    Paul 
Messaw,    Die  Schäden   im  Detailhandel  w.  die 
Warenhäuser,   Dresden.   —    Georges  Micliel, 
Vne  evolution  economique,  Revue  des  deuxmondes, 
Paris  1898.  —  Robert  Prager,   Kleinhandel, 
Warenhäuser,     Rabatl,     Börsenblatt     für     den 
deutschen     Buchhandel,      auch     Sonderabdruckt 
Berlin.  1900.  —  Hentiann  Rehni,    Warenhaus- 
Umsatzsteuer  u.   Gewerbefreiheit.    Ein  Rechtsgut- 
achten  über   das  bayerische   Gewerbesteuergesetz, 
Barth  i.  B.   u.   Miniberg  1900.  —  Schneider, 
Die  grossen   Warenbazare   und  ihre  Auswüchse, 
Köln    1898.     —     W,    Troeltsch,     Ueber    die 
neuesten     Veränderungen     im     deuiscfien     Wirt- 
schaftMeben,  Stuttgart  1899.  —   Max  Weigert, 
Die  Krisis  dfs  Zwischenhandels,  Berlin  18Sö.  — 
Alexamlre   Weill,    Les  grands  magasins   de 
Paris  et  les  moyens  de  les  combaUre,  Paris  1888. 
—  c/d/t.  Wemiche,  Kleinhandel,  Konsumüereine 
und    Warenhäuser.      Jahrb.    für   Nat.-Oek,   und 
Statistik,   Jena   1897.    —   R,    Wilhelms,    Die 

62* 


980 


Handel — Handelsbilanz 


Warenhätiser  und  ihre  Bekämpfung,  Strassburg 
1898.  —  J.  M,  Wolf  bauer,  Die  Ursachen  des 
Niederganges  des  Zwischenhandels ,    Wien  I884. 

—  Ignaz  Zucker,  Die  Grands  Magasins  in 
Paris  und  die  Handelsttatände  in  Wien,  Wien 
1895. 

S.  femer:  Schriften  des  Vereins  für 
Sozialpolitik,  Bd.  37,  38,  dann  Bd.  88 
(Verhandlungen  zu  Breslau  1899  über  die  Ent- 
wickelungstendenzen  im  modernen  Detailhandel). 

—  Bericht  über  die  zu  Osnabrück  gepflogenen 
Verhandlungen  deutscher  Handels- 
körperschaften betr.  die  Bedrängnisse 
des  Kleinhandels,  zusammengestellt  von 
Stumpf,  Osnabrück  1896.  —  Die  Waren- 
hausums  atz  Steuer.  Denkschrift  des  Bundes 
der  Handel'  u.  Gewerbetreibenden  zu 
Berlin,  Berlin  1899.  —  Die  Lage  des 
Kleinhandels  in  Deutschland.  Herausg. 
von  der  Handelskammer  zu  Hannover. 
I.  II,  Berlin  1899,  1900.  —  Das  Waren- 
haus. Centralorgan  für  die  Interessen  der 
Kaufhäuser,  Warenhäuser,  Bazare  etc.  (Wochen- 
schrift, seit  Dezember  1899  in  Berlin  erscheinend.) 

—  La  Revendication,  (Halbmonatschrift, 
seit  1888  in  Paris  erscheinend,  Organ  für  die 
Agitation  gegen  die  Chrossmagazine).  —  Einige 
weitere  Litteraturangaben  über  Verhandlungsbe- 
richte u.  Broschüren  zur  Warenhausfrage  s.  bei 
W.  SHeda,  Jahrb.  f.  Nat.-Oek.  und  Statistik, 
19.  Bd.,  Jena  1900,  S.  390  ff. 

Victor  Mataja, 


Handelsbilanz. 

1.  Begriff  der  H.  2.  Die  Theorie  der  H. 
3.  Die  Berechnung  der  H.  4.  Die  Bedeutung 
der  H.  5.  Die  H.  des  deutschen  Zollgebietes  im 
besonderen. 

1.  Begriff  der  H.  Sie  ist  das  i-echnungs- 
mässige  Ergebnis  des  Austausches  von 
Warenwerten  eines  Landes  —  einer  Volks- 
wirtschaft —  mit  dem  Auslande  überhaupt 
oder  mit  einem  bestimmten  anderen  Lande, 
fdls  man  diesen  Vergleich  mit  Bezug  auf 
ein  einzelnes  fremdes  Land  anstellen  will. 
Es  ist  hierbei  natürlich  ein  bestimmter  Zeit- 
abschnitt ins  Auge  zu  fassen,  z.  B.  ein  Jaiir, 
für  den  man  eine  solche  Wertbilanz  ziehen 
will.  Man  pflegt  hierbei  zu  sagen,  dass 
sich  die  Handelsbilanz  für  ein  Land  »günstig« 
stelle,  wenn  die  Summe  seines  Ausfulir- 
wertes  die  des  Einfuhi^'ertes  überragt, 
»ungünstig«,  wenn  es  dem  Werte  nach  mehr 
Waren  von  auswärts  empfangen  als  hinaus- 
gesendet hat. 

Die  Unterlagen  für  eine  solche  Berech- 
nung können  selbstverständlich  nur  aus  den 
Ergebnissen  der  Handelsstatistik  (s.  d.)  ge- 
wonnen werden,  welche  die  Einfuhr  und 
Ausfuhr  von  Waren  über  die  Landesgrenze 
nach  Art,  Menge  und  Wert  feststellt;  die 
Vollständigkeit  und  Richtigkeit  der  Bei*ecli- 
nung  der  Handelsbilanz  hängt  also  davon 
ab,  wie  genau  die  Statistik  den  Wert  der 


Waren  erfasst,  die  durch  den  Handel  dem 
Inlande  zugeführt  und  an  das  Ausland  ab- 
gegeben werden ;  also  den  Wert  der  Waren, 
die  in  den  inländischen  Elandel  übei^hen 
und  aus  dem  inländischen  Handel  stammen. 
Der  Nachdruck  liegt  hier  auf  dem  Werte 
und  Begriff  »Handel«,  und  es  ist  hierbei  nicht 
nur  zu  denken  an  die  Warenmengen,  welche 
in  die  Konsumtion  des  Inlandes  übergehen 
und  aus  der  Produktion  des  Inlandes  stammen, 
sondern  auch  an  diejenigen,  welche  zwar 
aus  dem  Auslande  stammen,  aber  sei  es 
durch  Verarbeitung,  Mischung  oder  un- 
verarbeitet durch  den  einheimischen  Handel 
hindurchgehen,  und  es  ist  nur  abzusehen 
von  den  reinen  Durchfuhrwaren,  die  nicht 
als  Werte,  sondern  nur  als  Frachtgüter  das 
Inland  passieren. 

Für  das  fragliche   Verhältnis   der  Ein- 
und  Ausfulirwerte  würde  die  Bezeichnung 
»Waren Verkehrsbilanz«    noch  genauer  sein 
als  Handelsbilanz ;  die  letztere  hat  indessen 
nicht  nur  den  Vorzug  der  Kürze,  sondern 
ist  auch  in  den  anderen  Kultiusprachen  — 
balance  de  commerce,  balance  of  trade,  bilancio 
commerciale  —  eingebürgert.     Es  isl  aber 
klar,  dass  nicht  die  gesamten  innerhalb  eines 
Zeitraumes    zwischen    zwei   Ländern    oder 
zwischen  einem  Lande  und   dem  Ausland 
eingegangenen  und  abgewickelten  Wertüber- 
ti'agungen  allein  durch  Warenaustausch  ge- 
schehen  und  dass   noch   viel  weniger  die 
Bilanz,  die  sich  aus  Einfuhr  und  Ausfuhr 
an  Waren  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte 
ergiebt,  ein  Ausdruck  der  gesamten  ZaUimgs- 
verpflichtungen  oder  Zahlungsguthaben  eines 
Landes,  also  die  vollständige  Zahlungs- 
bilanz darstellt.  Erstens  ist  der  Warenverkehr 
nicht  die  einzige  Form  der  Wertübertragung 
von    einem    Lande    ins    andere;    es    wird 
bares   Geld  gesendet   oder  von   Reisenden 
mitgebracht;  es  ynrd  in  Wechseln  bezahlt, 
die  nicht  in  Wai-ensendungen  ihren  Ursprung 
haben :  es  kann  in  Zinsscheinen  von  Anfeilien 
oder  in  Anleihepapieren  selbst  gezahlt  wer- 
den;  es   können   Arbeitsleistungen   gethan. 
z.  B.  die  Waren  des  anderen  Landes  auf 
Schiffen  oder  Eisenbahnen  gefahren  werden. 
Zweitens  besagt  der  momentane  Stand  der 
Handelsbilanz    z.   B.   am   Abschluss    eines 
Jahres  nichts  darüber,   wie  gross   die  auf 
dauernden    Grundlag^eu     beruhenden    For- 
derungen oder  Verpflichtungen  eines  Landes 
dem  andei-en  gegenüber  sind.    Diese  Grund- 
lagen sind  hauptsächlich  gegeben  durch  die 
öffentlichen   Schiüden  (Staats-,  Kommunal- 
Anleihen),  soweit  deren  Titel  im  Auslande 
sind,  \md  in  Anlagen  dei*  verschiedensten 
Art  —  Grundbesitz,  Fabriken,  Eisenbahnen 
etc.  — ,  welche  die  Angehörigen  des  einen 
Landes    im    anderen    gemacht    liaben    und 
deren  Nettoerträge  sie  an  sich  ziehen. 
Somit  ist  also  die  Handelsbilanz   nicht 


Handelsbilanz 


981 


zu  verwechseln  mit  der  Zahlungsbilanz  und 
der  Bilanz  der  bestehenden  Schuldverbind- 
lichkeiten. Die  Handelsbilanz  selbst  ist  auch 
nicht  einmal  ein  ganz  untrüglicher  Ausdruck 
der  si)eciellauf  dem  Warenumsatz  beruhenden 
Verschuldung  zweier  Länder,  weil  es  vor- 
kommen kann,  dass  vom  Lande  A  Waren 
an  das  Land  B  für  Eechnimg  des  Landes  C 
gesendet  werden,  in  solchem  Falle  also 
zwischen  A  und  B  keine  Schuld  Verbindlich- 
keit bekundet  wird. 

2.  Die  Theorie  der  H.  datiert  ge- 
schichtlich aus  derjenigen  Zeit,  -vvo  die 
Auflösung  der  mittelalterlichen  Naturalwirt- 
schaft begann,  herbeigeführt  zum  Teil 
durdi  die  Entwickeln ng  der  Volkswirtschaft 
aus  sieh  heraus,  zum  Teil  infolge  der  Ent- 
deckung Amerikas  und  der  damit  einge- 
führten neuen  Pi-odukte,  hisbesondere  Edel- 
metallschätze.  Es  trat  damals  ein  starkes 
Bedürfnis  nach  Umlaufsmitteln  ein,  imd  man 
suchte  deshalb  Gold  und  Silber  ins  Land 
zu  ziehen,  überschätzte  auch  deren  Bedeu- 
tung als  Repräsentanten  des  beweglichen 
Kapitals  und  glaubte,  dass  es  den  Reichtum 
des  Landes  schnell  fördern  müsse,  wenn  die 
ausgeführten  Waren  zu  einem  recht  grossen 
Teile  nicht  wieder  durch  Ware,  sondern  mit 
Edelmetallen  (barem  Gelde)  bezahlt  würden. 
Wie  weit  diese  und  andere  Ideeen  des  »Mer- 
kantilsystems«, das  bis  gegen  Ende  des 
vorigen  Jahrhundei-ts  die  Volkswirtschafts- 
politik der  europäischen  Kulturstaaten  be- 
heiTSchte,  bei'echtigt  wai'en,  ist  hier  nicht 
zu  untersuchen.  Ein  Ausüuss  desselben 
w^ar  die  hohe  Wertschätzung  einer  »güns- 
tigen Handelsbilanz«  in  dem  Sinne,  dass 
mehr  Geld  für  ausgeführte  Waren  nach  dem 
Inlande  hineinkam  als  für  eingeführte  aus 
demselben  abfloss,  und  es  kam  dazu,  dass 
man  der  Bedeutung  des  auswärtigten  Han- 
dels überhaupt  für  die  Volkswirtschaft  mehr 
Reichtum  schaffende  Wirkung  zuschrieb,  als 
ihm  in  Wirklichkeit  zukommt.  Nachdem 
dann  die  :>merkantilistische«  Volks  Wirtschafts- 
politik ihre  Aufgabe  erfüllt  hatte  und  die 
Horbeifühnmg  der  freien  wirtschaftlichen 
Bewegung  des  Individuums  zur  hauptsäch- 
lichen Aufgabe  der  wirtschaftlichen  Politik 
wm'de,  trat  auch  das  Bestreben  nach  Herbei- 
führung einer  günstigen  Handelsbilanz  im 
obigen  Sinne  zurück.  Die  »Freihandels- 
theorie« wandte  die  Idee,  dass  es  sich  beim 
Verkehr  regelmässig  um  den  Austausch 
gleichwertiger  Leistungen  handle,  auch  auf 
die  Handelsbilanz  an  und  meinte,  dass  der 
Verkehr  zwischen  den  Völkern  (Volkswirt- 
schaften) sich  immer  so  gestalte,  wie  es  für 
das  beiderseitige  Interesse  am  besten  ist, 
dass  eine  Uebervorteilung  des  einen  Volks 
durch  das  andere  gar  nicht  vorkommen 
könne.  Es  sei  also  vollständig  unnütz,  auf 
die  Herbeiführung  einer  bestimmten  Gestal- 


tung der  Handelsbilanz  zu  sinnen;  wobei 
&\)ev  übersehen  wurde,  dass  es  auch  im 
Völkerverkehre  wirtschaftlich  schwächere 
und  stärkere  Parteien  giebt  und  auch  da 
eine  fortdauernd  ungleiche  Gewinnverteilung 
stattfinden  kann.  Mit  Recht  liess  man  aber 
von  dem  nun  keinesfalls  mehr  zutreffenden 
Bestreben  ab,  bares  Geld  durch  künstliche 
Massregeln  ins  Land  zu  ziehen,  um  eine 
»günstige«  Bilanz  zwischen  Geld-  und 
Warenverkehr  zu  erzielen,  und  es  ver- 
schwand die  merkantilistische  Anschauung 
von  der  Handelsbilanz.  Man  redete  und 
redet  von  dieser  heute  nur  noch  in  dem 
Sinne,  dass  man  den  Wert  der  eingeführten 
Waren  mit  dem  der  ausgeführten  vergleicht. 
In  dem  Kampf  gegen  die  ältere  Theorie 
kam  man  natui^emäss  auch  zu  üebertrei- 
bungen  nach  der  entgegengesetzten  Seite 
hin,  und  einzelne  Theoretiker  behaupteten, 
dass  eine  bisher  sogenannte  günstige  Han- 
delsbilanz ein  ungünstiges  Zeichen  für  den 
Volkswohlstand  des  betreffenden  Landes 
sei,  weil  das  üeberwiegen  der  Warenaus- 
fuhr über  die  Einfuhr  seinen  Grund  im 
Mangel  an  baren  Umlaufsmitteln  habe,  der 
von  einer  Erschütterung  des  Kredits  her- 
rühren müsse.  Andere  Freihandelstheore- 
tiker vergleichen  den  Glauben  an  den  Stand 
der  Handelsbilanz  als  Zeichen  der  wirt- 
schaftlichen Entwickelung  mit  dem  ebenso 
unhaltbaren  Glauben  an  den  Einfluss  der 
Mondphasen  auf  den  Gang  der  Wittei-ung. 
Immerhin  ist  von  der  merkantilistischen 
Lehre  bis  heute  der  Eindruck  zurückge- 
blieben, eine  günstige  Handelsbilanz,  d.  h. 
ein  üeberwiegen  der  Warenausfuhr  dem 
Werte  nach,  sei  etwas  Erstrebenswertes. 
Der  Tendenz  nach  gleichwertig  ist  die  neuer- 
dings so  vielfach  scharf  hervortretende 
Meinung,  die  Zurückdrängung  des  Verbrauchs 
ausländischer  Artikel  zu  Gunsten  der  ein- 
heimischen Produktion  sei  besonders  ver- 
dienstlich. Richtig  ist  hiemn,  dass  es  näher 
liegt  und  auch  in  der  Regel  volks wii-tschaftlich 
vorteilhafter  ist,  Arbeiter  mit  der  Produktion 
eines  bestimmten  Artikels  im  Inlande  zu 
beschäftigen,  statt  diesen  von  aussen  zu  be- 
ziehen und  infolge  dessen  entweder  für 
weniger  Arbeiter  oder  gegen  geringeren 
Lohn  Arbeitsgelegenheit  zu  haben  oder  auch 
sie  anderweit  für  den  Export  beschäftigen 
zu  müssen.  Wenn  man  aber  gleichzeitig 
verlangt,  dass  die  Ausfuhr  gesteigert  werden 
müsse,  um  der  anwachsenden  Bevölkerung 
mehr  Nahnmgsspielraum  zu  vei-schaffen,  so 
darf  man  doch  nicht  übersehen,  dass  die 
Ausfuhr  nicht  ohne  den  Gegenwert  der  Ein- 
fuhr denkbar  ist  und  dass  insbesondere  ein 
Land,  das  grosse  Kapitalanlagen  auswärts 
hat,  seinen  Gewinn  zum  grossen  Teil  durch 
Bezug  von  auswärtigen  Waren  und  zwar 
nicht    nur    von    Rohstoffen,    sondern    auch 


982 


Haiiclelsbilauz 


hochwertigen    Fabrikaten    hereinbekommen 
miiss. 

3.  Die  Berechnung  der  H.  ist,  wie 
bei*eits  bemerkt,  Sache  der  Handelsstatistik, 
und  es  hängt  von  deren  Organisation  ab,  wie 
weit  vollständige  und  richtige  Grundlagen 
dafür  in  dem  einzelnen  Handelsgebiete  be- 
scliafft  werden  und  die  Berechnungen  für 
die  verschiedenen  Länder  vergleichbar  sind. , 
Es  darf  daher  liier  auf  diesen  besonderen 
Artikel  verwiesen  und  nur  im  allgemeinen 
folgendes  gesagt  werden.  Wenn  man  da- 
rauf ausgellt,'  zu  ermitteln,  welchen  Geld- 
wert das  eine  Land  dem  anderen  für  ge- 
lieferte Waren  schuldet,  so  kann  man  sich 
nicht  damit  begnügen,  den  Einkaufspreis 
am  Produktionsorte  zu  berechnen:  z.  B.  als 
Schuld  der  Vereinigen  Staaten  von  Amerika 
für  einen  nach  Chicago  gelieferten  Centner 
Nürnberger  Zinnsoldaten  an  Deutschland 
den  Gestehungspreis  dieser  Waren  in  Nürn- 
bei'g  anzusetzen,  denn  unzweifelhaft  gehören 
die  Ti-ansportkosten  mit  zum  Wert  der  Ware 
und  müssen  bei  der  fraglichen  Berechnung 
dem  Nürnberger  Preise  zu  Gunsten  Deutsch- 1 
lands  soweit  hinzugerechnet  werden,  als  der ' 
Transport  von  deutschen  Anstalten  geleistet 
wurde,  da  dessen  Preis  an  Deutschland  mit 
bezahlt  werden  muss.  In  jedem  Falle  kommt 
also  hinzu  die  Eisenbahnfracht  bis  zur 
deutschen  Grenze  z.  B.  Hamburg.  Hier 
wird  die  Ware  vielleicht  durch  ein  deutsches 
Schiff  übernommen  und  nach  New-York 
geführt;  in  diesem  Falle  wäre  der  Fracht- 
gewinn bis  New-York  der  deutschen  Bilanz 
zu  gute  zu  rechnen;  falls  aber  ein  Schiff 
der  Vereinigten  Staaten  die  Fracht  besorgt, 
so  würde  diesem  Lande  der  Prachtgewinn 
von  Hamburg  ab  zu  gute  kommen  und  die 


Schuld  an  Deutschland  entsprechend  ver- 
kürzt. Es  kann  aber  sehr  wohl  sein,  dass 
ein  englisches  Schiff  die  Fracht  übernimmt, 
und  dann  tritt  ein  dritter  Staat  in  die  Be- 
rechnung der  Handelsbilanz  ein.  Es  liegt 
aber  selbstverständlich  ausserhalb  des  Be- 
reichs der  Handelsstatistik,  die  Transporte 
der  inländischen  Waren  nach  der  Nationali- 
tät der  Frachtführer  zu  verfolgen  und  ent- 
sprechende Quoten  in  die  Handelsbilanz  ein- 
zustellen ;  sie  kann  sich  als  Ziel  nur  setzen, 
diejenigen  Werte  zu  ermitteln,  welche  die 
inländischen  Waren  bei  der  Ausfuhi* 
über  die  Landesgrenze,  also  zuzüglich  der 
Transportkosten  vom  Produktionsorte  bis 
dahin,  und  diejenigen,  welche  die  aus- 
ländischen Waren  beim  Eintritt  in  das 
Land  haben.  In  dem  angeführten  Beispiel 
wird  also  die  Nürnberger  Ware  für  Deutsch- 
land nach  ihrem  Werte  loco  Hamburg,  für 
die  Vereinigten  Staaten  nach  ihrem  Werte 
loco  New-York  zu  berechnon  sein. 

Falls  die  Handelsstatistlken  zweier  Länder 
nach  dem  angegebenen  Grundsatz  aufgestellt 
werden,  so  müssen  aus  dieser  gleichen  — 
und  einzig  rationellen  —  Beliandlung  ver- 
scliiedene  Wertungen  htlben  und  drüben 
entstehen.  Nur  soweit  zwei  Länder  un- 
mittelbar benachbart  sind,  können  die  Werte 
stimmen.  Jedenfalls  ist  für  die  Praxis  der 
Berechnung  der  Handelsbilanz  der  Wert  der 
Ware  an  der  Landesgrenze  das  einzig  Em- 
pfehlenswerte. 

Als  Beispiele  wirklich  aufgestellter  Han- 
delsbilanzen dienen  die  folgenden  Zahlen. 
In  der  Reihenfolge  der  hier  gewählten 
Länder  ist  das  mit  der  »günstigsten«  Han- 
delsbilanz vorangestellt. 


Specialhandel  ^)  in  Millionen  Mark,  einschl.  Edelmetall -Verkehr 


Länder 


'  Jahr«) 


Einfuhr  ,  Ausfuhr 


Mehr- 


|DieEinfuhr 
1=1,00  gesetzt 
Einfuhr     Ausfuhr  ;betr.  d.  Ausf. 


Vereinigte  Staaten  von  Amerika 

Oesterreich- Ungarn 

Rnssland   .    .    .  • 

Frankreich 

Belgien 

Niederlande 

Deutschland 

Schweiz 

Grossbritannien 


1899 

3604,8 

5  677,3 

2072,5 

1899 

I  375,7 

I  638,8 

263,1 

1897 

1517,6 

I  595,8 

77,6 

1899 

3  825,9 

3467,1 

358.8 

1898 

I  717,0 

I  514,8 

202,2 

1898 

3  052,8 

2  576,9 

475.9 

1899 

5  783,6 

4  368,4 

1415,2 

1899 

994,2 

701,4 

292,8 

1899 

9  506,4 

6  132,1 

3  374,3 

1,75 
1,19 
1,05 
0.91 
0,88 

0,84 
0,76 

0,71 
0,65 


^)  Specialhandel  für  Deutschland,  und  für  die  anderen  Länder  die  dem  Begriff  des  deut- 
schen Specialhandels  am  nächsten  liegende  Zahlenkombination. 

^)  Letztes  Jahr,  für  das  bei  Abfassung  des  Aufsatzes  Zahlen  vorlagen. 


Wegen  der  Verschiedenartigkeit  der  Or- 
ganisation der  Handelsstatistik  und  des  un- 
gleichen Grades  der  Annähening  der  Ergeb- 
nisse an  die  Wirklichkeit  sind  obige  Zahlen 


keineswegs  vergleichbar,  zum  Teil  geradezu 
irreführend.  Die  ausserordentlich  »günstige^ 
Handelsbilanz  der  Vereinigten  Staaten  u.  a. 
z.  B.  erklärt  sich  zum  grossen  Teil  daraus, 


Handelsbilanz 


983 


dass  als  Einfuhrwerte  die  am  Einkaufsort 
der  Waren  deklarierten  Preise  eingestellt 
werden,  zum  Teil  aus  der  mangelhaften 
Feststellung  der  Einfuhr  durch  die  ameri- 
kanische Handelsstatistik ;  es  würde  jedoch 
hier  zu  weit  führen,  in  eine  Untersuchung 
der  Entstehungsart  der  einzelnen  Ergeb- 
nisse einzutreten. 

4.  Die  Bedeutung  der  H.  muss  hier- 
nach zunächst  daliin  erläutert  wei*den,  dass 
die  aus  den  handelsstatistischen  Zahlen  der 
einzelnen  Länder  sich  ergebenden  Handels- 
bilanzen nicht  ohne  weiteres  als  die  wirk- 
lichen Bilanzen  der  mit  dem  Auslande  aus- 
getauschten Warenwerte  anzusehen  sind, 
sondern  recht  weit  davon  entfernt  sein 
können.  Was  dann  die  wirkliche,  durch 
die  Handelsstatistik  zum  Teil  nur  unvoll- 
kommen^ ausgedrückte  Handelsbilanz  be- 
trifft, so  ist  aus  dem  vorher  Gesagten  schon 
klar,  dass  sie  weder  identisch  ist  mit  der 
Bilanz  der  Verbindlichkeiten  und  Forde- 
rungen eines  Landes  dem  Ausland  oder 
einem  bestimmten  anderen  Lande  gegen- 
über, noch  ihre  Gestaltung  mit  der  Ge- 
staltung dieser  Zahlungsbilanz  gleichartig 
zu  sein  braucht  d.  h.  günstig  zu  sein,  wenn 
diese  aktiv  ist  und  umgekehrt.  Wenn  man 
diese  Xichtübereinstimmung  von  Handels- 
bilanz und  Zahlungsbilanz  feststellt,  so  ist 
aber  damit  keineswegs  gesagt,  dass  die 
Handelsbilanz  ganz  ohne  Bedeutung  sei. 
Die  Thatsache,  dass  von  einem  Lande  ver- 
hältnismässig mehr  Waren  ausgeführt  —  ver- 
kauft —  als  eingeführt  —  gekauft  —  wer- 
den, also  die  Handelsbilanz  »gtlnstig«  ist, 
oder  dass  das  umgekehrte  Verhältnis  ob- 
waltet, also  die  Handelsbilanz  »ungünstig« 
ist  kann  volkswirtschaftlich  keineswegs  ganz 
gleichgiltig  sein.  Die  Warenumsätze  ziehen 
den  Verkehr  in  Wechseln  nach  sich,  und 
die  Summe  der  auf  ein  Land  auslaufenden 
Wechsel  ist  von  Einfluss  auf  den  Kiu^  der- 
selben ;  für  Länder  mit  schwankender  Valuta 
macht  dieser  Umstand  auch  seinen  Einfluss 
auf  die  Valuta  selbst  —  den  Km^  des  ge- 
setzlichen Zahlmittels  —  geltend.  Volks- 
wirtschaftlich noch  bedeutungsvoller  ist  die 
Fi'age  nach  den  Ursachen  der  günstigen  oder 
ungünstigen  Gestaltung  der  HandelsbLlanz. 
Hier  ist  zu  scheiden  zwischen  der  voniber- 
gehenden  und  der  dauernden  d.  i.  für  einen 
längeren  Zeitraum  dieselbe  Tendenz  zeigen- 
den Handelsbilanz.  Vorübergehend  fcmn 
durch  einzelne  grosse  Kreditoperationen,  die 
das  Inland  dem  Ausland  verpflichten,  die 
Handelsbilanz  in  ihrer  Richtung  beeinflusst 
werden;  z.  B.  kann  durch  die  Abtragung 
einer  grossen  Kriegsschuld  das  Land  ver- 
anlasst werden,  seine  Ausfuhr  zu  forcieren 
und  so  sich  eine  günstige  Handelsbilanz  zu 
verschaffen ;  umgekelirt  kann  eine  grosse  im 
Ausland  gemachte  Anleihe  die  Mittel  geben, 


viel  Warenwerte  ins  Land  zu  ziehen  und 
somit  die  Handelsbilanz  vorübergehend  un- 
günstig erscheinen  zu  lassen.  Wenn  man 
aber  nach  den  dauernden  Ursachen  der 
Gestaltung  der  Handelsbilanz  fragt,  so  kann 
eine  günstige  Handelsbilanz  entweder 
darin  ihre  Ursache  haben,  dass  ein  Land 
seinen  Produktionsüberschuss  dauernd  im 
Auslande  anlegt,  sei  es  diurch  Erwerbung 
fremder  Schuldverschreibungen,  sei  es  durch 
Ei'richtung  auswäi*tiger  Unternehmungen, 
oder  darin,  dass  die  Mehrausfuhr  einen 
Gegenwert  zur  Deckung  von  Ansprüchen 
des  Auslandes  bildet,  die  ihren  Gnmd  nicht 
in  der  Lieferung  von  entsprechenden  Waiden - 
werten  (in  der  Einfulu'  von  dort)  haben,  son- 
dern auf  anderweiter  dauernder  Verschuldimg 
des  Inlandes  beruhen ;  und  zwar  wird  diese 
letztere  hauptsächlich  ihren  Grund  haben  in 
öffentlichen  Anlehen,  die  in  Händen  von 
Ausländern  sind,  und  in  Leistungen  der 
Ausländer  für  das  Inland,  z.  B.  Warentrans- 
porte auf  ausländischen  Schiffen.  Die  güns- 
tige Handelsbilanz  kann  also  eine  sozusagen 
aktive  und  eine  passive  Ursache  haben ;  die 
letztere  ist  jedenfalls  die  häufiger  vor- 
kommende und  eine  sehr  einfache  Erkläining 
der  Mehrausfuhr  stark  verschuldeter  Staaten. 
Als  Ursache  einer  dauernd  ungünstigen 
Handelsbilanz,  also  einer  lange  Zeit  nin- 
durch  fortgesetzten  Mehreinfuhr,  lässt  sich 
wohl  niu'  die  hervorragende  Kaufkraft  des 
betreffenden  Landes  anführen,  die  auf 
starken  Aktivis  im  Auslande  beruht.  Ein 
Land,  dessen  Einwohnerschaft  vom  Aus- 
lande Zinsen  aus  Anlehen,  Gewinne  aus 
dort  belegenen  Betrieben,  Bezahlung  für  ge- 
leistete Warentransporte  zu  fordern  hat,  ist 
in  der  Lage,  über  seinen  Ausfuhrwert  hinaus 
Waren  zu  kaufen  und  so  eine  ungünstige 
Handelsbilanz  dauernd  zu  tragen.  Die  Be> 
deutimg  einer  solchen  Gestaltung  der  Han- 
delsbilanz wird  somit  regelmässig  die  sein, 
dass  das  betreffende  Land  sich  in  einer 
günstigen  wirtschaftlichen  Lage  befindet. 

Wie  man  sieht,  ist  die  Bedeutung  der 
Handelsbilanz  gross  genug,  um  das  Bestreben 
nach  einer  richtigen  statistischen  Erfassung 
derselben  zu  rechtfertigen. 

5.  Die  H.  des  deutschen  ZoUgebietes 
im  besonderen.  Da  es  bisher  noch  nicht 
gelungen  ist  die  Handelsstatistik  des  für  den 
deutschen  Warenverkehr  so  hervorragend 
wichtigen  Platzes,  des  Hamburger  Freihafens 
in  der  deutschen  Handelsstatistik  ein  zube- 
ziehen, so  bleibt  diese  eine  solche  des 
deutschen  Zollgebietes  und  hinter  der  eigent- 
lichen Handelsbilanz  Deutschlands  zurück. 
Die  Handelsbilanzen  der  fünf  Jahre  1895^99 
stellen  sich  wie  folgt: 


984 


Handelsbilanz — Handelsgehilfe 


Jahr 


Die  Einfuhr 
Ein-  Aus-  Mehr-  =1,00  ge- 
fuhr       fuhr      Einfuhr      setzt,  macht 

die  Ausfuhr 

Millionen  Mark  im  Specialhandel  einschl. 
Edelmetallverkehr 

S22.0 


1895  4246,1 

1896  4558,0 

1897  4864,6 

1898  5  439,7 

1899  5783,6 


3424,1 
3  753,8 

3  786,2 
4010,6. 

4  368,4 


804,2 
I  078,4 
1429,1 

1  415,2 


0,81 
0,82 
0,78 

0,74 
0,76 


Die  sorgfältige  Aufstellung  luiserer 
Handelsstatistik,  welche  durch  sachver- 
ständige Schätzungen  die  Werte  der  ein-  und 
ausgeführten  Waren  an  der  Landesgrenze 
zu  fassen  sucht,  bürgt  dafür,  dass  unsere 
Zahlen  der  Wirklichkeit  ziemlich  nahe 
kommen.  Das  regelmässige  Auftreten  einer 
imgünstigen  Handelsbilanz  wird  gerecht- 
feilipt  dadurch,  dass  unser  Besitz  an  aus- 
ländischen Anleihen  etc.  jedenfalls  grösser 
ist  als  der  Besitz  des  Auslandes  an  unseren 
Schuldtiteln,  und  durch  die  bedeutenden 
Leistungen  aJs  Warenführer  für  das  Ausland. 
Erstens  nämlich  bedingt  unsere  centrale  Lage 
eine  bedeutende  Durclifuhr  ausländischer 
Waren  zu  Land  und  Wasser  (die  Handels- 
statistik w^eist  für  1899  eine  Durchfulir  von 
24  Millionen  dz  nach),  zweitens  kommen 
die  Leistungen  unserer  Handelsflotte  in  Be- 
tracht, die  nicht  nur  zwischen  In-  mid 
ausländischen  Häfen,  sondern  auch  von 
ausländischen  zu  ausländischen  Häfen  fremde 
Güter  transportiert.  Ob  der  Gewinn  aus 
anderen  deutschen  Unternehmungen  im  Aus- 
lande schon  die  aus  solchen  des  Auslandes 
bei  uns  übertreffen,  mag  daliingestellt 
bleiben. 

Wenn  man  die  Bilanz  nicht  dem  Aus- 
lande überhaupt,  sondern  einzelnen  Ländern 
gegenüber  zieht,  so  ergiebt  sich  für  die  schon 
oben  gewählten  Länder  und  das  Jahr  1899 
folgendes  Bild ;  jene  Länder  nach  der  Grösse 
des  Verkehrs  mit  uns  geordnet. 


Des  deutschen  Zollgebiets 

von   i  nach 

Ein- 

Aus- 

dort 

dort 

fuhr 

fuhr 

Mehr- 

Mehi*- 

aus 

nach 

Ein- 
fuhr 

Aus- 
fuhr 

MiU.  M. 

i.  Specialband. 

Grossbritannien    . 

.777,1 

851,6 

_ 

74,5 

Verein.  Staaten  v. 

Amerika  .    .    . 

907,2 

377,6 

529,6 

Rnssland      .    .    . 

701,7 

396.6 

305,1 

Oesterr.  -  Ungarn  , 

730,4 

466,0 

264,4 

Frankreich       .    . 

303,1 

216,7 

86,4 

Niederlande .    .    . 

203,3 

327,7 

124,4 

Schweiz   .... 

176,3 

284,7 

— 

108,4 

Belgien    .... 

246,1 

207,1 

39,0 

Niederlande  und  Schweiz  mehr  Waren  ab  als 
wir  empfingen,  hatten  eine  »günstige« 
Handelsbilanz  diesen  Ländern  gegenüber ;  im 
Verkehr  mit  Belgien  ist  die  Differenz  nicht 
sehr  erheblich.  Die  Lage  dieser  kleinen 
Länder  als  Durchgangs-  und  Speditionsländer 
beeinflusst  die  statistischen  Nachweise  in- 
sofern ungünstig,  als  sie  oft  als  Einkaufs- 
(Herkunfts-)  und  Verkaufs-(Bestimmungs-) 
Land  angegeben  werden  mögen,  wo  sie  es 
thatsächlich  nicht  sind.  Die  günstige 
Handelsbilanz  zur  Schweiz  kann  wohl  mit 
daher  kommen,  dass  wir  ihr  für  Rechnung 
Dritter  (s.  0.  sub  1)  Waren  liefern. 

Schliesslich  sei  noch  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  bei  einer  Zerlegung  der 
Waren  nach  den  Gattungen  sich  unsere 
Handelsbilanz  auch  verschieden  herausstellt, 
wie  folgende  Zalilen  zeigen.  Es  betnig  im 
deutschen  Zollgebiet  1899  die 


Einfuhr  Ausfuhr 


I  591,0 
—        I  564,5 


also  Mehr- 
Einfuhr  Ausfuhr 

in  Millionen  Mark 

Rohstoffe  f.  d. 

Industrie    .  2607,1     1016,1 
Fabrikate.    .  1147,6    2712,1 
Nahrungs-  u. 
Genussmittel 

(einschl.  Vieh)  1  728,4       478,8     i  249,6 
Edelmetalle   .     300,5       161,4       139,1 

Litterator :  Felltneth,  Zur  Lehre  von  der  inter- 
nationalen Zahlungahilanz,  Heidelberg  1S77.  — 
V,  Hey  hing  f  Zur  Geachichte  der  Handehhilaiiz- 
theorte,  I.  ältere  englische  isysteme  und  Theorieen, 
Berlin  ISSO.  —  Grunzelf  Der  internationale 
Wirtschaftsverkehr  und  seine  Bilanz,  Leipzig 
1895.  —  Rulundj  Die  Handelsbilanz ,  Berlin 
1897.  —  HelfferUh,  Studien  über  Geld-  U7id 
Bankwesen  (Abh.  V:  AussenJiandel  und  Valuta- 
schwankungen), Berlin  1900.  —  In  Hildebrand- 
Conrads  Jahrb.  f.  Nat.-Oek.  u.  ütat.:  Heiligen^ 
stadtf  Beiträge  zur  Lehre  von  den  auswärtigen 
Wechselkursen,  in  IIL  Folge,  Bd.  VI,  1893.  — 
LexiSf  Di^  internationcde  Beivegung  der  Edel- 
metalle, in  III.  Folge,  Bd.  XV,  1898.  —  In 
Schmollcrs  Jahrbuch  für  Gesetzgebung,  Verwaltung 
und  Volkswirtschaft:  r.  Scheel ,  Die  Berechnung 
der  Handelsbilanzen,  im  13.  Jahrg.,  1SS9.  — 
Im  Journal  of  the  Royal  Statistical  Sorieig 
(London):  Giffen,  The  Use  of  Impoi-t-  and 
Export- Stalistics,  im  Jahrg.  1882;  I^evselbe, 
The  cxcess  of  imports,  im  Jahrg.  1899. 

H,  x\  ScheeU 


Danach  geben  wir  an  GiT)Ssbritannien,  die 


Handelsgehilfe. 

I.  Historische  Entwickelung.  U. 
Der  Handelsgehilfe  der  Gegenwart. 
1.  Allgemeines.  2.  Zwei  Klassen  von  Gehilfen. 
Die  soziale  Frage  im  Handelsstande.  3.  Sozial- 
reformatorische Bestrebungen  und  Gesetze. 


Handelsgehilfe 


985 


I.  Historische  Entwickelnng. 

Unter  den  Hilfskräften,  welche  der  ent- 
wickeltere Handel  ebenso  wie  die  vollkom- 
menere Produktion  erfonlert,  sind  zwei 
Kategorieen  zu  untei*scheiden :  erstens  die- 
jenige der  unqualifizierten  Arbeiter,  welche 
ausschliesslich  gröbere  Arbeiten  wie  das 
Packen  und  Austragen  der  Waren,  also  kurz 
nur  niedere  Handlangerdienste  zu  leisten 
haben,  imd  zweitens  diejenige  der  kauf- 
männischen Arbeiter ,  welche  den  Chef 
bei  der  specifischen  Handel  st  hätigkeit  unter- 
stützen und  Handelsgehilfen  (Kommis)  ge- 
nannt werden.  Diesen  letztei*en  allein  gilt 
unsere  Betrachtung. 

Vertreter  dieses  Berufes  finden  sich  schon 
im  klassischen  Altertum,  wo  zunächst 
der  Grosshandel  vornehmlich  wegen  seines  um- 
fangreichen Betriebes,  seiner  verwickelten  Buch- 
führung und  Geldgeschäfte  im  Verkehr  mit  dem 
In-  und  Auslande  ihrer  bedurfte:  im  Kleinhan- 
del dagegen  lassen  sie  sich  in  Rom  erst  nach 
dem  zweiten  punischen  Kriege  nachweisen,  wo 
manche  Geschäftsleute  den  Einzelverkauf  be- 
reits in  geräumigen  und  glänzenden  Magazinen 
und  zudem  noch  durch  Ausrufer  und  Hausierer 
(circitores  und  institores)  besorgen  liessen.  Die  Ge- 
hilfen rekrutierten  sich  meist  aus  dem  Sklaven- 
stande, daneben  noch  in  Griechenland  aus  den 
Schutz  verwandten  (Metöken),  in  Rom  aus  den  Frei- 
gelassenen und  späterhin  selbst  denFreigeborenen. 
Die  Angestellten  des  Grosshandels  befanden 
sich  in  bevorzugter  Position;  nicht  selten  er- 
rangen selbst  die  Sklaven  unter  ihnen  grössere 
Selbständigkeit  und  besorgten  dann  als  Bevoll- 
mächtigte den  Ein-  und  Verkauf,  hatten  Dispo- 
sition über  ganze  Schiffsladnngen  und  wurden 
Vorstände  der  Filialen,  ja  sogar  der  Hauptge- 
schäfte. Dass  diese  Praxis  der  Uebertragung 
weitgehendster  Vollmachten  an  abhängige  Per- 
sonen allgemeiner  geübt  wurde,  war  die  Konse- 
quenz des  Vorurteils  vornehmer  Hellenen 
und  Römer  gegen  berufsmässige  Geschäftsthä- 
tigkeit.  Bewährten  Gehilfen  winkte  als  sohliess- 
licher  Lohn  die  Ausstattung  mit  Kapital  zur 
Begründung  eines  Geschäftes,  an  dem  der  ehe- 
malige Herr  nur  Gewinnanteil  sich  vorbehielt.  — 

In  Deutschland  hat  sich  ei*st  spät, 
nach  Ende  des  ersten  Jahrtausends  unserer 
Zeitrechnung,  ein  einheimischer  Kaufmanns- 
stand entwickelt,  dem  zunäclist,  ausser  den 
Familienangehörigen,  keine  Gehilfen  zur 
Seite  standen,  da  der  Geschäftsbetrieb  klein 
und  primitiv  wai\  Sogar  noch  im  16.  Jahr- 
hundert sind  in  Basel,  wie  Geering  kon- 
statiert, die  meisten  Geschäfte  ganz  ohne 
Handlungsdiener,  und  14  grosse  Firmen 
l)eschäftigen  zusammen  —  19  Kommis. 
Andei-s  freilich  lag  die  Sache  bei  den  Welt- 
firmen der  grossen  Handelsplätze.  — 

Das  Dienstverhältnis  des  Handelsgehilfen 
(copgeselle,  knape,  —  famulus,  socius,  factor) 
war  durch  freien  Vertrag  geregelt.  Sein 
Princip  war:  stramme  Subordination  und  Ver- 
pflichtung des  Gehilfen  zu  höchster  Arbeit.«?am- 
keit,  unverbrüchlicher  Treue  und  sittlichem  und 


gottesfürchtigem  Lebenswandel.  Die  Jugend  — 
heisst  es  in  einem  Statut  des  hansischen  ,,  Stahl- 
hofes" zu  London  —  soll  in  den  Kontoren 
„nicht  allein  zeitliche  Nahrung  suchen,  sondern 
auch  zur  Tugend,  Frömmigkeit  und  aller  Ehr- 
barkeit daselbst  erzogen  werden".  —  Neben  dem 
patriarchalischen  Pnncip  kam  der  Geschäfts- 
profit nicht  zu  kurz;  denn  offenkundig  suchte 
der  Vertrag  überall  den  Vorteil  des  Herrn  ent- 
schieden zu  wahren.  Gesetzliche  Normativbe- 
stimmungen waren  dabei  folgende.  Als  Lehr- 
ling durfte  nur  angenommen  werden,  wer  Zeug- 
nisse über  eheliche  Geburt,  seinen  und  seiner 
Eltern  guten  Leumund,  Zugehörigkeit  zu  einer 
„guten"  Nation  etc.  beibrachte.  Manche  vor- 
nehme Kanfmannszunft  fordert  (im  Unterschiede 
zu  allen  anderen  Zünften  der  Stadt)  noch  aus- 
drücklich, dass  der  Aufzunehmende  „der  Brue- 
dirschafft  gut  genugk  sey",  wie  dies  z.  B.  Ad. 
Warschauer  aus  Posen  berichtet.  Zur  Auf- 
nahme in  ein  Kontor  des  Hansabundes  speciell 
ist  noch  der  Besitz  des  Bürgerrechts  in  einer 
Hansastadt  obligatorisch.  —  Die  zünftige  Auf- 
fassung prägte  sich  schon  charakteristisch  in 
der  Art  der  Aufnahme  der  Lehrlinge  ans, 
die  sich  zu  einer  feierlichen  Immatrikulation 
durch  den  Zunftvorstand  gestaltete:  „dar  schal 
ohnen  (sc.  den  Lehrlingen)  gesecht  werden,  wor 
se  sick  by  obren  Heren  holden  scholen,  unnd 
schall  ohre  Nähme  alssdenne  vertecknet  werden" 
(Lübecker  Urkunde).  Natürlich  entsprach  die- 
sem Akt  eine  Gebühr  an  die  Zunftkasse,  die 
der  Meister  oder  der  Lehrling  zu  entrichten 
hatte.  Die  Dauer  der  Lehrzeit  war  verschie- 
den, z.  B.  auf  dem  Stahlhof  zu  London  zwei 
Jahre,  auf  dem  Kontor  in  Bergen  vier.  Blieb 
der  Lehrling  nach  dieser  Zeit  in  derselben  Stadt, 
so  musste  er  auch  bei  demselben  Herrn 
weiterdienen  „alse  deme,  de  ohne  (ihn)  mit 
Schaden  thogesettet  unnd  gelehret,  deme  he  ock 
darvor  billich  Danckbarheit  unnd  wedderumme 
Gudes  tho  doende  plichtich  is"  (Lübecker  Ur- 
kunde). Schutzbestimmungen  für  den  Lehrling 
finden  sich  nirgends ;  wohl  aber  wird  dem  Chef 
die  „Ausbildung"  des  Lehrlings  durch  ausdri\ck- 
liche  Gewährung  des  Züchtigungsrechtes  er- 
leichtert. Entlief  der  Lehrling,  weil  er  Schläge 
erhalten,  so  musste  er  an  die  Zunft  Busse  zah- 
len imd  zum  alten  Meister  zurückkehren,  falls 
er  überhaupt  beim  Gewerbe  bleiben  wollte.  -- 
Umfang  und  Art  der  Thätigkeit  des 
Lehrlings  waren  natürlich  je  nach  der  Branche 
verschieden.  Allgemein  lässt  sich  nur  sagen, 
dass  im  Kleinhandel  der  Lehrling  die  niederen 
Keinigungsarbeiten  zu  verrichten,  die  geführten 
Artikel  kennen  zu  lernen  und  die  Kunden  zu  be- 
dienen hatte.  In  der  Grosshandlung  suchte  der 
Lehrling  sich  zunächst  eine  gewisse  Waren- 
kenntnis anzueignen;  dann  wurde  er  in  kauf- 
männisches Rechnen,  Buchführung,  Korrespon- 
denz und  Speditionswesen  eingeführt  und  schliess- 
lich auf  Messen  und  Märkte  mitgenommen,  um 
dort  die  Quintessenz  der  höheren  Handelstech- 
nik zu  lernen.  Gegen  Ausgang  des  Mittelalters 
wurde  es  unter  den  Grosskaufleuten  üblich,  die 
Söhne  zur  Lehre  auf  die  deutschen  Kontore  im 
Auslande  zu  geben,  welche  recht  eigentlich  als 
die  hohen  Schulen  des  Kaufmannsstandes  gal- 
ten, da  dort  die  beste  Gelegenheit  zur  Erlernung 
der  fremden  Sprachen  und  zum  Studium  des 
Weltmarktes  tich  bot.   In  anderen  Fällen  gaben 


986 


Handelsgehilfe 


die  Grosshändler  ihre  Söhne  direkt  zu  welschen 
Kaafleaten  in  die  Lehre  und  nahmen  dafür 
dann  deren  Kinder  „im  Tausch"  in  die  eigenen 
Geschäfte  So  grab  die  Entwickelung  des  Han- 
dels, wie  Sebastian  Franck  in  merkwürdiger 
Auffassung  dieses  Berufes  klagt,  Anlass,  „auf 
den  Handel  zu  studieren,  wie  es  sonst  nur  auf 
die  freien  Künste  geschehen^'. 

Die  Gehilfen  des  Kleinhandels  uad  alle 
jene  des  Grosshandels,  die  keinen  selbstän- 
digeren Posten  inne  hatten,  waren  ihren  Chefs 
nicht  viel  minder  unterthan  als  die  Lehrlinge. 
Dies  wird  klar  ersichtlich  durch  einen  Blick 
auf  die  folgende  Sammlung  aller  wesentlichen 
Statuten  der  Krämerzünfte,  soweit  sie  die  Ge- 
hilfen angehen.  Diese  entnielt^n:  Einheitliche 
Mietzeit  (so  durften  in  Lüneburg  z.  B.  die  Ge- 
hilfen ausschliesslich  14  Tage  vor  Ostern  und 
Michaeli  gemietet  werden);  lange  Dauer  der 
vereinbarten  Kontrakte;  Bestrafung  des  Kon- 
traktbruchs oder  der  Untreue  des  Kommis  durch 
Exklusion  aus  dem  Berufe  („wo  den  ock  ein 
jeder  redlicker  31an  sulcker  Dener  nicht  begerth", 
Lübecker  Urkunde) ;  dagegen  Erlaubnis  für  den 
Herrn,  im  Einverständnis  mit  dem  Zunftvor- 
stande nicht  genehme  Kommis  vor  dem  kon- 
traktmässigen  Termin  zu  entlassen:  obligatori- 
scher Sühneversuch  durch  die  Zunft  bei  Strei- 
tigkeiten zwischen  Herrn  und  Gehilfen ;  Verbot 
der  Koalition  der  Kommis;  Gestattung  sonsti- 
ger Versammlungen  derselben  nur  unter  Assis- 
tenz von  Ratsdeputierten;  Festsetzung  von 
Beginn  und  Ende  der  Arbeitszeit  durch  Be- 
schluss  der  Innungskaufleute;  Verbot  der  Sonn- 
tags- und  Festtagsarbeit  („Gade  [Gott]  to  Love 
und  to  Eren",  Lüueburger  Urkunde);  Verbot 
von  Geschäften  für  eigene  Rechnung  oder  für 
die  eines  anderen  wie  des  Prinzipals;  Verbot 
des  Schlafens  ausserhalb  des  Hauses,  des  Her- 
umtreibens in  Kneipen  oder  berüchtigten  Häu- 
sern, des  Würfeins,  ja  selbst  der  Ausstattung 
mit  Kleidern  ohne  Wissen  und  Willen  des 
Herrn,  und  endlich  Verbot  aller  anderen 
Dinge,  „de  neenem  ehrlicken  framen  Dener  an- 
staen"  (Lübecker  Urkunde)  bei  Strafe  der  Ex- 
klusion. Das  alles  genügte  aber  den  Prinzipalen 
noch  nicht,  sondern,  um  das  Hilfspersonal  vol- 
lends in  der  Gewalt  zu  haben,  bestimmte 
schliesslich  noch  das  Statut,  dass  ein  Krämer 
einen  Kommis  niemals  einem  anderen  aus- 
mieten und  ihn  gegen  den  Willen  des  bisheri- 
gen Chefs  sogar  nach  Ablauf  der  kontrakt- 
lichen Dienstzeit  nicht  übernehmen  dürfe!  — 
Diese  Principien  werden  auch  in  dem  nachste- 
henden Musterkontrakte  aus  Nürnberg  vom 
Jahre  1579  wiedergespiegelt.  Danach  verpflich- 
tet sich  der  Kommis  seinem  Herrn,  einem  Tuch- 
händler, wie  folgt:  1.  10  Jahre  zu  dienen;  2. 
nie  um  Geld  zu  spielen,  nie  Geld  bei  sich  zu 
trafi^en,  sondern  es  im  Bedarfsfalle  vom  Chef  zu 
entleihen;  3.  gehorsam  zu  sein,  ohne  Willen  des 
Chefs  nicht  aus  dem  Dienste  zu  bleiben,  ohne 
Erlaubnis  das  Haus  niemals  zu  verlassen,  end- 
lich keine  „böse  Gesellschaft"  ins  Haus  zu  brin- 
gen ;  4.  gegen  den  Willen  der  Herrschaft  nicht 
zu  heiraten,  dagegen  jederzeit  den  Abschied 
ruhig  anzunehmen,  wenn  die  Herrschaft  ,,an 
seinen  Diensten  ein  Uugefallen  hätte" ;  5  für 
Schaden,  den  er  hätte  verhüten  können,  einzu- 
stehen ;  6.  ohne  '  den  Willen'  -der  Herrschaft 
nichts  zu  verleihen,  für  nichts  Bürge  zu  wer- 


den, über  ihren  Handel  strengste  Diskretion  zu 
wahren;  7.  die  Kosten  für  seine  Kleidung  aus 
eigener  Tasche  zu  bestreiten,  während  er  sonst 
freie  Station  hat  und  150  Gulden  Lohn  für  die 
gesamte  Dienstzeit  erhält:  8.  weder  am  Orte 
noch  anderswo  in  eine  Tuchhand  Inng  einzu- 
treten, wenn  ihn  der  Chef  vor  Ablauf  der  10 
Jahre  entlässt;  9.  Bürgen  für  100  Gulden  zu 
stellen,  zahlbar  an  die  Herrschaft  bei  Kontrakt- 
bruch ;  10.  Bürgen  für  den  Ersatz  etwaiger  Ver- 
untreuung zu  stellen. 

Die  Gehilfenordnung  in  den  zahlreichen 
deutschen  Niederlassungen  im  Aus  lande  lehnt 
sich  an  die  Statuten  des  heimatlichen  Handels- 
rechtes an,  soweit  sie  nicht  den  obwaltenden 
besonderen  Lokal  Verhältnissen  Rechnung  tragen 
muss.  So  geht  die  für  alle  hansischen  Kontore 
typische  Verfassnngsurkunde  des  Londoner 
Stahlhofes  von  dem  leitenden  Grundsatze  aus: 
es  seien  die  Gesellen  „sich  selbst  zu  regieren 
ungeschickt,  und  derhalben  nicht  allein  gefähr- 
lich, sondern  auch  ihnen  selbst  nachteilig^  und 
schädlich ,  so  ihnen  eigen  Regiment  zu  haben 
vergönnet  würde,  weshalb  den  jungen  Gesellen 
zu  unordentlichen  Weisen  alle  Occasion  und 
Ursach  entzogen  werden  solle".  —  Die  Arbeits- 
zeit dauerte  von  5  Uhr  früh  bis  9  Uhr  abends 
im  Sommer  und  von  6—8  im  Winter.  Das  Mit- 
tagsmahl wurde  von  allen  Gehilfen  gemeinr- 
schaftlich  eingenommen,  —  wobei  ihnen  aber, 
neben  allem  sonstigen  Unziemlichen,  vorsorglich 
alles  Räsonnieren  über  das  Essen  verboten  war. 
Stand  dann  der  Kommis  auf,  nachdem  „die 
Mahlzeit  vollendet  und  Gott  gewöhnlicher  Weise 
Danksagung  geschehen*',  so  musste  er  „dem 
Kaufmann  an  der  Meistertafel  willig  zur  Tafel 
dienen''  (Statut  des  Stahlhofes).  Es  findet  sich 
natürlich  auch  das  Verbot  der  Koalition  (jeg- 
lichen „Auftlaufifs,  Versammlung  oder  heim- 
lichen Couspiration,  wodurch  der  Kaufmann  in 
Last  und  Mühe  möchte  kommen").  Die  üeber- 
wachung  der  Ordnung  lag  in  allen  hansi- 
schen Kontoren  in  den  Händen  eines  Ausschus- 
ses von  Prinzipalen ;  nur  im  Deutschen  Hofe  zu 
Nowgorod  war  durch  eine  Skraa  (Verordnung) 
von  1346  auch  den  Gehilfen  Teilnahme  an  der 
Verwaltung  zugebilligt.  —  Strenge  Zucht 
scheint  übrigens  nicht  unnötig  gewesen  zu  sein, 
wenn  z.  B.  bei  den  Gesellen  in  Bergen,  trotz 
strengen  Verbotes,  das  „Spiel"'  galt:  jeden  neuen 
Ankömmling  entkleidet  in  die  noch  winterlich 
kalten  Fluten  zu  werfen  und  ihn  dann,  wenn 
er  fast  erstarrt  wieder  herauskam,  bis  zur  Be- 
wusstlosigkeit  blutig  zu  peitschen;  und  wenn 
in  Kowno,  seitdem  die  Prinzipale  dorthin  nur 
selten  kamen,  die  Kommis  sich  fortwährend 
gegen  die  Administration  des  Kontors  renitent 
zeigten,  in  den  Schenken  herumlungerten  und 
unausgesetzt  mit  der  einheimischen  Bevölkerung 
in  Kollision  gerieten! 

So  wenig  sich  mithin  im  allgemeinen  die 
soziale  Stellung  der  Mehrzahl  der  Handels- 
gehilfen von  derjenigen  der  Handwerksgesellen 
unterschied,  so  protestierten  ^ene  doch  energisch 
dagegen,  diesem  Stande  gleichgestellt  zu  wer- 
den, indem  sie  z.  B.  sich  weigerten,  am  Schwör- 
tag mit  den  Handwerksgesellen  zugleich  den 
Zunfteid  zu  leisten. 

Neben  diesem  Hilfspersonal,  welches  nur 
nach  der  Direktive  des  Prinzipals  zu  handeln 
hatte,   gab  es  im  Grosshandel  noch  eine  Klasse 


Hanclelsgeliilfe 


987 


von  selbständigen  Gehilfen,  die soo^enannten 
».Lieger".  Diese  werden  auch  in  den  Rezes- 
sen der  Hansatage  ansdrücklich  in  Gegensatz 
zu  den  gewöhnlichen  ^copgesellen"  gestellt.  Sie 
erhielten  von  ihrem  Herrn  ein  Kapital  zum 
selbständigen  Betriebe  eines  Handelsgeschäftes, 
an  dessen  Gewinn  und  Verlust  jener  einen 
durch  Vertrag  (sendeve,  wedderleghinge)  fixier- 
ten Anteil  hatte.  Der  „herre"  blieb  Eigentümer 
des  Kapitals;  der  „knape'*  hatt«  nach  Ablauf 
der  kontraktlichen  Zeit  die  Verpflichtung, 
„ordentliche  beständige  Kechenschafft  von  allen 
Entpfangk  und  Ausgaben  zu  halten"  (Lübecker 
Statut),  und  zwar  auf  Verlangen  des  Herrn  an 
dessen  Wohnort  und  vor  Gericht.  Solcher 
„Lieger"  nun  gab  es  verhältnismässig  viele,  da 
die  Art  des  Vertrages  dem  Kaufherrn  einen  be- 
deutenden Gewinn  aus  dem  hergegebenen  Kapi- 
tal sicherte  und  so  eine  Umgehung  des  kanoni- 
schen Zinsverbotes  ermöglichte.  —  Neben  diesen 
„Liegern**  kamen  dann  endlich  noch  Prokuristen 
und  Bevollmächtigte  jeder  Art,  Vorsteher  von 
Filialen  etc.  vor,  die  aber  vom  Herrn  „Rad  und 
Helpe"  annehmen  mnssten  und  im  Falle  unbe- 
friedigender Leistungen  ihre  Entlassung  zu  see- 
wärtigen hatten,  wenn  sie  auch  mit  mehr  oder 
weniger  grossen  Vollmachten  ausgestattet  waren 
und  oft  Anteil  am  Gewinn  hatten.  Eine  solche 
Gewinnbeteiligung  und  vor  allem  jene  des 
„Liegers"  gab  dem  kapitallosen  Gehilfen  des 
Grosshandels,  wie  schon  Amira  bemerkt  hat, 
die  einzige  Möglichkeit,  im  Laufe  der  Zeit  sich 
gänzlich  selbständig  zu  machen.  Für  den  Ge- 
hilfen des  Kleinhandels  lag  die  Schwierigkeit 
eigener  Etablierung  nicht  sowohl  im  Besitze 
des  erforderlichen  Kapitals,  da  keine  bedeuten- 
den Summen  hierfür  in  Frage  kamen  (das  Lü- 
becker Statut  hält  z.  B.  20  M.  für  genügend), 
als  vielmehr  in  der  Gewinnung  der  Zunft. 
War  er  nicht  durch  nahe  Verwandtschaft  mit 
Zunftmitgliedem  verbunden,  so  wurde,  beson- 
ders seit  Entartung  der  Zünfte,  aus  niedriger 
Gewinnsucht  seine  Etablierung  häufig  hinter- 
trieben. 

Der  Handelsgehilfe  in  den  romani- 
schen Ländern  stand  in  gleichem  Verhält- 
nis zu  seinem  Prinzipal,  d.  h.  in  gleicher 
Abhängigkeit  wie  bei  den  germanischen 
Völkern.  Dies  lässt  sich  in  allen  Stücken 
an  den  von  Gold  Schmidt  und  Pöhl- 
man  n  mitgeteilten  Statuten  nachweisen. 
Nur  tdie  Etablienuig  als  Kleinhändler  war 
leich  er,  in  Florenz  sogar  nur  an  die  einzige 
Bedingung  geknüpft,  dass  die  Zunft  von  der 
ehrlichen  Praxis  (»fai*e  bene  per  ogni  modo«) 
des  Kandidaten  sich  für  überzeugt  halten 
konnte.  Dagegen  durfte  sich  freilich  der 
Gehilfe  nicht  in  der  Nähe  seines  früheren 
DienstheiTU  niederlassen:  die  einzige  Be- 
stimmung, welche  in  keinem  deutsehen 
Statut  enthalten  ist.  — 

Die  gescliüderten  Zustände,  soweit  sie 
inländische  Verhältnisse  betreffen,  blieben 
bestehen,  bis  die  Zunftverfassung  nebst  den 
entsprechenden  Reglements  dem  modernen 
Wirtschaftsprincip  der  Gewerbefreiheit  wich. 


II.  Der  Handelsgehilfe  der  Gegenwart. 

1.  Allgemeines.  Entspi'echend  dem 
grossen  Umfange  des  modernen  Handels 
und  seinen  vielseitigen  Erfordernisseu  ist 
auch  das  Bethätigungsfeld  des  Handelsge- 
hilfen weit  ausgedehnt.  Im  rationellen  Be- 
triebe grösserer  Geschäfte  wird  natürlich 
nach  dem  Princip  der  Arbeitsteilung  ver- 
fahren, und  so  übt  hier  der  Gehilfe  die 
genau  umgrenzten  Funktionen  eines  Buch- 
haltera,  Korrespondenten,  Kassierers,  Lager- 
gehilfen (Magaziniers),  Reisenden  oder  Ver- 
käufers aus;  in  kleineren  Geschäften  da- 
gegen sind  mehrere  dieser  Aemter  oder 
alle  zugleich  ein  und  deraelben  Person 
übertragen. 

Der  Buchhalter  hat  ein  systematisches 
Protokoll  über  sämtliche  Geschäftsvorgänge  zu 
führen,  welches  diese  einzeln  und  in  ihrer  Ge* 
samtheit  deutlich  wiederspiegelt  und  so  den 
Vermögensstand  des  Betriebes  jederzeit  erken- 
nen lässt.  Der  Korrespondent  hat  den  ge- 
samten schriftlichen  Verkehr  eines  Handels- 
hauses mit  der  Aussenwelt  zu  besorgen.  Dem 
Kassierer  ist  der  Empfang  und  die  Ausgabe 
aller  Gelder  anvertraut  sowie  der  Ausweis  da- 
rüber durch  specielle  Buchung.  Dem  Maga- 
zinier untersteht  die  Verwaltung  des  Waren- 
lagers, die  Führung  des  Lagerbuchs  und  die 
Besorgung  der  mit  dem  Ein-  und  Ausgange  der 
Waren  verbundenen  Geschäfte.  Der  Reisende 
(commis  voyageur)  hat  durch  mündlichen  Ver- 
kehr mit  den  Abnehmern  oder  Lieferanten  die 
Interessen  des  Betriebes  ausserhalb  desselben 
zu  vertreten,  also  für  Erhaltung  und  Gewinnung 
von  Geschäftsfreunden  persönlich  zu  wirken, 
Gelder  einzuziehen  etc.  Der  Ladengehilfe 
endlich  hat  im  offenen  Verkaufsgewölbe  die 
Waren  in  grösseren*  oder  kleineren  Partieen  an 
das  Publikum  zu  verkaufen.  Diese  Thätigkeit 
ist  oft  so  einfach,  dass  sie  Mädchen  mit  gerin- 
ger allgemeiner  und  merkantiler  Bildung  oder 
sogar  ganz  jungen  Lehrlingen  anvertraut  wird. 

Welcher  Art  die  Thätigkeit  des  Handels- 
gehilfen aber  auch  sein  mag,  so  ist  sein 
Verhältnis  zum  Gescliäftsinhaber  von  dem 
des  Arbeiters  zum  Fabrikanten  immerlün  in 
gewissen  Stücken  verschieden.  Zunächst  ist 
schon  die  Verbindung  zwischen  Prinzipal 
und  Gehilfe  nach  der  Absicht  beider  Teile 
eine  stabilere.  Der  Dienstvertrag  wird  auf 
längere  Zeit  geschlossen  und  ebenso  winl 
das  Gehalt  für  längere  Fristen  vereinbart 
und  in  grösseren  Intervallen,  meisten  monat- 
lich, ausgezahlt.  Ferner  hat  jeder  Handels- 
gehüfe  die  Absicht,  selbständig  zu  werden, 
d.  h.  selbst  einmal  in  den  Kreis  der  Prin- 
zipale einzutreten;  und  für  sehr  viele  ist 
auch  in  der  That  die  Gehilfenstellung  nur 
das  Durchgangsstadium  zur  Selbständigkeit, 
welche  im  Gegen satze  dazu  der  Fabrik- 
arbeiter nur  höchst  selten  erlaugt.  Damit 
ist  die  gleichmässigere  soziale  Stellung  bei- 
der Parteien  im  Kaufmann sstande  gekenn- 
zeichnet,   und    das    persönliche   Verhältnis 


988 


Handelsgehilfe 


zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 
wird  liier  noch  oft  dadurch  ein  näheres, 
dass  letztere  eigene  Angehörige  oder  Ange- 
hörige von  Geschäftsfreunden  des  Prinzipals 
sind.  Dieser  Unterscliied  zwischen  Han- 
delsgehilfen  und  anderen  Gewerbegehilfen 
prägt  sich  auch  in  der  Gesetzgebimg  aus, 
welche  für  jede  von  beiden  Klassen  geson- 
derte Normen  aufstellt. 

Nach  dem  neuen  deutschen  Handelsgesetz- 
bach ist  als  Handelsgehilfe  anzusehen,  „T9er  in 
einem  Handelsgewerbe  zur  Leistung  kaufmänni- 
scher Dienste  gegen  Entgelt  angestellt  ist". 
Die  Art  und  der  Umfang  dieser  Dienstleistungen 
einerseits  und  die  Ansprüche  des  Gehilfen  an 
den  Prinzipal  andererseits  richten  sich  nach 
der  speciellen  Uehereinkunft  zwischen  beiden. 
Wo  eine  solche  nicht  vorliegt,  ist  der  Ortsge- 
brauch massgebend.  „In  Ermangelung  eines 
Ortsgebrauchs  gelten  die  den  Umständen  nach 
Hngeraessenen  Leistungen  als  vereinbart'' (H.G.B. 
g  59).  Der  Gehilfe  hat  dem  Prinzipal  seine 
ganze  kaufmännische  Thätigkeit  ausschliess- 
lich zu  widmen,  da  §  60  ihm  verbietet,  ohne 
Einwilligung  des  Prinzipals  „ein  Handelsge- 
werbe zu  betreiben  oder  m  dem  Handelszweige 
des  Prinzipals  für  eigene  oder  fremde  Rechnung 
Geschäfte  zu  machen".  Der  Prinzipal  ist  — 
durch  die  seit  dem  1.  Januar  1898  gütigen 
Bestimmungen  des  neuen  Handelsgesetzbuches, 
die  mit  einem  Tropfen  sozialpolitischen  Gels 
getränkt  sind  —  bei  der  Gestaltung  seines  Be- 
triebes zur  Rücksicht  auf  das  Wohl  des  Han- 
delsgehilfen verpflichtet.  Danach  ist  dieser  vor 
allem  gegen  eine  Gefährdung  seiner  Gesund- 
heit, soweit  die  Natur  des  Betriebes  es  ge- 
stattet, zu  schützen.  Ferner  aber  sind  im  Falle 
der  Aufnahme  des  Gehilfen  in  die  häusliche 
Gemeinschaft,  „in  Ansehung  des  Wohn-  und 
Schlaf raums,  der  Verpflegung  sowie  der  Arbeits- 
und Erholungszeit  diejenigen  Einrichtungen 
und  Anordnungen  zu  treffen,  die  mit  Rücksicht 
auf  die  Gesundheit,  die  Sittlichkeit  und  die 
Reliffion  des  Handelsffehilfen  erforderlich  sind" 
(§  6'2).  Bei  unverschuldeter  Dienstuntähigkeit 
des  Gehilfen  ist  der  Prinzipal  verpflichtet,  dem- 
selben (i ehalt  und  Unterhalt  unverkürzt  weiter 
zu  gewähren,  jedoch  nicht  für  länger  als  sechs 
Wochen  (§  63).  Die  Zahlung  des  Gehalts  muss 
am  Schlüsse  jeden  Monats  erfolgen  (g  64).  Wenn 
das  Dienstverhältnis  für  unbestimmte  Zeit  ein- 
gegangen ist,  so  kann  es  von  jedem  Teile  erst 
für  den  Schluss  eines  Kalendervierteljahrs  nach 
vorgängiger  sechs  wöchentlicher  Kündigung  ge- 
kündigt werden  (§  66).  Wird  durch  Vertrag 
eine  kürzere  oder  längere  Kündigungsfrist  be- 
dungen, so  muss  sie  für  beide  Teile  gleich  sein 
und  darf  jedenfalls  nicht  wenis^er  als  einen 
Monat  betragen ;  auch  kann  die  Kündigung  nur 
für  den  Schluss  eines  Kalendennonats  zugelassen 
werden  (g  67).  Sonst  kann  die  Aufhebung  des 
Dienstverhältnisses  vor  der  bestimmten  Zeit 
von  jedem  Teile  nur  aus  einem  „wichtigen" 
(trunde  verlangt  werden  (ij  70).  ißegen  den 
Prinzipal  kann  insbesondere  auf  Aufhebung 
des  Dienstverhältnisses  erkannt  werden,  wenn 
er  das  Gehalt  oder  den  gebührenden  Unterhalt 
nicht  ^^ewährt  oder  den  ihm  nach  S  62  obliegen- 
den Verpflichtungen  nachzukommen  verweigert 
oder  sich   am  Kommis  vergreift  (??  71  j.     Gegen 


den  Gehilfen  kann  insbesondere  auf  Aufhe- 
bung des  Dienstverhältnisses  erkannt  werden, 
wenn  er  im  Dienste  untreu  ist  oder  das  Ver- 
trauen missbraucht,  wenn  er  den  Dienst  zu 
leisten  verweigert,  sich  am  Prinzipal  ver- 
greift und  dergleichen  mehr  (§  72).  Nach  der 
Beendigung:  des  Dienstverhältnisses  darf  der 
Gehilfe  nicht  durch  eine  in  seinen  letzten  Dienst- 
vertrag eingefü^  Konkurrenzklausel  in  seinem 
Fortkommen  unbillig  gehindert  werden.  Darum 
verordnet  §  74,  dass  „eine  Vereinbarung,  durch 
welche  der  Gehilfe  für  die  Zeit  nach  der  Be- 
endigung des  Dienstverhältnisses  in  seiner  ge- 
werblichen Thätig[keit  beschränkt  wird,  fürinn 
nur  insoweit  verbindlich  ist,  als  die  Beschrän- 
kung nach  Zeit,  Ort  und  Gegenstand  nicht  die 
Grenzen  überschreitet,  durch  welche  eine  un- 
billige Erschwerung  des  Fortkommens  des  Han- 
delsgehilfen ausgeschlossen  wird."  Deshalb 
kann  auch  die  Beschränkung  aaf  keinen  Fall 
auf  einen  Zeitraum  von  mehr  als  drei  Jahren 
nach  der  Beendigung  des  Dienstverhältnisses 
erstreckt  werden.  — 

Nach  der  deutschen  Berufsstatistik  von  1882 
gab  es  an  höherem  Verwaltungs-  und  Aufsichts- 
sowie  Bechnungs-  und  Bnreaupersonale 


ig 


I.  im  Waren-  U.Produktenhandel  56256  1 5 1 4. 

II.  im  Geld-  u.  Kredithandel  11  602  87 

III.  in  Spedition  u.  Kommission  2983  28 

IV.  in  d.  Handelsvermittelung  i  478  24 
V.  im  Buchhandel  etc.  3328  76 

VI.  in  der  Versteigerung  etc.  727  19 

VII.  in  der  Versicherung  6  181  34 

VIII.  im  Hausierhandel  72  42 

Zusammen  82  627     1824 

Femer  gab  es  in  diesen  Branchen  an  sons- 
tigen Gehilfen  und  Arbeitern 

Personal  überli.  weibl.  Pers. 

I.                 238  370  52  637 

IL                     6  004  48 

III.  4  8;i  64 

IV.  I  686  73 
V.                     9422  1519 

VI.  1 041                       123 

VII.  1 038                        10 

VIII.  4  955 2  161  _ 

Zusammen:  267377                 56635 

Bei  dieser  Kategorie  ist  aber  ausser  den 
eigentlichen  H  a  n  d  e  1  s  gehilfen  auch  alles  nie- 
dere Personal  mitgerechnet,  das  ausschliesslich 
oder  überwiegend  blosse  Handlangerdienste  ver- 
richtet. Während  hier  somit  die  effektive  Zahl 
der  Handelsgehilfen  beträchtlich  unter  den 
mitgeteilten  Ziffern  bleibt,  darf  man  anderer- 
seits nicht  vergessen,  dass  auch  die  übrigen 
Gewerbegruppen,  besonders  Fabriken  und  sons- 
tige industrielle  Etablissements  vielen  kauf- 
männisch gebildeton  Personen  (also  el)enfallB 
„Handelsgehilfen")  als  Komptoiristen,  Reisenden 
etc.  eine  specifisch  merkantile  Beschäftigung 
gewähren. 

Die  Gewerbestatistik  von  1895  ist  aus^führ- 
licher.    Danach  gab  es  im 


Handelsgehilfe 


989 


Verwaltungs- 

Technisches 

Andere  Gehilfen  u. 

Mitarbeitende 

Personal 

Personal 

Arbeiter 

Familienangehörige 

männliche'  weibl. 

männl. 

weibl. 

männliche  weibliche 

männliche  weibliche 

1 

Warenhandel 

89938 

5024 

1744 

298 

• 

270  530 

126  158 

1 

9085           IIÖOII 

Geld-   nnd    Kredit- 

handel 

24908 

325 

30 

3783 

168 

25 

32 

Spedition  und  Kom- 

mission 

8444 

154 

197 

15  620 

366 

58                 50 

Buchhandel  n.  s.  w. 

7520 

634 

109 

7 

10834 

5281 

97               723 

Hausierhandel 

3 

— 

806 

547 

265             1 593 

Handelsvermittelg. 

8735 

374 

241 

3  735 

280 

76               112 

Hilfsgewerbe 

346 

8 

68 

4 

6078 

726 

4                   3 

Versteigerung  u  .s.  w. 

2718 

279 

258 

I 

14995 

I  104 

137      1          354 

Lebens-  u.  Renten- 

1 

versicherung 

2  124 

31 

2 

I 

87 

9 

2      1             9 

Unfallversicherung 

218 

5 

2 

— 

7 

2 

—                 — 

Feuerversicherung 

2831 

22 

34 

— 

152 

4 

I                   3 

Haffelversichemng 
Viehversicherung 

313 

177 

1 
2 

16 
10 

""• 

Sonst.  Versicherung 

7903 

270 

19 

550 

41 

7 

16 

2.  Zwei  Klassen  von  Gehilfen.    Die 
soziale   Frage   im    Handelsstande.     Es 

sind  —  nach  Lexis  —  zwei  Klassen  von 
Handelsgehilfen  zu  unterscheiden:  die  Ge- 
hilfen des  Grosshandels,  die  als  Komptoi- 
risten,  Magaziniers,  Reisende  etc.  beschäftigt 
sind,  und  dann  die  im  Detailhandel  un- 
mittelbar mit  dem  Publikum  verkehrenden 
Ladengehilfen.  Scharfe  Grenzen  sind  fi-ei- 
lich  zwischen  diesen  beiden  Klassen  ebenso- 
wenig zu  ziehen  wie  zwischen  den  ent- 
sprechenden Geschäftsbetrieben.  Die  ersteren 
entstammen  meist  besser  bemittelten  Fami- 
lien. Sie  haben  eine  höhere  Schulbildung 
und  büden  sich  wälirend  ihrer  Lehrzeit  in 
ihrer  Stellung  und  gewöhnlich  auch  noch 
durch  privaten  Unterricht  in  den  kaufmän- 
nischen Fächern  und  vor  allem  in  den 
Sprachen  aus.  Die  Ladengehüfen  dagegen 
rekrutieren  sich  gewöhnlich  aus  den  Söhnen 
des  imbemittelten  Subalternbeamten-,  Ge- 
werbe-, Handwerker-  und  zum  Teil  auch 
des  kleinen  ländlichen  Besitzerstandes.  Diese 
haben  Volksschulbildung  oder  wenig  mehr 
als  solche  und  besitzen  Kenntnisse  in  den 
Handelswissenschaften  und  kaufmännische 
Erfahrungen  nur  in  geringem  Masse;  denn 
die  eigentlichen  Komptoirgeschäfte  sind 
eben  im  Kleinhandel  ziemlich  unbedeutend, 
da  dem  geringen  Umfange  der  Betriebe 
natürlich  Korrespondenz,  JBuchfülirung  und 
Geldverkehr  entsprechen  und  diese  höheren 
merkantilen  Leistungen  zudem  noch  meist 
vom  Prinzipal  selber  ohne  Assistenz  des 
Kommis  erledigt  werden.  Indessen  giebt  es 
auch  im  Grosshandel  infolge  der  weit 
entwickelten  Arbeitsteilung  \dele  ganz  unter- 
geordnete, oft  nur  mechanische  Thätigkeit 
erfordernde  Stellen,  deren  Inhaber  aus  die- 
sem Grunde  und  wegen  ihi*es  mageren  Ge- 
haltes der  unteren  Klasse  der  Gehilfen  zu- 


zui-echnen  sind.  Umgekehrt  findet  man  in 
vielen  offenen  Läden,  selbst  schon  mittlerer 
Grösse,  elegante  Kommis,  die  das  Verkaufen 
ganz  besonders  schwunghaft  zu  betreiben 
verstehen  und  ihren  wirksamen  Diensten 
entsprechend  ein  hohes  Salair  beziehen: 
solche  Leute  wird  man  natürlich  zu  der 
höheren  Klasse  zu  zählen  liaben,  wenigstens 
Avenn  man  als  deren  Hauptmerkmal  die  be- 
vorzugte soziale  Lage  aufstellt. 

Die  Gehilfen  der  höheren  Klasse  bilden 
nach  Arbeits-,  Gehalts-  nnd  sonstigen  Lebens- 
verhältnissen einen  belustigten  Stand,  da  bei 
ihnen  die  Arbeitszeit  m  der  Regel  10  Stunden 
nicht  übersteigt,  die  Sonntagsarbeit  auf  ein 
Minimum  reduziert  ist,  ihr  Gehalt  schliesslich 
auf  2000—3000  M.,  für  die  vielen  besonders 
qualifizierten  oder  vom  Glücke  beg&nstigten 
Elemente  auf  höhere,  mitunter  sogar  enorme 
Summen  steigt.  Bei  dieser  Aristokratie  der 
kaufmännischen  Gehilfenschaft  hat  sich  that- 
sächlich  das  Princip  des  Laisser-aUer  im  grossen 
und  ganzen  bewährt :  die  Befähigung  kaim  sich 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  geltend  machen, 
und  der  ganze  Stand  behauptet  sich  in  einer 
nicht  üblen  Position.  Er  ist  hierzu  durch  seine 
thatsächliclie  Monopolstellung  befähigt,  welche 
ihm  seine  Bildung  verschafft,  die  meist  nur 
durch  erheblichen  Kostenaufwand  zu  erlangen 
gewesen,  oder  aber  seine  ungewöhnliche  Befä- 
higung für  den  Beruf.  —  Viel  ungünstiger  stellt 
sich  dagegen  der  Standard  of  life  der  zweiten 
Schicht  von  Gehilfen,  die  ihrer  geringen 
allgemeinen  wie  kaufmännischen  Bildung  halber 
ohne  jede  monopolistisch  geschützte  Position 
sind.  Ja  noch  mehr,  sie  sind  im  Kampfe  um 
die  Arbeitsbedingungen  zum  Teil  noch  schlim- 
mer daran  als  die  Lohnarbeiter.  Wie  diesen 
steht  auch  jenen  die  üebermacht  des  Unter- 
nehmers als  des  Kapitalinhabers  gegenüber ;  da- 
gegen drückt  der  Umfang  des  überschüssi- 
I  g  e  n  Angebotes,  die  Grösse  der  „Reservearmee" 
I  den  Kommis  in  seinem  Lohnkampfe  weit  mehr. 
Denn  nicht  bloss  wirken  dieselben  Mächte,  um 
!  im  Handel  ähnlich  wie  in  der  Produktion  eine 


990 


Haiidelsgeliilfe 


Masse  Hände  zur  Unthätigkeit  zu  verdammen 

—  Krisen,  Eindringen  weiblicher  Hilfskräfte 
etc.  — ,  sondern  es  trägt  auch  das  im  Mittel- 
stande weitverbreitete  Vorurteil,  dass  der  Kauf- 
mann etwas  Besonderes,  jedenfalls  mehr  als  der 
Handwerker,  sei  und  vermeintlich  die  grössten 
Chancen  auf  Reichtum  habe,  dazu  bei,  dem 
Kommis  immer  neue  Mitbewerber  zuzuführen. 
Und  dieser  Tendenz  wird  nun  noch  durch  das 
eigensüchtige  Gebaren  vieler  Chefs  Vorschub 
geleistet,  welche  Lehrlinge  und  Mädchen  mas- 
senhaft verwenden,  weil  sie  sparen  wollen  und 
weil  thatsächlich ,  wie  erwähnt,  viele  Stellen 
durch  diese  Elemente  leidlich  ausgefüllt  werden 
können.  Das  hat  nun  für  den  Gehilfenstand 
den  doppelt  verhängnisvollen  Effekt,  dass  auf 
der  einen  Seite  die  Zahl  der  Konkurrenten  ins 
Enorme  gesteigert,  auf  der  anderen  Seite  aber 
noch  dazu  die  Zahl  der  zu  besetzenden  SteQen 
verringert  und  der  Abfluss  gestaut  wird.  Dazu 
kommt  noch,  dass  von  dem  wirksamtten  Mittel 
zur  Erreichung  besserer  Arbeitsbedingungen, 
der  Koalition,  von  den  Handelsgehilfen  bis* 
her  kein  Gebrauch  gemacht  wurde.  Weil  näm- 
lich viele  Kommis  —  im  Gegendatae  zu  den  Ar- 
beitern —  begründete  Aussicht  auf  Selbständig- 
keit, mithin  die  Hoffnung  haben,  einst  aas  dem 
Amboa  ein  Hammer  werden  zu  können,  so  be- 
zeigen sie  wenig  Lust,  an  dem  Schmieden  einer 
Waffe  mitzuwirken,  die  später  leicht  wider  sie 
selber  gebraucht  werden  kann.  Dieses  Moment 
hat  eine  um  so  grössere  Tragweite,  als  gerade 
die  fähigsten  Leute  —  bei  den  handarbei- 
tenden Klassen  die  Agitatoren  par  excellence! 

—  im  Kaufmannsstande  am  allerwenigsten 
daran  denken,  sich  in  den  Dienst  der  Emanci- 
pation  ihrer  Kollegen  zu  stellen,  weil  gerade 
sie  in  diesem  Staude  am  allerersten  Aussicht 
auf  priTfttwirtschaftiichen  Erfolg  haben.  —  So 
kann  es  nicht  wunder  nehmen,  dass  bei  der 
zweiten  Klasse  kaufmännischer  Angestell- 
ten, von  der  allein  hier  die  Bede  ist,  die  Uebel 
der  kapitalistischen  Entwickelung  besonders 
grell  zu  Tage  treten  und  dass  noch  recht  wenig 
Ansätze  zum  Besseren  bemerkbar  sind.  Am 
schwersten  lastet  auf  den  Ladeng'ehilfen  der 
kleineren  Geschäfte  die  überaus  lange  Ar- 
beitszeit. So  hat  in  England  eine  parla- 
mentarische Kommission  1886  konstatiert,  dass 
in  den  von  den  unteren  Klassen  frequentierten 
Geschäften  alle  Ausgestellten  (einschliesslich  der 
iungen  Personen  beiderlei  Geschlechts)  gewöhn- 
lich 14  Stunden  täglich  auf  den  Beinen  wären, 
was  ihre  und  vornehmlich  der  Mädchen  Ge- 
sundheit angreifen,  ja  oft  ruinieren  müsste. 
Hier  ist  wegen  der  strengen  englischen  Sonn- 
tagsheiligung nun  wenigstens  der  Sonntag  frei. 
In  Deutschland  aber,  wo  sonst  die  gleichen 
schweren  Uebelstände  konstatiert  sind,  muss 
der  amtliche  Bericht  über  die  Sonntagsar- 
beit der  Kauflente  zugestehen,  dass  von  allen 
Industriezweigen  gerade  „im  Handel  die  regel- 
mässige und  dauernde  Sonntiigsarbeit  ihre 
gross te  Ausdehnung  hat  und  dass  im  Klein- 
handel überwiegend  sogar  die  gesamte  Ar- 
beiterschaft dazu  herangezogen  wird".  Mit 
voller  Berechtigung  that  daher  damals,  m'O  sich 
die  öttentlichen  Gewalten  noch  nicht  zur  Besei- 
tif?ung  der  Missbräuche  entschlossen  hatten,  auf 
einem  Kougress  der  rheinischen  Handelskam- 
mern   der    Geh.    Kommerzienrat    Heimendahl. 


einer  der  angesehensten  Grosskaufleute  der 
Provinz,  den  Ausspruch:  „Die  Handelsgehilfen 
sind  die  geplagteste  Arbeiterklasse  von  der 
Welt;  sie  haben  360  Arbeitetage  im  Jahre!" 
In  der  That:  in  der  Welt!  Denn  woher  auch 
immer  Berichte  kamen,  aus  der  alten  oder  der 
neuen  Welt,  stets  entrollten  sie  gleich  trostlose 
Bilder.  —  Entsprechend  dem  erwähnten  starken 
Ueberan^ebote  von  Kräften  sind  die  Gehalts- 
verhältnisse dieser  Gehilfenklasse.  Das  Ge- 
halt beträs^t  in  Deutschland  im  Durchschnitt, 
soweit  sich  allgemein  schätzen  lässt,  1000  bis 
1500  M.,  je  nach  der  Branche  und  noch  mehr 
je  nach  der  Stadt.  Bedenkt  man  nun  aber  noch, 
dass  der  Kommis  jederzeit  leidlich  gute  Klei- 
dung und  Wäsche  tragen  muss  (die  natürlich 
durch  die  Arbeit  schnell  abgenutzt  werden), 
so  ist  die  Summe,  über  die  er  wirklich  frei  dis- 
ponieren kann,  noch  geringer  anzusetzen.  — 
Die  Stellenlosigkeit  so  vieler  Gehilfen  hat  es 
ferner  möglich  gemacht,  dass  sich  in  manchen 
GroflSBtädten  der  Missbrauch,  die  gesetzliche 
Kündigungsfrist  von  6  Wochen  durch  pri- 
vaten Vertrag  zu  kürzen,  hatte  einnisten 
können.  Der  Prinzipal  hatte  es  dadurch  in  der 
Hand^  seine  Kommis,  wann  es  ihm  passte,  fort- 
zuschicken, und  erzwang  so  nicht  bloss  ihre 
vollständige  Unterwürfigkeit  unter  seine  Be- 
fehle, sondern  er  konnte  sich  auch  der  Fürsorge 
für  etwa  erkrankte  Angestellte  durch  sofortige 
Kündigung  des  Dienstvertrages  entziehen. 

Diese  Ausfüiinmgen  ergeben,  dass  für 
die  niedere  Klasse  der  Handelsgehilfeii 
eine  »soziale  Frage«  in  ähnlichem  Grade 
wie  für  den  Ai*beiterstand  existiert.  Und 
wenn  schon  hier  sich  die  richtige  Erkennt- 
nis Bahn  gebrochen  hat,  dass  durch  Selbst- 
hilfe allein  wesentliche  Fortschritte  nicht 
zu  erzielen  sind,  so  kann  man  für  eine  Bes- 
serung der  Übeln  Lage  der  Kommis  im 
Augenblicke  erst  recht  wenig  von  der 
Selbsthilfe  erwarten;  denn  aus  den  ange- 
gebenen Giilnden  felüt  es  bisher  an  jeder 
umfassenden  gewerkschaftlichen  Koalition 
der  Handelsgehilfen.  Ebensowenig  ver- 
möchte ein  freiwilliges  Entgegenkommen 
humaner  Chefs  ausreichenden  Nutzen  zu 
stiften,  da  ihre  ^lassnahmen  schon  durch 
die  illo^'ale  Konkurrenz  einer  kleinen  Mino- 
rität durchkreuzt  werden  können.  So  sind 
Fälle  bekannt,  in  denen  thatsächlich  ein 
einziger  Detaillist  seine  nach  Hmidei'ten 
zählenden  Konkurrenten  zur  späteren  Schlies- 
sung ihrer  Geschäfte  genötigt  hat!  —  Wie 
aber  ist  durchgi-eifende  und  dauernde  Hilfe 
möglich?  Solange  keine  genügende  gewerk- 
schaftliche Organisation  der  Gehilfen  zu 
Stande  gekommen  ist,  wohl  überliaupt  nicht ! 
Denn  was  der  Staat  ausricliton  kann,  be- 
schränkt sich  nur  auf  die  Beseitigung  der 
allgemeinen  und  schlimmsten  Auswüchse. 
Und  schon  hierzu  wäre,  analog  der  Arbeiter- 
gesetzgebung, ein  ganzes  System  staat- 
licher Massnahmen  erforderlich. 

Um  vor  allem  das  Grundübel,  die  Arbeits- 
losigkeit so  vieler  Gehilfen,  zu  mildem,  hätte 
der  Staat  der  übermässigen  Verwendung 


Handelsgeliilfe 


991 


von  Lehrlingen  Schranken  zu  setzen,  indem 
er  ein  festes  Verhältnis  zwischen  der  Maxi- 
mal zahl  der  Lehrlinge  und  der  Zahl  der  Ge- 
hilfen normierte.  So  könnten  wenigstens  die 
vielen  sogenannten  „Lehrlingsfabriken"  unmög- 
lich bestehen  bleiben.  Freilich  erfordert  die 
herrschende  Gewerbefreiheit  eine  so  vorsichtige 
Anwendung  dieser  Massregel,  dass  damit  nur 
der  böswillige  Missbrauch  aus  der  Welt  geschafft 
werden  kann,  —  eine  völlige  Beseitigung  der 
unverschuldeten  Arbeitslosigkeit  wäre  jedoch 
nur  möglich,  wenn  mächtige  Gehilfenorganisa- 
tionen in  jeder  Branche  und  in  jeder  Stadt  eine 
vollkommen  genügende  Beschränkung  der  Zahl 
der  Lehrlinge  durchgesetzt  hätten.  —  Mehr 
schon  kann  der  Staat  zur  Beschränkung  der 
langen  Arbeltszeit  thun;  denn  für  einen 
Maximalarbeitstag  im  Handelsgewerbe  sprechen 
alle  die  vielen  gewichtigen  Gründe,  welche  man 
für  das  analoge  Postulat  in  der  Industrie  gel- 
tend gemacht  hat,  während  das  Hauptargument 
fegen  dieses:  die  Rücksicht  auf  die  Konkurrenz 
es  Auslandes,  im  Handel  wegfällt.  Es  wäre 
also  durch  Gesetz  anzuordnen,  dass  die  Läden 
nur  innerhalb  einer  bestimmten  Zeit  geöffnet 
sein  dürfen,  etwa  von  6  oder  7  Uhr  morgens 
bis  8  Uhr  abends.  Das  Publikum  wird  seine 
Einkäufe  danach  einzurichten  wissen ;  und  wenn 
die  Arbeit  der  Verkäufer  dadurch,  dass  die 
Kunden  innerhalb  kürzerer  Zeit  abgefertigt 
werden   müssen,   intensiver  wird,   so  ist  dies 

fegen  den  jetzigen  Zustand  in  den  meisten 
allen  kein  Kückschritt:  denn  in  vielen  Läden 
giebt  es  heute  lange  Pausen,  die  durch  die 
notwendigen  Nebenarbeiten  nicht  ausgefüllt 
werden.  —  Ebenso  muss  ferner  die  Sonntags- 
ruhe den  Kaufleuten  wiedergegeben  werden; 
und  solange  das  Ideal  eines  vollkommenen 
Sabbats  nicht  erreichbar  ist,  muss  wenigstens 
eine  möglichst  weitgehende  gesetzliche  Be- 
schränkung der  Verkaufszeit  durchgeführt  wer- 
den. —  Ein  anderer  sehr  grosser  Uebelstand, 
der  durch  eine  gesetzliche  Massnahme  ohne 
weiteres  beseitigt  werden  könnte,  ist  die  Kür- 
zung der  vom  Handelsgesetz  als  Norm  vorge- 
sehenen sechswöchentlichen  Kündigungsfrist 
durch  Sondervertrag.  Eine  solche  Bestimmung 
müsste  vor  dem  Gesetz  null  und  nichtig  sein, 
und,  um  eine  Umgehung  durch  sogenannte 
Probeengagements  zu  verhüten,  müsste  bestimmt 
werden,  dass  dieses  Verhältnis  höchstens  ein 
Vierteljahr  dauern  darf  und  jede  Wiederholung 
ausgeschlossen  ist.  —  Ferner :  wie  die  Z  w  a  n  g  s  - 
Versicherung  die  Notlage  des  industriellen 
Proletariats  sichtlich  gemildert  hat,  so  kann  man 
gleiche  Wohlthaten  auch  dein  Gehilfenstande  zu 
teil  werden  lassen;  auch  er  mag  gegen  die 
wirtschaftlichen  Folgen  von  Krankheit,  Alter, 
Invalidität  und  selbst  Arbeitslosigkeit  gesichert 
werden.  Es  könnte  dies  einfach  durch  An- 
schluss  an  das  System  der  allgemeinen  Arbei- 
terversicherung geschehen,  wozu  der  Anfang  ja 
bereits  gemacht  ist ;  doch  dürften  die  betreffen- 
den Institutionen  nicht  schablonenhaft  verallge- 
meinert werden,  sondern  es  müsste  der  Eigen- 
art des  Standes  nach  Möglichkeit  Rechnung  ge- 
tragen werden.  —  Analog  ist  weiterhin  zu 
fordern,  dass  die  neue  Gesetzgebung  über  die 
Gewerbegerichte  auch  die  Kommis  in  ihren 
Kreis  zieht  und  dass  zur  Entscheidung  von 
Streitigkeiten  zwischen  diesen  und  ihren  Prin- 


zipalen Sachverständige  aus  beiden  Ständen  als 
Beisitzer  herangezogen  werden.  —  Den  Schluss- 
stein dieses  Systems  endlich  könnte  die  Berufung 
einer  gesetzmässigen  Vertretung  des 
Gehilfenstandes  —  analog  der  bestehenden  Ver- 
tretung ihrer  Prinzipale  durch  die  Handels- 
kammern —  bilden.  Die  Aufgabe  einer  solchen 
Gehilfenkammer  bestände  darin,  über  alles,  was 
die  wirtschaftliche  Position  speciell  der  Kom- 
mis angeht,  statistische  Berichte,  Gutachten 
und  Vorschläge  auszuarbeiten.  — 

8.  Sozialreformatorische  Bestrebun- 
gen nnd  Gesetze.  Nachdem  so  der  luhalt 
und  die  Lösung  der  Handelsgehilfeafi'age 
in  den  theoretischen  Principien  dargelegt 
ist,  werden  die  Ei'scheinungen  der  kauf- 
männischen Reformbewegung  und  die  daran 
anschliessenden  Gesetze  verstanden  werden 
können. 

Zum  ersten  Male  beschäftigte  man  sich  mit 
der  Notlage  der  Handelsgehilfen  in  England. 
Dort  wurde  nämlich  schon  1842  eine  „Early 
Closing  Association"  geschaffen,  um  der  offen- 
kundigen LJ eberarbeit  dieser  Klasse  zu  steuern. 
Diese  Bewegung,  noch  ganz  befan^^en  im  Glau- 
ben au  die  Allmacht  der  Selbsthilfe,  glaubte 
durch  Appell  an  die  öffentliche  Moral  und  durch 
deren  Druck  auf  die  Prinzipale  eine  frühzeiti- 
gere Schliessung  der  Geschäfte  durchsetzen  zu 
können.  Und  für  diese  „Revolution  mit  Rosen- 
wasser" hat  sie  beinahe  ein  halbes  Jahrhundert 
lang  geduldig  gearbeitet,  bis  die  unerbittliche 
Wirklichkeit  sie  zwang,  schliesslich  (1887)  offen 
zu  bekennen,  dass  nur  durch  gesetzlichen 
Zwang  Abhilfe  geschaffen  werden  könne.  Eine 
Einsicht  freilich,  die  für  andere  etwas  spät  kam ; 
denn  diese  hatten  sich  bereits  1881  zur  „Shop- 
Assistants'  Labour  League"  (unter  Sutherst) 
zusammengeschlossen,  um  eine  Verkürzung  der 
Arbeitszeit  von  Staatswegen  anzustreben.  Die 
neue  Liga  besteht,  wie  die  andere  Gesellschaft 
auch,  zum  guten  Teile  aus  Prinzipalen  und 
neutralen  Elementen  und  hat  eine  lebhafte 
agitatorische  Wirksamkeit  entfaltet.  Der  Er- 
folg derselben  war,  dass  der  Antrag  ihres 
Protektors,  Sir  John  Lubbocks  (jetzt  Lord 
Avebury),  auf  gesetzliche  Fixierung  einer 
wöchentlichen  Maximal arbeitszeit  von  r4  Stun- 
den für  Ladengehilfen  unter  18  Jahren  die 
legale  Sanktion  erhielt  (sogenannte  Shop  Hours 
Regulation  Act,  1886,  49  &  50  Vict.,  cap.  55). 
Der  Erfolg  blieb  indes  nur  ein  principieller :  da 
nämlich  die  Kontrolle  über  die  Befolgung  des 
Gesetzes  dem  guten  Willen  der  Lokal behörden 
überlassen  und  von  diesen  fast  nirgendwo  aus- 
geübt wurde,  so  fehlte  der  reelle  Effekt.  Erst 
ganz  neuerdings  hat  sich  der  von  den  Radikalen 
beherrschte  Londoner  Graf  seh  aftsrat  dazu  ent- 
schlossen ,  Specialbeamte  für  den  gedachten 
Zweck  zu  ernennen.  Wie  nun  der  Mitte  1899 
erschienene  Jahresbericht  des  Public  Control 
Department  des  Londoner  Grafschaftsrates  mit- 
teilt, sind  in  28000  inspizierten  Läden  nicht 
weniger  als  4500  üebertretungen  jener  Bill 
konstatiert  worden.  Vorläufig  begnügten  sich 
die  Inspektoren  mit  einer  „ Warnung "•  der 
Ladeninhaber,  aber  sie  kündififten  gleichzeitig 
an,  dass  von  nun  an  bei  jeder  Uebertretung  die 
strafrechtliche  Verfolgung  eingeleitet  werden 
solle.  —  Ein  weiterer  Fortschritt  ist  durch  das 


992 


Handelsgehilfe 


jüngst  an^renommene  Gesetz  üler  die  Sitze  für 
Ladengehilfen  (sogenannte  „Seats  for  Shop  assis- 
tents  Act",  1899,  62  &  63,  Vict,  cap.  21)  er- 
zielt worden.  Danach  sollen  in  allen  Läden,  in 
denen  weibliche  Angestellte  den  Verkauf  be- 
sorgen, Sitze  aufgestellt  werden,  nnd  zwar 
mindestens  im  Verhältnis  von  einem  Sitz  für 
je  drei  Verkäuferinnen.  —  In  Frankreich 
hat  die  Gehilfeufrage  durch  die  Uebermacht  der 
Grossmagazine  eine  Physiognomie,  die  noch 
mehr  als  in  anderen  Ländern  die  Züge  der 
eigentlichen  sozialen  Arbeiterfrage  aufweist,  da 
viele  Tausende  von  Gehilfen  ohne  jede  Aussicht 
auf  Selbständigkeit  dem  Kapitale  gegenüber- 
stehen. Daher  ist  auch  dort  in  neuester  Zeit 
von  der  amtlichen  „Oommission  superieure  du 
travail"  beantragt  werden,  die  Handelsgehilfen 
einfach  der  sozialen  Beformgesetzgebung  zu 
unterstellen.  Dort  auch  ist  zuerst  —  schon  in 
den  60er  Jahren,  nach  Lexis  —  eine  specifisch 

fewerkschaftliche  Organisation  der  Kommis  ins 
reben  getreten,  die  in  Paris  sogar  einen 
grossen  Strike  zu  inscenieren  wagen  konnte 
(1869).  Und  konsequent  haben  sich  seitdem  die 
in  verschiedenen  Städten  bestehenden  Syndikal- 
kammem  (Fachvereine)  der  Gehilfen  (unter 
Andre-Gely)  offen  der  possibilistischen  Ar- 
beiterpartei angeschlORsen.  -—  In  Deutschland 
existiert  eine  gewerkvereinliche  Organisation 
der  Handels^ehillen  erst  seit  1873  im  Anschluss 
an  die  Hirsch-Dunckersche  Bewegung. 
Sie  hat  sich  besonders  um  die  Regelung  der 
Sonnta>gsruhe  verdient  gemacht,  im  übrigen 
aber  sich  mit  den  bescheidenen  freiwilligen  Zu- 

feständnissen  der  Prinzipale  begnügt.  —  Die 
anfmännische  „soziale  Frage"  dagegen  wurde 
aUgemein  erst  diskutiert,  als  die  von  Karl 
Rosen  thal  in  Berlin  begründete,  sozialistische 
„Freie  Organisation  junger  Kaufleute"  (1882) 
mit  einem  weitgehenden  Reformprogramm  auf 
dem  Plane  erschien.  Seitdem  hat  die  Bewegung 
zu  Gunsten  einer  Sozialreform  im  Kaufmanns- 
stande immer  weitere  Kreise  ergriffen;  denn 
auch  die  älteren  kaufmännischen  Organisationen, 
der  „Verband  deutscher  Handelsgehilfen"  (unter 
Hill  er)  sowie  der  „Deutsche  Verband  kauf- 
männischer Vereine"  (unter  Lotz),  haben  neuer- 
dings in  ihr  Programm  dahinzielende  Forde- 
rungen aufgenommen.  Etwas  abseits  innerhalb 
des  letzteren  hält  sich  noch  der  „Verein  für 
Handlungskommis  von  1858",  welcher  im  wesent- 
lichen auf  Unterstntzungs-  und  Bildungswesen 
sowie  Stellenvermittelung  sich  beschränkt. 
Einige  aus  diesem  Verein  ausgeschlossene  Mit- 
glieder begründeten  1893  den  „Deutsch  -  natio- 
nalen Handlun^sgehilfenverband",  der  sehr  ent- 
schieden für  die  Durchführung  sozialreformato- 
rischer  Principien  im  Handelsgewerbe  (im  Sinne 
der  oben  festgestellten  positiven  Principien) 
eintritt,  daneben  freilich  auch  zünftlerisch-rück- 
schrittliche  Velleitäten  zeigt,  wie  sein  Kampf 

fegen  die  Warenhäuser  und  gegen  jegliche 
rauenarbeit,  seine  Forderung  einer  üehilfen- 
prüfung  und  die  Ausschliessung  der  Juden  von 
der  3Iitgliedscbaft  beweisen.  Im  Jahre  1898  ist 
Übrigens  die  sozialistische  „Freie  Organisation 
junger  Kaufleute"  in  dem  kurz  zuvor  begrün- 
deten, einen  verwandten  Standpunkt  vertreten- 
den „(^entralverband  der  Handelsü:ehilfen  und 
-gehilfinnen  Deutschlands"  aufgegangen.  Doch 
hat  dieser  Verband,  der  nur   lOUO  Mitglieder 


zählt,  es  bisher  zu  keiner  Bedeutung  für 
die  junge  kaufmännische  Welt  bringen 
können.  — 

Die  deutsche  Regierung  hat  schon  seit 
längerer  Zeit  an^^efangen,  bei  den  von  ihr  unter- 
nommenen sozialen  umformen  die  Gehilf enfra^ 
zu  berücksichtigen.  So  beschränkt  die  Novefie 
zur  Gewerbeoronung  vom  Jahre  1891  die  Sonn- 
tagsarbeit  aller  Handelsangestellten  auf  5  Stun- 
den und  stattet  die  Kommunalverwaltungen  mit 
dem  Rechte  auf  weitergehende  Kürzung  aus  (s. 
d.  Art.  Sonntagsruhe).  Femer  erklärt  die 
Novelle  zur  Krankenversicherung  vom  Jahre 
1892  die  Handelsgehilfen,  deren  Arbeitsverdienst 
6  ^8  Mark  pro  Tag  nicht  überschreitet,  für  ver- 
sicherungspflichtig, wenn  laut  Engagementsver- 
trag die  sechswöchentliche  Salärzahlung  im 
Krankheitsfalle  nicht  zugesichert  ist.  Weiter 
ist  eine  ganze  Reihe  von  Bestimmungen  zum 
Wohle  der  Handelsgehilfen  in  dem  neuen  Han- 
delsgesetzbuch enthalten,  wie  wir  bereits  oben 
gesehen  haben.  Endlich  hat,  gelegentlich  der 
Beratung  der  Novelle  zur  Gewerbeordnung  vom 
Jahre  1^9,  der  Reichstag  eine  Anzahl  wichti- 
ger Bestimmungen  über  Mittagspause  und 
Ruhezeit  im  Handelsgewerbe  und  über  den 
Ladenschluss  angenommen,  die  vermutlich 
die  Billigung  der  Regierung  finden  werden. 
Danach  ist  in  offenen  Verkaufsstellen  und  den 
dazu  gehörenden  Komptoiren  nnd  Lagerräumen 
den  Gehilfen,  Lehrlingen  und  Arbeitern  nach 
Beendigung  der  täglichen  Arbeitszeit  eine  un- 
unterbrochene Ruhezeit  von  mindestens  10  Stun- 
den zu  gewähren.  In  Gemeinden  mit  mehr  als 
20 (XX)  Einwohnern  muss  die  Ruhezeit  in  offenen 
Verkaufsstellen,  in  denen  zwei  oder  mehr  Ge- 
hilfen und  Lehrlinge  beschäftigt  werden,  für 
diese  mindestens  11  Stunden  betrafen.  Inner- 
halb der  Arbeitszeit  muss  den  Gehilfen,  Lehr- 
lingen und  Arbeitern  eine  angemessene  Mittags- 
pause gewährt  werden,  die  bei  ausser  dem 
Hause  eingenommener  Hauptmahlzeit  1  ^  '<>  Stun- 
den betragen  soll.  Von  9  Uhr  abends  bis  ö 
Uhr  morgens  müssen  offene  Verkaufsstellen  für 
den  geschäftlichen  Verkehr  geschlossen  sein. 
Auf  Antrag  von  mindestens  zwei  Dritteln  der 
beteiligten  Geschäftsinhaber  kann  für  eine  Ge- 
meinde angeordnet  werden,  dass  die  offenen 
Verkaufsstellen  auch  zwischen  8  und  9  Uhr 
abends  und  zwischen  6  und  7  Uhr  morgens  für 
den  geschäftlichen  Verkehr  geschlossen  sein 
müssen.  —  Schiesslich  ist  noch  vom  Staats- 
sekretär Grafen  Posadowsky  eine  Bundesrat«- 
verordnung  angekündigt  worden,  die  die  Prin- 
zipale anhalten  soll,  für  Sitzgelegenheit  für  ihre 
Augestellten  zu  sorgen.  Man  ersieht  hieraus, 
dass  sich  die  deutsche  Gesetzgebung  zum  Schutze 
der  Handelsgehilfen  thatsächlich  im  Sinne  der 
oben  festgestellten  positiven  reformatorischen 
Principien,  die  zuerst  in  dem  Buche  „die  Sozial- 
reform und  der  Kaufmannsstand"  von  Georg 
Adler  (1891)  aufgestellt  und  wissenschaftlich 
begründet  worden  sind,  entwickelt  hat.  — 

In  Oesterreich  kam  seit  Begründung 
des  (von  Axmann  geleiteten)  „Vereins  öster- 
reichischer Handlungsgehilfen"  il88ö)  eine  selb- 
ständige Gehilfenbewegung  auf  Grundlage  einei» 
sozial  reformatorischen  Programms  schärfster 
Tonart  zu  stände.  Eigenartig  darin  ist  die 
Forderung  des  Befähigun^nachweises  für  Kauf- 
leute.    Der  Verein  hat  m  dem  Wiener  „Ge- 


Handelßgehilfe 


993 


hilfenansschuss",  welcher  eine  Art  amt- 
licher Interessenvertretung  (auf  Grund  der 
Novelle  zur  Gewerbeordnung  vom  16.  März 
1883)  repräsentiert,  die  Majorität  und  daher 
auch  entscheidenden  Einfluss  auf  die  gesetzlich 
vorgesehenen  und  teilweise  ausgeübten  Funk- 
tionen des  Ausschusses:  Arbeitsvermittelung, 
Unterstützung  von  Arbeitslosen,  yei*sicherung 
für  Aen  Krankheitsfall,  Errichtung  von  Aus- 
schüssen zur  Schlichtung  von  Streitigkeiten 
zwischen  Prinzipal  und  Gehilfe,  Erstattung  von 
Berichten  an  Behörden  und  Handelskammern 
und  anderes  mehr.  —  Weiteren  Schutz  gewährt 
im  Princip  die  1895er  Gewerbenovelle,  indem 
sie  den  Kommis  die  Sonntagsruhe,  tägliche  Ar- 
beitspausen von  1^/2  Stunden  und  einwandfreie 
Arbeitsräumlichkeiten  und  Wohnungen  (soweit 
die  Kommis  freie  Station  haben)  zusichert. 
Aber  leider  hat  sich  die  Praxis  diesem  Principe 
bisher  noch  immer  nicht  anbequemt ;  denn  zwei 
Ministerialverfügungen  gestatten  die  Sonntags- 
arbeit bis  Mittag  und  —  in  gewissen  Fällen  — 
sogar  auch  noch  länger;  die  ausdrückliche  Er- 
laubnis ferner,  die  Geschäfte  den  ganzen 
Sonutaf  offen  zu  halten,  macht  jede  wirksame 
Kontrolle  unmöglich;  die  anderen  Bestimmun- 
gen sind,  nach  dem  Zeugnis  der  Gewerbeinspek- 
toren, erst  recht  toter  Buchstabe  geblieben.  — 
Auch'  die  Krankenversicherung  der  Kommis, 
welche  ebenfalls  durch  G^etz  geregelt  ist,  ist 
in  der  Praxis  noch  nicht  vollständig  zur  Durch- 
führung gekommen.  - 

Den  grössten  Erfolg  hat  die  Bewegung 
zum  Schutze  der  Ladengehilfen  bisher  in 
Australien  zu  verzeichnen.  Westaustra- 
lien geht  hier  am  weitesten:  da  müssen  näm- 
lich (laut  G.  V.  Jahre  1898^  in  allen  Städten 
und  grösseren  Orten  die  Läden  von  6  Uhr 
nachmittags  bis  8  Uhr  früh  geschlossen  bleiben, 
nur  am  Mittwoch  oder  Sonnabend  dürfen  sie 
bis  10  Uhr  abends  offen  sein:  ferner  haben 
alle  Angestellten  täglich  eine  Stunde  frei  für 
das  Mittagessen,  am  Sonnabend  eine  Stunde  für 
den  Thee  und  wöchentlich  einen  halben  Feier- 
tag (ausser  dem  Sonntag);  endlich  dürfen 
jugendliche  Personen  und  weibliche  Angestellte 
nicht  länger  als  wöchentlich  48  Stunden  be- 
schäftigt werden.  In  Neusüdwales  müssen 
seit  dem  1.  Januar  1900  alle  Läden  an  vier 
Wochentagen  um  6  Uhr  Nachmittags,  am  fünften 
um  10  Uhr  und  am  sechsten  Mitt^s  um  1  Uhr 
geschlossen  werden  (am  Sonntag  darf  ohnehin 
kein  Laden  geöffnet  werden);  femer  darf  kein 
Handelsangestellter  zu  wöchentlich  mehr  als 
60  Stunden  effektiver  Arbeit  angehalten  werden ; 
endlich  soll  jeder  Ladengehilfe  einen  halben 
Feiertag  in  der  Woche  (von  1  Uhr  Mittags  an) 
zugebilJi^t  erhalten.  Die  Durchführung  dieses 
Gesetzes  ist  —  neben  der  Polizei  —  den  Gewerbe- 
inspektoren übertragen.  In  Viktoria  darf  die 
Arbeitszeit  von  jungen  Personen  unter  16  Jahren 
und  von  weiblichen  Angestellten  52  Stunden 
wöchentlich  oder  9  Stunden  täglich  nicht  über- 
steigen. Am  Sonnabend  müssen  alle  Läden  um 
7  Uhr  geschlossen  werden;  und  femer  muss 
jeder  Ladeuangestellte  (ausser  Sonntag)  noch 
einen  halben  Wochentag  von  der  Arbeit  befreit 
sein.  —  Aehnliche  Bestimmungen  sind  in  Neu-' 
Seeland  in  Geltung.  — 

Alles  in  allem  liegen  also  in  der  Gesetz- 

Handwörterbnch  der  StaatBwiBsexiBchafCen.    Zweite 


gebung  beider  Welten  verheissungsvolle  An- 
sätze zur  allmählichen  Realisierung  des  oben 
entiÄäckelteu  Reformprogramms  vor;  diese 
erfolgreich  weiter  und  zu  Ende  zu  führen, 
bleibt  eine  Pflicht  der  Gesellschaft  und  der 
Gesetzgebung ! 

Littoratar:  /.  (Zum  historischen  Teil,  soweit  be^ 
nutzt).  —  von  Amira,  Nordgermanisches 
Obligationenrechtf  Leipzig  1882.  —  SlUmneTf 
Griech.  PrivataUertümer ,  Freiburg  1882.  — 
BUcftsenaehiUz,  Besitz  und  Erwerb  im  griech. 
Altertum,  Halle  1869.  —  Codex  dipiomatieus 
Branderiburgensis,  herausgegeben  von  Riedel, 
25  Bde.,  besonders  Bd.  15  u.  20,  Berlin  1888 ß. 

—  Codex  dipiomatieus  Silesiae,  Bd.  VIII, 
herausgegeben  von  Korn,  Breslau  1867.  — 
Falke,  Geschichte  des  deutschen  Handels,  Leip" 
zig  1858.  —  AUe  Freiburger  Zunftordnun- 
gen,  herausgegeben  von  Hartfelder,  Freiburg 
1879.  —  Geering,  Handel  und  Industrie  der 
Stadt  Basel,  Basel  1886.  —  Ooldschntidt, 
Handbuch  des  Handelsrechts,  Stuttgart  1891.  — 
Ha mburgische  ZunftroUen,  herausgegeben  von 
Rüdiger,  Hamburg  1874.  —  Hirsch,  Danzigs 
Handels-   und    Geicerbsgeschichte,    Leipzig  1858, 

—  von  Inama '  Stemegg ,  Deutsche  Wirt- 
schaftsgeschichte, Leipzig  1878  und  1891.  — 
JLiesegang,  Die  Kaufmannsgilde  von  Stendal, 
Forschungen  z.  Brandenb.  Gesch.,  Bd.  III, 
Leipzig  1890.  —  Lübeckische  ZunftroUen, 
herausgegeben   von  Wehrmann,    Lübeck  1872. 

—  Lüneburgische  ZunftroUen,  herausgegeben 
von  Bodemann,  Hannover  1888.  —  Mar» 
quardt,  De  jure  merccUorum,  Francof.  1662.  — 
Marquardt,  Privatleben  der  Römer,  Leipzig  1882. 

—  Pauli,  Lübrckische  Zustände  zu  Anfang  des 
14.  Jahrhunderts,  S  Bde.,  Lübeck  1847  ff.  — 
Philippi,  Osnahrückische  Gilde  Urkunden,  Os- 
nabrück 1890.  —  PÖhlmann,  Wirtschaftspoli- 
tik  der  Florentiner  Renaissance,  Leipzig  1878. 

—  Jtoth,  Geschiehte  des  Nümbergischen  Han- 
dels,  4  Bde.,  Leipzig  1801.  —  Sartorius,  C/>- 
kundliche  Geschichte  des  Ursprungs  der  deutschen 
Hanse,  Hamburg  1830.  —  Derselbe,  Urkund- 
liche Geschichte  des  hansischen  Stahlhofes  zu 
London,  Hamburg  1851.  —  Schtnidt,  Die  Han- 
delsgesellschaften in  den  deutschen  Stadtrechts- 
quellen, Breslau  1888.  —  Simonsfeld,  Der 
Fondaco  dei  Tedeschi  in  Venedig,  Stuttgart  1887. 

—  Adolf  Warschauer  (-Posen),  Mittelalter- 
liche Innungen  zu  Posen  (Zeitschrift  der  histor. 
Gesellschaft  der  Provinz  Posen,  Jahrgang  I), 
Posen  1885. 

IL  Der  sozialpolitische  Inhalt  des  Artikels 
ist  G.  Adler,  Die  Sozialrefonn  und  der  Kauf- 
mannsstand '  (München  1891)  entlehit.  Die 
deutsche  Gesetzgebung  ist  thatsächlich,  wie  die 
im  vorliegenden  Artikel  gegebene  Darstellung  lehrt, 
in    der    dort    vorgezeichneten   Art  vorgegangen. 

—  Von  sonst.  Schriften  und  Abhandlungen  sind 
wichtig:  Bernstein,  Die  Lage  der  Ladenge- 
hilfen in  England,  im  Archiv  für  soziale  Gesetz- 
gebung, Bd.  XV,  Berlin  1900.  —  Gewerbe- 
statistik in  der  n  Statistik  des  Deutsclien 
Reiches,    Neue  Folgen,    Bd.  llSff.,   Berlin  1898. 

—  Kulentann,  Die  Gewerkschaftsbetcegung, 
Jena  1899.  —  Lexis,  Abh.  nHandelu  in  Schön- 
bergs Handbuch  der  Pditischen  Oekanomie^  4- 
Aufl.,    Tübingen,    1898.   —  Derselbe,  Gewerk-^ 

Auflage.    IV.  63 


994 


Hcandelsgehilfe — Handelsgeschäfte 


vereine  in  Franh^eich,  Leipzig  lfi79.  —  Ma- 
tajay  Grossmagazine  und  Kleinhandel,  Leipzig 
1891.  —  Oldenbergf  Die  heutige  Lage  der 
Kommis,  in  Sehmollers  Jahrbuch,  Bd.  XVI, 
Leipzig  1892.  —  Protokolle,  Berichte  und 
Erhebungen  über  Arbeitszeit,  Kündigungsfristen 
und  Lehrlingsverhältnisse  im  Jlandelsgetcerbe, 
5  Bde.  (Drucksachen  der  Kommission  für  Ar- 
beiterstatistikj,  Berlin  1892  ff.  —  Sutherst,  Death 
and  disease  behind  the  counter,  London  1884'  — 
Staub,  Kommentar  zum  Handelsgesetzbuch, 
SuppUmenthand ,  Berlin  1897.  —  Wehh  and 
CoXf  The  eight  hours  day ,  London  1891.  — 
Schliesslich  sind  noch  verschiedene  Artikel  und 
Mitteilungen  in  der  ^Sozialen  Praxisu  und 
in  der  nVolksw  irtschaftlichen  Chronik^i 
(Beilage  zu  Conrads  Jahrbüchern)  zu  vergleichen. 

Georg  Adler, 


Handelsgeschäfte. 

1.  Bej?riff.  2.  Materielle  Grundhandelsge- 
schäfte, o.  Formelle  Grundhandelsgeschäfte.  4. 
Hilfs-  oder  Nebengeschäfte.  5.  Ein-  und  zwei- 
seitige H.  6.  Präsumtion  der  Handelsgeschäfts- 
natur. 7.  Kaufmann.  8.  Ausländische  Gesetz- 
gebung. 

1.  Begriff.  Der  wirtschaftliche  und  der 
juristische  Begriff  der  Handelsgeschäfte 
decken  sich  nicht.  Während  wirtschaftlich 
jedes  auf  Yermittelung  des  Güterumlaufs 
gerichtete  Erwerbsgoschäft  als  Handels- 
geschäft erscheint,  sind  juristisch  nur  die- 
jenigen Rechtsgeschäfte  Handelsgeschäfte, 
welche  vom  Handelsgesetzbuche  ausdrücklich 
als  solche  anerkannt  sind.  Der  Begriff  der 
Handelsgeschäfte  ist  wichtig  für  das  An- 
wendungsgebiet des  Handelsrechts;  er  war 
auch  grundlegend  für  die  Feststelhuig  des 
Kaufmannsbegriffes. 

Ihrem  gescliichtlichen  Ursprünge  nach 
sind  Handelsgeschäfte  alle  Geschäfte  der 
Angehörigen  des  Handelsstandes,  der  An- 
gehörigen der  Kaufmannsgilde ,  also  die- 
jenigen Geschäfte,  auf  welche  das  Standes- 
recht der  Kaufleute  Anwendung  fand  luid 
die  der  Jurisdiktion  der  Innungsgerichte 
unterstellt  waren.  Die  neue  Zeit  hat  an 
die  Stelle  dieses  subjektiven  Systems  das 
objektive  gesetzt,  den  Begriff  des  Handels- 
geschäftes nach  seinem  Wesen,  nach  sach- 
ßchen,  wirtschaftlichen  Merkmalen  bestimmt 
und  dementsprechend  die  gerichtliche  Zu- 
ständigkeit goregelt,  doch  wunle  dabei  auch 
wieder  das  subjektive  Moment;  die  Kauf- 
mannseigenschaft, berücksichtigt  und  ein 
gemischtes  System  angenommen,  welchem 
auch  das  alte  deutsclie  Handelsgesetzbuch 
im  Anschlüsse  an  den  Code  de  commerce 
folgte. 

Nachdem  das  B.G.B.  für  das  Deutsche 
Reich  eine  Reihe  von  Specialrechtsiiormen 
des   Handelsverkehi-s   zu  Normen   des   all- 


gemeinen Rechtsverkehrs  erhoben  liatte, 
konnte  das  neue  H.G.B.  wieder  zum  ge- 
schichtlichen Ausgangspunkte  des  Handels- 
rechts zurückkehren  und  dieses  zu  einem 
Sonden-echte  des  Handelsgewerbes,  der 
Kaufleute  machen.  So  ist  das  neue  H.G.B. 
im  wesentlichen  zum  subjektiven  System 
zurilckgekehrt.  Während  das  alte  H.G.B. 
den  Begriff  des  Kaufmanns  auf  dem  der 
Handelsgeschäfte  aufbaute,  setzt  umgekehrt 
der  Begriff  der  Handelsgeschäfte  nach  dem 
neuen  H.G.B.  den  des  Kaufmanns  voraus, 
denn  nach  §  343  sind  Handelsgeschäfte 
»alle  Geschäfte  eines  Kaufmanns,  die  zum 
Betrieb  seines  Handelsgewerbes  gehören«. 
Jedes  Geschäft  ohne  Rücksicht  auf  seine 
Natur  wird  also  zum  Handelsgeschäft,  so- 
fern es  im  Betriebe  eines  Handelsgewerbes 
abgeschlossen  ^^ird. 

2.  Materielle  Grandhandelsgeschäfte. 
Nach  dieser  Rückkehr  zum  subjektiven 
System  musste  das  neue  H.G.B.  auch  auf- 
geben die  Scheidung  des  alten  H.G.B.  in 
objektive  oder  absolute  Handelsge- 
schäfte, solche  die  unter  allen  Umständen, 
ganz  unabhängig  von  der  Person  des  Be- 
treibenden, mögen  sie  vereinzelt  oder  ge- 
werbsmässig, mögen  sie  von  einem  Kauf- 
mann oder  Nichtkaufmann  vorgenommen 
werden,  und  subjektive  oder  relative 
Handelsgeschäfte,  diejenigen  Rechtsgeschäfte, 
die  nur  dann  als  Handelsgeschäfte  betrachtet 
werden,  wenn  sie  gewerbsmässig  oder  von 
einem  Kaufmann  betrieben  werden.  Das 
neue  H.G.B.  fasst  mit  germgfügigen  Aen- 
derungen  in  §  1  Abs.  2  diese  beiden  im 
alten  H.G.B.  Art.  271  und  272  getrennt  an- 
geführten Handelsgeschäfte  zusammen  als 
iTnmdhandelsgeschäfte,  als  solche,  die,  wenn 
sie  den  Gegenstand  eines  Gewerbebetriebs 
bilden,  diesen  ziun  Handelsgewerbe  machen. 

Das  neue  H.G.B.  hat  die  Gescliäfte  der 
Schleppschiffahi-ts-  und  der  Lagerhausunter- 
nehmer neu  hinzugefügt,  dagegen  gestrichen 
das  Darlehen  auf  Verbodmung  (altes  H.G.B. 
Art.  271  Z.  4),  da  es  als  Gegenstand  eines 
selbständigen  Handelsgewerbes  nicht  vor- 
kommt. 

§  1  Abs.  2  führt  folgende  Arten  von 
Gnmdhandelsgeschäften  auf : 

1.  Anschaffung  und  Weiter veräusserung 
von  Waren  und  Wertpapieren,  also  jedes 
auf  Erwerb  bezw.  auf  Uebertragimg  des 
Eigentums  einer  Sache  gerichtete  entgelt- 
liche Rechtsgeschäft.  Ausgeschlossen  ist 
daher  jeder  nicht  durch  Rechtsgeschäft  er- 
folgende Erwerb,  wie  der  durch  Occupation 
(Jagd,  Fischerei),  Produktion  und  Erbgang. 
Die  Weiterveräussenmg  setzt  Anscliaffung 
voraus,  gleichviel  ob  die  angeschafften  Waren 
unverändert  oder  be-  oder  verarbeitet  ver- 
Uussort  werden.  2.  Fabrikmässige,  entgelt- 
liche Ueberiiahme  der  Be-  oder  Verarbeitung 


Handelsgeschäfte 


995 


von  Waren  füi*  andere.  Künstlerische  und 
litterarische  Arbeiten  fallen  nicht  hierunter. 
Der  Rohstoff  muss  vom  Besteller  geliefert; 
oder  füi'  dessen  Rechnung  durch  den  Feber- 
nehmer  angeschafft  wertlen.  Ob  Fabrik- 
oder Handwerksbetrieb  vorliegt,  ist  den 
konkreten  Umständen  zu  entnehmen.  Es 
sind  besonders  die  Geschäfte  der  grossen 
Färbereien,  Gerbereien,  Spinnereien,  Wasch- 
anstalten, die  hierher  zählen.  3.  Die  Ueber- 
nahme  von  Versicheiimgen  gegen  Prämie. 
Die  Versicherung  auf  Gegenseitigkeit  ist 
kein  Handelsgeschäft.  4.  Bankier-  und  Geld- 
wechslergeschäfte (s.  d.  Art.  Bankge- 
schäfte oben  Bd.  H  S.  132  ff.).  5.  Die 
Uebernahme  der  Beförderung  von  Gütern 
oder  Reisenden  zur  See  (H.G.B.  Buch  IV 
§§  556—678),  Geschäfte  der  Frachtführer 
(H.G.B.  §§  425  ff.),  Geschäfte  der  Personen- 
transportanstalten  zu  Lande  oder  auf  Binnen- 
gewässern, also  grossere  kaufmännisch  be- 
triebene wie  Dampfscliiffe,  Pfenle-,  Dampf-, 
elektrische  Eisenbahnen,  Omnibusunterneh- 
mimgen  im  Gegensatze  zum  handwerks- 
mässigen  Betriebe  eines  Lohnkutschere  und 
endlich  die  Geschäfte  der  Schleppschiffahrts- 
unternehmer. 6.  Die  Geschäfte  der  Kom- 
missionäre (H.G.B.  §§  383  ff.),  der  Spediteure 
(§§  407  ff.)  oder  der  Lagerhalter  (g§  415  ff.). 
7.  Die  Geschäfte  der  Handlungsagenten 
(H.G.B.  §§  84 ff.)  oder  der  Handelsraäkler 
(§§  93  ff.).  Nach  Beseitigimg  der  amtlichen 
Handelsmäkler  können  das  nur  Privathandels- 
mäkier  sein.  8.  Die  Verlagsgeschäfte  sowie 
die  sonstigen  Geschäfte  des  Buch-  oder 
Kuosthandels.  Hierher  sind  zu  rechnen 
alle  Verträge  des  Verlegers,  die  Verviel- 
fältigung und  Verbreitung  von  litterarischen 
mid  künstlerischen  Werken  zum  Gegenstand 
haben,  sowohl  die  mit  dem  Autor,  Redakteur 
etc.  als  die  mit  dem  Drucker  und  Zeichner 
abgeschlossenen  sowie  die  Geschäfte  des 
Sortiments-,  Kommissions-,  Antiquariatsbuch- 
handels und  die  des  Kunsthandels.  9.  Die 
Geschäfte  der  kaufmännisch  eingeiichteten, 
nicht  handwerksmässig  betriebenen  Drucke- 
reien, der  verschiedensten  die  Vervielfältigung 
litterarischer  oder  künstlerischer  Erzeugnisse 
bezweckenden  Dnickereien  sowie  der  photo- 
graphischen Anstalten. 

8.  Formelle  Grnndhandelsgeschälte. 
Unter  der  Herrschaft  des  früheren  Handels- 
rechts konnten  eine  Reihe  von  Rechts- 
geschäften, die  nach  allgemeiner  Verkehrs- 
anschauung als  Handelsgeschäfte  betitichtet 
wurden,  jiuistisch  nicht  als  solche  gelten. 
Bei  der  Vielgestaltigkeit  und  der  raschen 
Entwickelung  des  Verkehrsi  st  es  unmöglich, 
aDe  Handelsgeschäfte  bei  noch  so  weit- 
gehender Specialisierung  unter  die  gesetzlich 
aufgezählten  Arten  von  Gnmdhandelsge- 
schäften  einzureihen.  §  2  des  neuen  H.G.B. 
hat  deshalb  eine  GeneraLklausel  aufgestellt. 


Nach  dieser  gelten  alle  Geschäfte  eines  ge- 
werblichen Unternehmers  als  Grundhandels- 
gescliäfte,  sofern  die  Firma  des  Unternehmers 
in  das  Handelsregister  eingeti-agen  ist.  Dieses 
formelle  Erfordernis  der  Eintragung  ist  aber 
zu  erfüllen,  auch  wenn  die  Voraussetzungen 
des  §  1  Abs.  2  H.G.B.  nicht  vorliegen,  wenn 
das  Unternehmen  nach  Art  und  Umfang 
einen  in  kaufmännischer  Weise  eingerich- 
teten Geschäftsbetrieb  (Laden,  Kontor,  Buch- 
führung, Korrespondenz,  Kontokorrent-  und 
Wechsel  verkehr ,  kaufmännisches  Hilfsi>er- 
personal)  erfordert.  Nicht  die  faktische 
kaufmännische  Einrichtung,  sondern  das 
durch  Art  und  Umfang  bedingte  Erfordernis 
einer  solclien  ist  entscheidend.  Zu  diesen 
gehören  die  Geschäfte  der  Unternehmer  in 
Ziegeleien,  Porzellanfabriken,  Schneidesägen, 
die  das  auf  eigenem  Gnmd  und  Boden  ge- 
wonnene Material  verarbeiten,  von  Berg- 
werken, mit  Ausschluss  der  Bergwerks- 
gesellschaften, die  landesrechtlich  nicht  die 
Rechte  einer  juristischen  Person  beziehen. 
Bücher-,  Pferde-,  Kostümleihanstalten,  Aus- 
kunftbureaus von  Bauunternehmern,  Privat- 
pensionen. 

Namentlich  gehört  aber  hierher  der  ge- 
werbsmässige Handel  in  Grundstücken  und 
die  gewerbsmässige  Vermittelung  des  Im- 
mobiüenverkehrs ,  nachdem  der  Grundsatz 
des  alten  H.G.B.  (Art.  275),  dass  Verträge 
über  Immobilien  keine  Handelsgeschäfte 
sind,  in  das  neue  H.G.B.  nicht  aufge- 
nommen worden  ist. 

4.  Hiifs-  oder  Nebengeschälte.  Die 
Grundhandelsgeschäfte  können  auch  gelegent- 
lich, neben  einem  Hauptgeschäft  vereinzelt 
betrieben  werden.  Sie  sind  in  diesem  Falle, 
wenn  sie  vereinzelt,  jedoch  von  einem  Kauf- 
mann im  Betrieb  seines  gewöhnlich  auf 
andere  Geschäfte  gerichteten  Handelsge- 
werbes gemacht  werden,  auch  Handelsge- 
schäfte (H.G.B.  §  343  Abs.  2).  Diese  ge- 
legentlichen ausserhalb  des  Kreises  der  ge- 
wöhnlichen Geschäfte  gelegenen  Rechtsge- 
schäfte nulssen  aber  Ausfluss  der  kaufmän- 
nischen, nicht  der  privaten  Thätigkeit  des 
sie  Beti*eil)enden  sein. 

Die  Zahl  der  Hilfsgeschäfte,  die  fi\r  sich 
allein  nicht  die  Gnmdlage  eines  Handels- 
gewerbes bilden,  wohl  aber  Abschluss  und 
Durchführung  der  Grundgescliäfte  ermög- 
lichen, fördern  oder  sichern  können,  ist  eine 
unbestimmt  grosse.  Zu  ihnen  gehören  neben 
Grundhandelsgeschäften  auch  andere  Ver- 
träge. 

Als  Beispiele  solcher  Hilfs-  oder  Neben- 
geschäfte seien  angeführt:  Grundstücksge- 
schäfte (Werte  eines  Bodens,  Kauf  eines 
Geschäftshauses) ,  Gesellschaftsverträge , 
Dienstvörträge  mit  dem  Dienstpersonal,  Ver- 
sicherungs- ,  Bürgschaftsvertr%e ,  Verträge 
über  AnschaffiHig  von  Material,  Gerät  und 

63* 


996 


Handelsgeschäfte 


Mobilien,  die  beim  Betriebe  des  Handelsge- 
weibes  unmittelbar  benutzt  oder  gebraucht 
werden  sollen,  z.  B.  Maschinen,  Handwerks- 
zeug, Heizungs-,  Beleuchtungs-,  Schreibma- 
teriai,  Möbel,  Transportmittel).  Die  Yer- 
wendungsabsicht  muss  zur  Zeit  der  An- 
schaffung, die  hier  auch  die  Miete  umfasst, 
vorhanden  sein. 

Aufgehoben  ist  die  Vorschrift  (altes 
H.G.B.  Art.  273  Abs.  3),  dass  die  Weiter- 
veräusserungen  der  Handwerker  nicht  als 
Handelsgeschäfte  betrachtet  werden  sollen. 

5.  Ein-  und  zweiseitige  H.  In  der 
Regel  sind  Rechtsgeschäfte  zwischen  zwei 
Kaufleuten  zweiseitige,  solche  zwischen 
einem  Kaufmann  und  einem  Nichtkaufmann 
einseitige  Handelsgeschäfte.  Nach  positiver 
Yorschnft  (§  345)  finden  aber,  um  nicht 
bei  ein  und  demselben  Rechtsgeschäfte  den 
einen  Kontrahenten  nach  Civil-,  den  andern 
nach  Handelsrecht  beurteilen  zu  müssen, 
in  der  Regel  auch  bei  einseitigen  Handels- 
geschäften die  Bestimmungen  des  H.G.B. 
über  Handelsgeschäfte  Anwendung  auf  beide 
Kontrahenten,  so  dass  nicht  ein  Thatbestand 
teils  nach  Handelsrecht,  teils  nach  Civilrecht 
beurteilt  wird. 

6.  Präsumtion  der  Handelsgeschäfts- 
natur. Um  den  oft  schwierigen  Beweis, 
dass  ein  von  einem  Kaufmann  abgeschlosse- 
nes Rechtsgeschäft  in  Beziehung  zu  seinem 
Handelsgewerbe  steht  oder  mcht,  abzu- 
schneiden, wurde  die  Rechtsvermutung  auf- 
gestellt, dass  alle  von  einem  Kaufmann  — 
die  Kaufmannseigenschaft  muss  fest  stehen  — 
abgeschlossenen  Rechtsgeschäfte ,  welche 
ihrer  Natur  nach  zum  Handelsgewerbe  ge- 
hören können,  im  Zweifel  als  zum  Betriebe 
desselben  gehörig  betrachtet  werden.  Diese 
Yermutung  greift  nur  dann  nicht  Platz, 
wenn  die  Nichtzugehörigkeit  zum  Handels- 
betrieb ganz  zweifellos  ist  In  diesem  Falle 
ist  ein  Gegenbeweis  nicht  notwendig,  durch 
den  sonst  diese  Rechtsvermutung  entkräftet 
werden  kann.  Ein  solcher  Gegenbeweis 
muss  darauf  gerichtet  sein,  dass  das  Ge- 
schäft überhaupt  nicht  handelsgewerblicher 
Natur  sei,  z.  B.  Darlehen  z\u:  Bestellung 
einer  Mitgift,  Kauf  für  den  Haushalt.  Be- 
schränkt ist  der  Gegenbeweis  gegenüber 
den  von  einem  Kaufmann  gezeichneten 
Schuldscheinen,  für  welche  im  Interesse 
der  Yerkehrssicherheit  eine  verstärkte  Ver- 
mutung spricht,  denn  diese  gelten  als  im 
Betriebe  des  Handelsgewerbes  gezeichnet, 
sofern  sich  nicht  aus  denselben  das  Gegen- 
teil ergiebt  (§  344).  Also  nur  auf  den  In- 
halt der  Urkunde,  nicht  aber  auf  andere 
Thatsachen  darf  man  sich  berufen,  um  den 
Schuldgrund  als  nicht  zum  Handelsverkehr 
gehörig  darzuthun.  Unter  Schuldscheinen 
werden  alle  ein  Yerpflichtungsbekenntnis 
des  Aussteuere  enthaltende  Urkunden  (Na- 


men- ,  Order- ,  Inhaberpapier)  verstanden. 
Eine  Unterzeichnung  mit  der  Firma  ist 
nicht  notwendig. 

7.  Kaufmann.  Der  Kaufmannsbegriff 
ist,  wie  oben  (sub  2)  hervorgehoben  wurde, 
Yoraussetzung  des  Begriffs  der  Handelsge- 
schäfte, denn  nach  der  Legaldefinition 
(H.G.B.  §  1)  ist  »Kaufmann«  im  Sinne  dieses 
Gesetzbuches,  wer  ein  Handelsgewerbe  be- 
treibt und  als  Haudelsgewerbe  wird  jeder 
Gewerbebetrieb,  der  Grundhandelsgeschäfte 
zum  Gegen  Stande  hat,  betrachtet;  der  ge- 
werbsmässige Betrieb  der  als  Handelsge- 
schäfte charakterisierten  Rechtsgeschäfte  be- 
gründet also  die  Kaufmannseigenschaft  Ge- 
werbsmässig ist  der  Betrieb,  welcher  eine 
dauernde,  regelmässige,  nicht  gelegentliche 
Einkommensquelle  bildet  und  nach  der  Ab- 
sicht des  Betreibenden  auf  eine  unbestimmte 
Reihe  zusammengehöriger  Geschäfte  sich 
erstreckt.  Die  Gewinnabsicht  wird  voraus- 
gesetzt, doch  können  noch  andere  Zwecke 
nebenher  verfolgt  werden.  Der  den  Betrieb 
beherrschende  einheitliche  WiUensentschluss 
muss  äusserlich  erkennbar  entweder  in  be- 
sonderen Erklärungen  (Cirkularen,  Anzeigen) 
oder  in  bestimmten  Einrichtimgen  (Eröff- 
nung eines  Ladens,  Kontors,  Aushängen 
eines  Firmenschildes,  Anmeldung  der  Firma 
zur  Eintragung  ins  Handelsregister)  hervor- 
treten. Der  Handelsgeschäftsbetreibende 
muss  also  dem  Publikum  gegenüber  als  Ge- 
schäftsmann auftreten. 

Ausser  diesen  Personen,  die  die  Kauf- 
mannseigenschaft infolge  des  Gewerbebe- 
triebs besitzen,  wird  die  Kaufmannseigen- 
schaft noch  zuerkannt  den  Aktiengesell- 
schaften und  den  Kommanditgesellschaften 
auf  Aktien  sowie  den  Genossenschaften  und 
Gesellscliaften  mit  besclu:änkter  Haftung, 
auch  wenn  sie  sich  nicht  dem  gewerbs- 
mässigen Betrieb  von  Handelsgeschäften 
widmen,  so  dass  hier  nicht  der  Gegenstand, 
sondern  die  Form  des  Unternehmens  die 
Kaufmannseigenscliaft  im  Gefolge  hat.  (Auch 
der  Staat  wird,  sofern  er  ein  Handelsgewerbe 
betreibt  als  Kaufmann  betrachtet,  d.  h.  die 
betreffende  Staatsanstalt  —  statio  fisci.  — 
Dagegen  gelten  die  Postverwaltungen  des 
Reichs,  Baj^erns  und  Württembergs  kraft 
ausdrücklicher  Bestimmung  (H.G.B.  §  452) 
nicht  als  Kaufleute. 

Eine  neue  Kategorie  von  Kaufleuten  hat 
das  neue  H.G.B.  gescliaffen,  indem  es  die- 
jenigen Pei*sonen,  die  formelle  Grundhandels- 
geschäfte betreiben  (vgl.  oben  sub  3)  kraft. 
Eintragung  in  das  Handelsregister  zu  Kauf- 
leuten stempelt.  Diese  Eintragung  hän^ 
nicht  von  ilu-em  Belieben  ab,  sondern  sie 
sind  verpflichtet,  dieselbe  zu  bewirken,  und 
können  hierzu  durch  Ordnungsstrafen  ange- 
halten werden. 

Endlich  schuf  das  neue  H.G.B.  (§  3)  noch 


Handelsgeschäfte 


997 


eine  weitere  Gattung  von  Kaufleuten,  die 
diese  Eigenschaft  kraft  freiwilliger  Ein- 
tragung in  das  Handelsregister  erlangen. 
Land-  und  Forstwirte,  die  ein  Nebengewerbe, 
das  materielle  Grnindhandelsgeschäfte  (vgl. 
oben  sub  2)  zum  Gegenstande  hat  oder  nach  Axt 
und  umfang  einen  in  kaufmännischer  Weise 
eingerichteten  Betrieb  erfordert  (vgl.  oben  sub 
3),  betreiben,  sind  berechtigt,  die  Eintragung 
dieses  Nebengewerbes  in  das  Handelsregister 
herbeizuführen.  Es  hängt  also  lediglich  von 
ihrem  Ermessen  ab,  ob  sie  dem  Rechte  der 
Kaufleute  unterstellt  werden  wollen  oder  nicht 
(»Kannkaufleute«  im  Gegensatze  zu  »Muss- 
kaufleuten« [vgl.  oben  sub  2]  oder  »Sollkauf- 
leuten« [vgl.  oben  sub  3]).  Hat  ein  Land-  oder 
Forstwirt  aber  so  durch  Eintragung  seines 
Nebengewerbes  die  Kaufmannseigenscliaft  er- 
worben, so  ist  die  Fortdauer  derselben  seiner 
Willkür  entzogen.  Einen  Antrag  auf  Löschung 
der  Eintragung  kann  er  nur  stellen,  wenn 
er  das  Nebengewerbe  aufgiebt  oder  so  ver- 
kleinert, dass  die  Voraussetzungen  der  Ein- 
tragung in  Wegfall  geraten. 

Bei  diesen  Nebengewerben  dachte  der 
Gesetzgeber  an  solche,  die  sich  als  ein  Aus- 
fluss  des  land-  oder  forstwirtschaftlichen 
Hauptbetriebs  darstellen,  die  namentlich  der 
Verarbeitung  der  Erzeugnisse  der  Land- 
uud  Forstwirtschaft  dienen,  besonders  an 
solche,  in  denen  Bodenbestandteile  gewonnen 
oder  verarbeitet  werden,  wie  Kunstgärtne- 
reien,  Schiefer-,  Sandbnlche,  Thongräbereien, 
Holzzurichtuug,  Mülüenbetrieb,  Molkereien, 
Branntweinbrennereien,  Yiehmästung  u.  s.  w. 

Als  Kaufmann  gilt  jede  physische  (männ- 
liche und  weibliche)  und  juristische  Pei-son, 
bei  welcher  die  ang-eführten  Kriterien  vor- 
handen sind.  Ferner  ist  die  Kaufmanns- 
eigenschaft zuerkannt  den  Handwerkern,  so- 
weit der  Kaufmannsbegriff  auf  sie  An- 
wendung findet  und  »Personen,  deren  Ge- 
werbebetrieb nicht  über  den  Umfang  des 
Kleingewerbes  hinausgeht^.  (H.G.B.)  §  4). 
Zu  dieser  Klasse  gehören  die  im  alten  H.G.B. 
Art.  10  aufgeführten  Trödler,  Hökor,  Hau- 
sierer, gewöhnliche  Fuhrleute  und  Schiffer 
sowie  die  Inhaber  kleinerer  Wirtschaften 
(die  Hoteliers  etc.  sind  jetzt  Yollkaufleute) 
und  kleiner  Läden.  Die  Bundesregierungen 
sind  befugt,  eine  Abgrenzung  des  Kleinge- 
werbes auf  Grundlage  der  nach  dem  Ge- 
schäft sumfange  bemessenen  SteuerpÜicht 
oder  in  Ermangelung  einer  solchen  nach 
anderen  Merkmalen  vorzunehmen  (§  4 
Abs.  3). 

Auf  diese  Minderkaufleute  finden  keine 
Anwendungen  die  Bestinmiungen  über  Fir- 
men, Handelsbücher,  Prokura,  offene  Handels- 
und Kommanditgesellschaft,  ferner  (erst 
nach  §§  348—351  des  neuen  H.G.B.)  die 
Voi-schriften,  dass  eine  von  einem  Kaufmann 
vereprochene  Vertragsstrafe  nicht   herabge- 


setzt werden  darf,  femer  die  über  den  Aus- 
schluss der  Einrede  der  Vorausklage  und 
die  über  die  Gültigkeit  einer  formlos  ge- 
leisteten Bürgschaft,  eines  Schuldver- 
sprechens oder  Schuldanerkenntnisses. 

Die  Kaufmannseigenschaft  steht  zu  dem- 
jenigen, in  dessen  Namen  das  Gescliäft  ge- 
führt wird,  auch  wenn  er  das  Geschäft  für 
fremde  Rechnung  fühi-t  und  selbst  wenn  er 
im  Geschäft  nicht  thätig  ist.  Nichtkauf- 
mann  ist  dalier  der  Prokurist  und  der  Vor- 
stand einer  Aktiengesellschaft.  Der  gesetz- 
liche Kaufmannsbegriff  deckt  sich  nicht  mit 
den  Anschauungen  des  Verkehrslebens,  in- 
dem er  ausser  den  Fabrikanten  imd  Apo- 
thekern auch  eine  grosse  Zahl  von  Hand- 
werkern umfasst.  Als  Kaufleute  werden  die 
Handwerker  angesehen,  welche  gewerbs- 
mässig Waren  anschaffen,  um  sie  m  Natur 
oder  bearbeitet  weiter  zu  veräussern.  Dies 
pflegt  der  Fall  zu  sein  bei  Schustern, 
Schneidern.  Drechslern,  Tischlern,  Fleischern, 
Bäckern,  Wirten,  Schlossern  etc.,  während 
diejenigen,  welche  fremde  Stoffe  be-  oder 
verarbeiten,  auch  wenn  sie  Zuthaten  liefern, 
sofern  der  Betrieb  den  Umfang  des  Hand- 
werks nicht  übersteigt,  Kaufmannseigen- 
schaft nicht  besitzen.  Dahin  zählen  Färber, 
Lackierer,  Gärtner,  Flickschneider  etc. 

Alle  bei  Beratung  des  H.G.B.  auftauchen- 
den Versuche,  nur  die  Grosshändler,  nicht  aber 
die  Kleinhändler  und  Handwerker  dem  Han- 
delsrechte zu  imterwerfen,  scheiterten.  Um 
nun  bei  dieser  Ausdehnung  des  Kaufmanns- 
begriffes den  Kleinbetrieb  gegen  die  Ge- 
fahren zu  schützen,  welche  die  Anwendung 
einzelner  für  diesen  nicht  geeigneter  Handels- 
rechtsinstitute mit  sich  bringen  würde,  hat 
man  die  Klasse  der  Minderkaufleute  im 
Gegensatze  zu  den  Vollkaufleuten  geschaffen. 

8.  Anslandisehe  Gesetzgebung.  0 es- 
terreich, wo  das  deutsche  H.G.B.  in  Gel- 
tung ist,  hat  diu-ch  Börsengesetz  v.  1.  April 
1875  die  an  einer  Börse  abgeschlossenen 
Geschäfte  den  Handelsgeschäften  beigezählt. 

Ungarns  H.G.B.  hat  sich  dem  deut- 
schen Systeme  angeschlossen,  doch  auch  die 
Geschäfte  der  öffentlichen  Lagerhäuser  und 
der  Selbstproduzenten,  besonders  die  des 
Bergbaues,  als  Handelsgeschäfte  qualifiziert. 

Frankreich.  Der  Code  de  Commerce, 
das  Vorbild  der  Art.  271  und  272  des  alten 
deutschen  H.G.B.  stimmt  im  wesentlichen 
mit  diesem  überein,  er  zählt  zum  Zwecke 
der  Abgrenzung  der  handelsgerichtlichen 
Zuständigkeit  im  Art.  631  sieben  und  im 
Ai-t.  632  sechs  (seerechtliche)  Gattungen 
von  Handelsgeschäften  (actes  de  commerce) 
auf,  unterscheidet  aber  nicht  zwischen  ob- 
jektiven und  subjektiven  Handelsgeschäften. 
Diese  Aufzählung  ist  lückenhaft  und  wiixl 
an  Präcision  vom  H.G.B.  übertroffen.  Sehr 
fühlbar  macht  sich  in  der  Praxis  das  Fehlen 


998 


Handelsgeschäfte — Handelsgesellscliaften  (Formen) 


einer  dem  §  343  Abs.  1  H.G.B.  entsprechen- 
den Bestimmung  über  Hilfsgeschäfte.  Daher 
rülirt  ein  gi-osses  Schwanken  der  französi- 
schen Reclitspi*echung,  die  durch  analoge 
Ausdehnung  der  aufgezählten  Handelsge- 
schäfte den  Mangel  zu  heben  sucht.  Zu 
den  Handelsgeschäften  werden  ausser  den 
im  H.G.B.  angeführten  vom  Code  noch  ge- 
zählt die  ünternelimungen  von  öffentlichen 
Schauspielen,  bureaux  d 'affaires  z.  B.  für 
Heiratsvermittelung,  für  Uebersetzungen  und 
von  Versteigerungsanstalten  neben  den 
"Wechsel-  und  Geldrimessengeschäften  und 
allen  Verbindliclikeiten  zwischen  Bankiers 
und  Kaufleuten.  Viel  reichhaltiger  als  im 
H.G.B.  ist  im  Code  der  Katalog  der  see- 
rechtlichen Handelsgeschäfte,  zu  welchen 
Art.  633  noch  rechnet  Unternehraimg  des 
Baues,  An-  und  Verkauf  von  Schüfen,  Takel- 
werk, Schiffsgerät  und  Proviant,  Schiffsmiete, 
alle  Seeexpeditionen,  alle  den  Seehandel, 
Lohn  und  Heuer  der  Schiffsmannschaften 
betreffenden  Verträge,  alle  Verpflichtungen 
von  Seeleuten  zum  Dienste  eines  Kauffahrtei- 
schiffes. Kaufleute  (commercants)  sind  nach 
Art.  1  des  Code  de  commerce  ceux  (^ui  exercent 
des  actes  de  commerce  et  en  fönt  leur  pro- 
fession  habituelle. 

Dieses  System  ist  mit  mehr  oder  weniger 
Abweichungen  auch  das  der  grossen  Zahl  der 
dem  Code  folgenden  europäischen  und  ausser- 
europäischen  H.G.B. 

In  Italien  liat  das  neue  H.G.B.  fßon 
1883  im  Art.  3  achtzehn  atti  di  commercio 
aufgezälilt,  danmter  den  An-  und  Verkauf 
von  Immobilien  zum  Zwecke  der  Handels- 
ßpekuiation  (Belgien  erklärt  auch  die 
entreprise  de  travaux  publics  et  prives, 
also  auch  von  Bauten  hierher,  nach  fran- 
zösischer Praxis  ist  dies  bestritten)  und  die 
kaufmännischen  Dei)ositalverträge  sowie  die 
Versichenmgsvertr%e  auf  Gegenseitigkeit. 
Art.  4  erklärt  sodann  für  Handelsgeschäfte 
alle  anderen  Verträge  und  Verbindlichkeiten 
der  Kaufleute,  wenn  dieselben  nicht  wesent- 
lich civiler  Natur  sind,  oder  wenn  nicht 
das  Gegenteil  aus  dem  Geschäft  selbst  sich 
ergiebt.  Durch  diese  Generalklausel  ist  die 
Bedeutung  der  Auf  zälüung  des  Art.  3  wesent- 
lich eingeschränkt. 

In  Spanien  hat  das  neue  H.G.B.  von 
1886  für  Handelsgeschäfte  erklärt  die  in 
ilim  enthaltenen  »sowie  alle  anderen  ana- 
loger Natur«,  eine  Bestimmung,  deren  Elasti- 
cität  eine  grosse  Unsicherheit  der  Recht- 
sprechung im  Gefolge  haben  dürfte.  Für 
die  Kaufmannseigenscliaft  wird  Besitz  der 
gesetzlichen  Fähigkeit  zum  Handelsbetriebe 
(Volljährigkeit,  Dispositionsfälligkeit)  gefor- 
dert. 

In  England  werden  als  Handelsge- 
schäfte erachtet  die  Geschäfte,  welche  unter 
Handelsleuten    zum   Betriebe    des   Handels 


abgeschlossen  zu  werden  pflegen.  Der  Kauf- 
mannsbegriff deckt  sich  mit  dem  des  deut- 
schen H.G.B. 

Das  Gesetz  über  das  Obligationenrecht 
der  Schweiz  von  1883  begnügt  sich,  den 
Begriff  des  Kaufmanns  zu  umschreiben  (-»wer 
ein  Handels-,  Fabrikations-  oder  anderes 
nach  biufinännischer  Art  gefülirtes  Gewerbe 
beti-eibt^,  Art.  865  Abs.  4)  imd  diesen  ge- 
wisse Rechte  und  Pflichten  aufzuerlegen. 

Litteratnr :  Goldschntidt,  Handbuch  des  Hau- 
deUrechtSf  2.  Aufl.,  ^^  42 — 59.  —  Endetnann^ 
Handbuch  des  deutschen  HajidA^ls-,  See-  und 
Wechselrechts  I,  ^  14  f.,  ^  Soff.  (v.  Völderndorff)  ; 
jyie  Lehrbilcher  des  Handelsrechts  von  Behrend 
(berücksichtigt  ebenso  wie  Goldsehmidt  auch  die 
ausländische  Gesetzgebung),  §  22ff.;  Thöl  f, 
§  Slff.;  Endemann,  §  5,  U.  Diese  WerW 
beziehen  sich  auf  das  alte  H.G.B.  Dagegen  be- 
rücksichtigen das  neue  H.G.B. :  Cosack,  Lehr- 
buch  des  Handelsrechts,  4.  Aufl.  1889,  ^^  7—9; 
Oareis,  Das  deutsche  Handelsrecht,  6.  Aufl. 
1899,  ^^  8—12;  Schirmieister ,  Der  Kauf- 
mannsbegriff  nach  geltendem  und  künftigem 
deutschen  Handelsrecht  (Goldschmidts  Zeit- 
schrift, f.  Handelsr.,  Bd.  48/..  S.  418ff.j.  Femer 
die  Kommentare  zum  H.G.B.  van  JHkvinger 
und  Hachenburg,  1899,  Bd.  I  und  H.  Staub, 
6.  Aufl.  1809  zu  Ü'^  Iff.  und  S4Sff.  —  Beslay. 
Des  actes  de  commerce,  Paris  1865.  —  L/yon- 
Caen  et  Renault,  Traite  de  droit  comtnercial 
2.  ed.,  Paris  1889,  I,  n.  89 ff.  —  E.  Thailer, 
Traite  elementaire  de  droit  commercixU,  Pari» 
1898,  n.  5 ff.,  n.  49  f.  —  Vidarl,  Corsa  di 
diritto  commereiale,  8.  ed.,  MHano  1888,  I,  n.  25  ff. 

—  Manara,  GH  atti  di  commercio,  Torinn 
1887.  —  Spüing,  FmnzCtsisches  und  englisches 
Handelsrecht  im  Anschluss  an  das  deutsche  H.G.B. 

—  Miesser,  Zur  Revision  des  H.G.B.,  im  Bei- 
lageheft zu  Goldschmidts  Zeitschr.  J.  H.R. 
zu  Bd.  XXXIII,  S.  12  f. 

Eduard  Boaenthain 


Handelsgesellschaften. 

I.  Die  Formen  der  H.  (S.  998).  IL  Volks- 
wirtachaftliche  Bedeutung  der  H.  (S.  1019). 

I. 

Die  Formen  der  Handels- 
gesellschaften. 

1.  Begriif.  2.  Errichtung.  3.  Das  Gesell- 
schaftsvermögen. 4.  Die  Einlage,  ö.  Der  Anteil 
an  Gewinn  und  Verlust.  6.  Der  Kapitalanteil. 
7.  Geschäftsführung.    8.  Das  Konkurrenz  verbot. 

9.  Die  Aufnahme  neuer  Mitglieder  und  die 
Beteiligung  eines  Fremden  am  Geschäftsanteil. 

10.  Das  Verhältnis  der  Gesellschafter  zu  dritten 
Personen,  a)  Vertretung  der  Gesellschaft,  b) 
Haftung  der  offenen  Handelsgesellschafter,  c) 
Haftung  der  Kommanditisten.  11.  Auflösung 
der  Gesellschaft,  a)  Die  Auflösungsgründe,  b) 
Das  Austreten  einzelner  Gesellschafter,  c)  Die 
Wirkungen  der  Auflösung,  d)  Eintragung  in 
das  Handelsregister.    12.  Liquidation.     13.  Die 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


999 


Beendigung  der  H.  14.  Verjährung  der  Klagen 
gegen  die  Gesellschafter.  15.  Das  Verhältnis 
des  neuen  H.G.B.  zum  früheren  Recht. 

1.  Begriff.  I.  Handelsgesellschaften  sind 
diejenigen  auf  Handelsuiiternehmungen  ge- 
richteten Vereinigungen,  welche  zum  Gegen- 
stande einer  besonderen  handelsgesetz- 
lichen Regelung  gemacht  worden  sind. 
Diese  Gesellschaften  zerfallen  entsprechend 
den  beiden  Hauptarten  von  Handelsunter- 
nehmungen in  zwei  Klassen ;  sie  haben  ent- 
weder einzelne  Handelsgeschäfte  oder 
den  Betrieb  eines  Handelsgewerbes  zum 
Gegenstande.  Für  die  ersten  dieser  beiden 
Klassen  kommen  die  Regeln  des  CiNilrechts 
zur  Anwendimg.  Das  alte  H.G.B.  hatte 
ihnen  zwar  einen  besonderen  Titel  (HI,  2) 
gewidmet,  die  in  demselben  aufgenommenen 
Rechtssätze  stimmten  aber  mit  dem  bürg-er- 
lichen  Recht  überein,  und  ilire  Aufnahme  in 
das  H.G.B.  hatte  nur  die  Bedeutung,  die- 
selben formell  zu  Handelsrechtssätzen  zu 
erheben  und  partikidarrechtliche  Besonder- 
heiten zu  beseitigen.  Dagegen  für  die  auf 
den  Betrieb  eines  Handelsgewerbes  ge- 
richteten Gesellschaften  hat  sich  ein  von 
dem  bürgerlichen  Recht  in  vielen  Beziehun- 
gen abweichendes  Sonderrecht  ent- 
wickelt; nur  sie  erscheinen  daher  als 
Rechtsgestaltungen,  die  in  einem  gemein- 
samen Gegensatz  zur  Societät  des  Civilrechts 
stehen  und  die  daher  im  wissenschaftlichen 
Rechtssystem  als  eine  einheitliche  Kategorie 
zUvsammengefaäst  werden  müssen.  Die  Haupt- 
form und  gleichsam  der  Grundtypus  dieser 
Vereinigungen  ist  die  offene  Handelsgesell- 
schaft; dieselbe  wird  daher  öfters  schlecht- 
hin olmc  weiteren  Zusatz  als  »die  Handels- 
gesellschaft« bezeichnet,  wälirend  man  jede 
andere  Art  von  Vereinigungen  zum  Betriebe 
eines  Handelsgewerbes  durch  die  Hinzu- 
fügung des  ihr  cliarakteristischen  Merkmals 
kennzeichnen  muss. 

Durch  die  einheitliche  Regelung  des  Ge- 
sellschaftsrechts im  B.G.B.  konnte  das  neue 
H.G.B.  auch  hinsiclitlich  der  Handelsgesell- 
schaft von  denjenigen  Bestimmungen  ent- 
lastet werden,  welche  mit  den  in  das  B.G.B. 
aufgenommenen  Rechtssätzen  übereinstim- 
men; denn  nach  Art.  2  des  Einfühi-ungsge- 
setzes  zum  H.G.B.  kommen  auch  in  Han- 
delssachen die  Vorsclu^iften  des  B.G.B.  inso- 
weit ziu*  Anwendmig,  als  nicht  im  H.G.B. 
oder  in  diesem  Einführungsgesetz  ein 
anderes  bestimmt  ist,  und  füi*  die  offene 
Handelsgesellschaft  ist  dieser  Gnmdsatz  im 
§  105  Abs.  2  des  H.G.B.  noch  besonders 
wiederholt. 

Aber  nicht  alle  Vereinigungen  zum  Be- 
triebe eines  Handelsgewerbes  sind  im  Sinne 
des  H.G.B.  »Handelsgesellschaften«.  Das 
zweite  Buch  hat  die  Ueberscluift  »Handels- 
gesellschaften     und     stille     Gesellschaft«, 


schliesst  also  dadurch  die  letztere  Gesell- 
schaftsform sowie  die  Reederei  aus  dem 
Begriff  der  Handelsgesellschaft  aus.  Als 
Handelsgesellschaften  bleiben  daher  nur  die 
vier,  in  besonderen  Abschnitten  des  zweiten 
Buchs  geregelten  Gesellschaftsarten  übrig, 
nämlich  die  offene  Handelsgesellschaft,  die 
Kommanditgevsellschaft ,  die  Aktiengesell- 
schaft und  die  KommanditgeseDschaft  auf 
Aktien. 

Es  fragt  sich  nun,  welches  Kiiterium 
diesen  vier  Rechtsformen  geraeinsam  und 
eigentümlich  ist  und  sonach  das  wesent- 
liche Moment  des  Begi'iffes  bildet.  Dieses 
Merkmal  ist  der  Betrieb  eines  Handelsge- 
werbes unter  einer  eigenen  (d.  h.  der  Ver- 
einigung als  solcher  zustehenden)  Firma, 
einer  sogenannten  Gesellschaftsfinna.  Das- 
selbe Merkmal  findet  sich  ausserdem  nur 
noch  bei  den  in  besonderen  Gesetzen  be- 
handelten Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossen- 
scliaften  und  den  Gesellschaften  mit  be- 
schränkter Haftung,  die  sich  hiernach  eben- 
falls dem  vom  H.G.B.  hingestellten  Begriff 
»Handelsgesellscliaft«  unterordnen  lassen. 
Massgebend  ist  also  die  »Gesellschaftsfirmac 
Dieselbe  ist  mehr  als  ein  blosser  Name, 
unter  welchem  ein  Gewerbe  betrieben  wird ; 
sie  bedeutet  zugleich  eine  Gesamtverpflich- 
tung aller  durch  diesen  Namen  bezeiclmeten 
und  einheitlich  zusammengefassten  Personen 
für  alle  Verbindliclikeiten,  die  aus  dem  un- 
ter der  Firma  betriebenen  Handelsgewerbe 
hervorgehen.  Hierin  liegt  die  rechtliche  Be- 
deutung der  Gesellschaftsfirma  im  Gegensatz 
zur  Fiima  des  Einzelkaufmanns  und  das 
charakteristische  Merkmal  der  Handelsgesell- 
schaften. Im  Sinne  des  H.G.B.  sind  sonach 
Handelsgesellscliaf ten  Vereinigungen 
zum  Betriebe  eines  Handelsge- 
werbes unter  gemeinschaftlicher 
Haftung  (R.O.H.G.  II,  S.  423 ff.,  V,  S. 
386  ff.). 

Durch  die  Novelle  vom  11.  Juni  1870 
ist  dieser  m^sprüngliche  Begriff  in  einer 
Richtiuig  modifiziert  worden.  Das  alte 
H.G.B.  bezog  sich  nur  auf  solche  Aktienge- 
sellschaften und  Kommanditgesellschaften, 
welche  ein  Handelsgewerbe  betreiben;  seit 
der  Novelle  vom  11.  Juni  1870  finden  die 
Bestimmungen  des  H.G.B.  auf  diese  beiden 
Gesellschaftsarten  allgemein  Anwendung, 
gleichviel  ob  der  Gegenstand  des  Unterneh- 
mens in  Handelsgeschäften  besteht  oder 
nicht.  Hiernach  giebt  es  auch  Handelsge- 
sellscliaf ten,  welche  kein  Handelsgewerbe 
betreiben,  z.  B.  Aktiengesellschaften,  deren 
Unternehmen  im  Betriebe  von  Bergwerken, 
in  der  HereteUung  von  Wohnhäusern,  im 
Bau  von  Eisenbahnen  etc.  besteht.  Anderer- 
seits sind  Vereinigimgen  zum  Betriebe  eines 
kaufmännischen  Kleingewerbes  oder  Hand- 
werks keine  Handelsgesellschaften,  weil  auf 


1000 


HandelßgesellBchaften  (Formen) 


dieselben  die  Regeln  von  der  Firma  keine 
Anwendung  finden  (H.G.B.  §  4). 

Aber  auch  ein  Gesellschaftsverhältnis 
im  Sinne  des  bürgerlichen  Rechts  bildet 
keine  wesentliche  Voraussetzung  für  den 
Begriff  der  HandelsgeseUschaft  im  Sinne 
des  H.G.B.  In  der  deutschen  Rechtswissen- 
schaft und  Praxis  besteht  eine  fast  voll- 
kommene üebereinstimraung  darüber,  dass 
Aktiengesellschaften  keine  Societäten,  son- 
dern juristische  Personen  sind.  Dass  dies 
auch  von  Kommanditgesellschaften  auf 
Aktien  gelten  muss,  kann  keinem  Zweifel 
mehr  unterliegen,  nachdem  das  neue  H  G.B. 
§  320  Abs.  3  sie  als  eine  blosse  Modifika- 
tion der  Aktiengesellschaft  behandelt  hat. 
Trotzdem  sind  diese  Associationsformen 
zweifellos  Handelsgesellschaften  im  Sinne 
des  H.G.B.  Eine  Bergwerksaktiengesellschaft 
ist  hiernach  eine  »Handelsgesellschaft«, 
obgleich  sie  weder  ein  Handelsgewerbe  be- 
treibt, noch  eine  Gesellschaft  ist.  Aber 
auch  für  die  offene  Handelsgesellschaft  und 
die  Kommanditgesellschaft  stellt  das  H.G.B. 
nicht  das  Erfordernis  auf,  dass  das  Gewerbe 
auf  gemeinsame  Rechnung  betrieben 
wird,  sondern  es  überlässt  die  Regelung 
des  Yerhältnisses  unter  den  Teilnehmern 
vollkommen  ihrem  Belieben.  Das  H.G.B. 
erfordert  zum  Thatbestand  der  Handelsge- 
sellschaften nur  den  Gewerbebetrieb  unter 
gemeinsamer  Haftung,  d.  h.  unter  ge- 
meinsamer Firma, 

Dieses  Merkmal  ist  das  einzige,  welches 
für  alle  Arten  von  Handelsgesellschaften 
das  wesentliche  und  gemeinsame  ist.  Wenn 
ein  Gewerbe  unter  einer  gemeinschaftlichen 
im  Handelsregister  eingetragenen  Firma  be- 
trieben wird,  so  gilt  die  Vereinigung  zu 
diesem  Betriebe  selbst  dann  als  Handelsge- 
sellschaft, wenn  das  Gewerbe  kein  Handels- 
gewerbe ist  oder  wenn  es  nicht  über  den 
Umfang  des  Kleingewerbes  hinausgeht  oder 
ein  Handwerksbetrieb  ist.    H.G.B.  §  5. 

Aus  dieser  Bedeutung  der  Finnenliaftung 
für  den  Begriff  der  Handelsgesellschaft  er- 
giebt  sich  auch  der  Einteilungsgrund  für  die 
verschiedenen  Arten  derselben. 

Bei  jeder  Art  von  Handelsgesellschaften 
ist  die  Haftung  der  Mitglieder  fest  be- 
stimmt, ihr  eigentümlich,  in  allen  konkreten 
Fällen  die  gleiche,  unabänderliche,  mit  dem 
Begriff  der  Gesellschaftsart  gegeben.  Das 
Verhältnis  unter  den  Mitgliedern  da- 
gegen kann  von  den  Parteien  beliebig  nor- 
miert wenlen;  die  vom  Gesetz  aufgestellte 
Regelung  hat  nur  die  Bedeutung  eines 
Nor  mal  Statuts  von  subsidiärer  Geltung. 
Hiernach  bestimmen  sich  die  rechtlich  ver- 
schiedenen Arten  der  Handelsgesellschaften 
nach  der  Verschiedenheit  der  Haftung 
der  Mitglieder;  dagegen  sind  die  gesetzlichen 
Normalbestimmungen    über   das   Verhältnis 


unter  den  Mitgliedern  für  die  Begriffsbe- 
stimmung der  einzelnen  Arten  von  Handels- 
gesellschaften als  essentiale  Elemente  nicht 
zu  verwerten. 

Die  im  H.G.B.  unterschiedenen  Arten 
von  Handelsgesellschaften  ergeben  sich  nach 
diesem  Princip  von  selbst.  Bei  der  offenen 
Handelsgesellschaft  haften  sämtliche  Mit- 
glieder mit  ihrem  ganzen  Vermögen;  bei 
der  Aktiengesellschaft  mit  einer  bestimmten 
Siunme ;  bei  der  Kommanditgesellscliaft  und 
der  Kommanditgesellschaft  auf  Aktien  haf- 
tet ein  Teil  der  Gesellschafter  mit  dem 
ganzen  Vermögen,  der  andere  Teil  mit  einer 
bestimmten  Summe.  Das  Recht  der  Aktien- 
gesellschaft und  Kommanditgesellschaft  auf 
Aktien  ist  in  grossem  Masse  durch  rechts- 
polizeiliche Vorschriften,  deren  Befolgimg 
durch  Strafgesetze  gesichert  ist,  diu-chsetzt 
und  beeinflusst  und  dadurch  in  einen 
scharfen  Gegensatz  zu  den  beiden  anderen 
Formen  gebracht  worden.  Diese  beiden  For- 
men der  »Handelsgesellschaften«  bleiben  im 
folgenden  ausser  acht.  S.  den  Art.  Aktien- 
gesellschaften (oben  Bd.  1  S.  143  ff.). 
Bei  der  Kommanditgesellschaft  gelten  für 
die  persönlich  haftenden  Mitglieder  die- 
selben Regeln  wie  für  die  Mitglieder  der 
offenen  Handelsgesellschaft,  und  nur  für 
die  Kommanditisten  gelten  einige  Besonder- 
heiten. In  der  folgenden  Darstellung  wird 
demgemäss  das  Recht  der  offenen  Han- 
delsgesellschaft zu  Grunde  gelegt  und  durch 
die  für  die  Kommanditisten  geltenden  be- 
sonderen Rechtsgrundsätze  ergänzt  wenlen. 

II.  Eine  offene  Handelsgesellschaft  ist 
nach  der  Definition  des  H.G.B.  §  105  eine 
Gesellschaft,  deren  Zweck  auf  den  Be- 
trieb eines  Handelsgewerbes  \mter  gemein- 
schaftlicher Firma  gerichtet  ist,  wenn  bei 
keinem  der  Gesellschafter  die  Haftung 
gegenüber  den  GeseUschaftsgläubigern  be- 
schränkt ist.  Erforderlich  ist  also,  dass  das 
Verhältnis  unter  den  Teilnehmern  eine  >  Ge- 
sellschaft« ist.  Der  Begriff  der  Gesellschaft 
ist  im  H.G.B.  nicht  definiert;  er  bestimmt 
sich  daher  nach  dem  B.G.B.  Nach  dem  letz- 
teren §  705  verpflichten  sich  die  Gesell- 
scliafter  durch  den  Gesellschaftsvertrag 
gegenseitig,  »die  Erreichung  eines  gemein- 
samen Zweckes  in  der  durch  den  Veitrag 
bestimmten  AVeise  zu  fördern,  insbesondere 
die  vereinbarten  Beiträge  zu  leisten  *..  Hier- 
nach ist  der  Begriff  der  Gesellschaft  nach 
dem  B.G.B.  wesentlich  verscliieden  von  dem 
Begriff  der  Societät  des  römischen  Rechts. 
Nach  dem  letzteren  ist  der  Zweck  der  Ge- 
sellschaft die  Herstellung  einer  Vermögens- 
gemeinschaft ;  die  Gesellschafter  verpflichten 
sich  zu  einem  communicare,  commune  facere ; 
das  B.G.B.  verlangt  nur  die  Förderung 
irgend  eines  erlaubten  Zwecks;  es  kann 
auch   ein   sogenannter  idealer  sein.     Auch 


HandelsgesellschafteQ  (Formen) 


1001 


brauchen  die  Beiträge  nicht  in  Yennögens- 
leistungen  zu  bestehen ;  es  genügen  Dienste 
liegend  welcher  Ait.  §  706  Abs.  3.  Es  ist 
nicht  mehr  zulässig,  anstatt  des  Gesell- 
schaftsbegriffs des  B.G.B.  den  römischrecht- 
lichen Societätsbegriff  in  das  H.G.B.  hinein- 
zutragen. Der  Zweck  der  offenen  Handels- 
gesellschaft ist  gemäss  §  105  cit.  der  Be- 
trieb eines  Handelsgew^erbes  unter  gemein- 
schaftlicher Firma,  also  unter  unbeschränkter 
Gesamthaftung.  Jede  Vereinigung  zur  För- 
derimg dieses  Zwecks  verwirklicht  den 
Thatbestand  einer  Gesellschaft,  auch  ohne 
dass  unter  den  Teilnehmern  eine  societas 
im  Sinne  des  römischen  Rechts  besteht,  ins- 
besondere dass  das  Gewerbe  auf  gemein- 
same Rechnung  betrieben  wird.  Da  dies 
aber  regelmässig  der  Fall  ist,  so  nimmt  das 
H.G.B.  das  Bestehen  eines  solchen  Rechts- 
verhältnisses zur  Voraussetzung. 

Die  unbeschränkte  Haftimg  sämtlicher 
Gesellschafter  bedarf,  wie  sich  aus  der  ne- 
gativen Fassung  des  §  105  ergiebt,  keiner 
ausdrücklichen  Festsetzung ;  sie  tritt  als  die 
gesetzliehe  Regel  ein,  wenn  sie  nicht  in 
rechtswirksamer  Weise  ausgeschlossen  ist. 
Demgemäss  ist  im  H.G.B.  §  161  für  die 
Kommanditgesellschaft  das  Erforder- 
nis aufgestellt,  dass  hinsichtlich  der  Kom- 
manditisten ausdrilcklich  die  Haftung  auf 
den  Betrag  einer  bestimmten  Vermögensein- 
lage beschränkt  ist. 

2.  Errichtung.  Sowohl  was  die  Vor- 
aussetzungen als  was  den  Zeitpunkt  der 
Entstehung  anlangt,  muss  man  scharf  unter- 
scheiden zwischen  dem  Rechtsverhältnis 
unter  den  Mitgliedern  und  der  Haftung. 
Das  H.G.B.  hält  diese  beiden  Verhältnisse 
nicht  mit  der  erforderlichen  •  Klarheit  aus- 
einander. Das  H.G.B.  steht  auf  dem  Stand- 
punkte, dass  es  sich  um  die  innere  und 
äussere  Seite  eines  und  desselben  Rechts- 
verhältnisses handele,  dass  die  Haftung  nur 
Ausdruck  und  Rechtsfolge  des  unter  den 
Mitgliedern  bestehenden  GeseUschaftsver- 
hältnisses  sei.  Die  notwendige  und  logische 
Folge  hiervon  müsste  die  sein,  dass  die 
societätsmässigen  Rechte  und  Pflichten  unter 
den  Mitgliedern  imd  ihi'e  Haftung  gegenüber 
den  Gläubigern  immer  gleichzeitig  und 
durch  einen  und  denselben  Thatbestand  ein- 
treten. Dies  ist  aber  durchaus  nicht  der 
Fall.  Das  Societätsverhältnis  kann  ohne 
Firmenhaftung  und  die  Firmenhaftung  kann 
ohne  Gesellschaftsverhältnis  entstehen  oder 
fortbestehen;  die  Societät  hat  keine  äussere 
und  die  Haftung  keine  innere  Seite.  Rich- 
tig ist  nur,  dass  regelmässig  beide  nach 
der  Absicht  der  Beteiligten  zusammenfallen 
sollen  und  deshalb  gewöhnlich  gleich- 
zeitig iliren  Anfang  und  ihr  Ende  nehmen. 
1.  Das  Verhältnis  unter  den  Mit- 
gliedern (Gesellschaft)  bendit  auf  einem 


obligatorischen  Vertrage  der  Parteien  und 
ist  ohne  einen  solchen  imdenkbar.  Der  Kon- 
sens muss  darauf  gerichtet  sein,  dass  der 
finanzielle  Erfolg  des  Gewerbebetriebes  ein 
den  Kontrahenten  ^meinsamer  sein  soll, 
dass  sie  in  irgend  emer  Weise  an  den  Kos- 
ten mid  Erträgnissen  einen  aliquoten  Anteil 
nehmen. 

Zur  Gütigkeit  des  Gesellschaftsvertrages 
bedarf  es  weder  nach  dem  H.G.B.  noch  nach 
dem  B.G.B.  der  schriftlichen  Abfassung  oder 
anderer  Förmlichkeiten.  Er  kann  dalier 
auch  »stillschweigend «-abgeschlossen  werden ; 
es  kommt  aber  wohl  kaum  jemals  vor,  dass 
sich  Personen  zu  einem  gemeinsamen  Ge- 
werbebetrieb vereinigen,  ohne  sich  wenigstens 
mündlich  zu  verständigen.  Wenn  sich  je- 
doch ein  Gesellschafter  verpflichtet,  das 
Eigentum  an  einem  Gnmdstücke  in  die  Ge- 
sellschaft einzubringen,  so  bedarf  der  Ver- 
trag der  gerichtlichen  oder  notariellen  Be- 
urkundung zur  Giltigkeit;  er  erlangt  die 
letztere  aber  auch  ohne  Beobachtung  dieser 
Form,  wenn  die  Auflassung  und  die  Ein- 
tragung in  das  Grundbuch  erfolgen.  (B.G.B. 
§  313.)  Auch  falls  sich  ein  Gesellschafter 
verpflichtet,  sein  gegenwärtiges  Vermögen 
oder  einen  Bruchteil  desselben  oder  den 
Niessbrauch  daran  als  Einlage  zu  machen, 
bedarf  der  Vertrag  der  gerichtlichen  oder 
notariellen   Beiu'kundung.     (B.G.B.  §  311.) 

Ueber  die  Voraussetzungen  eines  gütigen 
Gesellscliaftsvertrages,  über  die  rechtliehe 
Fähigkeit  zum  Abschluss  eines  solchen  und 
die  rechtlichen  Wirkungen  desselben  gelten 
die  allgemeinen  Voi'schriften  des  bürger- 
lichen Rechts.  Nur  eine  specifische  Wir- 
kung tritt  hinzu.  Da  der  Zweck  der  Ge- 
sellschaft »der  Betrieb  eines  Handelsge- 
werbes unter  gemeinschaftlicher  Firma  mit 
unbescliränkter  Haftung«  ist,  so  liegt,  wenn 
nicht  ein  besonderer  Vorbehalt  gemacht  ist, 
in  dem  Abschluss  des  Verti^ages  zugleich 
der  Konsens  zur  Annahme  und  zum  Ge- 
brauch der  vereinbarten  Firma  sowie  die 
gegenseitigeVerpflichtung,  diejenigen  Schritte 
zu  thun,  welche  das  Gesetz  zur  Verwirk- 
lichung dieses  Vorhabens  erfordert. 

Zur  Verwirklichung  dieses  Anspruchs 
hat  jeder  GeseUschafter  gegen  die  anderen 
eine  Klage;  ist  auf  Grund  derselben  eine 
rechtskräftige  oder  vollstreckbare  Entschei- 
dung ergangen,  durch  welche  die  Ver- 
pflichtung des  Gesellschafters  festgestellt 
wird,  so  ersetzt  dieselbe  seine  Mitwirkung 
bei  der  Anmeldung  der  Gesellscliaft  zur 
Eintragung  in  das  Handelsregister.    (H.G.B. 

§  16.) 

Der  Zeitpunkt,  mit  welchem  die  Wir- 
kungen des  Gesellschaft  sverfi'ages  eintreten 
sollen,  ist  völlig  in  das  Belieben  der  Par- 
teien gestellt.  Es  ist  den  Gesellschaftern 
unbenommen,    die    Rechtswirkungen    ihres 


1002 


HandelsgeseUschaften  (Formen) 


Vertrages  auf  eine  Zeit  zurückzuverlegen, 
in  welcher  sie  noch  keine  gemeinschaftliche 
Firma  geführt  haben,  U.  h.  festzusetzen,  dass 
diejenigen  Geschäfte,  welche  jeder  von  ihnen 
auf  seinen  eigenen  Namen  von  einem  ge- 
wissen Zeitpunkte  an  abgeschlossen  liat, 
als  auf  gemeinsame  Rechnung  geschlossen 
gelten  sollen;  die  solidarische  Haftung  aus 
diesen  Geschäften  w^ird  durch  eine  solche 
Abrede  nicht  hervorgerufen.  Ebenso  steht 
es  ihnen  frei,  zu  vereinbaren,  dass  ihr  Ge- 
sellschaftsverhältnis erst  von  einem  bestimm- 
ten zukünftigen  Termin  anheben  soll ;  dessen 
ungeachtet  tritt  die  solidarische  Firmenliaf- 
timg  auch  schon  vorher  ein,  wenn  die  für 
dieselbe  gesetzlich  aufgestellten  Erforder- 
nisse gegeben  sind  (H.(j.B.  §  123  Abs.  3). 
In  Ermangehmg  einer  besonderen  Verein- 
barung fällt  der  Beginn  der  Gesellschaft 
mit  dem  Beginn  des  Gewerbebetriebes  zu- 
sammen. 

2.  Die  Firmenhaftung  setzt  die 
Annahme  einer  gemeinschaftlichen  Firma 
für  den  Betrieb  eines  kaufmännischen  Ge- 
werbes voraus.  Die  Annahme  kann  er- 
folgen entweder  durch  die  Eintragung  der 
Firma  im  Handelsregister  oder  durch  den 
that  sächlichen  Gebrauch  der  Gesellscliafts- 
firma. 

Die  Eintragung  ist  die  ausdrückliche 
und  authentische  Beurkundung  des  Kon- 
senses zum  Gebrauch  der  gemeinschaft- 
lichen Firma,  welche  jede  weitere  Erörtenmg 
mid  Beweiserhebung  über  das  Vorhanden- 
sein dieses  Konsenses  überflüssig  macht. 
Daher  tritt  nach  H.G.B.  §  123  Abs.  1  die 
solidarische  Firmenliaftung  spätestens  mit 
diesem  Zeitpunkte  ein.  Damit  aber  die 
Eintragimg  diese  rechtliche  Bedeutung  haben 
könne,  müssen  die  Anmeldungen  zum  Ilandels- 
register  von  allen  Gesellschaftern  bewirkt 
werden  (H.G.B.  §  108  Abs.  1).  Die  Anmeldung 
ist  eine  gesetzliche  Pflicht  sämtlicher  Fir- 
meiiteilnehmer,  zu  deren  Erfüllung  sie  vom 
Gericht  von  amtswegen  durch  Ordnungs- 
strafen anzuhalten  sind  (H.G.B.  §  14).  Die 
Gesellschafter  können  also  nicht  durch  Ver- 
einbarung dieselbe  einem  von  ilmen  mit  der 
Wirkung  auferlegen,  dass  die  übrigen  von 
ihrer  Erfüllung  befreit  W'erden.  Zugleich 
besteht  aber,  wie  bereits  erwähnt,  eine 
vertragsmässige  Pflicht  jedes  Gesell- 
schafters gegen  die  anderen,  die  Anmeldung 
ordnungsmässig  vorzunehmen.  Die  Anmel- 
dung muss  nach  §  106  des  H.G.B.  enthalten 
den  Namen,  Vornamen,  Stand  und  Wohnort 
jedes  Gesellschaftei's,  die  Firma  der  Gesell- 
schaft und  den  Ort,  wo  sie  iliren  Sitz  hat; 
ferner  den  Zeitpunkt,  mit  welchem  die  Ge- 
sollschaft (d.  h.  die  Firmenhaftung,  nicht 
die  Gewinn-  und  Verlustbeteiligung)  begon- 
nen hat ;  endlich  der  Ausschhiss  von  Gesell- 
schaftern von  der  Vertretung,  falls  dies  ver- 


einbart ist,  H.G.B.  §  125  Abs.  4.  (Siehe 
unten  sub  10.)  Anzumelden  ist  ferner  jede 
Aenderung  der  Firma,  des  Sitzes  der 
Gesellscliaft  und  der  VertretungsbefugnLs 
sowie  das  Eintreten  eines  neuen  Gesell- 
schafters mid  das  Ausscheiden  oder  die  Aus- 
schliessung eines  Gesellschafters  (H.G.B.  §  107 
u.  §  143  Abs.  2).  Der  thatsächliche  Ge- 
brauch der  Firma  begründet  die  Firmen- 
haftung auch  dann,  wenn  die  Eintragung 
nicht  erfolgt  ist,  sofern  er  mit  dem  Kon- 
sens der  Beteiligten  geschieht.  Der  Kon- 
sens kann  in  der  verschiedensten  Weise  er- 
klärt werden  (Cirkulare,  Geschäftsanzeigen, 
Briefe,  Anzeige  bei  der  Steuerbehörde, 
Börsenkommission  oder  Handelskammer, 
Anbringung  der  Firma  am  Geschäftslokal 
etc.);  aber  auch  bei  dem  Abschluss  eines 
einzelnen  bestimmten  Geschäfts  unter  der 
gemeinschaftlichen  Firma  kann  sich  dieser 
Konsens  erkennbar  machen,  sei  es  durch 
Mitwirken  der  Beteiligten,  sei  es  diuxjh 
wissentliches  Geschehenlassen.  Der  that- 
sächliche Gebrauch  der  Firma  ist  schon  dann 
vorhanden,  wenn  Geschäfte  abgeschlossen 
werden,  welche  den  eigentlichen  Gewerbe- 
betrieb vorbereiten  sollen.  So  lange  die 
Gesellschaft  nicht  eingetragen  ist,  muss  der- 
jenige, welcher  die  solidarische  Firmeuhaf- 
tung  geltend  macht,  den  Beweis  dafür  er- 
bringen, dass  die  von  ihm  in  Anspruch  ge- 
nommenen Personen  in  den  Gebi-auch  der 
Finna  eingewilligt  haben.  Wenn  der  ge- 
sellschaftliche Gewerbebetrieb  aber  nicht 
zu  den  im  §  1  des  H.G.B.  aufgeführten 
Handelsgewerben  gehört,  sondern  ein  Unter- 
nehmen ist,  welches  nach  §  2  als  Handels- 
gewerbe gilt,  so  wird  die  Gesellschaft  nicht 
durch  den  thatsächlichen  Gebrauch,  sondern 
nur  durch  die  Eintragung  der  Firma  in  das 
Handelsregister  eine  Handelsgesellschaft. 

Bei  der  Kommanditgesellschaft 
gelten  dieselben  Grundsätze,  jedoch  mit 
einer  Abweichung.  Die  Firmenhaftung  ist 
im  Zweifel  eine  »persönliche«,  d.  h.  eine 
Haftung  mit  dem  ganzen  Vermögen;  die 
EinwiUigimg  in  den  Gebrauch  einer  ge- 
meinsamen Firma  hat  daher  die  Ueber- 
nahme  einer  solchen  vollen  Haftung,  d.  h. 
eine  offene  Handelsgesellschaft,  ziu*  Folge. 
Die  Beschränkung  der  Haftung  auf  eine  be- 
stimmte Summe  (Haftsumme)  setzt  eine 
ausdrückliciie  Erklärung  voraus  und  zwar 
nicht  unter  den  Gesellschaftern,  sondern 
gegenüber  den  Gläubigern.  Gegen  einen 
bestimmten  Gläubiger  kann  daher  die  be- 
schränkte Haftung  durch  eine  i  h  m  g  e  g  e  n  - 
über  abgegebene  Erkiärimg  begründet 
werden,  und  diese  Erklärung  braucht  nicht 
in  jedem  einzelnen  Falle  wiederholt  zu 
werden,  sondern  es  genügt  nach  §  17()  dos 
H.G.B.,  wenn  der  Kommanditist  beweist, 
dass  dem  Gläubiger  seine  beschränkte  Haf- 


Haiidelsgesellseliafteu  (Formen) 


1003 


tung  (das  Gesetz  sagt  »seine  beschränkte 
Beteiligung«)  bekannt  war.  Im  allgemeinen 
aber  tritt  die  Beschränkung  der  Haftung  auf 
eine  bestimmte  Summe  nur  ein,  wenn  die- 
selbe im  Handelsregister  eingetragen  ist 
(H.G.B.  §  172  Abs.  1),  und  da  die  be- 
schränkte Haftimg  das  speoifische  Unter- 
scheidungsmerkmal des  Kommanditisten 
gegen  den  offenen  Handelsgesellscliafter  ist, 
so  kann  man  mit  Recht  sagen,  dass  die 
rechtliche  Wirksamkeit  einer  Konmiandit- 
gesellschaft  mit  der  Eintragung  in  das 
Handelsregister  beginnt. 

3.  Das  Gesellschaftsvennögen.  Das 
Oesellscliaftsvermfigen  ist  der  Handlungs- 
fonds des  von  den  Oesellschafteni  betrie- 
benen Gewerbes;  durch  die  Einheit  des 
Gewerbebetriebes  werden  alle  für  denselben 
bestimmten  oder '  durch  denselben  hervor- 
gebrachten Vermögensrechte  und  Schulden 
zu  einer  Gesamtheit  verbunden.  Diese  Zu- 
sammenfassung des  Handlungsfonds  sowie 
die  dadurch  gebotene  Trenmmg  desselben 
von  dem  übrigen  Vermögen  wird  erreicht 
diu'ch  die  Buchfühnmg,  d.  h.  Inventar, 
Handlungsbücher  und  Bilanz,  und  nach 
aussen  gekennzeichnet  durcli  die  Fiima. 
Dieselbe  Absonderung  des  Handlungsfonds 
tritt  in  gleicher  Weise  auch  beim  Einzel- 
kaufmann ein.  Da  der  Einzelkaufmann  aber 
unbeschränkter  Herr  beider  Massen  ist,  er 
mithin  die  Abgrenzung  beider  beliebig  ver- 
ändern, den  Handlungsfonds  willkürlich 
schmälern  oder  aus  seinem  übrigen  Ver- 
mögen erhöhen  kann,  so  ist  die  in  einem 
gegebenen  Moment  bestehende  Abgrenzung 
ohne  rechtliche  Bedeutung.  Der  Handlungs- 
fonds des  Einzelkaufmanns  kann  wie  das 
Warenlager  als  eine  sogenannte  universitas 
facti  in  Betracht  kommen,  eine  universitas 
juris  ist  er  niemals.  Bei  einer  Handels- 
gesellscliaft  dtigegen  ist  jedes  ^litglied  den 
übrigen  gegenüber  verpflichtet,  den  Hand- 
lungsfonds ausschliesslich  für  die  Zwecke 
der  Gesellschaft  zu  verwenden  und  sich 
jeder  Verfügung  zu  anderen  Zwecken  zu 
enthalten.  Dadm^ch  wird  die  Trennung  des 
Gesellschafts  Vermögens  vom  Privatvermögen 
rechtlich  erheblich;  jeder  einzelne  Gesell- 
schafter muss  dieselbe  als  für  ihn  verbind- 
lich anerkennen;  das  (obligatorische)  Recht 
der  übrigen  Gesellschafter  verleiht  dieser 
Trennung  eine  feste  Grundlage,  einen  dauern- 
den Bestand  und  eine  rechtliche  Bedeutung. 
Die  Absonderung  des  Gesellschaftsvermögens 
beruht  daher  auf  dem  unter  den  Gesell- 
schaftern bestehenden  Rechtsverhältnis ; 
sie  ist  die  Verwirklichung  der  von  ihnen 
gewollten  communio.  Dagegen  hat  sie  gar 
nichts  zu  thun  mit  der  Haftung  der  Gesell- 
schafter für  die  Firmenschulden  oder  mit 
dem  Kredit  der  Gesellschaft.  Denn  da  den 
Gesellschaftsgläubigern    das    gesamte    Ver- 


mögen sämtlicher  Teilnehmer  solidarisch 
haftet  (hinsichtlich  der  Kommanditisten  bis 
zm*  Höhe  der  Haftsumme),  so  wird  der 
Kredit  der  Firma  durch  das  Privatvermögen 
der  Teilnehmer  ganz  in  dei-selben  Weise 
wie  durch  das  Gesellschaftsvermögen  ge- 
tragen und  es  ist  nicht  zu  begreifen,  wie 
der  Kredit  dadurch  begründet  oder  ge- 
steigert werden  könnte,  dass  aus  der  den 
Gläubigern  haftenden  Gesamtmasse  ein  Teil 
ausgesondert  wird.  Die  Gläubiger  sind  auch 
in  keiner  Art  berechtigt,  die  Gesellschafter 
zu  verhindern,  die  Grenze  zwischen  ihrem 
Privat  vermögen  und  ihrem  Gesellschafts  ver- 
mögen beliebig  zu  verändern.  Dem  über- 
einstimmenden Willen  der  Gesellschafter 
gegenüber  hat  die  Absondenmg  des  Gesell- 
schaftsvermögens vom  Privatvermögen  der 
Gesellschafter  keine  andere  rechtliche  Be- 
deutung wie  die  Trennung  des  Handlungs- 
fonds vom  Privatvermcigen  des  Einzelkauf- 
manns. 

Da  die  Handelsgesellscliaft  keine  juris- 
tische Person  ist,  also  nicht  Trägerin  von 
Rechten  sein  kann,  so  kann  sie  auch  kein 
eigenes  Vermögen  haben,  insbesondere  nicht 
Eigentümer  und  Gläubiger  sein.  Das  Ge- 
sellschaftsvermögen ißt  daher  kein  Ver- 
mögen der  Gesellschaft,  sondern  ein  gemein- 
schaftliches Vermögen  der  Gesellschafter. 
Die  letzteren  sind  daher  Miteigentümer  des 
Gesellschaftsvermögens:  das  Miteigentum  ist 
aber  ein  durch  das  Gesellschaftsverhältnis 
behen'schtes  imd  gebundenes.  Da  das 
H.G.B.  besondere  Bestimmungen  über  dieses 
Rechtsverhältnis  nicht  enthält,  so  kommen 
die  Vorschriften  des  B.G.B.  zur  Anwendung. 
Das  B.G.B.  §  718  bezeichnet  das  GeseU- 
schafts  vermögen  als  »gemeinschaftliches 
Vermögen  der  Gesellschafter«  und  giebt  da- 
mit eine  präcise  Charakterisierung  desselben. 
In  der  neueren  Litteratur  wird  das 
bundene  Miteigentum  sehr  häufig  als 
samteigentum  oder  Vermögen  zur  gesamten 
Hand  bezeichnet.  Dem  B.G.B.  sind  diese 
Ausdrücke  fremd,  und  es  kann  nicht  als  dem 
Gesetz  entsprechend  erachtet  werden,  aus 
einer  doktrinären  Begriffsentwickelung  dieser 
Bezeichnungen  willkürlich  Folgenmgen  her- 
zuleiten, die  im  B.G.B.  selbst  keine  Stütze 
finden.  Die  Gebundenheit  des  gesellschaft- 
lichen Miteigentums  besteht  nach  dem  B.G.B. 
lediglich  darin,  dass  ein  Gesellschafter  nicht 
über  seinen  Anteil  an  dem  Gesellschafts- 
vermögen und  an  den  einzelnen  dazu  ge- 
hörenden Gegenständen  verfügen  kann; 
ferner  dass  er  —  so  lange  das  Gesellschafts- 
verhältnis dauert  —  nicht  berechtigt  ist, 
Teilung  zu  verlangen ;  endlich  dass  eine 
zum  Gesellschaftsvermögen  gehörende  For- 
derung nicht  gegen  eine  Privatschuld  des 
einzelnen  Gesellschaf  tei-s  aufgerechnet  werden 
kann.     B.G.B.    §    719.      Diese   Rechtssätze 


1004 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


finden  auch  auf  das  gemeinschaftliche  Ver- 
mögen der  offenen  Handelsgesellschafter 
Anwendung.  Jedoch  besteht  zwischen  der 
Gresellschaft  des  bürg-erlichen  Rechts  und 
der  Handelsgesellschaft  der  wichtige  Unter- 
schied, dass  bei  jener  der  Regel  nach  die 
Geschäftsführung  und  Vertretmig  den  Ge- 
sellschaftern gemeinschaftlich  zusteht  (B.G.B. 
§  709;  714),  bei  dieser  jedem  einzelnen. 

Die  vom  Recht  gestattete  Absonderung 
des  Gesellschaftsfonds  vom  Privatvennögen 
w^äre  aber  illusorisch,  wenn  sie  nicht  auch 
den  Gläubigern  und  Rechtsnaclifolgern  der 
Gesellschafter  gegenüber  zur  Geltimg  käme. 
Dritte  werden  daher  von  dieser  Trennung 
in  demselben  Masse  und  unter  denselben 
Voraussetzungen  getroffen,  in  welchem  der- 
jenige Gesellschafter,  an  dessen  Vermögen 
sie  Rechte  haben,  selbst  davon  betroffen 
wird.  Da  nun  der  Gesellschafter  nicht  be- 
fugt ist,  ohne  Genehmigung  der  anderen 
Gesellschafter  die  zum  Gesellschaftsver- 
mögen gehörigen  Sachen,  Forderungen  oder 
Rechte  für  Privatzwecke  zu  verwenden,  so 
ist  er  auch  nicht  befugt,  mit  ihnen  seine 
Privat  gläubiger  zu  befriedigen.  Die  not- 
wendige Folge  hiervon  ist,  dass  die  Privat- 
gläubiger eines  Gesellschafters  die  zum  Ge- 
sellschaftsfonds gehörigen  Wertobjekte  zum 
Behuf  ihrer  Befriedigung  oder  Sicherstellung 
nicht  in  Anspnich  nehmen  können,  sondern 
dass  sie  sich  nur  an  dasjenige  halten  können, 
was  der  Gesellschafter  selbst  an  Zinsen  und 
Gewinnanteilen  zu  fordern  berechtigt  ist 
und  was  ihm  bei  der  Auseinandersetzung 
zukommt. 

Demgemäss  genügt  ein  gegen  einen 
Gesellschafter  gerichteter  vollstreckbarer 
Schiildtitel  nicht  zur  Zwangsvollstreckung  in 
das  Gesellschaftsvermögen;  es  ist  vielmehr 
hierzu  ein  gegen  die  Gesellschaft  selbst  ge- 
richteter vollstreckbarer  Titel  erforderlich 
(H.G.B.  §  124  Abs.  2):  sowie  andererseits 
aus  einem  gegen  die  Gesellschaft  gerichteten 
vollstreckbaren  Scthnldtitel  die  Zwangsvoll- 
streckung gegen  die  Gesellscliafter  nicht 
stattfindet  (§  129  Abs.  4).  Endlich  folgt 
aus  der  Absonderung  des  Gesellschaftsver- 
mögens von  dem  Privatvermögen  der  Gesell- 
schafter, dass  über  das  Gesellschaftsver- 
mögen ein  selbständiges  Konkursverfahren 
im  Falle  der  Zahlungsunfähigkeit  der  Ge- 
sellschaft stattfindet.   Konkiu'sordnung  §  209. 

4.  Die  Einlage.  Einlage  bedeutet  die 
dauernde  Dotierung  des  Gesellscliaftsfonds 
mit  Vermögensweiten  seitens  eines  Gesell- 
schafters. Den  Gegensatz  zur  Einlage  bilden 
die  Auslagen,  welche  ein  Gesellscliafter  in 
Gesellschaftsangelegenheiten  macht  (H.G.B. 
§  110)  oder  die  Verbindlichkeiten,  welche 
er  wegen  derselben  übernimmt,  sowie  die 
Beträge,  welche  er  der  Gesellschaft  als  Dar- 
lehn    giebt.      Die    Einlage    erzeugt    kein 


Passivum  der  Firma,  hinsichtlich  derselben 
besteht  kein  Anspruch  auf  Verzinsung  und 
auf  Rückgewähr  wie  für  Auslagen  imd  Vor- 
schüsse eines  Gesellschafters.  Die  Gewäh- 
rung von  Einlagen  ist  für  die  Handelsge- 
seU Schaft  nicht  wesentlich,  sondern  nur 
einer  der  verschiedenen  Wege  zur  Be- 
schaffung des  für  den  Gewerbebetrieb  er- 
forderlichen Kapitals  und  zwar  derjenige, 
welcher  den  einzelnen  Gesellschaftern  das 
grösste  Mass  von  Leistungen  auferlegt,  ihr 
Privatvermögen  zu  Gunsten  des  Gesell- 
schaftsfonds am  nachdrücklichsten  belastet. 
Hierin  liegt  der  Gnmd  für  den  Rechtssatz, 
dass  die  Veipflichtung  zur  Hingabe  einer 
Einlage  stets  die  besondere  Zustimmung  des 
Gesellschafters  voraussetzt.  Hieraus  folgt 
weiter,  dass  auch  über  die  Grösse  mid  Art 
der  zu  machenden  Einlage  niemals  das  Be- 
dürfnis der  Gesellscliaft,  sondern  einzig  und 
allein  der  Vertragswille  entscheidet. 

Die  Einlagen  der  Gesellschafter  können 
verschieden  nach  Art  und  Grösse  sein;  in 
Ermangelung  einer  Vereinbarung  haben  aber 
die  Gesellschafter  gleiche  Beiträge  zu  leisten. 
(B.G.B.  §  706  Abs.  1). 

Der  aus  dem  Einlageversprechen  er- 
wachsende Anspruch  der  Mitgesellschafter 
geht  darauf,  dass  der  Promittent  das  ver- 
sprochene Kapital  aus  dem  seiner  Privatver- 
fügung unterworfenen  Vermögen  aussondere 
und  in  das  der  gesellschaftlichen  Verfügung 
imterworfene  Vermögen  überleite.  Ist  er 
mit  der  Erfüllung  im  Verzuge,  so  ist  er 
zur  Entrichtung  von  Zinsen  und  zum  Er- 
sätze des  etwa  entstandenen  grössei-en 
Schadens  an  die  Gesellschaft  verpflichtet. 
B.G.B.  §  111.  Die  Einlage  braucht  nicht 
bei  Eingehmig  des  Gesellschaf tsveitrages 
versprochen  oder  geleistet  zu  werden;  die 
Verpflichtung  zur  Gewährung  einer  Einlage 
kann  zu  jeder  Zeit  während  des  Bestehens 
der  Gesellschaft  und  selbst  noch  im  Stadium 
der  Liquidation  begnindet  werden.  Dieselben 
Gnmdsätze  gelten  von  einer  Erhöhung  der 
Einlage,  sei  es  zur  Verstärkung  oder  sei  es  zur 
Ergänzung  des  durch  Verluste  vermindeiten 
Handlimgsfonds ;  kein  Gesellschafter  ist  hier- 
zu verpflichtet,  wenn  er  diese  Verpflichtimg 
nicht  besonders  übeniommen  hat.  B.G.B. 
§  707. 

Anderei*seits  ist  die  Einlage  in  keiner 
Weise  massgebend  für  den  Gesamtbetrag, 
mit  welchem  ein  Gesellschafter  den  Verlust 
zu  tragen  hat.  Dieser  Betrag  ist  in  der 
Regel  überhaupt  nicht  begrenzt;  die  Gesell- 
schafter können  aber  unter  einander  verein- 
baren, dass  einer  oder  einige  von  ihnen  am 
Verlust  nur  bis  zu  einer  l:)estimmten  Maxi- 
malsumme teilnehmen,  und  diese  Summe 
kann  gi'össer  oder  kleiner  als  die  Einlage 
sein  oder  mit  ihr  zusammentreffen. 

Die    Zuwendung    aus    dem    Privatver- 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


1005 


mögen  in  das  Gesellschaftsvennögen  kann 
entweder  darin  bestehen,  dass  ein  Ver- 
mogensstück  seiner  Substanz  nach  über- 
tragen wird  oder  dass  nur  das  Gebrauchs- 
oder Nutzungsrecht  für  die  Zwecke  der  Ge- 
sellschaft eingeräumt  wird ;  im  ersteren  Falle 
geht  das  volle  Dispositionsrecht  sowie  peri- 
culum  und  commodum  auf  die  Gesellschaft 
über,  im  letzteren  Falle  treffen  Erhöhungen, 
Verminderungen  oder  Zerstörungen  des 
"Wertes  das  Privatvermögen  des  Gesell- 
schafters. Ob  die  Einlage  quoad  substan- 
tiam  oder  quoad  usum  erfolgt,  hängt  von 
der  Vereinbarung  der  Gesellschafter  ab. 
Das  B.G.B.  §  706  Abs.  2-  hat  aber  in  2 
FäUen  eine  Vermutung  dafür  aufgestellt, 
dass  das  Einbringen  zu  gemeinschaft- 
lichem Eigentum  der  GeseDschafter  er- 
folgt, nämlich  wenn  verbrauchbare  oder  ver- 
tretbare Sachen  eingebracht  werden;  und 
wenn  nicht  verbrauchbare  oder  nicht  ver- 
tretbare Sachen  nach  einer  Schätzung  ein- 
gebracht werden  und  die  Schätzung  nicht 
bloss  zum  Zweck  der  Gewinnverteilung  ge- 
schieht!) Während  das  alte  H.G.B.  §  91 
imgenau  sagte,  dass  diese  Gegenstände 
Eigentum  der  Gesellschaft  werden,  und 
dadurch  eine  irrtümliche  Auslegung  in  der 
Theorie  und  Praxis  verschuldete,  sagt  jetzt 
das  B.G.B.,  dass  sie  gemeinschaftliches  Eigen- 
tum der  Gesellschafter  werden  sollen. 
Zum  Uebergang  des  Eigentums  ist  je  nach 
der  Art  des  Objekts  Eintragung  im  Grund- 
buch, üebei-gabe  der  Sache,  Indossament  des 
Orderpapiers  etc.  erfonlerlich  und  das  Ein- 
bringen bildet  nur  die  iusta  causa  des 
Uebertragungsaktes.  Die  dinglichen  Rechts- 
beziehungen der  einzelnen  zum  Gesellschafts- 
vermögen gehörigen  Gegenstände  werden 
von  den  im  Societätsvertrage  getroffenen 
Festsetzungen  nicht  unmittelbar  berührt. 
Die  Gesellschafter  können  aber  verlangen, 
dass  die  zur  Einlage  bestimmten  Ver- 
mögensobjekte in  erkennbarer  W^eise  aus 
dem  Privatvermögen  ausgeschieden  und  dem 
Firmenvermögen  einverleibt  werden,  d.  h. 
dass  die  zur  Einlage  bestinunten  Gnmd- 
stücke  der  Firnia  aufgelassen,  die  Order- 
papiere und  Namensaktien  ihr  indossiert, 
die  gewöhnlichen  Forderungen  und  Hypo- 
theken ihr  cediert,  die  beweglichen  Sachen 
und  Inhaberpapiere  ihr  tradiert  werden. 

>)  Das  alte  H.G.B.  Art.  91  Abs.  2  bestimmte 
ausserdem,  dass  im  Zweifel  angenommen  wird, 
dass  die  in  das  Inventar  der  Gesellschaft  mit 
der  Unterschrift  sämtlicher  Gesellschafter  ein- 
getragenen, bis  dahin  einem  Gesellschafter  ge- 
hörigen beweglichen  oder  unbeweglichen  Sachen 
Eigentum  der  Gesellschaft  geworden  sind.  Diese 
Bestimmnng  ist  in  das  nene  HG.B.  nicht  auf- 
genommen worden,  weil  sie  eine  Beweisregel 
und  deshalb  nach  §  286  der  C.P.O.  entbehr- 
lich ist. 


Völlig  gleichartige  Grundsätze  gelten  von 
der  Kommanditgesellschaft.  Aller- 
dings erweckt  das  H.G.B.  (§  161,  162)  den 
Anschein,  als  sei  die  Vermögenseinlage  des 
Kommanditisten  wesentlich;  dies  beruht 
aber  nur  darauf,  dass  das  H.G.B.  die  Ver- 
mögenseinlage und  die  Haftsumme  des 
Kommanditisten  durchweg  zusammenwirft. 
Es  ergiebt  sich  daraus  aber  höchstens  der 
dispositive  Rechtssatz,  dass  der  Komman- 
ditist in  der  Regel  verpflichtet  ist,  eine 
Mnlage  in  Höhe  der  Haftsumme  zu  machen. 
Im  übrigen  erkennt  der  §  163  an,  dass  das 
Rechtsverhältnis  unter  den  Gesell- 
schaftern —  und  ein  solches  steht  hin- 
sichtlich der  Einlage  einzig  und  allein  in 
Frage  —  sich  nach  dem  GeseDschaftsver- 
trage,  und  soweit  keine  Vereinbarung  ge- 
troffen ist,  nach  den  gesetzlichen  Bestim- 
mungen über  das  Rechtsverhältnis  der 
offenen  Gesellschafter  unter  einander  richtet. 
Die  Abweichungen,  welche  die  §§  164 — 169 
ergeben,  beziehen  sich  nicht  auf  die 
Leistung  einer  Einlage:  der  §  165  be- 
trifft lediglich  das  Vernältnis  zu  Dritten, 
also  die  Haftung,  wenngleich  er  das  Wort 
»Einl^«  statt  »Haftsiunme«  verwendet. 
Die  Einlage  des  Kommanditisten  kann 
grösser  oder  kleiner  als  die  Haftsumme  sein, 
sie  kann  dem  Konunanditisten  erlassen  oder 
zunickgegeben,  sie  kann  erhöht  oder  ver- 
mindert werden.  Dies  alles  hat  unter  den 
Gesellschaftern  volle  Rechtswirksamkeit,  für 
die  Haftung  des  Kommanditisten  dagegen 
ist  es  ohne  Belang.    H.G.B.  §  172,  174. 

5.  Der  Anteil  an  Gewinn  und  Ver- 
lust Jeder  Gesellschafter  ist  an  dem  finan- 
ziellen Ergebnis  des  Gewerbebetriebes  an- 
teümässig  beteiligt..  Die  Anteile  sind  in 
Ermangelung  einer  anderen  Vereinbarung 
gleich  (H.G.B.  §  121  Abs.  3  B.G.B.  §  722). 
Die  Gesellschafter  können  aber  nicht  nur 
ihre  Anteile  verschieden  festsetzen,  sondern 
sie  können  auch  vereinbai^en,  dass  ein  ein- 
zelner Gesellschafter  einen  anderen  Anteil 
am  Gewinn  wie  am  Verlust  zu  tragen  habe 
oder  dass  der  Gewinn-  oder  Verlustanteil 
eines  einzelnen  Gesellschafters  einen  be- 
stimmten Betrag  nicht  übersteigen  dürfe. 
Die  Auslegungsregel  des  B.G.B.  §  722  Abs.  2, 
dass  wenn  nur  der  Anteil  am  Gewinn  oder 
am  Verlust  bestimmt  ist,  die  Bestimmung 
im  Zweifel  für  Gewinn  und  Verlust  gilt, 
findet  auch  auf  die  offenen  Handelsgesell- 
schaften Anwendung. 

Für  die  Berechnung  des  Gewinn-  und 
Verlustanteils  stellt  H.G.B.  §  121  die  Regel 
auf,  dass  jedem  Gesellschafter  zunächst  ein 
Anteil  von  4  ®/o  seines  Kapitalanteils  gebührt ; 
reicht  der  Gewinn  hierzu  nicht  aus,  so  wii'd 
ein  entsprechend  niedrigerer  Prozentsatz  ge- 
wätu-t.  Ist  kein  Gewinn  oder  ist  Verbist 
vorhanden,   so   >\4rd  für  den  Kapitalanteil 


1006 


Handelsgesellschaften  (Formen ) 


eine  Yergütmig  nicht  gegeben.  Die  Ver- 
gütung wird  nach  Art  cler  Kontokorrent- 
zinsen berechnet;  wenn  also  der  Gesell- 
schafter im  Laufe  des  Geschäftsjahres  Ein- 
lagen gemacht  hat  oder  Geld  auf  seinen 
Kapitalanteil  entnommen  liat  so  werden  die 
4^/0  pro  luta  temporis  berechnet  und  ihm 
zu-  oder  abgeschrieben.  (§  121  Abs.  2.) 
Wirkliche  Zinsen  sind  diese  Vergütungen 
nicht,  sondern  ein  Voraus  bei  der  Gewinn- 
verteilung. Aus  diesem  Grunde  ist  es  den 
Gesellschaftern  unbenommen,  sowohl  diese 
Zinsenberechnung  ganz  auszusclüiessen,  d.  h. 
das  Princip  der  Verteilung  von  Gewinn  und 
Verlust  nach  Köpfen  voll  und  ganz  zur  An- 
wendung zu  bringen  als  auch  den  Prozent- 
satz nach  Belieben  zu  erhöhen.  Die  Er- 
mittelung des  Gewinnes  oder  Verlustes  er- 
folgt am  Ende  eines  jeden  Geschäftsjahres 
auf  Gnmd  der  Bilanz  (§  120).  Das  Ge- 
schäftsjahr braucht  nicht  mit  dem  Kalender- 
jahr übereinzustimmen,  sondern  kann 
auch  mit  einem  anderen  Tage  als  dem  1. 
Januar  beginnen.  Auch  dieser  Satz  ist  nur 
ein  dispositiver;  durch  übereinstimmenden 
Willen  der  Gesellschafter  kann  nicht  nur 
eine  andere  regelmässige  Periode  festgesetzt, 
sondern  auch  zu  jedem  beliebigen  Zeitpunkt 
ein  ausserordentlicher  Bechnungsabschluss 
vorgenommen  werden.  Für  die  Aufstellung 
der  Bilanz  sind  besondere  Regeln  nicht  ge- 
geben ;  abgesehen  davon,  dass  sämtliche  Ge- 
sellschafter das  Inventar  imd  die  Büanz  zu 
unterzeichnen  halxjn  (§  41  Abs.  1).  Wäh- 
rend aber  die  Vorschrift  des  §  40,  dass 
sämtliche  Vermögensstücke  und  Forderungen 
nach  dem  Weihte  anzusetzen  sind,  welchen 
sie  zur  Zeit  der  Aufnahme  des  Inventars 
und  der  Bilanz  haben,  für  den  Einzelkauf- 
mann bloss  eine  Ordnungsvorschrift  ist,  deren 
Verletzung  civilrechtliche  Wirkungen 
in  keinem  Falle  hat,  ist  jeder  Gesellschafter 
dem  andern  gegenüber  berechtigt,  die  Be- 
folgung dieser  Vorsclirift  zu  verlangen,  und 
nur,  wenn  sämtliche  Gesellschafter  einver- 
standen sind,  können  andere  Grundsätze  füi' 
die  Aufstellung  der  Bilanz  ziu:  Anwendung 
gebracht  werden. 

Für  die  Kommanditgesellschaft 
erleiden  die  vorstehenden  Regeln  eine  Modi- 
fikation, da  der  Grundsjitz  der  gleichen  Ver- 
teilung des  Gewinnes  unil  Verlustes  auf  die 
Kommanditisten  nicht  anwendbar  ist,  Felilt 
es  an  einer  Vereinbarung  darüber,  so  wird 
der  den  einzelnen  Kommanditisten  treffende 
Anteil  am  Gewiim,  soweit  er  den  Betrag 
von  4^.0  der  Kapitalanteile  übersteigt,  so- 
wie der  Auteil  des  Kommanditisten  am 
Verlust  nach  Massi;'abe  der  Umstände  nach 
richterlichem  Ermessen,  nötigenfalls  unter 
Zuziehung  von  Sachverständigen,  festgestellt 
(H.G.B.  S  1^)8). 

6.  Der  Kapitalanteil.    Bor  Anteil  eines 


Gesellschafters  am  Gesellschaftsverwiögen, 
welchen  das  neue  H.G.B.  als  Kapitalanteil 
bezeichnet,  besteht  regelmässig  aus  zwei 
Elementen,  nämlich  aus  seiner  Einlage  und 
den  etwa  von  ihm  geleisteten  Einlageer- 
höhungen (Nachschüssen)  nach  Abzug  aller 
von  ihm  aus  dem  Gesellschaftsfonds  ent- 
nommenen Summen  und  aus  seinem  Anteil 
am  Gewinn  oder  Verlust.  H.G.B.  §  120 
Abs.  2.  Indem  man  ftir  jeden  Gesellscliafter 
die  Summe  seiner  Einlagen  und  Gewinn- 
anteile und  andererseits  die  Summe  der 
von  üim  aus  dem  Handlungsfonds  entnom- 
menen Beträge  und  seiner  Verlustanteile 
feststellt,  gewinnt  man  durch  die  Differenz 
beider  seinen  Kapitalanteil. 

Der  einzelne  Gesellschafter  kann  seinen 
Kapitalanteil  ohne  Zustimmung  der  übrigen 
im  allgemeinen  wieder  vermindern  noch  er- 
höhen. Doch  erleidet  dieses  Princip  eine 
wichtige  Modifikation.  Der  Gesellschafter 
darf  nämlich  einen  Betrag  bis  zu  4  ^/o  seines 
für  das  letzte  Geschäftsjahr  festgestellten 
Kapitalanteils  unbedingt  und  seinen  Anteil 
an  dem  diesen  Betrag  übersteigenden  Ge- 
winn des  letztverflossenen  Jahres,  soweit  es 
nicht  zum  offenbaren  Nachteil  der  Gesell- 
schaft gereicht,  aus  dem  Fonds  der  Gesell- 
schaft entnehmen  (H.G.B.  §  122).  Gewinn- 
anteile eines  Geschäftsjahi^es  aber,  die  bis 
zum  Ablauf  des  nächstfolgenden  Geschäfts- 
jahi'es  nicht  erhoben  sind,  wachsen  dem 
Kapitalanteil  zu;  es  ist  dies  ebensowolil 
eine  Pflicht  als  ein  Recht  jedes  Gesell- 
schafters gegen  die  übrigen. 

Für  den  Kapitalanteil  ist  es  keine  not- 
wendige Voraussetzung,  dass  eine  Einlage 
gemacht  worden  ist ;  er  kann  auch  aus  dem 
Gewinn-  und  Verlustanteil  allein  sich  bilden. 
Ferner  kann  der  Anteil  in  einer  passiven 
Summe  bestehen,  wenn  die  Anteile  eines 
Gesellschafters  am  Verluste  und  die  von 
ihm  aus  dem  Handlungsfonds  entnommenen 
Beträge  die  Summe  seiner  Einlagen  imd 
Gewinnanteile  übersteigen. 

Eigentümlich  ist  aber  dem  Kapitalanteil, 
dass  er  nicht  in  einer  bestimmten  Quote, 
sondern  in  einer  stets  veränderlichen  Summe 
besteht.  Der  Kapitalanteil  erscheint  stets 
in  der  Gestalt  eines  Saldos  eines  Konto- 
korrents zwischen  der  Firma  und  dem  (le- 
sellschafter,  und  seine  kontinuierlicht?  Ver- 
änderung vollzieht  sich  durch  Eintragungen 
von  Summen  in  das  Habet  und  Debet  dieser 
laufenden  Rechnung;  er  nimmt  dadurch  die 
äussere  Gestalt  eines  Forderungsrechts 
zwischen  dem  Gesellschaftsfonds  (Firma) 
und  dem  Privat vermöcren  der  einzelnen  (tc- 
sellschafter  an.  Deshalb  niuss  jede  bei  Ein- 
gehung des  Vertrages  oder  später  gemachte 
Einlage  in  (reld  veranschlagt  wenlen  (H.G.B. 
§  39):  haben  sich  die  Gesellscliafter  zu 
Leistiuigi-n  verpflichtet,  deren  Wert  in  einer 


Hanclelsgese]lscliaften  (Formen) 


1007 


Geldsumme  nicht  aiisgednlckt  werden  kann, 
so  haben  diese  Leistungen  nicht  den  Cha- 
rakter der  Einlage  und  können  auf  dem 
Conto  über  den  Kapitalanteil  nicht  gebucht 
wenlen. 

Der  in  einer  Geldsumme  ausgedrückte 
Kapitalanteil  der  Gesellschafter  kann  von 
dem  wahren  Wert  desselben  sehr  erheblich 
abweichen,  da  sowohl  die  Schätzung  der 
Einlagen  als  die  Gnmdsätze  für  die  Auf- 
stellung der  Bilanz  und  der  hiervon  ab- 
hängigen Berechnung  des  Gewinnes  oder 
Verlustes  dem  Belieben  der  Gesellschafter 
überlassen  sind.  Während  die  Gesellschaft 
besteht,  kommt  diese  Differenz  nicht  zum 
Austrag,  so  lange  nicht  ein  Gesellschafter 
am  Schlüsse  eines  Geschäftsjahres  die 
Richtigstellung  des  Inventars  und  der  Bilanz 
verlangt,  Eret  bei  der  Liquidation  des  Ge- 
sellschaftsvermögens '^'ird  der  Unterschied 
zwischen  dem  ziffermässigen  Buchwert  des 
Gesellschaftsvermögens  und  seinem  durch 
die  Liquidation  ermittelten  Effektivwert  da- 
durch fortgeschafft,  dass  das  Ergebnis  der 
Liquidation  ebenso  wie  das  Ergebnis  eines 
Geschäftsjahres,  d.  h.  als  Gewinn  oder  Ver- 
lust, angesehen  und  den  einzelnen  Gesell- 
schaftern anteilmässig  auf  ihren  Contis  zu 
Gunsten  oder  zu  Lasten  geschrieben  wird. 
Dagegen  müssen  die  Abschlüsse  (Saldi) 
dieser  Rechnungen  über  die  Geschäftsanteile 
der  einzelnen  Gesellschafter  zusammenge- 
rechnet stets  dem  Bestände  des  Gesell- 
ßchaftsvermögens  gleich  sein,  wie  er  sich 
ziffermässig  aus  den  Ilandlungsbüchern  er- 
giebt.  Eine  Abweichung  von  diesem  Grund- 
satze kann  nur  auf  einem  Irrtum  oder  einem 
technischen  Fehler  der  Buchfülirung  be- 
ruhen imd  würde  ohne  rechtliche  Bedeutung 
sein. 

Bei  der  Kommanditgesellschaft 
greifen  dieselben  Gnmdsätze  Platz;  für  die 
Kommanditisten  ergiebt  sich  aber  dadurch 
eine  Abweichung,  dass  das  H.G.B,  von  der 
Annahme  ausgeht,  dass  die  Beteiligung 
(der  Geschäftsanteil)  des  Kommanditisten  der 
Haftsimame  desselben  gleich  sei.  Hieraus 
ergiebt  sich  der  (d  i  s  p  o  s  i  t  i  v  e)  Rechtssatz, 
dass  der  Kommanditist  nur  bis  zum  Betrage 
seines  Kapitalanteils  und  seiner  noch  rück- 
ständigen Einlage  an  dem  Verlust  teilnimmt, 
sein  Conto  daher  keinen  Passivsaldo  haben 
kann  und  dass  andererseits,  so  lange  seine 
l:)edungene  Einlage  diu*ch  Verlust  vermm- 
dert  ist,  der  jährliche  Gewinn  zur  Deckung 
des  Verlustes  zu  verwenden  ist,  §  167  Abs  3 ; 
§  169  Abs.  1. 

Jedoch  braucht  der  Kommanditist  den 
bezogenen  Gewinn  wegtn  spätei^er  Verluste 
der  Gesellschaft  nicht  zurückzuzalilen,  §  169 
Abs.  2.  Auch  kann  der  Kommanditist  sei- 
nen Kapitalanteil  nicht  ohne  Zustimmung 
der  übrigen  Gesellschafter  über  flen  Betrag 


der  bedungenen  Einlage  anwachsen  lassen 
§  167.  Ist  dieser  Beti'ag  erreicht,  so  werden 
die  dem  Kommanditisten  zukommenden  Ge- 
winnanteile nicht  dem  Kapitalanteil  zuge- 
schrieben, sondern  sie  bilden  ein  davon  ver- 
schiedenes Guthaben,  eine  wirkliche  Forde- 
rung an  die  Gesellschaft. 

7.  Geschäftsführung.  Die  Geschäfts- 
führung ist  ebensowohl  ein  Recht  als 
eine  Pflicht  der  Gesellschafter  (H.G.B. 
§  114).  Der  Regel  nach  decken  sich  diese 
beiden  Seiten  des  Verhältnisses;  dies  ist 
aber  keineswegs  notwendig ;  hinsichtlich  des 
Rechts  imd  der  Pflicht  können  ganz  ver- 
schiedene Normen  massgebend  sein;  es  ist 
daher  erforderlich,  beide  getrennt  zu  er- 
örtern. 

1.  Das  Recht  zur  Geschäftsfüh- 
rung. Das  juristische  Wesen  desselben  l)e- 
steht  in  dem  Anspruch  eines  Gesellschafters 
gegen  die  anderen,  dass  sie  den  pekuniären 
Erfolg  seiner  im  Gewerbebetriebe  entfalte- 
ten Thätigkeit  mit  übernehmen,  die  Geschäfte 
als  für  gemeinsame  Rechnung  geschlossen 
gelten  lassen  müssen.  Dieses  Recht  er- 
streckt sich  auf  alle  Handlungen,  welche  der 
gewöhnliche  Betrieb  des  Handelsgewerbes 
der  Gesellschaft  mit  sich  bringt  (H.G.B. 
§116  Abs.  1).  Dieser  umfang  wird  auch 
dadiu-ch  nicht  eingeschränkt,  dass  die  Ge- 
sellschafter imter  sich  eine  Verteilimg  der 
Geschäfte  verabreden  oder  zur  Besorgung 
gewisser  Geschäfte  Hilfspersonen  anstellen. 
Hierdurch  wird  das  Recht  des  Gesellschaf- 
ters zur  Vornahme  jedes  beliebigen,  zum 
Gewerbebetrieb  gehörigen  Geschäfts  an  und 
für  sich  nicht  aufgehoben ;  seine  Verantwort- 
lichkeit erstreckt  sich  aber  auch  auf  den 
Schaden,  den  er  etwa  durch  sein  Eingreifen 
in  den  einem  anderen  überwiesenen  Ge- 
schäft skreis  angerichtet  hat.  Durch  Verein- 
barung der  Gesellschafter  kann  aber  auch 
das  Recht  zur  Geschäftsfühnuig  beschränkt 
soA\ieüber  seinen  gesetzlichen  Umfang  hinaus 
erweitert  werden.  Ueberschreitet  ein  Gesell- 
schafter bei  der  Führung  von  GeseUschafts- 
geschäften  seine  Befugnisse,  so  kommen 
nicht  die  Grundsätze  von  der  Societät,  son- 
dern die  von  der  negotiorum  gestio  zur  An- 
wendimg. Innerhalb  der  Grenzen  seiner 
Befugnisse  kann  jeder  Gesellschafter  ohne 
Mitwirkung  der  übrigen  Handlungen  für  die 
Gesellschaft  vornehmen,  mit  Ausnahme  der 
Erteilung  einer  Prokura,  welche  nur  unter 
Einwilligung  aller  an  der  Geschäftsführung 
beteiligten  Gesellschafter  erfolgen  soll  (§  116 
Abs.  3)1).  Das  Recht  des  Gesellschafters, 
die  Geschäfte  allein  vorzunehmen,  kann 
demnach  in  doppelter  Weise  ausgesciilossen 


^)  Die  Giltigkeit  der  erteilten  Prokura  wird 
aber  durch  die  Verletzung  dieser  Vorschrift 
nicht  berührt  (§  126  Abs.  1  am  Ende). 


1008 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


werden;  entweder  in  der  Art,  dass  er  an 
der  Geschäftsfühnmg  gar  nicht  teilnehmen 
soll  (§  114  Abs.  2)  oder  dass  er  nur  in  Ge- 
meinschaft mit  anderen  handeln  soll  (§115 
Abs.  2).  In  beiden  Fällen  liegt  ein  Verzicht 
des  Gesellschafters  auf  sein  societätsmässiges 
Recht  vor;  wider  seinen  Willen  kann  ihm 
das  letztere  in  der  Regel  nicht  entzogen 
werden.  Jedoch  kann  einem  Gesellschafter 
auf  Antrag  der  übrigen  Gesellschafter  das 
Recht  zur  GesohaftsJöhrung  durch  gericht- 
liche Entscheidung  entzogen  werden,  wenn 
ein  wichtiger  Gnind  vorliegt,  insbesondere 
grobe  Pflichtverletzung  oder  Unfähigkeit  zur 
ordnungsmässigen  Geschäftsführung  (§  117. 
Anders  B.G.B.  §  712). 

Aus  dem  konkiurierenden  Recht  aller 
Gesellschafter  zur  alleinigen  Vornahme  der 
Geschäfte  ergiebt  sich  zugleich  ein  Veto 
jedes  einzelnen  (§  115  Abs.  1.  B.G.B. 
§  711).  Nur  der  Widerruf  einer  Prokura 
ist  ausgenommen  (§  116  Abs.  3).  Die  Nicht- 
befolgung  des  Veto  seitens  eines  Gesell- 
schafters schliesst  die  Haftung  der  Gesell- 
schafter für  das  abgeschlossene  Geschäft 
nicht  aus,  begründet  aber  die  Verpflichtung 
des  Gesellschafters  zimi  Ersatz  des  Scha- 
dens, welcher  der  Gesellschaft  aus  der  von 
ihm  vorgenommenen  Handhmg  erwächst. 
Andererseits  kann  das  Recht  des  Veto  nicht 
willkürlich  und  mit  Verletzung  der  bona 
fides  ausgeübt  werden. 

2.  Die  Pflicht  zur  Geschäftsfüh- 
rung. Da  ein  Gewerbebetrieb  ohne  Ge- 
schäftsführung nicht  möglich  ist,  so  liegt  in 
dem  Eintritt  in  eine  Handelsgesellschaft  zu- 
gleich die  vertragsmässige  Pflicht  zur  Ar- 
beitsleistimg.  Diese  Pflicht  umfasst  grund- 
sätzlich alle  im  Gewerbebetriebe  erforder- 
lichen Arbeiten ;  in  einem  engeren  Sinne 
aber  versteht  man  unter  Geschäftsfühning 
die  Geschäftsleitung.  In  welchem  um- 
fange die  Gesellschafter  zur  Geschäftsfüh- 
rung verpflichtet  sind,  hängt  von  ihrer 
Vereinbarung  ab;  im  Zweifel  ist  anzuneh- 
men, dass  sie  von  solchen  Diensten  befreit 
sein  soUen,  welche  ihrer  Lebensstellung 
oder  Bildung  nicht  entsprechen  oder  nach 
dem  Gtebrauch  von  Hilfspersonen  verrichtet 
werden.  Durdi  Vertrag  kann  ein  Gesell- 
schafter von  der  Pflicht  zur  Geschäftsfüh- 
rung ganz  befreit  werden,  und  dies  kann 
selbst  auf  alle  Gesellsehafter  ausgedehnt 
werden,  da  das  Gewerbe  auch  durch  Be- 
vollmächtigte und  Gehilfen  betrieben  werden 
kann. 

Die  Pflicht  zur  Geschäftsführung  ist  un- 
entjjeltlich  zu  erfüllen,  weil  sie  eine  gegen- 
seitige ist  und  in  dem  Anteil  am  Gewinne 
ihren  Lohn  findet;  dem  Gesellschafter  sind 
aber  die  ihm  aus  der  Geschäftsführung  er- 
wachsenen Kosten  und  Auslagen  sowie  die- 
jenigen Verluste,  welche  er  ohne  sein  Ver- 


schulden durch  dieselbe  erlitten  hat,  aus 
dem  Gesellschaftsfonds  zu  erstatten  (§  110). 
Bei  Führung  der  Geschäfte  haftet  jeder  Ge- 
sellschafter für  diejenige  Sorgfalt,  welche 
er  in  seinen  eigenen  Angelegenheiten  anzu- 
wenden pflegt  (B.G.B.  §  708).  Der  Schaden, 
der  durch  eine  Pflichtverletzung  verursacht 
wird,  ist  dem  Handlungsfonds,  nicht  den 
einzelnen  Gesellschaftern  anteilmässig,  zu 
ersetzen.  Die  Geschäftsführung  begründet 
die  Pfhcht  zur  Rechnungslegung;  derselben 
wird  aber  regelmässig  durch  die  Fühnmg 
der  Handlungsbücher  genügt.  Soweit  sich 
nicht  aus  dem  Gesellschaftsverhältnis  ein 
anderes  ergiebt,  gelten  für  die  aus  der  Ge- 
schäftsführung hervorgehenden  Ansprüche 
imd  Verpflichtungen  die  Vorschriften  des 
B.G.B.  §§  664  bis  670  über  den  Auftrag. 
ß.G.B.  §  713. 

3.  Die  Kontrolle  der  Geschäfts- 
führung. Jeder  Gesellscliafter  ist  befugt, 
sich  persönlich  von  dem  Gange  der  Gesell- 
schaftsangeiegenheiten  zu  unterrichten,  zu 
diesem  Zweck  zu  jeder  Zeit  in  das  Ge- 
schäftslokal zu  kommen,  die  Handelsbücher 
und  Papiere  der  Gesellschaft  einzusehen  imd 
auf  ihi^r  Grundlage  eine  Bilanz  zu  seiner 
Uebersicht  anzufertigen  (§  118;  ß.G.B.  §  716 
Abs.  1).  Für  jeden  an  der  Geschäftsführung 
beteiligten  Gesellschafter  versteht  sich  diese 
Befugnis  von  selbst  und  sie  schliesst  zu- 
gleich die  Pflicht  in  sich,  von  dem  Stande 
der  GesellschaftsgeschaFte  sich  fortwährend 
in  vollkommener  Kenntnis  zu  erhalten. 
Aber  auch  der  von  der  Geschäftsfühning 
ausgeschlossene  oder  befreite  Gesellschafter 
liat  das  Recht,  sich  über  die  Lage  der  Ge- 
sellschaftsgeschäfte zu  unterrichten  und  die 
Geschäftsführung  der  übrigen  Gesellschafter, 
Prokuristen,  Handlungsgehilfen  zu  kontrol- 
lieren. Er  kann  zwar  auch  auf  dieses  Recht 
wirksam  verzichten ;  dieser  Verzicht  ist  aber 
nicht  in  dem  Verzicht  auf  die  Geschäfts- 
führung enthalten,  sondern  muss  besonders 
erklärt  werden.  Der  Verzicht  verliert  seine 
Wirkung,  wenn  Grund  zu  der  Annahme 
unredlicher  Geschäftsführung  besteht  (§  118 
Abs.  2;  B.G.B.  §  716  Abs.  2).  Das  Recht 
zur  Kontrolle  ist  unübertragbar  imd  muss 
in  der  Art  ausgeübt  werden,  dass  dadurch 
der  ordnungsmässige  Beüieb  der  Geschäfte 
keine  Störung  erleidet. 

4.  Bei  der  Kommanditgesellschaft 
haben  die  Kommanditisten,  sofern  nicht  et- 
was anderes  vereinbart  ist,  weder  das  Recht 
noch  die  Pflicht  zur  Geschäftsführung,  mit- 
hin auch  den  persönlich  haftenden  Gesell- 
schaftern gegenüber  kein  Veto,  es  sei  denn, 
dass  die  Handlung  €ber  den  gewöhnlichen 
Betrieb  des  Handel^gewerbes  der  Gesell- 
schaft hinausgeht  (§  164  Abs.  1).  Auch  bei 
der  Erteilung  oder  dem  Widerruf  einer  Pro- 
kura haben  die  Kommanditisten  kein  Recht 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


1009 


der  Mitwirkung  oder  des  "Widerspruchs. 
Desgleichen  ist  ihnen  das  Recht  der  Kon- 
trolle der  Geschäftsführung  entzogen,  jedoch 
sind  sie  berechtigt,  die  abschriftliche  Mit- 
teilung der  jähi'lichen  Bilanz  zu  verlangen 
und  die  Richtigkeit  derselben  unter  Einsicht 
der  Bücher  und  Papiere  zu  prüfen  (§  166 
Abs.  1). 

8.  Das  Konknrrenzverbot  Zu  den 
durch  den  ÖeseUschaftsvertrag  begründeten 
gegenseitigen  Pflichten  gehört  endlich  die 
ünterlassungspflicht,  weder  in  dem  Handels- 
zweige der  Gesellschaft  für  eigene '  Rech- 
nung oder  für  Rechnung  eines  Dritten  Ge- 
sellte zu  machen  noch  an  einer  anderen 
gleichartigen  Handelsgesellschaft  als  offener 
Gesellschafter  teilzunehmen  (§  112  Abs.  1). 
Der  Grund  dieser  Beschrftnkung  liegt  darin, 
dass  der  Gesellschafter  die  ihm  zustehende 
Kenntnis  der  Geschäftsverbindungen,  der 
Handelsnachrichten  und  Geschäftsgelegen- 
heiten nicht  im  eigenen  Interesse  oder  im 
Interesse  Dritter  zum  Schaden  der  Gesell- 
schaft verwerten  und  dadmxjh  der  Ent- 
wickelung  des  Gewerbes  der  Gesellschaft 
hinderlich  sein  soll.  Darum  trifft  das  Kon- 
kurrenzverbot nicht  bloss  die  gescliäfts- 
führenden,  sondern  aUe  Gesellschafter;  es 
ist  aber  beschränkt  auf  den  Handelszweig 
der  Gesellschaft.  Die  Frage,  welche  Ge- 
schäfte von  dem  Konkiurenzverbot  getix)ffen 
werden,  ist  immer  nur  nach  den  Umständen 
des  einzelnen  Falles  zu  entscheiden;  allge- 
meine Grundsätze  lassen  sich  dafür  nicht 
aufstellen.  In  erster  Linie  entscheidet  auch 
über  die  Grenzen  des  Konkurrenzverbots 
der  Yertragswille. 

Der  Beti'ieb  von  Konkurrenzgeschäften 
ist  nur  dann  eine  Pflichtverletzung,  wenn 
er  ohne  Genehmigung  der  anderen  Gesell- 
schafter erfolgt.  Erforderlich  ist  aber  die 
Zustimmung  aller  Gesellschafter,  auch  der 
nichtgeschäftsführenden ,  denn  der  schä- 
digende Einfluss  der  Konkurrenz  trifft  auch 
sie.  Wenn  auch  nur  ein  Gesellschafter  die 
Zustimmung  verweigert  hat,  liegt  der  Fall 
ebenso,  als  wenn  sie  sämtliche  Gesellschafter 
verweigert  hätten;  das  ganze  Geschäft  ist 
pflichtwidrig.  Die  Genehmigung  kann  teils 
im  allgemeinen,  teils  für  einzelne  Geschäfte 
erteilt  werden,  und  in  beiden  Fällen  bedarf 
es  nicht  einer  ausdrücklichen  Erklänmg, 
sondern  es  genügt  ein  wissentliches  Dulden. 
§  112  Abs.  2  stellt  für  einen  besonderen 
Fall  eine  Interpretationsi-egel  auf. 

Verletzt  ein  Gesellschafter  das  Kon- 
kuiTcnzverbot ,  so  hat  dies  dieselben  Wir- 
kungen wie  andere  Verletzungen  der  ver- 
tragsmässigen  Verpflichtimgen,  nämlich  den 
Anspruch  auf  Auflösung  der  Gesellschaft 
und  den  Anspnich  auf  Schadenersatz;  an- 
statt des  letzteren  lässt  §  113  aber  auch 
das  Eintreten  der  Gesellschaft  in  das  vom 


Gesellschafter  für  eigene  Rechnung  ge- 
schlossene Geschäft  zu.  Hat  der  Gesell- 
schafter das  Geschäft  für  fremde  Rechnung 
geschlossen,  so  kann  die  Gesellschaft  ver- 
langen, dass  der  Gesellschafter  die  dafür 
bezogene  Yergütimg  herausgebe  oder  den 
Anspruch  auf  die  Vei^tung  ihr  abtrete. 
Gegen  die  Geltendmachung  dieser  Ansprüche 
hat  der  pflichtwidrig  handelnde  Gesell- 
sellschafter  kein  Recht  des  Widerspruchs. 
§  113  Abs.  2.  Das  Recht  zum  Eintreten  in 
das  Geschäft  wie  das  Recht  auf  Schaden- 
ersatz erlischt  nach  drei  Monaten  nach  er- 
langter Kenntnis  von  dem  Geschäft  und  sie 
verjähren  ohne  Rücksicht  auf  diese  Kenntnis 
in  fünf  Jahren  von  ihrer  Entstehung  an. 
§  113  Abs.  3. 

Kommanditisten  unterliegen  dem 
Konkurrenzverbot  (§  165). 

9.  Die  Aufnahme  nener  Mitglieder 
nnd  die  Beteiligung  eines  Fremden  am 
Geschäftsanteil  1.  Ein  Gesellschafter  kann 
ohne  die  Einwilligung  der  übrigen  Gesell- 
schafter keinen  Dritten  in  die  Gesellschaft 
aufnehmen.  Der  Satz  ist  keine  Besonder- 
heit der  offenen  Handelsgesellschaften,  son- 
derri  die  allgemeine,  für  alle  Societäten 
geltende  Regel  des  Civilrechts.  Art.  98  des 
alten  H,G.B.,  der  diesen  Satz  aiisdrticklich 
aussprach,  ist  als  selbstverständlich  im  neuen 
H.G.B.  gestrichen  worden. 

Wenn  ein  Gesellschafter  ohne  Zustimmung 
aller  übrigen  mit  einem  Fremden  einen 
Vertrag  über  den  Eintritt  desselben  in  die 
Gesellschaft  abschliesst,  so  ist  dies  nicht  wie 
der  Abschluss  von  Konkurrenzgeschäften 
eine  Pflichtverletzung,  sondern  es  ist  wir- 
kungslos und  hat  im  Verhältnis  zwischen 
ihm  und  den  übrigen  Gesellschaftern  keiner- 
lei Rechtsfolgen. 

Erfolgt  die  Aufnahme  eines  neuen  Ge- 
sellschafters mit  Zustimmung  aller  Betei- 
ligten, so  bewirkt  dies  zwar  eine  Verände- 
ning  des  Societätsverhältnisses,  aber  nicht 
des  Gewerbebetriebes.  Derselbe  wird  kon- 
tinuierlich fortgesetzt,  und  deshalb  bleibt 
auch  der  für  diesen  Gewerbebetrieb  be- 
stimmte Gesellschaftsfonds  als  imiversitas 
juris  bestehen.  Auch  die  Geschäftsanteile 
der  bisherigen  Mitglieder  erleiden  keine  Ver- 
änderung, sondern  verbleiben  so,  wie  sie 
sich  aus  den  darüber  geführten  Contis  er- 
geben; es  tritt  nur,  falls  der  neu  aufge- 
nommene Gesellscliafter  eine  Einlage  ge- 
macht hat,  der  Geschäftsanteil  desselben  in 
Höhe  seiner  Einlage  hinzu. 

2.  Wesentlich  verschieden  hiervon  ist  der 
Fall,  dass  ein  Gesell seliaft er  einen  Dritten 
an  seinem  Anteil  beteiligt.  Ein  solches  Ver- 
hältnis kann  sowohl  bei  Errichtung  als 
während  des  Bestehens  der  Gesellschaft 
begründet  werden.  Die  Handelsgesellschaft 
wird  davon  in  keiner  Weise  berührt:   die 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflaj?e.    IV. 


64 


1010 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


Genehmigung  der  übrigen  Gesellschafter  ist 
dazu  nicht  erforderlich;  ja  es  besteht  niclit 
einmal  die  Pflicht,  sie  davon  in  Kenntnis 
zu  setzen.  Der  Rechtsinhalt  eines  solchen 
Verhältnisses  besteht  allein  darin,  dass  der 
Gesellschafter  den  pekuniären  Ei'folg,  welchen 
seine  Teilnahme  an  der  Handelsgeseilschaft 
für  ihn  hervorbringt,  mit  dem  Fremden 
nach  dem  unter  ihnen  vereinbarten  Ver- 
hältnis zu  teilen  verpflichtet  is't.  Der  Dritte 
kann  daher  nicht  mehr  Rechte  haben,  als 
dem  Gesellschafter  (qui  eum  admisit)  selbst 
zustehen,  und  auch  diese  Rechte  kann  er 
nur  insoweit  ausüben,  als  sie  übertrag- 
bar sind.  Zu  den  übertragbaren  Rechten 
gehören  nicht  die  Befugnisse  zur  Ge- 
schäftsführung, das  Veto  und  das  Recht  zur 
Einsicht  der  Handelsbücher  und  Papiere 
der  Gesellschaft,  üebertragbar  sind  dagegen 
die  Ansprüche,  welche  einem  Gesellschafter 
aus  seiner  Geschäftsführung  zustehen,  soweit 
deren  Befriedigung  vor  der  Auseinander- 
setzung verlangt  werden  kann;  ferner  die 
Ansprüche  auf  den  Gewinnanteil,  soweit  der 
Gesellschafter  selbst  die  Auszahlung  ver- 
langen kann ;  endlich  der  Anspruch  auf  das- 
jenige, was  dem  Gesellschafter  bei  der  Aus- 
einandersetzung  zukommt.     B.G.B.   §  717. 

3.  Dieselben  Grundsätze  finden  Anwen- 
dung bei  allen  anderen  Verfügungen  eines 
Gesellschafters  über  seinen  Anteil,  z.  B. 
einer  Cessibn,  Verpfändung,  Bestellung  als 
Mitgift,  Vermächtnis  etc. 

10.  Das  Verhältnis  der  GeseUschofter 
zu  dritten  Personen,  a)  Vertretung 
der  G-esellsohaft.  1.  Man  versteht  da- 
runter die  Befugnis  der  Gesellschafter, 
Handlungen  mit  der  Wirkung  vorzuneh- 
men, dass  alle  Gesellschafter  dadurch 
solidarisch  verpflichtet  und  berechtigt  wer- 
den. Dies  ist  wesentlich  verschieden  von 
der  Befugnis  zur  »Vertretung«,  welche  man 
den  Organen  der  juristischen  Personen  zu- 
schreibt; die  Handelsgesellschaft  ist  keine 
juristische  Person  und  hat  keine  »Organe«. 
Ebenso  wenig  ist  die  Vertretungsbefugnis 
auf  eine  Handlungsvollmacht  (praepositio 
institoria),  welche  sich  die  Gesellschafter 
gegenseitig  erteilen,  zurückzuführen.  Diese 
Theorie,  mit  welcher  sich  die  ältere  scho- 
lastische Jurisprudenz  das  Verhältnis  zurecht 
zu  legen  suchte,  ist  nicht  nur  unrichtig,  da 
jeder  Gesellschafter  ein  eigenes  und  un- 
entziehbares  Recht  auf  die  Vertretung  hat 
und  nicht  bloss  für  die  anderen,  sondern 
immer  zugleich  für  sich  selbst  handelt, 
sondern  sie  ist  auch  sinnlos,  da  ihr  zufolge 
jeder  Gesellschafter  zugleich  der  Prinzii)al 
und  Handlungsbevollmächtigte  der  übrigen 
Gesellschafter  sein  w^ürde.  Der  Kernpunkt 
des  Verhältnisses  ist  vielmehr  die  Mit- 
verantwortlichkeit aller  Gesellschafter 
ür  die  Handlungen  jedes  einzelnen  und  die 


Vertretungsbefugnis  ist  das  Recht,  in  Ge- 
sellschaftsangelegenheiten zu  handeln  (Dis- 
positionen zu  treffen),  mit  rechtlicher  Wirk- 
samkeit alles  dasjenige  zu  thun,  wozu  der  ge- 
sellschaftliche Gewerbebetrieb  Veranlassung 
bietet.  Diese  Wirkungen  treten  bei  allen 
Handlungen  ein,  welche  der  Gesellschafter 
in  erkennbarer  Weise  in  dieser  Eigenscliaft 
vorgenommen  hat,  sei  es  durch  den  for- 
mellen Gebrauch  der  Firma,  sei  es,  dass  es 
sich  aus  den  Umständen  entnehmeu  lässt, 
dass  das  Geschäft  für  die  Gesellschaft  ge- 
schlossen werden  sollte  (B.G.B.  §  164  Abs.  1). 

2.  Der  Umfang  der  Dispositionsbefugnis 
reicht  nicht  bloss  soweit,  als  es  der  kon- 
krete Gewerbebetrieb  der  Gesellschaft  mit 
sich  bringt,  sondern  soweit,  als  der  Gebrauch 
der  Firma  rechtlich  möglich  ist,  mag  auch 
in  concreto  das  unter  der  Firma  gesclilossene 
Geschäft  ohne  Zusammenhang  mit  dem 
Gewerbebetrieb  der  Gesellschaft  sein  (H.G.B. 
§  126  Abs.  1).  Der  gesetzliche  Umfang  der 
Befugnis  kann  nicht  durch  Vereinbarung 
der  Gesellschafter  beschränkt  werden, 
namentlich  nicht  auf  gewisse  Geschäfte  oder 
Arten  von  Geschäften,  auf  eine  bestimmte 
Zeit  oder  bestimmte  Orte,  auch  nicht  in 
der  Art,  dass  die  Vertretung  nur  unter  ge- 
wissen Umständen  stattfinden  soU.  §  126 
Abs.  2.  Jedoch  kann  die  Vertretun^macht 
auf  den  Betrieb  einer  Zweigniederlassimg 
beschränkt  werden,  wenn  für  dieselbe  nach 
§  50  Abs.  3  eine  besondere  Firma  geführt 
wird.     §  126  Abs.  3. 

3.  Dagegen  kann  die  Vertretungsbe- 
fugnis eines  Gesellschafters  ausgesclüossen 
werden  und  zwar  entweder  gänzlich  oder 
in  der  Art,  dass  sie  nur  in  Gemeinschaft 
mit  anderen  Gesellschaftern  oder  mit  einem 
Prokuristen  ausgeübt  weitlen  soll  (sogen. 
Kollektivvertretung).  In  beiden  Fällen  ist 
die  Einw^illigung  des  von  der  Alleinvertre- 
tung auszuschliessenden  Gesellschafters  in 
der  Regel  erforderlich.  Wenn  der  Gesell- 
schafter sich  eines  ^lissbrauches  seines  Dis- 
positionsrechts schuldig  gemacht  liat  oder 
zur  ordnungsmässigen  Vertretung  der  Ge- 
sellschaft unfällig  wird,  können  die  übrigen 
Gesellschafter  nicht  nur  auf  Ausschliessung 
desselben  aus  der  Gesellschaft  oder  auf  Auf- 
lösung klagen,  sondern  es  kann  ilim  auf 
Antrag  der  übrigen  Gesellschafter  die  Ver- 
tretungsmacht durch  gerichtliche  Entschei- 
dung entzogen  werden.     §  127. 

Der  Ausschluss  des  Gesellschafters  in 
beiden  Formen  ist  im  Handelsregister  ein- 
zutragen, widrigenfalls  er  einem  Dritten  nur 
insofern  entgegengesetzt  werden  kann,  als 
ihm  nachgewiesen  w-ird,  dass  er  diese  that- 
sache  trotzdem  gekannt  habe^).  §  125 
Abs.  4  und  §  15  Abs.  1. 

^J  Ueber  die  Wiederaufhebung  der  einge- 


Handolsgesellschaften  (Formen) 


1011 


4.  Da  ilie  zur  Yertrotiing:  ermächtigten 
Gesellschafter  YoUrnachten  erteilen  können, 
so  sind  die  zur  Cresamtvertretrmg  berech- 
tigten (lesellscliafter  befugl,  einzelne  von 
ihnen  zur  Vornahme  bestimmter  (reschäfte 
oder  bestimmter  Arten  von  Geschäften  zu 
ermächtigen.  §  125  Abs.  2.  Dadurch  kann 
dem  äusseren  Anscheine  nach  die  (lesamt- 
vertretung  aufgelöst  werden  in  Einzelver- 
tretuugen  für  bestimmte  Gescliäftszweige. 
Jedoch  steht  eine  solche  Ermächtigung  nicht 
unter  den  Regeln  von  dem  Verti-etungsrecht 
<ler  Gesellschafter,  sondern  unter  denen  von 
der  Handelsvollmacht,  ist  also  widerruflich 
und  beschränkbai'. 

5.  Es  ergiebt  sich  aus  diesen  Sätzen, 
dass  zwischen  dem  Recht  zur  Geschäfts- 
fühnmg  und  dem  Recht  zur  Vertretung 
keine  Konginienz  zu  bestehen  braucht,  ob- 
gleich dies  aus  thatsächlichen  Grimdeu 
regelmässig  der  Fall  ist.  B.G.B.  §  714.  Ein 
vertretungsberechtigter  Gesellschafter  kann 
von  dem  Recht  zur  Geschäftsführmig  aus- 
geschlossen oder  von  der  Pflicht  befreit 
sein,  und  ein  von  der  Vertretung  ausge- 
schlossener Gesellschafter  kann  zu  solchen 
Handlungen  befugt  und  verpflichtet  sein, 
welche  ohne  Vertretung  der  Firma  vorge- 
nommen werden  können,  z.  B.  technische 
Arbeiten,  Buchföhrmig  etc. 

6.  Kommanditisten  haben  kein  Recht  zur 
Vertretung  der  Gesellschaft  (H.G.B.  §  170) ; 
sie  können  nur  durch  eine  Vollmacht  die 
Befugnis  zur  Vertretung  der  Fii*ma  erlialten ; 
schliessen  sie  ohne  Vollmacht  ein  Geschäft 
im  Namen  der  GeseLlscliaft  ab,  so  greifen 
die  in  den  §§  177—181  des  B.G.B.'s  aufge- 
stellten Gnmdsätze  Platz. 

b)  Haftung  der  offenen  Handels- 
geBellBohafter  i).  Jeder  Gesellschafter  haftet 
für  alle  Schulden  der  Gesellschaft  in 
ihrem  vollen  Betrage  mit  seinem  ganzen 
Vermögen,  H.G.B.  §  128. 

1)  Die  Gesellschafter  haften  für  alle 
Verbindlichkeiten  der  Gesellschaft.  Es  macht 
keinen  Unterschied,  ob  sie  aus  Verti-ägen 
hervorgehen  oder  auf  anderen  Thatbeständen 
beruhen;  insbesondere  erstreckt  sich  die 
Haftung  auch  auf  Deliktsschulden,  Abgaben, 
(Tcbühi-en,  Prozesskosten,  Verzugszinsen  etc. 
Voraussetzung  ist  lediglich,  dass  die  Schuld 
eine  Verbindlichkeit  der  Gesellscliaft  ist. 
Hierunter  fallen  aber  zwei  Kategorieen  von 
Schulden,  die  durch  zwei  verschiedene 
Merkmale  bestimmt  werden.  Die  eine 
Kategorie  umfasst  alle  unter  der  Firma 


tragenen  Kollektivvertretung  durch  thatsäch- 
liches  Geltenlassen  der  Alleinvertretung  s.  R.G. 
Bd.  5,  S.  Ißflf. 

M  Unger,  Passive  Korrealität  und  Soli- 
darität (in  den  Jahrb.  f.  Dogm.  des  heutigen 
Privatrechts,  Bd.  XXll,  1884j. 


der  Gesellschaft  kontrahierten  Schulden, 
sofern  sie  von  einer  zur  Vertretung  der  Ge- 
sellschaft befugten  Pei'son  eingegangen 
worden  sind  und  zwar  auch  dann,  wenn 
der  Gesellschafter  oder  ProKurist  einen 
Missbrauch  der  Firma  venibt  hat,  d.  h.  die 
Schuldübernahme  nicht  zum  Gewerbebetriebe 
gehört.  Die  zweite  Kategorie  umfasst  alle 
im  Gewerbebetriebe  der  Gesellschaft 
entstandenen  Schulden  und  zwar  auch  dann, 
wenn  sie  nicht  unter  der  Fii^ma  entstanden 
sind ;  (ladiu*ch,  dass  das  Gewerbe  als  Ganzes 
unter  der  Firma  betrieben  wird,  sind  alle 
einzelnen  im  Gewerbebetriebe  entstandenen 
Schulden  Fii'maschulden. 

2)  Sämtliche  Gesellschafter  liaften  für 
die  Gesellschaftsschulden  zum  vollen  Be- 
trage derselben.  Dies  beruht  nicht  auf 
dem  Gesellschaftsverhältnis,  denn  zwischen 
Societät  und  Korrealhaftung  besteht  kein 
logischer  Zusammenhang,  sondern  auf  der 
Einheitlichkeit  des  Gewerbebetriebes  unter 
gemeinsamer  Firma,  auf  der  jedem  Dritten 
bemerkbaren ,  offenkundigen ,  notorischen 
communio  negotiationis.  Diese  Haftung  in- 
volviert nicht  nur  eine  Mitverpflichtung, 
sondern  eine  wechselweise  Mitverantwort- 
lichkeit ;  culpa  imd  mora,  Versäumnisse  von 
Fristen,  von  Kechtssolennitäten,  Nichtleistung 
von  Parteieiden  etc.,  welche  einer  verschul- 
det, erzeugen  Rechtsfolgen  zum  Schaden 
aller,  sowie  anderei'seits  die  von  einem  vor- 
genommenen Rechtshandlungen  zur  Erhal- 
tung oder  zum  Schutz  von  Rechten,  Klagen, 
Einreden  etc.  allen  zu  gute  kommen.  Das 
Verhältnis  der  offenen  Handelsgesellschafter 
ist  nach  Ungers  Ausdruck  eine  »potenzierte 
Korrealität.«  Jeder  Gesellschafter  ist  Dritten 
gegentlber  für  den  ganzen  Gewerbebetrieb 
haftbar,  und  dai'um  muss  er  für  alle  und 
müssen  alle  für  ihn  einstehen. 

Aus  diesem  Grunde  haftet  derjenige, 
welcher  in  eine  bestehende  Handelsgesell- 
schaft eintritt,  gleich  den  anderen  Gesell- 
schaftern für  alle  schon  vor  seinem  Eintritt 
begründeten  Gesellschaftsschulden,  es  mag 
die  Firma  eine  Aenderung  erleiden  oder 
nicht  (H.G.B.  §  130). 

3.  Sämtliche  Gesellschafter  haften  für 
die  Gesellschaftsschulden  mit  ihrem 
ganzen  Vermögen.  Dies  ist  keine  Be- 
sonderheit der  offenen  Handelsgesellschaften, 
sondern  der  allgemeine  Rechtssatz,  dass  der 
Gläubiger  zu  seiner  Befriedigung  das  ganze 
Vermögen  seines  Schuldners  in  Anspruch 
nehmen  kann;  es  ist  nur  der  positive  Aus- 
druck dafür,  dass  die  Haftung  nicht  auf  eine 
bestimmte  Summe  beschränkt  ist.  Mit  dieser 
Haftung  des  ganzen  Veimögens  würde  es 
aber  vollkommen  vereinbar  sein,  dass  der 
Gläubiger  zunächst  sich  an  das  Gesellschafts- 
vermögen halten  müsse  und  nur,  soweit  er 
daraus  keine  Befriedigiuig  erlangt,   das  üb- 

64* 


1012 


Handelsgesellschaften  CFormen) 


rige  Vermögen  der  Gesellschafter  in  An- 
spruch nehmen  dürfe.  Als  Rechtsgrundsatz 
kann  dies  allei*dings  nicht  gelten,  weil  ein 
aktiver  GeseUschaftsfonds  überhaupt  nicht 
vorhanden  zu  sein  braucht.  Hierdurch  wird 
aber  in  keiner  Weise  ausgeschlossen,  dass 
zur  Tilgung  vonGesellschaftsschidden,  welche 
passive  J^standteile  des  Handlungsfonds 
sind,  in  erster  Reihe  die  aktiven  Bestände 
desselben  zu  verwenden  sind  und  das 
Sondervermögen  der  Gesellschafter  erst  sub- 
sidiär dazu  verwendet  wird.  Die  Reali- 
sierung dieses  Grundsatzes  ist  aber  den 
offenen  Handelsgesellschaftern  selbst  über- 
lassen; es  bedarf  hierzu  keiner  Rechtsvor- 
schriften, welche  den  Gläubigern  eine  Be- 
schränkung auferlegen.  So  lange  disponibles 
Gesellschaftsvermö^en  vorhanden  ist,  voll- 
zieht sich  die  Preihaltung  des  Sonderver- 
mögens von  der  Belastung  mit  Gesellschafts- 
schulden ganz  von  selbst  durch  Voi^gänge 
innerhalb  des  Kreises  der  Gesellschafter 
auf  Gnmd  des  §  110  des  H.G.B.  Nur  wenn 
der  Konkurs  über  das  Vermögen  der  Ge- 
sellschaft sowie  über  das  Vermögen  eines 
Gesellschafters  eröffnet  wii-d,  kommt  die 
subsidiäre  Haftung  des  Sondervermögens  für 
Gesellschaftsschulden  auch  Dritten  gegen- 
über zur  Geltung,  indem  nach  Konk.-O. 
§  212  die  Gesellschaftsgläubiger  in  dem 
Konkurse  über  das  Privatvermögen  der  Ge- 
sellschafter nur  wegen  des  Ausfalls 
ihre  Befriedigung  suchen  können. 

4.  Wenn  ein  Gesellschafter  wegen  einer 
Verbindlichkeit  der  Gesellschaft  in  Anspruch 
genommen  wird,  so  kann  er  ausser  den 
in  seiner  Person  gegründeten  Einreden  auch 
die  der  Gesellschaft  zustehenden  Einreden 
erheben  und  die  Befriedigung  des  Gläubigers 
verweigern,  so  lange  der  Gesellschaft  das 
Recht  zusteht,  das  der  Verbindlichkeit  zu 
Grunde  liegende  Rechtsgeschäft  anzufechten. 
Auch  kann  der  Gesellschafter  die  Zahlung 
verweigern,  wenn  sich  der  Gläubiger  durch 
Aufrechnung  gegen  eine  fällige  Fordenmg 
der  Gesellschaft  befriedigen  kmn.  H.G.B. 
§  129. 

o)  Haftung  der  Kommanditisten. 
Während  die  »persönlich  liaftenden«  Mit- 
glieder einer  Kommanditgesellschaft  unter 
denselben  Regeln  stehen,  welche  für  offene 
Handelsgesellschafter  gelten,  ist  die  Haftung 
der  Kommanditisten  in  einer  eigenartigen 
Weise  geregelt;  diese  besondere  Art  der 
Haftung  ist  das  charakteristische  Merkmal 
der  Kommanditgesellschaft,  durch  welches 
sie  sich  einerseits  von  der  offenen  Handels- 
gesellschaft, andererseits  von  der  stillen  Ge- 
sellschaft untei-scheidet. 

1.  Nach  der  Ausdrucksweise  des  H.G.B. 
§  161  ist  ein  Kommanditist  dasjenige  Mit- 
glied einer  Handelsgesellschaft,  welches  sich 
an    dem   Haudelsgewerbe    »nur   mit   einer 


Vermögenseinla^e  beteiligt«.  Der  Betrag 
der  Vermögensemlage  jedes  Kommanditisten 
muss  zumHandelsregister  angemeldet  werden 
(§  162,  Ziff.  4).  Für  die  vor  der  Eintragimg 
entstandenen  Verbindlichkeiten  der  Gesell- 
schaft haftet  jeder  Kommanditist  gleich  einem 
persönlich  haftenden  Gesellschafter;  erst 
durch  die  Eintragung  wird  die  ßeschi'änkimg 
der  Haftimg  recntswirksam  (§  176  Abs.  1). 
Da-  hiernach  vor  der  Eintitigung  der  be- 
schränkten Haftimg  die  Gesellschaft  ent- 
weder eine  offene  Handelsgesellschaft  oder 
gar  keine  Handelsgesellschaft  ist,  so  kann 
man  mit  Recht  sagen,  dass  die  Kommandit- 
gesellschaft erst  mit  der  Eintragung  und 
nur  durch  die  Eintragung  entsteht  (vgl  oben 
§  2  a.  E.).  Da  nun  aber  das  Rechtsver- 
hältnis unter  den  Mitgliedern  sich  nach 
dem  Gesellschaftsvertrage  richtet  (§  163), 
sie  auch  im  Verhältnis  zu  einander  den  An- 
fang der  Gesellschaft  auf  einen  beliebigen 
Zeitpunkt  festsetzen  können,  sie  ferner  die 
von  dem  Kommanditisten  zu  machenden 
Einlagen  (mit  Wirkung  unter  sich)  beliebig 
erhöhen,  herabsetzen,  verändern  können,  da- 
gegen mit  Wirkung  gegen  Dritte  die  Ein- 
lage weder  ganz  noch  teilweise  zurOckbe- 
zahlt  oder  erlassen  werden  darf  (§  172 
Abs.  3),  und  andererseits  eine  zum  Handels- 
register nicht  angemeldete  Erhöhung  der  Be- 
teiligung als  ein  rein  innerer  Vorgang  Rechte 
für  Dritte  nicht  begründen  kann  (§  17*2  Abs.  2). 
so  ergiebt  sich,  dass  zwischen  der  Beteiligung 
im  Verhältnis  zu  den  Gesellschaftern  und 
der  Haftung  gegen  Dritte  keine  Kongruenz 
zu  bestehen  braucht.  Einlage,  Beteiligung, 
Kax^italanteil,  kommen  nur  im  Verliältnis  zu 
den  Gesellschaftern,  die  Haftsumme  nur  im 
Verhältnis  zu  den  Gläubigern  in  Betracht. 
Regelmässig  werden  alleraings  Einlage  imd 
Haftsumme  gleich  sein ;  denn  der  Kommandi- 
tist muss,  faUs  es  erforderlich  wird,  die 
ganze  Haftsumme,  auch  wenn  sie  grosser 
als  die  versprochene  Einlage  ist,  den  Ge- 
sellschaftern zur  Befriedigung  der  Gläubiger 
zur  Verfügung  stellen,  und  andererseits 
können  sich  die  Gläubiger  an  den  ganzen 
Kapitalanteil  des  Kommanditisten,  auch 
wenn  er  ^össer  als  die  Haftsumme  ist 
halten,  weil  er  einen  Bestandteil  des  Ge- 
sellschaftsvermögens bildet  (sogen,  unper- 
sönliche Haftung).  Hieraus  erklärt  es 
sich,  dass  das  Handelsgesetzbuch  zwischen 
Haftsumme  und  Einlage  nicht  unterscheidet, 
sondern  die  Haftung  des  Kommanditisten 
auf  seine  Einlage  beschränkt  Für  die 
wissenschaftliche  Analyse  aber  ist  die  Unter- 
scheidung beider  Begriffe  wesentlich.  Das 
neue  H.Or.B.  nennt  die  Einlage  ^die  be- 
dungene Einlage«  (§  167  Abs.  2 ;  169  Abs.  1), 
die  Haftsumme  dagegen  »die  eingetragene 
Einlage«  (§  172  ff.). 

2.  Die  Haftsumme  ist  die  zum  Handels- 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


1013 


register  angemeldete  Summe,  welche  zwar 
eingetragen,  aber  sonderbarer  Weise  nicht 
öffentlich  bekannt  gemacht  wird  (§  162 
Abs.  2).  Zu  einer  Veränderung  derselben 
genügt  eine  Yereinbarung  unter  den  Gesell- 
schaftern nicht,  sondern  es  muss  die  Er- 
höhung oder  Herabsetzung  der  Siunme  im 
Handelsregister  eingetragen  werden; 
eine  Herabsetzung  ist  hinsichtlich  der  be- 
reits begründeten^  erbindlichkeiten  wirkungs- 
los; Die  Zuiückzahlung  oder  der  Erlass  der 
Einlage  bewirkt  daher  keine  Verminderung 
der  Haftsumme  (§  172  Abs.  3  und  4;  §  174), 
der  Kommanditist  haftet  vielmehr  mit  der 
im  Handelsregister  eingetragenen  Summe, 
soweit  er  dieselbe  nicht  zum  Gesellschafts- 
fonds eingezahlt  hat  (§  171  Abs.  1).  Auch 
eine  verschleierte  Zurückgabe  der  einge- 
zahlten Haftsumme  durch  Auszahlung  von 
Zinsen  und  angeblichen  Gewinnen,  bewirkt 
keine  Verminderung  der  Haftpflicht  des 
Kommanditisten,  es  sei  denn,  dass  er  diese 
Beträge  auf  Grund  einer  in  gutem  Glauben 
errichteten  Bilanz  in  gutem  Glauben  be- 
zogen hat.    §  172  Abs.  5. 

3.  Die  Haftung  des  Kommanditisten  be- 
steht gegenüber  dem  Gläubiger.  .Wenn  ein 
Gläubiger  die  Haftpflicht  geltend  maclit,  so 
übt  er  nicht  ein  Recht  der  Gesellschafter, 
sondern  ein  eigenes  Recht  aus;  Einreden 
aus  dem  Rechtsverhältnisse  zwischen  dem 
Kommanditisten  und  den  Gesellschaftern 
können  ihm  daher  nicht  entgegengesetzt 
werden.  Im  Gegensatz  zum  stillen  Gesell- 
schafter haftet  der  Kommanditist  den  Gläu- 
bigern der  Gesellschaft  bis  zur  Höhe  seiner 
Einlage  unmittelbar.  Diese  im  früheren 
Recht  bestrittene  Frage  ist  durch  das  neue 
H.G.B.  §  171  Abs.  1  in  diesem  Sinne  ent- 
schieden worden.  Der  Gläubiger  kann  vom 
Kommanditisten  Befriedigimg  verlangen.  Der 
Kommanditist  wird  aber  von  seiner  Haftung 
frei,  soweit  er  die  Haftsumme  an  die  Ge- 
seDschaft  gezahlt  hat.  Er  kann  daher  noch 
während  des  Prozesses  bis  zum  Urteil  seine 
Venurteilung  dadurch  abwenden,  dass  er  die 
noch  rückständige  Haftsumme  in  die  Kasse 
der  Gesellschaft  einzahlt.  Der  Gläubiger, 
der  gegen  ihn  klagt,  kann  ihn  hieran  nicht 
hindern.  Auch  kann  der  Kommanditist  einen 
anderen  Gläubiger  der  Gesellschaft  als 
den  Kläger  befriedigen  und  dadurch  sich 
von  der  Haftung  befreien.  Diese  unmittel- 
bare Befriedigimg  der  Gesellschaftsgläubiger 
durch  den  Kommanditisten  verträgt  sich 
schlecht  mit  dem  Gnindsatz,  dass  der  Kom- 
manditist von  der  Geschäftsführung  ausge- 
sclüossen  ist;  denn  die  Zahlung  einer  Ge- 
sellschaftsschuld ist  ein  Akt  der  Geschäfts- 
führung. Für  den  Fall,  dass  über  das  Ver- 
mögen der  Gesellschaft  der  Konkurs  eröffnet 
worden  ist,  ist  auch  der  Grundsatz,  dass 
der  Kommanditist  von  dem  einzelnen  Gesell- 


schaftsgläubiger in  Anspruch  genommen 
werden  kann,  beseitigt.  Während  der  Dauer 
des  Konkurses  kann  der  Kommanditist  nur 
von  dem  Konkursverwalter  auf  Einzahlung 
der  noch  rückständigen  Haftsumme  in  die 
Konkursmasse  in  Anspruch  genommen 
werden  (§  171  Abs.  2). 

4.  Ausser  durch  die  Eintragung  einer  Er- 
höhung der  Haftsiunme  in  das  Handels- 
register wird  die  Haftung  des  Kommandi- 
tisten auf  die  erhöhte  Summe  dadurch  er- 
streckt, dass  die  Erhöhung  in  handelsüb- 
licher Weise  kundgemacht  oder  den  Gläu- 
bigern in  anderer  Weise  von  der  Gesell- 
schaft mitgeteilt  worden  ist  (§  172  Abs.  2). 
Ob  die  Erhöhung  der  Haftsumme  zugleich 
mit  einer  Erhöhung  der  Einlage  verbunden 
ist  oder  nicht,  ist  im  Verhältnis  zu  den 
Gläubigern  unerheblich. 

Die  Vorschrift  des  alten  H.G.B.'s  (Art. 
168),  dass  ein  Kommanditist,  dessen  Name 
in  der  Firma  der  Gesellschaft  enthalten 
ist,  den  Gesellschaftsgläubigern  gleich  einem 
offenen  Gesellschafter  haftet,  ist  in  das  neue 
H.G.B.  nicht  aufgenommen  worden. 

11.  Anflösnng  der  GeseUschaft.  a) 
Die  AuflÖBungsgründe.  1.  Kraft  Ge- 
setzes wird  die  Gesellschaft  aufgelöst 
durch  die  Eröffnung  des  Konkurses  über 
die  Gesellschaft,  durch  die  Eröffnung  des 
Konkurses  über  das  Vermögen  eines  der 
Gesellschafter  und  durch  den  Tod  eines  der 
Gesellschafter,  wenn  nicht  der  Vertrag  be- 
stimmt, dass  die  Gesellschaft  mit  den  Erben 
des  Verstorbenen  fortbestehen  soll  (H.G.B. 
§  131  Ziff.  3—5).  2.  Durch  üeberein- 
kunft  der  Gesellschafter.  Dieselbe 
kann  während  des  Bestehens  der  Gesell- 
schaft zu  jeilem  beliebigen  Zeitpunkt  ge- 
troffen werden ;  es  kann  aber  auch  gleich 
bei  der  Errichtung  der  Gesellschaft  ein  End- 
termin vereinbart  werden  (H.G.B.  §  131, 
Ziff.  1  und  2).  Jede  Uebereinkunft  dieser 
Art  kann  aber  von  den  Gesellschaftern,  so 
lange  die  Gesellschaft  noch  fortdauert,  ab- 
geändert oder  wieder  aufgehoben  werden, 
und  dieser  Wille  kann  auch  dadiu-ch  (er- 
kennbar werden,  dass  die  Gesellschafter  trotz 
des  Eintritts  des  vereinbarten  Endtermins 
das  Gewerbe  unter  gemeinsamer  Firma  fort- 
betreiben ^  die  Handelsgesellschaft  »still- 
schweigend fortsetzen«  (§  134).  3.  Auf 
einseitiges  Verlangen  tritt  die  Auf- 
lösung ein,  wenn  ein  Gesellschafter  kündigt ; 
die  Kündigung  kann,  wenn  die  Gesellschaft 
für  unbestimmte  Zeit  eingegangen  ist,  nur 
für  den  Sehluss  eines  Geschäftsjahres  er- 
folgen und  muss,  wenn  nicht  anderes  ver- 
einbart ist,  mindestens  6  Monate  vor  Ablauf 
des  Geschäftsjahres  stattfinden.  Auch  ein 
Privatgläubiger  eines  Gesellschafters  kann 
die  Auflösung  der  Gesellschaft  behufs  seiner 
Befriedigimg  verlangen,    wenn  er,  nachdem 


1014 


Handelsgesellscliafteü  (Fonnen) 


innerhalb  der  letzten  6  Monate  eine  Zwangs- 
vollstreckung in  das  bewegliche  Yermögen 
des  Gesellschaftei^  ohne  Erfolg  versucht 
ißt,  auf  Grund  eines  nicht  bloss  vorläufig 
vollstreckbaren  Schuldtitels  die  Pfändung 
und  Ceberweisung  in  das  seinem  Schuldner 
bei  der  dereinstigen  Auflösung  der  Gesell- 
schaft zukommende  Guthaben  erwirkt.  Die 
Aufkündigung  muss  mindestens  6  Monate 
vor  Ablauf  des  Geschäftsjahres  geschehen 
(H.G.B.  §  135).  Das  Recht  des  Privat- 
gläubigers geht  aber  streng  genommen  nicht 
auf  Auflösung,  sondern  auf  Ausantwortung 
des  Geschäftsanteiles  seines  Schuldners; 
das  Recht  fällt  also  fort,  wenn  der  Gläu- 
biger bezahlt  wird  oder  wenn  die  Gesell- 
schafter ihm  den  Geschäftsanteil  seines 
Schuldners  auszahlen,  trotzdem  aber  die  Ge- 
sellschaft fortsetzen.  4.  Durch  gericht- 
liches Urteil  kann  die  Gesellschaft  auf- 
gelöst werden,  wenn  es  ein  Gesellschafter 
aus  wichtigen  Gründen  verlangt  (§  133 
Abs.  1).  Die  Beurteilung,  ob  solche  Gründe 
anzunehmen  sind,  ist  dem  Ermessen  des 
Richters  ül)erlassen ;  das  H.G.B.  führt  §  133 
Abs.  2  als  solche  Gründe  insbesondere  an, 
wenn  ein  anderer  Gesellschafter  eine  ihm 
obliegende  wesentliche  Verpflichtung  vor- 
sätzlich oder  aus  grober  Fahrlässigkeit  ver- 
letzt oder  wenn  die  ErftÜlung  einer  solchen 
Verpflichtung  unmöglich  wii^d.  Das  Recht 
des  Gesellschaftei*s,  die  Auflösung  zu  ver- 
langen, kann  nicht  durch  Vereinbai-ung  aus- 
geschlossen oder  beschränkt  werden.  §  133 
Abs.  3. 

Für  die  Kommanditgesellschaft 
gelten  dieselben  Regeln,  mit  der  Ausnaiime, 
dass  der  Tod  eines  Kommanditisten  die 
Auflösimg  der  Gesellschaft  nicht  zur  Folge 
hat  (H.G.B.  §  177). 

b)  Das  Austreten  einzelner  Ge- 
sellschafter. Die  Auflösung  der  Gesell- 
schaft kann  eine  teilweise  sein,  d.  h.  sich 
auf  ein  oder  mehrei^e  Mitglieder  besclu-änken, 
während  die  übrigen  den  Gewerbel)e trieb 
unter  gemeinsamer  Firma  fortsetzen.  Als- 
dann muss  sich  der  austretende  Gesellschafter 
damit  begnügen,  dass  er  seinen  Anteil  am 
Gesellscliaftsvermögen  in  einer  den  AVert 
desselben  dai-stellenden  Geldsumme  erhält; 
auch  nimmt  er  an  der  Abwickelung  der 
noch  schwebenden  Geschäfte  keinen  Teil 
B.G.B.  §  738—740.  Dies  kann  eintreten: 
1.  Wenn  die  Gesellschafter  vor  der  Auf- 
lösung der  Gesellschaft  übereingekommen 
sind,  dass  ungeachtet  des  Todes  oder  des 
Konkurses  oder  des  Ausscheidens  eines  oder 
mehrerer  Geseliscliafter  die  Gesellschaft 
unter  den  übrigen  fortgesetzt  werden  soll 
(§  138).  2.  Wenn  ein  Privatgläubiger  eines 
Gesells<-hafteis  von  seinem  Aufkündigungs- 
rechte Gebrauch  macht  und  die  übrigen 
Gesellschafter  auf  Grund  eines  einstimmigen 


Beschlusses  die  Gesellschaft  fortsetzen  und 
dem  Gläubiger  den  Vermögensteil  des 
Schuldners  auszahlen.  Der  letztere  ist  als- 
dann mit  dem  Ende  des  Geschäftsjahi-es  als 
aus  der  (jeseUschaft  ausgeschieden  zu  be- 
trachten (§  141).  3.  Wenn  die  Gesellschafter 
aus  Gründen,  welche  in  der  Person  eines 
Gesellschaftei-s  liegen,  nach  §  133  ein  Recht 
auf  Auflösung  haben,  so  kann  anstatt  der- 
selben auf  Ausschüessimg  dieses  Gesell- 
schafters erkannt  werden,  sofern  die  sämt- 
lichen übrigen  G^seUscliafter  hierauf  an- 
tragen (§  140).  Auch  wenn  die  Gesellschaft 
nur  aus  zwei  Pei'sonen  besteht  und  in  der 
Person  eines  der  beiden  Gesellschafter  die 
Voraussetzungen  bestehen,  aus  welchen  die 
Ausscliliessung  eines  Gesellschafters  zu- 
lässig ist,  kann  der  andere  Gesellschafter 
auf  seinen  Antrag  vom  Gericht  für  berech- 
tigt erkläil  werden,  das  Geschäft  ohne 
Liquidation  mit  Aktiven  und  Passiven  zu 
übernehmen.  §  142.  Eine  Gesellschaft 
kann  zwar  in  diesem  Falle  selbstverständ- 
lich nicht  fortbestehen,  aber  die  Auseinander- 
setzung unter  den  Gesellschaftern  kann  in 
derselben  Weise  wie  im  Falle  der  Aus- 
schliessung eines  Gesellschafters  erfolgen^). 
Besondere  Verhältnisse  ti^ten  ein,  wenn 
im  G(»sellschaftsvertrage  bestimmt  ist,  dass 
im  Falle  des  Todes  eines  Gesellscliaftei-s 
die  GeseHscliaft  mit  dessen  Erben  fortge- 
setzt werden  soll.  Eine  solche  Vertragsbe- 
stimmung geht  über  das  Gebiet  des  Ver- 
mögensrechts hinaus;  der  offene  Handels- 
gesellschafter ist  Kaufmann  und  zur  Ge- 
scliäftsführung  verpflichtet ;  die  Bestimmung 
schi'eibt  daher  dem  Erben  einen  Beruf  vor. 
Dies  kann  mit  anderen  Beruf spfUchten  und 
den  Lcbensverliältnissen  des  Erben  üi  un- 
vereinbarem Widerspruch  stehen ;  man  kann 
seinen  Erben  nicht  in  dieser  Art  in  seiner 
persönlichen  Freiheit  beschränken.  Anderer- 
seits kann  die  Beteiligung  an  dem  Gewerbe 
sowohl  für  den  Erben  als  auch  für  die  Ge- 
sellschaft von  gi'ossem  Wert  sein ;  es  würde 
daher  zu  weit  gehen,  wenn  man  eine  solche 
Vertragsfestsetzung  für  unwirksam  erklären 
wollte.  Das  neue  H.G.B.  §  139  hat  die 
Schwierigkeit  in  der  Weise  gelöst,  dass  der 
Erbe  sein  Verbleiben  in  der  GeseUscliaft 
davon  abhängig  machen  kann,  dass  er  die 
Stellung  eines  Kommanditisten  erhält.  Der 
auf  ilm  fallende  Teil  des  Kapitalanteils 
seines  Erblassers  wird  seine  Kommanditeiu- 
lage,  imd  der  Anteil  des  Ei-blassers  an  Ge- 
wiim  und  Verlust  geht  nach  Massgabe 
seines    Erbanteils    auf    ihn    über.      Diesen 


»)  Tu  den  Eutsch.  des  R.O.H.G.  XI  S.  160  ff. 
und  des  R.Ct.  VII  Ö.  121  ff.  ist  dieser  Gesichts- 
pimkt  nicht  gewürdigt  worden ;  das  neue  H.G.B. 
;  hat  die  Frage  im  oben  angegebenen  Sinne  aus- 
drücklich entschieden. 


Handelsgesellscliaften  (Formen) 


1015 


Vorschlag  muBS  der  Erbe  den  Gesellschaftern 
innerhalb  ehier  Frist  von  drei  Monaten  nach 
erlangter  Kenntnis  von  dem  Anfall  der  Erb- 
schaft machen.  Nehmen  die  (jesellschafter 
den  Vorsclilag  nicht  an,  so  ist  der  Erbe  be- 
fugt, ohne  Einhaltung  einer  Kündigungs- 
frist aus  der  Gesellscliaft  auszuscheiden. 
Lässt  der  Erbe  die  dreimonatliche  Frist 
verstreichen,  ohne  den  Antrag  zu  stellen,  so 
tritt  er  als  offener  Handelsgesellschafter  in 
die  Gesellschaft  ein.  Durch  den  Gesell- 
ßchaftsvertrag  können  diese  Rechte  dem 
Erben  nicht  entzogen  werden;  jedoch  kann 
fttr  den  Fall,  dass  er  die  Stellung  eines 
Kommanditisten  beansprucht,  sein  Gewinn- 
anteil anders  als  der  des  Erblasser  bestimmt 
werden. 

c)  Die  Wirkungen  der  Auflösung. 
Die  Auflösung  ist  keine  Beendigung 
des  Gesellßchafts Verhältnisses,  sondern  des 
Geisel  Ischaftszwecks,  des  gemeinschaft- 
lichen Gewerbebetriebes.  Die  Auflösung 
ist  ein  Wendepunkt  in  der  Gesamt- 
dauer der  Gesellschaft,  die  Wirkung  des 
Gesellschaftsvertrages  nimmt  von  jetzt  ab 
eine  andere  Richtimg.  Bis  zum  Moment 
der  Auflösung  geht  sie  auf  die  Ent Wicke- 
lung des  Gewerbes,  von  da  ab  auf  die  Ab- 
wickelung desselben.  Die  wirkliche  Be- 
endigung ei-folgt  erst  durch  die  Erfüllung 
der  societätsmässigen  Pflichten  und  durch 
Aufteilung  des  gemeinschaftlichen  Ver- 
mögens, cl.  h.  durch  Zurückführung  der  im 
Gesellschaftsfonds  gebundenen  Vermögens- 
anteile der  Gesellschafter  oder  ihrer  Rechts- 
nachfolger in  freies  Privatvermögen.  Auch 
im  Zustand  der  Auflösung  ist  die  GeseU- 
schaft  keine  communio  incidens,  sondern  eine 
vertragsmässige  Gemeinschaft,  \md  die 
Pflichten  der  Gesellschafter  zur  Leistung 
von  Einlagen,  zur  Geschäftsfühnmg,  das 
Konkurrenzverbot  etc.  können  ebenso  fort- 
dauern wie  die  Ansprüche  auf  Gewinnan- 
teile, die  Vertretuugsbefugnis  etc.  Das 
Rechtsverhältnis  unter  den  Gesellschaftern 
richtet  sich  nach  ihren  Vereinbarungen,  und 
dieselben  können  im  ursprünglichen  Gesell- 
schaftsvertrage auch  für  die  Zeit  nach  Ein- 
tritt eines  Auflösungsgnindes  getroffen  wer- 
den; im  allgemeinen  aber  gilt  der  Grund- 
satz, dass  diese  Vereinbarungen  mit  Rück- 
sicht auf  den  Gewerbebetrieb  getroffen  sind 
und  daher  im  Zweifel  mit  der  Beendigung 
des  letzteren  zu  gelten  aufhören. 

Die  Verwandlung  des  Gesellschaftsver- 
mögens in  ein  zur  Verteilung  geeignetes 
Kapital  kann  in  sehr  mannigfacher  Art  er- 
folgen; von  praktischer  Bedeutimg  sind 
namentlich  folgende  3  Wege :  1.  Vermittelst 
des  Konkursverfahrens,  wenn  die  Auf- 
lösimg der  Gesellschaft  infolge  der  Konkurs- 
eröffnung erfolgt  ist  oder  wenn  nach  Auf- 
lösung der  Gesellscliaft  die  Zahlungsunfähig- 


keit oder  Ueberschuldung  des  Gesellschafts- 
vermögens eintritt  (H.G.B.  §  145,  Konk.-O. 
§  209  ff.).  In  diesem  Falle  ist  die  Handels- 
gesellschaft nicht  nur  aufgelöst,  sondern 
auch  sogleich  beendigt.  2.  Ohne  Auf- 
lösung des  Handlungsfonds,  indem 
entweder  ein  Mitglied  oder  ein  Fremder  das 
Gesellschaftsvermögen  im  g-anzen  über- 
nimmt und  die  Gesellschafter  oder  deinen 
Rechtsnachfolger  abfindet ;  regelmässig  setzt 
der  Uebernehmer  des  Fonds  den  Gewerbe- 
betrieb fort.  3.  Durch  Liquidation, 
d.  h.  durch  Abwickelung  der  im  gesell- 
schaftlichen Gewerbebetriebe  entstandenen 
Rechtsverhältnisse  und  durch  Auflösimg  des 
Handlungsfonds.  Dieser  FaU  ist  der  regel- 
mässige; er  wird  daher  im  H.G.B.  als  die 
Rechtsfolge  der  Auflösung  behandelt;  den 
Gesellschaftern  steht  es  aber  frei,  einen 
anderen  Weg  der  Auseinandersetzung  zu 
vereinbaren.     §  145  Abs.  1. 

d)  Eintragung  in  das  Handels- 
register. Die  Auflösung  der  Gesellschaft 
und  das  Austreten  eines  Gesellschafters 
sind  in  das  Handelsregister  einzutragen;  es 
sind  jedoch  folgende  Unterscheidungen  zu 
machen:  1.  Tritt  die  Auflösung  infolge  der 
Konkurseröffnung  ein,  so  hat  der  Gerichts- 
schreiber den  Eröffnungsbeschluss  unter 
Bezeichnung  des  Konkursverwaltern  der  mit 
Führung  des  Handelsregisters  betrauten  Be- 
hörde einzureichen  (Konk.-0.  §  112).  Eine 
Anmeldepflicht  der  Gesellschafter  besteht 
nicht.  Die  Eintragung  beschränkt  sich  auf  den 
Vermerk  der  Konkurseröffnung.  2.  Wenn 
die  Auflösung  erfolgt  ohne  Beendigimg  des 
Gewerbebetriebes,  so  ist  ausser  der  Auf- 
lösung auch  die  Art  und  Weise,  in  welcher 
das  Gewerbe  fortgeführt  wird,  im  Handels- 
register ersichtlich  zu  machen,  insbesondere 
im  Firmenregister  der  Kaufmann,  der  das 
Geschäft  übernimmt,  einzutragen.  Wenn 
ein  Gesellschafter  austritt  oder  ausgeschlossen 
wird  und  noch  wenigstens  2  Mitglieder 
übrig  bleiben,  so  ist  lediglich  das  Austreten 
des  Gesellschafters  einzuti-agen  (H.G.B.  §  143 
Abs.  2).  3.  Erfolgt  die  Auseinandersetzung 
durch  Liquidation,  so  müssen  ausser  der 
Auflösung  auch  die  Liquidatoren,  d.  h.  die 
fortan  zur  Vertretung  der  Gesellschaft  be- 
fugten Personen,  eingetragen  werden  (§  148). 
Hinsichtlich  der  Eintragung  wird  der  üeber- 
gang  der  GeseDschaft  in  das  Stadium  der 
Liquidation  ebenso  behandelt  wie  die  Er- 
richtung einer  neuen  (Liquidations-)  Gesell- 
schaft. 4.  Die  Anmeldepflicht  haben  alle, 
aucli  die  von  der  Geschäftsführung  oder 
Vertretung  ausgeschlossenen  und  auch  die 
aus  der  Gesellschaft  ausscheidenden  Gesell- 
schafter. Im  Falle  des  Todes  eines  Gesell- 
schaftei-s  kann  die  Eintragung  erfolgen,  aucli 
ohne  dass  die  Erben  bei  der  Anmeldung 
mitwirken,  soweit  einer  solchen  Mitwirkung 


1016 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


besondere  Hindernisse  entgegenstehen.  §  143 
Abs.  3  §  148  Abs.  1.  5.  Für  den  Zeitpunkt, 
mit  welchem  das  Gesellschaftsverhältnis 
unter  den  Gesellschaftern  aufhört,  ist  die 
Eintragung  in  das  Handelsregister  gänzlich 
unerheblich.  Dieser  Zeitpunkt  bestimmt 
sich,  abgesehen  von  dem  FaUe  des  Kon- 
kurses, in  erster  Reihe  nach  ihrer  üeberein- 
kunft;  in  Ermangelung  einer  solchen  be- 
stimmt er  sich  nach  der  die  Auflösung 
herbeiführenden  Thatsache.  Im  FaUe  der 
Ausschliessung  eines  Gesellschafters  ist  für 
die  Auseinandersetzung  zwischen  ihm  und 
der  Gesellschaft  die  Vermögenslage  der 
Gesellschaft  in  dem  Zeitpimkte  massgebend, 
in  welchem  die  Klage  auf  Ausschliessung 
erhoben  ist.  §  140  Abs.  2.  Einem  Dritten 
kann  dagegen  die  Auflösung  der  Gesell- 
schaft, wenn  sie  im  Handelsregister  nicht 
eingetragen  ist,  nur  dann  entgeg*en gesetzt 
weKlen,  wenn  der  Beweis  geführt  wird,  dass 
er  diese  Thatsache  gekannt  hat  (H.G.B.  §  15 
Abs.  3). 

12.  Liquidation^).  Während  des 
Stadiums  der  Liquidation  besteht  die  Han- 
delsgeseDschaft  noch  fort,  aber  nicht  mehr 
zum  Zwecke  des  Gewerbebetriebes  2).  H.G.B. 
§  156.  Vgl.  B.G.B.  §  730  Abs.  2.  Daraus 
ergeben  sich  zwei  weitreichende  Gnmdsätze. 
Es  bleiben  diejenigen  Rechtssätze  in  Geltung, 
welche  durch  das  Bestehen  eines  abge- 
sonderten, gemeinschaftlich  verwalteten,  ein- 
heitlichen Gesellschaftsvermögens  gegeben 
sind;  dagegen  verändern  sich  diejenigen 
Rechtssätze,  welche  darauf  beruhen,  dass 
ein  gemeinschaftlicher  Gewerbebetrieb  statt- 
findet. 

I.  Der  erste  dieser  beiden  Grundsätze 
ist  im  §  156  des  H.G.B.  anerkannt;  die 
Vorschriften  des  2.  und  3.  Titels  finden  An- 
wendung, soweit  sie  nicht  ausddicklich  ab- 
geändert sind  oder  aus  dem  Wesen  der 
Ijiquidation  sich  eine  Abweichung  ergiebt. 
Daraus  folgt:  1.  Auch  während  der  Li(jui- 
dation  können  Einlagen,  sowohl  quoad 
substantiam  als  quoad  usum  zum  Gesell- 
schaftsfonds gemacht  werden.  Die  oben 
(sub  4)  entwickelten  Grundsätze  finden  da- 
rauf volle  Anwendung.  2.  Die  Gesellschaft 
behält  ihre  Firma,  jedoch  mit  dem  Zusatz 
»in  Liquidation«  (i.  L.)  (§  153),  ihre  Nieder- 
lassimg, ihren  Gerichtsstand ;  es  können  für 

*)  A.  Nöldeke,  Die  Fortdauer  der  offenen 
Handelsgesellschaft  während  der  Liquidation, 
Strassb.  1887.  0.  Franken,  Die  Liquidation 
der  offenen  Handelsgesellschaften,  Stuttgart  1890. 

*)  Insoweit  man  die  Abwickelung  eines  Ge- 
werbes noch  als  einen  Bestandteil  des  Gewerbe- 
betriebes ansehen  darf,  ist  auch  bei  der  Handels- 
gesellschaft in  Liquidation  da«  Erfordernis  des 
Gewerbebetriebes  vorhanden,  nur  nicht  in  seiner 
wirtschaftlichen  produktiven  Funktion.  (Vgl. 
R.O.H.G.  Bd.  3  S.  361  ft",). 


dieselben     Prokuren     und     Handlungsvoll- 
machten  erteilt    werden;    die  Vorschriften 
über  Buchführung  und  Inventar  bleiben  in 
Geltung.     Hinsichtlich  der  Bilanz  tritt  je- 
doch die  Aendenmgein,  dass  sie  nicht  jälirlich^ 
sondern  bei  dem  Beginne  sowie  bei  der  Be- 
endigung   der  Liquidation   aufzulialten   ist 
§  154.     3.  Die  Regeln  über  die  Kapital- 
anteile  der  Gesellschafter  und  über  die 
Fortschreibung  derselben  durch  Anteile  am 
Gewinn   und   Verlust,    Einlagen   und   Ent- 
nahmen  kommen  unverändert  zur  Anwen- 
dung, indem  die  Ergebnisse  der  Liquidation 
wie    die    eines    Geschäftsjahres    beliandelt 
werden.     Dagegen   hört   die  Befugnis    der 
Gesellschafter,  den  Gewinnanteil  des  letzten 
Jahres  zu  entnehmen,  auf;   Gelder,  welche 
zur  Deckung  der  Gesellschaftsschulden  und 
zur  Ausgleichuing  der  Ansprüche  unter  den 
Gesellscliaftern    erforderüch    sind,    werden 
zurückbehalten  und  entbehrliche  Gelder  vor- 
läufig verteilt  (§  155  Abs.  2).   4  Die  R  e  g  e  1  n 
über   den   Ausschluss   der  Beschlagnahme, 
Pfändung,  Kompensation   und  über  die  ab- 
gesonderte Befriedigung   der  Gesellschafts- 
gläubiger gelten  auch  während   der  Liqui- 
dation.    5.  Dasselbe   gilt   von  den  Regeln 
über  die  Aufnahme  eines  neuen  Gesell- 
schafters,   über    die    Beteiligung    eines 
Fremden  an  dem  Geschäftsanteil  eines  Ge- 
sellschafters und  über  das  Ausscheiden 
eines  Gesellschafters.   6.  Die  Haftung  der 
Gesellschafter  für  die  Gesellschaftsschulden 
wird  durch  die  Auflösung  der  Gesellschaft 
nicht  berührt. 

II.  Eine  Abänderung  erfahren  da- 
gegen folgende  Regeln :  1.  Das  Konkun-enz- 
verbot  tritt  ausser  Kraft  i).  Dies  folgt  aus 
dem  Zweck  der  Liquidation.  2.  Das  Recht 
und  die  Pfhcht  jedes  einzelnen  Gesellseliaf- 
ters  zur  Gescliäftsführung  und  Alleinver- 
tretung hört  auf;  an  seine  Stelle  tritt  der 
Satz,  dass  alle  Gesellschafter  zusammen  die 
Liquidationsgeschäfte  führen  und  Kollektiv- 
vertretimg haben.  Ist  einer  der  Gesell- 
schafter gestorben,  so  haben  dessen  Rechts- 
nachfolger einen  gemeinschaftlichen  Vertre- 
ter zu^  bestellen  (§  146  Abs.  1).  Ist  über 
das  Vermögen  eines  Gesell  schaftei-s  der 
Konkurs  eröffnet,  so  tritt  der  Konkui-sver- 
walter  an  die  Stelle  des  Gesellschafters  (§  146 
Abs.  3).  Da  infolge  der  Kollektiv  Vertretung  bei 
jedem  Geschäfte  stets  sämtliche  Gesellschaf- 
ter zusammenwirken,  giebt  es  keine  von  den 
Gesellschaftern  verechiedene  »Liquidatoren«, 
welche  die  Gesellschaft  vertreten,  luid  eben- 
sowenig  eine  i-echtlich  wirksame  Besclirän- 
kung  des  Geschäftskreises  der  Liquidatoren. 
3.  Durch  übereinstimmenden  Beschluss  der 
Gesellschafter  kann  dies  abgeändert  werden 
entweder  in  der  Art,   dass  jeder  einzelne 

')  R.O.H.G.  Entsch.  XXI  S.  144. 


Handelsgesellschaften  (Formen) 


1017 


Gesellschafter  zur  GescMftsführung  nnd 
Verti-etung  befugt  ist,  oder  in  der  Art,  dass 
einem  oder  einigen  Gesellschaftern  oder 
fremden  Personen  die  Liquidation  übertra- 
gen wird  (§  146  Abs.  1).  Mehrere  Liqui- 
datoren haben  die  Geschäfte  gemeinschaft- 
lich zu  führen  imd  Kollektivvertretung 
(§  1 50).  Auch  die  Abberufung  eines  Liqui- 
dators setzt  einen  einstimmigen  Beschluss 
aller  Gesellschafter  voraus  (§  147).  4.  Auf 
den  Antrag  eines  Gesellschafters  oder  des 
Gläubigers,  durch  welchen  die  Kündigung 
erfolgt  ist,  kann  aus  wichtigen  Gründen  die 
Ernennung  von  Liquidatoren  diu*ch  das  Ge- 
richt erfolgen  und  das  Gericht  kann  auch 
solche  Personen  zu  Liquidatoren  ernennen, 
welche  nicht  zu  den  Gesellscliaftem  gehören ; 
ebenso  kann  das  Gerictit  auf  den  Antrag 
eines  Gesellschafters  aus  wichtigen  Gründen 
Liquidatoren  abberufen  (§  146  Abs.  2,  §  147). 

0.  Die  Liquidatoren  haben  die  laufenden 
Geschäfte  zu  beendigen,  die  Verpflichtungen 
der  aufgelösten  Gesellschaft  zu  erfüllen,  die 
Forderungen  derselben  einzuziehen  und  das 
Vermögen  der  Gesellschaft  zu  versilbern. 
Ziu'  Beendigung  schwebender  Geschäfte 
können  die  Liquidatoren  auch  neue  Geschäfte 
eingehen.  Im  Verhältnis  zu  den  Gesell- 
schaftern haben  diese  Sätze  nur  dispositive 
Bedeutung;  einstimmigen  Anordnungen  der 
Gesellschafter  müssen  die  Liquidatoren, 
auch  wenn  sie  vom  Gericht  bestellt  sind^ 
Folge  leisten  (§  152).  Die  Liquidatoren  sind 
Beauftragte  der  Gesellschafter  und  haften 
den  letzteren  für  die  Ausführung  des  Auf- 
trages nach  Massgabe  des  bürgerlichen 
Rechts.  6.  Dritten  Personen  gegenüber  sind 
die  Liquidatoren  befugt,  in  dem  angegebenen 
Umfange  die  Gesellschaft  gerichtlich  und 
aussergerichtlich  zu  vertreten.  Der  Umfang 
dieser  Verti-etungsbefugnis  kann  nicht  wirk- 
sam Ijeschränkt  werden  (§  151).  Im  übrigen 
gelten  von  den  Liquidatoren  dieselben  Ee- 
gehl  wie  von  den  Prokuristen  (§§  148,  153). 

13.  Die  Beendigung  der  H.  Die  Be- 
endigung der  Gesellschaft  erfolgt  diuxih  die 
Auseinandersetzung  unter  den  Gesell- 
schaftern, welche  die  Liquidatoren  vorzube- 
reiten und  herbeizuführen  haben.  Es  kom- 
men dabei  folgende  Rechtssätze  in  Betracht: 

1.  Die  Gesellschafter  liaben  an  den  einzelnen 
zimi  Gesellschaftsfonds  gehörenden  Wert- 
objekten keinen  Anteil  und  ebensowenig 
einen  Anspruch  auf  Zurückgabe  der  von 
ihnen  zu  Eigentum  eingebrachten  Sachen. 
Gegenstände,  die  ein  Gesellschafter  der 
Gesellschaft  zur  Benutzung  überlassen  hat, 
sind  ihm  zm-ückzugeben.  Er  trägt  an  die- 
sen Gegenständen  die  Gefahr  des  Unter- 
ganges und  der  Verschlechterung  (B.G.B. 
§  732).  Die  Ansprüche  der  (resellschafter 
bestehen  vielmehr  in  den  Geldsummen, 
welche   sich   aus   den  über  ihie  Geschäfts- 


anteile geführten  Reclmungen  ergeben. 
Wenn  sämtliche  Schulden  der  Gesellschaft 
bezahlt  oder  durch  zurückbehaltene  Geldbe- 
träge gedeckt  und  alle  Aktiva  auf  Geld  re- 
duziert sind,  so  muss  der  Gesellschaftsfonds 
in  einer  Summe  bestehen,  welche  gleich  ist 
der  Summe  der  Saldi,  mit  welchen  die 
Kapitalconti  der  Gesellschafter  abschliessen. 
Wenn  jedes  Conto  einen  Aktivsaldo  auf- 
weist, so  vollzieht  sich  die  Auseinander- 
setzung dadiu-ch,  dass  jedem  Gesellschafter 
dieser  Betrag  ausgezahlt  wird  (H.G.B.  §  155 
Abs.  1).  Entsteht  über  die  Verteilung  des 
Vermögens  Streit  unter  den  Gesellschaftern, 
so  haben  die  Liquidatoren  die  Verteilung 
bis  zur  Entscheidung  des  Streits  auszusetzen 
(§  155  Abs.  3).  2.  Wenn  einige  oder  alle 
Gesellschafter  einen  Passivsaldo  haben,  so 
können  sie  die  völlige  Auseinandersetzung 
dadurch  herbeiführen,  dass  jeder  den  Betrag 
seines  Saldos  zum  Gesellschaftsfonds  ein- 
zahlt. Nach  §  735  des  B.G.B.  sind  die  Ge- 
sellschafter verpflichtet,  wenn  das  Gesell- 
schaftsvermögeu  zur  Berichtigung  der  ge- 
meinschaftlichen Schulden  und  ziu*  Rücker- 
stattimg der  Einlagen  nicht  aiisreicht,  für 
den  Fehlbetrag  nach  dem  Verliältnis  aufzu- 
kommen, nach  welchem  sie  den  Verlust  zu 
tragen  haben.  Die  Pflicht,  für  diesen  Be- 
trag »aufzukommen«,  ist  aber  nicht  gleich- 
bedeutend mit  der  Verpflichtung,  ihn  ziun 
Gesellschaftsfonds  einzuzahlen.  Was  die 
Rechte  der  Gläubiger  anlangt,  so  können 
die  einzelnen  Gesellschafter  abwarten,  ob 
und  inwieweit  ein  Gläubiger  sie  in  Ansprach 
nehmen  wird;  unter  den  Gesellschaftern 
aber  ist  die  Auseinandersetzung  beendigt 
durch  die  Feststellung  des  auf  jeden 
einzelnen  Gesellschafter  entfallenden  Aktiv- 
oder Passivsaldos.  Die  Regressforderung 
eines  Gesellscliafters  gegen  den  anderen 
gehört  zu  dem  freien  Privatvermögen  und 
wird  durch  das  ehemalige  Gesellschafts  Ver- 
hältnis, aus  dem  sie  hervorgegangen  ist, 
nicht  mehr  beherrscht.  Geltendmachung, 
Tilgung,  Sicherung,  Einreden  etc.  bestim- 
men sich  lediglich  nach  den  besonderen 
Vereinbarungen  und  Verhältnissen,  die  zwi- 
schen dem  Berechtigten  und  dem  von  ihm 
in  Anspruch  genommenen  einzelneu  Gesell- 
schafter bestehen,  nicht  nach  dem  die  Ge- 
samtheit der  Gesellschafter  umfassenden 
Societäts Verhältnis,  welches  für  die  Fest- 
stellung, aber  nicht  darüber  hinaus,  mass- 
gebend ist.  3.  Die  Schlussabrechnung 
unter  den  Gesellschaftern  ist  der  Rechtsakt, 
durch  welchen  die  Beendigung  der  Gesell- 
schaft erfolgt.  Dieselbe  ist  ein  Akt  der 
Gesellschafter  oder  ihrer  Vertreter  und 
Rechtsnachfolger,  nicht  der  Liquidatoren. 
Dieselben  haben  zwar,  da  ihnen  die  gesamte 
Buchführung  obliegt,  die  Schlussabrechnung 
thatsächlich  (kalkiüatorisch)  herzustellen  und 


1018 


Handelsgesellseliaften  (Formen) 


den  Rechtsakt  unter  den  Gesellschaftern 
herbeizuführen;  der  Rechtsakt  selbst  aber 
besteht  in  der  Anerkennung  der  Abrech- 
nung seitens  sämtlicher  Gesellschafter.  Diese 
Erklärung  des  Konsenses  über  die  definitive 
Auseinandersetzung  ist  der  dem  Abschluss 
des  Gesellschaftsvertrages  entsprechende  Fi- 
nalakt. Zu  unterscheiden  hiervon  ist  die 
Rechnung,  welche  die  Liquidatoren  über 
ihre  Verwaltung  den  Gesellschaftern  legen, 
und  die  Entlastung,  welche  sie  zu  bean- 
spruchen liaben.  4.  Die  Abrechnung  hat  die 
dargelegten  Wirkungen  nur  dann,  wenn  sie 
in  Wahrheit  eine  Schlussabrechnung  ist. 
Wenn  die  Liquidation  nicht  alle  aus  der 
(jesellschaft  hervorgegangeneu  Rechtsver- 
hältnisse erledigt  hat,  so  kann  noch  eine 
»XacliHquidation<:  und  eine  Nachtragsab- 
rechnung erforderlich  werden.  5.  Nach  der 
Beendigung  der  Liquidation  ist  die  Finna 
der  (resellschaft  im  Handelsregister  zu 
löschen.  Die  Li(püdatoren  sind  verpflichtet 
zur  Anmeldung  (§  157  Abs.  1).  6.  Die 
Bücher  und  Papiere  der  Gesellschaft  bleiben 
gemeinschaftliches  Eigentum  der  Gesell- 
schafter und  deren  Rechtsnachfolger,  und 
jeder  derselben  behält  das  Recht  auf  Ein- 
sicht und  Benutzung.  W^em  die  Bücher 
imd  Schriften  in  Verwahrung  gegeben  wer- 
den sollen,  ist  durch  übereinstimmenden 
Beschluss  der  Gesellschafter,  in  Ermange- 
lung einer  solchen  durch  das  Gericht,  in 
dessen  Bezirke  die  Gesellschaft  ihren  Sitz 
hat,  festzustellen  (§  157  Abs.  2,  8). 

14.  Verjährnng  der  Kla^^en  liegen 
die  Gesellschafter.  Die  Solidarhaft  der 
Gesellschafter  wird  weder  durch  die  Auf- 
lösung der  Gesellschaft  oder  das  Ausscheiden 
eines  Gesellschafters  noch  durch  die  Aus- 
einandersetzung der  Gesellschafter  berührt; 
sie  erlangt  aber  eine  veränderte  that- 
säch liehe  Bedeutung  durch  das  Aufhören 
des  persönlichen  Zusammenarbeitens  der 
Gesellschafter  im  Gewerbebetrieb  und  durch 
die  Auflösung  des  Gesells(jhafts Vermögens. 
Dazu  kommt,  dass  die  30  jährige  Verjäh- 
rungsfrist für  die  aus  dem  Betriebe  emes 
Haudelsgewerbes  hervorgehenden  Verbind- 
lichkeiten überhaupt  unangemessen  ist.  Das 
H.G.B.  hat  daher  zum  Schutz  der  Gesell- 
schafter und  deren  Erben  eine  fünfjährige 
Verjährung  eingeführt,  über  welche  folgende 
Regeln  gelten:  1.  Sie  betrifft  die  Klagen 
gegen  einen  Gesellschafter  aus  Verbindlich- 
keiten der  Gesellschaft,  d.  h.  alle  Kla- 
gen, welche  gegen  die  Firma  der  Gesell- 
schaft gerichtet  werden  konnten,  ohne 
Unterschied,  ob  der  Anspruch  vor  der  Auf- 
lösung oder  während  der  Liquidation  ent- 
standen ist.  Diese  fün^'ährige  Verjährung 
betrifft  dagegen  nicht:  a)  Ansprüche,  | 
w^elche  nur  aus  dem  Gesellschaf  tsver  mögen 
befriedigt   werden  sollen,   so  lange  solches ' 


noch  ungeteilt  vorhanden  ist,  denn  ^die 
fünfjährige  Verjährung  bezieht  sich  über- 
haupt niu'  auf  die  Befriedigung  aus  dem 
Privat  vermögen  der  Gesellschafter«:.  (Denk- 
schrift z.  Entw.  des  neuen  H.G.B.  S.  110.) 
b)  Klagen  eines  Gesellschafters  gegen  einen 
anderen  auf  Grund  der  Auseinandersetzung, 
Abfindung,  Regresspflicht  etc.  2.  Die  fünf- 
jälirige  Verjährung  tritt  nicht  an  die  Stelle 
derjenigen  Verjähnmg,  welcher  die  Fonle- 
ning  nach  ihrer  Beschaffenheit  imterliegt, 
sondern  neben  dieselbe.  Der  Gesellschafter 
kann  sich  auf  diejenige  der  beiden  Verjäli- 
rungen  beinifen.  welche  für  ihn  die  günsti- 
gere ist,  sei  es  rücksichtlich  des  Zeitab- 
laufs, sei  es  hinsichtlich  der  Voraus- 
setzungen (§  159  Abs.  1).  3.  Die  Verjähnmg 
beginnt  mit  dem  Tage,  an  welchem  die 
Auflösung  der  Gesellschaft  oder  das  Aus- 
scheiden des  Gesellschafters  aus  derselben 
in  das  Handelsregister  eingetragen  ist 
(§  159  Abs.  2).  In  diesem  Falle  hat  daher 
die  Eintragimg  eine  Bedeutung,  die  ihr 
sonst  nicht  zukommt.  Die  unterlassene 
Einti'agung  kann  nicht  ersetzt  werden  durch 
den  Nachweis,  dass  der  Gläubiger  trotzdem 
die  Auflösung  gekannt  habe,  und  die  er- 
folgte Eintragung  muss  sich  der  Gläubiger 
entgegenhalten  lassen,  wenngleich  er  Vm- 
stände  nachweist,  aus  denen  sich  ergiebt, 
dass  er  sie  weder  gekannt  hat  noch  habe 
kennen  müssen.  W^ird  die  Forderung  erst 
nach  der  Einti-agung  des  Ausscheidens  oder 
der  Auflösung  fällig,  so  beginnt  die  Frist 
mit  dem  Zeitpunkt  der  Fälligkeit  (§  159 
Abs.  3).  4.  Die  Verjährung  zu  Gunsten 
eines  Gesellscliaftei-s  wird  nicht  unterbrochen 
durch  Rechtshandlungen  gegen  einen  ande- 
ren Gesellschafter  (B.G.B.  §  425  Abs.  2). 
Dagegen  wirkt  die  Unterbrechung  der  Ver- 
jährung gegenüber  der  aufgelösten  Gesell- 
schaft (durch  Rec'htsakte  gG^en  die  Li«iui- 
datoi-en)  auch  gegenüber  den  Gesellschaftern, 
welche  der  Gesellschaft  zur  Zeit  der  Auf- 
lösung angehört  haben  (g  160).  5.  Ueber 
die  Voraussetzungen,  die  Unterbrechung  und 
die  Wirkungen  der  fünfjährigen  Verjähnmg 
hat  das  H.G.B.  im  übrigen  keine  Bestim- 
mungen getroffen ;  in  allen  diesen  Beziehun- 
gen kommt  daher  das  bürgerliche  Redit 
zur  Anwendung. 

15.  Das  Verhältnis  des  neuen  H.G.B. 
zum  früheren  Recht.^)  1.  Für  die  unter 
der  Herrschaft  des  alten  H.G.B.  entstandenen 
Handelsgesellschaften  bleiben  die  Vei-ein- 
bariHi gen  der  Parteien  und  die  bisherigen 
Gesetze  in  Kraft,  insoweit  sie  ein  »Schuld- 
verhältnis« lyeti-effen  (Art.  170  des  Einf.-Ges. 
zum  B.G.B.).    Dies  ist  der  Fall  hinsichtlich 


')  Vgl.  K.  Lehmann  in  der  Zeitschr.  f. 
H.R.  Bd.  48  S.  1  ff.  und  P  a  p  p  e  n  h  e  i  m  in 
Gruchots  Beiträgen  Bd.  42  S.  309  flf. 


Handelsgesellschafton  (Foniien — ^Yolkswirtschaftliche  Bedeutung) 


1019 


des  Verhältnisses  der  Oesellschafter  zu  ein- 
ander. H.Ü.B.  §  109  erklärt  die  Anord- 
nungen des  zweiten  Titels  ausdriicklich  für 
dispositives  Recht.  Denigeniäss  bleiben  hin- 
sichtlich der  älteren  Gesellschaften  in  Kraft 
die  dispositiven  und  ergänzenden  An- 
ordnungen des  früheren  Rechts  über  Ersatz 
von  Aufwendungen,  über  Eiulaften,  das 
Konkurrenzverbot,  das  Recht  zur  Geschäfts- 
führung und  Vertretung,  über  die  Befugnis 
zur  Konti'olle,  über  Gewinn-  und  Verlust- 
verteilung, über  das  Recht  zur  Entnahme 
von  Geld  aus  der  Geschäft^kasse,  über  die 
Auflusungsgründe ,  die  Kündigungsfristen 
und  die  Liquidation,  soweit  dabei  das  Ver- 
hältnis unter  den  Gesellschaftern  in  Frage 
kommt.  Wenn  nach  dem  1.  Januar  190(J 
der  Vertrag  abgeändert  oder  durch  eine 
neue  Vemnbanuig  ersetzt  wird,  so  kommen 
die  disjwsitiven  Vorachriften  des  neuen  H.G.B. 
und  ß.G.B.  zur  Anwendung. 

2.  Dagegen  kommt  das  neue  Recht  auch 
bei  den  vor  dem  1.  Januar  1900  errichteten 
GovSellschaften  zur  Anwendung  auf  die 
Rechtsverhältnisse  der  Gesellschaft  zu  dritten 
Personen,  soweit  sie  unter  der  Herrscliaft 
des  neuen  Gesetzes  begründet  werden,  ins- 
besondei'e  hinsichtlich  der  Wirkungen  der 
Vertretung,  der  Haftung,  des  Kündigimgs- 
rechts  eines  Privatgläubigers.  Hinsiclitlich 
der  Verjährung  sind  die  Gnmdsätze,  welclie 
Art.  169  des  Einf.-Ges.  zum  B.G.B.  enthält, 
zur  Anwendung  zu  l)ringen.  Ferner  treten 
für  alle  Gesellschaften  in  Kraft  diejenigen 
Vorsdiriften ,  welche  auf  Gründen  der 
öffentlichen  Ordnung.  Wohlfahrt  und  guten 
Sitte  beruhen.  Dahin  gehören  die  Vor- 
schriften über  die  Buchführung,  Bilanzauf- 
stellung, über  die  Pflicht  zur  Anmeldung 
zum  Handelsregister,  ilber  die  Eintragungen 
und  Löschungen  in  dem  Handelsregister 
und  über  die  Firma.  Jedoch  ist  nach  Art. 
22  des  Einf.-Ges.  zum  H.G.B.  die  Fortfüh- 
rung der  eingetragenen  Firma  gestattet,  so- 
weit sie  nach  den  bisherigen  Vorsclmften 
geführt  werden  durfte.  Auch  §  139  über 
das  Recht  des  Erben,  der  Gesellschaft  als 
Kommanditist  anzugehören,  ist  zu  diesen 
Vorsclmften  zu  rechnen.  Endlicli  kommen 
aDgemein  zur  Anwendimg  die  Vorschriften, 


Anschütz,  die  systematiarhen  Darstellungen  von 
Tfiöl  f  JlandeUr,  /,  ^  SS  ff.  —  Behrend, 
HaudeUr.  ^  6Sff.  —  Lästig  in  Endemaniut 
Ifandb.  I,  ^  74  ff  besonders  ^  SO  ff.  —  Oierke, 
Die  (Je.nossenschaftstheorie  und  die  deutsche 
Rechtssprechung,  1SS7,  S.  435 ff.  —  reh*>r  die 
dogmatischen  Grundbegriffe  rergJ.  iMbaftd^ 
Zeitschr.  f.  Ifandelsr.,  Bd.  SO,  S.  469 ff.,  Bd.  Sl, 
tS.  Iff.  und  Adler,  Zur  Entwlckelungsgeschichte 
und  Dogma tik  des  Geseüschaftsrechls ,  Berlin 
ISÜö.  —  Aus  der  Litteratur  über  die  Kom- 
ma n  d  it  g  e  s  e  1 1  s  c  h  aft  sind  hervorzuheben  die 
Monographie  von  Henaud,  ISSl.  —  Wendt 
in  Endemanns  ITandb.  I,  S.  428 ff.  —  Ehren- 
berg,  Beschrfinkte  Haftung  des  Schuldners,  S. 
'i22ff.  —  Sehivalh^  Zeitschr.  f.  Handelsr.,  Bd. 
S4f  S.  SJS ff.  —  lieber  die  geschichtliche 
Entirickelung  der  Handelsgesellschaft  giebt 
es  eine  besondere  sehr  umfangreiche  Special' 
litteratur,  aus  irehher  hen'orragen  EndemanUf 
Studien  2,  S.  d41ff^  (dogmenge^chichtlich)., — 
E.  A,  O.  Schmidt  f  Handelsgesellschaften  in 
den  Deutschen  StadtrechtsqucUen  des  Mittel- 
alters, ISSS.  —  M.  Weber,  Zur  Geschichte  der 
Handelsgesellschaften  im  Mittelalter.  Nach  süd- 
europäischen Quellen,  1SS9.  —  Pappen  - 
heim  in  der  Zeitschr.  f.  Handelsr.,  Bd.  36,  S. 
Soff,  (altnordisch).  —  Gold^chmidt*  Hand- 
buch des  Handelsr.,  3.  Anß.,  IS 91,  I,  1,  S.  2ö4  f. 
(romanische  Rechtsbildu ngj.  Auf  die  a us- 
ländische,  namentlich  die  französische  und  ita- 
lienische Litteratur  kann  hier  nicht  eingegangen 
werden.  Auch  das  neue  H.G.B.  hat  bereits 
zahlreiche  Erörterungen  gefunden.  Aus  ihnen 
sind  besonders  hervorzuheben  die  vorzüglichen 
Erläuterungen  in  den  Kommentaren  von  Stuub 
(6.  w.  7.  Aufl.)  und  von  Däringer  u.  Hachen~ 
bürg  und  die  Darstellung  von  Cosackf  Lehrb. 
des  Handelsr.,  4.  Aufl.  1S9S,  S.  o2Sff. 

P.  Laband, 


IL 

Yolkswirtsehaftliche  Bedeutung  der 
Handelsgesellschaften. 

1.  Begriif  und  Arten.  Juristische  und  na- 
tionalökonomische Begriffsbestimmungen.  2.  Ge- 
schichtliches. 3.  Wirtschaftliche  Bedeutung 
der  H. 

1.  Begriff  und  Arten.  Juristische 
und  nationalökonomische  Begriffsbe- 
stimmungen. Eine  Handelsgesellschaft  ist 
eine   Verbindung    mehrerer   Personen   zum 


welche  den  Konkui-s  der  (Gesellschaften  und  ,  Betriebe  von  Handelsgeschäften,  und  zwar 
das    \  erfahren    der    Gerichte    sowohl    m  f,^^^^  ^,^  goi^i^^^  Betrieb  regelmässig  unter 


streitigen  Sachen  als  in  Angelegenheiten  der 
freiwilligen  Gerichtsbarkeit  betreffen. 

Litteratur:  Die  Litteratur  ist  so  umfangreich, 
dass  sie  hier  nicht  zusammengestellt  tr erden  kann  ; 
sämtliche  Kommentare  zum  H.G.B.,  sämtliche 
Lehrbücher  und  Handbücher  des  Handels- 
rechts, die  meisten  Lehrbücher  des  deutschen 
Priratrechts  und  eine  grosse  Menge  von  Ab- 
handlungen und  Monogi^tphifcn  müssten  aufge- 
zählt   werden.       Von    hervorragender  Bedeutung 


gemeinsamer  Firma  sowie  auf  gemeinsame 
Rechnung  statt, ;  indes  wiuxlen  fi'üher  manche 
Unternehmungen  zu  den  Handelsgesellschaf- 
ten gerechnet,  bei  denen  diese  letzten  zwei 
Merkmale  nicht  immer  zutrafen. 

Die  Einteilung  der  Handelsgesellschaften 
in  die  Hauptformen  der  offenen,  der 
Kommandit-  und  der  Aktiengesell- 
schaft ist  zwar  durch   die   kommerzielle 


zwar 

für  das  frühere  Recht  sind  die  Erörterungen  in  \  Praxis  gescliaffcn,    aber    ei^St  durch   Rechts- 

den  Kommentaren    von   v.    Hahn    und    von'  wisscuschaft  und  Kodifikation  des  Handels- 


1020 


HandelsgeseUschaften  (Volkswirtschaftliche  Bedeutung) 


rechts  scharf  ausgebildet  worden.  Demge- 
mäss  sind  die  Merkmale  der  einzelnen  (je- 
sellschaftsarten  bisher  meist  nach  juristi- 
schen Gesichtspunkten  festgestellt  worden. 
Man  imterscheidet  in  der  Regel :  die  o  f  f  e  n  e 
Handelsgesellschaft,  bei  der  jeder 
Gesellschafter  mit  seinem  ganzen  Vermögen 
fiu-  die  Gesellschaftsschulden  haftet;  die 
Kommanditgesellschaft,  bei  der  ein 
Teil  der  Gesellschafter  (die  Kommanditisten) 
nur  mit  einer  bestimmten  Vermögensein- 
lage, ein  anderer  Teil  dagegen  (die  persön- 
lich haftenden  Gesellschafter  oder  Kom- 
plementare) mit  dem  ganzen  Vermögen 
haftet;  endlich  die  Aktiengesellschaft, 
bei  der  jeder  Gesellschafter  nur  mit  seiner 
Einlage  für  die  Gesellschaftsschulden  haftet 

Diese  Begriffsbestimmungen  sind  in 
wirtschaftlicher  Hinsicht  nicht  brauch- 
bai-,  w^eil  sie  eine  nicht  notwendige  Folge 
zum  charakteristischen  Merkmale  erheben 
woUen.  Die  Haftung  der  Gesellschafter  ist 
je  nach  Zeit  und  Land  bei  der  gleichen 
Art  von  Handelsgesellscliaften  ganz  ver- 
schieden geregelt  woixlen,  w^ie  denn  z.  B. 
in  England  bei  der  Aktiengesellschaft  die 
beschränkte  Haftung  erst  im  Laufe  der  Zeit 
das  vorhen^chende  Princip  geworden  ist. 
Wirtschaftlich  entscheidencf  sind  ^'ielmehr: 
Art  der  Beteiligimg  von  Kapital  und  Arbeit, 
sowie  die  dadurch  hervorgerufene  Vertei- 
lung von  Gewinn  und  Verlust.  Nur  wird 
man  freilich,  wie  überhaupt  bei  solchen 
wirtschaftlichen  Begriffsbildungen ,  darauf 
verzichten  müssen,  alle  Einzelfälle  mit  zu 
umspannen,  da  für  irrationelle  Erscheinungen 
des  Lebens  Begriffsbestimmungen  nicht  mög- 
lich sind. 

Bei  der  offenen  Handelsgesell- 
schaft sind  sämtliche  Gesellscliaf ter  sow^ohl 
mit  Kapital  wie  auch  —  dem  Wesen  der 
Unternehmungsform  nach  —  mit  Arbeit  be- 
teiligt. Demgemäss  participieren  sie  nach 
Verhältnis  ihrer  Einlagen  an  dem  gesamten 
Unternehmergewinn  uud  haben  den  ganzen 
Verlust  nach  Verhältnis  ihrer  Einlagen  zu 
tragen,  wobei  auch  ihr  gesamtes  nicht  in 
die  Gesellschaft  eingebrachtes  Vermögen  für 
<lie  Deckung  etwaiger  Verluste  aufkommen 
uiuss.  Die  uubescliränkte  Haftung  für  die 
Gesellschaftsschulden  ist  lediglich  eine  Folge 
dieser  Verpflichtung. 

Bei  der  Aktiengesellschaft  dagegen 
sind  principiell  —  von  Ausnahmefällen  ab- 
gesehen —  sämtliche  Gesellschafter  nur  mit 
Kapital,    nicht    mit    Arbeit    beteiligt.      Sie 
können  demgemäss  auch  nicht  den  ganzen 
Unternehmergewinn     unter    sich    verteilen,  > 
sondern  müssen  einen  Teil  desselben  und  zwai*  i 
den    Entgelt    für    die    Leitung    des   Unter- , 
nehmens,  an  die  Dii-ektoren   überlassen,    so 
dass   sie   auss<T   dem    Kapitalzins    nur   die  | 
Prämie     für     das    Kaiütalrisiko     behalten,  j 


Den  etwaigen  Verlust  tragen  sie  nur  bis 
zur  Höhe  ihrer  Einlagen.  Kommen  indes 
hierbei  Rechte  Dritter  (der  Gläubiger)  in 
Frage,  so  kann  sehr  wohl  unbeschränkte 
Haftimg  aller  Gesellschafter  zulässig  sein. 

Bei  der  Kommanditgesellschaft 
endlich  sind  die  persönlich  haftenden  Ge- 
sellschafter in  derselben  Lage  wie  die  Teil- 
haber einer  offenen  Handelsgesellschaft,  die 
Kommanditisten  dagegen  in  derselben  Lage 
wie  die  Teilhaber  einer  Aktiengesellschaft. 
Die  Kommanditgesellscliaft  ist  demnach  nur 
eine  Mischform  aus  den  beiden  anderen  Ge- 
sellschaftsarten. 

2.  Geschichtliches.  Die  Komman- 
ditgesellschaft reicht  mit  ihren  Wur- 
zeln ins  Altertum  zurück,  da  bereits  bei  den 
Römern  ein  »societätsmässig  modifiziertes« 
depositum  irregiüare  (die  ^»Bankcommenda« 
Goldschmidts)  vorkommt.  Aehniiche  Unter- 
nehmungen begegnen  wir  auch  bei  Byzan- 
tinern und  Arabern.  Im  Mittelalter  ist 
sodann  die  Commenda  (von  commendare  = 
anempfehlen,  anvertrauen)  sowohl  in  roma- 
nischen wie  auch  später  in  germanischen 
Ländern  die  wichtigste  Gesellschaftsform. 
(Deutsche  Synonyma:  Sendeve,  Wedderle- 
ging,  Furlegung.)  Bei  der  Commenda  gab 
ein  in  der  Heimat  ziu^ückbleibender  Kapi- 
talist, der  wohl  ein  Kaufmann,  sehr  häufig 
aber  auch  ein  Nichtkaufmann,  z.  B.  ein 
Edelmann  oder  Geistlicher  sein  konnte, 
Waren  oder  Geld  an  einen  selbständigen 
oder  unselbständigen  Gescliäftsmann  —  im 
letzteren  Falle  war  es  ein  »Faktor«,  (s.  d. 
Ai-t.  Faktoren,  Faktoreien  oben  Bd.  HI 
S.  789  ff.)  — ,  damit  derselbe  mit  dem  anver- 
trauten Gute  überseeische,  später  auch 
binnenländische  Geschäfte  machen  solle 
(l)ortat  laboratum  trans  mare  oder  in  terra; 
ai  laborandum  et  ex  causa  laborandi  et 
negociandi  in  aile  et  mereantiae  lanae 
u.  s.  f.).  Die  Commenda  kam  ebensowolü 
als  Gelegenheitsgesellschaft  für  eine  einzelne 
Reise  vor,  wie  auch,  namentlich  später  als 
ein  Verhältnis  von  längerer  Dauer,  dann 
aber  in  der  Regel  eng  verknüpft  mit  der 
offenen  Gesollschaft,  derart,  dass  die  Teil- 
haber der  letzteren  ihre  auswärtigen  Fak- 
toren diu-ch  Commenda  an  Gewinn  und  Ver- 
lust beteiligten. 

Die  offene  Gesellschaft  ist  wahr- 
scheinlich aus  der  Familie  herausge- 
wachsen. Der  Familiencharakter  ist  bis  ins 
16.  Jahrhundeil:  und  darüber  hinaus  deut- 
lich erkennbiu".  Zuerst  sclieint  sie  im  (xe- 
werbe  Anwendung  gefunden  zu  liaben:  in- 
des begegnet  sie  auch  im  Handel  der  Mittel- 
meerstaaten mindestens  schon  im  18.  Jahr- 
hundert. Die  offenen  (reseUschaften  dieser 
älteren  Zeit  hatten  oft  zahlrei(*he  Teilhaber, 
die  meist  miteinander  verwandt  oder  ver- 
schwägert waren.    Die  Gesellschaftsverträge 


Handelsgesellschaften  (Yolkswirtscliaftliche  Bedeutung) 


1021 


wurden  in  der  Regel  (nicht  immer)  unter 
gemeinsamer  Firma  mit  solidarischer,  meist 
auch  unbescliränkter  Haftung  aller  Gesell- 
schafter auf  bestimmte  Zeit  abgeschlossen 
und  nach  deren  Ablauf,  oft  unter  Ausschei- 
dung einzelner  imd  Hinzuziehung  anderer 
Teilhaber,  erneuert.  Der  erfahrenste,  tüch- 
tigste Gesellschafter  übernahm  die  Haupt- 
leitung des  Geschäfts  mit  mehr  oder  weni- 
ger ausgedehnten,  wohl  gar  mit  ganz  unbe- 
schränkten Befugnissen.  Abrechnung  erfolgte 
in  der  Regel  nach  einigen  Jahren  oder  nach 
Ablauf  der  Yertragszeit,  worauf  der  etwaige 
Gewinn,  soweit  er  nicht  schon  vorher  von  den 
Teilhabern  behoben  worden  wai*  oder  weiter 
stehen   bleiben  sollte,  ausgeschüttet  wurde. 

Auch  die  Aktiengesellschaft  reicht 
mit  ihren  Wurzeln  weit  zurück.  Aus  Ge- 
nossenschaften mit  Beteiligung  der  Genossen 
an  Arbeit  und  Kapital,  wie  ursprünglich  bei 
der  Bergbaugesellschaft  und  bei  der 
Schiffsreederei,  entstanden  allmählich  reine 
Kapitalgesellschaften.  Völlig  hatten  diesen 
letzteren  Charakter  schon  die  mittelalter- 
lich-italienischen Monti,  Steuerpacht-Gesell- 
schaften von  Staatsgläubigern,  und  die  ähn- 
lichen Genueser  Maonae,  welche  ganze 
Kolonieen  verwalteten.  Wieder  aus  anderen 
Elementen  entstanden  im  Anfange  des  17. 
Jahrhunderts  die  ersten  modernen  Aktien- 
gesellschaften,  die  oatindischen  Handels- 
kompagnieen  der  Engländer  und  Nieder- 
länder. Ihre  Wiurzeln  lassen  sich  in  Eng- 
land bis  zur  Mitte  des  16.  Jahrhunderts 
zurückverfolgen,  wobei  eine  Mischung  der 
Kapitalgesellschaft  mit  demokratischen  gil- 
denartigen Einrichtungen  noch  geraume  Zeit 
erkennbar  bleibt,  während  in  den  Nieder- 
landen anfangs  die  an  die  Commenda  er- 
innernde Einteilung  der  Gesellschafter  in 
Haupt- und  Unterbeteiligte  hervortritt,  welche 
erstere  die  Leitung  allein  in  Händen  hatten. 
In  beiden  Ländern  ist  eine  Anlehnung  an 
die  alte  Reedereigesellschaft  unverkennbar 
und  ebenso  an  die  auch  schon  früher  vor- 
kommenden Handelsgesellschaften  für  ein- 
zelne Unternehmungen  (die  »Spekulations- 
vei*eine«  des  heutigen  Rechts),  welche  in 
Frankreich  als  »societ^s  anonymes«  noch  im 
17.  Jahrhundert  die  Hauptart  der  Kapital- 
gesellschaft bildeten.  Indem  die  Aktienge- 
sellschaft alle  diese  ihr  ursprünglich  anhaf- 
tenden fremden  Elemente  absti-eifte,  ent- 
wickelte sie  sich  seit  dem  Ende  des  17. 
Jahrhunderts  zu  einer  Gesellschaftsart  von 
ausserordentlicher  Brauchbarkeit  für  zahl- 
reiche gewerbliche  und  kommerzielle  Zwecke. 
Vgl.  den  Art.  Aktiengesellschaften 
oben  Bd.  I  S.  143  ff. 

3.  Wirtschaftliche  Bedeutung  der  H. 
Die  ungemein  grrosse  Bedeutung  aller 
Handelsgesellschaften  besteht  darin,  dass  sie 
Unternehmungen  ermöglichen,    welche    ein 


einzelner  nicht  diu-chführen  kann,  sei  es, 
dass  sein  Kapital,  sei  es,  dass  seine  Ar- 
beitskraft, oder  sei  es,  dass  beides  hierfür 
nicht  ausi'eicht.  Dies  ist  der  einzige  grosse, 
aber  auch  völlig  durchschlagende  Vorzug 
aller  Arten  von  Handelsgesellschaften,  dem 
indes  mancherlei  schwerwiegende  Nachteile 
gegenüberstehen. 

Die  offene  Handelsgesellschaft  steht  der 
Einzelunternehmimg  am  nächsten,  die  Aktien- 
gesellscliaft  steht  ihr  am  fernsten.  Die  Kom- 
manditgesellschaft nimmt  eine  Mittelstellung 
ein. 

Die  offene  Handelsgesellschaft 
kommt  am  zweckmässigsten  dann  zur  An- 
wendung, wenn  die  Arbeitskraft  (Intelligenz, 
Gewandtheit  etc.)  eines  einzelnen  für  den 
Zweck  der  Unternehmung  nicht  genügt. 
England  ist  hier  unerreichtes  Vorbild.  Zwei 
ganz  besonders  häufige  und  typische  Fälle 
solcher  Art  sind :  1.  die  Aufnahme  tüchtiger 
»Juniorpartner«  in  ein  altes  Geschäft  und 
2.  die  Leitung  entfernter  Filialen  oder  be- 
sonderer grosser  Geschäftszweige  durch 
selbständige  Gesellschafter.  Auch  wenn  ein 
Gesellschafter  von  vornherein  nur  Kapital, 
der  andere  nur  Arbeit  einbringt  —  was 
eigentlich  dem  Wesen  der  offenen  Handels- 
gesellschaft widerspricht  —  können  doch 
beide  Teile  eine  Zeit  lang  ihre  Rechnung 
finden:  sobald  indes  der  arbeitende  Gesell- 
schafter selbst  genug  Kapital  und  Kredit 
erworben  liat,  vi-ird  er  wohl  in  der  Regel 
bestrebt  sein,  die  Gesellschaft  zu  sprengen, 
was  auch  sonst  leicht  durch  Uneinigkeit  ge- 
schehen kann.  Gegenüber  der  Einzelunter- 
nehmung bildet  das  einen  wesentlichen 
Nachteil,  ebenso  die  Schwächung  der  ein- 
heitlichen Leitung,  der  Verantwortlichkeit 
und  demgemäss  auch  der  Wirtschaftlichkeit, 
die  grossere  Schwerfälligkeit  u.  w.  d.  g. 

Bei  der  Kommanditgesellschaft 
ist  in  der  Regel  von  vornherein  auf  der 
einen  Seite  Kapitalmangel,  auf  der  anderen 
der  Wunsch  nach  höherer  Verzinsung  eines 
Kapitals  das  Motiv  der  Gesellschaftsbildung. 
Besonders  mittelgrosse  Unternehmungen, 
ferner  solche,  bei  denen  es  darauf  ankommt 
hohe  Leistungen  ungewöhnlich  begabter  Ge- 
schäftsleiter entsprechend  zu  belohnen,  aber 
auch  das  Risiko  grösstenteils  auf  deren 
Schultern  zu  legen,  also  z.  B.  Unterneh- 
mungen, die  starken  Konjunktm^en  unter- 
worfen sind,  eignen  sich  für  die  Komman- 
ditgesellschaft. Doch  ist  dieselbe  nur  dann 
mit  Nutzen  anwendbar,  wenn  die  persönlich 
haftenden  Gesellschafter  ein  ungewöhnlich 
hohes  Mass  von  Vertrauen  bei  den  Kom- 
manditisten geniessen,  da  die  Versuchung 
zur  Uebervorteilung  derselben  gross  ist  und 
auch  die  Selbsthaftung  der  Komplementare 
nicht  dieselbe  Garantie  guter,  vorsichtiger 


1022      Handelsgesellschaften  (Yolkswirtschaftlidie  Bedeutung) — Handelskammern 


Geschäftsfühnmg  giebt  wie  bei  der  offenen  i  ganisation ;  c)  Aufgaben  und  Befugnisse.  4.  Die 
Handelsgesellschaft.  '  H.  und  G.  in  den  Mederlanden.   ö.  Die  H.  und 

Bei  der  Bildung  von  Akliengesell- i  ?•  jP.^er  Schwdz.   6.  Die  H  in  Grossbri^^^ 
Schäften  ist  das  wichtigste  und  jedenfaUs    '•  ^'^^-  m  Frankreich,    a)  Gegchicbte :  bjOr- 
das  am  meisten  be^chtige  Moti^J  das  Be- 1  r^ ^^l  V^^^!"  ^^fTTs^lfel 
streben,  für  grosse  Unternehmungen   rasch  a)  Geschichte;  b)  die  dermaligen  H.    10.  Die 
entsprechende    Kapitalien     zu     beschaffen.  I  h.  und  G.  in  Portugal.    11.  Die  H.  in  Belgien. 


zu 
Die  Aktiengesellschaft  hat  noch  andere  gute 
Eigenschaften,  denen  sich  aber  hier  beson- 
ders viele  unerwünschte  Nebenwirkungen 
beigesellen,  die  oftmals  selbst  schon  hei  der 
Entstehung  der  Gesellschaft  das  Hauptmotiv 
bilden.  Hierüber  vgl.  den  Art.  Volks- 
wirt sc  haftliche  Bedeutung  der  Ak- 
tiengesellschaft  oben  Bd.  I  S.  174ff. 

Litteratnr:  Die  juristische  Litteratur  ist  sehr 
gross,  die  natio7ialökonomische  winzig  klein,  ab- 
gesehen von  dem,  was  neuerdings  über  die 
Akt.-G.  geschrieben  worden  ist.  Ich  nenne  nur: 
Kuntze,  Frincip  und  System  der  Handelsge- 
sellschaften (Zeitschr.  f.  Handelsrecht,  Bd.  VI, 
S.  177 ff.).  —  Auerbach f  Das  OeseüschafUi- 
wesen  in  juristischer  und  volkswirtschafü.  Hin- 
sicht, Frankfurt  a.  M.  1861.  —  Schäfße,  Die 
Anwendbarkeit  der  verschiedenen  Unternehmungs- 
Jornien  (Zeitschr.  /.  d.  ges.  StacUsw.,  1869,  S. 
261  ff.).  —  Endenianttj  Die  Eniwickelung  der 
Handelsgesellsckafteu,  Berlin  1867.  —  Derselbe, 
Studien  in  der  romanisch-kanoni^t.  Wirtschafts- 
und Rechtslehrc,  Berlin  1874,  Bd.  I,  S.  S41ff. 
—  Lastig  in  d.  Handb.  d.  deutschen  Handels-, 
.SVf-  und  Wechsclrechts,  herausgegeben  von  Ende- 
mann, Leipzig  1881,  Bd.  I,  S.  810  ff.  —  Roschet^' 
StiecLa,  Oek.  des  Handels-  und  Gewerbeßeisses, 
S.   187 ff.  —  G,    Cohn,    System   IJI,   101  ff.  — 


12.  Die  H.  und  G.  in  Rumänien.  13.  Die  H. 
in  der  Türkei.  14.  Die  kaufmännische  Inte- 
ressenvertretung im  übrigen  Europa.  15.  Die 
H.  in  aussereuropäischen  Ländern.  16.  Die 
Auslandshandelskammem . 

1.  Allgemeines.  Als  das  Innungs-  und 
Zunftwesen  dem  Verfalle  und  der  Entailung 
sich  zuneigte,  immer  breitere  Scliichten  der 
Bevölkerung  an  Handel  und  Gewerbe  tliätigen 
Anteil  nahmen  und  bei  der  fortschreitenden 
Entwickelung  des  Staates  das  Staatsbürger- 
tum der  ständischen  Gliederung  gegenüber- 
gestellt wurde,  fiel  den  Regierungen  immer 
mehr  die  Aufgabe  zu,  auf  die  Förderung  des 
materiellen  Wolües  der  Bürger  selbst  un- 
mittelbaren Einfluss  zu  üben.  Sollte  der- 
selbe zu  einem  gedeilüichen  Ergebnis  führen, 
war  es  unerlasslich ,  aus  den  Kreisen  der 
zunächst  durch  die  Massnahmen  der  Re- 
gierung Betroffenen  fachkundigen  Beirat  zu 
holen,  und  so  stellte  sich  auch  das  Bedürf- 
nis heraus  nach  offiziellen  begutachtenden 
Vertretungskörpern  von  Handel  und  Gre- 
werbe,  denen  mehr  oder  minder  gi'osser 
Einfluss  auf  Gesetzgebung  und  Verwaltung 
des  Staates  eingeräumt  wurde.    Aber  auch 


commerciales  en  France  et  d  FStranger.  — 
Deloison,  Tratte  des  societcs  commerci/zles. 
Paris  1882.  —  ^yegen  der  Aktiengesellschaften 
vgl.  d.  ArL  oben  Bd.  I  S.  161,  168,  178,  189, 
200  u.  s.f.  —  Für  die  Geschichte  d.  H.-G.: 


Renaud,  Das  Hecht  der  Kommanditgesellschaft,  Handel  Und  Gewerbe  selbst  empfanden  es, 
1881.  —  Lescoeur,  Legislation  des  «oW<'V^  j  ^ass  den  Anfoi-deruiigeu  einer  richtigen  Ver- 
tretung ihrer  gemeinsamen  Interessen  bei 
der  Staatsverwaltung  nicht  mehr  die  ein- 
zelnen Gremien  und  Innungen  genügen 
könnten,  sondern  zu  einer  wirksamen  Dui*ch- 
t,  1.^1^*    IT     1  ,       it   i  .'s     ■   j     7.1..  Setzung   ihrer  Anliegen    nur    auf    breiterer 

ScnmiaU  Handelsqesellschajten  in  den  deutschen '  d     •  r     u     *       t/--  u  xa  ■        ^ 

stadtrechuqueilen  d.  MUtelalters  (Gierkes  Unters,  1  ^^^  aufgebaute  Körperschaften  geeignet 
z.  deutschen  Staats-  und  Rechisge^chichu,  XV),  \  «^len.  So  entwickelten  sich  mit  dem  Eni- 
Breslmi  1888.  —  Silberschmidt,  Die  Commenda  1  dringen  freiheitlicher  Auscliauungeu  bei 
in  ihrer  frühesten  Entwickelung  bis  zum  IS. !  Regelung  des  Gewerbewesens  in  den  ver- 
Jahrhundert,  I884.  —  Weber,  Zur  Geschicfue '  scliiedeuen    Staaten   die   heutigen  Handels- 

der  Handelsgesellschaften  im  Mittelalter,  Stuttgart    kammern  auS  ähnlichen,   bereits  im  17.  JalU'- 

1889.  —  Lehmann,  Geschicluliche  Entwickelung  hundert  in  Frankreich  (s.  unten  S.  lOm  ent- 
./..   Aktienrechts,    J^^ö^-   R.   Ehrenberg     staudenen  Kori)omtionen. 
Zeualter  der  J^ugger,  1896,  I,  88 ff.,  880 ff.;  II,  \       ^     alk^emeinen  haben  die  Handekkam- 

listor.  Haujjiwerk:    Gold-  >        ^'"  aii^eraeintn   nanen  uie  namiei^Kam- 

das    Interesse   von    Handel    und   In- 


292 ff.,    82off.    —   Histor.   iiaujj 

Schmidt,  Handbuch   des  Handelsrechts,  1.  Bd., 


1. 
1. 


Abt.  : 
Lirf, 


l  w  irprsalgesrh  ich  te  des   Ha  n  delsrech  ts, 
S.  2.'>4ff. 

Richard  Ehrenberg. 


Handelskammern 

(Handels-  und  Gewerbekammern). 

1.  Allgemeines.  2.  Die  H.  im  Deutschen 
Eeiche.  a)  (Teschichte;  b  Organi.sation;  cj  Auf- 
gaben und  Befugnisiie.  d.  Vie  H.  und  (t.  in 
Oesterreich  und  Ungarn,    aj  Geschichte  j  bj  Or- 


,  inern   aas    inieresse   von 

I  dustrie ,    zumeist    aueli    des   kleineren    Ge- 

I  werbes  in  einem   bestimmten  Bezirke  oder 

eiiKH*  Stadt  wahrzunehmen,  darauf  bezüg- 

;  liehe   Wihische    und    Anträge    aus    eigener 

'  Initiative  oder  über  behördliche  Auffonlerung 

;  der  Verwaltung  zur  Kenntnis    zu    bringen, 

sie  fortlaufend  über  den  Zustand  von  Handel 

und  Gewerbe  zu  informieren  und  die  darauf 

bezügliche    Statistik    zu    fühlten.     Danel»en 

I  sind    ihnen   in   den    verschiedenen   Staaten 

noch  andere  Aufgaben  und   Befugnisse  zu- 

geuK^ssen,  und  danach  ist  ihre  Stellung  und 

ihr  Einfluss  ein  verschiedener. 


Handelskani  meni 


1023 


Während  sie  in  Grossbiitannien  und  den 
Vereinigten  Staaten  lediglich  freie  Vereine 
von  Kanfleiiten  und  Lidustriellen  bilden, 
tragen  sie  in  den  Hansestädten  fast  den 
Charakter  staatlicher  Behörden.  Zwischen 
diesen  beiden  Extremen  liegt  die  Organi- 
sation in  den  meisten  übrigen  Staaten,  wo 
ihre  Eigenschaft  als  beratende  Körperschaften 
in  den  Vordergrund  tritt,  ihnen  jedoch  da- 
neben unmittelbare  Verwaltungsaufgaben  zu- 
gewiesen sind,  wie  die  Besetzung  von  Han- 
delsrichter- oderSachvei-ständigenstellen  oder 
die  Ei'stattung  von  Vorschlägen  hierzu,  die 
Ausstellung  von  Zeugnissen  ül)er  Preise, 
Handelsgebräuche  und  zu  zollamtlichen 
Zwecken,  die  Fühning  von  Firmenregistern, 
dann  der  Marken-  und  Musterschutzregister 
(OesteiTcich  und  Ungarn),  die  Verwaltung 
von  Börsen  (Preussen,  Biayem,  Hamburg, 
Bremen,  Triest),  kaufmännischen  und  ge- 
werblichen Anstalten  und  Schulen  (Frank- 
reich, Italien,  Bayern,  Sachsen,  Braun- 
schweig) und  ein  Schiedsrichteramt  in  Han- 
delsstreitigkeiten. In  manchen  Staaten 
(OesteiTcich ,  Frankreich,  Spanien,  Bayern, 
Sachsen,  Württemberg,  Lübeck)  sollen  oder 
miissen  die  Handelskammern  auch  über  Ge- 
setze und  Verordnungen,  welche  Handel 
und  Industrie  betreffen,  ausdrücklich  vor 
deren  Erlassung  oder  parlamentarischen  Be- 
handlung einvernommen  w^erden,  in  Oester- 
reich  bilden  sie  sogar  politische  Wahlkörper 
für  Landtag  und  Reichsrat.  Je  grösser  der 
Kreis  der  durch  die  Handelskammern  Ver- 
tretenen, desto  einflussreicher  ist  ihr  Votum 
luid  desto  leichter  wird  es,  bereits  in  ihrem 
Schosse  einen  Ausgleich  widerstreitender 
Interessen  einzelner  Gruppen  vorzunehmen 
und  denselben  nicht  erst  der  Regierung  zu 
überlassen.  Sollen  sie  ihre  Aufgabe  voU 
erfüllen,  so  ist  es  vorerst  notwendig,  dass 
alle  Handels-  und  Gewerbetreibenden  in 
ihnen  eine  angemessene  Vertretung  finden 
können,  sie  dürfen  daher  nicht  bloss  lokale 
Vereinigungen  sein,  sondern  sollen  mit  ilu^n 
der  wirtschaftlichen  und  politischen  Gliede- 
nmg  angepassten  Bezirken  das  ganze  Staats- 
gebiet umfassen  (Sachsen,  Bayeni,  Württem- 
berg, Oesterreich,  Ungarn).  Der  Kreis  der 
Wahlberechtigten  ist  daher  nicht  auf  die 
im  Handelsregister  eingetragenen  Firmen  zu 
beschränken,  sondern  das  Wahlrecht  auch 
dem  Krämer  mid  Kleingewerbetreibenden 
einzuräumen,  damit  dieselben  nicht  einer 
Vertretung  entbehren  oder  sie  in  besonderen 
Gewerbekammern  oder  Handwerkerkammern 
(s.  oben  Bd.  IV  S.  499  ff.)  suchen  müssen.  Die 
einzelnen,  im  Bezirke  vertretenen  Interessen- 
tengrup[)en  sollen  besondere  Wahlkörper 
bilden  und  ihnen  eine  ihrer  wirtschaft- 
lichen Bedeutung  im  gesamten  Bezirke  ent- 
spn^chende  Zalil  von  Mandaten  zugewiesen 
werden.    Diese  Gruppeneinteilung  wird  sich 


je  nach  den  besonderen  Verhältnissen  nach 
dem  Umfange  (Gresshandel,  Kaufmannschaft^ 
Krämer,  Fabrikindustrie,  Mittelgewerbe, 
Handwerk)  oder  nach  den  vorheiTSchenden 
Erwerbszweigen  eingeben. 

Ob  eine  Erweiterung  dieser  Institutionen, 
welche  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Bezeichnung 
(Handelskammern  o^ler  Handels-  und  Ge- 
werbckammern)  dermalen  zumeist  sowohl 
die  Interessen  aller  Zweige  des  Handels 
als  auch  der  gewerblichen  Produktion  im 
weiteren  Sinne  (auch  Bergbau)  wahrzunehmen 
liaben,  durch  Angliederung  einer  Vertretung 
der  landwirtschaftlichen  Interessen  und  Aus- 
bildung zu  Wirtschaftskammern  zweckmässig 
wäi'e,  steht  noch  offen,  desgleichen,  ob  in 
den  Handelskammern  auch  den  Arbeit- 
nehmern eine  Vertretung  zu  sichern  oder  be- 
sondere Arbeiterkammern  vorzuziehen  seien. 
In  der  jüngsten  Entwickeluug  der  Handels- 
kammern im  Deutschen  Reiche  zeigt  sich 
eher  das  Bestreben  nach  Einschränkung 
durch  die  Errichtung  einer  Sondervertretung 
für  das  Handwerk. 

Die  Handelskammern  besitzen  fast  überall 
die  Rechte  juristischer  Personen  und  sind 
zumeist  den  Centralstellen  für  Handel  und 
Gewerbe  direkt  untergeordnet,  welche  mit 
Rücksicht  auf  die  Deckung  der  Verwaltungs- 
auslagen der  Kammern  aus  Öffentlichen 
Mittein  eine  Eiuflussnahme  auf  deren  Bud- 
get besitzen.  Ihr  autonomer  Charakter  prägt 
sich  auch  darin  aus,  dass  sie  unter  einander 
und  mit  den  verscliiedenen  Behörden  in 
direkten  Verkehr  treten  können. 

*2«  Die  U.  iin  Deutschen  Reiche«   a)  Qe- 

schiohte.  Auf  deutscher  Erde  kann  die  1665 
in  Hamburg  ins  Leben  getretene  „Commerz- 
Deputation'^  ids  Vorläuferin  der  Handelskammern 
angesehen  werden;  es  entstanden  sohin  zu  An- 
fanfi^  des  Jahrhunderts  Handelskammern  zuerst 
in  den  Ländern  französischen  Rechts  und  zwar 
auf  Grund  des  Dekrets  v.  24.  Dezember  1802 
(s.  unten  S.  1030).  so  in  Köln,  Krefeld,  Aachen, 
Eupen,  Malmedy  und  Stx)lberg,  später  unter 
deutscher  Herrschaft  1812  in  Koblenz,  dann  in 
Wesel  und  Gladbach;  1830:  Elberfeld,  Barmen^ 
Düsseldorf;  Mitte  der  40er  Jahre  zu  Erfurt, 
Hagen  und  Halle.  Nach  der  kgl.  V.  v.  11. 
Februar  1848  sollte  in  Preussen  für  jeden 
Bezirk  oder  Ort,  wo  ein  Bedürfnis  besteht,  mit 
königlicher  Genehmigung  und  unter  Berück- 
sichtigung und  eventuell  Aufrechterhaltung  be- 
stehender kaufmännischer  Korporationen  oder 
Innungen  (wie  in  Berlin)  eine  Handelskammer 
errichtet  werden.  Nach  Erwerbung  der  neuen 
Staatsgebiete  wurde  1868  dem  preussischen  Land- 
tage ein  Gesetzentwurf  über  Handelskammern 
unterbreitet,  der  zu  dem  G.  v.  24.  Februar  1870 
führte,  welches  mit  G.  v.  19.  August  181)7 
novelliert  wurde,  nachdem  der  vom  Handels- 
minister Freiherrn  v.  Herlepsch  am  25.  März 
1896  dem  Abgeordnetenhause  vorgelegte  Ge- 
setzentwurf, welcher  eine  gründliche  Reform 
und    die   Einführung    obligatorischer   Handels- 


1024 


Handelskammern 


i 


kammern  beabsichtigte,  trotz  der  BefUrwortmig 
seitens  der  Kammern  im  Abgeorduetenhanse 
lebhaften  Widerstand  fand.  Nach  der  Novelle 
bestehen  dermalen  82  Handelskammern,  ausser- 
dem noch  7  gesetzlich  anerkannte  kaufmännische 
Korporationen.  In  den:  einverleibten  Provinzen 
waren  Handelskammern  entstanden  in  Frank- 
furt a.  M.  (V.  v.  20.  Mai  1817),  in  Hannover 
(V.  V.  7.  April  1866),  in  Nassau  (V.  v.  17.  Oktober 
1863),  welche  dem  preussischen  Gesetz  von  1870 
unterworfen  wurden.  In  Sachsen  bestehen 
4-  Handels-  und  Geweibekammem  und.  je  eine 
Handelskammer  und  Gewerbekammer  zufolge 
des  G.  V.  15.  Oktober  1861  (abgeändert  durch 
G.  V.  23.  Juni  1868  und  V.  v.  16.  Juli  1868; 
ein  neuer  Gesetzentwurf  wurde  am  25.  Januar 
1900  den  Ständen  unterbreitet).  Im  Grossherzo^- 
tum  Hessen  entstanden  Handelskammern  m 
Mainz  schon  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  auf 
Grund  französischen  Rechts,  dann  in  Offenbach 
(1821),  Worms  (1842),  Darmstadt  und  Bingen 
(1862),  Friedberg  und  Giessen;  zuletzt  geregelt 
durch  G.  v.  27.  November  1871  (Reorganisation 
im  Zug:e).  —  In  Braunschweig  besteht  seit 
11.  April  1864  eine  Handelskammer  (umgestaltet 
durch  G.  v.  19.  März  1890  nach  preussischem 
Vorbilde).  —  Im  Herzogtum  Anhalt  schuf  das 
G.  V.  15.  März  1889  (bezw.  5.  April  1898)  eine 
Handelskammer.  Sachseu-Meiningen  hat 
4  Handels-  und  Gewerbekammem ;  Sachsen- 
Coburg  und  Gotha  hat  2  Handelskammern 
G.  V.  30.  November  1895  und  13.  Juli  1896), 
chwarzburg-Sondershausen  1  Handels- 
kammer (G.  V.  30.  Juli  1899),  in  beiden  Reu ss 
(G.  V.  18.  Februar  1874  und  7.  August  1899), 
Oldenburg  (G.v.  19.  Febniar  1900),Mecklen - 
bürg- Schwerin  und  Schaumbnrg -Lippe 

1e  1  Handelskammer,  in  Sachsen- Weimar- 
Cisenach     steht    ein    Handelskammergesetz 
in  Beratung.  ' 

In  Hamburg  besteht  die  1866  aus  der 
Commerz-Deputation  hervorgegangene  Handels- 
kammer nach  dem  G.  v.  23.  Januar  1880,  in 
Bremen  eine  Handelskammer  seit  G.  v.  21. 
Februar  1854  bezw.  von  1875  und  1,  Januar 
1894,  ebenso  in  Lübeck  seit  G.  v.  18.  Juni 
1853  bezw.  4.  Februar  1867  und  21.  Juni  1898 ; 
Elsass-Lothringen  hat  4  Handelskammern 
auf  Grund  des  G.  v.  29.  März  1897  und  V.  v. 
14.  April  1897  nach  Aufhebung  des  französischen 
G.  v.  3.  September  1851.  In  Bayern  wurden 
Handels-  und  Gewerbekammern  durch  V.  v.  19. 
September  1847  eingeführt  und  durch  V.  v.  2. 
August  1848,  dann  27.  Januar  1856  und  20. 
Oktober  1868  sowie  25.  Oktober  1889  umge- 
staltet; ihre  Zahl  beträgt  8.  —  Württemberg 
besass  Handels-  und  Gewerbekammern  seit  der 
V.  V.  19.  September  1854,  umgestaltet  durch  V. 
V.  17.  Februar  1858  und  G.  v.  4.  Juli  1874  in 
der  Zahl  von  8;  durch  G.  v.  30.  Juli  1899 
wurden  diese  in  Handelskammern  umgewandelt. 
In  Baden  führt  die  Handelskammer  von  Mann- 
heim ihr  erstes  Privilegium  auf  1728  zurück, 
es  bestehen  seit  20.  September  1862  (abgeändert 
durch  G.  v.  11.  Dezember  1878,  V.  v.  8.  April 
1879  und  28.  Dezember  1886,  dann  G.  v.  26. 
April  1886  und  12.  September  1898)  dermalen 
9  Handelskammern.  Im  ganzen  Deutschen 
Reiche  bestehen  148  Handelskammern.  Die  im 
Zuge  befindliche  Errichtung  von  Handwerker- 
kammern (nach  dem  Reichsges.  v.  26.  Juli  1897) 


dürfte  in  Bayern  und  Sachsen  eine  Aenderung 
der  Gesetze,  betreffend  die  Handels-  und  Ge- 
werbekammem, zur  Folge  haben.  —  Bezüglich 
der  Gewerbekammern  s.  d.  Art.  Gewerbe- 
kammern a.  a.  0. 

b)  Organisation.  In  Sachsen  und 
Bayern,  wo  vereinigte  Handels-  und  Ge- 
werbekammem bestehen  (mit  Ausnahme  von 
Leipzig),  und  in  Württemberg  ist  das 
ganze  Land  in  Kammerbezirke  eingeteilt, 
die  entweder  schon  durch  das  Gesetz  oder 
durch  Verordnung  bestimmt  werden.  In 
Baden  erfolgt  die  Errichtung  von  Han- 
delskammern nach  Erhebung  der  bestehen- 
den Wünsche  durch  Anordnung  des  ein- 
schlägigen Ministeriums;  in  Preussen 
unterliegt  die  Errichtung  der  Genehmigung 
des  Handelsministers,  welcher  auch  die 
Zahl  der  Mitglieder  und  den  Bezirk  be- 
stimmt, der  sich  bald  nur  auf  eine  Stadt 
oder  auch  auf  deren  Umgebung  oder  auf 
einen  grösseren  Umkreis  erstreckt. 

Wahlberechtigt  sind  in  Preussen 
die  zur  Gewerbesteuer  veranlagten  und  im 
Handels-  oder  Genossenschaftsregister  ein- 
getragenen Kaufleute  bezw.  handeltreiben- 
den Gesellschaften  und  Genossenschaften 
sowie  überhaupt  die  Bergbaubetriebe,  dann 
die  kaufmännisch  betriebenen  Zweignieder- 
lassungen. Ausgeschlossen  sind  Reichs-  und 
Staatsbetriebe ;  land-  und  foi'stwirtschaftliche 
Nebengewerbe  und  Handw^erksgenossen- 
schaften  können  ihre  Zulassung  beantragen. 
(Aehnüch  auch  in  Württemberg  und 
Elsass-Lothringen.)  In  Bayern 
wählen  in  die  Handelskammern  alle  im 
Handelsregister  eingetragenen  Gewerbe- 
steuerpflichtigen am  Sitze  der  Handels- 
kammer, ferner  Aktiengesellschaften  und 
eingetragene  Genossenschaften  (s.  a.  d.  Art. 
Gewerbekammern,  über  das  Wahlrecht 
in  diese),  in  Baden  die  Inhaber  einge- 
tragener Firmen,  welche  im  Bezirke  wohnen 
und  einen  bestimmten  Steuersatz  zahlen, 
wobei  die  Mindestbesteuerten  auf  das  Wahl- 
recht verzichten  können  (auswärtige  Firmen- 
inhaber wählen  durch  den  eingetragenen 
Vertreter).  In  Sachsen  sind  Wähler  der 
Handelskammer  alle  Kaufleute  und  Fabri- 
kanten, welche  mindestens  10  Thaler  ordent- 
liche Gewerbesteuer  zahlen,  25  Jahre  alt 
und  nicht  vom  Gemeindewahlrecht  ausge- 
schlossen sind,  ferner  unter  gleichen  Be- 
dingungen die  Vertreter  von  kommunalen 
und  staatlichen  Gewerbsanstalten,  Verkehrs- 
und Montanunternehmungen.  In  Hessen 
ist  das  Wahlrecht  durch  Eintragung  im 
Handelsregister  und  Steuerleistimg  in  den 
ersten  drei  Gewerbeklassen  bedingt,  ebenso 
in  Braunschweig  durch  eine  Gewerbe- 
steuer von  mindestens  86  Mark  und  in  An- 
halt durch  einen  Einkommensteuercensus. 

Die  Wahlfähigkeit   hängt   von   dem 


Handelskammern 


1025 


Besitze  der  Wahlberechtigung,  einem  be- 
stimmten Alter  (25  Jalire  in  Preussen,  Sach- 
sen, Wiirttemberg ,  Baden,  30  Jahre  in 
Bayern  und  Elsass-Lothringen),  mehrjährigem 
(drei  Jahre  in  Bayern)  selbständigem  Ge- 
werbebetriebe, Besitz  der  (deutschen)  Staats- 
bürgerschaft (Preussen),  der  bürgerlichen 
Ehrenrechte  und  Wohnsitz  im  Bezirke  (in 
Bayern  am  Sitze  der  Handelskammer)  ab. 
In  Preussen,  Württemberg,  Bayern,  Baden  und 
Elsass-Lothringen  können  auch  solche  ge- 
willt werden,  welche  überhaupt  oder  durch 
eine  Keihe  von  Jahren  (Bayern)  aktiv  wahl- 
berechtigt waren,  es  aber  nicht  mehr  sind; 
die  Zahl  dieser  darf  in  Preussen  den  zehnten 
Teü  der  Kammermitglieder,  unter  welche 
sie  nicht  gezählt  werden,  nicht  übersteigen. 

Die  Wahl  erfolgt  regelmässig  durch  ge- 
heime Abstimmung,  wobei  dort,  wo  Handels- 
und Gewerbekammern  bestehen,  jede  Ab- 
teilung für  sich  wählt ;  die  Leitung  besorgen 
in  Bayern  und  Württemberg  Begierungs- 
kommissare, sonst  von  der  Handelskammer 
Bestellte.  In  Preussen  entscheidet  im  ersten 
Wahlgange  al^solute,  in  den  anderen  Län- 
dern relative  Majorität.  Sachsen  kennt  eine 
indirekte  Wahl  dittch  Wahlmänner,  wobei 
deren  Zahl  für  die  Handelskammer  min- 
destens doppelt  so  gross  als  die  Zahl  der 
Mitglieder  ist  und  erstere  in  räumlich  ge- 
trennten Abteilungen  gewählt  werden.  In 
Preussen,  Bayern,  Sachsen,  Baden  und 
Württemberg  giebt  es  ausser  den  regel- 
mässigen Ergänzungswahlen  auch  ausser- 
ordentliche bei  Erledigung  von  IVIandaten, 
wobei  sich  in  Sachsen  und  in  Württemberg 
die  Handelskammer  (in  letzterem  bis  zu 
einem  Viertel  der  gewälilten  Mitglieder)  selbst 
ergänzen  darf. 

Die  Mitgliedschaft  dauert  in  Preus- 
sen, Bayern,  Württemberg,  Baden,  Elsass- 
Lothringen,  Braunschweig  und  Sachsen  sechs 
Jahre  mit  Neuwalü  der  Hälfte  (bezw.  des 
Drittels)  alle  drei  Jahre  (bezw.  zwei  Jahre). 
Wiederwahl  ist  überall  zulässig. 

Die  Gewählten  sind  in  Bayern,  abgesehen 
vom  Falle  der  Wiederwahl,  nur  in  besonders 
erwähnten  Fällen  berechtigt,  die  Wahl  abzu- 
lehnen, wobei  die  Entscheidung  über  das 
Ablehnungsgesuch  der  Kammer  zusteht, 
sonst  besteht  keine  Pflicht  zur  Annahme. 
Vielfach  findet  sich  ein  Disciplinarrecht  der 
Handelskammer  über  säumige  oder  un- 
würdige Mitglieder  (Bayern,  Sachsen,  Preus- 
sen). Das  Amt  ist  ein  Ehrenamt.  In  Preussen 
können  die  Kammern  den  Mitgliedern  für 
die  Teilnahme  an  den  Sitzungen  eine  den 
baren  Auslagen  entsprechende  Entschädigimg 
bewilligen  und  weisen  die  Barauslagen  für 
Dienstreisen  erstattet.  (Auch  in  Württem- 
berg.) 

Die  Kammern  wählen  den  Vorsitzen- 
den und  seinen  Stellvei-treter  entweder  all- 

Handwörterbnch  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


jährlich  (Preussen)  oder  auf  drei  Jahre 
(Bayern,  Württemberg,  Baden,  Sachsen);  in 
Bayern  müssen  beide  am  Sitze  der  Kammer 
wohnhaft  sein  und  wird  der  Vorsitzende 
von  der  Handels-,  der  Stellvertreter  von  der 
Gewerbeabteihmg  gewählt.  Jede  Kammer 
bestellt  einen  besoldeten  Sekretär  (Syndi- 
kus, Geschäftsführer),  in  der  Regel  ausser- 
halb des  Kreises  ihrer  Mitglieder  (in  Bayern 
ist  dies  ausdrücklich  vorgeschrieben  "und 
wird  fachwissenschaftliche  Bildung  verlangt), 
welchem  die  Geschäftsfühning  obliegt  und 
das  Hilfspersonal  untersteht.  Die  Ver- 
handlungen sind  in  der  Regel  öffentlich 
und  werden  auch  die  Berichte  über  dieselben 
publiziert. 

Die  Verwaltungskosten  werden  in 
der  Regel  mangels  eigener  Einnahmen  von 
den  Wahlberechtigten  gedeckt  und  als  Um- 
lage eingehoben,  für  die  in  Braunschweig, 
Württemberg  und  Baden  ein  Höchstaus- 
mass  festgesetzt  ist,  welches  ohne  ministe- 
rielle Genehmigung  nicht  überschritten  wer- 
den darf;  in  Baj-em  erhalten  die  Kammern 
überdies  Zuschüsse  aus  den  Kreis-  und 
Centralfonds,  in  Sachsen  aus  Staatsmitteln, 
ähnlich  in  Hessen  und  Anhalt.  Die  ver- 
schiedenen Staatsregierungen  haben  sich  ein 
Aufsichtsrecht  über  die  Aufstellung 
des  Voranschlags  und  die  Rechnungslegung 
vorbehalten.  In  der  Anstellung  und  Be- 
soldung von  Beamten  sind  die  Kammern 
innerhib  ihres  Budgets  nicht  beschränkt. 
In  Preussen,  Bayern  ist  die  Regierung  aus- 
drücklich zur  Auflösung  der  Kammern 
berechtigt  und  wird  auch  ein  Kammer- 
kommissar zur  Teünahme  an  den  Sitzungen 
bestellt. 

In  Bayern  bestehen  neben  den  Handels- 
und Gewerbekammern  noch  Bezirks- 
gremien für  Handel  imd  Gewerbe,  welche, 
ähnlich  wie  erstere  organisiert,  ihnen  teil- 
weise unterstehen  und  dieselben  Funktionen 
für  den  Bezirk  üben,  welche  den  Kammern 
rücksichtlich  des  Regienmgsbezirks  obliegen. 

Mehrfach  abweichend  sind  die  Handels- 
kammern der  Hansestädte  organisiert. 
Jene  in  Hamburg  zählt  24  IVIitglieder,  die 
von  der  *  Versammlung  Eines  Ehrbaren 
Kaufmannes«  auf  sechs  Jahre  gewählt  wer- 
den und  von  denen  alljährlich  vier  aus- 
scheiden. Mitglieder  dieser  Versammlung 
können  alle  im  Handelsregister  eingetragenen 
Staatsangehörigen  Geschäftsleute  sein,  welche 
vorzugsweise  Geschäfte  im  grossen  betreiben, 
und  die  Voretände  von  Aktiengesellschaften ; 
sie  müssen  jedoch  in  das  von  der  Handels- 
kammer zu  führende  besondere  Register  ein- 
getn^en  werden.  Die  Wahl  erfolgt  geheim, 
auf  Grund  eines  Ternavorschlags  der  Han- 
delskammer. Jedes  Jahr  wählt  die  Handels- 
kammer einen  Vorsitzenden  und  einen  Stell- 
vertreter, welch  ersterer  nach  vierjähriger 

AuflaRe.    IV.  65 


1026 


Handelskammern 


Bekleidimg  dieser  Stelle  ein  Jahr  nicht 
wieder  wählbar  ist.  Die  Handelskammer 
wählt  ihre  Angestellten  und  bezieht  ihi'e 
Einnahmen  aus  verschiedenen  Böi'senge- 
bühren,  den  Gebühren  für  die  alljährlich  zu 
erneuernde  Eintragung  in  das  Register  der 
Yersammlung  eines  Ehrbaren  Kaufmannes 
und  einem  Staatszuschusse  (1899  65000  M.) 
und  hat  dem  Senate  Rechnung  zu  legen. 

In  Bremen  ist  die  Handelskammer 
ebenfalls  ein  24  Mitglieder  zählender  Aus- 
schuss  des  Kaufmannskonvents;  dieser  be- 
steht aus  jenen  Mitgliedern  der  Börse, 
welche  dem  Senate  angehören  oder  in  die 
Bürgerschaft  wählbar  und  in  eigenen  Ge- 
schäften als  Kaufleute  oder  Fabrikanten 
etabliert  sind  oder  waren.  Alljährlich 
scheiden  zwei  Mitglieder,  eventuell  nach 
dem  Dienstalter,  aus;  wer  18  Jahre  in  der 
Handelskammer  sass,  muss  austreten,  und 
es  ist  Wiederwahl  eines  Ausgetretenen  für  das 
nächste  Mal  nicht  zulässig.  Austritt  aus 
dem  Konvent  hat  auch  Austritt  aus  der 
Handelskammer  zur  Folge.  Zwischen  Han- 
delskammer und  Senat  vermittelt  eine  aus 
Mitgliedern  beider  zusammengesetzte  Be- 
hörde. Zur  Deckung  ihrer  Kosten  erhält 
die  Handelskammer  einen  Staatszuschuss 
von  3500  Mark;  das  Honorar  der  Syndiker 
wird  im  Gesetzgebungsw^ege  festgestellt. 
Die  Handelskammer  in  Lübeck  ist  in 
ähnlicher  Weise  als  Ausschuss  der  Kauf- 
mannskorporation  bestellt  imd  zählt  einen 
Präses  und  20  Mitglieder  mit  sechsjähriger 
Aratsdauer;  alljährlich  scheiden  die  drei 
Aeltesten  aus  und  sind  ein  Jahr  nicht  nieder 
wählbar,  mit  Ausnahme  des  als  Präses  aus- 
scheidenden; der  Präses  wird  von  der 
Korporation  auf  zwei  Jahre  gewählt  und 
ist  nicht  sofort  wieder  wählbar.  Alle  Wahlen 
vollzieht  die  Kaufmannschaft  auf  Grund 
eines  Ternavorschlags  der  Handelskammer. 
Der  Präsident  bedarf  der  Bestätigimg  durch 
den  Senat,  wird  beeidet  und  erhält  einen 
Ehrensold  von  der  Kaufmannschaft,  welche 
auch  die  Kosten  der  Handelskammer  ans 
dem  eigenen  bedeutenden  Yermögen  deckt. 
Die  Handelskammer  bestellt  zwei  Sekretäre. 

Die  zur  Vertretung  von  Industrie  und 
Handel  gesetzlich  berufenen  Körperschaften 
(Handelskammern,  Handels-  und  Gewerbe- 
kammern und  kaufmännische  Körperschaften) 
sind  zusammen  mit  einigen  freien  indus- 
triellen und  kaufmännischen  Vereinen  in 
dem  1861  gegründeten  deutschen  Han- 
delstage vereinigt  (das  geltende  Statut 
stammt  von  1886,  eine  neue  Satzung  ist 
in  Verhandlung).  Die  Gewerbekammern 
bilden  seit   1886  einen  Geworbekamniertag. 

c)  Aufgaben  und  Befugnisse.  Sämt- 
liche Handelskammern  haben  die 
Gesamtinteresscni  des  Handels  und  der 
Industrie  ihres  Bezirkes  walu'zunehmen,   zu 


veiti'eten  und  den  Behörden  auf  deren  An- 
suchen oder  aus  eigener  Initiative  Gut- 
achten zu  erstatten;  sie  haben  alljährlich 
dem  betreffenden  Ministerium  einen  Bericht 
vorzulegen,  nach  reichsgesetzlicher  Voi*schrift 
die  Handelsrichter  in  Vorschlag  zu  bringen, 
ebenso  bei  der  Bestellung  von  Handels- 
mäklern mitzuwirken  (Preussen,  Bayern), 
technische  und  kaufmännische  Sachvei'stän- 
dige  vorzuschlagen  (Anhalt),  können  mit  der 
Verwaltung  von  Börsen  (Reichsgesetz  v.  22. 
JuU  1896)  und  allgemeinen  Handelsinstituten 
betraut  werden  (Bayern,  Sachsen,  Preussen. 
Hamburg,  Bremen),  haben  an  der  Leitung 
und  Beaufsichtigung  von  öffentlichen  An- 
stalten und  Einrichtimgen  zur  Beförderung 
von  Industrie  imd  Handel  mitzuwirken 
(Baden)  oder  sie  zu  unterstützen  (Württem- 
berg), auch  Anstalten  zur  Ausbildung,  Er- 
ziehung und  sittlichem  Schutz  der  darin 
beschäftigten  Gehilfen  imd  Lehrlinge  zu  be- 
gründen und  zu  erhalten  (Preussen),  Gutachten 
über  kommerzielle  oder  industrielle  That- 
sachen  an  Geridite  zu  erstatten  und  lokale 
Handelsgebräuche  festzusteUen,  die  Begister- 
gerichte  bei  der  Führung  der  Handels- 
register zu  unterstützen  (Keichsges.  v.  17. 
Mai  1898),  ürspningszeugnisse  auszufertigen 
(Preussen),  statistische  !N  achweise  zu  sam- 
meln unter  Mitwirkung  der  Handel-  und 
Gewerbetreibenden  und  Gemeindebehörden 
(Württemberg),  endlich  mit  den  Bezirks- 
gremien Verkehr  zu  unterhalten  (Bayern). 
Einen  besonderen  Wirkungskreis  haben 
die  hanseatischen  Kammern.  Die 
Hamburger  Handelskammer  entsendet 
Mitglieder  in  die  Deputationen  für  Handel 
und  Schiffahrt,  für  indirekte  Steuern,  in 
die  Auswandererdeputation  und  in  andei-e 
Kommissionen  (Verwaltung  der  Seomanns- 
kasse  etc.),  schlägt  Handelsrichter  vor  und 
ernennt  Sachverständige  auf  Antrag  von  Ge- 
richten sowie  die  Besichtiger  der  Aus- 
wandererschiffe, Schiffs-,  Segel-,  Tauwerk- 
und  Maschinentaxatoren,  verwaltet  die  Börse 
(nach  der  Börsenordnung  v.  23.  Dezember 
1896),  veranlasst  die  Kiu^notierungen  und 
veröffentlicht  wöchentlich  einen  Warenpi-eis- 
courant,  endlich  kann  sie  Schiedsgerichte 
für  Civilrechtsstreite  auf  Verlangen  der 
Parteien  ernennen.  Die  Bremer  Kammer 
hat  ihr  besonderes  Augenmerk  auf  alles  zu 
richten,  was  dem  Handel  und  der  Schiff- 
I  fahrt  sowie  deren  Hilfsgeschäften  dienlich 
sein  kann,  wirkt  mit  bei  der  Aufstellung 
von  Regulativen  für  den  Handel  und  Sclüff- 
fahrtsbetrieb,  beaufsichtigt  die  Börse,  ver- 
I  üffentlicht  wichtige  eingehende  Xachriehten, 
verwaltet  das  Tonnen-  und  Bakenw^esen  und 
!  entsendet  Mitglieder  in  die  Behönlen  für 
Handelshilfsgeschäfte,  den  Wasserschout,  die 
'  Navigationsschule,  das  Lotsenwesen  und  das 
;  Auswandorerwesen :  sie  kann  bei  ilu-en  Ar- 


Handelskammern 


•1027 


beiten  <lie  Mitwirkung  des  brenoisolien 
Bui-eaiis  für  Statistik  beanspruchen.  Die 
Handelskammer  in  Lübeck  fungiei-t  als 
Voretand  der  Kaufmannschaft,  verwaltet 
dei-en  Vermögen,  beaufsif.htigt  die  Börse, 
besorgt  die  Verwaltung  der  Hafeneinrich- 
timgen,  bestellt  die  Beamten,  vertritt  die 
Interessen  von  Handel,  Schiffahrt  und  In- 
dustrie des  Staates,  vemnstaltet  kommerzielle 
Missionen,  erhält  die  Berichte  der  Consuln 
und  diplomatischen  Agenten  zur  Einsicht  etc. 
Diesen  drei  Handelskammern  ist  ferner  ge- 
meinsam, dass  sie  bei  allen  an  die  Bürger- 
schaft zu  stellenden  Anträgen  (Hamburg) 
oder  Gesetzen  (Bremen)  in  Handels-  und 
Schiffahrtsangelegenheiten  um  ihr  Gutachten 
befragt  werden  sollen,  ja  sogai*  (Lübeck)  bei 
diesbetreffenden  Staatsverträgen  befragt  wer- 
den müßseu.  Aehnliche  Bestimmungen  finden 
sich  in  Sachsen,  Bayern  und  in  Baden,  wo 
die  Handelftkammer  ebenfalls  vor  gesetzlicher 
oder  behördlicher  Regelung  von  wichtigei*en 
Handel  und  Industrie  unmittelbar  betreffen- 
den AngelegenheitiCn  (in  Elsass-Lothringen, 
Bayern  und  Sachsen  soweit  thunlich)  gehört 
werden  sollen  und  in  Baden  auch  über 
ministerielle  Anforderung  zu  Beratungen 
zusammentreten  oder  zu  solchen  Delegierte 
entsenden  können. 

3«  Die  H«  und  G*  in  Oesterreieh  und 
Ungftrn.  a)  Qeaohichte :  Seit  dem  Dekret 
der  italienischen  Kegierung  v.  27.  Juni  1811 
bestanden  in  den  lombardisch  -  venezianischen 
Provinzen  des  Kaisertums  Oesterreich  Handels- 
kammern (Camere  di  commercio,  arti  e  mani- 
fatture)  mit  4 — 12  Mitgliedern  aus  dem  Stande 
der  Handelsleute  und  Fabrikanten  und  einem 
Präsidenten.  Sie  hatten  eine  kontrollierende 
Wirksamkeit  als  Regierungsorgane,  führten  die 
unmittelbare  Aufsicht  über  Handel  und  Manu- 
fakturen, fertigten  Fracbtmanifeste  und  Ab- 
fahrtsscheine über  Land-  und  Schiffsladungen 
ans,  verfassten  alljährlich  statistische  Handels- 
berichte, nahmen  die  Handels-  und  Gewerbe- 
anmeldungen entgegen,  wirkten  bei  der  Stener- 
bemessung  mit  und  hatten  in  Mailand  und 
Venedig  auch  die  Polizeiaufsicht  über  die  Börse, 
deren  Beamte  sie  ernannten.  Durch  das  rego- 
lamento  v.  21.  Juli  1849  wurde  ihre  Organi- 
sation reformiert.  Das  provisorische  G.  v.  3. 
Oktober  1848  (welches  ohne  kaiserliche  Sanktion 
als  Minis terial Verordnung  verlautbart  wurde) 
bestimmte  die  Errichtung  von  Handelskammern 
in  den  übrigen  Provinzen  des  Kaiserstaates, 
welche  als  beratende  Institute  dem  Ministerium 
für  Ackerbau  und  Handel  untergeordnet  wurden. 
Diese  Handelskammern  sollten  insbesondere  über 
neue  Gesetze  und  Verordnungen,  bevor  dieselben 
erlassen  oder  die  bestehenden  wesentlich  abge- 
ändert werden,  einvernommen  werden,  hatten 
im  übrigen  das  Vorschlagsrecht  von  Consuln, 
Handelsagenten  und  Sensalen,  der  Errichtung 
von  Oonsnlaten,  Börsen  und  öffentlichen,  auf 
Handel  und  Gewerbe  beznghabenden  Anstal- 
ten etc.  Zum  Mitglied  konnte  jeder  gross- ' 
jährige,  im  Bezirke  wohnhafte,  in  den  indus- 1 
triellen  und  kommerziellen  Wissenschaften  Be- 1 


wanderte  gewählt  werden.  Zwei  Drittel*  der 
Mitglieder  mussten  Gewerbe  oder  Handelsge- 
schäfte für  eigene  Rechnung  betreiben.  Wahl- 
berechtigt w^aren  in  Wien  (wo  allein  eine 
Kammer  nach  diesem  Gesetze  zu  stände  kam) 
alle  protokollierten  Gewerbs-  und  Handelsleute 
Niederösterreichs.  Die  Kosten  sollten  zu  je  Vs 
von  Staat,  Land  und  Gemeinde  des  Standortes 
gedeckt  werden,  welch  letztere  auch  Lokalitäten 
und  Einrichtung  beizustellen  hat. 

Das  provisorische  G.  v.  18.  März  1850  führte 
unter  Aufhebung  des  provisorischen  Gesetzes 
von  1848  und  des  regolamento  von  1849  für  das 
ganze  Staatsgebiet  Handels-  und  Gewerbekam- 
mem  ein,  und  zwar  sollten  deren  26  in  den  Erb- 
landen. 17  in  den  ungarischen  Ländern  und  17 
in  den  lombardisch-venezianischen  Provinzen 
errichtet  bezw.  die  bestehenden  Handelskammern 
umgestaltet  werden.  Dieses  Gesetz  entzog  den 
Kammern  die  obligatorische  Einvernahme  über 
Gesetzentwürfe,  das  Vorschlagsrecht  der  Con- 
suln, beschränkte  das  passive  Wahlrecht  auf 
selbständiffen  5jährigen  Betrieb  oder  Leitung 
einer  Handels-  oder  Gewerbsuntemehmung,  wies 
ihnen  aber  ein  Schiedsrichteramt  in  Handels- 
streitigkeiten, ausgedehntere  statistische  Auf- 
gaben und  das  Vorschlagsrecht  für  Handels- 
gerichtsbeisitzer zu,  dehnte  das  aktive  Wahl- 
recht auch  auf  nicht  protokollierte  Handels- 
und Gewerbetreibende  aus.  fixierte  die  Mit- 
gliederzahl auf  10 — 30  (gegen  9—21),  bestimmte 
sowohl  den  gemeinsamen  Wirkungskreis  als 
auch  jenen  der  Handels-  und  Gewerbesektion 
und  verfügte  die  Deckung  der  Verwaltungs- 
kosten durch  Zuschläge  zur  direkten  Steuer  der 
Wahlberechtigten.  Der  Ausscheidung  der  Lom- 
bardei und  dann  auch  Veneziens  aus  dem 
Kaiserstaate  sowie  dessen  Teilung  in  zwei 
Reichshälften  folgte  eine  Reorganisierung  der 
Handels-  und  Gewerbekammern  in  Oester- 
reich durch  das  G.  v.  29.  Juni  1868  und  in 
Ungarn  durch  den  Gesetzesartikel  VI  vom 
Jahre  1868.  Die  seither  in  Oesterreich  mannig- 
fach aufgetretenen  Bestrebungen  nach  Teilung 
der  Kammem  bezw.  Errichtung  von  Gewerbe- 
kammern führten  zu  einer  Auflösung  sämtlicher 
Kammern  im  Jahre  1884  und  Neukonstituierung 
derselben  auf  Grund  reformierter  Wahlordnungen 
(s.  d.  Art.  Gewerbekammern  a.  a.  0.). 

Das  im  Jahre  1898  ins  Leben  getretene 
neue  Personalsteuerg^esetz  machte  eine  Abände- 
rung des  Handelskammer^esetzes  und  der  Wahl- 
ordnungen nötig,  welche  im  Zuge  ist. 

b)  Organisation.  Die  Zahl  der  Han- 
delskammern in  Oesterreich  (29)  und  deren 
Standort  ist  im  Gesetze  vom  Jahre  1868  be- 
stimmt unter  Berücksichtigung  der  nach  dem 
früheren  Gesetz  entstandenen  Kammern.  11 
Kammern  erstrecken  ihren  Bezirk  über  ein 
ganzes  Kronland,  die  übrigen  nur  über  Teile 
eines  solchen.  Jede  Kammer  zerfällt  in  der 
Regel  in  eine  Handels-  und  eine  Gewerbesektion 
(einschliesslich  des  Bergbaues);  der  Handels- 
minister kann  jedoch  auf  Antrag  der  Kammer 
auch  die  Bildung  von  anderen  Sektionen  für 
besondere  Gewerbszweige  bewilligen.  Die  Zahl 
der  wirklichen  Mite:lieder  beträgt  16 — 48.  Die 
vom  Handelsminister  zu  genehmigende  Wahl- 
ordnung setzt  die  Sektionen  fest  sowie  die 
Anzahl  der  selbständige  Wahlkörper  bildenden, 
nach     dem     Erwerbssteuercensus     eingeteilten 


1028 


Handelskammern 


Wahlkategorieen  und  die  von  jeder  derselben 
zu  wählende  Mitgliederzahl.  Die  Mitglieder 
werden  auf  sechs  Jahre  mit  relativer  Stimmen- 
mehrheit gewählt,  und  alle  drei  Jahre  wird  die 
Hälfte  der  Mitglieder  durch  Neuwahl  ersetzt; 
Wiederwahl  ist  zulässig. 

Wahlberechtigt  sind  jene  Mitglieder 
des  Handels-  und  Gewerbestandes,  welche  im 
VoUgenuss  der  bürgerlichen  Rechte  befindlich, 
im  Kammerbezirke  eine  Handlung,  ein  Gewerbe 
oder  einen  Bergbau  selbständig  oder  als  öffent- 
liche Gesellschafter  betreiben  und  jene,  welche 
als  Vorstände  oder  Direktoren  kommerzielle 
oder  industrielle  Aktiengesellschaften  leiten,  so- 
bald von  diesen  Betrieben  der  für  die  Wahl- 
berechtigung erforderliche  Erwerbssteuerbetrag, 
welcher  nicht  geringer  sein  darf  als  der  Steuer- 
census  für  die  Landtags  wählen,  entrichtet  wird. 
Die  wirklichen  Mitglieder  müssen  öster- 
reichische Staatsbürger,  30  Jahre  alt  und  im 
Bezirke  wohnhaft  sein,  dann  seit  mindestens 
drei  Jahren  die  Erfordernisse  für  das  aktive 
Wahlrecht  besitzen. 

Die  Wahlen  werden  durch  eine  von  der 
Landesbehörde  bestellte  Wahlkommission  unter 
Vorsitz  eines  vom  Handelsminister  ernannten 
Kommissärs  durchgeführt,  welcher  Vertreter  der 
Kammer  und  des  Gemeinderates  am  Standorte 
derselben  angehören  und  deren  Entscheidungen 
unanfechtbar  sind.  Die  Kammern  können 
auch  korrespondierende  Mitglieder  ausserhalb 
ihres  Kreises  in  beliebiger  Anzahl  wählen,  die 
beratende  Stimme  haben ;  femer  wählen  sie  all- 
jährlich einen  Präsidenten  und  einen  Vicepräsi- 
denten,  welche  der  Bestätigung  des  Handels- 
ministers bedürfen,  sowie  einen  provisorischen 
Vorsitzenden  und  ernennen  einen  fachwissen- 
schaftlich gebildeten,  mit  dem  Hechte  der 
Gegenzeichnung  ausgestatteten  Sekretär  ausser- 
halb des  Kreises  ihrer  Mitglieder  sowie  das 
Hilfspersonal ;  diese  Beamten  sind  pensionsfähig. 
Der  Präsident  ist  der  gesetzliche  Vertreter,  für 
die  Geschäftsführung  verantwortlich  und  kann 
Kammerbeschlüsse  sistieren  unter  Vorlage  des 
Gegenstandes  an  den  Handelsminister. 

Die  Kammer  hat  eine  Geschäftsord- 
nung zu  erlassen,  und  ihre  Plenarsitzungen 
sind  Öffentlich;  denselben  ist  ein  vom  Handels- 
minister ernannter  Kommissär  beizuwohnen  be- 
rechtigt, und  jeder  Abstimmende  kann  verlangen, 
dass  seine  Sondermeinung  protokolliert  werde. 
Der  Kosten  Voranschlag  wie  der  Bechnungsab- 
schluss  werden  vom  Handelsminist^r  genehmigt 
und  der  durch  eigene  Einnahmen  nicht  gedeckte 
Betrag  auf  alle  Wahlberechtigten  nach  Mass- 
gabe mrer  Erwerbssteuerleistung  umgelegt.  Die 
Gemeinde  des  Standortes  hat  die  Amtsräume 
und  die  Einrichtung  derselben  beizustellen.  Die 
Handelskammern  haben  Portofreiheit  für  ihre 
Korrespondenz  und  werden  rücksichtlich  der 
Stempelpflicht  in  mancher  Richtung  als  Be- 
hörden betrachtet.  Dem  Handelsminister  steht 
die  Oberaufsicht,  ferner  das  Recht  der  Auf- 
lösung der  Kammern  zu,  doch  sind  binnen  drei 
Monaten  Neuwahlen  vorzunehmen.  Einige 
Kammern  haben  ein  umfangreiches  Bureau  und 
trotz  geringer  Umlage  ein  grosses  Budget  (in 
Wien  60  Angestellte  und  477  000  Kronen  Jahres- 
erfordemis). 

In  Ungarn  bestimmt  der  Handelsminister 
Anzahl,  Sitz  und  Bezirk  der  Kammern,  deren 


lö  bestehen.  Ihre  Organisation  weicht  darin 
von  der  österreichischen  ab,  dass  unter  den 
wirklichen  Mitgliedern  zwischen  inneren  und 
auswärtigen  unterschieden  wird,  deren  Zahl  in 
derselben  Kammer  gleich  sein  soll.  Die  inneren 
Mitglieder  bilden  in  gleicher  Anzahl  die  Handels- 
und Gewerbeabteilung.  Die  Amtsdauer  beider 
Arten  von  Mitglieder  beträgt  fünf  Jahre,  nach 
deren  Ablauf  eine  vollständige  Neuwahl  der 
Kammer  stattfindet.  Wiederwahl  ist  zulässig. 
Für  die  Wahlberechtigung  ist  mindestens  ein- 
jähriger, selbständiger  Betrieb  von  Handel  oder 
Gewerbe  (ohne  Vorschrift  eines  Steuercensusj 
notwendig,  doch  haben  auch  Öffentliche  Ge- 
sellschafter, kommerzielle  und  technische 
Direktoren  das  Wahlrecht.  Innere  Mitglieder 
müssen  am  Sitze  der  Kammer  wohnen.  Für 
fünf  Jahre  wird  von  der  Kammer  ein  Präsident, 
von  jeder  Abteilung  ein  Vicepräsident  gewählt, 
welch  letzterer  in  derselben  den  Vorsitz  führt 
und  erforderlichenfalls  dem  Turnus  nach  den 
Präsidenten  vertritt.  Im  übrigen  stimmt  die 
Organisation  mit  jener  der  Österreichischen 
Kammern  überein. 

c)  Aufgaben  und  Befugnisse.  Die 
Handels-  und  Gewerbekammem  Oestjerreichs 
haben  als  beratende  Körperschaften  im  allge- 
meinen Wünsche  und  Vorschläge  über  sille 
Handels-  und  Gewerbeangelegen^eiten  in  Be- 
ratung zu  nehmen  und  hierüber  sowie  über  den 
Zustand  der  Verkehrsmittel,  auf  Aufforderung 
der  Ministerien  oder  Landesbehörden  oder  aus 
eigener  Initiative,  an  die  Behörden  zu  berichten, 
über  Gesetzentwürfe,  welche  die  kommerziellen 
oder  gewerblichen  Interessen  berühren,  bevor 
dieselben  von  der  Regierung  zur  verfassungs- 
mässigen Behandlung  vorgelegt  werden,  dann 
bei  Errichtung  oder  Reorganisation  öffentlicher 
Anstalten  zur  Förderung  von  Handel  oder  Ge- 
werbe ihre  Gutachten  abzugeben  und  auf  Auf- 
forderimg der  Regierung  unter  einander  gemein- 
same Beratungen  zu  pflegen.  Im  besonderen 
liegt  ihnen  die  Führung  der  Wählerverzeich- 
nisse ob,  dann  von  Nachweisungen  über  die 
protokollierten  Firmen  und  Handels-  und  Ge- 
werbebetriebe des  Bezirkes,  der  neu  ange- 
legten Gewerbekataster  sowie  der  zur  Handels- 
und Gewerbestatistik  erforderlichen  Daten.  Sie 
bilden  die  Marken-  und  Musterregistrierungs- 
ämter, nehmen  Einflnss  auf  die  Ernennung  der 
Handelsgerichtsbeisitzer  und  Schätzmeister  und 
die  Verleihung  von  Hoftiteln  an  Handels-  und 
Gewerbetreibende,  erteilen  Certifikate  über  die 
Leistungsfähigkeit  der  Offerenten  für  Staats- 
liefenmgen,  über  Handelsgebräuche,  in  manchen 
Zoll-  und  Steuerfragen  etc.,  entscheiden  auf 
Grund  besonders  zu  genehmigender  Reglement^} 
als  Schiedsgerichte  in  Streitigkeiten  über  Han- 
dels- und  Gewerbeangele^enheiten  und  haben 
alljährlich  dem  Handelsminister  über  den  Zu- 
stand von  Gewerbe,  Handel  und  Verkehr  ihres 
Bezirkes  zu  berichten  sowie  alle  fünf  Jahre 
einen  statistischen  Bericht  über  die  gesamten 
volkswirtschaftlichen  Zustände  zu  erstatten. 
Alle  Behörden,  Genossenschaften,  Gesellschaften, 
Anstalten  sowie  die  einzelnen  Handels-  und 
Gewerbetreibenden  sind  verpflichtet,  den  Han- 
delskammern auf  deren  Verlangen  die  erforder- 
lichen Auskünfte  zu  erteilen,  Nachweise  zu 
liefern  und  sie  überhaupt  zu  unterstützen.  Die 
Handelskammer  in  Triest  besorgt  auch  die  Ver- 


Handelskammern 


1029 


waJtung  der  dortigen  Börse;  die  Wiener  Kammer 
verwaltet  Stiftunjfen  mit  mehr  als  l^/g  Millionen 
Kronen  an  Kapital.  Den  Handels-  and  Ge- 
werbekammem  steht  das  Recht  zu,  unter  ein- 
ander in  Korrespondenz  zu  treten  und  Dele- 
gierten Versammlungen  abzuhalten  (solcher  Han- 
delskammertage wurden  bisher  6  abgehalten). 
Endlich  wirken  sie  als  Central-  oder  Filial- 
komitees bei  internationalen  Ausstellungen  und 
entsenden  Delegierte  in  den  Staatseisenbahnrat, 
Industrierat,  Zollbeirat  und  andere  Kollegien. 
Die  Sekretäre  werden  von  Fall  zu  Fall  vom 
Handelsminister  (zunächst  behufs  Erörterung 
gewerbestatistischer  Fragen)  zu  Sekretärskon- 
ferenzeu  einberufen.  Die  Bildung  einer  Central- 
handelskammer  für  die  ganze  Monarchie  wurde 
1864  vergeblich  angeregt.  Die  Handels-  und  Ge- 
werbekammem  bilden  endlich  politische 
Wahlkörper  und  wählen  nach  dem  G.  v. 
21.  Dezember  1867  bezw.  2.  April  1873  teils 
selbständig,  teils  gemeinsam  mit  deii  städtischen 
Wählern  Abgeordnete  in  den  Reichsrat  und 
ebenso  nach  den  Patenten  v.  26.  Februar  1861 
in  die  Provinziallandtage. 

Die  Handelskammern  in  Ungarn  haben 
mit  Ausnahme  des  politischen  Wahlrechts  ähn- 
liche Befugnisse  wie  die  Oesterreichs.  Beide 
Abteilungen  beraten  hier  jedoch  getrennt  unter 
ihren  Vicepräsidenten  und  erstatten  ihre  Wohl- 
meinung  dem  Präsidium.  Beschlüsse  können 
nur  in  gemeinsamen  Sitzungen  gefasst  werden. 
Die  Sekretäre  halten  periodisch  wiederkehrende 
gemeinsame  Konferenzen  unter  Vorsitz  des  be- 
treifenden Sektionschefs  des  Handelsministe- 
riums ab. 

4.  Die  H.  and  G«  in  den  Niederlanden. 
Hier  bestanden  Handels-  und  Gewerbekammern 
seit  den  Zeiten  der  französischen  Herrschaft, 
welche,  182Ö  und  1841  reorganisiert,  durch  G. 
V.  9.  November  18dl  (mit  Nachträgen  v.  16. 
Februar  1854,  11.  August  18ö9  und  12.  Juli  1873) 
ihre  jetzige  Grundlage  erhielten.  Sie  sollen  in 
allen  Gemeinden,  in  welchen  die  Ausdehnung 
des  Handels  und  der  Industrie  nach  Ansicht 
der  Gemeindeverwaltung  es  wünschenswert 
macht,  mit  königlicher  Genehmigung  errichtet 
werden.  Wahlberechtigt  sind:  Volljährige, 
in  der  Gemeinde  ansässige  niederländische  Kauf- 
leute und  Gewerbetreibende,  welche  die  bürger- 
lichen Ehrenrechte  geniessen,  in  das  Patent- 
register eingetragen  sind  und  die  durch  die 
Regierung  bestimmte  Steuer  bezahlt  haben; 
wählbar  ist,  wer  mindestens  30  Jahre  alt,  am 
Kammersitze  wohnt  und  mindestens  fünf  Jahre 
Handel  oder  Gewerbe  betrieben  hat  oder  mit 
Handelsangelegenheiten  beschäftigt  war.  Die 
Zahl  der  Mitglieder  wird  von  der  Regierung 
bestimmt,  die  Amtsdauer  beträgt  vier  Jahre, 
und  alle  zwei  Jahre  wird  die  Hälfte  der  Mit- 
glieder neu  gewählt,  während  die  Kammer  all- 
jährlich einen  Vorsitzenden  und  seinen  Stell- 
vertreter bestellt,  femer  für  drei  Jahre  ausser- 
halb des  Mitgliederkreises  einen  Sekretär  er- 
nennt, welcher  beratende  Stimme  hat.  Die 
1\ Osten  der  Kammer  werden  durch  die  Ge- 
meinde gedeckt,  welcher  auch  Rechnung  gelegt 
wird.  Diese  Handelskammern  haben  emerseits 
der  Staats-,  Provinzial-  und  Gemeindeverwaltung 
Gutachten  und  Vorschläge  zu  erstatten  durch 
Vermittelung  der  königlichen  Kommissare, 
andererseits   ihren  Wählern  jene   Mitteilungen 


zu  machen,  welche  von  den  Verwaltungen  ge- 
wünscht werden  oder  ihnen  selbst  nützlich  er- 
scheinen. Sie  können  unter  einander  sowie  mit 
anderen  Personen  und  Kollegien  behufs  fach- 
männischer Mitteilungen  und  Aufklärungen  in 
Verkehr  treten.  Es  T)estehen  91  Handels-  und 
Gewerbekammern  mit  6-21  Mitgliedern.  Seit 
1891  ist  eine  Reorganisation  beabsichtig,  aber 
nicht  abgeschlossen.  Es  sollen  11 — 22  Distrikts- 
kammern, das  ganze  Reich  umfassend,  errichtet 
werden  mit  einem  Centralbureau  aus  deren 
Vorsitzenden;  die  dermaligen  Kammern  sollen 
daneben  unter  Erweiterung  ihrer  Befugnisse 
bestehen  bleiben. 

5«  Die  H.  und  6.  in  der  Schweiz«  Durch 
Dekret  v.  19.  November  1897  wurde  als  vor- 
beratende und  begutachtende  Behörde  der  Di- 
rektion des  Innern,  Abteilung  Volkswirtschaft, 
eine  kantonale  Kommission,  genannt  „Bernische 
H.  und  G.",  mit  einem  ständigen  Sekretariate 
in  Bern  eingesetzt.  Ihre  Mitglieder  werden  von 
der  Behörde  (Regierungsrat,  nach  unverbind- 
lichen Vorschlägen  der  wichtigeren  Vereine  er- 
nannt); sie  hat  die  Interessen  von  Industrie, 
Handwerk  und  Handel  wahrzunehmen  und  sich 
jährlich  mindest<ens  zweimal  zu  versammeln. 
Vorgänger  dieser  Kommission  waren  der  „Kom- 
merzienrat"  und  die  „helvetische  Handels-  und 
Gewerbekommission*,  die  ihre  Geschichte  bis 
Mitte  des  17.  Jahrhunderts  zurückleiten.  An 
anderen  Orten  sind  freie  Vereinigungen,  die 
sich  oft  auch  Handelskammern  nennen;  neuer- 
dings ist  die  Frage  einer  gesetzlichen  Regelung 
dieser  Institutionen  in  Erwägung  gezogen  wor- 
den, so  von  der  Baseler  Handelskammer  1896. 

6«  Die  H.  in  Grossbritannien.  Die  Han- 
delskammern in  den  vereinigten  Königreichen 
und  den  britischen  Kolonieen  sind  freie  Ver- 
einigungen, welche  gemäss  Abschnitt  23  der 
Associationsakte  von  1867  als  privilegierte 
Korporationen  ohne  den  Beisatz  „limited"  nach 
Prüfung  ihrer  Statuten  vom  Handelsamte  re- 
gistriert werden,  wodurch  sie  den  Charakter 
einer  juristischen  Person  erhalten.  Einzelne  der 
86  HandelskammeiTi  des  Mutterlandes  existieren 
schon  seit  Jahrhunderten,  die  Mehrzahl  ist  in 
den  letzten  40  Jahren  entstanden.  Die  Mit- 
gliedschaft wird  durch  hohe  Jahresbeiträge*  er- 
worben, und  es  treten  nicht  nur  die  hervor- 
ragendsten Kaufleute  des  Platzes  der  Handels- 
kammern, sondern  oft  auch  dem  Handel  Fem- 
stehende statutengemäss  als  Ehrenmitglieder 
dem  Vorstände  bei.  Dieser  wird  von  der 
Generalversammlung,  die  alljährlich  zusammen- 
tritt und  neben  welcher  Specialversammlungen 
bestehen,  gewählt,  bestellt  den  Präsidenten  und 
seine  Stellvertreter  aus  seiner  Mitte,  hält  monat- 
lich Sitzungen,  führt  die  Geschäfte,  ernennt 
Beamte  uud  übt  die  nicht  ausdrücklich  der 
Generalversammlung  vorbehaltenen  Funktionen 
aus.  Die  Handelskammern  sind  von  der  Re- 
gierung ganz  unabhängig,  haben  ausnahmslos 
Aufgaben  allgemeiner  Natur  (Förderung  von 
Handel,  Schiffahrt,  Industrie  etc.),  befassen  sich 
mit  Statistik  imd  schiedsrichterlicher  Thätig- 
keit  in  Handelsstreitigkeiten,  mit  der  Kritik 
und  erforderlichenfalls  Bekämpfung  von  Mass- 
nahmen der  Regierung,  bringen  Gesetze  in 
Vorschlag  und  vermitteln  zwischen  Handels- 
stand und  Regierung,  Parlament  uud  öffent- 
lichen   Institutionen.     Die    meisten    Handels- 


1030 


Handelskammera 


kammern  gehören  der  „Vereinigung  der  Han- 
delskammern des  Königreiches"  an,  welche  all- 
jährlich zweimal  (in  London  und  dann  an  einem 
anderen  Orte)  die  Vertreter  der  angeschlossenen 
Handelskammern  versammelt,  in  London  ein 
Bureau  und  einen  Sekretär  besitzt  und  deren 
mehrtägige,  gut  vorbereitete  Beratungen  grosse 
Bedeutung  erlangt  haben. 

7.  Die  H.  bi  Frankreich,  a)  Qeschichte. 
Der  Rat  von  Marseille  beschloss  1599,  jälirlich 
eine  Kommission  von  vier  Kaufleuten  zu  er- 
nennen, um  die  Handelsangelegenheiten  beson- 
ders wahrzunehmen;  diese  Kommission  wurde 
später  durch  acht  Assistenten  vermehrt  und 
erhielt  1650  einen  ständigen  Sekretär.  Nach 
Aufhebung  der  Munizipalverfassung  (1660)  ge- 
wann diese  „Handelskammer"  mehr  und  mehr 
staatlichen  Charakter,  so  dass  1753  sogar  der 
Intendant  der  Provence  Vorsitzender  wurde. 
Die  Regierung  unterstützte  diese  Institution 
und  schuf  nach  ihrem  Vorbilde  durch  königliche 
Ordonnanz  vom  Februar  1700  eine  Handels- 
kammer zu  Dünkirchen,  welcher  zufolge  Ed.  v. 
30.  August  1701  Handelskammern  zu  Lyon, 
Ronen,  Bordeaux,  Toulouse  etc.  folgten.  Die 
Organisation  dieser  Handelskammern  war  der 
Autonomie  des  Handelsstandes  freigegeben  und 
nur  ihre  Aufgabe,  als  beratende  Organe  der 
Regierung  zu  dienen,  ausdrücklich  bestimmt. 
Durch  Dekret  v.  27.  September  1791  wurden 
die  damals  bestehenden  (13)  Handelskammern 
aufgelöst,  jedoch  durch  Consulardekret  v.  24. 
Dezember  1802  solche  in  deji  grösseren  Handels- 
plätzen wieder  errichtet,  wobei  sie  mehr  be- 
hördlichen Charakter  erhielten,  ihr  Wahlkörper 
aus  den  Notübeln  der  Kaufmannschaft  durch 
die  Verwaltungsbehörden  gebildet  und  an  ihre 
Spitze  der  Präfekt  oder  Bürgermeister  gestellt 
wurde.  1832  fand  eine  Erweiterung  des  Wahl- 
rechts statt,  das  durch  Dekret  v.  19.  Juni  1848 
allen  seit  einem  Jahre  in  der  Patentrolle  einge- 
tragenen (d.  h.  den  gewerbesteuerpflichtigen) 
Kaufleuten  eingeräumt  wurde.  Die  Dekrete  v. 
3.  September  ifel  und  30.  August  1852  brachten 
wieder  Einschränkungen  des  Wählerkreises,  wäh- 
rend die  neue  Republik  (Dekret  v,  22.  Januar 
1872)  das  Gesetz  über  die  Wahl  der  Handels- 
richter (21.  Dezember  1871)  auch  für  die  Han- 
delskammern anwendbar  erklärte.  Am  9.  April 
1898  wurde  nach  laugjährigen  Verhandlungen 
ein  neues  Handelskammergesetz  erlassen,  und 
ein  Specialgesetz  über  die  Wahlen  in  die  Han- 
delskammern steht  in  Aussicht.  (Für  Algier  gel- 
ten noch  die  alten  Gesetze.) 

b)  Organisation.  Die  Handelskammern 
werden  durch  Dekret  des  Präsidenten  der  Re- 
publik nach  Einvernahme  der  lokalen  und  De- 
partementsbehörden über  Antrag  des  Handels- 
ministers errichtet,  wobei  der  Bezirk,  welcher 
ein  Arrondissement  oder  Departement  umfassen 
kann,  und  die  Zahl  der  Mitglieder  (ohne  den 
Präfekten,  der  eine  Virilstimme  hat,  9 — 21;  in 
Paris  36)  bestimmt  wird.  Wahlberechtigt 
sind  die  in  die  ziflfermässis:  beschränkte  Wähler- 
liste eingetragenen  Kaufleute,  Handelsrichter 
u.  s.  w.,  wählbar:  Kaufleute,  Agenten,  Direk- 
toren (auch  Kapitäne  langer  Fahrt),  nach  fünf- 
jähriger Patent^teuerzahlung,  wenn  sie  30  Jahre 
alt  und  im  Bezirk  wohnhaft  sind.  Die  Mandats- 
dauer beträijft  sechs  Jahre  mit  Drittelerneueiiing 
alle  zwei  Jahre.     Präsident  und  Vicepräsi- 


denten  werden  auf  zwei  Jahre  gewählt  und  sind 
wieder  wählbar.  Korrespondierende  Mit- 
glieder mit  beratender  Stimme  können  bis  zur 
Zahl  der  wirklichen  Mitglieder  von  der  Kammer 
gewählt  werden.  Dem  Range  nach  kommen 
die  Handelskammern  unmittelbar  nach  den 
Handelsgerichten.  Die  Kosten  der  Handels- 
kammern werden  durch  eine  vom  Handels- 
minister, dem  sie  direkt  unterstehen,  zu  ge- 
nehmigende Umlage  von  den  der  Gewerbesteuer 
Unterworfenen  aufgebracht;  dermalen  zählt 
Frankreich  117  Hanaelskammem  in  Europa  und 
6  in  Algier,  ausserdem  Handelskammern  in  den 
überseeischen  Kolonieen.  Besteht  in  einem  De- 
partement nur  eine  Kammer,  so  umfasst  ihr 
Bezirk  dasselbe. 

c)  Aufgaben  und  Befugnisse.  Die 
Handelskammern  haben  als  beratende  Organe 
und  offizielle  Vertretung  des  Handels  und  der 
Industrie  das  Recht,  aus  eigener  Initiative  die 
Wünsche  ihrer  Interessenten  zu  vertreten  und 
Gutachten  und  Berichte  abzugeben,  insbesondere 
über  die  Aenderung  der  Handels-,  Zoll-  und 
volkswirtschaftlichen  Gesetzgebung,  über  Ver- 
kehrstarife etc.  Sie  sollen  befragt  werden  über 
Errichtung  neuer  Handelskammern,  von  Börsen, 
Banken,  Handelsgerichten  und  lokalen  Einrich- 
tungen zur  Förderung  des  Handels,  über' Han- 
delsgebräuche und  über  Tarife  für  Strafhaus- 
arbeiten. Ihnen  kann  die  Verwaltung  der 
Börsen  und  Anstalten  für  Handelszwecke  an 
ihrem  Standorte  (Entrepots,  Handelsschulen, 
Handelsmuseen  oder  andere  öffentliche  Anstalten), 
welche  durch  specielle  Abgaben  der  Handelsleute 
erhalten  oder  vom  Staate  oder  Gemeinden  er- 
richtet werden,  übertragen  werden.  Sie  korre- 
spondieren direkt  mit  den  Ministerien,  Behörden 
und  unter  einander,  können  durch  ihre  Präsi- 
denten gemeinsame  Beratungen  pflegen  und 
haben  die  Verpflichtung  zu  jährlicher  Bericht- 
erstattung an  den  Minister.  1883  wurden  nach 
einem  Organisationsstatut  des  Handelsministers 
von  den  Handelskammern  21  Handelsmuseen 
errichtet. 

8,  Die  U.  und  0.  in  Italien«  In  den 
meisten  Provinzen  entstanden  unter  der  fran- 
zösischen Herrschaft  Handelskammern.  Nach 
Aufrichtung  des  Königreichs  wurden  im  da- 
maligen Gebiete  und  später  auch  in  den  neu 
einverleibten  Teilen  mit  G.  v.  6.  Juli  1862 
Handels-  und  Gewerbekammern  (camere  di 
comraercio  ed  arti)  errichtet,  um  die  kommer- 
ziellen und  industriellen  Interessen  bei  der  Re- 
gierung zu  vertreten  und  zu  befördern.  Sie 
bestehen  aus  9—21  durch  relative  Mehrheit  ge- 
wählten Mitgliedfern,  von  denen  zwei  Drittel 
Einheimische  sein  müssen  und  alljährlich  die 
Hälfte  ausscheidet.  Wahlberechtigt  und  wähl- 
bar sind  alle  Einheimischen,  welche  im  Bezirke 
Handel,  Gewerbe  oder  Industrie  betreiben, 
ausserdem  Seekapitäne,  Direktoren  von  in- 
dustriellen Etablissements  sowie  Vorstände 
von  Aktiengesellschaften,  endlich  Fremde,  welche 
mindestens  fünf  Jahre  im  Bezirke  Handel  oder 
Gewerbe  betreiben.  Die  Handels-  und  Gewerbe- 
kammern sollen  der  Regierung  Vorschläge  zur 
Hebung  des  Handels  und  der  Gewerbe  machen, 
alljährlich  einen  statistischen  Bericht  über  deren 
Zustand  vorlegen,  Listen  der  Sachverständigen 
für  Handelssachen  und  der  Handelsgerichtsbei- 
sitzer abfassen,  die  Aufsicht  und  die  ^'erwaltung 


Handelskammern 


1031 


der  Handelsbörsen  haben,  die  besonderen  Be- 
fugnisse betreflfeud  Sensale,  Makler  nnd  Sach- 
verständige ausüben,  die  Angelegenheiten  des 
Seidenhandels  regeln,  die  Aufträge  des  Handels- 
ministeriums besorgen  und  demselben  auf  Ver- 
langen Berichte  und  Gutachten  erstatten.  Sie 
können  Handels-  und  Gewerbeschulen  errichten 
nnd  erhalten  sowie  Ausstellungen  für  ihren 
Bezirk  veranstalten,  endlich  freiwillige  öffent- 
liche Verkäufe  übernehmen  gegen  eine  Taxe 
von  ^ä®/o  des  Verkaufserlöses.  Die  Handels- 
und Gewerbekammern  wählen  ihre  Beamten  und 
haben  das  Recht,  zur  Bestreitung  ihrer  Kosten 
Taxen  über  alle  von  ihnen  ausgestellten  Cer- 
tifikate  und  Abgaben  von  allen  Seeversiche- 
rungen und  dergleichen  zu  erheben  sowie  Zu- 
schläge auf  die  Erwerbssteuer  umzulegen  und 
überhaupt  mit  Genehmigung  der  Regierung  die 
Handels-  und  Gewerbetreibenden  verhältnis- 
mässig zu  besteuern.  Ihre  Voranschläge  und 
Schlussrechnungen  werden  zur  Genehmigung 
vorgelegt.  Die  Zahl  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammem  beträgt  71. 

9.  Die  H.  in  Spanien«  a)  Qeschichte. 
Die  durch  Dekret  v.  19.  Januar  1679  eingesetzte 
Oberhandelskammer,  bestehend  aus  den 
Ministem  für  Caslilien,  Indien,  der  Finanzen, 
des  Krieges  und  dem  Gouverneur  von  Madrid, 
hatte  unter  persönlicher  Leitung  des  Königs 
die  Wohlfahrt  von  Handel,  Fabriken  und  Manu- 
fakturen zu  überwachen,  erhielt  durch  Dekret 
V.  9.  Dezember  1730  auch  die  Verwaltung  der 
Münze,  dann  später  der  Bergwerke  und  der 
Eingangszölle  und  wurde  in  einen  Generalrat 
für  Münze,  Handel  und  Bergwerk  verwandelt, 
dessen   zweite   Sektion  eine   Art   Oberhandels- 

fericht  bildete.  Durch  Dekret  v.  18.  August 
824  trat  an  Stelle  der  ersten  Sektion  abermals 
eine  Oberhandelskammer.  Am  28.  Oktober  1836 
wurden  die  gesamten  Handelsangelegenheiten 
unter  Aufhebung  dieser  Organisation  dem  Staats- 
rat des  Königs,  1845  dem  obersten  Bat  des 
Königs  überwiesen,  dessen  Befugnisse  zuletzt 
das  G.  V.  25.  Januar  1875  normierte.  Neben 
diesen  Behörden  bestanden  in  den  Provinzen 
und  Städten  zur  Förderung  von  Handel  und 
Gewerbe  Consulate  (Gonsulados)  mit  ver- 
waltender und  richterlicher  Kompetenz.  (Das 
erste  1283  in  Valencia  errichtet,  dessen  Vor- 
sitzender und  Mitglieder  aus  der  Kaufmann- 
schaft gewählt  wurden.)  Bis  zum  Dekret  v.  6. 
Oktober  1868  bildeten  sie  die  erste  Instanz  für 
Handelsstreitigkeiten;  daneben  lag  ihnen  die 
Obsorge  für  See-  und  Landhandel,  die  Inspek- 
tion der  Innungen,  Errichtung  von  Handels- 
und Gewerbeschulen,  Berichterstattung  über  die 
allgemeinen  Interessen  des  Handels  und  der 
Industrie  etc.  ob.  Zur  Ergänzung  der  Gonsu- 
lados wurden  von  der  Regierung  Handels- 
kammern organisiert  (die  erste  1758  in 
Barcelona,  die  aus  drei  Mitgliedern  des  consu- 
lados,  aus  Grundeigentümern  und  Kaufleuten 
unter  dem  Präsidium  des  Intendanten  von 
Catalonien  bestand).  Das  Dekret  v.  7.  Oktober 
1847  vermehrte  ihre  Zahl  von  20  auf  24,  setzte 
die  Mitgliederzahl  auf  7  bis  11  fest,  welche  von 
30  bis  80  Kaufleuten  gewählt  werden  mussten, 
und  verpflichtete  den  Provinziallandtag  zur  Be- 
streitung der  Kosten. 

b)  Die  dermaligen  H.  Durch  ein  Dekret 
v.  14.  Dezember  1859  wurden  in  den  Provinzial- 


hauptstädten  Provinzialkammern  für  Acker- 
bau, Handel  und  Gewerbe  gebildet,  aus  drei 
Sektionen  bestehend,  denen  von  Amts  wegen 
die  Vorsteher  der  kommerziellen  und  industriefien 
Behörden  und  15  auf  vier  Jahre  von  den  Meist- 
besteuerten gewählte  Mitglieder  angehörten. 
Für  ihre  Beschlüsse  musste  die  Genehmigung 
des  Regierungspräsidenten  eingeholt  werden. 
Die  Dekrete  v.  3.  Anrü  1869,  dann  7.  Juni  1871 
und  13.  November  1874  brachten  Veränderungen 
dieser  Organisationen.  Danach  teilen  sich  gegen- 
wärtig die  Provinzialkammern  in  sechs  getrennt 
verhandelnde  Sektionen  (Ackerbau,  Viehzucht, 
Forstwesen,  Industrie,  Handel,  allgemeine  An- 
geleo^enheiten),  bestehen  aus  18  gewählten  Mit- 
gliedern (acht  Grundbesitzer,  drei  Industrielle, 
drei  Kaufleute,  vier  um  Industrie  und  Handel 
verdiente  Personen)  und  einer  Reihe  von  öffent- 
lich eu  Funktionären.  Sie  haben  alljährlich  an 
das  Wirtschaftsministerium,  den  Regierungs- 
präsidenten, den  Provinziallandtag  und  die 
städtischen  Behörden  über  die  wirtechaftlichen 
Verhältnisse  zu  berichten,  ihnen  stets  Auskünfte 
zu  erteilen,  ferner  das  Recht,  Verbesserungs- 
vorschläjD;e  zu  den  Gesetzen  vorzubringen  und 
gegen  eine  ihre  Interessen  schädigende  Hand- 
habung der  Gesetze  Reklamationen  vorzutragen 
sowie  gegen  neue  Massregeln  Einsprache  zu 
erheben. 

Der  Wirkungskreis  der  neben  den  Provinzial- 
kammern bestehenden  Lokalhandelskam- 
mern wurde  durch  Dekret  v.  7.  Oktober  1874 
befestigt  und  erweitert.  Das  Dekret  v.  9.  April 
1886  brachte  neue  Bestimmungen  für  die  Han- 
delskammern in  den  wichtigeren  Hafen-  und 
Handelsplätzen  des  Landes,  deren  Thätigkeit 
auf  Handels-  und  Schiffahrtsangelegenheiten  be- 
schränkt wurde.  Diese  (61)  Handelskammern 
sollen  aus  Kaufleuten,  Industriellen,  Schiffs- 
reedem  und  Kapitänen  der  Handelsflotte  bestehen, 
und  wo  ge weibliche  Innungen  sind,  auch  aus 
deren  Vertretern.  Bei  Abschluss  von  Handels-  und 
Schiffahrtsverträgen,  Zollreformprojekten,  Grün- 
dung von  Handelsbqrsen  etc.  müssen  sie  zu  Rate 
gezogen  werden;  sie  unterstehen  auch  einer 
staatlichen  Aufsicht.  Mit  Dekret  v.  19.  November 
1886  wurde  die  Errichtung  von  Handelskammern 
in  den  spanischen  überseeischen  Provinzen 
(Havana  etc.)  angeordnet.  Eine  Reform  der 
Handelskammern  wurde  auf  einem  Kongresse 
im  Jahre  1899  beschlossen. 

10.  Die  U,  und  G.  in  Portugal,  Aus 
einigen  kaufmännischen  Korporationen  in  Lissa- 
bon wurde  auf  Grund  eines  allgemeinen  Dekrets 
V.  10.  Februar  1894,  betreffend  die  Errichtung 
von  Handels-  und  Gewerbekammem,  eine  solche 
dort   gebildet  (Dekret  v.  9.  März   1894).     Ihr 

gehören  alle  Kaufleute,  Industriellen,  Schiffer, 
•irektoren  von  Aktiengesellschaften  etc.  an,  die 
zwei  Jahre  hindurch  Gewerbesteuer  gezahlt  haben, 
vom  Direktorium  (conselho  director)  aufge- 
nommen wurden  und  den  Jahresbeitrag  von 
12  Millreis  zahlen.  Die  Kammer  teilt  sich  in 
drei  Sektionen  (Grosshandel  und  Schiffahrt, 
Detailhandel,  Industrie),  tritt  alljährlich  zu  einer 
Generalversammlung  zusammen,  wählt  auf  drei 
Jahre  (mit  jährlich  Va  Erneuerung)  das  Direk- 
torium von  10  Mitgliedern,  aus  welchem  die 
Regierung  aus  verschiedenen  Sektionen  den 
Präsidenten  und  Vicepräsidenten  jährlich  er- 
nennt.    Die   Funktionen   der   Kammern    sind 


1032 


HaDdelskammeru 


ähnliche  wie  in  Frankreich,  werden  aber  vor- 
wiegend durch  das  Direktorium  ausgeübt. 

11.  Die  H,  in  Belgien.  Unter  der  franzö- 
sischen Herrschaft  entstanden  auch  hier  Han- 
delskammern und  Gewerbekamraern,  die  durch 
königliches  Dekret  v.  8.  Oktober  1815  vereinigt, 
mit  dem  G.  v.  10.  September  1841  als  Handels- 
kammern reorganisiert  wurden.  Sie  bestanden 
aus  ernannten  Mitgliedern,  und  die  Einführung 
eines  Wahlmodus  war  wiederholt  Gegen- 
stand parlamentarischer  Behandlung,  welche 
schliesslich  zur  gänzlichen  Aufhebung  der 
Kammern  (G.  v.  11.  Juni  1875)  führte.  An  ihre 
Stelle  traten  freie  Vereine  von  Kaufleuten, 
deren  Ausschuss  sich  auch  Handelskammer 
nennt.  Diese  Handelskammern  werden  durch 
Mitgliedsbeiträge  und  Subventionen  erhalten. 
Die  hervorragendsten  dieser  Korporationen  bilden 
nach  englischem  Muster  eine  Vereinigung  mit 
dem  Sitze  in  Brüssel. 

12.  Die  U.  and  0.  in  Rumänien.  Nach 
dem  G.  v.  12.  Oktober  1864  bezw.  10.  Mai 
1886  wurden  in  10  Städten  Handelskammern 
mit  6—7  auf  sechs  Jahre  gewählten  Mit- 
gliedern, von  denen  alle  zwei  Jahre  zwei 
ausscheiden,  gebildet.  Wahlberechtigt  sind 
alle  Handel-  und  Gewerbetreibenden,  welche 
50  Piaster  Gewerbesteuer  zahlen  und  im 
Besitze  der  bürgerlichen  und  Gemeinderechte 
stehen,  wählbar  alle  Rumänen,  die,  mindestens 
30  Jahre  alt,  ein  Geschäft  betreiben;  die 
Mitglieder  werden  vom  Fürsten  bestätigt, 
wählen  sich  einen  Präsidenten,  Vicepräsidenten, 
Sekretär  und  Schatzmeister,  doch  kann  der 
Präfekt  des  Distrikts  jederzeit  den  Vorsitz 
übernehmen.  Die  Beratungen  der  Handels- 
kammern dürfen  ohne  Genehmigung  der  Re- 
gierung nicht  veröffentlicht  werden,  die 
Kosten  deckt  ein  von  der  Staatskasse  einge- 
hobener ein  Zehntel  Zuschlag  zur  Patenttaxe 
der  ersten  und  zweiten  Klasse.  Die  Handels- 
kammern sind  offizielle  Organe  des  Handels  und 
natürliche  Mandatare  für  die  Verwaltung  aller 
dem  allgemeinen  Handelsinteresse  dienenden  An- 
stalten, sie  können  der  Regierung  aus  eigenem 
Antriebe  ihre  Ansichten  und  Vorschläge  über 
die  gewerblichen  und  kommerziellen  Interessen 
ihres  Bezirks  mitteilen  und  sind  verpflichtet, 
auf  Aufforderung  der  Regierung  ihr  Gutachten 
abzugeben. 

13.  Die  H.  in  der  Türkei.  Hier  wurden 
mit  Dekret  vom  Juni  1876  Handelskammern 
ins  Leben  gerufen  und  1882  durch  eine  Irade 
jene  von  Konstantinopel  bestätigt,  welche  24 
von  den  am  Platze  wohnenden  Kaufleuten  aller 
Nationalitäten    auf   drei    Jahre  gewählte  Mit- 

flieder  zählt.  Diese  Handelskammer  steht  mit 
er  RejB^ierung  in  lebhaftem  Kontakte  und  ent- 
faltet eine  rege  Thätigkeit  in  derselben  Richtung 
wie  die  Handelskammern  in  anderen  Ländern. 
Ausserdem  sind  für  die  Provinzen,  die  selb- 
ständigen Kreise  und  die  Regierung.sbezirke 
(lül)  Handelskammern  entstanden  mit  4—12 
Mitgliedern,  die  sich  wöchentlich  versammeln 
und  den  Kammeni  bei  der  höheren  Instanz  Be- 
richte über  die  Handelsentwickelung  einsenden 
sollen. 

Auch  in  Bulgarien  sind  5  Handels- 
uiid  Industriekammem  entstanden. 

14.  Die    kanfmännisclie   Interessenver- 


tretung im  übrigen  Europa.  In  einigen 
Staaten  Europas  giebt  es  keine  eigentlichen 
Handelskammern,  wohl  aber  von  alters  her  be- 
stehende kaufmännische  Korporationen,  welche 
ähnliche  Aufgaben  erfüllen  und  staatliche  An- 
erkennung gemessen,  so  in  Dänemark  die 
Kaufmannsgesellschaft  zu  Kopenhagen,  die  sich 
auch  an  der  Begutachtung  von  Gesetzentwürfen 
beteiligt,  dann  in  Schweden  freie  Vereini- 
gungen an  den  Hafenplätzen,  endlich  in  R  u  s  s  - 
land  die  Börsenkomitees,  welche  ans  der 
Börsenkaufmannschaft  gewählt  werden. 

15.  Die  H.  in  aussereuropäisclien  Ländern. 

Gleichwie  in  Grossbritannien  entstanden  auch  in 
dessen  Kolonieen  in  allen  Weltteilen  schon  sehr 
früh  Handelskammern  als  freie  Vereinigungen 
von  Kaufleuten.  In  Nordamerika  besteht 
die  Handelskammer  von  New-York  seit  1768 
und  erhielt  Korporationsrechte  durch  König 
Georg  III.  (3.  März  1770),  welche  durch  den 
Staat  New-York  (13.  April  1784)  bestätigt 
wurden.  Sie  beschäftigt  sich  mit  allen  belang- 
reichen Fragen  des  Handels,  bringt  auch  Ge- 
setze in  Vorschlag,  welche  das  Interesse  der 
industriellen  und  kommerziellen  Wohlfahrt  des 
Staates  berühren,  ohne  jedoch  von  Amts  wegen 
über  solche  einvernommen  zu  werden,  und  er- 
teilt authentische  Preiscertifikate.  Mitglieder 
können  nur  Handeltreibende  des  Staates  oder 
Nachbarstaates  werden,  und  deren  Aufnahme 
geschieht  nach  Anmeldung  beim  Exekutiv- 
komitee und  Befürwortung  desselben  durch 
Ballotage  in  der  Jahresversammlung  der  Han- 
delskammer. Ehrenmitglieder  mit  beratender 
Stimme  können  in  jeder  Versammlung  auf 
Vorschlag  des  Exekutivkomitees  gewählt  werden. 
Ordentliche  Mitglieder  zahlen  nach  dem  neuen 
Reglement  (Mai  1887)  eine  Eintritts^ebtihr  von 
25  Dollars  und  einen  gleichen  jährlichen  Bei- 
trag. Die  Jahresversammlung  findet  im  Mai 
statt  und  wählt  die  Funktionäre  (Präsident, 
zwei  Vicepräsidenten,  Schatzmeister  und  Sekre- 
tär) alljährlich,  welche  auch  eine  Angelobung 
leisten  müssen  und  deren  Wiederwahl  nur  unter 
besonderen  Bedingungen  zulässig  ist.  Die  Jahres- 
versammlung wählt  verschiedene  ständige  Komi- 
tees von  je  fünf  Mitgliedern,  von  denen  das 
Exekutivkomitee,  welchem  auch  die  Fimktionäre 
angehören,  die  Verwaltung  besorgt.  Ausser- 
dem entsendet  die  Handelskammer  in  einige 
I  staatliche  Aufsichtsbehörden  (für  die  nautische 
I  Schule ,  die  Pilotenkommission  etc.)  Vertreter. 
'  Solche  Handelskammern  bestehen  auch  in  den 
I  anderen  grösseren  Städten  der  Union  (über  3()). 

1         In   Canada,   Mexico,    Brasilien   und 
I  E  c  u  a  d  0  r  giebt  es  ebenfalls  Handelskammern, 
j  in  Guantänamo  auf  Cuba  wurde  Ende  1898  eine 
solche  errichtet.  —  In  Japan  bestehen  Handels- 
I  kammem  zu  Tokio  und  Yokohama.  —  Auch  in 
I  den  Boerenstaaten  in  Südafrika  entstanden 
I  Handelskammern  (so  in  Johann isburg).  —  Neben 
diesen  einheimischen  Handelskammern  bestehen 
in  Yokohama  (seit  1866),  Shanghai  (seit  1865), 
i  Kanton  (1888),  Manila  (1899)  Kammem,  welche 
I  die  Gesamtinteressen   der   ausländischen  Kanf- 
I  leute  an  diesen  Orten  gegenüber  den  einheimi- 
schen Behörden  vertreten. 

16.  Die  Anslandshandelskammem«     Im 

Jahre  1870  entstand  in  Konstantinopel  eine  öster- 
reichisch-ungarische Handelskammer  als 


Handelskammern 


1033 


selbständige  Sektion  der  Gemeinderepräsentanz 
der  dortigen  Österreichisch-ungarischen  Kolonie. 
1874  erfolgte  die  Sanktion  der  Handelskammer 
durch  die  österreichisch-ungarischeRegierung  und 
1897  erhielt  sie  ein  neues  vom  k.  und  k.  Ministe- 
rium des  Aeussem  genehmigtes  Statut.  Diese 
Handelskammer  zählt  12  Kammerräte  und  3  Er- 
satzmänner, die  von  den  im  Handelsregister  ein- 
getragenen österreichisch-ungarischen  Handels- 
nnd  Gewerbetreibenden  in  Konstantinopel  und 
Umgebung  aus  den  ordentlichen  Mitgliedern  der 
Kammer  auf  drei  Jahre  gewählt  werden.  Jeder 
Oesterreicher  oder  Ungar  oder  Schutzgenosse, 
der  dort  eine  Handels-  oder  Gewerbeunterneh- 
mung geschäftsmässig  im  eigenen  Namen  oder 
als  Prokurist  betreibt,  muss  seine  Firma  in  das 
von  der  Handelskammer  geführte  Register  ein- 
tragen lassen,  zahlt  er  den  Mitgliedsbeitrag,  so 
wird  er  ordentliches  Mitglied.  Ausserordent- 
liche Mitglieder  werden  vom  Kammerausschusse 
gewählt.  Die  Handelskammer  wählt  einen 
Präsidenten  und  einen  Vicepräsidenten,  welche 
von  der  k.  und  k.  Botschaft  die  Approbation 
erhalten,  ^^ie  Handelskammer  vertritt  die  In- 
teressen der  Kolonie  auf  dem  Gebiete  von 
Handel  und  Gewerbe  bei  den  k.  und  k.  Be- 
hörden in  Konstantinopel,  erteilt  Auskünfte  und 
Gutachten  an  das  Consulat.  verkehrt  mit  den 
österreichischen  und  unffariachen  Handelskam- 
mern, Instituten  und  Geschäftsleuten  direkt, 
sie  bestellt  Sachverständige  und  Schiedsrichter 
und  macht  Beisitzer  bei  den  ottomanischen  und 
Seegerichten  namhaft;  seit  1871  veröffentlicht 
sie  Jahresberichte  mit  statistischen  Ausweisen 
über  die  Hafenbewegung.  1885  wurden  in 
Alexandrien,  1887  in  Paris,  1888  in  London 
und  1889  in  Salonichi  österreichisch-ungarische 
Handelskammern  gegründet,  die  auf  freiem  Bei- 
tritte der  dort  ansässigen  oder  vertretenen 
heimischen  Firmen  beruhen  und  mit  den  Be- 
hörden des  Mutterstaates  durch  das  k.  und  k. 
Ministerium  des  Aeusseren,  mit  den  Handels- 
kammern desselben  jedoch  unmittelbar  verkehren. 
1872  entstand  in  Paris  eine  britische 
Handelskammer  durch  freiwilligen  Beitritt 
der  dort  ansässigen  englischen  Kaufleute  und 
Agenten  englischer  Firmen,  mit  dem  Zwecke, 
alle  Massregeln  zu  Gunsten  der  Handelsinte- 
ressen der  in  Frankreich  ansässigen  Engländer 
zu  fördern,  Firmenauskünfte  au  die  Mitglieder 
zu  erteilen  und  als  Schiedsgericht  zu  fungieren. 
Alle  zwei  Jahre  werden  acht  Direktoren  ge- 
wählt, welche  aus  ihrer  Mitte  einen  Vorsitzen- 
den, dessen  Stellvertreter,  je  einen  Schatzmeister 
und  Schriftführer  nominieren  und  einen  Sekre- 
tär bestellen;  die  Handelskammer  nahm  regen 
Anteil  an  den  französisch-englischen  Handels- 
vertragsverhandlungen durch  Berichte  an  die 
Unterhändler  ihrer  Regierung  und  an  den  Welt- 
ausstellnngsarbeiten  1878;  weitere  britische 
Kammern  entstanden  in  Konstantinopel,  Ale- 
xandrien, Nizza  und  Smyma;  in  Hamburg  ist 
eine  geplant.  Die  Franzosen  riefen  1876  in 
New-Örleans,  1877  in  Lima,  1882  in  Montevideo 
französische  Handelskammern  durch  private 
Initiative  ins  Leben;  letztere  war  die  erste 
offizielle,  dem  französischen  Geschäftsträ§;er 
unterstellte  Korporation.  1883  wurde  eine 
französische  Handelskammer  in  London  ins 
Werk  gesetzt  als  offizielle  Vertretung  nach 
Muster  der  Handelskammern  des  Heimatslandes. 


Im  Mai  1883  setzte  der  Handelsminister  eine 
Kommission  zum  Studium  der  Frage  der  Er- 
richtung von  Auslandskammern  ein,  die  sich 
dafür  aussprach  und  ein  Musterstatut  entwarf, 
das  von  den  Consulaten  und  Handelskammern 
Frankreichs  begutachtet  und  am  6.  April  1884 
publiziert  wurde.  Nach  demselben  entstanden 
in  rascher  Folge  Handelskammern  im  Auslande, 
deren  Zahl  dermalen  26  beträgt  und  welche  die 
Aufgabe  haben,  Informationen  zu  sammeln,  Aus- 
künfte zu  erteilen,  die  Interessen  der  Nationalen 
zu  wahren,  als  Schiedsrichter  zu  fungieren  und 
mit  den  Inlandskammem  direkte  Beziehungen 
zu  unterhalten;  sie  sollen  auch  monatliche  Ge- 
schäftsberichte erstatten  und  erhalten  Subven- 
tionen vom  Heimatsstaate  (1899  85000  Francs); 
die  Mitglieder  leisten  Beiträge.  Auch  Italien 
hat  an  12  auswärtigen  Plätzen  Handelskammern 
als  freie  Vereinigungen  italienischer  Kaufleute, 
welche  ihre  Thätigkeit  unter  dem  Schutze  der 
Consularbehörden  entfalten,  seit  jüngster  Zeit 
aber  auch  staatliche  Subvention  erhalten  (1894 
165000  Lire);  Belgien  besitzt  eine  Handels- 
kammer in  Paris,  die  Niederlande  in  Ham- 
burg, Ru  s  s  1  an  d  in  Paris  und  die  Vereinigten 
Staaten  in  London.  Spanien,  Griechen- 
land und  die  Türkei  haben  die  Gründung 
von  Handelskammern  im  Auslande  in  Angriff 

fenommen.  Schon  seit  Jahren  wird  in  der 
eutschen  Fachlitteratur,  von  den  Inlands- 
kammern (so  Mannheim  1888,  Magdeburg, 
Leipzig  etc.)  und  vom  Handelstage  (19.  Februar 
1889)  die  Errichtung  deutscher  Auslandskainmem 
verlangt,  bisher  ist  nur  am  12.  Januar  1894 
eine  solche  in  Brüssel  aus  privater  Initiative 
zu  Stande  gekommen.  In  jüngster  Zeit  (März 
1900)  beschäftigte  sich  auch  der  Reichstag  mit 
dieser  Frage,  wobei  Staatssekretär  Graf  Bülow 
erklärte,  dass  die  Reichsregierung  noch  nicht 
zur  Ueberzeugung  gelangt  sei,  dass  ein  Be- 
dürfnis zur  Gründung  von  Auslandskammem 
vorliege. 

Eine  Eigentümlichkeit  bildet  die  eng- 
lisch-belgische Handelskammer  in  Lon- 
don, die  in  gleicher  Weise  dem  Handel  beider 
Reiche  förderlich  sein  soll  und  aus  einer  eng- 
lischen und  einer  belgischen  Vertretung  besteht. 

Litteratur:  lt.  Ehrenberg,  Das  königliche 
CoinmerzieUe  Oülegium  in  Altona  1S92.  — 
G.  OuiUautnotf  Lea  chamhret  de  commerce 
avant  et  depuis  la  loi  du  9.  IV.  1898,  Pmis 
1898.  —  C.  Haager,  Taschenbuch  für  Mit- 
glieder von  Handelskamniem  etc.,  Halberstadt 
1890.  —  A,  C,  Jürgens,  Haniburgisches  Börsen- 
handbuch, Hamburg  1887.  —  JK.  v.  Kaufm<inn, 
Korporalion   und   Handelskammer,   Berlin  1895. 

—  Kotnpe,  Die  deutschen  Handelskammern 
und  kaufmännischen  Organe,  Jahrb.  f.  Nat.  v. 
Stat.  4,  S.  121.  —  «7.  Lacroix,  Chambres  de 
commerce;  nonveau  dictionnaire  d'ecoyiomie  poli- 
tique  p.  L.  Say,  Paris  1890,  S.  868 f.  —  Land- 
graf, Der  Anteil  der  deutschen  Handels-  und 
Gewerbekammern  an  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wickehmg  Deutschlands   1864 — 1878,   Jena  1874' 

—  Derselbe,  Handels-  und  Gewerbekammern; 
Wörterbuch  des  deutschen  Verwaltungsrechts  ro7i 
K.  Frhr.  v.  Stengel,  Freiburg  i.  B.  1900,  I,  S. 
6J7  u.  II,  JS.  1019.  —  A,  Lehmann,  Ueber 
Errichtung  ron  deutschen  Handelskammern  im 
Auslande,    Heidelberg    1891.    —    Alois    Brinz 


1034 


Handelskammern — Handelspolitik 


Lichtenstein,  Veher  Int^renfenvertretung  im 
Staate,  Wie^n  1875.  —  F.  Lusensky,  Gesetz 
über  die  Handelskammern  vQm  19.  VII f.  1897, 
Berlin  1897.  —  Maresch,  Handels-  und  Ge- 
irerbekammeni  iin  Auslande,  Zeitschr.:  )iDi^ 
KammervL,  Wien  1888,  iVr.  15  u.  20.  —  Ber- 
selbCf  Ueber  Gewerbekammern,  Wien  1894'  — 
Derselbe y  nHandels-  und  Gewerbekammernu, 
österreichisches  Staatswörterbuch  von  Mischler 
find  Vlbrich,  Wien  1896  II,  S.  5.  —  Rathifen, 
Wörterb.  der  Volksic.  I,  S.  1015 ff.  —  Reitz, 
Gesetz  über  die  Handelskammern  ?'.  7.9.  VIII. 
1897,  Berlin  1897.  —  Scheid,  I)i€  gesetz- 
lichen Bestimmungen  über  die  Handelskammern 
in  Elsass-Lothnngen ,  Strassöurg  1898.  — 
Schönberg  II,  S.  Aufl.,  S.  900  und  OSO.  — 
K.  Stegemannf  Hie  staatsrechtliche  Stellung 
der  Handelskammern  in  Preussen,  Jahrb.  f.  Ges. 
u.  Vene,  12,  S.  219.  —  Herselbe,  Gesetz  über 
die  Handelskammern  v.  2^.  IL  1870,  mit  Kom- 
mentar, Berlin  1892.  —  Stelnntann- Bucher, 
Die  Beform  des  Consulatwesens,  Berlin  I884.  — 
O.  Teissier,  La  chambre  de  commerce  de 
Marseille  1892.  —  A  magyar  kereskedelmi  es 
iparkamarak  törtenete.  1850 — 1896  ^  Budapest 
(Geschichte  der  ungarischen  Handels-  und  Ge- 
trerbekammemj,  —  A.  Vchatzy ,  Das  öster- 
reichische Gesetz  zur  Errichtung  von  Handels- 
und Gewerbekammem  von  1850,  Kommentar, 
Beichenberg  1851.  —  Völckerf  Die  Gutachten, 
betretend  die  Beorganisation  der  Handelskammern 
in  PreiLSsen,  Berlin  1895.  —  Vosberg^Rekow, 
Die  wirtschaftliche  Interesserirertretung  uml  die 
Beform  der  preus»ischen  Handelskammern,  Berlin 
1896.  —  Ißei*selbe,  Beform  des  deutschen  Con- 
sulatwesens  und  Errichtung  der  Handelskammehi 
im  Auslange,  Berlin  1876.  —  Handel  und  Ge- 
werbe, Zeitschrijt  für  die  zur  Vertretung  von 
Handel  und  Gewerbe  gesetzlich  berufenen  Körjyer- 
schaften,  Berlin  1888 ff.  —  The  Chamber  of 
Commerce  Journal,  London  1881  ff.  —  Journal 
des  Chambres  de  Commerce,  Paris  1883 ff.  — 
Jubiläumsschriften  der  Handelskammern,  Hildes- 
heim 1891,  Mainz  1898,  München  1894,  Wien 
1899.  Siehe  ferner  die  im  Artikel  nGe^cerbe- 
kammertm  oben  Bd.  IV  S.  510  citierten  Schriften 
von  M,  Block,  Grätzet*,  R,  v.  Kaufmann 
und  Steinntann-Bucher  und  die  vom  Handels- 
tage veröffentlichte  Zusammenstellung  der  deutschen 
Handelskammern  (zuletzt  im  Deutschen  Handels- 
archiv, Januarheft  1900).      Rudolf  Maresch. 


Handelsmu^een 

s.Ausf  ulirm  US  te  rlagerobenBd.il  S.29ff. 


Handelspolitik. 

1.  Einleitung.  2.  Innere  Handelspolitik. 
3.  Aeussere  Handelspolitik  in  aktiv-offensiver 
und  in  defensiver  Form.  4.  Die  Zwecke  des 
Schutzsystems.  5.  Kritik  des  Schutzsystems 
imd  der  Freihandelstheorie. 

1.  Einleitung.  Wollte  man  das  Wort 
Handelspolitik  in  seiner  engsten  Bedeutung 
auffassen,  so  würde  es  nur  das  Verhalten 
des    Staates    gegenüber    dem    Handel    im 


eigentlichen  wirtschaftlichen  Sinne  bezeich- 
nen, also  gegenüber  dem  gewerbsmässigen 
Betriebe  der  Yermittelung  des  Güter- 
austausches durch  Kaufen  von  Waren  zum 
Zwecke  des  Wiederverkaufs  derselben  in 
materiell  unverändertem  Zustande.  Der 
Begriff  der  inneren  Handelspolitik  wirtl 
in  der  That  im  wesentlichen  dem  Gebiete 
des  eigentlichen  Handels  entsprechend  ab- 
zugrenzen und  jedenfalls  nicht,  wie  man 
etwa  vorschlagen  konnte,  so  weit  auszu- 
dehnen sein,  dass  er  sich  auf  die  Gesamtheit 
der  Handelsgescliäfte  im  handelsrechtlichen 
Sinne  bezöge.  Denn  das  Versicherungs- 
wesen und  das  Bankwesen,  soweit  dieses 
tiber  die  blosse  Vermittelimg  des  Kaufs  und 
Verkaufs  von  Wertpapieren  hinausgeht,  sind 
anerkannte  selbständige  Zweige  der  Wirt- 
schaftspolitik, die  gewerbsmässige  Verarbei- 
tung beweglicher  Sachen  in  grösserem  Mass- 
stabe, d.  h.  die  Industrie,  ferner  das  Ver- 
lagsgeschäft und  die  Buchdruckerei  fallen 
in  den  Bereich  der  Gewerbepolitik,  und  das 
Transportgewerbe  bildet  den  Gegenstand 
einer  besonderen  Verkehrspolitik.  Üebrigens 
kann  man  die  innere  Handelspolitik  auch 
einfach  als  ein  Kapitel  der  allgemeinen  Ge- 
werbepolitik betrachten,  und  daher  versteht 
man  häufig  unter  Handelspolitik  ausschliess- 
lich einen  Zweig  der  auswärtigen  Politik, 
nämlich  die  planmässige  Fürsorge  und  Thätig- 
keit  des  Süiates  zur  Förderung  seiner  volks- 
wirtschaftlichen Interessen  im  Verkehr  mit 
dem  A  u  s  1  a  n  d  e.  Dabei  kommt  keineswegs 
vorzugsweise  das  Interesse  des  eigentlichen 
Handels  in  Betracht,  sondern  vor  allem  das 
der  Produzenten  undL  Konsumenten,  die  auch 
vielfach  die  Verkäufe  und  Einkäufe  im  Aus- 
lande unmittelbar  selbst  betreiben.  Die 
auswärtige  Handelspolitik  tritt  sogar,  je 
mehr  sie  zu  positiven  Schutzmjissrogeln  zu 
Gunsten  der  einheimischen  Produktion  ül^r- 
geht,  um  so  mehr  in  einen  gewissen  Gegen- 
satz zu  den  Wünschen  und  Interessen  des 
Handelsgewerbes,  dessen  private  Wirtschafts- 
taktik sich  naturgemäss  in  den  Satz  zu- 
sammenfasst:  Kaufen  auf  dem  billigsten 
Markte  und  Verkaufen  auf  dem  teuersten. 
Da  aber  der  gew^öhnliche  Sprachgebrauch 
überhaupt  jede  Art  von  Güteraiustausch  als 
Handel  bezeichnet  und  im  internationalen 
Verkehr  gewissermassen  jedes  Volk  als  eine 
einheitliche  Individu^tät  den  anderen  gegen- 
überstellt, so  erscheint  die  Bezeichnung 
Handelspolitik  für  die  gesamte  auf  das  Aus- 
land gerichtete  Wirtschaftspolitik  eines 
Staates  immerhin  nicht  unangemessen.  Die 
moderne  Handelspolitik  hat  sich  erst  seit 
der  Entstehung  der  koncentrierten ,  über- 
wiegend auf  nationaler  Grundlage  beruhen- 
den modernen  Staaten  entwickelt.  Im 
Mittelalter  finden  wir  an  iUrer  Stelle  eine 
von  den  Städten  getragene  lokalwirtschaft- 


Handelspolitik 


1035 


liehe  Politik,  die  sowohl  nach  aussen  wie 
nach  innen  einen  engen  Interessenkreis 
riicksiehtlos  mit  Abwehr-  und  Zwangs- 
mitteln zu  schützen  suchte.  Auch  die 
deutschen  Territorialfürstentümer  fanden 
noch  bis  in  die  neuere  Zeit  in  der  Pflege 
dieser  städtischen  Interessen  eine  Haupt- 
aufgaViO  ihrer  speciellen  Wirtschaftspolitik 
und  hielten  daher  z.  B.  die  Stapel-  und 
Umschlagsrechte  privilegierter  Städte  auf- 
recht, indem  sie  darin  ein  Mittel  sahen,  den 
Kapitalreichtmn  des  Pai^tikularstaates  zu 
heben.  Erst  durch  den  Zollverein  x^iirde 
die  Idee  einer  deutschnationalen  Handels- 
politik zur  Reife  gebmcht,  deren  Programm 
die  wiitscliaftliche  Frciheit  im  Inneren,  die 
wirtschaftliche  Einheit  nach  aussen  und  die 
Unterordnung  der  handelspolitischen  Inte- 
i*essen  der  Einzelstaaten  unter  die  des  ge- 
samten Verbandes  einschloss. 

2.  Innere  Handelspolitik.  Auf  die  Ein- 
zelheiten der  inneren  Handelspolitik  hier  einzu- 
gehen, ist  nicht  erforderlich,  da  diese  fast  sämt- 
lich in  besonderen  Artikeln  behandelt  werden, 
auf  die  wir  an  dieser  Stelle  nur  zu  verweisen 
haben.  Dass  der  Staat  ein  aus  dem  Bedürfnisse 
des  Verkehrslebens  hervor^j^egangenes  eigentüm- 
liches Handelsrecht  (s.  d.  Art.  unten  S.  1047if.)  aner- 
kannt und  mehr  oder  weniger  vollständig  kodifi- 
ziert hat,  ist  ohne  Zweifel  von  wesentlichem  Ein-  \ 
üuss  auf  die  thatsächliche  Gestaltung  des  Handels  j 
und  ist  daher  auch  schon,  sofern  es  sich  um 
eine  rein  privatrechtliche  Ordnung  handelt,  eine 
Thatsache  von  handelspolitischer  Bedeutung. 
Noch  unmittelbarer  aber  zeigt  sich  diese  Be- 
deutung in  den  von  den  Handelsgesetzbüchern 
auf ßfestellten  Vorschriften  von  verwaltungs- 
rechtlichem Charakter.  Hierher  gehören 
namentlich  die  Bestimmungen  über  die  Ver- 
pflichtungen eines  Kaufmanns,  die  Führung  der 
Handelsbücher,  die  Eintragungen  in  das  Han- 
delsre£>:ister,  die  Verhältnisse  der  Handelsgehilfen 
(s.  d.^Art.  oben  Bd.  IV  S.  984 ff.)  und  der 
Handelsmakler  (s.  d.  Art.  Maklerwesen).  In 
der  deutschen  Gesetzgebung  beruht  die  ver- 
waltungsrechtliche Ordnung  des  Handels  neben 
dem  Handelsgesetzbuche  auf  der  Gewerbeord- 
nung und  einer  Reihe  von  Specialgesetzen  über 
einzelne  Punkte.  Im  allgemeinen  ist  der  Be- 
trieb des  Handelsgewerbes  frei  und  es  sind  nur 
im  Interesse  der  öffentlichen  Ordnung,  der  Sitt- 
lichkeir,  der  Sicherheit  des  Eigentums  und  der 
Öffentlichen  Gesundheitspfleffe ,  in  einzelnen 
Pällen  auch  aus  weniger  unbestrittenen  sozial- 
politischen Gründen  gewisse  Beschränkungen, 
sei  es  hinsichtlich  der  persönlichen  Berechtigung 
zum  Gewerbebetriebe,  sei  es  hinsichtlich  der  in 
den  Verkehr  zu  bringenden  Waren  oder  hin- 
sichtlich der  Form  und  Organisation  des  Be- 
triebes eingeführt  oder  beibehalten  worden. 
Das  Innungswesen,  das  im  Mittelalter  im  Handel 
durch  die  Kaufmannsgilden  (s.  d.  Art.  G  i  1  d  e  n  oben 
Bd.  IV  S.  725)  und  die  Krämerinnungen  vertreten 
war,  hat  gegenwärtig  in  diesem  Gewerbe  — 
anders  als  in  manchen  Zweigen  des  Handwerks 
—  allen  Boden  verloren,  obwohl  noch  die 
preussische  Gewerbeordnung  v.  17.  Januar  1845 
bestimmt  (Art.  94),  dass,  soweit  der  Erwerb  der 


kaufmännischen  Rechte  (der  aber  für  den  Ge- 
werbebetrieb an  sich  nicht  erforderlich  war) 
nach  den  bestehenden  Vorschriften  durch  den 
Beitritt  zu  einer  kaufmännischen  Korporation 
bedingt  sei,  es  dabei  sein  Bewenden  haben  solle. 
Erst  das  preussische  Einfühmngsgesetz  von 
1861  zum  Handelsgesetzbuch  hat  diejenigen 
Vorschriften  der  Statuten  der  kaufmännischen 
Korporationen  in  Berlin,  Stettin.  Magdeburg, 
Tilsit,  Königsberi?,  Danzi^,  Memel  und  Elbing, 
welche  jene  Bedingung  in  betreff  der  kauf- 
männischen Rechte  auf8tellten,aufgehoben  und  zu- 
gleich alle  privatrechtlichen  Vorschriften  der  Sta- 
tuten dieser  Körperschaf ten  ausser  Kraft  gesetzt. 
Im  allgemeinen  i.st  nach  der  Gewerbe- 
ordnung zwischen  dem  stehenden  Handel  und 
dem  Handel  im  Umherziehen  zu  unterscheiden. 
Der  letztere  bildet  einen  Zweig  des  Wander- 
gewerbes (s.  d.  Art.)  und  ist  teils  aus  berech- 
tigten polizeilichen  Gründen,  teils  aber  auch 
aus  anfechtbaren  lokalprotektionistischen  Rück- 
sichten auf  die  ansässigen  Gewerbetreibenden 
weitgehenden  gewerberechtlichen  Beschränkun- 
gen unterworfen  (s.  den  Art. Gewerbegesetz- 
fe  b  u  n  g  oben  Bd.  IV  S.  431  ff.),  während  überdies 
en  Wanderlagem  und  Wanderauktionen  in  den 
Einzelstaaten  durch  besondere  prohibitive  Steuern 
die  Existenz  fast  völlig  unmöglich  gemacht  ist. 
Was  den  stehenden  Handelsbetrieb  betrifft,  so 
erfährt  derselbe  durch  die  Gewerbeordnung 
hauptsächlich  in  denjenigen  Zweigen  und  Ge- 
schäftsthätigkeiten  Beschränkungen,  die  sich 
dem  Wandergewerbe  nähern.  Es  ist  dies  einer- 
seits der  Gewerbebetrieb  ausserhalb  des  Ortes 
der  Niederlassung,  sei  es  durch  den  Geschäfts- 
inhaber selbst  oder  durch  dazu  bestellte  Hand- 
lungsreisende, und  andererseits  der  namentlich 
in  grösseren  Städten  bestehende  ambulante 
Handel  oder  lokale  Hausierhandel,  der  von  orts- 
angesessenen Personen  betrieben  wird  (s.  den  Art. 
Gewerbeffesetzgebung  oben  Bd.  IV  S.427). 
Schon  durcn  die  Gewerbeordnungsnovelle  vom 
1.  Juli  1883  ist  nicht  nur  dieser  letztere  Ge- 
werbebetrieb, sondern  auch  das  Reisegeschäft 
von  stehenden  Gewerbebetrieben  aus  in  wesent- 
lichen Punkten  auf  gleiche  Linie  mit  dem  ge- 
wöhnlichen Hausierhandel  gestellt  worden.  Die 
lokalprotektionistischen  Forderungen  der  klei- 
neren ansässigen  Gewerbetreibenden  waren  aber 
damit  freilich  noch  bei  weitem  nicht  erfüllt. 
Besonders  dringend  w^urde  der  Wunsch  laut,  dass 
es  den  Handelsreisenden  verboten  werden  möge, 
unmittelbar  bei  Privatkunden,  also  bei  solchen 
Personen,  die  die  angebotenen  Waren  nicht  ge- 
werblich verwenden,  Bestellungen  aufzusuchen, 
oder  dass  wenigstens  von  solchen  Reisenden  in 
jeder  Gemeinde  eine  besondere  Steuer,  also  ein 
lokaler  Schutzzoll  erhoben  werde.  Ein  Antrag 
auf  jenes  Verbot  für  Inhaber  stehender  Gewerbe- 
betnebe  wurde  indes  bei  der  Beratung  der  No- 
velle von  1883  abgelehnt.  Zugestanden  wurde 
es  nur  in  betreff  der  Bestellungen  auf  Brannt- 
wein und  Spiritus  im  Wandergewerbebetrieb, 
imd  von  einer  besonderen  Erlaubnis  kann  dieses 
Aufsuchen  von  Privatbestellungen  abhängig  ge- 
macht werden  in  dem  ambulanten  Lokalge- 
werbebetriebe Das  Gesetz  vom  6.  August  1896 
aber  brachte  den  Lokalschutzbestrebungen  einen 
weitgehenden  Erfolg,  indem  denHandelsreisenden 
als  solchen,  soweit  nicht  der  Bundesrat  Aus- 
nahmen zuiässt,  das  Aufsuchen  von  Privatbe- 


1036 


Handelspolitik 


Stellungen  ohne  vorgängige  ausdrückliche  Auf- 
forderung verboten  wurde.  Das  „Detailreisen" 
ist  also  jetzt  nur  auf  Grund  eines  Wanderge- 
werbescheines zulässig.  Eine  Ausnahme  wird 
im  Gesetz  selbst  betreff  der  Druckschriften  und 
Bildwerke  gemacht,  für  die  im  übrigen  die 
Bestimmungen  über  den  Hausierhandel  mit 
solchen  Gegenständen  gelten.  Den  Wünschen 
der  Handwerker,  wenn  auch  nicht  dem  volks- 
wirtschaftlichen Interesse,  würde  es  auch  ent- 
sprechen, wenn  wieder  eine  ähnliche  Beschrän- 
kung des  Handels  mit  Handwerkerwaren  (zu 
denen  in  erster  Reihe  Kleider  und  Schuhe  zu 
rechnen  sind)  eingeführt  würde,  wie  sie  in 
Preussen  auf  Grund  der  V.  v.  9.  Februar  1849 
bis  zum  Erlass  der  norddeutschen  Gewerbeord- 
nung bestanden  hat.  Nach  §  34  jener  Verord- 
nung konnte  nämlich,  wo  „das  Halten  von 
Magazinen  zum  Detailverkauf  von  Handwerker- 
waren erhebliche  Nachteile  für  die  gewerblichen 
Verhältnisse  des  Ortes  zur  Folge  habe,  durch 
Ortsstatuten  für  gewisse  Gattungen  von  Hand- 
werkerwaren festgesetzt  werden,  dass  die  An- 
legung solcher  Magazine  denjenigen,  die  nicht 
zum  selbständigen  Betrieb  der  betreffenden 
Handwerke  befugt  seien,  nur  mit  Genehmigung 
der  Kommunalbehörde  gestattet  sei,  welche  dann 
nur  nach  vorgängiger  Vernehmung  der  be- 
teiligten Innungen  und  des  Gewerberats  zu  er- 
teilen sei'*.  In  der  neuesten  Zeit  haben  die 
Kleinhändler,  die  ihrerseits  zur  Zurückdränguug 
des  Handwerks  wesentlich  mit  beigetragen 
haben,  einen  lebhaften  Kampf  gegen  den  Gross - 
betrieb  des  Detailhandels  begonnen,  wie  er  sich 
in  den  grossen  Specialgeschäften,  und  in  den 
mehrere  Geschäftszweige  vereinigenden  Waren- 
häusern entwickelt  hat.  Sie  verlangen  eine 
wo  möglich  prohibitive  Besteuerung  des  Um- 
satzes dieser  Betriebe  und  haben  in  Bavem  und 
Sachsen  schon  erhebliche  Erfolge  erreicht.  In 
Preussen  ist  das  Schicksal  der  projektierten 
Warenhaussteuer  (Mai  19()0)  noch  nicht  ent- 
schieden. Vom  Standpunkt  der  Kleinhändler 
besteht  übrigens  kein  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  den  Warenhäusern  und  den  grossen 
Specialdetailgeschäften.  S.  den  Art.  Waren- 
häuser. Den  erwarteten  Erfolg  zu  Gunsten  der 
weniger  leistungsfähigen  Kleinbetriebe  werden 
solche  Steuermassregeln  nicht  haben,  möglicher- 
weise aber  volkswirtschaftlichen  Schaden  stiften, 
weil  sie  mit  der  Entwickelung  im  Widerspruch 
stehen,  die  unsere  Kultur  mit  Hilfe  der  modernen 
Produktions-  und  Verkehrsmittel  nun  einmal 
genommen  hat.  Jede  civilisierte  Nation  wird 
sich  mit  den  Folgen  dieser  Entwickelung,  die 
ja  keineswegs  ausschliesslich  erfreulich  sind,  so 
gut  es  geht,  abfinden  müssen,  und  zu  diesen 
Konsequenzen  gehört  es  auch,  dass  der  Handel 
mit  Fabrikwaren  einen  Teil  des  selbständigen 
Hand  Werkbetriebs  verdrängt  und  dass  auch  im 
Detailhandel  der  Kleinbetrieb  unter  gewissen 
Bedingungen  durch  den  Grossbetrieb  ersetzt 
wird.  Es  ist  durchaus  zu  billigen,  wenn  man 
den  Üebergang  möglichst  schonend  für  die  ge-  j 
fährdeten  Interessen  zu  gestalten  sucht,  aber  es  j 
ist  volkswirtschaftlich  schädlich,  wenn  man  die 
weitere  Fortpflanzung  der  unhaltbaren  Wirt- ' 
Schaftsformen  begünstigt  und  dadurch  die  I 
Schwierigkeiten  des  Uebergangszustandes  auch  | 
auf  die  Zukunft  überträgt.  Eine  Keihe  anderer  i 
teils  in  der  Gewerbeordnung,  teils  in  besonderen  - 


Gesetzen  enthaltenen  Bestimmungen  über  den 
Handel  mit  gewissen  Waren  haben  einen  wesent- 
lich polizeilichen  Charakter,  doch  treten  in  der 
neuesten  Zeit  auch  hier  stellenweise  protektio- 
nistische  Tendenzen  auf.  Der  Kleinhandel  mit 
Branntwein  steht  unter  den  Bestimmungen  über 
das  Schankgewerbe  (s.  den  Art.).  Der  Handel 
mit  Giften  Kann  durch  Landesgesetz  von  einer 
besonderen  Genehmigung  abhängig  gemacht 
werden.  Ueber  den  Handel  mit  Arzneien  (s.  d.  Art. 
oben  Bd.  II  S.  7)  bestehen  besondere  Vorschriften, 
insbesondere  nach  der  neuen  kaiserlichen  V.  v. 
27.  Januar  1890.  Der  Betrieb  des  Trödelhandela 
kann  nach  §  35  der  Gew.-O.  unzuverlässigen  Per- 
sonen untersagt  und  nach  §  37  besonderen  poli- 
zeilichen Kontrollen  unterstellt  werden.  Das 
Gewerbe  der  Rückkaufshändler  wird  wie  das  der 
Pfandleiher  (s.  d.  Art.^  behandelt.  Der  Handel 
mit  Dynamit  und  anderen  Sprengstoffen  (zu 
denen  Schiesspulver  nicht  gehört)  kann  ebenfalls 
nach  §  35  unzuverlässigen  Personen  untersagt 
werden  und  unterliegt  ausserdem  den  Bestim- 
mungen des  G.  V.  9.  Juni  1884.  Femer  ist  nach 
§  35  der  Gew.-O.  unter  den  gesetzlichen  Voraus- 
setzungen zu  untersagen  der  Handel  mit  Losen 
oder  mit  Bezugs-  und  Anteilscheinen  auf  solche 
Lose,  der  gewerbsmässige  Betrieb  des  Vieh- 
handels und  des  Handels  mit  ländlichen  Grund- 
stücken, der  Handel  mit  Droguen  und  chemischen 
Präparaten,  wenn  die  Handhabung  des  Gewerbe- 
betriebes Leben  und  Gesundheit  von  Menschen 
gefährdet.  Der  Kleinhandel  mit  Bier  kann  unter- 
sagt werden,  wenn  der  Gewerbetreibende  wieder- 
holt wegen  Zuwiderhandlungen  gegen  die  Vor- 
schriften der  Gew.-O.  bestraft  ist.  —  Der  Handel 
mit  Geheimmitteln  (s.  d.  Art.  G  e  h  e  i  m  m  i  1 1  e  1  - 
wesen  oben  Bd.  IV  S.  54  ff.)  ist,  sofern  sie 
Arzneien  sind,  nach  der  Reichsgesetzgebung  nur 
den  Apothekern  gestattet,  in  Baden,  Hessen,  El- 
sass-Lothringen  und  den  ehemals  französischen 
Landesteilen  Preussens  aber  auch  diesen  verboten. 
Leicht  entzündliches  Petroleum  darf  nach  der  V.  v. 
24.  Februar  1882  nur  mit  gewissen  Vorsichtsraass- 
regeln  feilgehalten  werden.  —  Die  sogen.  Kunst- 
buttor  musste  schon  nach'dem  G.  v.  12.  Juli  1887 
nicht  nur  ausdrücklich  als  „Margarine"  bezeichnet 
werden,  sondern  sie  darf  überhaupt  nicht  ver- 
kauft werden,  wenn  sie  durch  einen  merklichen  Zu- 
satz von  Naturbutter  verbessert  ist;  eine  nicht 
mehr  polizeiliche,  sondern  agrarprotektionistische 
Bestimmung.  Das  Gesetz  v.  15.  Juni  181)7  ent- 
hält noch  weitergehende  Vorschriften  zur  Er- 
schwerung des  Absatzes  von  Margarine,  Mar- 
^arinekäse  und  Kunstspeisefett.  Der  Verkehr 
m  Gold-  und  Silberwaren  erfährt  durch  das  G. 
V.  16.  Juli  1884  nur  wenig  erheblirhe  Be- 
schränkungen, während  in  neu  Ländern  mit 
obligatorischer  Regelung  des  Feingehalts  (s.  d.Art. 
oben  Bd.  III  S.824)  der  verarbeiteten  Edelmetalle 
solche  Waren  ohne  den  gesetzlichen  Stempel 
nicht  in  den  Verkehr  gebracht  werden  dürfen. 
—  Nach  dem  Reichsgesetz  vom  19.  Mai  1891 
dürfen  Handfeuerwaffen  jeder  Art  nur  dann  feil- 
gehalten und  verkauft  werden,  wenn  sie  nach 
den  Vorschriften  dieses  Gesetzes  amtlich  geprüft 
und  gezeichnet  worden  sind.  —  Ausländische 
Inhaberpapiere  mit  Prämien  dürfen  nach  dem 
G.  V.  8.  Juni  1871  nicht  weiter  gegeben  und 
nicht  zum  Gegenstände  des  Börsenverkehrs  ge- 
macht werden,  wenn  sie  nicht  vor  dem  30.  April 
1871  ausgegeben   sind   und  nicht   den  gesetjs- 


Haodelspolitik 


1037 


liehen  Stempel  tragen.  —  Nach  dem  preussischen 
G.  V.  29.  Juli  1885  wird  der  Verkairf  von  Losen 
auswärtiger  Lotterieen  mit  Geldstrafe  bis  zu 
1500  Mark  bestraft.  —  Das  Papier,  aus  welchem 
die  Beichskassenscheine  hergestellt  werden,  ist 
nach  dem  G.  v.  26.  Mai  1885  ebenfalls  vom 
freien  Verkehr  ausgeschlossen.  Auch  die  Ge- 
setze über  die  Rinderpest,  die  Viehseuchen,  die 
Reblaus,  die  Schonzeit  des  Wildes  und  der 
Fische,  über  das  Patentwesen  (s.  die  betr.  Art.) 
enthalten  für  gewisse  Gegenstände  —  abgesehen 
von  den  verbotenen  gemischten  oder  gesund- 
heitsschädlichen Waren  —  Verkehrs-  und  so- 
mit auch  im  eigentlichen  Sinne  Handelsbe- 
schränkungen. Endlich  kommen  solche  Be- 
schränkungen auch  aus  steuerpolizeilichen 
Gründen  vor.  So  bestimmt  das  Börsensteuer- 
gesetz,  dass  die  den  Reichsstempelabgaben  unter- 
worfenen Wertpapiere  ungestempelt  nicht  ver- 
änssert  oder  zu  irgend  einem  anderen  Geschäft 
unter  Lebenden  verwendet  werden  dürfen.  Eine 
vollständige  Aufhebung  des  privaten  Handels 
besteht  bei  denjenigen  Gegenständen,  die,  wie 
in  so  vielen  Ländern  der  Tabak,  einem  staat- 
lichen Monopol  unterworfen  sind. 

Zu  einer  gewissen  systematischen  Vollstän- 
dififkeit,  die  übrigens  die  Anwendung  durchaus 
falscher  Mittel  nicht  ausschloss,  finden  wir  in 
der  früheren  Zeit  und  teilweise  auch  noch  im 
gegenwärtigen  Jahrhundert  die  innere  Getreide- 
handelspolitik ausgebildet  (s.  d.  Art.  Getreide- 
handel oben  Bd.  IV  S.  276  ff.)-  Einige  Reste  die- 
ses Systems  haben  sich  noch  erhalten,  so  das  Ver- 
bot der  Koalition  der  Warenbesitzer  in  der  fran- 
zösischen und  anderen  Gesetzgebungen.  Auch 
das  deutsche  Börsengesetz  vom  22.  Juni  1896 
enthält  eine  wichtige  Beschränkung  des  Ge- 
treidehandels  in  dem  Verbot  des  Terminhaudels 
in  Getreide  und  Mühlenfabrikaten.  Ueberhaupt 
stellt  dieses  Gesetz  den  am  tiefsten  gehenden 
Eingriff  dar,  der  in  der  inneren  Handelspolitik 
in  der  neueren  Zeit  vorgekommen  ist.  S.  den  Art. 
Börsenrecht  oben  Bd.  II  S.  979 ff.  Die  Börse 
ist  ohne  Zweifel  die  äusserlich  am  meisten  her- 
vortretende Orsfanisation  des  Handels,  und  da 
sie  in  den  Ländern  des  europäischen  Kontinents 
einen  öffentlichrechtlichen  Charakter  hat,  so 
scheint  sie  auf  den  ersten  Blick  dem  Staate  die 
wirksamste  Handhabe  zu  einem  Eingreifen  in 
den  inneren  grossen  Waren-  und  Geldverkehr 
zu  bieten.  Die  selbständige  Wirkungsfähigkeit 
der  Börse  wird  indes  von  ihren  Gegnern  weit 
überschätzt.  Sie  ist  ja  nicht  eine  einheitlich 
handelnde  Körperschaft,  sondern  nichts  weiter 
als  eine  freie  Zusammenkunft  von  Käufern  und 
Verkäufern  mit  den  verschiedensten  entgegen- 
gesetzten Interessen.  Die  wirkliche  Bedeutung 
einer  Börse  liegt  nur  in  dem  wirklichen  Geld-, 
Waren-  und  Effektenbesitz  der  an  ihr  ver- 
kehrenden Personen,  nicht  in  dem  Geschrei  der 
mitlaufenden  besitzlosen  Spekulanten.  Im  grossen 
und  ganzen  bringt  sie  die  wirklichen,  im  Grossver- 
kehr oder  auf  dem  Weltmarkt  bestehenden  Ver- 
hältnisse von  Angebot  und  Nachfrage  zum  Aus- 
druck, und  eine  Beschränkung  ihrer  Bewegungs- 
freiheit, die  selbstverständlich  betrügerische 
Manipulationen  nicht  mit  einschliesst,  läuft 
schliesslich  immer  auf  Erschwerung  des  Absatzes 
der  Handelsobjekte  hinaus.  —  Die  Märkte 
und  Messen  (s.  d.  Art.)  hatten  früher  als 
öffentliche  Einrichtungen    zur   Förderung   des 


Handels  und  Verkehrs  eine  grosse  Bedeutung, 
sind  aber  in  der  neueren  Zeit  neben  den  Börsen 
immer  mehr  zurückgetreten. 

B.  Aeussere  Handelspolitik  in  aktiv- 
offensiver und  inadefensiver  Form.    Die 

Einzelheiten  der  äusseren  Handelspolitik 
werden  in  einer  Reihe  von  besonderen  Ar« 
tikeln  besproclien,  auf  die  wir  hier  verweisen. 
(S.d.  Artt.  Ausfuhr-  und  Einfuhrzölle 
und  -V  e  r  b  0 1  e  oben  Bd.  II S.  39  ff.,  III S.  320  ff. 
und329ff.,  Ausfuhr-  und  Einfuhrprä- 
mien Bd.'  n  S.  34,  Differentialzölle, 
Durchfuhrzölle  Bd.  III  S.  I66ff.  und  S. 
255ff.,  Handelsverträge  untenS.  1067  ff., 
Schutzsystem  und  die  zollgeschichtlichen 
Notizen  in  den  Artikeln  überBaum  wo  lleBd. 
II  S.  509ff.,  Eisen  Bd.  IH  S.  462ff.  Ge- 
treide etc.  Bd.  IV  S.  276  ff.)  An  dieser  Stelle 
haben  wir  nur  die  allgemeinen  Grundsätze  imd 
Ziele  zu  erörtern,  die  für  die  auswärtige  Han- 
delspolitik der  Kulturstaaten  bestimmend  ge- 
wesen oder  als  volkswirtschaftlich  berechtigt 
anzuerkennen  sind.  Wie  schon  oben  be- 
merkt, geht  diese  Politik  über  das  Gebiet 
des  Handels  im  engeren  Siime  hinaus  und 
hat  als  Zweck  überhaupt  die  Förderung  und 
Geltendmachung  der  wirtschaftlichen  Inte- 
ressen der  Staatsangehöri^n  im  Verkehr 
mit  dem  Auslande.  Die  Mittel,  die  seit  den 
ältesten  geschichtlichen  Zeiten  bis  zur 
Gegenwart  von  den  Staaten  zu  diesem 
Zwecke  angewandt  worden  sind,  kann  man 
in  herrschaftspolitische  und  in  eigentliche 
verkehrspolitische  einteilen.  Streben  nach 
wirtschaftlichen  Vorteilen,  sei  es  von  Seiten 
einer  herrschenden  Minderheit  oder  der 
ganzen  Volksmasse,  ist  von  jeher  für  die 
ganze  auswärtige  Politik  der  Staaten  eine 
der  wirksamsten  Triebki'äfte  gewesen.  Die 
energischste  Bethätigung  der  auswärtigen 
Politik,  der  Krieg,  der  ursprünglich  von  dem 
Angreifer  meistens  nur  zum  Zweck  der  Er- 
langung von  Grundbesitz  oder  sonstiger 
Beute  unternommen  wurde,  gehört  als  solcher 
allerdings  nicht  in  die  Handelspolitik,  aber 
gerade  in  der  höheren  Kulturentwickelung 
sind  viele  Kriege  hauptsächlich  durch  handels- 
politische Rücksichten  veranlasst  worden, 
namentlich  lun  einen  unbeiiuemen  Mit- 
bewerber zu  Gnmde  zu  richten  oder  durch 
den  Friedensschluss  von  dem  Besiegten  be- 
sondere Handelsvorteile  zu  erlangen.  Ein 
wichtiges  Machtmittel  der  Handelspolitik 
bildete  femer  die  Anlegung  von  Kolonieen 
(s.  den  Art.),  die  häufig  auch  durch  kriege- 
rische Unternehmungen  unterstützt  werden 
musste,  daher  auch  nicht  selten  zur  Er- 
oberung ganzer  neuerschlossener  Länder 
fülirte,  während  es  in  anderen  FäUen  ge- 
nügte, einzelne  Niederlassungen  als  Mittel- 
punkt eines  friedlichen  Verkehrs  mit^  den 
Völkerstämmen  der  Umgebung  anzulegen. 
Die  phönicischen  und  griechischen  Kolonieen 


1038 


Handelspolitik 


des  Altertums  waren  von  Stadtstaaten  aus- 
gegangen und  standen  zu  diesen  nur  in 
einem  lockeren  Verhältnis,  was  jedocli  nicht 
hinderte,  dass  die  gemeinschaftliche  Ab- 
stammung dem  Verkelu'  zwischen  Mutter- 
und  Tochterstadt  in  hoTiem  Grade  zu  gute 
J^am.  Die  seit  dem  Zeitalter  der  Ent- 
deckungen gegründeten  neueren  Kolonieen 
wurden  drei  Jalirhunderte  lang  diu-ch  ein 
strenges  Absperrungssystera  möglichst  aus- 
schliesslich im  Interesse  des  Mntterlandes 
ausgebeutet.  Ausschliessliche  Handelsbe- 
rechtigungen oder  wenigstens  Bevorzugungen 
und  Begünstigungen  waren  auch  die  Ziele, 
welche  die  ältere  Handelspolitik  in  erster 
Reihe  durch  ihre  Handelsverträge  zu  er- 
reichen suchte.  Solche  Zugeständnisse 
konnten  bei  schwachen  oder  wirtschaftlich 
passiven  Völkern  auch  ohne  Kriegführung 
durch  den  moralischen  Druck  einer  über- 
legenen Handelsmacht  durchgesetzt  ^yerden, 
und  selbst  Staaten  ohne  grosse  Kriegs-  oder 
Seemacht  waren  oft  imstande,  durch  diplo- 
matische Geschicklichkeit  oder  auch  wohl 
durch  Geld  grossen  Einfluss  in  weniger  ent- 
wickelten Landern  zu  gewinnen  und  diesen 
für  ihre  Handelsinteressen  zu  verwerten. 

Im  Vergleich  mit  dieser  auf  Macht,  Herr- 
schaft und  Einfluss  gestützten  Handelspolitik, 
die  ihren  Gewinn  durch  aktives,  ja  offensives 
Vorgehen  gegen  das  Ausland  erstrebt,  er- 
scheint die  Anwendung  der  verkehrs- 
politischen Hilfsmittel  zur  Füixlerung  der 
Volkswirtschaft  als  ein  friedliches,  defensives, 
im  Lande  selbst  ausgebautes  Schutzsystem. 
Man  erschw^ert  oder  verbietet  die  Einfuhr 
gewisser  Waren  und  die  Ausfuhr  gewisser 
anderer.  Die  Uebelstände,  die  diu-ch  diese 
Verkehrsliindernisse  auch  wieder  für  die  zu 
schützenden  Interessen  selbst  erzeugt  werden, 
sucht  man  dann  durch  andere  Einrichtungen 
und  Massregeln,  wie  zollfreie  Niederlagen, 
Ausfuhrprämien  etc.  zu  mildern  oder  aus- 
zugleichen. Auch  die  nationale  Handels- 
marine (s.  den  Art.  Schiffahrt)  sucht  man 
durch  mehr  oder  weniger  durchgreifende 
Abwehr  des  ausländischen  Mitbewerbs  zu 
begünstigen.  In  der  neuesten  Zeit  ist  auch 
dieEi  sen  bahn  tarifpolitik(s.  oben  Bd.l  II 
S.  556  ff.)  namentlich  im  Staatsbahn svstem 
zu  einem  wichtigen  Faktor  des  Schutzsystems 
geworden,  indem  sie  z.  B.  die  Möglichkeit 
gCAvährt,  idie  Wirkung  der  Einfuhrzölle  des 
Nachbarlandes  zu  neutralisiei'en,  freilich  auf 
Kosten  des  Staates,  aber  zu  Gunsten  der 
Produzenten  der  Ausfuhrwaren,  deren  Inte- 
ressen man  als  allgemein  volkswiii:schaftliche 
auffasst.  Am  energischsten  hat  wohl  Ungarn 
von  diesem  Mittel  Gebrauch  gemacht,  wo 
nach  Nemenyi  das  Staatsbahnsystem  mit 
einor  die  Ausfuhr  begünstigenden  Tarif- 
politik sich  als  eine  Notwendigkeit  ei'wieson 
hat,    \m\    >im   Angesicht   des   europäischen 


Protektionismus  noch  das  Princip  der  Kon- 
kurrenz aufrecht  zu  erhaltene 

Im  Altertum  war  das  auf  Zöllen  und 
Verboten  beruhende  Schutzsystem  noch  nicht 
ausgebildet.  Die  Handelspolitik  der  Phöni- 
cier,  der  Karthager,  der  Athener  beruhte 
auf  einem  aktiven,  mit  Kolonisation  oder 
Machtentfaltung  verbundenen  Auftreten  im 
Auslande.  Im  römischen  Weltreiche  wiuxle 
fast  der  gesamte  Verkehr  zwischen  den 
Kulturländern  zu  einem  Binnenhandel  und 
die  auswärtige  Handelspolitik  trat  daher  in 
den  Hintergrund.  Das  Verbot  der  Ausfuhr 
gewisser  Waren  zu  den  deutschen  Völker- 
schaften hatte  keine  eigentlich  wirtscliafts- 
politische  Bedeutung,  Avohl  aber  kann  eine 
solche  dem  mehrfach  wiederholten  Verbote 
der  Ausfuhr  von  Edelmetall  zugeschrieben 
werden.  Im  Mittelalter  stützte  sich  die 
Handelspolitik  Pisas,  Genuas,  Venedigs  im 
Mittelmeer  und  namentlich  im  Orient  auf 
kriegerische  Macht  und  diplomatische  Ge- 
schicklichkeit, und  dasselbe  kann  man  von 
der  deutschen  Hanse  zur  Zeit  ihrer  Blüte 
sagen.  Schutzzölle  und  Einfuhrverbote 
waren  zwar  auch  den  mittelalterlichen 
Stadtrepubliken  nicht  fremd,  aber  solche 
Massregeln  können  auf  einem  kleinen  Ge- 
biete zu  keiner  bedeutenden  Wirkung  ge- 
langen. Erst  in  den  Grossstaaten,  die  seit 
dem  16.  Jahrhundert  allmälüich  ihre  moderne 
Gestaltung  mit  zunehmender  Koncentrierung 
und  innerer  Einheitlichkeit  erhielten,  konnte 
das  Schutzsvstem  zu  einem  Faktor  von 
grösserer  Avii'tschaftlicher  Tragweite  wei-den, 
indem  es  zugleich  melir  und  mehr  an  die 
Stelle  des  älteren,  hauptsächlich  auf  der 
Zunft  Verfassung  beruhenden  lokalen  Gewerbe- 
schutzes trat.  Die  offensive  und  die  defen- 
sive Handelspolitik  schlössen  sich  aber 
keineswegs  aus,  sie  steigerten  vielmelu^  im 
17.  bis  18.  Jahrhundert  gewissermassen 
gegenseitig  ihre  Intensität,  wie  namentlich 
die  Geschichte  der  wirtschaftlich  bedeutend- 
sten Grossstaaten,  Englands  und  Frankreichs, 
zeigt,  wähi^end  allerdings  das  in  Europa 
nm-  auf  ein  kleines  Gebiet  beschränkte  und 
besonders  auf  den  ^OekonomiehandeU,  d.  h. 
den  Zwischenhandel  angewiesene  Holland 
neben  seiner  monopolistischen  Kolonialpolitik 
und  seiner  handelspolitischen  Kriegführung 
auf  die  Ausbildung  eines  strengen  Schutz- 
systems verzichtete. 

Im  allgemeinen  entspricht  jene  aktive, 
offensive,  nach  Monopolen,  Privilegien  \md 
Hen-schaft  im  Auslande  strebende  Handels- 
politik vorzugswei>e  dem  Standpunkte  und 
den  Interessen  des  Kaufmannes,  die  den 
fremden  Mitbewerb  im  eigenen  Lande  ab- 
wehrende Schutzzollpolitik  aber  mehi*  dem 
Standjnmkte  imd  den  Interessen  des  in- 
ländischen Produzeuten.  Der  erstere  will 
vor  allem  ungeliindert  auf  der  ganzen  Erde 


Handelspolitik 


10H9 


seine  Geschäfte  machen  können;  dabei  sind 
ilini  aber  Monopole  und  Privilegien  überall 
erwünscht,  wo  er  sie  erlangen  kann.  Im 
Inlande  verlangt  er  wenigstens,  dass  ihm 
die  Einfuhr  fremder  Waren  zur  Konkuirenz 
mit  einheimischen  Erzeugnissen  nicht  er- 
schwert werde.  Der  inländische  Produzent 
aber  wünscht  sich  vor  allen  Dingen  den 
inneren  Markt  vorzubehalten,  d.  h.  den  Preis 
seiner  Erzeugnisse  durch  Verbot  oder  hohe 
Belastung  der  fremden  Konkurrenzwaren 
möglichst  gesteigert  zu  sehen.  Auf  die 
Ausfuhr  seiner  Waren  legt  er  zunächst 
w^eniger  Wert;  wenn  es  ihm  zweckmässig 
erscheint,  kann  er  sich  Absatz  im  Auslande 
gewissermassen  erzwingen,  indem  er  unter 
dem  auf  dem  geschützten  inneren  Markte 
geltenden  Preise  verkauft.  Erst  wenn  der 
betreffende  Industriezweig  eine  weit  über 
den  einheimischen  Bedgfff  hinausgehende 
Produktionskraft  gewonnen  hat,  erhält  die 
Ausfuhr  für  ihn  eine  hervorragende  Bedeu- 
tung. Dann  aber  weinlen  seine  Vertreter 
vielleicht  zu  der  Einsicht  gelangen,  dass  sie 
die  fremde  Konkurrenz  im  Inlande  nicht 
mehr  zu  fürchten  haben  und  dass  sie  von 
den  ausländischen  Schutzzöllen  mehr  Nach- 
teil als  von  den  inländischen  Vorteil  haben. 
Sie  werden  daher  jetzt  geneigt  sein,  auf 
das  Schutzsystem  zu  verzichten,  wenn  sie 
dadurch  für  ihre  Ausfuhr  in  andere  Länder 
Zollerleichterungen  erlangen  können.  Eben- 
so gern  übrigens  wie  die  Kaufleute  sehen 
es  auch  die  exportierenden  Gewerbetreiben- 
den, wenn  ihnen  solche  Zugeständnisse  ohne 
Gegenleistungen  durch  den  Machteinfluss 
ihres  Landes  bei  schwächeren  Staaten  ver- 
schafft werden.  England  liefert  das  typische 
Beispiel  für  diese  Entwickelung  der  Handels- 
politik. Von  der  zweiten  Hälfte  des  17.  bis 
zu  den  zwanziger  Jaliren  dieses  Jahrhunderts 
herrschte  dort  eine  wesentlich  durch  die 
Handelsinteressen  geleitete  kriegerische  Ko- 
lonial- imd  Machtpolitik  in  V^erbindung  mit 
einem  rücksichtslosen  Schutzsystem,  das 
neben  den  Interessen  der  Industrie  und 
Schiffahrt  auch  die  der  Grundbesitzer  mit 
umfasste.  Dann  folgte  Bekehrung  der  In- 
dustrie zum  Freihandel,  der  im  Interesse 
der  Verbilligung  der  industriellen  Produktion 
schliesslich  auch  dem  Gnmdbesitze  für  die 
landwirtschaftlichen  Ei-zeugnisse  aufgenötigt 
wui'de. 

Aber  auch  nach  der  vollständig  fi-eihänd- 
lerischen  Umgestaltung  des  ZoUtarifes  be- 
hielt die  englische  Handelsix)litik  nach  aussen 
iliren  aktiven  Charakter  noch  bei.  Zur 
Sicherung  seiner  Stellung  in  Indien,  deren 
Wert  wesentlich  in  Handelsvorteilen  besteht, 
scheute  England  auch  in  der  Zeit  seiner 
ausgeprägtesten  Friedenstendenz  kriegerische 
Unternelmiungen  nicht,  wie  es  vom  Krim- 
kriege bis  zur  Besetzimg  Aegyptens  wieder- 


holt bewiesen  hat.  China  und  Japan  haben 
ebenfalls  noch  nach  dem  Siege  der  Man- 
chesterpartei die  offensive  englische  Handels- 
politik empfinden  müssen.  In  der  neuesten 
Zeit  vollends  hat  England  teils  infolge  des 
Dm-chdringens  der  imperialistischen  Politik, 
teils  unter  dem  Einfluss  bestimmter  materiellei^ 
Interessen  wieder  offen  die  Bahn  der  Er- 
oberungen eingeschlagen  und  zwar  in  Süd- 
afrika gegen  eine  Bevölkerung  von  eiux)- 
päischer  Abkunft.  Da  die  Vereinigten 
Staaten  ebenfalls  von  ihren  früheren  Prin- 
cipien  abgewichen  und  zu  einer  Expansions- 
politik übergegangen  sind,  so  wird  der 
Wettbewerb  der  pt)ssen  Kulturvölker  um 
Platz  und  Einfluss  im  Welthandel  in  dem  be- 
ginnenden Jahrhundert  sich  vielleicht  weniger 
Niedlich  abspielen,  als  man  in  der  zweiten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahi'hundei'ts  er- 
warten durfte.  Der  Sieger  mag  dabei  seinen 
Vorteil  finden;  für  die  wirtschaftliche  Ent- 
wickelung der  Kulturwelt  im  ganzen  aber 
kann  diese  verstärkte  Wiederbelebung  der 
Machtpolitik  im  Weltverkehr  nur  schädlich 
wirken.  Beseitigung  von  Einfuhrverboten  und 
sonstigen  Handeishindeniissen  in  schwäche- 
ren Ländern  kann  allenfalls  erzwungen 
werden,  nicht  aber  wirklich  lohnender  Waren- 
absatz. Zu  fruchtbarem  Gedeihen  kommt 
der  internationale  Handel  nur  in  friedlichem 
Verkehr.  Der  Stützpunkt  der  sich,  wie  es 
scheint,  bei  den  Grossstaaten  anbahnenden 
neuen  handelspolitischen  Phase  ist  die  See- 
macht, und  die  neu  in  Sicht  gekommene 
mögliche,  wenn  auch  nicht  wahi^scheinliche 
Gefahr  ist  die,  dass  die  gi^össte  Seemacht 
den  Versuch  machen  könnte,  sich  durch 
Vernichtung  des  Seehandels  anderer  Staaten 
von  einem  lästigen  Mitbewerb  zu  befreien. 
Wenn  also  jetzt  von  Schutz  des  überseeischen 
Handels  die  Rede  ist,  so  ist  dabei  nicht 
bloss  an  die  Abwelir  von  Uebergiiffen  süd- 
amerikanischer oder  anderer  sekundärer 
Staaten  zu  denken,  für  die  einige  Kreuzer 
ausreichen  würden.  Uebrigens  verlieren  die 
friedlichen  Mittel  der  Handelspolitik,  ins- 
besondere die  Handelsverträge  durch  die 
grössere  Machtentfaltung  des  sich  ihrer  be- 
dienenden Staates  keineswegs  an  Wirksam- 
keit, vielmelir  können  sich  ihre  Aussichten 
auf  Erfolg  dadurch  nur  verbessern. 

4.  Die  Zwecke  des  Schutzsystem». 
Gegen  eine  aktive  auswärtige  Handelspolitik, 
die  durch  kräftiges  Auftreten  und  günstige 
Handelsverträge  die  ausländischen  Märkte 
ei*sehliesst,  haben  auch  die  principiellen  Ver- 
treter des  absoluten  Freihandels  (s.  den  Art, 
Freihandelsschule  oben Bd.mS.  1248 ff.) 
nichts  einzuwenden,  nur  verwerfen  sie  die 
Privilegierung  monopolistischer  Gesellscliaf- 
ten  für  bestimmte  Gebiete  des  auswärtigen 
Handels.  Auch  das  Consulatswesen  lassen 
die  Freiliändler  gelten,  wo  es  unzweifelhaft 


1040 


Handelspolitik 


den  Interessen  der  Staatsangehörigen  im 
Auslände  Schutz  und  Förderung  gewährt, 
aber  sie  sind  häufig  sehr  skeptisch  in  Bezug 
auf  die  Anerkennung  dieser  xhatsache.  Die 
Spitze  ihres  Princips  richtet  sich  wesentlich 
nur  gegen  das  Grenzschutzsystem,  gegen 
alle  Erschwerung,  aber  auch  gegen  alle 
Erleichterung  der  Einfuhr  und  der  Ausfuhr 
diu-ch  künstliche  Mittel.  Die  Beurteilung 
dieses  Standpunktes  wird  erleichtert,  wenn 
wir  zuerst  in  Betracht  ziehen,  welche  Zwecke 
denn  thatsächlich  für  jene  Schutzmassregeln 
in  den  verschiedenen  Perioden  der  Wirt- 
schaftsgeschichte leitend  gewesen  sind.  Der 
Wunsch,  »das  Geld  im  Lande  zu  halten«, 
hat  schon  lange  vor  der  Ausbildung  der 
Lehre  des  Merkantilsystems  (s.  den  Art.) 
zu  protektionistischen  Verkehrsbeschränkun- 
gen geführt.  Zuerst  versuchte  man  es  mit 
einer  symptomatischen  Behandlung  des  an- 
geblichen üebels,  indem  man  die  Ausfuhr 
von  Geld  und  Edelmetall  einfach  verbot. 
Wie  bereits  oben  erwähnt ,  kamen  solche 
Verbote  schon  bei  den  Römern  vor.  Im 
Mittelalter  hingen  dieselben  teilweise  aller- 
dings mit  der  Münzpolitik  zusammen,  indem 
man  den  durch  die  Münzverschlechterungen 
veranlassten  Abfluss  des  Edelmetalls  und 
des  guten  Geldes  verhindern  wollte.  Da- 
gegen wurde  die  Ausfuhr  der  neuen 
schlechten  Münzen  häufig  ausdrücklich  ge- 
stattet. So  verbietet  z.  B.  eine  Ordonnanz 
Philipps  des  Schönen  vom  1.  Februar  1304 
die  Ausfuhr  von  Gold  und  Silber  in  Ge- 
fässen,  in  Barreu  imd  in-  und  ausländischen 
Münzen  ohne  besondere  königliche  Erlaub- 
nis ;  jedoch  dürfen  auswärtige  Kaufleute  für 
den  Betrag  der  verkauften  Waren  (sofern 
diese  nicht  verboten  waren)  »pecunias  nostras 
modemas  aureas  argenteas  et  ni^^<c  aus- 
führen. In  einer  Ordonnanz  Philipps  VI. 
vom  25.  März  1332  wird  vorgeschrieben, 
dass  die  fremden  Kaufleute  ohne  besondere 
königliche  Erlaubnis  den  Gegenwert  für 
ihre  Waren  nicht  in  Gold,  Silber  oder  Mün- 
zen ausführen  dürfen,  es  sei  denn,  dass  sie 
Tücher,  Pferde  oder  Pelzwerk  eingeführt 
hätten;  für  diese  Waren  durften  sie  den 
Preis  in  Goldmünzen  des  Königs,  aber  nicht 
in  anderen  ausführen.  Auch  in  England 
suchte  die  Gesetzgebung  anfangs,  wie  Schanz 
zeigt,  unmittelbar  auf  die  Edelmetallbewegung 
einzuwirken,  um  den  Geldvorrat  des  Landes 
zu  vermehren.  So  wurde  1339  bestimmt, 
dass  für  jeden  ausgeführten  Sack  WoUe 
zwei  Mark  Silber  zurückgebracht  weiden 
müssten,  für  die  das  Wechselamt  geprägtes 
Geld  gab,  und  diese  Einrichtung  wurde  in 
der  Folgezeit  mehrfach  erweitert  und  durch 
das  Verbot  der  Geldausfuhr  ergänzt.  Solche 
Verbote  bestanden  überhaupt  in  fast  allen 
Staaten  bis  in  das  gegenwärtige  Jahrhundert 
hinein,  sogar  in  Spanien  zui*  Zeit  des  stärk- 


sten Zuflusses  des  amerikanischen  Goldes 
und  Silbers.  In  Deutschland  verbot  die 
Münzordnung  von  1524  die  Ausfuhr  vou 
ungemünztem  Gold  und  Silber,  der  Frank- 
furter Reichsabschied  von  1571  die  vou 
rohem  Silber  und  von  goldenen  und  silbernen 
Reichsmünzen.  Friedrich  der  Grosse  verbot 
in  dem  Bankreglement  von  1766  die  Aus- 
fuhr von  guten  Friedrichsdor,  fremden 
Goldmünzen,  von  Silbermünzen,  die  nicht 
nach  dem  Leipziger  oder  Konventionsfuss 
gepi-ägt  seien,  von  Gold  und  Silber  in  Barren, 
alten  Tressen,  Binichgold  und  -silber  etc. 
Kaufleute  und  Reisende  durften  nur  eine 
beschränkte  Summe  in  Friedrichsdor  für 
ihren  Gebrauch  mit  sich  führen,  hinsichtlich 
der  Dukaten  jedoch  bestand  keine  solche 
Beschränkung. 

Seitdem  die  merkantilistische  Handels- 
politik —  deren  wesentliche  Grundsätze  in 
Frankreich  schon  1583  von  der  Notablen- 
versammlung  zu  St.  Germain  aufgestellt 
wurden  —  mehr  und  mehr  zur  Herrschaft 
gelangt  war,  bildeten  indes  die  Verbote  der 
Edelmetallausfuhr  nur  ein  mehr  untergeord- 
netes Glied  in  der  Reihe  der  Massregelo, 
durch  die  man  das  eigentlich  erstrebte  Ziel, 
nämlich  eine  »günstige  Handelsbilanz« 
(s.  den  Art.  Handelsbilanz  oben  S.  980ff,) 
zu  eri-eichen  suchte.  Mehr  als  zw^ei  Jahr- 
hunderte lang  hat  man  in  fast  allen  Kidtm- 
ländern  in  der  günstigen  Handelsbilanz  die 
Quelle  des  Reichtums  zu  erkennen  geglaubt, 
und  es  wäre  jedenfalls  sehr  auffallend,  wenn 
sich  die  Beteiligten  so  lange  in  betreff  ihres 
eigenen  Vorteils  vollständig  geirrt  hätten. 
Es  ist  nun  aber  auch  unzweifelhaft  wirklich 
ein  Gewinn  für  ein  Land,  wenn  es  im  Ver- 
kehr mit  einem  anderen  für  eine  gewisse 
Wertsumme  in  seinen  eigenen  Erzeugnissen 
eine  grössere  Wertsumme  in  anderen  Gütern 
eintauscht.  Und  zwar  kommt  dabei  nicht 
in  Betracht,  dass  diese  eingetauschten  Güter 
im  Auslande  selbst  geringeren  Wert  haben, 
sondern  für  ihre  Schätzung  als  Reichtums- 
elemente des  Inlandes  sind  nur  die  Bedürf- 
nisse und  Marktverhältnisse  des  letzteren 
selbst  massgebend.  Selbst  wenn  der  hohe 
Wert  der  vom  Auslande  bezogenen  Waren 
nur  dimih  einen  ungewöhnlichen  Mangel 
oder  Produktionsausfall  im  Inlande,  z.  B. 
durch  eine  schlechte  Ernte  entstanden  ist 
oder  >venn  die  Preise  der  inländischen 
Waren  durch  ungewöhnliche  Ereignisse,  ^ie 
z.  B.  eine  Krisis,  unter  den  normalen  Stand 
herabgedrückt  sind,  so  bleibt  doch  auch 
unter  solchen  Umständen  eine  günstige 
Handelsbilanz  im  obigen  Sinne  ein  relativer 
Vorteil  für  das  Land.  Es  wird  eben  dabei 
doch  nach  dem  inländischen  Massstabe  ein 
grösserer  Gesamtwert  gegen  einen  kleineren 
eingetauscht.  Der  Aktivsaldo  der  Handels- 
bilanz bildet  also  wirklich  einen  Zuwachs 


Handelspolitik 


1041 


des  Nationalreichtums.  Aber  er  bildet 
erstens  bei  weitem  nicht  die  einzige  Quelle 
desselben,  und  zweitens  braucht  dieser  Wert- 
tXberschuss  keineswegs,  wie  die  merkanti- 
üstische  Theorie  annahm,  in  der  Fonn  von 
Edelmetall  eingeführt  zu  werden,  imi  eine 
wirkliche  Bereicherung  zu  gewähren,  wie 
auch  drittens  eine  Mehrabgabe  von  Edel- 
metall an  das  Ausland  keineswegs  notwendig 
mit  einem  Veriust  verbunden  ist,  sondern 
in  dem  Oesamtresultat  des  Verkehrs  noch 
einen  Gewinn  übrig  lassen  kann.  Diese 
Ueberschätzung  der  Bedeutung  der  Edel- 
metalle beruhte  darauf,  dass  man  in  ihnen 
die  dauerhaftesten  und  sichersten  Verkörpe- 
rungen des  wirtschaftlichen  "Wertes  erblickte. 
Eine  Einfuhr  von  Edelmetall  betrachtete 
man  daher  als  eine  Vermehrung  des  ge- 
sicherten Örundstockvermögens  des  Landes. 
Eingeführte  Konsumtionswaren  galten  von 
diesem  Standpunkte  keineswegs  als  volles 
Aequivalent  für  eine  ihrem  Marktwert  ent- 
sprechende bare  Geldsumme.  Sie  waren  ja 
rasch  vergänglich  und  schienen  daher  keinen 
bleibenden  Bestandteil  des  Volksreichtimis 
auszumachen.  Man  erkannte  eben  noch 
nicht,  dass  die  Konsumtionswaren  als  solche 
nur  den  Konsumenten  gegenüber  erscheinen, 
dagegen  in  den  Händen  der  Produzenten 
und  Kaufleute  einen  Teil  des  Kapitals  der- 
selben büden,  der  nicht  nur  seinem  "Werte 
nach,  mit  der  öeldform  abwechselnd,  nor- 
malerweise immer  erhalten  bleibt,  sondern 
auch,  wenn  die  Versorgung  der  Bevölkerung 
sich  nicht  verschlechtern  soll,  in  seinem 
Naturalbestande  immer  erneut  werden  muss. 
Vermehrung  dieser  ständigen  Handelsvor- 
räte bei  entsprechend  fortschreitender  Kon- 
sumtionsföhigkeit  der  Bevölkerung  ist  daher 
unzweifelhaft  eine  Vergrösserung  des  Ge- 
samtkapitals des  Landes,  während  eine  ein- 
geführte Summe  in  Gold  oder  Silber  mög- 
licherweise von  vornherein  in  das  Ein- 
kommen von  Personen  fällt,  die  dieses  Geld 
nicht  als  Kapital,  sondern  zu  konsumtiven 
Zwecken  verwenden.  Dass  überhaupt  die 
Verbrauchs-  und  Gebrauchsgegenstände  ver- 
zehrt oder  abgenutzt  werden,  ist  die  beste 
Sicherung  des  Wertes  der  zu  ihrem  Ersatz 
eingeführten  Waren.  Das  Edelmetallgeld 
dagegen  büsst,  gerade  weil  es  sich  nicht 
merklich  abnutzt  und  immer  mehr  im  Ver- 
kehr ansammelt,  bei  fortgesetzter  grösserer 
Einfuhr  allmählich  mehr  und  mehr  von 
seinem  relativen  "Werte  gegenüber  den 
Waren  ein,  eine  Thatsache,  die  schon  bald 
nach  der  Preisrevolution  des  16.  Jahrhunderts 
von  mehreren  Schriftstellern  erkannt  worden 
ist.  Wenn  die  merkantUistische  Handels- 
IK>litik  jeden  Abfluss  von  EdelmetaD  für 
eine  Schädigung  des  National  wohlstau  des 
lüelt,  so  hing  dies  wieder  mit  der  still- 
schweigenden   Annahme    zusammen,    dass 


diese  Ausfuhr  auf  Kosten  des  nationalen 
Kapitals,  nämlich  des  zu  Produktionszwecken 
verfügbaren  Vermögens  erfolge,  unter  Um- 
ständen kann  dies  ja  in  der  That  der  Fall 
sein;  z.  B.  wenn  die  verschwenderischen 
Grossen  eines  wirtschaftlich  wenig  leistenden 
Volkes  für  grosse  Summen  kostbare  Luxus- 
waren aus  dem  Auslande  beziehen,  deren 
Gegenwert  durch  einheimische  Ausfuhrwaren 
nicht  voll  aufgebracht  werden  kann,  wodurch 
dann  schliesslich  eine  Ausgleichungszahlung 
in  Geld  notwendig  wird.  Ein  solches  Land 
wird  natürlich  in  kurzer  Zeit  der  Ver- 
armung verfallen,  aber  nicht  wegen  der 
Ausfuhr  seines  Edelmetalls,  sondern  wegen 
der  ünwirtschaftlichkeit  und  ünproduktivität 
seiner  Bewohner.  Ein  sparsam  wirtschaf- 
tendes Volk  dagegen  kann  selbst  eine  Geld- 
ausfuhr von  vielen  Millionen  Mark,  die  etwa 
zur  Deckung  eines  Ernteaus&Jls  nötig  ge- 
worden sein  mag,  ertragen,  ohne  dass  das 
Nationalkapital  angegriffen  wird,  indem  die 
Nation  nämlich  diese  Zahlung  aus  ihrem 
Einkommen  bestreitet  und  die  Einbusse 
durch  Beschränkung  ihrer  sonstigen  Kon- 
sumtion ausgleicht.  Vor  allem  aber  ist  das 
bare  Geld  ein  bequemes  Mittel,  um  die 
Kapitalmacht  eines  Landes  nach  aussen  zu 
übertragen  und  dort  an  den  vorteilhaftesten 
Stellen  auszunutzen,  so  dass  die  Ausfuhr 
von  Edelmetall  geradezu  zur  Quelle  eines 
besondere  reichen  Gewinnes  werden  kann, 
gleichviel  in  welcher  Wertform  dieser  dem 
Inlande  schliesslich  zufüesst.  Diese  Bedeu- 
tung der  Geldausfuhr  haben  geschäftskundige 
englische  Merkantilisten  wie  Thoraas  Mun 
und  Josias  Child  mit  Bezug  auf  den  in- 
dischen Handel  schon  klai'  erkannt.  Auch 
hat  England  mehr  als  irgend  ein  anderes 
Land  nach  dieser  Erkenntnis  gehandelt  imd 
es  durch  seine  kolossalen  Kapitalanlagen  in 
allen  Weltteüen  dahin  gebracht,  dass  seine 
Handelsbilanz  im  merkantilistischen  Sinne 
immer  ungünstig,  im  volkswirtschaftlichen 
Sinne  aber  immer  günstig  ist,  nämlich,  ab- 
gesehen von  den  sonstigen  Elementen  der 
Zahlungsbilanz,  einen  bedeutenden  üeber- 
schuss  des  eingeführten  Warenwertes  (der 
zum  grossen  Teil  zur  Deckung  von  Zins- 
imd  Gewinnzahlungen  dient)  über  den  aus- 
geführten enthält.  Dabei  wird  der  Vorrat 
des  Landes  an  Edelmetall  dureh  die  höchste 
Ausbildung  des  auf  Kredit  beruhenden  üm- 
laufsmechanismus  absichtiich  so  niedrig  wie 
irgend  möglich  geliälten. 

Die  merkantilistischen  Ansichten  über 
die  Bedeutung  der  günstigen  Handelsbilanz 
und  des  bai'en  Geldes  können  also  zur  Recht- 
fertigimg des  Schutzsystems  nicht  geltend 
gemacht  werden.  Nach  ihrer  thatsächlichen 
Tendenz  konnten  aber  diese  Schutzraass- 
regeln  auch  von  einem  anderen  Gesichts- 
punkte aufgefasst  wei-den,  nämhch  als  Hilfs- 


Handwörterbnch  der  Staatswisseiucbaften.     Zweite  Auflage.    lY. 


66 


1042 


Handelspolitik 


mittel  zur  industriellen  Erziehung 
eines  Volkes.  Diese  Anschauung  war  auch 
den  älteren  Merkantilisten  nicht  fremd,  aber 
eret  List  machte  sie  zum  Hauptargument 
für  das  Industriesehutzsystem,  indem  er  die 
Rücksicht  auf  die  Handeisbilanz  ganz  zu- 
rücktreten liess,  während  Carey,  der  im 
übrigen  Last  nahesteht,  auf  die  Vermehrung 
des  Edelmetallvorrats  des  Landes  wieder 
mehr  Gewicht  legt.  Nach  der  Erziehungs- 
theorie sollen  ebenso  wie  nach  der  mer- 
kantilistischen  Lehre  die  staatlichen  Schutz- 
massregeln, namentlich  aber  die  Schutzzölle, 
unmittelbar  nur  zur  Hebung  der  Industrie 
dienen  (deren  Blüte  alsbald  auch  der  Land- 
wirtschaft zu  gute  kommen  würde),  aber 
nicht  deshalb,  weil  die  Ausfuhr  von  In- 
dustrieerzeugnissen das  meiste  Geld  ins 
Land  bringe  und  die  Einfuhr  von  solchen 
die  Geldausfuhr  besonders  vergrössere,  son- 
dern weil  die  Produktivkräfte  eines  Landes, 
namentlich  auch  die  Arbeitskraft  einer  zu- 
nehmenden Bevölkenmg,  nur  durch  Aus- 
bildung einer  ausgedehnten  Industrie  ge- 
nügend verwertet  werden  könnten,  anderen- 
falls aber  zu  einem  ^ssen  Teil  brach 
liegen  würden,  was  hinsichtlich  der  Arbeits- 
kraft einen  unwiederbringlichen  Verlust  für 
die  Volkswirtschaft  bedeute.  Selbst  eine 
zeitweilige  Einbusse  an  Tauschwerten  darf 
nach  dieser  Ansicht  nicht  gescheut  werden, 
um  den  dauernden  Gewinn  der  sonst  ver- 
loren gehenden  Produktivkräfte  zu  sichern. 
Carey  fügt  diesen  Erwägungen  noch  hinzu, 
dass"  ein  Land  nicht  imstande  sei ,  einen 
grossen  Teil  seines  Bedarfs  an  Industrie- 
erzeugnissen dauernd  von  aussen  im  Aus- 
tausch gegen  Bodenprodukte  zu  beziehen, 
weil  in  diesen  wertvolle  Mineralbestandteile 
enthalten  seien,  durch  deren  Verlust  der 
Boden  schliesslich  der  Erschöpfung  verfalle. 
In  erheblichem  Masse  trifft  dies  indes  nur 
bei  der  Getreideausfuhr  zu,  und  auch  in 
diesem  Falle  kann  durch  Einfuhr  von  künst- 
lichen Düngemitteln  —  wie  denn  z.  B.  die 
östlichen  Staaten  Nordamerikas  schon  grosse 
Mengen  Kalisalze  aus  Eiu^pa  beziehen  — 
Ersatz  geschaffen  werden.  —  Eine  gewisse 
gnmdsätzliche  Berechtigung  ist  dieser  Er- 
ziehungsmethode nicht  abzusprechen,  aber 
es  bleibt  einfach  eine  Sache  des  Experiments, 
zu  entscheiden,  ob  sie  bei  einem  gegebenen 
Volke  unter  gegebenen  Umständen  für  be- 
stimmte Industriezweige  mit  Erfolg  an- 
wendbai*  ist.  Es  wäre  thöricht,  in  einem 
Lande  eine  Industrie  künstlich  züchten  zu 
wollen,  deren  naturgemässe  Vorbedingungen 
dort  völlig  fehlen.  In  der  neuesten  Zeit 
macht  Italien,  dessen  Industrie  im  allge- 
meinen durch  den  Mangel  an  Kohlen  und 
verhältnismässig  auch  an  Eisenerzen  benach- 
teiligt wird,  solche  Erziehungsversuche  durch 
Schutzzölle,  die  indes  bisher  wenig  Resultate 


gehabt  haben.  Jedenfalls  aber  sind  Länder 
von  so  bedeutender  Industrieentwickelung 
wie  Deutschland  entschieden  über  diese  Er- 
ziehungsperiode hinaus,  und  daher  sind 
Schutzzölle  zum  Zweck  der  Einbür^rung 
eines  neuen  oder  noch  wenig  vorgeschrittenen 
Industriezweiges,  z.  B.  der  Baumwollfein- 
Spinnerei,  nicht  gerechtfertigt.  Wenn  solche 
einzelnen  Zw^eige  trotz  der  sonstigen  grossen 
Leistungsfähigkeit  der  Industrie  nicht  auf- 
kommen können,  so  ist  dies  ein  Beweis  da- 
filr,  dass  für  sie  der  natürliche  Boden  nicht 
gegeben  ist.  Sie  werden  daher  auch  durch 
den  Schutzzoll  nicht  emporgebracht,  wie 
dies  wieder  die  Erfahrungen  mit  der  Fein- 
spinnerei in  Deutschland  bestätigt  liabeo. 
Dagegen  ist  die  Verteuerung  der  feinen 
Game  durch  den  Schutzzoll  von  der  solche 
Garne  verarbeitenden  Weberei  als  eine  Be- 
lastung empfunden  worden. 

In  der  neueren  Zeit  ist  neben  der  Rück- 
sicht auf  die  wirtschaftliche  Verwertung 
der  nationalen  Produktivkräfte  auch  die 
soziale  Bedeutung  des  Gedeihens  und 
Fortschreitens  der  Industrie  geltend  gemacht 
worden.  Die  erste  Bedingung  einer  Besser 
rung  der  Lage  der  Arbeiter  ist  reichliche 
Nachfrage  nach  Arbeitskräften,  und  diese 
kann,  sobald  die  Bevölkerung  eine  gewisse 
Dichtigkeit  erreicht  hat,  nur  durch  (ße  Aus- 
breitung und  Vermehrung  der  industriellen 
Produktion  gesichert  werden.  Aber  auch 
dieser  Anschauung  gegenüber  bleibt  die  ent- 
scheidende Frage,  ob  und  wie  weit  unter 
den  gegebenen  Umständen  die  künstliche 
Unterstützung  eines  Industriezweiges  mit 
wirklichem  Vorteil  für  die  Gesamtheit  mög- 
lich sei  und  ob  nicht  die  mit  den  Schutz- 
massregeln verbundenen  Nachteile  für  andere 
Produktionszweige  oder  für  die  Konsumenten 
jenen  Vorteil  wieder  aufheben. 

Die  Interessen  der  Landwirtschaft  finden 
bei  den  Erwägungen  der  vorgedachten  Art 
keine  Berücksichtigung,  sie  wurden  unter 
der  Herrschaft  des  Merkantilsystems  sogar 
vielfach  durch  die  Erschwerung  der  Aus- 
fuhr von  Rohstoffen  und  Lebensmitteln  ge- 
radezu geschädigt.  Daher  hat  denn  auch 
die  Landwirtschaft  dem  reinen  Industrie- 
schutzsystem gegenüber  sich  stets  frei- 
händlerisch verhalten.  Es  gelang  ihr  aber 
in  England  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts,  auch  ihrerseits  Teil  an 
dem  Zollschutz  zu  erlangen,  und  in  Frank- 
reich wurden  ihr  in  den  nächsten  Jahren 
nach  der  napoleonischen  Kriegsperiode  ähn- 
liche Zugeständnisse  gemacht.  So  entstand 
ein  allgemeines,  alle  Produktionszweige  um- 
fassendes Schutzsystem,  das  man  im  Ge- 
gensatz zu  dem  industriellen  als  Solidaritäts- 
system bezeichnen  kann,  weil  nach  der  An- 
sicht seiner  Verteidiger  in  ihm  die  Solidari- 
tät   der    gesamten    nationalen    Ai-beit    den 


Handelspolitik 


1043 


leitenden  Gesichtspunkt  bildet.  Dieses 
System  ist  seit  1879  auch  in  Deutschland 
zur  Geltung  gelaugt.  Auch  hat  es  oline 
Zweifel  dem  Industrieschutzsystem  gegen- 
über eine  genügende  theoretische  Berech- 
tigung. Denn  die  Landwirtschaft  macht 
doch  ebenfaUs  nationale  Produktivkräfte 
nutzbar  und  sie  beschäftigt  in  den  meisten 
LÄndem  mehr  Arbeiter  als  die  Industrie. 
Andererseits  aber  wiitl  sie  durch  die  in- 
dustriellen Schutzzölle  in  mancher  Be- 
ziehung geschädigt  und  sie  empfindet  es 
besonders  sehr  imangenehm,  wenn  durch 
die  künstlich  geförderte  Ausdehnung  der 
Industrie  immer  mehi*  Arbeiter  vom  Lande 
in  die  Städte  und  industriellen  Bezirke  ge- 
zogen werden.  Die  Vertreter  der  geschützten 
Industrie  können  daher  ihrerseits  nichts 
Stichhaltiges  einwenden,  wenn  die  landNvii-t- 
schaftlichen  Pi-oduzenten  ebenfalls  Zollschutz 
verlangen.  Diese  beiden  Interessentenkreise 
haben  sich  denn  auch  auf  dem  europäischen 
Kontinent  in  der  neueren  Zeit  ohne  grosse 
Schwierigkeit  über  ein  allgemeines  Schutz- 
system verständigt.  Allerdings  musste  jeder 
Beteiligte  erwarten,  dass  er  als  Konsument 
wieder  einen  Teil  des  Nutzens  einbüsse, 
den  er  als  Produzent  durch  den  Schutz  ge- 
wonnen hatte.  Jedoch  könnte  er  möglicher- 
weise einen  üeberschuss  an  Gewinn  da- 
durch behalten,  dass  der  aus  Arbeitern  und 
Dienstleistenden  bestehende  Hauptteil  der 
Konsumenten  sich  nicht  in  gleicher  Weise 
für  die  Verteuerung  der  geschützten  Er- 
zeugnisse schadlos  zu  halten  imstande  wäre. 
Die  Verteidiger  des  Schutzsystems  stellen 
dies  aber  in  Abrede  imd  versichern,  dass 
die  Löhne  und  Gehälter  bei  der  allgemeinen, 
durch  das  Schutzsystem  erzeugten  Blüte 
der  Volkswirtschaft  ebenfalls  entsprechend 
in  die  Höhe  gehen  würden,  eine  Behaup- 
tung, die  jedenfalls  für  die  Perioden  des 
Niedergangs  und  der  Stagnation  nicht  zu- 
trifft, die  nachweislich  bei  protektionistischer 
Handelspolitik  ebenso  oft  vorgekommen  sind 
wie  bei  freihändlerischer.  Auch  wird  be- 
hauptet, dass  die  Schutzzölle  überhaupt 
keine  oder  nur  eine  geringe  Verteuerung 
der  betreffenden  Waren  nach  sich  ziehen, 
weil  sie  ganz  oder  teilweise  vom  Auslande 
getragen  würden.  Richtig  ist  in  diesem 
Satze  nur,  dass  die  Verteuerung  nicht 
immer  die  volle  Höhe  des  ZoUes  erreicht; 
Näheres  über  diesen  Punkt  findet  man  in  dem 
Art.  Einfuhrzölle  (oben  Bd.  HI  S.  334). 
5.  Kritik  des  Schutzsystems  und  der 
Freihandelstheorie.  Die  Vertreter  des 
allgemeinen  Schutzsystems  sehen  die  wich- 
tigst« Wirkung  desselben  darin,  dass  es  die 
Intensität  des  inneren  würtschaflüchen 
Lebens,  gleichsam  die  molekulare  Bewegung 
im  Gesellschaftskörper  steigere,  dass  die 
unnötigen  Ti-ansporte  in  die  Ferne  und  die 


dadurch  bedingten  Abgaben  an  die  nicht 
selbst  pi-oduzierende  Klasse  der  Händler 
wegfellen,  dass  soweit  wie  möglich  die 
ganze  Güterproduktion  der  nationalen  Arbeit 
übertragen  werde,  wobei  der  Pi-oduzent  den 
Konsumenten  stets  unmittelbar  an  seiner 
Seite  finde.  Bei  dieser  Argumentation  wird 
übersehen,  dass  die  ausländischen  Produkte, 
wie  schon  oben  bemerkt,  keineswegs  auf 
Kosten  dos  Kapitals  oder  des  Grundstock- 
vemiögens  des  Landes  bezogen,  sondern  im 
gi*ossen  und  ganzen  gegen  inländische  Pro- 
dukte ausgetauscht  werden.  Selbst  wenn 
das  Inland  die  Transport-  und  Handelskosten 
tragen  muss,  wird  es  sich  jene  Waren  durch 
solchen  Austausch  in  der  Regel  mit  einem 
geringeren  Aufwand  an  Arbeit  und  Kapital 
verschaffen  können,  als  wenn  es  sie  selbst 
herstellen  wollte.  Die  Gefalir,  dass  das  In- 
land seine  Ausfuhrwaren  bei  diesem  Ver- 
kelu'  nicht  ausreichend  verwerten  könne, 
sie  also  mehr  oder  woniger  verschleudern 
müsse,  ist  jedenfalls  bei  freiem  Handel  in 
geringerem  Masse  vorhanden  als  unter  dem 
Schutzsystem;  denn  es  ist  eine  notorische 
Thatsache,  dass  viele  geschützte  Produzenten 
unter  Umständen  es  vorteilhaft  finden,  um 
den  ihnen  gesicherten  inneren  Markt  zu 
entlasten,  einen  Teil  ihrer  Erzeugnisse  zu 
herabgesetzten  Preisen,  ja  sogar  unter  den 
Selbstkosten  an  das  Ausland  abzugeben. 
In  einigen  Fällen  findet  diese  Besehen kung 
des  Auslandes  nicht  auf  Kosten  der  Produ- 
zenten selbst  statt,  sondern  mittelst  Ausfuhr- 
prämien von  Seiten  des  Staates. 

Die  Gesamtwirkimg  des  Schutzsystems 
besteht  nun  in  der  That  darin,  dass  es 
unter  gewissen  Umständen  in  dem  geschütz- 
ten Lande  eine  verhältnismässig  grössere 
Summe  von  Arbeitskräften  und  Kapital  kon- 
centriert,  als  sich  ohne  künstliche  Hilfsmittel 
dort  vereinigt  haben  würde.  Aber  die  Aus- 
nutzung der  künstlich  in  Thätigkeit  gesetzten 
Kapital-  und  Arbeitskräfte  findet  unter 
ungünstigen  Bedingungen  statt,  gewährt  also, 
wenn  auch  vielleicht  privatwirtschaftüch 
den  Kapitalisten,  so  doch  nicht  volkswirt- 
schaftlich den  normalen  Nutzeffekt.  Denn 
diejenigen  Produktionszweige,  die  sich' 
günstiger  natürlicher  Bedingungen  erfreuen, 
bedürfen  des  künstlichen  Schutzes  nicht, 
sie  können  häufig  überhaupt  nicht  geschützt 
werden,  weil  sie  von  vornherein  allen  Mit- 
bewerbern überlegen  sind,  ja  sie  werden 
vielfach  durch  das  Schutzsystem  geradezu 
geschädigt,  weil  ihnen  zu  Gunsten  der 
schutzbedürftigen  Produktion  Kapital  und 
Arbeitskräfte  entzogen  und  Maschinen,  Halb- 
fabrikate und  andere  Bedarfsgegenstände 
verteuert  werden.  Immerhin  aber  kann  es 
vom  nationalwirtschaftlichen  Gesichtspunkte 
wünschenswert  erscheinen,  dass  die  Zahl 
der  beschäftigten   Arbeiter   sich   vermehre, 

66* 


1044 


Haadelspolitik 


wenn  auch  die  Produktionsleistung  auf  den 
Kopf  dadurch  geringer  wird,  als  wenn  eine 
kleinere  Arbeiterbevölkerung  ausschliesslich 
in  denjenigen  Zweigen  thätig  wäre,  für 
welche  die  w^u^tschaftlichen  Bedingungen 
besonders  günstig  sind.  Wenn  freilich  auf 
diesem  letzteren,  gewissermassen  von  der 
Natur  angewiesenen  Gebiete  auch  die  ver- 
mehrte Zahl  der  Arbeitskräfte  Yen^^endung 
finden  könnte,  so  w^äre  es  natürlich  thöricht, 
eine  künstliche  Ablenkung  derselben  auf 
weniger  naturgemässe  Produktionszweige  zu 
unternehmen.  Aber  thatsächlich  sind  viele 
Länder  so  massig  oder  so  knapp  ausge- 
stattet, dass  sie  nach  ihren  besonderen  na- 
türlichen Produktionsbedingungen  im  Mitbe- 
werb  mit  anderen  nur  eine  schwache  Be- 
völkerung imterhalten  können.  Durch  das 
Schutzsystem  kann  dann  möglicherweise 
auch  die  Produktion  unter  ungünstigen  Be- 
dingungen ausgedelmt  und  dadurch  zugleich 
die  Vottszahl  vergrössert  werden;  aber  die 
Hauptsache  bleibt  doch,  dass  die  Bevölkerung 
unter  solchen  Umständen  diutjh  ihre  eigene 
Tüchtigkeit,  durch  Fleiss,  Geschicklichkeit 
und  Sparsamkeit  die  Ungiuist  der  Natiu-be- 
dingungen  soweit  wie  möglich  ausgleicht. 
Wenn  eine  Nation  diese  Eigenschaften  nicht 
besitzt,  so  wird  ilir  auch  das  Schutzsystem 
nicht  helfen  können. 

Nehmen  wir  aber  an,  dass  die  Bedingun- 
gen, unter  denen  das  Schutzsystem  die  na- 
tionale Produktionsthätigkeit  steigern  kann, 
in  einem  Lande  gegeben  seien,  so  bleibt  die 
Möglichkeit  zu  bedenken,  dass  alle  oder 
wenigstens  viele  Staaten  dasselbe  System 
annehmen  und  den  gegenseitigen  Austausch 
derjenigen  Waren,  die  jeder  nach  seiner 
natürlichen  Ausstattimg  besonders  leicht 
herstellen  kann,  erschweren  oder  verhindern, 
um  möglichst  viele  Güterarten,  wenn  auch 
mit  grösserem  wirtscliaftlichen  Aufwände, 
selbst  zu  produzieren.  Es  ist  klar,  dass 
dann  in  dem  ganzen  StaatenJcomplexe  die 
Gesamtheit  der  Produktivkräfte  mit  ge- 
ringerem Effekt  ausgenutzt  würde,  als  es 
bei  freiem  Güteraustausch  möglich  wäre. 
Gleichwohl  könnte  dieser  Zustand  den  von 
der  Natur  weniger  freigebig  ausgestatteten 
Staaten  von  ihrem  nationalen  Standpunkte 
erwünschter  scheinen,  weil  sie  in  demselben 
eine  grössere  Bevölkenmg  festzuhalten  im- 
stande wären  als  bei  dem  Freihandels- 
systeme. Aber  andererseits  ist  es  auch 
leicht  möglich,  dass  der  Schaden,  den  die 
Schutzsysteme  des  Auslandes  der  inlän- 
dischen Volkswirtschaft  zufügen,  den  Ge- 
winn aus  den  eigenen  Schutzzöllen  wieder 
völlig  ausgleicht.  Gerade  wenn  das  Schutz- 
system wirklich  etwa  auf  die  Industrie  einen 
anspornenden  und  fördernden  Einfluss  aus- 
geübt hat,  wird  sich  bald  die  Notwendigkeit 
ergeben,  für  einen  Teil  der  Mehrpi-oduktion 


Absatz  im  Auslande  zu  suchen,  und  wenn 
diese  Bestrebungen  an  den  fremden  Zoll- 
schranken scheitern,  so  droht  dem  Inlande 
Ceberproduktion  mit  deren  schlimmen  Folgen, 
gegen  die  das  Schutzsystem  machtlos  ist. 
Im  ganzen  ergiebt  sich  aus  den  vor- 
stehenden Erwägungen,  dass  die  für  das 
Schutzsystem  geltend  gemachten  Gründe 
keineswegs  genügen,  um  ihm  einen  prin- 
cipiellen  Vorzug  vor  dem  Freihandelssysteme 
zu  verschaffen  oder  um  die  Einführung 
desselben  in  einem  Lande,  wo  es  noch  nicht 
besteht,  grundsätzlich  empfehlenswert  er- 
scheinen zu  lassen.  Allerdings  reichen  auch 
die  abstrakten  Argumente  zu  Gunsten  der 
Freihandelstiieorie  nicht  aus,  um  die  aus- 
schliessliche Berechtigung  derselben  als 
Norm  für  die  Handelspohtik  zu  beweisen. 
Jene  Theorie  ist  am  schärfsten  von  Ricardo 
formuliert  worden.  Sie  läuft  auf  den  Nach- 
weis hinaus,  dass  ein  Land  A,  das  einem 
anderen  B  gegenüber  in  allen  Produktions- 
zweigen ungünstiger  gestellt  wäre,  dennoch 
bei  freiem  Verkehre  mit  diesem  volkswirt- 
schaftlich besser  stehe  als  bei  der  Anwen- 
dung des  Schutzsystems.  Denn  das  Land 
A  würde  im  ersteren  Falle  sich  auf  die  Er- 
zeugung derjenigen  Waren  beschränken,  die 
es  nach  seinen  eigenen  Produktionsbe- 
dingungen verhältnismässig  am  besten 
und  billigsten  liefern  könnte,  während  die- 
jenigen Waren,  die  es  selbst  nur  mit  ver- 
hältnismässig grossen  Schwierigkeiten  und 
Kosten  herstellen  könnte,  mit  geringerem 
Arbeitsaufwande  im  Austausche  gegen  Er- 
zeugnisse der  ersteren  Art  vom  Auslande 
beziehen  würde.  Ein  solcher  Austausch  ist 
allerdings  nur  möglich,  wenn  der  Wert 
des  Geldes  in  den  beiden  Ländern  ge- 
nügend verschieden  ist,  insbesondere  die 
Arbeitseinheit  in  A  auf  einem  niedrigeren 
Preise  in  Edelmetall  steht  als  in  B.  Nach 
Ricai^do  kommt  eine  solche  Versehiebimg 
des  Geldwertes  automatisch  zustande,  indem 
beim  Anfange  des  Verkehres  das  Land  A 
die  aus  B  bezogenen  Waren  nur  mit  barem 
Gelde  bezahlen  kann;  dadurch  erhält  dann 
aber  bald  das  Geld  in  A  einen  so  hohen 
Wert,  dass  die  Waren,  die  es  unter  den 
relativ  günstigsten  Bedingungen  herstellen 
kann,  bei  den  nunmehr  bestehenden  Frei- 
handelspreisen ausfuhrfähi^  werden.  Aber 
bei  dieser  Betrachtung  wird  keine  Rück- 
sicht genommen  auf  die  schwere  Erschütte- 
rung, welche  die  ganze  Volkswirtschaft  und 
die  ganze  Vermögensverteilung  des  Landes 
A  dmxjh  die  vorausgesetzte  Erhöhung  des 
Geldwertes,  d.  h.  die  Herabdrückimg  aller 
Warenpreise  und  die  Erschwerung  aller 
Schuldenlasten,  erleiden  muss.  Für  ein 
neues,  erst  in  der  Besiedelung  befindliches 
Land  mag  jene  Anpassung  an  den  Verkehr 
mit  wirtschaftlich  überlegenen  Nationen  sich 


Handelspolitik 


1045 


leicht  vollziehen,  in  den  alten  Kulturländern 
aber  ist  ein  gewisses  Preisniveau  historisch 
gegeben  und  es  handelt  sich  praktisch  in 
der  Regel  um  die  Frage,  ob  vorhandene 
iSchutzzöUe  aufzuheben  seien  oder  auch  ob 
neue  einzuführen  seien,  wenn  ein  anderes 
Land  eine  grosse  üeberlegenheit  in  der  Pro- 
duktionsfähigkeit durch  besondere  Umstände 
neu  erworben  hat,  wie  dies  z.  B.  der 
Fall  war  bei  England  in  der  Periode  der 
Einfühi-ung  der  Maschinenindustrie  und  in 
der  neuesten  Zeit  für  die  nordamerikanische 
Getreideproduktion  infolge  des  Ausbaues  des 
westlichen  Eisenbahnnetzes. 

Der  praktische  Politiker  wird  unter  sol- 
chen Umständen  die  Frage,  ob  Freihandel 
oder  Schutzzoll,  sicherlich  nicht  nach  dem 
obigen  doktrinären  Schema  ohne  Rücksicht 
auf  die  schweren  Uebel  des  Ueberganges 
entscheiden.  Ueberhaupt  wird  er  genötigt 
sein,  auch  auf  ausserwirtscliaftliche,  insbe- 
sondere nationalpolitische  Rücksichten  mehr 
Wert  zu  legen,  als  es  von  seiten  der  ab- 
strakten Freihandel&theorie  geschieht.  Die 
natüi'liche  Konsequenz  des  vollen  Freihandels 
ist  eine  von  allen  nationalen  Unterscheidungen 
unabhängige  Verteilung  der  Bevölkerung 
innerhalb  des  gesamten  Kulturgebietes  nach 
Massgabe  der  durch  Bodenbeschaffenheit, 
Klima,  Mineralreichtum,  Yerkehrslage  etc. 
bestimmten    natürlichen    Pi-oduktionsbedin- 

giingen.  Wie  sich  innerhalb  des  Deutschen 
eiches  infolge  der  freien  Verkehrsbewegung 
die  Bevölkerung  —  und  zugleich  auch  das 
Kapital  —  immer  mehr  in  den  Provinzen 
mit  den  besten  Wirtschaftsgrundlagen  zu- 
sammendrängt, während  sie  in  anderen 
Landesteilen  relativ  oder  sogar  absolut  ab- 
nimmt, so  würde  in  einem  ganz  Europa 
umfassenden  Freihandelsgebiete  die  Tendenz 
zu  einer  ähnlichen  Verschiebung  der  Arbeits- 
kräfte hei-vortreten.  Allerdings  würde  die 
Vaterlandsliebe,  der  lleimatsinn,  auch  die 
natürliche  Trägheit  der  Menschen,  sowie  die 
aus  der  Verschiedenheit  der  Sprachen  ent- 
stehenden Schwierigkeiten  jener  Tendenz 
entgegenwirken,  aber  gerade  dadurch  würde 
in  den  weniger  begünstigten  Gebieten,  die 
also  eigentlich  einen  Teil  ihrer  Arbeitskräfte 
abgeben  müssten,  der  schwere  Druck  der 
freihändlerischen  Konkurrenz  und  das  Uebel 
der  relativen  Ueben-ölkenuig  fühlbar  werden. 
Um  so  eher  könnte  es  daher  berechtigt 
erscheinen,  wenn  ein  Staat  zur  Wahrung 
seiner  nationalen  Interessen,  falls  diese  bei 
der  dem  Freihandelssysteme  entsprechenden 
Neuverteilung  der  Bevölkerung  bedroht 
würden,  die  natt\rliche  Reaktion  gegen  die 
letztere  durch  protektionistische  Massregeln 
unterstützte.  Die  Fi'age  würde  wieder  nur 
die  sein,  wie  weit  der  erstrebte  Zweck  auf 
diesem  Wege  wirklich  und  nachhaltig  er- 
reicht Avenlen  könnte. 


So  zeigt  sich  immer  wieder,  dass  die 
Entscheidung  über  Freihandel  oder  Schutz- 
system nicht  nach  abstrakten  Theorieen,  son- 
dern nur  nach  den  besonderen,  für  jedes 
Land  vorliegenden  Bedingungen  gefällt 
werden  kann.  Der  Freihandel  erscheint 
allerdings  immer  als  das  naturgemässe 
System,  und  die  gewaltige  Macht  der  mo- 
dernen Verkehrsmittel  wirkt  offenbar  in  sei- 
nem Sinne  und  wird  ihm  bei  ungestörter 
Entwickelung  der  menschlichen  Kultur 
schliesslich  den  Sieg  verschaffen.  Die  Frei- 
handelspolitik gestattet  dem  Staate,  sich 
gegen  die  wirtschaftlichen  Interessengruppen 
neutral  zu  verhalten,  während  eine  der  miss- 
lichsten Seiten  der  Schutzpolitik  darin  be- 
steht, dass  die  materiellen  Interessen  im 
Staatsleben  und  Parteiwesen  eine  über- 
mächtige Rolle  spielen,  wobei  dann  immer 
die  einen  auf  Kosten  der  anderen  Vorteile 
en'ingen,  da  eine  gleichmässige  Befriedigung 
aller  nicht  möglich  ist.  Praktisch  dürfte  ftlr 
noch  im  jugendlichen  Wachstum  befindliche 
Länder,  die  noch  freie  Walil  haben,  der  Frei- 
handel die  empfehlenswerteste  Politik  sein, 
ti*otz  des  von  den  Vereinigten  Staaten  ge- 
gebenen Beispiels  des  Gegenteils.  Sie  ver- 
zichten damit  allerdings  auf  die  vorzeitige 
Züchtung  einer  grossen  Industrie,  vermeiden 
aber  auch  die  Enstehuug  eines  Fabrikprole- 
tariats und  können  ihre  ganze  wirtschaft- 
liche Kraft  auf  die  volle  Ausnutzung  des 
Bodens  und  der  Natiu^cliätze  verwenden, 
indem  sie  die  Maschinen  und  sonstigen  Hilfs- 
mittel dazu  unter  den  günstigsten  Bedin- 
gimgen  aus  den  weiter  fortgeschrittenen  In- 
dustrieländern beziehen.  —  Wo  aber  von 
alters  her  Schutzzölle  bestehen,  haben  sich 
alle  Verhältnisse  ihnen  angepasst  und  ihre 
Aufliebung  darf  jedenfalls  nur  mit  Vorsicht 
erfolgen,  auch  nicht  aus  bloss  doktrinären 
Gründen,  sondern  nur  wegen  bestimmt  nach- 
gewiesener, überwiegend  schädlicher  Wir- 
kungen einzelner  Zölle  oder  als  Gegen- 
leistung für  handelspolitische  Zugeständ- 
nisse anderer  Staaten.  Die  Einfühi'ung 
neuer  Schutzzölle  dagegen  lässt  sich  nur 
unter  besonderen  Umständen  rechtfertigen, 
nämlich  einesteils  als  Notstandsmass- 
regel, wenn  ein  wichtiger  Produktions- 
zweig durch  eine  neu  auftretende  über- 
mächtige Konkurrenz  in  dem  Masse  bedroht 
würde,  dass  eine  grosse  Anzahl  der  im 
Lande  bestehenden  Unternehmungen  der  be- 
treffenden Art  sich  ohne  Schutz  voraussicht- 
lich nicht  mehr  würde  halten  können  und 
daher  eine  Vermögen  szemittung  weiter 
Kreise  in  Aussicht  stände.  Anderenteils  er- 
scheint ein  Schutzzoll  auch  als  Ausgleichung 
für  eine  sozialpolitische  Belastung  zu- 
lässig, die  den  einheimischen  Produzenten 
auferlegt  ist,  für  die  ausländischen  Kon- 
kurrenten aber  nicht   besteht.     In   diesem 


1046 


Handelspolitik 


Falle  entspricht  der  Zoll  durchaus  dem 
Finanzzoll,  der  als  Aequivalent  für  eine 
ein  inländisches  Erzeugnis  belastende  Ver- 
brauchssteuer von  den  gleichartigen  aus- 
ländischen Waren  erhoben  wii'd,  vorausge- 
setzt, dass  dieser  sozialpolitische  Zoll  über 
die  wirkliche  Belastung  der  inländischen 
Produktion  nicht  hinausgeht  Als  vorüber- 
gehende Massregeln  können  endlich  auch 
Kampf  Zölle  zweckmässig  sein,  wenn  es 
nämlich  mit  deren  Hilfe  wirklich  gelingt, 
andere  Staaten  zur  Aufhebung  von  Ver- 
kehrserschwerungen zu  bestimmen. 

Im  allgemeinen  darf  man  übrigens  die 
Wirkung  der  Schutzzölle  auf  die  Gesamt- 
lage der  Volks\\'irtschaft  weder  in  dem 
einen  noch  in  dem  anderen  Sinne  über- 
schätzen. Sie  können  einzelnen  Klassen 
von  Produzenten  einen  ungewöhnlich  hohen 
Gewinn  verschaffen,  der  schliesslich  aber  in- 
folge der  zunehmenden  inneren  Konkurrenz 
wieder  herabgedrückt  wird.  Manche  können 
sich  zeitweise  der  Masse  der  Konsumenten 
empfindlich  fühlbar  machen,  wie  namentlich 
die  GetreidezöUe  bei  schlechter  Ernte  im 
Inlande.  Im  ganzen  aber  findet  auf  die 
Dauer  eine  gewisse  Ausgleichung  der  In- 
teressen (und  auch  der  Löhne)  statt,  wobei 
sich  für  die  geschützten  Waren  eine  be- 
sondere, dem  Lande  eigentiimliche  Preis- 
stellung ergiebt.  Dann  aber  zeigt  sich,  dass 
das  allgemeine  Preisniveau  des  geschützten 
Landes  sich  im  wesentlichen  stets  parallel 
mit  dem  der  freihändlerischen  Länder 
auf  und  nieder  bewegt,  also  durchaus 
in  Abhängigkeit  von  den  allgemeinen  welt- 
wirtschaftlichen Konjunkturen  bleibt.  So 
trat  der  wirtschaftliche  Niedergang  in  den 
Jahren  1873  bis  1879  unabhängig  von  Schutz- 
zoll und  Freihandel  in  allen  Ländern  hervor. 
Die  Besserung  in  der  Lage  der  deutschen 
Industrie,  die  1879  bemerkbai'  wurde,  ist 
nicht  durch  den  Wechsel  der  Handelspolitik 
zu  erklären,  da  in  dem  freihändlerischen 
England  wie  auch  in  dem  schutzzöllnerischen 
Amerika  eine  ähnliche  günstige  Wendung 
schon  vor  dem  Erlass  des  deutschen  Tarifg. 
V.  15.  Juli  1879  eingetreten  war.  In  den 
achtziger  Jahren  finden  wir  wiederum  in 
allen  Ländern,  welches  auch  die  Richtrmg 
ihrer  Haudelspohtik  sein  mochte,  eine  riick- 
gängige  Bewegung  der  Volkswirtschaft,  auf 
die  in  den  Jaliren  1888  und  1889  ein  ebenso 
allgemein  verbreiteter  Aufschwung  und  dann 
wieder  ein  allgemeiner  Rückschlag  folgte. 
Eine  neue  Besserung  trat  1896  ein,  die  am 
Ausgange  des  Jahrhunderts  die  Industrie, 
namentbch  auch  die  deutsche,  in  eine  imge- 
wöhnlich  glänzende  Lage  versetzte.  Es  ist 
einleuchtend,  dass  die  Solidarität  des  Wirt- 
schaftslebens der  Kulturwolt  eine  notwendige 
Folge  der  moderaen  Ent  Wickelung  des  Ver- 
kehrswesens bildet   und    mit  den  weiteren 


Fortschritten  des  letzteren  einen  noch  höheren 
Grad  erreichen  wird.  Theoretisch  ist  ohne 
Zweifel  diejenige .  Handelspolitik  am  em- 
pfehlenswertesten, die  auf  vertragsraässigem 
Wege  allmählich  zwischen  den  im  ganzen 
auf  einer  gleichen  wirtschaftlichen  Stufe 
stehenden  Völkern  die  Zollschranken  er- 
niedrigt und  sie  schliesslich  vielleicht  ganz 
beseitigen  kann.  Ob  freilich  eine  die  mittel- 
europäischen Staaten  oder  sogar  ein  noch 
grösseres  Gebiet  umfassende  Zolleinigung, 
wie  sie  melirfach  vorgeschlagen  worden  ist 
(s.  d.  Art.  Zollverein)  schon  in  absehbarer 
Zeit  der  Verwirklichung  fähig  wäre,  ist 
höchst  fraglich.  Jedenfalls  aber  werden  sich 
gewisse  Massregeln  als  nötig  erweisen,  die 
es  den  mittelemx)päischen  Staaten  ermög- 
lichen, ihre  weltwirtschaftliche  Stellung 
neben  den  drei  Riesenreichen  zu  behaupten, 
von  den  jedes  ein  sich  fast  selbstgenügendes 
wirtschaftliches  Svstem  bildet  und  von  denen 
zwei  die  ausgepi-ägte  Tendenz  bekunden,  sich 
gegen  die  übrige  Welt  möglichst  abzusperren. 
—  Ceber  die  Beschränkungen  des  auswär- 
tigen Handels  aus  polizeilichen  Gründen  s.  die 
Artt.  Ausfuhrverbote  (oben Bd.nS.39ff.) 
und  Einfuhrverbote  (oben  Bd.III  S.329ff .). 

Littoratnr;  Aiuaser  den  bei  den  Artt,  Einfuhr- 
verböte  vnd  Ei nfu hrzöUe  angeßlhrten  Wer- 
ken vgl.  Lexis  f  Abschn.  Handel  in  Sehönbergs 
Handh.  —  List,  Das  nationale  System  der  politi- 
schen Oekonomie,  I84I;  neueA^isgabe  mit  geschieht' 
licher  und  kritischer  Einleitung  von  Eheberg, 
Stuttgart  188S.  —  If.  Chevalier*,  Examen  du 
Systeme  commerciaJ  connu  sous  le  nom  de  systhne 
protccteur,  2  hL,  Paris  1852,  —  LehVf  Schutz- 
zoll und  Freihandel,  Berlin  1877.  —  Faicceti, 
Freihandel  und  Zollschutz.  Deutseh  von  Passow, 
Berlin  1878.  —  K,  Wal^ker ,  Schutzzölle, 
laisser  faire  und  Freihandel,  Leipzig  1880.  — 
Taussig,  Protection  to  young  Industrie*  as 
applied  in  the  United  States,  Cambridge  Mass, 
1883.  —  Henry  George,  Schutz  oder  Frei- 
Jiandel.  Deutlich  von  Stöpel,  Berlin  1887.  — 
Beer,  Allgemeine  Geschickte  des  Welthandels, 
S.  Abt.  in  4  Bänden,  Wieri  1860—1884.  —  Die 
Handelspolitik  Nordamerikas,  Italiens,  Oester- 
reichs  etc.  Berichte  und  Gutachten  (von  Mayo- 
Smith,  Seligmann,  Sombart,  Peez,  Makaim,  de 
RSus,  Erdt,  Scharling,  Fahlbeck,  WiUsekewsky, 
Frey,  von  Scheel)  veröffentlicht  vom  V.  f.  Sozialp. 
(Schriften,  XLIX),  Leipzig  189g.  Dazu  Bd.  i: 
LtOtZf  Die  Ideen  der  deutschen  Handelspolitik 
von  1860—1891;  Bd.  3:  Die  H.  der  Balkan- 
staaten, Spaniens  und  Frankreichs  (von  Stroll, 
(hrinner,  Devers).  —  Grunzet ,  Der  inter- 
nationale Wirtschaftsverkehr  und  seine  Bilanz, 
Leipzig  1895.  —  Derselbe ,  Handbuch  der 
internationalen  Handelspolitik,  Wien  1898.  — 
Wemichef  System  der  nationalen  Scltulz- 
politik  nach  aussen ,  Jena  1896.  —  Colin, 
System,  Bd.  III  yationalökonomie  de*  Han- 
dels- und  Verkehrswesens,  Stuttgart  1898.  — 
Röscher,  System,  Bd.  III  Xationalokonomik 
des  Handels-  U7id  Geirerbeßeisscs,  7.  Aufi.,  be- 
arbeitet von  Stieda,  Stuttgart  1899.  —  Schrißen 
drr  Centralstelle  für  Vorbereitung  von  Handels' 


Handelspolitik  —  Handelsrecht 


1047 


vertrügen,  Heft  1^7,  Berlin  1898199.  —  Ä 
Ehvefiberg,  Handelspolitik,  5  Vorträge,  Jewi 
1900.  —  Handels-  und  Machtpolitik,  Reden  und 
Au/itatze  im  Auftrage  der  n Freien  Vereinigung 
ßlr  Flottenvorträge  u,  herausgeg.  von  Schmoll  er , 
JSeri n g ,  Wa gner,  Bd.  1  u. II,  Stuttgart  1900.  — 
SchmolleVf  Die  Wandlungen  der  europäi^schen 
Handelspolitik  im  19.  Jahrhundert,  Jahrb.  für 
Oesrtzg.  u.  Vene.,  XXIV.  Jahrg.,  1900,  S.  873 ff. 

Lejcls, 


Handelsreclit. 


(Geschichtliche  Ent Wickelung.) 

I.  *)  1.  Einleitung.  2.  Das  H.  der  alten 
Welt.  B.  Das  H.  im  Mittelalter.  4.  Das  H. 
der  neueren  Zeit.  II.  Geschichtliche  Entwicke- 
Inng  der  neuesten  Zeit. 

I.  1.  Einleitung.  Versteht  man  unter 
»Handel <'  den  Güterumsatz  schlechthin,  so 
fällt  die  Geschichte  des  »Handelsrechts^^  mit 
der  Geschichte  des  Yerkehrsrechts  zusam- 
men, umschliesst  somit  auch  den  grössten 
Teil  des  gemeinen  Obligationenrechts  und 
einen  grossen  Teil  des  Sachenrechts.  Nimmt 
man  dagegen  den  Begriff  »Handel«  in  dem 
engeren,  allein  technischen  Sinne  einer  den 
Gütenimsatz  vermittelnden  Erwerbsthäti^- 
keit,  so  umfasst  das  »Handelsrecht«  nur  die 
diesem  besonderen  Zweige  wirtschaftlicher 
Thätigkeit  eigentümlichen  Kechtsnomien  und 
hat  die  Geschichte  des  Handelsrechts  nur 
die  Entwickelung  dieses  besonderen  Rechts- 
zweiges darzulegen. 

Ein  derartiges  Sonderrecht  hat  sich  seit 
alter  Zeit  aus  iimeren  wie  aus  geschicht- 
lichen Ursachen  gebildet.  Seine  charakte- 
ristischen Eigenschaften  sind  im  Gegensatz 
zum  gemeinen  bürgerlichen  Recht  die  grös- 
sere Freiheit,  Beweglichkeit,  endlich  das 
höhere  Mass  universaler  (kosmopolitischer) 
Geltung.  Es  ist  um  so  dürftiger,  je  weni- 
ger entwickelt  einerseits  die  besondere 
Thätigkeit  des  Handels  ist,  je  mehr  anderer- 
seits das  gemeine  bürgerliche  Recht  den 
besonderen  Bedürfnissen  des  Handels  ent- 
spricht: letzteres  ist  auch  bei  reicher  Ent- 
faltung der  Handelsthätigkeit  möglich,  üeber- 
all  aber  nimmt  es  dem  gememen  bürger- 
lichen Recht  gegenüber  eine  liahnbrechende 
Reformstellung  ein.  Wie  dem  Handel  die 
Rolle  des  Organisators  und  damit  auch  des 
Herrschers  in  der  gesamten  Volkswirtschaft 
zufällt  (SchmoDer),  so  ist  auch  das  Handels- 
recht unter  dem  vorherrschenden  EinÜuss 
wde  überwiegend  nach  den  Interessen  der 
wirtschaftlich  am  höchsten  geschulten  und 
weitsichtigsten  Bevölkenmgsklassen  ausge- 
bildet.  Indem  seine  Tendenzen  das  gesamte 

^)  Aus  der  ersten  Auflage  (1892)  ohne  sach- 
liche Aenderangen  im  Texte  wiederholt. 


bürgerliche  Recht  zu  durchdringen  pflegen 
verengt  es,  in  diesem  allmählich  zu  erheb- 
lichem Teile  aufgehend,  auf  der  einen  Seite 
seinen  Sonderkreis,  während  gleichzeitig  auf 
der  anderen  Seite  durch  neu  hinzutretende 
Rechtssätze,  welche  mindestens  zunächst 
oder  gar  schlechtlün  nur  den  besonderen 
Bedürfnissen  des  Handels  entsprechen,  sein 
Umfang  in  stetem  Waclisen  begiiffen  ist. 
Sein  jedesmaliges  Verhältnis  zum  gemeinen 
bürgerlichen  Recht  ist  so  stets  ein  rela- 
tives: ein  beträchtlicher  Teil  des  heutigen 
gemeinen  bürgerlichen  Rechts  ist  ursprüng- 
lich blosses  SondeiTCcht  des  Handeis  ge- 
wesen, ein  erheblicher  Teil  des  heutigen 
Handelsrechts  strebt  danach,  ziun  gemeinen 
bürgerlichen  Recht  zu  werden. 

Findet  in  dem  Handel  und  diu-ch  den- 
selben wie  der  wirtscliafthche  Zusammen- 
schluss,  so  die  kapitalistische  Organisation 
der  Gesellschaft  ihre  volle  Ausbildung,  so 
mag  man  das  Handelsrecht  als  das  Recht 
der  zur  Interessengemeinschaft 
verbundenen  kapitalistischorgani  - 
sierten  Gesellschaft  bezeichnen.  Es 
bedarf  nur  des  Hinweises  auf  die  grossen 
sozialethischen  Strömungen  und  Gegenströ- 
mungen in  den  verschiedenen  Epochen  der 
Geschichte,  um  die  wechselnde  Bedeutung 
zu  ermessen,  welche  dem  Handelsrecht  im 
Wechsel  der  Zeiten  zugekommen  ist  und 
zukommt.  Weiter  hängt  dies  damit  zusam- 
men, dass.  um  neuere  Schlagworte  zu  ge- 
brauchen, der  Handel  imd  dessen  Recht  im 
wesentlichen  »individualistisch«  angelegt 
sind  und  damit  in  scharfen  Gegensatz  zu 
der  »sozialen«  oder  »kollektivistischen« 
Strömung  treten,  welche  das  Wirtschafts- 
leben in  verechiedenen  Epochen  beherrscht. 
Immerhin  sind  schon  in  den  Uranfängen  der 
Geschichte  der  Handel  und  sein  Recht  zu- 
gleich sozial  einigend. 

Denn  von  Urzeit  her  ist  derGütenmi- 
tausch  vornehmlich  durch  die  vermittelnde 
Thätigkeit  des  Händlers,  insbesondere  des 
stammfremden,  bewirkt  worden.  Den  Mittel- 
punkt des  Handels  bildet  von  jeher  der 
Markt,  ursprünglich  ein  »befriedeter«  Platz 
unter  religiösem  Schutz;  an  den  friedlichen 
Markttausch  knüpfen  sich  die  Anfänge  inter- 
nationaler Rechtssitte  und  universalen  Han- 
delsrechts, imd  noch  lange  nach  der  Grün- 
dung der  einen  ständigen  Markt  bildenden 
Städte  erhalten  sich  die  vorübergehenden 
^Märkte  und  Messen  als  wichtige  Stätten  des 
Austausches  mid  Geldverkehi^  für  engere 
und  weitere  Kreise. 

Mit  der  Ausbildung  der  Seeschiffahrt, 
hinter  welcher  der  Binnentransport  bis  in 
unser  Jahrhundert  weit  zurücktritt,  wird  der 
Handel  der  Mittelmeerstaaten,  sjÄter  auch 
des  nördlichen  Europa,  überw^iegend  See- 
handel, daher  die   Rechtssätze  des  Gross- 


1048 


Handelsrecht 


handels  vorwiegend  im  Seeverkehr  entstan- 
den und,  wenn  überhaupt,  nur  allmählich 
auf  den  Binnenhandel  übertragen  worden 
sind.  So  ist  das  griechisch-römische  foenus 
nauticum  (pecunia  trajectitia,  Seedarlehn)  die 
Grundlage  wie  der  Prämienversicherung  so 
des  Wechsels  geworden,  bildet  die  Seever- 
sicherung den  Ausgang  der  Assekuranz 
überhaupt,  sind  die  überseeische  Commenda 
imd  der  Kolonialaktienverein  die  ürtjpen 
der  modernen  Handelsgesellschaften  mit  be- 
schränkter Haftung. 

Alier  Handel  ist  ursprünglich  Tausch- 
handel, Handel  im  Umherziehen,  Kleinhan- 
del, Eigenhandel ;  nur  allmählich  haben  sich 
die  höheren  Formen  des  Kauf-(Geld-)Han- 
dels,  des  stehenden  Handels,  des  Grosshan- 
dels, am  spätesten  der  Kommissionshandel 
entwickelt.  Die  That bestände  des  Han- 
dels gehören  zum  erheblichen  Teil  bereits 
der  altorientaüschen  (ägyptischen,  insbeson- 
dere bab3"lonischen,  auch  wohl  phönicischen), 
dann  der  hellenischen  und  römischen  Kul- 
tiunvelt  an,  in  minderem  Umfonge  lassen 
sich  dieselben  auch  in  dem  mittelalterlichen 
nördlichen  (germanischen,  slawischen)  Europa 
nachweisen;  überall  hat  auch  mehr  oder 
minder  festentwickelter  Handelsgebrauch  be- 
standen. Aber  die  typische  Rechts- 
form haben  diese  Thatbestände  vorwiegend 
erst  von  den  Römern  im  Altertum,  von  den 
italienischen  und  anderen  romanischen  Mit- 
telmeerstaaten im  Mittelalter  empfangen. 
Die  Rechtsbildung  ist  im  Altertum  bis  auf 
die  justinianische  Kodifikation,  desgleichen 
im  Mittelalter  vorwiegend  eine  gewohnheits- 
rechtliche gewesen,  obwohl  im  Mittelalter 
das  Statutan-echt  der  Städte  wie  der  ge- 
werblichen Innungen  wachsende  Bedeutung 
gewinnt.  Auf  der  Mischung  antiker,  mittel- 
alterlicher und  moderner  Elemente  beruht 
unser  heutiges  Handelsrecht;  an  der  Fort- 
bildung des  von  allen  europäischen  Nationen 
recipierten  romanischen  Handelsrechts  haben 
seit  Ausgang  des  Mittelalters  alle  Kultur- 
völker Anteil  genommen;  durch  geschickte 
Kodifikation  hat,  namentlich  im  19.  Jahr- 
hundert, Frankreich  hier,  wie  auf  allen 
Rechtsgebieten,  vorwiegenden  Eiufluss  ge- 
wonnen. 

Die  Hauptphasen  der  Ent\Wckelung  soll 
die  folgende  üebersicht  ergeben,  welche  im 
wesentlichen  der  bisher  einzigen  Darstellung 
der  Geschichte  des  Handelsrechts  (Gold- 
schmidt, Universalgeschichte  des  Handels- 
rechts [auch  Handbuch  dos  Handelsrechts, 
3.  Aufl.  I]  1.  Lieferung,  1891,  dazu  einst- 
weilen noch  auch  Goldschmidt,  Handbuch 
des  Handelsrechts  I,  2.  Aufl.,  1875)  ent- 
nommen ist. 

2.  Das  H.  der  alten  Welt  Das  Wirt- 
schaftsleben der  alten  Welt  wird  wesent- 
lich  durch   den    allgemeinen   Bestand    der 


Sklaverei  bedingt,  sein  Gnmdzug  ist  der 
hauswirtschaftliche  Typus,  obwohl  solcher 
den  Handel  weniger  sAs  andere  Wirtschafts- 
zweige beherrscht.  Der  Grossbetrieb  ist 
vorwiegend  kapitalistischer  Waren-  und 
Geldhandel,  das  Transportgewerbe  und  die 
mannigfachen ,  allmälüich  vervielfältigten 
Hilfsgewerbe  liaben  sich  selten  zu  selbstän- 
digen Unternehmungen  ausgebildet.  Zwischen 
dem  Herrn  und  dessen  als  Geschäftsführer 
oder  auch  auf  eigenen  Namen  Handel  trei- 
benden Sklaven  (Haussöhnen)  bestehen  in 
der  Hauptsache  nicht  Rechts-,  sondern 
blosse  Rechnungsverhältnisse. 

1)  Eigentümliches  Handelsrecht  der  gros- 
sen orientalischen  Reiche  ist  nicht  be- 
kannt, obwohl  namentlich  bei  dem  gi-ossen 
Handelsvolke  der  Babyloniei*  im  neubaby- 
lonischen Reiche  ein  beträchtlicher  Teil  der 
heutigen  Handelsgeschäfte  begegnet  imd  der 
Kreditverkehr  entwickelt  ist.  (jränzlich  ver- 
schollen ist  das  Recht  der  Phönicier  und 
Kai'thager;  die  abenteuerliche  Hypothese 
Revülouts  (Les  obligations  en  droit  Egyptien, 
compare  aux  autres  droits  de  l'antiquit^, 
Paris  1886),  dass  von  den  Phöniciern,  in- 
direkt durch  deren  Yermittelung  von  den 
Aegyptem  und  Babyloniern,  der  eigentlich 
brauchbare  Teil  des  römischen  Rechts 
stamme,  entbehrt  jeden  Anhalts.  Nicht 
Handelsvolk  war  in  seiner  Heimat  das 
jüdische  Volk. 

2)  Was  von  besonderem  Handelsi-eclite 
der  hellenischen  Staaten,  auch  der  Han- 
delsstaaten, einschliesslich  der  hellenistischen 
Weltemporien ,  wie  Alexandria,  Seleucia  u. 
a.,  bekannt  ist,  geht  nicht  über  vereinzelte 
Notizen  liinaus.  Die  gescliriebenen  Gesetze 
sind  uns  nur  zum  geringen  Teü  erhalten, 
das  Verkehrsrecht  unterlag  überwiegend  der 
flüssigen  Handelssitte  und  der  freien  Ueber- 
eiukunft.  Voll  entwickelt  ist  das  wichtige 
Seedarlehnsgeschäft,  die  grosse  Haverei  je- 
denfalls in  Rhodus  (lex  Rhodia  de  jactu) 
geregelt,  das  Bankwesen  ausgebildet,  zumal 
in  Attika,  wo  gesetzliche  Zinsfreiheit 
herrschte.  Zu  Assekuranzen  und  Wechseln 
begegnen  Ansätze,  Inhaber-  und  Order- 
papiere finden  sich  in  hellenistischer  Zeit. 
Bei  überwiegender  tJnproduktivität  des 
hen^schenden  Bürgerstandes  püegten  nur 
Grosshandel  und  Reederei  höhere  Achtung 
zu  geniessen,  während  sogar  die  gegen  den 
Materialismus  reagierende  spätere  philoso- 
phische Spekulation  (Plato,  Aristoteles) 
jede  Arbeit  um  Gelderwerb,  insbesondere 
den  Handel  und  die  Zinsleihe  brandmarkte. 

3)  Der  griechischen  Pliilosophie  schliesst 
sich  die  entlehnte  Philosophie  der  Römer, 

i  insbesondere  Ciceros  an,  wie  denn  auch  die 
Sitte  dem  ersten  (Senatoren-)  Stand  den 
Handel  auf  eigenen  Namen  untersagte  und 
das  Gesetz  (Lex  Claudia  218  a.  Chr.)  den- 


Handelsrecht 


1049 


selben  von  der  Grossreederei  ausschloss. 
Der  höhere  römische  Kapitalistenstand,  die 
e(j[nite8  der  späteren  Republik,  betrieb  da- 
gegen in  erheblichem  Umfange  die  handeis - 
massige  Grossspeknlation.  Immerhin  ist  seit 
den  letzten  Jahrhunderten  des  Freistaates 
der  äusserst  umfassende  Handel  des  römi- 
schen Weltreiches  in  römischen  Händen,  die 
Hauptstadt  Rom  ein  Verkehrs-  und  Bank- 
platz ei-sten  Ranges,  auch  Mittelpunkt  der 
abendländischen  Industrie,  insbesondere  des 
Kunsthandwerks.  In  der  blilhendsten  Wirt- 
schaftsepoche der  alten  Welt,  der  römischen 
Kaiserzeit,  bildete  das  Weltreich  ein  unge- 
heiu*es  Wirtschafts-,  ja  Freihandelsgebiet,  in 
welchem  Gewerbefreiheit  wie  Freizügigkeit 
bestand  und  zu  Lande  wie  zur  See  ein  ver- 
hältnismässig wenig  gestörter  Friede  (pax 
Romana)  herrschte.  Erbe  der  Gesamtkultur 
der  alten  Welt  hat  dieses  Weltreich  auch 
kommerziell  und  nautisch  die  auf  allen 
Lebensgebielen  bewährte  selbständig  ord- 
nende und  assimilierende  Kraft  entwickelt. 

Sein  ursprüngliches  Stadtrecht  (ius  civile), 
welches  bei  aller  Schneidigkeit  und  Schärfe 
dem  grossen  Verkehr  äusserst  föi'derlieh 
war,  hat  diu^ch  Aufnahme  aüer  brauchbaren 
Elemente  aus  dem  Recht  der  verbündeten 
imd  unterworfenen  Völker  sich  zum  Welt- 
recht (ius  gentium)  ausgebildet  und  damit 
auch  füi'  den  damaligen  Welthandel  eine 
universale  Rechtsordnung  von  unvergleich- 
lichem Werte  gescliaffen.  Weniger  diuxih 
besondere  Satzungen  für  den  Handel,  ob- 
wohl es  auch  an  solchen  und  sehr  w^ichtigen 
keineswegs  fehlt  (Sonderrecht  der  Bankiers, 
der  Sklavenhändler,  der  publicani,  actio 
tributoria,  exercitoria,  Seedarlehn  und  gi-osse 
Haverei);  vielmehr  dadurch,  dass  das  ge- 
meine bürgerliche  Recht  in  einer  auch  den 
Anforderungen  des  grossen  Handelsverkehrs 
entsprechenden  Weise  aus-  und  durchge- 
bildet wurde,  dazu  der  wechselnden  Ver- 
kehrssitte und  dem  erkennbar  erklärten 
Willen  der  Interessenten  freiester  Spielraum 
gelassen  wurde,  Treue  und  Glauben  (bona 
fidss)  in  der  Rechtsprechung  die  sorgsamste 
Beiiicksichtigung  fanden. 

Freilich  begegnen  bereits  in  klassischer 
Zeit  Vei^gröberungen  und  werden  bedenk- 
liche Abwege  (z.  B.  Ausartung  der  Hypo- 
thek, Erweiterung  der  Konkursprivilegien) 
eingeschlagen,  aber  doch  erst  in  der  späteren 
Kaiserzeit  und  unter  dem  Einfluss  christ- 
licher Weltanschauung  findet  sich  ein  gegen 
die  Auswüchse  des  Kapitalismus  (Ausbeutung, 
Wucher,  Härte)  gerichteter  systematischer 
Schutz,  welcher  vielfach  auch  den  redlichen 
Handel  unangemessen  einengte,  und  be- 
gegnen mancherlei  Innungen,  insbesondere 
meclianische  Abgrenzungen  des  Erlaubten 
und  Unerlaubten,  welche  dem  stetig  sinken- 
den Niveau  des  Verkehrs  wie  der  juristischen 


Kraft  entsprechen.  Lebensfähige  Genossen- 
schaften hat  das  alternde  Bleich  nicht  mehr 
erzeugt,  wohl  aber  pri\ilegierte,  aber  auch 
besonders  besteuerte  Zwangskorporationen 
(insbesondere  der  navicularii)  mit  ausge- 
dehnter Specialjurisdiktion  und  damit  ein 
eigentümliches,  in  der  Hauptsache  freilich 
fiskalisches,  kaufmännisches  bezw.  gewerb- 
liches Handelsrecht.  Daher  auch  che  cha- 
rakteristischen Versuche  einer  gesetzlichen 
Tarifierung  der  Warenpreise  und  der  Ar- 
beitslöhne (Diocletian)  oder  die  Herabsetzung 
der  gesetzlichen  Zinstaxe,  während  der  that- 
sächiiche  Zinsf uss  in  stetem  Steigen  begriffen 
war  (Justinian). 

Als  das  römische  Weltreich  zerfiel,  stand 
der  Handel  der  ganzen  damaligen  Kultur- 
welt, von  dem  fernen  Osten  abgesehen, 
unt-er  dem  vorhin  charakterisierten  römischen 
Weltrecht.  Aber  ein  nicht  unbeträchtlicher 
Teil  dieses  Rechts  ist  in  die  Justinianische 
Kodifikation  nicht  übergegangen,  ein  anderer 
durch  abstrakte  Behandlung  verdeckt  und 
schwer  erkennbar  ^z.  B.  hinsichtlich  der 
Commenda,  desWecnsels,  der  Orderklausel 
etc.).  Für  dieses  versteckte,  insbesondei'e 
aber  für  das  in  der  örtlichen  und  provin- 
ziellen Praxis  fortlebende  römische  bezw, 
hellenische  Recht  mag  man  den  Namen 
»Vulgarrecht«  brauchen.  (Vgl.  meine  Uni- 
versalgesch.,  S.  90 — 94  und  das  bedeutende 
Werk  von  L.  Mitteis,  Reichsrecht  und 
Volksrecht  in  den  östlichen  Provinzen  des 
römischen  Kaiserreichs,  Leipzig  189L) 

3.  Das  H.  im  Mittelalter.  Mit  dem 
Untergang  des  weströmischen  Kaiserreichs, 
der  immer  schärferen  Scheidung  von  Abend- 
imd  Morgenland  (Islam,  arabische  Herrscliaft), 
der  neuen  germanischen  Staatenbildung,  der 
germanischen  Kolonisation  des  Ostens  ver- 
liert der  Welthandel  seinen  einheitlichen 
Charakter.  Wenngleich  in  gewissen  Rich- 
tungen sich  sein  Oebiet  erweitert  (insbe- 
sondere nach  Nordosten),  so  verengt  sich 
doch  sein  Umfang,  gehen  die  Leistimgen 
von  Handel  und  Schiffahrt  zurück,  ver- 
gröbert sich  das  Verkehrsrecht  und  zer- 
splittert sich  in  enge,  zum  Teil  sehr  be- 
scliränkte  Herrschaftsgebiete.  Nur  allmählich 
gelangt  es  mittelst  gesteigerter  Wiederauf- 
nahme antiker  Elemente  und  durch  Aus- 
bildung universalen  Handelsgebrauchs  zur 
grösseren  Einheit,  im  Widerstreit  mit  kirch- 
licher Weltanschauimg  zu  freier  Vollent- 
faltung. 

1.  Bis  in  das  12.  Jahrhundert  bleibt  das 
byzantinische  Reich  Träger  des  orien- 
talisch-europäischen Welthandels,  jedoch  unter 
wachsender,  siegreicher  Konkurrenz  der 
Araber,  welche  eine  neue,  auf  Eroberung, 
Glauben  und  Handel  gebaute  Weltherrschaft 
über  nahezu  den  ganzen  Orient  aufrichten, 
ja  Jahrhunderte  hindurch  einen  erhebliciien 


1050 


Handelsrecht 


Teil  der  westlichen  Mittelmeerländer  unter- 
lÄTcrfen.  Ihre  Münze  ist  zeitweise  Welt- 
milnze,  zahlreiche  arabische  Bezeichnungen 
von  Handelsinstitiiteu  und  Waren  (Arsenal, 
Magazin,  Karawane,  Sensal,  zecca  —  Safran, 
Kaffee,  Juwel,  Kattun,  Atlas  etc.)  sind  in  die 
europäischen  Sprachen  übergegangen.  Eine 
Welterrungenschaft  bildet  das  indisch-ara- 
bische Zahlensystem,  welches  zu  Anfang  des 
13.  Jahrhunderts  (Lionardo  Fibonacci)  im 
Abendlande  bekannt  wird.  Auch  das  reich 
ausgebildete  Yerkehrsi-echt  des  Islam  mag 
die  abendländische  Rechtsbildung  beeinflusst 
haben ;  doch  liegt  die  Annahme  näher,  dass 
die  Araber  die  im  Verkehr  noch  fortleben- 
den Rechtsinstitute  des  römischen  Welt- 
reichs recipiert,  \ielleicht  auch  weiter  ver- 
breitet haben. 

Das  byzantinische  Reich  ist,  nach  von'iber- 
gahenden  Versuchen  selbständiger  Fortent- 
wickelung des  Rechts,  in  der  Hauptsache 
bei  dem  justinianischen  Recht  (Basiliken 
886 — 911)  verblieben.  Der  sogenannte  v6/tos 
*PoöUop  vaiTiKoSj  das  pseudorhodische  See- 
recht (Pardosöus,  CoUection  de  lois  rnaii- 
times  I,  p.  231—251,  Basilika  lib.  60  [ed. 
Heimbach]  t.  V,  p.  119 — 127)  ist  aus  justi- 
nianischen Quellen  und  lokalen  oder  provin- 
ziellen Satzungen  bezw.  Gebräuchen  des 
Östlichen  Mittelmeeres  zusammengestellt, 
nach  Annahme  Zachariaes  im  8.  Jahrhimdert 
als  Kaisergesetz  erlassen,  nach  Fonn  und 
Inhalt  ein  mittelalterliche^  Seerecht,  welches 
dem  gesunkenen  Stande  von  Seeschiffalirt 
und  Rechtskunst  entspricht. 

2.  Die  germanischen  Stämme  treiben 
<lürftigen  Binnenhandel,  noch  überwiegend 
Tauschhandel ;  nur  von  einzelnen  Seevölkem, 
insbesondere  den  Nordgermanen  (Skandi- 
naviern) und  den  Friesen,  ist  Anteil  an  dem 
Welthandel  bezeugt.  Nur  in  hartem  Kampfe, 
mittelst  straffen  genossenschaftlichen  Zu- 
sammenschliessens  gelangen,  neben  den  ge- 
meinfreien und  ritterlichen  Grundbesitzern, 
Handel  und  Handwerk  in  den  neu  auf- 
blühenden Städten  zur  selbständigen  Stellung. 
In  wachsendem  Masse  erringen  Grosshändler 
und  Grossindustrielle,  vornehmlich  in  mono- 
polistischen Kaufgilden  oder  Hansen,  dann 
auch  die  kleineren  Handelsleute  und  Hand- 
werker in  ihren  Zünften  und  Innungen  die 
Verkehrspolizei,  Gerichtsbarkeit,  Selbstver- 
waltung. Wenn  in  älterer  Zeit  überwiegend 
römische  Provinzialen,  Syrer,  eingewanderte 
und  umherziehende  Italiener  (»Lombarden«), 
Stifter,  Klöster,  kirchliche  Orden  und  Welt- 
geistliche, endlich  die  trotz  ihrer  gesteigerten 
Schutz-  und  Rechtlosigkeit  in  wachsendem 
Masse  sich  ausbreitenden  Juden  die  Träger 
von  Handel  und  Industrie  sind,  so  bildet 
sich  allmählich  ein  selbständiger,  aus  Freien 
bestehender  germanischer  Handelsstand  und 
seit  dem   12.  Jahrhundert  eine  neue  geld- 


wirtschaftüche  Organisation  der  freien  ge- 
werblichen Arbeit.  So  in  der  städtischen 
Marktgenossenschaft ,  deren  »Kaufmanns- 
recht«' auch  auf  Nichtgewerbetreibende  er- 
streckt wird ;  in  den  Innungen  und  Zünften 
der  Handwerker  j  in  den  Gilden  oder  Hansen, 
welche  namentlich  im  überseeischen  Aus- 
lande als  wagende  Handelsgenossenschaften 
auftreten,  ein  wachsendes  Kolonial-  oder 
doch  Faktoreisystem  begründen  und  mit 
Erfolg  den»  zahllosen  Hinderungen  und  Be- 
di'ückungen  des  Handels,  namentlich  der 
Fremden,  entgegentreten.  War  der  fest 
geordnete  Grosshandel  der  Römerzeit  zer- 
fallen, der  Kredit-,  ja  nahezu  der  geldwirt- 
schaftliche Verkehr  verkümmert,  waren  die 
sicheren  Handelswege  der  alten  Zeit  zu  er- 
heblichem Teile  abgeschnitten,  Wirtscliaft 
und  Recht  territorial  und  lokal  zersplittert, 
so  bilden  sich  doch  die  schöpferischen  Keime 
einer  grossen,  in  Wirtscliaft  und  Recht  das 
Altertum  schliesslich  überflügelnden  Zukunft. 
Der  rohere,  aber  kräftig  vorstrebende  Klein- 
betrieb in  Handel  und  Handwerk,  die  Ar- 
beit der  in  mannigfaltigen  genossenschaft- 
lichen Bildungen  gegliederten  Freien  und 
der  durch  freien  Dienstverti-ag  wie  durch 
die  Korporationsverfassung  ihnen  verbun- 
denen Hilfspersonen  ist  an  die  Stelle  des 
kapitalistischen  Grossbetriebs  der  alten  Welt 
getreten;  es  bilden  sich  zahh*eiche  Hilfs- 
geschäfte des  Handels  zu  selbständigen  Ver- 
kehrs- und  Rechtsinstituten  aus ;  der  früher 
verdeckte  Gegensatz  des  Platz-  und  Distanz- 
liandels,  des  Eigen-  und  des  Kommissions- 
handels gewinnt  an  Bedeutung. 

Das  Recht  dieses  neuen  Verkehre  ist 
über\viegend  Gewohnheitsrecht,  die  verkelu:s- 
polizeiliche  Gesetzgebung  der  karolingischen 
Könige  (Capitularia)  verkümmert  bald.  Trägt 
schon  das  neue  städtische  Recht  der  5> Bürger«, 
das  ins  fori  =  ius  mercatorum,  Kauffleut- 
recht,  welches  von  Stadt  zu  Stadt  ül>er- 
tragen  wird,  die  merkantile  Signatur,  so  er- 
zeugen gleiche  Bedürfnisse,  das  waclisende 
Netz  der  »gefreiten  und  befriedeten«  Märkte 
und  Messen,  der  Handelsverti'äge  und  Hau- 
delsniederlassmigen  ein  nahezu  gemeinsames 
Recht,  zuvörderst  der  Mittelmeerländer.  Der 
juristisch  geschultere  romanische  Geist  das 
früh  ausgebildete  Institut  der  Notai'iatsur- 
kunden  mitiliren  typischen,  formularmässigen 
Festsetzungen,  die  ausgedehnte  Jurisdiktion 
der  Innungsgerichte  füliren  liier  zu  genauer 
und  vielfach  gleichmässiger,  fast  gesetzlicher 
Fixierung.  Allein  auch  hier,  vornehmlich 
in  Frankreich,  erhalten  sich  germanische 
Rechtsanschauungen  lebendig  imd  gelangen 
in  den  unter  römischer  Zucht  ausgebildeten 
Rechtsinstituten  zur  Entfaltung.  (Die  Nach- 
weise in  meiner  Universalgeschichte  S. 
181—137.) 

3.  Gegen  den  aufblühenden  Handel  und 


Handelsrecht 


1051 


Kreditverkelir  verhält  sich  das  Recht  der 
römischen  Kirche  wesentlich  negativ. 
Das  leitende  Princip  der  kirchlichen,  immer 
schärfer  zugespitzten  » Wuchertheorie <.  be- 
steht wesentlich  darin,  dass  das  Geld  kapital 
unproduktiv  ist  und  sein  soll,  daher  das 
Zinsennehmen  in  Darlehen  und  sonstigen 
Kreditgeschäften  principiell  unstattliaft,  adler 
Gelderwerb  »ohne  rechte  Arbeit«  sündhaft 
doch  mindestens  verdächtig,  »Preisgerechtig- 
keit <   überall  zu  erzielen. 

Weit  über  sein  berechtigtes  Ziel  hinaus- 
scliiessend,  scheiterte  dieses  kühne  und  kon- 
sef^uente  System  kirchlicher  Verkehrsbevor- 
mundun^  an  dem  Schwergewicht  der  wirk- 
lichen wirtschaftlichen  Interessen.  Die  prak- 
tische Folge  des  Zinsverbotes  bestand  nur 
darin,  dass  der  ohnehin  natiu-gemäss  hohe 
Zinsfuss  sich  erheblich  steigerte  tmd  eine 
in  periodischer  Plünderung  der  »Wucherer« 
(insbesondere  der  »Lombanlen«  und  der 
Juden)  gipfelnde  Verwirrung  aller  wirt- 
schaftlichen und  Rechtsbegriffe  sich  über 
das  Mittelalter  hinaus  behauptet  hat.  Auf 
die  Ausbildung  des  Handelsrechts  hat  die 
kirclüiche  Doktrin  und  Praxis  keinen  wesent- 
lichen Einfluss  geübt.  Die  gegenteilige,  ins- 
besondere von  Endemann  verfochtene  An- 
sicht wird  dadurch  widerlegt,  dass  sich  im 
Gesamtgebiet  des  neueren  Handelsrechts 
kein  praktischer  Rechtssatz  nachweisen  lässt, 
welcher  jener  Kirchenlehre  seine  Entstehung 
venlankt  oder  auch  nur  in  seiner  Entwicke- 
lung  durch  die  Kirche  beeinfiusst  wäre. 
Und  wenngleich  einzelne  Rechtsinstitute 
unter  der  Üngimst  der  Kirchenlehre  ver- 
künstelte Gestalt  annahmen,  wie  das  Han- 
delsdai'lehn  und  das  verzinsliche  Deposit, 
so  ist  doch  sogar  hier  die  endliche,  wenn- 
gleich nur  widerwiUige  Anerkennung  nicht 
ausgeblieben.  Nur  darf  nicht  übersehen 
wenlen,  dass  auch  das  weltliche  Verkehis- 
recht  desMittelaltei's  auf  Zwang  und  Kontrolle 
beruht,  freilich  nicht  nach  kirchlichen  Ge- 
sichtspunkten kirchlicher  Oberen,  sondern 
nach  Auffassung  der  Berufs-  und  Standes- 
genossen. Aus  eigensten  Bedürfnissen  imd 
Anschauungen  heraus  hat  der  mittelalter- 
liche Kaufmannsstand  sein   Recht  gebildet. 

4.  Das  zunächst  lokale  Handelsgewohn- 
heitsrecht der  romanischen  Städte 
wunle  durch  die  in  typischer  Form  von 
Notaren  geschlossenen  Rechtsgeschäfte  (No- 
tariatsurkunden) entwickelt  und  befestigt; 
-durch  Statuten  der  Stadtgemeinden  —  unter 
■denen  das  constitutum  usus  von  Pisa,  um 
11(>1  redigiert,  den  vornehmsten  Platz  be- 
hauptet —  und  der  gewerblichen  Innungen 
Zinn  erheblichen  Teil  kodifiziert;  durch 
^\ luftige  und  staatliche  Rechtspflege,  im 
internationalen  Verkehr  durch  Handels-  und 
Schiffalirts vertrage  foilgebildet.  Nur  dies 
«ind    die    sicheren    und    unmittelbaren  Er- 


kenntnis<iuellen  des  neuen  Gewohnheits- 
rechts; die  meist  jüngere  Litteralur,  insbe- 
sondere die  theologisch-kanonistische,  giebt 
nur  ein  eigentümlicii  gefärbtes  Spiegelbild. 

Unter  den  gewerblichen  Innungen  pflegt 
die  Kaufmannsinnung  die  ei-ste  Stelle  ein- 
zunehmen ;  mitunter,  z.  B.  in  Pisa,  bilden 
die  Gresshändler  zur  See  und  die  Reeder 
einen  besonderen  Verband,  desgleichen  fin- 
den sich  häufig  besondere  Innungen  der 
Bankiers  (bancherii,  campsores),  der  Tuch- 
händler und  Tuchfabrikanten  (ars  lanae)  u. 
a.  m.  In  einzelnen  Städten  begegnen  Ge- 
samtverbände vieler  Innungen  (in  Pisa, 
später  in  Florenz  die  universitas  mercato- 
rum  oder  mercanzia  u.  s.  f.).  Die  Statuten 
der  Kauf  mannsinnung  oder  Innungen  (statuta 
mercatorum),  welche  überwiegend  ei*st  seit 
dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts  redigiert 
sind,  enthalten  ursprünglich  in  der  Haupt- 
sache gewerbepolizeiliche  und  prozessuale 
Satzungen,  haben  aber  allmählich  in  wach- 
sendem Umfange  aucii  Privatrechtssätze  auf- 
genommen imd  werden  so  nahezu  Kodifi- 
kationen des  partikulären  Handels-  und  Ge- 
werberechts, z.  B.  in  Florenz,  Bologna,  Siena 
(Meine   Universalgeschichte    S.    166 — 169), 

Polizei  und  Rechtspflege  pflegt  bei  den 
Innungsvorstehern  (consules  u.  dergl.)  zu 
stehen,  unter  Ausselüuss  oder  unter  elek- 
tiver  Konkurrenz  mit  dem  ordentlichen 
(städtischen)  Gericht.  Bei  überwiegender 
disciplinärer  und  gewerbepolizeilicher  Ge- 
richtsbarkeit werden  doch  auch  die  privat- 
i'echtlichen  Streitigkeiten  mindestens  unter 
den  Innungsgenossen,  vielfach  darüber  hinaus, 
der  Kognition  des  Innungsgerichts  unter- 
stellt (Innungssache,  Handelssache,  causa 
mercantilis) ;  die  Jurisdiktionsgi-euzen  schwan- 
ken, sogar  innerhalb  der  einzelnen  Stadt- 
gemeinden, nach  politischen  und  anderwei- 
tigen Wandelungen  (mein  Handbuch  P, 
SS.  42  und  43).  Das  Verfahren  dieser  keines- 
wegs als  »Handelsgerichte«  eingesetzten, 
wenngleich  auch  als  solche  fungierenden 
Innungsgerichte  ist  summarisch  und  zeigt 
zalüreiche,  einerseits  auf  Schleunigkeit  der 
Entscheidung,  andererseits  auf  freie  Wahr- 
heitsermittelung berechnete  Eigentümlich- 
keiten. 

Zur  Entscheidung  von  Rechtsstreitigkeiten 
auf  der  Fahrt  der  in  Convoy  segelnden  Han- 
delsschiffe und  während  des  vorübergehen- 
den Aufenthaltes  in  der  Fremde  dienen  die 
»Reiseconsuln« ;  für  auswärtige  Faktoreien 
die  von  den  Mitgliedern  der  Faktorei  ge- 
wählten oder  von  der  Obrigkeit  der  Heimat 
bestellten  ständigen  Consuln,  mitunter  be- 
steht auch  ein  Generalconsulat  (z.  B.  das 
Venetianer  und  das  Pisaner  in  Syrien). 

Besondere  Seegerichte  (consulatus  maris) 
begegnen  teils  als  Administrativbehörde  und 
Gericht  einer  Seehandelsgilde   (so  in  Pisa, 


1052 


Handelsrecht 


Valencia,  lu'sprünglich  wohl  auch  in  Genua 
und  Barcelona),  teils  als  Staatsbehörde  (z.  B. 
1347  in  Barcelona). 

Teilweise  aus  der  Rechtsprechung  der 
Seegerichte  sind  besondere  Seerechte  her- 
vorgegangen: Venedig  1255,  Amalfi  (tabula 
Amaliitana  —  vermutlich  dem  13.  und  14. 
Jahrhundert  angehörig),  Trani  (1363?,  es 
wird  behauptet  1063,  1183,  1453),  Barcelona 
(costums  de  la  mar,  13.  Jahrhundert,  später 
genannt  libro  de  consolat  del  mar,  in  letzter 
Redaktion  um  1370),  Ancona  (spätestens  1397), 
Oleron  bei  La  Rochelle  (vielleicht  schon  aus 
dem  12.  Jahrhundert).  Anderswo  bildet  das 
Seerecht  einen  Teil  des  Statuts  der  See- 
handelsgilde (Pisa :  breve  curiae  raaris  1305, 
breve  deir  ordine  di  mare  1332)  oder  des 
Stadtrechts  (z.  B.  in  Genua  13.  und  14.  Jahr- 
hundert, Marseille '  1255). 

In  den  Kolonialstaaten  gilt  durchgehends 
das  besonders  kodifizierte  Recht  der  Mutter- 
stadt, z.  B.  genuesisches  Recht  in  Pera  (Ga- 
lata) :  magnum  volumen  Peyre  1316,  und  in 
der  Krim  (Gazaria):  imposicio  officii  Gazaiiae 
1313 — 1441 ;  pisanisches  Recht  in  Sardinien : 
breve  portus  Kallaretani  1318. 

Daneben  finden  sich  endlich  zahlreiche 
Einzelgesetze,  wie  Mäklerordnungen  (z.  B. 
Barcelona  1271),  Handelsprozessgeselze  (z.  B. 
Valencia  zwischen  1336  43),  Versieherungs- 
gesetze  (z.  B.  Barcelona  1435 — 1484)  u.  a.  m. 

5.  Eine  Rechtsgemeinschaft  der  italieni- 
schen oder  sonstigen  romanisclien  Kaufleute 
verschiedener  Handelsplätze  im  Auslande 
findet  sich  nur  ausnahmsweise.  A'ornehm- 
lich  in  Frankreich  auf  den  Messen  der 
Champagne  besteht  seit  dem  Ausgange  des 
13.  und  im  Ijaufe  des  14.  Jahrhunderts  eine 
Verbindung  der  provencalischen  Handels- 
städte und  eine  noch  bedeutsamere  univer- 
sitas  mercatonuB  Lombardorum  et  Tuscano- 
rum  unter  einem  Gcneralkapitän,  welcher 
den  Specialconsuln  der  einzelneu  zum  Ver- 
bände gehörigen  Städte  und  Innungen  über- 
geordnet ist.  (Meine  Universalgeschichte 
S.  193 — 200.)  Die  Champagnemessen  aber 
sind  seit  dem  12.  Jahrhundert  die  Mittel- 
j)unkte  des  Waren-  und  Geldverkehrs  für 
das  ganze  westliche  Eui-opa ;  auf  sie  werden 
Geldverpflichtungen  aller  Art  abgestellt,  die 
Cliamiiagner  Mes&plätze  sind  europäische 
Wechseldomizile.  Und  da  die  6  Jahi-es- 
meSvSen  der  4  Messj)lätze  (l^aguy  sur  Marne 
11,  Bar  sur  Aube  [1],  Provins  |2J,  Troyes 
2J).  eine  jede  über  6  Wochen  während  und 
n  etwa  zweimonatlichen  Zwischenräumen 
aufeinanderfolgend,  nahezu  das  ganze  Jahr 
ausfüllten,  so  wai*  die  Champagne  ein  gleich- 
sam ständiger  Mess-  und  Zahlungsplatz.  Die 
hier  kontrahierten  Schulden  unterlagen  der 
ausscliliesslichen  Jurisdiktion  des  Messge- 
richts, genossen  stillschweigende  Hypothek 
und  iml>edingten  Vorzug  vor  sonstigen  Schul- 


den, wurden  im  schleunigen  Verfahren  ab- 
geurteilt und  mit  äusserster  Strenge  durch 
Personalhaft  exequiert  Polizei  und  Gerichts- 
barkeit der  Messen  wurden  von  der  landes- 
herrlich bestellten  Messbehörde  gehandhabt,, 
den  mattres  oder  gardes  des  foires  (custo- 
des  nundinarum) ;  Berufung  geschah  an  da& 
Obergericht  der  Champagne  oder  an  das 
Pariser  Parlament  Gegen  Schuldner,  welche 
sich  dem  Gerichtszwang  entzogen,  erging 
Exekutionsmandat  der  Messbehörde  mittelst 
Befehls  bezw.  Requisition  an  das  Heimats- 
gericht unter  Androhung  des  Messbannes,, 
dessen  Vollstreckung  für  alle  Angehörigen 
der  betreffenden  Stadt  oder  des  betreffen- 
den Staates  den  Ausschluss  von  der  Messe 
nach  sich  zog.  Die  Messbehörde  bildete  sa 
eine  Centralbehörde,  von  welcher  Kaufleute 
aller  Nationen  Schutz  gegen  Vertragsbruch 
und  sonstige  Rechtsverletzungen  erlangten» 

Mit  dem  Verfall  der  Champagnemessen 
seit  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  wiu^e 
das  strenge  Messrecht  auf  neu  errichtete 
Messen  übertragen,  insbesondere  auf  die 
zuerst  1419  erricnteten,  1494  definitiv  geord- 
neten Messen  von  Lvon,  dei^n  Blüte  dem 
16.  und  17.  Jahrhundert  angehört  Nunmehr 
ist  Lyon  der  Hauptbank-  und  Zahlplatz  des 
westlichen  Europa,  doch  wird  das  m^prüng- 
liche  Messgericht  später  zum  allgemeinen, 
hochpriviligierten  Handelsgericht  (»tribunal 
de  conservation«),  (Meine  ünivei'salge- 
schichte  S.  224—287  und  meine  Abhand- 
lung, Zeitschr.  f.  Handelsr.,  Bd.  40,  S.  Iff.) 

6.  Das  so  entwickelte  romanische 
Handelsrecht  lehnt  sich  zum  erheblichen 
Teil  an  römische  Satzungen  und  römisch- 
griechisches  »Vidgarrecht«.  an,  insbesondere 
findet,  mit  der  aUmähUchen  Wiederannähe- 
rung des  mittelalterlichen  Handelsbetriebes 
an  den  kapitalistischen  Grossbetiieb  der 
römischen  Kaiserzeit,  das  klassische  römische 
Re(iht  umfassende  Anwendung,  aber  ergänzt 
und  modifiziert  durch  neue  fnichtbare  Rechts- 
bildungi^n,  während  die  dem  Grosshandel 
ungeeigneten  Satzungen  der  späteren  i-ömi- 
schen  Kaiserzeit  zum  erheblichen  Teile  aus- 
gestossen  werden.  Die  neuen  Rechts- 
schöpfungen der  romanischen,  insbesondem 
der  italienischen  Kaufmannswelt  zeugen  von 
hoher  wirtschaftlicher  Einsicht,  genialer 
Rochtsbegabung  und  sicilierer  praktischer 
Schuhmg,  sie  stehen  ebenbürtig  neben  den 
ewigen  8chöi)fungen  der  klassischen  römi- 
schen Jurisprudenz.  Es  genügt  der  Hinweis 
auf  die  difterentiierten  Gesellschaftsformen: 
der  Commenda  aus  welchei*  wie  die  heutige 
Kommandit-  und  stille  Gesellscliaft ,  so 
wesentlich  das  heutige  Kommissionsj^vschäft 
hervorgegangen  ist  —  der  offenen  Handels- 
gesellschaft —  des  Aktienvemns:  auf  die 
sich  mehr  dem  hellenischen  Recht  anschlies- 
sende, iHiter  der  Einwirkung  formalen  ger- 


Handelsrecht 


1053 


manisehen  ürkundenrechts  entwickelte  Aus- 
bildung der  Wertpapiere,  insbesondere  der 
Order-  und  Inhaberpapiere;  auf  das  Kredit- 
UDd  Zahlungsgeschäft  insbesondere  des  Bank- 
verkehrs, welches  nahezu  in  seiner  heutigen 
Gestalt  vollentwickelt  ist.  Für  den  Seever- 
kehr ist,  neben  dem  aUmählich  durchdringen- 
den reifen  römischen  Recht  auch  mancher 
wichtige  neue  Rechtssatz,  z.  B.  hinsichtlich 
der  Haftung  des  Reeders,  hinsichtlich  der 
Reederei,  des  Frachtgeschäfts,  vornehmlich 
diurch  die  Ausbildung  des  Konnossements, 
zur  Geltimg  gelangt.  Aus  dem  antiken 
Seedarlehn  hat  sich  auf  der  einen  Seite  die 
Prämienassekuranz,  auf  der  anderen  Seite 
die  schriftliche  Geldrimesse  herausgebildet, 
welche  zunächst  in  Form  des  domizilierten 
Eigenwechsels,  seit  dem  Ausgange  des  14. 
Jahrhunderts,  insbesondere  in  Form  der 
Tratte  (namentlich  Messtratte)  zum  wich- 
tigsten Werkzeug  des  interlokalen  wde  inter- 
nationalen geldwirtschaftlichen  Kreditver- 
kehrs  wird  und  bereits  in  den  Kaufmanns- 
«tatuten  von  Bologna  1509  eine  unnrfassende 
statutarische  Regelung  findet,  (üeber  aU 
dies  im  einzelnen  meine  Universalge- 
schichte S.  237 — 465,  wo  auch  die  Special- 
litteratur  angeführt  ist.) 

7.  Das  romanische  Handelsrecht  wird  in 
der  Hauptsache  auch  im  östlichen  und  nörd- 
lichen Europa  recipiert.  Diese  Reception 
hat  allmähhch  seit  Ausgang  des  Mittelalters 
stattgefimden,  teils  direkt  im  internationalen 
Handelsgebrauch,  teils  unter  dem  Einfluss 
der  überall  verbreiteten  italienischen  Kauf- 
leute und  der  romanischen  Litteratur.  Aus 
den  Entscheidungen  der  italienischen  Ge- 
richte, insbesondere  der  rota  Genuae,  aus 
den  italienischen  Schriftstellern  des  16.,  17., 
18.  Jahrhimderts :  Stracca,  Scaccia,  Rafael 
de  Turn,  Gardinalis  de  Luca,  Roccus,  An- 
^dus,  Casaregis  schöpfte  überall  die  ge- 
lehrte Doktrin  und  Praxis.  Man  sehe  z.  B. 
den  tractatus  de  iure  commerciorum  des 
Lübecker  Bürgermeisters  Job.  Marquard 
1662.  Denn  der  neue  geldwirtschaftliche 
Kreditverkehr  findet  in  diesem  romanischen 
Rechte  seine  entsprechendste  Regelung,  und 
das  dürftigere,  wie  überall  partikular  zer- 
-splitterte  einheimische,  insbesondei-e  das 
deutsche  Recht  unterliegt,  wie  dem  reicheren 
und  universalen  römischen  Civilrecht,  so 
auch  dem  durch  die  gleichen  Eigenschaften 
-ausgezeichneten  Handelsrecht  der  Mittel- 
meerstaaten. Namentlich  lässt  sich  in 
F'landern  und  Brabant,  wo  Brügge,  später 
Antwerpen  Mittelpunkte  eines  umfassenden 
•europäischen  Verkehrs  bilden,  bereits  im 
15.  Jahrhundert  das  wachsende  Eindringen 
des  italienischen  Rechts  verfolgen,  wie  auf 
der  anderen  Seite  insbesondere  die  seit  dem 
13.  Jahrhundert  festgeordnete,  vorwiegend 
oberdeutsche  Faktorei  in  Venedig,  das  Kauf- 


und Lagerhaus  der  Deutsehen  (fondaco  dei 
Tedeschi),  die  Kenntnis  des  italienischen 
Handelsgebrauchs  vermittelt.  (Thomas, 
Das  Kapitular  des  Deutschen  Hauses  in 
Venedig,  1874.  Simonsfeld,  Der  fondaco 
dei  Tedeschi  in  Venedig,  2  Bde.,  1887.) 
Das  überreiche  Material  des  niederländisch- 
belgischen,  deutschen,  englischen,  skandina- 
vischen Statutar-,  Gesetzes-  und  ürkunden- 
rechts,  die  Masse  der  Zunftrollen  und  Gilde- 
statuten zeigt  zwar  bedeutsame  Ansätze  zu 
selbständiger  Ausbüduug  des  Handelsrechts, 
doch  findet  sich  nur  weniges  darin,  was  die 
Reception  des  romanischen  Ebndelsrechts 
überdauert  und  so  zur  universalen  Geltung 
gelangt  ist.  Ueberall  w^ar  die  Innungsge- 
richtsbarkeit dürftiger  entwickelt  als  in 
Italien,  der  Umfang  autonomer  Rechtsbildung 
ein  weitaus  geringerer.  (Man  vgl.  z.  B. 
Pauli,  Lübeckische  Zustände  im  Mittel- 
alter, L— 111.,  1846/78.  Th.  Hirsch,  Danzigs 
Handels-  und  Gewerbsgeschichte,  1858. 
Neumaun,  Beilageheft  zur  Zeitschi-.  f. 
das  ges.  Handelsrecht,  Bd.  VH.  Gengier, 
Deutsche  Stadtrechtsaltertümer,  1882.  lir  e  u  - 
mann,  Geschichte  des  Wuchers  in  Deutsch- 
land, 1865.  Ferner  die  Specialwerke,  z.  B.  über 
Basel  [Geering],  Strassburg  [Seh moller] 
u.  V.  a.  J.Falke,  Geschichte  des  deutschen 
Handels  I,  H,  1859/60).  Sogar  der  mäc^htige 
Bund  der  deutschen  Hanse,  wie  hoch  auch 
seine  politische  und  wirtschaftliche  Bedeutung 
vornehmlich  für  das  nördliche  Europa  Jahr- 
hunderte hindurch  gewesen  ist,  hat  doch  in 
seinen  Rechtssatzungen,  insbesondere  den 
Recessen  der  Hansetage,  den  Statuten  der 
hansischen  Kontore  u.  a.  m.  nur  wenige 
dauernde  Schöpfungen  hervorgebracht.  (Vgl. 
Sa  rtorius -Lappenberg,  urkundliche 
Geschichte  des  Ursprungs  der  deutschen 
Hanse,  1830,  2  Bde.,  insbesondere  die  Pub- 
likationen seit  1872:  Hanserecesse,  in 
3  AbteUungen  [1256—1430;  1431—1476; 
1477—1530]  bisher  16  Bde.  i).  H  ö  h  1  b  a  u  m , 
Hansisches  ürkundenbuch ,  bisher  3  Bde., 
1876/86.2)  Hansische  Geschichts- 
blätter seit  1872.  D.  Schäfer,  Die 
Hansestädte  u.  König  Waldemar  von  Däne- 
mark, 1879  u.  V.  a.)  Niu:  das  Seerecht 
zeigt  wichtige  Eigentümlichkeiten,  welche 
sich  über  das  Mittelalter  hinaus  behauptet 
haben :  eine  kodifizierende  Zusammenfassung 
enthält  der  Recess  von  1591,  revidiert  als: 
Der  Ehrsamen  Hansestädte  Schiffsordnung 
und  Seerecht  1614.  Das  »Waterrecht«,  d.  h, 
die  den  Namen  des  Wisby 'sehen  Seerechts 
tragende,  zuerst  1505  in  dem  ^genwärti- 
gen  Umfange  publizierte  Kompilation  (am 
besten  Schlyter,  Corpus  iuris  Sueo-Gotomm 
antiqui  vol.  VTEI :  Wisby  stadslag  och  sjörätt. 


*)  Jetzt  21  Bde. 
*)  Jetzt  6  Bde. 


1054 


Handelsrecht 


Lund  1853)  ist  in  ihrem  ersten  Hauptteile 
dem  Seerecht  von  016ron  entlehnt,  in  ihrem 
zweiten  Hanptteile  auf  der  Grundlage  des 
ersten,  wahrscheinlich  1407  zu  Amsterdam 
für  das  hansische  Kontor  zu  Brügge  festge- 
stellt, endlich  durch  mancherlei  Zusätze, 
insbesondere  aus  dem  lübisch-hambiu^ischen 
Rechte  erweitert. 

4.  Das  H.  der  neueren  Zeit.  1.  In- 
folge der  Entdeckung  des  Seeweges  nach 
Indien  und  der  neuen  Weltteile,  des  Vor- 
dringens der  osmanischen  (türkischen)  Macht, 
der  spanischen  Herrschaft  über  einen  Teil 
Italiens  und  der  südlichen  Niederlande,  der 
politischen  und  wirtschaftlichen  Centralisa- 
tion  der  mittel-  und  nordeuropäischen 
Staaten  mit  Ausnahme  Deutschlands  geht 
die  Seeherrschaft  von  Italien  und  Deutsch- 
land zeitweise  auf  die  Staaten  am  atlanti- 
schen Ocean  über.  Die  neuen  Weltteile, 
später  Indien  und  beträchtliche  Gebiete 
Nord-  und  Ostasiens  werden  europäische 
Kolonialstaaten,  an  denen  Italien  und  Deutsch- 
land, trotz  anfänglichen  Mitbewerbes  im  in- 
dischen Handel,  keinen  Anteil  haben.  Die 
Besitzer  der  neu  entdeckten  oder  zugäng- 
licher gewordenen  Kontinente,  Portugal  und 
Spanien,  demnäclist  die  nach  glorreichem 
Befreiungskampfe  zu  hoher  wirtschaftlicher 
und  Kulturbh'Ue  aufsteigenden  nördlichen 
Niederlande  monopolisieren  den  Kolonial- 
handel; insbesondere  wird  Amsterdam  der 
Hauptmarkt  wie  der  ostindischen  so  der 
nordischen  Waren,  im  17.  Jahrhundert  der 
europäische  Geldmarkt,  seine  Börse  nimmt,, 
wie  heute  die  Londoner,  eine  weltbeherr- 
schende Stellung  ein.  Mit  Cromwell,  dau- 
ernd seit  dem  18.  Jahrhundert  beginnt  die 
industrielle  und  maritime  VorheiTSchaft 
Englands,  welchem  im  19.  Jahrhundert 
rivalisierend  der  grosse  noixlamerikanische 
Freir*taat  zur  Seite  tritt.  Frankreich  gelangt 
seit  Heinrich  IV.  durch  glückliche  Erobe- 
nmgskriege  und  geschickte,  vielfach  vorbild- 
liche Verwaltung  (SuUy,  Richelieu,  Colbert) 
zu  wirtschaftlicher  Blüte,  während  seine 
Kolonialpolitik  ohne  dauernde  Erfolge  bleibt. 
Deutschland  strebt  nach  dem  tiefen  wirt- 
schaftlichen Niedergang,  welcher  sich  vor- 
nehmlich an  den  fm-chtbaren  di*eissigjährigen 
Krieg  knüpfte,  zunächst  in  seinen  Einzel- 
staaten, vor  allen  in  Brandenburg-Preussen, 
wieder  empor,  aber  erst  in  dem  Zollverein 
(1833)  ward  es  zum  grösseren  Teile  wirt- 
schaftlich, in  dem  Deutschen  Reiche  (1870. 71) 
wirtscliaftlich  wie  j)olitisch  voU  geeinigt. 
Endlich  hat  auch  Italien  die  im  Mittel- 
alter stets  vergeblich  angestrebte  staat- 
liche Einheit  in  dem  letzten  Menschenalter 
tm-eicht. 

2.  Wenn   die  EntdtX'kung  und    leichtere 
Zugänglic'hkoit    der    entfernteren    Weltteile 
eine    uuennessliche   Zunahme    der   Waren- 1 
menge  (Kolonialwai*en ,   wie  Kaffee,    Thee, 


Zucker,  Baumwolle  u.  dgl.),  die  gesteigerte 
industrielle  Thätigkeit  das  gewaltige  An- 
wachsen der  Industrieerzeugnisse  hervorruft 
so  entspricht  die  gleichfalls  erheblich  ge- 
wachsene Gold-  und  Silberproduktion  doch 
nicht  annähernd  dem  Bedürfnis  an  Zahlungs- 
mitteln. So  gelangt  der  Metallgeld  spai*ende 
Kreditverkehr  zu  seiner  vollen  Ausbildung; 
seine  Werkzeuge  sind  der  sich,  insbesondere 
durch  das  Giro  vervollkommnende  Wechsel 
nebst  den  anderweitigen  Geldpapieren  (Bank- 
noten, Checks,  Anlehenspapieren)  und  der 
sinnreiche  Mechanismus  der  Abrechnungs- 
operationen. Bank-,  Assekiu^anzgeschäft, 
Kolonialhandel,  in  wachsendem  Umfang  be- 
trieben, erfordern  die  volle  Durchbildung 
des  Systems  der  beschränkten  Haftung,  wie 
es  in  den  Aktienvereinen,  den  Kommandit- 
und  Aktienkommanditgesellschaften  zu  Tage 
tritt.  Das  immer  mehr  verknöchernde  und 
zur  Lösung  wirtschaftlicher  Aufgaben  un- 
fähige Zunftwesen  wiitl  zuerst  in  England 
gebrochen,  später  in  Frankreich  und  dem 
übrigen  Europa,  aber  die  den  Selbständig- 
keitstrieb erstickende,  wenngleich  energisch 
reformierende  Staatspolizei  (SchmoUer,  Jahrb. 
für  Volkswirtschaft,  VIII)  vermag  auf  die 
Dauer  die  Wiederbelebung  genossenschaft- 
licher Organisation  (insbesondere  englisch- 
deutsche Erwerbs-  und  Wirtschaftsgenossen- 
schaften) nicht  zu  hindern. 

Wachsende  finanzielle  Bedtlrfnisse  der 
Staaten,  Gemeinden,  Aktienvereine  führen 
zur  Vervollkommnung  der  Anlehenssysteme ; 
Aktienbriefe  und  Anlehenspapiere  werden 
Objekt  der  Kapitalanlage  wie  des  handels- 
mässigen  Umsatzes,  und  es  bildet  sieh  der 
neue  Geschäftszweig  des  sog.  Papier-  oder 
Effektenhandels  mit  originellen,  später  auch 
auf  den  Warenhandel  übertragenen  Ge- 
schäftsformen, schon  früh  ziu*  Agiotage 
(Börsenspiel)  ausartend.  Der  Gegensatz  des 
Platz-  und  (ies  Distanzgescliäfts  in  Abschluss 
und  Erfüllung  bildet  sich  zufolge  der  ge- 
steigerten Kommunikationsmittel  scliärfer 
heraus.  Neben  und  zum  Teil  an  Stelle  der 
vorübergehenden  Märkte  und  Messen  treten 
die  Börsen  als  ständige  Mittelpunkte  des 
Grosshandels  und  Regulatoren  der  möglichst 
nivellierten  Marktpreise.  Endlich  tritt  neben 
die  sich  vervollkommnende  Schiffahrt  (Dampf- 
schiff, Eisenbau  etc.)  ebenbürtig  der  Gross- 
betrieb des  Landtransports  (Eisenbahnver- 
kehr) und  des  Nachrichten  Verkehrs  (Post, 
Telegi^phie,  Telephonie). 

3.  3Iit  den  Fort.^ch ritten  des  Wirtschafts- 
lebens hält  die  Entwickelung  des  Handels- 
rechts nicht  immer  gleichen  Schritt.  Denn 
die  gewohnheitliche  Rechtsbildung  war  viel- 
fach eingeengt  durch  verkehrte  Anschauungen 
über  das  Gewohnheitsrecht,  durch  die  Un- 
kenntnis der  gelehrten  Geri(^hte,  welche  nun 
in  steigendem  Masse  mit  der  Rechtsprechimg 
auch  in  Handelssachen  betraut  sind,   diux^h 


Handelsrecht 


1055 


reglementierende  und  immer  mehr  sich 
territorial  abschliessende  Gesetzgebung, 
welche  zur  Abschwächung  der  universalen 
Rechtsbildung  führt.  Immerhin  haben  selbst 
die  Kodifikationen,  welche  das  bisherige 
gemeine  Recht  und  Gewohnheitsrecht  völlig 
ausschlössen,  auf  die  Dauer  die  naturgemäss 
kosmopolitische  Entwickelung  des  Handels- 
i-echts  nicht  verliindert,  indem  das  fremde 
Gesetz  vielfach  vorbildlich  benutzt  oder  gar 
kopiert  und  so  mittelst  gegenseitiger  Ent- 
lehnung ein  Stamm  gemeinsamen  Rechts 
geschaffen  wurde. 

Am  wenigsten  hat  England  nebst  seinen 
Kolonialstaaten,  insbesondere  auch  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika,  die  handels- 
i-echtliche  Kodifikation  begtlnstigt ;  den 
Grundstock  des  Handelsrechts  bildet  hier 
noch  immer  das  als  Teil  des  common  law^ 
geltende,  in  der  Praxis  der  Obergerichte 
anerkannte  Handelsgewohnheitsrecht  (law^ 
merchant,  lex  mercatoria),  wenngleich  die 
Zahl  wie  der  Umfang  der  Handelsgesetze 
(Statutes)  in  stetem  Wachsen  begriffen  ist, 
in  den  amerikanischen  Einzelstaaten  vielfach 
eine  höchst  umfassende  Handelsgesetzgebung 
besteht. 

Wenn  aber  bereits  die  revidierten  Kauf- 
mannsstatuten der  italienischen  und  spani- 
schen Handelsstädte  eine  nahezu  erschöpfende 
Fixierung  des  Handelsrechts  anstreben,  so 
wurde  das  gleiche  Ziel  für  ein  grosses 
Staatsgebiet  insbesondere  in  Frankreich  seit 
dem  17.  Jahrh.  verfolgt.  Mit  den  beiden 
berühmten  Handelsgesetzen,  der  Ordonnance 
du  commerce  1673  und  der  Ordonnance  de 
la  marine  1681  tritt  dasselbe  an  die  Spitze 
zwar  nicht  der  Entwickelung  des  Handels, 
aber  doch  des  Handelsrechts;  wesentlich 
auf  ihnen  beruht  der  noch  jetzt  geltende 
Code  de  commerce  von  1807 ,  welcher  für 
einen  grossen  Teil  der  civilisierten  Welt 
direkt  oder  indirekt  zur  Herrschaft  gelangt 
ist.  An  die  beiden  ersterwähnten  Gesetze 
schliesst  sich  auch  die  revidierte  Handels- 
ordnung von  Bilbao  von  1737,  die  Grund- 
lage des  späteren  spanischen  Handelsrechts. 

In  den  deutschen  Territorien  bestanden 
die  zahlreichsten  Stadt-  und  Landrechte  wie 
Eiuzelgesetze  verschiedenster  Benennung 
und  Inhalts:  Markt-,  Mess-,  Börsen-,  Mer- 
kantil-, Prokuren-,  Firmen-,  Wechselord- 
nungen, Seegesetze  etc.  Der  preussische 
Staat  erhielt  gemeinsames  Recht  in  der 
AVechselordnung  von  1751,  der  Assekuranz- 
und  Havereiordnimg  1766;  ein  erstes,  unter 
überwiegendem  Einfluss  hamburgischer  Kauf- 
lente  und  Jiu'isten  verfasstes,  vollständiges 
kodifiziertes  Handelsrecht  als  Teil  des  All- 
gemeinen Jjandreehts  von  1794:  IL  §§  475 
bis  2464,  welchem  dann  als  ei'stes  selb- 
sständijres  Handelsgesetzbuch  der  französi- 
selie  Code  de  commerce  folgte    und  alsbald 


auch  in  zahlreichen  Teilen  Deutschlands  ge- 
setzliche Aufnahme  fand, 

4.  Der  unleidlichen,  immer  tiefer  em- 
pfundenen Rechtszersplitterung  haben  für 
Deutschland  abgeholfen:  die  vortreffliche 
Allgemeine  Deutsche  Wechselordnung,  ver- 
faSvSt  1847,  nebst  den  ergänzenden  und  modi- 
fizierenden sogen.  Nürnberger  Novellen,  ver- 
fasst  1861;  das  Allgemeine  Deutsche  Han- 
delsgesetzbuch, verfasst  1857 — 1861;  die 
Bundes-  bezw.  Reichsgesetze,  welche  diese 
ursprünglich  partikulär  eingeführten  Gesetz- 
büclier  zum  Bundes-  bezw.  Reichsrecht  er- 
hoben imd  dessen  einheitliche  Anwendung 
garantiert  haben  (G.  v.  5.  Juni  und  12.  Juni 
1869);  endlich  zahlreiche  ergänzende,  teil- 
weise abändernde  Reichsgesetze  (zusammen- 
gestellt mit  den  beiden  Gesetzbüchern  z.B. 
in  der  Ausgabe  von  Schröder,  7.  Aufl.  1891 ; 
Friedberg  1890 1). 

5.  Neben  diesem  so  kodifizierten  Deut- 
schen Handelsrecht,  welches,  mit  Aus- 
schluss des  Seerechts,  wenig  modifiziert 
auch  in  den  cisleithanischen  Teilen  der 
österreichischen  Monarchie  gilt,  be- 
stehen zur  Zeit  folgende  Rechtsgebiete: 

Das  Gebiet  des  englischen  (bezw. 
nordamerikanischen)  Rechts  —  von  welchem 
das  schottische  Recht  wesentlich  abweicht; 
Gresetzbücher  bestehen  in  einzelnen  Kolo- 
nieen,  z.  B.  in  Malta  (1857)  und  Nieder- 
canada  (1866). 

Das  Gebiet  des  französischen  Han- 
delsrechts, zu  welchem,  nach  französischer 
Auffassung,  auch  das  Konkursrecht  gehört. 
Der  jetzt  in  der  Hauptsache  veraltete  Code 
de  commerce  ist  durch  zahlreiche  neue  Ge- 
setze sehr  erheblich  ergänzt  und  modi- 
fiziert —  eine  Revision  des  ganzen  Societäts- 
rechts  ist  im  Gange.  Er  gilt  noch  gegen- 
wärtig im  Königreich  Polen  und  in  Luxem- 
burg; ist  wenig  verändert  übergegangen  in 
die  Handelsgesetzbücher  von  Griechenland, 
der  ionischen  Inseln,  des  Fürstentums  Mo- 
naco, der  Türkei  und  Aegyptens,  San  Do- 
mingos und  Haitis,  früher  auch  Rumäniens 
(1841  bezw.  1863);  er  bildet  endlich  die 
Hauptgrundlage  des  Holländischen  Han- 
delsgesetzbuches (1838),  obwohl  dasselbe  im 
See-  und  Versicherungsrecht  mehr  dem 
älteren  einheimischen  Recht  folgt  (für  Han- 
delspapiere, insbesondere  Wechsel,  ist  ein 
Gesetzentwurf  auf  deutscher  Grundlage  aus- 
gearbeitet, 1886),  sowie  der  zahlreichen 
älteren  Handelsgesetzbücher  der  italienischen 
Einzelstaaten  und  noch  des  gemeinsamen 
italienischen  Handelsgesetzbuchs  von    1865. 

Das  Gebiet  des  spanisch-portugie- 
sischen Handelsrechts.  Mutterrechte  sind 
das  spanische  Gesetzbuch  von  1829  und  das 


*)  5.  Auflage  mit  dem  neuen  Handelscresetz- 
buch  1899. 


1056 


Handelsrecht 


sehr  originelle  portugiesische  von  1833,  beide 
stark  beeinflusst  vom  älteren  einheimischen 
wie  französischen  Recht;  Tochterrechte 
sind  die  Gesetzbücher  der  spanischen  und 
portugiesischen  Kolonialstaaten  Amerikas, 
nämlich  von  Brasilien  (1850),  La  Platar 
Staaten  und  Argentinien  (1869,  1862,  jetzt 
neu  1889),  Peru  (1853),  Chile  (1865),  u.  a.  m., 
zuletzt  Mexiko  (1857,  jetzt  neu  1889).  In 
allen  diesen  Staaten  ist  die  frühere  Geltung 
der  Ordenanzas  von  Bilbao  beseitigt;  ein- 
zelne haben  wieder  von  einander  ihr  Gesetz- 
buch entlehnt,  z.  B.  Uruguay  (Montevideo) 
und  Paraguay  von  Argentinien,  Hondiu-as 
von  Chile. 

Das  Gebiet  des  französisch-deut- 
schen Handelsrechts,  d.  h.  Gesetzbücher 
auf  wesentlich  französischer  Gnmdlage,  aber 
mehr  und  minder  stark  beeinflusst  von  dem 
neuen  deutschen  Recht.  So  das  Gesetzbuch 
von  Serbien  (1860),  das  in  den  Jahren  1867  ff. 
allmählich  revidierte  belgische  Handels- 
gesetzbuch und  das  neue  italienische 
Handelsgesetzbuch  (1882).  Das  letztere 
wiederum  ist  stark  benutzt  in  dem  neuen 
spanischen  Handelsgesetzbuch  (1885)  und 
ist  in  der  Hauptsache  übergegangen  in  das  neue 
rumänische  Handelsgesetzbuch  (1887) 
wie  das  neue  portugiesische  Handels- 
gesetzbuch (1888). 

Das  Gebiet  des  modifizierten  deut- 
schen Handelsrechts,  d.  h.  selbständige 
"Gesetzbücher,  aber  wesentlich  auf  der  Grund- 
lage des  deutschen  Handelsgesetzbuchs  und 
der  deutsehen  Wechselordnung.  Dahin  ge- 
hören das  Handelsgesetz  für  das  Königi*eich 
Ungarn  (1875),  desgleichen  Wechselgesetz 
<1876);  eine  nicht  immer  glückliche  Modi- 
fikation der  deutschen  Gesetzbücher;  das 
schweizerische  Bimdesgesetz  über  das 
Obligationenrecht  (1881),  welches  auch  Han- 
<lel8recht  und  Wechselrecht  in  origineller, 
Aber  nicht  immer  klarer  Verbindung  mit 
•dem  gemeinen  Civilrecht  enthält;  für  das 
Wechselrecht  auch  die  drei  skandinavischen 
Reiche  (1880)  und  Finland  (1859);  für  das 
Seerecht  einstweilen  Schweden  (1864,  ins- 
besondere 1891),  Finland  (1873)  —  Nor- 
wegen und  Dänemark  werden  sich  an- 
scmiessen,  indem  ein  in  Schweden  bereits 
publizierter  gemeinsamer  skandinavischer 
Entwurf  vorliegt^).  Wesentlich  das  un- 
garische Handelsgesetz  ist  adoptiert  in  dem 
Handelsgesetzbuch  für  Bosnien  und  die  Her- 
zegowina (1883). 

Das  Gebiet  des  skandinavischen 
Rechts  —  sehr  verschieden  für  Schweden 
einerseits,  für  Dänemark  und  Norwegen 
andererseits,  in  der  Hauptsache  nicht  kodi- 
fiziert. Der  Einfluss  des  deutschen  Handels- 


*)  Die  See^esetze  fiir  Dänemark  und  Nor- 
wegen 8ind  1892  und  1893  erlassen  worden. 


rechts  ist  im  Steigen,  in  den  Materien  des 
Wechselrechts  und  Seerechts  bereits  durch- 
gedrungen. 

Das  Gebiet  des  russischen  Rechts. 
Das  russische  Handelsgesetzbuch  bildet  einen 
Teil  des  eine  systematische  Zusammen- 
stellung älterer  Gesetze  (Inkorporation,  nicht 
Kodifikation)  darstellenaen  russischen  Ge- 
setzkodex (Swod  sakönow),  welcher  in  revi- 
dierten Ausgaben  publiziert  wird  (zuletzt 
1887.  Eine  deutsche  üebersetzung  des 
grössten  Teils  von  V.  v.  Zwingmann,  Riga 
1889).  Für  das  Wechselrecht  liegt  ein  1882 
veröffentlichter,  1883  revidierter  Entwurf  auf 
deutscher  Grundlage  vor.  Finland  hat, 
ausser  den  bereits  erwähnten  neuen  Gesetzen, 
zum  Teil  schwedisches  Recht:  in  den  Ost- 
seeprovinzen gilt  in  erster  Linie  das  kodi- 
fizierte Provinziakecht  (Liv-,  esth-  und  kur- 
ländisches  Privatrecht  1864):  überwiegend 
deutsches  Handelsrecht. 

Endlich  hat  auch  Japan  ein  wesentlich 
auf  deutscher  Grundlage  verfasstes  und 
pubüziertes,  aber  noch  nicht  in  Kraft  ge- 
tretenes Handelsgesetzbuch  erhalten  (1890)^). 

Die  vorstehende  üebersicht  zeigt  dass 
das  gesetzlich  fixierte  oder  gar  kodifizierte 
Handelsrecht  gegenüber  dem  Handelsgewohn- 
heitsrecht  überall  im  Vordringen  ist.  Der 
Umfcing  des  gesetzlichen  Handelsrechts  ist 
freilich  verschieden.  So  sind  das  Verlags- 
recht, das  Binnenschiffahrtsrecht,  das  Binnen- 
versichemngsrecht,  zahlreiche  Bankgeschäfte 
noch  im  deutschen  Handelsgesetzbuch  und 
dessen  reichsgesetzlichen  Ergänzimgen  nicht 
geregelt,  während  sie  in  einzelnen  neueren 
Gesetzbüchern  eine  mehr  oder  minder  um- 
fassende Normierung  gefiuiden  haben  und 
bei  der  bevorstehenden  Revision  des  deut- 
schen Handelsgesetzbuches  gesetzlich  fixiert 
werden  sollen.  Während  ferner  in  den  Q^ 
setzbüchern  auf  französischer  Grundlage 
das  Konkursrecht,  zum  Teil  auch  das  Han- 
delsprozessrecht ausführlich  geregelt  sind, 
gehört  das  erstere  nach  deutscher  An- 
schauung gar  nicht  dem  Handelsrecht  an, 
und  ist  das  letztere  in  der  deutschen  Ge- 
richtsverfassung imd  der  deutschen  Prozess- 
ordnung enthalten,  während  in  einzelnen 
Staaten  (z.  B.  Holland,  neuerdings  in  Italien 
und  Spanien)  die  besondere  Handelsgerichts- 
barkeit völlig  beseitigt  ist.  — 

Nicht  mehr  vollständig  ist  die  Zusam- 
menstellung der  Handelsgesetze,  welche  in 
nicht  immer  zuverlässigen  Cebersetzungen 
geben : 

S,  Borchardt,  Vollständige  Sammlung 
der  deutschen  Wechselgesetze  und  der  aus- 
ländischen Wechselgesetze  in  deutscher 
üebersetzung,  2  Bde.  1871.  0.  Borchardt, 
Sammlung  der  seit  1871  publizierten  Wechsel- 

«)  In  Kraft  getreten  am  16.  Juni  1899. 


Handelsrecht 


1057 


gesetze  mit  Uebersetzung  und  Anmerkungen, 
1883,  und  IN'achtrj^  (das  italienische  Wech- 
selgesetz), 1883.  0.  Borchardt,  Die  gel- 
tenden Handelsgesetze  des  Erdballs,  gesam- 
melt und  ins  Deutsche  übertragen.  Erste 
Abteilung:  Die  kodifizierten  Handelsgesetze, 
Bd.  I,  2.  Aufl.  1884,  Bd.  II— Y  und  Re- 
gister. 1884/87 1).  Fortlaufende  Mitteilungen 
enthalten  die  Zeitschrift  für  das  ge- 
samte Handelsrecht  von  Qoldschmidt, 
Laband  u.  a.  (seit  1858)  und  das  A  n  n  u  a  i  r  e 
de  l^gislation  ötrang^re,  Paris  (seit 
1872),  dazu  Annuaire  de  l^slation  fran<?aise, 
Paris  (seit  1882),  endlich  die  Annales  de 
droit  commercial  et  industriel  francais, 
^tranger  et  international,  publikes  par  E. 
ThaDer,  Paris  (seit  1886). 

Mit  seiner  Gesetzgebung,  seiner  hervor- 
ragenden Doktrin  und  Praxis  (0.  A.  G-.  Lü- 
beck, Reichsoberhandelsgericht,  Reichsge- 
richt) ist  Deutschland  seit  dem  letzten  Men- 
schenalter an  die  Spitze  der  europäischen 
Handelsrechtsent^ickelung  getreten  und  hat 
den  bis  dahin  vorherrschenden  Einfluss  des 
französischen  Rechts  erheblich  zurückge- 
drängt. Aber  ein  einträchtiges  Zusammen- 
arbeiten der  grossen  Kidturnationen  ist  ins- 
besondere auf  diesem  Gebiete  notwendig  und 
trägt  reiche  Früchte.  Sogar  eine  auf  ver- 
tragsmässiger  Regelung  beruhende  Aus- 
gleichung der  noch  zahlreichen  Rechtsver- 
schiedenheiten wird  nicht  ohne  Erfolg  er- 
strebt, auf  diesem  Grebiete  der  alte  Traum 
der  Rechtsuniversalität  (non  erit  alia  lex 
Romae,  alia  Athenis)  annähernd  zu  ver- 
wirklichen gesucht.  Dahin  gehören  die 
internationalen  Post-  und  Telegraphenver- 
träge (zuletzt  vereinbart  1891/92);  die  inter- 
nationale Meterkonvention  (1875);  das  inter- 
nationale Uebereinkommen  über  den  Eisen- 
bahnfrachtverkehr (1891) ;  die  von  der  asso- 
ciation  for  the  codification  of  the  law  of 
nations*)  und  dem  institut  de  droit  inter- 
national, sowie  zahlreichen  anderen  Yer- 
einigungen  aufgestellten  Entwürfe  eines  ge- 
meinsamen europäischen  Wechselrechts, 
Havereirechts,  Seefrachtrechts,  welche  in 
den  von  der  belgischen  Regierung  berufenen 
internationalen  Handelsrechtskongressen  zu 
Antwerpen  und  Brüssel  (1885,  1888)  weitere 
Förderung  erfahren  haben  (Uebersicht:  mein 
Handbuch  I^  §  38,  Georg  Cohn,  Drei 
rechtswissenschaftliche  Vorträge  (1888),  III. 
Meili,  Die  internationalen  Unionen  [1889]). 

Weniger  als  je  erscheint  endlich  aie  von 
einigen  Jiiristen  (in  Deutschland  namentlich 
von  Endemann  [früher]  und  von  Demburg, 
in  Italien  von  Vivante  und  Bolaffio,  in  Hol- 
land von  Molengraaff)  verfochtene  Ansicht 
sachentsprechend,  es  müsse  die  schmerzlich 

*)  Dazu  drei  Nachträge  1893/96. 

*)  Jetzt  International  Law  Association. 

Handwörterbuch  der  Staats  Wissenschaften.    Zweite 


vermisste  Einheit  des  gesamten  bürgerlichen 
Hechts  dadurch  hergestellt  werden,  dass  das 
Handelsrecht  als  besonderer  Hechtszweig  in 
dem  allgemeinen  bürgerlichen  Recht  aufgehe. 
Eine  solche  Unifikation  entspricht  weder 
der  geschichtlich  begründeten  relativen  Selb- 
ständigkeit des  Handelsrechts  noch  dem 
besonderen  Bedürfnis  des  grossen,  zumal 
internationalen  Verkehrs,  welcher  gebieterisch 
ein  seinen  eigentümlichen  Zwecken  geeignetes 
Recht  erheischt.  Auch  die  immerlün  nur 
in  zweiter  Linie  wichtige  Sonderung  des 
Handelsrechts  in  einem  eigenen  Gesetzbuch 
empfieliit  sich  aus  praktischen  Gründen  imd 
ist  von  den  legislativen  Faktoren  Deutsch- 
lands einmütig  als  unumgänglich  anerkannt 
(s.  den  Bericht  der  Vorkommission  für  das 
bürgerliche  Gesetzbuch  und  den  Beschluss 
des  Bundesrates  1874  in  der  Zeitschrift  für 
Handelsrecht  XX,  S.  134  ff.  und  meine 
Universalgeschichte  S.  10  ff.).  Nur  versteht 
sich,  dass  mit  der  Kodifikation  des  bürger- 
lichen Rechts  manche,  nur  wegen  des 
Mangels  eines  gemeinsamen  bürgerlichen 
Rechts  in  das  Handelsgesetzbuch  aufge- 
nommenen Rechtssätze,  als  nunmehr  ent- 
behrlich, aus  diesem  ausgemerzt  werden 
müssen.  (S.  auch  Riesser,  Zur  Revision 
des  Handelsgesetzbuchs  Abt.  1,  2,  1887/89, 
insbesondere  Abt.  2  S.  387  ff.)  Im  übrigen 
ist  es  nicht  Aufgabe  der  Gesetzgebung,  auf 
Kosten  des  obersten  Reehtszweckes,  welcher 
eine  angemessene  Ordnung  der  Lebens- 
verhältnisse erheischt,  eine  nur  formale 
Rechtsgleichheit  zu  schaffen,  welche 
sich  als  völlig  unzureichend  erweist,  die 
vielfach  auseinandergehenden  oder  gar 
widerstreitenden  Interessen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  gleichmässig  zu  befrie- 
digen. — 

Ooldschtnidt, 


IL    Geschichtliche    Entwickelung     der 

neuesten  Zeit. 

Der  Zeitraum,  welcher  seit  dem  Er- 
scheinen der  ersten  Auflage  dieses  Werkes 
verstrichen  ist,  ist  trotz  seiner  Kürze  für 
die  Fortentwickelung  zumal  des  deutschen 
Handelsrechts  von  ausserordentlicher  Be- 
deutung gewesen.  Unter  dem  Einflüsse 
vornehmlich  dreier  Momente  hat  dasselbe 
die  ihm  zur  Zeit  eignende  Gestalt  ange- 
nommen: der  Herstellung  eines  in  der 
Hauptsache  einheitlichen  bürgerlichen  Rechts, 
der  Verdrängimg  einer  wesentlich  individua- 
listischen durch  eine  mehr  sozialistische 
Gesellschaftsanschauung  und  der  fortschrei- 
tenden Schaffung  eines  den  Welthandel  be- 
herrschenden, gemeinsamen  Verkehrsrechts 
der  an  ihm  vorzüglich  beteiligten  Nationen. 

1.  So  lange  Deutschland  ein  einheitliches 
Privatrecht  nicht  besass,  hatte  das  die  Haupt* 

Auflage.    IV.  67 


1058 


Handelsrecht 


masse  des  Handelsrechts  regelnde  Gesetz- 
buch eine  wesentlich  weiter  reichende  Be- 
dentung  als  die  einer  Kodifikation  des  für 
den  Ifandel  geltenden  Sonderrechts.  Es 
enthielt  bereits  zu  einer  Zeit,  wo  die  poli- 
tische Einigung  Deutschlands  nur  eine  lose 
war,  filr  einen  hochbedeutsamen  Teil  des 
bürgerlichen  Verkehrs  eine  thatsächlich  ein- 
heitliche Regelung,  die  dann  mit  der  Auf- 
richtung des  Deutschen  Eeichs  bald  zu  einer 
auch  gesetzlich  einheitlichen  wurde.  Nirgends 
früher  und  zugleich  kräftiger  hatte  sich  der 
Gedanke  der  deutschen  Einheit  Ausdruck 
verschafft  als  in  der  Handelsgesetzgebung. 
Ueber  dem  mosaikartig  zusammengesetzten 
Boden  des  in  Deutschland  geltenden  bürger- 
lichen Rechts  wölbte  sich  die  eine  Kuppel 
des  besonderen  Handelsrechts.  Gesetz- 
gebung, Reditsprechung  und  Wissenschaft 
konnten  für  seine  Fortbildung  in  nationalem 
Sinne  ihre  beste  Kraft  verwenden,  während 
das  partikuläre  Civilrecht  schon  infolge 
seiner  Zersplittenmg  einer  gleich  frucht- 
bringenden Entwickelung  ermangeln  musste. 
Die  bevorzugte  Stellung,  die  das  Handels- 
recht in  dieser  Beziehung  dem  bürgerlichen 
Rechte  gegenüber  einnahm,  hat  es  durch 
das  Inkrafttreten  des  Bürgerlichen  Gesetz- 
buchs eingebüsst.  Es  wird  sogar  wahr- 
scheinlich aus  Gründen  verschiedener  Art 
fürs  erste  Mühe  haben,  neben  dem  all- 
gemeinen bürgerlichen  Recht  einen  eben- 
bürtigen Platz  zu  behaupten. 

Die  Notwendigkeit  einer  anlässlich  der 
Kodifikation  des  bürgerlichen  Rechts  vor- 
zunehmenden Revision  des  Handelsgesetz- 
buchs war  von  An&mg  an  erkannt  worden 
(s.  Zeitschrift  für  Handelsrecht  XX  S.  147  f., 
151ff.,  1541,  165f.,  170).  Das  Handels- 
gesetzbuch musste  nach  Form  und  Inhalt 
,  mit  dem  zu  schaffenden  Bürgerlichen  Ge- 
setzbuch in  Einklang  gesetzt  werden.  Mit 
der  Revision  zugleich  sollte  die  Vervoll- 
ständigung des  Gesetzbuchs  durch  Regelung 
einiger  der  in  ihm  bis  dahin  nicht  ent- 
lialtenen  Materien  (oben  S.  1056  Sp.  2)  statt- 
finden. Auch  abgesehen  hiervon  konnten 
bei  der  Veröffentlichung  eines  neuen  Han- 
delsgesetzbuchs die  mit  dem  bisher  geltenden 
gemachten  Erfahrun^n  nicht  unberück- 
sichtigt bleiben.  Die  unerwartet  lange 
Dauer  der  Herstellung  des  Bürgerlichen 
Gesetzbuchs  hat  zur  Folge  gehabt,  dass  die- 
jenige des  Handelsgesetzbuchs  schneller, 
als  erwünscht  gewesen  wäi^e,  erledigt  werden 
musste.  Dem  Rechte  der  Binnenschiffahrt 
war  inzwischen  in  dem  G.  v.  15.  Juni  1895 
(neue  Fassung  vom  20.  Mai  1898)  eine  selb- 
ständige reichsrechtliche  Regelung  zu  teil 
gewoi^ea.  Im  übrigen  ist  bei  der  Revision 
des  imter  dem  10.  Mai  1897  in  seiner  neuen 
Gestalt  veröffentlichten  (am  1.  Januar  1900 
in    Kraft    getreteneu)    Handelsgesetzbuchs 


nicht  nur  die  Vervollständigung  auf  einige 
kleinere  Materien  (Handlungsagenten ,  Han- 
delsmäkler, Lagei^schäft)  beschränkt  ge- 
blieben, sondern  es  haben  auch  die  bereits 
gesetzlich  geregelt  gewesenen  eine  den  Be- 
dürfnissen der  Gegenwart  entsprechende 
Neuordnung  nur  teilweise  und  in  sehr  ver- 
schiedenem Umfange  erfahren.  (Für  das 
einzelne  siehe  namentlich  die  dem  Reichstage 
vorgelegte  Denkschrift  zu  dem  Entwürfe 
eines  Handelsgesetzbuchs  und  eines  Ein- 
führungsgesetzes.) 

Zwei  Abweicnungen  principieller  Natiu- 
weist  das  neue  Handelsgesetzbuch  dem  alten 
gegenüber  unter  der  Einwirkung  der  Kodi- 
fikation des  bürgerlichen  Rechts  auL  Auf 
die  eine  von  ihnen  ist  von  Goldschmidt 
im  voraus  oben  (S.  1057  Sp.  2)  hingewiesen 
worden :  Zahlreiche,  zum  Teil  sehr  wichtige 
Vorschriften,  zumal  in  dem  Rechte  der 
Handelsgeschäfte,  sind  in  dem  neuen  Gesetz- 
buche nicht  mehr  enthalten,  weil  sie  durch 
das  Bürgerliche  Gesetzbuch  zu  Bestandteilen 
des  bürgerlichen  Rechts  überhaupt  geworden 
sind.  Die  andere  wichtige  Neuerung  besteht 
in  der  vom  bisherigen  Rechte  wesentlich 
abweichenden  Abgrenzung  des  Geltungsbe- 
reichs des  Handelsrechts.  Auf  der  einen 
Seite  unterwirft  das  geltende  Handelsgesetz- 
buch den  Nichtkaufmann,  der  mit  einem 
Kaufmann  in  rechtliche  Beziehungen  tritt, 
um  deswillen  den  besonderen  Vorschriften 
des  Handelsrechts  nicht  mehr  in  demselben 
Masse,  wie  dies  das  frühere  Recht  that: 
Das  Handelsrecht  ist  insofern  wieder  mehr 
zu  einem  Sonderrecht  des  Handelsstandes 
aus  einem  Sonderrecht  des  Handelsverkehrs 
geworden.  Auf  der  anderen  Seite  aber  wird 
gegenwärtig  in  weiterem  Umfange  als  bis- 
her die  Kaufmannseifenschaft,  also  die 
Zugehörigkeit  zum  Handelsstande,  durch  den 
Bctiieb  auch  eines  solchen  Unternehmens 
begründet,  das  nicht  seinem  Gegenstande 
nach  ein  handelsmässiges  ist,  sondern  nur 
»nach  Art  und  Umfang  einen  in  kaufmänni- 
scher Weise  eingerichteten  Geschäftsbetrieb 
erfordert«  (H.G.B.  §  2,  vgl.  auch  §  3).  Eine 
solche  Untei'stellung  unter  das  Handelsrecht 
lediglich  um  der  Form  des  Betriebes  willen 
fand  vor  dem  Inkrafttreten  des  geltenden 
Handelsgesetzbuchs  nur  statt  bei  eingetra- 
genen Genossenschaften,  bei  Aktienkomman- 
dit-  und  Aktiengesellschaften  und  nament- 
lich bei  den  durch  das  Reichsgesetz  vom 
20.  April  1892  geschaffenen,  in  schnell  und 
stetig  steigendem  Masse  vom  Verkehr  ver- 
wendeten Gesellschaften  mit  beschränkter 
Haftung.  Sie  können  »zu  jedem  gesetzlich 
zulässigen  Zweck«,  keineswegs  also  nur  be- 
hufs Betriebes  eines  gewerblichen  oder  gar 
nur  eines  handelsgewerblichen  Unternehmens 
errichtet  werden,  gelten  aber  stets  als  Han- 
delsgesellschaften im  Sinne  des  Handelsge- 


Handelsrecht 


-1059 


setzbuchs  und  unterstehen  als  solche  seinen 
in  betreff  der  Kaufleute  gegebenen  Vor- 
schriften. So  weit  geht  nun  freilich  das 
neue  Handelsgesetzbuch  mit  Bezug  auf 
Einzelkaufleute,  offene  Handelsgesellschaften 
und  Kommanditgesellschaften  nicht.  Ihr 
Betrieb  muss  stets  ein  gewerbliches  unter- 
nehmen zum  Gegenstande  liaben,  wenn  auch 
nicht  mehr  notwendig  ein  sachlich  handels- 
gewerbliches. Aber  auch  mit  dieser  Be- 
scliränkung  greift  das  geltende  Handelsrecht 
doch  über  die  Regelung  nur  der  den  Güter- 
umsatz vermittelnden  Erwerbsthätigkeit 
(s.  oben  S.  1047  Sp.  1)  sehr  erheblich  hinaus.  — 
2.  Mit  grösserem  Rechte  und  in  weiterem 
Umfange  als  auf  anderen  Rechtsgebieten  hat 
auf  dem  des  Handelsrechts  der  Gedanke  der 
freien  Konkurrenz  eine  massgebende  Rolle 
gespielt  Als  das  Allgemeine  Deutsche  Han- 
delsgesetzbuch hergestellt  wurde,  fanden 
selbst  noch  die  zum  Schutze  des  Publikums 
gegenüber  der  monopolartigen  Stellung  der 
Eisenbahnen  vorgeschlagenen  Beschrän- 
kungen der  Vertragsfreiheit  nur  schwer 
Eingang.  Inzwischen  hat  sich  aber 
in  der  Gesetzgebung  mehr  und  mehr  die 
Auffassung  Bahn  gebrochen,  dass  der  Staat 
sich  auch  auf  dem  Gebiete  des  den  Verkehr 
regelnden  Privatreclits  nicht  schlechthin  auf 
das  blosse  Gewährenlassen  beschränken  darf. 
Zahlreiche  neuere  Einzelgesetze  des  Reichs 
machen  es  sich  zur  Aufgabe,  den  wirtschaft- 
lich Schwächeren,  namentlich  den  Minder- 
vermögenden und  den  Geschäftsunkundigen, 
vor  Ausbeutung  im  Handelsverkehr  durch 
teilweise  minutiöse  Vorschriften  zu  schützen. 
Ausser  dem  schon  früher  wiederholt  ge- 
regelten Aktienwesen  büden  besonders  die 
Abzahlungsgeschäfte  (G.  v.  16.  Mai  1894), 
die  mannigfiichen  Formen  des  »unlauteren 
Wettbewerbes«  (G.  v.  27.  Mai  1896),  die 
Borsengeschäfte  (G.  v.  22.  Juni  1896)  und 
die  Aufbewahrung  von  Wertpapieren  für 
andere  (G.  v.  5.  Juli  1896)  den  Gegenstand 
derartiger  Bestimmimgen.  Dabei  konnte 
denn  nicht  übersehen  werden,  dass  diese 
zum  grossen  Teile  wirkungslos  bleiben 
mussten,  wenn  ihre  Abänderung  im  Wege 
der  Vereinbarung  den  Beteiligten  gestattet 
wiu-de.  Der  wirtschaftlich  schwächere  Teil 
ist  regelmässig  eben  als  solcher  auch  nicht 
in  der  Lage,  die  Zustimmung  zu  einer  die 
gesetzlichen  Schutzvorschriften  für  den  ein- 
zelnen Fall  ausser  Kraft  setzenden  Verein- 
barung zu  verweigern.  Er  bedarf  des  Rechts- 
schutzes nicht  nur  gegen  andere,  sondern 
auch  gegen  sein  eigenes,  bei  formaler  Ver- 
tragsfreiheit in  Wahrheit  unfreies  Handeln. 
Demzufolge  haben  die  in  Rede  stehenden 
Gesetze,  unter  verschiedenartiger  Ausgestal- 
tung des  einzelnen,  zahli-eiche  Vorscliriften 
der  bezeichneten  Art  der  vertragsmässigen 
Abändenmg  zum  Nachteile  des  zu  Schützen- 


den entzogen.  Auch  von  den  Novellen  zur 
Gewerbeordnung,  die  im  Rahmen  der  grund- 
sätzlich erhaltenen  Gewerbefreiheit  ähnliche 
Zwecke  verfolgen,  sind  nicht  wenige  auch 
für  den  Handelsgewerbebetrieb  von  ein- 
schneidender Bedeutung.  Dai'über  hinaus- 
gehend lassen  zahlreiche  Strafbestimmungen 
aller  dieser  Gesetze  auf  das  deutlichste  er- 
kennen, wie  weit  der  Staat  der  Gegenwart 
davon  entfernt  ist,  auch  gegenüber  den 
Operationen  des  Handelsverkehrs  sich  auf 
die  RoUe  des  schweigenden  Beobachters  zu- 
beschränken.  Im  Anschluss  an  das  Be- 
streben des  BürgerUchen  Gesetzbuchs,  bei 
der  Regelung  des  allgemeinen  Vermögens- 
rechts der  imgleichen,  wirtschaftlichen  Stel- 
lung der  Beteiligten  Rechnung  zu  tragen, 
hat  nunmehr  auch  das  neue  l£tndelsgesetz- 
buch  eine  Anzahl  weiterer  sozialer  Schutz- 
vorschriften getroffen  und  durch  Einschrän- 
kung der  Vertragsfreiheit  sicher  gestellt. 
So  namentlich  in  Ansehung  des  Rechtsver- 
hältnisses zwischen  dem  Prinzipal  und  seinen 
Haudlungsangestellten,  wo  sogar  die  Nicht- 
erft'ültmg  der  jenem  obliegenden  Verpflich- 
tungen ziun  Teil  mit  öffentlicher  Strafe  be- 
droht ist.  Für  das  Vertragsverhältnis  des 
Reeders  ziu*  Schiffsmannschaft  sieht  der  zur 
Zeit  den  gesetzgebenden  Faktoren  vorliegende 
Entwurf  einer  neuen  Seemannsordnung  eben- 
falls eine  weitgehende  Beschränkung  der 
Vertragsfreiheit  besonders  (aber  nicht  aus- 
schliesslich) im  Interesse  des  Schiffsmanns 
vor.  — 

3.  Von  verschiedenen  Seiten  und  auf 
verschiedene  Art  in  Angriff  genommen  (s. 
oben  S.  1057  Sp.  1),  schreitet  die  Herstellung 
eines  einheithchen  Weltverkehrsrechts  lang- 
sam, aber  sicher  vorwärts.  Auch  für  das 
Handelsrecht  ist  von  Wichtigkeit  das  »zwecks 
gemeinsamer  Regelung  mehrerer  auf  den 
Civilprozess  bezüglicher  Fragen  des  inter- 
nationalen Privati'echts«  getroffeneHaager  Ab- 
kommen vom  14.  November  1896.  Eine  Vor- 
stufe für  umfassendere  Vereinbarungen  büden 
die  handelsrechtlichen  Bestimmungen  der  in 
grosser  Zahl  zwischen  einzelnen  Staaten  ge- 
schlossenen Freundschafts-,  Handels-  und 
Schiffahitsverträge,  die  im  Wege  tiiatsäch- 
licher  Nachfolge,  zum  Teil  aber  —  so  na- 
mentUch  auf  Ginind  der  Meistbegünstigungs- 
klausel —  kraft  Rechtstitels  auch  über  die 
jeweilig  kontrahierenden  Staaten  hinaus  Gel- 
tung erlangen.  Der  eines  einheitlichen  Rechts 
besonders  bedürftige  Seehandel  schafft  sich 
ein  solches  für  die  wichtigsten  in  Betracht 
kommenden  Verhältnisse  (Frachtvertrag, 
grosse  Haverei,  Seeversicherung)  vorläufig 
noch  im  Wege  der  Privatautonomie.  Das 
thatsächliche  Uebergewicht  Englands  macht 
sich  dabei  schon  äusserHch  in  der  Verwen- 
dung seiner  Sprache  in  den  Chartepartieen 
und  Konnossementen  auch  nichtenglischer, 

67* 


1060- 


Handelsi-echt — Handelsstatistik 


insonderheit  deutscher  Reeder  geltend.  Auch 
das  durch  Yei-einbarung  an  die  Stelle  des 
Gesetzbuches  tretende  Recht  des  Seehandels 
folgt  überwiegend  englischem  Vorbilde  und 
zwar  selbst  in  Fällen,  wo  dadurch,  sei  es 
mit  Rücksicht  auf  das  im  Hintergrunde 
stehende  allgemeine  bürgerliche  Recht,  oder 
auc^h  ohnedies  das  heimische  Recht  der  Be- 
teiligten eine  angemessenere  Regelung  der 
thatsächlichen  Verhältnisse  darbietet.  Die 
Vorteile  eines  einheitlichen  Rechts  erscheinen 
den  am  Verkehr  unmittelbar  Teilnehmenden 
auch  um  den  Preis  einseitigen  Verzichts  auf 
das  eigene  Recht  als  nicht  zu  teuer  erkauft. 
Unleugbar  ist  auch  diese  Thatsache  geeignet, 
den  Wert  erkennen  zu  lassen,  der  auf  diesem 
und  verwandten  Gebieten  den  auf  die  üni- 
formierung  des  Verkehrsrechts  gerichteten 
Bestrebungen  beigemessen  werden  muss. 
Die  Beteiligung  am  internationalen  Handel 
fordert  auch  die  Beteiligung  an  der  Gestal- 
tung des  ihn  beherrschenden  Rechts,  durch 
welches,  w^ie  beispielsweise  die  imter  dem 
Einflüsse  des  Berner  üebereinkommens  ent- 
standenen Vorschriften  des  neuen  Handels- 
gesetzbuchs über  das  Frachtgeschäft  der 
Eisenbahnen  deutlich  zeigen,  eine  Rück- 
wirkung auch  auf  das  innerstaatliche  Recht 
notwendig  ausgeübt  wird.  Gleichgiltig  bei- 
seite stehen  heisst  hier  in  Wahrheit  sich 
anderen  unterwerfen.  Der  Besitz  eines 
trefflichen,  wenn  auch  in  manchen  Be- 
ziehungen etwas  veralteten  Seehandelsrechts 
muss  uns  zui*  Veranlassung  dienen,  ihm 
eine  der  Bedeutung  des  mächtig  erblühten 
deutschen  Handels  entsprechende  Berück- 
sichtigung auch  bei  der  Schaffung  des  inter- 
nationalen Verkehrsrechts  zu  sichern. 

Pappenhetvn. 


Handelsschulen 

8.  Gewerblicher  Unterricht 
oben  Bd.  IV  S.  581  ff. 


Handelsstatistik. 

1.  Begriff  und  Zweck  der  H.;  ihre  Grund- 
lagen.   2.  Ergebnisse  für  einige  wichtige  Länder. 

1.  Begriff  und  Zweck  der  H.;  ihre 
Grundlagen.  Wie  es  Binnenhandel  und 
Aussenhandel  giebt,  so  sollte  man  den  Begiiff 
Handelsstatistik  auch  auf  beide  beziehen, 
indes  ist  es  hergebracht,  bei  uns  wie  ander- 
wärts hierbei  nur  an  die  Statistik  des  aus- 
wärtigen Handels  zu  denken  d.  h.  die 
der  Einfulir,  Ausfuhr  und  Durchfuhr  der 
Waren  über  die  Grenze  eines  volkswirt- 
schaftlichen Gebiets,  die  in  der  Regel  mit 
der  politischen  Gi-enze  eines  Staats  oder 
Stallten  Verbandes  zusammenfallen  vdrd  — 
abgesehen  von  gewissen  Abweichimgen  der 


Zollgrenze  von  dieser:  Zollausschlüsse  und 
Zolleinschlüsse  —  oder  ein  besonderes  Ge- 
bilde ist,  wie  unser  deutsches  Zollgebiet, 
das  aus  zwei  politisch  von  einander  ganz 
unabhängigen  Tenitorien,  nämüch  dem 
Deutschen  Reiche  und  dem  Grossherzogtum 
Luxemburg  besteht. 

Der  Zweck  der  Handelsstatistik  ist  die 
Feststellung  des  Waren-  Ein-  und  Ausgangs 
über  eine  solche  Grenze  und  die  zahlen- 
mässige  Darstellung  desselben.  Hierbei 
wird  gegenwärtig  in  allen  Kulturländern  die 
Veröffentlichung  der  gewonnenen  Zahlen,  und 
zwar  die  thunlichst  rasche  Veröffentlichung 
als  selbstverständlich  mit  im  Zweck  der 
Handelsstatistik  liegend  angenommen,  und 
es  wird  damit  bekundet,  dass  die  Handels- 
statistik die  Kenntnis  der  Warenbewegung 
nicht  niu*  der  Verwaltung  vermitteln  soU, 
was  ja  auch  ohne  Veröffentlichung  geschehen 
könnte  und  früher  geschah,  sondern  auch 
den  privaten  Interessenten  und  der  Wissen- 
schaft. 

Die  Feststellungen  haben  sich  zunächst 
auf  die  Menge  der  Waren  —  Gewicht  und 
zum  Teil  Stückzahl  —  nach  ihren  Arten  zu 
richten.  Die  Kenntnis  der  eingeführten  und 
ausgefühi'ten  Mengen  einer  bestimmten 
Warengattung  ist  in  erster  Linie  wichtig, 
insbesondere  für  den  Produzenten  oder 
Händler  der  betreffenden  Warenbranche; 
dieser,  z.  B.  der  Hutfabrikant  will  wissen, 
wie  viel  Doppelcentner  Filzhüte  emer  be- 
stimmten Sorte  und  woher  eingeführt  sind, 
den  Nachweis  der  Preise  (Werte)  braucht 
ihm  die  Statistik  nicht  zu  liefern,  da  er 
darüber  aus  eigener  Kenntnis  informiert 
ist.  Füi'  gewisse  Zwecke  sind  aber  auch 
die  Feststellungen  der  Werte  diux5h  die 
Handelsstatistik  unentbehrlich;  nämlich  zur 
Beurteilung  des  Standes  und  der  Entwicke- 
lung  des  Warenverkehrs  nach  allgemeinen. 
Gesichtspunkten,  vde  sie  der  Handelspolitik 
und    der   Wissenschaft    eigentümlich    sind. 

Die  Benennung  nach  dem  Werte  lässt 
auch  eret  den  Anteil  würdigen,  den  die 
einzelne  Warengattimg  an  der  Gesamtheit 
hat ;  gerade  die  feineren,  viel  Arbeitsleistung 
enthaltenden  Waren  liaben  der  Menge  (dem 
Gewicht)  nach  geringen,  dem  Wert  nach 
bedeutenden  Anteil. 

Die  Ermittelung  der  in  das  HandeL^- 
tenitorium  einlaufenden  oder  aus  ihm  aus- 
gehenden Waren  muss  also  durch  die 
Handelsstatistik  nach  Gattung,  Menge  und 
Wert  geschehen.  Von  diesen  drei  ist  am 
wenigsten  sch\Werig  die  Menge  zu  er- 
fassen (Gewicht  oder  Stückzahl),  weil  hier 
äusserliche  Merkmaie  vorhanden  sind  und 
sie  schon  wegen  der  Frachtkosten  richtig 
notiert  wird.  Mehr  Schwierigkeiten  bietet 
die  Feststellung  der  Gattung,  die  in  deji 
Frachtpai)iei'en  nicht  immer  mit  der  für  die 


Handelsstatistik 


1061 


statistische  Feststellung  nötigen  Genauigkeit 
enthalten  ist.  Bei  der  Einfuhr  verlangt  das 
fiskalische  Interesse  der  Verzollung  eine 
gewisse  Kontrolle,  und  je  mehr  detailliert 
der  Zolltarif  ist,  desto  schärfer  muss  die 
Zollkontrolle  und  desto  genauer  ^ird  schon 
aus  diesem  Grrunde  die  Anschreibung  nach 
Warengattungen  sein.  Bei  einem  Zolltarif, 
der,  wie  z.  B.  der  englische,  nur  eine  kleine 
Anzahl  zollpflichtiger  Waren  hat,  fällt  schon 
aus  diesem  Grunde  der  stärkste,  nämlich 
der  fiskalische  Antrieb  ziu-  sorgfältigen 
Ausscheidung  der  Warengattungen  fort. 
Bei  der  Ausfuhr,  die  ja  bei  ims  und  in 
vielen  anderen  Ländern  durchweg  zollfrei 
ist,  fehlt  dieser  Anteil  gänzlich.  Der 
Zolltarif  wird  aber  überhaupt  die  Waren 
nie  so  eingehend  nach  den  Gattungen  imter- 
scheiden,  wie  es  für  eine  Statistik,  welche 
die  Bedürfnisse  der  Praxis  erfüllt,  not- 
wendig ist;  es  ist  also  ein  besonderes  sta- 
tistisches Warenverzeichnis  aufzu- 
stellen, dessen  Einteilung  sich  nach  den 
aus  der  handelspolitischen  Praxis  der  ein- 
heimischen Volkswirtschaft  bekaimten  Be- 
dürfnissen richtet  und  das  den  Behörden 
der  Verkehrskontrolle  zur  Grundlage  der 
Anschreibungen  dient. 

Wieder  andere  Schwierigkeiten  bietet  die 
Ermittelung  des  Wertes  der  Waren.  Für 
diese  giebt  es  zwei  Methoden,  die  man  kiurz 
als  Deklaration  und  als  Schätzung  bezeichnen 
kann.  Die  Wertdeklaration  geschieht 
bei  Anmeldung  der  Waren  zum  Eingang  oder 
Ausgang,  also  durch  den  Waren führer  auf 
Gnmd  der  von  ihm  mitgebrachten  Fracht- 
papiere; das  Geschäft  der  Wertermittelung 
wird  also  hier  in  einem  mit  der  Mengen- 
ermittelung abgemacht  und  die  Statistik  er- 
fasst  beide  zugleich.  Dies  hat  vor  der 
anderen,  sogleich  zu  besprechenden  Methode 
den  Vorzug  der  Einfachheit  und  Schnellig- 
keit für  die  Statistik;  mutet  aber  in  jedem 
einzelnen  Falle  den  Personen,  welche  die 
Anmeldung  beim  Eingang  oder  Ausgang  zu 
besorgen  haben,  die  Angabe  des  Wertes 
neben  derjenigen  der  Menge  zu.  Die  andere 
Methode,  die  der  Schätzung,  besteht 
darin,  dass,  unabhängig  von  der  Mengen- 
ermittelung, die  Einheitswerte  der  AVai'en 
bestimmter  Gattung,  z.  B.  eines  Centnei's  des 
im  Jahre  1900  aus  Russland  stammenden 
Rohflachses,  von  Sachverständigen  periodisch 
festgestellt  werden  und  dann  durch  Multipli- 
kation der  Menge  mit  diesem  Einheitswerte 
der  Gesamtwert  gefunden  wird.  Es  ist 
klar,  dass  man  für  dasselbe  Gebiet  beide 
Methoden  neben  einander  anwenden  kann, 
insofern  als  man  z.  B.  die  erste  für  die  Aus- 
fuhr, die  zweite  für  die  Einfuhr  oder  auch 
füi*  beide  Verkehrsrichtungen  nach  Waren- 
gattungen getrennt  anwendet,  z.  B.  für  be- 
stimmte,   schwer    zu    schätzende    Waren- 


gattungen die  Deklaration,  für  die  übrigen 
die  Schätzung  eintreten  lässt.  Die  zweite 
Methode  weist  die  Arbeit,  welche  die  erste 
durch  die  Warenführer  in  Stellvertretung 
der  Empfänger  und  Versender  verrichten 
lässt,  der  handelsstatistischen  Stelle  und 
deren  Hilfsorganen  —  den  kaufmännischen 
Sachverständigen  —  zu.  Das  Entscheidende 
für  die  Wahl  der  einen  oder  anderen  ist 
ihr  Ei'gebnis  bezüglich  der  Genauigkeit  und 
wenn  diese  bei  beiden  annähernd  gleich 
wäre,  so  raüsste  man  sich  für  die  zweite 
entscheiden,  weil  sie  dem  Publikum  weniger 
Arbeit  zumutet. 

Bezüglich  der  Richtigkeit  der  Wertan- 
gaben durch  die  Methode  der  Deklaration 
oder  Schätzung  kommt  nun  zunächst  in 
Frage :  welche  Werte  man  verlaugt.  Selbst- 
verständlich sind  es  die  Preise  im  Gross- 
handel zur  Zeit  der  Einfuhr  oder  Ausfuhr 
der  Waren  —  aber,  soll  die  Handelsstatistik 
die  Preise  am  Einkaufsort  oder  am  Ver- 
kauf sort  oder  wo  sonst  nachweisen?  Wie 
soll  z.  B.  die  deutsche  Handelsstatistik  den 
Verkehr  mit  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika  veranschaulichen?  Soll  sie  den 
nach  Chicago  ausgeführten  Centner  Nürn- 
berger Zinnsoldaten  mit  dem  Pi-eise  loco 
Nürnberg  und  den  in  Chicago  ausgeführten 
(^entner  Weizen  mit  dem  Preise  loco 
Chicago  ansetzen?  Das  wüixie  in  beiden 
Fällen  zur  Vernachlässigimg  bedeutender 
Beträge  führen,  da  der  Zweck  der  Wertbe- 
rechnung für  die  Handelsstatistik  offenbar 
der  ist,  zu  ermittehi,  was  Amerika  an 
Deutschland  und  dieses  an  jenes  für  Waren 
bezahlt  hat,  mithin  im  Preise  derselben 
ebenso  wie  die  Produktionskosten  imd  der 
Handelsgewinn  auch  die  Transportkosten 
inbegriffen  sein  müssen.  Nun  ist,  abgesehen 
von  der  Frage,  welche  von  beiden  Nationen 
oder  welche  dritte  die  TransiK)rtkosten 
zwischen  den  Grenzen  beider  Staaten  —  die 
Seefracht  —  verdient  hat,  sicher,  dass  im  an- 
genommenen Falle  Amerika  an  Deutschland 
den  Transport  der  Zinnsoldaten  bis  zur 
deutschen  Grenze  zu  bezahlen  liat  und 
Deutschland  für  den  Weizen  mindestens  den 
Preis  an  Amerika  entrichten  muss,  der  zum 
Chicagopreise  durch  den  Transport  mit 
amerikanischen  Fahrzeugen  hinzukommt» 
Da  aber  die  Handelsstatistik  als  solche  sich 
nicht  in  Untersuchungen  darüber  einlassen 
kann,  wie  weit  die  einzelne  Ware  mit  ein- 
heimischen oder  fremden  Transportmitteln 
befördert  worden  sei,  so  muss  sie  von  der 
Frage  des  Transports  ausserhalb  der  Landes- 
grenze ganz  absehen  und  bei  der  Ausfuhr 
sich  damit  begnügen,  die  Kosten  bis  zur 
Landesgrenze  dem  Auslande  anzurechnen, 
mitliin  für  die  Einfuhr  und  Ausfuhr  den 
Wert  an  der  Grenze  festzustellen. 

Wenn  wir  nun  die  beiden  beschriebenen 


1062 


Handelsstatistik 


Methoden  der  Wertermittelung  auf  ihre 
Fähigkeit  zur  Erfüllung  dieser  Aufgaben 
ansehn,  so  wäre  an  und  für  sich  die  Dekla- 
ration —  wenn  sie  sorgfältig  wäre  —  dazu 
sehr  wohl  geeignet.  Der  Importeur  kennt 
den  Einkaufspreis  der  Waren  und  die  Spesen, 
welche  bis  zur  Grenze  erwachsen  —  wenigs- 
tens soweit  es  sich  nicht  um  Consignations- 
waren  handelt,  für  die  ja  ein  Verkaufspreis 
zur  Zeit  der  Einfulir  noch  nicht  besteht; 
der  Exporteur  kennt  gleichfalls  den  Yer^ 
kaufspreis  der  Waren  und  kann  die  Kosten 
bis  zur  Landesgrenze  sehr  wohl  beurteilen. 
Wenn  man  also  beide  Teile  dazu  bringen 
könnte,  diese  Grenzwerte  sorgfältig  zu  be- 
rechnen und  anzugeben,  wäre  der  ideale  Zu- 
stand eiTeicht;  die  Erfahrung  lehrt  aber, 
dass  in  Wirklichkeit  der  einzelne,  der  solche 
Wertangaben  machen  soU,  es  damit  sehr 
wenig  genau  nimmt  Bei  der  Einfuhr,  da 
der  Versender  im  Ausland  ist  und  vom 
Waren  führe  r  eine  Beurteilung  des  Werts 
aus  eigener  Kenntnis  nicht  erwartet  werden 
kann,  fehlt  überhaupt  jede  Garantie  für  die 
Genauigkeit;  bei  der  Ausfuhr  kann  auf  den 
inländischen  Versender  eingewirkt,  auch 
wohl  eher  von  ihm  erwartet  werden,  dass 
er  richtige  Angaben  mache  und  es  ist  in 
auffallenden  Fällen  eine  Nachforschung  d\u*ch 
die  kontrollierende  Behörde  möglich.  Aus 
diesen  Gründen  könnte  man  ein  gemischtes 
System,  wie  es  z.  B.  die  Schweiz  eingeführt 
hat :  Deklaration  für  die  Ausfuhr,  Schätzung 
iür  die  Einfuhr,  empfehlen.  Die  Methode 
der  Schätzung  hat  den  Vorzug,  dass  man 
hierbei  nicht  von  der  Willkür  und  Ver- 
stand nislosigkeit  der  »jungen  Leute«,  welchen 
die  statistische  Deklaration  überlassen  zu 
werden  pflegt,  abhängig  ist,  sondern  die 
Festsetzung  der  Einheitswerte  durch  eine 
Kommission  berufenster  Sachverständiger  er- 
folgen lassen  kann,  welche  den  Einkaufs- 
preis der  Waren  und  die  Wertvermehrung 
bis  zur  Landesgrenze  genau  zu  kontrollieren 
imstande  sind,  wenn  auch  nur  nach  Diurch- 
schnittssätzen  und  nach  Ablauf  eines  ge- 
wissen Zeitraumes  z.  B.  des  Kalenderjahres. 
Die  Schätzung  kann  aber  nicht  individuell 
verfahren ;  während  die  Deklaration  z.  B.  für 
eine  bestinunte  Sendung  Bücher  gilt,  kann 
die  Schätzung  nur  den  Wert  eines  Centners 
Bücher,  unter  Berücksichtigung  des  Her- 
kunfts-  bezw.  Bestimmungslandes,  als 
Nachweisgnmdlage  liefern.  Die  Schwäche 
der  Schätzung  liegt  in  der  Notwendigkeit, 
Diux)hschnitte  zu  berechnen,  ihre  Stäi*ke  in 
der  Gewissenhaftigkeit  und  Sachkenntnis, 
die  bei  zweckmässiger  Organisation  ver- 
bürgt sind. 

An  die  Begriffe  Einfuhi«  und  Ausfulir, 
mit  denen  wir  bereits  operiei-t  haben,  knüpfen 
sich  zunächst  die  der  Herkimft  und  Be- 
stimmung, auf  welche  die  Handelsstatistik 


gleichfalls  ihr  Augenmerk  zu  richten  hat, 
da  man  nicht  niu:  den  Verkehr  mit  dem 
Auslande  im  allgemeinen^  sondern  den  mit 
den  einzelnen  Ländern  verfolgen  wilL  Als 
Herkunftsland  einer  Ware  kann  ange- 
geben werden:  1.  das  Produktions-(ürsprungs)- 
land,  2.  das  Land,  aus  dessen  Eigenhandel 
die  Ware  stammt  3.  das  Land,  aus  dem 
die  Ware  zunächst  kommt;  z.  B.  brasilia- 
nischer Kaffee  durch  englische  Händler  über 
Belgien  eingeführt.  Da  hier  eine  Statistik 
der  Handelsbeziehungen  in  Frage  steht, 
so  ist  klar,  dass  sie  das  zu  2  bezeichnete 
Land  (England)  nachweisen  muss.  Als  Be- 
stimmungsland der  aus  dem  ein- 
heimischen Handel  stammenden  (im  Inland 
oder  auswärts  erzeugten)  Waren  kaim  gelten : 
1.  das  Land,  nach  dem  die  Ware  zunächst 
gebracht  wird  (Speditionsland),  2.  in  dessen 
Handel  sie  zunächst  übergeht  (Verkaufsland), 
3.  in  welchem  sie  schliesslich  dem  Verbrauch 
zugeführt  wird;  z.  B.  deutsche  Spitzen  via 
Schweiz  für  italienische  Rechnung  nach 
Tunis.  Auch  hier  ist  es  klar,  dass  für  die 
Handelsstatistik  nur  das  zu  2  bezeichnete 
Land  (Italien)  in  Betracht  kommt ;  das  eigent- 
liche Konsumland  wird  bei  der  Ausfuhr 
ohnehin  meist  gar  nicht  bekannt  sein. 

In  der  Einfuhr  eines  Landes  ist  ein  mehr 
oder  weniger  grosser  Teil  von  Waren  ent- 
halten, der  auch  wieder  in  der  Ausfuhr  er- 
scheint Begrifflich  und,  wenn  die  nötigen 
Vorkehrangen  getroffen  sind,  auch  faktisch 
ist  auf  beiden  Seiten  der  Teil  auszuscheiden, 
den  man  unmittelbare  Diuxjhfuhi»  oder  auch 
schlechtweg  Durchfuhr  (transshipment) 
nennt,  also  die  Waren,  welche  ohne  Lagenmg 
im  Inlande  als  Prachtgut  durchgeführt  wer- 
den und  für  die  einheimische  Volkswirt- 
schaft auch  nur  als  solches  Bedeutung  haben. 
Das  Inland  verdient  an  ihnen  die  Transport- 
spesen, als  Werte  treten  sie  nicht  in  die 
Volkswirtschaft  des  Inlandes  ein,  und  es  ist 
demnach  auch  vöUig  zwecklos,  ihren  Wert 
zu  ermitteln.  Die  Ausscheidung  dieser  Durch- 
fuhrgüter ist  für  zollpflichtige  Waren 
deshalb  möglich,  weil  sie  mit  entsprechenden 
Begleitpapieren  ein-  und  auspassieren,  um 
dem  Zoll  zu  entgehen;  bei  den  zollfreien 
Waren  lässt  sich  eine  reinliche  Ausscheidung 
nur  dadurch  erwirken,  dass  diese  Waren  — 
bei  der  Ausfuhr  —  im  allgemeinen  einer 
besonderen  Abgabe  (»statistische  Gebühr«) 
unterliegen  und  dass  in  der  Befreiung  von  ihr 
für  die  Durchfuhrwaren  ein  Anreiz  zur 
Unterscheidung  gegeben  ist  Diese  Durch- 
fuhr gehört  zwar  dem  Verkehr,  aber  nicht 
dem  Handel  des  Inlands  an  und  sollte  in 
der  Handelsstatistik  gar  nicht  erscheinen. 

Wohl  aber  sind  in  der  Handelsstatistik 
diejenigen  ausländischenWaren  nachzuweisen, 
die  man  als  der  mittelbaren  Durch- 
fuhr angehörig  bezeichnen  kann,  nftralich  1. 


Hanclelsstatistik 


1063 


solche,  die  zwar  in  den  inländischen  Handel 
übergegangen  sind,  aber  unter  Yeränderung 
der  Bestimmung  ins  Ausland  weiter  verkauft 
werden,  2.  solche,  die  mit  inländischen  Waren 
vermischt  wieder  ausgehen,  3.  solche,  die 
nach  Bearbeitung  oder  Verarbeitung  im  In- 
lande  als  Waren  anderer  Art  ausgeführt 
werden.  Sofern  diese  unter  1  bis  3  bezeich- 
neten ausländischen  Waren  zollfrei  sind 
treten  sie  ohne  Unterscheidung  von  denen, 
die  im  Inlande  bleiben,  in  den  freien  Ver- 
kehr:  sofern  sie  an  sich  zoüpflichtig  sind 
und  ihre  Wiederausfuhr  in  demselben  oder 
verarbeiteten  Zustande  von  vornherein  in 
Aussicht  genommen  ist,  hat  die  Zolltechnik 
für  sie  besondere  Kategorieen  geschaffen, 
um  sie  für  den  Fall  zollfrei  zu  halten,  dass 
sie  nicht  in  den  inländischen  Absatz  über- 
gehen; nämlich  den  Nie  der  lagen  verkehr 
und  den  Veredlungs verkehr  (Vormerk- 
Yerkelir,  admission  temporaire).  Solange 
sie  auf  bestimmten  Niederlagen  oder  in 
sogenannten  Freibezirken  lagern,  wo  sie 
nach  Massgabe  der  Zollvorschriften  auch  mit 
anderen  Waren  vermischt,  be-  und  verarbeitet 
werden  dürfen,  bleibt  die  Möglichkeit,  sie 
entweder  zollfrei  wieder  auszuführen  oder 
unter  nachträglicher  Verzollung  in  das  In- 
land einzuführen.  Ebenso  sind  zolltechnische 
Vorkehrungen  getroffen,  dass  ausländische 
Güter,  deren  Wiederausfuhr  in  »veredeltem 
Zustande«  (z.  B.  Roheisen  nach  Verarbeitung 
zu  Rohren)  beabsichtigt  ist,  unverzollt  das 
Inland  wieder  verlassen  können.  Anderer- 
seits ist  auch  inländischen  Waren,  deren 
Wiedereinfuhr  in  veredeltem  Zustande  be- 
absichtigt wird,  in  dieser  Weise  die  Mög- 
lichkeit gewährt,  sich  in  solchem  »gebundenen 
Verkehr«  vor  der  Zollzahlung  zu  schützen. 

Durch  die  Thatsache  der  Zollpflichtigkeit 
der  Waren  und  die  Zolltechnik  entstehen 
also  gewisse  Verkehrskombinationen, 
die  nicht  vorhanden  sein  würden,  wenn  alle 
Waren  zollfrei  oder  auch  dann,  wenn  Ein- 
richtimgen,  welche  die  zollfreie  Wiederaus- 
fuhr erleichtern,  nicht  vorhanden  wären. 
Sie  entstehen  dadurch,  dass  es  neben  der  un- 
mittelbaren Einfuhr  von  Waren  —  mögen  sie 
zollfrei  sein  oder  sogleich  verzollt  werden  — 
eine  solche  auf  Niederlagen  und  von 
Niederlagen  und  im  Veredlungsverkehr 
giebt.  Dadurch  entstehen  die  allgemein 
üblichen  Unterscheidungen  von  Specialhandel 
und  Generalhandel;  den  letzteren  nennt  die 
deutsche  Handelsstatistik  Gesamteigenhandel 
und  bezeichnet  —  überflüssiger  Weise  — 
als  Generalhandel  eine  Kombination,  die  aus 
Gesamteigenhandel  und  Durchfuhr  besteht 

Als  Specialhandel  in  der  Einfuhr 
soll  alles  erfasst  werden,  was  wirklich  zum 
Absatz  im  Inlande  bestimmt  ist:  1.  die  im 
Laufe  eines  bestimmten  Zeitraums  (Jahres) 
unmittelbar  eingeführte  Menge,  2.  die  inner- 


halb desselben  Zeitraums  von  Niederlagen 
oder  im  Veredlungsverkehr  zum  Verbleib 
im  Inlande  eingeführte  Menge.  Diese  letztere 
kann  in  dem  inländischen  Handel  schon 
in  einem  früheren  Zeitraum  eingetreten 
sein,  z.  B.  die  Menge  Wein,  die  der  Importeur 
1899  in  den  Verkehr  bringt,  kann  von  ihm 
schon  1898  oder  früher  auf  eine  Niederlage 
gebracht  sein;  oder  die  seidenen  Tücher, 
die  er  1899  bedruckt  nach  Veredlung  im 
Auslande  in  den  freien  Verkehr  setzt,  können 
unbedruckt  schon  1898  von  ihm  ins  Inland 
gebracht  sein.  Bei  der  Ausfulir,  weil  sie 
zollfi^i  geschieht,  kommt  eine  solche  Kombi- 
nation nicht  in  Betracht,  indes  wird  zweck- 
mässig die  Ausfuhr  im  Veredlungsverkehr, 
sofern  sie  auf  inländische  Rechnung  erfolgt, 
dem  Specialhandel  zugewiesen. 

Als  Generalhandel  —  oder  Gesamt- 
eigenhandel ;  s.  0.  —  bezeichnet  man  dagegen 
in  der  Einfuhr  1.  die  im  Laufe  des  Jahres 
unmittelbar  eingeführte  Menge  —  wie  beim 
Specialhandel  — ,  2.  die  Einfuhr  auf  Nieder- 
lagen und  im  Veredlungsverkehr  im  Laufe 
desselben  Jahres.  Im  Generalhandel  ist 
also  alles  enthalten,  was  im  Laufe  eines  be- 
stimmten Zeitraums  über  die  Zollgrenze 
kommt,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  es  nach 
Verbleib  in  Niederlagen  oder  sonst  im  ge- 
bundenen Verkehr  in  den  inländischen  freien 
Verkehr  gelangt  oder  dem  Auslande  wieder 
zugeführt  wird.  Der  Generalhandel  wird 
darum  regelmässig  grösser  sein  als  der  Special- 
handel, jedoch  ist  bei  einzelnen  lagerfähigen 
Waren  die  Möglichkeit  gegeben,  dass  die 
Einfuhr  von  schon  längere  Zeit  in  Niederlagen 
befindlichen  Waren  m  den  freien  Verkehr 
in  einem  gegebenen  Zeitraum  den  General- 
handel übertrifft  Die  Ausfuhr  im  General- 
liandel  besteht  demgemäss  aus  dem  direkt 
ausgeführten  und  den  von  Niederlagen  und 
im  Veredlungsverkehr  wieder  ins  Ausland 
abgesetzten  Waren. 

Aus  dem  Vorgetragenen  ergiebt  sich  die 
Abhängigkeit  der  handelsstatistischen  Nach- 
weise von  den  Zolltarifen  und  der  Zolltech- 
nik. Diese  Abhängigkeit  zeigt  sich  nun  auch 
darin,  dass  die  Einteilung  der  Waren,  wie 
sie  die  Handelsstatistik  darstellt,  in  erster 
Linie  von  der  des  Zolltarifs  bedingt  ist.  Sie 
muss  sich  dem  Schema  des  Zolltarifs  schon 
deshalb  anschliessen,weil  die  Anschreibungen 
—  das  Urmaterial  der  Handelsstatistik  — 
selbstverständlich  durch  die  Zollbehörden, 
welche  den  Ein-  und  Ausgang  kontrollieren, 
erfolgen  muss  und  weil  die  Handelsstatistik 
in  erster  Linie  den  Zwecken  der  Zoll- 
politik dient,  die  ein  Teil  der  Handelspolitik 
ist;  erst  in  zweiter  Linie  kommen  die  Be- 
dürfnisse der  privaten  Interessenten.  Soweit 
die  Einteilung  der  Waren  im  Zolltarif  nicht 
genügt,  um  ein  brauchbares  Bild  der  Waren- 
bewegung zu  geben,  müssen  die  Positionen 


1064 


Handelsstatistik 


"weiter  zerlegt  wercleu  und  es  entsteht  als 
Grundlage  der  statistischen  Darstellung  das 
statistische  Warenverzeichnis.  Die 
Bedürfnisse  der  Handelswelt  gehen  auf  einen 
sehr  detaillierten  Nachweis  der  einzelnen 
Warengattungen  und  -Sorten,  während  anderer- 
seits für  eine  schnelle  und  übersichtliche  Ver- 
arbeitung des  Materials  zum  statistischen 
Zahlenbilde  eine  gewisse  Beschränkung  des 
Verzeichnisses  geboten  ist.  Merkwürdiger- 
weise hat  der  grosste  Handelsstaat  der 
Welt,  (xrossbritannien ,  das  am  wenigsten 
gegliederte  Warenverzeichnis;  die  gross- 
britannische Handelsstatistik  begnügt  sich 
mit  weniger  als  300  Warengattungen,  während 
die  Handelsstatistik  der  meisten  hauptsäch- 
lichen Handelsländer  (Deutschlands  über  1150) 
weit  mehr  Waren  unterscheidet.  Die  eng- 
lische Handelsstatistik  genügt  auch  hinsicht- 
lich der  richtigen  Unterscheidung  der  Her- 
kunfts-  und  Bestimmungsländer  nicht  den 
bescheidensten  Anforderungen ;  Länder  ohne 
Seegrenze  fehlen  in  ihr,  sie  ist  also  mehr 
8chiffahrtsstatistik,  und  da  von  den  eigenen 
Autoritäten  die  Genauigkeit  auch  ihrer  Wert- 
deklarationen stai'k  angezweifelt  wird,  so 
bleibt  an  ihr  riihmenswert  fast  nur  die 
Schnelligkeit  ihrer  monatlichen  Publikationen. 
Diese  wird  dadurch  ermöglicht,  dass  eine 
verhältnismässig  nur  geringe  Zahl  von 
Stellen  (Häfen),  aus  denen  die  Verkehrs- 
nachw^eisungen  einzuziehen  sind  (etwa  130, 
gegen  2200  Anmeldestellen  in  Deutschland), 
zu  berücksichtigen  ist,  und  wird  dadiurch 
erzwungen,  dass  die  Zusammenstellungen 
für  den  Monat  schon  mehrere  Tage  vor  Ab- 
lauf desselben  schliessen,  also  z.  B.  der 
Nachweis  für  den  August  die  Zahlen  nicht 
für  diesen  ganzen  Monat,  sondern  für  die 
Zeit  vom  27.  Juli  bis  26.  August  enthält. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  Schwie- 
rigkeit der  Gestaltung  der  Handelsstatistik 
mit  der  Grösse  der  dabei  zu  überwindenden 
Widerstände,  zu  denen  vor  allem  die  von 
Länge  und  Gestaltimg  der  Grenzen  abhängige 
Menge  der  Anschreibungsämter  gehört,  und 
mit  der  Zahl  der  im  statistischen  Waren- 
verzeichnis unterschiedenenNummem  wächst. 

Die  A^'eröffentlichungen  der  Han- 
delsstatistik pflegen  jetzt  in  monatlichen  und 
jährlichen  zu  bestehen,  von  denen  die  letz- 
teren nicht  nur  eine  das  Jahresergebnis  zu- 
sammenfassende und  soweit  nötig  die  provi- 
sorischen Zahlen  berichtigende,  sondern  auch 
ausführlichere  und  vielfach  mit  Erläuterungen 
versehene  DarsteUnng  bezwecken.  Die  Han- 
delsstatistik des  deutschen  Zoll- 
gebiets, in  welchem  Luxemburg  einge- 
schlossen ist,  die  Zollausschlüsse,  insbe- 
sondei-e  der  Freihäfen  Hamburg  und  Bremer- 
haven aber  fehlen,  die  also  noch  keine 
eigentlich  deutsche  Handelsstatistik  ist, 
giebt     > Monatliche    Nachweise«     über    die 


Mengen  des  Specialhandels,  zu  denen  die 
Werte  von  Vierteljahr  zu  Vierteljahr  (mit 
Einschluss  des  vorhergehenden  Zeitraums) 
wesentlich  nach  den  Feststellungen  für 
das  Vorjahr  eingesetzt  werden ;  und  zweitens 
Jahresnachweise  in  besonderen  Bänden  der 
»Statistik  des  Deutschen  Reichs«,  in  denen 
die  Werte  nach  Feststellungen  einer  Kom- 
mission von  Sachverständigen  gegeben  wer- 
den, die  bald  nach  Schluss  des  betreffenden 
Jahres  zu  diesem  Zweck  vom  Kaiserlichen 
Statistischen  Amt  einbenifen  wird,  und  in 
denen  ausserdem  neben  dem  Specialhandel 
die  Darstellung  des  Gesamteigenhandels  und 
der  Durchfuhr  sowie  eine  Menge  von  be- 
sonderen Uebersichten  nebst  Erläutenmgen 
ihre  Stelle  finden. 

Bezüglich  des  Gebrauchs  der  statistischen 
Nachweise  besteht  unter  den  Fachleuten 
noch  eine  Meinungsverscliiedenheit  darüber, 
wie  weit  zur  Beurteilung  der  Gesamtgrosse 
des  Warenverkehrs  eines  Landes  die  Ein- 
imd  Ausfuhr  von  Edelmetallen  mit  zu 
berücksichtigen  sei;  ob  man  also  die  Ge- 
samtsumme des  auswärtigen  Handels  nach 
Menge  und  Wert  —  und  dieser  letztere 
kommt  hierbei  natfirlich  fast  nur  in  Frage  — 
mit  oder  ohne  Edelmetalle  als  eigentlich 
massgebend  zu  betrachten  liabe.  Für  das 
deutsche  Zollgebiet  ist  z.  B.  für  1899  unter 
einem  Einfulirwert  von  5783,6  Millionen  Mark 
ein  Betrag  für  Edelmetalle  von  300,5;  bei 
der  Ausfuhr  unter  4368,4 :  161,4.  In  der 
Regel  w4rd  das  Gesamtbild  der  Ein-  und 
Ausfuhr  durch  Einbeziehung  oder  Abzug  des 
Edelmetallverkehrs  nicht  -wesentlich  beein- 
fliisst;  in  einzelnen  Zeiträumen,  in  denen 
aus  besonderen  Gründen  der  Bank-  und 
Währungspolitik  die  Edelmetallbewegung 
stark  ist,  kann  die  Verschiebung  des  Ge- 
samtergebnisses bei  diesem  und  jenem  A"er- 
fahren  bemerkenswert  sein.  Als  Gründe  für 
die  Aussonderung  des  Edelmetallverkehrs 
werden  geltend  gemacht:  erstens,  dass  der 
Transport  von  Goldgeld  in  kleinen,  aber  in 
der  Summe  doch  sehr  ansehnlichen  Mengen 
durch  die  Reisenden  von  Land  zu  Land 
nicht  erfassbar  sei,  und  zweitens,  dassCJold 
und  Silber  zum  Teil  aus  anderen  Gründen 
als  sonstige  Waren  ein-  und  ausgefülirt 
werden,  insbesondere  um  den  Barvorrat  der 
Banken  des  einen  oder  anderen  der  mit 
einander  verkehrenden  Länder  oder  dessen 
Umlaufsmittel  zu  verstärken.  Diese  Gründe 
sind  aber  nicht  genügend,  um  den  aus- 
wärtigen Handel  mit  Edelmetall  aus  den 
Summen  der  Handelsstatistik  auszulassen« 
Da  diese  durch  ihre  Ziffern  der  Zahlungs- 
bilanz möglichst  nahe  kc»mmen  will,  so  be- 
steht kein  Grund,  von  einem  Teil  des  Aus- 
tausches von  Werten,  über  den  man  An- 
gaben erlangen  kann,  deshalb  ganz  abzu- 
sehen, weil  er  unvollständig  erfasst  wird. 


Handelsstatistik 


1065 


Ein  beträchtlicher,  aber  seiner  Grosse  nach 
unbestimmbarer  Teil  der  Edelmetalle  wird 
auch  zur  Yerarbeitimg.  also  ganz  eigentlich 
als  Ware  bezogen  und  versendet;  und 
schliesslich  werden  doch  mit  Gold-  und 
Silbersendungen,  sei  es  in  Münzen  oder 
anderer  Form,  ebenso  gut  Zahlungsver- 
pflichtungen von  Land  zu  Land  eingegangen 
und  gelöst  wie  mit  der  Sendung  von  Caviar 
oder  Baumwolle. 

2.  Ergebnisse  ffir  einige  wichtige 
Lander.  Ueber  die  Technik  der  Handelssta- 
tistik der  einzelnen  Länder,  die  Gewinnung, 
Gruppierung,  Darstellung  ihrer  Zahlen,  welche 
deren  Wert  und  Vergleichbarkeit  erheblich 
beeinflussen,  sich  hier  zu  verbreiten,  ist  un- 
thunlich;  es  können  nur  noch  Haupt- 
ergebnisse in  Jahresreihen  f(ir  eine  An- 
zahl der  wichtigsten  Handelsländer  geboten 
werden;  die  Reihen  sind  durchweg  für 
dieses  Jahrzehnt  (seit  1891)  gegeben,  soweit 
sie  schon  vorlagen. 

Was  zunächst  Deutschland  anlangt, 
so  ist  schon  erwähnt,  dass  eine  eigentliche 
deutsche  Handelsstatistik  leider  noch  nicht 
vorlianden  ist;  wobei  nicht  so  sehr  störend 
der  Einschluss  Luxemburgs  in  unser  Zoll- 


gebiet ist  als  der  Umstand,  dass  der  Handel, 
welcher  sich  für  deutsche  Rechnung  im 
Hamburger  Freihafen  vollzieht,  ohne  das 
Zollgebiet  zu  berühren,  statistisch  nicht  mit 
erfasst  wird.  Es  giebt  allerdings  eine  Sta- 
tistik des  Hamburgischen  Handels,  die, 
obgleich  sie  ihn  nicht  vollständig  darstellt^ 
sehr  grosse  Werte  nachweist,  aber  eine 
Kombination  der  Zalüen  jener  mit  der  Zoll- 
gebietsstatistik ist  bis  jetzt  nicht  möglich; 
es  können  aus  der  Hamburgischen  Statistik 
die  Mengen  und  Werte,  welche  der  Zoll- 
gebietsstatistik zuzuschlagen  wären,  um  eine 
vollständige  deutsche  Handelsstatistik  zu 
geben,  nicht  ermittelt  wei*den.  Dieser  Mangel 
ist  aber  liauptsächlich  für  den  Gesamteigen- 
handel, nur  wenig  für  den  Specialhandel 
störend. 

Nach  dem  bisher  Dargelegten  ist  der 
Sgecialhandel,  d.  h.  die  in  den  ein- 
heimischen Handel  übergegangene  und  die 
aus  diesem  stammende  Warenmenge  die  für 
den  Nachweis  wichtigste  Zusammensetzung 
der  Ein-  und  Ausfuhr,  und  dessen  Ziffern 
in  Summa  sowie  für  unsere  fünf  wichtig- 
sten Handelsländer  werden  im  folgenden 
gegeben. 


Ein-  und  Ausfuhr  des  Deutschen  Zollgebiets  (einschl.  Edelmetall- Verkehr). 

A.  Einfuhr  im  Specialhandel  in  Millionen  Mark 


Im 
ganzen 

davon  kamen  aus 

*  Jahr 

Gross- 
hritannien 

Oester- 

reich- 

Ungarn 

Rassland 
(einschl. 
Finland) 

Frank- 
reich 
(einschl. 
Alg:ier  und 
Tunis) 

d.  Verein. 
Staaten 

von 
Amerika 

anderen 
Ländern 

1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 

4  403,4 
4  227,0 

4134,1 
4  285,5 
4246,1 

4558,0 

4  864,6 

5  439,7 
5  783,6 

677,1 
621,1 

656,6 
608,9 

578,7 
647,8 
661,5 

825,7 
777,1 

598,9 

575,4 
580,2 

581,7 

525,4 
578,0 
600,3 
661,2 

730,4 

580,4 
383,4 
353,4 
543,9 
568,8 

634,7 
708,3 

736,5 
715,9 

261,8 
262,3 
241,4 
214,0 
229,9 
233,6 
248,8 

269,3 
308,2 

456,5 
612,0 

458,1 
532,9 

511,7 

584.4 
658,0 

877,2 
907,2 

I  828,7 
I  772,8 

I  844,4 
I  804,1 
1  831,6 

I  879,5 

1  987,7 

2  069,8 

2  344,8 

B.    Ansfnhr  im  Specialhandel  in  Millionen  Mark 


Im 
ganzen 

davon  gingen  nach 

Jahr 

Gross- 
britannien 

Oester- 

reich- 

üngam 

Rassland 

(einschl. 

Finland) 

Frank- 
reich 

(einschl. 

Algier  und 

Tunis) 

d.  Verein. 
Staaten 

von 
Amerika 

anderen 
Ländern 

1891 
1892 
1893 
18J)4 
1895 
189n 
1897 
1898 
1899 

3  339,8 
3  150,1 
3244,6 

3051,5 
3424,1 
3  753,8 

3  786,2 
4010,6 

4  368,4 

696,8 
640,6 
674,0 

635,1 
678,9 
715,9 

701,7 
803,8 

851,6 

347,8 
376,6 
420,5 

401,7 
435,8 
477,3 
435,1 
453,7 
466,0 

262,6 

239,5 
184,6 

194,8 
220,9 

364,1 
372,1 

440,5 
437,3 

238,0 
202,9 

203,1 
188,1 
202,8 
20 1,6 
210,4 
205,9 

217.4 

357,8 
346,7 
354,3 
271,1 
368,7 

383,7 
397,5 
334,6 
377,6 

I  436,8 
I  343,8 
1  408,1 

1  360,7 
1      1517,0 

I  611,2 

I  669,4 

1  772,*i 
2018,5 

1066 


Handelsstatistik 


Diese  deutschen  Zahlen  zeigen  eine  be- 
deutende Steigening  der  Einfuhr  im  ganzen 
und  aus  den  fünf  angeführten  Staaten;  bei 
der  Ausfuhr  gleichfalls  eine  beträchtliche 
Hebung,  ausgenommen  jedoch  diejenige  nach 
Hussland. 

Wir  schüessen  hieran  die  Hauptzahlen 
des  Handels  jener  fünf  fremden  Staaten  mit 
besonderer  Hervorhebung  der  Ein-  und  Aus- 
fuhrwerte (in  Millionen  Mark  umgerechnet), 
die  sie  in  ihren  Nachweisen  bezüglich  Deutsch- 
lands geben.  Auch  sind  noch  die  Zahlen 
für  Italien  und  Japan  angefügt;  die  Mit- 
teilung solcher  für  gleichfalls  wichtige 
kleinere  Handelsstaaten,  wie  Holland,  Bel- 
gien, die  Schweiz,  würde  hier  zu  weit  ge- 
führt haben. 

Eine  Vergleichung  der  Zahlen,  welche 
nach  der  deutschen  ZoDgebietsstatistik  für 
die  Einfuhr  aus  und  die  Ausfuhr  nach 
Grossbritannien,  Oesterreich-Ungarn ,  Russ- 
land, Frankreich  und  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika  oben  gegeben  sind,  mit  den  Zahlen , 
die  aus  der  Statistik  dieser  Länder  für  den 
Verkehr  mit  Deutschland  entnommen  wiu*- 
den,  zeigt  sehr  grosse  ünterechiede,  na- 
mentlich bezüglich  Grossbritanniens,  der 
Vereinigten  Staaten,  Russlands  und  Frank- 
reichs. So  z.  B.  für  das  Jahr  1898  weist 
die  deutsche  Handelsstatistik  eine  Einfuhr 
aus  Grossbritannien  von  825,7,  die  englische 
Statistik  eine  Ausfuhr  nach  Deutschland  von 
725,5  Millionen  Mark  nach,  also  100,2  Mil- 
lionen Mark  Unterschied.  Eigentlich  sollten 
die  englischen  Zahlen  höher  sein,  weil  sie 
auch  diejenige  Ausfuhr  nach  deutschen  Frei- 
häfen (Hambiu-g,  Bremerhaven,  Cuxhaven, 
Geestemünde)  umfasst,  die  nicht  in  das  Zoll- 
gebiet gelangt.  Bei  der  umgekehrten  Rich- 
tung ist  die  Differenz  noch  grösser:  Aus- 
fuhr nach  Grossbritannien  in  der  Zollgebiets- 
statistik 803,8,  in  der  englischen  nur  670,9, 
also  erstere  mehr  132,9  Millionen  Mark.  Die 
Missstimmung  erklärt  sich  aber  ganz  ein- 
fach aus  dem  schon  oben  gelegentlich  er- 
wähnten Mangel  der  englischen  Statistik, 
gar  nicht  die  Herkunfts-  und  Bestimmungs- 
länder, sondern  nur  die  Häfen  zu  berück- 
sichtigen. Eine  deutsche  Ware,  die  über 
Antwerpen  nach  England  kommt,  wird 
Belgien,  eine  englische,  die  über  Rotterdam 
nach  Deutschland  geht,  HoUand  zugerechnet, 
während  die  deutsche  Statistik  sich  Mülie 
giebt,  das  Land,  aus  dessen  Handel  die 
Ware  stammt  und  in  dessen  Handel  die 
Ware  übergeht,  zu  ermitteln.  Ein  Vergleich 
von  Zahlen  zweier  auf  so  verschiedene  Art 
bearbeiteter  Statistiken  ist  ausgeschlossen, 
und  jedenfalls  ist  in  diesem  Falle  die  deutsche 
richtiger.  Denn  bei  den  Vereinigten  Staaten 
zeigt  für  1898  die  deutsche  Statistik  eine 
Einfuhr  dorther  von  877,2,  die  amerikanische 
eine  Ausfuhr  dorthin   von  648,6,  Differenz 


Wert  der  Ein-  und  Ausfnhr  im  iranzen 


und  im  Verkehr  mit  Dents 


m  fifan 
chlam 


Jahr 


Einfnhr 

._        insbes.  aus 
^™^       Deutsch- 
8^^^^"^  ,     land 


Ausfnhr 

•^      jinab.  nach 

^JJ1„   !  Deutsch- 
ganzen ,     ^^^ 


Millionen  Mark 


1.  Gl 

rossbritannien.') 

1891 

9  704,9 

579,7 

5811,8 

519.7 

1892 

.9318,6 

544,1 

5  232,7 

495:5 

1893 

9018,5 

549,1 

5  135,1 

483,5 

1894 

9  130,6 

559,2 

4981,2 

475.1 

1895 

9  466,6 

564,4 

5  268,0 

463,1 

1896 

9818,8 

575,7 

5  829,0 

581,8 

1897 

10212,3 

545,1 

5  798.2 

700,9 

1898 

10803,1 

670,9 

5  834,3 

725,5 

1899 

10  834,8 

675,8 

6  132,1 

628,1 

2.    V( 

ereinigte  Staaten  von  Amerika.^) 

Fiscal- 

Jahr 

endend 

30.  6. 

1891 

3700,9 

423,9 

4121,1 

454.5 

1892 

3  767,6 

365,1 

4614,7 

519,1 

1893 

3  825,2 

406,1 

4117,9 

503,6 

1894 

3111,1 

352,1 

4185,9 

499,7 

1895 

3312,0 

346,1 

3810,1 

443,3 

1896 

3  536,5 

396,3 

4351,8 

526,7 

1897 

3  697,2 

482,1 

4764,1 

597r6 

1898 

3  223,0 

328,1 

5  379,4 

648,6 

1899 

3  430,3 

5  451,5 

3 

.  Russland.') 

1891 

853,5 

232,4 

1  591,6 

434,1 

1892 

828,0 

208,4 

974,9 

283,4 

1893 

987,4 

215,5 

1  276,3 

282,4 

1894 

1231,1 

314,5 

1  471,3 

325.3 

1895 

1  184,7 

386,4 

1516,0 

394.4 

1896 

I  279,9 

412,7 

1494,2 

399,3 

1897 

1215,2 

390,3 

I  576,8 

380,3 

1898 

1  540,7 

389,0 

I  219,6 

438,6 

4.  Oesi 

terreich- 

Ungarn.^ 

') 

1891 

I  110,6 

393,9 

1  356,7 

640,5 

1892 

I  201,2 

482,2 

1259,1 

616,6 

1893 

I  395,9 

529,; 

1  403,9 

653.0 

1894 

1  254,0 

485,4 

I  398,8 

669,3 

189Ö 

1319,7 

520,4 

1  303,9 

612,5 

1896 

1316,8 

510,3 

1  388,1 

665,8 

^)  1  £  =  M.  20,43.  Als  „Specialhandel- 
ist gerechnet;  Einfuhr  total  import.  Ausfnhr 
export  of  British  prodnce.  Einfuhr  ohne  Dia- 
manten. Ein-  und  Ausfuhr  zuzüglich  coin  and 
bullion.  Quelle:  Statistical  abstract  for  the 
United  KiDfirdom  from  1884  to  1898. 

«)  1  Dollar  =  4,20  M.  Einfuhr:  total  import, 
Ausfuhr  domestic  export,  beide  zuzüglich  coin 
an  bullion.  Quelle:  Statistical  abstract  of  the 
United  States  1898. 

8)  Ohne  Finland.  -  1  Rubel  1891  =  2,25 
1892  =  2,06,  1893  =  2,13,  1894^  =  2,20. 
1896  98  =  2,17  M.  (Notenkurse).  Ein-  und  Aus 
fuhr :  Gesamthandel  ohne  Edelmetalle  (der  Edel 
metallverkehr  mit  Deutschland  ist  nicht  ersieht 
lieh).  Quelle:  Obzor  Torgovli  1897.  States 
maus  Yearbook  1900. 

*)  1  Gulden  =  1,70  M.    Ein-  und  Ausfuhr 


Handelsstatistik— Handelsverträge 


1067 


Jahr 


im 
ganzen 


Einfuhr 

insbes.aus 
I  Deutsch- 
land 


im 
ganzen 


A.usfuhr 

insb.  nach 
Deutsch- 
land 


Millionen  Mark 


1897 
1898 
1899 


1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


1891  ! 

1892  ' 

1893  I 

1894  I 

1895  ; 

1896 

1897  ' 

1898  ' 

1899  I 

1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 


I  453,7 
I  433,6 
I  375,7 

5. 

4  298,5 
3  803,8 
3  497,3 
3  565,9 
3  333,1 
3  464,9 
3  578,6 

3  939,4 
3  826,0 

956,5 
986,1 

999,7 
974,3 
967,6 

964,3 
972,2 

I  147,6 

I  224,8 


514,3 

1390,4 

505^1 

1 476,6 

• 

1 638,8 

Frankrei 

302,4 
286,6 
269,7 
267,1 
260,7 

255,7 
252,8 

273,5 
279,2 

6.   Italien 

110,1 
116,7 
120,8 

115,0 
119,1 
118,8 
123,0 
128,2 

■ 

7.   Japan 


ch.^) 

3200,3 

2  976,5 
2818,3 
2  669,0 

2  996,0 

3  170,3 
3  179,3 
3  250,4 
3467,1 

761,0 
819,8 

857,3 
857,0 
857,8 
868,3 
903,0 
990,8 

I  172,3 


250,4 

16,7 

264,0 

287,3 

19,4 

307,5 

265,5 

19,5 

272,3 

305,8 

16,8 

313,0 

287,8 

26,1 

348,1 

463,8 

37,8 

282,0^) 

610,6 

36,8 

366,8*) 

668,9 

53,5 

522,3*) 

501,7 

• 

466,9 

702,5 
703,2 


338,3 
301,6 
281,6 

271,3 
326,0 

335,1 
356,5 
373,7 
347,0 

108,3 
119,8 

121,5 
121,9 
142,5 
134,6 

145,3 
156,3 


4,7 
2,9 
3,7 
3,4 

5,2*) 
5,2-^) 


Specialhandel  einschl.  Edelmetalle.  Die  Zahlen 
für  Deutschland  umfassen  nicht  den  Handel 
mit  den  Freihezirken  Hamburg  und  Bremen. 
Quelle:  Statistik  des  auswärtigen  Handels  des 
österreichisch-ungarischen  Zollgebiets  (1896  bis 
1898),  statistische  üebersichten  1899  Heft  XIV. 
M  Ohne  Algier  und  Tunis.  —  1  Franc  = 
0,81  M.  Ein-  und  Ausfuhr :  commerce  special  -|- 
numeraire.  Quelle:  tableau  gen^ral  du  com- 
merce etc.  (1891—1898),  1899  l'Economiste 
xtaucais 

'")  1  Lire  =  0,81  M.  Ein-  und  Ausfuhr: 
commercio  speciale  compresi  i  metalli  preziosi. 
Quelle :  MoYimento  commerciale  del  regrno  dltalia 
(1891-1898). 

»)  1  Yen  1891  =  3,26,  1892  =  3,05,  1893 
=  2,67,  1894  =  2,12,  1895  =  2,13,  1896  =  2,20, 
1897  =  2,03,  1898/99  =  2,09  M.  (Statistical  ab- 
Btract.)  Einfuhr:  imports  of  foreign  and  Japa- 
nese produce. 

*)  Ausfuhr:  1891—1895  exports  of  Japanese 
and  foreign  produce. 

*)  Ausfuhr:  1896—1898  exports  of  Japanese 
produce.  Quellen :  Annual  return  of  the  foreign 
trade  of  the  Empire  of  Japan  1896-1898.  Re- 
sume  statistique  de  1' Empire  du  Japon  1897, 
1899  nach  den  Nachrichten  fttr  Handel  und  In- 
dustrie. 


228,6  Millionen  Mark.  Diese  ist  aber  inso- 
weit berechtigt,  als  Deutschland  zu  seinen 
Einfuhrwerten  die  Frachtkosten  von  Amerika 
bis  zur  Landesgrenze  hinzurechnen,  also  in 
der  That  einen  höheren  Wert  anschreiben 
muss.  Bei  der  Ausfiihr  nach  den  Vereinigten 
Staaten  hat  die  deutsche  Handelsstatistik 
334,6,  die  amerikanische  328,1,  also  weniger 
6,5  Millionen  l^Iark.  Richtig,  d.  h.  die  Werte 
an  der  Grenze  der  Vereinigten  Staaten  be- 
rechnet, müssten  diese  einen  bedeutend 
höheren  Betrag  nachweisen ;  die  Amerikaner 
nehmen  aber  als  ihre  Einfuhrwerte  die  an 
den  deutschen  Produktionsorten  deklarierten 
an,  und  so  muss  die  deutsche  Handels- 
statistik höhere  Werte  haben,  weil  sie  die 
Fi-achtkosten  von  jenen  Orten  bis  zur  Grenze 
mit  berücksichtigt.  Entsprechende  Diffe- 
renzen, die  sich  aus  Vergleichen  der  franzö- 
sischen und  deutschen  sowie  der  nissischen 
und  deutschen  Nachweise  ergeben,  sind  ohne 
Eingehen  auf  die  einzelnen  Warengattungen 
nicht  zu  erklären.  Ausser  durch  Verschieden- 
heiten in  der  Bewertung  mögen  die  Ab- 
weichungen für  Frankreich  aus  dem  teil- 
weisen Umsatz  der  Waren  über  die  Zwischen- 
länder Belgien  und  die  Schweiz,  füi*  Russ- 
land über  die  Niederlande  und  dadurch 
entstehende  Verschiebungen  der  beider- 
seitigen Nachweise  zu  erklären  sein;  für 
Russland  aber  au(*h  generell  durch  die  noch 
recht  geringe  Zuverlässigkeit  seiner  Handels- 
statistik. 

Litteratur:  S.  die  beim  Art,  Handelsbilanz 
oben  Bd.  IV  S.  984  angeföhrte  Litteratur. 
Ausserdem :  St,  Bourney  The  ofßcial  trade  anp 
navigati<m  Statistia  iw  Journal  of  the  Statistical 
Society,  London  1872.  —  JF.  X,  Neumann- 
Spallart,  Handelsstatistik  und  Handelswerte  in 
Conrads  Jahrb.  f.  NaLu.Stat.  26,  1876.  —  Viertel- 
Jahrshefte  zur  Statistik  des  DeiUschen  Reichs, 
1900  L  —  Die  Grundlagen  der  Handelsstatistik 
einiger  ß'emder  Länder,    I.  Oesterreich-Ungarn. 

H,  V,  SchseU 


Handelsverträge. 

I.  Die  H.  im  Staats-  und  Völker- 
recht. 1.  Allgemeine  Gruppierung  der  Staats- 
verträge. 2.  Die  H.  im  äusseren  Staatsrecht. 
3.  Die  H.  im  inneren  Staatsrecht.  4.  Dauer 
und  Ablauf  der  H.  H.  Autonome  und  ver- 
tragsmässige  Handelspolitik.  III.  In- 
halt d  e  r  H.  1.  Die  Klausel  der  Handelsfreiheit. 

2.  Die  Klausel  der  meistbefi^ünstigten  Nation. 

3.  Die  Klausel  der  Gleichstellung  mit  den  In- 
ländern. 4.  Die  Steuerklauseln.  5.  Konventional- 
tarif und  Generaltarif.  6.  Sonstige  Klauseln. 
IV.Das  Princip  des  Gegenrechts  (Reci- 
procität).  V.  Historisches.  1.  Altertum. 
2.  Mittelalter.  3.  Neue  Zeit.  4.  Neunzehntes 
Jahrhundert. 


1068 


Handelsverti'äge 


I.  Die  Handelsvertrage  im  Staats-  und 

Völkerrecht 

1.  Allgemeine  Gmppiemng  der  Staats- 
vertrage. Unter  den  verschiedenen  Ein- 
teihmgsweisen  der  Staatsverträge  scheint 
die  zuerst  von  Friedrich  von  Siartens  in 
Vorschlag  gebrachte  Gruppienmg  dem  Wesen 
der  Sache  am  meisten  zu  entsprechen.  Da- 
nach zerfallen  die  Staatsverträge  in  a)  po- 
litische imd  in  b)  sozial-kommer- 
zielle. 

Die  politischen  Staatsverträge  haben 
die  wechselseitigen  Interessen  und  Be- 
ziehungen der  Staaten  als  völkerrechtliche 
Gesamtindividueu  zur  Unterlage;  dahin  ge- 
hören die  Friedenstraklate,  die  Staatenbund- 
nisse  und  Bundesstaatenverträge,  die  Neu- 
tralitäts-  und  Garantieabkommen  etc. 

Die  sozial-kommerziellen  Staats- 
verträge regeln  die  Beziehungen  der  beider- 
seitigen Staatsangehörigen  im  Gebiete  des 
anderen  Teiles  und  dei-en  Verhältnis  zu  den 
Einzelbehörden.  Handels-,  Niederlassungs- 
und Consularverträge,  Vereinbarungen  über 
Verkehrsanstalten  und  Schiffahrtsverhält- 
nisse, über  gemeinsame  Vorkelirungen,  be- 
treffend Schutz  von  Loben  und  Gesundheit 
u.  dgl.  reihen  sich  in  diese  Gruppe. 

Behauptete  früher  die  erstere  Abteilung 
ein  alles  verschlingendes  Uebergewicht,  so 
ist  darin  im  Laufe  des  19.  Jahrhunderts  ein 
Wandel  eingetreten.  Noch  v.  Ompteda 
(Litteratur  des  Völkerrechts  1785)  konnte  die 
Bemerkung  madien:  >Die  Verträge  der 
Viilker  bestehen  gewönlich  in  Friedens- 
schlüssen und  solchen  Verträgen,  die  sich 
auf  Krieg  und  Frieden  beziehen.«  Dem- 
gegenüber betont  Fr.  von  Marlens  (Völker- 
rcvht  1883  86) :  »Heutzutage  bilden  formelle 
politische  Verträge  eine  exceptionelle  Er- 
scheinung. Die  Zeit,  in  der  wir  leben,  kann 
man  mit  Recht  als  die  Epoche  der  sozial- 
kommerziellen Traktate,  deren  Zahl  mit 
jedem  Tage  wächst,  bezeichnen. <v  In  diesem 
Sinne  hatte  schon  Chateaubriand  den  be- 
kannten Ausspruch  gethan,  die  Periode  der 
Diplomaten  sei  vorüber,  es  beginne  das  Zeit- 
alter der  Consuln. 

2.  Die  H.  im   äusseren  Staatsrecht 

Der  alte  Satz  des  Völken*echts,  dass  nur 
den  politisch  voll  souveränen  Staaten  das 
äussere  Vertragsi^echt  zukomme,  lässt  sich 
für  unsere  Tage  nicht  mehr  festhalten,  ^[ehr 
und  mehr  hat  sich  als  Ausfluss  der  wesent- 
lichen Unterscheidung  von  i>olitischen  und 
von  sozial-kommerziellen  Materien  eine 
doppelte  äussere  Handlungsfähigkeit  der 
Staaten  herausgebildet,  wobei  es  vorkommen 
kann,  dass  einem  völkerrechtlichen  Indivi- 
duum die  eine  eignet,  wähi^end  ihm  die 
andere  abgeht.  Im  Jahre  1873  erwarb  sich 
das  halbsouveräne  Aegypten  von  der  Pforte 


einen  Firman,  der  es  ermächtigte,  innerhalb 
der  vom  souzeränen  Staate  selbst  einge- 
gangenen Verpflichtungen  eigene  Traktate 
mit  auswärtigen  Staaten  über  Handel,  Acker- 
bau, Zollwesen,  Fi*emdenpolizei  etc.  d.  h. 
über  solche  Gegenstände  zu  vereinbaren, 
worauf  sich  seine  innere  Autonomie  im 
wesentlichen  bezieht,  also  mit  Ausschluss 
der  politiscjhen  Angelegenheiten.  Das  gleiche 
Recht  wurde  laut  Kollektivnote  v.  20.  Ok- 
tober 1874  seitens  der  Mächte  Russland, 
Oesterreich  und  Deutschland  für  die  damals 
noch  halbsouveränen  Donaufürstentümer  in 
Anspruch  genommen,  wobei  man  ausdrück- 
lich erklärte,  dass  sich  dieses  Recht  nicht 
auf  die  politische  Sphäre  ausdehnen  soUe. 
Und  durch  Cirkularnote  an  die  Mächte  von 
1884  bezw.  Gesetz  von  1887  hat  sich  das 
nachgeborene  Bidgarien  in  dieselbe  Stellung 
zu  schwingen  gewusst.  Auch  die  halbsouve- 
räne Südafrikanische  Republik  hat  im  Ver- 
trage von  1884  mit  Grossbritannien  das 
äussere  Vertragsrecht  über  alle  den  politi- 
schen Interessen  des  Oberstaates  nicht  zu- 
widerlaufenden Gegenstände  zugestanden 
erhalten,  und  in  neuester  Zeit  wächst  eine 
ganze  Reihe  von  anderweitigen  überseeischen 
Besitzungen  Grossbritanniens  in  ein  älm- 
liches  Verhältnis  hinein.  War  schon  Ll,ngstden 
mit  Repräsentatiwerfassung  ausgestatteten 
englischen  Kolonieen  die  Autonomie  im  Zoll- 
wesen und  zugleich  das  Recht  eingeräumt 
worden,  mit  unmittelbar  angrenzenden  Ge- 
meinwesen Handelsverträge  zu  schliessen, 
so  hat  sich  dieses  Recht  neuerdings  auch 
auf  die  Beziehungen  zu  europäischen  und 
sonstigen  Ländern  auszudehnen  begonnen. 
Die  in  den  Handels-  und  Niederlassungsver- 
trägen des  Mutterlandes  früher  übliche  Be- 
stimmung, dass  die  allgemeinen  Festsetzungen 
auch  auf  die  Kolonieen  Anwendimg  finden 
sollten,  hat  seit  dem  Handelsvertrag  mit 
Rimiänien  von  1880  einer  Klausel  Platz  ge- 
macht, wonach  einer  Reihe  von  Kolonieen 
ein  Optionsrecht  darüber  vorbehalten  bleibt, 
ob  sie  sich  dem  Vertrage  des  Mutterlandes 
ansclüiessen  wollen  oder  nicht.  Gewöhnlich 
werden  in  dieser  Beziehung  ausdrücklich 
genannt:  Kanada,  Neufundland,  Neusüd- 
wales, Victoria,  Südaustralien,  Westaustralien, 
Queensland,  Tasmanien,  Neuseeland,  Cap- 
land,  Natal  und  (^Wewohl  nicht  immer)  In- 
dien. Der  Haiidelsvertrag  Grossbritiinniens 
mit  Paraguay  wurde  z.  B.  von  den  meisten 
genannten  Kolonieen  abgelehnt  und  von 
einigen  anderen  kraft  selbständigen  Zusatz- 
abkommens nur  seinem  teilweisen  Inhalte 
nach  angenommen.  Neueixlings  hat  Cauada 
sich  von  den  Handelsverträgen  des  Mutter- 
landes völlig  losgelöst  und  erhebt  (seit  1. 
Juli  1898)  autonom  von  den  aus  nichtgross- 
bri tannischen  Territorien  stammenden  NV'aren 
einen  Zollaufschlag  von  38  ^  3  Prozent.    In- 


Handelsverträge 


1069 


folgedessen  wird  diese  Kolooie  auch 
seitens  der  betroffenen  Länder  nicht  mehr 
auf  dem  Fusse  der  Meistbegünstigung  be- 
handelt. 

Nehmen  wir  hier  also  tiberall  eine  ge- 
wisse internationale  Handlungsfähigkeit  in 
sozial-kommerziellen  Dingen  wahr,  während 
die  politische  Souveränität  fehlt,  so  zeigt 
sich  auch  wohl  das  umgekehrte  Verhältnis. 
Das  Grossherzogtinn  Luxemburg  geniesst 
der  vollen  politischen  Souveränität.  Han- 
delspolitisch gehört  es  dem  Zollgebiete  des 
deutschen  Reiches  an.  Seine  desfällige  Hand- 
lungsfähigkeit hat  es  laut  Vertrag  von  1865 
gänzlich  auf  das  Königreich  Preussen  über- 
tragen. In  einem  ähnlichen  Verhältnisse 
befindet  sich  das  Fürstentum  Liechtenstein 
seit  1852  zu  Oesterreich-Ungarn.  Anderen- 
teils haben  z.  B.  das  Köni^eich  üngai'n 
und  Westösterreich  ihre  politische  vöÜer- 
rechtliclie  Handlungsfäliigkeit  auf  den  Ge- 
samtstaat übertragen,  dagegen  sich  die  inter- 
nationale Souveränität  in  sozial-kommerziellen 
Dingen  vorbehalten.  Die  zwischen  beiden 
Staaten  bestehende  Zollunion  beruht  auf 
einem  von  zehn  zu  zehn  Jahren  kündbaren 
und  jeweils  neu  zu  vereinbarenden  Handels- 
und Zollvertrage,  wälirend  das  politische 
Bündnis  für  immer  abgeschlossen  ist.  Bei 
den  auswärtigen  Handelsverträgen  treten 
daher  die  beiden  Staaten  nicht  wie  bei  den 
politischen  Verträgen  als  ein  einziges  Ge- 
samtindividuum,  sondern  als  zw^ei  getrennte 
Persönlichkeiten  mit  selbständiger  Beschlies- 
sungskraft  auf.  Noch  schärfer  tritt  dieser 
Gegensatz  bei  Schweden-Norwegen  hervor, 
wo  die  politisch  realuniierten  Staaten  sich 
die  Zollautonomie  vorbehalten  haben  und 
eine  von  einander  abweichende  Handelspoli- 
tik (Norwegen  eine  freihändlerische  und 
Schweden  eine  schutzzöUnerische)  verfolgen, 
was  denn  auch  in  ihren  unabhängig  von 
einander  geschlossenen  Handelsverträgen 
zimi  Ausdruck  gelangt. 

8.  Die  H.  im  inneren  Staatsrecht  Noch 
deutlicher  wie  im  äusseren  Staatsrecht  tritt 
hier  der  wesentliclie  Unterschied  beider  Ab- 
teilungen hervor.  Nach  Vorbüd  der  belgi- 
schen Verfassung  von  1831  sagt  z.  B.  das 
preussische  Staatsgrundgesetz  von  1850  Art. 
58:  »Der  König  hat  das  Eecht,  Krieg  zu 
erklären  und  Frieden  zu  schliessen,  auch 
andere  Verträge  mit  fremden  Regierungen 
zu  errichten.  Letztere  bedürfen  zu  ihrer 
Giltigkeit  der  Zustimmung  der  Kammern, 
sofern  es  Handelsverträge  sind,  oder 
wenn  dadurch  dem  Staate  Verpflichtungen 
auferlegt  werden.«  Das  heisst  mit  anderen 
Worten,  für  Verträge  politischen  Inhalts  be- 
sitzt der  König  das  Gesetzgebungsrecht 
allein,  für  Verträge  in  Handels-  imd  ver- 
wandten Sachen  teilt  er  es  mit  der  Volks- 
vertretung.   Der  gleiche  Gedanke  durchzieht 


die  Verfassungen  der  übrigen  deutschen 
Einzelstaaten  und  kehrt  auch  in  der  Reichs- 
verfassung von  1871  wieder,  wo  es  im  Art. 
11  heisst:  »Der  Kaiser  hat  das  Reich  völker- 
rechtlich zu  vertreten,  im  Namen  des  Reichs 
Krieg  zu  erklären  und  Frieden  zu  schliessen, 
Bündnisse  mid  andere  Verträge  mit  fremden 
Staaten  einzugehen,  Gesandte  zu  beglaubigen 
und  zu  empfingen.  Insoweit  die  Verträge 
mit  fremden  Staaten  sich  auf  solche  Gegen- 
stände beziehen,  welche  nach  Art.  4  in  den 
Bereich  der  Reichsgesetzgebung  gehören,  ist 
zu  ihrem  Abschlüsse  die  Zustimmung  des 
Bundesrates  und  zu  ihi-er  Giltigkeit  die  Ge- 
nehmigung des  Reichstages  erforderlich.« 
Der  Art.  4  nennt  nun  als  hierher  gehörig 
die  Zoll-  und  Handelsgesetzgebung,  den 
Schutz  des  deutschen  Handels  und  der 
deutschen  Flagge,  das  Heimats-  und  Nieder- 
lassimgswesen ,  die  Fremdenpolizei,  den 
Schutz  des  geistigen  Eigentums,  gemeinsame 
Bestimmungen  über  das  Obligationenrecht, 
das  Handels-,  Wechsel-,  Straf-  und  Prozess- 
recht und  dergleichen,  aUes  Materien,  die 
in  die  sozial-kommerzielle  Handlungsspliäi-e 
des  Staates  fallen. 

Im  Staatsrecht  Grossbritanniens  findet 
sieh  eine  derartige  ausdrückliche  ünter- 
scheidimg  zwar  nicht  vor.  Nach  altem  ver- 
fassungsmässigem Herkommen  kommt  dort 
der  Krone  allein  das  Recht  zu,  Verträge 
jeder  Art  mit  dem  AiLslande  abzuschliessen 
und  zu  ratifizieren.  Daneben  steht  aber  die 
Bestimmung,  dass,  sobald  durch  einen  der- 
artigen Vertrag  innere  Gesetze  abgeändert 
oder  dem  Staate  finanzielle  Verpflichtungen 
auferlegt  werden,  dem  Parlamente  ein  be- 
züglicher Gesetzesvorschlag  gemacht  werden 
rauss,  ohne  dessen  Annahme  die  vertrag- 
liche Bestimmung  nicht  in  "Wirksamkeit 
treten  kann.  Da  dies  nun  bei  den  sozial- 
kommerzieUen  Verträgen,  einfache  MeLst- 
bcgünstigimgsdeklarationen  ausgenommen , 
gewöhnlich  der  Fall  ist,  so  kommt  die  Sache 
liier  ziemlich  auf  dasselbe  wie  in  den  kon- 
stitutionellen Staaten  des  europäischen  Kon- 
tinents hinaus. 

Der  verfessungsmässige  Instanzenzug,  den 
das  völkeiTechtliche  Abkommen  in  den  ver- 
tragschliessenden  Staaten  zu  durclüaufeu 
hat,  findet  sich  in  manchen  Verträgen  genau 
angegeben.  So  enthält  z.  B.  der  Freund- 
schafts-, Handels-  und  Schiffehrtsvertrag 
zwischen  Peru  und  den  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika,  1887,  die  Bestimmung:  »Der 
gegenwärtige  Vertrag  soll  durch  den  Präsi- 
denten der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 
unter  Beirat  und  Zustimmung  des  Senates 
derselben,  imd  durch  den  Präsidenten  der 
Republik  Peni,  unter  Gutheissung  des  Kon- 
gresses dereelben  bestätigt  und  ratifiziert 
werden,  und  die  Ratifikationen  sollen  darauf 
in  "Washington  oder  Lima  sobald  als  möglich 


1070 


Handelsverträge 


ausgewechselt  werden.«  Hier  ist  nur  von 
der  Zustimmung  des  Senates  der  Vereinigten 
Staaten,  nicht  auch  von  derjenigen  des  Ee- 
präsentantenhauses  die  Rede,  weil  nach  dem 
Staatsrechte  der  Union  der  Präsident  befugt 
ist,  schon  mit  Zustimmung  von  zwei  Drittein 
der  Mitglieder  des  Senates  Verträge  jeder 
Art  mit  anderen  Staaten  rechtsverbindlich 
einzugehen  und  zu  ratifizieren.  Dem  Ee- 
präsentantenhause  brauchen  sie  bloss  nach- 
träglich ziu*  Kenntnisnahme  mitgeteilt  zu 
werden.  Fast  jedes  Land  hat  hierüber 
seine  besonderen  verfassungsmässigen  Be- 
stimmungen, die  sich  auch  auf  den  (jang  der 
Qeschäftsbehandlung  erstrecken,  vrelche  bei 
den  internationalen  Verträgen  eine  andere 
ist  als  bei  der  inneren  Gesetzgebung. 

Im  allgemeinen  steht  die  Initiative  zu 
einem  vötterrechtlichen  Vertrage  auch  in 
sozial-kommerziellen  Dingen  ausschh'esslich 
dem  Oberhaupte  der  Vollziehungsgewalt  zu ; 
also  dem  Monarchen  in  Monarchieen,  dem 
Staatspräsidenten  in  Republiken  oder  wie  in 
der  Schweiz  dem  Bundesrate,  welcher  letztere 
in  den  schweizerischen  Handelsverträgen  als 
vertragschliessende  Partei  genannt  wird. 
Kein  parlamentarischer  Antrag  kann  hier 
irgend  welchen  Einfluss  beanspruchen.  Wahl 
des  Zeitpunktes,  Ernennung  der  Unterhändler, 
die  den  letzteren  zu  erteilenden  Instruktionen 
gehen  desgleichen  bloss  von  der  obersten 
Behörde  aus.  Doch  ist  im  Deutschen  Reiche 
der  Kaiser  gehalten,  bei  Handels-  und  Schiff- 
fahrtsvertr%en  mit  der  Schweiz  und  mit 
Oesterreich  die  an  diese  Länder  angrenzen- 
den Bundesstaaten  zur  Mit\\Trkuug  bei  den 
Unterhandlungen  einzuladen. 

Als  Ergebnis  einer  sorgfältigen  wechsel- 
seitigen Interessenabwägiing  kann  der  Ver- 
trag in  keinem  der  beiden  Parlamentskörper 
amendiert,  sondern  muss  hier  wie  dort  im 
ganzen  angenommen  oder  verworfen  werden. 
Wird  eine  Aenderung  im  einzelnen  gewünscht, 
so  kann  diese  nur  auf  dem  Wege  bewirkt 
werden,  dass  der  Vertrag  nach  gewalteter 
Erörterung  und  etwaigen  unverbindlichen 
Abstimmung  über  die  einzelnen  Paragraphen, 
um  das  Meinungsverhältnis  des  Hauses  fest- 
zustellen, in  seiner  Vollständigkeit  abgelehnt 
wird.  Es  steht  dann  bei  der  Regierung, 
die  Unterhandlungen  mit  dem  anderen  Kon- 
trahenten wieder  aufzunehmen  und  unter 
Berücksichtigung  der  Ablehnungsgründe 
einen  neuen  Vertrag  zu  vereinbai-en.  Hai 
die  Vorlage  die  beiden  Kammern  unter  Zu- 
stimmung diu-chlaufen ,  so  gelangt  sie 
vor  das  Staatsoberhaupt,  das  sie  im  Wege 
der  Ratifikation  formell  zum  Gesetze  erhebt. 
Damit  tritt  der  Vertrag  jedoch  noch  nicht 
sogleich  in  Kraft.  Letzteres  ist  an  die  Be- 
dingung geknüpft,  dass  die  Vereinbarung 
auc-ii  innerhalb  des  anderen  Staates  Gesetzes- 
kraft erlangt  habe,   was  formell  erst  durch 


den  Austausch  der  Ratifikationen  dem  ande- 
ren Teile  verbürgt  wird.  Gewöhnlich  ent- 
halten daher  die  Handelsverträge  da,  wo  es 
sich  nicht  um  Erneuerung  oder  Fortsetzung 
alter  Vertragsbeziehungen  handelt,  die  Be- 
stimmung, dass  die  Wirksamkeit  am  Tage 
des  Austausches  der  Ratifikationsiu-kimdea 
eintreten  solle.  "  v   — «if 

Ausnahmsweise  lässt  sich  eine  Regienmg 
auch  wohl  vorher  von  der  Volksvertretung 
durch  ein  Ermächtigimgsgesetz  das  Recht 
erteüen,  innerhalb  bestimmter  Grenzen  einen 
Handelsvertrag  mit  einer  anderen  Regierung 
einzugehen.  In  solchem  Falle  bedai'f  es 
einer  nachträglichen  pai'lamentarischen  Ge- 
nehmigung nicht  mehr;  es  sei  denn,  dass 
die  Grenzen  der  Ermächtigung  überecliritten 
worden  wären. 

Nicht  der  parlamentaiischen  Zustimmimg 
unterworfen  sind  administrative  Ausftihnuigs- 
bestimmungen,  die  als  solche  in  den  Ver- 
ordnungskreis der  Einzelbehörden  fallen. 
Dieselben  finden  sich  w^ohl  in  der  Form  von 
Zusatzartikeln  oder  Annexverträgen  dem 
Hauptvertrage  angehängt  und  gelten  immer- 
hin als  ebenbürtige  Bestandteile  des  A^'ertra- 
ges.  Das  gleiche  gilt  von  den  Erläuterun- 
gen einzelner  Artikel,  welche  in  mehr  oder 
minder  ausführlichen  SclüussprotokoUen,  bei 
der  Unterzeichnung  und  auch  wohl  ei'st  im 
Augenblicke  des  Ratifikationsaustausches  l)ei- 
gefögt  zu  werden  pflegen. 

Eine  allgemein  angenommene  ürkimden- 
sprache,  wie  sie  in  der  politischen  Sphäre 
noch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  das 
Französische  bildet,  giebt  es  in  betreff  der 
sozialkoramerzieUen  Materien  nicht  und 
kann  es  nicht  wohl  geben,  da  die  einschla- 
genden Uebereinkommen  in  der  Landes- 
sprache von  den  parlamentarischen  Köri)er- 
schaften  beraten  und  ztun  Gesetz  erhoben 
werden  müssen,  was  für  die  pohtischen 
Verträge  in  der  Regel  nicht  erforderlich  ist. 
Die  beiderseitigen  nationalen  Texte  haben 
dann  gleiche  Giltigkeit.  Im  Verkehre  mit 
halbcivilisierten  Völkern,  wo  wegen  be- 
schränkter Sprachkenntnis  die  w^echselseitige 
Kontrolle  der  Textformulierungen  erschwert 
ist,  wird  zur  Entscheidung  in  Streitfällen 
wohl  noch  ein  beiden  Teilen  verständliches 
drittes  Idiom  gewählt.  Im  schweizerisch- 
japanischen Handelsvertrage  1864  z.  B.  ent- 
scnied  man  sich  in  diesem  Sinne  für  die 
holländische  Sprache.  Gewöhnlich  tritt  die 
englische  Sprache  dafür  ein.  Im  brasi- 
lisch-chinesischen Handels  vertrage  1881  fin- 
det sich  die  nähere  Bestimmung :  »Der  ]X)rtu- 
giesische  Text  soll  in  Brasilien,  der  chine- 
sische in  China  massgebend  sein.  Im  Falle 
von  Meinungsverschiedenheiten  soll  der 
französische  Text  entscheiden.« 

4.  Dauer  nnd  Ablauf  der  H.  Wcilu^nd 
die  Friedensschlüsse  und  die  damit  zusara- 


Handelsverträge 


1071 


menhängenden  politisch-konstitutiven  Staats- 
verträge »auf  ewige  Zeiten«,  d.  h.  bis  zum 
Eintritt  des  nächsten  Kriegsfalles  abge- 
schlossen werden,  hat  sich  für  die  sozial- 
kommerziellen  Yölkerrechtsabkommen  schon 
längst  der  Brauch  herausgebildet,  die  Bin- 
dungen nur  für  bestimmt  abgegrenzte  Zeit- 
fristen, als  z.  B.  für  fünf,  zehn,  zwölf  oder 
mehr  Jahre  in  Geltung  zu  setzen.  Nach 
Ablauf  dieser  Frist  fällt  der  Vertrag  ent- 
weder dahin,  oder  er  besteht,  was  die  Regel 
ist,  auf  einjährige  Kündigung,  welche  beiden 
Teilen  jederzeit  auf  den  gleichen  Tag  des 
folgenden  Jahres,  also  ohne  Einhaltung  be- 
stimmter Termine,  freisteht,  vorläufig  weiter 
fort.  Wo  ausnahmsweise  haiadelsvertragliche 
Bestimmungen  in  Fiiedenstraktaten  vor- 
kommen, da  werden  sie  entweder  bloss  als 
provisorische,  bloss  bis  zum  Abschlüsse 
selbständiger  Verträge  über  diese  Materien 

§  eltende  bezeichnet,  oder  es  wird  aus- 
rücklich  ein  Unterschied  in  betreff  der 
Dauer  der  beiderseitigen  Rechtsabteilungen 
gemacht. 

So  heisst  es  z.  B.  in  dem  »Allgemeinen 
Vertrag*  zwischen  Honduras  und  Salvador, 
1878:  »Der  vorliegende  Vertrag  soll,  inso- 
weit derselbe  sich  auf  den  Frieden  und 
die  Freundschaft  bezieht,  auf  ewige 
Zeiten  bindend  sein.  Hinsichtlich  des 
Handels  und  der  übrigen  Bestinunungen 
soll  derselbe  zehn  Jahre,  vom  Tage  der 
Auswechselung  der  Ratifikationsurkunden  an 
gerechnet,  in  Kraft  bleiben.«  (Folgt  die 
fibliche  Klausel  der  einjährigen  Kündigung 
für  den  Weiterbestand  der  letzteren  Mate- 
rien.) Eine  ähnliche  Bestimmung  findet 
sich,  wie  schon  erwähnt,  auch  in  dem 
österreichisch-ungarischen  Ausgleichsgesetz 
von  1867. 

Nur  gegenüber  halbcivilisierten  Völkern, 
bei  denen  das  unter  civilisierten  Nationen 
als  völkerrechtliches  Grundrecht  anerkannte 
»Recht  auf  Verkehr«  erst  mit  Waffengewalt 
oder  durch  Kriegsdrohung  erzwungen  wer- 
den muss,  pflegen  Friedens-  und  Handels- 
verträge auch  heutzutage  noch  inein- 
ander gezogen  zu  werden.  Hier  sind  die 
Handelsvereinbainingen  dann  weder  ablauf- 
bar noch  kündbar,  immerhin  aber  in  oft 
besonders  bestimmter  Zeitfolge  revidier- 
bar. 

Eine  Sonderstellung  nimmt  in  dieser  Be- 
ziehung der  Frankfurter  Frieden  von  1871 
ein,  dessen  Art.  11  einen  Meistbegünstigungs- 
vertrag zwischen  Frankreich  und  dem  deut- 
schen Reiche  darstellt,  wobei  aber  sowohl 
die  Kündigungs-  wie  die  Revisionsklausel 
fehJea,  so  dass  dieser  Handelsvertrag  wie 
der  übrige  Inhalt  des  Friedenstraktates  als 
auf  ewige  Zeiten  abgeschlossen  anzu- 
sehen ist. 

Ueber  die  Frage,  ob  durch  einen  Krieg 


nicht  bloss  die  politischen,  sondern  auch  die 
sozial-kommerziellen  Verträge  aufgehoben 
werden,  besteht  in  der  neueren  völkerrecht- 
lichen Liitteratur  eine  Meinungsverschieden- 
heit. Heffter,  Bluntschli  u.  a.  neigen  sich 
zu  der  Annahme,  dass  bloss  die  Ausführung 
dieser  Veiiräge  während  der  Dauer  der 
Feindsehgkeiten  unterbrochen  werde,  wo- 
gegen deren  Rechtskraft  bestehen  bleibe. 
Gessner  sagt  geradezu:  »Der  Grundsatz, 
dass  der  Krieg  die  Staatsverträge  nicht  auf- 
hebt, sondern  nur  die  Ausführung  unter- 
bricht, ist  nach  den  heutigen  völkerrecht- 
üchen  Grundsätzen  nicht  mehr  bestreitbar.« 
Indessen  wird  diesem  Grundsatze  zur  Zeit 
noch  durch  die  völkerrechtliche  Praxis 
widersprochen,  wie  z.  B.  der  vorgenannte 
Art.  11  des  Frankfurter  Friedens  mit  den 
Worten  beginnt:  »Da  die  Handelsverträge 
mit  den  verschiedenen  Staaten  Deutschlands 
durch  den  Krieg  aufgehoben  sind,  so«  etc. 
Immerhin  trifft  die  von  den  genannten 
Völkerrechtslehrern  vertretene  Auffassung 
thatsächhch  in  solchen  Fällen  zu,  wo  es  sich 
um  Kollektivverträge  ganzer  Staatengruppen 
handelt,  wie  z.  B.  bei  der  Kongo- Akte,  beim 
Weltpostverein,  bei  den  verschiedenen  Uni- 
onenbetreffend das  htterarische,  künstlerische 
und  industrielle  Eigentum  etc.  Hier  bleibt 
das  Vertragsverhältnis  der  entzweiten  Mächte 
gegenüber  den  nicht  am  Kriege  beteiligten 
Staaten  immer  aufrecht,  und  das  alte  Ver- 
hältnis tritt  auch  durch  die  einfache  Tliat- 
sache  des  Friedensschlusses  zwischen  den 
kriegführenden  Staaten  wieder  ein,  ohne  dass 
es  einer  ausdrücklichen  Vereinbarung  dafür 
bedürfte.  • 


II.  Autonome  und  vertra^mässige 
Handelspolitik. 

»Die  Hauptabsicht  eines  jeden  Kommer- 
zientraktates  muss  sein,  die  Bilanz  in  der 
Handlung  zu  gewinnen,  gleichwie  dieses 
gleichfalls  der  Endzweck  desjenigen  Volkes 
ist,  so  mit  uns  schliesst,  wenn  es  anders 
nicht  einfältig  ist.  So  kommt  es  darauf  an, 
wer  den  anderen  überlisten  kann.« 
Dieser  im  achtzehnten  Jahrhundert  gefallene 
Ausspruch  des  deutschen  Kameral£ten  von 
Justi  kennzeichnet  den  Standpunkt  des  Mer- 
kantilsystems. Einig  sind  alle  älteren 
Schriftsteller  darin,  dass  es  besser  sei, 
keinen  Handelsvertrag  einzugehen  als  einen 
solchen,  bei  dem  man  nicht  in  der  Lage 
sei,  auf  Kosten  des  anderen  Teilhabers  wich- 
tige Vorteile  davon  zu  tragen.  In  diesem 
Sinne  sagt  z.  B.  der  Franzose  IVIably:  »Je 
ne  dirai  donc  point  comment  il  faut  negocier 
et  dresser  des  traites  de  commerce ;  je  dirai 
seulement  qu'il  n'en  faut  point  concliu*e, 
a  moins  qu  on  ne  se  trouve  dans  quelque 
circonstance  heureuse  qui  autorise  ädemander 
u  un  peuple  quelque  pr6rogative  chez  lui, 


1072 


Handelsverträge 


Sans  (^tre  Obligo  de  Tacheter  par  une  com- 
plaisance  Univalente.« 

Also  nicht  Reciprocität  oder  wenigstens 
nicht  volle  Reciprocität,  es  sei  denn  etwa 
scheinhare,  wird  danach  den  Handelsverträ- 
gen vorgesetzt. 

Aber  auch  die  freihändlerischen  Theo- 
rieen  treten  im  allgemeinen  keineswegs  ftlr 
die  Handelsverträge  ein.  Weder  Quesnay 
noch  A.  SmitJi  waren  für  dieselben  einge- 
nommen, und  das  Rentzsche  Handwörterbuch 
der  Volkswirtschaftslehre  (1866),  dieser 
theoretische  Niederschlag  der  deutschen 
Freihandelspartei,  sagt  in  dem  Art.  Han- 
delsverträge geradezu:  »Die  freihänd- 
lerischen Tendenzen  der  Volkswirtschafts- 
lehre lassen  sich  mit  dem  Abschlüsse  sepa- 
rater Handelsverträge  kaum  noch  vereinigen. 
Das  Bestreben  der  Neuzeit  geht  vielmehr 
dahin,  die  Eingangszölle  immer  mehr  herab- 
zusetzen, und  sie  vorläufig,  bis  ein  völli- 
ges Aufgeben  derselben  gestattet  sein  wird, 
nur  für  eine  kleine  Anzahl  von  ausländischen 
Verbrauchsartikeln  beizubehalten ;  wenn  jetzt 
noch  Handelsverträge  abgeschlossen  w^er- 
•den,  so  ist  dies  ein  Beweis,  dass  we- 
nigstens bei  einer  der  kontrahierenden  Na- 
tionen lichtige  Ansichten  über  Handel  und 
Verkehr  nodi  nicht  zur  vollen  Geltung  ge- 
kommen sind.«  Also  autonome  nicht  ver- 
tragsmässige  Herabsetzung  bezw.  Beseitigung 
der  Zölle  überhaupt  wird  hier  zum  Ziel  ge- 
steckt. 

Eine  wohlwollendere  Haltung  nimmt 
Lists  Nationales  System  zu  den  Handels- 
verträgen ein,  wo  diese  *als  das  wirksamste 
Mittel  erscheinen,  die  wechselseitigen  Han- 
delsbeschränkungen nach  und  nach  zu  mil- 
dem und  die  Nationen  dem  freien  Weltver- 
kehre allmählich  entgegenzuführen«. 

In  Wirklichkeit  haben  die  Handelsver- 
träge an  sich  weder  eine  freihändlerische 
noch  eine  protektionistische  Tendenz,  sie 
sind  ein  Mittel,  das  sowohl  nach  der  einen 
wie  nach  der  anderen  Richtung  hin  ge- 
braucht und  missbraucht  werden  kann.  In 
den  sechziger  Jahren  unseres  Jahrhunderts 
waren  sie  vermöge  des  Anstosses,  der  von 
dem  englisch-französischen  Handelsvertrage 
von  1860  ausging,  ein  Instniment  des 
Freihandels.  Der  Ablauf  der  meisten 
europäischen  Handelsverträge  am  1.  Februar 
1892  gab  umgekehrt  in  manchen  Staaten,  wie 
z.  B.  in  der  Schweiz,  Frankreich,  Sjianien 
u.  s.  w.  zu  einem  förmlichen  Wettlaufe  in  der 
Richtung  einer  allgemeinen  Zollerhöhung 
Anlass,  um  möglichst  »gerüstet«  in  die 
neuen  Vortragsunterhandlungen  eintreten  zu 
können. 

Man  kann  von  einem  vertragsmässigen 
Freihandel  wie  von  einem  vertragsmässigen 
Protektionismus  spi-echen,  ebenso  wie  von 
einem  autonomen  Freihandel  mid  einem  au- 


tonomen Protektionismus.  Die  Frage,  ob  es 
angemessen  sei,  im  einen  oder  im  anderen 
Sinne  sich  freie  Hand  zu  behalten  oder  in 
ein  auf  Stabilität  abzielendes  periodisches 
Bindun^verhältnis  mit  anderen  Staaten  zu 
treten,  ist  Sache  der  praktischen  Ausfühning 
eines  Systems,  nicht  ein  handelspolitisches 
System  selbst. 

III.  Inhalt  der  Handelsverträge. 

1.  Die  Klausel  der  Handelsfreiheit. 

Die  viel  verbreitete  Annahme,  dass  die  Han- 
delsverträge an  und  für  sich  ein  Beförderungs- 
mittel der  Freihandelspolitik  seien,  mag 
wesentlich  gestützt  worden  sein  durch  eine 
Klausel,  mit  welcher  viele  Handelsverträge 
beginnen  und  vermöge  deren  sich  die  beiden 
Kontrahenten  »volle  und  gänzliche  Handels- 
freiheit (pleine  et  entiöre  liberte  de  com- 
merce)« zusichern.  Allein  diese  Bezeichnung 
bedeutet  im  Völkerrecht  keineswegs  das 
gleiche  wie  in  der  Nationalökonomie.  Die 
extreme  Freihandelsschule  (Manchestertum) 
identifiziert  bekanntlich  den  Freihandel  mit 
ZoUlosigkeit  und  mit  möglichster  Abwesen- 
heit der  indirekten  Besteuenmg  überhaupt. 
Das  ist  nicht  die  Meinung  in  den  Handels- 
verträgen. A^ielmehr  setzt  hier  der  Aus- 
druck Handelsfreiheit  immer  einen  Zolltarif 
voraus  und  hat  seinem  Ursprünge  nach  die 
Bedeutung,  dass  an  Stelle  der  Verkehrs- 
verbote ein  Zolltarif  und  freier  Zutritt 
(libre  acces)  zu  den  Märkten  des  Inlandes 
treten  solle.  Weiteres  ist  in  dem  Begriffe 
nicht  enthalten.  Die  Frage  über  das  Aiis- 
mass  der  Zölle  und  selbst  darüber,  ob  es 
sich  dabei  um  Schutzzölle  oder  bloss  um 
Finanzzölle  handeln  dürfe,  bleibt  gänzlich 
ausserhalb  stehen,  was  bekanntlich  iin  Wort- 
begriffe der  nationalökonomischen  Theorie 
nicht  der  Fall  ist,  wo  nach  Vorangang  der 
Physiokraten  gewöhnlich  die  immunite  mit 
der  libertö  in  Handelssachen  als  zusammen- 
fallend angesehen  wird. 

Auch  hochschutzzöUnerische  Staaten,  wie 
z.  B.  Russland,  Spanien  etc.,  sichern  sich  in 
ihren  Handelsverträgen  wechselseitig  die 
»vollständige  Handelsfreiheit«  zu,  immerhin 
unter  Vorbehalt  ihrer  protektionistisclien 
Tarife. 

Indessen  hat  es  nicht  an  Versuchen  ge- 
fehlt, den  Begriff  der  absoluten  Handels- 
freiheit auch  in  das  Völken'echt  überzu- 
führen. Dies  ist  z.  B.  im  Berliner  Kongo- 
vei-trag  1885  geschehen,  wenn  zwar  niu-  in 
der  beschränkten  Form  eines  »Systems  der 
Beseitigimg  von  Ein-  und  Durchfuhrzöllen 
in  Verbindung  mit  der  Einsetzung  von  Aus- 
fuhrzöllen <^,  wie  das  Protokoll  der  Konferenz 
sich  ausdiückt.  Der  Versuch  ist  bekannt- 
lich nicht  glücklich  ausgefallen.  ()hne  die 
anfangs  bestimmte  Probezeit  von  zwanzig 
Jaliren  abzuwälzen,  sahen  sieh  die  Signatar- 


Handelsverträge 


1073 


mächte   schon   nach  fünf  Jahren   (auf  der 
Brüsseler  Antisklavenhandelskonferenz  1891) 

f?nötigt,  das  Verbot  der  Einfuhrzölle  im 
ongobecken  lÄieder  aufzuheben.  Als  cha- 
i-akteristisch  mag  nebenbei  bemerkt  weisen, 
dass  im  Texte  der  Handelsverträge  die 
typischen  Schlagwörter  der  Manchester- 
schule, »Freihandel«,  »freetrade«,  »libre 
^hange«,  nicht  gebraucht  zu  werden  pflegen ; 
regelmässig  kommen  dafür  die  Ausdrücke 
^Handelsfreiheit«,  »freedom  of  commerce«, 
5>liberte  commerciale«  oder  »libert^  de  com- 
merce« zur  Anwendung. 

Ungeachtet  der  Beiwörter  »vollständig« 
oder  »voll  und  gänzlich«  (pleine  et  entiere) 
ist  die  in  den  Handelsverträgen  stipiüierte 
Handelsfreiheit  in  der  Form,  »den  gegen- 
seitigen Verkehr  durch  keinerlei  Einfuhr-, 
Ausfuhr-  und  Durclifuhrv erböte  zu  hem- 
men«, keineswegs  als  uneingeschränkt  auf- 
zufassen. 

Ausnahmen  werden  stets  ausdrücklich 
aufgeführt,  die  sich  allerdings  gewöhnlich 
nicht  auf  handelspolitische  als  viebnehr  auf 
Materien  des  Besteuerungswesens,  der  G^ 
sundheitspolizei  und  des  politischen  Selbst- 
schutzes beziehen.  In  dem  neuesten  Handels- 
verträge von  1891  zwischen  Oesterreich- 
XJngarn  und  der  Schweiz  sind  diese  Ver- 
botsvorbehalte in  folgender  Weise  formu- 
liert: »Ausnahmen  düi*fen  niu*  stattfinden: 
a)  bei  den  gegenwärtig  bestehenden  oder 
künftig  etwa  einzuführenden  Staatsmono- 
polen; b)  aus  gesundheits-  und  veterinär- 
polizeilichen Rücksichten,  insbesondere  im 
Interesse  der  öffentlichen  Gesundheitspflege 
und  in  üebereinstimmung  mit  den  dies- 
bezüglich geltenden  internationalen  Gnmd- 
ßätzen;  c)  unter  ausserordentlichen  Um- 
ständen in  Beziehiuie*  auf  Kriegsbedürfnisse. 
—  Der  im  vorsteUenüen  Alinea  b)  ausge- 
sprochene Vorbehalt  erstreckt  sich  auch 
auf  jene  Vorsichtsmassregeln,  welche  zum 
Schutze  der  Landwirtschaft  gegen  die  Ver- 
breitung schädlicher  Insekten  und  Organis- 
men ergriffen  werden.« 

2.  Die  Klausel  der  meistbegünsti^eii 
Nation.     Der   Gedanke   der   Niehtzurück- 
Betzung  gegen  andere  fremde  Nationen  in 
Bezug  auf  Zölle  und  sonstige  Vorteile  lehnt 
sich  an   den  völkerrechtlichen  Begriff  der 
Handelsfreiheit  an;   doch   ist   es  unscharf, 
beide  Begriffe  kurzerhand  mit  einander  zu 
Termengen.     Dies  geschieht  z.  B.  in  einer 
von  Colbert  auf  Mazarins  Veranlassung  aus- 
gearbeiteten Denkschrift,   1651,  über  einen 
mit  England    zu   vereinbarenden   Handels- 
•ver-lrag,  wo  sich  folgende  Definition  findet: 
»Li»     libert§    du     commerce,     c'est-ä-dii^ 
decharge  des  impositions  et  daces  que  les 
Anglais  levent  sur  les  marchands  frangais 
et  oü  les  Espagnols  ne  sont  sujets  en  vertu 


de  leurs  traites.  Nous  avons  la  raison  de 
demander  pour  le  moins  des  conditions 
Egales.«  (Original  bei  Neymarck.)  Die 
gleiche  Zusammen  werf  ung  dieser  zwei  zu 
scheidenden  Begriffe  findet  sich  ungemein 
häufig  und  drückt  sich  z.  B.  noch  in  einem 
der  neuesten  Handelsverträge,  demjenigen 
zwischen  Marokko  und  Deutschland,  1^0, 
aus,  der  mit  den  Worten  beginnt :  »Zwischen 
beiden  Reichen  soll  gegenseitige  Handels- 
fi'eiheit  bestehen.  Zu  diesem  Zwecke  ver- 
pflichtet sich  ein  jeder  der  hohen  vertrag- 
schliessenden  Teüe,  den  Unterthanen  des 
anderen  Teiles  alle  Rechte,  Vorteile  \md 
Privilegien  zuzusichern  und  zu  gewähren, 
welche  seitens  des  einen  wie  des  anderen 
Teiles  den  Angehörigen  der  meistbegünstigten 
Nation  zugestanden  sind  oder  künitig  zuge- 
standen werden.«  Demgegenüber  sehen  wir 
aber  auch  wieder  Vertilge,  welche  mit  der 
Zusicherung  der  »vollständigen  Handels- 
freiheit« beginnen,  ohne  dass  dadurch  in 
Bezug  auf  den  Zolltarif  die  Meistbegünstigimg 
zugestanden  wird.  Dies  geschieht  z.  B.  im 
russisch-spanischen  Handelsvertrag  1888,  wo 
die  Vorteile  der  Konventionaltarife  bloss  für 
den  Verkehr  zwischen  Finland  und  Spanien 
eingeräumt  werden,  während  die  eigentlich 
russischen  Waren  in  Spanien  und  die  spa- 
nischen Waren  in  Russland  ausdrückhch 
den  wechselseitigen  autonomen  Zolltarifen 
unterstellt  werden.  Der  Zutritt  an  und  für 
sich  ist  von  dem  Zutritt  unter  den  gleichen 
Bedingungen  mit  gewissen  anderen  Nationen 
begrifflich  zu  trennen.  Thatsächlich  hat 
sich  denn  auch  für  die  letztere  Bedeutung 
eine  besondere  Klausel  herausgebildet,  die 
ihre  eigene  Geschichte  hat. 

Die  Zusichening,  sich  wechselseitig  auf 
dem  Fusse  der  Meistbegünstigimg  behandeln 
zu  wollen  (traitement  sur  le  pied  de  la 
nation  la  plus  favorisee;  most  favoured 
nation  clause),  tritt  in  den  Handelsverträgen 
sowohl  in  positiver  als  auch  in  negativer 
Formulierung  auf.  Nach  der  ersteren  ver- 
pflichten sich  die  beiden  Kontrahenten,  »jede 
Begünstigung,  jedes  Vorrecht  und  jede  Zoll- 
ermässigung, welche  einer  dritten  Macht 
bereits  zugestanden  ist  oder  in  der  Folge 
zugestanden  werden  sollte,  auch  gegenüber 
dem  anderen  Teile  in  Kraft  zu  setzen« ; 
nach  der  anderen ,  dass  »von  keinem  der 
vertragschliessenden  Teile  dritte  Staaten 
günstiger  als  der  andere  vertragschliessende 
Teil  behandelt  werden  dürfen«.  Im  Be- 
griffe des  Gleichbegünstigungszwanges  ist 
zugleich  der  Gleichbenachteiligungszwang 
mit  Rücksicht  auf  andere  enthalten,  was 
sich  freilich  niu*  auf  nicht  ausdrücklich  ge- 
bundene oder  auf  vorbehaltene  Dinge  be- 
ziehen kann.  Dies  wird  gewöhnlich  dahin 
formuliert,  »gegen  einander  keinerlei  Zölle 
oder    Einfuhr-   und   Ausfuhrverbote    aufzu- 


Handwörterbuch  der  StaatswissenBchaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


68 


1074 


Handelsveilräge 


Btellen,  welche  nicht  gleichzeitig  auf  jede 
andere  Nation  Anwendimg  finden«. 

Die  Gleichbenachteiligiingspflicht  pflegt 
neuerdings  durch  den  Vorbehalt  eingescliänkt 
zu  werden,  dass  Verkehrsverbote  nur  in 
dem  Falle  auch  auf  die  übrigen  Staaten 
ausgedehnt  werden  müssen,  wenn  und  so- 
weit dort  die  »gleichen  Voraussetzungen« 
zutreffen ;  also  bei  Einfuhrverboten  von  Rind- 
vieh, wenn  in  den  anderen  Ländern  die 
Viehseuche  ebenfalls  herrscht.  Ausgenommen 
von  jedweder  Bindung  und  daher  auch  vom 
Meistbegünstigungszwange  sind  die  Kriegs- 
bedürfnisse ziunal  unter  ausserordentlichen 
Umständen. 

Auch  in  anderer  Beziehung  werden  wohl 
gewisse  Einschränkungen  des  Meistbegünsti- 
giingszwanges  vertragsmässig  festgesetzt 
Eine  solche  weist  z.  B.  der  schon  erwähnte 
Art.  11  des  Frankfurter  Friedens  vom  9.  Mai 
187 1  auf,  welcher  in  seinen  hierhergehörigen 
Bestimmungen  folgenden  Wortlaut  hat: 

»Da  die  Handelsverträge  mit  den  ver- 
schiedenen Staaten  Deutschlands  durch  den 
Krieg  aufgehoben  sind,  so  werden  die 
deutsche  und  die  französische  Regierung  den 
Grundsatz  der  gegenseitigen  Behandlung  auf 
dem  Fusse  der  meistbegünstigten  Nation 
ihren  Handelsbeziehungen  zu  Grunde  legen. 
Die  Regel  umfasst:  die  Ein-  und  Ausgangs- 
abgaben, den  Diuxihgangsverkehr,  die  Zoll- 
förmücbkeiten,  die  Zulassung  und  Behand- 
lung der  Angehörigen  beider  Nationen  und 
der  Vertreter  derselben.  Jedoch  sind  aus- 
genommen von  der  vorgedachten  Regel  die 
Begünstigimgen,  welche  einer  der  vertrag- 
sdüiessenden  Teile  durch  Handelsverträge 
anderen  Ländern  gewälirt  hat  oder  ge- 
währen wird,  als  den  folgenden:  England, 
Belgien,  Niederlande,  Schweiz,  Oesterreich, 
Russland.« 

Die  Einschränkung  des  Geltungsbereiches 
der  Meistbegünstigungsklausel  auf  das  ZoU- 
wesen  mit  Ausschluss  der  anderweitigen 
sozial-kommerziellen  Materien  kommt  auch 
in  selbständigen  Handelsverträgen  vor.  Da- 
gegen ist  einzig  in  ihrer  Art  die  Bestim- 
mung, dass  nicht  jedwede  dritten  Staaten 
gewälirten  Begünstigungen  dem  Klausel- 
zwange unterworfen  sein  sollen,  sondern 
bloss  die  an  eine  beschränkte  Anzahl  von 
Staaten  gemachten  Zugeständnisse.  Dadurch 
wird  eine  Differenziening  in  den  Begriff 
und  infolgedessen  in  die  Handelspolitik 
hineingetragen,  welche  kaum  als  glücklich 
bezeichnet  werden  kann.  Der  Art.  11  mit 
seiner  unauflöslichen  Bindung  hat  die  Frage 
zu  besonderer  Wichtigkeit  erhoben,  was 
alles  innerhalb  des  Zollwesens  dem  Meist- 
l>egünstigungszwange  unterliegt  und  was 
als  ausserhalb  stehend  zu  betrachten  ist. 
Nach  dem  internationalen  Brauche,  der; 
namentlich  zwischen  Frankreich  und  Deutsch- 


land in  Geltung  steht,  faUen  nicht  in  den 
Meistbegünstigungszwang  herein  die  Be- 
günstigungen im  Gebiete  des  Ideinen  Grenz- 
verkehrs; ferner  nicht  die  Vereinbarungea 
bezüglich  des  Veredelungsverkehrs.  Des- 
gleichen bleiben  gewöhnlich  die  wechsel- 
seitigen Begünstigungen  im  Handelsverkehr 
der  Mutterländer  mit  ihren  Kolonieen  ausser- 
halb des  normalen  Meistbegünstigungs^ 
Zwanges.  Ausdrücklich  ausgenommen  pfle- 
gen noch  in  den  neueren  Handelsverträgen 
zu  werden:  »Die  von  einem  der  vertrag- 
scliliessenden  Teüe  durch  eine  schon  ab- 
geschlossene oder  etwa  künftighin  abzu- 
schhessende  ZoUeinigimg  mit  einem  anderen 
Staate  oder  Staatsteile  zugestandenen  Be- 
günstigungen.« Was  die  nicht  speciell  zoU- 
mässigen  Materien  anbelangt,  so  pflegt  auch 
die  Zulassung  zur  Küstenschiffahrt  (cabotage) 
und  zur  Küstenfischerei  keineswegs  ohne 
weiteres  der  Meistbegünstigung  unterstellt 
zu  sein.  Vielmehr  gilt  hier  als  Regel,  dass 
der  Mitgenuss  der  etwa  einer  anderen  Nation 
eingeräumten  Zulassung  davon  abhängig  ge- 
macht wird,  dass  die  den  Anspruch  erhebende 
Vertragsnation  in  der  gleichen  Sphäre  Gegen- 
recht halte. 

3.  Die  Klausel  der  GleichBtellung  mit 
den  Inländern.  Wo  Meistbegünstigung  ist, 
da  ist  auch  Weniger-  oder  Nichtbegünstigung, 
zumal  wenn  die  erstere  als  eine  vertrags- 
mässige  Bevorzugung  in  Tausch  gegeten 
wird.  Bedeutet  also  die  vertragsmässige 
Meistbegünstigung  keineswegs,  wie  das  oft 
so  angenommen  wird,  eine  absolute  Gleicii- 
stellung  aller  fremden  Nationen,  sondern  im 
Gegenteil  oft  gerade  die  Einsetzung  einer 
differentiellen  Behandlung,  so  ist  darin  ebenso 
wenig  an  und  für  sich  eine  Gleichstellung 
mit  den  Landesangehörigen  enthalten.  Die 
Meistbegünstigung  kann  zusammenfaUen 
mit  der  Gleichstellung  von  Fremden  und 
Einheimischen,  sie  kann  aber  auch  mit 
einer  mehr  oder  weniger  weitgehenden  Be- 
vorzugung der  Inländer  vor  den  Ausländem 
verbunden  sein.  Endlich  ist  auch  eine  Be- 
vorzugung der  Ausländer  vor  den  eigenen 
Volksgenossen  möglich.  Letzteres  kommt 
nicht  bloss  im  Verhältnis  zu  halbcivilisierten 
Völkern  vor,  sondern,  wiewohl  ausnahms- 
weise, selbst  in  Europa.  Darauf  bezieht 
sich  z.  B.  die  Klausel  im  englisch-schweize- 
rischen Handelsvertrag  1895,  welche  fest- 
setzt, dass  im  allgemeinen  zwar  die  weclisel- 
seitige  Gleichstellung  mit  den  Landesange- 
höiigen,  daneben  aber  auch  die  Meistbe- 
günstigimg  gelten  solle,  welche  letztere 
überall  da  einzutreten  habe,  wo  irgend  eine 
dritte  Nation  »einen  ausnahms weisen  Vor- 
teil geniesst,  der  den  eigenen  Angehörigen 
nicht  gewälu't  ist«. 

In  der  Hauptsache  bezieht  sich  die  Gleich- 
stellungsklausel   auf  Niederlassungsverhältn 


Handelsverträge 


1075 


nisse  und  Gewerbebefiignisse  und  ist  in  die 
Form  gekleidet,  dass  die  Mitglieder  der 
anderen  Nation  »auf  dem  Fusse  einer  voll- 
ständigen Grleichheit  (parfaite  ^galit^)  mit 
den  Inländern  behandelt  werden  sollen«. 

Doch  giebt  es  auch  hier  wichtige  Aus- 
nahmen; 80  befindet  sich  in  den  neuesten 
europäischen  Handelsverträgen  fast  überall 
der  Vorbehalt:  »auf  das  Apothekergewerbe, 
das  Handelsmäkler-(Sensalen-)Ge8chäft  und 
den  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen,  ein- 
schliesslich des  Hausierhandels  findet  diese 
Bestimmung  keine  Anwendung.«  Hierfür 
soll  bloss  die  Gleichstellung  mit  der  meist- 
begünstigten Nation  gelten. 

Je  nach  der  Verfassung  der  betreffenden 
Länder  kann  die  ünterfrs^  entstehen,  mit 
welcher  der  verschiedenen  Bevölkerungs- 
klassen die  Gleichbehandlung  stattfinden 
soU.  Im  türkisch -französischen  Handels- 
vertrage 1861  werden  die  Franzosen  in 
Bezug  auf  aUe  inneren  Gewerbeberechti- 
gungen »den  meistbegünstigten  unter  den 
ottomanischen  Unterthanen«  gleichgestellt, 
also  den  Muselmanen.  Die  Schweiz  pflegt 
die  »Gleichstellung  mit  den  Augehörigen 
der  anderen  Kantone«  einzuräumen.  Der 
neue  deutsch-italienische  Handelsvertrag  1891 
gesteht  alle  Bechte  (mit  Ausnahme  der 
politischen)  zu,  »welche  den  Landesange- 
hörigen ohne  Beschränkung  und  ohne  Unter- 
scheidung gewährt  werden.«  Bei  gewissen 
Staaten  fällt  die  Gleichstellung  mit  den  Ein- 
heimischen für  Europäer  üt^rhaupt  ausser 
Betracht,  so  z.  B.  beim  Kongostaat,  dessen 
Inländer  Neger  sind.  Hier  tritt  die  Meist- 
begünstigung dafür  ein,  was  auch  bezüglich 
der  asiatischen  Staaten  China,  Korea,  Per- 
sien etc.  zutrifft,  wo  die  Europäer  kraft  des 
Vorrechts  der  Exterritorialität  ihrer  natio- 
nalen consularischen  Gerichtsbarkeit  unter- 
stehen, ein  Verhältnis,  das  seit  Beginn  1900 
für  Japan  dahin  gefallen  ist. 

Einzelne  Verträge  enthalten  eine  genaue 
Gliederung  der  Materien,  für  welche  eines- 
teils die  Meistbegünstigung,  anderenteils  die 
GleichsteUung  mit  den  Inländern  vereinbart 
ist  So  der  Handelsvertrag  zwischen  Mexico 
und  Ecuador,  1888,  dessen  bezügliche  Ar- 
tikel beispielsweise  hier  folgen  mögen. 

»Art.  L  Die  mexicanischen  Staatsange- 
hörigen in  Ecuador  und  die  ecuadoriani  sehen 
Staatsangehörigen  in  Mexico  geniessen  die 
Rechte  der  Inländer  unter  den  diesen 
auferlegten  Bedingungen  bezüglich  folgender 
Punkte:  1.  In  Bezug  auf  freien  Zutritt  so- 
wie ungehindertes  Reisen  und  Wohnen  in 
jedem  Teile  der  Gebiete  und  Besitzungen 
des  anderen  Landes.  2.  Hinsichtlich  der 
auf  ihre  Person  und  ihr  Eigentum  bezüg- 
lichen bürgerlichen  Rechte,  sowohl  in  Bezug 
auf  freies  Kaufen  und  Verkaufen,  Ausüben 
des  Gewerbes  oder  Berufs   als  auch   hin- 


sichtlich der  Vererbung  von  Eigentum  und' 
der  Ftlhrung  gerichtlicher  Angelegenheiten 
für  sich  allein  oder  als  BevoUmächtiffte, 
3.  In  Bezug  auf  die  Erlangung  von  Er- 
findungspatenten, des  Schutzes  von  Handels-; 
und  Fabrikmarken  und  Muster.  4.  In  Bezug 
auf  die  Entrichtung  von  Abgaben,  Steuern 
und  jeder  Art  von  Auflagen.« 

»Art.  II.  Den  mexicanischen  Staats- 
angehörigen in  Ecuador  und  den  ecuadoria- 
nischen  Staatsangehörigen  in  Mexico  werden 
die  Rechte  und  Vei^nstigungen ,  welche 
die  Staatsangehörigen  oder  Unterthanen  der 
meistbegünstigten  Nation  geniessen, 
unter  denselben  Bedingungen  bezüglich  fol- 

f ender  Punkte  gewährt:  1.  Erwerbung  von* 
jiegenschaften  und  litterarischem  Eigentum. 
2.  Befreiung  vom  persönlichen  Dienst  im 
Heer,  in  der  Marine  oder  anderer  Art.  3. 
Entrichtung  von  Einfuhr-,  Ausfuhr-  und 
DurchfuhrzöUen  sowie  von  Hafenabgaben, 
als  Leuchtfeuerabgaben,  Tomiengeld,  Anker- 
geld, Lotsengebühren  etc.  4.  Freier  Handel 
und  freier  verkehr  mit  ihren  Schiffen  in 
den  Städten,  Häfen,  auf  Flüssen  oder  in 
irgend  welchen  anderen  Orten  des  betreffen- 
den Landes.« 

Je  nach  der  Kulturhöhe  und  den  inneren 
Zuständen  der  vertragschliessenden  Länder 
wird  sich  diese  Glieclerung  selbstverständ-» 
lieh  anders  zu  gestalten  haben. 

4.  Die  Stenerklanseln.  Dass  die  Frei- 
heit des  Handels  und  der  Gewerbe  die 
Steuerpflicht  nicht  aufhebe,  ist  in  der  Ge-' 
setzgebung  ein  allgemein  anerkannter  Grund- 
satz. Handelspolitisch  ist  zu  unterscheiden* 
zwischen  äusserer  und  innerer  Besteuerung. 
Die  im  Inlande  hergestellten  und  im  In- 
lande  verbrauchten  Waren  können,  da  sie* 
in  jedem  Stadium  ihres  Daseins  in  den  Be-  * 
reich  der  Steuerhoheit  des  Staates  fallen,: 
sowohl  bei  der  Erzeugung  wie  im  Verkehr 
als  auch  beim  Verbrauche,  zu  Abgaben  an 
den  Staat  angehalten  weixien.  Anders  steht 
es  bei  den  Waren,  welche  im  Auslande  er- 
zeugt, behufs  Verkaufs  und  Verbrauchs  in 
das  Inland  hereinbefördert  werden.  In  Bezug  • 
auf  diese  ist  seitens  des  Einfuhrstaates  eine 
direkte  ünternehmungsbesteuerung  am  ür- 
sprungsorte  ausgeschlossen.  Die  Besteuening 
kann  erst  beim  Eintritt  in  den  nationalen 
Verkehr  des  Bestimmungslandes  geschehen, 
was  sich  in  der  indirekten  Besteuenmgs- 
form  der  Zölle  vollzieht,  welche  letzteren 
als  Finanzzölle  aufgefasst  und  veranlagt,  ein 
Aequivalent  bilden  sollen  für  die  der  inneren 
Produktion  direkt  und  etwa  auch  indirekt 
aufgelegten  Steuern.  In  diesem  Sinne  sind 
die  Finanzzölle  auch  von  hervorragenden 
Vertretern  des  Freihandels,  so  namentlich 
von  Adam  Smith  und  ebenso  von  J.  B.  Say, 
für  zulässig  erklärt  worden. 

In  seinem  Kapitel  über  die  Handelsver- 

68* 


1076 


Handelsverträge 


träge  (Cours  complet  Part  lY)  stellt  J.  B. 
Say,  der  übrigens  kein  Freund  der  Verträge 
ißt,  das  obwaltende  Verhältnis  in  folgender 
Weise  dar:  »Ich  nehme  an,  dass  eine  Re- 
^erung  zu  allen  fremden  Nationen  sagt: 
ihr  sollt  alle  Waren,  welche  ihr  wollt,  zu- 
führen, indem  ihr  die  Eingaugszölle  bezahlt, 
welche  allen  unseren  anderen  öffentlichen 
Abgaben  entsprechen.  Das  Getreide  (ver- 
möge der  Grundsteuer),  sodann  die  Fabri- 
kationsgegenstände ,  bezahlen  ihre  Steuer; 
die  Waren  des  auswärtigen  Handels  müssen 
die  ihrige  ebenso  gut  entiichten ;  aber  diese 
Steuern,  das  Resultat  einer  allgemeinen 
Massregel,  sind  keineswegs  dazu  angethan, 
den  inneren  Produkten  ein  Vorrecht  zu  ver- 
schaffen; sie  gehen  niu*  so  weit,  den  aus- 
wärtigen Erzeugnissen  nicht  eine  Befreiung 
einzuräumen,  welche  die  ersteren  nicht  ge- 
messen, unterzieht  euch  diesem  Gesetze, 
dem  alle  Waren,  die  in  imserem  Lande  ver- 
braucht werden,  gleichermassen  unterworfen 
sind.« 

Nach  dieser  Auffassung  würde  also  die 
absolute  ZolUosigkeit,  wie  sie  das  Manchester- 
tum  anstrebt,  eine  Prämiierung  der  aus- 
wärtigen Produktion  in  ähnlicher  Weise  be- 
deuten, wie  die  Schutzzölle  sie  für  die 
innere  Produktion  darstellen,  was  der  Idee 
des  wahren  Freihandels  gewiss  ebenso  wenig 
entspricht. 

Mit  dieser  Bedeutung  als  äussei-er  Ab- 
gaben hängt  es  zusammen,  dass  in  den  Han- 
delsverträgen in  betreff  der  Zölle  niemals 
die  Gleichstellung  mit  den  Inländern,  son- 
dern immer  nur  die  Gleichstellung  mit  der 
meistbegilnstigten  fremden  Nation  vereinbart 
wird.  Die  auswäi-tige  Ware  bleibt  auch 
dann  eine  auswärtige,  wemi  der  Importeur 
ein  Inländer  ist.  Sie  verliert  diesen  Cha- 
rakter erst  durch  die  Zollzahlung,  veraiöge 
deren  sie  nationalisiert  und  dadurch  dem 
inneren  freien  Verkehr  übergeben  wird. 

Der  Finanzzoll  will  nicht  immer  ein 
Aequivalent  für  alle  inneren  Abgaben  sein. 
In  der  Regel  ist  er  es  nur  für  die  direkten 
Steuern  allein,  da  es  bei  den  indirekten  ge- 
wöhnlich keine  Schwierigkeiten  bereitet, 
innere  und  auswärtige  Wai-en  nach  gleichem 
Modus  zu  behandeln.  In  solchem  Falle 
werden  die  indirekten  Abgaben  selbständig 
neben  den  Zöllen  erhoben.  Dies  pflegt  zu- 
mal dann  zuzutreffen,  wenn  die  letzteren 
nicht  für  den  Gesamtstaat,  sondern  zu  Gunsten 
etwaiger  Gliedstaaten,  Provinzen  oder  Ge- 
meinden, eingezogen  werden.  Darauf  be- 
zügliche Vorbehalte  müssen  in  den  Handels- 
vertrag ausdrücklich  niedergelegt  werden, 
wie  sonst  als  Regel  gilt,  dass  durch  die 
Zollentrichtung  Befreiung  von  jedweder 
inneren  Steuer  erkauft  wird. 

Neuerdings  beginnt  sich  der  Brauch  ein- 
zubürgern, dovss  sich  die  Staaten    bezüglich 


der  indirekten  Besteuerung  überhaupt  die 
voUe  Autonomie  vorbehalten.  Dies  geschieht 
einesteils  dadiuxih,  dass  von  der  im  allge- 
meinen zugesicherten  Verkehrsfreiheit  aus- 
drücklich ausgenommen  werden  alle  dieje- 
nigen Objekte,  welche  in  dem  Gebiete  eines 
der  vertragschliessenden  Teile  den  >G^egen- 
stand  eines  Staatsmonopols  bilden  oder  bilden 
werden.«  Anderenteils  durch  die  weitere 
Bestimmung,  dass,  wenn  einer  der  vertrag- 
schliessenden Teile  es  nötig  findet,  eine  neue 
Accise  oder  dergleichen  auf  eine  Ware  zu 
legen,  derselbe  Gegenstand  mit  der  gleichen 
Abgabe  oder  einem  entsprechenden  Zuschlage 
bei  der  Einfuhr  belegt  werden  darf.  Natür- 
lich wird  dadurch  auch  der  Mitgenuss 
etwaiger  Steuerermässigungen  bedingt. 
Manchmal  knüpft  sich  die  Bestinmiung  an, 
dass  Steuerrückvergütungen  bei  der  Ausfuhr 
genau  den  inneren  Verbrauchssteuern  ent- 
sprechen müssen  und  nicht  den  Charakter 
von  Ausfuhrprämien  tragen  dürfen. 

Bei  den  inneren  Abgaben  überhaupt,  so- 
weit die  vom  Ausland  importierten  Waren 
davon  betroffen  werden,  gilt  im  allgemeinen 
der  Grundsatz  der  Gleichstellung  mit  den 
Eigenprodukten.  Doch  giebt  es  auch  Aus- 
nahmen ;  so  schreibt  die  schweizerische  Bun- 
desverfassung von  1874  den  Kantonen  vor, 
bei  den  von  ihnen  erhobenen  Ohmgeldem 
die  auswärtigen  Getränke  höher  zu  besteuern 
als  die  Landeserzeugnisse.  Der  betreffende 
Vorbehalt  spielte  bis  zum  thatsächlichen 
Dahinfall  dieser  Bestimmung  durch  Einfüh- 
rung des  Alkoholmonopols  (1887)  eine  wich- 
tige Bestimmung  in  den  Handelsverträgen 
der  Schweiz.  Es  konnte  hier  also  nur  die 
Meistbegünstigung,  nicht  die  Gleichstellung 
zugestanden  werden. 

Die  Gleichstellung  mit  den  Inländern 
findet  unbestritten  Anwendung  in  Bezug 
auf  die  direkten  Steuern,  welchen  die  im 
Lande  dauernd  niedergelassenen  Ausländer 
wie  die  Einheimischen  unterworfen  sind. 
Darauf  bezügüche  Bestimmungen  finden  sich 
zumal  in  den  oft  selbständig  abgeschlossenen, 
gewöhnlich  aber  mit  den  Handelsverträgen 
vereinigten  Niederlassungsverträgen.  Die 
Formulierung  der  Zusicherung  ist  in  der 
Regel  die,  dass  »unter  keinen  Umständen, 
w^eder  in  Friedens-  noch  in  Kriegszeiten  auf 
das  Eigentum  eines  Angehörigen  des  anderen 
Teiles  eine  höhere  oder  lästigere  Taxe,  Ge- 
bühr, Auflage  oder  Abgabe  gelegt  werden 
darf  als  auf  das  gleiche  Eigentum  eines 
Angehörigen  des  Landes  selbst  oder  eines 
Angeliörigen  der  meistbegünstigten  Nation «^. 

Die  liier  beigefügte  Meistbegünstigung 
bedeutet  in  diesem  Falle  eher  eine  Bevor- 
zugung als  eine  Ziunickstellung.  Sie  bezieht 
sich  nämüch  in  der  Hauptsache  auf  die  Be- 
freiimg von  etwaigen  Militärpflichtersatz- 
steuern (Schweiz)  sowie    von   personlichen 


Handelsverträge 


1077 


Zwangsämtern  gerichtlicher,  administrativer 
und  munizipaler  Art  bezw.  von  etwa 
dafilr  eingeführten  Ersatzsteuern.  Die 
früher  nie  fehlende  Bestimmung  betreffend 
den  Wegfall  des  droit  d'aubaine  kommt 
heutzutage  nur  noch  ausnahmsweise  vor. 
Sie  ist  gewöhnlich  durch  die  Bestimmung 
ersetzt,  aass  auch  in  Bezug  auf  Erbschafts- 
steuern Gleichbehandlung  mit  den  Inländern 
statthaben  solle. 

5.  Konventionaltarif  nnd  Generaltarif. 
Nicht  alle  Handelsverträge  enthalten  be- 
sondere Zollbeslinmiungen.  Häufig  be- 
schränken sich  dieselben  auf  rein  textliche 
Vereinbanmgen  betreffend  Handelsgesetz- 
gebung und  Handelsgebrauch  und  setzen  in 
Bezug  auf  das  Tarifwesen  die  Meistbegünsti- 
gung fest.  Daher  die  übliche  Einteilung 
der  Handelsverträge  in  Meistbegünsti- 
gungsverträge und  in  Tarifverträge. 
Diese  Einteilung  ist  aber  nur  eine  formale. 
Materiell  gestalten  sich  die  Meistbegünsti- 
gungsverträge indirekt  dadurch  gewöhnlich 
auch  zu  Tarifverträgen,  dass  durch  die  be- 
treffende Klausel  alle  fi-üher  mit  anderen 
Staaten  ausgetauschten  Zollvergünstigungen 
auf  die  neueVertragspartei ausgedehnt  werden. 

Die  merkantilistische  Handelspolitik  hielt 
es  für  selbstverständlich,  dass  gegenüber 
jedem  fi-emden  Lande  eine  besondere  Hal- 
timg beobachtet  werde.  Zollmässig  drückte 
sich  dies  durch  einen  Aufbau  von  Differen- 
tialzöllen aus.  Die  dualistische  Zusammen- 
ziehung dieses  Verliältnisses  in  einen  ein- 
zigen Begünstigungstarif  für  alle  Yertrags- 
staaten  ohne  Unterscheidung  und  eines  ein- 
zigen Generaltarifes  für  alle  Nichtvertrags- 
staaten  führt  sich  auf  den  englisch-franzö- 
sischen Handelsvertrag  vom  Jahre  1860  zu- 
rück, wobei  jedoch  niu*  Prankreich  diese 
Einrichtung  annalun.  Der  tiefere  Gedanke, 
der  hier  zu  Gnmde  liegt,  mag  der  gewesen 
sein,  dass  die  sich  auf  dem  Boden  der  Meist- 
begünstigung zusammenfindenden  Staaten 
sich  wechselseitig  ihren  Finanzzolltarif  ein- 
räumen wollten,  während  gegenüber  anderen 
die  alten  Schutztarife  bestehen  bleiben  sollten. 
Nach  der  Bewegung,  welche  dieses  soge- 
nannte »System  der  westeuropäischen  Han- 
delsverträge« anfangs  nahm,  schien  es  in 
der  That  zu  einem  dauernden,  die  wich- 
tigeren Staaten  des  eiu-opäischen  Kontinents 
umfassenden  Handelsbündnis,  unter  Vorbe- 
halt einfacher  Finanzzöüe  nach  innen,  kom- 
men zu  wollen.  Später,  zumal  seit  1879, 
änderte  sich  das  Verhältnis  jedoch.  Alle 
Konventionaltarife  stellen  jetzt  eine  Mischung 
von  finanzpolitischen  und  protektionistischen 
Elementen  dar,  während  die  daneben  stehen- 
den Generaltarife  geradezu  in  das  prohibiti- 
vistische  Fahrwasser  eingelenkt  sind. 

Der  Vertragstaiif  ist  nach  der  bisherigen 
Praxis    nicht   von   vornherein    fixiert.     Er 


setzt  sich  aus  einer  Pteihe  von  zeitlich  auf- 
einanderfolgenden und  auf  vei-schiedene  End- 
punkte laufenden  Sonderabmachungen  mit 
vei-schiedenen  Nationen  zusammen,  wobei 
kraft  Meistbegünstigimgsklausel  die  späteren 
Zugeständnisse  auch  den  älteren  Vertrags- 
parteien zu  gute  kommen.  Die  Tarifab- 
machungen, w^elche  sich  auf  das  ganze  Ge- 
biet der  Durchfuhr-,  Ausfuhr-  imd  Einfuhr- 
abgaben beziehen  können,  zerfallen  in  zwei 
Formen,  einesteils  in  einfache  ZoUbindungen 
und  anderenteils  in  Zollermässigungen,  wobei 
im  letzteren  Falle  die  Bindimg  daneben 
stattfindet  Dabei  gilt  als  feststehender  Satz, 
dass  die  Bindung  nur  eine  Verändenmg 
nach  oben,  nicht  nach  unten  verbietet 
Häufig  umfassen  die  Zollabmachungen  bloss 
wenige  Warenartikel,  so  dass  der  Konven- 
tionaltarif nur  aus  wenigen  Positionen  be- 
steht. Manciunal  ist  jedoch  auch  der  ganze 
Tarif  gebunden. 

Während  früher  die  Zollermässigungen 
den  Hauptinhalt  der  wechselseitigen  Kon- 
zessionen ausmachten,  sind  neuei'dings  unter 
Voranganff  der  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika die  Zollbindungen  in  den  Vorder- 
ginmd  getreten.  In  den  auf  Grundlage  der 
Mac-Kinleybill  abgeschlossenen  sogenannten 
Heciprocitätsverträgen  tauscht  die  Union  den 
Veraicht  auf  die  Zollerhöhung  in  Bezug  auf 
gewisse  Waren,  also  die  einfache  Bindung 
gegen  Zollermässigungen  und  sonstige  Be- 
willigungen anderer  Staaten  aus. 

Um  der  differentiellen  Begünstigung 
durch  den  Konventionaltarif  teilhaftig  zu 
werden,  bedarf  es  des  Nachweises,  dass  die 
Ware  aus  einem  Vertragslande  stamme.  Das 
sind  die  sogenannten  Ursprungszeug- 
nisse. Die  vertragsmässigen  Vorschriften 
über  deren  Ausfertigung  sind,  je  nachdem 
die  betreffenden  Länder  eine  freihändlerische 
oder  eine  Schutzzoll  nerische  Handelspolitik 
verfolgen,  verschieden.  Freihändlerische 
Länder  pflegen  wohl  ganz  auf  solche  Zeug- 
nisse zu  verzichten  oder  begnügen  sich  mit 
einer  Bestätigung  des  Ausfuhrzollamts  des 
Herkunftslandes.  Andere  dagegen  verlangen 
eine  Bescheinigung  seitens  der  Ortsbehörde 
des  Herstellungsplatzes  oder  auch  wohl  eine 
durch  den  Eid  des  Produzenten  bekräftigte 
Ausfertigung  seitens  ihrer  im  Ursprungs- 
lande residierenden  Consuln  (Nordamerika). 
Es  kommt  noch  die  Unterfi-age  in  Betracht, 
ob  die  Vergünstigung  allen  aus  einem  Ver- 
tragsstaate herkommenden  Waiden  oder  bloss 
den  dort  eigen  produzierten  einziu^umen 
sei.  Einige  Länder  nehmen  die  Ausdrücke 
Herkunft  (provenance)  und  Ursprung 
(origine)  als  gleichwertig,  so  dass  Waren, 
wenn  sie  zwar  in  einem  Nichtverti'agsstaate 
hervorgebracht,  aber  durch  Zollzahlung  in 
einem  Vertragslande  nationalisiert  worden 
sind,  mit  den  Eigen jirodukten  dieses  Landes 


1078 


Handelsverträge 


gleiehgehalten  werdeu.  Andere  dagegen 
knüpfen  das  Vorrecht  strenge  an  die  »Ori- 
ginalprovenienz«, an  die  eigene  Erzeugung. 
Indessen  ist  im  letzteren  Falle  keineswegs 
Bedingung,  dass  ein  Fabrikat  auch  seinem 
•Rohstoffe  nach  aus  dem  betreffenden  Lande 
stamme.  Einem  allgemein  angenommenen 
Brauche  gemäss  gilt  eine  Ware  als  eigen- 
erzeugt, wenn  sie  in  dem  Herkimftslande 
eine  derartige  Verarbeitung  erfahren  hat, 
dass  sie  in  eine  nächsthöhere  Zollklasse  des 
Einfuhrtarifes  im  Bestimmungslande  gehoben 
wird. 

Vermöge  der  Meistbegünstigung  hat  der 
Importeur  das  Recht,  zwischen  der  Ver- 
.zollungsart  nach  dem  Q-eneraltarife  oder 
nach  dem  Vertragstarife  zu  wählen.  Dies 
kann  da  von  Wichtigkeit  werden,  wo  etwa 
der  Generaltarif  Wertzölle,  der  Vei-tragstarif 
specifische  Zölle  ansetzt.  Bei  gesunienen 
Warenpreisen  wird  der  WertzoU,  bei  ge- 
stiegenen Preisen  der  specifische  Zoll  unter 
Umständen  vorzuziehen  sein  etc.  In  der 
Türkei  und  einigen  anderen  Ländern  des 
Orients  ist  auch  die  Wahl  zwischen  Natural- 
verzoUung   und  Geldverzollung   freigestellt. 

6.  Sonstige  Klauseln.  Als  w^ichtige, 
wiewohl  nicht  überall  vorkommende  Klauseln 
sind  in  erster  Linie  anzuführen  dieSchieds- 
gerichtsklauseln  und  die  Bedingimgpn 
betreffend  wechselseitige  Zulassung  von 
Consuln. 

Die  Schiedsgerichtsklauseln 
kommen  in  dreifacher  Form  vor,  einmal  in 
Bezug  auf  Streitigkeiten  bei  Zollabfertigung, 
sodann  behufs  Erledigung  von  auftauchenden 
Meinungsverschiedenheiten  über  die  Aus- 
legung der  Verträge  selbst,  endlich  zum 
Zwecke  friedlichen  Austrags  von  Differenzen 
irgend  welcher  (auch  politischer)  Art.  Am 
seltensten  tritt  die  erste  Form  auf,  da  die 
Erleiligung  von  Zollanständen  mit  Privaten 
dem  administrativen  Behördenzuge  des  zoll- 
berechtigten Staates  vorbehalten  zu  sein 
pflegt.  Für  die  Einsetzung  von  Schiedsge- 
richten zur  Auslegung  der  Vertragsbestim- 
mungen in  Zweifelfällen  bemüht  sich  neuer- 
dings namentlich  Italien,  während  Deutsch- 
land bisher  eine  principiell  ablehnende  Hal- 
tung beobachtet  hat.  Die  letzte  Form,  die 
einen  vorherrschend  politischen  Charakter 
trägt,  ist  namentlich  in  Handelsverträgen 
amerikanischer  und  teilweise  auch  afrika- 
nischer Staaten  unter  sich  und  mit  euro- 
päischen Ländern  eingebürgert.  In  letzterer 
Hinsicht  kommt  die  Klausel,  unseres  Wissens, 
am  frühesten  in  dem  durch  Vermittelung 
des  bekannten  Friedens-  und  Freihandels- 
agitators  John  Bowring  zwischen  der  Schweiz 
und  den  Hawaiischen  Inseln  18G4  zu  stände 
gekommenen  Handelsveilrage  vor.  Seit- 
dem kehrt  sie  in  den  meisten  Handelsver- 
trägen der  Schweiz,  aber  auch  einiger  an- 


derer europäischer  Staaten  mit  überseeischen 
Ländern  nieder.  Dabei  hat  man  nachher 
das  Verfahren  zum  Vorbild  genommen, 
welches  bei  der  AlabamarSchiedsgerichts- 
konferenz  1872  (in  Genf)  angewendet  wimle. 
In  den  Handelsverträgen  der  europäischen 
Staaten  untereinander  hat  sie  bis  jetzt,  un- 
geachtet einer  starken  populären  Agitation 
dafür,  noch  keine  Anwendung  gerunden. 
Sie  würde  hier  auch  der  mehr  und  mehr 
zum  Durchbruch  kommenden  Scheidung 
von  politischen  und  sozial-kommerziellen 
Materien  zuwiderlaufen. 

Was  das  Cousularwesen  anbelangt, 
so  pflegen  sich  auf  diesem  Gebiete  die  Par- 
teien in  bald  weiterer,  bald  knapperer  Aus- 
führung unter  der  Bedingung  des  G^en- 
rechtes  die  Meistbe^nstigung  aiif  Grund- 
lage der  völkerrechthchen  Gewohnheiten  zu- 
zusichern. In  Europa  macht  hier  gewöhn- 
lich ein  mit  irgend  einer  anderen  Nation 
abgeschlossener  selbständiger  Consularver- 
trag  Regel.  Ausführhcher  sind  die  Bestim- 
mungen im  Verkehr  mit  halbcivilisierten 
Staaten,  wo  den  Consuln  in  je  verschiedenem 
umfange  die  Jurisdiktion  über  ihre  Volksan- 
gehörigen und  Schutzgenossen  zugewiesen  ist 

Weitere  Klauseln  beziehen  sich  auf  sons- 
tige häufig  in  Handelsverträge  einbezogene, 
neuerdings  aber  gewöhnlich  durch  selbstän- 
dige internationale  Abkommen  geregelte 
Materien,  dahin  gehöi*en  die  Schiffahrtsver- 
hältnisse, der  Marken-  und  Musterschutz, 
das  geistige  Eigentum  etc.,  deren  Sonder- 
beliandlung  ausserhalb  des  Rahmens  dieses 
Artikels  fällt. 

IV»  Das  Princip  des  Gregenrechts  (Reci- 

procitat). 

Der  Umstand,  dass  es  sich  bei  den 
meisten  Handelsverträgen  um  eine  gegen- 
seitige Einräumung  von  Freiheiten  und  Vor- 
teilen handelt,  hat  zu  der  öfters  auftreten- 
den Meinung  Anlass  gegeben,  dass  Recipro- 
citätspolitik  und  Vertragspolitik  ein  und 
dasselbe  seien.  Diese  Annahme  ist  nicht 
begründet.  Es  giebt  auch  eine  autonome 
Reciprocitätspolitik,  wie  z.  B.  die  Schweiz 
bis  zur  Wendung  des  Jahres  1892  nicht 
bloss  ihren  Konventionaltarif,  sondern  auch 
sonstige  in  ihren  Handelsveilrägen  ander- 
wärts zugesicherten  Rechte  imd  Vergünsti- 
gungen auf  alle  jene  Länder  anwendete, 
welche,  ohne  mit  uir  im  Vertragsverhältnis 
zu  stehen,  die  Schweizer  nicht  imgünstiger 
behandelten  wie  andere  Völker.  Die  Ab- 
sicht einer  autonomen  Reciprocitätspolitik 
liegt  femer  dem  neuerdings  von  Frankreich 
aufgesteUten  Systeme  des  Maximal-  und 
Minimaltarifes  zu  Grimde,  dessen  verschiedene 
Seiten  je  nach  dem  autonomen  Verhalten 
der  anderen  Staaten  diesen  zugewendet  wer- 
den sollen. 


Handelsverträge 


1079 


Anderenteils  giebt  es  auch  Handelsver- 
träge ohne  Recipi-ocität,  wie  z.  B.  die  früheren 
Kapitulationen  der  Pforte,  wo  die  Gewäh- 
rungen in  der  Hauptsache  einseitiger  Natur 
waren.  Und  noch  heute  findet  bei  den  Ver- 
trägen nüt  den  halbcivilisierten  asiatischen 
Staaten  nur  ein  sehr  beschränktes  Gegen- 
recht statt.  Gipfelte  doch  früher  auch  in 
Europa  die  Yertragspolitik  des  Merkantil- 
systems  in  dem  Gedanken,  die  Handelsbilanz 
dadurch  zu  gewinnen,  dass  mau  das  Gegen- 
Techt  möglichst  umgehe  oder  doch  zu  einem 
bloss  scheinbaren  gestalte. 

In  unseren  Tagen  gilt  dieser  letztere 
Standpunkt  für  veraltet,  der  Grundsatz  der 
Gegenseitigkeit  ist  bei  den  Vertragsverhand- 
lungen als  allgemeiner  Leitstern  anerkannt. 
Immerhin  gehört  auch  auf  dieser  Basis  die 
Abwägimg  der  wechselseitigen  Zugeständ- 
nisse zu  den  grössten  Schwierigkeiten  bei 
der  Vertragsschliessung.  Von  einem  Aus- 
tausche völlig  gleicher  Bechte.  also  von 
einer  absoluten  Keciprocität,  kann  mit  Rück- 
sicht auf  die  verschiedenen  volkswirtschaft- 
lichen Interessen,  Zustände  und  Zollsysteme 
imd  angesichts  der  Mannigfaltigkeit  m  den 
nationalen  Gesetzen  und  Steuenorschriften 
nicht  die  Rede  sein.  Man  wird  hier  also 
-stets  statt  einer  absoluten  sich  mit  einer 
relativen  Reciprocität  begnügen  müssen,  wo- 
bei die  Ermässigung  emes  Agrarzolles  bei 
der  einen  Nation  etwa  durch  eine  ent- 
sprechende Zollherabsetzung  im  Gebiete  der 
Industriezölle  wett  gemacht  wird. 

Schon  die  gegenseitige  Zusicherung  der 
einfachen  Meistbegünstigung  ohne  Tarifbe- 
stimmungen kann  ein  Tausch  von  sehr  un- 
gleichen Grössen  sein.  Bei  der  einen 
Partei  bedeutet  sie  vieUeicht  die  Einräumung 
eines  freihändlerischen,  bei  der  anderen  eines 
schutzzöllnerischen  Tarifes.  In  Europa  wird 
vermöge  der  Klausel  der  freie  Zutritt  zu 
jedem  Punkte  des  Landes  und  der  gleich- 
berechtigte Mitgenuss  aller  öffentlichen  An- 
stalten gewährleistet,  in  Ostasien  bloss  die 
Zulassung  zu  gewissen,  dem  auswärtigen 
Handel  geöffneten  Vertragshäfen.  Nament- 
lich wird  durch  die  hereinspielende  Meist- 
begünstigung auch  die  wechselseitige  Ab- 
wägung der  Einzelzugeständnisse  erschwert. 
Dies  dadurch,  dass  sich  dieselbe  nach  all- 
gemein anerkanntem  Brauche  nicht  bloss 
auf  den  Stand  der  Vergünstigungen  im 
Augenblicke  des  Vertragsabschlusses  bezieht, 
sondern  auch  auf  die  in  Zukunft  an  dritte 
Nationen  zu  gewährenden,  in  die  Vertrags- 
periode fallenden  Zugeständnisse.  Zu  der 
Verschiedenartigkeit  des  Inhaltes  im  gege- 
benen Momente  gesellen  sich  also  später 
vom  Willen  der  Kontrahenten  nur  einseitig 
abhängende  Abänderungen,  welche  sich  vom 
anderen  Teil  nicht  vorhersehen  und  auch  in 
ihren  möglichen  Wirkungen  nicht  berechnen 


lassen.  Dadurch  erhalten  die  Festsetzungen 
eine  schwankende  Unterlage.  Der  Umstand, 
dass  jede  spätere  Vergünstigung  auch  allen 
älteren  Vertragsparteien  eingeräumt  werden 
muss,  raubt  im  übrigen  dem  Zugeständnisse 
einen  Teil  seines  Wertes  als  Austauschob- 
jekt; und  so  ist  es  gekommen,  dass  die 
Meistbegünstigungsklausel  sich  oft  mehr  als 
ein  Hindernis  denn  als  ein  Beförderungs- 
mittel der  Zollermässigung  gezeigt  hat.  Da- 
durch ist  sie  vielerorts  in  Misskredit  ge- 
raten. 

Nicht  immer  werden  die  zukünftigen 
Meistbegünstiguugsvorteile  »sofort«  und  »be- 
dingungslos«, also  ohne  weitere  Vergütung 
zugestanden.  Bis  in  unsere  Tage  herein 
fülu-eu  einzelne  Verträge  die  Bestimmung 
mit  sich,  dass  der  Mitgenuss  der  späteren 
Ver^nstigimgen  nur  dann  ohne  besondere 
Gegenleistung  gewährt  werden  soll,  »wenn 
das  Zugeständnis  zu  Gunsten  des  diitten 
Staates  unentgeltlich  erfolgte,  und  gegen 
den  nämUchen  Entgelt  oder  gegen  ein 
mit  beiderseitiger  Zustimmung  bestimmtes 
Aequivalent,  wenn  jenes  Zugeständnis 
an  Bedin^mgen  geknüpft  war«  (nissisch- 
schweizenscher  Handelsvertrag  1873). 
Dieser  Modus  empfiehlt  sich  zumal  bei 
Verträgen  von  langer  Geltungsdauer.  Sind 
die  Perioden  kurz,  so  können  grossere 
Verändenmgen  im  ZoUwesen  bis  zum  Ver- 
tragsablaufe  verschoben  und  kleinere  in  die 
verflossene  Periode  gefallene  Beeinträchti- 
gungen leicht  bei  den  Verhandlungen  zum 
Neuabschluss  ausgeglichen  wei*den. 

Manchmal  zerfällt  eine  Abmachung  in 
eine  Anzahl  Sonderverträge,  die  immerhin 
insofern  ein  Ganzes  bilden^  als  die  Gegen- 
leistung für  ein  Zugeständnis  im  einen  Ver- 
trage durch  ein  solches  in  einem  anderen 
erkauft  wird.  Der  Handelsvertrag  der 
Schweiz  mit  Franlo^ich  von  1864  zerfiel 
z.  B.  in  fünf  Sonderabkoumien.  Ein  Haupt- 
preis für  die  Gewälirung  des  französischen 
Vertragstarifes  bestand  darin,  dass  die 
Schweiz  sich  in  dem  nebenfolgenden  Nieder- 
lassungsvertrage verpflichtete,  die  französi- 
schen Juden  auf  dem  gleichen  Fusse  zu  be- 
handeln wie  die  Christen;  ein  Recht,  das 
damals  den  Schweizer  Juden  noch  versagt 
w^ar,  bald  darauf  aber  (1866)  vermöge  einer 
Revision  der  Bundesverfassung  auch  diesen 
eingeräumt  wiurde. 

V.  Historisches. 

1.  Altertum.  Die  vielgenannten  durch 
Polybius  überlieferten  Verträge  zwischen 
Rom  und  Karthago  aus  den  Jahren  509, 
347  und  306  v.  Chr.  können  kaiun  als  Han- 
delsverträge im  neuzeitlichen  Sinne  an^ 
sehen  werden.  Weniger  die  wechselseitige 
Einräiunung  von  Handelsbef  ugnissen  im  Herr- 
schaftsbereiche des  anderen  Teiles  als  viel- 


1080 


Handelsverü-äge 


mehr  den  Ausschluss  daraus  und  die  räum- 
liche Begrenzung  der  Handelsgebiete  haben 
dieselben  zum  Gegenstande.  Sie  gleichen 
daher  mehr  den  neuerdings  wieder  aufge- 
kommenen Abkommen  europäischer  Staaten 
über  die  Abgrenzung  ihrer  Macht-  oder 
Interessensphäi-en  in  anderen  Weltteilen, 
deren  Bedeutung  vornehmlich  auf  politischem 
Boden  ruht. 

2.  JUittelalter.  Auch  die  Handelsprivile- 
gien, welche  sich  im  Mttelalter  gewisse  Kor- 
porationen, wie  z.  B.  die  Hansa,  in  auswär- 
tigen Ländern  auszuwirken  wussten,  waren 
doch  nicht  Handelsverträge  von  Staat  zu 
Staat  Am  ehesten  können  aus  jenem  Zeit- 
alter die  Kapitulationen,  welche  die 
muselmanischen  Herrscher  des  Orients  mit 
den  oberitalienischen  Städterepubliken  wie 
Venedig,  Genua  u.  a.  eingingen,  als  hierher- 
gehörig bezeichnet  werden,  wobei  es  sich 
immerhin  in  der  Hauptsache  bloss  um  ein- 
seitige Yergünstigungen  handelte,  welche 
des  Grundsatzes  der  Reciprocität  entbehrten. 

3.  Nene  Zeit  Erst  mit  der  Herausbil- 
dimg der  Territorialstaaten  und  der  territorial 
abgeschlossenen  Wirtschafts-  und  Zollge- 
biete beim  üebergange  zum  Zeitalter  der 
Neuen  Zeit  war  der  Boden  für  eine  ver- 
tragsmässige  Regelung  der  kaufmännischen 
Geschäftsinteressen  in  auswärtigen  HeiT- 
scliaftsgebieten  gegeben. 

Diese  Regelung  suchen  zunächst  beide 
Teile  im  Sinne  der  wechselseitigen  Bevor- 
rechtung  gegenüber  Dritten  herzustellen.  In 
diesem  Geiste  ist  zumal  einer  der  ältesten 
und  wichtigsten  Handelsverträge  aus  jenem 
Zeitalter  gehalten,  der  durch  Vermittelung 
des  französischenGesandten  La  Foret  zwischen 
Franz  I.  und  dem  Sultan  Suleyman  II. 
eingegangene  französisch-türkische 
Handelsvertrag  von  1535.  Einem  poli- 
tischen Allianzvertrage  gegen  Karl  V.  neben- 
herlaufend, bestimmte  derselbe,  dass  der 
gesamte  europäisch-türkische  Handel  der 
französischen  rlagge  imtersteUt  sein  solle. 
Die  Abgaben  hätten  für  die  beiderseitigen 
Angehörigen  im  Gebiete  des  andei*en  Teiles 
nicht  höher  zu  sein  als  für  die  eigenen 
Unterthanen  »ä  savoir:  le  Türe  au  pays  du 
roi,  comme  payent  les  Fran(;*ais  et  les  dits 
Fi-anvais  au  pays  du  grand  seigneur,  comme 
payent  les  Turcs.« 

Stehen  wir  liier  vielleicht  an  der  Gebuils- 
stätte  der  Klausel  von  der  Gleichstellung 
der  Ausländer  mit  den  Inländern,  welche 
hier  allerdings  nur  in  sehr  beschränktem 
Sinne  aufzufassen  ist,  so  schliesst  sich  daran 
auch  der  Ursprung  der  Meistbegünstigungs- 
klausel, wenn  es  anders  zutiifft,  was  v.  Steck 
in  seinem  1782  erschienenen  »Versuch  über 
Handels-  und  Scluffalu1:svei-träge<v  sag-t: 
»Diese  Formel  ist  aus  den  Handelsverträgen 
mit  der  Osmanischeii  Pforte  entlehnet.    Die 


fi'anzösische  Nation  war  die  erste,  w^elcher 
dieselbe  die  Handlung  imd  Schiffalui  unter 
ihrer  Flagge,  und  ausnehmende  Begünsti- 
gungen bewilligte.  Als  hernach  auch  Ver- 
träge wegen  der  Handlung  im  Osmanischen 
Reiche  mit  anderen  europäischen  Nationen 
eingegangen  wurden,  so  b^ungen  sich  diese, 
dass  ihnen  so  wie  der  begünstigsten  Nation 
begegnet  werden  sollte,  das  ist,  dass  sie 
aller  der  Yorteile  gemessen  sollten,  deren 
die  französische  genösse.« 

Sei  dem  wie  ihm  woUe;  jedenfalls  be- 
gegnen wir  der  Meistbegünstigungsklausel 
mit  bald  engerem  bald  weiterem  Geltungs- 
bereiche schon  in  der  ersten  Hälfte  des  17. 
Jahrhunderts  auch  in  Westeuropa,  z.  B.  im 
Handelsvertrage  zwischen  England  und  Por- 
tugal von  1642.  Als  einen  Vorläufer  des 
Frankfurter  Friedens  kann  man  im  übrigen 
den  Vertrag  der  Pyrenäen  1659  an- 
sehen, wenn  da  bestimmt  wird :  »Les  sujets 
du  ix)i  de  France  dans  tous  les  Etats  de 
la  couronne  d'Espagne,  et  ceux  de  cette 
puissance  chez  les  Fran9ais  seront  traites 
comme  la  nation  la  plus  favo- 
r  i  s  6  e ,  ne  payant  que  les  memes  droits 
auxquels  les  Anglais  et  les  Hollandais  sont 
soumis.« 

Der  berühmteste  Handelsverti-ag  der  pro- 
tektionistischen  Periode  ist  der  1703  zwi- 
schen England  und  Portugal  vereinbarte, 
nach  dem  englischen  Unterhändler  Methuen 
genannte  Methuen  vertrag.  Derselbe 
hat  eine  grossartige  Litteratur  her\'orgerufen, 
imd  der  Streit  darüber,  welchem  Teile  er 
grössere  Vorteile  gebracht,  ist  selbst  jetzt 
noch  nicht  verstummt.  Zur  Zeit  des  Ab- 
schlusses glaubte  offenbar  Portugal,  dass 
seinen  Interessen  dadiux)h  am  meisten  ge- 
dient werde;  denn  der  Handelsvertrag  war 
der  Preis,  der  ihm  dafür  bezahlt  wurde,  dass 
es  sich  dem  von  Wilhelm  LEI.  von  England 
gestifteten  europäischen  Allianzverband  gegen 
Ludwig  XIV.  anschloss. 

Der  Methuenvertrag  besteht  der  Form 
nach  aus  drei  Artikeln,  welche  inlialtlich 
besagen:  Portugal  hebt  sein  (seit  1684)  be- 
stehendes Einfuhrverbot  aller  auswäi'tigou 
WoJlenwaren  wieder  auf ;  dagegen  verpflichtet 
sich  England,  die  portugiesischen  Weine  stets 
zu  einem  um  ein  Dritteil  niedrigeren  Zolle  bei 
sich  zuzulassen,  als  für  ein  gleiches  Mass 
französischer  Weine  gefordert  wird.  Der  Ver- 
trag sollte  ein  immerwährender  sein  und  so- 
wohl für  Kriegs-  wie  Friedenszeiten  gelten. 
Für  den  Fall  jedoch,  dass  England  sieh  in 
irgend  einer  Weise  seiner  übernommenen 
Pflichten  entziehe,  solle  auch  Portugal  das 
Recht  haben,  die  Einfuhr  der  britischen 
Wollenwaren  wieder  zu  verbieten. 

Man  sieht  es  war  in  die  Hand  Englands 
gelegt,  den  Vertrag  verfallen  zu  lassen,  so- 
bald es  dies  als  in  seinem  Vorteile  liegend 


[ 


Handelsverträge 


1U81 


erachtete.  Nicht  das  gleiche  Recht  stand 
Portugal  zu. 

Sem  definitives  Ende  en-eichte  der  Me- 
thiien vertrag,  über  dessen  Wert  undCnwert 
für  den  einen  oder  anderen  Teil  ein  mäch- 
tiger, noch  heute  nicht  ganz  erledigter 
litterarischer  Streit  erwachsen  ist,  erst  ums 
Jahr  1830,  wo  ihn,  nachdem  die  Umstände 
sich  gänzlich  verändert  hatten,  Grossbri- 
tannien auf  Antrieb  Huskissons  dahinfalien 
liess. 

Ein  anderer  berühmter  Handelsvertrag 
jenes  Zeitalters  ist  der  im  Anschlüsse  an 
den  Utrechter  Frieden  1713  zwischen  Eng- 
land imd  Spanien  zu  stände  gekommene  so- 
genannte Assientotraktat  (assiento  = 
Vertrag).  (Vgl.  auch  den  Art.  Assiento- 
Vertrag,  oben  Bd.  II S.  20  ff .)  Derselbe  bezog 
sich  zwar  unmittelbar  bloss  auf  die  Liefe- 
rung von  Negersklaven  von  der  afrikanischen 
Küste  nach  den  spanisch -amerikanischen 
Kolonieen  und  war  in  die  Form  eines  von 
der  spanischen  Regierung  erteilten  Privi- 
legiums an  die  englische  Südseegesellschaft 
gekleidet.  In  Wahrheit  bedeutete  der 
Assiento  jedoch  einen  wirklichen  Handels- 
vertrag in  betreff  des  spanischen  Kolonial- 
handels, der  dadurch  den  Engländern  ge- 
öffnet wurde.  Verpflichtete  sich  einerseits 
die  Südseegesellschaft,  auf  30  Jahre  hinaus 
(bis  1743)  jährlich  4800  Neger  nach  den 
verschiedenen  Teilen  des  spanischen  Ameri- 
kas ziun  Verkauf  zu  transportieren,  so  war 
ihr,  abgesehen  davon,  dass  sie  fiu*  den  Er- 
lös Kolonialprodukte  jeder  Art  in  Rück- 
fracht nach  Europa  nelmien  durfte,  anderer- 
seits gestattet,  jährlich  ein  Scliiff  von  oOO 
Tonnen  Traglast  mit  Manufaktm*en  eng- 
lischer Erzeugung  auf  die  Messe  von 
Portobello  zu  senden.  Dieses  sogenannte 
Permissionsschiff  wurde  zum  Keil,  der 
das  ganze  auf  Abschliessung  berechnete 
Kolonialsystem  Spaniens  auseinandertrieb. 
Aus  den  fünfhundert  Tonnen,  welche  das 
Schiff  vertragsmässig  bloss  halten  durfte, 
wurden  bald  tausend.  Ausserdem  führte 
man  noch  \ier  oder  fünf  Sonderfahrzeuge 
mit,  die  angeblich  mit  Lebensmitteln  filr  die 
Schiffsleute,  der  Tliat  nach  aber  mit  Manu- 
faktiu^^aren  befrachtet  waren  vmd  aus  wel- 
chen das  Permissionssclüff  auf  der  Reede 
von  Portobello  stets  wieder  von  neuem  ge- 
füllt wurde.  Daneben  wurde  mit  einer 
Brutalität  ohne  gleiclien  der  Schmuggel  von 
Jamaika  aus  nach  den  übrigen  spanischen 
kolonialen  Territorien  betrieben.  Bald  hatten 
sich  die  Engländer  fast  des  ganzen  spani- 
schen Kolonialhandels  bemächtigt,  während 
das  Mutterland  sich  vergeblich  bemühte, 
von  dem  gefährlichen  Vertrage  wieder  los- 
zukommen. Durch  den  Ausbnich  des  Krie- 
ges 1739  wurde  der  Assi^^nto  endlich  zwar 
ausser    Kraft    gesetzt.      Im    Frieden     von 


Aachen  1748,  der  den  österreichischen  Erb- 
folgekrieg abschloss,  wurden  der  Südseege- 
sellschaft  jedoch  die  fehlenden  vier  Jahre 
nachträglich  noch  zugestanden.  Lidessen 
kam  es  1750  zu  Buen-Retiro  zu  einem  Ver- 
gleich, nach  welcliem  die  spanische  Regie- 
rung gegen  eine  Entschädigung  von 
100000  £•  alle  Rechte  von  der  Südseege- 
sellschaft zurückkaufte.  Das  spanische  Ko- 
lonialsystem blieb  aber  durchbrochen. 

Als  von  handelspolitischer  Bedeutung  im 
18.  Jahrhundert  ist  sodann  der  durch  den 
Minister  Ludwigs  XV.  Choiseul  zwischen 
den  Staaten  des  boiu'bonischen  Regenten- 
hauses zu  Stande  gebrachte  Pacte  de  Fa- 
milie aufzuführen.  In  diesem  dem  Haupt- 
inhalte nach  politischen  Vertrage  treten  die 
Klausel  der  Gleichstellung  mit  den  eigenen 
Angehörigen  und  die  Klausel  der  Meistbe- 
günstigung verschwistert  auf.  Für  die 
Ünterthanen  der  französischen,  spanischen 
und  sicihschen  Krone  solle  die  wechsel- 
seitige Behandlung  auf  dem  Fusse  vollstän- 
diger Gleichlieit  mit  den  eigenen  Landes- 
angehörigen gelten.  Daneben  wird  bestimmt, 
dass,  wenn  einer  oder  der  andere  der  Ver- 
bündeten in  Handelsverträgen  mit  dritten 
Staaten  das  traitement  de  la  nation  la 
plus  favorisi«  zugestehen  werde,  davon 
immer  die  durch  den  pacte  de  famille  fest- 
gesetzten engeren  Vorrechte  ausgeschlossen 
bleiben  sollten. 

In  der  That  finden  war  in  spätei*en  Han- 
delsverträgen den  Vorbehalt  ausdnicklich 
gemacht,  so  z.  B.  in  dem  ältesten  von  frei- 
händlerischem Geiste  getragenen  Handels- 
vertrage von  1786  zwischen  Frankreich  und 
England.  Dieser  gewöhnlich  nach  dem  eng- 
lischen Unterhändler  Eden  benannte  Ver- 
trag würde  vielleicht  besser  den  Namen  des 
physiokratischen  SchriftsteUei-s  Dupont  de 
Nemours  tragen,  der  im  Auftrage  des  Mi- 
nisters Vergennes  französischerseits  die 
Unterhandlungen  führte.  Neben  der  für  die 
damalige  Zeit  unerhörten  Herabsetzung  der 
Zölle  auf  10 — 15  ^/o  vom  Wert  schiebt  dieser 
Handelsvertrag  mit  besonderem  Nachdruck 
die  Meistbegünstigungsklausel  in  den  Vorder- 
grund. Ausgenommen  von  dieser  Regel 
sollen  jedoch  sein,  französischerseits  die  Be- 
stimmungen des  pacte  de  famille,  und  eng- 
lischerseits  der  Methuentraktat.  Was  den 
letzteren  anlangt,  so  ereignete  sich  hier  der 
charakteristische  Umstand,  dass  England  die 
Zölle  für  die  französischen  Weine  auf  die 
gleiche  Stufe  herabsetzte,  wie  sie  bis  dahin 
von  den  portugiesischen  bezahlt  woitlen 
waren.  Dadurch  wurden  sie  diesen  aber  nicht 
etwa  gleichgestellt;  vielmehr  mussten  nun 
die  Zölle  für  die  portugiesischen  Weine  um 
ein  weiteres  Drittel  herabgesetzt  werden. 
Der  Eden  vertrag  liatte  keine  lange  Dauer 
er  fiel  dem  Kriege  von  17  Ü3  zum  Opfer. 


1082 


Handelsverträge 


4.   Nennzehntes    Jahriinndert     Das 

neunzehnte  Jahrhundert  ist  das  Zeitalter  der 
internationalen  Kollektivverträge.  Schon  die 
napoleonische  Kontinentalsperre,  ob- 
"wohl  politischen  Antrieben  entsprungen,  kann 
in  ihren  praktischen  Wirkungen  als  ein 
handelspolitisches  Kollektivbündnis  der  eu- 
ropäischen Kontinentalstaaten  angesehen 
werden.  In  die  gleiche  Kategorie  ist  so- 
dann zu  rechnen  der  deutsche  Zollver- 
ein svertrag  von  1833  mit  seinen  späte- 
ren Ansclilüssen  und  Wiederholungen. 

Ein  wiewohl  beschränktes  Kollektivbünd- 
nis, das  sich  successive  erweiterte,  ging 
nachher  aus  dem  zwischen  NaTX)leon  III. 
lind  dem  Freihandelsagitator  Cobaen  verein- 
barten englisch-französischen  Han- 
delsvertrage von  1860  hervor.  Das  so- 
genannte System  der  westeuropä- 
ischen Handelsverträge,  welches  da- 
von seinen  Ausgangspunkt  nahm,  ward  zwar 
nicht  von  beiden  Staaten  in  gleicher  Weise 
bethätigt.  Wähi-end  Grossbritannien  die 
allmähliche  Abschaffung  sämtlicher  Manu- 
fakturzölle in  Aussicht  nahm,  seine  Finanz- 
zölle von  da  an  auf  wenige  Genussartikel 
einschränkte  und  dabei  das  Princip  aufstellte, 
dass  die  Meistbegünstigung  allen  fremden 
Nationen  ohne  ünterechied  und  ohne  be- 
sondere Gegenleistung  einzuräumen  sei  (Frei- 
handel ohne  Reciprocität),  verstand  sich 
Frankreich  bloss  zur  Aufhebung  seiner  Prohi- 
bitionen und  zu  einer  Herabsetzung  seiner 
Manufakturzölle  auf  eine  Maximalhöhe  von 
30  und  ab  1863  von  25%  vom  Wert,  wobei 
es  überdies  den  alten  prohibitiven  Zolltarif 
als  Generaltarif  für  alle  jene  Völker  bestehen 
liess,  welche  sich  nicht  ilirerseits  vertrags- 
niässig  zu  Tarifermässigimgen  herbeilassen 
wüi-den.  (Gemässigter  Freihandel  mit  Reci- 
procität.) Durch  allmählichen  Abschluss  von 
Tarifverträgen  mit  den  meisten  europäischen 
Staaten,  welche  sich  dann  ihrerseits  wieder 
durch  Sonderverträge  auf  dem  Fusse  der 
Meistbegünstigung  verbanden,  gestaltete  sich 
im  Laufe  der  sechziger  Jahre  ein  handels- 
politischer Gesamtverband  heraus,  der  nach 
innen  diu-ch  eine  Anzahl  ermässigter  Kon- 
ventionaltarife gegliedert  sich  nach  aussen 
durch  eine  Kette  erhöhter  und  kampfdrohen- 
der Generaltarife  abschloss. 

Dieses  auf  dem  Dualismus  von  autono- 
mem Generaltarif  gegenüber  Nichtvertrags- 
staaten  imd  einem  auf  niedrigere  Zollsätze 
gebundenen  Konventionaltarif  gegenüber 
Vertragsstaaten  beruhende  System  hat  die 
Handelspolitik  Europas  bis  in  unsere  Tage 
herein  beherrscht,  wenn  es  seit  Anfang  der 
achtziger  Jahre  auch  insofern  eine  Wand- 
lung erfuhr,  als  bei  jotler  Erneuerung  eines 
abgelaufenen  Vertrages  statt  der  früher  vor- 
aiwgiesetzten  weiteren  ZoUherabsetzung  viel- 
mehr die  Kontrahenten  sich  bemühten,  ihren 


Konventionaltarif  auf  höheren  Fuss  zu  setzen. 
Diese  Tendenz  setzte  sich  fort,  als,  veran- 
lasst durch  die  seitens  Frankreich  vollzogene 
Kündigung  aller  seiner  Tarifanträge  auf  den 
1.  Februar  1892  sich  die  meisten  übrigen 
europäischen  Staaten  genötigt  sahen,  auf 
diesen  Zeitpunkt  ihre  handelspolitischen 
Beziehungen  auch  imter  einander  neu  zu  re- 
geln. 

Verletzt  durch  den  Umstand,  dass  die 
Bismarcksche  Handelspolitik  aus  dem  Art. 
11  des  Frankfurter  Friedens  in  der  Weise 
einseitigen  Vorteil  zu  ziehen  gesucht  hatte, 
dass  Deutschland  zwar  die  von  Frankreich 
mit  anderen  Mächten  im  Reciprocitätswege 
gewährten  Zollermäßsigungen  einstrich,  selbst 
aber  sich  jedweder  Tarifverträge  enthielt, 
welche  Frankreich  hätten  zu  gute  kommeu 
können,  beschloss  die  französische  Regierung, 
wieder  ganz  zur  autonomen  Handeispolitik 
überzugehen.  Nach  längeren  Vorbereitungen 
wurde  durch  G.  v.  11.  Januar  1892  das  Re- 
gime des  autonomen  Doppeltarifs  (Maximal- 
und  Minimaltarif)  begründet,  wobei  je  nach 
der  handelspolitischen  Haltung  der  anderen 
Staaten  zu  Frankreich  bald  die  eine  bald 
die  andere  Abteilung  zur  Anwendung  ge- 
langt. Nur  Deutschland  geniesst  dabei  den 
Vorteil,  dass  ihm  der  Genuss  des  jeweiligen 
Minimaltarifes  durch  den  Frankfurter  Frieden 
für  immer  garantiert  ist. 

Im  Gegensatz  hierzu  machte  nun  Deutsch- 
land, dessen  handelspolitische  Leitimg  mitt- 
lerweile in  die  Hände  Caprivis  übergegangen 
war,  eine  Schwenkung  ziu*  Vertragspolitik 
hinüber.  Von  dem  Gedanken  geleitet,  dass 
dem  zwischen  dem  Deutschen  Reich,  Oester- 
reich-üngam  und  Italien  schon  länger  be- 
stehenden politischen  Dreibund  auch  ein 
Nähertreten  auf  volkswirtschaftlichem  Ge- 
biete entspi'echen  solle,  haben  im  Dezember 

1891  Deutschland,  Oesterreich  -  Ungarn  und 
Italien  Tarifverträge  unter  einander  abge- 
schlossen, denen  gemäss  der  an  die  Spitze 
gestellten  Erklärung  die  Aufgabe  zugeteilt 
ist,  »auf  längere  Zeit  eine  feste  Grundlage 
für  die  Förderung  des  gegenseitigen  Aus- 
tausches von  Boden-  und  Industrieerzeug- 
nissen zu  schaffen  und  zugleich  geeignete 
Anknüpfungspunkte  für  eine  entsprechende 
vertragsmäßsige  Regelung  der  beiderseitigen 
Handelsbeziehimgen  zu  anderen  Staaten  zu 
gewähren«. 

Durch  den  gleichzeitigen  Anschluss  der 
Schweiz  und  Belgiens,  denen  dann  Serbien 
und  Rumänien  folgten,  liaben  sich  die  An- 
knüpfungspunkte als  wirksam  erwiesen,  so 
dass  dieses  »System  der  mitteleuro- 
päischen Handelsverträge«,  ^-ie 
man   es   wohl  genannt  hat,  am  1.  Februar 

1892  auf  zwölf  Jahre  hinaus  zunächst  zwi- 
schen Deutschland ,  Oesterreich  -  Ungarn, 
Italien,  der  Schweiz  und  Belgien  und  dann 


Handelsverträge 


1083 


■Serbiens  und  Rumäniens  in  Kraft  getreten 
•ist.  Dasselbe  beniht  auf  der  gleichen  Un- 
terscheidung von  Generaltarif  und  Konven- 
tionaltarif wie  das  »System  der  westeuro- 
päischen Handelsverträge«,  von  dem  es  sich 
nur  dadurch,  und  zwar  zu  seinem  Vorteile, 
unterscheidet,  dass  an  Stelle  der  früheren 
willkürlich  gewählten  Termine  ein  Kollek- 
tivübereinkommen »mit  gleichem  Anfangs- 
und gleichem  Endtermine«  tritt.  DieGesamt- 
erneuening  erfolgt  dann  jeweils  beim  Ablauf 
der  12  jährigen  Periode  (handelspolitisches 
Kometenjahr)  wieder  gemeinsam,  bis  wohin 
die  Stabilität  der  Handelsgrundlagen  für  alle 
Teilnehmer  gesichert  ist. 

Die  handelspolitische  Tendenz  dieser  Ver- 
einbarungen kann  als  eine  gemässigt  schutz- 
zöllnerische  bezeichnet  werden,  oder  wie 
die  deutsche  Denkschrift  zum  östen-eichisch- 
ungarischen  Vei-trag  es  ausdrückt,  als  ein 
»System  einer  auf  vertragsmässiger  Grund- 
lage berulienden  gemässigten  Handels- 
politik«, wobei  man  »von  dem  üebergange 
zum  extremen  Protektionismus  Abstand  ge- 
nommen«. 

Auch  ausserhalb  Europas  hat  sich  die 
Tendenz  zum  Abschlüsse  von  handelspoli- 
tischen Kollektivbündnissen  bemerkbar  ge- 
macht. Das  auf  der  panamerikanischen 
Konferenz  von  Washington  1888  beratene 
Projekt  eines  ganz  Nord-,  Mittel-  und  Süd- 
amerika umfassenden  Zollbundes  dürfte 
zwar  ein  vorläufig  noch  fern  gestecktes  Ziel 
bleiben.  Immerhin  strebt  demselben  die 
nordamerikanische  Union  unter  Zugrunde- 
legimg  gewisser  Bestimmungen  der  Mac- 
Kinleybill  im  Wege  sogenannter  Re Ci- 
pro citätsverträge  nicht  ohne  Er- 
folg zu. 

Aehnlich  hat  die  nach  London  im  Jahre 
18R9  berufene  Konferenz  von  Vertretern 
aller  grossbritannischen  Kolonieen  zwar  den 
gewünschten  engeren  Zusammen schluss  in 
handelspolitischer  Beziehung  mit  dem  Mut- 
terlande nicht  zum  Ergebnis  gehabt.  Dafür 
sind  sich  gewisse  Kolonieen  unter  einander 
näher  getreten.  Das  seit  1891  im  Entstehen 
begriffene  »Gemeinwesen  von  Australien« 
hat  u,  a.  eine  Zolleinigimg  der  dortigen 
Einzelkolonieen  in  das  Programm  aufge- 
nommen, und  in  Südafrika  ist  eine  solche 
bereits  ins  Leben  getreten. 

Die  Kongo-Akte  von  1885  stellt  sich 
als  ein  umfassender  handelspolitischer  Kol- 
lektivvertrag unter  14  Staaten  dar.  Aehn- 
liches  gilt  von  der  1889  zwischen  Grossbri- 
tannien, Deutschland  und  den  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  vereinbarten  Sa- 
moa-Akte.  Als  eine  Fortsetzung  des 
Kongovertrages  kann  die  von  17  Staaten  ge- 
schlossene Brüsseler  Konferenzakte 
gegen  den  Sklavenhandel  von  1890  ange- 
sehen werden,  indem  dadiuxjh  das  dort  be- 


schlossene Einfuhrzollverbot  im  Freihandels- 
becken des  Kongo  aufgehoben  und  der 
Spirituosen-  und  Waffenhandel  in  den  dorti- 
gen Gegenden  in  angemessene  Schranken 
gezw^ungen  wurde.  Auch  einzelne  Abkom- 
men über  die  Abgrenzung  der  euroi)äischen 
Interessensphären  m  fremden  Welt- 
teilen, so  z.  B.  dasjenige  betreffend  Ostafrika 
von  1890,  tragen  einen  kollektiven  Charakter. 

Diesem  zur  Bildung  kollektiver  Verbände 
geht  zur  Seite  eine  nicht  minder  stark  her- 
vortretende Bewegung  zur  selbständigen 
Heraushebung  und  Regelung  gewisser  frülier 
in  den  Handelsverträgen  gemeinsam  behan- 
delten Einzelmaterien.  Auch  diese  Ordnun- 
gen haben  vielfach  die  Form  internationaler 
Gesamtbündnisse  angenommen.  Dahin  ge- 
hören die  Unionen  betreffend  Schutz 
des  litterarischen,  künstlerischen 
und  gewerblichen  Eigentums,  über 
die  Weltpost,  den  Welttelegraphen, 
über  das  internationale  Eisenbahntrans- 
portrecht etc.  mit  ihren  Centralstellen 
in  Bern.  Dahin  dürften  femer  zu  rechnen 
sein  die  noch  im  Schosse  der  Zukunft 
ruhenden  internationalen  Organisationen  zum 
Schutze  der  Arbeit  und  zur  Regelung  des 
Arbeitsangebotes,  kurz  die  internationale 
soziale  Gesetzgebung  überhaupt 

In  dem  Masse,  wie  diese  Gemeinschaften 
zunehmen,  werden  sich  durchziehende  Ge- 
sichtspunkte und  Formen  herauskehren, 
welche  eine  Kodifikation  auch  dieser  Mate- 
rien des  Völkerrechtes  im  Gefolge  haben 
werden.  Bis  jetzt  ist  die  Zeit  dazu  noch 
kaum  reif.  Es  mag  hier  genügen,  darauf 
hingewiesen  zu  haben. 

Litteratur :  Mably,  Le  droit  pitblic  de  l'Eurape, 
fonde  9ur  let  traites,  1764.  —  Batichauü, 
Theorie  des  traites  de  commerce  entre  les  ncUions, 
Paris  1777.  —  v.  Siech,  Versuch  über  Handels- 
und  Schiffahrtsverträge,  Halle  1782.  —  Haute^ 
riv€f  Jiecueil  des  traith  de  commerce  et  de 
navigation  de  la  France  avec  les  puissances 
etrangeres  depuis  I64S,  suivi  du  Recueil  des 
principaux  traitSs  de  meme  nature  conclus  par 
des  puissances  etrangeres  entre  elUs  depuis  la 
meme  epoque,  I8S4 — 1844.  —  v,  KaUenöom, 
Artikel  nHandehverträgevL  in  Bluntschlis  Staats- 
vört^buch,  Bd.  IV,  1859.  —  Boiieau,  Le* 
traites  de  commerce,  186S.  —  Sirauchf  Das 
Fremdenrecht,  besanders  mit  Rücksicht  auf  Hau- 
dels-  und  Gewerbebetrieb  der  Ausländer  in  den 
Grossstaaten  der  Gegenwart  nach  deii  neuesten 
internationalen  Vertragen,  in  Goldschmidt,  Zeil- 
Schrift  f.  d.  ges.  Handelsrecht,  Bd.  XIII,  1860.  — 
JE.  Meier,  Ueber  den  Abschltiss  von  Stcuilsver- 
trägen,  Leipzig  1874.  —  Friedrich  von 
Marlene,  Völkerrecht.  Das  internationale 
Recht  der  cirilUierten  Nationen,  2  Bde.,  deutsche 
Ausgabe  von  C.  Bergbohm,  Berlin  188S  u.  1886. 
—  Schraut,  System  der  Handelsverträge  und  der 
Meistbegünstigung t  Leipzig  1886.  —  v.  Melle, 
Handels-  und  Schiffahrtsverträge,  in  v.  Holtzen- 
dorffs  Handbuch  des   Völkerrechts,  3.  Bd.,  Harn- 


1084 


Handelsverträge — Handfertigkeitsuntemcht 


biirg  1881,  —  J".  H»  Kem/pfy  Die  Ilandel^polüik 
Frankreichs  seit  1860,  Freihttrg  L  B.  1882,  — 
O,  Fr,  de  MartenSf  Eecueü  de  traüis  et 
atttres  actes  relaiivs  aux  rapports  de  droit  inter- 
national, continue  par  Charles  de  Martens,  Saat- 
feld, Murhard,  Pinhas,  Samwer,  Hopf,  GöUingtie 
1791—1886.  —  P.  Lahandf  Das  Staatsrecht 
des  dentschen  JRei^hes,  ä  Bde.,  Freiburg  i.  B., 
2.  Aufl.,  1888  und  1891.  —  Deutsches  Ha n - 
delsarchiv,  Monatsschrift,  herausgegeben  vom 
Reichsanit  des  Innern  (nahezu  vollständige 
Sammlung  aller  neueren  Handelsverträge  und 
auf  den  Handel  bezüglichen  Verordnungen  und 
Gesetze.  —  P»  Lentner,  Der  afrikanische 
Sklavenhandel  und  die  Brüsseler  Generalakte 
vom  2.  VII.  1890,  Innsbruck  1891.  —  A.  Onchen, 
L^Article  onze  du  traite  de  Paix  de  Francfort 
et  l'expiration  des  traiies  de  commerce  le  2*r 
fevrier      1892;      Revue     d' Economic     Politique, 

1891.  —  Vereint  für  Sozialpolitik,  Die 
Handelspolitik  der  wichtigeren  Kulturstaaten  in 
den  letzten  Jahrzehnten,  4  Bde.,  1892.  —  A, 
Ziinmemtanny  Die  Geschichte  der  preussisch- 
deiiischen   Handelspolitik,    Oldenburg  u.  Leipzig 

1892.  —  J,  Gr^inzel,  Handbuch  der  inter- 
nationalen Handelspolitik,   WieJi  1898. 

A,    Oncken, 


Handfertigkeitsanterricht. 

1.  Vorbemerkung.  2.  Das  Wesen  des  Hand- 
arbeitsunterrichts. 3.  Die  Leistungen  des  Ar- 
beitsunterrichts;  (Entwickelung  der  körper- 
lichen Kraft  und  Gewandtheit;  der  Hand- 
geschicklichkeit; Erziehung  der  Sinne,  vor- 
nehmlich des  Auges;  anschauen,  beobachten, 
erfahren;  Bildung  des  Forniensinnes  und  Ge- 
schmackes; Geistesbildung;  Leitung  des 
Schaffens triebes  und  Erziehung  des  Willens.) 
4.  Geschichtliches  zum  Arbeitsunterricht.  5.  Die 
praktische  Ausgestaltung  der  Idee  des  Arbeits- 
unterrichts; a)  die  Zögflinge;  b)  die  Lehrer  des 
Arbeitsunterrichts;  c)  die  Arbeitsfächer;  d) 
Uebung  oder  Anwendung?  ej  die  Form  des 
Arbeitsunterrichts.  6.  Der  Arbeitsunterricht  an 
Internaten.  7.  Ausbreitung  und  Unterstützung 
des  Arbeitsunterrichts  in  Deutschland.  8.  Der 
Arbeitsunterricht  im  Auslande. 

1.  Yorbemerknng.  Bei  der  gegenwär- 
tig durch  fast  alle  Kulturländer  gehenden 
Bewegung  für  den  Handfertigkeitsuntemcht 
(Arbeitsuntenicht,  Knabenhandarbeit,  Slöjd, 
travail  manuel,  manual  training,  lavoro  ma- 
nuale)  sind  übei-all  zwei  versciiiedene  trei- 
bende Kräfte  zu  beobachten:  volkswirt- 
scliaftlieh-soziale  Gründe  und  pädagogische 
Ziele  und  Absichten. 

Wie  in  Schweden  und  Dänemark,  so 
überwog  auch  in  Deutsclüand  anfänglich 
die  volkswirtschaftliche,  auf  die  Bildung 
von  Hausindustrieen,  Erweckung  des  Haus- 
fleisses  und  damit  auch  auf  die  nützliche 
Beschäftigung  der  Jugend  sich  hinbewegende 
Strömung.  Es  gescliali  dies  in  Deutschland 
insbesondei-e  unter  dem  Einflüsse  des  däni- 
schen Kittmeisters  a.  D.  Clauson-Kaas,  dessen 


Bestrebungen  durch  die  gleichzeitige  Thätig- 
keit  für  Hausindustrie,  Hausfleiss  und  Ar- 
beitserziehung der  Jugend  charakterisiert 
wurden.  Je  länger  je  mehr  trat  aber  ia 
Deutschland  die  rein  erziehliche  Seite  der 
Sache  in  den  Vordergrund  deswegen,  weil 
bei  unserer  hochgesteigerten  Industrie  die 
Rückkehr  zu  der  Form  hausindustriellea 
Erwerbes  auf  unüberwindbare  Konkurrenz- 
schwierigkeiten stossen  musste  und  weil 
auch  der  unter  ganz  anderen  klimatischen 
und  sozialen  Verhältnissen  erwachsene  nor- 
dische Hausfleiss  nicht  ohne  weiteres  zu 
uns  herübergepflanzt  werden  konnte,  wäh- 
rend dagegen  die  deutsche  Erziehung  einen 
einseitig  theoretischen,  doktrinären  Charakter 
angenommen  hatte  und  der  Ergänzung  durch 
einen  das  praktische  Können  betonenden, 
vornelimlich  die  Willensbildung  fördernden 
ünterrichtszweig  dringend  bedürftig  war. 
Ein  grosser  Teil  der  deutschen  Lehi-er- 
Schaft,  die  Einseitigkeit  unseres  Unterrichts- 
wesens erkennend,  nahm  lebhaftes  Interesse 
an  der  Erziehung  der  Knaben  zur  praktischen 
Arbeit,  und  so  erklärt  sich  der  vorwiegend 
pädagogische,  alle  erwerblichen  Rücksichten 
beiseite  lassende  Charakter  der  deutschen 
Handfeiligkeitsbewegung.  So  ist  es  auch 
gekommen,  dass  aus  dem  die  Sache  anfäng- 
lich tragenden  »Centralkomitee  f(u'  Hand- 
fertigkeitsunterricht und  Hausfleiss«,  das  im 
Juni  1881  in  Berlin  zusammengetreten  war, 
im  Jahre  1886  ein  »deutscher  Verein  für 
Knabenhandarbeit«  geworden  ist,  welcher 
allein  pädagogische  Ziele  verfolgt,  von  allen 
auf  einen  direkten  Erwerb,  auf  unmittelbare 
Vorbereitung  der  Knaben  für  bestimmte  Be- 
rufszweige gerichteten  Bestrebungen  absieht, 
ohne  doch  die  volkswirtschaftHche  und  soziale 
Bedeutung  zu  verkennen,  welche  der  er- 
ziehlichen Knabenharidarbeit  unzweifelhaft 
innewohnt  und  durch  die  sie  mittelbar 
auch  unser  wirtschaftliches  Leben  lieein- 
flussen  wird.  Wenn  daher  die  Einfülming 
des  Arbeitsunterrichts  in  erster  Linie  im 
Interesse  der  tüchtigen,  allseitigen  Erziehung 
des  heranwachsenden  Geschlecntes  gefonlert 
wiixl,  so  kommt  daneben  doch  das  soziale 
Interesse  mit  in  Frage,  welches  verlangt, 
dass  auch  die  körperliche  Arbeit  richtig 
geschätzt  werde  und  tiass  die  verschiedenen 
Gesellschaftsklassen  in  Frieden  und  gegen- 
seitiger Achtung  ihres  Wirkens  zusammen 
leben,  ebenso  wie  das  wirtschaftliche  Inte- 
resse Berücksichtigung  verdient,  welches 
fordert,  dass  die  Erwerbsfähigkeit  unseres 
Volkes  für  die  Zukunft  gesichert  werde. 

2.  Das  Wesen  des  Uandarbeitsonter- 
richts.  Der  Ai-beitsunterricht  erweitert  die 
Reihe  der  bisherigen  Mittel  zur  Erziehmig 
des  heranwachsenden  Geschlechts  dadmxjli, 
dass  erden  Thätigkeitstrieb  des  Kindes 
benutzt,  um  die  körperlichen  un<l  geistigen 


Handfertigkeitsunterricht 


1085 


Kräfte  desselben  durch  fortgesetzte  Uebung, 
durch  systematische  Bethätigung  zu  ent- 
wickehi. 

3.  Die  Leistangen  des  Arbeitsanter- 
richts.  a)  Die  Handarbeit  entwickelt  neben 
dem  Turnen  die  körperliche  Kraft,  Gewandt- 
heit und  Anstelligkeit  des  Knaben  und 
macht  ihn  durch  heilsamen  Wechsel  der 
Thätigkeit  widerstandsfähiger  gegen  die  rein 
geistigen  Anstrengungen.  Sie  beeJnflusst 
die  physische  Entwickelung  der  Zöglinge 
insofern,  als  sie  mannigfaltige  körperliche 
Bewegung  fordert  und  im  Gegensatz  zu  der 
Gehimarbeit  eine  vielseitige  Muskelthätigkeit 
hei*vomift. 

b)  Der  Arbeitsunterricht  entwickelt  durch 
vielseitige  Schulung  in  der  geschickten  Füh- 
nmg  der  gebräuchlichsten  Werkzeuge  die 
allgemeine  Handgeschicklichkeit. 

c)  Er  erzieht,  indem  er  ihren  häufigen 
Gebrauch  fordert,  die  Sinne  des  Kindes,  vor- 
nehmlich entwickelt  er  zusammen  mit  dem 
Zeichenunterrichte  die  Fähigkeit  des  Auges, 
scharf  und  richtig  zu  sehen.  Er  bildet  die 
Anschauung,  lehrt  das  Kind  beobachten  und 
giebt  ihm  Gelegenheit,  eigene  Erfahnuigen 
zu  machen. 

Hiemach  ist  der  Arbeitsunterricht  am 
nächsten  mit  dem  Turnen,  Zeichnen  und  mit 
dem  eigentlichen  Anschaunngsunterricht  ver- 
wandt. Durch  ihn  wird  aber  die  von  Pesta- 
lozzi geforderte  Anschauung  intensiver  gestaltet, 
sie  wurd  bis  zu  der  mit  jeder  praktischen  Arbeit 
untrennbar  verbundenen  Erfahrung  weiterge- 
führt. Der  Arbeitsunterricht  ist  gleichsam  ein 
festeigerter  Anschauungsunterricnt ;  bei  ihm 
ommt  das  Kind  vom  Beobachten  nicht  los, 
denn  die  praktische  Arbeit  ist  ohne  Sehen,  ohne 
stetes  Beobachten  ganz  unmöglich;  er  erzieht 
also  nicht  durch  das  Wort,  sondern  durch  die 
That. 

d)  Der  Arbeitsunterricht  entwickelt  den 
Formensinn  und  das  Wohlgefallen  am  Schönen, 
er  legt  den  Grund  ziu*  Bildung  des  Ge- 
schmackes. 

e)  Er  dient  aber  auch  unmittelbar'  der 
geistigen  Ausbildung.  Da  er  nämlich  Ein- 
sicht und  klares  \  erstand  nis  für  die  zu 
lösenden  .  Aufgaben  unerlässlich  macht ,  so 
schärft  er  die  Aufmerksamkeit  und  übt  im 
folgerichtigen  Denken.  Er  erweitert  durch 
mannigfache  Erfahrungen  namentlich  die 
mathematischen  und  naturwissenschaftlichen 
Kenntnisse  des  Schillers  und  entwickelt  die 
Fähigkeit,  praktische  Dinge  zu  beurteilen. 

Auch  insofern  steht  die  erziehliche  Hand- 
arbeit im  Dienste  der  Geistesbildung,  als  sie 
manche  unklaren  Vorstellungen,  welche  vom 
theoretischen  Unterricht  her  geblieben  sind,  auf- 
hellt. Dies  geschieht  namentlich  dann,  wenn 
solche  praktische  Arbeiten  hergestellt  werden, 
welche  mit  dem  Schulunterrichte  in  Beziehung 
stehen,  indem  sie  die  im  Unterrichte  entwickelten 
Begriffe  praktisch  darzustellen  nötigen.  (Be- 
ziehungen zur  Planimetrie,  Stereometrie,  zum 


Rechnen,  Zeichnen,  Anschauungsunterricht,  zur 
Kulturgeschichte .  Naturbeschreibung ,  Geo- 
graphie, Physik  und  Chemie.) 

f)  Die  Handarbeit  leitet  den  Scliaffens- 
trieb  in  richtige  Bahnen,  fühi-t  zur  Freude 
am  Arbeiten  und  über  das  Gearbeitete,  ge- 
wöhnt zu  sorgfältigem  Ausführen  der  Ar- 
beitsaufgaben und  erzieht  dadurch  zum  Fleiss 
und  anderen  wirtschaftlichen  Tugenden.  So 
schult  sie  die  Willenskraft  für  ein  zielbe- 
wusstes  Handeln  und  dient  der  Entwicke- 
lung fester,  starkwilliger  Charaktere.  Indem 
der  Arbeitsunterricht  den  Knaben  nötigt, 
physische  Schwierigkeiten  zu  überwinden, 
fordert  er  seine  Willenskraft  heraus  und 
entwickelt  sie  durch  die  stufenmässige  Be- 
wältigung aller  nacheinander  auftretenden 
Hindemisse,  bis  die  Anspannung  der  Ener- 
gie diuxih  die  schliessliche  Erreichung  des 
Zieles,  der  fertigen  Arbeit,  ihre  glückliche 
Lösung  findet. 

In  der  Leitung  des  kindlichen  Thätigkeits- 
triebes  und  in  der  Erziehung  des  Willens  ist 
die  wesentlichste  Eigenschaft  und  die  vomehm- 
lichste  Bedeutung  des  Arbeitsunterrichts  ge- 
geben. Höchstens  könnte  ihm  hierin  das  Turnen 
an  die  Seite  gesetzt  werden.  Während  aber 
das  letztere  die  Willensenergie  auf  kurzdauernde 
Leistungen  zusammenrafft,  sie  gleichsam  zur 
explosiven  Wirkung  bringt,  verlangt  der  Ar- 
beitsunterricht die  Anspannung  des  Willens  auf 
längere  Dauer ;  bei  ihm  schliesst  sich  ein  Willens- 
akt an  den  anderen,  und  dadurch  wird  die 
Stetigkeit,  die  nicht  zu  erschlaffende  Zähigkeit 
des  Willens  hervorgerufen.  Jede  gelingende 
Arbeit  ist  aber  dann  ein  Sporn  zu  neuem  kräf- 
tigen Streben.  Mit  dem  Können  wächst  die 
Freude  am  Schaffen,  damit  aber  entwickelt  sich 
die  Thatkraft,  die  charakterfeste  Selbständig- 
keit. Niemals  kann  ein  fester  Wille  durch 
Worte  aufgeredet  werden,  er  vermag  sich  nur 
durch  das  Handeln  zu  entwickeln.  Lernt  der 
Knabe  im  Arbeitsunterrichte  seine  Kraft  zur 
Erreichung  eines  bestimmten,  ihm  vor  Augen 
stehenden  Zieles  einsetzen,  so  übt  er  sich  im 
Handeln,  und  das  allein  bildet  seinen  Willen. 
Deswegen  muss  der  Arbeitsunterricht  allein 
schon  we^en  der  Dienste,  die  er  der  Willens- 
bildung leistet,  gefordert  und  gefördert  werden. 

4.  Geschichtliches  zum  Arbeitsnnter- 
richt  Zuerst  hat  der  Idealismus  des  17. 
Jahrhunderts,  und  hier  vor  allem  Arnos 
Comenius,  dem  allein  herrschenden  Hu- 
manismus gegenüber  die  Idee  nachdrücklich 
vertreten,  dass  die  Handarbeit  ein  Erziehungs- 
mittel sei,  ohne  jedoch  damit  Einfluss  auf 
die  Schulpraxis  zu  gewinnen.  Ihm  schloss 
sich  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  der 
Pietismus  in  A.  H.  Francke  zu  Halle 
an.  In  der  Franckeschen  Stiftung  wurde 
der  erste  Schritt  gethan,  die  von  Comenius 
aufgestellte  Theorie  in  die  Praxis  umzu- 
setzen. Von  hier  ging  der  Arbeitsunterricht 
vielfach  auch  in  andere  nach  dem  Francke- 
schen Muster  errichtete  Schulen,  z.  B.  in 
die  von  Hecker  1747  in  Berlin  begründete 


1086 


Handfertigkeitsunterricht 


Realschule  über.  Danach  haben  die  unter 
dem  Einfluss  John  Loekes  stehenden 
Philanthropen  der  Handai-beit  eine 
SteJle  in  ihrem  i)ädagogischen  System  ge- 
geben. Basedow  empfahl  sie  in  seinem 
»Methodenbuche«  und  mhrte  sie  im  Philan- 
tropin  zu  Dessau  praktisch  ein.  Noch  wir- 
kungsvoller vertritt  Salzmann  im 
»Ameisenbüchlein«  den  Arbeitsunterricht,  in 
seiner  Erziehungsanstalt  zu  Schnepfen- 
thal lässt  er  ihn  ausgiebig  betreiben.  Wei- 
ter vertieft  erscheint  danac-h  die  Idee  der 
Arbeitserziehung  bei  dem  wohl  von  Rous- 
seau beeinflussten  J.  H.  G.  Heusinger, 
der  die  Thätigkeit  geradezu  zum  Grund- 
princip  seiner  Erziehungstheorie  macht.  Für 
die  praktische  Ausgestaltung  des  Arbeits- 
unterrichts waren  neben  ihm  besonders 
Bernh.  Heinr.  Blasche  {Werkstätte  der 
Kinder)  imd  GutsMuths  (Mechanische 
Nebenbeschäftigimgen)  Ihätig. 

Während  die  genannten  Pädagogen  die 
erziehliche  Seite  der  Arbeit  hervortreten 
Hessen,  kamen  neben  ihnen  Bestrebungen 
zur  Geltung,  welche  mehr  auf  sozialem  und 
volkswirtschaftlichem  Grunde  beruhten  und 
in  den  sogenannten  Industrieschulen  ihre 
Verwirklichung  fanden.  Als  Vertreter  die- 
ser Richtung  sind  besonders  der  böhmische 
Pfarrer  Ferdin.  Kindermann  und  der 
Pastor  Ludw.  Gerh.  Wagemann  in 
Göttingen  zu  nennen.  Ihre  Industrieschulen 
wollten  dm*ch  Bekämpfung  des  Müssig- 
ganges  der  Verarmung  steuern,  in  ihnen 
sollten  die  Kinder  der  ärmeren  Klassen  zur 
Arbeitsamkeit  gewöhnt  werden.  In  ähn- 
lichem Sinne  wirkten  Pestalozzi,  Fel- 
lenberg und  Wehrli  in  der  Schweiz. 
Dem  Erziehungsplane  der  Wehrlischulen, 
die  als  Musteranstalten  für  die  Armen- 
erziehimg  galten,  liegt  der  Landbau  zu 
Grunde,  bei  dem  Lernen  und  Arbeiten  ver- 
einigt ist. 

Später  nahm  Friedr.  Fröbel  die  rein 
erziehliche  Seite  der  Sache  wieder  auf  und 
gestaltete  den  Arbeitsunterricht  in  eigenar- 
tiger Weise  aus.  Nach  ihm  muss  alle  echte 
Menscheneraiehung  von  der  That,  dem  Thun 
ihren  Ausgang  nehmen,  als  das  Fundament 
aller  Erkenntnis  gilt  ihm  das  selbstthätige" 
Hervorbringen,  das  Schaffen. 

Einen  weiteren  Anstoss  erhielt  die  Frage 
der  Arbeitserziehimg  zu  Anfang  der  50  er 
Jahre  durch  eine  vom  Landammann 
Schindler  in  Zürich  gestellte  Preisfrage: 
>Wie  kann  der  Unterricht  in  der  Volksschule 
von  der  abstrakten  Methode  emancipiert  und 
für  die  Ent Wickelung  der  Gemütskräfte 
fruchtbar  gemacht  werden?«  Unter  den 
liierdiu'ch  hervorgerufenen  Roformschriften 
sind  als  besonders  einflussreich  hervorzu- 
heben die  von  Dr.  Conr.  Mich  eisen  (Die 
Arbeitsschulen   der  Ijandgemeinden ,   Eutin 


1851),  sowie  die  von  Prof.  Biedermann 
(Karl  Friedrich,  Die  Erziehung  zur  Arbeit, 
Leipzig  1852). 

Wesentlich  im  Sinne  Fröbels  war  dann 
seit  der  Mitte  der  50er  Jahre  Dr.  Daniel 
Georgens  bemüht,  die  Frage  der  Be- 
thätigimg  der  Jugend  praktisch  lösen  zu 
helfen.  —  Eine  ganz  bestimmte  imd  wesent- 
liche Stelle  wurde  endlich  der  körperlichen 
Arbeit  des  Kindes  im  Erziehungsplaue  der 
Herbart-Zillerschen  Pädagogüc  einge- 
räumt 

Die  gegenwärtige  Bewegung  zu  Gunsten 
des  Arbeitsuntenichts  erhielt  ihren  Anstoss 
in  Oesterreich  durch  eine  1873  erschienene 
Schrift  von  Dr.  Erasmus  Schwab:  Die 
Arbeitsschule  als  organischer  Bestandteil 
der  Volksschule.  Die  im  Jahre  1873  statt- 
findende Wiener  Weltausstellung  trug  zur. 
weiten  Verbreitung  der  Ideeen  E.  Schwabs 
wesentlich  bei,  da  hier  zugleich  eine  Schul- 
werkstatt für  Knaben  mit  ausgestellt  war. 
Durch  dieselbe  Wiener  Weltausstellung  ward, 
auch  der  dänische  Rittmeister  a.  D.  Clau- 
son-Kaas  in  Deutschland  bekannt  Durch 
ihn  wurden  in  der  Mitte  der  70  er  Jahre 
die  dänischen  Hausfleissbestrebungen  in 
Norddeutschland  verbreitet,  und  so  gewann 
die  Idee  der  Arbeitserziehung  durch  einen 
von  A.  Lammers  aus  Bremen  in  der  Ge- 
meinnützigen Gesellschaft  zu  Leipzig  gehal- 
tenen Vorti-ag  über  »Selbstbeschäftigung  und 
Hausfleiss«  auch  Boden  in  dieser  letzteren 
Stadt  Infolgedessen  wurde  zu  Ostern  1880 
die  Leipziger  Schülerwerkstatt  begründet, 
welche,  unter  Dr.  Gölzes  Leitujg  stehend, 
von  vornherein  den  Hauptwert  auf  die  er- 
zieherische Seite  der  Sache  legte  und  in 
diesem  Sinne  Einfluss  auf  die  Eutwickelung 
des  deutschen  Arbeitsunterrichts  geübt  hat. 
Zu  gleicher  Zeit  waren  für  die  Propaganda 
der  Clauson-Kaasschen  Ideeen  in  Deutsch- 
land Superintendent  Raydt  in  Lingen 
und  Stadtrat  von  Schenckendorff  in 
Görlitz  erfolgreich  tliätig.  Am  13.  Juni 
1881  fand  in  Berlin  die  Konstituierung  des 
deutschen  Centralkomitees  für  Handfertig- 
keitsunterricht und  Hausfleiss  statt,,  und  am 
3.  Juni  1882  veranstaltete  dieses  Central- 
komitee  in  Leipzig  einen  Kongress  für  Hand- 
fertigkeitsunterricht der  mit  einer  liedeut- 
samen  Ausstellung  von  Schulwerkstatts- 
arbeiten  verbunden  wai*.  Am  7.  (])ktober 
1883  tagte  das  deutsche  Cenü^alkomitee 
wieder  in  Leipzig,  1884  fand  ein  Handfertig- 
keitskongress  zu  Osnabriick,  1885  zu  Gör- 
litz, 1886  zu  Stuttgart.  1887  zu  Magdeburg, 
1888  zu  Miuichen,  1889  zu  Hamburg,  1S90 
zu  Strassljurg,  1892  zu  Frankfurt  a.  M., 
1894  zu  Danzig,  1896  zu  Kiel  und  189S  zu 
Dresden  statt.  In  den  letzten  Jahi*en,  in 
denen  die  Idee  des  Handarbeitsunterrichts 
schon    tiefere    Wurzeln    gesclüagen    liatte,. 


Handfertigkeitsuntemcht 


1087 


hielt  man  eine  zweijährige  Wiederhohmg 
der  Kongresse  für  genügend,  in  den  da- 
zwischen liegenden  Jahren  fanden  nur 
Hauptversammlungen  statt,  und  zwar  1891 
in  Eisenach,  1893  in  Leipzig,  1895  in  Wei- 
mar, 1897  in  Leipzig,  die  letztere  in  Ver- 
bindung mit  der  mitteldeutschen  Handfertig- 
keitsausstellung, welche  ihrerseits  durch  das 
übersichtliche  Bild,  das  sie  über  die  Er- 
zeugnisse des  Arbeitsunterrichts  bot,  und 
besonders  auch  diu*ch  die  Werkstatt  im 
Gange  viel  dazu  beitnig,  die  Ideeen  über 
die  Knabenhandarbeit  zu  verbreiten  und  zu 
klären. 

Der  Stuttgarter  Kongress  von  1886  be- 
zeichnete insofern  einen  wichtigen  Fort- 
schritt in  der  Entwickelung  der  deutschen 
Bestrebungen,  als  sich  hier  nach  5  jähriger 
erfolgreicher  Vorarbeit  des  deutschen  Cen- 
tralkomitees  der  Deutsche  Verein  für 
Knabenhandarbeit  bildete.  Der  ei*ste 
Beschluss,  den  der  junge  Verein  fasste,  galt 
der  Begründung  einer  Lehrerbüdunffsanstalt 
für  Knabenhandarbeit  in  Leipzig,  die  seit- 
dem eine  fruchtbare  Thätigkeit  entfaltet  hat. 
Zeugnis  von  der  äusseren  Verbreitung  und 
der  inneren  Vertiefung  der  Sache  legen 
neben  den  Berichten  dieser  Lehrerbildungs- 
anstalt und  den  Normallehrgängen  des  deut- 
schen Vereins,  von  denen  bis  jetzt  die  für 
Vorstufe,  Papparbeit  und  Kerbschnitzen  er- 
schienen sind,  auch  die  Blätter  für  Knaben- 
handarbeit, das  Organ  des  deutschen  Ver- 
eins, ab,  welche  eine  lebendige  Verbindung 
unter  den  Mitgliedern  desselben  herstellen. 
Zahlreiche  Städte,  Vereine  und  einzelne 
Personen  haben  sich  dem  .deutschen  Ver- 
ein als  Mitglieder  angeschlossen,  und  ganz 
erheblich  ist  die  Zahl  der  Stellen  gewach- 
sen, die  den  Handfertigkeitsunterricht  in 
besonderen  Einrichtungen  neben  der  Schule 
oder  in  Lehrerseminaren,  Waisenhäusern, 
Blinden-,  Taubstummen-,  Zwangserziehungs- 
anstalten und  anderen  Internaten  aufge- 
nommen haben.  So  ist  denn  der  Boden 
geschaffen,  auf  welchem  sich  die  jetzige 
Bewegung  gedeihlich  weiter  zu  entwickeln 
vermag. 

5.  Die  praktische  Ansgestaltimg  der 
Idee  des  Arbeitsimterrichts.  a)  Die 
Zöglinge.  Da  in  der  Mädchenerziehung 
der  Unterricht  in  Handarbeiten  bereits  seit 
lange  Geltung  gewonnen  hat,  so  hat  die 
gegenwärtige  Bewegung  die  Knaben  hand- 
arbeit  zum  Ziele.  Bezüglich  der  Alters- 
grenze, mit  welcher  der  Arbeitsunterricht 
beginnt,  gilt  jetzt  als  allgemein  anerkannt, 
dass  man  mit  den  praktischen  Arbeiten  der 
Knaben  nicht  bis  zu  ihi*em  12.  Lebensjahre 
warten  solle,  sondern  dass  gemäss  seiner 
psychologischen  Entwickelungsstufe  gerade 
das  jüngere  Kindesalter  der  Erziehung  der 
Sinne,  der  Uebung  der  Hände,  der  Zufüh- 


rung konkreter  Anschauungen  und  Erfah- 
rungen bedarf.  Die  praktische  Beschäftigung 
der  Kinder  in  den  ersten  Schuljahren  (Pa- 
pier- und  Kartonarbeit,  einfache  Holzarbeit 
mit  Messer,  Hammer,  Nägeln  und  Laubsäge, 
Formen  etc.)  füllt  eine  Lücke  zwischen  den 
Arbeiten  des  Kindergartens  und  denen  der 
eigentlichen  Schülen\'erkstatt,  und  sie  ist 
umsomehr  an  ihrem  Platze,  als  in  den  un- 
teren Klassen  der  heutigen  Schule  weder 
dem  Turnen  noch  dem  Zeidmen  eine  Stelle 
eiugeräimit  ist.  Eine  obere  Altersgrenze 
für  den  Betrieb  des  Arbeitsunterrichts  bil- 
det für  die  Zöglinge  der  Volksschule  das 
vollendete  14.  Lebensjalir,  bei  den  Schülern 
der  höheren  Lehranstalten  jene  Zeit,  wo  sie 
der  Leitung  entbehren  und  selbständig  ar- 
beiten können.  —  Ausgehend  von  der  Er- 
kenntnis, dass  die  methodisch  geordnete 
Körperarbeit  ein  Erziehungsmittel  für  die 
Jugend  überhaupt  ist,  erstrebt  der  deutsche 
Verein  für  Knabenhandarbeit  die  üebertra- 
gung  des  Handfertigkeitsunterrichts  auch 
auf  das  Land  und  hat  zu  diesem  Zwecke 
besondere  Lehrgänge  ausgearbeitet.  Jeden- 
falls ist  kein  Grund  vorhanden,  die  Kinder 
der  ländlichen  Bevölkerung  von  der  Er- 
ziehung durch  die  Arbeit  auszuschliessen. 

b)  Die  Iiehrer  des  Arbeitsunter- 
riohts.  Die  Frage:  wer  soll  unterrichten, 
der  Lehrer  oder  der  Handwerker?  wird 
jetzt  von  den  meisten  Arbeitsschulen  zu 
Gunsten  des  Pädagogen  entschieden,  als  des 
zur  Erziehimg  des  heranwachsenden  Ge- 
schlechts berufenen,  geschulten  Fachm^nes. 
Wenn  der  Arbeitsunterricht  ein  Stück  Er- 
ziehung ist,  so  muss  er  auch  unbedingt  den 
Händen  der  Erzieher  anvertraut  werden. 
Erfahrungsmässig  ist  es  leichter  erreichbar, 
dass  sich  der  Lehrer  die  für  diesen  Unter- 
richt nötige  technische  Fertigkeit  erwirbt, 
als  dass  der  Handwerker  zum  Pädagogen 
wird.  Darum:  die  Werkstatt  dem  Meister, 
die  Schide  dem  Lehrer. 

o)  Die  Arbeitsfäoher.  Die  am  meisten 
betriebenen  Arbeitsfächer  sind  die  Hobel- 
bank- und  die  Papparbeit  j  darauf  folgt  die 
Holzschnitzerei  (Kerbschnitt),  die  Metallar- 
beit und  das  Formen. 

Zu  diesen  älteren  Fächern  sind  später 
die  sogenannte  Vorstufe  für  jüngere  Kinder 
sowie  die  ländliche  Holz-  und  Metallarbeit 
und  die  Gartenarbeit  getreten. 

Die  Vorstufe  schliesst  sich  an  die  Ar- 
beiten des  Kindergartens  an  und  lehrt  das  Kind 
den  Gebrauch  der  einfachsten  Werkzeuge,  Messer, 
Schere  u.  s.  w.  kennen.  Aus  Papier,  Karton, 
dünnem  Naturholz  und  Thon  oder  Plastilina 
entstehen  die  einfachen  Gebilde,  die  es  in  die 
Welt  der  Formen  einführen.  In  der  Papp- 
arbeit    lernt    der  Knabe  alle  die   einfachen 

feometrischen   Gesetze,    die    gerade   und   die 
mmme  Linie   mit  ihren   Eigenschaften,    die 
Winkel    und    Flächen    diirch    die    Erfahrung 


1088 


Handfertigkeitsuntemcht 


kennen  und  geht  von  der  Fläche  durch  das 
!Netz  zum  Körper  über.  Der  Papparbeitsunter- 
richt  wird  so  zu  einer  praktischen  Geometrie. 
Ausserdem  bildet  die  Papparbeit  neben  dem 
Sinn  für  richtige  und  einfache  schöne  Formen 
den  Geschmack  an  guten,  harmonierenden  Farben- 
zusammenstellungen. Die  Hobelbankarbeit 
wird  von  11 — 14  jährigen  Knaben  mit  grosser 
Lust  und  mit  dem  besten  Nutzen  für  ihre  körper- 
liche Entwickelung  getrieben.  Es  ist  unver- 
kennbar, dass  diese  Arbeiten  wegen  der  Kraft, 
die  sie  beanspruchen,  wegen  der  tüchtigen 
körperlichen  Bewegung,  die  sie  verursachen, 
das  beste  Gegengewicht  gegen  das  Stillsitzen 
in  der  Schule  bilden,  und  es  wäre  nur  zu 
wünschen,  dass  auch  die  Schüler  höherer  An- 
stalten Zeit  und  Lust  fänden,  den  Segen  körper- 
licher Arbeit  an  der  Hobelbank  zu  erfahren. 
Bei  der  Kerb  Schnitzerei  handelt  es  sich 
nur  um  Flächenverzierungen  durch  Einschnitte 
{Kerben)  mit  dem  Messer,  wie  sie  früher  von  den 
Bauern  der  nordischen  Länder  zur  Schmückuns^ 
ihres  Hausrates  vielfach  hergestellt  worden  sind. 
Der  Kerbschnitt  giebt  Gelegenheit^  die  praktisch 
nützlichen  Produkte  der  Hobelbankarbeit  durch 
das  freie  Spiel  regelmässiger,  mit  Lineal  und 
Zirkel  entworfener  Formen  künstlerisch  zu  ver- 
klären. Die  Metall  arbeiten  gelten  /s^ewöhn- 
lich  für  schwer,  sind  es  aber  bei  einer  richtigen 
methodischen  Anordnung  für  grössere  Knaben 
nicht.  Gerade  die  Eigenartigkeit  des  Materials 
und  seiner  Behandlung:,  die  Mannigfaltigkeit 
der  Konstruktionen  zieht  den  Knaben  an.  Ins- 
hesondere  werden  die  Schüler  höherer  Schulen 
durch  die  Metallarbeit  in  den  Stand  gesetzt, 
sich  einfache  physikalische  Apparate  zu  bauen. 
Die  Schüler  lernen  hier  jedenfalls  die  Eigen- 
schaften eines  Materials  kennen,  das  für  unsere 
heutige  Technik  die  aller^össte  Bedeutung  hat. 
Das  sogenannte  Modellieren  ist  keineswegs 
vergleichbar  mit  dem  freien  Schaffen  des  bilden- 
den Künstlers,  sondern  am  nächsten  mit  dem 
Zeichenunterricht  der  Schule  verwandt,  nur  dass 
es  statt  in  der  Ebene  im  Baume  vor  sich  ^eht ; 
es  ist  ein  Zeichnen  im  Baume.  Die  ländliche 
Holzarbeit  beschränkt  sich  in  der  Haupt- 
sache auf  Arbeiten  an  der  Schnitzebank  und 
passt  ihre  Modelle  den  Bedürfnissen  des  Land- 
manns an.  In  gleicher  Weise  verfährt  die 
ländliche  Metallarbeit  bezüglich  der  Mo- 
delle, und  auch  sie  beschränkt  sich  auf  ein- 
fachere Werkzeuge  und  gröberes  Material.  Mit 
dem  Obst-  und  Gartenbau  bezweckt  man 
hauptsächlich,  in  der  heranwachsenden  Gene- 
ration die  Liebe  zur  Natur  wieder  zu  wecken 
Und  durch  die  für  Körper  und  Gemüt  gleich 
wohlthätige  Beschäftigung  den  mancherlei 
schädigenden  Einflüssen  der  Jetztzeit  entgegen- 
zuarbeiten, ganz  abgesehen  von  den  wirtschaft- 
lichen Vorteilen,  die  durch  rationelle  Betreibung 
des  Obst-  und  Gartenbaues  dem  deutschen  Land- 
bewohner erwachsen  würden.  — 

d)  Uebung   oder  Anwendung?     Die 

Frage,  ob  einzig  blosse  Arbeitsübnngen, 
gleichsam  Paradigmen  der  einzuübenden 
Technik  hergestellt  werden  sollen,  wie  dies 
zumeist  in  Frankivich  geschieht,  oder  soge- 
nannte Anwendungsarbeiten,  durch  die  dem 
Knaben  für  seine  Anstrengungen  bestimmte. 


ihm  selbst  als  erstrebenswert  geltende  Ziele 

Besetzt  werden,  wiixi  in  den  meisten  Län- 
em  zu  Gunsten  der  Anwendung  ent- 
schieden, sei  es,  dass  diese  Arbeitsziele  Spiel- 
geräte oder  Wirtschaftsgegenstände  für  den 
täglichen,  häuslichen  Gebrauch  oder  Lehr- 
und  Anschauungsmittel  für  den  Schulunter- 
richt sind. 

e)  Die  Form  des  Arbeitsunterriohts. 
Die  Frage,  ob  der  Einzel-  oder  der  Klassen- 
unterricht die  bessere  ünterrichtsform  für 
die  praktische  Unterweisung  der  Knaben  sei, 
wird  in  dem  Masse,  in  dem  die  Methode 
des  Handarbeitsunterrichts  sich  venroU- 
kommnet,  immer  mehr  zu  Gunsten  des  letz- 
teren entschieden.  Ihrem  Wesen  nach  hat 
zwar  alle  körperliche  Arbeit  schon  wegen 
der  Verschiedenartigkeit  des  Materials  und 
der  Werkzeuge  einen  individuellen  Cliarakter, 
gleichwohl  aber  ist  es  nötig,  dass  der  Hand- 
fertigkeitslehrer  zugleich  eine  grössere  An- 
zahl Schüler  zu  fördern  vermag.  In  der 
privaten  Schülerwerkstatt  freilich,  wo  die 
Schüler  an  Alter  und  Begabung  sehr  ver- 
schieden sind,  wird  man  sich  durch  Grup- 
penunterricht helfen  müssen.  Hat  aber 
ein  Lehrer  eine  gleichmässige  Klasse,  so 
wird  er  nach  einer  guten  Methode  sehr 
wohl  Klassenunterriclit  erteilen  können,  er 
wird  sich  ausserdem  dadurch  helfen,  dass 
er  nach  der  allgemein  erteüten  theoretischen 
Unterweisung  die  rascher  arbeitenden  Knaben 
die  gleiche  Aufgabe  etwas  reicher  gestalten 
lässt  oder  sogenannte  Nebenarbeiten  ein- 
schiebt. 

6.  Der  Arbeitsnnterricht  an  Inter- 
naten. Mit  Recht  ist  von  jeher  der  prak- 
tischen Arbeit  an  geschlossenen  Anstalten 
eine  besondere  Wichtigkeit  beigelegt  worden. 
So  verschiedenen  Charakters  diese  Internate, 
wie  Waisenhäuser,  Zwangserziehungsan- 
stalten,  Taubstummen-  und  Blindeninstitute 
auch  sonst  sein  mögen,  dies  eine  haben  sie 
miteinander  gemein,  dass  sie  ilireu  Zöglingen 
die  Familie,  das  Elternhaus  zu  ei-setzen 
haben.  Aus  diesem  Grunde  haben  sie  die 
grösste  Aufforderung,  den  Arbeitsunterricht 
zu  pflegen.  Sie  verfügen  über  die  ganze 
Mussezeit  ihrer  Zöglinge,  die  sie  sich  be- 
streben müssen,  nützlich  und  den  Kindern 
zur  Freude  auszufüllen ;  sie  halten  ihre  Zög- 
linge meist  vom  Leben  fern  und  müssen 
daher  die  Gelegenheit  zur  Annäherung  an 
dasselbe,  wie  sie  in  den  praktischen  Be- 
schäftigungen sich  darbietet,  eifrig  benutzen. 
Vielfach  werden  freilich  an  solchen  An- 
stalten um  des  Erwerbes  willen  Besc^häfti- 
gungsarten  gepflegt,  welche  wegen  ihres 
bald  völlig  mechanisch  'werdenden  Be- 
triebes von  der  Erziehung  auszuschliessen 
sind.  Mag  das  auch  als  Notbehelf  aus 
finanziellen  Rücksichten  Entschuldigung  fin- 
den, so  sollte  d(x*h  keinesfalls  an  Internaten 


Handfertigkeitsiinterricht 


1089 


die  erziehliche  Handarbeit,  deren  dieselben 
zur  Erreichung  ihrer  eigentlichsten  Zwecke 
notwendig  bedürfen,  völlig  zurücktreten 
hinter  schablonenhaften  Erwerbsarbeiten  ohne 
Freude  und  ohne  sittlichen  Gewinn.  Der 
zu  erziehlichen  Zwecken  betriebene  Arbeits- 
unterricht muss  daher  wieder  zu  Ehren  ge- 
bracht werden  auch  an  solchen  geschlossenen 
Anstalten,  wo  er  über  einer  systemlosen, 
mechanisch  erteilten  Unterweisung  vergessen 
war. 

7.  Ansbreitang  und  Unterstützung 
des  Arbeitsnnterrichts  in  Deutschland. 
Von  Zeit  zu  Zeit  veranstaltet  der  deutsche 
Verein  Umfragen,  bei  denen  jedoch  zu  be- 
rücksichtigen ist,  dass  die  Beantwortung 
durchaus  freiwillig  ist  und  deshalb  die  Er- 
gebnisse nicht  genau  den  Thatsachen  ent- 
sprechen können.  Danach  bestanden  im 
Jahre  1898  etwa  735  Stätten  der  erziehlichen 
Handarbeit  in  Deutschland.  Vor  1880  avu:  - 
den  113  Knaben  in  Schülerwerkstätten  unter- 
richtet, Ende  1888  5678.  Von  1888  bis 
1891  stieg  dann  die  Zahl  der  Arbeitsstätten 
von  164  auf  328,  und  1898  waren  es  735. 
Von  ihnen  entfallen  477  auf  Preussen  und 
zwar  der  Keihe  nach  auf  folgende  Provinzen : 
Rheinland  (95),  Schlesien  (88),  Sachsen  (49), 
Schleswig-Holstein  (39),  Hessen-Nassau  und 
Posen  (je  35),  Hannover  (33),  Ost-  und  West- 
preussen  (je  22),  Westfalen  (21),  Branden- 
burg (17),  Berlin  (12),  Pommern  (9).  In 
den  übrigen  deutschen  Ländern  bestehen 
Arbeitsstätten  nach  folgender  Reihe :  König- 
reich Sachsen  (85),  Bayern  (28),  Baden  (23), 
Hessen  (17),  Württemberg  (15),  Sachsen- 
Weimar  und  Coburg-Gotha  (je  13),  Elsass- 
Lothringen  (11),  Hamburg  (10),  Lippe-Det- 
mold und  Bremen  Q*e  7),  Sachsen-Meiningen, 
Anhalt  und  Lübeck  (je  5),  Schwarzbiu^g- 
Rudolstadt  (4),  Braunschweig  und  Reuss  j.  L. 
fje  3),  Sachsen-Altenburg,  Schwarzburg- 
Sonderhausen,  Reuss  ä.  L.  und  Mecklenburg- 
Schwerin  (je  1).  —  Von  den  735  Arbeits- 
stätten sind  303  selbständige  Schülerwerk- 
stätten, die  übrigen  stehen  in  Verbindung 
mit  anderen  Erziehungsanstalten.  Die  meisten 
der  letzteren  sind  Volksschulen  (146),  dann 
folgen  Schülerwerkstätten,welche  mit  Knaben- 
horten verbunden  sind  (80),  nachher  solche 
an  Lehrerseminaren  (37),  Waisenanstalten 
(35),  Taubstummenanstalten  (32)  u.  s.  w.  — 
Was  die  Unterstützung  der  Sache  anlangt; 
so  wird  die  ganze  Angelegenheit  im  wesent- 
lichen vom  deutschen  Verein  für  Knaben- 
handarbeit getragen,  während  Stadtgemein- 
den, Vereine  und  Private  die  Schülerwerk- 
stätten  errichten  und  unterhalten  und  dabei 
auch  von  den  Regieningen  unterstützt  wer- 
den. Preussen  hat  jetzt  36000  Mark  dafür 
in  seinen  Etat  eingestellt,  dem  königlich 
sächsischen  Ministerium  des  Kultus  und 
öffentlichen  Unterrichts  stehen  15000  Mark 


zur  Verfügung,  und  ausgiebig  unterstützt 
wird  der  Arbeitsunterricht  besonders  auch 
von  der  badischen  und  anhaltischen  Regie- 
rung. 

8.  Der  Arbeitsnnterricht  im  Auslände. 
Das  erste  Land,  in  welchem  die  erziehliche 
Handarbeit  Pflege  gefimden  hat  ist  Fin- 
land  gewesen.  Uno  Cygnäus,  der 
Schöpfer  seines  Volksschulwesens,  hat  sie 
seit  1866  als  obligatorisches  Unterrichts&ch 
in  den  Lehrplan  der  Seminare  und  der 
Volksschulen  eingeführt.  Ausgesprochener- 
massen geht  aber  Cygnäus  auf  Pesta- 
lozzis Anschauungsimterricht  und  auf 
Fröbels  Arbeitsübungen  zurück,  so  dass 
die  Quelle  des  nordischen  Arbeitsunterrichts 
in  Deutschland  zu  suchen  ist. 

Ausser  in  Mnland  wird  die  Handarbeit 
auch  in  den  Ostseepro  vi  uzen  von  den 
Deutschen  nachdrücklich  gepflegt,  aber  auch 
die  russische  Regierung  leistet  den  Be- 
strebungen für  die  Arbeitserziehung  ent- 
schieden Vorschub  und  bringt  grosse  peku- 
niäre Opfer  für  sie.  1886  wiurden  am  St. 
Petersburger  Lehrerinstitute  die  ersten  Lehrer 
dafür  ausgebildet,  jetzt  ist  der  Arbeitsunter- 
richt an  mehr  als  400  der  verschiedensten 
russischen  Schulen  wahlfrei  eingeführt,  da- 
runter an  39  Seminaren  und  23  Kadetten- 
anstalten .  —  Die  Handarbeit  Schwedens, 
der  Slöjd,  ist  von  volkswirtschaftlichen  Vor- 
aussetzungen ausgegangen  und  hat  erst 
später,  unter  Einfluss  von  Finland,  seinen 
erziehlichen  Charakter  gewonnen.  Die  Re^ 
peruug  hat  den  Slöjd  als  wahlfreies  Fach 
m  das  Unterrichtsgesetz  aufgenommen  und 
unterstützt  ihn  nach  bestimmten  Normen 
bereits  seit  1877.  Im  Jahre  1890  trug  der 
schwedische  Staat  z^u  den  Kosten  der  Slöjd- 
schulen  eine  Summe  von  138451  Mark  bei. 
1894  war  der  Slöjd  bereits  in  der  Hälfte 
aller  schwedischen  Schulen  eingefülirt,  und 
jedes  Jahr  folgten  weitere  Schulen.  —  In 
Korwegen  ist  seit  1891  laut  ünterrichts- 
gesetz  der  Slöjd  obligatorisch  in  allen  städti- 
schen Schulen  und  Lehrerseminaren,  aber 
wahlfrei  in  allen  Landschulen. 

Die  dänische  Regierung  und  Volks- 
vertretung unterstützt  die  Bestrebungen  für 
den  Arbeitsunterricht  ebenfalls  durch  Be- 
reitstellung erheblicher  Mittel  im  Landes- 
etat, der  Staat  giebt  dafür  jetzt  18  000  ]^Iark. 
—  In  Frankreich  ist  die  Handarbeit  seit 
1882  durch  das  Gesetz  für  alle  Arten  der 
Volks-  und  Bürgerschulen  obligatorisch  ge- 
macht. 1890  war  sie  in  etwa  20000  fran- 
zösischen Schulen  eingeführt.  Die  Lehrer- 
seminare, welche  sämtlich  mit  Werkstätten 
und  Werkzeugen  versehen  sind,  bilden  durch- 
schnittlich jährlich  1800  Lehrer  aus,  welche 
den  Handarbeiten  während  ihrer  drei  Schul- 
jahi'e  480  Stunden  zu  widmen  haben.  Am 
besten  hat  sich  der  französische  Arbeitsunter- 


Handwörterbnch  der  StaatswisseBschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


69 


1090 


Handfertigkeitsuntenidit — Haoidfeuerwaffen 


rieht  in  Paris  entwickelt,  wo  1897  sich  120 
Schulen  gut  eingerichteter  Werkstätten  er- 
freuten. —  Die  Schweiz  trat  1882  in  die 
Bewegung  ein  und  jetzt  haben  von  ihren 
22  Kantonen  bereits  19  den  Arbeitsunter- 
richt ein^fiihrt  und  bringen  grosse  Opfer 
dafür.  Die  Lehrerausbildung  wird  gänzlich 
von  der  Regieriuig  bestritten.  —  In  Bel- 
gien unterstützen  Staat,  Provinz  und  Ge- 
meinde den  fakultativen  Arbeitsunterricht 
zu  gleichen  Teilen;  für  die  Ausbildung  der 
Lehrer,  der  jetzigen  wie  der  künftigen, 
kommt  im  wesentlichen  der  Staat  auf.  Von 
den  bestehenden  17  Seminaren  hatten  im 
Jahre  1896  bereits  15  den  Arbeitsunterricht 
eingeführt  —  In  England  wurde  ziem- 
lich spät,  1886,  der  erste  Versuch  in  Lon- 
doner Schiden  gemacht;  aber  bereits  1890 
erkannte  das  Unterrichtsministerium  den 
Handfertigkeitsunterricht  als  Unterrichts- 
gegenstand an,  und  seitdem  hat  er  sich  atif 
gesunder  Grundlage  ausserordentlich  schnell 
entwickelt,  in  der  reichsten  Weise  von  den 
Städten  und  dem  Staate  unterstützt,  der 
den  Zuschuss  nach  der  Schülerzahl  und  der 
Güte  der  Leistungen  bemisst  In  London 
allein  genossen  im  Jahre  1896  45000,  in 
Birmingham  30000  Kinder  Handfertigkeits- 
unterricht. Auch  in  Schottland  macht  er 
giite  Fortschritte,  und  in  Irland  ist  soeben 
eine  von  der  Regierung  im  grossen  Umfange 
ins  Werk  gesetzte  Untersuchung  und  Bera- 
tung abgeschlossen  worden,  die  jedenfalls 
auch  die  planvolle  Einführung  des  Arbeits- 
unterrichts in  die  irischen  Schulen  zur  Folge 
haben  wird.  —  In  verständnisvoller  und 
nachdrücklicher  Weise  wird  die  Erziehung 
der  Jugend  zur  Arbeit  ferner  in  Holland, 
Oesterreich-Ungam,  Italien,  den  östlichen 
Donauländern,  den  Vereinigten  Staaten  von 
Nordameiika,  wo  sie  sehr  rasche  Fortschritte 
macht,  in  den  meisten  südamerikanischen 
Staaten  sowie  in  Japan  und  Neuseeland  von 
den  Unterrichtsverwaltunffen  gefördert.  So 
kann  man  wohl  sagen,  dass  es  fast  kein 
Kulturland  giebt,  in  welchem  kein  Arbeits- 
unterrieht  existiert. 

Litteratur:    E.    Barth    und    W.    Niederley, 

DU  SchtUtrerkataU,  Bielefeld  und  Leipzig  1882, 
—  IHeselbettf  Des  Kindes  erstes  Beschäfligungs- 
buch,  4*  Auß,,  Bielefeld  und  Leipzig  1891.  — 
Dieselben^  Des  deutschen  Kuaben  Handwerks- 
buch,  8.  Aufl,,  Bielefeld  und  Jjeipzig  1891.  — 
Biedermann,  Die  Erziehung  zur  Arbeit,  2. 
Aufl,,  Leipzig  188S.  —  F,  F.  Birch-Hirsch- 
feldj  Die  Bedeutung  der  Muskelübung  für  die 
(tesundheit,  Leipzig  1888.  —  Alois  Brtihns, 
Die  SchulwerksÜitte  in  ihrer  Verbindung  mit  dem 
theoretischen  Unterrichte,  Wien  1886.  —  A,  v, 
Claiuion'KaaSf  Die  Arbeitsschule  neben  der 
Lernschule,  Sonderabdruck  aus  dem  Arbeiter- 
freund,  Berlin.  —  Hugo  Ehn,  Der  deutsche 
Ilandfertigkeitsunterricht  in  Theorie  und  Praxis, 
Weimar    188S,    —    Ru€L     Eitelberger    von 


Bdelberg,  Ueber  Zeichenunterri-cht,  kunstgc" 
werbliche  Fachschulen  und  die  Arbeitsschule  an 
der  Volksschule,  Wien  1883,  —  Theodor 
Eckardt,  Die  Arbeit  als  Erriehungsmitlel, 
Wien  1875,  —  Gänsen^  Der  Handübungsunter^ 
rieht  (Katholische  Zeitschrift  ßlr  Erziehung  und 
Unterricht),  Düsseldorf  1886.  —  Theodor  Gelbe, 
Der  Ilandfertigkeitsunterrieht,  Dresden  1867; 
mit  lithographierten  Tafeln.  —  Woldemar 
Götze,  Werkstücke  tum  Ax{fbau  des  Arbeits- 
Unterrichts,  Leipzig  1887,  —  Derselbe,  Kate- 
chismus des  Knäbenhandarbeilsunterri'Chtes,  Leip- 
zig 1892,  —  Derselbe,  Schulhandfertigkeit, 
Leipzig  1894,  —  JEl  Haufe,  Die  Erziehung 
zur  Arbeitstüchtigkeü,  Znaim  1896.  —  J",  H.  O, 
Jieusinger,  Ueber  die  Benutzung  des  bei  Kin- 
dern so  thätigen  Triebes,  besek^ftigt  zu  sein, 
Gotha  1797.  —  E.  Höhn,  Der  HandferUgkeiU- 
Unterricht  und  die  höheren  Schulen,  Eisenach 
1887.  —  G,  Herbe  und  JB.  Betzeil,  Die 
Knaben handarbeit    in   Deutschland,    Wien   1888, 

—  G.  Kalb,  Der  erste  Unterricht  in  der 
Knabenhandarbeit,  Gera  1895.  —  E.  Kräpelin, 
Zur  Hygiene  der  Arbeit,  Jena  1896.  —  A. 
lAim/mers,  Handbüdung  und  Hausfleiss,  Ham- 
burg 1881.  —  K.  H,  It,  Magnus,  Der  prak- 
tische Lehrer,  Hüdesheim  1886.  —  AL  Meli, 
Einrichtung  und  Betpirtschaftung  des  SchuU 
gartens,  Berlin  1885,  —  Johannes  Meyer, 
Die  geschichtliche  Entwickelung  des  Handfertig- 
keitsunterricfUs ,  Berlin  1883.  —  Theodor 
Pietsch,  Seele  und  Hand,  Düsseldorf  1885,  — 
Rud,  Petzel,  Der  Handfertigkeitsunterricht, 
Wien  1887,  —  Verd,  Em.  Rauscher,  Der 
Handfertigkeitsunterricht,  seine  Theorie  und 
Praxis,  L  Teü,  Wien  1885,  IL*  Teil  1887,  III. 
Teil  1888.  —  Robert  Rissmann,  Geschichte 
des  Arbeitsunterriehtes  in  Deutschland,  Gotha 
1882,  —  N»  C.  Rom,  Praktisches  Hausbuch  für 
alle  Freunde  der  Handarbeit,  2  Bde.,  Leipzig 
1890,  —  Otto  Salomon,  Karl  Nordendahi^ 
Alfred  Johansson,  Handbok  i  pedagogisk 
SnickerisWjd,  Stockholm,  —  Otto  Saiomon, 
HandfertigkeitsschuU  und  Volksschule,  übersetzt 
von  W.  Gärtig,  Leipzig  1888,  —  Emil  von 
Schenckendorff ,  Der  praktische  Unterricht, 
Breslau  1880,  —  Derselbe,  Der  Arbeits- 
unterrieht  auf  dem  Lande,  GSrlüz  1891.  — 
Derselbe,  Die  Ausgestaltung  der  Volksschule, 
Görlitz  1895.  —  Erasmus  Schwab,  Die  Ar- 
beitsschule als  organischer  Bestandteil  der  Volks- 
schule, Wien  und  (Hmütz  187S,  —  Rob.  Seidel, 
Der  Arbeitstmterricht,  Tübingen  1885.  —  Vrban, 
May,  Bauhofer  und  Kreibich,  Der  Hand- 
arbeitsunterricht jür  die  männliche  Jugend  und 
der   Slijjdunterri4!ht   in    der  Schule,   Wien   1885. 

—  Cr.  Völlers,  Anleitung  zur  Kerbschnitzerei, 
Hamburg  1890.  —  Jl'ichetm,  Z>ber  Erziehung 
zur  Arbeit,  insbesondere  in  Anstalten,  Hamburg 
1867.  Götze. 


Handfeuerwaffen. 

Unter  Handfeuerwaffen  sind  zu 
verstehen:  Waffen  (Gewehre,  Pistolen  ete.), 
welche  von  einer  Person  getragen  und  be- 
dient werden  und  mittelst  deren  aus  einem 
oder   mehi-eren   Läufen    unter  Anwendung 


Handfeuerwaffen 


109r 


e- 
ie 


eines  Sprengstoffes  Geschosse  geschleudert 
werden. 

Geschichtliches  über  die  gesetzlichen 
Bestimmungen  zur  Prüfung  derselben. 

Die  amtliche  Pnlfung  der  Läufe  und  Ver- 
schlüsse der  Handfeuerwaffen  wurde  von  allen 
Staaten  zuerst  von  England  und  zwar  im 
Jahre  1637  durch  die  „Glharter  of  14  March 
1637"  eingeführt,  dann  weiter  geregelt  durch 
die  Verordnung  „The  Gun  Barrel  ?roof  Act" 
vom  Jahre  1855  und  endlich  durch  das  jetzt 
gilti^  G.  V.  13.  Juli  1868,  mit  den  von  der 
Aufsichtsbehörde  unter  dem  28.  Dezember  1887 
genehmigten  neuesten  Ausführungsbestimmun- 
gen, veröfifentlicht  in  der  London  Gazette 
vom  3.  Januar  1888,  zu  dem  nur  noch  einige 
Vorschriften  betreffs  der  Prüfung  mit  Nitro- 
pulver  getreten  sind.  £s  hestehen  in  England 
2  Prüfimgsanstalten ,  welche  unter  Staatsauf- 
sicht von  der  Büchsenmacherinnun^  geführt 
werden,  nämlich  in  Birmingham  und  in  London. 
Auch  in  Belgien,  von  jeher  dem  Hauptsitze 
der  Waffenfabrikation,  datieren  die  gesetzlichen 
Vorschriften  zur  Prüfung  der  Handfeuerwaffen 
schon  aus  sehr  früher  Zeit.    Das  erste  dahin 

Sehende  Gesetz  wurde  von  dem  Fürstbischof 
[aximilian  Heinrich  unter  dem  10.  Mai  1672 
erlassen,  während  die  jetzige  gesetzliehe  Grund- 
lage des  Prüfungsverfahrens  das  G.  v.  24.  Mai 
lw8  nebst  Königlicher  Verordnung  v.  6.  März 
1889  bildet  Nach  dem  Inkrafttreten  der 
deutschen  Prüfun^svorschriften  war  Belgien  ge 
zwungen,  die  seinigen  zu  verschärfen,  um  di 
Zulassung  der  dort  geprüften  Waffen  in  deut- 
sches Geoiet  zu  erreichen.  Es  geschah  dies 
durch  Königl.  V.  v.  11.  Juli  1893  (Moniteur 
beige  No.  203-204). 

Für  Belgien  besteht  nur  eine  Prüfungs- 
anstalt in  Lüttich.  Sie  wird  von  einem  staat- 
lich angestellten  Direktor  fi;eleitet,  dem  ein  aus 
Interessenten  gebildeter  verwaltung^sausschuss 
unter  dem  Vorsitze  des  Bürs^rmeisters  von 
Lüttich  beigegeben  ist.  In  dem  Erlass  von 
Prüfungsvorschriften  folgte  Frankreich  mit 
dem  G.  v.  14.  Dezember  1810.  Dasselbe  wurde 
durch  das  gegenwärtig  noch  in  Kraft  befind- 
liche d^cret  imperial  portant  Eöglement  d'ad- 
ministration  publique  sur  l'^preuve  des  armes 
ä  feu  portatives  v.  22.  April  1868  abgeändert 
und  die  technische  Ausführung  der  Prüfung 
durch  die  Vorschrift  der  Chambre  de  commerce 
de  St.  Etienne  v.  26.  Mai  1870  geregelt.  Hin- 
sichtlich der  Strafbestimmungen  sind  noch  die 
Artikel  8  und  15  des  Kaiserlichen  Dekrets  v. 
14.  Dezember  1810  massgebend.  Die  einzige 
bestehende  Prüfungsanstalt  befindet  sich  m 
St.  Etienne. 

In  Oesterreich  bestand  zur  fakulta- 
tiven Prüfung  der  Handfeuerwaffen  schon  seit 
längerer  Zeit  ein  Probierhaus  inFerlach,  welchem 
jedoch  erst  im  Jahre  1882  ein  amtlicher  Cha- 
rakter beigelegt  wurde.  Die  obligatorische 
Prüfung  wurde  durch  das  schon  1888  von  beiden 
Häusern  des  Keichsrats  angenommene  G.  v.  23. 
Juni  1891  (Ausführungsbest.  v.  9.  November 
1891  und  18.  Februar  1892),  welches  am  1. 
Januar  1892  in  Kraft  getreten  ist,  festgesetzt. 

In  Deutschland  finden  wir  schon  vom 
Jahre  1520  an  die  Spuren  einer  Prüfung  der 
Waffen.    In  den  Haupterzeugungsorten  solcher 


waren  die  Büchsenschmiede  verpflichtet,  ihr6 
Bohre  der  Zunft  oder  der  Behörde  zur  Beschau 
vorzulegen,  die  die  Prüfung  durch  Einschlagen 
eines  Stempels  am  Laufe  bestätigte.  Dies  ge- 
schah z.  B.  in  Nürnberg,  wo  zuerst  ein  N, 
später  das  bekannte  geteilte  Nürnberger  Wappen, 
in  Augsburg,  wo  der  „Stadtpyr",  und  in  Suhl,* 
wo  das  Wort  „SVL"  auf  die  Läufe  geschlagen, 
wurde.  Diese  sehr  unzuverlässige  Art  der 
Prüfung  verschwand  später  immer  mehr  und 
mehr.  Dagegen  richteten  die  soliden  und  be-. 
deutenderen  Gewehrfabriken  in  ihrem  eigenen 
und  dem  Interesse  ihrer  Kundschaft  eigene 
Prüfungsanstalten  ein,  wo  die  Läufe  der  Waffen 
durch  einen  Beschluss  mit  verstärkter  Ladung 
auf  ihre  Haltbarkeit  erprobt  wurden. 

Wenn    diese    private    Prüfung   nun   auch 
für  die  Zwecke  des  Inlandverkaiues  genügte,* 
so  machte  sich  doch  der  Mangel  einer  stiaat- 
liehen,  obligatorischen  Prüfung  durch^Beschrän- 
kung  der  Exportfähigkeit  der  deutschen  Waffen- 
industrie sehr  fühlbar  geltend,  da  sowohl  die 
Staaten;  die  bereits  eine  solche  Prüfung  einge- 
führt  hatten,    den   nicht   staatlich   geprüf^n 
Waffen  den  Eingang  versagten  resp.  sie  einer 
Nachprüfuncf  unterwarfen  als  auch  das  kaufende 
Publikum   der  anderen  überseeischen   Export- 
länder den  staatlich  geprüften  Waffen  vor  den 
ungeprüften   den   Vorzug   einräumt«.     Es   be- 
stand   daher   in   den  deutschen  Interessenten- 
kreisen schon  längst  der  Wunsch  nach   einer 
obligatorischen  Prüfung.    Nachdem  dann 
durch  eine  vom  Reichskanzleramt  im  Jahre  1886 
angestellte  Enquete  ermittelt  worden  war,  dass 
das  Bedürfnis  nach  einer  solchen  Prüfung  von' 
dem    weitaus    grössten    Teile    der   deutschen 
Waffenfabrikanten  anerkannt  wurde,  wurde  dem 
Reichstage  unter  dem  30.  November  1890  der 
Entwurf  eines  Gesetzes,  betreffend  die  Prüfung, 
der  Läufe  und  Verschlüsse  der  Handfeuerwaffen^ 
vorgelegt,   unter  dem  14.  Februar  1891  einer 
Kommission  von  14  Mitgliedern  überwiesen  und 
schliesslich  in  der  Sitzung  vom  30.  April  1891 
nach  dem  Kommissionsan trage  in  der  Fassung 
des  ursprünglichen  Entwurf^,  der  nur  in  §  9 
eine  geringfügige  Abänderung  erfahren  hatte,: 
angenommen.     Das   Gesetz   wurde   unter  dem 
19.  Mai  1891  fR.G.Bl.  1891  Nr.  15  S.  109-111). 
verkündet,  jedoch   trat  nur  §  8,  welcher  die 
Errichtung   der  Prüfungsanstalten  deii  Landes- 
regierungen überlässt,  sofort  in  Kraft,  während* 
es  für  die  übrigen  §§  des  Gesetzes  Kaiserlicher' 
Verordnung  vorbehalten  blieb,  den  Tag  des  In- 
krafttretens zu  bestimmen.   Dieser  wurae  durch 
Kaiseriiche  V.  v.  20.  Dezember  1892  (R.G.Bl.: 
1892   S.  1055)    auf  den  1.  April  1893  featffe-. 
setzt-,  vorher  waren  bereits  in  der  Sitzung  des 
Bundesrates  vom  17.  Juni  1892  die  Ausf ührungs- , 
bestimmungen    erlassen    und    in    Nr.    33    des 
R.G.Bl.  unter  dem  22.  Juni  1892  veröffentlicht 
worden. 

Deutsches  Gesetz,  betreffend- 
die  Prüfung  der  Läufe  und  Ver- 
schlüsse der  Handfeuerwaffen,  vom 
19.  Mai  1891.  Im  allgemeinen  hat  sich  die' 
deutsche  Gesetzgebung  hinsichtlich  der  Prü- 
fung der  Handfeuerwaffen  den  Vorschriften 
der  anderen  Staaten,  in  denen  ein  Prüfungs- 
zwang bereits  bestand,  in  den  massgeben-. 

69* 


1092 


Handfeuerwaffen 


den  Grundsätzen  angeschlossen.  Es  trifft 
dies  speciell  bei  allen  vier  in  Frage  kommen- 
den Staaten  in  der  grundlegenden  Bestim- 
mung zu,  dass  der  Prüfungszwang  fiir  Hand- 
feuerwaffen jeglicher  Art  besteht.  Hin- 
sichtlich des  Prüfungsverfahrens  haben, 
gegenüber  den  leichteren  Bedingungen  Bel- 
giens, denen  die  Oesterreichs  nachgebildet 
sind,  und  Frankreichs,  mehr  die  schärferen 
englischen  Bestimmungen  zum  Vorbilde  ge- 
dient 

§  1  setzt  fest,  dass  Handfeuerwaffen 
jeder  Art  niu*  dann  feilgehalten  oder  in  den 
Verkelir  gebracht  werden  dürfen,  wenn  ihre 
LÄufe  und  Verschlüsse  nach  den  Vorschriften 
dieses  Gesetzes  in  amtlichen  Prüfungsan- 
stalten ^prüft  und  mit  Prüfungszeichen  ver- 
sehen smt. 

Der  Prüfungszwang  bezieht  sich  nur  auf 
"Waffen,  nicht  auch  auf  Waffen  teile.  Dem 
Vertriebe  solcher,  also  z.  B.  einzelner  Läufe, 
Baskülen  etc.  in  ungeprüftem  und  daher 
ungestempeltem  Zustande  legt  das  Gesetz 
keine  Beschränkungen  auf.  Vgl.  Bericht 
der  XIV.  Kommission,  Reichstag,  8.  Legis- 
laturperiode, 1.  Session  1890/91,  Druckschrift 
Nr.  312. 

Der  Begriff  »Handfeuerwaffen«  ist  be- 
seits  im  Eingange  präcisiert.  Unter  solchen 
rind  im  Sinne  des  Gesetzes  jedoch  nicht 
diejenigen  Waffen  zu  verstehen,  welche, 
olme  zum  praktischen  Gebrauche  zu  dienen, 
lediglich  ihres  Kunstwertes  haitier  oder  zu 
wissenschaftlichen  Zwecken  aufbewahrt  wer- 
den. Diese  Art  von  Waffen  erfordert  keine 
Prüfung,  und  ilu-  Verkauf  unterliegt  daher 
keiner  Beschränkung.  Bei  aDen  übrigen 
Waffen  aber  wird  das  Feilhalten  oder 
lu-den-Verk  ehr -bringen  unter  das  Ge- 
setz gestellt,  nicht  der  Besitz  unge- 
stempelter Waffen.  Nur  den  Gewerbe- 
treibenden, die  sich  mit  der  HersteUung 
oder  dem  Verkaufe  von  Handfeuerwaffen 
befassen,  legt  hierin  das  Gesetz  insofern 
eine  Beschränkung  auf,  als  bei  ihnen  schon 
der  Besitz  von  nicht  mit  den  vorgeschriebenen 
Prüfungszeichen  versehenen  Waffen  straf- 
bar ist,  wenn  sie  dieselben  in  ihren  Ge- 
schäftslokalen, Läden,  Magazinräumen  etc. 
aufbewahren,  welche  dem  kaufenden  Publi- 
kum zugänglich  sind,  ohne  dass  es  zur  Voll- 
endung der  strafbaren  Handlang  eines  wirk- 
lich geschehenen  Verkaufs  bedarf. 

£s  liegen  für  diese  Hechtsfrage  bis  jetzt 
zwei  Erkenntnisse  des  Reichsgerichts  vor.  In 
dem  einen  vom  9.  April  1894,  Strafsenat  III, 
Bd.  25  S.  241  werden  die  Gründe  für  ein  ver- 
urteilendes Erkenntnis  folgendermassen  ent- 
wickelt : 

„Unter  „Feilhalten"  einer  Ware  wird  das 
Bereithalten  derselben  zum  Verkauf  an  einer 
dem  Publikum  zugänglichen,  zum  Verkauf  be- 
stimmten Stelle  verstanden.  Wenn  sich  z.  B. 
feststellen  lässt,  dass  ein  von  der  eigentlichen 


Verkaufsstätte  verschiedener  Lagerraum,  wenn 
auch  nicht  im  Detail  verkehr,  so  doch  jedem 
EngTosbesteller  ohne  weiteres  offen  stand  oder 
für  ihn  zugänglich  war,  und  die  dort  la^mden 
Waren  solchergestalt  von  jedem  Kauflustigen 
besichtigt  und  ausgewählt  werden  konnten,  so 
lässt  sich  dieses  Moment  für  die  Herstellung- 
des  Be^iffes  „Feilhalten"  verwerten.  Denu 
auch  Feilhalten  an  einen  begrenzten  Personen- 
kreis, z.  B.  Grossisten,  kann  den  Begriff  er- 
füllen. 

In  den  §§  1  und  9  des  R.G.  v.  19.  Mai  1891 
ist  übrigens  ganz  all^mein  sowohl  vorsätzliches 
wie  fahnässiges  Zuwiderhandeln  gegen  das  frag- 
liche Verbot  ausgesprochen.** 

Ein  zweites  unter  dem  16.  April  1894  er- 
gangenes Erkenntnis  desselben  Strafsenats 
(1007/94)  Bd.  25  S.  251  schwächt  den  Begriff 
der  Fahrlässigkeit  beim  Feilhalten  etwas  ab, 
indem  es  ausführt,  dass  der  betreffende  (resetzes- 
paragrapb  hinsichtlich  der  Fahrlässigkeit  nur 
das  gewöhnliche  Mass  der  einem  gewissenhaften 
Manne  für  normale  Verkehrsverhältnisse  zn 
imputierenden  Diligenz  voraussetze,  zu  einer 
darüber  hinausgehenden  Diligenz  sei  der  Händler 
strafrechtlich  nicht  verpflichtet. 

Den  gleichen  Gnmdsatz  verfolgen  die 
Gesetzgebungen  von  England,  Frankreich, 
Belgien  und  Oesterreich.  In  Belgien  ist  so- 
gar der  Direktor  der  staatliclien  Probier- 
anstalt berechtigt,  jederzeit  die  Fabrikräiime, 
Werkstätten,  Magazine  und  Läden  nach  un- 
gestempelten Waffen  zu  revidieren.  In 
Berlin  nat  das  Polizeipräsidium  bis  jetzt  die 
Praxis  befolgt,  die  Waffenläden  einer  gleichen 
Revision  zu  unterwerfen.  Auch  Oesterreich 
hat  in  §  5  seiner  Durchführungsverordnung 
V.  9.  November  1891  dahin  Vorsorge  ge- 
troffen, dass  die  Verkaufslokale  und  Waren- 
lager der  Erzeuger  und  Händler  in  ange- 
messenen Zeitabschnitten  von  geeigneten 
Organen,  welche  vom  Handelsministeriuni 
mit  Legitimationsiu'kunden  zu  versehen  sind, 
revidiert  werden. 

Da  ebenso  wie  das  Feilhalten  auch 
das  In-den-Verkehr-bringen  von  un- 
gestempelten Waffen  unter  Strafe  gestellt 
ist,  so  bedarf  es  zum  Verschenken  oder  Ver- 
tauschen solcher  Waffen  selbstredend  einer 
Nachprüfung  derselben.  Auch  die  Behörden 
sind  ^'ielfach  in  der  Lage,  eine  solche  vor- 
nehmen lassen  zu  müssen,  wenn  sie  konfis- 
zierte oder  zum  Zwaugsverkauf  gestellte 
Gewehre  entweder  zum  öffentlichen  Verkauf 
stellen  oder  an  Beamte  vergeben  wollen. 

Diese  Auffassung  wird  durch  ein  Erkennt- 
nis des  Reichsgerichts,  H.  Strafsenat  vom  21. 
April  1896  bestätigt.  Abgedruckt  in  Bd.  28 
S.  316.  Hiernach  ist  ein  Gerichtsvollzieher,  dem 
eine  ungestempelte  Waffe  zur  Versteigerung 
übergeben  wird,  verpflichtet,  dieselbe  von  der 
Versteigerung  auszuschliessen  und  den  Auftrag- 
geber von  der  obwaltenden  Behinderung  m 
Kenntnis  zu  setzen. 

Eine  fernere  Entscheidung  des  Reichsge- 
richts, Strafsenat  IV,  vom  4.  Juli  1894,  Bd.  26 
S.  51,  spricht  sich  dahin  aus,  dass  auch  darin 


Handfeuerwaffen 


1093 


ein  Inverkehrbringen  einer  ungestempelten  Waffe 
zu  erblicken  sei,  wenn  ein  Gewerbetreibender 
eine  Veränderung  an  einer  Waffe  im  Sinne  des 
§  4  des  G.  V.  19.  Mai  1891  vornimmt  und  diese, 
ohne  sie  zur  Nachprüfung  zu  stellen,  dem  Be- 
sitzer zurückgiebt.  Denn  unter  „Inver- 
kehrbringen" ist  nicht  die  üeberlieferung  einer 
Sache  in  den  Handelsverkehr,  sondern  jeder  Akt 
zu  verstehen,  durch  den  sie  aus  den  Händen 
des  Herstellers  in  die  luhabung  eines  anderen 
zur  Benutzung  übergeht.  Es  macht  sich 
daher  der  Hersteller  der  Veränderung  auch 
durch  die  Rückgabe  der  nicht  nachgeprüften 
Waffe  an  den  Eigentümer  strafbar. 

Um  für  die  Zeit  von  der  Publikation  bis 
ziun  Inkrafttreten  des  Laufprüfungsgesetzes 
ein  Uebergangsstadium  zu  schaffen  und  den 
Waffenfabrikanten  die  Möglichkeit  zu  ge- 
währen, die  früher  unter  anderen  Bedin- 
gungen fabrizierten  W^affen,  von  denen  man 
nicht  ohne  weiteres  annehmen  konnte,  dass 
sie  in  ihrer  Gesamtlieit  die  vorgeschriebenen 
Prüfiuigen  bestehen  w^ürden,  noch  verkaufen 
zu  können,  bestimmte  das  Gesetz  in  §  5, 
dass  bis  zum  Zeitpunkte  des  Inkrafttretens 
desselben  auf  Antrag  der  Einsender  die  vor- 
handenen Waffen  von  Seiten  der  Ortspolizei- 
behöi*de  mit  dem  V  o  r  r  a  t  s  z  e  i  c  h  e  n  zu  ver- 
sehen seien.  Das  Vorratszeichen  bestand  in 
dem  Buchstaben  V.  mit  darüber  befindlicher 
Krone.  Die  mit  diesem  zu  stempelnden 
Waffen  waren  keiner  Prüfung  zu  unter- 
werfen, denn  durch  das  Schlagen  des  Yor- 
ratszeichens  sollten  lediglich  die  Waffen  ge- 
kennzeichnet werden,  welche  bereits  vor 
Erlass  des  Gesetzes  vorhanden  waren  und 
die  nach  Inkrafttreten  desselben  unbean- 
standet feilgehalten  oder  in  den  Verkehr 
gebracht  werden  dui^en.  Da  das  Lauf- 
prüfungsgesetz mit  dem  1.  April  1893  in 
Kraft  trat,  so  dmite  die  Stempelung  mit 
dem  Vorratszeichen  niu*  bis  zu  diesem  Zeit- 
punkte erfolgen,  am  1.  April  waren  die 
vorhandenen  Stempel  zur  Verhütung  eines 
etwaigen  Missbrauchs  zu  vernichten.  Uober 
die  Art  und  Weise  der  Ausführung  der  Vor- 
ratsstempelung  in  Preussen  wurde  unter 
dem  4.  Januai*  1893  eine  im  Königl.  Preuss. 
Staatsanzeiger  Xr.  10  1893  veröffentlichte 
Bekanntmachung  von  den  ^Ministem  des 
Innern  und  für  Handel  und  Gewerbe  er- 
lassen. Es  wm-de  von  der  Vorratsstempe- 
lung  ein  umfassender  Gebrauch  gemacht, 
auch  von  Privaten,  die  sich  die  Möglichkeit 
eines  späteren  Verkaufs  ihrer  Waffen  nicht 
vei-schliessen  wollten.  Die  soliden  Waffen- 
fabriken haben  später  meistens  die  Praxis 
befolgt,  ihre  mit  dem  V^oiratszeichen  ver- 
sehenen Waffen  noch  der  Nachprüfung 
unterwerfen  und  mit  den  vorschriftsmässigen 
Prüfungszeichen  versehen  zu  lassen,  da  sich 
das  kaufende  Publikum  bald  nach  Inkraft- 
treten des  Priifungszw^anges  ablehnend  gegen 
die  mit  dem  Vorratszeichen  versehenen 
Waffen  verhielt. 


Oesterreich  hat  in  §  8  des  G.  v.  23.  Juni 
1893  Uebereangsbestimmungen  anderer  Art  se- 
schaffen.  Nach  diesen  sind  die  bei  Erlass  aes 
Gesetzes  bei  Erzeugern  und  Händlern  vorhan- 
denen Waffen  binnen  Jahresfrist  einer  Be- 
schau und  Vorratsstempelung  zu  unterwerfen. 
Nur  wenn  sich  hierbei  Anstände  ergeben,  ist 
eine  Beschussprobe  auszuführen.  Finden  sich 
nach  Ablauf  der  Frist  ungestempelte  Waffen, 
so  tritt  Bestrafung  ein.  Es  wird  hiemach  also 
nicht  nur  das  Vorbandensein  festgestellt,  son- 
dern auch  die  Beschaffenheit  der  betreffenden 
Waffen  wenigstens  oberflächlich  geprüft. 

In  §  2  des  Gesetzes  wird  die  Ai-t  und 
Weise  der  Prüfung  festgesetzt.  Die  Probe 
findet  bei  Pistolen  und  Revolvern  nur  ein- 
mal, dagegen  bei  allen  übrigen  Waffen 
grundsatzlich  zweimal  statt,  und  zw^ar  be- 
trifft die  erste  Prüfung  die  vorgearbeiteten 
Läufe  allein,  die  zweite  die  mit  den  Systemen 
(Verschlüssen)  vereinigten  Läufe."  Beide 
Pnifungen  werden  mit  verstärkter  Ladung 
ausgeführt.  Bei  der  ereten  beträgt  die 
Pulvermenge  ca.  das  Di*eifache,  bei  der 
zweiten  das  Doppelte  der  gewöhnlichen  Ge- 
brauchsladung,  das  Bleigewicht  bei  der 
ersten  das  Doppelte,  bei  der  zweiten  das 
IV3  fache.  Ueber  die  einzelnen  mit  der 
Grösse  des  Kalibers  wachsenden  Ladungs- 
stärken geben  die  den  Ausführuugsbestim- 
mungen  beigefügten  Beschusstafeln  Aus- 
kunft. Dieselben  enthalten  das  Gewicht  an 
Pulver  und  Blei  der  vorschriftsmässigen 
Gebrauchsladung  und  das  der  bei  der  ersten 
und  zweiten  Prüfung  anzuwendenden  Pro- 
bierladungen. Die  Läufe  und  Waffen,  welc-he 
die  vorgeschriebenen  Prüfungen  bestehen, 
werden  mit  bestimmten  Stempeln,  mit  letz- 
tei-en  auch  die  Verschlüsse  versehen.  Die 
Vorscliriften  über  die  betreffenden  Stempe- 
lungen sind  in  den  Ausführungsbestimmungen 
enüialten.  Auf  Anti-ag  der  betreffenden 
Einsender  lässt  das  Gesetz  auch  für  die 
übrigen  Waffen,  sofern  sie  nicht  mit  Würge- 
bohrung (einer  Verengung  im  vordei-en  Teile 
des  Laufes)  versehen  sind,  eine  imr  ein- 
malige Prüfung  zu,  welche  in  diesem  Falle 
mit  der  stärkeren  Ladung  der  ersten  Probe 
ausgeführt  wird.  Der  erheblich  stärkere 
Gasdruck,  dem  bei  dieser  Art  der  Prüfung 
die  Vei-schlüsse  der  Waffen  ausgesetzt  sind, 
geht  dann  selbsti-edend  auf  das  Risiko  des 
^Einsenders.  Es  wird  daher  von  dieser  Be- 
fugnis wohl  nm-  für  die  kleinkalibrigen 
Salon  Waffen  (Teschins  etc.),  die  infolge  ihres 
kleinen  Kalibers  und  ihrer  beschränkten 
Verwendungsart  überhaupt  nur  mit  einer 
verhältnismässig  geringen  Ladung  beschossen 
werden  und  daher  auch  keinen  erheblich 
hohen  Gasdruck  auszuhalteii  haben,  nicht 
aber  für  die  gewöhnlichen  Gebrauchswaffen 
Gebrauch  gemacht.  Für  alle  die  Kaliber, 
die  in  den  Beschusstafeln  nicht  angegeben 
sind  oder  für  welche  die  dort  aufgeführten 


.1094 


Handfeuerwaffen 


Vorschriftsmässigen  (Öebrauchs-)  Ladungen 
•unanwendbar  oder  ungeeignet  erscheinen, 
hat  der  Einsender  die  betreffende  Gebrauchs- 
laduug  anzugeben.  Die  Prüfungen  finden 
dann  nach  Massgabe  dieser  Ladung  statt 
lind  wird  dann  der  Waffe  das  Gewicht  an 
Pulver  und  Blei  der  Gebrauchsladung,  für 
welche  sie  geprüft  ist,  aufgeschlagen.  Die 
Ausführungsbestimmungen  geben  ferner  Aus- 
kunft über  den  Zustand  der  Fabrikation, 
in  dem  sich  die  zur  Prüfung  gestellten 
Läufe  resp.  Waffen  befinden  müssen,  ferner 
über  die  Art  des  zur  Verwendung  kommen- 
den Pulvers  etc.  Es  ist  darin  das  neue 
Gewehrpulver  M.  71,  welches  bis  zur  Ein- 
lührung  des  rauchlosen  Pulvers  für  die 
Armee  verwendet  wurde,  als  dasjenige  Treib- 
mittel festgesetzt,  auf  welches  die  Prüfiuigen 
basieren.  Ausserdem  ist  es  aber  dem  Ein- 
sender von  Waffen  etc.  gestattet,  eine  fernere 
Prüfimg  mit  jedem  anderen  Treibmittel  zu 
verlangen.  Er  hat  in  diesem  Falle  dasselbe 
einzusenden  und  die  geforderte  Gebrauchs- 
ladung anzugeben.  Die  Waffe  wird  dann 
den  Vorschriften  gemäss  mit  der  doppelten 
Pulver-  und  der  IV2  fachen  Bleiladung  ge- 
prüft und  nach  bestandener  Prüfung  dann 
die  Gebrauchsladimg  in  Buchstaben  und 
Zalilen  auf  den  Lauf  aufgeschlagen.  Hierzu 
hat  der  Bundesmt  unter  dem  23.  Juli  1893 
R.G.B1.  Nr.  28  S.  227  eine  erweiternde  Be- 
stimmung hinsichtlich  der  Prüfung  mit 
rauchlosem  Militär-  (Blättchen)  Pulver  er- 
lassen. Es  wird  darin  festgesetzt,  dass 
Waffen,  welche  nach  Art  des  Militärgewehrs 
M.  88  konstruiert  sind,  auf  Antrag  einer 
einzigen  Beschussprobe  mit  zwei  nach  ein- 
ander abzufeuernden  Beschusspatronen  zu 
imter^^erfen  sind.  Diese  Beschusspatronen, 
welche  in  einer  staatlichen  Munitionsfabrik 
hergestellt  werden,  enthalten  ein  kräftiger 
als  das  gewöhn  Uche  Nitroblättchenpulver 
wirkendes  Pulver.  Dasselbe  entwickelt  einen 
Gasdruck  von  4000  At.,  während  die  ge- 
wöhnliche Militärpatrone  M.  88  einen  solchen 
von  ca.  3000—3200  erzeugt. 

Hinsichtlich  der  Stärke  der  Prüfungs- 
ladungen schliessen  sich  die  deutschen  Vor- 
schriften in  der  Hauptsache  den  englischen 
an.  Sie  sind  viel  stärker  bemessen  als  in 
Belgien,  Frankreich  und  Oesterreich.  Auch 
hinsichtlich  der  Zahl  und  Art  der  Prüfungen 
sind  die  deutschen  Vorschriften  strenger 
als  die  der  drei  letztgenannten  Staaten. 

Je  nach  Art  der  Waffen  werden  in 
Belgien  und  Oesterreich  1 — 3,  in  Frankreich 
1 — 2  Prüfungen  angeordnet,  die  aber  in  der 
Hauptsache  die  Erprobung  der  Läufe  be- 
treffen, eine  Gewaltprobe  der  systemierten 
(mit  dem  Verschlusse  versehenen)  Waffe, 
wie  sie  Deutsehland  vorschreibt,  findet  z.  B. 
in  Oesterreich  nur  dann  statt,  wenn  sie  dem 
Revisor  bei  der   > Beschaue  nötig  erscheint. 


Ebenso  gehen  die  deutschen  Bestim- 
mungen hinsichtlich  der  Prfifungsergebnisse, 
•welche  ein  ünbrauchbarmachen  der  be- 
treffenden Läufe  erfordern,  über  die  An- 
forderungen sämtlicher  anderer  Staaten 
hinaus.  Sie  setzen  in  §  3  fest,  dass  Läufe 
oder  Verschlussteüe,  welche  nach  einer  Be- 
schussprobe unganz  oder  aufgebaucht  er- 
scheinen, durch  Einsägen  oder  Zerschlagen 
unbrauchbar  zu  machen  sind;  nur  bei  et- 
waigen anderen  Mängeln  ist  nach  deren 
Beseitigimg  eine  Wiederholung  der  Beschuss- 
probe gestattet.  Das  belgische,  französische 
und  österreichische  Gesetz  erwähnt  Auf- 
bauchungen (ringförmige  Kalibererweite- 
rungen, welche  von  einer  Ungleichmässig- 
keit  des  Materials  herrühren)  überhaupt 
nicht  und  überlässt  die  Beurteilung  der 
Schäden,  welche  ein  ünbrauchbarmachen 
der  betreffenden  Teile  erfordern,  den  Revi- 
soren. Oesterreich  gestattet  sogar,  dass 
Läufe  mit  etwa  sich  zeigenden  unganzen 
Schweissstellen  oder  Brüchen  auf  der  Rohr- 
probierpumpe einem  Druck  von  10  Atmo- 
sphären ausgesetzt  und  erst  dann  unbrauch- 
bar gemacht  werden,  wenn  aus  den  bean- 
standeten Stellen  Wasser  austritt.  In  Eng- 
land werden  Aufbauchungen  toleriert,  wenn 
die  Kalibererweiterung  0,01"  engl.  =  0,2  mni 
nicht  übersteigt. 

§  4  .verordnet,  dass  bereits  geprüfte 
Waffen,  an  welchen  später  eine  Verände- 
rung des  Kalibers  oder  des  Verschlusses 
vorgenommmen  wird,  einer  Nachprüfung 
bedürfen.  Es  bezieht  sich  dies  nicht  nur 
auf  neue,  sondern  auch  auf  bereits  im  Ge- 
brauche befindliche  Waffen,  gleichgiltig,  ob 
solche  bereits  auch  vor  In&afttreten  des 
Laufprüfungsgesetzes  im  Gebrauche  waren. 
Diese  Prüfung  richtet  sich  bei  den  Waffen, 
die  einer  zweimaligen  Prüfung  unterliegen, 
nach  dem  Stande  der  Herstellung,  in  welchem 
die  Waffe  sich  befindet.  Es  ist  hierunter 
zu  verstehen,  dass  fertige  Waffen,  die  durch 
irgend  eine  Reparatur  eine  Kalioerenx'eile- 
rung  erleiden,  nicht  etwa  mit  der  stärkeren 
Probierladung  der  ersten  Prüfung,  sondern 
mit  der  der  zweiten  für  das  betreffende 
Kaliber  festgesetzten  beschossen  werden. 
Bei  Veränderungen  an  dem  Verschlusse  ist 
letzteres  selbstverständlich.  Der  erneute 
Beschuss  hat  auch  dann  einzutreten,  wenn 
nur  das  Patronenlager  verändert^  d.  h.  für 
ein  weiteres  Kaliber  ausgebohrt  wird,  selbst 
wenn  das  Kaliber  des  übrigen  Laufes  un- 
verändert bleibt.  Das  bei  der  Beschuss- 
probe ermittelte  Kaliber  der  Läufe  und  die 
Nummer  des  Patronenlagers  wird  auf  die 
I^ufe  gestempelt;  wenn  sich  daher  bei 
einer  etwaigen  späteren  Revision  Waffen 
vorfinden,  bei  denen  das  Blaliber  der  Läufe 
nicht  mit  den  aufgeschlagenen  Kaliberzahleii 
übereinstimmt,  so  wird  ohne  weiteres  ein 


Handfeuerwaffen 


1095 


Yei*stoss  gegen  das  Gesetz  anzunehmen  sein 
und  Bestrafung  eintreten.  Auch  das  öster- 
reichische Gesetz  schreibt  für  bereits  im 
Gebrauche  befindliche  Waffen  eine  Nach- 
priifimg  vor,  wenn  an  ihnen  durch  eine 
Reparatur  eine  Kalibererweiterung  vorge- 
nommen wird  oder  sie  vom  Yorderlader 
zum  Hinterlader  umgeändert  werden,  und 
BteUt  in  §  5  unter  Strafe,  wenn  Handfeuer- 
waffen mit  einem  anderen  als  dem  auf  der 
Waffe  angegelpenen  Kaliber  veräussert,  ver- 
sendet oder  feilgehalten  werden.  Dieselbe 
letztere  Bestimmung  enthält  das  belgische 
Gesetz  in  Art.  15,  während  das  englische 
Gesetz  liienn  eine  Toleranz  von  0,01"  engl. 
=  0,2  mm  gestattet. 

§  5  enthält  die  bereits  erwähnten  Be- 
stimmungen über  das  Schlagen  des  Vorrats- 
zeichens. 

Weiter  setzt  das  Laufprüfungsgesetz  in 
§  6  fest,  dass  die  gesetzlichen  Bestimmungen 
80  lange  auf  nachstehend  aufgefülu-te  Waffen 
keine  Anwendung  finden,  als  an  ihnen  keine 
"Veränderung  im  öinne  des  §  4  vorgenommen 
wird.  Diese  Waffen  sind  1.  solche,  die  mit 
dem  Yorratszeichen  versehen  sind,  2.  Waffeu, 
welche  aus  dem  Auslande  eingeführt  und 
mit  den  vollständigen,  den  inländischen 
gleichwertigen  Prüfimgszeichen  versehen 
sind,  und  3.  Waffen,  welche  durch  eine 
Militär\'erwaltung  oder  im  Auftrage  einer 
solchen  hergestellt  oder  geprüft  worden  sind. 

Welche  ausländischen  Prüfimgszeichen 
als  gleichwertig  mit  den  inländischen  anzu- 
erkennen sind,  bestimmt  der  Bundesrat. 
Diese  Bestimmung  liat  den  Zweck,  für  die 
deutschen,  scharfen  Prüfungen  unterworfenen 
Waffen  eine  unreelle  Konkurrenz  minder- 
wertiger, unter  leichteren  Bedingungen  ge- 
prüfter Erzeugnisse  der  ausländischenWaffen- 
mdustrie  auszuschliessen. 

Die  gleichen  Grundsätze  verfolgen  die 
Gesetzgebungen  Englands  und  Oesterreichs. 
Das  englische  Gesetz  schreibt  in  Art.  129 — 
137  der  Gun-Barrel  Proof  Act  vor,  dass  nur 
die  vom  Auslande  eingeführten  Waffen  vom 
Prüfungszwange  befreit  sind,  welche  die 
Stempel  einer  staatlichen  Probieranstalt 
tragen,  die  als  gleichwertig  anerkannt  und 
als  solche  in  die  Register  einer  der  beiden 
Büchsenmacherinnungen  von  London  oder 
Birmingham  eingetragen  sind.  Diese  Be- 
stimmimg hat  in  Art.  132  noch  die  Be- 
schränkung erfahren,  dass  derartige  Waffen 
oder  Läufe  nicht  die  Firma  eines  englischen 
Fabrikanten  oder  Händlers  tragen  dürfen. 
Oesterreich  macht  in  §  1  Abs.  2  seines 
Laufprüfungsgesetzes  die  Zulassung  fremder 
Prüfungszeichen  von  dem  im  Verordnungs- 
wege zu  erfolgenden  Anerkenntnis  der  Gleich- 
wertigkeit mit  den  inländischen  abliängig, 
während  Belgien  in  Art.  11  und  Frankreich 
in  §  1  Abs.  2  die  mit  den  Stempeln  irgend 


einer  staatlichen  Probieranstalt  versehenen 
Waffen  bedingungslos  von  der  Prüfung  be- 
freien. Im  belgischen  Gesetze  ist  noch  vor- 
gesehen, dass  die  Prüfimg  der  Gesetzmässig- 
keit der  betreffenden  Stempel  dem  die  be- 
treffenden Waffen  Bmfühi'enden  obliegt,  so 
dass  er  einen  Verstoss  gegen  das  Gesetz 
begeht,  wenn  er  etwa  im  guten  Glauben 
Waffen,  ohne  sie  zur  Prüfung  zu  stellen, 
einführt,  die  nicht  die  richtigen  Stempel 
ihres  Erzeugungslandes  tragen.  Der  Bundes- 
rat des  Deutschen  Reiches  erkannte  zuerst 
durch  Erlass  v.  13.  Juli  1893  die  Gleich- 
wertigkeit der  englischen  Stempel  an  und 
bewirkte  die  Eintragung  der  deutschen  in 
die  Register  der  Londoner  und  Birminghamer 
Büchsenmacherinnungen,  Belgien  erlangte 
durch  Erlass  v.  1.  Februar  1894  die  gleiche 
Vergünstigung,  nachdem  es,  wie  bereits  im 
Eingange  erwähnt,  durch  königliche  V.  v. 
11.  Juli  1893  (Moniteur  beige,  Nr.  203—204) 
für  die  nach  Deutschland  einzuführenden 
Waffen  die  Probierladungen  dem  deutschen 
Gesetze  entsprechend  verstärkt  hatte.  Die 
mit  diesen  verstärkten  Ladungen  ^prüften 
Waffen  müssen  über  den  endgiltigen  bel- 
gischen Stempeln  mit  einer  Krone  versehen 
sein,  ausserdem  müssen  die  Flobertbüchsen 
und  Teschins  ausser  dem  Hahne  noch  eine 
besondere  Vei-schlusseinrichtung  besitzen,  da 
ohne  eine  solche  derartige  Waffen  bei  den 
deutschen  Prüfungsanstalten  überhaupt  nicht 
zur  Prüfung  zugelassen  werden.  Mit  Oester- 
reich, welches  auch  seinerseits  den  in 
Deutschland  geprüften  Waffen  den  freien 
Eintritt  versagt,  obwohl,  wie  erwähnt,  die 
deutschenPtüfungsbedingungen  viel  strengere 
sind,  während  es  die  Stempel  von  Belgien 
und  Frankreich  anerkannt  hat,  waren  Ver- 
handlungen zur  gegenseitigen  Zulassung  der 
Stempel  angebahnt  worden,  ebenso  dem  Ver- 
nehmen nach  mit  Frankreich.  In  beiden 
Fällen  ist  jedoch  bis  jetzt  ein  Resultat  nicht 
erzielt  wonien. 

Abs.  3  des  §  6  befreit  die  durch  eine 
Militärverwaltung  oder  im  Auftrage  einer 
solchen  hergestellten  Waffen  von  der  Prüfung, 
in  der  Erwägung,  dass  die  Militärverwal- 
tungen durch  ihre  eigenen  Organe  für  eine 
sachgemässe  Prüfung  sorgen.  Fällt  diese 
Kontrolle  aber  hinweg  und  stellt  ein  Fabri- 
kant auf  eigene  Rechnung  im  Vorrat  Militär- 
waffen her,  so  unterliegen  diese  selbsti*edend 
den  Prüfungsvorschriften.  Die  Freilassung 
solcher  Waffen  bezieht  sich  selbstverständ- 
lich nur  auf  im  Inlande  hergestellte.  Vom 
Auslande  eingeftlhrte  Militärwaffen  sind  mu* 
in  dem  Falle  von  der  Nachprüfung  befreit, 
wenn  die  betreffenden  Stempel  als  gleich- 
wertig anerkannt  sind. 

Auch  die  im  Sinne  des  §  4  ausgeführten 
Verändenmgen  bedingen  an  Militärwaffen 
niu*  dann  eine  Nachprüfung,  wenn  sie  nicht 


1096 


Haudfeuerwaffen 


im    Auftrage    oder    unter   Kontrolle    einer 
Militärverwaltung  stattgefunden  haben. 

England  setzt  beziiglicb  der  Militärwaffen 
keine  Ausnahmebestimmungen  fest.  In  Frank- 
reich sind  nur  die  für  Eechnun^  des  eigenen 
Staates  in  den  Staatsfabriken  herge- 
stellten Waffen  von  der  Prüfung  befreit  (Art.  26). 
Erheblich  tolerantere  Bestimmungen  sind  für 
Belgien  giltig.  Hier  sind  nach  Art.  12  nicht 
nur  die  im  Auftrage  und  unter  Kontrolle  einer 
Militärverwaltung  hergestellten,  sondern  alle, 
auch  die  überhaupt  nicht  geprüiten  und  daher 
nicht  gestempelten  Militärwaften  von  der  Prüfung 
befreit,  wenn  sie  zum  Zwecke  des  Exportes  in 
Belgien  eingeführt  werden.  Auch  eine  Ver- 
änderung an  den  Läufen  und  Verschlüssen  be- 
dingt ke:  le  Nachprüfung,  wenn  sie  nicht  die 
Haltbark c-it  derselben  gefährdet.  Nach  Art.  13 
können  selbst  in  Belgien  angefertigte  Militär- 
waffen ungeprüft  ausgeführt  werden,  wenn  sie 
direkt  an  die  Prüfungsanstalt  eines  anderen 
Staates  versandt  werden. 

Das  österreichische  Gesetz  erlässt  in  §  7 
hinsichtlich  der  Militärwaffen  die  gleichen  Vor- 
schriften wie  das  deutsche. 

In  §  7  des  deutschen  Gesetzes  werden 
die  näheren  Bestimmungen  über  das  Prü- 
fungsverfahren, das  Gewicht  und  die  Be- 
schaffenheit des  zu  den  Prfifungen  zu  ver- 
wendenden Pulvers  und  Bleies  sowie  über 
die  Form  \md  das  Schlagen  der  Prüfun^- 
zeichen  dem  Bundesrate  überlassen.  Die- 
selben sind  enthalten  in  den  mehrfach  er- 
wähnten Ausfülirungsbestimmungen  v.  22. 
Juni  1892  (ß.G.Bl.   1892  Nr.  33  S.  674  ff.). 

England  unterscheidet  zwei  Arten  von 
Stempeln,  die  des  Londoner  und  des  Birming- 
hamer Probierhauses. 

In  Belgien,  bei  der  einzigen  Prüfungsanstalt 
Lüttich,  existieren  drei  Stempel.  Die  zur  Aus- 
fuhr nach  Deutschland  bestimmten  Waffen 
müssen,  wie  bereits  erwähnt,  über  dem  Stempel 
für  die  definitive  Abnahme  die  Krone  tragen. 
In  Frankreich,  welches  auch  nur  ein  Probier- 
haus in  St.  Etienne  besitzt,  wird  ein  Stempel 
auf  die  Läufe  und  ein  zweiter  auf  die  Basküle 
geschlagen.  Gestenreich  hat  für  seine  vier 
Prüfungsaustalten  auch  vier  verschiedene  Stem- 
pelungen. 

Die  Errichtung  der  Prüfungsanstalten  ist 
in  §  8,  gemäss  dem  im  Reiche  befolgten 
Grundsatze,  dass  gewerbepolizeiliche  Be- 
stimmungen durch  die  Landesregierungen 
ausgeführt  werden,  den  letzteren  übertragen. 
Gleichzeitig  ist  die  Befugnis  ausgesprochen, 
Gebühren,  welche  die  Kosten  der  Prüfung 
nicht  übersteigen  düi'fen,  zu  erheben.  Es 
sind  danach  folgende  Prüfungsanstalten  er- 
richtet worden.  Für  Preussen  in  Suhl  und 
Frankfurt  a.  0.,  eine  dritte  ist  für  Sömmei'da 
in  Aussicht  genommen ;  für  Sachsen-Coburg- 
Gotlia  in  Zella  St  Blasii,  welche  unter  der 
Oberleitung  des  Direktors  der  Preussischen 
Hauptprüfungsanstalt  Suhl  steht,  und  für 
Mecklenburg  in  Schwerin. 

Während  bei  diesen  Anstalten  die  Ijeitung 
nicht  mit  den  militärteehnischen  Instituten 


verbunden  ist,  sondern  zum  Ressort  des 
Ministeriums  des  Innern  resp.  der  betreffen- 
den R^erungen  gehört,  werden  im  König- 
reich Sachsen,  Bayern  und  Württemberg 
die  betreffenden,  in  Dresden,  München,  Ger- 
mersheim, Würzburg,  Araberg  und  Obern- 
dorf a.  N.  errichteten  Anstalten  von  den 
technischen  Offizieren  der  Militärverwal- 
tungen (ArtiUeriedepots,  Gewehrfabriken) 
geleitet 

§  9  des  Laufprüfungsgesetees  enthält  die 
Strsäbestimmungen.  Hiernach  ^drd  mit  Geld- 
strafe bis  zu  1000  Mark  oder  mit  Gefäng- 
nis bis  zu  sechs  Monaten  bestraft,  wer  Hand- 
feuerwaffen feil  hält  oder  in  den  Verkehr 
bringt,  deren  Läufe  oder  Yersclüüsse  nicht 
mit  den  vorgeschriebenen  oder  zugelassenen 
Prüfungszeichen  versehen  sind.  Neben  der 
verwirkten  Strafe  ist  auf  Einziehung  der  be- 
treffenden Waffen  zu  erkennen,  gleichgiltig, 
ob  sie  dem  Veriurteilten  gehören  oder  nicht. 
Auch  in  dem  FaUe,  dass  der  betreffende 
Angeklagte  nicht  habhaft  zu  machen  ist^ 
kann  selbständig  auf  Einziehung  der  Waffen, 
welche  den  Gegenstand  des  Vergehens  bilden, 
erkannt  werden. 

Diese  vorgeschriebene  Einziehung  hat  nach 
einem  UrteU  des  Keichsgerichts,  III.  Strafsenat 
vom  19.  September  1893  Bd.  27  S.  352  nicht 
den  Charakter  einer  Nebenstrafe,  sondern  wesent- 
lich den  einer  polizeilichen  Präventivmassregel, 
wenn  auch  zugegeben  werden  kann,  dass  die 
obligatorisch  vorgeschriebene  Einziehung  als 
Nebenstraf  übel  wirken  kann. 

Eine  Strafbestimmung  über  den  Ver- 
kauf etc.  von  Waffen,  welche  ein  andei-es 
Kaliber  als  das  von  der  Prüfungsl)ehörde 
auf  den  Lauf  gestempelte  zeigen,  wie  sie  in 
den  bezüglichen  Gesetzen  von  England, 
Belgien  und  Oesterreich  vorhanden  ist  hat 
demnach  im  deutschen  Gesetze  keine  Auf- 
nahme gefunden.  Trotzdem  wiixl  es  nicht 
ausgeschlossen  sein,  dass  bei  derartigen 
Waffen  ein  Verstoss  gegen  §  4  des  Gesetzes 
angenommen  wird  und  Konfiskation  der- 
selben und  Bestrafung  des  Inhabers  eintritt. 

Der  Schluss,  §  10,  setzt  den  Zeitpunkt 
des  Inkrafttretens  des  §  8,  welcher  die  Er- 
richtung von  Prüfimgsanstalten  voi'schreibt, 
auf  den  Tag  der  Verkündigung  fest  und 
behält  dies  für  die  übrigen  rai-agraphen 
kaiserlicher  Verordnung  vor.  Dieselbe  ist 
wie  erwähnt,  unter  dem  20.  Dezember  1892 
ergangen  und  hat  das  Laufpinifungsgesetz 
V.  1.  April  1893  an  im  vollen  Umfange  in 
Kraft  gesetzt. 

Litteratur:  Gesetz,  betreffend  die  Prüjung  der 
Ixinfe  etc.  r.  19.  V.  1891.  Textaufgabe  mit  his- 
torischer Einleitung  und  Anmerkungen  von 
Georg  Koch,  ßeriin.  —  Die  amth'rhe  Probe 
der  Gewehr-  und  Pistolenlänfe  in  Oeste^rrrirh, 
ron  Friedrich  Brandeis,  Prag.  —  Loi 
portant  R^glemenUUion  de  la  Situation  du  JBant 
d'eprextves    des    armes   ä    feti    etabli   fi    Liege, 


Handfeuerwaffen — Handwerk 


1097 


L'lgc.  —  Die  Probe  der  Feuenoaffen  in  der 
Lütt  icher  Landschaft,  von  Alphons  Potain, 
Direktor  des  Prttbierhauses  Lilttich.  Aus  dem 
Französischen  übersetzt  von  M,  F.  Föttinger, 
Leipzifj. 

G.  Koch, 


Handwerk. 


I.  Die  deutsche  Handwerkerbewe- 
gun^.  1.  Die  Bewegung  im  Jahre  1848. 
2.  Die  Handwerkertage  seit  1860.  II.  Das 
Programm  der  Handwerker  und  seine 
Erfüllung. 

Ueber  das  Wesen  des  Handwerks  s.  den 
Art.  Gewerbe  (oben  Bd.  III  S. 360 ff.;  über 
die  Geschichte  des  Handwerks  s.  den  Art. 
Zunftwesen;  bezüglich  der  Statistik  s. 
den  Art.  Gewerbestatistik  (oben  Bd.  IV 
S.  510ff.)  und  Grossbetrieb  und  Klein- 
betrieb (ebd.  S.  786  ff.).  Yergl.  auch  die 
Artt.  Gewerbegesetzgebung  (obeü  Bd. 
IV  S.  412ff.)  und  Innungsstatistik. 

I.  Die  deutsche  Handwerkerbewegnng. 

1.  Die  Bewegung  im  .lahre  1848.  Ob- 
wohl in  der  ei'sten  Hälfte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  die  Gewerbefreüieit  in  Deutsch- 
land nur  unvollkommen  eingeführt  worden 
war  inid  man  sich  eigentlich  melir  damit 
begnügt  hatte,  am  Zunftwesen  zu  rütteln, 
als  seine  Grundlagen  zu  beseitigen,  waren 
immerhin  bemerkenswerte  Schritte  zur  An- 
näherung an  das  vorschwebende  Ideal  ge- 
schehen. Diese  freiheitlicheren  Regungen 
wollten  den  Handwerkern  selbst,  wenn  auch 
für  sie  nur  Nutzen  dabei  zu  er\varten  stand, 
nicht  recht  einleuchten  und  mittellos,  wie 
sie  waren,  von  unzweifelhafter  wirtschaft- 
licher Not  gedrückt,  eröffneten  sie  einen 
energischen  Feldzug  gegen  die  Uebermaclit 
des  Kapitals  und  die  (}ewerbefreiheit.  So 
vollzog  sich  im  Jahi-e  1848  neben  der 
politischen  eine  von  ganz  anderen  Mo- 
tiven hervorgerufene,  höchst  eigenartige 
wirtschaftliche  Bewegimg.  Die  Handwerker 
klagten  über  unzureichenden  Erwerb.  Der 
Absatz  stockte ;  jeder  scliränkte  sich  ein,  und 
einzelne  Geschäfte,  die  längst  niu:  notdürftig 
sich  erhalten  hatten,  brachen  zusammen. 
Andere  hatten  nicht  genug  zu  thun  und 
entliessen  eine  Menge  Gesellen.  Diese,  be- 
schäftigungslos gewoi-den,  wollten  wenigstens 
ihr  Glück  versuchen,  eröffneten  einen  Be- 
trieb, vergrösserten  dadiuxjh  die  Konkurrenz 
natürlich  und  verschlimmerten  die  Lage  des 
ganzen  Standes  noch  mehr.  Gegen  den 
Kaufmann  insbesondere  war  der  Handwerker 
eingenommen,  durch  dessen  Veraiittelung 
mit  dem  Publikum  der  Handwerksmeister 
zum  Tagelöhner  herabgedrückt  worden  sein 


sollte.  In  der  That  scheint  der  Notstand 
damals  aussergewöhnliche  Ausdehnung  ge- 
wonnen zu  haben.  Die  Denkschrift  des- 
Heidelberger Gewerbevereins  an  den  deut- 
schen Reichstag  in  Frankfurt  a.  M.  sagt 
kurz  imd  bündig:  »der  Mittelstand  ist 
grösstenteils  verarmt,  der  Kredit  vernichtet«, 
mid  die  zahlreichen  den  Regienmgen  unter- 
breiteten Petitionen  sowie  die  zur  Abhilfe 
der  Not  verfassten,  mit  zum  Teil  wunder- 
lichen Vorschlägen  angefüllten  Flugscliriftea 
sprechen  immer  »von  der  gi'ossen  Arbeits- 
losigkeit«,    »von    der   Not    der    Gewerbe- 

I  treibenden«.  .Diese  selbst,  statt  die  Ursachen 
der  Notlage  dort  zu  suchen,  wo  sie  waren, 
und  sich  darüber  klar  zu  werden,  dass  vor- 
übergehende Geschäftsstockung  sie  hervor- 
gerufen hatte,  wandten  ihre  Aufmerksamkeit 
(ler  aufkeimenden  Gewerbefreüieit  zu,  be- 
schuldigten sie,  alles  Uebel  veranlasst  zu 
haben,  und  erwai'teten  eine  Aufbesserung 
ihrer  Verhältnisse  nur  von  der  Wieder- 
herstellung der  mittelalterlichen  Zimftein- 
richtungen. 

Eine  Petition  von  391  Handwerksmeistern 
der  Stadt  Bonn,  unter  dem  Titel  »An  unsere 
Brüder  im  Handwerk«  am  19.  Aprü  1848 
dem  Minister  Camphauseu  überreicht,  wird 

j  wohl  als  der  Anfang  der  ganzen  Bewegung 
anzusehen  sein.  »Wii*  sind  die  ersten  Hand- 
werker in  Deutschland,  welche  im  Lichte 
der  lungen  Freiheit  die  Wünsche  unseres 
Stanaes  und  die  Bedingungen  aussprechen^ 
von  deren  Erfüllung  uns  ein  kiäftiges  neues 
Aufblühen  dieses  Standes  abzuhängen  scheint, 
Ihr  nun,  Brüder  im  Handwerk,  prüfet,  was 
wir  begehren,  bessert,  schärft  oder  müdert 
es«  —  so  heisst  es  im  Vorworte.  Cnd  was 
waren  nun  diese  Wünsche?  Allgemein  ge- 
fasst,  wollte  man  zunächst  »der  Aibeit  end- 
lich den  Schutz  und  die  Stellung  im  grossen 
Ganzen  des  Staates  sichern,  die  ihr  als  der 
Hauptgrundlage  aller  gewerblichen  Verhält- 
nisse und  der  menschlichen  Bildung  gebührt«. 
Im  einzelnen  aber  kam  es  auf  eine  beträcht- 
liche Einschränkung  der  geringen  Freiheit 
heraus,  deren  sich  das  Gewerbe  erfreute. 
Es  sollte  nur  ein  Lehrling  gehalten  werden 
und  keiner,  vor  dem  25.  Lebensjahre  Meister 
werden  dürfen.  Meisterprüfungen,  Be- 
schränkung der  Erlangung  des  MeisteiTechts 
auf  ein  Gewerbe,  Erschwerung  der  Nieder- 
lassung, Beschränkimg  des  Gebrauchs  von 
Dampfmaschinen  —  das  waren  etwa  die 
hauptsäclilichsten  Forderungen.  Ganz  woll- 
ten die  Handwerker  freüich  dabei  nicht  in 
das  Mittelalter  zurücksinken.  Vielmelir 
wünschten  sie  eine  Gewerbeordnung,  die 
sich  ebensoweit  von  der  Ausschliesslichkeit 
des  Privilegiums  wie  von  der  zügellosen 
Anarchie  des  Gehenlassens  entfernt  halte. 
Sie  betonten,  dass  sie  alle  ihre  Vor- 
sclüäge  nicht  aus  Eigennutz,  sondern  nur 


1098 


Handwerk 


im  Interesse  der  Sache  machten.  »Wir 
wollen  keine  Aufhebung  der  Konkurrenz, 
aber  wir  wollen  tüchtige  Konkuirenten 
haben.«  Durch  die  geplanten  Einschrän- 
kungen glaubten  sie  das  Handwerk  auf  eine 
höhere  Stufe  heben  zu  können.  Dass  der 
Kern  ihrer  Beschränkungen  darauf  abzielte, 
ist  sicher.  Nur  kann  man  nicht  sagen,  dass 
sie  gerade  einen  sehr  glücklichen  an- 
sprechenden Ausdruck  dafür  fanden.  Zum 
Schlüsse  kamen  übrigens  ganz  verständige 
Vorschläge  zum  Vorsdiein,  indem  der  Staat 
um  eine  Unterstützung  zum  Aufbau  einer 
Industriehalle  als  beständigem  Markte  ein- 
heimischer Handwerksproaukte  und  um 
Eröffnung  einer  Vorschusskasse  angegangen 
wurde.  Man  wies  darauf  hin,  wie  schwie- 
rig es  sei,  Vorschüsse  zu  erlangen,  und 
dass  der  Staat  das  Glück  unzähliger  Fa- 
milien neu  begründen  würde,  wenn  er  dem 
als  redlich  erprobten  Handwerker  nicht  als 
Schenkgeber,  sondern  als  Darleiher  gegen- 
überstehen woUe.  Leider  reichten  die  Staats- 
mittel nicht  hin,  diesen  Wünschen  zu  ent- 
sprechen. 

Bonn  hatte  das  Beispiel  gegeben,  Leipzig, 
Gotha,  Magdeburg,  Karlsruhe,  Offenbach, 
andere  Orte  folgten.  Am  22.  April  erliessen 
22  Leipziger  Innungen  ein  offenes  Send- 
schreiben an  ihre  Handwerksgenossen,  in 
dem  sie  Protest  einlegten  gegen  das  ganze 
:> Wesen,  wie  es  sich  jetzt  in  Frankreich 
breit  macht,  den  letzten  Rest  von  Tüchtigkeit 
und  Wohlstand  untergräbt  und  gleichsam 
mit  fliegenden  Fahnen  und  Idingendem 
Spiele  über  Preussen  seinen  Einzug  in 
Deutschland  hält«.  Gemeint  war  die  Ge- 
werbefreiheit. Mehr  System  kam  in  die 
Bewegung,  als  sich  in  den  Tagen  vom 
2. — 6.  Juni  in  Hamburg  der  Vorkongress 
norddeutscher  Handwerker  aufthat, . von 
etwa  200  Gewerbetreibenden  besucht.  Zum 
grössten  Teile  von  den  Hansestädten  und 
Schleswig-Holstein  beschickt,  wies  die  Ver- 
sammlung doch  auch  einzelne  Teilnehmer 
aus  Mecklenburg,  Hannover,  Braunschweig, 
Oldenburg  und  Preussen  auf,  die  meistens 
als  Vertreter  von  Innungen  und  Innungs- 
vereinen erschienen,  ürspriinglich  sollten 
auf  ihr  nur  Handwerker  zugelassen  werden, 
»weil  die  praktischen  Kenntnisse  der  Ar- 
beiter hinreichend  zu  eigener  Beratung  ihrer 
Interessen  seien«,  aber  ein  Gelehrter,  Pro- 
fessor Winkelblech  aus  Cassel,  später 
als  Verfasser  eines  leider  unvollendet  ge- 
bliebenen Systems  der  Weltökonomie  unter 
dem  Pseudonym  Karl  Mario  bekannt  ge- 
worden, hatte  sich  doch  Zutritt  zu  ver- 
scliaffen  gewusst  und  dieser  wurde  bald 
die  Seele  des  Ganzen.  Wenn  die  Hand- 
werker sich  in  tausend  Einzelheiten  ver- 
loren und  in  der*Debatte  nicht  mekr  aus 
und  ein  wussten,  dann  erhob  sich  Professor 


Winkelblech,  stellte  Anträge,  liielt  seine 
Reden,  wies  auf  die  Aufgaben  hin,  die  der 
Kongress  habe,  immer  von  stürmischem 
Beifall  begleitet. 

Der  Gedanke,  der  hier  erörtert  wiutie, 
war  der  einer  zu  erlassenden  Gewerbeord- 
nung. An  die  Stelle  der  alten  künstlichen 
sollte  eine  neue  natürliche  Zunftverfassung 
treten.  Professor  Winkelblech  stellte  den 
Antrag,  die  Versammlung  möge  erklären, 
dass  allein  eine  durchgreifende,  alle  Industrie- 
zweige umfassende  Zunftverfassung  Deutsch- 
land vor  dem  Schicksale  Frankreichs  und 
Englands  und  vor  den  Gefahren  des  Kom- 
munismus schützen  könne.  Daher  also  er- 
klärte sich  der  Kongress  mit  der  grössten 
Entschiedenheit  gegen  Gewerbefreiheit  imd 
verlangte,  soweit  dieselbe  in  Deutschland 
bestehe,  sie  durch  einen  besonderen  Para- 
graphen des  Reichsgrundgesetzes  aufgehoben 
zu  sehen.  Mehrfach  legte  der  Vorsitzende 
der  Versammlung  die  Frage  vor,  ob  sie 
ihrer  innersten  üeberzeugung  nach  der  An- 
sicht sei,  dass  Gewerbefreiheit  ein  Unglück 
wäre.  Immer  fiel  die  Antwort  allgemein 
bejahend  aus.  Behufs  Verwirklichung  der 
vorgeschlagenen  Gewerbeordnung  wurde  nun 
beschlossen,  eine  Versammlung  von  Ab- 
geordneten des  Handwerker-  imd  Gewerbe- 
standes aus  dem  ganzen  deutschen  Vater- 
lande einzuberufen,  der  man  den  Auftrag 
geben  wollte,  einen  Entwurf  auszuarbeiten 
und  dem  Parlamente  vorzulegen.  In  einem 
Schreiben  vom  7.  Juni  an  das  Frankfurter 
Parlament  wurde  von  den  Vertrauensmän- 
nern des  norddeutschen  Kongresses  der  Zu- 
sammentritt dieser  Versammlung  auf  Grund 
des  allgemeinen  Versammlungsrechtes  an- 
gekündigt. Jeder  selbständige  deutsche 
Staat  sollte  ohne  Rücksicht  auf  seine  Grösse 
mindestens  einen  Deputierten  abordnen,  die 
Gesamtzahl  aber  so  festgestellt  werden,  dass 
sie  dem  sechsten  Teu  der  Abgeordneten 
zur  deutschen  Reichsversamralung  entspräche. 

Dieser  Beschluss  war  etwas  gegen  den 
Willen  des  Professors  Winkelblech  zu  stände 
gekommen.  Sein  Vorschlag  hatte  anders 
gelautet:  er  war  auf  die  firichtung  einer 
sozialen  Kammer  (sozialen  Parlaments)  ge- 
gangen, welche  die  gesamte  soziale  Gesetz- 
gebung zu  beraten  gehabt  und  ihre  Be- 
schlüsse der  politischen  Kammer  (politischen 
Parlament)  vorzulegen  gehabt  hätte.  Von 
dieser  sozialen  Kammer  sollte  mit  Ausschluss 
aller  Partikularrechte  eine  gemeinschaftliche 
soziale  Gesetzgebung  geschaffen  werden,  die 
einem  jeden  Mitgliede  der  bür^rlichen  Ge- 
sellschaft die  seiner  Arbeitskraft  ent- 
sprechende Erwerbssphäre  sichern  würde. 
Ursprünglich  war  dieser  Antrag  in  der 
Sitzung  vom  2.  Juni  einstimmig  angenommen 
worden,  aber  Professor  Winkelblech  selbst 
hatte  ihn  später  zurückgezogen,  indem  er 


Handwerk 


1099 


erklärte,  dass  ein  wirklich  soziales  Parlament 
doch  erst  nach  Beendigung  der  Beratungen 
und  Annahme  der  Verfassung  berufen  werden 
könnte  —  es  handelte  sich  ja  um  einen  Artikel 
in  dem  Staatsgrundgesetze  — ,  die  Lösung  der 
sozialen  Frage  indes  ein  so  schwieriges  und 
umfassendes  Werk  sei,  dass  man  nicht  früh 
genug  mit  ihr  beginnen  könne.  Er  befür- 
•wortete  nunmelir  sogar  den  anderen  Antrag 
auf  Einberuhmg  emes  Kongresses,  weü 
■dieser  als  das  geeignetste  Organ  erscheine, 
das  schwierige  Material  zu  sichten  und  eine 
öffentliche  Meinung  darüber  heivAistellen, 
-während  dem  konstituierenden  Parlamente 
zunächst  die  Ordnung  der  höchst  verworrenen 
politischen  Verhältnisse  zufalle  und  es  sich 
auf  die  Erörterung  sozialer  Fragen  nur  in- 
soweit würde  einlassen  können,  als  diese 
das  Staatsgrundgesetz  berührten. 

In  dieser  Weise  vorbereitet,  wurde  am 
•15.  Juli  1848  in  Frankfurt  a.  M.  der  »deutsche 
Handwerker-  und  Qewerbekongress«  eröffnet, 
beschickt  von  116  Handwerksmeistern  aus 
24  deutschen  Einzelstaaten.  Der  eigentliche 
Fabrikantenstand  war  dabei  so  gut  wie  gar 
nicht  vertreten,  weil  mit  diesen  Meistern 
nicht  einverstanäen.  In  meist  »stürmischen« 
Sitzungen  tagte  das  Handwerkerparlament 
bis  zum  18.  August  und  unterbreitete  als 
das  Endergebnis  seiner  Bestrebungen  der 
verfassunggebenden  Nationalversammlung 
den  Entwurf  einer  allgemeinen  Handwerks- 
und Gewerbeordnung,  der  sich  auf  einen 
»feierlichen ,  von  Millionen  Unglücklichen 
besiegelten  Protest  gegen  die  Gewerbe- 
freiheit« stützte.  »Die  Abgeoi-dneten  des 
Handwerks-  und  Gewerbestandes«  —  heisst 
es  in  dem  Schreiben  an  das  Frankfiu'ter 
Parlament  —  »aus  allen  Gauen  Deutschlands 
durch  die  gleichen  Leiden  zusammengeführt, 
beschwören  die  Männer,  welche  des  Volkes 
Wohl  beraten,  dass  sie,  um  grösserem  Un- 
heile vorzubeugen,  den  aus  der  Erfahrung 
allgemach  hervorgehenden  Rat  der  Fach- 
männer hören  und  in  einem  besonderen 
Artikel  des  Reichsgrundgesetzes  die  gänz- 
liche Aufhebung  der  Gewerbefreiheit,  so- 
weit sie  noch  in  Deutschland  besteht,  ge- 
währleisten.« 

Die  Gnmdsätze  der  neuen  Ordnung,  die 
hier  beschlossen  wurde,  waren  folgende:  1. 
Zimächst  sollten  übersul  in  gleichmässiger 
Weise  für  ganz  Deutschland  Innungen  ge- 
bildet und  die  noch  bestehenden  Zünfte, 
deren  Zweck  teils  im  Laufe  der  Zeit  ver- 
eitelt worden  war,  teils  der  neuen  staat- 
lichen Gestaltung  nicht  entsprach,  umge- 
schaffen werden.  Diesen  Innungen,  als 
deren  Zweck  die  Walirung  der  gewerblichen 
Interessen  im  weitesten  Sinne  hingestellt 
werde,  beizutreten,  sollte  Pflicht  sein  für 
alle,  die  an  einem  Orte  das  gleiche  Hand- 
werk oder  technische  Gewerbe  selbständig 


betrieben.  Jedoch  wm'de  als  Miniraalzahl 
der  Mitglieder  12  angesetzt.  Wenn  sie  diese 
Höhe  nicht  erreichte,  sollte  die  betreffende 
Zunft  mit  verwandten  vereinigt  werden,  indes 
in  der  Weise,  dass  jeder  ihr  Arbeitsgebiet  ab- 
gegrenzt vorbehalten  blieb.  2.  In  den  so 
ins  Leben  gerufenen  Innungen  sollte  die 
Ordnung  der  inneren  Angelegenheiten  aus- 
schliesslich den  Handwerkern  eingeräumt 
werden.  Dies  sollte  geschehen,  indem  diese 
aus  ihrer  Mitte  Organe  schufen,  die  von 
jedem  fremden  Einflüsse  frei,  den  Gewerbe- 
stand bis  zu  den  höchsten  Staatsgewalten 
vertreten  konnten.  Solche  Organe  sollten 
sein  die  In nungs vorstände,  die  nach 
Massgabe  des  Specialstatuts  gewählt  wurden 
und  denen  die  Regelung  der  inneren  Ange- 
legenheiten zustana.  Hier  gab  es  z.  B.  ein 
Vermittelungsamt .  das  die  Streitigkeiten 
gewerblicher  Natur  zwischen  Meistern,  Ghe- 
hilfen  und  Lehrlingen  entscheiden  sollte. 
Ein  zweites  Organ  war  der  Gewerberat. 
Er  wurde  zusammengesetzt  aus  Vertretern 
aller- Innungen  einer  Stadt.  Seine  Aufgabe 
war,  die  Grenzen  und  Arbeitsbefugnisse  der 
einzelnen  Gewerbe  gegeneinander  zu  ziehen 
und  die  weitere  Instanz  zu  sein  für  die  auf 
güthchem  Wege  nicht  beigelegten  Streitig- 
keiten, wofür  er  ein  besonderes  Gewerbe- 
gericht zu  eröffnen  liatte.  Ueber  diesen 
beiden  thronten  die  Gewerbekammern, 
sowohl  Specialgewerbekammern  als 
eine  allgemeine  deutsche  Gewerbe- 
kammer. Die  letztere  war  geplant  jedes- 
mal gleichzeitig  neben  dem  deutschen  Par- 
lament mit  der  Aufgabe,  die  den  gewerb- 
lichen Interessen  entsprechenden  allgemeinen 
Massregeln  und  Gesetze  zu  beantragen.  Die 
Specialgewerbekammern  standen  den  gesetz- 
gebenden Ständekammern  beratend  zur  Seite 
und  sollten  die  laufenden  gewerblichen  An- 
gelegenheiten regeln  helfen.  3.  Innerhalb 
der  Innung  wiirde  die  alte  Stufenfol^ 
Lehrling,  Geselle,  Meister  festgehalten.  Em 
Lehr-  und  Wanderzwang  war  vorgesehen; 
diese  Vorbereitungszeit  fand  in  einer  theo- 
retischen und  praktischen  Prüfung  ihren 
Abschluss,  wenn  der  junge  Mann  sich  als 
Meister  niederlassen  wollte.  Füi'  die  Ge- 
sellen wurden  Gesellschaften  mit  Beitritts- 
pflicht ins  Leben  gerufen ;  ausserdem  waren 
sie  im  Innungsvoi-stande  durch  einen  Ver- 
trauensmann aus  ihrer  Mitte  mit  Sitz  und 
Stimme  vertreten.  Die  Meister  selbst  unter- 
lagen in  der  Ausübung  ihres  Gewerbes 
manchen  Beschränkungen.  Keiner  durfte 
mehrere  Handwerke  gleichzeitig  betreiben. 
Sein  Gewerbe  mit  einem  anderen  zu  ver- 
tauschen, sollte  man  berechtigt  sein,  wenn 
es  im  Laufe  der  Zeit  keinen  genügenden 
Unterhalt  mehr  ab'^'arf.  Man  musste  aber 
dabei  den  Nachweis  der  Befähigung  führen. 
4.  In  diesem  Sinne  wurden  nun  noch  andere 


1100 


Handwerk 


Beschränkungen  gewünscht:  eventuelle  Be- 
schräükung  der  MeisterzaM  an  einem  Orte; 
Ueberweisung  aller  Handwerksarbeiten  in 
einer  Fabrik,  die  nicht  die  unmittelbare  Her- 
stellung der  Fabrikate  bezweckten,  an  die 
zünftigen  Meister  des  Ortes;  Verbot  des 
Hausierhandels  mit  Handwerksarbeiten,  Ver- 
l)Ot,  mehr  als  zwei  Lehrlinge  zu  halten, 
Einschränkung  des  Landliandwerks ,  Unzu- 
lässigkeit von  Staats-  und  Kommunalwerk- 
stätten, Verbot  der  Association  mit  Nicht- 
innungsgenossen ,  Verbot  öffentlicher  Ver- 
steigerung noch  neuer  Waren,  Besteuerung 
der  Fabriken  zu  Gunsten  des  Handwerker- 
standes, Verpflichtung  des  Staates,  Arbeit 
zu  geben  und  eine  Geschäftsgrenze  für  die 
Fabriken  und  den  Handel  mit  Fabrikaten 
aufzustellen.  In  einem  Anhange  zu  dieser 
Ordnung  war  noch  von  einigen  Mitteln  zur 
Hebung  des  Handwerks  die  Rede.  Man 
wninsclite  Schutzzölle,  Handelsverträge,  Ein- 
führung einer  allgemeinen  progi-essiven  Ein- 
kommens- und  Vermögenssteuer,  Hand- 
werkerschulen, Einführung  eines  gleichen 
Münz-,  Mass-,  Gewichtssystems  etc.,  kurz 
lauter  Massregeln,  die,  wenn  damals  ausge- 
führt, gewiss  zur  Hebung  der  deutschen 
Volkswirtschaft  beigetragen  hätten.  Nach 
Formulierung  aller  dieser  Forderungen 
schloss  der  Vorsitzende  die  Versammlung 
mit  den  Worten:  »Wohl  werden  uns  Spe- 
kulation und  Schacher  mit  allen  Kräften 
entgegenarbeiten;  denn  es  gilt  ja  der  Ver- 
nichtung ihrer  Herrschaft  über  den  Fleiss. 
Der  deutsche  Handwerker  ist  mündig;  er 
wird  nie  mehr  das  Sklaveujoch  der  Geld- 
raacht  dulden.« 

Gleichzeitig  hielt  der  gedrückte  Hand- 
werkerstand auch  an  anderen  Orten  zahl- 
reiche Versammlungen  und  entwai'f  Peti- 
tionen mit  Vorschlägen  zur  Verbesserung 
seiner  Lage.  Eine  solche  Vereinigung  fand, 
von  612  Meistern  besucht,  in  Frankfurt  a.O. 
statt  und  klagte  in  einer  Denkschrift  unter 
dem  17.  Juli  über  »die  zur  Zügellosigkeit 
ausgeartete  Gewerbefreiheit,  forderte  eine 
Beschränkung  der  Meisterzahl,  verlangte  ein 
ki-äftiges  Einsclu-eiten  gegen  das  Pfuschen 
der  Gesellen«  u.  dgl.  ni.  Viel  radikaler  war 
der  vom  20. — 25.  Juli  in  Frankfurt  a/M. 
tagende  Schueiderkongi-ess,  dessen  Besclüüs- 
sen  hernach  sehr  viele  Schneiderinuimgen 
durch  Einsendung  schriftlicher,  mit  tausen- 
den  von  Unterschriften  versehener  Erklä- 
rungen beitraten.  Die  hier  geäusserten 
Wünsche  gipfelten  darin,  die  öffentlichen 
Magazine  von  f eiligen  Kleidern,  sowolil  die 
der  Kleidermacher  als  die  der  Kleiderhänd- 
ler zum  Wohle  sämtlicher  Schneidermeister 
aufzuheben:  die  Einfuhr  fertiger  llen^en- 
und  Damenkleider  aus  dem  Auslande  zu 
verbieten  und  den  Rechnungen  der  Schnei- 
der ein  Vorzugsrecht  einzuräumen,  »da  ihre 


Waren  so  gut  als  die  des  Apothekers  zu 
den  unentbehrlichen  gehören«.  Dass  man 
sich  auch  gegen  die  Gewerbefreiheit  aus- 
sprach, versteht  sich  von  selbst. 

Uebrigens  fand  der  Frankfurter  Entwurf 
nicht  überall  BUligung,  sondern  erfuhr  zum 
Teü  gerade  in  Handwerkerkreisen  heftigen 
Widerspruch.  Schon  die  Idee  einer  einheit- 
lichen Gesetzgebung'  stiess  auf  Protest. 
Bayerische  Gewerbetreibende  schickten  zahl- 
reiche Bittschriften  ein,  die  gewerbliche  Ge- 
setzgebung dem  Partikularstaat  vorzubehal- 
ten. In  einer  Erklärung  vom  17.  August 
sagte  ferner  der  Gewerbeverein  in  Mann- 
heim sich  von  den  Beschlüssen  des  Frank- 
furter Handw^erkerparlaments  und  des  sog. 
süddeutschen  Handwerkerkongresses ,  der 
unterdessen  in  Heidelberg  getagt  liatte, 
feierlidi  los,  weil  diese  nichts  anderes  als 
eine  »neue  Auflage  der  alten  Zunftbeschrän- 
kimgen  in  verstärktem  Masse  enthielten«. 
Die  Erklärung  endete  mit  dem  Wunsche, 
dass  der  Gewerbestand  sich  ermannen  und 
die  vielfach  in  seiner  Mitte  auftauchenden 
Forderungen  neuer  Korporationsprivilegien 
in  sich  selbst  überwinden  möge.  Von 
anderer  Seite,  so  von  den  Handwerkern  des 
Grossherzogtums  Weimai\  w^urde  bestritten^ 
dass  der  Frankfiuler  Kongress  alle  zünftigen 
Handwerker  Deutschlands  vertrete.  Sie,  die 
Landhandwerker  im  Weimarischen,  seien 
weder  mündlich  noch  schriftlich  noch  durch 
die  Presse  zur  Teilnahme  eingeladen  wor- 
den. Daraus  sei  der  eigentümliche  Besclüuss 
des  fast  ausschliesslichen  Vorbehaltes  des 
Gewerbebetriebes  für  die  Städte  zu  erklären. 
Den  gleichen  Standpunkt  nahmen  Petenten 
aus  Hildesheim  ein,  die  ebenfalls  gerade  vor 
Berücksichtigung  dieses  Beschlusses  des 
Kongresses  warnten. 

Gildemeister  aus  dem  Braunschweigischen 
u.  a.  schlössen  sich  diesen  Pi-otesten  an. 
Auf  dem  Kongi-ess  in  Nenstadt  a.  d.  Hardt 
am  14.  Januar  1849,  der  von  78  Vertretern 
pfälzischer  Städte  besucht  war,  trug  eben- 
falls die  Gewerbefreiheit  den  Sieg  davon. 
Die  Partei,  die  sich  für  Beschränkung  des 
Gewerbebetriebes  aussprach,  unterlag,  imd 
ein  Antrag  auf  Verwerfung  der  pi^ojektierten 
Fi*ei zügigkeit  drang  ebensowenig  durch. 
Vorzugsweise  waren  aber  doch  unter  den 
mehr  als  400  Petitionen,  die  an  die  deutsche 
Nationalversammlung  gelangten ,  Beitritts- 
erklärungen zu  den  Beschlüssen  des  Fi-ank- 
fiu'ter  Kongresses  enthalten,  oder  sofern  sie 
vor  Bekanntweixlen  jener  Forderungen  ein- 
gegangen waren,  wenigstens  vielfache  Pro- 
test(5  gegen  Gewerbefreiheit  im  Sinne  der 
Frankfurter  Gewerbeordnung.  Für  Gewerbe- 
freiheit traten  nur  wenige  Petitionen  ein, 
z.  B.  die  bayerischer  Gewerbetreil)ender  aus 
der  Rheinpfalz ;  ans  Breslau  die  eines  Kauf- 
mannes C.  G.  Kopisch. 


Handwerk 


1101 


Aber  nicht  mir  die  Arbeitgeber  machten 
von    dem   freien   Versammlungs-,   Vereini- 
gungs-  und  Petitionsrechte  Gebrauch,  nicht 
weniger  ergriff  die  Bewegimg  auch  die  Ar- 
beiter.   Sowohl  lokale  Gesellenversaramlun- 
gen    als    mehrere    allgemeine    Arbeiterver- 
sammlungen kamen  zu  stände,  Ende  Mäi'z  in 
Berlin,  4  Wochen  später  in  Leipzig.   Speciell 
im  Gegensatz  zu  dem  in  Franäurt  a.  M. 
tagenden   Meisterkongress   wurde    zum   23. 
August    1848    ein    Arbeiterkongress    nach 
Berlin  einberufen,  der  vom  23.  August  bis 
3.    September    wirklich    tagte    und    noch 
gleichzeitig  mit  diesem,  wenn  auch  zeitiger, 
nämlich  am  20.  Juli    beginnend,    hielt   in 
Frankfurt  a.  M.  ein  Gesellen kongress,  der 
sich    später    ebenfalls    Arbeiterkongress 
nannte,  seine  Sitzungen,  die  sich  bis  zum 
20.    September    erstreckten.     In   Frankfurt 
a.  M.  hatte  man  ursprünglich,  gemäss  einem 
auf  dem  Hamburger  Yorkongress  geäusser- 
ten Wunsche,   den  Gesellen  den  Zutritt  zu 
den  Beratungen  versag,  später  jedoch  sich 
dazu  entschlossen,  einige  zuzulassen.    Diese 
Behandlung    hatte   die   Gesellen    beleidigt; 
daher  trennten  sie  sich  vollständig  von  den 
Meistern  und   veranstalteten  einen  eigenen 
Kongress.    Hatten  die  Meister  die  Gesellen 
von  ihren  Beratungen  ausschliessen  wollen, 
weil  niu*  »ein  selbständiger  Gewerbebetrieb 
auf   eigene  Rechnung  und  Gefahr  die  nöti- 
gen Ei'fahrungen  zur  Beantwortung  der  ein- 
schlägigen Frage  gewähre«,  so  begannen  die 
Gesellen  ihre  Thätigkeit  damit,  gegen  solche 
Bevormundung  der  Meister  zu  protestieren, 
und  Hessen  in  der  Folge  einen  eigenen  Ent- 
wurf an  die  Nationalversammlung  gelangen, 
dem  sie  später  eine  Kritik  des  Entwurfes 
der  Meister  anschlössen.  »Der  Meister  Eigen- 
nutz«, heisst  es  in  ihrer  Eingabe,  »lässt  sie 
80  alle  Klugheit  vergessen,  dass  sie  es  wa- 
gen, uns  für  unmündig  zu  erklären,   uns, 
die  wir  die  Jugend,  also  auch  die  Kraft  für 
uns  haben,  uns,  die  wir  Arbeitende,  also  die 
eigentlichen  Produzenten,  deshalb  der  Kern 
Deutschlands  sind,  ims,  die  wir  die  grosse 
üeberzahl  büden  und  wissen,  dass  wir  sie 
bilden.«     Im  ganzen  aber  wichen  sie   von 
den  Yorschlägen  der  Meister  teilweise  nicht 
zu  weit  ab,  obgleich  sie  die  Wahrnehmung 
der    Interessen    ihres    Standes    nicht    ver- 
gassen.     Sie   wünschten  nur,  um  nicht  in 
die    gleichen    Fehler,    w^ie    die    zünftigen 
Meister  sie  sich  hatten  zu  schulden  kommen 
lassen,  zu  verfallen,  dass  die  Frage   nicht 
von  dem  beschränkten  Standpunkte  des  Ein- 
zelinteresses erledigt  wei-de,  sondern  durch 
Yemehmung  von  Sachverständigen  alle  In- 
teressen   berücksichtigt,    somit    die  in  Fa- 
briken und  bei  Meistern  beschäftigten   Ge- 
sellen ebenfalls  gehört  würden.     Ihr  Pro- 
gramm forderte  im  ersten  Artikel  die  Wahl 
einer  nicht  permanenten  Gewerbekommissiou, 


die  aus  den  Innungsvorständen  der  Städte 
und  Kreise  eines  jeden  Regierungsbezirkes 
hervorgehen  und  ihre  Sitzungen  mit  den  die 
inneren  Angelegenheiten  verwaltenden  Be- 
amten als  Gewerbekammer  abhalten  sollte. 
Aus  diesen  Gewerbekammern  aller  deutschen 
Staaten  wurde  dann  eine  oberste  Central- 
behörde,  das  sogenannte  verantwortliche 
Arbeiterministerium  für  ganz  Deutschland 
gebildet,  das  »die  Freiheit  aller  Gewerbe- 
treibenden schützt,  die  Gewerbeordnung 
handhabt,  den  Schutz  und  die  Sicherheit 
der  Arbeit  beaufsichtigt  und  die  Bildung 
des  Gewerbestandes  zu  befördern  hat«.  Im 
weiteren  stellten  die  Gesellen  allerdings 
Forderungen  auf,  die  ihren  Interessen  ent- 
sprachen: freie  Entwickelung  der  Arbeit, 
freies  Niederlassungsrecht  in  ^nz  Deutsch- 
land, Beseitigung  des  Zunftzwanges,  eine 
feste  tägliche  Arbeitszeit  von  12  Stunden 
mit  Einschluss  der  Essenszeiten,  ein  Lohn- 
minimum, Hessen  aber  daneben  auch  Wünsche 
allgemeinerer  Natur  verlauten,  wie  Auf- 
hebung der  Binnenzölle,  Schutz  gegen  aus- 
ländische Fabrikate,  Beseitigung  der  Licita- 
tion  und  Submission  öffentlicher  Bauten, 
Errichtung  von  Gewerbehallen  und  der- 
gleichen mehr.  Yon  einem  Wanderzwange 
wollen  sie  nichts  mehr  wissen  und  ebenso- 
wenig von  einem  Yerbot  für  die  Fabrikan- 
ten, Gesellen  zu  beschäftigen,  denn  gerade 
die  Beschäftigung  in  Fabriken  bot  höheren 
Lohn  und  damit  die  Möglichkeit  zur  Ehe- 
schliessung. 

Alle  diese  Petitionen  und  Kongresse  ver- 
fehlten nicht,  auf  die  deutsche  Nationalver- 
sammlung Eindruck  zu  machen.  In  ihrer 
44.  Sitzung  beschloss  sie  den  Erlass  eines 
Heimatsgesetzes  und  einer  Gewerbeordnung 
und  beauftragte  einen  Ausschuss  mit  der 
Ausarbeitung  eines  Entvnirfes.  Dieser  wurde, 
begleitet  von  zwei  Minoritätsvoten,  am  26. 
Februar  1849  der  Nationalversammlung  vor- 
gelegt. Er  enthielt  im  wesentlichen  fol- 
gende Grundsätze :  1.  Alle  bestehenden  Ge- 
werbebeschränkungen wurden  aufgehoben. 
Nach  §  3  der  Grundrechte  des  deutschen 
Yolkes  hatte  ja  jeder  Deutsche  das  R^cht, 
an  jedem  Orte  des  Reichsgebietes  jeden 
Nahrungszweig  zu  treiben.  2.  Die  Möglich- 
keit, ein  Gewerbe  auszuüben,  war  an  da«* 
25.  Lebensjahr  und  den  Nachweis  der  Be- 
fähigung zum  Betriebe  des  Gewerbes  ge- 
knüpft. 3.  Innungen  oder  Zünfte  konnten 
nach  wie  vor  von  den  Personen,  die  an 
einem  Orte  verwandte  oder  gleiche  Gewerbe 
betreiben,  geschlossen  werden.  Nur  durfte 
ihnen  keine  ausschliessliche  Gewerbebe- 
rechtigung beigelegt  und  keinem  Gewerbe- 
treibenden der  Beitritt  zur  Innung  ziu* 
Pflicht  gemacht  werden.  4.  Endlich  sollten 
zur  besseren  Wahrung  der  gewerblichen 
Interessen  Gewerberäte   und  Gewerbokam- 


1102 


Handwerk 


mern  ins  Leben  gerufen  werden.  Ganz 
Deutschland  sollte  in  Gewerbebezirke  geteilt 
und  in  einem  jeden  von  den  Gewerbetrei- 
benden ein  Gewerberat  gewählt  werden. 
5.  Den  Beschluss  der  Gewerbeordnung  bil- 
dete die  Aufzeichnung  der  Fälle,  in  denen 
Beschränkungen  des  Grundsatzes  des  freien 
Gewerbebetriebes  zulässig  sein  sollten,  haupt- 
sächlich in  Anlehnung  an  die  preussische 
Gewerbeordnung  von  1845. 

An  diesem  Entwürfe  hat  die  wissen- 
schaftliche Kritik  nur  einen  Punkt  auszu- 
setzen, der  freilich  das  Wesen  des  Gesetzes 
triÖt,  nämlich  die  Feststellung  der  Bedin- 
gungen, unter  denen  ein  Gewerbebetrieb 
sollte  eröffnet  werden  können.  Der  Ent- 
wurf knüpfte  das  Recht  zur  Ausübung  an 
den  Fähigkeitsnachweis,  an  Prüfungen  an. 
Aber  die  Motive  wussten  zur  Begründung 
des  letzteren  nichts  Besseres  anzuführen, 
als  dass  man  auf  diese  Weise  die  Bedenk- 
lichkeiten derer  zu  beseitigen  hoffte,  die  in 
einer  freien  Gewerbethätigkeit  eine  Benach- 
teiligung der  Konsumenten  erblickten.  Dem 
gegenüber  konnte  man  mit  Recht  hervor- 
heben, dass  diese  Auffassung  nicht  über- 
zeugend genug  war,  lun  eine  Einrichtung 
beizubehalten,  die  seit  wenigstens  200  Jahren 
so  vielen  Anlass  zu  Verdriesslichkeiten  gab 
und  so  wenig  Nutzen  bot.  Denn  die  tech- 
nische Geschicklichkeit  des  Handwerkers 
war  seit  den  Tagen  des  30  jährigen  Krieges 
eher  zurück-  als  vorwärts  gegangen.  Es 
kann  daher  nicht  wunder  nehmen,  dass  das 
eine  Minoritätsvotiun  —  der  Abgeordneten 
Mohl,  Schirmeister  und  Merck  —  die  Prü- 
fungen beseitigt  wissen  wollte.  Dieses  sah 
in  ihnen  niu*  ein  verstecktes  Zunftwesen, 
ein  Mittel  zur  Beschränkung  der  Konkurrenz, 
ein  Attentat  auf  das  natürliche  Recht  eines 
jeden,  sich  durch  Arbeit  zu  ernäliren,  wie 
er  es  verstehe.  Es  machte  geltend,  dass  die 
Prüfung  nicht  die  mindeste  Gewähr  für  die 
Geschicklichkeit  der  Gewerbetreibenden 
biete,  und  wies  auf  die  Erfalu'ung  hin,  dass 
in  den  Ländern,  wo  man  von  Prüfungen 
nichts  wisse,  in  England,  Frankreich,  Belgien, 
Nordamerika,  es  deshalb  nicht  weniger  ge- 
schickte Handwerker  gebe.  ^Prüfungen  für 
gewerbliche  Fähigkeit  und  gewerbliches 
Fortkommen  sind  in  der  That  eine  wahre 
Lächerlichkeit,  so  lächerlich,  w-ie  wenn  man 
von  Obrigkeitswegen  den  Mädchen  Prü- 
fungen über  ihre  Befähigung,  gute  Haus- 
frauen zu  werden,  als  Vorbedingimg  des 
Heiratens  stellen  wollte.« 

Vertrat  dieses  Minoritätserachten  einen 
freiheitlichen  Standpunkt,  so  griff  das  andere 
—  der  Abgeordneten  Veit,  Degenkolb,  Becker, 
Lette  —  wieder  in  die  alte  Zunftverfassimg 
zurück,  wenn  es  auch  den  Wünschen  des 
Handwerkerkongresses  nicht  ganz  folgte. 
Mit  dem  Haui)tent würfe  stimmte  es  darin 


überein,  dass  die  Aufhebung  von  ausschliess- 
lichen Gewerbeberechtigimgen,  Realgewerbe- 
rechten, Zwangs-  und  Bannrechten  ausge- 
sprochen werden  sollte.  Aber  es  verkündete 
den  Zunftzwang:  es  ordnete  die  Bildung 
von  Innungen  an  und  dass  der  Betrieb  des 
Handwerkes  niemandem  gestattet  sei,  der 
einer  solchen  nicht  beigetreten  wäre.  Damit 
verbunden  war  das  Verlangen  nach  Meister-, 
Gesellen-,  ja  auch  nach  Fabrikantenprüfun- 
gen.  Die  Urheber  dieses  Entwurfes  stützten 
sich  auf  die  nach  dieser  Richtung  kundge- 
gebenen Meinungen.  Wenn  die  Beitritts-, 
pflicht  niu*  in  einer  vom  Gesetzgeber  theo- 
retisch anerkannten  Notwendigkeit  begrün- 
det wäre,  so  möchten  die  vielen  Gründe 
gegen  sie  nicht  ohne  Berechtigung  sein. 
Nun  aber  habe  sich  jenes  Verlangen  ja  im 
deutschen  Gewerbestande  mit  der  grossten 
Bestimmtheit  und  Uebereinstimmung  gezeigt, 
und  hänge  überdies  mit  den  schönsten  Vor- 
zügen des  deutschen  Charakters,  mit  den. 
besten  und  volkstümlichsten  Erinnerungen 
der  Nation  zusammen. 

Bei  solcher  Sachlage  hatte  die  National- 
versammlung einen  schweren  Stand.  Dass 
die  Abfassung  des  Entwurfes  mit  den 
grossten  Schwierigkeiten  zu  känipfen  ge- 
habt hatte,  lag  auf  der  Hand.  Nicht  nur 
wichen  die  bestehenden  Gewerbeverfassungen 
deutscher  Staaten  von  einander  ab,  auch  die 
eingelaufenen  Petitionen  mit  ihren  Vor- 
schlägen und  Wünschen  näherten  sich  ein- 
ander so  wenig,  dass  man  fast  verzichten 
rausste,  sie  alle  berücksichtigen  zu  können 
und  an  einer  reichsgesetzlichen  Regelung 
schier  verzweifeln  mochte.  Gerade  diese 
aber  wurde  von  den  massenhaft  eingehenden 
Petitionen  verlangt.  Aber  obwohl  die  Mehr- 
heit der  laut  gewordenen  Stimmen  sich  in 
der  Forderung  einer  allg-emeinen  Gewerbe- 
ordnung einigte,  gingen  die  Ansprüche  nick- 
sichtlich des  Grades  einer  Beschränkung 
des  Gewerbebetriebes  als  auch  der  Art  und 
der  Verhältnisse,  ffir  die  sie  gewünscht 
wurde,  so  weit  aus  einander,  dass  eine  all- 
gemeine genügende  gewerbliche  Gesetzge- 
bung für  das  gesamte  deutsche  Vaterland 
nicht  rätlich  ei-schien.  Es  lag  also  keine 
freie  Fläche  vor,  auf  der  man  hätte  ein  be- 
liebiges Gerüst  auftiauen  können,  sondern  es 
mussten  die  alten  Bestimmungen,  die  zwar 
nach  den  geläuterten  Begriffen  der  Gegen- 
w^art  verwerflich  waren,  aber  Jahrhunderte 
hindm^ch  bestanden  und  dadurch  grossen 
Halt  hatten,  beseitigt  werden.  Cnter  solchen 
Umständen  beschloss  die  Nationalversamm- 
lung, auf  die  Beratung  einer  Gewerbeordnung 
gar  nicht  einzugehen,  und  überwiCv^  alles 
angesammelte  Material,  die  Petitionen,  Be- 
richte, Verhandlungspix)tokolle  etc.  '>der 
künf  tigenReichsgesetzgebung  zurBenutzimg« . 
Allein  eine  solche  kam  nie  zu  stände. 


Handwerk 


1103 


Ging  auf  diese  Weise  die  Nationalver- 
sammlung aus  einander,  ohne  die  wichtige 
Frage  der  Regulierung  -der  Arbeit  zum  Ab- 
schluss  gebracht  zu  haben,  so  konnten  doch 
wenigstens  die  einzelnen  Staaten  jeder  in 
seinem  Bereiche  etwas  thun.  Hierzu  war 
um  so  mehr  Veranlassung,  als  die  Not  der 
Handwerker  in  manchen  Gegenden  gewaltiger 
als  je  sprach  und  dazu  malmte,  über  Mittel 
zu  ihrer  sofortigen  Abhilfe  nachzudenken. 
In  Hannover  schritt  man,  imter  dem  Ein- 
drucke der  mächtigen  Volkserhebung,  diux;h 
G.  V.  15.  Juni  1848  dazu,  in  die  eben,  am 
1.  August  des  vorigen  Jahres  verkündete 
freiheitlichere  Gewerbeordnung,  die  am  1. 
Juli  1848  in  Kraft  treten  sollte,  Bresche  zu 
schlagen.  Zwar  liess  man  die  neue  Ord- 
nung der  eigentlichen  Masse  nach  bestehen, 
aber  man  verfügte  an  nicht  wenigen  Stellen, 
dass  die  »dermalen  bestehenden  Verhält- 
nisse einstweilen  in  Kraft  bleiben«  sollten. 
So  wurde  die  neue  Gewerbeordnung  zu 
einem  Gemisch,  in  dem  Gewerbefreiheit, 
Zunftprivüegien  und  Konzessionswesen  neben 
einander  zu  finden  waren.  Für  einige  Ge- 
werbe, wie  Maurer,  Zimmerleute,  Dach- 
decker verlangte  man  den  Fähigkeitsnach- 
weis, für  andere  bestand  die  Konzessions- 
pflicht, für  dritte  der  Zunftzwang.  Was 
hiernach  übrig  blieb,  waren  Gewerbe,  die 
frei  betrieben  werden  konnten.  Die  vorge- 
sehenen Beschränkungen  der  Zunftverfassung 
waren  unbedeutende.  So  w^ar  z.  B.  die 
Z^ung  der  Gebühren  für  die  Aufnahme 
von  Lehrlingen,  Gesellen  und  Meistern  ein 
für  alle  Male  bestimmt,  aber  gestattet  über 
die  gesetzlich  festgestellte  Höhe  hinauszu- 
gehen, wenn  auch  nicht  weiter  als  bis  zur 
Hälfte  der  bisherigen  Beträge.  Dagegen 
trieb  das  Zunftwesen  selbst  üppige  Schöss- 
linge.  Die  zünftige  Erlernung  cies  Gewerbes, 
eine  5jährige  Gesellenzeit,  eine  2jährige 
Wanderschaft  mussten  der  Niederlassung 
vorausgehen.  Diese  Niederlassung  selbst 
wurde  sehr  beschränkt.  Manche  Zünfte 
waren  noch  geschlossen.  In  Vorstädten  oder 
in  der  Nähe  von  Städten,  die  bisher  das 
Recht  der  Bannmeile  hatten,  diurfte  kein 
Handwerker,  dessen  Hantienmg  in  der  be- 
treffenden Stadt  eine  zünftige  war,  sich 
niederlassen,  ohne  das  Meisterrecht  erworben 
zu  haben.  Selbst  für  die  Handwerker,  die 
das  MeisteiTCcht  gewonnen  hatten,  sollte 
die  Niederlassung  in  der  nächsten  Um- 
gebung der  Städte  nur  insoweit  zulässig 
sein,  äs  nicht  örtliche  Bestimmungen  ent- 
gegenstanden. 

In  Preussen  berief  der  damalige  Minister 
für  Handel,  Gewerbe  und  öffentliche  Ar- 
beiten, von  der  Heydt,  in  Gemeinschaft  mit 
dem  Justizminister  eine  Versammlung  von 
Abgeordneten  der  Handwerker  und  Gesellen 
aus  allen  Teilen  der  Monarchie  nach  Berlin. 


In  den  Tagen  vom  17. — 30.  Januar  1849 
tagte  diese  Kommission  und  prüfte  die  Be- 
schwerden des  Handwerks.  Sie  kamen 
darauf  heraus,  dass  die  Niederlassung  zu 
leicht  gemacht  sei.  Die  Folge  davon  wäre, 
dass  viel  mehr  Personen  als  früher  Arbeit 
und  Geld  verschleuderten,  um  es  durch  die 
Konkurrenz  zu  einem  gewissen  Wohlstande 
zu  bringen,  sich  aber  doch  nicht  lange 
halten  könnten,  sehr  bald  zu  Grunde  gingen 
und  mit  ihren  Familien  den  Gemeindearmen- 
kassen zur  Last  fielen.  Daher  wiuxle  vor- 
zugsweise der  Wunsch  laut,  den  Nachweis 
einer  genügenden  Vorbereitung  und  Be- 
fähigung zum  Betriebe  aufzustellen.  Man 
glaubte  auf  diesem  Wege  dem  Handwerker- 
stande das  alte  Ansehen  wieder  verschaffen 
zu  können.  Zugleich  wurden  Mittel  in  Vor- 
schlag gebracht,  die  frühere  stramme  Zucht 
und  Sitte  unter  Meistern,  Gesellen  und 
Lehrlingen  von  neuem  ins  Leben  zu  rufen. 
Endlich  sollte  die  Stellung  der  verschiedenen 
Gewerbe  zu  einander  xmd  zu  den  Fabriken, 
namentlich  zu  den  Mag^inen  geordnet,  die 
Zulassung  der  Versteigerung  von  Hand- 
werkerwaren sowie  der  gleichzeitige  Be- 
trieb mehrerer  Gewerbe  geregelt  werden. 

Bei  der  Regierung  fanden  diese  Ideeen 
Anklang.  Friedrich  Wilhelm  IV.  hatte  es 
ausgesprochen,  dass  dem  unterdrückten 
Handwerkerstande  geholfen  und  er  wieder 
zu  seiner  fdten  Ehre,  Sitte,  Zucht,  Ordnung 
und  Wohlstand  gefühi-t  werden  müsse. 
Da  nun  die  Klagen  seit  1845  sich  mit  be- 
sonders ^'osser  Dringlichkeit  und  Ein- 
stimmigkeit erhoben,  so  glaubte  man  die 
neuerlich  geführten  Verhandlungen  auch 
niu*  dahin  auale^n  zu  können,  dass  eine 
schleunige  Einmischung  der  Gesetzgebung 
erforderhch  sei.  Wenn  auch  keine  um- 
fassende völlig  neue  Ordnung  des  Gewerbe- 
wesens erfolgen  könne,  so  hielt  man  w- enig- 
stens  den  Erlass  einer  provisorischen  Ver- 
ordnung zur  Ergänzung  und  Verbesserung 
der  bestehenden  Verfassung  für  geboten. 
Daher  wurden  zwei  neue  Gesetzentwürfe 
ausgearbeitet,  der  eine  mit  Bezug  auf  ver- 
schiedene Abänderungen  der  allgemeinen 
Gewerbeordnung,  der  andere  im  Hinblick 
auf  zu  errichtende  Gewerbegerichte.  Nach 
eingeholter  königlicher  Genehmigung  und 
verfassungsmässiger  Billigung  durch  die 
Kammern  wurden  sie  am  9.  Februar  1849 
veröffentlicht. 

Die  in  ihnen  getroffenen  Aenderungen 
brachten  mm  alles,  was  die  Handwerker 
wollten.  Sie  erschwerten  die  Befugnisse 
zum  Gewerbebetriebe  bei  einer  grossen  Keihe 
von  Gewerken.  Bei  etwa  70  Gewerben 
w^urde  die  Befugnis  vom  Eintritt  in  eine 
Innung  oder  dem  vorgängigen  Nachweise 
der  Befähigung  zum  Beti-iebe  vor  einer 
Prüfungskommission    abhängig.      Die    Re- 


1104 


Handwerk 


gierung  behielt  sich  dabei  vor,  diese  Liste 
zu  vergrössem  oder  auch  zu  vermindern. 
Ferner  sollte  die  gleichzeitige  Ausübung 
mehrerer  Handwerke  durch  eine  Person 
eingeschränkt  werden  können,  je  nach  den 
örtlichen  Verhältnissen.  Den  Fabrikinhabern 
wurde  die  Beschäftigung  von  Handwerks- 
gesellen nur  in  bedingtem  Masse  gestattet, 
nämlich  soweit  sie  ihrer  zur  unmittelbaren 
Erzeugung  und  Fertigmachung  der  Fabrikate 
bedurften.  Inhaber  von  Magazinen  aber 
diu^ften  sich  nur  dann  mit  dem  Detailver- 
kauf von  Handwerkerwaren  befassen,  wenn 
sie  in  dem  betreöenden  Gewerbe  die  Meister- 
prüfung bestanden  hatten.  Dazu  kam  eine 
Keihe  von  Bestimmungen  über  die  Meister- 

Srüfimgen  und  die  rechtlichen  Verhältnisse 
er  Gesellen,  Gehilfen^  Lehrlinge.  Neue 
Innungen  konnten  gebildet  werden;  wer 
sich  ihnen  anschliessen  wollte,  musste  sich 
einer  Kosten  verursachenden  Prüfung  unter- 
ziehen. Als  Lehrlinge  wurden  nur  die- 
jenigen angesehen,  die  in  der  im  Lehrver- 
trage ausgesprochenen  Absicht  bei  einem 
Meister  eintraten,  um  gegen  Lehrgeld  oder 
unentgeltliche  Hilfeleistung  ein  Gewerbe  bis 
zu  der  Fertigkeit  zu  erlernen,  die  sie  zum 
Gesellenstande  befähige.  Die  Lehr-  und 
Gesellenzeit  schlössen  mit  Prüfungen  ab. 
Endlich  wurde  vorgesehen,  dass  für  alle, 
die  im  Gemeindebezirke  ein  Gewerbe  be- 
trieben, die  Verpflichtung  zur  Teilnahme  an 
den  Verbindungen  und  Kassen  zur  gegen- 
seitigen Unterstützung  ausgesprochen  werden 
konnte.  Auch  dem  wiederholt  kundgethanen 
Verlangen  nach  Gewerberäten  war  gewill- 
fahrt worden.  In  jedem  Ort  oder  Bezirk, 
in  dem  wegen  des  regen  gewerblichen  Ver- 
kehrs ein  Bedtirfnis  nach  einem  solchen 
Rate  sich  zu  zeigen  schien,  sollte  er  mit 
Genehmigung  des  Ministers  ins  Leben  ge- 
rufen werden.  Sein  Zweck  war  dann  die 
Wahrnehmung  der  aUgemeinen  Interessen 
des  Handwerker-  und  Fabrikantenstandes 
und  die  Beratung  der  zu  ihrer  Förderung 
geeigneten  Massregeln.  Ihm  lag  dabei  ob, 
die  Einhaltung  der  Vorschriften  über  das 
Innungswesen  zu  bewachen.  Kiu:z,  abge- 
sehen von  den  Gewerberäten,  nähert  sich 
die  Veroidnung  im  ganzen  mehr  den  Ver- 
hältnissen des  18.  Jahrhimderts  und  ist  mehr 
zünftlerisch  als  freiheitlich  gehalten. 

2.    Die   Handwerkertage    seit   1860. 

Waren  die  preussischen  Handwerker  mit 
dieser  neuen  Verordnung  zunächst  voll- 
kommen befriedigt,  so  dauerte  es  doch  nicht 
lange,  bis  ihre  Klagen  abermals  be- 
gannen. Schon  am  16.  April  1853  hatte 
<ler   Ausschuss    für  Handel   und    Gewerbe 

beim  Ministerium  des  Innern  über  eine 
ganze  Reihe  von  Petitionen  zur  Reform  der 

bestehenden  Gewerbegesetzgebun^  zu  be- 
richten.    Die   zweite   Kammer   gmg   indes 


über   alle    zur    Tagesordnung    über.     Drei 
Jahre  später  lagen  dem  preussischen  Abge- 
ordnetenhause nicht  weniger  als  69  Gesuche 
aus  den  verschiedenen  Landesteilen  vor,  die 
zum  Teil  sehr  weit  gingen.    Man  wünschte 
die  Einfühnmg  des  Zunftzwanges,  Beschrän- 
kung des  Magazinwesens,  Festsetzung  der 
Arbeitsgrenzen    zwischen    einzelnen    Hand- 
werken,   Erschwerung    der   Niederlassimg^ 
junger  Meister.     Auf   Grund   eines  gehar- 
nischten Berichtes  über  diese  reaktionären 
Fordenmgen    seitens   des   Ausschusses  für 
Handel  und  Gewerbe  vom  25.  Febniar  1856 
liess  man  sich  auch  diesmal  auf  eine  Dis- 
kussion nicht  ein.  Nichtsdestoweniger  hörten 
die  Handwerker   nicht  auf,   in  ihren  Ver- 
sanmilungen  und  Tagen  für  ihre  Lieblings- 
ideeen  einzutreten.     Besonders  bemerkens- 
wert ist  unter  diesen  der  preussische  Landes- 
handwerkertag vom  27.  bis  31.  August  1860 
in  Berlin,  der  dadurch  hervorgerufen  war, 
dass  im  Abgeordnetenhause  der  Antrag  auf 
Beseitigung  der  Gewerbenovelle  eingebracht 
worden    war.     Die    Handwerker   glaubten 
nun   rechtzeitig   über   die  Mittel   zur  Ver- 
hütung  der  aus   der  Annahme  dieses  An- 
trages für  sie  drohenden  Gefahr  sich  einigen 
zu  sollen.    Sie  hielten  natürlich  an  der  be- 
stehenden Gesetzgebung  fest,  waren  mit  der 
Ordnung  des  Lehrlingswesens  einverstanden, 
lobten  die  Gesellenprüfungen,  behaupteten, 
dass    die    Meisterprüfungen    sich    bewährt 
hätten,  und  beschlossen,  an  die  Staatsregie- 
rung   eine   Petition    um   Beibehaltung    der 
Novelle  zu  richten.    G^nz  vereinzelt  erhob 
sich  eine  Stimme,  die  die  Zweckmässigkeit 
der   Meisterprüfungen    bestritt.     Sie   drang 
nicht  durch,  und  in  der  beschlossenen  Peti- 
tion wurde  gerade  mit  Nachdruck  bei  dem 
Befähigungsnachweis  verweilt.    Im  Gegen- 
satz zu  diesem  Tage  hatte  im  Jahre  voriier 
sich    ein    vorzugsweise    von    Handwerkern 
besuchter  Kongress  hannoverscher  Gewerk- 
vereine in  Celle  für  möglichst  rasche  und 
vollständigste  Einführung  einer  freien  Ge- 
staltung des  Gewerbewesens  ausgesprochen. 
Am  5.  September  1862  wurde  in  Weimar 
der    Deutsche    Handwerkerbund    gestiftet, 
dessen  Mitglieder  sich  auf  Norddeutschland 
beschränkten,     vorzugsweise     den    Hanse- 
städten entstammten.    Er  hielt  seine  zweite 
Versammlung  vom  25. — 28.  September  1863 
in  Frankfurt  a.  M.,  die  dritte  vom  26. — 28, 
September  1864  in  Köln  ab,  vermochte  sicli 
aber  auf  die  Dauer  nicht  zu  halten.    Schon 
auf  dem  ersten  Tage  war  beschlossen  worden, 
dass  »diese  Pest  imd  der  Schwindel  frei- 
gewerblicher und  gewerbefreiheitlicher  Zu- 
stände auf  Leben  und  Tod  bekämpft  werden 
müssten « ,  allein  entgegengesetzte  Strömungen 
thaten  sich  kund,  eine  gewisse  üeberhebung 
der  Vertreter  der  östlichen  Provinzen  über 
die  der  westlichen  und  südlichen  Gegenden 


Handwerk 


1105 


machte  sich  geltend,  und  so  war  der  Bund 
bald  gesprengt.  Sein  letztes  Lebenszeichen 
war  eine  im  Jahre  1864  sämtlichen  deut- 
schen Regierungen  unterbreitete  Deukschrift, 
in  der  er  für  sein  Ziel,  »die  obligatorische 
Innung«,  eintrat  und  bat,  die  Grundzüge  zu 
einer  von  ihm  aufgesetzten  »Allgemeinen 
deutschen  Handwerkerordnung«  einer  ein- 
gehenden Prüfung  unterziehen  sowie  Kom- 
missäre abordnen  zu  wollen,  die  mit  Ver- 
tretern des  Landes  zusammen  die  Grund- 
züge w^eiter  ausbilden  sollten.  Diese  Vor- 
schläge fanden  so  wenig  Berücksichtigung, 
wie  die  im  Jahre  1863  von  hessischen  Hand- 
werkern dem  Ministerium  in  Darmstadt  ein- 
gereichte Denkschrift,  die  vor  den  Folgen 
üer  unbedingten  Gewerbefreiheit  warnte. 
Vielmehr  vollzog  sich  mittlerweile  in  Theorie 
und  Praxis,  in  den  Regierungskreiseu  und 
bei  den  Männern  der  Wissenschaft,  getragen 
von  den  Ideeen  des  Liberalismus,  der  Um- 
schwung in  der  herrschenden  Auffassung. 
Man  glaubte  nunmehr  die  endgiltige  Ein- 
fühnmg  völliger  Gewerbefi-eiheit  nicht  länger 
hinausschieben  zu  können  und  war  20  Jahre 
nach  der  Novelle  von  1849  zu  der  Erkennt- 
nis gelangt,  dass  die  preussische  Regierung 
sich  damals  hatte  zu  Zugeständnissen  ver- 
leiten lassen,  die  dem  Ifandwerker  weder 
Vorteile  noch  Schutz  gewährten.  So  machte 
man  denn  nach  imd  nach  in  den  Einzel- 
staaten den  Beschränl^ungen  ein  Ende  und 
verhalf  schliesslich  in  der  Gew.-O.  v.  21. 
Juni  1869  für  den  Norddeutschen  Bund, 
seit  1871  für  das  ganze  Reich,  der  Ge- 
werbefreiheit zum  vollständigen  Siege. 

Noch  während  der  Beratungen  des  An- 
trages, die  bekanntlich  zuerst  zum  soge- 
nannten Notgewerbegesetz  führten,  traten 
vom  16. — 18.  April  1868  in  Dresden  und 
vom  14. — 16.  September  desselben  Jahres 
in  Hannover  norddeutsche  Handwerker  zu- 
sammen, um  gegen  die  beabsichtigte  Ein- 
führung der  Gewerbefreiheit  zu  protestieren. 
Nach  dem  Erlass  der  Gew.-O.  versammelte 
man  sich  noch  einmal,  vom  20. — 22.  No- 
vember 1869  in  Halle  und  schien  sich  dann 
in  das  Unvermeidliche  fügen  zu  wollen. 
Indes  hatte  man  sich  nur  für  kurze  Zeit 
beruhigt,  denn  schon  in  der  zweiten  Session 
der  ersten  Legislaturperiode  des  Deutschen 
Reichstages,  1871,  liefen  viele  Petitionen 
reaktionären  Charakters  ein.  Man  bat  um 
die  Wiedereinfühnmg  von  Passvorschriften 
für  die  Gewerbsgeliilfen,  die  Einführung 
von  Arbeitsbüchern,  die  Aufhebung  der 
vierzehntägigen  Kündigungsfrist  um  Erlass 
von  Strafbestimmungen  für  ungehorsames 
und  widerspenstiges  Hilfspersonal  und  der- 
gleichen mehr.  Und  nun  kam,  nachdem 
der  Reichstag  die  Beratung  dieser  Gesuche 
abgelehnt  hatte,  bald  mehr  System  in  die 
Bewegung.    Vom  25. — 28.  September   1872 


waren  in  Dresden  Handwerker  aus  145 
deutschen  Städten  versammelt,  um  über  die 
Bildung  eines  Verbandes  zu  beraten,  der 
ihre  Interessen  der  Regienmg  gegenüber 
vertreten  und  für  Reformen  wirken  sollte. 
Schon  im  nächsten  Jahre,  am  23.  Oktober 
1873,  kam  es  in  Leipzig  zur  Konstituierung 
dieses  Verbandes  unter  dem  Namen  »Verein 
selbständiger  Handwerker  und  Fabrikanten«, 
der  aber  den  Grundsatz  der  Gewerbefreiheit 
nicht  preisgab,  sondern  niu*  eine  gewisse 
innere  Organisation,  wie  sie  durch  Ein- 
führung der  Gewerbefreiheit  verloren  ge- 
gangen war,  wieder  anstrebte.  Wie  sein 
Statut  besagt,  war  es  darauf  abgesehen, 
Verbessenmgen  der  Gtewerbegesetzgebung 
herbeizuführen,  die  hervortretenden  ünzu- 
träglichkeiten  im  gewerblichen  Leben  in 
ihren  Ursachen  zu  bekämpfen  und  wohlge- 
gliederte Verbände  zu  schaffen,  die  für 
Ordnung  und  Recht  innerhalb  der  Gewerbe 
wirken  könnten. 

Die  Innungen,  Genossenschaften,  Korpo- 
rationen einer  Stadt,  die  Gewerbekammer, 
der  Gewerbeverein  und  überhaupt  jede  be- 
stehende Vereinigung  selbständiger  Hand- 
werker vereinigen  sich  zu  einem  »Orts- 
verein*, die  ihrerseits  zu  Kreis-  und  Pro- 
vinzialverbänden  sich  gliedern  und  an  einen 
Centralverband  Anschluss  finden.  Erkämpfte 
für  Einführung  von  Gewerbe-  oder  Hand- 
werkerkammern ,  gewerblichen  Schiedsge- 
richten, obligatorischen  Fortbildungsschulen, 
für  Reformen  auf  dem  Gebiete  der  Gefäng- 
nisarbeit, der  Wanderlager,  Warenauktionen, 
des  Hausierliandels  etc.  Fachgewerbliche 
Korporationen,  mit  der  nötigen  gesetzlichen 
Autorität  ausgerüstet,  wurden  hauptsädüich 
befürwortet,  weil  sie  die  einzige  Möglich- 
keit, das  Kleingewerbe  vor  immer  tieferem 
Verfalle  zu  schützen,  boten,  und  das  nächste 
Ziel,  das  diese  »deutsche  Handwerker-  und 
Gewerbepartei«  ins  Auge  fasste,  wurde  in 
dem  auf  dem  Tage  zu  Bremen  1879  aufge- 
stellten Programm  wie  folgt  formuliert. 
Man  wünschte  Trennung  des  Fabrikgesetzes 
von  der  eigentlichen  Gewerbeordnung,  Be- 
freiung der  Gewerbeordnung  von  allen  Be- 
stimmungen, welche  polizeilicher  oder  civil- 
rechtlicher  Natur  smd  oder  in  sonstige 
Specialgesetze  gehören;  Entwicklung  des 
Innungsrechtes  imd  der  den  Innimgen  zu- 
stehenden gewerbegerichtlichen  Befugnisse 
zum  Ausgangs-  und  Angelpunkte  der  Klein- 
gewerbeordnung;  grundsätzliche  Uebergabe 
der  gewerblichen  Erziehung,  sowohl  der- 
jenigen mittelst  der  Lehre  als  derjenigen 
mittelst  der  Fachschule,  an  die  fachgewerb- 
liche Korporation ;  Ausarbeitung  einer  eigenen, 
sowohl  den  besonderen  Vediältnissen  der 
Grossindustrie  bezw.  ihrer  verscliiedenen 
Zweige  als  den  sozialen  Zeitbedürfnissen 
und   dem  Stande  des  Öffentlichen   Rechts- 


Handwörterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


70 


1106 


Handwerk 


bewusstseins   entsprechenden   Fabrikgesetz- 

febung.  Der  Verband  hielt  im  ganzen  mit 
ünschiuss  der  Dresdner  Versammlung  von 
1872  10  Tage  ab:  1873  in  Leipzig,  1874 
in  Quedlinburg,  1875  in  Cassel,  1876  in 
Köln,  1877  in  Darmstadt,  1878  in  Magde- 
burg, 1879  in  Bremen,  1880  und  1881  in 
Berlin,  aber  er  verlor  allmählich  den  Boden 
unter  den  Füssen.  Während  auf  dem  ersten 
Tage  in  Dresden  145  Städte  vertreten  waren, 
hatten  sich  auf  dem  10.  Tage  in  Berlin  die 
Repräsentanten  von  nur  14  Städten  zu- 
sammengefunden. Das  Organ  des  Ver- 
bandes war  die  in  Berlin  einmal  wöchent- 
lich erscheinende  »Gewerbezeitung«. 

Während  die  Handwerker  auf  diese  WeLse 
ihre  Interessen,  so  gut  sie  vermochten,  wahr- 
zunehmen suchten,  war  man  in  politischen 
Kreisen  bereit,  sie  zu  unterstützen.  Freiherr 
Karl  von  Fechenbach  schilderte  in  seiner 
Flu^hrift  »An  die  deutschen  Handwerker« 
die  Wirkungen  der  Gewerbefreiheit,  gab  die 
Skizze  einer  Innungsordnung  und  forderte 
zur  Bildung  von  Vereinen  zum  Schutze  des 
Handwerkers  auf.  Im  Reichstage  aber  war 
es  namentlich  die  deutsch-konservative  Partei, 
die  sich  für  die  Bildung  von  Innungen  inte- 
ressierte, und  da  auch  Fürst  Bismarck  dem 
Gedanken  nicht  abgeneigt  war,  kam  es, 
nachdem  der  preussische  Volkswirtschafts- 
rat zuerst  den  Entwurf  begutachtet  hatte, 
zur  Abänderung  der  Gewerbeordnung  durch 
das  G.  V.  18.  Juli  1881.  Dieses  wie  die  1 884  und 
1887  erlassenen  Gesetze  (vgl.  d.  Art.  G  e  w  e  r  - 
begesetzgebung  oben  Bd.  IV  S.  418) 
begünstigten  die  Entstehung  neuer  Innungen, 
erklärten  sie  zu  öffentlich-rechtlichen  Kor- 
jwrationen  und  statteten  sie  mit  Vorrechten 
aus,  die  in  den  Gewerbetreibenden  die  Lust 
zum  Anschluss  an  bestehende  oder  ziu: 
Begründung  neuer  Innungen  rege  machen 
sollten. 

Aber  die  Handwerker  waren  mit  diesen, 
wie  sie  sie  nennen,  lialben  Massregeln  nicht 
zufrieden.  Am  31.  Mai  1882  trat  in  Magde- 
burg eine  allgemeine  deutsche  Handwerker- 
versammlung zusammen,  sehr  stark,  von 
323  Abgeordneten,  die  etwa  100000  Hand- 
werker vertraten,  besucht,  und  auf  ilir  ge- 
langte eine  deutlich  ausgesprochene  zünft- 
lerische  Richtung  zum  Durchbruche.  Mit 
254  gegen  54  Stimmen  wiu-de  die  obligato- 
rische Innung  sowie  obligatorische  Rechte 
für  sie  gefordert;  ein  massvoller  Gegenan- 
trag, die  durch  das  Gesetz  von  1881  gege- 
bene Gunst  der  Verhältnisse  auszunutzen 
und  von  weiteren  Anträgen  auf  Abänderung 
der  Gewerbeordnung  einstweilen  abzusehen, 
wunle  aus  der  Vei-saramlung  mit  den  Rufen 
Nein  I  Niemals !  beantwortet.  Die  Re\ision 
der  Gewerbeordnung,  wie  sie  diese  Vor- ' 
Sammlung  wünschte,  sollte  sich  nach  4  Rich- 
tungen hin  erstrecken.    1.  Jeder  selbständige  j 


Handwerker  ist  verpflichtet,  der  am  Orte 
oder  im  Bezirk  bestehenden  Facliinnung  bei- 
zutreten, die  mit  Beitritts-  und  Beitrags- 
pflichten auszustatten  ist.  2.  Die  Berechti- 
gung zum  Betriebe  eines  Handwerks  ist  ab- 
hängig zu  machen  von  dem  Beitritt  zu  einer 
für  das  gleiche  oder  verwandte  Gewerbe 
bestehenden  Innung  und  der  vorher  be- 
standenen, duich  Gesetz  eingeführten  obli- 
gatorischen Meisterprüfung.  3.  Die  Pflicht 
zur  Führung  eines  Arbeitsbuches  wird  auf 
alle  Gesellen,  Gehilfen  etc.  ausgedehnt,  oline 
eine  Altersgrenze  festzusetzen.  Die  Ertei- 
lung ist  abhängig  zu  machen  von  der  vor- 
her bestandenen  obligatorischen  Gesellen- 
prüfung und  einer  ordnungsmässig  zurück- 
gelegten Lehrzeit  4.  Dem  Handwerk  ist 
durch  Einfülirung  von  Handwerkerkammem 
eine  legitime  Vertretung  und  obere  Auf- 
sichtsbehörde zu  geben.  Das  ProCTamm 
setzte  sich  also  zusammen  aus  den  Foi-de- 
rungen  der  Zwangsinnung,  des  Befähigungs- 
nachweises, der  Legitimationspflicht  für  die 
Gehilfen  imd  den  Handwerkerkammem.  Da- 
zu kamen  die  weiteren:  die  bestehenden 
Einrichtungen  in  Bezug  auf  Gefängnisarbeit, 
die  Militän\'erkstätten,  das  Submissionswesen 
und  das  Hausierwesen  geändert  zu  sehen. 
Auf  diesem  Magdeburger  Tage  wurde 
auch  die  Anregung  zur  Begründung  eines 
»Allgemeinen  deutschen  Handwerkerbundes« 
laut,  mit  einem  Centralkomitee  aus  5  Mit- 
gliedern an  der  Spitze,  dessen  Sitz  Berlin 
ist,  zu  bilden.  Die  Verdienste  des  Frei- 
herrn von  Fechenbach  um  das  Handwerk 
wurden  anerkannt,  aber  seine  Fühnmg  ab- 
gelehnt. Ausdrücklich  wurde  gewünscht, 
dass  ein  Handwerker  an  die  Spitze  der  Be- 
wegung trete.  Im  März  des  folgenden  Jahres 
kam  dieser  Bund  zu  stände  und  ein  provi- 
sorischer Vorstand  begann  die  Thätigkeit 
durch  Versendung  eines  Aufrufs  am  9.  April, 
der  zur  Beschickung  eines  allgemeinen  deut- 
schen Handwerkertages  nach  Hannover  für 
den  Mai  des  laufenden  Jahres  einlud.  Als 
Zweck  des  neuen  Bundes  wurde  die  Wah- 
rung und  Förderung  derHandwerksinteressen 
bezeichnet.  Besonders  die  Herbeifühnmg 
obligatorischer  genossenschaftlicher  Einricli- 
tungen  im  Reiclie  oder  in  deu  Einzelstaaten 
sollte  angestrebt  werden.  Der  neue  Ver- 
band schien  notwendig,  weil  der  ältere  Ver- 
band selbständiger  Handwerker  und  Ge- 
werbetreibender sehr  stark  zurückgegangen 
war  und  überhaupt  eine  gemässigtere  Auf- 
fassung vertrat,  die  bei  den  energischeren 
Zünftlern  keine  Anerkennung  mehr  fand. 
Der  ältere  Verliand  ging  jetzt  in  die  neue 
Organisation  auf.  Vom  20. — 23.  Mai  wurtle 
der  s(»hr  zahlreich,  von  348  Delegierten  be- 
suchte allgemeine  deutsche  Handwerkeiiag 
in  Hannover  abgehalten  imd  der  Sitz  des 
Vororts  nunmehr  von  Berlin  nach  Köln  ver- 


Handwerk 


1107 


legt.  Diesen  Tagen  folgten  weitere  1884, 
20.— 23.  JuH  in  Frankfurt  a.  M.;  1885,  16. 
bis  18.  August  in  Köln;  1886,  5.-8.  Sep- 
tember in  Kosen;  1887,  13. — 17.  August  in 
Dortmund ;  1888, 13. — 15.  August  in  München ; 
1889,  5. — 6.  August  in  Hamburg.  Als  Sitz 
des  Vororts  wiu'de  seit  1884  München  aus- 
ersehen und  als  Organ  des  Verbandes  das 
»Allgemeine  Grewerbeblatt«  (seit  1883)  be- 
stimmt, das  sich  seit  1886  in  die  ^»Allge- 
meine  Handwerkerzeitung«  verwandelte.  Alle 
diese  Versammlungen  bewegten  sich  in  dem 
Rahmen  der  Magdeburger  Beschlüsse. 

Mittlerweile  liess  ein  leü  der  Hand- 
werker es  sich  angelegen  sein,  das  Innungs- 
gesetz von  1881  in  Wirklichkeit  umzusetzen, 
und  infolge  dieser  Bestrebungen  begründeten 
am  15.  Dezember  1884  die  Vorstände  von 
14  Fachverbänden  den  Centralausschuss  ver- 
einigter Innungsverbände  Deutschlands  in 
Berlin  für  die  einheitliche  Vertretung  ihrer 
gemeinsamen  Verbandszwecke.  Dieser  for- 
derte mit  einem  im  Juni  1885  versandten 
Aufrufe  zur  Beschickung  eines  »Deutschen 
Innungstages«  auf,  der  dreimal,  im  Juni  1885, 
im  September  1888  und  im  Juni  1890  sich 
versammelt  hat.  Hier  stützt  man  sich  auf 
den  Innungsgedanken.  Das  Interesse  am 
Innungswesen  soll  warme  Förderung  er- 
fahren; man  sucht  die  Bildung  neuer  In- 
nungen zu  ermöglichen  und  den  bestehenden 
Innungen  neue  Mitglieder  zuzuführen.  Die 
Forderung,  die  Innimgen  obligatorisch  zu 
machen,  ist  gelegentlich  unumwunden  aus- 
gesprochen, aber  nicht  ins  Programm  auf- 
genommen worden.  An  den  Aufgaben  der 
Inmmg  sollen  Meister  und  Gesellen  gemein- 
sam auf  Gnmd  gesetzlicher  Normen  mit- 
wirken. Das  Recht  zur  Ausbildung  von 
Lehrlingen  soU  den  Innungsmeistem  vorbe- 
halten bleiben,  denen  auch  auf  Grund  des 
ordnungsmässig  von  der  Innung  erlangten 
Meisterbriefes  die  Führung  des  Meistertitels 
gestattet  werden  soll.  Zu  fast  aUen  gewerb- 
lichen Einrichtungen  der  Innung  sollen  Nicht- 
innungsmeister  ebenfalls  Beiträge  zahlen.  Zur 
Einführung  des  Befähigungsnachweises  stellt 
man  sich  durchaus  sympathisch.  Mit  247 
gegen  4  Stimmen  wurde  auf  dem  ersten 
Innungstage  eine  darauf  bezügliche  Resolu- 
tion angenommen.  Im  weiteren  wünscht 
man  Reformen  der  Krauken-  und  Unfall- 
versicherung und  hat  auch  die  schon  auf 
den  Handwerkertagen  berührten  Punkte, 
als  Gefängnisarbeit,  Militärwerkstälten,  Sub- 
missionen etc.  in  den  Kreis  der  Beratung 
gezogen.  Der  Sitz  des  Centralausschusses 
ist  Berlin;  sein  Org-an  die  wöchentlich  er- 
scheinende   »Deutsche  Handwerkerzeitung«. 

Von  dem  >deutschen  Handwerkerbunde« 
weicht  der  >  Centralausschuss '<  ab,  indes  ist 
es  schwierig,  den  Unterschied  in  der  Auf- 
fassung beider  klar  anzugeben.    Sowolil  auf 


dem  zweiten  Innungstage,  1888  in  Berlin, 
als  auf  dem  sechsten  deutschen  Handwerker- 
tage, 1888  in  München,  kam  das  Verhältnis 
zwischen  beiden  (Jrganisationen  zur  Sprache, 
ohne  dass  völlige  Klarheit  erzielt  wurde. 
Zunächst  scheint  der  Unterschied  politischer 
Natur  zu  sein.  Der  Centralausschuss  steht 
auf  dem  Boden  des  Gewerbegesetzes,  der 
Handwerkerbimd  auf  dem  des  Vereinsge- 
setzes. Dem  ersteren  ist  die  Innung  Selbst- 
zweck, der  letztere  scheint  durch  sie  dem 
Handwerke  wohlwollend  gesinnte  Männer 
in  die  gesetzgebenden  Körper  bringen  zu 
wollen.  Ferner  geht  man  in  den  Haupt- 
programmpunkten auseinander.  Der  Hand- 
werkerbund will  die  obhgatorische  Innung, 
der  Centralausschuss  die  fakultative,  aber 
doch  mit  solchen  Vorrechten  ausgestattet, 
dass   es   für  jeden   Handwerksmeister  das 

g'össte  Interesse  hat,  sich  ihr  anzusclüiessen. 
er  Befähigungsnachweis,  den  der  Hand- 
werkerbund so  sehr  betont,  wird  vom  Cen- 
tralausschuss lau  verfochten.  aUlerdings  hat 
auch  er  sich  für  diesen  »Eckstein  der  ganzen 
Bestrebungen«  ausgesprochen,  aber  unver- 
kennbar zieht  sich  durch  die  Verhandlungen 
über  ihn  der  Gedanke,  dass  die  günstigen 
Wirkungen  der  Einführung  des  Befähigungs- 
nachweises nicht  ein  wandsfrei  sind.  Für 
den  Centralausschuss  ist  der  Befähigungs- 
nachweis erst  der  Schlussstein  des  aufzu- 
richtenden Gebäudes.  Der  Handwerkerstand 
soll  korporativ  geeinigt  werden,  die  Innungen 
sollen  wirkliche  Vertretungskörper  des  Hand- 
werks sein,  und  in  ihre  Hände  soll  die  Durch- 
fühi-ung  des  Befähigungsnachweises  gelegt 
werden.  Hat  man  die  korporative  Organi- 
sation vollständig  durchgeführt,  so  wäi-e  es 
nicht  unmöglich,  dass  man  den  Befähigungs- 
nachweis fallen  liess.  Jedenfalls  hält  der 
Centi'alausschuss  nicht  dafür,  dass  man  ihn 
schon  jetzt  obligatorisch  machen  könne.  In 
allen  übrigen  Nebenpimkten  sind  beide  Or- 
ganisationen einig. 

Die  berührten  Differenzen  haben  beide 
Parteien  nicht  gehindert,  mit  einander  Be- 
rührung zu  suchen,  da  sie  sich  in  dem 
Punkte,  die  Interessen  des  deutschen  Hand- 
werkerstandes fördern  zu  wollen,  ja  eins 
wissen.  Auf  dem  zweiten  Innungstage  wurde 
der  Vorstand  ausdrücklich  beauftragt,  sich  mit 
dem  Vorstande  des  Allgemeinen  deutschen 
Handwerkerbuudes  über  Wege  und  Ziele 
eines  gedeihlichen  Zusammenwirkens  ins 
Einvernehmen  zu  setzen.  Diese  Verständi- 
gung führte  in  der  Folge  dazu,  dass  beide 
Vereinigungen  sich  an  den  Kaiser  wandten 
(1890)  mit  der  Bitte,  eine  sogenannte  Im- 
mediatkommission  zur  Untersuchung  der 
Lage  des  Handwerkes  und  zur  Prüfung  der 
Wege,  die  man  etwa  behufs  Ablülfe  der  im 
Handwerkei-stande  laut  gewordenen  Klagen 
einschlagen    könnte,    einzusetzen.      In    der 

70* 


1108 


Handwerk 


That  hat  diese  Handwerkerkonferenz,  zum 
15.  Juni  desselben  Jahres  einberufen,  getagt. 
Auch  späterhin  hat  man  gerne  die  Hand- 
werker aufgefordert,  ihre  Meinungen  und 
Wünsche  direkt  zur  Kenntnis  der  Regie- 
rung gelangen  zu  lassen.  Am  25.  und  26. 
November  1892  wurden  im  Reichsamte  des 
Innern  Konferenzen  unter  dem  Vorsitze  des 
Staatssekretärs  über  die  von  der  Gesetz- 
gebung geplanten  Reformen  veranstaltet  und 
vom  8. — 10.  September  1896  erneut  eine  all- 
gemeine Handwerkerkonferenz  in  Berlin  ein- 
benifen,  um  zu  dem  preussischen  Antrag 
an  den  Bundesrat  vom  Anfang  des  Jahres 
1896,  der  eine  Organisation  auf  der  Grund- 
lage  der  Zwangsinnung  befürwortete,  Stellung 
zu  nehmen.  Der  sehr  zahlreich,  von  etwa 
2000  Delegierten  besuchte,  vom  14.— 17.  Fe- 
bruar 1892  in  Berlin  stattgehabte  »Deutsche 
Innungs-  und  allgemeine  Handwerkertag« 
hat  sich  zwar  sehr  lebhaft  der  Erörterung 
des  Befähigungsnachweises  hingegeben,  da- 
gegen die  obligatorische  Innung  nicht  mit 
der  gleichen  Stärke  betont.  Im  übrigen  ist 
auch  er  für  Regulierung  der  Fragen  der 
Gefängnisarbeit,  des  Hausierhandels,  der  Ab- 
zahlungsgeschäfte, Konsumvereine  etc.  ein- 
getreten. Zum  Genossenschaftsgedanken  hat 
er  eine  ablehnende  Stellung  eingenommen. 
Auf  ihn  sind  am  9.  und  10.  April  1894  und 
am  27.  April  1897  ebenfaUs  in  Berlin  abge- 
haltene Deutsche  Innungs-  un  d 
allgemeine  Handwerkertage  ge- 
folgt. Die  Verhandlungen  bezweckten  die 
Stellungnahme  zu  dem  Entwurf  eines  Ge- 
setzes betreffend  die  Abänderung  der  Ge- 
werbeordnung. Auf  dem  1894er  Tage,  auf 
dem  sehr  viele  Delegierte  anwesend  waren, 
wurde  einstimmig  die  Zwangsinnung  als  Fun- 
dament der  Organisation  gefordert.  Mit  den 
freiwilligen  Innungen  sei  nichts  Bedeuten- 
des zu  schaffen,  weil  sie  so  wenig  Greif- 
bares böten.  Selbst  wenn  den  freien  In- 
nungen noch  weitere  Rechte  verliehen  wür- 
den, kämen  sie  doch  nicht  zur  Blüte.  Denn 
sie  seien  nur  für  ideale  Menschen  berechnet, 
für  Menschen,  wie  sie  sein  sollten,  nicht 
wie  sie  sind. 

Auch  der  1897er  Innungstag  liat  sich 
einstimmig  auf  den  Boden  der  Zwangsinnung 
gestellt  und  grundsätzlich  die  Beschlüsse 
der  früheren  Innungs-  und  Handwerkertage 
gebilligt  sowie  in  einer  Petition  an  den 
Deutschen  Reichstag  vom  29.  Aprü  1897 
diesen  Standpunkt  zum  Ausdruck  gebracht. 
In  dieser  wurden  auch  bestimmte  Grund- 
sätze zur  Festlegung  des  Innungswesens 
empfohlen,  namentlich  die  Bestimmimg, 
dass  selbst  diejenigen  Mitglieder  des  Hand- 
werks, die  es  fabrikmässig  betreiben,  der 
Innung  beizutreten  verpflichtet  sein  sollen. 
Sonst  meinte  man,  würden  die  Kernti'ui)pen 
des  Handwerks  den  korix)i*ativen  Organisa- 


tionen entzogen  und  diesen  nur  die  wirt- 
scliaftlich  schwachen  Elemente  verbleiben. 
Auch  bat  man,  dafür  Sorge  tragen  zu  wollen, 
dass,  wo  bestehende  und  neu  sich  bildende 
Innungen  aus  irgend  einem  Grunde  den 
Cliarakter  einer  Zwangsinnimg  nicht  erhalten 
wollen  noch  können,  diesen  freiwilligen  In- 
nungen auf  befürwortende  Begutachtung 
seitens  der  Handwerkskammer  und  des  zu- 
ständigen Innungsverbandes  gemäss  §  104  g 
der  R.G.O.  die  Rechte  aus  den  §§  100  e  bis 
100  m  in  verbesserter  Fonn  verliehen  würden. 
Es  wurde  dabei  als  selbstverständlich  vor- 
ausgesetzt, dass  die  bereits  privilegierten 
Innungen  im  Rahmen  des  neuen  Gesetzes 
ihre  Rechte  behalten  würden. 

Der  inHalle  vom  21.— 24.  April  1895  vorsieh 
gegangene  achte  allgemeine  deutsche 
Handwerkertag  hat  keinen  Nachfolger 
gehabt.  Eine  Fortsetzung  der  seit  1883 
von  dem  damals  eben  begründeten  allge- 
meinen deutschen  Handwerkerbund  bis  1889 
regelmässig  jährlich  abgehaltenen  Versamm- 
lungen war  veranlasst  nicht  nur  durch 
den  Wunsch,  zu  den  neuesten  Regierungs- 
plänen Stellung  zu  nehmen,  sondern  über- 
haupt wieder  einmal  die  Bedürfnisse  des 
Handwerks,  insbesondere  nach  einer  gesetz- 
lichen Intei'essenvertretung,  öffentlich  zu  be- 
tonen und  die  Notwendigkeit  einer  Revision 
der  Gesetzgebung  zu  beleuchten. 

Ein  mittelrheinisch  -  südwest- 
deutscher Handwerkertag  fand  auf  An- 
regung der  hessischen  Innungen  im  Mai 
1897  in  Mainz  zur  Besprechung  der  Gesetzes- 
vorlage statt.  Er  verteidigte  den  Stand- 
punkt, der  in  einer  Resolution  zum  Aus- 
dnick  kam,  dass  das  gesamte  deutsche 
Handwerk  einscliliesslich  dem  handwerks- 
mässigen  Fabrikbetriebe  auf  gesetzlichem 
Wege  zusammengefasst  werden  müsse  und 
zwar  mit  der  Gliederung  als  Meister,  Ge- 
sellen und  Lehrlinge.  Den  bestehenden  In- 
nimgen  und  Handwerkervereinigungen  sollten 
ihre  Rechte  unverkürzt  bleiben ;  zu  den  Hand- 
werkerkammern nur  Handwerksmeister  wahl- 
berechtigt sein ;  Meister  sich  nur  diejenigen 
nennen  dürfen,  die  ihr  Handwerk  ordnungs- 
mässig  erlernt  haben. 

Ein  Versuch,  die  beiden  immerhin  noch 
auseinanderlaufenden  erwälinten  Richtimgeu 
im  deutschen  Handwerk  zu  verschmelzen, 
ist  in  dem  Vorschlag  zur  Gründung  einer 
sogenannten  Mittelstandspartei  zu  er- 
blicken. Bereits  auf  dem  im  Februar  1892 
in  Berlin  abgehaltenen  Innungs-  imd  Allge- 
meinen Handwerkertage  wurde  der  Gedanke, 
eine  Handwerkerpartei  zu  gründen, 
verhandelt,  die  insbesondere  für  Vertretiui^ 
des  Handwerks  im  Reichstage  und  über- 
haupt im  politischen  Leben  soi'gen  sollte. 
Man  sah  aber  davon  ab,  weil  einmal  die 
gi-össten  und  aussclilaggebenden  Fraktionen 


Handwerk 


1109 


des  Reichstages  bereits  die  Interessen  des 
Handwerks  zu  ihi'er  eigenen  Sache  zu  machen 
jjüegten  und  überdies  eigentlich  in  dem 
allgemeinen  deutschen  Handwerkerbunde, 
der  in  jeder  Pro\inz  ein  Bundesamt  besitzt 
und  dessen  Kreise  nach  den  Reichstags- 
wahlbezirken  abgegrenzt  sind,  die  gewünschte 
Organisation  schon  vorhanden  wai\  Im 
nächsten  Jahre  tauchte  dieselbe  Idee  in 
etwas  anderer  Gestalt  auf,  indem  auf  der 
am  10.  März  1893  abgehaltenen  Versamm- 
lung Berliner  Handwerker  gerade  in  der 
Gründung  einer  selbständigen  Mittelstands- 
partei das  ereehnte  Heil  für  den  Hand- 
werkerstand gefunden  wiuxie.  Man  hielt 
das  fernere  Zusammengehen  der  Handwerker 
mit  anderen  politischen  Parteien  nicht  fCir 
ei-spriesslich  und  beauftragte  die  ständige 
Deputation  des  Innungsausschusses  und  den 
Centralvorstand  der  vereinigten  Innungsver- 
bände Deutsclilands,  daliin  zu  wirken,  dass 
eine  deutsche  Mittelstand s])artei  gegründet 
werde,  damit  Handwerker  in  den  Reichstag 
imd  Landtag  gewählt  würden.  Die  (i  Wochen 
sjiäter,  am  21.  April  tagende  zweite  allge- 
meine Versammlung  der  selbständigen  Hand- 
Averker  Berlins,  deren  Tagesordnung  in  der 
Aveiteren  Besju-echung  der  gegenwärtigen 
Lage  des  Handwerks  bestand,  lioss  diesen 
Gedanken  nicht  fahren,  sondern  legte  eben- 
falls Gewicht  darauf,  dass  das  Handwerk 
mehr  politischen  Einfluss  erlange  und  diesen 
vor  allen  Dingen  bei  den  Reichstagswahlen 
zu  bethätigen  strebe.  Demgemäss  wurde 
mit  überwiegender  Majorität  beschlossen, 
>zur  Erreichung  der  Forderungen  und  zur 
besseren  Vertretung  der  Interessen  eine 
eigene  Partei  zu  ginindcn,  welclie  auf  den 
gesamten  städtischen  Mittelstand  auszu- 
ilehnen  ist«.  Indes,  wenn  auch  der  Central- 
ausschuss  der  vereinigten  Innungsverbände 
Deutsclilands  beaufti^agt  wurde,  schleunigst 
die  geeigneten  Schritte  zur  Verwirklichung 
der  Resolution  zu  thun,  so  wai*  diese  doch 
viel  zu  vorsichtig,  um  sich  in  dieser  Be- 
ziehung zu  engagiei-en,  oder  haben  die  mög- 
licherweise stattgehabten  Verhandlungen 
wenigstens  kein  greifbares  Resultat  erzielt. 
Der  Hallischo  Handwerkertag  von  1895 
aber  hat  ausdrücklich  die  (iründiuig  einer 
Mittelstandspartei  für  überfliissig,  ja  schäd- 
lich erklärt,  weil  bereits  Parteien  mehr  wie 
genug  beständen  und  für  die  Forderungen 
des  deutschen  HandAverks  im  Reichstag 
schon  eine  grosse  Mehrheit  vorhanden  sei. 
Immerhin  hat  sich  doch  im  Mai  1895  in 
Halle  eine  Mittelstandspartei  gebildet, 
die  es  als  ihre  hauptsächlichste  Aufgabe 
ansieht,  Handwerk  und  Handel,  die  bisher 
ohne  nahe  i.»olitische  Fühlung  waren,  einan- 
der nälier  zu  bringen.  Man  weist  auf  die 
Interessengemeinschaft  zwischen  beiden  Stän- 
den hin  und  betont  als  gemeinsames  Ziel: 


die  Erlialtung  eines  leistungsfähigen  breiten 
Mittelstandes,  eines  selbständigen  deutschen 
Büigertums.  Mau  wiU  die  Auswüchse  des 
Kapitalismus  und  die  wüste,  schrankenlose 
Konkurrenz  bekämpfen,  weil  man  in  ihnen 
die  Hauptursachen  der  nickgängigen  Bewe- 
gung in  unseren  wirtschaftlichen  Verhält>- 
nissen  erblickt.  Für  den  Kaufmann  fordert 
die  Partei  Beseitigung  der  übermächtigen, 
durch  die  Konsumvereine  ihm  erwachsenden 
Konkiu'renz,  Zurückdrängen  des  Unwesens 
der  sogenannten  Warenhäuser  und  hohe  Be- 
steuening  der  Filialen.  Für  das  Handwerk 
aber  will  sie  eine  geeignete  Organisation 
und  sichernde  Schranken  herbeifüliren,  die 
seinen  Angehörigen  die  Früchte  ihres  Fleisses 
und  erlernten  Könnens  zu  gute  kommen 
lassen.  Es  hat  aber  diese  Partei  den  Massen- 
beitritt, auf  den  das  Programm  rechnete, 
nicht  gefunden  und  liat  sich  in  der  ganzen 
Bewegung  weiter  nicht  in  hervorragender 
Weise  bethätigt.  Hindemd  für  ihre  Wirk- 
samkeit ist  gewiss  der  Umstand,  dass  der 
sogenannte  Mittelstand  sich  aus  den  alier- 
verschiedensten  Bevölkerungsklassen  und 
Interessengrupi>en  zusammensetzt  und  nicht 
recht  abgegrenzt  werden  kann.  Nur  so  viel 
Hesse  sich  sagen,  dass  zum  Mittelstande  ge- 
hört, w^as  zwischen  Grosskapital  und  Prole- 
tariat in  der  Mitte  liegt.  Wie  nun  aber  die 
Schranken  nach  oben  und  nach  unten  hin 
zu  errichten  wären,  will  nicht  einleuchten, 
und  es  muss  in  Frage  gezogen  werden,  ob 
es  möglich  sein  wird,  verschiedene  Klassen 
—  den  Landmann  vom  Kleinbauern  bis  zum 
Rittergutsbesitzer ,  den  Gewerbetreibenden 
von!  Handwerker  bis  zum  Fabrikanten,  den 
mittleren  und  kleinen  Kaufmann,  auch  die 
sonstige  städtische  Bevölkerung  oder  Beamte 
und  Gelehrte  zu  gemeinsamem  Kampfe  zu- 
sammen scliliessen. 

Auf  diese  Weise  sind  in  der  heutigen 
Handwerkerbewegung  immer  noch  drei  ver- 
schiedene Hauptströmuugen  ganz  deutlich 
aus  einander  zu  halten.  1.  Der  allgemeine 
deutsche  Handwerkerbund.  Er  hält 
die  Anwendung  des  Zwangsprincips  bei  der 
Organisation  des  Gewerbes  füi*  notwendig 
uncl  erspriesslich,  erwartet  vom  Befähi- 
gungsnachweis wolilthätige  Wirkungen,  aber 
schreckt  doch  vor  einer  biu-eaukratisch-cen- 
ti-alisierenden  Zusammenfassung  des  gesamten 
Handwerks  ziu'ück.  2.  Der  Centralaus- 
schuss  der  vereinigten  Innungs- 
verbände, dem  sich  die  hansestädtischen 
Gewerbekammern  angeschlossen  haben.  Von 
dieser  Richtimg  winl,  genau  genommen, 
einem  vollständigen  Rückfall  in  die  ältere 
Zunftverfassung  das  Wort  geredet,  und  wenn 
auch  selbstverständlich  die  gröbsten  Miss- 
bräuche wie  insljcsondere  die  hohen  Kosten 
bei  dem  Eintritt  in  die  Zunft  und  die  chika- 
nösen    Erschwerungen    der   Erlangung    des 


1110 


HaadweA 


Meisterrechts  fortfallen,  so  ist  man  doch 
nicht  sicher,  inwieweit  die  Yerwirklichung 
der  geplanten  Organisation  für  viele  Ge- 
werbetreibende neue  Härten  in  sich  schliessen 
wird.  3.  Der  am  8.  September  1891  ge- 
gründete Verband  deutscher  G- e - 
werbe  vereine.  Er  nimmt  einen  freien 
Standpimkt  ein  und  hält  sich  fern  von  dem 
Gedaulfen,  auf  dem  Wege  des  Zwanges  den 
deutschen  Gewerbestand  fördern  zu  können. 
Ohne  im  einzelnen  ein  bestimmtes  Pro- 
gramm entwickelt  zu  haben,  wie  dies  über- 
haupt geschehen  könne,  strebt  er  ein  Zu- 
sammenwirken der  Gewerbevereine  zur  Ver- 
tretung ihrer  gemeuisamen  Interessen  und 
zur  gegenseitigen  Förderung  ihrerAuf gaben  an. 

Neben  diesen  hauptsäclüichsten  Organi- 
sationen bestehen  noch  mehrere  territorial 
begi'enzte  Verbände,  über  deren  Haltimg  es 
schwer  wird,  ein  Urteil  zu  fällen,  da  die 
Protokolle  der  von  ihnen  veranstalteten  Ver- 
sammlungen buchhändlerisch  gar  nicht  und 
auf  privatem  "Wege  meist  nur  unvoll- 
ständig zu  beschaffen  sind. 

Der  »westdeutsche  Bund«  selbständiger 
Handwerker  ist,  soweit  ich  sehe,  am  25. 
September  1882  in  Köln  geginindet.  Der 
Proviuzial verein  westfälischer  Hand- 
werksmeister besteht  seit  1881.  Aus  den 
schlesischen  Handwerkertagen  von  1881  und 
1882  hat  sich  der  ostdeutsche  Hand- 
-werkerbund  entwickelt,  der  zuei-st  1883  in 
Neustadt  O.-S.  getagt  liat.  Für  Bayern  ist, 
mit  dem  Sitz  in  München,  seit  1883  der 
bayerische  Handwerkerbund  erstan- 
den. Er  teilt  die  Anschauungen  des  allge- 
meinen deutschen  Handwerkerbundes  und 
wie  es  scheint,  weicht  auch  das  Programm 
der  anderen  erwähnten  Verbände  von  dem 
des  letzteren  nicht  ab.  Ein  Verein  selbstän- 
diger Handwerksmeister  des  Siegkreises 
zählt  in  17  Geschäftsstellen  800  Mitglieder 
und  ist  eine  Abteilung  des  Rheinischen 
P  r  0  V  i  n  z  i  a  1  h  a  n  d  w  e  r  k  e  r  b  u  n  d  e  s ,  d  er 
zum  Juli  1900  seine  16.  Versammlung  aus- 
geschrieben hat.  Ein  badischer  Hand- 
werkerverband besteht  wohl  seit  vielen 
Jahren,  ist  aber  seit  Erlass  des  Gesetzes  von 
1897  mit  einem  grösseren  Programm  stärker 
hervorgetreten.  Er  sucht  die  Zusammen- 
fassung der  einzelnen  Handwerke  in  fest 
gefügte  Lokal-,  Bezirks-  und  Landesverbände 
lierbeizuführen,  zunächst  im  Hinblick  auf 
die  Wahlen  für  die  Handwerkskammer,  dann 
aber  auch  zur  Erreichung  allgemeiner  Ziele. 
Sein  Progi-amm  ist  abgedruckt  im  Hand- 
werkerkalender füi-  Baden  1899  S.  138—139. 

II.  Das  Prograium  der  Handwerker  und 

seine  ErfüUnng. 

Die  Wünsche,  welche  die  Handwerker 
behufs  Besserung  ihrer  Lage  geäussert  haben, 
sind  mannigfaltiger  Ai-t.    Sie  sind  sieh  darin 


einig,  dass  neben  der  Vertretung  durch  die 
Innungsverbände  eine  kräftige  pohtische 
Vertretung  anzustreben  sei.  Von  den  ein- 
zelnen Punkten  des  ganzen  Programms 
muss  gesagt  werden,  dass  sie  teilweise  ganz 
vernünftige  und  zweckmässige  Reformen  ver- 
langen, teilweise  mit  den  heutigen  volks- 
wirtscliaftlichen  Anschauungen  unvereinbai'e 
Forderungen  aussprechen.  Manche  der  ver- 
lauteten Wünsche  betreffen  allgemeine  volks- 
\virt6chaftliche  Verhältnisse,  und  wenn  auch 
Aenderungen  auf  diesen  Gebieten  durchaus 
heilsam  wären,  so  ist  es  doch  fraglich,  ob 
gerade'  das  Handwerk  so  grossen  Vorteil 
daraus  ziehen  würde,  wie  jetzt  angenommen 
^sdrd.  Natürlich  würde  eine  zweckmässige 
Verbesserung  wirtschaftlicher  Missstände 
schliesslich  dem  Handwerke  ebenfalls  zu 
gute  kommen,  aber  es  ist  sehr  zu  fürchten, 
dass  die  Handwerker  übertrieben  grosse  Er- 
wartungen von  der  Diuxjhführung  ihrer  Vor- 
schläge hegen. 

Einen  Teil  ihrer  Wünsche  finden  die  Hand- 
werker jetzt  durch  das  Reichsgesetz  vom  26. 
Juli  1897  erfüllt.  lieber  dessen  Vorbereitung 
siehe  die  Artikel  Handwerk  im  ersten 
Supplementband  zum  Handwörterbuch  der  Staats- 
wissenschaften S.  467  und  Gewerbegesetz- 
g  e  b  a  n  g  im  zweiten  Supplementband  S.  364.  Dem 
Gesetz  ist  die  kaiserliche  Verordnung  vom 
14.  März  1898  gefolgt,  durch  die  die  Inkraft- 
setzung eines  Teiles  der  Bestimmungen  des 
einen  Gesetzes,  so  die  über  die  Innungen, 
Innungsausschüsse  und  das  Lehrlingswesen 
verfügt  wurde,  und  die  Bekanntmachung  des 
Bundesrats  vom  19.  März  1898  über  die  Muster- 
statuten für  Innungen  u.  s.  w.  Die  Besonder- 
heiten des  neuen  Gesetzes  gipfeln  in  1.  der 
fakultativen  Zwangsinnung,  2.  der  Handwerks- 
kammer, 3.  einer  anderen  Regelung  des  Lehr- 
lin^swesens.  4.  Vorschriften  zur  Führung  des 
Meistertitels.  Das  neue  Recht  in  Bezug  auf  die 
Innungen  unterscheidet  sich  insofern  nicht 
wesentlich  von  dem  bisherigen,  als  die  Auf- 
gaben der  Innungen,  der  obligatorischen  wie  der 
fakultativen,  die  gleichen  haben  bleiben  müssen. 
Die  Grundpfeiler,  auf  denen  das  genossenscht^- 
liche  Zusammenwirken  sich  bethätigen  soll, 
können  nicht  andere  werden.  Aber  schwer  wiegt 
die  Anordnung,  dass  auf  Antrag  der  Beteiligten 
die  höhere  Verwaltungsbehörde  die  Errichtung 
einer  Innung  verfügen  darf,  der  alsdann  alle 
Gewerbetreibenden  innerhalb  des  betreffenden 
Bezirks,  die  das  gleiche  Handwerk  oder  ver- 
wandte Gewerbe  betreiben,  sich  anschliessen 
müssen.  Näheres  siehe  im  Artikel  Innung. 
Wirklich  haben  die  Handwerker  von  dieser  Er- 
mächtigung verhältnismässig  wenig  Gebrauch 
Seemacht,  und  selbst  in  einem  Lande,  wo  der 
Innungsgedauke  seither  sehr  hoch  gehalten 
wurde,  wie  im  Königreich  Sachsen,  überwiegen 
die  freien  Innungen.  Sehr  bald  ist  in  den 
Handwerkerkreisen  die  Ueberzeugnn^  entstan- 
den, dass  auf  den  gegenwärtigen  Bestimmungen 
sich  lebensfähige  Innungen  schlechterdings  nicht 
aufbauen  Hessen.  An  vielen  Orten  haben  nach 
kurzem  Bestände  die  Zwangsinnungen  schon 
wieder  ihre  Auflösimg  beschlossen,  und  manche 


Handwerk 


1111 


Handwerker,  denen  die  Novelle  sonst  durchaus 
zusagt,  meinen  doch,  dass  man  von  einer  Neu- 
organisation so  lange  hätte  absehen  müssen,  als 
die  obligatorische  Innung  unerreichbar  war. 
Man  will  gefunden  haben,  dass  die  bedingten 
Zwangsinnungen,  d.h.  solche,  denen  nur  Meister, 
die  Gesellen  und  Lehrlinge  beschäftigen,  ange- 
hören müssen,  während  die  allein  arbeitenden 
Handwerker  nur  beitrittsberechtigt  sind,  besser 
funktionieren  als  die  unbedingten  Zwangsin- 
nungen, die  alle  umfassen  und  daher  auch  mit  den 
Innungsge^nern  rechnen  müssen.  Trotz  aller 
Vorteile,  die  die  Zwangsinnungen  bieten  sollen, 
die,  wie  ihre  Anhänger  meinen,  nicht  zum  Ruin, 
sondern  zur  wahren  Freiheit  führen,  wird  auch 
das  Bild  sich  demnächst  kaum  ändern.  Es  mag 
ja  sein,  dass  eine  sämtliche  Handwerker  einer 
Art  vereinigende  Innung  stärker  ist  als  eine 
freie  Innung,  der  nur  ein  Teil  der  Fachgenossen 
angehört,  dass  die  Zwangsinnung  freier  operieren 
kann,  weil  sie  nicht  den  Austritt  oppositions- 
lustiger Mitglieder  zu  fürchten  hat,  dass  sie  die 
Befolgung  der  Vorschriften  über  das  Lehrlings- 
wesen nachdrücklicher  kontrollieren  kann  u.  drgl. 
m.  Aber  that«ächlich  erscheint  ehen  doch  den 
meisten  der  Zwang  hindernd,  lästig,  drückend. 
Das  Zusammenwirken  vieler  widerwillig  ver- 
einigter Elemente  verspricht  keine  Erspriesslich- 
keit.  Vielleicht,  wenn  die  Zwangsinnung  auch 
materielle  Vorteile  ihren  Mitgliedern  böte, 
würde  sie  mehr  Anklang  finden.  In  der  That 
hat  die  „Deutsche  Tischlerzeitung"  jüngst  den 
Vorschlag  gemacht,  dass  die  in  der  Zwangs- 
innung vereinigten,  weil  Vorschriften  über 
Preisfestsetzungen  von  Waren  und  Lieferungen 
unzulässig  sind,  sich  freiwillig  in  dieser  Kichtung 
verständigen  möchten.  Aber  bis  die  Klein- 
gewerbetreibenden in  dieser  Weise  ihre  Inte- 
ressen wahrzunehmen  gelernt  haben  werden, 
wird  noch  lange  hingehen.  Jedenfalls  bedurfte 
es  für  Verabredungen  über  Preise,  die  noch 
dazu  den  Konsumenten  leicht  unbequem  werden 
könnten,  nicht  eines  solchen  Apparates,  wie  er 
in  den  fakultativen  Zwangsinnungen  sich  zeigt. 
VerheissnngsvoUer  sind  die  Handwerks- 
kammern, die  nach  §  103  bis  103  q  der  Reichs- 
gewerbeordnung geschaffen  werden  sollen. 
Schon  im  Frankfurter  Handwerkerparlament 
von  1848  angeregt,  hörte  die  Eröffnung  von 
solchen  nicht  auf,  während  der  siebziger  Jahre 
auf  den  verschiedenen  Handwerkertagen  die 
Köpfe  zu  beschäftigen,  und  bildete  einen  Punkt 
in  dem  neuen  grundlegenden  Programm  des 
Magdeburger  Tages  von  1882.  Im  folgenden 
Jahre  Hessen  preussische  Handwerker  eine 
hierauf  bezügliche  Petition  dem  Herrdnhause 
zugehen,  und  auf  den  späteren  Handwerkertagen 
in  Köln,  Frankfurt  a.  M.,  Berlin,  Kosen  wurde 
das  Thema  immer  wieder  gestreift,  in  letzterer 
Versammlung  eingehend  erörtert.  Die  Hand- 
werker wünschten  diese  Einrichtung,  weil  in  den 
Gewerbekammern,  wie  sie  in  Sachsen,  Bayern, 
den  Hansestädten  bestehen,  ausschliesslich  die 
Grossindustrie  Berücksichtigung  fand,  die  neuen 
preussischen ,  hierher  gehörigen  Institute  als 
völlig  missglückt  angesehen  wurden.  Der  Ge- 
danke selbst  hat  im  Laufe  der  Zeit  mehrfache 
Klärung  erfahren.  Ursprünglich  1848  (§  16  des 
Entwurfes  des  Handwejrkerkongresses)  wollte 
man  Specialgewerbekammern,  die  den  gesetz- 
gebenden  Ständekammern   beratend  zur  Seite 


stehen  sollten  und  sich  sowohl  mit  den  Gewerbe- 
räten als  mit  den  Arbeitsministerien  über  alle 
gewerblichen  Angelegenheiten  zu  benehmen  ge- 
habt haben  würden.  Die  damals  ausserdem  ge- 
wünschte allgemeine  deutsche  Gewerbekammer, 
die  sich  jedesmal  gleichzeitig  mit  dem  deutschen 
Parlament  an  dessen  Sitz  versammeln  sollte, 
würde  ungefähr  die  Aufgabe  des  heute  von  den 
Handwerkern  geplanten  „Reichsinnungsamtes" 
gehabt  haben,  und  die  damais  projektierten  Ge- 
werberäte (§9,  10  de«  Entwurfes)  wären  etwa 
den  heute  verlangten  Handwerkerkammem 
gleichzustellen.  Auf  den  Handwerkertagen  aus 
den  siebziger  Jahren  wurden  „Gewerbehand- 
werkerkammem,  analog  den  Handelskammern" 
verlangt,  also  eine  offizielle  Vertretung  des  Ge- 
werbes überhaupt,  des  Handwerks  insbesondere. 
Eine  1878  in  Magdeburg  gefasste  Resolution 
besagt:  „Das  Handwerk  ist  berechtigt,  die  Ein- 
setzung solcher  Kammern  zu  verlangen,  welche 
in  beständiger  Fühlung  mit  der  Gesetzgebung 
es  möglich  machen,  dass  die  das  Handwerk  be- 
rührenden Gesetze  und  Verordnungen  nur  nach 
Anhörung  von  Sachverständigen  des  Handw^erks 
zu  Stande  kommen.  Die  Gesetzgebung  von  1869 
beweist  zur  Genüge,  dass  Gewerbe-  und  Hand- 
werkerkammem zum  Wohle  des  Handwerks 
sowie  des  gesamten  National  Wohlstandes  unbe- 
dingt notwendig  sind." 

Der  Versuch,  den  Fürst  Bismarck  im  Jahre 
1884  in  Preussen  machte,  Kammern  zu  erlassen, 
in  denen  Klein-  und  Grossindustrie,  Handel  und 
Landwirtschaft  vereinigt  waren,  befriedigte 
nicht  und  glückte  schlechterdings  nicht.  Ob- 
wohl damals  bereits  sehr  energisch  eine  klein- 
gewerblichen Interessen  gerecht  werdende  Ver- 
tretung gefordert  war,  hielt  man  es  doch  in 
Preussen  für  angemessener,  eine  einheitliche 
Organisation  der  wirtschartlichen  Interessen- 
vertretung für  sämtliche  Zweige  der  gewerb- 
lichen Thätigkeit  anzubahnen.  Die  Aufgabe 
der  Kammern  war,  über  die  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  ihres  Bezirks  Erhebungen 
zu  veranlassen,  Gutachten  abzugeben,  Anträge 
an  die  Behörden  zu  richten  u.  s.  w.  Indes  zu 
einer  erheblichen  Thätigkeit  sind  sie  nirgends 
gelangt.  Sie  schliefen  wieder  ein,  ehe  sie  noch 
recht  erwacht  waren,  und  von  einem  frucht- 
bringenden Erfolge  konnte  keine  Rede  sein. 

Nun  soll  die  Sache  anders  in  die  Wege  ge- 
leitet werden.  Von  jetzt  an  werden  durch  Ver- 
fügung der  Landescentralbehörde  Kammern  zur 
Vertretung  der  Interessen  des  Handwerks  ge- 
schaffen. Ihre  Aufgabe  ist  als  eine  doppelte  zu 
denken.  Einmal  haben  sie  die  Vertretung  der 
Gesamtinteressen  des  Kleingewerbes  schlechthin 
sowie  die  Vertretung  der  Interessen  der  in 
ihrem  Bezirke  vorhandenen  Handwerker  gegen- 
über der  Verwaltung  und  Gesetzgebung  des 
Staates.  In  dieser  Beziehung  werden  sie  die 
Staats-  und  Gemeindebehörden  durch  Mitteilung 
von  Thatsachen  und  Gutachten  über  Hand- 
werksangelegenheiten unterstützen,  Wünsche 
und  Anträge,  die  in  ihrer  Mitte  hervorwachsen, 
beraten  und  zur  Kenntnis  der  Behörden  gelangen 
lassen.  Zweitens  aber  werden  sie  Selbstverwal- 
tungskörper sein.  Sie  werden  die  nähere 
Regelung  des  Lehrlings wesens  haben  und  die 
Durchführung  der  für  dasselbe  geltenden  Vor- 
schriften überwachen.  Sie  werden  Ausschüsse 
bilden,  um  Gesellenprüfungen  abzunehmen  und 


1112 


Handwerk 


weitere  EommisBionen^  nm  Beschwerden  über  die 
Bescheide  der  Prfifangsansschüsse  zu  behandeln. 
Ueber  ihre  Organisation  im  einzelnen  vgl.  den  Ar- 
tikel Gewer  bekammern  obenBd.lV  S.  499ff. 

Mit  dem  1.  April  1900  sollten  die  nenen 
Kammern  in  Kraft  treten,  und  überall  sind  daher 
die  Wahlordnungen  sowie  die  Bezirke  der 
Kammern  bestimmt.  Preussen  wird  deren  38, 
Bayern  8,  in  denen  196  Mitglieder  sind,  Württem- 
berg und  Baden  4,  mit  je  24  Mitgliedern,  Mecklen- 
burg-Schwerin 1  mit  mindestens  24  Mitgliedern 
haben. 

Sehr  einschneidend  versprechen  die  Be- 
stimmungen über  das  Lehrlingswesen  zu 
werden.  Von  allen  Abschnitten  der  modernen 
Gewerbeordnung  hat  derjenige,  der  sich  auf  die 
Regelung  der  Lehrlingsverhältnisse  bezieht, 
stets  am  wenigsten  befriedigt.  Der  Wille  des 
Gesetzes  hat  mit  der  Wirklichkeit  immer  in 
grellem  Miss  Verhältnis  gestanden.  So  erwartet 
man  denn  viel  von  den  neuen  Anordnungen, 
die  einerseits  Garantieen  bieten  wollen,  dass 
der  Lehrvertra^  zum  Segen  beider  Teile  aus- 
schhige  und  die  Lehrzeit  auch  fruchtbringend 
wirke,  andererseits  der  Lehrlingszüchterei,  d.  h. 
einer  missbräuchlichen  Anwendung  jugendlicher 
Arbeitskräfte  einen  Rieoel  vorschieben  wollen. 
Näheres  im  Artikel  Lehrlingswesen.  Die 
darauf  bezüglichen  Abschnitte  des  Organisations- 
gesetzes sind  übrigens  noch  nicht  in  Kraft  ge- 
setzt. 

Minder  wichtig  scheint  die  Regelung  der 
Berechtigung,  den  Meistertitel  führen  zu 
dürfen,  zu  sein.  Schon  jetzt  steht  die  miss- 
bräuchliche  Anwendung  des  Ausdrucks  „Innungs- 
meister*' von  Seiten  derer,  die  nicht  Mitglieder 
einer  Innung  sind,  unter  Strafe.  Aber  die 
Handwerker  nennen  sich  gewöhnlich  nicht  so, 
sondern  schlechthin  Meister  und  legen,  nament- 
lich in  den  Kreisen  der  Baugewerbe  Gewicht 
auf  diesen  Titel.  In  vieler  Beziehung  erscheint 
das  ganze  als  eine  leere  Etikettenfrage,  da  man 
sich  schwer  vorzustellen  vermag,  dass  die 
Konsumenten  zu  einem  „Meister"  grösseres 
Vertrauen  haben  werden  als  zu  einem  anderen 
Gewerbetreibenden.  In  weitaus  der  Mehrzahl 
der  Fälle  weiss  das  Publikum  überhaupt  nicht, 
ob  es  mit  einem  Meister  oder  mit  einem  Manne 
zu  thun  hat,  der  auf  diesen  Titel  keinen  An- 
spruch hat.  Die  Hauptsache  ist,  dass  der  Be- 
treffende sein  Gewerbe  kann.  Das  merkt  der 
Konsument  aber  bald.  Dem,  der  etwas  versteht, 
ist  man  alsdann  gerne  bereit,  den  Ehrentitel 
„Meister"  zuzugestehen.  In  Handwerkerkreiseu 
denkt  man  indes  anders.  Man  hofft  eine  Kräf- 
tigung des  Standesbewusstseins  und  eine  Förde- 
rung des  soliden  Geschäftsbetriebs  zu  erzielen, 
indem  man  die  Führung  einer  Minorität  vorbe- 
hält, eben  derjenigen,  die  nach  Absolvierung 
der  vorschriftsmässigen  Lehr-  und  Gesellenzeit 
eine  förmliche  Meisterprüfung  bestanden  hat. 
In  diesem  Sinne  ist  jetzt  die  gesetzliche  Regelung 
erfolgt.  Doch  ist  auch  dieser  Abschnitt  in  Kraft 
getreten.  Für  die  zu  diesem  Zwecke  einzu- 
führende Meisterprüfung  werden  von  der  höheren 
Verwaltungsbehörde  Prüfungskommissionen  er- 
nannt, bestehend  aus  einem  Vorsitzenden  und 
4  Beisitzern.  Wie  nun  aber  die  Prüfung  abge- 
halten werden  soll,  wird  eine  Prüfungsordnung 
bestimmen,  die  die  Handwerkskammer  mit  Ge- 
nehmigung des  Ministeriums  erlässt.  Zugelassen 


wird  zur  Prüfung  nur  derjenige,  der  3  Jahre 
als  Geselle  in  dem  betreffenden  Gewerbe  thätig* 
gewesen  ist. 

Wie  man  aus  dieser  Charakterisierung  des 
neuen  Rechts  entnimmt,  sind  demnach  die 
Wünsche  der  Handwerker  keineswegs  vollständig' 
erfüllt  worden.  In  Preussen  oder  wenigstens 
speciell  in  Berlin  klagen  die  Innungä verbände, 
dass  die  Aufsichtsbehörden  ihnen  bei  der  Durch- 
führung der  Organisation  nicht  genügend  ent- 
gegen kämen.  Das  hat  sogar  am  25.  April  1899 
zu  einer  zahlreich  besuchten  Handwerksarbeiter- 
versammlung in  Berlin  geführt,  die  Protest 
gegen  das  Zwangsinnungsgesetz  erhoben  hat, 
das  die  Hofhungen  des  Handwerks  nicht  erfüllt 
hätte,  und  sich  über  die  bisherige  Handhabung* 
beschwerte.  Der  Handwerkerstand  habe  das 
Gesetz  in  dieser  Form  nicht  gewollt.  Eine  der- 
artige Haltung  erscheint,  so  lange  man  noch 
keine  rechte  Gelegenheit  jp^ehabt  hat,  die  Wirk- 
samkeit des  kaum  in  Kraft  getretenen  Gesetzes 
zu  erproben,  verfrüht.  Denn  wenn  auch  in  dem. 
Hauptpunkt — der  fakultativen  Zwan^innnng  — 
die  Organisadon  zu  versagen  scheint,  so  ist 
damit  gar  nicht  gesagt,  dass  die  übrigen  Ab- 
schnitte des  Gesetzes  ebenfalls  erfolglos  sein 
werden. 

Unter  solchen  Umständen  aber  hören  die 
Handwerker  natürlich  nicht  auf,  die  Wünsche 
in  dem  Geleise,  wie  es  seit  Jahren  bekannt  ist, 
aufrecht  zu  erhalten. 

Sie  verlangen  eine  Beseitigung  der  Militär- 
werkstätten, äusserste  Einschränkung  der  Ge- 
fangnisaibeit,  Verbot  des  flausierens  durch  Aus- 
länder und  möglichste  Beschränkung  des  Hausier- 
handels, Beseitigung  der  Konsumvereine,  ins- 
besondere der  Beamten-  und  Offiziervereine  und 
Warenhäuser,  ein  Verbot  der  Wanderlager  und 
aller  Arten  von  Versteigerungen  neuer  Hand- 
werkserzeugnisse, Beseitigung  der  Filialge- 
schäfte oder  Erschwerung  derselben  durch  pro- 
gressive Besteuerung,  Beseitigung  oder  Regelung 
des  Submissions Wesens  in  der  Richtung,  dass 
die  sogenannten  Unternehmer  vollständig  aus- 
geschlossen werden,  der  Grundsatz,  das  nied- 
rigste Angebot  zu  berücksichtigen,  aufgegeben 
und  die  Arbeit  dem  tibertragen  werde,  der  mit 
seinem  Anschlage  dem  Mittelpreise  zunächst 
kommt,  Vorzugsrechte  für  die  Forderungen  der 
Bauhandwerker,  Beseitigung  des  Firmen-  und 
Reklameschwindels  und  eine  Aenderung  der 
Konkursordnung. 

Gegenüber  allen  diesen  Wünschen  ist  zu 
bemerken,  dass  sowohl  in  den  Kreisen  des  Hand- 
werks als  auch  in  denen  der  Re-gierungen  die 
Bedeutung  der  Organisation  des  Handwerks  als 
eines  Rettungsmittels  weit  tiberschätzt  wird. 
Die  Untersuchungen  der  letzten  Jahre  über 
verschiedene  Handwerkszweige  bringen  jetzt  im 
einzelnen  die  lange  vermissten  Nachweise,  worin 
die  hauptsächlichsten  Gri\nde  für  den  Rückgang 
des  Kleingewerbes  zu  suchen  sind.  Diese 
Forschungen,  die  sich  auf  die  verschiedensten 
deutschen  Gebiete  und  auf  die  verschiedensten 
Zweige,  als  Tischlerei,  Tapeziererei,  Schlächterei, 
Klempnerei,  Weissgerberei  u.  dgl.  m.  erstrecken, 
lassen  zur  Evidenz  erkennen,  dass  nicht  die 
Gewerbefreiheit,  sondern  die  veränderte  Technik, 
der  wechselnde  Geschmack,  der  sich  verschiebende 
Absatz,  das  Kapitalbedürfuis ,  die  Vernach- 
lässigung der  Erziehung  und  Ausbildung  n.  a.  m. 


Handwerk 


1113 


die  üble  Lage  des  Handwerks  verschuldet  haben, ' 
Es  ist  verkehrt  zu  glauben,  dass  die  Tage  des 
Kleinbetriebes  gegenüber  der  immer  mehr  sich 
entwickelnden  Grossindustrie  gezählt  seien. 
Kann  mau  auch  seine  Domäne  nicht  genau  ab- 
grenzen^  wird  auch  durch  keinerlei  Massregeln, 
welche  immer  man  wühlen  mag,  die  glänzende 
Vergangenheit  des  Handwerks  zurückkehren, 
so  steht  doch  seine  Lebensfähigkeit  für  alle 
Zukunft  ausser  Zweifel,  und  es  lassen  sich  An- 
ordnungen treffen  zu  seiner  Förderung,  ohne 
den  technischen  und  wirtschaftlichen  Fort- 
schritten entgegenzuarbeiten.  Mau  muss  nur 
darauf  verzichten,  einheitliche,  überall  in  gleicher 
Ausdehnung  zur  Anwendung  kommen  sollende 
Vorschriften  zu  eruieren. 

Die  viel  bewegte  Organisation  der  Vertretung 
der  Berufsinteressen  ist  eine  mehr  interne  An- 
gelegenheit des  Handwerks,  die  man  nicht 
nötig  hat,  durch  Gesetz  zu  fördern.  Die  Wich- 
tigkeit einer  zusammenfassenden  Vereinigung 
soll  nicht  ausser  acht  gelassen  werden,  aber 
wenn  den  versammelten  Handwerkern  nicht 
Mittel  an  die  Hand  gegeben  werden,  wie  sie 
sich  helfen  soUen,  wenn  die  Anregung  ausbleibt 
und  die  Kosten  irgend  welcher  beabsichtigter 
Veranstaltungen  nicht  aufgebracht  werden 
können,  dann  erscheint  eine  jede  derartige 
Organisation  gänzlich  verfehlt.  Dafür  ist  das 
beste  Beispiel  das  Österreichische  Genossen- 
schaftswesen. Deswegen  kann  man  es  getrost 
den  Handwerkern  überlassen,  ob  sie  Innungen, 
Gewerbevereine  oder  Genossenschaften  gründen 
wollen.  Wohl  aber  thut  es  not,  für  das  ganze 
Land  oder  bestimmte  grössere  territoriale  Ein- 
heiten Mittelpunkte  für  das  Gewerbe- 
wesen  zu  scnaffen,  die  befruchtende  An- 
regung und  Belehrung  in  die  lokalen  Korpo- 
rationen hineinstrahlen  können.  Aehnliche  Ver- 
anstaltungen, wie  die  (Zentralstelle  für  Gewerbe 
in  Stuttgart,  die  Landesgewerbehalle  in  Karls- 
ruhe, der  Landesgewerbeverein  in  Darmstadt, 
müssten  auch  in  anderen  Staaten  und  deren 
Provinzen  geschaffen  werden.  An  solchen  Stätten 
könnte  lehrreicher  wirtschaftlicher  und  tech- 
nischer Beirat  erteilt  werden  und  unter  An- 
lehnung an  die  von  Innungen  oder  Gewerbe- 
vereinen gegebenen  Gutachten  lokal  bald  die 
eine  Massregel  bald  die  andere  ergriffen  werden, 
um  ein  verfallendes  Handwerk  zu  erhalten.  Zur 
Zeit  umfassen  alle  Vereinigungen  den  kleineren 
Teil  der  Handwerker.  W^enn  sich  aber  heraus- 
stellen sollte,  dass  die  Centralstellen  sich  ihrer 
zur  Hebung  des  Gewerbes  zu  bedienen  wüssten, 
dass<  sie  wirklichen  Einfluss  gewännen  auf  ge- 
setzliche Massnahmen  im  Interesse  des  Hand- 
werks, auf  Zuwendung  von  Unterstützungen, 
Begünstigungen  bei  Ausgeboten  öffentlicher 
Arbeiten  u.  dgl.  m.,  so  würden  alle  Kleingewerbe- 
treibenden, ganz  ohne  jeden  Zwang,  durch  ihr 
eigenes  Interesse  darauf  geführt,  sich  ihnen 
anzuschliessen. 

Am  meisten  kommt  wohl  die  staatliche 
Förderung  und  Unterstützung  bis  jetzt  in 
Baden  dem  Handwerk  zu  gute.  Nicht  nur, 
dass  hier  ein  Landesgewerberat  (G.  v.  15.  Februar 
1893)  und  eine  Landesgewerbehalle  zur  Ver- 
tretung des  Gewerbestandes  und  als  ein 
Mittelpunkt  für  gewerbliche  Anliegen  der  Staats- 
angehörigen vorhanden  sind,  so  wird  auch  mit 
öffentlichen  Mitteln  nicht  gekargt.    Der  staat- 


liche Aufwand  z.  B.  für  Lehrlingswerkstätten 
beträgt  jährlich  12000  Mark,  für  die  Prämi- 
ierung von  Lehrlingsarbeiten  6000  Mark,  für 
den  öffentlichen  Arbeitsnachweis  20000  Mark, 
für  die  Handwerkerkammern  40000  Mark  u.  s.  w. 
Für  Bayern  betragen  die  direkt  oder  indirekt 
dem  Handwerk  zu  gute  kommenden  Aufwen- 
dungen nach  dem  Budgetvoranschlage  für  1900 
und  1901  jährlich  1 132  403  Mark,  einschliesslich 
der  Zuwendungen  an  die  Handwerkskammeni. 
Da  in  Bayern  ähnlich  wie  in  Baden  neuerdings 
dahin  gestrebt  wird,  durch  Errichtung  von 
Fachschulen,  Lehrwerkstätten,  Meister-  und 
Wanderkurse,  Ausbildung  von  Lehrlingen  u.  s.  w. 
das  Kleingewerbe  zu  unterstützen,  so  würden 
grössere  Beiträge  am  Platze  sein.  In  Preussen 
scheint  man  über  Pläne  zur  wirksamen  weiteren 
Ausgestaltung  des  Kleingewerbes  noch  nicht 
herausgekommen  zu  sein.  Dagegen  hat  man 
in  Oesterreich,  auf  dessen  Organisation 
des  Handwerks  viele  deutsche  Kleingewerbe- 
treibende sehnsüchtig  zu  blicken  pflegen,  sich 
davon  überzeugt,  dass  eine  materielle  Unter- 
stützung nicht  zu  entbehren  ist,  falls  man  dem 
Handweik  seine  Lebensfähigkeit  erhalten  und 
ihm  neuen  Odem  einhauchen  will.  Dort  hat 
im  Jahre  1892  eine  Gewerbeförderungsaktion 
in  grösserem  Stile  begonnen,  die  sich  auf  fol- 
gender Bahn  bewegt:  Technische  Förderung 
durch  Einführung  bewährter  Arbeitsbehelfe 
und  Arbeitsmethoden,  Ausstellungen,  Kursen 
und  Ueberlassung  von  Arbeitsbehelfen  einerseits 
und  wirtschaftliche  Organisation  durch  Förderung 
der  Errichtung  von  Genossenschaften,  Einfluss- 
nahme  auf  die  Kreditgewährung  und  Lehrlings- 
ausbildung andererseits.  Für  diesen  Zweck 
haben  dem  Handelsministerium  seit  Beginn  der 
Aktion  im  ganzen  865500  Gulden  zur  Ver- 
fügung gestanden.  Für  1898  waren  175000 
Gulden  im  Budget  des  Handelsministeriums  an- 
gesetzt. 

Litteratur:  Für  die  Handwcrkerhewegung  im 
Jahre  1^4^149  kommen  in  Betracht  die  Proto- 
kolle der  deutschen  NationaU'ersammlung  und  der 
verschiedenen  Ilandwerkertage,  die  Verhand- 
lungen betr.  die  Beratung  des  Entwurfs  einer 
Verordnung  zur  Ergänzung  der  allgemeinen 
iJeic.-Ordn.  r.  17.— SO.  VII.  1849,  die  zahl- 
reichen Denkschriften  und  Petitionen.  Eine  ein- 
gehende zusammenhängende  Darstellung  der 
ganzen  Bewegung  ist  noch  nicht  veröffentlicht. 
Kurze  Charakteristiken  und  einzelne  Mitteilungen 
finden  sich  hei  Böhtnert,  Freiheit  der  Arbeit, 
Bremen  1858.  —  Ad,  Braun ^  Die  Arbeiter- 
schutzgesetze, I,  S.  10  ff.,  Tübingen  1890.  — 
Karl  Braun,  Für  Gewerbefreiheil  und  Frei- 
zügigkeit, Freiburg  1860.  —  Ha^emann,  Art. 
Ge^rerbe  in  Ersch  und  Grubers  Encyklopädie  6,'J, 
S.  888 ff.  —  Kaizl,  Der  Kampf  um  Gewerbe- 
reform und  Gewerbefreiheit  in  Bayern,  S.  SO  ff., 
Leipzig  1879.  —  Mascher,  Das  deutsche  Ge- 
werbewesen, PoUdam  1866,  S.  SlSjff.  —  Meissner, 
Eine  Geirerbeordnung  für  Deutschland,  Leipzig 
1848.  —  Schäfße,  Vorschläge  zu  einer  gemein- 
samen Ordnung  der  Gewerbsbefugnisse  und 
Heimatsrechtsverhältnisse  in  Deutsche  Viei'ttl- 
jahrsschr.  1859.  —  Schnioller,  Zur  Geschichte 
der  deutschen  Kleingewerbe,  S.  84  ff.,  Halle  1870. 
—  Für  die  Bewegung  der  letzten  Jahr- 
zehnte: Protokolle  über  die   Verhandlungen 


1114 


Handwerk 


der  Delegiertentage  des  Vereins  selbständiger 
Handwerker  und  Fabrikanten  Deutschlands,  1872 
— 1881.  —  Verhandlungen  des  allgemeinen 
deutschen  Handwerkertages   tu  Magdeburg  1882. 

—  Protokolle  über  die  Verhandlungen  der 
idlgenieinen  deutschen  Handwerkertage  und  der 
Delegiertentage  des  all-gemeinen  deutschen  Hand- 
werkerlnmdes  188S — 1895.  (Von  mehreren  Tagen 
sind  keine  Protokolle,  sondern  nur  die  Reso- 
lutionen in  den  betreffenden  Jahrgg.  des  Allgem. 
Gewerbeblattes  und  der  Allgem.  Handwerker- 
Zeitung  veröffentlicht.)  —  I^otokolle  über  die 
Verhandlungen  der  allgemeinen  bayerischen 
Handwerkertage  und  der  Delegiertentage  de» 
bayerischen    Handwerkerbundes    1883 — 1891. 

—  Die  Protokolle  des  5.  und  des  9.  Tages  sind, 
soviel  bekannt,  nur  in  den  betr.  Jahrgg.  1887 
und  1891  der  Allgem.  Handwerkerzeitung  abge- 
druckt. —  Verhandlungen  der  deutschen 
Innungstage  zu  Berlin  1885,  1888  und 
1890.  —  Protokoll  über  die  Verhandlungen  des 
Deutschen  Innungs-  und  Allgemeinen  Hand- 
werkertages vom  14' — 17.  IL  189£  und  am  27.  IV. 
1897.  —  Bericht  über  die  Verhandlungen  der 
Verbandstage  des  sächsischen  Innungsver- 
bandes 1888 — 1899.  —  Di-e  im  Texte  genannten 
Zeitschriften  und  Zeitungen.  —  Darstellungen 
der  Bewegung  ßndcn  sich  in  Bobertag,  Die 
Handwerkerfrage  im  Jahre  1886,  Bernstadt  i.  Schi. 
1880.  —  Eng.  Jag  er  f  Die  Handwerkerfrage, 
1.  Abt.,  Berlin  1887  (auch  für  das  Jahr  1848 
bemerkens^veri     und    überhaupt  sehr    ^lehrreich). 

—  Ueber  das  Handwerk  der  Xeuzeit  im 
allgemeinen,  vgl.  insbesondere:  Hugo  BöttgeVy 
Das  Programm  der  Handwerker,  Braun- 
schweig 189S,  —  Derselbe  f  Für  das  Hand- 
werk, Braunschweig  1894.  —  Derselbe,  Ge- 
schichte und  Kritik  des  neuen  Handwerkerge- 
setzes vom  26.  VJI.  1897,  Leipzig  1898.  — 
Dannenberg,    Das   deutsche  Handwerk,   1872. 

—  Drösle,  Die  Handwerkerfrage,  IS84.  — 
Jlfajr;  Haushofer,  Das  deutsche  Kleingewerbe, 
1885.  —  Thilo  Hatnpke,  Untersuchung  über 
die  Wirksamkeit  der  schleswig-holsteinischen 
Innungen,  Altona  1894.  —  Derselbe,  Der  Be- 
fähigungsnachweis im  Handwerk,  Jena  1892.  — 
Derselbe,  Handwerker-  oder  Gewerbekammem, 
Jena  1898. — Derselbe,  Der  VerUmd  deutscher 
Gewerbevereine,  seine  Entstehung  etc.,  in  Jahrb. 

f.  Ges.  u.  Verw.,  17,  >S,  1141—1198.  —  Der- 
selbe,  Das  neue  badische  Gewerbekummergesetz 
in  Jahrb.  J.  Ges.  u.  Verw.,  18,  S.  161 — 194.  — 
Derselbe,  Die  Organisation  des  Handwerks 
und  die  Regelung  des  Lehrlingswesens,  in  Jahrb. 
f.  Nat.   u.    St<iL,    S.  F.   7.  S.   78-118,  505—601. 

—  Derselbe,  Der  hessische  Landesgewerbei^erein 
in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  S.  F.  6,  S.  851—869. 

—  Derselbe,  Die  neuere  österreichische  Aktion 
zur  Hebung  des  Kleingewerbes  1899.  —  Karl 
Harms,  Ist  das  deutsche  Handwerk  konkurrenz- 
fähig f  1900.  —  F,  Hoffmann,  Die  Organi- 
sation des  Handwerks,  1897.  -r-  F,  C.  Huber, 
Zur  Handwerkerfrage,  1896.  —  Hitze,  Schutts 
dem  Handwerk,  1883.  —  Kolb,  Der  Hand- 
rverker  nach  den  Forderungen  der  Gegenwart, 
1878.  —  Juliiis  Keller,  Das  deutsche  Hand- 
werk, 1878.  —  Kleinwächter,  Zur  Reform  der 
Handwerksverfassung,  1875.  —  W.  Kulemann, 
Das  Kleingewerbe,  1895.  —  Neubtirg ,  Der 
deutsche  Gesetzentwurf  über  die  Regelung  des 
Lehrt ingswt'sens  und  die  Organisation  des  Hand- 


werks, in  Handelsmuseum,  1898,  Xr.  86,  37.  — 
Det*S€lbe,  Zur  Handwerkerfrage  in  Deutsch- 
land, in  Handelsmuseum,  1895,  Sir  .£6.  —  Dev~ 
selbe,  Die  Lage  des  Handwerks  in  Deutschland, 
in  Handelsmuseum,  1895,  JVV.  37,  38.  —  Der" 
selbe.  Der  Entwurf  zur  Abänderung  der  (ie- 
werbeordnung  in  Archiv  f.  soz.  Ges.  S.  519jf.  — 
F,  Perrot,  Das  Handwerk,  seine  Reorganisation , 
1876.  —  RUcklin,  Das  einheitliche  Handwerk, 
1880.  —  JPaul  Scheren,  Die  Lehrwerkstätte, 
THhingen  189 4.  —  Ang,  Schwiedland,  Klein- 
gewerbe und  Hausindustrie  in  Oesterreich, 
Leipzig  1894.  —  Sehr.  d.  Ver.  f.  Sozialp., 
ed.  Bücher,  62—70.  —  Richard  Stege- 
ntann, Die  Organisation  des  Handwerks  nach 
den  Vorschlägen  des  preuss.  Handelsministers  in 
Jahrb.  f.  Ges.  u.  Vene,  18,  S.  12J.  —  Wilh, 
Stieda,  Neuere  gewerbepolitische  Litteratur  in 
Jahrb.  f.  Sai.  u.  Stat.,  y.  F.  2,  S.  260 ff.;  S, 
S.  214  ff.;  20,  S.  607 ff.  —Derselbe,  Stipendien 
zum  Besuche  von  Fachschulen  in  Mecklenburg. 
GewerbebUitt,  1892198,  JVr.  12.  —  Derselbe  ^ 
Handwerkerorganisation  in  Mecklenburg,  Ge- 
werbeblatt, 189SI94,  Xr.  16.  —  Derselbe,  Hand- 
werker- oder  Gewerbekammern,  in  Deutsches 
Wochenbl.,  1898,  Xr.  84.  —  Derselbe,  Das 
Handwerk  und  die  Genossenschaften,  in  Deut- 
sches Wochenblatt,  1895,  Xr.  9.  —  Derselbe, 
Der  Befähigungsnachweis,  Leipzig  1895.  —  Der-- 
selbe.  Die  Lebensfähigkeit  des  deutschen  Hand- 
werks, Rostock  1897.  —  Stöcker,  Zur  Hand- 
werkerfrage, 1880.  —  A,  Voigt,  Die  Organi- 
sation des  Kleingewerbes,  in  Zeitschr.  f  Staatsw., 
51,  S.  267 ff.  —  Waentig,  Gewerbl.  Mittel- 
standspolitik, 1898.  —  Denkschrift  zn  dem  Ent- 
würfe des  Vei'bandes  deutscher  Gewerbevererfn 
betr.  Organisation  des  Gewerbes  und  Regelung 
des  Lehrlingswcsens.  —  Verhandlungen  der 
Versammlung  des  Verbandes  detUscher  Gewerbe- 
vereine 1892—1899.  -Berichte  über  die  I>i"- 
handlungen   des   deutschen  Gewerbekammertagrs. 

—  München  er  rolkstr-irtschaftliche  Studien, 
ed.  Brentano  und  Lotz,  1898 — 1895  (die  Ar- 
beiten V071  Francice,  Sinzheimer,  Herzberg, 
Arnold).  —  Der  Handwerker,  Organ  des 
Centralausschusses  der  vereinigt.  Innungsverbande 
Deutschlan  ds,  1898.  —  Deutsche  Hand- 
werkerzeitung (früher:  Der  Handwerker j, 
seit  1895  volkstüirtschaflliches  Centraiorgan  für 
den  deutschen  Handwerkerstand.  Mit  dem 
Jahre  1900  eingegangen.  —  Allgemeine 
Handwerkerzeitung  (früher  Allgemeine* 
Gewerbeblatt),  offizielles  Organ  des  allgr- 
meinen  deutschen  Handwerkerbundes,  Mün- 
chen, Jahrgang  189S — 1900.  —  Sozialpoli- 
tisches Central  b  tat  t  (später  Soziale  I^xisi, 
1898 — 1900,  —  Protokolle  der  Landes- Ausschuss- 
Sitzung  des  Verbandes  badischer  Getterhcrerein^. 

—  Berichte  des  K.  K.  Handelsmiiiisteriums  vh^r 
die  Verwendung  des  zur  Förderung  des  Kit  in- 
gejcerbes  bewilligten  Kredits,  1895,  1896.  — 
Die  Gew erbescha  u ,  sächsische  Gewerlt^ - 
Zeitung.  WUh.  Siieda. 


Handwerk^organisation 

s.  Gewerbegesetzgebung  oben  Bd,  IV 

S.  410  ff. 


Hanse 


1115 


Hanse. 

Als  Ilanse  bezeichnet  der  übliche  Sprach- 
gebrauch eine  vom  13.  bis  ins  17.  Jahr- 
hundert bestehende  Vereinigung  niederdeut- 
scher Kilsten-  und  Binnenstädte,  zusammen- 
geti^teu  zum  gemeinsamen  Schutze  ihres 
Handels.  Lübeck,  Bremen,  Hamburg  (so  die 
alte  hansische  Rangordnung)  führen  noch 
heute  offiziell  den  Titel:  freie  Reichs-  und 
Hansestädte  und  bewahrten  über  den  Be- 
stand des  alten  hansischen  Bundes  hinaus 
(hanseatisch  ist  eine  durchaus  moderne,  der 
Latinisienmg  entspringende  Bezeichnung) 
einen  gewissen  gemeinsamen  Besitz,  der 
erst  mit  der  Yeräusserung  des  »Stalilhofes«' 
in  London  (1853)  und  des  »Hauses  der 
Osterlinge«  in  Antwerpen  (1863)  verschwand. 
Was  sie  in  neuei'er  Zeit  an  gemeinsamen 
»hanseatischen«  Institutionen  besessen  liaben 
(Gericht,  diplomatische  Vertretung)  verdankt 
nachhansischer  Zeit  seine  Entstehimg. 

Die  Zugehörigkeit  zur  Hanse  lässt  sich 
nicht  mit  einer  kurzen  Wendung  klarstellen ; 
sie  deckt  sich  weder  mit  der  Zugehörigkeit 
zum  deutschen  Reich  noch  zur  niederdeut- 
schen Zunge  noch  mit  der  Lage  an  oder 
nahe  den  deutschen  Küsten.  Ihr  einziges 
diu-chgi-eifendes  Merkmal  besteht  in  der 
Teilnahme  an  den  Rechten  des  deutsclien 
Kaufmanns  im  Auslande.  Niemals  hat  sich 
hansische  Zugehörigkeit  wesentlich  über  die 
Südersee  hinaus  erstreckt.  Die  Städte  der 
Grafschaften  Holland,  Seeland,  Flandern, 
durch  Volksart  und  Nalunmgszweige  dem 
hansischen  Gebiete  nahestehend,  haben  ge- 
legentlich wohl  in  Bündnissen  mit  der  Hanse 
gestanden,  sind  aber  nie  ihre  Genossen  ge- 
wesen. In  Geldern,  Utrecht,  Friesland  zählte 
sie  zalilreiche  Glieder;  an  der  Maas  ist  das 
französisch  sprechende  Dinant  im  Lütticher 
Lande  die  südlichste  Hansestadt,  am  Rhein 
wahi^uheinlich  Andernach.  Nach  Nordosten 
ist  der  äusserste  Posten  Reval,  nach  Süd- 
osten Krakau,  Breslau,  Halle.  Den  Harz 
hat  die  Hanse  binnenwärts  nie  überschritten ; 
an  der  Leine  reicht  sie  bis  Göttingen,  an 
der  Weser  bis  Höxter.  Die  gegen  Ende  des 
Mittelalters  behufs  einer  einzuführenden 
Taxe  zusammengestellten  Listen  von  Hanse- 
städten sind  insofern  irreführend,  als  sie  die 
Vorstellung  bestärken,  dass  allein  Städtebe- 
wohner hanseberechtigt  gewesen  seien.  Auf 
den  Tagfahrten  ei-scheinen  allerdings  fast 
nur  Städte  vertreten,  und  nur  die  auf  den 
Listen  verzeichneten  sind  zu  den  Tagen  ge- 
laden worden,  aber  andererseits  haben  doch 
auch  Bewohner  des  flachen  Landes  Anteil 
gehabt  an  den  hansischen  Rechten,  beson- 
dere in  der  früheren  Zeit.  Sicher  nach- 
weisbar für  verschiedene  Perioden  ist  das 
für  Westfalen,  für  einzelne  Jahrhunderte  für  j 
die    Gebiete    des    deutschen    Ordens,    den ! 


Niederrhein,  Pommern  etc.  Aus  der  of- 
fiziellen Liste  lassen  sich  gut  90  Hanse- 
städte zusammenstellen.  Das  Jahr  angeben 
zu  wollen,  wann  eine  einzelne  Stadt  in  die 
Hanse  ein-  resp.  aus  ihr  ausgetreten  ist 
(Bädekers  Reisebücher  machen  häufig  solche 
Angaben),  ist  —  bis  auf  ganz  vereinzelte 
Fälle  —  ein  Unding. 

Ebensowenig  wie  die  Zusammensetzung 
des  hansischen  Bundes  sich  für  jede  be- 
liebige Zeit  mit  voller  Sicherheit  ermitteln 
lässt,  ebensowenig  kann  man  seine  Ent- 
stehung zeitlich  genau  fixieren.  Das  Wort 
Hanse,  ursprünglich  eine  Vereinigung,  eine 
Genossenschaft  bedeutend,  besonders  zu 
kaufmännischen  Zwecken,  wird  für  die  Ge- 
samtheit der  Städte  erst  um  die  Mitte  des 
14.  Jahrhundei-ts  gebraucht.  Frülier  er- 
scheinen die  gemeinsamen  Intei'essen  kon- 
centriert  im  »gemeinen  Kaufmann  (communis 
mercator)«  mit  oder  ohne  den  Zusatz  »deut- 
scher Nation«,  und  diese  Bezeichnung  ist 
auch  neben  dem  Namen  »Hanse«  in  voUer 
Kraft  geblieben,  so  lange  der  Bund  gedauert 
hat.  Im  Zusammenschliessen  deutscher 
Kaufleute  im  Auslande  hat  man  auch  den 
Keim  der  Hanse  zu  erblicken.  Ein  solches 
Zusammenschliessen  fand  statt,  längst  be- 
vor die  Städte  daheim  sich  einander  näherten : 
es  reicht  ins  12.,  ja  11.  Jahrhundert  zurück, 
in  eine  Zeit,  wo  der  Kaufmann  seine  Stütze 
gegen  das  Ausland  noch  nicht  in  städtischen, 
sondern  in  Landes-  und  Territorialgewalten 
zu  suchen  hatte.  Von  besonderer  Bedeutung 
ist  die  Genossenschaft  der  deutschen  Kauf- 
leute auf  Gotland  gewoi*den,  indem  sie  zu- 
erst Angehörige  der  verschiedensten  nieder- 
deutschen Gebiete  in  sich  vereinigte.  Mit 
der  wachsenden  Bedeutung  der  Städte,  wie 
sie  in  Niederdeutschland  besonders  nach 
der  Zertrümmerung  der  Macht  Heinrichs 
des  Löwen  hervortrat,  mussten  diese  auch 
einen  stärkei^n  Einfluss  auf  ihre  Ange- 
hörigen im  Auslapde  gewinnen ;  doch  liaben 
selbst  Lübeck  und  'Ilamburg  noch  in  der 
2.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  sich  in  ihren 
Beziehungen  zu  aussertleutschen  Mächten 
mit  Vorliebe  der  Vermittelung  und  Unter- 
stützung benachbarter  imd  befreundeter 
Territorialherren  bedient.  Von  besondei-er 
Bedeutung  ist  das  überaus  rasche  Empor- 
steigen des  so  günstig  gelegenen  Lübeck 
geworden.  Noch  im  Laufe  des  13.  Jahr- 
hunderts tritt  es  in  eine  gewisse  Leitung 
der  gemeinstädtischen  Handelsinteressen  ein 
und  erscheint  als  die  Fülirerin  aller  der- 
jenigen niedei'deutschen  Städte,  für  welche 
die  Stellung  des  deutschen  Kaufmanns  im 
Auslande,  überliaupt  der  gesicherte  Handels- 
verkehr, von  Bedeutung  war.  Gefönlert 
wurde  der  Zusammensclüuss  durch  die 
mancherlei  Verträge,  Einungen,  Bündnisse, 
die  seit  der  Regierung  Friedrichs  11.  unter 


1116 


Hanse 


deutschen  Städten  geschlossen  wurden,  unter 
denen  man  von  dters  her  dem  1241  ge- 
schlossenen ersten  Bündnis  zwischen  Lübeck 
und  Hambiu-g  eine  besondere  Bedeutung 
zugeschrieben,  es  häufig  als  die  Gründung 
der  Hanse  bezeichnet  hat.  Wichtiger  ist 
doch  die  Verbindung  geworden,  die  seit  den 
letzten  Jahrzehnten  des  13.  Jahrhunderts 
unter  den  6  sogen,  wendischen  Städten 
(auch  slaT\dsche,Seestädte,  civitates  maritimae : 
Lübeck,  Rostock,  Stralsund,  Wismar,  Ham- 
burg, Lünebiu'g)  erkennbar  wird;  sie  ist 
fast  während  des  ganzen  Bestehens  der 
Hanse  ihr  Kern  gebfieben. 

Niemals  hat  sich  die  Hanse  zu  einem 
festen  auf  Statuten  begründeten  Bund  ent- 
wickelt, niemals  eine  gemeinsame  Welu-ver- 
fassung  gehabt,  ja  nie  einen  Krieg  geführt, 
an  dem  alle  Alitglieder  aktiv  beteiligt  ge- 
wesen wären.  Zu  kriegerischem  Vorgehen 
entschlossen  sich  fast  stets  nur  die  an  den 
gefährdeten  Interessen  zunächst  beteiligten 
Genossen  imd  trafen  dann  besondere  Ver- 
einbarungen. Die  Angelegenheiten  des 
Bmides  wurden  auf  Tagfahrten  beraten,  die 
aber  niu*  selten  allgemeine  Hansetage  waren. 
Es  sind  Jalu'zehnte  hingegangen  ohne  letztere, 
während  andererseits  nur  ganz  wenige  Jahre 
einen  wiederholten  Hansetag  aufzuweisen 
haben.  Versammlungen  landschaftlichen 
oder  territorialen  Charakters  waren  dagegen 
häufig,  vor  allen  Dingen  solche  der  wendi- 
schen Städte,  üeberhaupt  hat  die  land- 
schaftliche Zusammengehörigkeit,  die  vielfach 
einen  rein  territorialen  Charakter  «annimmt 
(overijsselsche,  geldcrnsche,  klevesche,  mär- 
kische Städte  etc.),  wäln-end  des  ganzen  Be- 
stehens der  Hanse  für  die  Organisation  der- 
selben eine  tiefgi'eifende  Bedeutimg  bewahrt. 
Neben  ihr  besteht  in  der  älteren  Zeit  die 
Drittehmg,  deren  ürspnmg  wahrscheinlich 
in  der  Organisation  des  Kaufmanns  ausser- 
halb Deutsclilauds  zu  suchen  ist,  seit  dem 
16.  Jahrhundert  die  ziemlich  äusserliche 
yuartiereinteilung.  Die  grösste  Bedeutung 
hatte  filr  die  Organisation  der  Hanse  die 
Kölner  Konföderation  von  1367,  die  füi'  die 
nächstfolgenden  Jahre  einen  festeren  Zu- 
sammenhalt schuf,  als  er  je  vorher  oder 
nachher  wieder  bestanden  hat  Gegen  Ende 
des  15.  Jahrhunderts  versuchte  man  durch 
eine  Matrikel  eine  gewisse  Beiti-s^spflicht 
für  alle  Mitglieder  verbindlich  zu  machen; 
zur  voUen  Durchführung  ist  diese  Massregel 
doch  nie  gelangt,  und  vor  allem  hat  sie 
nicht,  was  ilu-  Hauptzweck  war,  regelrecht 
verteilte  kriegerische  Leistungen  zu  gegen- 
seitiger Untei-stützung  erzwingen  können. 
Stets  ist  Lübeck  als  Haupt-  und  Vorort  der 
Hanse  betrachtet  worden,  wenn  auch  diese 
Stellung  nicht  allezeit  unangefochten  blieb. 
Lübeck  führte  den  Vorsitz  auf  den  Tag- 
fahrten, die  am  häufigsten  in  seinen  Mauern 


gehalten  wurden,  bewahrte  die  hansischen 
Privilegien  und  führte  die  Korrespondenz  des 
Bundes. 

Der  Hansebund  ist  niemals  formell  auf- 
gelöst worden.  Die  letzte  von  mehr  als  den 
heutigen  drei  Hansestädten  besandte  Tag- 
fahrt fand  1669  statt,  nachdem  allerdings  in 
ziemlich  40  Jahren  keine  Versammlung  zu- 
sammengetreten war.  Man  könnte  den 
Niedergang  des  Bundes  zumeist  als  ein 
Zerbröckeln  bezeichnen.  Die  wachsende 
Macht  der  Landeshen-en  schnitt  ihm  zahl- 
reiche Glieder  ab,  die  angewiesen  wurden, 
die  Vertretung  ihrer  Interessen  beim  Terri- 
torialherrn zu  suchen.  Die  Hansestädte 
waren  mit  wenigen  Ausnahmen  Landstädte 
und  von  diesen  niu*  wenige  (Hamburg, 
Bremen,  Braunschweig,  Magdeburg,  Danzigj 
mächtig  genug,  sich  ihren  Landesherren 
längere  Zeit  mit  Erfolg  zu  widersetzen. 
Die  Abbröckelung  begann  mit  der  I^slösung 
der  märkischen  Städte  durch  Kurfürst  Fried- 
rich n.  1442.  Das  Sinken  der  Ordensmacht 
im  Osten  im  15.,  mehr  noch  das  Empor- 
wachsen der  niederländischen  Selbständig- 
keit im  Westen  im  16.  Jahrhundert,  das  die 
gesamten  friesisch-süderseeisch-geldernschen 
Glieder  in  einen  neuen  Kreis  zog,  lockerte 
den  Bund.  Entscheidend  wurde  aber  die 
Thatsache,  dass  die  Bedeutung  des  nonl- 
deutschen  Aussenhandels  mit  dem  16.  Jahr- 
hundert rasch  und  rascher  zu  sinken  begann, 
die  deutsche  Flagge  auf  den  nördlichen 
Meeren,  der  deutsche  Kaufmann  in  den 
nordeuropäischen  Handelsplätzen  melu'  und 
melir  in  eine  untergeordnete  Stellung  ge- 
drängt wuixle. 

Die  Hanse  war  im  Verkelu*sleben  Nord- 
eiu'opas  gross  gewoi-den.  Die  Bedeutung 
Lübecks,  Hambm-gs,  der  wendischen  Städte 
für  das  Emporkommen  der  Hanse,  ihre 
Stellung  in  dieser  beruhen  auf  der  Thatsache, 
dass  ihi^  geographische  Lage  den  Austausch 
der  Handelsprodukte  West-  und  Nordot^t- 
europas  in  ihre  Hand  legte.  Zu  einer  Zeit, 
wo  man  eine  Fahrt  übers  offene  Meer  niu: 
ungern  unternalim,  zumal  die  Falut  durch 
die  schwierigen  Gewäs.ser  zwisclien  Ost- 
und  »Westsee«  aus  melu'  als  einem  Grunde 
scheute,  musste  der  südwestliche  Winkel  der 
Ostsee,  der  der  unteren  Elbe  und  damit 
dem  Ausgangspunkte  der  üblichen  Noixlsee- 
Wattenfahrt  so  nalie  lag,  füi*  alle  Waren, 
die  aus  den  Küstengebieten  des  baltischen 
Meeres  kamen,  der  natürliche  Sammelpunkt 
sein,  andererseits  auch  der  natürliche  Ein- 
schiffungspunkt für  den  Verkehr  imd  Ik^ 
sonders  für  die  Kolonisation,  die  aus  den 
niederländischen  vmd  rheinisch- westfälischen 
Gebieten  die  Richtung  auf  die  östlichen 
Gestade  dieses  Meeres  nalimen.  Brügge  im 
Westen,  Nowgorod  im  Osten  wai-en  die 
Haupt centi'en  dieses  Austausches  imd  daher 


Hanse 


1117 


früh  Sitz  hansischer  Niederlassungen  (Kon- 
tore). Salz  und  "Weine  Westfrankreichs,  die 
flandrischen  Tuche,  alle  die  mannigfaltigen 
Erzeugnisse  der  höheren  Kultur  und  des 
günstigeren  Klimas  des  Westens  und  Südens 
bildeten  einerseits,  Wachs,  Pelzwerk,  schwe- 
dische Erze,  überhaupt  die  Rohprodukte  des 
Nordostens  andererseits  die  Hauptgegen- 
stände dieses  Verkehrs.  Gemehrt  wurde 
derselbe  durch  die  Ausbeute  der  Lüneburger 
Salzlager.  Die  Entwickelung  der  Nautik 
und  der  friesische  Wagemut  zur  See  führten 
mit  dem  abgelaufenen  13.  Jahrhundert  zur 
direkten  Nordostseefahrt,  die  zunächst  in 
der  Mitte  des  Weges,  an  der  südwestlichen 
hakenförmigen  Spitze  von  Schonen,  auf  dem 
Inselkem  von  Skauör  und  Falsterbo,  einen 
Umschlagsplatz  suchte.  Die  voi^liegenden 
Gewässer  w^aren  ohnehin  wegen  ihres  Reich- 
tums an  Heringen  im  Sj^ätsommer  ein 
Sammelpunkt  zahlloser  skandinavischer  und 
deutscher  Fischer,  und  als  nun  jener  Um- 
tausch sich  dort  hinzog  und  den  ohnehin 
stattfindenden  starken  Ilandel  mit  den  Pro- 
dukten des  Fischfangs  und  den  Zufuhren 
der  Bauern  noch  steigerte,  wurde  diese  öde, 
kleine  Halbinsel  durch  Jahrhunderte  für  die 
genannte  Jahreszeit  einer  der  belebtesten 
Verkehrsplätze  Europas.  Obgleich  die  di- 
rekte Fahrt,  besonders  seitdem  sich  wesent- 
lich die  Holländer  in  ihr  festgesetzt  hatten, 
mehr  und  mehr  in  Aufnahme  kam,  be- 
hauptete der  Handelsweg  Trave-Niederelbe 
doch  neben  ihr  seine  Bedeutimg  bis  tief 
ins  16.  Jahrhundert  und  hat  auch  in  den 
ungünstigsten  Zeiten  nicht  völlig  öde  gelegt 
werden  können  (noch  heute  nehmen  gewisse 
Waren  den  Weg  von  Petersburg  nach  London 
über  Lübeck!).  Der  Nordostvseekanal  hat 
dieser  Gunst  der  geographischen  Verhält- 
nisse ihre  alte  Bedeutung  schon  -zum  Teil 
zurückgegeben  und  wird  das  fernerhin  in 
steigendem  Masse  thun.  In  der  Ausnutzung 
dieses  Weges  und  in  der  damit  verbundenen 
Beherrschung  des  Ostseehandels  liat  während 
des  ganzen  Bestehens  der  Hanse  der  Haupt- 
faktor ihrer  Maclit  und  Grösse  gelegen. 

Auf  dieser  Basis  emporgewachsen,  hat 
sie  auf  allen  nordeuropäischen  Verkehrs- 
gebieten eine  achtbare,  ja  gebietende  Stellung 
zu  erringen  vermocht.  Sie  bemächtigt  sich 
im  Laufe  des  14  Jahrhunderts  nicht  nur 
der  schonenschen,  sondern  auch  der  nor- 
wegischen Fischerei  und  versorgt  mit  den 
Erträgen  derselben  den  Westen  wie  den 
Osten.  Um  die  Ausbeutung  der  Meere  um 
Island  ringt  sie  mit  den  Engländern.  Ihi-e 
Flotten  erecheinen,  hunderte  von  Segeln 
stark,  an  den  französischen  Westküsten  und 
versorgen  nicht  nur  die  Heimat,  die  Skandi- 
navier und  nördlichen  Slaweu  mit  den  Er- 
zeugnissen jener  Gebiete,  sondern  vermitteln 
auch   deren   Wai-enaustausch   mit  England. 


Die  rhemischen  Kaufleute  bringen  diesem 
Lande  ihre  Weine,  Eisen-  und  Seidenfabri- 
kate  und  führen  englische  Wolle  und  Tuche 
hinüber  nach  Flandern  und  Deutschland. 
Ein  grosser  Teil  des  Handels  mit  englischen 
und  fremden  Waren  nach  imd  aus  englischen 
Häfen  wurde  durch  Hansen  vermittelt, 
während  andererseits  die  Engländer,  abge- 
sehen vom  Danziger  Getreide-  und  Holz- 
handel, in  den  hansischen  Häfen  wenig  in 
Betracht  kamen.  Eine  ähnliche,  wenn  auch 
nicht  ganz  so  überlegene  Stellung  gewann 
die  Hanse  gegenüber  dem  flandrisch-bra- 
bantischen  Handel.  Getreide,  die  Produkte 
des  Wald-  und  Bergbaues,  gingen  aus  den 
Elbe-  und  Wesergebieten  in  Menge  nach 
den  stark  bevölkerten  und  gewerbreichen 
Scheidegegenden,  doch  ganz  überwiegend 
durch  hansische  Kaufleute  und  Schiffer. 
Das  skandinavische  Handelseebiet  be- 
herrschten sie  seit  den  w^demarischen 
Kriegen  durch  anderthalb  Jahrhunderte  so 
gut  wie  unumschränkt.  Die  nordischen 
Völker,  die  einst  auf  ihren  Wikingerfahrten 
Europa  in  Schrecken  gesetzt  hatten,  die 
heute  in  der  europäischen  Reederei  nach  den 
Engländern  eine  der  ei-sten  Rollen  spielen,  ver- 
schwinden durch  mehr  als  zwei  Jahrhunderte 
fast  völlig  von  der  See  und  können  sich 
kaum  in  der  dürftigen  Binnen-  und  Küsten- 
schiffahrt behaupten.  Wenn  schwedische 
Städte,  wie  Wisby,  Stockholm,  Kalmar,  noch 
eine  gewisse  Bedeutung  bewahren,  so  sind  es 
die  in  ihnen  ansässigen  deutschen  Elemente, 
auf  denen  dieselbe  beniht.  Was  Russland, 
Polen,  Littauen  über  die  Ostsee  empfangen 
oder  ausführen,  geht  durch  hansische  Hände. 
Ein  Netz  von  grösseren  oder  kleineren  Ge- 
samt- oder  Sonderniederlassungen  breitet 
sich  aus  über  den  ganzen  Norden  Europas, 
und,  gestützt  auf  vier  gemeinhansische  Haupt- 
kontore (Brügge,  London,  Bergen,  Nowgorod) 
ist  die  Thätigkeit  des  deutschen  Kaufmanns 
und  Schiffers  überall  bedeutungsvoll,  viel- 
fach ausschlaggebend.  Wie  man  füi'  das 
17.  Jahrhundert  von  einer  holländischen,  für 
das  18.  imd  19.  von  einer  englischen  Han- 
delsherrschaft spricht,  so  übte  eine  solche 
vom  14.  bis  zum  16.  Jahrhundert  in  den 
nordeuropäischen  Gewässern  zweifellos  die 
Hanse. 

Sucht  man  nach  den  Ursachen  dieses 
Uebergewichts,  so  sind  dieselben  keineswegs 
in  erster  Linie  wirtschaftliche.  Gerade  die 
Geschichte  der  Hanse  ist  wie  kaum  eine 
geeignet,  zu  warnen  vor  der  Ueberschätzung 
wirtschaftlicher  Momente,  zu  der  unsere  Zeit 
in  ihren  historischen  Betrachtungen  neigt. 
Es  kann  gar  keinem  Zweifel  unterworfen 
sein,  dass  die  vorzugsweise,  ja  ausschliess- 
lich in  Frage  kommenden  germanischen 
Völker:  Engländer,  Niederdeutsche,  Skandi- 
navier, in  ihrer  wirtschaftlichen  Veranlagung, 


1118 


Hanse 


geistig  wie  körperlieh,  in  allem  wesentlichen 
die  völlig  gleiche  Stellung  einnehmen.  Die 
Hanse  hatte  vor  den  Skandinaviern  die 
frühere  Städteentwickelung  voraus  und  die 
damit  verbundene  grössere  Koncentration 
der  wirtschaftlichen  Kräfte,  vor  allem  des 
Kapitals.  Es  wird  von  den  skandinavischen 
Historikern  nicht  ohne  Grund  als  Haupt- 
nachteil der  mittelalterlichen  hansischen  Han- 
delsherrschaft hervorgehobeUj  dass  sie  das 
nordische  Städtewesen  in  seiner  Entwicke- 
lung  gehemmt  habe.  Aber  so  weit  die  Hanse 
auf  diesem  Gebiete  den  nordischen  Nachbarn 
voraus  war,  so  weit  und  wohl  noch  weiter 
stand  sie  in  dieser  Entwickelung  hinter  den 
westlichen  Konkurrenten  zurück.  Auch  die 
bedeutendsten  Hansestädte  haben  sich  an 
Grösse  und  Wohlstand  nie  messen  können 
mit  den  grossen  flandrisch-brabantischen, 
englischen  und  französischen  Kommunen. 
Was  ihnen  aber  einen  Yorsprung  gab  vor 
allen  diesen,  und  zumal  vor  Engländern  und 
Franzosen,  das  war  ihre  politische  Selbstän- 
digkeit, die  Möglichkeit,  ihi*e  Politik  aus- 
schliesslich nach  den  Interessen  des  eigenen 
Gemeinwesens  zu  richten.  Italien  und 
Deutschland  haben  ja  als  die  Sitze  der 
nominellen  europäischen  Centralgewalten  im 
Mittelalter  das  Schicksal  völliger  staatlicher 
Zersplitterung  erfahren,  aber  in  eben  dieser 
Zersplitterung  haben  allein  jene  Handels- 
republiken in  beiden  Ländern  emporwachsen 
können,  die  den  abendländischen  Handel 
des  Mittelalters  beherrschten.  Es  lässt  sich 
an  hundert  und  aber  hundert  Beispielen  er- 
härten —  so  weit  die  Hanse  m  Frage 
kommt,  an  allen  monarchischen  Gewalten, 
mit  denen  sie  in  Berührung  gekommen  ist  — , 
wie  sehr  die  ausschliesslich  auf  die  eigenen 
Yerkehrsinteressen  gerichtete  Politik  dieser 
Stadtstaaten  jener  der  fürstlichen  Territorien 
überlegen  war,  in  denen  in  erster  Linie  die 
Dynastie,  erst  in  zweiter  Land  und  Volk 
massgebend  waren.  Nie  hätte  die  Hanse 
ihre  Stellung  zu  erringen  oder  auch  nur 
auf  Jahrzehnte  zu  behaupten  vermocht  ohne 
den  fast  ununterbrochenen  gegenseitigen 
Hader  der  skandinavischen  Staaten,  die  eng- 
lisch-französischen Kriege,  die  Kämpfe  der 
Rosen  und  hundert  andere  innere  und  äussere 
Wirren,  die  nicht  nur  die  Aufmerksamkeit 
der  Fürsten  von  den  wirtschaftlichen  In- 
teressen ihrer  Länder  ablenkten,  sondern  sie 
auch  nötigten  oder  geneigt  machten,  Unter- 
stützung oder  günstige  Haltung  der  Hanse- 
städte durch  liandelsj)olitische  Zugeständ- 
nisse zu  erkaufen.  Der  geschickten  Be- 
nutzung derartiger  Situationen  verdankt  die 
Hanse  wesentlicii  die  zahlreichen  Privilegien, 
die  die  Lübecker  Truhe  l)e wahrt  und  deren 
H(\<itz  ihre  Angehörigen  mit  Zuversicht  und 
Selbst veilmuen  erfüllte».  Die  Stellung  der 
Hanse  sank  in  dorn  Masse,  wie  die  nordischen 


und  westeuropäischen  Reiche  sich  innerlich 
festigten,  äusserlich  einen  bestimmten  Be- 
stand gewannen.  Die  definitive  Vertreibung 
der  Engländer  aus  Frankreich,  der  Sieg  der 
Tudors  in  England  selbst,  die  endgiltige 
Lösung  der  skandinavischen  Union  und  die 
Erhebung  der  Wasas  in  Schweden  waren 
ebenso  viele  Nägel  zum  Sarge  der  Hanse, 
wemi  auch  die  überall  befestigten  politischen 
Gewalten  nicht  immer  so  plump  Zugriffen 
wie  Iwan  III.  Wassiljewitsch ,  der  Einiger 
des  russischen  Reiches,  bei  der  Schliessung 
des  Hofes  von  Nowgorod.  In  dem  neuen 
Emx)pa  war  für  die  Hanse  kein  Platz  mehi* 
Sie  war  stark  gewesen  unter  Schwachen; 
gegenüber  einem  von  Königen  verti^teneu 
nationalen  Willen,  wie  er  sich  in  merkan- 
tilen Fragen  am  schärfsten  in  England 
äusserte,  vermochte  sie  nichts.  Denn  sie 
hatte  keine  Stütze  in  ihrem  Volke,  das 
staatlicher  Einigung  entbehrte.  Die  Selb- 
ständigkeit ihrer  Glieder  wurde  vielmehr 
angefochten  von  den  eigenen  heimischen 
Territorialgewalten,  und  die  Kehrseite  der 
bisherigen  selbständigen  wirtschaftlichen 
Ent^dckelung  war,  dass  eine  tiefe  Kluft  sich 
aufgethan  hatte  zwischen  den  Interessen 
von  Stadt  und  Land,  die  nicht  überbrückt 
werden  konnte  ohne  eine  höhere,  über 
beiden  stehende  Macht.  Eine  solche  aber 
fehlte.  Es  ist  der  Hanse  zum  Voniviu'f  ge- 
macht worden,  dass  sie  zu  starr  am  alten 
gehangen,  zu  sehr  sich  gesteift  habe  auf 
ihre  verbrieften  Rechte.  Hätte  sie  diese 
williger  preisgegeben,  sie  würde  ihren  Unter- 
gang nur  noch  mehr  beschleunigt  haben, 
denn  unter  den  Gegnern  war  keiner,  der 
nicht  unter  allen  Umständen  genau  mit  der- 
selben, ja  mit  grösserer  Rücksichtslosigkeit 
sich  an  die  Stelle  der  Hanse  gesetzt  hätte 
in  dem  Augenblicke,  wo  er  die  Macht  dazu 
fühlte.  Die  einzigen  Mittel,  mit  denen  man 
die  alte  Stellung  hätte  aufrecht  erlmlten 
können,  waren  Pulver  imd  Blei;  von  ihrer 
Anwendung  aber  konnte,  nachdem  der 
Donner  des  nordischen  siebenjährigen  Krieges 
erfolglos  verhallt  war,  nicht  mehr  die  Reile 
sein.  Man  tadelt  die  Hanse,  dass  sie  nicht 
gleich  Holländern  und  Engländern  einge- 
treten sei  in  die  neuen  überseeischen  Unter- 
nehmungen nach  Ameiika  und  Ostindien. 
Man  vergisst,  dass  Holländer  und  Engländer 
in  diese  Unternehmungen  erst  eintraten 
veranlasst  durch  ilire  Kriege  mit  Sjiauien, 
zu  einer  Zeit,  wo  die  Hanse  schon  zu  den 
Toten  zählte,  dass  nach  Amerika  ein  g»^ 
winnbringender  Handel  im  16.  Jaluliundert 
überhaupt  nicht  getrieben  weixleu  konnte, 
der  Verlegung  des  ostindischen  Marktes  von 
Venedig  nach  Lissabon  die  Hansen  al>tT 
ebenso  schnell,  ja  schneller  Rechnung  ge- 
tragen haV)en  als  die  Holländer.  Die  Los- 
reissung   dii\^er  8ee-  und  handelsgewohnten 


Hause — Hanssen 


1119 


Stammesverwandten  von  der  spanischen 
Monarclüe,  die  ihre  Handelspolitik  unab- 
hängig machte  von  den  Wünschen  imd  In- 
teressen ferner  Könige,  besiegelte  den  Unter- 
gang der  Hanse.  Auch  mit  schwächerer 
Kapitalkraft  erhoben  sich  Kopenhagen,  Stock- 
holm und  Bergen  neben  und  über  Lübeck, 
von  Amsterdam  und  London  gar  nicht  zu 
reden;  die  alte  Tüchtigkeit  der  nieder- 
deutschen Bevölkei-ung  aber,  die  den  hanse- 
schen Geist  geboren  hatte,  lebte  auch  ohne 
namhaftere  Bethätigimg  fort,  um  in  unserem 
Jahrhundert  unter  günstigeren  Verhältnissen 
sich  neue  Bahnen  zu  eröffnen.  Es  ist 
zweifellos,  dass  auch  ihre  Erfolge  stehen 
und  fallen  mit  der  Kraft  und  Emheit  des 
Reiches. 

Oft  hat  man  darauf  hingewiesen,  dass 
mangelnde  Einigkeit  den  Untergang  der 
Hanse  beschleunigt  habe.  Gewiss  hat  z.  B. 
Hamburgs  Sonderpolitik  im  16.  Jahrhundert 
nicht  wenig  dazu  beigetragen,  diese  Stadt  auf 
Kosten  des  Bundes  zu  heben.  Aber  man 
muss  doch  sagen,  dass  von  einer  wirklichen 
Einigkeit  auch  in  den  besten  Zeiten  der 
Hanse  nicht  die  Eede  sein  kann,  dass  sich 
die  einzelnen  Städte  sehr  selten  gescheut 
haben,  Sonderinteressen  den  allgemeiaen 
voranzusetzen.  In  dieser  Beziehung  trägt 
die  Hanse  den  Stempel  ihrer  Zeit;  war  es 
doch  mit  der  Eidgenossenschaft,  ja  mit  dem 
deutschen  Reiche  nicht  anders.  Die  Haupt- 
sache ist,  dass  diese  lose  Verbindung  den 
Anfordeningen  zweier  Jahrhunderte  genügte. 
Sie  brachte  den  deutschen  Namen  zur  Gel- 
tung im  gesamten  Norden  Eiut)pas  und  ge- 
wann unserem  Volke  eine  Stellung  auf  dem 
Meere,  wie  es  dieselbe  seitdem  nicht  wieder 
errungen  hat.  Mögen  die  materiellen  Leis- 
tungen, verglichen  mit  denen  unserer  Tage, 
gering  gewesen  sein,  sie  reichten  aus,  ein 
Deutschland  auf  dem  Meere  zu  schaffen  und 
deutscher  Arbeit,  deutscher  Sprache,  deut- 
scher Sitte  Einfluss  zu  sichern  weit  über 
die  Grenzen  des  Reiches  hinaus.  Darin 
wird  der  Deutsche  stets  ein  Verdienst  der 
Hanse  sehen;  dass  es  ein  vorübergehendes 
war,  hat  seinen  Grund  in  erster  Linie  in 
den  allgemeinen  Geschicken  unseres  Volkes. 

Lltteratur:  Die  Recesse  und  andere  Akten  der 
Hantetage,  herausgegeben  von  K,  Koppmantif 
G.  V,  d.  Rap^p,  D.  Schäfer,,  Leipzig  1870 — 
1899,    bis  jeUt   21  Bde.    in    8  Abt,  (1256—1516). 

—  Ilansitches  Urhindenbuch ,  herausgegeben 
von  K.  Höhlbatini,  K.  Kunze,  W,  Stei^n, 
6  Bde.,    Halle  1876—1899   (—UU,   1451— I46S). 

—  Inrentare  hansischer  Archive  I  (Köln),  Leipzig 
1896.  —  Hansische  Geschichtsquellen,  8  Bde.,  Halle 
1875 — 1899.  —  Hansische  GeschichtsbUitler^heraus- 
gegeben  von  K.  Kopptnann  in  27  Jahrgängen, 
Leipzig  1871—1899.  —  V.  Schuf  er,  Die  Hanse- 
stüflte  und  König  Waldemar  von  Dänemark. 
Hansische  Geschichte  bis  1876,  Jena  1879.  — 
Lappenberg,    Urkundliche  Geschichte  des  han- 


sischen Stahlhofes  zu  London,  Hamburg  1851.  — 
H.  Handelmann,  Die  letzten  Zeiten  hansischer 
Uebermacht  im  skandinavischen  Norden,  Kiel 
18.58.  —  C  H,  Allen,  De  tre  nordiske  Rigers 
Historie  under  Hans,  Christiern  den  Anden, 
Frederik  den  forste,  Gustav  Vasa,  Grevefeiden 
1497—1586,  5  Bde.,  Kopenhagen  1864—187i.  — 
Q,  Waitz,  Lübeck  unter  Jürgen  Wullenweicer 
und  die  europäische  Politik,  8  Bde.,  Berlin 
1855156.  —  D.  Schäfer,  Die  Hanse  und  ihre 
Handelspolitik,  Jena  1885.  —  Derselbe,  Das 
Zeitalter  der  Entdeckungen  und  die  Hanse, 
Hansische  Geschichtsblätter,  Jahrgang  1897.  — 
Derselbe,  Deutschland  und  England  im  Welt- 
handel des  16.  Jahrhunderts,  Preuss.  Jahrb. 
Bd.  83.  —  Derselbe,  Deutschland  zur  See, 
Jena  1897. 

D.  Schäfer, 


Haussen,  Georg, 

wurde  am  31.  V.  1809  zu  Hamburg  geboren. 
Da  seine  Eltern  aus  dem  Herzogtum  Schles- 
wig stammten,  so  hat  auch  er  stets  Schleswig 
als  seine  eigentliche  Heimat  betrachtet.  Hansseu 
erhielt  seine  Schulbildung  auf  der  Gelehrten- 
schule des  Johanneums  zu  Hamburcf  und  bezog 
Ostern  1827  die  Universität  Heidelberg,  um 
Eechts-  und  Staatswissenschaften  zu  studieren. 
Hier  übte  Rau  den  gross ten  Einflass  auf  die 
Richtung  seiner  Studien  aus,  die  er  später  unter 
Niemann  in  Kiel  fortsetzte.  1831  promovierte 
und  Ostern  1833  habilitierte  sich  Hanssen  an 
der  Universität  Kiel.  Im  Herbst  des  Jahres 
1834  ging  er  als  Kammersekretär  für  die 
deutsche  Abteilung  des  Generalzoll-,  Kammer- 
und  Kommerzkollegiums  nach  Kopenhagen,  wo 
er  1835  zum  Kammerrate  ernannt  wurde.  1837 
kehrte  er  als  ordentlicher  Professor  der  National- 
ökonomie und  Statistik  nach  Kiel  zurück,  folgte 
Ostern  1842  einem  Rufe  an  die  Universität 
Leipzig,  vertauschte  im  Jahre  1848  den  Leip- 
ziger nationalökonomischen  Lehrstuhl  mit  dem 
gleichen  an  der  Universität  Göttingen,  von  wo 
er  im  Herbst  1860  nach  Berlin  als  Professor  an 
der  Universität  und  als  Mitglied  des  königl. 
preussischen  statistischen  Bureaus  übersiedelte. 
Im  Jahre  1869  ging  er  in  seine  frühere  Stellung 
nach  Göttingen  zurtlck,  woselbst  er  als  Ehren- 
mitglied der  kgl.  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Berlin,  der  er  seit  3.  VII.  1862  als  Mitglied 
angehörte,  am  19.  XII.  1894  starb. 

Hanssen  veröffentlichte  von  staatswisseu- 
schaftlichen  Schriften  a)  in  Buchform: 

Agriculturae  doctrina  Cathedris  Universi- 
tatum  vindicatÄ.  Dissert.  inaugur.,  Altonae  1832. 
—  Historisch-statist.  Darstellung  der  Insel 
Fehmarn,  Altona  1832.  --  Statistische  For- 
schungen über  das  Herzogtum  Schleswig,  Heft 
1,  Heidelberg  1832,  Heft  2,  Altona  1833.  — 
üeber  die  Anlage  von  Komdampfmühlen  in  den 
Herzogtümern  Schleswig  und  Holsteiu,  Kiel 
1838.  —  Holsteinische  Eisenbahn,  2  Hefte 
(anonym,  von  den  beiden  Eisenbahnausschüssen  zu 
Altona  und  Kiel  herausgegeben;,  Kiel  1840.  — 
Das  Amt  Bordesholm  im  Herzogtum  Holstein, 
Kiel  1842.  —  Ueber  die  Errichtung  von  Spar- 
kassen   mit    besonderer    Rücksicht    auf    Land- 


1120 


Haussen 


distrikte  (als  Manuskript  zum  Druck  befördert 
von  der  ökonomischen  Societät  zu  Leipzig), 
Leipzig  1845.  —  Gutachten  über  die  Ver- 
besserung des  Volkszählnn^wesens  im  König- 
reich Hannover.  (Als  ißnuskript  gedruckt 
1850.)  —  Die  Agitation  wider  den  September* 
vertrag  von  ISöl.  (Betrifft  den  Zollanschluss 
Hannovers  an  den  Zollverein.)  In  21  Artikeln 
der  Weserzeitung  1851/52,  besonders  abgedruckt 
auf  Veranstaltung  der  oldenburgischen  Re- 
gierung für  die  landständischen  Verhandlungen 
über  Oldenburgs  Anschluss  an  den  Zollverein. 

—  Ein  Beitrag  zu  den  Debatten  über  die 
oldenburgische  Zollanschlussfrage,  Oldenburg 
1852.  —  Entwurf  zu  einer  Enquete  über  die 
volkswirtschaftlichen  Zustände  des  hannover- 
schen Eichsfeldes  mit  besonderer  Beziehung 
auf  die  dortige  freie  Teilbarkeit  des  Bodens. 
In  den  gedruckten  Protokollen  des  Centralaus- 
schusses  der  k.  hannoverschen  Landeswirt- 
schaftsgesellschaft  von  1858.  —  Die  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft  und  die  Umgestaltung  der 
^utsherrlich-bäuerlichen  Verhältnisse  überhauj[)t 
m  den  Herzogtümern  Schleswig  und  Holstein, 
St.  Petersburg  1861.  (Eine  von  der  kaiserl.  russ. 
Akademie  der  Wissenschaften  1860  gekrönte 
Preisschrift.)  —  Antrittsrede  in  der  königl. 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  am  3. 

VII.  1862.  (Die  Stellung  des  Redners  zu  seiner 
von  ihm  vertretenen  Disciplin.)  In  dem  Monats- 
bericht der  Akademie  über  diese  Sitzung.  — 
Die  Gehöferschaften  im  Regierun^bezirk  Trier. 
(In  den  Abhandlungen  der  königl.  Akademie 
der  Wissenschaften  zu  Berlin,  Jahrg.  1863.)  — 
Hannovers  finanzielle  Zukunft  unter  preussischer 
Herrschaft  (anonym),  Hannover  1867.  —  Die 
Bremer  Grundsteuerfrage.  Ein  der  Kammer 
für  Landwirtschaft  zu  Bremen  1876  erstattetes 
Gutachten.  (Als  Manuskript  {gedruckt),  Göttingen 
1877.  Agrarhistorische  Abhandlungen,  I.  Bd., 
Leipzig  1880,  II.  Bd.,  ebd.  1884. 

Hanssen  veröffentlichte  b)  in  Zeitschrif- 
ten und  Sammelwerken: 

In  den  Möglinschen  Jahrbüchern  der 
Landwirtschaft,  Bd.  I:  Württembergs  Sibirien. 
(Eine  Skizze  des  ehem.  Fürstbistums  Ellwangen, 
besonders  in  landwirtschaftlicher  Hinsicht.)  — 
Im  neuen  staatsbürgerlic he nMa gazin: 
Ansichten  über  das  Agrarwesen  der  Vorzeit, 
Bd.  III  und  VI.  —  Statistische  Mitteilungen 
über  nordfriesische  Distrikte,  Bd.  III.  —  Die 
Handelsflotte  der  Herzogtümer  Schleswig  und 
Holstein,  Bd.  VI,  unter  den  Miszelien  (anonym). 

—  Das  norwegische  Storthing  von  1836,   Bd. 

VIII.  —  Statistische  Skizze  der  Insel  Aeröe, 
Bd.  IX.  —  In  den  neuen  Jahrbüchern 
der  Geschichte  und  Politik,  Jahr^.  1843: 
Die  Herzogtümer  Schleswig  und  Holstein  nach 
den  nationalen  Elementen  der  Bevölkerung.  — 
Im  schleswig-holsteinischen  „Gnomon"  von 
Harms,  Kiel  1843 :  a)  Zur  Geschichte  der  Land- 
wirtschaft der  Herzogtümer,  b)  Wie  die  meh- 
reren Landesteile  zusammengekommen  sind.  — 
Im  Volksbuch  für  1845,  herausgeg.  von 
Biernatzki,  2.  Jahrg.,  Kiel,  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  die  Herzogtümer  Schleswig,  Hol- 
stein und  Lauenburg:  Das  Landgemeindewesen 
der  Herzogtümer  Schleswig  und  Holstein.  — 
Im  Archiv  der  politischen  Oekonomie 
und  Polizeiwissenschaft:  Das  Zollwesen 
der    Herzogtümer   Schleswig    und   Holstein    in 


Vorzeit  und  Gegenwart,  Bd.  V  und  N.  F.  Bd.  I. 

—  Der  Flurzwang  und  dessen  Aufhebung', 
N.  F.  Bd.  II.  —  Die  ältere  französische  Littera- 
tur  der  politischen  Oekonomie.  —  Die  Fra^e 
der  Wiesenbewässerungskultur  in   Frankreich. 

—  lieber  den  Mangel  an  landwirtschaftlichem 
Arbeiterpersonal  im  Königreich  Sachsen.  —  Zur 
Bevölkerungskunde  des  Königreichs  Sardinien, 
N.  F.  Bd.  III.  —  Ueber  die  Zweckmässigkeit 
von  Regierungsmassres^eln  zur  Befördenine  der 
Schweinezucht  in  Sacnsen,  N.  F.  Bd.  I\.  — 
Ueber  Öffentliche  Arbeitsnachweisungsanstalten. 

—  Das  statistische  Bureau  der  preussischen 
Monarchie  unter  Hoffmann  und  Dieterici.  — 
Die  Sachsen-Meiningensche  Gesetzgebung  auf 
dem  Gebiete  der  politischen  Oekonomie  und 
Polizei,  N.  F.  Bd.  VI,  in  2  Abteilungen.  — 
Die  dlinisch-westindischen  Kolonieen.  Mit  einem 
Nachtrag.  —  Ueber  die  beabsichtigte  allgemeine 
deutsche  Volkszählung,  N.  F.  Bd.  VIII.  —  Die 
Häusersteuer  im  Königreich  Hannover,  N.  F. 
Bd.  IX.  —  Die  Schiffahrtsabgaben  nach  der 
schleswig-holsteinischen  Gesetzgebung.  —  Die 
nationalökonomischen  Zustände  der  Herzog- 
tümer Coburg  und  Gotha,  N.  F.  Bd.  X.  —  Die 
hannoversche  Gesetzgebung  über  die  persön- 
lichen direkten  Steuern.  —  Die  gesetzliche  Re- 
gulierung der  Kinderarbeit  in  Fabriken,  mit 
besonderer  Beziehung  auf  Sachsen.  —  In  der 
Zeitschrift  für  die  gesamte  Staats- 
wissenschaft: Die  volkswirtschaftlichen  Zn- 
stände  des  Königreichs  Hannover  im  Hinblick 
auf  den  Anschluss  desselben  an  den  Zollverein, 
Bd.  IX.  —  Die  Normierung  der  Eingangszölle 
aus  dem  rein  finanziellen  Gesichtspunkt,  Bd. 
XI.  — -  Hamburgs  Handel  in  gegenwärtiger 
Zeit.  —  Die  oldenbur^sche  Deichordnung  von 
1855,  Bd.  XII.  —  Die  neuesten  Agrargesetze 
des  Königreichs  Hannover,  in  2  Artikeln,  Bd. 
XIII.  —  Einige  Data  zur  Beurteilung  der 
österreichischen  Finanzen.  —  Die  Landwirt- 
schaftspfl^e  im  Königreich  Sachsen.  —  Die 
amtliche  Statistik  im  Grossherzogtum  Olden- 
burg. —  Die  landwirtschaftlichen  Vereine  und 
die  Landwirtschaftspflege  im  Gros8herzo£;'tum 
Hessen,  Bd.  XIV.  —  Zur  Geschichte  der  Feld- 
systeme in  Deutschland,  Bd.  XXI,  XXH,  XXIV, 
XXVI,  XXXn.  —  Die  Nationalitäts-  und  Sprach- 
verhältnisse des  Herzogtums  Schleswig,  Bd. 
XXXIV.  —  Agrarhistorische  Fragmente  I: 
Wechsel  der  Wohnsitze  und  Feldmarken  in 
germanischer  Urzeit.  —  Agrarhistorische  Frag- 
mente II :  Die  Gehöferschaften,  Bd.  XXXVI.  — 
Das  Herzogtum  Oldenburg  in  seiner  wirtschaft- 
lichen Entwickelung  während  der  letzten  2d 
Jahre  (nach  Kollmann),  Bd.  XXXV.  —  Im 
Journal  für  Landwirtschaft  (Göttiugen): 
Ueber  die  Produktion  und  Besteuerung  des 
Rübenzuckers  im  Zollverein,  Jahrgang  VI.  — 
Die  Landwirtschaft  und  das  Forstwesen  im 
Herzogtum  Braunschweig,  Festschrift  für  die 
XX.  Versammlung  der  deutschen  Land-  und 
Forstwirte,  Jahrg.  VII.  —  Das  Klostergut 
Weende  und  6  andere  Klostergüter  im  Fürsten- 
tum Göttingen,  Jahrg.  VI  und  VIII  und  in  be- 
sonderem Abdruck  veröffentlicht,  Göttiugen  1858 
und  1860  (anonym).  —  Ueber  die  Fleischkon- 
sumtion in  Deutschland,  Jahrg.  XX.  —  Zur 
Geschichte  norddeutscher  Gutswirtschaft  seit 
Ende  des  16.  Jahrb.,  Jahrg.  XXII.  —  Zur 
Grundsteuerfrage,  Jahrg.  XaTII.  —  Landwirt- 


Hanssen — Harriagton 


1121 


schaftliche  Zustände  früherer  Zeiten  in  nord- 
friesischen Gegenden,  Jahrg.  XXVI.  —  Ausser- 
dem zahlreiche  Aufsätze  und  statistische  Mit- 
teilungen üher  die  volkswirtschaftlichen  Zu- 
stände und  die  finanziellen  und  sonstigen  öffent- 
lichen Angelegenheiten  Dänemarks  und  der 
Herzogtümer  im  „Kieler  Korrespoudenzblatt'' 
vom  Oktober  1830-1842  und  im  „Altonaer 
Merkur"  1835—1842.  —  Viele  ausführliche  Be- 
sprechungen aus  Hanssens  Feder  finden  sich  im 
„Archiv  der  politischen  Oekonomie'',  in  den 
„Göttingischen  gelehrten  Anzeigen'',  in  der 
„Zeitschrift  des  königlich  preuss.  stat.  Bureaus'' 
und  a.  a.  0. 


Vgl.  über  Hanssen:  Boscher,  Geschichte 
der  Nat.,  S.  1037.  —  August  Meitzen,  Georg 
Hanssen  als  Agrarhistoriker,  in  Zeitschr.  f£ 
Staatsw.,  Bd.  37,  S,  371  ff.,  Tübingen  1881.  — 
T.  Inama-Stemegg,  Georg  Hanssen,  in  Jahrb. 
f.  Nat.,  N.  F.  Bd.  II,  S.  504  ff.,  Jena  1881.  -- 
A.  V.  Miaskowski.  Georg  Hanssen.  Ein  national- 
ökonomisches JuDÜäum,  in  Jahrb.  f.  Ges.  und 
Verw.,  N.  F.  Jahrg.  V,  S.  399  ff.,  Leipzig  1881. 
—  Gustav  Cohn,  Georg  Hanssen  (zum  80. 
Geburtstage  31.  V.  1889)  in  der  „Deutschen 
Rundschau"  1889.  —  Festgabe  für  Georg 
Hanssen  zum  31.  V.  1889  von  Aug.  Meitzen, 
K.  Lamprecht,  E.  Th.  v.  Inama-Stemegg,  L. 
Weiland,  Joh.  v.  Eeussler,  W.  Lexis,  G. 
Drechsler,  Joh.  Conrad,  F.  Frensdorff,  Tübingen 
1889.  —  G.  H.  Schmidt,  La  vie  et  les  travaux 
de  Georges  Hanssen  in  Revue  d*^onom.  polit., 
3©  ann^e,  Nr.  6,  Paris  1889.  —  Ein  genaues 
Verzeichnis  aller  Veröffentlichungen  Hanssens, 
auch  der  oben  nicht  angeführten  Besprechungen 
von  statistischen,  nationalökonomischen  und 
finanzwissenschaftlichen  Werken,  findet  sich  in 
den  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  N.  F.  I.  Bd.,  S.  362  ff. 

Red, 


Harrington,  James, 


geb.  1611  zu  üpton  in  der  englischen  Graf- 
schaft Northampton,  studierte  in  Oxford,  wurde 
Kammerjnnker  Karls  I.,  schrieb,  unzufrieden  mit 
Cromwells  Diktatur,  seinen  demokratischen 
Staatsroman  „Oceana"  (s.  u.)  sowie  eine  Reihe 
anderer  Staats-  und  agrarreformatorischer  Schrif- 
ten, die,  nach  der  Bistauration,  unter  der  Re- 
eierung  Karls  IL,  1661  seine  Verhaftung  herbei- 
rahrten.  Nach  dreizehi^ähriger  Einkerkerung 
im  Tower  erfolgte  1674  seine  Freilassung,  und 
er  starb  bald  darauf  am  11.  IX.  1677  in  Ply- 
mouth. 

Harrington  veröffentlichte  von  staats- 
wissenschaftlichen Schriften  in  Buchform: 

Common- wealth  of  Oceana,   London  1666. 

gn  diesem  Staatsroman  ist  die  fingierte  Insel 
ceana  der  Organisationsboden  für  die  neue 
Staats-  und  Gesellschaftsordnung  des  Verfassers, 
bezw.  seine  demokratische  Agrarverfassung. 
Als  Bollwerk  gegen  die  Bildung  von  Lati- 
fundien soll  die  Verteilung  von  Grund  und 
Boden  in  diesem  Zukunftsstaate  streng  nach 
Gerechtigkeitsprincipien  durchgeführt  und  eine 
Verkleinerung  der  Majorate  durch  eine  von 
Erstgeburtsrecht  und  Geschlecht  abstrahierende 

HandwÖrterbach  der  StaatswiaseiLBchaften.    Zweite  Auflage. 


neue  Erbschaftsordnung,  welche  die  Erbschafts- 
substanz zu  gleichen  Teilen  dem  hinterbliebenen 
Nachwuchs  überweist,  geschaffen  werden.  Der^ 
Wert  des  Grundeigentums  soll  im  Einzelbesitz 
in  keinem  Falle  ü^r  2000  £  Bodenrente  hinaus- 
gehen. Höher  als  das  Geld,  dessen  Anhäufung 
in  einer  Hand  nur  von  ihm  bekämpft  wird, 
schätzt  Harrington  das  Grundeigentum,  seiner 
Konsistenz  we^en,  und  deshalb  stellt  er  auch 
dem  Grundbesitz  oder  der  Verkörperung  der 
wirtschaftlichen  Potenz  die  politische  Macnt  als 
Gleichgewicht  (.,balance  of  dominion  or  pro- 
perty",  wie  er  sich  ausdrückt)  entgegen.  Die 
Bilanztheorie  wird  so  zum  ersten  Male  auf  die 
Regierungs^walt  angewandt,  und  von  ihm  an- 
geführte Beispiele  aus  der  englischen  Geschichte 
legen  dar,  dass  in  Fällen,  wo  der  Gemeinde- 
agrarbesitz  grösser  war  als  der  Grundbesitz  des 
Adels  und  das  Kronland,  der  Ausbruch  poli- 
tischer Unruhen  erfolgte.  Der  bedeutendste 
Gegner  der  Harringtonschen  gesellschaftlichen 
Nivellienmgsideeen    war   Hobbes,    als   staats- 

?hilosophiscner  Vertreter  des  Absolutismus.  » 
'he  prerogative  of  populär  government.  A 
political  discourse  containing  the  first  praeli- 
minary  of  Oceana,  interpreted  and  vindicated, 
the  second  concerning  Ordination  against  H. 
Hamond,  L.  Seaman,  etc.,  2  Bde.,  ebd.  1658. 

Harriufftons  gesammelte  Werke:  The 
Oceana.  and  his  other  works;  the  whole  col- 
lected,  methodiz'd,  and  review'd,  witii  an  account 
of  his  life  by  J.  Toland,  London  1700.  (Diese 
anderen  Schriften  bestehen  in  1)  Art  of  law- 
giving,  [worin  u.  a.  entwickelt  wird,  wie  eine 
auf  Agrargesetze  gestützte  Staatsverfassung 
eine  Schutzwehr  gegen  Revolutionen  bildet]J. 
—  2)  Grounds  and  reasons  of  monarchy  consi- 
dered.  —  8)  Plato  redivivus;  or,  dialogue  con- 
cerning government.  —  4)  Politic«J  tracts.  — 
ö)  Prerogative  of  populär  government.  — ) ;  das- 
selbe, 2.  Aufl.,  Dubhu  1737;  dasselbe,  3.  Aufl., 
hrsg.  von  J.  Towland,  ebd.  1747;  dasselbe, 
4.  Aufl.,  besorgt  von  HoUis,  London  1771  (gilt 
als  vollständigste  Ausgabe  der  Oceana);  das- 
selbe in  französischer  Uebersetzung,  „pr6cM6 
de  l'histoire  de  sa  vie*',  par  J.  Towland,  3  Bde., 
Paris,  an  III  (1795). 


Vgl.  über  Harrington:  John  Toland, 
Life  of  Harrington  (s.  o.  unter  gesammelte 
Schriften).  —  D.  Hume,  Essays,  etc.,  Bd.  I, 
London  1784,  essay  16.  —  Buhle,  Lehrbuch 
der  Geschichte  d.  Philosophie,  Bd.  VII,  Göttingen 
1803,  S.  715ff.  —  R.  von  Mohl,  Die  Staats- 
romane in  ,,Zeitschr.  für  Staatsw."  Bd.  II, 
Tübingen  1845,  S.  24 ff.  —  Röscher,  Zur  Ge- 
schichte der  englischen  Volkswirtschaftslehre, 
Leipzig  1851,  S.  53 ff.  —  J.  J.  Thonissen, 
Du  role  de  Tutopie  dans  Phistoire  de  la  Philo- 
sophie politique.  James  Harrington,  o.  0.  u.  J. 
(c.  1852).  —  W.  L.  Sargart,  Social  innovations, 
London  1858,  S.  16  ff.  —  v.  Raum  er,  üeber 
die  geschichtliche  Entwickelung  der  Befi^riffe 
von  Recht,  Staat  und  Politik,  3.  Aufl.,  Leipzig 
1861,  S.  46.  —  Ha  11  am,  Introduction  to  the 
literature  of  Europe.  etc.,  Bd.  IV,  London  1864, 
S.  366.  —  Ahrens,  Naturrecht,  6.  Aufl.,  Bd.I, 
Braunschweig  1870,  S.  202.  —  Röscher,  Ge- 
schichte der  Nat.,  S.  243.  —  Stern,  Milton 
und  seine  Zeit,  IL  Teil,  3.  Buch,  Leipzig  1879, 
S.  243 ff.  —  H.  P.  G.  Quack,  De  socialisten. 

IV.  71 


1122 


Harrington — HaiTison 


Personen  en  stelses,  2.  Aufl..  Amsterdam  1887, 
Bd.  I.  —  F.  Kleinwächter,  Die  Staats- 
romane, Wien  1891.  —  G.  Adler,  Geschichte 
des  Sozialismus  und  Kommunismus,  I.  Bd., 
Leipzig  1899. 

Lippert. 


Harris,  Joseph, 

geb.  um  1723  zu  London,  als  Münzwardein  der 
Münze  zu  London  gestorben  daselbst  1764. 

Harris  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform: 

An  essay  upon  money  and  coins,  2  Teile, 
London  1757—58.  (Teil  1  führt  den  Special- 
titel: The  theories  of  commerce,  monney  and 
exchange;  Teil  II  betitelt  sich:  Wherein  is 
showed  that  the  established  Standard  of  money 
should  not  be  violated  or  altered  under  any 

fretence  whatsoever);  dasselbe  in  einer  vom 
^olitical  Economical  Club  in  London  in  „Select 
tracts'^  veranstalteten  neuen  Ausgabe,  ebenda 
1856.  (Dieses  anonym  erschienene  Werk  ent- 
hält im  ersten  allgemeinen  Teile  eine  Begrün- 
dung des  vom  Verfasser  aufgestellten  national- 
ökonomischen Gesetzes,  wonach  innerhalb  des- 
selben volkswirtschaftlichen  Gebietes  die  ver- 
schiedencütigen  Kapitalanlagen  einem  gleichen 
Zinsfnsse  zustreben;  zeigt  z.  B.  der  zinsfuss 
des  Geschäftsgewinnes  eines  kaufmännischen 
Unternehmens  sinkende  Tendenz,  so  werden  die 
Interessenten  die  darin  angelegten  Kapitalien 
nach  Möglichkeit  herausziehen,  prosperiert  ein 
kommerzieller  oder  industrieller  Betrieb  dagegen 
mehr  als  andere  Produktionszweige,  wird  aus 
letzteren  das  Betriebskapital  flüssig  gemacht 
und  in  die  lohnendere  Erwerbsbranche  gesteckt 
werden.  Im  ersten  Teile  wird  neben  dem 
Handel  auch  der  Arbeitsteilung  ein  mächtiger 
Einfluss  auf  die  Hebung  des  Nationalwohlstandes 
eingeräumt  und,  zum  ersten  Male  nach  Petty, 
das  Arbeitsquantum  als  Wertmass  anerkannt. 

Vgl.  über  Harris:  Lauderdale,  Inquiry 
into  the  nature  and  origin  of  public  wealth, 
Edinburgh  1804,  S.  23.  —  Mac  Culloch,  The 
literatnre  of  political  economy,  London  1854, 
S.  163.  —  Röscher,  System  der  Volkswirt- 
schaft, Bd.  I,  Stuttgart  1854,  S.  326.  — 
S  c  h  ä  f  f  1  e ,  Gesellschaftliches  System  der  mensch- 
lichen Wirtschaft,  3.  Aufl.,  Bd.  I,  Tübingen  1873, 
S.  176.  —  Röscher,  Geschichte  der  Sational- 
ökonomik,  München  1874,  S.  481. 

lAffperU 


Harrison,  Frederiok, 

geb.  18.  X.  1831  zu  Ijondon,  studierte  in  Ox- 
ford, wurde  1858  Advokat,  war  1867-69  Mit- 
glied der  Enquetekoramission  zur  Erforschung 
der  Organisation  und  Wirksamkeit  der  Trades  ' 
Unioiis  und  1869—70  Schriftführer  der  Kodifika- 
tionskommission der  englischen  Gesetze.  1877 
wurde  er  Professor  der  Kechte  zu  London  und 
vertrat  1878  das  dortige  Working  Mens'  College  . 


auf  dem  französischen  Arbeit^rkongresse  zu 
Lyon.  Gegenwärtig  lebt  er  in  London.  Harrison 
ei^eut  sich  eines  wohlbegründeten  Rufes  als 
glänzender  Essayist.  Als  Anhänger  der  posi- 
tiven Philosophie  August  Comtes,  von  dessen 
„Systeme  de  politique  positive"  er  auch  den 
IL  Bd.  (s.  u.)  übersetzt  hat,  wird  Harrison 
neben  Richard  Congreve  als  Mitbegründer  der 
positivistischen  Schule  genannt. 

Er  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen bezw.  positivistischen  Schriften:  a)  in 
Buchform: 

International  policy.  Essays  on  the  foreign 
relations  of  England,  London  1866;  dasselbe, 
neue  billige  Ausgabe,  ebd.  1884.  (Die  erste 
Auflage  erschien  anonym.)  —  Order  and  pro- 
gress,  2  Teile  (I.  Thou^ht  on  govemment;  IL 
Studies  of  pohtical  crises),  London  1875.  — 
Martial  law  in  Kabul,  London  1880.  —  Present 
and  the  future:   a  positivist  address,  London 

1880.  —  Tennyson,  Ruskin,  Mill,  and  other 
literary  estimates,  London  1899.  — :  Harrison  ist 
ferner  mit  Th.  Brassey,  A.  J.  Balfour  und  A. 
Wallace  beteiligt  an  dem  Werk:  Industrial 
Remuneration  Conference.  Report  of  the  pro- 
ceedings  and  papers  read,  London  1885.  —  Er 
übersetzte  femer  Bd.  II  vom  Comtes  System 
der  positiven  Politik  unter  dem  Titel:  System 
of  positive  polity,  vol.  II :  Social  statics,  or  the 
abstract  theory  of  human  order. 

b)  in  Zeitschriften: 
1)  in  Contemporary  Review  (London):  A 
rejoinder  to  the  Duke  of  Argyll,  1889,  Febrnar. 

—  Ideal  London,  1898,  Juli.  —  2)  In  Fortnightly 
Review,  London  (nur  die  ältesten  und  nenere 
Artikel  sind  berücksichtigt):  The  limits  of 
political  economy,  1865,  Januar.  —  The  iron- 
masters'  trade  union,  ,1865,  Mai.  —  The  good 
and  evil  of  trades  unionism,  1865,  November.  — 
Industrial  co-operation,  1866,  Januar.  —  Home 
Rule  in  the  XVIIIth  Century,  1886,  Juli.  — 
The  future  of  agnosticism,  1889,  Januar.  — 
What  the  Revolution  of  1789  did,  1889,  Juni. 

—  The  reaction  and  its  lessons,  1895,  Oktober. 

—  3)  In  Jahrb.  f.  Ges.  und.  Verw.  II:  Der 
französische  Arbeiterkongress  in  Lvon  1878, 
übersetzt  von  L.  Brentano,  1878,  S.  667  ff.  —  4) 
In  Journal  of  the  Statistical  Society,  Bd.  47: 
A  new  industrial  inquiry,  London  1884,  S.  516 
(bezieht  sich  auf  die  „Industrial  Remuneration 
Conference,  London  1885 **).  —  5)  In  Nineteenth 
Century  (London),  Bd.  IX:  The  creed  of  a 
lavman,  1881,  S.  455—77.  —  Pantheism  and 
cosmic  emotion,  Bd.  X,  1881,  S.  284  ff.  —  The 
deadlock   in   the   House   of  Commons,  Bd.  X 

1881.  S.  317  ff.  —  The  crisis  of  parliamentarv 
govemment,  Bd.  XI,  1882,  S.  9  ff.  —  The  ghost 
of  religion,  Bd.  XV,  1884,  S.  495  ff.  (richtet  sich 
gegen  den  H.  Spencerschen  Artikel :  Religion: 
a  retrospect  and  prospect,  Nineteenth  Century 
Bd.  XV.  —  Agnostic  metaphysics,  Bd.  XVI, 
1884,  S.  353—78  (bezieht  sich  auf  H.  Spencers 
soziologische  Schriften).  —  Mr.  Bryces  ,.  Ameri- 
can Commonwealth",  Nr.  143,  1889,  Januar.  — 
Are  we  making  way?  (in  Bezug  auf  irländische 
Zustände),  Nr.  147,  1889,  Mai.  —  The  new 
trades-unionism,  Nr.  153,  1889,  November.  -^ 
Lord  Rosebery  and  the  London  Connty  Council, 
Nr.  160,  1890,  Juni.  —  Ruskin  as  master  of 
prose,  Nr.  224,  1890,  Oktober.  —  John  Stnart 
Mill,  Nr.  235,  1896,  September.  —  The  modern 


Harrison — Haubergswirtscliaft 


1123 


Macchiavelli,  Nr.  247,  1897,  September.  —  The 
historical  method  of  J.  A.  Fronde,  Nr.  259, 1898, 
September.  —  The  historical  method  of  Prof. 
Freeman,  Nr.  261,  1898,  November.  —  6)  In 
New  Review  (London):  Sir  John  Lubbock  and 
the  London  Oounty  Conncil.  1891,  November. 
—  London  improvements,  1892,  Oktober. 

Vgl.  über  Harrison:  Mr.  Spencers' 
replies,  in  Nineteenth  Century,  Bd.  XVI,  London 
1884,  S.  3—26  und  826—39.  (Diese  Replik  be- 
zieht sich  auf  Harrisons  polemisierenden  Artikel : 
The  ghost  of  religion,  in  Nineteenth  Century, 
Bd.  XV  [s.  0.].)  —  Bischof  von  Carlisle, 
Comte's  atheism,  in  Nineteenth  Century,  Bd.  XXI, 
ebenda  1887,  S.  873  ff.  (bezieht  sich  auf  Harri- 
sons Besprechung  der  Schrift:  „Comte's  three 
States").  —  V.  Schulze-Gaevernitz,  Zum 
sozialen  Frieden,  Bd.  II,  Leipzig  1890,  S.  57, 
68 ff.  —  H.  Gruber,  Der  Fositivismus  vom 
Tode  August  Comtes  bis  auf  unsere  Tage,  Frei- 
burg i.  B.  1891.  —  J.  G.  Godard,  Poverty, 
its  genesis  and  exodus,  liOndon  1892,  S.  2. 

Lippert, 


Haabergswirtschaft. 

1.  Begriff,  Geschichtliches  und  Statistisches. 
2.  Art  und  Formen  der  Handhabung. 

1.  Begriff,  Geschichtliches  und  Sta- 
tistisches. Unter  Haubergswirtschaf  t 
im  weiteren  Sinne  versteht  man  die- 
jenige Art  der  Bodennutzung,  bei  welcher  ein 
mehr  oder  minder  regelmässiger  Wechsel 
zw^ischen  Waldbau  und  Feldbau  auf  ein 
imd  derselben  Fläche  stattfindet ;  im  enge- 
ren Sinne  dagegen  nur  diejenige  besondere 
Form  jener  Betriebsweise,  vde  sie  im 
Siegen  er  Lande  und  in  benachbarten 
Distrikten  seit  Jahrhunderten  geübt  wird. 
Der  Ausdruck  Haubergswirtschaft  schreibt 
sich  daher,  dass  man  im  Siegenschen  die 
Flächen,  welche  abwechselnd  als  Ackerland 
und  als  Holzland  behandelt  werden,  mit 
dem  Neunen  »Hauberge«  belegt  hat.  In  der 
wissenschaftlichen  Litteratur  liat  sich  seit 
einigen  Jalirzehnten  für  das  genannte  Be- 
triebssystem in  seinen  verschiedenen  Aus- 
gestaltungen der  allgemeine  Name  »Wald- 
feldbau«  mehr  und  mehr  eingebürgert, 
welcher  auch  das  Wesen  der  Sache  am  rich- 
tigsten bezeichnet  (s.  auch  d.  Art.  Ackerbau- 
Systeme  oben  Bd.  1 S.  45).  Wenn  statt  dessen 
häufig  noch  der  Ausdruck  »Haubergswirt- 
schaft« in  seinem  weiteren  Sinne  gebraucht 
wird,  so  findet  dies  seine  Begründung  in 
dorn  Umstände,  dass  die  Haubergswirtschaft 
des  Siegener  I^andcs  die  am  meisten  be- 
kannte und  öffentlich  besprochene  Form 
der  Waldfeldwirtschaft  dai-stellt.  Im  nach- 
folgenden ist  unter  Haubergswirtschaft  d^"e 
Waldfeldwirtschaft  im  allgemeinen  ver- 
standen, sofern  nicht  auf  die  Siegener  Hau- 


bergswirtschaft besonders  Bezug  genommen 
wird. 

Das  Charakteristische  der  Haubergswirt- 
schaft besteht  darin,  dass  das  Land  eine 
längere  Reihe  von  Jahren  (mindestens  16 — 
20,  zuweilen  auch  30—40  Jahre  und  noch 
länger)  liinter  einander  zur  Holzerzeugung, 
also  zum  Waldbau  verwendet,  dass  dann 
der  Wald  abgetrieben  und  das  Land  ge- 
wöhnlich 1  oder  2,  zuweilen  3  oder  4  Jalire, 
selten  länger,  als  Ackerland  und  darauf 
wieder  zur  Jlolzproduktion  benutzt  wii'd. 
Diese  Betriebsweise  wurde  in  Deutschland 
imd  in  anderen  mitteleuropäischen  Ländern 
schon  von  alters  her  geübt  und  war  fi'üher 
wahrscheinlich  viel  verbreiteter  als  in 
der  Gegenwart  Namentlich  hat  sie  eine 
grosse  Kolle  gespielt  in  Ländern,  welche 
erst  seit  verhältnismässig  kurzer  Zeit  be- 
siedelt worden  waren,  in  denen  daher  der 
Ackerbau  noch  wenig  umfangreich  und  we- 
nig entwickelt  war.  Hier  pflegt  der  Wald 
den  grössten  Teil  des  Areds  einzunehmen. 
Zur  Erzeugimg  der  notwendigen  Ackerbau- 
produkte wird  ein  Teil  des  Waldes  urbar 
gemacht  und  fortgesetzt  mit  Geti'eide  be- 
stellt; an  eine  Düngung  denkt  man  nicht, 
weil  man  die  damit  verbundenen  Mühen 
und  Kosten  scheut,  weil  auch  noch  genug 
zum  Getreidebau  geeignetes  Holzland  zur 
Verfügung  steht.  Man  verwendet  daher  das 
zueret  gerodete  Land  so  lange  zum  Körner- 
bau, als  derselbe  noch  lohnend  erscheint; 
dann  lässt  man  es  liegen,  und  es  siedeln 
sich  auf  ihm  in  der  Regel  von  selbst  wieder 
Holzgewächse  an.  An  seiner  Stelle  wird 
ein  anderes,  bis  daliin  mit  Holz  bestandenes 
Stück  Land  gerodet  und  in  Ackerland  ver- 
wandelt. Man  könnte  diese  Form  der  Hau- 
bergswirtschaft als  wilde  oder  ungere- 
gelte Waldfeldwirtschaft  bezeichnen, 
ähnlich  wie  man  den  ungeregelten  Wechsel 
zwischen  Ackerbau  und  We i d e n u t z u n g 
auf  den  nämlichen  Flächen  mit  dem  Aus- 
druck »wilde  oder  ungeregelte  Feld  gras  wiii;- 
schaft<f  (s.  d.  Art.  Ackerbau  Systeme  oben 
Bd.  I  S.  41)  zutreffend  belegt  hat. 

Mit  dem  Wachstum  der  Bevölkerung 
und  mit  der  liierdurch  bedingten  Notwen- 
digkeit, den  Ackerbau  sowohl  mehr  auszu- 
dehnen als  auch  ertragreicher  zu  gestalten, 
inuss  zunächst  die  wilde  Waldfeldwirtschaft 
ganz  aufhören  und  einer  geregelten  Platz 
machen.  Die  Folge  einer  weiteren  Kiiltur- 
entwickelung  ist  die,  dass  auch  die  geregelte 
AValdfeldwirtschaft  oder  Haubergswirtschaft 
sich  auf  solche  Flächen  beschränkt,  welche 
ihrer  Natur  nach  zum  dauernden  Feldbau 
sich  nicht  eignen,  für  welche  vielmehr  die 
Holzproduktion  die  angemessenste  Nutzungs- 
weise dai-stellt,  die  aber  doch  nach  längeren 
Zwischenräumen  den  Anbau  von  Ackerge- 
wächsen für  ein  Jahr  oder  höchstens  einige 

71* 


1124 


Haubergswirtscliaft 


wenige  Jahre  als  möglich  und  lohnend  er- 
scheinen lassen.  "Wo  in  den  europäischen 
Kulturländern  heutzutage  die  Haubergswirt- 
schaft  vorkommt,  wird  sie  in  der  That  fast 
ausschliesslich  nur  auf  solchen  Grundstücken 
geübt,  die  wegen  ihrer  steilen  Lage  oder 
wegen  ihres  steinigen  oder  flachgründigen 
Bodens  oder  der  ungünstigen  klimatischen 
Verhältnisse  nicht  mehr  als  Ackerland  an- 
gesprochen, sondern  als  Waldland  betrach- 
tet werden  müssen,  welche  man  sogar 
grösstenteils  zum  absoluten  Waldland  zu  rech- 
nen hat.  Hiernach  könnte  es  befremdlich 
erscheinen,  weshalb  in  dichtbevölkerten  Län- 
dern überhaupt  die  Hauber^swirtschaft  noch 
vorkommt.  Dennoch  ist  dieselbe  aus  land- 
wie  volkswirtschaftlichen  Rücksichten  für 
gewisse  Gegenden  auch  bei  hoher  allgemei- 
ner Kulturentwickelung  durchaus  berechtigt. 
Es  sind  dies  solche  JDistrikte,  in  welchen 
das  zum  dauernden  Ackerbau  geeignete 
Land  im  Verhältnis  zur  Gesamtfläche  eine 
geringe  Ausdehnung  besitzt,  wähi*end  das 
"Wald-,  Wiesen-  und  Weideland  bedeutend 
überwiegt.  Hier  liegt  mit  Rücksicht  auf 
den  örtlichen  Bedarf  an  Feldprodukten  die 
Notwendigkeit  vor,  alles  zum  Ackerbau, 
wenn  auch  niu:  vorübergehend  geeignete 
Land  liierzu  heranzuziehen.  Dies  trifft  vor 
allem  auch  für  den  gewissermassen  klassi- 
schen Boden  der  Haubergswirtschaft,  für 
das  Siegener  Land  zu.  Dasselbe  ist  sehr 
gebirgig,  hat  enge  Thäler,  deren  Sohlen- 
terrain meist  zur  Anlage  von  Kunstwiesen 
benutzt  wird,  während  die  starke  Neigimg 
der  Bergabhänge  den  dauernden  Ackerbau 
uiunöglich  macht;  das  Land  beherbergt 
ausserdem  eine  zahlreiche  industrielle  Be- 
völkerung, welche  vielfach  nebenbei  noch 
einen  kleinen  ländlichen  Besitz  und  nament- 
lich eine  kleine  Viehhaltimg  hat.  Unter  sol- 
chen Umständen  erscheint  die  im  Siegen- 
schen  schon  seit  Jahrhunderten  geübte  Hau- 
bergewirtschaft als  wirtschaftlich  durchaus 
gerechtfertigt.  Wenn  die  Bergabhänge  16 
bis  20  Jahre  lang  Holz  erzeugt  haben,  so  hat 
sich  in  der  obersten  Bodenschicht  so  viel 
Pflanzennahrung  angesammelt,  dass  dieselbe 
sehr  w^ohl  einige  den  Aufwand  lohnende 
Getreideernten  hen'orbringen  kann,  während 
gleichzeitig  die  für  die  Ackemutzung  nötige 
Bearbeitung  des  Bodens  denselben  für  die 
wieder  folgende  Holznutzung  um  so  geeig- 
neter macht.  Aehnüche  Verhältnisse  walten 
in  den  sonstigen  Gegenden  des  Deutschen 
Reiches  oder  anderer  Kulturländer  ob,  in 
welchen  die  Haubergswirtschaft  heutzutage 
noch  vorkommt.  Sie  findet  sich  im  Deut- 
schen Reiche  besonders  in  dem  aus  Thon- 
schiefer  bestehenden  Gebirgslande  der 
Kreise  Siegen,  Olpe  ui\d  Wittgen- 
stein, auf  dem  Buntsandstein  des  hes- 
sischen und  badischen  Odenwaldes, 


in  dem  teils  aus  Buntsandstein,  teils  aus 
ürgebirge  bestehenden  badischen  Schwarz- 
wald;  auch  in  den  mittelrheinischen  Ge- 
birgsdistrikten,  auf  dem  Hundsrücken, 
dem  Westerwald  und  in  der  Eifel 
kommt  sie  vor.  In  allen  diesen  Bezirken 
ist  die  Menge  des  zu  dauerndem  Feldbau 
geeigneten  Landes  sehr  gering.  Nach  der 
Bodenstatistik  des  Jahres  1878  betrug  im 
ganzen  Deutschen  Reiche  'das  Acker-  und 
Gartenland  48,51^/0  der  Gesamtfläche;  da- 
gegen machte  das  Acker-  und  Gartenland 
ui  den  BjBzirken,  in  welchen  die  Haubergs- 
wirtschaft getrieben  wird,  damals  nur  fol- 
gende Prozentzahlen  von  der  Gesamtfläche 
aus:  in  den  Kreisen  Siegen,  Olpe  und 
Wittgenstein  13,6<>/o,  20,6^/0  imd  13,7%. 
im  hessischen  Kreis  Erb  ach  29,7%,  in  den 
badischen  Kreisen  Oberkirch,  Wolfach 
und  Eber bach  20,9 <>/o,  23,2%  und  20,2%. 
Seitdem  ist  keine  wesentliche  Veränderung 
bezüglich  der  Bodennutzung  in  den  genann- 
ten Bezirken  eingetreten.  Man  nimmt  an. 
dass  die  Haubergswirtschaft  sich  erstreckt 
im  Siegenschen  auf  etwa  50000  ha,  iii 
Hessen  auf  etwa  25000  ha  und  in  Baden 
auf  ungefähr  60000  ha.  Ausserdem  steht 
aber  auch  ein,  wenngleich  geringer  Teil 
des  jetzt  vorhandenen  Hochwaldes  auf 
Flächen,  welche  nach  vorangegangenem 
vorübergehenden  Feldbau  ziu*  Holzkultur 
herangezogen  sind;  dieselben  werden  ini 
Deutschen  Reiche  auf  mindestens  30000  ha 
geschätzt. 

Auch  in  einzelnen  Teilen  der  Schweiz, 
Belgiens  und  des  nördlichen  Frank- 
reich kommt  die  Haubergswirtschaft  vor. 

Die  nach  den  Gnindsätzen  der  Haubei^gs- 
wirtschaft  behandelten  Flächen  führen  in 
den  einzelnen  Gegenden  sehr  verschiedene 
Bezeichnungen.  Sie  heissen  Reuteland, 
Reutfeld,  Reutberg  (in  der  Schweiz  und 
im  Schwarzwald),  ferner  Rottland,  Ru- 
der land,  Wildfei  d,  Hack  wald,  Hack- 
feld (diese  Bezeichnungen  kommen  beson- 
ders im  westlichen  Deutschland  vor):  ini 
Siegenschen  nennt  man  sie,  wie  schon  lie- 
merkt,  Hauberg,  und  in  der  Eäfel  werden 
sie  als  S  c  h  i  f  f  e  1 1  a  n  d  bezeichnet.  Demge- 
mäss  finden  sich  auch  für  die  betreffende 
Wirtschaftsweise  sowohl  im  Volksmundt- 
wie  in  der  Litteratur  abweichende  Bezeich- 
nungen: Reutfeld  Wirtschaft,  Hack- 
w  a  1  d  Wirtschaft ,  Röderwald  Wirtschaft 
etc.  Die  am  meisten  bekannten  und  ge- 
brauchten Bezeichnungen  sind  aber:  Hau- 
bergswirtschaft und  neuerdings,  in  der 
wissenschaftlichen  Litteratur ,  W  a  1  d  f  e  1  d  - 
Wirtschaft. 

2.  Art  mid  Können  der  Handhabung. 
Die  Art  der  Handhabung  der  Hau- 
bergswirtschaft ist  im  einzelnen  selu*  mannig- 
faltig  und   wird    bedingt  teils   durch  alt».* 


Haubergs  wirtscliaft 


1125 


ortliche  Gewolinheiten,  teils  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Verhältnisse,  unter  denen 
sie  geübt  ^vird.  Im  allgemeinen  aber  ge- 
schieht sie  in  nachstehender  "Weise. 

Auf  der  zum  vorübergehenden  Feldbau 
bestimmten  Waldfläche  \\mX  der  Holzbe- 
stand abgehauen  und,  soweit  er  nutzbar  er- 
scheint, entfernt.  Ist  es  Niederwald 
gewiesen,  was  meistenteils  der  Fall  (im 
Siegeuschen  imd  im  Odenwalde  ist  es  meist 
16 — 18  jähriger  Eichen  schäl  wald),  so  bleiben 
die  Wurzelstöcke  im  Boden  stehen,  um  neu 
auszuschlagen  und  das  Veijüngungsmaterial 
ftlr  die  nächstfolgende  HoJznutzung  zu  lie- 
fern. Das  zurückgebliebene  Reisig  imd 
sonst  minderwertige  Holz  wird  auf  kleine 
Haufen  gebracht,  verbrannt  und  die  Asche 
durch  Ausstreuen  auf  der  ganzen  Fläche 
gleichmässig  verteilt,  um  als  Dünger  zu 
wirken.  Dann  wird  der  Boden  zwischen 
den  Wurzelstöcken  hindurch  mit  der  Hand- 
hacke oder  mit  eyiera  dazu  goeignetefn  Pflug 
flach  umgebrochen.  Ist  der  Boden  sehr 
humusreich,  so  hackt  oder  pflügt  man  ihn 
auch  wohl  vor  dem  Verbrennen  des  Reisigs 
flach  um  und  bringt  die  so  abgeschälte 
Narbe  zusammen  mit  dem  Reisig  auf  kleine 
Haufen,  die  man  einem  Brennprozess  unter- 
wirft. Man  erreicht  dadurch,  dass  die  in 
der  oberen  Bodenschicht  vorhanden  gewese- 
nen Unkräuter  und  schädlichen  Tiere  gründ- 
lich vernichtet  werden,  auch  vennehi-t  man 
dadiu-ch  die  Menge  der  Asche  und  infolge- 
dessen die  Menge  der  den  Pflanzen  dem- 
nächst zur  Verfügung  stehenden  minerali- 
schen Nährstoffe.  Allerdings  vermindert 
man  dabei  gleichzeitig  den  Humusgehalt  des 
Bodens,  welcher  aber  in  ehemaligem  Wald- 
lande gewöhnlich  ein  grosser  ist  Bei  der 
Haubergswirtschaft  im  Siegenschen  bildet 
es  die  Regel,  dass  man  die  oberste  Boden- 
narbe erst  abschält  und  dann  verbrennt. 
Bei  derselben  bleiben  auch  gewöhnlich  die 
alten  Wm-zelstöcke  nicht  im  Boden  stehen, 
sondern  werden  ausgerodet  und  als  Brenn- 
material verwendet.  Dies  Verfahren  macht 
es  nötig,  dass  man  im  Hinblick  auf  die 
künftige  Waldnutzung  Baumsamen  (meist 
Eicheln  und  Birkensamen)  neu  aussät  oder 
durch  Einsetzen  von  Pflänzlingen  die  Ver- 
jüngimg  bewirkt. 

Findet  die  Haubergswirtschaft  in  Ver- 
bindung mit  Mittel  wald-  oder  gar 
Hochwaldbetrieb  statt,  was  übrigens 
nicht  die  Regel  bildet,  so  werden  stets  die 
Wurzelst()cke  ausgegraben  imd  die  Verjün- 

gLing  des  Waldes  geschieht  lediglich  durch 
esamung  oder,  wie  jetzt  gewöhnlich,  durch 
Pflanzung.  Im  übrigen  sind  die  vorzu- 
nehmenden Massi-egeln  dieselben,  wie  sie 
bereits  für  den  Niederwald  betrieb  angegeben 
wurden. 

Insofern  als  bei  der  Haubergswirtschaft 


ein  Brennen  des  Bodens  stattfindet,  stellt 
sie  eine  besondere  Art  der  Brandwirt- 
schaft dar  (s.  d.  Art.  Ackerbausvsteme 
oben  Bd.  I  S.  45). 

Nachdem  in  vorbeschriel)ener  Weise  der 
Boden  gebrannt  und  bearbeitet  worden,  be- 
stellt man  denselben  mit  einer  Körnerfrucht, 
meist  mit  Roggen.  Im  folgenden  Jahre  wird 
dann  in  manchen  Gegenden  noch  einmal 
Roggen  gesät.  Mehr  ^\*ie  zwei  Feldfrüchte 
pflegt  man  selten  von  den  Haubergen  zu 
nehmen ;  wenigstens  dort  nicht,  wo  die  Ver- 
jüngung des  Waldes  durch  Stockausschlag 
oder  durch  Einsäen  von  Baumsamen  in  die 
erste  Getreidefrucht  erfolgt  und  diese  beiden 
Verjüngungsmethoden  bilden  die  Regel  bei 
der  Verbindung  der  Haubergswirtschaft  mit 
dem  Niederwald-  (Eichenschälwald-)  Be- 
triebe. Die  neuen  Stockausschläge  oder  die 
aus  dem  Samen  erwachsenen  Pflänzlinge 
sind  nach  2  Jahren  so  gross,  dass  sie  das 
Wachstum  der  Getreidopflanzen  hindern 
würden.  Es  kommen  in  diesem  Falle  also 
auf  je  16 — 20  Jahre  der  Holzproduktion  je 
1 — 2  Jahre  der  Getreideproduktion. 

Bei  der  Haubergswirtschaft  in  Verbin- 
dung mit  Hochwaldbetrieb  nutzt  man  die 
abgeholzte  Fläche  allerdings  auch  wohl  3 
oder  4  Jahre  und  noch  länger  als  Ackerland 
und  baut  dann  ausser  Roggen  auch  Hafer, 
Kartoffeln  etc. 

Die  grosse  wirtschaftliche  Bedeutung  der 
Haubergswirtschaft  ist  darin  zu  suchen,  dass 
dieselbe  in  Gegenden,  welche  wenig  zum 
dauernden  Ackerbau  geeignetes  Land  be- 
sitzen, die  Möglichkeit  gewährt,  von  dem  in 
übergix)sser  Menge  vorliandenen  Waldlande 
jährlich  etwa  den  zehnten  Teil  für  den  Feld- 
bau verwenden  zu  können  und  zwar  ohne 
dass  die  Holzproduktion  danmter  wesentlich 
leidet.  Denn  die  neuen  Stockausschläge 
wachsen  auch  während  der  Zeit,  dass  die 
Hauberge  mit  Getreide  bestellt  sind,  ebenso 
der  etwa  eingesäte  Baumsamen.  Die  Be- 
einträchtigiuig,  welche  die  jungen  Stöcke 
und  Pflanzen  durch  das  Geti-eide  erleiden, 
werden  aufgewogen  dadurch,  dass  die  vor- 
angegangene Bearbeitung  und  das  Brennen 
des  Bodens  seine  Produktionskraft  nicht  nur 
für  den  Getreidebau,  sondern  auch  für  die 
folgende  Holznutzung  erhöhen. 

Einige  Aehnlichkeit  mit  der  Waldfeld- 
wirtscliaft  besitzt  die  sogenannte  Baum- 
feldwirtschaft. Man  vei-steht  danmter 
die  gleichzeitige  Benutzung  von  Acker-  oder 
Wiesen-  oder  Weideland  sowohl  zum  Feld- 
oder Grasbau  wie  auch  ziu*  Holzerzeugimg. 
Bei  der  Baumfeldwirtschaft  bepflanzt  man  die 
betreffende  Fläche  mit  in  Reihen  gestellten 
Bäumen  in  einer  solchen  Entfernung,  welche 
dieselben  für  die  späteren  Peiioden  ihres 
Wachstums  haben  müssen.  Diese  grosse 
Entfernung   lässt   die   ^löglichkeit    zu,    die 


1126        Haubergswirtschaft — Haushaltung  (Vom  wirtschaftlichen  Standpunkte) 


Zwischenräume  zwischen  den  Reihen  zu- 
nächst als  Ackerland  und,  wenn  die  Bäume 
grösser  werden,  als  Wiese  oder  Weide  be- 
nutzen zu  können.  Diese  Baumfeldwirtschaft 
kann  natiirlich  niu'  auf  solchen  Flächen  be- 
trieben werden,  welche  sich  auch  zu  aus- 
schliesslichem und  dauerndem  Feld-  oder 
Grasbau  eignen.  Dadurch  ist  sie  wirtschaft- 
lich ganz  anders  zu  beurteilen  als  die  Hau- 
bergswirtschaft. Ihre  Zweckmässigkeit  oder 
ünzweckmässigkeit  richtet  sich  danach,  ob 
die  besteffenden  Flächen  durch  die  gleich- 
zeitige Produktion  von  Holz  und  Feldfrüch- 
ten bezw.  Gräsern  einen  grösseren  Ertrag 
gewähren,  als  wenn  sie  lediglich  zur  Er- 
zeugung der  beiden  letztgenannten  Gruppen 
von  Gewächsen  verwendet  werden.  In 
Gegenden,  welche  sehr  holzarm  sind  und  in 
welchen  das  Holz  daher  sehr  teuer  ist,  mag 
dies  wohl  öfters  der  Fall  sein,  in  anderen 
aber  vvolü  schwerlich.  Vor  etwa  70  Jahren 
wurde  die  Baumfeldwirtscliaft  von  dem 
sächsischen  Oberforstrat  Cotta  sehr  em- 
pfohlen und  ist  auch  infolgedessen  mehrfach 
vei-sucht  worden,  eine  ausgedelmte  Verbrei- 
tung hat  sie  aber  nicht  gewonnen. 

Für  die  Handliabung  der  Haubergswirt- 
schaft im  Siegenschen  bestehen  schon 
von  alters  her  gesetzliche  Vorschrif- 
ten, welche  allerdings  im  Laufe  der  Jahre 
und  Jahrhunderte  Abänderungen  erfahren 
haben.  Eine  neue  »Haubergsordnung 
für  den  Kreis  Siegen«  wurde  imter 
dem  17.  März  1879  erlassen  (G.S.  f.  d. 
kgl.  preuss.  Staaten  pro  1879,  S.  228  ff.). 
Für  das  ehemalige  Herzogtum  Nassau 
erging  am  5.  September  1805  eine  Ver- 
ordnung für  die  Bewirtschaftung 
der  Hauberge,  deren  fortbestehende 
Giltigkeit  durch  die  Gemeinheitsteil ungsoi-d- 
nung  für  den  Regienmgsbezirk  Wiesbaden 
vom  5.  April  1869  ausdrücklich  anerkannt 
wm-de  (G.S.  f.  d.  kgl.  preuss.  Staaten  pro 
1869,  S.  526  ff.,  bes.  S.  536).  Eine  beson- 
dere Haubergsordnung  für  den  ehemals 
nassauischen  Dillkreis  und  den  Ober- 
west er  waldkreis  erschien  am  4.  Juni 
1887;  eine  solche  für  den  schon  früher  zu 
der  preussischen  Monarchie  gehörenden,  auf 
dem  Westerwald  liegenden  Kreis  Alten- 
kirchen am  9.  April  1890. 

Das  Eigentümliche  der  Haubergswirtschaft 
in  Siegen  und  in  Nassau  besteht  darin,  dass 
dieselbe  gemeinsam  und  nach  gemeinsamen 
Vorschriften  von  allen  Mitbesitzern  eines 
Haubergdisti'iktes  geübt  wird  und  geübt  wer- 
den muss.  Die  Hauberge  haben  dort  manche 
Aehnlichkeit  mit  den  Gehöf  er  Schäften 
im  Trierer  Lande;  sie  sind  ein  Rest  der 
alten  deutschen  Markgenossenschaft 
und  gewähren,  wie  H.  Achenbach  richtig 
bemerkt,  >ein  Bild  unserer  ältesten  Flur- 
und  Agrarverfassung<:.    Die  Hauberge  eines 


Distriktes  stehen  im  Gesamteigentum 
aller  Mitbesitzer,  von  denen  jeder  einen, 
übrigens  verschieden  grossen,  ideellen  An- 
teil an  den  Haubergen  hat ;  dieselben  bilden 
zusammen  eine  naubergsgenossen- 
Schaft.  Die  gewählten  Vorsteher  der 
letzteren  haben  nach  Massgabe  der  gesetz- 
lichen Vorschriften  zu  bestimmen,  wie  die 
Hauberge  zu  behandeln  und  w^elches  Stück 
derselben  während  jeder  Betriebsperiode 
den  einzelnen  Genossen  zur  Bewirtschaftung 
und  Benutzung  zu  überweisen  ist. 

Litteratur:  H,  Achenbach,  Die  Hanhergs- 
genossenschaften  des  Siegerlandes,  Bonn  1S6S.  — 
Bet*nhardt ,  Hauhergstcirtschaft  im  Krei-se 
Siegen,  1867.  —  A,  Beil,  Die  Feldholzzucht  iti 
Belgien,  England  und  d^m  nördlicften  Frank- 
reich, Frankfurt  a,  M.  184S.  —  H.  Cotta,  Die 
Verbindung  des  Feldbaues  mit  dem  Waldbau 
oder  die  Baumfeldivirtscha/t,  Dresden  1819 — lS:i2. 
—  G.  Haussen,  Agrar historische  Abhandlungen, 
2,  Bd.,  Leipzig  1884,  S.  1—19.  —  JT.  C  Hundes- 
hangen,  Prüfung  der  Cottaf^chen  Baumfeld  Wirt- 
schaft nach  Theorie  und  Erfahrung,  Tübingen 
1820.  —  T.  Lorey,  Handbuch  der  Forstwissen- 
schaft, Tübingen  1887,  L  Bd.,  S.  25Sff.  —  ü. 
Schönherg,  II,  1.  Hiilfie,  4.  Aufl.,  1896,  S.  S^i, 
196  u.  '279. 

Th.  Frhr,  v.  d.    Goltz. 


Häusersteuer 

s.  Gebäudesteuer  oben  Bd.IVS.6ff. 


Hausfleiss 

s.  Gewerbe  oben  Bd.  IV  S.  360 ff. 


Hausgenossen 

s.  Münzweseu. 


Haashaltang. 

I.  Die  H.  vom  wirtschaftlichen  und  sozialen 
Standpunkte  (S.  1126).  II.  Haushaltimgsstatistik 
(S.  1130). 

L 

Die    Uauslialtung    vom    Wirtschaft- 
liehen    und    sozialen     Standpunkte. 

Haushiiltung  ist  nach  der  allgemeinsten 
Bedeutung  des  Wortes  die  selbständige 
AVirtschaft  nach  der  Seite  der  Konsum- 
tion betrachtet,  und  unter  Haushalt  ver- 
steht man  demgemäss  die  Ordnung  der 
Güter  Verwendung  innerhalb  einer  öffent- 
lichen oder  privaten  Wirtschaft,  An  dieser 
Stelle  beschäftigen  wii*  uns  nur  mit  den 
p  r  i  va  t  wir  t  s  cliaf  tli  c  he  n  Hauslialtungen. 
die  der  Hauptsache  nach  durch  die  Einzel- 
wirtschaften der  Familien  dargestellt 
werden,  wenn  es  auch  neben  diesen  einer- 
seits manche  nicht  aus  Familiengliedern  l)e- 


Haushaltung  (Yom  wirtschaftlichen  Standpunkte) 


1127 


stehende  Gemeinschaften  und  andererseits 
ganz  alleinstehende  Personen  giebt,  die 
ebenfalls  einen  privaten  selbständigen  Haus- 
halt führen.  In  der  Familienhaushaltung 
aber  sind  häufig  zwei  Kreise  zu  imter- 
scheiden,  von  denen  der  engere  seinen  Unter- 
halt aus  dem  Einkommen  des  Familien- 
hauptes —  was  die  Eegel  ist  —  oder  auch 
anderer  Angehöriger  bezieht,  wälirend  der 
weitere  Kreis  auch  solche  Mitglieder  um- 
fasst,  deren  Unterhalt  aus  dem  Kapital 
des  Inhabers  der  Haushaltung  bestritten 
wird,  weil  sie  nicht  niu*  als  Konsumenten 
an  der  Haushaltung,  sondern  auch  als  nicht 
zur  Familie  gehörende  Arbeiter  zu  pro- 
duktiven Zwecken  an  der  Wirtschaft  be- 
teiligt sind  oder  derselben  als  Kunden 
Erwerb  verschaffen.  In  der  alten  Natural- 
wirtschaft und  auch  in  den  alten  Lebens- 
formen der  städtischen  Gewerbe  war  es 
vorherrschende  Sitte,  dass  Arbeiter  und  Ge- 
hilfen, soweit  sie  in  dem  eigenen  Produk- 
tionsbetriebe des  Arbeitgebers  beschäftigt 
waren,  auch  der  weiteren  Haushaltung  des- 
selben angehörten  und  aus  dieser  ihren 
Konsumtionsbedarf  als  Naturallieferung  er- 
hielten. In  der  Landwirtschaft  hat  sich 
diese  Einrichtung  auch  gegenwärtig  noch 
in  nicht  imbedeutendem  Umfange  erhalten, 
da  das  eigentliche  landwirtschaftliche  Ge- 
sinde, die  vKnechte«  und  »Mägde«,  auf  dem 
Gute  beköstigt  und  beherbergt  wird.  Von 
diesen  für  die  produktiven  Zwecke  der 
Wirtschaft  arbeitenden  Haushaltimgsmit- 
gliedern sind  aber  diejenigen  Dienstboten  zu 
imterscheiden,  die  für  die  Haushaltungsge- 
schäfte selbst  und  die  Bequemlichkeit  der 
Hen-schaft  verwendet  werden.  Diese  stehen 
im  unmittelbaren  Dienste  der  Konsumtion 
und  gehören  zu  dem  engeren  Kreise  der 
eigentlichen  Familienhaushaltung.  —  Die 
Erweitenmg  der  Haushaltimg  durch  Kun- 
den, d.  h.  durch  z^lende  Hausgenossen, 
finden  wir  in  den  gewerbsmässig  betriebenen 
Logierhäusem  und  ähnlichen  Unterneh- 
mungen, aber  auch  in  Privatfamilien,  die  in 
der  Aufnahme  sogenannter  Pensionäre  einen 
Nebenerwerb  suchen. 

Charakteristisch  für  die  Haushaltung  im 
engeren  Sinne  ist  ihr  inniger  Zusammen- 
hang mit  dem  Familienleben,  mit  dem  sie 
in  dem-  »häuslichen  Herde«  nach  dem  ge- 
wöhnlichen Sprachgebrauche  einen  gemein- 
schaftlichen Mittelpunkt  besitzt.  Auch  in 
den  Worten  »Hausvater«  und  »Hausfrau« 
ist  die  Verschmelzung  der  Aufgaben  ange- 
deutet, die  dem  Manne  und  der  Frau  in 
der  Leitung  sowohl  der  Familie  wie  der 
Haushaltung  erwachsen.  Der  Mann  hat  für 
die  materielle  Grundlage  der  Haushaltung 
imd  im  grossen  und  ganzen  für  die  zweck- 
mässige, den  Verhältnissen  entsprechende 
Verwendung   des  Einkommens   zu  sorgen; 


die  Frau  aber  findet  in  der  unmittelbaren 
Fühnmg  der  Haushaltungsgeschäfte  die  in 
der  Regel  ihr  am  meisten  zusagende  und 
zugleich  die  wirtschaftlich  fruchtbarste  und 
nützlichste  Wirksamkeit  Dass  das  Wort 
»haushalten«  auch  die  Bedeutung  hat  »spar- 
sam mit  einer  Sache  umgehen«  ist  als 
volkstümliche  Anschauung  über  die  Aufgabe 
der  Haushaltung  ebenfalls  bedeutsam.  Wie 
gross  der  rein  wirtschaftliche  Vorteil,  also 
gewissermassen  der  Unternehmergewinn  bei 
der  eigenen  Haushaltsführung  ist,  kann  man 
diu-ch  Vergleichimg  der  Kosten  derselben 
mit  denjenigen  der  auf  Gast-  und  Speise- 
häusern angewiesenen  Lebensweise  ermitteln. 
Die  Differenz  wächst  natürlich  mit  der  ab- 
soluten Grösse  der  Gesamtausgaben  in  beiden 
FäUen,  aber  der  Nachteil  ist  doch  wohl  im 
allgemeinen  am  empfindlichsten  für  die 
Inhaber  der  kleinsten  Einkommen.  Wenn 
Arbeiter,  etwa  Bauhandwerker,  genötigt  sind, 
in  der  Nähe  ihres  Beschäftigungsortes  ihre 
Mahlzeiten  in  Wirtshäusern  einzunehmen,  so 
müssen  sie  erheblich  mehr  aufwenden,  als 
wenn  ihnen  dieselben  Speisen  zu  Hause  von 
einer  tüchtigen  Hausfrau  bereitet  würden, 
ganz  abgesehen  davon,  dass  sie  im  ersteren 
Falle  häufig  auch  noch  gewissermassen  ge- 
nötigt sind,  etwas  zu  trinken,  was  bei  dem 
Essen  zu  Hause  erspart  würde.  Allerdings 
ist  in  \4elen  Fällen  die  grosse  Entfernung 
der  Arbeitsstelle  von  der  Wohnung  die 
Ursache  dieser  Lebensweise,  und  in  spar- 
samen Arbeiterfamilien  wird  sie  noch  soweit 
wie  möglich  dadurch  vermieden,  dass  das 
Essen  dem  Vater  von  der  Frau  oder  den 
Kindern  überbracht  wird.  Diese  Möglich- 
keit aber  besteht  nicht,  wenn  auch  die  Frau 
in  einer  Fabrik  oder  sonstwo  ausser  dem 
Hause  beschäftigt  ist,  und  der  wirtschaft- 
liche Nachteil  des  Mangels  einer  eigenen 
Haushaltungsuuternehmung  zeigt  sich  dann 
in  vergrössertem  Masstabe.  In  den  wohl- 
habenderen Klassen  ist  der  Verzicht  auf 
eine  eigene  Haushaltung  besonders  in  Ame- 
rika häufig  zu  finden,  indem  manche  Ehe- 
paare, und  zwar  nicht  nur  kinderlose,  es 
vorziehen,  in  einem  Hotel  oder  Boarding- 
haus  als  Pensionäre  zu  leben.  Auch  für 
diese  kommt  die  Beköstigung  jedenfalls 
teuerer  zu  stehen  als  bei  einer  sachkundigen 
und  fleissigen  selbständigen  Haushaltsführung 
von  Seiten  der  Frau,  und  überdies  ist  der 
ständige  Aufenthalt  in  einem  Gasthause 
schon  wegen  der  Beschränkung  des  Raumes 
mit  mancnerlei  Unbequemlichkeiten  und  mit 
dem  Verluste  der  von  den  Engländern  be- 
sonders geschätzten  »Privacy«  der  Lebens- 
weise verbunden.  Aber  wenn  auch  der 
Untemehmergewinn  bei  der  eigenen  Haus- 
lialtsführung  weit  geringer  wäre,  als  er 
thatsächlich  bei  genügendem  Fleiss,  Geschick 
und  Sparsinn  der  Hausfrau  sein  kann,  so 


1128 


Haushaltung  (Vom  wirtschaftlichen  Standpunkte) 


würden  doch  immer  noch  die  ethischen 
Vorzüge  dieser  Lebensweise  zu  Gunsten 
derselben  schwer  ins  Gewicht  fallen.  Die 
Hausfrau  hat  die  Aufgabe,  mit  liebevoller 
Sorglichkeit  die  Bedürfnisse  aller  Familien- 
glieder zu  erkennen  und,  so  gut  es  mit  den 
vorhandenen  Mitteln  möglidi  ist,  zu  be- 
friedigen. Nicht  egoistisches  Interesse,  son- 
dern Liebe  und  Wohlwollen,  nicht  selten 
opferwillige  Selbstverleugnung  der  Mutter 
leitet  die  häusliche  Wirtschaft,  wenn  sie 
wirklich  ist,  was  sie  sein  kann  und  soll. 
Die  Kinder  sollen  von  frühester  Jugend  an 
in  der  Mutter  ein  lebendes  Beispiel  der 
stetigen  Pflichttreue  in  der  Alltäglichkeit 
des  Lebens,  der  Ordnungsliebe,  Pünktlich- 
keit, Keinlichkeit ,  kurz  all  der  wirtschaft- 
lichen Tugenden  vor  Augen  haben,  für  die 
es  keine  andere  ebenso  geeignete  Schule 
giebt  wie  das  Haus  und  die  Familie.  Die 
Bedingungen  für  die  Verwirklichung  eines 
solchen  Familienhaushaltes  sind  allerdings 
nicht  in  allen  Schichten  der  Gesellschaät 
gegeben,  und  imglückücherweise  fehlen  sie 
am  meisten  in  derjenigen  Klasse,  für  welche 
ein  fester  Halt  des  Familienlebens  besonders 
zu  wünschen  ist,  nämlich  im  Arbeiterstande, 
soweit  in  diesem  auch  die  Frauen  genötigt 
sind,  sei  es  in  Fabriken  oder  in  anderer 
Art  ausser  dem  Hause  mitzuarbeiten.  Auch 
übermässig  lange  Arbeitszeit  des  Mannes 
und  vorzeitige  erwerbsthätige  Beschäftigung 
der  Kinder  wirkt  schädigend  auf  das  Gefühl 
für  Häuslichkeit  und  zerstört  sowohl  die 
wirtschaftlichen  wie  die  ethischen  Vorteile 
des  Familienhaushalts.  In  der  Klasse  der 
Reichen  trennt  sich  Haushaltung  ebenfalls 
fast  vollständig  vom  Familienleben  und  dieses 
verliert  dadurch  meistens  viel  an  Herzlich- 
keit und  Innigkeit.  Die  unmittelbare  Leitung 
der  Haushaltung  fällt  höheren  Bediensteten 
zu,  die  Dame  des  Hauses  beschränkt  sich 
besten  Falls  auf  die  Angabe  der  Sx>eisekarte 
und  sonstige  allgemeine  Anordnungen.  Ihi'en 
besten  Boden  aber  hat  die  Familienhaus- 
haltimg  in  dem  Mittelstande,  dem  kleinen 
wie  dem  wohlhabenden,  dem  einfachen  ge- 
werbetreibenden oder  landwirtschaftlichen 
wie  dem  höher  gebildeten.  Und  zwar  darf 
man  hier  die  Verhältnisse,  wie  sie  sich  in 
Deutschland  unter  dem  Einfluss  der 
nach  der  deutschen  Sitte  erzogenen  Haus- 
frauen gestaltet  haben,  hinsichtlich  der  Ver- 
einigiuig  der  wirtschaftlichen  und  ethischen 
Vorteile  der  Familienhaushaltung  als  die 
befriedigendsten  bezeichnen.  Die  deutsche 
Hausfrau  aus  diesen  Kreisen  betrachtet  ihre 
hausmütterliche  Thätigkeit  als  ihre  Haupt- 
fiufgabe ;  an  der  Erwerbsthätigkeit  des  Mannes 
nimmt  sie  nur  soweit  Teil,  als  es  durch' 
die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Familie 
unumgänglich  geboten  ist,  und  zwar  nur 
innerhalb  des  Hauses;   wo  es  möglich  ist, 


hält   sie  sich  von  solcher  Thätigkeit  ganz 
fern.    In  dieser  Beziehung  unterscheidet  sie 
sich  von  den  Frauen  des  kleinen  und  mitt- 
leren Gewerbe-  und  Handelsstandes  in  Frank- 
reich, die  sich  häufig  vollständig  der  Ge- 
schäftsthatigkeit    widmen    und    darin    den 
Mann  nicht  selten  an  Tüchtigkeit  übertreffen. 
In  der  Erwerbsthätigkeit  leisten  die  fran- 
zosischen Frauen  dieser  Klasse  durchschnitt- 
lich mehr  als  die  deutschen  und  auch  in 
Bezug  auf  sparsame  Regelung  des  Haus- 
halts —  mit  Einschluss  der  Ausgaben  des 
Mannes  —  sind  sie  durchweg  mustergütig; 
aber    das    eigentliche    Famihenleben    wird 
durch    diese   Ablenkung    der    Wirksamkeit 
der  Frau  gescliädigt,  die  Kinder,  meistens 
auf  zwei  bis  drei  beschränkt,  werden  viel- 
fach  als  eine  Last  betrachtet   und   sobald 
wie  möglich,  wenn  es  die  Mittel  der  Familie 
erlauben,  in  einem  Pensionat  untergebracht. 
—  In  England  sind  die  Mittelklassen  wohl- 
habender als   in  Deutschland  und  in   den 
höheren  Schichten  derselben  ist  daher  das 
Dienstpersonal,    verhältnismässig    zahlreich. 
Für  die  Frau  gut  eine  unmittelbare  Betei- 
ligung an  häuslichen  Geschäften  als  nicht 
ladvlike,  und  sie  hält  sich  daher  schon  aus 
Scheu    vor   den    Dienstboten    von    solchen 
sorgfältig  zurück,  auch  schon  bei  einer  Ver- 
mögenslage, bei  der  die  deutsche  Hausfrau 
eine  eingreifende  eigene  Haushaltungsthätig- 
keit    noch   keineswegs   scheut.     Wenn   die 
englische  Dame  auch  die  Oberleitung  des 
Haushalts  in  der  Hand  behält,   so  führt  sie 
doch  nur  ein  konstitutionelles,  durch  einen 
höheren  Diener  oder  eine  Haushälterin  ver- 
mitteltes Regiment  —  In  Amerika  ist  bei 
den  Flauen  der  einigermassen  wohlhabenden 
Stände    noch    weniger  Neigimg  ziu:  Haus- 
haltungsthätigkeit    zu    finden.      Besondere 
Schwierigkeiten  entstehen  hier  auch  durch 
die    von    den    euro}>äischen    Anseliauungen 
sehr  abweichende  Stellung  der  Dienstboten, 
die  sich  mehr  und  mehr  als  selbständige, 
für  eine  bestimmte  Arbeitsleistung  gedungene 
Lohnarbeiter  und  nicht  nach  der  alten  pa- 
triarchalischen Art  als  dienende  Mitglieder 
der  Familie  betrachten.     In   den   Famiüen 
mit  knappem  Einkommen  muss  daher  der 
Mann  manche  hauswirtschaftliche  Thätig- 
keiten,  z.  B.  das  Besorgen  von  Einkäufen, 
übernehmen,    die    in  Deutschland   zu   den 
Aufgaben  der  Frauen  gehören.    Auch  sucht 
man  sich  durch  arbeitsparende  Vorrichtungen 
und   Maschinen    zu   helfen,   die    dalier   in 
Amerika  in  grosser  Zahl  erfunden  worden 
sind  und  auch  in  den  europäischen  Haus- 
haltimgen    mehr    und    mehr   Verwendimg 
finden.   Man  kann  nun  allerdings  zu  Gunsten 
der   englischen   und  amerikanischen  Sitten 
geltend  machen,  dass  die  Frauen  melir  Zeit 
und  Gelegenheit  finden,  sich  eine  höhere 
geistige  Ausbildung  zu  verschaffen  und  sich 


Haushaltung  (Yom  wirtschaftlichen  Standpunkte) 


1129 


sogar  zu  selbständigen  künstlerischen,  litte- 
rarischen oder  "^wissenschaftlichen  Leistungen 
zu  erheben.  Wenn  indes  statistisch  festge- 
stellt werden  könnte,  wie  \'iele  Frauen  die 
erübrigte  Zeit  auf  eine  weuiger  löbliche 
Weise  verwerten,  sie  "vielmehr  mit  Mode- 
thorheiten,  Flanieren,  »Shopping«  und  Roman- 
lesen vergeuden,  so  wäre  zu  fürchten,  dass 
der  Prozentsatz  der  letzteren  sehr  stai-k 
überwöge..  Uebrigens  ist  unter  normalen 
Umständen  auch  der  deutschen  Hausfrau 
der  gebildeten  Stände  bei  treuester  Er- 
fiülung  ihrer  häuslichen  Pflichten  noch  in 
ausreichendem  Masse  die  Möglichkeit  ge- 
boten, ihre  geistigen  Interessen  zu  fördern 
und  ihr  Wissen  zu  bereichern.  Sie  befindet 
sich  in  dieser  Hinsicht  meistens  in  einer 
besseren  Lage  als  der  Mann,  der  von  einer  ein- 
seitig-praktischen Berufsarbeit  den  grössten 
Teil  des  Tages  in  Anspruch  genommen, 
sich  auf  einer  seinem  Stande  entsprechenden 
Höhe  der  allgemeinen  Bildung  zu  unter- 
halten sucht. 

Dass  eine  eigene  Haushaltung  bei  tüch- 
tiger Führung  derselben  wirtschaftlich  vor- 
teilhafter ist  als  ein  Wirtshaus-  oder  Board- 
ing-Hausleben  wird  wolü  nicht  bestritten; 
aber  es  wird  doch  vielfach  geltend  gemacht, 
dass  durch  gemeinschaftliche  Ein- 
richtungen und  genossenschaftliche  Or- 
ganisation viele  Bedürfnisse  der  Haushaltung 
billiger  als  bisher  befriedigt  werden  könnten. 
Solche  Prejekte  hat  bekanntlich  Fourier  mit 
einem  Uebermass  von  Phantastik  ausgemalt, 
und  es  kann  ihnen  ein  richtiger  Kern  nicht 
ganz  abgesprochen  werden.  Der  Betrieb 
einer  gemeinschaftlichen  Kochanstalt  für  eine 
grössere  Anzahl  von  Familien  kann  sich 
wesentlich  billiger  stellen  als  die  Summe 
der  Ausgaben,  die  für  die  gleiche  Bekösti- 
gung derselben  Familien  aus  Einzelküchen 
erforderlich  ist.  Dasselbe  gilt  von  gemein- 
schaftlichen Wäschereien,  Badeeinrichtungen, 
von  der  gemeinschaftlichen  Anschaffung  imd 
Aufspeicherung  von  Brennmaterial  etc.  Viele 
von  diesen  Yorteilen  lassen  sich  aber  erlan- 

fon,  ohne  dass  deswegen  der  Charakter  der 
amilienhaushaltung  irgendwie  berührt  wird, 
wie  sich  dies  insbesondere  in  den  Erfolgen 
gut  organisierter  Konsumvereine  zeigt.  Durch 
Verzicht  auf  die  eigene  Küche  und  An- 
schluss  an  eine  gemeinschaftliche  Anstalt 
wiixl  allerdings  der  Haushaltung  ein  wich- 
tiges Element  entzogen.  Der  materielle  Ge- 
winn bei  dieser  Methode  ist  jedoch  keines- 
wegs so  sicher,  wie  man  es  theoretisch 
vermuten  könnte.  Im  Jahre  1875  machten 
in  Dorpat  etwa  40  Familien,  grösstenteils 
dem  Kreise  der  Universität  angehörend,  den 
Vei-such  des  Betriebes  einer  gemeinschaft- 
lichen Küchenanstalt,  gaben  ihn  aber  nach 
zwei  Jahren  infolge  wenig  erfreulicher  Er- 
fahnmgen   wieder  auf.    Die   letzteren  ent- 


standen hauptsächlich  durch  die  Schwierig- 
keit der  Kontrolle  und  die  Un  Zuverlässigkeit 
des  unteren  Dienstpersonals.  Aber  auch 
angenommen,  es  gelänge  auf  diesem  Wege 
wirklich  die  Speisen  billiger  zu  beschaffen 
als  in  der  Einzelküche,  so  behält  diese  Art 
der  Verpflegung  doch  immer  etwas  Schab- 
lonenhaftes, es  fehlt  die  genaue  Anpassung 
an  die  individuellen  Wünsche  und  Geschmacks- 
richtungen, und  der  vorausgesetzte  Billig- 
keitsvorteil wird  also  thatsächlich  durch  das 
Ertragen  dieses  Mangels  erkauft  und  aus- 
geglichen. Dass  Volksküchen,  die  nicht  des 
Gewinnes  wegen,  sondern  in  gemeinnütziger 
Absicht  betrieben  werden,  unter  den  obwal- 
tenden Umständen  für  viele  unbemittelte 
Familien  sehr  nützlich  sind,  soll  natürlich 
nicht  bestritten  werden.  Vollständige  Auf- 
lösung der  Einzelhaushaltuugen  nach  dem 
Plane  einiger  Kommunisten,  mit  Kasernie- 
rung, gemeinschaftlichen  Mahlzeiten,  gemein- 
schaftlicher Kindererziehung  etc.  aber  wiiixle 
bald  an  dem  entschiedenen  Widerstand  der 
individualistischen  Bedürfnisse  und  Neigim- 
gen  des  Menschen  scheitern.  Die  Freiheit 
der  Bedarfsbestimmung  ist,  wie  Scliäffle  be- 
merkt, die  unterete  Grundlage  der  Freiheit 
überhaupt,  und  diese  kann  sich  nur  in  dem 
eigenen  Haushalte  voll  entfalten.  Die  neue- 
ren Kommunisten  suchen  daher  auch  in 
ihren  Projekten  diese  Freiheit  den  Indivi- 
duen nach  Möglichkeit  zu  wahren. 

Aller  wirtschaftlicher  und  ethischer  Ge- 
winn aus  der  privaten  Haushaltung  ist  aber 
an  die  Bedingung  geknüpft,  dass  diese  gut 
geführt  werde.  Die  Erfüllung  dieser  Be- 
dingung aber  hängt  hauptsächlich  wieder 
von  der  wirtschaftlichen  Tüchtigkeit  der 
Hausfrau  ab,  und  'diese  beniht  nicht  allein 
auf  natürlichen  Anlagen,  wie  Arbeits-  imd 
Willenskraft,  Geschmack,  Takt,  sondern  auch 
auf  gründlicher  und  zweckmässiger  Aus- 
bildung. Die  Haushaltsführung  erfordert 
eine  Menge  positiver  Kenntnisse  und  Fertig- 
keiten, die  allerdings  nicht  sowohl  aus 
Büchern  zu  erlernen  als  unter  sachverstän- 
diger Anleitung,  am  besten  unter  der  Lei- 
tung der  Mutter,  von  den  jungen  Mädchen 
zu  erwerben  sind.  Die  Produktionsfähigkeit 
für  den  häuslichen  Bedarf  (Spinnen,  Weben, 
Brotbacken  etc.)  ist  allerdings  in  der  neueren 
Zeit  mehr  und  mehr  eingeschränkt  worden, 
tretzdem  aber  bleibt  die  Haushaltungsarl»eit 
einer  bürgerlichen  Familie  mit  mehreren 
Kindern  noch  sehr  umfangreich  und  mannig- 
faltig. Auch  wenn  die  Imiu  nach  den  Ein- 
kommensverhältnissen des  Mannes  nicht 
genötigt  ist,  selbst  am  Kochherde  zu  stehen, 
muss  sie  doch  das  Kochen  verstehen  und 
überhaupt  ein  sachverständiges  Urteil  auch 
über  die  groben  Handarbeiten  besitzen,  die 
sie  den  Dienstboten  überlassen  kann.  Die 
feineren  Arbeiten  muss  sie  selbst  zu  ver- 


1130 


Haushaltung  (Vom  wirtscliaftlichen  Standpunkte — Statistik) 


rioliten  imstande  und  bereit  sein.  Sie  muss 
AVai-enkenntnisse  mannigfaltiger  Art  besitzen, 
nicht  nur  in  Bezug  auf  Nalirungsmittel, 
sondern  auch  auf  Kleidei-stoffe,  Geräte,  Mö- 
bel etc.  Sie  muss  die  besten  Bezugsquellen 
kennen  und  nötigenfalls  auch  feilsclien  kön- 
nen. Vor  allem  aber  muss  sie  imstande 
sein,  wirtschaftlich  zu  rechnen,  die  Ausgaben 
mit  den  Einnahmen  in  üebereinstimmung 
zu  iialten  und  sie  auf  die  einzelnen  Zweige 
der  Bedürfnisse  so  zu  verteilen,  dr.ss  der 
grösste  Nutzeffekt  für  die  ganze  Familie  er- 
reielit  wird.  Empfehlenswert  ist  zu  diesem 
Zwecke  die  Aufstellung  eines  förmlichen 
Voranschlags,  in  dem  den  einzelnen  Haus- 
hai tsrnbriken  bestimmte  Kredite  eröffnet 
werden,  die  nur  im  Notfalle  und  dann  nur 
durch  Uebertragungen  von  anderen,  die  we- 
nigst dringlichen  Bedürfnisse  betreffenden 
Titeln  überschritten  werden  sollten.  Min- 
destens aber  wäre  eine  genaue  Buchung 
aller  Ausgaben  zu  verlangen,  aus  der  sich 
auch  bald  eine  ungefähre  praktische  Norm 
für  die  jährlich  zulässige  Höhe  der  einzelnen 
Posten  ergeben  würde.  Freilich  wird  auch 
diese  Fordenmg  in  vielen  Familien,  nament- 
lich des  Arbeiterstandes,  noch  nicht  erfüllt. 
Einige  praktische  Kenntnis  der  Haushaltung 
besitzen  in  den  unbemittelten  Klassen  we- 
nigstens diejenigen  Frauen,  die  in  bürger- 
lidien  Hänsem  einige  Jahre  als  Dienstmäd- 
chen gearbeitet  haben.  Desto  unzureichender 
aber  ist  die  wirtschaftliche  Ausbildung  der- 

i'enigen,  die  bis  zii  ihrer  Verheiratung  in 
Tabriken  beschäftigt  gewesen  sind,  und  wenn 
sie  auch  als  Ehefrauen  diese  En^^erbs- 
thätigkeit  fortsetzen  müssen,  so  ist  eine  ge- 
ordnete, behagliche,  die  Familie  vereinigende 
und  den  Mann  aus  dem '  Wirtshaus  zurück- 
haltende Häuslichkeit  nur  in  den  seltensten 
Fällen  anzutreffen,  selbst  wenn  das  Ein- 
kommen der  Familie  die  Unterhaltung  einer 
solchen  gestattet.  Durch  Haushaltungs- 
schulen und  sonstigen  praktischen  Unterricht 
lässt  sich  im  einzelnen  wohl  manche  Bes- 
serung erzielen,  aber  im  allgemeinen  bringt 
es  die  Lage  der  ausser  dem  Hause  beschäf- 
tigten Arbeiterrinnen  mit  sich,  dass  sich  der 
Sinn  für  Häuslichkeit  in  ihnen  nicht  ent- 
wickeln kann.  Aber  auch  in  den  wohlhaben- 
deren Klassen  lässt  selbst  in  Deutschland 
die  Ausbildung  vieler  junger  Mädchen  für 
die  Aufgaben  einer  Hausfrau  noch  viel  zu 
wünschen  übrig,  namentlich  infolge  des  weit- 
verbreiteten gesellschaftlichen  Vorurteils, 
dass  dilettantische  Beschäftigimg  mit  aller- 
lei Künsten  und  mit  Litteratur  in  Gestalt 
französischer  und  englischer  Romane  die 
allein  angemessenen  Bildungselemente  für 
eine  aus  der  höheren  Töchterschule  entlas- 
sene junge  Dame  darbiete.  Selbst  wenn  die 
Mädchen  unverehelicht  bleiben,  wird  ihnen 
eine  tüchtige  Schulung  in  der  Haushaltung 


von  grösserem  Nutzen  sein  als  der  Einfluss 
eines  verweichlichenden  Bildungsdilettan- 
tismns.  Die  Erwerbsfrage  für  die  Un- 
verheirateten bildet  natürlich  ein  Problem 
füi*  sich. 

Mögen  nun  aber  auch  die  Haushaltungen 
teils  gut,  teils  mittelmässig,  teils  sc*hlecht 
geführt  werden,  es  ergiebt  sich  thatsächlich 
für  jede  Gesellschafts-  und  Einkorn mensklasse 
ein  gewisser  mittlerer  Typus  derseU)en,  der 
als  solcher  sich  über  das  Niveau  der  Privat- 
wirtschaft erhebt  und  zu  einem  wichtigeu 
volkswirtschaftlichen  Element  wird. 
Diese  typischen  Haushaltimgen  stellen  uns 
die  thatsächliehen  Verhältnisse  der  Kon- 
sumtion in  der  vielgegliederten  Gesellschaft 
dai',  sie  lassen  erkennen,  in  welchem  Masse 
und  mit  welchem  Erfolge  die  Proiluktion 
ihren  eigentlichen  Zweck,  die  Bedürfnis- 
befriedigung der  Mitglieder  der  Gesellschaft, 
wii'klich  erfüllt.  Sie  werden  festerestellt 
durch  die  sogenannten  Haushaltungs- 
budgets, die  seit  Ducpetiaux  und  T^eplay 
zu  einem  der  wichtigsten  Hilfsmittel  der 
sozialen  Forschung  geworden  sind  und  in 
einem  besonderen  Abschnitt  des  Artikels 
Konsumtion  ihi*e  genauere  Behandlung 
finden  werden. 

Litteratur:  L,  v.  Stein ,  Die  Frau  auf  dem 
sozialen  Gebiete,  Stuttgart  1880.  —  Engeln  Das 
Ücchnungsbuch  der  Hausfrau  und  deren  Be- 
deutung  im  Wirtschaftsleben  der  Nation,  Bertin 
1882.  —  E».  Hermtann,  />i>  Familie  vom 
Standpunkt  der  Gesamtwirtschaft,  Berlin  1888. 
Kalle  tind  Kamp,  Die  hauswirtschaftliche 
Vnterwcisting  armer  Mädchen,  Wieslniden  1880, 
N.  F.,  Wi^baden  1891.  —  Die  hausitirtschaft- 
liehe  Ausbildung  der  Mädchen  aus  den  ärmeren 
Volksklassen,  Sehr.  d.  V.  f.  Armenpflege  und 
Wohlihäiigkeit,  6.,  7.,  IS.  Heft,  Leipzig  188S— 
1890.  —  Kalle,  Ueber  Volksemährung  und 
Haushaltungsschulen  als  Mittel  zw  Verbesserung 
derselben,  Wiesbaden  1891.  —  Kamp,  Encerb 
und  Wirtschaftsführung  im  Arbeiterhaushalt, 
Leipzig  1892.  —  Sehmoller,  Grundriss  der  allg. 
Volk^wiHschaftslehre,  Leipzig  1900,  S.  229 jf.  (Die 
Familienwirtschaft J.  —  .S'.  auch  die  Litteratur- 
angaben  zu  dem  Abschnitt  nHaushaltungsbndgrtu 
in  dem  Art.  Ko nsumti o n. 

Lexis, 


II. 

Haushaltungsstatistik. 

1.  H.  im  allgemeinen.  2.  Zahl  der  Haas- 
haltungeii,  Art,  Stärke  und  Entwickelang  der- 
selben. 3.  Kleine,  mittlere,  grosse  Haashai- 
tnngen.  4.  Familienangehörige  and  fremde 
Elemente  in  der  Haushaltang.  5.  Die  Haas- 
haltungen  nach  Besitz.  6.  Wohnnngsverhält- 
nisse  der  Haushaltangeu. 

1.  H.  im  allgemeinen.  Das  unterste 
soziale  Gebilde  der  mensclüichen  Gesellschaft, 
in  dem  sich  das  persönliche  Dasein  des  ein- 


Hauslialtung  (Statistik) 


1131 


zelnen  abspielt,  ist  die  H  a  \i  s  h  a  1 1  ii  n  g.  Die 
deutsche  Beiehsstatistik  versteht  darunter 
»die  zu  einer  wohn-  und  hauswirtschaftlichen 
Gemeinschaft  vereinigten  Personen«.  Einer 
Haushaltiuig  gleich  behandelt  werden  »ein- 
zeln lebende  Personen,  die  eine  besondere 
Wohniuig  inne  haben  und  eine  eigene  Haus- 
wirtschaft führen«,  wogegen  andere  allein- 
stehende Personen  (z.  B.  Zimmerabmieter 
ohne  eigene  Hauswirtschaft,  Schlafgänger) 
derjenigen  Hauslialtung  zugerechnet  wei-den, 
bei  der  sie  wohnen  und  die  für  sie  Haus- 
wirtschaft führt,  auch  wenn  sie  in  dieser 
Haushaltung  keine  Beköstigung  em2)fangen. 
Als  besondere  Haushaltungen  werden  die 
Anstalten  (Gasthöfe,  Pensionato,  Kranken-, 
Straf-,  Annenanstalten,  Erziehungs-,  Ver- 
sorgungsanstalten. Klöster,  Kasernen)  ange- 
sehen; hier  handelt  es  sich  um  (Gesamt- 
heiten solcher  Pereonen,  die  freiwillig  (z.  B. 
Gasthofsfremde,  Pensionäre,  Klosterinsassen) 
oder  gezwungen  (kasernierte  Soldaten,  Kranke, 
Gefangene)  unter  besonderer  Oberleitung  in 
Wohnung  und  Kost  sind.  Familien,  die  zwar 
in  der  Anstalt  wohnen,  aber  eine  getrennte 
Wirtschaft  führen  (z.  B.  der  Gasthofsbesitzer 
mit  seinen  Anhörigen  und  pereönlichen 
Dienstboten,  der  Gefangenenaufseher),  zählen 
zu  den  gewöhnlichen  Haushaltungen.  Hier- 
nach unterscheidet  man:  1.  Familien-, 
2.  Einzel-,  3.  Anstaltshaushal- 
tungen. 

Erhoben  werden  die  Haushaltungen 
regelmässig  in  Verbindung  mit  der  Volks- 
zäldung,  und  zwar,  was  die  äussere  Ab- 
grenzimg  der  zu  einer  Haushaltung  ge- 
hörigen Personen  betrifft,  ndttelst  besonderer 
Haushaltungslisten ,  Haushaltungsverzeich- 
nisse zu  Individualkarten,  Abscheidungen  in 
Hauslisten  oder  ZählbOchern,  in  Bezug  auf 


auf 


Haushaltungen 
insgesamt 


Preussen    ....  6815946 

Bayern i  199  576 

Sachsen 862  777 

Württemberg     .    .  453  748 

Baden 363028 


Familieu- 

6  323  374 
I  118061 

794  239 
412754 
337  282 


ilir  inneres  Gefüge  durch  Stellung  der  Frage 
nach  dem  Verhältnis  zum  Haushaltungsvor- 
stand bezw.  Wohnungsinhaber. 

Die  Bearbeitung  dieser  Nachweise 
hält  sich,  soweit  die  Reichs-  und  Landes- 
statistik in  Frage  kommt,  bisher  in  engen 
Grenzen ;  doch  wird  dem  Gegenstande  neuer- 
dings grossere  Beachtung  zu  teil.  Ein- 
gehender hefasst  sich  mit  den  Haushaltungen, 
schon  wegen  des  Zusammenhangs  mit  den 
Wohnungsverliältnissen,  die  Statistik  der 
Grossstädte. 

Im  Auslande  wird  bei  Erfassung  der 
Haushaltungen  ähnlich  wie  in  Deutschland 
verfahren;  zumeist  ist  auch  da  für  den 
Haushaltungsbegriff  die  P  e  r  s  0  n  e  n  gemein- 
schaft,  nur  vereinzelt,  z.  B.  in  Oesterreich, 
die  Wohn  gemeinschaft  massgebend.  Ueber 
die  Behandlung  der  einzeln  lebenden  Per- 
sonen sind  freilich  nicht  überall  die  gleichen, 
in  manchen  Staaten  überhaupt  keine  ge- 
nügenden Bestimmungen  getretfen,  so  dass 
die  internationale  Vergleichbarkeit  der  Ge- 
samtzahl der  Haushaltungen  etwas  beein- 
trächtigt ist. 

2.  Zahl  der  Haushaltungen,  Art 
Stärke,  Entwickelung  derselben.  Für 
das  Deutsche  Reich  ergab  die  Volks- 
zählung vom  2.  Dezember  1895  1125615(» 
Haushaltungen,  und  zwar 

IG  41 7  805  Familien-)      „„^ 
788751  Einzel-     )  1,1. 
49  594  Anstalts-  I   Haltungen 

1 1  256  150  Haushaltungen. 

Durchschnittlich  treffen  auf  eine  Haus- 
haltimg  4,64  Personen ;  1 ,51  ^/o  der  Bevölke- 
ining  sind  Einzelhaushaltungen.  Von  den 
gezählten  Haushaltimgen  entfallen 

Einzel-         Anstalts-  ^^^  ^  ^*"«- 

Haushaltnogen 

463  370  29  202 

75  779  5  736 

65  660-  2  878 

38514  2480 

23  940  I  806 


haltung  .  .  . 

Personen 

4,67 

4,85 

4:39 
4r59 

4,75. 


Um  den  näheren  Charakter  der  Anstalten  zu  veranscliaulicheu,  mögen  folgende 
Nachweise  für  Preussen  genügen: 

Anstalten  für  g"  f- 

Beherbergung 15472 

Landesverteidigung 3  112 


Anstaltsinsassen 


Erziehung  und  Unterricht      .    .  i  41 1 

Keligiüse  Zwecke 215 

Heilung  und  Krankenpflege    .    .  i  394 

Invaliden-  u.  Altersversorgung  *)  i  034 

Oeffentliche  Armenpflege    .    .    .  2038 

Strafe  und  Besserung    ....  i  256 
Verschiedene    der   vorgenannten 

Zwecke i  1 7 1 

Alle  sonstigen  Zwecke  ....  2  099 


überhaupt 
103  592 
298  519 

49  146 
3678 
77  161 
25068 
25864 
72  112 

72468 
53  962 


Summa    29  202 
*)  Ausserhalb  der  Armenpflege. 


781  570 


männliche 
87  725 

298519 
32661 

I  319 
43601 

6380 

II  876 

62493 

28  795  • 
46^2i3_ 

619  582 


weibliche 
15867 

16485 

2359 
33  560. 
18688 
13988 

9619 

43673 
7  749 


1 6 1  988. 


1132 


Haushaltung  (Statistik) 


Auch  wenn  man  nachstehende  Auslands- 
statistik betrachtet,  findet  man  Haushaltungen 
mit  4  bis  5  Personen  als  die  durchschnitt- 
liche Haushaltungsstärke.  Die  geringe  Be- 
setzung der  Haushaltungen  in  Frankreich 
beruht  auf  der  grossen  Zahl  der  Einzelhaus- 
haltungen rvon  den  10  Millionen  Haushal- 
tungen sina  1,7  Millionen  Einzel-,  9,1  Mil- 
lionen Familien-,  15113  Anstaltshaushal- 
tungen)  und  der  kleinen  Familien,  die  in- 
folge der  starken  Verbreitung  Malthusiani- 
scher  Anschauungen  und  des  fast  ziu*  Sitte 
gewordenen  Zweikindersystems  wie  in  keinem 
anderen  Kulturlande  vorwiegen.  In  Schweden 
beruht  die  geringe  Hauslialtungsstärke  auf 
einem  hohen  Prozentsatz  der  Einzelhaus- 
haltungen, und  dieser  deutet  darauf  hin, 
dass  viele  oder  alle  sogenannten  Chambre- 
garnisten  den  Haushaltungen  gleichgeachtet 
sind. 


Staat 

Deutsches  Reich 
Oesterreich  .  . 
Ungarn  .  .  . 
Schweiz  .  .  . 
Italien  .... 
Frankreich  .  . 
Belgien  .  .  . 
Niederlande  .  . 
Dänemark  .  . 
Schweden  .  .  . 
Norwegen .  .  . 
England  u.  Wales 
Schottland  .  . 
Irland  .  .  .  . 
Ver.  Staaten  von 
Nordamerika  . 


Toi,-  Haus- 

"^^^^  haltungen 

1895  II  256  150 
189()  5029919 

1891  3790741 

1888  630213 
1881  6  25 1  268 

1896  10812151 
1890  I  332  796 

1889  977915 

1890  475  675 

1890  1  265  665 

1891  443317 
1881  5  633  192 
1891  876  089 
1891  932  113 


Durch- 
schnittl. 
Kopfzahl 

4,64 

4,75 

4,58 
4,66 

4,55 
3,56 
4,56 
4,61 

4,59 
3,76 

4,50 
4,61 

4,59 

5,05 


1890     12690152         4,93. 


Bezüglich  der  zeitlichen  Ent Wicke- 
lung der  Haushaltimgen  macht  sich  in 
neuerer  Zeit  eine  fortschreitende  Verkleine- 
nuig  der  Haushaltungen  bemerkbar.  Sind 
die  hierüber  vorhandenen  historischen  Daten 
auch  nicht  exakt  vergleichbar  — "  angesichts 
der  bei  den  einzelnen  Zählungen  in  ver- 
schiedenem Masse  bewältigten  Schwierig- 
keit, die  Haushaltung  statistisch  überhaupt 
richtig  zu  erfassen  — ,  so  tritt  die  genannte 
Erscheinung  doch  bei  fast  allen  Ländern, 
die  über  dergleicheu  Nachweise  verfügen, 
hervor;  sie  entspricht  überdies  unserer  wirt- 
schaftlichen und  sozialen  Entwickelung.  Die 
Notwendigkeit  des  intensiveren  und  früh- 
zeitigeren Erwerbs,  die  Ausbildung  der 
modernen  Verkehrs-  und  Botriebsverhält- 
nisse  bewirken  eine  Zunahme  der  Einzel- 
haltungen, eine  immer  grössere  Absplittenmg 
der  Familiengemeinschaft;  am  Segen  eines 
gemeinsamen  Familienlebens  nehmen  fort- 
gesetzt weniger  teil.  Dies  besagen  folgende 
Daten  über  die  mittlere  Haushaitun gsstäi'ke : 


deutsche 

s  Eeich 

Ungarn 

Schweiz 

1871 

4,Vo 

1850    4,28 

1850    4,90 

1875 

4.64 

1857    4,66 

1860    4,75 

1880 

4,69 

1869    4,85 

1870    4.77 

1885 

4,69 

1880    4,53 

1880    4,66 

1890 

4,66 

1890    4,58 

1888    4,57 

1895 

4,64 

Italien 

Frankreich 

Belgien 

1871 

4-68 

1856    4,11 

1846    4,87 

1881 

4,55 

1866    3,63 

1856    4,84 

1876    3,54 

1866    4,65 

1886    3,62 

1880    4,59 

1891    3,57 

1890    4,56 

1896    3,56 

Dänemark 

Schweden 

Norwegen 

1840 

5,03 

1860    4,28 

1865    4,92 

1860 

4,85 

1870    4.07 

1876    4,66 

1870 

4,82 

1880    3,94 

1891    4,50 

1880 

4,75 

1890    3,76 

1890 

4,59 

En^and  nnd 
Wales 

Schottland         ""'%'  S^*«t«° 

von  Nordamerika 

laol 

4,83 

1861    4,52 

1850    5,55 

1861 

4,47 

1871    4,53 

1860    5,28 

1871 

4,50 

1881    4,60 

1870    s,o9 

1881 

4,61 

1891    4,59 

1880    i,04 

1891 

4,73 

1890    4,93- 

8.  Kleine,  mittlere,  grosse  Haus- 
haltungen. Ueber  die  näheren  Gi-össen- 
verhältnisse  der  Haushaltungen  sowie  über 
die  Zusammensetzung  der  Haushaltimgen  im 
einzelnen  giebt  die  Reichsstatistik  bisher 
keine  Specialnachweise.  Dies  wird  erstmals 
bei  der  Volkszählung  vom  1.  Dezember  1900 
geschehen ;  die  Familienhaushaltungen  soUen 
nämlich  bei  Bearbeitimg  der  Ergebnisse  ge« 
gliedert  werden  in  Haushaltungen  mit  2,  3, 
4,  5,  6,  7  und  8,  9  und  10,  11  und  mehr 
Personen  und  für  jede  einzelne  Gruppe  neben 
der  Zahl  der  Personen  die  Familienange- 
hörigen im  engeren  Sinne  (Ehefi-auen.  Söhne, 
Töchter,  andere  Verwandte),  die  Dienstboten 
ftir  häusliche  Dienste  und  sonstige  Pen^^onen 
zum  Nachweis  gelangen. 

Dagegen  liegen  für  eine  Reihe  deutscher 
und  fi-emder  Staaten  und  Grossstädte  Daten 
über  die  Abstufung  der  Haushaltimgen  nach 
ihrer  Mitgliederzahl  vor.  Folgende  ßeisj.uele 
auf  S.  1133  mögen  hier  Platz  finden. 

Bei  Würdigung  dieser  Zahlen  muss  man 
sich  daran  erinnern,  dass  die  Einzelhaus- 
haltungen in  den  vei-schiedenen  Ländern 
nicht  gleichmässig  behandelt  wei-den  (in 
Schweden  sind,  wie  erwähnt,  die  meisten 
Chambregarnisten  bei  den  Einzelliaushal- 
tungen)  und  dass  dies  natürlicli  auch  bei 
den  Relativzahlen  der  höheren  Hau&haltimgs- 
stufen  sich  geltend  macht.  Insonderheit 
trifft  dies  auf  die  Zahlen  von  Paris  zu; 
hier  begreift  man  unter  einer  Haushaltung 
»un  groupe  d'individus  vivant  sous  la  memo 
clef «  und  betrachtet  sj)eciell  von  den  Mietern 


Hanshaltung  (Statistik) 


1133 


Von  100  Haushaltung 

en  bestanden 

i 

ans 

S 

P 

Herzogtum 
Braunschweig 

Hamburg 
(Staat) 

1 

Einige  Teile  der 
Schweiz  *) 

0 

1 

g 

0 

§ 

•53 

0 

Ver.  Staaten  von 
Amerika 

PQ 

Paris 
München 

1 

PQ 

1895  1890 

1890 

1890    1896 

1888 

1880 

1891 

1891 

1890 

1896    1886   1895 

189Ö 

I 

7,1 

6,9 

6,3 

6,9      1 

15,6 

8,2 

20,0 

13,0 

9,5 

3,6 

7,9     30,5      7,5 

9,3 

2     ^ 

13,0 

13,8 

15,4     21,8 

13,5 

15,1    ] 

i5,7 

13,2 

17,2     25,6     17,9 

17,3 

3 

15,5  1 

18,4     20,2 

15,2 

14,7 

15,3 

16,7 

20,5      18,5     20,0 

19,1 

4 

1  »1  T      «4 

51,0 

17,6 

16,4 

15,7 

13,6 

14,3 

16,8 

19,3      i«,9\,o^ 

17,6 

5 

;3i,3  ] 

14,8 

11,3 

13,6 

11,5 

12,8 

15,1 

14,8 

6,6  /  •'-»' 

14,1 

6 

10,8 

7,0 

11,3 

9,1 

10,7 

n,5 

9,6     ] 

}i5,2 

10,0 

7 

92,9 

7,2 

8,7 

6,6 

87,0 

8,2 

8,5 

5'5 

6,0 

8 

31,1 

27,3 

4,3 

6,0 

4,2 

5,9 

^^'2 

2,8 

3,3 

9 

2,2 

7,7 

3,3 

2,5 

3,6 

3,8 

1,3 

6,9 

•  5,7 

1,7 

lO 

h^ 

'  •  I  f 

2,0 

1,3 

2,0 

2,8 

0,6 

. 

0,8 

über 

' 

lO     . 

2,1 

Ir6 

1,3 

2,5 

1,4    J 

2.0 

2,1 

0,5      - 

1,0 

0,8 

*)  Die  Städte  Winterthur   und  Chaux- de -Fonds  und  die  Bezirke  Burgdorf,  Yverdon, 
Glenner,  Goms,  Entremont  und  Echallens. 


möblierter  Wohnungen  solche,  die  ein  be- 
sonderes Zimmer  inne  haben,  als  eigene 
Haushaltungen.  Immerhin  dürften  auch 
thatsächlich  in  Paris  die  Einzelhaushaltungen 
und  die  kleinen  Haushaltungen  auffallend 
hoch  sein,  wie  dies  in  gleicher  Weise  im 
übrigen  Frankreich,  wo  die  Zählim^  ähnlich 
der  deutschen  erfolgte,  der  Fall  ist.  Der 
Grund  dieser  Erscheinung  wurde  schon  oben 
sub.  2  angedeutet  und  wird  weiter  belegt 
durch  die  Statistik,  welche  die  Familien 
nach  der  Zahl  der  lebenden  Kinder  (que 
ces  enfants  aient  continu6  ä  vivre  avec 
leurs  parents  ou  se  soient  constitu^s  des 
domiciles  particuliers)  unterscheidet: 


Familien  mit 

.  .  .  lebenden 

Kindern 

ünbek.  Zahl 
o 

I 

2 

3 

4 

5 
6 

7  und 

mehr 


Frankreich 
1896 


absolut 

234  855 

1  808  839 

2  638  752 
2  379  259 

I  593  387 
984  162 

584  582 
331640 


% 

2,1 
16,7 

24,3 
21,9 

14,7 
9,1 
5,4 
3,1 


1891 
% 

1,8 

17,2 

24,6 

22,0 

14,7 
9,1 
5,3 
3,0 


289771        2,7       2,3 


Paris 
1891 

9,8 
23,8 

27,7 
19,8 
10,1 

4,8 

2,2 

1,0 


0,8 


Haushaltungen 
mit  .  .  Personen 

I 

2 

3 

4 

5 
6  und  mehr 


Prozentanteile  der  einzelnen 

Haushaltungsgmppen 

1856  1891  1896 


10,40 
18,51 

19,94 
18,19 
13,26 
19,70 


15,20 

21,50 
20,03 

16,43 
11,59 
15,25 


15,63 
21,83 
20,24 

16,39 
11,24 

14,67 


Summa     100 


100 


100 


Vergleicht  man  die  einzelnen  Haus- 
haltungsgruppen, genauer  die  ihnen  zuge- 
hörigen Personen  mit  der  Bevölkerung, 
so  findet  man  an  der  Hand  des  hierüber  zu 
Gebote  stehenden  Materials, 


Zusammen    10845247     100      100         100 

1,8  Millionen  Familien  haben  also  keine 
lebenden  Kinder,  das  sind  nicht  weniger  als 
17®/o  aller  Familien;  in  Paris  erreicht  der 
Prozentsatz  die  Höhe  von  24. 

Wie  sehr  im  Laufe  der  letzten  Decennien 
die  Struktur  der  Haushaltungen  Frankreichs 
sich  geändert  hat,  beweisen  folgende  Zahlen : 


bfio 

00 

p    • 


I 

2 

3 

4 

5 
6 

7 
8 

9 
10 

über  10 


0 

o 
> 

• 
Ui 
(3) 

> 

1890  1890 

Prozent  der 


0,74 


bß 

O    OQ 

WOB 


Ö  m8 


PE4 


} 


1,58 
6,52 

44,34 


1890        1890 
Bevölkerung 

^07 
5,60 


58,45 


40,36 


7,20 


I 


34,15 


6,66 


2,0 
8,6 

14,9 
16,3 

16,7 
23,9 


17,6 


II, II 

15,14 
16,08 

»4,72 

11,72 

8,54 

5,83 

3,51 
6,68 


dass  über  neun  Zehntel  der  Bevölkerung  in 
!  Haushaltmigen  von  drei  und  mehr  Personen, 
1  etwa  die  Hälfte  der  Bevölkerung  in  Haus- 
llialtungen    von    mehr  ^s  5  Personen,  ein 


1134 


HanshalUing  (Statistik) 


Zehntel  in  Haushaltungen  von  10  und  mehr 
Personen  leben.  In  Einzelhaushaltungen 
leben  1  bis  2  Prozent  der  Bevölkerung. 

4.  Familienangehörige  und  fremde 
Elemente  in  der  Haushaitang.  Diese 
Unterscheidung  berührt  nur  die  Familien- 
haushaltuugen.  Die  Hälfte  bis  zwei  Drittel 
der  Faniilienhaushaltun^n  setzen  sich  aus- 
schliesslich aus  Familienmitgliedern  zu- 
sammen, in  den  anderen  Haushaitungen 
finden  sich  auch  andere  Elemente  wie 
Pfleglinge ,  Dienstboten ,  Grewerbsgehilfen, 
Aftermieter,  Schlafgänger,  voriibergehender 
Besuch.  In  dieser  Beziehung  sind  folgende 
Daten  zu  erwähnen: 

Familienhanshaltnngen 
bestehend 

««•  «««  T?«     ausFamilien- 
nur  aus  ja-    ^i;«j«««„„j 

miliengliedem  «'ÄST' 
absolut     ^/o      absolut   % 
43071    64,8      23378  35,2 

225590   59,8     151  867  40,2 


Oldenburg  1880 . 
Berlin  1895    .    . 


60,0 


Hamburg  1895   .    .    79808 

Breslau  1895      .    .    49466  61,7 

Charlottenburg  1895    15989  54,1 

Dresden  1895      .    .41  554  56,1 

Frankfurt  a.  M.  1895    22  045  47,7 


53101 


40,0 
30699  38,3 
13  587  45,9 
32  549  43,9 
24  160  52,3 


Die   Familienelemente   bilden   den 


Kern  der  Haushaltungen.  Dem  entspricht 
es,  dass  die  meisten  Haushaltungen  ein 
Ehepaar  zum  ^Vorstand  haben,  sogenannte 
eheliche  Haushaltungen.  Eigene  Nachweise 
darüber  sind  nur  wenig  vorhanden: 

Zahl  der  Haushaltungen  mit 
einem  Ehepaar 

als  Vorstand 
absolut     in  %  aller  Fam.- 
Haushaltungen 


Grossh.     Oldenburg 

(188(j)  51  746 
Stadt  Berlin  (1895)  285  166 
Hamb.  Staat  (1890)    90  811 


78 
70 

77 


Im  übrigen  muss  man  sich  der  Zahl  der 
stehenden  Ehen  bedienen,  um  die  Fa- 
milien im  engsten  Sinne  kennen  zu  lernen. 
Deren  waren  es  im  Deutschen  Reich  nach  der 
1890  er  Volkszählung,  wenn  man  die  lialbe 
Summe  der  verheirateten  Männer  und  Frauen 
zu  Grunde  legt,  8  385  547  (1895  auf  Grund 
der  Benifszählung  8  816  849),  das  sind  Sü^.'o 
der  damals  ermittelten  (9  836  560)  Familien- 
haushaltungeu. 

Zur  länderweisen  Feststellung  der  Häufig- 
keit der  FamDien  mit  Ehepaaren  mag  füs 
Massstab  das  Verhältnis  der  verheirateten 
zur  erwachsenen  (über  15  Jahre  alten)  Be- 
völkerung genügen: 


Staat 

Deutsches  Reich  ....  1890 

Oesterreich 1890 

Ungarn 1891 

Schweiz 1888 

Italien 1881 

Frankreich 1896 

Belgien 1890 

Niederlande 1889 

Dänemark 1890 

Schweden 1890 

Norwegen 1891 

England  und  Wales     .    .  1891 

Schottland 1891 

Irland 1891 

Ver.  Staaten  von  Amerika  18iK) 


Männer 

8372486 

4003916 

3528486 

466  761 

5  149417 
7  690  997 
967  448 
738  242 
375  611 
795  463 

315419 
4  8>i  ^48 

589  820 

613411 

1 1  20c  228 


Verheiratete  Bevölkerung 


Frauen 

8  398  607 

4  034  452 
3576012 

471  546 

5210993 

7  728  854 

964  9 1 1 

739009 

376  252 

804613 

326  083 

4916  649 

603  573 

625  798 

II  126  196 


im  ganzen 

16  771  093 
8  038  368 
7  104498 

938  307 
10  360  410 
15  419  851 

1  932  359 
1477  251 

751863 
I  600076 

641  502 
9768  197 

I  193  393 
I  239  209 

22331  424 


Prozent  der 
Erwachsenen 

52,32 

51,08 

47,10 

53,69 
54,43 
47,36 

50>55 
52,82 

50,13 
50,26 

51,87 
46,02 

39,04 
55,30 


Abgesehen  von  den  Haushaltungen  mit 
Ehopaai^en  sind  auch  jene  Fälle  nicht  selten, 
in  denen  die  Haushaltung  durch  eine  Frau 
allein  geleitet  wird,  wie  folgende  Daten  (1895) 
für  Berlin  besagen: 

Familienhaupt 

(ein  Ehepaar    .    .    .    2 1 3  85 1 
ein  Mann    ....        7  459 
Kindern        )  eine  Frau    ....      47  545 


Zur  Charakteristik  der  anderen 
Haushaltungsmitglieder  ist  zu  be- 
merken, dass  in  Berlin  zu  nicht  weniger  als 
2()®/o  der  Haushaltungen  Einmieter  oder 
Schlafleute  gehören ;  von  den  Haushaltungen 
ohne  solche  bestehen 

Haus- 
haltuiuren 


Familien  ohne 
Kinder 


Zusammen    268  855 

ein  Ehepaar      ...    71  315 

ein  ^fann 22  965 

.    .    .    .    46  123 


—Iq-q—    nur  aus  Familiengliedern 257  842 


eine  Frau 


Zusammen  140403 


aus  Farn. -Gliedern  u.  bes.  Hausgen. 

Gewerbegehilfen 
Diensfl)ot«n  und 
deren  Kindern  . 
.,  Gewerbsgeh.  und 
sonst.    Hausgen. 


« 


n 
n 


936S 

^  3:>j 
44  626 

222 


Haushaltung  (Statistik) 


1135 


aus  Fam.-Gliedern  u.  Dienstboten  und 

sonst.    Hansgen. 
„  „  „  Gewerbsgehiifen 

und  Dienstboten 
n  n  n  Gcwerbsgehüfen, 

Dienstboten  und 
sonst.    Hausgen. 


Haus-  ;  Die  preussische  Haushaltungsstatistik 
haltungen  i  unterscheidet  zwar  nicht  die  Haushaltungen 
I  nach  der  Art  ihrer  Elemente,  wohl  aber 
;  giebt  sie  die  Bestandziffern  dieser  Elemente 
'  selbst;  bei  der  1895er  Volkszählung  wuixlen 
:  in  dieser  Beziehung  folgende  Details  festge- 
'  stellt : 


5066 
4838 


337 


1.  Einzelne  Lebende  .    .    .' 

2.  InFamilienhaushaltungen  undzwar: 

Familienmitglieder 

Pfleglinge,  Pensionäre 

Im    Dienste    des    Haushaltungsvorstandes 

stehendes  Erziehungspersonal     .... 

Dienstboten 

Ländliches  Gesinde 

Kinder  dieser  Dienstboten  bezw.  des  Gesindes 

Gewerbs-  und  Arbeitsgehilfen 

Zimmerabmieter ,    Aftermieter ,     Chambre- 

eumisten  und  dergleichen 

Schlafgänger 

Auf  Besuch  anwesend 

Einquartierte  Soldaten 


3.  In  Anstalten 
Gesamtbevolkerung 


Zusammen  (2) 


männlich 

Personen 
weiblich 

zusammen 

147  701 

315669 

463  370 

13207736 
95301 

14153495 
loi  876 

27361231 
197  177 

1279 

79295 
409866 

7850 

518996 

7466 
605  709 

531  570 
8808 

96952 

8745 
685004 

941  436 
16658 

615  948 

425  953 
104  198 

24545 
3137 

131  155 

35787 
59209 

557  108 

139985 

83754 

3137 

14878  156 
619582 

15732027 
161  988 

30610183 
781  570 

15645439 


16209684 


31 855 123 


Ein  Vergleich  vorstehender  Daten  mit 
analogen  anderen  Staaten  oder  Städten  ist 
wenig  ratsam,  da  den  betreffenden  Aus- 
zählungen nicht  gleichmässige  Klassifika- 
tionen zu  Grunde  liegen. 

Auch  gelegentlich  der  Berufs-  und 
Gewerbe  zäh  hing  vom  14.  Juni  1895 
wurden  Nachweise  über  die  Familien-  und 

im  Hauptberuf 

Selbständige  Betriebsleiter  etc 

Angestellte 

Mithelfende     Familienangehörige     in 
Betrieben  der  Landwirtschaft,  Industrie  und 

des  Handels     •    •    •« 

Sonstige  Arbeiter 


Fremdelemente  der  Haushaltungen  erbracht. 
Allerdings  erstreckt  sich  die  Unterscheidung 
nur  auf  Familienangehörige  —  im  Betrieb 
des  Haushaltungsvorstandes  mithelfend  oder 
nicht  —  und  auf  häusliche  Dienstboten. 
Die  Reichsbevolkerung  gliederte  sich  unter 
diesem  Gesichtspunkte  wie  folgt: 


männlich 

weiblich 

zusammen 

4  762  675 

I  171  445 

5  934  120 

763  848 

54042 

817890 

910  641 

I  158944 

2  069  585 

9069318 

2  879  962 

1 1  949  280 

15506482 

5  264  393 

20770875 

I  027  2S9 

I  115549 

2  142808 

25359 

1313957 

1339316 

8159817 

8219442 

16379259 

690  244 

10447782 

II  138026 

Zusammen  Erwerbsthätige 

Berufslose  Selbständige 

Häusliche  Dienstboten 

Familienangehörige  ohne  Hauptberuf 

unter  14  Jahr  

14  Jahr  und  darüber 


Bevölkerung 25409161 


26361  123 


51  770284 


27  517  285  Angehörige  d.  s.  53 »o  der 
Bevölkerung  oder  2,4  auf  eine  Haushaltung 
leben  also  in  der  Familie,  ohne  nach  aussen 
hin  mit  Erwerbsthätigkeit  hervorzutreten. 
Zwei  Drittel  dieser  Angehörigen  sind  weib- 
lichen Geschlechts,  was  damit  zusammen- 
hängt, dass  zu  den  Angehörigen  meist  die 
Ehefrauen  gezählt  sind,  nämlich  alle,  deren 
Haui)tbeschäftigimg  in  der  Besorgung  des 
Hauswesens  besteht ;  andererseits  kommt  die 
Art   und  AVeise  der   Erziehung  mit  in  Be- 


ti'acht,  die  Tochter  bleibt  so  lange  in  der 
Familie,  bis  sie  sich  vei*ehelicht  oder  eine 
eigene  Erwerbsthätigkeit  aufzunehmen  ge- 
zwungen ist,  der  Sohn  dagegen  muss  viel- 
fach schon  bald  nach  zurückgelegter  Volks- 
schule auf  eigenen  Erwerb  bedacht  sein, 
sich  in  Stellung  begeben  und  das  Eltcrn- 
liaus  verlassen. 

An  Familienangehörigen,  welche  im  Wirt- 
schaftsbetrieb ihres  Haushaltungs Vorstandes 
haupt-  oder  nebenberuflich  mithelfen,  ergab 


1136 


HaushaltuDg  (Statistik) 


die  BerufszähluDg  2  069  585  +  1311790 
^  3  381 375  (2,3  MiUioQen  weibUche ,  1,1 
Millionen  männliche),  sie  verteilen  sich  auf 
die  drei  grossen  Wirtschaftszweige  folgender- 
massen : 

Mithelfende  Familienange- 

Bernfsabteüung  .^  g^^p^.  Keben-     zu- 

beruf 


Landwirtschaft  .  1898867 

Gärtnerei,  Tier- 
zuchtjFischerei        4  7^2 

Industrie   .    .    .      56003 

Handel  und  Ver- 
kehr ....    109933 


beruf  sammen 

I  061  419  2960286 

4217  8999 

72560  128563 

173  594  283  527 


Zusammen  2  069  585    1311  790    3  381  375 

Die  Mitarbeit  von  Familienangehörigen 
findet  sich  am  ausgedehntesten  in  der  Land- 
wirtschaft, wo  ihre  Zahl  sogar  die  der 
Knechte  und  Mägde  übersteigt,  und  zwar 
zumeist  auf  Betrieben  mittlerer  Grösse,  auf 
Bauerngütern.  Schon  weniger  häufig  ist  sie 
bei  Handel  und  Verkehr,  am  eingeschränk- 
testen in  der  Industrie,  es  hängt  da  die 
Häufigkeit  von  mithelfenden  Familienange- 
hörigen von  der  Grösse  der  Betriebe  ab, 
je  kleiner  der  Betrieb,  um  so  mehr  hat  er 
familienhaften  Charakter.  Xlebrigens  treffen 
von  allen  mithelfenden  Familienangehörigen 
der  Industrie  und  des  Handels  nicht  weniger 
als  84  ®/o  auf  die  fünf  Berufsarten  Gast-  und 
Schankwirtschaft,  Waren-  und  Produkten- 
handel, Bäckerei,  Fleischerei,  Weberei,  viel- 
fach besteht  die  besagte  Mithilfe  in  der 
Besorgimg  des  Verkaufsgeschäfts  und  wird 
zumeist  von  Ehefrauen  geleistet. 

Häusliche  Dienstboten  wurden  1,3  Mil- 
lionen gezählt,  demnach  kommt  durchschnitt- 
lich auf  die  achte  bis  neimte  Haushaltung 
ein  Dienstbote. 


Natürlich  stellt  sich  die  Besetzung  der 
Haushaltungen  mit  nicht  erwerbsthätigen 
Familienangehörigen  und  Dienstboten  ver- 
schieden nach  Alter,  sozialer,  beruflicher 
und  pekuniärer  Stellung  des  Haushaltungs- 
vorstandes. Näheres  hierüber  in  meinen 
Ausführungen  in  Bd.  111  der  Statistik  des 
Deutschen  ßeichs,  »Die  bemfliche  mid 
soziade  Gliederung  des  Deutschen  Volkes«, 
S.  82,  175  und  201  ff.;  über  die  im  Haus- 
halte ihres  Lehrherrn  wohnenden  Lehrlinge 
vgl.  meine  Darstellung  in  Bd.  119,  »Gewerbe 
und  Handel  im  Deutschen  Reich«,  S.  71  ff. 
5.  Die  Haashaltungen  nach  Besitas. 
Bei    der   Bearbeitung  der   1895  er   Berufs- 

^  Statistik  (Bd.  111  der  Statistik  d.  D.  R. 
S.  189  ff.)  wurde  der  Versuch  gemacht,  die 
viel  umfassende  Klasse  der  s  e  1  b  s  t  ä  n  d  i  g  e  n 
Landwirte  sowie  der  selbständigen  Ge- 
werbe- und  Handeltreibenden  auf  Grund 
ihrer  Angaben  über  Umfang  der  Wirtschafts- 
fläche und  Zahl  der  von  ihnen  beschäftigten 
Personen  nach  ihrem  Besitz  zu  differenzieren. 
Freilich  sollte  auch  die  Grösse  des  Anlage- 
und  Betriebskapitals  sowie  Umfang  des  Roh- 
und  Reinertrags  dabei  Berücksichtigung 
finden,  indessen  fehlen  hierzu  die  ent- 
sprechenden Unterlagen.  Des  besseren 
üeberblicks  halber  wurden  die  auf  die  ge- 
nannte Art  gewonnenen  Besitzklassen  in 
drei  Wohlhabenheitsschichten  zusammcnge- 
fasst:  1.  eine  unbemittelte,  umfassend 
die  Inhaber  von  Betrieben  mit  unter  2  ha 
oder  mit  einer  Person,  2.  eine  Mittel- 
klasse, umfassend  die  Betriebsinhaber  mit 
2  bis  100  ha  oder  2  bis  20  Personen,  3.  eine 
vermögende  Klasse,  umfassend  die  Be- 
triebsinhaber mit  100  ha  imd  mehr  oder 
mit  über  20  Personen.  Auf  diese  drei  Klassen 
verteilen   sich  die  Selbständigen  mit  ihren 

I  (mitthätigen  und  anderen)  Angehörigen  wie 

I  folgt: 


unbemittelte  Klasse 
Landwirtschaft^)  ....     i  712872      15,87 

Industrie 3197313      51,00 

Handel  und  Verkehr*)  .    .     i  245  177      48,23 


Mittelklasse 


8  959  869 
2  906  1 36 
I  312423 


83,02 

46,36 
50,84 


Zusammen     6155362      31,34 

*)  Ohne  Forstwirtschaft. 

-)  Ohne  Post-,  Telegraphen-  und  Eisenbahnbetrieb. 


13  178428    67,09 


vermögende  Klasse 

119344    i,u 

165  772    2,64 

24  104    0,93 


309220    1,57 


Im  Wege  der  Schätzung  hat  man  den 
drei  Wohlhabenheitsschichten  auch  die 
in  anderen  Berufen  noch  vorkommenden 
Selbständigen  eingegliedert  und  diesen  Selb- 
ständigenschichten  die  der  Abliängigen  an- 
gefügt und  ist  dabei  zu  folgendem  Gesamt- 
bilde hinsichtlich  der  Gliedenmg  der  Haus- 
haltungen nach  dem  Besitz  gelangt: 


Erwerbsthätige 
nebst  Familien- 
angehörigen 


Schicht  der  Selbstän- 
digen   

a.  vermögende  Klasse    .    . 

b.  Mittelklasse 

c.  unbemittelte  Klasse    .    . 
Schicht  der  Abhängigen 


23013226 

646  242 

15  874600 

6  492  384 

28  757  058 


44,45 

1,25 

30,66 

12,54 

55,55 


Summa    51770284    100,00 


HaushaltuDg  (Statistik) 


1137 


Zu  ähnlichem  Ergebnis  gelangte  Schmol- 
ler, der  (vgl.  meinen  Art.  Beruf  und 
Berufsstatistik  Bd.  II  S.  607)  zur  so- 
zialen Abgrenzung  der  Haushaltungen  neben 
der  Berufs-  und  Betriebsstatistik  auch  die 
preussische  Einkommensteuerstatistik  heran- 


zog. — 


Lediglich  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Einkommensverhältnisse  betrachtet,  erschei- 
nen in  Preussen  nach  der  Einkommensteuer- 
statistik 1899  die  Haushaltungen  folgender- 
massen  abgestuft: 


Einkommensgruppe 


absolut 


Personen  einschliesslich   Haushaltnngsangehörige 

der  besteuert 
Bevölkerung 


7o  der  Gesamtbevölkerung    ^j^  der  besteuerten 


unter  900  M. 

21  153323 

steuerfrei  als 

Exterritoriale  u.  dergl. 

7  353 

über  900  M.,  aber  steuerfrei 

I  406094 

900—3000  M. 

9022010 

.3000—6000  „ 

858294 

6000--9500  ,. 

227  548 

über  9500  ^ 

234217 

1899 
64,3 

0,0 

4,3 

27,4 
2.6 

0,7 
0,7 


1895/96 
68,7 

0.0 

2,1 
25,6 

2,4 

0,6 

0.6 


87,2 

8,3 
2,2 

2,3 


Summa 


32  908  839 


100 


100 


100 


Dai'nach  lebt  nahezu  ein  Drittel  (1895 
31  ^/o)  der  Bevölkenmg,  87  ®/o  der  besteuerten 
Bevölkerung  in  Haushaltungen  mit  über 
900  Mark  Einkommen,  aber  nur  4®/o  in 
solchen  mit  über  3000  Mark  Einkommen. 
Durchschnittlich  treffen  auf  eine  steuer- 
zahlende Haushaltung,  deren  im  ganzen 
3,3  Millionen  mit  insgesamt  11,7  Mimonen 
Personen  gezählt  sind,  3,3  Personen  (natür- 
lich weniger,  als  wenn  man  die  Gesamtzahl 
der  Haushaltungen  in  Ansatz  bringt)  und 
ein  Einkommen  von  2347  Mark. 

6.  Bezüglich  der  Wohnungsverhalt- 
nisse  der  Haushaltungeii  wird  im  all- 
gemeinen auf  den  Art.  Wohnungsfrage 
sowie  auf  das  Statistische  Jahrbuch  deutscher 
Städte  7.  Jalirg.  (1898)  S.  57  ff.  verwiesen. 
Nur  einige  Daten  aus  der  Aufnahme,  die  in 
Baden  1890  stattfand,  mögen  hier  Platz 
finden.  Damals  wurden  gezählt  Haushal- 
tungen 


Haushaltungen 

23 

94 

51235 
116  256 
78619 
68864 
27558 
1945 


Wohnräume  (ausschl. 

Fremdenzimmer  der 

Gasthäuser) 


2 

3 

4  u.  5 

6 — 10 

II  u.  mehr 


Im  gesamten  Deutschen  Reich  wurden 
bei  der  90  er  Volkszählung  für  10,6  Milli- 
onen Haushaltungen  5,8  Millionen  bewohnte 
Gebäude  festgestellt,  so  dass  im  Reichs- 
durchschnilt  1,82  Haushaltungen  auf  ein 
AVohnhaus  treffen.  International  gestaltet 
sich  dies  Verhältnis  in  nachstehender  Weise; 


Staat 


Jahr 


mit  eigener  Wohnung  .  .  . 
„  gemieteter  Wohnung  .  . 
„  Dienstwohnung  .... 
„    Wohnung  in  Nutzniessung 


Haushal- 
tungen 


Bewohnte  ii'o^ 
Gebäude    IJ* 


204  278 
116  342 

11354 
12620 


Durchschnittlich  wohnen  in  einem  Ge- 
bäude 1,57  Haushaltungen,  das  »Einfamilien- 
haus« wiegt  bei  weitem  vor.   Es  gab  nämlich 


mit  .  .  Haus- 
haltungen 


I 
2 


4  mid  5 
6  und  mehr 


Gebäude 

149  416 

45  457 
12858 

7  696 
3992 


ja 
§•3 

5848562         1,82 

3  i8i  302    1,58 

2973409    1,27 
400  121    1,59 

7541926    1,43 

I  198  058*)  1,11 

821  141    1,19 

7139643    1,12 

Llttoratur :  Ausser  den  im  Text  erwähnten  Arbeiten 
noch  die  statistischen  Quellenirerke  dei'  ein- 
zelnen Stauten  beztc.  Städte,  insbesoridere  Bd. 
68  der  Statistik  des  Deutschen  Beichs,  ferner  O. 
V,  MayVf  Statistik  und  Gesellschaftslehre,  Bd.  3, 
Freiburg  i.  B.  1897,  S.  U2  ff.  und  A.  FrUr, 
w  Fircks,  Bevölkeiningslehre  und  Bevölkerungs- 
'Politik,  Leipzig  1898,  S.  124  ff. 

HHedrich  S^hn. 


Deutsches  Reich 

Oesterreich 

Ungarn 

Schweiz 

Frankreich 

Belgien 

Niederlande 

Grossbrit,  u.  Irl. 


1890 
1890 
1890 
1888 
1896 
1890 
1889 
1891 


10617  923 

5030919 

3  790  741 

673  835 
10812  151 

I  332  796 

977915 
8  020  546 


An  Wohnräumen  trafen  durchschnittlich 
3,01  auf  eine  Haushaltung;  im  einzelnen 
hatten 


Bewohnte  und  unbewohnte  Wohnhäuser. 


Handwörterbach  der  Staatswlasenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


72 


1138 


HaMshofer — Hausindustrie 


Hanshaltmigsbiidget 

s.  Konsumtion. 


Haushofer,  Max, 

geb.  ?u  München  am  23.  IV.  1840,  promovierte 
daselbst  1864,  seit  1868  Professor  der  königlich 
technischen  Hochschule  München  (für  National- 
ökonomie, Finanzwissenschaft,  Statistik,  bayer. 
Staatsrecht);  von  1875—81  Abgeordneter  für 
München  im  bayerischen  Abgeordnetenhans. 

Von  seinen  volkswirtschaftlichen  Schriften 
seien  die  nachfolgenden  genannt: 

Der  landwirtschaftliche  Kredit,  München 
1864.  —  Die  Zukunft  der  Arbeit,  ebd.  1866.  — 
Lehr-  und  Handbuch  der  Statistik,  Wien  1872, 

2.  Aufl.  1882.  —  Grundzüge  des  Eisenbahn- 
wesens, Stuttgart  1873.  —  Industriebetrieb, 
Stuttgart  1874.  —  Eisenbahngeographie,  Stutt- 
gart 1875.  —  Handelsgeographie  von  Europa. 
Fortsetzung  von  Andrees  Handelsgeographie), 
Stuttgart  1877.  —  Maier  Rothschild,  Handbuch 
der  Handelswissenschaft,  I.  Bd.,  Stuttgart  1878, 
4.  Aufl.  Berlin  1889.  Aus  diesem  Werke  sind 
Separatausztige  erschienen,  z.  T.  in  mehreren 
Auflagen,  nämlich :  Abriss  der  Handelsgeschichte, 
1878,  2.  Aufl.  1888;  Abriss  der  Handelsgeo- 
ffraphie,  1878,  2.  Aufl.  1888;  Grundzüge  der 
Nationalökonomie,  1878;  die  3.  Aufl.  dieser 
früheren  Separatabzüge  betitelt  sich:  Maier 
Rothschild-Bibliothek  Bd.  I,  Abriss  der  Handels- 
geographie, 3,  Aufl.  1894 ;  Bd.  II,  Abriss  der 
Handelsgeschichte,  3.  Aufl.  1894;  Bd.  III,  Grund- 
züge der  politischen  Oekonomie ;  I.  Abt.  Grund- 
züge der  Nationalökonomie,  3.  Aufl.  1894;  II. 
Abt.  Wirtschaftslehre  der  Haupterwerbszweige, 

3.  Aufl.  1894 ;  III.  Abt.  Finanz  Wissenschaft, 
1894.  —  Grundzüge  der  allgemeinen  Handels- 
lehre, 1878.  —  Der  kleine  Staatsbürger,  Stutt- 
gart 1883.  —  Der  Existenzkampf  des  Klein- 
gewerbes, Berlin  1885.  —  Die  Ludwig-Maxi- 
milians-Universität, München  1889.  —  Arbeiter- 
gestalt€n  aus  den  bayerischen  Alpen,  Bamberg 
1890.  —  Ein  Beitrag  zur  Handelsgehilfenfrage, 
Berlin  1891.  —  Wie  gewinnt  und  sichert  sich 
der  Kaufmann  dauernde  Stellung?  Eine  Be- 
leuchtung der  Handelsflrehilfenfrage,  Berlin  1892. 
—  Die  fihefrage  im  Deutschen  Reich,  Berlin 
1895  (a.  u.  d.  T. :  Der  Existenzkampf  der  Frau 
im  modernen  Leben,  Heft  3).  —  Der  moderne 
Sozialismus,  Leipzig  1896.  —  Lebenskunst  und 
Lebensfragen.  Ein  Buch  fürs  Volk,  Ravensburg 
1897. 

Ausserdem  finden  sich  aus  Haushofers  Feder 
volkswirtschaftliche  und  sozialwissenschaftliche 
Artikel  in  der  Deutschen  Revue,  1880—89;  in 
der  Zeitschr.  des  bayerischen  Kunstgewerbever- 
eins, des  Münchner  polytechn.  Vereins,  Wester- 
manns  Monatsheften  u.  a.  a.  0. 


Hausierhandel 

s.  Wanderire werbe. 


Hänsihdastrie. 

I.  Allgemeines.  1.  Begriff  und  Wesen 
der  H.  2.  Nuancen  in  der  Entstehung  der  H. 
3.  Die  typischen  Formen  hausindustrieller  Or- 
ganisation. IL  Die  Hausindustrie  in  den 
einzelnen  Ländern.  4.  Deutschland.  5. 
Oesterreich-Üngam.  6.  Schweiz.  7.  Frankreich. 
8.  Italien.  9.  Belgien.  10.  Russland.  11.  Eng- 
land. 12.  Vereiniffte  Staaten  von  Amerika.  In. 
Beurteilung  der  H.  Ziele  hausindus- 
trieller Politik.    Quellen  und  Litteratur. 

L  Allgemeines. 

1.  Begriff  und  Wesen  der  H.  Haus- 
industrie (Verlagssystem)  ist  diejenige  Be- 
triebsform  der  kapitalistischen  Unternehmung, 
bei  welcher  die  Arbeiter  in  ihren  eigenen 
Wohnungen  oder  Werkstätten  bescliäftigt 
werden.  Leiter  der  Produktion  ist  der 
kapitalistische  Unternehmer,  Verleger  ge- 
nannt: er  bestimmt  Richtung  und  Aus- 
mass  der  Produktion  und  versieht  die  in 
ihren  Wohnungen  oder  Werkstätten  be- 
schäftigten Arbeiter  mit  Aufträgen.  Seine 
Machtvollkommenheit  zu  dieser  Stellung 
leitet  er  nicht  sowohl  aus  dem  Besitze  der 
zur  technischen  Herstellung  der  Produkte 
erforderlichen  Produktionsmittel  ab  (die  viel- 
mehr häufig  sicli  in  den  Händen  der  in  seinem 
Dienst  stehenden  Arbeiter  befinden)  als  viel- 
mehr von  der  Kenntnis  und  Beherrschung 
desWai^enmarktes  (also  seinen  kaufmännischen 
Qualitäten)  sowie  dem  Besitze  des  zur  Be- 
schaffung der  Rohstoffe  und  zum  Vertriebe 
der  Fabrikate  notwendigen  Kapitals, 

Die  hausindustrielle  Betriebsform  unter- 
scheidet sich  von  Manufaktur  und  Fabrik 
durch  die  mangelnde  Centralisation  der  Be- 
triebsstätten ;  sie  ist  aber  gleichwohl  eine  Form 
der  kapitalistischen  Produktions  Unterneh- 
mung, sofern  die  Produktionsleitung  in 
den  Händen  eines  kapitalistischen  Unter- 
nehmens ruht:  Unterschied  gegenüber  der 
reinen  Handelsunternehmung.  Centralisation 
der  Produktionsleitung ;  Decentralisation  der 
Produktionsausftlhrung.  Einheit  der  (Pro- 
duktions-) Unternehmung;  Vielheit  der  (Pro- 
duktions-) Betriebe. 

Als  eine  Erscheinungsform  der  kapi- 
talistischen L'nternehmung  trägt  die  Haus- 
industrie deren  Merkmal  überbauj)t.  In 
eine  Erörterung  der  Wesenheiten  des  Kapi- 
taiismus einzutreten,  ist  hier  nicht  am 
Platze.  Es  muss  genügen,  die  der  Hausin- 
dustrie eigentümlichen  Eigenarten  in  Kürze 
darzulegen. 

Diese  ergeben  sicli  —  zimi  Unterschiede 
von  Fabrik  und  Manufaktur  —  aus  den  sie 
von  diesen  beiden  Betriebsformen  imter- 
scheidenden  Merkmalen,  die  wir  pracisien^n 
können  als 

1.  Decentralisation  der  Arbeit;  samt 

2.  Decentralisation  der  Arbeiter. 


Hausiuclustrie 


1139 


Diese  doppelte  Decentralisation  hat  für 
den  Uaternehmer  Nachteile  und  Vor- 
teile im  Gefolge  —  immer  im  Vei'gleich 
mit  den  Formen  des  gesellschaftlichen  Gi-oss- 
betriebs. 

Die  Nachteile  liegen  vor  allem  darin, 
dass  die  Entfaltung  der  produktiven  Kräfte 
an  die  Grenzen  gebunden  ist,  wie  sie  die 
Kleinheit  der  Betriebe  mit  sich  bringen. 
Uebercdl  dort,  wo  die  Produktionstechnik 
Koncentration  in  gnisserem  Stile  erheischt: 
sei  es  zwecks  besserer  Organisation  der  Ar- 
beit, sei  es  zw^ecks  Einführung  mechanischer 
oder  chemischer  Yerfahrungsweisen,  vei-sagt 
naturgemäss  die  in  die  Sehranken  des  iso- 
lierten Arbeitsprozesses  oder  massiger  ge- 
sellschaftlicher Arbeitsorganisation  gebundene 
hausindustrielle  Betriebsform.  Einen  Nach- 
teil kann  auch  die  Schwierigkeit  der  Kon- 
trolle der  Arbeiter  bedeuten,  ebenso  die 
Notwendigkeit,  als  Form  der  Entlohnung 
stets  nur  den  Stücklohn  anwenden  zu 
können;  endlich  auch  die  nicht  sofortige 
Verfügbarkeit  des  Arbeiters,  wo  es  sich  um 
rasche  Ausfflhrung  plötzlicher  Aufträge 
handelt. 

Diesen  Nachteilen  stehen  nun  aber  fol- 
gende entschiedenen  Vorteile  gegenüber: 

1.  Die  grössere  Billigkeit  der  haus- 
indiLstriellen  Betriebsform  für  den  Unter- 
nehmer; er  spart  —  ceteris  paribus  —  so- 
wohl an  sachlichen  Ausgaben  (für  Produk- 
tionsmittel) als  an  persönlichen  Ausgal>en 
(für  die  Arbeitski-aft),  gelangt  also  zu  nied- 
rigeren Produktionskosten.  Seine  saclilichen 
Ausgaben  sind  geringer  als  die  des  Fabrik- 
\mternehmers,  weil  die  sämtlichen  Genei'al- 
nnkosten  (für  Beleuchtung,  Heizung,  Ver- 
zinsung und  Amortisation  der  Gebäude), 
meist  aber  auch  die  Kosten  der  Verzinsung 
imd  Amortisation  des  Gerätschaftcontos  gar 
nicht  oder  nur  zum  geringen  Teile  in  der 
Vergütung  der  Leistung  des  Jlausindustriellen 
ziu'  Berechnung  gelangen,  d.  h.  also  der 
Regel  nach  von  diesem  getragen  werden. 

Der  Personalaufwand  stellt  sich  aber 
deshalb  niedriger,  weil  die  Ausbeutungs- 
grenze  der  Arbeitskraft  gegenüber  hinaus- 
geschoben ist.  In  imsei-er  Zeit  fortschreiten- 
der Reaktion  gegen  die  Ausbeutung  der 
Arbeitskraft  durch  die  Gesetzgebung  ist  es 
ein  wichtiger  Vorteil  der  Hausindustrie, 
dass  sie  erst  zum  geringen  Teil  unter  die 
sogenannten  sozialpolitischen  Gesetze  fällt: 
<lie  Lasten  der  Arbeiterversiclierung  sind 
ilur  noch  keineswegs  in  vollem  Umfange 
auferlegt,  und  der  Äbeiterschutz  hat  in  den 
meisten  Ländern  noch  vor  ihr  Halt  gemacht. 
Sie  hat  also  unter  einer  Verteuerung  der 
Arlx^itskraft,  wie  sie  Beschränkung  der 
Frauen-  und  Kinderarbeit,  Sonntagsruhe, 
Maximalarbeitstag,  hygienische  Vorschrif- 
ten etc.  im  Gefolge  haben,  einstweilen  noch 


nicht  zu  leiden.  Dazu  kommt,  dass  die 
Tendenzen  zur  Lohnsteigerung  infolge  der 
Isolienmg  der  Arbeiter  schwächer  sind  als 
bei  der  Fabrikindustrie,  die  den  Kontakt  der 
Arbeiter  selbst  schafft.  Niedrige  Löhne, 
langeArbeitszeit,  starke  Heranziehung  minder- 
wertiger Arbeitskräfte  sind  Kennzeichen  fast 
jeder  Hausindustrie  und  erkläi'en  die  grössere 
Billigkeit  hausindustrieller  Arbeit. 

2.  ist  es  die  grössere  Beweglich- 
keit der  hausindustriellen  Betriebsform,  die 
sie  dem  Unternehmer  sympathisch  macht. 
Da  fast  alles  Kapital  umlaufendes  Kapital 
ist,  also  fast  gar  keine  Festlegung  be- 
deutender Kapitalteile  erfolgt,  so  gewährt 
diese  Betriebsform  dem  Unternehmer  die 
Möglichkeit,  den  Umfang  seines  Unter- 
nehmens in  kurzer  Zeit  nach  Belieben  aus- 
zudehnen oder  einzuschränken.  Der  haus- 
industrielle Unternehmer  erleidet  keinerlei 
positiven  Verlust,  wenn  er  plötzlich  seinen 
Ai'beitern  keine  Aufträge  mehr  giebt;  es 
entsteht  ihm  kein  damnum  emergens  wie 
dem  Fabrikanten,  dessen  fixe  Kapitalteile, 
wenn  nicht  produktiv  verwandt,  ihm  doch 
Verzinsungs-  imd  Amortisations-Kosten  ver- 
ursachen. Das  hausindustrielle  Kapital  be- 
sitzt annähernd  die  Versatilität  des  Handels- 
kapitals, und  das  ist  in  sehr  vielen  Industrie- 
zweigen vielleicht  derjenige  Vorteil,  der 
mehr  noch  als  die  gi^ssei-e  Billigkeit  zu 
Gunsten  der  hausind  uslriellen  Betriebsform 
den  Ausschlag  giebt.  Naturgemäss  ist  für 
den  Arbeiter  die  Situation  die  umge- 
kehrte :  w^o  dort  die  Nachteile  liegen,  liegen 
hier  die  Vorteile  und  umgekehrt. 

Vorteilhaft  ist  die  hausindustrielle 
Betriebsform  für  den  Arbeiter,  sofern  sie 
ihm  ein  grösseres  Mass  individueller  Frei- 
heit gewährt:  kein  Zwang,  in  die  Fabrik 
zu  gehen,  kein  Zwang,  sich  einer  heteronomen 
Arbeitsoixinung  zu  fügen.  Selbstverständlich 
ist  diese  Freiheit  in  sehr  vielen  Fällen  — 
überall  dort,  wo  die  Hausindustrie  alleinige 
Nahinmgs<iuelle  und  die  Entlohnung  die 
norraalniedrige  ist  —  illusorisch.  Wer  14 
oder  16  Stunden  am  Tage  arbeiten  muss, 
\un  sich  den  notdürftigen  Lebensunterhalt 
zu  schaffen,  profitiert  wenig  von  der  Frei- 
heit, zu  beliebiger  Zeit  die  Arbeit  an- 
fangen, unterbrechen  und  endigen  zu  können. 
Macht  er  zwei  Stunden  Mittagspause  statt 
einer,  so  muss  er  eine  Stunde  länger  in  die 
Nacht  liineiu  sitzen,  ebenso  -wenn  er  eine 
Stimde  später  als  der  Fabrikarbeiter  auf- 
steht. Der  Kern  der  Ai'beitsfreiheit  des 
Hausindustriellen  liegt  somit  in  der  Ermög- 
lichung der  Na(;htarbeit  Was  allerdings 
seinen  Reiz  liaben  kann,  wie  wir  von  der 
Schi-eiberaunft  bestätigen  werden.  Dass  der 
oder  die  Hausindustriellen  ihi-em  Haushalt 
pers()nlich  vorstehen,  sich  selb.st  kochen, 
die  Kinder  beaufsichtigen  können,  darf  eben- 

72* 


1140 


Hausindustrie 


falls  auf  das  Gewin  nconto  des  Heimarbeiters 
gesetzt  werden.  Damit  dürften  jedoch  die 
Vorteile  dieser  Betriebsform  für  den  Ar- 
beiter erschöpft  sein.  Alles  übrige  mündet 
in  Nachteile  aus:  die  niedrigen  Löhne, 
die  schon  an  sich  karg  bemessen,  durch  den 
Zeitverlust,  den  das  Abholen  der  Rohstoffe 
und  das  Zurückbringen  der  Ware  meist  un- 
vermeidUch  mit  sich  bringen,  noch  weiter 
verringert  werden;  die  lange  Arbeitszeit; 
vor  aDem  aber:  die  schwankende  Arbeits- 
zeit, dieser  häufige  Wechsel  zwischen  ünter- 
und  üeberarbeit  und  last  not  least  die  ver- 
mehrte Existenzimsicherheit  infolge  der  ge- 
schilderten Yersatilität  der  hausindustriellen 
Betriebsform:  das  sind  die  Geissein,  deren 
Schläge  auf  den  Rücken  des  hausindustrieUen 
Arbeiters  niedersausen. 

Was  aber  vor  allem  vom  Standpunkt 
der  Arbeiterklasse  als  solcher  aus  als  ein 
furchtbarer  Nachteil  der  hausindustriellen 
Betriebsform  erscheinen  muss,  ist  der  Um- 
stand, dass  sie  ein  Hindernis  für  die  Fabrik- 
arbeiter ist,  auf  dem  Wege  solidarischen 
Vorgehens  Verbesserungen  in  ihren  Arbeits- 
bedingungen zu  erzielen.  Die  Heimarbeiter 
sind  nur  schwer  zu  organisieren  und  werden 
vom  Unternehmer  zu  jeder  Zeit  begreiflicher- 
weise gegen  die  unzufriedenen  organisierten 
Arbeiter  ausgespielt.  Wie  unter  dem  Druck 
fortschreitendengesetzlichenArbeiterschutzes, 
so  vermag  der  Unternehmer  auch  unter 
dem  Drucke  fordernder  Arbeiterorganisationen 
in  die  Sphäre  der  Hausindustrie  zu  ent- 
weichen, wo  noch  nichts  den  Frieden  seiner 
Seele  stört  und  er  auf  jederzeit  willige, 
fügsame  und  ergebene  Arbeitermassen 
stösst. 

Ueber  die  Existenz  einer  sozialen  In- 
stitution entscheidet  in  unserer  Volkswirt- 
schaft nun  aber  nicht  zum  mindesten  das 
Interesse  des  Arbeiters,  sondern  allein  das 
Interesse  des  kapitalistischen  Unternehmers. 
Wollen  wir  daher  die  Existenzbedin- 
gungen der  hausindustriellen  Be- 
triebs form  feststellen,  so  dürfen  wir  uns 
nur  die  Vorteile  und  Nachteile  vergegen- 
wärtigen, die  sie  für  den  Unternehmer  auf- 
weist, um  folgende  allgemeine  Bedingungen 
für  ihre  Existenz   formulieren   zu  können: 

l.Ein  verhältnismässig  niedriger 
Stand  der  Produktionstechnik.  Ist 
letztere  an  einem  gewissen  Punkte  der 
Entwickelung  angelangt,  so  vermag  alle 
Ausbeutung  der  menschlichen  Arbeitskraft 
in  der  Hausindustrie  nicht  mehr  den  Vor- 
sprimg  einzuholen,  den  eine  teurer,  aber  pro- 
duktiver im  gesellschaftlichen  Betriebe  be- 
schäftigte Arbeitskraft,  gegenüber  dem  Heim- 
arbeiter, der  auf  der  individuellen  Technik 
verhan't,  besitzt:  ein  hausindustrieller 
Spinner  ist  heute  ein  Unding;  ein  haus- 
industrieller Weber  hält  sich  gerade  noch 


durch  die  äusserste  Anspruchslosigkeit  über 
Wasser;  ein  hausinduslrieller  Schneider 
ist  nur  wenig  benachteiligt  gegenüber  einem 
Fabrikschneider.  Es  ist  augensichtlich.  dass, 
ceteris  paribus  wiederum,  die  Lage  der  Ar- 
beiter in  der  Hausindustrie  um  so  elender 
zu  sein  tendiert,  je  höher  in  einem  Industrie- 
zweig die  Produktionstechnik  entwickelt  ist. 
Offenbar  ist  nun  die  verhältnismässige  In- 
differenz, der  Produktionstechnik  notwendige 
Bedingung,  um  überhaupt  die  Existenz  der 
hausindustriellen  Betriebsform  zu  ermög- 
lichen. Ist  diese  Bedingung  erfüllt,  so 
sind  es  folgende  Momente,  die  zu  ihrer  Be- 
vorzugung den  Anreiz  geben: 

2.  Das  Vorhandensein  zu  decen- 
tralisierter  Arbeit  geeigneter  und 
geneigter  Arbeitskräfte.  Diese  Vor- 
aussetzung wird  vor  allem  dort  erfüllt  sein, 
wo  zalilreiche  Personen  sich  finden,  die 
durch  Standesvorurteil  oder  äusseren  öko- 
nomischen Zwang  oder  sonst  welche  Um- 
stände^) an  die  Schwelle  ihres  Hauses  ge- 
bunden sind.  Ersteres  trifft  zu  für  de- 
klassierte Handwerksmeister,  für  Frauen 
und  Mädchen  besserer  Stände  in  den 
Städten;  der  zweite  Grund  ist  bestimmend 
für  Hausfrauen  imd  Mütter,  für  bäuerliche 
Stellenbesitzer  u.  dergl. 

Kommt  nun  noch 

3.  der  Saisoncharakter  eines  Ge- 
werbes zu  allem  übrigen  hinzu,  so  ist  eine 
für  die  Existenz  der  hausindustriellen  Be- 
triebsfoiTO  ideale  Situation  geschaffen. 

2.  Naancen  in  der  Entstehung  der  H. 
Hier  ist  keine  Wirtschaftsgeschichte  zu 
schreiben,  sondern  nur  ein  Hinweis  zu  lie- 
fern auf  die  besonders  charakteristischen 
Umstände,  unter  denen  die  Hausinduötrie 
jeweils  in  das  geschichtliche  Leben  einzu- 
treten pflegt.  Dass  dabei  als  causa  movens 
stets  (oder  doch  praktisch  so  gut  wie  immer) 
das  Verwertungsstreben  des  Kapitals  anzu- 
sehen ist,  versteht  sich  von  selbst. 

Scliaut  man  sich  die  verschiedenen  Haus- 


^)  Es  können  gelegentlich  auch  noch  andere 
Momente  die  Existenz  der  hausindustriellen  Or- 
ganisation begünstigen  als  die  beiden  im  Text 
genannten.  So  war  es  beispielsweise  die  Verschitr- 
denheit  von  Sprache  und  Kultur,  die  in  den 
Grossstädten  der  Vereinigten  Staaten  die  ein- 
gewanderten Böhmen,  Juden  etc.  besonders  ge- 
eigfnet  zu  Futter  für  die  Hausindustrie  machte. 
Die  neuen  Ankömmlinge,  die  erst,  wie  unten  zu 
zeigen  sein  wird  (vgl.  unten  S.  1157),  Veranlassung 
zur  Einführung  der  Hausindustrie  in  die  bis  dahin 
fabrikmässig  organisierte  Konfektion  waren, 
hatten  einen  Horror  vor  der  Fabrik  und  wollten 
nur  unter  Vorleuten  arbeiten,  die  ihre  Sprache 
verstanden,  ihre  religiösen  Feiertage  respek- 
tierten, den  Sabbat  heilig  hielten,  kurz  sich 
ihren  rückständigen  Sitten  und  Gebräuchen  an- 
passten. 


Hausindustrie 


1141 


indiistrieen  an,  so  könnte  man  versucht  sein, 
sie  danach  zu  unterscheiden,  ob  sie 

1.  entstanden  sind  in  Anknüpfung 
an  ein  Handwerk  annähernd  gleichen 
Inhalts  oder  nicht  dann  entweder  uüter  Ver- 
wertung hausgewerblicher  Eigenproduktion 
oder  in  Neuschaffung.  Letzteres  ist  fast 
durchgängig  der  Fall  gewesen  in  Ost-  und 
Nordeuropa  (Russland,  Balkanländer,  Ungarn, 
Skandinavien),  während  in  Westeiux)pa  beide 
Entwickelungsmodalitäten  vorkommen.  Im 
Grunde  genommen  ist  jedoch  diese  Ver- 
schiedenheit der  Entstehungsweise  verhält- 
nismässig irrelevant.  Bedeutsamer  für  den 
gesamten  Verlauf  der  volkswii-tschaftlichen 
Entwickelung  ist  der  Umstand,  ob 

2.  die  Hausindustrie  im  ganzen 
auf  eine  Periode  handwerksmässi- 
ger  Gewerbeorganisation  folgt  oder 
nicht.  Ersteres  ist  für  Westeuropa,  letzteres 
für  Osteiu'opa  charakteristisch.  Die  Ge- 
schichte der  Hausindustrie  ist  die  Geschichte 
des  Kapitalismus.  Es  darf  nun  als  aner- 
kannt gelten,  dass  dieser  in  der  Form  der 
Hausindustrie  verkleidet  am  liebsten  sich 
in  ein  Wirtschaftsgebiet  einschleicht.  Es 
ergiebt  sich  dann  zunächst  eine  Art  von 
vorwiegend  hausindustrieUer  Periode  der 
Wirtscliaftsgeschichte.  So  in  Westeuropa 
in  der  Zeit  vom  Ausgange  des  Mittelaltei-s 
an  bis  zum  Eintritt  der  Manufakturen  und 
Fabriken  in  das  Wirtschaftsleben;  in  Ost- 
europa noch  während  der  vergangenen  Jalir- 
zehnte.  Dort  war  ein  halbes  Jahiiausend 
handwerksmässige  Organisation  voraufge- 
gangen und  wirkte  ein  weiteres  halbes  Jahr- 
tausend nach;  hier  wurde  der  Kapitalismus 
in  der  Form  der  Hausindustrie  zunächst 
noch  fast  rein  eigenwirtschaftlichen  Ländern 
aufgepfropft,^) 

3.  In  Westeuropa  möchte  ich  aber 
<len  entscheidenden  Nachdruck  legen  auf 
das  Alter  der  bestehenden  Hausindustrie 
und  diese  in  zwei  grosse  Kategorieen  teilen : 


^)  Diese  Auffassung  wird  für  Enssland  in 
etwas  modifiziert  durch  die  neueren  gründlichen 
Untersuchungen  Tugan  Baranowskis,  Ge- 
schieht« der  russischen  Fabrik.  Berlin  1900,  S. 
252  ff.  Danach  sind  wichtige  Zweige  der  kapi- 
talistischen Industrie  Eusslauds ,  namentlich 
auf  dem  Gebiete  der  Textilindustrie  (Baumwoll-, 
Seidenweberei  u.  ajzunächstin  geschlossenen 
Etablissements  ins  Leben  getreten,  denen  erst 
im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  in  den  Kustari 
eine  Konkurrenz  erwachsen  ist.  Es  folgt  dann 
für  Rnssland  erst  als  zweite  Etappe  seiner 
industriellen  Entwickelung  die  Periode  vor- 
wiegend hausindustrieller  Organisation,  die  erst 
in  den  letzten  Jahren  zu  verschwinden  die  Ten- 
denz hat.  Ich  glaube  aber,  dass  trotz  dieser 
Sondererscheinung  sich  die  Darstellung  im  Text 
als  allgemeine  Regel  wird  aufrecht  erhalten 
lassen. 


ältere,  vorwiegend  ländliche  und  moderne, 
vorwiegend  städtische  Hausindustrie. 

a)  Die  älteren  Hausindustrieen 
entstehen  in  den  Anfängen  der  kapitalisti- 
schen Volkswirtschaft,  in  einer  Zeit,  in  der 
der  Auflösungsprozess  der  alten  Wirtschafts- 
verfassung noch  eben  erst  beginnt,  in  einer 
grossstadüosen  Zeit,  häufig  in  Anknüpfung 
an  bäuerliche  Eigenproduktion.  Ihr  Arbeiter- 
material rekrutierte  sich  aus  der  im  lang- 
samen Verlauf  organischen  Wachstums  sidi 
ergebenden  üeberschussbevölkerung.  Wich- 
tigste Typen  dieser  älteren  Hausindustrieen : 
sämtliche  Zweige  der  Textilindustrie,  früher 
Spinnerei,  heute  noch  (im  Aussterben)  We- 
berei; die  sogenannte  Kleineisenindustrie, 
die  Fabrikation  sogenannter  »Nürnberger 
Wai"en«,  die  sich  später  zu  Kurzwaren  aus- 
wachsen,  Spielwarenindustrie,  Instrumenten- 
macherei,  ühi'enmacherei  u.  a. 

b)Die  modernen  Hausindustrieen 
entstehen  zu  einer  Zeit  schon  hochent- 
wickelter kapitalistischer  Wirtschaftsweise, 
In  einer  Zeit,  die  in  zunehmendem  Masse 
von  der  Grossstadt  beherrscht  wird,  viel- 
fach und  besonders  gern  in  Grossstädten, 
von  denen  sie  sich  dann  erst  über  Klein- 
städte und  plattes  Land  verbreiten.  Was  sie 
besonders  cliarakierisiert,  ist  die  ganz  andere 
Beschaffenheit  ihres  Arbeiterraaterials :  sie 
basieren  auf  der  infolge  des  immer  rapider 
sich  abwickelnden  Auflösungsprozesses  aller 
früheren  sozialen  Verfassimg  (Bauernwirt- 
schaft, Gutswirtschaft,  Handwerk,  Familie) 
in  grossen  Mengen  freigesetzten  und  auf 
den  Markt  geworfenen  Bevölkerungsmassen : 
deklassierter  Handwerksmeister,  bäuerliche 
Uebei-schussbevölkerung,  vor  allem  aber 
Weiber  in  den  Grossstädten:  Weiber  in 
Gestalt  berufsmässiger  Gewerbetreibender, 
Weiber  in  Form  von  Witwen  und  Ehe- 
gattinnen, die  ihre  früher  in  der  Kon- 
sumtionswirtschaft  verwandte  Arbeitskraft 
jetzt  durch  gewerbliche  Lohnarbeit  als  FüU- 
arbeit  zu  verwerten  suchen,  Weiber  in  Ge- 
stalt von  Zuschussverdienst  suchenden  Haus- 
töchtern u.  dgl.  Die  bedeutendsten  dieser 
moderneu  Hausindustrieen  sind  die  Toten- 
gräber der  letzten  grossen  Handwerke: 
Tischlerei,  Schuhmacherei,  Schneiderei. 

B.  Die  typischen  Formen  hausin- 
dnstrieller  Organisation.  In  der  Be- 
ziehung des  Verlegers  zu  der  Gesamtheit 
der  in  seinem  Dienste  thätigen  Arbeiter  so- 
wie in  der  Betriebsgestaltimg  der  hausin- 
dustriellen Arbeit  selbst  können  sich  Vari- 
ationen ergeben,  die  zur  Entstehung  ver- 
schiedener Organisationstypen  Anlass  geben. 
Wir  wollen  vor  allem  auf  den  wichtigen 
Unterschied  hinweisen,  der  zwischen  der 
Heimarbeit  im  engeren  Sinne  und  der 
Werkstattarbeit  obwaltet. 

1.    Heimarbeit    findet    überall    dort 


1142 


Hausindustrie 


statt,  wo  die  Hausindustriellen  vereinzelt  in 
ihren  Wohnungen  thätig  sind.  Ihre  Masse 
ist  hier  sozial  homogen.  Dem  kapitalisti- 
schen Unternehmer  steht  die  ungegliederte 
Schar  der  Heimarbeiter  gegentlber.  Die 
Form  des  Betriebes  ist  der  Einzelbetrieb 
oder  der  Familienbetrieb,  d.  h.  diejenige  Be- 
triebsorganisation, deren  persönliches  Sub- 
strat die  organisch  differenzierten  Arbeits- 
kräfte der  (Klein-)Familie  sind.  In  dieser 
Familienhaftigkeit  liegt  die  Begrenztheit 
dieser  Betriebsform.  Typische  Erschei- 
nungen dieser  Einzel-  oder  Familienheim- 
arbeit  sind  unter  der  älteren  Heimindustrie 
die  Spinnerei  und  Seidenweberei,  die  Spiel- 
waren Verfertigung  und  teilweise  die  Instru- 
mentenmacherei ;  unter  der  neueren  Haus- 
industrie vielfach,  die  Schuhmacherei  \md 
meist  die  Wäschekonfektion  (»Typus  der 
eirmen  Nähterin«),  An  dieser  Form  der 
Heimarbeit  braucht  zunächst  im  Principe 
noch  nichts  sich  zu  ändern,  wenn  der  haus- 
industriellen Organisation  eine  neue  Reform 
eingegliedert  i^ii'd,  wenn  nämlich  zwischen 
Unternehmer  und  Heimarbeiter  eine  Mittels- 
person, der  sogenannte  Faktor  (Ferger, 
Fercher,  Ausgeber,  facteur,  commis  de  ronde, 
fattorino,  factor,  contractor)  tritt,  dessen 
Funktion  zunächst  mu*  darin  bestellt,  die 
Aufträge  des  Verlegere,  das  zu  ilirer  Aus- 
führung notwendige  Material  unter  die 
einzelnen  Heimarbeiter  zu  verteilen  und  von 
ihnen  die  Produkte  einzutreiben,  zu  sam- 
meln etc.,  um  sie  dem  Verleger  abzuliefern. 
Derartige  Mittelspersonen  sind  meist  unver- 
meidlich, sobald  die  Anzahl  der  von  einem 
Verleger  beschäftigten  Heimai'beiter  eine 
bestimmte  Grenze  überschreitet  oder  die 
von  einem  Unternehmer  beschäftiglen  Heim- 
arbeiter über  ein  grösseres  Gebiet  verteilt 
sind. 

Es  ist  schon  ein  späteres  Stadium  der 
Entwickelung,  wenn  diese  Mittelsperson  aus 
einem  einfachen  Beauftragten  des  Verlegers 
zu  einem  selbständigen  Kontrahenten  ^vird, 
der  die  direkten  Beziehungen  zerschneidet 
und  auf  eigenes  Risiko  Aufträge  von  jenem 
übernimmt  und  an  diese  erteilt.  Dieses 
Zwischen-  oder  Stück meistersystem  bildet 
häufig  den  Uebergang  zu  der  zweiten  Form 
hausindustrieUer  Organisation:  der 

2.  Werkstattarbeit.  Die  Arbeit  ist 
aus  der  Privat  Wohnung  in  eine  Werkstatt  ver- 
legt. Das  Wesen  dieser  Organisationsform 
bestellt  darin,  dass  die  Schar  der  im  Dienste 
des  Verlegers  arbeitenden  Hausindustriellen 
sozial  differenziert  ist:  der  die  Aufträge 
empfangende  Arbeiter  —  der  Hausindustriello 
im  engeren  Sinne  —  führt  diese  nicht  melir 
allein  oder  nm-  mit  Hilfe  seiner  Familien- 
angehörigen aus.  sondern  dingt  fremde 
Personen,  die  ihm  gegen  Lohn  ihre  Arbeits- 
kraft zur  Verfügung  stellen.     Wie   er  also 


selbst  Lohnarbeiter  seinem  Verleger  gegen- 
über ist,  wird  er  Unternehmer  oder  wenig- 
stens Arbeitgeber  seinen  Hilfskräften  gegen- 
über. Dadurch  erhält  er  eine  Doppelstellung 
und  ^^elfach  zwiespaltige  Interessenrichtung. 
Betriebstechnisch  ist  diese  Organisations- 
form  derai-tig  charakterisieii,  dass  sie  die 
Schranken  der  Einzel-  oder  Familienhaftig- 
keit principieU  überschritten  hat  Im  übrigen 
lassen  sich  in  der  Werkstattarbeit  deutlich 
zwei  verechiedene  Tj-pen  unterscheiden; 
wir  wollen  sie  nicht  ganz  korrekt  der 
Einfachheit  halber  die  ältere  und  die  neuere 
nennen.  Die  ältere  Werkstattarbeit 
ist  gar  nichts  anderes  als  eine  unmittelbare 
Fortsetzung  der  alten  handwerksmässigen 
Organisation  mit  ihren  Gehilfen-  oder  er- 
weiterten Gehilfenbetrieben :  der  Meister  ist 
nur  verlegt  worden. 

Typen  dieser  hausindustriellen  Werk- 
stattorganisation sind  verschiedene  weiland 
handwerksmässig  betriebene  i  Zweige  der 
Weberei:  ehemals  die  Wollweberei,  heute 
noch  in  einigen  Resten  die  Seidenweberei 
um  Lvon  und  Krefeld,  auch  die  ältere 
Kustarhütte  gehört  hierher ;  ferner  die  Klein- 
eisenindustrie Rheinland  -  Westfalens ,  der 
Birminghamschen  Distrikte  u.  a.,  endlieh 
diverse  neuerdings  erst  in  weiterem  Um- 
fange zersetzte  Handwerke,  namentlich  die 
Tapeziererei,  die  Tischlerei,  zum  Teil  auch 
die  bessere  Massschneiderei.  Als  ein  be- 
sonders berühmtes  Beispiel  dieser  übrigens 
bald  der  Vergangenheit  angehörigen  Werk- 
stattorganisation älteren  Stils  mag  die  frülier 
allgemeine  Organisation  der  Lyoneser 
Seiden  Industrie  noch  kurz  besonders 
beschrieben  werden.  Ihr  Wesen  ist  folgen- 
des :  Ein  Verleger  (fabriquant,  entrepreneur, 
nögociant)  leitet  die  Preduktion.  Seine  Ob- 
liegenheiten bestehen  darin, 

a)  die  Seide  zu  kaufen, 

b)  die  Fabrikation  zu  überwachen, 

c)  die  Stoffe  zu  verkaufen. 

Er  unterhält  niu'  ein  Kontor  mit  kauf- 
männischem Personal,  ein  Probenzimmer  etc., 
seine  Funktionen  sind  im  wesentlichen  kauf- 
männische. Er  giebt  seine  Aufträge  einem 
hausindustriellen  Meister  (maitre, 
chef  datelier),  der  seinereeits  in  seiner 
Werkstatt  mehrere  Webstühle  aufstellt  und 
an  diesen  ouvriers,  sogenannte  Compagnons, 
arbeiten  lässt.  Das  Charakteristische  dieses 
Typus  liegt  in  der  Doppelstellung  dieses 
mattre,  welcher  einerseits  Hausindustrieller, 
andererseits  Arbeitgeber,  Meister  ist  Sozial 
ist  die  Stellung  des  maitre  in  der  Lyoner 
Seidenindustrie  eine  Zwischenstellung  zwi- 
schen padron  und  ou\Tier.  Entsprechend 
seiner  Zwischenstellung  ist  auch  sein  Ein- 
kommen ein  dopi)eltes.    Es  besteht 

1.  in  seinem  Arbeitslohn, 

2.  in  der  Miete,  welche  der  Coini>agnon 


Hausindustrie 


1143 


für  den  ihm  abgeti-etenen  Webstuhl 
bezahlt. 
Der  Compagnon  steht  zu  dem  maiti-e  ent- 
weder in  dem  Verhältnis  des  Arbeiters  zum 
Unternehmer  oder  aber  nur  des  Mieters 
zum  Vermieter.  Sein  Verdienst  besteht 
lediglich  in  seinem  Arbeitslohn.  Der  Com- 
pagnon ist  kein  Heimarbeiter  im  engeren 
Sinne,  denn  er  arbeitet  nicht  bei  sich  im 
Hanse.  Der  Lyoner  Typus  scheint  mit 
einem  relativen  Wohlstand  für  den  maitre, 
einer  sehr  gedrückten  Lage  für  den  ouvrier, 
Compagnon,  verbunden  zu  sein. 

Gänzlich  anderen  W^esens  ist  diejenige 
hausindustrielle  Werkstattarbeit,  die 
wir  als  neuere  bezeichnen.  Sie  ist  eine 
Neuschöpfung  rein  kapitalistischen  Geistes. 
Ihre  Entstehung  knüpft  meist  an  die  Existenz 
eines  Mittlers  zwischen  Verleger  und  Heim- 
arbeiter, eines  sogenannten  Zwischenmeisters 
an.  Sie  tritt  in  die  Erscheinung,  wenn 
dieser  die  früher  nur  mit  Aufträgen  in  ihrer 
Wohnung  versehenen  Arbeiter  in  einer  von 
ihm  eigens  dazu  hergerichteten  Werkstatt 
vereinigt  und  nun  als  »Zwischenimternehraer« 
die  Aufträge  des  Verlegers  mit  eigenen 
Gewinn-  und  Verlustchancen  ausführt.  Die 
Organisation  dieser  Werkstattarbeit  ist  also 
erst  zu  vollbringen.  Sie  erfolgt  imter  einem 
ganz  bestimmten  Zweckgedanken:  sie  ist 
also  in  ihrem  Wesen  rationalistisch.  Die 
Betriebsgestaltung  lässt  das  erkennen.  An 
Stelle  des  erweiterten  Geliilfenbetriebes,  wie 
ihn  die  ältere  Werkstattarbeit  allein  kannte, 
tritt  hier  der  gesellschaftliche  Betrieb  im 
kleinen.  1)  Haben  wir  in  der  Werkstattar- 
beit alten  Stils  Reste  einer  vergangenen 
Gewerbeverfassung  zu  erblicken,  so  sehen 
wir  in  dieser  modernen  Werkstattorgani- 
sation Ansätze  zu  höheren  Formen  des 
Gewerbebetriebes. 

Ihre  klassische  Ausbildung  hat  die  mo- 
derne Werkstattorganisation  in  der  Kon- 
fektionsindustrie gefunden.  Zuerst  in 
England,  das  naturgemäss  jjuf  die  älteste 
Entwickelung  auch  auf  diesem  Gebiete  des 
Wirtschaftslebens  ziu*ückblickt.  Wie  in  Eng- 
land hat  sich  dann  in  allen  Kulturstaaten 
eine  vollständig  konforme  Organisation 
herausgebildet.  Wenn  wir  im  folgenden 
eine  eingehendere  Beschreibung  des  soge- 
nannten >Sweating  Systems«  geben,  so  wird 
damit  also  das  moderne  Werkstattsystem, 
wenigstens  in  der  Konfektionsbranche  über- 
haupt charakterisiert.  Es  entsprach  unserer 
Kenntnis  von  den  Dingen,  wenn  ich  im 
Jahre  1891  schrieb:  »Das  Sweating  system 
beschränkt  sich  nicht  auf  England  allein, 
überall  in  den  grossen  Städten  Westeim)pas 


^)  Wegen  der  Terminologie  vgl.  meine  Auf- 
sätze über  die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre 
Organisation  in  Brauns  Archiv  Bd.  XIV. 


finden  sich  einige  Formen  dieser  Hausin- 
dustrie, und  es  scheint,  als  ob  der  Typus 
des  Sweating  system  bestimmt  sei,  die  bis 
ziu*  Gegenwart  liandwerkraässig  betriebenen 
Bekleidungsindustrieen  zum  fabrik-  oder 
manufakturmässigen  System  überzuführen.« 
Heute  wissen  wir,  wie  gesagt,  dass  die  Or- 
ganisationsformen der  Konfektionsindustrie 
thatsächlich  überall  konform  sind.  Uebrigens 
mag  zur  Erläuterung  voraufgeschickt  wer- 
den, dass  die  Bezeichnung  »Sweating  Sys- 
tem«, also  »Schwitzsystem«,  eine  unkorrekte 
ist.  Die  Ausbeutung  der  Arbeitskraft  ist 
keineswegs  nur  in  dieser  Form  »System«, 
sondern  vermag  proteushaft  ihre  Gestalt  zu 
wechseln.  Richtiger  wäre  es  vom  hausin- 
dustriellen Werkstätten  System  zu  sprechen. 
Aber  der  sozialpolitische  Dilettantismus 
wül  auch  zu  seinem  Rechte  kommen,  und 
ihm  zu  liebe  bleibt  die  Bezeichnung  »Swea- 
ting System«  einstweilen  noch  im  Kurs.  Die 
beim  sogenannten  »Sweating  system« 
in  Frage  kommenden  Personen  sind  folgende : 
a)  der  Exporteur  (Grosshändler,  Unternehmer, 
Kapitalist),  welcher  als  der  oberste  Leiter 
der  Prodiiktion  angesehen  werden  darf.  Er 
befindet  sich  im  Besitze  der  für  die  Be- 
herrschung des  Warenmarktes  notwendigen 
Kenntnisse,  kraft  deren  er  den  Organen  der 
Produktion  die  Wege  weist,  unmittelbar 
von  ihm  empfängt  die  Weisung  und  Auf- 
träge b)  der  sogenannte  Kontraktor,  eine  Art 
Faktor,  welcher  entweder  an  einen  anderen 
Mittelsmann  oder  aber  an  die  Arbeiterschaft 
selbst  die  Aufträge  weiter  giebt  und  von 
dieser  die  fertigen  Produkte  einholt.  Die 
Ausführung  der  Aufträge  nimmt  dann  c)  der 
sogenannte  Sweater  in  die  Hand.  »Sweater 
ist  derjenige,  der  unmittelbar  Männer,  Weiber 
und  Kinder  in  Lohn  hat,  um  die  Arbeit  aus- 
zuführen und  der  hofft,  aus  deren  Schweisse 
(by  sweating)  Gewinn  herauszuschlagen.«  Die 
eigentliche  Arbeiterschaft  (d)  bilden  die  von 
dem  Sweater  meist  in  seiner  Wohnung  be- 
schäftigten Männer,  Weiber  und  Kinder.  Die 
Gewerbe,  in  denen  das  Sweating  system 
hauptsächlich  zu  Hause  ist,  sind  vornehm- 
lich die  Bekleidungsgewerbe  Schneiderei, 
Schuhmacherei  etc.  Die  neueren  englischen 
Untersuchungen  über  die  Lage  der*  in  dem 
Sweating  system  beschäftigten  Arbeiter  haben 
die  elendesten  Zustände  zu  Tage  gefördert. 
Die  auf  die  Spitze  getriebene  Ausbeutung 
der  menschlichen  Arbeitskraft,  die  bis  zur 
Grenze  des  Menschenmöglichen  vorge- 
schrittene Aermlichkeit  und  Erbärmlichkeit 
in  der  Lage  dieser  Arbeiterschaft  darf  als 
das  eigentliche  Charakteristikum  des  Swea- 
ting System  gelten.  Der  Grund  für  die  be- 
sonders gedrückte  Lage  der  in  dem  Swea- 
ting System  thätigen  Personen  darf  in  der 
Leichtigkeit  erblickt  werden,  mit  welcher 
die  Sweaters  ihr  Geschäft  zu  betreiben  ver- 


1144 


Hausindustrie 


mögen,  in   dem   übermässigen  Angebot  von 
Arbeitskräften,   welche   namentlich   in   den 
englischen     Städten     ein     eingewandertes 
Hungerproletariat  darbietet,  in  der  Hilflosig- 
keit, in  welcher  sich  diese  unterste  Schicht 
der  Bevölkerung,  die  oft  der  Landessprache 
unkundig   ist,  befindet,  sowie  in  der  gänz- 
lichen wirtschaftlichen  und  gesellschaftlichen 
Ausbeutungsfreiheit,  welche  in  diesem  Sys- 
tem   solchen   Arbeitselementen    gegenüber 
heute  noch  besteht.     In  welcher  Weise  die 
so   überaus   zahlreichen  Schwitzhöllen,  von 
denen   einige  Strassen   in  Whitechapel  und 
im  Bezirke  S.  George  on   the  East  fast  in 
jedem  Hause  eine  besitzen,  zu  stände  kommen, 
davon  giebt  der  Bericht  J.  Bumetts  ein  an- 
schauliches  Bild.     »Den   ganzen  Vorgang« 
sagt  er,  »kann  man  am  besten  veranschau- 
lichen, wenn  man  die  Näherei  eines  kleinen 
Sweaters  betrachtet,  der   eben   beginnt,  für 
seine  eigene  Rechnung  zu  arbeiten  und  der 
aUer  Wahrscheinlichkeit  nach  früher  selbst 
Arbeiter  in  einem  ähnlichen  Geschäft  war. 
Zuerst  handelt  es   sich  um   einen  Arbeits- 
raima.    Dazu  dient  das  Zimmer,  in  dem  er 
mit  seiner  Familie  wohnt.     Er  schafft  sich 
eine   Nähmaschine   an,   was   2  Schilling  6 
Pence  pro  Woche  ausmacht,  und  damit  ist 
er  in  der  Lage,  Arbeit  entweder  unmittelbar 
vom  Kleiderhändler   oder  von   einem  Sub- 
unternehmer zu   übernehmen.     Als  Sicher- 
heitsleistung genügt  in  der  Regel  die  Bürg- 
schaft eines  Namens,  der  dem  Hauptunter- 
nehmer bekannt   ist.     Der  Sweater  erhält 
die  Stücke  bereits   zugeschnitten;   kann   er 
sie   selbst  zusammenheften,  so  thut  er  es, 
wo   nicht,  bedarf   er  eines  Hefters,   männ- 
lichen oder  weiblichen.     Weiter  braucht  er 
einen  Maschinennäher,   einen  Bügler,    zwei 
oder  drei  Frauen,  imi  Knopflöcher  zu  nähen, 
Geschäftsgänge  zu  machen  etc.    Der  kleine 
Sweater,  der  alle  notwendigen  Verrichtungen 
seiner  Näherei  nur  mit  einem  Arbeiter  be- 
setzt hat,  arbeitet   eben   so  hart,  vielleicht 
härter,  als   irgend   eine  von   ihm   bezahlte 
Hand,  —  manchmal  ist  er  auch  sein  eigener 
Bügler.     In  den  kleinereu  Geschäften  sitzt 
der  Sweater  mitten   unter   seinen   Leuten, 
und  die  Beziehungen   zu  diesen   sind  dann 
in  der  Regel  freundliche.    Die  Prinzen  des 
Sweating  system  aber,  die  40 — 50  Personen 
beschäftigen,  sind  nicht  mehr  genötigt  mit- 
zuarbeiten und  nehmen  es  leicht.    Sie  haben 
in  der  Regel  unausgesetzt  Beschäftigung  für 
ihre  Leute,  erhalten  gute  Preise,  wissen  sich 
bilhge    Arbeitskräfte    zu    verschaffen    und 
machen  grosse  Gewinne.«    Wie  im  Lyoner 
Typus  der  maitre   ist   im  Sweating  system 
der  Sweater  der  Hausindustrielle  im  engeren 
Sinne.    Wie  der  maitre  nimmt  auch  er  eine 
ZwittersteUung   zwischen  hausindustrieUem 
Arbeiter  und  Unternehmer  ein.    Der  kleine 


Sweater  ist  mehr  Arbeiter,  der  grosse  mehr 
Unternehmer. 


n.  Die  Hansindnstrie  in  den  einzelnen 

Landern. 

4.  Deutschland.  Bei  der  Beantwortung 
der  Frage  nach  der  räumlichen  Verbreitung 
und  zeitlichen  Entwickelung  der  hausindu- 
striellen Beti'iebsform  gebührt  Deutschland 
die  erste  Stelle  nicht  nur  deshalb,  weil  seine 
Zustände  den  Leser  dieses  Handwörterbuchs 
zunächst  und  vor  allem  interessieren,  son- 
dern eben  so  sehr  darum,  weil  Deutschland 
zur  Zeit  noch  das  einzige  Land  ist,  welches 
die  Hausindustrie  in  grossem  Massstabe 
statistisch  zu  erfassen  unternommen 
hat.  Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  vom 
5.  Juni  1882  hat  das  hervorragende  Ver- 
dienst, die  Hausindustrie  zwar  nicht  erst- 
malig überhaupt,  aber  doch  erstmalig  in 
systematisch  erschöpfender  Weise  gesondert 
von  Handwerk  und  Fabrikbetrieben  in  den 
Bereich  ihrer  Ermittelungen  gezogen  zu 
haben  und  zwar  auf  doppeltem  Wege.  Ein- 
mal wurde  in  der  Berufszählung  bei  der 
Frage  nach  dem  von  der  befragten  Pei'son 
ausgeübten  Berufe  eine  besondere  Beschäf- 
tigungskategorie »Arbeit  zu  Hause  für  fremde 
Rechnung«  in  dem  Antwortschema  vorge- 
sehen. Sodann  verlangte  die  mit  der  Be- 
rufszählung verbundene  Gewerbezälilung 
von  dem  Unternehmer  Angabe  darüber,  ob 
bezw.  wie  viele  HausindustrieUe  er  beschäf- 
tigte, sowie  vom  Arbeiter  Auskunft,  ob  er 
für  ein  fremdes  Geschäft,  einen  Verleger  etc. 
arbeite.  Dadurch  mm,  dass  die  Berufs-  und 
Gewerbezählung  vom  15.  Juni  1895  die 
gleiche  Fragestellung  wie  die  von  1882  bei- 
behielt, gewährt  zudem  der  Vergleich  der 
Ziffern  von  1882  und  1895  wenigstens  in 
grossen  Zügen  ein  zuverlässiges  Bild  von 
dem  Entwickelimgsgange,  den  die  Hausin- 
dustrie in  diesem  Zeiträume  genommen  hat, 
ein  Bild,  wie  eis  ebenfalls  kein  anderes  Land 
als  Deutscliland  in  gleicher  Klarheit  zu 
bieten  vermag. 

Fassen  wir  die  Gesamtzalü  der  hausin- 
dustriellen Betriebe  oder  der  hausiudustriell 
beschäftigten  Personen  ins  Auge,  so  ergiebt 
sich  übereinstimmend  nach  allen  drei  Zähl- 
methoden eine  Abnahme  während  des 
Zeitraums  von  1882 — 1895.  Es  wurden 
nämlich  gezählt  hausindustrielle  Be- 
triebe nach  der  Gewerl)ezählung  und  nach 
den  Angaben  der  Arbeiter 


1882 
1895 


386416 
342  835 


Die  Zahl    der   Imusindustriell   orwerbs- 
thätigen  Personen  betrug 


Hausindustrie 


1145 


nach  den 

Angaben  der 

Berufs- 

zUhlung 


nach  den  An- 
gaben der 
Arbeiter  bei 
der  Gewerbe- 
zählnng 


nach  den  An- 
gaben d.  Un- 
ternehmer bei 
der  Gewerbe- 
zählnng 


1882 


Nicht 
ermittelt. 

damnter 

Selbständige 

339644 


476  080 


544  980 


i     342  622 

I895I     darunter 
,  Selbständige 
I      287  389 


freilich  zunächst  gänzlich  nichtssagend,  so- 
lange wir  nicht  festgestellt  haben,  ob  sie 
sich  etwa  auf  alle  Gewerbezweige  gleich- 
massig  erstreckt,  oder  nur  einzelne  betrifft, 
während  andere  vielleicht  sogar  eine  Ver- 
mehrung aufweisen.  In  der  That  ist  letzteres 
der  Fall. 

Schon  wenn  wir  die  grossen  Gewerbe- 
gruppen gesondert  betrachten,  ergiebt  sich 
eine  ganz  verschiedene  Ent Wickelung  in  den 
verschiedenen  Gruppen.  Es  wurden  näm- 
lich in  den  hausindustrielleii  Hauptbetrieben 
beschäftigte  Personen  gezählt  in 


460  08: 


490711 


Nur  die  Zahl  der  Unternehmungen, 
welche  Hausindustrielle  beschäftigen,  weist 
nach  Angabe derünternehmer bei  derGewerbe- 
zählung  eine  Vermehnmg  auf,  sofern  solche 
Unternehmungen  gezählt  wurden: 


1882 
1895 


19209 
22307 


Selbstverständlich  sind  alle  diese  Ziffern 
gleich  falsch,  wahrscheinlich  auch  die  höchste 
noch  zu  niedrig.  Aber  sie  sind  infolge  der 
gleichgebliebenen  Erhebungsmethode  dafür 
beweiskräftig,  1.  dass  ungefähr  ^.2  Million 
3Ienschen  in  Deutschland  der  Hausindus- 
trie im  engeren  Sinne  aufhören  (die 
Zahl  der  von  kapitalistischen  l  nternehmern 
abhängigen,  bei  sich  zu  Hause  arbeitenden 
Personen  ist  sicher  um  ein  ganz  Beträcht- 
liches grösser)  imd  2.  dass  sich  diese  Ziffer 
in  dem  Zeitraum  von  1882 — 1895  vermin- 
dert hat. 

Was  diese  Verminderung  anbetiifft,  so 
ist  sie,  in  dieser  Allgemein  ziff er  betrachtet. 


Gewerbegruppe : 

1882 

189Ö 

IV.  Steine  und  Erden.    .    . 

3  170 

4612 

V.  Metallverarbeitung    .    . 

16930 

20  1 56 

VI.  Maschinen,  Instrumente  . 

4489 

9085 

VII.  Chemische  Industrie  .    . 

171 

305 

VIII.  Leuchtstoffe,  Seifen  etc. 

56 

88 

IX.  Textilindustrie .... 

285  102 

197095 

X.  Papierindustrie.    .    .    . 
XI.  Leder-Industrie     .    .    . 

3  473 

5909 

1820 

5036 

Xn.  Holz-  und  Scbnitzstoffe 

19  III 

37  443 

XIII.  Nahrungs-  etc.  Mittel    . 

8346 

15833 

XIV.  Bekleidung,  Beinigung . 

131  861 

159645 

XV.  Baugewerbe 

19 

765 

XVI.  Polygraphische  Gewerbe 

739 

2144 

XVII.  Künstlerische  Gewerbe 

785 

1736 

Also  Zunahme  in  allen  Giiippen  ausser 
in  Gruppe  IX  (Textilindustrie).  Was  unter 
Berechnung  des  Verhältnisses  der  in  haus- 
industriellen Betrieben  beschäftigten  Per- 
sonen zu  der  in  den  betreffenden  Gewerbe- 
grupi)en  überhaupt  thätigeii  Persouen  und 
unter  Berücksichtigung  der  Wichtigkeit,  den 
die  hausindustrielle  Betriebsform  für  die 
einzelnen  Gewerbegrupi^en  hat,  folgendes 
Bild  erzielt.    Es  waren  hausindustriell 


unter  je  100 


in  Gewerbegmppe 


Betrieben 
1882       ;      1895 


Personen 
1882  1895 


1.  Textilindustrie 

2.  Bekleidung  und  Reinigung     .    .    .    . 

3.  Papierindustrie 

4.  Verarbeitimg  von  Metall,  exkl.  Eisen 
Holz-  und  SchnitzstofTe 


o. 

6.  Eisen  Verarbeitung 

7.  Künstlerische  Gewerbe 

8.  Industrie  der  Steine  und  Erden.    .    . 

9.  Polygraphische  Gewerbe 

10.  Mascninen,  Instrumente,  Apparate  .    . 

11.  Leder,  Wachstuch  und  Gummiindustrie 

12.  Nahrungs-  und  Genussmittel  .... 


57,9 
11,6 

10,5 

10,5 
5,4 
5,1 
4,5 
4,2 
3.6 
2,7 

2,3 
2,2 


65,4 
13,1 
14,5 
10,7 
8,9 

8,0 

4,3 
4,2 
5,6 
5,3 
3,2 


31.3 

iOi5 

3,5 

3,8 

4,1 
3,7 
5,1 
0,9 
1,1 
1,3 

«,2 

1,1 


19,8 

",5 
3,9 
3,0 
6.3 
3,1 
8,7 
0,8 

1,7 
1,6 
3,1 

1,5 


Textilindustrie  und  Bekleidungs-  und 
Reinigungsgewerbe  bewahren  nach  dieser 
Tabelle   —   wenigstens  was   die  Zahl   der 


hausindustriellen  Personen  angeht  —  aller- 
dings ihre  Präponderanz  gegenüber  den 
anderen  Gewerbegruppen,  ihre  Entwickelung 


114t) 


Hausindustrie 


aber  verläuft  auch  in  den  Yerhältniszahlen 
in  entgegengesetzter  Richtung,  während 
auch  in  dieser  Zusammenstellung  fast  alle 
Oewerbegruppen  ausser  der  Textilindustrie 
zunehmende  hausindustrielle  Betriebsforra 
aufweisen. 

Jedoch  ist  auch  diese  Specialisierung  der 
Gewerbe  nach  Gruppen  noch  nicht  genü- 
gend, um  ein  wirklich  deutliches  Bild,  sowohl 


von  der  heute  noch  vorhandenen  Bedeutung 
der  Hausindustrie  für  die  einzelnen  Ge- 
w^erbe,  als  auch  vor  allem  von  dem  Ent- 
wickeiungsgange  dieser  Betriebsfonn  in  den 
verschiedenen  Sphären  des  gewerblichen 
Lebens  sich  zu  machen.  Dazu  wird  es 
nötig,  die  Specialisienmg  mindestens  bis 
zu  den  einzelnen  Gewerbearten  zu  tnn- 
ben.    Alsdann  ergiebt  sich  folgende  Tabelle. 


Gewerbearteu  mit  mehr  als  1000  hausindustriellen  Betrieben  im  Jahre  1895. 


Gewerbearten 


7^1 ,       I  Zahl  der  in 
der        '*^-  Hauütbetr. 
Betriebe  ^"'^ZlT 


Seit  1882  haben  ZU  (+1 
oder  abgenommen  ( — i 


Betriebe  I  Personen 


Grobschmiede 

Schlosser     

Zeugschmiede,  Scheerenschleifer,  Feilenhauer 

Stellmacher 

Musikinstrumente 

Seiden-  und  Shoddy-Spiuuerei 

Baumwollen-Spinnerei 

Seidenweberei 

Wollenweberei 

Leinenweberei 

Baum  wollen  Weberei 

Weberei  von  gemischten  Waren 

Gummi-  und  Haariiecht^rei 

Strickerei  und  Wirkerei 

Häkelei  und  Stickerei 

Spitzen  verfertiffung  und  Weisszeugs  tickerei . 

Posamenten-Fabrikation 

Sattlerei,  einschl.  Spielwaren  aus  Leder  .  . 
Verfertigung  von  ffroben  Holzwaren  .  .  . 
Tischlerei  und  Parkettfabrikation     .... 

Korbmacherei 

Strohhut-F.  und  Flechterei  von  Stroh  .    .    . 

Dreh-  und  Schnitzwaren 

Tabak-Fabrikation 

Näherinnen  (auch  in  der  Puppenausstattung) 

Schneiderei 

Konfektion 

Putzm acherei,  künstliche  Blumen     .... 

Handschuhmacher,  Kravatten-F 

Verfertigung  von  Korsets 

Schuhmacherei 

Wäscherei 


I  402 
I  162 
4496 

1  005 

2  727 

1  242 

1432 
15428 
19767 
24572 
27564 
12667 

2  £63 

23957 
5894 

9382 

13734 
2017 

2013 

5589 
5586 

2233 

3531 
9730 
35731 
42583 
5732 
2964 

5  154 

1403 

21  693 

3648 


2655 
3060 

7  774 

1541 
3686 

1858 

1  298 
18905 
27  871 
26378 
33206 

17317 

1341 
27  760 

5901 

14372 
12560 

3148 

2  i!;9 

13583 

8379 
2  141 

6744 

15343 
38456 
70034 

6937 
3178 

5429 
I  226 

26539 
4930 


+ 

+ 
+ 


1394 

1  126 

2006 

986 

83 


13 


2037  — 


+ 
+ 

+ 
+ 


4067 
20000 

645 
10660 

18859 
5811 
I  712 
7  026 
1251 
2091 

73 
I  041 

530 

3  934 

3903 

4185 

I  805 
+  3400 

i—  12  391 

+  17268 

1+  382 

!+  376 

—      4087 
122 
7099 

-h    1353 


+ 


+ 


+ 

+ 
+ 
+ 
+ 

+ 


+ 


+ 


+ 
+ 
+ 

+ 
+ 

+ 
+ 


+ 
+ 


2638 
2903 
4044 
1519 

1955 
2922 

3645 
343S1 

4072 
14667 
19089 

4  8q^ 

889 

12768 

549 
5560 

2098 

1673 

634 
9338 
6007 

2836 
3526 

6949 
u  502 
30106 

88; 

96 

3655 

214 

776;; 

2388 


Gesamtziffer  für  die  Hausindustrie  überhaupt  .   |    342  767  459  852      [  —  43  744  |  —  16  223 


Stellen  wir  aus  dieser  Tabelle  je  dieje- 
nigen Gewerbearten  zusammen,  die  eine  Zu- 
nahme bezw.  Abnahme  aufweisen,  so  ergeben 
sich  folgende  beiden  Reihen  der  Tabelle  auf 
S.  1147. 

Was  lehren  uns  diese  Ziffernreihen? 

Zunächst  —  was  freilich  hier  nur  im 
Vorbeigehen  erwähnt  werden  mag,  weil  es 
nicht  eigentlich  etwas  mit  den  Gestaltungs- 
tendenzen der  Hausindustrie  zu  thun  hat  — 
welche  ungeheuere  Revolution  sich  noch 
immer  in  unserer  Wirtschaftsverfassung  voll- 
zieht; dass  die  Repulsion  und  Attraktion 
wenigstens  der  einzelnen  Organisationsformen 
noch  ganz  riesige  Pendelschwingungen  auf- 


weisen: man  ermesse,  welche  Masse  von 
Friktionen,  von  menschlichem  Bangen  und 
Hoffen  diese  einzigen  beiden  Ziffern  in  sieh 
bergen :  117  049  entlassene  und  88  883  neu  an- 
genommene HausindustrieUe  im  Verlaufe  von 
13  Jahren:  d.  h.  jedes  Jalir  die  erneute 
Existenzrevolutionierung  von  etwa  15 (XX^ 
Erwerbsthätigen,  also  vielleicht  50  000  Men- 
schen im  Deutsclien  Reich  —  allein  in  der 
Sphäi-e  der  Hausindustrie.  Aber  wie  gesagt 
—  das  gehört  nicht  eigentlich  hierher. 

Für  die  engeren  Zwecke  dieser  Darstel- 
lung ergiebt  sich  aus  einer  eingehenden 
Betrachtung  unserer  Ziffern  folgendes: 
dass  auf  der  Verlustseite  fast   ausscJiliesi?- 


Ilausiiulustrie 


1147 


Gewerbearten  mit  Venninderungstendenz 


Seit  1882  haben 
abgenommen 


Gewerbearten 


Betriebe  1  Personen- 
um      \  zahl  um 


Gewerbearten  mit  Yermehrungstendenz 


Seit  1882  haben 
zugenommen 


Gewerbearten 


Betriebe 
um 


Personen- 
zahl um 


Zeugschmiede ,     Scheeren- 

sohleifer,  Feilenhauer    .  2006 

Seiden-  u.  Shoddyspinnerei  2  037 

Baumwollspinnerei   .    .    . ,  4  067 

Seidenweberei ,20  000 

Leinen  Weberei 10660 

Baumwollenweberei .  .  .!  18859 
Weberei    von    gemischten  I 

Waren !  5  811 

Stickerei  und  Wirkerei     . '  7  026 

Häkelei  und  Stickerei  .    .  i  i  251 

Posamentenfabrikation  .  .  I  73 
Strohhutfabrikation      und  1 

Flechterei  von  Stroh  .  j  4  185 
Näherinnen   (auch   in   der 

Puppenausstattung)  .  .'  12  391 
Handschuhmacherei,    £ra- 

vatten-F '  4  087 


4044 
2  922 

3645 
34381 
14667 
19089 

4895 
12768 

549 
2098 

2836 

II  502 

3653 


92453     I   117  049 


lieh  die  von  uns  als  ältere  bezeichneten 
Hausinclustrieen ,  auf  der  Gewinnseite  da- 
gegen fast  dm-chgängig  moderne  Haus- 
inclustrieen  verzeichnet  stehen.  Die  Statis- 
tik kommt  also  der  auf  anderem  Wege  ge- 
wonnenen Erkenntnis  zu  Hilfe:  dass  sich 
in  unsei'er  Zeit  in  der  Sphäre  der  Haus- 
industrie eine  Art  von  Emeuerungsprozess 
vollzieht,  an  die  Stolle  absterbender  Haus- 
industrieen  fast  gleich  stark  besetzte  neu 
aufkommende  Hausindustrieen  treten.  Unter 
den  rasch  verschwindenden  Hausindustrieen 
finden  wir  nun  aber  präponderant  die  T  e  x  - 
tilindustie,  also,  da  die  Spinnerei  schon 
längst  als  Hausindustrie  ausgestorben  war 
(schon  1882  hat  es  keinen  Handspinner  mehr 
gegeben,  trotz  Statistik,  in  der  die  hausindus- 
triellen Spuler  etc.  irrtümlich  als  Spinner  im 
engeren  Sinne  aufgefasst  worden  sind),  in 
erster  Reihe  die  Weberei,  deren  Arbeiterzahl 
in  der  Sphäre  der  Hausindustiie  sich  um 
nicht  weniger  als  83  032  Personen  vermindert 
hat,  ferner  die  Strickerei  und  Wirkerei.  Die 
Sozialphantasten,  die  sich  besondei-s  gern 
um  diese  Ueberreste  einer  romantisch  ver- 
schönten Wirtschaftsperiode  in  Theorie  und 
Praxis  gleich  bemüht  haben,  sollten  nun  an- 
gesichts dieser  Ziffern  der  Statistik  endlich 
wenigstens  sich  zur  Wahl  eines  etwas  weni- 
ger im  Verfall  begriffenen  Pflegeobjektes  in 
der  Sphäre  lilckständiger  Organisationsformen 
entscliliessen.     Von    besonderem    Interesse 


Grobschmiede 

Schlosser 

Stellmacher 

Musikinstrumente     .    .    . 

Wollen  Weberei 

Gummi-  u.   Haarflechterei 

Spitzen  Verfertigung  und 
Weisszeugstickerei    .    . 

Sattlerei,  einschl.  Spiel- 
waren aus  Loden .    .    . 

Verfertigung  grober  Holz- 
waren   

Tischlerei-  u.  Parkettfabr. 

Korbmacherei 

Dreh-  und  Schnitzwaren  . 

Tabakfabrikation .... 

Schneiderei 

Konfektion 

Putzmacherei 

Schuhmacherei     .    .    .    . 

Wäscherei 


I  394 
I  126 

986 

1383 
645 

I  712 
2091 
I  041 


2638 
2903 
I  519 

1955 
4072 

889 
5560 
1673 


530 

634 

3  934 

9338 

3903 

6007 

1805 

3526 

3400 

6949 

17268 

30  106 

382 

88«; 

376 

96 

7099 

7765 

1353 

2388 

50  228     I     88  883 


ist  die  Ziffer  der  Seidenweberei.  Wäh- 
rend nämlich  in  den  anderen  Zweigen  der 
Weberei  der  Üebergang  zum  geschlossenen 
Fabrikbetrieb  sich  schon  lange  zu  vollziehen 
begonnen  hatte,  schien  es,  als  ob  die  Seiden- 
weberei dem  Ansturm  der  Fabrikorgauisation 
trotzen  würde.  Der  Hinweis  auf  die  Schweiz, 
Italien  u.  a.  ().,  wo  die  fabrikmässige  Seiden- 
weberei bereits  in  weitem  Umfange  existierte, 
wurde  stets  mit  dem  Bemerken  erledigt, 
dass  die  Verhältnisse  in  den  deutschen 
(ebenso  übrigens  auch  Lyoneser)  Distrikten 
viel  zu  eigenartige  seien ,  um  den  gleichen 
Entwickeln ngsgang  wie  etwa  die  Schweizer 
zu  nehmen.  Nun  hat  sich  der  ürawand- 
lungsproze^s  der  Seidenweberei  auch  in 
Deutschland  vollzogen,  rascher  und  radikaler, 
als  man  anzunehmen  berechtigt  war.  Merk- 
würdig, wie  schnell  die  Toten  reiten. 

Die  auffallende  Verminderung  der  haus- 
iudustriellen  »Näherei  (auch  in  der  Puppen- 
ausstattung)«, also  eines  doch  vorwiegend 
modenien  Hausindustriezweiges,  des  einzigen 
auf  dieser  Seite,  lässt  sich  auf  verschiedene 
Weise  erklären.  Dass  sie  in  einer  tliatsäch- 
lich  vollzogenen  Koncentration  der  weiland 
Heimarbeiterinnen  in  geschlossenen  Puppen- 
und  Wäschefabriken  ihren  Grund  hätte, 
glaube  ich  nicht.  Weder  die  Erfahrung 
noch  die  Statistik  lassen  diesen  Sclüuss  zu. 
Nach  letzterer  sind  die  grösseren  Betriebe, 
von    denen    man  annehmen  darf,  dass  sie 


1148 


Hausindusüie 


der  Sphäre  der  Hausindustrie  entrückt  sind 
—  sagen  wir  auch  nur  über  10  Personen  — 
niu-  unbeträchtlich  von  1882 — 1895  gewach- 
sen.   Sie  umfassten: 

1882  I  916  Personen 
1895  2  763 

In  ihnen  sind  also  offensichtlich  die  11000 
hausindustriellen  Nälierinnen  nur  zum  ganz 
geringen  Teil  verach wunden.  Möglich  nun, 
dass  die  Verminderung  der  Ziffer  nur  eine 
scheinbare  ist,  sofern  etwa  die  hier  verloren 
gegangenen  Mädchen  an  einer  anderen  Stelle 
der  Statistik  als  gerettet  eracheinen  (etwa 
in  der  Schneiderei).  Wahrscheinlich  aber 
ist,  dass,  da  die  hausindustrielle  Näherei  in 
unserem  Zeitraum  offenbar  eine  starke 
Hinneigung  zum  Werkstättenbetrieb  gezeigt 
hat,  1895  die  mittlerweile  zu  Werkstatt- 
liausindustriellen  umgewandelten  weiland 
Alleinnäherinnen  überhaupt  nicht. mehr  als 
Hausindustrielle  von  der  Statistik  erfasst 
sind.  Dafür  sprechen  folgende  Ziffern.  Es 
wurden  Näherinnen  gezählt  in  Betrieben 
mit .  . .  Personen : 


1882 
1895 


6551 
II  514 


2312 

9247 


793 
2456 


9656 
23247 


Das  sind  also  wohl  durchgängig  hausindustri- 
elle Werkstattbetriebe,  in  denen  insgesamt 
eine  Yermehnmg  um  annäliernd  14  000  Per- 
sonen erfolgt  ist. 

Wir  können  angesichts  dieser  Ziffern  ge- 
trost unsere  Bemerkung  aufrecht  erhalten, 
dass  eine  Abnahme  nur  die  älteren  Haus- 
industrieen  erfahren  haben.  Ebenso  aber 
lässt  sich  auch  im  Hinblick  auf  die  Gewinn- 
seite imserer  Statistik  die  Behauptung  recht- 
fertigen, dass  es  vorwiegend,  ja  wohl  aus- 
schliesslich moderne,  d.  h.  erst  neu  aufkom- 
mende oder  unlängst  entstandene  Hausindus- 
triezweige sind,  die  sich  hier  vorfinden.  Ael- 
teren  Stiles  sind  etwa  nur  die  Musikinstni- 
mentenmacherei,  die  jedoch  nur  ganz  unbe- 
deutende Veränderungen  in  ihrem  Bestände 
aufweist,  und  die  Wollweberei,  in  der 
die  Vermehrung  nicht  unbeträchtlich  ist. 
Die  Vermehnuig  der  in  dieser  beschäftigten 
Personenzahl  ist  jedoch  einer  besonderen 
Erklänmg  bedürftig.  Sie  beruht  nämlich 
offenbar*  auf  dem  Uebei'gang  von  Ijcine- 
webern  und  BaumwoUwebern  zu  der  Woll- 
weberei. Letztei*e  winl  von  den  ertrinkenden 
ha  visindustriellen  Webern  vielfach  als  ein 
Strohhalm  angesehen ,  nach  dem  sie  greifen, 
weil  ihre  Verhältnisse  thatsächlich  nicht 
ganz  so  ungünstige  sind  als  die  der  beiden 
genannten  Schwesterindustrieen.  Die  +40(M) 
hausindustriellen  Wolhveber   sind   also   um 


Himmelswillen  nicht  als  ein  Symptom  für 
die  Widerstandsfähigkeit  der  hausindustri- 
ellen Weberei,  sondern  gerade  umgekehrt 
als  ein  Wahrzeichen  für  den  Verzweiflungs- 
kampf anzusehen,  den  diese  gegen  die  un- 
aufhaltsam vordringende  Fabrik  kämpft.  Von 
besonderem  Interesse  imter  den  im  engeren 
Sinne  modernen  Hausindustrieen  sind  nun, 
wie  schon  hervorgehoben  wurde,  diejenigen 
Zweige,  die  eben  den  Uebergang  aus  dem 
Handwerk  in  die  kapitalistische  Organisation 
vollziehen.  Sie  interessieren  aus  doppeltem 
Grunde :  wegen  der  quantitativen  Bedeutung, 
die  sie  für  das  gesamte  gewerbliche  Leben 
haben,  und  wegen  der  Möglichkeit,  die  sie 
den  Studienbeflissenen  gewähren,  die  Mannig- 
faltigkeiten und  Nuancen  kennen  zu  lernen, 
in  denen  sich  die  Zersetzung  der  alten  be- 
rühmten Handwerke  bezw.  die  Neubildung  sie 
ablösenderGewerbezweige  vollzieht.  Vor  allem 
kommen  aber  hier  in  Betracht  die  Bekleidungs- 
gewerbe: Schuhmacherei  und  Schnei- 
de r  e  i  (nebst  Weisszeugstickerei  und  Kürsch- 
nerei) sowie  sodann  die  Tischlerei  (nebst 
Sattlerei  und  Tapezierei-ei  sowie  die  Dreh-  und 
Schnittwarenfabrikation  und  Korbmacherei, 
die  für  die  moderne  (Polster-)  Möbeltischlerei 
gleichsam  als  Hilfsgewerbe  funktioniei*en). 
Diesen  drei  Gruppen  von  Gewerben  sind 
von  den  88  883  Personen,  die  in  die  Sphäre 
der  Hausindustrie  1895  neu  eingetreten  sind, 
64  956,  also  ^/4,  zuzurechnen. 

Es  würde  der  Bedeutung  der  genannten 
drei  Hausindustrieginippen  nur  entspi-echend 
erscheinen,  wenn  wir  im  folgenden  über  die 
in  ihnen  herrschenden  Entwickelungs-  und 
Gestaltungstendenzen  noch  einige  eingehen- 
dere Bemerkungen  machten,  mit  deren  Hilfe 
die  nackten  Zahlen  der  Statistik  ei^st  zu 
voUem  Verständnis  gelangen.  Leider  ver- 
bietet es  ims  der  Kaum. 

5.  Oesterreich-Ungarn.  Eine  Statistik 
der  Hausindustrie  feiilt.  Um  zu  ai>proxima- 
tiven  Ziffern  zu  gelangen,  hat  der  statistische 
Referent  der  Brünner  Handelskammer  eine 
Berechnung  angestellt,  die  im  wesentlichen 
auf  einer  Kombination  der  Daten  der  Un- 
fallversicherungsstatistik  imd  der  Genossen- 
schaftsstatistik  beruht.  Demzufolge  entfallen 
von  den  nach  der  Volkszäldung  des  Jahi'es 
1890  in  der  eigentlichen  gewerblidien  In- 
dustrie beschäftigten  2  243  734  Arbeitern  und 
Tagelöhnern  auf  die  Grossindustrie  10SM712 
Arbeiter,  auf  das  Handwerk  402436  Arbeiter, 
auf  die  Hausindustrie  760522  Arbeiter,  oder 
in  Prozenten  ausgedrückt  auf  die  Gniss- 
industrie  4S^/o.  auf  das  Handwerk  IS^o, 
auf  die  Hausindustrie  34  ^/o. 

Wollen  wir  ims  ein  Bild  von  der  lilum- 
lichen  Ausbreitung  der  hausindustriellen 
Betriebsform  in  Oesterreich-Ungam  machon, 
so  sind  wir  auf  die  alleitlings  zahlreichen 
luid  zum  Teil  guten  Einzeldarstellungen  an- 


Hausindustrie 


1149 


gewiesen.  In  letzter  Zeit  sind  einige  brauch- 
bare zusammenfassende  üebersiehten  über 
Stand  und  Verbreitung  der  Hausindustrie 
erschienen  (s.  u.  Litteratur).  Einige  der  fei- 
enden Ziffern  für  die  neuere  Zeit  verdanke 
ich  der  freundlichen  Mitteilung  des  Herrn 
Prof.  Mischler  in  Graz.  Danach  ergeben 
sich  folgende  Thatsachen:  Die  meisten  der 
hausindustriellen  Betriebsform  zugänglichen 
Gewerbszweige  finden  sich  auch  als  Haus- 
industrie in  Oesterreich-Ungarn  vor;  ebenso 
ist  kein  Gebietsteil  der  Monarchie  ohne 
Hausindustiie.  Die  innerösterreichi- 
schen Länder  (Steiermark,  Kärnten, 
Krain)  zeichnen  sich  durch  ein  Vorwiegen 
der  liausindustriellen  Flechtei-ei  (Stroh-, 
Holz-,  Korbflechterei)  aus;  10000  Stroh- 
flechter,  welche  sicher  nachweisbar  sind, 
stellen  nur  einen  Teil  der  hausindustriellen 
Fle<jhter  dar.  Von  den  Textilgewerben  er- 
freut sich  die  Lodenweberei  im  Gebirge  einer 
besonderen  Blüte ;  in  Krain  ist  die  Rosshaar- 
siebweberei verbreitet.  Die  hausindustrieUe 
Stickerei  hat  an  Bedeutung  verloren;  die 
Spitzen  klöppele!  beschäftigt  noch  zahlreiche 
Hände  (mindestens  6000);  in  Krain  ist  die 
Holzhaiisindustine  sehr  bedeutend.  Die  Klein- 
eisenindustrie in  Steiermark  ist  im  Absterben 
begriffen. —  In  den  Alpenländern  (Salz- 
kammergut, Tirol)  dominiert  unter  den 
Hausindustrieen  die  Holzwarenanfertigung. 
In  der  Viechtau  (Salzkammergut)  sind  600 
bis  700  Holzwarenarbeiter  hausindustriell 
thätig:  sie  verfertigen  land-  und  hauswirt- 
schaftliche Geräte,  Löffel,  Spelt  waren, 
Drechslerarbeiten  und  Spielwaren.  Von  der 
Bevölkerung  des  Grödenerthals  (Sttdtirol) 
befassen  sich  75 'Vo  mit  der  Holzschnitzerei ; 
2500 — 3000  Personen  sind  in  dieser  Haus- 
industrie in  Tii*ol  beschäftigt.  Wii'  finden 
ausserdem  in  den  genannten  Ländern  die 
Spitzenklöppelei,  die  besonders  in  Vorarlberg 
verbreitet  ist,  die  Strohflechterei,  die  Woll- 
weberei, die  Kleineisenindustrie  u.  a.  als 
Hausindustrie. 

Mit  den  mannigfachsten  Hausindustrieen 
reich  gesegnet  ist  B  ö  h  m  e  n :  wie  für  Deutsch- 
land auf  ilirer  einen  Seite,  so  bilden  die  drei 
Höhenzüge,  welche  das  Czechenland  vom 
Deutsehen  Reiche  trennen  —  Böhmerwald, 
Erzgebirge,  Sudeten  —  wichtige  hausin- 
dustrielle  Mittelpunkte  für  Böhmen  auf  den 
entgegengesetzten  Abhängen.  Die  jwlitische 
Grenzseheide  vermag  nicht  die  natürliche 
Gleichheit  der  Erwerbs-  und  Verkehrs- 
bedingungen dieser  Gebiete  aufzuheben:  es 
sind  meist  diesell>en  Gewerbszweige,  welche 
unter  kaum  sehr  verschiedenen  Bedingungen 
auf  der  böhmischen  wie  auf  der  reichs- 
deutschen  Seile  der  genannten  drei  Gebirgs- 
züge betrieben  werden.  So  drängt  sieh  dem 
Beobachter  jener  Gebietsteile  auch  auf  der 
böhmischen  Lehne  zunächst  der  Typus  des 


Hauswebers  in  seinen  verechiedenen  Schat- 
tierungen auf :  WoU-,  namentlich  aber  Baum- 
woll-,  Leinen-  und  gemischte  Weberei  wird 
im  böhmischen  Erz-  und  Riesengebirge 
grösstenteils  noch  hausindustriell  betrieben; 
giebt  doch  eine  einzige  Firma  an,  dass  sie 
im  böhmischen  Erzgebirge  24000  Leinen- 
weber hausindustriell  beschäftigt,  und  im 
Reichenberger  Kammerbezirk  wurden  1878 
noch  41704  gewöhnliche  Handwebstühle  für 
Baumwolle  gezälüt. 

In  den  deutschen  Bezirken  des  Iser- 
und  Riesengebirges  wurden  Anfang  des 
Jahres  1895  3547  hausindustrielle  Betriebe 
mit  10013  Arbeitern  gezälüt 

In  den  Ortschaften  Ober-  und  Nieder- 
Einsiedel,  Lobendau  und  Hilgersdorf  im 
politischen  Bezirke  Schluckenau  nahe  der 
sächsischen  Grenze  und  fast  anschliessend 
an  das  sächsische  Städtchen  Sebnitz,  wird 
die  Erzeugung  von  Kunstblumen  hausindus- 
triell mit  weitestgehender  Ai'beitsteilung 
betrieben.  Es  finden  in  dieser  Industrie 
cirea  800  Arbeiter  Beschäftigung.  Wo  Was- 
serkräfte zur  Verfügung  stehen,  wird  auch 
vielfach  Stahlschleiferei  bei  der  fabrikmässi- 
gen  Messererzeugung  betrieben.  Im  Sudeten- 
gebirge hat  die  Flachsspinnerei  als  Haus- 
industrie fast  ganz  aufgehört.  In  den  an 
Königinhof  nördlich  angrenzenden  Ortschaften 
hat  in  den  letzten  Jahren  die  hausindustriell 
betriebene  Holzschnitzerei  die  früher  dort 
übliche  Hausweberei  vollständig  zurückge- 
drängt. In  Güntersdorf  wurden  bei  einer 
Gesamtzahl  von  320  Häusern  in  100  Häu- 
sern geschnitzte  Verzierungen  und  Aufsätze 
für  Möbel,  Thüren  und  Fenster  u.  s.  w.  an- 
gefertigt. 

Die  Spitzenindustrie  des  böhmischen  Erz- 
gebirges hat  viel  von  ihrem  früheren  Glänze 
eingebüsst;  Anfang  dieses  Jahrhunderts  be- 
schäftigte sie  20—30  ( K)0  Fi-auen,  jetzt  erheb- 
lich weniger.  Auf  den  Abhängen  des 
Böhmerwaldes  begegnen  wir  zwei  ausge- 
breiteten Hausindustrieen,  der  Sti-ohflechterei 
und  der  Holz  waren  Verfertigung.  Eine  im  Nor- 
den des  böhmischen  Gebirgskessels  heimische, 
sehr  wichtigelndustrie  mit  vielfach  häuslichem 
Betriebe  ist  die  Glasindustrie,  insbesondere 
Sclüeiferei,  deren  bedeutendste  Mittelpunkte 
Haida  und  Gablonz.  In  derBesatzsteinindustrie 
sind  in  den  tschechischen  Ortschaften  Nortl- 
böhmens  über  3000  kleingewerbliche  Arbei- 
ter bescliäftigt.  Ueber  das  Land  zei'streut 
begegnen  wir  zahlreichen  Hausindustrieen: 
Weigert  verfertigt  Büchsen,  Nixdorf  Kunst- 
Vjlumen,  Karlstein  Uhren. 

El>enfalls  noch  tief  in  der  Phase  der  haus- 
indusitriellen  Betriebsfonn  stecken  Mähren 
und  Galizien;  hier  finden  sich  sehr  wich- 
tige Zweige  gewerblicher  Thätigkeit  noch 
als  Hausindustrie,  so  in  Galizien  die  Weberei. 
!  namentlich   Wollweberei,    die    Kleineisenin- 


IloO 


Hausindustrie 


clnsti'ie  (7000  Personen).  Beide  Kronländer 
besitzen  ausgebreitete  holzverarbeitende  Haus- 
industrieen  (Mähren  7500  Personen),,  ebenso 
ist  die  Strohflechterei  bedeutend,  öalizien 
fertigt  ferner  hausindustriell  Spitzen,  Hand- 
schuhe, Kleider  und  Schuhe.  Das  Sclineider- 
und  Schuhmacherhandwerk  in  Galizien  ist 
während  der  letzten  Jahrzehnte  in  weitem 
Umfange  dem  hausindustriellen  Betriebe  an- 
heimgefallen, wie  neuere  Litteratiu'erschei- 
nungen  in  sehr  anschaulicher  Weise  dargelegt 
haben.  Nach  privaten  Mitteilungen  (Paygert) 
sind  in  46  Ortschaften  Galiziens  4528  Schuh- 
macher hausindustriell  thätig,  welche  jähr- 
lich 720000  Paar  Schuhe  anfertigen.  Haupt- 
sitze der  Schuhwarenhausindustrie  sind  Alt- 
Sandec,  Lyscec,  Rozdol,  Dobczyce,  eine  haus- 
industrielle Seilerei  wird  in  ßadymno  be- 
trieben, eine  hausindustrielle  Spiel-  und 
Holzwarenerzeugung  in  Jaworow.  Ein  neuer 
Hausindustriezweig,  die  Korbflechterei,  ist  in 
Rudnilc  im  Bezirk  Nisko  durch  den  Grafen 
Hömpesch  ins  Leben  gerufen  worden.  Im 
Jalire  1896  waren  in  Kudnik  und  9  Nach- 
bargemeinden 426  Familien,  darunter  31 
Judenfamilien,  in  diesem  Industriezweig 
thätig. 

Eine  Erhebung,  welche  die  Handelskam- 
mer Brunn  spedell  für  das  flache  Land 
ihres  Bezirks  im  Jahre  1892  veranstaltet  hat, 
ergab  folgendes  Resultat:  Es  waren  im 
Kammerbezirk  insgesamt  46000  Hausindus- 
trielle beschäftigt.  Am  stärksten  ist  die 
Hausindustrie  im  politischen  Bezirk  Mähr.- 
Trttbau  vertreten,  wo  34®/o  der  gesaraten 
Hausindustrie  des  Kammerbezirks  ihren  Sitz 
haben.  Diesem  folgt  Neustadt  mit  14  ^/o, 
Boskowitz  mit  13  ^/o ,  Wischau  mit  10  ®/o. 
Ein  bedeutendes  Kontingent,  namentlich  was 
die  Bekleidungshausindustrieen  betrifft,  stel- 
len ausserdem  die  Städte  Brunn,  Iglau  und 
Znaim.  Die  Brünner  Handelskammer  schätzt 
die  darin  beschäftigten  Personen  auf  mehrere 
Tausend.  Mit  Ausschluss  der  genannten 
Städte  ergiebt  sich  die  folgende  Verteilung 
der  Hausindustrie  auf  die  einzelnen  Gewerbs- 
zweige :  Weberei  60^/o ;  Schuhmacherei  5,6''/o, 
Peitschenerzeugung  0,8  ^/o,  Schneiderei  5,4  %, 
Weissnäherei  4,3  ^/o,  Haarnetzerzeugung  6  ^  o, 
Knöpfeerzeugung  2,1  ^/o,  Besenerzeugung 
2,30/0,  Korbflechterei  0,8  «/o,  Strohflechterei 
4,8^/0,  Schindelerzeugung  1,5^/0,  Holzgeräte- 
erzeugung 1,4  ^Vo,  Strickerei  und  Wirkerei 
2"o  u.  s.  w.  Es  werden  noch  betrieben 
ausser  den  genannten  Hausindustrieen 
Spinnerei,  Seiden  zupf  erei  und  -knüpferei, 
Drahtbinderei,  Glasperlenerzeugung,  Holz- 
spielwarenerzeugiing ,  Si)innraderzeugung, 
Handschuherzeugung. 

Eine  hervorragende  Bedeutung  als  Mittel- 
punkt zahlreicher  und  wichtiger  Ilausiiidus- 
trieeii  darf  Wien  in  Anspruch  nehmen.        \ 

In  Wien    waren    im  Jahre   1890   209lsi 


mit  einer  Erwerbsteuer  von  21  fl.  aufwärts 
besteuerte  Heimarbeiter.  Es  entfallen  von 
dea  beschäftigten  Arbeitern  auf  Heimarbeiter 
in  der  Kravattenerzeugimg  95,5  ^'/o,  in  der 
Erzeugung  von  Männer-  und  Knabenkleidern 
83,80/0,  Baumwollweberei  83,5  «>/o,  Wäsche- 
erzeugung 76,1  ®/o ,  Erzeugimg  von  Sonnen- 
und  Regenschirmen  72,3  ®/o,  Schuliwareu 
65,3%,  W^irkwaren  64,1  «/o. 

Inder  Perlmutterindustrie,  deren  Centruin 
Wien  ist,  wai-en  800 — 900  Sitzgesellen  be- 
schäftigt In  der  zweiten  Hälfte  dieses  Jahr- 
hunderts verbreitete  sich  die  Industrie  nach. 
Niederösterreich,  Bölimen  und  Mähren.  Der 
Vertrieb  geht  jedoch  von  Wien  aus. 

6.  Schweiz.    Die  Gesamtzahl  aller  Haus- 
industrieen in  der  Schweiz  berechnete  Ad. 
Braun  in  den   1880  er  Jahren  auf  100000, 
d.  h.  ca.  19^/0  der  in  der  ganzen  Industrie 
erwerbsthätigen  Bevölkerung  der  Schweiz. 
Diese     100000    Hausindustriellen    entfallen 
zum   grossen   Teile   auf   die    drei    für   die 
Hausindustrie      wichtigsten      Zweige      der 
schweizerischen  Industrie :  die  ührmachei-ei, 
die  Seidenweberei  und  die  Stickerei  (broderie) 
nebst    Spitzenverfertigung.      Von  ■  anderen 
Branchen  werden  auch  zum  Teil  noch  haus- 
industriell   betrieben    die    BaimiwoU-    und 
Wollweberei,  die  Strohflechterei,  die  Spiel- 
dosenfabrikation,    die    Holzschnitzerei,    die 
Parkett-   und   Zündhölzchenfabrikation    und 
selbstverständlich     die    in    Auflösung    be- 
griffenen alten  Handwerke.   Eine  zusammen- 
fassende Statistik  der  schweizerischen  Haus- 
industiieen    besteht   leider   nicht;    um   die 
ungefähre   Zahl    der   Heimarbeiter   in    den 
einzelnen    Erwerbszweigen     zu     ermitteln, 
müssen  wir,  soweit  uns  nicht  lokale  Unter- 
suchungen  unterrichten,    die  verschiedenen 
über    Industrie-     imd    Arbeiterverhältnisse 
existierenden  Veröffentlichimgen  miteinander 
vergleichen;    es    ergiebt   sich   nämlich    mit 
einiger  Zuverlässigkeit  diux'h  Abzug  der  in 
der  »Schweizerischen  Fabrikstatistik«  gezälil- 
ten   Fabrikarbeiter   von    der   in   der  Allge- 
meinen Volkszählung  ermittelten  Gesamtzalil 
der   Erwerbsthätigen    für   einige    Gewerbe- 
zweige die  Zahl  der  Hausindustriellen. 

Die  Uhrmacherei,  von  alters  her 
eine  Hochburg  des  hausindustriellen  Be- 
triebes, hat  iliren  Sitz  vor  allem  in  Bern, 
Neuchatel  und  Genf;  einschliesslich  der 
Bijouteriearbeiter  waren  in  der  Uhrmachei^ei 
beschäftigt  (nach  Schlatter)  in  der  Schweiz 
41 342  Personen,  nach  dem  Census  von  lsS8 
44147,  davon  in  Etablissements,  welche 
dem  Fabrikgesetz  unterstellt  sind,  lss<> 
10873;  1888  11961;  der  Rest  also  sind 
meist  Hausindustrielle;  auf  die  oben  ange- 
gebenen Gebiete  entfallen  (1880)  folgende 
Anteile  von  diesen  Zahlen,  die  sich  bis  isS^S 
nur  unwesentlich  verändert  haben. 


HausiiKliisti'ie 


1151 


Bern  1 7468  dav.  d.  Fabrikges.  unterst.  5556 

NeucMtel    14525    «     «  «  »       »234 

Genf  2950    „     „  „  „1132 


Neuerdings  soll  die  Centralisatiou  der 
Betriebsstätten  stärker  eingesetzt  liaben. 

Die  Seidenweberei  beschäftigt  (nach 
dem  Census  von  1888)  insgesamt  9982  männ- 
liche und  37  090  weibliche  »erwerbende 
Pei^sonen«  ;  davon  über  die  Hälfte  im  Kanton 
Zürich.  Die  Hausindustrie  hat  ihren  Sitz 
in  fast  aUen  Kantonen.  Nach  der  amtlichen 
Statistik  waren  Fabrikarbeiter  in  der  Seiden- 
webei-ei  von  den  sämtlichen  Ai'beitern  männ- 
lichen Gesclüechts  3018,  weiblichen  Ge- 
schlechts 11025,  zusammen  14043,  gegen 
7930  im  Jahi-e  1880.  Heute  ist  der  Centra- 
lisienmgsprozess  noch  weiter  fortgeschritten. 

Die  Stickerei  (liroderie),  ein  wichtiger 
Industriezweig  der  Scliweiz,  wurde  früher 
fast  ausschliesslich  hausindustriell  betrieben ; 
in  neuei-er  Zeit  hat  die  Einführung  maschi- 
nelleu  Betriebes  dem  Fabriksystem  mehr 
Boden  verschafft.  Eine  Arbeiterstatistik  des 
Centralverbandes  der  Stickereiindustrie  der 
Ostschweiz  etc.  pro  1891  giebt  folgende 
zahlenmässigen  Ausweise:  In  der  Schweiz 
und  Vorarlberg  wai*en  beschäftigt: 

in  der  Stickerei  19  182  Personen,  davon  11  851 
hausindustriell   (nur  Männer) ,   in  der  Fädlerei : 

in  Fabriken   hausindustriell 

Knaben  unt.  16  Jahren    292  1386' 

Mädchen  unt.  16  Jahren    863  2767 
Knaben  v.  16 — 18  Jahr.     131  — 

Mädch.  V.  16—18  Jahr.    995  — 

ledige  über  18  Jahre     3653  7038 

Frauen  18 12  4243 


Insgesamt:    7746 


15435 


Die  Hauptsitze  der  Stickei-eiindustrie 
sind  die  Kantone  St.  Gallen,  Thurgau  und 
Appenzell.  In  St.  Gallen  waren  thätig  als 
Sticker:  in  Fabriken  4176,  hausindustriell 
5224  Personen ;  in  der  Fädlerei :  in  Fabriken 
5615,  hausindustriell  6450  Personen.  Die 
l)ezüglichen  Zahlen  für  den  Kanton  Thurgau 
sind:  Stickerei  1311  bezw.  1922,  Fädlerei 
1398  bezw.  2225;  für  den  Kanton  Appen- 
zell: Stickerei  1147  bezw.  1325;  Fädlerei 
1176  bezw.  1879  Personen.  Ganz  abweichen- 
de Ziffern  w^eist  die  Volkszählung  von  1888 
auf,  die  ich  ebenfalls  mitteile.  Danach 
wurden  in  der  Stickerei  gezählt  insgesamt 
45120  Personen,  und  zwar  19735  männ- 
lich, 25385  weiblich;  die  Zalil  der  Fabrik- 
arbeiter nach  der  Fabrikstatistik  betrug 
17  920,  davon  8270  männlich,  9650  weiblich. 

7.  Frankreich.  Die  Hausindustrie  (travail 
a  domicile,  travail  isole,  fabrique  collective  ^)) 


ist  in  Franki^eich  zu  gi-osser  Bedeutung  ge- 
langt, welche  sie  noch  heute  für  eine  An- 
zahl wichtiger  Gewerbszweige  bewahrt  hat. 
Leider  fehlt  aber  auch  hier  eine  zusammen- 
fassende amtliche  Statistik,  ebenso  wie  eine 
eigentliche  monographische  Litteratiu\  Die 
Hausindustrie  ist  meines  Wissens  in  Frank- 
reich überhaupt  niemals  zu  einem  besonde- 
ren Studiiun  gemacht  worden,  nur  hie  und 
da  schüdert  eine  Monograpliie  der  Ouvriem 
des  deux  mondes  in  bekannter  mikrolo- 
gischer Weise  einen  hausindustriellen  Be- 
trieb. Neuerdings  haben  die  Arbeiten 
Pierre  du  Maroussems  sowie  einige  Special- 
enqueten des  Office  du  Travail  und  des 
Musee  social  etwas  mehr  Licht  über 
einzelne  Hausindustrieen  verbreitet  Was 
die  folgenden  Zeilen  an  thatsächlichen 
Angaben  enthalten,  musste  daher  au» 
den  im  Litteraturverzeichnisse  angeführten 
Schriften,  unter  Zuhilfenahme  der  aUge- 
meinen  Statistik,  zusammengestellt  wer- 
den. Wenn  es  gelungen  ist,  wenigstens, 
in  grossen  Umrissen  ein  Bild  von  der  räum- 
lichen Ausbreitung  der  Hausindustrie  in* 
Frankreich  zu  entwerfen,  so  half  dazu  ein- 
mal der  Umstand,  dass  eine  Reihe  sehr  be- 
fähigter Forscher,  den  Wesensunterschied 
zwischen  manufakturmässigem  und  hausin- 
dustriellem Betriebe  wohl  würdigend,  in 
ihren  allgemeinen  Werken  über  Indusirie- 
verhältnisse  der  sehr  bedeutsamen  Hausin- 
dustrie stets  ihre  besondere  Aufmerksamkeit 
geschenkt  haben  (so  Reybaud,  Le  Plaj\ 
Audiganne),  sodann  dem  Zufall,  dass  gerade 
die  Frauenarbeit,  welche  ein  grosses  Kon- 
tingent zur  Hausindustrie  stellt,  in  Frank- 
reich sehr  qualifizierte  Bearbeiter  gefunden 
hat  ^roy-Beaulieu,  Jules  Simon),  endlich 
der  Thatsache,  dass  eine  Reihe  wichtiger 
Industriezweige  Frankreichs  bis  in  die 
Gegenwart  hinein  vorwiegend  hausindustriell 
organisiert  geblieben  sind,  wie  die  Seiden- 
weberei, die  Spitzenindustrie,  die  Verferti- 
gung der  sogenannten  Articles  de  Paris,  das& 
also  deren  Schilderung  mehr  oder  minder 
eine  DarsteUung  haiisindustrieller  Zustände 


*)  Diese  Bezeichnung  hat  Le  Play  einge- 
führt. Sie  erklärt  sich  aus  der  Bedeutung, 
welche  das  Wort  „fabrique*'  im  Gegensatz  zu 
dem  Sinne,  den  wir  ihm  geben,  in  der  franzö- 


sischen Sprache  hat ;  es  entspricht  etwa  dem 
deutschen  „Industrie".  La  fabrique  de  Lyon  ist 
die  Lyoneser  Industrie.  Der  Ort,  wo  eine  Anzahl 
Arbeiter  gemeinsam  gewerblicher  Arbeit  ob- 
liegen, unser  „Fabrik",  ist  „mauufacture", 
„atelier".  Le  Play  hat  das  Wesen  der  Haus- 
industrie sehr  richtig  erfasst.  Vgl.  die  Begriffs- 
bestimmung in  Bd.  V.  der  Ouvriers  des  deux 
Mondes ;  fahr.  coli.  =  Systeme  d'organisation  de 
la  grande  Industrie  manufacturi^re  oü  le  patron 
centralise  le  commerce  des  produits  que  fabrique 
pour  son  compte  une  population  ouvriere:  la 
fabrication  a  lieu  soit  dans  les  foyers  domesti- 
ques  des  ouvriers;  soit  dans  de  petits  ateliers 
multiples  et  speciaux.  Der  zweite  Teil  der 
Alternative  deutet  auf  den  Lyoneser  Typus  hin. 


1152 


Hausindustrie 


enthält.  Im  Gegensatz  z.  B.  zu  England 
liegt  für  das  Studium  der  französischen 
Hausindustrie  der  Schwerpunkt  nicht  in 
amtlichen  Untersuchungen,  sondern  in  >^issen- 
schaftlichen  Arbeiten  privater  Gelehrter. 
Ein  Uebelstand  jedoch,  der  sich  sehr  em- 
pfindlich bei  diesem  Studium  fühlbar  macht, 
besteht  darin,  dass  die  wichtigsten  und 
reichhaltigsten  einsclüägigen  Werke  nicht 
der  allerjüngsten  Zeit  angehören.  Die  zahlen- 
mässigen  Angaben  über  den  Umfang  der 
Hausindustrie  in  Frankreich  reichen  häufig 
nur  bis  in  die  Mitte  der  1870  er  Jahre  her- 
auf; dass  in  den  letzten  20 — 25  Jahren 
aber  wesentliche  Veränderungen  in  dem  Be- 
stände der  Hausindustrieen  vorgefallen  sind, 
unterliegt  keinem  Zweifel.  Immerhin  dürften 
diese  Veränderungen  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  nicht  solcherart  gewesen  sein,  um  das 
Gesamtbild  im  Grunde  umzugestalten,  wenig- 
stens nicht  in  den  hauptsächlich  für  die 
französische  Hausindustrie  in  Betracht 
kommenden  Gewerbszweigen.  Und  dann 
ist  es  auch  nicht  sowohl  unsere  Aufgabe 
•an  dieser  Stelle,  die  Anzahl  Hausindustrieller 
statistisch  genau  zu  ermitteln,  als  vielmehr 
den  Leser  auf  die  Herde  hinzuweisen,  in 
denen  die  Hausindustrie  noch  Bedeutung 
hat,  die  Branchen  anzugeben,  welche  sie 
heute  noch  als  ihr  Arbeitsfeld  besitzt. 

Frankreichs  glänzendste  Industrie  ist  zu- 
gleich die  für  die  Hausindustrie  von  jeher 
bis  in  die  neueste  Zeit  wuchtigste:  die 
Seidenindustrie.  Ihren  Sitz  hat  sie, 
wie  bekannt,  vorwiegend  in  und  um  Lyon. 
Die  Anzahl  der  in  der  Seidenindustrie  be- 
schäftigten Personen  beträgt  nach  Jules 
Simon  in  der  Stadt  80  000,  ausserhalb  dieser 
90  000.  Den  Prozentsatz,  welcher  von  diesen 
Ziffern  auf  die  Hausindustrie  entfällt,  genau 
anzugeben,  ist  nicht  möglich;  doch  lässt 
sich  soviel  aus  dem  zu  Gebote  stehenden 
Material  entnehmen,  dass  die  Seiden  Industrie 
Lyons  noch  heutzutage  im  w^esentlichen  auf 
dem  Handbetriebe,  somit  auch  zum  grössten 
Teile  auf  der  alten  Hausindustrieorganisation 
beruht.  Die  amtliche  Statistik  zählte  im 
Jahre  1888  im  Departement  RhOne  in  der 
Seidenindustrie  nur  43  Etablissements  mit 
2162  Arbeitern  und  400  Pferdekräften; 
mechanische  Webstühle  in  Thätigkeit  1900, 
ausser  Thätigkeit  260;  dahingegen  28975 
Handwebstühle.  Neben  Lvon  haben  die 
übrigen  Gebietsteile,  in  welchen  die  Seiden- 
industrie betrieben  wird,  eine  geringe  Be- 
deutung ;  sie  findet  sich  —  ebenfgJls  grossen- 
teils  noch  als  Hausindustrie  —  in  und  um 
Nimes;  in  und  um  St.  Quentin  (1876  noch 
20000  Handwebstühle  für  gemischte  Ge- 
webe aus  Seide,  Baumwolle  und  Wolle). 
Die  Seidenbandweberei  als  Hausindustrie 
hat  einst  in  den  Tliälern  der  Montagnes  du 
Forez  eine   gi'osse  Bedeutung  gehabt;    ihre 


Organisationsform  war  und  ist  noch  heute 
diejenige  Lyons. 

Nächst  der  Seideniiidustrie  besitzt  von 
den    grossen    Textilindustrieen    die    Ver- 
arbeitung   der    Wolle    für  Frankreich 
eine  grössere  Bedeutung;  auch  diese  voll- 
zieht   sich    noch    heutigentags    vielfach   in 
hausindustriellen    Formen.      Zahlenmässige 
Angaben  über  den  Umfang  der  Hausindustrie 
in  der  Wollbranche  fehlen  so  gut  wie  ganz ; 
wir  kennen  nur  die  Gentren,  in  denen  die 
hausindustriell   betriebene  Wollweberei  (die 
Wollspinnerei  ist  zum  überwiegenden  Teil 
jetzt  m  das  Fabriksystem  übergeführt^  ihren 
Sitz  hat.    Da  ist  vor  aUem  Lille  una  seine 
Umgebung:    Roubaix,   Tourooing   u.   a.   0. 
Dann  Pas   de   Calais   und   La  Somme  im 
Norden ;  St.  Quentin  und  Umgebung  (L'Aisne) ; 
Reims    und    Umgebung;    endlich    in    der 
Monte^ne    Noire    hauptsächlich    die    Orte 
Bedarieux  imd  Mazamet.  Die  hausindustrielle 
Baumwollweberei   hat    neuerdings  an 
Ausdehnung   eingebüsst;    immerhin    zeigen 
sich   heute   noch  in  einigen   Gegenden  die 
deutlichen    Spuren    einer   einst    blühenden 
Hausindustrie;    die   Normandie    vor  allem, 
die  Audiganne  noch   »la  terre .  classique  du 
travail  ä  domicile«  nennt,  beschäftigte  Ende 
der  1860  er  Jahre  in  der  Baum  Wollindustrie 
noch  ca.   160000  Hausweber,  in  Flers  und 
Umgebung  allein  30000,  in  Tarare  50000, 
andere  in  Roanne,  Thizy  etc. ;  in  St.  Quentin 
und  Umgebung  arbeiteten  1876  noch  20000, 
in   Sedan   4000   u.   s.   f.     Die  Teppich- 
weberei wird  in  Nimes  imd  Umgebung 
halb  fabrikmässig,  halb  hausindustriell  be- 
trieben.   Die  Leinen  Weberei  beschäftigt 
in    der  Bretagne,    im   Departement    de    la 
Mayenne  und  Ijaval  noch  zahlreiche  Haus- 
industrielle, die  Fabrique  de  Cholet  insbe- 
sondere   mehrere    Tausend   Handwebstühle 
für  Taschentücher. 

Die  französische  Spitzenindustrie 
geniesst  noch  immer  ihres  bedeutenden 
Rufes;  sie  ist  gleichzeitig  niunerisch  viel- 
leicht die  wichtigste  Hausindustrie  Frank- 
reichs. Die  Zahl  der  Spitzenarbeiterinnen, 
die  fast  alle  Hausindustrielle  sind,  wird  von 
Aubry  auf  200000,  von  M^  Burrv  PaUiser 
auf  200—240000  geschätzt.  In  Valenciennes, 
der  berühmten  Heimat  der  kostbarsten 
Spitzengattungen,  ist  heute  diese  Industrie 
fast  gänzlich  ausgestorben.  Die  Hauptherde 
der  Spitzenarbeit  sind  vielmehr  jetzt  folgende 
sechs :  1.  Alen^ons,  für  feinere  Luxusspitzen ; 
2.  Lille  und  Arras  (Nord),  in  welch  letz- 
terem Ort  2 — 3000  Arbeiterinnen  mit  der 
Anfertigung  gröberer  Spitzen  beschäftigt 
sind;  3.  Bailleue;  4.  Chantilly,  Caen  und 
Baveux,  mit  ca.  70000  Arbeiterinnen:  '>. 
Mirecourt,  für  gi*öbere  Spitzen;  6.  Puy,  der 
heutige  Hauptsitz  der  fi'anzösischen  Spitzen- 
industrie mit   100  CHX)  (nach  anderen  130  — 


Hausindustrie 


1153 


140000)  Arbeiterinnen,  welche  in  den  Bergen 
der  Lozdre,  Cantal  etc.  zerstreut  sind. 

Ein  geradezu  klassischer  Boden  für  die 
Bausindiistrie  ist  die  Industrie  der  so- 

fenannten  articles  de  Paris;  im 
ahre  1860  konnte  Audiganne  von  ihr  sagen : 
»Le  travail  ä  domicile  s^  presente  c*omme 
la  forme  la  plus  ordinaire  dans  Findustrie 
essentiellement  parisienne,  dans  la  groupe 
des  articles  de  raris«;  und  noch  heute  hat 
sich  der  Charakter  dieses  Industriezweiges 
kaum  verändert.  Die  Leitimg  der  Produk- 
tion hat  nach  wie  vor  überwiegend  iliren 
Sitz  in  Paris,  von  wo  aus  kaufmännische 
Verleger,  sei  es  in  Paris  selbst,  sei  es  in 
der  Provinz,  zahlreiche,  vorzüglich  weib- 
liche Arbeiter  beschäftigen,  unter  »articles 
de  Paris«  versteht  man  u.  a.:  Musikinstru- 
mente, künstliche  Blumen,  Modebilder,  Hand- 
schuhe, Parfümerien,  Uhrmacherei,  Regen- 
und  Sonnenschirme,  Tabletterie,  Portefeuille, 
Börsen,  Fächer,  Augengläser.  Die  Fabrika- 
tion künstlicher  Blumen  beschäftigt  in  Paris 
allein  mehr  als  6000  Arbeiterinnen;  die 
Fächerindustrie  im  Departement  de  l'Oise 
3000 ;  die  Ledergalanteriewarenanfertigung 
in  Nii-ot  (deux  Sövres  Gironde)  1000 — 
1200;  die  Handschuhnäherei  in  Paris, 
Chaiunont,  L'Aigle  mit  Yerneuil,  Greuoble, 
Nancy,  Rennes,  Lunevüle  55 — 57  000  Ar- 
beiterinnen u.  s.  f.  Die  hausindustrielle 
Putzmacherei  blüht  in  Nimes;  die  Stroh- 
hutfabiikation  in  Nanc}'  und  Umgebung.  — 
Besonders  in  neuerer  Zeit  vollzieht  sich 
auch  in  Frankreich  der  Uebergang  der 
Bekleidungshandwerke,  namentlich 
der  Schneiderei  und  Schuhmaclierci  (be- 
schäftigt in  Paris  allein  15000  Frauen,  die 
grossenteüs  Hausindustrielle  sind),  in  haus- 
ind ustrielle  Betriebsformen  immer  mehr; 
die  Konfektion,  Näherei,  Stickörei  (broderie) 
u.  a.  specifisch  weibliche  Arbeiten  werden 
schon  lange,  in  grossem  Umfange,  vorwiegend 
hausindustriell  betriel)en.  In  den  letztge- 
nannten Branchen,  die  mit  Vorliebe  als 
»petite  Industrie«  bezeichnet  werden,  lassen 
sich  die  beiden*  T\7)en,  der  reinen  Hausin- 
dustrie imd  der  Werkstattarbeit,  nicht  scliarf 
sondern ;  fast  überall  wird  auf  beiderlei  Art 
gearbeitet.  Die  vEntrcpreneuse«  hat  ein 
kleines  »atelier«  für  die  schwierigeren  Ar- 
beiten, die  sie  selbst  überwachen  will,  den 
Rest  giebt  sie  nach  Hause.  Oft  sind  es  nur 
»fliegende  Werkstätten« ,  die  für  eine  drin- 
gende und  wichtige  Arbeit  organisiert  und 
wieder  aufgelöst  werden,  sobald  die  ge- 
wöhnliche Geschäftslage  wieder  hergestellt 
ist.  —  Schliesslicli  sei  von  französischen 
Hausindustrieen  nocli  auf  die  K 1  e  i  n  e  i  s  en  - 
Industrie  hingewiesen,  die  namentlich  im 
Distrikt  von  Nogent  in  vielen  Gemeindon 
sowie  im  Kanton  de  Breteuil  betrieben  wird. 
8.  Italien.    Dass  die  Appeninhalbinscl 

Uandwörterbnch  der  Staatswissenschaften.    Zweite 


eine  weitverzweigte  Hausindustrie  (Industria 
domestica,  a  domicUio;  industria  casalinga 
bedeutet  meist  häusliche  Eigenproduktion) 
besitzt,  miterliegt  keinem  Zweifel;  gleich- 
wohl ist  es  schwer,  sieh  genauer  über  Arten 
nnd  Umfang  zu  unterrichten.  Eigentliche 
Monographieen ,  die  speciell  die  Hausin- 
dustrieen oder  eine  einzelne  Hausindustrie 
zum  Gegenstaude  haben,  sind  mir  nicht  be- 
kannt geworden.  Wer  sich  über  die  Ver- 
breitimg der  Hausindustrie  in  Italien  unter- 
richten will,  ist  daher  auf  die  allgemeine 
Litteratnr  über  industrieDe  Verhältnisse,  die, 
soweit  einschlägig,  unten  verzeichnet,  ange- 
wiesen ;  bei  vorsichtiger  Benutzung  gestattet 
sie  immerhin  leidlich  be|riedigende  Einblicke 
in  die  italienische  Hausindustrie  namentlich 
deshalb,  weil  wiederum  eine  ganze  Reihe 
von  Gewerbszweigen  auch  in  Italien  noto- 
risch fast  ausschliesslich  hausindustriell  be- 
trieben werden;  hier  gewähren  uns  die 
Ziffern  der  in  der  gesamten  Branche  thäti- 
gen  Personen  ein  ungefähres  Bild  von 
Umfang  und  Verbreitung  der  Hausindustrie. 
Ausserdem  enthält  die  jetzt  vollständige 
Industrieenquete  insbesondere  genaue  An- 
gaben über  die  Haus  Weberei,  mit  der 
imsere  Darstellung  begonnen  werden  mag. 
Zu  berücksichtigen  ist  hierbei,  dass  die 
häusliche  Weberei  in  Italien  noch  zum 
grossen  Teil  für  den  Eigenbedarf  der  Fa- 
milie betrieben  ^^ird;  die  Zahl  der  in  der 
»tessitura  casalinga«  (Hausweberci)  thätigen 
Webstühle  umfasst  daher  Hausindustrie  und 
Familienproduktion  gleichzeitig ;  welcher 
Prozentsatz  auf  die  eine  oder  andere  Kate- 
gorie entfällt,  ist  nicht  festzustellen. 

Ein  grosser  Teil  der  italienischen  Seidenin- 
dustrie wird  noch  hausindustriell  betrieben, 
und  zwar  sowohl  die  Seidenweberei,  die 
durch  die  obenangegebene  Zahl  der  Web- 
stühle auf  gemisclite  Stoffe  mit  vertreten 
wird,  als  namentlich  auch  die  Seiden- 
spinnerei. Die  (bis  1900  nicht  wieder- 
holte) Berufszählung  von  1881  giebt  folgende 
Gesamtzahlen  für  die  in  der  Seidenbranche 
thätigen  Pei-sonen: 

Seidenspinnerei  i45033Pers.,dav.  136  788 Frauen 
Seidenweberei     18034     „       „      11 610      „ 

Wieviel  hiervon  hausindustriell  arbeiten, 
lässt  sich,  wie  gesagt,  nicht  leicht  feststellen. 
Doch  liat  in  den  letzten  Jahren  der  Prozess 
der  Betriebscentralisation  auch  in  Italien 
bedeutende  Fortschritte  gemacht.  Für  die 
übrigen  Hausindustrieen  habe  ich  trotz  der 
liebenswürdigen  Unterstützung  meines  hoch- 
verehrten Fretmdes  Bodio  keine  Ziffern 
für  die  Gegenwart  ennitteln  können.  Ich 
lasse  daher  die  natürlich  in  vielen  Fällen 
veralteten  Angaben  der  1881  er  Berufs- 
statistik stehen.  Ein  für  Italien  wich- 
tiger Zweig  der  Textilindustrie  ist  die 
I  Spitzen fabrikation.      die     feist     aus- 

AuflaRe.    IV.  73 


1154 


Hausindustrie 


Es  beträgt  die  Zahl  der  Webstühle  auf 


m: 


Baumwolle 


Leinen, 
Hanf  etc. 


gemischte 
Stoffe 


Piemont 

Lignrien 

Lombardei   .... 
Venetien .    .         .    . 

Emilia 

Toscana 

Marken 

Umbrien 

£om 

Abmzzen  und  Molise 
Campanien  .... 

Apunen 

Basilicata     .... 
Calabrien     .... 

Sicilien 

Sardinien     .... 


1304 

15 
348 
266 
968 
688 
980 
702 

3601 
610 

434 
610 

887 

I  216 

4388 


2577 
446 

5  474 

1317 
2  152 

10157 

2966 

902 

228 

3845 
4429 

8977 

517 
I  921 

10552 

924 


7635 

695 

10395 

7716 

14  331 
5541 
8572 

5950 

1451 
5988 

6357 

1559 
184 

5137 
II  852 

5  110 


484 

»5 
3626 

4578 
16896 

5358 
19677 

4468 

441 

18111 

I  ';78 

3  575 
I  610 

8455 

12744 

8719 


Königreich 


I  910 


17088 


57384 


98473 


1 10  335 


Dazu  kommen  noch  3  013  Stühle  für  Wirkerei,  Posamenten  etc.,  sodass  sich  eine  Gesamt- 
summe von  288203  ergiebt. 


schliesslich  von  Frauen  betrieben  wird 
und  zum  weit  überwiegenden  Teile  als 
Hausindustrie.  Insgesamt  waren  in  Italien 
(1881)  10913  b-Personen  (entsprechend  den 
c-Personen  der  deutschen  Statistik),  10880 
Frauen  und  33  Männer  mit  der  Spitzen- 
klöppelei bezw.  -näherei  beschäftigt.  Der 
Hauptsitz  der  Spitzenindustrie  befindet  sich 
in  der  Umgegend  von  Chiavari,  namentlich 
in  den  Orten  ßassallo,  Portofino  und  St. 
Margherita ;  hier  wurden  1881  5465  Spitzen- 
arbeiterinnen gezählt;  nach  anderen  An- 
gaben soll  sich  ihre  Zahl  auf  mehr  als  7000 
belaufen.  Nächst  dem  Distrikt  von  Chiavari 
sind  bedeutende  Centren  der  Spitzenklöppe- 
lei Como  mit  2378  und  neuerdings  Venedig 
mit  der  Laguneninsel  Burano  (nach  der  En- 
quete 2702).  Der  Rest  ist  über  ganz  Italien 
zerstreut;  eine  grössere  Anzahl  weist  nur 
noch  die  Stadt  Mailand  (654)  auf.  —  Ausser 
in  der  Textilbranche  ist  die  Hausindustrie 
in  Italien  namentlich  in  der  Strohflech- 
te rei  (für  Strohhüte)  verbreitet.  Der  Be- 
trieb spielt  sich  hier  in  der  Weise  ab,  dass 
ein  Faktor  (fattoritto)  im  Auftrage  eines 
Strohhutfabrikanten  bezw.  Händlers  sich  das 
Rohmaterial  (Stroh)  beschafft,  das  er  dann 
den  Strohflechtern  (vorwiegend  Frauen)  nach 
Hause  zur  Verarbeitung  giebt ;  hier  werden 
die  Strähnen  geflochten,  so  dass  der  Fabri- 
kant in  seinem  Etablissement  nur  die  Fertig- 
stellung des  Hutes  zu  besorgen  hat.  In  be- 
deutendem Umfange  exi)ortiert  Italien  aber 
auch  das  Halbfabrikat  und  die  Strohgefleclite : 
1888  104G4  Centnor  für  8371200  Lire, 
während  der  Wert  der  ausgeführten  fertigen 
Strohhüte  sich  auf  nur  7  312040  Lire  belief. 
Insgesamt  beschäftigt   Italien  (1881)  in  der 


Strohhutfabrikation  65473  b-Personen,  4747 
Männer,  60726  Frauen.  Davon  entfällt  der 
grösste  Teil  auf  Florenz  und  Umgegend,  wo 
vorwiegend  niu:  Strohflechterei  getrieben 
wird ;  hier  wurden  (1881)  1314  Männer  und 
31351  Frauen  in  der  Strohhutfabrikation 
gezählt;  für  ganz  Toscana  bezifferten  sich 
die  entsprechenden  Zahlen  auf  bezw.  1932 
und  43763;  ferner  für  die  Emilia  auf  bezw. 
1345  und  10363;  von  letzterer  Summe  ent- 
fallen auf  Bologna  und  Umgebung  bezw. 
447  und  3274,  auf  Modena  und  Umgebung 
bezw.  594  und  3960,  auf  Mirandola  und 
Umgebung  bezw.  98  und  1364:  die  übrigen 
zereplittem  sich.  Ausser  in  Toscana  und 
Emilia  findet  sich  eine  ausgedehnte  Stroh- 
hutfabrikation noch  im  Venetianischen  mit 
525  männlichen  und  4385  weiblichen  Ar- 
beitern. —  Bei  den  meisten  übrigen  In- 
dustriezweigen lassen  uns  bei  dem  Versuch, 
die  Anteile  der  Hausindustrie  zu  ermitteln, 
die  amtlichen  Zalüen  fast  .ganz  im  Stich, 
sei  es,  dass  die  betreffenden  hausindustriell 
betriebenen  Gewerbe  nicht  als  besondere 
Branchen  gezählt  sind,  sei  es,  dass  die  Per- 
sonenzahl einer  Erwerbskategorie,  wie  sie 
die  Statistik  angiebt,  einen  zu  kleinen  Pix)- 
zentsatz  Hausindustrieller  enthält,  als  dass 
sie  für  luiseren  Zweck  irgend  eine  Beileu- 
tuug  beanspruchen  dürfte.  Einen  leidlich 
klaren  Einblick  gestattet  uns  noch  die  Sta- 
tistik der  Handschuhfabrikation.  An 
dieser  nimmt  die  Hausindustrie  in  Gestalt 
der  Näherinnen  teil,  welchen  die  zug»^ 
schnittenen  Handschuhe  in  die  Wohnung 
zum  Zusammennähen  gegeben  werden ;  hier 
bezeichnet  also  die  Zahl  der  weiblichon 
b-Personen   im    wesentlichen    den  Umfanij, 


Hausindustrie 


1155 


welchen  die  Hausindustrie  in  dieser  Branche 
besitzt;  immerliin  wird  auch  hier  noch  ein 
kleiner  Abzug  für  Manufakturarbeiterinuen 
zu  machen  sein.  In  Italien  nähen  3445 
Frauenspersonen  Handschuhe;  Haupt  sitz 
dieser  Hausindustrie  ist  Neapel  mit  1626 
Arbeiterinnen,  danach  folgt  Mailand  mit  622 
Köpfen;  kleinere  Herde  finden  sich  über 
ganz  Italien  zerstreut  —  Die  übrigen  Ge- 
werbszweige, die  meines  Wissens  hausin- 
dustriell in  Italien  betrieben  w^erden,  seien 
zum  Schlüsse  nur  aufgezählt;  es  sind: 
Kleineisenindustrie,  namentlich 
Messer  fabrikation  (coltellinaj) ;  die  S  p  i  e  1  - 
waren  Verfertigung  (Spuren  in  Mailand  und 
Neapel);  gewisse  Zweige  der  Holzver- 
arbeitungsindustrie wie  Einlagear- 
beiten etc.  (z.  B.  in  Siena,  am  Golf  von 
Neapel,  an  der  ßiviera  etc.);  Anfertigung 
von  Streichhölzern  etc.  (in  Venedig); 
desgleichen  die  Glasindustrie  (Verferti- 
gung kleiner  Glaswaren,  Glasspinnerei  etcj. 
Eine  Besonderheit  Italiens,  über  die  icn 
jedoch  mich  genauer  nicht  imterrichten 
konnte,  scheint  die  Hausindustrie  im  Dienste 
des  Segelschiffsbaues  zu  sein;  liier 
werden  von  den  Küstenbewohnern  Teile  der 
Takelage  wie  des  Schiffskörpers  liausin- 
dustriell  für  die  Werften  angefertigt.  — 

9.  Bellen.  Es  sind  wertvolle  Er- 
hebungen tiber  die  Hausindustrie  vom  Of- 
fice du  Travail  im  Jahre  1896  angestellt, 
deren  wichti^te  Ergebnisse  mir  durch  die 
gütige  Vermittelung  des  Herrn  Professor 
Mahaim  in  Liege  schon  jetzt  zugänglidi 
gemacht  worden  sind.  Ich  teile  einige  davon 
im  folgenden  mit : 

Die  Zahl  der  Berufszweige,  in  denen 
Hausindustrie  vorkommt,  beträgt  56.  Die 
wichtigsten  hausindustriellen  Gewerbe  sind, 
unter  Berücksichtigung  ihrer  geographischen 
Verbreitung  folgende: 

Die  Wollweberei  imd  Weberei  ge- 
mischter Stoffe  hat  ihi'e  Hauptsitze  in 
und  um  Verviers  (1000),  in  und  um  Eeclos, 
in  und  um  Renaix  (2600),  St.  Nicolas  und 
Lokeren,  Braine  TAllend,  Turnhout. 

Die  Leinen  Weberei  bescliäftigt  eine 
zahlreiche  Bevölkenmg  in  Ost^  und  West- 
Flandern. 

Die  Baum  Wollweberei  ist  ausser 
in  der  Umgegend  von  Gent  in  der  Gegend 
der  Wollweberei  vertreten. 

Wenig  Jute-  und  Seidenhausweberei.  Im 
ganzen  wird  die  Zahl  der  in  der  liausin- 
dustriellen  Textilindustrie  beschäftigten  Per- 
sonen auf  40000  geschätzt. 

Die  Spitzenindustrie  ist  hauptsäch- 
lich verbreitet  in  den  Arrondissements 
Yypres,  Contrai,  Thielt,  Dixmude,  Roulei*s, 
Brügge,  Audenarde,  Alost,  Termonde,  in  dem 
Teil  des  Arrondissements  Brüssel,  der  an 
Alost  angrenzt  und  in  der  Stadt  Turnhout. 


Die  Tüllstickerei  wird  in  der  Stadt  Lien-e 
und  einigen  Gemeinden  des  Anx)ndissement8 
St.  Nicolas  betrieben.  Die  Gesamtzahl  der 
Spitzenarbeiterinnen  beträgt  zwischen  30000 
und  40000. 

In  der  Lütticher  Waffenindustrie 
wurden  in  Werkstätten  686,  in  ihrer  Häus- 
lichkeit 4856  hausindustrielle  Arbeiter  ge- 
zählt; letztere  beschäftigten  1110  Familien- 
mitglieder und  953  'fremde  Arbeiter.  Der 
Wert  der  Waffenausfuhr  betrug  im  Jahre 
1895  14  396  743  Francs,  1898  16  548  404 
Francs.  Diese  offiziellen  Angaben  über  die 
Zahl  der  hausindustriellen  Arbeiter  in  der 
Waffenindustrie  sind  auffallend  niedrig. 
Man  nahm  sie  im  allgemeinen  erheblich 
grösser  an  und  schätzte  sie  auf  40000.  Ich 
zähle  noch  die  wichtigsten  der  bisher  nicht 
genannten  belgischen  Hausindustrieen  auf ;  es 
sind :  Wirkerei,  Strohhutflechterei  (1600)^ 
Pantoffeln-  und  Schuhmacherei,  Seilerei 
(550),  Marmorschleiferei,  Gerbei-ei,  Tischlerei, 
Posamentenverfertigung,  Nägel-,  Ketten-  und 
Bolzenfabrikation,  Korsettinacherei  (1100), 
Handschuhmacherei,  Cigarren-  und  Ciga- 
retten-Industrie. 

Die  Gesamtzahl  der  Hausindustriellen 
beiderlei  Geschlechts  wird  für  ganz  Belgien 
auf  100000  bis  120000  geschätzt. 

10.  Russland.  Es  giebt  zahlreiche  Ziffem- 
angaben  über  die  Verbreitung  der  Hausin- 
dustiie  in  Russland,  doch  sind  die  meisten 
unzuverlässig.  Insbesondere  sind  dieSchätzun- 
gen  Andrajews,  von  denen  ich  in  der  ersten 
Auflage  dieses  Handwörterbuchs  mehrere 
mitteilte,  wie  man  heute  weiss,  sicher 
übertrieben. 

Im  Sommer  des  Jahres  1899  sind  neuer- 
dings Erhebungen  veranstaltet  w^oixlen, 
denen  mehi*  Vertrauen  scheint  entgegenge- 
bracht werden  zu  müssen.  Die  Ergebnisse 
sind  einstweilen  noch  nicht  veröffentlicht. 
Der  Güte  des  Herrn  Professor  Issaiew  in 
St.  Petersburg  verdanke  ich  jedoch  folgende 
Mitteilungen  daraus:  die  Gesamtzahl  der 
Kustari  wird  auf  1^/2  Millionen,  der  Wert 
ihrer  Produkte  auf  300  Millionen  Rubel 
jälu'lich  geschätzt.  Für  die  einzelnen  Gou- 
vernements liegen  folgende  Zahlen  ver: 

Moskau:  190000  Hausindustrielle,  75 
Millionen  Rubel  Wert  der  Jahi^esproduk- 
tion,  Hauptzweige  sind  Seiden-  und  teil- 
weise Baurawollweberei  mit  20  Millionen 
Rubel  Produktionswert,  ferner  Tisclilerei, 
Töpfer\\'aren,  Lederwaren,  Hornwaren. 

Twer:  gegen  150000  Hausindustrielle 
mit  25  Millionen  Rubel  Jahi^sproduktion 
(Schuhmacherei,  Holzbearbeitung). 

Nishni-Nowgorod:  60000  Hausin- 
dustrielle mit  15  Millionen  Rubel  Jahres- 
produktion (grobe  Waren  aus  Metall,  ver- 
schiedene Kurzwaren). 

Tula:  40000  Hausindustrielle   mit   20 

73* 


1156 


Hausindustrie 


Millionen  Rubel  Pi-oduktionswert  (Kurzwaren, 
GeschiiT,  Waffen,  Ackergeräte). 

Perm:  über  100000  mit  18  Millionen 
Rubel  Jahresproduktion  (Eisenbereituug, 
Töpferei,  Füzschuhwerk). 

Wjatna:  gegen  80000  mit  12  Millionen 
Rubel  Produktionswert  (Holz-  und  Leder- 
verarbeitung, Füzschuhwerk). 

üeber  das  Wesen  und  den  Entwicke- 
lungsgang  der  russischen  Hausindustrie  ist 
eret  jetzt  durch  die  wertvollen  Untersuch- 
ungen Tugan-Baranowskis  volles  Licht 
verbreitet. 

Es  sind  in  Russland  zwei  Typen  von 
Hausindustrieen  verbreitet:  diejenigen,  die 
langsam,  organisch  aus  den  bäuerlichen 
Hausgewerben  bezw.  Hausierhandwerken 
hervorgewachsen,  und  diejenigen,  die  in  An- 
lehnung an  oder  in  Konkurrenz  gegen  die 
kapitalistische  Fabrikindustrie  entstanden 
sind.  Zu  ersterer  gehören  u.  a.  das  Flechten 
von  Bastschuhen,  das  Filzwalken,  das  Weben 
von  dicker  Leinwand  und  Tuch,  die  Bött- 
cherei, die  Herstellimg  von  Holzprodukten, 
die  Kürschnerei,  die  Pelzmacherei  u.  a. 
Ihre  Entstehung  reicht  in  das  17.  und  18. 
Jahrhundert  zurück.  Diejenigen  Zweige  der 
Hausindustrie,^  die  erst  mit  dem  Auftreten 
des  Kapitalismus  entstanden  sind,  sind  vor- 
nehmlich die  Baumwoll-  und  Seidenweberei, 
die  »Patronen«industrie,  die  Handschuh- 
macherei, Posamentiererei  u.  a.  Die  Zeit 
ihrer  Entstehung  fällt  meist  erst  in  das 
19.  Jahrhundert,  und  wie  oben  S.  1141  schon 
erwähnt  wurde,  geht  ihnen  vielfach  eine 
Periode  des  gescldosseuen  Manufakturbe- 
triebes vorauf.  Wie  beispielsweise  die  gross- 
betriebliche Organisation  in  der  BaumwoU- 
industrie  in  den  1830  er  und  1840  er  Jahren 
der  hausindustriellen  Organisation  weicihen 
muss,  lehren  folgende  interessante  Ziffern: 


Einfuhr  von  Bamn- 

Zahl 

der  Fabrik- 

wolle  und  Baum- 

arbeiter   in   Baum- 

wollgarn nach 

woll  Webereien 

Russland 

in  Tausend  Pud 

1836 

94  75 1 

865 

1852 

81454 

j  960 

1857 

75517 

2765 

Nach  Meinung  unsercs  Gewährsmanns 
sind  die  Hausindustrieen  kapitalistischen  Ur- 
sprungs nach  Zahl  und  Produktions  wert  viel 
bedeutender  als  die  alten  Kustarge werbe 
volkstümlicher  Herkunft  aus  dem  Hausge- 
werbe. Er  schätzt  z.  B.  die  Zahl  der  in 
diesen  alten  Hausindustrieen  im  Gouverne- 
ment Moskau  beschäftigten  Personen  auf 
80  000,  d.  h.  nur  etwa  25^/0  aller  Kustaris 
daselbst. 

In  den  letzten  Jalu'en  beginnt  nun  aber 
die    russische   Hausindustrie    beider  Linien 


stark  vor  der  Konkun-enz  der  Fabrikiii- 
dustrie  zurückzuweichen,  ja  manchenorts  iii 
einen  raschen  Prozess  der  Auflösung  einzu- 
treten. Insbesondere  gilt  dies  für  den  wich- 
tigen Zweig  der  Baumwollindustrie.  In 
dieser  betrug  die  Zahl  der  Arbeiter  in  den 
50  Gouvernements  des  europäischen  Russ- 
lands : 


im 
Jahre 

1866 

1879 

1894—95 


in  geschlossenen 

Grossbetrieben 

(Fabrikindustrie) 

94566 

162691 

242051 


in  Kustarwerk- 

stätten 
(Hausindustrie) 

66178 

50152 

20475 


Andere  Gewerbe,  wie  namentlich  einige 
Zweige  der  Metall-  und  Holzverarbeitung, 
wo  die  Technik  gleich  schnelle  Fortschritte 
gemacht  hat,  halten  sich  noch  etwas  länger 
in  der  Sphäre  der  Hausindustrie.  Aber  das 
sind  doch  nur  Unterschiede  im  Tempo:  die 
Richtung  der  Gesamtentwickelung  ist  Ueber- 
führung  der  hausindustriell-bodenständigen 
in  die  grossbetrieblich-lokalisierte  Industrie- 
organisalion. 

11.  England.  Die  Geschichte  der  eng- 
lischen Hausindustrie  (domestic  System;  der 
englische  Name  für  Verleger  ist  Manufac- 
turer)  ist  eine  ebenso  grosse  und  rühmliche, 
wie  ihre  heutige  Bedeutung,  wenigstens  für 
aUe  schon  im  Banne  des  fabrikmässigeu 
Betriebes  stehenden  Gewerbserzeugnisse, 
gering  ist.  England  hat  den  notwendigen 
Uebergang  zu  dem  Manufaktur-  und  Fabiik- 
systeme  eben  in  einer  Reihe  wichtiger  In- 
dustriezweige (Textilindustrie!)  heute  schon 
vollzogen,  die  in  den  übrigen  europäischen 
Staaten  die  hausindustrielle  Betriebsfonn 
wie  eine  ewige  Ki-ankheit  von  Gesclilechtt» 
zu  Geschlechte  noch  immer  weiterschlepi)en. 
Was  an  bedeutenden  Hausindustrieen  heu- 
tigentags noch  in  Engkind  existiert,  sind  im 
wesentlichen  solche  öewerbszweige,  welche 
in  neuester  Zeit  ei-st  den  \Vandlungspit)zess 
vom  Handwerk  zum  Kapitalismus  vollziehen, 
also  namentlich  die  gi^ossen Bekleidungs- 
gewerbe, die  Schneiderei,  Schuhmac*he- 
rei  etc.,  in  denen  das  sogenannte  Sweating- 
system  eine  Rolle  spielt.  Leider  fehlen 
auch  für  England  zalüeiunässige  Angaben 
über  den  Umfang  der  Hausindustrie ;  einiges 
Material  haben  neuei'dings  die  Enqueten 
über  das  Sweatingsystem  geliefert;  danach 
arbeiteten  1883  von  20000  Schneidern  in 
East  London  15000  unter  dem  Sweating- 
system, 1888  18000—20000  Schneider,  da- 
runter eine  grosse  Anzahl  jüdischer  Kon- 
fession ;  in  Leeds,  wo  ebenfalls  das  Sweating- 
system vorherrscht,  waren  allein  in  der 
Kleiderfabrikation  3000  von  Sweatern  b<^- 
schäftigt.  Ganz  analog  wie  in  Deutschland 
liegen  die  Verhältnisse  in  England  für  di<* 
Möbeltischlerei.     Sie   befindet  sich  in 


Hausindustrie 


1157 


einem  Uebergangsstadium,  das  ausserordent- 
lich viel  Nuancen  der  Abhängigkeit  des 
weiland  Handwerksmeisters  vom  Kapital 
aufweist.  So  ist  beispielsweise  die  Lon- 
doner Tischlerei  im  wesentlichen  wie  die 
Berliner  organisiert.  Nach  einer  Schätzung 
von  Ch.  Booth  arbeiten  von  7000  Tisch- 
lern in  London  5700,  also  80  ^/o  in  Kleinbe- 
trieben mit  je  4 — 8  Personen.  Die  Textil- 
industrie weist  nur  noch  Spuren  einer 
einst  blühenden  Hausindustrie  auf.  Höch- 
stens die  Seidenindustrie  hat  als  Hausin- 
dustrie in  und  um  Macclesfield  noch  einige 
Bedeutimg.  Die  Baumwollindustrie  beschÖ- 
tigt  (nach  privaten  Mitteilungen)  noch  ca.  100 
Hausweber  in  Lancashire  (Bolton  und  Colnes), 
die  Wollindustrie  ca.  400—500  in  York- 
shire.  Die  Baumwollhausweber  befinden 
sich  in  leidlicher,  die  für  Wolle  in  nicht 
allzusehlechter,  die  für  Seide  in  sehr  elender 
Lage.  Von  anderen  noch  heute  in  England 
bestehenden  Hausindustrieen  sind  die  K 1  e  i  n  - 
eisenindustrie,  die  Strohflechterei 
u.  a.  von  geringer  Bedeutung  namhaft  zu 
machen.  Im  ganzen  ist  unsere  Kenntnis 
über  den  heutigen  Stand  der  englischen 
Hausindustrie  ganz  besonders  lückenhaft; 
eine  gründliche  Bearbeitung  der  Entwicke- 
lung  der  dortigen  Hausindustrie  bis  in  die 
Neuzeit  w^äre  mit  grosser  Freude  zu  be- 
grüsseu. 

12.  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 

In  den  U.  S.  A.  ist  von  irgend  welcher  Be- 
deutung nur  jene  Species  von  Hausin- 
dustrieen, die  wir  als  »moderne«  bezeichnet 
haben.  Mag  auch  eine  Reihe  von  Industrieen, 
in  denen  wir  heute  die  hausindustrielle  Be- 
triebsfoi-m  noch  immer  mitschleppen,  auch  in 
den  Vereinigten  Staaten  in  ihrer  Kindheits- 
periode veriagsmässig  organisiert  gewesen 
sein:  sobald  die  Technik  eine  produktivere 
Verwendung  der  Ai'beitskraft  ermöglichte, 
müsste  drüben  imweigerlich  die  rückständige 
Form  ihr  weichen.  Dafür  sorgte  der  infolge 
immer  vorhandenen  Unterangebots  von  Ar- 


beitskräften stets  hohe  Preis  der  Arbeits- 
kraft. Erst  als  in  neuerer  Zeit  der  Strom 
der  Einwanderer  niedrigster  Qualität  immer 
mehr  anschwoll,  ward  die  Zeit  für  haus- 
industneUe  Betriebsweise  auch  in  den  ü.  S.  A. 
erfüllt  und  wir  vernehmen  von  zahlreichen 
modernen  Hausindustrieen  zum  Teil  neuesten 
Datums.  Sie  fassen  Boden  naturgemäss 
zunächst  in  den  grösseren  Städten  des  Lan- 
des. Die  wichtigsten  Zweige  dieser  Haus- 
industrie sind  die  Anfertigung  von  Cigarren, 
Börsen,  Federn,  künstlichen  Blumen,  vor  allem 
aber  Kleidern.  Die  hausindustrielle  Kon- 
fektion, ebenfalls  unter  dem  Namen  »  S weating- 
system«  populär  geworden,  hat  in  den  Städ- 
ten der  Vereinigten  Staaten,  namentlich  seit 
den  1880  er  Jaliren  einen  ganz  enormen 
Aufschwung  genommen.  Es  ist  von  be- 
sonderem Interesse,  w^ie  oben  schon  hervorr 
gehoben  wurde,  dass  die  hausindustrielle 
Organisationsform  die  schon  in  der  Entwdcke- 
liuig  begriffene  Fabrikorganisation  vielerorts 
(z.  B.  in  Clücago)  verdrängt  liat,  dank  eben 
vor  allem  dem  Zuströmen  jener  ausbeutungs- 
fähigen Arbeitermassen. 

Die  Ausdehnung  der  hausindustriellen 
Betriebsweise  in  den  U.  S.  A.  lässt  sich 
nicht  mit  Bestimmtheit  angeben,  da  der  Cen- 
sus  der  Vereinigten  Staaten  bisher  noch 
nicht  die  HausindustrieUen  gesondert  ge- 
zählt hat.  Ebenso  enthalten  die  Veröffent- 
lichungen des  Arbeitsamtes  der  Vereinigten 
Staaten  bisher  noch  keinerlei  statistische 
Angaben  über  diesen  Gegenstand.  Der  in 
einer  der  letzten  Nummern  des  Bidletins 
des  Arbeitsamts  erschienene  Aufsatz  über 
das  Sweatingsystem  beruhte  auf  unvoll- 
ständigem Material  und  hat  keinen  statisti- 
schen Wert.  Genauere  Angaben  über  die 
hausindustrielle  Konfektion  im  Staate  Illinois 
(Chicago)  enthält  der  Bericht  des  Fabrik- 
inspektors für  Illinois  vom  Jahre  1896,  aller- 
dings beschränkt  auf  die  Werkstattarbeit  — 
also  ohne  Berücksichtigung  der  Heimarbeit. 

Danach  gab  es  im  Staate  Illinois: 


Werkstätten 

Männer 

Frauen 

Kinder 

Insges.  besch.  Pers 

1893 

704 

2611 

3617 

595 

6823 

1894 

1413 

4469 

5912 

721 

II  102 

1895 

1715 

5817 

7  780 

1307 

14904 

1896 

2378 

6383 

7  181 

I  188 

14752 

Chicago  hat  sich  zum  Hauptsitz  der 
amerikanischen  Konfektion  entwickelt,  die 
sich  in  24  riesigen  Engros-  imd  einer  Menge 
anderer  Häuser  koncentriert.  Nach  einer 
Schätzimg  der  Florence  Kelley  liefert  Chi- 
cago mindestens  für  18  von  den  44  Staaten 
der  Union  die  fertigen  Kleider. 

Ueber  die  Entstehung  der  hausindustri- 
ellen Konfektion  in  Clücago  erfaliren  wir 
insbesondere  folgendes  (vgl.  Florence 
K  e  1 1  e  y ,  a.  a.  0.  S.  211  ff.).    Die  verhältnis- 


mässig geringe  Menge  fertiger  Kleider,  die 
in  Chicago  vor  dem  Jahre  1885  hergestellt 
wurde  (die  Hauptmasse  der  Bekleidung 
wurde  entweder  noch  von  Kundenmass- 
schneidern angefertigt  oder  importiert),  war 
das  Produkt  einzelner  Fabriken,  die  haupt- 
sächlich Mädchen  als  Maschinenarbeiterinnen 
beschäftigten  und  die  wenige  Arbeiterinnen 
hatten,  die  nicht  englisch  sprachen.  Die 
Mädchen  verdienten  wöchentlich  4 — 16  $, 
im  Durchschnitt  während  der  Saison  10  $. 


1158 


Hausindustrie 


Eine  Aendening  trat  ein,  als  die  russischen 
Juden  und  Böhmen  sieh  ansiedelten.  Diese 
kannten  den  Dampfbetrieb  nicht,  waren  aber 
anderereeits  bereit,  ihre  eigene  Arbeitskraft 
in  weitestgehenderweise  ausnützen  zu  lassen. 
Den  Fabrikarbeiterinnen  erwuchs  in  diesen 
elenden,  verlotterten  Massen  eine  vernichtende 
Konkurrenz.  Die  Arbeitszeit  wiu-de  aus- 
gedehnt, die  Löhne  fielen,  eine  Verständi- 
gung mit  dem  fremdsprachigen  Gesindel 
war  nicht  möglich.  So  blieb  den  IViMchen 
nichts  anderes  übrig,  als  selbst  in  die  ver- 
schlechterten Arbeitsbedingungen  zu  willigen 
oder  das  Gewerbe  aufzugeben.  Letzteres 
war  die  Regel.  Die  Fabrik  verschwand. 
Die  Schwitzwerkstatt  hatte  sie  verdrängt 
und  beliauptete  in  Zukunft  allein  das  Feld. 
Ganz  analog  hat  sich  die  Konfektion  in 
l^ew-York  entwickelt. 

IIL  Beurteilung  der  Hausindustrie.  Ziele 
hausindustrieUer  Politik. 

Die  Anschauung  über  den  Wert  der  Haus- 
industrie und  die  Nützlichkeit  ihres  Fort- 
bestandes haben  in  den  letzten  Jahren  eine 
w^esentUche  Wandlung  erfahren.  Die  noch 
vor  kiu-zem  herrschende  Auffassung,  die  sich 
im  Avesentlichen  auf  Grund  der  Kenntnis 
der  älteren  Hausindustrie  in  früherer  Zeit 
gebildet  hatte,  legte  den  dem  hausindus- 
triellen Betiiebssystem  wirklich  oder  ver- 
meintlich anhaftenden  Vorzügen,  welche  ihm 
im  Gegensatze  zum  Manufaktur-  und  Fabrik- 
system eigentümlich  seien,  als:  grössere 
Freiheit  der  Arbeiter  in  der  Regelung  ihi*er 
Arbeitszeit,  Arbeit  in  der  Familie,  geringere 
Gefahr  moralischer  Yerderbnis  etc.  eine  so 
ausschlaggebende  Bedeutung  bei,  dass  sie 
die  Erhaltung  der  Hausindustrie  nach  Kräften 
anstrebte. 

Eine  Minderheit  von  Beurteilern,  die  das 
Elend  der  niedergehenden  alten  Hausindus- 
trie in  jün^ter  Zeit  und  auch  die  neuere 
Hausindustrie  aus  eigener  Anschauung  kannte, 
sah  die  Hausindustrie  nicht  in  dem  gleich 
rosigen  Lichte,  erachtete  die  theoretisch 
vorliandenen  Vorzüge  in  Wirklichkeit  meist  als 
durch  die  elende  Lage  der  Hausindustriellen 
iUusorisch  gemuht,  wollte  anderei-seits  viele 
ihrer  Vorzüge  als  nicht  notwendig  mit  dem 
Fabrikbetrieb  unvereinbar  gelten  lassen  und 
betonte  die  wesentlichen  Nachteile  der 
hausindustriellen  Betriebsform  für  den  Ar- 
beiter, auf  die  oben  bereits  hingewiesen 
wurde.  Ihr  Wunsch  war  auf  möglichst 
sclunerzlose,  aber  rasche  Beseitigiuig  der 
Hausindustrie  gerichtet.  Diese  Auffassimg 
nun  ist  im  Begriff  die  heute  immer  mehr 
hen'schende  zu  wei-den ;  dank  vor  allem  der 
Ent Wickelung  der  letzten  Jahre,  die  ebenso- 
sehr dfis  unaufhaltsame  Dahinschwinden  der 
alten,  mit  romantiscliem  Zauber  umwobenen 
ländlichen    Hausindustrie    wie    das  Ueber- 


wiegen  der  Schädliclikeiten  in  der  heute  immer 
mehr  den  Ton  angebenden,  modernen  städ- 
tischen Hausindustrie  dargethan  hat.  So 
ist  denn  heute  auch  das  Augenmerk  der 
Sozialpolitik  viel  weniger  auf  Erhaltung  als 
auf  Abstellung  der  Uebelstände  in  der  Haus- 
industrie und  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
deren  thunlichst  allgemeine  Beseitigiuig 
gerichtet. 

Man  weiss  heutzutage,  dass  die  Haus- 
industrie im  wesentlichen  dazu  dient,  die 
Vorschriften  des  Arbeiterschutzes  und  teil- 
weise auch  noch  der  Arbeiterversicherung 
zu  umgehen  und  die  Organisation  der  Ar- 
beiter in  Berufs  vereinen  zu  erschweren, 
damit  aber  die  beiden  wichtigsten  Hand- 
haben der  sozialen  Reform  zur  ünbrauch- 
barkeit  zu  verdammen.  Die  Hausindustrie 
ist  in  den  meisten  Fällen  heutzutage  nicht 
nur  eine  Quelle  des  Elends  für  diejenigen, 
die  in  ihr  arbeiten,  sondern,  was  noch  viel 
schlimmer  ist,  ein  Hemmschuh  für  die  fort- 
sclireitende  Entwickelung  auf  dem  Gebiete 
der  gesamten  Industrie  eben  dadurch,  dass 
sie  die  Bestrebungen  vereitelt,  die  dem  Ar- 
beiterschutz und  der  Gewerkschaftsliewegung 
zu  Grunde  liegen  und  deren  segensvolle 
Wirkung  nicht  nur  die  Hebung  der  augen- 
blicklich thätigen  Arbeiter,  sondern  vor  aflem 
auch  die  Besclileunigung  des  wirtschaftlichen 
Fortschritts  ist.  Die  Postiüate  einer  mo- 
dernen hausindustriellen  Politik  müssen 
deshalb  heute  mehr  denn  je,  so  wenig  man 
die  technischen  Schwierigkeiten  zu  ver- 
kennen braucht,  die  ihrer  Verwirklichung 
entgegen  stehen,  immer  noch  diese  sein: 
Ausdehnung  des  Arbeiterschutzes 
auf  die  Hausindustrie  und  Organisation 
der  hausindustriellen  Arbeiter. 

Quellen  und  Litteratur:    A,  Allgemeines 

und  Verschiedenes.  Aiu  der  älteren 
Liüeratur  »ind  die  Schriften  der  deut- 
schen Kameralisten  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts fnEntdeckte  Goldgrube«,  Frhr.  ron 
Schröder,  J.  H.  G,  von  Justi  u.  a.)  namhafi  zu 
machen  als  solche,  in  denen  von  der  neuen  ge- 
werblichen  Organisationsform,  detn  Verlagssystem, 
öfters  im  Gegensalz  zum  Handwerk  und  zum 
Manufakturbetriebe  die  Rede  ist.  —  Schaffte f 
Art.  Hau4tinduHrie  im  St.W.B.  v.  Bluntschli 
und  Brater,  1860.  —  W,  Röscher ,  Ueber  In- 
dustrie im  Grossen  und  Kleinen.  (»Ansichten  der 
Volkswirtschaft  aus  dem  geschichtlichen  Stand- 
punkte«, 1861).  —  Korssakf  Von  den  Formen 
des  Gewerbebetriebs  überhaupt  und  von  der  Be* 
deutung  der  häuslichen  Produktion  im  westlichen 
Europa  und  in  Russland,  1861  (in  russischer 
Spra^che).  —  K,  Marx,  Das  Kapital,  1.  Auß., 
1867.  —  H.  Rentschf  Artikel  n Hausindustrien 
in  seinem  Handwörterbuch  der  V.W.Lehre,  1866, 
2.  Aufl.,.  1870.  —  O.  Schwarz,  Die  Betn'fbs- 
fortnen  dei'  modernen  Grossindfistrie  (Zeüschr.  f. 
Staatsw.,  1869).  —  9.  Internationaler 
Statistischer  Kongress,  Budafpest  1876 
(Referate  von  M.  Wirt,  K.  Kerkapoly,  K.  Herich 


Hausindustrie 


1159 


nebst  den  Verhandlungen  in  der  fV.J  Sektion 
und  im  Plenum),  —  Ad,  Held,  Handwerk  und 
Grossindtistrie,  Vortrag,  gehalten  in  der  Sing- 
akademie tu  Berlin  am  gl.  IL  1881,  —  Qust. 
Sehönberg,  Gewerbe,  I.  Teil,  in  seinem  Hand- 
buch der  politischen  Oekonomie,  2,  Bd,,  4.  Aufl., 
1896.  —  Herrn.  Grothe,  Der  Einfltiss  des 
Manchestertum»  auf  Handwerk  und  Hausindus- 
trie etc.,  I884,  —  Alex.  Stellmacher^  Ein 
Beitrag  zur  Darstellung  der  Hausindustrie  in 
Bussland,  I.  theoretischer  Teil,  1886.  — -  Gust. 
SchtnolleTf  Die  Hausindustrie  und  ihre  älteren 
Ordnungen  und  Reglements  (Jahrb.  f.  Ges.  und 
Vcrw.,  XI,  1887).  —  G.  Merckel,  Die  Hygiene 
in  Handwerk  und  Hausindustrie.  (nGewerbe- 
sekitun  1888,  Nr.  16—17.)  —  Ad.  Braun,  Zur 
StatUtik  dei'  HansindustHe,  1888.  —  W.  Stleda, 
Litteraiur,  heutige  Zustände  und  Entstehung  der 
deutschen  Hau*industHe  (Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp., 
Bd.  S9,  1889,  1.  Abschnitt).  —  lAidw.  Fuld, 
Hausindustrie  und  Arbeiterschutz  (i> Deutschlands 

1889,  yr.  23).  —  X/h/o  BrenlanOf  Ueber  die 
Ursachen  der  heutigen  sozialen  Not.  Ein  Bei- 
trag  zur  Morphologie  der  VolkswirUchaft,    1889. 

—  Gu9t  Schmoller,  Die  geschichtliche  Ent- 
"wickelung  der  Unternehmung.  V.  Die  Haus- 
industrie. VI.  Das  Beeilt  und  die  Verbände  der 
Hausindustrie  (Jahrb.  f.  Ges.  und  Vene.  XIV, 
XV,  1890191).  —  Karl  Bücher,  Hausfleiss  u. 
Hausindustrie  (nHandelsm^iseumn  Bd,  V,  1890, 
Nr.  31,  3>i,  88).  — Derselbe,  Artikel  »Gncerben 
in  diesem  Handwörterbuch.  —  Derselbe,  Die 
gewerblichen  Betriebsformen  in  ihrer  historischen 
EntWickelung  (S.A.  aus  der  Festschrift  der  Tech- 
nischen Hochschule  zu  Karlsruhe  etc.),  1894.  — 
Derselbe,  Die  Entstehung  der  Volkswirtschaft, 
£.  Aufl.^  1898.  —  Hausindustrie  und 
Landwirtschaft  (Zeitschr.  f.  Agrarpolitik, 
1890).  —  Ausdehnung  des  Arbeiter- 
schutzes auf  Werkstätten  und  Haus- 
industrie (nArbeü^rwohln,  red.  von  F.Hitze, 

1890,  Heß  7  und  8).  —  Pranz  Ziegler,  Die 
sozialpolitischen  Aufgaben  auf  dem  (rebiete  der 
Hausindustrie,  1890.  —  Werner  Sombart, 
Die  Ha^isindustrie  in  Deutschland  (Arch.  f.  soz. 
Gesetzg.  u.  StcU.,  Bd.  IV,  1891).  —  Derselbe, 
Zur  neueren  LiUenUur  über  Hausindustrie,  1891 
—1898  (Jahrb.  f.    Nat.-Oek.,   III.    F.,   Bd.    VI). 

—  Derselbe,  Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre 
Organisation  (Arch.  f.  soz.  Gesetzg.  und  Stat., 
Bd.  XIV).  —  Sinxheimer,  Ueber  die  Grenzen 
der  Weiterbildung  rfe«  fabrikmässigen  Gross- 
betriebs, 1893.  —  «/.  de  la  VaU4e  Potissin, 
Le  travail  autonome  au  XIX.  sc.  (Bev.  gener. 
BruxeUes  1893).  —  P.  du  Maraussem,  Les 
grands  magasins  tels  qu'ils  sont  (Bev.  d*ieon. 
pol,  Nm\  1893).  —  B,  Potter,  Comment  en 
ßnir  arec  le  sirea4ing  System  (ibid.).  —  DtC" 
selbe,  Jl  salario  del  sudore  (sweating  System), 
(Biforma  sociale  Anno  I.,  1894).  —  Henry  W. 
Wolff,  A  defence  against  nsweating«  (Econom. 
Beviev,  April  1894).  —  P«  BinehetU,  L*in- 
dustria  deUa  seta  sfd  ßnir  del  secolo  XIX, 
I894.  —  E,  Schttiedland ,  Essai  sur  la 
fabrique  coüecHve  (Bevue  d*econ.  politique,  Nov. 
1893).  —  Derselbe,  Kleingewerbe  und  H.I. 
in  Oesterreieh,  1894,  S^-  I'  —  Derselbe,  Haus- 
industrie und  Siceatingsystem.  Ihre  Form  und 
ihre  sozialen  Schäden,  1896.  —  Derselbe,  1., 
i.,  3.  Vorbericht  über  eine  gesetzliche  Begelung 
der   Heimarbeit,    1896 f.   —  Derselbe,    La    re- 


pression  du  tiarail  en  chambre  (Congres  inter- 
national de  Legislation  du  travail,  BruxeUes 
1897),  aus»i  puMie  dans  la  Bev.  d'econ.  pol. 
1897,  Nr.  6—9.  —  Derselbe,  Die  Heimarbeit 
und  ihre  staatl.  Begelung.  (nlkis  Lebenu,  1897). 

—  Derselbe,  Formen  und  Begriff  der  Haus- 
industrie (Jahrb.  f.  Nat.-Oek.,  III.  F.,  Bd.  XVI, 
1898).  —  Derselbe,  Soziale  Kampfmittel  icider 
die  Heimarbeit  (Soz.  Prax.  VIII,  43).  —  Der- 
selbe.  Die  Begistrierung  der  Heimarbeiter  (Soz. 
Praxis  VII,  1897198).  —  P,  du  M.,  La  fabrique 
collective  d'apres  l*Sc<de  allemande  (La  Beforme 
sociale,  1894).  —  J,  Choral,  Vn  mot  sur  la 
decentralisation  de  V Industrie  dans  les  cam- 
pagnes  (ib.).  —  E,  de  Levasseur,  Le  siceating 
System  (Bev.  d'Scon.  pol.  1896).  —  Ueber 
Kategorieen  der  Heimarbeit  (Deutsche 
Worte  XVI,  1896,  12.  Heft).  ~  Maurice 
Ansiaux,  TVai^ail  de  nuit  des  ouvrieres  de 
l'industrie  dans  les  pays  etrangers  (France, 
Suisse,  Grande-Bretagne,  Autriche,  AUemagnej. 
Bapport  presentS  ä  M.  le  ministre  de  l'industrie 
et  du  Travail,  BruxeUes  1898.  —  A,  Weber, 
Hausindustrielle  Gesetzgebung  und  Sweating- 
System  in  der  Konfektionsindustrie  (Schmollers 
Jahrbuch,  Bd.  XXI,  1897).  —  Derselbe,  Neuere 
Schriften  über  die  Konfektionsindustrie  (Arch.  f. 
soz.  Gesetzg.,  Bd.  XV).  —  H.  Lanibrechts, 
Le  travail  des  couturi^res  en  chambre  et  sa 
reglementation ,  1897.  —  Congres  inter- 
national de  Legislation  du  Travail. 
Tenu    d    BruxeUes    du    27    au     SO    septembre 

1897.  Bapports  et  campte  rendu  analytique 
des  seances  publies  par  le  bureau  de  la  com- 
mission  d* Organisation  1898.  Die  IV*  qu^tion,  die 
dieser  Kongress  erörtert  hat,  lautete:  nConvient 
il  de  reglementer  les  condiUons  du  travail  dans 
la  petite  industrie  et  dans  l'industrie  ä  domicile  1 
Dans  Vaffermative,  quelles  seraient  les  mesures 
prati^ues  d  rSeommander  f  a  Mit  diesen  Fragen 
beschäftigte  sich  der  Kongress  in  seiner  ßlnft^i 
Sitzung,  und  ausserdem  lagen  zu  dem  Gegen- 
stande eine  Beihe  von  Beferaten  vor,  die  a.  a.  O. 
abgedruckt  sind.  —  H,  Orätzer,  Hausindustrie 
und  ArbeiterschfUz   (Soz.   Praxis    VII,   1897(98). 

—  O.  Fauquel,  Essai  sur  le  travail  en 
chambre    considire    au  point    de   true  sanitaire, 

1898.  —  JB.  lÄefmann,  Ueber  Wesen  und 
Formen  des  Verlags  (der  Hausindustrie).  Ein 
Beitrag  zur  Kenntnis  der  volkswirtschaftlichen 
Grganisationsformen,  1899.  —  E,  Branche, 
Die  Hausindustrie  und  ihre  Begelung  (Neue 
Deutsche  Bundschau,  Dezember  1899).  —  A, 
Skvaine,  Einige  Bemerkungen  über  das  Wesen 
der  Hausindustrie  (SchmoUers  Jahrb.,  Bd.  XXIV, 
1900). 

B.  Einzelne  Länder.  I.  Deutschland. 
1.  Im  allgemeinen,  a)  Litteratur:  John 
Bowring,  Berieht  über  den  deutschen  Zollver- 
band an  Lord  Paimerston.  Aus  dem  englischen 
übersetzt  von  F.  G.  Buek,  I84O.  —  D.  Born, 
Die  deutsche  Exportindustrie  (Jahrb.  f.  Nat.  u. 
Stat.  /,  1864).  —  -^w  Geschichte  der 
deutschen  Wollenindustrie  (ebenda  Bd. 
VI  und  VII,  1866167).  —  GvsU  SchmoUer, 
Zur  Geschichte  der  deutschen  Kleingewerbe  im 
19.  Jahrhundert,  1870.  —  Derselbe,  Die  Ent- 
itickelung  und  die  Krisis  in  der  deutschen 
Weberei  im  19.  Jahrhundert,  1876.  — A.  Fleisch' 
mann.  Die  selbständige  deutsehe  Hausindustrie 
und  ihr  Grosshandel.    Eine  volkswirtschaftliche 


\ 


1160 


HausiDdustrie 


Mahnung,  1879.  —  W.  SHeda,  DeitUclie  Fa- 
brikzustände  (Preuss,  Jahrb.  Bd.  51,  188S),  — 
l}er8elbef  Die  Jfausindiistrie  im  Deutschen 
Reiche  (Hirths  Ann.  1884  wd  in  Jhreuss.  Jahrb. 
Bd.  57,  1886).  —  Derselbe  in  dem  oben  unter 
A  angeführten  Buche.  —  Jüudw,  Elster,  Die 
Fabrikinspektixmsberichte  und  die  Arbeiterschutz- 
gcMtzgebung  in  Deutschland  (Jahrb.  f.  Not.  u. 
Stat.  y.  F.  11,  1885).  —  Der  Umfang  der 
Hausindustrie  im  Deutsch  en  Reiche 
(ZeiUchr.  f.  Volksw.,  herausg,  v.  F.  Hom,  1887, 
i).  —  Die  Frauen-  und  Kinderarbeit 
in  der  Fabrik-  und  Hausindustrie 
(Deutsche  Gemeindezeitung,  1887,  JVr.  27).  — 
Die  Zukunft  der  Hausindustrie  (Deut- 
sche illustrierte  Gewerbezeitung,  1887,  Nr.  9; 
desgleichen  im  nNordwestu,  1887,  jSt.  S8;  des- 
gleichen     in     der    Deutschen     Industriezeitung, 

1887,  Nr.  U).  —  Karl  Stratiss,  Die  Hatts- 
industrie  im  Deutschen  Reiche  (Jahrb.  f.  Not. 
u.  SUU.  N.  F.  14,  1887).  —  Jlf.  Schoene,  Die 
moderne  Entxcickelung  des  Schuhmacher geioerbes, 
1886.  —  Bruno  Schoenlanh,  2kir  Lage  der 
in  der  Wäscfiefabn'kation  und  der  Konfektuyns- 
branche  Deutschlands  beschäftigten  Arbeilerinnen 
(»Neue  Zeitu  VI,  1888,  S,  116—188).  —  P. 
KoUtnann,  Die  Verbreitung  und  Lage  der 
deutschen  Hausindustrie    (Deutsches    Wochenbl., 

1888,  Nr.  82,  SS).  —  K.  Franekenstetn,  Die 
Lage  der  Arbeiterinnen  in  den  deutschen  GrosS' 
Städten   (Jahrb.  f.  Ges.  und  Veru\,  XII,   1888). 

—  Dietrichj  Die  Gewerbthätigkeit  des  weibl. 
Geschlechts  in  den  deutschen  Chrossstädlen  (y^Di^ 
Frau  im  gemeinnützigen  Lebenn,  III,  1888).  — 
P.  KampffmeyeTf  Die  Hausindustrie  in 
Deutschland,  ihre  Entio^ickelung ,  ihre  Zustände 
und  ihre  Reform,  1889.  —  W.  Sonibart  a.  a.  O. 
(s.  unter  A).  —  Herrn.  Gebhard,  Die  In- 
valid itäts-  und  Altersversicherung  der  Hausge- 
werbetreibenden der  Tabakfabrihation,  189h  — 
M.  Quarckf  Zur  Fntwickelung  der  Haus- 
industrie in  Deutschland  (Sozialpolitisches  Cen- 
tralblaU,  Bd.  I,  189g).  —  Untersuchungen 
über  die  Lage  des  Handwerks  inDeutsch- 
land mit  besonderer  Rücksicht  auf  seine  Kon- 
kurrenzfähigkeit gegenüber  der  Gross  Industrie 
(Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik,  Bd.  62 
— 70,  1895 ff.;  soll  citiert  werden  mit  U.  I.,  II 
etc.).  —  Joh,  Ttmnif  Bestrebungen  der  deut- 
schen Schilder  zur  Herstellung  von  Betriebs- 
werkstätten (Soziale  Praxis,  Bd.  V,  1895J96).  — 
Derselbe f  Das  »Swea^lingsystem,»  in  der  deut- 
schen Konfektionsindustrie,  1895.  —  Derselbe, 
Die  Konfektionsindustrie  und  ihre  Arbeiter,  1897. 

—  Derselbe,  Neuere  Untersuchungen  über  die 
Lage  der  deutschen  Konfektionsarbeiter  (nNeue 
Zeitii  XVII,  1,  1898199).  —  Helene  Lange, 
Die  Lage  der  Arbeiterinnen  in  der  Wcische-  und 
Konfektionsindustrie  (vtDie  Fraun,  III.  Jahrg., 
1895196).  —  Dieselbe,  Die  Frau  in  der 
Konfektion  (ebenda  IL  Jahrg).  —  (J,  t,)  Gegen  das 
Sweatingsystem  in  der  deutschen  Konfektions- 
industrie {Sozialdemokrat  vom  6.  VI.  1895).  — 
J8.  Heymann,  Dis  Lohnbewegung  in  der  Kon- 
fektionsindustrie (nNeue  ZeüvL  XIV,  1, 1895  96).  — 
£,  Hirschberg,  Die  Verbesserung  der  Lage 
der  Konfektionsarbeit^r  auf  genossenschaftlichem 
Wege  (Soziale  Praxis,  Bd.  V,  1895\96).  —  Oda 
Olberg,  Das  Elend  in  der  Hausindustrie  der 
Konfektion,  1896.  —  Das  Arbeiter  elend  in 
der    Konfektionsindustrie     vor     dem     Deutschen 


Reichstage  (Sien.  Ber.  über  die  Verhandl.  vom 
12.  II.  1896),  1896.  —  F,  Mehring,  Der  Lokn- 
kampf  in  der  Konfektionsindnslrie  (nNeue  Zeita 
XIV,  1).  —  Ad,  Braun,  Die  nächsten  Auf- 
gahen  der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik 
(Soziale  Praxis  1896,  Nr.  28).  —  O,  Weigert, 
Die  Krankenversicherung  in  der  Hausindustrie 
(Soziale  Praxis,  Bd.  VI,  1896197).  —  Derselbe, 
Die  obligatorische  Krankenversicherung  der  Haus- 
industriellen  (Schmollers  Jahrbuch,  Bd.  XXIII, 
1899).  —  JP,  Blankenstein,  Die  Ausdehnung 
der  Krankenversieherung  auf  die  Ha^uindustrie 
(Anh.  f.  soz.  Gesetzg.,  Bd.  X,  1897).  —  Jf.  von 
Schulz,  Die  Stellung  der  Heimarbeiter  im  deut- 
schen dewerberecht  (ebenda),  —  A,  Weber,  Das 
Sweatingsystem  in  der  Konfektion  und  die  Vor- 
schläge der  Kommission  für  ArbeiterstatisUk 
(ebenda).  —  Derselbe,  Der  Arbeüerschutz  in  der 
Konfektion  und  verwandten  Gewerben  (Soziale 
Praxis  VIII,  189899.  Nr.  26).  —  Det-selbe.  Be- 
schränkung der  Heimarbeit  in  der  Konfektions- 
industrie (ebenda  Nr.  27). — JB.  Seh\riedland,  Die 
Regelung  der  Heimarbeit  und  Graf  von  Posii- 
dowski  (Soziale  Praxis,  Bd.  VII,  'l897j98).  — 
Dodd,  Die  Wirkung  der  Schutzbestiwtmungea 
für  die  jugendlichen  U7id  weibliehen  Fabrik- 
arbeiter und  die  Verhältnisse  im  Konfektions- 
betriebe in  Deutschland,  1898,  —  G.  Dyhren» 
furth.  Die  gesetzliche  Behandlung  der  Konfek- 
tionsindustrie (nDie  Zukunfiiif  22.  IV.  1899).  — 
JP.  Zahn,  Die  deutsche  Spielwarenindustrie 
(Jahrbücher  f  Nat-Oek.,  III.  F.,  Bd.  XVII, 
1899).  —  E,  Jaff^,  Die  gesetzliche  Regelung 
der  Cigarrenhatts Industrie  (Soziale  Praxis  VIII, 
S6,  8.  VI.  1899).  —  Derselbe,  Hausindustrie  und 
Fabrikbetrieb  in  der  deutschen  Cigarrenfahrikation 
(Sehr,  des  Ver.  f.  Soziale  Praxis,  Bd.  86,  1899). 

—  P.  Voigt,  Die  deutsche  Mobelfabt-iJxUion 
(Sehr,  des  Ver.  f.  Sozialep.,  Bd.  87,  1899).  —  R 
Fra/ncke,  Die  deutsche  Schuhmacherei,  (ebenda). 

—  Viel  Material  ßndet  sich  auch  in  den  zahl- 
losen Fachzeitschriften,  unter  tlenen  der 
üKonfektionära  sich  durch  Reichhaltigkeit 
auszeichnet, 

b)  Amtliche  Publikationen.  Ergeb- 
nisse der  Berufs-  und  Gewerbestatis- 
tik vom  5.  VI.  1882  in  der  Statistik  des  Deut- 
schen Reichs,  N.  F.,  Bd.  ^,  6,  7.  —  Ergeb- 
nisse der  von  den  Bundesregierungen  ange- 
stellten Ermittelungen  über  die  Ijohnverhdltnisse 
der  Arbeiterinnen  in  der  Wäschefabrikation  und 
der  Konfektionsbranche  sowie  über  den  Verkauf 
oder  die  Lieferung  von  Arbeitsmaterial  seitens 
der  Arbeitgeber  an  die  Arbeiterinnen  und  iiber 
die  Höhe  der  dabei  berechneten  Preise.  Ikm 
Reichstage  am  29.  IV,  1887  vorgelegL  —  Er- 
gebnisse der  Berufs-  und  Gewerbe- 
Zählung  vom  I4.  VI.  1896  in  folgenden  Bän- 
den der  Reichsstatistik  publiziert:  Haupter- 
gebnisse der  Bervfszählung  vom  I4.  VI.  1895. 
Ergänzungsheft  zu  (Vierteljahrs-) Heft  III,  1896.  — 
Hauptergebnisse  der  gewerblichen  Betnebs- 
zählung  vom  I4.  VI.  1895:  Ergänzungsheß  zu 
(Vierteljahrs-)  Heß  I,  1898.  —  Die  Ergeb- 
nisse der  Statistik  selbst  ßUien  Statistik  des 
Deutschen  Reichs,  N.  F.,  Bd.  102 ß.  -—  Für  die 
Hwcsindustrie  in  Betracht  kommen:  Bd.  lOi, 
108  (Berujsstatistik  für  das  Reich  im  ganzen); 
Bd.  113  (Gewerbestatistik  für  das  Reich  im. 
ganzen)  ;  Bd.  115  (Cfew.-Stat,  der  Bundesstaaten) ; 
Bd.  116   (desgl.   der  Grossstädte) ;    Bd.  119  (Zu 


Hausindnstrie   * 


llGl 


sammenf aasende  Darstellung   der  Geiv.- Statistik). 

—  Amtliche  Mitteilungen  aus  den 
Ja  hreshe richten  der  mit  Beaufsich- 
tigung der  Fabriken  betrauten  Be- 
amten, 1879  ff.  —  Drucksachen  der  Kom- 
mission für  Arbeiterstatistik,  A.  Ver- 
handlungen: Nr,  9:  Protokoll  über  die 
Verhandlungen  vom  13.  und  14-  Hl"  1S96.  — 
-Vr.  10:  Protokoll  über  die  Verbandlungen 
vom  14. — 17,  und  20, — 21.  IV,  1896  und  die 
Vemehtnung  von  Atiskunftspersonen  über  die 
Verhältnisse  in  der  Kleiderkonfektion.  —  Nr,  11 : 
Protokoll  über  die  Verhandlungen  vom  28. — 
SO.  IV.  1896  und  die  Vernehmung  von  Aus- 
kunftspcrsonen  über  die  Verhältnisse  in  der 
Wäschekonfektion.  —  Nr,  11  (Nachtrag):  Proto- 
koll über  die  Verhandlungen  vom  2.  Juli  1896 
und  die  Vernehmung  von  Auskunftspersonen 
über  die  Verhältnisse  in  der  Kleider-  und  Wäsche- 
konfektum.  —  Nr.  12:  Protokoll  über  die 
Verhandlungen  vom  9.  und  11.  I.  1897.  —  Nr.  13: 
Bericht  über  die  Erhebung  betreffend  die  Ar- 
beitsverhältnisse in  der  Kleider-  und  Wäsche- 
konfektion. —  B.  Erhebungen:  Nr.  10:  Zu- 
sammenstellung der  Ergebnisse  der  Er- 
mitteUmgen  über  die  Arbeitsverhältnisse  in  der 
Kleider-  und  Wäschekonjektion,  1896. 

2.  Königreich  Preussen.  a)  Im  all- 
g e meinen.  G.  A.  H.  Baron  van  Laniotte, 
Abhandlung  von  den  Spinnschulen  (in  J.  Beck- 
inanns  Beiträgen  zur  Oekononiie  etc.,  XII.  Teil. 
1791).  —  Acta  borussica  etc.,  herausge- 
geben von  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften, 
Die  einzelnen  Gebiete  der  Verwaltujfig :  Die 
preussische  Ücidenindustrie  im  18.  Jh.  und  ihre 
Begiründung   durch  Friedrich  IL,  S  Bde.,  1892. 

—  O,  Sehtnoller,  Die  preussische  JSeiden- 
industrie  im  18.  Jh.  und  ihre  Begründung  durch 
Friedrich  II,  S,-A.  aus  der  Beilage  zur  n All- 
gemeinen Zeitung fi  Nr.  117  und  120  vom  19.  und 
23.  V.  1892,  1892.  —  O.  Hlntze,  Die  preus- 
sische  Seidenindu^trie  im  18.  Jh.  (Jahrbuch  für 
Gesetzg.  etc.,  herausgegeben  von  G.  Schmollcr, 
Bd.  XVIII,  1893). 

b)  Einzelne  Gebietsteile  Preussens. 
Berlin.  Die  20jähHgc  Arbe  i  ter  innen - 
beicegung  Berlins  und  ihr  Ergebnis;  beleuch- 
tet von  einer  Arbeiterin  (A.  Berger),  1889.  — 
V,  Stülpwigel,  Ueber  Hausindustrie  in  Berlin 
und  den  nächstgelegenen  Kreisen  (Sehr.  d.  V. 
f.  Sozialp.,  Bd.  42,  1890).  —  B,  Hey  mann, 
Die  Berliner  Damenmäntelkonfektion  (Neue  Zeil 
XII,  2,  1893194).  —  Joh,  Timm,  Soziale  Bilder 
aus  der  Berliner  Konfektion  (Soziale  Praxis, 
Bd.  IV,  1894195).  —  nerselbe.  Die  Arbeiter- 
forderungen in  der  Berliner  Konfektionsindustrie 
'(ib.  Bd.  V,  1896196).  —  O.  Weigert,  Die  Er- 
hebungen des  Berliner  Einigungsamts  in  der 
Herren-  und  Knabenkonfektion  (Ausserordentliche 
Beilage  zur  Sozialen  I^raxis,  V.  Jahrg.,  1895196, 
Nr.  29).  —  H.  Orandke,  Die  Entstehung  der 
Berliner  Wäscheindustrie  im  19.  Jh.  (Schmollers 
Jahrb.  XX,  1896).  —  Une  greve  dans 
VinduMtHe  de  la  confection,  Berlin  1896  (Musee 
social.  Serie  A.  Circ.  10,  1896).  —  von 
Schulz,  Schiedsspruch  des  Gewerbegerichts  Ber- 
lin im  allgemeinen  Ausstand  der  Berliner 
Herren-  und  Knabenkonfektionsindustrie  („Ge- 
werbegerichtn.  Ausserordentliche  Beilage  zu  Nr.  6 
1896).  —  Die  Arbeiterbewegung  in  der 
Konfektionsindustrie   und  die  öffentliche  Meinung 


())  Ethische  Ktdturn,  IV.  Jahrg.  Nr.  7),  —  «J. 
Feig,  Hausgetcerbe  und  Fabrikbetrieb  in  der 
Berliner  Wä^cheindustrie  (Staats-  und  sozial- 
u^issenschaßliche  Forschungen,  herausgegeben 
von  G.  Schmoller,  XIV,  2,  1896).  —  Gertr» 
jyyhrenfurth,  Die  hausindustrieUen  Arbeit^" 
rinnen  in  der  Berliner  Blusen-,  Unteri'ock- , 
Schürzen-  und  Trikotfabrikation  (ebenda  XV,  4, 
1898).  —  P.  Voigt,  Das  TiscUergewerbe  in 
Berlin  (U  IV).  —  Derselbe,  Die  hausindus- 
triellen Arbeiterinnen  t?i  der  Berliner  Blusen- 
etc.  Konfektion  (Soziale  Praxis,  Bd.  VII,  1897l98j. 

—  L,  Brentano,  Ein  klassisches  Gebiet  der 
Arbeitswilligen  (Berliner  Konfektion),  Beilage 
zur  Münchener  Aligem.  Zeitung  1899.  —  P. 
Hirsehfeld,  Berliner  Crrossindustrie,  Bd.  II, 
1899.  Enthält  die  Bekleidungsindustrie.  — 
Georg  Neuhaus,  Das  Zwischenmeistersystem 
in  der  Berliner  HolzbearbeUungsindustrie  (Soziale 
Praxis  VIII,  45),  —  Die  Hausindustrie 
der  Frauen  in  Berlin  (verschiedene  Ver- 
fasser), Bd.  85  der  Sehr,  des  Ver.  f.  Soziale 
Praxis,  1899.  —  O.  Wiedfeldt,  Statistische 
Studien  zur  Entwickelungsgeschichte  der  Berliner 
Industrie  von  1720 — 1890  (Schmollers  Forschungen 
XVI,  2,  1898). 

Provinz  Brandenburg:  Q,  ^tLaier^ 
Konfektion  und  Schneidergewerbe  in  Prenzlau 
(C.  IV). 

Pr  ovinz  Schleswig-  Ho  Is  tein :  S. 
Heckscher,  Das  Schuhmachergewerbe  in  Altana, 
Barmstädt,  Elmshorn  und  Preetz  (U.  1). 

Pr 0 V  inz  Pommern:  P.  Steinberg,  Das 
Schneidergewerbe  in  Dramburg  (U.  IV.)  —  B, 
Aebert,    Die   Schuhmacherei   in  Loilz   (V.  L). 

Prov  i  n z  We stpreussen:  A,  Oot- 
tscliewski,  Die  Schneiderei  in  Löbau  (V,  IV). 

Provinz  Posen:  K*  Hanypke,  Das 
Tischlergewerbe  in  Posen  (U.  I). 

Provinz  Schlesien:  O.A.  H.  Barmt  von 
Lamotte,  Abhandlung  von  den  Spinnsohulen  (in 
J.  Beckmanns  Bey trägen  zur  Oekonomie  etc., 
T.  XII,  1791,  S.  190—294).  —  Staatsrat  K^inth, 
Bericht  über  Schlesien  vom  8.  XII.  1818.  Im  Au^- 
zug  abgedruckt  in  F.  u.  P.  GoldschnUdt,  Das 
Leben    des  StaatsraU  Kunth,    1881,  S.  246—270. 

—  Ueber  den  schlesischen  Leinwand- 
handel und  die  gegenwärtige  Not  der  Weber, 
1827.  —  Treumund  WeVp,  Ueber  den  Ein- 
fluss  der  Fabriken  und  Manufakturen  in  Schle- 
sien. I.  Brief:  Die  Gebirgsdistrikte,  1843.  — 
H,  Jahn,  Beleuchtung  der  Schrift  n  Ueber  den 
Einfluss  der  Fabriken  und  Manufakturen  in 
Schle^iems,  I844.  —  H,  l>ürrwald.  Der  Baum- 
wollweber am  Eulenberge,  1844'  —  -^^^  Schneer^ 
Ueber  die  Not  der  Leinenarbeiter  in  Schlesien 
und  die  Mittel,  ihr  abzuhelfen,  1844'  —  ^'  ^* 
Kries,  Ueber  die  Verhältnisse  der  Spinner  und 
Weber  in  Schlesien  und  die  Thätigkeit  der  Ver- 
eine zu  ihrer  Unterstützung,  I840.  —  Bericht 
des  Breslauer  Vereins  zur  Abhilfe  der  Not  unter 
den   Spinnern   und  Webern  in  Schlesien,   1847. 

—  AI,  von  Minutoii,  Die  Lage  der  Weber  und 
Spinner  im  schles^ischen  Gebirge  und  die  Mass- 
regeln der  preussischen  Staatsregierung  zur 
Besserung  ihrer  Lage,  18 öl.  —  Ueber  die 
Lage  der  Weberbevölkerung  in  Schles-i^n  (Zeit- 
schrift des  preuss.  stal.  Bureaus,  1864)-  — 
tfacobi,  Die  Arbeitslöhne  in  Xiederschlesien 
(Zeitschr.  des  preuss.  atatisi.  Bureaus,  1868).  — 
A,    Zinimermann,    Blüte    und    VerfaU    des 


1162 


Hausindustrie 


Leinengewerbes  in  Schlesien,  1885.  —  GmmI, 
Lange,  Die  Glasindustrie  im  Hirsckberger  Thal, 
1889.  —  Derselbe,  Die  Hausindustrie  Schlesiens 
(Sehr,    des   Vereins  für   Sozialp.,    Bd.  42,  1890). 

—  Das  Weber  elend  in  Schlesien  (Preus- 
eische  Jahrb.,  Bd.  67,  1891).  —  Georg  Gothein, 
Die  Lage  der  Handweber  im  Eulengebirge 
(nArbeiierfreundtt,  29.  Jahrg.,  1891).  —  K. 
Stegemann,  Untersuchungen  über  die  Lage  der 
Kutscher  Weberei  und  Gutachten  betreffend  die 
Errichtung    einer    Lehncerkstätte   ßir     dieselbe, 

1891.  —  Derselbe,  Die  Kleinindustrie  der 
Stadt    Kieferstädt^l.      Eine     Monographie    etc., 

1892.  —  Derselbe,  Untersuchungen  über  die 
Lage  der  hausindustriellen  Korbmacherei  in 
Oberschlesien,  1892.  —  Gerh.  Hauptmann, 
De  Waver,  Schauspiel  aus  den  vierziger  Jahren, 
1892.  —  H,  Pechner,  Die  schlesische  Glas- 
industrie unter  Friedrich  d.  Gr.  und  seinen 
Nachfolgern  bis  1806  (Zeitschr.  d.  Vcr.  f.  Gesch. 
u.  Altert.  Schiebens,  Bd.  XXVI,  1892,  S.  74— 
ISO).  —  W,  Sombartf  Zur  Lage  der  schle- 
sischen  Hausweber  {Sozialp.  Centralbl.,  L  Jahrg., 
1892,  Nr.  14).  —  Derselbe,  Statistik  der  Haus- 
weberei im  schUsischen  Eulengebirge  (ebenda).  — 
Derselbe,  Hausweberproblem  und  nUeber  den 
grund herrlichen  Charakter  des  hausindustriellen 
Leinengeicerbes  in  Schlesiena  (Jahrb.  f.  Not, 
u.  Stat.,  ULF.,  Bd.  VI,  189S).  —  Zusammen- 
stellung (Statistische)  der  im  Bezirk  der 
n.K,  Schweidniiz  vorhandenen  Handweber. 
Periodische  Veröffentlichung  der  H.K.  Schweidniiz. 

—  dir,  Meyer,  Die  schlesische  Leinenindustrie 
und  ihr  Notstand  (Vierteljahrsschrifl  für  Volks- 
icirtschaft  etc.,   Jahrg.   XXIX,   1893,   Bd.    III). 

—  C.  Ctrünhagen,  Der  Anlass  des  Landes- 
huter  Webertumults  am  2S.  III.  1793  (Zeitschr. 
des  Ver.  f.  Geschichte  und  Altertum  Schlesiens, 
XXVII.  Bd.,  1893).  —  Derselbe,  Ueber  den 
angeblich  grundherrlichen  Charakter  des  haus- 
industriellen Leinengewerbes  in  Schlesien  (Zeit- 
schrift ßir  Sozial^  und  Wirtschaftsgeschichte, 
Bd.  II,  1894).  —  -I"  Brentano,  Ueber  den 
grundherrlichen  Charakter  des  hausindustriellen 
Leinengewerbes  in  Schlesien  (Zeitschr.  f.  Sozial^ 
und  Wirtschaftsgeschichte,  Bd.  I,  1893).  —  Der- 
selbe,  Ueber  den  Einfluss  der  Grundherrlieh- 
keit  und  Friedrichs  d.  Chr.  auf  das  schlesische 
Leinengewerbe.  Eine  Antwort  an  meine  Kollegen 
Grünhagen  und  Sombart  in  Breslau  (ebenda 
Bd.  II,  1894).  —  M,  Kriele,  Statistik  der  Hand- 
weber in  Schlesien  (Soz.  Praxis,  Bd.  V,  1895J96). 

—  -4.  Winter,  Das  Schneidergeiverbe  in  Berlin 
(U.  VII).  —  A,  OlUcksmann,  Die  Haus- 
weberei im  schlesischen  Eulengebirge  (Sehr,  des 
Ver.  für  Sozialp.,  Bd.  84,  1899).  —  A, 
Irmer,  Das  MagcLzinsystem  in  der  Bresletuer 
Möbeltischlerei,  ebenda. 

Provinzen  Rheinland-  Westfalen  und 
Hannover.  J,  Beckmann,  Berechnung  des 
wöchentlichen  Verdienstes  der  Kaufleinenweber 
in  der  Gegend  um  Göttingen  nach  den  Preisen 
des  Garns  und  Leinens  im  Herbst  1778  (in  seinen 
Bey trägen    zur    Oekonamie    etc.,    Teil   /,    1779). 

—  Atl,  von  Daniels,  Vollständige  Beschreibung 
der  Schwert-,  Messer-  und  übrigen  Stahlfabri- 
kation  zu  Solingen  im  Herzogt.  Berg,  1808.  — 
Staatsrat  Kunth,  Bericht  über  die  Regierwngs- 
Departem.  von  Trier,  Koblenz,  Köln,  Aachen 
und  Düsseldorf  r.  1£.  X.  1816.  Abgedruckt  in 
F,    und    P,    Goi€Uchniidt,     Das    Leben    des 


Staatsrats  Kunth,  1881,  S.  181-— £46.  —  Georg 
Frhr,  von  Hauer,  Statistische  Darstellung 
des  Kreises  Solingen,  183S.  —  G.  L»,  W.  Funke, 
Ueber  die  gegenwärtige  Lage  der  Heuerlettte  im 
Fstt.  Osnabrück,  I847.  —  T.  C.  Banfteld, 
Industry  of  the  Rhine.  Series  I  AgrieuÜurc. 
Ser.  II  Manufacture,  184^148.  —  Das  geseg- 
nete Wupperthal  im  Gesellschaftsspiegel, 
Bd.  I,  1846.  Dort  auch  noch  mancher  anderr 
Hinweis  auf  hausindustrielle  Zustände.  —  Z«. 
W.  H,  JacoM,  Das  Berg-,  Hütten-  und  Gt- 
werbewesen  des  Reg.-Bez.  Arensberg  in  statis- 
tischer Darstellung,  1856  (Preuss.  Geicerbestat. 
Bd.  7).  —  Otto  von  Mülmann,  Statistik  des 
Reg.-Bez.  Düsseldorf,  Bd.  II,  2,  1865  (Prevsa. 
Gewerbestat.,  Bd,  III).  —  Der  Verfall  der 
Industrie  der  Seiden-  und  Halbseidenstoffe  im 
Wupperthal  und  deren  mögliche  Wiederbelebfntg 
durch  Einführung  den  Kommissionssystems,  1867. 
G,  V,  Hirschfeld   (nKonkcrdian    1874,    1875). 

—  Alt9h€m8  Thun,  Die  Industrie  am  Sieder- 
rhein  und  ihre  Arbeiter,  2  Bde.,  1879.  —  de 
Vries  und  Focken,  Ostfri4.slnnd,  Land  und 
Volk  in  Wort  und  Bild,  1881.  —  Die  Hans- 
industrie  des  Bezirks  der  Handelskanwier 
Osnabrück    in   'der    Erzeugung    ton    Cigarren- 

fabrikaten  (Sehr,  d,  Ver.  f.  Sozialp.,  Bd.  4^* 
1890).  —  Die  Hausindustrie  des  Bezirks 
der  Handelskammer  Osnabrück  in  der  Er- 
zeugung von  Leinen-,  Woü-  und  BaumvoU- 
waren  (ebenda).  —  Ä.  Stegemann,  Studien 
auf  dem  Gebiete  der  bergischen  Klein-  und 
Ha-usindustrie  [Zeitschr^  für  Handel  und 
Oewerbf,  Jahrg.  IV,  1891,  Nr.  5  ff).  —  F,  von 
Schönebeck^    Die   Schreinerei  in  Köln  (C  I), 

—  H,  Reese,  Die  historische  Entwickelung  der 
Leinenindustrie  Bielefelds  (Hansische  Geschichts- 
blätter, XXIII,  1896).  —  Antrag  auf  reichs- 
gesetzliche Regelung  der  Hausarbeit  in  der  Ci- 
garrenindustrie  (H.  K.  Minden  1899),  —  Helene 
Simon,  Die  Bandwirkerei  in  und  um  Schwelm 
(Soziale  Praxis,  VIIL  Jahrg.,  Nr.  82,  SS).  —  W. 
Hohn,  Hausindustrie  und  Heimarbeü  in  den 
Begierungsbezirken  Koblenz  und  Trier  (Sehr,  d. 
Ver,  f.  Sozialp,,  Bd.  86,  1899),  —  F. 
tfaff^.  Die  westdeutsche  Konfektionsindustrie 
(ebenda),  —  E,  Kieseritzky,  Die  Formen  der 
Hausindustrie  in  Köln  (ebenda). 

Fürstentum  Birkenfeld:  J'ac*  Nögge- 
rath.  Die  Achatindustrie  im  Ii\irstentum  Birken- 
feld {ü Auslands,  Bd,  40,  1868),  —  Derselbe^ 
Geschichte  und  Rechtsverhältnisse  der  Achat- 
industrie (Brasserts  Zeitschrift  für  Bergrecht, 
Bd,  XV,  Heft  g),  —  G.  A.  Nöggerath,  Die 
AchaUndustris  im  oldenburgischen  Fürstentum 
Birkenfeld,  1877,  —  Die  Achatindustrif 
in  Oberstein    (in Gartenlauben,   1889,   Ar.  IS). 

—  X».  Th,  Hisserich,  Hausindustrie  im  Ge-* 
biete  der  Schmuck-  und  Ziersteinverarbeiiung, 
die  Idar-Obersteiner  Industrie,  1894- 

S.  Hessische  Lande.  L.  Wilketui,  Die 
Erweiterung  und  Vervollkommnung  des  deulsehen 
Gewerbebetriebs,  ein  Mittel  zur  Herstellung  des 
richtigen  Verhältnisses  zwischen  Bevölkerung  und 
deren  Bedürfnissen  mit  besonderer  RüeksicJU  auf 
das  Chrossherzogtum  Hessen,  1847,  —  Jjouise 
Büchner,  Ueber  Verkaufs-  und  Vermittelungs- 
stellen  ßir  weibliche  Handarbeit,  insbes.  den 
Darmstädter  Alice-Basar,  187S,  —  Schnapper^ 
Arndt,  'Fiinf  Dorfgemeinden  auf  dem  Hohen 
Taunus,  188S,  —  L,    W,    Moser,    MiUeiluwien 


Haiisiadustrie 


1163 


über  Hausindustrie  im  HandeUkammerbezirke 
Diirynst4xdt  (Sehr,  d,  Ver.  f.  JSoziitlp.,  Bd.  4I, 
1889).  —  SchlosaniacheTf  Die  Hausindustrie 
im  HandeUkammerbezirke  Offenbach  a.M.  (ebenda). 

—  Zur  Lage  der  Arbeiter  im  Sehneider-  und 
Schuhmachergewerbe  in  J^Vankfurt  a.  M.  (Sehr, 
des  Freien  deutschen  Hochstifts  VIII).  —  W, 
FuchSy  Die  Hausindustrie  und  verwandte  Unter- 
nehinungs/ormen  auf  dem  Taunus  (Sehr.  d.  Ver. 
f.  Sozialp.,  Bd.  84,  1899). 

4.  Thüringen.  J,  l^ecIcnuMinj  Von  Ver- 
fertigung der  Feilen,  der  Riedte,  der  Orthe  und 
Ahlen  in  Schmalkaldcn  (in  seinen  Beitränen  zur 
Oekonomie  etc.,  Teil  X,  1786).  —  «7.  C  QiianZf 
Besehreibung  einiger  Schmalkaldener  Stahl-  und 
Eisenwaren  (ebenda  Teil  XII,  1791).  —  Ver^ 
selbe.  Technologische  Bemerkungen  auf  einer 
Reine  nach  Mehlis,  St.  Blasii  Zelle,  Suhl  und 
Heinrichs  ebenda).  —  JBr,  Hildehrandf  Die 
Wolle nindustrie  Apoldas  (Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat., 
Bd.  II,  1864).  —  Kronfeld,  Geschichte  und 
Beschreibung  der  Fabrik-  und  Handelsstadt 
Apolda  und  deren  nächster  Umgebung,  1868.  — 
G  e  werbe,  Industrie  und  Handel  des  Meininger 
Oberlandes  in  ihrer  historischen  Entw^ickelung, 
1876  ff.  —  Ad,  Fleischtnantif  Die  Entstehung 
der  Spieltcarenindustri^  in  Sonneberg  nach  dem 
SO  jährigen  Kriege,  1877.  —  AI.  Ziegler,  Ge- 
schichte des  Meerschaums,  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  betreffenden  Industrie  zu  Ruhla 
in  Thür.,  1878,  S.  Aufl.  188S,  —  Eman,  Soae, 
Die  Hausindustrie  in  Thüringen,  8  Bde.,  1882 
— 1888.  —  Ad,  Fleisehnnanfif  Die  Sonneberger 
Spiel irarenhausindustrie   und   ihr  Handel,  1888. 

—  Derselbe,  Die  Arbeiteragitatoren  des  Katheder- 
sotialismus  und  die  Sonneherger  Spielwaren- 
industrie  und  ihr  Handel,  1884'  —  Freiwdld 
Thüringer f  Komm.-Rai  Ad.  Fleit^chmann  als 
yationalökonom  und  die  Thüringer  Haiis- 
industrie,  1888.  —  Bnino  Schönlank,  Die 
Hausindustrie  im  Kreise  Sonneberg,  1884-  — 
M,  Quarck,  Die  Thüringer  Hausindustrie 
(»yeue  Zeitn,  III,  1885,  S.  351).  —  Kuno 
Frankenstein,  Bevölkerung  und  Hausindustrie 
im  Kreise  Schmalkalden  seit  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts, 1887.  —  Karl  Bücher,  Von  den 
Produktionsstätten  des  Weihnachtsmarktes,  Vor- 
trag, 1887.  —  Herrn.  Lehmann,  Die  Woll- 
phautasiewarenind^istrie  im  nordöstl.  Thüringen 
(Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.,  Bd.  40,  1889).  —  M, 
Gau,  Die  Hausindustrie  im  Eisenacher  Ober- 
land des  Gross  her zogtums  Sachsen  (ebenda).  — 
M.  Netibert,  Die  Hausindustrie  in  den  Reg.- 
Bezirken  Erfurt  und  Merseburg  (ebenda).  —  Schil- 
derung der  Glasindustrie  und  Spiel- 
jca  renindustrie  im  nDaheim «  189S.  — =  C, 
F,  Schöptz,  Spielwarenindustrie  im  Gewerk- 
verein vom  5.  VIII.  1898.  —  «7.  Pierstarff, 
Das  Schneidergewerbe  in  Jena.  —  Derselbe, 
Die  Schuhmacherei  in  Jena  (U.  IX),  —  O. 
Stillich,  Die  Spieltparenhausindttstrie  des  Mei- 
ninger Oberlandes,  1899.  —  P,  Ehrenberg, 
Die  Spielwarenindustrie  des  Kreises  Sonnenberg 
(Sehr.  d.    Ver.  f.  Sozialp.,  Bd.  86,  1899). 

5.  Kfi nigreich  Sachsen.  Die  zur  Linde- 
runff  der  Gebürgischen  Armut  getroffenen  Ver- 
anstaltungen, 1772.  —  Chr,  L,  Ziegler, 
Nachricht  von  Verfertig^ing  der  Spitzen  im  Erz- 
geb^irge  (in  Beckmanns  Beiträgen  zur  Oeko- 
nomie etc.,  Teil  I,  1779).  —  Fr,'  Chr,  G, 
Hnsper,     Oeffentliche    Anzeigen,    die    Xot    des 


oberen  Erzgebirges  in  den  Jahren  I8O4 — 1806  etc. 
betreffend,  o.  J.  —  Darstellung  der  alldem. 
Hilfsanstalten  im  erzgebirgischen  Kreise  des 
Königreichs  Sachsen  während  des  Notstandes  in 
den  Jahren  1816 — 1817,  o.  J.  —  Kretschmar, 
Chemnitz,  wie  es  war  und  wie  es  ist,  1822.  — 
F,  E,  Wieck,  Industrielle  Zustände  Sachsens, 
I84O.  —  Ein  Bild  f'dr  das  Niederland  von 
dem  ösüiehen  Obererzgebirge,  seinen  jetzigen  Zu- 
ständen, die  Ursachen  seines   Verfalles  etc.,  1850. 

—  Heinrich  Bodeiner,  Die  Abhilfe  des  Not- 
standes im  Erzgebirge,  1855.  —  Derselbe,  Die 
indttstrielle  Revolution,  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  erzgebirgischen  Erwerbsverhält- 
nisse, 1866.  —  E,  V,  Wietersheini,  Ueber 
Quellen  und  Weseii  des  Notstandes  im  Obererz- 
gebirge und  Voigtlande,  1857.  —  Berth,  Siegis^ 
ntund.,  Lebensbilder  vom  sächsischen  Erzgebirge, 
1859.  —  Friedr.  Aug,  Schneider,  Di^  Spitzen- 
fabrikation im  sächsischen  Erzgebirge,  1860.  — 
Elfried  von  Taura,  Wanderung  durchs  Erz- 
gebirge, 1860.  —  Ph,  P.  Mischler,  Zur  Abhilfe 
des  Notstandes  im  Erz-  und  Riesengebirge,  1862.  — 
Mehnert  und  Gen.,  Fragebogen  etc.  zur  Samm- 
lung von  Material  bez.  des  Notstandes  im  snch- 
sichen  Obererzgebirge,  1868.  —  Michaelis, 
Ueber  den  Einüuss  einiger  Getcerbeziceige  auf 
den  Gesundheitszustand,  1866.  —  Jul.  Schmidt, 
Geschichte  der  Serpeniitiindustrie  zu  Zöblittz  im 
sächsischen  Erzgebirge,  1868.  —  Ed,  ToMsch, 
Industrielle   Watiderungen   im    Erzgebirge,  I874. 

—  Ad,  Held,  Reisebriefe  (nKonko^rdma,  1874). 

—  Barthold  und  Fürstenau,  Die  Fabrikation 
musikalischer  Instrumente  und  einzelner  Bestand- 
teile derselben  im  königl.  sächs,  Voigtlunde,  1876. 

—  Ang,  Bebet,  Wie  unsere  Weber  leben,  2. 
Aufl.,  1880.  —  Kommission sbericht,  die 
Verhältnisse  in  der  Handweberei  betreffend,  1880, 

—  Der  Notstand  der  sächsischen  Weber- 
bevölkerung vor  dem  sächsischen  Landtage,  1880. 

—  Bericht  der  zur  Untersuchung  der  Lage 
der  Glauchau-Meeraner  Webwarenindustrie  unterm 
Monat  Mai  1881  zusammengetretenen  Enquete- 
kommission (abgedruckt  im  JahresbericfU  der 
Handels-   und  Gewerbekammer  Chemnitz,    1882). 

—  Ueber  die  Muschelindustrie  im 
Voigtlande    (Berl.   AUg.    Gewerbeztg.,    1888). 

—  iv,  SHeda,  Aus  dem  Gebiete  der  Ha%is- 
industrie    (Jahrb.  f.  Ges.   u.    Verw.,   VII,  1888). 

—  Eman,  Sax,  Zur  Litteratur  der  Haus- 
industrie (Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  N.  F.  IX, 
1884).  —  Louis  Bein,  Die  Industrie  des 
sächsischen  Voigtlandes,  ^.  Bde.,  I884.  —  Jlf. 
Quarclc,  Die  Musikinstrumentenindustrie  des 
sächsischen  Voigtlandes  (nNeue  Zeitn  II,  I884, 
S.  866).  —  Schlleben,  Untersuchungen  iibei' 
das  Einkommen  und  die  Lebenshaltuna  der 
Handweber  im  Bezirk  der  Amts  hauptmannschaft 
Zittau  am  1.  I.  1880  und  im  Jahre  1886  (Zeit- 
schrift des  Sachs,  stat.  Bureaus,  1885).  —  Ue ber 
die  Hausindustrieschulen  der  sächsischen 
Schweiz  (Säcfu.  Wochenbl.  f.  Verw.  und  Polizei, 
1887).  —  H,  Goldstetn,  Die  Musikinstrumenten - 
industrie  in  Sachsen  und  Böhmen  )^Sozialdemo- 
kratu,  es.  V.  1895).  —  H,  Gebauer,  Di€  Spiel- 
warenindustrie des  Erzgebirges  in  der  Samm- 
lung gemeinverständlicher,  wissenschaftlicher 
Aufsätze  über  das  Erzgebirge,  1889.  —  AcL 
Lehr,  Die  Hausindustrie  in  der  Stadt  Leipzig 
und  Umgebung  (Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.,  Bd.  4^» 
1891).    —  Karl   von   Beehenberg,    Die   Er- 


1164 


Hausindustrie 


nähning  der  Handiceher  in  der  AmUhaupt- 
mannschaß  Zittattj  1891.  —  Joh,  Corvey,  Aiu 
dem  sächsischen  Erzgebirge  (^iArbeiter/reundtt, 
XXIX,  Jahrg.,  1891,  8.  S6S).  —  E.  Siegel, 
Zur  Geschichte  des  Posamentiergewerbes  mit  be- 
sonderer Rücksichtnahme  axtj  die  erzgebirgische 
Posamentenindustrie,  1892.  —  X.  Th,  Hisserich, 
Die  Zöblitzer  Serpentinindustrie,  eine  frühere 
Ifautindnstne  (Schmollers  Jahrbuch  Bd.  XVIII, 
1894).  —  -E»  Rosenow,  Die  Ilolzspielwaren- 
hausindustrie  im  oberen  Erzgebirge  (Neue  Zeit 
XVII,  1,  1898199,  S.  548  ff.).  —  N.  Geissen- 
berger,  Die  Schuhmacherei  in  Leipzig  (U.  II). 
6.  Baden  (Schwartwald):  Jä<sh,  Try- 
berg,  Versuch  einer  Geschichte  der  Industrie 
und  des  Handels   auf  dem   Schwarzwald,   1826. 

—  Ackermann,  Ueber  Bärstenindustrie  (Fah- 
nenbergs Magazin  für  Handel  etc.  VI).  —  Atig» 
Meitzen,  Ueber  die  Chrenindustrie  des  Schwarz- 
waldes (Diss.  »De  artißcibus  iisdemque  agri^olisu, 
1848),  —  Momhach,  Todtnau.  (Bürstenbinderei), 
1855.  —  J,  B,  Trenkle,  Geschichte  der  Schwarz- 
wälder Industrie  von  ihrer  frühesten  Zeit  bis 
auf  unsere  Tage,  1874-  —  Einführung  von 
Jdusteruhren  in  der  Schwarzwälder  Industrie. 
Im  Auftrage  des  Ministeriums  des  Innern,  1879. 

—  F,  Ant,  Huhbuch,  Vorschlag  zur  Hebung 
der  Hausindustrie  des  Schwarzwaldes,  1888.  — 
]}erselhe,  Die  Uhrenindustrie  des  Schwarz- 
waldes   (Sehr.   d.   V.   f.  Sozialp.,   Bd.  41,  1889). 

—  Muth,  Die  häusliche  Bürstenfabrikation  im 
badischen  Schwarzwald  (ebenda).  —  Schott,  Die 
Hidzschnitzerei  im  Schwarzwalde  (ebenda).  — 
F.  Böhtnert,  Die  Uhrenindustrie  des  Schwarz- 
waldes (nArbeUerfreundn,  1889).  —  Eberh, 
Qotheln,  Iforzheims  Vergangenheit.  Ein  Bei- 
trag zur  deutschen  Städte-  und  Gfwerbegeschichte, 
1889.  —  Wi rtsch aft sgeschichte  des  Schwarz- 
waldes und  der  angrenzenden  Landschaften.  Im 
Auftrage  der  badischen  historischen  Kommission 
bearbeitet  von  demselben^  Bd.  I,  189£.  —  JF. 
Jllckert,  Das  Schreinergewerbe  in  Freiburg 
(U.  VIII).  —  E,  Lehmann^  Weberei,  Färberei 
und  Hutmacherei  im  Gebiet  der  Gutacher  Tracht 
(U.  VIII).  —  A.  Buer,  Die  Kartonageindus- 
trie  zu  Lahr  i.  B.  mit  bes.  Berücksichtigung  der 
Heimarbeit  (Schrift  d.  Ver.  f.  Sozialp.,  Bd. 
84,  1899).  —  H,  Soth,  Die  Uhrenindustrie  im 
badischen  Schwarzwald  (ebenda).  —  H.  Bem-~ 
heim,  Die  Hausindustrie  des  südlichen  Schwarz- 
walds (ebenda). 

7.  Bayern:  Beeg ,  Das  MetallschUlger- 
grwerbe  mit  Bezug  auf  die  Londoner  Weltaus- 
stellung 1851  (Fürther  Gewerbeztg.  1856).  — 
Bavaria,  Landes-  und  Volkskunde  des  König- 
reichs Bayern,  rf  Bde.,  1864  —  1865.  —  J, 
Kerschettsteiner,  Die  Fürther  Indtistrie  in 
ihrem  Einfluss  auf  die  Arbeiter,  1874'  —  ^« 
Schanz,  Zur  Geschichte  der  Kolonisation  und 
Industrie  in  Franken,  I884.  —  M.  Segitz,  Lohn- 
und  Arbeitsverhältnisse  der  Metallarbeiter  Fürths 
(Deutsche  Metallarbeiterztg.  1885).  —  Max  v. 
Amiansperg,  Das  Berchtesgadener  Holzhand- 
werk als  Ilattsindustrie  (Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp., 
Bd.  41,  1889).  —  C.  Neuhurg,  Die  Hausindus- 
trie des  Bezirksamts  Gar  misch  {Oberbayem), 
ebenda.  —  C  Schlumberger,  Die  Hausweberei 
im  Fichtelgebirge  (Bez.  Wunsiedel-Weissenstadi), 
a.  a.  O.  Bd.  42,  1890.  —  FiHedr,  Morgen^ 
Stern,  Die  Fürther  Jfetall Schlägerei.  Eine  \ 
mitte! fränkische  Hausindustrif  und  ihre  Arbeiter,  i 


1890.  —  E,  I^ancke,  Die  Schuhmacherei  in 
Bayern,  1893.  —  Br.  Schoenlank,  Soziale 
Kämpfe  vor  SOO  Jahren,  1894  (betrifft  Nürnberg). 

—  Herxherg,  Das  Schneidergewerbe  Münchens, 
1894.  —  tJ.  E,,  Die  ZiUer  und  ihre  Herstellung 
(Mittenwald),  (»GartetUauben  1895,  xYr.  7).  — 
H,  Cohen,  Das  Schreinergewerbe  in  Augsburg 
(U.  III).  —  C.  Neuburg,  Das  Schneider-  und 
Hutnuichergewerbe  in  Erlangen  (ebenda).  —  F. 
Thurneyssen,  Das  Münchener  Schreinergewerbe, 
1897.  — -  W,  Vhlfelder,  Die  Zinnmalerinnen 
in  Nürnberg  und  Fürth  (Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp., 
Bd.  84,  1899). 

8.  Wü rttcmberg:  Mor.  MLohl,  l 'eber  die 
würtiemhergische  Gewerbsindustrie,  1828.  — 
Volz,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Leinwand- 
fabrikation und  des  Leinwandhandels  in  Württem- 
berg von  den  ältesten  bis  auf  die  neuesten  Zeiten 
(Würitemb.  Jahrb.,  1854).  —  Dörtenbach,  Mit- 
teilungen über  Gewerbe  und  Handel  in  Kalw, 
1862.  —  Offizieller  Katalog  der  württem- 
bergischen  Landes-  und  Geicerbeausstellung,  1881. 

—  P.  JF.  Stalin,  Geschichte  der  Stadt  Kalw, 
1888.  —  W.  Stieda,  Die  Kalwer  Zetighaml- 
lungskompagnie  (Jahrb.  f.  Gesetzg.,  XIII,  188U). 

—  Eng,  Nübling,  Ulms  BaumwoUiceberei  im 
Mittelalter.  Urkunden  und  Darstellung.  Ein 
Beitrag  zur  deutschen  Städte-  und  Wirtschaßs- 
geschichte,  1890.  —  O.  Reinhard,  Die  würUem- 
bergische  Trikotindustrie  mit  spezieller  Berück- 
sichtigung der  Heimarbeit  in  den  Bezirken  Stutt- 
gart und  Balingen  (Sehr.  d.  V.  f.  Stnialp., 
Bd.  84,  1899).  —  Derselbe,  Die  Feinmechanik 
im  O.A.  Balingen  (ebenda). 

9.  Elsass-Lothringen:  Karl  Kaerger, 
Die  Lage   der  Hausweber   im  Weilerthal,    188^). 

—  W,  Schröder,  Das  Schreinergewerbe  in 
Neudorf  bei  Strassburg  (U.  III).  —  Ä  Uef- 
nuinn.  Die  Hausweberei  im  Elsass  (Sehr.  d.  V. 
f.     Sozialp.,    Bd.    84,     S.     899).    —    £.    von 

Richthofen,  Die  Perlenstickerei  im  Kreise 
Saarburg  in  Lothritigen  (Sehr.  d.  V.  f.  SozieUp., 
Bd.  86,  1899). 

II.  Oesterreich-Ungarn:  Wandert'. 
Gf*ünwald,  Phisikalische  Beschreibung  des 
Bunzlauer  Kreises,  1786.  —  Schreyer,  Ueber 
kommerzielle  Fobrike^i  und  Manufakturen  des 
Königreichs  Böhmen,  1792.  —  St.  von  Keesz, 
Darstellung  des  Fabriks-  und  Gewerbewesens  in 
seinem  gegenwärtigen  Zustande,  2.  Auß.,  2  Teile 
und  Anhang,  1824.  —  Keesz^BtumenbacK 
Systematische  Darstellung  der  nettesten  Fort- 
schritte in  den  Gewerben  und  Manufakturen, 
a  Bde.,  1829 jSO.  — -  Cxömig,  Topogr.-hist^-staL 
Beschreibung  von  Beichenberg,  1829.  —  K.  J. 
Kreuzberg,  Skizz.  Vebersicht  des  gegenwärtigen 
Standes  und  der  Leistungen  von  Böhmens  (k- 
icerbs-  und  Fabrikindustrie,  18S6.  —  Schnabeif 
Betraehtungcn  über  die  Manufakturindustrie 
Böhmens  (Encyklop.  Zeitschr.  des  Gewerbe- 
Wesens,  1845ff.).  —  Bericht  über  die  materielie 
Lage  der  Arbeiter  des  böhmisch  LeijMxer  und 
Gitschiner  Kreises.  Herausgegeben  von  der 
Reichenberger  Handelskammer,  18ö^.  —  Sian. 
Neiimann,  Veber  die  Wirksamkeit  des  Central- 
kommitees  zur  Unterstützung  der  notleidenden 
Erz-  und  Biesengebirgsbewohner  (Jahrb,  des  Erz- 
und  Biesengebirges,  '  1857).  —  Th.  naing, 
XationalökoTwmische  Briefe  aus  dem  nordöst- 
lichen Böhmen,  1856.  —  Derseibe,  Volkswirt- 
schaft   und   Arbeitspflege    im    böhmischen    Erz- 


Hausindustrie 


1165 


gebirge,  1861.  —  WemeVf  Urkundliche  Ge- 
schichte dtr  Iglauer  Tuchmacherzunft,  1861.  — 
Dortnizer  und  Schebek,  Die  Erwerbsverhält- 
nisse im  böhmischen  Erzgebirge,  1862.  —  P. 
Misehlet'f  Zur  Abhilfe  des  Notstandes  im  Erz- 
und  Biesev gebirge,  186S.  —  Alex,  Dom,  Die 
ührentnacher  voti  Karlstein,  1867.  —  HUsh, 
Dotzauer  und  Edtn,  Scheheh,  Die  Miuter- 
werkstäiten  für  Spitzenfabrikation  im  böhmischen 
Erzgebirge,  1871.  —  Hallwich  f  Rcichenberg 
und  Umgebung.  Eine  Ortsgeschichte  mit  spez. 
Rücksicht  auf  gewerbl.  Entwickelung,  1872.  — 
W.  Eoener,  Hatisindustrie  im  Böhmerwalde. 
Vortrag,  1872.  —  Offizieller  Ausstellungs- 
bericht, herausgegeben  durch  die  General- 
direktion der  Weltausstellung,  187 4^  —  Proto- 
kolle der  aUgemeinen  öffentlichen  Enquete  über 
die  Lage  des  Kleingewerben  in  Nieder  Österreich, 
1874.  —  Lobmeyer,    Die  Glasindustrie,   1874. 

—  tJo».  J".  Luke,  Bericht  über  die  Glasindus- 
trie und  ihre  Notlage  im  Gablonzer  Bezirke, 
1876.  —  Edni,  Scfiebekf  Böhmens  Glashandel 
und  Glasindustrie.  Quellen  zu  ihrer  Geschichte, 
1878.  —  Hübner,  Geschichte  der  Reichenberger 
Tuchmacherzunft,  1879.  —  Joh,  Angerer,  Die 
Hausindustrie  im  deutschen  Südtirol,  1881.  — 
Albin  Brdf,  Studien  über  nordböhmische  Ar- 
beiierverhiUtnisse,  1881.  —  Offizieller  Kata- 
log der  österreichisch-ungarischen  Industrie  und 
landwirtschaftlichen  Ausstellung  in  Triest,  1882.  — 
H*  Nehola,  Die  Holz-  und  Spielwarenindustrie 
in  der  Viechtau,  1882.  —  Ein.  Scix,  Zur  Litte- 
ratur  der  Hausindustrie  (Jahrb.  f.  Nat.  u,  Stat., 
N.  F.  Bd.  9,  1884).  —  W,  Stleda,  Aus  dem 
Gebiete  der  Hausindustrie  (Jahrb.  f.  Ges.  und 
Verw.,  Bd.  VIT,  188S).  —  Wilh.  Wiener, 
Staatsarbeiter  und  Hausindustrie  im  Salzkammer- 
gute  (New   Zeit,   III,   1885,    S.    22   und  74}.). 

—  Ungarns  Hausindustrie  Anfang  des  Jahres 
1884,  zusammengestellt  ro7i  Dr.  Jos.  Jekel- 
falussy  (Puhl.  des  k.  ungar.  Statist.  Bureaus 
in  ungarischer  Sprache).  —  Ad,  Braun  und 
E.  R,  «/■.  Kr^esi,  Der  Hausfteiss  in  Ungarn 
im  Jahre  1884,  1886.  —  Entwickelung  von 
Industrie  und  Gewerbe  in  Oesterreich  in  den 
Jahren  1848 — 1888;  herausgegeben  von  der 
Kommission  der  Jubiläumsgewerbeausstellung, 
1888.  —  W.  Exner,  Die  Hausindustrie 
Oesterreichs,  1890.  —  Derselbe,  Oesterreichs 
Hausindffistrie  und  demi  Pflege.  Vortrag  (nHan- 
delsmuseumH,  Bd.  V,  1890,  S.  96).  —  E, 
Schwiedland,  Die  Wiener  PerlmutterindustiHe 
und  ihre  Krisis,  1891.  —  Derselbe,  Die 
Entstehung  der  Hausindustrie  mit  Rücksicht  auf 
Oesterreich  (Zeitschr.  f.  Volksic,  Sozialp.  U7id 
Verwaltung,  herausgegeben  von  Böhm,  Inama 
und  Plener,  I.  Jahrg.,  1892,  1.  Heft).  —  Ber^ 
selbe.  Eine  alle  Wiener  Hausindustrie  (ebenda 
Heß  3).  —  Derselbe,  Kleingewerbe  und  Haus- 
industHe  in  Oesterreich,  2  Bde.,  1894.  —  -Der- 
selbe,  Aufhebung  des  Sitzgesellemcesens  durch 
die  Arbeiter  (Zeitschr.  f.  Volksir.  etc.,  III.  Jahrg., 
1894).  —  Cirrn,  r.  Paygert,  Die  wirtschaft- 
liche Lage  des  galizischen  Schuhmachcrgctcerbes. 
Eine  Studie  über  Hausindustrie  und  Handwerk, 
1891.  —  Derselbe,  Die  österreichische  Ge- 
werbeverfassung in  Gnlizien  (Jahrb.  f.  Ges.  und 
Verw.,  XV,  1891,  S.  181—159).  —  E,  Magner, 
Di^  Hausindustrie  in  den  österreichischen  Alpen- 
ländern (Zeitschr.  des  Alpenvereins,  1891).  — 
Ste nographisches   Protokoll   der   im  Ge- 


werbeausschuss  des  Abgeordnetenhauses  am  12., 
14.,  15.  XII.  1891  stattgehabten  Expertise  iU>er 
die  La{fe  des  Schuhmachergewerbes,  1892.  — 
H,  Herlener,  Die  Lage  des  Wienei'  Schuh- 
ma^hergeicerbes  (Deutsche  Worte,  herausgegeben 
von   E.    Pernerslorfer,   XII.   Jahrg.,   1892). 

—  Dr,  Sophie  Deiszynska,  Fabrik-  und 
Hausarbeiterin  (ebenda).  —  Ä  Riedl,  Haus- 
industrie und  Sitzgesellenwesen  im  österreichischen 
Gewerberecht  (ebenda  Jahrg.  XIII,  1898).  — 
Stenographisches  Protokoll  dei'  Ge- 
werbeenquete im  österreichischen  Abgeordneten- 
hatise  samt  geschichtlicher  Entwickelung  und 
Anhang  (zusammengestellt  von  den  Referenten 
A.  Ebenholz  und  E.  Pernerstorf  er),  1893. 

—  F.  Bujatti,  Die  Geschichte  der  Seidenindustrie 
Oesterreichs,  1898.  —  Stenographisches 
Protokoll  der  durch  die  Geicerkschaften  Wiens 
einberufenen  gewerblichen  Enquete,  1805.  — 
Jos,  Redlich,  Das  Arbeitsverhältnis  im  Wiener 
Gewerbe  (n  Deutsche  Worten  1895).  —  Bericht 
über  die  Reform  der  Hausindustrie  (1.,  2.  und 
5.  Referat  der  Gewerbesektion  in  den  Verband - 
lungen  der  Handels-  und  Gewerbekammer  in 
Brunn.,  1896,  S.  116  ff).  —  K.  Schüller,  Die 
Schuhmacherei  in  Wien  (Sehr.  d.  V.  f.  Sozial- 
politik, Bd.  71,  1895).  —  J".  Herrdegen,  Das 
Pfeidlergewerbe  in  Wien  (Weisswarenindustrie) 
(ebenda).  —  E.  Adler,  Die  Schneiderei  in  Pross- 
nitz  (ebenda).  —  E,  Leiter,  Die  Münnerklei4er- 
erzeugung  in  Wien  (ebenda).  —  Die  Arbc itS' 
und  Lebensverhältnisse  der  Wiener  Lohn- 
arbeiterinnen. Ergebnisse  und  stenographisches 
Protokoll  der  Enquete  über  Frauenarbeit,  abge- 
halten in  Wien  V07n  1.  III.  bis  21.  IV.  1896, 
1897.  —  3f.  von  Tayenthal,  Die  Regelung 
der  Heimarbeit  in  Oesterreich.  Bericht,  erstattet 
an  das  I.  Komitee  der  Handels-  und  Gewerbe- 
kammer in  Reichenberg,  1897.  —  Derselbe, 
Eine  Arbeiterproduktivgenossenschaft  in  der 
Glasindustrie  Böhmens  (Soziale  Praxis,  VIII. 
Jahrg.,  1898199).  —  St.  Bauer,  Die  Heimarbeit 
und  ihre  geplante  Regelung  in  Oesterreich  (Arch. 
f.  soz.  Gesetzg.,  Bd.  X,  1899).  —  Jac,  Reu- 
mannf  Die  Heimarbeit  in  Oesterreich.  —  H, 
Adler,  Erhebungen  über  die  Heimarbeit  in 
Oesterreich    (Soziale  Praxis,    Bd.    VII,   1897\98). 

—  «7.  Deutsch,  Die  Wiener  Männerschneiderci 
(nZukunftu,  1898,  Nr.  17).  —  Bre^^ssler,  Der 
Notstand  in  der  Glas- Kurzwarenindustrie  Nord- 
böhmens    (Soziale  Praxis,    VII.  Jahrg.,  1897^98). 

—  Derselbe,  Die  Lage  in  der  Besatzstein- 
industrie des  Isergebirges  (Soziale  Praxis,  VIIL 
Jahrg.,  1898\99).  —  S,  Schilder,  Die  Regelung 
der  Heimarbeit  (nGegenwartu  21.  V.  1898).  — 
Berichte  d.  k.  k.  Gewerbeinspektoren,  nament- 
lich für  die  Jahre  1898—1897.  —  G,  Scheu, 
Die  Heimarbeit  im  Wiener  Handschuhmacher- 
gewerbe (Sehr.  d.   V.  f.  Sozialp.,  Bd.  86,  1899). 

—  A»  Wilfling,  Die  Hausindustrie  und  Heim- 
arbeit auf  dem  Gebiete  der  Kamm-  und  Fächer- 
macherei  in  Wien  (ebenda).  —  E,  Seidler ^ 
Heimarbeit  und  Hausindustrie  in  Obersteter  mark 
(Handelskammerbezirk  Leoben),  (ebenda).  —  Ä. 
Pollatschek,  Das  Schuhmachergewerbe  in 
TrebiUch  (ebenda).  —  O.  Engländer,  Veber 
die  HausindustHe  in  einigen  Bezirken  des  sud- 
iistlichen  Böhmen  (ebenda).  —  B.  Zuckerkandl, 
Hausindustrie  in  der  Handschuhmacherei  in 
Dobrisch    und  Umgebung  (Böhmen)    (ebenda).  — 


1166 


Hausindustrie 


K,    Kosta,    Die  Heimarbeit   in   der  Hohlglas- 
industrie yordböhmens  (ebenda), 

III.  Schweiz:  Sammlung  der  bilrger- 
liehen  und  Polizeigesetze  und  Ordnungen  löbl. 
Stadt  und  Landschaft  Zürich,  1757—1759,  Bd.  II, 
IV.  —  John  Bowringf  Bericht  an  das  eivgl. 
Parlament  über  den  Handel,  die  Fabriken  und 
Gewerbe  der  Schweiz,  18S7.  —  M,  ViUertn^f 
Des  ouvriers  en  soie  et  en  cotan  du  canton 
suisse  de  Zürich  (in  Tableau  de  VEtil  physique 
etc..  Vol.  I,  p.  41s  sq.).  —  H,  Dolder,  Die 
Fabrikation  ron  Seidenstoffen  im  Kanton  Zürich, 
1851.  —  J,  J.  Treiehler,  Mitteilungen  aus 
den  Akten  der  Züricher  Fabrikkommission,  I 
und  II,  1858.  —  Bericht  des  Kantojialkomitees 
2kig  über  die  dritte  schweizerische  Industrie-  und 
landwirtschaftliche  Ausstellung  in  Bern,  1858.  — 
A,  Eberle,  Referat  über  die  Stellung  und  Be- 
ruf der  Vrkanlone  zur  Industrie.  Der  Ver- 
samndung  der  schweizerischen  gemeinnützigen 
Gesellschaft  den  2S.  IX.  1858  vorgelegt.  —  W. 
Baer,  Die  Industrie  der  Schweiz,  1859.  — 
EmnUnghaus,  Die  schweizerische  Volkswirt- 
schaft, I.  Bd.,  1860.  —  Bachofeti' Merlan f 
Kurze  ■  Geschichte  der  Bandweberei  in  Basel, 
1862.  —  Statistik  der  Handwebstühle  im 
Kanton  St.  Gallen  (Zeitschr.  f.  Schweiz.  Statist., 
1868).  —  Zur  Statistik  der  schweizerischen 
Vhrenindustrie  (ebenda  1874).  —  Statistik 
der  ostschweizerischen  Sliekereiindustrie  im  Jahre 
1880,  z.  T.  verglichen  mit  1872  und  1876  (ebenda 
1880).  —  H.  Schlatter  und  Aug,  Sttirzen^ 
egger,  Industriestatistik  der  S  Kantone  St. 
Gallon,  Appenzell  und  Thurgau,  1881.  —  F. 
Schuler  f  Schweizerische  Stickereien  und  ihre 
sanitärischen  Folgen  (Vierteljahrsschr.  f.  öffcnti. 
Gesundheitspflege,  Bd.  XIV,  1882).  —  H, 
Schlatter,  Industriekarte  der  Schweiz  für  das 
Jahr  1882,  1888.  —  Kinkelin,  Die  Bevölkerung 
des  Kantons  Bascl-SUidt  am  1.  XII.  1880,  I884. 

—  Bürkli'MeyeTf  Die  Züricherische  Fabrik- 
gesetzgebung vom  Beginne  des  14'  Jahrhunderts 
bis  zur  schweizerischen  Umwälzung  von  1708 
(Beilage  zum  Jahresbericht  der  Kaufm.  Gesell- 
schaft Zürich  für  1888).  —  Derselbe,  Geschichte 
der  Züricheriscfien  Seidenindustrie,  I884.  — 
Sirasbtirger ,  Die  Chreyiindustrie  im  Jura- 
gebirge (Jahrb.  f.  Xat.  u.  Stat.,  Bd.  18).  — 
Oust,  Cohn,  Fabrikgesetzgebung  und  Haus- 
industrie in  der  Schweiz  (Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat., 
JV.  F.  S).  —  Jules  G feller,  Uhorlogerie  suisse 
en  1886  (Zeitschr.  für  Schweiz.  Stat.,  XXIJ.  Jahrg., 
1886).  —  Geering,  Handel  und  Industrie  der 
Stadt  Basel,  1886.  —  Jahresberichte  des 
Centralverbandes  der  Stickerei  Industrie  der  Ost- 
schweiz und  des  Vorarlberg,  1886 ff.  —  Das  ost- 
schweizerische Stickereigewerbe  und  sein 
Kampf  gegen  den  ungezügelten  Wettbewerb  (nDie 
Industrien  1887,  Xr.  17 — 19).  —  Wartm^inn, 
Industrie  und  Handel  des  Kantons  St.  Gallen 
1867—1880,  1887.  —  Karl  Bücher,  Artikel 
»Arbeiterschutzgesetzgebung  in  der  Schweiz^,  in 
diesem  n Handwörterbuch h,  Bd.  I,  1898.  —  G. 
Batimberger,  Geschichte  des  Centralverbandes 
der  Stickereimdustric  der  Ostschweiz  und  des 
Vorarlbergs  und  ihre  wirtschaftlichen  und  sozial- 
politischen Ergebnisse;  1891.  —  Derselbe,  Aus 
der  Geschichte  einer  modernen  Industriebenifs- 
genossenschaft    (Arbetterwohl  189S,    7.-9.  Heft). 

—  A.   Gust.    Laurent,    Die   Stickereiindustrir 
der    Ostschweiz    und    des    Vorarlbergs    mit    bes. 


Berücksichtigung  der  Hausindustrie,  1891.  — 
Zur  Krisis  des  schweizerischen-  Stickfre ir er- 
bandes  (i^Xeue  Zeitu,  X,  ;?,  1891—1892,  S,  746 ff). 

—  Raoul  Jay ,  Une  corporation  moderne, 
1892.  —  Der  Central  verband  der  Kranken- 
unterstützungsvereine der  Sticker.  Sein  Wachsen 
und  Wirken,  1870 — 1889.  Bearbeitet  vom  schweize- 
rischen Arbeitersekrelariat,  1892.  —  11'.  Som^ 
bart.  Die  Stickerei  der  Ostschweiz  und  ihr 
Verband  (Jahrb,  /.  Not.  und  Stat.,  III.  F., 
Bd.  VI,  1898).  —  R,  Sanudn-Wamery,  Die 
Entwickelung  der  Seidenindustrie  (Zeitschr.  für 
Schweiz.  Statistik,  Bd.  XXIX,  1898).  —  O. 
Hintze,  Die  Schweizer  Slickereiindustrir  «»d 
ihre  Organisation  (Schmoüers  Jahrb.  Bd.  XVIII, 
1894)*  —  Der  Centralverband  der  Sticke- 
reiindustrie der  Ostschweiz  und  des  Vorarl- 
bergs (Zeitschr.  der  Centralstelle  für  Arbeiter- 
Wohlfahrtseinrichtungen,  I.  Jahrg.,  1894,  Nr.  4j. 

—  A,  Swaine,  Di^  Arbeits-  und  Wirtschafts- 
verhäUnisse  der  Einzelsticker  in  der  Xordost- 
schweiz  und  Vorarlberg,  1895.  —  JP.  Schuler, 
Die  sozialen  Zustände  in  der  Seidenindustrie 
der  Ostschweiz  (Arch.  f.  soz.  Gesettg.  u.  Stat., 
Bd.  XIII,  1899).  —  Viel  Material  enthalten  die 
Berich  te  der  Fabrikinspektoren. —  Vgl. 
auch  noch  F.  Schuler,  Die  Entwickelung  der 
Arbeiterschutzgesetzgebung  in  der  Schweiz  (Arch, 
/.  soz.  Gesetzg.  u.  Stat.,  Bd.  VI,  189Sj.  —  O. 
Lang,  Das  schweizerische  Fabrikgesetz  und  sein 
Einfluss  auf  die  industriellen  Verhältnis.*^  der 
Schweiz  (Arch.  f.  soz.  Gesetzg.  u.  Stat.,  Bd.  XI, 
1897). 

IV.  Frankreich:  Rapport  a  In  Omr 
des  Pairs  sur  Ics  Svenements  arrives  «  Lyon  en 
1881  ei  I884.  —  Jules  Favre,  De  la  c^alition 
des  chefs  d'ateliers  de  Lyon,  1888.  —  H.  T'l- 
lerm^,  Tableau  de  VEtat  physique  et  tnural 
des  ouvriers  employes  dans  les  manufactures  de 
Colons,  de  laines  et  de  soie,  18 40.  —  yior, 
Mohlf  Aus  dem  gewerbswissenscha/tlichen  Er- 
gebnisse einer  Reise  nach  Frankreich,  I84T.  — 
Analyse  de  la  Situation  industrielle  du  dt- 
partement  public  par  le  Jury  du  Xord,  18^9.  — 
Ije  Play,    Les  ouvriers  europeens,   zuer*t  1850. 

—  lAtnann,  De  Vindustrie  des  vetementf  c»*n- 
fectionnes  en  France,  1857.  —  E,  F,  Hebert  Jt 
E,  Delhet,  Tisseur  en  chdles  de  la  fabrigne 
urbaine  collect,  de  Paris.  (»Les  ourrieys  des 
deux  Mondesn  etc.,  Tome  I,  Paris  1857. j  —  E. 
Levasseurf  Histoire  des  classes  oih-ri^/vj»  en 
France,  4  tomes  1859 ff.  —  A,  Audiganne^ 
Les  populations  ourrieres  et  les  industries  de  la 
France.  Eiudes  comparatives  etc.,  Ü  ed.,  J  Vtd. 
1860.  —  Derselbe,  Les  ouvriers  d'a  presmt  et  In 
nourelle  economic  du  travail,  2  Vol.,  186.',,  — 
Jules  Simon,  L'ouvriere,  1860;  seitdem  oft 
aufgelegt.  —  l,,  Reybaudf  Rapport  sur  h 
condition  etc.  des  ouvriers,  qut  vivent  du  travail 
de  la  soie.  Extr,  1860.  — Derselbe j  idem  des 
ouvriers,  qui  vivent  de  l* Industrie  du  mtou, 
186£.  —  Derselbe  f  idem  des  ouvnerfi,  qui 
vivent  de  Vindustrie  de  la  laine,  l,sf..r,.  — 
Mnie.  «7.  V,  Daubi4,  Im  femme  ptiurre  ttu 
XIX.  siede,  1866.  —  Exposition  u  ti  t  rer- 
seile  de  1867.  Rapports  du  Jury  inter- 
national publ.  sous  la  direction  de  M.  Chemher, 
14  Vol.,  1868.  —  Adrien  Ihtrand,  Xotie*'  svr 
les  couteliers  de  Langres  au  moyen  (ige,  1S7'K  — 
Enquete  sur  les  conditions  du  trarail  dons  le 
departement     de     la    ikine ,    167  J.  —  Leroy" 


Hausindustrie 


1167 


BeaulieUf  Le  travaü  de«  femmes  au  XIX»  sc, 
1S7S.  —  H.  JLenevetiXf  Le  travaü  manucl  en 
France,  1874,  —  Mnie.  Caroline  de  Barr  au  j 

Etüde  rur  le  salaire  du  travail  j^iinin  d  Paris 
(ca,  1877).  —  Henry  de  Beaumant,  La  grhc 
des  taiUeurs  et  de  Vinduatrie  du  rctement  sur 
mesure  d  Baris  (Joum.  des  Econom.  Juillet  1885). 

—  M,  Duvelleray,  L'ouvrier  eventailliste  de 
tSainie-Genevieve  (CHse-France),  d* apres  les  ren- 
seignements  reeueülis  sur  les  lieux  en  Xovembrc 
1863.  (»Les  ouvr,  des  dcux  Mondesa  T.  5*  1885, 
No.  40h  —  H,  et  A,  Bauclrillart ,  Les  popu- 
lalions  agricoles  de  la  France,  3  Vol„  1885 — 
1893.  —  J,  Barberet,  Le  travail  en  Frayice. 
Monographies  professionelles,  7  Vol.,  1886 — 1890. 

—  Vrh,  Qu^rin,  Ouvrier  Cordonnier  de  Mala- 
hoff  (Üeine-France),  1878,  ib.  Xo.  4I.  —  Emest 
de  Toytot,  Gantier  de  Urenoble  (Isere),  1885 — 
1887  (ib.  II*  Serie,  tome  1, 1887).  —  A,  Cofjfignon, 
Les  coulisses  de  la  mode,  ca.  1888.  —  La  Fa- 
brique  Lyonnaise  de  Soieries  et  l'indus- 
trie  de  la  soie  en  France  1789 — 1889.  Imprime 
par  ordre  de  la  chambre  de  commerce  de  Lyon, 
1889.  —  F^l,  Pingenetf  Piec^s  diverses  con- 
cemant  la  Corporation  des  couteliers  de  Langres, 
1891.  —  Pierre  du  Maraussetn,  Ebeniste  du 
Faubourg  St.  Antoine ;  Grands  Magasins, 
niyiceating  systemv.,  1892.  (La  question  ouvriere, 
Vol.  IL)  —  Derselbe f  Le  Systeme  parisien  de  l'in- 
dustrie  du  ineuble  et  le  vsweating  systemu  (Rev. 
d'econ.  pol.,  Mai  1892). —  Derselbe,  L'industrie 
des  jouets  ä  Paris :  la  Situation  des  otivriers  et 
le  nsiPeating  systemu.   (La  re/orme  sociale,  1892). 

—  Derselbe,  Le  Jouet  parisien.  Grands  magasins, 
nSweaiing  systemu,  1894»  (La  question  ouvriere. 
Vol.  III.)  —  Derselbe,  Ouvriere  Moulineuse  en 
Cartonnaye  d'une  fabrique  colUctive  de  jouets 
parisiens.  (Les  ouvriers  des  Deux  mondes, 
2*  sene  31  jasc.)  —  O.  WoriK,  La  couture 
et  la  confection  des  vetements  de  femme,  1892.  — 
lAo  Char4tie,  Les  Jouets.  Histoire.  Fahri- 
cation.  —  Ch,  Bennoist,  Les  ouvrih-es  de 
Vaiguilled  Paris,  1895,  —  L'industrie  textile 
dans  la  basse  Xormandie.  (L'association  catho- 
lique,  15.  IL  1895.)  —  L,  Bannevay ,  Les 
ouvrieres  lyonnaisesd  domicile,  1896.  —  Derselbe 
und «/.  Qodart,  Le  travail  d  domicile  d  Lyon 
(Congres  intern,  de  Legislat.  du  Travail  d 
Bruxeiles  1897),  1898.  —  Le  Vetement  d  Paris 
(La  petite  industrie.  Salaires  ei  duree  du 
Travail,  Tome  II)  1896.  —  G,  Levasnier, 
Syndicat  de  VaiyuiUe,  n Papiers  de  famille  pro- 
JessionneUe « ,  1896.  —  L'  Industrie  de  la 
couture  et  de  la  confection  d  Paris.  (Musee 
sociale,  JSerie  A,  Circ.  14,  1897.)  —  IHetrich, 
Die  gegenwärtige  wirtschajiliche  Lage  der  tSpitzen- 
industrie  (industrie  des  tulles  et  denteUes)  in 
Frankreich  (Jahrb.  f.  Gesetzg.  etc.,  1899). 

V.  Italien:  leserunt,  Cenni  storici  e 
statisiici  suil*  industrie  dei  merletti,  1873.  — 
Brignardello,  I  merletti  nel  circojtdario  di 
Chiavari.  —  Alb,  Errera,  Manuale  teorico- 
pratico  per  le  piccole  industrie,  1880.  —  In- 
dus t  r  i  e  fo  r  e  s  t  a  l  i ,  Le  piccole .  in  Italia,  1883. 

—  Statistica  industriale  (Annali  di 
statistica,  1885  seg.j.  —  Alb.  Errera,  Istitu- 
zione  indusiriali  popolari,  1888.  —  Gregorio 
Gregorit  Le  Piccole  industrie  fra  i  contadini, 
1891.  —  ir.  Sonibart,  Studien  zur  Entwicke- 
Inngsgeschichte  des  iudivnischen  Proletariats 
(Arch.    J.     soz,     Gesetzg.,    Bd.     VI,     1893).    — 


Ä  Graf  Broglio  tVAJano,  Die  Venetianische 
Seidenindustrie  und  ihre  Organisation,  1893.  — 
Derselbe,  Veber  die  Slrohflechterei  in  Toscana 
(Jahrb.  f.  Xat.  u.  Stat.JIL  F.,  Bd.  XVJII,  1899). 

—  H,  Sieveklng,  Die  Geuuesei-  Seidenindiistrie 
im  15.  und  16.  sc.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des 
Verlagssystems  (Schmollers  Jahrb.,  Bd.  XXI, 
1897).  —  J,  Ghersi,  Piccole  industrie  ec,  1898.  — 

VI.  Bussland:  A,  von  Meyendorff, 
Veber  die  Manu  fakturbetriebsam  keil  Busslands 
in  Bezug  auf  die  allgemeine  Produktivität  und 
das  häusliche  Leben  der  niederen  Volkskl<usen 
(Arch.  f.  wissensch.  Kunde  Busslands,  Bd.  IV, 
S.  548).  —  Arsenjew,  Das  Fabrikdorf  Iwanowa, 
ebenda,  S.  589,  —  %\  Outnuinnsthal,  Buss- 
lands  Industriezustände,  1850.  —  Korssak  a. 
a.  O.  sub  A.  —  Lh  Maikow,  Materialien  zur 
Kenntnis  der  Hausindustrie  und  Handarbeit  in 
Bussland  (3.  Bd,  der  Statist.  Wremennik,  1872, 
in  russischer  Sprache).  —  Chr.  Viyn  Sarauw, 
Das  russische  Reich  in  seiner  finanziellen  und 
ökonomischen  Entwickelung  seit  dem  Krimkriege, 
N.  ofßg.  Quellen,  1873,  6'.  f07ff.  —  W.  Weschnia- 
Icoff,  Xotice  sur  Vetat  actuel  de  Vindustrie 
domestique  en  Bussie,  1873.  —  A.  A,  Mesch^ 
tschersky  und  K,  N.  Modsalewslcy,  /Samm- 
hing  rofi  Material  über  die  Hausindustrie  in 
Bussland,  herausgegeben  im  Auftrage  der  Statist. 
Abteilung  der  kaiserl.  nus.  geographischen  Ge- 
sellschaft, 1874  ("*  russischer  Sprache).  —  C 
Grü/nwaldt,  Das  Artellwesen  und  die  Haus- 
industrie  Russlands,  1877.  —  Alf,  Thun,  Veber 
die  russische  Hausindustrie  tm  Gouvernement 
Moskau  (Russ.  Revue,  Bd.  12,  1878).  —  Ver- 
selbe,  Landwirtschaft  und  Gewerbe  in  Mittel- 
russland  seit  Aufhebung  der  LeibeigenscJiaft, 
1880.  —  Sam,mlung  statistischer  Mitteilungen 
über  das  Gouvernement  Moskau,  Bd,  VI  und 
VII,  1879-188:8  (in  mssücher  Sprache).  — 
Prugawin  und  Charisontenow,  Schilderung 
der  Gewerbe  im  Gouvernement  Wladimir,  1882 
(in  russischer  Sprache).  —  Pr%igawin,  Die 
Hausindustrie  auf  der  Ausstellung  im  Jahre 
1882,  1882  (in  russischer  Sprache).  —  A,  W, 
Prileshajew,  Was  ist  Hausindustrie  f  1882 
(in  russischer  Sprache).  —  A,  A,  Issajew,  Zur 
Frage  der  Hausindtistric  in  Bussland.  (»Russi- 
sches  Lebenu,    Bd.  XI,   in   russischer  Sprache.) 

—  Derselbe,  Le  travaü  en  famiüe  en  Russie 
(Revue  d'economie  politique,  Mai  1893).  — 
Arbeiten  der  Ko  mviission  tu  r  Er  - 
forschung  der  Hausindustrie  in  Russ- 
land,  amtlich,  8  Bde.,  1879 — 1882  (in  russischer 
Sprache).  —  W,  Stieda,  Die  neuesten  For- 
schungen über  den  Stand  der  Hausindustrie  in 
Russland.  (Russ.  Revue,  Bd.  22,  1883.)  —  F, 
Matthaei,  Die  wirtschaftlichen  Hilfsquellen 
Russlands  und  deren  Bedeutung  für  Gegenwart 
und  Zukunft,  Bd.  I,  1883.  —  Af.  Gorbtinoff, 
Veber  russische  Spitzenindustrie.  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  Hausindustrie,  1886.  —  A, 
Stellniacherf  Ein  Beitrag  zur  Darstellung  der 
Haueindustrie  in  Russland,  1886.  —  --1.  Peretz, 
Pricis  d'une  monographie  de  Varmurier  des 
manufactures  imperiales  de  Toula  (GtandeRussie). 
(»Les  ouvriers  des  deux  mondesv,  2^  Serie; 
tome  I,  1886.)  —  Fr.  von  HellwaUl,  Slavische 
Hausindustrie.  (Die  Welt  der  Slaven,  2.  Auß., 
1890.)  —  Korolenko,  Skizzen  aus  Pawlotat. 
(Aufsätze  in  russischer  Sprache  in  der  nRusskaja 
Misslu.j  —  G,  Plechanovc,  Die  sozialpolitischen 


1168 


Hausindustrie 


Zustünde  Rusdands  im  Jahre  1890.  (nNeue 
Zeitu,  1890\91,  S.  Bd.,  S.  691  ff.,  S.  731  ff.)  — 
Abriss  der  Thätigkeit  des Domänenminüteriums, 
betreffend  Entwickelung  und  Verbesserung  der 
Hausindustrie  in  den  Jakren  1888 — 1890,  1890 
(in  russischer  Sprache).  — tleserskl,  nKustamaja 
Promyschlennostn,  Moskau  1896.  —  Plotnikow, 
Kiisiamaja  Promisehlennost  im  Gouverne- 
ment Nischni-  Nowgorod,  1895.  —  JPeter  von 
StuvBj  Die  historische  und  die  systematische 
Stellung  der  russischen  Kustamaja  Promyschlen' 
nost.  (Mir  Boschy ,  April  1898,  in  russischer 
Sprache.)  —  M.  Tugan-Baranowshi,  Ge- 
schichte der  russischen  Fabrik,  deutsch  1900.  — 
O,  von  Schulze^Gdvemitz,  Volkswirtschaftliche 
Studien  aus  Russland,  1899.  In  den  beiden 
letztgenannten  Schriften  auch  untere  Angaben 
nissischer  LiUercUur. 

VII.  England:  Daniel  De  Foe,  A  Tour 
through  the  island  of  Great  Britain.  Zuerst 
1724,  8.  ed.,  4  Vol.,  1778.  —  A,  Young,  A 
si^  weeks  tour  through  the  southern  counties 
ofEngiand  and  Wales,  1767.  —  Derselbe,  A  six 
month  tour  through  the  North  of  England,  2.  ed., 
1776.  —  Report  on  the  Wo  ollen  Manufacture 
of  England,  1806.  —  First  Report  on  Silk 
Ribbon  Weavers,  1818.  —  Second  Rep.  on 
Ribbon  Weavers,  1818.  —  Rep.  on  Silk 
Ribbon  Weavers,  1818.  —  Rep.  on  Ribbon 
Weavers  Petition,  1818.  —  P.  Qaskelly  The 
manufacturing  population  of  England,  its  moral 
social  and  physical  condilions  and  the  changes 
which  have  arisen  from  the  usc  of  steam 
machinery  etc.,  1838.  (1836  u.  d.  T.  Artisans 
and  Machinery  neu  aufgelegt.)  —  Report  from 
select  Comm.  on  Hand-loom  Weavers  peti^ 
tions.  Wilh  the  min.  of  evid.,  2  Vol.,  1834,  35 
t Bitte  bookj.  —  Analysis  of  the  evidence  taken 
before  the  select  Comm.  on  Hand-loom 
Weavers  petition  (1834 — 1834),  1835  (Parlia- 
mentary  paper).  —  Baine8,  History  of  the 
Cotton  Manufacture  in  Gr.  Britain,  1835.  — 
Vre,    History  of  the  Cotton  manufacture,  1836. 

—  E,  Th.  Kletnschrodf  Grossbritanniens  Ge- 
setzgebung über  Gewerbe  etc.,  1836.  —  -4««?- 
stant  Hand-loom  Weavers  Comm.  Rep. 
5  Vol.,  1839—1840.    (Pap.  by  comm. ;  bitte  book.) 

—  Copy  of  report  by  Mr.  Hickson  on  the 
C&ndition  of  the  Hand-loom  Weavers, 
1840.  (Pap.  by  command.)  —  Hand-loom 
Weavers  Report  of  the  Commissioners,  I84I. 
(Paper  by  command. ;  blue  book.)  —  i.  Faucher ^ 
Etudes  sur  l*Angleterre,  2  Vol.,  1845.  —  Friede 
rieh  Eng  eis  f  Hie  Lage  der  arbeitenden  Klassen 
in  England,  1845.  —  t/".  Jfcf.  L/udloWy  Labour 
and  the  Poor.  (Fräsers  Magazine,  Jan.  1850.)  — 
Parson  Lot  (Ch.  Kingsley)^  Cheap  Clothes 
and  Nasty,  1850.  —  Th,  Hughes j  Histoiy  of 
the  Working  Taüors  Association,  1850.  — 
Titnmtn,  Ressources,  Products  etc.  ofBiirmingham, 
1866.  —  FelktUf  History  of  the  Hosiery  and 
Lace  Mamifactures ,  1867.  —  W,  O.  Crory, 
East  London  Industries,  1876.  —  J»  O,  Eccarlus, 
Der  Kampf  des  grossen  und  des  kleinen  Kapitals 
oder  die  Schneiderei  in  London,  1876.  —  von 
Bojanowskif  Das  englische  Fabrik-  und  Werk- 
stättengesetz von  1878,  1881.  —  Ad.  Held, 
Zwei  Bücher  zur  sozialen  Geschichte  Englands, 
1881.  —  L,  Brentano,  Die  christlichsoziale 
Bewegung  in  England,  1888.  —  A,  Toynbee, 
Lectures  on  the  industrial  revolution  of  the  18  th  \ 


Century  in  England,  1884,  5.  ed.,  1896.  -- 
Ashtey,  The  early  history  of  the  woollen  indus- 
trie,  1887.  —  Report  to  the  Board  of  TV.  on 
the  sweating  system  cU  the  East  End  vf 
London  by  the  Labour  correspondenl  of  thf 
Board  {John  Bumett).  —  Derselbe,  Ön  the 
sweating  System  in  Leeds,  1888.  —  First 
Report  from  the  select  Committee  of  the  Hmise 
of  Lords  on  the  sweating  System  together 
with  the  proceedings  of  the  Comm,,  Minules  of 
evidence  and  Append.,  1888.  —  &  Moore,  Das 
sweating  system  in  England  (Areh.  f.  soz.  Gesetzg., 
Bd.  I,  1888).  —  Botemreither,  Zur  Statistik 
der  Arbeitslosen  in  England,  ebenda.  —  Charles 
Booth,  Labour  and  life  of  the  People,  To/.  /, 
East  London  1889.  —  Die  ländkche  Haus- 
industrie in  England  (nExportu  1890,  Xr.  4^). 

—  Paul  Fischer,  Das  Ostende  in  London. 
Ein  soziales  Nachtbild,  1891.  —  Whately  Cook- 
Taylor,  The  modern  factory  system,  1891  f be- 
handelt das  siveating  system).  —  Verbatim 
Report  of  the  Trades  Union  Conference  f'^r 
the  abolilion  of  the  Middleman  Sweater.  Held 
in  London  1891,  1891.  —  Some  Industries 
of  East  London  working  girls :  their  lives  and 
homes,  189^.  —  Royal  Commission  on 
Labour.  Digest  of  the  evidence  taken  before 
Graupe  t.  of  the  R.  Comm.  on  Labour,  Vol.  II. 
Iron,  engineering  and  hardware.  Presented  to 
both  Houses  of  Parliament  by  Command  of  Her 
Majesty,  June  189S.  —  Beatriee  JPotter  (Mr. 
Sidney  Webb),  Pages  from  a  Work-girl's  Diary 
(Nineteenth  Century  1888).  —  JHeselbe,  The  Lords 
and  the  Sweating  system  (ebenda  1890).  —  How 
best  to  do  away  the  Sweating  system,  1894.  — 
IHeaelbe,  Une  nouvell-e  loi  anglaise  sur  le*  fahrt- 
ques  (Rev.  d'econ.  pol.  1895).  —  JHeselbe  in  d^r 
Fortnightly  Review,  Dezember  1887 ;  April 
1890;  Januar  1898  und  in  der  Economic 
Review ,  Oktober  189S.  —  S weat i n g :  its  Caus^ 
and  remedy.  Fabian  Trart  Nr.  50,  I894.  — 
Sw  eate  d  in  du  s  tries  (n  Sozialdemokrat* 
1894).  —  tfames  M€icdonaUi,  Gotemment 
Sweating  in  the  Clothing  Contracts  (The  Sev 
Review,  November  1894).  —  ^^^  industriol 
and  ethical  Situation  of  the  sicing  womqh 
(Hull-House  Maps  and  Papers).  —  1*.  Sinz^ 
heimer.  Zur  Bekämpfung  der  Hausindustrie 
durch  die  Gewerkvereine  (betjrifft  Londantr 
Schuhmacherei;  Sozialp.  Centraihl.,  IV.  Jahrg., 
1894 — 1895).  —  P.  du  Rousiers,  La  guesti^/n 
ouvriere  en  Anglcterre,  1895.  —  A,  Smith, 
Das  Stveatingsystem  in  England  (Arch.  f.  soz. 
Gesetzg.  u.  Stat.,  Bd.  IX,  1896),  —  Margar, 
H,  Irwin,  Home  Work  amongst  Women,  1897. 

—  Sidney  and  Beatrice  Webb,  Industrial 
Democracy,  1897.  Deutsch  u.  d.  T.:  Theorie 
und  Praxis   der  englischen  Getecrkvereine,  189S. 

—  Woman'  s  industrial  Council,  L^ 
reglementatio7i  de  Vindustrie  ä  domiciie  (Congr. 
intern,  de  Bruxelles,  1897).  —  Les  droits  et 
les  devoirs  d'inspectettrs  d'u^nes en Angfeient 
(ebenda).  —  F,  Lohntann,  IMe  staatliche  Rege- 
lung der  englischen  Wollindustrie  vom  lü.  hi* 
zum  18.  sc,  1900. 

VIII.  Belgien:  H.  de  Holsbeek,  Viu- 
dustrie  dentelliere  en  Belgique.  Etüde  sur  h 
condition  phys.  et  mor.  des  ouvri^res  en  den- 
telles,  186S.  —  Commission  du  Trarail  im- 
stitue  par  Arrete  royal  du  15.  IV.  1886,  S  Vol„ 
1887.  —  H,  Herkner,   Die  belgische  Arbeiter- 


Hausindustrie — Haxthausen 


1169 


enquete  und  ihre  soziaipolifischen  Resultate 
(Arch,  /.  802.  Gesetzg,,  Bd.  I,  1888),  —  Di^ 
Lütticher  Waffe  nfa  brikation  (»Handels- 
museumüf  Bd.  VI,  1891,  Nr.  19).  —  van  den 
Steen  de  ffehay,  Tisserand  de  la  fabrique 
collective  de  Gand  (Flandre  Orientale).  (nOiivriers 
des   deux   mondesu,    11^  serie,    22*  fasc,   1891). 

—  Ch,  Q^nartf  Coütelier  de  la  fabriqtie 
collective  de  Gembloux  (Prov.  de  Namur,  Bel- 
gique,  l.  c.  SSfasc,  1892).  —  Derselbe,  L^indiis- 
trie  coüteliere  de  Gemblcmx,  1899.  —  H.  Swainef 
Die  Heimarbeit  in  der  Gewehrind^istrie  von 
Lattich  und  dessen  Umgebung  (Jahrb.  f.  iVat. 
n.  St.,  III.  F.,  Bd.  XII,  1896).  —  Dietrich, 
Die  gegenwärtige  wirtschaftliche  Lage  der  Spitzen- 
indusirie  (industrie  des  tulles  et  dentelles)  in 
Belgien  (Jahrb.  f.  Gesetzg.,  XXIII.  Jahrg.,  1899). 

—  JB.  Tardim,  L'indvstrie  du  vetement  pmir 
hommes  ä  Bruxelles,  1899.  —  Les  indusirie s 
a  domicile  en  Belgique,  Vol.  I,  X'md«*- 
trie   armuriere   lihgeoise  par  M.  Ansiaux,   1899. 

—  Chistav  May  et*  f  Eine  EnqtiHe  über  die 
Hausindustrie  in  Belgien  (Soz.  Praxis,  IX,S21  f.). 

—  E.  Vandervelde,  L'influence  des  villes  sur 
les  campagnes  in  den  Annales  de  l'Institut  des 
Sciences,  1898 — 1899. 

IX.  Holland :  Enquete  betreffende  wer- 
king  en  uitbreiding  der  wet  van  19.  IX.  1874 
(Staatsblad  ^o.  ISO)  en  naar  den  toestand  van 
fabrieken  en  werkplaatsen,  1887.  —  C  T.  Stork, 
De  Ihcenthsche  katoennijverheid,  hare  vestiging 
en  uitbreiding.  Herinneringen  en  wenken,  2,  A., 
1888.  —  Handelingen  Staten  -  Generaal, 
1889\90. 

X.  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 
Ueber  die  älteren  Hausindustrieen  fehlt  die 
Liiteratur  fast  gänzlich,  VgL  die  wenigen  An- 
gaben bei  Carrol  D.  Wright,  The  industrial 
evolution  of  the  United  States,  1895.  —  Die  Ge- 
schichte der  neuer enHausindustrieen  in  IT. S.A. 
ist  die  Geschichte  der  Einwanderung  nach  dort. 
Die  Wandern ngslitteralur  beschäftigt  sich  daher 
meist  mit  unserem  Problem.  Vgl.  z.  B.  R,  M, 
Stnith,  Emigration  and  Immigration,  1890.  — 
An  SpeciallittercUur  ist  folgendes  zu  nennen: 
Xta  H,  DankSf  White  slaves  or  the  oppression 
of  the  worthy  poor,  1892,  —  The  Sweating- 
sy Stern  in  Europe  and  America.  (Journal  oj 
Social  Science,  Oktober  1892).  —  H,  White, 
The  sweating  System  (Bulletin  of  the  Department 
of  Labour,  Mai  1896,  Washington).  —  E.  de 
Lev€i88eur,  Le  sweating  System  aux  Etats-Uni^ 
(Rivue  d* economic  politique;  oct.-nov.  1896).  — 
«7.  M,  Mayers,  The  sweating  sy stein  in  New- 
York  city  (Guntons  Magazine,  Agost  1896).  — 
H.  Lh  W.,  Die  Gesetzgebung  gegen  das  Sweating 
System  in  den  Vereinigten  SlcuUen  Nordamerikas 
(Jahrb.  /.  Not.  u.  St.,   III,  F.,   Bd.  XIII,   1897). 

—  Florence  Kelley,  Das  Sweatingsystem  in 
den  Vereinigten  Staaten  (Arch.  f.  soz.  Gesetzg., 
Bd.  XII,  1898).  —  Material  enthalten  auch 
die  Berichte  der  arbeitsstatistischen 
Bureaus  der  verschiedenen  StcMten;  so  z,  B. 
New -York  1884;  lUinais  1892;  Ohio  1896; 
Missouri  1897.  Ebenso  haben  die  Berichte  der 
Fabrikiuspektoren  von  New-  York  von 
1886  aji  stets  die  Werkstättenarbeit,  insbesondere 
die  Hausindustrie  befiandelt. 

XI.  Britisch-Ostindien:  W,  W,  Hun~ 
ter,   The  Imperial    Gazetteer   of  India ;    insbes. 

Vol.    VI  (India),  2.  ed.,  1886. 


XII.  Persien:  J,  Daazlnaka,  Die  Haus- 

industfi-e  in  Persien  (nNetie  Zeitn,  X,  2,  1891 — 
1892,  S.  2tSf.),  nach  einem  Aufsatz  von  Miklo- 
schewski  im  Oekonomitschesky  Jumal,  1891, 
Heft  6—7. 

Werner  SambarL 


Hanskommunion 

s.  Ansiedelung  oben  Bd.  I  insbesondere 

S.  368  f. 


Haxthausen,  August,  Freiherr  ron, 

geb.  am  2.  UI.  1792  zu  Bökendorf  in  Westfalen, 
gest.  am  31.  XII.  1866  in  Hannover.  Nach  Ab- 
solvierung seiner  juristischen  Stadien  inGöttingen 
veröffentlichte  er  1829  die  Schrift  „lieber  die 
Agrarverfassung  in  den  Fürstentümern  Pader- 
born und  Corvey"  (s.  u,),  welche  die  Aufmerk- 
samkeit der  preussischen  Regierung  auf  ihn 
lenkte,  die  ihn  beauftragte,  unter  gleichzeitiger 
Ernennung  Haxthausens  zum  Geheimen  Ke- 
gierungsrat,  die  Agrarverfassnngen  der  einzelnen 
preussischen  Provinzen  an  Ort  und  Stelle  zu 
studieren.  Zur  Drucklegung  ist  von  diesen 
agrarhistorischen  Untersuchungen,  deren  Ma- 
terial Haxthausen  auf  einer  neunjährigen  amt- 
lichen Bereisung  der  Monarchie  sammelte,  nur 
der  die  Provinzen  Ost-  und  Westpreussen  be- 
handelnde Band  gelangt. 

1847  und  1848  war  Haxthausen  Mitglied 
des  preussischen  vereinigten  Landtages  und 
später  auf  kurze  Zeit  audi  der  ersten  preussi- 
schen Kammer. 

Haxthausen  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schäften  in  Buchform: 

Ueber  die  Agrarverfassung  in  den  Fürsten- 
tümern Paderborn  und  Corvey  und  deren  Kon- 
flikte in  der  gegenwärtigen  Zeit  nebst  Vor- 
schlägen, die  den  Grund  und  Boden  belastenden 
Rechte  und  Verbindlichkeiten  daselbst  auszu- 
lösen, Berlin  1829  (führt  auch  den  Nebentitel: 
Ueber  die  Agrar Verfassung  in  Norddeutschland 
und  deren  Konflikte  in  gegenwärtiger  Zeit, 
Teil  I,  Bd.  1;  der  Verf.  vertritt  darin  das 
Programm:  Fortentwickelun^  der  Argrarver- 
fassung auf  historischer  Basis,  Befreiung  des 
Grund  und  Bodens  von  der  Macht  des  Kapitals 
und  zu  deren  Durchführung  Reform  der  ständi- 
schen Verfassung).  —  Die  ländliche  Verfassung 
in  den  einzelnen  Provinzen  der  preussischen 
Monarchie,  Bd.  I,  auch  unter  dem  Titel:  Die 
ländliche  Verfassung  in  den  Provinzen  Ost-  und 
Westpreussen,  Königsberg  1839.  (Dies  ist  der 
einzige  von  Haxthausen  veröffentlichte  Band 
des  projektierten  grossen  Enquetewerkes  [s.  o.], 
der  22  Jahre  später  erschienene  Fortsetzungs- 
band führt  den  Titel:  Die  ländliche  Verfassung 
in  den  einzelneb  Provinzen  der  preussischen 
Monarchie.  Fortgesetzt  im  amtlichen  Auftrage 
von  Alex.  Padberg,  Bd.  II:  Die  ländliche  Ver- 
fassung in  der  Provinz  Pommern,  Stettin  1861). 
—  Ueber  den  Ursprung  und  die  Grundlagen 
der  Verfassung  in  den  ehemals  slavischen  Län- 
dern Deutschlands  im  allgemeinen  Und  des 
Herzogtums  Pommern  im  besonderen ,  Berlin 
1842.  —  Studien  über  die  inneren  Zustände, 
das  Volksleben  und  insbesondere  die  ländlichen 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


74 


i 

J 


1170 


Haxthausen — Hebammen 


Einrichtnngen  Rnsslands.  3  Bände,  Hannover 
und  Berlin  1847 — 52;  dasselbe  in  französischer 
Uebersetzung,  ebd.  1848 — 53.  (Haxthansen  sieht 
in  der  russischen  Gemeinde  die  erweiterte  Fa- 
milie, deren  Gemeindebesitz  das  altnissische 
Familienrecht  zn  Grunde  lieg^.,  die  Spuren  der 
altrussischen  Feldgemeinschaft  verwischen  sich 
nach  seiueu  Untersuchungen  schon  im  frühen 
Mittelalter,  und  die  nenrussische  Feldgemein- 
schaft ist  nach  ihm  erst  infolge  der  Kopfsteuer 
im  18.  Jahrhundert  entstanden.  Seine  Studien 
über  die  russischen  Agrarverhältnisse  bezw.  den 
Agrarkommunismus  Itus-slands  beruhen  auf  per- 
sönlichen, im  Auftrage  des  Kaisers  Nikolaus  an- 
gestellten Untersuchungen  und  erstrecken  sich 
hauptsächlich  auf  die  Gouvernements  Olonez, 
Wologda,  Wjatka,  Perm  und  das  Gebiet  der 
nördlichen  Düna.)  --  Die  Kriegsmacht  Kuss- 
lands in  ihrer  historischen,  statistischen,  ethno- 
graphischen und  politischen  Beziehung,  Berlin 
1852  (Sonderabdruck  aus  Bd.  III  der  Studien 
über  Bussland);  dasselbe  französisch,  ebd.  1853. 
—  Transkaukasia.  Andeutungen  über  das  Fa- 
milien- und  Gemeindeleben  und  die  sozialen 
Verhältnisse  einiger  "Völker  zwischen  dem 
Schwarzen  und  Kaspischen  Meere.  Reiseerinne- 
rungen und  gesammelte  Notizen^  2  Bde.,  Leipzig 
1856.  —  De  Tabolition  par  voie  legislative  du 
partAge  ^gal  et  temporaire  des  terres  dans  les 
communes  russes.  Paris  1858.  —  Die  ländliche 
Verfassung  Russlands,  ihre  Entwickelung  und 
Feststellung  in  der  Gesetzgebung  von  1861, 
Leipzig  1866. 

Haxthausen  war  der  Herausgeber  des  Wer- 
kes :  Das  konstitutionelle  Princip,  seine  geschicht- 
liche Entwickelung  und  seine  Wechselwirkungen 
mit  den  politischen  und  sozialen  Verhältnissen 
der  Staaten  und  Völker,  2  Teile,  Leipzig  1864 
(Inhalt:  Teil  I:  Die  Repräsentativvertassungen 
mit  Volkswahlen,  von  K.  Biedermann;  Teil  II: 
Vier  Abhandlungen  über  das  konstitutionelle 
Princip  von  J.  Held,  R.  Gneist,  G.  Waitz  und 
W.  Kosegarten);  dasselbe,  Teil  II  in  französi- 
scher Uebersetzung,  ebd.  1865. 

Vgl.  über  Haxthausen:  A.  Jourdier, 
Voyage  agronoroique  en  Russie  faite  en  1860 — 
61,  ebd.  1863,  S.  16.  (Jourdier  nennt  darin  den 
Verfasser  der  „Studien  über  Russland ^  einen 
„hon  agronome",  verweigert  ihm  aber  das  Prädi- 
kat eines  „agriculteur  praticien".)  —  Franz 
Ludwig  August  Maria,  Freiherr  von  Haxthausen, 
Ein  Versuch  von  Freundeshand,  Hannover  1868. 
(Als  Manuskript  gedruckt.)  —  K.  Walcker, 
Die  gegenwärtige  Lage  Russlands,  Leipzig  1873, 
S.  6.  —  Röscher,  Geschichte  der  National- 
Ökonoraik,  S.  1027.  —  J.  v.  Ken ss  1er,  Ge- 
schichte und  Kritik  des  bäueriichen  Gemeinde- 
besitzes Russlands,  Bd.  I,  Riga  1876,  S.  73/74 
und  89/90.  —  Allgemeine  deutsche  Biographie, 
Bd.  XI,  Leipzig  1880,  S.  119.  —  A.  Menger, 
Das  Recht  auf  den  vollen  Arbeitsertrag,  2.  Aufl., 
Stuttgart  1891,  S.  49  und  158. 

Lippert. 


Hebammen. 

1.  Deutschland.    2.  Andere  Länder. 

1.    Deutschland.      Das    Gewerbe    der 
Hebammen  ward  seit  Ende  des  17.  Jalir- 


himderts  Gegenstand  landesgesetzlicher  Re- 
gelung. Die  Hebammen  wurden  zur  Aus- 
übung ihres  Berufes  nur  zugelassen,  nach- 
dem sie  durch  eine  Prüfimg  ihre  Befähigimg 
dargethan  hatten.  Ausserdem  mussten  sie 
sich  auch  über  die  sonstigen  dafür  erforder- 
lichen Eigenschaften  ausweisen.  Durch  die 
Errichtung  von  Hebammenschiüen  wurde  für 
eine  entsprechende  Vorbildung  Sorge  ge- 
tragen. 

In  die  landesgesetzlichen  Vorschriften 
griff  die  Reichsgewerbeordmmg  insofern  ein, 
als  sie  bestimmte,  dass  Hebammen  eines 
Prüfungszeugoisses  der  nach   den  Landes- 

g?setzen  zuständigen  Behörde  bedürfen, 
iese  Vorschrift,  welche  sich  in  dem  Ent- 
würfe des  Bundesrates  fand,  wurde  vom 
Reichstage  unverändert  angenommen,  w^äh- 
rend  letzterer  in  Bezug  auf  Aerzte  von  der 
Regierungsvorlage  insofern  abwich,  als  er 
nicht  die  Ausübung  der  ärztlichen  Praxis, 
sondern  nur  die  Bezeichnung  als  Arzt  von 
der  Approbation  abhängig  machte.  (Vergl. 
den  Art.  Arzt  oben  Bd.  II  S.  11  ff.)  Das 
Hebammengewerbe  ist  demnach  nicht  frei 
gegeben.  Nicht  nur  die  Bezeichnung  als 
Hebamme,  sondern  die  Ausübung  des  Be- 
rufes als  Hebamme  ist  abhängig  von  dem 
Besitze  eines  Prüfungszeugnisses  oder 
einer  auf  Grund  einer  Prüfung  erteilten 
Approbation  (Grew.-O.  §  30).  Der  Betrieb 
des  Gewerbes  ohne  diese  Voraussetzung 
'wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  300  Mark,  im 
Unvermögensfalle  mit  Haft  bestraft.  (G.O. 
§  147.)  Im  übrigen  sind  die  Vorschiiften  der 
Landesgesetze  in  Kraft  geblieben.  Dieselben 
enthalten  nähere  Vorschriften  über  die  Aus- 
bildung der  Hebammen,  die  Art  der  Prüfung, 
die  Voraussetzungen  der  Zulassung  zur  Prü- 
fung und  zur  Praxis.  Als  Erfordernis  für 
die  Zulassung  wird  regelmässig  körperliche 
und  geistige  Fähigkeit  sowie  sittliche  Un- 
bescholtenheit verlangt.  Damit  die  erforder- 
liche Anzahl  von  Hebammen  vorhanden  ist, 
werden  vielfach  besondere  Hebammen  bezirke 
gebildet,  innerhalb  deren  die  Gemeinden  für 
die  Beschaffung  geeigneter  Persönlichkeiten 
zu  sorgen  haben. 

Die  Zulassung  der  Hebammen  ist  dem- 
nach nicht  ^ne  die  der  Aerzte  und  Aj^theker 
eine  reichsrechtliche,  sondern  eine  landes- 
rechtliche. Daraus  folgt,  dass  die  Hebammen 
ihr  Gewerbe  grundsätzlich  nm*  in  demjenigen 
Staate  ausüben  dürfen,  von  welchem  sie  zu- 
gelassen sind  oder  von  dessen  Behönle  das 
Prüfirngszeugnis  ausgestellt  ist  Doch  bleibt 
OS  den  einzelnen  Staaten  unbenommen,  auch 
solche  Hebammen  bei  sich  zuzulassen,  welche 
in  anderen  Staaten  approbiert  worden  sind. 
Nach  einem  Bimdesratsbeschluss  vom  o.  Mai 
1887  sollen  die  Hebammen,  die  in  der  Nähe 
der  Grenze  eines  Staates  wohnen,  berech- 
tigt  sein,   ihren  Beiiif  auch  in   den  nahe 


Hebara  me  n  — Heilan  stalten 


1171 


gelegenen  Orten  des  Nachbarstaates  auszu- 
üben. 

Eine  Zurücknahme  der  Approbation  kann 
wegen  Unrichtigkeit  der  Nachweise,  auf 
Grund  deren  die  Erteilung  stattgefunden 
hat,  oder  wegen  Entziehung  der  bürger- 
lichen Ehi'enreehte  für  die  Dauer  des  Ehren- 
verlustes stattfinden.  Dagegen  ist  es  strei- 
tig, ob  die  Zurücknahme  auch  wegen  Mangels 
derjenigen  Eigenschaften  erfolgen  kann, 
welche  nach  den  landesrechtlichen  Vor- 
schriften, .bei  Erteilung  der  Approbation, 
vorausgesetzt  werden  mussten.  Die  I^raxis 
hält  dies  für  zulässig,  auch  in  der  Litte- 
ratur  wird  die  Frage  überwiegend  bejaht. 
Doch  ist  die  herrschende  Auffassung  nicht 
unbedenklich.  Denn  die  Gewerbeordnung 
§  53  gestattet  die  Entziehtmg  nur  wegen 
Mangels  solcher  Eigenschaften,  welche  nach 
ihren  eigenen  Vorschriften  vorausgesetzt 
werden  mussten,  enthält  aber  für  Hebammen 
keine  Bestimmungen  über  persönliche  Eigen- 
schaften. Wenn  in  einem  Staate  besondere 
Approbationen  für  Hebammen  nicht  erteilt 
werden,  vielmehr  jede  Hebamme  auf  Grund 
des  Prüfimgszeugnisses  :^*ir  befugt  gilt,  den 
Gewerbebetrieb  auszuüben,  so  finden  die 
Voi-schriften  über  die  Entziehung  der  Ap- 
probationen auf  die  diu-ch  die  Prüfungszeug- 
nisse begründete  Berechtigung  analoge  An- 
wendung. 

2.  Andere  Länder.  In  Oesterreich  imd 
Frankreich  ist  der  Benif  der  Hebammen 
wesentlich  gleichartig  mit  Deutschland  ge- 
staltet. In  Oesterreich  bedürfen  die  Heb- 
ammen einer  Approbation,  welche  auf  Grimd 
eines  von  einer  öffentlichen  Hebammen- 
schule ausgestellten  Zeugnisses  über  den 
genossenen  Hebammenunterricht  und  über 
die  in  einer  Prüfung  nachgewiesene  Be- 
fähigimg eii^ilt  wird.  Sie  müssen  sodann 
den  Ort,  in  welchem  sie  ihre  Praxis  aus- 
üben woUen,  der  politischen  Behörde  erster 
Instanz  (Bezirkshauptmannschaft  oder  Stadt- 
magistrat) anzeigen  und  sich  bei  dem  Vor- 
stande der  Ortsgemeinde  ihres  Domizils  bezw. 
bei  der  Ortspolizeibehörde  anmelden.  Ihre 
Rechte  und  Pflichten  sind  durch  eine  Minis- 
terialinstruktion  vom  4.  Juni  1881  geregelt 
worden.  Die  Regelung  des  Hebammen- 
benifes  in  Frankreich  beruht  auf  dem  G. 
v.  19.  Ventose  des  Jahres  XI,  Art.  30  bis 
34.  Die  Hebammen  müssen  einen  Kursus 
der  Ausbildimg  durchmachen,  nach  dessen 
Beendigung  sie  zur  Prüfung  zugelassen  wer- 
den. Beim  Bestehen  der  Prüfung  erhalten 
sie  ein  Befähigimgszeugnis,  welches  sie  zur 
Ausübung  der  Praxis  ermächtigt.  Bevor  sie 
ihre  Berufsthätigkeit  beginnen,  müssen  sie 
sich  aber  beim  Tribunal  erster  Instanz  und 
bei  der  Unter-Präfektur  desjenigen  Arron- 
dissements,  wo  sie  dieselbe  ausüben  wollen, 
einregistrieren  lassen.    In  England  dagegen 


hat  die  Thätigkeit  der  Hobammen  den  Cha- 
rakter eines  i-ein  privaten  Gewerbebetriebes, 
der  eine  öffentliche  Ordnung  bisher  nicht 
erhalten  hat. 

Litter at II r:  G,  Meyer,  Lehrbuch  des  deutsdieii 
Vencaltungirechtes,  Bd.  I,  S.  223.  —  E.  Lioeningf 
Lehrbuch  des  deutschen  Venealt ungsrcchtes,  H. 
S27  ff.  —  Jolly  in  von  Stengels  Wörterbuch 
des  deutschen  Verwaltungsrcchtes,  Bd.  I,  S.  6S8. 

—  Seydel  in  den  Annaleyi  1881,  S.  683 ff.  und 
Bayerisches  Staatsrecht,  Bd.  V,  Abt.  1,  S.  165  ff. 

—  V.  Haberler  im  Oesterr.  Staatsieörterbnch, 
Bd.  II,  S.  21ff\  —  i.  V,  Stein,  Verwaltungs- 
lehre, Bd.  III,  S.  S78ff.  —  Handbuch  der  Ver- 
waUungslehre,  Bd.  II,  S.  105. 

O,  Meyer, 


Heilanstalten. 

1.  Deutschland.    2.  Oesterreich.    3.  Frank- 
reich.   4.  England. 

1.  Deutschland.  Die  Heilanstalten  zer- 
fallen in  öffentliche,  d.  h.  in  solche,  welche 
vom  Staate  oder  von  einem  Kommunal  verbände 
(Provinz,  Landarmenverband,  Gemeinde)  er- 
richtet sind  imd  verwaltet  werden,  und  pri- 
vate, d.  h.  solche,  welche  Privatunternehmern 
gehören.  Die  Anstalten  der  ersteren  Art 
dienen  namentlich  zur  Unterbringung  von 
armen  Kranken  und  solchen  Personen,  deren 
Krankheit  eine  Isolierung  oder  strenge  Be- 
aufsichtigung notwendig  erscheinen  lässt, 
also  der  mit  ansteckenden  Krankheiten  Be- 
liaftelen  und  der  Geisteskranken ;  sie  können 
ausserdem  auch  für  Unterrichtszwecke  be- 
nutzt werden.  Ihre  Verhältnisse  sind  durch 
besondere  Statuten  oder  Reglements  ge- 
ordnet. Die  Anstalten,  welche  von  Privat- 
unternehmern errichtet  werden,  unterliegen 
einer  Konzessionspflicht.  Dieser  schon  von 
der  früheren  Landesgesetz^ebung  aufgestellte 
Grundsatz  ist  auch  in  die  Reichsgewerbe- 
ordnung übergegangen.  -Letztere  bestimmt 
in  §  30,  dass  Unternehmer  von  Privatkranken-, 
Privatentbindungs-  und  Privatirrenanstalten 
einer  Konzession  der  höheren  Verwaltungs- 
behörden bedürfen.  Nach  der  ursprünglichen 
Fassung  der  Gewerbeordnung  diu'fte  die 
Konzession  nur  dann  versagt  werden,  wenn 
Thatsachen  vorlagen,  welche  die  Unzuver- 
lässigkeit  des  Nachsuchenden  in  Bezug  auf 
den  beabsichtigten  Gewerbebetrieb  darthaten. 
Diese  Fassung  erwies  sich  jedoch  nach 
einer  zweifachen  Richtung  hin  als  zu  eng. 
Einerseits  entstanden  Zweifel  darüber,  ob 
unter  der  Zuverlässigkeit,  welche  das  Ge-* 
setz  forderte,  lediglich  persönliche  Unbeschol- 
tenheit oder  auch  solche  Eigenschaften  zu 
verstehen  seien,  welche  eine  sachgemässe 
Leitung  und  Verwaltung  der  Anstalt  ge- 
währleisteten, und  die  Folge  davon  war,  dass 
die  Praxis  in  den  einzelnen  Bundesstaaten 

74* 


1172 


Heilanstal  teri 


auseinanderging.  Andererseits  hob  die  ur- 
sprüngliche Fassung  der  Gewerbeordnung 
ausschliesslich  das  subjektive  Moment  hervor 
und  liess  den  Zustand  der  Anstalten,  um 
deren  Errichtung  es  sich  handelte,  gänzlich 
unberücksichtigt.  Das  ö.  v.  23.  Juli  1879 
änderte  daher  den  beti-effenden  Artikel  dahin, 
dass  die  Konzession  zu  versagen  ist :  a)  wenn 
Thatsachen  vorliegen,  w^elche  die  Unzuver- 
lässigkeit  des  Unternehmers  in  Beziehung 
auf  die  Leitung  oder  Verwaltung  der  An- 
stalt darthun ;  b)  wenn  nach  den  vom  Unter- 
nehmer einzureichenden  Plänen  die  baulichen 
und  die  sonstigen  technischen  Einrichtungen 
der  Anstalt  den  gesundheitspolizeilichen 
Anforderungen  nicht  entsprechen.  Die  Kon- 
zession darf  nur  verweigert  werden,  wenn 
einer  der  angegebenen  Gi'ünde  vorliegt;  sie 
muss  aber  auch  versagt  werden,  falls  ein 
solcher  vorlianden  ist.  Die  persönlichen  Er- 
fordernisse brauchen  jedoch  nicht  beim 
Unternehmer  selbst  vorhanden  zu  sein,  es 
genügt,  wenn  derselbe  einen  vertrauens- 
würdigen Stellvertreter  bestellt,  der  die  ge- 
nügenden Garantieen  darbietet.  Der  Betrieb 
einer  Heilanstalt  ohne  Konzession  wird  mit 
•Geldstrafe  bis  zu  300  Mark,  im  Unvermögens- 
falle mit  Haft  bestmft.  Die  Konzession  darf 
nicht  auf  Zeit  erteilt  werden  (Gew.-O.  §  40). 
Eine  Entziehung  der  Konzession  kann  er- 
folgen :  1.  wenn  die  Unrichtigkeit  der  Nach- 
weise dargethan  wird,  auf  Grimd  deren  die 
Konzessionserteilung  erfolgt  ist,  2.  wenn 
dem  Unternehmer  die  bürgerlichen  Ehren- 
rechte aberkannt  werden,  für  die  Dauer  des 
Ehrenverlustes,  3.  wenn  aus  Handlungen 
oder  Unterlassungen  des  Unternehmen  der 
Mangel  derjenigen  Eigenschaften,  welche 
bei  der  Erteilung  der  Genehmigung  voraus- 
gesetzt werden  mussten,  klar  erhellt  (Gew.-O. 
§  53).  Die  Konzession  ist  eine  pei'sönliehe, 
nicht  die  Konzession  einer  Gewerbsanlage. 
Bei  einem  Wechsel  in  der  Person  des 
Unternehmers  ist-  dalier  eine  neue  Kon- 
zession erfonlerlich;  bei  dieser  Gelegenheit 
tritt  auch  eine  neue  Prüfung  der  baulichen 
und  sonstigen  Einrichtungen  ein.  Anderer- 
seits wird  aber  die  Konzession  auch  nur 
für  ein  bestimmtes  Gebäude  erieilt;  bei 
einem  Wechsel  oder  wesenthchem  Umbau 
des  Gebäudes  macht  sich  daher  ebenfalls 
eine  Kon  Zession  serneuenmg  notwendig.  Das 
.  Verfahren  bei  der  Konzessionserteilung  und 
Konzessionsentziehung  ist  das  für  die  Kon- 
.zessionierung  gewerblicher  Anlagen  vor- 
geschriebene. 

Sämtliche  Heilanstalten  unterliegen  einer 
•staatlichen  Aufsicht.  Eine  eingeliendere  ge- 
setzliche Regelung  dieser  Aufsicht  hat  aber 
nicht  stattgefunden.  Das  badische  Pol.-Sti\- 
G.B.  §  92  bedroht  denjenigen  Unternehmer 
einer  Heil-  oder  Entbindungsanstalt,  welcher 
den  in  Bezug  auf  den  Betrieb  von  der  Po- 


lizeibehörde im  Interesse  der  Gesundheits- 
pflege, Sittlichkeit  oder  persönlichen  Sicher- 
heit gemachten  Auflagen  zuvriderhandelt,  mit 
Geldstrafe  bis  zu  150  Mark. 

2.  Oesterreich.  Auch  in  Oesterreich 
scheiden  sich  die  Heilanstalten  in  öffentliche 
und  private.  Von  den  ersteren  sind  die 
Krankenhäuser  teils  Staats-,  teils  Kommunal- 
anstalten,  die  Irren-  und  Entbindungsanstal- 
ten durchweg  Landesanstalten.  Die  Privat- 
anstalten bedürfen  einer  Konzession,  welche 
von  der  politischen  Behörde  erteilt  wiixi. 
Sie  imterliegen  femer  einer  staatlichen  Auf- 
sicht, deren  Ausübung  denselben  Organen 
zusteht,  welche  die  Konzession  zu  erteilen 
haben.  Die  politischen  Behörden  müssen 
jedoch  vor  ihren  Entscheidungen  das  Gut- 
achten der  amtlich  bestellten  Sachverständigen 
vernehmen.  Alle  Heilanstalten  müssen  unter 
Leitung  und  verantwortlicher  Ueberwachung 
eines  Arztes  stehen.  (G.  v.  30.  April  1870 
betreffend  die  Organisation  des  öffentlichen 
Sanitätsdienstes  §  2,  6.)  üeber  die  Kon- 
zessionierung, den  Betrieb  und  die  Beauf- 
sichtigimg der  Privatirrenanstalten  sind  ein- 
gehende Vorschriften  durch  eine  Ministerial- 
instruktion  vom  14.  Mai  1874  erlassen  worden. 

3.  Frankreich.  Frankreich  hat  ein  aus- 
gebildetes System  öffentlicher  Anstalten, 
welche  entweder  auf  Stiftungen  benihen 
oder  von  den  Gemeinden  errichtet  worden 
sind.  Sie  zerfallen  in  höpitaux,  d.  h.  Kran- 
kenhäuser für  die  Heilung  und  Pflege  von 
Kranken,  und  hospiees,  d.  h.  Versorgungs- 
anstalten für  Alte  und  Schwache.  Beide 
gehören  zu  den  Wohlthätigkeitsanstalteü 
(etablissements  de  bienfaisance)  und  werden 
nach  den  jetzt  massgebenden  GG.  v.  21.  Mai 
1873  und  v.  5.  August  1879  von  Kom- 
missionen verwaltet,  welche  aus  dem  Maire 
der  betreffenden  Gemeinde  und  sechs  Mit- 
gliedern bestehen,  von  denen  zwei  von  dem 
öemeinderat  aus  seiner  Mitte  auf  die  Dauer 
ihres  Hauptamtes  gewälüt,  ^ier  von  dem 
Präfekten  auf  vier  Jalure  ernannt  werden. 
Wenn  ein  Mittelloser  im  Gebiete  einer  Ge- 
meinde erkrankt,  so  muss  er  in  das  Ge- 
meindekrankenhaus aufgenommen  werden. 
(G.  V.  7.  August  1851.)  Die  De]xirtements 
sind  nach  dem  G.  v.  30.  Juni  1838  ver- 
pflichtet. Geisteskranken,  welche  der  Untor- 
bringimg  bedürftig  sind,  die  Aufnahme  in 
eine  Irrenanstalt  zu  gewähren,  eine  Ver- 
pflichtung, der  sie  entweder  dvarch  Er- 
richtung einer  eigenen  Anstalt  oder  durch 
Verträge  mit  anderweiten  Anstalten  genügen 
können.  Neben  den  öffentlichen  Instituten 
dieser  Art  bestehen  auch  solche,  welche 
den  Gegenstand  von  Privatunteniehmimgen 
bilden.  Eine  eingehendere  Regelung  ihrer 
Rechtsverhältnisse  hat  aber  nicht  stattge- 
funden. 

4.  England.    In  England  fehlt  es  durch- 


Heilanstalten — Heimatrecht 


1173 


aus  an  einer  einheitlichen  Gesetzgebung  über 
Heilanstalten.  Neben  Krankenhäusern,  wel- 
che den  Charakter  von  privaten  Geschäfts- 
betrieben haben  und  weder  einer  staatlichen 
Konzessionierung  noch  einer  obrigkeitlichen 
Aufsicht  unterliegen,  bestehen  solche,  welche 
auf  Stiftungen  beruhen  und  von  den  tnistees 
verwaltet  werden.  Oeffentliche  Anstalten 
für  die  Pflege  von  armen  Kranken  sind  von 
den  Armenverbänden  errichtet  worden.  Zu- 
nächst wurden  die  armen  Kranken  im 
workhouse  untergebracht;  da  dies  aber 
manche  Unzuträglichkeiten  ziu*  Folge  hatte, 
so  sind  vielfach,  namentlich  in  den  Städten, 
eigene  Anstalten  für  die  Unterbringung 
armer  Kranker  geschaffen  worden.  In  ein- 
gehender Weise  hat  die  englische  Gesetz- 
gebung die  Verhältnisse  der  Irrenanstalten 
geregelt.  Das  jetzt  massgebende  Gesetz  ist 
die  Lunacvv  act  1890  (53  &  54  Vict.  c.  5). 
Die  Irrenanstalten  sind  teils  öffentliche, 
welche  von  den  Verwaltungsgrafschaften 
und  Stadtgrafschaften  errichtet  und  unter- 
halten werden  müssen,  teils  privat^,  welche 
einer  Konzession  bedürfen  und  einer  staat- 
lichen Aufsicht  unterworfen  sind. 

Litteratur:  G.  Meyer,  Jahrbuch  des  deutschen 
Verwaltungsrechtes,  Bd.  I,  S.  227,  —  JB.  Loening, 
Lehrbuch  des  deutschen  Venraliunffsrechtes,  S. 
.ISS  ff.  —  ffolly  in  v.  Stengels  Wörterbuch  des 
deutschen  Vencaltungsrechtes,  Bd.  I,  S.  844'  — 
Seydel  in  den  Annalen  1881,  S.  645 ff.  — 
Ul brich,  Lehrbuch  des  österreichischen  Staats- 
rechtes, S.  505  ff.  —  V.  Haberler,  Oeslerr. 
Staatswörterbuch,  Bd.  IT,  S.  60.  —  Maurice 
Block ,  Dictionnaire  de  Vadniinistration 
fran^ise  v.  Hopitaux  et  hospi^es.  —  O.  Mayer, 
Theorie  des  französischen  Vcr^raltungsr  echtes, 
S.  821  ff.,  490 ff.  —  Agchrott,  Das  englische 
Amienwesen,  S.  199,  347 ff.  —  I*.  v.  Stein, 
Verwaltungslehre,  Bd.  III,  S.  885 ff.  —  Hand- 
buch der   Verwaltungslehre,  Bd.  II,  S.  106 ff. 

O,  Meyer, 


Heilquellen 

s.  Mineral  quellen. 


Heimatrecht. 


1.  Begriff.  2.  Aelteres  H.  3.  Neueres  H. 
4.  Vernichtung  des  Heimatbegriffes.  5.  Das 
geltende  Recht  in  Oesterreich  und  Bayern. 

1.  Begriff.  Heimat  ist  armenrechtliche 
Zugehörigkeit  zu  einer  Gemeinde.  Was  sie 
vor  anderer  armenrechtlicher  Kommunal- 
angehürigkeit  auszeichnet,  ist  nicht  die  Art 
ihres  Erwerbs  und  Verlustes,  sondern  ihr 
Inhalt.  Ihr  wesentlicher  Unterschied  gegen- 
über dem  Unteretützungswohnsitz  liegt  weder 
darin,  dass  sie  durch  Aufnahme  und  nicht 
diu-ch  Wohnsitz  oder  Ei*sitzung  erworben, 
noch  darin,  dass  sie  niu:  durch  Erwerb  einer 


anderen  verloren  wird.  Frilher  und  noch  in 
diesem  Jahrhundert  waren  einfacher  (Meck- 
lenburg-Ratzebiu-g)  und  qualifizierter,  näm- 
lich obrigkeitlich  verwilligter,  Wohnsitz 
(das  übrige  Mecklenburg  und  Hannover)  und 
Ersitzung  (Oesterreich)  Heimatserwerbstitel, 
und  nach  manchen  Gesetzgebungen  geht 
auch  der  ünterstützungswohnsitz  nur  durch 
Erwerb  eines  anderen  verloren  (Belgien  und 
Norwegen,  vgh  den  Art.  Armen wesen 
oben  Bd.  I,  S.  1111  u.  1162),  wie  auch 
das  frühere  Recht  gleichzeitigen  Besitz 
mehrerer  Heimatrechte  (domicilia)  zuliess. 
Wesentliches  Merkmal  des  Heimatbe- 
griffes ist  die  Verbindung  armenrecht- 
licher Unterstützungsanwartschaft  gegen- 
über einer  Ortsgemeinde  mit  mehr  oder 
minder  unentziehbarem  Wohnrechte  in 
derselben.  Dass  der  Unterstützungsanwärter 
in  die  Gemeinde,  zu  welcher  er  im  Unter- 
stützungsverhältnis steht,  jederzeit  zurück- 
kehren darf  (vergl.  §  10  der  hannöv.  Domi- 
zUsordnung  vom  6.  Juli  1827),  das  macht 
ihm  diese  Gemeinde  zur  Heimat.  Je  nach- 
dem die  im  Heimatrechte  entlialtene  AVohn- 
befugnis  nur  gegen  armen-  und  damit 
zusammenhängende  sicherheitspolizeiliche 
(Bettler  und  Landstreicher)  oder  gegen  jede 
Ausweisung  gesichert  ist,  haben  wh*  die 
Heimat  des  älteren  oder  des  neueren  Hech- 
tes vor  uns. 

2.  Aelteres  H.  Die  Heimat  verdankt 
ihre  Entstehung  der  im  16.  Jalirhundert 
allenthalben  erfolgenden  Einführung  einer 
Verpflichtung  der  politischen  oder  Kirchen- 
gemeinde zur  Unterstützung  »ihrer«  Annen 
und  dem  damit  verbundenen  Gebot,  fremde 
Bettler  des  Ortes  zu  verweisen  ^s.  oben  Bd.  III, 
S.  1260).  Den  Kreis  der  Unterstützungs- 
an Wärter  näher  zu  bestimmen,  unterliess  die 
Gesetzgebung  zimächst.  »Ihre«  Armen  waren 
aber  für  jede  Gemeinde  oder  jedes  Kirch- 
spiel doch  nicht  alle  daselbst  sich  Aufhal- 
tenden, sondern  nur  die  dem  Orte  Zugehören- 
den, die  in  einem  dauernden  Verhältnis  zu 
ihm  Stehenden,  für  die  Gemeinde  also  die 
Bürger  und  Beisassen,  welch  letztere 
diu-ch  einfaches,  später  (jualifiziertes  Domizil 
die  Gemeindemitglied  Schaft  erwarben.  In 
England  im  17.  (1601),  in  Deutscldand  und 
Oesten'eich  im  18.  Jahrhundert  büdete  sich 
der  Satz  aus,  dass  nur  der  Ort,  wo  jemand 
gebürtig  oder  längere  Zeit  seines  Lebens 
sich  aufgehalten,  Heimatort  sei,  m.  a.  W. 
der  Ortsinkolat,  das  Beisassenrecht,  wurde 
ausschliesslich  armenrechtliche  Ge- 
meindeangehörigkeit.  Die  erheblichen  recht- 
lichen Vorteile,  welche  das  Heimatrecht  bot, 
führten  zur  Erschwenmg  seines  Erwerbs 
und  folgeweise  seines  Verlustes  (s.  oben  Bd. 
III,  S.  292),  es  wurde  zu  einer  Beziehung 
dauernden,  unter  Umständen  lebenswierigeii 
Charakters  von  Person  und  Gemeinde. 


1174 


Heimatrecht 


3.  Neueres  H.  Die  erste  Hälfte  des 
19.  Jahi'huaderts  brachte  teils  eine  Besei- 
tigung, teils  eine  Erweiterung  des  Heimat- 
begriffs.  Das  erstere  warin  denjenigen  Staaten 
der  Fall,  welche  glaubten,  die  durch  Aufhe- 
bung der  Abzugsbeschränkungen  erleichterte 
örtliche  Bewegung  des  Individuums  (s.  oben 
Bd.  III,  S.  1260)  noch  dadurch  steigern  zu 
müssen,  dass  jeder  Domizilsveränderung  mög- 
lichst rasch  auch  ein  Wechsel  der  Unter- 
stützungsgemeinde folgte  (England,  Preussen, 
Belgien,  Dänemai'k).  Indem  dieselben  von 
der  armenrechtlichen  Gemeindeangehörigkeit 
das  Element  der  armen-  und  bettelpoüzei- 
lich  unentziehbai*en  Wohnberechtigung  ab- 
lösten, also  die  Wirkung  dieses  Verhältnisses 
auf  die  Entstehung  enier  Ünterstützimgs- 
anwartschaft  beschi'änkten,  waren  sie  in  der 
Lage,  Erwerb  wie  Verlust  der  armenrecht- 
lichen Gremeindezugehörigkeit  von  erschwe- 
renden Bedingungen  zu  befreien.  Sie  hatten 
damit  den  angesti*ebten  Zweck  erreicht,  zu- 
gleich aber  das  Princip  der  Heimat  ge- 
opfert. 

Eine  andere  Staatengruppe  (Süd-  und 
Mitteldeutscliland  imd  Oesterreich)  hielt  es 
für  angemessen,  dem  gCvSteigerten  Zuzug 
Gremeindefremder  im  gemeindlichen  Interesse 
zu  begegnen.  Das  Mittel  hierzu  war  eine 
reichere  Ausstattung  des  Inhalts  der  Hei- 
mat nach  ihrer  berechtigenden  Seite.  Er- 
höhte man  die  mit  der  Heimat  verbundenen 
rechtlichen  Vorteile,  dann  war  es  möglich, 
ihren  Erwerb  zu  erschweren.  Die  neuen 
Vorteile,  welche  man  mit  dem  Heimatrechte 
verband,  waren  teils  solche,  welche  bisher 
nur  im  Bürgerrecht«  entlialten  gewesen. 
Recht  zum  Grundstückerwerb,  zum  Gewerbe- 
betrieb in  der  Gemeinde,  Mitgenuss  örtlicher 
Stiftungen  und  Anstalten,  teüs  besonderer 
Art,  Recht  zur  Verehelichung  in  der  Ge- 
meinde, erleichterte  Möglichkeit  des  Bürger- 
rechtserwerbes, Ausgestaltung  des  in  der 
Heimat  beschlossenen  Wohn  rechts  aus  einem 
nur  in  gewissen  Richtungen  unbeschränkten 
zu  einem  überhaupt  unentziehbaren. 

Andererseits  verlor  das  Heimatrecht  von 
seinem  Inhalt.  Indem  für  Dienstboten  und 
Gewerbegehilfen,  also  füi*  diejenigen  Be- 
völkerungsklasvsen ,  deren  Verhältnisse  am 
meisten  zu  Aufenthaltsverändeningen  Anlass 
gaben,  in  der  Gemeinde  des  Dienstortes 
eine  bewegliche  Unterstützungsgemeiude 
gescliaffen  wiunie  (Baden  und  Bayern), 
ward  die  Heimat  der  Eigenschaft  aus- 
schliesslicher annenrechtl  icher  Kom- 
munalangehörigkeit  entkleidet. 

4.  Yernichtung  des  Heiniatbegrilfes. 
In  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
verlor  das  Heimatrecht  nicht  bloss  den 
gr()ssten  Teil  seiner  unwesentlichen  Bei- 
gaben, sondern  im  Deutschen  Reiche  mit 
Ausnahme  von  Bayern  sogai'  seine  Existenz. 


Indem  das  Reichsgesetz  über  den  Unter- 
stützungswohnsitz vom  6.  Juni  1870  in  §  Gl 
bestimmte,  dass  durch  die  Vorschriften  dieses 
Gesetzes,  und  das  heisst  doch,  nachdem  das- 
selbe die  armenrechtliche  Zugehörigkeit  ziu* 
Gemeinde  ordnet,  durch  armenrechtliche 
Zugehörigkeit  zur  Gemeinde  »Rechte  und 
Verbindlichkeiten  nur  zwischen  den  zur  Ge- 
währung öffentlicher  Unterstützung  ver- 
pflichteten Verbänden  begründet«,  werden, 
hat  es  die  Rechtsansprüche,  welche  bisher 
für  den  Unterstützmigsanwärter  neben  der 
Unterstützungsanwartschaft  aus  dem  Heimat- 
verhältnis flössen,  also  insbesondere  das  feste 
WoAnrecht  aus  der  Verbindimg  mit  der 
armenrechtlichen  Zugehörigkeit  zur  Gemeinde 
gelöst,  erstere  sind  nunmehr  Ausflüsse  einer 
einfacnen,  mit  einem  Unterstützunfireverhält- 
nis  zwischen  IndiWduum  imd  Gemeinde 
nicht  mehr  verbundenen  Gemeindeangehö- 
rigkeit,  letztere  bildet  ein  auf  diese  einzige 
Rechtswirkung  des  Unterstützungsanrechtes 
beschränktes,  besonderes  selbständiges  Ver- 
hältnis zwischen  Individuum  und  Gemeinde. 
Wurden  diese  erstgenannten  Rechts  Wirkungen 
der  Heimat  von  Landes  wegen  nicht  aus- 
drücklich beseitigt,  so  bestehen  sie  als  Toi'so 
ehemaligen  Heimatrechtes  fort  Es  sind  dies 
die  erleichterte  Möglichkeit  des  Bürger- 
rechtserwerbes, der  Mitgenuss  der  öffent- 
lichen Gemeindeanstaltcn  und  örtlichen  Stif- 
tungen, wo  solcher  gewährt  gewesen,  und 
endlich  das  unentziehbare  Wohnrecht,  denn 
letzteres  hat  das  Reichsrecht  nicht  aufgeho- 
ben, sondern  niu*  auf  FäDe  landesrechtlicher 
Ausweisung  beschränkt.  §  3  des  Freizüg.-G. 
(vgl.  oben  Bd.  III,  S.  1262)  hat  die  landesgesetz- 
lichen  Vorschriften  über  Aufenthaltsbeschrän- 
kungen bestrafter  Personen,  also  auch  die 
Unzulässigkeit  der  Ausweisung  solcher  aus 
ihrer  Heimatgemeinde  aufrecht  erhalten,  und 
ebenso  hat  §  4  daselbst  dem  Landesrechte 
überlassen,  die  Befugnis  der  Gemeinde  zu 
armenpolizeilicher  Abweisung  Neiianziehen- 
der  weiter  zu  besclu^nken,  als  es  das  Reichs- 
gesetz thut  (s.  oben  Bd.  HI,  S.  1262);  die  Be- 
stimmung des  Landesrcchts,  dass  der  in  die 
Heimat  ziu-ückkelu-ende  Heimatberechtigte  aus 
armenpolizeilichen  Gründen  nicht  abgewiesen 
werden  darf,  ist  demnach  unberührt  geblie- 
ben. Den  Fortbestand  des  Wohnrechts  in 
diesen  Grenzen  bestätigt  das  württemb.  G. 
über  die  Gemeindeangehörigkeit  vom  16.  Juni 
1885,  indem  es  in  §  57  vorschreibt,  dass 
Gemeindeangehörige  in  den  Fällen,  in  wel- 
chen nach  landesgesetzlicher  Bestimmung 
gegen  bestrafte  Personen  Ortverweisung  zu- 
lässig ist,  aus  der  Gemeinde,  deren  Angehö- 
rige sie  sind,  nicht  ausgewiesen  werden 
dürfen. 

5.  Das  gleitende  Recht  in  Oesterreich 
nndBayern.  Dasselbe  ist  oben  Bd.  LS.  1094  ff.. 
S.  1U87  ff.  und  Bd.  HI,  S.  287  ausführlich 


Heimatrecht — ^Heimstätteni'echt 


1175 


dargestellt.  Es  erübrigt  nur  in  Anschluss 
an  Bd.  III,  S.  1263  eine  kurze  Untersuchung, 
inwieweit  das  feste  Wohnrecht  des  Heimat- 
berechtigten  in  Bayern  auch  gegenüber 
reichsrechtlichen  Aufenthaltsbeschi'änkungen 
zu  Recht  besteht.  Es  gilt  gegenüber  Oils- 
ver>\'eisungen  (a.  M.  H.  Seuffert,  Art. 
Polizeiaufsicht  in  v.  Stengels  AV.B:  Bd.  II, 
S.  253),  nicht  aber  gegenüber  Verweisungen 
aus  gi'össeren  Gebieten  (Bezirk,  Land).  Ein 
Jesuit  kann  somit  z.  B.  mittelbar  von  seiner 
Heimatgemeinde  durch  Bezirksverweisun'g 
(vgl.  oben  Bd.  III,  S.1262)  fern  gehalten  wer- 
den. »Heimat-  und  Niederlassuugsverhält- 
nisse«,  worauf  sich  das  bayerische  Reservat- 
recht  aUein  erstreckt  betreffen  nur  die  Be- 
ziehung zur  Ortschaft,  nicht  zu  grösseren 
Gebietsteilen;  diese  urafasst  dagegen  auch 
die  »Freizügigkeit«;  also  schliesst  der  Be- 
sitz des  Heimatrechtes  die  Zidäßsigkeit  von 
reichsrechtHcher  Bezirks-  und  Landesver- 
weisung nicht  aus  (a.  M.  Seydel,  Bayeri- 
sches Staatsrecht  2.  Aufl.  Bd.  11,  S.  57  Nr.  4). 
Wäre  dies  nicht  der  Fall,  so  müsste  folge- 
richtig auch  behauptet  w^erden,  das  Reich 
könne  für  Bayern  Keine  Bestimmung  über 
den  Verlust  der  Staatsangehörigkeit  treffen, 
weil  der  Verlust  dieser  immer  auch  den 
Verlust  des  Heimatrechts  zur  Folge  hat, 
w^ährend  doch  auch  die  Staatsangehörigkeit 
(> Staatsbürgerrecht«)  in  Art.  4  Ziff.  1  der 
Reichsverf.  als  besondere  Materie  neben 
»Heimat-  und  Niederlassungs Verhältnisse« 
genannt  ist. 

Litteratur:  (Herke,  Art.  GemeindebürgerrerM 
in  V.  Jfoltzendoi'ffs  Rechislexikon,  3.  Auß.,  Bd. 
II,  Leipzig  1881  und  Deutsches  Pi'ivatrecht,  Bd. 
/,  S.  451  f.,  ebenda  1895.  —  Hänel,  DeuUches 
Staatsrecht,  Bd.  I,  Leipzig  1892,  ^  lOS.  —  G, 
Meyer  y  Lehrbuch  des  devtschen  Staatsrechts, 
iJ.  Aufl.,  Leipzig  1899,  .§  11'^.  —  nehm,  Der 
Erwerb  von  Staats-  und  Gemeindeangehörigkeit 
in  seiner  geschichtlichen  Entwickelung,  in  Ilirths 
Ann.  1892.  —  Ausgaben  des  bayer.  Heiin.-Ges., 
V€ni  Probst  (4.  Aufl.,  München  1900)  und 
Reger  (5.  Aufl.,  Ansbach  1900).  —  Femer 
die  Angaben  zu  den  Artt.  Eheschliessung 
und  Freizügigkeit  oben  Bd.  III  S.  ä94 
und  1266, 

Hermann  Rehm. 


Heimstättenrecht. 

1.  Begriff.  2.  Die  nordamerikanische  Heim- 
stättengesetzgebung. Anhang :  Entsprechende 
Gesetze  in  anderen  Ländern.  3.  Die  euro- 
päische Heims tättenbewegnng.  A.  Schutz  eines 
Grundbesitz-  oder  Vermögens-Minimum  vor  der 
Zwangsvollstreckung  B.  Begründung  von  Fami- 
lien-„Erbgütern".  4.  Aussichten  praktischer  Ver- 
wirklichung. 

1.  Begriff.  Der  Rechtsbegriff  »Heim- 
stätte« (homestead)  stammt  aus  Nordamerika 
und  hat  dort  eine  doppelte  Bedeutung.    Er 


umfasst  1)  diejenigen  Grundstücke,  welche 
den  Ansiedlern  aus  dem  noch  imbesetzten 
öffentlichen  Landgebiete  der  Union  in  be- 
schränktem Umfamge  (160  acres)  unentgelt- 
lich (gegen  blosse  Schreibgebühren)  unter 
der  Bedingung  überwiesen  werden,  dass 
der  Anwärter  diese  sogenannte  »Heimstätte« 
wenigstens  5  aufeinanderfolgende  Jahre  hin- 
durch bewohnt  und  bewirtschaftet.  Das  im 
Jahre  1862  nach  Ausbinich  des  Bürger- 
krieges erlassene  Bundes- »Heimstättenge- 
setz«, welches  in  der  angedeuteten  Weise 
über  die  öffentliche  Domäne  zu  Gunsten  der 
grossen  Menge  der  wenig  bemittelten  West- 
wanderer verfügte,  ging  aus  einer  jahi'zehnte- 
langen  Agitation  der  getreidebauenden  Klein- 
farmer des  Nordens  gegen  die  bis  dahin  in 
der  Landgesetzgebung  der  Union  über- 
wiegenden Interessen  grosskapitalistischer 
Landspekulanten  und  der  sklavenhaltenden 
Grossgnmdbesitzer  in  den  »Baumwollstaaten« 
hervor.  Mit  dem  Programm  der  damaligen 
Bodenreformer  verknüpfte  sich  die  Forderung, 
den  Grundbesitz  vor  dem  Zugriff  der  Gläu- 
biger zu  schützen.  Dieser  Gedanke  fand  in 
der  Bestimmung  des  Bundesheimstätten- 
gesetzes Ausdruck,  wonach  das  auf  Grund 
desselben  erworbene  Land  »in  keiner  Weise 
für  Schulden  haftet,  welche  vor  der  Aus- 
stellung des  Eigentumstitels  kontrahiert 
worden  sind«. 

Auf  breiterer  Grundlage  hat  man  den 
Schutz  der  verschuldeten  Bodenbesitzer  in 
den  »Heimstätten«-  oder  »Exemtionsgesetzen« 
zu  verwirklichen  gesucht,  welche  die  meisten 
Einzelstaaten  der  Union  und  einzelne  cana- 
dische  Provinzen  nach  dem  Vorgange  des 
Staates  Texas  (1839)  erlassen  haben.  Im 
Sinne  dieser  Gesetze  versteht  man  2)  unter 
»Heimstätten«  solche  Grundbesitzungen  — 
einerlei  ob  neu  besiedelt  oder  nicht  — , 
welche  in  gewissen  Grenzen  der  Zwangs- 
vollstreckung entzogen  sind.  Das  ist  die 
Bedeutung,  mit  welcher  man  den  Ausdruck 
nach  Europa  übertragen- und  zum  Losungs- 
wort einer  Bewegung  gemacht  hat,  welcne 
eine  Reform  des  geltenden  Agrarrechtes  im 
antikapitalistischen  Sinne  anstrebt.  Im  fol- 
genden ist  ausschliesslich  von  Heimstätten 
der  letzterwähnten  Art  die  Äede. 

2.  Die  nordamerikanische  Heim- 
stätteng^eset^^ebnnjp^.  Sie  unterscheidet 
sich  von  den  anderweit  übhchen,  die  Zwangs- 
vollstreckung einschränkenden  Bestimmungen 
dadurch,  dass  sie  sich  nicht  begnügt,  einen 
zur  Fristung  der  physischen  Existenz  und 
zur  Fortsetzung  der  Berufsarbeit  des  Schuld- 
ners erforderlichen  Betrag  an  Mobiharver- 
mögen  der  Zwangsvollstreckung  zu  entziehen, 
sondern  solchen  Schutz  auf  den  unbeweglichen 
Besitz  ausdehnt.  Die  Heimstättengesetze 
gehen  also  von  einer  liberaleren  Auffassung 
des  »Notbedarfs«  aus ;  es  ist  die  Anschauung, 


1176 


Heimstättenreclit 


(lass,  wenn  der  Schuldner  vor  der  Yer- 
armung  bewahrt  werden  soll,  neben  ge- 
wissen Konsnmtibilien ,  Werkzeugen  und 
Gregenständen  des  täglichen  Gebrauchs  die 
Wohn-  und  Arbeitsstätte  dem  Zwangsverkauf 
entrückt  sein  muss,  dass  insbesondere  dem 
selbständigen  Landwirte  die  Unpfändbarkeit 
seiner  Geräte  und  Älaschinen  wenig  Nutzen 
bringen  kann,  wenn  ihm  das  Ackerland 
genommen  wird.  Als  zu  schützende  Heim- 
stätte gilt  demnach  das  vom  Eigentümer 
bewohnle,  vielfach  auch  das  als  Geschäfts- 
lokal oder  Werkstatt  benutzte  Haus  mit 
Nebengebäuden  und  zugehörigem  Lande.  In 
den  meisten  Staaten  wird  dasselbe  indessen 
so  reich  bemessen,  dass  das  geschützte 
»Existenzminimum«  zu  einem  Minimum  der 
selbständigen  wirtschaftlichen 
Existenz  erweitert  erscheint.  Aiif  die 
Ausbildung  einer  derartigen  Gesetzgebung 
war  in  Nordamerika  einerseits  der  geringe 
Weii:  des  Bodens  und  der  meisten  land- 
wirtschaftlichen Baulichkeiten,  die  Leichtig- 
keit, Grundbesitz  zu  erwerben,  und  die 
w^eite  Verbreitung  solchen  Besitzes  —  auch 
in  den  Städten  — ,  andererseits  die  hohe 
ökonomische  und  ethische  Wertschätzung 
von  Einfluss,  welche  der  Arbeit  in  dem 
dünnbevölkerten  und  in  rascher  Erschliessung 
begriffenen  Lande  zu  teil  wird.  Der  Gnmd- 
gedanke  der  so  erweiterten  Heimstätten- 
institution erscheint  als  ein  Ausfluss  des 
trotzigen  Selbst-  und  ünabhängigkeit^gefühls 
der  dortigen  Farmer  und  Grundeigentümer. 

Mit  der  hervorgehobenen  Tendenz  ver- 
knüpft sich  aber  eine  andere :  Die  Heimstätte 
wird  in  den  meisten  amerikanischen  Staaten 
nur  dann  überhaupt  oder  doch  in  vollem 
Umfange  geschützt,  wenn  sie  einer  Familie 
zur  Wohmmg  und  zum  Unterhalt  dient: 
Das  Familienhaupt  ist  als  solches  privilegiert, 
und  darunter  wird  jede  Person  verstanden, 
welche  für  die  Gattin  oder  für  nahe  Ver- 
wandte zu  sorgen  hat.  Weib  und  Kind 
werden  mit  anderen  Worten  als  die  ei'sten 
Gläubiger  des  Gatten  und  Vaters  betrachtet ; 
Forderungen  sollen  solange  als  nicht  erzwing- 
bar gelten,  als  ihre  Beitreibung  die  Familie 
des  Schuldners,  obdach-  und  subsistenzlos 
machen  würde.  So  dient  die  Heimstätten - 
Institution  namentlich  auch  dazu,  die  im 
common  law  sehr  ungünstige  vermögens- 
rechtliche Stelhmg  der  Ehefiun  zu  verbessern. 

Voranssetzimg  des  Exemtionsprivilegs 
bildet  in  manchen  Staaten  die  Eintragung 
des  Gnmdstücks  in  ein  öffentliches  Register 
auf  Grund  einer  declaration  of  homestead. 
Nach  vei-scliiedenen  Gesetzgebungen  kann 
diese  Erklärung  im  Falle  einer  Säumnis  des 
Familien voi*standes  von  der  Ehefrau  allein 
mit  voller  Wirkung  abgegeben  werden.  Meist 
aber  wird  jede  thatsächliche  Heimstätte  von 
Rechts  wegen  des  Schutzes  teilhaftig. 


Die  Grösse  derselben  wird  regelmässig 
durch  Bezeichnung  eines  Maximalwertes  be- 
stimmt, wobei  zwischen  ländlichem  und 
städtischem  Grundbesitz  nicht  untersclüeden 
wird.  Diese  Summe  beträgt  meist  1000 
Dollars  —  oder  soviel  für  das  Familienhaupt, 
eine  kleinere  Summe  dann  ausserdem  für 
die  Ehefrau  und  jedes  Kind  — ,  in  den  vier 
in  Betracht  kommenden  Neu-Englandstaaten 
sind  es  nm-  500  bezw.  800  Dollars,  in  Vir- 
ginia 2000,  in  Missouri  3000,  in  Californien 
und  Idaho  5000  Dollars  (für  ein  Familien- 
haupt, für  andere  Personen  1000  Dollars). 
Anderswo  ist  für  ländliche  Heimstätten 
von  vom  herein  eine  bestimmte  Fläche  Nutz- 
landes eximiert,  so  in  Jowa,  Michigan  und 
Wisconsin  eine  solche  von  40  acres,  in 
Minnesota  80,  in  Kansas,  Nebraska,  Nord- 
und  Süd-Dakota,  Alabama,  Arkansas,  Florida, 
Louisiana,  Mississippi,  Missouri,  Montana, 
Oregon  imd  in  der  canadischen  Provinz 
Manitoba  160,  in  Texas  sog^r  200  acres 
(1  acre  :=  0,405  ha).  Ist  die  Heimstätte 
von  geringerem  Umfang  oder  erreiclit  der 
Taxwert  des  ganzen  Besitztums  bezw.  das 
höchste  Gebot  bei  der  öffentlichen  Ver- 
steigenmg  nicht  den  gesetzlich  eximierten 
Wert,  so  findet  ein  Zwangsverkauf  des  ge- 
schützten Anwesens  nicht  statt. 

Sofern  der  Umfang  der  Farmen  über 
das  bezeichnete  Mass  hinausgeht,  tritt  eine 
reale  Abgrenzung  der  eigentlichen  Heim- 
stätte durch  den  Schuldner  bezw.  durch 
gerichtliche  Sachverständige  ein,  und  dann 
unterliegt  der  Ueberschuss  der  Zwangs- 
versteigerung. Ist  solche  Realteilung  ohne 
wesentlichen  Schaden  nicht  thunlicli,  so 
wdrd  das  Ganze,  also  auch  die  Heimstätte 
vei'steigert,  mid  es  verwandelt  sich  in  diesem 
Falle  der  Anspruch  des  Schuldners  auf  einen 
unantastbaren  Grundbesit-z  in  einen  solchen 
auf  eine  entsprechende  Geldsimime.  Viel- 
fach —  so  in  Ulinois  —  kaim  der  Schidd- 
ner  den  gerichtlichen  Verkauf  dadurc^h  hin- 
dern, dass  er  den  Uebei^chuss  der  Taxe 
über  den  eximierten  Wert  innerhalb  einer 
gewissen  Frist  auszahlt.  Nach  diesen  Be- 
stininimigen  ist  die  amerikanische  Heim- 
stättengesetzgebung weit  von  dem  ilir  oft 
zugeschiiobenen  Bestreben  entfernt,  die 
grmidbesitzenden  Familien  nach  Ai't  von 
Familienfideikommissen  mit  dem  Boden 
innigst  zu  verknüpfen,  noch  weiter  aber  von 
jeilem  Versuch,  etwa  den  Arbeiter  »an  die 
Scholle  zu  fesseln <'.  Die  ausserordentliche 
Beweglichkeit  des  wirtschaftlichen  Lebens 
in  dem  jungen  Kulturlande  und  die  durch- 
aus individualistischen  Anschauungen,  welclie 
die  Bevölkerung  einschliesslich  der  Farmer 
in  Nonlamerika  erfüllen,  mussten  die  Bil- 
dung eigentlicher  Familienerbgüter  dort 
durchaus  hintanhalten.  Die  Gesetzgebung 
bezweckt    lediglich     die    Sichenmg    eines 


Heimstätten  reclit 


1177 


Existenzminimum,  dem  das  Obdach  hin- 
zugerechnet wird,  und  der  Möglichkeit, 
dass  der  Familienvater  seine  Berufsarbeit 
als  selbständiger  Wirt  fortsetzen  könne.  Eine 
Summe  von  1000  DoDars  genügt  oder  ge- 
nügte doch  bis  vor  nicht  langer  Zeit,  um 
im  »fernen  Westen«  eine  Farm  zu  erwerben 
und  auszurüsten.  Wo  aber  Summen  von 
3—5000  Dollars  oder  Flächen  von  160 
bis  200  acres  in  Frage  kommen,  liegt  eine 
Liberalität  vor,  welche  die  erfreulichen  Wohl- 
stand sverhältnisse  jung  besiedelter  Gebiete 
in  ein  scharfes  Licht  rückt.  Wenn  anderer- 
seits die  Heimstätte  in  Neu-England  durch 
eine  "Wertsumme  von  nur  500 — 800  Dollars 
begrenzt  wird,  umschliesst  sie  kaum  mehr 
als  eine  einfache  Wohn-  und  Werkstätte. 

Die  Exemtion  der  Heimstätte  dauert  nach 
dem  Tode  des  Familienhanptes  regelmässig 
nicht  länger  als  bis  zum  Ableben  der  Witwe 
bezw.  bis  zur  Erlangung  der  Örossjährigkeit 
des  jüngsten  der  hinterbliebenen  Kinder. 
Bei  anderweitiger  Sicherung  dieser  Personen 
fällt  der  Anspnich  in  verschiedenen  Staaten 
fort. 

Insoweit  erscheint  die  hier  behandelte 
Rechtsinstitution  als  ganz  konsequent  ge- 
dacht. Aber  bezeichnenderweise  lässt  sie 
gerade  bei  dem  entscheidenden  und  schwie- 
rigsten Punkte  ihre  eigenen  Grundgedanken 
ganz  und  gai*  fallen,  nämlich  da,  wo  an  den 
Grundbesitzer  die  Yei-suchung  oder  Not- 
wendigkeit herantritt,  sich  durch  Verpfän- 
dung seines  Besitzes  den  relativ  billigen 
Hypothekenkredit  zu  erschliessen.  Die  Ver- 
pfändung der  Heimstätte  ist  uneingeschränkt 
zugelassen  dei'art,  dass  hypothekarisch  ge- 
sicherte Fordenmgen  auch  m  die  Heimstätte 
voDstreckt  werden  können.  Regelmässig  ist 
sogar  ein  gänzlicher  Verziciit  auf  das  Heim- 
stättenprivileg gestattet.  Verpfändung  und 
Verzicht  sind  —  ebenso  wie  die  Veräusserung 
der  Heimstätte  —  nur  insofern  erschwert, 
als  der  verheiratete  Besitzer  dazu  der  aus- 
driicklichen  Zustimmung  der  Ehefrau  bedarf. 
Allein  in  Texas  ist  die  wirksame  Verpfän- 
dung der  Heimstätte  selbst  mit  Zustimmung 
der  Ehefrau  principiell  ausgeschlossen.  Auch 
in  Louisiana  hat  das  oberste  Gericht  Hypo- 
thekenfordcnmgen  gegenüber  der  Heimstätte 
für  un erzwingbar  erklärt. 

Es  liegt  nun  aber  von  vom  herein  auf 
der  Hand,  dass,  sobald  die  Zeiten  der  aller- 
ersten Occupation  des  öffentlichen  Landes 
vorüber  sind,  sobald  die  grossen  Ursachen 
der  Grundverschuldimg,  namentlich  häufige 
Besitz  Wechsel  Platz  greifen,  das  Mitbestim- 
mungsrecht der  Frau  nicht  im  mindesten 
genügen  kann,  um  gerade  der  unproduktiven 
Verschuldung  im  Wege  des  Besitzkredites 
vorzubeugen.  Die  Bedeutung  der  Heim- 
stättengesetzgebung reduziert  sich  dann 
darauf,  dass  kluge  und  energische  Frauen 


in  ihr  eine  Handhabe  besitzen,  um  sich  und 
die  Ihrigen  vor  den  Folgen  der  Un- 
Wirtschaftlichkeit  und  des  Ijeichtsinns 
ihrer  Männer  zu  bewahren.  Auch  diese 
Wirkung  wird  durch  die  Bestimmung  ab- 
geschwächt —  'die  sich  ziemlich  gleich- 
lautend in  allen  Heimstättengesetzen,  ein- 
schliesslich desjenigen  von  Texas,  findet  — , 
dass  ohne  weiteres  in  die  Heimstätte  voll- 
streckt werden  können  ausser  Steuern  und 
Forderungen,  welche  vor  der  Begnlndnng 
der  Heimstätteneigenscliaft  entstanden  sind, 
auch  die  Forderungen  aus  dem  An- 
kauf der  Heimstätte.  In  diesem  Falle  ist 
auch  in  Texas  die  Verpfändung  der  Heim- 
stätte, und  zwar  ohne  Zustimmung  der 
Gattin  zugelassen.  Nicht  minder  sind  regel- 
mässig Forderungen  für  Verbessenmgen  der 
Heimstätte  allgemein  exequierbar;  in  Texas 
wie  anderwärts  jedoch  nur  dann,  wenn  der 
betreffende  Kontrakt  mit  Zustimmung  der 
Frau  geschlossen  worden  ist.  Die  in  Amerika 
sehr  ausgedehnten  gesetzlichen  Pfandrechte 
von  Handwerkern  für  gelieferte  Arbeiten 
greifen  auch  gegenüber  der  Heimstätte  Platz. 
Die  Grundverschuldung  ist  in  Nordame- 
rika infolge  der  gr^3sseren  Jugendlichkeit  der 
Kultur,  der  geringeren  Dichtigkeit  der  Be- 
völkenmg,  der  bestehenden  Erbgewohnheiten 
(volle  Testierfreiheit)  etc.  niedriger  —  auch 
im  Verhältnis  zum  Bodenwerte  wohl  nie- 
driger als  in  den  europäischen  Ländern ;  sie 
ist  aber  durch  die  Exemtion sgesetze  in 
irgendwie  bemerkbarer  Weise  nicht  gehemmt 
worden  und  in  vielen  Gegenden  Nordameri- 
kas thatsächlich  äusserst  drückend.  All- 
jährlich kommen  seit  dem  Rückgange  der 
Getreidepreise  in  den  80  er  Jahren  wie  in 
Europa  Tausende  von  Farmen  zur  zwangs- 
weisen Vorsteigerung ;  wenn  sich  die  Pacht- 
wirtschaft in  Nordamerika  in  auffallender 
Weise  innerhalb  \md  ausserhalb  der  Getreide- 
region ausgebreitet  hat,  so  ist  dies  nicht 
nur  durch  Fehler  der  Besiedelungspoiitik, 
sondern  auch  auf  dem  Wege  der  Verschul- 
dung und  Subhastation  bewirkt  woixlen. 
Die  Heimstättengesetze  verhüten  nicht  den 
häufigsten  freihändigen  Besitzwechsel  der 
Farmen,  sie  bilden  nicht  einmal  ein  Hemm- 
nis wucherischer  Ausbeutung,  die  in  Nord- 
amerika keineswegs  eine  seltene  Erscheinung 
ist.  Der  Umstand,  dass  der  Schutz  gegen 
Zwangsvollstreckung  von  vom  herein  auf  die 
Personalschulden  beschränkt  ist,  hingegen 
gegenüber  der  Verpfändiuig  gänzlich  ver- 
sagt, hat  zu  einer  übermässigen  Ausdehnung 
des  Real-  auf  Kosten  des  Personalkredits 
geführt.  Der  Fanner  erhält  regelmässig 
kein  Darlehen,  keinerlei  sonstigen  Kredit 
ohne  reale  Sicherheit,  d.  h.  namentlich 
Hypothek.  Selbst  Maschinen  werden  häufig 
nur  gegen  Hypothek  verkauft,  in  Indiana 
sollen  30  ^/o  aller  Hypotheken   diesen  Ent- 


1178 


Heiinstättenreeüt 


stehuDgsgrund  haben.  (S.  421  Ann.  Rep. 
Comm.  Agi\  1886,  Wa&lungton  1887.)  Dar 
neben  haben  so  bedenkliche  Kreditformen, 
wie  die  Verpfändung  der  wachsenden  Ernte, 
in  vielen  Teilen,  so  namentlich  in  den  Stid- 
staaten,  die  weiteste  Verbreitung  erlangt. 
Die  berufsmässigen  Kreditvermittler  (Banken, 
Sparkassen  etc.)  fühlen  sich  denn  auch  durch 
die  Heimstättengesetze  nicht  im  mindesten 
beengt ;  wohl  aber  beklagen  sich  die  kleinen 
Händler  aUer  Art  und  besonders  die  Kram- 
ladenbesitzer —  die  nicht  immer  in  der  Lage 
sind,  ihre  Fordenmgen  durch  Pfand  sicher 
zu  stellen  —  lebhaft  über  häufige  Verluste 
infolge  der  geltenden  Exemtionen ,  sie  hal- 
ten sich  scliadlos  durch  den  allgemein  üb- 
lichen bedeutenden  Preisaufschlag  für  kre- 
ditierte Waren. 

Das  einzige  der  amerikanischen  Heim- 
stättengesetze, das  texanische,  welches  in 
einigermassen  wirksamer  Weise  der  Grund- 
verschuldung vorbeugt,  indem  es  die  Ver- 
pfändbarkeit der  recht  gross  bemessenen 
Heimstätten  einengt,  mochte  wirtschaftlich 
günstig  wirken,  solange  in  Texas  eine  ganz 
extensive  Landwirtschaft,  namentlich  Weide- 
wirtschaft vorherrschte ;  der  Farmer  brauchte 
wenig  Betriebskapital,  und  die  grossen  Her- 
den boten  eine  ausreichende  Kreditgrund- 
lage.  Heute  klagen  die  Landwirte  in  Texas 
über  Kapitalmangel,  und  nach  dem  Jahres- 
berichte des  Ackerbauamts  der  Union  für 
1886  (S.  426)  ist  es  dort  »eine  gewöhnliche 
Praxis,  dass  der  Farmer  sich  mit  dem  Krämer 
arrangiert  wegen  eines  Vorschusses  von 
2 — 5  Dollar,  im  allgemeinen  3  Dollars  per 
acre  kultivierten  Bodens  gegen  Verpfändung 
der  wachsenden  Ernte«.  »Der  jährliche 
Zinsf uss  beträgt  12  %,  aber  der  thatsächliche 
Unterschied  zwischen  dem  baren  und  dem 
kreditierten  Preise  ist  25 — 50  ®/o.«  »Der 
westliche  Teil  des  Staates,  der  sich  aus- 
schliesslich mit  Viehzüchten  abgiebt,  ist  in 
besserer  Lage  als  der  östliche.«  — 

Anhang:  Entsprechende  Gesetze  in 
anderen  Ländern.  Nach  Claudio  Jannet 
ist  die  homestead  -  exemption  auch 
allen  australischen  Kolonieen 
geführt. 

In  Serbien  und  Rumänien  bestehen 
Gesetze,  welche  die  Verschuldung  und  Ver- 
äusserung  von  bäuerlichem  Gnmdbesitz  teils 
verbieten,  teils  beschränken.  Auch  in  Bri- 
tisch-Ostindien  ist  die  Zwangsvoll- 
streckung in  bäuerliches  Grundeigentum 
durch  neuere  Gesetze  wesentlich  erschwert 
wonlen.  Die  hierauf  bezügliche  Litteratur 
ist  unten  angeführt.  Jene  Gesetze  sind  aus 
so  abweichenden  politischen,  sozialen  und 
wirtschaftlichen  Bedingimgen  erwachsen, 
dass  sie  einer  vorbildlichen  Bedeutung  für 
die  Verhältnisse  der  älteren  europäischen 
Kulturländer  durchaus  entbehren. 


in 
ein- 


8.  Die  europäische  Heimstattenbe- 
wegung.  Die  landwirtschaftliche  Krisis, 
welche  die  Konkun^enz  Nordamerikas  und  an- 
derer neu  ersclüossener  Getreidegebiete  in 
Europa  seit  dem  Ende  der  70  er  Jahre  lier- 
aufführte,  deckte  ziun  ersten  Mal  in  einer 
den  weitesten  Kreisen  sichtbaren  Weise  ein 
soziales  Uebel  auf,  welches  längst  von  tiefer 
Blickenden  als  solches  beklagt  worden  war: 
die  starke  Verschuldung  der  ländlichen 
Grundbesitzer.  Die  Senkung  der  Getreide- 
preise würde  nur  eine  empfindliche  Ein- 
schränkung des  Einkommens  der  Landwirte, 
nicht  aber,  wie  es  thatsächlich  der  Fall  war, 
den  wirtschaftlichen  Ruin  zahlreicher  grund- 
besitzender Familien  zur  Folge  gehabt  haben, 
wäre  nicht  die  Landwirtschaft  mit  einer 
enormen  Zinspflicht  belastet,  die  trotz  Bück- 
ganges  des  Zinsfusses  unaufhörlich  anwach- 
send, durch  die  Minderung  der  pekuniären 
Reinerträge  vielfach  unerechwingUch  gewor- 
den ist.  Nun  erhob  sich  vielerorts  eine 
lebhafte  Reaktion  gegen  das  bestehende 
Grundbesitzrecht  In  einer  breiten  Littera- 
tur, in  Versammlungen  und  Resolutionen 
wurde  eine  Modifikation  der  Principien  ge- 
foixlert,  welche  seit  Ablösung  der  vom  Mit- 
telalter überkommenen  Agrarverfassung  fast 
übei'all  zur  konsequenten  Durchfühnmg  ge- 
kommen ivaren :  der  freien  Vei*schuld  barkeit 
und  Veräusserlichkeit  des  Grundbesitzes  und 
seiner  Unterstellung  luiter  das  städtische, 
vorwiegend  auf  Mobiliarvermögen  l>erech- 
nete  Erbrecht. 

Anfang  der  80  er  Jahre  lenkten  Rudolf 
Meyer,  L.  v.  Stein  u.  a.  die  allgemeine  Auf- 
merksamkeit auf  das  nordamerikanisohe 
Heimstättenrecht,  und  wenn  auch  die  rosi- 
gen Schilderungen,  welche  der  ersterwähnte 
Schriftsteller  von  den  Wirkungen  dieser  Ge- 
setzgebung entwarf,  von  dem  Unterzeichneten 
als  ül>ertrieben  und  falsch  nac*.hgewiesen 
wurden,  so  wirkte  doch  die  gegebene  An- 
regung fort  und  zeitigte  Bestrebungen, 
welche  eine  Nachbildung  der  amerikanischen 
Institution  unter  Anpassung  an  die  europä- 
ischen Wirtscliafts-  und  Rechtsverhältnij-se 
versuchten. 

Wie  aus  der  unten  angegebenen  Litte- 
ratur hervorgeht,  hat  die  Bewegung,  von 
Oesten-eicli ,  Deutschland  und  der  Schweiz 
ausgehend,  auch  die  remanischen  Länder 
ergriffen.  Zu  formiüierten  Gesetzesvor- 
schlägen, denen  die  gesetzgebenden  Fak- 
toren und  öffentlichen  Körperschaften  näher 
getreten  sind,  ist  es  bisher  nui*  in  den  drei 
erstgenannten  Ländern  gekommen.  Die  in 
Oesterreich  und  Deutschland  erörterten 
Entwürfe  sollen  hier  kurz  besprochen  wer- 
den. 

Man  kann  dieselben  nach  den  ver- 
schiedenen Gesichtspunkten,  unter  denen 
sie  aufgestellt  sind,  und  den  Zielen,  welche 


Heimstättenrecht 


1179 


sie  (lomentsj)rechend  verfolgen,  in  drei  Kate- 
gorieen  einteilen. 

A.  Schutz  eines  BesitE-  oder 
Vermögens  -  Minimum  vor  der  Zwangs- 
vollstreckung. 

Die  eine  Gruppe  von  Vorschlägen  will  das 
dem  Zugiiff  der  Gläubiger  im  Zwangsvoll- 
streckungsverfahren entzogene  »Existenz- 
miuimum<^  nach  dem  Vorbilde  der  amerika- 
nischen Heimstättengesetzgebung  für  den 
Grundbesitz,  insbesondere  für  landwirtscliaft- 
liche  Anwesen  dadurch  allgemein  erweitern, 
dass  sie  je  für  eine  gewisse  Fläche  Landes 
mitAVohn-  undWii'tschaftsgel>äuden  denselben 
Schutz  zubilligt,  welcher  schon  bisher  dem  zum 
"VVirtschaftsbetrieb  unentbehrlichen  Vieh-  und 
Feldinventar  etc.  zu  teil  wird.  Die  ge- 
setzliche Gewährung  eines  unangreifbaren 
Gruudbesitzminimum  wurde  im  Jahre  1882 
von  Seiten  des  deutschen  Reichskanzlers  in 
einem  Erlass  an  das  Reichsjustizamt  angeregt ; 
über  die  gleiche  Frage  wurde  im  Jahre  1883 
aus  Anlass  der  Agrai^nquete  im  Qrossher- 
zogtura  Baden  von  einer  Kommisijion  der 
dortigen  II.  Kammer  beraten  —  hier  wie 
dort  mit  negativem  Ergebnis.  Im  Jahre  1891 
liat  der  Deutsche  Landwirtschaftsrat  die 
Aufnahme  einer  entsprechenden  Bestimmung 
in  das  mit  dem  Bürgerlichen  Gesetzbuch 
für  das  Deutsche  Reich  zu  erlassende  Ge- 
setz über  die  Zwangsvollstreckimg  in  Lie- 
genschaften befürwortet  Die  betreffende 
Resolution  lautete: 

^  Von  der  ZwangsvoUstrecktin^  in  landwirt- 
schaftliche Anwesen  soll  (allgemem  oder  doch 
wenigstens  gegenüber  der  Zwangs-  und  Siche- 
rungshypothek) —  infolge  richtiger  Ausbildung 
des  dem  g  715  (jetzt  811)  d.  C.P.O.  zu  Grunde 
liegenden  Gedankens  —  unter'  Wahrung  der 
Rechte  der  Gläubiger,  die  zur  Zeit  der  Erlassung 
eines  solchen  Specialgesetzes  bereits  bestanden 
haben,  ein  Besitzniinimum,  ttber  dessen  Grösse 
die  Landesgesetzgebung  Bestimmung  zu  treffen 
hat,  und  das  neben  den  nötigen  Wohn-  und 
AVirtschaftsräumen  eine  im  Verhältnis  zum  Ge- 
samtbesitz  zu  bemessende  Fläche  Land  zu  um- 
fassen hätte,  ausgenommen  sein.^ 

Der  Referent  (Ad.  Buchen  berger)  begrün- 
dete die  hierin  geforderte Neuenmg  damit,  dass 
es  wünschenswert  wäre,  neben  einem  wei- 
tergehenden ,  fakultativen  Heimstättenrecht 
baldigst  einen  Zustand  herbeizufühi'en,  der 
für  alle  Beteiligten  Platz  griffe.  Man 
wertle  mit  der  Fixierung  eines  unantastbaren 
Besitzminimum  vor  allem  dem  Wucher 
steuern,  der  gerade  die  Zähigkeit  der 
kleinen  Leute  im  Festhalten  ihres  mühsam 
erworbenen  Besitzes  und  ihre  Fure.ht  vor 
dem  Verluste  desselben  zu  Erpressimgen 
der  schlimmsten  Art  zu  benutzen  wisse. 
Ohne  den  legitimen  Kredit  der  kleinen  Leute 
wesentlich  zu  schädigen,  der  vorwiegend 
ein  Pei*sonalkredit  sei ,  wtirde  man  ferner  j 


die  Hauptursache  der  Pfandeintragungen 
auf  Anwesen  kleiner  Besitzer  beseitigen, 
wenn  man  durch  die  Begrenzung  der  Exe- 
quierbai'keit  der  (Kaufgeld-)  Forderungen 
den  übertrieben  starken  Begehr  nach  Grund- 
stückserwerb einigermassen  auf  die  zahlungs- 
fähigen Bewerber  einscliränke. 

Die  Ti'agweite  der  hier  in  Anregung  ge- 
bi'achten  Massnahme  würde  ei-st  durch  eine 
nähere  Ausgestaltung  des  Grundgedankens 
übereehbar  werden.  Selbst  die  Frage,  ob 
der  Schutz  des  Besitzminimum  auch  gegen- 
über Hypothekenforderungen  Platz  greifen 
solle,  ist  offen  gelassen.  Der  Antragsteller 
hat  offenbar  in  erster  Linie  die  Verhältnisse 
des  west-  und  süddeutschen  Kleingrund- 
besitzes im  Auge  gehabt,  für  den  mittleren 
imd  grösseren  Besitz  würde  die  reale  Aus- 
scheidung eines  Besitzminimum  meist  durch- 
aus unthunlich  sein  und  in  einzelnen  Staaten 
mit  dem  dort  anerkannten  Gnmdsatz  der 
Unteilbarkeit  landwirtschaftlicher  Besitzun- 
gen in  Widerspnich  treten.  Fiir  derartige 
Fälle  müsste  das  Besitzminimum  in  einem 
Geldäquivalent  Ersatz  finden  können.  Eine 
entsprechende  Erweiterung  des  »Notbedarfs« 
für  andere  oder  aUe  Klassen  der  Bevölke- 
rung würde  aber  dann  um  so  weniger  von 
der  Hand  zu  weisen  sein. 

Diese  Absicht  lag  dem  Antrage  Grünberg 
zu  Grmide,  der  auf  dem  24.  Juristentage 
(1898)  zm-  Verhandlung  kam,  dass  nämlich 
allgemein  »durch  zwingende  Rechtsvor- 
schriften ein  ge'W'isses  dem  Weil;  nach 
fixiertes  Vermögensminimum  für  exe- 
kutionsfrei erklärt  und  zugleich  der  Kreis 
der  unpfändbaren  Mobilien  —  als  Grenze  des 
exekutionsfreien  Vermögensbetrages  nach 
imten  zu  —  erweitert«  werden  sollte. 
»Innerhalb  der  exempten  Vermögenswert- 
grenze« sollte  '>der  Schuldner  auch  Grund 
und  Boden  als  unpfändbar  reklamieren 
können;  sobald  derselbe  landwirtschaftlich 
genutzt  wird  aber  nur  dann,  wenn  die 
Exemption  nicht  zur  Zersplittening  eines 
Komplexes  führen  würde,  der  bis  zur  Zwangs- 
vollstreckung eine  wirtschaftliche  Einheit  ge- 
bildet hat« .  Als  Wertgrenze  wurden  Summen 
von  600—1000—2000  Mark  genannt.  jVIan 
wandte  dagegen  vornehmlich  ein,  der  Land- 
bauer, der  sich  mit  dem  Besitzminimum  zufrie- 
den geben  müsste,  wäre  lediglich  ein  ländlicher 
Arbeiter,  der  seine  Erw'erbsthätigkeit  auch 
ohne  eigenes  Obdach  und  Grundvermögen 
fortsetzen  könnte.  Es  wäre  bedenklich,  die 
Minimaigrenze  der  pfandfreien  Sachen  er- 
heblich über  den  jetzigen  Stand  zu  einÄ'eitem, 
solange  noch  ein  fleissiger  Arbeiter  oder 
kleiner  Handwerker  ein  Jadirzehnt  und  länger 
brauche,  um  einen  Betrag  von  lOOl)  Mk.  zu- 
sammenzusi)ai*en ;  ein  solcYies  Vollstreckungs- 
privileg würde  eine  unbillige  Bevorzugung  vor 
allen  übrigen  Staatsbürgern  gleicher  Bildung 


1180 


Heimstättenrecht 


und  Lebensstellung  gewähren.  Diese  Ein- 
wände entstammen  einer  sozialen  Sphäre,  in 
der  eine  Ersparung  von  600 — 2000  Mk.  in 
der  That  nicht  jedem  fleissigen  Manne  ge- 
lingt und  der  Besitz  eines  eigenen  Obdachs 
nicnt  zur  normalen  oder  auch  nm*  zweck- 
mässigen Ausstattung  des  Landarbeiters  ge- 
hört, wie  letzteres  besonders  für  die  ost- 
deutschen Gutsbezirke  zutrifft.  Aber  bei 
steigenden  Löhnen,  fortschreitender  innerer 
Kolonisation  und  rascher  Ausbreitung  des 
Kleingnmdbesitzes  nähern  wir  uns  doch 
bereits  stark  einem  Zustande,  der  es  in  der 
That  gestatten  würde,  für  jedermann  ausser 
dem  Arbeitslohn,  dem  Handwerkszeug  etc. 
doch  auch  ein  gewisses  Mass  von  Erspar- 
nissen und  auf  dem  Ijande  ein  eigenes  be- 
scheidenes Obdach  als  wesentlichen  Bestand- 
teil der  wirtschaftlichen  Existenz  anzusehen. 

Die  Ai^umentation,  der  Schutz  eines  ge- 
wissen geringen  Ausmasses  an  Gnmdbesitz 
sei  die  Konsequenz  des  schon  geltenden 
Satzes  von  der  Unpfändbarkeit  der  zur  Fort- 
fühnmg  der  AVirtschaft  erforderlichen  In- 
ventarien  und  landwirtschaftlichen  Erzeug- 
nisse, trifft  nicht  zu,  weil  jener  Satz  den 
ungefährdeten  Besitz  eines  eigenen  Gutes 
eben  voraussetzt  und  lediglich  unter  dieser 
Voraussetzung  die  Fortführung  des  Betriebes 
ermöglichen  will.  Der  selbständige  l )äuer- 
liche  Gnmdbesitz  als  solcher  würde  von  der 
Rechtswohlthat  des  »Besitzminimum«  in  dem 
geplanten  Umfange  keinen  Vorteil  haben  und 
kann  auch  gar  nicht  ohne  gi'osse  Unzuträg- 
liohkeiteu  durch  allgemeine  Exekutions- 
beschränkungen geschützt  werden.  Eine 
Voi*schrift,  die  z.  B.  80  Morgen  mittleren 
Bodens  —  d.  h.  das  Mindestmass  einer 
selbständigen  Wii-tschaft  in  den  meisten  Ge- 
treide bauenden  Bezirken  Deutschlands  — 
vor  der  Zwangsvollstreckung  schützen  wollte, 
wüixle  Werte  von  6 — 10000  Mk.  eximieren. 
Die  in  solcher  Summe  enthaltene  kapitali- 
sierte Grundrente  kann  ohne  soziale  Be- 
denken veri)fändet  werden,  und  es  muss  dem 
Besitzer  die  Möglichkeit  offen  bleiben,  sie 
als  Unterlage  seines  Realkredits  zu  benutzen. 
Andernfalls  wtirtlen  die  gleichen  und  noch 
grössere  Schädigungen  eintreten,  wie  sie 
oben  für  die  Ackerbaudistrikte  von  Texas 
hervorgehoben  w  urd  en . 

Die  deutschen  Verhandlungen  über  das 
zu  schützende  Besitzminimum  bestätigen 
ebenso  wie  die  amerikanischen  Erfahrungen, 
dass  ein  Schutz  der  selbständigen  Güter 
nicht  durch  allgemeine  und  deshalb  ixih 
schematische  Bestimmungen  über  Exekutions- 
beschränkungen zu  erzielen  ist. 

B.   Begründung  von  Familien- 
„Erbgütem". 

Die  zweite  Grui)j)e  der  Vorsehläge  geht 
von  dem  Gedanken  aus,  der  Gnmdfehler  des 


geltenden  Besitzrechtes  sei  dessen  kapita- 
listische und  extrem  individualistische  Auf- 
fassung des  Grundeigentums.  Es  sei  falsch 
gewesen,  zugleich  mit  der  Befreiung  von  der 
Grund-  und  Gutsherrschaft  den  Bauern- 
gütern —  diese  hat  man  zunächst  im  Auge 
—  den  Charakter  des  dereinst  nicht  nur  im 
gnindherrlichen  und  staatlichen,  sondern  zu- 
gleich im  Interesse  der  bäuerlichen  Familien 
selbst  gebundenen  Besitzes  zu  nehmen.  Der 
Grundbesitz  werde  seiner  ethischen  und 
volkswirtschaftlichen  Aufgabe  allein  gerecht, 
wenn  er  von  Generation  zu  Generation  einen 
gesicherten  Wohlstand  und  damit  die  Tra- 
ditionen wahrer  Unabhängigkeit  und  gesitte- 
ten Familienlebens  übertrage.  Nur  durch 
eine  Wiederbelebung  der  älteren  Rechts- 
gedanken könne  der  Bauernstand  einei-seits 
vor  der  Vernichtung  durch  Latifundien- 
bildun^  und  Parzellierung,  andererseits  vor 
kapitalistischer  Enteignung  und  wucherischer 
Ausbeutung  gesichert,  in  seiner  alten  Tüchtig- 
keit erhalten  werden.  »Dem  Heimstätten- 
recht«, sagt  einer  seiner  hervorragendsten 
Vorkämpfer,  Otto  Gierke,  »liegt  der  in 
unserem  Rechtsbewusstsein  durch  alle  Vor- 
herrschaft des  römischen  Rechtes  nicht  aus- 
getilgte nationale  Gedanke  zu  Grunde,  dass 
die  Hofstätte  mit  ihrem  Zubehör  nicht  bloss 
ein  Vermögensstück  oder  gar  eine  Wai-e, 
sondern  eine  »Heimat«,  die  Basis  eines  Fa- 
milienlebens und  seiner  wirtschaftlichen  und 
ethischen  Betliätigung  ist.  Indem  das  Heim- 
stättenrecht eine  solche  Hofstätte  der  Ver- 
schlingung durch  das  beutelustige  bewegliche 
Kapital,  der  Zertrümmerung  durch  die 
Wechselfälle  des  Verkelirs  und  des  Erb- 
ganges, sowie  der  Aufsaugung  durch  den 
Grossgrund  besitz  entzie'iit,  sorgt  es  für  die 
Verwirklichung  des  bewusst  oder  unbewusst 
in  unserer  Landbevölkerung  bis  heute  leiden- 
den Rechtsideals.«  Aufgabe  der  Heim stätten- 
institution  ist  es  daher,  die  Bauernhöfe  oder 
überhaupt  Wohnstätten  mit  mehr  oder  weniger 
Land  in  dem  Besitze  und  der  Erbfolge  der 
Familien  auf  längere  Dauer  zu  erhalten. 

Ueber  die  Rätlichkeit  der  Einfülirung 
eines  diesen  Ideeen  entsprechenden  Heim- 
stättenrechts (» Erbgüten'echts «)  hat  die 
österreichische  Regienmg  Anfang  der 
achtziger  Jahre  eingehende  Erhebungen  ge- 
pflogen. Auf  Grund  derselben  arbeitete  der 
Ministerialrat  Karl  Pevrer  Ritter  von  Heim- 
statt  die  miten  citierte  »Denkschrift^  aus, 
unter  Mitteilung  eines  Gesetzentwurfes, 
welcher  in  seinem  ersten  Abschnitt  ein  neues 
Intestaterbrecht  für  Bauerngüter  überhaupt 
im  2.  den  Plan  des  »Erbgüterrechts ^  ent- 
hält. Die  Gnuidzüge  des  letzteren  sind  die 
folgenden : 

1)  Erbgüter  sind  diejenigen  landwiit- 
I  schaftlichen  und  mit  einem  Wohnhaus  ver- 
i  scheuen  Anwesen,   welche  auf  Antrag  des 


Heimstättenrecht 


1181 


Eigentümers  in  ein  beim  zuständigen  Be- 
zirksgericht zu  führendes  Erbgüterbuch  ein- 
)trdgen  sind.  Niu'  solche  Landgüter,  deren 
[atasti*alreinertrag  sich  zwischen  50  und 
irXK)  fl.  bewegt,  können  eingetragen  werden 
—  eine  Abänderung  dieser  Beträge  bleibt 
der  Landesgesetzgebung  vorbehalten.  Aus- 
geschlossen ist  demnach  nur  der  Parzellen- 
und  der  (rrossgamdbesitz.  Für  den  Oross- 
ginmdbesitz  werden  die  Erbgüter  durch 
Fideikommisse  ersetzt.  Jedoch  können  nach 
dem  Entwurf  auch  Besitzer  grösserer  Güter 
einen  Teil  ihrer  Liegenschaften  innerhalb 
des  oben  gedachten  Ausmasses  zum  Erbgut 
erklären  und  den  übrigen  Teil  als  walzende 
Grundstücke  und  beliebig  belastbar  be- 
sitzen. 

2)  Die  Eintragung  in  das  Erbgüterbuch 
ist  für  jeden  nachfolgenden  Eigentümer  ohne 
Ausnahme  wirksam.  Eine  Löschung  kann 
niu-  auf  Antrag  des  Eigentümers  und  nur 
dann  stattfinden,  wenn  sie  nachweislich  mit 
anderweitig  nicht  erreichbaren  Voi*teilen  für 
die  Bewirtschaftung  des  Gutes  verbimden 
ist.  Dasselbe  gilt  von  der  Abtrennung 
von  Gnmdstücken  des  Erbgutes  mit  der 
Einschränkung,  dass  der  verbleibende  Wert 
nicht  unter  das  zulässige  Mindestmass  eines 
Erbgutes  herabgesetzt  werden  darf.  Ohne 
weiteres  ist  die  Abtrennung  gestattet  im 
Fall  eines  Auseinandersetzun^verfahrens, 
eines  Austausches  gleichwertiger  Grund- 
stücke und  da,  wo  eine  Zwangsabtretimg 
gesetzlich  bewirkt  werden  könnte.  Der 
Veräusserung  im  ganzen  steht  nichts 
im  Wege. 

3)  Das  Erbgut  kann  nur  mit  ablösbaren 
Grundrentenschulden  (ohne  besondere  Ge- 
nehmigung) be  lastet  werden,  deren  Jahres- 
betrag die  Hälfte  des  Katastralreinertrags 
.nicht  überateigt  (bezw.  mit  Hypotheken, 
(leren  Kapitalbetrag  unter  dem  zehnfachen 
des  Katastralreinertrags  bleibt).  Es  entspricht 
dieses  Mass  der  Grenze,  welche  »in  der 
Regel  solide  Kreditinstitute  bei .  Gewähning 
von  Darlehen  einzuhalten  pflegen«.  Aus- 
nahmsweise kann  die  Realbehörde  eine  höhere 
Belastung  auf  Ansuchen  des  Besitzers  eines 
Erbgutes  und  zwar  mit  Jahresrenten  bis 
zum  ganzen  Katastralreinertrag  (bezw.  mit 
Hypotheken  bis  zum  zwanzigfachen  des- 
selben) unter  der  gleichen  Voraussetzung 
bewilligen,  welche  eine  Parzellierung  des 
Erbgutes  statthaft  macht  Die  Bewilligung 
ist  jedoch  an  die  Bedingung  zu  knüpfen,  dass 
die  höhere  Belastung  ratenweise  längstens 
binnen  zwanzig  Jahren  zu  tilgen  ist  Oeber- 
dies  ist  eine  Belastung  des  Erbgutes  zuge- 
lassen mit  den  Erträgnissen  des  Gutes  an- 
gemessenen Ausgedingen  oder  Leibrenten  zu 
Gunsten  des  Vorbesitzers  oder  seines  über- 
lebenden Ehegatten,  sowie  mit  der  Ver- 
pflichtung, die  minderjährigen  oder  erwerbs- 


unfähigen Kinder  des  Vorbesitzers  zu  erziehen 
und  standesgemäss  zu  unterhalten. 

4)  Dem  Zwangsverkauf  unterliegt 
das  Erbgut  nur  wegen  Rückständen  aus  den 
vorerwähnten  Belastungen,  ferner  wegen 
Rückständen  an  öffentlichen  Abgaben  und 
solchen  Leistungen,  denen  gesetzlich  der 
Vorrang  vor  anderen  Reallasten  oder  ein 
sonstiges  gesetzliches  Pfandrecht  eingeräumt 
ist  (z.  B.  Beiträge  von  Wassergenossen- 
schaften). Auch  wegen  anderer  (Personal-) 
Schulden  hat  der  Gläubiger  das  Recht,  die 
exekutive  Feilbietung  des  Erbgutes  zu  er- 
wirken, wenn  der  Eigentümer  nicht  seinen 
ordentlichen  Wohnsitz  auf  dem  Erbgute  hat. 
Dem  Zwangsverkauf  eines  Erbgutes  soll  in 
der  Regel  die  Sequestration  voraus- 
gehen. Für  mehr  als  zweijährige  Rückstände 
an  Jahresleistungen  oder  für  fällige  Kapi- 
talien soD  jedoch  der  Zwangsverkauf  sofort 
bewilligt  werden.  Während  der  Dauer  der 
Sequestration  gebührt  dem  Besitzer  und 
seiner  Familie  Wohnung  und  Unterhalt  auf 
dem  Gute. 

5)  Die  einschränkenden  Bestimmungen 
über  die  Zerstückelung  und  Belastung  von 
Erbgütern  finden  auch  auf  letzt  will  ige 
Anordnungen  und  auf  die  Intestat- 
erbfolge Anwendung.  Im  übrigen  gilt 
für  die  letztere  das  allgemeine  bäuerliche 
Anerbenrecht.  Durch  Testament  oder  Legat 
kann  der  Erblasser  dem  gutsübernehmenden 
Erben  zwar  vorbehaltlich  seines  Pflichtteii- 
rechts  auftragen,  anderen  Personen  höhere 
Legate  oder  Erbteile  zu  bezahlen;  soweit 
dieselben  aber  ihre  gesetzlich  zulässige 
Deckung  nicht  im  Erbgute  finden,  haftet  der 
Erbe  für  sie  nur  als  Personalschuldner.  Die 
möglichen  Härten  dieser  Vorscliriften  werden 
durch  die  Bestimmimg  gemildert,  dass  Ge- 
schwister des  Anerben,  solange  sie  minder- 
jährig oder  wegen  körperlicher  oder  geistiger 
Gebrechen  erwerbsunfähig  sind,  vom  Guts- 
übernehmer  standesgemässen  Unterhalt  auf 
dem  Gute  gegen  standesgemässe ,  ihren 
Kräften  entsprechende  Mitarbeit  bean- 
spruchen können. 

6)  Solche  Güter,  welche  bereits  höher 
als  bis  zur  Normalgrenze  belastet  sind, 
können  zwar  als  Erbgüter  eingetragen  wer- 
den, jedoch  wird  dadurch  den  bereits  ein- 
getragenen Hypothekarforderungen  das  Recht 
der  Exekution  nicht  entzogen  oder  be- 
schränkt Auch  beginnt  für  nicht  einge- 
tragene Forderungen  die  Wirkimg  der  ein- 
schränkenden Belastungs-  und  Ikekiitions- 
bestimmungen  erst  6  Monate  nach  erfolgter 
Kimdmachung  der  Eintragung  in  das  Erb- 
güterbuch. Andererseits  können  allerdings 
dem  Zwangsverkauf  unterzogene  Erbgüter 
nur  mit  Beibehaltimg  der  Eigenschaft  als  Erb- 
güter versteigert  und  dann  dem  Ersteher  nur 
solche  Forderungen  zur  üebernahme  über- 


1182 


lleimslättenreclit 


wiesen  werden,  mit  welchen  ein  Erbgut 
nach  Ziffer  3  belastet  werden  darf.  Die 
übrigen  Forderungen  sind  zu  löschen,  und 
soweit  sie  im  Meistgebot  ihre  Deckung  fin- 
den, auf  dieses  zur  Barzahlung  anzuweisen. 

Das  österreichische  G.  v.  1.  April  1888 
betreffend  die  Einführung  besonderer  Erb- 
teilungsvorschriften für  land^virtschaftliche 
Besitzungen  mittlerer  Grösse  hat  den  ersten 
Teil  des  in  der  Peyrerschen  Denkschrift  be- 
handelten Entwurfs  mittlerweile  vorbehalt- 
lich ergänzender  und  ausführender  Landes- 
gesetze in  Kraft  gesetzt  Yon  einer  weite- 
ren Verfolgung  der  Erbgüterfrage  hat  man 
hingegen  vorläufig  abgesehen,  weil  von  einer 
vernünftigen  Erbschaftsgesetzgebung  schon 
allein  viel  für  die  »Sanierung  der  wirt- 
schaftlichen Zustände  erhofft  werden  dflrfe« 
und  »eine  Erbrechtsordnung  wie  die  nun 
geschaffene  den  herrschenden  Rechtsanschau- 
UDgen  eines  grossen  Teils  der  Bevölkerung 
zwar  entgegenkomme,  die  Einführung  von 
Erbgütern  mit  beschränkter  Yerschuldbar- 
keit  aber  bei  den  amtlichen  Erhebungen 
keineswegs  allgemeine  Zustimmung  gefun- 
den habe«. 

In  Deutschland  brachte  zunächst  der 
landwirtschaftliche  Lokalverein  Giessen  den 
Erlass  eines  Heimstätten-  und  Pfändimgsge- 
setzes  durch  einen  Antrag  beim  Deutschen 
Landwirtschaftsrat  im  Jahre  1882  und  zwar 
ohne  Erfolg  in  Anregung.  Eine  lebhafte 
Agitation  zur  Einführung  eines  Heimstätten- 
rechts wurde  dann  im  Jahre  1890  durch 
den  Kammerherrn  von  Riepenhausen  einge- 
leitet. Der  Entwurf  eines  entsprechenden  Ge- 
setzes wurde  zuerst  1890  und  seitdem  wieder- 
holt (zuletzt  1899)  dem  Reichstage  vorgelegt, 
er  fand  die  Unterstützung  seitens  der  kon- 
servativen Parteien,  der  Centnimspartei  und 
einiger  Nationalliberalen;  einer  Resolution  des 
Reichstags  (1894),  welche  die  Regierung  auf- 
forderte, in  der  Richtung  des  Antrages  einen 
Gesetzentwurf  auszuarbeiten,  gab  der  Bun- 
desrat keine  Folge.  Wir  teilen  den  Inhalt 
des  erwähnten  Entwurfes  in  der  von  der 
Reichstagskommission  beschlossenen  Gestalt 
und  in  derselben  Anordnung  wie  oben  den 
österreichischen  Entwurf  mit. 

1.  Als  »Heimstätten«  können  in  das 
Ileimstätteubuch  Grundstücke  eingetragen 
werden,  welche  »die  Erzeugung  landwirt- 
schaftlicher Produkte  ermöglichen«,  »wenig- 
stens einer  Familie  Wohnung  gewähi-en« 
(also  auch  blosse  Häuslerstellen  mit  etwas 
Garten-  oder  Ackerland),  aber  die  »Grösse 
eines  Bauernhofs  nicht  übersteigen«.  Die 
nähere  Bestimmung  der  Minimal-  und  Maxi- 
malgrösse  bleibt  der  landesrechtlichen  Ord- 
nung überlassen.  Zubehör  jeder  Heimstätte 
sind  die  Wohnung,  die  notwendigen  Wirt- 
schaftsgebäude ,  das  unentbehrliche  Wirt- 
schaftsinventar etc.     Ziu:  »Errichtung  einer 


Heimstätte«  sind  nur  Angehörige  des  Deut- 
schen Reichs  nach  vollendetem  24.  Lebens- 
jahre befugt.  Niemand  darf  mehr  als  eine 
Heimstätte  besitzen. 

2.  »Die  Aufhebung  der  Heimstätteneigen- 
schaft erfolgt  durch  Löschung  im  Heim- 
stättenbuch« auf  »hinreichend  begrihideten 
Antrag«  des  Eigentümers  und  nur  unter  Zu- 
stimmung seines  Ehegatten  sowie  der  Renteu- 
oder Annuitätenberechtigten. 

3.  Die  Heimstätte  ist  absolut  unteilbar, 
also  auch  dann,  wenn  der  ursprüngliche 
Reinertrag  sich  vervielfachen  sollte  imd  die 
dringendsten  wirtschaftlichen  Bedürfnisse  die 
Teilung  erfordern  würden.  Niu*  ein  Um- 
tausch von  Grundstücken  ist  gestattet,  und 
zwar  nur  mit  Genehmigung  der  von  der 
Landesgesetzgebung  zu  bezeichnenden  Heim- 
stättenbehörde. Die  Veräusserung  im  ganzen 
ist  mit  Genehmigung  des  Ehegatten  und  an 
Deutsche  zulässig. 

4.  Die  Heimstätte  kann  nur  aus  »begi'ün- 
detem  Anlass«  mit  Bewilligung  der  Behörde 
bis  zur  Hälfte  des  Wertes  belastet  werden, 
und  zwar  nur  mit  Rentenschulden  oder 
»Annuitäten«,  für  welche  eine  »dem  Zweck 
entsprechende  Amortisationsperiode«  festge- 
setzt sein  muss.  Bestehende  Hypotheken 
und  Grundschulden  müssen  vor  der  Ein- 
tragung der  Heimstätte  in  amortisierbare 
Renfen  oder  in  Amiuitäten  verwandelt  wer- 
den. Die  Bewilligung  der  Neubelastung 
innerhalb  der  gesetzlichen  Grenze  muss  er- 
folgen »im  Falle  einer  Missernte  oder  bei 
sonstigen  Unglücksfällen,  zu  notwendigen 
Meliorationen  und  zur  Abfindung  von  Mit- 
erben«. Die  Eintragung  eines  Altenteils 
sowie  von  Unterhalt  sverpflichtungen  zu 
Gunsten  minderjähriger  oder  erwerbsim- 
fähiger  Geschwister  (auch  über  die  normale 
Schuldgrenze  hinaus)  ist  nicht  voi^esehen. 

5.  Die  Heimstätte  unterliegt  mit  einer 
unten  zu  nennenden  Ausnalime  dem  Zwangs- 
verkauf überhaupt  nicht.  Als  Yollstreekungs- 
massregel  ist  lediglich  die  von  der  Heim- 
stättenbehörde zu  vollziehende  Zwangsver- 
waltung zugelassen.  Die  Zwangsverwaltung 
findet  niu:  statt  »wegen  Ansprüchen  aus 
Lieferungen  und  Leistungen,  die  zm*  Er- 
richtung und  zum  Ausbau  der  Heimstätte 
verbraucht  sind,  wegen  rückständiger  Renten 
oder  Annuitäten,  wegen  gesetzlicher  Ver- 
pflichtungen und  Yerpflichtungen  aus  uner- 
laubten Handlungen«.  Eine  Kompetenz,  die 
dem  Heimstätteneigentümer  während  der 
Zwangs  Verwaltung  ausgezahlt  wertlen  müsste, 
ist  nicht  festgesetzt 

6.  Die  Heimstätte  kann  »vorbehaltlich 
des  Niessbrauchsrechts  des  überlebenden 
Ehegatten«'  nur  an  einen  von  der  Landes- 
gesetzgebung näher  zu  bezeichnenden  An- 
erben übergehen.  Die  nähere  Regelung 
des    Niessbrauchsrechts    des    überlebenden 


Heimstättenrecht 


1183 


Ehegalten  iiud  die  Ordnung  des  Ileimstätten- 
erbrechts  bleibt  der  Landesgesetzgebung 
ilborlassen. 

7.  Solche  Besitzungen,  >\'elche  tiereits 
stärker  als  bis  zur  Hälfte  des  Ertrags werls 
belastet  sind,  können  zur  Eintragung  in  das 
Heimstättenbuch  zugelassen  wenlen,  >venn 
der  Eigentümer  die  Verpflichtung  übernimmt, 
die  über  jene  Grenze  hinausgehenden  Hypo- 
theken- und  Grundschulden  mit  l^/o  für 
das  Jahr  zu  tilgen,  und  die  Tilgung  genügend 
gesichert  erscheint.  »Verstärkte  Amortisa- 
tion ist  gestattet«. 

Andererseits  soll  die  Heimstätte  der 
Zwangsvollstreckung  und  zwar  in  diesem 
Falle  auch  dem  Zwangsverkauf  unterliegen 
wegen  Forderungen  aller  Art,  welche  aus 
der  Zeit  vor  Errichtung  der  Heimstätte 
stammen  —  aber  hur  innerhalb  einer  Frist 
von  drei  Jahren  nach  Veröffentlichung  der 
Heimstätteneigenschaft  Diese  Bestimmung 
würde  die  grosse  Menge  derjenigen  Besitzer, 
welche  höher  als  bis  zur  Hälfte  des  Er- 
tragswertes verschuldet  sind,  von  der  Mög- 
lichkeit der  Umwandlung  ihi*er  Besitzungen 
in  Heimstätten  ausschliessen,  da  dann  sofort 
die  sämtlichen,  jene  Gi*enze  übersclireiten- 
den   Schulden    gekündigt   werden   wthxien. 

Der  Heimstättengesetzentwurf  hat  eine 
besonders  eingehende  Prüfung  im  Deutschen 
Landwirtschaftsrat  (1891  und  1893)  gefun- 
den. Derselbe  kam  bei  aller  Sympathie  für 
den  sozialpolitischen  Grundgedanken  in 
Uebereinstimmung  mit  der  Melu*zahl  der 
von  ihm  befragten  landwirtschaftlichen  Cen- 
tralvereine  auf  Grund  eines  Referats  von 
A.  Buchenberger  zu  dem  einstimmigen  Be- 
schluss,  »die  bisher  gemachten  Versuche  der 
Ausgestaltung  eines  Heimstättenrechts  für 
praktisch  unzureichend  und  wirkimgslos«  zu 
erklären.  Die  Einwände  gegen  den  Heim- 
stättengesetzentwurf, der  auch  in  der  Kom- 
missionsfassung nur  als  das  Gerippe  für  ein 
zu  erlassendes  Gesetz  angesehen  werden 
kann,  betrafen,  abgesehen  von  dem  aller- 
nächst liegenden  (absolute  Unteilbarkeit, 
mangelnde  Sicherung  der  Miterben,  unbe- 
grenzte Dauer  der  für  den  Kleinbesitz  über- 
haupt nur  ausnalimsweise  passenden  Zwangs- 
verwaltung etc.),  vor  allem  den  Umstand, 
dass  der  Heimstättenbesitzer  ganz  unter 
Vormundschaft  der  Behörden  bei  Wegfall 
aller  Selbstverantwortlichkeit  und  gleich- 
zeitig durch  die  schematische  Festlegung 
der  Verschuldungsgrenze  in  vielen  Fällen 
unnötiger  Weise  vor  eine  gänzliche  Kredit- 
sperre gestellt  werden  würde.  Solle  der  Ent- 
wurf überhaupt  Gesetz  werden  können,  so 
müsste  auch  eme  Organisation  des  Kreditwe- 
sens vorangehen,  welche  auf  Öffentlich-recht- 
licher GnuuUage  emehtet,  die  Befriedigung 
des  vorhandenen  Kreditbedürfnisses  pflicht- 
mässig  zu  erfüllen  hätte,  und  damit  mt\sste 


Hand  in  Hand  gehen  die  obligatorische  Ver- 
sicherung gegen  Wirtschaftsunfälle  aller  Art. 

4.  Aussichten  praktischer  Ver\iirk- 
lichung.  Es  lässt  sich  mit  Sicherheit  voraus- 
sehen, dass  ein  wie  immer  gestaltetes 
fakultatives  Heimstättenrecht  zunächst  im 
ganzen  Rhein-  und  Maingebiet  ein  toter 
Buchstabe  bleiben  wünle,  da  es  den  herr- 
schenden und  seit  Jalirhunderten  festge- 
wurzelten Rechtsanschaiuuigen,  namentlich 
den  Vererbungsgewohnheiten,  aufs  äusserste 
widersti*ebt.  Aber  auch  für  Länder,  in 
denen  der  bäuerliche  Besitz  regelmässig 
geschlossen  bleibt,  wäre  keine  günstige 
Prognose  zu  stellen.  Der  bäuerliche  Besitzer 
will  in  seinen  Verftlgungen  über  den  Gnmd- 
besitz  möglichst  unbeschränkt  sein.  Der 
weniger  verschuldete  Besitzer  würde  also  die 
Eintragung  seiner  Stelle  in  das  Heimstätten- 
buch sicherlich  unterlassen,  während  der 
hoch  verschuldete  dazu  ausser  stände  wäre. 

Aussicht  auf  eine  wirksame  Reform  des 
agrarischen  Schuldi-echts  ist  nur  vorlianden, 
wo  der  Staat  es  im  grossen  unternimmt, 
sei  es  in  die  überkommene  Grundbesitzver- 
teilung einzugreifen  —  also  bei  der  inneren 
Kolonisation  — ,  sei  es  das  zum  allgemeinen 
Bewusstsein  gekommene  Uebel  weit  ver- 
breiteter üeberschuldung  zu  heilen.  Denn 
im  einen  wie  im  anderen  Falle  würde  er 
es  in  der  Hand  haben,  die  Bedingimgen  der 
Landverleihung  und  der  Schuldcntlastung 
festzusetzen. 

Für  Arbeiterstellen  ist  jedes  »Erbgüter«- 
oder  »Heimstättenrecht«  in  dem  hier  behan- 
delten Sinne  des  Wortes  von  vorn  herein 
verfehlt,  weil  diese  Stellen  nicht  geeignet 
sind,  einer  Familie  die  dauernde  Grundlage 
ihrer  wirtschaftlichen  Existenz  zu  gewähren. 
Man  hat  sie  mit  Recht  in  Deutschland  wie 
in  Oesterreich  vom  Anerbenrecht  ausge- 
schlossen, und  mit  Recht  beschränkt  auch 
der  Peyrersche  Entwurf  seine  Erbgüter  von 
vorn  herein  auf  selbständige  Güter.  Füi' 
Arbeiterstellen  würde  in  der  Erschwerung 
der  Veräusserung,  die  das  Erbgüterrecht 
beabsichtigt  und  herbeiführen  würde,  überall 
ausserhalb  dichter  besiedelter  Bezirke  mit 
reichlicher  Auswahl  der  Arbeitsgelegenheiten, 
also  namentlich  in  den  Grossgüterdistrikteu 
eine  Verschlechterung  der  sozialen  Position 
des  Eigentümers  liegen,  weil  dadurch  die 
Abhängigkeit  von  dem  einzelnen  oder  von 
einzelnen  wenigen  Arbeitgebern  verschärft 
werden  wtirde. 

üeber  die  ergebnislos  verlaufenen  Bera- 
tungen eines  Heimstättengesetzentwurfs  im 
Grossrate  des  Kantons  Luzern  und  den 
im  ungarischen  Reich&tage  a  limine 
abgewiesenen  Entwurf  des  Deputierten 
Istöczy  vgl.  den  unten  citicrten  Aufsatz  von 
Grünberg  (Arch.  f.  soz.  Gesetzgebg.  Bd.  IV 
S.  377  und  380). 


1184 


Heimstättenrecht — Heiratsstatistik 


Litteratur:  Xordamerika:  Das  Bundesheim- 
«UiUengeaeiz  der  nordamerikanUchen  Union  und 
die  Heimstäüengesetze  dtn-  amerikanischen  Bundes- 
staaten. Supplementheft  zum  Archiv  des  deut- 
schen Landwirtschaftsrats f  Berlin  1882.  —  JKud. 
Meyer,  Heimstätten-  und  andere  Wirtschajts- 
gesetze  der  Vereinigten  Staaten,  von  Ckinada, 
Russland  etc.,  Berlin  188S.  —  Af.  Sering,  Die 
landwirtschaftliche  Konkurrenz  Xordamerikas  in 
Gegenwart  und  Zukunft,  Leipzig  ls87,  S.  155 — 
168  (SS9,  S77,  752).  —  Reports  from  H.  M. 
Minister  at  Washington  on  the  homestead  and 
exemption  laws  in  the  U.  S.  Parliam.  Püp.  So.  2 
(Commercial),  1887,  London.  —  Rumänien: 
K,  Grihiberg,  Arch.  f.  soz.  Gesetzg.  u.  Stat., 
11,  74 ff' — Serbien  und  Ostindien:  Ru4i, 
Meyer  L  c.  und  Lar,  v.  Stein  f  Die  drei 
Fragen  des  Grundbesitzes  und  seine  Zukunft, 
Stuttgart  1881,   Anhang.  —  Oesterreich:   L. 

V,  Stein,  Bauerngut  und  Hufenrecht  in  Oester- 
reich. Gutachten,  Stuttgart  1882.  —  K.  Peyrer 
R,  von  Heimstatt,  Denkschrift  betreffend  die 
Erbfolge  in  landwirtschaftliche  Güter  und  dm 
Erbgüterrecht  flleimstättenrecht)  nebst  einem 
hinauf  bezüglichen  Gesetzentwurf,  Wien  I884.  — 
Pospischil,  Die  Heimstätte  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  di€  Verhältnisse  den  bäuerlichen 
Grundbesitzes  in  Oesterreich,  Wien  I884.  — 
Deutschland:  Die  Heimstättenfrage, 
Separatabdr.  aus  dem  Verhandlungsberichte  des 
deutschen  Landwirtschaftsrats  (XIX.  Plenarver- 
sammlung,  1891)  über  den  Eni^ourf  eines  Reichs- 
heimstättengesetzes, Berlin  1891.  —  Reichs- 
tagsverhandlungen,  8.  Legislaturperiode, 
1.  Session,  168.  SiUung,  3.  11.  1892.  Bericht 
der  XXIV.  Kommission  über  den  Entwurf  eines 
HeimstäUengesetzes  für  das  Deutsche  Reich, 
aVr.  711  der  Drucksachen  des  Reichstags  1892.  — 
K,  V,  Riepenhmisen-Crangen ,  Gesicherte 
Familienheimstätten  für  alle  Stände  im  Deutschen 
Reiche,  3.  Aufl.,  Leipz.  1891.  —  K,  Grünberg,  Der 
Entwurf  eines  Heimstätiejigesetzes  f.  d.  Deutsche 
Reich,  Arch.  f.  soz.  Gesetzg.  u.  Stat.,  IV,  S.  S69. 
—  K,  Schneider,  Ueber  die  demnächstige  Ge- 
staltung des  GrundbesitzrechUs  in  Deutschland, 
insbesondere  die  Verwirklichung  eines  Heim- 
stättenrechtes,  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Verw.  XIV, 
4^1  ff.  —  Derselbe,  Das  sogenannte  Heim- 
stättenrecht, ebenda  Bd.  XVI,  4S  ff.  —  Ver- 
selbe, Die  Bewegung  für  Errichtung  von  Heim- 
stätten,  Deutsche   Zeii-  und  Streitfragen,   N.  F. 

VI,  Heft  83,  Hamburg  1891.  —  Verhandlungen 
des  94.  deutschen  Jurlstentages,  Berlin  1897. 
Darin  auch  Gutachten  von  K.  Grünberg  und 
M.  Weber.  —  Frankreich:  Claudio  J^annet, 
Le  socialisme  d'itat,  Paris  1889,  S,  429  ff.  — 
Italien :  IppolUo  Santangelo  Spoto, 
nL' homestead  exemption  lawu  in  rapporto  ai 
bisogni  economici  d*ltalia,  Firenze  1891.  — 
Sonstige  Litteraturangaben  bei  Schneider  in 
Jahrb.  f.  Ges.  u.   Verw.  XVI,  S.  57  f. 

Ueber  die  heimstättenartigen  Verschuldungs- 
beschränkungen bei  einem  Teil  der  mecklenbur- 
gischen ErbpäcJiter  vgl.  H.  Paasche,  Die 
recht!.  Wirtschaft!.  Lage  des  Bauernstandes  in 
Mecklenburg-Schwerin.  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp., 
Bd.  XXIV,  S.  S5S  und  861  ff. 

Af.  Sering, 


UeiiDwerk 

s.  Gewerbe  oben  Bd.  IV  S.  360ff. 


Heiratsstatistik. 

1.  Heiratsstatistik  im  allgemeinen.  2.  Hei- 
ratshäufifi^keit  nach  Ländern,  Jahren  und  Jahres- 
zeiten. 3.  Bisheriger  Familienstand.  4.  Alter. 
5.  Beruf  und  soziale  Stellung  der  Eheschliessen- 
den.    6.  Heiraten  unter  Blutsverwandten. 

1.   Heiratsstatistik    im    allgemeinen. 

Die  Heiratsstatistik    hat  es  nicht  mit 
den  vorhandenen  Ehen  überhaupt  zu  thun  — 
ygL  darüber  die  auf  die  stehenden  £heQ  be- 
züglichen Ausführungen  im  Artikel  Haus- 
haltungsstatistik oben  S.  130  ff.  — .  Sie 
hat  die  Eheschliessungen  zmu  G^en- 
stande  und  bildet  einen  Bestandteil  der  Statin 
tik  über  die  Bewegung  der  Bevölkerung,  wird 
ja  doch  durch  die  alljährlich  eingegangenen 
Ehen  die  Zahl  der  Geburten  und  damit  die 
Entfaltung  der  Gesamtbevölkenmg  wesent- 
lich beeinflusst.     Und   zwar   erstreckt  sich 
die  Heiratsstatistik  auf  die  objektiven  Vor- 
gänge der  Eheschliessungen  einerseits,   auf 
die  subjektiven  Vorgänge  des  Heii-atens  für 
die  Ehepersonen  andererseits.    Das  Material 
liierzu    liefern    im    Deutschen   Reich    die 
Standesamtsregister  und  die  Aiifgebotsver- 
handlungen.     Allerdings  wird   es   nur  ver- 
einzelt  (in   einzelnen    Staaten    und   Gross- 
städten) erschöpfend  bearbeitet.    Die  Reichs- 
statistik selbst  begnügte  sich  seither  nnit  der 
Feststellung  der  Zalü  der  Eheschliessungen 
unter  Beriicksichtigung  der  einzelnen   Mo- 
nate; vom  Jahre  1901  an  wird  auch  Alter, 
bisheriger  Familienstand   und  Religion   der 
Eheschliessenden  zur  Darstellung  gelangen. 
Ausserdem  ist  von  Belang  —  aber  nur  aus 
der  Partikularstatistik  zu  entnehmen  —  Be- 
ruf und  soziale  Stellung,  Gebm-tsort,  Wohn- 
ort und  Blutsver^'andtschaft  der  Heiratenden 
sowie    die    'v^ievielte    Ehe   die    betreffende 
Eheschliessung    für    den    Mann    bezw.    die 
Frau  darstellt. 

2.  Heiratshäufigkeit  nach  Landern. 
Jahren  nnd  Jahreszeiten.  Die  Zahl 
der  Eheschliessungen  ist  für  liie 
wichtigsten  Kulturstaaten  und  für  die  Jahre 
1871  bis  1898  aus  nachstehender  Tabelle 
ersichtlich.  Beigefügt  sind  die  sogenannten 
allgemeinen  Heiratsziffern,  d.  h. 
Relativzahlen,  die  das  Verhältnis  der  ehe- 
schliessenden Personen  zur  mittleren  Bevöl- 
kerung der  einzelnen  Jahre  angeben,  sie 
lassen  erkennen,  welchen  Schwankungen  die 
Häufigkeit  der  Heiraten  während  des  be- 
obachteten Zeitraums  in  jedem  der  aufge- 
führten Länder  unterliegt.  Für  den  Ver- 
^eich  von  Land  zu  Land  eignen  sich  diese 
allgemeinen    Heiratsziffern    weniger,    dazu 


I 


Heiratsstatistik 


1185 


mussman  sich  der  besonderenHeirats- 
ziffer,  welche   das  Verhältnis  der  Heira- 


tenden zur  heiratsfähigen  Bevölkerung 
angiebt,  bedienen. 


a3 

a)  Eheschliessungen,  b]  Eheschliessende  auf  1000  der  mittleren  Bevölkerung  des  betr.  Jahres 

'S 

Deutsches 

Oesterreich 

Ungarn 

Schweiz 

Italien 

Frankreich 

Gross- 

A 

Reich 

britannien 

a 

b 

a         b 

a      '   b 

a       b 

a      > 

a 

b 

a 

b 

1871 

336  745 

16,4    194  591 

18,8 

159507 

20,4 

19514  14,6 

192839114,9 

262  476 

14,4 

214  131 

16,4 

1872 

423900 

20,6 

193  836 

18,6 

166634 

21,4 

21  212  i5,8i  202361 

15,1 

352  754 

19,5 

226  908 

17,1 

1873 

416049 

20,0 

186  209 

17,8 

172479 

22,4 

20649 

15,3  214906 

15,9 

321238 

17,7 

232  363 

17,3 

1874 

400282 

19,1 

189440 

18,0 

162  807 

21,4 

22655 

16,7  207  997 

15,3      303113 

16,6 

228400 

16,7 

1875 

386  746 

18,2 

181  023 

17,1 

169094 

22,2 

24629 

i8,o  230486 

16,9      300427 

l6,4 

227  186 

16,5 

1876 

366  930 

17,0 

176  674 

16,5 

154305 

20,1 

22376 

16,2  225  453 

16,4      291393     15,8 

228  453 

16,4 

1877 

347  792 

16,0 

161  712 

15,0 

143379 

18,5 

21871  15,7 

214972 

15,5      278094     15,0 

220  169 

15,6 

1878 

340016 

15,4 

164588,15,2 

147017 

18,9 

20590  14,7 

199885     14,31279580 

15,0 

214  412 

15,0 

1879 

335  113 

15,0 

169532  15,5 

162  186 

20,8 

19450  13,8 

213096 

15,2 

282  776 

15,2 

205  601 

14,2 

1880 

337  342 

15,0 

167  618  JI5,2 

1 

144  126 

18,3 

19413  13,7  196738 

14,0 

279  046 

14,9 

216470 

H,7 

1881 

338  909 

14,9 

1 
177323116,0 

157  838 

20,0 

19425   I3,6j230i43 

16,2 

282079  15,0 

223  294 

15,0 

1882 

350457 

15,3 

183  735 

16,4 

163  944 

20,6 

19414  13,6  224041    15,7 

281  060 

14,9 

231  001 

15,3 

1883 

352  999 

15,3 

176349 

15,6 

167  656 

20,9 

19696113,7  231945   16,1 

284519 

15,1 

23325315,2 

1884 

362  596 

15,7    179568 

15,8 

167  528 

20,7 

19898  13,8  239513116,5 

289  555 

15,3 

230407114,9 

1885 

368619 

15,8   175542 

15,3 

165  299 

20,2 

20105   13,9  233931   15,9 

283  170 

14,9 

223001114,2 

1886 

372  326 

15,8!  180523 

15,6 

160793 

19,4 

20080  13,8  233310 

15,7 

283  193 

14,9 

220  540;  13,9 

1887 

370  659 

15,5 

182  427 

15,7 

151624 

18,0 

20646  ;i4,2  235629 

15,9 

277060 

14,5 

225369,14,0 

1888 

376  654 

15,6 

186273115,9 

158975 

18,7 

20706:14,11236883  15,9 

276848  14,5 

229  126,14,0 

1889 

389339  16,0 

178130,15,1 

140  524 

16,3 

20691  14.11  230451  15,4 

272  934 

14,3 

240  183  14,6 

1890 

395356  16,1 

179223115,0 

142  588 

16,4 

20836  14,1 1  221  972 

14,8 

269  332 

M,i 

250  129  14,9 

1891 

i 

399398  16,1 

186758115,5 

1 50  720 

17,2 

21  264  14,4  227  656 

15,0 

285  458 

14,8 

25449515,4 

1892 

398775  15,9 

187985  15,5 

162  649 

18,3 

21  884  14,7  228572 

15,0 

290319 

15,2 

255805 

15,2 

1893 

401  234  15,8 

193558115,8 

166483 

18,6 

21  884  14,6  228  103 

14,8 

287  294 

15,0 

245  834 

14,6 

1894 

408066 

15,9    194476,15,8 

i66  033 

18.4 

22  188  14,8  231  581 

15,0 

286  662 

15,0 

254010 

14,8 

1895 

414218 

15,9    199  761  ,16,1 

153900 

17,0 

22682  ji5,o  228  152 

14,7 

282915  14,8 

256  245 

14,7 

1896 

432  107 

16,4  i  198  461;  15,8 

147  477 

16,0 

23784  15,5  222603 

H,3 

290171   15,1 

272  701 

15,6 

1897 

447770 

16,7   202936,16,0 

151  176 

16,3 

24954  16,  il  229041 

14,6 

291  462  15,2 

279809 

15,8 

1898 

458  877 

16,9 

• 

• 

1 56  208 

16,5 

25507 

16,4 

• 

• 

287  179 

15,0 

286915 

16,0 

03 

a]  Eheschliessungen,  b)  Eheschliessende  auf  1000  der  mittleren  Bevölkerung  des  betr.  Ja 

hres 
nd 

>-5 

Irland 

Belgien 

Niederlande 

Dänemark 

Schweden 

Norwegen 

Finla 

a 

b 

a 

b 

a 

b 

a 

b 

a 

b 

a        b 

a        b 

1871    28960 

io,7  ,  37  538 

14,9 

28991 

16,0 

13207 

14,6 

27187 

13,0 

II  610 

13,3 

17318 

19,4 

1872 

26943 

10,0   40084 

15,9 

30  189 

16,5 

13627 

15,0 

29470 

13,9 

12302 

14,0 

15796 

17,4 

1873 

25730 

9,7   40598 

15,9 

31671 

17,2 

14903 

16,2 

31257 

14,6 

12822 

14,5 

15634 

16,9 

1874 

24481 

9,2  '  40  328 

15«6 

31353 

16,8 

15260 

16,5 

31  422 

14,5 

13713 

15,4 

16852 

18,0 

1875 

24037 

9,1 

39050 

14,9 

31553 

16,7 

15915 

17,0 

30762 

14,1 

14177 

»5,7 

15940 

16,8 

1876 

26388 

10,0 

38228 

14,4 

31699 

16,6 

16  180 

17,1 

31  184 

14,2 

14049 

15,4 

15807 

16,4 

1877 

24722 

9,4 

36964 

13,8 

31470 

16,2 

15428 

16,1 

30674 

13,8 

14022 

15,2 

16  116 

16,5 

1878 

25284 

9,6 

36669 

13,6 

30710 

15,6 

14295 

14,8 

29x51 

12,9 

13681 

14,6 

15  261 

15,4 

1879 

23254 

8.8 

37421 

13,7 

30655 

15,4 

14287 

14,6 

28635 

12,6 

12850 

13,5 

14993 

14,9 

1880 

20363 

7,8 

38926 

14,2 

30349 

15,0 

14959 

»5,1 

28919 

12,6 

12  751 

13,3 

15846 

15,5 

1881 

21826 

8,5 

39487 

14,3 

29849 

14,6 

15529 

15,6 

28301 

12,4 

12316 

12,7 

14283 

13,8 

1882 

22029 

8,6 

39214 

14,0 

29571 

14,3 

15496 

15,4 

28967 

12,7 

12874 

13,4 

15928 

15,2 

1883 

21368 

8,5 

38666 

13,7 

29815 

14,2 

15  642 

»5,3 

29449 

12,8 

12  710 

13,2 

16  546 

15,6 

1884 

22585 

9,1 

39205 

13,8 

30528 

14,4 

15970 

15,5 

30200 

13,1 

13247 

13,7 

16585 

15,4 

1885 

21  177 

8,6 

39910 

13,9 

29894 

13,9 

15645 

15,1 

30911 

13,3 

13024 

13,4 

15978 

14,6 

1886 

20  594 

y 

39642 

13,7 

30298 

13,9 

14834 

14,2 

30133 

12,8 

12  819 

13,1 

16248 

14,7 

1887 

20945 

8,7 

42491 

14,6 

30924 

14,0 

14726 

13,9   29517 

12,5 

12  491 

12,7 

17179 

15,0 

1888 

20060 

8,4 

42427 

14,4 

30862 

13,8 

1  15091 

14,2    28075 

11,8 

12154 

12,3 

16748 

14,4 

1889 

21  521 

y 

43  759 

14,8 

31494 

14,0 

15233 

.     '  28  478 

12,0 

12  416 

12,4 

16099 

• 

1890 

20990 

8,9 

44596 

14,6 

32304 

14,0 

14975 

■ 

28611 

1 

12,0 

12  922 

12,7 

16885 

• 

Hand  Wörterbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


75 


1186 


Heiratsstatistik 


a)  Ehescbliessungen,  b)  Eheschlieesende  auf  1000  der  mittleren  Bevölkerung  des  betr.  Jahres 


Jahre 

Irland 

Belgien 

Niederlande 

Dänemark 

Schweden 

Norwegen 

Finland 

l 

a 

b 

a 

b 

a  1  b 

a 

b 

a 

b 

a    b 

a    b 

1891 

21475 

9,2 

45  449 

14,8 

32707 

14,2  14941 

27940 

11,7 

13179 

13,1 

1 
16572  . 

1892 

21  530 

9,3 

47209 

15,4 

33330 

14,3  1  15039 

27338 

11,4 

12  742 

12,8 

14825 

1893 

21  714 

9,4 

47065 

15,2 

34311 

14,5  15739 

27219 

11,3 

12974 

12,7 

14095 

1894 

21  6q2 

9,4 

47  735 

15,2 

34470 

14,41  15687 

27851 

11,5 

12966 

12,8 

16  113 

1895 

23  120 

10,0 

49712 

15,6 

35598 

14,81  16147 

28728 

11,7 

13339 

13,0 

18256,  . 

1896 

23955 

10,1 

52585 

16,2 

36490 

15,0  16823 

29376 

11,9 

13962 

13,3 

19  i89|  . 

1897 

22891 

10,1 

54198 

16,6 

36796 

14,7  17464 

30221 

12,1 

14220 

13,4 

• 

1898 

22580 

10,0 

• 

• 

36813 

14,6 

17872 

• 

» 

• 

• 

*     1  * 

Dass  die  absolute  Zahl  der  Eheschlies- 
sungen steigt,  erklärt  sich  ohne  weiteres 
aus  dem  Anwachsen  der  Bevölkerung. 
Relativ,  d.  h.  in  Beziehung  auf  die  Gesamt- 
bevölkerung, sind  die  Ehescliliessungen  in 
Zeiten  wirtschaftlichen  Aufschwungs  häufiger 
als  bei  ungünstigen  Konjunkturen.  So  zeigen 
die  allgemeinen  Heiratsziffem  im  Deutschen 
Reich  einen  ganz  ausserordentlichen  Hoch- 
stand wälu^nd  der  Milliardenäi-a  zu  Beginn 
der  1870  er  Jahre,  bei  dem  darauffolgenden 
wirtschaftlichen  Rückschlag  sinken  sie  rasch 
bis  zum  Jahre  1882,  wo  sie  wieder  eine 
steigende  Tendenz  bekunden ;  auch  die  wirt- 
schaftliche Depression    zu  Beginn  der  90  er 

Prov.  Ostpreussen 7,3 

„      Westpreussen 7,8 

Stadt  Berlin 10,8 

Prov.  Brandenburg 8,3 

„      Pommern 7,8 

„      Posen 7,7 

„      Schlesien 8,2 

„      Sachsen 8,3 

„      Schleswig-Holstein 8,4 

„      Hannover 8,i 

„      Westfalen 8,3 

„      Hessen-Nassau 8,2 

„      Eheinland 7,9 

Hohenzollem 6,2 

Königreich  Preussen    ...  8,2 

Bayern  r.  d.  Rh 7,4 

Bayern  1.  d.  Rh.  (Pfalz) 8,1 

Königreich  Bayern  ....  7,5 

Sachsen 9,1 

Württemberg 7,1 

Baden 7,6 

Hessen 8,2 


Jahi^,  ebenso  der  neueste  wirtschaftüche 
Aufschwung  fallen  mit  entsprechenden  Aen- 
derungen  der  Heiratsziffern  zusammen. 

Im  grossen  Ganzen  gehen  die  Aende- 
Hingen  der  Heiratsziffern  in  den  einzelnen 
Jahren  nicht  über  das  Mass  gewöhnlicher 
Schwankungen  hinaus  und  lässt  sich  auch 
bei  Ländern  wie  Oesterreich-Üngarn,  Frank- 
reich, Niederlande,  Grossbritannien  von  einer 
fortsclireitenden  Abnahme  der  Eheschlies- 
sungen nicht  sprechen. 

Hinsichtlich  der  Heiratshäufigkeit,  inner- 
halb des  Deutschen  Reichs  wurde  für  den 
Durchschnitt  der  Jahre  1889/98  als  allge- 
meine Heiratsziffer  festgestellt: 

Mecklenburg-Schwerin 7,9 

Sachsen-Weimar 8,0 

Mecklenburg-Strelitz 7,5 

Oldenburg 8,0 

Braunschwei^ 8,5 

Sachsen-Meiningen 8,2 

Sachsen-Altenburg 8,9 

Sachsen-Coburg-Gotha 8,3 

Anhalt 8,4 

Schwarzburg-Sondershausen 7,7 

Schwarzburg-Rudolstadt 8,0 

Waldeck 6,6 

Reuss  älterer  Linie 8,3 

Reuss  jüngerer  Linie 9,0 

Schaumburg-Lippe 7,9 

Lippe 8,1 

Lübeck 7,9 

Bremen   .    .    ' 8,9 

Hamburg 9.3 

Elsas8-lx)thringen 7,0 

Deutsches  Reich     ...  8.1 


Im  allgemeinen  erweist  sich  demnach 
die  Heiratshäufigkeit  im  mittleren  und  nörd- 
lichen Deutschland  grösser  als  in  Süd- 
deutschland. Besonders  auffallend  ist  die 
hohe  Heiratsziffer  Berlins  (10,8),  auch  unter 
den  kleineren  Verwaltungsbezirken  fast  die 
höchste  im  ganzen  Deutschen  Reiche.  Im 
Durchschnitt  der  Jahre  1894;  96  hatten  nur 


zwei  Verwaltungsbezirke,  das  Bezirksamt 
Nürnberg  (16,3)  und  das  Amt  Delmenhorst 
in  Oldenburg  (10,8)  eine  höhere  Heirats- 
ziffer. Demgegenüber  sinkt  dieselbe  in 
manchen  Bezirken  bis  auf  5  pro  Mille  herab. 
Als  Gebiete  mit  der  höchsten  und  der  ge- 
ringsten Relativzahl  der  Heiraten  sind  näm- 
lich folgende  hervorzuheben: 


Hoiratsstatistik 


1187 


Gebiete  mit  grosser  Heiratshäufigkeit. 

Eheschliesäimgen 
Namen  der  Verwaltungs-       auf  luoo  der  Be- 

hA^irlfP  volkerunK  im 

oezirKC  Durchschnitt 

lHtM,»6 

Bez.-Amt  Nürnberg ,  Reg.-Bez. 
Mittelfiranken 16,34 

Amt  Delmenhorst,  Herzogt.  Olden- 
burg      10,79 

Stadt  Berlin 10,47 

Kr.  Süderdithmarschen,  R^g.-Bez. 
Schleswig io,43 

Bez.-Amt  Ludwigshafen,  Reg.-Bez. 
Pfalz 10,35 

Amts-Bez.  Mannheim,Landesk.-Bez. 
Mannheim 10,22 

Stkr.  Frankfurt  a.  M.,  Reg.-Bez. 
Wiesbaden 10,21 

Stkr.  Altona,  Reg.-Bez.  Schleswig     10,21 

Lkr.  Frankfurt  a.  M.,  Reg.-Bez. 
"Wiesbaden 10,19 

Kr.  Offenbach,  Prov.  Starkenburg     10,19 

Kr.   Höchst,  Reg.-Bez.  Wiesbaden     io,i6 

Amts-Bez.  Heidelberg,  Landesk.- 
Bez.  Mannheim 10,16 

Unm  St.  München,  Reg.-Bez.  Ober- 
bayem 10,15 

Bez.-Amt  München  I,  Reg.-Bez. 
Oberbayem 10,03 

Stkr.  u.  Lkr.  Harburg,  Reg.-Bez. 
Lüneburg 9,97 

Stkr.  u.  Lkr.  Gelsenkirchen,  Reg.- 
Bez.  Arnsberg 9,96 

Stadt  Dresden,  Krshptm.  Dresden       9,95 

Kr.  Blumenthal,  Reg.-Bez.  Stade       9,78 

Amtshauptmannschaft  Chemnitz, 
Kreishauptmannschaft    Zwickau       9,60 

Stkr.  Dortmund,  Reg.-Bez.  Arnsberg       9,59 

Kr.  Ziegenrück.  Reg.-Bez.  Erfurt       9,56 

Unm.  St.  u.  Bez.-Amt  Fürth,  Reg.- 
Bez.  Mittelfranken 9,52 

Stkr.  u.  Lkr.  Linden,  Reg.-Bez. 
Hannover 9,50 

Stkr.  Düsseldorf,  Reg.-Bez.  Düsseid.       9,49 

Landr.-Amtsbez.  Gera,  Reuss  j.  L.       9,47 

Die  Bezirke  mit  grosser  Heiratshäufigkeit  1 
zeichnen  sich  vielfach  durch  industrielle  Be- ' 
völkerung   sowie   durch    Mehning  der  Be- ' 
völkerung  infolge  Zuwanderung  aus,  so  z.  B. ' 
die  Bezirke  Berlin,  Hamburg,  Bremen,  Dussel- ! 
dorf,  Wiesbatlen,  Ai^nsberg,  München,  Nürn- ' 
berg,  Dresden,  Chemnitz,  Reuss  j.  L.     Um- 1 
gekehrt    haben    die    Gebiete    mit    geringer  | 
Heiratshäufigkeit   fast   durchweg   landwirt- 
scliafüiches   Gepräge   und   gehören   gleich- 
zeitig zu  denen,  die  einen  Kückgang   ihrer 
Bevölkerung  durch  Abwanderung   erfahren 
haben ;  dies  gilt  beispielsweise  filr  die  baye- 
rischen Regierungsl^ezirke  Oberbayern  (mit 
Ausnahme  der  Stadt  Mönchen  und  des  Be- 
zirksamts München  I),  Niederbayern,  Ober- 
pfalz, TJuterfrankeD,  Schwaben,  für  den  würt- 
tembergischen  Jagst-   und  Donauki*eis,   die 
badischen  Landeskommissariatsbezirke  Kon- 
stanz und  Freibui^,  ferner  für  Hohenzollern, 
Unterelsass  und  Lothringen. 

Ausser  den  vorerwähnten  wirtschaftlichen 


Gebiete  mit  geringer  Helratshäufip^keit. 

£heschhessun&;en 

Namen  der  Verwaltungs-       auf  1000  der  Bc- 

hp^irkp  völkerung  im 

^^^^^*^^  Durchschnitt 

Unm.   St.   u.   Bez.-Amt  Xeu-Ulm, 

Reg.-Bez.  Schwaben  .....  5,90 

Bez.-Amt     Griesbach,     Reg.-Bez. 

Niederbayem 5,89 

Bez.-Amt   Hilpoltstein,    Reg.-Bez. 

Mittelfranken 5,89 

Kr.  Euskirchen,  Reg.-Bez.  Köln    .  5,88 

Kr.  Rheinbach,  Reg.-Bez.  Köln     .  5,88 

Amts-Bez. Waldshut,  Laudesk.-Bez. 

Konstanz 5,88 

Bez.-Amt  AltÖtting,  Reg.-Bez.  Ober- 
bayem        5,86 

Bez.-Amt    Krumbach ,     Reg.-Bez. 

Schwaben 5,85 

Kr.  Montjoie,  Reg.-Bez.  Aachen    .  5,84 

Kr.  Heilsberg,  Reg.-Bez.  Königsberg  5,83 

Kr.  Dann,  Reg.-Bez.  Trier    .    .    .  5,83 

Kr.  Heiligenstadt,  Reg.-Bez.  Erfurt  $,77 

Kr.  Saar  bürg,  Reg.-Bez.  Trier  .  5,77 

Kr.  Malmedy,  Reg.-Bez.  Aachen   .  5,77 

Bez.-Amt  Mellrichstadt,  Reg.-Bez. 

Ünterf  ranken 5,74 

Bez.-Amt  Erding,  Reg.-Bez.  Ober- 
bayern        5,70 

Oberamt  Künzelsau,  Jagstkreis     .  5,70 

Amts-Bez.  Buchen,   Landesk.-Bez. 

Mannheim 5,69 

Bez.-Amt    Wertingen ,    Reg.-Bez. 

Schwaben 5,66 

Kr.  Heinsberg,  Reg.-Bez.  Aachen .  5,50 

Kr.  Hünfeld,  Reg.-Bez.  Cassel  .    .  5,40 

Amts-Bezirk    Tauberbischofsheim, 

Landesk.-Bez.  Mannheim  .    .    .  5,39 

Bez.-Amt    Mindelheim,    Reg.-Bez. 

Schwaben 5,38 

Amts-Bez.  Bonndorf,  Landesk.-Bez. 

Konstanz 5,18 

Kr.  Schieiden,  Reg.-Bez.  Aachen  .  5,11 


und  sozialen  Momenten  wird  die  Heiratsr 
häufigkeit  noch  von  einer  Reihe  anderer 
Umstände  beeinflusst.  Dahin  gehören  die 
günstigeren  oder  ungünstigeren  Lebens-  und 
EnÄ'erbsverhältnisse  in  den  verschiedenen 
Gegenden ,  Stammesgewohnheiten,  Volks- 
sitten, insbesondere  cüe  Sitte,  im  jüngeren 
oder  späteren  Alter  zu  heiraten,  die  Art  der 
bäuerlichen  Erbrechtsfolge.  All  diese  und 
ähnliche  Faktoren  wirken  mitbestimmend 
ein  auf  Neigung  und  Befähigung  zur  Be- 
gründung eines  eigenen  Hausstandes  und 
erklären  so  die  Verschiedenheit  der  Heirats- 
häufigkeit in  den  einzelnen  Teüen  des  Reichs. 
Um  die  einzelnen  Länder  bezüglich  der 
Heiratshäufigkeit  gegenseitig  zu  vergleichen, 
folgt  nun  eine  Zusammenstellung,  bei  welcher 
die  den  Wert  der  vorausgehenden  Zahlen 
beeinträchtigende  Verschiedenheit  in  der 
Alters-  und  Familienstandesgliederung  der 
Bevölkerung  der  einzelnen  Länder  beseitigt 
ist  und  die  Eheschliessenden  in  Beziehung 

75» 


1188 


Heiratsstatistik 


Ersetzt  sind  zu  den  Personen,  welche  das  15. 
ebensji^r  vollendet  haben  und  nicht  ver- 
heiratet sind,  sohin  als  heiratsfähig  betrachtet 
werden  können.  Von  1000  über  15  Jahre  alten 
nicht  Verheirateten  schlössen  eine  Ehe: 


Staat 


Per- 
Jahre     nern  m^,^_ 


Deutschland  .    . 

1872/80 

59,3 

52,6 

55,7 

Oe8terreich    .    . 

1871/80 

57,o 

50,4 

53,5 

Ungarn      .    .    . 

1876,80 

83,3 

79,7 

81,4 

Schweiz     .    .    . 

187180 

45,1 

40,4 

42,6 

Italien  .    .    .    , 

.  1872/80 

48,6 

48,6 

48,6 

Frankreich     .    . 

.  1872  80 

51.7 

49,2 

50,4 

Grossbritannien 

.  1871/80 

58,2 

48,8 

53,1 

Irland   .    .    . 

n 

27,7 

24,0 

25,8 

Belgien      .    . 
Niederlande   . 

n 

41,7 

41,3 

41,5 

n 

52,6 

48,2 

50,3 

Dänemark 

n 

52,6 

46,6 

49,4 

Schweden  .    . 

n 

44,7 

36,7 

40.3 

Norweffen  .    . 
Finland     .    . 

T) 

47,1 

39,9 

43,2 

n 

57,0 

48,9 

52,7 

Die  auffälligsten  Verhältnisse  zeigen  wie 
in  der  froheren  Uebersicht  Ungarn  mit  der 
höchsten  Heiratsziffer  (81,4)  und  Irland,  wo 
diese  bis  auf  25,8  zurückgeht.  Etwa  50 
pro  Mille  sind  als  das  mittlere  Verhältnis 
anzusehen.  Die  niedrige  Ziffer  Irlands  steht 
in  engem  Zusammenhang  mit  der  prekären 
Lage  des  irischen  Volkes  überhaupt  und  ist 
zum  grossen  Teil  auf  die  massenhafte  Ab- 
wanderung der  kräftigsten  und  heiratsfähig- 
sten Elemente  des  Volkes  zurückzu- 
führen. 

Nur  mit  Vorsicht  ist  aus  der  verschie- 
denen Höhe  der  Heiratsziffer  auf  Unter- 
schiede in  der  ökonomischen  Lage  der  be- 
treffenden Länder  zu  schliessen ;  Berührungs- 
prnikte  zur  Wirtschaftslage,  wie  sie  beim 
zeitlichen  Vergleiche  hervortreten,  zeigen 
sich  hier  weniger.  Während  im  grossen 
und  ganzen  (d.  h.  abgesehen  von  besonderen 
Umständen,  die,  wie  Kriegs-,  Epidemie- 
zeiten etc.,  ebenfalls  von  Einfluss  sind)  das 
Ansteigen  der  Heiratsfrequenz  in  einem 
Lande  als  die  Folge  einer  Bessening  der 
wirtschaftlichen  Verhältnisse,  das  Absteigen 
als  die  Folge  einer  Verschlechterung  der- 
selben zu  betrachten  ist,  kann  die  Höhe  der 
Ziffer  des  einen  Landes  gegenüber  der 
des  anderen  keineswegs  als  ein  Zeichen 
der  günstigeren  oder  imgünstigeren  ökono- 
mischen Lage  der  Bevölkerungen  gelten. 
Treffend  hebt  Bemoulli  (Handbuch  der  Po- 
pulationistik  1841)  die  Verschiedenheit  der 
Ursachen  einer  grossen  Heiratsfreq^uenz  her- 
vor, die  »erfreuliche  wie  unerfreuliche«  sein 
können:  ;«>Man  heiratet  jünger  und  häufigei, 
wo  der  Er^^erb  leichter  und  sicherer  ist, 
wo  die  Bedürfnisse  geringer  und  wohlfeiler, 
wo  die  Sitten   einfacher   sind,  —  wo   also 


weniger  Luxus  herrscht,  —  wo  man  sich 
mehr  vor  Erzeugung  unehelicher  Kinder 
scheut,  und  ebenso  aber  wo  man  sorgloser 
und  um  die  Zukunft  unbekümmerter  lebt 
wo  das  Volk  keinerlei  höhere  Bedürfnisse 
kennt«.  Wo  das  eine,  wo  das  andere  zu- 
trifft, ist  natürlich  nicht  immer  ohne  weiteres 
zu  erkennen;  um  sichere  Schlüsse  aus  den 
Zahlen  zu  ziehen,  wären  vielmehr  ein- 
gehendere Untersuchimgen  nötig. 

Was  die  Heiratshäufigkeit  nach  Jahres- 
zeiten anlangt,  so  werden  die  meisten 
Ehen  in  den  Monaten  Oktober  und  November 
geschlossen,  was  wohl  hauptsäclilich  daher 
rührt,  dass  in  dem  grössten  Teil  des  Deut- 
schen Reiches  in  einen  dieser  Monate  einer 
der  halbjährlichen  Termine  für  den  Woh- 
nungs-  und  Dienstboten  Wechsel  fällt ;  ebenso 
erklären  sich  die  hohen  Heiratsziffem  im 
April  und  Mai.  Religiöse  Erwägungen 
ftmi-en  endlich  (besonders  in  katholischen 
Gegenden)  zu  einer  grossen  Zahl  von  Hei- 
raten im  Februar  und  zu  dem  Minimum 
der  Heiratshäufigkeit  im  März  imd  Dezember, 
zur  Fasten-  und  Adventszeit.  Allgemein 
sind  auch  im  Sommer  die  Heiraten  seltener 
als  im  Winter.  Die  Eheschliessungen  des 
Jahi'es  1898  verteilten  sich  wie  folgt  auf 
die  verschiedenen  Monate: 


Eheschliessungen 


.c  «  e  c  c:  « 

o  *;  4»  «;  s  tl 


d  B-o  o  gl 

C 

£i  OB 


Januar 

Februar 

März 

April 

Mai  . 

Juni. 

Juli  . 

August 

September 

Oktober 

November 

Dezember 


absolut 

34  359 
40776 

22817 

45659 
54482 
30013 

33  399 
26588 

32143 
55685 
52787 
30169 


/O 

7,5 
8,9 
5,0 

9,9 
11,9 
6,5 
7,3 
5,8 
7,0 

12,1 

11,5 
6,6 


^  B  S 

O  g  a 


Isi^--^ 


88 

116 

58 

121 
140 

79 

85 
68 

85 

143 
140 

77 


Zusammen    45  8  8  7  7        1 00 


1200 


Die  Erschwerung  der  Eheschliessungen 
infolge  kirchlicher  Einschränkungen  tritt,  wie 
nachstehende  Zalüen  besagen,  vorzüglich  in 
katholischen  Bezirken  hervor,  b^nders 
deutlich  vor  Einführung  der  bürgerlichen 
Eheschliessung  (1874  bezw.  1876). 

Wenn  durchschnittlich  an  jedem  Tage 
im  Jahre  100  Ehen  geschlossen  werden,  so 
kommen  durchschnitüich  auf  jeden  Tag  das 
betreffenden  Monats  im  Durchschnitt  der 
Jahre: 


Heiratsstatistik 


1189 


1872:80 

in  rein  pro- 
187275    t««^»»»^*- 


Januar 

Februar 

März 

April 

Mai . 

Juni 

Juli 

August 

September 

Oktober    , 

November 

Dezember 


102 

ii6 
45 

125 
124 

91 
84 

69 
105 
121 

155 
68 


Bellen  Be 
zirken 

79 

93 

69 

136 

119 
90 

83 

63 

91 

136 

148 

95 


in  rein 
katholi- 
schen Be- 
zirken 


JunggeseUen  und 


den  ist  von  erheblichem  Einfluss  auf  deren 
Verheiratbarkeit.  Das  Normale  ist,  dass 
Junggesellen  mit  ledigen,  vorher  nicht  ver- 
heiratet gewesenen  Mädchen  die  Ehe  ein- 
gehen, diese  sogenannten  Erstheiraten 
bilden  den  Hauptbestand  der  Eheschlies- 
suiigen.  Nur  bei  15%  aller  Eheschlies- 
sungen sind  verwitwete  oder  geschiedene 
Personen  beteiligt;  hierbei  ist  die  häufigste 
Kombination  die  Ehe  zwischen  Witwern  und 
Jungfrauen.  Zwei-  oder  mehrfache  Heiraten 
sind  bei  Männern  häufiger  als  bei  Frauen, 
nämlich  bei  etwa  Ib^lo  des  männlichen 
gegenüber  10  ^/o  des  weiblichen  Geschlechts. 
In  welcher  Weise  die  einzelnen  Kombi- 
nationen vorkommen,  verdeutlicht  für  die 
Hauptstaaten  des  Deutschen  Reichs  nach- 
stehende Uebersicht: 

Es  fanden  1898  Ehe8chliessuiigen  statt  zwischen: 

Bayern  Sachsen 

41  254  31  450 


III 

151 

35 

98 

129 

105 

98 

75 
100 

124 

148 

34 


über- 
haupt 

97 
118 

55 
116 

123 

92 

84 
68 

95 
127 

155 
73 


3.    Bisheriger    Familienstand.      Der 

Familienstand   der  Eheschliessen- 


in  Preussen 

[Jungfrauen 242097 

l  Witwen   und    geschiedeneu 

i     Frauen 10 118 

20089 


Witwern  und  ge-  j  Jungfrauen 

schiedenen  Männern!  Witwen   und   geschiedenen 

und  l     Frauen 8090 

Demnach  verheirateten  sich  von  je  100 


Junggesellen  mit 


96,0 


1937 
4194 

1079 
95,5 


I  173 
2774 

I  604 
96,4 


Jungfrauen 

Witwen   und    geschiedenen 

[     Frauen 

Witwern  und  ge-  |  Jungfrauen 

schiedenen  Männem|  Witwen   und    geschiedenen 

mit  (     Frauen 

I  Junggesellen 

Jungfrauen  mit    !  Witwern  und  geschiedeneu 

(     Männern 

Witwen  und  ge-    f  Junggesellen 

schiedenen  Frauen  l  Witwern  und  geschiedenen 
mit  l     Männern 

Jungfrauen  verheiraten  sich  also  weit 
häufiger  als  Jilnglinge  mit  bereits  verwit- 
weten oder  geschiedenen  Personen.  Ande- 
rerseits verheiraten  sich  Witwen  viel  seltener 
mit  Junggesellen  als  Witwer  mit  Jungfrauen. 

Von  100  Eheschliessungen  waren  solche  zwischen 
Junggesellen  und  Witwern  und  Geschiedenen 

gesch.      Jung-    ^-■•' Männern  und 

Frauen   frauen 


4,0 

71,3 

28,7 
92,3 

7,7 
55,6 

44,4 


4,5 
79,5 

20,5 
90,8 

9,2 
64,2 

35,8 


3,6 
63,4 

36,6 
91,9 

8,1 
42,2 

57,8 


Ein  Vergleich  dieser  Verhältnisse  mit 
ausserdeutschen  Ländern  wiixi  durch  die 
folgende  uebersicht  ermöglicht. 


im  Durch- 
schnitt der    Jimg-    Wit- 


Preussen  .  . 
Bayern  .  .  . 
Sachsen  .  . 
Württemberg 
Oesterreich  . 
Ungarn  .  . 
Schweiz  .  . 
Frankreich  . 
Belgien  .  . 
Niederlande  . 
Italien  .  .  . 
Dänemark .  . 
Schweden  .  . 
Norwegen  .  . 
England  n.  Wales 
Schottland 
Irland  .  .  . 
Europ.  Russland 


Jahre 
1887;91 


frauen     wen 


Wit- 
wen 


firesch. 

FrftnPTi    -^""K-  Wit- 
frauen  franen  wen 


83,28 

81, n 

82,45 

1885  89      79,99 

1887  91      77,40 

75,34 
1885  89      80,36 

188690      8«;,76 

188ÖU1890   86,00 


1887/91 

I880  89 
1887  91 

1886  30 

1887  91 


84,00 

84,69 

85,41 
87,12 

85,11 

84,55 
86,12 

86,31 
80,14 


4,00 
4,68 
2,90 
4,08 

5,17 
3,88 

3,71 
3,55 
4,44 
3,29 
3,16 
3,12 
2,43 
2,95 

3JO 
2,70 

2,83 
3,28 


0,49 

0,15 
0,84 

0,30 

• 

0,36 
1,01 
0,19 

0,13 
0,23 

• 

0,46 
0,12 
0,03 
0,03 


1882,86 

Die  mutmasslichen  Ursachen  dieser  inter- 
nationalen Verschiedenheiten  sind  teils  na- 
türlicher, mit  der  Gestaltung  der  Sterb- 


8,23 
11,02 

7,74 
12,32 
12,18 

10,31 
9,39 
6,70 
6,16 

7,93 
8,56 

8,09 
8,42 
9,72 
7,18 
8,22 
8,61 

9,05 


3,05 
2,68 

3,91 
2.70 

5,25 

9,25 

3,01 

3,31 

2,97 

3,91 

3,59 
2,00 

1,80 

2,1^ 

4,49 
2,96 

2,25 

7,53 


0,22 
0,06 
o;64 

0,17 

• 

0,21 
0,61 

0,08 
0,04 
0,14 

• 

0,19 
0,05 

0,02 

O.Ol 


0,49 
0,22 

0.96 
0,33 

0,45 
1,29 

0,26 

0,19 

0,33 

0,58 
0,05 
0.04 

0,03 


0,17 
0,06 

0,38 
0,09 

0,18 

0,38 
0,10 
0,06 
0,14 


o,u 
0,01 
0,01 


geseh. 
Frauen 

0,07 
0,02 
0,18 
0,02 

• 

0,02 
0,24 
0,05 
0,01 
0,03 

• 

0,04 


0,01      — 


lichkeit  zusammenhängender,  teils  sozialer 
Art,  wobei  die  Sitte  des  Früh-  oder  Spät- 
heiratens   und   die  Möglichkeit,   eine    wirt- 


1190 


Heiratsstatistik 


schaftliche  Selbständigkeit  sich  zu  begrün- 
den, ins  Gewicht  fällt.  Wie  innerhalb  der 
verschiedenen  Familienstandsgruppen  die 
Heiratshäufigkeit  beschaffen,  macht  nach- 
stehende Zusammenstellung  ersichtlich. 

Es  heirateten  von  1000  über  15  Jahre  alten 


m 


Deutschland  ^) 
Oesterreich 
Ungarn 
Schweiz     . 
Italien  .    . 
Frankreich 
Belgien 
Niederlande 
Dänemark 
Schweden  . 
Norwegen . 
Finland     . 
Grossbritannien 
Irland    .    .    . 


Jahr 


0 

I—« 

'S 

0 

0 


187680  52,7 
1871,80  51,6 
1876;80  74,9 

1871  80  41,9 

1872  80  48,8 
1872  80  55,2 
1871  80  42,2 

«       50,8 

r  52,7 

»  44,7 

„  47,2 

n  55,3 

«  57,4 

«  27,5 


a  ^ 

•^    03 
«TS 

64,8 
106,4 

138,3 
54,4 
47,3 
34,7 
38,1 
65,4 

52,5 
44,6 

46,3 
69,8 

63,8 

29,9 


0 

0 
GS 

bD 

a 

0 

59,6 

58,7 
112,7 

46,6 

63,5 
67,3 
47,8 
56,6 

57,4 
44,9 
47,9 

59,5 
58,1 
30,1 


'0    0 

0  2 
^§ 

0  <£> 

^O 

15,5 
24,2 

32,1 
15,2 
12,0 

12,3 
16,9 

19,6 

13,6 

9,2 

10,5 
17,7 
19,4 

5,7 


^)  Mit  Ausnahme  von  Mecklenburg-Strelitz, 
Sachsen-Meiningen ,  S.-Coburg-Gotha ,  Waldeck, 
beide  Lippe,  Hamburg. 


Die  höchste  Heiratsziffer  weisen  danach 
überall  die  verwitweten  und  geschiedenen 
Männer  auf,  denen  die  bisherige  Lebensweise 
und  häufig  wirtschaftliche  Yerliältnisse  eine 
Wiederverheiratung  besonders  nahelegen.  • 

4.  Alter.  Das  durchschnittliche  Heirats- 
alter aller  in  die  Ehe  getretenen  männlichen 
und  weiblichen  Personen  liat  in  Preussen 
ziu-  Zeit  der  Eheschliessung  betragen: 

bei  allen  bei  allen 

männlichen  weiblichen 
Personen 

29,6 

29,6 

29,5 
29,6 

29,3 
29,5 


im  Jahrfünft 


1871;7o 
187680 
1881,80 
188690 
1891/95 
Mittel  1871,95 


Personen 
26,9 

27,1 

26,3 
26,5 
26,9 
27,0. 


Bei  den  männlichen  Personen  stellte  sich 
sohin  das  durchschnittliche  Heiratsalter  um 
21/2  Jahre  höher  als  beim  weiblichen.  Hin- 
sichtlich der  Beteiligung  der  einzelnen 
Altersklassen  an  den  Eheschliessungeu  lehrt 
filr  die  Periode  1887/911)  ^ie  nachstehende 
TabeUe, 


')  Bei  der  Schweiz  1885,89,  Frankreich 
1886  90,  Belgien  1884,  1885  und  1890,  Italien 
1886  und  1888/91,  Dänemark  1885  89,  Rnssland 
1882:86. 


Preussen  .    . 

Bayern     .    . 
Sachsen    .    . 

Württemberg 

Oesterreich 
Schweiz    . 

Frankreich 

Belgien    . 
Niederlande 

Italien  .    . 

Dänemark 

Schweden . 

Norwegen 
England   . 
Schottland 
Irland  .    . 


Es  standen  im  Alter  von  .  .  . 
heiratenden  Männern 

unter         ^^^  oe         «e  O/^  o«   ^^         m^.^       ^Lr.  nr.         ÜbCI 


20 

2,06 


20-25      25-30      30-40     40-50    50-60 


60 


69,53  21,81  5,47  2,22    0,91 

0,51     28,92      35,54  24,72  9,27  0,20 

0,02     38,78      36,87  16,20   5,00  2,23      0,90 

17,62         44,50  26,72  7,21  2,88     1,07 

17,19         47,29»)22,o2  7,98  3,79 

1,01    26,29    34,49  24,62  8,33  3,62 

1,90   24,5^    42,36  22,36  5,35  2.39 

37,36  24,51  7,31  2.67 


1,73 
1,64 

1,06 


27,04 
2,97^)27,98*'')  35,22   22,75  6,83   2,89 


1,11 
1,36 


2,63   31,55    34,27    20,83  6,74   2,63     1,35 
39,01    26,14  6,32   2,39    0,92 

4,28 


25,22 
0,15    26,68    36,08    26,00  6,81 
1,79   26,48    34,07   25,85  6,89 


4,92 


2,14   43,41     29,99    15,81  5,02  2,38     1,25 

2,54   35,62    32,62   20,57  5,79  2,04    0,82 

2,46   31,17    30,44   26,00  7,05  2,08    0,80 

Enr.  Russland  32,01    34,11     17,74     9,8o  4,31         2,03 

^)  lieber  24  bis  einschl.  30  Jahre  alt. 
*)  Unter  21  bezw.  21—25  Jahre  alt. 


Jahren  von  je  100 

heiratenden 
unter 

80 


20-25       25-30       30-40 


Frauen 

40-50      50-60 


ober 

6ü 


8,13       73,59  13,55 

io,73  41,93  26,62  15,40 

7,65  51,95  24,43  11,13 

4,01  41,41  33,09  15,82 

17,33  30,28  30,24^)14,94 

7,21  40,61  28,07  16,62 

20,52  42,20  20,59  11,97 

47,12  27,99  17,59 

12,43*)  36,56^)28,58  15,67 

23,35  41,90  18,64  10,71 

7,37  39,13  30,84  17,58 

6,36  36,07  31,37  20,11 

7,94  39,20  28,48  18,31 

11,06  49,68  22,50  11,24 

11,64  45,11  25,67  13,11 

11,83  48,03  25,74  11,17 

56,35  29,48  6,94  4,95 


3,67    0,90    0,16 

5,12  0,20 

3,72      0,94     0,18 


4,37 

5,35 
5,64 

3,20 

5,32 
4,67 

3,78 

3,97 

4,78 

4,67 

3,79 

3,53 
2,41 

;,86 


1,49  0.49 
1,63    0.46 

1,62 

0,92    0.19 

1,31 
1,40 

1,34  0,29 
0,78  0.16 
0,62    0,20 

0,42 


dass  das  normalste  Heiratsalter  für  die 
Männer  das  von  25  bis  30, 'für  die  Weiber 
das  von  20  bis  25  Jahren  ist  Weiter  in 
das  Detail  der  Tabelle  einzutreten,  miiss 
aus  Rauinrilcksichten  hier  unterbleiben. 
Ebenso  muss  von  weiteren  Kombinationen 


des  Heiratsalters  von  Bräutigam  und  Braut, 
des  Alters  mit  dem  Familienstand  der  Braut- 
leute etc.  Abstand  genommen  werden.  Nur 
darauf  sei  noch  hingewiesen,  dass  sich  in 
Deutschland  neuerdings  eine  Yermehnmg 
der  Jungheirateo,  bei   männlichen  Personen 


Heiratsstatistik 


1191 


mehr  noch  als  bei  weiblichen,  bemerk- 
bar macht.  Von  Einfluss  liieraiif  ist  die 
immer  melir  sich  aiisbUdende  Freiheit  der 
Erwerbsthätigkeit,  namentlich  die  neuzeit- 
liche industrielle  Entwickelung,  welche  Früh- 
heiraten begünstigt. 

5.  Beruf  und  soziale  Stellung  der 
Eheschliessenden.  Beruf  und  soziale 
Stellu  ng  ist  sowolü  für  die  Heiratsliäufig- 
keit  überhaupt  wie  für  das  diu-chschnittliche 


Heiratsalter  von  Belang.  Eingehende  Nach- 
weise darüber  wurden  für  die  Eheschlies- 
sungen 1881  bis  1886  in  Preussen  zusammen- 
gestellt (abgednickt  in  der  Zeitschrift  des 
preuss.  Statist.  Bureaus  1889  und  bei 
V.  Fircks,  Bevölkerungslehre  und  Bevölke- 
rungspolitik 1898  S.  211  u.  227).  Hier  sei 
wenigstens  für  die  einzelnen  Berufe  das 
durchsclmittliche  Heiratsalter  mitgeteilt: 


Beruf 


C«   Q  Im 

es  <u  ü 


Landwirtschaft.,  Gärtnerei,  Viehzucht  und 

Forstwirtschaft 29,61 

Fischerei 28,73 

Bergbau,  Hütten-  und  Salinen wesen  .  .  27,57 
Industrie  der  Steine  und  Erden.    .    .    .28,17 

Metallverarbeitung 28,04 

Fabrikation  von  Maschinen,  Werkzeugen 

und  Instrumenten 28,98 

Chemische  Industrie 31,58 

Industrie  der  Heiz-  und  Leuchtstoffe.    .  31,58 

Textilindustrie 30,02 

Papier-  und  Lederindustrie 29,05 

Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe      .  28,74 

Industrie  der  Nahrungs-  und  Genussmittel  28,90 

Gewerbe  für  Bekleidung  und  Reinigung  29,14 

Baugewerbe 28,64 

Polygraphische  Gewerbe 27,62 

Künstlerische  Betriebe  für  gewerbl.Zwecke  28,2 1 

Handel  und  Versicherungswesen     .    .    .  30,94 

Verkehrsffewerbe 3o>o2 

Gewerbe  für  Beherbergung:  u.  Erquickung  32,08 

Dienstboten  (ohne  ländliches  Gesinde)     .  27,75 

Fabrikarbeiter  ohne  nähere  Bezeichnung  27,67 

Tagelöhner,  Arbeiter  (ohne  die  ländlichen)  29,40 

Gesundheitspflege  und  Krankendienst     .  31,76 

Erziehung  und  Unterricht 29,11 

Künste,  Litteratur  und  Presse    ....  30,62 

Kirche  und  Gottesdienst,  Totenbestattung  32,48 
Hof-,    Reichs-,   Staats-,    Gemeinde-   und 

sonstige  Öffentliche  Beamte     ....  33,41 

Armee  und  Marine,  Gendarmerie    .    .    .  29,30 

Sonstige  Berufsarten 30,63 

Personen  ohne  bestimmten  oder  bekannten 

Beruf,  Berufslose 41,47 


"'S  2  S 
Beruf  %^^ 

«3  Ü  5 

u     a 

O  V*  « 

Ohne  Beruf  und  Erwerb,  Haustöchter     .  25,35 

Rentnerinnen,  Altsitzerinnen 42,76 

Lehrerinnen 29,02 

Kindergärtnerinnen 26,75 

Wirtschafterinnen 30^94 

Köchinnen 27,60 

Dienst-  oder  Hausmädchen 25,36 

Nähterinnen,  Putzmacherinnen   .    .    .    .25,98 

Wäscherinnen,  Plätterinnen 28,56 

Ladenmädchen 25,76 

Fabrikarbeiterinnen  ohne  nähere  Bezeich- 
nung      24,62 

Tagelöhnerinnen,  Arbeiterinnen  ....  29,85 

KeUnerinnen 26,40 

Landwirtinnen 35,86 

Gastwirtinnen 36,94 

Händlerinnen 34,31 

Weberinnen 26,83 

Hebammen 32,51 

C-igarrenarbeiterinnen 24,99 

Grubenarbeiterinnen 23,52 

Strickerinnen 25,84 

Sonstige  Berufsarten 28,66 


Im  übrigen  ist  aus  den  genannten  Unter- 
suchungen über  die  Berufs  Verhältnisse  der 
Brautleute,  die  durch  v.  Inama-Sternegg,  Das 
soziale  Connubium  in  den  österreichischen 
Städten  (Wien  1898),  bestätigt  worden,  das 
starke  Vorherrschen  der  Berufsgleichheit 
hervorzuheben:  Frauen,  welche  vor  ihrer 
Eheschliessung  erwerbsthätig  gewesen  sind, 
heiraten  grösstenteils  Männer,  die  den  ihrer 
bisherigen  Erwerbsthätigkeit  nahestehenden 
Berufsgmppen  angehören  (so  Lehrerinnen, 
Näherinnen,  Ladenmädchen,  Fabrikarbeite- 
rinnen,   Gastwirtinnen,   Händlerinnen    etc.). 


Dagegen  werden  von  Männern  aller  Berufs- 
gruppen vorzugsweise  Frauen,  deren  bis- 
henge  ErwerbsQiätigkeit  die  Befähigung  zur 
Führung  einer  Hauswirtschaft  ziemlich  ver- 
bürgt, zur  Ehe  begehrt,  also  Wirtschafte- 
rinnen, Ködünnen,  Wäscherinnen,  Plätte- 
rinnen, Dienstmädchen  (in  Berlin  waren  über 
ein  Viertel  von  allen  Mädchen,  die  1892  bis 
1895  heirateten,  Dienstmädchen). 

6.  Heiraten  unter  Blutsverwandten. 
Darüber  liegen  Nachweise  für  Preussen, 
Bayern,  Frankreich  und  Italien  vor.  Es 
kamen  zu  stände 


1192 


Heiratsstatistik — Held 


Eheschliessungen  unter  Blutsverwandten 

auf  lüOO  Eheschliessungen 
zwischen 


zwischen 


m 


im  Jahres-     üher- 
dnrchschnitt    haupt 


Preussen  . 
Bayern 
Frankreich 
Italien .    . 


1886/95 
1886/^5 
1884/93 
1873/82 


1445 
239 

2  935 
I  562 


Ge- 
schwis- 

t^r- 
kindem 

1314 
216 

2708 

1414 


Onkel 

Neffe 

•11 

Ge- 

und 
Nichte 

und 
Tante 

über- 
haupt 

Bchwis- 

ter- 
kindem 

112 

•     19 

5,96 

5,42 

17 

6 

5,93 

5,36 

168 

59 

io,43 

9,62 

I 

48 

7,24 

6,55 

Onkel 

Neffe 

und 

und 

Nicht« 

Tante 

0,46 

0,08 

0,42 

0,15 

0.60 

0,21 

Ob  die  Blutsverwandtschaft  der  Ehe- 
schliessendeu  einen  Einfluss  auf  die  geistige 
und  körperliche  Beschaffenheit  der  Nach- 
kommen äussert,  ist  noch  nicht  hinreichend 
geklärt.  Eingehenden  Aufschluss  über  den 
derzeitigen  Stand  der  Frage  giebt  Maj^et, 
die  statistische  Erfassung  der  Folgen  der 
Verwandtenehen,  Vortrag,  abgedruckt  in^den 
Verhandlungen  des  10.  internationalen  hygie- 
nisch-demographischen Kongresses  zu  Madrid 
1898. 

Litterat nr:  Ausser  der  bereits  vorstehend  er- 
wähnten Lüteratur  noch  Vierteljahrs heße  zur 
Statistik  des  Deutschen  Reichs  1900,  Jlcft  I, 
S.  121  ff. ;  Bd.  44,  xV.  F.  der  Stat.  d.  D.  B.  — 
Bodio ,  Confronti  intemazionali,  Bulletin  de 
VInst.  Int.  de  St.,  VII,  2,  Borne  I894.  —  Q, 
von  Mayr,  Bevölkerungsstatistik,  1897,  S.  S74  ff. 
und  die  dort  citierten  Schritten.  —  «7.  Con~ 
radf  Grundriss  zum  Studium  der  polnischen 
Oekonomie;  4-  Teil:  Statistik,  Geschichte  und 
Theorie  der  SUUistik,  Bevölkerungsstatistik,  1900, 
S.  89  ff.  —  G,  Schnioller,  Grundriss  der  all- 
gemeinen Volkswirtschaftslehre,  Teil  I,  Leipzig 
1900,  S,  163  ff. 

Ff^iedrich  Zahn. 


0,69 


rungsjubiläum  des  Königs  Karl  von  Württem- 
berg), 1889.  —  Die  sozialpolitische  Bewegung 
in  Deutschland  1863—90,  Stuttgart  1891.  — 
Neue  Grundsätze  der  Volkswirtschaftslehre,  Stutt- 
gart, 1897.  —  Das  Interesse  der  Landwirtschaft 
an  den  Handelsverträgen  (Schriften  der  Central- 
stelle  für  die  Vorbereitung  von  Handelsver- 
trägen), Berlin  1900.  — 

Ausserdem  veröffentlichte  Heitz  mehrere 
Aufsätze  und  Abhandlungen  in  der  schweize- 
rischen Zeitschrift  für  Gemeinnützigkeit,  der 
Zeitschrift  des  bayer.  Statist.  Bureaus,  den  Jahr- 
büchern für  Nationalökonomie  und  Statistik, 
dem  Jahrbuch  für  Gesetzgebung,  Verw-altung 
und  Volkswirtschaft,  der  Landwirtschaftlichen 
Presse,  der  Zeitschrift  für  die  ges.  Staats  Wissen- 
schaft, den  Jahrbüchern  für  Württ^mb.  Sta- 
tistik etc. 

Bed. 


Ueitz,  Ernst  Ludwig, 

§eb.  am  8.  VII.  1839  in  Basel,  studierte  in 
asel,  Berlin  und  Gottingen  Rechtswissenschaft, 
widmete  sich,  durch  Krankheit  dem  ursprüng- 
lich gewählten  Berufe  entzogen,  einige  Jahre 
dem  öffentlichen  Leben  und  der  Fresse,  wandte 
sich  1874  der  Nationalökonomie  zu,  studierte  in 
München,  zuletzt  in  Jena,  wo  er  sich  auch 
1876  habilitierte.  Seit  1877  ist  er  als  Professor 
der  Nationalökonomie  an  der  landwirtschaft- 
lichen Akademie  Hohenheim  thätig. 

Von  seinen  Schriften  seien  die  nachfolgen- 
den genannt:  i 

Die  öffentlichen  Bibliotheken  der  Schweiz,  j 
1872.  —  Die  Statistik  der  Schweizer  Zeitungen, 
1874.  —  Das  wohlthätige  und  gemeinnützige 
Basel,  1872.  —  lieber  die  Methoden  bei  Erhe- 
bung von  Preisen  (Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.  26.  Bd.,  S. 
65—87;  129—220;  27.  Bd.  S.  316—368).  -  Forst- 
regal und  Waldrente  (Programm  der  Akademie 
Hohenheim),  1877.  —  Ursachen  der  Tragweite 
der  nordamerikanischen  Konkurrenz  (Zeit-  und 
Streitfragen),  1881.  —  Die  bäuerlichen  Zustände 
in  den  Oberämtem  Stuttgart,  Böblingen  und 
Herrenberg  (Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.  24.  Bd. 
[Leipzig  1883J,  S.  207  ff.).  —  Die  Innungsfrage 
m  alter  und  neuer  Zeit,  Stuttgart  1887.  — 
Studien  zur  Handwerkerfrage  (Festschrift  der 
Akademie   Hohenheim   zum  25  jährigen  Regie- 


Held,  Adolf, 

geb.  am  10.  V.  1844  in  Würzburg,  als  Sohn  des 
bedeutenden  Staatsrechtslehrers  Jos.  v.  Held, 
promovierte  in  Würzburg,  besuchte  1866  das 
mit  dem  königlich  preussischen  statistischen 
Bureau  verbundene  statistische  Seminar,  ha- 
bilitierte sich  1867  an  der  Bonner  Universität 
als  Lehrer  der  Nationalökonomie,  wurde  1868 
daselbst  ausserordentlicher  und  1872  ordentlicber 
Professor  der  Staatswissenschaften,  folgte  1880 
einem  Rufe  als  ordentlicher  Professor  der  Staats- 
wissenschaften nach  Berlin  und  ertrank  am  25. 
VIII.  1880  auf  einer  Schweizer  Erhohmgsreise 
im  Thuner  See. 

Als  „Kathedersozialist"  gehörte  Held  zum 
rechten  Flügel  dieser  sozialpolitischen  Schule, 
welcher  die  soziale  Reform  auf  dem  bestehenden 
Rechtsboden  anstrebt. 

Held  veröffentlichte  von  staatsi^dssenschaft- 
lichen  Schriften  a)  in  Buchform: 

Careys  Sozialwissenschaft  und  das  ]iTerkan- 
tilsystem.  Eine  litteraturgeschichtliche  Paral- 
lele, Würzburg  1866  (Promotionsschrift).  —  Die 
Einkommensteuer.  Finanz  wissenschaftliche  Stu- 
dien zur  Reform  der  direkten  Steuern  in  Deutsch- 
land, Bonn  1872.  (Held  will  u.  a.  darin  das 
Einzeleinkommen  aus  dem  Volkseinkommen 
konstruieren,  da  jedes  produktionsfähige  Indi- 
viduum sein  Eigentum  im  Rahmen  der  produ- 
zierenden Volkswirtschaft  erwerbe,  ein  Satz,  der 
wohl  nur  in  einem  kommunistischen  Arbeiter- 
staate mit  einstufiger  Stundenlöhnung  als  durch- 
führbar gedacht  werden  könnte.)  —  Die  deutsche 
Arbeiterpresse  der  Gegenwart,  Leipzig  1873.  -— 
Grundriss  f  ürVorlesungen  über  Nationalökonomie, 
Bonn  1876;  dasselbe,  2.  Aufl.,  1878.  —  Sozia- 
lismus, Sozialdemokratie  und  Sozialpolitik.  Leip- 
zig 1878.    (Hierin  findet  sich  u.  a.  eine  gründ- 


Held—Helferich 


1193 


liehe  Darlegung  des  Zusammenhanges  der  Marx- 
schen  Werttheorie  mit  der  Lehre  Ricardos.)  — 
Zwei  Bücher  zur  sozialen  Geschichte  Englands 
(aus  seinem  Nachlasse),  herausgeg.  Ton  F.  Knapp, 
Leipzig  1881  (mit  Helds  Bildnis).  —  Er  war 
ferner  beteiligt  an  der  Festschrift  der  landwirt- 
schaftlichen Akademie  zu  Poppeisdorf  zur  fünf- 
zigjährigen Jubelfeier  der  Universität  Bonn, 
Bonn  1868,  durch  den  Artikel:  Die  Mahl-  und 
Schlachtsteuer  und  die  Landwirtschaft,  S.  99  ff. 

b)  in  Zeitschriften  und  periodi- 
schen Werken: 

1.  Im  Arbeiterfreund:  Die  Darlehnskassen- 
vereine  der  Rheinprovinz.  Eine  Antwort  auf 
die  Abhandlung  des  Regierun^rats  NöU  im 
2.  Hefte  des  IX.  Jahrg.  dieser  Zeitschrift,  Jahrg. 
XI,  Berlin  1873,  S.  295  ff.  —  Die  zweite  Jah- 
resversammlung des  Vereins  für  Sozialpolitik 
am  11.  und  12.  X.  1874  zu  Eisenach,  Jahrg.  XII, 
1874,  S.  457  ff.  —  Die  Verhandlungen  des 
Vereins  für  Sozialpolitik  am  10.,  11.  und  12.  X. 
1875  zu  Eisenach,  Jahrg.  aIU,  1875,  S. 
491  ff.  —  Verhandlungen  des  Vereins  für  Sozial- 
politik,   1879,    Jahrg.    XVII,    1879,    S.   413  ff. 

—  2.  In  Konkordia,  Zeitschrift  für  die  Arbeiter- 
frage, Mainz:  Steuerreform  und  soziale  Frage, 
Jahrg.  I,  Mainz  1871,  Nr.  2,  4  und  6.  —  Der 
Sozialismus  und  die  Wissenschaft,  Jahrg.  U, 
1872,  Nr.  8,  11/12,  16  und  18.  —  Arbeitsein- 
stellungen und  Geldentwertung,  Jahrg.  II,  Nr. 
24-25.  —  Staat  und  Gesellschaft,  Jahrg.  II,  Nr. 
40  42.  —  Ueber  Volksbildung  und  Volkssittlich- 
keit, Jahrg.  IV,  1874,  Nr.  4,  6  und  7.  —  Zur 
Beurteilung  der  Sozialdemokratie  in  Sachsen, 
Jahrg.  IV,  Nr.  15,16,  19/20,  23,24,  26/27.  — 
Sozialdemokratie  und  Ultramontanismus,  Jahrg. 
IV,  Nr.  48  50.  —  Der  englische  Chartismus  und 
die  deutsche  Sozialdemokratie,  Jahr^.  V,  1875, 
Nr.  12;  16.  —  Die  christlichen  Sozialisten  in 
England,  Jahrg.  V,  Nr.  31,37.  —  Robert  Owen, 
der  Vater  des  englischen  Sozialismus,  Jahrg.  VI, 
1876,  Nr.  5 10.  —  Der  Liberalismus  und  die 
soziale  Frage,  Jahrg.  VI,  Nr.  18/20.  —  Eine 
englische  Arbeiterbiographie,  Jahrg.  VI,  Nr. 
23.26  etc.  —  3.  Im  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Verw., 
hrsg.  von  Holtzendorff  und  Brentano :  Der  volks- 
wirtschaftliche Kongress  und  der  Verein  für 
Sozialpolitik,  N.  F.  Jahrg.  I,  1877,  S.  159/77. 

—  Die  5.  Generalversammlung  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  vom  8.,  9.  und  10.  X.  1877  zu 
Berlin,  N.  F.  Jahrg.  I,  S.  791/825.  —  Die 
„Quintessenz  des  Kathedersozialismus"  von  M. 
Block;  Besprechung,  N.  F.  Jahrg.  III,  1879, 
S.  229  if.  —  Schutzzoll  und  Freihandel,  N.  F. 
Jahrg.  III,  1879,  S.  437/86.  —  4.  In  den  Jahrb. 
f.  Nat.  u.  Stat. :  Adam  Smith  und  Quetelet,  Bd.  IX, 
1867,  S.  249:79.  —  Die  ländlichen  Darlehns- 
kassenvereine  in  der  Rheinprovinz  und  ihre 
Beziehungen  zur  Arbeiterfrage,  Bd.  XIII,  1869, 
S.  1—84.  —  Noch  einmal  über  den  Preis  des 
Geldes.  Bd.  XVI,  1871,  S.  315/40.  —  Die  neuen 
preussischeu  Steuergesetze,  Bd.  XX,  1873,  S. 
369/404.  —  Der  Entwurf  der  Novelle  zur  Ge- 
werbeordnung des  Deutschen  Reichs,  Bd.  XXII, 
1874.  S.  97,114.  —  lieber  einige  neuere  Versuche 
zur  Revision  der  Grundbegriffe  der  National- 
ökonomie, Bd.  XXVII,  S.  145/91  etc.  —  5.  In 
den  landwirtschaftlichen  Jahrbüchern,  Berlin: 
Landwirtschaft  und  Industrie,  Bd.  III,  1874, 
S.  367,420.  —  Der  Uebergang  der  deutschen 
Bahnen  an  das  Reich,  Bd.  V,  1876,  S.  1065/1128. 


—  6.  In  den  Preussischen  Jahrbüchern,  Berlin: 
Ueber  den  gegenwärtigen  Principienstreit  in 
der  Nationalökonomie,  Bd.  XXX,  1872,  S.  185/212. 

—  Richard  Cobden,  der  Vater  des  Freihandels, 
Bd.  XXXVIII,  1876,  S.  115.  —  7.  In  den  Sehr, 
d.  V.  f.  Sozialp.,  Leipzig:  Gutachten  über  die 
Steuerfrage,  Bd.  III,  1873,  S.  23/38.  —  Referat 
über  die  Bestrafung  des  Arbeiterkontraktbruchs, 
Bd.  IX,  1875,  S.  0/25.  —  Korreferat  über  die 
Einkommensteuer,  Bd.  XI,  1875,  S.  27/36.  — 
Bericht  verschiedener  Ansichten  über  die  Haft- 
pflichtfrage, Bd.  XIX,  1880,  S.  139/54.  —  8.  In 
der  Zeitschr.  f.  Staatsw.,  Tübingen :  Zur  Lehre 
von  der  Ueberwälzung  der  Steuern,  Bd.  XXIV, 
S.  421/495  (Habilitationsschrift).  —  Schliesslich 
hat  Held  noch  verschiedene  Artikel  im  St.  W.  B. 
von  Bluntschli  und  Brater,  Auszug  von  Loening, 
Zürich  1869/72  be-  bezw.  umgearbeitet,  u.  a.: 
„Nationalökonomie**,  Bd.  II,  S.  657/98,  und  hat 
femer  für  die  Jenaer  Litter aturzeitung  1874/78 
und  das  Litterarische  Centralblatt  1871 — 75  eine 
Anzahl  von  Besprechungen  geliefert. 


Vergl.  über  Held:  Ad.  Wagner  im  Art. 
„Ueber  die  schwebenden  deutschen  Finanz- 
fragen", in  Zeitschr.  f.  Staatsw.,  Bd.  XXXV, 
Tübingen  1879,  S.  100/101.  —  Ad.  Wagner, 
Zur  Erinnerung  an  Ad.  Held,  in  Beilage 
zur  Augsburger  Allg.  Zeitung  vom  11.  und 
12.  IX.  1880.  —  Ad.  Wagner,  Adolf  Held,  in 
Allg.  deutsche  Biographie,  Bd.  XIII,  Leipzig 
1881,  S.  494  498.  —  Nasse,  Nekrolog  Ad.  Helds 
in  Bd.  XIX  der  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.,  Leipzig 
1880.  —  Adolfo  Held,  in  „La  Kassegna 
nazionale",  Juli  1881.  —  Walcker,  Geschichte 
der  Nationalökonomie,  Leipzig  1884,  S.  207.  — 
J.  Bonar,  Malthus  and  bis  work,  London  1885, 
S.  41,  326,  331  und  382.  —  E.  Blenck,  Ad. 
Held,  Nekrolog,  in  der  Zeitschr.  des  königl. 
preuss.  stat.  Bureaus,  Jahrg.  1887,  S.  261.  — 
Ingram,  History  of  political  economy.  Edin- 
burg  1888,  S.  135,  207,  214.  —  Gabaglio, 
Teoria  generale  della  statistica,  2.  Aufl.,  Bd.  I, 
Mailand  1888,  S.  439/40  u.  ö. 


Helferich,  Johann  Alfons  Benatus  von, 

feb.  am  5.  XI.  1817  zu  Neuchatel  in  der 
chweiz,  gest.  am  8.  VI.  1892  in  München,  studierte 
in  Erlangen  und  München  Nationalökonomie, 
ward  auf  Grund  seiner  Schrift  „Von  den 
periodischen  Schwankungen  im  Werte  der  edlen 
Metalle  von  der  Entdeckung  Amerikas  bis  zum 
Jahre  1830"  (Nürnberg  1843),  in  welcher  er  an 
der  Hand  statistischen  Materials  das  übliche 
Verfahren  bekämpft,  lediglich  die  Preise  des 
Getreides  und  der  Arbeit  zu  untersuchen  und 
aus  ihnen  auf  die  Verändenmgen  des  Geldwertes 
zu  schliessen,  1843  Priv&tdocent,  1844  ausser- 
ordentlicher, 1847  ordentlicher  Professor  au 
der  Universität  zu  Freiburg,  1849  nach  Tübingen, 
1860  nach  Göttingen  und  1869  nach  München 
berufen,  woselbst  er  zunächst  einer  Pflicht  der 
Pietät  genügte,  indem  er  in  Gemeinschaft  mit 
G.  V.  Mayr  1870  die  2.  Aufl.  der  „Staatswirt- 
schaftlichen Untersuchungen**  Hermanns  aus 
dem  Nachlasse  seines  Lehrers  und  Amtsvor- 
g:ängers  herausgab.  Ende  1890  trat  Helferich 
in  den  Ruhestand. 


1194 


Helferich — Herdsteuer 


Er  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Abhandlungen  in  Zeitschriften  und 
Sammelwerken  a^  in  der  Zeitschr.  für  die  ges. 
Staatsw.  : 

1.  üeber  Steuern:  üeber  die  Einführung 
einer  Kapitalsteuer  in  Bayern  (1846).  —  Der  Kolo- 
nial zucker  und  die  Eübensteuer  im  Zollverein 
(1852).  —  Zusätze  zu  dem  Artikel  „Die  Besteue- 
ning  der  Gewerbe  in  England"  von  Vocke  (1862). 
Die  Reform  der  direkten  Steuern  in  Bayern 
(1878).  —  2.  üeber  Mass-  und  Münzwesen: 
Die  Einheit  im  deutschen  Münzwesen  (1850). — 
Die  österreichische  Valuta  seit  dem  Jahre  1848 
(18Ö5  u.  1856).  —  üeber  einheitliehe  Masssysteme 
(1861).  —  3.  lieber  Preis,  Zins  und  Gewinn: 
Joh.  Heinrich  von  Thünen  und  sein  Gesetz  über 
die  Teilung  des  Produktes  unter  die  Arbeiter 
und  Kapitalisten  (18Ö2).  —  Württembergische 
Wein-  und  Getreidepreise  von  1456 — 1628,  ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Geldentwertung  nach 
der  Entdeckung  Amerikas  (1858).  —  4.  Üeber 
Land-  und  Forstwirtschaft:  Die  Do- 
mänenverwaltung in  Baden  nach  den  Bestim- 
mungen der  Verfassungsurkunde  (1847).  —  Die 
Versichening  der  Feldfrüchte  gegen  Hagel- 
schaden, vorzüglich  in  Norddeutschland  (1Ö7). 

—  Studien  über  württem  herrsche  Agrarverhält- 
nisse (zu  Gunsten  einer  Keaktivierung  des 
bäuerlichen  Anerbenrechtes),  1863  und  1854.  — 
Die  Waldrente  (1867,  1871,  1872).  —  6.  Ad. 
Smith  und  sein  Werk  über  die  Natur  und  Ur- 
sachen des  Reichtums  derVölker  (1878,  Rektorats- 
rede). — 

b)  In  den  Annalen  des  Deutschen  Reichs: 
Die  bäueriiche  Erbfolge,  Vortrat  (1883).  —  c) 
In  den  Forstlichen  Blättern:  Leber  den  bei 
Einrichtung  von  Forsten  zu  wählenden  Zinsfuss 
und  über  den  Bodenwert  als  Kosten  wert  bei  der 
Holzerzeugung  (1872).  —  d)  In  Schönbergs 
Handbuch  der  politischen  Oekonomie  die  Ab- 
schnitte über  Forstwirtschaft  und  über  allge- 
meine Steuerlehre. 

Helferich  erstattete  femer  dem  landwirt- 
schaftlichen Vereine  in  Bayern  Berichte  u.  a. 
über  „Errichtung  einer  Hagdversicherungs- 
anstalt  unter  staatlicher  Leitung"  (1882),  „üeber 
die  bäuerliche  Erbfolge"  (1883),  über  „das 
baverische  Arrondierungsgesetz"  (1884),  über 
.,die  Güterzertrümmerung"  (1892)  etc.  — 

Vergl.  über  Helferich :  J.  Lehr,  v.  Helferich 
in  Handwörterbuch  I.  Aufl.,  Bd.  IV,  S.  465  f. 

—  Annais  of  the  American  Academ^  of  pol. 
and  soc.  science,  Vol.  III,  S.  121  f.,  Philadelphia 
1893. 

'  Ltppert, 


Herberge  zur  Heimat 

s.  Soziale  Refonnbestrebungen. 


Herdstener. 


Die  Herdstener  ist,  wie  die  verwandten 
Auf  lagen  (Viehsteuer,  Hufenschoss,  Giebel- 
schoss  etc.)  ein  tastender  Vei*such  der  un- 
entwickelten Veranlagungstechnikim  Lehens- 
und Territorialstaate,  um  das  Veraiögen  der 


Einzelwirtschaften  und  ihrer  Rechtssubjekte 
zur  Leistung  direkter  Steuern  heranzuziehen. 
Denn  alle  Bestrebungen  zur  Einfühnmg  einer 
primitiven  Vermögenssteuer  stiessen  auf 
grosse  Schwierigkeiten,  weil  das  Vermögen 
als  Ganzes,  als  einheitlicher  Begriff  steuer- 
technisch nicht  zu  erreichen  war.  Daher 
erblicken  wir  überall  die  Tendenz,  alle 
direkten  Abgaben  an  einzelne  Gegenstände 
zu  heften,  um  schliesslich  durch  den  Um- 
weg über  seine  einzelnen  Bestandteile  zum 
Ganzen  vorzudringen.  So  erscheinen  hier 
der  Viehbesitz,  die  Hufe,  der  Giebel,  der 
Schornstein,  die  FeuersteÜe  etc.  als  die 
äusseren  Merkmale,  an  welche  die  Be- 
steuerung anknüpft  imd  durch  welche  sie 
einigermassen  die  Beitragsfähigkeit  der  ein- 
zelnen Steuerpflichtigen  zu  wtoligen  sucht. 

Die  Feuei'stelle ,  der  heimische  Heixl 
schien  ganz  besonders  als  Ausdruck  der 
Heimstätte  und  demgemäss  als  Gnmdlage 
für  die  Besteuerung  geeignet.  Denn  eine 
Hütte  oder  wenigstens  ein  Anteil  an  einer 
solchen  gehörte  unbedingt  zum  Lebensl>e- 
darf  eines  jeden  und  bot  somit  für  die  All- 
gemeinheit der  Steuer  die  beste  Bürgschaft. 
Dieser  Anknüpfung  an  ein  unbedingt  not- 
wendiges Bedürfnis  des  Lebens  entsprach 
auch  Form  und  Inhalt  der  Leistimg.  Da 
nun  der  Besitz  einer  Heimstätte  nicht  auch 
zugleich  einen  solchen  von  Grundstücken 
einschloss,  so  konnte  die  Steuer  auch  nicht 
in  Feld  fruchten,  Getreide  etc.,  wie  häufig 
beim  Hufenschoss,  bestehen.  Die  Natural- 
abgabe aber  war  die  iurs2>röDgliche  Form 
aller  jener  Steuerleistungen  teils  infolge  der 
ganzen  historischen  Entwickelung,  teils 
wegen  der  vorherrsdienden  Naturalwirt- 
schaft überhaupt.  Hühner  konnte  sich  aber 
und  pflegte  sich  auch  der  Gnmdbesitzloso 
zu  halten,  weshalb  die  ursprünglichste  Ge- 
stalt der  Herdsteuer  eine  Abgabe  in  Hüh- 
nern, den  sogenannten  »Rauchhühnern«  war. 
Wer  keine  Hühner  zog,  entrichtete  eine 
Geldsteuer,  den  »Rauchpfennig«.  Mit  zu- 
nehmender Geldwirtschaft  ei-setzte  die  letz- 
tere Zahlungsform  die  natural  wu-tschaftliche. 
Als  solche  hiess  die  Herdsteuer  in  gewissen 
Gegenden  »Heimstättgeld«  imd  war  eine 
Auflage  der  Leute  ohne  Grundbesitz,  welche 
♦sonderbaren  Rauch«,  d.  h.  einen  eigenen 
Herd,  besassen. 

Im  übrigen  w^aren  die  Grundsätze  der 
Veranlagung  und  Erhebung  der  Herdsteuer 
höchst  schwankend.  Es  werden  sowohl  Fälle 
überliefert,  in  welchen  jedermaim  beizu- 
steueni  hatte;  der  reiche  wie  der  arme 
Mann,  der  Ritter  und  Bürger  wie  der  Bauer, 
das  grosse  und  das  kleine  Haus,  die  Ritter- 
burg wue  die  elendeste  Hütte  zalüte  dabei 
gleich  viel,  oder  wenn  noch  Abstufungen  ge- 
macht wurden,  waren  sie  tliatsächlich  be- 
j  deutungslos.    Andererseits  aber  werden  oft 


Herdsteuer — H  erkner 


1195 


Arme  ganz  freigelassen  oder  umgekehrt  ge- 
rade solche  Pei^sonen  der  Herdsteuer  unter- 
worfen, die  wegen  der  Geringfügigkeit  ihres 
A'^erraügens  von  anderen  Abgaben  frei  wai-en. 
So  hatte  nach  13/14  Charles  II.  c.  10  jeder- 
mann eine  Herdsteuer  von  2  sh.  zu  ent- 
richten mit  Ausnahme  derjenigen  Pcreonen, 
welche  von  der  Armen-  und  Kirchensteuer 
befreit  waren. 

Die  Herdsteuer  war  schon  dem  angel- 
sächsischen Lehensstaate  unter  dem  Namen 
foagium,  fumagium,  fouage,  smook  fartlüng, 
hearth-money,  chunney-money  etc.  bekannt. 
1662  wanl  aus  diesen  Anfängen  eine  staat- 
liche Häusersteuer,  welche  das  Parlament 
bewilligte,  die  als  erste  dauernde  Herd- 
stättesteuer wahrscheinlich  von  den  Hinter- 
sassen des  liOrd  of  the'  Manor  getragen 
wurde.  Die  Taille  der  älteren  Zeit,  die 
hauptsächlichste  direkte  Steuer  in  Frank- 
reich, und  ähnliche  Abgaben  werden  früh- 
zeitig gern  nach  »feux«  als  Rauch-  oder 
Feuerstellensteuern  (fouages,  focagia)  aufge- 
legt. Auch  in  den  deutschen  Territorien 
war  die  Herdsteuer  eine  häufige  Auflage; 
sie  hat  sich  hier  oft  lange  Zeit  erhalten, 
wie  z.  B.  in  Bayern,  wo  das  Herdstätlegeld 
von  jeder  Familie  in  Städten  und  auf  dem 
Lande  bis  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
vorkommt.  Wegen  der  Sicherheit  und  Be- 
tiuemlichkeit  des  Ertrages  war  die  Herd- 
steuer lange  bei  den  Finanzmännern  sehr 
beliebt  als  Sicherheitsbestellung  für  Staats- 
anleihen (Grossbritannien). 

Die  Herdsteuer  als  Mittel  zur  Vermö- 
gen sschätzimg,  namentlich  zur  Steueranlage 
des  Hausbesitzes,  bezw.  eines  Anteils  an 
demselben,  erinnert  selu*  an  eine  rohe  Kopf- 
steuer, deren  Schattenseiten  sie  in  ihren 
Wirkungen  teilt.  Wegen  der  Einfachheit 
ihrer  Aeranlagung  und  Erhebung  ist  sie 
sicher  und  bequem  für  den  Staat,  aber 
höchst  un verhältnismässig  für  den  Steuer- 
zahler und  daher  ohne  harten  Dnick  nie- 
mals sehr  ergiebig  zu  machen.  Thatsäch- 
lich  vermag  sie  nur  primitiven  Anfordenm- 
gen  in  technischer  und  finanzieller  Be- 
ziehung zu  genügen.  Seit  Beginn  des  18. 
Jahrhunderts  wurde  sie  allerwärts  durch 
zeitgemässere  Steuerformen  abgelöst  und 
teils  von  der  Vermögenssteuer  aufgenommen, 
teils  in  eine  allgemeine  Familiensteuer  er- 
weitert. In  der  einen  wie  in  der  anderen 
Richtiuig  hat  die  Heixlsteuer  als  Vorläuferin 
der  modernen  Ertragsbesteuerung  —  Ge- 
bäude- und  (specielle)  Einkommensteuer  — 
ihre  geschichtliche  Bedeutung  gehabt,  ins- 
beson(lere  dadurch,  dass  sie  vorbildlich  als 
eine  Steuer  »nach  äusseren  Merkmalen«  den 
Boden  für  die  Objektbesteuerung  vorbereitet 

liat. 

Max  van  Hechel, 


Herkner,  Heinrich« 

§eb.  am  27.  VI.  1863  in  Keichenberg  (Böhmen), 
ach  Absolvierung  des  Gymnasiums  dieser 
Stadt  1882  studierte  er  Philosophie  und  Kunst- 
wissenschaft in  Wien,  1883 — 1887  Staatsmssen- 
schaften  in  Leipzig,  Berlin,  Freiburg  i.  B.  und 
Strassbur^;  1889  als  Docent  mit  Lehraaftrag 
nach  Freiburg  i.  B.  berufen,  wurde  er  1890 
daselbst  etatmässiffer  ausserordentlicher  Pro- 
fessor, 1892  ordentlicher  Professor  der  Volks- 
wirtschaftslehre an  der  Technischen  Hochschule 
Karlsruhe,  1898  ordentlicher  Professor  der 
Nationalökonomie  und  Statistik  an  der  Uni- 
versität Zürich. 

Er  veröflf entlichte  an  Staats  wissenschaft- 
lichen Schriften  a)  in  Buchform: 

Die  oberelsässische  Baumwollindustrie  und 
ihre  Arbeiter,  Strassburg  1887;  Die  ober- 
elsässische Baumwollindustrie  und  die  deutsche 
Gewerbeordnung,  Strassburg  1887;  Die  soziale 
Reform  als  Gebot  des  wirtschaftlichen  Fort- 
schrittes, Leipzij^  1891 ;  Die  Zukunft  der  Deutsch- 
Österreicher,  Wien  1893;  Die  Arbeiterfrage,  1. 
Aufl.,  Berlin  1894,  2.  Aufl.  ebd.  1897  (unter 
dem  Titel:  Die  Arbeit  in  Westeuropa,  ins 
Russische  übersetzt,  St.  Petersburg  1899;  Ueber- 
setzunff  ins  Finische  unter  der  Presse) ;  Die  Zu- 
kunft des  Deutschtums  in  Böhmen,  1894;  Alko- 
holismns  und  Arbeiterfrage,  Hildesheim  1896; 
Das  Frauenstudium  der  Nationalökonomie,  Berlin 
1899.  —  In  den  Schrifteu  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  (Bd.  LXXVI)  bearbeitete  er:  Die 
Handhabung  des  Vereins-  und  Koalitionsrechtes 
der  Arbeiter  im  Deutschen  Reiche. 

b)  in  Zeitschriften:  Brauns  Archiv  für 
soziale  Gesetzgebung  und  Statistik:  Bd.  I:  Die 
belgische  Arbeitereuquete  und  ihre  sozialpoli- 
tischen Besultate;  Bd.  UI:  Zur  Kritik  und 
Beform  der  deutschen  Arbeiterschutzgesetz- 
gebung; Bd.  IV:  Studien  zur  Fortbildung  des 
Arbeitsverhältnisses;  Bd.  V:  Die  Reform  der 
deutschen  Arbeiterschutzgesetzgebung ;  Bd.  XIII: 
Das  Frauenstudium  der  Nationalökonomie. 

Conrads  Jahrbücher  N.  F.  Bd.  XXI:  Die 
irische  Agrarfrage.  —  Die  Sachsengängerei.  — 
Schmollers  Jahrbuch  Bd.  XX:  Ueber  Sparsam- 
keit und  Luxus  vom  Standpunkte  der  nationalen 
Kultur-  und  Sozialpolitik.  —  Zeitschrift  für  ges. 
Staatswissenschaft  Bd.  LI:  Sozialreform  und 
Politik.  —  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft, 
Sozialpolitik  und  Verwaltung,  Wien  Bd.  II: 
Ueber  Erhaltung  und  Verstärkung:  der  Mittel- 
klasse. —-  Revue  d'6conomie  politique,  Paris 
1892 :  La  vie  des  onvriers  de  fabriques  dans  le 
Grand-Duche  de  Bade.  —  Wahrheit  (Schrempf), 
Stuttgart,  Nr.  37,  38:  Die  soziale  Reform  eine 
Kulturfrage.  —  Zukunft  (M.  Harden),  Berlin, 
1892:  Die  Statistik  der  Einkommensbesteuerung ; 
1894:  Die  sozialdemokratische  Krisis;  1895: 
Sozialreform  und  Deutschtum ;  Der  Parteitag 
der  Sozialdemokratie.  —  Ausserdem  div.  Artikel 
in  Deutsche  Worte  (E.  Pernerstorfer) ,  Wien; 
Deutsches  Wochenblatt,  Berlin ;  Deutsche  Litte- 
raturzeitung,  Berlin ;  Litt.  Centralblatt,  Leipzig ; 
Neue  Deutsche  Rundschau,  Berlin;  Handels - 
museum,  Wien;  Sozialpolitisches  Centralblatt, 
Soziale  Praxis,  Berlin ; .  Zeit,  Wien  und  Tages- 
blätter. —  In  diesem  Handwörterbuche  der 
Staatswissenschaften  rühren   von   ihm  her  die 


1196 


Herkiier — Hermann 


Art.   Gewerkvereine    in   Oesterreich,    Gewerk- 
vereine in  der  Schweiz,  Krisen,  Owen. 

Red, 


Hermann,  Friedrich  Benedikt  Wil- 

Iielm  y., 

geb.  am  5.  XII.  1795  in  Dinkelsbühl  in  Bayern, 
gest.  als  Mitglied  der  Münchener  Akademie  der 
Wissenschaften  (seit  1835)  und  als  Staatsrat 
(seit  1855)  am  23.  XI.  1868  in  München.  Her- 
mann habilitierte  sich  1821  als  Docent  der 
Kameralwissenschaften  in  Erlangen,  dann  wurde 
er  1827  ausserordentlicher  und  1833  ordentlicher 
Professor  der  Kameralwissenschaften  in  München. 
1848  deputierte  ihn  München  in  die  konsti- 
tuierende Nationalversammlung  zu  Frankfurt 
a.  M.,  wo  er  zuerst  dem  linken  Centrum  ange- 
hörte und  u.  a.  für  Abschaffung  des  Adels  und 
Anerkennung  der  Volkssouveränität  in  der 
Reichs  Verfassung  stimmte.  Im  Februar  1849 
ward  er  Mitbegründer  der  sogenannten  gross- 
deutschen Partei.  1850  wurde  Hermann  Vor- 
stand des  königlich  bayerischen  statistischen 
Bureaus,  das  er  bis  1867  leitete,  1852  vertrat 
er  Bayern  auf  der  Wiener  Zollkonferenz. 

Hermann  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen  Schriften   a)  in  Buchform: 

Dissertatio  exhibens  sententias  Romanorum 
ad  ueconomiam  politicam  pertinentes,  Erlangen 
1823  (Promotionsschrift).  —  Staatswirtschaft- 
liche Untersuchungen,  München  1832;  dasselbe, 
2.  vermehrte  und  umgearbeitete,  nach  des  Ver- 
fassers Tode  von  dessen  Schwiegersohn  und 
Nachfolger  im  Direktoriat  des  statistischen 
Bureaus,  Unterstaatssekretär  J.  v.  Mair,  und 
Professor  von  Helferich  herausgegebene  Auflage, 
ebd.  1870.  (üeber  Kapital,  Preisbildung,  Ein- 
kommen, Bodenrente,  Konsumtion  hat  Hermann 
in  vorstehender  Schrift  teils  neue  Theorieen 
aufgestellt,  teils  die  älteren  bezüglichen  Funda- 
men talbegriffe  vertieft  und  erweitert.  In  seinen 
„Untersuchungen"  werden  u.  a.  die  Ricardosche 
Lohntheorie,  wonach  die  Steigerung  der  Löhne 
ein  Sinken  des  Unternehmergewinnes  und  vice 
versa  bedinge  und  die  wirtschaftlich  ungünstigen 
Folgen,  die  Ricardo  daran  knüpft,  als  viel  zu 
allgemein  gehalten  bemängelt;  seine  eigenen 
Ausfühningen  über  den  Lohn  sind  leider  auch 
in  der  zweiten  Auflage  der  „Untersuchungen" 
unvollendet  geblieben,  indem  die  Erörterungen 
über  den  Einfluss,  welchen  das  Arbeitsangebot 
seitens  der  Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer  auf 
die  Lohnskala  ausübt,  vermisst  werden.)  Die 
Industrieausstellung  zu  Paris  im  Jahre  1839. 
Nachrichten  über  den  Zustand  der  verschiedenen 
Zweige  der  Fabrikation,  über  Ein-  und  Ausfuhr 
an  Rohstoffen  und  Manufakturen  in  Frankreich 
seit  1815,  Nürnberg  1840.  —  Die  Reichsver- 
fassung und  die  Grundrechte.  Zur  Orientierung 
bei  der  Eröffnung  des  bayerischen  Landtags  im 
September  1849,  München  1849.  —  Beiträge  zur 
Statistik  des  Königreichs  Bayern.  Nach  amt- 
lichen Quellen  herausgegeben  nach  F.  B.  W.  v. 
Hermann,  Heft  1  bis  Heft  17,  München  IShO— 
1867.  (Daraus  sind  folgende  Arbeiten  Her- 
manns besonders  aufzuführen:  Heft  3  (1854), 
S.  V  und  VI  des  V^orwortes  zu  seiner  auf  S. 
216 — 223  enthaltenen,  bis  zum  34.  Lebensjahre 


berechneten  Mortalitätstafel.  Die  noch  gegen- 
wärtig als  praktisch  anerkannte  Methode  Her- 
manns, die  gegenwärtige  Sterblichkeit  für  die 
verschiedenen  Lebensalter  zu  beurteilen,  beruht 
auf  der  Voraussetzung,  dass  die  an  einem  Tage 
des  Kalenderjahres  ermittelten  Lebenden  auf 
gleiche  Altersstufe  mit  den  während  eines 
Jahres  Gestorbenen  gebracht  und  mit  letzteren 
verglichen  worden  sind.  —  Heft  13  (1865) :  Die 
Volkszählung  im  Königreich  Bayern  vom  De- 
zember 1864.  Mit  einer  Abhandlung  über  die 
Ergebnisse  der  11  Volkszählungen  1834—1864, 
verglichen  mit  den  Resultaten  der  Bewegung 
der  Bevölkerung  während  derselben  30  Jahre. 

—  Heft  15  (1866):  Die  Ernten  im  Königreich 
Bayern  und  in  einigen  anderen  Ländern.  — 
Die  Bewegung  der  Bevölkerung  im  Königreich 
Bayern.  Festrede,  München  1853  (darin  die 
Definition  Hermanns:  „Was  sich  in  den  Ergeb- 
nissen der  Staatsthätigkeit  und  in  den  Lebens- 
verhältnissen des  Volkes  auf  Grösse  und  Zahl 
reduzieren  und  quantitativ  vergleichen  lässt, 
das  wird  Objekt  der  Statistik.")  —  Ueber  die 
Gliederung  der  Bevölkerung  des  Königreichs 
Bayern.    Festrede  am  28.  XI.  1855,  ebd.  1855. 

—  Ueber  den  Anbau  und  Ertrag  des  Bodens 
im  Königreich  Bayern.    Festschrift,  ebd.  1857. 

—  Hermann  war  beteiligt  an  den  Werken: 
Bericht  der  BeurteilungsKommission  bei  der 
allgemeinen  deutscheu  Industrieausstellung  zu 
München  im  Jahre  1854,  bearbeitet  von  dem 
Ausschussreferenten  und  herausgegeben  von 
dem  Vorstande  dieser  Kommission  F.  B.  W.  v. 
Hermann,  ebd.  1855.  —  Rechenschaftsbericht 
über  die  Verhandlungen  des  internationalen 
statistischen  Kongresses  zu  Wien  1857.  Wien 
1858. 

b)  in  Zeitschriften:  1.  Im  Archiv  der 
politischen  Oekonomie  und  Polizeiwissenschaft: 
Abhandlung  über  den  gegenwärtigen  Znstand 
des  Münzweseus  in  Deutschland  und  die 
neueren  Vorschläge  zur  Abstellung  seiner 
Gebrechen,  Bd.  I,  Heidelberg  18:^,  S.  58100 
und  141/206.  —  Ueber  Einführung  der  Ar- 
mentaxe in  Irland;  über  Eisenbahnen  in  Eng- 
land (Auszüge  aus  der  Edinburgh  Review), 
Bd.  I,  S.  400  ff.,  Bd.  IE  (183^5),  S.  391  ff.  —  2. 
In  der  Augsburger  Allgemeinen  Zeitung :  L>ber 
den  Handels-  und  Schiffahrtsvertrag  der  Zoll- 
vereinsstaaten mit  England;  Jahrg.  1841.  Bei- 
lage Nr.  155/56  und  159.  —  Der  deutsch-Öster- 
reichische Handelsbund,  Jahrg.  1850,  Beilage 
Nr.  183/84,  224.  —  3.  In  den  Berliner  Jahr- 
büchern für  wissenschaftliche  Kritik,  Jahr&rang 
1835—37:  Besprechungen  Staat swissenscliaf t- 
lieber  Werke  von  Baumstark,  Nebenius,  Say, 
Villeneuve-Bargemont.  (Eine  Kritik  der  Eco- 
nomic politique  chretienne  letztgenannten  Autors 
findet  sich  im  Augustheft  des  Jahrg.  1835.  es 
wird  von  Hermann  darin  der  Vorwurf  der  L'n- 
christlichkeit ,  den  Villeneuve-Bargemont  der 
neuzeitlichen  Nationalökonomie  gemacht  hat, 
widerlegt.)  —  4.  In  den  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat. : 
ResultAte  der  bayerischen  Viehzählung  vom 
April  1863  im  Vergleich  mit  der  Zählung  vom 
April  1840,  Bd.  III,  Jena  1864,  S.  74.  —  Vieh- 
stand in  Bayern,  Preussen,  Sachsen,  Hannover, 
Württemberg,  Baden,  Hessen,  Mecklenburg, 
Oesterreich,  Frankreich,  Belgien  etc.,  Bd.  HI, 
1864,  S.  202.  —  5.  In  Münchener  gelehrte  An- 
zeigen der  bayerischen  Akademie  der  Wissen- 


Hermaan  — Herrenschwand 


1197 


Schäften:  Ueber  Sparanstalten  im  allgemeinen, 
insbesondere  über  Sparkassen  mit  Kücksicht 
auf  die  in  Bayern  bestehenden  Anstalten  dieser 
Art,  Bd.  I,  München  1836.  —  Besprechungen 
staatswissenschaftlicher  Werke  von  K.  Arnd, 
K.  S.  Zachariä ,  Senior ,  v.  Malchus,  Th.  Tooke, 
L.  Moser,  A.  Soetbeer,  W.  Dönniges  etc.  etc., 
Bde.  II— XXV,  oder  Jahrgänge  1836—47.  (Die 
Arbeit  des  letztgenannten  Autors  betitelt  sich: 
„Das  System  des  freien  Handels  und  der  Schutz- 
zölle mit  vorzüglicher  Hücksicht  auf  den  deut- 
schen ZoUverein,  Berlin  1847",  und  die  Bespre- 
chung dieses  Buches  gab  Hermann  Gelegenheit, 
in  den  Nrn.  191—199  des  XXV.  Bandes  der 
Anzeigen  seine  sympathische  Stellung  zur  ge- 
mässigten Schutzzollpolitik  eingehend  zu  er- 
örtern und  dabei  seine  Ansichten  über  die  Be- 
rechtigung der  Arbeiter  zu  entwickeln,  an  dem 
durch  den  Protektionismus  geschaffenen  allge- 
meinen National  wohl  Stande  zu  participieren.) 

Vergl.  über  Hermann:  K.  Arnd,  Die 
naturgemässe  Volkswirtschaft  gegenüber  dem 
Monopoliengeiste  und  Kommunismus,  Hanau 
1845,  S. 486/88.  —  Haym,  Die  deutsche  National- 
versammlung, 3  Bde.,  Frankfurt  a.  M.  1848  50, 
Bd.  III,  besonders  S.  147/151.  —  H.  Laube, 
Das  erste  deutsche  Parlament,  3  Bde.,  Leipzig 
1849,  Bd.  II,  S.  216,  Bd.  III,  S.  359.  —  Diction- 
naire  de  l'^conomie  politique,  2.  Aufl.,  Bd.  I, 
Paris  1854,  S.  861/62.  —  Kautz,  Theorie  und 
Geschichte  der  Nationalökonomik,  Teil  II,  Wien 
1860,  S.  633/37.  — Adam  Smith  des  Jüngeren 
Prüfung  der  heutigen  volkswirtschaftlichen 
Systeme,  Frankfurt  a.  M.  1867,  S.  197/200.  — 
M.  Block,  Analyse  de  travaux  de  M.  de  Her- 
mann, conseiller  d'Etat,  etc.  et  biographie 
(Journal  des  Economistes,  3«  sörie,  Bd.  VII, 
Paris  1867,  S.  399  ff.,  Bd.  XII,  1868,  S.  426  ff. 
und  490  ff.)  —  Freund,  Titanen  und  Pigmäen, 
München  1871.  —  Schaf fle,  Gesellschaftliches 
System,  3.  Aufl.,  Teil  I,  Tübingen  1873,  S.  1  ff. 
—  Röscher,  Gesch.  der  Nat.,  München  1874, 
S.  860 ff.  —  W.  Lexis,  Einleitung  in  die 
Theorie  der  Bevölkerungsstatistik,  Strassburg 
1875,  S.  39ff.  —  V.  Helferich,  Fr.  B.  W.  v. 
Hermann  als  nationalökonomischer  Schriftsteller 
(Zeitschr.  f.  Staatsw.,  XXXIV),  Tübingen  1878, 
S.  638  ff.  —  Knies,  Politische  Oekonomie  vom 
geschichtlichen  Standpunkte,  Braunschweig  1883, 
§.  233 ff.  —  John,  Geschichte  der  Statistik, 
Bd.  I,  Stuttgart  1884,  S.  302.  -  Walcker, 
Geschichte  der  Nationalökonomie,  Leipzig  1884, 
S.  121/22.  —  A.  Meitzen,  Geschichte,  Theorie 
und  Technik  der  Statistik,  Berlin  1886,  S.  37, 
50.  67,  201,  209.  —  K.  Wasserrab,  Preise 
und  Krisen,  Stuttgart  1889,  S.  13,  16/17,  26, 
124.  —  Nouveau  dictionnaire  d'^conomie  polit., 
Bd.  I,  Paris  1891,  S.  1128.  —  Geschichte  und 
Einrichtung  der  amtlichen  Statistik  im  König- 
reich Bayern.  Herausgegeben  vom  kgl.  bayer. 
Statist.  Bureau.    München  1895.    S.  19ff. 

Lippert, 


Herrenschwand, 

Vorname  unbekannt,  geboren  als  jüngerer 
Bruder  des  Mediziners  Job.  Friedrich  Herren- 
schwand, 1730  zu  Murten  in  der  Schweiz,  lebte 


in  reiferen  Jahren  in  London  und  Paris  und 
starb  um  das  Jahr  1807.  Herrenschwand  stand 
als  Eklektiker  zwischen  dem  physiokratischen 
und  dem  Industriesystem  Smiths,  doch  war  er 
als  Philanthrop,  der  sich  zu  den  Grundsätzen 
des  älteren  Mirabeau  (vergl.  dessen  ,,rami  des 
hommes'')  bekannte,  und  Sls  Agrarpolitiker  der 
Quesnayschen  Schule  am  verwandtesten.  Er 
bekämpfte  die  Irrtümer  des  Merkantilismus, 
verwarf  das  Princip  der  unbeschränkten  Ver- 
kehrsfreiheit und  sympathisierte  nur  mit  der 
selbstlosen  Harmonie  der  Interessen. 

Herrenschwand  veröffentlichte  von  staats- 
wissenschaftlichen Schriften  in  Buchform: 

De  r^conomie  politique  moderne.  Discours 
fondamental  sur  la  population,  London  1776; 
dasselbe,  2.  Aufl.,  Paris  1795;  dasselbe  in  deut- 
scher Uebersetzung,  Halle  1794.  (Diese,  Lud- 
wig XVI.  dedizierte  Schrift  stempelt  den  Ver- 
fasser zu  einem  Vorläufer  von  Malthus.  Er 
verlangt  darin,  dass  die  Zunahme  des  Umsatzes 
mit  dem  Anwachsen  der  Bevölkerung  und  der 
Produktion  in  reciprokem  Verhältnisse  stehen 
soll  und  erklärt  sich,  ganz  im  physiokratischen 
Sinne,  gegen  die  künstlich  vom  Staate  geförderte 
Volksvermehrung.)  ~  Discoars  sur  le  credit 
public  des  nations  europeennes,  London  1787. 
—  Discours  sur  le  commerce  exterieur  des 
nations  europeennes,  ebd.  1787;  dasselbe,  2.  Aufl., 
ebd.  1790;  dasselbe  in  deutscher  Uebersetzung 
u.  d.  T. :  Abhandlung  über  den  Handel  euro- 
päischer Nationen,  Berlin  1796.  —  Discours  sur 
la  division  des  terres  dans  Fagriculture,  London 
1788;  dasselbe,  2.  Aufl.,  ebd.  1790.  —De  Teco- 
nomie  politique  et  morale  de  Tesp^ce  humaine, 
2  Bde.,  ebd.  1796.  —  Du  vrai  principe  actif  de 
l'economie  politique  ou  du  vrai  credit  public, 
ebd.  1797  (Auszug  aus  dem  vorherc^ehenden 
zweibändigen  Werke);  dasselbe  in  deutscher 
Uebersetzung  u.  d.  T.;  Ueder  die  Mittel,  den 
öffentlichen  Kredit  in  einem  Staate  wieder  her- 
zustellen, dessen  politische  Oekonomie  zerstört 
ist.  Deutsch  von  A.  L.  von  Massenbach,  Amster- 
dam (recte  Leipzig^  1810.  —  Du  vrai  gouveme- 
ment  des  peuples  ae  la  terre  ou  adresse  k  ceux 
qui  gouvement  comme  a  ceux  qui  sont  gouver- 
n^s,  Paris  1802;  dasselbe,  2.  Aufl.,  u.  d.  T.: 
Du  vrai  gouvemement  du  l'esp^ce  humaine, 
ebd.  1803. 


Vgl.  über  Herrenschwand:  Blanqui, 
Histoire  de  T^conomie  polit.  en  Europe,  3.  Aufl., 
Bd.  II,  Paris  1845,  S.  379/80.  —  Dictionnaire 
de  Teconomie  politique,  2.  Aufl.,  Bd.  I,  Paris 
1854,  S.  860/61.  — R.  v.  Mo  hl,  Geschichte  und 
Litteratur  der  Staatswissenschaften,  Bd.  III, 
Erlangen  1858,   S.  477.  —  Nouvelle  biographie 

fen6rale,  Bd.  XIX,  Paris  1858.  —  Kautz, 
heorie  und  Geschichte  der  Nationalökonomik. 
Bd.  II,  Wien  1860,  S.  362.  —  Röscher,  Ge- 
schichte der  Nat.,  München  1874,  S.  592,  911. 

—  Inama-Sternegfl:,  Herrenschwand,  in 
Jahrb.  für  Nat.  u.  Stat.,  Bd.  33,  Jena  1879,  S.  416  ff. 

—  Allgemeine  deutsche  Biographie,  Bd.  XII,  Leip- 
zig 1^,  S.  208.  —  J.  Garnier,  Du  principe 
de  population,  2.  Aufl.  von  Molinari,  Paris  1885, 
S.  244. 

Lippert 


1198 


H  eirmann — ^Hertzka 


Herrmann,  Emanuel^ 

wurde  am  24  VI.  1839  zu  Xlagenfurt  in  Kärnten 
geboren,    absolvierte    von    1848   bis    18ö6    das 
Gymnasium  seiner  Vaterstadt,  studierte  alsdann 
an   den    Universitäten  Wien,    Prag  und  Graz 
Kechtswissenschaften,    Geschichte    und   Natur- 
wissenschaften und  wurde   1862  in  Graz  zum 
Doktor  der  Rechte  promoviert.     Nachdem   er 
von  1861   an  im  Staatsdienste  thätig  gewesen 
war,  habilitierte  er  sich  1864  an   der  Grazer 
Universität,  wurde  1865  Dozent  für  National- 
ökonomie und  Statistik  an  der  technischen  Hoch- 
schule und  Professor  für  die  gleichen  Fächer 
an  der  Handelsakademie  zu  Graz.     Im  Jahre 
1868  folgte  er  einem   Rufe   als  Professor  für 
Nationalökonomie,  y[>sterreichisches  Staats-  und 
Verwaltungs-   sowie    Civilrecht   an    die   k.   k. 
Militärakademie  der  Wiener  Neustadt  und  1871 
als  Professor  für  Nationalökonomie  und  Finanz- 
wissenschaft an  die  Handelsakademie  in  Wien. 
Im  Frühjahr  1872  wurde  Hen*mann  als  Sektions- 
rat und  Chef  des  neugeschaffenen  Departements 
für  Förderung  der  Gewerbe  und  Industrie  in 
das   Handelsministerium   gezogen,    setzte   aber 
seine  Lehrthätigkeit  an  der  Wiener  Handels- 
akademie noch  einige  Jahre  hindurch  fort.    Im 
Handelsministerium  organisierte  er  unter  der 
Aegide    des    damaligen   Ministers   Dr.    Anton 
Banhaus  eine  grosse  Zahl  gewerblicher  Fach- 
schulen, welche  die  Blüte  vieler  Industrieen  in 
Oesterreich     herbeiführten     und     zu     Muster- 
schöpfungen herangediehen,  die  auch  im  Aus- 
lande vielfach  Nachahmung  fanden.    Im  Jahre 
1881  zog  er  sich  mit  längerem  Urlaub  in  die 
Stille  eines  galizischen  Ortes  an  der  russischen 
Grenze  zurück,  um  sich  dort  chemisch-technischen 
Studien  zu  widmen;    1882  wurde  er  mit  Bei- 
behaltunc;  des  1874  erlangten  Rang  und  Titels 
eines  k.  k.  Ministerialrates  zum  o.  ö.  Professor 
der  Nationalökonomie  und  Finanzwissenschaft, 
wie    des    österreichischen    Handels-,    See-    und 
Wechselrechtes  an  der  technischen  Hochschule 
in  Wien  ernannt,  und  übernahm  ausserdem  die 
Docentur    für    österreichische    Finanzgesetzes- 
kunde   an    der    Wiener    Universität,    welche 
Stellungen  er  auch  noch  gegenwärtig  einnimmt. 
Herrmann  veröffentlichte  an   staatswissen- 
schaftlichen Schriften  a)  in  Buchform:  All- 
gemeine   Wirtschaftslehre,    Graz    1868.     (Von 
diesem  Werke  erschienen  nur  zwei  Lieferungen 
und  zwar  über  das  Gesetz  der  Arbeitsteilung 
als  Grundlage  der  Technik  und  Oekonomik.)  — 
Theorie  der  Versicherung  vom  wirtschaftlichen 
Standpunkte,  Graz  1868,  2.  Aufl.  1869,  3.  Aufl. 
Wien  1897.  —  Leitfaden  der  Wirtschaftslehre, 
Graz  1870.  —  Miniatur bild er  aus  dem  Gebiete 
der  Wirtschaft,  Halle  a.  S.  1872.  —  Principien 
der  Wirtschaft,  Wien  187H.  —  Kultur  und  Natur, 
Studien  im  Gebiete  der  Wirtschaft,  Berlin  1887. 

—  Volkswirtschaft  und  Unterricht,  Berlin  1888. 

—  Die  Familie  vom  Standpunkte  der  Gesamt- 
wirtschaft, Berlin  1889.  —  Sein  und  Werden 
in  Raum  und  Zeit,  Berlm  1889.  —  Technische 
Fragen  und  l*robleme  in  der  modernen  Volks- 
wirtschaft, Leipzig  1891.  —  Wirtschaftliche 
Fragen  und  Probleme,  Leipzig  1893.  —  Das 
Geheimnis  der  Macht,  Berlin  1896. 

b)  in  Zeitschriften  und  zwar:  in  der 
„Deutschen  Vierteljahresschrift": 
Ueber  die  Entstehung  der  Arten  im  Gebiete  der 


'   ■lT"'i 


Wirtschaft.  —  In  der  „Viert,  f.  Volksw.": 
Die  Hausindustrie  (1873). 

Bei  der  Ausarbeitung  des  oben  erwähnten 
„Leitfadens  der  Wirtschaftslehre''  kam  Herrmann 
bei  Durchforschung  der  Anwendung  des  Gesetzes 
der  Specialisiening  auf  den  Gedanken  der  Post- 
karte (Korrespondenzkarte),  und  zwar  ganz  un- 
abhängig von  einer  ähnlichen  Idee,  welche 
Staatssekretär  von  Stephan  einige  Jahre  vorher 
auf  der  Karlsruher  Posütonferenz  den  Mitgliedern 
derselben  kurz  mitgeteilt  hatte.  Herrmann  ver- 
öffentlichte seine  Idee  in  einem  Aufsatze  der 
neuen  Presse  vom  26.  I.  1869  und  hatte  den 
Erfolg,  dadurch  diese  Einrichtung  in  Oesterreich 
anzur^en.  (Vgl.  darüber  Herrmanns  Miniatnr- 
bilder  etc.  S.  73  ff. ,  Karl  Hugelmann ,  Die 
Korrespondenzkarte  und  ihre  Nachfolger,  in  der 
Zeitschrift  „Das  Handelsmuseum''  [Wien]  18S9, 
Nr.  52,  S.  892.  —  Gfr.  auch  Art.  „Post"  in 
diesem  „Handwörterbuch".) 

Als  Werke  kulturhistorischen  Inhalts  er- 
schienen: Volkslieder  aus  Kärnten,  1867  und 
spätere  Auflagen  und  Ausgaben;  Naturgeschichte 
der  Kleidung,  Wien  1879;  Hexameron,  Ge- 
schicht^en  aus  der  Geschichte,  Wien  1879. 

Herrmann  berücksichtigt  in  seinen  Arbeiten 
besonders  die  technische  Entwickelung  im  Zu- 
sammenhange mit  der  wirtschaftlichen  und  sucht 
ein  System  der  Oekonomie  ins  Leben  zu  rufen, 
in  welchem  die  reine  allgemeine  Oekonomik  die 
Grundlage,  die  Volks-  und  Staats wirtschafts- 
lehre  jedoch  nur  weitere  Ausführungen  bilden. 

Red. 


Hertzka^  Theodor, 

ist  am  13.  VII.  1845  in  Budapest  geboren.  Er 
studierte  in  Wien  und  Budapest,  wurde  1872 
Redakteur  des  wissenschaftlichen  und  volks- 
wirtschaftlichen Teils  der  „Neuen  freien  Presse" 
und  übernahm  1880  die  Oberleitung  der  von 
ihm  begründeten  „Wiener  Allgemeinen  Zeitung" ; 
er  verkaufte  dieses  Blatt  im  Jahre  1886  und 
begründete  1889  die  „Zeitschrift  für  Staats- 
und Volkswirtschaft". 

Hertzka,  der  1874  die  „Gesellschaft  öster- 
reichischer Volkswirte"  ins  Leben  rief,  vertritt 
auf  sozialem  Gebiete  das  Princip  der  absoluten 
„Gerechtigkeit"  in  Verbindung  mit  ab.soluter 
individueller  Freiheit,  mit  anderen  Worten:  er 
ist  der  Ansicht,  dass  dem  arbeitenden  Individuum 
das  ungeschmälerte  Eigentum  und  Dispositions- 
recht über  den  vollen  Ertrag  seiner  eigenen 
Arbeit,  also  ohne  Abstattung  irgend  welchen 
Tributes  an  den  Unternehmer.  Kapitalisten  und 
Grundbesitzer  gesichert  werden  müsse  und 
könne  und  dass  es  trotzdem  nicht  notwendig 
sei,  dem  Staate  oder  der  Gesellschaft  irgenu 
welches  Kontrollrecht  über  die  wirtschaftliche 
Thätigkeit  des  Individuums  einzuräumen.  Auf 
monetarischem  Gebiete  ist  er  Vertreter  der 
reinen  Goldwährung,  im  übrigen  Freihändler 
und  ein  Anhänger  der  sogenannten  klassischen 
Schule  der  Nationalökonomie. 

Hertzka  veröffentlichte  folgende  Schriften: 
Die  Mängel  des  österreichischen  Aktien- 
gesetzentwurfs, Wien  1875.  —  Währung  und 
Handel,  Wien  1876.  —  Die  Goldrechnung  in 
Oesterreich^  Wien  1880.  —  Die  Gesetze  der 
Handelspolitik,  Leipzig  1880.  —  Das  Personen- 


Hertzka — Heuschling 


1199 


porto,  Wien  1885.  —  Die  Gesetze  der  sozialen 
Entwickelung,  Leipzig  1886.  —  Das  Wesen  des 
Geldes,  Leipzig  1887.  —  Freiland.  Ein  sozial- 
politisches Zukunftsbild,  Dresden  1890.  (Letzt- 
genanntes Werk  erfuhr  seither  mehrere  deutsche, 
insgesamt  (bis  1896)  10  und  einige  fremdsprach- 
liche Ausgaben.)  —  Sozialdemokratie  und  öozial- 
liberalismus,  Dresden  1891.  —  Das  internationale 
Währungsproblem  und  dessen  Lösung,  Leipzig 
1892.  — Wechselkurs  und  Agio.  Eine  währungs- 
politische Studie,  Wien  1894.  —  Freilands  Wirt- 
schaftsordnung. Nach  den  am  29.  XI.  bis  1.  XII. 
1893  zu  Berlin  gehaltenen  Vorträgen,  1.  und 
2.  Aufl.,  Berlin  1894.  —  Die  Probleme  der 
menschlichen  Wirtschaft,  I.  Band:  Das  Problem 
der  Gütererzeugung,  Berlin  1897. 

Red. 


Heuschling,  Philipp  Franz  Xayier 

Theodor, 

geboren  am  21.  III.  1802  in  Luxemberg,  trat 

§egen  1830  in  den  Staatsdienst,  war  1838 
[inisterialsekretär  im  Finanzministerium  zu 
Brüssel,  wurde  1841  Direktor  des  statistischen 
Bureaus  im  Ministerium  des  Innern  und  Sekretär 
der  statistischen  Centralkommission  zu  Brüssel, 
trat  1872  unter  dem  Titel  eines  „directeur 
honoraire  de  la  statistique  beige**  in  den  Ruhe- 
stand und  starb  am  23.  V.  1883  in  Brüssel. 

In  seinem  rom  2.  VII.  1881  datierten  Testa- 
mente stiftete  Heuschling  ein  unter  fiskalische 
Verwaltung  gestalltes  Kapital  von  25000  Frcs., 
dessen  fünQährige  Zinsen  zur  Prämiiemng  des 
besten,  innerhalb  eines  Quinquenniums  er- 
schienenen Originalwerkes  eines  belgischen 
Statistikers  verwandt  werden  sollen.  Die  ersten 
fün^ährigen  Zinsen  erhielt  Jules  Sauveur  für 
das  Werk:  „Statistique  g^n^rale  de  Tinstruction 
publique  en  Belgique  de  1830  a  1885". 

Heuschling  veröffentlichte  von  staats- 
wissenschaftlichen Schriften  a)  in  Buchform: 

Essai  sur  la  statistique  generale  de  la 
Belgique,  Brüssel  1838;  dasselbe,  2.  Aufl.  mit 
Supplement,  ebd.  1841/44.  {Die  erste  Auflage 
wurde  von  Ph.  van  der  Maelen  herausgegeben.) 

—  Des  naissances  dans  la  ville  de  Bruxelles, 
considerees  dans  leur  rapport  avec  la  population, 
ebd.  1841.*  —  Sur  l'accroissement  de  la  popu- 
lation de  la  Belgique  pendant  la  p^riode  d^cen- 
nale  de  1831  a  1840,  ebd.  1844.  —  Apergu  des 
principales  publications  statistiques  raites  sur 
la  Belgique  depuis  l'iucorporation  de  ce  pays  k 
la  France  en  1794  jusqu'ä  ce  jour,  ebd.  1844*. 

—  De  la  reforme  des  impots  en  Belgique  comme 
nioyen  de  soulager  le  pauperisme  et  d'en  arr^ter 
les  progr^s,  ebd.  1844.  —  Bibliographie  histori- 
que  de  la  statistique,  en  AUemagne,  avec  une 
introduction  generale,  ebd.  1845.  —  Sur  le 
mouvement  de  Tetat  civil  en  Belgique,  1841  k 
1844,  ebd.  1848*.  —  Manuel  de  statistique  ethno- 
graphique  universelle,  prec6de  d'une  introduction 
theorique  d'apr^s  l'^tat  actuel  de  la  science, 
ebd.  1849.  (In  der  Einleitung  umfassende  Er- 
örterungen über  Con rings  deutsche  Schule  der 
StatistiE.)   —  Bibliographie    historique    de   la 


statistique  en  France,  ebd.  1851*.  —  Nouvelle 
table  de  mortalite  de  la  Belgique.  Presentee  a 
TAcad^mie  des  sciences  morales  et  polit.  dans 
la  seance  du  20  septembre  1851,  Paris  1851. 
(Dieser  für  die  Jahre  1841  bis  1850  be- 
rechneten Sterbetafel  liegen  zunächst  die  Todes- 
falle im  Königreich  Belgien,  ermittelt  für  das 
1.  bis  10.  Lebensjahr  und  die  darauf  folgenden 
Jahrfünfte  bis  zum  100.  Lebensjahre  zu  Grunde, 
in  Vergleich  gebracht  zu  dem  Ueberschuss  der 
Geborenen  über  die  Gestorbenen  in  den  gleichen 
Altersstufen.  Die  Berechnungen  stützen  sich 
auf  die  Halleysche  Methode  (s.  d.),  und  den  ge- 
wonnenen Resultaten  sind  die  der  Eersseboora- 
schen  Annuitätentafel  für  Holland  gegenüber- 
gestellt. Das  Referat  des  Akademikers  Villerme 
über  die  Brauchbarkeit  der  Tafel  war  ein  güns- 
tiges, führte  aber  zu  einer  unerquicklichen,  im 
„Journal  des  Economistes''  (s.  u.)  zum  Austrag 
gebrachten  Polemik  zwischen  Heuschling  und 
Quetelet,  in  die  auch  Guillard,  Liagre  und  J. 
E.  Hom,  die  ebenfalls  belgische  Sterbetafeln 
berechnet,  durch  gutachtliche  Aeusserungen  über 
die  Heuschlingscne  verwickelt  wurden.)  —  Re- 
sum6  du  recensement  general  de  la  population, 
de  Taghculture  et  de  rindustrie  de  la  Belgique, 
ebd.  1851*.  —  Resume  de  la  statistique  generale 
de  la  Belgique  pour  la  periode  decennale  de 
1841  ä  1^,  avec  une  notice  biograph.  sur 
Wagemann,  prof.  de  statistique,  ebd.  1852*.  — 
Historique  et  compte  rendu  du  Congrfes  inter- 
national de  statistique,  tenu  k  Vienne  en  1857, 
ebd.  1857.  —  Notice  sur  la  vie  et  les  ouvrages 
de  Guillaumin  Kersseboom,  statisticien  hollandais 
du  XVIIIiöme  siöcle,  ebd.  1857.  -  L'Empire  de 
Turquie.  Territoire,  population,  gouvemement 
etc.,  ebd.  1860.  —  L'impot  sur  le  revenn.  Recueil 
d'opuscules  pnbli^s  k  diverses  ^poques,  Paris 
und  Brüssel  1873.  —  Heuschling  war  beteiligt 
mit  Quetelet  an  1)  Projet  de  Solutions  des 
questions  posees  au  programme  pour  le  Congr^s 
de  statistique  en  Bruxelles,  le  20  mai  1853, 
Brüssel  1853;  2)  Statistique  internationale  (po- 
pulation), public  avec  la  coUaboration  des  statis- 
ticiens  officiels  des  dififerents  Etats  de  TEurope 
et  des  Etats  Unis  d'Amerique,  ebd.  1865;  mit 
Jourdain  an  Dictionnaire  encyclop6dique  de 
g6ographie  historique  du  royaume  de  Belgique 
etc.,  ebd.  1868—69. 

b)  in  Zeitschriften  und  zwar  im 
Journal  des  Economistes  (Paris)  I.  Serie: 
Nouvelle  table  de  mortalite  (mit  Reproduktion 
der  Tafel  und  der  Villerm6schen  Begutach- 
tung), Teil  XXX,  1851,  S.  245  ff.  —  Ex- 
p^rience  favorable  faite  dans  le  grand-duch6 
de  Luxembourg  pour  l'impot  du  revenu,  Teil 
XXXII,  1852,  S.  316  ff.  —  Coup  d'oe.il  sur  la 
nouvelle  Organisation  de  la  statistique  en  France 
et  les  organisations  antörieures,  Teil  XXXV, 
1853,  S.  358  ff.  —  Compte  rendu  du  Congres 
de  statistique,  r6uni  k  Bruxelles,  Teil  XXXVII, 
1853,  S.  70 ff.  —  II.  Serie:  Note  sur  les  tables 
de  mortalit6,  Teil  III,  1854,  S.  370  ff.  —  Lettre 
an  sujet  d'iin  article  de  M.  Quetelet  sur  les 
tables  de  mortalite,  Teil  IV,  1854,  S.  424  ff.  — 
Lettre  sur  le  nom  donne  ä  la  science  econo- 
mique,  Teil  VI,  1855,  S.  277  ff.  —  Resume  des 
travaux  du  Congres  de  statistique,  tenu  a  Paris 
en  1855,  Teil  VIII,  1855,  S.  87,  268,  382  ff.  — 
Recherches  sur  la  population,  d'apr^s  M.  Hom. 
Teil  X,  1856,  S.  84  0".  —  IIL  Serie:  Etüde  sur 


1200 


Heuschling — Hildebrand 


le  mode  d'^valution  du  revenu  national,  parti- 
culiörement  en  Belgique,  Teil  XXVI,  1872,  S.  6. 

Vgl.  über  Heuschling:  Quetelet,  Sur 
les  tables  de  mortalite  et  specialement  sur  les 
tables  de  mortalite  de  la  Belgique,  extrait  du 
Journal  des  Economistes,  No.  du  15  novembre 
1854,  Paris  1854.  —  Sur  les  tables  de  mortalite 
et  de  Population,  in  „Bulletin  de  la  Commission 
centrale  de  statistique  de  Belgique",  Bd.  V, 
Brüssel  1853,  S.  3ff.  —  Rundschau  der, Ver- 
sicherungen, Jahrg.  1853:  Varrentrapscher  po- 
lemischer, die  bei  den  Heuschlingschen  und 
Queteletschen  Sterbetafeln  zur  Anwendung  ge- 
kommene Methode  bekämpfender  Artikel,  Leip- 
zig 1853.  --  Wappäus,  Allgemeine  Bevölke- 
rungsstatistik, Bd.  II,  Leipzig  1861,  S.  24,  111, 
114,  372,  556.  —  Wild,  Probleme  der  Statistik, 
München  1862,  S.  31.  —  Oh.  Faider,  Etüde 
de  statistique  nationale,  Brüssel  1865,  S.  57  und 
65.  •—  John.  Geschichte  der  Statistik,  Bd.  I, 
Stuttgart  1884,  S.  37/39,  41/43,  233/35.  —  J. 
Garnier,  Du  principe  de  population,  2.  Aufl. 
von  Molinari,  Paris  1885,  S.  357.  —  Block, 
Traite  de  statistique,  2.  Aufl.,  ebd.  1886,  S. 
211  ff.  u.  ö.  —  Gabaglio,  Teoria  generale 
della  statistica,  2.  Aufl ,  Mailand  1888,  Teil  I, 
S.  234/35  u.  ö.;  Teil  II,  S.  7/8.  —  Bulletin  de 
la  Commission  centrale  de  statistique,  Teil  XVI, 
Brüssel  1890,  S.  127—141.  —  Nouveau  diction- 
naire  d'economie  politique,  Teil  I,  Paris  1891, 
S.  1128. 

*)  Die  vorstehend  mit  *  bezeichneten  Ver- 
öffentlichungen sind  Sonderabdrücke  aus  dem 
Bulletin  de  la  Commission  centrale  de  statistique. 

Ldppert 


Hildebrand^  Bruno, 

geboren  am  6.  III.  1812  in  Naumburg  a.  d.  S., 
gestorben  am  29.  I.  1878  in  Jena,  habilitierte 
sich  1836  als  Privatdozent  für  Geschichte  in 
Breslau,  wurde  1839  ausserordentlicher  Professor 
in  Breslau  und  1841  ordentlicher  Professor  der 
Staatswissenschaften  in  Marburg.  1848  vertrat 
er  Marburg  in  der  Paulskirche  zu  Frankfurt, 
1849—1850  die  Stadt  Bockenheim  im  kur- 
hessischen Landtage.  September  1850,  nach 
Auflösung  des  Landtages,  in  welchem  der  An- 
trag, der  Keg^ierung  den  verlangten  verfassungs- 
widriffen  Pmanzzuschuss  zu  verweigern,  von 
Hildebrand  gestellt  war,  wurde  dieser  im  Dis- 
ciplinarwege  seiner  Stellung  entsetzt,  ging 
darauf  nach  der  Schweiz  und  bekleidete  dort 
die  Professur  der  Staatswissenschaften  erst  in 
Zürich,  dann  in  Bern,  wo  er  auch  das  erste 
kantonale  statistische  Bureau  gründete.  1861 
verpflanzte  er  den  Sitz  seiner  Lehrthätigkeit 
von  Bern  nach  Jena,  gründete  dort  1862  die 
„Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik", 
welche  er  anfänglich  allein,  von  1873  ab  unter 
Assistenz  seines  Schülers,  Professor  J.  Conrad, 
redigierte  und  trat  schliesslich  am  1.  VII.  1864 
das  Direktoriat  des  auf  seinen  Antrieb  errichteten 
statistischen  Bureaus  der  Vereinigten  Thürin- 
gischen Staaten  an. 

Hildebrand  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  a)  in  Buchform: 


Xenophontis  et  Aristotelis  de  oeconomia 
publica  doctrinae  illustratae,  2  Teüe,  Marburg 
1845.  —  Die  Nationalökonomie  der  Gegenwart 
und  Zukunft,  I.  (einz.)  Bd.,  Frankfurt  a.  M.  1848. 
(Den  Kreis  der  historischen  Schule,  welcher  der 
Verfasser  angehört,  erweitert  er  in  vorstehendem 
Werke  insoweit,  als  er,  neben  eingehender 
kritischer  Würdi&fung  der  verschiedenen  nationid- 
ökonomischen  Stmulen,  die  wirtschaftlichen  £nt- 
wickelungsgesetze  der  Kulturvölker  von  der 
ethisch-politischen  Seite  aus  betrachtet.  Die 
Parallele,  welche  er,  S.  17  ff.,  zwischen  Lockes 
B«chtsphilosophie  und  den  Physiokraten,  z-wi- 
sehen  Kants  Rechtslehre  und  dem  Industrie- 
System  zieht,  beweisen,  wie  tief  er  in  seine 
Materie  eingedrungen.  Von  Bedeutung  sind 
seine  antisozialistisch  -  kritischen  Ausführungen 
über  die  Engelssche  Kritik  der  Nationalökonomie, 
nicht  um  ihrer  selbst  willen,  da  sie  von  späteren 
Kritikern  Engels'  überholt  sind,  sondern  weil 
seine  Kritik  des  Engelsschen  Sozialismus  die 
erste  aus  einer  deutschen  Feder  war.  Bei 
,.  Friedrich  List  und  das  nationale  System  der 
politischen  Oekonomie''  ist  nur  zu  bedauern, 
dass  in  der  scharfen  Kritik  der  Lehre  Lists 
dessen  grosse  Verdienste  um  den  Aufschwung 
von  Handelspolitik,  Zolleinigung  und  Verkehrs- 
wesen, welche  er  durch  seine  Agitation  vorbe- 
reitet, von  Hildebrand  nicht  genug  gewür- 
digt worden  sind,  obgleich  dieser  selbst 
ein  gemässi^er  Schutzzöllner  war.)  —  Statis- 
tische Mitteilungen  über  die  volkswirtschaft- 
lichen Zustände  Kurhessens,  Berlin  1853.  — 
Beiträjp:e  zur  Statistik  des  Kantons  Bern,  Bd.  I, 
1.  Hälfte,  Bern  1860.  —  Die  kurhessische  Finanz- 
verwaltung, Cassel  1860.  —  De  antiquissimae 
agri  romani  distributionis  fide,  Jena  1862.  — 
Statistik  Thüringens.  Mitteilungen  des  statis- 
tischen Bureaus  Vereinigter  Thüringischer 
Staaten,  2  Bde.,  Jena  1867—1878.  —  Femer 
erschien  in  Bd.  XII  des  Bulletin  de  la  Commission 
centrale  de  statistique  eine  von  Heuschling  (s.  d.  i 
veranstaltete  französische  üebersetÄung  eines 
Kollegienhef  tes  der  Hildebrandschen  Vorlesungen 
über  Statistik  im  Dienste  der  Verwaltung  unter 
dem  Titel:  Principes  de  statistique  administra- 
tive, enseignes  ä  l'üniversite  de  J4na,  1872. 

b)  in  Zeitschriften  und  zwar  1)  in 
den  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.:  Die  gegenwärtige 
Aufgabe  der  Wissenschaft  der  Statistik,  Bd.  I, 
Jena  1863,  S.  5  ff.  und  137  ff.  —  Die  statistische 
Aufgabe  der  landwirtschaftlichen  Vereine,  Bd.  I, 
1863.  S.  478  ff.  —  Natural-,  Geld-  und  Kredit- 
wirtschaft, Bd..  II,  S.  1/24.  —  Die  wissenschaft- 
liche Aufgabe  der  Statistik,  Bd.  VI,  1866,  S.  1  ff. 

—  Die  amtliche  Bevölkerungsstatistik  im  alten 
Rom,  Bd.  VI,  1866,  S.  81  ff.  —  Zur  Geschieht« 
der  deutschen  Wollindustrie,  Bd.  VI— VII. 
1866/67,  S.  186—254  und  81  ff.  —  Die  soziale 
Frage  der  Verteilung  des  Grundeigentums  im 
klassischen  Altertum,  Bd.  XII,  1869,  S.  1  ff.  u. 
139  ff.  —  Vergangenheit  und  Gegenwart  der 
deutschen  Leinenindustrie,  Bd.  XUI,  1869,  S. 
215—51.  —  Die  Verdienste  der  Universität  Jena 
um  die  Fortbildung  und  das  Studium  der 
Staatswissenschaften,  Bd.  XVIII,  1872,   S.  1  ff. 

—  Beiträge  zur  Geschichte  der  Preise  und  des 
Tagelohns  in  Hessen,  Bd.  XIX,  1872,  S.  145  ff. 

—  Die  Vermögenssteuer  und  die  Steuerverfas- 
sung in  Alt^essen  während  des  16.  u.  17.  Jahr- 
hunderts   und   die    aus    der   Vermögenssteuer 


Hildebrand— Hilfskassen 


1201 


Hessens  hervorgegangene  Grandsteuer,  Bd.  XXV, 
1875,  S.  297  ff.  —  Die  Entwickelungsstufen  der 
Geldwirtschaft,  Bd.  XXVI,  1876,  S.  15  if.  (Fort- 
setzung des  Artikels:  Natural-,  Geld-  und  Kredit- 
wirtschaft in  Bd.  IIj  —  2)  Im  Neuen  Schwei- 
zerischen Museum,  Jahrg.  1861,  Bern:  Unter- 
suchungen über  die  Bevölkerung  des  alten 
Italiens. 


Vergl.  über  Hildebrand:  Knies,  Die 
politische  Oekonomie  vom  Standpunkte  der  ge- 
schichtlichen Methode,  Braunschweig  1853,  S.  3, 
8,  27,  159,  194.  —  Kaut z,  Theorie  und  Ge- 
schichte der  Nationalökonomik,  2  Teile,  Wien 
1858-60,  Teü  I,  S.  415/17  u.  ö.;  Teil  II,  S. 
694/95,  772/73  u.  ö.  —  R.  v.  Mohl,  Geschichte 
und  Litteratur  der  Staats  Wissenschaften,  Bd.  I, 
Erlangen  1855,  S.  68,  Bd.  III,  1858,  S.  324.  — 
Röscher,  Geschichte  der  Nat,  1874,  S.  1010/11, 
1037/38  u.  ö.  —  J.  Conrad,  Bruno  Hildebrand, 
Nekrolog  und  Biographie,  in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat., 
Bd.  XXX,  Jena  1878,  S.  I— XV.  —  A.  v.  S c h e el , 
B.  Hildebrand,  in  Augsburger  AUgem.  Zeitung, 
Jahrg.  1878,  Beilage  Nr.  64.  —  Neu  man  n- 
Spallart,  B.  Hildebrand,  Nekrolog,  in  Statis- 
tische Monatschr.,  Jahrg.  IV,  Wien  1878,  S.  189/90. 
— ■  Allgemeine  deutsche  Biographie,  Bd.  XU, 
Leipzig  1880,  S.  399.  -  Ashley,  Introduction 
to  English  economic  history  and  theory,  London 
1888,  S.  43.  —  Nouveau  dictionnaire  d'^conomie 
politique,  Bd.  I,  Paris  1891,  S.  1129/30. 

lAppert, 


Hildebrand,  Richard, 

Sohn  des  vorigen,  geb.  am  17.  V.  1840,  promo- 
vierte 1863  in  Jena,  hielt  sich  dann  mehrere 
Jahre  lang  in  England  auf  und  habilitierte  sich 
1867  in  Leipzig.  1869  wurde  er  als  Professor 
der  Nationalökonomie  nach  Graz  berufen. 

Er  veröffentlichte  folgendes: 

Franklin  als  Nationalökonom  (Jahrb.  f.  Nat.  u. 
Stat.,  I.  Bd.).  —  Die  britische  Post  (ebenda  IV.  Bd.). 
—  Chequesystem  und  Clearinghouse  in  London 
(ebenda  VIII.  Bd.).  —  Die  Theorie  des  Geldes, 
Jena  1883.  —  üeber  das  Problem  einer  allge- 
meinen Entwickelungsgeschichte  des  Rechts  und 
der  Sitte,  Graz  1894  (Rektoratsrede).  —  Recht 
und  Sitte  auf  den  verschiedenen  wirtschaftlichen 
Kulturstufen  I,  Jena  1896. 

Red, 


HiUskassen. 

1.  Begriff  und  Arten:  „Eingeschriebene" 
und  „landesrechtliche"  Hilfskassen.  Verhältnis 
zu  den  Zwangskassen.  2.  Entwickelung  von 
1884—1892.  3.  Die  Novelle  zum  Krankenver- 
sicherungsgesetz V.  10.  April  1892  und  die  seit- 
herige Entwickelung.    Statistisches. 

1.  Be^^iff  und  Arten.  „Eingeschrie- 
bene^^iind,.landesrechtliche'^Hilfskassen. 
Verhältnis  zu  den  Zwangskassen.    Der 

Name  »Hilfskassen«,  unter  welchem  man 
früher  wohl  alle  zur  gegenseitigen  Unter- 
stützung ihrer  Älitglieder  begründeten  Ver- 
einigungen   und    Anstalten     zu    begreifen 

Handwörterbnch  der  StaatewlBBenschaften.    Zweite 


pflegte,  gleichviel  ob  sie  auf  freier  üeber- 
einkunft  oder  auf  Beitrittszwang  beruhten, 
ist  seit  dem  Inkrafttreten  des  Reichsgesetzes 
vom  15.  Juni  1883  betreffend  die  Kranken- 
versicherung der  Arbeiter  {Krankenver- 
sicherungsgesetz) nur  noch  den  sogenannten 
freien  Kassen  verblieben,  während  die  ver- 
schiedenen der  Durchführung  des  gesetz- 
lichen Versicherungszwanges  dienenden  Or- 
ganisationen jetzt  besondere  technische  Be- 
zeichnungen (Orts-,  Betriebs-,  Bau-Kranken- 
kassen, Gemeindekrankenversicherung  etc.) 
führen,  für  welche  ein  zusammenfassender 
Ausdruck  bisher  nicht  in  Gebrauch  ge- 
kommen ist.  Niu*  von  diesen  »freien  Hilfs- 
kassen«  soll  im  folgenden  gehandelt  werden. 
Im  übrigen  ist  auf  den  Art.  Arbeiter- 
versicherung in  Deutschland  oben 
Bd.  I,  S.  618  ff.),  welcher  die  Entwickelung  des 
Hilfskassenwesens  bis  zum  Krankenver- 
sicheningsgesetz  in  den  Grundzügen  skizziert, 
feruer  auf  die  Darstellung  der  belgischen, 
französischen,  englischen,  niederländischen 
und  schweizerischen  Hilfskassen  (ebenda 
S.  633  ff.,  638  ff.,  656  ff.,  686  ff.  und  696  ff.), 
endlich  auf  den  Art.  Krankenversiche- 
rung zu  verweisen. 

Die  Freiheit  der  »freien  Kassen«  ist 
keine  absolute.  Sie  besteht  hauptsächlich 
darin,  dass  die  Mitgliedschaft  bei  ihnen 
diu'ch  freiwilligen  Beitritt  erworben  wird 
und  auch  freiwillig  wieder  aufgegeben 
werden  darf,  ferner  dass  sie  zur  Aiönahme 
von  Mitgliedern  nicht  gezwungen  werden 
können,  diese  vielmehr  von  beliebigen  Be- 
dingungen abhängig  machen  dürfen,  endlich 
dass  sie  von  ihren  Mitgliedern  allein  ohne 
Mitwirkung  der  Arbeitgeber  verwaltet  wer- 
den. Im  übrigen  unterliegen  auch  die  freien 
Kassen  einer  gewissen  gesetzlichen  Einwir- 
kung, und  zwar  in  verschiedenem  Grade, 
je  nachdem  sie  zu  den  »eingeschriebenen 
Hilfskassen«  zählen  oder  nicht. 

Die  Verhältnisse  der  ersteren  regelt  das 
Eeichsgesetz  vom  7.  April  1876  (vgl.  oben 
Bd.  I,  S.  624),  welches  mit  Rücksicht  auf  das 
Krankenversicherungsgesetz  durch  eine  No- 
velle vom  1.  Juni  1884  in  wesentlichen 
Punkten  abgeändert  w^orden  ist.  Jenes  Ge- 
setz hatte  nämlich  in  der  »eingeschriebenen 
Hilfskasse«  den  gemeinsamen  Normaltypus 
für  freie  Kassen  und  Zwangskassen  schaffen 
wollen:  einerseits  sollte  die  Zugehörigkeit 
zu  einer  solchen  von  dem  —  damals  nur 
erst  lokal,  ortsstatutarisch,  zulässigen  — 
Kassenzwang  befreien,  andererseits  sollten 
aber  auch  sowohl  die  bereits  vorhandenen 
als  auch  die  künftig  zu  errichtenden  Zwangs- 
kassen die  Form  der  »eingeschriebenen 
Hilfskasse«  annehmen.  Infolgedessen  wurden 
auch  in  dem  Zeitraum  von  1874  bis  1883 
zahlreiche  Zwangskassen  in  »eingeschriebene 
Hilfskassen«  umgewandelt  und  neue  Zwangs- 
Auflage.   IV.  76 


1202 


Hilfskassen 


kassen  als  »eingeschriebene  Hilfskassen«  ins 
Leben  genifen.  Diese  Zwangskassen  haben 
jedoch  seit  dem  Jahre  1884  wieder  auf- 
gehört, »eingeschriebene  Hilfskassen«  zu 
sein;  sie  verwandelten  sich  auf  Grund  der 
§§  85  und  86  des  Krankenversicherungs- 
gesetzes je  nach  ihrem  Charakter  in  Orts-, 
Betriebs-  oder  Innungskranken  kassen.  Somit 
verblieb  die  Form  der  »eingeschriebenen 
Hilfskasse«  nirr  noch  für  die  freien  Kassen, 
und  es  giebt  also  heute  nur  noch  solche 
»eingeschriebene  Hüfskassen«,  die  auf  freier 
Uebereinkunft  beruhen  (G.  v.  1.  April  1884  §  1). 

Aber  nicht  alle  freien  Hilfskassen  sind 
»eingeschriebene« :  es  existieren  auch  zahl- 
reiche Kassen,  w^elche  sich  den  Normativ- 
bestimmungen des  Hüfskassengesetzes  nicht 
angepasst,  sondern  auf  die  Rechte  einer 
»eingeschriebenen  Hilfskasse«  verzichtet 
haben.  Auch  diese  Kassen  sind  freilich  in 
ihrer  inneren  Einrichtung  nicht  völlig  un- 
beschränkt, sondern  unterliegen  den  — 
generellen  oder  si>eciellen,  geschriebenen 
oder  gewohnheitsrechtlichen  —  Normen  des 
Landesrechts,  welche  das  Vereinswesen,  das 
Versicherungswesen  und  insbesondere  das 
Krauken-  und  Sterbekassenwesen  betreffen. 
Das  Krankenversichenmgsgesetz  nennt  sie 
daher  »auf  Gnind  landesrechtlicher  Vor- 
schriften« errichtete  Hüfskassen  (§  75  a). 
Es  ist  indes  nicht  gerade  erforderlich,  dass 
sie  ihre  Existenz  imd  ihre  Einrichtung  aus 
einer  ausdrücklichen  gesetzlichen  Vorschrift 
ableiten;  es  genügt,  dass  sie  mit  den  er- 
wähnten Normen  nicht  in  Widerspnich 
stehen  und  insofern  ein  legales  Dasein  führen. 

Zwischen  den  »eingeschriebenen«  und 
den  übrigen  freien  Hilfskassen  waltet  nun 
ein  tiefgreifender  Unterschied  ob:  jene 
dürfen,  ebenso  wie  die  Zwangskassen,  nur 
Rrankenfürsorge  \md  Sterbegeld  gewähi-en 
und  keinen  anderen  Zwecken  dienstbar  sein. 
Den  übrigen  freien  Kassen  dagegen  ist  es 
unverwehrt,  auch  Invahden-  und  Alters-, 
Witwen-  und  "Waisen-,  Reise-  und  Arbeits- 
losigkeitsversicherung etc.  in  den  Bereich 
ihrer  Wirksamkeit  zu  ziehen.  Dement- 
sprechend sind  auch  der  Verbindung  »ein- 
geschriebener« Kassen  mit  anderen  Gesell- 
schaften und  Vereinen  (Gewerkvereinen, 
Gewerkschaften,  Fachvereinen  elc.)  gewisse 
enge  Schranken  gezogen,  welche  für  die 
übrigen  freien  Kassen  nicht  gelten  (G.  v. 
1.  Juni  1884  §  6  Abs.  2  und  §  15).  End- 
lich sind  die  Befugnisse  der  Aufsichtsbehörde 
gegenüber  den  eingeschriebenen  Kassen  weit 
ei  n  seh  ueidendere. 

Beide  Arten  der  freien  Hilfskassen  end- 
lich, die  eingeschriebenen  und  die  nicht  ein- 
geschriebenen,  zerfallen  aber  wiederum  in 
zwei  Klassen:  solche,  deren  Mitgliedschaft 
von  der  Verpflichtung,  einer  Zwangskasse 
anzugehören,  befreit,  und  solche,  bei  denen 


dies  nicht  der  Fall  ist.  Diese  Befreiung  ist 
nämlich  nach  §  75  des  Krankenversicherungs- 
gesetzes an  die  Vomussetzung  geknüpft, 
dass  die  Hüfskasse  gewisse  Mindestleistungen 
gewährt,  welche  denen  der  »Gemeinde- 
krankenversicherung«, also  der  niedrigsten 
Zwangsversicherimgsform,  gleich  oder  doch 
gleichwertig  sind.  Ob  sie  diese  A^oraus- 
setzung  erfüllen  wollen  oder  nicht,  steht  im 
Belieben  der  freien  Kassen.  An  sich  ist 
den  von  ihnen  zu  gewährenden  Unter- 
stützungen jetzt  keine  Minimalgi^enze  mehr 
gesetzt,  wie  sie  früher  in  §  11  des  Hüfs- 
kassengesetzes vom  7.  April  1878  vor- 
geschrieben war.  Es  giebt  also  auch  freie 
Kassen,deren  Krankenfürsorge  jenes  Mindest- 
mass des  §  75  des  Kranken versicherungs- 
gesetzes  nicht  erreicht,  wenngleich  sie  mög- 
li(;herweise  in  anderer  Richtung  ihren  Mit- 
gliedern Vorteile  bieten,  welche  der  Zwangs- 
kasse fremd  sind.  Die  Mitglieder  solcher 
fi-eier  Kassen  sind  aber  jener  Befreiung 
nicht  teilhaftig,  gehören  vielmehr,  sobald  sie 
in  eine  nach  dem  Krankenversicherungs- 
gesetz versicherungspflichtige  Bescliäftiguog 
treten^  der  zuständigen  Zwangskasse  bezw. 
Gememdekrankenversicherung  kraft  Gesetzes 
an,  wobei  ihnen  unbenommen  ist,  daneben 
auch  in  der  freien  Kasse  zu  verbleiben. 
Ueberhaupt  ist  die  gleichzeitige  Mitglied- 
schaft in  einer  Zwangskasse  und  einer 
freien  Kasse  nicht  unzulässig,  vielmehr  ist 
eine  solche  »Doppelversichening«  durch  das 
Gesetz  ausdrücklich  vorgesehen,  welches 
eben  des>vegen  Massregeln  zur  Verhütung 
einer  Ueberversichenmg  getroffen  hat  (§  26 
Abs.  3  K.V.G.,  §  26a  Abs.  1  der  Novelle 
vom  10.  April  1892). 

Die  fixiien  Hüfskassen  stehen  sonach  zu 
den  Zwangskassen  in  einem  zwiefachen  Ver- 
hältnis: einerseits  treten  sie  ergänzend 
neben  die  Zw^angskassen,  und  zwar  insofern 
sie  1.  auch  anderen  Zwecken  als  bloss  der 
Kranken-  mid  Begräbnisversicherung  dienen, 
2.  den  Personen,  welche  dem  Ki-anken- 
versicherungszwang  nicht  unterliegen.  Ge- 
legenlieit  bieten,  sich  gegen  Krankheit  zu 
vei-sichern,  imd  3.  den  Mtgliederu  der 
Zwangskassen  die  Möglichkeit  eroffnen,  sich 
durch  gleichzeitige  Mitgliedschaft'  bei  einer 
freien  Kasse  höhere  und  anderweitige  Unter- 
stützungen zu  sichern.  Andererseits  treten 
sie  aber  auch  den  Zwangskassen  als  Kon- 
kurrenten gegenüber,  insofern  sie  — 
vorausgesetzt,  dass  sie  dem  §  75  des  Kran- 
kenversicherungsgesetzes genügen  —  ihre 
Mitglieder  der  Notwendigkeit  entheben,  in 
eine  Zwangskasse  einti'eten  oder  in  einer 
solchen  verbleiben  zu  müssen. 

2.  Entwickelang  von  1884—1892.  In 
welchem  Umfange  die  Ergänzung  der  Zwangs- 
versicherung diu^ch  die  freien  Kassen  statt- 
findet ist  man  bisher  in  keiner  Weise  fest- 


Hilfskassen 


1203 


zustellen  bemüht  gewesen.     Hingegen  hat 
der  Konkun^nzkampf   der   beiden  Kassen- 
arten in  hohem  Grade  die  öffentliche  Auf- 
merksamkeit auf  sich  gelenkt  \md  auch  die 
Gesetzgebung  beeinflusst.   Man  hätte  glauben 
sollen,  dass  die  Vorteile,  welche  die  Zwangs- 
kassen, namentlich  die  beiden  Hauptformen 
dei"selben,  die  Orts-  und  Betriebskranken- 
kassen, ihren  Mitgliedern  zu  bieten  vermögen, 
die  Leistungen  der  freien  Kassen  bei  weitem 
übertreffen  müssten,  da  bei  jenen  die  Bei- 
träge  von  den  Arbeitgebern  vorgeschossen, 
zu  einem  Drittel  aus  eigenen  Mitteln  ent- 
richtet   und   im   Fall    der   Säumnis    gleich 
öffentlichen   Abgaben    beigetrieben   werden, 
während  die  freien  Kassen  lediglich  auf  die 
Beiträge   der  Mitglieder   selbst  angewiesen 
sind  und  Rückstände  nur  im  Wege  gericht- 
licherKlage  und  privater  Zwangsvollstreckung 
einziehen  können.   GleichwoliI  war  es  gerade 
der   Ausschluss    der   Arbeitgeber    von    der 
Beteiligung  an  den  Beiträgen  und  folgeweise 
auch  an   der  Verwaltung,   dem   die  freien 
Kassen  einen  Zufluss  von  Älitgliedern  haupt- 
sächlich zu  danken  hatten.     Zum  Teil  be- 
förderten   ihn    manche   Arbeitgeber    selbst, 
indem  sie  nur  solchen  Personen  Beschäftigung 
gaben,  die  einer  freien   Kasse  angehörten. 
Namentlich  aber  erschien  die  unabhängige 
Selbstverwaltung  und  das  Bewusstsein,  alles 
der  eigenen  Kraft  zu  verdanken,  vielen  Ar- 
beitern,   und    gerade   der   Elite    derselben, 
wertvoll  genug,   um  für  diesen  Preis  auf 
die  Zuschüsse  der  Arbeitgeber  Verzicht  zu 
leisten.    Hierzu  trat,  dass  die  Zwangskassen 
ärztliche   Behandlung    und    Arznei    etc.    in 
natura  zu  gewähren  hatten  und  zu  diesem 
Zwecke  meist  Kassenärzte  anstellten,  deren 
Behandlung  sich  alle  Mitglieder  unterwerfen 
müssen,  wenn  sie  auf  die  Unterstützung  der 
Kasse  Anspruch  erheben.    Die  freien  Kassen 
hingegen    machten    in    der  Regel   von   der 
gesetzlichen    Ermächtigung    Gebrauch,    an 
Stelle  ärztlicher  Behandlung  etc.  einen  Geld- 
betrag (um  §  75  des  Krankenversioherungs- 
gesetzes    zu    genügen,    mindestens    ^.4    des 
ortsüblichen  Tagelohnes)  zalilen  zu  dürfen, 
und  überliessen  es  ihren  Mitgliedern,  den- 
jenigen Arzt  zuzuziehen,  der  ihr  Vertrauen 
besitzt;    auch  in    dieser   »freien  Arztwahl ^< 
erblickten  N-iele  einen  Vorzug ,  der  sie  be- 
stimmte,   den    freien    Kassen    beizutreten. 
Ferner  machten    sich  auch   parteipolitische 
Gesichtspimkte  geltend ;  die  Sozialdemokratie 
entfaltete  eine  erfolgreiche  Propaganda  für 
ihre   »Centralkassen«,  und  ebenso  erfuhren 
die    Hirsch  -  Dunckei-schen    Gewerkvereins- 
kassen  eine  bedeutende  Verstärkung.    Beide 
Arten   der  freien  Kassen   sind  endlich  im 
Gegensatz    zu    den   auf    einen   bestimmten 
Bezirk  beschränkten  Zwangskassen  durchweg 
» national <^    organisiert,    d.   h.    sie    besitzen 
neben  einer  Hauptstelle  allenthalben  Örtliche 


j  Verwaltungsstellen ,  sie  garantieren  ihren 
!  Mitgliedern  dadurch  das  Verbleiben  in  einer 
und  derselben  Kasse  auch  bei  häufigem  Orfs- 
wechsel  und  erleichtern  so  die  Freizügig- 
keit in  höhei-em  Masse,  als  sie  bei  den 
Zwangskassen  (durch  §  27  und  28  des  Kran- 
kenversicherungsgesetzes) gewahrt  ist.  Alle 
diese  imd  vereinzelt  auch  wohl  noch  andere 
Motive  (für  die  Handlungsgehilfen  z.  B., 
soweit  sie  ortsstatutarisch  demVersichenmgs- 
zwang  unterworfen  wurden,  die  Abneigung, 
mit  gewöhnlichen  Handarbeitern,  Kutscliern, 
Haushältern  etc.  in  eine  Kasse  zusammen- 
gewürfelt zu  werden)  kamen  der  Entwicke- 
luug  der  freien  Kassen  zu  gute.  Auch  er- 
wiesen sich  dieselben  hinreichend  leistungs- 
fähig, um  den  Wettbewerb  mit  den  Zwangs- 
kassen durchzuführen.  Verfügten  diese  in- 
folge der  Zuschüsse  der  Arbeitgeber  über 
reichere  Mittel,  so  waren  jene  im  allgemeinen 
mit  niedrigeren  Kraukheitsrisiken  belastet, 
da  sie  die  Aufnahme  der  Mitglieder  von 
einem  Gesundheitsattest  \uid  einer  Alters- 
grenze abliängig  macheu  dürfen,  während 
die  Zwangskassen  auch  alten,  schwächlichen 
und  selbst  kranken  Personen,  ja  sogar  Halb- 
invaliden, bei  denen  die  Voraussetzungen 
der  Versicherungspflicht  vorliegen,  die  Mit- 
gliedschaft nicht  versagen  dürfen. 

So  ergab  sich  denn  das  eigentümliche 
Resultat,  dass  gerade  die  freien  Kassen, 
deren  Vorkämpfer  die  Einführung  des  all- 
gemeinen Kassenzwangs  so  sehr  perliorres- 
ciert  hatten,  von  dieser  zunächst  nm*  Vor- 
teil zogen  und  ilir  einen  ganz  unerwarteten 
Aufschwung  verdankten.  Ja  sie  breiteten 
sich  namentlich  an  einzelnen  Industrieplätzen 
(z.  B.  im  Regierungsbezirk  Düsseldorf)  an- 
fangs derart  aus,  dass  die  Ortskrankenkassen 
in  ihrem  Bestände  gefährdet  erschienen. 
Doch  bald  entdeckten  diese  eine  Waffe,  die 
den  Hilfskassen  verhängnisvoll  werden  sollte. 
Wie  erwähnt,  ist  den  HÜfskassen  das  Pri- 
vileg, ihre  Mitglieder  von  der  Zugehörigkeit 
zu  der  Zwangskasse  zu  befreien,  nur  unter 
der  Voraussetzung  verliehen,  dass  ihre 
Leistungen  denen  der  Gemeindekranken- 
versicherung  gleichkommen.  Um  allen  Be- 
teiligten hierüber  stets  Ge\v'issheit  zu  ver- 
schaffen, war  auf  Veranlassung  des  Abge- 
oitlneten  IVIax  Hirsch  in  §  4  der  Hilfskassen- 
novelle  vom  1.  Jimi  1884  bestimmt  worden, 
die  höhere  Verwaltungsbehörde  müsse  bei 
Zulassung  einer  freien  Kasse  auf  deren  An- 
trag bescheinigen,  dass  das  Kassenstatut  dem 
§75  des  Krankenversichenmgsgesetzes  ge- 
nüge. Derartige  Bescheinigungen  besassen 
denn  auch  die  meisten  Hilfskassen  und 
glaubten  sich  damit  gegen  alle  Reklamationen 
seitens  der  Zwangskassen  geschützt.  In 
einem  Prozess  einer  Dresdener  Ortskranken- 
kasse  gegen  eine  Hamburger  freie  Kasse 
entschied  jedoch  das   Reichsgericht  am  27. 

76* 


1204 


Hilfskassen 


September  1886,  dass  solche  Bescheinigungen 
einer  Nachprüfung  der  Statuten  durch  den 
Civilrichter  (und  sogar  auch  durch  den 
Strafrichter  aus  §  81  K.V.G.)  nicht  im  Wege 
ständen.  Auf  dieser  Grundlage  eröffneten 
nun  die  Ortskrankenkassen  an  \aelen  Orten 
einen  systematischen  Feldzug  gegen  die 
freien  Kassen.  Die  Leipziger  allgemeine 
Ortskrankenkasse  z.  B.,  welche  im  Januai- 
1887  durch  den  Zusammenschluss  der  bis 
dahin  dort  bestehenden  18  Ortsb^ankenkassen 
sich  gebildet  hatte,  erklärte  alsbald  die 
Statuten  von  16  freien  Kassen,  die  in  Leipzig 
domizilierten  oder  Filialen  besassen,  als  dem 
§  75  des  Kranken  versichern  ngsgesetzes  nicht 
entsprechend  \md  zog  die  Mitglieder  dersel- 
ben zur  Zwangsversicherung  heran.  Aehn- 
lich  ging  man  in  Dresden,  Stettin,  Schöne- 
beck, Breslau  und  anderwärts  vor.  Infol^- 
dessen  lösten  sich  eine  ganze  Anzahl  freier 
Kassen  vollständig  auf,  andere  entsag-ten  der 
Konkurrenz  mit  der  Zwangskasse  und  or- 
ganisierten sich  als  blosse  Zuschusskassen, 
andere  wieder  beschritten  den  Rechtsweg 
oder  entschlossen  sich,  ihre  Statuten  dem 
§  75  des  Krankenversicherungsgesetzes  ge- 
nauer anzupassen.  Immerhin  erlitten  auch 
diese,  selbst  soweit  sie  die  Prozesse  ge- 
wannen, in  der  Zwischenzeit  bis  zur  Ent- 
scheidung und  bezw.  bis  zur  Genehmigimg 
der  abgeänderten  Statuten  erhebliche  Ein- 
busse  an  Mitgliedern,  und,  einmal  der  Zwangs- 
kasse einverleibt,  verschmähten  oder  ver- 
säumten wohl  auch  viele,  behufs  Uebertintts 
in  die  freie  Kasse  gemäss  §  19  Abs.  4 
des  Krankenversichenmgsgesetzes  rechtzeitig 
üire  Entlassung  zu  beanti-agen.  Zudem  ver- 
langten jetzt  auch  die  Arbeitgeber  vielfach, 
dass  ilir  Pei-sonal  sämtlich  den  Ortskranken- 
kassen beitrete,  weil  sie  sonst  Gefahr  liefen, 
wegen  Vei*säumung  der  Meldepflicht  bestraft 
und  auf  Nachzahlung  von  Beiträgen  sowie 
Ersatz  von  Aufwendimgen  gemäss  §  50  K.V.G. 
seitens  der  Ortskrankenkassen  in  Anspruch 
genommen  zu  wei*den.  Ueberhaupt  war, 
seitdem  die  Prüfung  und  Bescheinigung  der 
Behörden  bezüglich  des  §  75  des  Kranken- 
versichenmgsgesetzes sich  als  unmassgeblich 
herausgestellt,  allgemein  ein  begreifliches 
Gefühl  der  Rechtsunsicherheit  eingetreten. 
Nicht  selten  wurden  die  nämlichen  Statuten 
weitverzweigter  Hilfskassen  von  verschiede- 
nen Gerichten  vei-schieden  beiu^teüt,  so  dass 
derselben  Kasse  an  dem  einen  Orte  die 
Gleichberechtigung  versagt  blieb,  die  ihr  an 
einem  anderen  zuerkannt  worden  war. 

8.  Die  Novelle  zum  Krankenver- 
sichemngsgesetz  vom  10.  April  1892 
und  die  seitherige  Entwickelung.  Sta- 
tistisches. Nicht  ohne  Spannung  sah  man 
der  Lösung  entgegen,  w^elche  die  Novelle 
zum  Kranken versicheningsgesetz  für  das 
Problem  der  Stellung  der  Hjlfskassen  gegen- 


über den  Zwangskassen  finden  würde.  Die 
ünfallversichenmgsgesetze  und  das  Invalidi- 
täts-  und  Altersversicherungsgesetz  hatten 
die  freien  Kassen  fast  vollständig  ignoriert 
und  sie  weder  an  den  Befugnissen  noch  an 
den  Pflichten  beteiligt,  mit  denen  sie  die 
Zwangskassen  ausstatteten.  (Vgl.  §  42  Ü.Y.G. 
u.  §  135  I.-  u.  A.V.G. ;  nur  §  45  und  §  80 
Abs.  2  Ü.V.G.  gelten  auch  für  die  freien 
Hilfskassen.)  Unter  den  zahlreichen  Kund- 
gebungen zur  Kritik  und  Revision  des 
Krankenversicherungsgesetzes ,  welche  der 
Novelle  vorausgingen,  wurde  sogar  'wieder- 
holt der  Vorschlag  laut,  die  Gleichberech- 
tigung der  freien  Kassen  mit  den  Zwangs- 
kassen  vollständig  zu  beseitigen  und  ersteren 
lediglich  die  Aufgabe  zuzuweisen,  die  Kran- 
ken- und  überhaupt  die  gesamte  Zwangs- 
versicherung  durch  Ausfüllung  ihrer  Lücken 
und  Vervollständigung  ihrer  Leistungen  zu 
ergänzen.  Die  freien  Kassen  selbst  hin- 
wiederum verlangten  stärkere  Garautieen 
ihrer  zwar  im  Gesetz  als  Grundsatz  auf- 
gestellten, in  der  Praxis  aber  nur  zu  häufig 
illusorisch  gemachten  Gleichberechtigung  und 
zwar  durch  Erlass  einheitlicher  Vollzugs- 
vorschriften und  durch  Errichtung  einer 
einheitlichen  Centralstelle  für  das  ganze 
Deutsche  Reich,  welche  endgiltig  und  bin- 
dend über  die  Auslegung  der  Gesetze,  ins- 
besondere über  den  Einklang  der  Hilfskassen- 
statuten  mit  §  75  des  Krankeuversichenings- 
gesetzes  entscheiden  solle. 

Den  in  dieser  letzteren  Bezielumg  ob- 
w^altenden,  oben  gesciiüderten  Missständen 
hat  die  Novelle  v.  10.  April  1892  in  der 
That  durch  §  75a  abgeholfen:  die  fragliche 
Bescheinigung  wird  von  jetzt  ab  durch  die 
Centralbehörden  der  Bundesstaaten,  in  ge- 
^vissen  Fdllen  diu-ch  den  Reichskanzler  er- 
teilt und  ist  bei  Streitigkeiten  unbedingt 
massgebend.  Im  übrigen  liat  die  Novelle 
das  Befreiungsprivileg  der  Hilfskassen  zwar 
aufr'ccht  erhalten,  aber  an  erschwerte  Be- 
dingimgen  geknüpft :  Vor  allem  müssen  auch 
die  freien  Kassen  jetzt  ärztliche  Behandlung, 
Arznei  etc.  in  natura  gewälu^n,  und  nur 
solche  Mitglieder,  welche  zugleich  einer 
Zwangskasse  angehören,  dürfen  dafür  mit 
einer  Erhöhung  des  Krankengeldes  um  ^  i 
des  ortsüblichen  Tagelohnes  abgefimden 
werden.  Ferner  ist  für  die  Bemessung  der 
Miudestleistimgen  nicht  mehr  der  ortsübiiclie 
Tagelohn  am  Sitze  der  freien  Kasse,  sondern 
der  des  Gemeindebezirks  massgebend,  in 
welchem  der  Versicherte  beschäftigt  ist. 
Eine  dritte,  in  dem  Entwiuie  vorgesehene 
Bestimmung,  deren  vexatorischer  Missbrauch 
nahe  gelegen  hätte,  nämlich  dass  die  Be- 
freiung der  Hilfskassenmitglieder  nur  auf 
ihi'en  ausdrücklichen  Antrag  erfolgen  solle, 
vnu'de  von  den  Freunden  der  freien  Kassen 
zu  Falle  gebracht.  Weitere  Neuerungen  der 


Hilfskassen 


1205 


Novelle  sind:  die  verallgemeinerte,  gesetz- 
liche Pflicht  der  Hilfskassen,  das  Ausschei- 
den versicherungspflichtiger  Mitglieder  und 
den  Uebertritt  solcher  Mitglieder  in  eine 
niedrigere  Mitgliederklasse  bei  der  gemein- 
samen Meldestelle  oder  bei  der  Aufsichts- 
behörde anzumelden,  femer  die  gesetzliche 
Regelung  der  Ei-satzansprüche  der  Armen- 
verbände etc.  gegen  die.  Hilfskassen  und 
der  Hilfskassen  gegen  entschädigimgspflich- 
tige  Dritte,  endlich  die  Verweisung  von 
gewissen  Streitigkeiten  vor  bestimmte  Be- 
hörden (§§  49  b,  57,  58,  76  des  neuen  Kran- 
kenversichenmgsgesetzes). 

Wie  schon  in  der  ersten  Auflage  dieses 
Werkes  (1892)  ausgesprochen  und  durch 
die  weitere  Entwit^elung  bestätigt  worden, 
dürfte  der  Reichstag  mit  seinen  Beschlüssen 
das  Richtige  getroffen  haben.  Die  Konkur- 
renz der  freien  Kfissen  —  direkt  oder  auf 
Umwegen  —  überhaupt  zu  beseitigen,  wäre 
ein  sozialpolitischer  Missgriff  gewesen,  wel- 
cher sich  wahrscheinlich  schwer  gerächt 
hätte.  Gerade  der  Wettbewerb  ist  erfahnings- 
mässig  für  beide  ein  wirksamer  Stimulus 
zu  beständigem  Fortschritt  gewesen  imd 
geblieben.  Andererseits  entsprachen  aber 
auch  die  veränderten  Bedingiu}gen ,  unter 
denen  ihre  Konkurrenz  durch  die  Novelle 
zugelassen  wurde,  der  Billigkeit  und  dem 
praktischen  Bedürfnis,  ohne  die  Konkurrenz- 
fähigkeit der  freien  Kassen  erheblich  zu 
beeinträchtigen.  Gewährten  doch  auch  schon 
damals  zahlreiche  Hilfskassen  durch  Ver- 
bindung mit  Medizinalkassen  und  -verbänden 
ihren  Mitgliedern  freien  Arzt  und  freie 
Arznei,  sodass  sie  ohne  weiteres  den  Anfor- 
denmgen  des  neuen  Gesetzes  Genüge  zu 
leisten  vennochten. 

Auch  die  Hilfskassen  selbst  verschlossen 
sich  dieser  Erkenntnis  nicht  und  gaben 
weder  den  Pessimisten  Gehör,  die  jetzt  an 
der  Zukimft  des  freien  Kassenwesens  über- 
haupt verzweifeln  wollten,  noch  den  In- 
differenten, die  —  besonders  seit  der  Auf- 
hebung des  Sozialistengesetzes  —  an  dem 
Fortbestehen  der  freien  Kassen  das  partei- 
politische Interesse  verloren  hatten.  Und 
wenn  auch  zunächst  viele,  namentlich  lan- 
desrechtliche Hilfskassen,  imd  zwar  auch 
gerade  solche,  die  bisher  das  meiste  geleistet 
hatten,  sich  auflösten  oder  in  blosse  Zu- 
Sfhusskassen  verwandelten,  so  hat  doch  das 
Gros  nicht  nur  der  Hirech-Dunckerschen 
Kassen,  unter  der  umsichtigen  Fühnmg  ihres 
Verbandsanwalts  Dr.  Max  Hirsch,  sondern 
auch  der  sozialdemokratischen  Gewerkschafts- 
kassen den  Kampf  ums  Dasein  mit  den 
Zwangskassen  auch  auf  dem  neuen  Rechts- 
bodeii  energisch  aufgenommen  und  ihre  Po- 
sition im  grossen  Ganzen  auch  nicht  un- 
rühmlich behauptet. 

Allenlings   hat   ihr   relativer  Anteil   an 


der  gesamten  Krankenversicherung  sich  in 
demselben  Masse  vemngert,  in  welchem 
die  2iahl  der  gegen  Krankheit  Versicherten 
angewachsen  ist.  Denn  während  diese  sich 
von  ca.  4  Millionen  im  Jahre  1885  auf  mehr 
als  8  Millionen  im  Jahre  1897  erhöht,  also 
verdoppelt  hat,  ist  der  Mtgliederbestand 
der  dem  §  75  K.V.G.  genügenden  Hilfs- 
kassen in  derselben  Periode  nicht  einmal 
sich  gleich  geblieben,  sondern  von  874507 
auf  789593,  ihr  prozentualei'  Anteil  also 
von  mehr  als  20®/o  auf  weniger  als  10  ^/o 
gesunken.  Immerhin  ist  die  absolute  Mit- 
gliederzahl gross  genug,  um  ihnen  auch  heut 
noch  die  Bedeutung  eines  wesentlichen 
Faktors  der  Krankenversicherung  zu  wahi-en. 
Wie  sich  die  Bewegung  derHilf skassen  und 
ihrer  Mitglieder  in  den  einzelnen  Jahren  seit 
dem  Inkrafttreten  desK.V.G.  v.l5.  Juni  1883  bis 
zur  Gegenwart  gestaltete ,  zeigen  die  beiden 
nachstehenden  TabeDen.  Die  erste  bezieht  sich 
auf  die  Kassen,  die  zweite  auf  die  Mitglieder. 
Beide  unterscheiden  drei  Kategorieen,  näm- 
lich die  eingeschriebenen  Hilfskassen,  welche 
dem  §  75 K.V.G.  entsprechen  (E.H.  §,  Spalte  1), 
die  übrigen  eingeschriebenen  Hiliskassen 
E.H.,  Spalte  2)  und  die  landesrechtlichen 
Hilfskassen,  welche  dem  §  75  K.V.G.  genü- 
gen (L.H.§,  Spalte  3);  Spalte  4  fasst  alle 
drei  Kategorieen  (Spalte  1—3),  Spalte  5  alle 
dem  §  75  K.V.G.  genügenden  Hilfskassen 
(Spalte  1+3)  und  Spalte  6  alle  eingeschrie- 
benen Hilfskassen  (Spalte  1  +  2)  zusammen. 
Für  diejenigen  Hilfskassen,  welche  nicht  auf 
Grund  des  Hilf skassengesetzes  errichtet  sind 
und  dem  §  75  K.V.H.  nicht  genügen,  exis- 
tiert leider  keine  Statistik,  und  so  muss 
diese  Kategorie,  welche  keineswegs  gering- 
fügig, vielmehr  in  beständiger  Zunahme 
begiiffen  sein  und  sicher  Zehntausende  von 
Mitgliedern  umfassen  dürfte,  hier  ausser 
Betracht  und  das  Gesamtbild  der  Hilfskassen 
insoweit  ein  lückenhaftes  bleiben. 


Tabelle  I. 

Alle 

E.H.§ 

E.H. 

L.H.§ 

AlleKK. 

Alle§ 

E.H. 

1885 

iSiS 

96 

474 

2388 

2292 

1814 

1886 

1876 

103 

496 

2469 

2366 

1979 

1887 

1878 

107 

471 

2456 

2349 

1985 

1888 

1853 

117 

466 

2436 

2289 

1970 

1889 

1866 

102 

467 

2435 

2333 

1968 

1890 

1869 

"3 

468 

2450 

2337 

1982 

1891 

1841 

123 

450 

2414 

2290 

1964 

1892 

1739 

133 

443 

2315 

2182 

1872 

1893 

1361 

269 

271 

1901 

1632 

1630 

1894 

1375 

232 

261 

1868 

1636 

1667 

1895 

1388 

224 

263 

1875 

1051 

1612 

1896 

1410 

215 

262 

i8fc7 

1672 

1625 

1897 

1422 

218 

261 

1901 

1683 

1640 

In  beiden  Tabellen  tritt  1893  der  Einfluss 
der  Novelle  zum  K.V.G  v.  10.  April  1892 
in  der  plötzlichen  Verminderung  der  dem 
75  K.V.G.   genügenden   Hilfskassen   und 


1206 

Hilfskassen 

Tabelle  II. 

E.H.§ 

E.H. 

L.H.§ 

Alle  H.K 

AUe§ 

Alle  E.H. 

1885 

730  722 

16  716 

143  785 

901  223 

874  507 

747  438 

188« 

732  335 

16  103 

148644 

896082 

880979 

748  438 

1887 

727  137 

21055 

143374 

891  462 

860  5 1 1 

748  192 

1888 

745  171 

23  136 

142895 

9 1 1  202 

888066 

768  307 

1889 

786  272 

24050 

144872 

955  227 

931  144 

810322 

1890 

810455 

42321 

144668 

997  444 

951  123 

852  776 

1891 

838481 

49843 

138883 

I  027  207 

977  364 

888  224 

1892 

796340 

56803 

131  494 

994  637 

927  834 

853  143 

1893 

662  360 

124  909 

63007 

850  336 

725  367 

•  787329 

1894 

662  697 

122447 

60  144 

845  288 

722  841 

785  144 

1895 

67 1  668 

121  060 

60543 

853  261 

732211 

792  728 

1896 

697  546 

124397 

59415 

881  358 

746961 

821  943 

1897 

730  985 

134  580 

58608 

924  1 73 

789  593 

865  565 

ihrer  Mitglieder  auf  der  einen  und  dem 
kon'espondierenden  Anwachsen  der  übrigen 
Hüfskassen  und  ihrer  Mitglieder  auf  der 
anderen  Seite  augenfällig  hervor;  doch  ist 
nach  dem  Eintritt  dieser  einschneidenden 
Veränderung  weiterhin  ein  ruhiges  Beharren 
imd  sogar  ein  allmähliches,  bescheidenes 
Wachstum  unverkennbar. 

Im  übrigen  ist  nicht  sowohl  die  Zahl 
der  Kassen  und  ihrer  Mitglieder  füi'  ihre 
Bedeutung  ausschlaggebend,  vielmehr  müssen 
in  erster  Linie  ihre  Lei s tu  n gen  ins  Auge 
gefasst  werden.  Vergleicht  man  diese  aber 
mit  denen  der  Hauptrepräsentanten  der 
Zwangsversicherung,  nämlich  der  Ortskran- 
kenkassen, so  erweisen  sich  die  Hilfskassen 
nicht  nur .  ebenbiu'tig ,  sondern  sogar  über- 
legen :  während  von  4548  Ortskrankenkassen 
3698,  also  mehr  als  V'5,  lediglich  die  gesetz- 
liche Minimalfrist  von  13  Wochen ,  dagegen 
nur  735  =  16,2  ^/o  über  13  bis  26  Wochen 
und  nur  115  ^  2,5  »/o  über  26  bis  52  Wochen 
hindurch  Krankenunterstützung  gewähren, 
beschränkt  sich  die  Unterstützungs- 
dauer der  eingeschriebenen  Hilfskassen 
nm*  bei  635  --  44,17  ®/o  auf  13  Wochen,  da- 
gegen erstreckt  sie  sich  bei  526  —  37  % 
auf  13  bis  26  Wochen,  bei  253  ^  18  »/o  auf 
26  bis  52  Wochen ,  und  bei  8  =  0,6  %  so- 
gar auf  mehr  als  ein  Jahr;  diejenige  der 
landesrechtlichen  Hilfskassen  sogar  bei  nur 
74  =.  28  0/0  auf  13  Wochen ,  bei  92  .=  35  ^/o 
auf  13  bis  26  Wochen,  bei  80  r:=  30,7  ^!o  auf 
26  bis  52  Wochen  und  bei  15  =  5,8  «;o  auf 
mehr  als  ein  Jahr.  Aehnlich  verhält  es  sich 
mit  der  Karenzzeit;  die  volle  zwei- 
tägige beobachten  3563  —  78,4  ®/o  von 
den  Ortskrankenkassen ,  aber  nur  727  -= 
51  ®/o  von  den  eingeschriebenen  und  nur 
165  —  63,2  ^/o  von  den  landesrechtlichen 
Hilfskassen ;  eine  eintägige  unbedingte  59  = 
1,3^/0  von  den  Oiiski-ankenkassen ,  37  — 
2,6^/0  von  den  eingeschiiebenen  und  3  — 
1,1  ^/o  von  den  landesrechtlichen  Hilfskassen  ; 
eine  eintägige  unter  Bedingungen  5  --  0,1  ^/o 
der  Ortskrankenkassen,  2  =  0,1  ^/o  der  ein- 
geschriebenen und  keine  der  landesrecht- 
lichen  Hilfskassen;   gar  keine   unbedingt 


nur  460  =  10,1  ^/o  der  Ortskrankenkassen, 
aber  506  =  40%  der  eingeschriebenen  und 
88  =  33,7  <>/o  der  landesi-echtlichen  Hüfs- 
kassen, gar  keine  unter  Bedingungen  461 
=  10,1  %  der  Ortskrankenkassen,  90  =  6,3<>/o 
der  eingeschriebenen  imd  b  =  2^lo  der  lan- 
desrechtlichen Hilfskassen.  Auch  die  Ge- 
wälirung  des  Krankengeldes  für  Sonn- 
und  Feiertage  findet  sich  nur  bei  623 
=  13,7%  der  Ortskrankenkassen,  aber  lx)i 
308  =  21,7%  der  eingeschriebenen  und  bei 
48  =  18,4%  der  landesrechtUchen  Hilfe- 
kassen. Dementsprechend  verausgabten 
an  Krankheitskosten  auf  den  Kopf 
des  Mitgliedes  die  Ortskrankenkassen  nur 
13,77  Mk.,  die  eingeschriebenen  Hilfskassen 
dagegen  15,95  Mk.  und  die  landesrechtlichen 
14,76  Mk.  Dabei  sind  jedoch  die  V  er  wal- 
tung skosten  mit  1,75  Mk.  pro  Kopf  bei 
den  eingeschriebenen  Hilfskassen  nur  um 
27  Pf.  und  mit  1,50  Mk.  bei  den  landes- 
rechtlichen nur  um  2  Pf.  höher  als  bei  den 
Ortskrankenkassen  mit  1,48  Mk.,  ^^4ewohl 
doch  die  Geschäftsführung  der  weitverzweig- 
ten Hilfskassen  offenbar  grösseren  Schwie- 
rigkeiten begegnen  muss  als  die  der  auf 
kleinere  Bezirke  beschränkten  Ortskranken- 
kassen.  So  ist  denn  auch  die  Finanzlage 
der  Hilfskassen  mit  verechwindenden  Aus- 
nahmen als  eine  solide  und  günstige  zu 
bezeichnen.  Von  allen  eingeschriebenen 
haben  nur  7  eine  ünterbilanz,  alle  übrigen 
1415  und  sämtliche  landesrechtliche  Hilfs- 
kassen dagegen  einen  üeberschuss  der  Ak- 
tiva über  die  Passiva;  die  gesamten  Aktiva 
betragen  bei  den  eingeschriebenen  Hilfs- 
kassen 14746867  Mk.,  bei  den  landesrecht- 
lichen 2203388  Mk.,  die  gesamten  Passiva 
nur  34070  Mk.  und  bezw.  1788  Mk.  Alle 
diese  Zahlen  beziehen  sich  auf  das  Jahr 
1897  und  zwar  lediglich  auf  die  dem  §  75 
K.V.G.  genügenden  Hilfskassen.  Rechnet 
man  ihnen  noch  diejenigen  eingeschrieljenen 
Hilfskassen,  welche  dem  §  75  K.V.G.  nicht 
entsprechen,  hinzu,  so  hatten  sämtliche  Hüfs- 
kassen zusammen  im  Jahre  1897  eine  Ein- 
nalune  von  20,3  Millionen  Mk.,  eine  Ausgabe 
von  19  Millionen  Mk.,  also  einen  üebei-scnuss 


Hilfskassen — Hinterlegung  von  Wertpapieren 


1207 


von  1,3  Millionen  Mk. ;  ihi-e  gesamten  Ak- 
tiva betnigen  19,1  Mk.,  ilire  gesamten  Pas- 
siva nur  51 000  Mk. 

Erwägt  man,  unter  wie  schwierigen  Yer- 
hältnissen  die  freien  Kassen  arbeiten,  dass 
sie  insbesondere  ihre  Beiträge  nicht  gleich 
den  Zwangskassen  durch  die  Gemeinde- 
behörden kostenlos  einziehen  lassen  können, 
sondern  —  da  Klage  und  private  Zwangs- 
vollstreckung unverhältnismässig  teuer  zu 
stehen  käme  —  lediglich  auf  die  Pflicht- 
treue ihrer  Mitglieder  angewiesen  sind  und 
jährlich  viele  Tausende  wegen  Zahlungs- 
verzugs aus  ihren  Listen  streichen  müssen; 
dass  sie  ferner  infolge  ihrer  nationalen  Or- 
ganisation und  des  bei  ihnen  herrschenden 
Systems  der  freien  Arztwahl  in  weit  höhe- 
rem  Grade  als  die  Zwangskassen  der  Aus- 
beutung durch  Simulation  preisgegeben  sind, 
so  darf  man  den  aus  eigener  Kraft,  ohne 
Mitwirkung  der  Arbeitgeber  errungenen  Er- 
folgen volle  Anerkennung  nicht  versagen. 
Vielleicht  ist  eine  solche  auch  in  den  Be- 
stimmungen des  neuen  Invalidenveraiche- 
rung-sgesetzes  vom  13.  Juli  1899  zu  erblicken, 
welche  die  Hilfskassen  nicht  nur  in  betreff 
des  von  den  Versicherungsanstalten  einzu- 
leitenden Heilverfahrens  (§§  18—23)  den 
anderen  Krankenkassen  gleichgestellt  hat, 
sondern  auch  bei  den  Walilen  der  bei  der 
Durch  fühnmg  der  Invalidenversicherung 
mitwirkenden  Vertreter  der  Versicherten 
wenigstens  diejenigen  Hilfskassen  berück- 
sichtigt, welche  dem  §  75  K.V.G.  genügen 
und  deren  Bezirk  sich  über  den  Bezirk  einer 
unteren  Ver^'altung-sbehörde  nicht  hinaus 
erstreckt.  (§§  62  u.  82;  vgl.  im  übrigen 
freilich  §  166  I.V.G.) 

Jedenfalls  liat  hiernach  die  in  den  Krei- 
sen der  (Di-tskrankenkassen  noch  immer  nicht 
ganz  verstummte  Fordenuig,  die  Gleich- 
berechtigung der  freien  Kassen  aufzuheben 
und  sie  zu  blossen  Ergänzungskassen  herab- 
zudrücken ,  u.  E.  ebensowenig  Aussicht  auf 
legislative  Verwirklichung  als  innere  Be- 
rechtigung. Sie  entspringt  auch  nicht  so- 
wohl einer  besonderen  Animosität  gerade 
gegen  die  Hilfskassen,  deren  Wirken  auch 
von  den  Ortskrankenkassen  jetzt  vielfach 
vorurteilsfreier  gewürdigt  wird,  vielmehr 
dem  Wunsche,  überhaupt  alle  anderen  Kassen- 
formen, also  auch  die  Betriebs-,  Bau-  imd 
Innungskrankenkassen  verschwinden  zu  las- 
sen und  die  Ortskrankenkassen  zum  alleini- 
gen Träger  der  Krankenversicherung  zu 
machen.  (Vgl.  die  Verhandlungen  des  Cen- 
tralverbands  der  Ortskrankenkassen  im 
Deutschen  Reiche  vom  21.  September  1896 
und  12.  September  1898,  Arbeiterversorgung, 
Jahrg.  13  S.  605  u.  16  S.  10  ff.) 

Litteratnr:  Balck,  DU  eingeschriebenen  (freien) 
Nil/skassen,  Schwerin  1880.  —  Huber ,  Ausbau 
und     Rejorm     des     K,V,G.,    Miiiden    1888.    — 


Oechelhätised* ,  Soziale  Tagesfragen,  Berlin 
1889.  —  van  der  Borght,  Ueber  den  Entwurf 
der  Novelle  zum  K.V.G.,  in  Jahrb.  f.  Not.  und 
Staf.,  3.  Fol^e,  I.  Bd.,  S.  80,  1891.  —  Dntck- 
Sachen  und  stenographische  Berichte  des  Reichs- 
tages, betr.  die  Novelle  zum  K.  V.  G,  und  zum  H.K.  G. 

—  Denkschr  ift  d.  eingeschriebenen  Hilfskassen 
der  deutschen  Gewerkvereine  { Hirsch- Duncker), 
betreffend  die  Novelle,  1890,  —  Begründung 
der  Beschlüsse  des  vom  8. — 11.  XII,  in  Berlin 
abgehaltenen  Ililfskassenkongresses,  Hamburg  1891. 

—  Wirtninghaua  in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat., 
N.  F.  XIX,  S.  4SS,  52S,  XXI,  S.  S93,  3.  F., 
III,  S.  410.  —  Geschäftsbericht  der  Orts- 
krankenkasse zu  Leipzig  für  die  Jahre  188 4. — 
1889,  Leipzig  1890,  S,  36—42.  —  Sozial- 
politisches Centralblati,  Jahrg.  1892,  S. 
172  (QuarckJ,  S.  199  (Braun),  ferner  S,  £08, 
218,  267,  364,  ^88,  413,  437,  449.  —  MOJO 
Hirschy  Leitfaden  mit  Musterstatuten  für  freie 
Hilfskassen,  Berlin  1892.  —  Hdkfa,  Kommentar 
zum  HUfskassengesetz,  Berlin  1896.  —  Die  ge- 
samte Rechtsprechung  bezüglich  der  Hilfskassen 
enthält  nDie  Arbeiterversorgunga  (Cen- 
tralorgan  für  Arbeiterversicherung),  bisher  17 
Jahrgänge.  —  Vgl.  ferner  die  ^Statistik  der 
Kr a  n k e nv e r s  i c h e r u n gu,  in  der  Statistik 
des  Deutschen  Reichs,  N.  F.,  Bd.  24  (für  1885), 
31  (für  1886),  38  (für  1887),  46  (für  1888),  53 
(für  1889),  59  (für  1890),  65  (für  1891),  72  (für 
1892),  78  (für  1893),  84  (für  1894),  90  (für 
1895),  96  (für  1896)  und  121  (für  1897). 

Honigmann, 


Hill,  Rowland 

s.  Porto. 


Hinterlegniig  von  Wertpapieren. 

(Das  sog.  Bankdepotgesetz.) 

1.  Einleitung.  2.  Inhalt  des  Gesetzes.  A. 
Das  reguläre  Depot.  B.  Die  Einkaufskommission. 
C.  Verpflichtungen  des  Lokalbankiers  im  Ver- 
kehr mit  dem  Centralbankier.  D.  Strafbestim- 
mungen.   3.  Der  Erfolg  des  Gesetzes. 

1.  Einleitang.  Das  infolge  des  Zusammen- 
bruchs mehrerer  Berliner  Bankgeschäfte  er- 
lassene Reichsgesetz  v.  5.  Juli  1896  be- 
treffend die  Pflichten  der  Kaufleute  bei 
Aufbewahrung  fremder  Wertpapiere  be- 
zweckt die  Ausfüllung  wichtiger  Lücken 
und  Mängel,  welche  sich  auf  dem  Gebiete 
des  Bankdepotwesens  und  des  Kommissions- 
geschäfts namentlich  nach  folgenden  Rich- 
tungen gezeigt  hatten: 

a)  Es  war  unter  den  Kaufleuten  zweifel- 
haft und  auch  in  der  Rechtsprechung  streitig 
geworden,  mit  welchem  Momente  und  mit 
w^elchem  Rechtsakte  kommissionsweise  ein- 
gekaufte und  zunächst  in  das  Eigentum  des 
Kommissionärs  übergehende  Wertpapiere  in 
das  Eigentum  des  Kommittenten  übergingen 
mit  der  Wirkung  der  Ausschliessung  jedes 


1208 


Hinterlegung  von  Wertpapieren 


Yerfügungsrechts  seitens  des  Kommissionärs. 
Eine  ftist,  innerhalb  deren  der  Kommissionär 
den  Eigentumsübergang  zu  bewirken  und 
die  Nummern  der  angeschafften  Papiere 
dem  Kommittenten  anzugeben  habe,  bestand 
nicht.  Man  hatte  aber  angenommen,  dass, 
so  lange  ein  solcher  Uebertragungsakt  nicht 
erfolgt  sei,  der  Kommissionär  zur  Vei-ftigung 
über  die  Stücke  berechtigt  bleibe,  wenn  er 
nur  Wertpapiere  gleicher  Art,  Menge  und 
Güte  zurückgeben  könne. 

b)  Es  war  seitens  der  Lokalbankiers 
üblich  geworden,  dem  Centralbankier  zur 
Sicherstellung  aller  diesem  gegen  jenen 
erwachsenden  Forderungen  ein  Pfandrecht 
auch  an  den  übersandten  oder  kommissions- 
weise anzuschaffenden  Kunden  papieren  zu 
bestellen,  welches  unanfechtbai*  war,  wenn 
dem  Centi^bankier  bei  Empfang  der  Papiere 
nicht  bekannt  geworden  war,  dass  die 
Papiere  fremde  seien.  Ein  solcher  Zustand 
konnte  insbesondere  bei  Aufträgen  zum 
kommissions weisen  Ankauf  oder  zum  Um- 
tausch oder  Bezug  von  Wertpapieren  ein- 
treten, weil  hier  der  Lokalbankier  dem 
Centralbankier  gegenüber  kraft  Gesetzes  in 
eigenem  Namen  auftreten  durfte,  also 
sich  für  befugt  hielt,  letzterem  gegenüber 
die  Thatsache  nicht  anzugeben,  dass  die 
Anschaffung  für  fremde  Rechnung  er- 
folgen solle.  Infolgedessen  hatte  sich  die 
Nichtanzeige  des  ümstandes,  dass  die 
Papiere  fixjmde  seien,  auch  bei  den  mu*  zur 
Yerwahnmg  übersandten  Papieren  einge- 
bürgert, zumal  diu*eh  generelle  Vorbehalte 
in  den  Geschäftsbedingungen  eine  gesonderte 
Aufbewahrung  selbst  solcher  Papiere  \'iel- 
fach  ausgeschlossen  war. 

Hiernach  war  bei  einem  etwaigen  Kon- 
kiu^e  des  Kommissionärs  einerseits  dessen 
Bestrafung  wegen  Untreue  oder  L'nter- 
schlagung,  andererseits  jedes  Aussonderungs- 
itcht  des  Kommittenten  in  Frage  gestellt, 
und  es  war  ferner  dem  Kommissionär  die 
Möglichkeit  gegeben,  sich  durch  die  Wert- 
papiere seiner  Kunden  die  Mittel  zu  eigenen 
Spekulationen  zu  verschaffen.  Es  musste 
also  die  Abstellung  obiger  Mängel  zugleich 
als  ein  Mittel  erstrebt  und  angesehen  wenleu, 
die  Spekidation  in  Wertpapieren  einiger- 
massen  einzudämmen. 

2.  Inhalt  des  Gesetzes.  Das  Gesetz 
enthält,  soweit  ich  sehen  kann,  den  ersten 
Versuch  einer  Gesamtkodifikation 
des  Bankdepotwesens,  welches  in 
anderen  Ländern  entweder  gar  nicht  oder 
nur  in  einzelnen,  meist  sogar  untergeordneten 
Kichtungen  geregelt  ist.  Sein  Inhalt  ist  im 
einzelnen  der  folgende: 

A.  Das  reguläre  Depot  (die  reine 
Aufbewahrung),  a.  Nach  §  1  hat  jeder 
Kaufmann,  welchem  im  Betriebe 
seines  Handelsorowerbes  vertretbare 


Wertpapiere  (mit  Ausnahme  von  Banknoten 
und  Papiergeld)  unverschlossen  zur 
Verwahrung  oder  als  Pfand  übergebeo  sind, 

1.  die  Papiere  unter  äusserlich  erkenn- 
barer Bezeichnung  jedes  Hinterlegers 
oder  Verpfänders  gesondert  von 
seinen  eigenen  Beständen  und  von 
denen  Dritter  aufzubewahren; 

2.  ein  Handelsbuch  zu  führen,  in 
welches  —  sofern  nicht  die  Rückgabe 
der  Papiere  vor  der  in  ordnungs- 
mässigem  Geschäftsgang  alsbald  zu 
bewirkenden  Eintragung  erfolgt  — 
die  Papiere  jedes  Hinterlegers  oder 
Verpfänders  nach  ihren  Unterschei- 
dungsmerkmalen einzutragen  sind. 
Der  Eintragimg  steht  die  Bezugnahme 
auf  etwaige  neben  dem  Handelsbuch 
geführte  Verzeichnisse  gleich. 

Also  niu-  gesonderte  Aufbewahrung  mid 
Eintragung,  nicht  aber  auch  Ueber- 
sendung  eines  Numm.ern-(Stücke-) 
Verzeichnisses  wird  dem  kaufmänni- 
schen VenÄ^ahrer  zm*  Pflicht  gemacht,  ins- 
besondere wohl  deshalb  nicht,  weil  die  Ein- 
tragung der  Nummern  in  das  Handelsbuch 
(Depotnummernbuch)  das  Eügenturasrecht 
des  Kommittenten,  also  jiuch  sein  Aus- 
sonderungsrecht im  Konkurse  des  Kom- 
missionärs auch  ohne  Uebersendung  eines 
Nummernverzeichnisses  ausser  Zweifel  stellt. 
Die  vorsätzliche  Zuwiderhandlung  gegen 
§  1  Ziff.  1  oder  2  wird  bei  einem  Kaufmann, 
der  seine  Zahlungen  eingestellt  hat  oder  in 
Konkurs  geraten  ist,  mit  Gefängnis  bis  zu 
zwei  Jaliren  bestraft,  wenn  infolge  dieser  Zu- 
widerhandlung der  Berechtigte  in  seinem  Aus- 
sonderungsanspruch benachteiligt  wiixl(§  10). 

Ein  Recht  oder  gar  eine  Pflicht  des 
Verwahrei^s,  ohne  besonderen  Auftrag  irgend 
w^elche  Verfügungen  oder  Verwaltungshand- 
lungen hinsichtlich  der  aufbewahi-teu  Papiere 
vorzunehmen,  existiert  gesetzlich  nicht,  ist 
vielmehr  nur  vorhanden,  wenn  ein  beson- 
derer Rechtsgrund  hierzu  vorliegt. 

Die  Bestimmungen  dieses  §  1  finden 
keine  Anwendung,  wenn  der  Verwahrer 
oder  Verpfänder  in  einer  den  A'^orschrifteo 
des  §  2  entsprechenden  Form  ermächtigt 
ist,  an  Stelle  der  hinterlegten  oder  ver- 
pfändeten Wertpapiere  gleicliartige  zurück- 
zugeben (§  2  Abs.  2). 

Im  §  2  Abs.  1  des  Gesetzes  ist  sodaim 
bestimmt,  dass  eine  Elrklänmg  des  Hinter- 
legers (oder  Verpfänders),  diu^  welche  der 
Verwahrer  (oder  Pfandgläubiger)  ermächtigt 
wird,  an  Stelle  der  hinterlegten  oder  ver- 
pfändeten Wertpapiere  og  leichartige 
Wertpapiere  zurückzugeben*)  oder 


')  In  dieser  Vereinbarung  sieht  das  Beichs- 
gericht  (Entsch.  42  8.  9 ff.),  wenn  es  sich  um 


Hinterlegung  von  Wertpapieren 


1209 


über  die  Papiere  zu  seinem  Nutzen 
zu  verfügen«,  im  allgemeinen  nur  giltig 
ist,  »soweit  sie  für  das  einzelne 
Geschäft  ausdrücklich  und  schrift- 
lich abgegeben  wird.* 

Ist  jedoch  der  Hinterleger  oder  Yer- 
pfänder  ein  Bankier,  so  kann  er  diese 
Ermächtigung  auch  generell,  also  für 
alle  seinei*seits  dem  Centralbankier  zu  über- 
sendenden oder  zu  verpfändenden  Papiere, 
und  auch  mündlich  abgeben,  muss  sich 
jedoch  bei  Meidung  imter  Umständen  ein- 
tretender krimineller  Bestrafung  ^§  9)  von 
seinem  Kunden,  wenn  dieser  Nicntbankier 
ist,  die  Ermächtigung  ausdrücklich,  schrift- 
lich und  für  jeden  einzelnen  Fall  geben 
lassen.  Es  ist  also  gefährlich  für  den  Lokal- 
bankier, solche  generelle  Erklärungen  hin- 
sichtlich nicht  eigener  Effekten  dem  Cential- 
bankier  gegenüber  formularmässig  abzugeben, 
wenn  er  sich  nicht  stets  vor  Augen  hält, 
dass  er  seinerseits  von  dem  Kunden  in 
jedem  einzelnen  Falle  durch  eine 
ausdrückliche  und  schriftliche  Er- 
klärung gedeckt  werden  muss.  Das  Wort 
»ausdrücklich«  bedeutet,  dass  der  Wille 
des  Kunden,  eine  dem  §  2  Abs.  1  ent- 
sprechende Ermächtigung  zu  erteilen,  aus 
dem  Wortlaute  dieser  Ermächtigimg  klar 
hervorgehen  muss,  dass  es  also  nicht  wie 
in  sonstigen  Fällen  genügen  kann,  wenn  ein 
solcher  Wille  etwa  aus  den  begleitenden 
Umständen  gefolgert  werden  könnte.  Ins- 
besondere würde  eine  unter  der  einzelnen 
Ordre  abgedruckte  Erklärung:  »ich  erteile 
die  in  dem  mir  bekannten  §  2  des  Ge- 
setzes näher  bezeichneten  Ermächtigungen« 
nicht  ausreichend  sein.  Das  Wort  »schrift- 
lich« schliesst  die  Unterzeichnung  ge- 
druckter Erklärungen  nicht  aus.  In 
Bezug  auf  die  Auslegung  des  Inhalts  der 
Ermächtigungen  des  §  2  Abs.  1  ist  zu  be- 
merken, dass  nach  der  Rechtsprechung, 
auch  wenn  dem  Kommissionär  in  gehöriger 
Form  die  Ermächtigung  erteilt  ist,  über  die 
hinterlegten  oder  verpfändeten  Papiere  zu 
seinem  Nutzen  verfügen  oder  gleichartige 
Papiere  zurückgeben  zu  können,  der  Kom- 
mittent als  Eigentümer  der  qu.  Papiere  in- 


zur  Aufbewahrung  oder  als  Pfand  übergebene 
Wertpapiere  handelt,  ein  stempelpflichti- 
ges Anschaffungsgeschäft.  Es  ist  ferner 
—  allerdings  anscheinend  nur  im  Hinblick  auf 
die  besonderen  Bestimmungen  der  §S  82 ff. 
A.L.R.  1,  14  —  der  Ansicht,  dass  ungeachtet 
einer  solchen  Vereinbarung  der  Hinterleger 
Eigentümer  der  hinterlegten  Papiere  so  lange 
bleibe,  bis  der  Verwahrer  durch  einen  änsser- 
lich  erkennbaren  Akt  von  der  ihm  erteilten  Er- 
mäcbtignng  Gebranch  gemacht  habe.  So  auch 
Stenglein:  „Die  strafr.  Nebengesetze"  etc. 
S.  63  u.  Schweyer:  „Die  Bankdepotgeschäfte" 
etc.  S.  124. 


solange  anzusehen  sein  soll,  als  nicht  der 
Kommissionär  von  der  ihm  erteilten  Er- 
mächtigimg in  irgend  einer  erkennt- 
lichen (rechtlich  wirksamen)  Weise  Ge- 
brauch gemacht  hat.  So  lange  er  dies 
nicht  gethan,  würde  er  danach  die  Pflichten 
des  §  1  (gesonderte  Aufbewalirung  und  Ein- 
tragung \n  das  Depotnummernbuch)  auch 
im  Falle  der  Erteilung  dieser  Ermächtigung 
zu  erfüllen  haben. 

Ob  die  Worte  »zu  seinem  Nutzen  zu 
verfügen«  im  Zweifel  dem  Wortlaut  ent- 
sprechend im  weitesten  Sinne  auszulegen 
sind,  also  daliin,  dass  dem  Verwahrer  die 
völlig  freie  Verfügung  zustehen  solle, 
oder  enger,  also  nur  dahin,  dass  er  ledig- 
lich zu  bestimmten  Zwecken,  z.  B. 
zur  Weiterverpfändung  oder  zur  Hinter- 
legung beim  Kassenverein  oder  bei  einer 
sonstigen  Aufbewahrungsstelle,  solle  ver- 
fügen dürfen,  ist  streitig.  Ich  entscheide 
mich  dafür,  dass  im  Zweifel,  da  das  Ge- 
setz nicht  unterscheidet,  das  Recht  der 
völlig  freien  Verfügung  als  eingeräumt  zu 
gelten  hat,  dass  es  also  Sache  des  eine 
engere  Auslegung  behauptenden  Hinterlegers 
oder  Verpfänders  wäre,  besondere  Umstände 
nachzuweisen,  aus  welchen  ein  begi^enzterer 
Sinn  der  ilirem  Wortlaut  nach  unbegrenzten 
Ermächtigung  mit  Sicherheit  zu  schüessen  ist. 

B.  Die  Einkaufakommission.  a)  Nach 
den  §§  8  und  7  des  Gesetzes  hat  der 
Kommissionär,  welcher  einen  Aufti^  zum 
Einkauf  von  verti-etbaren  Wertpapieren  aus- 
führt, dem  Kommittenten  binnen  drei  Tagen 
ein  Verzeichnis  der  Stücke  mit  An- 
gabe der  Unterscheidungsmerkmale  zu  über- 
senden. Diese  dreitägige  Frist  beginnt,  wenn 
der  Kommissionär  bei  der  Anzeige  über  die 
Ausführung  des  Auftrags  einen  Dritten  als 
Verkäufer  genannt  hat,  mit  dem  Erwerb 
der  Stücke,  andernfalls  mit  dem  Ablauf  des 
Zeitraums,  innerhalb  dessen  der  Kommissio- 
när nach  Abgang  der  Ausführungsanzeige 
bei  ordmmgsmässigem  Geschäftsgang  die 
Stücke  beziehen  konnte  (§  3  Abs.  1). 

Spätestens  mit  der  Absendung  des 
Stückeverzeichnisses  (oder  auch  zu 
einem  etwa  nach  sonstigem  büi^erlichen 
Recht  fixierten  früheren  Zeitpunkt)  geht, 
die  Vei-fügungsberechtigung  des  Kommissio- 
närs vorausgesetzt,  das  Eigentum  an  den 
im  Stückeverzeichnis  erwähnten  Wertpa- 
pieren auf  den  Kommittenten  mit  der  Wir- 
kung ilber,  dass  von  da  ab  der  Kommissionär 
hinsichtlich  dieser  Wertpapiere  die  im  §  1 
erwähnten  Pflichten  eines  Ver^^ahrers  hat 
(§  7  Abs.  1  und  2). 

b)  Die  Uebei-sendung  des  Stückeverzeich- 
nisses kann  nur  dann  und  nur  insoweit 
unterbleiben,  w^enn  und  soweit  die 
Auslieferung  der  Stücke  an  den  Kom- 
mittenten   erfolgt    oder    ein    Auftrag    dos 


1210 


Hinterlegung  von  Wertpapieren 


letzteren  zur  Wiederveräusserung  aus- 
geführt ist  (§  3  Abs.  3). 

c)  Ein  Verzicht  des  Kommittenten  auf 
die  Uebersendnng  des  Stücke  Verzeichnisses 
ist  auch  hier,  wenn  der  Kommittent  nicht 
Bankier  ist,  lediglich  dann  wirksam,  »wenn 
er  bezüglich  des  einzelnen  Auf- 
trages ausdrücklich  und  schrift- 
lich erklärt  wird«  (§  3  Abs.  2). 

Das  Gesetz  hat  also  hier  den  vorher 
vorhandenen  Rechtszustand  dadurch  ver- 
bessert, dass  es  im  §  3  eine  Form  und 
zugleich  eine  Frist  vorschreibt,  durch  die 
und  innerhalb  deren  der  Kommissionär  die 
Besitzübertragimg  imd  damit  die  Eigentums- 
übertragung der  angeschafften  Papiere 
spätestens  bewirken  muss,  und  zwar, 
wenn  nicht  einer  der  unter  b.  und  c.  ver- 
zeichneten Ausnahmefälle  vorliegt,  bei 
Meidung  krimineller  Strafen  (§  10  Satz  2), 
falls  bei  vorsätzlicher  Nichtabsendung  des 
Stückeverzeichnisses  der  Berechtigte  bei 
Konkurs  oder  Zahlungseinstellung  des  Kom- 
missionärs bezüglich  seines  Aussondenmgs- 
anspruchs  benachteiligt  wird  (Gefängnis  bis 
zu  zwei  Jahren). 

Der  Verzicht  auf  üebersendung  des 
Stückeverzeichnisses  ist  im  Zweifel  da- 
hin auszulegen,  dass  damit  der  Kommissionär, 
welcher  infolge  der  Anschaffung  zunächst 
selbst  Eigentümer  der  angeschafften  Papiere 
wird,  den  Besitzübertragungsakt  überhaupt, 
also  den  Eigentumsübergang  der  an- 
geschafften Papiere  auf  den  Kom- 
mittenten, solle  aufschieben  dürfen, 
so  dass,  insolange  der  Kommissionär  nicht 
durch  üebersendung  des  Stückeverzeich- 
nisses oder  in  anderer  Weise  die  Besitz- 
übertragung vorgenommen  hat,  der  letztere 
lediglich  Stückeschuldner  werden,  dem 
Kommittenten  also  kein  Aussonde- 
rungsrecht im  Konkurse  des  Kommissio- 
närs, sondern  nur  ein  persönlicher  An- 
sprach auf  Ausfolgung  von  Papieren  gleicher 
Art,  Güte  und  Menge  im  Falle  der  Zalilung 
des  Kaufpreises  zustehen  soll. 

Die  etwaige  ausdrückliche  Darlegung 
dieser  Rechtsfolgen  in  den  gedruckten  Ge- 
schäftsbedingimgen  bezweckt  nur,  diesen 
—  auch  ohnedies  anzunehmenden  —  Willen 
der  Parteien  völlig  ausser  Zweifel  zu  setzen  ^). 


>)  Wenn  Schweyer  (a.  a.  0.  S.  132) 
hiergegen  Bedenken  äussert,  weü  die  hierin  ent- 
haltene Festlegung  einseitig  sei  und  der  „äusse- 
ren Autorität"  entbehre,  so  verkennt  er  sowohl 
den  thatsächlicheu  als  den  rechtlichen  Vorgang. 
Denn  diese  Festlegung  der  Rechtsfolgen  ist 
nicht  eine  einseitige,  da  der  Kunde  die  Ge- 
schäf  tsbedin  gungen  bestätigt,  sie  bedarf  des- 
halb auch  keiner  besonderen  äusseren  Autorität. 
Ueberdies  wird  in  unzweideutiger  Weise  ge- 
sagt: „Diese  Befreiung  hat  zur  Folge,  dass  die 
angeschafften  Effekten  von  uns  nicht  für  den 


Eine  —  an  sich  wohl  mögliche  — 
engere  Bedeutung  des  Verzichte  auf  die 
üebersendung  des  Stückeverzeichnisses  ist 
daher  in  letzterem  Falle  ausgeschlossen,  im 
übrigen  aber  keinen  falls  zu  präsu- 
mieren, sondern  von  demjenigen  nachzu- 
weisen, der  daraus  Rechte  ableiten  wiD. 

An  dieser  bereits  in  meinem  Kommentar 
S.  35 — 38  geäusserten  Ansicht  halte  ich 
gegenüber  den  dagegen  von  Neukamp 
^n  Holdheims  Wochenschrift  Jahi^^.  VI 
S.  139)  geltend  gemachten  Einwendungen 
auch  jetzt  noch  fest,  zumal  ich,  wie  Neu- 
kamp  zugiebt,  auch  frülier  nicht  verkannt 
habe,  dass  der  Eigentumsübergang  nach 
bürgerlichem .  Recht  eintretendenfalls  nicht 
erst  mit  der  üebersendung  des  Stückever- 
zeichnisses, sondern  schon  in  einem  früheren 
Zeitpunkte  erfolgen  könnte.  Immerhin  stellt 
sich  nach  der  ausdrücklichen  Absicht  des 
Gesetzes  »die  dem  Kommissionär  gemachte 
Auflage,  dem  Kommittenten  binnen  drei 
Tagen  ...  ein  Stückeverzeichnis  zu  sen- 
den .  .  .,  als  die  Verpflichtung  dar,  inner- 
halb dieser  Frist  das  constitutiun  possesso- 
rium zu  vollziehen  und  dadurch  den 
Kommittenten  zum  Eigentümer 
der  bezogenen  Wertpapiere  zu 
machen«  (Begründung  S.  78).  Der  Ver- 
zicht auf  das  Stückeverzeichnis  ist  also  im 
Zweifel  als  ein  Verzicht  auf  die  gesetz- 
liche Verpflichtung  des  Kommissionärs  an- 
zusehen, den  Kommittenten  zum  Eigentümer 
der  bezogenen  Wertpapiere  zu  machen,  also 
als  eine  Erklärung,  mit  der  »Kreditierung 
auf  Stückeconto«  1)  des  Kommissionärs  bis 
zur  Vollzahlung  des  Kaufpreises  zufrieden 
zu  sein. 

d)  Ist  der  Kommissionär  mit  der  üeber- 
sendung des  Stücke  Verzeichnisses  im  Ver- 
zuge und  holt  er  sie  auch  nicht  binnen 
drei  Tagen  nach  erhaltener  Aufforderung 
des  Kommittenten  nach,  so  kann  letzterer 
nur,  wenn  er  dies  binnen  drei  Tagen  nach 


Auftraggeber  in  Besitz  und  Verwahrung  ge- 
nommen werden,  sondern  ihm  auf  unserem 
Stückekonto  ohne  Nummemangabe  gut  geschrie- 
ben werden". 

^)  Bei  Besprechung  dieser  Ausführungen, 
welche  ebensowohl  den  Lokal-  als  den  Central- 
bankier  angehen,  und  weiterer  Darlegungen  des 
Verfassers  zu  §  8,  hat  Neukamp  (a.  a.  0. 
S.  138)  geglaubt,  dieselben  dahin  „charak- 
terisieren" zu  dürfen,  dass  „der  Verfasser 
der  für  ihn  vermöge  seiner  Stellung  (!)  aller- 
dings sehr  naheliegenden  Gefahr  leider  nicht 
entgangen  ist,  zu  einseitig  sich  von  dem  Stand- 
punkt des  „Centralbankiers"  leiten  zu  lassen". 
Es  wird  genügen,  dem  gegenüber  festzustellen, 
dass  in  beiden  Fragen  der  Kommentar  des 
vortr.  fiats  im  Handelsministerium  Geh.  Rats 
Lusensky  zum  Bankdepotgesetjs  (auf  S.  63, (>4 ; 
75  76  u.  70)  zu  genau  den  nämlichen  Resultaten 
wie  der  Verfasser  gelangt  ist. 


Hinterlegung  von  Wertpapiei-ea 


1211 


Ablauf  der  Nachholungsfrist  erklärt,  das 
Geschäft  als  nicht  für  seine  Rechnung  ge- 
schlossen zurückweisen  und  Schadensei'satz 
wegen  Nichterfüllung  verlangen  (§  4  Abs.  1 
und  2). 

e)  Der  Kommissionär,  welcher  einen  Auf- 
trag zum  Umtausch  von  vertretbaren  Wert- 
papieren oder  zur  Geltendmachung  eines 
Bezugs  rechts  auf  solche  Papiere  aus- 
führt, hat  gleichfalls,  bei  Meidung  des 
Verlustes  seines  Provisionsan- 
spruchs (§  6),  binnen  zwei  Wochen  nach 
dem  Empfange  dieser  Stücke  dem  Kom- 
mittenten das  Stückeverzeichnis  zu  über- 
senden, sofern  er  letzterem  nicht  die  Stücke 
innerhalb  dieser  Frist  ausgehändigt  hat  (§  5). 
Die  oben  erwähnte  Strafbestimmung  des 
§  1()  Satz  2  findet  auch  im  Falle  vorsätz- 
licher Zuwiderhandlung  gegen  die  Bestim- 
mungen des  §  5  Anwendung. 

Die  Möglichkeit  eines  Verzichts  auf  die 
Uebei*sendung  des  Stückeverzeichnissos  ist 
für  diesen  Fall  gesetzlich  nicht  vorgesehen, 
aber  wolil  kaum  zu  bestreiten.  Zweifelhaft 
ist  jedoch,  ob  ein  solcher  Verzicht,  für 
de^sen  Zulässigkeit  nicht  die  besonderen 
Vorschriften  des  Depotgesetzes,  sondern  nur 
allgemeine  Rechtsgrund sätze.  angerufen 
werden  können,  der  besonderen  (Ausnahme-) 
Formen  des  §  3  Abs.  2  bedarf,  was  ich, 
ungeachtet  der  Einwendungen  Neukamps 
(in  Holdlieims  Monatsschr.  Jahrg.  VII  S. 
139).  nicht  annehme. 

C.  Verpfliohtiingen  des  Lokal- 
bankiera  im  Verkelir  mit  dem  Central- 
bankier.  Eine  der  wichtigsten  Vorschriften 
des  ganzen  Gesetzes,  mit  welcher  den 
in  der  Einleitung  (oben  sub  I,  b)  bezeich- 
neten unleidlichen  Missständen  gesteuert 
weixlen  sollte,  enthält  der  §  8,  welcher 
lautet : 

»Ein  Kaufmann,  welcher  im  Be- 
ti'iebe  seines  Ilandelsgewerbes  fremde 
Wertpapiere  der  im  §  1  bezeichneten 
Art  einem  Dritten  zum  Zwecke 
der  Aufbewahrung,  der  Veräusse- 
rung,  des  Umtausches  oder  des 
Bezuges  von  anderen  Wertpapieren, 
Zins-  oder  Gewinnanteilscheinen  aus- 
antwortet, hat  hierbei  dem 
Dritten  mitzuteilen,  dass  die 
Papiere  fremde  seien.  Ebenso 
hat  er  in  dem  Falle,  dass  er  einen 
ihm  erteilten  Auftrag  zur  An- 
schaffung solcher  Wertpapiere  an 
einen  Dritten  weitergiebt,  die- 
sem hierbei  mitzuteilen,  dass 
die  Anschaffung  für  fremde 
Rechnung  erfolge. 

Der  Diitte,  welcher  eine  solche 
Mitteilung  empfangen  hat,  kann  an 
den   übergebenen   oder   an    den    neu 


beschafften   Papieren   ein   Pfandrecht 
oder  ein  Zurückbehaltungsrecht  nur 
wegen  solcher  Forderungen  an 
seinen   Auftraggeber    geltend 
machen,  welche  mitßezugauf 
diese    Papiere    entstanden 
sind.« 
Infolge    der    letzteren    Vorechrift    und 
der    gar    nicht    zu    bestreitenden    Schwie- 
rigkeit,    wenn     nicht     Unmöglichkeit    im 
K  0  n  1 0  k  or  r  e  n  t  V  er  k  e  h  r ,    nachzuweisen, 
dass    gerade    die    mit   Bezug   auf    diese 
Papiere  entstandenen  Fordenmgen  noch  nicht 
bezaldt  sind,  ist  es  nun  aber  in  der  Praxis 
seitens  der  Centralbankiers  allgemein  ab- 
gelehnt   worden ,    Papiere ,    hinsichtlich 
deren  der  Lokalbankier  mitgeteilt  hat,  dass 
sie  fi-emde  seien  oder  dass  ihre  Anschaffiuig 
für  fi-emde  Rechnung  erfolge,  in  irgend 
einer  Weise  —  also   auch   in  dem  be- 
schränkten Umfange  des  §  8  Abs.  2  —  als 
Kreditunterlage  dienen  zu  lassen. 

Infolge  dieser  Ablehnung  der  Central- 
bankiere  waren  dann  wieder  die  Lokal- 
bankiers genötigt,  sich  von  iliren  Kunden 
die  Ermächtigungen  des  §  2  ausstellen  zu 
lassen  (andere  Nummern  zurückzugewähren 
oder  zu  ihrem  Nutzen  über  die  Papiere 
verfügen  zu  dürfen)  oder  im  Falle  der 
Weitergabe  einer  Verk aufs kommission  als 
Selbstkontrahenten,  also  als  Käufer  einzu- 
treten, und  zwar  letzteres  entw^eder  auf 
Grund  dahingehender  Erklärung  in  allge- 
meinen Geschäftsbedingungen  oder  einer 
Specialerklärung,  welche  vor  Weitergabe 
des  Auftrages  abzugeben  ist. 

In  beiden  Fällen  aber  würden  die  Pa- 
piere —  und  zwar  im  ersteren  Falle  nach 
der  neueren  Judikatur  mindestens  dann, 
wenn  von  jenen  Ermächtigungen  vorher 
seitens  des  Kommissionärs  in  ii'gend  einer 
Weise  Gebrauch  gemacht  ist  —  nicht 
melir  als  fremde  zu  betrachten  sein,  also 
die  Mitteilungspflicht  gemäss  §  8  in  Weg- 
fall kommen. 

Das  Anwendungsgebiet  des  §  8  ist  da- 
durch, was  sehr  wenig  wünschenswert  ist, 
in  sehi'  erheblichem  Umfange  eingeschränkt 
worden. 

B.  Straf  bestimmimgen.  Die  §§  9 
bis  12  des  Gesetzes  enthalten  Strafbestim- 
mungen, von  welchen  diejenigen  des  §  10 
Abs,  1  oben  zu  den  §§  1,  3  und  5  bereits 
erwähnt  sind. 

Der  §  9  dreht  demjenigen  Kauf  mann, 
welcher  über  ihm  zur  Aufbewahrung  oder 
als  Pfand  übergebene  oder  von  ihm  als 
Kommissionär  für  den  Kommittenten  in  Be- 
sitz genommene  vertretbare  Wertpapiere 
ausserhalb  der  Fälle  des  §  246  des  Straf- 
gesetzbuchs zu  eigenem  Nutzen  oder 
zum  Nutzen  eines  Dritten  rechts- 
widrig verfügt,  Gefängnis  bis  zu  einem 


1212 


Hinterlegung  von  Wertpapieren — Hof 


Jahr  und  Geldstrafe  bis  zu  dreitausend  Mark 
oder  eine  dieser  Strafen  an. 

Den  gleichen  Strafen  unterliegt,  wer  der 
Yorsehrift  des  §  8  zum  eigenen  Nutzen 
oder  zum  Nutzen  eines  Dritten  vorsätz- 
lich zuwiderhandelt. 

Der  §  11  bestimmt,  dass  ein  Kauf- 
mann, welcher  seine  Zahlungen  eingestellt 
liat  oder  in  Konkurs  geraten  ist,  mit 
Zuchthaus  (also  bis  zu  15  Jahren)  zu 
bestrafen  ist,  wenn  er  im  Bewusstsein  seiner 
Zahlungsunfähigkeit  oder  üeberschiüdung 
fremde  Weiipapiere,  welche  er  als  Ver- 
wahrer, Pfandgläubiger  oder  Kommissionär 
in  Gewahrsam  genommen,  sich  rechtswidrig 
zugeeignet  hat.  Bei  mildernden  Umständen 
tritt  Gefängnisstrafe  nicht  unter  drei  Mo- 
naten ein. 

Der  §  12  endlich  dehnt  die  Straf vor- 
schiiften  der  §§  9,  10  und  11  unter  ge- 
wissen Voraussetzungen  auch  auf  Vorstands- 
mitglieder einer  Aktiengesellschaft  oder  ein- 
getragenen Genossenschaft,  Geschäftsführer 
einer  Gesellschaft  mit  beschränkter  Haftung 
sowie  die  Liquidatoren  einer  Handelsgesell- 
schaft oder  eingetragenen  Genossenschaft  aus. 

^  

3.    Der   Erfolg    de»    GeHetzes.     Die 

praktischen  Folgen  des  Gesetzes  scheinen 
mir,  abgesehen  von  den  Strafbestimmungen, 
um  deswillen  nicht  sehr  erhebliche  zu  sein, 
weil 

a)  den  Lokalbankiers  auch  in  den  Fällen 
der  reinen  Aufbewahrung  und  Ver- 
pfändung seitens  des  Publikums  die 
Ermächtigungen  des  §  2,  welche  der 
Rankier  vor  dem  Gesetze  in  diesem 
weiten  Umfange  kaum  in  Anspruch 
nehmen  konnte,  in  der  Regel  aus- 
gestellt zu  wenlen  pflegen,  ferner 
weil 

b)  auch  der  Verzicht  auf  die  Absen- 
dung des  Stückeverzeichnisses  in 
den  allermeisten  Fällen  ausge- 
sprochen wird,  insbesondere  in  den- 
jenigen die  Regel  bildenden  Fällen, 
in  welchen  die  Kommittenten  nicht 
sofort  bei  Erteilung  des  Auftrags  den 
vollen  Kauf  j)reis  berichtigen  ;  und  weil 
endlich 

c)  infolge  der  sub  a  und  b  angedeuteten 
Umstände  das  reguläre  Bank- 
depot, also  auch  die  Fälle  des  Aus- 
sonderungsrechts der  Kom- 
mittenten, welche  das  Gesetz  zu 
erweitern  und  ausser  Fragt»  zu  stellen 
beabsichtigte ,  zu  Gunsten  des 
depositum  irreguläre  einer- 
seits und  zu  Gunsten  des 
Stückecontos  des  Kommissio- 
närs andererseits  seit  Eidass  des 
Bankdepotgesetzes  ganz  ersichtlich 
zurückgegangen  ist. 


Ein    völlig  abschliessendes   Urteil   lässt 
sich  aber  noch  nicht  abgeben. 

Litteratur:  Max  Apt,  Depotgetetz  etc.,  Text- 
ausgabe mit  Einleitung,  Anmerkungen  und  Sach' 
regisier,  Berlin  1896.  —  F,  lAtsensky ,  Text- 
ausgäbe  mit  Einleitung,  Erläuterungen  und 
Sachregister,  Berlin  1897.  —  W.  Frhr,  von 
Pech'inann,  Da«  Reichsgesetz  über  die  Pflichten 
der  Kaufleute  bei  Aufbewahrung  fremder  Wert- 
papiere  (das  sogenannte  Depotgesetz)  vom  o,  Juli 
1896.  Gesetzestert  mit  Erläuterftngen,  Erlangen. 
—  RiesgCTf    Das  Bankdepotgesetz  vom  5.  Juli 

1896.  Aus  der  Praxis  und  für  die  Praxis  ins- 
besondere   des   Handelsstandes   erläutei't,  Berlin 

1897.  —  M,  Stenglein,  Die  strafrechtlichen 
Nebengesetze  des  deutschen  Reiche«,  Snppl.  zur 
2.  Aufl.,  Berlin  1898,  S.  58—74.  —  Franz 
Schxceyer,  Die  Bankdepotgeschäfte  in  geschicht- 
licher, wirtschaftlicher  und  rechtlicher  Beziehung, 
München  1899. 

Bies8er, 


Hoards 


s. 


Banken,    insbesondere    Bankgeschäfte 
sub  9  oben  Bd.  U  S.  143  ff. 


Hof. 

(Wandeläcker,  walzende  Grundstücke.) 

1.  Begriff  des  Hofes.  2.  Heutige  Verbrei- 
tung der  Hof  Verfassung  in  Deutschland.  3.  Ge- 
schichte der  deutschen  Hofverfassung.  4.  Schluss. 

1.  Begriff  des  Hofes.  Hof  im  ökono- 
mischen Sinne  ist  der  zur  Führung  eines  selb- 
ständigen Landwirtschaftsbetriebes  erforderliche 
Bestand  an  Grundstücken  mit  Gebäuden  und 
sonstigem  Zubehör.  Einen  Hof,  der  einem 
bäuerlichen  Landwirtschaftsbetriebe  dient,  nennt 
man  Bauernhof.  Von  Bauernhöfen  im  Gebiet 
des  heutigen  Deutschen  Kelches  soll  im  folgen- 
den die  Kede  sein. 

Da  der  Hof  mit  allen  seinen  Bestandteilen 
die  Grundlage  des  Landwirtschaftsbetriebes 
bildet,   SU  ist  er  in  dieser  Beziehung  ein  or- 

Sanisches  Ganzes,  eine  Einheit,  die,  solange  ein 
land Wirtschaftsbetrieb  von  bestimmter  Be- 
schaffenheit durch  sie  ausgeübt  werden  boll, 
keiner  irgendwie  erheblichen  Aenderung,  weder 
in  seiner  agronomischen  Zusammensetzung  noch 
in  seiner  absoluten  Grösse,  unterworfen  werden 
darf. 

Jedoch  ist  die  Eigenschaft  als  Grundlage 
eines  selbständigen  Landwirtschaftsbetriebes 
bestimmter  Art  nicht  das  einzige  den  Begriff 
Bauernhof  bestimmende  Merkmal. 

Es  ist  hergebracht,  nur  solche  Bauemgi\ter 
als  Höfe  zu  bezeichnen,  die  ihren  Bestand  an 
Grundstücken  und  sonstigem  Zubehör  dauernd 
bewahrt  haben,  und  die  eine  Reihe  von  Genera- 
tionen hindurch  unverändert  in  der  Hand  ihrer 
Besitzer  geblieben  sind. 

Diese  Unveränderlichkeit  der  Güt^r  besteht 
entweder  kraft  eines  privaten  bezw.  öffentlichen 


Hof 


1213 


Kechtssatzes,  oder  sie  ist  in  eiuer  Gegend  dnrch 
die  Sitte  seit  alter  Zeit  allgemein  eingeführt. 

Die  wichtigsten  Elemente  des  Begriffes 
Hof  sind  also  einerseits  das  wirtschaftliche, 
Grundlage  eines  selbständigen  Landwirtschafts- 
betriebes, andererseits  das  rechtlich-soziale,  Uu- 
Veränderlichkeit  dieser  Grundlage  kraft  der 
Sitte  oder  kraft  Rechtes. 

Im  Gegensatz  zu  den  geschlossenen  Höfen 
stehen  diejenigen  Bauerngüter,  deren  Bestand 
weder  dnrch  Sitte  noch  durch  Eechtssatz  dauernd 
erhalten  wird.  Sie  können  geteilt,  durch  Ab- 
trennung einzelner  Stücke  verkleinert,  schliess- 
lich auch  völlig  zersplittert  werden.  Die 
Grundstücke,  aus  denen  sie  bestehen,  nennt  man 
im  Gegensatz  zu  den  im  Hofverband  befind- 
lichen Ländereien  frei  beweglichen  Grundbesitz. 
In  vielen  Gegenden  bilden  solche  ungeschlossene 
Güter  die  Grundlage  aller  oder  der  meisten 
bäuerlichen  Landwirtschaftsbetriebe.  Da,  wo 
der  bäuerliche  Grundbesitz  vorwiegend  zu  Bau- 
ernhöfen vereinig  ist,  nennt  man  die  nicht  im 
Hofverband  befindlichen  bäuerlichen  Grund- 
stücke Wandeläcker,  walzende  Grundstücke 
oder  auch  Erbland. 

Häufig  werden  sie  hier  von  einem  Hofin- 
haber besessen  und  in  Verbindung  mit  den 
Hofländereien  bewirtschaftet,  jedoch  bleiben 
sie  von  den  Hofländereien,  den  integrierenden 
Bestandteilen  des  Hofes,  wenigstens  begrifflich 
immer  unterschieden. 

2.  Heutige  Yerbreitang  der  Hofver- 
fasBung  in  Deatschland.  Nach  dieser  Fest- 
stellung dessen,  was  wir  unter  der  Bezeichnung 
Hof,  insbesondere  unter  Bauernhof  verstehen, 
wollen  wir  die  heutige  Verbreitung  der  Hof- 
verfassung in  Deutschland  in  einem  Ueberblick 
betrachten.  Im  Gegensatz  zur  Hof  Verfassung 
stehen  die  ungeschlossenen  Bauerngüter,  die 
aber  nicht  notwendig  bei  jedem  Erbgang  oder 
auf  sonstige  Weise  geteilt  werden  müssen.  Sie 
können  auch  thatsächlich  in  ihrem  Bestand  er- 
halten bleiben.  Die  Kegel  ist  allerdings  die, 
dass,  wo  keine  Sitte  oder  Eechtssatz  die  Ge- 
schlossenheit erhält,  auch  keine  dauernde 
faktische  Ungeteiltheit  besteht.  Wir  teilen 
Deutschland  in  drei  Arten  von  Gebieten,  je 
nachdem  die  Hof  Verfassung  vorherrscht  oder 
den  ungeschlossenen  Bauerngütern  gegenüber 
zurücktritt  oder  endlich  sämtliche  Bauerngüter 
ungeschlossen  sind. 

a)  Vorherrschende  Hofverfassung  besteht 
in  den  sechs  östlichen  Provinzen  Preussens,  in 
Brandenburg,  Pommern,  West-  und  Ostpreussen, 
Posen  und  Schlesien.  Nur  im  Süden  von  Posen 
und  in  Oberschlesien  findet  bei  der  polnischen 
Bevölkerung  Naturalteilung  statt.  Ferner  be- 
steht die  Hofverfassung  in  Mecklenburg, 
Schleswig-Holstein,  Lauenburg  und  im  Nora- 
und  Ostteil  der  Provinz  Sachsen.  Ebenso 
herrscht  sie  in  Anhalt  und  einzelnen  thüringi- 
schen Staaten  wie  Sachsen-Altenburg  und  Reuss. 
In  der  Provinz  Hannover  besteht  die  Geschlossen- 
heit ausser  in  einigen  Marschdistrikten  und  in 
Grubenhagen.  Gebiete  der  vorherrschenden 
Hofverfassung  sind  femer  die  Provinz  West- 
falen und  die  Mittel-  und  Kleinstaaten  Nord- 
westdeutschlands wie  Oldenburg,  Lippe,  Wal- 
deck, das  ehemalige  Kurhessen  und  Braunschweig 
und  endlich  der  Niederrhein  d.  h.  die  preussische 
Bheinprovinz  von  Düsseldorf  bis  zur  holländi- 


schen Grenze.  In  Süddeutschland  beherrscht 
die  Hofverfassung  ganz  Altbayem  mit  Aus- 
nahme der  Provinz  Unterfranken,  ferner  in 
Württemberg  den  Donau-,  Jagst-  und  südlichen 
Schwarzwaldkreis.  In  Baden  endlich  ist  die 
Mehrheit  der  Bauerngüter  geschlossen  im 
Schwarzwald  und  im  nördlichen  und  südlichen 
Hügelland  des  Grossherzogtums.  Auch  im 
hessischen  und  badischen  Odenwald  überwiegt 
die  Hofverfassung. 

b)  Die  Hofverfassung  tritt  den  unge- 
schlossenen Bauerngütern  gegenüber  zurück,  es 
findet  also  vorwiegend  lUalteilung  statt,  im 
Fürstentum  Grubenhagen  der  Provinz  Hannover, 
im  Südwesten  der  Provinz  Sachsen,  im  grössteu 
Teil  der  thüringischen  Staaten,  in  der  baye- 
rischen Provinz  Unterfranken,  in  der  hessischen 
Provinz  Oberhessen,  im  württembergischen 
Schwarzwaldkreis  und  zwar  im  nördlichen  Teil 
desselben. 

c)  Ungeschlossenheit  und  Eealteilnng 
herrschen  ausschliesslich:  im  südlichen  Posen 
und  in  Teilen  des  Regierungsbezirks  Oppeln 
(Oberschlesien),  in  dem  hannoverschen  Marsch- 
land Wursten,  in  der  Eheinprovinz  (mit  Aus- 
nahme des  Niederrheins),  im  vormaligen  Herzog- 
tum Nassau,  im  Gebiet  der  ehemaligen  freien 
Stadt  Frankfurt,  in  den  hessischen  Provinzen 
Starkenburg  und  Eheinhessen  (mit  Ausnahme 
des  Odenwalds),  im  württembergischen  Neckar- 
kreis, in  der  bayerischen  Ehempfalz,  in  den 
ebenen  Teilen  Badens,  in  Elsass-Lothringen. 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage,  wie  ist  die 
auch  heutigen  Tages  soweit  verbreitete  Hof- 
verfassung zu  erklären,  welchen  Ursachen  ver- 
dankt sie  ihre  Entstehung  und  ihre  Erhaltung 
bis  zur  Gegenwart.  Ueber  den  Ursprung  und 
die  Lebensbedingungen  der  Hofverfassung 
giebt  es  in  der  Hauptsache  zwei  Ansichten. 
Die  eine  führt  die  Hofverfassung  ausschliess- 
lich auf  bestimmte  Betriebsbedingungen  der 
Landwirtschaft  zurück.  Sie  sagt,  für  die  in 
Deutschland  vorherrschende  landwirtschaftliche 
Produktion  (Getreidebau  und  Viehzucht)  ist  es 
zweckmässig,  dass  die  Betriebsgrundlage  dauernd 
in  dem  gleichen  Umfang  erhalten  bleibt.  Diese 
Erhaltung  der  gleichen  Betriebsgrundlage  wird 
durch  die  Hofverfassung  am  besten  gewähr- 
leistet. Daher  verdankt  sie  ihre  Entstehung 
und  ihr  Bestehen  ausschliesslich  Erwägungen 
der  betriebstechnischen  Zweckmässigkeit.  Die 
Ungeschlossenheit  und  ihre  regelmässige  Kon- 
sequenz, die  Naturalteilung  der  Bauerngüter, 
sind  nur  in  verhältnismässig  beschränkten  Ge- 
bieten möglich,  wo  das  Klima  und  der  Boden 
Specialkulturen  oder  die  Nähe  der  Städte  Ge- 
müsezucht gestatten.  Denn  nur  unter  diesen 
Voraussetzungen  vermag  die  wachsende  Inten- 
sität der  Landwirtschaft  auf  den  stets  kleiner 
werdenden  Besitz-  und  Betriebsgrössen  die 
bäuerlichen  Familien  auskömmlich  zu  ernähren. 
Also  die  Naturalteilung  stellt  nur  den  durch 
besondere  Umstände  bedingten  Ausnahmefall 
dar,  in  der  Eegel  verlangt  die  Natur  der  Sache 
die  Geschlossenheit,  Sitte  und  Eecht  sind  nur 
aus  der  Natur  der  Sache  herzuleiten.  Die 
andere  Ansicht  geht  von  der  entgegengesetzten 
Annahme  aus  Sie  hält  die  freie  Natural- 
teilung und  Ungeschlossenheit  für  die  in  der 
Eegel  angemessene  Verfassung  der  Bauern- 
güter.   Nur  für  beschränkte  Gebiete  giebt  sie 


1214 


Hof 


/ 


die  Notwendigkeit  der  ungeteilten  Erhaltung 
der  Bauem§;titer  aus  betriebstechnischen  Grün- 
den zu.  Die  alljß^emein  noch  heute  bestehende 
Hofverfassung  leitet  sie  nicht  aus  der  be- 
triebstechnischen Notwendigkeit  oder  Zweck- 
mässigkeit her,  sondern  aus  rechtlich-sozialen 
Thatsachen,  die  als  solche  mit  der  Betriebs- 
technik nichts  zu  thun  haben.  So  erklärt  sie 
die  Geschlossenheit  der  Bauerngüter  für  die 
Folge  einer  ehemaligen  grundherrlichen  Ab- 
hängigkeit oder  einer  staatlichen  Anordnung 
oder  eines  besonderen  Erbrechts,  das  den  Grund- 
besitz in  einer  Familie  immer  nur  an  einen 
Erben  gelangen  Hess.  Die  Einwirkung  des 
Grundherm,  des  Staates  oder  des  herrschenden 
Erbrechts  auf  die  Geschlossenheit  der  Bauern- 
güter kann  ihrerseits  wieder  aus  Erwägungen 
betriebstechnischer  Natur  hervorgegangen  sein. 
So  kann  der  Grundherr  die  Geschlossenheit  auf- 
recht erhalten  haben,  weil  das  Gut  gerade  in 
diesem  Umfang  betrieben  den  höchsten  Ertrag 
und  deshalb  auch  die  höchste  Grundrente  ab- 
warf, und  ans  ähnlichen  Anlässen  können  auch 
der  Staat  und  die  Familie  auf  Erhaltung  der 
Hofverfassung  hingewirkt  haben.  Aber  es 
sind  auch  andere  Anlässe  denkbar,  die  mit  der 
Betriebstechnik  nichts  zu  thun  haben.  So  steht 
es  erfahrungsgemäss  fest,  dass  das  grundherr- 
liche Eigentum  an  ganzen  Bauerngütern  sich 
dauernd  erhält,  während  dasselbe  Recht  an  ein- 
zelnen Ackerstücken  sich  bald  zu  einer  blossen 
Rentberechtigung  verflüchtigt.  In  Zeiten  un- 
vollkommener Steuertechnik  bildet  der  ge- 
schlossene Bauernhof  die  bequemste  Bemessuugs- 
ffTundlage  für  die  Steuer  und  andere  Staats- 
leistungen. Das  Primogeniturerbrecht  dient 
von  allen  betriebstechnischen  Verhältnissen  ab- 

fesehen  als  solches  zur  Erhaltung  des  Gnind- 
esitzes  in  der  Familie,  wie  man  aus  dem 
Erbrecht  des  Adels,  das  ohne  Rücksicht  auf  die 
Bewirtschaftungsart  des  Grundeigentums  be- 
steht, leicht  ersehen  kann.  So  ist  die  Bindung 
des  Grundbesitzes  durch  Grundherrschaft,  Staats- 
gewalt und  Erbrecht  denkbar  und  möglich,  ohne 
dass  eine  betriebstechnische  Notwendigkeit  oder 
Zweckmässigkeit  der  Geschlossenheit  besteht, 
und  diese  unabhängig  von  der  betriebstech- 
nischen Notwendigkeit  bestehenden  Bedingungen 
für  die  Hof  Verfassung  nennen  wir  rechtlich- 
soziale  Momente,  deren  übrigens  noch  andere 
als  die  ei'wähnten  (z.  B.  Abfluss  der  ländlichen 
Bevölkerung  in  Kolonisationsgebiete  oder  in  die 
StÄdte)  möglich  sind.  Die  Frage  kann  wohl 
aufgeworfen  werden,  ob  die  heute  in  Deutsch- 
land bestehende  Geschlossenheit  der  Bauern- 
güter auf  solchen  rechtlich-sozialen  oder  auf  wirt- 
schaftstechnischen Gründen  beruht.  Die  Lösung 
dieser  Frage  hat  auch  eine  unverkennbar  prak- 
tische Bedeutung.  Ist  die  Hofverfassung  in 
der  Hauptsache  nur  der  Rest  einer  heute  ver- 
schwundenen rechtlich-sozialen  Ordnung,  so 
wird  sie  allmählich  von  selbst  verschwinden, 
d.  h.  alle  Höfe  werden  sich  in  frei  teilbare 
Bauerngüter  verwandeln.  Es  lohnt  sich  daher 
nicht,  durch  Gesetzgebung  und  auf  sonstige 
Weise  auf  die  Erhaltung  der  Höfe  hinzuwirken. 
Ist  sie  dagegen,  wenn  auch  nicht  immer  unbe- 
dingt notwendig,  so  doch  betriebstechnisch 
äusserst  zweckmässig,  und  lässt  sich  auch  ihre 
Entstehung  und  Erhaltung  bis  heute  auf  heute 
noch     wirksame     betriebstechnische    Ursachen 


zurückführen,  so  empfiehlt  es  sich,  die  ihr  als 
Stütze  dienenden  Institutionen  soweit  als  mög- 
lich beizubehalten  oder  gar  neu  zu  schaffen. 
Eine  befriedigende  Antwort  auf  diese  Frage 
kann  nur  die  Geschichte  der  deutpcheu  Hof- 
verfassung geben.  Wir  wollen  daher  im 
folgenden  in  einem  kurzen  Ueberblick  diese 
Geschichte  betrachten. 

3.  Geschichte  der  deutschen  Hofver- 
fassnng.  Nach  der  allgemein  herrschenden 
Ansicht  gab  es  eine  Zeit,  in  der  überall  in 
Deutschland  eine  Hof  Verfassung  bestand, 
sämtliche  Bauerngüter  Höfe  in  unserem  Sinne 
waren.  Diese  Epoche  umfasst  die  Zeit  von  der 
Völkerwanderung  bis  zum  Jahre  lOOi)  nach 
Christi  Geburt.  Der  überall  bestehende  Bauern- 
hof war  die  Hufe.  Wie  der  geschlossene  Hof 
von  heute,  so  war  auch  die  Hufe  überall  eine 
kraft  des  Herkommens  unveränderliche  Betriebs- 
grundlage einer  bäuerlichen  Wirtschaft.  Aller- 
dings bestand  diese  Geschlossenheit  nicht  kraft 
ir^^end  eines  Rechtssatzes,  sondern  gerade  so 
wie  heute  wieder  beruhte  sie  auf  der  Sitte,  der 
Gewohnheit.  Aus  welcher  Ursache  entsprang 
nun  damals  die  Unveräuderlichkeit  dieser  Be- 
triebsgrundlage? —  Alle  Nachrichten  stimmen 
darin  überein,  dass  die  Hufe  nur  betriebstech- 
nisch zu  definieren  ist.  Sie  war  derjenige 
Ländereibestand,  der  unter  den  herrschenden 
Betriebsverhältnissen  von  einem  Bebauer  und 
dessen  engerer  Familie  mit  einem  Pflug  be- 
stellt werden  konnte.  Daher  heisst  die  Hufe 
auch  aratrnm  und  zerfiel  in  Morgen,  Tage- 
werke oder  Joche.  Sie  wurde  also  mit  Zeit- 
und  Arbeitseinheiten  gemessen,  musste  also 
ihrem  eigentlichen  Wesen  und  Ursprung  nach 
eine  Betnebsgrösse  sein.  Sie  umfasste  gewöhn- 
lich 30,  seltener  60  Morgen  Ackerland.  Der 
diese  Hufe  bewirtschaftende  Bauer  war  nun  in 
der  Regel  nicht  der  freie  Eigentümer  derselben. 
Er  war  meistens  Höriger,  in  der  Minderzahl 
der  Fälle  ein  freier  Kolon,  dem  der  Herr  die 
Hufe  gegen  Leistungen  von  Abgaben  imd 
Diensten  zur  Bebauung  überlassen  hatte.  Dex 
Bebauer  der  Hufe  hatte  also  kein  Verfügungs- 
recht über  dieselbe,  der  einzig  Verfügungsbe- 
rechtigte war  der  Herr,  der  Eigentümer  der 
Hufe  und  der  Grundherr  des  Bauers.  Aber 
vermöge  langdauernder  Gewohnheit  und  per- 
sönlicher Abhängigkeit  vom  Herrn  hatten  die 
Bebauer  meistens  ein  vererbliches  Nutzungs- 
recht an  der  Hufe  erlangt,  das  ihnen  zwar 
nicht  die  willkürliche  Verfügung  über  die  Hufe 
erlaubte,  wohl  aber  dem  Herrn  die  Möglichkeit 
benahm,  über  sein  Eigentum  frei  zu  schalten. 
So  erhielt  sich  die  Hufe  als  Betriebsgrösse  un- 
verändert, weil  die  Betriebsverhältnisse  dauernd 
dieselben  blieben,  als  Besitzgrösse  aber  deshalb, 
weil  Rechte  von  ungefähr  gleicher  Stärke  das 
Recht  des  Eigentümers  und  das  des  Bebauers) 
an  ihr  bestanden.  Die  Hofverfassunjr  der 
Urzeit,  die  Hufen  Verfassung,  beruhte  als»»  auf 
betriebstechnischen  und  rechtlich-sozialen  Be- 
dingungen, wobei  allerdings  die  betriebstech- 
nischen Momente  als  die  wirksamsten  erscheinen. 
Diese  annäherd  gleichen  wirtschaft^technischen 
Voraussetzungen  bestanden  überall  in  Deutsch- 
land bis  zum  Ende  des  ersten  Jahrtausends 
nach  Christi  Geburt.  Die  ersten  gnwsen 
Aenderungen  ergaben  sich  unstreitig  im  Rhein- 
land,  d.  h.   im   ganzen  Thal   des   Rheins   von 


Hof 


1215 


Basel  etwa  Vis  Düsseldorf,  ferner  im  Moselland 
und  sonst  be^lnstigten  Flussthälem  des  Süd- 
westens. Hier  war  wohl  schon  zur  Röraerzeit 
eine  intensivere  Landwirtschaft  heimisch  ge- 
wesen,  die  Pflege  des  Weinstocks  und  mancher- 
lei feinere  Gartenkultur  hatte  sich  auf  den 
geistlichen  und  weltlichen  Herrensitzen  wohl 
erhalten,  aber  in  der  einfachen  auf  Getreide- 
bau und  Viehzucht  gerichteten  deutschen 
Bauernwirtschaft  war  kein  Platz  für  sie  ge- 
wesen. Nun  übten  die  beginnende  Blüte  der 
rheinischen  Städte,  der  lebhafte  Verkehr  zu 
Wasser  und  zu  Land  und  das  milde  Klima 
einen  unverkennbaren  Einfluss  auf  die  Land- 
wirtschaft aus.  Auch  in  der  Bauemwirtschaft 
fanden  zahlreiche  Specialkulturen  und  vor  allem 
der  Weinbau  Eingang.  Hand  in  Hand  damit 
ging  eine  Besserung  der  persönlichen  und  ding- 
lichen Stellung  des  abhängigen  Bauers.  Be- 
sonders verbesserte  sich  wohl  im  Zusammenhang 
mit  der  intensiveren  Kultur  des  Landes  sein 
Besitzrecht  am  Grund  und  Boden,  aber  auch 
seine  persönliche  Stellung  hob  sich,  so  dass  die 
Beschränkung  seiner  persönlichen  Freiheit 
formell  zwar  fortbestand,  aber  der  Sache  nach 
ziemlich  bedeutungslos  wurde.  Auch  die  zahl- 
reichen geistlichen  Grundherrschaften  mögen  zu 
dieser  Besserung  der  Rechtslage  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  beigetragen  haben.  Alle  diese 
Umstände,  am  meisten  aber  entschieden  die  be- 
triebstechnischen, führten  nun  in  dieser  Zeit  zu 
einer  freieren  Vei-ftigung  des  Bauers  über  die 
Hufe  und  besonders  zu  einer  häufigen  Natural- 
teilung derselben  im  Erbgang.  Nicht  der  Herr, 
sondern  der  Bauer  teilt  im  Westen  Deutsch- 
lands seit  dem  Beginn  des  11.  Jahrhunderts  die 
Hufe  in  kleinere  Betriebseinheiten.  Hauptsäch- 
lich wohl  entsprang  diese  Teilung  der  inten- 
siveren Landwirtschaft,  aber  unverkennbar 
wirkte  dabei  auch  mit  eine  besonders  günstige 
Stellung  der  bäuerlichen  Bevölkerung  in  diesen 
Gegenden.  Ans  welchen  Ursachen  gerade  diese 
günstige  Rechtslage  des  rheinischen  Hörigen 
zu  erklären  ist,  bleibt  einstweilen  unsicher. 
Schon  in  dieser  Periode  beginnt  also  hier  die 
Naturalteilung  der  Bauerngüter,  und  der  ge- 
schlossene Hof  der  Urzeit,  die  Hufe,  ver- 
schwindet. Die  Voraussetzung  dieser  Aenderung 
ist  in  erster  Linie  betriebstechnisch,  nämlich  die 
intensivere  Kultur,  ausserdem  aber  auch  sozial- 
rechtlich,  nämlich  die  freiere  Rechtslage  der 
hiutersässigen  Bevölkerung. 

In  den  übrigen  Gebieten  Deutschlands  aber 
bleiben  einstweilen  die  alten  Betriebsbedingungen 
und  damit  auch  die  Hufe  als  geschlossene  Be- 
triebseinheit erhalten.  Die  erste  Aenderung 
der  Betriebsgrösse  macht  sich  bei  Neurodungen 
injden  Waldgebirgen  des  Westens  und  der  Eifel, 
den  Ardennen,  dem  Odenwald  und  anderen  be- 
merkbar. Hier  wird  die  Hufe  im  doppelten, 
dreifachen  bis  zu  sechsfachen  Umfang  der  alten 
Volks-  und  Landhufe  ausgemessen.  Diese  so- 
fi^enannte  Königshufe  umfasst  60  bis  zu  180 
Morgen.  Ob  diese  Vergrösserung  der  Betriebs- 
fi^nndlage  in  betriebstechnischen  oder  sozialen 
Ursachen  ihre  Veranlassung  fand,  ist  schwer  zu 
entscheiden.  Wollte  man  den  Bebauer  durch 
diese  reichliche  Landzuweisung  anlocken,  oder 
war  dieser  Umfang  das  Normalmass  für  eine 
extensiv  betriebene  Bauemwirtschaft  geworden? 
denn  bäuerlich  blieb  auch  der  Landwirtschafts- 


betrieb auf  der  Königshufe,  auch  zu  ihrer  Be- 
stellung musste  die  Arbeitskraft  der  bäuerlichen 
Familie  und  ihres  Gesindes  ausreichen.  Immer- 
hin konnte  dieses  Ausmass  der  Hufe  nicht 
ausser  allem  Verhältnis  zur  Wirtschaftskraft 
der  bäuerlichen  Familie  stehen,  und  daraus  er- 
giebt  sich  ein  wesentliches  Anwachsen  der 
Leistungsiähigkeit  seit  der  Einrichtung  der 
alten  Volkshufeu  von  30  Morgen.  Sehr  wesent- 
lich kommt  hier  wohl  auch  in  Betracht,  dass 
die  auf  solchen  Rodhufen  angesiedelten  Bauern 
wenige  oder  gar  keine  Frondienste  für  einen 
Herrenhof  zu  leisten  hatten,  der  bei  den 
Hörigen  in  früherer  Zeit  gewöhnlich  auf  drei 
Tage  in  der  Woche  festgesetzt  war,  also  so 
ziemlich  die  Hälfte  der  Arbeitskraft  eines 
Mannes  absorbiert  hatte.  Das  11.,  12.  und  der 
Beginn  des  13.  Jahrhunderts  stellen  die  Ent- 
wickelungsepoche  des  deutschen  Städtewesens 
dar.  Für  die  Erzeugnisse  der  Landwirtschaft 
entstehen  überall  in  Deutschland  Märkte,  und 
damit  ist  die  Möglichkeit  der  Produktion  auf 
Absatz  gegeben.  An  diese  Ausbildung  des 
Verkehrs  mit  landwirtschaftlichen  Erzengnissen 
schliesst  sich  nnn  eine  sehr  bedeutsame  Ver- 
änderung der  bäuerlichen  Betriebsgrössen.  die 
besonders  in  den  von  einer  intensiveren  Land- 
wirtschaft noch  nicht  berührten  Gegenden  statt- 
fand. Diese  Umgestaltung  beginnt  mit  dem 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts  und  erstreckt  sich 
.auf  den  Nordwesten  Deutschlands,  besonders 
Niedersachsen,  Teile  der  heutigen  Provinz 
Sachsen,  Hessen,  besonders  das  ehemalige  Kur- 
hessen, femer  auch  auf  den  Südosten  Deutsch- 
lands, besonders  die  schwäbisch- bayerische  Hoch- 
ebene. In  allen  diesen  Gebieten  bestand 
bis  zu  dieser  Zeit  die  Hufenverfassung.  Die  In- 
haber der  Hufen  waren  meist  Hörige  und 
standen  mit  ihrem  Besitz  in  einem  Abhängig- 
keitsverhältnis zu  einem  Herrenhof,  an  den  sie 
Zinsen  und  dienen  mussten.  Ihre  Leistnngs- 
ver pflichtungen  und  ihre  Rechte,  besonders  das 
erbliche  Nutzungsrecht  an  der  Hufe,  waren  im 
sogenannten  Hofrecht  fixiert.  Der  Herr  konnte 
sie  nicht  einseitig  verändern.  Die  Herren 
lösten  nun  diese  Verbände  damals  auf  und 
Hessen  die  Hörigen  frei.  Dafür  aber  zogen  sie 
dife  hörigen  Huren  ein.  Nach  dem  Muster  der 
Haupthöfe  legten  sie  nun  mehrere  Hufen  zu 
grösseren  Wirtschaftseinheiten  zusammen  und 
thaten  diese  neuen  Höfe  ebenso  wie  die  alten 
Haupthöfe  gegen  Quoten  des  Ertrages  zu  Zeit- 
pacht aus.  Pächter  waren  meistens  die  früheren 
Hörigen,  jetzt  freie  landlose  Leute.  So  ent- 
standen überall  in  diesen  Gegenden  grössere 
Wirtschaftseinheiten,  daneben  blieben  freilich 
auch  viele  alte  Hufen  bestehen,  und  schliesslich 
bildeten  sich  auch  kleine  Stellen,  sogenannte 
Kotstellen  oder  Sölden,  die  ohne  zugehöriges 
Ackerland  nur  aus  Gartenland  und  Hausplätzen 
bestanden.  Ihre  Inhaber  fanden  einen  Teil 
ihres  Unterhalts  im  Dienst  der  grösseren  Hof- 
besitzer. Von  einer  Teilung  der  grösseren  Höfe 
im  Erbs:ang  durch  die  bäuerlichen  Inhaber 
konnte  Keine  Rede  sein.  Sie  waren  ja  nur 
Pächter,  höchstens  wurde  thatsächlich  der  Sohn 
als  Nachfolger  seines  Vaters  mit  der  Bewirt- 
schaftung des  Hofes  betraut.  Dieses  neue 
grandherrliche  Abhängigkeitsverhältnis  übte 
auch  auf  das  in  diesen  Gegenden  noch  bestehende 
Hörigkeitsrecht  einen  bestimmenden  Einfluss  aus. 


1216 


Hof 


Die  Hörigkeit  als  solche  kam  allmählich  ausser 
üebung,  dafür  aber  lockerte  sich  das  feste  Recht 
der  Hörigen  an  der  Hufe,  ihre  Abgaben  wurden  viel- 
fach erhöht  und  das  ganze  Verhältnis  dem  freien 
Pachtrecht  angenähert.  So  entstand  in  einem 
grossen  Teil  Deutschlands  seit  dem  Beginn  des 
13.  Jahrhunderts  eine  neue  Betriebsgrundlage, 
der  mehrhufige  Pachthof.  über  dessen  Bestand- 
teile der  Be Wirtschafter  keine  Verfügung  hatte. 
Da  der  Herr  seinen  Bestand  ebenfalls  unver- 
ändert Hess,  so  bildete  sich  diese  neue  Betriebs- 
einheit bald  zum  geschlossenen  Bauerngut,  zum 
Hof  aus.  Auch  diese  neue  Hofverfassung  ver- 
dankt ihre  Entstehung  in  der  Hauptsache  wirt- 
schaftstechnischen Momenten,  nämlich  dem  durch 
den  allgemeinen  Stand  der  Volkswirtschaft  her- 
vorgerufenen Bedürfnis  nach  grösseren  Land- 
wirtschaftsbetrieben. Aber  eine  Bedingung, 
ohne  die  dieser  Landwirtschaftsbetrieb  niemals 
hätte  entstehen  können,  war  die  immerhin 
stärkere  Abhängigkeit  der  hörigen  Bevölkerung 
in  diesen  Gebieten  gegenüber  der  freieren  Rechts- 
lage der  rheinischen  Bauernbevölkerung.  Denn 
bei  dieser  wäre  eine  solche  Absetzung  meist 
unmöglich  gewesen.  Allerdings  lässt  sich  diese 
freiere  Stellung  im  13.  Jahrhundert  hauptsäch- 
lich auf  den  durch  intensivere  Kultur  bedingten 
engeren  Zusammenhang  des  Bauers  mit  seinem 
(inind  und  Boden  zurückführen.  Aber  in  dieser 
Zeit,  wo  man  auch  im  Rheinland  Versuche  zur 
Einführung  freier  Zeitpachtverhältnisse  machte, 
scheiterten  sie  hauptsächlich  an  der  rechtlich-' 
sozialen  Stellung  der  bäuerlichen  Bevölkerung. 
Ein  Beweis  für  diese  Annahme  bietet  die  Eut- 
wickelung  der  Bauerngüter  am  Niederrhein. 
Hier  blieben  wegen  vorherrschender  Weidewirt- 
schaft und  Einzelhof besiedelung  die  alten  hörij^en 
Hufen  bis  ins  13.  Jahrhundert  ungeteilt.  Eine 
Einziehung  der  Hufen  durch  die  Grundherreii 
und  Verwandlung  der  Hörigen  in  freie  Zeit- 
pächter hat  aber  wegen  deren  günstiger  Rechts- 
lage auch  damals  nicht  stattgefunden.  Die  alten 
Lathufen  des  Niederrheins  haben  sich  in  der 
Hauptsache  damals  im  erblichen  Besitz  der 
Hörigen  erhalten,  obwohl  die  Grundherren  es 
auch  dort  an  Versuchen,  die  freie  Zeitpacht 
einzuführen,  nicht  fehlen  liessen.  Es  bestehen 
also  ausser  den  technisch-wirtschaftlichen  auch 
rechtlich-soziale  Gründe,  die  in  Nordwest-  und 
Südostdeutschlaud  die  Entstehung^  des  mehr- 
hufigen  Pachthofes  bedingt,  im  Kheinthal  da- 
gegen seine  Entstehung  verhindert  und  die 
Entwickelung  in  ganz  andere  Bahnen  g^eleitet 
haben.  Wir  haben  also  in  Deutschland  etwa 
am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  folgende  Ver- 
fassung des  bäuerlichen  Grundbesitzes.  Im 
ganzen  Rhein thal,  abgesehen  vom  Niederrhein, 
intensive  Kultur  mit  beginnender  Naturalteilung 
der  Bauerngüter,  im  Nordwesten  und  Südosten 
starker  Getreidebau  auf  grossen  mehrhufigen 
Pachthöfen,  daneben  allerdings  auch  noch  die 
alten  einhufigenHöfe  der  hof rechtlich  abhängigen 
Bauern.  Diese  einhufi^en  Höfe  herrschen  noch 
ausschliesslich  am  Niederrhein,  in  den  weniger 
fruchtbaren  Teilen  Westfalens,  Thüringens,  Ost- 
frankens und  Schwabens. 

Auch  in  den  ausgedehnten  slawischen  Ge- 
bieten östlich  der  Elbe  und  der  Saale,  im 
heutigen  Königreich  Sachsen,  der  preussischen 
Provinz  Sachsen  und  den  sogenannten  alten 
Provinzen    Preussens   fand   zugleich    mit    der 


deutschen  Kolonisation  die  deutsche  Hofver- 
fassung allgemeine  Verbreitung.  Das  erobert« 
Land  wurde  an  die  deutschen  Ansiedler  meis- 
tens in  Hufen  zu  dreissig  Morgen,  seltener  in 
frösseren  Königshufen  ausgewiesen.  Alle  Bauern 
eutschen  Stammes  waren  persönlich  frei  und 
erhielten  bei  geringen  Leistungs Verpflichtungen 
ein  gutes  erbliches  Besitzrecht  an  ihren  Hufen, 
jedoch  blieben  sie  einer,  wenn  auch  milden 
Grundherrschaft  unterworfen.  Der  hier  sehr 
zahlreiche  Ritteradel  erhielt  grössere  Ritterhöfe 
mit  steuerfreien  Ritterhufen  zu  Lehen,  die  er 
in  eigener  Wirtschaft  hielt  und  vielleicht  ver- 
mittelst der  Frondienste  nicht  vertriebener 
Slawen  bestellte.  Daneben  bezog  er  auch 
mancherlei  grundherrliche  Gefölle  von  den 
deutschen  Bauern.  Extensive  Wirtschaft  und 
dauernde  Möglichkeit  der  Auswanderung  nach  dem 
Osten  beugten  der  Huf  enteilung  vor  und  bedingten 
die  Ausbüdung  einer  der  urzeitlichen  sehr  ähn- 
lichen Hofesvenassung  der  ein-  oder  mehrhuflgen 
Bauerngüter.    So  haben  wir  im  Kolonisations- 

febiet  ein-  oder  mehrhufige  Bauernhöfe  und 
aneben  mehrhufige  Ritterhöfe.  Die  Geschlossen- 
heit der  Bauerngüter  beruht  hier  sowohl  auf 
technisch-wirtschaftlichen  wie  auf  rechtlich- 
sozialen Voraussetzungen. 

Diese  Verhältnisse  erhielten  sich  in  ganz 
Deutschland  unverändert  etwa  bis  zum  Ende 
des  15.  Jahrhunderts.  Seit  dem  16.  Jahrhundert 
aber  sehen  wir  Umgestaltungen  in  der  be- 
stehenden Verfassung  der  Bauerngüter  eintreten. 
Allerdings  fanden  oiese  Umgestaltungen  ihre 
Bedingung  in  der  Entwickelung  der  vorher- 
gegangenen Jahrhunderte.  Zunächst  hatte  sich 
die  intensivere  Landwirtschaft  von  ihren  alten 
Sitzen  in  dem  Rheinthal  nach  Osten  zu  aus- 
gebreitet. Thüringen,  Württemberg,  das  Main- 
thal und  andere  von  der  Natur  bevorzugte 
Gegenden  Mittel-  und  Süddeutschlands  waren 
ebenso  wie  das  Rheinthal  die  Heimat  von 
Special kul turen ,  besonders  des  Weinbaues  ge- 
worden. Dabei  war  die  Bevölkerung  nach  Ab- 
schluss  der  Kolonisation  des  Ostens  und  der 
Rodungen  im  Innern  stark  angewachsen,  alle 
Erzeugnisse  des  Bodens  hatten  bei  der  Aus- 
dehnung des  Verkehrs  und  dem  Wachstum  der 
Städte  einen  stets  steigenden  Preis  erlangt. 
Die  Verhältnisse  der  bäuerlichen  Bevölkerung 
hatten  sich  auch  in  rechtb'ch-sozialer  Hinsicht 
bedeutend  gebessert.  Die  Hörigkeit  bestand 
zwar  noch  in  weiter  Verbreitung,  war  aber 
vielfach  gemildert,  so  dass  sie  wenigstens  in 
wirtschaftlicher  Hinsicht  keine  allzu  drückende 
Last  mehr  darstellte  und  besonders  die  Ver- 
fügungen des  Hörigen  über  seinen  Grundbesitz 
nur  noch  wenig  behinderte.  Gerade  das  Besitz- 
recht des  Hörigen  am  Bauerngut  war  dem 
Eigentum  immer  ähnlicher  geworden.  Auch 
das  Recht  der  freien  Zeitpächt^r  im  Nordwesten 
und  Südosten  hatte  sich  sicherer  gestaltet.  Zwar 
waren  sie  dem  strengen  Recht  nach  noch  immer 
absetzbar  und  zu  Verfügungen  nicht  befugt, 
aber  thatsächlich  bestand  häiäg  die  Erblichkeit 
und  vielfach  traten  dingliche  Beziehungen  des 
Pächters  zum  Gut  hervor. 

Aus  diesen  im  Laufe  des  14.  und  15.  Jahr- 
hunderts erwachsenen  Verhältnissen  gingen  nun 
die  Aenderungen  hervor,  die  wir  am  deuuichsten 
seit  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  auftreten  sehen. 
Zunächst   zeigte   sich  überall  im  nichtkoloni- 


Hof 


1217 


gierten  Deutschland  das  Bestreben  der  bäuer- 
lichen Bevölkerung,  die  Besitzgrössen  zu  ändern, 
entweder  durch  Verfügung  unter  Lebenden  oder 
aber  durch  NaturalteSung  bei  Erbfällen.    Dieses 
Bestreben  tritt  nicht  minder  auf  bei  den  Pächtern 
des  Nordwestens  oder   Südostens  als  bei  den 
hörigen  Hufenbesitzern  des  Niederrheins,  Thü- 
ringens oder  Süddeutschlands.    Soweit  die  Teil- 
barkeit der  Bauerngüter  nicht  besteht,  wird  sie 
damals  von  der  bäuerlichen  Bevölkerung  ange- 
strebt.    Dagegen    erhoben   sich  nun  zunächst 
die  Grundherren,  die  durch  eigenmächtige  Ver- 
fügungen der  Bauern  über  die  Güter  und  durch 
die  Naturalteilung  derselben  ihre  Interessen  ge- 
schädigt glaubten.    Sie  erlangten  fast  überall 
staatliche  Anordnungen,    die  den   Bauern   die 
Verfügung  über  die  Güter  oder  die  Natural- 
teilung derselben  im  Erbgang  ohne  ausdrück- 
lichen ^rundherrlichen  Konsens  verboten.  Ausser- 
dem ging  aber  auch  der  Staat  selbst  gegen  die 
Veränderung  des  Bestandes   der  Bauerngüter 
vor.     Im  Laufe  des  16.  Jahrhunderts  wurden 
in  den  meisten  deutschen  Territorien  Steuern 
und  sonstige  Leistungsverpflichtungen  für  die 
Staatsgewalt  eingeführt,  und  als  Bemessungs- 
grundlage und  wichtigster  Steuerträger  diente 
der  Bauernhof   in    seiner  damals   bestehenden 
Gestalt.    Alle  öffentlichen  Lasten  wurden  nach 
dem  „Höfefuss"  veranlagt.     Daher  suchte  der 
Staat  das  wichtigste  Objekt  der  ganzen  Steuer- 
verfassung unverändert  zu  erhalten  und  führte 
die  Geschlossenheit  der  vorhandenen  Bauern- 
güter kraft  Öffentlichen  Rechts  ein.    Nicht  nur 
die  grundherrlich  abhängigen,  sondern  auch  die 
freien  Bauerngüter  waren  von  jetzt  an  unteil- 
bar.   Aber  diese  Bestrebungen  von  Staat  und 
Grundherren  hatten  in  den  verschiedenen  Ge- 
genden je   nach   den   dort  herrschenden   ver- 
schiedenartigen  wirtschaftlich-technischen    und 
rechtlich-sozialen  Voraussetzungen   einen  ganz 
verschiedenen  Erfolg.     Zunächst  gelang  es  in 
den    Gegenden    strenger   Grundherrschaft    und 
extensiverer  Landwirtschaft  ohne  grosse  Mühe, 
die  Geschlossenheit  durchzusetzen.    So  vor  allem 
im  Nordwesten  Deutschlands,  wo  das  Zeitpacht- 
verhältnis der  freien  Meier  oder  ein  demselben 
ähnliches     höriges     Kolonatsverhältnis    (West- 
falen) bei  extensiverem  Landwirtschaftsbetrieb 
herrschte.    Dasselbe  war  der  Fall  im  Südosten 
auf  der  schwäbisch-bayerischen  Hochebene,  wo 
ganz   ähnliche   Verhältnisse   bestanden.     Auch 
am   Niederrhein   blieben   die   alten    einhuflgen 
Höfe  der  Hörigen  durch  die  Bemühungen  des 
Staates  oder  der  Grundherren  deshalb  erhalten, 
weil  die  vorherrschende  Weidewirtschaft  grössere 
Landwirtschaftsbetriebe  erforderte.   Ganz  anders 
aber  gestaltete  sich  das  Schicksal  der  Höfe  in 
Gegenden,  die  keine  ausgesprochen  agronomische 
Beschaffenheit  aufwiesen  oder  aber  eine  inten- 
sive Kultur  erlaubten  bezw.  begünstigten.    Zu 
den  Gebieten  ersterer  Art  zählten  Thüringen, 
die  hannoverschen  Provinzen  Göttingen-Gruben- 
hagen  und  andere,  zu  denen  letzterer  Art  da- 
gegen das   Mainthal,    Neckarthal   und  andere 
günstig    gelegenen    Gegenden   Frankens    und 
Schwabens.    Hier  stiess  das  Teilungsbedürfnis 
der  bäuerlichen  Bevölkerung  nur  auf  das  Hinder- 
nis   der   Grundherrschaft   oder   staatlicher  Un- 
teilbarkeitsgesetze.   Wir  sehen  nun  ganz  deut- 
lich, dass  nur  eine  ganz  strenge  grundherrliche 
Gebundenheit  (unerbliches  Besitzrecht  oder  aber 


Zeitpacht)  die  Höfe  erhielt,  während  bei  milderer 
Grundherrschaft  die  Hofverfassung  nicht  auf- 
recht erhalten  werden  konnte  und  trotz  staat- 
licher Teilungs  verböte  der  Freiteilbarkeit  weichen 
musste.  Da  nun  in  den  meisten  dieser  Gebiete 
nur  milde,  altertümliche  Hörigkeitsgrundherr- 
schaft bestand,  fand  hier  die  Naturalteilung 
allgemeinen  Eingang  und  nur  die  in  strenger 
grundherrlicher  Abhängigkeit  befindliche  Minder- 
zahl der  Bauerngüter  blieben  als  Höfe  erhalten. 
Damals  traten  zu  dem  uralten  Naturalteilungs- 

§ebiet  am  Rhein  die  mittel-  und  süddeutschen 
aturalteilun^gebiete  hinzu.   Damals  grenzten 
sich  die  Gebiete  der  Geschlossenheit  und  Teil- 
barkeit in  dem  noch  heute  bestehenden  Ümfane 
gegen  einander  ab.     Es  entstand   der  Begriff 
des  kraft  privaten  und  öffentlichen  Rechts  ge- 
schlossenen  Bauernhofes   in  den  Gebieten  der 
Geschlossenheit.     Hier   traten   dazu   in   einen 
Gegensatz    die   Wandeläcker    oder   walzenden 
Grundstücke,  die  nicht  untrennbar  mit  irgend 
einem    Hofländereibestand    vereinigt,    sondern 
frei  abtrennbar  waren.     In   den  Geoieten  der 
vorherrschenden  Naturalteilung  dagegen  traten 
als  Ausnahmen  die  kraft  einer  strengeren  Grund- 
herrschaft geschlossenen  Höfe  aus  der  Masse  der 
frei  teilbaren  Bauerngüter  hervor.     Die  Auf- 
hebung der  Gebundenheit  und  der  Grundherr- 
schaft im  19.  Jahrhundert  hat  wesentliche  Ver- 
änderungen  nicht   mehr    gebracht.     Nur    die 
Naturalteilungsgebiete  dehnten  sich  etwas  aus, 
und    innerhalb     derselben    verschwanden    all- 
mählich   die    durch    die    Grundherrschaft   zu- 
sammengehaltenen Höfe.    Aber  in  den  Gebieten 
der  Geschlossenheit  blieb  die  Ung«teiltheit  auch 
nach  Wegfall  der  Unteilbarkeit  in  der  Haupt- 
sache erhalten.    Sie  bestand  fortan  nicht  mehr 
kraft  des  Rechts,  sondern  kraft  des  Herkommens 
und   der   Sitte.     Wir   haben    bisher   von    den 
slawischen  Eroberun^sgebieten   im    Osten   der 
Elbe   abgesehen.     Hier,    in    Kursachsen  nicht 
minder  als  in  den  altpreussischen  Gebietsteilen, 
blieb  die  Geschlossenheit  der  Bauerngüter  er- 
halten.   Denn  die  verhältnismässig  milde  grund- 
herrliche Abhängigkeit  des  Bauernstandes  ver- 
schärfte sich  hier  gerade  in  der  Zeit,  wo  sonst 
die  Teilungsbestrebungen  hervortraten,  so  sehr, 
dass  ihm  z.  B. .in  Preussen  alle  Verfügungs- 
freiheit über  sein  Bauerngut  entzogen  wurde. 
Es  war  daher  für  Staat  und  Grundherren  leicht, 
die  Geschlossenheit  unbedingt  aufrecht  zu  er- 
halten.   An  diesem  Zustand  hat  auch  die  Auf- 
hebung   der   Grundherrschaft  nichts  geändert. 
Ja   das  Königreich    Sachsen    ist    der    einzige 
grössere  deutsche  Staat,  wo  noch  heute  eine 
Geschlossenheit  der  Bauerngüter  kraft  öffent- 
lichen Rechts  besteht   Der  Snfluss  wirtschafts- 
technischer Verhältnisse  tritt  hier  völlig  zurück 
gegenüber   den  rechtlich-sozialen,   die  sich  in 
der  Hauptsache  aus  der  Struktur  dieser  Staaten 
als  Kolonisationsgebiete  ergeben. 

4.  Sehluss.  Dieser*  kurze  Ueberblick  über 
die  Geschichte  der  deutschen  Hofverfassung 
zeigt  deutlich,  wie  vielgestaltig  die  Ursachen 
gewesen  sind,  die  auf  die  Ausbildung  der  Ge- 
schlossenheit oder  Freiteilbarkeit  der  Bauern- 
güter gewirkt  haben.  Die  jeweils  in  einer 
Gegend  herrschende  Verfassung  der  Bauerngüter 
ist  das  Produkt  der  ganzen  ländlichen  Ver- 
fassungsentwickelung, bei  der  rechtlich-soziale 
Momente  eine  nicht  geringere  Bedeutung  haben 


Handwörterbnch  der  StaatswissenBchaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


77 


1218 


Hof — Hofacker 


als  die  betriebstechnischen  Voraussetznngen  der 
Landwirtschaft.  Der  unbestreitbare  Einfluss 
rechtlich-sozialer  Verhältnisse  ergiebt  sich  deut- 
lich aus  folgender  Ueberlegung.  Die  Haupt- 
ursache aller  Naturalteilung  ist  der  Erhäng, 
die  Verteilung  des  Nachlasses  eines  Besitzers 
unter  die  Kinder.  Sehen  wir  von  dem  bald 
ausser  Uebung  gekommenen  Zustand  der  Haus- 
gemeinschaft, des  gemeinsamen  Besitzes  und  der 
gemeinsamen  Wirtschaft  ab,  so  ruft  ein  Erb- 
gang regelmässig  eine  Teilung  der  Erbschafts- 
masse hervor.  Es  besteht  darüber  auch  kein 
Zweifel,  dass  nicht  etwa  die  Veräusserung  von 
einzelnen  Bestandteilen  des  Hofes  unter  Lebenden, 
sondern  die  Erbteilung  die  Hofverfassung  zer- 
stört. Das  gleiche  Erbrecht,  mindestens  der 
Söhne,  besteht  nun  in  Deutschland  seit  den 
ältesten  Zeiten  bei  allen  Stämmen  und  allen 
Ständen,  von  den  ganz  rechtlosen  Leibeigenen 
abgesehen,  die  überhaupt  nichts  zu  vererben 
haben.  Für  die  Frage  der  Naturalteilung  des 
Grundbesitzes  muss  es  daher  von  der  höchsten 
Wichtigkeit  sein,  ob  dieser  ein  Bestandteil  des 
frei  zu  vererbenden  Nachlasses,  des  AUodial- 
erbes  ist  oder  nicht.  Denn  die  Erben  eines 
Hofbesitzers  können  den  Hof  doch  nur  dann 
teilen,  wenn  sie  ein  Eigentum  oder  ein  eigen- 
tumsgleiches Recht  am  Hofe  haben.  Von  sQlen 
betriebstechnischen  Voraussetzungen  abgesehen, 
kann  ein  Pachthof  von  den  Erben  des  rächters 
einfach  deshalb  nicht  geteilt  werden,  weil  er 
ihnen  nicht  gehört.  Nun  beruht  aber  das  Recht 
des  Bauers  an  dem  von  ihm  besessenen  Gut 
keineswegs  auf  betriebstechnischen,  sondern  auf 
rechtlich-sozialen  Voraussetzungen.  Aus  diesem 
Umstand  ergiebt  sich  als  unabweisbar  die  An- 
nahme, dass  rechtlich-soziale  Einflüsse  für  die 
Gestaltung  der  Hofverfassung  oder  Teilbar- 
keit mindestens  dieselbe  Bedeutung  gehabt 
haben  wie  die  betriebstechnischen  Voraus- 
setzungen. Auch  die  Geschichte  der  Hofver- 
fassung zeigt  diesen  doppelten  Einfluss.  Die 
Naturalteilung  ist  nur  möglich,  wenn  Hand  in 
Hand  mit  der  intensiveren  Kultur  ein  eigen- 
tumsähuliches  oder  eigentumsgleiches  Recht  der 
Bauemfamilie  am  Gut  geht.  Daher  bleiben  in 
Gebieten  vorrherrschender  Naturalteilung  die 
durch  strenge  Grundherrschaft  gebundenen  Höfe 
erhalten,  und  der  ganze  kolonisierte  Osten  hat 
trotz  stellenweiser  sehr  intensiver  Kultur  fast 
durchgehends  Geschlossenheit.  Andererseits 
dringt  im  Westen  die  Naturalteilung  in  Ge- 
biete ein,  wo  eine  Geschlossenheit  zweckmässiger 
wäre  (Eifel,  Eichsfeld,  Rhön  und  Thüringer 
Wald,  Spessart,  Westerwald).  Im  allgemeinen 
aber  gelingt  es  der  Grundherrschaft  und  der 
Staatsgewalt,  die  Geschlossenheit  da  zu  erhalten, 
wo  die  betriebstechnischen  Voraussetzungen  für 
die  Naturalteilung  fehlen.  Aber  dies  geschieht 
nicht  ohne  dass  ein  Widerstand  der  bäuerlichen 
Bevölkerung  zu  überwinden  wäre ;  an  die  Stelle 
der  faktischen  üngeteiltheit  tritt  die  Unteilbar- 
keit kraft  privaten  oder  öffentlichen  Rechts- 
satzes. Nachdem  diese  Geschlossenheit  kraft 
Rechtssatzes  Jahrhunderte  lang  bestanden  hat, 
wird  sie  im  19.  Jahrhundert  als  solche  be- 
seitigt. Aber  sie  erhält  sich  als  Sitte  überall 
da,  wo  ihr  Bestehen  wirtschaftlich-technisch 
notwendig  oder  auch  nur  zweckmässig  ist. 
Allerdings  scheint  sie  in  Gegenden,  wo  kleinere 
Betriebseinheiten   zwar   weniger    zweckmässig 


als  grössere  doch  immerhin  möglich  sind,  vor 
der  Naturalteilung  langsam  zurückzuweichen. 
Aber  in  ihren  Hauptgebieten  erhält  sie  sich, 
weil  sie,  wenn  auch  durch  Zwang  entstanden, 
den  betriebstechnischen  Interessen  der  bäuer- 
lichen Bevölkerung  auch  heute  noch  am  besten 
entspricht. 

Die  Frage,  ob  die  Hof  Verfassung  auf 
rechtlich-sozialen  oder  wirtschaftlich-technischen 
Voraussetzungen  beruht,  muss  dahin  beant- 
wortet werden,  dass  die  heute  noch  bestehende 
Geschlossenheit  der  Bauerngüter  aus  dem  Zu- 
sammenwirken beider  Momente  hervorgegangen 
ist,  und  dass  zu  ihrer  Erhaltung  ebenso  sehr 
die  durch  ehemaligen  Zwang  geschaffene  Sitte 
wie  die  betriebstechnische  Zweckmässigkeit  noch 
heute  beitragen.  Wenn  man  heute  wieder  be- 
strebt ist,  die  Hofverfassung  da,  wo  man  sie 
für  zweckmässig  hält,  durch  rechtliche  Anord- 
nungen, besonders  durch  ein  bäuerliches  Erb- 
recht zu  erhalten  und  zu  befestigen,  giebt  man 
zu,  dass  sie  durch  solche  rechtlich-soziale  Ein- 
wirkungen modifiziert  werden  kann,  dass  das 
bestehende  Erbrecht  ihr  schlimmster  Feind  ist 
und  dass  nicht  die  Natur  der  Sache  allein  die 
Hofverfassung  geschaffen  haben  kann.  Dass 
sie  da,  wo  sie  noch  heute  besteht,  durch  solche 
Institutionen  gestützt  und  erhalten  werden  kann, 
scheint  mir  zweifellos.  Dagegen  erscheint  es 
völlig  aussichtslos,  sie  mit  den  solchen  Ver- 
hältnissen gegenüber  geringen  Machtmitteln  des 
heutigen  Staates  in  Gegenden  freier  Teilbarkeit 
wieder  einführen  zu  wollen.  Denn  die  ver- 
einten Kräfte  von  Staat  und  Grundherren  haben 
sich  in  vergangenen  Zeiten  an  dieser  Aufgabe 
vergebens  versucht. 

Lltteratur:  Stüve,  Wesen  und  Verfassung  der 
Landgeraeinden  und  des  ländlicken  GrundbesUzei 
in  Xiedersachsen  und  Westfalen,  1851.  —  1»,  i% 
Maurer f  Geschichte  der  Fronhöfe,  der  Bauern- 
höfe und  der  Hofverfassung  in  Deutschland, 
4.  Bde.,  1862— 186S.  —  Die  Vererbung  des  länd- 
lichen Grundbesitzes  im  Königreich  Preusseii. 
Im  Auftrage  des  Kgl.  Ministeriums  für  Land- 
wirtschaft, Domänen  und  Forsten,  herausgegeben 
von  Prof  Dr,  Af.  Sering,  Berlin  lS97ff., 
soweit  erschienen.  —  Meitzen,  Siedelung  und 
Agranvesen  der  Westgermanen  und  Ostgermanen 
etc. ,  Berlin  1895,  3  Bde  u.  Attas.  —  Im  übrigen 
vgl.  die  Litteraturangaben  unter  den  Artikeln  An- 
siedelung oben  Bd.  I S.  S75,  Bauer  Bd.  II S.  Ü4^j 
Bauerngui  und  Bauernstand  (statistisch)  ebd.  S. 
457158  und  Grundbesitz  oben  Bd.  IV  !S.  822,23, 
849  u.  859 ff. 

W.   Wittich. 


Hofacker,  Johann  Daniel» 

geb.  zu  Worms  am  30.  IX.  1788,  wurde  1810 
m  Tübingen  Doktor  der  Medizin,  begab  sich 
später  nach  Wien  und  wurde  1813  Professor 
der  Tierheilkunde  in  Tübingen.  Er  starb  da- 
selbst am  30.  IV.  1828. 

Von  seinen  Schriften  sind  hier  nur  die 
folgenden  zu  erwähnen: 

Dissertatio  de  qualitatibus  parentum  in 
sobolem  transeuntibus ,  praesertim  ratione  rei 
equariae.  1826.  Diese  Arbeit  erschien  deutsch 
unter  dem  Titel :  Ueber  die  Eigenschaften,  welche 
sich  bei  Menschen  und  Tieren  von  den  Eltern 


Hofacker— Höferecht 


1219 


auf  die  Nachkommen  vererhen,  mit  besonderer 
Köcksicht  auf  die  Pferdezucht.  Mit  Beiträgen 
von  Fr.  Notter.  Tübingen  1828.  —  Schreiben 
an  den  Herausgeber  über  die  Bestimmung  des 
Geschlechts  durch  verschiedene  Momente  (in  der 
Salzburger  med.-chirurg.  Zeitung). 

In  diesen  Publikationen  vertrat  Hofacker 
die  Hypothese,  nach  welcher  die  Altersver- 
schiedenneiten  der  Eltern  das  Geschlechtsver- 
hältnis der  Geborenen  beeinflussen,  und  zwar 
derart,  dass,  wenn  der  Mann  älter  ist  als  die 
Frau,  mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren  wür- 
den —  und  umgekehrt,  dass  dagegen  bei  gleich- 
alterigen  Gatten  die  Mädchen-  die  Xnaben- 
geburten  etwas  überwögen.  Diese  Hypothese 
oder  vielmehr  das  Hofacker-Sadlersche  Gesetz 
ist  insbesondere  von  Bemer  (s.  u.)  aus  der  Ge- 
burtenstatistik Norwegens  iWr  die  Jahre 
1871  bis  187Ö  widerlegt  worden,  während  die 
gynäkologischen  Beobachtungen,  welche  Schlech- 
ter (s.  u.)  in  ungarischen  Gestüten  angestellt, 
mit  den  Behauptungen  Hofackers  betreffs  der 
Stutengeburten  übereinstimmen. 

Vgl.  über  Hofacker:  Sadler,  The  law  of 
Population,  London  1830.  —  H.  BÄiier,  üeber 
die  Ursachen  der  Geschlechtsbildung,  Christiania 
1883.  —  J.  Schlechter,  Die  Trächtigkeit  und 
das  Geschlechtsverhältnis  bei  Pferden,  in  Rev. 
f.  Tierheilkunde,  Nr.  6-9,  Wien  1882.  —  Lexis, 
Geschlechtsverhältnis  der  Geborenen  und  Ge- 
storbenen, in  H.  d.  St.  oben  Bd.  IV  S.  177  ff.  — 
Artikel  Hofacker  in  H.  d.  St.  I.  Aufl.  Bd.  IV 
S.  4&3. 

TAppert 


Höfereclit. 


1.  Das  H.  von  Hannover,  Oldenburg,  Bremen 
und  Herzogtum  Lauenbnrg.  2.  Das  H.  in  den 
übrigen  Gebietsteilen,  a.  Die  Landgüterord- 
nungen für  Schleswig-Holstein,  Westfalen  und 
den  Regierungbezirk  Cassel.  b.  Die  Bestrebun- 
gen zur  Reform  des  ländlichen  Erbrechts  in  den 
östlichen  Provinzen.    3.  Ergebnis. 

Das  >Höferecht«,  »Landgiiterrecht«  oder 
»indirekte  Anerbeurecht«  (vgl.  d.  Art.  An- 
erbenre(»ht  oben  Bd.  I  S.  328  ff.)  gehört  zu- 
nächst der  Agrarverfassungdes  noni  westdeut- 
schen Bauerngebietes  an.  In  Oldenburg  und 
Hannover  zu  Anfang  der  70er  Jahre  des  19. 
Jahrhunderts  entstanden,  hat  es  rasch  in  den 
meisten  anderen  Provinzen  dieser  Länder- 
gruppe Platz  gegriffen.  Ausserdem  hat  man 
ihm  im  östlichen  Deutschland  Eingang  zu 
verschaffen  gesucht. 

1.  Das  H.  von  Hannover,  Oldenburg, 
Bremen  nnd  Herzogtum  Laaenbm*g.  Im 
grössten  Teile  der  Provinz  Hannover  galt 
bis  zur  Agrarreform  von  1874  gesetzliches 
Anerbenrecht  sowohl  für  die  einst  zu  grund- 
herrlichen Abgaben  verpflichteten  Meier-  und 
eigenbehörigen  Güter    als  auch  für  die  von 

J'eder    Gnmdherrschaft    seit    alters    freien 
3auemliöfe.    Die  Ablösungsgesetze  von  1831 


und  1883  hatten  im  Gegensatz  zu  den  ent- 
sprechenden preussischen  Cyesetzen  das  her- 
gebrachte Erbrecht  wie  die  privatrechtliche 
Cxebundenheit  der  Bauernhöfe  unverändert 
gelassen  und  nur  überall  die  für  die  sog. 
Höfekontrakte  erforderliche  (Tenehmigiuig 
der  Grundherren  durch  die  der  Verwaltungs- 
behörden ersetzt.  Als  die  preüssische  Re- 
gierung im  Jahre  1808  die  längst  vergeblich 
erstrebte  Reform  dieses  vielfach  verwon'enen 
und  konti'oversenreichen  Rechtszustandes  in 
Angriff  nahm,  wurde  rasch  ein  allgemeines 
Einverständnis  darüber  erzielt,  dass  die  Ver- 
waltmigskontrolle  über  die  privatrechtlichen 
Dispositionen  der  bäuerlichen  Eigentümer  zu 
beseitigen,  ihre  volle  Verfügimgsfreiheit  an- 
zuerkennen sei.  Hingegen  erhob  sich  ein 
heftiger  Widerstreit  der  Meinungen  hinsicht- 
lich der  Regelung  des  Erbrechts. 

Der  hannoversche  Provinziallandtag  und 
die  landwirtschaftlichen  Yei'tretungskörper 
forderten  die  Beibehaltung  des  bäuerlichen 
Intestatanerbenrechts  in  seinem  bisherigen 
Geltungsgebiet. 

In  einer  fast  einhellig  imd  unter  Zu- 
stimmung aller  bäuerlichen  Ab^ordneten 
gefassten  Resolution  des  Provinziallandtags 
vom  6.  Juli  1871  heisst  es:  »Stände  be- 
trachten es  als  ein  notwendiges  Korrelat  zu 
der  von  ihnen  gewünschten  völhgen  Ver- 
fügimgsfreiheit, dass  für  den  Fall,  dass  der 
bäuerliche  Grundbesitzer  nicht  selbst  aus- 
drtlcklich  anderweitig  verfügt  habe,  alsdann 
das  Anerbenrecht,  also  die  Vererbung  des 
ungeteilten  Hofes  auf  einen  diurch  Gesetz 
oder  Herkommen  berechtigten  Anerben  unter 
Abfindung  der  übrigen  Miterben  beibehalten 
imd,  soweit  notwendig,  gesetzlich  geregelt 
werde.  Es  entspricht  dies  nicht  bloss  den 
allgemeinen  Wünschen  des  beteiligten  Stan- 
des und  dem  unverkennbaren  Interesse  der 
Erhaltung  eines  tüchtigen  Bauernstandes, 
sondern  auch  denjenigen  Priucipien,  welche 
bei  dem  Intestaterbrecht  auf  Geltung  An- 
sprach erheben  dürfen.  Hiemach  soll  das- 
jenige als  gesetzliche  Regel  festgestellt 
werden,  w^as  um  so  mehr  als  der  mutmass- 
liche Wille  des  verstorbenen  Hofbesitzers 
bezeichnet  werden  darf,  als  diese  Regel  nicht 
bloss  dem  bis  dahin  geltenden  Recht,  son- 
dern auch  der  Sitte  und  Gewohnheit  des 
gesamten  Grundbesitzerstandes  entspricht, 
also  nur  derjenige  zu  einer  speciellen  Ver- 
fügung unter  Lebenden  oder  von  Todes  wegen 
einen  besonderen  Anlass  findet,  der  etwas 
von  dem  bisherigen  Recht  Abweichendes 
bestimmen  will.« 

Diese  Forderungen  fanden  die  lebhafteste 
Unterstützung  der  provinziellen  Verwaltungs- 
behönlen  und  vieler  Hannoverschen  Juristen. 
Der  Oberpi-äsident  berichtete,  die  Beseiti- 
gung das  Anerbenrechts  werde  die  unpopu- 
ifärste  Massregel  sein,  die  sich  denken  lasse. 

77* 


1220 


Höferecht 


Trotzdem  legte  das  preussische  Justiz- 
ministerium einen  Gesetzentwurf  vor,  welcher 
das  gesamte  bäuerliche  Recht  einschliesslich 
des  Erbrechts  kurzerhand  durch  das  gemeine 
Recht  ersetzte. 

Die  »Wissenschaft«  spreche  sich  meist 
gegen  die  Vererbung  der  Bauernhöfe  auf 
einen  Erben  und  für  die  gleiche  Berechti- 
gung mehrerer  Erben  aus.  In  den  älteren 
preussischen  Provinzen  hätte  sich  die  Zahl 
der  in  gehörigem  Zustand  befindlichen  Höfe 
trotz  der  Geltung  des  gemeinen  preussischen 
Erbrechts  nicht  vermindert,  imd  der  Bauern- 
stand erfreue  sich  dort  »mindestens«  der 
gleichen  Kraft  und  Wohlhabenheit  wie  die 
Bauern  der  Provinz  Hannover.  Die  Sitte  sei 
mächtiger  als  jedes  Gesetz  und  werde  schon 
für  Erhaltung  der  Höfe  in  ordentlichem 
Stande  sorgen  etc.  Waren  diese  Einwände 
leicht  zu  widerlegen,  so  liess  sich  die  Triftig- 
keit des  für  das  gemeine  Erbrecht  geltend 
gemacliten  formalen  Grundes  nicht  bestreiten, 
dass  nämlich  die  Feststellung  des  Geltungs- 
bereiches eines  besonderen  bäuerlichen 
Intestaterbrechts  in  unanfechtbarer  Weise 
nicht  möglich  sei,  nachdem  der  Bauernstand 
im  Rechtssinne  zu  existieren  aufgehört  habe. 
Hier  schien  in  der  That  ein  schwer  lösbarer 
Widerspruch  des  Anerbenrechts  gegen  die 
Grundsätze  der  modernen  Agrargesetzgebung 
vorzuliegen ;  auch  der  Landwirtschaftsminister 
von  Selchow,  obwohl  mit  den  Besti-ebungen 
des  Provinziallandtags  an  sich  einverstanden, 
erklärte,  die  Beibehaltung  einer  eigentlichen 
bäuerlichen  Intestaterbfolge  sei  »fast  immög- 
lich«. Die  Kraft  jenes  Einwandes  lag  darin, 
dass  man  in  Hannover  zu  wenig  anstrebte, 
dass  man  sich  auf  die  Erhaltung  eines  bäuer- 
lichen Erbrechts  beschränkte,  statt  die 
Regelung  des  Intestaterbrechts  für  alle  selb- 
ständigen Landgüter  zu  fordern. 

Zur  Erhaltung  einer  singulär-bäuerlichen 
Erbfolge  gab  es  keinen  anderen  Ausweg  als 
die  Katastrierung  der  beteiligten  Landgüter. 
Die  Einrichtimg  einer  diesem  Zwecke  die- 
nenden »Höferolle«  war  schon  vor  längerer 
Zeit,  z.  B.  in  einem  auf  Veranlassung  des 
landwii'tschaftlichen  Hauptvereins  für  den 
Landdrosteibezirk  Osnabrück  i.  J.  1853  aus- 
gearbeiteten Gesetzentwurf  empfohlen  w^or- 
den.  Der  Verein  wiederholte  seinen  Vor- 
schlag im  September  1872.  Die  Rolle  konnte 
in  einem  doppelten  Sinne  eingerichtet 
w^erden.  Nach  dem  erwähnten  Entwurf  von 
185.S  sollten  alle  bisher  nach  bäuerlichem 
Recht  beurteilten  oder  künftig  neu  ent- 
stehenden Besitzungen  von  Amts  wegen  zur 
Eintragung  kommen,  die  Eigentümer  der 
letzteren  aber  befliß  sein,  durch  eine  Er- 
klänmg  vor  dem  Amtsgericht  das  Anerben- 
recht auszuscliliessen.  Man  konnte  aber 
auch  umgekelu-t  die  Bauerngüter  dem  ge- 
meinen  Erblicht   imterwerfen   und  es  den 


einzelnen  bäuerlichen  -  Grundeigentümern 
überlassen,  ihre  Höfe  durch  Eintragung  der 
Anwendung  dieses  Rechts  zu  entziehen  und 
dem  neu  formulierten  Anerbenrecht  zu  unter- 
stellen. 

Die  letztere  Form  bot  der  älteren  Ver- 
erbungssitte den  denkbar  schwächsten  Halt 
Aber  gerade  deshalb  konnte  man  hoffen,  mit 
einem  entsprechenden  Vorschlage  den  Wider- 
stand der  J ustizverwaltung  und  der  zu  jener 
Zeit  herrschenden,  jedem  agrarischen  Sonder- 
recht feindlichen  Anschauungen  zu  über- 
winden. So  kam  der  im  Auftrag  des  Pro- 
vinziallandtags ausgearbeitete  imd  i.  J.  1873 
mit  allen  gegen  2  Stimmen  von  ihm  an- 
genommene Gesetzentwurf  betr.  das  Höfe- 
recht in  Hannover  zu  stände.  Seinen  be- 
scheidenen Anfordenmgen  setzte  die  Staats- 
regierung angesichts  der  wachsenden  Er- 
regung der  hannoverschen  Bevölkerung  keinen 
principiellen  Widei-stand  entgegen.  Der  Ent- 
wurf erlangte  unterm  2.  Juni  1874  Gesetzes- 
kraft, nidKt  ohne  vorher  noch  einige  weitere 
Einschränkimgen  seines  ursprünglichen  In- 
halts durch  Regierung  und  Abgeordneten- 
haus erlitten  zu  haben. 

Das  genannte  Gesetz  unterwirft  die 
Bauernhöfe  dem  allgemeinen  Erbrecht.  Aber 
jeder  Eigentümer  eines  Hofes,  für  welchen 
nach  dem  bisherigen  bäuerlichen  Recht  das 
Anerbenrecht  galt,  ist  befugt,  denselben  in 
die  vom  Amtsgerichte  geführte  Höferolle 
eintragen  zu  lassen  und  ebenso  wieder  ziu* 
Löschung  zu  bringen.  Das  eingetragene 
Gut  vererbt  ex  intestato  nach  Anerbenrecht, 
d.  h.  geht  ungeteilt  nach  einer  bestimmten 
Erbfolgeordnung  auf  einen  bestimmten  Erben 
(m  erster  Linie  den  ältesten  Sohn)  über. 
Die  aus  dem  geltenden  allgemeinen  Erbrecht 
hervorgehenden  Ansprüche  der  Miterben 
werden  dadurch  nicht  ausgeschlossen.  Aber 
zur  Vermeidung  einer  Schuldüberlastimg 
greift  folgender  Erbteilungsmodus  Platz: 
Das  Gut  wu*d  nicht  nach  Verkehrswert, 
sondern  nach  dem  zu  5^/o  kapitalisierten, 
bei  ordnungsmässiger  Wii-tschaft  zu  erzie- 
lenden jährlichen  Reinerti^ag  unter  Zurech- 
nimg des  Inventarverkaufswertes  abgeschätzt. 
Die  Erbschaftsschulden  werden  zimäehst 
vom  Mobiliar-  und  weiterhin  vom  Immo- 
biliarvermögen abgezogen,  der  Rest  wird  vom 
Anerben  übernommen.  Von  dem  nunmehr 
verbleibenden  Hofwert  erhält  der  Anerbe 
ein  Voraus  von  Vs,  d.  h.  er  hat  -/»  des  Hof- 
wertes nach  Abzug  der  von  ihm  übernom- 
menen Schulden  in  die  Erbschaftsmasse 
einzuschiessen,  imd  diese  wird  unter  die 
Miterben,  einschliesslich  des  Anerben,  zu 
gleichen  Quoten  geteilt.  Sind  mehrere  I^and- 
güter  in  der  Ei'bschaft,  so  finden  diese  Regeln 
mit  der  Massgabe  Anwendung,  dass  jeder  Be- 
rechtigte in  der  Reihenfolge  seiner  Berufung 
nach  Wahl  ein  Landgut  übernehmen  kann. 


Höferecht 


1221 


Die  Testierfreiheit  des  Erblassers  wird 
durch  die  Bestimmung  erweitert,  dass  der 
genannte  Schätzimgsmodus  auch  bei  Be- 
rechnung der  Pflichtteile  der  abgefundenen 
Erben  zur  Anwendung  kommt.  Auch  kann 
der  Erblasser  durch  Testament  oder  sonstige 
Urkunde  die  Person  des  Anerben  in  einer 
von  der  gesetzlichen  Erbfolge  abweichenden 
Weise  ebenso  bestimmen  wie  den  Wert,  zu 
welchem  das  Landgut  bei  der  Erbteilung 
angerechnet  werden  soll. 

Das  geltende  eheliche  Güterrecht  wird 
durch  das  Höfegesetz  nicht  berührt.  Die 
zum  gütergemeinschaftlicben  Vermögen  der 
Eheleute  gehörigen  Landgüter  gelten  zur 
Vermeidung  der  KoDision  zwischen  den 
Ansprüchen  des  überlebenden  Ehegatten  mit 
denen  des  Anerben  als  vom  Anerbenrecht 
eximiert.  Im  übrigen  ist  bestimmt  worden, 
dass  wegen  Verletzung  des  Pflichtteils  Ver- 
fügimgen  nicht  angegriffen  worden  können, 
durch  welche  dem  leiblichen  Vater  des  An- 
erben lebenslänglich  oder  der  leiblichen 
Mutter  bis  ziu'  Grossjährigkeit  des  Anerben 
das  Recht  beigelegt  wird,  den  Hof  nach 
dem  Tode  des  &blassers  zu  benutzen  und  zu 
verwalten  unter  der  Verpflichtung,  den  An- 
erben und  dessen  Miterben  bis  zur  Auszah- 
lung ihres  Erbteils  angemessen  zu  erziehen 
und  für  den  Notfall  auf  dem  Hofe  zu  er- 
halten. 

Das  hannoversche  Höfegesetz  bedeutete 
einen  Sieg  des  gemeinen  über  das  bäuer- 
hche  Recht,  des  Juristen-  über  das  Volks- 
i-echt.  Zwar  erkennt  es  sowohl  die  gemein- 
rechtliche als  die  ehemals  landrechtliche 
Intestaterbfolge  nebeneinander  an.  Aber 
niu*  die  erstere  entspricht  der  Natur  eines 
wahren  Litestaterbrechts,  welches  überall 
Platz  greift,  wo  eine  besondere  Verfügung 
des  Erblassers  fehlt.  Das  Intestatanerben- 
recht  hingegen  tritt  nur  kraft  ausdrücklicher 
Willenserklärung  ein.  Es  ist  gleichsam  ein 
Erbrecht  zweiter  Klasse,  es  erscheint  als 
ein  nur  vorläufig  noch  vom  Gesetzgeber  zu- 
gelassenes Ausnahmerecht  Seine  Wirksam- 
keit ist  an  eine  lästige,  den  Gewohnheiten 
der  Bevölkerung  fremde  Voraussetzung  ge- 
bunden. Dabei  wird  der  Nutzen  der  Ein- 
ti-agimg  im  allgemeinen  nur  besonders  vor- 
sichtigen Wirten  einleuchten.  Denn  die 
Eintragung  gewinnt  wiederum  nur  für  den 
Fall  praktische  Bedeutung,  dass  andere 
specielle  Verfügungen  über  die  Rechtsnach- 
folge unterbleiben,  während  doch  solche 
specielle  Verfügung  in  Form  des  Ueber- 
gabevertrags  oder  Testaments  von  den  aller- 
meisten beabsichtigt  wird. 

Viele  Kenner  des  Landes  und  seiner  Be- 
völkerung hielten  daher  das  Höfegesetz  für 
eine  sehr  imvollkommene  Lösung  der  Auf- 
gabe, eine  Rechtsgewohnheit  zu  erhalten, 
die   nach   ihrer  Meinung  eine   wesentliche 


Gnmdlage  des  Wohlstandes  und  der  glück- 
lichen sozialen  Verfassung  in  den  betreffen- 
den Gegenden  bildete. 

Es  wai*  nur  einer  lebhaften  Agitation 
und  der  besonders  hohen  Intelligenz  der 
hannoverschen  Bauernschaft  zu  danken,  dass 
eine  verhältnismässig  grosse  Zahl  von  Höfen 
zur  Eintragung  gelangte.  Die  hannoverschen 
Höfei-oUen  verzeichneten  jeweils  am  31.  De- 
zember 

1883  62  559  Höfe 
1893  66  050     „ 
1899  71  346      „ 

Am  1.  Juli  1875  waren  100109  Höfe 
eintragungsfähig.  Man  kann  also  anneh- 
men, dass  etwa  ^s  aller  fi'üher  dem  An- 
erbenrecht unterworfenen  Bauerngüter  dem 
schützenden  Einflüsse  jenes  Intestaterbrechts 
durch  die  Reform  von  1874  entzogen  wor- 
den sind. 

Der  antiindi^^dualistische  Umschwung, 
der  sich  Ende  der  70  er  Jahre  anbahnte, 
führte  zu  einer  wichtigen  Abändenmg  des 
hannoverschen  Höfegesetzes.  Durch  G.  v.  24. 
Februar  1880  und  20.  Febniar  1884  wui-de 
die  Fälligkeit  zur  Eintragung  in  die  Höfe- 
roUe  auf  alle  landwirtschaftlichen,  mit  einem 
Wohnhause  versehenen  Besitzungen,  ein- 
schliesslich der  Rittergüter,  ausgedehnt. 
Damit  verliess  man  den  streng  historischen 
Standpunkt,  nahm  dem  Anerbenrecht  den 
Charakter  eines  singulären  Bauernrechts  und 
erkannte  es  als  einen  lebendigen  und  wei-t- 
vollen  Bestandteil  der  Rechtsordnung  an. 
Gerade  damit  verlor  aber  auch  die  fakultative 
HöferoDe  ihren  wichtigsten  Existenzgnmd. 
Seitdem  es  sich  nicht  mehr  danim  handelt, 
das  Anerbenrecht  auf  die  einst  dem  Bauern- 
recht unterworfenen  Höfe  zu  beschränken, 
entspricht  dem  legislatorischen  Gedanken 
des  Höfegesetzes  allein  das  direkte  Intestat- 
anerbenrecht  für  die  selbständigen  Stellen 
derjenigen  Landesteile,  in  denen  die  An- 
erbensitte noch  die  herrschende  ist  und 
eben  damit  ihre  wirtschaftliche  Notwendig- 
keit bewiesen  hat.  Es  würde  das  selbstver- 
ständlich eine  am t liehe  Katastrienmg  der 
beteiligten  Stellen  nicht  überflüssig  machen. 

Nach  wie  vor  kommt  übrigens  auch  bei 
den  eingetragenen  Stellen  die  Intestaterb- 
folge selten  vor.  Die  Uebergabe  des  Hofes 
an  den  Nachfolger  findet  regelmässig  bei 
Lebzeiten  des  Besitzers  unter  Vorbehalt  des 
Altenteils  statt.  Die  Eintragung  in  die 
Höferolle  hat  also  agrarpolitisch  ebenso  wie 
das  direkte  Intestatanerbenrecht  lediglich 
die  Bedeutung,  die  zersetzenden  Einflüsse 
des  gemeinen  Erbrechts  fernzuhalten,  die 
namentlich  darin  bestehen,  dass  allmählich 
die  VorsteUung  um  sich  greift,  als  hätten 
die  3kliterben  einen  gesetzlichen  Anspruch  auf 
eine  Quote  am  Verkaufs  wert  des  Hofes, 


XfcJaJkJ 


Höferecht 


die  Eltern  diesen  Anfordenmgen  nachgeben 
und  so  die  Höfe  mit  unerschwingüchen 
Schulden  belasten.  — 

Aus  ähnlichen  Motiven  wie  in  Hannover 
sind  die  dem  dortigen  Gesetz  in  den  Grund- 
zOgen  entsprechenden  Höfegesetze  für  das 
Herzogtum  Oldenburg (24.  April  1873) ein- 
schliesslich des  Fürstentums  Lübeck  (10.  Ja- 
nuar 1879),  das  Landgebiet  der  Stadt  Bremen 
(14.  Januar  1876  und  14.  Mai  1890)  und  den 
preussischen  Kreis  Herzogtum  Lauenburg 
(21.  Februar  1881)  zu  stände  gekommen. 
In  Oldenburg  kann  jede  behauste  Besitzung 
ziu*  »Gnmd erbstelle«  gemacht  werden,  und 
zwar  dm'ch  Erklärung  zu  Protokoll  des  Yer- 
waltungsamtes.  Das  Voraus  des  Grunderben 
beträgt  15  oder  (in  den  Geestgemeinden) 
40^/0  des  schuldenfreien  Wertes  der  Stelle. 
Thatsächlich  ist  in  den  beteiligten  Gegenden 
die  Mehrzahl  der  bisher  dem  Anerbenrecht 
unterworfenen  mittleren  und  grösseren 
Stellen  zm*  Eintragung  gelangt.  Bis  zum 
Jahre  1874  waren  8781,  bis  1880  8681  und 
1890  9027  Höfe  (das  sind  26,7  «/o  aller  be- 
hausten Stellen  und  43,6  »/o  ihrer  Fläche, 
in  den  Distrikten  mit  ehemals  strengem 
Grunderbrecht  42,4  ^/o  der  Stellen  und 
60,2  "/o  der  Fläche)  als  Grunderbstellen  ein- 
getragen worden,  während  es  im  ganzen 
Herzogtum  (1895)  rund  12000  Betriebe  von 
mehr  als  5  na  und  nnid  7000  Betriebe  von 
mehr  als  10  ha  landwirtschaftlich  benutzter 
Fläche  giebt.  Im  Bremischen  waren  am  31. 
Dezember  1892  von  670  eintragungsfähigen 
Stellen  (über  5  ha)  483,  in  Lauenbiu'g  bis 
Ende  1894  518  Höfe  von  (nach  Miaskowski) 
2743  eintragungsfälligen  zur  Eintragung  ge- 
kommen. 

Die  verhältnismässig  günstigen  Erfolge 
der  oldenburgischen  Gesetzgebung  sind  zum 
grossen  Teil  der  Rührigkeit  der  dortigen 
Verwaltimgsbehörden  zu  verdanken.  Die 
Grundbesitzer  wurden  im  Verwaltungswege 
auf  das  Inkraftti'eten  des  Gesetzes  besonders 
hingewiesen  und  ihnen  zur  Abgabe  ihrer 
Willenserklärung  Veranlassung  gegeben.  In 
Preussen  hat  erst  im  Jahre  1887  der  Justiz- 
minister die  Amtsrichter  angewiesen,  bei 
sich  darbietender  Gelegenheit  (Grundbuchs- 
regulierungen,  Auflassungen  etc.)  auf  die 
Höfe-  und  Landgüterordnimgen  aufmerksam 
zu  machen,  wobei  sie  jedoch  auf  die  freie 
EntSchliessung  der  Beteihgten  keine  be- 
stimmende Einwirkung  üben  sollten.  Ebenso 
wurde  1887  den  Generalkommissionen  und 
ihren  Beamten  anempfohlen,  die  Landwirte 
auf  die  Vorteile  der  Eintragung  in  die  Höfe- 
rollen hinzuweisen.  Endlich  ist  diurch  G.  v. 
11.  Juli  1891  bestimmt  worden,  dass  der 
Antrag  auf  Eintragung  in  die  Höferolle  be- 
züglich der  einem  Auseinandersetzungsver- 
fahi-en  unterliegenden  Grundstücke  und  Be- 
sitzungen auch  bei  der  Generalkommission 


oder  deren  Kommissar  gestellt  werden  kann. 
Es  geschah  dies  mit  Bücksicht  darauf,  dass 
es  kaum  einen  günstigeren  Moment  für  die 
Einti-agung  giebt  als  den  Abschluss  eines 
Verfahrens,  welches  die  beteiligten  Land- 
güter erst  zu  wirtschaftlichen  Einheiten 
macht 

2.  Das  H.  in  den  übrigen  Gebiets- 
teilen, a)  Die  Landgru-terordnungen 
für  Schleswig-Holstein,  Westfalen  und 
den  Regierungsbezirk  Cassel.  In  allen 
bisher  behandelten  Grebieten  haben  die 
Höfegesetze  ein  vorher  giltiges  bäuer- 
liches Anerbenrecht  in  Zusammenbang  mit 
einer  allgemeinen  Reform  des  Agrarrechts 
verdrängt,  die  Bauernhöfe  dem  allgemeinen 
Erbrecht  unterworfen,  und  gleichzeitig  den 
Eigentümern  anheimgestellt,  durch  besondere 
Verfügung  ein  neu  formuliertes  Intestatan- 
erbenrecht  für  ihre  Stellen  aufrecht  zu  er- 
halten. 

Eine  gunz  andere  Bedeutung  besitzt  die 
Höfegesetzgebung  für  alle  anderen  Provin- 
zen, in  denen  sie  zur  Geltung  gekommen 
ist.  unter  ihnen  nimmt  Schleswig- 
Holstein  eine  Sondei^stellung  ein.  Im 
grösseren  Teile  dieser  Provinz  gilt  gesetz- 
liches direktes  Anerbenrecht.  Die  vom 
Provinziallandtage  gewünschte,  unterm  2. 
April  1886  erlassene  »Landgüterordnungc 
ist  zwar  ebenso  wie  das  lauenburgische  und 
bremische  Höfegesetz  eine  Nachbildung  des 
hannoverschen  Gesetzes,  hat  aber  das  ältere 
Erbrecht  unberührt  gelassen.  Die  Absicht 
des  Provinziallandtages  war  zunächst,  jenes 
vielfach  unbestimmte  und  in  seiner  Anwen- 
dung unsichere  Anerbenrecht  gleichmässig 
zu  ordnen.  Dabei  gab  man  der  indirekten 
Form  des  Anerbenrechts  den  Vorzug  in  der 
weiteren  Absicht,  denjenigen  Teilen  der 
Provinz,  welche  bisher  kein  Anerbenrecht 
besassen,  Gelegenheit  zu  dessen  Anwendung 
zu  verschaffen.  Nun  hat  aber  der  einzelne 
unter  dem  Anerbeurecht  lebende  Besitzer 
ein  sehr  geringes  Interesse  an  dessen  gleich- 
massiger  Ordnung,  also  auch  keine  Veran- 
lassung ziU"  Eintragung.  Andererseits  hatten 
die  Erfahrungen  in  den  landrechtlichen  Ge- 
bieten von  Hannover  sowie  in  den  Marsch- 
distrikten Oldenburgs  (die  ein  gesetzliches 
Anerbenrecht  von  alters  her  nicht  besitzen) 
langst  klargestellt,  dass  man  ein  neues,  in 
den  Sitten  nicht  begründetes  Erbrecht 
keineswegs  durch  die  Einrichtung  eines  ent- 
sprechenden Aktenstückes  beim  Amtsgericht 
zur  Einbürgerung  bringen  kami.  In  der 
einen  wie  in  der  anderen  Richtung  bewies 
der  Erfolg,  wie  wenig  das  gewählte  Mittel 
dem  Zwecke  entsprach.  Bis  Ende  1^^9 
sind  31  Landgüter  in  den  schleswig-hol- 
steinischen LandgüteiTollen  zur  Aufnahme 
gelangt  I  Es  ist  wesentlich  dem  Gutachten 
des  Kieler  Oberlandesgeriehts  zu  verdanken 


Höferecht 


1223 


gewesen,  dass  man  nicht,  wie  in  Hannover, 
das  bestehende  Anerbenrecht  —  ganz  gegen 
die  Absicht  des  Provinziallandtages  —  über- 
haupt beseitigt  hat.  So  ist  nach  wie  vor 
in  Schleswig-Holstein  die  schon  in  dänischer 
Zeit  in  Angriff  genommene  Aufgabe  einer 
Reform  des  geltenden  direkten  Anerbenrechts 
unter  Beschränkung  auf  sein  bisheriges  An- 
wendungsgebiet zu  lösen. 

In  den  übrigen  Provinzen,  in  die  man 
ein  Höferecht  neuerdings  einzuführen  ver- 
sucht hat,  ist  die  Vererbung  seit  längerer 
Zeit  ftir  Stadt  und  Land  gleichmässig  im 
römischrechtlichen  Sinne  geordnet.  Aber 
die  Landbevölkenmg  hat  ihre  alten  Erb- 
gewohnheiten im  Widerspruch  zu  dem  ge- 
schriebenen Recht  mit  gi-össerer  oder  ge- 
ringerer Kraft  zu  bewahren  gewusst.  Die 
Landgüterordnuugen  wollen  dieser  Sitte  eine 
gesetzliche  Stütze  geben.  Wie  indessen  alle 
Sachkenner  vorausgesagt  haben,  hat  die  In- 
stitution der  fakultativen  Landgüterrolle  dieser 
ihrer  Aufgabe  nicht  zu  genügen  vermocht. 
Da  sich  der  Erlass  der  betreffenden  Gesetze 
nicht  wie  in  den  oben  sub  1  besprochenen 
Gebieten  mit  einer  allgemeinen  Neuregelung 
des  bäuerlichen  Rechtszustandes  verknüpfte, 
sind  sie  sehr  vielen  Besitzern  einfach  un- 
bekannt geblieben,  imd  die  Güterrollen  haben 
eine  um  so  geringere  Bedeutung  gewonnen, 
als  die  romanistisch  geschulten  Richter  der 
obenerwähnten  Anweisung  des  Justizministers 
vielfach  nicht  nur  nicht  nachgekommen  sind, 
sondern  den  Bemühungen  der  Bauernvereine 
etc.  um  die  EintiBgung  der  Besitzungen 
ihrer  Mitglieder  manchmal  direkt  entgegen- 
geai'beitet  haben. 

In  den  zunächst  zu  behandelnden  Ge- 
bieten der  westfälischen  und  hessischen 
Landgüterordnungen  waren  zu  Ende  1899 
nicht  mehr  als  2529  bezw.  169  Höfe  in  der 
Landgüterrolle  verzeichnet.  Noch  geringer 
sind  die  im  Osten  mit  der  gleichen  Ein- 
richtung erzielten  Resultate.  Es  kann  des- 
halb auf  eine  nähere  Darlegung  des  Inhalts 
der  betreffenden  Gesetze  verzichtet  werden. 
Wichtiger  ist,  die  politische  Bewegung  zu 
kennzeichnen,  welche  zu  ihrem  Erlass  ge- 
führt hat,  weil  sie  nach  wie  vor  mit  unge- 
schwäehter  Kraft  fortwirkt,  wo  sie  nicht 
das  angestrebte  Ziel,  das  direkte  Anerben- 
recht, wie  in  Westfalen  inzwischen  er- 
reicht hat. 

In  We  s  t  f  a  1  e  n  machte  sich  am  frühesten 
die  Opposition  gegen  das  landrechtliche  Erb- 
recht geltend.  Sie  führte  zum  Erlass  des 
G.  V.  13.  Juli  1836  über  die  bäuerliche  Erb- 
folge in  Westfalen.  Darin  wurde  das  In- 
lestatanerbenrecht  für  die  grosse  Menge  der 
Bauerngüter  sanktioniert.  Aber  viele  Einzel- 
bestimmnngen  des  Gesetzes  (namentlich  sein 
Eingriff  in  das  eheliche  Güterrecht  und  die 
den  lokalen  Yerechiedenheiten  nicht  ange- 


passte  Regelung  der  Erbfolgeordnung)  wider- 
sprachen so  sehr  den  herrschenden  Rechts- 
anschauungen, dass  das  Gesetz  gix)sse  Un- 
zufriedenheit hervorrief.  Im  Jahre  1848 
wurde  es  ersatzlos  aufgehoben.  Es  bedurfte 
der  Erfahrungen  einer  weiteren  Generation, 
um  die  Erbrechtsreform  von  neuem  in  Fluss 
zu  bringen.  Man  hatte  beobachtet,  dass  sich 
die  alte  Vererbungssitte  langsam  unter  dem 
Einflüsse  des  geschriebenen  Rechtes  lockerte, 
dass  die  Verschuldung  aus  Erbgang  in  be- 
denklicher Weise  wuchs  und  die  über- 
schuldeten Güter  parzelliert,  namentlich 
aber  auch  vom  Grossgrundbesitz  aufgekauft 
wurden,  um  von  diesem  dann  ebenfalls  in 
Parzellen  zerschlagen  und  verpachtet  zu 
weixien.  Im  Jalire  1878  setzte  der  west- 
fälische Bauernverein  unter  Führung  des 
Freiherrn  von  Schorlemer-Alst  eine  Kom- 
mission zur  Ausarbeitung  eines  Gesetzes 
über  die  Vererbung  von  Landgütern  ein. 
Der  später  vom  Provinziallandtage  mit  43 
gegen  15  Stimmen  angenommene  Schor- 
lemei-sche  Entwurf  forderte  bei  Wahrung 
der  Dispositionsfreiheit  des  Eigentümers 
direktes  intestatanerbenrecht  für  alle  selb- 
ständigen Landgüter  (d.  h.  für  die  Güter 
von  mindestens  75  Mark  Grundsteuerrein- 
erirag)  nach  einer  den  örtlichen  Gewohn- 
heiten angepassten  Successionsordnung.  Der 
Entwurf  fand  eine  auffallend  günstige  Auf- 
nahme nicht  nur  in  den  nächstbeteiligten 
Bevölkerungskreisen,  sondern  auch  in  der 
Litteratur  und  Presse.  So  sehr  hatten  die 
Verhandlungen  über  das  hannoversche  Höfe- 
recht klärend  gewirkt.  Die  Kritik  richtete 
sich  hauptsächlich  gegen  einige  keineswegs 
integrierende  Bestimmungen.  Im  Abgeord- 
netenhause fand  der  Schorlemersche  Ent- 
wurf die  Unterstützung  von  176  namhaften 
Vertretern  aller  Parteien  mit  Ausnahme  der 
Fortschrittspartei.  Am  3.  Dezember  1879 
beschloss  das  Haus  mit  grosser  Majorität: 

» 1.  Den  Antrag  Schorlemer-Alst  der  Staats- 
regierung mit  der  Aufforderung  zu  über- 
weisen, dem  nächsten  Landtage  einen  Ge- 
setzentwurf nach  Anhörung  des  Provinzial- 
landtages  vorzule^n,  welcher  die  Vererbung 
der  Landgüter  m  der  Provinz  Westfalen 
behufs  deren  Erhaltung  im  Sinne  des 
erw^ähnten  Antrages  regelt.  2.  Die 
königliche  Staatsregierung  zu  ersuchen,  auch 
bezüglich  der  übrigen  Provinzen,  soweit  für 
sie  das  Bedürfnis  nach  Regelung  der  Erb-: 
folge  in  den  Bauernhöfen  hervortritt,  nach 
Anhömng  der  Provinziallandtage  Gesetzent- 
würfe im  gleichen  Sinne  wie  der  vorliegende 
Antrag  (Schorlemer-Alst)  den  beiden  Häusern 
des  Landtages  demnächst  zur  Beschluss- 
fassung vorzulegen.« 

Die  Regierung  erklärte,  sie  sei  mit  den 
Tendenzen  des  Schorlemerschen  Entwurfs 
einverstanden,  lehnte  ihn  aber  trotzdem  ab, 


1224 


Höfei-echt 


weil  sie  glaubte,  denselben  in  ausreichender 
Weise  durch  die  Einrichtung  einer  fakul- 
tativen »LandgüterroUe«  nach  hannoverschem 
Muster  gerecht  werden  zu  können.  Den 
Landtagen  der  Provinz  wie  der  Monarchie 
blieb  keine  andere  Wahl,  als,  wenn  sie  über- 
haupt etwas  erreichen  wollten,  sich  den 
Wünschen  der  Regierung  zu  fügen.  Die  so 
zu  Stande  gekommene  westfälische  Land- 
güterordnung V.  30.  April  1882,  zugleich  für 
die  Kreise  Rees,  Essen  Stadt  und  Land, 
Duisburg  imd  Mülheim  a.  d.  Ruhr  giltig, 
sollte  indessen  nicht  lange  in  Kraft  bleiben. 
Mit  dem  1.  Januar  1900  ist  an  ihre  Stelle 
das  Gresetz  betreffend  das  Anerbenrecht  bei 
Landgütern  in  der  ProWnz  Westfalen  etc. 
vom  2.  Juli  1898  getreten.  Dieses  Gesetz 
beseitigt  das  System  der  fakultativen  Höfe- 
rolle, unterwirft  vielmehr  alle  diejenigen 
ihrem  Hauptzweck  nach  zum  Betriebe  der 
Land-  und  Forstwirtschaft  bestimmten,  zu 
selbständigen  Nahrungsstellen  geeigneten  Be- 
sitzungen direkt  dem  Intestatanerbenrecht, 
welche  mit  einem  Wohnhaus  versehen  sind 
und  deren  Grundsteuerreinertrag  wenigstens 
60  Mark  beträgt.  Sie  werden  von  Amts 
wegen  auf  Antrag  der  landwirtschaftlichen 
Verwaltung  (Specialkommissar)  im  Grund- 
buch als  Anerbengüter  vermerkt.  Für  die  selb- 
ständigen Güter  von  geringerem  Reineitrag 
erfolgt  die  Eintragung  nur  auf  Antrag.  Das- 
selbe gut  allgemein  von  denjenigen  be- 
schränkten Bezirken,  für  welche  die  vorher- 
gegangene amtliche  Erhebung  eine  Anerben- 
sitte nicht  oder  nicht  zweifelsfrei  festgestellt 
hatte.  Die  Anerbengutseigenschaft  wird  ge- 
löscht, wenn  die  Besitzung  die  bezeichneten 
Merkmale  des  selbständigen  Landgutes  ein- 
gebüsst  hat. 

Das  westfälische  Anerbengesetz  bildet, 
den  ersten  grossen  Erfolg  der  deutschen 
Erbrechtsreformbeweguug ,  sein  Zustande- 
kommen ist  hauptsächlich  den  Bemühungen 
des  westfälischen  Bauernvereins  und  Pro- 
vinziallandtages  zu  verdanken.  — 

Innerhalb  des  ehemaligen  Kurhessen 
hat  man  für  die  etwa  3000  Meiergüter  der 
Grafschaft  Schaumburg  (Kreis  Rinteln)  bei 
Aufhebung  des  Güterschlusses  (G.  v.  21. 
Februar  1870)  ausdrücklich  das  alte  An- 
erbeurecht  aufi'e(;ht  erhalten.  Dieser  Kreis 
scheidet  daher  bei  den  Fragen  der  neuer- 
liehen Erbschaftsreform  aus.  In  den  ale- 
mannischen Kreisen  Hanau  und  Gelnhausen 
tritt  regelmässig  ebenso  Realteilung  im  Erb- 
gange ein  wie  m  den  thüringischen  Grenz- 
l)ezirken  am  Meissner  und  im  ehemaligen 
hessisch-sächsischen  Gau,  dem  Flussgebiet 
der  Diemel.  Hingegen  gliedert  sich  das  rein 
hessisclie  (chattische)  Gebiet  nach  seiner 
sozialen  Geschichte  und  Verfassung  und 
nach  der  Erbsitte  seiner  Landbevölkerung 
den   niedersächsisch-westfälischen   Bezirken 


an.  Die  ungeteilte  Uebertragung  der  Bauern- 
höfe durch  Anschlagsverträge  zum  »ge- 
schwisterlichen Wert«  ist  in  allgemeiner 
üebung  geblieben.  Aber  auch  hier  trat  mit 
der  bäuerlichen  Ablösung  und  Aufhebung 
des  Güterschlusses  das  geltende  (römische) 
Recht  in  Gegensatz  zur  Erbsitte,  eine  im 
anerbenrechtlichen  Sinne  gehaltene  Bestim- 
mung des  Vormundschaftsrechts  für  Alt^ 
hessen  von  1786  wiuxie  nach  der  herrschen- 
den Annahme  durch  die  preussische  Vor- 
mundschaftsordnung von  1875  hinfällig. 

Als  nun  die  Staatsregierung  aus  Anlass 
der  oben  mitgeteilten  Resolution  des  Ab- 
geordnetenhauses dem  hessischen  Kommunal - 
landtage  die  Frage  nach  dem  Bedürfnis  einer 
Reform  des  ländlichen  Erbrechts  stellte,  be- 
jahte er  sie  fast  einstimmig  —  unter  Zu- 
stimmung sämtlicher  Vertreter  des  bäuer- 
lichen Grundbesitzes  —  für  Althessea  imd 
das  Gebiet  des  Fuldaischen  Rechts  und  ent- 
warf die  Grundzüge  für  ein  den  dortigen 
Gewohnheiten  angepasstes  direktes  Anerben- 
recht. 

Auch  die  Staatsregierung  erkannte  in 
üebereinstimmung  mit  dem  Oberlandesge- 
richt und  dem  Oberpi'äsidenten  die  Lücken- 
haftigkeit und  Reformbedürftigkeit  des  gel- 
tenden Erbrechts  an,  hielt  aber  wie  in  allen 
früheren  Fällen  an  der  Einrichtung  der 
fakultativen  Landgüterrolle  fest.  Der  Pro- 
vinziallandtag  acceptierte  sie  schliesslich 
mit  grosser  Majorität.  In  dem  Berieht 
seines  Ausschusses  zur  Begutachtung  des 
Regierungsentwiu'fes  heisst  es:  Die  Regie- 
rungsvorlage liat  den  Entwurf  des  hessischen 
Kommunallandtags  abgeschwächt  Viele  sach- 
verständige Mitglieder  sind  der  Ansicht,  dass 
das  Gesetz,  wenn  man  dasselbe  in  seiner 
Anwendbarkeit  in  jedem  einzelnen  Fall  von 
der  Eintragung  in  die  Höferolle  abhängig 
machen  wolle,  ein  totgeborenes  Kind  bleibien 
werde.  Zur  Eintragung  würden  sich  voraus- 
sichtlich nur  verhältnismässig  wenige  intelli- 
gente und  sorgsame  Besitzer  entschliessen. 
Daher  sprach  sich  zunächst  die  Mehrheit 
des  Ausschusses  gegen  die  Vorlage  aus  und 
erachtete  eine  vollständige  Gmarbeitung  des 
Entwurfs  unter  Ausmerzung  der  Höferolle 
für  nötig.  Bei  weiterer  Beratung  wurde 
jedoch  darauf  hingewiesen,  dass  sämtliche 
neue  Landgüterordnungen  bisher  nach  dem 
Svstem  der  Höferolle  erlassen  worden  wären 
und  bei  der  bestimmten  und  klaren 
Stellung,  welche  die  Königliche 
Staatsregierung  nach  den  Motiven  der 
Vorlage  auch  für  den  diesseitigen  Regienmgs- 
bezii'k  zu  der  Frage  genommen  habe,  die 
Aussicht  auf  das  Zustandekommen 
des  Gesetzes  bei  Abhandeosein 
der  Höferolle  niu*  eine  sehr  geringe  sein 
werde. 

So  wurde  der  Entwurf  angenommen  mid 


Höferecht 


1225 


gleichzeitig  empfohlen,  seine  Wirksamkeit 
indirekt  durch  Kostenfreiheit  der  Anträge 
binnen  bestimmter  Frist  und  durch  die  Vor- 
schrift zu  fördern,  dass  die  Amtsrichter  von 
Amts  wegen  mit  den  Eigentümern  wegen 
Eintragung  verhandeln  sollten.  Der  Erfolg 
dieser  Anregung  war  die  oben  erwähnte 
Anweisung  des  Justizministers. 

Als  eine  Eigentümlichkeit  des  imterm 
1.  Juli  1887  sanktionierten  hessischen  Ge- 
setzes ist  hervorzuheben,  dass  es  keine  feste 
bfuccessionsordnung  aufstellt.  Die  freie  Be- 
stimmung des  Anerben  entspricht  der 
hessischen  Sitte.  In  engem  Anschluss  an 
den  älteren  Rechtszustand  schreibt  die 
hessische  Landgüterordnimg  vor,  dass,  wenn 
die  Person,  welche  zur  üebemahme  des 
Landgutes  berechtigt  sein  soll,  nicht  durch 
den  Eigentümer  letztwillig  bestimmt  ist, 
und  mangels  einer  Vereinbarung  der  Be- 
teiligten, ein  Familienrat  unter  Vorsitz  des 
Amtsrichlei-s  die  Person  des  Gutsübemeh- 
mers  wie  auch  die  Bedingiingen  der  Ueber- 
nahme  festsetzen  soll.  Dabei  soU  die  dauernde 
Erhaltung  des  Gutes  in  der  Hand  eines 
Familiengliedes  den  ausschlaggebenden  Ge- 
sichtspunkt bilden  und  soweit,  als  es  dies 
Interesse  fordert,  der  Gutsübernehmer  vor 
seinen  Miterben  bevorzugt  werden.  Der 
Wert  des  Landgutes  ist  jedoch  nicht  unter 
dem  25  fachen  und  nicht  über  dem  45  fachen 
Grundsteuen-eineiirag  festzusetzen.  Der 
innerhalb  dieser  Grenzen  auf  Antrag  er- 
mittelte Wert  ist  auch  für  die  Berechnung 
der  Pf  lichtteile  entscheidend.  Unter  mehreren 
geeigneten  Intestaterben  hat  der  Familien- 
rat dem  männlichen  Geschlecht  vor  dem 
w^eiblichen  und  eventuell  dem  älteren  vor 
dem  jüngeren  Erben  den  Vorzug  zu  geben. 
Die  Bestimmung  des  Gutsübernehmers  durch 
den  Familienrat  unterbleibt,  wenn  das  Land- 
gut wegen  hoher  Verschiddung  oder  sonstiger 
Gründe  in  der  Familie  nicht  erhalten  werden 
kann  oder  wenn  kein  Nachkomme  des  Eigen- 
tümers unter  den  vom  Familienrat  festge- 
setzten Bedingimgen  das  Ijandgut  über- 
nehmen wilL 

b)  Die  Bestrebungen  zur  Reform 
des  ländliohen  Erbrechts  in  den  öst- 
lichen ProviQzen.  Die  von  Hannover 
und  Westfalen  ausgegangene  Keformbewe- 
gung  hat  in  den  östGchen  Provinzen,  ent- 
sprechend ihren  sozialen  und  kulturellen  Be- 
sonderheiten, im  ganzen  einen  anderen  Ver- 
lauf genommen  als  in  den  bisher  behandelten 
Gebieten  und,  soweit  sie  zu  einer  legis- 
latorisdien  Aktion  führte,  wesentlich  anclere 
Wirkungen  gezeitigt. 

Von  allen  östlichen  Provinzen,  zu  denen 
wir  wegen  seiner  Besitzveileilung  auch 
Sachsen  rechnen,  haben  nur  drei  zu  der 
vom  Abgeordnetenhause  gegebenen  Anregung 
eine  mehr  oder  weniger  günstige  Stellung 


genommen ,  bezeichnenderweise  diejenigen, 
in  denen  der  Bauernstand  sich  historisch 
ijach  Besitzrecht  und  persönlicher  Rechts- 
stellung am  meisten  dem  aristokratischen 
Typus  der  nordwestdeutschen  Bauern  an- 
nähert und  verhältnismässig  am  stärksten 
(mit  ca.  ^/s  bezw.  ^.a  der  landwirtschaftlich 
benutzten  Fläche)  vertreten  ist,  nämlich 
Brandenburg,  Schlesien  und  Sachsen.  Aber 
nur  in  Brandenburg  hat  jene  Bewegung 
eine  Stärke  gewonnen,  welche  an  die 
hannoverschen,  w^estfälischen  und  hessischen 
Vorgänge  erinnert. 

Längst  hatte  man  in  Brandenburg  die 
Abänderung  des  geltenden  Erbrechts  von 
fielen  Seiten  gefordert.  Als  daher  auf  Ver- 
anlassung des  Abgeordnetenhauses  die  Au- 
frage wegen  Reformbedürftigkeit  des  Erb- 
rechts gestellt  wurde,  bejahte  sie  der  branden- 
burgische Provinziallatidtag  (16.  März  1880) 
mit  grosser  Majorität  unter  Zustimmung 
seiner  bäuerlichen  Mitglieder,  erklärte  sich 
gegen  das  Princip  der  Höferolle  und  erteilte 
März  1881  einem  vom  Landesdirektor  von 
Levetzow  ausgearbeiteten  Entwurf  mit  58 
gegen  6  Stimmen  seine  Zustimmung.  Der- 
selbe enthielt  die  Grundsätze  eines  der  vor- 
herrschenden Vererbungssitte  entsprechen- 
den Intestatanerbeni*echts  und  erweiterte  die 
Testierfreiheit. 

Obwohl  auch  der  Oberpräsident  und  die 
beiden  Regierungspräsidenten  der  Provinz 
dem  LevetzowBchen  Entwurf  gutachtlich  bei- 
traten —  von  Seiten  der  Gerichte  war  frei- 
lich die  Bedürfnisfrage  überwiegend  ver- 
neint worden  —  brachte  die  Staatsregierung, 
ohne  mit  dem  Provinziallandtage  in  wieder- 
holte Verhandlungen  zu  treten,  einen  Land- 
güterrollen-Gesetzeatwurf  für  Brandenburg 
vor  den  Landtag  der  Monarchie.  Das  Herren- 
haus lehnte  diesen  Entwurf  zunächst  ab  und 
erklärte  sich  für  den  Levetzowschen  Ent- 
wurf. Ebenso  in  der  ersten  Lesung  die 
Kommission  des  Abgeordnetenhauses.  Eret 
als  die  Regierung  diese  Beschlüsse  für  un- 
annehmbar erklärte,  gab  die  Volksvertretung 
nach,  und  so  kam  die  brandenburgische 
Landgüterordnung  vom  10.  Juli  1883  zu 
Stande. 

Ihr  Erfolg  entsprach  genau  den  Vorher- 
sagungen des  Berichterstatters  der  Herren- 
hauskommission von  Winterfeld :  Nur  Gross- 
grundbesitzer würden  sich  zur  Eintragung 
entschüessen.  Der  Kleinbesitzer  scheue  die 
Reise  zum  Richter,  solche  Reise  würde  von 
Monat  zu  Monat  verschoben;  er  werde  sich 
von  dem  Gefühl  beherrschen  lassen,  dass  er 
sich  durch  die  Eintragimg  einem  Zwange 
unterwerfe  und  in  seiner  VerfO^ungsfreüieit 
beschränke.  Diese  Annahme  sei  zwar  unbe- 
gründet, es  lasse  sich  aber  schwer  gegen 
solche  Vorurteile  ankämpfen.  Zu  Ende  1889 
waren  in  die  brandenburgischen  Landgüter- 


1226 


Höferecht 


rollen  72  (1899  79)  Güter  eingetragen,  da- 
runter 26  Eittergüter. 

Ganz  denselben  Erfolg  hat  die  auf  Wunsch 
des  Provinziallandtags  unterm  24.  April  1884 
erlassene  Landgüterordnung  für  Schlesien 
gehabt.  Ende  1893  waren  dort  44  (1899  54) 
Landgüter  eingetragen,  darunter  2'  Herr- 
schaften, 31  Rittergüter,  1  Vorwerk  und  10 
Bauernwirtschaften !  So  hat  das  dem  nieder- 
sächsischen Bauernrecht  entstammende  Höfe- 
recht  im  Osten  wesentlich  nur  dazu  gedient, 
einer  Anzahl  grosser  Güter  einen  gewissen 
Ersatz  für  die  aufgehobene  Lehnserbfolge 
zu  verschaffen. 

Man  kann  nicht  bedauern,  dass  die  Re- 
gierung dem  mit  geringer  Majorität  vom 
Provinziallandtag  für  Sachsen  ausgespro- 
chenen Wmisch  nach  einer  Landgüterord- 
nung keine  Folge  gegeben  hat. 

AUe  anderen  Proviuziallandtage  des 
Ostens  haben  die  Frage  nach  dem  Bedürf- 
nis einer  Erbrechtsform  verneint.  Namentlich 
verhielten  sich  die  Bauern  durchaus  ableh- 
nend. Viele  von  ihnen  haben  ei-st  durch 
die  Bauernbefreiimg,  die  hier  wirklich  eine 
solche  war,  ein  festes  Besitzrecht  an  ihren 
Höfen  erworben,  und  so  fehlt  ihnen  jene 
gefestigte  Tradition,  welche  sich  in  Hannover 
und  Westfalen  zu  einem  agi-arischen  Sonder- 
recht auszugestalten  vennochte.  Die  Er- 
innerung an  die  alten  Zustände  der  Guts- 
imterthänigkeit  machte  jedes  Rütteln  an  den 
Enningenschaften  der  liberalen  Periode  als 
gegen  die  bäuerliche  Freiheit  gerichtet,  ver- 
dächtig. Nicht  selten  —  so  auch  in  Sachsen 
—  beeinflusste  unmittelbar  der  Gegensatz 
zum  Grossgrundbesitz  die  Abstimmung,  weil 
es  vorxWegend  Vertreter  des  letzteren  waren, 
die  in  den  Pro\iuziaDandtagen  für  die  Re- 
form eintraten.  Die  Bauern  stimmten  mit 
den  städtischen  Abgeordneten.  Vielfach 
wirkte  das  Miss  Verständnis  ein,  als  sollte 
der  den  Provinziallandtagen  zur  Kenntnis- 
nahme mitgeteilte  Schorlemersche  Gesetz- 
entwm'f  mit  seiner  festen  Successionsordnung, 
seinen  das  Eherecht  berührenden  Bestim- 
mungen etc.  auf  die  östlichen  Provinzen 
übertragen  werden. 

3.  Ergebnis.  Die  moderne  Erbrechts- 
i-eformbewegiuig  ist  von  denjenigen  nord- 
deutschen Gebieten  ausgegangen,  welche 
einen  altfreien  besonders  wohlhabenden, 
kräftigen  und  intelligenten  Bauernstand  be- 
sitzen .  Ihre  Ideeen  haben  rasch  auch  ausser- 
halb ihrer  engeren  Heimat  zahlreiche  An- 
hänger unter  der  Ijandbevölkenmg  und 
unter  denjenigen  Politikern  gefunden,  welche 
in  dem  Gedeihen  der  ländlichen  Mittelklasse 
eine  Grundbedingung  der  öffentlichen  Wolü- 
fahrt  erblicken.  Hingegen  brachte  die 
Bauernschaft  in  den  eigentlichen  Grossgüter- 
distrikten den  Reformgedanken  ebensowenig 


Verständnis  entgegen  wie  in  den  von  vorn 
herein  ausser  Betracht  bleibenden  Distrikten 
mit  vorherrschendem  Parzellenbesitz.  Im 
übrigen  verhinderten  den  vollständigen  Sieg 
jener  Bestrebungen  zunächst  die  von  den 
städtisch-gebildeten  Kreisen  getragenen  Tra- 
ditionen des  wirtschaftlichen  Liberalismus, 
der  die  Parlamente  bis  Ende  der  70  er  Jahre 
beherrschte.  Seitdem  konnte  die  öffentliche 
Meinung  für  gewonnen  gelten,  und  die 
preussische  Volksvertretung  trat  mit  Nach- 
druck für  die  Reform  des  ländlichen  Erb- 
rechts im  Sinne  der  nächstbeteiligten  Volks- 
klassen und  Landesteile  ein.  Nunmehr  war 
es  die  Staatsregienmg ,  die  diesen  Bestre- 
bungen den  Weg  verlegte.  Sie  stand  dabei 
mehr  unter  dem  Einfluss  allgemeiner  juris- 
tischer NiveDierungstendenzen  als  lebendiger 
sozialer  und  politischer  Ideeen.  In  den  Mo- 
tiven zu  den  verschiedenen  Landgüterord- 
nungen sucht  man  vergeblich  nach  einer 
principieUen  Rechtfertigung  der  gemeinrecht- 
lichen Vererbungsgrundsätze.  Im  Gegenteil 
wird  dort  die  soziale  Notwendigkeit  der  davon 
abweichenden  Vererbungssitten  rückhaltlos 
anerkannt.  Aber  man  unterliess  es,  dieser 
Sitte  einen  ausreichenden  gesetzlichen  Halt 
zu  geben,  weil  das  erstrebte  direkte  An- 
erbenrecht aUerdings  nicht  ohne  formale 
Schwierigkeiten  der  gemeinrechtlichen  Schab- 
lone anzupassen,  dem  aus  städtischen  Be- 
dürfnissen erwachsenen  Privatrecht  einzu- 
fügen war.  So  kam  eine  Gesetzgebung  zu 
Stande,  welche  den  Stempel  eines  schwäch- 
lichen Kompromisses  trug  und  dement- 
sprechend dürftige  Wirkungen  gehabt  hat. 
Das  Intestaterbrecht  soll  dem  mutmasslichen 
Willen  des  Erblassers,  der  herrschenden 
Vererbungssitte  entsprechen  —  vorausgesetzt 
dass  der  Gesetzgeber  sie  als  heilsam  aner- 
kennt Nach  der  in  den  hier  betrachteten 
Gegenden  herrschenden  und  thatsäclilich  von 
den  gesetzgebenden  Faktoren  gebilligten 
Sitte,  nach  den  wirtschaftlichen  Bedürfnissen 
ist  als  WiUe  des  Erblassers  zu  präsumieren, 
dass  einer  der  Erben  das  Gut,  und  zwar 
unter  Bedingungen  übernehme,  die  mit  einer 
ordentlichen  Fortwirtschaft  vereinbar  sind. 
Das  Gesetz  aber  stellt  nach  wie  vor  den 
Grundsatz  auf,  dass,  wenn  der  Besitzer  oder 
sein  Vorgänger  keine  Verfügimg  getroffen 
hat,  Realteilung  oder  Veräussenmg,  eventuell 
üebernahme  nach  dem  Verkaufewert  und 
damit  Schuldüberlastimg  als  seinem  Willen 
entsprechend  anzusehen  seL 

Nachdem  die  Höfegesetzgebung  sich  als 
durchaus  ungeeignet  erwiesen  hat,  um  den 
vom  Gesetzgeber  angestrebten  Aufgaben  zu 
genügen  und  in  Westfalen  bereits  dem 
direkten  Anerbenrecht  gewichen  ist,  kann 
es  nicht  ausbleiben,  dass  sie  auch  auder^ 
wärts  durch  eine  den  Wünschen  der  betei- 
ligten Bevölkerungen   und  dem  öffentlichen 


Höferecht — Hoffmann 


1227 


Interesse  entsprechende  Gesetzgebung  ereetzt 
wh-d. 

Quellen  und  Litteratnr:  I>ie  vorstehende  Dar- 
stellung beruht  auf  einer  Durchsicht  derpreussischen 
M in  iMe riaiahten,  deren  wesentlicher  Inhalt  übrigens 
auch  in  den  Motiven  zu  den  verschiedenen  Höfe' 
gesctzen  und  Landgüterordnungen  wiedergegeben 
iiit.  Für  die  Litteratur  vgl.  die  Artikel  über 
Anrrbenrecht  oben  Bd.  I  S,  SS9  und  S4I ;  ins- 
besimdere :  Die  Vererbung  des  ländlichen  Grund- 
besitzes im  Königreich  Prenssen,  ?.  A.  des  kgl. 
Min.  f.  Landw.,  herausgegeben  von  M.  Sering : 
Bd.  IV,  Holzapfel  f  Oberlandesgerichtsbezirk 
Cas.itfl,  S.  70 ff.  —  Bd.  V,  L.  Graf  v.  Spee, 
Oberlandesgerichtsbezirk  Hamm,  S.  167 ff.  — 
Bd.   VI,  Ft\   Grosstnann,    Provinz  Hannover, 


*y.   T^iff. 


M.  Serltig, 


Höferollen 

s.  Anerbenrecht  oben  Bd.  I  S.  328ff. 


Hoffmann,  Johann  Gottfried, 

geb.  ftm  13.  VH.  1765  in  Breslau,  gest.  am 
12.  XI.  1&47  in  Berlin  als  Mitglied  der  Berliner 
Akademie  der  Wissenschaften  und  der  Acad^mie 
des  Sciences  morales  et  politiques,  studierte  in 
Halle  und  Leipzig,  wurde  1807  ordentlicher 
Professor  der  Philosophie  und  Kam eral Wissen- 
schaften an  der  Universität  Königsberg,  1808 
Staatsrat  und  1810  Direktor  des  reorganisierten 
königlich  preussischen  statistischen  Bureaus  in 
Berlin.  1821  nahm  er  seine  1811  begonnenen 
und  1816  eingestellten  Vorlesungen  über  Ka- 
meralia  und  Statistik  an  der  Berliner  Universi- 
tät wieder  auf,  entsagte  im  November  1834  der 
ferneren  Ausübung  seiner  akademischen  Lehr- 
thätigkeit  und  le^e  1844  auch  das  Direktoriat 
des  königl.  statistischen  Bureaus  nieder. 

Hoifraann  war  Freihändler  und  wirkte,  als 
Mitglied  der  unter  Hardenbergs  Vorsitz  1811 
gebildeten  Immediatfinanzkommission  und  Kor- 
referent fUr  das  neue  preussische  Finanzgesetz, 
mit  seinen  wirtschaftspolitischen  Gesinnungs- 
genossen in  der  Kommission,  Kunth  und  Maassen, 
unter  Einsetzung  seines  ganzen  Einflusses  auf 
den  Staatskanzler,  für  das  Zustandekommen  des 
neuen  preussischen  freihändlerischen  Zoll-  und 
Steuergesetzes  v.  26.  Mai  1818.  Hoiftnann  war 
fem  er,  ihrer  münz  technischen  Vorzüge  wegen, 
einer  der  ersten  Verfechter  der  Goldwährunio:  in 
Deutschland,  agitierte,  wegen  ungleichmässiger 
Verteilung  der  Steuerlast,  für  Aufhebung  der 
Grundsteuer,  identifizierte  die  Bodenrente  mit 
der  Kapitalrente  und  definierte  die  Grundrente 
als  einen  praenumerando  gezahlten  Lohn  freier 
Dienste,  was  Röscher  als  einen  „für  die  poli- 
tische Praxis  durchaus  zweischneidigen  Lehr- 
satz **  erklärt.  Als  erster  Direktor  des  reorgani- 
sierten königl.  preussischen  statistischen  Bureaus 
ffilt  Hoffmann  als  der  eigentliche  Begründer 
der  amtlichen  preussischen  Statistik. 

Hoffmann  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  a)  in  Buchform: 

Das  Interesse  des  Menschen  und  Bürgers 


bei  den  bestehenden  Zunftverfassungen,  Königs- 
berg 1803.  —  Prenssen  und  Sachsen,  November 
1814,  Berlin  (1815).  —  Uebersicht  der  Boden- 
fiäche  und  Bevölkerung  des  preussischen  Staates, 
Berlin  1818;  dasselbe,  2.  Abdruck,  1819.  —  Bei- 
träge zur  Statistik  des  preussischen  Staates, 
ebd.  1821.  —  Nachricht  von  dem  Zweck  und 
der  Anordnung  der  Vorträge  des  Dr.  J.  G.  Hoff- 
mann, ebd.  1^3.  —  Die  Wirkungen  der  asia- 
tischen Cholera  im  preussischen  Staate  während 
des  Jahres  1831,  ebd.  1833.  —  Neueste  Ueber- 
sicht der  Bodenfläche,  der  Bevölkerung  und  des 
Viehstandes  der  einzelnen  Kreise  des  preussi- 
schen Staates,  ebd.  1833.  —  Ueber  die  Besorg- 
nisse, welche  die  Zunahme  der  Bevölkerung  er- 
regt, ebd.  183Ö.  —  Ueber  die  wahre  Natur  und 
Bestimmung  der  Renten  aus  Boden-  und  Kapital- 
eigentum, ebd.  1837.  —  Die  Lehre  vom  Gel  de, 
als  Anleitung  zu  gründlichen  Urteilen  über  das 
Geldwesen ;  mit  besonderer  Bezugnahme  auf  den 
preussischen  Staat,  ebd.  1838.  —  Die  Bevölke- 
rung des  preussischen  Staates  nach  den  Ergeb- 
nissen der  zu  Ende  des  Jahres  1837  amtlich 
aufgenommenen  Nachrichten,  in  Staats  wissen- 
schaftlicher,  gewerblicher  und  sittlicher  Be- 
ziehung, ebd.  1839.  —  Die  Lehre  von  den 
Steuern,  als  Anleitung  zu  gründlichen  Urteilen 
über  das  Steuerwesen,  mit  besonderer  Bezug- 
nahme auf  den  preussischen  Staat,  ebd.  1840. 

—  Die  Zeichen  der  Zeit  im  deutschen  Münz- 
wesen, als  Zugabe  zu  der  Lehre  vom  Gelde, 
ebd.  1841.  —  Die  Befugnisse  zum  Gewerbe- 
betriebe, zur  Berichtigung  der  Urteile  über  Ge- 
werbefreiheit und  Gewerbezwang,  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  den  preussischen  Staat,  ebd.  1841. 

—  Das  Verhältnis  der  Staatsgewalt  zu  den  Vor- 
stellungen ihrer  Untergebenen,  ebd.  1842.  — 
Zur  Judenfrage.  Statistische  Erörterung  über 
Anzahl  und  Verteilimg  der  Juden  im  preussi- 
schen Staate,  nach  einer  Vergleichung  der 
Zählungen  zu  Ende  der  Jahre  1840  und  1822, 
ebd.  1^2;  dasselbe  in  englischer  üebersetzung 
in  „Journal  of  the  Statistical  Society",  Bd.  IX, 
London  1846,  S.  77  ff.  —  Darstellung  der  Be- 
völkerungs-,  Geburts-,  Ehe-  und  Sterblichkeits- 
verhältnisse,  welche  in  dem  preussischen  Staate 
in  den  15  Jahren  1820  bis  mit  1834  bestanden 
etc.,  Berlin  1843.  —  Uebersicht  der  Geburten^ 
neuen  Ehen  und  Todesfälle  in  den  Jahren  1816 
bis  mit  1841.  Nach  den  für  die  Stadt  Berlin 
amtlich  aufgenommenen  Tabellen  etc.,  ebd.  1843. 

—  Sammlung  kleiner  Schriften  staatswissen- 
schaftlichen Inhalts,  ebd.  1843.  (Inhaltsauszug : 
Ueber  die  Versuche,  die  mittlere  Dauer  des 
menschlichen  Lebens  sowohl  von  der  Geburt  als 
vom  Eintritt  in  besondere  Altersstufen  ab  zu 
berechnen.)  —  Betrachtungen  über  die  gegen- 
wärtige Lage  des  höheren  Schulunterrichts  und 
die  iBttel,  denselben  für  die  Wissenschaft  und 
das  Leben  fruchtbarer  zu  machen.  —  Betrach- 
tungen über  das  Verhältnis  der  Univeraitäten 
zu  den  Anforderungen  an  die  Wissenschaft  und 
das  Leben  etc.  —  Betrachtungen  über  den  Zu- 
stand der  Juden  im  preussischen  Staate.  •  ^Hoff- 
maun  erklärt  das  grössere  Verhältnis  jüdischer 
Knabengeburten  dadurch,  dass  bei  den  Juden 
weniger  Kinder  durch  ausserehelichen  Beischlaf 
erzeugt  werden  als  bei  den  Christen.)  — 
Nachlass  kleiner  Schriften  Staats  wissenschaft- 
lichen Inhalts,  ebd.  1847.  (Inhaltsauszug:  Be- 
trachtungen über  das  Andnngen  auf  erhöhten 


1228 


Hoffraann — Holzschuher 


Schutz  der  Gewerbsamkeit  im  deutschen  Zoll- 
verein gegen  fremde  Mitbewerbung.  —  Versuch 
einer  allgemeinen  Uebersicht  der  staatswirt- 
schaftlichen und  sittlichen  Wirkungen  der  Spinn- 
maschinen im  Bereiche  des  deutschen  Zollvereins. 

—  Ueber  die  mittlere  Dauer  des  menschlichen 
Lebens  im  preussischen  Staate  etc.  —  Ceber 
den  Begriff  von  direkten  und  indirekten  Steuern. 

—  Ueber  staatswirtschaftliche  Versuche,  den 
ganzen  Bedarf  für  den  Öffentlichen  Aufwand 
durch  eine  einzige  einfache  Steuer  aufzubringen. 

—  Bemerkungen  über  den  Einfluss  der  Salz- 
steuer auf  den  Zustand   der  Arbeiterfamilien. 

—  Erläuterung  der  Frage:  Was  ist  Geld?  — 
Beitrag  zur  Begründung  von  Urteilen  über  die 
neuesten  Veränderungen  im  preussischen  Münz- 
wesen) 

b)  in  Zeitschriften:  1.  Im  preussischen 
Archiv,  Jahrgg.  1789—91  (anonym);  2.  in  den 
Annalen  des  Königreichs  Preussen,  Jahrgg. 
1792 — 93,  Königsberg;  3.  in  der  preussischen 
Staatszeitung,  Jahrgg.  1819 — 1843,  inges- 
samt  lö5  von  ihm  gezeichnete  Artikel;  4.  in 
der  medizinischen  Zeitschrift,  herausgeg.  vom 
Verein  für  Heilkunde  in  Preussen,  Jahrgg. 
1835 — 43,  meist  bevölkerungs wissenschaftlichen 
Inhalts;  5.  in  den  Abhandlungen  der  philo- 
sophisch-historischen Klasse  der  Berliner  Aka- 
demie der  \^'i8senschaften,  Jahrgg.  1835  -  43  etc. 


Vgl.  über  Hoffmann:  Anmerkungen  zu 
der  Schrift:  Preussen  und  Sachsen.  Von  einem 
Sachsen,  o.  0.  1815.  —  Akten  des  Wiener  Kon- 
gresses, herausgeg.  von  Kl  üb  er,  Bd.  V,  Er- 
langen 1833,  S.  8— 12()  (enthält  Mitteilungen 
über  die  diplomatische  Thätigkeit  Hoffmanns 
während  des  Kongresses,  welchem  er  als  Geh. 
Legationsrat  beiwohnte).  —  Gerber,  Ueber 
Statistik  und  statistische  Behörden,  Marburg 
1842,  S.  7.  —  K.  G.  Nowack,  Schlesisches 
Schriftstellerlexikon,  Heft  6,  Breslau  1843.  — 
Fallati,  Einleitung  in  die  Wissenschaft  der 
Statistik,  Tübingen  1843,  S.  166,  169.  —  G. 
Haussen,  Das  statistische  Bureau  der  preussi- 
schen Monarchie  unter  Hoffmann  und  Dieterici, 
in  „Archiv  der  politischen  Oekonoraie"  etc., 
Heidelberg  1846,  S.  332 ff.  —  Kaut z,  Theorie 
und  Geschichte  der  Xationalökouomik,  Bd.  II, 
Wien  1860,  S.  644 45.  —  Engel,  Zur  Geschichte 
des  königl.  preussischen  statistischen  Bureaus, 
in  ,.Zeitschrift  des  königl.  preuss.  statistischen 
Bureaus",  Jahrg.  I,  Berlin  1860/61,  S.  8  ff.  — 
H.  Wagener,  Staats-  und  Gesellschaftslexikon, 
Bd.  IX,  Berlin  1862,  S.  499 ff.  —  Boeckh, 
Die  geschichtliche  Eutwickelnng  der  amtlichen 
Statistik  des  preussischen  Staates,  ebd.  1863, 
S.  28 ff.  —  Röscher,  Ge^sch.  d.  Nat.,  München 
1874,  S.  732,43.  —  Allgemeine  deutsche  Bio- 
graphie, Bd.  Xir,  Leipzig  1880,  S.  598  ff.  — 
John,  Geschichte  der  Statistik,  Bd.  I,  Stutt- 
gart 1884,  S.  142,  148,  151.  —  Walcker,  Ge- 
schichte der  Nationalökonomie,  Leipzig  1884, 
S.  125,26.  —  Bleuck,  Das  königl.  statistische 
Bureau  in  Berlin  beim  Eintritte  in  sein  neuntes 
Jahrzehnt,  Berlin  1885,  S.  5ff.  —  A.  Meitzen, 
Geschichte,  Theorie  und  Technik  der  Statistik, 
ebd.  1886,  S.  29,  37.  —  Nouveau  dictionnaire 
d'economie  politicjue,  Bd.  I,  Paris  1891,  S.  113031. 

Lippert. 


Holzschuher,  Berthold, 

geb.  gegen  1510  in  Nürnberg,  entstammte  einem 
alten  dortigen  Patriciergeschlecht,  dessen  An- 
sehen er  die  Nürnberger  Bürgermeisterwürde 
verdankte,  welche  er  1551  bekleidete,  aber  schon 
1552,  infolge  Misshelligkeiten  mit  den  „Rats- 
mannen'^  Nürnbergs,  wieder  verlor.  Er  starb  am 
15.  I.  1582  in  seiner  Vaterstadt. 

Holzschuher  war  berufen,  den  Namen  der 
berühmten  Männer,  auf  welche  das  alte  Nürn- 
berg so  stolz  ist,  den  seinigen  hinzuzufügen, 
wenn  nicht  der  Mangel  an  Fassungsvermögen 
bei  seinen  Zeitgenossen  für  den  wirtschaftlichen 
Wert  der  grossen  Idee,  welche  er  ihnen  zur 
Verwirklichung  vorlegte,  die  Ausführung  seines 
sozialen  Keformprojektes  vereitelt  hätte.  Holz- 
schuhers  Finanzplan  baute  sich  aus  einer  obli- 
gatorischen Aussteuerversicherung  auf.  indem 
er  angeordnet  haben  wollte,  dass  Eltern  oder 
Paten  bei  jeder  Geburt  eines  Kindes  eine 
Leistung  von  mindestens  einem  Thaler  an  die 
Ortsobrigkeit  entrichten  sollten.  Die  am  Leben 
bleibenden  Kinder  sollten  das  aus  diesen  Ein- 
zahlungen mit  Zins  und  Zinseszins  angesammelte 
Kapital  bei  ihrer  Majorennität  bezw.  Verhei- 
ratung ausgezahlt  erhalten,  die  Leistungen  für 
die  Gestorbenen  dagegen  nebst  den  angesam- 
melten Zinsen  der  Ortsobrigkeit  anheim  fallen. 
Wie  bedeutend  das  aus  dieser  Sterblichkeit  zu 
wohlthfttigen  Zwecken,  zur  Verbesserung  der 
Schulen  etc.  den  Gemeinden  zugedachte  Kanital 
war,  berechnet  sich  nach  dem  nohen  Sterblich- 
keitsüberschuss  in  den  jüngsten  Altersklassen, 
den  Holzschuher  bis  zum  25.  Lebensjahre  auf 
57%  aller  Geburten  —  und  zwar  annähernd 
richtig  —  veranschlagte.  Holzschuher  legte 
seinen  sozialen  Reform  plan,  mit  einem  Schema 
der  über  jede  Neugeburt  und  jeden  Todesfall 
zu  führenden  Kon  trolllisten,  156o  zunächst  den 
kaiserlichen  Reichs-  und  Hansestädten  zur  An- 
nahme vor  —  im  Hamburger  und  Lübecker  Stadt- 
archiv werden  die  bezüglichen  Urkunden  noch  auf- 
bewahrt —  nachher  verschiedenen  anderen  Vor- 
ständen grössererStadtgemeinden.und  die  Autwort 
auf  seine  Vorlagen  bestand  in  deren  vollständiger 
Ignorierung.  Demzufolge  ist  nicht  nur  der  dem 
(iemeinwohi  zugedachte  beträchtliche  materielle 
Nutzen,  sondern  auch  der  vom  Vater  des  Reform- 
plans beanspruchte  zehnte  Teil  der  Revenuen 
des  ausgeführten  Planes  dem  deutschen  Sozial- 
politiker des  16.  Jahrh.  entgangen. 

Vgl.  über  Holzschuher:  Gatterer, 
Historia  gentis  Holzschuherianae.  Nürnberg  1755. 
—  Anzeiger  für  Kunde  deutscher  Vorzeit,  Jahr- 

fangl883,  Nütuberg,  S.  72 ff.  —  Ehrenberg, 
in  tinanz-  und  sozialpolitisches  Projekt  aus 
dem  16.  Jahrb.,  in  Zeitschr.  für  die  ges.  Staatsw., 
Bd.  46,  Tübingen  1890,  S.  717  ff.  —  Kuno 
Frankenstein,  Berthold  Holzschuher,  ein 
Sozialpolitiker  des  16.  Jahrhunderts,  in  ,,Mün- 
chener  Allgemeine  Zeitung'',  Jahrg.  1891,  Bei- 
lage Nr.  165. 

Lippert 


Holzzolle 


s.  Forsten  sub  III  (Forstpolitik)  ol>en 
Bd.  III  S.  lloOft 


Hörn 


1229 


Hörigkeit 

s.  Unfreiheit. 


Horn,  Eduard, 

geb.  am  25.  IX.  1825  zu  Waag-Neustadt  (Vag- 
Ujhelv)  in  Ungarn,  wurde  1849,  infolge  seiner 
Beteifigung  an  dem  ungarischen  Insurrektions- 
kampfe, flüchtig,  lebte  seit  1850  meist  in  Leipzig, 
Brüssel  und  Paris,  wurde  nach  seiner  Amnestie- 
rung bezw.  Rückkehr  nach  Ungarn  (1869)  Mit- 
flied  des  ungarischen  Reichstages  und  im 
anuar  1875  Staatssekretär  im  ungarischen 
Handelsministerium.  Er  starb  am  2.  XI.  1875 
in  Budapest. 

Hom  war  langjähriger  Bearbeiter  des 
Bulletin  financier  de  retranger  im  Journal  des 
Economistes  und  Redakteur  der  finanzwirtschaft- 
lichen Abteilung  des  Journal  des  Debats.  Durch 
glückliche  Kombination  des  Hermannschen  Ver- 
fahrens (s.  d.)  mit  dem  von  ihm  auf  die  einzelnen 
Altersstufen  berechneten  proportionalen  Ver- 
hältnis zwischen  Geburten  und  Sterbefällen  in 
Belgien  hat  er  eine  Mortalitätstafel  hergestellt, 
die  m  ihren  Ergebnissen  mit  der  Queteletschen 
üeberlebenstafel  ziemlich  übereinstimmt  (vgl. 
darüber  Journal  des  Economistes,  II  serie,  t  4, 
1854);  im  übrigen  rubriziert  ihn  3Iohl  unt^r 
diejenige  Schule  der  Statistiker,  welche  eine 
doktrinäre  Erklärung  der  von  ihnen  gewonnenen 
Zahlen  zu  geben  ablehnen. 

Hörn  veröffentlichte  von  staatsü^össenschaft- 
lichen  Schriften  a)  in  Buchform: 

Zur  Judenfrage  in  Ungarn,  Ofen  1847.  — 
Zur  ungarisch-Österreichischen  Centralisations- 
frage,  Leipzig  1850.  —  Spinozas  Staatslehre, 
Dessau  1851.  —  Statistisches  Gemälde  des  König- 
reichs Belgien.  Mit  Einleitung  von  X.  Heusch- 
ling. Dessau  1858.  —  Bevölkerungswissenschaft- 
liche Studien  aus  Belgien.  Mit  durchgehender 
vergleichender  Erforschung  der  mitsprechenden 
Verhältnisse  in  Oesterreich,  Sachsen,  Preussen, 
Frankreich,  England,  Holland  etc.,  Band  I 
(einziger),  Leipzig  1854.  (Es  ist  dies  sein  sta- 
tistiscnes  Hauptwerk,  worin  ihm  aber  besonder» 
von  Wappäus  verschiedene  Widersprüche  gegen 
populationistische  Erfahrungssätze  nachgewiesen 
sind,  z.  B.  seine  Bestreitung  des  gesetzmässigen 
Uebergewichts  der  weiblichen  Bevölkenmg  in 
den  höheren  Altersklassen,  ferner  die  dem 
höheren  männlichen  Alter,  bei  sonst  unge- 
schwächten Individuen,  imputierte  grössere 
Zeugungspotenz  und  in  seinen  Ausführungen 
über  den  Einfluss  der  Altersdiiferenz  der  Eltern 
auf  das  Geschlechtsverhältnis  der  Geburten 
etc.)  —  Brüssel  nach  seiner  Vergangenheit 
und  Gegenwart,  Leipzig  1855.  —  Das  Kredit- 
wesen in  Frankreich.  Nationalökonomische 
Skizze,  ebd.  1856;  dasselbe,  2.  Aufl.,  ia57.  — 
John  Law,  Ein  finanzgeschichtlicher  Versuch, 
ebd.  1858.  —  La  Hongrie  et  l'Autriche  de  1848 
a  1859,  Paris  1859.  —  Annuaire  international 
du  credit  public,  Jahrgg.  1859—61  (soweit  als 
erschienen),  ebd.  —  Liberte  et  nationalit^,  ebd. 
1860.  —  La  Hongrie  en  face  de  l'Autriche,  ebd. 
1860.  —  Les  finances  de  TAutriche,  ebd.  1860. 

—  La  Hongrie  et  la  crise  europ^enne,  ebd.  1860. 

—  La  crise  cotonni^re  et  les  textiles  indig^nes, 
ebd.  1863.  —  Du  progres  economique  en  Egypte 


diacours  de  r^ception  prononc^  k  l'Institut 
egyptien,  Alexandrieu  18o4.  —  La  liberte  des 
banques,  Paris  1866;  dasselbe  deutsch,  Stutt- 
gart 1867.  —  L'öconomie  politique  avant  les 
physiocrates,  Paris  1867.  (Von  der  Pariser  Aka- 
demie gekrönte  Preisschrift.)  —  Caisses  syndi- 
cales.  Le  credit  rendu  plus  accesaible  et  moins 
eher  pour  tous  par  Tassociation  syndicale,  Tassu- 
rance  et  la  contre-assurance,  Paris  1867.  —  Le 
bilan  de  l'Empire,  Paris  1868.  —  Frankreichs 
Finanzlage,  Wien  1868.  —  Salut  au  troisi^me 
milliard,  Paris  1868;  dasselbe  deutsch,  Wien 
1868.  —  Les  finances  de  Thotel  de  ville,  Paris 
1869;  dasselbe  deutsch,  Budapest  1869.  — 
Ungarns  Finanzlage  und  die  Mittel  zu  ihrer 
Hebung,  ebd.  1874.  —  La  grande  nation  1870— 
71,  avec  preface  de  Jules  Simon,  Paris  1891. 
(Diese  posthume  Schrift  wurde  von  seinem  Sohne 
Emil  Hom  veröffentlicht.) 

An  Ueber8etzunp:en  erschienen  von  ihm: 
Chevalier,  Zwölf  nationalökonomische  Vorträge, 
Leipzig  1856  und  Chevalier,  Die  Weltindustrie 
in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts, 
Stuttgart  1869. 

b)  in  Journal  des  Economistes 
(Paris):  IL  Serie:  Lettre  relative  aux  tables 
de  mortalite.  Tables  de  survie,  Bd.  IV,  1854, 
S.  428.  —  La  fi^vre  banqui^re  en  Allemagne, 
Bd.  XII,  1856,  S.  57.  —  La  r6organisation  du 
Zollverein,  Bd.  XII,  1856,  S.  217.  -  La  reforme 
mon6taire  en  Allemagne,  Bd.  XV,  1857,  S.  384. 

—  Le  commerce  exterieur  et  la  crise  a  Harn- 
bourg,  Bd.  XVII,  iaö8,  S.  245.  —  La  question 
des  banknotes  en  Allemagne,  Bd.  XVII,  S.  411 
und  Bd.  XVIII,  S.  265,  1^  —  Des  institutions 
de  credit  en  France,  Bd.  XVIII,  1858,  S.  125. 

—  L'§migration  allemande  de  van  t  la  di^te  de 
Francfort,  Bd.  XX,  1858,  S.  68.  —  Congrfes  des 
Economistes,  tenu  k  Gotha,  en  septembre  1858, 
Bd.  XX,  1858,  S.  426.  —  Le  double  etalon 
mouptaire,  Bd.  XXIX,  1861,  S.  433.  —  Ou  en 
est  la  crise  mon^taire,  Bd.  XXXI,  1861,  S.  5. 

—  Les  nouveanx  embarras  Economiques,  Bd. 
XXXII,  1861,  S.  161.  —  Le  senatus-consulte  du 
2  decembre  18(U,  Bd.  XXXII,  1861,  S.  321.  — 
L'abolition  des  octrois  communaux  en  Belgique, 
Bd.  XXXV,  1862,  S.  229  -  La  crise  budgetaire 
en  Prusse,  Bd.  XXXVI,  1862,  S.  218.  —  L'asso- 
ciation  coopErative  et  le  credit  populaire,  Bd. 
XL,  1863,  S.  177.  —  La  monnaie,  point  de 
depart  de  la  liberte  des  banques,  III.  Serie. 
Bd.  II,  1866,  S.  185.  —  Visite  au  famüist^re 
de  Guise,  Bd.  IV,  1866,  S.  115.  —  Le  faux 
monnayage  fiduciaire.  Refutation  des  argu- 
ments  de  Gemuschi,  Wolowski  et  Modeste,  Bd, 
V,  1867,  S.  75.  —  La  crise  financi^re  de  Hongrie, 
Conference  faite  au  cercle  des  jeunes  commer- 
9ants  k  Bude-Pesth,  Bd.  40,  1875,  S.  286.  — 
Situation  economique  et  financi^re  de  la  Hongrie, 
Bd.  41,  1876,  S.  447. 

Vgl.  über  Hörn:  Wappäus,  Besprechung 
der  Schrift:  Bevölkerungswissenschaftliche  Stu- 
dien aus  Belgien,  in  ,. Göttinger  gelehrte  An- 
zeigen'^  Jahrg.  1854,  S.  2056.  —  Bremer  Han- 
delsblatt, Jahrg.  1854,  S.  229.  ~  R.  v.  Mohl, 
Geschichte  und  Litteratur  der  Staatswissen- 
schaften, Bd.  III,  1858,  S.  453  f.  —  X.  Heu  sch- 
ling, Recherches  sur  la  population,  d'apres 
;<M.  Hom,   in  Journal   des   Economistes,   annee 


1230 


Hörn — Huber 


1856,  S.  84.  —  Wappäus,  Allgemeine  Be- 
völkerungsstatistik, Teil  II,  Leipzig  1861,  S. 
116/17,  129.  201,  204u.  ö.  -  Hippol.  Passy, 
Besprechung  der  Homschen  Schrift :  L*6conomie 
politique  avant  les  physiocrates ,  in  ,. Journal 
des  Eeonomistes",  annee  1868,  S.  342.  —  A.  v. 
Oetttingen,  Moralstatistik,  3.  Aufl.,  Erlangen 
1882,  S.  51,  67,  77,  98  u.  ö. 

Llppert, 


Hornick,  Friedrich  Wilhelm  von, 

(auch  Hörnigk  und  Horneck) 

geb.  1638  in  Mainz,  studierte  Jura  in  Ingol- 
stadt, \vurde  1690  Geheimschreiber  und  1695 
Geheimrat  des  Fürstbischofs  von  Passau,  Kardi- 
nal Lamberg,  und   starb  gegen  1713  in  Wien. 

Horuick  veröffentlichte  folgendes  staats- 
wissenschaftliche Werk  in  Buchform: 

Oesterreich  über  alles,  wann  es  nur  will: 
Das  ist  wohlmeynender  Ftirschlag,  wie  mittelst 
einer  wohlbestellten  Landesökonomie,  die  kaiser- 
lichen Erblande  in  kurtzem  über  alle  andere 
Staaten  von  Europa  zu  erheben  und  mehr  als 
einiger  derselben  von  denen  anderen  independent 
zu  machen.  Von  einem  Liebhaber  der  kaiser- 
lichen Erblande  Wohlfahrt,  Passau  1684;  das- 
selbe, 2.  Aufl.,  Nürnberg  1684;  3.  Aufl.,  Passau 
1685;  4.  Aufl.,  Leipzig  1704;  5.  Aufl.,  Kegens- 
burg  1708;  6.  Aufl.,  o.  0.  1719;  7.  Aufl.,  Regens- 
burg 1723 ;  8.  Aufl.,  ebd.  1727 ;  9.  Aufl.,  Frank- 
furt a.  M.  1729;  10.  Aufl ,  ebd.  1750;  11.  Auflr, 
ebd.  1753;  12.  Aufl.,  Regensburg  1764;  13.  Aufl., 
u.  d.  T.:  Bemerkungen  über  österreichische 
Staatsökonomie,  Berlin  1784.  —  Ausserdem 
hinterliess  Hornick  mehrere  handschriftliche 
Monofifraphieen  zur  Geschichte  der  Grundbesitz- 
verhältnisse des  Fürstbistums  Passau. 

Das  in  der  Schrift  „Oesterreich  über  alles** 
aufgestellte,  den  Schutz  und  die  Ertragsmehrung 
der  nationalen  Arbeit  anstrebende  Programm 
steht  durchaus  auf  merkantilistischem  Boden, 
und  der  grössere  Teil  der  Massregeln,  die  Hornick 
als  für  eine  „wohlbestellte  Landesökonomie  Oester- 
reichs**  obligatorisch  erachtet,  beschäftigt  sich 
mit  Produktions-  und  Umlaufsvermehrung 
von  Gold  und  Silber,  welche  Edelmetalle  er  die 
beste  Substanz  im  Blutumlanf  des  staatlichen 
Körpers  nennt,  mit  Errichtung  innerer  und 
äusserer  Zollschranken,  mit  Massregeln  zur  Er- 
zielung einer  grossen  Bevölkerung.  Homicks 
„Fürschlag"  repräsentiert  die  merkaritilistisch- 
protektionistische  Tendenz,  welche  sich  in  der 
österreichischen  Wirtschaftspolitik  bis  zur  Mitte 
der  Josefinischen  Periode  (Aufhebung  der 
Zwischenmauten  von  1785)  ausspricht. 

Virl.  über  Hornick:  H.  J.  Bidermann, 
Die  technische  Bildung  im  Kaisertum  Oester- 
reich, Wien  1854,  S.  23.  —  Kautz,  Theorie 
und  Geschichte  der  Nationalökonomik,  Teil  II, 
ebd.  1860,  S.  290.  —  Röscher,  Gesch.  d.  Nat., 
München  1874,  S.  289  ft'.  —  Allgemeine  deutsche 
Biographie,  Bd.  XIII,  Leipzig  1881,  S.  157. 
—  luama-Sternegg,  Ueber  Philipp  Wil- 
helm von  Hornick,  in  Jahrb.  für  Nat.  u. 
.Stat.,  ^^  F.  Bd.  II,  Jena  1889,  S.  194fr. 

Llppert 


Horton,  Samuel  Dana, 

geb.  am  16. 1. 1844  in  Pomero}',  Ohio,  gest.  am 
23.  II.  1895  in  Wa.shington,  besuchte  ausser 
dem  Harvard  College  (Universität  Cambridge, 
Massachusetts)  die  Universität  Berlin,  wurde 
Bechtsanwalt  in  Cincinnati  und  später  in 
Pomeroy.  Infolge  seiner  bimetallistischen 
Schrift  über  Silber  und  Gold  wurde  er 
zum  Delegierten  der  Vereinigten  Staaten 
auf  den  Pariser  Münzkonferenzen  von  1878 
und  1881  ernannt,  später  auch  zu  der  eng- 
lischen Enquete  über  die  Währungsfrage  in 
den  Jahren  1886—88  zugezogen.  Auf"  dem 
Münzkongress  bei  Gelegenheit  der  Pariser  Aus- 
stellung von  1889  war  er  Vizepräsident.  Bei 
allen  Gelegenheiten  ist  er  als  eifriger  und  ge- 
schickter Veiteidiger  des  internationalen  Bime- 
tallismus aufgetreten. 

Seine  Hanptschriften  sind :  Silver  and  Gold 
and  their  relation  to  the  problem  of  Resump- 
tion,  to  wich  is  added  „Sir  Isaac  Newton  and 
England's  prohibitive  tariif  upon  silver  money," 
Cincinnati  1876  (u.  revidierte  Ausg.)  1877,  das- 
selbe, mit  Hortons  Nekrolog,  ebd.,  Mareh  1895. 
—  Historical  material  for  the  study  of  mone- 
tary  policy  and  contributions  to  tue  study  of 
monetary  policy  (Beilage  zu  den  Berichten  über 
die  International  Monetär v  Conference  held  in 
Paris  1878,  Wash.  1879).—  The  Silver  pound 
and  Englands  Monetary  Policy  since  the  Kesto- 
ration,  with  the  history  of  the  guinea.  etc, 
London  1887.  —  Silver  in  Europe,  1890.  2.  ed. 
1892.  —  Ausserdem  kleinere  Abhandlungen,  wie 
The  Position  of  Law  in  the  Doctrine  of  Money, 
1879  (französisch  von  E.  de  Laveleve,  deutsch 
u.  d.  T. :  Das  Geld  und  das  Gesetz,  Köln  1881) ; 
The  British  Standard  of  value,  1885.  — 

An  Zeitschriftartikeln  wären  zu  nennen: 
Silver  before  Con^ress  in  1886  in  Quarterly 
Journal  of  Economics,  Octob.  1886.  —  The  sus- 
pended  rupee  and  the  policy  of  contraction,  in 
Economic  Journal,  Sept.  1893. 

Vergl.  über  Horton:  S.  D.  Horton  in 
H.W.B.  I.  Aufl.  Bd.  IV,  S.  1272.  —  H.  P.  Bov- 
den,  S.  Dana  Horton,  bis  life  and  work.  in  Sil- 
ver and  Gold,  Cincinnati  1895.  —  F.  A.  Wal- 
ker, S.  D.  Horton  (Nekrolog)  in  Economic  Jour- 
nal June  1895.  —  Dunbar,  S.  D.  Horton 
(Nekrolog)  in  Palgrave,  Diction.  of  political 
economy,  vol.  H,  S.  332,  London  1896. 

LipperL 


Huber,  Yiktor  Aim<«, 

geb.  am  10.  III.  1800  in  Stuttgart,  bekleidete 
als  Ordinarius  die  Professuren  der  neueren 
Litteratur  und  Geschichte  seit  1833  in  Rostock, 
und  seit  Herbst  1836  in  Marburg,  1843  gfiug  er, 
infolge  einer  von  Friedrich  Wilhelm  IV.  dem 
Berliner  Senat  abgedrungenen  Berufung,  als 
Professor  der  a'bendländischen  Sprachen  nach 
Berlin.  1845  gründete  und  redigierte  er.  als 
publizistischer  Stimmführer  der  evangfelisch- 
konservativen  Partei,  im  Auftrage  des  Kuni^, 
der  auch  für  die  Kosten  aufkam,  die  Zeitschrift 
,.Janus,  Jahrbücher  deutscher  Gesinnung.  Bil- 
dung und  That"  (s.  u.).     Nach  Ceberwerfung 


Hiiber 


1231 


mit  der  konservativen  Partei  legte  Huber  1851 
seine  Professur  nieder,  quittierte  1852  auch  den 
preussischen  Staatsdienst  und  siedelte  nach 
Wernigerode  über,  wo  er  am  19.  VII.  1869  starb. 

Huber  war  der  erste  zielbewusste  deutsche 
Theoretiker  des  Associationswesens,  das  er  1823 
in  England  und  Schottland  und  1844  in  Frank- 
reich und  Belgien  gründlich  studiert  hatte.  Als 
Pionier  der  religiös-humanen  Bestrebungen  zur 
friedlichen  Lösung  der  sozialen  Frage  in  Deutsch- 
land, begann  er  schon  1846,  also  noch  vor 
Schulze-Delitzsch,  publizistisch  dafür  zu  wirken. 
Dass  er  seine  Kooperativgenossenschaftspläne 
zur  Verbesserung  des  Loses  der  arbeitenden 
Klassen  mit  der  inneren  Mission  in  Verbindung 
brachte,  war  kein  Fehler;  dieser  bestand  viel- 
mehr in  der  viel  zu  grossartigen,  auf  Millionen 
taxi(jrten  Anlage  der  Pläne.  Hatte  Huber  nun 
auch  Fühlung  mit  dem  Volke  und  der  evan- 
gelischen Geistlichkeit  aptirationalistischer  Eich- 
tung,  so  durfte  er  doch  aus  diesen  Kreisen 
keine  thatkräftige  Unterstützung  seiner  ge- 
planten Errichtung  von  Arbeiterkolonieen  er- 
warten, welche  nach  Art  des  Familist^re  von 
Guise  mit  allem  Komfort  ausgestattet  werden 
sollten,  um  die  zukünftigen  Bewohner  keine 
Sehnsucht  nach  der  Rückkehr  in  ihre  kleinen 
dumpfigen  Arbeiterwohnungon  in  der  Grossstadt 
empfinden  zu  lassen.  Die  Fonds  zu  der  ge- 
planten Erwerbung  von  Ländereien  und  zur 
Anlegung  von  Fabrikarbeiterkolonieen  darauf 
hoffte  Huber  von  den  Konservativen,  von  der 
Gißburts-  xmd  Geldaristokratie,  zugewiesen  zu 
erbalten,  welchen  er  als  Gegenleistung  dafür 
die  Entlastung  der  Grossstädte  von  dem  Ar- 
beiterproletariat und  die  siegreiche  Bekämpfung 
des  roten  Gespenstes  durch  seine  Kolonisten 
versprach,  ohne  jedoch  seinem  Kapitalbe- 
schaffungszwecke dadurch  näher  zu  kommen. 
Zu  einer  thatkräftigen  Initiative  der  Ausführung 
seiner  gössen  Ideeen  konnte  nur  der  Staat 
selbst  die  Hand  bieten,  und  da  dies  unterblieb, 
kam  Huber  bei  der  Ausführung  seiner  Entwürfe 
über  das  Stadium  des  Theoretisierens  nicht 
hinaus.  Als  Versuchsfeld  der  praktischen  Durch- 
führbarkeit seines  Systems  unter  bescheidenen 
Verhältnissen  diente  ihm  später  Wernigerode, 
wo  er  einzelne  kleine  genossenschaftliche  Unter- 
nehmungen ins  Leben  rief,  die  sich  aber  bald 
wieder  auflösten. 

Huber  veröffentlichte  in  Buchform. 

a)  von  staatswissenschaftlichen  Schriften: 
Mecklenburgische  Blätter,  Bd.  I  (einz.),  Parchim 
1834—35  (enthält  u.  a.  eine  längere  Kritik  der 
Schrift:  Lehsten,  Aufhebung  der  Leibeigenschaft 
in  Mecklenburg).  —  Ueber  innere  Kolonisation, 
Berlin  1846  (Sonderabdruck  aus  Heft  VII  und 
VIII  des  „Janus").  —  Die  Selbsthilfe  der  ar- 
beitenden Klassen  durch  Wirtschaftsvereine  und 
innere  Ansiedelung,  ebd.  1848  (erschien  anonym). 
—  Ueber  Association  mit  besonderer  Beziehung 
auf  England,  ebd.  1851.  —  Ueber  die  koopera- 
tiven Arbeiterassociationen  in  England,  ebd. 
1852.  —  Reisebriefe  aus  Belgien,  Frankreich 
und  England,  2  Bde.,  Hamburg  1855  (enthält 
reiches  Material  über  dortige  Kooperativge- 
nossenschaften). —  Ueber  Association  und  deren 
Verhältnis  zur  inneren  Mission.  Ein  Vortrag, 
gehalten  am  Frankfurter  Kirchentag,  Halle 
1855.  —  Die  Wohnungsnot  der  kleinen  Leute 
in  grossen  Städten,  Leipzig  1857.  —  Die  ge- 


werblichen und  wirtschaftlichen  Genossenschaften 
der  arbeitenden  Klassen  in  England,  Frankreich 
und  Deutschland,  Tübingen  IwO.  —  Konkordia, 
Beiträge  zur  Lösung  der  sozialen  Fragen  in 
zwanglosen  Heften,  8  Hefte,  Altena  Imi.  — 
Die  Arbeiter  und  ihre  Ratgeber,  Berlin  1863. 

—  Not  und  Hilfe  unter  den  Fabrikarbeitern, 
auf  Anlass  der  Baumwollensperre  in  England, 
Hamburg  1863.  —  Soziale  Fragen,  7  Hefte, 
Nordhausen  1863—69.  (Inhalt:  Heft  1:  Das 
Genossenschaftswesen  und  die  ländlichen  Tage- 
löhner [1863],  Heft  2:  Die  nordamerikanische 
Sklaverei  [1864],  Heft  3:  Die  innere  Mission 
[1864],  Heft  4:  Die  latente  Association  [1866], 
Heft  5:  Die  Rochdaler  Pioniers  [1866],  Heft  6: 
Handwerkerbund  und  Handwerkernot  [1867], 
Heft  7:  Die  Arbeiterfrage  in  England  [1869].) 

—  Ueber  Arbeiter koalitionen.  Ein  der  Koalitions- 
kommission nicht  vorgelegtes  Gutachten,  Berlin 
1865.  —  Die  genossenschaftliche  Selbsthilfe  der 
arbeitenden  Klassen,  Elberfeld  1865.  —  Zur 
Reform   des  Armenwesens,   Schaffhausen   1867. 

—  Staatshilfe,  Selbsthilfe  und  Sparen.  Ein 
offenes  Sendschreiben  an  die  deutschen  Arbeiter, 
Wien  1868. 

b)  von  politischen  Streit-  und  Agitations- 
schriften: Ueber  die  Elemente,  die  Möglichkeit 
oder  Notwendigkeit  einer  konservativen  Partei 
in  Deutschland,  Marburg  1841.  —  Die  Oppo- 
sition, Halle  1842  (Streitschrift  gegen  den  Radi- 
kalismus, welcher  die  grossdeutschen  und  kirch- 
lichen Restaurationspläne  Friedrich  Wilhelm  IV. 
bekämpfte).  —  Bruch  mit  der  Revolution  und 
der  Ritterschaft,  Berlin  1852  (anonym  erschienene 
Lossage  Hubers  von  der  konservativen  Partei). 

—  Die  Machtfülle  des  altpreussischen  König- 
tums und  die  konservative  Partei,  Bremen 
1862  -  etc. 

Huber  veröffentlichte  von  grösseren  staats- 
wissenschaftlichen Artikeln  c)  inZeitschriften  etc. : 
1)  In  Arbeiterfreund:  Die  Wohnungsnot  und 
die  Privatspekulation,  Jahrg.  V,  Halle  1867. 
S.  420 ff.  —  2j  In  Arbeitgeber,  herausg.  von 
MaxWirth:  Der  Kongress  deutscher  Volkswirte 
und  die  kooperativen  Associationen  in  England 
und  Frankreich,  Jahrg.  III,  Frankfurt  a.  M. 
1858,  Nr.  113,  S.  911.  -  3)  In  St.W.B.  von 
Bluntschli  und  Brater,  Stuttgart:  Arbeitende 
Klassen,  Bd.  I,  ia')7,  S.  279—310;  Association, 
Bd.  I,  1«)7,  S.  456/500.  —  4)  In  Innung  der 
Zukunft,  Leipzig :  6  Artikel  über  die  englischen 
und  französischen  Genossenschaften,  m  den 
Jahrgg.  1857—1863,  abgedruckt  in  dem  Werke : 
pDie  Entwickelung  des  Genossenschaftswesens 
m  Deutschland,  herausg.  von  Schulze-Delitzsch, 
Berlin  1870".  —  5)  In  ,,Janus,  Jahrb.  deutscher 
Gesinnung,  Bildung  und  Thaf,  Jahrg.  I— IV, 
Berlin  1845—48.  (Huber  bekämpfte  darin  die 
radikale  und  liberale  Opposition,  wie  sie  1841 
und  1842  besonders  in  den  ,.Hallischen  Jahr- 
büchern" gegen  die  innere  und  äussere  preus- 
sische  Politik  zum  Ausdruck  gekoinmen  war 
und  die  sonstigen  oppositionellen  Presserzeug- 
nisse des  jungen  Deutschland,  doch  blieb  seine 
publizistische  Waffenführung  und  die  seines 
geistreichen  Mitarbeiters  Heinrich  Leo,  im  Gegen- 
satz zu  dem  zündenden  Effekt  der  geharnischten 
Dialektik  Ruges  und  der  übrigen  Hegelingen, 
auf  die  erregten  Geister  des  vormärzlicheu 
Preussen  vollständig  wirkungslos.  —  6)  In  der 
Deutschen  Viertel jahrsschrift,  Stuttgart :  Oeffent- 


1232 


Huber — ^Hufe 


liehe  Arbeitsanstalten  znr  Strafe,  BesBerang  nnd 
Versorgung,  Jahrg.  XXI  1886,  Heft  1,  S.  35— 
124 ;  Die  soziale  Hebung  aer  arbeitenden  Klassen 
in  England,  Jahr^.  XXXI,  1866,  Heft  4,  S.  83 ff.; 
Die  Arbeiterfrage  in  Deutschland,  Jahrg.  XXXII, 
1869,  Heft  1,  S.  122  ff.,  Heft  3,  S.  173  &,  Heft  4, 
S.  29  ff.  —  Ausserdem  schrieb  Huber  in  den 
Jahren  1848  und  1849  zahlreiche  Artikel  für 
die  Neue  Preussische  oder  Ereuzzeitung  und 
einzelne  für  die  Augsburger  allgem.  Zeitung. 

Vgl.  über  Huber:  Kautz,  Theorie  und 
Geschichte  der  Nationalökonomik,  Bd.  II,  Wien 
1860,  S.  668.  —  H.  Wagen  er,  Staats-  und 
Gesellschaftslexikon, Bd. IX, Berün  1862,  S. 659 ff. 
—  C.  E.  Neuhaus,  Handwerkerbund  und  Hand- 
werkertag. Offenes  Sendschreiben  an  Herrn 
Professor  V.  A.  Huber  zu  Wernigerode,  Nord- 
hausen 1867.  —  R.  E 1 V  e  r  8 ,  V.  A.  Huber. 
Sein  Werden  und  Wirken,  2  Bde.,  Bremen 
1872—74.  —  E.  Jäger,  V.  A.  Huber,  ein  Vor- 
kämpfer der  sozialen  Reform,  Berlin  1880.  — 
P.  V.  Lilienfeld,  Gedanken  über  die  Sozial- 
wissenschaft der  Zukunft,  Bd.  IV,  Mitau  1879, 
S.  333 ff.  —  Seyfferth,  Staatswissenschaft- 
liche Abhandlungen,  Serie  I  (1879/80),  Leipzig 

1880,  S.  535.  —  R.  Elvers,  V.  A.  Huber.    All- 
gemeine deutsche  Biographie,  Bd.  XIII,  Leipzig 

1881,  S.  249  ff. 

Lippert, 


Hufe. 

1.  Begriff.  2.  Entstehung.  3.  Praktische 
Gestaltung.  4.  Bestandteile  der  H.  5.  Teil- 
barkeit. 6.  Besitzverhältnisse.  7.  Hufenrecht. 
8.  Benennung.  9.  Erste  Erwähnungen.  10. 
Andere  Bezeichnungen.  11.  Vergebene  H.  12. 
Grundherrliche  Landleihen.  13.  Einordnung  in 
die  Hufen  Verfassung.  14.  Gemessene  H.  15. 
Hufenmass.  16.  Morgenmass.  17.  Königshufen. 
18.  Mass  der  Königshufe.  19.  Verwandt«  Hufen- 
masse. 20.  Kolonisatioushufen.  21.  Die  slawische 
Hakenhufe.    22.  Uebertragungen. 

1.  Begriff.  Die  Hufe  ist,  wie  oben  im 
Art.  Ansiedelung  (Bd.  IS.363,  sub  15) 
im  weiteren  Zusammenhange  gezeigt  wurde, 
eine  charakteristische  Eigentümlichkeit  der 
volkstümlich  deutschen  Siedelungsweise»  Man 
verstand  unter  ihr  eine  ländliche  Besitzung, 
welche  von  dem  Hausvater  mit  seiner  Fa- 
milie und  wenigem  Gesinde  bestellt  werden 
konnte  und  dabei  hinreichend  war,  um  dem- 
selben den  nötigen  Unterhalt  und  die  Mittel 
zu  gewähren,  die  üblichen  öffentlichen  Lasten 
zu  tragen.  Sie  stellte  ein  Bauerngut  dar, 
Avelches  unter  primitiven  Umständen  und 
Ansprüchen  imstande  war,  selbständig  aus 
seinen  eigenen  Kräften  zu  bestehen. 

2.  Entstehung.  Ihre  Entstehung  ver- 
knüpfte sich  bei  allen  Germanen  unmittel- 
bar mit  dem  üebergang  von  der  nomadischen 
AVeidewirtschaft  zur  festen  Ansiedelung.  Da 
die  germanischen  Stämme  schon  während 
dos  Hirtenlebens  das  gesamte  ihnen  zur  Ver- 


fügimg stehende  I^and  als  Weidereviere  in 
Anspruch  genommen  liatten  und  nur  durch 
die  Ueberfüllung  dieser  Reviere  zum  festen 
Anbau  gezwungen  wurden,  war  die  einzelne 
Ansiedelung  das  Ergebnis  eines  Abkommens 
mit  den  übrigen  Stammes-  oder  Gaugenossen. 
Sie  musste  als  eine  bestimmte,  den  Ansiedlern, 
welche  als  die  Aermeren  der  Gaugemeinde 
zu  denken  sind,  ausschliesslich  überlassene 
Gemarkung  aus  dem  gemeinsamen  Weide- 
lande ausgeschieden  werden.  Diese  An- 
siedler forderten  nicht  nur  das  nötige  Land 
für  ihren  Anbau  weidefrei,  sondern  auch 
ausreichende  Weiden  für  die  geringe  Anzahl 
ihres  Zug-  imd  Nutzviehes  in  der  Kähe  und 
gesichert  zur  alleinigen  Benutzung.  In  die- 
sem Sinne  musste  die  Gemarkimg  gross  ge- 
nug sein,  um  der  Zahl  der  Familienväter, 
die  sich  auf  ihr  zur  Siedelung  entschlossen, 
zu  genügen.  Andererseits  hinderte  das  Be- 
dürfnis der  übrigen  Gaugenossen,  dass  ihnen 
die  Weidefireiheit  weit  über  dieses  Mass 
liinaus  gewährt  wurde.  Da  nun  die  Siedler 
zunächst  und  in  den  meisten  Fällen  als 
gleichberechtigte  Volksgenossen  vorausge- 
setzt werden  dürfen,  so  war  die  Idee  der 
Hufe  unmittelbar  durch  die  thatsächlichen 
Verliältnisse  gegeben.  An  der  einer  gewissen 
Gruppe  oder  Sippe  zugewiesenen  Gemarkung 
hatte  jeder  gleichen  Teil,  dieser  Anteil  aber 
war  so  überschlagen,  dass  er  dem  Berech- 
tigten durch  den  Ertrag  seiner  Arbeit  im 
wesentlichen  nur  den  Unterhalt  seiner  Fa- 
milie in  Aussicht  stellte.  Diese  Entstehung 
wiederholte  sich  bei  allen  Ansiedelungen  der 
Germanen.  Sie  war  auch  dieselbe,  wenn 
der  Boden  ^it,  wie  wenn  er  gering  war. 
Nur  konnte  mi  ersten  Falle  die  Gemarkung 
auf  die  gleiche  Zahl  Ansiedler  kleiner,  im 
zweiten  musste  sie  grösser  sein.  Die  Hufe 
war  also  von  Anfang  an  der  Ausdruck  des 
gleichartigen  bäuerhchen  Daseins  und  der 
Begründung  des   deutschen  Bauernstandes. 

8.  Praktische  Gestaltung.  Die  pi-ak- 
tische  Gestaltung  war,  vde  die  gesamten 
von  jeher  germanisch  gebliebenen  Gebiete 
erweisen,  bei  aUen  ursprünglich  volksmäs- 
sigen  Anlagen  gleich.  Zunächst  wurden  die 
einzelnen  Wohnstätten  abgegrenzt  In  der 
Kegel  für  Haus,  Hof  und  Urasgarten  zwei 
Morgen.  Wahrscheinlich  wählten  sich  die 
Genossen  nach  der  Losfolge  neben  einander 
die  Plätze  beliebig,  denn  sie  liegen  in  un- 
regelmässigen Blöcken  planlos  zusammen. 
Das  Dorf  bildet,  was  der  Ausdruck  be- 
zeichnet, einen  Haufen.  Fi'u-  das  Hofeureal 
hat  weniger  gleiche  Form,  Gnlsse  und  Bo- 
dengüte Bedeutung  als  die  NäJie  zum  Wasser, 
trockene  Lage,  Zugang  zu  Weg  und  Trift 
und  de^leichen. 

Die  Verteilung  des  Anbaulandes  war  die 
oben  Bd.I(S.363)imArt,  Ansiedelung  sub 
16  beschriebene  nach  Gewannen.  Auch  hier 


Hufe 


1233 


lässt  sich  deutlich  erkennen,  dass  die  älteste 
Einteilung  nicht  auf  einem  bestimmten  Plane 
beruhte,  sondern  un regelmässig,  d.  h.  von 
den  Umständen  bedingt  war.  Die  Idee  des 
Gewannes  blieb  indes  stets,  dass  die  Ge- 
nossen auf  einem  Landesabschnitte  von 
gleicher  Bodenbeschaffenheit  jeder  eine 
gleiche  Fläche,  meist  einen  Morgen,  neben 
einander  erhalten  sollten.  Da  der  deutsche 
Pflug  Parallelfurchen  zieht,  wurden  die 
Morgen  annähernd  als  Rechtecke  von  etwa 
30  Ruten  Länge  und  4  Ruten  Breite  abge- 
schritten. Aber  schon  darin  zeigt  sich  Un- 
gleichmässigkeit.  Vor  allem  lagen  sie  zwar 
neben  einander  im  Anschluss,  aber  nach 
verschiedenen  Richtungen  undAusdehnungen, 
so  dass  das  Gewann  nur  ausnahmsweise 
eine  rechtseitige  Figur,  meist  eine  des  gleichen 
Bodens  w^egen  durch  Bogen  und  ein-  und 
ausspringende  "Winkel  abgegrenzte  hatte. 
Diesen  Grenzen  mussten  sich  die  anstossen- 
den  Gewanne  in  ähnlich  unregelmässigen 
Formen  anschliessen.  Erst  später  sind  auf 
sehr  vielen  Fluren  durch  Kegulierungen 
wegen  Verpflügimg  und  Grenzverwii'nmg 
grossere  rechteckige  Gewanne  hergestellt 
imd  die  Anteüe  der  einzelnen  Hufen  an 
denselben  in  gleichmässigen,  oft  sehr  weit 
fortlaufenden  parallelen  Streifen  abgemessen 
worden.  Bilder  der  älteren  Aufteilung  geben 
Anlage  15  und  19,  der  regulierten  Hufen 
Anlage  5 — 13  in  »Siedelung  und  Agrarwesen« 

Bd.  m. 

4.  Bestandteile  der  H.  Die  Kultivie- 
rung solcher  Gewanne  musste  alsbald  so 
weit  ausgedehnt  werden,  als  es  der  Unter- 
halt der  Familien  und  die  Bedürfnisse  der 
beteiligten  Wirtschaften  forderten.  Es  be- 
stand iJaer  auch  kein  Grund,  über  diese  Er- 
fordernisse hinauszugehen.  Deshalb  blieben 
innerhalb  der  Gemarkung,  in  oft  ziemlich 
grosser  Fläche,  Ijändereien  vom  Anbau  un- 
berührt, welche  zu  Holz,  Gräserei  und  Weide 
benutzt  wurden.  Diese  Ländereien  konnten 
nach  und  nach  vom  Anbau  und  von  der 
Verteilung  zu  Privateigentum  ergriffen  wer- 
den. Soweit  dies  aber  nicht  geschah,  bildeten 
sie  die  Allmende,  das  der  gemeinsamen 
Nutzung  der  Genossen  unterliegende,  ziu- 
Gemarkung  gehörige  Gebiet.  Dasselbe  stand, 
solange  nicht  \  eräusserungen  einzelner 
Stücke  oder  Yerändenmgen  in  den  Rechts- 
verhältnissen der  Ansiedlergemeinde  statt- 
fanden, den  Beteiligten  in  demselben  Ver- 
hältnisse wie  die  Hufen  zu.  Die  Hufe  war 
ein  bestimmter  aliquoter  Anteil  an  der  ge- 
samten Gemarkung,  also  auch  an  dem  noch 
unverteilten  Reste  derselben. 

Den  Ansiedlern  konnten  aber  auch  nach 
der  ursprünglichen  Vereinbanmg  oder  durch 
späteren  vertragsmässigen  oder  rechtsver- 
jährten Erwerb  ausserhalb  der  ihnen  aus- 
schliesslich zugewiesenen  Gemarkung  noch 

Handwörterbach  der  Staatswisfienscbaften.    Zweite 


Nutzungsrechte  in  dem  bei  der  Ansiedelung 
den  übrigen  Staramesgenossen  gemeinsam 
gebliebenen  Volkslande  zustehen.  Denn  der 
grössere  Teil  des  Volkslandcs  -war  zunächst 
in  den  Händen  der  grossen  Hei-denbesitzer 
verblieben.  Nachdem  aber  auch  diese  sich 
angesiedelt  und  ausschliessliche  (lemarkungen 
eingerichtet  hatten ,  entstanden  aus  dem 
letzten  Rest  von  Wäldern  und  Heiden  des 
Volkslandes  die  sogenannten  Marken.  Es 
stellte  sich  fest,  wer  noch  Berechtigungen 
an  diesem  Lande  hatte,  und  die  Beteiligten 
gaben  sich  eine,  ^larkgenossenschaft  ge- 
nannte, Organisation  zur  Verwaltung  dieser 
Ländereien  und  zum  gegenseitigen  Schutz 
der  geordneten  Nutzimg  derselben.  An 
diesen  Markennutzun^n  konnten  einzelne 
Hufenbesitzer  persönlich  oder  dinglich  be- 
teiligt sein.  Das  Recht  konnte  aber  auch 
allen  Ansiedlern  einer  Flur  als  solchen  zu- 
stehen, und  es  galt  dann  ebenso  wie  das 
Recht  der  Hufe  an  der  Allmende  auch  als 
ein  Recht  der  Hufen  an  der  Mark  und  blieb 
ohne  eintretende  Veräusserung  ein  dem 
Hufenbesitz  verhältnismässiges. 

5.  Teilbarkeit.  Die  Hufen  aller  volks- 
mässigen  germanischen  Ansiedehingen  haben 
femer  gemeinsam,  dass  sie  ursprünglich  ge- 
teilt werden  konnten.  Dies  konnte  entweder 
nach  Teilhufen  geschehen,  in  halbe,  Drit- 
tel-, Viertel-,  Achtelhufen.  Dann  teilten  sich 
auch  die  Rechte  und  Pflichten  nach  den- 
selben Verhältnissen  und  die  Bnichteüe  der 
Hufe  stellten  immer  zusammen  die  ganze 
Hufe  dar,  konnten  auch  stets  wieder  zu  ihr 
vereinigt  werden,  und  in  Gemeindesachen 
galt  die  sogenannte  Einmännerei,  die  geteilte 
Hufe  wurde  durch  einen  der  Teilbesitzer 
vertreten.  Oder  es  konnten  auch  einzelne 
Gnmdstücke  aus  der  Hufe  veräussert  wer- 
den, um  dieses  Stück-  oder  Stufland 
kümmei-te  sich  die  Hüfenergenossenschaft 
nicht,  die  Hufe,  zu  ■  der  es  gehört  hatte, 
musste   für  dasselbe   dauernd    aufkommen. 

Ebenso  wie  die  Teilung  war  aber  auch 
die  Vereinigung  von  mehreren  Hufen,  und 
zwar  ganzen  wie  Bruchteilen,  in  derselben 
Hand  zulässig  und  sehr  häufig,  und  es 
konnten  von  denselben  wieder  Teilstücke 
an  Hintersassen  zur  Bewirtschaftung  über- 
lassen werden.  Der  Eigentilmer  der  Hufen 
vertrat  sie. 

6.  Besitzverhältnisse.  Die  Hufen  bil- 
deten also  als  Teile  der  Gemarkung  wohl- 
bekannte Landgüter,  welche  aus  der  Hof- 
stelle, dem  privaten  Anbaulande,  dem  An- 
recht an  der  Allmende  und  häufig  auch 
einem  Nutzungsrecht  in  der  Mark  bestanden 
und  abgesehen  vom  Markenrecht  in  allem 
diesem  Zubehör  innerhalb  derselben  Gemar- 
kung ursprünglich  unter  einander  gleich 
waren.  Schon  gegen  die  nächstbenachbarte 
Gemarkung,  wie  gegen  jede  andere,  Avaren 

Auflage.    IV.  'tS 


1234 


Hufe 


sie  aber  meist  thatsächlich  sehr  verschieden. 
Die  Zahl  der  ursprünglichen  Ansiedler,  die 
Grösse  der  Gemarkung,  die  Beschaffenheit 
des  Bodens,  die  Ausdehnung  des  Anbaues, 
die  Art  der  Allmend-  und  Markennutzungen 
konnten  zwischen  verschiedenen  Ansiede- 
lungen von  Anfang  an  sehr  grosse  Unter- 
schiede der  Hufen  bedingen.  Gleich  stan- 
den sie  sich  indes  darin,  dass  dennoch  ihre 
Leistimgsfähigkeit  als  eine  hinreichend  über- 
einstimmende galt.  Sie  war  schon  bei  der 
Tu^prünglichen  Anlage  vorausgesetzt  worden, 
bheb  massgebend  für  alle  öffentlichen  An- 
sprüche und  wurde  theoretisch  bis  in  das 
19.  Jahrhundert  festgehalten.  Praktisch 
wurde  das  alte  Verhältnis  allerdings  viel- 
fach durch.  Eingriffe  der  landesherrlichen 
Finanzverwaltungen  geändert.  Mit  der  Ver- 
schiedenheit der  Grösse  verknüpfte  sich  im 
Laufe  der  Zeit  häufig  eine  so  ersichtlich 
imgleiche  Entwicklung  der  Kultur-  imd  der 
Bodenwertverhältnisse,  dass  die  Steuerbe- 
hörden den  Begriff  der  Hufe  je  nach  der 
Oertlichkeit  auf  halbe  Hufen  oder  auf  ge- 
wisse Grössemnasse  anwendeten. 

7.  Hofenrecht.  Auch  als  man  an  eine 
weitere  Ausdehnung  des  Anbaulandes  der 
Hufen  in  die  Allmende  nicht  mehr  dachte, 
die  Hüfener  sich  vielmehr  auf  ein  bestimmtes 
Mass  an  eigenem  Lande  beschränkten,  grosse 
Teüe  der  Allmende  an  neu  begründete  kleine 
Stellen  abtraten  und  ihrerseits  nur  noch 
gewisse  Nutzungsrechte  an  dazu  geeigneten 
gemeinsamen  Allmendstücken  festhielten, 
änderte  dies  ihr  Wesen  nicht  Sie  bestan- 
den als  gleiche  und  gleichberechtigte  Anteile 
an  der  Dorfflur.  Das  Gemeinwesen  war 
mit  gleichen  Ansprüchen  an  jede  derselben 
gewiesen.  Es  stellte  dieselben  Anforderungen, 
gleich,  ob  der  Eigentümer  sie  verwaltete  oder 
für  sich  einen  Verwalter  einsetzte,  ebenso 
gleich  auch,  ob  der  Besitzer  ein  Freier  oder 
Unfreier,  aus  eigenem  oder  aus  fremdem 
Bechte  wirtschaftete  und  ob  er  ein  Inwohner 
oder  Auswärtiger  war.  Daraus  ergab  sich 
ganz  von  selbst,  dass  der  Landwirt  hinter 
dem  Hofe  zurücktrat.  Die  Hufe  wurde  zu 
einer  dauernden,  jederzeit  greifbaren  und 
für  ihre  öffentlichen  Pflichten  stets,  nötigen- 
falls durch  Sequestration,  leistungsfähigen 
Persönlichkeit. 

Dies  sind  die  Besonderheiten  der  alten 
volksmässigen  germanischen  Hufe. 

8.  Benennuii^.  Das  Wort  Hufe  tritt 
auf  als  hoba,  huoba,  huba,  auch  oba,  hopa, 
hova  oder  hobo,  hobonia,  hobunna.  Es  lässt 
sich  nach  Waitz  und  MüUenhoff  nicht  mit 
Hof  identifizieren.  Die  Wortformen  gehen 
in  einander  über,  aber  die  Sprache  selbst 
unterscheidet  sie.  Auch  die  Ableitung  von 
uoban  (bearbeiten,  anlegen)  ist  nicht  zu- 
treffend, denn  das  h  fehlt  sehr  selten  und 
erscheint  als  wurzelhaft.   Eher  giebt  MüUen- 


hoff eine  Verbindung  mit  dem  Stamme  hab 
zu,  also  was  jemand  liat,  besitzt,  oder  eine 
Ableitung  von  hefein,  huob  gihoban  (haben). 
Dann  würde  Hufe  zunächst  das  Ackerland 
bezeichnen.  Später  hat  indes  MüUenhoff 
bestimmt  erklärt  und  festgehalten,  dass  das 
Wort  aus  dem  in  »Behuf«  enthaltenen 
Stamme  erklärt  werden  müsse,  dass  Hufe 
der  Behuf,  das,  was  jemand  zukommt,  der 
Anteü  oder  das  Anrecht,  also  auch  sein 
Los  sei. 

Geschichtliche  Ueberüeferung  vermag  zur 
Erläuterung  leider  sehr  wenig  beizutragen. 
Der  Gebrauch  des  Wortes  ist  zwar  im  Mit- 
telalter ganz  aUgemein.  Auch  lassen  die 
Fuldaer  und  Corveyer  Traditionen  vermuten, 
dass  dies  stets  der  FaU  war.  Aber  der  Zu- 
stand, in  dem  uns  diese  Urkunden  über- 
Hefert  sind,  erlaubt  keinerlei  beweisßQiige 
Datierung. 

9.  Erste  Erwähnungen.  Der  älteste 
urkundüche  Gebrauch  des  Wortes  ist  bis 
jetzt  nicht  aus  dem  alten  Volkslande,  son- 
dern aus  dem  späten  Eroberungslande  der 
Alemannen  in  der  Schweiz  bekannt.  Der 
Codex  Tradit.  Monast.  St.  GaUi  sagt  in  Nr.  1 
aus  dem  Jahre  678:  quidquid  habemus  in 
Vahcinchova,  Laidolvinchova  et  Bodinchova. 
AUe  drei  Namen  sind  patronymische ,  so 
dass  Vahcing,  Laidolving  und  Beding  zu 
lesen  ist  imd  hova  klar  auftritt  Die  Kon- 
stanzer Urkunde  von  680  bei  Naugart  Nr.  4 
sagt  hoba,  ebenso  die  St.  Galler  a.  a.  0. 
Nr.  2  um  690 :  Tres  hobas  in  viUa  Athorin- 
wanic  et  IV  hobas  in  GundUhespurta.  Weitere 
Hindeutungen  faUen  erst  in  das  8.  Jahr- 
hundert Etwas  früher  erscheint  der  Ge- 
brauch von  maus  US,  womit  in  den  latei- 
nischen Urkunden  und  Gesetzen  des  Mittel- 
alters Hufe  in  den  meisten  FäUen  übersetzt 
wird.  Da  sich  aber  das  Testament  des 
Perpetuus,  welches  mansus  in  diesem  Sinne 
anscheinend  schon  im  Jahre  478  gebrauchte, 
als  eine  Fälschung  aus  dem  17.  Jahrhundert 
ergeben  hat,  ist  der  Gebrauch  von  maso 
oder  manso,  mansus  nach  Zeumer  zuerst  in 
merowingischen  Urkunden  von  656,  664  und 
etwa  gleichzeitig  in  den  formulae  Andeca- 
venses  zu  suchen.  Indes  gerade  in  diesen 
ältesten  Anführungen  ist  um  so  schwerer 
die  Frage  zu  entscheiden,  welche  auch  in 
den  Urkunden  des  späteren  Mittelalten» 
recht  oft  zweifelhaft  bleibt,  ob  der  Aus- 
druck mansus  wirküch  für  die  gesamte  Hufe 
oder  ob  er  nur  für  das  Gehöft  auf  der  Hufe 
oder  überhaupt  nur  für  eine  Wohnstätte 
gelten  soU. 

10.  Andere  Bezeichnnngen.  Der  Ge- 
brauch des  Wortes  Hufe  verUert  dadurch  au 
Bedeutung,  dass  er  nicht  ein,  wie  die  Sache 
selbst,  aUen  Germanen  gemeinsamer  ist  lu 
Schweden  heisst  die  Hufe  Mantal,  gleich 
Maunsteil.     In  Dänemark  und  in  Schonen 


Hufe 


1235 


wurde  sie  bool,  boole  genannt.  Damit  ist 
wahrscheinlicher,  als  Brett  oder  Balken,  eine 
Grube,  Höhle,  ein  eingegrabener  Herd,  der 
älteste  dauernd  angelegte  Wohnplatz  be- 
zeichnet. Die  Angelsachsen  brauchten  in  Eng- 
land den  Ausdruck  hyd  oder  hyde,  vom  goti- 
schen hiva,  heiva,  Hausherr;  angelsächsisch 
hiva,  Hausgenosse;  bind,  Kerl,  Bauer j  hyde, 
higede,  Familie,  welche  Bedeutung  sich  auf 
die  Hufe  übertragen  hat.  Auch  in  Deutsch- 
land wurden  neben  Hufe  Loos,  hluz,  sowie 
Pflug  häufig  ^braucht,  sie  übertrugen  sich 
in  das  lateinische  sors,  auch  pars,  portio 
und  in  aratrum,  welche  sämtlich  in  den  Ur- 
kunden seit  der  Hohenstaufenzeit  sehr  häufig 
werden.  Die  Auffassung  aber,  dass  die 
Hufe  dem  Lande  entsjjreche,  welches  einen 
Pflug  erfordere,  aber  mit  diesem  einen  Pflug 
auch  hinreichend  zu  bestellen  sei,  ist  schon 
sehr  alt.  Denn  sie  erscheint  schon  in  der 
ältesten  sicheren  Erwähnung  der  Hufe,  die 
sich  in  die  Zeit  von  620  setzen  lässt.  Dies 
ist  die  Weisimg  der  Lex  Wisigothorum 
Buch  X,  Tit.  1,  14,  welche  das  Verfahren 
festsetzt,  durch  das  der  Streit  mit  Land 
Belehnter  über  die  Ausdehnung  ihres  Lehn- 
landes geschlichtet  werden  soll.  Mangels 
des  Eides  soll  jeder  nachgeben,  doch  heisst 
es:  Sed  ad  tota  aratra,  quantum  ipsi  vel 
parentes  eorum  in  sua  sorte  susceperant, 
per  singula  aratra  quinjuagenos  aripennes 
dare  debent.  Wenn  sie  das  Land  nach 
ganzen  Hufen  erhalten  haben,  sollen  sie  für 
die  einzelne  Hufe  50  aripennes  (gleich  25 
jugera)  abgeti-eten  erhalten.  Im  11.  und  12. 
Jahrhundert  tritt  in  Thüringen,  Franken  imd 
dem  deutschkolonisierten  Obersachsen  die 
Bezeichnung  Lehn,  beneficiiun  für  Bauer- 
hufe auf  und  findet  beim  Fortschreiten  der 
Kolonisation  in  der  Lausitz  und  Schlesien, 
in  Böhmen  und  Polen  als  Lenno,  Laneus, 
Lamis,  Lan,  weite  Verbreitung.  Ein  slawi- 
scher Wortstamm  ist  in  Lan  nicht  enthalten. 
(Boden  und  landwirtschaftliche  Verhältnisse 
des  Preuss.  Staates  Bd.  VI  S.  172 
Anm.) 

11.  Vergebene  H.  Obwohl  die  Auf- 
fassung der  Hufe  als  eines  gleichen  Anteiles 
an  einer  bestimmten  besiedelten  Oemarkung, 
welche  Justus  Moeser  in  dem  Ausdruck  einer 
Aktie  an  dem  Gemeinwesen  einer  Bauer- 
schaft zusammenfasst,  als  die  älteste  und  für 
die  volksmässige  Besiedelung  der  germani- 
schen Volksländer  ohne  Zweifel  aie  aus- 
schliesslich richtige  ist,  zeigt  doch  die  Er- 
wähnung in  der  lex  Wisigothonim,  dass 
dieser  Begriff  schon  in  sehr  früher  Zeit 
nicht  der  einzige  blieb.  Neben  ihn  trat  in 
notwendiger  Verbindung  mit  der  Eroberung 
und  Besetzung  Rliätiens  und  Galliens  durch 
die  Deutschen  das  Erscheinen  verliehener 
Hufen,  welche  eine  Grundfläche  von  be- 
stimmter,   wenn    nicht    gemessener,    doch 


wenigstens  nach  ihren  Grenzen  feststehender 
Fläche  bedeuten. 

Dieser  Unterschied  beruhte  auf  dem  wich- 
tigen Gegensatze,  welcher  während  der 
Völkerwandenmg  in  der  Besitznahme  der 
eroberten  Ländermassen  entstand. 

Wo  das  Volksheer  in  seinen  Hundert- 
schafts- und  Geschlechtsverbänden  sich  fest- 
setzte, brachte  es  auch  seine  heimischen 
volkstümlichen  Gesichtspunkte  für  die  Ein- 
teilung des  Bodens  mit.'  Diese  Ansiede- 
lunffen  geschahen  in  den  Kämpfen  gegen 
die  keltoromanische  Herrschaft  alle  in  Dörfern 
nach  Genealogieen  und  in  der  Form  und 
dem  Verfahren  der  alten  volksmässigen  An- 
lagen. Die  Gruppen  der  Ansiedelnden  nah- 
men Gemarkungen  in  Besitz,  und  aus  ihren 
gleichen  oder  verhältnismässigen  Anrechten 
an  der  bestimmten  Gemarkung  gingen  ihre 
Anteile  unmittelbar  als  Hufen  im  aJten  her- 
kömmlichen Sinne  hervor.  Die  Fluren 
konnten  nicht  leichter  streitfrei  und  rasch 
zugewiesen  werden  als  diu'ch  die  der  Sitte 
entsprechende  Herstellung  und  Verlosung 
von  Gewannen  unter  die  einzelnen  Hufen. 
Dadurch  erhielt  jeder  seinem  Anteile  ge- 
mäss auf  jede  Hufe  gleiche  Flächen  von 
f leicher  Bodenbeschaffenheit  und  gleicher 
Intfernung  und  Lage  vom  Wirtschaftegehöft. 
Der  durch  die  Gemenglage  notwendige  Flur- 
zwang mit  gemeinsamer  Weide  des  Dorf- 
viehes über  Brache,  Stoppeln  und  Allmende 
war  die  allen  bekannte  und  selbstverständ- 
liche Wirtschaftsweise,  üeberall  in  Ober- 
deutschland und  Rheinland  sind  deshalb  die 
dem  Völkerzuge  am  ersten  zugänglichen 
fruchtbaren  und  ebenen  Gegenden  mit  Ge- 
wanndörfern bedeckt,  welche  denen  des 
alten  Volkslandes  vollkommen  gleichen. 

Neben  dieser  volksmässigen  Besitznahme 
aber  blieben  weite  Strecken  meist  ungüns- 
tigeren, bewaldeten  und  gebirgigeren  Bodens 
liegen,  welche  die  bald  zur  Königsgewalt 
erstarkenden  Führer  als  ihre  Eroberung,  als 
Köuigsland  betrachteten.  Sie  waren  aber 
im  bedingt  alsbald  genötigt,  es  als  fiskalisches 
Vermögen  zu  verwenden,  weil  ihnen  andere 
Mittel  zur  Bestreitung  der  wachsenden  finan- 
ziellen Bedürfnisse  nicht  zu  Gebote  standen. 
Sie  bedurften  dieses  Staatslandes  sowohl 
zur  Erstattung  von  Anleihen  wie  zur  Aus- 
stattung und  Belohnung  der  militärischen 
und  politischen  Beamten,  Gehilfen  und  Rat- 
geber. Einen  solchen  Kreis  zuverlässiger 
Vertrauter  mussten  sie  ebenso  zur  Beherr- 
schung der  eigenen  Volksgenossen  als  der 
unterworfenen,  höher  kultivierten,  einheimi- 
schen Bevölkening  um  sich  sammeln.  Haupt- 
stützen dabei  wurden  einerseits  die  Mitghe- 
der  der  grösstenteils  romanischen  Geistlich- 
keit, andererseits  emporkommende  kühne 
Abenteurer,  die  im  Kriegsdienste  des  Königs 
ihre  Zukunft   sahen.     Aus   diesen  Verhält- 

78* 


1236 


Hufe 


nissen  folgrte  die  Notwendigkeit,  die  Staats- 
ländereien  mit  freigebiger  Hand  zu  verleihen. 

12.  Gmndherrliche  Landleihen.  Es 
entstanden  aus  diesen  Vergebungen  zunächst 
widerrufliche,  bald  aber  dauernde  Schen- 
kungen und  grössere  und  kleinere  Komplexe 
grundherrlichen  Eigentums,  welche  von  dem 
Militär-  und  Beamtenadel  ebensowenig  als 
von  der  Kirche  unter  den  damaligen  Ver- 
hältnissen in  eigene  Bewirtschaftung  ge- 
nommen werden  konnten. 

Die  Verwertung  dieses  Besitzes  wai*  nur 
durch  Aussetzung  an  freie,  hörige  oder  eigene 
imfreie  Hintersassen  möglich,  welche  zu  Na- 
tural- oder  Öeldzinsen  und  zu  wirtschaft- 
lichen Diensten  verpflichtet  wurden  soweit 
sie  nicht  lediglich  militärischen  Zwecken 
obzuliegen  hatten. 

Wirtschaftlich  musste  sich  die  Ansetzung 
verscliieden  gestalten,  wenn  Leute,  die  solche 
Grundstücke  gegen  Zins  übernehmen  konnten, 
in  grösserer  Zahl  vorhanden  waren,  oder 
wenn  dies  nicht  der  Fall  war.  Bei  An- 
setzung grösserer  Gruppen  stand  nichts  ent- 
gegen, dass  die  Anlage  völlig  den  volks- 
mässigen  entsprechend  ausgeführt  wurde. 
Es  war  für  den  Grundherrn  offenbar  das 
einfachste.  In  der  That  finden  sich  auch 
Gewannfluren,  teils  in  Tirol  im  Inn- 
thale,  teils  in  Prankreich  in  der  Nähe  von 
Paris  und  zwischen  Seine  und  Loire,  wo 
man  volksmässige  Ansiedelungen  kaum  mehr 
erwarten  kann. 

Indes  blieben  dies  Ausnahmen.  Die 
Regel  war,  wie  die  Feldeinteilung  der  grund- 
heirüchen  Güter  zeigt,  die  Vergebung  des 
Landes  an  die  zeitweise  vorhandenen  Diener, 
eigene  Leute  oder  Land  Suchende,  die  des- 
halb allmählich  und  ungleichmässig  eintrat. 
Die  Grundstücke  der  einzelnen  Besitzungen 
finden  sich  in  solchen  Gemarkungen  in  der 
Regel  planlos,  in  verschiedener  La^  und  in 
grösseren  oder  geringeren  Flächen  von  meist 
blockähnlicher  Form  verteilt.  Bilder 
solcher  Aufteilung  geben  Anlage  49 — 52,  57, 
60  und  110 — 113  in  »Siedelung  und  Agrar- 
wesen«  Bd.ni.  Es  kann  daraus  niu»  geschlossen 
werden,  dass  sie  der  Grundherr  beliebig,  wie 
es  seinen  oder  den  Wünschen  des  Anneh- 
menden entsprach  oder  je  nachdem  sie  offen 
waren,  überwiesen  hat.  Es  ist  anzunehmen, 
dass  wenigstens  in  früher  Zeit  dabei  viel- 
fach die  Abgrenzungen  der  alten,  ziemlich 
abgenmdeten  und  gut  abgegrenzten  Kampe 
und  Blöcke  des  Kulturlandes  der  keltischen 
Anlagen  bestimmend  waren.  Indes  finden 
sich  diese  stückweiseh  Abtretungen  auch 
auf  Fluren  in  höheren  Gebirgslagen,  wie  in 
den  Vogesen,  auf  denen  man  Waldrodungen 
vermuten  muss.  Seit  dem  Ende  des  8.  Jahr- 
hunderts beginnen  dann  die  im  Art.  An- 
siedelung oben  Bd.  I  S.  305  näher  l)e- 
sprochenen,  vöUig  planmässigen  grundheri*^ 


liehen  Kolonieanlagen,  welche  sich  im  12. 
Jahrhundert  zu  der  deutschen  Kolonisation 
der  östlichen  Slawenländer  entwickelten. 
Bilder  geben  Anlage  114—118,  120,  123, 
124, 130, 131  in  »Siedelung  und  Agrarwesen« 
Bd.  111  und  »Boden-  und  landwirscliaftliche 
Verhältnisse  Preussens«  Bd.  VI  S.  103,  123. 

13.  Einordnung  in  die  Hnfenverfas- 
sung.  Alle  diese  grundherrlichen  Land  Ver- 
leihungen, in  welcher  Form  sie  auch  erfolgten, 
haben  die  Eigentümlichkeit  von  der  alten 
volksraässigen  Ansiedelung  herübei'genom- 
men,  dass  sie  in  Hufen  eingeteilt  wuixlen. 
Der  Grund  ist  vöüig  klar  und  wird  im  Art. 
Hufenverfas8ung(untenS.  1243  ff.)  näher 
besprochen  werden.  Die  Gutsherren  selbst 
machten  diese  Einteilung  und  ordneten  damit 
ihre  Hintersassen  in  die  allgemeine  katasterar- 
tige Unteracheidung  alles  unter  Kultur  befind- 
lichen Grundbesitzes  der  alten  germanischen 
Volksländer,  in  Hufen  ein,  deren  jede  ein 
einfe,ches,  aber  leistimgsfähiges  Bauerngut 
bedeutete.  Sie  erlangten  dadurch  wie  her- 
kömmlich und  selbstverständlich  die  Heran- 
ziehung der  Hintersassen  zu  den  öffentlichen 
Lasten  nach  dem  üblichen,  den  Hufen  ent- 
sprechenden Masse  sowie  den  gleichbleiben- 
den Bestand  der  gutsherrlichen  Leistimgen 
von  diesen  Hufen.  Der  Beweis,  dass  aUe 
diese  Ortschaften  unter  die  Hufenverfassung 
fielen,  lässt  sich  überall  führen,  wo  Hufen- 
register oder  Urkunden  erhalten  sind.  Wie 
diese  Hufeneinteilung  ausgeführt  worden  ist, 
darüber  geben  uns  die  gutsherrlich  ange- 
legten Gewanndörfer  imd  die  planmässigen 
Wald-  und  flämischen  Hufen  durch  ihre 
Anlagen  selbst  sichere  Auskunft, 

Für  die  blockförmig  gestalteten  Fliu-- 
stücke  ist  nicht  zu  ermitteln,  wie  sie  be- 
friedigend in  die  beabsichtigte  Gleichstel- 
lung der  einzelnen  Hufen  der  Ortschaft  ein- 
geordnet worden  sind.  Sicher  aber  ist,  dass 
dies  einer  Beurteilung  der  FläehengrtVssen 
und  darum  in  vielen  Fällen  der  Messung 
derselben  bediu'fte. 

14.  Gemessene  H.  Es  ist  deshalb  er- 
klärlich, dass  sich  in  den  Quellen  bis  zum 
10.  Jahrhundert  hin,  auf  welche  Waitz  seine 
Untersuchung  »über  die  altdeutsche  Hufe« 
mit  Grund  beschränkte,  mehrere  ausdrück- 
liche Erwähnimgen  gemessener  Hufen  fin- 
den: hoba  legitime  dimensa  (Trad.  Sangal. 
S.  393  Nr.  9),  hoba  plena  et  legitime  men- 
siu^ta  (ebd.  S.  322  Nr.  5),  hoba  pleniter 
emensa  (ebd.  S.  336  Nr.  29),  hol)a  plena 
(ebd.  S.  286  Nr.  86,  S.  331  Nr.  22,  S.  363 
Nr.  9  und  bei  Lacomblet  I  S.  5  Nr.  36), 
ebenso  mansus  plenus  (Tradit  Patav.  Nr.  72, 
Trad.  Ratisbon.  S.  49).  Ferner  mansus  legi- 
timus (Bmjuigny  II  S.  346)  und  hoba  lega- 
lis  (Tradit.  Frising.  Nr,  1093  und  1112)  so- 
wie illa  mensura  in  viUa  (Trad.  Fuld.  S.  288). 
Alle  Oertlichkeiten,  auf  welche   sieh  diese 


Hilfe 


1237 


Angaben  beziehen,  liegen  in  Gebieten,  welche 
zum  Eroberungslande  gehören  und  auf  wel- 
chen eine  Gutshen-schaft,  meist  eine  geist- 
liche, bestand,  deren  Besitz  auf  zum  Teil 
schon  sehr  alten  Verleihungen  benihte  und 
welche  seit  lange  Land  weiter  verliehen 
hatte.  Die  wenigen  Hinweise  auf  hoba  legi- 
tima  oder  legalis  genügen  auch  zum  Er- 
weise, dass  sich  für  die  Besitzungen  von 
St.  Gallen,  Freising  und  Epternach  bereits 
ein  gewisses,  für  die  gesamte  Heri-schaft 
gleichmässig  geltendes  Huf enmass  festgestellt 
hatte,  welches  bei  Landleilien  als  das  von 
Rechts  wegen  geltende  vorausgesetzt  wimle. 

15.  Huf  enmass.  Gleichwohl  darf  selbst 
fiir  die  einzelne  GrnndheiTSchaft  eine  an- 
nähernd gleiche  Grösse  der  Hufen  nur  mit 
sehr  grossen  Einschränkungen  angenommen 
w^erden,  an  eine  allgemeine  Cebereinstim- 
mung  der  Hufenmasse  über  verschiedene 
Grundherrschaften,  Provinzen  und  Länder 
oder  etwa  über  das  ganze  Reich  ist  in  keiner 
Weise  zu  denken. 

Dies  ergiebt  wsicli  schon  aus  den  volks- 
mässig  angelegten  Gewannfluren.  Man  darf 
allerdings  voraussetzen,  dass  sich  im  Laufe 
der  Zeit  in  allen  diesen  Gemarkungen  eine 
bestimmte  gleiche  Zald  von  Morgen,  Acker, 
Juchert  oder  Tagwerken  feststellte,  welche 
als  Mass  für  die  Hufe  gerechnet  wurtle. 
Ganz  gleich  konnte  dasselbe  indes  schon  im 
einzelnen  Orte  nicht  sein,  weil  in  den  Ge- 
wannen die  Hiifenanteile  zwar  an  Wert 
gleich  galten,  die  Flächen  aber  aus  mancherlei 
Gründen  ungleich  waren.  Teils  kamen  Ver- 
gütungen wegen  Bodenungleichheit  oder 
wegen  Wasserschaden,  wegen  der  gefähr- 
deten Lage  an  der  Länge  nach  anstossenden 
Wegen  oder  Viehtrieben,  namentlich  aber 
wegen  der  sogenannten  An  wände  vor,  d.  h. 
wenn  an  den  letzten  Hufenanteü  im  Gewann 
die  Ackerstreifen  des  benachbarten  Gewannes 
rechtwinklig  anstiessen,  so  dass  alle  Pflüge 
auf  der  Grenze  w^enden  mussten.  In  diesem 
Falle  erhielt  der  gedachte  letzte  Hufenstreifen 
in  der  Regel  eine  Entschädigung  von  min- 
destens ()  Fuss  Breite  längs  der  Grenze. 

Schon  zwischen  zwei  Nachbardörfern 
aber  konnte  dem  gesamten  Wesen  der  Ge- 
wanneinteilung nach  nur  zufällig  Gleichheit 
der  Hufen  bestehen.  Waitz  zeigt  zwar, 
dass  in  vielen  und  vei*schiedenen  Teilen 
Deutschlands  Hufen  von  30  Morgen  sehr 
gewöhnlich  waren,  aber  er  führt  daneben 
auch  zahlreiche  Masse  von  15^  2,  20,  36,  40, 
45  und  00  Morgen  an. 

16.  Morgenmass.  Indes  wenn  auch  eine 
dieser  Zahlen,  z.  B.  30  Morgen,  als  ein  häu- 
fig legales  Mass  angenommen  werden  dürfte, 
bedingt  doch  die  gleiche  Zahl  Morgen 
keineswegs  eine  gleiche  Landfläche.  Viel- 
mehi'  werden  ebenso  sehr  verschiedene 
Morgen  wie  versclüedene  Acker,  Tagwerke 


oder  Juchert  erwähnt.  AUe  diese  Masse 
waren  ohne  eine  hinreichend  genaue  Mes- 
sungsgrundlage örtlich  in  Uebmig  gekommen. 
Was  man  an  einem  Tage  oder  Morgen  mit 
einem  Pfluge  oder  mit  einem  Joche  be- 
ackern konnte,  nahm  man  als  Mass.  Dafür 
wunlen  die  deutschen  Ausdrücke  und  eben- 
so die  lateinischen  jugum,  jugerum,  jumalis, 
diurnalis,  terra  boum  und  ähnliche  oluie  be- 
stimmte Norm  angewendet.  Sie  waren  der 
Natur  der  Sache  nach  schon  auf  vci>>chie- 
denen  Bodenarten  ungleich. 

Eine  Norm  für  die  Messung  einer  be- 
stimmten Morgenfläche  gab  es  im  Volks- 
lande überhauj)t  nicht.  Gewöhnlich  galt  der 
Schaft,  Skift,  der  Jagdsi)iess  von  etwa  7^2 
Fuss  als  halbe  und  die  Ritterlanze  von  15 
Fuss  als  ganze  Rute.  Aber  schon  der  Fuss 
war  80  unbestimmt,  dass  bis  in  das  13.  Jalu»- 
hundert  die  an  den  Kirchen  mauern  einge- 
hauenen oder  durch  ein  Eisen  angezeigton 
Ellenlangen  der  nächsten  Marktorte  oder  die 
häufigen  Weisungen  die  Grundlage  bildeten, 
dass  15  Fusslängen  der  aus  der  Kirche 
kommenden  Bauern,  die  Rute,  otler  eine 
gewisse  Anzalü  Gerstenkörner  den  Zoll,  und 
10  oder  12  solche  Zoll  den  Fuss  bilden 
sollten.  Auch  die  Marktorte  liatten  ihre 
Masse  beliebig  gewälilt,  und  verfolgten  da- 
bei zum  Teil  das  Interesse,  die  Transport- 
kosten thunlichst  durch  das  Mass,  nicht 
durch  den  Preis  der  Waren  auszugleichen. 
Als  mehr  und  melir  landesherrliche  Mass- 
und Gewichtsordnungen  eingeführt  wurden, 
begründeten  dieselben  w^ieder  neue  Unter- 
sciiiede  zwischen  den  Territorien  und  ver- 
mochten gleichwohl  die  alten  herkömmlichen 
Masse,  nach  denen  die  bäuerlichen  Lasten 
und  Dienste  bestimmt  waren,  nicht  aus  dem 
örtlichen  Gebrauche  zu  verdrängen.  Dalier 
entstand  trotz  der  gesetzlichen  Einfühnmg 
gleicher  Normalmasse  für  ganze  Staaten,  die 
in  der  Gegenwart  sogar  international  ge- 
worden sind,  die  Notwendigkeit  für  die 
Auseinandersetzungs-  imd  die  Katasterbe- 
hörden, die  örtlich  geltenden  Masse  zu  er- 
mitteln und  in  langen  Verzeichnissen  auf 
die  neueren  Normalmasse  ziu'ückzuführen 
und  unter  einander  vergleichbar  zu  machen. 
In  diesen  Feststellungen  zeigen  sich  die 
Längen-  imd  Ackermasse  el)enso  mannig- 
faltig als  die  Hohlmasse  und  Gewichte. 

Es  ist  möglich,  dass  in  Landesteilen,  in 
denen  die  agrarischen  Zustände  fast  aus- 
schliesslich auf  grimdherrlichen  Landleihen 
beruhten,  etwas  mehr  Festigkeit  und  Gleich- 
mässigkeit  in  den  Ackermassen  bestanden 
hat,  aber  der  Versuch  Guerards,  das  Morgen- 
mass für  Gallien  in  fränkischer  Zeit,  vor- 
zugsweise auf  Grund  der  Angaben  burgun- 
discher  Urkunden  zu  bestimmen,  hat  er- 
geben, dass  auch  diese  Angaben  wesentlich 
von  einander  abweichen  und  für  dfen  Morgen 


1238 


Hufe 


ein  Mass  bald  von  80,  bald  von  IO6I/2,  140 
und  152  Quadratruten  verzeichnen.  Auch 
zeigt  sich  schon  in  alter  Zeit  der  rheinische 
Morgen  auf  der  Eifel  zu  25,  der  kölnische 
zu  32  ar,  und  die  Hufe  auf  der  Eifel  zu  160 
Morgen,  zu  Mors  zu  120  Morgen  berechnet, 
obwohl  die  Hufen  danach  in  beiden  Landes- 
teilen die  gleiche  Grösse  von  38  ha  haben, 
welche  wieder  ^egen  die  gewöhnliche  Hufen- 
grösse  am  Rhein  von  15  ha  selir  abweicht. 
Auch  mit  dem  römischen  Masse  lässt  sich 
nur  der  rheinische  Morgen  vergleichen, 
welcher  mit  25,53  ar  dem  römischen  juge- 
riun  von  25,19  ar  sehr  nahe  kommt.  Aber 
weder  der  römische  Fuss  von  0,296  m  noch 
die  römische  Rute  von  2,96  m  haben  sich 
irgendwo  auf  den  von  den  Deutschen  er- 
oberten Gebieten  erhalten.  In  Süddeutsch- 
land gehen  die  Fussniasse  noch  erheblich 
unter  das  römische  herab  und  damit  auch 
die  lOfüssig  gebliebenen  Rutenmasse.  Da- 
gegen haben  die  Morgen  oder  Tagwerke 
meist  400  Qiiadratruten.  In  Rheinland  und 
Frankreich  ist  der  Fuss  erheblich  grösser 
und  die  Ruten  haben  12  bis  18  solcher 
Fussmasse,  die  Morgen  dagegen  nur  100  bis 
130  Quadratruten.  Es  sind  also  in  allen 
diesen  Eroberungsländern  wider  Erwarten 
die  römischen  Normalmasse  völlig  verloren 
gegangen,  welche  unzweifelhaft  in  römischer 
Zeit  allgemein  bekannt,  wenn  auch,  wie  da- 
nach anzunehmen,  nicht  im  täglichen  Ge- 
brauch der  Pro\dnzialen  waren. 

17.  Königshilfen.  Obwohl  nun  Meraus 
hervorgeht,  dass  auch  das  merowingische 
und  karolingische  Reich  das  römische  Mass 
nicht  als  ein  allgemeines  oder  gesetzliches 
übernommen  hat,  lässt  sich  doch  als  That- 
sache  erweisen,  dass  mindestens  seit  den 
Karolingern  ein  bestimmtes  festes  Landmass 
als  königliches  im  ganzen  Reiche  bekannt 
und  in  Lebung  gewesen  ist  und  dass  das- 
selbe anscheinend  an  altrömische  Grund- 
besitzverhältnisse anknüpfte.  Dies  Mass  er- 
weisen die  sogenannten  Königshufen. 

Die  Königshufen  bedeuten  diejenige 
Flächengrösse,  nach  welcher  die  fränkischen 
Könige  Lkindsclienkungen  zuweisen  Messen, 
für  welche  örtliche  Grenzen  nicht  bereits 
feststanden. 

Zu  jeder  Zeit  fielen  den  Königen  eine 
nicht  unbeträchtliche  Zahl  Güter  zu,  welche 
in  festen  Grenzen  lagen.  Rückfällige  Lehne, 
Konfiskationen  wegen  Aufruhr,  wegen  Ver- 
brechen, wegen  Laudesflucht,  ebenso  heiTcn- 
los  und  unbeerbt  gewordene  Besitzungen 
waren  stets  zu  erwarten.  Unter  diesen  hatten 
die  grösseren  Güter  Namen,  einzelne  Hufen 
aber  wai-en  überall  durch  (lie  Nachbarhufen 
leicht  festzustellen.  Bei  der  Zuweisung 
solcher  Landschenkungen  bedurfte  es  also 
keiner  Massangabe,  sie  würde  eher  Zweifel 
und  Verwirrung  erregt  haben. 


Aber  ein  gewisser  Kreis  königlicher 
Schenkungen  und  Zuweisimgen  konnte  an 
solche  bekannte  Grenzen  nicht  anknüpfen. 
Wenn  der  König  von  seiner  Hofhaltung  aus 
in  entfernten  Gegenden  erfolgreiche  und 
mutige  Dienstleistungen  oder  finanzielle 
Hufen  belohnen,  Vorschüsse  und  Zusagen 
begleichen  oder  zweifelhafte  Treue  festhalten 
wollte,  Anforderungen,  die  stets  und  aus 
allen  Teilen  des  Reiches  an  ihn  herantraten, 
so  war  immer  das  fiskalische  Land  das  ein- 
fachste und  schnellste,  durch  eine  einzige 
Urkunde  flüssig  zu  machende  Zahlungs- 
mitteL  Dieses  Land  bestand  oft  aus  vom 
Bjiege  verwüsteten  Einöden  oder  weiten 
kaum  berührten  Waldungen  in  wenig  be- 
kannten Gegenden.  Die  Schenkungen  ge- 
schahen auch  vielfach  in  der  Absicht,  Zu- 
gänglichkeit und  Kultur  erst  zu  schaffen. 
An  eine  vorherige  Feststellung  der  Oertlich- 
keit  oder  der  näheren  Verhältnisse  der  Lage 
konnte  nicht  gedacht  werden.  Darüber 
wären  bei  der  Art  der  Kommunikation  und 
den  grossen  Entfernungen  Jahre  vergangen. 
Deshalb  blieb  nur  übrig,  ein  Flächeamass 
imd  zwar  ein  ziemlich  ausgiebiges  anzugeben 
und  den  Grafen  des  Bezirkes  anzuweisen, 
dasselbe  an  dem  ungefähr  bezeichneten  Orte 
zur  angemessenen  Zuteilung  bringen  zu 
lassen. 

Ausdrückliche  Verordnungen  über  die 
Grössenverhältnisse  eines  solchen  Flächen- 
masses  sind  nirgend  bekannt,  aber  die  Kö- 
nigshufen kommen  in  allgemeiner  Verbrei- 
tung vor.  Ihr  Mass  musste  also  für  die 
Reichsbeamten  überall  feststehen.  Es  liess 
sich  auch  nicht  nach  Morgen  bezeichnen, 
denn  dann  musste  die  Grösse  des  im  könig- 
lichen Dienste  zu  verwendenden  Morgens 
an  jedem  Orte  übereinstimmend  hergesteDt 
werden  können,  ohne  zu  Verwechselungen 
mit  den  überall  verschiedenen  örtlichen 
Morgen  zu  führen.  Es  konnte  also  nur  ein 
Längenmass  zu  Grunde  gelegt  wei-den.  Da- 
zu aber  war  der  Fuss  oder  die  Elle  unan- 
wendbar, weil  bei  diesen  schon  eine  sehr 
geringe  Differenz  in  der  Länge  bei  den 
nahezu  5000000  Quadratfuss,  welche  die 
Königshufe  enthielt,  wesentliche  (irössen- 
unterschiede  herbeigeführt  hätte. 

Deshalb  ist  erklärlich,  dass  als  einziges 
königliches  Landmass  die  virga  regalis,  die 
Rute  urkundlich  vorkommt.  Ihi-  liingen- 
mass  wurde  nach  einer  ungarischen  Urkunde 
von  1336  anscheinend  in  einem  Bande  «ler 
Schenkungsurkunde  beigefügt.  (Siedl.  und 
Agrarw.  Bd.  II  S.  ooö  Anm.) 

18.  Mass  der  Königshufe.  Leider  giebi 
es  nun  nur  eine  einzige  Urkunde,  in  welcher 
der  Umfang  der  mit  diesem  Masse  zuzu- 
teilenden Hufen  bestimmt  auf  720  Ruten 
lang  und  30  Ruten  breit  angegeben  winl. 
Es  ist  dies  der  Vertrag,  diu"ch  welchen  1100 


Hufe 


1239 


der  Erzbischof  Friedrich  von  Bremen  die 
bis  dahin  unkultivierten  und  versumpften 
Mai'schländereien  zwischen  Bremen  und  der 
Wümme  holländischen  Kolonisten  ilberlässt. 
Auch  dabei  ist  ebensowenig  wie  bei  anderen 
Zuweisungen  von  mansi  oder  virgae  regales 
die  Länge  der  Rute  bestimmt.  Aber  aus 
sicheren  Angaben  über  Gnmdstücke  auf  den 
gedachten  Marschen,  welche  als  halbe,  ganze 
oder  mehrfache  Hufen  benannt  und  als  solche 
von  jeher  bei  Zinsungen  und  Deichlasten  in 
Ansatz  gebracht  sind,  hat  sich  auf  diesen 
Gemarkungen  zweifelfrei  feststeUen  lassen, 
dass  die  hier  zugeteilten  Hufen  mit  Schwan- 
kungen, die  nur  Bruchteile  der  Hektare  be- 
tragen, durchschnittlich  47,7  ha  Flächenin- 
halt hatten.  (Die  näheren  Nachweise  finden 
sich  in  der  Abhandlung:  Volkshufe  und 
Königshufe  aus  der  Festgabe  für  G.  Haussen, 
Tübingen  1889,  S.  46  ff.  u.  SiecU.  u.  Agrarw. 
Bd.  III  Art.  147.)  Da  die  Königsnufe  hier 
720  Ruten  lang  und  30  Ruten  breit  ge- 
messen werden  sollte,  also  21600  Quadrat- 
ruten enthielt,  miiss  die  virga  regalis  eine 
Länge  von  4,70  m  gehabt  haben. 

Dieses  Mass  ist  für  die  Bremer  Marsch 
völlig  gesichert  Als  allgemeines  Mass  kann 
es  ei-st  erwiesen  erscheinen,  wenn  es  sich 
in  anderen  Gegenden  bestätigt.  Dafür  sind 
Anhaltspunkte  schwer  zu  finden.  Das 
gleiche  Mass  darf  aber  als  nachgewiesen  er- 
achtet werden,  denn  in  den  drei  Fluren 
Boos  bei  Sobernheim  an  der  Nahe,  Effeltern 
bei  Sonnenberg  in  Franken  und  einem  Teile 
des  Stadtgebietes  Görlitz  haben  die  urkund- 
lich genannten  und  in  ihren  Grenzen  noch 
erhaltenen  Königshufen  die  Grösse  von  49,9, 
48,7  und  48,2  ha,  in  Taucha  die  von  48,4 
oder  möglicherweise  51,9  ha.  Die  Grösse 
der  auf  den  beiden  Fliu*en  von  Koxhausen 
bei  Prüm  und  Hanckenbusch  bei  Kerpen 
bestehenden  Königshufen  ist  leider  nur  so- 
weit berechnimgsfähig,  dass  sie  mit  obigem 
Masse  nicht  im  Widei-spniche  steht.  Ob 
bei  anderen  urkimdlich  genannten  Königs- 
hufen eine  örtliche  Untersuchung  zum  Ziele 
führen  kann,  ist  noch  nicht  festgestellt,  ihi^e 
Urkunden  ergeben  aber  keinerlei  Bedenken 
in  betreff  des  oben  angegebenen  Mavsses. 
Dagegen  erweisen  sie  soviel,  dass  die  Königs- 
hufe keineswegs  an  eine  bestimmte  Form 
der  Ansiedelung  und  der  Flureinteilung  ge- 
bunden wai*,  dass  sie  vielmehr,  was  ihre 
Natur  als  gemessene  Hufe  bestätigt,  bei  jeder 
Art  der  Ortsanlage  anwendbar  blieb.  Die 
Bremer  Marschen  liegen  in  der  Form  der 
flämischen,  Effelter  und  Görlitz  in  der  der 
fränkischen  Hufen,  Taucha  in  Gewannen, 
Boos  in  Gemenglage  der  zur  Teilung  ge- 
brachten ursprünglich  zwei  Besitzungen, 
Hanckenbusch  in  Einzelhöfen,  Koxhausen  in 
Weilern  mit  blockartiger  Feldverteilung,  und 
dieselben  Unterschiede  lassen  sich  auch  bei 


den  zahlreichen  sonstigen  Erwähnungen  von 

Königshufen  hinreichend  deutlich  erkennen. 

19.  Verwandte  Hnfenmasse.    Der  Ur- 

spning  des  Älasses  der  vii'ga  regalis  ist 
völlig  dunkel.  Auf  römisches  Mass  lässt 
sie  sich  nicht  zurOckfüliren.  Weder  der 
römische  Fuss  von  0,296  m  noch  die  pertica 
von  2,96  m  noch  der  Actus  von  35,52  m 
gestatten  einen  Bezug  auf  eine  virga  von 
4,7  m.  Dagegen  steht  das  Gesamtmass  der 
Königshufe  mit  48,3  ha  dem  der  römischen 
Centurie  von  50,36  ha  ziemlich  nahe.  Die 
Königshufe  konnte  sich  leicht  wie  in  Taucha 
dwrch  das  im  Mittelalter  ganz  gebräuchliche 
geringe  Uebermass,  welches  »Gottberath«  ge- 
nannt wurde,  auf  50  ha  erhöhen,  und  die 
römischen  Centimen  finden  sich  in  den  noch 
erhaltenen  Beispielen  kleiner,  bis  zu  49  ha 
bemessen.  Aber  es  ist  kaum  auf  ein  ge- 
naues Mass  der  Centurie  zunickzugehen. 
Dagegen  bezeichnet  Siciüus  Flaccus  (Lach- 
raann,  Agrim.  I,  136)  ausdrücklich  2(X)  ju- 
gera,  also  50  ha  als  das  grösste  Mass,  welches 
ein  bäuerlicher  Besitzer  selbst  bebauen  könne, 
und  von  den  romanischen  Höfen,  deinen  Be- 
stehen im  südlichen  Bayern  noch  in  der 
Agilolfinger-  und  Karolingerzeit  in  der  Zahl 
von  mehreren  Hundert  bekundet  wird,  haben 
die  allerdings  wenigen,  deren  Grenzen  sich 
noch  bestimmen  lassen,  annähernd  dieselbe 
Grösse.  (Siedl.  u.  Agrai'w.  Bd.  I  451,  Bd. 
III  Anl.  64.)  Es  ist  daher  wohl  möglich, 
dass  sich  dieses  Vorbild  auf  die  Auffassung 
der  Königshufe  als  der  eines  ausgiebigen 
Bauerngutes  übertrug. 

Die  flämische  Hufe  hat,  wie  die  Urkunde 
von  1106  zeigt,  ursprünglich  die  Grösse  der 
Königshufe  gehabt,  welche  im  Bremischen 
sowie  unter  Albrecht  dem  Bären  in  der  alt- 
märkischen Wische  festgehalten  worden  ist, 
indes  schon  in  den  Stader  Marschen  und  in 
Pommern  kam  sie  um  etwa  ^,4  verkleinert 
zur  Anwendung.  (Boden  u.  Landw.  Verh. 
Preiiss.  Bd.  YI  S.  95.)  Von  allen  anderen 
Hufen  hat  nur  die  kalenbergische,  welche 
unter  den  Ottonen  über  Sachsen  verbreitet 
war,  ein  gleich  grosses  Mass  wie  die  Königs- 
hufe und  ist  wahrecheinlicli  unmittelbar  aus 
dei-selben  hervorgegangen.  Sie  erfuhr  zwai' 
in  ihrem  Masse  bis  auf  die  neueste  Zeit 
keine  Veränderung,  ist  aber  nur  ausnahms- 
weise in  Geltung  geblieben.  Vielmehr  hat 
sich  auf  den  sächsischen  Gebieten  schon 
früh  als  allgemeines  Landesmass  die  Sitte 
eingeführt,  den  in  der  Regel  mit  zwölf 
Plerden  Gespann  wirtschaftenden  Besitzer 
einer  kalenbergischen  Hufe  von  180  Morgen 
nicht  einen  Hüfner  zu  nennen,  sondern  sein 
Gut  als  Vollhof  zu  bezeichnen.  Als  Hüfner 
wuRle  in  Braunschweig-Lüneburg  schon  seit 
dem  13.  Jahrhundert  der  Besitzer  von  30 
Morgen  in  den  Hufen registern  geführt,  dem 
ein  Gespann  von  zwei  Pferden  zugeschrieben 


1240 


Hufe 


Avurde.  Dies  ist  indes  aiclit  die  Latenhufe, 
welche  vielmehr  urkundlich  um  892  mit 
120  jugera  oder  48  ha,  gleichzeitig  auch 
mit  60  jugera,  1382  mit  19  ha,  überhaupt 
örtlich  ebenso  verschieden,  wie  die  Hufen 
aller  alten  germanischen  Siedelungen  vor- 
kommt. (Siedl.  u.  Agrarw.  Bd.  III  S.  27, 
70,  13.) 

20.  Kolonisationshufen.  Schon  unter 
Karl  dem  Grossen  begann  die  deutsche  Ko- 
lonisation der  von  den  Slawen  besetzten 
Landstriche,  welche  Tacitus  zu  seiner  Zeit 
den  Germanen  zuschrieb.  Diese  Festsetzung 
der  Deutschen  geschah  teils  in  den  Formen 
regulierter  grosser  Gewanne,  teils  in  denen  der 
im  Art.  Ansiedelung  (oben  Bd.  I S.  373)  ge- 
scliilderten  Waldhufen  und  flämischen  Hufen, 
teils  aber  auch  unter  Verleihung  einzelner, 
meist  kleiner  Grundstücke  in  unregelmäs- 
sigen Formen.  Bei  allen  aber  war  es  über- 
einstimmend ein  Grundhen',  sei  es  der 
Kaiser  oder  ein  Slawenfürst,  oder  ein  von 
dem  Landesherrn  beschenkter  oder  belieheuer 
geistlicher  oder  weltücher  Grosser,  der  die 
Anlage  selbst  oder  durch  einen  Cnternehmer 
ausführte.  Deshalb  gesciiahen  alle  diese 
Anlagen  nach  gemessenen  Hufen. 

Die  fränkisclien  Hufen  schwankten  nach 
der  Güte'  des  zu  kultivierenden  Waldbodens 
zwischen  30  und  36  ha  auch  in  derselben 
Gemarkung,  bewahrten  aber  ihre  cliarakte- 
ristische  Form  und  kommen  nur  ganz  aus- 
nahmsweise in  anderen  Grössen  oder  auf 
die  Hälfte  eingeschränkt  vor. 

Die  flämischen  Hufen  behielten  auch  die 
oben  erwähnte  reduzierte  Grösse  von  35  lia 
in  der  Mark  Brandenbiu-g  und  in  Schlesien 
nicht  bei,  sondern  wurden  hier  allgemein 
nur  mit  der  Hälfte  von  17  bis  18  ha  zuge- 
messen, der  deutsche  Orden  nahm  das 
schlesische  Mass  von  16,81  lia  landesgesetz- 
lich für  seine  Gebiete  in  Preussen  an.  Da- 
bei blieb  für  die  flämische  Hufe  zwar  immer 
vorwiegend  die  Form  langer  und  schmaler 
Streifen  vorherrschend,  in  welchen  ursprüng- 
lich geschlossene  Hufengüter  als  Einzelhöfe 
ähnlich  den  fränkischen  Hufen  ausgelegt 
worden  waren.  Der  Gebrauch,  solche  flä- 
mische Hufen  nicht  ausschliesslich  in  Bruch- 
gegenden als  ganz  neue  Ansiedelungen  an- 
zulegen, sondern  sie  auch  nach  Mögliclikeit 
mit  bereits  bestehenden  geschlossenen  slawi- 
schen Dorfstrassen  zu  verbinden,  führte,  wie 
sub  19  gezeigt,  selir  bald  dazu,  ihnen 
neben  den  Hauptackerstreifen,  die  mit  dem 
Gehöft  zusimimenhängen,  auch  gewannmässig 
aufgeteiltes  Üeberland  zu  überweisen  oder 
sie  überhau2)t  völlig  gewannmässig  anzulegen 
oder  umzugestalten,  so  dass  sie  von  den 
weitverbreiteten  Kolonieanlagen  in  grossen 
regelmässigen  Gewannen  niu*  mit  Schwierig- 
keit zu  unterscheiden  sind. 
•  Die    in    grossen    Gewannen     veileilten 


Fluren  büden  auf  den  ebeneren  Teilen  des 
Kolonisationslandes  die  übei'wiegende  Masse. 
Sie  sind  fast  überall  an  alte  Slawendörfer 
in  der  Weise  angeschlossen,  dass  entweder 
die  alte  Dorflage  desselben,  sei  es  als  Rimd- 
dorf  oder  als  Strassendorf.  unverändert  be- 
stehen blieb ,  oder  dass  dieselbe  weniger 
lungestaltet  als  vielmehr  durch  Vergrösse- 
rung  der  Zahl  der  Gehöfte  erweitert  wuixle.' 
Die  Feldfluren  der  Slawen  waren  meist  klein 
und  stets  unregelmässig  blockartig  einge- 
teilt. Es  wiurden  deshalb  in  der  Regel  zwei 
oder  drei  zusammengeworfen  und  in  die 
Gewanneinteüung  gebracht,  um  eine  grossere 
Zahl  gleich  leistimg-sfähiger  Hufenbesitzungen 
zu  erhalten,  welchen,  sei  es,  dass  sie  durch 
Deutsche  oder  Slawen  besetzt  wurden,  gleiche 
Zinsungen  imd  Dienste  auferlegt  weixien 
konnten. 

Das  Mass,  nach  welchem  solche  Gewann- 
fliu^n  gemessen  wurden,  wm'de  gewöhnlich 
als  Landhufe  bezeichnet  und  vom  Laudes- 
herrn  bestimmt.  Es  enthielt  in  der  Regel 
30  Morgen.  Da  aber  die  Morgen  der  ein- 
zelnen Fürstentümer  sehr  weit  abwichen, 
von  25  bis  75,  sogar  bis  125  ar,  so  waren 
auch  die  Hufen  selu'  verschieden,  in  Schlesien 
66  Morgen  rlü.,  in  Magdeburg  45,  in  säch- 
sischen Laudesteilen  30  Morgen  rhl. 

21.  Die  slawische  Hakenhufe.  Das 
Agrarwesen  der  Slawen  beruhte  m^sprüng- 
lich,  wie  im  Art.  Ansiedelung  oben  Bd.  I S. 
303  gezeigt  ist,  auf  der  kommunistischen  Be- 
wirtschaftung massig  grosser  Fluren  durch 
sogenannte  Hauskommunionen.  Deslialb  ist 
iluien  die  Hufeneinteihmg  fremd.  Begriff 
und  Wort  der  Hufen  fehlten  ilmen.  Das 
slawische  Land  ist,  wie  sub  10  erwähnt, 
vom  deutschen  Lehn,  beneficium  entnommen. 
Ihre  bürgerhchen  wie  kirchlichen  I^asten 
wurden,  wie  die  Gnesener  Synodalbeschlüsse 
von  1202  zeigen,  nicht  uach  einem  Acker- 
masse, sondern  nach  dem  Kopf,  dem  Raueh- 
fange,  dem  Zugvieh  oder  dem  Besitz  eine^^J 
Ackerwerkzeuges  gefordert.  Auch  die  erb- 
eigenen Güter,  welche  unter  dem  Namen 
Dzedzine  vorkommen,  hatten  ganz  verschie- 
dene, von  100  bis  600  Morgen  schwankende 
Grössen.  (Siedl.  u.  Agrai-w.  Bd.  U  S.  245ff.) 
Deshalb  war  es  für  die  deutschen  Fürsten 
und  Grundherren  im  Beginn  der  Eroberungen, 
solange  das  Land  noch  nicht  beruhigt  war 
und  in  deutsche  Verfassung  und  Besiedelimg 
gebracht  werden  konnte,  schwer,  einen  Mass- 
stab für  die  den  deutschen  Sitten  entspre- 
chende Grundbesteuerung  zu  finden.  Da- 
raus ging  die  slawische  Hakenhufe  hervor. 

Im  Gegensatz  zu  den  Deutschen,  welche 
übei-all  ihrcn  sehr  Avirksamen  Pflug  zur 
Ackerbestellung  anwendeten  und  damit  auch 
die  schweren  und  zähen  Böden  in  Angriff 
nehmen  konnten,  iiatten  die  Slawen  einen 
herkömmliehen    hölzernen    Haken    im    Ge- 


Hufe — Hufeland 


1241 


braucli,  besassen  nur  wenig  und  schwaches 
Zugvieh  und  beschränkten  ihren  Anbau  auf 
die  leichteren  und  ebenen  Böden.  (Helmold 
Ch.  S.  12.)  Weil  mit  dem  Haken  kreuz 
und  quer  geackert  werden  musste,  konnten 
sie  demgemäss  nur  verhältnismässig  kleine 
Flächen  von  ziemlich  quadratischer  Form 
mit  ihren  Wirtschaftskräften  bestellen.  Des- 
halb folgten  die  deutschen  Grundherren  den 
slawischen  darin,  dass  sie  die  Belastung  der 
Unterworfenen  an  den  Besitz  eines  be- 
sinn nten  Hakens  knüpften.  Aber  sie  über- 
wiesen dem  Zinspflichtigen  auch  nur  die  für 
diese  Hakenarbeit  geeignete  entsprechende 
Landfläche.  Uegenül)er  einer  deutschen 
Hufe,  die  als  Pflug,  als  aratrum,  d.  h.  das 
durch  einen  Pflug  zu  bestellende  Land  be- 
zeichnet wurde,  sprach  man  von  einem  sla- 
wischen Haken,  einem  uncus,  imd  rechnete 
dai'auf  nur  h'2  oder  -/s  soviel  AnbaiUand  und 
in  demselben  Verliältnis  nur  ^  2  oder  2/3  der 
Lasten.  Dies  konnte  anfängUch  nur  eine 
überschlägliche  Schätzung  sein.  Als  aber 
l^i  der  Kolonisation  das  Land  den  einzelnen 
deutschen  llüfenern  zugemessen  wurde,  ge- 
schah dies  auch  mit  dem  Lande  der  Haken. 
Vielfach  erhielten  indes  auch  die  Slawen  in 
den  bestehenbleibenden  oder  neu  angelegten 
SlawendöHern  Hufen  nach  deutscher  Rech- 
nung. In  Schlesien  wurde  aber  in  solchen 
Slawendörfern  der  Besitz  des  einzelnen 
Bauei'u  nicht  selten  im  Haken  mass  belassen 
(Codex  Dipl.  Siles  lY,  S.  58,  110).  Auch 
in  Böhmen  blieben  die  aratra  und  unci  als 
Landmasse  nebeneinanderbestehen.  In  über- 
wiegend slawischen  Ländern,  wie  Mecklen- 
burg, Pommern  und  Preussen,  auch  ebenso 
in  Livland  und  Estlüand  blieb  das  kleine 
Hakenmass  ganz  im  Sinne  eines  Hufeu- 
masses  erhalten.  In  Pommern  hat  der  Haken 
oder  die  wendische  Hufe  15  pommerische 
Morgen  —  9  ha  82,6  ar ;  die  Tripelhuf e  das 
Dreifache.  In  Ost-  und  Westpreussen  wird 
der  Haken  überall  auf  *^  3  der  Hufe,  als  11  ha 
2,0  ar  neben  den  altkulmischen  und  ent- 
sprechend neben  den  anderen  etwas  kleineren 
Hufen  berechnet. 

22.  Uebertragungen.  Das  Wort  Hufe 
winl  neuerdings  auch  häufig  in  übertragenem 
Sinne  gebraucht  Man  spricht  von  Hufen 
der  Spartiaten,  indem  man  darunter  die 
4500  gleichen  Ackerlose  versteht,  welche 
Lykurg  den  Bürgern  von  Sparta  mit  der 
Verpflichtimg  zuwies,  dass  sie  über  dieselben 
weder  durch  Kauf  oder  Verkauf  noch  durch 
Schenkung  oder  Testament  verfügen  durften. 
Ebenso  werden,  wie  im  Art.  Feldgemein- 
schaft oben  Bd.  III  S.  379  näher  begründet 
ist,  die  römischen  fundi  als  Hufen  bezeichnet. 
Dieselben  bestanden  urspriinglich  aus  je  2  ju- 
gera  erbeigenes  heredium,  welche  den  aufi 
HOOO  patres  famüias angeschlagenen  urspning-  I 
liehen   Bürgern   Roms  von   dem   in   Besitz  \ 


genommenen  ager  romanus  als  Erbeigen  zu- 
erkannt wuixlen.  An  ihnen  hing  offenbar 
das»  gleiche  Recht  der  Nutzung  des  ager 
romanus.  Noch  vor  dem  12-Tafelgesetz  aber 
muss  jedem  dieser  fundi  das  nötige  Anbau- 
land  in  geschlossenem  Grundbesitze  durch 
Assignation  zu  quiiitarischem  Eigentimi 
überwiesen  worden  sein.  Dadurch  wurde 
der  Landbesitz  veräusserlich  und  nm'  einzelne 
Familien  blieben  im  Besitz  ihrer  Stammgüter. 
(Siedl.  u.  Agrarw.  Bd.  I  S.  263  ff.) 

Auchdie  oben  im  Art.  Ansiedelung  Bd. I 
S.  301  beschriebenen,  noch  heute  in  ihren 
Grenzen  erhaltenen  Tates,  in  welche  in  Ir- 
land jedes  der  mehreren  Tausende  Towlands 
zerfiel,'  welche  bei  der  festen  Besiedelung 
der  Insel  begründet  wurden,  lassen  sich  mit 
Grund  in  übertragenem  Sinne  als  Hufen  be- 
zeichnen. 

Weniger  zulässig  ist,  wenn  das  Wort  für 
die  amerikanischen  Heimstätten  oder  anderen 
Besitz  von  w^echselnder  Natur  gebraucht  wird. 

Litteratnr:  O.  Waitz,  AUdeuUche  Hufe  (Ahh, 
der  k.  Ges.  der  Wissensch.  zu  Göttingen),  Göt- 
tingen  1S54.  —  O.  Landau^  Die  Territorien, 
Hamburg  1854.  —  ^*  MeUxen,  Volkshufe  und 
KOnigskufe  in  ihren  alten  Massverhältnissen  (in 
Festgabe  für  G.  Haussen  zum  SL  Mai  18S9J, 
Tübingen  1889.  —  Siedelung  und  Agrarwesen 
der  Westgennanen  und  Ostgermanen,  der  Kelten, 
Römer,  Finnen  und  Slatren,  1895.  —  Im  iVA- 
rigen  zu  rergl.  die  Artt.  Ansiedelung  oben 
Bd.  1  S.  S75  und  Feldgemeinschaft  oben 
Bd.  III  S.  840. 

August  Meitzen. 


Hufeland,  Gottlieb, 

geb.  am  19.  X.  1760  in  Danzig,  studierte  in 
Jena,  wurde  1788  daselbst  ausserordentlicher, 
1790  ordentlicher  Professor  (superuumerarius) 
und  1793  ordentlicher  Professor  des  Lehnrechts 
und  Beisitzer  des  Schöppenstnhls.  1803  über- 
nahm er  die  Professur  des  Lehnrechts  und  der 
Pandekten  in  Würzburg,  1806  wirkte  er  als 
Professor  der  Rechte  in  Landshut,  1808  wurde 
er  Senatspräsident  und  Bürgermeister  von  Dan- 
zig, 1816  folgte  er  einem  Rufe  nach  Halle,  wo- 
selbst er  bereits  am  18.  II.  1817  starb. 

Hufeland  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform  a)  Original- 
werke : 

Ueber  das  Recht  protestantischer  Fürsten, 
unabänderliche  Lehrvorschriften  festzusetzen, 
Jena  1788.  —  Neue  Grundlegung  der  Staats- 
wirtschaftskunst, durch  Prüfung  und  Berich- 
tigung ihrer  Hauptbegriffe  von  Gut,  Wert. 
Preis,  Geld  und  Volks  vermögen,  mit  ununter- 
brochener Rücksicht  auf  die  bisherififen  Systeme, 
2  Teile,  Giessen  und  Wetzlar,  Teill  1807.  Teil 
11  1813;  dasselbe,  2.  Aufl.,  ebd.  1819-20.  — 
(Die  Schärfe  seiner  Definitionen  bei  Prüfung  der 
philosophischen  Grundbegriffe  der  Nationalöko- 
nomie in  seiner  „Gnmdlej^ung"  verrät  den 
Kantianer.     Durch  Identifizierung   der  Staats . 


1242 


Hiifeland — Hufenschoss 


Wissenschaft  mit  der  Volkswirtschaft  (vergl. 
Grundleeun&f  I,  S.  14)  steht  er  auf  dem  Boden 
der  Smiuischen  Schule,  von  der  er  sich  wieder 
durch  seine  von  der  Bedürfnisfrage  abhängig 
gemachte  Produktionswerttheorie,  im  Gegensatze 
zu  der  von  Smith  betonten  Bedeutung  des 
Tauschwertes,  entfernt;  auch  in  seiner  Lehre 
von  der  Entstehung  der  Güter,  zwischen  denen 
er,  im  Stadium  des  Werdeprozesses,  Dinge  und 
Güter  unterscheidet,  ist  er  Antismithianer.  Als 
erste  Quelle  der  Gütererzeugung  und  des  Ein- 
kommens schätzt  er  die  Naturkraft,  er  bestrei- 
tet den  Satz,  dass  alle  Güter  Produkte  der 
Arbeit  seien,  und  attribuiert  den  Dingen  nicht 
eher  das  Prädikat:  Güter,  als  bis  sie  in  der 
Vorstellung  der  Menschen  dazu  geworden.  Auch 
in  seiner  Preistheorie  und  in  seiner  Lehre  von 
der  Arbeitsteilung,  deren  Uebermass  bei  der 
geistigen  Produktivität  er  missbilligt,  emanci- 
piert  sich  Hufeland  von  der  Smithschen  An- 
schauung. Der  Ünternehmergewinn  wird  von 
ihm  als  Dependenz  des  Nationaleinkommens  be- 
zeichnet, und  in  seiner  Lehre  vom  Wesen,  Wert, 
Umlauf  und  der  Bedeutung  des  Geldes  nähert 
er  sich  der  Theorie  der  Merkantüisten).  —  Die 
Lehre  vom  Gelde  und  Geldumlaufe,  Jena  1798; 
dasselbe,  2.  Aufl.,  Giessen  1819.  —  Neue  Dar- 
stellung der  Lehre  vom  Besitz,  vorzüglich  durch 
genauere  Feststellung  ihres  Hauptgesichts- 
punktes, Giessen  1816. 

b)  Üebersetzungen :  Ad.  Mounier,  Betrach- 
tungen über  die  Staatsverfassungen,  vorzüglich 
über  diejenige,  welche  dem  französischen  Staate 
angemessen  ist.  Aus  dem  Französischen  mit 
Einleitung,  Anmerkungen  und  Zusätzen  von  G. 
Hufeland,  Jena  1791.  —  (Graf)  Clermont  Ton- 
nern, Prüfung  der  französischen  Konstitution; 
aus  dem  Französischen  mit  Einleitung,  Anmer- 
kungen und  Zusätzen  von  G.  Hufeland,  2  Teile, 
Jena  1792.  — 


Vergl.  über  Hufeland:  Walch,  Reliquiae 
controversiae,  etc.,  Jena  1785,  S.  12fF.  —  Huf  e- 
land,  Erinnerungen  aus  meinem  Aufenthalte 
in  Danzig,  nebst  Nachtrag,  Königsberg  1813 
(Rechtfertigung  der  Niederlegung  seiner  Bürger- 
meisterstelle  in  Danzig).  —  Allgemeine  Litte- 
raturzeitung,  Jahrg.  1817,  Nr.  72.  —  Ompteda, 
Litteratur  des  Völkerrechts,  Bd.  III,  Berlin 
1817,  S.  42.  —  Hugo,  Lehrbuch  der  Geschichte 
des  römischen  Rechts,  Berlin  1830,  Bd.  III,  S. 
583  und  599.  —  Er  seh  und  Gruber,  Ency- 
klopädie,  IL  Sektion,  Teil  11,  Leipzig  1834,  S. 
370.  —  Knies,  Die  politische  Oekonomie  vom 
Standpunkte  der  geschichtlichen  Methode,  Braun- 
schweig 1853,  S.  230/31.  -  R.  v.  Mohl,  Ge- 
schichte und  Litteratur  der  Staats  Wissenschaften, 
Bd.  I,  Erlangen  1855,  S.  274  und  332.  —  K  au tz , 
Theorie  und  Geschichte  der  Nationalökonomik, 
Bd.  II,  Wien  1860,  S.  623.  —  Röscher,  Ge- 
schichte der  Nat.,  1874,  S.  654 ff.  —  Ad.  Wag- 
ner, Grundlegung.  2.  Aufl.,  Heidelberg  1879, 
S.  7.  —  Allgemeine  deutsche  Biographie,  Bd. 
Xm,  Leipzig  IhSl,  S.  296.  —  v.  Holtzeu- 
dorff,  Rechtslexikon,  3.  Aufl.,  Bd.  II,  Leipzig 
1881,  S.  329/30.  -  R.  Zuckerkandl,  Zur 
Theorie  des  Preises,  Leipzig  1889,  S.  178/79.  — 

Lippert, 


Hnfendchoss. 

Keineswegs  in  allen  deutschen  Land- 
schaften wurde  die  Hufe  in  der  älteren 
Steuerverfassung  als  Steuereinheil  benutzt 
Denn  erstens  spielte  die  Hufe  in  manchen 
Gegenden  (wie  in  den  rheinischen)  infolge 
der  grossen  Zersplitterung  des  Grundbe- 
sitzes überhaupt  kaum  eine  Rolle,  also  auch 
nicht  in  dem  Steuerwesen.  Zweitens  lagen 
dem  Steuersystem  auch  in  vielen  von  den- 
jenigen Territorien,  in  welchen  die  Hufe 
(resp.  ein  grösserer  Hufenteil:  die  halbe 
oder  VierteÜiufe)  ihre  alte  Bedeutung  für 
den  bäuerlichen  Besitz  behalten  hatte,  anden? 
Steuereinheiten  zu  Grunde.  Lnmerhin  er- 
scheint die  Hufe  in  einem  grossen  Teile 
Deutschlands  als  Steuereinheit,  namentlich 
im  Osten.  Die  technische  Bezeichnung 
^Hufenschoss«  aber  führte  hier  die  auf  dif 
Hufe  gelegte  Steuer  wiederum  vorzugsweis»3 
mir  in  der  Mark  Brandenbiu-g  und  in  dem 
ehemaligen  Ordenslande  Preussen.  In 
Brandenburg  war  der  Ertrag  des  Hufen- 
schosses eine  der  Quellen,  aus  denen  das 
im  16.  Jahrhundert  für  die  Tilgung  der 
landesherrlichen  Schulden  begründete  > stän- 
dische Kreditwerk«  gespeist  wnu*de.  Die 
anderen  Quellen  waren:  der  Giebelschoss, 
die  Beiträge  der  Städte,  das  neue  Biei^ld ; 
und  zwar  lasteten  Hufenschoss  und  Gieln^l- 
schoss  nur  auf  dem  platten  Ijande,  da** 
neue  Biergeld  auf  Stadt  und  I^and  zusam- 
men. Der  Hufenschoss  hat  mit  dem  stän- 
dischen Kreditwerk  bis  in  den  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts  bestanden.  Im  ein- 
zelnen in  wechselnder  Höhe  erhoben,  masr 
er  im  16.  Jahrhundert  als  eine  nicht  geringe 
Leistimg  empfunden  worden  sein.  Später 
jedoch  erschien  er  infolge  des  Sinkens  «les 
Geldwertes  als  eine  bescheidene  Belastung 
des  Bodens.  Er  w^urde  bei  weitem  von  der 
durch  den  grossen  Kurfürsten  eingeführten 
»Kontribution  <r  (s.  d.  Art.)  in  Schatten  ge- 
stellt, welche  gleichfalls  den  Grundbesitz 
traf,  um  1800  betrug  z.  B.  im  Kreise  Bees- 
kow-Storkow  die  Kontribution  jährlich  &A'), 
der  Hufen-  und  Giebelschoss  dagegen  nur 
734  Thaler.  —  In  Preussen  bestand  s*»it 
alters  ein  gemischtes  Steuersystem,  in  dem, 
soweit  die  Steuer  vom  Gnmdbesitz  erhoben 
wurde,  die  Hufe  Steuereiriheit  war.  Eine 
Steuer  mit  der  technischen  Bezeichnung 
»Hufenschoss«,  speciell  »Generalhufenschoss 
datiert  jedoch  erst  seit  der  benlhmten 
Steuerreform  unter  Friedrich  Wilhelm  1., 
die  an  den  Namen  des  Grafen  Truchsess 
geknüpft  ist.  Die  Tendenzen  derselben 
gingen  dahin,  eine  gerechtere  Verteilung 
der  Steuer  herbeizuführen  (namentlich  die 
Bonität  der  Aecker  zu  berücksichtigen  und 
die  Defraudationen,  Yerschweigungen  vt>n 
Hufen    zu  beseitigen)   und   die  vielen  MAn- 


Hufenschoss — Hufenverfassung 


1243 


dischen  Steuern  dui*ch  eine  einzige  Grund- 
steuer, eben  den  Generalhufenschoss  zu  er- 
setzen. Bei  der  Besitzergreifung  West- 
preussens  durch  Friedrich  den  Grossen 
wiuHie  der  Generalhufenschoss  auch  hier 
eingeführt.  Im  Unterschiede  von  dem 
brandenbiu'gischen  System  ist  der  General- 
hufenschoss in  Preussen  die  Gnmdsteuer 
schlechthin.  —  Principiell  identisch  mit  dem 
Hufenschoss  ist  die  in  manchen  slawischen 
resp.  germanisierten  Liandschaften  (Pommern, 
Livland)  vorkommende  Besteuenmg  des 
>Hakens«,  der  hier  für  den  bäuerlichen  Be- 
sitz eine  ähnliche  Bedeutung  hat  wie 
anderswo  die  Hufe.  Verwandt  ist  auch  das 
von  den  normannischen  Konigeu  in  England 
eiugeführte  carucagium,  resp.  hydagium, 
welches  Gneist  geradezu  Hufenschoss  nennt. 

Litteratur:  Vgl.  LittenUur  der  Sienergesckichtc 
bei  Ailolph  Wagner,  Finamirissenachaft ,  S. 
Teil,  Heft  1.  —  Zakrzewski,  Die  wichtigeren 
preusftischen  Reformen  der  direkten  ländlichen 
Steuern  im  18.  Jahrh.  (Schmollers  Forachungen 
yjl,  i^J,  Leipzig  1887.  —  7>ie  Behchrdenoi'guni- 
»ation  und  die  allgemeine  Staatsrencaltttng 
Preu^seng  ivi  18.  Jahrhundert  (Acta  Borussica), 
Bd.  S,  17 U— 1717,  bearbeitet  von  G,  Schmoller, 
O.  Kratiske  und  V.  Löwe,  Berlin  1898.  — 
•V.  auch  den  Art.  G rundsteuer ,  ältere  Ze i t , 
oben  Bd.  JV  S.  9^4:^0. 

G,   V,  Bel4fw, 


Hnfenverfassnng. 

1.  Begriff.  2.  Allgemeine  Verbreitung  der 
Hufen  im  fränkischen  Reiche.  3.  Die  grund- 
herrliche Festsetzimff  von  Hufen.  4.  Allgemeine 
Verbreitung  der  Hufen  in  England  und  Skandi- 
navien. 5.  H.  der  deutschen  Kolonisation. 
6.  Fortdauer  der  H.    7.  Bedeutung  der  H. 

1.  Beip'iff.  Unter  Hufenvei'fassung  wird 
nicht  die  oben  im  Art.  Hu  f  e  S.  1232  fh  erläu- 
terte wirtschaftliche  und  rechtliche  Gestal- 
tung der  einzelneu  Hufe,  sondern  der  or- 
ganische Zusammenhang  verstanden,  welcher 
sich  in  dem  Bestände  der  Hufen  ganzer 
Länder  entwickelt  hat  und  für  wesentliche 
Anfordenmgen  der  Staatsvei-waltung  voraus- 
gesetzt wird.  Die  Hufen  Verfassung  äussert 
sich  in  der  Thatsache  einer  so  weiten  Ver- 
breitung der  Hufen  über  die  Kultiu-ländereien 
eines  Staati^gebietes,  dass  sie  eine  hinrei- 
chende Organisation  des  Ginindbesitzes  bil- 
den, welche  der  Staat  zur  Grundlage  der 
Verteilung  wichtiger  öffentlicher  Pflichten 
und  Rechte  zu  benutzen  vermag. 

Wenn  Lykurg  den  spartanischen  Voll- 
bürgern gleiche  unveräusserliche  Ackerlose 
zuwies  oder  in  Rom  König  und  Senat  den 
X^atres  familias  der  alten  Bürgergeschlechter 
fundi  von  gleichem  Mass  der  2  jugera  Erb- 
oigen  und  gleichen  Nutzungsrechten  am 
ager  publicus  zuerkannte,  so  ist  eine  solche 


Organisation  des  Gnmdbesitzes  vom  Staate 
selbst  geschaffen.  Auch  wenn  wir  von  der 
Bedeutung  derselben  im  Staatsleben  nichts 
Näheres  wissen,  ist  aus  der  Entstehung  auf 
die  nalie  Beziehung  zum  öffentlichen  Rechte 
zu  schliessen,  und  man  darf,  sofern  man  das 
Wort  in  übertragenem  Sinne  gebrauchen 
will,  von  Hufenverfassung  sprechen. 

Die  Hufen  der  Grermanen  sowohl  der 
Deutschen  als  der  Skandinaven  haben  aber, 
wie  gezeigt  ist,  eine  solche  Entstehung 
nicht.  Gleichwohl  sind  deutliche  Zeichen 
erkennbar,  dass  alle  Staatenbildungen  der 
Germanen  seit  dem  Bekanntwerden  einer 
geordneten  Verwaltimgsthätigkeit  bis  min- 
destens in  das  18.  Jalirhundert  die  Hufen 
als  einen  kaum  entbehrlichen  Anhalt  für 
die  Verteilimg  der  öffentlichen  Lasten  be- 
nutzt haben.  In  den  Ursachen  und  Wirkun- 
gen dieser  Erscheinung  liegt  das  Interesse 
der  Frage. 

2.  Allgemeine  Verbreitiuig  der  Hufen 
im  fränkischen 'Reiche.  Als  Zeugnis,  dass 
auf  dem  gesamten  deutschen  Volkslande  die 
Hufe  überall  als  die  ül>ereinstimmende  Ge- 
staltung des  Grundbesitzes  bestand  und 
dass  sie  in  gleicher  Form  auch  auf  den  ge- 
samten eroberten  keltoromanischen  Boden 
übertragen  worden  war,  sind  die  Ortsur- 
kunden nicht  hinreichend  beweisfähig,  ob- 
wolü  sie  allerdings  aus  den  verschiedensten 
Oertlichkeiten  zalilreiche  urkundliche  Erwäh- 
nungen enthalten.  Den  ersten  bestimmten 
Beweis  geben  die  Kapitulare  der  Karolinger. 
Dahin  gehören  vor  allem  die  Vorschriften 
Karls  des  Grossen  über  den  Heerbann 
(Mon.  Germ.  LL.  Sect.  II,  capit.  reg.  Franc. 
Tom.  I,  S.  134,  137).  Das  Memoratorium 
Karls  von  8U7  erleichtert  die  diu-ch  die 
vielen  Kriege  und  die  Entfernungen,  in 
welche  die  Heei-e  ziehen  mussten,  drückend 
gewordene  Heerbannslast  durch  folgende 
Anordnungen;  ^Alle,  die  Lehen  haben, 
sollen  zum  Heere  kommen.  Welcher  Freie 
5  Hufen  zu  Eigentum  hat,  soll  gleichfalls 
kommen,  ebenso  wer  4  Hufen  hat  und 
wer  3  ilufen  hat.  W^o  aber  zwei  gefun- 
den werden,  von  denen  jeder  2  Hufen 
hat,  soll  einer  den  anderen  ausrüsten,  und 
wer  von  beiden  am  besten  kann,  kommen. 
Wo  aber  8  gefunden  weitlen,  von  denen 
jeder  1  Hufe  hat,  sollen  2  den  dritten 
ausrüsten,  so  dass,  wer  am  besten  kann, 
auszieht.  Von  denen  aber,  welche  halbe 
Hufen  haben,  sollen  5  den  sechsten  aus- 
riisten.  Wer  aber  so  arm  gefunden  wird, 
dass  er  weder  einen  Hintersassen  noch 
eigenen  Grundbesitz  hat,  aber  5  Solidi 
an  Wert  besitzt,  von  denen  sollen  5  den 
sechsten  ausnisten,  von  denen  aber,  welche 
kleine  Landbesitzungen  haben,  2  den 
dritten.  Und  von  den  gedachten  Armen, 
welche   keinen  Landbesitz  haben,   sollen  5 


1244 


Hufenverfassung 


Solidi  für  jeden  von  ihnen,  der  zum  Heere 
zieht,  zusamniengebmcht  werden«.  Das 
folgende  Kapitulare  von  808,  welches  die- 
selbe Pflicht  für  die  je  vierte  Hufe  aus- 
spricht, bestätigt,  dass  diese  Anordnungen 
sich  auf  alle  Provinzen  des  Reiclies  und 
sowohl  auf  die  Franken  als  auf  die  Sachsen 
beziehen.  Die  einzige  Ausnahme  bilden  die 
Friesen,  bei  denen  auch  die  Grtmdbesitzer 
nur  nach  dem  Vermögenswerte  zum  Dienste 
herangezogen  werden.  Die  Friesen  nahmen 
altbesiedelten  Keltenboden  in  Besitz,  deshalb 
bestanden  ursprünglich  in  Friesland  nur 
grössere  und  kleinere  Einzelhöfe,  imd  die 
Hufen  sind  erst  mit  den  fränkischen  Moor- 
kolonieen  eingefülirt  worden.  Die  Vorschrift 
beruht  also  ei-sichtlich  auf  durchaus  bewuss- 
ter  Unterscheidung  der  in  dieser  Beziehung 
bestehenden  Verhältnisse. 

In  einem  Kapitulare  von  805  (ebenda  S. 
123)  wird  befohlen,  dass  jeder,  der  zwölf 
Hufen  besitzt,  einen  Brustliarnisch  haben 
und  im  Heere  tragen  solle.  Auch  sagt  die 
Capitulatio  de  partibus  Saxoniae  (ebenda  S. 
69,  XV),  dass  die  Insassen  des  Sprengeis 
jeder  Kirche  ein  Gehöft  und  zwei  Hufen 
Land,  und  auch  je  120  Adlige,  Fi-eie  oder 
Liten  einen  Knecht  und  eine  Magd  der 
Kirche  zu  geben  haben.  Ganz  allgemein 
spricht  das  Capitulare  ecclesiasticum  Lud- 
wigs des  Frommen  (ebenda  S.  277,  X)  aus, 
dass  festgesetzt  sei,  jeder  Kirche  stehe  eine 
volle  Hufe,  frei  von  jeder  Leistung,  zu. 

3.  Die  grandherrliche  Festsetzung 
von  Hnfen.  In  dieser  unbedingten  Voraus- 
setzung der  karolingischen  Staatsverwaltung, 
dass,  abgesehen  von  der  einen  bekannten 
Ausnahme  Frieslands,  die  Heerbannleistung 
überall  nach  den  Hufen  verteilt  werden 
könne,  liegt  zugleich  der  Beweis,  dass  auch 
alle  die,  wie  oben  S.  1285/36  dargestellt  ist, 
grösstenteils  schon  wälu-end  der  Völker- 
wanderung begabten  Grundhen*en,  welche 
nicht  Lehnsleute  waren,  ihre  freien  heer- 
bannspflichtigen  Hintersassen,  dem  Inhalte 
der  vorhandenen  Urkunden  entsprechend, 
wirklich  auf  Hufen  angesetzt  hatten.  Zwei- 
felhaft kann  sein,  ob  dies  luelu*  der  öffent- 
lichen oder  der  grundherrlichen  Lasten 
wegen  geschah.  Für  die  Erhebung  der 
grundherrüchen  Abgaben  und.  Ijeistungen 
lag  darin  aber  eher  eine  Becjuemlichkeit  als 
ein  ersichtlicher  Vorteil,  ßestimmenderc 
Gründe  lassen  sich  wegen  der  öffentlichen 
Pflichten  erkennen.  Es  mag  deshalb  neben 
der  Sitte  wohl  auch  schon  in  der  den  Karo- 
lingern vorhergehenden  Zeit  der  Einfluss 
der  Anforderungen  des  Staates  wirksam  ge- 
worden sein.  Zudem  lässt  die  Königshufe 
(oben  S.  1238  ff.)  die  Vermutung  zu,  dass 
aucli  die  von  den  Deutschen  übernommenen 
alten*  romanischen  Höfe  nach  den  ungefähren 
Grössen  von  200  und  100  jugera  unterein- 


ander ausgeglichen  waren,  die  sich  für  die 
in  Oberbayern  \md  Habsburg  bis  in  die 
Karolingerzeit  erhaltenen  nachweisen  lassen. 
Eine  solche  Einwirkung  der  öffentlichen 
Ansprüche  auf  die  gi-undherrliche  Feststellung 
von  Hufen  lässt  sich  indes  keineswegs  als 
eine  nur  der  fränkischen  Staatsverwaltung 
eigentümliche  auffassen;  denn  die  gleich- 
massige  Durchführung  der  Hufen  auf  dem 
volksmässig  wie  dem  von  einzelnen  Herren 
in  Besitz  genommenen  Lande  findet  sich 
auch  anderwärts. 

4.  Allgemeine  Verbreitung  der  Hnfen 
in  England  nnd  Skandinavien.  Für  Eng- 
land erweist  sich  die  allgemeine  Durchfüh- 
rung der  Hufen  Verteilung  und  die  gleiche 
katastermässige  Würdigung  der  einzelnen 
Hufen  dadurch,  dass  schon  1003  und  von 
da  fortlaufend  bis  in  das  12.  Jahrhundert 
der  Tribut  oder  das  Loskaufgeld  an  die 
Dänen ,  die  sogenannte  Danegilte  mit  1 
Schilling  auf  jede  Hufe  erhoben  w»u*de. 

In  Dänemark  wurde  1231  die  Landein- 
schätzimg, welche  dem  Erdbuche  Walde- 
mars  IL  zu  Grunde  liegt,  nach  Hufen  aus- 
geführt und  für  jede  Hufe  gleichmässig 
der  Wert  von  1  Mark  Goldes  in  Ansatz 
gebracht.  Ebenso  wnmie  1249  die  bekannte 
Pflugsteuer  Erich  Plugpennigs  nach  den 
Hufen,  in  gleicher  Höhe  von  jeder  boole, 
umgelegt. 

Schweden  zerfällt  noch  gegenwärtig  in 
67  770  Hufen,  Mantal  oder  Hemman, 
Mannsteile  oder  Mannsheim,  welche  in 
früheren  Zeiten  den  Höfen  entsprachen,  die 
von  einer  Bauernfamilie  bewirtschaftet  wur- 
den. Mit  der  Zeit  und  bei  dem  Fortschritte  des 
Anbaues  sind  sie  zur  Teilung  gekommen 
und  bilden  nur  noch  ideelle  Einheiten,  von 
denen  kleinere  Stellen  teils  auf  immer,  teils 
auf  gewisse  Zeit  abgegeben  werden  kcmnen. 
Von  den  Mantals  fallen  59532  auf  das  alte 
Volksland,  der  Rest  auf  die  nördlicheren 
Kolonisationsgebiete.  Da  Schweden  im 
ganzen  406721  qkm  Land,  ungerechnet  die 
36097  qkm  Seeen,  besitzt,  würde  jede  Hufe 
einen  dm*chschnittlichen  Flächeninhalt  von 
6  qkm  besitzen  können.  Acker-  und  anderes 
Kulturland  beträgt  aber  im  ganzen  König- 
reiche nur  3,9  Millionen  ha,  so  dass  abge- 
sehen von  Weideland  die  nutzbare  Grösse 
der  Hufe  57  ha,  wenig  mehr  als  die  Königs- 
hufe beträgt. 

5.  H.  der  deutschen  Kolonisation. 
Für  die  Kolonisation  der  Slawenländer  wurde 
von  Beginn  an  der  Gebrauch  der  Hufe  für 
die  Vergebung  der  Güter,  die  Ansetzung 
der  Kolonisten  und  die  Erhebung  der  fiska- 
lischen und  gutsherrlichen  Lasten  als  völlig 
selbstverständlich  angesehen  und  ohne  Aus- 
nahme angewendet.  Die  I^andzu Weisungen 
der  erobernden  deutschen  Füreten  an  den 
Adel,  die  Geistlichen,  Stifter  und  die  Städte 


Hufeu  Verfassung 


1245 


erfolgten  ebenso  nach  einer  bestimmten  An- 
zahl Hufen  wie  die  Schenkungen  der 
Slawenftlrsten,  welche  in  dem  Besitze  ihrer 
Herrschaft  blieben  und  ihi-erseits  ihr  Ijand 
durch  die  Heranziehung  deutscher  Grund- 
hen^cn  und  deutscher  Kolonisten  zu  heben 
suchten.  Ebenso  teilten  die  Grundherren 
den  Unternehmern  der  Kolonieanlagen,  und 
diese  Unternehmer  wieder  den  einzelnen 
Kolonisten  das  Land  nach  der  Hufe  zu. 

Diese  Hufen  waren  sowohl  in  der  Form 
der  Feldverteilung  als  in  der  Grösse  ver- 
schieden, aber  innerhalb  jeder  Kolonie 
gleichwertig  gedacht.  Man  darf  sogai*  an- 
nehmen, dass  die  oben  S.  1240  unterschiede- 
nen Waldhufeu,  flämischen  Hufen  und  Land- 
hufen untereinander  ziemlich  gleich  leis- 
tungsfähig erachtet  wurden.  Die  Landhufe 
von  15  ha  stand  der  kleinen  flämischen 
Hufe  von  16,81  ha  sehr  nahe.  Wo  aber  die 
alte  flämische  Hufe  die  doppelte  Fläche 
umfasste,  waren  Sümpfe  zu  kultivieren  oder 
Eindeichungen  auszuführen,  von  denen  die 
bekannteren  in  der  altmärkischen  Wische  so 
schwierig  und  kostspielig  erscheinen,  dass 
wir  uns  von  deren  Herstellung  kaum  eine 
befriedigende  Vorstellung  zu  machen  ver- 
mögen. Die  zwischen  30  bis  36  ha  oft  in 
derselben  Gemarkung  schwankenden  Wald- 
hufen aber  konnten  ihr  Anbauland  nur  durch 
schwere  Rodungsarbeiten  gewinnen,  und  die 
grössere  Fläche  einzelner  Hufen  bildete  eine 
oft  wenig  zureichende  Entschädigimg  daftlr, 
dass  in  den  geschlossenen  Landstreifen  ihres 
Besitzes  steilere,  nassere  oder  steinigere 
Hänge  mit  eingeschlossen  werden  mussten 
als  in  den  anderer  Nachbarhufen. 

Die  ebenfalls  katastermässige  Auffassung 
dieses  Hufenbestandes  in  den  einzelnen 
Fürstentümern  ergeben  einige  Landbücher 
oder  Hufenregister,  w^elche  schon  im  14. 
Jahrhundert  angelegt  winden,  um  die  fürst- 
lichen Einkünfte  nachzuweisen,  wie  das 
Landbuch  der  Neumark  von  1337  (ed.  Goll- 
mert  1862),  das  Landbuch  für  das  Fürsten- 
tum Breslau,  Neumarkt  1358—1367  (ed. 
Stenzel  1842  im  Bericht  der  historischen 
Sektion  der  Schles.  Yaterl.  Gesellschaft) 
und  das  Landbuch  der  Mark  Brandenburg 
von  1375  (ed.  Fidicin  1856),  in  Polen 
Steueranlagen  unter  Casimir  dem  Grossen 
(1333— 1370).  Hierher  lässt  sich  auch  der 
liber  Census  Daniae,  ein  nach  Haken  auf- 
gestelltes Grundbesitzregister  eines  Teües  von 
Esthland  aus  der  Mitte  des  13.  Jahi'hunderts 
ziehen. 

6.  Fortdauer  der  H.  Neben  den  Land- 
büchern erscheinen  schon  im  15.  Jahrhim- 
dert  vielfach  Zinsregister  in  verschiedenen 
Territorien,  welche  die  einzelnen  Ortscliaften 
mit  den  darin  vorhandenen  Besitzungen  und 
deren  Eigentümer  verzeichnen  uncl  dabei 
den  Bestand  jeder  Besitzung   nach  Hufen 


und  die  den  Hufen  verhältnismässig  verteil- 
ten landosherrlifhen  Lasten,  oft  auch  die 
gutsherrlichen,  aufführen.  Im  16.  Jahrhun- 
dert werden  solche  Landesbeschreibungen ^ 
Erbbücher,  Ziusi^egister,  Hufenregister,  ganz 
allgemein.  Sie  gehen  von  den  Finanz-  oder 
den  Domänen  Verwaltungen  der  einzelnen 
Landesherren  aus. 

Auch  von  Seiten  der  Gutsherren  ent- 
wickelte sich,  wie  jedes  Archiv  zeigen  kann^ 
seit  dem  Anfange  dos  16.  Jahrhunderts  ein 
besonderes  Bestreben,  den  alten  Hufenbe- 
stand und  die  Hufenlasten  der  einzelnen 
hörigen  Ortschaften  festzustellen.  Es  hing 
dies  damit  zusammen,  dass  in  der  Zeit  der 
Begründung  der  modernen  Monarchie  und 
des  die  neuen  Justiz-  und  Verwaltuugs- 
kollegien  besetzenden  Dienst-  und  Hofadels 
zugleich  die  grössere  Ausdehnung  der 
Güter  seitens  des  Adels  und  der  Betrieb 
derselben  in  eigener  Wirtschaft  begann.  Es 
kam  dai-auf  an,  im  Interesse  dieser  Gross- 
güter Besitz  und  Rechte  der  Bauernschaften 
genau  abzugrenzen. 

Das  Ansehen  dieser  Grosswirtschaft,  der 
Einfluss  des  Beamtentums  und  die  immer 
fühlbarer  werdenden  finanziellen  Verlegen- 
heiten der  Herrscher  steigerten  im  16.  und 
noch  im  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  die 
Macht  der  I^andstände  so  hoch,  dass  Steuer- 
bewilligung und  Steuerverteilung  im  we- 
sentlichen in  ihren  Händen  lag  und  die 
Lasten  des  ländlichen  Grundbesitzes  in  der 
Hauptsache  wieder  nach  dem  alten  Hufen- 
massstabe zur  Umlage  kamen.  Dass  dabei 
der  Adel  soweit  als  möglich  auf  Gnuul  der 
Lehnspflichten  seine  Steuerfreiheit  durch- 
setzte und  die  Lasten  auf  die  Bauernhufen 
abwälzte,  berührte  den  Grundsatz  der 
Hufenbesteuerung  nicht.  Weniger  entsprach 
es  der  alten  Hufenverfassung,  dass  sich  die 
herkömmlichen  Hufen  vielfach  verwischt 
hatten  und  an  ihrer  Stelle  die  kleineren 
landesherrlich  festgestellten  Hufenmasse  als 
Grundla^ge  der  Hiifenbesteuenmg  angenom- 
men wurden. 

Nach  dem  30  jährigen  Kriege  griffen  die 
landesherrlichen  Finanzverwaltungen  mit 
grösserer  Kraft  im  Sinne  gerechterer  Aus- 
gleichungen in  die  Steuerverhältnisse  ein. 
Indes  vergingen  noch  lange  Perioden,  ehe 
auf  dem  Gebiete  der  Grundbesteuerung 
durchgreifende  Massregeln  möglich  wurden. 
1705  begann  Wtirttemberg  eine  Landeska- 
tastrierung  auf  Grund  von  Triangulierung 
und  Specmlkartierung.  1725  wurde  Schlesien 
trianguliert  imd  in  den  Hauptflächen  der 
Fürstentümer  und  Kreise  berechnet.-  Die 
von  Friedrich  dem  Grossen  1741  und  1772 
zum  Abschluss  gebrachte  Steuereinschätzung 
legte  indes  für  die  ganze  Provinz  noch  die 
althergebrachten  Hufenzahlen  der  Güter  und 
Bauerschaften  zu  Gninde.   Seit  1765  wurdea 


1246 


Hafenverfassung — Hüllmauu 


auch  Kurhessen  und  Braunschweig  in  allen 
Parzellen  vermessen  und  kartiert  und  dabei 
die  Lasten  im  einzelnen  festgestellt.  Auch 
ftir  diese  Feststellungen  wiu'den,  soweit  mög- 
lich, die  alten  Hufen  zu  Grunde  gele^  und 
boten  in  der  Regel  den  besten  unstnttigen 
Anhalt. 

Erst  die  modernen  Katastrierungen  haben 
allgemeine,  an  die  Bodenbeschaffenheit  an- 
geschlossene SchÄtzungsgnmdsätze  aufgestellt 
und  auf  den  Reinertrag  bezogene  Grundbe- 
steuerungen durchgeführt. 

Für  die  Leistungen  und  Abgaben  an  den 
Gutsherrn  sind  indes  bis  zur  Ablösung  der- 
selben und  für  die  Verteilung  der  Gemeinde- 
lasten vielfach  bis  auf  den  heutigen  Tag  die 
alten  herkömmlichen  Hufen  massgebend  ge- 
blieben. Es  kam  dabei  nur  auf  die  Einheit 
der  Hufe,  nicht  auf  deren  zeitweiligen  Be- 
sitzer an,  so  dass  auch  bei  völlig  parzellier- 
ten Hufen  die  Leistungen  immer  nach  der 
ganzen  Hufe  umgelegt  werden  konnten  und 
den  Teilstückbesitzem  die  ünterverteilung 
selbst  überlassen  blieb. 

Ebenso  haben  die  Anrechte  an  Gemein- 
heiten und  die  Beteiligung  an  Servituten  in 
der  Regel  ihre  Feststellung  nach  den  orts- 
üblichen Hufen  gefunden,  und  waren  nach 
dieser  Verteilung  und  am  leichtesten  ohne 
Streit  zur  Entscliädigung  und  Aufhebung  zu 
bringen. 

7.  Bedeatnng  der  H.  Die  grossen 
Vorteile  der  Hufenverfassung  für  ein  vor- 
zugsweise auf  landwirtschaftlichem  Dasein 
beruhendes  Volks-  und  Staatsleben  sind  un- 
verkennbar. Sie  erlaubte  für  ganze  Landes- 
teile und  Staatsgebiete  eine  katastermässige 
Uebersicht  und  gewährte  von  Anfang  an  den 
Nachbarn  das  Bewusstsein,  mit  gleichen 
Schultern  zu  tragen.  Der  Staat  wie  die 
Mächtigen  waren  gehindert,  die  Lasten  un- 
gleich und  nach  Gunst  aufzuerlegen.  Dabei 
war  der  Massstab  so  einfach  und  durch- 
sichtig, dass  die  Verwaltung  auf  das  ge- 
ringste Mass  beschränkt  bleiben  konnte. 
Bei  bekannter  Hauptsumme  des  Bedürf- 
nisses waren  die  Teilungsbeträge  für  jeden 
berecheobar.  Auch  für  das  Verfahren  der 
Beitreibung  wurde  durch  die  Gleichmässig- 
keit  jedes  Interesse  beseitigt,  die  Einsamm- 
lung anders  als  in  der  Gemeinde  selbst  vom 
Vorsteher  vornehmen  zu  lassen.  Dadurch 
wurde  die  bei  unentwickelten  Staats  Verhält- 
nissen sehr  grosse  Gefahr  der  Verschuldung 
der  Pflichtigen  gegenüber  den  Steuererhe- 
bern, des  Entstehens  gi'osser  Steuerreste  und 
der  Vereuche  fern  gehalten,  steigende  Aus- 
fälle der  Steuerverwaltung  und  wachsende 
Bedürfnisse  des  Hofes  und  Staates  durch 
neue  und  verschiedenartige  Steuern  zu 
decken.  Mannigfache  Steuersysteme  lassen 
sich  in  ihren  Wirkungen  nur  bei  sehr  ge- 
ordneter und  sachkundiger  Verwaltung  über- 


sehen. Ohne  genügende  Grundlage  führen 
sie  zu  grossen  Ungleichmässigkeiten  und 
erniedrigen  die  Steuereingänge,  statt  sie  zu 
heben,  weil  sie  eine  kostspielige  und  schwer 
kontrollierbare  Menge  von  Beamten  erfordern 
und  durch  ihre  Wechselwirkung  die  Steuer- 
-kraft  schwächen  und  erschöpfen. 

Mit  der  einfachen  unveränderlichen 
Gnmdlage,  welche  die  Hufenverfassung  den 
öffentlichen  Lasten  gewährte,  verknüpfte 
sich  aber  auch  überall  die  Sitte  und  Auf- 
fassung, für  die  grundherrlichen  Leistungen 
dieselbe  Grundlage  dauernd  festzuhalten.  Es 
ging  daraus  die  weite  Verbreitung  der  Erb- 
zinsgüter für  die  hörigen  Bauern  hervor, 
deren  fester  unveränderlicher  Bestand  für 
die  Erhaltung  des  deutschen  Bauernstandes 
viel  mehr  Wert  hatte  als  die  Freiheit  der 
Person,  die  sich  mit  der  Zeit  mehr  oder 
weniger  verminderte. 

Litteratur:    S,  im  ah.  Hufe  oben  S.  IS4I. 


Hüllmann,  Karl  Dietrich, 

geb.  am  10.  IX.  1765  zn  Erdeboru  bei  Eisleben^ 
preuss.  Provinz  Sachsen,  studierte  in  Halle, 
leitete  1786  bis  1792  eine  Privathandelsschale 
in  Bremen,  wurde  1795  Privatdozent  der  Ge- 
schichte, 1797  ausserordentlicher  und  1807  or- 
dentlicher Professor  an  der  Universität  Frank- 
furt a.  0.,  folgte  1808  einem  Rufe  nach  Königs- 
berg als  Professor  der  Geschichte  und  Statistik, 
wurde  1818  für  die  neu  errichtete  Hochschule 
in  Bonn  gewonnen,  wo  er  als  erster  Rektor 
und  RegierungsbevoUmächtigter  amtierte.  Im 
76.  Lebensjahre  trat  er  in  den  Rahestand  and 
starb  am  4.  III.  1846  in  Bonn. 

Hüllmann  veröffentlichte  von  staatswissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform:  Historische 
und  staatswirtschaftliche  Untersuchungen  über 
die  Naturaldienste  der  Gutsonterthaneu  nach 
fränkisch-deutscher  Verfassung  und  die  Ver- 
wandlung derselben  in  Gelddienste,  Berlin  180B. 
—  Deutsche  Finanzgeschichte  des  Mittelalters. 
Mit  Nachtrag:  Geschichte  des  Ursprungs  der 
Regalien  in  Deatschland,  2  Bde.  Berlin  nnd 
Frankfurt  a.  0.  1805—6.  —  Geschichte  des 
Ursprungs  der  Stände  in  Deutschland,  3  Bde., 
ebd.  180N5— 8;  dasselbe,  neuer  Abdruck,  3  Bde., 
Berlin  1817;  dasselbe,  2.  Aufl.  (vollständige 
Umarbeitung  des  alten  Werkes),  eod.  1830.  — 
Geschichte  der  Domänenbenutzung  in  Deatsch- 
land, Frankfurt  a.  0.  1807  (Göttinger  Preis- 
schrift). —  Geschichte  des  byzantinischen  Han- 
dels bis  zn  Ende  der  Ereuzzüge,  ebd.  1806 
(Göttinger  Preisschrift).  —  De  re  argentaria 
veteris  et  medii  aevi  dissertatio  historica  cri- 
tica,  Königsberg  1811.  —  Urgeschichte  des 
Staates,  ebd.  1817.  —  Ursprünge  der  Besteue- 
rung, Köln  1818.  —  Staatsrecht  des  Altertums, 
ebd.  1820.  —  Städtewesen  des  Mittelalters,  4 
Bde.,  Bonn  1826—29  (Hauptwerk  Hüllmanns, 
welches  sich  wegen  der  Reichhaltigkeit  und  über- 
sichtlichen Gruppierung  des  gebotenen  Materials 


Hiillmaan — Hiime 


1247 


noch    immer    zum    Stndium    empfiehlt.      Das 

frösste  Interesse  beansprucht  Bd.  I,  worin 
[unstfleiss,  Handel  und  Schiffahrt  behandelt 
sind  mit  besonderen  Hauptstücken  für  Binnen- 
grosshandel und  Zahlungsverfassung.  Bd.  IV 
umfasst  das  „Bürgerleben",  dessen  überaus 
lebendige  Schilderungen  das  treue  Kolorit  der 
mittelalterlichen  Ueberlieferungen  aufweisen.)  — 
Ursprünge  der  Kirchenverfassung  des  Mittel- 
alters, Bonn  1831.  —  Römische  Grundverfas- 
sung, Bonn  1832.  —  Staatsverfassung  der  Israe- 
liten, Leipzig  1834.  —  Ursprünge  der  römischen 
Verfassung,  durch  Vergleichungen  erläutert, 
Bonn  1835.  —  Jus  pontificium  der  B^mer,  Bonn 
1837.  —  Handelsgeschichte  der  Griechen,  Bonn 
1839.—  Griechische  Denkwürdigkeiten  des  Mittel- 
alters, Bonn  1840.  —  Geschichte  des  Ursprungs  der 
deutschen  Ftirstenwürde,  Bonn  1842.  —  Staats- 
wirtschaftlich -  geschichtliche  Nebenstunden ,  2 
Teile,  Bonn  1843  (enthält  auf  S.  86  u.  ff.  des 
II.  Teils  den  wichtigen  Artikel:  Bankzettel, 
Vorgeschichte;  Entst^hungsart  der  Banken, 
Zettel-  und  Girobanken  etc.).  — 


Vergl.  über  Hüllmann:  F.  Delbrück, 
Nekrolog  Hüllmanns,  in  „A.  Schmidts  Zeit- 
schrift für  Geschichtswissenschaft",  Bd.  VI, 
Berlin  1846,  S.  1  ff.  —  Neuer  Nekrolog  der  Deut- 
schen, Jahrg.  1846,  Teil  I,  Weimar,  S.  167.  — 
R.  V.  Mohl,  Geschichte  und  Litteratnr  der 
Staatswissenschaften,  Bd.  II,  Erlangen  18ö7,  S. 
302,  309,  315.  —  Röscher,  Geschichte  der 
Nat.,  1874,  S.  914.  —  Allgemeine  deutsche 
Biog^phie,  Bd.  XIII,  Leipzig  1881 ,  S.  330.  - 

Lippert 


Hume,  David, 

feb.  am  26.  IV.  1711  zu  Edinburg,  studierte 
ie  Rechte,  amtierte  1752  als  Oberbibliothekar 
der  Advokatenbibliothek  in  Edinburg,  wo  er  das 
Material  zu  seinem  grossen  Geschichtswerke, 
fortgesetzt  von  SmoUet  und  Hughes,  sammelte. 
1763  trat  er  als  Legationssekretär  in  Paris  in 
freundschaftlichen  Verkehr  mit  den  Encyklopä- 
disten,  wurde  1767  Unterstaatssekretär  in  Lon- 
don und  lebte  seit  1769  nur  noch  seinen  wissen- 
schaftlichen Studien  in  Edinburg,  wo  er  am  25. 
Vm,  1776  starb. 

Hume,  der  einerseits  durch  seinen  vollende- 
ten Skepticismus  die  Grundpfeiler  des  damaligen 
philosophischen  Lehrgebäudes  erschütterte,  der 
sich  ferner  als  klassischer  Geschichtsschreiber 
Eng[lands  mit  Ruhm  bedeckte,  gehört  auch  als 
Nationalökonom  zu  den  Koryphäen  der  Wissen- 
schaft. Als  einer  der  bedeutendsten  Vorläufer 
des  seit  1748  mit  ihm  befreundeten  Adam  Smith, 
und  in  seiner  durch  Grossartigkeit  der  Emp- 
findung imponierenden  Staats-  und  Wirtschafts- 
anschauung, war  Hume,  wie  Röscher  ihn  in 
seiner  „Geschichte  der  englischen  Volkswirt- 
schaft" bezeichnet,  „erster  Chorführer  des  gol- 
denen (zwischen  1742  bis  1823  angenommenen) 
Zeitalters  der  volkswirtschaftlichen  Litteratur 
der  Engländer". 

a)  Hume  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform :  Essays  moral,  po- 
litical  and  lit^rary,  London  1742;   dasselbe,  2. 


Aufl.  unter  dem  Titel:  Essays  and  treatises  on 
several  subjects,  Edinburg  1752 ;  Neudruck  eines 
Bruchstücks  der  1752  er  Auflage  in  0  verstone 
coUection  of  select  economical  tracts  (reprinted 
by  Lord  Overstone,  1674—1811),  Bd.  III,  London 
1859,  enthaltend:  Banks  und  paper  money; 
französische  Uebersetzungen  des  vollständigen 
Werks:  Discours  polit.  etc.,  traduit  par  Le 
Baue,  2  Bde.,  Dresden  1755 ;  Essais  sur  le  com- . 
merce,  le  luxe,  Tar^ent,  les  impots,  etc.,  in 
„Melanges  d'economie  politique.  Publ.  avec 
notice  nistorique,  commentaires  etc.,  par  E. 
Daire  et  G.  de  Molinari",  Bd.  I,  Paris  1847; 
Oeuvres  de  D.  Hume,  in  „CoUection  des  princi- 
paux  economistes,  enrichie  de  commentaires  etc. 
par  Blanqui,  Rossi,  H.  Say,  Daire  etc.",  Bd.  XV, 
1,  Paris  1847;  Oeuvre  economique.  Traduction 
nouvelle,  par  Formentin,  edition  L.  Say,  Paris 
1888;  holländische  Uebersetzung  u.  d.  T. : 
Wijsgeerige  en  stadtkundige  verhandelingen, 
Rotterdam  1766;  deutsche  Uebersetzungen: 
David  Humes  Geist,  1.  Bändchen:  Politik,  von 
Chr.  Aug.  Fischer,  Leipzig  1795;  2.  Aufl.  des 
vorstehenden  u.  d.  T.:  Politische  Zweifel,  ebd. 
1799;  Politische  Versuche,  übersetzt  von  C.  J. 
Kraus,  König^berfi^  1800,  auch  u.  d.  T.:  Kraus, 
Vermischte  Schriften,  Band  VII;  dasselbe,  2. 
vermehrte  Auflage,  1813;  Nationalökonomische 
Abhandlungen,  Übersetzt  von  H.  Niedermüller, 
Leipzig  1877.  (Die  wirtschaltlichen  Theorieen, 
welche  in  diesem  Werke  erörtert  werden,  sind 
folgende :  Handel,  Luxus,  Geld,  Zinsen,  Handels- 
bilanz, Handelseifersucht  [on  the  Jalousie],  Be- 
völkernngszustände  im  Altertum.  Staatsschuld, 
Steuern  und  Abgaben.  Nach  seiner  Lehre  vom 
Geld,  das  er  das  Oel  nennt,  womit  das  Rad  der 
Cirkulation  geschmiert  wird,  hängt  die  mate- 
rielle und  politische  Potenz  eines  Volkes  von 
dem  Masse  der  Fähigkeit  ab,  seine  Arbeitskraft 
zur  Erzeugung  von  menschlichen  Bedürfnissen 
dienenden  Gütern  auszunutzen;  die  Höhe  des 
Zinsfusses  wird  nach  ihm  nicht  von  dem  Man- 

fel  oder  Ueberfluss  an  Geld,  sondern  von  dem 
erhältnis  abhängig  gemacht,  in  dem  das 
Kapital  zwischen  Angebot  und  Nachfrage  als 
Bedürfnisobjekt  fällt  oder  steigt.  Seine  Theorie, 
dass  das  Angebot  verglichen  mit  der  Nachfrage 
den  Preis  bestimme,  hat  seit  Adam  Smith  dem 
Lehrsatz  weichen  müssen,  dass  sich  der  Markt- 
preis ans  dem  Zusammenwirken  von  Nachfrage 
und  Konkurrenz  regele.  Seinen  Ansichten  über 
Handelsbilanz  lie^  die  Annahme  zu  Grunde, 
dass  kein  Industriestaat  die  Edelmetallvermeh- 
rung und  das  Sinken  der  Gold-  und  Silberpreise 
zu  fürchten  brauche,  da  der  kommerzielle  Aus- 

gleich  nicht  ausbleibe  und  der  Wechsel  von 
-eldüberfluss  und  -abnähme  lediglich  von  den 
Handelskonjnnkturen  abhänge,  wie  auch  nur 
Geld-  und  Warencirkulation  die  Preisbildung 
reguliere.  Hinsichtlich  des  Arbeitslohns  vertritt 
er  den  Standpunkt,  dass  dessen  steigende  Ten- 
denz zwar  die  Zahl  und  Thätigkeit  der  Arbeiter 
erhöhe,  gleichzeitig  aber  aucn  den  Preis  der 
Konsumtionsartikel  steigere,  den  Export  redu- 
ziere und  dadurch  den  Nationalwohlstand  schä- 
dige. Seine  Lehre  vom  öffentlichen  Kredit,  der 
zur  Dienstbarmachung  der  Kräfte  anderer 
Menschen  dienen  soll,  hat  die  meisten  Anfech- 
tungen erfahren  und  ist  zuerst  von  Genovesi 
bekämpft  worden ;  in  der  Steuerpolitik  steht  er 
auf  dem  Standpunkt  der  Mehrzahl  der  Finanz- 


1248 


Himie — Hundesteuer 


Politiker  der  Gegenwart,  indem  er  den  Kon- 
sumtions-  und  Luxnssteuem,  als  den  am  wenigsten 
drückenden,  den  Vorzug  giebt.  In  der  berühm- 
ten Kontroverse  zwischen  ihm  und  T ucker,  wo- 
nach, Hume  zufolge,  Industrie  und  National- 
wohlstand, trotz  ihrer  schrankenlosen  Entwicke- 
lungsfähigkeit,  in  diesem  Wachstum  die  Keime 
des  Niedergangs  trügen,  steht  Hume  den  übri- 
gen Nationalökonomen  ziemlich  isoliert  gegen- 
über. Schliesslich  darf  auch  nicht  unerwähnt 
bleiben,  dass  der  Philosoph  Hume  durch  seine 
Kritik  des  Kausalitätsbeenffes  der  statistischen 
Methodik,  soweit  sie  die  Ursächlichkeit  bestimm- 
ter Erscheinungen  insbesondere  nach  dem 
induktiven  Verfahren  verfolgt,  wesentliche 
Dienste  geleistet  hat.)  —  Humes  und  Rousseans 
Abhandlungen  über  den  ürvertrag,  nebst  einem 
Versuch  über  die  Leibeigenschaft,  herausg.  von 
G.  Merkel,  2  Teile,  Leipzig  1797. 

b)  Gesamtwerke  Humes:  Essays  B,nd  trea- 
tises  on  several  subjects,  2  Bde.,  neue  Ausgabe 
London  1772  (Inhalt  Bd.  I:  Essays,  moral, 
political  [on  commerce ,  balance  of  trade,  inter- 
est,  money,  public  credit,  on  the  populousness 
of  ancient  nations],  and  literary;  Bd.  II:  In- 
quiry  conceming  human  understanding ;  a  disser- 
tation  on  the  passions,  an  inquiry  conceming 
the  principles  of  morals  and  the  natural  history 
of  religion);  dasselbe,  neue  Ausgabe,  2  Bde., 
1784;  dasselbe,  neue  Ausgabe,  4  Bde.,  Basel 
1792 ;  dasselbe,  neue  Ausgabe,  2  Bde ,  Edinburg 
1825.  —  Vermischte  Schriften,  aus  dem  Eng- 
lischen von  H.  A.  Pistorius,  4  Teile,  Hamburg 
1754 — 57.  —  Philosophical  works,  complete, 
with  bis  controversies  with  RousseaU)  Scoticisms, 
autobiography ,  and  illustrative  notes,  4  Bde., 
Edinburg  1826—27;  dasselbe,  neue  Ausgabe,  4 
Bde.,  1836;  dasselbe,  4  Bde.,  Boston  1854;  das- 
selbe, neueste  Ausgabe,  4  Bde.,  London  1856. 


Vergl,  über  Hume:  J.  T ucker,  Four 
tracts  and  two  sermons  on  political  and  com- 
mercial  subjects,  London  1774,  S.  20.  —  Life, 
written  by  himself,  London  1777;  dasselbe  in 
französischer  Uebersetzung  ebd.  1777.  —  Apo- 
logy  for  the  life  and  writings  of  D.  Hume, 
London  1777.  —  Letter  to  Adam  Smith,  on  the 
life,  death,  and  philosophy  of  bis  friend  D. 
Hume,  by  one  of  the  people  called  Christians, 
Oxford  1777.  —  Adam  Smith,  Life  of  D. 
Hume,  London  1778.  —  F.  H.  Jacobi,  David 
Hume,  über  den  Glauben,  oder  Idealismus  und 
Realismus;  ein  Gespräch,  Berlin  1787.  —  Gu- 
rions particulars  and  genuine  anecdotes  respec- 
ting  the  late  Lord  Chesterfield  and  D.  Hume, 
London  1788.  -  Berliner  Monatsschrift,  Jahrg. 
1791.  November,  S.  402 ff.  —  Der  britische 
Plutarch,  Bd.  VII,  Jena  1792,  S.  193 ff.  —  Du- 
gald  Stewart,  Account  of  the  life  and  wri- 
tings of  A.  Smith,  Edinburg  1793.  —  Stäud- 
lin,  Geschichte  und  Geist  des  Skepticismus, 
Bd.  II,  Leipzig  1795.  -  Kahle,  De  Dav. 
Humii  philosophia,  Berlin  1832.  -*  Er  seh  und 
Grub  er,  Encvklopädie,  II.  Sektion,  Teil  XII, 
Leipzig  1835,  S.  27  ff.—  MacCulloch,The  litera- 
ture  on  political  economy,  London  1845,  S.  23, 
141,  319.  -  H.  Ulrici,  Geschichte  und  Kritik 
der  Principien  der  neueren  Philosophie,  Leipzig 
1845,  S,  164/185.  —  Burton,  Life  and  corre- 


spondence  of  D.  Hume,  2  Bde.,  Edinburg  1846. 

—  Dictionnaire  de  l'economie  polit.,  2.  Auff.  Bd.  I, 
Paris  1&54,  S.  880/82.  —  Oarey,  Principles  of 
social  science,  3  Bde..  Philadelphia  1858 — 59,  Bd. 
II,  S.  322,  326,  446,  452,  Bd.  III,  S.  125.  425.  — 
Kautz,  Theorie  und  Geschichte  der  National- 
ökonomik, Teil  II,  Wien  1860,  S.  60,  390  ff.  — 
Jodl,  Leben  und  Philosophie  David  Humes, 
Halle  1872.  —  Schaffte,  System,  3.  Auf!., 
Bd.  II,  Tübingen  1873,  S.  17.  —  Compayr^, 
La  Philosophie  de  Dav.  Hume.  Paris  1873.  — 
Röscher,  Gesch.  der  Nat. ,  München  1874,  S. 
414  ff. ,  u.  ö.  —  Pf  leider  er,  Empirismus  und 
Skepsis  in  Dav.  Humes  Philosophie,  Berlin  1874. 

—  Thompson,  Social  science  and  national 
economy,  Phüadelphia  1875,  S.  64,  161/62,  203. 

—  The  Economist,  London,  Nr.  v.  3.  VI.  1876 
(Erörterung  der  Gegensätze  zwischen  Hume  und 
Adam  Smith).  -  Perry,  Introduction  to  poli- 
tical economy,  New- York  1877,  S.  208.  —  J.  L. 
Shadwell,  System  of  political  economv,  Lon- 
don 1877,  S.  73,  75,  169.  —  Gizyckil  Ethik 
David  Humes,  Breslau  1878.  —  Ritter.  Kant 
und  Hume,  Halle  1878.  —  Huxley,  Hume  (in 
„English  men  of  letters"),  London  1879.  — 
Ueberweg,  Grundriss  der  Geschichte  der 
Philosophie,  5.  Aufl.,  Bd.  III,  Berlin  1880,  S. 
165.  —  John,  Geschichte  der  Statistik.  Bd.  I, 
Stuttgart  1884,  S.  275/76,  310 11.  —  J.  Bonar, 
Malthus  and  bis  work,  London  1885,  S.  31,32, 
99,  116,  135,  173  etc.  —  J.  Beloch,  Die  Be- 
völkerung der  griechisch-römischen  Welt,  Leip- 
zig 1886,  S.  34  und  86.  —  G.  Schelle,  Du 
Pont  de  Nemours  et  l'ecole  physiocratique. 
Paris  1888,  S.  14.  —  Ingram,  History  of 
political  economy,  Edinburg  1888,  S.  83,  85, 
lOOff.,  123,  128.—  S.  Feilbogen,  Smith  und 
Hume,  in  „Zeit«chr.  f.  Staatsw.",  Jahrg.  1890, 
S.  695,716.  —  Dictionary  of  national  biography 
ed.  by  Sidney  Lee,  vol.  XXVm,  London  1891' 
p.  215/226.  —  Ettinger,  Einfluss  der  Gold' 
Währung  auf  das  Einkommen,  Wien  1892,  S- 
52.—  P.  Richter,  David  Humes  KausalitätB- 
theorie  und  ihre  Bedeutung  für  die  Begründung 
der  Theorie  der  Induktion,  Halle  1893.  —  H. 
Calderwood,  David  Hume,  New- York  1898. 

—  Max  Klemme,  Die  volkswirtschaftlichen 
Anschauungen  David  Hume's,  Jena  1900. 

Lippert. 


Hnndestener. 

1.  Allgemeines.    2.  Gesetzgebung. 

1.  Allgemeines.  Die  Hundesteuer  ist 
eine  direkte  Aufwandsteuer  vom  Halten  von 
Hunden.  Sie  nimmt  einerseits,  wenigstens 
zum  Teil,  den  Chai-akter  einer  Liixus- 
steuer  an,  indem  sie  einen  vielfach  niu* 
Luxuszwecken  (Vergnügen,  Jagd  etc.)  die- 
nenden Gegenstand  der  Besteuerung  unter- 
wirft, andererseits  aber  hat  sie  das  Gef)r3ge 
einer  Gebühr,  insofern  sie  aus  sanitäts- 
polizeilichen Gründen  die  Hunde  einer  steten 
Kontrolle  und  Aufsicht  unterstellt.  Durch 
diese  Massregel  wird  die  Gefalir  der  Toll- 


Hundesteuer 


1249 


wut  und  anderer  ansteckender  Krankheiten 
durch  die  Tötung  krank  befundener  Tiere 
von  Amts  wegen  vermindeil;,  die  Zahl  der 
Hunde  beschränkt  und  endlich  mittelbar  auf 
eine  Veredelung  der  Hunderassen  hinge'^drkt. 
Die  Veranlagimg  und  Erhebung  der  Abgabe 
pflegt  im  Anschluss  an  die  tierärztliche 
Untersuchung  zu  erfolgen.  Die  Steuersätze 
sind  entweder  einheitlich,  sie  wei-den  in 
gleicher  Höhe  für  jeden  Hund  eingezogen 
oder  sie  sind  abgestuft  nach  Art  oder 
Zweck  des  Hundes  oder  nach  Ortsklassen. 
Die  Hundesteuer  ist  entweder  Staats-  oder 
Gemeindesteuer,  zuweilen  eine  Verbindung 
aus  beiden,  indem  der  Staat  dieselbe  auf 
seine  Rechnung  erhebt  oder  durch  die  Or- 
gane der  Gemeindeverwaltung  erheben  lässt, 
lun  ihren  Ertrag,  ganz  oder  teilweise,  den 
Kommunalkörpern  und  kommunalen  Zwecken 
zuzuweisen.  Oefters  besteht  der  Anteil  der 
Gemeinden  an  der  Hundesteuer  in  Zuschlägen 
zur  Staatssteuer,  zu  deren  Einziehung  jene 
berechtigt  sind.  Der  Ertrag  der  Auflage 
ist  von  den  Gemeinden  häufig  für  bestimmte 
vorgesehene  Zwecke  zu  verwenden,  insbe- 
sondere für  die  Ortsarmenpflege.  Im  all- 
gemeinen scheint  die 'Hundesteuer,  wie  die 
direkten  Aufwandsteuern  überhaupt,  besser 
zu  einer  Gemeindeabgabe  geeignet  denn  zu 
einer  Staatssteuer. 

2«  C^^esetzgebmig«  a)  Deutsche  Staaten. 
Preussen  (G.  v.  14.  Juli  1893  und  30. 
Juli  1895).  Nach  dem  Kommunalabgaben- 
gesetz ist  es  den  Gemeinden  unter  Aufhebung 
der  bisherigen  Bestimmungen  gestattet,  eine  Ab- 
spähe vom  Halten  der  Hunde  zu  erheben.  Eine 
Beschränkung  hinsichtlich  eines  Maximalsatzes 
besteht  nicht  mehr,  so  dass  die  Gemeinden  in 
Ausgestaltung  der  Hundesteuer  vollständig 
freie  Hand  haben.  Ebenso  sind  die  Kreise 
(durch  Stenerordnunfif)  befugt,  eine  Hundesteuer 
einzuführen,  deren  Höhe  für  den  Hund  jedoch 
5  Mark  nicht  überschreiten  darf.  —  Bayern 
(G.  V.  31.  Januar  1888).  Die  Steuersätze  sind 
hier  nach  einem  Ortsklassentarif  abgestuft  und 
betragen  3  Mark  für  Weiler,  Einöden,  einzel- 
stehende Hefe  und  kleinere  Gemeinden,  6  Mark 
in  Gemeinden  mit  300—1500  Einwohnern, 
9  Mark  in  solchen  mit  loOO — 15000  Einwohnern 
und  15  Mark  in  allen  Gemeinden  mit  mehr  als 
15000  Einwohnern.  Die  Steuer  ist  eine  Staats- 
steuer, deren  Ertrag  nach  Abzug  der  Ver- 
waltungs-  und  Erhebungskosten  zur  Hälfte  der 
Staatskasse  und  zur  Hälfte  derjenigen  Gemeinde 
zufällt,  in  welcher  die  Hundesteuer  erhoben 
wurde.  Ertrag  1898:  1,700  Millionen  Mark.  — 
Württemberg.  Die  Steuer  beträgt  für  jeden 
Hund  7  Mark.  Ihr  Ertrag  fliesst  zur  Hälfte 
dem  Staate  und  zur  Hälfte  der  gemeindlichen 
Armenkasse  zu.  Der  Zuschlag  rar  die  Staats- 
kasse beträgt  1  Mark.  Seit  G.  v.  2.  Juli  1889 
sind  die  Gemeinden  berechtigt,  einen  fakulta- 
tiven Zuschlag  bis  zu  12  Mark  zu  Gunsten  der 
Gemeindekasse  zu  erheben.  —  In  Sachsen 
(G.  V.  10.  August  1868)  stellt  sich  die  Hunde- 
steuer als  eine  Gemeindesteuer  dar  und  hat 
mindestens  3  Mark  für  den  Hund  zu  betragen. 


Der  Ertrag  derselben  fliesst  der  Armenkasse 
zu.  —  Baden  (G.  v.  4.  Mai  1896).  Die  Steuer- 
sätze sind  auf  8  und  16  Mark  festgesetzt,  je 
nachdem  die  Gemeinde  bis  4000  oder  mehr  als 
4000  Einwohner  zählt.  Die  Hälfte  des  Steuer- 
ertrags fliesst  dem  Staate  und  die  andere  Hälfte 
den  Gemeinden  zu.  Ausserdem  kann  durch 
Gemeindebeschluss,  welcher  der  staatlichen  Ge- 
nehmigung bedarf,  ein  Znschla£f  zur  Hunde- 
taxe erhoben  werden,  welcher  jedoch  die  Hälfte 
der  staatlich  angeordneten  Sätze  nicht  über- 
steigen darf.  —  Hessen  (G.  v.  4.  September 
1874).  Die  Staatssteuer  beträgt  seit  1899 1900: 
10  Mark  für  jeden  Hund,  wozu  dann  die  Ge- 
meinden noch  Zuschläge  bis  zur  gleichen  Höhe 
erheben  können.  Ertrag:  1897—1900  0,237 
Millionen  Mark. 

b)  Oesterreich.  Die  Erbebung  von 
Hundesteuern  ist  den  Gemeinden  in  einzelnen 
Kronländern  bis  zu  einem  Maximalsteuersatze 
gestattet.  Das  Ausmass  beträgt  durchschnitt- 
üch  2 — 3  Gulden  (Kämthen  5  Gulden,  Nieder- 
österreich 2  Gulden).  Einige  Kronländer 
(Böhmen,  Galizien,  Steiermark)  haben  den  Ge- 
meinden die  Befu^is  hierzu  durch  Specialge- 
setze, oft  mit  Höchstsätzen  verliehen.  In  Dal- 
matien  besteht  eine  besondere  Abstufung  der 
Steuersätze:  Nachtwachhunde  0,50  Gulden, 
Jagdhunde  2  Gulden,  sonstige  Hunde  3  Gulden. 

cj  Frankreich.  (G.  v.  2.  Mai  1855.)  Die 
französische  Hundesteuer  ist  eine  Gemeindeab- 
gabe. Das  Gesetz  unterscheidet  zwei  Gruppen 
von  Hunden :  Jagd-  und  Luxushunde  einer-  und 
Wachhunde  andererseits.  Die  Sätze  bewegen 
sich  zwischen  1  und  10  Francs.  Zahl  der  be- 
steuerten Hunde  1898  in  der  I.  Gruppe  (Luxus- 
hunde) 811568  und  in  der  H.  Gruppe  (Ge- 
brauchshunde) 2317  003,  im  ganzen  3128571 
Hunde.  Ertrag:  1859  über  5,000  Millionen 
Francs,  1898  9,.^  Millionen  Francs. 

d)  Grossbritannien.  Die  Hundesteuer 
wurde  hier  1796  während  der  französischen 
Kriegszeit  aus  sanitären  Gründen  und  zwar  als 
Staatssteuer  eingeftthrt.  Die  Sätze  waren 
Diiferentialsätze  nach  Art  und  Zahl  der  Hunde 
eines  Besitzers  (Koppelhunde  36  sh.,  Windhunde 
[greyhounds]  20  sh.^  bei  mehr  als  1  Hund  14  sh. 
per  Stück,  1  Nichtjagdhund  8sh.).  Armut  be- 
gründete einen  Anspruch  auf  Steuerfreiheit, 
ebenso  waren  junge  Hunde  ab&:abefrei.  1823 
wurde  die  Steuerfreiheit  auf  Schäferhunde  für 
die  kleinen  Farmer  und  1834  für  alle  Farmer 
ausgedehnt.  An  die  Stelle  der  abgestuften 
Steuersätze  trat  im  Jahre  1853  ein  allgemein 
gültiger  Einheitssatz  von  12  sh.  Die  Steuer- 
n-eiheit  wegen  Armut  wurde  aufgehoben,  da- 
gegen eine  solche  ftlr  alle  Hunde  gewährt, 
welche  zur  Beaufsichtigung  und  zum  Treiben 
des  Viehs  notwendig  sind.  Mit  dem  Uebergang 
zum  „Lizenzsystem"  (1866)  wurde  der  Steuer- 
satz auf  5  sh.  ermässlgt  und  wurden  alle 
Steuerbefreiungen,  mit  Ausnahme  derjenigen 
für  junge  Hunde,  aufgehoben.  Dieser  Satz 
wurde  im  Jahre  1878  auf  7^/«  sh.  erhöht  und 
ausser  den  jungen  Hunden  auch  wieder  den 
Schäferhunden  im  Verhältnis  zur  Zahl  der 
Schafe  —  jedoch  in  maximo  nur  acht  —  Steuer- 
freiheit gewährt.  Endlich  wurde  im  Jahre  1889 
die  Hundesteuer  aus  einer  Staatssteuer  in  eine 
Gemeindesteuer  umgewandelt.  —  In  Irland 
wurde   1823  die  Hundesteuer  als  Staatssteuer 


Handwörterbuch  der  Staatswiasexuchaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


79 


1250 


Hundesteuer — ^Hypothekenbanken 


aufgehoben,  indes  1865   eine  Lokalgebühr  von 
2  sh.  für  den  Hund  wieder  eingeführt. 

Mctx  van  Heekel. 


Hypothekenbanken. 

1.  Deutschland.    2.  Das  Ausland. 

1.  Deutschland.  ünterHypothekenbanken 
versteht  man  nach  neuester  Terminologie,  wie 
sie  durch  das  Reichshypothekenbaiikgesetz 
festgestellt  ist,  Aktiengesellschaften  und  Kom- 
manditgesellschaften auf  Aktien,  bei  welchen 
der  Gegenstand  des  Unternehmens  in  der  hypo- 
thekarischen Beleihung  von  Grundstücken 
und  der  Ausgabe  von  Schuldverschreibungen 
auf  Grund  der  ei-worbenen  Hypotheken  be- 
steht. Aus  der  Begriffsbestimmung  ist  das 
frühere  unterscheidende  Kriterium,  dass  sie 
nämlich  auf  Grund  der  erworbenen  Hypo- 
theken Schuldverschreibimgen  auf  den 
Inhaber  ausgeben,  ausgeschieden.  In  der 
Form  von  Kommanditgesellschaften  auf  Ak- 
tien bestehen  in  Deutschland  keine  Hypo- 
thekenbanken. 

Für  die  Entwickelung  der  Hypotheken- 
banken in  Deutschland  ist  selbstverständlich 
die  Entwickelung  des  Aktiengesellschafts- 
rechts von  Bedeutung  gewesen,  nicht  minder 
haben  die  in  den  einzelnen  Staaten  bestehen- 
den Gesetzesbestimmungen  in  betreff  der 
Befugnis  zur  Ausstellung  von  Inhaberpapieren 
ihren  Einfluss  auf  die  Gestaltung  der  Sta- 
tuten gehabt.  Preussen  ist  der  einzige  Staat 
gewesen,  in  dem  von  vornherein  Normativ- 
bestimmungen auch  in  betreff  der  prak- 
tischen Thätigkeit  dieser  Institute  gegeben 
worden  sind.  Jedoch  hat  die  Preussische 
Central  -  Bodenkredit  -  Aktiengesellschaft  in 
Berlin  und  die  Frankfurter  Hypothekenbank 
in  Frankfurt  a.  M.  den  Normativbestimmungen 
niemals  unterstanden. 

Die  ersten  preussischen  Normativbestim- 
mungen sind  vom  6.  Juli  1863/22.  Juni 
1867.  Die  neuen  preussischen  Normativbe- 
stimmungen sind  unter  dem  27.  Juni  1893 
gegeben  worden.  Lediglich  mit  der  recht- 
lichen SichersteUimg  der  Pfandbriefe  be- 
schäftigten sich  die  dem  Reichstag  vorge- 
legten im  wesentlichen  identischen  Gesetzes- 
entwüi'fe,  beti'effend  das  Faustpfandrecht  für 
Pfandbriefe  und  ähnliche  Schuldverschrei- 
bungen vom  11.  Mäi-z  1879  und  27.  Februar 
1880.  Auch  einige  Partikulargesetze  haben 
sich  mit  der  rechtlichen  Sicherstellung  der 
Pfandbriefe  befasst. 

Unter  dem  13.  Juli  1899  ist  ein  Reichs- 
Hypothekenbankgesetz  publiziert  worden,  das, 
von  einigen  Uebergangsbestimmimgen  abge- 
sehen^  vom  1.  Januar  1900  an  in  Wirksam- 
keit ist.  Das  Hypothekenbankgesetz  ent- 
hält vorzugsweise  -wirtschaftliche  Normativ- 
bestimmungen, ferner  auch  die  Grundlagen 


für  die  rechtliche  Sicherstellung  der  Pfand- 
briefinhaber.  Diese  letzteren  finden  durch 
die  Bestimmungen  des  Gesetzes  über  die 
gemeinsamen  Rechte  der  Besitzer  von  Schuld- 
verschreibungen vom  4.  Dezember  1899  ihre 
Ergänzung.  Die  wirtschaftlichen  Normativ- 
bestimmungen  unterscheiden  sich  wesentlich 
von  denjenigen  der  neuen  preussischen  Nor- 
mativbestimmimgen  nicht  nur  äusserlich  — 
weü  sie  Gesetzesbestimmungen  sind,  wäh- 
rend die  preussischen  Normativbestimmungen 
Yerwaltungsvorschriften  waren  und  weil  sie 
für  das  Reich  gelten,  während  die  preussi- 
schen Normativbestimmungen  eben  nur  für 
Preussen  in  Betracht  kamen,  —  sondern 
auch  materiell. 

Das  Gesetz  beruht  auf  dem  Princip  der 
Konzessionspflicht,  auf  dem  Princip  der 
staatlichen  Beaufsichtigung,  die  generell  als 
Recht,  im  einzelnen  a£  Pflicht  gestaltet  ist 

Von  grosser  Bedeutung  war  die  Um- 
grenzung des  Geschäftskreises.  Dieselbe  ist 
in  ziemüch  ängstlicher  Weise  in  §  5  des 
Gesetzes  erfolgt.  Der  Anregung  den  Hypo- 
thekenbanken, das  Gelddepositengeschäft  un- 
beschränkt zu  gestatten,  wurde  nicht  Folge 
gegeben.  Die  Pflege  des  Korporationskredits 
ist  nicht  im  wünschenswerten  Masse  berück- 
sichtigt. Ygl.  §  5  Z.  2  in  Verbindung  mit 
§  40. 

Diejenigen  Hypothekenbanken,  deren  Ge- 
schäftskreis dem  §  5  des  Hypothekenbank- 
fjsetzes  entspricht,  sind  künftighin  als  reine 
ypothekeubanken  zu  bezeichnen,  die  andern 
als  gemischte.  Gemischte  Hypothekenbanken 
können  künftighin  nicht  mehr  entstehen, 
aber  die  bestehenden  dürfen  unter  ge\sTssen 
Einschränkungen  bestehen  bleiben.  Dabei 
ist  vorausgesetzt,  dass  bereits  am  1.  !Mai 
1898  die  Bank  satzungsgemäss  die  betreffen- 
den Geschäfte,  die  über  den  normalen,  im 
§  5  bezeichneten  Geschäftskreis  hinausgehen, 
betrieben  hat. 

Indem  man  die  Gewährung  von  Dar- 
lehen nur  an  »Kleinbahnunternehmungen' 
gestattete,  §  5  Z.  3,  hat  man  den  Zweifel  be- 
stehen lassen,  ob  Eisenbahnunternelimungen, 
die  den  Kleinbahnen  gleichstehen,  in  den 
zulässigen  G^schäftkreis  der  Hypotheken- 
banken gehören.  »Kleinbahnen«  giebt  es 
nur  in  Preussen.  Aber  es  giebt  namentlich 
in  süddeutschen  Staaten  Eisenbahnuntemeh- 
mungen,  welche  die  Funktionen  der  preussi- 
schen Kleinbahnen  haben. 

Die  Wertermittelung  der  zu  beleihenden 
Objekte  ist  den  Banken  überlassen.  Einige 
allgemeine  Normen,  Brudistücke  eines  Re- 
glements, sind  gesetzlich  gegeben.  Die  An- 
weisung über  die  Wertermittelung  bedarf 
der  Genehmigung  der  Aufsichtsbehörde.  Ge- 
währt die  Bank  Darlehen  in  dem  Gebiet 
eines  Bundesstaates,  in  dem  sie  nicht  ihren 
Sitz   hat,  so   ist  die  Anweisung   auch  der 


Hypothekenbanken 


1251 


Aufsichtsbehörde  dieses  Bundesstaates   ein- 
zureichen.   (HBG.  §  12  ff.) 

Die  Beleihung  darf  bis  zu  60%  des 
"Wertes  bei  städtischen  und  ländlichen  Grund- 
stücken erfolgen.  Die  Centralbehörde  eines 
Bundesstaates  kann  in  dem  Gebiet  des  Bun- 
desstaates die  Beleihuug  landwirtschaftlicher 
Grundstücke  bis  zu  66^/3%  gestatten.  Das 
Preussisohe  Landwirtschaftsministerium  hat 
diese  Erlaubnis  erteilt. 

Hypotheken  an  Bauplätzen  und  an  solchen 
Objekten,  welche  noch  nicht  fertiggestellt 
und  ertragsfähig  sind,  dürfen  zusammen  den 
10.  Teil  des  Gesamtbetrags  der  zur  Deckung 
der  Pfendbriefe  benutzten  Hypotheken  so- 
wie den  halben  Betrag  des  eingezahlten 
Grundkapitals  nicht  übersteigen.  §  12  Ab- 
satz 3.  Diese  allzu  ängstliche  Bestimmung 
ist  der  Entwickelung  des  deutschen  Städte- 
wesens nachteilig. 

Die  normale  Hypothek  auf  städtische 
Grundstücke  wird  künftighin  die  auf  10 
Jahre  gewährte  nicht  amortisable  Hypothek 
sein.  Soweit  Hypotheken  an  landwirtschaft- 
lichen Grundstücken  zur  Deckung  von  Pfand- 
briefen verwendet  werden,  muss  die  Deckung 
mindestens  zur  Hälfte  aus  Amortisations- 
hypotheken bestehen.  In  Bayern  ist  für 
Hypotheken  an  landwirtschaftlichen  Grimd- 
stücken  den  Hypothekenbanken  die  Ver- 
pflichtung auferlegt,  nur  amortisable  Hypo- 
theken zu  gewähren. 

Gegen  die  Möglichkeit  einer  Verschleie- 
nmg  der  Darlehensbedingungen  sind  Kau- 
telen  hergestellt.  Solche  Kautelen  sind  auch 
für  die  vollständige  Klarstellung  des  Rechts- 
verhältnisses zwischen  der  Bank  und  den 
Schuldnern  geschaffen  worden.  Das  Gesetz 
enthält  auch  Normen  über  das  Rechtsver- 
hältnis zwischen  der  Hypothekenbank  und 
den  Pfandbriefgläubigem.  Es  verbietet  die 
Ausgabe  von  kündbaren  und  von  Zuschlags- 
pfandbriefen. Der  Gesamtbetrag  der  im 
Umlauf  befindlichen  Pfandbriefe  muss  in 
Höhe  des  Neniiwerte  jederzeit  durch  Hypo- 
theken von  mindestens  gleicher  Höhe  und 
mindestens  gleichem  Zinsertrag  gedeckt  sein. 
HBG.  §  6  Abs.  1.  Dagegen  ergeben  sich 
namentlich  für  notleidendeHypothekenbanken 
Probleme  in  Bezug  auf  die  Deckimgsfrage, 
die  im  Gesetz  nur  unvollkommen  gelöst 
sind.     §  6  Abs.  3,  4. 

Ueber  die  Methode  der  Bilanzierung  sind 
eingehende  Vorschriften  gegeben.  Die  viel- 
umstrittene Präge  über  .die  Buchung  des 
Disagios  und  Agios  ist  gesetzlich  geregelt. 
Eine  vollkommene  Würdigimg  der  wirt- 
schaftlichen Natur  des  Disagios  und  Agios 
ist  im  Gesetz  noch  nicht  zum  Diu^chbruch 
gekommen. 

Der  Publikationszwang  ist  für  die  Hypo- 
thekenbanken dahin  erweitert,  dass  nicht 
nur   jährlich   die  Bilanz   mit  Gewinn-   und 


Verlustconto  und  einem  Geschäftsbericht  zu 
veröffentlichen  ist,  sondern  dass  zweimal  im 
Jahre  ein  Status  veröffentlicht  werden  muss 
über  den  Gesamtbetrag  der  Pfandbriefe, 
welche  am  letzten  Tag  des  vergangenen 
Halbjahrs  im  Umlauf  waren,  sowie  über 
die  diesen  Pfandbriefen  gegenüberstehende 
Deckung. 

Die  Vorbedingung  für  die  rechtliche 
Sicherstellung  der  Pfandbrief  Inhaber  ist  durch 
den  Zwang  zur  Anlegung  eines  Hypotheken- 
und  Wertpapierregisters  geschaffen.  Bei 
jeder  Hypothekenbank  ist  ein  Treuhänder 
sowie  ein  Stellvertreter  durch  die  Aufsichts- 
behörde nach  Anhörung  der  Hypotheken- 
bank zu  bestellen.  Die  Rechte  und  Pflichten 
des  Treuhänders  sind  gesetzlich  des  näheren 
geregelt.  Die  Stellung  des  Treuhänders  ist 
Singular.  ^  Er  wahrt  die  Interessen  der 
Pfandbriefinhaber,  ist  aber  von  ihnen  nicht 
gewählt.  Die  Pfandbriefgläubiger  können 
aber  auch  neben  dem  Treuhänder  zur  Wah- 
rung ihrer  gemeinsamen  Rechte  auf  Grund 
des  Gesetzes  betreffend  die  gemeinsamen 
Rechte  der  Besitzer  von  Schuldverschrei- 
bungen  einen  weitei^en  Vertreter  bestellen. 

Die  Frage,  ob  die  Pfandbriefe  der  Hypo- 
thekenbanken pupillarische  Qualität  haben 
sollen,  wurde  im  Hypothekenbankgesetz 
nicht  entschieden.  Die  fcinzelstaaten  haben 
durch  Verordnungen  auf  Grund  des  EG. 
zum  BGB.  Art.  212  und  Art.  2  bezw.  bei 
Beratung  der  Ausführungsgesetze  zum  Bür- 
gerlichen Gesetzbuch  unt^r  Berücksichtigimg 
der  eigenartigen.  Organisation  des  Boden- 
kredits in  den  betreffenden  Staaten  in  ver- 
schiedenem Sinne  zu  der  Frage  Stellung  ge- 
nommen. 

Die  Pfandbriefe  der  weitaus  grösseren 
Anzahl  von  Hypothekenbanken  sind  von  der 
Reichsbank  für  lombardfähig  erklärt. 

Litteratur:  Die  geschichüiche  Entwickelung, 
Statistik  und  Dogmatik  des  Hypothekenbank- 
Wesens  vrird  ihre  Darstellung  finden  in  dem 
Werk  von  Dr.  Hecht,  Die  Organisation  des 
Dodenkredits  in  Deutschland;  S.  Abteilung:  Die 
Hypothekenbanken. 

Es   dürften  aus   der  Litteratur  in  Betracht 
kommen : 

Otto  HübneVy    Die  Banken,  Leipzig  I854. 

—  Ernst  Engelf  Der  Grundkredit  und  das 
Kapitalbedürfnis  des  Grundbesitzes,  befriedigt 
durch  eine  preussische  Bodenkreditbank,  Berlin 
1862,  —  Brämer,  Die  GrundkredüinHitute  in 
Preussen  (Zeitschr.  des  königl.  preuss,  statistischen 
Bureaus  1867,  S.  226  ff.),  —  Brocher,  Die  Hypo- 
thekenbanken, Separatabdruck  aus  dem  Wagener- 
sehen  Staatslexikon,  Berlin  1867.  —  Enqttete 
über  das  Hypothekenbankwesen  v.  IS.  III.  1868 
bis  19.  VI.  1868:  Stenographische  Berichte,  Berlin 
1868.  —  Roepell,  Beform  des  Hypotheken- 
kredits  (Bericht  an  die  10.  Versammlung  des 
volkswirtschaftlichen  Kongresses  zu  Breslau,  1868). 

—  Zinvmer^nann,  Ueber  Hypothekenbanken 
{in  Buschs  Archiv  ßlr  Theorie   und  Praxis   des 

79* 


1252 


Hypothekenbanken 


Die  Hypotheken-Aktien -Banken  im 


Firma  *) 


Sitz 


Grtin- 

dungs- 

jahr 


Einge- 
zahltes 
Aktien- 
kapital 

Mark 


Gesamt- 
reserven  inkl. 
Gewinn- 
Vortrag 
für  1899 
Mark 


0? 

na 
V 


0/ 

/o 


Hypotheken 
Mark 


Verteilunt' 


amortisable 
Mark 


Frankfurter  Hypothekenbank 
Preuss.  Hypotheken-Aktien-Bank 
Pommersche     „  «         n 

Preuss.  Bodenkredit- Aktien-Bank 
„  Centr.-Bodenkred.-Akt.-Ges. 
Schles.  Bodenkredit-Aktien-Bank 
Deut8cheHypoth.-Bank(Akt.-Ges.) 
Westdeutsche  Bodenkreditanstalt 
Bhein.  •  Westf .  Bodenkredit-Bank 
Preussische  Pfandbriefbank*)*)  . 
Hannoversche  Bodenkred.-Bank  . 

Königreich  Preussen 

Bayr.  Hypoth.-  u.  Wechselbank*) 
Bayerische  Vereinsbank*)  .    . 
Bayerische  Handelsbank*]  .    . 
Süddeutsche  Bodenkreditbank 

Vereinsbank*) 

Pfälzische  Hypothekenbank    . 
Bayerische  Bodenkredit-Anstalt 

Königreich  Bayern 

Württembergische  Hypothekenb. 
Wtirttembergische  Vereinsbank*) 

Königreich  Württemberg 

AUgem.  deutsche  Kredit- Anstalt*) 
Leipziger  Hypothekenbank  .  . 
Sächsische  Bodenkreditanstalt     . 

Königreich  Sachsen 

Deutsche  Hypothekenbank .    . 
Deutsche  Gmndkreditbank     . 
Rheinische  Hypothekenbank  . 
Mecklenb.  Hypoth.-  u.  Wechselb.* 
Hypothekenbank  in  Hamburg 
Bremische  Hypothekenbank*) . 
Braunschw.Hannov.Hypoth.-Bank 
Anhalt-Dessauische  Landesbank*) 
A.-Ges.  f  .Boden-  u.Kommun.-Kred. 
Norddeutsche  Grundkreditbank  . 
Schwarzburg.  Hypothekenbank   . 
MitteldeutscheBodenkreditanstalt 
Mecklenb.-Strelitzsche  Hypoth.-B. 

Andere  deutsche  Staaten 


Frankfurter  Hypoth.-Kredit-Ver. 
Landwirtschaft!.  Kreditbank  .    . 

Grundkreditbank  ^1 

Deutsche  Grundscnuldbank     .    . 


Summa 


I.  Mit  dem  Recht  zur  Xn<- 


Frankf.  a.  M. 
Berlin 


Breslau 

Berlin 

Köln  a.  Rh. 

Berlin 
Hildesheim 


München 


Nürnberg 
Ludwigshafen 
Würzburg 


Stuttgart 


Leipzig 

n 

Dresden 


Meiningen 

Gotha 

Mannheim 

Schwerin 

Hamburg 

Bremen 

Braunschweig 

Dessau 
Strassburg 

Weimar 
Sondershausen 

Greiz 
Neustrelitz 


1862   ; 

I^OOOOOO 

6  920  050 

8 

281484  159 

17  793  572 

1864 

21  OOOOOO 

3  944  059 

6V« 

332  722  040 

135904732** 

1866 

IO20OO0O 

5000000 

7 

192591  176 

167  477  720'a 

1868 

30000000 

6  195  669 

7 

236  248  870 

182302443"'^ 

1870 

28  796  640 

5304019 

9 

489  236  623 

400145839 

1872 

10200000 

2716240 

7V2 

166753085 

166251  loS** 

1872   ' 

6  750000 

I  252054 

6 

87  416  593 

34  730  943*^ 

1893 

6  500000 

122  174 

S 

52340755 

48  694  755 

1894   1 

II  OOOOOO 

I  282  473 

6 

112864902 

83  762  050 

1862/1895  1 

18000000 

2  478  744 

6 

117784  lOO«) 

49  887  900^^ 

1896   1 

I  OOOOOO 

34  459 

5 

6  248  690 

4  363  390'' 

1 
i 

158446640 

35249941 

2  075  690  993 

1835/1864») 

44285714 

28  736  060 

12,95 

785  340  925 

682  532  ooo*«  f 

1871 

37  500000 

15  267  281 

8V. 

26S  234  328 

202  733  328 

1869/1871«li 

20  379  800 

I  120046*) 

8,05 

136910047 

100923  619 

1871 

24000000 

3  822  279 

7 

368  357  093 

106680024 

1871 

12000000 

5  547  Ol  I 

9V. 

212014929 

18794594 

1886 

13000000 

3  867  408 

8 

224  684  721 

35724886 

1895 

2675000 

166  926 

6V, 

29918077 

18488402 

153840514 

58  526  Ol  I 

2025  460  120 

1867 

II  OOOOOO 

2716342 

7 

131  158  126 

41778497 

1878 

18000000 

5  178  S36 

7 

1 1  264  795 

6775010 

29000000 

7  894  878 

142  422  921 

1856/1858«) 

50  400  000 

20  504  766 

10 

30  146056 

? 

1863 

5  OOOOOO 

699  769 

8 

71090695 

5  878  509 

1895 

5000000 

180693 

6 

50  222  267 

I  475  567 

60400000 

21  385  228 

151459018 

1862 

24000000 

2  874  699 

7 

334794014 

38  521  836 

1867 

10500000 

2  233  852 

4 

121  339  162 

25  097  983 

1871 

14080  102 

4981499 

8 

279  063  062 

21  180243 

1871 

9000  oco 

2012260 

10 

66637614 

57  170743 

1871 

21  OOOOOO 

7  108809 

8 

350  5<H  795 

2008600 

1871 

1  680000 

244575 

6 

I  164034 

9 

• 

1872 

10200000 

2330097 

7V4 

136079435 

43  »94  136 

1872 

9000000 

1  958  054 

7 

6510  893 

3  366  193 

1872 

7  200000 

I  727  438 

7V« 

97  754  142 

39187082 

1894 

7  500000 

718070 

4V. 

66  804  837 

3054024 

1895 

2  750000 

51185 

4V. 

11  60467t 

83950 

1895 

7  500000 

207  220 

5V. 

41279521^ 

151939S, 

1896 

6000000 

600000 

7 

33  859  380 

132  410  102 

27  047  758 

I  547  395  560 

Frankf.  a.  M. 


n 


Königsberg 
Berlin 


II.  Hypotheken-Aktien-Banken,  welche  auf  den 


2  473  09^ 
2  171  200 


1868 

1872 

1873/1896 

1885 

9000000 
600000 
600000 

lOOOOOOO 

1  902  573 
213820 
183  601 

1  334  505 

6V2 

5 
11 

7 

150942544 
6077626 
3020  150 

105  420  211 

20200000 

554  297  256 

3  634  499 

153739315 

265460531 
6  207  889  143 

Die  Anmerkungen  zu  dieser  Tabelle  sind  auf  S.  1254  abgedruckt. 


Hypothekenbanken 


1253 


Deutsclien  Eeich  Ende  1898. 

der  Hypotheken-Darlehen  *) 

Pfandbriefe 

im 

Umlauf 

Verteilung  der  Pfandbriefe  nach  dem  Zinsfuss  ") 

nicht 
amortisable 

;    ländliche 

städtische 

4% 

^  /2  yo 

Mark 

!     Mark 

Mark 

Mark 

Mark 

Mark 

Mark 

^abe  von  Inhaberpfandbriefen 

263  690  586 

2597984  . 

278886  174 

264  4t  I  700 

t 

74  735  200 

189  676  500 

184  839  y;»"!») 

2  901  saa^b) 

317842944«!») 

320  143  550 

2  237  250") 

220  774  900 

97  131  400 

25  224  4oo"a) 

3  837  SOS*») 

188864616«^) 

181  964300 

168  735  200 

13  229  100 

54710  i84''c) 

1 1 55  072*«) 

237  122389*») 

197767650") 

4  623  700**) 

114  105  200 

78513225 

89090783 

145  256000'a) 

351959800H) 

467  845  700 

112500000 

355  345  700 

I  929  980*^») 

8  642  608*^  d  e) 

159  774 318*^ de) 

163  483  400 

I  335  700 

67  711  800 

94  435  900 

53^50794'«) 

3  501  582*»  c) 

84  836  3i8''ac) 

83  558  700") 

55481  100 

25  939  900 

3646000 

2  600  465 

49  740  289 

46  627  400 

— 

13  840  900 

32  786  500 

29  102  851 

646200 

112  218702 

105  006  900 

— 

59  657  700 

45  349  200 

67  S96  200'») 

32  500*  ) 

117  751  600*1) 

109  186500*;  ") 

— 

18  292  600 

89  090  900 

I  867  400"«) 

876  965*«) 

5  353  825-c) 

6002  100 

— 

2  144700 

I  945  997  900 

8  196650 

905  834  600 

I  023  643  025 

io6  967  ooo**  e) 

272  73 1  ooo*») 

554069000"») 

748  131  600 

— 

65071800 

683  059  800 

65  501  000 

42  865  328 

224  03 1  000 

263  823  900 

— 

28070  100 

235  753  800 

35  986  428 

2056060 

134853987 

«35  053  500 

— 

22405  900 

112647600 

261677068 

75223502 

293  133  591 

359  363  300 

— 

26  126500 

333  236  800 

193220335 

3  907  540 

208  107  388 

205222713 

299713") 

47  197900 

157  725  100 

189675592 

2747  600 

224  937  600 

215  401  900 

12  189000 

203  212  900 

1 1  429  674 

2814270 

27  103807 

28  33 1  200 

— 

— 

28331  200 

1955328113 

299713 

201  061  200 

1  753  967  200 

89  379  629 

9 

• 

? 

118  732000 

22  204  000 

96  528  000 

4  489  785 

530416 

10734379 

9709694 

— 

867  558 

8  842  136 

128  441  694 

23071558  . 

105  370  136 

9 

• 

9 

• 

? 

28  234  500 

IG  490  000 

17744500 

65  212  186 

529  059 

70  561  636 

67  284  800 

40  284  800 

27  000000 

48  746  700 

50  222  267 

47  325  500 

47  325  500 

142844800 

50774800 

92  070  000 

296272  177 

12771  817 

322022  196 

326  580  000 

— 

128756650") 

197  823  350 

96241  178 

5  757  286 

115  581  875 

109693600 

27  900000 

81  793  6oo'*) 

257882814 

7893x95 

271  169868 

266  454  400 

29212600 

237  241  800 

493400 

11  898  913 

45  765  236 

46  236  825 

I  239  225") 

— 

44  997  600 

348496195 

25  000 

350  479  975 

326  580  100 

1 10  890  500 

215  689600 

9 

? 

? 

112000 

— 

— 

112000 

92  885  299 

? 

? 

130  129  100 

26  687  800 

103441  300 

3144700 

3  298  933 

3  211  960 

ö  083  700 

— 

4  102600 

I  981  100 

58  567  060 

9 

• 

? 

95019  100 

12  089  500 

82  929  600 

63750813 

575  264 

66  229  573 

60  247  800 

— 

39006000 

21  241  800 

II  601  600 

• 

9 

• 

9  356  300 

— 

6  403  500 

2952  800 

39760  122 

252000 

41  027  521 

37  073  000") 

— 

31  982900 

5090  lOO 

33  859  380 

33  859  380 

25  525  300 

— 

18  251  6qo 

7  273  700 

I  439091  225 

I  239  225 

435  283  650 

I  002  568  350 

Namen  lautende 

.  Pfandbriefe  emit 

jtieren. 

9 

• 

? 

? 

146  707  400 

98  188400 

48  519000 

3  604  528 

4  322  330 

I  755  296 

5413200 

— 

5413200 

— 

848  950 

I  326900 

I  693  250 

2  140700 

• 

I  811800 

328900 

? 

II  506272 

93913939 

102  134700 

1 

78  830  900 

23  303  800 

256  396  000 

( 

184244300 

72  151700 

5  868  099  732 

9  735  588 

1  800270  108 

4  049  770  411 

1254 


Hypothekenbanken 


Allgemeinen  deutschen  Handelsrechts,  Bd.  16, 
1869,  S.  802 ff.).  —  Meitzen,  Der  Boden  und 
die  landwirtschaftlichen  Verhältnisse  des  jyreiiss. 
Staates,  S.  Bd.,  Berlin  1871,  S.  U8ff.  — 
Hecht,  Die  Mündel-  und  Stifiungsgelder  in  den 
deutschen  Staaten,  1875.  —  Herseihe,  Bankwesen 
und  Bankpolitik  in  den  deutschen.  Staaten,  1819 
—1875,  Jena  1880.  —  Herselhe,  Hie  Pfälzische 
Hypothekenbank  in  Ludwigshafen  a.  Rh.,  1890, 
—  Julian  Goldsehmidt,  Hie  deutschen  Hypo- 
thekenbanken, Jena  1880.  —  v,  Poschinger, 
Bankgeschichte  des  Königreichs  Bayern,  Erlangen 
1874 — 1S76.  —  Herselbe,  Hie  Banken  im 
Deutschen  Reiche,  Oesterreich  und  der  Schweiz, 
2.  Bd. :  Das  Königreich  Sachsen,  Jena  1877.  — 
Herselbe,  Bankwesen  und  Bankpolitik  in 
Pre*issen,    Berlin   1878,    1879.    —    Leser,    Die 


Hypot?iekenbanken  und  ihre  Jahresahschlüsge, 
Heidelberg  1879.  —  Appunti  di  statisfica  e 
legislazione  comparata  sugli  istituti  di  credito 
fondiario,  Roma  1884,  Parte  IIa:  Del  credit/^ 
fondiano  in  Germania  etc.,  S.  4^ ff-  —  Karl 
von  lAintm,  Hie  Entwiekelung  des  Bankwesens 
in  Elsass-Lothringen  seit  der  Annexion,  Jena 
1891,  S.  25  f.,  S.  125  ff.  —  Christians,  Die 
hypothek.  Beleihungsgrundsätze  der  preussischen 
Landschaften  etc.,  Berlin  1892.  —  Hecht, 
Die  Rheinische  Hypothekenbank  in  Mannheim 
1871—1896,  Dettksckrifi  zur  Feier  des  25  jährigen 
Bestehens  der  Bank.  —  Wegener,  Hie  Land- 
schaften und  die  preussischen  Hypothekenaktien- 
banken (HiHhs  Annalen  1898,  S.  544—607).  — 
Em.  Vliebergh,  Le  Credit  foncier  (AUemagne, 
France,  Italie),  London,  Leipzig,  Paris,  1899.  — 


^)  Die  mit  *  bezeichneten  Institute  betreiben  auch  andere  Zweite  des  Bankgeschäfts. 

*)  Gegründet  1862  als  „Preussische  Hypotheken- Versichernngs- Aktien-Gesellschaft."  Jetzige 
Firma  seit  189ö.    Seitdem  giebt  die  Bank  Inhaber-Obligationen  aus. 

^)  Das  erste  Jahr  ist  das  Gründungsjahr  der  Bank.  Das  zweite  das  der  Errichtung  der 
Pfandbriefabteüung. 

*)  Früher  ^Genossenschaftliche  Grundkreditbank  für  die  Provinz  Preussen".  Seit  1896 
Aktiengesellschaft  mit  jetziger  Firma. 

^  Nur  die  Reserve  der  Bodenkreditanstalt,  welche  gesonderte  Rechnung  führt.  Die  Re- 
serven der  Bayer.  Handelsbank  betrugen  M.  5642404. 

^)  Von  dem  Hypothekenbestande  muss  noch  der  Amortisationsfonds  abgezogen  werden, 
welcher  für  Hypotheken,  Kommunaldarlehen  und  Kleinbahndarlehen  zusammen  mit  M.  212  919 
angegeben  ist.  —  Ausser  den  Hypotheken  und  den  Kommunaldarlehen  hatte  die  Bank  noch 
M.  3430232  Darlehen  gegen  Verpfändung  von  Kleinbahnen  ausstehen. 

')  Ausserdem  M.  5195  810  „Rentendarlehen"  (Darlehen  zu  Strassenbaukosten,  wodurch 
Werterhöhungen  der  belasteten  Grundstücke  eintreten.) 

^)  Die  Verteilung  der  Darlehen  entspricht  nicht  immer  dem  in  Spalte  7  angegebenen  Dar- 
lehns betrag.    Die  Zahlen  beziehen  sich  entweder 

a)  soweit  sie  Amortisationsdarlehen  sind,  auf  den  ursprünglichen  Darlehnsbetrag ; 

b)  auf  den  zur  Pfandbriefbedeckung   dienenden  Teil  der  Hypotheken  (gemäss  den  1898 
noch  geltenden  Preussischen  Normativbestimmungen); 

c)  inkl.  Darlehnsbeträge,  welche  zum  Teil  erst  1899  zur  Auszahlung  kommen; 

d)  nur  auf  die  unkündbaren  Darlehen;  oder 

e)  bei  der  Bayerischen  Hypotheken-  und  Wechselbank  auf  die   in  Bayern   gewährten 
Darlehen. 

In  der  Tabelle  ist  die  jeweils  zutreffende  Note  mit  dem  betr.  Buchstaben  angegeben. 

»)  Ausserdem  M.  3 129  000  Kleinbahn-Obligationen. 

^^)  Ausserdem  M.  2  643400  Grundrentenbnefe. 

")  5*^/o  Pfandbriefe  kommen  noch  vor  bei  der  Preussischen  Boden-Kredit- Aktien-Bank 
(M.  525  525,  davon  M.  373  875  mit  110  rückzahlbar)  und  der  deutschen  Hypothekenbank  (Akt.-Ge8.) 
(M.  2 137  700).  —  3»/4%  Pfandbriefe  haben  emittiert  die  Hannoversche  Bodenkreditbank  (M.  3  857  400) 
und  die  Preussische  Pfandbriefbank  (M.  11  803  000,  alte  auf  Namen  lautende  Hypotheken-Depot- 
scheine). 

**)  Gewinn  der  Bodenkredit- Abteilung.  Der  Gewinn  der  Bayerischen  Handelsbank  betrug 
M.  2 107  947. 

**)  Ebenso.    Der  Gewinn  der  Vereinsbank  Nürnberg  betrug  M.  1667  790. 

'^)  Mit  Agio. 

")  Davon  M.  2  800  300  mit  115,  1 823  400  mit  110  rückzahlbar. 

*«)  Mit  125  rückzahlbar. 

1')  Davon  M.  22  597  500  Prämienpfandbriefe. 

^*)  Davon  M.  30572  400  Prämienpfandbriefe,  24  502000  mit  110  verlosbar. 

Folgende  Hypothekenbanken  haben  Kommnnaldarlehen   gewährt  resp.  Kommunal-Obliga- 


tionen  emittiert. 

Preuss.  Central-Bodenkredit-Akt.-Ges 
Schles.  Bodenkredit- Aktien-Bank  . 
Preuss.  Pfandbriefbank  .... 
Bayerische  Vereinsbank  .... 
Pfälzische  Hypothekenbank  .  .  . 
Rheinische  Hypothekenbank  .  .  . 
Mecklenb.  Hypoth.-  u.  Wechselbank 
Akt.-Ges.  für  Boden-  u.  Komm  .-Kredit 
Mitteldeutsche  Bodenkreditanstalt 


Darlehen. 
M.   55477555 
3  152320 
2  128000 

I  333000 

715757 

3184757 

83423 
12695  819 

358606 


n 


n 


Obligationen. 
M.  49533800 

1  847  100 

2  118000 


n 


n 


n 
« 


w 


I  763  100 

12253300 
103900 


M.  79  129  238 


M.  67619200 


Hypothekenbanken 


1255 


FelUic  Hecht,  Der  Europäüche  Bod^n- 
kredit,  Bd.  1,  Leipzig  1900,  S.  die  Einleitung 
des  1.  Bandes  auch  für  den  vorliegenden  Artikel 
sub  IL  Im  Än»chluM  an  den  Entiourf  eiiies 
IlypothekenbankgeseUes  vit  eine  nicht  kleine  An- 
zahl von  Schriften  erschienen, 

2.  Das  Ausland.  1.  Belgien.  Schon 
im  Jahre  1835  wurde  in  Bnlssel  die 
caisse  hypolhecaire  begründet  durch  könig- 
liches Dekret  vom  19.  März  1835.  Eine 
neue  Statutenredaktion  erhielt  die  könig- 
liche Sanktion  am  16.  Oktober  1839.  Die 
Kasse  ist  nach  ihren  damaligen  Statuten 
eine  durchaus  reguläre  Hypothekenbank, 
welche  die  Darlehen  als  Annuitätendarlehen 
gewährte.  Die  auf  Gnuid  der  Hypotheken 
ausgegebenen  Obligationen  durften  den  Be- 
trag der  Hypotheken  nicht  übersteigen. 
Dieses  Institut  ist  im  Jalire  188G  zum  Cre- 
dit foncier  de  Bolgique  umgewandelt  wor- 
den und  der  Credit  foncier  de  Belgique  ist 
das  einzige  Institut  in  Belgien,  das  sich  dem 
Bodenkredit  ausschliesslich  widmet. 

Der  Credit  foncier  de  Belgi(iue  hatte 
Ende  1898  ein  eingezahltes  Aktienkapital 
von  5303900  Francs  und  eine  Reserve  von 
von  2166380  Francs.  Das  Hypothekenkapital 
betnig  36250930  Francs  iind  die  Summe 
der  ausgegebenen  Obligationen  31550600 
Francs. 

Die  caisse  des  proprietaires  zu  Brüssel 
ist  nicht  in  dem  Sinn  wie  der  Credit  fon- 
cier de  Belgique  eine  Hypothekenbank.  Sie 
hatte  aber  Ende  Juni  1898  einen  Hypo- 
thekenbestand von  11666717,13  Francs,  ihr 
eingezahltes  Aktienkapital  betrug  1044100 
Francs,  ihre  Reserven  bezifferten  sich  auf 
1203600  Francs.  Ihr  Obligationenumlauf 
betrug  aber  Ende  Juni  1898  31252308,71 
Francs,  worunter  sich  24534000  Francs 
Prämienobligationen  befanden,  während  der 
Rest  in  Obligationen  mit  kurzen  Verfallter- 
minen besteht.  Sie  hatte  einen  Immobüien- 
besitz  von  6560049,22  Francs. 

Die  caisse  hypothecaire  Anversoise  zu 
Antwerpen  wmxle  am  6.  September  1881 
errichtet  mit  einem  Aktienkapital  von 
5(X»0000  Francs,  worauf  bei  der  Gründung 
aber  nur  250  (XK)  Francs  eingezahlt  wurden. 
Bis  Ende  1S98  hat  sich  das  Aktienkapital 
auf  2  607  350  Francs  erhöht.  Die  Bank  hatte 
Ende  1898  einen  Darlehenbestand  von 
29543765,22  Francs  und  sie  hatte  die 
hierzu  nötigen  Mittel  durch  Obligationen 
und  durch  die  Sparkassenabteilung  mit 
24343632,53  Francs  sich  beschafft.  Einen 
weiteren  Betrag  hat  sie  durch  die  Annahme 
von  Depositen  erhalten.  Eine  Ausscheidung 
lies  Obligationenbetrags  und  der  Sparkassen- 
guthaben  ist   in  der  Bilanz    nicht  gegeben. 

2.  Dänemark.  In  Dänemark  besteht 
keine   reine   Hj-pothekenbank.      Die   Funk- 


tionen einer  Hypothekenbank  hat  aber  schon 
seit  1873  die  auf  Aktien  gegründete  Danske 
Landmansbank,  Hypothek-  og  Vekselbank  in 
Kopenhagen.  Ihr  Hypothekenbestand  betrug 
Ende  1898  29  532726  Kronen  in  2651  Posten. 
Sie  giebt  für  die  Regel  nur  Amortisations- 
darlehen. Ihr  Bestand  an  kündbaren  Dar- 
lehen betrug  Ende  1898  niu-  638  000  Kronen. 
Sie  liatte  femer  Ende  1898  einen  Bestand 
an  Korporationsdai'lehen  im  Betrag  von 
10921675  Kronen  in  392  Posten.  Die  Ge- 
samtsumme der  ausgegebenen  Pfandbriefe 
betrug  Ende  1898  27  217  600  Kronen,  die- 
jenige der  Kommunalobligationen  7  49200<1 
Kronen. 

3.  Der  Credit  foncier  de  France. 
Das  Dekret  vom  28.  Februar  1852  enthält  die 
Normativbestimmungen  für  die  Gründung 
von  Bodenkreditgesellschaften  in  Frankreich 
und  zwar  sowolü  für  solche,  die  auf  ge- 
nossenschaftücher,  wie  fi'lr  solche,  die  auf 
der  Grundlage  von  AktiengeseUschaften  ent- 
stehen würden.  Schon  hierin  war  die 
Staatsaufsicht,  aber  auch  wohlwollende  staat- 
liche Unterstützung  vorgesehen. 

Es  hatte  zunächst  durchaus  den  Anschein, 
als  ob  auf  Grundlage  des  Dekrets  vom  28. 
Februar  1852  eine  Decentralisation  des  Bo- 
denkredits in  Frankreich  sich  vollziehen 
werde.  Am  30.  Juli  1852  wurden  durch 
Dekret  die  Statuten  der  banque  fonciöre  de 
Paris  genehmigt.  Mit  Dekret  vom  12.  Sep- 
tember 1852  erlüelt  die  societe  du  Credit 
foncier  de  Marseille,  am  20.  Oktober  1852 
die  societe  du  Credit  foncier  de  Nevers  die 
Autorisation  zum  Geschäftsbetrieb.  Der  Ge- 
schäftskreis keiner  dieser  Gesellschaften  er- 
streckte sich  auf  ganz  Frankreich.  Er  war 
nach  Departements  beschränkt. 

Der  (jedanke  der  Giündung  eines  gi'ossen 
Centralinstituts  aber  gewann  rasch  die  Ober- 
hand. Aus  der  banque  fonciere  de  Paris 
entstand  auf  Grund  des  Dekrets  vom  10. 
Dezember  1852  der  Credit  foncier  de  France. 
Diesem  Institut  wurde  die  societe  du  Credit 
foncier  de  Marseille  und  diejenige  von 
Nevers  durch  Dekret  vom  28.  Juni  1856 
inkorporiert. 

Der  im  Jalire  1879  \mternommene  Ver- 
such, ein  lebensfähiges  Konkurrenzinstitut 
herzustellen,  die  Gründung  der  banciue  hypo- 
thecaire de  France,  misslang.  In  der  ausser- 
ordentlichen Generalversammlung  vom  20. 
Juni  1882  wurde  ein  mit  dem  Credit  foncier 
abgeschlossener    Fusionsverfrag    genehmigt. 

Der  Staat  unterstützte  die  Entstehung 
und  Fortentwickelung  des  auf  die  Thätig- 
keit  in  ganz  Frankreich  berechneten  Insti- 
tuts in  nachdnickliclister  Weise.  Durch  ein 
Dekret  vom  6.  Juli  1854  hat  der  CnMit 
foncier  eine  der  Organisation  der  Banque  de 
France  ähnliche  Organisation  erhalten. 

Das  Institut  operierte  zunächst  mit  dem 


1256 


Hypothekenbanken 


System  derBardai'lehen,  erhielt  aber  im  Jahre 
1856  (lie  Berechtigung  zur  Zalüung  der 
Valuta  in  Obligationen,  machte  davon  ur- 
sprünglich in  einem  beschränkten  Umfang 
Gebrauch,  um  dem  System  der  Darlehen  in 
Obligationen  Eingang  zu  verschaffen,  und 
nachdem  dies  gelungen  war,  ging  es  aus- 
nahmlos schon  im  Jahre  1857  zu  diesem 
System  über,  das  mit  dem  steigenden  Kiu*s 
der  ausgegebenen  Obligationen  und  dem 
dadurch  für  die  Schuldner  sich  vermindern- 
den Verlust  rasch  sich  einbürgerte.  Im 
Jahie  1869  ffing  man  für  kiu^e  Zeit  zur 
Auszahlung  der  Darlehen  in  bar  über,  ver- 
liess  aber  dieses  Svstem  wiederum  am  9. 
August  1870.  Am  18.  Juli  1877  kehrte 
man  zum  System  der  Bardarlehen  zurück, 
das  anscheinend  sodann  beibehalten  wor- 
den ist. 

Das  Privileg  des  Instituts  wurde  durch 
Dekret  vom  11.  Januar  1860  auf  Algier  er- 
streckt. Durch  das  G.  v.  19.  Mai  1860 
übernahm  das  Institut  die  Operationen  des 
Sous-Comptoir  desEntrepreneurs  (eine  Unter- 
stützung der  städtischen  Bauthätigkeit). 
Durch  &.  V.  6.  Juni  1860  wurde  dem  Credit 
foncier  gestattet,  auch  ohne  hypothekaiischen 
Versatz  langfristige  und  kurzfristige  Dar- 
lehen den  Departements,  Kommunen  und 
den  landwirtschaftlichen  Gesellschaften   zu 

feben.  Endlich  wurde  es  durch  G.  v.  28. 
uli  1860  autorisiert,  mit  Staatsunterstützung 
und  einer  Zinsgarantie  eine  Gesellschaft  ziu* 
Förderung  des  ländlichen  Personalkredits 
(CnWit  agricole)  zu  gründen. 

Das  Jahr  1860  ist  sonach  in  der  Ent- 
wickelungsgeschichte  des  Credit  foncier  von 
besonderer  Bedeutung.  Die  Thätigkeit  des 
Instituts  in  Algier  erhielt  mit  der  Gründung 
des  Credit  foncier  et  agricole  d'Algorie 
am  30.  November/ 9.  Dezember  1880  eine 
eigenartige  Gestaltung,  da  sich  der  Credit 
foncier  de  France  eine  weitgehende  Ein- 
wirkung auf  das  neue  Institiit  und  eine  er- 
hebliche Gewinnbeteiligung  vertragsmässig 
sicherte,  auch  findet  sich  die  Gesamtsumme 
der  von  dem  Algerischen  Institut  gewährten 
Darlehen  auf  dem  Darlehensconto  des  Credit 
foncier  de  France. 

Die  Gesellschaft  des  Credit  Agricole  trat 
im  Jahre  1876  in  Liiiuidation,  und  diese 
wurde  im  Jahre  1880  durch  den  Credit 
foncier  beendigt. 

Ueber  das  Darlehens-  und  Pfandbrief- 
wesen sind  in  den  Statuten  eingehende  Be- 
stimmungen gegeben.  Viele  dieser  Bestim- 
mungen sind  vorbildlich  für  die  meisten 
Hypothekenbanken  geworden,  selbst  in  dem 
Masse,  dass  sie  durchaus  kritiklos  bis  in  die 
neueste  Zeit  kopiert  wurden.  Präcis  formu- 
liert ist  das  Princip,  dass  nur  ziu'  ersten 
Stelle  Darlehen  gegeben  werden  sollen.  Aus- 
geschlossen von  der  Beleihung  sind  Theater, 


Bergwerke  und  Steinbrüche,  unteilbare  Im- 
mobilien, sofern  nicht  mit  Einwilligung  aller 
Miteigentümer  die  Hypothek  auf  das  ganze 
Anwesen  bestellt  wird,  solche  Immobilien, 
bei  denen  die  Nutzniessung  und  das  nackte 
Eigentum  getrennt  sind,  wenn  nicht  alle 
Berechtigten  in  die  Bestellung  der  Hypo- 
thek willigen.  Die  verpfändeten  Objekte 
müssen  eine  dauernde  und  bestimmte  «ente 
ergeben.  Die  Bdeihungshöhe  ist  auf  die 
Hälfte  des  Werts  der  verpfändeten  Objekte 
beschränkt.  Weinberge  und  Wälder  dürfen 
nur  mit  Vs  des  Werts  beliehen  werden.  Ge- 
werbliche Gebäulichkeiten  und  Fabiiken 
dürfen  nur  in  ihrem  von  der  gewerblichen 
Benutzung  unabhängigen  Werte  für  die  Be- 
leihung berücksichtigt  werden.  Die  Annui- 
tät, zu  der  sich  der  Entleiher  verpflichtet, 
darf  den  Gesamtertrag  des  verpfändeten  Ob- 
jekts nicht  überschreiten. 

Die  lu^prüngliche  Begrenzung  des  Be- 
leihungsmaximums  mit  einer  Million  Francs 
an  denselben  Schuldner  wurde  später  auf- 
gehoben, ebenso  die  Bestimmung,  dass  der 
niederste  Betrag  eines  Darlehens  300  Francs 
sei.  Die  Annuitätendarlehen  soDten  ur- 
sprünglich in  der  Zeit  von  20  bis  50  Jahren 
getilgt  werden.  Dies  wurde  später  dahin 
abgeändert,  dass  die  Tügungsdauer  der  An- 
nuitätendarlehen auf  10  bis  75  Jahre  be- 
grenzt wurde.  In  der  Annuität  sollte  eine 
Verwaltungsgebühr  bis  zu  60  Cents  für  100 
Francs  enthdten  sein  dürfen.  Auch  diese 
Bestimmung  ist  später  in  den  Statuten  nicht 
mehr  enthalten. 

Die  ursprüngliche  statutarische  Begren- 
zung des  Zmsfusses  auf  5®/o  wurde  später 
fallen  gelassen  und  nur  statutarisch  be- 
stimmt, dass  der  Aktivzins  den  Passivzins 
um  höchstens  60  Cents  für  100  Francs  über- 
steigen darf.  Für  die  Berechnung  ist  der 
Zeitpunkt  massgebend,  in  dem  der  Dar- 
lehenszins vereinbart  wird  und  der  in  diesem 
Zeitpunkt  bestehende  Obligationenzinsfuss. 
(In  dem  Vei-trag,  der  am  18.  November 
1852  zwischen  dem  Minister  des  Innern,  der 
Landwirtschaft  und  des  Handels  und  dem 
Credit  foncier  geschlossen  wurde,  war  vor- 
gesehen, dass  die  Gesellschaft  bis  zu  20U 
Millionen  Francs  Hypothekendarlehen  zu 
einer  Gesamtleistung  von  5®/o,  Zins,  Amor- 
tisationsquote und  Verwaltungsgebühr  inbe- 
griffen, geben  werde.) 

Dauernd  beibehalten  wnrde  die  Bestim- 
mung, dass  der  Schuldner  seine  Schuld, 
ganz  oder  teilweise,  vorzeitig  zurückzahlen 
kann  und  zwar  nach  seiner  Wahl  in  bar 
oder  in  Obligationen,  die  im  Darlehensver- 
trag bezeichnet  sind.  Die  Obligationen  sind 
zimi  Parikiu«  anzunehmen,  jedoch  kann  die 
Gesellschaft  eine  Entschädigung  bis  zu  3  '^'o 
des  gezahlten  Kapitals  verlangen. 

Nach   den   ersten  Satzungen  durfte  die 


Hypothekenbanken 


1257 


Gesamtsumme  der  Obligationen  den  Oesamt- 
betrag  der  erworbenen  Hypotheken  nicht 
tibersteigen.  Erst  diirch  das  G.  v.  6.  Jiüi 
1860  Art.  8  wurde  bestimmt,  dass  die  Ge- 
samtsumme* der  im  Umlauf  befindlichen 
Obligationen  das  20  fache  des  Aktienkapitals 
nicht  übersteigen  darf.  Hier  findet  sich  also 
erstmals  jenes  System  der  Relativkonzession, 
das  iu  principiell  unwesentlichen  Modifika- 
tionen dann   allgemeine  Nachahmung   fand. 

Der  niedrigste  Betrag  der  Obligationen 
ist  100  Francs.  Die  Obligationen  sind  durch- 
weg verlosbar  und  seitens  der  Inhaber  un- 
kiindbar.  Sie  zerfallen  in  drei  Kategorieen, 
Obligationen  mit  Losen  und  Prämien,  Obli- 
gationen mit  Losen  ohne  Prämien  imd  Obli- 
gationen ohne  Lose  und  ohne  Prämien.  Um 
die  Obligationen  marktfähig  zu  machen  und 
die  Massenemission  zu  erleichtern,  wiaxien 
sie  mit  weitgehenden  Privilegien  ausge- 
stattet. 

Ausser  den  obligations  foncieres  oder 
lettres  de  gage  hat  das  Institut  auch  obli- 
g:ations  communales  kreiert.  Die  Kommunal- 
obligationen werden  auf  Grund  von  Dar- 
lehen an  Dexmrtements,  Gemeinden  und 
andei-e  Korporationen  des  öffentlichen  Rechts 
ausgegeben,  und  dieser  Typus  von  Wert- 
papieren wurde  durch  den  Credit  foncier 
erstmals  geschaffen.  Obligationen  von  Kor- 
2>orationen  des  öffentlichen  Rechts  hat  es 
auch  früher  gegeben,  aber  die  Vereinigung 
von  Forderungen  dieser  Art  bei  einer  Ak- 
tiengesellschaft und  die  Emission  von  Obli- 
g^ationen  auf  Grund  solcher  Forderungen 
durch  eine  Aktiengesellschaft  in  durchaus 
analoger  Anwendung  des  Pfandbrief typus 
wurde  erstmals  durch  den  Credit  foncier 
imternommen.  Die  Ausgabe  von  obligations 
de  drainage  war  in  einer  Vereinbarung  mit 
der  Staatsregierung  vom  28.  April  1858 
vorgesehen,   kam   aber  nicht   zum  Vollzug. 

Als  durch  das  G.  v.  6.  Juli  1860  neben 
den  Pfandbriefen  die  weitere  Kategorie  von 
Kommunalobligationen  geschaffen  win-de,  er- 
schien es  notwendig,  das  Verhältnis  der  Be- 
sitzer von  Pfandbriefen  einerseits,  von  Kom- 
munalobligationen andererseits  juristisch  aus- 
zugestalten, und  man  schuf  ein  Vorrecht  der 
Inhaber  von  Kommunalobligationen  an  den 
Darlehen,  auf  deren  Grund  sie  ausgegeben 
sind,  sowie  gleichzeitig  ein  Vorrecht  der 
Pfandbriefinhaber  an  den  Hypothekenforde- 
rungen, die  zur  Deckung  der  Pfandbriefe 
dienen. 

Die  Bildung  eines  Reservefonds  w^ar  von 
Anfang  an  vorgesehen  und  zwar  sowohl 
eines  obligatorischen  wie  eines  fakultativen 
Reser\efonds. 

Die  Bilanz-  und  Buchungsmethoden  des 
Instituts  haben  sich  im  Lauf  der  Zeit  ge- 
bessert. 

Das    eingezahlte    Aktienkapital    ist    von 


anfänglich  13  Mülionen  Francs  auf  170  500  000 
Francs  Ende  1898  gestiegen,  mit  einem  Re- 
servefonds von  19657  849,79  Francs.  Die 
Dai'lehen  betrugen  insgesamt  Ende  1898: 
3254245249,78  Francs  und  zwar  betnigen 
die  Hypothekendarlehen  1 789  938  702,25 
Francs  und  die  Darlehen  an  Korporationen 
des  öffentlichen  Rechts  1 351  b93  310,87 
Francs.  An  Pfandbriefen  befanden  sich  in 
Umlauf  (nominal) :  2 136  518  600 Francs.  Da- 
rauf waren  noch  einzuzahlen  1 417  350  Francs 
und  es  ruhte  auf  den  Pfandbriefen  ein 
Disagio  von  472376048,32  Fi-ancs  ein- 
schliesslich des  auf  184  417  700  Francs  zurück- 
gekauften Obligationen  ruhenden  Disagios  von 
61176715,43  Francs.  An  Kommunalobli- 
gationen befanden  sich  in  Umlauf  (nominal) : 
1327  579900  Francs.  Hierauf  ruht  ein 
Dieagio  von  131 480 160,73  Francs  einschliess- 
lich des  auf  131184700  zurückgekauften 
Obligationen  nihenden  Disagios  von 
8358040,42  Francs. 

Die  Institution  des  Civdit  foncier  de 
France  w^ar  nicht  eine  originäre  Schöpfung 
wie  seiner  Zeit  die  Gründung  der  Schle- 
sischen  Landschaft.  Alle  Elemente  dieser 
Institution  waren  bekannt  und  auch  ander- 
wärts in  praktischer  Funktion.  Die  Er- 
richtung des  Credit  foncier  hat  aber  einen 
starken  Impuls  für  die  rasche  Entwickelung 
des  europäischen  Hypothekenbankwesens  ge- 
geben. Der  Credit  foncier  war  die  erste 
Hypothekenbank  auf  Aktien  im  grossen  Stil. 
Seine  praktische  Thätigkeit  bewies,  dass  eine 
allzu  ängstliche  territoriale  Beschränkung 
der  Wirksamkeit  nicht  notwendig,  nicht 
einmal  zweckmässig  sei,  dass  eine  reine 
Hypothekenbank  als  solche  ein  auch  für  eye 
beteiligten  Kapitalisten  rentables  Unter- 
nehmen sein  könne,  dass  es  Werte  zu 
schaffen  vermöge,  denen  die  nach  einer 
soliden  Anlage  suchenden  Kapitalisten  sieh 
gern  zuwenden,  dass  es  zur  wesentlichen 
Verbilligimg  des  Bodenkredits  beitragen 
könne  und  dem  steigenden  Kapitalbedürinis 
des  städtischen  Bodenkredits  in  wirksamerer 
Weise  entgegenkomme,  als  dies  durch  die 
genossenschaftlichen  Organisationen  erreich- 
bar ist.  Die  Methode  der  Mobilisierung 
festgelegter  Werte  wurde  sodann,  nament- 
lich in  Frankreich,  auch  auf  anderen  Ge- 
bieten zur  analogen  Anwendung  herange- 
zogen. 

Litteratur:  Roy  er,  Des  instituthn«  de  Credit 
foncier  en  Allemagne  et  en  Belgique,  Paris 
(Jmprimerie  Royale)  1845.  —  tTosseau,  Traue 
du  Credit  foncier,  Paris  1853,  g,  Aufl.  1872.  — 
Derselbe,  Le  Credit  foncier  de  France  1860.  — 
Bourga€i€f  Le  Credit  foncier  de  France  et 
Credit  Agricole   et   les   emprunteurs,  Paris  1861. 

—  Alph.  Courtois  flls,  Histoire  des  banques 
en  France,  2.  Aufl.,  1881.  —  Montag non, 
Traue  sur  les  societes   du    Credit  foncier  1886. 

—  Palgrave,  Dictionary  of  political  enono^my 


1258 


Hypothekenbanken 


/,  464,  455,  —  Say  und  ChuiUey,  Nouveau 
dictionnaire  d'economie  polüiquef  Art.  ctedit 
foiicier  IX:  Le  crSdü  foncier  de  France,  Vol.  I, 
628 — 6S0.  —  Sayy  Dictionnaire  desßnances  8.  v. 
Credit  foncier  (von  J.  B.  Josseau  ISS 9).  — 
Maurice  Bloch,  Dictionnaire  de  Vadminia- 
tratio7i  frangaise,  p.  625,  626.  —  Derselbe, 
Supplement  annuel  au  dictionnaire  rf«  Vadm. 
franf;.,  p.  204,  4^^-  —  Derselbe,  SuppUment 
general  au  dict.  de  Vadm.,  1885,  p,  I42,  I4S.  — 
Supplement  au  nouveau  dictionnaire  de  V economic 
politique  (par  Lion  Say  et  Joseph  CluiiUey-Bert), 
1897,  p.  ISS— 139,  8.  V.  Mdit  Joncier  (von 
Joes  Guyot). 

4.  Holland.  In  Holland  sind  seitdem 
Jahre  1861,  in  dem  die  Nationalhypotheken- 
bank zu  Amsterdam  gegründet  wurde,  12 
Hypothekenbanken  entstanden  mit  einem 
Pfandbrief imilauf  von  170385300  Gulden 
Ende  1898.  Für  sie  alle  ist  die  Aktienform 
gewählt  worden,  doch  haben  einzelne  In- 
stitute bemerkenswerte  Eigentümlichkeiten. 

5.  1 1  a  1  i  e  n.  In  Italien  wurde  auf  Grund 
des  G.  V.  17.  Juli  1890  und  der  Ausführungs- 
verordnung vom  1.  Februar  1891  das  Isti- 
tuto  Italiano  de  Credito  fondiario  mit  dem 
Sitz  in  Rom  als  Aktiengesellschaft  mit 
einem  statutarisch  vorgesehenen  Kapital  von 
100  Millionen  Lire  gegründet,  worauf  40 
Millionen  Lire  eingezahlt  sind.  Die  statu- 
tarischen und  die  Speciali-eserven  betrugen 
Ende  1898  2368393,99  Lire,  der  Bestand 
an  Hypotheken  belief  sich  auf  72192709,62 
Lire,  der  Pfandbriefumlauf  bezifferte  sich 
auf  35605500  Lire.  Das  Listitut  hat  die 
Pfandbriefabteilung  der  Bauca  Nazionale 
in  sich  aufgenommen.  Nach  mannigfachen 
Wandlungen  macht  sich  in  Italien  gegen- 
über der  Zersplitterung  in  der  Organisation 


des  Bodenkredits  eine  stark  centralisiereDde 
Tendenz  geltend. 

6.  Oesterreich.  In  Oesterreich  wurde 
durch  Allerhöchste  Entschliessung  vom  12. 
Oktober  1855  die  Oesterreichische  National- 
bank ermächtigt,  eine  Abteilung  für  Hypo- 
thekarkredit zu  enichten.  Die  Statuten 
\md  Reglements  dieser  Abteilung  für  den 
Hypothekarkredit  wurden  unter  dem  16.  März 
185iS  genehmigt.  Eine  Reihe  von  Privilegien 
war  ihr  bereits  durch  Erlass  des  Finanz- 
ministeriums vom  21.  Oktober  1855  einge- 
räumt worden.  Es  entstand  also  in  Oester- 
reich die  erste  bankmässige  Oi^:anisation 
des  Bodenkredits  auf  Aktien  unter  Anlehnung 
an  die  Notenbank. 

Von  den  zahlreichen  seitdem  gegründeten 
Bodenkreditinstituten  auf  Aktien  in  Oester- 
reich bestehen  derzeit  ausser  der  Abteilung 
für  Hypothekarkredit  der  österreichisch-un- 
garischen Bank  in  Wien  nur  noc^h  5  In- 
stitute auf  Aktien:  Die  Allgemeine  öster- 
reichische Bodenkreditanstalt  in  Wien  (ge- 
gründet 1864).  die  Galizische  Aktien-Hj-po- 
thekenbank  in  Lemberg  (gegründet  1867), 
die  Oesterreichische  Hypothekenbank  in 
Wien  (gegründet  1868),  die  OesterreicMsche 
(IJentral-Bodenkreditbank  in  Wien  (gegrilndet 
1871)  und  die  Bukowinaer  Bodenkreditan- 
stalt in  Czemowitz  (gegründet  1882). 

Reine  Bodenkreditbank  in  der  Art  der 
deutschen  Institute  ist  am  meisten  die 
Oesterreichische  Hypothekenbank,  alle  ande- 
ren sind  thatsächüch  gemischte  Hypo- 
thekenbanken. 

Ende  1898  bezifferte  sich  der  Bestand 
der  Darlehen  und  der  emittierten  Pfand- 
briefe auf  folgende  Summen: 


1.  Oesterreichisch-iingarische  Bank Kr. 

2.  Allgemeine  österr.eichiBche  Bodenkreditanstalt „ 

3.  Galizische  Aktien-Hypothekenbank „ 

4.  Oesterreichische  Hypothekenbank „ 

5.  Oesterreichische  Central-Bodenkreditanstalt „ 

6.  Bukowinaer  Bodenkreditanstalt .  „ 

IT 


Hypotheken 

279  102478 

240657  154 

115  364  485 

20055919 

76  062  430 

8  053  556 


Pfandbriefe 

Kr.  271  067600 
„    238099160 
121  021  200 
1 8  850  600 
75  050  690 
82^6800 


n 


n 


739296022    Kr.   732346050 


Die  bedauerlichen  Gründungsvorgänge 
auf  dem  Gebiet  des  Bodenkredits  haben 
frühzeitig  Gesetze  zum  Schutz  der  Pfand- 
briefinhaber veranlasst :  G.  v.  24.  April  1874, 
betreffend  die  Wahrung  der  Rechte  der 
Besitzer  von  Pfandbriefen,  und  G.  v.  24.  April 
1874,  betreffend  die  gemeinsame  Vertretung 
der  Rechte  der  Besitzer  von  auf  Inhaber 
lautenden  oder  durch  Indossament  übertrag- 
bai'en  Teilschuldverschreibungen  imd  die 
bücherliche  Behandlung  der  für  solche  Teil- 
schuldverschreibungen eingeräumten  Hy- 
pothekarrechte, auch  G.  V.  5.  Dezember  1877, 
enthaltend  ergänzende  Bestimmungen  zu  den 
Oa.  V.  24.  April  1874. 


Litteratnr:  Wti^ter  Schiff,  Zur  Fraye  der 
Organisation  des  lund wirtschaftlichen  Kredit* 
in  Deutschland  und  Oesterreich  (in  den  sta<il^ 
U7id  sozialwissenschaftlichen  Beiträgen,  herauf- 
gegeben  tfon  Miaskowski),  1892,  insbesonder*'  S. 
HS  ff.  —  Pavlicek,  Das  Pfandbrief rr  cht,  Wirn 
1895.  —  Jleeht,  Die  Mündel-  und  Stißnngs- 
gelder  in  den  deutschen  Staaten,  S.  207  ff.  — 
L.  Sbrojavacea,  Appunti  di  statistiea  e  iegi^*- 
lazione  comparcUa  sugli  istifuti  di  credito  fon- 
diario, S.  205 ff.  —  V.  fTurasehek,  Hand- 
icörtcrbuch  der  Staatswissenschaflen ,  2.  Au^,, 
8.  V.  Aktiengesellschaflen.  —  v.  Hattingberg, 
Die  landwirtschafÜichcn  Kredite,  dargestellt  für 
die  niederösterrcichischen  Spar-  und  Darlehens- 
kassen nach  dem  System  Baiffeisen,  Wien  1899. 
—  Albin  Brdf,  Der  landicirtachaftiiche  //y/K»- 


Hypothekenbanken 


1259 


thekarkredit   in    Oesterreich  während  der  letzten 
50  Jahre,   Wien  1899  (Moritz  Perlcs). 

T.Ungarn,  Bosnien  und  Herzego- 
wina. Für  Ungarn  konimen  14  Institute  in  Be- 
tracht Die  weitaus  gi'Össore  Anzahl  aber  sind 
Pfandbriefabteilun^en  von  Sparkassen-Aktien- 
gesellschaften. Eine  Pfandoriefabteilung  hat 
die  Pester  ungarische  Commerdalbank  seit 
1867.  Die  Ungarische  Hypothekenbank 
wurde  1869  gegründet,  die  Siebenbürgisch- 
ungarische  Hypotheken-Kreditbank  in  Klau- 
senbiu'g  1891,  die  Ungarische  Agrai*-  und 
Rentenbank  1895,  in  Agram  besteht  seit 
1893  die  Kroatisch-slavonische  Landeshy- 
pothekenbank. 

Es  möge  in  diesem  Zusammenhang  auch 
die  mit  sehr  erheblichen  Privilegien  aus- 
gestattete Landesbank  für  Bosnien  und 
Herzegowina  in  Serajewo  noch  Erwähnung 
finden  (gegründet  1896). 

Die  Gesamtsumme  der  von  den  14  un- 
garischen dem  Hypothekenkredit  sich  wid- 
menden Aktienbanken  gewährten  Hypotheken 
beträgt  Ende  1898  711088287  Kronen,  die 
Gesamtsumme  der  von  diesen  Instituten 
cirkulierenden  Pfandbriefe  betrug  685  766  800 
Kronen.  Die  Landesbank  für  Bosnien  und 
Herzego\\ina  hatte  Ende  1898  einen  Hy- 
pothekenbestand von  15131764  Kronen, 
eine  Pfandbriefcirkiüation  von  15389  600 
Kronen. 

Auf  die  rechtliche  Sicherstellung  der 
Pfandbriefinhaber  bezieht  sich  das  ungarische 
Landesgesetz  vom  19.  Juni  1876,  kund- 
gemacht am  20.  Juni  1876,  Ges.  Art.  XXXVI. 
S.  auch  Pavlicek,  das  Pfandbriefrecht,  Wien 
1895,  8.  42. 

8.  Portugal.  Die  Compania geueral  de 
credito  predial  Portuguez  wurde  am  3.  No- 
vember 1864  gegründet.  Sie  hatte  Ende 
1898  ein  eingezahltes  Aktienkapital  von 
990  000  Milreis,  einen  Reservefonds  von 
99  000  Milreis,  einen  Obligationenumlauf  von 
12420468  Müreis. 

9.  Spanien.  In  Spanien  entstand  auf 
Grund  des  G.  v.  2.  Dezember  1872  die 
banco  hypothecario  de  Espana.  Sie  ist  das 
einzige  Bodenkreditinstitut  in  Spanien  und 
besitzt  bis  auf  weiteres  ein  Monopol  gemäss 
dem  G.  v.  24.  Juli  1875  und  dem  König- 
lichen Dekret  vom  12.  Oktober  1875. 

Ihr  Aktienkapital  betrug  Ende  1898 
20  000  (KX)  Pesetas,  ihr  Reservefonds  3  795  520 
Pesetas,  derHy  pothekenbestand  war  92701311 
Pesetas,  der  Obligationenumlauf  95394500 
Pesetas. 

10.  D  i  e  S  c  h  w  e  i  z.  Schon  im  Jahre  1849 
wurde  in  der  Schweiz  eine  Hypothekenbank 
auf  Aktien  gegründet :  Die  Basellandschaft- 
liche Hy[X)thekenbank  in  Liestal.  Es  ent- 
stand dann  1851  die  Thurgauische  Hy- 
pothekenbank, 1855  die  Caisse  hypothecaire 
du   canton   de   Fribourg,    1859  "die   Caisse 


hypothecaire  cantonale  Yaudoise,  1863  die 
Hypothekenbank  in  Basel  und  der  Credit 
fonder  Neuchatelois,  die  Aktiengesellschaft 
Leu  &  Cie.  in  Zürich  (gegründet  1755)  hat 
seit  1854  dem  Bodenkredit  sich  gewidmet. 
Im  ganzen  bestehen  in  der  Schweiz  13  Hy- 
potheken-Aktienbanken,  mit  überaus  ver- 
schiedenartiger Organisation  und  Fundierung. 
Einige  Institute  erstrecken  ihren  Geschäfts- 
kreis n\\r  auf  die  Kantone  ihres  Wohnsitzes, 
andere  haben  ihn  über  die  Schweiz  hinaus 
ausgedehnt,  so  insbesondere  Leu  &  Cie.  und 
die  banque  fonciere  du  Jura  in  Basel.  Ein- 
zelne Institute  erhalten  einen  erheblichen 
Teil  ihrer  Betriebsmittel  auf  anderem  Wege 
als  durch  Ausgabe  von  Obligationen,  daher 
mehrfach  die  grosse  Differenz  zwischen 
Hypothekenbestand  und  Obligationenausgabe. 
Die  Gesamtsumme  der  von  diesen  Hy- 
pothekenbanken gewährten  Darlehen  betnig 
Ende  1898  452615991  Francs,  die  Gesamt- 
summe der  cirkulierenden  Pfandbriefe  betrug 
316970759  Francs,  ihr  Aktienkapital  betnig 
79000000  Francs,  ihre  Reservefonds  mit 
Einschluss  von  Extra  -  Reservefonds  ca. 
13500000  Francs. 

11.  Schweden  und  Norwegen.  h\ 
Schweden  und  Norwegen  war  die  Entstehung 
privater  Hj'pothekenbanken  diu'cli  die  Gesetz- 
gebimg verhindert,  weil  private  Institute 
keine  Inhaberpapiere  ausgeben  konnten.  Für 
Norwegen  ist  dieses  Hindernis  durch  das 
G.  V.  7.  August  1896  beseitigt  worden. 
Private  Institute  aber  arbeiteten  und  arbeiten 
unter  dem  Deckmantel  der  Hypotheken- 
Versichenmgsgesellschaften.  So  erklärt  es 
sich,  dass  diese  anderwärts  beseitigte  Form 
des  Geschäftsbetriebs  in  beiden  Ländern 
sich  erhalten  hat. 

12.  Russland.  Am  4.  Mai  1871  wurde 
in  Russland  die  erste  Aktien-Agrarbank  in 
Charkow  gegründet.  Am  8.  AprU  1872 
folgte  die  Gründung  der  Poltawaer  und  der 
St.  Petersburg-Tidaer  Agrarbank.  Auf  Gnmd 
von  Normativbestimmungeu ,  die  von  der 
Staatsregieining  im  Jahre  1872  für  Aktien- 
Agrarbanken  gegeben  wurden,  entstanden 
in  demselben  Jahre  noch  die  Kiewer,  Nishni- 
Nowgorod-Samaraer ,  Moskauer,  Jaroslaw- 
Kostromasche ,  Bessarabisch  -  Taurische  und 
Donsche  Agrarbank.  Im  Jahre  1873  ent- 
stand die  Saratow-Simbirskische ,  die  aber 
seit  1886  sich  in  Liquidation  befindet. 

Der  Rayon  der  Geschäftstliätigkeit  ist 
für  jede  Agrarbank  abgegrenzt.  Die  Be- 
leihung darf  60  °/o  des  Werts  der  Objekte 
nicht  übersteigen.  Die  Darlehen  werden 
auf  »kürzere«  oder  »längere«  Termine  ge- 
geben. Die  kurzterminierten  Darlehen  sollen 
10  ^/o  des  Werts  der  Pfandpbjekte  nicht 
übersteigen.  Die  langterminierten  (Annui- 
täten-)Darlehen  bilden  anscheinend  die 
Regel.  Die  kurzterminierten  Darlehen  werden 


1260 


HypothekenbankeD — ^Hypothekenschuldea  (Statistik) 


in  bar  gegeben,  die  Annuitätendarlehen 
in  Pfandbriefen.  Die  Amortisationszeit  für 
ländliche  Darlehen  ist  43  Jahre  6  Monate 
oder  61  Jahre  8  Monate,  die  Araortisations- 
zeit  für  städtische  Darlehen  ist  18  Jalire 
7  Monate  oder  36  Jahre  4  Monate.  Hy- 
pothekendarlehen unter  500  Rubel  werden 
nicht  gegeben.  Anscheinend  haben  die 
Schuldner  ausser  Zins  und  Amortisations- 
quote jährlich  l^/o  konstante  Verwaltungs- 
gebühr (also  eine  Verwaltungsgebühr  aus 
der  ursprünglichen  Darlehenssumme  bis  zur 
Tilgimg  der  Schuld)  zu  entrichten. 

Das  fast  gleichzeitige  Entstehen  zahl- 
reicher Agrarbanken  (und  Kreditgesellschaf- 
ten) erschwerte  den  Absatz  der  Pfandbriefe 
im  Reich,  und  ein  ausländischer  Markt 
konnte  nicht  gewonnen  werden.  Man  grün- 
dete daher  im  Jahi^  1873  die  Centralbank 
des  russischen  Bodenkredits,  die  aber  schon 
im  Jahre  1878  die  Emission  von  Pfand- 
briefen einstellen  musste. 

(Zur  Förderung  des  russischen  Boden- 
kredits wurde  dann  im  Jahre  1883  die 
ßauern-Agrarbank  und  im  Jahre  1885  die 
Reichsadels- Agrarbank  als  Staatsinstitute  ge- 
gründet. Der  letzteren  wurde  1890  der 
Bestand  der  im  Jahre  1866  gegründeten, 
aber  nicht  lebensfähigen  Gesellschaft  des 
gegenseitigen  Bodenkredits  angegliedert.) 

Das  Gesamt- Aktienkapital  der  10  Aktien- 
Agi-arbanken  betrug  Ende  1898  54077  739 
Rubel,  das  Gesamt- Reservekapital  27  356977 
Rubel,  die  Specialreserven  stellten  sich  auf 
1506632  Rubel.  Der  Reingewinn  aller 
Aktien-Agrarbanken  betnig  ftlr  das  Jahr 
1898  10256007  Rubel,  also  18,21  «/o  des 
Aktienkapitals. 

Der  rfandbriefumlauf  belief  sich  Ende 
1898  auf  768447400  Kreditrubel  und  auf 
485750  Metalhnibel. 

Die  Pfandbriefe  aller  Aktien- Agrarbanken 
waren  in  den  ersten  7  Jahren  ihrer  Thätig- 
keit  6  prozentig,  standen  aber  zum  Teil  weit 
unter  pari,  una  da  die  Darlehen  in  Pfand- 
briefen zur  Auszahlung  kamen,  entstanden 
für  die  Darlehensnehmer  sehr  grosse  Ver- 
luste. Einige  Banken  begannen  im  Jahre 
1878  mit  der  Emission  von  5prozentigen 
Pfandbriefen,  aber  erst  im  Jahre  1891  wuixle 
die  Emission  von  6prozentigen  Pfandbriefen 
ganz  eingestellt,  auch  die  Konversion  der 
im  Umlauf  befindlichen  6prozentigen  Pfand- 
briefe vorgenommen.  Ende  1898  cirkulierten 
niu*  noch  4^/'»  prozentige  Pfandbriefe. 

S.  die  Berichte  des  Petersburger  Komitees 
der  periodischen  Versammlungen  der  Ver- 
treter aller  russischen  Bodenkreditinstitu- 
tionen. Diese  Berichte,  die  früher  in  deut- 
scher und  französischer  Sprache  erschienen 
sind,  erscheinen  derzeit  nur  noch  in  rus- 
sischer Sprache.  Felix  Hecht. 


Hypothekensclialdeii. 

(Statistik.) 

I.  Vorbemerkung,  n.  Statistik  der 
H.  in  den  einzelnen  Staaten.  1.  Deutsches 
Reich,  a)  Preussen;  b)  die  übrigen  deutschen 
Staaten.  2. Oesterreich.  S.Frankreich.  4. Italien. 
5.  Niederlande.  6.  Vereinigte  Staaten  von  Ame- 
rika. 

L  VorbemerkiiBg. 

Die  Reihe  der  Aufgaben,  welche  die 
Statistik  zum  Zwecke  der  Feststellung  der 
Grrundeigentumsverhältnisse  zu  lösen  hat, 
wurde  in  dem  Art.  Grundbesitz  (IIL  Ab- 
schnitt:  Statistik  des  G.  oben  Bd.  IV  S.  849  ff.) 
kurz  berührt  Zu  den  hervorragendsten 
derselben  gehört  die  Ermittelung  der  hypo- 
thekarischen Verschuldung  des  Gnmdbe- 
sitzes.  Insoweit  als  dabei  insbesondere  auch 
die  ländlichen  Eigentümer  in  Frage  kommen, 
hängt  das  Preblem  eng  zusanunen  mit  den 
auf  die  ökonomische  Lage  der  Landwirt- 
schaft gerichteten  Untersuchungen,  welche 
gegenwärtig  in  fast  allen  Kulturstaaten  das 
öffentliche  Interesse  herausfordern. 

Eine  vollständige  Statistik  der  Hypo- 
thekenschulden wird  neben  dem  Stande  der 
Verschuldung  an  einem  bestimmten  Zeit- 
punkte auch  die  im  Laufe  der  Zeit  sich 
vollziehende  Bewegung  der  Hypotheken 
(d.  h.  die  Eintragungen  imd  Löschungen) 
ins  Auge  zu  fassen  haben,  da  die  auf  solche 
Weise  zu  ermittelnde  Zu-  oder  Abnahme 
der  Belastung  für  die  Beurteilung  der  wirt- 
schaftlichen Lage  der  grundbesitzenden 
Klassen  gleichfalls  von  symptomatischer 
Bedeutung  ist.  Uebrigens  bedarf  es  gerade 
mit  Rücksicht  auf  diesen  Zweck  einer 
Gliedenmg  des  Materials  nach  der  lüchtimg 
hin,  dass  nicht  nur,  wie  schon  angedeutet 
der  städtische  und  ländliche  Grundl)esitz 
auseinandergehalten,  sondern  der  letztere 
auch    nach    verschiedenen    Grössenklassen 

i mindestens  nach  grossem,  mittlerem,  kleinem 
3esitz)  gruppiert  wird.  Ferner  wäre  es  er- 
wünscht, zu  erfahren,  ob  der  Landwirtschaft 
treibende  Eigentümer  daneben  noch  ein 
sonstiges  Gtewerbe  ausübt  Wichtig  ist  auch 
die  Frage  des  Schuldgrundes:  ob  das  Dar- 
lehen ziun  Zweck  der  Bodenkultur  oder 
infolge  von  Erbteilung  oder  durch  Eintra- 
gimg rückständiger  Kaufgelder  etc.  aufge- 
nommen wurde.  Weitere  ünterscheidimgen 
können  die  Grösse  der  einzelnen  Schuid- 
posten,  die  Höhe  des  Zinsfusses  sowie  die 
Frage  der  Amortisation  und  der  Kündbar- 
keit betreffen ;  einige  ergeben  sich  aus  dem 
Hypothekenrecht  der  verschiedenen  Staaten 
(z.  B.  Trennung  der  eigentlichen  Hypotheken 
von  den  Grundschulden).  Einen  richtigen 
Einblick  in  die  Verschuldungsverhältnisse 
gewinnt  man  erst  dann,  wenn  sich  die  Höhe 
der  Belastung  mit  dem  Werte  des  Eigen- 


Hypothekenschulden  (Statistik) 


1261 


tiims  vergleichen  lässt,  wobei  in  der  Regel 
der  Grundsteuerreinertrag  massgebend  sein 
wird;  nur  dort,  wo  die  Ennittelung  der 
hypothekarischen  .Verschuldung  auf  die 
FäUe  der  Besitzveränderung  der  Objekte 
sich  beschränkt,  werden  die  Kauf-  bezw. 
sonstigen  Uebemahmspreise  zum  Vergleich 
heranzuziehen  sein. 

Wie  schon  angedeutet,  ist  die  Beschaffen- 
heit einer  solchen  Verschuldimgsstatistik 
durch  die  gesetzlichen  Einrichtungen,  be- 
sonders der  Grrund-  und  Hypothekenbücher 
sowie  der  Steuerlisten  der  einzelnen  Länder 
bedingt,  ein  umstand,  der  allein  schon  dazu 
angethan  ist,  einen  internationalen  Vergleich 
der  hypothekarischen  Verschuldung  des 
Grundeigentums  als  schwer  ausführbar  er- 
scheinen zu  lassen.  Dazu  kommt,  dass  die 
meisten  der  bisher  vorliegenden  Statistiken, 
insbesondere  auch  die  deutschen,  noch  recht 
unvollkommen  sind  und  nur  einen  geringen 
Teil  der  oben  angeführten  Momente  berück- 
sichtigt haben,  indem  nicht  nur  die  Mangel- 
haftigkeit der  vorhandenen  Unterla^n,  son- 
dern auch  die  Schwierigkeit  der  Material- 
beschaffung einer  zulänglichen  Darstelhmg 
vielfach  im  Wege  standen.  Insbesondere 
wird  die  Statistik  nur  selten  den  Fällen  ge- 
recht, in  denen  dieselbe  Schuld  auf  mehrere 
Immobilien  zugleich  eingetragen  ist  (Simul- 
tanhypotheken), oder  wo  eine  Hypotheken- 


schuld bereits  getilgt,  aber  noch  nicht  ord- 
nungsmässig  gelöscht  ist. 

Uebrigens  können  unter  Umständen  auch 
die  Geschäftsausweise  der  Immobiliarki'cdit- 
institute  einen  brauchbaren  Anhalt  ziu*  Be- 
urteilung der  Verschiddungsverhältnisse 
eines  bestimmten  Bezirkes  bieten. 

W^ir  beschränken  uns  im  folgenden  auf 
eine  kurze  Charakteristik  des  Standes  der 
Statistik  in  einigen  wichtigeren  Ländern. 
(Vgl.  im  übrigen  noch  den  Art.  Grund- 
besitz, ni,  a.  a.  0.) 

II.    Statistik   der   Hypothekenschulden 
in  den  einzelnen  Staaten. 

1.   Deutsches   Reich,      a)   Pteussen. 

Abgesehen  von  denjenigen  Daten,  welche 
Meitzen  in  seinem  Werke  »Der  Boden  und 
die  landwirtschaftlichen  Verhältnisse  des 
preussischen  Staates«  über  den  Stand  und 
die  Bewegung  der  hypothekarischen  Ver- 
schuldung aus  der  ersten  Hälfte  dieses 
Jahrhunderts  gesammelt  hat,  existieren  Er- 
mittelungen über  den  Stand  der  Belastung 
nur  in  Gestalt  der  in  den  Jahren  1883  und 
1896  veranstalteten  probeweisen  Erhebung 
der  Verschuldung  des  ländlichen  Grundbe- 
sitzes in  50  bezw.  60,  in  den  verschiedensten 
Teilen  der  Monarchie  belegenen  Amtsge- 
richtsbezirken. Danach  war  in  42  für  beide 
Jahre  vergleichbaren  Bezirkea: 


überhaupt 


Fideikommisse  und  Reichs- 
güter 

Besitzungen  von  über  1500  ( 
M.  Beinertrag  .    .    .    .\ 

Besitzungen  von  300  bisf 
1500  M.  Beinertrag  .    .\ 

Besitzungen  von  90 — 300  f 
Mark  Reinertrag  .    .    .\ 

Besitzungen  von  unter  90  ( 
M.  Reinertrag  .    .    .    .\ 


Jahr 


1883 
1896 

1883 
18% 

1883 
1896 

1883 
1896 

1883 
1896 

1883 
1896 


Zahl  der 

Be- 
sitzungen 


77913 

565 
341 

I  769 
I  708 

7062 
6654 

11  791 
II  705 

57505 


Grund- 
steuer- 
Rein- 
ertrag 

1000  M. 

17  262 
16591 

1684 
2001 

7864 

7225 

4  393 
4132 

2  lOI 

1952 

I  220 

I  281 


Grund- 
buch- 
schulden 

1000  M. 

407  276 
485  166 

11398 
14095 

221  201 

241  198 

79144 
102  526 

39324 
56677 

56209 
70670 


Auf  I.Besitzung 

Schulden 
M. 


Rein- 
ertrag 

M. 


213 

2980 
5868 

4446 
4230 

622 
621 

178 
167 

• 

23 


6227 

20173 

41335 

125043 
141  217 

II  207 
15408 

3  335 
4842 


I  229 


Auf 
1  M. 
Rein- 
ertrag 
Schul- 
den 

23,6 
29,2 

6,8 
7,0 

28,1 
33,4 

18,0 
24,8 

18,7 
29,0 

46,1 

55,2 


Die  Erhebungen  von  1896  waren  übrigens 
weiter  angelegt  als  die  von  1883  und  haben 
in  Bezug  auf  den  Grad  der  Verschuldung 
im  Vergleich  mit  dem  Grundsteuerreinertrag 
wertvolle  Ergebnisse  geliefert. 

Handelt  es  sich  bei  diesen,  sonst  schätzens- 
werten Ermittelungen  immer  nur  um  ein- 
zelne ausgewählte  Probebezirke,  so  werden 
dagegen  über  die  Verschuldungsbewegimg, 
d.  h.  über  die  Beträge  der  bei  den  ein- 
zelnen   Amtsgerichten     eingetragenen    und 


gelöschten  Hypotheken  einschliesslich  Gnmd- 
schulden  vollständige  Nachweise  für  die 
ganze  Monarchie  geliefert,  und  zwar  ge- 
trennt für  städtische  und  ländliche  Bezirke; 
sie  beginnen  mit  dem  Rechnungsjahre 
1886/87.  Für  das  Jahr  1889/90  werden 
zum  ersten  Mal  die  infolge  von  Zwangsver- 
steigerungen eingetragenen  und  gelöschten 
Posten  besonders  zur  Darstellung  gebracht. 
Es  erfolgten  in  Millionen  Mark: 


1262 


Hypothekeaschulden  (Statistik) 


Eintragungen 

Löschungen 

Stadt 

Land 

Stadt 

Land 

1004,81 

624,16 

570,52 

491,00 

1128,05 

567,62 

561,27 

479,59 

1348,40 

583,12 

624,41 

462,10 

1484,59 

651,93 

670,01 

472,80 

1380,36 

621,64 

670,59 

465,27 

1445,26 

641,81 

685,87 

435,16 

1486,57 

670, 1 1 

736,09 

461,43 

1456,55 

688,23 

771,38 

459,99 

1611,84 

714,97 

868,40 

460,30 

Jahre 

1886/87 
1887/88 
1888/89 
1889/90 
1890/91 
1891/92 
1892/93 
1893/94 
1894/95 

Danach  hat  in  den  9  Jahren  eine  Ge- 
samtzunahme  der  Verschuldung  um  1576,01 
Millionen  Mark  stattgefunden.  Löschungen 
infolge  von  Zwangsversteigenmgen  sind  von 
1889/90  bis  1894/95  in  den  Städten  580,15, 
auf  dem  Lande  265,53  Millionen  Mark  ge- 
schehen. Von  den  im  Jahre  1894/95  in 
den  städtischen  Bezirken  erfolgten  Ein- 
tragungen und  Löschungen  entfielen  auf  die 
Berliner  Landgerichte   allein    531,27   bezw. 


280,69  Millionen  Mark.  Es  ist  dies  eine 
Folge  sowohl  der  regen  Bauspekulation  als 
auch  vor  allem  der  abnormen  Steigerung 
der  Grundrente  in  der  Reichshauptstadt  und 
deren  Umgegend.  Nähere  Daten  liierüber 
bieten  die  regelmässigen  Veröffentlichungen 
des  statistischen  Amts  der  Stadt  Berlin. 

b)  Die  übrigen  deutschen  Staaten. 
Aus  obigem  ergiebt  sich,  dass  die  Statistik 
der  Hypothekenschulden  in  Preussen  bisher 
nur  wenig  ausgebildet  ist.  In  noch  höhe- 
rem Masse  gilt  dies  von  den  meisten  übrigen 
Bundesstaaten.  Aus  Bayern  li^en  ausser 
24  Gemeinden,  in  denen  probeweise  der 
Schuldbestand  festgestellt  ist,  seit  1895  nur 
die  Eintragimgen  und  Löischungen  von 
Hypotheken  vor.  Für  1896  sind  auch  die 
Arten  der  Hypotheken  auseinandergehalten. 
In  diesem  Jahre  betrugen  in  1000  Mark: 


auf  landwirt- 
schaftliche 
Grundstücke 

Eintragungen 161 244 

Löschungen 141 283 

davon  wegen 

Zwanjfsversteigerungen    ....  3  602 

Mehreiutragungen 19  961 

Auf  100  M.  Eintragungen  Löschungen  87,6 


anf  städtische 
oder  gewerbl. 
Grundstücke 

auf  landw.  u. 
zugl.  gewerb- 
liche Gmndst. 

Zusammen 

331  789 
193  928 

25802 
18  160 

518835 
353  371 

6646 
137  861 
58,5 

556 

7642 

70,4 

10804 
i6q  466 
68.1 

• 

Ausserdem  werden  die  Hypothekendar- 
lehen der  Banken  (1896  in  1000  Mark 
1815232,  dann  in  Bayern  1324764  und 
zwar  tüffbar  1161890,*^  untilgbar  162874, 
auf  landwiiischaftliche  Anwesen  366  266, 
auf  sonstige  958  538)  nach  der  Höhe  der 
Darlehen  beziffert. 

In  Sachsen  ist  nach  dem  Stande  von 
1884  eine  vollständige  Ermittelung  der  Ver- 
schuldung des  Grund-  und  Gebäudebesitzes 
durchgeführt  und  durch  eine  solche  der 
jährlich  eingetretenen  Bewegung  darin  eine 
fortlaufende  üebersicht  des  Schuldenstandes 
am  Jaliresschlusse  erzielt  worden.  Dabei 
sind  die  Arten  der  Pfandbestelliuig  unter- 
schieden worden.  Auch  wird  die  Zahl  und 
der  Betrag  der  Eintragimgen  und  Löschungen 
ersichtlich  gemacht.  Die  Hauptergebnisse 
sind  in  1000  Mark: 
1884    2204560  1888       2650831 

1889  2  838  733 

1890  3018104 

1884/90  +831  545  (36,9%) 
Für  Württemberg  liegt  aus  neuerer 
Zeit  nur  eine  Ermittelung  der  Pfandschulden 
aus  126  ländlichen  Gemeinden  vor,  welche 
gelegentlich  von  Untersuchungen  über  den 
Stand  der  Landwirtscliaft  1895  angestellt 
worden  ist. 

Baden  veröffentlicht  in  seinem  >  Statis- 
tischen Jalirbucli«  regelmässig  die  »Pfend- 
einträge  und  Pfandstriehe«   nach  Zahl  und 


188Ö    2287763 

1886  2384039 

1887  2496217 


Kapitalbetrag,   wobei   auch   der  Beruf  der 
Belasteten    Berilcksichtigung    findet.      Der 
Gesamtumfang  der  Belastung  wurde  einmal 
gelegentlich  der  Erhebungen  über  die  Lage 
der  Landwii-tschaft  im  Jahre   1883  für  37 
Gemeinden    aus    den    Grund-    und    Unter- 
pfandsbüchern  in  eingehender  Weise  fest- 
gestellt.   Ausserdem  hat  man  in  Baden  den 
bedeutsamen  Versuch  gemacht,  nicht  bla«« 
die  Real-,  sondern  auch  die  Personalschidden 
bezüglich  der  landwirtschaftlichen  Bevölke- 
rung auf  Grund  der  Einkommensteuerlisteu 
und  der  darin  verzeichneten,  weil  bei  der 
Besteuerung  in  Abzug  zu  bringenden  Schuld- 
Zinsen    für    1894    erfasst.     Dabei   wurden 
j  rein  landw^irtschaftliche  und  gemischte  Be- 
;  ti'iebe  und  jeder    wieder  nach   sechs  Ein- 
'  kommenstufen    unterschieden.     Gleichzeitig 
I  ward   der   Wert   des  gesamten  Vermögens 
'  ermittelt  und  so  das  schliesslich  wichtigste 
1  Ergebnis,  das  Verhältnis  der  Schulden  zu 
I  jenem   Vermögen ,   gefunden.     Danach  hat 
'  sich  ergeben  in  1000  Mark  bei : 

■«^      .   4) 


Steuerpflichtige 
Vermögenswert 
Schuldkanital 
Verschuldungs- 
ziflfer 


.0 


86489 
I  109684 

195489 
17,7 


107  985 

995774 
285  693 

28,7 


194474 
2 105  427 

481 1S2 


22,7 


Hypothekenschulden  (Statistik) 


1263 


n 


bei  Einkommen 
—1000  M. 
1001-1500  „ 
1501—2000  „ 
2001—3000  „ 
3001-5000  „ 
über  5000    „ 


21,7 

15,4 
14,1 
13,8 
",3 


iß 

SpQ 
35,8 

29,2 

24,8 
23,6 
24,3 
31,0 


27,2 

22,6 
19,3 

18,8 
20,4 
26,9 


Auf  der  gleichen  Grundlage  der  Ein- 
kommensteuerrollen wiuxie  auch  in  Olden- 
burg die  Verschiddung  der  allein  oder  vor- 
zugsweise von  der  Landwirtschaft  lebenden 
Gnindbesitzer  fflr  1894/95  ermittelt  und 
dabei  die  Verschuldungsursachen,  welche 
für  die  Steuerveranlagung  anzugeben  sind, 
in  Rechnung  gezogen.  Nächstdem  hat  auch 
die  übrige  ländliche  Bevölkerung,  wenn 
auch  weniger  eingehend,  Berücksichtigimg 
gefunden.  Für  die  gesamte  ländliche  Be- 
völkenmg  des  Herzogtums  Oldenburg, 
d.  h.  des  Hauptlandes  des  Gfrossherzogtums 
ergaben  sich  Steuerpflichtige: 


Anzahl 

Kapital 

Schulden 

m  1000  M. 

überhaupt 

62  769 

125672 

108482 

darunter 

ohne  Kapital  und 

Schulden 

46540 

nur  mit  Kapital 

7234 

96205 

mit  Kapital  und 

Schulden 

2210 

29467 

37780 

nur  mit  Schulden 

6785 

70702 

Für  diese  Steuerpflichtigen  betrug  derWert 
des  Grundbesitzes  (420662  ha)  474280810, 
der  des  Betriebskapitals  133460266  und  im 

fanzen  607  741076  Mark  (d.  h.  für  einen 
teuerpflichtigen  9682  und  für  1  ha  1447 
Mark).  Danach  berechnet  sich  das  Verhält- 
nis der  Schulden  zum  Weil:  des  Grundbe- 
sitzes und  Betriebskapitals  ohne  Abzug  des 
Kapitals  auf  17,9  und  mit  Abzug  auf 
+  2,8^/0. 

Im  Grossherzogtum  Hessen  finden  seit 
einiger  Zeit  (beginnend  mit  dem  Jahre  1885) 
umfassende  Erhebungen  statt  über  die  Zu- 
und  Abnahme  des  auf  dem  Grundbesitz 
Aihenden,  in  den  öffentlichen  Büchern  ein- 
getragenen Schuldenstandes,  unter  Berück- 
sichtigung der  Entstehungsursache  der 
iSchuld  und  des  Grundes  der  Löschungen 
sowie  des  Hauptberufes  der  Sdiuldner 
(Landwirte,  Gewerbetreibende  und  sonstige 
Personen).  Endlich  bleibt  das  Herzogtum 
Braunschweig  zu  erwähnen^r  welches 
der  Bestand  der  ingrossierten  Hypotheken- 
kapitalien in  Stadt  und  Land  aus  mehreren 
Jahren,  anhebend  mit  1856  und  bis  auf  die 
neuere  Zeit  fortgeführt,  vorliegt. 

2.  Oesterreich.    Hier  ist  unsere  Statis- 


tik bereits  seit  mehreren  Jahrzehnten  eifiig 
gepflegt  worden.  Da  eine  erste  1858  ver- 
anstaltete Erhebung  der  Grundbesitzver- 
schuldung von  wenig  glücklichem  Erfolge 
war,  beschränkte  man  sich  bei  einer  Wieder- 
holung nach  dem  Stande  v.  31.  Dezember 
1881  auf  eine  blosse  Darstellung  des  bücher- 
lich (d.  h.  also  von  der  Wirklichkeit  mehr 
oder  weniger  abweichenden),  in  Geldbeträgen 
haftenden  Lastenstandes.  Die  Beträge 
wuixien  dabei  nach  der  Hypothekengattung 
und  der  Höhe  des  Zinsfusses  unterschieden. 
Indessen  ist  auch  diese  Erhebung  von 
grossen  Mängeln  nicht  frei,  namenthch  er- 
scheint die  Belastung  aus  verschiedenen 
Gründen  erheblich  zu  hoch.  Femer  ist  es 
nicht  möglich,  den  Grad  der  Belastimg  an 
dem  Werte  der  Liegenschaften  zu  er- 
messen. 

Einer  grösseren  Vollkommenheit  erfreuen 
sich  die  mit  dem  Jahre  1868  in  Oesterreich 
beginnenden  (und  in  Ähnlicher  Weise  auch 
in  Ungarn  veranstalteten)  periodißchen 
Nachweisungen  über  die  Yeränderungen  im 
(Besitz-  und)  Lastenstande  der  Readitäten, 
namentlich  seitdem  von  1878  an  auch  die 
Formen  der  Belastung  berücksichtigt  werden. 
Ausserdem  wird  die  Zahl  der  Posten  (nach 
Grössenklassen  gruppiert),  die  Art  des  Be- 
sitzes (landtäflicher,  städtischer.  Montan-  und 
sonstiger  Besitz)  sowie  der  Zinsfnss  der 
Hypothekendarlehen  ermittelt. 

Wie  Inama-Sternegg  mitteilt,  hatte 
die  Erhebung  des  Jahres  1858  in  den  jetzt  im 
Reichsrate  vertretenen  Ländern  eine  Ge- 
samtbelastung von  1122  Millionen  Gulden 
ergeben.     Nach    den  Ausweisen    über   die 

n'iche  Bewegung  im  Lastenstande  der 
itäten  während  der  Jahre  1871—1881 
ist  eine  Gesamtmehrbelastiuig  von  988 
Millionen  Gulden  eingetreten.  Um  dalier 
die  Schlussziffer  der  Erhebung  von  1881  im 
BetrM;e  von  3061  Millionen  Gulden  (ohne 
die  Schulden  der  Eisenbahnen  und  des 
Staatsgüterbesitzes)  zu  rechtfertigen,  muss 
in  der  Zeit  von  1858—1870  eine  Mehrbe- 
lastung im  Gesamtbetrage  von  951  Millionen 
Gulden  eingetreten  sein,  so  dass  hiemach 
die  drei  Perioden,  die  Zeit  vor  1858,  dann 
1858—1870  und  1871—1881  mit  nahezu 
gleichen  Beträgen  an  dem  Schuldenstande 
von  1881  beteiligt  sind.  Für  Ende  1889 
werden  die  gesamten  Hypothekenschulden 
in  den  Reichsratsländern  auf  etwa  3600 
Millionen  Gulden  veranschlagt. 

Im  folgenden  geben  wir  einen  Ueber- 
blick  über  die  Zunahme  der  Hypotheken- 
schulden in  Oesterreich,  wie  sie  in  dem 
Mehrbetrag  der  neuen  Belastungen  gegen- 
über den  Entlastungen  sich  darstellt.  Die 
Länder  mit  noch  unvollständigem  Grund- 
buchwesen (Küstenland,  Galizien  und  Buko- 
wina) sind  dabei  nicht  berücksichtigt. 


12G4 


Hypothekenschulden  (Statistik) 


Jahr 

1871 
1872 
1873 
1874 
1875 
1876 
1877 
1878 
1879 


1000  fl 

46741 

107  622 

202  459 

156  127 

136693 

99276 

24695 

44  160 

22765 


Jahr 

1880 
1881 
1882 
18&S 
1884 
1885 
1886 
1887 
1888 


1000  fl 

18404 
10035 
22926 
34289 

57241 

55871 
52  708 

56331 
56954 


Jahr 

1889 
1890 
1891 
1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 


1000  fl 

52739 
58328 

73503 
107  033 

112  239 

159070 

150  021 

162370 

179  216 


In  der  gewaltigen  Zunahme  des  Lasten- 
standes zu  Beginn  der  siebziger  Jahre 
kommt  die  wirtschaftliche  Hochflut  jener 
Zeit  deutlich  zum  Ausdruck.  Bezüglich  der 
Vermehrung  in  den  achtziger  Jahren  weist 
Winckler  darauf  hin,  dass  die  im  Jahre 
1883  erfolgte  Intabiüierung  einer  Prioritäten- 
schuld  von  24  Millionen  Mark  der  Alpinen 
Montangesellschaft,  die  Folgen  der  Zucker- 
krisis  im  Jahre  1884  und  die  infolge  des 
gesunkenen  Zinsfusses  seit  dem  Jahre  1886 
mit  Hilfe  erborgter  Kapitalien  forcierte 
Bauthätigkeit  in  Wien  und  dessen  Vororten 
zum  Anwachsen  der  Hypothekenschuld 
wesentlich  beigetragen  haben. 

In  Ungarn  betrug  der  üeberschuss  der 
Neubelastungen  über  die  Löschungen  in  1000 
Gulden : 


1889  26020 

1890  48258 

1891  76652 


1892  57621 

1893  87135 

1894  68301 


1895  1 1 5  540 

1896  117  096 

1897  129  349 


3.  Frankreich.  Nachdem  früher  wieder- 
holt (zuletzt  im  Jahre  1840)  Versuche  ge- 
macht worden  waren,  die  Anschreibungen 
der  Hypothekenämter  zur  Herstellung  einer 
Statistik  der  hypothekarischen  Verschuldung 
des  Gnmdbesitzes  zu  benutzen,  ist  eine  der- 
artige Erhebung  im  Jahre  1877  wiederholt 
worden.  Für  1840  hatten  die  Auszüge  aus 
den  Gnmdbüchern  eine  hypothekarische 
Belastimg  von  12308  Millionen  Francs  er- 
bracht. Jene  Ermittelung  stellte  fiir  den 
31.  Dezember  1876  eine  Grundbuchschuld 
von  19278931692  Francs  fest,  zu  denen 
dann  noch  die  dem  Credit  foncier  gehörende 
Summe  von  832096402  Francs  hinzutritt, 
so  dass  sich  eine  Gesamtbelastung  von 
20 11 1 028  094  Francs  ergiebt.  Diese  Summe 
ist  indessen  insofern  zu  hoch,  als  manche 
zurückgezahlte  Schulden  nicht  gehörig  ge- 
löscht wurden.  Nach  den  über  diesen 
Punkt  von  den  einzelnen  Hypothekenämtern 
angestellten  Ermittelungen  ist  deshalb  ein 
Betrag  von  5741931768  Francs  abzusetzen. 
Infolgedessen  reduziert  sich  die  thatsäch- 
liche  Belastung  auf  14369096326  Francs. 
Uebrigens  hat  auch  die  jüngste  Aufnahme 
zu  einer  bloss  summarischen  Feststellung 
der  Beträge  geführt,  indem  weder  die 
(trössenklassen  der  Besitzungen  noch  selbst 
die  städtischen  imd  ländlichen  Distiikte 
unterschieden    woixlen    sind.     Zuverlässige 


Daten  über  die  Verschuldungsbewegung  sind 
nicht  bekannt. 

4.  Italien.  Dieser  Staat  besitzt  eine 
ziemlich  ausführliche,  alleixlings  melu*  die 
rechtliche  als  die  >\'irtschaftliche  Seite  der 
Frage  berülirende  Statistik  der  Hypotheken- 
schulden. Der  Gesamtbetrag  der  letzteren 
wurde  erst  einmal,  und  zwar  für  den  31. 
Dezember  1871  direkt  erhoben.  Von  da  ab 
ist  der  Stand  der  Verschuldung  duix-h  Fest- 
stellung des  jährlichen  Zu-  und  Abganges 
der  Hypotheken  ermittelt  woixien.  Schon 
gelegentlich  jener  Hauptaufnahme  wurden 
die  Hypothefcen  nach  ihrer  verschieden- 
artigen rechtlichen  Qualität  auseinanderge- 
halten; dabei  ist  auch  zwischen  zinstragen- 
den und  nicht  zinstragenden  Hypotheken 
(debito  fi-uttifero  ed  infruttifero)  unter- 
schieden, von  denen  die  letzteren  keine 
eigentliche  Belastimg  des  Eigentums  be- 
deuten, indem  sie  nur  zu  Zwecken  der 
Kautionsstellung  •  etc.  angeliehen  wurden. 
Die  ei*steren  zerfallen  in  Kapitalien  und 
kapitaJisierte  Renten.  Eine  genaue  Fest- 
stellung des  Schuldenstandes  ist  übrigens 
nicht  erzielt  worden,  weü  sowohl  die  Simul- 
tanhypotheken als  auch  die  nicht  gehörig 
gelöschten  Hypotheken  mit  einbegi'iffen 
werden  mussten.  Andererseits  sind  die 
nicht  nach  den  Vorschriften  des  Civügesetz- 
buches,  sondern  auf  Grund  von  Si)ecialbe- 
stimmungen  bewirkten  Schuldaufnahmen 
von  der  Statistik  unberücksichtigt  geblieben. 

Nach  den  gleichen  Grundsätzen  ist  die 
an  die  erste  Erhebung  sich  anschliessende, 
fortlaufende  Ermittelung  der  H37)0thekenbe- 
wegung  eingerichtet.  Doch  wimie  von  1886 
an  nocli  unterschieden,  ob  die  Eintragimgen 
auf  Häuser  oder  auf  Grundstücke  oder  auf 
beide  zugleich  erfolgten.  Bei  den  Löschungen 
findet  diese  Trennung  nicht  statt.  Die 
Naehweisungen  werden  nach  der  Zahl  der 
Posten  und  den  Beträgen  für  die  einzelnen 
Provinzen  geliefert. 

Für  Ende  1871  wiutle  ein  Betiug  von 
6009450696  Lire  an  zinstragenden  und  von 
4582834409  Lire  an  nicht  zinstragenden 
Hypotheken  ermittelt,  welche  beiden  Summen 
nacli  dem  Ausweis  der  inzwischen  erfolgten 
Eintragungen  und  Löschungen  Ende  lt<SO 
auf  6537  784997  bezw.  4941670348  Lire 
und  Ende  1889  auf  8934027719  bezw. 
5968133266  Lire  gestiegen  waren.  Unter 
den  am  Schluss  des  letzten  Jahres  vorhan- 
denen zinstragenden  Hypotheken  befanden 
sich  8106704937  Lire  eigentliche  Kapitalien 
imd  827  322782  Lire  kapitalisierte  Renten. 
Während  des  Jahres  1889  wurden  neu  auf- 
genommen 100746  Posten  in  der  Höhe  von 
705902762  Lire,  und  zwar  allein  auf  Gnmd- 
besitz  178068014,  aUein  auf  Geliäude 
231356354  und  auf  Grundbesitz  und  Ge- 
bäude zugleich  296478394  Lire.    Da  gleich- 


Hyiwthekenschulden  (Statistik)  1265 


zeitig  Hypotheken  im  Betrage  von  376  072  340]  bestehender  Hj-potheken  vorzunehmen  war, 
Lire  gelöscht  wuiflen,  so  ergiebt  sich  ein  so  darf  angenommen  werden,  dass  die  aus 
Gesamtumsatz  während  des  Jalires  18.S9 1  der  Einreehnung  der  Simiütanliyix)theken 
von  1081975102  Lire.  Die  in  dem  Ueber-  und  der  getilgten,  aber  noch  nicht  gelösch- 
sehuss  der  Eintragungen  über  die  Löschungen  |  ten  Forderungen  anderwärts  entstandenen 
verzinslicher  Hypotheken  sich  darstellende  Ungenauigkeiten  in  den  Niederlanden  ver- 
Zunahme der  Verschuldung  wälirend  jedes ,  mieden  worden  sind. 

einzelnen  Jahres  wiitl  durch  nachstehende '  Die  Gresamtsumme  der  hynothekarischen 
Uebersicht  veranschaulicht.  !  Belastimg  stieg  von  809  Millionen  Gulden 

i  im  Jahre  1880  auf  1192  Millionen  am  Ende  des 
Jahr  1000  Lire    Jahr  1000  Lire   Jahr  1000  Lire  ,  Jahres  1894.    Yon  diesem  letzteren  Betrage 


179  822  I       ^'  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 

139654 1  Ausser  den  Berichten  der  statistischen 
—79  118  Bureaus  der  Staaten  Nebraska,  Michigan  und 
j  Illinois  über  die  Verschuldung  des  privaten 
I  Grundbesitzes,  aus  denen  G.  Ruhland  (s. 
I  Litteratur)  ausführliche  Mitteilungen  macht, 
Für  die  Erklärung  der  gewaltigen  Zu- ,  liegt  eine  neue  bei  Gelegenheit  des  allge- 
nahme  der  Yei-schiddung  während  der  I  meinen  Census  von  1890  erhobene  ausführ- 
z weiten  Hälfte  der  achtziger  Jahre  >ä4i\1  liehe  Hypothekenstatistik  vor,  welche  die 
neben  der  allgemeinen  wirtschaftlichen  Kri- 1  Anzahl  und  Grösse  der  Schulden  mit  Unter- 
sis  auch  die  Bauspekiüation  in  Rom  in  An- :  scheidung  der  H()he  der  Schuldbeträge  und 
Spruch  zu  nehmen  sein.  I  des  Zinsfusses  sowie  für  einzelne  Gegenden 

5.  Niederlande.  Ausführlich  gehalten  auch  die  Art  der  Scludden  beziffert.  Da- 
sind auch  die  statistischen  Naclirichten,  1  nach  betrugen  für  1890  die  Grundeigen- 
weiche in  den  Niederlanden  über  die  Hypo-  tumshypotheken : 

thekenbewegung    fortlaufend    veröffentlicht!  im  ganzen        auf  acres     auf  Parzellen 

werden.  Anzahl       9  517  747        4  747  o'jS        4  770  669 

Abgesehen    von    gelegentlichen    älteren  |  Betrag 
Nachweisungen  ei-scheinen  seit  18S0  peiio-lDoll.    12094877793  4896771  112  7  198  106  681 

dische  Berichte  in  Gestalt  einer  »Statistik         Die  Zahl   der  Hypotheken,   für  welche 


1875 

8545 

1884 

189  181 

1893 

1876 

75  495 

1885 

191  614 

1894 

1877 

72091 

1886 

376416 

1895 

1878 

78359 

1887- 

459461 

1896 

1879 

1 1 1  783 

1888 

385  593 

1880 

60233 

1889 

329  830 

des    Grundkredits«.     In   den   Uebersichten 
werden   die   eingetragenen  und   gelöschten 


der  Schiüdbetrag  nicht  beigebracht  werden 
konnte,    belief    sich    auf   18 590,    darunter 


Posten  nach  der  Höhe  der  Beträge  und  des  |  auch  11190  aci-es  und  auf  740G  Parzellen. 
Zinsfusses  sowie  nach  der  Art  der  Ver- 1  Ausserdem  wurde  bei  dem  nämlichen 
schuldung  gruppiert.    Diese  Nachweisungen  Census  in  Verbindung  mit  den  Eigentums- 


werden durch  eine ^ für  den  Termin  des  31. 
Dezember  1880  vorgenommene  Erhebung 
des  Verschiüdungsstandes  in  wünschens- 
werter Weise  ergänzt.  Da  übrigens  für 
diesen  Zeitpunkt  eine  Erneuenmg  sämtlicher 


Verhältnissen  der  Farmen  und  Hausstellen 
deren  gesamte  (nicht  bloss  hypothekarische) 
Yersclnüdung  ermittelt.  Das  führte  zu 
folgenden  Ergebnissen :  Familien  mit  eigenem 
Lande : 


ohne  mit 

im  Besitz  von                     ^o«?.«              Schulden           <>/o  Schulden            \ 

ganzen                j^^^^^^  ^^^^^^^j 

Farmen 3142746           2555789           71,8  886957           28,2 

Hausstellen 2923671           2 113  738           72^3  809933           27,7 

Zusammen 6066417           4369527            72,0  1696890           28,0 

Es  belief  sich  der  Wert  der  verschid- 1  Art.    Grundbesitz  III    nachgewiesenen 
detenFarmenauf  3054923105,  der  Scludden-  Quellen  in  Betracht  (oben  S.  859  ff.), 
betrag  auf  1 085 995 900  Dollars  und  für  die' 


verschuldeten  Hausstellen  der  AVert  auf 
2632374904,  der  Scluddenbetrag  auf 
1 040  953  603  Dollai'S.  Demnach  erreic^ht  die 
Verschiüdung  bei  den  Farmen  35,(),  bei  den 
Hausstellen  39,8  ^/o  des  Wertes  des  Besitz- 
tums. 

Ausser     der    nachstehenden    Litteratur 
kommen  auch  mehrere  der  am  Schluss  des 


Litteratur:  Congrhs  international  de  statislique 
ä  la  llaye,  septihne  Session  de  6  au  11  septembre 
ISfii),  la  Haye  1809—1870.  —  H,  von  Scheel, 
Bemerkungen  zur  landwirtschaftlichen  iStatistik, 
insbesondere  zur  Verschuldungsstatistik,  in  den 
Jahrb.  f.  Xat.  u.  ,Stat.  X.  F.  9,  JS.  6d—07.  — 
Archic  des  deutschen  LandwirtschaftsrateSf  Jahr- 
gang  VII,  188^,  Heft  7,  betreffend  regelmässig 
ivirdf'rkehrende    Erhebungen    über   die    Verschul- 


Handwörtorbach  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Aufläse.    IV.  80 


1266 


Hypothekeaschulden  (Statistik)  —  Hypothekenversicheriing 


düng  der  ländlichen  Grundbesitzer  in  sämtlichen 
de^Uschen  Bundesstaaten,  LandxoirtscliaftUche 
Jahrbücher,  Jahrg.  1884,  SupplementJieß  I.  — 
Die  Hypothekenbewegung  im  preussischen  Staate, 
in  der  Zeitschr.  des  königl,  preuss,  statistischen 
Bureaus,  Jahrgg.  XXVII— XXVI,  XXXIV, 
XXXVI,  Berlin  1887—1891,  1894,  1896.  Des- 
gleichen: XXXVIII,  1898:  €?.  JSvert,  Du 
Verschuldung  des  ländlichen  Grundbesitzes  in 
einer  Anzahl  von  Amisgerichtsbezirken  Preussens 
von  1888 — 1896.  —  Statistisches  Jahrbuch  für 
das  Königreich  Bayern,  herausgegeben  vom  königl. 
statistischen  Bureau,  München  (zuletzt)  1898.  — 
Untersuchung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
in  24  Gemeinden  des  Königreichs  Bayern,  Mün- 
chen 1895.  —  Statistisches  Jahrbuch  der  Stadt 
Berlin,  herausgegeben  von  JR,  Böchh,  Berlin 
1898  und  früher.  —  K.  von  Langsdorffy 
Die  bäuerlichen  Verhältnisse  im  Königreich 
Sachsen,  in  den  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.,  23.  — 
E.  Steg  lieh f  Beiträge  zur  Statistik  des  Grund- 
eigentums in  der  Zeitschr.  des  königl.  sächsischen 
statistischen  Bureaus,   XXXVII,   Dresden  1891. 

—  Das  Grossherzogtum  Banden,  Karlsruhe  1885, 
insbesondere  Abschnitt:  Landwirtschaft  von  A, 
Buchenberger,  —  Ergebnisse  der  Erhebungen 
über  die  Laye  der  Landwirtschaft  im  Grossherzog- 
tum Baden,  1888,  Karlsruhe.  —  Statistisches 
Jahrbuch  für  das  Grossherzogtum  Baden,  Karls- 
ruhe (zuletzt)  1899.  —  Statistische  Mitteilungen 
über  das  Grossherzogtum  Baden,  Bd.  III —  VIII, 
Karleruhe  1880 — 1891.  —  Die  Belastung  der 
landwirtschafttreibenden  Bevölkerung  durch  die 
Einkommensteuer  und  die  Verschuldung  der 
Landwirtschaß  im  Grossherzogtum  Baden,  Karls- 
ruhe 1896.  —  A.  BuchenbergeVy  Eine  länd- 
liche Vtrschuldungsstatisiik  in  Baden,  in  der 
Zeitschriß  für  die  gesamte  Staatsuyissenschaft, 
52.  Jahrg.,  Tübingen  1896.  —  P.  Kollmann, 
Die  landwirtschafüiche  Verschuldung  im  Gross- 
herzogtum Oldenburg,  in  den  Jahrb.  f.  Xat. 
V.  Stat,  III.  Folge,  Bd.  IS,  Jena  1897.  — 
Württemberg ische  Jahrbücher  für  Statistik  und 
Landeskunde,  herausgegeben  vom  königl.  statis- 
tischen Landesamt,  Jahrg.  1895,  Stuttgart  1896: 
Ergebnisse  der  Erhebungen  über  den  Stand 
der  Landwirtschaft  in  Württemberg.  —  Mit- 
teilungen der  grossherzogl.  hessischen  Centralstelte 
für  die  Landesstatistik,  Bd.  19—31,  Darmstadt 
1889 — 1891.  —  Bürstenhindm* ,  Die  Land- 
wirtschaft im  Herzogtum  Braunschweig,  Braun- 
schweig 1881.  —  Derselbe,  Ucber  die  gegen- 
wärtigen Ifäuerlichen  Verhältnisse  im  Herzogtum 
Braunschweig j  in  den  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp.,  28. 

—  Jahrbücher  f.  Nationalökonomie  u.  Statistik, 
III.  Folge,  11.  Bd.,  Jena  1896:  JT.  Conradf 
Die  Verschuldung  des  Grundbesitzes  in  einigen 
Staaten  Deutschlands.  —  Karl  Theodor  von 
Inama^Stemeggf  Statistik  der  Hypothekar- 
schulden in  Oesterreich,  in  der  Statist.  Monats- 
schrift, IX.  Jahrg.,  Wien  1883.  —  Karl  Keleti, 
Zur  Statistik  der  Hypothekarschulden  in  Ungarn, 
Budapest  1S85  (enthält  Mitteilungen  über  eine 
probeweise  Erhebung  des  Verschuldungsstandes 
in  54  Gemeinden  Ungarns).  —  Ungarisches 
statistisches  Jahrbuch,  neue  Folge,  Budapest 
(zuletzt)  1899.  —  La  dette  hypothecaire  en 
France,  im  Bulletin  de  statistique  et  de  Ugis- 
lation  comparee.  Vol.  III,  Paris  1878.  —  Debito 
ipotecario  iscritio  suUa  proprietu  fondiaria  del 
Regno;     Pubblicazione    annuale     del    Ministero  \ 


delle  Finanze,  Borna,  —  Annttario  staUstieo 
italiano,  Roma  (zrdetzt)  1898.  —  Staiisiiek  van 
het  Grondcrediet  in  Nederland,  uitgegeven  door 
hct  Departement  van  FKnandSn,  *s  Gravenhage 
1880,  1882,  1887,  1891.  —  Jaarcijfers  uügegeren 
door  de  Centrale  Commissie  voor  de  Statistiek. 
Binnenland,  's  Gravenhage  1896.  — O.  MuHtandf 
Zur  Verschuldungsstatistik  des  Grundöesitzes  in 
Nordamerika,  in  der  Zeitschr.  f.  d,  ges.  Siaatsu*., 
46.  —  Report  on  real  estate  mortgages  in  the 
United  States  at  the  eleventh  eensus  1890, 
Washington  1895.  —  Report  on  farwes  and 
homes:  proprietorship  and  indebtedness  in  the 
United  States  at  the  eleventh  eensus  1890, 
Washington  1896. 
(Nach  A.  Wimtinghaus ;)  Paul  KoHmann. 


Hypothekenversicherimg. 

Die  Erfahrung,  dass  liegendes  Gut  hei 
der  Schwierigkeit  einer  auf  längere  Dauer 
zutreffenden  Wertschätzung  unterpfändliche 
Sicherheit  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze 
seines  Wertes  gewährt,  und  dass  der  Eigen- 
tümer dasselbe  über  diese  Grenze  hinaus 
als  Unterpfand  nur  verwerten  kann,  wenn 
er  sich  zu  Opfern  versteht  ähnlich  denen, 
welche  auch  der  Schuldner  bringen  muss, 
der  gar  keine  reelle  Sicherheit  anzubieten 
hat  und  doch  ausgedehnten  Kredit  begehrt, 
hat  zu  dem  Gedanken  geführt,  das  Ver- 
sicherungsprincip  auch  auf  den  Hypothekar- 
kreditverkehr anzuwenden.  Es  ist  dies  zu- 
erst in  einer  Zeit  geschehen,  w^o  dem  Hy[>o- 
thekenkredit  noch  weniger  Erleichterung 
und  Förderung  geboten  war  als  heutzutage, 
und  es  ist  geschehen  unter  Berufung  auf 
ein  angebliches  Bedürfnis,  namentlich  des 
ländlichen  Grundbesitzes  nach  einer  Er- 
weiterung seiner  Realkreditfähigkeit.  Man 
sagte  sich,  die  Vorteile  des  hypothekarischen 
Darlehns  liegen  für  den  Schuldner  in  der 
Niedrigkeit  des  Zinsfusses,  für  den  Gläubiger 
in  der  Sicherheit  der  Anlage ;  beide  Vorteile 
minderten  sich  in  dem  Masse,  als  das  Dar- 
lehn die  Hälfte  des  Wertes  des  Pfandobiektes 
überschreite;  man  müsse  sie  dem  hyjx)- 
thekarischen  Darlehn  namentlich  im  Interesse 
der  kapitalbedürftigen  Landwirtschaft  auf 
künstlichem  Wege  sichern,  gleichviel,  bis  zu 
welchem  Betrage  der  Taxe  jenes  Darlehn 
gesucht  oder  gegeben  werde.  Dies  könne 
geschehen  durch  das  Dazwischentreten  eines 
Dritten,  der  gegen  von  allen  Beteiligten  ge- 
zahlte Gebühren  sich  verstehen  müsse  zur 
Deckung  von  Verlusten,  die  in  einzelnen 
Fällen  aus  der  Kreditüberlastung  von  Gnmd- 
stücken  erwachsen  können.  Nur  so,  so  aber 
könne  gewiss  der  Gläubiger,  welchem  eine 
nachfolgende  Hypothek  verschrieben  werde, 
ebenso  sicher  gestellt  werden  -v^de  der  vor- 
hergehende, könne  dem  kreditbedürftigen 
Grundstücksbesitzer  eine  solche  weitere  Dar- 


Hypothekenversichenmg 


1267 


lehnsaufnahme  ermöglicht  werden,  ohne  daes 
seine  Zinslast  sich  übermfissig  steigere. 
Aehnliche  Gedanken  entwickelte  bereits  im 
Jahre  1801  der  preussische  Kammerrat 
F.  L.  Wildegans  in  einer  Denkschrift,  in 
der  er  »eine  gesellschaftliche  Verbindung 
aUer,  oder  doch  mindestens  derjenigen  Gnmd- 
besitzer,  welche  Pfandbriefe  schon  auf  ihren 
Gütern  haben  oder  später  aufnehmen«,  em- 
pfahl »derart,  dass  sie  sich  wechselseitig 
den  Ersatz  des  Schadens  versichern,  der  da- 
dui'ch  veranlasst  ist,  dass  bei  einer  not- 
wendigen Subhastation  nicht  soviel  für  ihre 
Besitzungen  geboten  werden  sollte,  als  selbe 
landschaftlich  abgeschätzt  sind«.  In  den 
dreissiger  Jahren  entstand  in  Paris,  aller- 
dings zunächst  nur  für  die  Erhaltung  der 
Hypotheken  bei  Heimsuchung  der  dafür  ver- 
pfändeten Gebäude  durch  Feuer,  eine  »Society 
d'assurance  des  cr6ances  hypoth^caires«.  Im 
Jahre  1849  wurde  dem  königlich  preussi- 
schen  Minister  des  Innern  das  »Statut  einer 
Yersicherungsbank  für  städtische  Giimd- 
stücke  und  Hypotheken«  zur  Konzessionie- 
rung eingereicht.  Ueber  das  Schicksal  dieser 
Untemehmimg  ist  öffentlich,  soviel  wir  wissen, 
nichts  bekannt  geworden.  Im  Jahre  1858 
gründete  der  nacliraalige  Geheime  Regierungs- 
rat Dr.  E.  Engel,  der  berühmte  Statistiker, 
in  Dresden  die  »Sächsische  Hypothekenver- 
sicherungsgesellschaft« und  erwies  so  die 
praktische  Diurchführbarkeit  des  von  ihm 
besonders  klar  erfassten  Gedankens  der 
->  Hypotheken  Versicherung«.  Bald  darauf  ent- 
stand die  Hypotheken  versicherimgsgesell- 
schaft  >Yindobona«  in  Wien  und  die 
:>PreussischeHvpothekenversichenmgsaktien- 
gesellschaft«  in  Berlin  (1862). 

Für  den  Hj-pothekengläubiger  kann  die 
Gefahr  eintreten,  dass  der  Schuldner  zahlungs- 
unfähig wird  lind  der  Versicheningserlös 
der  Hypothek  zur  Deckung  der  Schuld 
nicht  Innreicht.  Für  den  Eintritt  dieser 
Gefahr  kann  er  Schailloshaltimg  auf  dem 
Wege  der  Versichenmg  sich  gewährleisten 
lassen.  Diese  Gewährleistung  begreift  dann 
die  Erstattung  des  diu-ch  den  Mindererlös 
des  Pfandobjektes  entstandenen  Verlustes 
am  dargeliehenen  Kapital.  Gegenstand  der 
Versichenmg  kann  aber  auch  die  pünktliche 
Rückzahlimg  des  Kapitals  und  die  pünkt- 
liche Zinsz£düung  sein,  das  Risiko  also  in 
der  nichtjpünktlichen  Rückzahlung,  in  der 
Säumigkeit  des  Schuldners  im  Zinszahlen 
bestehen.  Man  hat  so  besonders  drei  Arten 
der  Hypothekenversicherung  —  die  Grund- 
stückswertversicherung, die  Kapitalversiche- 
rung und  die  Zinsenversicherung  —  unter- 
schieden. Selbstverständlich  kann  ein  und 
derselbe  Vertrag  gleichzeitig  alle  drei  Zweige 
umfassen.  Die  Prämie  wird  in  der  Regel 
der  Schuldner  zu  zahlen  haben,  wemi  nicht 
unmittelbar  an  die  Versichenmgsanstalt,  so 


doch  mittelbar,  indem  er  sie  dem  Gläubiger 
im  Zinsfusse  ersetzen  muss.  Der  Gläubiger 
erhält  dann  im  Zins  auch  Versichenmgs- 
prämie,  die  er  dem  Versicherer  abgewähren 
Kann,  weil  dieser  für  entstehende  Verluste 
aufkommt.  Die  Prämie  kann  nicht  wohl 
auf  die  Dauer  höher  sein  als  so  hoch,  dass 
sie  mit  dem  vertragsmässigen  Zins  zusam- 
men einen  Betrag  ergiebt,  zu  welchem  der 
Schuldner  jederzeit  auch  ohne  Versicherung 
das  erwünschte  Darlehn  erlangen  könnte. 

Als  Versicherer  kann  auch  hier  aus 
naheliegenden  Gründen  füglich  nur  eine 
Gesellschaft  auftreten,  und  zwar  ist  die  Hypo- 
thekenversicherung dem  Gegenseitigkeits- 
principe  nicht  zugänglich,  weü  hier  nur 
gegen  feste  Prämie  versichert  werden  kann. 
Nur  bei  solcher  können  Gläubiger  und 
Schuldner  im  voraus  berechnen,  ob  die  Ver- 
sicherung im  einzelnen  Falle  ratsam  sei. 

Mehrere  umstände  erklären  es,  dass 
die  Hypothekenversicherung  bisher  keinen 
grossen  Aufschwung  genommen  hat.  Erstens 
liegt  hier  die  Gefahr  absichtlicher  oder  fahr- 
lässiger Herbeifühnmg  des  Risikos  zu  nahe 
und  ist  der  Versicherer  zu  sehr  auf  per- 
sönliche Garantieen  des  Schuldners,  die  aus 
der  Feme  schwer  zu  beurteilen  sind,  ange- 
wiesen. Zweitens  tritt  dem  Versicherer 
ebenso  wie  dem  Gläubiger  hier  die  Unbe- 
stimmtheit imd  Wandelb^keit  der  äussersten 
W^ertgrenze  des  Pfandobjektes  hindernd  ent- 
gegen. Und  dann  pflegen  es  doch  nur  sehr 
seltene  Fälle  zu  sein,  in  denen  wirtschaft- 
lich tüchtige  Grundbesitzer  im  gewöhnlichen 
Laufe  der  Dinge  genötigt  sind,  ihren  Real- 
kredit bis  zur  äussersten  Grenze  anzuspannen. 
Fraglich  ist  auch  die  allgemeine  wirtschaft- 
liche Bereclitigimg  zur  Schaffung  von  An- 
stalten, die  dies  erleichtern,  vielleicht  auch 
um  ihrer  eigenen  Existenz  willen  begün- 
stigen und  gebräuchlich  machen  müssen. 

In  Wirklichkeit  besteht  von  den  Ende 
der  fünfziger  und  Anfang  der  sechziger 
Jahre  begründeten  Hypothekenversicherungs- 
geseUschaften  nur  noch  eine,  die  obenge- 
nannte, von  0.  Hübner  begründete  »Preussi- 
sche Hypothekenversichenings-AktiengeseU- 
schaft«,  welche  aber  auch  vorzugsweise 
Hyi)othekenbank-Geschäfte  betreibt.  Die  An- 
wendbai'keit  des  Versicherungsprincips  auf 
den  Hypothekenverkehr  ist  erwiesen;  das 
Bedüi-fnis  hiemach  aber  jedenfalls  zweifel- 
haft. 

Litteratnr*  nDas  Vcrsicherungsttese^HH  von 
Hetnnann  und  Karl  Brämer  (Leipzig  C.  L, 
Hirschfeld  1894)  ^-  -^GO  und  die  dort  (S.  411) 
angegebenen  »Schriften. 

A.  Enitninghaus, 


80^ 


1268 


Hypotheken-  und  Gnindbuchwesen 


Hypotheken-  und  Grandbucliweseii. 

1.  Grundgedanken.  2.  Einrichtung  der  öffent- 
lichen Bücher.  3.  Inhalt  der  Einschreibungen. 
4.  Der  Eintragungszwang,  ö.  Die  Arten  der  Ein- 
schreibungen.    6.  Wirkungen  der  Eintragung. 

7.  Die  Rangordnung  der  eingetragenen  Rechte. 

8.  Die  raateriellrechtlichen  Voraussetzungen  für 
die  Begründung,  Aenderung  oder  Aufhebung 
von  Eigentum  oder  dinglichen  Grundstücks- 
rechten durch  Eintragung.  9.  Die  Berichtigung 
des  Buches.  10.  Die  Buchbehörden.  11.  Das  Ver- 
fahren der  Buchbehörden,  12.  Die  Haftpflicht 
der  Buchbeamten  und  des  Staates. 

1.  Grundgedanken.  Während  das  romi- 
sche Recht  Mobilien  und  Immobilien  im 
wesentlichen  nach  gleichen  Grundsätzen  be- 
handelt, hat  in  Deutschland  eine  Scheidung 
des  Rechts  der  beweglichen  und  der  unbe- 
weglichen Güter  sich  vollzogen.  Denn  in 
Deutschland  waren  von  jeher  politische 
Rechte  mit  dem  Besitz  von  Grund  und 
Boden  verknüpft ;  auch  hatte  man  die  über- 
wiegende Bedeutung  des  Gnmdbesitzes  für 
den  Volkswohlstand  und  den  Realkredit  der 
einzelnen  erkannt.  Ihretwegen  sind  schon 
im  Ziüttelalter  für  den  Eigentumsübergang 
an  Immobilien  und  die  Begründung  ding- 
licher Rechte  an  ihnen  besondere  Formen 
vorgeschrieben,  welche  der  Veröffentlichung 
des  Eigentums  und  der  dinglichen  Rechte 
an  ihnen  zu  dienen  bestimmt  wai'en.  Denn 
sowohl  für  Eigentumsübertragung  als  für 
Bestellimg  eines  Pfandrechts  an  Immobilien 
(ältere  Satzung)  wurde  die  gerichtliche  Auf- 
lassung, die  im  Volksgericlit  (echten  Ding) 
abzugebende  Erklänmg  der  Eigentumsüber- 
tragimg oder  Verpfändung  unter  obrigkeit- 
liclier  Bestätigimg  verlangt.  An  Stelle  der 
Auflassung  trat  aber  beim  Pfandi'echt  an 
Immobilien  in  dem  Institut  der  neueren 
Satzung  seit  dem  13.  Jahrhundert  die  Ein- 
tragimg in  die  Gerichts-,  Stadt-  oder  Pfand- 
bücher. Diese  gerichtliche  Auflassung  und 
die  Eintragung  der  Verpfändung  in  öffent- 
liche Bücher  bildet  den  Ausgangspunkt  für 
die  Entwickelung  des  heutigen  Hypotheken- 
und  Gnmdbiichwesens  in  Deutschland, 
Oesterreich  und  Frankreicli,  indem  auch  diese 
Ent^icikelung  von  dem  Gedanken  der  Ver- 
öffentlichung der  dinglichen  Rechtsverliält- 
nisse  der  Grundstücke  getrieben  Miirde. 
Und  mit  Recht.  Denn  im  Interesse  des 
Realkredits  und  der  Siclierheit  des  Geschäfts- 
verkohi-s  mit  Giimdstücken  ist  es  geboten, 
Einrichtungen  zu  treffen,  welche  es  ermög- 
lichen, dass  jeder,  der  Rechte  an  einem 
Grundstück  als  Eigentümer,  Pfandgläubiger, 
Reallastberechtigter  u.  s.  w.  eingehen  will, 
sich  über  den  dinglichen  Rc^chtszustand  des 
fraglichen  Grundstücks  informieren  kann. 
Doshalb  hat  man  auch  das  Hypotheken- 
iind  (inindbiichwcsen  auf  öffentliche,  d.h. 
der  Einsichtnahme  olftMistelnMide  Bücher  ge- 


gründet (formelle  Publicität),  in  denen  die 
Gnmdstücke  und  was  ihnen  gleichsteht,  so- 
wie die  an  ihnen  bestehenden  Rechtsver- 
hältnisse eingetragen  werden,  gleichzeitig 
aber  bestimmt,  dass  niemand  sich  mit  Un- 
kenntnis dessen,  was  legaler  Weise  in  den 
Büchern  eingetragen  ist^  entschuldigen  könne. 
Dabei  war  in  den  Hansestädten  und  Frank- 
reich die  breiteste  Oeffentliclikeit  in  dem 
Sinne  anerkannt,  dass  jedermann  berechtigt 
sei,  die  Bücher  einzusehen.  In  anderen 
Staaten,  z.  B.  Preussen,  verlangte  man  ein 
»rechtliches«  Interesse  an  der  Einsichtnahme. 
Die  Deutsche  G.B.O.  vom  24.  März  1897 
(§  11)  gestattet  die  Einsicht  demjenigen,  der 
ein  »berechtigtes«  Interesse  darlegt.  Aus 
frivolem  Grunde,  müssiger  Neugier  und 
eigennützigen  Motiven  kann  also  die  Ge- 
stattung der  Einsicht  nicht  verlangt  werden. 
Deshalb  wird  z.  B.  den  kaufmännischen  Aus- 
kunftsbureaus, welche  die  gewonnene  Kennt- 
nis gegen  Entgelt  verwei-ten,  die  Einsi(»ht 
zu  vei'sagen  sein.  Dagegen  braucht  das  »be- 
rechtigte« Interesse  nicht,  wie  man  von  dem 
»rechtlichen«  Interesse  verlangte,  darin  zu 
gipfeln,  dass  man  dingliche  Rechte  an  dem 
fraglichen  Gnmdstück  bereits  hat  oder  erst 
erwerben  wiU.  Vielmehr  ist  berechtigtes 
Interesse  ein  nach  der  Ueberzeugung  des 
Grundbuchbeamten  vorliegendes  verständi- 
ges, durch  die  Sachlage  gerechtfertigtes 
Interesse.  Deshalb  wird  beispielsweise  auch 
einem  Gelehrten,  welcher  eine  statistische 
Arbeit  über  die  Belastung  des  ländlichen 
Grundbesitzes  machen  will,  die  Einsicht  zu 
gestatten  sein. 

Aber  freilich  ist  der  Publicitätsgedanke 
nicht  überall  in  gleicher  Stärke  wirksam 
gewesen.  Er  ist  um  so  stäi'ker,  je  grösser 
der  Umfang  ist,  in  welchem  die  Notwendig- 
keit von  Einti'agungen  in  die  öffentlichen 
Bücher  anerkannt  winl  und  je  einschneiden- 
der die  Wii'kung  ist,  welche  das  (lesetz  mit 
einer  wirklich  vollzogenen  Eintrag^mg  oder 
mit  der  onlnungswidrigen  Unterlassung  einer 
Eintragung  verknüpft  (sogenannte  materielle 
Publicität,  vgl.  Nr.  6). 

Je  nach  der  geringeren  oder  gnxsseren 
Intensität  des  Publicitätsgedankens  lassen 
sich  drei  Svsteme  unterscheiden: 

A.  Das  Trans-  und  Inskriptionssystem, 
welches  in  Frankreich  gilt  und  sich  auch 
in  der  bayerischen  Pfalz,  Baden,  Rheinhessen, 
dem  oldenburgischen  Fürstentum  Birkenfeld. 
Elsass-Lothringen  Geltung  verscliafft  hat. 
Nach  dem  Trans-  und  Inskriptionssystem 
hat  zwar  die  Einti-agung  von  Eigentum, 
Privilegien  und  Hypotheken  zu  erfolgen. 
Jedoch  ist  sie  für  die  Entsteh  uns:  von 
Eigentum,  Privilegien  und  Hypotheken  l)e- 
deutungslos, 

B.  Das  Hypothekenbiichsystem,  welches 
in  Bayern,  A\'ürttemberg,  Weimar,  Schwarz- 


Hypotheken-  und  Gnmdbuchwesen 


1269 


bürg  -  Rudolstadt  und  in  Meckleubiirg- 
Schwerin  und  -Strelitz,  mit  AusschJuss 
einzelner  Teile  von  Ratzebiu^g,  fiir  den 
rittersehaftlichen  Grundbesitz  und  für  die 
Erb[>achtstellen  auf  den  Gütern  der  schwe- 
rinschen  Landesklöster  Dobberstein,  Mal- 
chow  und  Ribnitz  gilt.  Nach  dem  Hypothe- 
kenbuchsystem  entstehen  Hypotheken  nicht 
ohne  Eintragimg;  nicht  jedoch  winl  für 
den  Erwerb  von  Eigentum  oder  sonstigen 
dinglichen  Rechten  imd  ilire  Entstehung  die 
Eintragung  erfordert 

C.  Das  Gnmdbuchsystem ,  welches  in 
Preussen  mit  Einschluss  des  Herzogtums 
Nassau  (Stockbuch)  und  der  Rheinpi-o\inz, 
im  Königreich  Sachsen,  in  Oldenbm^,  Coburg- 
Gotha,  Braunschweig,  Anhalt,  Altenbm'g, 
Meiningen,  in  den  hessischen  Provinzen 
Stai'kenbuiT^  und  (Jberhessen,  in  Lippe- 
Detmold,  Schaum burg-Lippe,  Schwarzburg- 
Sondershausen,  Reuss,  Hamburg  und  Lülieck 
sowie  in  Mecklenbui'g-Schwerin  und  -Strelitz, 
endlich  in  Oesterreich  eingeführt  ist.  Nach 
dem  Grundbuchsystem  soll  der  gesamte 
dinglit^he  Rechtszustand  eines  Grundsttickes 
aus  dem  Buch  ersichtlich  sein,  sowohl  die 
Eigentumsverhältnisse  als  auch  die  etwa 
vorhandenen  Hypotheken  und  sonst  kon- 
stituierten Belastimgen. 

Ein  Recht,  welches  von  jeder  Einti^agung 
in  öffentliche  Bücher  absieht,  hat  sich  dem- 
nach niu-  noch  bezüglich  einzelner  zum 
Fürstentum  Ratzebiu^  gehöriger  Grundstücke 
und  im  wesentlichen  in  Bremen,  wo  die 
mittelalterliche  Auflassung  beibehalten  und 
weiter  entwickelt  ist,  erhalten. 

Obwohl  nun  das  Bürgerliche  Gesetzbuch 
für  das  Deutsche  Reich  vom  18.  August  1896 
sich  auf  den  Standpunkt  des  Gnmdbuch- 
systems  gestellt  hat,  so  werden  für  die 
nächste  Zeit  dennoch  die  in  Deutschland 
geltenden  Trans-  und  Inskriptionssysteme 
sowie  das  Hypothekenbuchsystem  sich 
in  Geltimg  erhalten.  Sie  werden  erst  all- 
mählich verschwinden  und  zwar  in  dem 
Masse,  als  die  Gnindbücher  angelegt  oder 
die  bisherigen  Bücher  zu  Grundbücheni 
umgewandelt  wertlen.  Deshalb  beschränkt 
sich  die  folgende  Darstellung  nicht  auf  das 
Grundbuchwesen,  obwohl  sie  dasselbe  aller- 
dings in  den  Vordergnmd  stellt.  Anderer- 
seits musste,  da  die  Vorschriften  ül)er  An- 
legung der  Grundbücher,  von  einzelnen 
reichsgesetzlichen  Normativbestimmungen 
abgesehen,  in  den  zum  Teil  noch  ausstehen- 
den Ausführungsgesetzen  der  Einzelstaaten 
sich  finden  werden,  die  Darstellung  in  dieser 
Beziehung  auf  das  Reichsrecht  beschränkt 
werden. 

2.  Einrichtang  der  offentUchen  Bü- 
cher. Die  öffentlichen  Bücher,  welche  be- 
hufs Aufnahme  der  Rechtsverhältnisse  von 
Immobilien  geführt  werden,  sind  in  Deutsch- 


land und  Oesterreich  fast  überall  mit  den 
Steuerbüchern  in  Verbindung  gesetzt,  denn 
natüi'lich  hat  jeder,  welcher  Eigentum  oder 
dingliche  Rechte  an  einem  Gnindstück  er- 
werben will,  ein  Interesse,  sich  über  den 
Wert,  die  Grösse,  den  Nutzungsweit,  den 
Reinertrag  etc.  unterrichten  zu  können.  Den 
Steuerbehörden  aber  ist  die  Kenntnis  dieser 
Punkte  nicht  nur  wünschenswert,  sondern 
für  eine  einigermasseu  gerechte  Steuerver- 
anlagung geradezu  unentbehrlich.  So  erklärt 
es  sich,  dass  da,  wo  die  Grundsteuerbücher 
nach  A^'ermessung  des  Landes  und  Ab- 
schätzung der  Bodenqualität  angelegt  sind, 
die  Grund-  und  Hykothekenbücher  auf  den 
Steuerbüchern  beruhen,  indem  die  Angaben 
der  ersteren  mit  denen  der  letzteren  in 
Uebereinstimmung  zu  setzen  imd  darin  zu 
erhalten  sind.  Deswegen  findet  ein  reger 
Geschäftsverkehr  zwisc^ien  den  Hypotheken- 
buch- und  Grundbuchbehöixlen  und  den 
Grund  Steuer  buchbehörden  statt,  indem  die 
letzteren  den  ersteren  von  den  stattgehabten 
Bestandsverändenmgen  und  von  den  Ver- 
ändenmgen  der  Form  der  Grundstücke  z. 
B.  infolge  von  Neuaniagen  so^de  stattgehab- 
ten Bauten,  umgekehrt  aber  die  Hypotheken- 
oder Grundblichbehörden  den  Grundsteuer- 
behörden von  den  in  den  Grundbüchern 
notierten  Eigentumsveränderungen  von  Amts 
wegen  Nachricht  zu  erteilen  haben.  Die 
Grundsteuerbücher  w^erden '  nach  Grund- 
steuererhebungsbezirken  geführt,  so  dass  ein 
Grundsteuerbuch  regelmässig  das  ganze 
Areal  des  Grundsteuerbezirks  umfasst.  Die 
Anlegung  eines  Grundsteuerbuches  setzt 
aber  die  geometrische  Ermittelung  und  kar- 
tographische Darstellung  der  Lage  und 
Grösse  der  einzelnen  Grundstücke  voraus, 
und  das  Resultat  dieser  Ermittelungen  wird 
in  den  sogenannten  Flurbüchern,  Lager- 
büchern, Fundbücliern,  Messregistem,  Pri- 
märkatastern amtlich  beurkundet. 

In  gleicher  Weise  enthält  das  Grund- 
oder Hypotheken  buch  die  Grundstücke  eines 
bestimmten  Bezirks  —  Gemeinde,  selbständi- 
ger Gutsbezirk,  Gemarkung  etc.  — ,  der  sich 
aber  mit  dem  Steuererhebungsbezirk  keines- 
wegs zu  decken  braucht.  Dabei  besteht 
aber  ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
den  Hypothekenbüchern  und  den  Gnmd- 
büchern.  Weil  nämlich  die  ersteren  nur  den 
Realkredit  heben  soUen,  so  geben  sie  über 
die  Rechtslage  eines  Gnmdstücks  nur  inso- 
weit Aufsclüuss,  als  es  für  den  Hypotheken- 
verkehr von  Interesse  ist.  Deswegen  bedürfen 
auch  Eigentum  und  andere  dingliche  Rechte 
an  Grundstücken  nur  insoweit  der  Verlaut- 
barung im  Buch,  als  sie  für  den  Stand  und 
die  Sicherheit  der  Hypothek  von  Einfluss 
sind.  Deswegen  wird  ein  Grundstück  über- 
haupt erst  dann  ins  Buch  eingetragen,  wenn 
es  sich  um  seine  Belastung  mit  einer  Hypo- 


1270 


Hypotheken-  und  Grimdbuehwesen 


thek  handelt  Nach  Hypothekenbuchsystem 
werden  also  nicht  belastete  Grundstücke 
regelmässig  gar  nicht  im  Hypothekenbuch 
stehen.  Umgekehrt  sind  nach  Grundbuch- 
system  grundsätzlich  alle  Grundstücke,  ohne 
Rücksicht  auf  das  Vorhandensein  von  Be- 
lastungen, im  Grundbuch  zu  vermerken. 
Denn  nicht  nur  der  Realkredit,  sondern  der 
gesamte  Immobüienverkehr  soll  ■  durch  die 
Eintragung  gesichert  werden. 

Die  Eintragung  eines  Grundstuckes  er- 
folgt unter  Angabe  des  Kreises,  der  Ort- 
schaft, denen  es  zugehört,  ferner  der  Ka- 
tasternummer, der  Karte,  des  Flächenmasses, 
seiner  Kulturgattung,  des  Grundsteuer- 
betrages, des  Schätzungs-  und  Brandver- 
sicherungswertes und  nach  §  8  der  deutschen 
G.B.O.  auf  Antrag  des  jeweiligen  Eigen- 
tümers oder  eines  am  Grundstück  dinglich 
Berechtigten  auch  unter  Miteintragung  der 
sogenannten  subjektiv  dinglichen  Rechte 
(Gniuddienstbarkeiten,  Vorkaufsrechte,  Real- 
lasten (§§  1018,  1094  Abs.  2,  1105  Abs.  2 
B.G.B).  Die  früher  geschehende  Mitein- 
tragimg  der  Pertinenzgrundstücke  ist  in 
Wegfall  gekommen,  da  das  Bürgerliche 
Gesetzbuch  solche  nicht  mehr  anerkennt. 
Wohl  aber  können  Grundstücke  einem  anderen 
Grundstücke  als  Bestandteile  zug-eschrieben 
werden  (§  5  G.B.O.).  Sowohl  das  Hypotheken- 
buch als  das  Gnmdbuch  können  entweder 
nach  Realfolien  oder  nach  Personalfolien  ge- 
fühlt; werden.  Eine  Kombinierung  beider  Fo- 
lien kommt  in  Preussen  vor.  (Vgl.  darüber  den 
Art.  Grundbuch  oben  Bd.  IV.  S.  862  ff.). 
Dabei  ist  jedes  Hypotheken-  oder  Grundbuch- 
blatt durch  Liniierung  in  Felder  —  Abtei- 
lungen, Rubriken  genannt  —  abgeteilt,  welche 
zur  Aufnahme  der  Grundstücke,  der  Namen 
ihrer  Eigentümer  und  der  den  Grundstücken 
auferlegten  Lasten  bestimmt  sind,  soweit 
deren  Eintragung  vorgeschrieben  oder  ge- 
stattet ist.  Die  Zahl  dieser  Abteilungen 
schwankt  in  den  einzelnen  Staaten  zwischen 
zwei  und  vier,  wenn  man  den  sogenannten 
Titel  mitrechnet.  In  Preussen  und  den- 
jenigen Staaten,  welche  der  preussischen 
Grundbuchgesetzgebung  gefolgt  sind  (Ham- 
burg, Coburg-Gotha,  Braunschweig,  Lippe- 
Detmold,  Schaumburg-Lippe  und  Schwarz- 
burg-Sondershausen)  giebt  es  %aer  Abtei- 
lungen, weil  dort  für  die  Hypotheken  und 
Grundschulden  die  letzte  Abteilung  reserviert 
bleibt  und  deragemäss  die  Belastungen  des 
Grundstücks  in  zwei  Abteilungen  unter- 
gebracht werden,  eine  Einrichtung,  der  sich 
schon  jetzt  vor  dem  Inkrafttreten  des  Reichs- 
grundbuchrechts auch  Bavern  angeschlossen 
hat.  (Art.  14  des  G.  v.'l8.  Juni  1898  die 
■Vorbereitung  der  Anlegung  das  Gnmdbuchs 
in  den  Landesteilen  rechts  des  Rheins  be- 
ti-effend  und  J.  M.  Bekanntmachung  vom 
12.  November  1898.)   Im  Königreich  Sachsen, 


in  Mecklenburg,  Anhalt  und  Oesterreich  hat 
man  drei  Abteilungen,  die  man  nach  dem 
Vorgang  des  zuletzt  genannten  Staates 
als  Gutsbestandsblatt,  Eigentumsblatt  und 
Lastenblatt  bezeichnen  kann.  In  Württem- 
berg endlich,  Sachsen- Weimar,  in  Mecklen- 
burg-Strelitz  für  den  ländlichen  Grundbesitz, 
in  Schwarzburg-Rudolstadt  hat  man  nur 
zwei  Abteilungen,  die  erste  für  Aufnahme 
des  Besitzers,  die  zweite  für  Aufnahme  der 
dinglichen  Lasten  bestimmt.  Da  die  deutsche 
Grundbuchordnung  die  Einrichtung  der 
Grundbücher  im  wesentlichen  den  Einzel- 
staaten überlässt  (vgl.  den  Art  Grund- 
buch a.  a.  0.),  so  können  diese  Verschieden- 
heiten auch  in  Zukunft  sich  erhalten.  Einzelne 
deutsche  Staaten,  z.  B.  Hessen-Darmstadt, 
Sachsen- Weimar,  Sachsen-Meiningen,  Ham- 
burg, Württemberg,  Baden  kennen  die  Füh- 
rung zweier  Arten  von  Büchern,  der  Grund- 
bücher, auch  Gewähr-,  Güter-,  Mutations- 
bücher genannt,  für  die  Eigentumsverände- 
rungen und  die  Hypotheken-  oder  Pfand- 
bücher für  die  pfandrechtlichen  Belastungen 
des  Grundstücks.  Auch  diese  Einrichtung 
kann  bleiben,  da  nach  §  87  G.B.O.  die 
Landesherren  verordnen  dürfen,  dass  mehrere 
bisher  geführte  Bücher  zusammen  als  Grund- 
buch gelten  sollen, 

Diu-chgängig  sind  nun  die  Abteilungen 
oder  Rubriken  wieder  in  Haupt-  und  Neben- 
spalten (Kolonnen)  eingeteilt.  So  enthält 
das  Gutsbestandsblatt  Nebenspalten  für  Zu- 
und  Abschreibungen  von  Grundstücken  oder 
Grundstücksteilen.  Das  Lastenblatt  enthält 
eine  Nebenspalte  für  Veränderungen  der  in 
der  Hauptspalte  eingetragenen  Lasten,  z.  B. 
Cessionen,  Prioritätseinräumungen,  &höhim- 
gen  oder  Herabsetzungen  des  Zinsfusses, 
Uebertragung  der  Ausübung  eines  Niess- 
brauchsrechts  etc.  und  eine  Nebenspalte, 
»Löschungen«  für  die  Beendigung  oder  Auf- 
hebimg  der  in  der  Hauptspalte  eingetragenen 
Lasten.  — 

Nur  sehr  entfernte  Verwandtschaft  mit 
den  Grund-  und  Hypothekenbüchern  be- 
sitzen die  in  den  Gebieten  des  französischen 
Rechts  in  Gebrauch  befindlichen  Trans- 
und Inskriptionsregister.  Das  erstere  Re- 
gister ist  zur  Aufnahme  der  Eigentums- 
veränderungsverträge bestimmt,  das  In- 
skriptionsregister vertritt  die  Stelle  des 
Hypothekenbuchs.  Diese  Bücher  werden 
nicht  in  Blätter  eingeteilt,  welche  für  ein 
einzelnes  Grundstück  oder  die  Grundstücke 
eines  einzelnen  Eigentümers  bestimmt  wären, 
sondern  auf  demselben  Blatt,  wenngleich 
unter  verschiedenen  Nummern,  stehen  iacen- 
tumsübertragungsvorträge,  bezw.Verpföndun- 
gen  verschiedener  Immobiüen  und  zwischen 
verschiedenen  Kontrahenten.  Natürlich  wer- 
den auch  diese  Register  nach  bestimmten 
Bezirken   geführt.     Jeder  Trans-    und   In- 


Hypotheken-  und  Grundbiichwesen 


1271 


skriptionsbeamte  ist  nur  berechtigt,  in  die 
von  ihm  geführten  Register  solche  Akte 
einzutragen,  welche  Eigeutumsübertragung 
oder  Verpfändung  von  zu  seinem  Bezirk 
gehörigen  Immobilien  zum  Gegenstande 
haben. 

3.  Inhalt  der  Einschreibungen.  Auf 
den  Blättern,  welche  den  Grundstücken  und 
den  ihnen  gleichgestellten  selbständigen  Be- 
rechtigungen (vgl.  den  Art.  Grundbuch 
a.  a,  0.)  gewidmet  sind,  können  grundsätzlich 
nur  dingliche   Rechte   eingetragen  werden. 

Das  Bürgerliche  Gesetzbuch  erkennt  nur 
eine  fest  bestimmte  Zahl  von  Arten  ding- 
licher Rechte  an ;  denn  es  hat  den  preussisch- 
rechtlichen  Grundsatz  verworfen,  dass  jedes 
Forderungsi'echt  auf  eine  Species  durch  Be- 
sitzübergabe oder  Eintragung  im  Buch  sidi 
in  ein  dingliches  Recht  verwandle.  Yiel-^ 
mehr  giebt  es  nach  dem  Bürgerlichen  Ge- 
setzbuch nur  folgende  Arten  von  dinglichen 
Rechten  an  Grundstücken: 

1.  Das  Eigentum,  d.  h.  das  Recht  der 
vollkommenen  und  ausschliesslichen  Herr- 
schaft über  eine  Sache,  soweit  nicht  das 
Gesetz  oder  Rechte  Dritter  entgegenstehen 
(§  903  B.G.B.).  Nur  an  körperlichen  Dingen 
wird  Eigentum  anerkannt,  also  nicht  an 
iramobiliaren  Rechten.  Auch  ist  das  so- 
genannte geteilte  Eigentum  (Ober-  und  ünter- 
eigentum,  vgl.  §§  9  und  10  I  8  des 
preussischen  A.L.R.)  dem  Bürgerlichen 
Gesetzbuch  unbekannt  Dagegen  kennt  das- 
selbe das  Miteigentum  sowohl  als  solches 
zu  ideellen  Teilen  als  auch  als  Miteigentum 
zur  gesamten  Hand.  Der  Gegensatz  tritt  im 
Grundbuchrecht  schon  formell  dadurch  zu 
Tage,  dass  bei  Miteigentum  zu  ideellen 
Teuen  jeder  Miteigentümer  unter  Angabe 
seines  Anteils  im  Grundbuch  einzutrs^en 
ist,  während  bei  Gesamteigentum  sämtliche 
im  Gesamteigentum  Stehenden  eingetragen 
werden  —  jedoch  ohne  Angabe  von  An- 
teilen, da  begrifflich  solche  nicht  vorhanden 
sind  (§  48  G.B.O.). 

2.  Das  Erbbaurecht,  d.  h.  das  veräusser- 
liche  und  vererbliche  Recht,  auf  oder  unter 
der  Oberfläche  eines  fremden  Grundstücks 
ein  Bauwerk  zu  haben  (§  1012  B.G.B.).  Der 
Begriff  ist  enger  als  derjenige  der  Superficies, 
denn  er  beschränkt  sich  auf  baidiche  An- 
lagen, während  die  Superficies  auch  das 
Recht,  Bäume  und  sonstige  Pflanzungen  auf 
einem  fremden  Grundstück  zu  haben,  um- 
fasste  (vffl.  jedoch  §  1013  B.G.B.).  Dass 
ein  Grundstück  mit  einem  Erbbaurecht  be- 
lastet sei,  ist  auf  dem  Blatt  dieses  Grund- 
stücks zu  vermerken.  Im  übrigen  kann 
das  Erbbaurecht  entweder  ein  selbständiges 
Blatt  im  Buch  erhalten  (§§  7  und  84  G.B.O.) 
oder  es  kann  auch  einem  (Grundstück  als 
Bestandteil  zugeschrieben  werden  (§  1017 
B.G.B  in  Verbindung  mit   §  890  Abs.  2). 


Solange  diese  Bestandteilseigenscliaft  dauert, 
ist  es  nicht  mehr  selbständig  veräusserlich 
und  vererblich. 

3.  Die  Dienstbarkeit  und  zwar 

a)  Grunddienstbarkeit,  d.  h.  das  untrennbar 
zu  Gunsten  des  jeweiligen  Eigentümers  eines 
Grundstücks  (oder  zu  Gunsten  eines  Erbbau- 
rechts [§  1017  B.G.B.l)  an  einem  Grundstück 
eingeräumte  Recht  auf  beschränkte  Benutzung 
desselben  oder  auf  üntersagung  der  Vor- 
nahme gewisser  Handlungen  auf  ihm  oder 
auf  Untersagung  der  Ausübung  gewisser, 
aus  dem  Eigentiun  am  dienenden  Grund- 
stück fliessender  Rechte  gegen  das  herr- 
schende Grundstück  (§  1018  B.G.B.).  Die 
Gnmddienstbarkeit  wird  auf  dem  Blatt  des 
belasteten  imd  auf  Antrag  auch  auf  dem- 
jenigen des  herrschenden  Grundstücks  ein- 
getragen. 

b)  Der  Niessbrauch  d.  h.  das  unvererbliche 
und  unveräusserliche  Recht  einer  Person 
auf  Nutzung  einer  Sache.  Eine  Beschrän- 
kung durch  Ausschluss  einzelner  Nutzungen 
ist  zulässig,  z.  B.  der  Früchte  eines  ge^^dssen 
Apfelbaums;  der  Ausübung  nach  ist  der 
Niessbrauch  übertragbar.  Dass  ein  Grrund- 
stück  mit  einem  Nieösbrauch  belastet  sei, 
wird  auf  dem  Grundbuchblatt  des  belasteten 
Grundstücks  vermerkt  (§§  1030,  1059,  1061 
B.G.B). 

c)  Die  bescliränkte  persönliche  Dienst- 
barkeit, d,  h.  das  unveräusserliche  und  un- 
vererbliche Recht  einer  Person,  ein  Grund- 
stück in  einzelnen  Beziehungen  zu  benutzen 
oder  den  Inhalt  einer  Grunddienstbarkeit 
bildende  Befugnisse  auszuüben  (§§  1090  und 
1092  B.G.B.).  Die  Ausübung  der  beschränk- 
ten persönlichen  Dienstbarkeit  ist  niu*  dann 
übertragbar,  wenn  es  besonders  ausgemacht 
ist.  Die  beschränkte  persönliche  Dienstbar- 
keit wird  auf  dem  Blatt  des  belasteten 
Grundstücks  eingetragen. 

4.  Das  Vorkaufsrecht,  d.  h.  das  subjektiv 
dingliche  oder  persönliche  und  objektiv 
dingliche  Recht  auf  üeberlassung  eines 
Grundstücks  oder,  falls  dasselbe  in  Miteigen- 
tum steht,  eines  Bruchteils  desselben  unter 
den  zwischen  dem  Verkäufer  imd  dem 
Käufer  desselben  vereinbarten  Kaufbedin- 
gimgen  (§§  1094  und  1095).  Es  handelt 
sich  hier  nur  um  das  vertragsmässige  Vor- 
kaufsrecht, da  das  Bürgerliche  Gesetzbuch 
keine  gesetzlichen  Vorkaufsrechte  an  Grund- 
stücken kennt.  Deswegen  ist  es  stets  mit 
einer  persönlichen  Forderung  auf  Uebergabe 
und  üebereignung  des  Grundstücks  im  Vor- 
kaufsfedle  verbunden.  Auch  bedarf  es  der 
Eintragung  auf  dem  Grundbuchblatt  des 
belasteten  Grundstücks  und  auf  Antrag  auch 
auf  dem  Grundbuchblatt  des  herrschenden 
Grundstücks  (§  8  G.B.O.). 

5.  Die  ReaUast,  d.  h.  das  Recht  einer 
bestimmten    Person    oder    des    jeweiligen 


1272 


Hypotlieken-  uud  Grimclbuchwesen 


Eigentümers  eines  Grundstücks  auf  wieder- 
kehrende Leistungen  aus  einem  fremden 
Grundstück  oder,  falls  dasselbe  im  Miteigen- 
timi  stehen  sollte,  aus  einem  ]djteigentums- 
anteil  (§§  1105  und  1106).  Die  ReaUast  ist 
sowohl  in  ihrer  Totalität  als  hinsichtlich  der 
einzelnen  Leistungen  dinglich.  Daneben 
haftet  aber  der  Eigentümer  des  belasteten 
Grundstücks  für  die  wälu'end  der  Dauer 
seines  Eigentums  fällig  werdenden  Leistungen 
auch  persönlich.  Die  Reallast  wird  auf  dem 
Grimdbuchblatt  des  dienenden  Grundstücks, 
und  wenn  sie  subjektiv  dinglich  ist,  auf 
Antrag  auch  auf  dem  Blatt  des  heiTschen- 
den  Grundstücks  eingetragen. 

6.   Das  Pfandrecht.     Das  Grundstücks- 
pfandrecht ist   das   dingliche  Recht,   kraft 
dessen  ein  oder  melirere  (Korrealpfandrecht) 
Grundstücke  für  eine  bestimmte  Geldsumme 
verhaftet  sind.     Bei  dem  Eigentümerpfand- 
recht ist   diese  Haftung   freilich   nur  eine 
eventuelle,  für  den  Fall  nämlich,  dass  Pfand- 
recht und  Grundstückseigentum  in  verschie- 
dene Hände  gelangen  oder  dass  bei  der  (von 
dritter    Seite     ausgebrachten)    ZwangsvoU- 
streckimg  in  das  belastete  Grundstück  auch 
das  Eigentümerpfandrecht  zur  Hebung  ge- 
langt.   Von  dem  gemeinrechtlichen  weicht 
dieser  Begriff  wesentlich  ab.    Den  Römern 
war  das  Pfandrecht,  ohne  Unterscheidung 
beweglicher  und  unbeweglicher  Sachen,  ein 
accessorisches   Recht,    ein   dingliches  Yer- 
kaufsrecht  zur  Sicherung  einer  Forderung. 
Deswegen  konnte  es  nicht  ohne  Beziehung 
auf  eine  Forderung  entstehen,  nicht  über 
ihren  Betrag  gehen,  nicht  von  ihr  getrennt 
werden.    Aus  demselben  Grunde  musste  das 
Pfandrecht  durch  Aufhebung  der  Forderung 
erlöschen.    Doch  war  schon  im  römischen 
Recht  nur  für  die  Fälle  der  Endigung  der  For- 
derung durch  Befriedigmig  des  Gläubigers 
diese  Konsecpienz  gezogen,   nicht  für   das 
Erlöschen  der  Forderung  olme  Befriedigung 
des    Gläubigers,    z.   B.    durch  Verjährung. 
In  der  Einrichtung  der  Öffentlichen  Pfand- 
bücher für  das  Grundstückspfand  lag  nun, 
wegen  der  formeUen  Existenz  des  Gnuid- 
stückspfcmdrechts  im  Buch,  ein  Moment  der 
Entwickelung   zu  grösserer  Selbständigkeit, 
und  dieses  hat  dann  die  Gesetzgebung  zum 
Teil  benutzt,  um  den  accessorischen  Charakter 
des     Gnmdstückspfandrechts     abzustreifen. 
So   fanden  sich  bisher  schon  in   Deutsch- 
land das  selbständige  und  das  accessorische 
Gnmdstückspfandrecht  und   auf  flemselben 
Standpunkt  steht  auch  das  Bürgerliche  Ge- 
setzbuch, welches  folgende  Arten  von  Grund- 
stückspfandrechten kennt : 

a)  Die  Sicherungshynothek  (§  1184—1194). 
Sie  ist  wie  das  römische  Pfandrecht  streng 
accessorisch.  Sie  muss  als  solche  im 
Grundbuch  bezeichnet  sein,  und  es  darf  auch 
kein  Hypothekenbrief  über   sie   ausgestellt 


werden.  Doch  gelten  gewisse  Hypotheken 
auch  ohne  ausdrückliche  Bezeichnung  als 
Sicherungshypotheken.  Dahin  gehören  die 
Kautionshypotheken ,  auch  ültimat-  oder 
Maximalhypotheken  genannt  (§  1190),  die 
Hypotheken  für  Forcleningen  aus  Schuld- 
verschreibungen auf  den  Inhaber,  aus  Wech- 
seln oder  anderen  indossablen  Papieren 
(§  1187),  endlich  nach  §  866  C.P.O  auch 
die  sogenannten  Zwangshvpotheken. 

b)  Die  gewöhnliche  Hypothek  (§  1186). 
Auch  sie  hat  accessorische  Natur.  Sie  dient 
also  zur  Sichenmg  einer  Forderung,  und 
kann  ohne  solche  nicht  entstehen  und  auch 
nicht  abgetreten  werden  (§§  1113  und  1153 
Abs.  2).  Aber  bei  ihr  steht,  im  Gegensatz 
ziu"  Sicherimgsypothek ,  die  zu  sichernde 
Forderimg  unter  dem  Schutz  des  Öffentlichen 
Glaubens  des  Grundbuchs  (vgL  darüber 
unten  sub  6,  2).  Bei  ihr  sind  ferner,  trotz  ilirer 
accessorischen  Natur  gegenüber  der  Hy- 
pothekenklage Einreden,  welche  sich  gegen 
die  zu  sichernde  Forderung  richten,  nur  be- 
schränkt zulässig  (§  1138).  Endlich  kann 
bei  ihr  an  die  Stelle  der  Forderung,  für 
w^elche  sie  besteht,  eine  andere  Fordeining 
gesetzt  werden  (§  1180).  Die  gewöhnliche 
Hypothek  kommt  übrigens  vor  als  Buch- 
hypothek oder  als  Briefhjyothek,  je  nach- 
dem die  Ausstellung  eines  Hypothekenbriefes 
ausgesclilossen   wurde  oder  nicht  (§  1116). 

c)  Die  Grundschuld  (§§  1191—98)  ist  im 
Gegensatz  zur  Hypothek  eine  selbständige 
Summenbelastimg  des  Grundstücks.  Bei  ihr 
ist  also  das  Bestehen  einer  zu  sichernden 
Forderung  nicht  Voraussetzung  für  das  Ent- 
stehen der  Gnmdschiild.  Wolil  aber  wird 
sie  regelmässig  die  Veranlassung  dafür  sein ; 
nicht  immer,  denn  die  Grundschuld  kann 
auch  schehkungshalber  konstituiert  wenlen. 
Wird  aber  wegen  einer  bestehenden  Schuld 
eine  Grundschuld  errichtet,  so  ist  nun  ein 
Doppeltes  möglich:  Entweder  wird  die 
Grundschuld  an  Zahlungsstatt  für  die  be- 
stehende Forderung  gegeben.  Dann  tilgt 
der  Grundstückseigentümer  durch  die  Be- 
stellung der  Grundschuld  die  persönliche 
Schuld.  Oder  die  Absicht  ist  darauf  ge- 
richtet, dass  der  Gläubiger  seine  Forderung 
behalten  und  daneben  zu  ihrer  Sicherheit 
noch  das  Grundschuldrecht  dazu  erhalten 
soll.  Hier  bestehen  dann,  wie  bei  einer 
Hypothek,  die  persönliche  Forderung  und  die 
Grundschuld  nebeneinander  fort.  Jedoch 
durcliaus  unabhängig,  sodass  Veränderungen 
der  persönlichen  Forderung  weder  die 
Grundschuld  noch  umgekehrt  Veränderungen 
der  Grundschiüd  die  persönliche  Forderung 
berühren.  Immerhin  soll  der  Grundschuld- 
gläubiger nach  Absicht  der  Parteien  nicht 
den  doppelten  Betrag,  den  seiner  persön- 
lichen Forderung  und  den  der  Grundscbuld 
erlialten.     Deswegen    kann  ihm,    wenn   er 


Hypotheken-  und  Grundbiiclnvesen 


1273 


nach  Zahlung  der  persönlichen  Forderung 
die  Grundschuld  oder  umgekehrt  nach  Zah- 
lung der  Grundschuld  die  persönliche  Foi^de- 
rung  einldagt,  der  Einwand  der  Zaliluug 
entgegengesetzt  werden.  Ebenso  seinem 
Erben,  nicht  aber  seinem  Siugularsuccessor. 
Die  Selbständigkeit  der  Grundschuld  tritt 
schon  äusserlich  darin  hervor^  dass  bei  der 
Grundschuld  der  Eintragungsvermerk  im 
Buch  stets  nur  auf  eine  bestimmte  Summe 
ohne  Angabe  des  Schuldgrundes  der  Forde- 
rung, welche  Veranlassung  zur  Bestellung 
der  Grundschuld  gab,  lautet.  Bei  der  Hypo- 
thek dagegen  wird  der  Schuldgi'und  der 
Forderung,  für  welche  die  Hypothek  be- 
stellt wurde,  mit  eingetragen.  Auch  die 
Grundschuld  kann  Brief-  oder  Buchgrund- 
schuld sein.  Der  Grundschuldbrief  kann 
auch  auf  den  Inhaber  ausgestellt  w^erden.  | 
Eine  Unterart  der  Gnmdschuld  ist  die ; 
R  e  u  t  e  n  s  c  h  u  1  d ,  bei  welcher  in  regel- 1 
massig  wiederkehrenden  Terminen  eine  be-  i 
stimmte  Geldsumme  aus  dem  Gnmdstück  i 
zu  zahlen  ist  (§  1199).  Zwar  wuxi  bei  der 
Bestellung  einer  Rentenschuld  ein  Betrag, 
durch  dessen  Zahlung  die  Rentenschuld  ab- 
gelöst werden  kann  (sogenannte  Ablösungs- 
summe), festgesetzt.  Aber  nicht  dieses 
Kapital  kann  der  Rentenschuldgläubiger  ver- 
langen, sondern  niu*  die  Rentenzahlungen. 
Dadurch  imterscheidet  sich  die  Renten- 
schuld von  der  gewöhnlichen  Grundschuld. 
Die  Zahlung  der  Ablösungssumme  kann  erst 
dann  verlangt  werden,  w^enn  der  Grund- 
stückseigentümer sich  für  Ablösung  ent- 
schieden oder  wenn  er  in  sicherheitsge- 
fährdender Weise  das  Gnmdstück  ver- 
schlechtert hat  (§§  1201  und  1202).  Die 
Rentenschuld  ist  keine  Reallast.  Deswegen 
haftet  der  Rentenschuldner  für  die  Renten- 
raten stets  nvu*  mit  seinem  Gnmdstück, 
während  der  Reallastschuldner  in  gewissem 
Umfang  (§  1108)  auch  persönlich  haften 
würde. 

Ausser  diesen  unter  1  bis  (3  aufgeführten 
dinglichen  Rechten  des  Bürgerlichen  Gesetz- 
buchs kommen  für  den  Gnmdbuchverkehr 
in  einzelnen  Bundesstaaten  noch  die  in  den 
Art.  59  ff.  E.G.  ziun  B.G.B.  erwälmten  in 
Betracht  (§  84  G.B.O.). 

Neben  der  Einti-agung  dinglicherRechte  im 
Gnmdbuch  ist  nun  aber  auch  noch  die  Möglich- 
keit der  Eintragimg  persönlicher  Rechte  auf 
Einräumung  dinglicher  Rechte  anzuerkennen 
und  auch  von  jeher  anerkannt  gewesen. 
Zwai*  hat  man  eingewendet,  dass  die  Forde- 
rung nur  immer  eine  Willensgebundenheit 
des  Verpflichteten  erzeuge,  nicht  eine  Ge- 
bundenheit ihres  Gegenstandes  und  dass 
deswegen  die  Eiutragimg  von  Forderungen 
für  die  Sicherung  des  Grundstücksverkehrs 
an  sich  bedeutungslos  sei.  Die  Kenntnis 
davon,    dass   ein   anderer   ein   i)ersönliches 


Recht  auf  das  Grundstück  oder  auf  Ein- 
räiunung  eines  dinglichen  Rechts  an  dem 
Grundstück  habe,  stehe  weder  dem  Eigen- 
tumserwerb noch  dem  Erwerb  eines  ding- 
lichen Rechts  am  Gnmdstück  entgegen,  denn 
das  dingliche  Recht  sei  stärker  als  das  per- 
sönliche. Aber  dieser  nach  dem  Eindringen 
des  römischen  Rechts  in  Deutschland  ziem- 
lich allgemein  anerkannte  Grundsatz  hatte 
namentlich  in  Preussen  eine  Abschwächung 
erfahren  in  dem  sogenannten  Recht  zur 
Sache,  d.  h.  dem  persönlichen  Recht  auf 
Geben  oder  Gewäliren  einer  bestimmten 
Sache.  Denn  dieses  persönliche  Recht  auf 
die  Sache  sollte  auch  gegenüber  dem  Eigen- 
tum oder  dinglichen  Recht  an  der  Sache 
wirksam  sein,  wenn  der  Erwerber  des 
letzteren  im  Moment  des  Erwerbes  von  dem 
älteren  Recht  zur  Sache  Kenntnis  hatte. 
Da  aber  solcher  Kenntnis  das  Eingetragen- 
sein im  Hypothekenbuch  gleich  stand  und 
niemand  mit  der  Unkenntnis  einer  im 
Buch  eingetragenen  Verfügung  sich  ent- 
schuldigen konnte,  so  liess  man  auch  die 
Rechte  zur  Sache  im  Hypothekenbuch  ein- 
tragen. Bestimmend  wirkte  auch  noch 
eine  andere  Erwägung.  Wenn  nämlich  ein 
dingliches  Recht  erst  durch  Eintragung  im 
Buch  entstehen  kann,  die  Eintragung  aber 
von  der  Bewilligung  des  ziu*  Bestellung  des 
dinglichen  Rechts  Verpflichteten  abhängt, 
so  ist  der  Anspruch  auf  Einräumung  des 
dinglichen  Rechts  gefährdet,  da  der  Ver- 
pfüchtete  es  in  der  Hand  haben  würde,  an- 
statt seiner  Verpflichtung  nachzukommen, 
die  Eintragung  dinglicher  Rechte  zu  Gunsten 
Dritter  zu  bewilligen  und  hierdurch  wenig- 
stens den  Rang  des  Rechtes,  zu  dessen  Ein- 
räumung er  verpf  helltet  war,  zu  verschlechtern. 
Die  letztere  Erwägung  hat  dahin  geführt, 
dass  auch  solche  Staaten,  denen  das  Recht 
zur  Saclie  unbekannt  war,  die  Eintragung 
persönlicher  Rechte  auf  Einräumung  eines 
dinglichen  Rechts  oder  auf  Aufhebung  eines 
eingetragenen  dinglichen  Rechts  zuliessen. 
In  Ländern  mit  Hypothekenbuchsystem 
konnte  es  sich  dabei  natürlich  nur  um  Ein- 
tragung der  Ansprüche  auf  Hypothekbe- 
stellung oder  Aufliebung  handeln.  Man  be- 
zeichnete derartige  Eintragimgen  als  Pro- 
testationen, Verwahrungen,  Vormerkungen, 
und  nur  in  Mecklenburg  und  den  freien 
Städten  Hamburg  und  Lübeck  besteht  zur 
Zeit  die  Hypothekenvormerkung  nicht.  Wohl 
aber  hat  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  für 
das  Deutsche  Reich,  obwohl  es  das  Recht 
zur  Sache  nicht  anerkennt,  diese  Vormerkun- 
gen aufgenommen  (§§  883  ff.). 

Endlich  können  auch  sonstige  auf  die 
eingetragenen  Rechtsverhältnisse  bezügliche 
Thatsachen  Gegenstand  von  Eintragungen 
sein.  Hierher  gehört,  ausser  der  Eintragung 
von  Einreden   gegen  die  Klage   aus   einer 


1274 


Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 


Hypothek  oder  Grundschuld  und  der  Ein- 
tragung von  Widersprüchen  gegen  die 
Richtigkeit  des  Buchs,  namentlich  die  Ein- 
tragung von  Beschränkungen  des  Yerf  ügungs- 
rechts  des  Berechtigten.  Man  muss  dabei 
jedoch  die  Verfügungsbeschränkungen,  welche 
auf  einem  besonderen,  das  eingetragene  Recht 
selbst  ergreifenden  Rechtsgrunde  beruhen 
—  objektiven  — ,  und  die  auf  persönlichen 
Eigenschaften  des  derzeitigen  Berechtigten 
beruhenden  —  subjektiven  —  Verfügungs- 
beschränkungen unterscheiden.  Die  letzteren, 
zu  denen  namentlich  Minderjährigkeit,  Ver- 
schwendungssucht, Geisteskrankheit  gehören, 
werden  weder  in  Deutschland  noch  in  Oester- 
reich  eingetragen. 

Die  objektiven  Verfügungsbeschränkungen 
beruhen  auf  Gesetz,  auf  Privat'wallenser- 
klärung  oder  auf  richterlicher  Anordnung. 
Sie  sind  nur  insoweit  einzutragen,  als  sie 
Privatinteressen  zu  dienen  bestimmt  sind, 
also  den  Berechtigten  zu  Gunsten  einer  be- 
stimmten Person  in  der  Verfiigung  be- 
schränken (§  892  Abs.  1  S.  2).  Denn  die 
im  öffentlichen  Interesse  verhängten  Ver- 
fügungsbeschränkungen, z.  B.  die  landesge- 
setzlichen Verbote  der  Zerstückelung  und 
Verwüstung  von  Grundstücken  im  Interesse 
der  Landeskultiu*  oder  der  Steuererhebung 
(Art.  119  E.G.  zum  B.G.B.),  wirken,  weil  das 
öffentliche  Interesse  jedem  Privatinteresse 
vorgehen  muss,  auch  ohne  Eintragiing  gegen 
jedermann. 

Die  hauptsächlichsten  darnach  in  Be- 
tracht kommenden  Verfügimgsbeschrän- 
kungen  sind  folgende :  die  mit  der  Einleitung 
der  Subhastation  oder  Zwangsverwaltimg 
{§§  20,  23,  146  und  148  der  ZwangsvoU- 
streckungs.-0.  vom  24  März  97),  mit  der 
Lohns-,  Familienfideikommiss-  und  Staram- 
gutseigenschait  verknüpften,  die  Beschrän- 
kungen des  Vorerben  durch  das  Recht  des 
Nacherben  (§  2113  Abs.  3  B.G.B.  und  §  52 
G.B.O.),  des  Erben  durch  den  Testaments- 
vollstrecker (§§  2211  Abs.  2  B.G.B.  und 
§  3  G.B.O.),  des  Rechtserwerbera  unter  Be- 
dingung oder  Zeitbestimmung  (§§  158  und 
163  B.G.B.),  endlich  die  durch  Arrest  oder 
einstweilige  Verfügung  oder  vor  der  Kon- 
kurseröffnung nach  §  98  K.O.  herbeige- 
führten. Das  französische  Recht  weicht  von 
den  vorstehend  angegebenen  Grundsätzen 
insofern  ab,  als  nur  die  Rechtsgeschäfte, 
welche  eine  Eigentiunsveränderung  wirken 
sollen,  und  die  Hypotheken  eingetragen 
werden.  Es  kennt  weder  Eintragimg  von 
sonstigen  dinglichen  Rechten  noch  von  Dis- 
positionsbeschränkungen noch  von  Vor- 
merkungen. 

SoU  nun  der  Zweck  des  Buches,  den 
Verkelir  mit  Grundstücken  und  den  Real- 
kredit, oder  bei  Hypothekenbuchsystemen 
letzteren  allein,  zu  sichern,  erreicht  werden. 


so  muss  bei  der  Eintragung  eines  Grund- 
stücks oder  bei  Belastungen  desselben  aus 
dem  Eintragungsvermerk  genau  ersichtlich 
sein  nicht  nur  das  zu  belastende  Gnmdstück, 
sondern  auch  die  Höhe  der  Belastung  selbst 
(sogen.  Specialitätsprincip).  Nicht 
nur  die  Grösse,  die  Bodenbeschafrenheit,  der 
Wert  des  Grundstücks,  sondern  konsequenter- 
weise auch  eine  bestimmte  Summe,  in  deren 
Höhe  das  Grundstück  haften  soll,  müssten 
im  Buch  angegeben  sein.  AUein  in  diesem 
Sinn  ist  der  Gnmdsatz  der  Specialität  bisher 
nur  für  Hypotheken  und  Grundschidden 
durchgeführt,  nicht  für  Niessbrauchsreclite, 
Reallasten,  Grundgerechtigkeiten  u.  s.  w., 
weil  die  Schätzung  dieser  Rechte  nach  Geld 
zu  viel  Schwierigkeiten  machen  würde. 
Auch  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  hält  am 
Specialitätsprincip  fest,  obwohl  es  dasselbe 
nicht  ausdrücklich  hervorhebt.  Aber  eine 
Vorschrift,  dass  bei  jedem  das  Grundstück 
belastenden  Recht  eine  Maximalsumme  ein- 
getragen werden  müsse,  damit  jeder  In- 
teressent sich  über  das  Mass  der  vor- 
handenen Belastungen  genau  unterrichten 
könne,  giebt  das  Bürgerliche  Gesetzbuch 
ebenfalls  nur  fiir  H\7)0theken  und  Gnmd- 
schulden.  Für  andere  Lasten  ist  es  der 
Einigung  der  Beteiligten  überlassen,  ob  der 
Kapitalsanschlag  der  Last  eingetragen  werden 
soll  (§§  1115,  1191  und  882  B.G.B.).  Aber 
auch  bei  Hypotheken  und  Gnmdschulden 
ist  das  Specialitätsprincip  insofern  durch- 
brochen, als  das  Grundstück  auch  dann  für 
die  gesetzlichen  Zinsen,  und  die  Kosten 
der  Aündigimg  und  Rechtsverfolgimg  haftet, 
wenn  dieselben  nicht  eingetragen  sind  (§  1118). 
Andererseits  trägt  die  Bestimmung  des  §  10 
Nr.4  derZ.V.O.,  nach.welcher  bei  zinstragenden 
Hypotheken  etc.  das  Gnind  stück  bei  der 
Subhastation  doch  nur  für  zweijährige  Zins- 
rückstände verhaftet  ist,  dem  Specialitäts- 
princip wieder  Rechnung. 

4.  Der  Eintra^nngszwang.  Wenn  da- 
nach der  Gesetzgeber  nach  allen  drei 
S\^stemen  die  Vornahme  der  Eintragimgen 
in  gewissem  Umfang  erfordert,  so  fragt  es 
sich,  welche  "Mittel  er  zur  Erzwingung  dieser 
Eintragungen  giebt? 

1.  Man  könnte  dabei  zunächst  an  ein 
System  des  direkten  Zwangs  denken, 
welches  in  der  Tliat  in  Preussen  eine  Zeit 
lang  gegolten  liat.  Die  preussische  Hj'po- 
thekenordnung  vom  20.  Dez.  1783  nämlich 
hatte  in  Tit.  IL  §§  49 — 52  ein  eigenartiges 
Zwangsverfahren  vorgeschrieben,  die  soge- 
nannte Zwangstitelberichtigimg,  um  zu  er- 
reichen, dass  alle  mit  dem  Eigentum  eines 
Grundstücks  verfallenden  Veränderungen 
im  Buch  vermerkt  würden.  Veräusserer 
und  Erwerber  hatten  binnen  Jahresfrist  den 
Titel  für  Uebergang  des  Eigentums  der 
Buchbehörde   zu    »bescheinigen«  oder,    wie 


Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 


1275 


wir  heute  sagen  würden,  glaubhaft  zu 
machen.  Thaten  sie  dies  nicht,  so  sollte 
die  Buchbehörde  von  Amts  wegen  dem  Er- 
werber unter  Androhung  verhältnismässiger 
Geldstrafe  eine  Frist  setzen,  nach  deren 
fruchtlosem  Verstreichen  aber  die  Geldstrafe 
eintreiben  und  auf  Besitztitelberichtigimg 
durch  execuüo  ad  faciendiun  hinwirken.  Aehn- 
liche  Bestimmungen  sind  enthalten  in  den  Art. 
3  und  4  des  meiningenschen  G.  v.  15.  Juli 
1862,  welche  aber  insofern  weiter  gehen, 
als  sie  sich  nicht  nur  auf  Eigentumsver- 
änderungen, sondern  auch  auf  den  Erwerb 
von  auf  Privatwillkür  beruhenden  Personal- 
servituten und  anderen  Lasten  (Auszug, 
Wohnungsrecht,  Wittum,  Leibzucht  u.  s.  w.) 
beziehen.  Und  auch  im  Amtsgerichtsbezirk 
Frankfurt  a.  M.  galt  noch  die  Vorschrift, 
dass  Eigentumsveränderungen  innerhalb  vier 
Wochen  nach  Abschluss  des  Veräusserungs- 
vertrages  bei  Vermeidung  einer  Geldstrafe 
von  Vs  %  des  Wertes  zu  den  Transkriptions- 
registem  anzumelden  seien.  —  Es  liegt  auf 
der  Hand,  dass  ein  derartiges  Verfahren 
sich  mit  dem  Wesen  des  Buchrechts  nicht 
verträgt.  Die  Buchbehörde  hat  nur  auf  An- 
trag thätig  zu  werden.  Sie  kann  nicht  von 
Amts  wegen  kontrollieren,  ob  in  ihrem  Be- 
zirk Eigentumsveränderungen  vor  sich  ge- 
gangen sind,  zumal,  wenn  der  Eigentums- 
wechsel sich  ausserhalb  des  Buchs  vollzieht. 
Aber  selbst  wenn  man  ihr  Einschreiten  von 
dem  Antrag  eines  Interessenten  abhängig 
machen  wollte,  so  würde  damit  das  unge- 
nügende direkten  Zwanges  nicht  beseitigt. 
Denn  es  würde  sehr  oft  zifvischen  der  Eigen- 
tumsveränderung und  der  wirklichen  Besitz- 
titelberichtigung oder  zwischen  der  Ent- 
stehung eines  dinglichen  Rechts  und  seiner 
Eintragung  ein  längerer  Zeitraum  liegen  und 
das  Buch  würde  zeitweilig  ein  durchaus 
unrichtiges  Bild  gewähren.  Deswegen  könnte 
ein  System  direkten  Zwanges  für  sich  allein 
niemals  genügen,  um  die  Zwecke  der  Siche- 
rung des  Grundstücksverkehrs  und  der 
Hebung  des  Realkredits  zu  erreichen.  Das 
deutsche  bürgerliche  Recht  versagt  aber 
dem  Grundbuchamt  jeden  Gerichtszwang 
imd  hat  also  auch  die  in  den  §§  55  imd 
56  der  preuss.  G.B.O.  noch  enthaltenen 
Reste  desselben  beseitigt. 

2.  An  Stelle  des  direkten  Zwanges  ist 
der  indirekte  getreten.  Derselbe  kann  be- 
stehen : 

A.  in  der  Einführung  des  sogenannten 
Eintragungsprincips,  d.  h.  in  der  Abhängig- 
machung  des  Erwerbs,  der  Aenderung  oder 
Endigung  an  Eigentum  oder  dinglichem 
Recht  von  der  Eintragung  im  Buch.  Ohne 
die  Eintragung  entsteht  das  Recht  oder  voll- 
zieht sich  die  Aenderung  oder  Endigimg 
überhaupt  nicht.  Nach  Hypothekenbuch- 
system  Kann  dieser  Satz  natürlich  nur  für 


die  Hypotheken  gelten.  Dieses  Eintragungs- 
prindp  hatte  in  sämtUchen  Staaten,  welche 
sich  zum  Hypotheken-  oder  Grimdbuch- 
system  bekennen,  Eingang  gefunden,  ja  so- 
gar in  einem  Gebiete  des  französischen 
Rechts  —  Baden  —  Geltung  erlangt,  dort 
allerdings  nur  für  die  Konventionalpfänder. 
Aber  in  dem  Masse  seiner  Durchführung 
wichen  die  Einzelstaaten  sehr  von  einander 
ab,  so  dass  der  Rechtszustand  in  Deutschland 
ein  durchaus  zersplitterter  war  und  einheit- 
liche Regein  überhaupt  fehlten.  Erst  das 
Bürgerliche  Gesetzbuch  hat  solche  aufge- 
stellt, und  darnach  liegt  jetzt  in  Deutschland 
die  Sache  wie  folgt :  das  Eintragungsprincip 
gilt,  wenn  Entstehung,  Aenderung  oder  En- 
digung an  Eigentum  oder  dinglichem  Recht 
durch  Rechtsgeschäfte  der  Beteiligten 
hervorgerufen  werden  soll,  es  gilt  nicht,  wenn 
die  Rechtswirkung  auf  andere  Weise,  nament- 
lich unmittelbar  auf  Grund  des  Gesetzes, 
begründet  werden  soll  —  obwohl  auch  in 
diesen  Fällen  die  Eintragung  gestattet  ist. 
Demgemäss  gut  also  das  Eintra^ngsprincip 
z.  B.  nicht  für  den  Eigentumserwerb  durch 
Zwangsversteigerung  (§§  89  u.  90  der  Zwangs- 
vollst.-0.  V.  24.  März  1897),  Enteignung,  Ge- 
meinheitsteilung oder  Zusammenlegung  (E.G. 
Art.  109  u.  113),  durch  avulsio  oder  alluvio, 
bei  der  insula  in  flumine  nata  und  dem 
alveus  derelictus  (Art.  65).  beim  Erwerb  diuxih 
Erbschaft  (§§  1922,  1942,  2032  Abs.  1  und 
2139  B.G.B.),  beim  Erwerb  durch  Eingehung 
einer  gütergemeinschaftlichen  Ehe  (§§  1438 
u.  1519),  beim  Erwerb  der  Güter  des  Lan- 
desherrn und  der  Mitg:lieder  der  landesherr- 
lichen Familien,  weiter  der  fiirstiichen 
Familie  HohenzoUem  und  der  Mitglieder 
des  vormaligen  hannoverschen  Königshauses, 
des  kiu-hessischen  und  herzoglich  nassaui- 
schen Fürstenhauses,  endlich  der  Güter  der 
mediatisierten  Häuser  (Art.  57  u.  58)  und 
beim  Erwerb  der  Lehen  —  Famüienfidei- 
kommiss  —  und  Stammgüter  (Art.  59).  — 
Auch  der  Erwerb  eines  bestehenden  Erb- 
baurechts durch  Erbfolge,  Eingehung  einer 
gütergemeinschaftlichen  Ehe  oder  Zwangs- 
versteigerung (§  870  C.P.O.)  vollzieht  sich 
ohne  Eintra^ng.  Eb«nso  entsteht  der  ehe- 
männliche oder  elterliche  Niessbrauch  (§§ 
1363  ff.  u.  1649  ff.)  ohne  Eintragimg.  Auch 
vollzieht  sich  der  gesetzliche  üebergang 
eines  Grundstücksrechts  diu-ch  Vereinigung 
oder  Befriedigung  (§§  889, 1143, 1163,  1170) 
ohne  Eintragimg.  —  Die  vorher  über  das 
Eintragungsprincip  aufgestellte  Regel  hat 
nun  aber  nach  beiden  Richtungen  Aus- 
nahmen. Es  können  also  ciach  wie  vor 
durch  Willenserklärungen  auch  ohne  Ein- 
tragung dingliche  Rechtswirkungen  an  Grund- 
stücken oder  den  auf  ihnen  ruhenden  ding- 
lichen Rechten  hervorgerufen  werden,  und 
andererseits  bedarf  es  bisweilen  da,  wo  die 


1276 


Hj^otlieken-  und  Gininclbuclnvesen 


Rechtswirkung  nicht  auf  Willenserklärungen 
beruht,  gleichwohl  der  Eintragung. 

a)  Wirkungen  rechtsgeschäft- 
licher Willeuserklärung  ohne 
Eintragung.  Der  Niessbrauch  ent- 
steht im  Falle  des  §  1075  ohne  Ein- 
tragung. Wem  nämlich  der  Niessbrauch 
an  einer  (auf  ein  Gnindstück  gerichteten) 
Forderung  eingeräumt  ist,  der  darf  die  For- 
derung einziehen  und  erlangt  mit  der  Leis- 
timg des  Foi*derungsgegenstandes  den  Niess- 
brauch an  dem  letztei^n  (§§  1074  u.  1075). 
In  ähnlicher  Weise  er\7irbt  der  Pfandgläu- 
biger einer  auf  ein  Grundstiick  gerichteten 
Forderung  mit  der  Einziehung  dereelben 
eine  Sicherungshypothek  am  Grundstück 
(§  1287).  Auch  können  die  Briefhypotheken 
und  Briefgrundschulden  ohne  Eintragung 
von  einem  Gläubiger  auf  den  anderen  über- 
tragen werden  (§  1154)  und  ebenso  bedarf 
ihre  Belastung  mit  einem  Niessbrauch  und 
ihi'e  Afterverpfändung  nicht  der  Eintragung 
(§§  1069,  1274,  1291).  EndHch  gehen  Rechte 
an  fremden  Gnmdstücken  ohne  Löschung 
unter  mit  Eintritt  des  Termins  oder  der 
auflösenden  Bedingung,  unter  welcher  sie 
bestellt  waren,  wobei  nur  zu  beachten  ist, 
dass  Gnmdstückseigentum  weder  unter  einem 
Termin  noch  einer  auflösenden  Bedingung 
übertragbar  ist. 

b)  Kechtswirkungen  auf  ande- 
rem Wege  als  durch  rechtsge- 
schäftliche Willenserklärung, 
aber  mit  Eintragung.  Die  Aneignung 
eines  herrenlosen  Grundstücks  bedarf  der 
Eintr^ung  des  Occupanten  als  Eigentümer 
im  Grundbuch  (§  928  Abs.  2).  Ebenso  der 
Grundstückserwerb  auf  Grund  Aufgebots 
(§  927 ).  Auch  die  sogenannte  Tabulai'ersitzung 
des  Eigentums,  des  Erbbaurechts  und  der 
Dienstbai'keiten  gehört  hierher.  Demi  wenn 
der  Ei-sitzende  nicht  w^ährend  der  Ersitzungs- 
zeit ohne  Widerspnichseintragung  im  Grund- 
buch steht,  so  hilft  ihm  sein  langjähriger 
Besitz  nicht  (§§  900  u.  1017  Abs.2).  Sicherungs- 
hvpotheken  können  auf  Ersuchen  einer  zu- 
ständigen Behörde  (§§  39  G.B.O.,  130,  146, 
172,  176,  180  Z.Y.O.,  Art.  91  E.G.),  Judi- 
katshypotheken auf  j^trag  des  Gläubigers 
(§  866  C.P.O.)  eingetragen  werden. 

Diese  noch  keineswegs  vollständige  Ueber- 
sicht  ergiebt,  dass  auch  im  Bürgerlichen 
Gesetzbuch  keineswegs  das  Eintragimgs- 
princip  durchgeführt  ist  Auch  w^ürde  das 
striktest  durchgeführte  Eintiugungsprincip 
nur  dann  die  Uebereinstimmung  des  Buches 
mit  der  W^irkliclikeit  zu  en^eichen  imstande 
sein,  wenn  gleichzeitig  der  weitere  Rechts- 
satz aufgestellt  wüixle,  dass  die  Eintragimg 
für  sich  allein,  losgelöst  von  allen  Voraus- 
setzimgen  des  materiellen  Rechts,  rechts- 
erzeugende,  ändernde  und  tilgende  Wir- 
kung liaben  solle.    Ein  derartiger  Satz  aber 


wäre  zw^eischneidig  und  deshalb  unbrauch- 
bar (vgL  darüber  unten  sub  6,  1). 

Der  indirekte  Zwang  kann  weiter  be- 
stehen : 

B.  in  der  Einführung  von  ipso  iure  ein- 
tretenden Rechtsnachteilen,  denen  der  Eigen- 
tümer oder  der  dinglich  Berechtigte  sieh, 
aussetzen,  wenn  sie  nicht  schleunigst  ihre 
Rechte  aus  dem  Buch  ersichtlich  machea 
lassen.  Diese  Rechtsnachteile  können  aber 
verschiedene  sein. 

a)  Das  nicht  eingetragene  Recht  wirkt 
dritten  Personen  gegenüber  nicht,  sondern 
nur  zwischen  dem  Erwerber  oder  dessen 
üniversalsuccessoren,  sowie  dem  Veräusserer 
oder  Besteller  und  dessen  üniversalsucoes- 
soren.  Der  Erwerber  eines  Rechts  kann 
sich  also  vor  der  Eintragung  dritten  Perso- 
nen gegenüber  nicht  auf  seinen  Erwerb  be- 
rufen und  muss  auch  alle  Rechte  gegen 
sich  gelten  lassen,  welche  sein  Rechtsvor- 
gänger bis  zu  diesem  Zeitpunkt  anderen 
Personen  eiugerämnt  hat.  Aui  diesem  Stand- 
punkt steht  namentlich  das  französische 
Recht,  weniger  in  der  Lehre  vom  Eigentums- 
erwerb als  bezüglich  der  Pri^ilegien  und 
Pfandrechta  Denn  der  Eigentumserwerb 
vollzieht  sich  diuxjh  den  Veräusserungs- 
vertrag  und  wirkt  auch  gegen  jeden  Dritten, 
selbst  gegen  denjenigen,  der  später  einen 
auf  Eigentumserwerb  abzielenden  Yertrag 
abgeschlossen  und  das  Eigentum  schon  auif 
sich  hat  transskribieren  lassen.  Ausnahmen 
bilden  nur  die  Schenkungen,  welche  zu  ihrer 
Wirkung  gegenüber  dritten  Personen  der 
Transskription  bedürfen,  und  femer  der 
Satz,  dass  der  Erwerber  eines  Grundstücks 
bis  zu  seiner  Transskription  die  Inskription 
der  von  dem  Yeräusserer  vor  Abschluss  des 
Veräussenmgsvertrages  eingeräumten  Pfend- 
rechte  dulden  muss.  Anders  bei  den  Priri- 
legien  und*  Pfandrechten.  Hier  entsteht  das 
Privileg  oder  Pfandrecht  zwar  auch  ohne 
Inskription,  doch  kann  es  weder  gegen  die 
übrigen  Gläubiger  des  Verpfänders  noch 
gegen  seine  transkribierten  Singiüarsucoesso- 
ren  imEigentiun  des  Grundstücks  geltend  ge- 
macht werden. 

Der  Grundsatz,  dass  dingiiclie  Rechte 
an  Grundstücken  zur  Wirksamkeit  gegen 
dritte  Personen  der  Eintragung  im  Buch 
bedürfen,  ganz  einerlei,  ob  diese  Personen 
gut-  oder  schlechtgläubig  sind,  Itatte  auch 
in  Deutschland  in  ausgedehntem  Masse  An- 
erkennung gefunden.  Namentlich  entstanden 
nach  preussischem  Recht  und  nach  dem 
Recht  derjenigen  Staaten,  welche  der  preu5- 
sischen  Grundbuchgesetzgebung  gefolgt  wa- 
ren, ferner  nach  sächsischem,  württembergi- 
schem, weimarischem,  meiningenschem  Recht 
die  Personalservituten  ausserhalb  des  Buchs, 
bedurften  aber  zur  Rechtswdrksamkeit  gegen 
Dritte  der  Eintragung.    Kach   bayerischem 


Hypotheken-  und  Grundbuehwesen 


1277 


Recht  iniisste  wenigstens  der  Niessbrauch, 
um  nachstehenden  Hypothekengläubigern 
gegenüber  wirken  zu  können,  eingetragen 
sein.  Das  gleiche  galt  von  den  Grundgerech- 
tigkeiten in  Mecklenburg,  ferner  von  den 
Reallasten  in  Pi^eussen  und  den  Staaten, 
welche  seiner  Gnmdbuchgesetzgebung  ge- 
folgt waren,  weiter  in  Württemberg,  Weimar 
sowie  gegenüber  nachstehenden  Hypotheken- 
gläubigern auch  in  Bayem.  Infolge  der 
Weiterfühning  des  Eintragimgsprincips  ist 
der  Gnmdsatz  in  Deutschland  für  die  Zu- 
kunft beseitigt.  Er  gilt  auch  nicht  mehr 
für  die  Pfändungspfandrechte  an  Buchhj^yo- 
theken  oder  Buchgrundschulden  (§  880  Abs. 
2  C.P.O.).  Zwar  scheint  dies  mit  der  Fas- 
sung des  Gesetzes  in  Widei-spruch  zu  stehen, 
nach  welchem  »dem  Drittschuldner  gegen- 
über« die  Pfändung  mit  der  Zustellung  des 
Pfändungsbeschlusses  bewirkt  ist,  wenn  die 
Zustellung  vor  der  Eintragung  der  Pfändung 
erfolgt.  Denn  man  könnte  daraus  folgern 
wollen,  dass  zwar  der  Drittschuldner  hier 
diu-ch  die  vor  der  Eintragung  der  Pfändung 
an  ihn  erfolgte  Zustellung  des  Pfändungs- 
beschlusses die  Fähigkeit,  mit  Wirksamkeit 
an  den  Schuldner  —  seinen  Gläubiger —  zu 
zalilen,  verlöre,  dass  aber  der  Cessionar  der 
gepfändeten  Hypothek  oder  Grundschuld 
wegen  der  fehlenden  Eintragimg  der  Pfän- 
dung ein  unbeschränktes  Hypotheken-  oder 
Grundschuldrecht  erlange,  selbst  wenn  er 
bei  der  Abtretung  die  bereits  'erfolgte  Zu- 
stellung des  Pfändungsbeschlusses  an  den 
Drittschuldner  kannte.  Aber  unzweifelhaft 
enthält  doch  die  auch  noch  nicht  eingetra- 
gene Pfändung  für  den  Hypotheken-  oder 
Grundschuldgläubiger  eine  Verfügungsbe- 
schränkimg, auf  welche  also  §  892  Abs.  1 
S.  2  B.G.B.  zur  Anwendung  kommt.  Der 
Drittschuldner  kann  also  der  dinglichen 
Klage  des  Cessionars  die  Einrede  entgegen- 
setzen, derselbe  habe  bei  der  Cession  die 
stattgehabte  Pfändung  gekannt. 

b)  Nur  der  im  Buch  eingetragene  Be- 
rechtigte kann  die  Eintragung  dinglicher 
Rechte  bewilligen.  So  muss  nach  Grund- 
buchsvstom  der  Veräusserer  eines  Grund- 
Stücks  selbst  erst  im  Grundbuch  als  Eigen- 
tümer eingetragen  sein.  Nach  Hypotheken- 
buchsystem  kann  nur  der  eingetragene 
Eigentümer  die  Eintragung  von  Hypotheken 
bewilligen.  Auch  nach  badischem  Landrecht 
kann  der  Käufer  einer  Liegenschaft  erst 
nach  der  Transskription  verpfänden.  Schon 
die  neue  preussische  Grundbuchgesetzgebung 
hatte  die  gleichzeitig  mit  der  Eintragungs- 
bewilligung eines  dinglichen  Rechts  erfol- 
gende Eintragung  des  Eigentums  des  Be- 
willigenden der  bereits  vorhandenen  Ein- 
tragung des  Eigentums  gleichgestellt  (prss. 
E.E.G.  V.  5.  Mai  1872,  §§  13  u.  19),  und  in 

40)  hat 


der  deutschen  Grundbuchordnung 


(§ 


dieser  Grundsatz,  dass  nur  der  Buchberech- 
tigte buchmässig  verfügen  könne,  eine 
weitere  Abschwächung  erfaliren,  indem  er 
nur  noch  als  Ordnungsvorschrift  aufrecht 
erhalten  ist.  und  selbst  als  Ordnungsvor- 
schrift gilt  er  nicht,  wenn  der  Erbe  dos  im 
Grundbuch  eingetragenen  Berechtigten  die 
üebertragung  oder  Aufhebung  des  ererbten 
Rechts  eintragen  lassen  will  (§  41  G.B.). 
Während  also  bisher  im  allgemeinen  die 
Eintragung  des  letzten  Berechtigten  sich 
auf  die  ununterbrochene  Reihenfolge  seiner 
eingeti'agenen  Vormänner  stützte,  so  dass, 
auch  wenn  das  Recht  eines  Vormannes 
ausserhalb  des  Buchs  entstanden  war,  z.  B. 
sein  Eigentum  im  Wege  der  Erbfolge,  doch 
aus  dem  Buch  selbst  diese  Vormänner  er- 
sichtlich waren,  so  braucht  dies  in  Zukunft 
in  Deutschland  nicht  mehr  der  Fall  zu  sein, 
c)  Das  nicht  eingetragene  Recht  wirkt 
nach  Grundbuchsystem  demjenigen  gegen- 
über nicht,  welcher  in  gutem  Glauben  an 
die  Richtigkeit  des  Buchs  —  und  nach  einer 
Reihe  früherer  Gesetze  »gegen  Entgelt«  — 
ein  Recht  an  dem  Grundstück  oder  ein 
Recht  an  einem  solchen  Recht  durch  Rechts- 
geschäft erwirbt  (§  892  B.G.B,).  Das  Grund- 
bucli  ist  aber  auch  dann  unrichtig,  wenn 
Rechte,  welche  eintragungsfähig,  nicht  aber 
eintragungspflichtig  sind,  nicht  eingetragen 
sind.  Die  Kegel  bezieht  sich  also  weder 
auf  solche  Rechte,  welche  zu  ihrer  Ent- 
stehung der  Eintragung  bedurften,  aber  nicht 
eingetragen  wurden,  noch  auf  solche  Rechte, 
welche  ausserhalb  des  Buchs  entstehen, 
aber,  vne  die  Geldrente  für  das  Dulden 
eines  Ueberbaues  oder  eines  Notwegs 
(§§  914  u.  917  B.G.B.)  nach  der  Bestimmung 
des  Gesetzes  gar  nicht  eingetragen  werden 
dürfen.  In  beiden  Fällen  ist  das  Grundbuch 
richtig.  Denn  ein  zu  seiner  Entstehung  der 
Eintragung  bedürftiges,  aber  nicht  eingetra- 
genes Recht  besteht  überhaupt  nicht  und 
hat  also  auch  keinerlei  Wirlvsamkeit.  Ihm 
gegenüber  kann  von  gutem  Glauben  gar 
nicht  die  Rede  sein.  Zur  Aufnahme  von 
gar  nicht  eintragungsfähigen  Rechten  ande- 
rerseits ist  das  Grundbuch  nicht  bestimmt 
und  also  ebenfalls  nicht  unrichtig.  Wohl 
aber  unterliegen  der  Regel  Rechte,  welche 
an  einem  im  Buch  eingetragenen  Rechte 
bestellt  wurden,  ohne  ihrerseits  der  Ein- 
tragung zu  bedürfen  und  eingetragen  wor- 
den zu  sein ,  wie  z.  B.  das  Pfandrecht  an 
einer  Grund-  oder  Rentenschuld.  Wenn 
hier  der  Brief-,  Grund-  oder  Rentenschuld- 
gläubiger  seine  Grund-  oder  Rentenschuld 
durch  schriftlichen  Verpfändungsvertrag  und 
Uebergabe  des  Biiefes  (§§  1154  u.  1274) 
verpfändete,  wenn  darauf  der  After-Grund- 
oder Reutenschuldgläubiger  den  Brief  ver- 
lor, der  Verpfänder  aber  den  gefundenen 
Brief  an  sich  nahm  und  nun  seine  Grund- 


1278 


Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 


oder  Rentenschuld  einem  redlichen  Cessionar 
abtrat,  so  gilt  dem  letzteren  gegenüber  das 
Grundbuch  als  richtig;  das  nicht  eingetra- 
gene. Pfandrecht  an  der  Grund-  oder  Renten- 
schuld wirkt  ihm  gegenüber  also  nicht. 
Andere  Beispiele  bilden  der  Nicssbrauch 
oder  die  Sicherungshypothek,  welche  der 
Niessbraucher  oder  Pfandgläubiger  einer 
Forderung  auf  üebertragung  des  Eigentums 
an  einem  Grundstück  mit  der  Auflassung 
des  Grundstücks  an  den  Gläubiger  der  belaste- 
ten Forderung  erwerben  (§§  1075  u.  1287). 
"Weiter  wird  man  aber  auch  die  Regel  anwen- 
den müssen  auf  eingetragen  gewesene  eintrst- 
gungspflichtige ,  aber  zu  Unrecht  gelöschte 
Rechte.  So  ist  die  zu  Unrecht  gelöschte 
Hypothek,  Grund-  oder  Rentenschuld  durch 
die  unrechtmässige  Löschung  nicht  unterge- 
gangen ;  aber  gegen  den  redlichen  Erwerber 
des  Grundstücks  kann  sie  nicht  geltend  ge- 
macht werden.  (Vgl.  auch  §  47  Abs.  2  G.B.O.) 
Endlich  ist  die  besprochene  Regel  diu'ch 
§  892  Abs.  1  S.  2  .  auch  auf  die  zu  Gunsten 
einer  bestimmten  Person  an  eingetragenen 
Rechten  bestehenden  Verfügungsbeschrän- 
kungen  des  Berechtigten  ausgedehnt  (Vgl. 
oben  sub  3  vorletzten  Absatz.)  Weitei'en  in- 
direkten Zwang  kennt  das  Gesetz  nicht. 

5.  Die  Arten  der  Einschreibungen. 
Aus  den  bisherigen  Erörterungen  ergiebt 
sich,  dass  man  verschiedene  Arten  der  Ein- 
schreibungen zu  unterscheiden  hat,  nämlich : 

1.  Einsclireibungen  von  Rechtsverhält- 
nissen sowie  Veränderungen  ihres  subjekti- 
ven oder  objektiven  Bestandes  einer-  und  Ein- 
schreibungen rein  thatsäclüichen  Inhalts 
andererseits.  Zu  den  letzteren  gehören  z.  B. 
die  Notiz,  dass  die  Einschreibung  an  dem 
und  dem  Tage  erfolgt  ist,  dass  ein  Teil  des 
eingeschriebenen  Grundstücks  auf  ein  ande- 
res Blatt  übertragen  ist,  dass  das  einge- 
schriebene Grundstück  sich  aus  den  nälier  zu 
bezeichnenden  Bestandteilen  zusammensetzt, 
dass  es  einen  Wert  in  der  und  der  Höhe 
hat  u.  s.  w.  Die  Unterscheidung  ist  bedeu- 
timgsvoll,  weil  die  Einschreibung  von  Rechts- 
verhältnisseu  nur  auf  Antrag  zu  erfolgen 
hat,  während  die  rein  thatsächl Lehen  An- 
gaben auch  von  Amtswegen  einzutragen 
sind ,  z.  B.  das  Datum  der  Einsclu-eibung 
(S  45  G.B.O.),  die  Uel>erschreibuug  eines  zu 
belastenden  Grundstücksteüs  auf  ein  beson- 
deres Grundbuchblatt  (§  6  G.B.O.),  die  Ein- 
tragimg oder  Löschung  von  Widersprüchen 
(§§  18  Abs.  2,  23,  54,  7G  Abs.  2  G.B.O.). 
Uebrigens  können  ausnahmsweise  auch 
Rechtsverliältnisse  von  Amtswegen  einge- 
tragen werden,  z.  B.  die  Aendeiamg  oder 
Aufliebung  der  auf  dem  Blatt  des  berech- 
tigten Grundstücks  gebuchten  subjektiven 
dinglichen  Rechte  (§  8  Abs.  2  1.  c),  Vor- 
merkungen zu  Gunsten  der  mit  ihren  Ein- 
tragungsanträgcn  vorläufig  Zurückgewiesenen 


(§  18  Abs.  2  1.  c),  die  Mitbelastung  eines 
mit  einem  anderen  Grundstück  gemeinschaft- 
lich belasteten  Grundstücks  auf  dem  Blatt 
dieses  Grundstücks  (§  49 1.  c),  die  Eintragung 
eines  Nacherben  oderTestamentsvoDstreckers 
bei  der  Eintragung  des  Vorerben  oder  Erben 
(§§  52  u.  53).  Auch  findet  nur  auf  die  Ein- 
schreibung von  Rechtsverhältnissea  das  so- 
genannte Aonsensprincip  (vgl.  unten  sub  7)  und 
der  Grundsatz  des  öffentlichen  Glaubens  des 
Grundbuchs  (vgl.  unten  sub  6,  2)  Anwendung. 
Die  Grundbuchordnung  nennt  die  auf  den  ding- 
lichen Rechtszustand  bezüglichen  Einschrei- 
bungen ^»Eintragungen«.  Im  übrigen  redet 
sie  meistens  von  Vermerken. 

2.  Endgiltige  und  vorläufige  Eintragungen. 
Die  letzteren  sollen  endgiltige  Eintragungen 
vorbereiten,  indem  sie  ihnen  eine  bestimmte 
Stelle  im  Buch  sichern  imd  den  Missbrauch 
der  buchmässigen  Verfügungsbefugnis  eines 
formell  zu  Recht,  matenell  zu  Unrecht  Ein- 
getragenen abwenden. 

Nach  dem  Vorgang  der  §§  153,  177, 
289,  290,  298  und  299  Tit.  2  der  preussi- 
schen  Hypothekenordnung  vom  20.  Dezem- 
ber 1783  haben  nämlich  die  meisten  deut- 
schen Gesetzgebungen  (Preussen,  Bayern, 
Württemberg,  Weimar,  Oldenburg,  Coburg, 
Meiningen,  Braunschweig,  Anhalt,  Waldeck, 
Sondershausen,  Lippe)  zwei  Arten  von  Vor- 
merkungen unterscnieden ,  von  denen  die 
eine  zum  Schutz  bestehender  dinglicher 
Rechte,  die-  andere  zur  Sicherung  obligato- 
rischer Ansprüche  auf  Einräumung  oder 
Aufhebung  dinghcher  Rechte  bestimmt  war. 
Zu  der  ersteren  Klasse  gehörten  die  Vormer- 
kung zur  Erhaltung  des  Rechts  auf  Eintra- 
gung des  Eigentumsübergangs,  auf  Beseiti- 
gimg einer  nichtigen  Eintragung  des  Eigen- 
tumsübergangs, die  Vormerkung  zur  Erhal- 
timg des  Rechts  auf  Eintragung  eines  bereits 
bestehenden  dinglichen  Rechts,  z.  B.  des 
Niessbrauchs ,  einer  ReaUast,  endlich  die 
Vormerkung  auf  Löschung  eines  bereits  er- 
loschenen dinglichen  Rechts.  Im  letzter(*n 
Fall  soU  das  Eigentum  am  belasteten  Ob- 
jekt, speciell  die  Freiheit  des  Eigentums 
von  der  Belastung  gesichert  werden.  Zur 
letzteren  Klasse  gehören  die  Vormerkungen 
zur  Erhaltung  des  Rechts  auf  Eigentiuns- 
überti-agung ,  zur  Erhaltung  des  obligatori- 
schen Anfechtimgsanspruchs  der  Eintragung 
des  stattgehabten  Eigentumsübergangs,  die 
Vormerkung  zur  Erhaltung  des  Anspnu-hs 
auf  Hypothek-  oder  Grundschuldbestellung 
und,  wo  nach  gesetzlicher  Vorschrift  die 
Hypothek  oder  Grmidschuld  erst  durch 
Löschung  untergeht,  die  Vormerkung  auf 
Löschung  einer  Hypothek  oder  Gnmdschuld. 
Dabei  war  die  Terminologie  eine  durchaius 
verschiedene,  indem  diese  vorläufigen  Ein- 
tragungen bald  Protestationen,  bald  Vei^ 
Wahrungen,  in  OesteiTcich  v Pränotationen' , 


Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 


1279 


bald  Vormerkungen  genannt  wurden.  Das 
Biirgerliche  Gesetzbuch  führt  hier  eine  be- 
stimmte Terminologie  ein.  Es  unterscheidet: 

a)  Vormerkungen,  d.  h.  vorläufige  Ein- 
tragungen zum  Schutz  persönlicher  An- 
sprüche auf  Einräumung,  Aenderung  oder 
Aufhebung  eines  dinglichen  Rechts.  Ob 
diese  Ansprüche  betagt  oder  bedingt,  ob  sie 
von  einer  Gegenleistimg  abhängig,  gegen- 
wäi'tige  oder  zukünftige  sind,  ist  gleichgiltig. 
(§  883  B.G.B.). 

b)  Widersprüche  gegen  die  Richtigkeit 
des  Gnmdbuchs,  d.  h.  vorläufige  Eintn^n- 
gen,  dass  der  Inhalt  des  Grundbuchs  in 
Ansehung  eines  Rechts  am  Grundstück, 
eines  Rechts  an  einem  solchen  Recht  oder 
einer  Verfügungsbeschränkung  der  im  §  892 
Abs.  1  bezeichneten  Art  mit  der  wirklichen 
Rechtslage  nicht  im  Einklang  stehe  (§§  894 
und  899),  z.B.  auf  Grund  eines  gefälschten 
ErbenlegitJmationsattestes  ist  jemand  fälsch- 
lich als  Erbe  eingetragen,  oder  diu'oh  Ver- 
sehen des  Grundbuchrichters  ist  ein  be- 
grenztes dingliches  Recht  auf  dem  verkehr- 
ten Grundbuchblatt  eingetragen,  oder  ein 
dingliches  Recht  an  einem  fremden  Grund- 
stück ist  zu  Unrecht  gelöscht  worden  u.  s.  w. 
Demnach  dient  der  Widerspruch  zur  Siche- 
rung dinglicher  Rechte  oder  des  Eigentums 
gegen  die  Folgen  unrichtiger  Eintragungen. 

Sowohl  zu  a  als  b  besteht  die  Gefahr 
darin,  dass  derjenige,  gegen  den  der  obli- 
gatorische Anspruch  auf  Eintragimg  eines 
dinglichen  Rechts  geht,  oder  derjenige, 
zu  dessen  Gunsten  die  unrichtige  Eintra- 
gung lautet,  durch  seine  buclunässigen  Ver- 
fügimgen  die  Rechte  des  zu  einer  vorläu- 
figen Eintragung  Berechtigten  vereiteln  oder 
beeinträchtigen  Kann.  Der  erstere.  weil  sein 
Singularsuccessor  im  dinglichen  Recht  sich 
den  obligatorischen  Anspruch  auf  Eintragung 
eines  dinglichen  Rechts  nicht  gefallen  zu 
lassen  braucht,  da  nicht  er  diesen  Anspnich 
eingeräumt  hat,  der  letztere  vermöge  des 
öffentlichen  Glaubens  des  Buchs  (vgl.  unten  sub 
6,  2).  Beseitigt  wii-d  diese  Gefahr  durch  Ein- 
tragung eines  Widerspnichs ,  weil  diese  Ein- 
tragung den  öffentlichen  Glauben  des  Grund- 
buchs bricht.  Der  Erwerber  eines  Rechts 
kann  sich  nun  nicht  mehr  darauf  berufen, 
dass  er  den  Inhalt  des  Grundbuchs  als 
richtig  angesehen  habe  (§  892  Abs.  1  S.  1), 
und  rauss  sich  deshalb  die  Berichtigimg 
des  (jrundbuchs  gefallen  lassen.  Die  Em- 
ti'agimg  einer  Vormerkung  aber  schliesst 
die  Gefähitlung  des  vorgemerkten  obliga- 
torischen Anspnichs  um  deswillen  aus,  weil 
alle  hinterher  getroffenen  Verfügungen  dem 
Vorgemerkten  gegenüber  insoweit  unwirksam 
sind,  als  sie  den  Anspruch  beeinträchtigen 
oder  vereiteln  würden  (§  HS'd  Abs.  2  und  3). 
Die  Vonnerkung  ist  also  eine  dingliche  Be- 
lastung des  Grundstücks  des  Inlialts,  dass 


jeder  Erwerber  desselben  oder  dinglicher 
Rechte  an  ihm  die  zur  Verwirklichung  des 
vorgemerkten  Anspruchs  erforderliche  Ein- 
tragung sich  gefallen  lassen  muss;  er  muss 
seine  Zustimmung  zu  dieser  Eintragung 
geben  (§  888  Abs.  1),  vorausgesetzt  nur, 
dass  die  bisher  vorhandenen  Anstände  der 
definitiven  Eintragung  beseitigt  sind,  z.  B. 
der  Vorgemerkte  zur  Erbringung  der  ge- 
schiddeten  Ge^nleistung  bereit  und  im 
stände  ist.  Weil  die  Vormerkung  eine  ding- 
liche Belastung  ist,  so  wirkt  sie  auch  im 
Konkurse  dessen,  gegen  den  sie  geht  Auch 
ge]iört  der  Vorgemerkte  zu  den  an  der 
Zwangsvollstreckung  in  das  mit  der  Vor- 
merkung belastete  Grundstück  Beteiligten. 

Das  französische  Recht  kennt  etwas  einer 
vorläufigen  Eintragung  Aehnliches  überhaupt 
nicht. 

3.  Die  Eintragungen  sind  teils  recht- 
schaffende, teils  beurkundende.  Ersteies,  so- 
weit das  Eintragungsprincip  gilt,  sie  also 
erforderlich  sind  zum  Entstehen,  zur  Verände- 
rung oder  Endigung  von  Eigentum  oder 
dinghchem  Recht.  Letzteres,  soweit  es  sich 
um  Eintragung  von  ausserhalb  des  Buchs 
bereits  eingetretenen  dinglichen  Rechtswir- 
kungen handelt,  z.  B.  um  Eintragung  des 
durch  Eingehung  einer  gütergemeinschaft- 
lichen Ehe  erzeugten  Miteigentums  oder 
um  Eintragung  des  Cessionars  einer  recht s- 
giltig  abgetretenen  Briefhypotliek. 

6.  Wirkungen  der  Eintragnng.  Wenn 
nach  dem  Gesagten  (oben  sub  5, 3)  die  Eintra- 
gung rechtschaffend  wirken  kann,  so  folgt  da- 
1  raus  noch  keineswegs,  dass  sie  das  einzige  Er- 
fordernis der  Rechtsentstehung,  Vei'änderung 
oder  Endigung  ist.  Vielmehr  herrschen  in 
dieser  Beziehung  zwei  Systeme,  welche  man 
gewöhnlich  als  System  der  formalen  Rechts- 
kraft der  Eintragungen  und  als  System  des 
öffentlichen  Glaubens  des  Buchs  bezeichnet 

1.  Nach  dem  System  der  formalen 
Rechtskraft  wirkt  die  Eintragung  f  üi-  sich 
allein,  unabhängig  von  ihren  matenellrecht- 
lichen  Voraussetzungen,  die  in  ihr  angegebene 
Rechtsentstehung,  Veränderung  oder  Endi- 
gung. Sie  schafft  also,  wenn  sie  nur  form- 
gerecht ist,  ähnlich  wie  ein  rechtskräftiges 
Urteil  formales  Recht  Wer  z.  B.  auf  Grund 
eines  gefälschten  Erbenlegitimationsattestes 
als  Eigentümer  eines  Grundstücks  eingetra- 
gen wäre,  hätte  dadurch  Eigentum  am 
Grundstück  erlangt,  auch  wenn  er  gar  nicht 
Erbe  sein  sollte.  Hätte  der  Grundbuchlichter 
irrtümlich  eine  Hypothek  gelöscht,  so  hätte 
damit  der  Hypothekengläubiger  sein  Hypo- 
thekenrecht verloren. 

Dieses  System,  welches  Exner  auch  für 
das  österreichische  Recht  verteidigt  und 
welches  in  Hamburg,  Lübeck,  Mecklenburg 
und  dem  Königreich  Sachsen  galt,  gi-eift  in 
exorbitanter  Weise  in  das  materielle  Recht 


1280 


Hypotheken-  und  Griinclbuchwesen 


ein.  Denn  ein  bei  der  Eintragung  unter- 
laufender Verstoss  gegen  dasselbe  könnte 
nur  noch  zur  Begründung  eines  obligatori- 
schen Anspnichs  auf  Wiedergewähr  des 
dwTQh  die  Einti-agung  Verlorenen  gegen  den 
neu  Eingetragenen  auf  Grund  ungerechtfer- 
tigter Bereichening  führen  oder  nach  Lage 
des  Falles  auch  zu  einer  Schadensklage 
wegen  unerlaubter  Handlung.  Diese  persön- 
lichen Ansprüche  würden  aber  gegenüber 
Sondernachfolgern  des  zu  Unrecht  Einge- 
tragenen versagen  und  im  Konkurs  des 
Eingetragenen  nur  zur  Anteilnahme  an  der 
Konkursdividende  fiihren.  Auch  müsste  die 
pei-söuliche  Klage  die  vor  der  Wiederge- 
währ des  Verlorenen  von  dem  neu  Einge- 
tragenen zu  Gunsten  Dritter  vemnlassten 
Eintragungen  unbeiülurt  lassen,  ohne  Rück- 
sicht auf  guten  oder  schlechten  Glauben. 
Weiter  aber  würde  die  Rechtsunsicherheit 
für  den  Grund  Stücks  verkehr  bei  diesem 
Systeme  nicht  gehoben,  sondern  nur  an  eine 
andere  Stelle  verlegt.  Zwar  wäre  nach  dem 
System  der  formalen  Rechtskraft  für  den, 
welcher  bezüglich  des  Erwerbes  eines  Grund- 
stücks oder  dinglicher  Rechte  daran  erst  in 
Verhandlungen  eintreten  wollte,  das  Grund- 
buch durchaus  sicher.  Denn  jeder  Zwiespalt 
zwischen  Buchrecht  und  materiellem  Recht 
wäre  vermieden,  weil  eben  jeder  Buchbe- 
rechtigte auch  materielles  Recht  erworben 
hätte.  Aber  sobald  die  Eintragung  erfolgt 
wäre,  so  begänne  nun  für  den  Eingetragenen 
die  Rechtsunsicherheit  wegen  der  Gefalir, 
durch  eine  rechtswidrige,  wenn  nur  form- 
giltige  "weitere  Eintragung  ahnungslos  seines 
Rechts  verlustig  zu  gehen.  Deshalb  ist  un- 
bedingt vorzuziehen : 

2.  Das  System  des  öffentlichen 
G 1  a  u  b  e  n  s  d  e  s  B  u  c  h  s.  Dassel  be  hat  bisher 
schon  in  den  meisten  deutschen  Staaten,  einer- 
lei, ob  sie  Gnuid-  oder  Hypothekenbücher 
hatten  (Preussen,  Bayern,  Württemberg,  W^ei- 
mai*,  Oldenburg,  Braunschweig,  Coburg,  Alten- 
burg, Meiningen,  Anhalt,  Lippe,  Schwarzbiu'g- 
Sondershausen)  gegolten  und  ist  auch  von 
der  Gesetzgebung  des  Deutschen  Reichs 
angenommen  worden.  Danach  gilt  das 
Grundbuch  für  richtig  zu  Gunsten  desjeni- 
gen, der  in  Unkenntnis  seiner  Unrichtigkeit 
durch  Rechtsgeschäft  ein  Recht  an  einem 
Grundstück  oder  ein  Recht  an  solchem 
Rechte  erworben  hat,  es  müsste  denn  ein 
Widerspmch  gegen  die  Richtigkeit  eingetra- 
gen sem  (§  892).  Die  Eintragung  wirkt 
danach  also  nur  in  Verbindvuig  mit  den  ma- 
terieilrechtlichen Voraussetzungen  der  Reclits- 
entstehung,  Aenderung  oder  Eudigung.  Sind 
diese  nichtig,  so  ist  es  auch  die  Eintragimg, 
sind  sie  nur  anfechtbar,  so  ist  auch  die  Eintra- 
gung der  Anfechtung  mit  rückwirkender  Kraft 
unterworfen.  Aber  —  und  dies  ist  die  dem 
System  des  öffentlichen  Glaubens  des  Buchs 


innewohnende  Eigentümlichkeit  —  die  Nich- 
tigkeit oder  Anfechtbarkeit  kann  nicht  gel- 
tend gemacht  werden  gegenüber  demjenigen, 
welcher  Rechte  erworben  hat  im  Vertrauen 
auf  die  Richtigkeit  der  zur  Zeit  des  Er- 
werbes bereits  vorhandenen  formgiltigen 
Eintragungen.  Der  Käufer  eines  Grund- 
stücks also,  welcher  in  Unkenntnis  davon, 
dass  der  Verkäufer '  auf  Grund  eines  ge- 
fälschten Erbscheins  im  Grundbuch  als 
Eigentümer  steht,  die  Auflassung  des 
Grundstücks  und  seine  Einti-agimg  als  Eigen- 
tümer erlangt  hat,  ist  gegen  aDe  Anspriiche 
des  wahren  Erben  hinsichtlich  des  verkauf- 
ten Grundstücks  gesichert.  Ebenso  könnte 
ihm  das  Gnmd  stück  nicht  wieder  abge- 
nommen werden,  wenn  er  dasselbe  von  dem 
eingetragenen  Erbscheinsfälscher  geschenkt 
und  aufgelassen  erhalten  haben  sollte.  Denn 
das  Bürgerliche  Gesetzbuch  macht,  um  die 
Zuverlässigkeit  des  Buchs  nicht  abzuschwä- 
chen, im  Gegensatz  zu  der  bisherigen  Ge- 
setzgebung Pi-eussens,  Bayerns,  Wüittem- 
bergs,  Anlialts,  keinen  Unterschied,  ob  der 
redliche  Erwerber  entgeltlich  oder  unentgelt- 
lich erwarb.  Immerhin  ist  auch  nach  dem 
Bürgerlichen  Gesetzbuch  der  imentgeltliche 
Erwerber  insofern  schlechter  gestellt  wie 
der  entgeltliche,  als  der  diu-cli  den  öffent- 
lichen Glauben  des  Buchs  Benachteiligte 
einen  Anspruch  wegen  ungerechtfeitigter  Be- 
reicherung gegen  ihn  hat  (§  816  Abs.  l 
S.  2).  Dehnt  so  das  Bürgerliche  Gesetzbuch 
das  Princip  des  öffentlichen  Glaubens  des 
Buchs  aus,  so  beschränkt  es  andei-ei-seits 
dasselbe  auf  den  i-echtsgeschäftlichen  Er- 
werb, zu  dem  aber  auch  der  Erwerb  dm*ch 
Urteil  gemäss  §  894  C.P.O.  zu  rechneu  ist 
(wenn  der  eingetragene  Schuldner  zur  Ein- 
willigung in  eine  Rechtsänderung  rechts- 
kräftig verurteilt  wurde).  Wer  also  z.  B. 
mit  dem  als  Eigentümer  eines  Gnuidstücks 
Eingetragenen  eine  gütergemeinschaftliche 
Ehe  eingeht,  dem  nützt  der  öffentliche 
Glaube  des  Grundbuchs  nichts.  Ebensowenig 
nützt  das  Princip  beim  Erwerb  der  eheliciieu 
oder  elterlichen  Nutzniessung.  T)i\s  gleiche 
gilt  für  den  imWegederZwaugsvoUstreekuiig 
sich  vollziehenden  Erwerb,  z.  B.  der  Ueber- 
weisung  einer  Hypothekenfoixlerung  zur 
Einziehung  oder  an  Zalilungsstatt ,  bei  der 
Judikatshypothek  etc.  Diese  Einsclu-äukuu^ 
rechtfertigt  sich  aus  der  Erwägung,  da^s 
der  öffentliche  Glaube  den  auf  Grundsfucke 
bezüglichen  Verkehr  sichern  soll,  und 
folglich  nur  bei  dem  durch  Verkehrs- 
g  e  s  c  li  ä  f  t  e  vennittelten  Ei'werb  angewen- 
det werden  kann. 

'  Ausser  der  bisher  bespi'ochenen  Gai^aiitie 
I  der  Richtigkeit  der  Voreintragungen  gewälu-t 
I  das  Princip  des  öffentlichen  Glaul>eus  auch 
'  die  Garantie  der  Vollständigkeit  des  ßmlis 
!  (vgl.  darüber  oben  sub  4,  2,  B,  c). 


Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 


1281 


Der  Glaube  des  Buchs  bezieht  sich  nur 
auf  die  Rechtsverhältnisse,  welche  im  Buch 
eingetragen  stehen,  oder,  soweit  es  sich  um 
die  Garantie  der  Vollständigkeit  handelt, 
eintragungsföhig  sind,  ohne  eintragungspflich- 
tig zu  sein.  Auf  thatsächliche  Angaben 
—  z.  B.  Grösse  des  Grundstücks  oder  Bo- 
nität der  Bodenklasse  bezieht  sich  der 
öffentliche  Glaube  des  Buchs  nicht.  Auch 
beschränkt  er  sich  nach  Hypothekenbuch- 
system  auf  den  Erwerb  von  Hypotheken 
und  eintragimgsfähigen  Rechten  an  ihnen 
sowie  der  Befreiung  von  Hypotheken  und 
an  ihnen  eingetragenen  Rechten. 

Den  öffentlichen  Glauben  geniesst  nur 
das  Buch :  es  kommt  also  nicht  zu  den  Grund- 
akten, nicht  den  über  die  erfolgte  Eintragimg 
ausgefertigten  Urkunden.  Der  Cessionar 
einer  Briefhypothek  oder  Briefgrundschuld 
kann  sich  also  nicht  darauf  berufen,  dass 
nach  dem  Brief  die  erworbene  Hypothek 
auf  30000  Mark  laute,  während  nur  20000 
im  Grundbuche  eingetragen  stehen.  Geht 
jedoch  aus  dem  Hypothekenbrief  oder  einem 
auf  ihm  befindlichen  Vermerk  die  Unrichtig- 
jteit  des  Gnmdbuchs  hervor  oder  befindet 
sich  auf  dem  Brief  ein  Widerspruch  gegen 
die  Richtigkeit  des  Grundbuchs,  so  ist  die 
Berufung  auf  den  öffentlichen  Glauben  des 
Buchs  ausgeschlossen  (§  1140).  Wenn  also 
z.  B.  die  im  Grundbuch  stehende  Eintragimg 
auf  eine  Darlehnsh ypothek  von  50  000  Mark 
lautet,  während  auf  dem  darüber  ausgestell- 
ten Hypothekenbrief  eine  Bekenntnis  des 
Cedenten  über  eine  erfolgte  Teilzahlung 
von  10000  Mark  sich  findet,  so  kann  der 
Cessionar  sich  nicht  darauf  berufen,  dass  er 
von  der  Teilzahlung  nichts  gewusst  habe 
und  also  50000  Mark  erlangen  kann,  weil 
die  Eintragung  im  Buch  auf  diese  Summe 
laute. 

Das  zu  1  bespixxihene  Princip  der  for- 
malen Rechtskraft  greift  danach  \iel  weiter 
als  das  des  öffentlichen  Glaubens.  Ersteres 
schützt  jeden  Nehmer  einer  Eintragimg, 
letzteres  nur  den  redlichen  Singularsuccessor, 
einerlei  allerdings,  ob  derselbe  im  Buch 
eingetragen  wird  oder  nicht.  Das  Princip 
der  Rechtskraft  deckt  weiter  auch  die  ma- 
terieUrechtüche  Mangelhaftigkeit  der  eigenen 
Eintragung  des  Rechtserwerbei-s ;  derGnmd- 
satz  des  öffentlichen  Glaubens  deckt  nur  die 
materiellrechtlichen  Mängel  der  Yoreintra- 
gungen,  nicht  die  materiellrechtliche  Mangel- 
haftigkeit des  eigenen  Erwerbsgeschäfts 
dessen,  der  sich  auf  den  öffentlichen  Glauben 
beruft. 

Dem  französischen  Recht  fehlt  jede 
Ausbildung  der  Publicität  nach  dieser  Rich- 
tung hin. 

Eine  weitere  Wirkung  der  Eintragun- 
gen ist 

3.  Die  Vermutung  ihrer  Richtig- 

Uandwörterbuch  der  Staatswissenschaften.   Zweite 


k  e  i  t.  Eintragungen  liaben  die  Vermutung  für 
sich,  dass  dem  als  berechtigt  Eingetragenen  das 
Recht  zustehe  oder  dass  das  ^öschte  Recht 
nicht  bestehe  (§  891).  Die  Vermutimg  be- 
zieht sich  also  nur  auf  eingetragene  oder 
gelöschte  Rechte,  nicht  auf  andere  Angaben 
des  Buchs.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  um 
die  Beweiskraft  einer  öffentlichen  Urkunde 
nach  den  Vorschriften  der  Prozessordnung 
(§§  415,  417  und  418  C.P.O.),  sondern  um 
eine  Rechtsvermutung  für  die  Richtigkeit 
des  Inhalts  der  Eintragung,  welche,  weil 
nicht  auf  blosse  Thatsachen  beschränkt,  über 
§  292  CP.O.  hinausgeht.  Sie  lässt  also 
den  Gegenbeweis,  aber  nicht  immer  durch 
Eideszuschiebung,  zu.  Diese  Rechtsver- 
mutung kann  nur  in  denjenigen  Gesetzen 
aufgestellt  werden,  welche  den  Grundsatz 
der  formalen  Rechtskraft  der  Eintragung 
verwerfen.  Denn  die  Annahme  dieses  Gnmd- 
satzes  macht  die  Rechtsvermutung  über- 
flüssig und  ersetzt  sie  durch  die  unumstöss- 
liche  Gewissheit  der  Richtigkeit.  Anderer- 
seits deckt  sich  die  Vermutung  der  Richtig- 
keit keineswegs  mit  dem  Grundsatz  des 
öffentlichen  Glaubens  des  Buchs.  Denn  der 
öffentliche  Glaube  wii'kt  nur  zu  Gunsten 
des  gutgläubigen  Nehmers  einer  Eintragung 
oder  sonstigen  rechtsgeschäftlichen  Erwerbers 
eines  Rechts  am  Grundstück,  die  Vermutung 
der  Richtigkeit  aber  kommt  auch  dem 
schlechtgläubigen  Nehmer  einer  Eintragung 
zu  statten.  Weiter  kommt  die  Präsumtion 
der  Richtigkeit  der  Eintragimg  des  Nehmers 
selbst  zu,  während  der  öffentliche  Glaube 
nur  die  Voreintragimgen  deckt,  auf  welche 
der  Erwerb  dessen,  der  sich  auf  den  öffent- 
lichen Glauben  benift,  sich  stützt.  Endlich 
lässt  die  Präsumtion  der  Richtigkeit  den 
Gegenbeweis  zu,  wälirend  der  öffentliche 
Glaube  des  Buchs  die  Fiktion  der  Richtigkeit 
der  Voreintragungen  zu  Gunsten  des  auf 
den  öffentlichen  Glauben  sich  Stützenden 
enthält,  den  Gegenbeweis  also  ausschliesst. 

In  den  bisherigen  Landesgesetzen  ist, 
soviel  ich  weiss,  nirgends  eine  allgemeine 
Präsumtion  für  die  Richtigkeit  der  Ein- 
tragungen aufgestellt  gewesen.  Das  preussi- 
sche  Recht  (§  7  des  Eigentumserwerbsgesetzes) 
z.  B.  kennt  die  Vermutung  nur  zu  Gunsten 
des  eingetragenen  Eigentümers,  ebenso 
Art.  26  des  hessischen  G.  v.  21.  März  1852. 
Die  Bedeutung  der  erst  vom  Bürgerlichen 
Gesetzbuch  aufgestellten  allgemeinen  Rechts- 
vermutunp  ist  aber  folgende: 

Sie  wirkt  für  und  gegen  den  Eingetra- 
genen sowde  seinen  Erben.  Demgemäss 
genügt  die  Eintragung,  um  im  Prozess  die 
Aktiv-  oder  Passivlegitimation  zu  erbringen. 
Der  als  Eigentümer  Eingetragene  kann  sich 
also,  um  die  Vindikation  anstellen  zu  können, 
einfach  auf  seine  Eintragung  berufen.  Sache 
des  Beklagten  ist  es,  den  Nachweis  ilirer 

Auflage.    IV.  81 


1282 


Hypotheken-  und  Grundbuch wesen 


Unrichtigkeit  zii  führen.  Aber  auch  um 
den  eingetragenen  Eigentümer,  etwa  mit 
der  Hypothekenklage,  verklagen  zu  können, 
genügt  der  Umstand,  .dass  der  Beklagte  im 
Gnmdbuch  als  Eigentümer  steht,  so  lange 
der  letztere  nicht  nachweist,  dass  er  zu 
Unrecht  eingetragen  wurde.  ITebrigeDS  hat 
die  Vermutung  der  Richtigkeit  auch  ihre 
Kehrseite.  A\er  den  eingetragenen  Eigen- 
tümer, lediglich  auf  dessen  Eintragung  ge- 
stützt, verklagt,  führt  möglicherweise  einen 
vergeblichen  rrozess.  Denn  wenn  der  Ver- 
klagte venirteilt  wurde,  weil  er  den  Gegen- 
beweis der  Unrichtigkeit  der  Eintragimg 
nicht  unternahm,  so  wird  dieses  Urteil  gegen- 
über dem  wahren  Eigentümer  nicht  rechts- 
kräftig. Die  Präsumtion  gilt  bei  der  Brief- 
hypothek oder  Grundschuld  selbvSt  dann, 
w'enn  die  Uebergabe  des  Briefes  an  den  als 
Gläubiger  Eingetragenen  noch  nicht  erfolgt 
sein  sollte  (§  1117).  Zum  Gegenbeweis  ge- 
nügt aber  der  Nachweis,  dass  die  Ueber- 
gabe des  Briefs  nicht  erfolgte.  Aber  nicht 
nur  im  Prozess  ist  die  Vermutung  der 
Richtigkeit  wichtig.  Wer  die  Subhastaüon 
eines  Grundstücks  beantragen  will,  braucht 
auch  nur  nachzuweisen,  dass  der  Subhastat 
im  Grmidbuch  als  Eigentümer  eingetragen 
ist.  Vor  fidlen  Dingen  aber  hat  die  Prä- 
sumtion auch  Bedeutung  für  den  Verkehr 
mit  der  Buchbehörde;  denn  sie  legitimiert 
den  als  berechtigt  Eingetragenen  zu  buch- 
mässigen  Verfügungen.  Auch  für  die  Brief- 
hypothek ist  dabei  die  Vorlegung  des  Briefs 
nur  ordnungshalber  vorgeschrieben  (§  42 
G.B.O.).  Auch  das  französische  Recht  kennt 
etwas  der  Vermutung  der  Richtigkeit  Aehu- 
liches.  Denn  so  lange  die  Insfaiption  be- 
steht, kann  der  Inskribierte  sein  Vorrecht 
ausüben  vorbehaltlich  des  von  seinem  Geg- 
ner zu  führenden  Gegenbeweises,  dass  das 
Vorrecht  materiell  nicht  bestehe,  weil  z.  B. 
die  gesicherte  Forderung  erloschen  sei. 

4.  Ansprüche  aus  eingetragenen  oder 
durch  Widerspnich  gesicherten  Rechten  sind 
dem  Untergang  durch  Veijälirung  entzogen 
(§  902),  selbst  wenn  der  Inhaber  dieses 
Rechts,  z.  B.  der  Erbe  der  eingetragenen 
Grundschuld,  nicht  eingetragen  sein  sollte. 
Auch  dieser  Grundsatz  hat  bisher  in  Deutsch- 
land keineswegs  allgemein  gegolten.  Seine 
Aufstellung  entspricht  aber  dem  Interesse 
an  Erhaltung  eines  den  wirklichen  Rechts- 
zustand abspiegelnden  Buches.  Dies  um 
so  mehr,  als  in  dem  Eingetragensein  des 
Rechts  im  Buch  eine  fortwährende  Bethäti- 
gung  desselben  liegt,  von  einer  Veijähning 
d.  h.  einem  Untergang  durch  fortgesetzte 
Nichtbethätigung  also  gar  keine  Rede  sein 
kann.  Auch  die  Einti-agung  eines  Wider- 
spruchs bringt  das  ausserhalb  des  Buchs 
bestehende  dingliche  Recht  zur  (leltung, 
enthält    also    eine    Bethätigung    desselV)en. 


Dagegen  gilt  der  gleiche  Grundsatz  nicht 
für  die  Vormerkungen.  Sie  sollen  obligato- 
rische Ansprüche  sichern.  Die  Vormerkung 
rügt  also  keineswegs  einen  Zwiespalt  zwischen 
dem  im  Buch  verlautbarten  und  dem  in 
Wahrheit  bestehenden  dinglichen  Rechts- 
zustand. Desw^egen  besteht  Kein  Intei-esse, 
den  vorgemerkten  obligatorischen  Anspnich 
der  Verjährung  zu  entziehen.  Ist  also  der- 
selbe veriährt,  so  ist  die  Vormerkung  da- 
durch erledigt  und  kann  ihre  Beseitigung 
verlangt  weisen. 

Nach  dem  Gesagten  sind  nur  die  An- 
sprüche aus  eingetragenen  Rechten  und 
Widersprüchen  unverjährbar ,  keineswegs 
werden  diese  Rechte  selbst  für  unverjährbar 
erklärt.  Denn  das  Bürgerliche  Gesetzbuch 
kennt  nur  eine  Verjährung  der  Ansprüche 
(§  194).  Aber  nicht  einmal  alle  Ansprüche 
aus  eingetragenen  Rechten  sind  unverjähr- 
bar. Ausgenommen  sind  nämlich  die  An- 
sprüche auf  Rückstände  wiederkehrender 
Leistungen  aus  eingetragenen  Rechten  (Zin- 
sen, Reallastraten  etc.),  auf  Schadeaei-satz 
und  nach  §  223  diejenigen  Ansprüche,  für 
welche  eine  Hypothek  bestellt  ist.  Das 
Hypothekrecht  selbst  ist  also,  wie  jedes 
dingliche  Recht,  der  Verjährung  ent- 
zogen, selbst  wenn  die  Forderung,  füi- 
welche  die  Hypothek  bestellt  wurde,  ver- 
jährt sein  sollte  —  es  mü&ste  sich  demi 
um  eine  Sicheningshj'pothek  handeln,  bei 
welcher  wegen  ilires  streng  fiM3ce8sorischen 
Charakters  der  Einwand  der  Forderungs- 
verjährung auch  gegenüber  der  Hypotheken- 
klage zugelassen  werden  muss  (§  11<S4).  — 
Auf  der  anderen  Seite  sind  also  Ansprüche 
aus  nicht  eingetragenen  Rechten  verjälirbar. 
Aber  das  B.G.B.  geht  noch  weiter,  indem 
es  mit  eingetretener  Veijälirung  der  An- 
sprüche auch  das  nichteingetragene  Recht 
selbst  für  erloschen  erklärt,  eineilei,  ob  es 
nicht  eingetragen  war,  w^eil  es  kraft  (jesetzes 
entstanden  oder  weil  es  zu  Unrecht  ^löscht 
war  (§  901).  Auch  hierin  liegt  ein  Moment 
indirekten  Zwanges,  sich  eintragen  zu  Ifiissen. 
Ausnahmsweise  endlich  unterliegt  auch  ein 
Anspruch  aus  einem  eingetragenen  Recht 
der  Verjähning  (§  1028  Abs.  1). 

Nach  österreichischem  Recht  entzieht  die 
Eintragung  das  eingetragene  Recht  nicht 
der  Verjährung.  Vielmehr  bildet  die  Ver- 
jährung einen  Löschungstitel.  Bis  zur 
Löschung  aber  geniesst  das  verjälirte  Recht 
den  Schutz  des  öffentlichen  Glaubens  des 
Buchs  und  hindert  auch  das  Vorrücken 
nachstehender  Rechte.  Nach  franz(>sischem 
Recht  verliert  sogar  jede  Inskiiption  ihn^ 
Wirkung,  wenn  sie  nicht  innerhalb  10  Jahren 
von  ihi-em  Datum  an  erneuert  w4rd. 

T).  Nach  Grundbuchsystem  schützt  die 
Eintragung  als  Eigentümer  denEingeti-ageuen 
gegen  die  Ersitzung.    Denn  woUte  man  die 


Hyi:>othekeu-  und  CrnuKlbiiclnvesen 


1283 


Ersitzung  zulassen,  so  würde  durnh  die 
vollendete  Ei'sitzung  eine  Differenz  zwischen 
dem  buehmässigen  Anschein  und  der  Wirk- 
lichkeit sich  einstellen,  indem  ein  anderer 
im  Buch  als  Eigentümer  eingetragen  ständö, 
ein  anderer  aber  Eigentümer  wäre  (so- 
genannte Duplicität  des  Eigentums).  Das 
Bürgerliche  Gesetzbuch  erkennt  die  Er- 
sitzung von  Grundstücken  überhaupt  nicht 
mehr  an,  während  das  österreichische  Recht 
gegen  den  eingetragenen  Eigentümer  doch 
noch  die  ausserordentliche  Ersitzung  zu- 
lässt. 

7.  Die  Rangordnung  der  eingetrage- 
nen Rechte.  Weirn  mehrere  dingliche 
Rechte  an  demselben  Gnmdstück  zusammen- 
treffen, so  fi-agt  es  sich,  welches  von  ihnen 
dem  anderen  vorgeht.  Besonders  bedeutungs- 
voll wird  diese  Frage,  wenn  die  konkurrieren- 
den Rechte  Anspruch  auf  Befriedigimg  aus 
dem  Erlös  des  Gnmdstücks  gewähren  und 
der  Erlös  zur  vollen  Befriedigung  aller 
Rechte  nicht  ausreicht.  Soll  das  Buch  die 
dinglichen  Rechtsverhältnisse  veröffentlichen, 
so  muss  es  auch  über  deren  Rangordnung 
Auskunft  geben.  Dabei  handelt  es  sich  nach 
Hypothekenbuch-  und  Inskriptionssystem 
nur  um  die  Rangordnung  der  Hypotheken 
untereinander,  während  nach  Grundbuch- 
system auch  das  Rangverhältnis  von  Hy- 
I)otheken  und  Gnmdschulden  untereinander 
und  zu  anderen  dinglichen  Rechten  — 
Reallasten ,  Niessbrauchsrechten ,  Grund- 
gerechtigkeiten,  Erbbaurechten  etc.  —  in 
Betracht  kommt. 

Sieht  man  zunächst  von  der  Buchein- 
richtimg ab,  so  ergiebt  sich,  dass  die  Rechte 
an  fremder  Sache,  weil  das  Eigentum  be- 
schränkend, stets  dem  letzteren  vorgehen. 
Andererseits  kann  niemand  mehr  Recht  auf 
einen  anderen  übertragen,  als  er  selbst  hat. 
Daraus  folgt,  dass  der  Eigentümer  einer 
bereits  mit  einem  dinglichen  Recht  be- 
lasteten Sache  ein  weiteres  dingliches  Recht 
an  derselben  nur  unbeschadet  des  bereits 
bestehenden  bestellen  kann.  Nach  materiellem 
Recht  gelangt  man  also  zu  dem  Satz,  dass 
unter  mehreren  dinglichen  Rechten  an  der- 
selben Sache  das  ältere  dem  jüngeren  vor- 
geht. Der  Umstand,  dass  das  Bürgerliche 
Gesetzbuch  das  fehlende  Recht  des  Autors 
<liirch  den  guten  Glauben  des  ErvÄ^erbers 
in  ausgedehntem  Masse  ersetzen  lässt,  ändert 
an  dem  Satz,  dass  niemand  mehr  Recht 
übeiti'agen  kann,  als  er  selbst  hat,  selbst- 
verständlich nichts.  Denn  die  Grundlage 
des  Rechtsenverbes  bei  fehlendem  Recht 
des  Autors  ist  lediglich  der  gute  Glaube  des 
Erwerbers. 

Auch  in  diese  Grundsätze  \iber  die  Rang- 
ordnung mehrerer  Rechte  an  derselben  Saclie 
greift  nun  die  Bucheinrichtung  ein.  Und 
zwai'    liaben    sich    in    Deutsclüand     zwei 


Svsteme,   das  der  zeitlichen    und  das  der 
Örtlichen  Priorität,  ausgebildet. 

1.  Nach  dem  ersten  System  hat  bei 
Eintragiuigen ,  welche  Vorbedingung  der 
Rechtsentstehung  sind,  die  zeitlich  frühere 
Eintragung  den  Yoraug  vor  der  späteren, 
sollten  auch  die  sonstigen  Yorbedingungeu 
der  Rechtsentstehung  bei  einem  später  ein- 
getrag'cnen  Recht  früher  vorhanden  gewesen 
sein.  Z.  B.  A  bewilligt  am  1.  Februar  dem 
B,  am  2.  dem  C  eine  Hypothek  an  dem- 
selben Grundstück.  Wird  hier  die  später 
bewilligte  Hypothek  früher  eingetragen,  so 
geht  sie  der  früher  bewilligten  vor.  —  Bei 
Eintragungen,  welche  nicht  sowohl  Vor- 
bedingung der  Rechtsentstehung  als  viel- 
mehr nur  der  Rechtswirksamkeit  des  ausser- 
halb des  Buchs  entstandenen  Rechts  gegen- 
über dritten  Personen  sind,  bestimmt  sich 
das  Alter  des  Rechts  z>\'ischen  Besteller 
und  dessen  üniversalsuccessoren  einereeits 
sowie  dem  ersten  Erwerber  und  dessen 
Üniversalsuccessoren  andererseits  nach  dem 
Zeitpunkt,  in  welchem  die  Bedingungen  der 
Rechtsentstehung  sämtlich  vorhanden  waren, 
aber  allen  anderen  Personen  gegenüber  gilt 
es  als  erst  mit  dem  Zeitpunkt  der  Ein- 
ti'agung  entstanden.  Diejenigen  Eintragimgen 
endlich,  welche  ausserhalb  des  Buchs  ent- 
standene dingliche  Rechte  lediglich  be- 
urkunden, rangieren  an  sich  nach  dem  Alter 
ihrer  Entstehung  ausserhalb  des  Buchs,  und 
nur  Personen,  denen  der  öffentliche  Glaube 
des  Buchs  zu  gute  kommt,  dürfen  bean- 
spruchen, dass  sie  ihnen  gegenüber  erst 
nach  dem  Datum  der  Eintragung  rangieren. 
Wo  immer  aber  das  Datum  der  Einti*agung 
den  Rang  bestimmt,  da  haben  unter  gleichem 
Datum  eingetragene  Rechte  gleichen  Rang, 
oder  es  entscheidet  unter  ihnen  die  örtliche 
Reilienfolge  der  Eintragungen.  Diese  Art, 
die  Rangordnung  zu  regeln,  trägt  dem 
Wesen  des  dinglichen  Rechts  am  meisten 
Rechnung.  Sie  gilt  in  Frankreich  für  die 
Unterpfänder  unter  einander,  während  die 
chiregrapliarischen  Gläubiger  den  Unter- 
pfandsgläubigern stets  nachgehen,  und  war 
auch  in  Bayern,  Württemberg,  Hessen, 
W^eimar,  Altenburg,  Reuss,  Rudolstadt  aner- 
kannt. Nach  österreichischem  Gnindbuch- 
gesetz  soll  sich  die  Priorität  schon  nach 
dem  Zeitpunkt  der  Ueberreichung  des  An- 
trags auf  Eintragung  bei  der  Behörde  richten, 
was  gewiss  dem  Gnindsatz  der  Publicität 
zuwider  ist.  Denn  nach  ihm  kann,  w^enn 
natürlich  auch  die  Buchbehörde  verpflichtet 
ist,  die  Eintragungen  in  derselben  Zeitfolge 
vorzunehmen,  in  welcher  die  Antrage  auf 
Eintragung  eingegangen  waren,  bei  Rechten, 
deren  Entstehung  von  der  Eintragung  ab- 
hängig ist,  über  den  schliesslichen  Rang 
nur  das  Datum  der  Eintragung  entscheiden, 
nicht  dasjenige  der  Anmeldung  ziu*  Eintragung. 

81* 


1284 


Hypotheken-  und  Gnmdbucliweseu 


2.  Das  System  der  örtlichen  Priorität, 
auch  Locnspriacip  genannt.  Nach  ihm  soll 
sich  die  Rangordnung  unter  mehreren  Rech- 
ten an  demselben  Grundstück  nach  der  ört- 
lichen Reihenfolge  der  Eintragungen  im 
Buch  richten.  Prior  loco,  potior  iure.  Auf 
diesem  Standpunkt  standen  Preussen,  die 
Staaten,  welche  der  preussischen  Grundbuch- 
gesetzgebung gefolgt  sind,  das  Königreich 
Sachsen,  die  beiden  Mecklenburg,  Hamburg 
und  Lübeck.  Auch  das  Bürgerliche  Gesetz- 
buch nimmt  diesen  Standpunkt  ein  (§  879). 
Jedoch  kann  sich  der  Grundsatz  nur  be- 
ziehen auf  solche  Rechte,  die  zu  ihrer  Ent- 
stehung der  Eintragung  bedürfen.  Werden 
Rechte  eingetragen,  welche  ausserhalb  des 
Buchs  entstanden  sind  (z.  B.  §§  1075  u.  1287 
S.  2),  so  richtet  sich  der  Rang  dieser  Rechte 
lediglich  nach  der  Zeit  ihrer  Entstehung. 
Auch  reicht  der  Grundsatz:  prior  loco  po- 
tior iure  nur  dann  aus,  wenn  es  sich  um 
Eintragungen  derselben  Abteilung  des  Grund- 
buchs handelt.  Wenn  das  Gnindbuch,  wie 
es  auch  in  Bayern  der  Fall  sein  wii^d 
(Justiz-Min.,  Bekanntmachung  u.  12.  Novem- 
ber 1898),^  in  der  IH.  Abteilung  niu*  die 
Hypotheken  und  Gnindschulden  und  in  der 
II.  Abteilung  alle  übrigen  Rechte  enthält, 
so  muss  der  Rang  der  Eintn^mgen  ver- 
schiedener Abteilimgen  sich  wiederum  nach 
dem  Datum  der  Eintragungen  richten.  Da- 
bei haben  Rechte  desselben  Eintragungs- 
datums gleichen  Rang.  Gesetzliche  Rang- 
privilegien erkennt  das  Bürgerliche  Gesetz- 
buch nur  an  für  die  Geldrente  beim  üeber- 
bau  und  beim  Notweg.  Sie  hat  den  Rang 
vor  allen  Rechten  am  belasteten  Grundstück 
(§§  914  Abs.  1  u.  916). 

Diese  gesetzliche  Rangordnung  unter  1  und 
2  beruht  auf  ergänzenden  Rechtssätzen.  Es 
ist  also  eine  abweichende  Bestimmung  des 
Rangverhältnisses  möglich,  welche  aber  nach 
dem  Bürgerlichen  Gesetzbuch  nur  dann  gilt, 
wenn  sie  im  Buche  steht  (§  879  Abs.  3). 
Diese  abweichende  Bestimmimg  kann  erfol- 
gen entweder  einseitig  diu'ch  den  Gläubiger 
oder  durch  Vertrag  zweier  Gläubiger,  wo- 
bei jedoch  in  beiden  Fällen,  wenn  es  sich 
um  das  Zurücktreten  einer  Hypothek  oder 
Grundschuld  handelt,  auch  der  Grundstücks- 
eigentümer wegen  seiner  Antwartschaft  auf 
die  Eigentiimerhypothek  oder  Gnmdschuld 
zustimmen  muss  (§  880  Abs.  2  S.  2) ,  oder 
endlich  durch  den  Grundstückseigentümer. 

1.  Jeder  Gläubiger  kann  jederzeit  die 
Rangordnung  mehrerer,  ihm  unmittelbar 
hintereinander  zustehender  Rechte  ändern 
lassen. 

2.  Mehrere  Gläubiger  können  die  Rang- 
ändenmg  der  ihnen  zustehenden  Rechte  ver- 
einbai^en,  indem  der  vorstehende  Gläubiger 
sein  VoiTecht  zu  Gunsten  eines  gleich-  oder 
nachstehenden    Gläubigere    aufgiebt    (soge- 


nannte Prioritätscession  §  880  Abs.  2).  Durch 
diese  Prioritätscession  erlangt  der  vortretende 
Berechtigte  kraft  ihrer  Eintragung  im  Buch 
eine  dinglich  gesicherte  Rechtsstellung,  die 
es  ihm  ermöglicht,  an  Stelle  des  Zurück- 
tretenden Befriedigung  zu  verlangen.  Da 
es  sich  nicht  um  eine  bloss  obligatorische 
Berechtigung  handelt,  so  wirkt  die  Cession 
auch  im  Konkurs  des  Grundstückeigentümers 
und  in  der  Zwangsversteigerung,  indem  das 
vortretende  Recht  in  das  geringste  Gebot 
auf zimehmen  ist ,  endlich  •  auch  gegenüber 
den  Singularsuccessoren  des  zurücktretenden 
Rechts.  Aber  diese  Wirkung  lässt  die  Rechte 
der  etwaigen  Zwischenberechtigten  durch- 
aus unberührt  Deren  Rechte  dürfen  weder 
verbessert  noch  verschlechtert  werden.  Darin 
liegt  einmal,  dass  der  vortretende  Berech- 
tigte nur  insoweit  seine  Befriedigung  vor 
den  Zwischenberechtigten  verlangen  darf, 
als  der  Zurücktretende  es  konnte,  also  nicht 
in  höherem  Betrag,  nicht,  wenn  das  zurück- 
getretene Recht  aus  anderen  als  rechts- 
geschäftlichen Ursachen  (z.  B.  Tod  des 
Niessbrauchers)  erlischt,  femer  aber  auch^ 
dass  beim  Wegfall  des  vortretenden  Rechts 
z.  B.  infolge  Verzichts  des  Berechtigten,  die 
Zwischenberechtigten  nicht  aufrücken,  son- 
dern der  Zurückgetretene  seinen  alten  Rang 
wieder  erhält. 

Die  Prioritätscession  ohne  Eintragung 
im  Buch  wirkt  nur  obligatorisch  zwischen 
den  Kontrahenten  und  ihren  Erben,  nicht 
für  und  gegen  die  beiderseitigen  Singular- 
successoren. Im  Konkiffs  des  Grundstücks- 
eigentümers und  in  der  Zwangsversteigerung 
liquidiert  der  Prioritätsceuent,  gleich  als  ob 
keine  Cession  stattgefunden  liätte.  Der  Ces- 
sionar  kann  jedoch  kraft  der  Cession  Aus- 
antwortung  der  dem  Cedenten  zukommen- 
den Beträge  verlangen.  Auch  dem  öster- 
reichischen Recht  ist  die  Prioritätscession 
(sogenannte  Prioritätsnachstehung)  bekannt. 
Ebenso  kennt  das  französische  Recht  die 
Yorrangseinräumung  (sogenannte  uneigent- 
liche Subrogation). 

3.  Der  Grundstückseigentümer  kann, 
wenn  er  die  Eintragung  eines  Rechts  auf 
seinem  Grundstück  bewüligt,  sich  die  Be- 
fugnis vorbehalten,  ein  anderes,  dem  Um&nge 
nach  bestimmtes  Recht  mit  dem  Vorrang 
vor  dem  bewilligten  Recht  später  eintragen 
zu  lassen  (§  887).  Dieser  dem  französischen 
Recht  unbekannte  Rangvorbehalt  ist  seiner 
Natur  nach  eine  aus  dem  Eigentum  flies- 
sende Verfügungsberechtigung  des  Gnmd- 
stückseigentümers.  Daraus  folgt,  dass  der 
jeweilige  Eigentümer  sie  ausüben  kann. 
Sie  geht  deswegen  auf  jeden  Erwerber  des 
Grundstücks,  auch  auf  den  Ersteher  in  der 
Zwangsversteigenmg  über.  Fällt  anderer- 
seits der  Grundstückseigentümer  vor  Aus- 
übung   des  Verfügungsrechts    in   Eonkurs, 


Hypotheken-  und  Gi*Tindbuchwesen 


1285 


so  kann  nicht  etwa  der  Konkursverwalter 
den  für  das  einzutragende  Eecht  vorbehal- 
tenen Betrag  zur  Konkiu^masse  ziehen, 
sondern  die  bereits  eingeti'agenen  Rechte 
erhalten  ihre  Befriedigung  aus  dem  Erlös 
des  Grundstücks  nach  dem  Gnmdsatz: 
prior  loco  potior  iure.  Ebenso  wenig  kann 
der  Konkursverwalter  seinerseits  das  Yer- 
fügrmgsrecht  des  Grundstückseigentümers 
ausüben  und  ein  Recht  mit  dem  vorbehal- 
tenen Rang  eintragen  lassen.  Eine  Frist 
fiir  Ausübung  des  Vorbehalts  wie  nach 
österreichischem  Recht  —  60  Tage  seit 
Eintragung  des  Vorbehalts  —  ist  dem  Grund- 
stückseigentümer nicht  gestellt.  Er  kann 
also  möglicherweise  noch  nach  Jahren  und 
nach  inzwischen  erfolgter  Einti-agung  w^ei- 
terer  Rechte  —  Reallasten,  Grundschulden, 
Zwangshypotheken  —  seinen  Vorbehalt  aus- 
üben. Damit  nun  durch  derartige  Zwischen- 
eintragnngen,  welche  durch  den  Vorbehalt 
gar  nicht  berührt  werden,  weil  bei  ihrer 
Eintragung  der  Grundstückseigentümer  den 
Vorbehalt  nicht  wiederholt  hatte  imd  viel- 
leicht auch,  wie  bei  Zwangshypotheken,  gar 
nicht  wiederholen  konnte,  das  Recht  des 
mit  dem  Vorbehalt  belasteten  Gläubigers 
nicht  beeinträchtigt  werden,  so  wird  dem 
eingeräumten  Vorrange  die  Wirkung  insoweit 
vei'sagt,  als  das  mit  dem  Vorbehalt  einge- 
tragene Recht  infolge  der  Zwischen eintragung 
eine  über  den  Umfang  des  Vorbehalts  hin- 
ausgehende Beeinti-ächtigung  erleiden  würde. 
Hat  sich  also  der  Gnmdstückseigentümer 
bei  Bewilligung  einer  Hypothek  von  5000 
Mark  an  A  den  Vorrang  für  eine  Hypothek 
gleicher  Höhe  vorbehalten,  und  lässt  er  diese 
letztere  Hypothek  für  B  erst  eintragen, 
nachdem  eine  Zwangshypothek  von  2000 
Mark  für  C  eingetragen  ist,  sodass  das 
Grundstück  jetzt  mit  im  ganzen  12000  Mark 
belastet  ist,  so  wird,  wenn  der  Subhasta- 
tionserlös  lOO(X)  Mark  beträgt,  B  an  erster 
Stelle  3000  Mark,  C  an  zweiter  Stelle 
2000  Mark  erhalten,  an  dritter  Stelle  kommt 
A  mit  5000  Mark  und  mit  dem  2000  Mark 
betragenden  Rest  seiner  Hypothek  fällt  B 
aus. 

Der  Rang  vorbehält  dient  wirtschaftlich 
dem  Bedürfnis  des  Grundstückseigentümers, 
sich  eine  noch  zu  vergebende  Rangstelle  zu 
sichern,  und  dieses  Bedürfnis  tritt  natur- 
geraäss  am  meisten  hervor,  wenn  es  dem 
Grundstückseigentfuner  darum  zu  thun  ist, 
Geld  auf  sein  Gnmdstück  geliehen  zu  er- 
halten. Dem  gleichen  Bedürfnis  diente  auch 
die  in  Bayern  und  Mecklenburg  anerkannt 
gewesene  sogenannte  Offenhaltung  der 
Hypothekenstelle  im  Buch,  welche  aber 
durch  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  besei- 
tigt ist  und  mit  einer  Aenderung  der  Rang- 
ordnung nichts  zu  thun  hat.  Bei  diesem 
Institut  hat  der  Grundstückseigentümer  das 


Recht,  jede  vakant  gewoi'dene  Hypotheken- 
stelle vsdeder  für  sich  zu  verwerten,  indem 
er  an  Stelle  der  fortgefallenen  Hypothek 
wieder  eine  neue,  gleich  hohe  eintragen 
lassen  darf.  In  Bayern  stand  jedoch  dem 
Grundstückseigentümer  dieses  Recht  nur  so 
lange  zu,  als  die  erloschene  Hypothek  noch 
nicht  gelöscht  war,  und  nur  unter  der  Voraus- 
setzung, dass  die  erloschene  Hypothek  rechts- 
gütig  entstanden  war.  Die  Gesetzgebung 
sieht  bei  dem  Institut  der  Offenhaltung  der 
Stelle  auf  dem  Standpunkt,  dass  der  Er- 
werber eines  Rechts  an  fremdem  Grund- 
stück vor  allem  den  Rang  des  zu  erwer- 
benden Rechts  berücksichtigt  und  dem- 
gemäss  über  eine  feste  Stelle  im  Buch  als 
selbständiges  Wertobjekt  kontrahiert.  Bei 
dieser  Auffassung  haftet  die  Hypothek  nicht 
am  ganzen  Grundstück,  sondern  an  dem 
durch  die  Stelle  im  Buch  repräsentierten 
Wertteile.  Daraus  folgt  denn,  dass  der 
nachstehende  dinglich  Berechtigte  kein  Recht 
auf  Aufrücken  hat  und  also  auch  dadurch 
keine  Benachteiligimg  erfährt,  dass  ihm  eine 
neue  Berechtigung  in  Höhe  der  alten  wie- 
der vorgesetzt  wird. 

Das  Institut  der  Offenlialtung  der  Stelle 
ist  im  Bürgerlichen  Gesetzbuch  durch  das 
sogenannte  Eigentümerpfandrecht  ersetzt, 
welches  eine  Errungenschaft  des  preussischen 
Rechts  ist,  im  Anhangsparagraph  52  zu  §  484 
Tit.  16  des  preuss.  A.L.R.  und  in  der  Dekla- 
ration V.  8.  April  1824  eingeführt  wurde 
und  auch  in  die  §§  63—67  des  Ges.  v. 
5.  Mai  1872  überging.  Das  Bürgerliche 
Gesetzbuch  fasst  dieses  Eigentümerpfand- 
recht als  ein  beschränktes  dingliches  Recht 
an  eigener  Sache  auf  und  giebt  entweder 
dem  Grundstückseigentümer  das  Recht,  das- 
selbe von  vornherein  auf  seinem  Grundstück 
eintragen  zu  lassen  (§  1163  Abs.  1  u.  Abs.  2, 
§  1196)  oder  es  gestattet,  dass  das  ursprilng- 
lich  einem  anderen  zustehende  Pfandrecht 
auf  den  Grundstückseigentümer  übergeht 
(§§  1143  S.  1  u.  1163  Abs.  1  S.  2,  1164 
Abs.  1  S.  2  u.  Abs.  2,  1168,  1170  Abs.  2, 
1173 — 76).  Der  durch  das  Eigentümerpfand- 
recht dem  Grundstückseigentümer  gewährte 
Vorteü  besteht  darin,  dass  das  \"orrücken 
der  nachstehenden  Pfandrechte  ausgeschlos- 
sen wiifl  und  dass  der  Eigentümer  sein 
Pfandrecht  entgeltlich  oder  unentgeltlich 
abtreten  kann,  wodurch  Zeit  und  Kosten 
erspart  w^erden,  welche  aufgewendet  werden 
müssten,  wenn  ein  Pfandrecht  neu  begrün- 
det Averden  sollte.  Das  Eigentümerpfand- 
reeht  ist,  wenn  es  sich  auch  in  das  Gewand 
einer  Hypothek  kleiden  sollte,  seiner  recht- 
lichen Natur  nach  stets  eine  Grundschuld 
an  eigener  Sache. 

8.  Die  niateriellrechtlichen  Voraus- 
setzungen für  die  Begründung,  Aen- 
deining  oder  Aufhebung  von  Eigentum 


1286 


Hypotheken-  und  Gruudbucliwesen 


oder  dinglichen  Gnmdstiicksrechten 
durch  £inti*agnng.  Dieselben  zu  kennen 
ist  wichtig  sowohl  da,  wo  das  System  des 
öffentlichen  Glaubens,  als  da,  wo  das  System 
der  formalen  Eechtskraft  der  Eintragung 
gilt.  Denn  nach  dem  erstoren  System  wirkt 
die  Ehitragung  nur  in  Yerbindung  mit  diesen 
Vomussetzimgen  und  auch  nach  dem  letz- 
teren giebt  nur  das  Vorhandensein  derselben 
einen  Anspruch  auf  Vornahme  der  Ein- 
tragung. Für  das  Hypotheken-  und  Grund- 
bucliwesen  kommen  nun  aber  in  der 
Hauptsache  die  materiellrechtlichen  Voraus- 
setzungen nur  insoweit  in  Betracht,  als  das 
Einti-agiuigsprincip  durchgeführt  ist,  als  also 
der  Satz  gilt,  dass  ohne  Eintrag'ung  sich 
weder  die  Entstehung  noch  die  Aenderung 
oder  Endigung  eines  dinglichen  Rechts  voll- 
zieht (vgl.  oben  sub  4,  2,  A.).  Nim  gilt  das- 
selbe aber  im  französischen  Recht  gar  nicht 
und  in  Deutsclüand  nm*  für  die  Entstehung, 
Endigung  oder  Aenderung  von  Eigentum  oder 
dinglichen  Rechten  durch  rechtsgeschäftliche 
Willenserklärung.  Deshalb  ist  die  Besclirän- 
kung  der  Darstellung  auf  die  in  dieser  Hin- 
sicht ei-forderlichen  Voraussetzungen  gerecht- 
fertigt. Dieselben  haben  im  Bürgerlichen 
Gesetzbuch  eine  gemeinsame  Regelung  er- 
fahren, nach  welclier  folgendes  gut: 

1.  Zur  Uebertragung  des  Grundstücks- 
eigentums, zur  Begründung  eines  neuen, 
zur  Uebertragung  oder  Belastung  eines 
bereits  vorhandenen  Buchrechts  und  zur 
Aenderung  seines  Inhalts  durch  Rechts- 
geschäft bedarf  es  des  sogenannten  ding- 
lichen Vertrags  (§  878  Abs.  1),  d.  h.  der 
abstrakten,  auf  Erzielung  einer  dinglichen 
Rechtswirkung  diu-ch  Eintragung  gerichteten 
Willenseinigimg.  Man  kann  diesen  Konsens 
und  seine  Erklärung  auch  materielles  Kon- 
sensprincip  nennen.  Weil  der  dingliche 
Vertrag  ein  abstrakter  Verti*ag  ist,  so  tritt 
der  obligatorische  Rechtsgrund,  welcher  zur 
Eingehung  des  dinglichen  Verti-ags  be- 
stimmte, nicht  nur  in  diesem  letzteren  nicht 
hervor,  sondern  die  Nichtigkeit  oder  An- 
fechtbarkeit des  etwa  zu  Grunde  liegenden 
obligatorischen  Vertrags  hindert  auch  nicht 
die  Erreichung  des  durch  dinglichen  Vertrag 
und  Eintragung  beabsichtigten  Rechtseffekts, 
wohl  aber  giebt  die  Nichtigkeit  oder  ei-folg- 
reiehe  Anfechtung  des  obligatorischen  Ver- 
trags dem  Veräusserer  und  seinen  Univereal- 
successoren  gegen  den  Erwerber  und  seine 
üniversalsuccesoren  eine  Kondiktion  des 
begründeten  oder  übertragenen  dinglichen 
Rechts.  Wenn  also  A  sein  Grundstück  an 
B  verkaufen  will,  B  erklärt  aber  in  der 
^leinung,  es  solle  ihm  geschenkt  werden, 
seinen  Konsens  zu  der  Offerte  des  A,  so 
kann  B  diese  Aeceptationserkläning  an- 
fechten. Erfolgt  vor  der  Anfechtung  die 
Eintragung  des  B  auf  Grund  des  weiter  abge- 


schlossenen dinglichen  Vertrages,  so  wird  B 
Eigentümer  des  Giomdstücks.  Wenn  er  jetzt 
aber,  von  A  auf  Zahlimg  des  Kaufpreises 
verklagt,  den  Kaufvertrag  anficht  so  kann 
nunmehr  A  das  Grundstück  von  B  imd 
seinen  üniversalsuccessoren  kondicieren  ( §  119 
B.G.B.).  Der  dingliche  Vertrag  kann  im 
allgemeinen  formlos  geschlossen  werden. 
Nur  der  auf  Grundstücksübereignung  oder 
auf  Uebertragung  eines  Erbbaurechtß  gerich- 
tete dingliche  Veiii'ag,  die  sogenannte  Auf- 
lassung, ebenso  der  auf  Bestellung  eines 
Erbbaiu'echts  gehende  Vertrag  muss  vor 
dem  Grundbuchamt  abgeschlossen  werden 
(§  925  Abs.  1  u.  §§  1015  u.  1017).  Immer- 
hin ist  der  weder  gerichtlich  noch  notariell 
beurkundete  etc.  dingliche  Vertrag  nur  als 
gesetzlich  resolutivbedingter  giltig,  unter 
der  Resolutivbedingung  nänüich,  dass  keiner 
der  Kontrahenten. —  nicht  seine  üniversal- 
successoren oder  gesetzlichen  Vertreter  — 
vor  der  Eintragung  zurücktreten  sollte  (§  873 
Abs.  2).  Im  allgemeinen  ist  es  auch  gleich- 
giltig,  ob  der  Abschluss  des  dinglichen  Ver- 
trags vor  oder  nach  der  Eintragung  erfolgt, 
indem  z.  B.  der  Grundstückseigentümer, 
welcher  dem  B  50000  Mark  Darlehen 
schuldet  und  ihm  HypothekenbesteUung  auf 
seinem  Landgut  X  oder  Y  in  Aussicht  ge- 
stellt hat,  eine  Hypothek  für  B  auf  seinem 
Landgut  X  hat  einüben  lassen  und  nun 
erst  die  Zustimmung  des  B  zur  Hypotheken- 
besteUimg  auf  dem  Landgut  X  erlangt.  Die 
Auflassung  jedoch  mid  der  auf  Bestellung 
eines  Erbbaiu'echts  gerichtete  Veitrag  muss 
der  Eintragung  vorausgehen.  Sie  kann  auch 
nicht  unter  Bedingungen  oder  Zeitbestim- 
mungen erfolgen,  während  im  übrigen  der 
dingliche  Vertrag  sowohl  Bedingungen  als 
Zeitbestimmungen  verträgt  (§  925  Abs.  2). 
Der  dingliche  Vertrag  ist  natürlich  unwirk- 
sam, wenn  dem  Veräusserer  —  und  auch 
die  Belastung  ist  eine  Veräussenmg  —  das 
Eigentum  des  zu  veräussernden  Gnmdstücks 
oder  das  zu  übertragende  oder  zu  ändernde 
dingliche  Recht  nicht  zusteht.  Er  wii-d  je- 
doch nachträglich  wirksam,  wenn  der  Ver- 
äusserer etc.  das  Eigentum  des  Grundstücks 
oder  das  den  Gegenstand  des  dinglichen 
Vertrags  bildende  Recht  erwirbt  (§  185  Abs.  2). 
Ist  dieser  Erwerb  zur  Zeit  der  Einti-agung 
noch  nicht  erfolgt,  so  ist  die  Eintragiuig 
unrichtig,  steht  aber  gleichwohl  unter  dem 
Schutz  des  öffentlichen  Glaubens  des  Buclis. 
Sie  konvalesciert  jedoch ,  sobald  der  Erwerb 
erfolgt.  Der  dingliche  Vertrag  wiixl  ersetzt 
durch  das  rechtskräftige  Urteil,  welches  den 
ziu"  Abgabe  einer  Eintragimgsbewilligung 
Verpflichteten  zur  Abgabe  dieser  Willens- 
erklärung verurteilt  (§  894  C.P.O.). 

Das  Erfoi-dernis  des  dinglichen  Vertrags 
genügt  nicht  bei  Hypotheken,  bei  Pfand- 
rechten an  einem  eingetiBgenen,  besclu^änk- 


Hypotheken-  und  Gnindbuchwesen 


1287 


teu  dinglichen  Recht  und  auch  nicht  bei 
solchen  Gnuidschulden ,  über  welche  ein 
Grundschiüdbrief  ausgestellt  ist,  um  durch 
die  Einti-agung  eine  giltige  Hypothek  oder 
Grundschuld  zur  Entstehung  zu  bringen. 
Vielmehr  ist  wegen  der  accessorischen  Natur 
der  Hyi)othek  und  des  Pfandrechts  an  be- 
schränkten dinglichen  Rechten  das  weitere 
Erfordernis  emer  zu  sichernden  Fordenipg 
aufzustellen.  Zwar  kann  die  Forderung  eine 
zukünftige  sein  (§  1113).  Wenn  aber  die 
Eoi-denmg  nicht  zur  Entstehimg  gelangt,  so 
steht  die  Hypothek  dem  Eigentümer  zu,  ist 
also  ihrer  rechtlichen  Natur  nacli  keine  Hypo- 
thek (vgl.  oben  sub  7  a.  E.).  Das  Pfandrecht 
an  Rechten  aber  entsteht  ohne  die  Fonlerung 
niclit  (§§  1278  u.  1204).  Bei  Brief hypo- 
theken  und  Briefgrundschulden  bedarf  es 
zur  Entstehung  der  Hypothek  etc.  noch  derAus- 
autwortung  des  Briefes  an  den  Gläubiger, 
sonst  entsteht  ebenfalls  nur  ein  Eigentümer- 
pfandi-echt  (§§  1117,  1163  Abs.  2  u.  1192). 

In  denjenigen  Fällen  endlich,  in  denen 
es  an  der  Person  eines  bestimmten  Berech- 
tigten fehlt,  kann  natürlich  vom  Abschhiss 
eines  dinglichen  Vertrags  nicht  die  Rede 
sein.  Dies  trifft  zu  bei  (ler  Bestellung  einer 
Hypothek  für  die  Forderung  aus  einer 
Schuldverschreibung  auf  den  Inhaber  oder 
einer  Gnmdschuld  für  den  Inhaber  des 
Grundschuldbriefes.  Hier  genügt  die  Er- 
klänuig  des  Ginindstückseigentümers  gegen- 
über dem  Grundbuchamt,  dass  er  die  Hypo- 
thek oder  Grundschuld  bestelle  (§§  il88 
u.  1195). 

Auch  in  Oesten-eich  gilt  der  richtigen 
Auffassung  nach  das  materielle  Konsens- 
princip.  Nur  darüber  bestehen  Zweifel,  ob 
der  von  den  Parteien  vor  dem  Grundbuch- 
richter gestellte  Antrag  auf  Eintragimg  einer 
dinglichen  Rechtsveränderung  als  dinglicher 
Vertrag  qualifiziert  werden  kann.  So,  wenn 
z.  B.  auf  Grund  eines  nichtigen  Verpfän- 
dungsvertrages der  Gläubiger  die  Hypothek- 
bestellung begehrt  imd  der  Gnmdstücks- 
eigentümer  in  Kenntnis  der  Sachlage  zu- 
stimmt. Allerdings  soll  nach  §  16  Abs.  2  des 
allgem.  G.B.G.  die  Eintragungsbewilligung, 
wenn  es  sich  um  Erwerbung  oder  Umände- 
rung eines  dinglichen  Rechts  handelt,  auch 
die  Angabe  eines  »giltigen  Rechtsgrundes« 
enthalten,  d.  h.  des  obligatorischen,  an  sich 
ziu"  Vermittelung  des  Erwerbes  geeigneten 
Vertrages,  welcher  den  Bestimmungsgrund 
zum  Abschluss  des  dinglichen  Vertrages 
bildet.  Aber  es  ist  nicht  erforderlich,  dass 
dieser  Vertrag  in  concreto  reclitsbe- 
ständig  sei. 

2.  Zur  Aufhebung  eines  Buchrechts  be- 
darf es  des  dinglichen  Vertrages  nicht. 
Hier  genügt  die  einseitige  Erklärung  des 
Berechtigten  (§  875),  welche  entweder  gegen- 
über  dem   Gnmdbuchamt   oder    gegentil)er 


demjenigen,  zu  dessen  Gunsten  das  Recht 
aufgehoben  werden  soll,  z.  B.  bei  Hypo- 
theken gegenüber  dem  Gnmdeigentümer, 
abgegeben  weixlen  kann.  Jedoch  ist  der 
Berechtigte  an  seine  Erklärung  nicht  ge- 
bunden, bis  die  Löschung  im  Buch  erfolgt 
ist,  er  raüsste  denn  diese  Erklärung  vor 
dem  Grund buchamt  oder  durch  Aushändigung 
einer  rcclitsbeständigen,  also  in  öffentlicher 
oder  öffentlich  beglaubigter  (§  29  G.B.G.) 
Urkunde  enthaltenen  Löschungsbewilligung 
abgegeben  haben  (§  875  Abs.  2).  Der  Er- 
klärung des  Berechtigten  steht  natürlich 
seine  rechtskräftige  Verurteilung  zur  Er- 
klärung gleich.  Ist  übrigens  das  zu  löschende 
Recht  mit  dem  Recht  eines  Dritten  belastet, 
so  bedarf  es  auch  der  gleichen  Zustimmung 
des  Dritten  und  bei  subjektiv  dinglichen 
Rechten  (Grundgerechtigkeiten,  Verkaufs- 
recht, Reallast)  sogar  der  Zustimmung  der 
Realgläubiger  des  herrschenden  Grundstücks 
(§  87  Ü).  Ueber  diese  Zustimmungserklänmg 
gilt  dasselbe  wie  über  die  Aufhebungser- 
klärung des  Berechtigten.  Das  Verhältnis 
der  A'ifhebungs-  oder  Zustimmungserklärung 
zu  ihrer  obligatorischen  Grundlage  ist  das- 
selbe wie  beim  dinglichen  Vertrag. 

Nach  den  Gnmdsätzen  des  Österreichischen 
Rechts  bedarf  es  zur  Aufhebung  eines  Buch- 
rechts eines  sogenannten  Löschungstitels, 
d.  h.  der  Existenz  derjenigen  rechtlichen 
Ereignisse,  welche  nach  den  Grundsätzen 
des  materiellen  Rechts  geeignet  sind,  ein 
dingliches  Recht  zu  zerstören,  z.  B.  beim 
Pfandrecht  des  Untergangs  der  versicherten 
Fordenmg  durch  Zalüung,  Erlass,  Verjäh- 
rung etc.,  und  weiter  der  Feststellung  dieser 
rechtsaufhehenden  Thatsachen  in  emer  in- 
tabulationsfähigen,  d.  h.  entweder  einer  öffent- 
lichen oder  einer  privaten,  die  Löschungs- 
bewilligung des  Buchberechtigten  enthalten- 
den, mit  der  gerichtlichen  oder  notariellen 
Beglaubigung  seiner  Unterschrift  versehenen 
Löschungsurkunde. 

3.  Für  die  Fälle  sowohl  zu  1  als  2  gilt 
der  Grundsatz,  dass  mit  Abgabe  einer 
bindenden  Erklärung  und  Stellung  des  Ein- 
tragungsantrags beim  Grundbuchamt  später 
eintretende  Verfügungsbeschränkungen  des 
Erklärenden,  z.  B.  Konkurseröffnung  über 
sein  Vermögen,  einflusslos  werden  (§  878). 
Der  Grund  ist  in  dem  Bestreben  zu  suchen, 
das  Publikum  gegen  aus  Verzögerungen  der 
Grundbuchbehöroe  in  der  Ausführung  der 
gestellten  Anträge  entspringende  Nachteile 
zu  sichern. 

9.  Die  Berichtigung  des  Baches. 
Wenn  nach  den  Ausftihnmgen  oben  sub  8 
und  6  die  Eintragung  nur  in  Verbindung 
mit  den  materieUrechtbchen  Voraussetzungen 
der  Rechtsentstehung,  Aenderung  oder 
Endigung  wirkt,  so  kann  infolge  einer 
trotz   fehlender  materiellrechtlicher  Voraus- 


1288 


Hypotheken-  und  Gmndbuchwesen 


Setzungen  vorgenommenen  Eintragung  das 
Grundbuch  unrichtig  sein  und  also  nicht 
den  wahren  Rechtszustand  wiederspiegeln. 
Zwar  steht  nach  xinserem  Grundbuchrecht 
auch  die  xmrichtige  Eintragung  unter  dem 
Schutz  des  öffentlichen  Glaubens  des  Buchs, 
wird  also  als  richtig  fingiert  zu  Gunsten 
redlicher  Dritter,  welche  im  Vertrauen  auf 
die  Richtigkeit  des  Buclis  Eigentum  oder 
dingliche  Rechte  an  dem  Grundbuchobjekt 
erwarben,  und  auf  diese  Weise  wird  schliess- 
lich die  Differenz  zwischen  dem  Recht  und 
dem  buchmässigen  Anschein  bei  den  fol- 
genden Eintragungen  wieder  beseitigt.  Aber 
diese  Beseitigung  geht  auf  Kosten  dessen 
vor  sich,  zu  dessen  Ungunsten  die  unrichtige 
Eintragung  gereichte,  und  diesem  muss  also 
die  Möglichkeit  gegeben  werden  (§§  894  bis 
898  B.G.B.),  auf  Berichtigung  des  Buchs  hin- 
zuwirken, xim  redlichen  Dritten  die  Be- 
rufung auf  die  Fiktion  der  Richtigkeit  des 
Buchs  abzuschneiden.  Unrichtig  ist  aber 
das  Buch  auch  dann,  wenn  es  das  materielle 
Recht  unvollständig  wiedergiebt,  weil  ausser- 
halb des  Buchs  entstandene,  aber  eintragungs- 
fähige Rechte  nicht  eingetragen  sind.  Die 
Berichtigung  des  Buchs  bezweckt  also  ausser 
der  Richtigstellung  oder  Löschung  unrichtiger 
EintiTigungen  auch  die  Vervollständigung  des 
Buchs.  Der  Berichtigungsanspruch  geht  gegen 
den,  w^elchem  die  unrichtigen  oder  unvoll- 
ständigen Angaben  des  Buchs  zum  Vorteil 
gereichen.  Er  muss,  weil  er  ein  Ausfluss 
des  dinglichen  Rechts  des  Klagebereclitigten 
ist,  im  Gerichtsstand  der  belegenen  Sache 
anhängig  gemacht  werden,  wenn  der  Be- 
richtigungsschuldner nicht  gut'^'illig  die  Be- 
richtigimg  bewilligt.  Weder  der  Klage  noch 
der  Bewilligung  bedarf  es  aber,  wenn  die 
Unrichtigkeit  durch  öffentliche  Urkunden 
der  Buchbehörde  nachgewiesen  wird  (§§  22 
und  29  G.B.O.).  Handelt  es  sich  dabei  um 
die  Eintragung  als  Eigentümer  oder  als  Erb- 
bauberechtigter, so  gilt  diese  Vorschrift 
wegen  der  Wichtigkeit  dieser  Rechte  nicht. 
Der  Berichtigungsanspruch,  welcher  übrigens 
unverjährbar  ist,  begründet  ein  Aussonde- 
rungsrecht des  Berechtigten  im  Konkurs 
des  Verpflichteten  (§  35  K.O.).  Eintragungen 
gesetzlich  xmzulässigen  Inhalts,  z.  B.  einer 
Emphyteuse  oder  eines  vererblichen  Niess- 
brauchs,  hat  das  Grundbuchamt  von  Amts 
wegen  zu  löschen  (§  54  G.B.O.).  Eine  solche 
Eintragimg  ist  zwar  nichtig  und  steht  auch 
nicht  unter  dem  öffentlichen  Glauben  des 
Buchs,  weil  die  gesetzliche  Unzulässigkeit 
jedermann  bekannt  sein  muss.  Doch  soll 
das  Buch  nicht  mit  bedeutungslosen  Ein- 
tragungen belastet  sein. 

Auch  nach  österreichischem  Recht  wirkt 
die  Einti*agung  nur  in  Verbindung  mit  ihren 
materiellrechtlichen  Voraussetzungen.  Fehlt 
es  an  ihnen,  so  ist  die  Eintragimg  unrichtig. 


Und  zwar  ist  sie  nichtig,  wenn  ihr  materieller 
Rechtsgrund  nichtig  ist,  also  namentlich  das 
materielle  Konsensprincip  verletzt  wurde; 
anfechtbar  aber,  wenn  der  materielle  Rechts- 
grund anfechtbar  ist.  Nichtigkeit  sowohl  als 
Anfechtbarkeit  einer  unrichtigen  Eintragung 
werden  mit  der  sog.  Löschungsklage  geltend 
gemacht.  Dieselbe  steht  gegen  den  Nehmer 
der  unrichtigen  Eintragung  und  seine  Uni- 
versaLsucoessoren  so  lange  zu,  als  das  Klage- 
recht nach  den  Bestimmungen  des  materieDen 
Rechts  noch  nicht  verjährt  ist  (§  62  a.  G.B.G.). 
Abgesehen  hiervon  erlangt  die  unrichtige 
Eintragung  auch  dann  Kraft,  wenn  jemand 
im  Vertrauen  auf  ihre  Richtigkeit,  also  gut- 
gläubig, eine  weitere  Eintragung  nahm  und 
der  durch  die  unrichtige  Eintragung  Be- 
nachteiligte, obwohl  er  von  ihrer  gericht«- 
seitigen  Bewilligung  amtlich  benachrichtigt 
wurde,  es  unterüess,  innerhalb  der  gesetz- 
lichen Frist  (30  Tage,  wenn  die  Zustellung 
der  Benachrichtigung  innerhalb  des  (.")ber- 
landesgerichtsbezirks,  zu  welchem  das  Grund- 
buchamt gehört,  60  Tage,  wenn  sie  ausser- 
halb desselben  erfolgte)  Löschuiigsklage 
wegen  der  unrichtigen  Eintragung  anzu- 
stellen oder  eine  Anmerkung  (Protestation) 
gegen  die  unrichtige  Eintiugung  eintragen 
zu  lassen.  Im  letzteren  Fall  verlängert  sich 
die  Frist  für  Anstellung  der  Löschungsklage 
um  weitere  60  Tage.  Hatte  dagegen  die 
Buchbehörde  es  unterlassen,  den  Benach- 
teiligten davon  zu  benachrichtigen,  dass  die 
Bewilligung  der  Eintragung  seitens  des 
Grundbuchgerichts  erfolgt  sei,  so  steht  dem 
Benachteiligten  innerhalb  dreier  Jalire  vom 
Tage  des  Antrags  auf  Vornahme  der  un- 
richtigen Eintragung  an  gegen  den  gut- 
gläubigen eingetragenen  Dritten  die  l/>- 
schungsklage  zu  (§§  63  imd  64  a.  G.B.G.l 

Da  nach  französischem  Recht  zur  Ent- 
stehung eines  Pfandrechts  oder  zum  Er- 
löschen desselben  die  Inskription  gar  nicht 
erforderlich  ist,  so  kann  die  Inscription  nur 
immer  beurkundende  Bedeutung  haben  und 
es  ist  also  infolge  falscher  Beurkundung 
eine  Differenz  z>\'ischen  dem  wahren  Rechts- 
zustand imd  der  Beurkundung  erst  recht 
möglich.  Aber  der  Registerbeamte  dai-f  die 
einmal  vorgenommene  Inskription  nicht  von 
Amts  wegen  beseitigen,  sondern  nur  mit 
Be\\411igung  dessen,  auf  dessen  Namen  sie 
lautet,  oder  wenn  derselbe  zur  Abgabe  der 
Bewilligung  rechtskräftig  verurteilt  wimlo. 
Gestützt  ist  diese  Löschungsklage  darauf, 
dass  die  Inskription  weder  auf  dem  Ge.setz 
noch  einem  Pfandrechtstitel  beruht,  weil 
z.  B.  ein  Chirographarier  ohne  rechtskräftiges 
Urteil  über  seine  Forderung  die  Inskription 
erlialten  hatte,  ebenso  aber  auch  darauf, 
dass  das  Vorzugs-  oder  Unterpfandsrec^ht 
aus  irgend  einem  gesetzlichen  Grunde  er- 
loschen    ist.     Von     dieser    Ausstit^ichung 


Hypotheken-  und  Grundbuehwesen 


1289 


(radiation)  der  Inskriptionen  ist  aber  wohl 
zu  unterscheiden  die  Verbesserung  mangel- 
hafter In-  oder  Transskriptionen.  Die  Mangel- 
haftigkeit kann  hier  beruhen  entweder  auf 
der  Beschaffenheit  des  Bordereau  bezw.  des 
zu  überechreibenden  Akts  oder  auf  einem 
Versehen  des  Registerbeamten.  In  dem 
erstei-eu  FaU  erfolgt  die  ßerichtigimg  auf 
Gnmd  eines  eingereichten  neuen  Bordereau 
oder  einer  neuen  Vertragsurkunde,  sobald 
der  In-  OLlor  Transskribierte  es  beantragt. 
In  dem  letzteren  Fall  hat  der  Registerbeamte 
entweder  auf  Antrag  oder  von  Amts  wegen 
die  Verbessenmg  unter  neuem  Datxim  und 
neuer  Ordnungszahl  vorzunehmen.  DieVer- 
l»esseiiuig  hat  dann,  soweit  sie  von  der  ur- 
sprunglichen Eintragung  abweicht^  nur  von 
dem  Datum  an  Wirkung,  unter  dem  sie  vor- 
genommen wim:le.  Man  denke  z.  B.  daran, 
dass  eine  zu  niedrige  Summe  eingetragen 
war.  So  behält  die  Summe  der  alten  In- 
skription ilu*en  Rang.  Der  überschiessende 
Betrag  der  neuen  Inskription  rangiert  erst 
nach  dem  Datum  der  letzteren.  Das  Be- 
diirfnis  einer  Ausstreichung  oder  Berichtigung 
ist  axich  nach  französischem  Recht  vorhanden. 
So  erhält  z.  B.  der  Grundeigentümer,  wenn 
erloschene  Untei'pfandsrechte  noch  auf  seinem 
Grundstück  eingetragen  stehen,  schwerer 
weiteren  Kredit  gewährt  und  er  findet  auch 
schwerer  einen  Käufer  für  sein  Grundstück. 
Aber  auch  der  Unterpfandgläubiger,  dessen 
Fordenmg  zu  niedrig  eingeti-agen  war,  hat 
ein  Interesse  an  der  Berichtigung,  weil  er 
mit  der  nicht  eingetragenen  Summe  erst 
nac!h  allen  eingetragenen  Pfandrechten  ran- 
gieren würde. 

10.  Die  Buchbehörden.  Ob  man  die 
Grund-  und  Hypotliekenbuchgeschäf  te  richter- 
lichen oder  nichtrichterlichen  Beamten  über- 
tragen solle,  darüber  haben  schon  seit  langer 
Zeit  Zweifel  geherrscht.  Kein  Geringerer 
als  Mittermaier  hat  sich  dafür  ausgesprochen, 
das  Hypothekenwesen  den  Gerichten  abzu- 
nehmen \md  den  Gemeindebehöi-den  zu 
übertragen.  Denn  die  Gemeinde  habe  das 
nächste  Interesse  an  den  Grundeigentums- 
verhältnissen ihrer  Mitglieder,  weil  vielfach 
das  Gemeindesiimmrecht  mit  dem  Grund 
und  Boden  verknüpft  sei,  die  Gemeindeab- 
gaben vielfach  auf  dem  Grundeigentum 
ruhten  und  die  Gemeindebeamten  am 
leichtesten  eine  erschöpfende  Kenntnis  der 
lokalen  Verhältnisse  sich  verschaffen  könnten. 
In  der  That  finden  sich  bis  auf  den  heutigen 
Tag  in  mehreren  deutschen  Staaten  Ge- 
meindebeamte als  Buchbehörden.  So  in 
Württemberg  und  Baden  die  Gemeinderäte, 
in  Baden  ausserdem  für  die  der  Städteord- 
nung vom  24.  Juni  1874  unterstehenden 
Städte  die  vom  Stadtrate  aus  der  Zalü  der 
zum  Richteramt  oder  Notariatsdienst  be- 
fähigten   Personen     ernannten     besonderen 


Grund-  und  Pfandbuchsführer  (Ges.  v.  24. 
Juni  1874,  neue  Fassung  im  Ges.  v.  1.  Febniar 
1888),  in  Mec-klenburg  die  Stadtmagistrats- 
oder besondei-e  Kommunalhypothekenbe- 
hörden.  Der  Gemeinderat,  welcher  in  Würt- 
temberg xmd  Baden  aus  6 — 24  Mitgliedern, 
je  nach  der  Grösse  der  Gemeinden  besteht, 
kann  die  Buchgeschäfte  einer  Abteilung 
übertragen.  Aktuar  der  Unter pfandsbehörde 
ist  der  Ratsschreiber.  Doch  kann,  wenn 
derselbe  zur  Fühniug  der  Bücher  nicht 
befähigt  ist  und  auch  kein  anderes  Gemeinde- 
ratsmitglied  die  Fähigkeit  dazu  besitzt,  der 
Gemeinderat  einen  eigenen  Pfandhilfsbeamten 
anstellen.  Der  Ratsschreiber  oder  Pfand- 
hilf sbeamte  ist  der  eigentliche  Führer  der 
Buchgeschäfte  und  als  solcher  sogar  zur 
Prüfung,  eventuell  Berichtigung  der  in 
seiner  Abwesenheit  gepflogenen  Verhand- 
lungen der  üntei'pfandsbehörde  befugt,  vor- 
behaltlich der  Entscheidung  des  Amts- 
gerichts. 

Auch  in  den  hessischen  Provinzen 
Starkenburg  und  Oberhessen  hat  der  Orts- 
vorsteher in  Verbindung  mit  den  Gerichts- 
männern (Ortsgericht)  die  Bücher  zu  führen. 

Einen  gänzlich  abweichenden  Standpunkt 
nimmt  Frankreich  ein.  Dort  ist  die  Führung 
der  Trans-  und  Inskriptionaregister  einer 
Finanzbehörde,  der  regie  nationale  de 
lenr^gistrement  übertragen,  weil  die  Ge- 
bühren für  die  Einregistrierung  d.  h.  Ein- 
tragung und  Vormerkung  der  Urkunden  in 
den  öffentlichen  Büchern  eine  der  Haupt- 
einnalimen  des  französischen  Staates  sind. 
Diese  Finanzbehörde  bestellt  in  den  ein- 
zeljienBezirken  die  Enregistrementseinnehmer 
als  llypothekenbe wahrer  —  conservateiurs 
des  hypothe<|ues.  Gegen  diese  Einrichtung 
spricht  vor  allem,  dass  sie  die  juristische 
Seite  der  Sache  zu  wenig  wüi'digt,  was  aucli 
darin  sich  zeigt,  dass  die  Hypothekenbe- 
wahrer  der  obersten  Finanzbehörde,  nicht 
einer  Justizbehörde,  unterstellt  sind.  Der 
Finanzpunkt  überwiegt. 

Diese  Einrichtung,  welche  auch  in  Elsass- 
Lothringen  zur  Zeit  noch  gilt  hatte  in  die 
baverische  Pfalz  und  Rhein hessen  ihren 
Einzug  gehalten.  Aber  sie  hat  dort  bald 
Veränderungen  erfaliren.  So  hat  zwar  in 
Rhein  hessen  auch  heute  noch  der  Steuer- 
kommissar die  Einschreibungen  im  Grund- 
buch zu  besorgen.  Doch  bildet  die  Grund- 
lage seiner  Thätigkeit  das  von  den  Amtsge- 
richten zu  führende  Mutationsverzeichnis, 
welches  die  Eigentumswechsel  angiebt.  Die 
Hypothekenbüeher  aber  sind  sowohl  in 
Rheinhessen  als  der  bayerischen  Pfalz  selb- 
ständigen Hypothekenämtem  anvertraut. 
Solche  sind  auch  in  Hamburg  und  Lübeck 
eingerichtet. 

Ein  Hypothekenamt  ist  nicht  notwendig 
eine  richterliche  Behörde,  obwohl  seine  Mit- 


1290 


Hypotheken-  und  Grundbuch wesen 


glieder  wenigstens  zum  Teil  rechtsgelelirte 
Vorbildung  haben  müssen.  In  Hamburg 
z.  B.  ist  ein  Senatsmitglied  Vorstand  des 
Hypothekenamtes  und  ein  zweites  Senats- 
mitglied Stellvertreter  des  Vorstandes.  Da- 
gegen liegt  die  Geschäftsführung  in  den 
zum  H\7)othekenamt  gehörigen  Hypotheken- 
bureaiis  rechtsgelehi-ten  Oberbeamten  mit 
den  ihnen  zugeordneten  ünterbeamten  ob. 
Gegen  die  Uebertragung  der  Buchge- 
schäfte an  Gemeindebearate  spricht  mancher- 
lei. Vor  allen  Dingen  geht  ihnen  die  er- 
forderliche Rechtskenntnis  ab.  Weiter  sind 
sie  bei  der  zeitlichen  Begrenzung  der  Dauer 
ihrer  Amtsführung  gar  nicht  in  der  Lage, 
sich  die  nötige  Geschäftsgewandtheit  zu  er- 
werben. Endlich  erscheint  es  nicht  ausge- 
schlossen, ein  Gemeindebeamter  werde  sich 
bei  Wahrnehmung  der  Buchgeschäfte  durch 
allerhand  Nebenrücksichten  bestimmen  lassen. 
Andererseits  sind  die  Klagen,  welche  sich 
gelegentlich  der  Handhabung  des  Buch- 
wesens durch  richterliche  Behörden  erhoben 
haben,  nur  insoweit  gerechtfertigt,  als  sie 
gegen  die  Organisation  dieser  Behörden  sich 
richteten.  Denn  wenn  man  gemeint  hat, 
die  Verwaltung  des  Hypotheken wesens  habe 
mit  dem  eigentlichen  Beruf  des  Richters, 
mit  der  Entscheidung  von  Rechtsstreitig- 
keiten nichts  zu  thun  und  könne  also  dem 
Richter  keine  innere  Befriedigung  gewäliren, 
so  darf  doch  nicht  vergessen  weitlen,  dass 
die  Grund-  und  Hypothekengeschäfte  Akte 
der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  und  als 
solche  ebenfalls  der  konkreten  Privatrechts- 
ordnung zu  dienen  bestimmt  sind.  Dazu 
kommt,  dass  auch  die  Buchbehörde  sich 
über  Rechtsfi-agen  schlüssig  zu  machen  hat, 
so  bei  der  Prüfung  der  Legitimation  und 
Handlungsfähigkeit  des  Antragstellers,  bei 
der  Prüfimg  der  Frage,  ob  der  Anti-ag  einen 
ziu*  Eintragimg  geeigneten  Inhalt  hat  etc. 
Deshalb  rechtfertigt  sich  die  üebertragimg 
der  Buchgeschäfte  an  richterliche  Behörden. 
Andererseits  dürfen  aber  dieselben  keine 
Kollegialbehörden  sein,  weil  nach  der  Natur 
der  Sache  eine  kollegiaüsche  Geschäftsbe- 
handlung immer  schwerfälliger  sein  wird 
als  die  Arbeit  eines  einzelnen  Beamten  und 
die  von  den  Buchbehörden  zu  erledigenden 
Rechtsfragen  nicht  so  sehr  bedeutungsvoll 
sind,  dass  sie  eine  kollegialische  Beliandlung 
erforderten.  Es  ist  deshalb  gerechtfertigt, 
Einzelrichter  mit  der  Wahrnehmung  der 
Buchgeschäfte  zu  betrauen.  Denn  abgesehen 
von  der  Mögliclikeit  schneller  bui'eaumässiger 
Geschäftsbeliandluug  gewährt  diese  Ein- 
richtung die  Gai'antie  der  Unabhängigkeit 
der  Richter  gegenüber  dem  Publikum  und 
einer  gehörigen  Dienstaufsicht  durch  die 
vorgesetzten  Justizbehörden.  So  erklärt  es 
sich,  dass  jetzt  fast  durchgängig  in  den  ein- 
zelnen deutschen  Staaten  (Pi^ussen,  Bayern 


in  den  Landesteilen  rechts  des  Rheins. 
vSachsen,  Oldenburg,  Fürstentum  Lübeck, 
Braunschweig,  Meiuingen,  Altenburg,  Cobm-g- 
Gotha,  Anhalt,  Rudolstaidt,  Sondersliausen, 
Waldeck,  Reuss,  Lippe,  Weimar)  die  Buch- 
geschäfte den  Amtsgerichten,  denen  auch 
im  übrigen  die  Geschäfte  der  freiwilligen 
Gerichtsbarkeit  anvertraut  sind,  obliegen. 
Gleich wolü  liat  die  Reichsgrundbuchordnung 
sieh  gescheut,  die  Grundbuchgeschäfte  den 
Amtsgerichten  zu  übertragen.  Sie  begnügt 
sich  vielmehr  damit,  der  von  der  Landes- 
gesetzgebung mit  der  Führung  der  Buch- 
geschäfte zu  betrauenden  Behöitie  den 
Namen  »Grundbuchamt«  zu  verleihen  (§  1 
Abs.  1).  Die  Organisation  der  Grundbuch- 
ämter ist  also  ganz  der  Landesgesetzgebung 
anheim  gegeben.  Wie  diese  Organisation 
ausfallen  wird,  ob  namentlich  diejenigen 
Staaten,  welche  bisher  die  Grund buchge- 
schäfte  nichtrichterlichen  Beamten  anver- 
traut haben,  in  Zukunft  etwa  ebenfalls  den 
Amtsgerichten  diese  Geschäfte  übertragen 
wei^den,  lässt  sich  zur  Zeit  noch  nicht 
übersehen.  Jedenfalls  aber  ist  nicht  zu  er- 
warten, dass  umgekelirt  Staaten,  welche 
bisher  diese  Gescliäfte  in  die  Hände  des 
Richters  gelegt  hatten,  dav(m  zurückkommen 
sollten. 

Wähi'end   danach   also  die  Oi'ganisation 
der  für  Grundbuchsachen   in  erster  Instanz 
zuständigen  Behörden    sich  vei-^chieden  ge- 
stalten  kann,    hat  die  Reichsgiimdbuchorcl- 
nung  den  Beschwerdezug  gegen  Verfügimgen 
der  Grundbuchämter  im  wesentlichen  ein- 
heitlich   geregelt.     In    denjenigen    Staaten, 
welche  die  Führung  der  Gnmdbücher  nicht 
den    Amtsgerichten     anvertrauen     werden, 
kann  allerdings  durch  Landesgesetz  bestimmt 
werden,  dass  zunächst   die  Abänderung  der 
Entscheidung  des  Grundbuchamts  beim  Ämts- 
gericht    nachzusuchen    ist.      Dessen    Ent- 
scheidung ist  aber  mit  der  Beschwerde  an- 
greifbar,    welche     an     das    übergeordnete 
Landgericht  geht.    In  den  anderen  Staaten 
aber  geht  die  Beschw^ei-de  gegen  die  Ent- 
scheidung des  Grundbuchamts  sofort  an  das 
übergeordnete  Landgericht.     Die  Entscthoi- 
dungen  endlich,  welche  ein  Landgericht  als 
Beschw^erdegericht    fällt,    können    mit   der 
weiteren  Beschwerde   beim   übergeordneten 
Oberlandesgericht  angefochten  werden.  Dabei 
ist  die  Landesgesetzgebung  ermächtigt,  eines 
von  mehreren  Oberlandesgerichten  oder  dfu> 
oberste  Landesgericht  als  Gericht  der  weiteren 
Beschwerde   zu  bestellen.    In  Preussen  ist 
bereits   das  Kammergericht   zu  Berhn  mit 
der  Entscheidung  der  weiteren  Beschwerde 
gegen  Entscheidimgen  der  Landgerichte  be- 
traut,  in  Biiuern  w^ird  das  oberste  Landes- 
gericht in  München  mit  dieser  Entscheidung 
beti^aut  wei'den.    Da  aber  die  Einheillicli- 
keit  der  Rechtsprechung  in  Gnmdbuchsachen 


Hypotheken-  und  Grrundbuchwesen 


1291 


durcli  diese  Einrichtungen  noch  nicht  gewähr- 
leistet ist,  bestimmt  die  Grundbuchord- 
uung  weiter,  dass  ausnahmsweise  das  Reichs- 
gericht an  Stelle  des  zuständigen  Ober- 
landesgerichts oder  obersten  Lanclesgerichts 
über  die  weitere  Beschwerde  gegen  eine 
land gerichtliche  Entscheidung  befinden  soll, 
dann  nämlich,  wenn  das  zuständige  Ober- 
landesgericht oder  oberste  Landesgericht  bei 
Auslegung  einer  reiclisgesetzlichen,  grund- 
buchrechtlichen Vorschrift  von  einer  auf 
weitere  Beschwenle  in  anderer  Sache  bereits 
ergangenen  Entscheidung  eines  Oberlandes- 
gerichts oder  von  einer  Entscheidung  des 
Reichsgerichts  bezüglich  der  gleichen  Rechts- 
frage abweichen  will  (§§  71,  72,  100  sowie 
78,  79  und  102  G.B.O.). 

In  Oesterreich  steht  die  Verwaltung  der 
Buchgeschäfte  ausschliesslich  den  Gerichten 
zu,  welche  mit  Rücksicht  auf  diese  ihre 
Funktion  Tabular-  oder  Grundbuchsge- 
richte heissen.  Doch  sind  diese  Gerichte 
bald  Kollegial-,  bald  Einzelgerichte.  Vor 
Kpllegialgerichte  (Gerichtshöfe  ei-ster  In- 
stanz, Ländsgerichte)  gehören  die  lehntäf- 
lichen  Güter,  die  land täf liehen  Güter  und 
die  eliemals  vStändischen  Güter  je  eines 
Kronlandes,  die  Güter  im  Umkreis  der 
Städte,  in  denen  sich  ein  Gerichtshof  erster 
Instanz  befindet,  die  Bergwerke  und  die 
Eisen bahngnuidstücke.  Vor  die  Einzelge- 
richte (Bezirksgerichte)  gehören  alle  übrigen 
Grundstücke.  Der  Rekurs  geht  an  den  dem 
angegi'iffenen  Gericht  übergeordneten  Ge- 
richtshof zw^eiter  Instanz  und  bei  abweichen- 
den Entscheid (uigen  beider  unteren  Instanzen 
von  da  an  den  obersten  Gerichtshof. 

Die  Xaphtabücher  sind  bald  von  den 
Kollegialgerichten,  bald  von  den  Bezirksge- 
richten zu  fülirea,  je  nachdem  das  Grund- 
stück, von  welchem  Naphtafelder  abgetrennt 
werden,  ein  landtäfliches  oder  ein  nichtland- 
täfliches  Grundstück  ist. 

Bei  jeder  Buchbehörde  funktionieren 
meist  Unterbeamte,  doch  hängt  auch  dies 
von  den  Bestimmungen  der  Landesgesetze 
ab.  AVo  Gerichtsbehörden  das  Grundbuch- 
amt bii<len,  da  wiixl  der  Gerichtsschreiber 
nat\u-gemäss  als  ünterbeamter  in  Grundbuch- 
sachen  zu  funktionieren  haben.  Die  Thätig- 
keit  des  Oberbeamten  umfasst  namentlich 
die  Aufnahme  von  Anträgen  auf  Eintragun- 
gen sowie  solche  Akte  der  freiwilligen  Ge- 
richtsbarkeit, aus  welchen  Eintragungen 
hervorgehen,  z.  B.  Aufnalime  von  Auflassungs- 
erklänmgen,  ferner  aber  auch  die  Beurkim- 
dung  des  Zeitpunktes,  in  welchem  ein  An- 
trag beim  Gnmdbuchamt  eingeht  (sogenannte 
Prä^^entation)  und  die  Verfügimgen  auf  die 
gestellten  Anträge.  In  den  Händen  des 
Unterbeamten  aber  liegt  meist  ebenfalls  die 
Präsentationsbefugnis  sowie  die  Aufnahme 
des  Pretokolls  über  die  Einlegung  einer  Be- 


schwerde oder  weiteren  Beschwerde,  weiter 
die  Bureau verwaltimg  (Eintragung  der  das- 
selbe Grundstück  betreffenden  Eingaben  in 
einem  Verzeichnis,  Zusammenfassen  dei-sel- 
ben  zu  besonderen  Grimdakten  über  jedes 
selbständige  Gnmdbuchobjekt,  Führung  eines 
Tagebuchs  über  die  bewirkten  Eintrag-ungen 
und  die  Uebertragung  der  von  dem  Grund- 
buchrichter entworfenen  Eintragungsver- 
merke in  die  Grimdbücher). 

Die  örtliche  Zuständigkeit  einer  Buch- 
behörde, deren  Bestimmung  in  Deutschland 
Sache  der  Landesgesetzgebungen  bleibt, 
wird  meistens  die  in  ihrem  Bezirk  gelege- 
nen Grundstücke  imd  die  ihnen  gesetzlich 
gleichgestellten  Gegenstände  umfassen.  Doch 
kann  durch  landesherrliche  Verordnung  be- 
stimmt werden,  dass  für  gewisse  Gattungen 
von  Grimdstücken  besondere,  nicht  für  Be- 
zii'ke  eingerichtete  Gnmdbücher  gefülu't 
werden  (§  85  G.B.O.).  Derartige  Einrichtun- 
gen bestehen  zum  Teil  schon.  So  sind  im 
Königreich  Sachsen  die  Amtsgerichte  Dres- 
den und  Bautzen  für  alle  den  vormaligen 
Appellationsgerichteu  Dresden  und  Bautzen 
zugewiesen  gewesenen  Lehn-  und  Fidei- 
kommissgrundstücke  zuständig,  also  weit 
über  ihren  Bezirk  hinaus  (§  14  des  säclis. 
Ausführungsg.  zum  G.V.G.  v.  1.  März  1879). 
Auch  nach  Ai-t.  7  des  bayerischen  Aus- 
führungsgesetzes zur  Deutschen  G.B.O.  kann 
die  Führung  des  Grundbuchs  über  Berg- 
werke für  melirere  Amtsgerichtsbezirke 
einem  Amtsgericht  übertragen  werden.  — 
Liegt  ein  Grundstück  in  den  Bezirken 
mehrerer  Buchbehörden,  so  ist  nach  franzö- 
sischem Recht  jede  Behörde  uui*  für  den 
in  ihrem  Bezii-k  gelegenen  Teil  zuständig, 
während  nach  anderen  Rechten  z.  B.  in 
Bayern  das  zuständige  Grundbuchamt  durch 
das  im  Instanzenzug  zunächst  höhere  Ge- 
richt bestimmt  vdrä.  Aehnlich  liegt  die 
Sache  auch  in  Preussen. 

Welche  Folgen  eine  Verletzung  der  ört- 
lichen Zuständigkeit  fih*  die  Giltigkeil  des 
Buchaktes  hat,  ob  also  auch  die  von  einer 
unzuständigen  Buchbehörde  vorgenommenen 
Akte  giltig  sind  oder  nichtig,  darüber  felüt 
es  an  jeder  reichsgesetzlichen  Norm.  Doch 
bestimmt  das  Reichsgesetz  vom  17.  Mai  1898 
über  die  Angelegenheiten  der  freiwillig*en 
Gerichtsbarkeit  (§  7),  dass  eine  Verletzung 
der  örtlichen  Zuständigkeit  durch  das  Ge- 
richt keine  Unwirksamkeit  der  gerichtlichen 
Handlung  nach  sich  ziehen  soU.  Da  die 
Gnindbuchgeschäfte  ihrer  Natur  nach  der 
freiwilligen  Gerichtsbarkeit  angehören,  so 
wird  man  diese  Vorschrift  auch  bei  Verlet- 
zung der  örtlichen  Zuständigkeit  eines 
Grundbuchgerichts  anzuwenden  haben.  Doch 
haben  einzelne  Ausführungsgesetze  zur 
Grundbuchordntmg,  z.  B.  Bayern  Art.  8,  dies 
noch  ausdrücklich  vorgeschrieben. 


1292 


Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 


Sollte  danach  aber  auch  im  einzelnen 
Falle  die  sachliche  oder  örtliche  Zuständig- 
keit einer  Buchbehörde  begründet  sein,  so 
fi-agt  es  sich,  ob  nicht  gleichwohl  die  Be- 
höi-de  aus  Gründen,  die  in  den  Beziehimgen 
ihrer  Mitglieder  zu  den  Interessenten  liegen 
—  nahe  Verwandtschaft,  Schwägerschaft, 
Ehe  zwischen  dem  Buchbeamten  und  der 
Interessentin,  eigene  Beteiligimg  des  Buch- 
beamten an  der  Sache  als  Mitberechtigter 
oder  Mitverpflichteter  etc.  — ,  ihre  Thätig- 
keit  im  einzelnen  Falle  ablehnen  muss. 
Die  Grundbuchordnung  regelt  auch  diese 
Frage  nicht  Nach  dem  Gesetz  über  die 
freiwillige  Gerichtsbarkeit  (§  6)  ist  sie  zu 
bejahen.  (Vgl.  auch  Art.  8  des  bayerischen 
Ausführungsgesetzes.)  Immerhin  schliesst 
§  10  der  G.B.O.  die  Anfechtung  einer  Ein- 
tragung aus  dem  Grunde,  weil  der  Grund- 
buchbeamte, welcher  sie  vornahm,  abgelehnt 
oder  kraft  (Gesetzes  ausgeschlossen  war,  im 
Interesse  der  Sicherheit  des  Grundbuchver- 
kehrs aus. 

11.  Das  Verfahren  der  Buchbehörden. 

Da  die  Geschäfte  der  Buchbehörden  gröss- 
tenteils dem  Gebiet  der  freiwilligen  Ge- 
richtsbai'keit  angehören  und  Privatreclite 
zum  Inhalt  haben,  so  tritt  die  Thätigkeit 
dieser  Behörden  regelmässig  mir  auf  Antrag 
ein,  —  ein  Grundsatz,  der  ül)eraU  anerkannt 
ist  und  naturgemäss  da  die  weiteste  An- 
wendung erfährt,  wo  das  Eintragungsprincip 
am  striktesten  durchgefülu^t  ist.  Ausnahmen, 
in  denen  die  Behörde  von  Amts  wegen 
vorzugehen  hat,  kommen  vor.  (§§  7  Abs.  1 
S.  2,  8  Abs.  2,  23,  Satz  1  a.  E.,  52,  53,  54 
und  76  Abs.  2)  und  oben. 

Der  Antrag  hat  entweder  von  einer  Be- 
hörde auszugehen,  die  nach  gesetzlicher 
Vorschrift  befugt  ist,  das  Grundbuchamt  um 
eine  Eintragung  zu  ersuchen  (§  39  G.B.O.), 
z.  B.  dem  Prozessgericht  behufs  Eintragung 
einer  Vormerkung,  der  Auseinandersetzungs- 
behörde behufs  Herbeifühnmg  der  üeber- 
einstimmung  des  Buchs  mit  den  von  ihr 
bestätigten  Separationsrecessen,  oder,  was 
die  Regel  bildet,  von  einem  der  unmittelbar 
beteiligten  Privatiiiteressonten,  sei  es  nun 
demjenigen,  welcher  durch  die  Eintragung 
gewinnen  soll  (Aktivinteressent),  sei  es  dem- 
jenigen, welchem  die  Eintragung  zum  Nach- 
teil gereichen  soll  (Passiv  Interessent).  Han- 
delt es  sich  z.  B.  um  Eintragung  einer 
Hypothek,  so  ist  Aktivinteressent  der  Gläu- 
biger, Passivinteressent  der  Grundstücks- 
eigontümer.  Handelt  es  sich  um  Belastung 
eines  Erbbaiu'echts ,  so  ist  Aktivinteressent 
derjenige,  dem  das  dingliche  Recht  am 
Erbbaurecht  zustehen  soll,  Passivini  eressent 
der  Erbbauberechtigte.  Handelt  es  sich  um 
Löschung  dieser  Belastung,  so  ist  I*assiv- 
interessent    der    Inhaber    des    auf  lastenden 


Rechts,  Aktivinteressent  der  Erbbaul>erecli- 
tigte  etc. 

Ausnahmsweise  sind  auch  niu*  uiittelW 
Beteiligte  antragsberechtigt.  So  kann  z.  B. 
die  Berichtigung  des  (jrundbuchs  durch 
Eintragung  des  nach  §§  894  und  895  B.G.B. 
zur  Berichtigung  Berechtigten  auch  von  dem- 
jenigen beantiTigt  werden,  welcher  a«f 
Grund  eines  gegen  den  Berechtigten  voll- 
streckbaren Titels  eine  Eintragung  in  das 
Grundbuch  verlangen  könnte.  Wenn  also 
z.  B.  an  Stelle  des  Erben  A  axif  Grund  ire- 
fälschten  Erbenlegitimationsattestes  der  B 
als  Grundstückseigenttimer  eingetragen  steht, 
so  ist  A  zu  dem  Verlangen  auf  Berichti- 
gung des  Buchs  berechtigt.  Ist  aber  A  dem 
C  rechtskräftig  zur  Bestellung  einer  Hyu^)- 
thek  auf  dem  fi'aglichen  Grundstück  verur- 
teilt, so  kann  nach  VoUstreckbarkeitserklä- 
rimg  dieses  Urteils  auch  der  C  die  B(^ 
richtigung  verlangen  (§§  14  und  4U  Abs.  1 
G.B.O.). 

Der  Antragsteller  hat  sich  natüi-lich  zu- 
nächst zu  legitimieren,  dann  aber  auch  seinen 
Antrag  zu  begründen.  Was  jedoch  zm*  Be- 
gründung gehört,  das  ist  —  von  dem  Inhalte 
der  beantragten  Eintragung  ganz  abgesehnii 
—  verscJiieden,  je  nachdem  im  Bezirk  der 
Buchbehörde  Legalitätsprincip  oder  Konsen^- 
princip  gilt. 

Das  Legalitätsprincip  bildet  eine  n«»t- 
wendige  Ergänzung  des  Princij)«  <ler  for- 
malen Rechtskraft  der  Eintragungen  (vd. 
oben  S.  1279/80).  Denn  wenn  nach  dem 
letzteren  Princip  die  Eintragimg  diuvh 
sich  selbst,  losgelöst  von  allen  materiell- 
rechtlichen  Voraussetzungen  das  beiurkund^^te 
Recht  wirken  soll,  so  darf  sie  nicht  eher 
vorgenommen  werden,  als  bis  ihre  Legalität 
ausser  allem  Zweifel  steht.  Deslmlb  findet 
sich  mit  dem  Princip  der  formalen  Rechts- 
kraft das  Legalitätsprincip  verbunden,  tl.  1l 
der  Grundsatz,  dass  der  Antragsteller  ein»^r 
Eintragung  das  Vorliandensein  aller  nach 
bürgerlichem  Recht  erforderten  Voraus 
Setzungen  der  Rechtsentstehung,  Aendenmi: 
oder  Endigung  der  Buchbehönie  nachweisen 
muss,  insonderheit  auch  die  Giltigkeit  d»*> 
zu  dem  Antrage  führenden  obligatorischen 
Geschäfts  und  beim  Antrag  auf  Eintragim.' 
einer  Hypothek  wegen  deren  access«>rischen 
Charakters  auch  die  Giltigkeit  der  Fordeninj:, 
zu  deren  Sicherung  die  Hypothek  diener. 
soll. 

Gilt  andererseits  materielles  Kons^^n^ 
princip,  so  genügt  es,  wenn  das  Vorhanden- 
sein des  beiderseitigen  Konsenses  vt.m 
Aktiv-  und  Passivinteressent  über  die  Rechts- 
entstehung, Aenderung  oder  Endigung.  derec 
Eintragung  beantragt  wird,  naehgewieseti 
ist,  imter  eventueller  Supplierung  des  K-l- 
senses  des  Passivinteressenten  durch  ein 
denselben   zur  Abgabe  der  Eintraguop^l'^^ 


Hjrpotheken-  und  Grnindbuchwesen 


1293 


willigung  venirteilendes ,  mit  Rechtskrafts- 
attest  vereehenes  Erkenntnis.  Aber  die 
deutsche  Grundbuchordnung  thut  im  An- 
schluss  an  das  preussische  Kecht  noch  einen 
weiteren  Schritt  im  Interesse  der  Erleichte- 
rung des  Grund  buch  Verkehrs.  Denn  obwohl 
nach  den  Bestimmungen  des  Bürgerlichen 
Gesetzbuchs  ohne  Einhaltung  des  materiellen 
Konsenses  der  dingliche  Rechtseffekt  durch 
die  Eintragung  der  Rechtsentstehung  oder 
Aenderung  nicht  begi-ündet  wird  (§  873), 
so  lässt  die  Grundbuchordnung  dennoch 
zum  Teil  die  Eintragung  zu,  wenn  nur  der 
Passivinteressent  in  dieselbe  eingewilligt  hat 
(formelles  Konsensprincip).  Es  wird  näm- 
lich vor  dem  Grundbuchamt  der  Nachweis 
der  beiderseitigen  Einigung  vom  Aktiv-  und 
Passivinteressent  nur  verlangt  hinsichtlich 
der  Yeräusserung  des  Grundstückseigentums 
so'^Ä'ie  der  Begründung  und  Yeräusserung 
eines  Erbbaurechts  (vgl.  oben  sub  8, 1  und  §  20 
G.B.O.,  §§  925  und  1015  B.G.B.).  Abge- 
sehen hiervon  erfolgt  die  Eintragung  auf 
Antrag  des  Aktiv-  oder  Passivinteressenten, 
wenn  letzterer  sie  bewilligt.  Stellt  er  den 
Antrag  in  gehörig  beglaubigter  Form, 
so  liegt  darin  seine  Bewilligung.  Han- 
delt es  sich  um  Löschung  einer  Hypo- 
thek oder  Grundschuld,  so  ist  wegen  seiner 
Anwartschaft  auf  die  Eigentümerhypothek 
auch  der  Grundstückseigentümer  Passiv- 
interessent. Ebenso  ist,  wenn  ein  auf 
einer  Hypothek  oder  Grundschuld  belasten- 
des Recht  gelöscht  werden  soll,  die  Ein- 
willigung des  Hypotheken-  oder  Grund- 
schuldgläubigers erfordert  (§  27  G.B.O.). 

Der  Einteagungsantrag  kann  formlos  ge- 
stellt wei-den;  die  Eintragungsbewilligung 
dagegen  muss  entweder  mündlich  zu  Proto- 
koll des  Grundbucliamts  erklärt  oder  durch 
öffentliche  oder  öffentlich  beglaubigte  Ur- 
kunden nachgewiesen  werden. 

Auch  soll  die  beantragte  Eintragimg  nur 
dann  orfolgen,  wenn  der  sie  Bewilligende 
im  Grundbuch  als  Berechtigter  eingetragen 
ist  (§  40  Abs.  1).  Dem  Grundbuchamt  wird 
dadurch  die  Prüfung,  wer  der  Passivinte- 
ressent sei,  sehr  erleichtert.  Erfolgt  aber 
die  Eintragung,  obwohl  der  Passivinteressent 
nicht  eingetragen  war,  so  ist  sie  nicht  um 
deswillen  unwirksam,  weil  der  sie  bewilli- 
gende Passivinteressent  nicht  im  Grundbuch 
stand.  (Ausnahme  von  dem  Erfordernis 
des  Eingetragenseins  des  Passivinteressenten : 
§§  40  Abs.  2  und  41  G.B.O.)  Ausnahms- 
weise bedarf  es  der  Eintragimgsbewilligung 
seitens  des  Passivinteressenten  überhaupt 
nicht  und  ebensowenig  eines  sie  ersetzenden 
rechtskräftigen  Urteils.  Dies  gut  nament- 
lich für  die  Eintragung  sogenannter  Zwangs- 
hypotheken und  für  alle  Eintragungen  auf 
Gnmd  des  gesetzmässigen  Ersuchens  einer 
Behörde,  z.  B.  der  Eintragung  des  Konkurs- 


eröffnungsvermerks über  das  Vermögen  eines 
Buchberechtigten  auf  Ersuchen  des  Konkurs- 
gerichts  (§  113  K.O.)  oder  des  Subhastations- 
einschreibungsvermerks  auf  dem  Grundbuch- 
blatt  des  zu  subhastierenden  Grundstücks 
auf  Ersuchen  des  Subhastationsrichters  (§  19 
Z.Y.O.). 

Der  Eintragungsanti'ag  setzt  das  Ver- 
fahren in  Grang,  ähnlich  wie  die  Klage  den 
Rechtsstreit.  Das  Verfahren  selbst  ist  aber 
kein  Streitverfahren.  Deshalb  kann  auch 
der  Antrag  keine  Obligation  für  den  Antrag- 
steller oder  den  Gegeninteressenten  begi'ün- 
den,  ähnlich  der  Prozessobligation,  woraus 
sich  ergiebt,  dass  der  Antragsteller  trotz 
Widerspruchs  der  Gegeninteressenten  seinen 
Antrag  noch  so  lange  in  öffentlich  beglaxi- 
bigter  Form  (§  32)  zurücknehmen  kann,  als 
die  Eintragimg  nicht  thatsächlich  erfolgte. 
Dasselbe  ^t  von  der  Eintragungsbewilligung. 
Für  die  Thätigkeit  des  Grundbuchamts  ist 
es  dabei  ganz  gleichgiltig,  ob  in  der  Zurück- 
nahme des  Antrags  oder  der  Bewilligung 
eine  materiellrechtliche  Widerrechtlichkeit 
liegt  oder  nicht.  Vielleicht  hatte  der  Passiv- 
interessent sich  dem  Aktivinteressenten  auch 
zur  Stellung  des  Antrags  verpflichtet.  Wenn 
es  hier  der  Aktivinteressent  nicht  vorzieht, 
den  Antrag  selbst  zu  stellen,  so  kann  er 
nur  vor  dem  Pi-ozessgericht  den  Passivinte- 
ressenten auf  erneute  Antragstellung  verkla- 
gen. Ebenso  liegt  der  Fall,  wenn  der  Grund- 
stückseigentümer, welcher  sich  seinem  Gläu- 
biger zur  Hypothekenstellung  verpflichtet 
hatte,  die  abgegebene  Eintragungsbewilligung 
widerruft.  Der  Tod  des  AntragsteUers  oder 
des  Passivinteressenten,  welcher  die  Eintra- 
gimgsbewilligung bereits  erklärte,  hindert  an 
sich  die  Eintragung  nicht.  War  jedoch 
Antrag  oder  Bewilligung  auf  ein  unvererb- 
liches Recht  gerichtet  so  liat  die  Eintragung 
zu  unterbleiben,  wenn  der  Behörde  der  Tod 
des  Berechtigten  nachgewiesen  wird  (vgl. 
auch  §  23  Abs.  2  G.B.O.). 

Wenn  ein  Antrag  bei  der  Buchbehörde 
eingeht,  so  ist  vor  allem  der  Zeitpunkt  des 
Eingangs  genau  zu  bemerken.  Denn  die 
Buchbehörde  hat  die  Anträge  nach  der  zeit- 
lichen Reihenfolge,  in  welcher  sie  eingingen, 
zu  erledigen  und  macht  sich  regresspüichtig, 
wenn  sie  durch  ein  hierbei  untergelaufenes 
Versehen  Schaden  verursacht.  Bei  ilu*er 
Erledigmig  hat  die  Behörde  von  Amts  wegen 
zu  prüfen:  ihre  eigene  Zuständigkeit,  ob 
die  Anti'äge  erlaubten  Inhalts  sind,  ob  die 
Eintragungsbewilligung  'formgerecht  erteilt 
ist,  Handlungsfähigkeit  und  Verfügungsrecht 
des  Antragstellers  und  des  Einwilligenden. 
Ob  das  materielle  Konsensprincip  gewahrt 
sei,  geht  die  Grundbuchbehörde  regelmässig 
nichts  an.  Ausnahmen:  §  20  G.B.O.  vgl. 
auch  Art.  143  E.G.  z.  B.G.B.).  Dabei  darf 
das    Grundbuchamt     die    Voraussetzungen 


1294 


Hj'potheken-  und  Gnmdbuchwesen 


einer  Eintragung  nur  dann  für  vorhanden 
annehmen,  wenn  sie  entweder  bei  ihm 
offenkundig  oder  durch  öffentliche  Urkunden 
nachgewiesen  sind  (§  29  G.B.O.).  Findet 
die  Buchbehörde  Anstände,  so  muss  je  nach 
ihrer  Bedeutimg  der  Antrag  entweder  defi- 
nitiv zun'ickgewiesen  oder  zur  Yerbesserung 
und  Behebung  der  Zweifel  innerhalb  ge- 
richtsseitig  bestimmter  Frist  zuriickgegeben 
werden.  Mit  fruchtlosem  Ablauf  der  Frist 
erfolgt  dann  die  definitive  Zurückweisung 
(§  18  G.B.O.).  Finden  sich  keine  Anstände, 
so  ist  von  dem  Grrundbuchrichter  der  Ein- 
tragimgs vermerk  in  den  Gnmdakten  zu  ent- 
werfen und  von  dem  Gerichtsschreiber 
wörtlich  in  das  Grundbxich  zu  übertragen. 
Der  Eintragungsvermerk  ist  darauf  im 
Grundbuch  zu  datieren  und  von  den  Buch- 
beamten zu  unterschreiben  (§  45).  Endlich 
sind  den  Interessenten  Benachrichtigungen 
von  der  stattgehabten  Eintragimg  zuzusenden, 
soweit  nicht  darauf  verzichtet  ist  (§  55). 
So  erhält  der  Grundstückseigentümer  bezüg- 
lich jedes  im  Buch  eingetragenen  Vermerks, 
bei  Eigentumsübertragungen  auch  der  neue 
Eigentümer,  eine  Benachrichtigung  sowie 
jeder  an  dem  Grundstück  dinglich  Berech- 
tigte. Jedoch  kann  es  auch  nötig  sein, 
ausserdem  besondere  Urkunden  in  behörd- 
licher Fonu  auszufertigen  und  gegen  Em- 
pfangsbescheinigung zustellen  zu  lassen. 
Dies  gilt  bei  Eintragung  einer  Hypothek 
oder  Grundschuld,  insofern  ein  Hypotheken- 
oder Grundschuldbrief  ausgefertigt  wird. 
Dieselben  sind  von  der  Buchbehörde  ausge- 
stellte amtliche  Urkunden  über  die  dingliche 
Belastung  eines  Grundstücks  mit  einer  Hyi)o- 
thek  oder  Grundschxüd.  Der  Brief  muss 
die  Bezeichnung  als  Hypotheken-,  Grund- 
oder Rentenschuldbrief,  den  Geldbetrag, 
beim  Rentenschuldbrief  die  Ablösungssumme, 
Angabe  des  Pfandgrundstücks,  Unter- 
schrift und  Siegel  des  Grundbuchamts  ent- 
halten. Die  Ausstellung  eines  Hypotheken- 
briefs über  eine  Sicheningshypothek  ist 
unzulässig.  Im  übrigen  wird  der  Brief  stets 
ausgestellt,  wenn  nicht  seine  Ausstellung 
durch  Vertrag  zwischen  Gläubiger  und 
Grundstückseigentümer  ausgeschlossen,  und 
dass  dies  geschehen,  im  Grundbuch  einge- 
tragen wurde  (§§  1116  Abs.  2  und  1192 
B.G.B.).  Der  Grundschuldbrief  kann  auch 
auf  den  Inhaber  ausgestellt  werden  (§  1195). 
Ist  dies  geschehen,  so  steht  das  Gläubiger- 
recht jedem  Inhaber  des  Briefs  nach  Mass- 
gabe der  §§  793,  794  und  796  B.G.B.  zu. 
Berechtigt  ist  also  nur  der  rechtmässige  In- 
haber, nicht  der  Dieb,  Finder,  wohl  aber 
deren  redliche  Singularsuccessoren.  Denn  der 
Aussteller  des  Briefs  kann  Einreden  aus  der 
Person  eines  Vorbesitzers  dem  Präsentanten 
nicht  entgegensetzen.  —  Regelmässig  hän- 
digt die  Buchbehörde  den  Brief  dem  Gnmd- 


stückseigentümer  aus,  welcher  die  UelK?r- 
eignung  an  den  Gläubiger  zu  be\^il•ken  hat 
Doch  können  Parteien  auch  vereinbaren, 
dass  der  Brief  vom  Grund buchamt  unmittel- 
bar dem  Gläubiger  ausgehändigt  werden  soll. 

Während  nach  den  meisten  fi*üheren 
Rechten  der  Hypothekenbrief,  auch  Pfand- 
schein genannt,  nur  die  Natiu*  eines  Beweis- 
mittels hatte,  erhöht  das  Bürgerliche  Gesetz- 
buch im  Anschluss  an  das  preussische  Recht 
die  Bedeutung  desHypotheken-  und  desGrund- 
schuld-  oder  Rentenschiüdbriefes.  Man 
kann  seine  Bedeutung  km-z  dahin  angeben, 
dass  an  den  Besitz  des  Briefs  sich  >die 
Entstehung  und  die  Geltendmacliuug  des 
Gläubigerrechts«  knüpft.  Bis  zur  Ueber- 
gabe  des  Briefes,  oder,  wenn  der  Brief  sich 
in  dritter  Hand  befindet,  bis  zur  Abti-etung 
des  Anspruchs  auf  Herausgabe  des  Briefs 
steht  nändich  die  Hypothek  oder  Grund- 
schuld dem  Grrundstückseigentümer  zu 
(§  1117).  Doch  erwirbt  der  Pfandgläubiger 
sofort  mit  der  Einti-agung  das  Pfandrecht, 
wenn  vereinbart  war,  dass  der  Glaubiger 
sich  den  Brief  vom  Grundbuchamt  solle 
aushändigen  lassen.  Weiter  knüpft  sieh 
Abtretung  (§  1154  S.  1  imd  1195)  und 
^Verpfandung  (§  1275)  des  Pfandrechts  an 
die  Uebergabe  des  Briefes.  Auch  braucht 
niu*  gegen  Aushändigung  des  Briefes  ge- 
zahlt und  gelöscht  zu  werden. 

Nach  österreiclüschem  Grundbuchrecht 
hat  das  Grundbuchgericht  regelmässig  auch 
nur  auf  Antrag«  vorzugehen  oder  auf  Er- 
suchen von  Behörden  (§  76  a.  G.G.).  Di« 
Anträge  sind  bei  den  Gerichtshöfen  schrift- 
lich anzubringen,  bei  den  Bezirksgerichten 
können  sie  auch  zu  Protokoll  erklärt  werden 
(§  83  a.  G.G.).  Dem  Antrage  müssen  je- 
doch die  Originale  der  Urkxmden,  auf  welche 
sich  der  Antrag  stützt  imd,  falls  diese  nicht 
in  der  Gerichtssprache  abgefasst  sind,  nach 
den  Vorschriften  über  das  gerichtliche  Ver- 
fahren vollen  Glauben  verdienende  Ueber- 
setzungen  beigefügt  werden  (§  89).  Diese 
Originalurkunden,  sind  einmal  die  Ein- 
tragungsbewilligung des  im  Buch  beix?its 
eingetragenen  (§  21  a.  G.G.)  Passivinte- 
ressenten, welche  gerichtlich  oder  notariell 
beglaubigt  sein  muss,  und,  soweit  es  sieh 
um  Entstehung  oder  Aenderung  eines  Rechts 
handelt,  auch  die  den  materiellen  Rtx^hts- 
grund  enthaltenden  Urkunden,  z.  B.  der 
Kaufvertrag  über  das  auf  den  Namen  des 
Erwerbers  fiberzuschreibenden  Gnmdstüeks. 
(§  26  a.  G.G.  vgl.  Strohal:  Eigentum  an 
Immobilien  S.  33  ff.).  Antragsberechtigt  ist 
sowohl  der  Aktiv-  als  der  Pa'^iviate- 
ressent.  Auch  dritte  Personen  können  die 
Eintragimg  eines  einem  anderen  zustehen- 
den Rechts  beantragen,  wenn  von  dieser 
Eintragung  ihr  eigenes  Recht  abhängt, 
z.  B.  A  hat  das  Grundstück.  X  geerbt,  sich 


Hypotheken-  und  Griuulbuchwesen 


1295 


aber  noch  nicht  als  Eigentümer  eintragen 
lassen  und  dem  B  eine  Hypothek  auf  diesem 
Gnmdstück  versprochen.  80  kann  B  die 
Eintragung  des  A  als  Gnuidstückseigen- 
tümer  beantragen  (§  78).  Das  Giimdbuch- 
goricht  hat  das  eingegangene  Gesuch  mit 
einer  Protokollzalü  zu  versehen,  entspi-echend 
unserer  Präsentation,  darauf  das  Gesuch 
auf  die  vorher  angegebenen  Punkte  hin  zu 
prüfen  imd  sich  namentlich  auch  über  die 
persönliche  Fähigkeit  der  bei  der  Eintragimg 
Beteiligten  zur  Verfügung  zu  vergewissern. 
Etwa  sich  herausstellende  Anstände  führen 
regelmä.*^sig  zur  Zurückweisung  des  Gesuchs. 
Besteht  der  Mangel  jedoch  in  dem  Fehlen 
des  Originals  der  Lrkunden,  auf  welche 
sich  das  Eintragimgsbogehren  stützt,  oder 
in  dem  Fehlen  der  Uebersetzung,  so  kann 
das  Gesuch  im  Grundbuch  angemerkt  werden 
mit  dem  Zusatz  »bis  zur  Einlangimg  des 
Originals  oder  der  Uebersetzung«.  Die 
Rangordnung  der  definitiven  Eintragung 
wird  dadurch  für  den  Fall  gewahrt,  dass 
der  Antragsteller  binnen  der  gerichtsseitig 
zu  bestimmenden  iVist  Original  oder  ueber- 
setzung beibringt.  Erfolgt  die  Beibringung 
nicht,  so  wird  die  Anmerkung  von  Amts 
wegen  gelöscht. 

Hypothekenbriefe  oder  Gnmdschuldbriefe 
sind  dem  österreichischen  Recht  unbekannt. 
Wohl  aber  verlangt  dasselbe  ebenfalls  die 
amtliche  Benachrichtigung  der  Interessenten 
von  dem  Vollzug  der  Eintragung.  Es  kennt 
zu  diesem  Behuf  die  Certiorienmgsklausel, 
d.  h.  die  auf  dem  Original  der  das  Rechts- 
verhältnis, auf  Grund  dessen  die  Entstehimg 
des  konkreten  Hypothekenrechts  in  Anspnich 
genommen  wird,  bezeugenden  Urkunde  (sog. 
Tabularurkunde,  z.  B.  ein  notarieller  Kauf- 
vertrag, in  welchem  auch  die  Bestellung 
einer  Hypothek  für  die  Kaufgeldfordenmg 
ausgemacht  ist)  durch  das  Grundbuchamt 
zu  verzeichnende  Bestätigung  des  Vollzugs 
der  Eintragung,  unter  Angabe  ihres  wesent- 
lichen Inhalts  und  ihrer  Stelle  im  Buch. 
Ausserdem  hat  das  Grundbuchamt  auf  Ver- 
langen eines  Interessenten  sogenannte  Satz- 
briefe oder  Intabidationsscheine,  d.  h.  amt- 
liche Verzeichnisse  über  Vollzug  und  In- 
halt einer  Eintragung  auszustellen. 

Auch  für  das  Verfahren  der  Hypotheken- 
bewahrer  in  Frankreich  gilt  Antragsprincip. 
Anti-agsberechtigt  ist  bei  der  Transskription 
toute  partie  interessee;  bei  der  Inskription 
sind  antragsberechtigt:  der  Gläubiger  und 
sein  Rechtsnachfolger,  die  Gläubiger  des 
Gläubigers  und  bei  den  Legalhypotheken 
der  Ehefrau  und  der  Bevormundeten  sowohl 
Vormimd  als  Gogenvomaund  als  die  Bevor- 
mundeten selbst  und  ihre  Verwandten,  ja 
sogar  der  Staatsanwalt.  Kaufgelderrück- 
stände und  das  zum  Ankauf  eines  Immo- 
bile gegebene  Darlehn  sind  vom  Hypotheken- 


bewalirer  von  Amts  wegen  in  das  Inskrip- 
tionsregister einzuti-agen  wenn  sie  bei  der 
Transskription  des  verkauften,  beziehentlich 
angekauften  Grundstücks  im  Transskriptions- 
register  gewährt  wurden. 

Sowohl  Trans-  als  Inskription  erfolgen 
regelmässig  nur,  wenn  die  Erwerbsurkunde 
des  Eigentums  oder  die  Entstehungsurkunde 
der  Hypothek  vom  Antragsteller  vorgelegt 
werden.  Doch  ist  die  Eintragung  auch 
giltig,  wenn  die  Vorlegung  imterblieben  ist. 
Wird  sie  bewirkt,  so  hat  der  Hypotheken- 
be wahrer  den  Eingang  der  Urkunde  unter 
fortlaufender  Nummer  in  seinem  Tagebuch 
zu  bemerken. 

Der  Antragsteller  einer  Inskription  hat 
ausserdem  dem  Hypothekenbewahrer  zwei 
gleichlautende  bordereaux,  summarische  In- 
haltsangaben —  die  anzuhebenden  Punkte 
sind  gesetzlich  vorgeschrieben  —  vorzu- 
legen. Die  ganze  Thätigkeit  des  Hypotheken- 
bewahrers  aber  besteht  nun  darin,  dass  er 
auf  Verlangen  dem  Antragsteller  der  Trans- 
oder Inskription  auf  Stempelpapier  ein  Be- 
kenntnis über  Eingang  des  Antrags  imd  der 
Erwerbs-  oder  Entstehungsurkunde  mit  An- 
gabe des  Datums  und  der  Zahl,  imter  welcher 
die  Einschreibung  im  Tagebuch  erfolgte, 
ausstellt  und  die  Trans-  oder  Inskription 
vornimmt.  Die  Transskription  besteht  in 
wörtlicher  Uebertragung  der  eingereichten 
Erwerbslirkunde  über  das  Grundstücks- 
eigentum in  das  Transskriptionsregister.  Bei 
Inskription  aber  hat  er  den  Inhalt  der 
bordereaux  in  das  Inskriptionsregister  ein- 
zutragen, auf  dem  einen  die  geschehene 
Eintragimg  zu  vermerken  und  es  dem  An- 
tragsteller zurückzugeben.  Das  andere  bleibt 
bei  den  Akten. 

Die  Priifungspflicht  des  Beamten  er- 
streckt sich  dabei  lediglich  darauf,  ob  die 
bordereaux  den  formellen  Anforderungen 
des  Gesetzes  entsprechen.  Die  Rechts- 
giltigkeit  des  Titels,  auf  Gnind  dessen  die 
Trans-  oder  Inskription  verlangt  wird,  geht 
ihn  nichts  an.  Hypothekenbriefe  kennt  das 
französische  Recht  nicht. 

12.  Die  Haftpflicht  der  Buchbeamten 
und  des  Staates.  Ist  jemandem  von  einem 
Beamten  durch  üeberschreitung  seines  Amtes 
oder  Vernacldässigung  seiner  Amtspflichten 
Schaden  verursacht,  so  beschränkt  sich  nach 
einer  im  gemeinen  Recht  weitverbreiteten 
Meinung  die  Haftung  der  Beamten  auf  den 
Fall  ^ober  Nachlässigkeit  und  tritt  nur 
subsidiär  ein,  also  nur  dann,  wenn  der  Be- 
schiddigte  die  Rechtsmittel  gebraucht  hat, 
durch  welche  er  die  ilim  Schaden  bringende 
Handlung  oder  Ueberlassung  hätte  abwehren 
können.  Weiter  ging  das  preussische  Recht. 
Nach  ihm  haftet  der  Beamte  für  geringes 
Versehen.  Seine  Haftpflicht  wird  aber  nur 
für  den  Fall  anerkannt,  dass  der  Beschädigte 


1296 


Hypotheken-  xind  Grrundbuchweseii 


durch  Gebraiicli  der  Rechtsmittel  oder  von 
anderer  Seite  —  wegen  Fahrlässigkeit,  Vor- 
satz, ungerechtfertigter  Bereicherung  einer 
dritten  Person  —  Ersatz  nicht  erlangen 
kann.  Konkurriert  jedoch  mit  dem  geringen 
oder  massigen  Versehen  des  Beamten  eigenes 
grobes  Versehen  des  Beschädigten,  so  giebt 
es  keine  Schadensersatzpflicht  der  Behörde. 
Auch  nach  dem  Bilrgerlichen  Gesetzbuch  haftet 
der  Beamte  für  jede  schuldhafte  Verletzung 
seiner  Amtspflicht  (§  839).  Aber  seine 
Haftpflicht  ist,  abgesehen  vom  Fall  des  dolus, 
auch  nur  subsidiär.  Denn  sie  tritt  nur 
dann  ein,  wenn  der  Verletzte  auf  andere 
Weise  Ersatz  nicht  zu  erlangen  vermag,  und 
sie  fällt  ganz  fort,  wenn  der  Verletzte  es 
fahrlässig  unterlassen  hat,  den  Schaden  diu-ch 
Gebrauch  seines  Rechtsmittels  abzuwehren. 
Die  besondere  Regulierung  der  Haftpflicht 
des  Spruchrichters  —  er  haftet  nur,  wenn 
seine  rflichtverletzung  kriminell  strafbar  ist 
oder  in  der  Verweigerung  oder  Verzögenmg 
der  Amtsausübung  besteht  —  kommt  für 
die  Buchbehörden  nicht  in  Frage. 

Nach  dem  B.G.B  kommen  nun  aber  diese 
eben  dargestellten  Grundsätze  der  Beamten- 
haftpflicht bei  den  Gnindbuchbeamten  — 
mögen  dieselben  Staats-  oder  Gemeindebe- 
amte sein  —  dem  Publikum  gegenüber 
überhaupt  nicht  zur  Anwendung,  sondern 
nur  gegenüber  dem  Staat  oder  der  Gemeinde, 
in  deren  Dienste  die  Bxichbeamten  sich  be- 
finden. Denn  §  12  der  G.B.O  erklärt  den 
Staat  oder  die  Gemeinde  gegenüber  dem 
Publikum  unter  den  gleichen  Voraussetzungen 
für  die  von  ihren  Buchbeamten  begangenen 
Amtspflichtverletzungen  für  haftbar,  unter 
denen  ein  Beamter  anderer  Kategorie  selbst 
haftet.  Und  zwar  nicht  etwa  so,  dass  Staat 
oder  Gemeinde  solidarisch  mit  ihren  Be- 
amten oder,  wie  früher,  gar  nur  subsidiär 
nach  den  Beamten  haften,  sondern  so,  dass 
dasPublikimi  Schadensei-satzansprüche  gegen 
die  Grundbuchbeamten  überhaupt  gar  nicht 
mehr  hat,  sondern  nur  gegen  den  Staat  oder 
die  Gemeinde.  Selbstverständlich  haben 
dann  aber  die  letzteren  ihi-en  Regress 
gegen  die  schuldigen  Grundbuchbeamten, 
jedoch  nur  unter  denselben  Voraussetzungen, 
unter  denen  diese  Beamten,  wenn  sie  mcht 
Grund buchbeamte  wären,  selbst  haften 
würden.  Die  Haftpflicht  des  Staates  oder 
der  Gemeinde  gestaltet  sich  danach  also  in 
folgender  Weise: 

a)  Hat  der  Buchbeamte  vorsätzlich 
Schaden  zugefügt,  so  haften  Staat  oder  Ge- 
meinde in  erster  Linie; 

b)  Beruht  die  Schadenzufügung  auf  Fahr- 
lässigkeit, so  haften  Staat  oder  Gemeinde 
in  zweiter  Linie,  nämlich  nur  dann,  wenn 
der  Verletzte  nicht  von  dritter  d.  h.  anderer 
Seite  als  dem  Buehbeamten  Ersatz  ver- 
langen kann: 


c)  Die  Schadensersatzpflicht  fällt  fort, 
wenn  der  Beschädigte  es  schuldhaft  unter- 
lassen hat,  den  Schaden  durch  den  Gebrauch 
eines  Rechtsmittels  abzuwenden. 

Mit  dieser  Regelung  entscheidet  die 
Grundbuchordnung  einen  alten  Streit,  der 
auch  in  den  verschiedenen  Partikulargesetz- 
gebungen Ausdruck  gefunden  hatte.  Denn 
wälu-end  bisher  schon  Sachsen,  Mecklenbui-g, 
Weimar,  Altenburg,  Meiningen  principale 
Haftung  des  Staates  anerkannten,  hatte 
Preussen  und  die  ihm  in  der  Grundbuch- 
gesetzgebung folgenden  Staaten,  ferner 
Bayern.  Coburg,  Hamburg  sich  auf  den 
Standpunkt  subsidiärer  Haftung  gestellt.  Die 
Regelung  der  Grundbuchordnung  entstanunt 
dem  G.  v.  22.  Juni  1891  für  Elsass-Loth- 
ringen.  Bedenkt  man,  dass  der  Staat  im 
allgemeinen  Interesse  das  Hypotheken-  und 
Grundbuchwesen  geordnet  xind  dabei  die 
Mitwirkung  der  staatlichen  bezw.  Gemeinde- 
behörden vorgeschrieben  hat,  den  einzelnen 
also  zwingt,  sich  bei  Vornahme  voa  Privat- 
rechtsgeschäften der  Hilfe  der  Behörden  zu 
bedienen,  so  ist  die  Garantie,  es  werde  dem 
einzelnen  ein  Schaden  aus  dieser  Ein- 
mischung nicht  erwachsen,  eine  Forderung 
der  Gerechtigkeit  Die  Regelung  dieser 
Frage  in  der  in  §  12  G.B.O.  festgesetzten 
Weise  bietet  aber  dem  Beschädigten  den 
Vorteil,  dass  er  nicht  erst  gegen  den  Be- 
amten, der  doch  am  Ende  zahlungsunfähig 
sein  kann,  zu  prozessieren  hat,  um  dann 
den  Staat  oder  die  Gemeinde  in  Anspnicli 
zu  nehmen,  und  dass  er  weiter  sich  nicht 
mit  der  schwierigen  Feststellung,  ob  seine 
Beschädigung  auf  einem  Versehen  des 
Grundbuchrichters  oder  des  Grundbuch- 
führers beruht,  zu  plagen  hat.  Andererseits 
tritt  wegen  der  dem  Staat  oder  der  Ge- 
meinde gegen  den  Beschädiger  zustehenden 
Regressfordenmg  die  endgiltige  Haftung 
von  Staat  oder  Gemeinde  auch  nach  dieser 
Regelung  nur  dann  ein,  wenn  der  Beamte 
den  von  ihm  venu'sachten  Schaden  selbst 
nicht  decken  kann. 

Die  Schadensersatzklage  des  Beschädigten 
gegen  den  zum  Ersatz  des  Schadens  ver- 
pfüchteten  Staat  ist  bei  demjenigen  Amts- 
oder Landgericht  zu  erheben,  in  dessen  Be- 
zirk die  zur  Vertretung  des  Fiskus  in  dem 
Rechtsstreit  berufene  Behörde  ihren  Sitz 
hat  (§  18  C.P.O.).  Die  Klage  gegen  die  Ge- 
meinde gehört  vor  das  Gericht,  in  dessen 
Bezirk  der  Ort  der  Gemeindeverwaltung 
liegt  (§  17  C.P.O.).  Die  Schadenersatzklage 
verjährt  in  drei  Jahren  von  dem  Zeitpunkt 
an,  in  welchem  der  Verletzte  von  dem 
Schaden  Kenntnis  erlangte,  und  ohne  Rück- 
sicht auf  diese  Kenntnis  in  dreissig  Jahren 
von  der  Begehung  der  schädigenden  Hand- 
lung an  (§  852  B.G.B.).  Haften  Staat  oder 
Gemeinde  nur  subsidiär  (oben  sub  b),  so  be- 


Hypotheken-  und  Grundbuchwesen 


1297 


ginnt  die  dreijährige  Yerjährung  erst  dann 
zu  laufen,  wenn  feststeht,  dass  von  anderer 
Seite  kein  Ersatz  zu  erlangen  ist.  Denn 
früher  ist  der  Anspruch  gegen  den  Staat 
oder  die  Gemeinde  nicht  entstanden  und 
die  Verjährung  einer  nicht  gegebenen  Klage 
kann  nicht  beginnen  (§  198  B.G.B.). 

Nach  österreichischem.  Recht  haftet 
der  Grundbuchbeamte  für  jeden  Schaden, 
den  er  durch  schuldhafte  üebertretung 
seiner  Amtspflicht  verursacht  hat,  voraus- 
gesetzt, dass  die  ordentlichen  Prozessrechts- 
mittel keine  Abhilfe  gewähren.  Neben  ihm 
haftet  gleich  einem  »Bürgen  und  Zahler« 
d.  h.  als  Mitschulder  zur  ungeteilten  Hand 
der  Staat.  In  Frankreich  endlich  haften  die 
Registerbeamten  nur  für  den  durch  grob- 
fahrlässige Pflichtverletzungen  verursachten 
Schaden.  Es  handelt  sich  dabei  um  die  ge- 
wöhnliche Klage  auf  Schadenersatz  wegen 
unerlaubter  Handlungen,  welche  in  30  Jahren, 
jedoch  nach  Niederlegung  des  Amtes  in  10 
Jahren  verjährt.  Da  der  französische  Re- 
gisterbeamte in  dieser  seiner  Eigenschaft 
gar  nicht  Staatsbeamter  ist,  so  kann  von 
einer  Haftpflicht  des  französischen  Staats  für 
die  Vei^sehen  der  Registerbeamten  keine 
Rede  sein. 

Quellen    ond   Litteratnr:    A.    Quellen:    i. 

Trans-  und  Inskriptionssyst^m :  code  civil  Art. 
2092—2203;  Transskriptimisg,  v.  2S.  HL  1855, 
Gesetz,  betreffend  die  Zwangsvollstreckung  in 
das  unbewegliche  Vermögen,  einschliesslich  der 
Vollziehung  des  Arrestes  und  einstweiligtr  Ver- 
fiigungen,  über  das  Hypothekenreinigungsver- 
fahren und  über  das   Verteilungsverfahren  v.  SO. 

IV.  1880  (Elsa>ss- Lothringen).  —  Badisches  Land- 
recht  V.  8.  IL  bez.  12.  XII.  1809,  Satz  939  a, 
1002  a,  1583  a,  2092—2203.  —  Anleitung  zur 
Führung  der  Grund-  und  Pfandbücher  v.  13.  IV. 
1868,  Bereinigungsg.  v.  5.  VI.  1860  und  v.  28. 
I.  1874  i  Gesetz,  betreffend  die  Führung  der 
Grund-  und  Pfandbücher  in  den  Städten  der 
Städteordnung  v.  24.  VI.  1874,  Pfandg.  v.  29. 
III.  1890.  —  Bayerisches  G.  v.  16.  IIL  1868 
über  Abänderung  einiger  Bestimmungen  des  in 
der  Pfalz  geltenden  Civügesetzlmchs  über  Privi- 
legien und  Hypotheken,  —  Hessisches  G.  v.  29. 
X.  1830  über  Anlegung  von  Gi'undbüchem,  v.  5. 
VIII.  1878  über  Einrichtung  der  Hypotheken- 
ämter, V.  6.  VI.  1879  über  die  Uebertragung 
von  Grundeigentum  und  die  Fortführung  der 
Grundbücher  in  der  Provinz  Rheinhessen,  sowie 
die  Ausführungsverordnung  dazu  von  demselben 
Tage,  f§  4  ff-  —  Oldenburgischs  Hypothekenord- 
nung V.  11.  X.  I8I4  für  das  Fürstentum  Bilden- 
feld,  umgestaltet  durch  V.  v.  19.  III.  1879.  — 
8.  Hypothekenbuchsystem :  Bayerisches  Hypo- 
thekeng. V.  1.  VI.  1822,   Vollzugsinstruktion  dazu 

V.  13.  III.  1823,  Priorilätsordnung  v.  1.  VI.  1822. 
—  Württembergisches  Pfandg.  v.  15.  IV.  1825, 
Gesetz,  die  vollständige  Entvnckelung  des  neuen 
Pfandsystems  betreffend,  v,  21.  V.  1828,  Gesetz, 
betreffend  die  Führung  der  Bücher  durch  Ge- 
meindebeamte V.  13.  IV.  1873,  Vollzugsverfügung 
des  Justizministers  dazu  v.  I4.  IV.  1873,  Ver- 
fügung V.  3.  XII.  1832,  betreffend  Anlegung  und 

Handwörterbach  der  StaatewisseiiBchaften.    Zweite 


Führung  der  Gemeindegüterbücher.  —  Ergän- 
zungsverfügung dazu  V.  6.  XII.  1836  und  Ver- 
fügung v.  12.  X.  I849,  betreffend  die  Erhaltung 
und  Fortführung  der  Flurkarten  und  Bureau- 
kataster (Reg.-Bl.  S.  677).  —  Weimarische  Pfand- 
und  Prioritätsg,  v.  1,  und  7.  V.  1839  und  die 
Ausführungsverordnung  dazu  v.  12.  IIL  I84I.  — 
RudöUtädtisches  Gesetz  v.  6,  VI.  1856  über  Ver- 
besserung des  Hypothekenwesens  und  Ausfiihrungs- 
verordung  dazu.  —  Preussischer  Kreis  Lauenburg : 
V.  zur  Verbesserung  des  Hypothekenwesens  v. 
15.  IIL  1836  und  Schuld-  und  Pfandproiokoll- 
ordung  v.  26.  V.  1860.  —  Mecklenburg- Schwerin 
und  Strelitz:  Revidierte  Hypothekenordnung 
für  Landgüter  v.  18.  X.  I848  und  die  revidierte 
Hypothekenordnung  für  di-e  Erbpachtsiellen  in 
den  KlostergiUem  v.  8.  XLI.  1852.  —  3,  Grund- 
buchsystem: Preussen:  G.  über  den  Eigentums- 
erwerb und  die  dingliche  Belastung  von  Grund- 
stücken etc.  V.  5.  V.  1872,  Ausführungsverfügung 
V.  2.  IX.  1872  (J.  M.  Bl.  S.  178),  Allgemeine 
Verfügung  v.  5.  VI.  1877  und  v.  L  X.  1877  (J, 
M.Bl.  S.  103  und  S.  216)  sowie  GruncUmch- 
ordnung  von  demselben  Tage.  —  Nassauisches 
Stockbuchsg.  v.  15.  V.  1851  und  Gesetz  über  das 
Pfandrecht  und  die  Rangordnung  der  Gläubiger 
von  demselben  Tage.  —  Endlich  G.  v.  12.  IV. 
1888  über  das  Grundbuchwesen  und  dis  Zwangs- 
vollstreckung in  das  unbewegliche  Vermögen  im 
Geltungsbereiche  des  Rheinischen  Rechtes.  — 
Sachsen:  Bürgerliches  Gesetzbuch  v.  2.  I.  1863 
§§  369—504   und   V.   v.    9.    L  1865  §§  83-— 233. 

—  V.  v.  VIII.  1868,  G.  v.  25.  IL  1882  über 
die  Löschung  von  Reallasten  im  Grund-  und 
Hypothekenbuche.  —  G.  v.  I4.  L  I884  Ober  die 
Zuständigkeit  der  Grund-  und  Hypothekenbe- 
hörden bei  Grundstücks  hinzuschlagungen.  — 
Oldenhttrg :  GG.  v.  3.  LV.  1876  und  28.  L  1879. 

—  Einführungsg.  zur  G.B.O.  v.  3.  LV.  1876  §§ 
2 ff.  —  Coburg-Gotha:  G.  v.  1.  IIL  1877.  — 
Braunschweig:  G.  v.  8.  IIL  1878.  —  Minis- 
ter icdinstruktion  V.  26.  LV.  1878  über  Zurück- 
führung  der  Grundbücher  auf  die  Separations- 
rezesse.  —  Anhalt:  G.  v.  11.  LLI.  1877.  — 
AUenburg:  G.  v.  13.  X.  1852.  —  Meiningen: 
GG.  v.  15.  VII.  1862  und  vam  7.  XL  1872,  — 
Grossh.  hcssisclie  Provinzen  Starkenburg  und 
Oberhessen:  GG.  v.  29.  X.  1830,  21.  LL.  1852, 
15.  IX.  1858  und  19.  I.  1859.  —  Detmold:  G. 
v.  27.  VII.  1882.  —  Sondershausen:  G.  v.  2, 
VIII.  1882.  —  Schaumburg:  G.  v.  26.  VIIL 
IS84.  —  Reuss :  G.  v.  20.  XL  1852  und  27.  IL 
1873.  —  Hamburg:  G.  über  Karten  und  Flur- 
bücher des  Landgebiets  v.  30.  X.  1865.  —  G.  v, 
4'  XIL  1868.  —  Lübeck:  Hypothekenordnung 
v.  5.  V.  1880.  —  Mecklenburg:  Revidierte 
Stadtbuchordnung  v.  21.  XIL  1857.  —  G.  über 
die  Grund-  und  Hypothekenbücher  für  den 
Privatgrundbesitz  in  den  grossherzoglichen  Do- 
mänen V.  2.  1.  18 5 4  uTid  transitorische  Bestim- 
mungen dazu,  Hypothekenordnung  für  den  länd- 
lichen Grundbesitz  im  Territorium  der  Stadt 
Rostock  V.  8.  VI.  1831  und  für  die  Erbpachtungen 
auf  den  Gütern  der  Stadt  Wismar  v.  6.  VII. 
1839,  Strelitzer  Hypothekenordnung  für  Grund- 
stücke der  ritterschafüichen  Hintersassen  v.  3. 
IL  1855  und  revidierte  Hypothekenordnung  v. 
24.  XIL  1872.  —  Oesterreich:  Allgemeines 
bürgerliches  Gesetzbuch  §§  431 — 471  und  Grund- 
buchg.  V.  25.  VII.  1871  mit  Vollzugsvorschrift  v. 
12.  L  1872.  —  GG.    V.   24.    V.  1869   und  v.  23. 


Auflage.    IV. 


82 


1298 


Hypotheken-  und  Gnindbuchwesen 


V.  188S  über  die  Evidenzhaltung  des  Grund- 
aieuerkaUuiera.  —  Femer  die  Ztuammenstellung 
der  über  die  Anlegung  neuer  Grundbücher  und 
deren  innere  Einrichtung  erlassenen  Gesetze  in 
der  Manzschen  Gesetzausgabe  Bd.  18,  S.  ^50 — 
S62.  —  Deuüches  B.G.B,  v.  18.  VIIL  1896  nebst 
dem  Einführungsgesetz  vom  18.  VIIL  1896.  — 
Deutsehe  Grundbuchordnung  vom  S4'  ^H'  1897. 
—  Gesetz  über  die  Zwangsversteigerung  und 
Zwangsverwaltung  vom  $4»  J^^*  1897. 

B,  Litteratur:  Deutsches  Hypotheken- 
recht.  Nach  den  Landesgesetzen  der  grösseren 
deutschen  Staaten  systematisch  dargestellt.  Unter 
Mitwirkung  von  v.  Bar,  Demburg,  Exner,  Hin- 
richs,  Puchelt,  Regelsberger,  Romer,  Siegmann 
herausgegeben  von  Viktor  v.  Meibom,  Leip- 
zig 1871-1861,  8  Bde. — Müller ,  Ingrossaiion 
des  Grundeigentums,  1855  und  desselben  I^and- 
recht,  187 L  —  Manda,  Eigentumsrecht,  I.  Ab- 
teilung, Jjcipzig  1884'  —  Strolialy  Zur  Lehre 
vom  Eigentum  der  Immobilien,  Graz  1876.  — 
Jßurdchardty  Besitz  und  Grundbuchrecht,  Wien 
1889.  —  Wächter^  Erörterungen,  Hefl  I.  — 
von  Meihom  im  Archiv  für  civil.  Praxis,  Bd. 
74,  S.  484  ff.  —  MaJicheTy  Das  deutsche  Grund- 
buch' und  Hypothekenwesen,  Berlin  1868,  806 
Seiten,  —  Zaehariae  v,  Lingenthal,  Hand- 
buch des  französischen  Civilrechts,  VII.  Aufl., 
Heidelberg  1886,  Bd.  I,  S.  674—588,  Bd.  II, 
S.  117  ff.  —  Reusch,  Die  Zurückßhrung  des 
Grundbuchs  attf  die  Steuerbücher  für  die  öst- 
lichen und  die  neuen  Provinzen  des  preussisehen 
Staates,  Berlin  1890.  —  Kof»pers,  Die  Verbin- 
dung des  Grundbuchs  mit  der  Katasterkarte  in 


Rassows  und  Küntzels  Beiträgen  zum  deutschen 
Recht,  Bd.  36,  S.  S19ff.,  1892.  —  RochoU, 
Der  dingliche  Vertrag,  1.  Abhandlung  in  dessen 
Besprechungen  von  Bechtsfällen  aus  der  Praxis 
des  Reichsgerichts,  Bd.  II,  S,  441  ff.,  1890.  — 
Kindelf  Das  Rechtsgeschäft  und  sein  Rechts- 
grund, Berlin  189?.  —  Münchmeyerj  Die 
grundbesitzgleichen  Gerechtigkeiten  und  ihre  Be- 
handlung zum  Grundbuch,  im  Magazin  für  defä- 
sches  Recht  der  Gegenwart,  Bd.  2,  S.  Iff.  — 
Haffner,  Die  eiviirechüiche  Verantwortlichkeit 
der  Richter,  Freiburg  1883.  —  Kle%piUj  Die 
Entschädigungansprüche  aus  rechtswidrigen  Amts- 
handlungen, Berlin  1891.  —  Edgar  LoeninQf 
Die  Haßung  des  Staates  aus  recktstridrigen 
Handlungen  seiner  Beamten,  Frankfurt  a,  M. 
1879,  besonders  S.  98  f.  —  Die  Lehrbücher  des 
deutsehen  und  preussisehen  Privatrechis  von 
Stobbe  und  Roth,  sowie  Demhurg  und 
EÜrster-Eceius,  —  Strecker,  Die  cMgemeinen 
Vorschr^en  des  B.G.B.  über  Rechte  an  Grund- 
stücken, Berlin  1898,  —  Slm^ofty  Die  Reichs- 
grundbuchordnung. Zur  Einführung  in  das  Grund- 
buchwesen   des   deutschen   Reichs,    Berlin  1897. 

—  «7*.  Böhm,  Das  materielle  und  formelle 
Reichsgrundbuchrecht,  Hannover  1898.  —  Dem^ 
hurg,  Ikis  bürgerliche  Recht  de*  Deutschen 
Reichs  und  Preussens,  Bd.  III,  Haue  ajS.  1898. 

—  Endemannf  Einführting  in  das  Studium 
des  B.G,B.,  Bd.  II,  Berlin  1898.  —  Camick, 
Lehrbuch  des  deutschen  bürgerlichen  Rechts,  Bd. 
II,  Jena  1900. 

SetuMmeyer. 


I  and  J. 


Jagd. 

1.  Bedentnng.  2.  Geschichtliches.  3.  Jagd- 
recht und  Jagdpolizei.  4.  Wildschaden,  ö.  Sta- 
tistik. 

1.  Bedeutung.  Unter  Jagd  im  Sinne  von 
Jagen  versteht  man  das  planmässige  Ver- 
folgen, Erlegen  oder  Fangen  wild  lebender 
Tiere,  deren  Fleisch,  Fett,  Fell  oder  Grehörn 
nutzlir  ist  oder  die  als  Raubtiere  Schaden 
bringen.  Die  jagdbaren  Tiere  fallen  unter 
den  Begriff  Wüd. 

Die  Bedeutung  der  Jagd  ist  bedingt  von 
der  Kulturstufe  der  Völker  und  Länder. 
Den  Jägervölkern  war  und  ist  die  Jagd 
Lebenselement  und  erste  Erwerbsquelle. 
Ausgedehnte  Jagdgrüqde  ermöglichen  eine 
rein  occupatorische  Ausnutzung  ohne  ziel- 
bewusste  rflege ,  von  einer  Ja^wirtschaf t 
ist  hier  keine  Rede.  Im  modernen  Kultur- 
staate müssen  die  natürlichen  Existenzbe- 
dingungen der  Jagd  oft  mit  grossen  wirt- 
schaftlichen Opfern  erhalten  oder  wieder- 
hergestellt werden  (Jagdpflege).  Je  inten- 
siver und  rationeller  die  Bodenkultur  ent- 
wickelt ist,  um  so  mehr  tritt  der  produk- 
tive Gewinn  des  Jagdbetriebes  zurück  und 
der  immaterielle  Nxitzen  in  den  Vorder- 
grund. 

Rein  rechnerisch  betrachtet,  arbeitet  die 
Jagd  Wirtschaft  in  Ländern  mit  hochent- 
wickelter Bodenkultur  wohl  immer  mit  Ver- 
lust. Das  Nutzwild  nährt  sich  zwar  teil- 
weise von  solchen  vegetabilischen  Stoffen, 
welche  die  Land-  und  Forstwirtschaft  nicht 
mehr  ökonomisch  zu  verwerten  vermag;  in 
dieser  Richtung  verhält  sich  die  J^^d  ähn- 
lich wie  die  Bienenzucht  und  Fischerei. 
Aber  das  ist  doch  nur  der  kleinere  Teil  der 
Wildnahrung,  der  weitaus  grösste  Teil  geht 
auf  Kosten  des  land-  und  forstwirtschaft^ 
liehen  Ertrages.  Die  Landwirtschaft  ist 
gegenüber    der  Forstwirtschaft  im   Vorteil, 


weil  nur  die  Ernte  eines  Jahres  beschädigt 
oder  vernichtet  wird,  der  Schaden  sofort  in 
die  Augen  springt  und  deshalb  durch  direk- 
ten Schadensersatzanspruch  oder  eventuell 
durch  hohe  Jagdpachterträge  für  den  be- 
troffenen Besitzer  wieder  wett  gemacht 
werden  kann.  In  der  Forstwirtschaft  steht 
oft  der  Kulturerfolg  vieler  Jahre  auf  dem 
Spiele,  obgleich  die  Beschädigung  im  Ein- 
zelfalle und  Einzeljahre  auf  den  grossen 
Waldflächen  nicht  so  scharf  hervortritt  wie 
in  der  Landwirtschaft.  Würden  die  Forst- 
wirte den  durch  Abäsen  von  Knospen  und 
Trieben,  durch  Verzehren  von  Früchten, 
Abnagen  der  Rinde  (Schälen),  Fegen  und 
Schlagen  mit  den  Geweihen  entstehenden 
Schaden  richtig  berechnen  und  vor  allem 
den  indirekten  Verlust  zahlenmässig  an- 
schlagen, welcher  infolge  mangelhafter 
Durchführung  notwendiger  Betriebsmass- 
nahmen  oder  diu'ch  die  Unterlassung  solcher 
nur  mit  Rücksicht  auf  den  Wildstand  sich 
ergiebt,  so  würden  in  den  meisten  Fällen 
erschreckend  hohe  Summen  zu  Tage  treten. 

Die  Kosten  der  Jagdausübung  sind  nicht 
gering.  Der  kostbarste  Aufwand  ist  die 
Zeit,  welche  der  Jäger  zur  Ausübung 
seines  Gewerbes  bedarf.  Daher  eignet  sich 
der  Jagdbetrieb  nur  für  wirtschaftlich  xm- 
abhängige  Leute  oder  solche,  welche  die 
Jagd  in  ihrem  Lebensberufe  gelegentlich, 
ausüben  können  (Forstleute).  Der  Aufwand 
für  Munition,  Jagdschutz,  Hundehaltung, 
Kleider  und  Schuhe,  Anschaffung  und  Ab- 
nutzung der  Jagdwaffen  und  Jagdgeräte, 
für  Löhne  der  Treiber  und  für  Wildtransport, 
Reise-  und  Zehrungskosten  ist  eine  grosse 
pekuniäre  Belastung  für  den  Jagdausübenden 
uud  kann  meistens  wie  der  Aufwand  für 
Wildproduktion  nur  durch  den  immate- 
riellen Nutzen  der  Jägerei  aufgewogen  wer- 
den. 

Es  wäre  indessen  einseitig,  wollte  man 

82* 


1300 


Jagd 


die  Jagd  nur  vom  Standpxinkte  der  Werts- 
erzeugung und  des  Produktionsaufwandes 
aus  beiu1;eüen.  Der  Jagdbetrieb  liat  zwei- 
fellos einen  grossen  nicht  zu  unterschätzen- 
den Nutzen  mit  Rücksicht  auf  die  Stählung 
und  Ausbildung  der  körperlichen  und  geisti- 
gen Kräfte  des  Jägers.  Zu  allen  Zeiten  und 
bei  allen  Völkern  galt  die  Jagd  als  die  beste 
Vorbereitung  zum  Kriegsdienste,  sie  ist  »des 
ernsten  Kriegsgottes  lustige  Braut«.  Sie 
entflammt  den  Mut,  lehrt  Entbehrung, 
Selbstbeherrschung  und  zwingt  zur  Geistes- 
gegenwart. Der  Slawe  nennt  den  Forst- 
und  Weidmann  »Myslivec«,  d.  h.  Denker. 
Wer  mit  den  Sorgen  des  Berufes  und  des 
täglichen  Lebens  im  liastigen  Kampfe  ums 
Dasein  belastet  nach  Erholung  und  Aus- 
spannung sucht,  für  den  giebt  es  keine 
Thätigkeit,  die  die  Welt  besser  vergessen 
und  die  Nerven  eher  zur  Ruhe  kommen 
lässt  als  die  immer  erfrischende  Jagd. 

Die  Jagd  hat  auch  in  neuerer  Zeit  eine 
nicht  zu  unterschätzende  sozialpolitische  Be- 
deutung dadurch  erlangt,  dass  der  bäuer- 
lichen Bevölkenmg  in  der  Nähe  von  Städten 
unverhältnismässig  hohe  Summen  als  Jagd- 
pachterträge  aus  den  Taschen  der  Wohl- 
habenden und  Reichen  zufliessen.  In  vielen 
Fällen  stehen  diese  Pachtschillinge  ausser 
allem  Verhältnis  zum  Ertrage  der  Jagd  und 
auch  zu  dem  Schaden,  der  den  Grundbe- 
sitzern durch  den  Wildstand  erwächst.  Die 
finanzielle  Leistungsfähigkeit  solcher  Ge- 
meinden wird  durch  die  Jagd  oft  enorm  ge- 
hoben. 

In  den  preussischen  Staatsforsten  ergab 
sich  1892  eine  Einnahme  ans  der  Jagdnutzung 
von  12,1  Pf.  pro  ha,  nach  Abzug  der  Jagdver- 
waltungskosten  verbleiben  als  Reineinnahme 
9,3  Pf.  (1880  8  Pf. ,  1865  5  Pf.).  Zu  dem  ge- 
samten Rohertrage  der  Staatsforsten  steuerte 
die  Jagd  1892  0,52%  bei.  —  In  den  bayeri- 
schen Staatsforsten  beti*ug  die  Reineinnahme 
ans  den  in  Regie  verwalteten  Jagden  1898  11 
Pf.  pro  ha,  die  Einnahme  aus  den  verpachteten 
Staatswaldjagden  im  rechtsrheinischen  Bayern 
22  Pf.,  in  der  wohlhabenden  Pfalz  dagegen  82 
Pf.  pro  ha.  Zum  Rohertrag  der  Forsten  tragen 
die  Jaffdeinnahmen  ungefähr  0,60  ®/o  bei.  —  In 
der  Näne  von  München  werden  für  Gemeinde- 
jagden ö  Mark  pro  ha  bezahlt. 

In  Frankreich  wurden  Ende  der  achtziger 
Jahre  im  Departement  Ome  durchschnittlich 
1,64  Francs  Pacht  pro  Hektar  bezahlt,  in  der 
Nähe  von  Paris  (Seine  et  Oise,  Seine  et  Marne) 
8,41 — 9,40  Francs.  Die  Pacht  des  Ackerbodens 
in  der  Nähe  von  Paris  betrug  72  Francs  pro 
ha,  die  Jagdpacht  demnach  9—11%  des  Acker- 
pachts.  Im  Walde  von  St.  Gennain  bei  Paris 
wurden  1890  für  einen  Jagddistrikt  von  340  ha 
40000  Francs  Pacht  bezahlt,  pro  ha  demnach 
114  Francs. 

Die  Produkte  der  Jagd  sind  Wild- 
pret,  Felle,  Federn,  Hörn,  Fette.  Das  Wildpret 
der  Jagdtiere  überbietet  an  Nährgehalt  das 
Fleisch  unserer  einheimischen  Haustiere  und 


der  meisten  Fiscliarten.  Trotzdem  kann  das- 
selbe als  eigentliches  Yolksnähruugsmittel 
im  mittleren  Europa  nicht  bezeichnet  wer- 
den, da  die  schmackhafte  Zubereitung  der- 
selben kostspielig  und  der  Kochkimst  der 
unteren  Volksschichten  nicht  geläufig  ist. 
Die  Preise  für  das  Wildpret  sind  daher  im 
19.  Jahrhundert  viel  weniger  gestiegen  als 
die  Preise  für  das  Fleisch  der  Haustiere. 
Selbst  in  der  Nähe  von  grösseren  Städten 
ist  Wildpret  in  grösseren  Mengen  oft  kaum 
verwertbar.  —  Die  Felle  oder  Decken  liefern 
hauptsächlich  die  Raubtiere ;  der  Preis  wird 
von  der  herrschenden  Mode  wesentlich  be- 
einflusst.  Vom  volkswirtschaftlichen  Stand- 
punkt aus  sind  auch  die  Arbeitsver- 
dienste der  mit  Verarbeitung  dieser  Wild- 
rohstoffe beschäftigten  Gewerbe  noch  be- 
sonders anzuschlagen,  ebenso  die  den  nie- 
deren Volksklassen  erwachsenden  Einnahmen 
für  Beihilfe  bei  der  Jagdausübung ;  in  Russ- 
land beschäftigt  z.  B.  die  Jagd  allein  über 
10  Millionen  Personen. 

2.  Geschiehtllohes.  Bezüglich  der  Ent- 
stehung und  des  Inhaltes  des  Jagd  rechts  bezw. 
Jagdreffals  wird  auf  Band  III  Seite  1127ffl 
(Art.  Forsten)  und  den  unten  S.  1304  folgen- 
den Art.  Jaffdrecht  verwiesen.  — Bis  in  das 
16.  Jahrhundert  hinein  stritten  sich  um  das 
JsLgdrecht,  allerdings  mit  ungleichen  Macht- 
mitteln, drei  Kategorieen  von  Interessenten :  die 
Landesherren,  die  Landstande  und  die  Bauern. 

Die  Landesherren  hatten  in  ihrer  grosseu 
Mehrzahl  als  Grosse  des  Reichs  schon  von  den 
fränkischen  Königen  das  Recht  zur  Errichtung 
von  Wildbaubezirken  erhalten.  Nach  der  Aus- 
bildung der  vollen  Landesherrlichkeit  ging  man 
weiter  und  erklärte  das  Jagdrecht  im  ganzen 
Lande  als  ein  Zubehör  der  Herrscher^ewalt.  In 
den  Lehensbriefen  der  Kaiser  an  die  Landes- 
herren wurde  vom  14.  Jahrhundert  ab  fast  r^el- 
mässig  der  Wildbann  als  gleichwertig  mit 
Fürstentum,  Festen,  Städten,  Land  und  Leuten, 
Gerichtsbarkeit,  Münze  u.  s.  w.  genannt.  Im 
Jahre  1435  machte  Herzog  Ludwig  von  Bayern 
dem  Bischof  von  Passau  gegenüber  geltend, 
dass  „der  W^ildbann  eine  solche  Hernichkeit 
war,  die  ihm  als  einem  Landesfürsten  billig  zu- 

gehört  in  seinem  Land",  und  1491  entgegnete 
[erzog  Albrecht  von  Bayern  einem  Beschwerde- 
führer, dass  „die  Wildhay  ein  gemeiner  Brauch 
der  Fürsten  sei".  Das  Wildbannrecht  bildete 
demgemäss  auch  wiederholt  den  Gegenstand 
ernster  Streitigkeiten  zwischen  den  benachbar- 
ten Landesherren. 

Kaiserliche  Belehnung  allein  konnte  dem 
neugebackenen  Territorialherrn  zwar  die  for- 
melle Ueberordnuncr  und  Gewalt  zuerkennen, 
seine  höhere  Stufe  im  Ansehen  und  in  der  so- 
zialen Stellung  aber  musste  der  Landesherr  den 
an  Besitz  und  Geschlechtsalter  oft  mindestens 
gleichstehenden  übrigen  Grossen  des  Landes 
erst  abtrotzen.  Durch  den  Zusammenschlnss 
derselben  in  „Bündnisse"  und  dnrch  die  daraus 
entstehenden  „Landtage"  hatten  die  Stände  ein 
wirksames  Mittel,  den  Ansprüchen  des  Landes- 
herm  auf  die  Ja^ensgerechtigkeit  im  ganzen 
Lande   mit   Entschiedenheit   entgegenzutreten. 


Jagd 


1301 


In  Bayern,  Brandenburg,  Sachsen,  Braunschweig 
und  Württemberg  beschwerten  sich  die  Stände 
unter  Drohung  der  Steuerverweigerung  im  16. 
Jahrhundert  wiederholt  über  die  Beeinträchti- 
gung ihres  Jagdrechts,  fast  überall  mit  dem 
Erfolg,  dass  ihnen  ihre  alten,  auf  die  Einfors- 
tungsperiode  zurückreichenden  Wildbannbezirke 
verblieben,  namentlich  dann,  wenn  sie  sich  nur 
auf  den  eigenen  Grundbesitz  erstreckten.  Im 
Erzherzogtum  Oesterreich,  in  Tirol,  Bayern, 
Württemberg,  Ostfriesland  bezogen  sich  die 
Hegaiitätsansprüche  von  vom  herein  nur  auf 
das  Hochwild  (Hirsche,  Bären,  Schweine,  manch- 
mal auch  Rehe),  während  das  „kleine  Waid- 
werk" mit  Ausnahme  einzelner  ganz  ausdrück- 
lich reservierter  Jagdbezirke  den  bevorrechteten 
Unterthanen  überall  zuerkannt  wurde.  Daher 
der  Unterschied  von  Hochjagd  und  Niederjagd. 

Da  die  Jagd  ursprünglich  frei  war,  blieb 
sie  auch  überall  da  nrei,  wo  nicht  Mächtigere 
den  freien  Tierfang  zu  ihren  Gunsten  verwehr- 
ten. Das  Netz  der  Wildbannbezirke  schloss 
sich  aber  schon  vom  10.  Jahrhundert  ab  so  enge 
zusammen,  dass  für  die  nichtbevorrechteten 
Leute,  die  Bauern,  das  freie  Jagdrecht  auf  ver- 
schwindend kleine  Territorien  zusammenschmolz 
und  auch  da  nur  auf  die  niederen  Wildgattun- 
gen beschränkt  blieb.  Mit  der  Entstehung  der 
Grundhörigkeit  war  es  aber  auch  um  diese 
Reste  des  alten  freien  Jagdrechts  geschehen, 
und  der  Bauer  schied  im  16.  Jahrhundert  aus 
der  Reihe  der  Jägerklasse  aus.  In  Bayern 
wurde  das  Jagdrecht  den  Bauern  auf  Betreiben 
der  Stände  schon  1508  entzogen,  in  Württem- 
berg 1551,  Elsass  1552,  Jülich.  Cleve,  Berg  1558. 
Auf  dem  markgenossenschaftlichen  Eigentum 
war  es  um  diese  Zeit  schon  längst  an  die 
Obermärker  und  Landesherren  übergegangen. 
Im  vierten  Beschwerdeartikel  der  Bauern  im 
Jahre  1525  heisst  es  daher  in  offenbarer  Anleh- 
nung an  den  Sachsenspiegel:  Es  „ist  bisher  im 
Brauch  gewesen,  dass  kein  armer  Mann  Gewalt 
gehabt  hat,  das  Wildpret,  Gevögel  oder  Fisch 
im  fliess^nden  Wasser  zu  fangen,  welches  uns 
ganz  unziemlich  und  unbrüderiich  dünket,  son- 
dern eigennützig  und  dem  Wort  Gottes  nicht 
gemäss  sei".  —  Nur  im  bayerischen  und  würt- 
tembergischen Schwaben  hielt  sich  in  einzelnen 
Gebieten  die  freie  Pürsche  bis  1806/7.  —  Die 
Jägerei  im  grösseren  St^l  konnten  übrigens  die 
Bauern  zu  keinen  Zeiten  schon  aus  jagdtechui- 
schen  Gründen  ausüben,  weil  die  kostspieligen 
Hilfsmittel  der  Jagd  nur  von  reichen  und  mäch- 
tigen Leuten  aufgebracht  werden*  konnten. 

Mochte  nun  das  Jagdrecht  dem  Landes- 
herrn allein  zustehen  oder  ausser  ihm  auch  be- 
sonders Privilegierten,  gewiss  ist,  dass  schon 
vom  Beginn  der  Inforestation  an  die  Grenzen 
des  Wildbannbezirks  nicht  mit  den  Grenzen 
des  eigenen  Grund  und  Bodens  des  Jagdherrn 
zusammenfielen.  Dass  das  Jagdrecht  ursprüng;- 
lich  als  ein  Ausfluss  des  Grundeigentums  galt, 
wie  oft  behauptet  wird,  dafür  fehlt  jeder  ge- 
schichtliche Anhaltspunkt.  Erst  die  französische 
Revolution  hob  das  Jagdrecht  auf  fremdem 
Grundbesitz  auf  durch  Art.  3  des  Dekrets  v.  4. 
August  1789:  „Le  droit  exclusif  de  la  chasse 
et  des  garennes  ouvcrtes  (offene  Kaninchen- 
gärten) est  aboli  et  tout  proprietaire  a  le  droit 
de  detruire  et  de  faire  detruire,  seulement  sur 
ses  possessions,  tout  esp^ce  de  gibier,  sauf  ä  se 


conformer  aux  lois  de  police."  In  Deutschland 
kam  dieser  Grundsatz  infolge  der  politischen 
Bewegung  des  Jahres  1848  zur  praktischen 
Geltung,  in  Preussen  und  Bayern  ohne  Ent- 
schädigung der  bisherigen  Ja^dberechti^n,  in 
den  übrigen  Staaten  mit  Zubilligung  einer  Ab- 
findung. Nur  in  Mecklenburg  kommt  heute 
noch  das  grundherrschaftliche  Jagdrecht  auf 
fremdem  Grund  und  Boden  in  weitem  Um- 
fange vor. 

Die  Blütezjßit  der  Jägerei  begann  in 
der  kriegsstillen  Zeit  des  16.  Jahrhunderts,  er- 
litt durch  den  BOiährigen  Krie^  eine  kurze 
Unterbrechung  und  steigerte  sich  danach  bis 
zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  zur  Landplage. 
Die  Jagdfronden,  Scharwerke,  Nachtquartierver- 
pllichtungen  („Nachtsel^,  namentlich  auf  den 
Klöstern  lastend).  Hundefütterung,  Verpflichtun- 
gen zum  Ankauie  des  Wildprets  und  die  Roh- 
heit der  verwilderten  Jagdbediensteten  brachten 
Land  und   Leute  in  das    tiefste  Elend.     Die 

grossen  Wildstände  vernichteten  die  gesamte 
odenkultur;  kein  Wunder,  dass  alle  Bauern- 
unruhen mit  den  „Jagdbeschwerungen^  zusam- 
menhingen. In  der  bayerischen  Landtagsbe- 
schreibung von  1508  heisst  es:  „An  gar  vielen 
Orten  und  in  einem  kleinen  Zirkel  werden  bis 
in  die  500  Stück  Rotwild  täglich  gesehen  und 
neben  den  Wildschweinen  gefunden.  Wo  die- 
selben bei  Tag  und  Nacht  in  die  Felder  und 
Wiesmaden  kommen,  verderben,  abäsen  und  um- 
kehren sie  diese,  so  dass  die  armen  Leute  den 
Samen  mit  Hunger  und  Durst  samt  ihren 
Weibern  und  Kindern  ersparen  müssen.  Was 
hilft  nachfolgend  ihre  grosse  Mühe  und  Arbeit 
mit  Düngen,  Ackern  und  anderem;  ...  so  sie 
ihre  Nahrung  wieder  davon  nehmen  sollen,  so 
finden  sie  wenig  und  mehr  Stumpf  und  Halm 
denn  fruchtbares  Getreide  zu  schneiden.  Daher 
sind  um  des  Hungers  Willen  eine  merkliche 
Anzahl  Bauleute  bisher  aus  dem  Fürstentum 
gezogen  und  ziehen  noch  fort  auf  Flössen  und 
auf  anderen  Wegen  gen  Oesterreich  und  andere 
Orte.  ..."  Und  dazu  waren  damals  diese  Ver- 
hältnisse in  Bayern  noch  besser  als  in  Hessen, 
Württemberg  und  Sachsen!  —  Spitzige  Zäune 
um  die  Grundstücke  zu  errichten,  war  verboten ; 
die  zum  Verjagen  des  Wildes  verwendeten 
Hunde  m'ussten  am  Halse  Prügel  tragen.  Durch 
Feuer  und  Nachtwachen  mussten  die  Felder 
während  der  ganzen  Vegetationszeit  gegen  das 
Wild  geschützt  werden. 

W i Iddiebstahl  wurde  barbarisch  geahn- 
det. Auf  die  widerrechtliche  Erlegung  eines 
Hirsches  war  in  Brandenburg  unter  Friedrich 
III.  eine  Strafe  von  500  Thaler  gesetzt.  Das 
badische  „Wildpretschützenmandat"  von  1611 
bestimmte  für  den  Wiederholungsfall  der  Be- 
tretung: „peinliche  Leibesstrafe  als  verrufener 
Wildpretdieb  und  Meineidiger,  zum  wenigsten 
Tragung  eines  Hirschgeweihes  auf  dem  Haupte, 
ja  nach  Gestalt  der  Sachen  noch  höher  mit 
Rutenausstreichung  und  ewiger  Landesverwei- 
sung." 

Die  Jagdlitte ratur  ist  älter  als  die 
forstliche  und  war  noch  bis  in  das  18.  Jahr- 
hundert hinein  mit  dieser  verquickt.  Beinahe 
zahllos  sind  die  Schriften  über  das  viel  be- 
kämpfte und  viel  verteidigte  Jagdregal  und 
über  die  Jagdordnungen.  Hier  seien  nur  ge- 
nannt das  in  mindestens  zehn  Auflagen  heraus- 


1302 


Jagd 


gegebene  „Jag-  und  Forstrecht"  des  rhein- 
pfälzischen Juristen  Noe  Meurer  v.  1560,  der 
„Tractatus  de  iurisdictione  forestali"  von  J.  J. 
Beck  1737  und  der  Tractatus  de  jure  venandi 
von  von  Beust  1744.  —  Der  Ja^dbetrieb  wird  in 
Kaiser  Maximilians  I.  „Geheimen  Jagdbuch'' 
(^zwischen  1508  und  1519)  zuerst  behandelt; 
terner  erschien:  Spangenberg,  Der  Jagdteufel 
1560;  „Neu  Jag-  und  Weydwerckbuch**  bei 
Feyerabend-  Frankfurt  1582  mit  vielen  Holz- 
schnitten, eine  freie  Bearbeitung  der  Venerie 
des  Jacques  du  Fouilloux ;  Täntzer,  „Der  Dianen 
hohe  und  niedere  Jagdgeheimniss"  1682 ;  „Ade- 
liche Weydwercke"  1699.  Zu  den  bedeutendsten 
Erscheinungen  des  18.  Jahrhunderts  gehören 
„Der  vollkommene  Teutsche  Jä8:er"  von  H.  F. 
von  Flemming  1719  und  H.  W.  Doebels  „Neu- 
eröffnete Jägerpraktika"  1746,  4.  Aufl.  1829. 
Beide  Schriften  handeln  auch  über  forstliche 
Dinge  und  geben  ein  getreues  Spiegelbild  von 
der  Blütezeit  der  Jägerei  im  18.  Jahrhundert. 
Im  19.  Jahrhundert  löste  sich  die  Jagdlitteratur 
von  der  forstlichen  los. 

3.  Jagdrecht  und  Ja^dpolizei.  Die 
völlige  Eini'äumung  des  Jagdrechts  an  die 
Gnmdbesitzer  hatte  überall  schwere  Miss- 
stände im  Gefolge  in  Bezug  auf  die  öffent- 
liche Sicherheit  und  die  Erhaltung  eines 
noch  wünschenswerten  "Wildstandes.  Aus 
sicherheitspoüzeilichen  und  weidmännischen 
Gründen  wurde  daher  überall  eine  Oi'dnung 
des  Jagdausübungsrechts  in  mehrfacher 
Hinsicht  nötig:  a)  Das  Jagdausübungsrecht 
ist  vom  Besitze  eines  auf  die  Person  lauten- 
den amtlich  ausgestellten  Jagdscheines 
(-karte,  -pass)  abliangig.  Derselbe  muss  ge- 
wissen Personen  verweigert  w^erden  (Geistes- 
kranken, unter  Polizeiaufsicht  Stehenden, 
Jagdfrevlern  u.  s.  w.)  oder  kann  verweigert 
werden  (Minderjährigen ,  Verschwendern, 
Dienstboten  etc.).  Für  Aufstellung  des  Jagd- 
scheins wird  eine  in  den  einzelnen  Staaten  ver- 
schieden hoch  bemessene  Gebühr  erhoben 
(Preussen  und  Bayern  15  Mark,  Sachsen  12, 
Württemberg  20,  Baden  25,  Elsass-Lothringen 
20  Mark),  b)  Das  Jagdausübungsrecht  auf  eige- 
nem Gelände  ist  an  ein  bestimmtes  Minimal- 
mass  an  zusammenliängendem  Grundbesitz  ge- 
bunden (Preussen  76,6  ha  im  Geltungsbereich 
des  Jagdpolizeigesetzes  von  1850,  Bayern: 
Flachland  81,8,  Hochgebirge  136,3,  Seeen  und 
Fischteiche  17,0  ha;  Sachsen  166,  Württem- 
berg 15,7,  Baden  72,0,  Hessen  75,  Elsass- 
Lothringen  25  ha;  Oesterreich  und  Ungarn 
115  ha).  Auf  ganz  umfriedigten  Grund- 
stücken steht  die  Jagd  dem  Eigentümer 
unter  allen  Umständen  zu.  c)  Zeitlich  ist 
die  Jagdausübung  beschränkt  durch  die  ge- 
setzlich bestimmte  Schon-  und  Hegezeit, 
innerhalb  welcher  die  Eriegimg  bestimmter 
Wildgattungen  verboten  ist.  Leider  bestehen 
hierüber  in  Deutsclilaud  und  in  Oesterreich 
sowie  in  den  übrigen  benachbaiien  Ländern 
keine  einheitlichen  Bestimmungen,  wodurch 
die  Kontrolle,  namentlich  an  den  Grenzen, 
sehr    erschwert    wird.      (Eine    vollständige 


Zusammenstellung  der  Schon-  imd  Hege- 
zeiten findet  sich  in  dem  »Forst-  und  Jagd- 
kalender« von  Neumeister  und  Behm.)  Mass- 
gebende Gesichtspunkte  für  Feststellung  der 
Schonzeiten  sind  die  Rücksichten  auf  die 
Zeit  der  Vermehrung,  auf  die  Schonung  der 
Feldfrüchte  beim  Jagdbetrieb,  auf  die  beste 
Benutzbarkeit  des  Wildprets  und  der  FeDe. 
d)  Erlegt  darf  nur  solches  Wild  werden, 
welches  gesetzlich  oder  verordnungsmässig 
ausdrücklich  oder  indirekt  als  jagdbar  be- 
zeichnet ist 

In  jenen  Staaten,  in  welchen  für  die 
Jagdausübung  auf  eigenem  Grundbesitz  ein 
gesetzliches  Mindestmass  bestimmt  ist,  wer- 
den die  nicht  darunter  fallenden  Grund- 
stücke zu  einem  oder  mehreren  Jagdbezir- 
ken vereinigt,  in  welchen  die  Gemeinde 
oder  auch  die  alle  Gnmdbesitzer  umfassende 
Jagdgenossenschaft  die  Jagd  dxirch  Eigen- 
betrieb oder  durch  Verpachtung  ausübt. 

Ein  rationeller  Jagdbetrieb  kann  nur  in 
nicht  zu  kleinen  Jagdbezirken  stattfinden. 
Die  Bildung  kleiner  Bezirke  hat  den  Vor- 
teil, dass  auch  der  mit  Geld  und  freier 
Zeit  weniger  gesegnete  Jagdliebhaber  eigene 
Jagd  ohne  grosses  Risiko  erwerben  kann 
und  dass  die  Wildstände  nicht  zu  pross 
werden.  Dagegen  ist  der  weidmännische 
Betrieb  und  namentlich  die  Wildpflege  sehr 
erschwert,  indem  jeder  von  dem  Wüdstande 
seines  Nachbarn  mitzehrt  und  die  Vertei- 
lung des  Wildschadens  sehr  ungerecht  aus- 
fallen kann.  Je  mehr  Jagdgrenzen,  desto 
schlechterer  Jagdbetrieb.  Zu  grosse  Jagd- 
bezirke sind  dagegen  wieder  schwer  zu 
verpachten.  Sinngemäss  übertragen  gilt 
vorstehendes  auch  für  kurze  und  lange 
Pachtzeiten. 

Die  Jagdgesetzgebung  ist  im  Deut- 
schen Reiche  Sache  der Landesgesetzgebiuig ; 
nur  das  Jagdstrafrecht  ist  im  Reichsstrfägesetz- 
buch  geordnet  und  der  Wildschadenersatz  teil- 
weise im  Bürgerlichen  Gesetzbuch.  Die 
speciellen  Jagdgesetze  »sind : 

Preussen:  Jagdpolizeigesetz  v.  7.  März 
18Ö0  für  die  alten  Provinzen,  auf  Nassau  und 
Schleswig -Holstein  durch  V.  v.  30.  März  1867 
und  G.  V.  1.  März  1873  erstreckt,  Erg.-G.  v. 
29.  Aprü  1897;  G.  v.  26.  Februar  1870  mid 
Erg.-G.  V.  13.  August  1897  betr.  Schonzeiten; 
Jagdscheingesetz  v.  31.  Jiüi  1895 ;  für  Hannover 
und  Hessen-Cassel  teilweise  noch  die  V.  v.  11. 
März  1859  und  G.  v.  7.  September  1865;  für 
Hohenzollem  G.  v.  2.  Mai  1853.  —  Bayern 
a)  rechtsrheinisch :  Jagdgesetz  v.  30.  März  18ö0, 
V.  V.  5.  Oktober  1863 ;  b)  linksrheinisch :  Fran- 
zösisches G.  V.  26.  März  1798,  V.  v.  21.  Sep- 
tember 1815,  4.  Januar  1872.  —  Sachsen: 
Jagdgesetz  v.  1.  Dezember  1864,  Wildschon- 
gesetz V.  22.  Juli  1876.  —  Württemberg: 
Jagdges.  V.  27.  Oktober  1855,  V.  betr.  Hege- 
zeiten V.  30.  Juli  1886.  —  Baden:  Jagdgesetz 
V.  2.  Dezember  1850  und  Novelle  v.  2^.  April 
1886.  —  Hessen:  G.  V.  26.  Juli  1848,  le.JuH 
1858,  19.  August  1893,  V.  2.  September  1893, 


Jagd 


1303 


—  Braunschweig:  G.  v.  S.September  1848, 
16.  April  1852,  1.  April  1879,  16.  August  1896, 

—  Elsass-Lothringen:  G.  7.  Februar  1881. 
7.  Mai  1883,  8.  Mai  1889. 

Oesterreich:  Patent  v.  7.  März  1849 
(Aufhebung  des  Jagdrechts  auf  fremdem  Grund- 
eigentum) und  V.  V.  15.  Dezember  1852;  be- 
sondere Jagdgesetze  wurden  erlassen  für: 
Böhmen  1.  Juni  1866  (Gemeindejagd  abge- 
schafft und  Genossenschaf tsjagd  eingeführt). 
Oberösterreich  1895,  Vorarlberg  1892,  Triest 
1895,  Mähren  1895,  Görz  1896,  Galizien  1897, 
Steiermark  1898. 

Ungarn:  G.  v.  1872  und  18a3  (Jagdkarte 
12  fl.,  Gewehrsteuer  2fl.  jährlich).  —  Schweiz: 
G.  V.  17.  September  1875.  —  Russland:  G.  v. 
25.  Februar  1892. 

^  In  Frankreich  ist  das  Jagd  ausübungs- 
recht nicht  von  einer  gewissen  Grösse  des 
Grundeigentums  abhängig,  sondem  jeder  Grund- 
eigentümer kann  gegen  Lösung  eines  Permis 
de  chasse  (28  Francs)  auch  aiu  der  kleinsten 
Parzelle  die  Jagd  selbst  ausüben  oder  dieselbe 
durch  besonderen  Vertrag  verpachten.  Zur 
Jagdausübung  auf  eingefriedigten  Grundstücken 
ist  ein  Jagdpass  nicht  erforderlich.  Beginn 
und  Schluss  der  Jagdzeit  wird  jährlich  in  jedem 
Departement  vom  Präfekten  festgesetzt.  Der 
Jagdpass  kann  oder  muss  gewissen  Personen 
(gerichtlich  Verurteilten  etc.)  verweigert  wer- 
den (Jagdpolizeigesetz  v.  3.  Mai  liä4;  G.  v. 
7.  Februar  1874,  22.  Januar  1874,  V.  v.  26.  Jiüi 
1875).  Die  Jagd  auf  Staatsgrundeigentum  und 
Gemeindegründen  wird  verpachtet  (V.  v.  20. 
Juni  1845,  G.  v.  18.  Juli  1837). 

In  England  wurde  1831  das  Jagdrecht 
als  eiu  Zubehör  des  Grundeigentums  erklärt. 
Jagdschein  gefordert. 

In  Italien  kann  jedermann  überall  jagen, 
wenn  er  im  besitze  eines  Jagdscheines  ist. 

4.  Wildschaden.  Ncoch  dem  Bürger- 
liclien  Gesetzbuche  des  Deutschen  Reichs 
muss  der  Jagdberechtigte  auf  fremden 
Grundstücken  den  Scliadeu  ersetzen,  welcher 
durch  Elch-,  Dam-  oder  Rehwild  oder  durch 
Fasanen  verursacht  wird.  Der  Landesge- 
setzgebung ist  nach  dem  Einftihrungsgesetz 
vorbelialten :  die  Ai-t  der  Feststellung  des 
Wildschadens,  die  Ausdehnung  der  Ei'satz- 
pflicht  auf  noch  andere  Wildgattungen,  die 
Verteilung  des  Schadenersatzes  unter  die 
Gnmdeigeutümer  bezw.  Haftung  der  Ge- 
meinde oder  des  Jagdpächters,  das  Rück- 
griffsrecht des  Ersatzpflichtigen  gegenüber 
fremden  Jagdbezirken  (Regresspflicht  in 
Hannover)  u.  s.  w.  —  Eine  besondere  Ge- 
setzgebung für  Wildscliadenersatz  bestand 
vor  dem  Inkrafttreten  des  Bürgerlichen  Ge- 
setzbuchs auf  84®/0  der  Fläche  des  Deut- 
schen Reiches  (Preussen  1891,  Bayern  1850, 
Hessen  1895  u.  s.  w.),  auf  4®/o  der  Fläche 
(Elsass-Lothringen  und  Rheinpfalz)  galten 
die  allgemeinen  Bestimmungen  über  Scha- 
denersatz, auf  12  "/o  der  Fläche  (Sachsen. 
Württemberg,  Baden  u.  s.  w.)  war  der  Er- 
satz gesetzlich  ganz  oder  beinahe  ganz  aus- 
geschlossen. 


In  Frankreich,  Italien  imd  Belgien  ist 
Wildschadenersatz  nach  den  allgemeinen 
Bestimmungen  über  Schadenersatz  zu  leisten, 
in  England  existiert  ein  solcher  Anspruch 
nicht. 

Den  Wildschaden  mit  Barmitteln  oder 
sonstigen  Vergünstigungen  zu  vergüten,  waren 
einzelne  Landesherren  schon  früher  bestrebt.  Die 
Entstehung  vieler  Forstrechte  ist  auf  diesen 
Zweck  zurückzuführen.  In  Sachsen  ordneten 
schon  im  16.  Jahrhundert  die  Kurfürsten 
August  und  Moritz  den  Ersatz  des  Wildscha- 
dens an,  letzterer  noch  auf  seinem  Totenbette. 
In  Bayern  wurden  um  1760  aus  der  landes- 
herrlichen Kasse  ausgiebige  Vergütungen  ge- 
leistet. Allein  es  zeigte  sich  bald,  dass,  wie  es 
auch  heutzutage  noch  oft  vorkommt,  die  Bauern 
daraus  zu  viel  Gewinn  ziehen  wollten.  „Der 
Ersatz  kam  .  .  .  jedes  Jahr  immer  höher,  weil 
in  die  Rechnung  auch  die  Taxen  und  Sportein 
für  die  Advokaten,  Beamten,  Schergen  und 
Sch&tzleute  .  .  .  miteingeschaltet  wurden." 
Auch  die  Beschädigungen,  die  das  eigene 
Weide vieh  des  Bauern  verursachte,  seien  mit 
eingerechnet  worden.  „Endlich  machte  mau  es 
zu  arg",  und  es  wurde  daher  1778  die  Ent- 
schädigungspflicht wieder  aufgehoben  (von 
Stubenrauch  1779).  —  Auch  eine  sächsische 
Verordnung  von  1783  und  die  noch  geltende 
österreichische  Jagdordnung  von  1786  erkennen 
die  Ersatzpflicht  an. 

6.  Statistik.  Regelmässige  statistische 
Erhebungen  über  Wildnutzung  und  Jagdbe- 
trieb liegen  nur  aus  Oesterreich  vor.  In 
Preussen  w;irde  der  Wildabschuss  vom  1. 
April  1885  bis  31.  März  1886  simüich  er- 
hoben und  zwar  nach  Gemeinde-  und  Guts- 
bezirken mittelst  Zählkarten,  deren  Aus- 
füllung imter  Leitung  imd  Kontrolle  der 
Landräte  den  Gemeinden  bezw.  Gutsvor- 
ständen oblag. 

Innerhalb  Europas  nehmen  die  abso- 
luten Jagderträge  ab  von  Ost  nacli 
West  und  von  Nord  nach  Süd.  In  Russland 
wirft  die  Jagd  jährlich  300  Millionen  Rubel 
Silber  ab  und  nimmt  als  Erwerbs(j[uelle  die 
dritte  Stelle  ein  (Pelzhandel).  In  Oesterreich 
wird  der  Wert  des  gegenwärtigen  jährlichen 
Wildanfalles  (ausschliesslich  Galizien)  auf 
3300000  fl.  geschätzt;  die  Jagdpachtzinse 
betrugen  1898  1329  694  fl.,  die  Gebühren 
für  Jagdkarten  und  Jagdausübung  3r)8  708  fl. 
Der  Wildabschuss  und  somit  auch  der  Wild- 
stand nimmt  in  Oesten-eich  alljährlich  zu; 
es  wurden  erlegt  (Stücke): 


Haarwild 
grosses    kleines 


Feder-       Raubwild 
wild      Haar-    Feder- 
wild      wild 

1874  42791  91 1247  946371  27895  28339 
1895  104377  1  176448  1  184926  67343  90881 
1898  118  919  1533547  1574677  80124  106977 

Im  Jahre  1898  w^irden  aus  Oesterreich 
16  560  dz  Wüdpret  im  Werte  von  1 573  000  fl. 


1304 


Jagd — Jagdrecht 


ausgeführt,  hauptsächlich  nach  Fi*ankreich. 
Nach  einer  früheren  Angabe  von  Dimitz 
entfallen  auf  100  ha  an  Wilderträgen  in: 

Niederösterreich  14,90  fl.  Salzburg  3,24  fl. 

Böhmen  14,60  „  Küstenland  3,04  „ 

Mähren  14,44  ,,  Tirol  und 

Oberösterreich  10,54  „         Vorarlberg  1,74  „ 

Schlesien  10,50  »  Krain  1,65  „ 

Steiermark  6,42  „  Galizien  1,46  „ 

Kärnten  3,73  „  Bukowina  0,69  „ 

In  Preussen  wurde  1885/86  der  Gesamt- 
wert des  Wildabschusses  zu  11,8  Millionen 
Mark  ermittelt.  —  Frankreich  deckt 
seinen  eigenen  Bedarf  an  Wildpret  nicht 
und  führt  jährlich  600000  kg  ein,  in 
Spanien  und  Italien  sind  die  Jagderträge 
gleich  null.  Im  Gegensatz  hierzu  steht 
wieder  der  grosse  Wildreichtum  Skandina- 
viens. —  In  Bezug  auf  den  Wert  des  Wild- 
ertrages kommt  der  Niederjagd  grössere  Be- 
deutung zu  als  der  Ilochjagd.  In  Preussen 
bringen  von  dem  Gesamtwerte  des  jähr- 
lichen Wildabschusses  in  der  Höhe  von 
11,8  Millionen  Mark  die  Hasen  und  Keb- 
hühner  allein  7,1,  Rehe  1,8,  Rotwüd  nur 
0,6  Millionen  Mark  ein.  In  Oesterreich 
participiert  die  Niederjagd  mit  64^/0,  die 
hohe  Jagd  mit  36  ®/o  an  dem  gesamten 
Wüdertrage.  Erstere  überwiegt  in  den 
Küstenländern,  letztere  im  Gebü'ge  (Alpen). 

Lltteratur:  Jagdrecht  und  Jagdpolizei: 
J)i€  für  die  einseinen  Siaatcii  erlassenen  Jagd- 
gesetze liegen  meistens  in  mehrfachen  Ausgaben 
vor.  —  Für  den  geschichtlichen  Teil  sind  die 
unter  Forstgeschichte  angegebenen  Werke  mass- 
gebend (oben  Bd.  III  S.  lLi4).  Eine  ausführliche 
Geschichte  des  Jagdrechts  existiert  übrigens  noch 
n icht.  —  Ja g dp olitik :  Graner ,  Forstgesetz- 
gebung und  Verwaltung,  1892.  —  Schwappachj 
Forstpolitik,  Jagd-  und  Fischereipolitik,  1894-  — 
Jjorey  und  tTolly  in  Schönbergs  Handb.  der 
polit.  Oekonomie,  Bd.  S.  —  Albert f  Die  deut- 
sche Jagdgesetzgebung  nach  ihrem  dermaligen 
Stande,  1890.  —  Fürst,  Illustriertes  Forst-  und 
Jagdlexikon,  1888.  —  von  Dmnbrowsky, 
Encyklopädie  der  gesamten  Forst-  und  Jagd- 
wisse nscluiften  ,  1886 — 1894.  —  Orunert, 
I>ie  Ja^dgesetzgebung  Jh'eussens  in  ihrer  ge- 
schichtlichen Entwickelung,  1885.  —  WeHsely, 
Oeste.rreichs  Jagdrecht,  1890.  —  I>tniitZf  Die 
Jagd  in  Oesterreich  etc.,  Linz  1880.  —  AliUerf 
Das  Jagdwesen  der  alten  Griechen  und  Römer, 
München  1888. 

M.  Endres. 


Jagdrecht. 

1.  Der  Begriff  des  J.  2.  Das  römische 
Recht.  3.  Das  J.  des  älteren  deutschen  Rechts. 
i.  Das  Jagdregal.  5.  Die  neuere  Jagdgesetz- 
gebung. 

1.  Der  Begriff  des  J.    Der  Begriff  des  j 
Jagdrechts    gestattet    eine    zwiefaclie    Auf- , 


fassung.  Man  kann  daiiinter  das  Recht  ver- 
stehen, Handlungen  vorzunehmen,  mittelst 
deren  man  dem  Wilde  in  seiner  natürlichen 
Freiheit  nachstellt;  sei  es  in  der  Absicht, 
es  in  Besitz  zu  nehmen,  sei  es  nur,  um  die 
Tiere  (z.  B.  reissende  Tiere),  die  man  ver- 
folgt, zu  töten  und  imschädlich  zu  machen. 
Das  Jagdrecht  ist  ferner  aber  auc^  denkbar 
als  ein  Recht  von  objektiver  Bedeutung. 
Wo  ihm  diese  beiwohnt,  hat  der  JagdlKV 
rechtigte  den  alleinigen  und  ausschliesslichen 
Anspruch  auf  das  innerhalb  eines  räumlich 
begrenzten  Bezirks  befindliche  Wild.  So- 
weit ein  solches  Jagdrecht  sich  anerkannt 
findet,  wird  es  gewöhnlich  mit  dem  Jagd- 
rechte im  ersteren  Sinne  zusammentreffe«. 
Notwendig  ist  dies  jedoch  nicht.  Es  ver- 
mag sich  Jiuch  geltend  zu  machen,  ohne 
dass  eine  jägerische  Thätigkeit  vorange- 
gangen ist.  Wer  in  seinem  Jagdreviere  ein 
Stück  Fallwild  findet  und  oecupiort,  macht 
vom  Jagdrechte  wohl  in  der  zweiten,  nicht 
aber  in  der  ersten  Bedeutung  Gebrauch. 

2«  Das  römisetae  fieeht«  Nach  römischem 
Rechte  ist  die  Befugnis  zur  Vornahme  der 
Handlungen,  durch  die  man  dem  Wilde  nach- 
stellt, ein  Ansfluss  des  Grundeigentums.  Der 
Eigentümer  darf  jedem,  der  kein  entgegen- 
stehendes Recht  erworben  hat,  das  Betreten 
seines  Areals  verwehren.  Er  vennag  so  that- 
sächlich  andere  Personen  an  der  Ausübung  der 
Jagd  innerhalb  der  Grenzen  seines  Besitztums 
zu  hindern.  [§  12  J.  de  rer.  div.  (2,1\  1.  '^ 
§  1  D.  de  acqu.  rer.  dorn.  (41,1),  L  13  §1.  D. 
de  injur.  (47,10)  ].  Aber  auch  das  Jagen  selbst, 
soweit  dieses  unabhängig  von  der  Befugnis, 
fremdes  Areal  zu  betreten,  statt^ndet.  darf  er 
allen  verbieten,  die  kein  dingliches  oder  per- 
sönliches Recht  erworben  haben,  das  sie  er- 
mächtigt, dem  Wilde  auf  seinem  Grunde  nach- 
zustellen [1.  16  D.  de  serv.  praed.  rust^  (8,3 \ 
l.  62  pr.  D.  usufr.  (7,1)].  Zu  der  Nutzung  des 
Grundstücks  gehört  nämlich  auch  die  Möglich- 
keit und  Gelegenheit,  die  es  gewährt,  Jagden 
darauf  abzuhalten  [1.  26  D.  de.  nsur.  {22,1).  1. 
22  D.  de  instr.  vel  instr.  legat.  (33,7^1  ].  Bei 
enfsprechender  Lage  und  Beschaffenheit  des- 
selben kann  der  Ginindeigentümer  aus  der  Aus- 
übung der  Jagd  sich  eine  mehr  oder  minder 
regelmässifi:  wiederkehrende  Einnahme  ver- 
schaffen. Dieser  Vorteil,  den  ihm  der  Besitz 
des  Gutes  darbietet,  soll  ihm  nicht  entzogen 
oder  geschmälert  werden.  Es  darf  daher  be- 
fugter weise  nur  derjenige  die  Jagd  auf  fremdem 
Grund  und  Boden  ausüben,  der,  wie  der  Niess- 
braucher,  gleich  dem  Eigentümer  selbst,  ein 
Recht  hat,  aus  dem  Gute  den  Nutzen  zu  ziehen, 
welchen  dasselbe  gewährt,  wenn  man  von  der 
dort  gebotenen  Gelegenheit  zu  jagen  Gebrauch 
macht  (1.  62  pr.  D.  de  usufr.  7,1,  womit  zu  vgl. 
Scholion  Stephan,  in  Zacchariae  a  Lingenthal 
suppl.  ed.  Basilicor.  p.  89).  Ein  Jagdrecht  in 
der  Bedeutung  des  Rechts,  mit  Ausscliliessung 
anderer  die  Thätigkeit  des  Jagens  auszuüben, 
haben  sonach  schon  die  Römer  anerkannt.  Da- 
bei aber  sind  sie  stehen  geblieben.  Ein  Recht 
des  Grundeigentümers  bezw.  des  Niessbranchers 
auf  das  in  seiner  natürlichen  Freiheit  innerhalb 


Jagdrecht 


1B05 


der  Grenzen  eines  Gutes  herumscfa weifende 
Wild  nehmen  sie  nicht  an.  Sie  behandeln  das 
Wild  schlechthin  nach  denselben  Grundsätzen 
wie  andere  nicht  jagdbare  Tiere  (z.  B.  Insekten). 
Gleich  diesen  ist  es  als  herrenlose  Sache  der 
Zueignung  durch  jedermann  freigegeben,  einerlei 
ob  die  Besitznahme  auf  eigenem  oder  auf 
fremdem  Grunde  vollzogen  wird.  Es  ist  daher 
auch  gleichgiltig ,  ob  der  Occupant  zu  den 
jägerischen  Handlungen,  welche  der  Besitz- 
nahme vorhergingen,  befugt  war  oder  nicht. 
Denn  nur  das  Jagen,  nicht  auch  die  Zueignung 
selbst  gilt  als  ein  ausschliessliches  Hecht  eines 
einzelnen  Berechtigten,  namentlich  des  Grund- 
eigentümers. Dieser  kann  wohl  gegen  den  un- 
befugten Jäger  wegen  Eingriffs  in  sein  Eigen- 
tumsrecht oder  wegen  Besitzstörung  klagbar 
werden.  Hat  doch  jener  ihn  gehindert,  von 
seinem  Grundstücke  den  ihm  allein  zukommen- 
den Gebrauch  zu  machen  [1.  11  C.  de  serv. 
(3,34),  1.  11  D.  de  vi  (43,11)  1.  5  D.  si  usufr. 
pet.  (7,6)].  Nicht  aber  steht  dem  Grundeigen- 
tümer ein  rechtlicher  Anspruch  um  deshalb  zu, 
weil  ihm  vermöge  des  unbefugten  Jagens  ein 
Recht  auf  das  durch  den  Dritten  erbeutete  Wild 
entzogen  wird.  Der  Thatbestand  der  Ent- 
wendung (furtum)  liegt  hier  nicht  vor.  Dieses 
Delikt  setzt  nach  römischem  Rechte  voraus, 
dass  die  entwendete  Sache  sich  bereits  im 
Eigentume  jemandes  befindet,  entweder  im 
Eigeutume  des  Bestohlenen  selbst  oder  in  dem 
eines  anderen,  dem  gfegenüber  der  Bestohlene 
ein  dingliches  oder  doch  wenigstens  ein  persön- 
liches Recht  hat  [1.  43  §  5,  l.  26  §  1  de  fürt. 
(47,2),  1.  6  D.  de  expil.  her.  (47,19)].  DasW^ild 
aber,  als  herrenlose  Sache,  steht  in  niemandes 
Eigentum.  Es  ist  daher  nur  folgerichtig,  wenn 
Paulus  in  1.  26  pr.  D.  de  fürt.  (47,2)  dem  Grund- 
eigentümer, auf  dessen  Grund  und  Boden  ein 
Dritter  Bienen  und  Waben  sich  zugeeignet  hat, 
die  actio  furü  gegen  den  Occupanten  abspricht. 
Den  Bienen  aber  stellt  der  Jurist  alle  übrigen 
herrenlosen  Tiere  vollkommen  gleich,  ohne  etwa 
das  jagdbare  Wild  auszunehmen. 

3.  Das  J*  des  älteren  deutschen  Rechts. 
Anders  wie  das  römische  Recht  verbindet  das 
ältere  germanische  und  deutsche  Recht  mit  dem 
Worte  Jagd  (venatio)  nicht  bloss  einen  sub- 
jektiven, sondern  zugleich  einen  objektiven  Be- 
griff. Schon  nach  den  Volksrechten  (1.  Salic. 
33.1,  1.  Ribuar.  42,1)  wird  das  unbefugte  Jagen 
auf  fremdem  Grund  und  Boden  als  eine  Abart 
(les  furtum  behandelt  und  bestraft.  Als  Gegen- 
stand dieses  Delikts  gilt  die  Gesamtheit  der 
Tiere  verschiedener  Art  (diversae  venationes), 
welche  den  Wlldstand  eines  Reviers  ausmachen. 
Das  einzelne  Stück  W^ild,  dessen  sich  der  un- 
befugte Jäger  bemächtigt,  kommt  als  eine  noch 
nicht  im  Besitze  des  Jagdherrn  befindliche  Sache 
dabei  nur  insoweit  mit  in  Frage,  als  es  dem 
Komplexe  des  W^ildes  angehörte,  dem  es  wider- 
rechtlich entzogen  ward.  Um  deshalb  klagt 
denn  auch  der  Jagdberechtigte  gegen  den 
Wilderer  nicht  sowohl  wegen  des  einzelnen 
Wildes,  das  dieser  erlegt  und  in  Besitz  ge- 
nommen hat,  sondern  weil  dieser  in  seinen  Wild- 
stand unerlaubterweise  eingriff"  (l.  Rib.  42,  1  — 
de  venatione  agitur.  Vgl.  das.  76  mit  Sachsensp. 
II,  3Ö).  Das  aber  setzt  die  Annahme  voraus, 
dass  dem  Geschädigten  in  Bezug  auf  das  Wild 
in  seiner  Gesamtheit  ein  ausschliessliches  Recht 


zustand.  Wie  geartet  man  sich  dieses  Recht 
dachte,  erhellt  aus  den  Volksrechten  nicht,  wohl 
aber  aus  den  Quellen  des  deutschen  und  ger- 
manischen Rechts  des  späteren  Mittelalters. 
Einzelne  derselben  schreiben  dem  Ja^dberech- 
tigten  geradezu  ein  Eigentum  an  dem  m  seinem 
Revier  befindlichen  Wilde  zu  (Schwabensp.  232 
(Lassberg).  Glosse  zum  Sachs.  Weichb.  122j. 
W^o  das  nicht  geschieht,  wird  ihm  doch  das 
alleinige  Recht  auf  Zueignung  desselben  zuge- 
billigt. Seine  Bedeutung  ist  die,  dass  damit 
die  Möglichkeit  des  Eigentumserwerbs  durch 
dritte  unbefugte  Jäger  ausgeschlossen  wird. 
In  völlig  unzweideutiger  W^eise  spricht  sich 
hierüber  das  norwegische  gemeine  Landrecht 
des  Königs  Magnus  Hakonarson  von  1274  aus : 
„W^enn  jemand  in  den  Wald  eines  anderen 
Mannes  eindringt",  heisst  es  dort  (Landsleigo- 
Bölkr.  c.  58),  „mit  Hunden  auf  Tiere  zu  jagen, 
da  jagt  er  diese  dem,  dem  der  Wald 
gehört."  Jedoch  waren  keineswegs  etwa  alle 
Tiere,  die  sich  in  ihrer  natürlichen  Freiheit 
innerhalb  eines  bestimmten  Bezirks  bewegen, 
dem  Jaedrechte  vorbehalten.  Dieses  beschränkt« 
sich  vielmehr  allein  auf  diejenigen  Tiere,  welche 
nach  Gewohnheit  und  Gesetz  der  einzelnen 
Länder  und  Landschaften  als  jagdbar  galten. 
Die  übrigen  waren  Gegenstand  des  freien  Tier- 
fanges (Regensburger  Landfrieden  Kaiser  Fried- 
richs I.  von  1154  (Mon.  Germ.  L.  L.  II,  p.  103), 
Sachsensp.  II,  61,  §  9.  Xorw^eg.  Landr.  1274, 
Landleigo-Bülkr.  c.  58,  59). 

In  der  umfassenderen  Bedeutung,  welche 
neben  der  Befugnis  zum  Jagen  zugleich  das 
Recht  einschloss  auf  das  innerhalb  bestimmter 
Grenzen  sich  aufhaltende  W'ild,  war  das  Jagd- 
recht ursprünglich  mit  dem  Immobiliareigen- 
tum  verbunden  (1.  Salic.  33,1.  1.  Rib.  42,1).  Wo 
Sondereigentum  stattfand,  hatte  der  Grund- 
eigentümer auf  seinem  Areal  die  Jagd.  Nicht 
alles  Land  aber  war  Sondereigentum  einzelner 
Besitzer.  Ein  grosser  Teil  des  urbar  gemachten 
Bodens  und  der  bei  weitem  grössere  Teil  des 
Waldes  war  Eigentum  der  Markgenossenschaften. 
Dort  war  die  Jagd  kein  Individualrecht.  Sie 
war  aber  darum  doch  nicht  etwa  jedermann 
freigegeben,  sondern  blieb  ein  ausschliessliches 
Recht,  indem  ausser  den  beteiligten  Markge- 
nossen niemand  in  Feld  und  W'ald  der  gemeinen 
Mark  jagen  und  das  Wild  sich  zueignen  durfte 
(1.  Rib.  76  vgl.  mit  42,1  das.).  Die  weitere  Ent- 
wicklung führt  zu  der  Lösung  del*  Verbindung 
von  Jagd  und  Grundeigentum  und  zur  Ent- 
stehung eines  Jagdrechts  auf  fremdem  Grund 
und  Boden.  Den  ersten  Anlass  gab  die  Er- 
richtung der  Bannforsten  durch  die  fränkischen 
Könige.  Indem  sie  in  bestimmten  grösseren 
W^aldungen  anderen  die  Jagd  bei  Strafe  des 
Königsbannes  von  60  Solidi  verboten,  bedrohten 
sie  das  unbefugte  Jagen  mit  einer  härteren 
Strafe,  als  das  Volksrecht  sie  statuierte.  Bei 
Wäldern,  welche  den  Könijfen  eigentümlich  ge- 
hörten, bewirkte  so  die  Einforstung  nur  einen 
höheren  Schutz  gegen  Ja§;dfrevel.  Nicht  überall 
aber  beschränkte  sich  die  Einforstung  auf  die 
eigenen  Güter  des  Königs  oder  derjenigen  geist- 
lichen und  weltlichen  Grossen,  die  vom  Könige 
mit  dem  Forst-  und  Wildbann  begnadigt  wurden. 
Auch  Wälder,  welche  Teile  gemeiner  Marken 
bildeten,  ja  selbst,  wenngleich  seltener,  die 
Liegenschaften   einzelner  Eigentümer,   wurden 


1306 


Jagdrecht 


in  die  Bannforst en  mit  einbezogen.  Die  Mark- 
genossen bezw.  die  Sondereigentümer,  mit  oder 
ohne  deren  Willen  nnd  Zustimmung  solche  Ein- 
forstung  vor  sich  ging,  unterlagen  fortan  gleich 
anderen  Personen  dem  für  die  Bannforsten  er- 
gangenen Jagdverbote. 

Ausserhalb  der  Bannforste  vollzog  sich  die 
allmähliche  Lösung  der  Verbindung  des  Jagd- 
rechts mit  dem  Grundeigentum  unter  dem  Ein- 
üuss,  den  nach  der  Ausbildung  des  Lehnswesens 
und  der  dadurch  herbeigeführten  Aenderung  der 
Heeresverfassung  die  Standesverhältnisse  auf 
die  Rechte  der  Grundbesitzer  äusserten.  Be- 
deutsam wurde  da  namentlich  der  Umstand,  ob 
jemand  von  Ritters  Art  war  oder  nicht.  Nicht 
mehr  das  Eigentum  an  sich,  sondern  das  durch 
den  Stand  des  Besitzers  qualifizierte  Recht  am 
Gute  sollte  fernerhin  für  das  Jagdrecht  ent- 
scheidend werden.  Die  von  Geburt  freien  Ritter 
und  die  Mitglieder  des  späteren  niederen  Adels, 
welcher  aus  der  Verschmelzung  der  Ministerialen 
mit  den  freien  Rittern  hervorging,  übten  die 
Jagd  auf  ihren  Gütern  ohne  jedwede  Beschrän- 
kung aus.  Dem  Adel  stand  m  dieser  Hinsicht 
während  des  späteren  Mittelalters  die  höhere 
Geistlichkeit  gleich.  Uebten  die  deutschen 
Könige  ehemals  auf  den  Gütern  der  Reichs- 
bischöfe und  Reichsäbte  die  Jagd  aus,  so  wurde 
dieser  Befugnis  der  Boden  entzogen,  als  mit 
der  Beendigung  des  Investiturstreites  durch  das 
Wormser  Konkordat  von  1122  das  königliche 
mundium  über  die  Reichskirchen  hinwegfiel. 
(Heusler,  Institut,  d.  deutsch.  Privatr.  I.  S.  371. 
Vgl.  auch  S.  114  if.  322  das.)  Für  die  Besitzungen 
der  landsässigen  Bischöfe  und  Aebte  aber  ergab 
sich  das  unbeschränkte  Jagdrecht  aus  der  That- 
sache,  dass  mit  ihnen,  ebenso  wie  mit  den 
Gütern  des  Adels  grundherrliche  und  publi- 
zistische Gerechtsame  verbunden  waren,  so  na- 
mentlich nach  dem  Aufkommen  der  Landstände 
das  Recht  der  Teilnahme  an  deren  Versamm- 
lungen. Nicht  ganz  dieselbe  Bewandtnis  hatte 
es  mit  der  Jagd  der  Städte  und  ihrer  Bürger 
in  den  zum  Stadtgebiete  gehörigen  Wäldern 
und  Feldmarken.  Während  die  Reichsstädte 
und  manche,  selbst  weniger  bedeutende  landes- 
herrliche Städte  volle  Jagdfreiheit  genossen 
(Riccius,  Zuverläss.  Entw.  der  Jagdgerechtigkeit 
S.  6n,  66,  Privileg,  für  Stavenhagen  v.  1282  in 
Mecklenb.  U.  B.  ^r.  1630,  für  Mehlsack  v.  1312, 
für  Sensburg  v.  1338  in  ('od.  Warm.  I,  Nr.  163, 
291),  traf  dies  bei  der  Mehrzahl  der  letzteren 
nicht  zu.  Bei  einigen  war  die  Ausübung  des 
Jagd  rechts  von  der  Verpflichtung  abhängig  ge- 
macht, dass  dem  Landes-  oder  Grundherrn  von 
einzelnen  Stücken  des  erbeuteten  Wildes  ge- 
wisse Teile  abgeliefert  würden  (vgl.  Selber tz, 
Westf.  ü.  B.  I,  1,  Nr.  105,  III,  Nr.  1037,  1063). 
Anderen  sollte  nur  die  Jagd  auf  kleines  Wild 
(parvae  ferae,  d.  s.  Hasen  und  Feldhühner)  er- 
laubt sein,  während  die  Hirsch jagd  dem  Landes- 
oder Grundherrn  vorbehalten  blieb  (vgl.-  z.  B. 
Bewidmung  der  Stadt  Frankfurt  a.  0.  mit  124 
Hufen  a.  1253  in  Gercken,  Cod.  dipl.  VII,  S. 
563;  s.  femer  die  Privilegien  von  Gutstadt  v. 
1329  (Cod.  Warm.  I,  Nr.  245)  und  Allenstein  v. 
1353  (in  Cod.  dipl.  Pruss.  UI,  Nr.  76)).  Wo 
diese  Beschränkungen  stattfanden,  rührten  sie 
meistens  daher,  dass  die  Gründungen  der  be- 
treffenden Städte  auf  fürstlichem  oder  grund- 
herrlichem Areal  vor  sich  gegangen  waren,  bei 


dessen  üeberlassung  zu  Eigentum  oder  auch 
nur  zu  abgeleitetem  Besitzrechte  die  Fürsten 
bezw.  Grundherren  wegen  der  Jagd  sich  Rechte 
vorbehielten.  Sie  grilfen  darum  nicht  Platz, 
wenn  einmal  eine  Stadt  ein  ganzes,  mit  adeligen 
Freiheiten  und  Rechten  versehenes  Gut  erwarb. 
Es  stand  ihr  da,  sofern  bei  der  Veräusserung 
nichts  ausgenommen  war,  die  Jagd  im  gleichen 
Masse  und  Umfange  zu,  wie  sie  der  adelige 
Vorbesitzer  besessen  hatte. 

Am  ungünstigsten  gestaltete  sich  das  Recht 
der  Bauern  bezüglich  der  Jagd.  Als  mit  Aende- 
rung der  Heeresverfassung  die  Lehnsmiliz  der 
ritterlichen  Vasallen  und  Ministerialen  die  Stelle 
des  Heerbannes  der  gemeinfreien  Leute  ersetzt 
hatte,  waren  sie  fast  überall  von  weltlichen 
und  geistlichen  Fürsten  oder  von  grösseren  und 
kleineren  Grundherren  auf  die  eine  oder  andere 
Weise  abhängig  geworden.  Neben  anderen 
Folgen  zog  diese  Abhängigkeit  eine  Mindemn?. 
wenn  nicht  den  gänzlichen  Verlust  ihres  Jagd- 
rechts nach  sich,  nicht  allein  in  den  gemeinen 
Marken,  wo  sie  als  Markgenossen  die  Jagd  ge- 
meinschaftlich geübt  hatten,  sondern  niät 
weniger  auf  den  im  Sonderbesitz  befindlichen 
Liegenschaften.  Teils  wurden  sie  verpflichtet, 
von  der  gemachten  Jagdbeute  den  Grundherren 
gewisse  Stücke  abzugeben,  teils  wurde  ihre  Be- 
fugnis zu  jagen  auf  kleines  Wild  (Hasen, 
Füchse)  und  auf  den  Vogelfang  eingeschränkt, 
teils  sollte  ihnen  die  Jagd  nur  unter  der  Be- 
dingung erlaubt  sein,  dass  sie  das  erlegte  Wild 
zur  eigenen  Tisches  Nahrung  und  Notdurft  ver- 
wandten, ohne  etwas  davon  zu  verkaufen.  Da- 
neben kamen,  wenn  auch  seltener,  Fälle  vor. 
wo  ihnen  die  Zueignung  jagdbarer  Tiere  über- 
haupt versagt  oder  doch  nur  bei  besonderen 
Gelegenheiten,  z.  B.  in  Krankheitsfällen,  s^ 
stattet  war  (Grimm,   Weistüm.  I,  S.  387.  417; 

I,  S.  13,  384,  388;  III,  S.  281,  658,  659.  S. 
ferner  Urk.  v.  1316  in  Cod.  Warm.  I,  Nr.  178. 
ürk.  1333/1381  in  Senckenberg,  Corp.  jur.  Germ. 

II,  praef.  adj.  B.  p.  XXIX.;  Grimm.  Rechts- 
altert. [2.  Aufl.]  S.  249).  Die  Entst^hungsur- 
sachen  dieser  Minderung  oder  Entziehung  des 
Jagdrechts  auf  seiten  der  Bauern  waren  ver- 
schiedene. Nicht  immer  standen  sie  im  Zn- 
sammenhange mit  der  Thatsache,  dass  diese 
ihre  Güter  als  geliehene  oder  sonstwie  zn  ab- 

feleiteten  Rechten  vom  Fürsten  oder  Grund- 
erm  besassen.  Sie  konnten  ebenso  in  Gründen 
des  öffentlichen  Rechts  beruhen.  Das  letztere 
traf  da  zu,  wo  die  Bauern  unter  die  Vogtei 
eines  weltlichen  oder  geistlichen  Fürsten,  Grafen 
oder  Herrn  kamen,  ohne  doch  darum  ihre  per- 
sönliche Freiheit  und  Rechtsföhigkeit  noch  aneh 
das  Eigentum  an  ihren  Grundstücken  zn  ver- 
lieren. Die  Bedeutung  des  damit  hergestellten 
Abhängigkeitsverhältnisses  war  die,  dass  .«ie 
für  die  Vertretung  in  der  Kriegsdienstpflicht 
welche  der  Inhaber  der  Vogtei^ewalt  dem  Reiche 
und  Lande  gegenüber  auf  sich  nahm,  seiner 
Gerichtsbarkeit  unterworfen  und  ausserdem  ver- 
pflichtet wurden,  ihm  gewisse  Abgaben  nnd 
Zinsen  von  ihren  Gütern  zu  leisten.  Zugleich 
aber  hatte  das  die  weitere  Folge,  dass  sie  sich 
mancherlei  Einschränkungen  der  Nutzungen 
ihrer  Grundstücke  und  so  namentlich  auch  der 
Jagd  zum  Vorteil  ihres  Schutz-  und  Gericbts- 
herm  gefallen  lassen  mussten  (Grimm,  Weist.  I. 
S.  384,  387;  III,  S.  281.   Eichhorn,  Rechtsg«sch. 


Jagdrecht 


1307 


§  868.  Stieglitz,  Geschichtl.  Darstell,  der  Eigen- 
tumsverhältnisse an  Wald  und  Jagd,  S.  176). 

Wo  und  soweit  sie  noch  jagd berechtigt 
gehlieben  waren,  wurde  die  Jagd  den  Bauern 
mit  wenigen  Ausnahmen  in  der  zweiten  Hälfte 
des  15.  und  im  16.  Jahrhundert  vollends  ent- 
zogen. Die  darauf  gerichteten  Verordnungen 
der  Fürsten  begegneten  keinen  Schwierigkeiten. 
Die  Adeligen  und  Prälaten,  als  die  Vertreter 
der  privilegierten  Stände  sahen  sich  nicht  ver- 
anlasst, dagegen  Widerspruch  zu  erheben  und 
sich  der  Bauern  anzunehmen.  Ging  doch  ihr 
Interesse  dabei  mit  dem  der  Fürsten  Hand  in 
Hand.  Denn  fi^ieich  jenen  fiel  auch  ihnen  als 
Grundherren  damit  das  Jagdrecht  auf  den 
Gütern  der  von  ihnen  abhängigen  Leute  zu. 
Gerechtfertigt  wurde  das  Jagdverbot  mit 
Gründen,  die  man  polizeilichen  und  wirtschaft- 
lichen Erwägungen  entnahm.  Die  Bauern 
sollten  durch  unvorsichtiges  umgehen  mit 
Schiesswaflfen  nicht  Unheil  anstiften,  noch,  um 
des  Jagens  willen,  ihre  Wirtschaft  vernach- 
lässigen (Polizei-Ordn.  der  Stände  im  Elsass  v. 
1552  in  Krauts  Grundriss  [6.  Aufl.]  §  87,  Nr. 
28).  Dazu  kam  die  Sorge  für  eine  bessere 
Hegung  des  Wildes,  namentlich  der  kleinen 
Jagd.  Sie  wurde  wesentlich  erleichtert,  wenn 
nach  Verminderung  der  Anzahl  der  Jäger  die 
Fürsten  und  Grundherren  ausser  in  den  eigenen 
Forsten  auf  den  anstossenden  bäuerlichen  Feld- 
marken die  Jagd  fortan  allein  ausüben  durften 
(vgl.  Verordn.  d.  Herz.  Albrecht  v.  Bayern  v. 
1487  in  Krauts  Grundr.  §  87,  Nr.  16).  Gleich- 
zeitig mit  dem  Jagdverbote,  und  um  dieses 
wirksamer  durchzuführen,  wurde  in  manchen 
Verordnungen  den  Bauern  das  Führen  von 
Schiesswafen  untersagt  (vgl.  z.  B.  Constit. 
terrar.  Pruss.  v.  1538  Fol.  H.  in :  Jur.  municipal. 
terrar.  Pruss.  [Dantisci  1685J,  Landesordn.  des 
Herzogt.  Preuss.  v.  1577  im  Anh.  zu  dems. 
Landr.  v.  1721).  Wenn  man  dem  entgegen  be- 
hauptet hat,  der  Verlust  des  Waffen  rechts  sei 
für  die  Bauern  schon  im  Mittelalter  einc^etreten 
und  habe  das  spätere  Jagdverbot  veranlasst,  so 
ist  dies  unrichtig.  Die  Aenderunff  der  Heeres- 
verfassung nahm  den  Bauern  wohl  das  Recht, 
sich  ritterlicher  Waffen  zu  bedienen,  nicht  aber 
büssten  sie  damit  ohne  weiteres  etwa  das 
W^affenrecht  überhaupt  ein.  (S.  II  F.  27,  §  11. 
Stieglitz  a.  a.  0.  S.  178,  s.  auch  Sachsensp.  II, 
71,  Eichhorn,  R.G.  §  847,  Note  6.) 

4.  Das  JagdregaL  Eine  noch  weitere  Be- 
schränkung erfuhr  das  Jagdrecht  der  Grund- 
besitzer im  16.  Jahrhundert.  Sie  betraf  nicht 
bloss  die  Bauern,  sondern  auch  die  Mitglieder 
der  privilegierten  Stände.  Hatten  die  Fürsten 
ein  Jagdrecht  auf  fremdem  Grunde  früher  regel- 
mässig nur  innerhalb  der  Bannforsten  und  in 
solchen  Fällen  gehabt,  wo  sie  zugleich  die 
Grund-  oder  doch  die  Gerichtsherren  waren,  so 
nahmen  sie  jetzt  die  Jagd  als  Eegal  im  ganzen 
Umfange  ihrer  Territorien  für  sich  in  Anspruch. 
Mit  anderen  Hoheitsrechten  war  das  Forstbann- 
recht von  den  deutschen  Königen  durch  Ver- 
leihung an  die  Landesherren  übergegangen  oder 
auch  von  diesen  usurpiert  worden.  Die  hierüber 
sprechenden  Urkunden  erhielten  seit  dem  14. 
Jahrhunaert  eine  sehr  vage  Fassung.  Ohne  der 
vorgängigen  Errichtung  von  Bannforsten  zu 
gedenken,  gebrauchen  sie  das  Wort  Wildbann 
(wildpenue)  als  gleichbedeutend  mit  Jagdverbot 


(venationum  inhibitio.  So  z.  B.  die  Urkunde 
Kaiser  Karl  IV.  in  Mecklenburg.  U.  B.  Nr. 
6860).  Mit  demselben  Worte  verbindet  die 
Rechtssprache  des  späteren  Mittelalters  aber 
zugleich  den  weiteren  Sinn  von  Jagd,  die  inner- 
halb eines  bestimmten  Bezirks  jemandem  aus- 
schliesslich gehört  (Schwabensp.  |  Lassberg]  Art. 
236).  So  darf  es  denn  nicht  befremden,  dass 
die  Fürsten  versucht  wurden,  dem  von  ihnen 
erworbenen  Forstbannrechte,  entgegen  seiner 
ursprünglichen  Bedeutung,  eine  Ausdehnung 
über  die  Grenzen  der  Bannforste  hinaus  zu 
geben  und  sich  die  Befugnis  beizulegen,  das 
Jagen  in  ihren  Ländern,  wo  immer  es  sei, 
anderen  zu  wehren  und  zu  verbieten.  Die  darauf 
gerichteten  Bestrebungen  mussten  indessen  nach 
der  Entstehung  und  weiteren  Entwickelung  der 
landständischen  Verfassung  auf  Widerstand 
stossen.  Die  privilegierten  Stände,  voraus  der  Adel, 
der  in  den  iandständischen  Versammlungen  durch 
Zahl  und  Ansehen  seiner  Mitglieder  den  Aus- 
schlag gab,  waren  keineswegs  geneigt,  eine 
Kränkung  oder  Schmälerang  ihrer  Jagdrechte 
ohne  Widerspruch  hinzunehmen.  Das  Recht 
der  Stände,  die  Steuern  zu  bewilligen,  machte 
es  den  adeligen  Grundbesitzern  möglich,  bei 
stattfindender  Störung:  und  Hinderung  in  der 
Ausübung  der  Jagd  durch  die  landesherrlichen 
Forstbeamten  ihren  deshalb  in  den  Landtagen 
erhobenen  Beschwerden  Nachdruck  zu  ver- 
schaffen. Da  kamen  den  Fürsten  die  romanis- 
tisch geschulten  Juristen  zu  Hilfe.  .  Sie  dedu- 
zierten, um  von  anderen  ihrer  Argumente  hier 
zu  schweigen,  aus  den  Vorschriften  des  römischen 
Rechts  über  die  erblosen  Güter  (bona  vacantia) 
ein  allgemeines  Recht  des  Fiskus  auf  herren- 
lose Sachen,  unter  die  denn  auch  die  wilden 
Tiere  gerechnet  wurden  fs.  A.  Fritsch,  Corp. 

J'ur.  venat.  p.  115,  Stieglitz  a.  a.  0.  S.  270). 
Praktisch  wichtijpfer  und  bedeutsamer  wai  die 
von  ihnen  gleichfalls  aufgestellte  Ansicht,  dass 
die  Fürsten  die  Ja^d  in  ihren  Ländern  durch 
unvordenkliche  Verjährung  erwürben,  wenn  sie 
den  Unterthanen  das  Jagen  längere  Zeit  hin- 
durch verbieten  und  wehreu  möchten,  ohne  dass 
diese  im  stände  wären,  die  von  ihnen  trotz  des 
Verbotes  etwa  fortgesetzte  Ausübung  der  Jagd 
nachzuweisen  (Stieglitz  a.  a.  0.  S.  268).  Lassen 
sich  nämlich  Hasen  und  kleineres  Wild,  allen- 
falls Rehe  in  Revieren  von  geringerem  Umfange 
hegen,  so  nehmen  dagegen  Hirsche  und  andere 
wertvollere  und  seltener  vorkommende  jagdbare 
Tiere,  so  lange  sie  ihrer  natürlichen  Freiheit 
überlassen  bleiben,  ihren  Standort  regelmässig 
nur  in  grösseren  zusammenhängenden  Wald- 
komplexen. Bloss  zeitweilig:  und  vorübergehend 
streifen  sie  in  kleinere  Holzungen  und  ins  offene 
Feld  hinüber.  Bei  dieser  Sachlage  waren  viele 
Grundbesitzer,  die  keine  ausgedehnten  Wälder 
von  grösserem  Umfange  hatten,  nicht  in  der 
Lage,  den  Beweis  zu  erbringen,  dass  sie  seit 
Menschengedenken  auf  ihren  Gütern  Wild  ohne 
Unterschied  der  Art  gejagt  hätten.  Der  von 
den  Fürsten  den  Beschwerden  der  Stände  auf 
den  Landtagen  entgegengesetzten  Behauptung, 
dass  ihnen  von  altersher  die  Jagd  des  Hoch- 
wildes ausserhalb  ihrer  Bannforsten  und  Gehege 
allgemein  zustehe,  konnte  daher  auf  den  Land- 
tagen selbst  der  Adel  meistens  nicht  mit  Erfolg^ 
widersprechen  (Stie§:litz  a.  a,  0.  S.  280  und  285 
Note  35).    In  Verbindung  mit  der  Lehre  von 


1308 


Jagdrecht 


der  Itegalitat  entstand  so  die  Unterscheidung 
zwischen  hoher  und  niederer  Ja&fd.  Zur  ersteren 
rechnete  man  namentlich  Hirsche  (Rotwild)  und 
wilde  Schweine.  Die  niedere  Jagd  umfasste 
ausser  Hasen  und  Feldhühnern  meistens 
auch  Rehe.  (Vgl.  §  37,  38,  II,  16  A.L.R.)  Wo 
man  jedoch,  wie  in  manchen  Gegenden,  daneben 
noch  eine  mittlere  Jagd  annahm,  waren  Rehe 
von  der  Niederjagd  ausgenommen.  Sie  machten 
da  den  hauptsächlichsten  Gegenstand  der  Mittel- 
jagd aus.  (Ck)d.  August,  t.  II,  p.  611,  612  in 
Krauts  Grundr.  §  87,  Nr.  21.) 

Trotz  des  Jagdre^ls  behauptete  sich  der 
Adel  im  Besitze  der  niederen,  und  wo  man  drei 
Arten  der  Jagd  unterschied,  auch  in  dem  der 
mittleren  Jagd.  (Eichhorn,  Rechtsgesch.  §  548.) 
Seltener  blieb  ihm  die  hohe  Jagd  erhalten.  Das- 
selbe ist  Ton  den  Stiftern  und  Klöstern  zu  sagen, 
welche  die  Reformation  überdauerten,  sofern  sie 
nicht  wie  in  Schleswig  und  Holstein  mit  der 
Entstehung  des  Jagdregals  schlechthin  jedes 
Jagdrecht  einbtissteu.  Dahingegen  behielten 
die, Städte  und  ihre  Bürger,  soweit  sie  später 
überhaupt  noch  jagdberechtigt  waren,  öfters 
nur  die  niedere  Jagd,  nicht  auch  die  mittlere 
in  solchen  Gegenden,  deren  Recht  die  Drei- 
teilung der  Jagd  kannte. 

Eine  besondere  Bewandtnis  hatte  es  mit 
dem  Regal  in  Schlesien.  Dort  wurde  die  Jagd 
schon  im  Mittelalter  den  herzoglichen  Rechten 
(jura  ducalia)  zugerechnet.  Niemand,  Adel  und 
Klerus  nicht  ausgenommen,  konnte  die  Jagd, 
niedere  so  ^ut  wie  hohe,  anders  denn  durch 
landesherrliche  Verleihung  erwerben.  (S.  die 
Urk.  Nr.  25,  47,  54  v.  1247,  1253,  1258  in 
Tzschoppe  und  Stenzel  U.S.  und  Nr.  3  und  15 
in  Cod.  dipl.  Sil.  II  und  dazu:  Stenzel,  Gesch. 
Schlesiens  I,  S.  138,  143,  144.)  Das  war  nicht 
deutsches,  sondern  slawisches  und  zwar  pol- 
nisches Recht.  (S.  Cod.  dipl.  magn.  Pol.  Nr. 
292,  1072,  1300,  femer  Cromer.  De  origine  et 
reb.  ffest.  Pol.  p.  159,  204.)  Dennoch  blieb  das 
Regal  in  der  Gestalt  und  in  dem  Umfange,  den 
es  früher  gehabt,  in  Schlesien  auch  dann  be- 
stehen, als  deutsches  Recht  dort  Eingang  ge- 
funden und  die  Herrschaft  erlangt  hatte.  (S.  J. 
A.  de  Friedenberg,  Tract.  de  gen.  et  part.  Sil. 
jur.  II,  S.  9.)  Ja  es  sollte  sogar  nach  der  Ver- 
einigung des  Landes  mit  der  branden burgisch- 
preussischen  Monarchie  bestimmt  sein,  in  der 
Geschichte  der  Jagdgesetzgebung  eine  Rolle  zu 
spielen,  deren  Bedeutung  weit  über  sein  engeres 
Herrschaftsgebiet  hinausreichte.  Als  es  nämlich 
zur  Abfassung  des  Allgemeinen  preussischen 
Landrechts  kam,  hatte  Svarez  in  dem  ersten 
Entwürfe  die  Regalität  der  Jagd,  entsprechend 
dem  in  den  übrigen  Provinzen  geltenden  Rechte, 
allein  auf  die  hohe  Jagd  beschränkt.  Der  Gross- 
kanzler T.  Carmer  aber  setzte  es  durch,  dass 
dem  Gesetzbuche  die  Vorschrift  einverleibt 
wurde:  „Die  Jagd  gerech  tigkeit  gehört  zu  den 
niederen  Regalien,  und  kann  von  Privaten  nur 
80,  wie  bei  Regalien  überhaupt  verordnet  ist. 
erworben  und  ausgeübt  werden.**  (§  39,  II,  16 
A.L.R.,  s.  dazu  von  Kamptz,  Jahrb.  für  preuss. 
Gesetzgeb.  LVII,  S.  59.)  Als  früherer  Chef  der 
sämtliclieu  Obergerichte  Schlesiens,  der  zugleich 
selbst  in  der  Provinz  grössere  Güter  besass, 
stand  y.  Carmer  unter  der  Herrschaft  der  dort 
vom  Mittelalter  her  historisch  erwachsenen  An- 
schauung   von   der   allgemeinen   Regalität   der 


Jagd.  Er  hatte  diese  niemals  als  eigenes,  son- 
dern stets  nur  als  ein  Recht  gekannt,  welches 
die  Besitzer  der  Rittergüter  fürstlicher  Ver- 
leihung verdankten. 

Wurde  so  das  Jagdregal  eine  Einrichtung 
des  gemeinen,  wenn  auch  nur  subsidiären 
preussischen  Rechts,  eine  gemeinrechtliche  Be- 
deutung für  Deutschland  bekam  es  darum  doch 
nicht.  Einigen  Ländern,  so  namentlich  Mecklen- 
burg, ist  es  überhaupt  fremd  geblieben.  In 
anderen  erlangte  es  eine  nur  beschränkte  Gel- 
tung, indem  es  auf  den  Rittergütern  allein  die 
hohe  Jagd  war,  die  renalen  Charakter  annahm. 
Bei  herrschender  Regalität  konnte  die  Jagd  nur 
durch  den  Landesherrn  oder  durch  diejenigen, 
welche  die  Jagdgerechtigkeit  seiner  Verleihung 
verdankten,  rechtmässig  ausgeübt  werden.  Ge- 
wöhnlich geschah  die  Verleihung  der  hohen 
Jagd  an  Adelige  mit  Beschränkung  auf  deren 
eigene  Güter.  Bisweilen  aber  erhielten  die  Be- 
lienenen  damit  zugleich  das  Recht,  Hochvtild 
auf  den  angrenzenden  Besitzungen  ihrer  Nach- 
barn und  Standesgenosseu  zu  jagen.  AVo  die 
niedere  Jagd  imter  das  Regal  fiel,  wurde  sie 
re  vier  weise  verpachtet  oder  auch  wohl  ohne 
Gegenleistung  ids  sogenannte  Gnadenjagd  Pri- 
vaten auf  Widerruf  überlassen. 

Sowohl  neben  dem  Jagdregal  als  beim 
Mangel  desselben  fanden  und  finden  zum  Teil 
heute  noch  Jagdrechte  auf  fremdem  Grund  und 
Boden  in  grosser  Zahl  und  aus  verschiedenen 
Rechtstiteln  statt.  Nicht  allein,  dass  sie  den 
Rittergutsbesitzern  auf  den  Gütern  der  von 
ihnen  abhängigen  Bauern  erhalten  blieb,  so 
bildete  die  Jagd  auch  häufig  den  Gegenstand 
einer  Dienstbarkeit.  (S.  §  158,  I,  9"  A.L.R. t 
Regelmässig  war  diese  mit  dem  Eigentum  an 
dem  Gute  verknüpft,  welches  dem  Jagdberech- 
tififten  gehörte.  Sie  ^ab  ihm  entweder  die  aus- 
schliessliche Berechtigung  zur  Jagd  auf  dem 
fremden  Areal  oder  nur  zur  sogenannten  Mit- 
jagd, während  die  Jagd  im  übrigen  dem  Grund- 
eigentümer oder  anderen  Personen  gehörte, 
welche  dort  ebenfalls  Servitut  berechtigt  waren. 
Hatten  im  letzteren  Falle  mehrere  ein  Recht 
auf  die  Ja^d  der  gleichen  Art  und  vom  selben 
Umfange  im  nämlichen  Revier  zu  ideellen 
Anteilen,  so  bezeichnete  man  ihr  Verhältnis  als 
Koppel  jaed. 

Als  Rest  der  alten  mark^enossenschaftlicben 
Jagden  erhielt  sich  selbst  nach  dem  Aufkommen 
des  Jagdregals  in  manchen  Gegenden  ein  Re<'ht 
der  städtischen  Bür&:er  im  Stadtgebiete  und  der 
Dorfgenossen  innerhalb  der  Gemeindeflur.  So- 
weit diese  genossenschaftliche  Jagd  die  in  das 
Sonderei£:entum  übergegangenen  Liegen  schatten 
mitbetrai.  nahm  sie  den  Charakter  einer  den 
Eigentümern  dort  wechselseitig  zustehenden 
Grund  gerech  tigkeit  an.  Denn  allein  die  Bärger 
und  Dorfgenossen  galten  als  jagdbereohtigt, 
welche  im  Stadtgebiete  oder  in  der  Dorfflur 
Grundstücke  besassen.  Von  dieser  ^nossen- 
schaftlichen  Jagd  ist  die  sogenannte  freie  Pörsch 
(im  engeren  Sinne)  zu  unterscheiden,  die  früher 
besonders  in  schwäbischen  Kreisen  vorkam  und 
sich  in  Hannover  an  einzelnen  Orten  bis  zur 
Gegenwart  hin  behauptet  hat.  (G.  v.  11.  Mira 
1859,  §  12,  Hann.  G.S.  1859,  I,  S.  159  ff.)  .^ie 
berechtigt  zur  Ja^d  die  sämtlichen  Einwohner 
eines  bestimmten  Bezirkes,  ohne  dass  es  darauf 
ankommt,  ob  sie  dort  Grundstücke  besitzen  oder 


I  /:i 


Jagdrecht 


1309' 


nicht.  Die  ihnen  gewährte  Ja^dfreiheit  stellt 
ein  ßecht  von  eigentümlicher  Natur  nnd  Be- 
schaffenheit dar,  das,  getrennt  von  jeder  Ver- 
hindung  mit  dem  Grundeigentume ,  dennoch 
kein  hloss  persönliches  Recht  ist,  sondern  sich 
eher  einer  Personalservitut  vergleichen  lässt. 
Nicht  unter  den  Begriff  des  Jagdrechts  auf 
fremdem  Grund  und  Boden  fällt  dahingegen  die 
Wüd-  und  Jagdfolge.  Zwar  durfte,  wo  diese 
üblich  war,  und  darf  an  manchen  Orten*  noch 

gegenwärtig  der  Jagdberechtigte  das  im  eigenen 
-evier  von  ihm  verwundete  oder  angehetzte 
Wild  in  den  Bereich  der  einem  anderen  ge- 
hörigen Jagd  verfolgen.  Das  aber  ist  kerne 
selbständige  Jagdausübung,  sondern  die  blosse 
Fortsetzung  der  Handluno^  der  Besitznahme  an 
dem  einzelnen  Stück  Wild,  die  ihren  Anfang 
nahm,  als  dieses  noch  dem  Wildstande  des  Jägers 
zugehörte. 

5.  Die  neuere  Ja^dgesetzgebnng.  Der 
unzureichende  Schutz  gegen  den  W^ild- 
schaden  in  Verbindung  mit  der  harten  Be- 
strafung der  Jagdfrevel  sowie  die  Jagd- 
fronden ^  welche  die  Bauern  ihren  Grund- 
und  Gerichtsherren  zu  leisten  hatten,  mach- 
ten die  Jagdrechte  auf  fremdem  Grund  und 
Boden  in  hohem  Grade  verhasst.  Ihre 
gänzliche  Abschaffimg  war  daher  eine  der 
Forderungen  der  liberalen  Partei  im  Jahre 
1848.  Sie  fand  ihren  Ausdnick  in  den 
Grundrechten  des  deutschen  Volkes,  welche 
die  Nationalversammlung  zu  Frankfiu't  a'M. 
aufstellte  (§  37).  In  mehreren  deutschen 
Staaten  sah  man  sich  veranlasst,  den  Grund- 
eigentümern die  Jagd  auf  ihren  Gütern  voll- 
ständig frei  zu  geben.  (Vgl.  z.  B.  bayer. 
G.  v.  4.  Juni  1848,  preuss.  G.  v.  31.  Oktober 
1848,  Sachs.  V.  v.  13.  August  1849,  wflrtt. 
G.  V.  17.  August  1849.)  Man  ging  damit 
über  die  Grundrechte  hinaus.  Diese  forderten 
zwar  die  Herstellung  einer  untrennbaren 
Verbindung  zwischen  Grundeigentum  und 
Jagdrecht.  Seine  Ausübung  aber  aus  Gründen 
der  öffentlichen  Sicherheit  und  des  gemeinen 
Wohles  zu  ordnen,  behielten  sie  der  Landes- 
gesetzgebimg  vor.  Die  Abschaffung  des 
Jagdregals  und  der  als  dingliche  Rechte  an 
fremdem  Grund  und  Boden  bestehenden 
Jagdrechte  war  rechtspolitisch  durchaus 
gerechtfertigt.  Die  Wiederherstellung  der 
im  Mittelalter  und  in  der  neueren  Zeit  ver- 
loren gegangenen  Verbindung  der  Jagd  mit 
dem  Gnmdeigentum  bildete  die  notwendige 
Ergänzung  der  übrigen  Massregeln  der 
neueren  Gesetzgebung,  welche  den  erleich- 
terten Besitz  imd  fi*eien  Gebrauch  der 
Liegenschaften  bezweckten.  Nicht  zu  billigen 
aber  war  es,  dass  man  jedem  Grundeigen- 
tümer ohne  Rücksicht  auf  umfang  und  Be- 
schaffenheit seines  Besitztumes  die  selb- 
ständige Ausübung  des  damit  verknüpften 
Jagdrechts  gestattete.  Eine  solche  all- 
gemeine Jagdfreiheit  mochte  sich  vielleicht 
empfehlen,  wenn  man  bei  der  gesetzlichen 
Regelung  der  Jagdfrage   allein   den  Mass- 


stab des  Privatrecht«  anlegte.  Sie  stand 
dagegen  im  Widerspruche  mit  wichtigen 
öffentlichen  Interessen.  Mit  der  Aufteilung 
der  Gemeinheiten  hatte  das  Sondereigentum 
eine  viel  grössere  Ausdehnung  angenommen, 
als  es  früher  gehabt  hatte.  Die  Zahl  der 
einzelnen  Grundeigentümer  wurde  noch  ver- 
mehrt, als  die  Gesetzgebung  der  Neuzeit 
die  Schranken  und  Hemmnisse  hinweg- 
räumte, welche  nach  der  älteren  Rechts- 
verfassung die  Parzellierung  der  Güter, 
wenn  nicht  ganz  ausgeschlossen,  so  doch 
erheblich  erschwert  hatten.  Unter  diesen 
waren  viele  so  klein,  dass  eine  Ausübung 
der  Jagd  mittelst  Schiessgewehren  darauf 
kaum  möglich  war,  ohne  die  Besitzer  der 
Nachbargrundstücke  zu  -gefährden.  Aber 
auch  da,  wo  der  räiunliche  Umfang  dieser 
Befürchtung  nicht  Raum  gab,  hatte  die  Frei- 
gebung der  Jagd  bedenkliche  Uebelstände 
zur  Folge.  Soweit  die  Grundstücke  nicht 
gross  genug  waren ,  um  die  Besitzer  der 
Notwendigkeit  zu  überheben,  dass  sie  in  der 
Landwirtschaft  selbst  mit  Hand  anlegten, 
trat  der  gleiche  Nachteil  ein,  den  schon  die 
Jagdordnungen  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
als  einen  der  Gründe  bezeichnet  hatten,  um 
den  Bauern  das  Jagen  zu  verbieten.  Die 
Beschäftigung  mit  der  Jagd  entzog  viele 
kleine  Besitzer  ihrem  eigentlichen  landwirt- 
schaftlichen Berufe.  Womöglich  noch  schlim- 
mer aber  war  es,  dass,  sofern  diese  für 
ihre  Person  keinen  Gefallen  daran  fanden, 
sie  das  Jagen  auf  ihrem  Terrain  anderen 
Leuten  gestatteten.  Sie  fragten  dabei  nicht 
weiter  danach,  ob  diese  in  Ausübung  der 
Jagd  mit  der  nötigen  Vorsicht  verfuhren 
oder  etwa  sog-ar  die  ihnen  gebotene  Gelegen- 
heit zu  Revierübei-schreitiuigen  und  zur  ge- 
werbsmässigen Wilderei  benutzten.  Nicht 
allein,  dass  dem  Wildstande  Verderben  und 
Vernichtung  drohte,  stellte  die  grosse  Ver- 
mehrung der  Zahl  der  Jäger  die  Rechts- 
sicherheit in  Frage.  Diese  aus  der  Jagd- 
freiheit der  Grundeigentümer  in  polizeilicher 
und  volkswirtschaftlicher  Hinsicht  entstehen- 
den Nachteile  machten  eine  anderweitige 
Ordnung  der  Jagdausübung  und  deren  Ein- 
schränkung notwendig.  Eine  dahin  gerich- 
tete Aendenmg  der  Jagdgesetzgebung  hat 
denn  auch  in  allen  deutschen  Staaten  statt- 
gefimden,  wo  man  in  den  Jahren  1848/49 
nach  Beseitigung  des  älteren  Rechtszustandes 
mit  dem  Jagdrechte  zugleich  dessen  Aus- 
übung den  Gnmdeigentümern  eingeräumt 
hatte.  Festhaltend  an  dem  Grundsatze,  dass 
das  Jagdrecht  mit  dem  Gnindeigentume 
untrennbar  verbunden  sein  müsse,  machen 
die  seit  1850  erlassenen  Jagd-  und  Jagd- 
polizeigesetze die  Ausübung,  der  Jagd  von 
gewissen  persönlichen  und  dinglichen  Er- 
fordernissen abhängig.  Die  persönlichen  Er- 
fordernisse stehen  mit  dem  Grundeigentume 


•1310 


Jagdrecht 


und  dem  daran  geknüpften  Jagdreehte  in 
keinem  Zusammenhange.  Denn  nicht  bloss 
der  Grundeigentümer  hat  ihnen  zu  genügen, 
sondern  jeder,  der  die  Jagd,  sei  es  in  eige- 
nem oder  in  fremdem  Namen  ausüben  will. 
Es  soll  niemand  jagen  dürfen,  der  nicht  bei 
der  zuständigen  Verwaltun'gsbehÖrde  einen 
Jagderlaubnisschein  (Jagdschein,  Jagdkarte) 
gelöst  hat.  Seine  Erteilung  verlangt  wie- 
derum gewisse  Oarantieen  in  der  Person 
dessen,  der  darum  nachsucht.  Er  muss  oder 
kann  wenigstens  allen  denjenigen  versagt 
werden,  von  denen  ein  Missbrauch  bei  Aus- 
übung der  Jagd  zu  gewärtigen  ist.  (Preuss. 
J.P.G.  7.  März  1850  §§  14—16;  bayer.  G. 
30.  März  1850  Art.  14 ff.;  hannöv.  G.  10.  März 
1859  §  18 ff.;  bad.  G.  2.  Dezember  1850 
§§  13—16;  Sachs.  V.  14.  Mai  1851  §  20 ff.; 
württ.  G,  17.  Oktober  1855  Art.  7 ;  el8.-lothr. 
J.P.G.  7.  Mai  1883  §  9).  Anders  die  ding- 
lichen Erfordernisse.  Sie  betreffen  allem 
die  .Grundeigentümer.  Soll  diesen  ausser 
dem  Jagdrechte  zugleich  die  Befugnis 
zustehen,  es  selbständig  auf  ihren  Gü- 
tern auszuüben,  so  müssen  die  letzteren 
einen  bestimmten  Flächeninhalt  aufweisen, 
der  in  sich  zusammenhängt,  d.  h.  durch 
fremde  Gnindstücke  nicht  durchbrochen 
wird.  So  werden  in  Preussen  300,  in  Ba- 
den 200,  in  Württemberg  melir  als  50  Mor- 
gen, im  Königreich  Sachsen  300  Acker,  in 
Bayern  240  Tagewerke  im  Flachlande,  400 
im  Hochgebirge,  in  Elsass-Lothringen  25 
Hektar  erfoi*dert.  (Preuss.  G.  §  2;  bayer. 
G.  Art.  2;  hannöv.  G.  10.  März  1859  §  2; 
bad,  G.  §  2 ;  sächs.  V.  13.  Mai  1851  §  2 ; 
Württemb.  G.  Art.  2;  els.-lothr.  Jagdg.  7. 
Februar  1881  §  3).  Eine  Ausnahme  machen 
solche  Grundstücke,  die  entweder  diu'ch 
Einfriedigungen  oder  vermöge  ihrer  natür- 
lichen Beschaffenheit  mehr  oder  weniger  in 
sich  abgeschlossen  sind.  Auf  ihnen  soll, 
ohne  dass  ihr  Umfang  in  Betracht  kommt, 
den  Eigentümern  die  Ausübung  der  Jagd 
freistehen.  (Preuss.  G.  §  2 ;  bad.  G.  §  2,  §  4  ff. ; 
württ.  G.  Art.  2 ;  baver.  G.  Art.  2 ;  els.-lothr. 
Jagdg.  7.  Februar  1881  §  3).  Alle  übrigen 
Grundstücke,  welche  den  gedachten  ding- 
lichen Voraussetzungen  nicht  entsprechen, 
werden  kraft  gesetzlicher  Vorschrift  zu  ge- 
meinschaftlichen Jagdbezirken  vereinigt. 
Innerhalb  eines  jeden  derselben  steht  die 
Ausübung  des  Jagdrechts  der  aus  den  be- 
teiligten Grundeigentümern  gebildeten  Jagd- 
genosscDschaft  zu.  In  den  meisten  deutschen 
Staaten  vermag  diese  jedoch  nicht  selb- 
ständig darüber  zu  verfügen.  Sie  wiM 
vielmehr  durch  die  politische  Gemeinde 
(bad.  G.  §§  2—3,  bayer.  G.  Art.  4,  württ.  G. 
Art.  4,  els.-lothr.  Jagdg.  §  2)  oder  doch  durch 
deren  Organ,  die  Gemeindebehörde  (preuss. 
G.  §  9),  vertreten ,  welche  im  Namen  und 
für  Rechnung  der  beteiligten  Gnmdeigen- 


tümer  die  Jagd  ausübt.  Nur  im  Königreich 
Sachsen  und  in  der  jetzt  preussischen  Pro- 
vinz Hannover  ist  es  der  Gesamtheit  der 
Gnmdeigentümer  überlassen,  durch  Mehr- 
heitsbeschluss  über  die  Verwaltung  der  Jagd 
Verfügungen  zu  treffen.  (Sächs.  V.  13.  Mai 
1851  §  13,  sächs.  G.  25.  Noveml>er  185S 
§  3  a.  E.,  hannöv.  G,  11.  März  1859  §  3). 
Bezüglich  der  Art,  wie  die  Jagd  in  den 
gememsamen  Jagdbezirken  auszuüben  ist 
ordnen  einige  Gesetze  deren  Verpat'htung 
an  (bayer.  G.  Art.  7,  württ.  G.  Art  4,  els.- 
lothr.  Jagdg.  §  2).  Andere  geben  der  Ge- 
meinde oder  der  Gemeindebehörde  oder  der 
Genossenschaft  selbst  die  Wahl  frei,  ob  sie 
die  Jagd  verpachten  oder  durch  angestellte 
Jäger  beschiessen  oder  gänzlich  ruhen  las^n 
wolle.  (Preuss.  G.  §§  5,  6,  7 ;  haonöv.  G. 
1859  §  5;  sächs.  V.  1851  §  16).  Soweit  die 
Verpachtung  stattfindet,  ist  die  Zahl  der 
Pächter  vorgeschrieben.  Nach  dem  preussi- 
schen Jagdpolizeig.  vom  7.  März  lv^50  §  12 
soll  die  Zahl  derselben  nicht  mehr  denn 
höchstens  drei  betragen.  Es  soll  so  verhütet 
werden,  dass  die  Jagd  in  ein  und  demselben 
Revier  durch  zu  viele  Personen  ausgeübt 
wird.  In  der  gleichen  Rücksicht  beruht 
übrigens  auch  die  Vorschrift,  dass,  wenn  ein 
Gut,  welches  an  sieh  zur  selbständigen  Ails- 
übung  berechtigt,  mehreren  als  Miteigen- 
tümern gehört,  die  Jagd  nur  von  einigen 
derselben  (zweien  oder  hr>chstens  dreien) 
ausgeübt  werden  darf.  (Preuss.  G.  §  3 ;  hann. 
G.  1859  §  2).  Von  der  Notwendigkeit  des 
Anschlusses  an  den  gemeinsamen  Jagdbezirk 
sind  isolierte,  nicht  im  Gemenge  gelegene 
Grundstücke  und  sogenannte  Enclaven  aus- 
genommen, wenngleich  sie  nicht  den  vor- 
hin genannten  dinglichen  Erfordernissen 
genügen.  Auf  den  ersteren  sind  die  Eigen- 
tümer, sofern  sie  nicht  der  Jagdgenossen- 
schaft beitreten,  verpflichtet,  die  Jagd  ruhen 
zu  lassen.  Unter  Enclaven  aber  werden 
solche  Liegenschaften  verstanden,  die,  ohne 
selbst  den  zur  Jagdausübung  nötigen  Fläc^hen- 
raum  zu  haben,  von  einem  qualifizierten 
Areal  umgeben  sind.  Ihre  Eigentümer 
dürfen  wählen,  ob  sie  die  Jagd  darauf  ruhen 
lassen  oder  an  die  Eigentümer  der  ansto>- 
senden  grösseren  Güter  verpachten  wollen. 
(Preuss.  G.  §§  5,  6,  7;  sächs.  V.  1851  §  S: 
bad.  G.  §  6 :  bayer.  G.  Art.  3 ;  württ.  G.  Art.  3l 
Mit  den  Jagdrechten  auf  fremdem  Grund 
und  Boden  ist  meistens  zugleich  auch  das 
Recht  der  Jagd-  oder  Wildfolge  aufgehoben 
worden.  (Preuss.  G.  31.  Oktober  1848  §4; 
hann.  G.  1859  §  24 ;.  bayer.  G.  25.  Juli  IST-J 
Art.  2;  els.-lothr.  Jagdoolizeig.  §  1).  Man 
erblickte  darin  ebenfalls  eine  Anwenduiur 
des  vom  unbeweglichen  Eigentum  getrennten 
Jagdrechts.  War  dies  nicht  richtig,  st>  i>i 
doch  die  Beseitigung  der  Jagdfolge  selli^t 
nicht   zu    bedauern.     Es   sind   damit    viele 


Jagdrecht 


1311 


Streitigkeiten  abgeschnitten,  zu   denen  ihre 
Ausübung  früher  Veranlassung  gab. 

Die  80  durchgeführte  Unterscheidung  zwi- 
schen Jagdrecbt  und  Recht  der  Jagdausübung 
macht  eine  Feststellung  und  Abgrenzung  beider 
Begriffe,  ihrer  Bedeutung  und  ihrer  Wirkungen 
notwendig.  Das  Jagdrecht  wird  in  den  neueren 
Gesetzen  als  ein  Ausfluss  des  Grundeigentums 
bezeichnet,  mit  dem  es  hinfort  untrennbar  ver- 
bunden sein  soll,  dergestalt^  dass  es  als  ding:- 
liches  Recht  in  Zukunft  nicht  mehr  bestellt 
werden  darf  (vgl.  z.  B.  bayer.  Ges.  Art.  1,  württ. 
Ges.  Art.  1).  Freilich  die  Proprietät  allein  ist 
dabei  nicht  ausschlafi^gebend,  sondern  das  dem 
Eigentümer  kraft  des  Eigentums  zustehende 
Recht,  sein  Gut  zu  gebrauchen  und  zu  nützen. 
Wo,  wie  beim  Niessbrauch,  vasallitischem  Recht 
oder  Erbpacht  jemand  am  Gute  eines  anderen 
das  volle  Nutzungsrecht  hat,  geht  damit  zu- 
gleich das  Jagdrecht  vom  Eigentümer  auf  ihn 
über  (Sachs.  V.  1851  ^  1;  hann.  Ges.  1859  §3; 

Sreuss.  Ges.  1.  März  1873  §  1  [G.  1873  S.  27]). 
^er  Begriff  des  Jagdrechts  ist  jedoch  dadurch 
nicht  erschöpft,  wenn  von  ihm  gesagt  wird,  es 
fliesse  aus  dem  Inhalte  des  Eigentums  oder  sei 
darin  eingeschlossen.    Es  beschränkt  sich  nicht 
darauf,  dass  es  den  Eigentümer  in  den  Stand 
setzt,  auf  seinem  Gute  dem  Wilde  nachzustellen, 
um  neben  anderen  Beschäftigungen  der  Thätig- 
keit  des  Jagens  obzuliegen.     Wie  im  Mittel- 
alter und  in  der  Zeit  der  herrschenden  Regalität 
hat  das  Jagdrecht  auch  gegenwärtig  keine  bloss 
subjektive,  sondern  auch  objektive  Bedeutung. 
Es  erstreckt  sich  zugleich  auf  das  innerhalb  der 
Grenzen  eines  Grundstückes  in  der  natürlichen 
Freiheit  sich  bewegende  Wild.    Welche  Tiere 
zum  Wilde  gehören  oder  mit  anderen  Worten 
als  jagdbar  gelten  sollen,  ist  in  den  Landes- 
nnd  Provinzialgesetzen  der  mehreren  deutschen 
Staaten  verschieden  bestimmt.  Gemeinhin  werden 
dazu   alle   vierfüssigen   Tiere  und  Vögel  ge- 
rechnet, welche  man  zur  Speise  zu  gebrauchen 
pflegt  (§  32,  II,  10  A.L.R.).     Aber   auch  das 
Pelzwerk,  insofern  man  dasselbe  zur  Kleidung 
verwendet,    ist   oft  für  die  Jagdbarkeit  ent- 
scheidend.    So  werden  namentlich  Füchse   in 
den  Rechten   mancher  Länder  und  Provinzen 
für  jagdbar  erachtet.    Gleich  den  nicht  jagd- 
baren   Tieren    steht   das   Wild   in   niemandes 
Eigentum.    Das   Recht  auf  dasselbe  oder  das 
Jagdrecht  im  objektiven  Sinne  kann  daher  nicht 
Ausfluss  des  Eigentums  an   dem   Grund  und 
Boden  sein,  auf  welchem  es  herumschweift.    Es 
lässt  sich  nur  als  ein  mit  dem  Grundeigentum 
verbundenes  Recht  auffassen,  das  seine  besondere 
Natur  und  Beschaffenheit  hat.     Das  Wild   ist 
andererseits  aber  nicht  in  dem  Masse  herrenlos 
wie  die  nicht  jagdbaren  Tiere.    Indem  es  ge- 
hegt  wird,    erlangt   der   Jagdberechtigte   die 
Möglichkeit,  innerhalb  seines  Keviers  sich  einen 
Wildstand  zu  schaffen   und  zu  erhalten.     Er 
Tvird  dadurch  in  den  Stand  gesetzt,  die  JAgd- 
baren  Tiere  nicht  zwar  als  einzelne,  wohl  aber 
in  ihrer  Verbindung  mit  anderen  der  gleichen 
Art  und  Gattung,  mit  welchen  sie  der  Gesellig- 
keits-  und   Geschlechtsbetrieb   zusammenführt, 
bis   zu  einem  gewissen  Grade  zu  beherrschen. 
Das  Hegen  des  Wildes  ist  nicht  seinem  freien 
Belieben  überlassen;  er  wird  von  Staats  wegen 
zur  Innehaltnng  bestimmter  Schonzeiten  ange- 


halten. Sie  festzusetzen  ist  die  Staatsgewalt 
vermöge  der  sogenannten  Ja^dhoheit  im  allge- 
meinen Interesse  befugt.  Die  Aufhebung  des 
Jagdreeals  hat  daran  nichts  geändert.  Wie  das 
ältere  deutsche  Recht  nimmt  die  neuere  Gesetz- 

febung  auf  diese  Thatsachen  Rücksicht.  Weil 
er  Jagdberechtigte  zu  dem  Wilde  in  seinem 
Reviere  vermittelst  der  Hegung  in  ein  näheres 
Verhältnis  tritt  als  jeder  andere,  soll  ihm  allein 
das  in  seinem  Reviere  in  Besitz  genommene 
Wüd  gehören  (vgl.  §§  lo4-lö7,  I,  9  A.L.R.; 
preuss.  Jagdpolizeiges.  7.  März  1850  §  24; 
hannöv.  Ges.  11.  März  1859  §  24;  württ.  Ges. 
Art.  15  vgl.  mit  Art.  7  das.).  Es  gilt  dies 
ebensowohl  von  jagdbaren  lebenden  Tieren,  die 
erlegt  werden,  wie  von  bereits  verendet  dort 
angetroffenem  Wilde  (sog[.  Fallwild).  Das  Jagd- 
recht ist  so  anderen  privilegierten  Occupations- 
rechten  gleichgestellt.  Wie  diese  schliesst  es 
die  Möglichkeit  aus,  dass  ein  dritter  Unbefugter 
durch  Besitznahme  der  dem  Zueignimgsrechte 
einzelner  Berechtigter  vorbehaltenen  herrenlosen 
Sachen  Eigentum  erwirbt  (§  988  B.G.B.).  Für 
den  Wilderer  ergiebt  sich  hieraus  das  negative 
Resultat,  dass  er  nicht  Eigentümer  des  Wildes 
wird,  das  er  mit  Verletzung  des  dem  Jagd- 
berechtigten darauf  zustehenden  Rechts  erlegt, 
fängt  oder  sonstwie  in  seine  Gewalt  bekommt. 
Hat  der  Akt  der  Besitznahme  des  Wildes,  den 
er  vornimmt,  darum  aber  überhaupt  keine  eigen- 
tnmserzeugende  Wirkung  ?  Die  jetzt  herrschende 
Lehre  (Brimner,  Dernburg,  Eccius)  verneint 
diese  Frage.  Das  Wild  bleibt  in  den  Händen 
des  unbefugten  Jägers  herrenlos.  Es  gelaugt 
in  das  Eigentum  des  Jagdberechti^n  erst 
dann,  wenn  dieser  es  seinerseits  in  Besitz  nimmt. 
Als  Nichteigentümer  kann  derselbe  es  nicht 
vom  Wilderer  vindizieren.  Er  hat  ge^en  den 
letzteren  nur  eine  Klage,  welche  danin  ge- 
richtet ist,  dass  Bekla^r  sein  Zueignungsrecht 
anerkenne  und  die  Besitznahme  des  Wildes  und 
damit  zugleich  den  Ei^entumserwerb  durch  ihn, 
den  Kläger,  dulde  und  geschehen  lasse.  Diese 
Annahme  der  fortdauernden  Herrenlosigkeit  des 
Wildes  nach  der  vorangegangenen  Bemächtigung 
durch  den  unbefugten  J^er  tritt  in  Widersprach 
zu  der  sonst  innerhalb  des  positiven  Rechts 
geltenden  Regel,  dass  die  Besitznahme  herren- 
loser Sachen  Eigentum  hervorbringt  (Res  nullius 
cedit  occnpanti).  Sie  wird  da,  wo  jemand  aus- 
schliesslich zur  Occupation  berechtigt  ist,  dahin 
modifiziert,  dass  kein  Dritter  mit  dem  Besitze 
der  jenem  vorbehaltenen  herrenlosen  Sachen 
deren  Eigentum  erwirbt,  nicht  aber  leidet  sie 
eine  Abweichung  dahin,  dass  man  der  That- 
sache  der  Besitznahme  in  diesem  Falle  über- 
haupt jede  eigentumerzeugende  Wirkung  ab- 
sprechen darf.  Richtiger  ist  daher  die  von 
einer  Minderzahl  juristischer  Schriftsteller  ver- 
tretene Meinung,  dass  der  unbefugte  Jäger  an 
dem  Wilde,  dessen  er  sich  bemächtigt,  dem 
Jagdberechtigten  das  Eigentum  erwirbt.  Sie 
Stent  mit  dem  älteren  germanischen  und  deut- 
schen Rechte  in  Uebereinstimmung.  Für  sie 
spricht  ferner  die  Analogie  des  Jagdrechts  mit 
anderen  privilegierten  Occupationsrechten.  Wer 
als  Soldat  im  Kriege  dem  Feinde  Waffen  ab- 
nimmt oder  anderes  Ejriegsmaterial  erbeutet, 
erwirbt  daran  das  Eigentum  nicht  sich,  sondern 
dem  Staate.  Ein  anderes  Beispiel  ist  der  preussi- 
schen  Gesetzgebung  über  den  Bernstein  zu  ent- 


1312 


Jagdrecht 


nehmen  (G.  v.  22.  Februar  1867,  preuss.  G.S. 
8.  272).  Wo  der  Bernstein  regal  ist,  hat  der, 
welcher,  ohne  zum  Sammeln  befugt  zu  sein, 
solchen  zufällig  auffischt,  findet  oder  gräbt,  alle 
Rechte  und  Michten  eines  Finders  (A.L.R.  I, 
Ö,  §§  19—22,  §§  43-72).  An  sich  herrenlos, 
aber  dem  privilegierten  Occupationsrechte  des 
Staates  vorbehalten,  wird  so  der  Bernstein  in 
der  Hand  eines  Dritten,  der  sich  in  Ermangelung 
eines  Hechts  seiner  bemächtigt,  als  eine  Sache 
angesehen  und  behandelt,  die  sich  im  fiskalischen 
Eigentume  befindet.  Denn  nur  wenn  dieses  als 
entstanden  vorausgesetzt  wird,  lassen  sich  darauf 
die  gesetzlichen  Vorschriften  über  die  Rechte 
und  Pflichten  des  Finders  verlorener  Sachen 
anwenden,  die  schon  ihren  Eigentümer  haben 
und  nur  aus  seinem  Besitze  und  seiner  Gewahr- 
sam gekommen  sind.  Für  die  Meinung,  welche 
dem  Jagdberechtigten  das  Eigentum  am  Wilder- 
gute zuschreibt,  sei  hier  endlich  noch  geltend 
gemacht,  dass  sie  allein  zu  praktisch  brauch- 
baren Ergebnissen  führt. 

Zwar  wird  nach  heutigem  Recht,  die  Herren- 
losigkeit  des  vom  Wilderer  occupierten  Wildes 
vorausgesetzt,  derjenige,  dem  dieser  ein  Stück 
Wild  verkauft  und  überj^iebt,  Eigentümer  wer- 
den, sofern  er  sich  beim  Erwerbe  in  gutem 
Glauben  befindet  (§  932  B.G.B.).  Nicht  weniger 
wird  ein  gutgläubiger  Erwerber  Eigentum  an 
Wildergut  erlangen,  das  dem  Wilderer  wider 
seinen  Willen  abhanden  kommt  (ihm  gestohlen 
oder  von  ihm  verloren  wird)  und  hierauf  von 
dem  Dieb  oder  Finder  veräussert  wird  (§  935 
B.G.B.).  Wie  ist  es  aber,  wenn  der  Wilderer 
oder  wenn  ein  anderer  stirbt,  der  unredlicher- 
weise, mit  oder  ohne  Willen  des  Wilderers, 
Wildergnt  an  sich  gebracht  hat,  und  solches 
—  z.  B.  ein   seltenes   und  wertvolles  Hirsch- 

feweih  —  sich  in  seinem  Nachlass  vorfindet, 
ein  Erbe,  mag  er  nun  gut-  oder  schlechtgläubig 
sein,  kann  daran  nicht  Eigentum  erwerben. 
Denn  bleibt  das  Wilderjjut  herrenlos,  bis  es  der 
Jagdberechtigte  beim  Wilderer  in  Besitz  nimmt, 
oder  bis  es  durch  Veräussening  ans  dem  Besitz 
des  Wilderers  oder  seines  Nachfolgers  in  das 
Eigentum  eines  gutgläubigen  Erwerbers  gelangt, 
so  ist  bis  dahin  die  Möglichkeit,  dass  jemand 
daran  Eigentum  durch  Ersitzung  erwirbt,  aus- 
geschlossen. Die  Ersitzung  setzt  eine  beweg- 
liche Sache  voraus,  welche  schon  einmal  Gegen- 
stand des  Eigentums  eines  anderen  als  des 
späteren  Eigenbesitzers  gewesen  ist.  An  herren- 
loser Fahrnis  giebt  es  keine  Ersitzung  (§§  939, 
941  B.G.B.  Vgl.  1.  1  D.  de  usurp.  et  usuc.  41,3). 
Während  das  Jagd  recht  auf  das  Wild  und 
seine  Occupation  unmittelbar  gerichtet  ist,  ge- 
währt dahingegen  die  Jagdausübung,  wo  sie 
nach  der  neueren  Gesetzgebung  einein  anderen 
als  dem  Grundeigentümer  zusteht,  ihrem  In- 
haber ein  bloss  persönliches  Recht.  Wird  näm- 
lich das  Jagdrecht  mit  dem  Grundeigentume 
untrennbar  verknüpft,  so  wird  dadurch  die 
Existenz  eines  anderen  auf  die  Jagd  bezüglichen 
Rechtes  von  dinglicher  Art  und  Wirkung  aus- 

feschlossen.  Demnach  kann  zwar  derjenige, 
er  die  Jagd  in  einem  gemeinschaftlichen  Be- 
zirke von  der  Jagdgenossenschaft  pachtete,  von 
den  beteiligten  Grundeigentümern  verlangen, 
dass  sie  ihm  das  Jagen  und  Occupieren  des 
Wildes  auf  ihren  Liegenschaften  gestatten.  Er 
kann  femer  von  diesen   die   Auslieferung   des 


Wildes  fordern,  welches  sie  dort  etwa  nnbe- 
fugterweise  erlegen,  indem  sie  sich  über  das 
Strafgesetz  und  sein  Verbot  hinwegsetzen.  Nicht 
aber  vermag  er  in  diesem  Falle  den  Eigentums- 
erwerb  der  Grundeigentümer  am  Wilde  zu  ver- 
hindern. Und  dasselbe  ist  dann  zu  behaupten, 
wenn  dort  ein  unberechtigter  Dritter  |fejagt 
hat.  Zur  Vindikation  des  Wildergutes  ist  da 
an  sich  nur  der  Grundeigentümer  berechtigt. 
Der  Jagdpächter  kann  erst  vindizieren,  sobald 
ihm  der  Grundeigentümer,  wozu  dieser  aller- 
dings verpflichtet  ist,  seinen  Anspruch  gegen 
den  Wilderer  cediert  hat.  Entsprechende  An- 
wendung findet  das  eben  Gesagte  in  gemein- 
schaftlichen Bezirken,  deren  Jagd  für  die  Ge- 
nossenschaft durch  angestellte  Jäger  ausgeübt 
wird.  Bleibt  aber  diese  gänzli(£  ruhen,  so 
kommt  ein  Anspruch  auf  Auslieferung  des  un- 
befugt erlegten  Wildes  überhaupt  nicht  in  Frage. 
Hat  doch  die  Jagdgenossenschaft  durch  den 
Beschluss,  die  Jagd  ruhen  zu  lassen,  auf  die 
aktive  Ausübung  derselben  verzichtet.  Sie  ist 
da  allein  auf  eine  Schadensforderung  gegen  den 
unbefugten  Jäger  ange^iiesen.  Gerechtfertigt 
ist  solche  durcn  den  Zweck,  der  bei  dem  ge- 
fassten  Beschluss  beabsichtigt  wurde.  Es  soll 
der  Wildstand  im  gemeinsamen  Reviere  zeit- 
weilig völlig  geschont  werden,  um  die  Jagd 
später  um  so  vorteilhafter  verpachten  oder  dnrch 
angestellte  Jäger  ausüben  zu  können.  Dieser 
Zweck  wird  vereitelt,  wenn  einer  oder  der 
andere  der  beteiligten  Eigentümer  auf  seinem 
Grund  und  Boden  oder  wenn  ein  Dritter  dort 
jagt.  Unter  gewissen  Umständen  hat  endlich 
das  unerlaubte  Jagen  durch  den  Grundeigen- 
tümer überhaupt  keine  civilrechtlichen  Folgen. 
Werden  isolierte  Grundstücke  vom  gemein- 
schaftlichen Jagdbezirke  ausgenommen,  so  muss. 
wie  früher  bemerkt  wurde,  die  Jagd  darauf 
ruhen  bleiben.  Ebenso  auf  Enclaveh,  sofiem 
keine  Verpachtung  der  Jagd  an  den  Besitzer 
des  ans  tossenden  grösseren  Gutes  beliebt  wird. 
Uebt  nun  trotzdem  der  Eigentümer  auf  solchen 
isolierten  oder  enclavierten  Gütern  die  Jaijd 
aus,  so  macht  er  sich  zwar  strafbar.  Das  Wild 
aber,  das  er  erlegt  oder  fängt,  wird  sein  Eigen- 
tum. Er  ist  auch  nicht  einmal  zur  Wieder- 
auslieferung desselben  verpflichtet.  Denn  es  ist 
ja  kein  anderer  da,  der  befugt  wäre,  die  Jagd 
auf  seinem  Terrain  auszuüben.  Das  gleiche 
Sach-  und  Rechtsverhältnis  lieget  dann  vor, 
wenn  Grundeigentümer,  deren  Güter  die  Grosse 
oder  Beschaffenheit  haben,  um  sie  zur  Jagdaus- 
übung zu  ermächtigen,  in  Ermangelung  eines 
Jagdscheines  oder  in  der  Schonzeit  oder  an 
Orten  jagen,  wo  es  aus  polizeilichen  Rücksichten 
verboten  ist,  zu  schiessen  oder  anderweitig  dem 
Wilde  nachzustellen. 

Wie  in  den  meisten  deutschen  Staaten 
führten  die  politischen  Ereignisse  des  Jahn»s 
1848  in  Oesterreichs  deutschen  Kron- 
ländern und  in  Galizien  eine  Aendenmg  dtT 
Jagdgesetzgebung  herbei.  Das  kaiserliche 
Patent  v.  7.  Man;  1849  erklärte  das  Jagil- 
recht  auf  fremdem  Grund  und  Boden  für 
aufgehoben  (§§  1,  4).  Auch  in  Oesterreich 
giebt  jedoch  das  Jagdrecht  an  und  für  sich 
no(;h  nicht  jedem  Grundbesitzer  die  Befug- 
nis zur  eigenen  Ausübung  der  Jagd.    Diese 


Jagdrecht — Jakob 


1313 


haben  allein  solche  Besitzer,  deren  Gnind- 
stücke  einen  zusammenhängenden  Komplex 
von  wenigstens  200  Joch  ausmachen  (§  5). 
Auf  allen  übrigen  innerhalb  einer  Gemeinde- 
markung  gelegenen  Gnmdstücken  weist  das 
Gesetz  die  Jagd  der  Gemeinde  zu  (§  G). 
Sie  ist  verpflichtet,  die  ihr  zugewiesene 
Jagd  entwecfer  uugeteQt  zu  verpacliten  oder 
selbe  durch  eigens  bestellte  Sachverständige 
(Jäger)  ausüben  zu  lassen  (§  7).  Der  jähr- 
liche Reinertrag  ist  am  Schlüsse  jedes  Ver- 
waitungs-  oder  Pachtjahres  unter  die  Ge- 
samtheit der  Grundeigentümer,  auf  deren  in 
der  Gemeindemark  befindlichen  Liegen- 
schaften die  Jagd  von  der  Gemeinde  aus- 
geübt wird,  nach  Massgabe  des  Flächen- 
umfanges  zu  verteilen  (§  8). 

Die  Refoi-m  der  französischen  Jagd- 
gesetzgebung datiert  aus  der  Zeit  der  Revo- 
lution von  1789.  In  Ausführung  der  Be- 
vschlüsse  der  berülimten  Nachtsitzung  der 
Generalstände  vom  4.  August  1789  hob  das 
G.  V.  3.  November  1789  das  Jagdregal  und 
damit  zugleich  alle  Jagdgerechtsame  auf 
fremdem  Grund  und  Boden  auf.  Seitdem 
steht  in  Frankreich  jedem  Grundeigentümer 
auf  seinem  Terrain  nicht  niu*  das  Jagdrecht 
zu,  sondern  auch  das  Recht  der  eigenen 
Jagdausübung.  Die  letztere  imterliegt  wohl 
pei-sönlichen  Beschränkungen ,  nachdem 
neuere  Gesetze  (Dekret  v.  11.  Juli  1810; 
G.  v.  3.  Mai  1844)  die  Lösung  eines  Jagd- 
erlaubnisscheines bei  der  zuständigen  Ver- 
waltungsbehörde durch  jeden,  der  da  jagen 
will,  vorgeschrieben  und  dessen  Erteilung 
von  gewissen  Bedingungen  abhängig  gemacht 
haben.  Nicht  aber  wird,  vne  in  Deutsch- 
land und  Oesterreich,  für  die  eigene  Aus- 
übung der  Jagd  durch  den  Gnmdeigentümer 
eine  gewisse  Grösse  oder  Beschaffenheit  des 
Areals  erfordert. 

Litteratur:  v.  Wächter,  Veber  das  Jagd  recht 
und  die  Jagdvergehen  in  seinen  leipziger  Pro- 
grammen van  1868  und  1809.  —  Stieglitz,  Oe- 
schichtliche  Darstellung  des  Eigentumsverhält- 
nisses  an  Wald  und  Jayd  in  Deutschland,  18^;^. 
—  Stobbe,  Jlandb,  des  deutschen  Privatrechts, 
Bd.  II,  §  15L  —  V.  Bi*ünneck,  Die  Jagd- 
genossenschaften,  1867.  —  derselbe,  Das  heutige 
deutsche  Jagdrecht,  im  Archiv  für  die  civilist. 
Praxis,  Bd.  48,  S.  80 ff.  —  Ziebavth,  Forst- 
und  Jagdrecht,  1889.  —  v.  Anders,  Das  Jagd- 
nnd  Fischereirecht,  Innsbruck  1885.  —  Bloch, 
Dictionnaire  de  Vadministration  (S  edit.)  art. 
Chasse.  von  Brünneck, 


Jahrmärkte 

s.  Märkte  und  Messen. 


Jakob,  Ludwig  Heinrich  rou, 

geh.  am  26.  II.  1759  in  Wettin,  preuss.  R«^- 
rungsbezirk  Merseburg,  pest.  am  22.  VII.  1827 
in  Bad  Lauchstädt  hei  Halle,  habilitierte  sich 

Handwörterbuch  der  StaatswUsenschaften.    Zweite 


1785  als  Docent  der  Philosophie  in  Halle,  wurde 
1789  daselbst  ausserordentlicher  nud  1791  ordent- 
licher Professor  der  Philosophie  und  seit  18C4 
anch  der  Staats  Wirtschaft.  >acn  der  Anfhebunir 
der  Universität  Halle  durch  Napoleon  I.  (1806) 
Übernahm  Jakob  die  Professur  der  Staatswissen- 
schaften an  der  Charkower  Hochschule.  1816 
rief  ihn  die  Universität  Halle  zu  seiner  frttheren 
Wirksamkeit  als  Staatswirtschaftslehrer  znrück, 
und  die  russische  Regiernng  p^b  ihm,  unter 
Erhebung  in  den  Adelsstand,  die  erbetene  Ent- 
lassung aus  dem  russischen  Staatsverbande. 

Jakob  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Bnchform: 

Antimachiavell,  oder  über  die  Grenzen  des 
bürgerlichen  Gehorsams,  Halle  1794;  dasselbe, 

2.  Aufl.,  1796  (die  erste  Auflage  erschien  anonym, 
die  zweite  unter  seinem  Autornamen].  —  Annalen 
der  prenssischen  Staatswirtschaft  und  Statistik, 
von  einer  Gesellschaft  praktischer  und  theo- 
retischer Staatskundigen  (L.  H.  Jakob  und 
Leop.  Krug),  2  Bde.,  ebd.  1804-1805.  —  Ueber 
Kursus  und  Studienplan  für  angehende  Kame- 
ralisten, ebd.  1805;  dasselbe,  umgearbeitet  und 
erweitert  u.  d.  T. :  Grundsätze  der  National- 
ökonomie oder  Grundsätze  des  Nationalreichtnms, 
ebd.  1809;   dasselbe,  2.  Anfl.^  1819;   dasselbe, 

3.  Aufl.,  1825.'  (Jakob  hat  sich  durch  dieses, 
mit  engem  Anschluss  an  Adam  Smith  verfasste 
Handbuch  für  Popularisierung  des  Indnstrie- 
systems  wesentliche  Verdienste  erworben.  Seine 
Systematisierunig^  der  Smithschen  Theorie,  die 
er  als  selbständige  Disciplin  neben  der  Staats- 
wirtschaft behandelt,  nnd  seine  Erläuterungen 
zu  den  Grundbegriffen  der  Wirtschaftslenre 
zeichnen  sich  durch  Uebersichtlichkeit  und  EUar- 
heit  aus.  Jakob  war  nicht  bloss  Interpretator 
Smiths,  sondern  hat  auch  in  seiner  Widerlegung 
des  physiokratischen  Systems,  in  der  Grund- 
rententheorie —  die  bezüglichen  Ausfllhrungen 
stempeln  ihn  zu  einem  Vorläufer  Ricardos  — , 
in  der  Unterscheidung  zwischen  Marktpreis  und 
Gewährpreis  verdienstliche  eigene  Forschungen 
vorgenommen.)  —  Kurze  Belehrung  über  aas 
Papiergeld,  zur  Beurteilung  der  prenssischen 
Tresorscheine,  ebd.  1806  (das  vor  der  Invasion 
der  Franzosen  geschriebene  Buch  bildet  einen 
interessanten  Beitrag  zur  prenssischen  Finanz- 

geschichte,  indem  die  kommerzielle  Krisis  vom 
ktober  1806  fast  die  vollständige  Entwertung 
der  Tresorscheine  herbeiführte).  —  Grundsätze 
der  Polizeigesetzgebung  und  der  Polizeianstalten, 
2  Bde.,  ebd.  1809;  dasselbe,  2.  Aufl.,  1837.  — 
Ueber  die  Arbeit  leibeigener  und  freier  Bauern 
in  Beziehung  auf  den  Nutzen  der  Landeigen- 
tümer, St.  Petersburg  und  Halle,  1815  (gekrönte 
Preisschrift).  —  Ueoer  Russlands  Papiergeld 
und  die  Mittel,  dasselbe  bei  einem  unveränder- 
lichen Werte  zu  erhalten.  Nebst  einem  Anhange 
über  die  neuesten  Massregeln  in  Oesterreich, 
das  Papiergeld  daselbst  wegzaschaffen.  (Infolge 
dieser  der  russischen  Regierung  1816  Sls 
Promemoria  eingereichten  Schrift  wurde  der 
Verfasser  in  die  Petersburger  kaiserliche  Finanz- 
^esetzgebun^skommission  oerufen.)  —  Einleitung 
in  die  Studien  der  Finanzwissenschaften  und 
Leitfaden  bei  Vorlesungen,  Halle  1819.  —  Theorie 
und  Praxis  in  der  Staatswirtschaft,  ebd.  ca. 
1820.  —  Die  Staatsfinanzwissenschaft,  theoretisch 
und  praktisch  dargestellt  und  erläutert  durch 
Beispiele  aus  der  neuen  Finanzgeschichte  euro. 

Auflage.    lY.  83 


1314 


Jakob — James 


päischer  Staaten,  2  Bde.,  ebd.  1820—1821 ;  das- 
selbe, 2.  verbesserte  und  vermehrte  Aufl.,  besorgt 
von  J.  F.  H,  Eiselen,  ebd.  1837,  dasselbe  m 
französischer  Uebersetziing :  Science  des  finances. 
Ouvrage  trad.  de  l'allemand,  par  H.  Jouffroy, 
2  Bde.,  Leipzig  und  Paris  1841.  (Dieses  in 
seinem  theoretischen  Teile  ebenfalls  auf  der 
Basis  des  Industriesystems  bearbeitete  Haupt- 
werk Jakobs  behandelt  erstens  die  Mittel,  den 
öffentlichen  Aufwand  zu  bestreiten,  geht  dann 
zu  den  Staatsbedürfnissen  oder  dem  öffentlichen 
Aufwände  selbst  über  und  endet  bei  der  Finanz- 
verwaltung bezw.  dem  Staatsrechnungswesen. 
Im  theoretischen  Teile  stellt  er  u.  a.  den  Satz 
auf,  dass  eben  so  wenig  als  die  ganze  Summe 
der  zu  fordernden  Abgaben  das  Stammvermögen 
der  Nation  antaste,  die  jedem  einzelnen  aufer- 
legten Abgaben  dessen  Stammvermögen  ver- 
ringerten, es  finden  sich  ferner  darin  Versuche, 
den  Staat  in  seinen  Finanzoperationen  als  Er- 
zeuger von  Gütern  aus  dem  Gesichtspunkte  von 
Aufwand  und  Gewinn  zu  charakterisieren  und, 
umgekehrt,  dessen  wirtschaftliches  Verhalten 
als  Güterkonsument  der  Bedürfnisbefriedigung 
dienend  hinzustellen.  Er  bekämpft  die  Kon- 
trahierung patriotischer  Anleihen,  weil  durch 
sie  ein  beträchtlicher  Teil  der  bekannten  grössten 
Vermögen  festgelegt  werde,  er  bekämpft  ferner 

J'ede  die  Steuerüberwälzungspraxis  gutheissende 
l'inanzpolitik.)  —  Amtliche  Belehrungen  über 
den  Geist  und  das  Wesen  der  Burschenschaft, 
Halle  1824  (erschien  anonym).  —  Aus  seinem 
Nachlasse:  Grundriss  der  Handelswissenschaft 
für  Staatsgelehrte,  ebd.  1828.  —  Jakob  über- 
setzte folgende  staatswissenschaftliche  Werke 
mit  Anmerkungen  und  Zusätzen  in  das  Deutsche: 
Jean  Bapt.  Say,  Traite  d*6conomie  politique  etc., 
2  Bde.,  Paris  1802  (2  Bde.,  Halle  1807).  —  H. 
Thomton,  An  enquiry  into  the  nature  and 
effects  of  the  paper  credit  of  Great  Brit-ain, 
London  1802,  u.  d.  T. :  Papierkredit  von  Gross- 
britannien (Halle  1803}.  —  J.  Lowe,  The  pre- 
sent  State  of  England  m  regard  to  agriculture, 
trade  and  finance,  etc.,  London  1822.  (Von  den 
Zusätzen  Jakobs  zur  Uebersetzung  dieses  Werkes 
sind  die  zum  IV.  Kap.  mit  der  Ueberschrift : 
lieber  die  Suspensionsakte  der  Barzahlung  der 
Bank  von  England  im  Jahre  1797  die  wich- 
tigsten, indem  der  Üebersetzer  in  seiner  Kritik 
der  staatswirtschaftsschädlichen  Wirkungen  der 
Kestriktionsakte  viel  pessimistischer  verfährt 
als  Lowe  selbst.)  —  James  Mill,  Elements  of 
political  economv,  2.  Aufl.,  London  1824  (Halle 
1824). 


Lehrbuch  der  Finanzwissenschaft,  5.  Aufl.,  Teil  2, 
Abteilung  3,  ebd.  1886,  S.  45.  —  R.  Zucker- 
kand 1,  Zur  Theorie  des  Preises,  Leipzig  1889, 
S.  177/78.  —  Horton,  Silver  and  Gold,  Cin- 
cinnati  1895,  S.  89. 

Lippert. 


Vgl.  über  Jakob:  Mensel,  Gelehrtes 
Deutschland,  Bd.  3,  10,  11,  14,  18,  23,  Lemgo 
1798 — 1831.  —  Allgemeine  Litteraturzeitung, 
Jahrg.  1827,  Nr.  198,  S.  743.  —  Neuer  Nekrolog 
der  Deutschen,  Jahrg.  V,  Dmenau  1827,  Teil  II, 
S.  715.  —  Bull  mann,  Denkwürdige  Zeit- 
periode der  Universität  Halle,  Halle  1833,  S. 
269  ff.  —  Er  seh  und  Gruber,  Encyklopädie, 
II.  Sektion,  Teil  XIV,  Leipzig  1837,  S.  240  ff. 

—  Schäffle,  System,  3.  Aufl.,  Bd.  I,  Tübingen 
1873,  S.  244.  —  Röscher,  Geschichte  der 
Nat.,  München  1874,  S.  686  ff.  —A.  Wagner, 
Grundlegung,  2.  Aufl.,  Heidelberg  1879,  S.  177/78. 

—  Allgemeine  deutsche  Biographie,  Bd.  XIII, 
Leipzig  1881,  S.  690.  —  Lorenz  v.  Stein, 


James,  Edmund  Janes, 

ffeb.  in  Jacksonville,  111.,  am  21.  V.  1855.  Nach- 
dem er  zunächst  mehrere  Semester  an  der  Harvard 
Universität  studiert  hatte,  begab  er  sich  nach 
Deutschland  und  setzte  seine  Studien  in  HaJle 
fort,  wo  er  1877  promovierte.  Seit  1883  ist 
James  Professor  der  politischen  Oekonomie  an 
der  Universität  von  Pennsylvanien  in  Phila- 
delphia; seit  1891  President  of  the  University 
Extention  Society. 

Von  seinen  zahlreichen  Schriften  und  Ab- 
handlungen seien  nur  die  folgenden  hier  genannt : 

Studien  über  den  amerikanischen  Zolltarif, 
seine  Entwickelung  und  seinen  Einfluss  auf  die 
Volkswirtschaft  (in  „Sammlung  nationalökono- 
mischer und  stat.  Abhandlungen  des  staats- 
wissenschaftlichen Seminars  zu  Halle  a.  S.", 
herausg.  von  J.  Conrad,  I.  Bd.,  3.  Heft),  Jena 
1877.  —  Das  Studium  der  Staatswissenschaften 
in  Amerika  (in  den  Jahrb.  f.  Nat.  n.  Stat.,  N.  F., 
VII.  Bd.,  S.  62  ff.),  Jena  1883.  —  Relation  of 
Modem  Municipality  to  the  Gas  Supply,  Balti- 
more 1886.  —  Address  before  the  Bankers 
Association,  New- York  1890.  —  Education  of 
Business  Man :  Courses  of  study  in  the  Commer- 
cial  High  Schools  of  Europe.  Report  to  ün. 
States  Bankers  Association,  2.  ed.,  Chicago  1^^. 

—  The  Charters  of  the  City  of  Chicago,  2  parts, 
Chicago  1898/99  (part  1  behandelt  „the  earlv 
Charters,  1833,37).  ~  A  model  City  Charter  in 
Publications  of  National  Municipal  Leage, 
Philadelphia,  s.  a. 

James  giebt  in  den  „Publications  of  the 
University  of  Pennsylvania"  die  Abteilunc: 
„Political  Economy  and  Public  Law  Series 
heraus.  Darunter  erschien  von  ihm  selbst: 
Federal  Constitution  of  Germany  and  Switzer- 
land,  1889  und  1890.  Er  hat  sich  um  Stiftung 
und  Organisation  der  „American  Academy  of 
Political  and  Social  Science",  die  am  14.XII. 
1889  in  Philadelphia  begründet  wurde,  besonders 
verdient  gemacht.  Er  ist  Vorsitzender  der 
Academy  und  redigiert  in  Gemeinschaft  mit  den 
Professoren  Giddings  und  Falkner  die  „Annais 
of  the  American  Academy  of  Political  and  Social 
Science",  welche  Zeitschrift  folgende  Artikel 
von  ihm  aufweist:  The  London  School  of  Eco- 
nomics  and  Political  Science  (gemeinsam  mit 
W.  A.  S.  Hewius),  in  vol.  IV,  July— Decbr.  1895. 

—  An  early  essay  on  Proportional  Represen- 
tation. —  Bryce's  American  Commonwealth,  in 
vol.  VII,  January-June  1896.  —  The  first 
apportionment  of  Federal  Representation  in  the 
United  States,  in  vol.  IX,  January — June  1ÄJ7. 

—  The  place  of  the  Political  and  Social  Sciences 
in  modern  Education,  in  vol.  X,  July— Dcbr. 
1897.  —  The  Growth  of  great  Cities  in  are  and 
Population,  in  vol.  Xni,  January — June  1899. 

Red. 


Identitätsnachweis 


1315 


Identitätmaehweis. 

1.  Die  früheren  Verhandlungen.  2.  Das 
G.  V.  14.  April  1894.  3.  Die  Wirkungen  des 
Gesetzes. 

1.  Die  frfiliereii  Verhandlangen.    Die 

Frage  des  Identitätsnachweises  knüpft  sich 
iirspniaglich  an  die  RTickvergütungen ,  die 
bei  der  Ausfuhr  von  Fabrikaten  ans  zoll- 
pflichtigen Rohstoffen  oder  Halbfabrikaten 
gewährt  werden,  und  zwar  handelt  es  sich 
damiD^  ob  die  wirkliche  Verzollung  dieser 
Materialien  nachgewiesen  werden  nauss  oder 
nichts  so  dass  also  im  letzteren  Falle  auch 
die  aus  inländischen  Stoffen  hergestellten 
Waien  die  Ausfuhrvet^tung  erhalten  (s.  den 
Art  Ausfuhrprämien  und  Ausfuhr- 
Vergütungen  oben  Bd.  II  S.  36 ff.). 
Diesdbe  Frage  erhebt  sich  auch  bei  dem 
sogenannten  Veredlungsverkehr  (s.  den 
Art.),  bei  welchem  der  Zoll  für  eingeführte 
Rohstoffe  oder  Halbfabrikate  nicht  w^irklich 
bezahlt  wird«  sondern  zunächst  suspendiert 
bleibt  und  ganz  erlassen  wird,  wenn  die 
Ausfuhr  einer  entsprechenden  Menge  von 
Fabrikaten  innerhalb  einer  gewissen  Zeit 
nachgewiesen  wird.  DerErlass  des  Identitäts- 
nachweises bedeutet  in  diesem  Falle,  dass 
auch  die  Ausfuhr  von  Waren  aus  ein- 
heimischem Ma^rial  zur  Ausgleichung  der 
schwebenden  Zollschuld  dienen  kann.  In 
Frankreich  ist  die  Identität  des  eingeführten 
und  nach  der  Verarbeitung  wieder  aus- 
geführten Materials  in  der  Praxis  nie  genau 
festgehalten  worden,  im  deutschen  Zollverein 
aber  fand  dies  früher  in  aller  Strenge  statt, 
und  erst  das  G.  v.  23.  Juni  1882  ging  von 
diesem  Gnmdsatze  ab,  indem  es  den  In- 
habern von  Mühlen  einfach  den  Eingangs- 
zoll für  eine  der  Ausfuhr  von  Mehl  ent- 
sprechende Menge  des  zur  Mühle  gebrachten 
ausländischen  Getreides  erliess.  Das  fremde 
Getreide  kann  also  in  der  Mühle  beliebig 
mit  inländischem  vermischt  werden.  Eine 
ähnliche  Erleichterung  ist  auch  den  Oel- 
müllern  bewährt  worden. 

In  allen  diesen  Fällen  handelt  es  sich 
aber  um  die  Ausfuhr  von  verarbeiteten 
Waren.  Erst  in  der  neuesten  Zeit  erhob 
sich  in  Deutschland  in  landwirtschaftlichen 
Kreisen  die  Forderung,  dass  auch  für  die 
Ausfuhr  von  rohem  Getreide,  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Herkunft  desselben,  eine  Ver- 
gütung gewährt  werde.  Nach  dem  einem 
Vorschlag  des  Grafen  von  Mirbach  ent- 
sprechenden Stolbergschen  Antrag(  1887)  sollte 
einfach  für  alles  ausgeführte  Getreide  unter 
dem  Namen  Rückvergütung  eine  Prämie 
gleich  dem  Eingangszoll  bezahlt  werden. 
Ein  zweiter  Vorschlag,  den  Herr  von  Putt- 
kamer-Plauth  im  deutschen  Landwirtschafts- 
rat vertrat,  ging  dahin,  dass  bei  der  Einfuhr 
von  Getreide  ZoDquittimgen  auszusteUen 
seien,  die  bei  der  Ausfuhr  einer  gleichen 


Quantität    binnen   drei   Monaten   in    ihrem 
vollen  Betrage  von   der  Zollbehörde  rück- 
vergütet würden.  Die  Ausfuhrhändler  müssten 
sieh   also,   wenn   sie   selbst   kein  Getreide 
eingeführt   haben,   solche   Quittungen    ver- 
schaffen, der  Preis  derselben  vrürde  aber 
immer  nur  minimal  sein  können,  da  Deutsch- 
land  etwa    IVt   Millionen   Tonnen   Roggen 
imd  Weizen  für  seinen  eigenen  Bedarf  ein- 
führen   muss     und     demnach    eine    gi-osse 
3Ienge  von  Zollquittungen  für  die  Ausfuhr 
gamicht    verwertet    werden    könnte.     Der 
Ausfuhrhändler    erhielte    also   nahezu    den 
ganzen   Zoll   als  Prämie,   die   ihm   freilich 
nicht  als  Extragewinn  übrig  bliebe,  sondern 
ihn    nur  in  stand    setzte,  in    England  mit 
Weizen  zu  einem  niedrigen  Preise  zu  kon- 
kurrieren.     Die    Einfuhr    dagegen    würde- 
wegen  des  geringenWertes  der  Zollquittungen 
nicht    merklich    erleichtert;    die    Tendenz 
dieses  Systems  ist  daher  im  wesentlichen 
ebenso  entschieden  wie  die  des  vorher  er- 
wähnten darauf  gerichtet,  stets  einen  unter- 
schied vom  vollen  Zollbetrage  zwischen  dem 
deutschen  Weizenpreise  und  dem  englischen 
aufrecht  zu  erhalten,   wälirend    bis    dahin 
diese    volle    Preisdifferenz    nur    zeitweilig 
bestand.     Ein    dritter   Vorschlag    kam    als 
Antrag  Ampach  im  Februar  und  M&z  188S 
im   Reichstage   zur  Verhandlung.     Danach 
sollten  bei  der  Ausfuhr  von  Getreide  über- 
tragbare Vollmachten  zur  zollfreien  Einfuhr 
einer  gleichen  Menge  gleicliartigen  Getreides 
innerhalb  einer  vom  Bundesrat  zu  bestim- 
menden Frist   erteilt  werden.     Bei  diesem 
System  muss  also  der  Ausfuhrhändler,  wenn 
er  nicht  selbst  Getreide  einführt,  seine  Voll- 
macht  durch  Verkauf    an    einen   Importer 
verwerten.     Im  Unterechied  von  den  eben 
erwähnten   Zollquittimgen    wird    aber   das 
Angebot   dieser  Vollmachten   im  Vergleich 
zu  der  Nachfrage  in  der  Regel  nur  klein 
sein,  der  Preis  derselben  also  dem  Zollsatze 
nahe  kommen.    Wird  die  Ausfuhr  zu  weit 
ausgedehnt,  so  sinkt  der  Preis  der  Einfuhr- 
vollmachten so  tief,  dass  durch  denselben 
die   Differenz    zwischen    dem   inländischen 
und  dem   ausländischen  Marktpreise   nicht 
mehr  gedeckt  wird  und  die  weitere  Aus- 
fuhr  daher   nicht  mehr  lohnend  ist.     Zu- 
gleich aber  wird  jetzt  die  Einfuhr  in  höhe- 
rem Grade  erleichtert,   da  wenigstens  ein 
Teil  derselben  in  der  Art  erfolgt,  als  wenn 
der   Zoll   auf    den   Preis    der  EinfuhrvoU- 
machten  herabgesetzt  wäre.    Eine  erhebliche 
Vermindenmg   des  Zollschutzes   ist  jedoch 
nie  zu  erwarten,  weil  nur  ein  Teil  der  Ein- 
fuhr auf  Gnmd  von  Vollmachten,  der  weit- 
aus grössere  Rest  aber  gegen   volle  Zoll- 
zahlung eingeht.    Andererseits  kommt  auch 
in  Betracht,  dass  die  Ankäufe  für  die  Aus- 
fuhr verteuernd  wirken.     Bei  der  Behand- 
lung der  Angelegenheit   wai*  auch  zu  be- 

83* 


1316 


Identitätsnachweis 


rücksichtigen,  dass  die  Lage  der  einzelnen 
deutschen  Landesteile  in  Bezug  auf  den 
Getreideverkehr  sehr  verschieden  ist.  Die  öst- 
lichen und  nördlichen  Provinzen  Preussens 
erzeugen  einen  Ueberschuss  an  Getreide, 
während  in  den  beiden  westlichen  Provinzen 
und  in  Südwest-  und  Mitteldeutschland  so- 
wie in  den  Provinzen  Brandenburg  und 
Schlesien  der  Bedarf  durch  die  eigene 
Prpduktion  nicht  gedeckt  wird.  Die  ersteren 
finden  in  England  den  bequemsten  Absatz 
für  ihren  überschüssigen  Weizen,  da  die 
Landfracht  nach  dem  Westen  für  die  meisten 
zu  teuer  ist  und  auch  der  Wasserweg  über 
Rotterdam  und  den  Rhein,  wenn  auch  gegen- 
wärtig ziemlich  stark  benutzt,  wegen  der 
Notwendigkeit  einer  Umladung  und  einer 
besonderen  Zollkontrolle  mit  Umständlich- 
keiten und  Schwierigkeiten  verbunden  ist. 
Für  den  eines  Zuschusses  bedürfenden 
Westen  aber  bilden  Rotterdam  und  Ant- 
werpen die  natürlichen  Einfuhrhäfen  und 
der  Rhein  die  fast  allein  benutzte  Zugangs- 
strasse, von  der  aus  die  Eisenbahnen  nur 
die  weitere  Verbreitung  übernehmen.  Das 
Königreich  Sachsen,  Schlesien  und  Branden- 
burg (inkl.  Berlin)  können  ihren  Mehrbedarf 
an  Weizen  teilweise  mit  Vorteil  direkt  aus 
Oesterreich-Ungam  und  Russisch-Polen  be- 
ziehen. Der  grösste  Teil  der  durch  Ausfuhr 
aus  den  Ostseehäfen  erworbenen  Einfuhr- 
vollmachten aber  wird  jedenfalls  dazu  dienen, 
die  Weizenzufuhr  auf  dem  Rheine  zu  ver- 
stärken, weil  in  den  anstossenden  Gebieten 
die  Preise  stets  am  höchsten  stehen  und 
der  Bezug  aus  den  grossen  niederländischen 
und  belgischen  Handelscentren  auf  diesem 
Wege  besonders  becxuem  und  billig  ist.  Die 
Auflhiebimg  des  Identitätsnachweises  für  Ge- 
treide berührte  also  mannigfaltige  Interessen 
in  sehr  verschiedener  Weise.  Selbst  die 
Interessen  der  Ostseehäfen  stimmen  keines- 
wegs völlig  mit  denen  der  östlichen  Land- 
'wirtschaft  zusammen.  Danzig  namentlich 
muss  wünschen,  dass  auch  die  Einfuhr  auf 
der  Weichsel  möglichst  hoch  steige,  und  es 
kann  keinen  Gewinn  darin  sehen,  dass  die 
auf  Grund  seiner  Ausfuhr  erteilten  Einfuhr- 
voDmachten  zur  Erleichterung  der  Einfuhr 
am  Rheine  dienen.  Diesem  Standpmikte 
entsprach  ein  1887  von  Rickert  und  von 
Heeremann  gestellter  Antrag,  nach  welchem 
nur  die  Zollentlastimg  der  Transitlager  freier 
geregelt  werden  sollte,  indem  dieselbe  auf 
Gnmd  des  Nachweises  erfolgen  sollte,  dass 
der  Inhaber  des  Lagers  in  einer  bestimmten 
Frist  eine  gleiche  Menge  von  inländischem, 
ausländischem  oder  gemischtem  Getreide 
ausgeführt  habe.  Die  Eiofuhr-  und  Ausfuhr- 
operation bleibt  also  in  diesem  Falle  an 
dieselbe  Person  geknüpft  und  es  fällt  der 
Handel  mit  Einfuhrvollraachten  weg.  Sehr 
verschieden    von    den    Interessen    Danzigs 


sind  wieder  diejenigen  Mannheims,  des  be- 
deutendsten Weizenhandelsplatzes  im  Westen. 
Die  dortigen  Kaufleute  verlaugten  ausdrück- 
lich, dass  die  Einfuhr  und  die  Ausfuhr 
nicht  an  denselben  Platz  gebunden  werde, 
weil  eben  Mannheim  nur  einen  verhältnis- 
mäßsig  kleinen  Teil  des  dorthin  gelangenden 
Weizens  nach  der  Schweiz  ausführt,  die 
Hauptmasse  aber  nach  Baden,  Württemberg 
und  Elsass-Lothringen  liefert.  Unter  solchen 
Umständen  war  es  nicht  zu  verwundem, 
dass  der  Reichstag  1888  mit  Rücksicht  auf 
die  Neuheit  und  Schwierigkeit  des  G^en- 
standes  über  den  Ampach'schen  Antrag  zu 
einer  motivierten  Tagesordnung  überging. 

2.  Das  G.  y.  14.  April  1894  Erst  der 
Abschluss  des  deutsch-russischen  Handels- 
vertrages gab  der  Reichsregierung  Veran- 
lassung, die  noch  bestehenden  Bedenken 
gegen  die  Aufhebung  des  Identitätsnach- 
weises für  Getreide  fallen  zu  lassen,  weil 
man  der  Landwirtschaft  der  östlichen  Pro- 
vinzen durch  dieses  Zugeständnis*  einige 
Entscliädigung  für  die  Erleichterung  der 
Konkurrenz  des  russischen  Getreides  ge- 
währen woDte.  Auch  im  Reichstage  fand 
die  Massregel  jetzt  eine  günstigere  Aufnahme 
als  im  Jahre  1888,  und  so  kam  das  G.  v. 
14.  April  1894,  betreffend  die  Abänderung 
des  Zolltarif gesetzes  v.  15.  Juli  1879,  zu 
Stande,  durch  welches  das  in  dem  Ampach- 
schen  Antrage  von  1888  vorgeschlagene 
System  ver  wii'klicht  wurde.  Hiernach  werden 
bei  der  Ausfuhr  von  Weizen,  Roggen,  Hafer, 
Hülsenfrüchten,  Gerste,  Raps  und  Rübsaat 
aus  dem  freien  Verkehr  des  Zollinlandes, 
wenn  die  ausgeführte  Menge  mindestens 
500  kg  beträgt,  auf  Antrag  des  Warenfülirers 
Einfuhrscheine  ausgestellt  welche  den 
Inhaber  berechtigen,  innerhalb  einer  vom 
Bundesrat  auf  längstens  6  Monate  zu  be- 
messenden Frist  eine  dem  Zollwerte  dieser 
Scheine  entsprechende  Menge  der  nämlichen 
Warengattung  zollfrei  einzuführen.  Die  Ab- 
fertigung zu  einer  Ausfuhr  dieser  Art  findet 
nur  bei  den  vom  Bundesrate  zu  bestimmen- 
den Zollstellen  statt  Aufnahme  in  eine 
öffentliche  Niederlage  oder  in  ein  Transit- 
lager unter  amtlichem  Mitvei-schluss  stehen 
der  Ausfuhr  gleich.  Die  aus  reinen  Transit- 
lagem  ohne  amtlichen  Mitverschluss  zur 
Ausfuhr  abgefertigten  Warenmengen  werden, 
soweit  sie  den  jeweiligen  Lagerbestand  an 
ausländischer  Ware  nicht  überschreiten,  von 
diesem  Bestände  abgeschrieben,  im  übrigen 
aber  als  inländische  Waren  behandelt  Für 
die  in  Rede  stehenden  Waren  können  auch 
gemischte  Transitlager  (von  denen  die 
Waren  auch  in  das  Inland  abgesetzt  wenlen 
können)  bewilligt  werden,  mit  der  Massgabe, 
dass  die  für  das  Inland  abgefertigten  Men^n, 
soweit  sie  den  jeweiligen  Lagerbestand  mcht 
übersteigen,   von  diesem  Bestände   zollfrei 


IdentitätsDachweis 


1317 


abzuschreiben,  im  übrigen  aber  als  auslän- 
dische Waren  zu  behandeln  sind. 

Den  Inhabern  von  Mühlen  und  Mälzereien, 
denen  nach  §  7,  Z.  3  des  G.  v.  1879  die 
Erleichterung  gewährt  ist,  dass  sie  für  eine 
ihrer  Ausfuhr  von  Fabrikaten  entsprechende 
Menge  Getreide  ZoUnachlass  erhalten,  können 
statt  dieses  Nachlasses  ebenfalls  die  Gewäh- 
rung von  Einfuhrscheinen  beantragen.  Das- 
selbe Recht  haben  auch  die  Inhaber  von 
Mühlen  und  Mälzereien,  denen  die  erwähnte 
Erleichterung  nicht  gewährt  ist.  Die  nälieren 
Anordnungen  über  die  Ausführung  des  Ge- 
setzes liat  der  Bundesrat  zu  treffen,  der  auch 
Voi-schriften  darüber  erlassen  kann,  wie  weit 
die  Einfuhrscheine  bei  der  Zalüung  von 
Zöllen  auf  andei'e  als  die  Eingangs  ange- 
führten Waren  verwendet  werden  können. 

Diese  Ausführungsbestimmungen  hat  der 
Bundesrat  in  seiner  Sitzung  vom  12.  April 
1894  festgesetzt.  Die  wichtigste  dieser  Vor- 
schriften ist  die,  dass  jeder  Inhaber  eines 
Einfuhrscheines  berechtigt  ist,  entweder 
innerhalb  6  Monaten,  vom  Tage  der  Aus- 
stellung ab  gerechnet,  den  Schein  zur  zoll- 
freien Einfuhr  einer  gleichen  Menge  der  be- 
zeichneten Getreideart  zu  verwerten  oder 
den  Schein  nach  Ablauf  einer  Frist  von  4 
Monaten  nach  dem  Tage  der  Ausstellung 
innerhalb  eines  darauffolgenden  sechsmonat- 
lichen Zeitraums  bei  jeder  Zollstelle  bei  der 
Zollzahlung  für  eine  Reihe  anderer,  besonders 
aufgeführter  Waren  in  Anrechnung  bringen 
zu  lassen,  sofern  nicht  etwa  die  Anrechnungs- 
fähigkeit dieser  Art  diu-ch  Bekanntmachung 
des  Reichskanzlers  zeitweilig  für  ausge- 
schlossen erklärt  wird.  Diese  Waren  sind: 
exotische  Nutzhölzer,  Südfrüchte,  Gewürze 
aller  Art,  gesalzene  Heringe,  roher  Kaffee, 
Kakao  in  Bohnen,  Kakaoschalen,  Kaviar  und 
Kaviarsurrogate,  Oliven,  Sclialen  von  Süd- 
früchten etc.,  Muscheln  oder  Sclialtiere  aus 
der  See,  Austern,  Hummer,  Schildkröten, 
Reis,  Thee,  Ohvenöl  in  Fässern,  Baumwoil- 
samenöl  in  Fässern,  Fischspeck  und  Thran, 
Petroleum,  mineralische  Schmieröle.  Eine 
bare  Herauszahlung  auf  die  Einfuhrscheine 
wirtl  nicht  geleistet. 

Die  Ausbeuteverhältnisse,  die  den  bei  der 
Ausfuhi'  von  ^lehl  und  Malz  gewährten  Ein- 
fuhrscheinen zu  Gnmde  gelegt  wurden,  sind 
KX)  Weizen  =  75  Weizenmelü;  100  Roggen 
'---  65  Roggenmehl ;  100  Gerste  und  Weizen 
-    75  bezw^  78  Malz. 

3.  Die  Wirkungen  des  Gesetzes.  Die 
Wirkung  des  Gesetzes,  das  am  1.  Mai  1894 
in  Kraft  trat,  machte  sich  sofort  bemerklich, 
indem  die  bis  dahin  kaum  nennenswerte 
Ausfuhr  von  Weizen,  Roggen  und  Hafer 
schon  im  Jahre  1894  wieder  eine  beträcht- 
liche Höhe  erreichte.  Während  im  Jahre 
1893  nur  für  48  000  M.  Weizen  und  Spelz, 
für  41000  M.  Roggen   und  für  46000  M. 


Hafer  ausgeführt  wurde,  beliefen  sich  die 
entsprechenden  Ausfuhrworte  für  1894  auf 
12695000  M.,  7457  000  M.  und  3755000  M. 
Bei  der  Gerste  ist  der  Untersclüed  weniger 
gross,  da  von  dieser  besondere  Qualitäten 
auch  vorher  schon  in  erheblicher  Menge  aus- 
geführt werden  konnten,  so  im  Jahre  1893 
lilr  1599000  M,,  immerhin  aber  hob  sich 
diese  Ausfuhr  im  Jahre  1894  auf  3768000  M. 
Im  ganzen  wurden  in  diesem  Jahre  79 191 1 
Weizen  ausgefülirt,  daranter  nicht  weniger 
als  78973  t  gegen  Einfuhrscheme.  Der 
grösste  Teil  ging  nach  Schweden  (37  239  t), 
in  zweiter  Linie  stand  Dänemark  (23048  t), 
in  dritter  Grossbritannien  (11215  t).  Auch 
die  Roggenausfuhr  erfolgte-  fast  ausschliess- 
lich gegen  Einfuhrschein,  nämlich  in  der 
Höhe  von  49561  t  bei  49712  t  Gesamtaus- 
fuhr. Das  Hauptabsatzgebiet  war  Dänemark 
mit  20078  t,  dann  folgt  Schweden  mit 
17  278  t.  Die  Menge  des  gegen  Einfuhr- 
schein ausgeführten  Hafers  belief  sich  auf 
22595  t  (Gesamtausfuhr  22759  t);  davon 
gingen  12595  t  nach  Grossbritannien  und 
5439  t  nach  der  Schweiz.  Die  Ausfuhr  von 
Gerste  gegen  Einfuhrschein  betrug  18  902  t 
(Gesamtausfuhr  19405  t).  Auch  für  diese 
waren  Grossbritannien  (13116  t)  und  die 
Schweiz  (1983  t)  das  Hauptabsatzgebiet. 
Ferner  wunlen  vom  1.  Mai  bis  Ende  des 
Jahres  1894  gegen  Einfuhrschein  ausgeführt : 
643 1  trockene  Bohnen  (Gesamtausfulu*  781 1) ; 
993  t  trockene  Erbsen  (Gesamtausfuhr 
3147  t);  110  t  trockene  Linsen  und  Lupinen 
(Gesamtausfuhr  402  t);  4072  t  Raps  und 
Rübsaat  (Gesamtausfuhr  4235  t).  Bei  der 
Ausfuhr  von  Malz  kommen  ebenfeUs  die 
Einfuhrscheine  fast  allgemein  zur  Anwendung. 
Die  Gesamtmenge  betrug  im  Jahre  1894 
2926  t,  davon  kamen  2668  t  auf  die  Zeit 
nach  dem  1.  Mai,  und  von  diesen  gingen 
2518  t  gegen  Einfuhrschein  aus.  Dagegen 
haben  die  Einfuhrscheine  im  Mühlenlager- 
verkehr  neben  dem  älteren  System  des  ZoU- 
nachlasses  eine  weniger  grosse  Bedeutung 
erlangt.  So  betrug  im  Jahre  1894  die  Aus- 
fuhr von  Mehl  im  Mülüenlagerverkehr 
164268  t,  die  gegen  Einfuhrschein  dagegen 
niu-  23742  t,  und  für  geschrotenes  Geti*eide, 
Graupen  etc.  belief  sich  die  Ausfuhr  der 
ersteren  Art  auf  26675  t,  die  dör  letzteren 
aber  mu*  auf  161  t. 

Auch  in  den  folgenden  Jahren  haben  sich 
die  Ausfuhrverhältnisse  des  Getreides  im 
ganzen  ebenso  gestaltet  w4e  unmittelbar  nach 
der  Aufhebung  des  Identitätsnachweises. 
So  wurden  im  Jahre  1898  aus  dem  freien 
Verkehr  135 168  Jt  Weizen  (und  Spelz)  aus- 
geführt und  von  diesen  135018  t  gegen 
Einfuhrscheine.  Die  Bezugsländer  waren 
hauptsächlich  Schweden  (34  540  t),  Dänemark 
(17  825  t)," Frankreich  (20739  t),  Oesterreich- 
Üngam  (26 112  t).    Die  Roggenausfuhr  belief 


1318 


Identitätsnachweis 


sich  auf  129706  t,  davon  129546  t  gegen 
Einfuhrscheine.  Oesten*eich-üngarn  bezog 
52  987  t,  Schweden  22369  t,  Norwegen 
17  436  t,  Dänemark  16  468  t.  Von  der  Ge- 
samtausfulir  von  47  284  t  Hafer  gingen 
47140  t  gegen  Einfuhrschein  aus  (22218  t 
nach  der  Schweiz,  10728  t  nach  Grross- 
britannien).     Die  Ausfuhr  von  Gerste   dar 

fegen  fand  zu  einem  nicht  unerheblichen 
'eil  ohne  Ausstellung  von  Einfuhrscheinen 
statt :  sie  betrug  im  ganzen  12  656  t,  davon 
aber  nur  10472  t  gegen  Einfuhrschein.  Die 
Mehlausfuhr  findet  noch  immer  zum  grössten 
Teil  im  Mühlenlagerverkehr  statt. 

Als  Wirkimg  der  Aufhebung  des  Identi- 
tätsnachweises ist  theoretisch  zu  erwarten 
zunächst  eine  relative  Erhöhung  der  Ge- 
treidepreise in  den  ausfuhrfähigen  Provinzen 
im  Vergleich  mit  den  Weltmarktpreisen. 
Da  für  die  Ausfuhr  des  Getreides  dieser 
Gebiete  eine  Prämie  gewährt  wird,  die  sehr 
nahe  gleich  dem  Zollbetrage  ist,  so  wird  die 
Tendenz  bestehen,  sie  so  lange  fortzusetzen, 
bis  der  Preis  im  In  lande  um  den  vollen 
Zollbetrag  über  den  des  Weltmarkts  ge- 
stiegen ist.  Diese  Voraussehung  wird  durch 
die  Erfahrung  bestätigt  Betrachten  wir  z.  B. 
die  Preisübersichten  auf  den  Hauptplätzen, 
die  seit  mehreren  Jahren  von  der  Berliner 
Börsenzeitung  wöchentlich  zusammengesteDt 
werden,  so  zeigt  sich,  dass  die  DÖferenz 
zwischen  den  Berliner  Lieferungspreisen  des 
Weizens  und  denen  der  ausländischen  Plätze 
seit  der  Aufhebung  des  Identitätsnachweises 
durchschnittlich  zugenommen  hat.  Eine  ge- 
naue Vergleichbarkeit  dieser  Zahlenreihen 
besteht  freilich  nicht,  da  die  Angaben  sich 
nicht  auf  gleiche  Qualitäten  beziehen  und 
besondere  lokale  Einflüsse  je  nach  dem 
Stande  der  Spekulation  bei  den  für  spätere 
Liefenmgsfristen  geltenden  Preisen  bald  po- 
sitive, bald  negative  Differenzen  erzeugen. 
Immerhin  aber  ist  man  berechtigt,  aus  den 
Veränderungen  der  Durchschnittsdifferenz  in 
verschiedenen  Perioden  gewisse  Schlüsse  zu 
ziehen. 

In  der  Zeit  von  Ende  Mai  1894  bis  An- 
fang Oktober  1894,  also  in  der  ersten  Zeit 
der  Herrschaft  des  neuen  Gesetzes,  war  die 
Durchschnittsdifferenz  des  Berliner  und  des 
Londoner  Preises  für  im  Oktober  lieferbaren 
Weizen  35,4  M.  für  die  Tonne.  Dagegen 
betrug  sie  von  November  1893  bis  Ende 
März  1894,  also  vor  der  Aufhebung  des 
Identitätsnachweises,  nur  29,6  M.  (Liefe- 
rungstermin für  Berlin  Mai,  für  London  Juli), 
und  in  derselben  Periode  1892/93  stellte 
sich  die  Differenz  sogar  nur  auf  16,4  M. 
(Termin  für  Berlin  April  Mai,  für  London 
Juni).  Gehen  wir  in  die  Zeit  zurück,  in  der 
der  ZoU  von  50  M.  noch  allgemein  in  Kraft 
stand,  so  war  in  den  Monaten  August  und 
September  1891,  als  die  ungünstigen  Ernte- 


ergebnisse bereits  bekannt  waren,  der  Ab- 
stand zwischen  den  Berliner  Lieferungs- 
preisen für  September/ Oktober  und  den  Lon- 
doner für  Dezember  durchschnittlich  45,6  M., 
also  fast  gleich  dem  vollen  Zollbetrage;  in 
der  Zeit  von  November  1890  bis  Anfang 
1891  aber,  als  die  Marktverhältnisse  nor- 
maler waren,  betrug  die  durchschnittUche 
Preisdifferenz  für  den  April/Mai-Termin  in 
Berlin  und  den  Mai-Termin  in  London  nur 
32,4  M.  Unter  der  Einwirkung  der  Aus- 
fuhrprämie hat  sich  also  der  Berüner  Preis 
bei  dem  Zolle  von  35  M.  annäliernd  ebenso 
hoch  über  dem  Londoner  gehalten  wie  früher 
unter  der  Herrschaft  des  50  Mark-Zolles. 

Das  ergiebt  sich  auch  aus  den  spä- 
teren Erfahrungen.  In  dem  Zeitraiun  von 
November  1894  bis  Ende  März  1895 
z.  B.  stand  der  Preis  des  im  Mai  1895  hefer- 
baren  Weizens  in  Berlin  durchschnittlich  uni 
39,1  M.  höher  als  der  in  London  auf  die- 
selbe Lieferfrist  verkaufte.  Allerdings  war 
der  Durchschnittspreis  des  Weizens  für  Mai- 
Lieferung  in  Berbn  vom  November  1899  bis 
Mai  1900  nur  151,2  M.,  in  Liverpool  dagegen 
für  März  in  der  Zeit  von  November  bis  März 
131,4  M.,  die  Differenz  blieb  also  bedeutend 
unter  dem  Zollbetrag.  Wie  weit  diese  Er- 
scheinung mit  Qualitätsverschiedenheiten  oder 
^delleicht  mit  dem  Verbot  des  eigentüchen 
Terminhandels  an  der  Berliner  Börse  zu- 
sammenhängt, bleibe  dahingestellt.  Der 
Jahresbericht  der  Vorsteher  der  Danziger 
Kaufmannschaft  für  1896  bestätigt  die  in 
Bede  stehende  Wirkung  der  Aufhebung  des 
Identitätsnachweises ;  die  Differenz  zwischen 
dem  Preise  des  inländischen  und  dem 
Transitgetreide  wurde  in  Danzig  mit  einem 
Schlage  auf  den  vollen  Zollbetrag  gebracht 
imd  betrug  von  Mai  1894  bis  September 
1896  füi-  Weizen  durchschnittlich  34,35  M. 
für  Roggen  34,55  M. 

Eine  weitere  Folge  der  neuen  Einrichtung 
aber  besteht  darin,  dass  im  deutschen  Zoll- 
gebiete die  Getreidepreise  mehr  ausgeghclien 
werden,  d.  h.  dass  die  früheren  höheren 
Preise  in  den  westlichen  Landesteüen  her- 
abgedrückt werden.  Denn  je  mehr  die  Aus- 
fuhr aus  den  östlichen  Provinzen  befördert 
wird,  um  so  mehr  muss  sich  in  denjenigen 
Landesteilen,  die  iliren  Getreidebedarf  nicht 
vollständig  selbst  decken  können  und  die 
bisher  eine  grössere  Zufuhr  aus  dem  Osten 
erhielten,  die  Einfulir  aus  dem  Auslande 
entwickeln,  bei  der  die  Einfuhrscheine  ihre 
Verwendung  finden,  und  dadurch  entsteht 
eine  Preiserniedrigung.  So  betrug  nach  den 
reichsstatistischen  \  eröffentlichungen  der 
Dui'chschnittspreis  des  Weizens  in  den  Mo- 
naten Juli  bis  Dezember  1894  in  Berlin 
132,1  M.  und  in  Mannheim  142,4  M.,  die 
Differenz  also  nur  10,3  M.  Dagegen  war 
die  entsprechende  Differenz  in  den  vier  Mo- 


Identitätsnachweis 


1319 


naten  Januar  bis  April  1894,  also  vor  der 
Aufhebung    des   Identitätsnachweises,  noch 
164,0—141,9   oder   23,1   M.     Der   Berliner 
Preis  war  um  9,8  M.,  der  Mannheimer  aber 
um  21,6  M.  gesunken.    Ohne  die  neue  Ein- 
richtung wünle  der  erstere  sich  wahrschein- 
lich mehr,  der  letztere  aber  weniger  ernie- 
drigt haben.    Auch  in  den  früheren  Jahi-en 
war  die  Preisdifferenz  zwischen  Mannheim 
imd  Berlin  immer  bedeutend  höher  als  seit 
Mai  1894;  sie  betrug  z.B.  im  Durchschnitt 
des  Jahres  1889  23,55  M.,  und  der  Unter- 
schied   gegen    die   Durchschnittspreise  des 
letzten  Ilalbjahres  von  1894  ist  wieder  durch 
ein  stärkeres  Sinken  des  Mannheimer  Preises 
entstanden,  der  seit  1889  von  211,30  M.  um 
68,9  M.   zurückwich,    während   der  frühere 
Berliner  Preis   von  187,7  M.  1894  nur  um 
55,6  M.  erniedrigt  war.    Im  Jahre  1895  be- 
trug die  Differenz  zwischen  dem  Mannheimer 
und  dem  Berliner  Durchschnittspreise  12,50 
M.,  im  Jahre  1895  10,2  M.    In  den  Jahren 
1897 — 1899  sind  die  Differenzen  weit  grösser, 
aber  es  fehlen  die  amtlichen  Börsenkurse, 
und   die  in  der  Reichsstatistik  angegebenen 
Preise  beruhen  auf  privaten  Ermittelungen 
des   statistischen  Amtes  der  Stadt   Berlin. 
Die  Pi-eisdifferenz  zwischen  Mannheim  und 
Danzig  war  nach  dem   erwähnten   Jahres- 
berichte im  Jahre  1893  und  bis  April  1894 
durchschnittlich  31,49  M.  für  Weizen  und 
80,72  M.  für  Roggen,  dagegen  von  Mai  1894 
bis  August  1896  nur  13,35  bezw.  15,41  M. 
Auch    die     zeitliche   Ausgleichung    der 
Preise  wird  durch  die  wieder  ermöglichte 
Ausfuhr  begünstigt.     So  hebt  der  Jahres- 
bericht der  Stettiner  Vorsteher  der  Kauf- 
mannschaft her\'or,  dass  in  Franki'eich,  wo 
eine  der  deutschen  entsprechende  Einrich- 
tung nicht  besteht  (in  der  neuesten  Zeit  aber 
ebenfalls  beantragt  worden  ist)  die  Preis- 
differenz   gegenüber    dem    "Weltmarkt    bei 
schlechter  Ernte  höher,  bei  guter  aber  oft 
bedeutend   niedriger   ist  als  der  ZoU  betrag. 
Die  Befürchtung,  dass  die  Einfuhrscheine 
eine  erhebliche  Verminderung  des  Schutzes 
für   das  auf   Grund   derselben   eingeführte 
Getreide  bewirken  könnten,  wäre  nur  dann 
gerechtfertigt,   wenn  die  Ausfuhr  der  Ge- 
samteinfuhr annähernd  gleich  käme  oder  sie 
"überstiege.    In  Wirklichkeit  aber  überwiegt 
die   Getreideeinfuhr  Deutschlands  die  Aus- 
fuhr so  bedeutend,  dass  die  Einfuhrscheine, 
selbst  wenn  sie  ausschliesslich  für  Getreide 
derselben   Art    verwendbar    wären,    immer 
leicht  zu  nahezu  ihrem  vollen  Wert  verkauft 
wei"flen  könnten.    Da  sie  aber  überdies  auch 
noch  bei  der  Verzollung  einer  Reihe  wich- 
tiger   anderer    Einfuhr^-aren   Verwendung 
finden  können,  so  sind  sie  um  so  mehr  gegen 
eine  erhebliche  Werteinbusse  geschützt,  und 
ihr   Preis  stellt  sich  daher  bei  den  beiden 
Haiiptgetreidearten  auf  etwa  3450  M.,  nur 


ausnahmsweise  auf  34  M.  für  35  M.  Nomi- 
nalwert. Man  glaubt,  dass  auch  die  be- 
stehende kleine  Differenz  sich  noch  vermin- 
dern oder  verschwinden  werde,  wenn  gestattet 
würde,  die  Scheine  auch  bei  der  Einfuhr 
von  anderen  Getreidearten  als  der,  auf 
welche  sie  lauten,  zu  verwenden,  was  gegen- 
wärtig nicht  zulässig  ist.  Die  Kölner  Handels- 
kammer hat  in  diesem  Sinne  eine  Eingabe 
an  den  Bundesrat  gemac^ht,.  in  der  die  Un- 
zuträglichkeiten hervorgehoben  werden,  die 
in  der  Rheinpix)vinz  dadurch  entstehen,  dass 
z.  B.  wer  Gerste  ausgeführt  hat,  nun  auf 
Gnmd  seines  Scheines  nicht  Weizen  oder 
Roggen  einführen  kann.  Durch  die  Aus- 
dehnung der  Verwendbarkeit  der  Scheine 
auf  alle  Getreidearten  würde  auch  bei  starker 
Ausfuhr  einer  einzelnen  Gattung  ein  Druck 
auf  den  Prcis  der  Scheine  vermieden  und 
andererseits  auch  der  im  ganzen  nicht 
wünschenswerte  Handel  mit  den  Einfuhr- 
scheinen eingeengt,  da  der  erste  Eigentümer 
des  Scheines  dann  um  so  mehr  Gelegenheit 
fände,  ihn  zu  eigenen  Einfuhrzwecken  zu 
verwerten.  Der  Bundesrat  liat  jedoch  in 
seiner  Sitzung  vom  28.  Februar  1895  eine 
Aenderung  der  bestehenden  Vorschriften  ab- 
gelehnt. Wie  es  scheint,  fürchtet  man,  dass 
die  Einfulu*  einer  einzelnen  Getreideart  unter 
Umständen  zu  sehr  begünstigt  werden 
könnte,  wenn  die  Ausfuhr  aller  übrigen 
Arten  ihre  Rückwirkimg  mittelst  der  iän- 
fuhrscheine  auf  sie  ausüben  könnte.  Dalier 
sind  die  Waren,  die  ausser  Getreide  mittelst 
Einfuhrschein  importiert  werden  können,  alle 
aus  der  Zahl  derjenigen  gewälilt  worden, 
die  in  Deutschland  selbst  nicht  erzeugt 
weixlen.  Wie  aber  die  Verhältnisse  that- 
sächlich  liegen,  würde  auch  bei  der  erwähn- 
ten Verwendbarkeit  der  Scheine  eine  wesent- 
liche Erleichtemng  der  Einfuhr  einer 
einzelnen  Getreideart  nicht  zu  erwarten  sein; 
denn  diese  könnte  doch  nur  dadurch  ent- 
stehen, dass  der  Preis  der  Einfuhrscheine 
beträchtlich  unter  ihren  Nominalwert  her- 
absänke ;  dieses  ist  aber  im  allgemeinen  um 
so  weniger  wahrscheinlich,  je  ausgedehntere 
und  mannigfaltigere  Verwendung  die  Scheine 
finden  können,  wie  denn  gegenwärtig  gerade 
in  dem  Umstände,  dass  die  Benutzung  der 
Scheine  nur  für  eine  einzige  Getreideart 
möglich  ist,  eine  Ursache  des  Disagios  ge- 
funden wird. 

An  die  Aufhebung  des  Identitätsnach- 
weises knüpft  sich  auch  die  Frage,  ob  die 
gemischten  Privattransitlager  ohne  amtlichen 
Mitverschluss  noch  beizubehalten  seien.  Von 
agrarischer  Seite  wird  diese  Einrichtimg  leb- 
haft bekämpft,  und  die  Vertreter  der  Kauf- 
mannschaft zu  Stettin  haben  sich  vor  einigen 
Jaliren  ebenfalls  dahin  ausgesprochen,  dass 
dieselbe  nach  Aufhebung  des  Identitätsnach- 
weises überflüssig  sei.    Die  Handelskammer 


1320 


Identitätsnachweiß— JevoDS 


von  Danzig  aber  ist  anderer  Ansicht,  und 
namentlich  die  westlichen  Handelsplätze,  wie 
Köln  und  Mannheim,  sprechen  sich  ent- 
schieden für  die  Beibehaltung  dieser  Lager 
aus.  Die  Verhältnisse  sind  eben  im  Osten 
und  Westen  verschieden,  denn  das  Getreide 
aus  den  Transitlagern  der  östlichen  Häfen 
wird  fast  ausschliesslich  wirklich  ausgeführt, 
während  im  "Westen  der  grösste  Teil  ihres 
Inhaltes  nach  längerer  oder  kürzerer  Lage- 
rung in  den  inneren  Verkehr  gebracht  wird. 
Sie  haben  also  hier  einfach  Sie  Bedeutung 
zollfreier  Niederlagen  und  sind  für  den 
eigentlichen  Transit  von  geringer  Bedeutung. 
Dem  Einfuhrhandel  leisten  sie  auf  diese  Art 
nützliche  Dienste,  die  durch  die  Einfuhr- 
scheine nicht  ersetzt  werden  können,  zumal 
die  Frist,  während  der  die  Scheine  Giltigkeit 
haben,  für  das  Bedürfnis  der  Händler  zu 
kurz  bemessen  ist,  da  sie  z.  B.  nicht  mehr 
benutzt  werden  können,  um  im  Frühjahr  bei 
steigenden  Preisen  Getreide  einzuführen, 
wenn  die  entsprechende  Ausfuhr  im  Voi-jahre 
etwa  unmittelbar  nach  der  Ernte  stattge- 
funden hat.  Die  Regierung  liat  sich  denn 
auch  vorläufig  für  die  Beibehaltung  der  ge- 
mischten Privattransitlager  entschieden,  zu- 
mal eine  wirkliche  Schädigung  der  Interessen 
der  Landwirtschaft  durch  dieselben  nicht 
nachgewiesen  ist.  —  Was  die  Wirkung  der 
Aufhebung  des  Identitätsnachweises  auf  die 
westliche  ilülilenindustrie  betrifft,  so  ist  nach 
den  Berichten  der  Handelskammern,  wie  zu 
erwarten  war,  die  Konkiurenz  der  östlichen 
preussiöchen  Mühlen  dadurch  vermindert 
worden. 

Litteratar:  Atisser  den  bei  dem  Art.  Aus- 
fu h rp r ämien  U7id  A u sfn hrvergütungen 
oben  Bd.  II  S.  39  angeführten  Schriften  vergl. 
Struvef  Die  Aufhebung  des  Identitätsnachweise« 
bei  auszuführendem  Getreide  und  die  deutsche 
Bierbrauerei,  Berlin  1890.  —  Staub f  Die  Getreide- 
zölle  und  die  Aufliebung  des  Idenlitätsnach- 
weises j  Nürnberg  1887.  —  Kuhn,  Die  Auf- 
hebung des  Identitätsnachweises,  Freiburg  1891. 
—  «f.  Hoffntann,  Was  bedeutet  die  Aufhebung 
des  Identitiitsnachtoeises  f  Düsseldorf  1891.  — 
J",  Ciynradj  Die  Beseitigung  des  Identitäts- 
nachweises, Deutsches  Wochenblatt  1887.  — 
Buehenherger ,  Grundzüge  der  deutschen 
Agrarpolitik,  Berlin  1899,  S.  236 ff.  —  Jahres- 
bericht der  Kölner  Ilandelskainmer,  1894,  S.  91; 
1895^  S.  97;  1896,  S.  87.  —  Jahresbericht 
des  Vorsteheramts  der  Kaufmannschaft  zu  Danzig, 
189,5,  S.  41;  1896,  S.  I4.  —  Stettiner  Handels- 
industrie und  Schiffahrt  (Jahresbericht),  1898, 
S.  11.  —  Monatliche  Nachweise  über  den  aus- 
wärtigen  Handel  der  deutschen  Zollgebiete. 

Lexis, 


JeTons^  TVilliam  Stanley, 

geboren  am  1.  IX.  1835  in  Liverpool,  ging  1854 
nach  Australien,   war  1855—58  Chemiker   bei 


der  Münze  der  Kolonie  Neu-Süd- Wales  in  Sydney, 
kehrte  1859  nach  Europa  zurück,  wirkte  1866 — 
1881  als  Professor  der  Logik  und  National- 
ökonomie an  Owens  College  in  Manchester  und 
starb,  durch  Ertrinken  im  Meere,  zu  Bexbill. 
Grafschaft  Sussex,  am  13.  VIII.  1882. 

Jevons  war  kein  erklärter  Gegner  der 
chrematistischen  Schule,  sondern  er  bekämpfte 
Ricardo  nur  als  den  Führer  dieser  Schale.  Im 
übrigen  bediente  er  sich,  im  Gegensätze  zu 
Ricardos  deduktivem  Verfahren,  bei  seiner  in- 
duktiven Erforschung  kommerzieller  und  indus- 
trieller Probleme,  der  mathematischen  Methode^ 
selbst  wenn  inkommensurable  Grössen  dabei  ins 
Spiel  kamen.  Mit  dieser  Vorliebe  für  Ueber- 
tragung  mathematischer  Formeln  auf  die  wirt- 
schaftliche Forschung  verband  Jevons  besonders 
in  der  ersten  Periode  seines  litterarischen 
Schaffens  eine  stark  hervortretende  Neigung, 
wirtschaftliche  Erscheinungen  auf  metaphysische 
Gesetze  zurückzuführen.  Wenn  der  Ruf  Jevons' 
als  scharfsinnigen  Denkers,  als  genialen  und 
glücklichen  Forschers  (erinnert  sei  nur  an  seine 
Wertlehre,  seine  Bedürfnislehre  und  die  aus 
seiner  Wert-,  Preis-  und  Produktivgutdoktrin 
entwickelte  Zinstheorie),  sich  weiten  Kreisen 
mitteilte,  so  ist  dieser  Erfolg  mehr  oder  weniger 
auch  jenen  Erzeugnissen  seiner  Feder  zu  ver- 
danken, in  denen  er  praktische  wirtschaftliche 
Fragen  als  Volkswirt  und  nicht  als  Mathe- 
matiker zu  lösen  versucht  hat. 

Jevons  veröffentlichte  von  Staats  wissenschaft- 
lichen Schriften  a)in  Buchform:  Diagram 
showing  all  the  weekly  accounts  of  the  Bank 
of  England,  since  the  passing  of  the  Bank  Act 
of  1844  (to  1862)  etc.,  London  1862.  —  Diagram 
showing  the  price  of  the  english  funds,  the 
price  of  wheat,  the  number  of  bankruptcieSf 
and  the  rate  of  the  discount  monthly,  since 
1731  to  1862,  ebd.  1862.  —  A  serious  fall  m 
the  value  of  gold  ascertained,  and  its  social 
effects  set  fortn,  ebd.  1863.  (Darstellung  des 
Verlaufs  der  Goldentwertung,  nach  den  Preis- 
notieningen  des  „Economist"  in  den  Jahren 
1845—62.)  —  Probable  exhaustion  of  onr  coal 
mines,  ebd.  1865.  —  The  coal  qnestion;  an 
inquiry  concerning  the  progress  of  the  nation, 
and  the  probable  exhaustion  of  onr  coal-mines, 
ebd.  1865;  dasselbe,  2.  Aufl.,  1866.  (Das 
Buch  verfolgt  den  Zweck,  die  Kohle  als  wirt- 
schaftliches Hauptagens  im  Zeitalter  des  Dampfes 
darzustellen,  und  prognostiziert  ausserdem,  im 
Hinweise  auf  die  Wahrscheinlichkeit  des  baldigen 
Eintrittes  einer  Erschöpfung  der  englischen 
Kohlenfundstätten,  der  industriellen  Grossmacht 
Englands  eine  nicht  viele  Generationen  mehr 
überdauernde  Lebenskraft.  Auf  Unterlage  des 
Kohlenkonsums  Englands  im  Jahre  1861,  der 
damals  83,5  Millionen  tons  betrug,  berechnete 
Jevons  in  der  „coal  question",  dass  10  Jahre 
später  118  Millionen  tx)n8  zu  industriellen  etc. 
Zwecken  in  England  konsumiert  werden  würden, 
und  dieses  Quantum  ist  annähernd  schon  1870 
mit  117  352  028  tons  erreicht  worden.)  —  The 
match  tax:  a  problem  in  finance,  ebd.  1871. 
—  The  theory  of  political  economv,  London 
1871;  dasselbe,  2.  Aufl.,  1879;  dasselbe,  3.  Aufl., 
1888 ;  dasselbe  ins  Italienische  übersetzt  u.  d.  T. : 
G.  Boccardo,  Teoria  delP  economia  politica, 
esposta  da  W.  St.  Jevons,  Mailand  1875,  in 
„Bibliotheca  dell'  Economista",  3a  serie,  vol.  11» 


Jevons 


1321 


S.  174/311.  (Der  psychologische  Gmndcharakter 
dieser  Schrift,  wonach  die  Schmerz-  und  Lust- 
gefühle mit  den  Bedürfnissen  und  ihrer  Be- 
friedigung durch  mathematisch-mechanische  Mes- 
sungen zu  einer  Physik  der  Elemente  der  Volks- 
wirtschaft derartig  zu  verschmelzen  gesucht 
werden,  dass  z.  B.  die  Güter  bezw.  die  mensch- 
liche Arbeit  auf  Grund  des  Arbeitsprodukts  als 
Quelle  der  Lustgefühle  erscheinen,  stempelt 
JeTons  theoiy  of  political  economy  zu  einer 
ausserordentlichen  Leistung  auch  in  soziologi- 
scher Beziehung,  die  auch  dadurch  nicht  ge- 
schmälert werden  kann,  dass  Gossen  denselben 
Ideeengang,  nachweislich  ohne  V orwissen  Jevons, 
verfolgt  hat.  Dafür  ist  Jevons'  in  Kapitel  3 
und  4  entwickelter  Lehre  von  den  Grenzgraden 
der  Nützlichkeit,  wonach  bei  wachsendem  Güter- 
vorrate  sich  die  Nützlichkeit  des  Zuwachses 
vermindert,  und,  umgekehrt,  bei  abnehmendem 
vermehrt  oder  die  Grade  des  Nutzens  der  aus- 
getauschten Güter  sich  umgekehrt  wie  die 
Menge  derselben  verhalten  und  der  schliessliche 
Grenznutzen  als  Preisbestimmnngsmoment  zum 
Ausdrucke  kommt,  die  unbedingte  Priorität  der 
geistigen  Urheberschaft  von  der  gelehrten  Welt 
approbiert  worden.)  —  The  raiiway  and  the 
State,  London  1874.  —  Money  and  the  mecha- 
nism  of  exchange,  ebd.  187.5;  dasselbe,  2.  Aufl., 
1875;  dasselbe,  3.  Auü.,  1876;  dasselbe,  4.  Aufl., 
1878;  dasselbe,  8.  Aufl.,  1887;  dasselbe,  ins 
Französische  übersetzt,  Paris  1876;  dasselbe, 
ins  Deutsche  übersetzt  u.  d.  T.  r  Geld  und  Geld- 
verkehr, Leipzig  1876.  (Jevons  unterscheidet 
in  seiner  Geldtheorie  vom  Standpunkte  eines 
Goldwährungsfreundes  zwischen  4  Funktionen 
des  Geldes,  was  er  erst  als  Tauschmittel,  dann 
als  allgemeinen  Wertmesser,  darauf  im  Normal- 
werte  und  zuletzt  im  Wertvorrate  betrachtet.) 

—  Primer  of  political  economy,  London  1878, 
aus  der  Serie  der  „Science  Primers",  hrsg.  von 
Huxley;  dasselbe,  ins  Französische  übersetzt, 
von  H.  Gravez,  Paris  1878.  —  The  State  in 
relation  to  labour^  London  1882.  (Jevons  ruft 
darin  das  Eingreifen  der  Gesetzgebung  gegen 
die  Beschäftigung  verheirateter  Frauen  in  den 
Fabriken  an,  insbesondere  solcher  mit  Kindern 
im  zarten  Lebensalter.  Im  übrigen  spricht  er 
sich  in  dieser  Schrift,  trotz  seines  freihändle- 
rischen Glaubensbekenntnisses,  gegen  das 
Laissez-faire  aus.)  Seinem  litterarischen  Nach- 
lasse entstammen  die  Schriften:  Methods  of 
social  reform,  and  other  papers,  London  1883. 

—  Investig^ation  in  currency  and  flnance,  edited 
with  an  mtrodnction  by  H.  S.  Foxwell,  ebd. 
1884.  —  Letters  and  Journals,  edited  by  bis 
wife,  ebd.  1886.  - 

Jevons  übersetzte  in  das  Englische:  L. 
Cossa,  Guida  allo  studio  della  economia  politica, 
2.  Aufl.,  London  1880. 

b)  in  Zeitschriften: 

1)  in  British  Association  for  the  advance- 
ment  of  science,  London.  Addresses  and  papers 
read  in  section  F:  Economic  science  and  sta- 
tistics :  Notice  of  a  general  mathematical  theory 
of  political  economy,  Jahrgang  1862.  —  The 
study  of  periodic  commerciaT  fluctuations,  Jahrg. 
1862.  —  Address  on  political  economy,  Jahrg. 
1870.  —  The  progress  of  the  coal  question, 
Jahrg.  1875.  -  The  periodicity  of  commercial 
orises,  and  its  physical  explanation.  (Seine  Lehre 
Ton    der    bestimmten   physikalischen   Gesetzen 


unterworfenen  Periodicität  wirtschaftlicher  Kri- 
sen (Missemten  etc.)  beruht  zwar  auf  einer  au- 
nähemden,  aber  niemals  absoluten  Eegeliuässig- 
keit  des  Eintrittes  gewisser  meteorologisch- 
astronomischer Erscheinungen  (vgl.  seine  Scnrift : 
„Commercial  crises  and  sunspots",  London  s.  a.), 
ist  aber  nur  hypothetisch  für  die  Wissenschaft 
verwertbar.)  2)  in  Fortnightly  Review,  London : 
The  Post  Office,  telegraphs  and  their  financial 
results,  Jahrg.  1875,  Dezember.  (Untersuchung 
über  die  Ursachen  der  finanziellen  Unterbilanz 
des  englischen  Staatstelegraphenwesens.)  The 
future  of  political  economy,  Jahrg.  1876,  No- 
vember. (Veröfl'entlichung  zum  Säkularjubiläum 
des  „wealth  of  nations".)  3)  in  Journal  of  the 
Statistical  Society:  On  the  Variation  of  prices, 
and  the  value  of  the  currency  since  1782,  Bd. 

XXVIII,  London  1865,  S.  294  ff".  —  On  the 
frequent  autumnal  pressure  in  the  money  market, 
and  the  action  of  the  Bank  of  England,  Bd. 

XXIX,  1866,  S.  235  ff.  —  Brief  account  of  a 
general  mathematical  theory  of  political  eco- 
nomy, Bd.  XXIX,  1886,  S.  282  ff,  -  Condition 
of  the  metallic  currency  of  the  United  Kingdom 
with  reference  to  the  question  of  international 
coinage,  Bd.  XXXI,  1868,  S.  426  ff.  —  Opening 
address  as  President  of  section  F  (Economic 
science  and  statistics)  of  the  British  Association, 
at  the  XLth  meeting  at  Liverpool,  Sept.  1870, 
Bd.  XXXIII,  1870,  S.  309  ff.  >-  The  mathe- 
matical theory  of  political  economy  (its  pro- 
gress, with  an  explanation  of  the  principles  of 
the  theory)  Bd.  XXXVII,  1874,  S.  478  ff.  — 
Statistical  use  of  the  arithmometer,  Bd.  XLI, 
1887.  —  4)  in  Transactions  of  the  Manchester 
Statistical  Society,  Manchester:  Analogy  bet ween 
the  Post  Office,  telegrafs,  and  other  Systems  of 
conveyance  of  the  United  Kingdom  as  regards 
Government  coutrol,  Jahrg.  1866  67.  —  Inter- 
national monetary  Convention,  and  the  intro- 
duction  of  an  international  currency  into  this 
Kingdom,  Jahrg.  1867/68.  —  Inangural  address 
as  President  on  the  work  of  the  Manchester 
Statistical  Society  in  connection  with  the  questions 
of  the  day,  Jahrg.  1869  70.  -  The  progress  of 
the  mathematical  theory  of  political  economy 
etc.,  Jahrg.  1874/75.  —  United  Kingdom  alliance, 
and  its  prospects  of  success,  Jahrg.  1875  76. 


Vgl.  über  Jevons:  Geyer,  Theorie  und 
Praxis  der  Zettel banken ,  München  1867,  An- 
hang VI,  S.  321  ff.  —  H.  Fawcett,  Manuel  of 
political  economy,  3.  Aufl.,  London  1869,  S.  43"^. 
—  M.  W.  Drobisch,  üeber  Mittelgrössen  und 
die  Anwendbarkeit  derselben  auf  die  Berechnung 
des  Steigens  und  Sinkens  des  Geldwertes,  in 
„Bericht  der  mathemat.-physikal.  Klasse  der  k. 
Sachs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften",  Leipzig, 
Jahrg.  1871,  S.  25ff.  —  Derselbe,  Ueber  die 
Berechnung  der  Veränderungen  der  Waren- 
preise und  des  Geldwertes,  in  Jahrb.  f.  Nat.  u. 
Stet,  Bd.  16,  Jena  1871,  S.  143ff.  —  E.  Las- 
peyres,  Die  Berechnung  einer  mittleren  Preis- 
steigerung, in  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stet,  Bd.  16, 
1871,  S.  296 ff.  —  Carey,  The  unity 
of  law,  Philadelphia  1872,  S.  10.  —  J.  E. 
Cairnes,  Essays  in  political  economy,  London 
1873,  S.  105.  —  A.  L.  Perrv,  Introduction  to 
political  economy,  New- York  1877,  S.  193, 295.  — 
S  h  a  d  w  e  1 1 ,  System  of  political  economy,  London 


1322 


Jerons — ^Impfung  und  Impfrecht 


•1877,  S.  47,  55,  89,  94  u.  ö.  —  Nationalöko- 
nomische  Schriften  von  W.  Stanley  Jevons,  in 
Jahrb.  f.  Nat.  n.  Stat.,  Bd.  31,  Jena  1878,  S. 
267.  —  E.  Hüll,  The  coal-fields  of  Great 
Britain,  4.  Aufl.,  London  1884,  S.  2,  509.  — 
Obitnary  notices  of  Prof.  William  Stanley  Jevons, 
with  additional  remarks  from  the  „Statist"  and 
^Economist",  in  Journal  of  the  Statistical  So- 
ciety, Bd.  XLV,  London  1882,  S.  484--«8.  — 
R.  Giffen,  Notice  of  (Prof.  W.  St.  Jevons') 
principal  works  in  the  coal  supply,  gold  coiuage 
etc.,  in  Journal  of  the  Statistical  Society,  Bd. 
XLV,  ebd.  1882,  S.  521/'23.  -  F.  A.  Walker, 
Political  economv,  ebd.  1883,  S.  99,  140/43, 
284,  366/67,  374^  414/15.  —  Walcker,  Ge- 
schichte der  Nationalökonomie,  Leipzig  1884, 
S.  72/73.  —  R.  Giffen,  Essays  in  finance,  Und 
series,  London  1886,  S.  275 ff.  -  Phillips, 
Labor  land,  and  law,  ebd.  1886.  —  W.  J. 
Ashley,  An  introduction  to  English  econo- 
mic history  and  theory,  London  1888,  S.  137. 

—  Ingram,  History  of  political  economy , 
Edinburg  1888,  S.  60.  159,  180,  231/234.  — 
Rogers,  Economic  Interpretation  of  history, 
London  1888,  S.  229.  —  G.  Lac v,  Liberty  and 
law,  ebd.  1888,  S.  203.  —  Wasserrab, 
Preise  und  Krisen,  Stuttgart  1889,  S.  44.  — 
Garnier,  Traite  d'6conomie  politique,  9.  Aufl., 
Paris  1889,  S.  752.  —  R.  Zuckerkandl,  Zur 
Theorie  des  Preises,  Leipzig  1889,  S.  80fF.  — 
Bnrns,  Temperance  history,  part  IV  (1873 — 80), 
London  1891,  S.  240.  —  W.  Boehmert,  Stanley 
Jevons  und  seine  Bedeutung  für  die  Theorie 
der  Volkswirtschaftslehre  in  England,  in  Jahrb. 
f.  Ges.  u.  Verw.,  Jahrg.  XV,  Leipzig  1891,  Heft  3. 

—  Dictionary  of  National  Biographv,  ed.  by 
Sidney  Lee,  vol.  XXIX,  p.  374/78,  London  1892. 

—  Nouveau  dictionnaire  d'economie  politique, 
Bd.  II,  Paris  1892,  S.  103/4.  —  K.W  ick  seil, 
Geldzins   und   Gttterpreise,  Jena  1898,   S.  17  ff. 

Lippert 


Impfung  und  Impf  recht. 

1.  Geschichtliches.  2.  Ausführung  der 
Impfung.  3.  Nutzen  der  Impfung  und  Impf- 
gegner.   4.  Impfrecht. 

1.  Geschichtliches.  Unter  Impfung 
im  engeren  und  landläufigen  Sinne  versteht 
man  die  Schutzimpfung  gegen  die 
Pocken  (Blattern,  echte  Blattern,  Variola 
Vera)  zum  Unterschiede  von  den  neueren 
Impfungen  gegen  Cholera,  Typhus,  Diph- 
therie u.  s.  f. 

Die  Schutzpockenimpfung  geht  in  letzter 
Linie  auf  uralte  Beobachtungen  und  Erfah- 
rungen zurück.  Gewisse  Krankheiten,  nament- 
lich die  exanthematischen,  d.  h.  die  durch  einen 
Ausschlag  gekennzeichneten,  unter  ihnen  auch 
die  Pocken,  befallen  den  Menschen  in  der  Ke^el 
nur  ein  einziges  Mal,  verleihen  also  dem  Or- 
ganismus ein  hohes  Mass  von  Seuchenfestig- 
keit, von  Immunität.  Daneben  aber  be- 
merkte man,  da.ss  die  Pocken  in  besonders 
leichter  Form  verlaufen,  wenn  sie  nicht  auf 
dem  gewöhnlichen  Wege,  wohl  von  den  Atmungs- 
werkzeugen oder  den   Schleimhäuten   aus,   in 


den  Körper  eindringen,  sondern  der  Infektions- 
stoff von  kleineren  Verletzungen  der 
äusseren  Haut  aus  Zutritt  findet.  Auf 
diesen  Wahrnehmungen  baut  sich  die  Methode 
der  sogenannten  Inoculation  oder  Vario- 
lation  auf,  bei  der  dem  Menschen  absichtlich 
eine  kleine  Menge  Pockeneit.er  in  eine  Schnitt- 
oder Stichwunde  der  Haut  gebracht  und  so  ein 
milder  Ausbruch  der  Blattern  bewirkt  wird, 
der  dann  für  die  Zukunft  völlige  Unempfind- 
lichkeit  zurücklägst.  Die  Yariolation  ist  bei 
den  beiden  alten  Kulturvölkern  der  Chinesen 
und  Indier  der  Ueberlieferung  nach  schon  meh- 
rere Jahrhunderte  vor  Christi  Gebart  in  Ge- 
brauch gewesen  und  gelangt  dann  namentlich 
bei  den  um  die  Schönheit  ihrer  Mädchen  besorg- 
ten cirkassischen  und  georgischen  Stämmen  des 
Kaukasus  zur  häufigen  Anwendung.  Von  dort 
kam  sie  in  die  europäische  Türkei  und  durch 
Vermittelung  der  Gattin  des  damaligen  ene- 
lischen  Gesandten  in  Konstantinopel,  der  Lady 
Mary  Wortley-Montague  1721  nach  Gross- 
britannien. Hier  wie  auf  dem  Festlande  Mmrde 
sie  als  eine  wertvolle  Massregel  gegen  die 
furchtbare  Krankheit,  der  man  sonst  völlig 
machtlos  gegenüberstand,  freudigst  begrüsst. 
Seufzte  doch  ganz  Europa  damals  unter  einer 
schweren  „Pockennot" :  „von  der  Liebe  und  den 
Pocken  bleibt  Niemand  verschont",  lautete  ein  be- 
kanntes Sprichwort  jener  Zeit,  und  in  der  That 
fielen  Hoch  und  Niedrig  dem  Uebel  in  gleicher 
Weise  zum  Opfer.  Besonders  wurden  die  Kinder 
heimgesucht:  die  Pocken  hatten  damals  den 
Charakter  einer  eigentlichen  Kinderkrank- 
heit, wie  heute  Masern  und  Scharlach.  Immer- 
hin litt  die  Variolation  noch  an  grossen  Mängeln. 
Zuweilen  nahm  die  künstlich  erzeugte  Affektion 
einen  unerwartet  bösartigen  Verlauf,  dem  die 
inokulierten  Menschen  dann  erlagen;  ausser- 
dem aber  waren  es  eben  die  echten  Pocken,  die 
übertragen  wurden,  und  jeder  Impfling  konnte 
deshalb  zum  Ausgangspunkt  für  neue  unfrei- 
willige Ansteckungen  werden,  beförderte  also 
die  Verbreitung  der  Seuche. 

Die  Impfung  nicht  mit  Menschenpocken, 
sondern  mit  Kuhpocken,  nicht  mit  Variola, 
sondern  mit  Vaccine  bedeutet  daher  einen 
gewaltigen  Fortschritt  auf  diesem  Gebiete,  und 
mit  Recht  wird  der  Entdecker  der  Vaccination, 
der  englische  Dorfarzt  Eduard  Jenner  als 
einer  der  grössten  Wohlthäter  der  Menschheit 
gefeiert. 

Die  Kuhpocken  sind  eine  den  menschlichen 
Pocken  in  ihrer  äusseren  Erscheinung  sehr  ähn- 
liche Krankheit,  die  besonders  an  den  Eutern 
der  Tiere  auftritt  und  von  hier  ans  auch  auf 
den  Menschen,  z.  B.  die  Hände  und  Arme  der 
Melker  oder  Viehwärter  übergehen  kann.  Schon 
längst  war  nun  namentlich  die  ländliche  Be- 
völkerung darauf  aufmerksam  geworden,  dass 
die  von  einem  derartigen  bläschenförmigen  Aus- 
schlage Befallenen  st«ts  von  den  Blattern  ver- 
schont blieben.  Ja  noch  mehr:  in  Holstein,  in 
England  und  Schottland  hatte  man  bereits  ab- 
sichtliche Uebertra^nsen  der  Knhpocken  zum 
Zwecke  der  Schutzimpraug  gegen  die  Menschen- 
pocken ausgeführt ;  zwei  englische  Inoculatoren, 
Fewster  und  Sutton,  hatten  z.  B.  über  er- 
folgreiche Versuche  und  Erfahrungen  an  das 
Kollegium  der  Aerzte  in  London  berichtet  — 
da  aber  alle  diese  Beobachter  nicht  von  der  Gloriole 


Impfung  und  Impfrecht 


1323 


der  Autorität  umstrahlt  waren,  so  wurden  ihre 
Mitteilungen  nicht  gewürdigt,  und  auch  J  e  n  n  e  r 
hätte  gewiss  das  gleiche  Geschick  gefunden, 
wenn  seine  Behauptungen  nicht  auf  besonders 
breiter  und  fester  Grundlage  aufgebaut  gewesen 
wären.  Nachdem  er  sich  durch  langjährige  sorg- 
fältige Prüfung  von  der  Richtigkeit  der  er- 
wlQinten  Volksmeinung  überzeugt,  wa^te  er 
den  entscheidenden  Schritt.  Am  14.  Mai  1796 
impfte  er  einen  8  jährigen  Knaben  (James  Phipps) 
am  Arm  mit  dem  Inhalt  einer  Kuhpockenpustel, 
die  sich  auf  dem  Handrücken  einer  Viehmagd 
(Sarah  Nelmes)  entwickelt  hatte.  Bei  dem 
Kinde  kam  es  nun  ebenfalls  zur  Entstehung 
Ton  Bläschen  an  der  Impfstelle,  die  indessen 
bald  wieder  verschwanden  und  doch  einen  voll- 
kommenen Schutz  gegen  die  echten  Blattern 
erzeugt  hatten :  eine  am  6.  Juli,  also  6  Wochen 
später  vorgenommene  Variolation  mit  Pocken- 
stoff überstand  der  Knabe  ohne  jede  Spur  einer 
Reaktion,  Weitere  Versuche  mit  dem  nämlichen 
Ergebnis  an  anderen  Kindern  folgten,  und  das 
Verfahren  gelangt«  nun  zu  verhältnismässig 
rascher  Anerkennung,  nicht  nur  in  Grossbn- 
tannien,  sondern  auch  auf  dem  Festlande.  Bei 
uns  machten  sich  um  die  Einführung  der  neuen 
Methode  besonders  verdient  die  Aerzte  Stro- 
meyer  in  Hannover,  Heim  und  Hufeland 
in  Berlin,  Sommer  in  g  in  Frankfurt  a.  M., 
Osiander  in  Göttingen.  Ueberall  bestätigte 
man  ihre  segensreiche  Wirkung;  in  einigen  süd- 
deutschen Staaten  wurde  alsbald  die  Zwangs- 
i  m  p  f  u  n  g  vorgeschrieben,  so  in  Bayern  1807,  in 
Baden  1815,  in  Württemberg  1818,  umgekehrt 
die  Variolation  ihrer  Gefährlichkeit  halber  viel- 
fach und  bei  strenger  Strafe  verboten,  so  in 
Preussen  im  Jahre  1835.  Die  anfängliche  Be- 
geisterung erlitt  indessen  einen  leichten  Rück- 
schlag, als  man  bemerkte,  dass  geimpfte  Per- 
sonen zuweilen  doch  noch  an  den  Blattern  er- 
krankten, die  dann  freilich  fast  stets  einen  sehr 
milden  Verlauf  nahmen.  Aber  man  lernte  bald 
auch  diesen  Fehler  beseitigen.  Der  Impfschutz 
besitzt  eben  keine  unbeschränkte  Dauer,  er  geht 
nach  einer  gewissen  Frist  wieder  ganz  oder 
teilweise  verloren,  und  die  Impfung  muss  daher 
nach  einigen  Jahren  wiederholt  werden,  um 
volle  Sicherheit  zu  gewähren. 

Worin  besteht  das  Wesen  der  Impfung? 
Wir  können  diese  lange  umstrittene  Frage 
heute  mit  Bestimmtheit  dahin  beantworten,  dass 
der  höchst  wahrscheinlich  durch  einen  niederen 
tierischen  Schmarotzer  gebildete  Infektions- 
stoff der  echten  Pocken  bei  der  absichtlichen 
oder  unabsichtlichen  Uebertragung  auf  den  zwar 
empfänglichen,  aber  doch  weniger  geeigneten 
Körper  des  Tieres,  des  Rindes,  eine  soge- 
nannte Abschwächung  erfährt,  und  dass  das 
in  seiner  ursprünglichen  Kraft  geschädigte  Ma- 
terial nun  bei  neuen  Individuen  doch  noch  eben- 
so einen  Impfschutz,  eine  Immunität  er- 
zeugt, wie  dies  Pasteur  später  beim  Milz- 
brand, beim  Schweinerotlauf  u.  s.  w.  in  un- 
widerleglicher Weise  zu  zeigen  vermocht  hat. 

2.  Ausführang  der  Impf ang.  Der  Intipf- 
stoff,  die  »Lymphe«  wird  in  einige  seichte 
Schnittwunden  (seltener  Stiche)  der  äusseren 
Haut,  meist  am  Oberarm,  eingerieben.  Es 
entstehen  dann  an  den  betreffenden  Stellen 
die   Impfpusteln   oder   Impfpocken, 


die  nach  etwa  einer  Woche  auf  dem  Höhe- 
punkt ihrer  Entwickelung  angelangt  sind, 
weiterhin  vereitern,  verschorfen,  eintrocknen 
und  mit  Hinterlassung  von  oberflächlichen 
Nai'ben  abheilen.  Der  Impfstoff  kann  ent- 
weder vom  Menschen  oder  vom  Rind 
(meist  vom  Kalb)  herrühren  (humanisierte 
und  animale  Lymphe).  Die  erstere  stammt 
von  geimpften  Menschen,  namentlich  Kindern 
(Abimpflinge)  und  wird  ohne  weiteres 
oder  nach  vorheriger  Mischimg  mit  ver- 
dünntem Glycerin  benutzt.  Bei  ihrer  Ver- 
wendung sind  trotz  aller  Vorsichtsmassregeln 
zuweilen  vom  Abimpfling  auf  den  Impfling 
ausser  dem  Kuhpockenstoff  auch  noch  andere 
Keime,  so  die  der  Wundrose  und  namentlich 
der  Syphilis  übertragen  worden.  Bei  der 
Benutzung  der  ani malen  Lymphe  ist  diese 
Möglichkeit  ausgeschlossen,  da  das  Rind 
für  Syphilis  unempfänglich  ist,  die  Tiere 
ausserdem  jedesmal  sofort  nach  Abgabe  der 
Lymphe  und  vor  dem  Gebrauch  der  letzteren 
geschlachtet  und  von  einem  sachverständigen 
Tierarzt  auf  ihren  Gesundheitszustand  unter- 
sucht werden  müssen. 

Die  humanisierte  Lymphe  ist  deslialb 
durch  die  animale  mehr  imd  mehr  verdrängt 
worden;  nach  einem  Bundesratsbeschluss 
vom  28.  Juni  1899  dürfen  bei  uns  die  öffent- 
lichen Impfungen  (siehe  unten)  nur  noch 
mit  animaler  Lymphe  vollzogen  werden  und 
ist  die  humanisierte  Lymphe  allein  in  be- 
sonderen Ausnahmefällen  zulässig.  Die 
animale  Lymphe  wird  gewonnen  in  staat- 
lichen oder  privaten,  aber  unter  staatlicher 
Aufsichtstehenden  »Lympherz eugungs- 
anstalten«.  Die  benutzten  Kälber  werden 
zu  diesem  Zwecke  am  Bauche  und  der 
inneren  Fläche  der  Schenkel  mit  zahlreichen 
seichten  Schnittwunden  versehen,  in  die  der 
Impfstoff  eingerieben  wird.  Je  nach  der 
Herkunft  des  letzteren  unterscheidet  man: 
L  die  eigentliche  animale  Lymphe 
oder  animale  Vaccine  in  engerem 
Sinne;  die  Kälber  werden  mit  animaler 
Lymphe  von  anderen  Kälbern  geimpft,  die 
Uebertragung  geschieht  vonTierzuTier; 
2.  die  sogenannte  Retrovaccine;  die 
Kälber  werden  mit  Lymphe  geimpft,  die 
vom  Menschen  stammt  (Abimpfüngeu),  die 
uebertragung  geschieht  vom  Tiere  auf  den 
Menschen  und  dann  vom  Menschen 
zurück  auf  das  Tier.  Diese  Art  ist  die 
gebräuchlichste,  da  sie  infolge  der  Auf- 
frischung im  menschlichen  Körper  am 
ehesten  ihre  Wirksamkeit  bewahrt,  während 
die  eigentliche  animale  bei  dem  fortgesetzten 
Durchgang  durch  das  weniger  empfängliche 
Tier  leicht  einer  allzuerheblichen  Ab- 
schwächung unterliegt.  Seltenere  Sorten 
sind:  3.  die  Variolo Vaccine,  die  bei 
Impfung  von  Kälbern  mit  dem  Inhalt  ech- 
ter  Pockenpusteln  entsteht   und    den 


1324 


Impfung  und  linpfrecht 


deutlichsten  Beweis  für  die  so  veranlasste 
Umwandlung  des  Infektionsstoffes  der  Variola 
Vera  in  den  der  Vaccine  erbringt;  4.  die 
originäre  Vaccine,  die  sich  bei  der 
natürlichen  Ansteckung  von  Kindern 
(Kühen)  entwickelt.  Sie  ist  die  wahi^,  die 
ursprüngliche  »Vaccine«;  zu  Jenners 
Zeiten  ungemein  häufig  gemäss  der  gewaltigen 
Verbreitung  der  Blattern  und  der  Möglich- 
keit ihrer  natürlichen  Uebertragimg,  auch  auf 
die  Tiere,  ist  sie  jetzt  eine  ßarität  geworden 
und  wohl  allein  durch  Wiederimpflinge  beim 
Melken  u.  s.  w.  besonders  empfänglicher 
Stücke  hervorgerufen.  Die  Bereitung  der 
für  den  schliesslichen  Gebrauch  in  der  Praxis 
bestimmten  Lymphe  erfolgt  in  der  Weise, 
dass  der  ganze  Inhalt  der  beim  Tiere  ent^ 
standenen  Blasen  und  Pusteln  abgekratzt, 
fein  zerrieben  und  endlich  mit  verdünntem 
Glycerin  zu  einer  durchsichtigen  Flüssig- 
keit angerührt  wird,  die  mehrere  (2 — 3)  Monate 
hindurch  wirksam  bleibt  und  in  kleinen 
Glasgefässen  zur  Abgabe  und  Versendung 
gelangt 

3.  Nutzen  der  Impfimg  und  Impfgegner. 
Das  beredteste  Zeugnis  für  den  Erfolg  der 
Vaccination  haben  eben  die  Je nn ersehen 
Versuche  geliefert.  Aber  vielleicht  noch  schla- 
gender sind  die  ziffernmässigen  Belege,  die 
eine  sorgfältige  Statistik  gesammelt  hat 
und  bei  denen  nach  dem  Gesetz  der  grossen 
Zahlen  jeder  Irrtum  oder  Zweifel  ausge- 
schlossen ist.  Namentlich  in  Betracht  kom- 
men: 1.  die  sogenannten  ürpockenlisten, 
d.  h.  die  Aufstellungen  über  die  an  Pocken 
verstorbenen  und  erkrankten  Personen  mit 
Angaben  über  ihren  Impf  zustand.  Da  die 
letzteren  meist  von  den  Angehörigen  her- 
rühi-en,  sind  sie  freilich  oft  ungenau  und 
das  Material  entbehrt  daher  der  nötigen  Zu- 
verlässigkeit. 2.  Vergleich  der  Geimpften 
(Wiedergeimpften ,  Geblätterten)  einerseits, 
der  üngeimpften  anderei-seits  gegenüber 
der  Ansteckungsgefahr.  Oft  erwähnt 
werden  hier  die  Untersuchungen  von  Flin- 
zer  in  Chemnitz,  die  sich  auf  die  grosse 
Pockenepidemie  in  den  Jahren  1870/71  be- 
ziehen. Von  64255  Einwohnern  der  Stadt 
Chemnitz  waren  53891  (83,87  «/o)  geimpft, 
4652  (7,24)  hatten  die  Pocken  schon 
früher  überstanden,  5712  (8,89)  waren 
ungeimpft;  es  erkrankten  3596  Per- 
sonen, d.  h.  5,6%  der  Bevölkerung;  auf 
58543  Geimpfte  oder  Geblätterte  entfielen 
769  =  1,3^/0  Erkrankungen  und  7  Todes- 
fälle, auf  5712  nicht  geschützte  Einwohner 
2603  =r  45,6  «/o  Erkrankungen  und  242  Todes- 
fälle. Das  deutsche  Heer  verlor  1870  71 
während  des  Feldzugs  459  (297  bei  den 
mobilen,  162  bei  den  immobilen  Truppen), 
das  französische,  das  damals  noch  der  regel- 
mässigen Impfung  und  Wiederimpfimg  ent- 
behrte,  aber  23400  Mann   an   den  Pocken 


u.s.f.  S.Verhalten  der  Bevölkerung 
desselben  Landes  vor  und  nach. 
Aufnahme  der  Schutzimpfung.  Mit 
grosser  Deutlichkeit  lassen  sich  die  einzelnen 
Abschnitte  dieses  Prozesses  z.  B.  verfolgen 
in  Schweden.  Von  1792—1801  starben 
dort  durchschnittlich  in  jedem  Jahre  191,4 
auf  100000  Einwohner  an  den  Pocken;  im 
Oktober  1801  begannen  die  Kuhpocken- 
impfungen und  fanden  vielfache  Anwendung 
auch  ohne  gesetzliche  Vorschriften;  von 
1802 — 1811  betrug  der  Jahresdiu-chschnitt 
62,3,  von  1811  -1816  19,7 ;  im  Jahre  1816 
Einführung  der  Zw^angsimpfung :  1817 — 1821 
Jahresdurchschnitt  7,0!  Dass  wir  es  aber 
bei  diesem  wie  in  ähnlichen  Fällen  nicht 
etwa  mit  einem  freiwilligen  Verschwin- 
den der  Blattern  oder  mit  einer  verringerten 
Bösartigkeit  der  Bjankheit  zu  thun  haben, 
lehrt  uns  endlich  4.  der  Vergleich  von 
Ländern  mit  vollständiger  und  mit 
unvollständiger  oder  fehlender 
Schutzimpfung.  Zu  den  ersteren  ge- 
hören z.  B.  das  Deutsche  Reich,  Schweden 
und  Dänemark,  zu  den  letzteren  Belgien 
\md  Frankreich,  Spanien,  Oesten-eich,  Italien, 
Russland  (s.  unten).  Es  starben  nun  an 
den  Pocken  in  Deutsehland  wähivnd  der 
Jahre  1889—1893  572  r=  2,3  auf  1  Million 
Lebende,  in  Dänemark  (Städte,  für  die 
allein  genaue  Angaben  vorliegen)  14  =  3>, 
in  Schweden  32  =  1,3.  Dagegen  in 
Belgien  7779  =  252,9,  in  Frankreich 
(Städte,  für  die  allein  genaue  Angaben  vor- 
liegen) 5679  ==  147,6,  in  Spanien  35784 
=  638,0,  in  Oesterreich  37037^=313.6, 
in  Ungarn  (1892  und  1893)  6303==  175,1, 
in  Italien  (1890—1893)  24  801  =  2(J4.0, 
in  R  u  s  s  1  a  n  d  (1891—1893)  288 130  =  836.4. 

Hätte  sich  die  Blattemsterblichkeit  also 
bei  uns  auf  der  gleichen  Höhe  bewegt  wie 
in  den  französischen  Städten,  in  Belgien,  in 
Oesterreich  oder  in  Russland,  so  würde 
unser  Vaterland  einen  jährlichen  Verhist 
von  7321,  12584,  15558  oder  gar  41584 
Menschenleben  zu  beklagen  gehabt  haben, 
wälirend  in  Wirklichkeit  nm*  115  Personen 
an  den  Pocken  verstorben  sind.  Etwa  *  s 
dieser  Fälle  aber  haben  sich  noch  an  der 
Seeküste  und  namentlich  in  den  (Trenzl)e- 
zirken  ereignet,  sind  auf  Rechnung  einer 
unmittelbaren  Einschleppung  zu  setzen. 
Das  Deutsche  Reich  ist  nach  alledem  zwar, 
wie  die  Impfgegner  höhnisch  sagen,  das 
»klassische  Land  des  Impfzwanges«,  aber 
wie  wir  hinzuffigen  wollen,  auch  »das  klas- 
sisclie  Land  der  Pockenimmunität« ! 

Dass  es  bei  ims  angesichts  dieser  That« 
Sachen  nun  überhaupt  noch  Impfgegner 
giebt,  ja  dass  ihre  Anschaimngen  una  Be- 
strebungen sogar  eine  sehr  beachtenswerte 
Verbreitung  gefunden  haben  und  selbst  im 
deutschen    Reichstage     eine    einflussreiche 


Impfung  und  Impfrecht 


1325 


Rolle    spielen,    erscheint    nur    deshalb    be- 
greiflich, weil  unser  Volk  seit  \delen  Jalu*- 
zehnten,  eben  dank  dem  »Impfzwang«,  dem 
Bannkreis  der  Pocken  entrückt  ist  und  die 
(ji-össe  der  Gefsüir  gar  nicht  mehr  am  eige- 
nen Leibe  kennen   gelernt  hat,   gar   nicht 
mehr    zu    ei  messen    vermag.     Im    übrigen 
sammelt  sich  aber  um  das  impfgegnerische 
Banner  eine  i-echt  buntscheckige  Gefolgschaft, 
aus    der    sich    namentlich    drei    Gnippen 
herausheben  lassen.    Einmal  die  Sozialdemo- 
kraten, die  den  Impfzwang  als  einen  Ver- 
stoss   gegen    die  Rechte   des  ludividimms 
bekämpfen,  obwohl  sie  selbst  für  ihre  zu- 
künftige staatliche  Ordnung  den  Zwang  im 
weitesten  Umfange  planen  und  obwohl  man 
ihnen    gewiss    mit   Recht    erwidern    kann, 
dass    die   Freiheit   des    einzelnen    da   ihre 
Grenze  finden  muss,   wo  sie  zu  einer  Ge- 
fahr für  die  Allgemeinheit  wird.    Zweitens 
die  Orthodoxen  katholischer  und  evangeli- 
scher Färbung,   die   in  der  Impfung  einen 
Eingriff  in  die  Bestimmungen  der  göttlichen 
Vorsehung  erblicken,  obwohl  es  gewiss  nur 
im  Sinne  der  letzteren  liegen  kann,  wenn 
wir   uns   die  Natur  dienstbar  machen  und 
sie  mit  ihren  eigenen  Waffen   zu  schlagen 
suchen.    Endlich  drittens  die  Anhänger  der 
Naturheilkunde,   die   die   Einführung  eines 
fremden  Stoffes  in   den  Körper  zu  prophj^- 
laktischen  wie  zu  therapeutischen  Zwecken 
überhaupt  für  unzulässig  erachten,  obwohl 
über  Nutzen    und    Scliaden    einer   solchen 
Massregel  doch  nicht  etwa  voreingenommene 
Principienreiterei,  sondern  allein  der  prak- 
tische Erfolg  entscheiden  kann.    Dass  dieser 
mit    lautester    Stimme     zu    Gunsten    der 
Impfung  spricht,  ist  genauer  erörtert  wor- 
den.    An    dieser   Thatsache   suchen   daher 
die    impfgegnerischen   Kreise    auch   immer 
von   neuem   zu  rütteln.    Nachdem  sie  ver- 
geblich die  Richtigkeit  der  Zahlen  an  sich 
bezweifelt,  haben  sie  sich  dann  hinter  der 
schon    erwähnten    Behauptung    verkrochen, 
die  Pocken  hätten  ihre  früliere  Gefährlich- 
keit eingebüsst,  und  als  sie  auch  aus  diesem 
Versteck    vertrieben,   ist  ihnen   als    letzter 
Ausweg  nur  eine  gi-enzenlose  Uebertreibung 
der  sogenaimten   »Impfschädigungen« 
geblieben.    Die  Vaccination  soll  verhängnis- 
volle   Vei'änderungen    der    verschiedensten 
Art    im    kindlichen   Körper    erzeugen    und 
jedes   Leiden,    das    nacn    Vornahme    der 
Impfung,  oft  Monate  und  Jahi*e  später  auf- 
tritt,   wird    ihr    in  die  Schuhe  geschoben. 
Eine    gewissenhafte    Prüfung    dieser    Be- 
schwerden hat  ihre  Haltlosigkeit  dargetlian. 
Seit   der  nahezu  ausschliesslichen  Anwen- 
dung  der  animalen   Lymphe  kommen  Er- 
krankungen ernsterer  Natur,  die  durch  die 
Impfung   hervorgerufen   wären,    überhaupt 
kaum  noch  vor.    Auch  die  Entzündun- 
gen   in    der   Umgebung   der   Impf- 


stelle aber,  die  man  als  »stärkere  Reak- 
tionen« von  den  normalen,  mit  der  Ent- 
wickelung  der  Pusteln  einhergehenden  Er- 
scheinungen zu  trennen  pflegt,  sind  immer 
seltener  geworden,  seit  man  auf  möglichst 
saubere  Gewinnung  der  Lymphe 
und  Beachtung  der  sonst  für  kleine  chirur- 
gische Eingiiffe  üblichen  Vorsichts- 
raassregeln  (Reinigung  des  Operations- 
feldes, der  Instrumente  u.  s.  w.)  grosseres 
Gewicht  legt.  So  sterben  jetzt  im  ganzen 
Deutschen  Reiche  höchstens  ungefähr  10 
Kinder  jährlich  infolge  von  unglücklichen 
Zufällen  nach,  nicht  wegen  der  Impfung, 
und  die  Impfschädigungen  sind  daher  ge- 
wiss als  ein  sehr  geringes  üebel  im  Ver- 
hältnis zu  den  durch  die  Pockenseuche 
früher  und  sonst  verursachten  Verlusten  an 
Menschenleben  gleichsam  als  eine  Ver- 
sicherungsprämie gegen  die  gewaltige  Ge- 
fahr anzusehen,  der  man  so  entgeht.  Die 
Bestrebungen  der  Impfgegner  erscheinen 
nach  alledem  in  iliren  Motiven  unbegründet 
und  verfehlt,  in  ihren  Zielen  aber  gewissen- 
los und  bedrohlich  für  die  Gesundheit 
unseres  Volkes. 

4.  Impfrecht  Deutsches  Reich. 
Wie  schon  erwähnt,  war  in  einigen  süd- 
deutschen Staaten  die  Kuhpockenimpfung 
bald  nach  ihrer  Entdeckung  durch  gesetz- 
liche Vorschriften  eingefülirt  und  obligato- 
lisch  gemacht  woixien.  Andere  Bundes- 
staaten dagegen,  darimter  auch  Preussen, 
hatten  hiervon  abgesehen  und  das  Ziel  auf 
mittelbarem  Wege  zu  erreichen  gesucht. 
In  Preussen  wunle  nach  dem  Regulativ  vom 
Jahre  1835  die  Impfung  auf  das  dringendste 
angeraten,  von  den  Behörden  durch  Beispiel 
und  Belehrung  empfohlen,  die  Abhaltung 
öffentlicher,  kostenfreier  Impfungen  sowie 
die  Einrichtung  von  Impflisten  und  die  Aus- 
stellung von  Impfscheinen  angeordnet,  na- 
mentlich die  Gewährung  gewisser  Benefi- 
zien,  wie  die  Aufnahme  in  öffentliche 
Staatsanstalten  an  die  Bedingung  der  voraus- 
gegangenen Impfung  geknüpft,  endlich  die 
Impfung,  wie  auch  heute  noch,  bei  allen 
in  das  Heer  oder  die  Marine  eingereihten 
Mannschaften  vorgenommen,  eine  eigentliche 
Verpflichtung  zur  Impfung  jedoch  nur 
in  dem  einzelnen  bestimmten  Fall  des 
Iplötzlichen  Auftretens  der  Pocken 
lür  die  noch  nicht  ergriffenen  Hausbewohner 
vorgesehen.  Infolgedessen  war  der  Schutz 
der  Bevölkerung  hier  ein  sehr  mangel- 
hafter; aber  auch  da,  wo  die  Impfung 
bestand,  fehlte  die  Wiederimpfung, 
und  so  wird  es  begreiflich,  dass  sich  an 
die  massenhafte  Einschleppung  und  Aus- 
streuung des  Krankheitsstoffes  durch  fran- 
zösische Kriegsgefangene  während  des  Feld- 
zuges 1870' 71  ein  gewaltiger  Ausbruch  der 
Seuche  in  Deutschland  anschloss,  dem  z.  B. 


1326 


Impfung  und  Impfrecht 


in  Preussen  129148,  in  Bayern  8062  Ein- 
wohner erlagen.  Unter  dem  nachhaltigen 
Eindruck  dieses  Ereignisses  wurde  dann 
das  Impfgesetz  vom  8.  April  1874  er- 
lassen, durch  das  die.  Impfung  und  die 
Wiederimpfung  für  das  Gebiet  des 
Deutschen  Reiches  zur  obligatori- 
schen Einführung  gelangte.  Die 
wichtigsten  Bestimmungen  dieses  Ge- 
setzes und  seiner  Ausführungsverordnungen 
sind:  1.  der  Impfung  mit  Schutzpocken  ist 
jedes  Kind  vor  Ablauf  desjenigen  Kalender- 
jahres zu  unterziehen,  das  auf  sein  Geburts- 
jahr folgt.  Ausgenommen  von  dieser  Ver- 
pfliclitung  sind  dauernd  nur  solche  Kinder, 
die  vorher  die  echten  Blattern  überstanden 
haben  und  zeitweilig,  d.  h.  bis  zum  nächsten 
Jahre  oder  zum  nächsten  Impftermin  solche 
Kinder,  die  nach  ärztlichem  Zeugnis  ohne 
Gefahr  für  Leben  oder  Gesundheit  nicht 
geimpft  werden  können.  2.  Der  Wieder- 
impfung ist  zu  unterziehen  jeder  Zögling 
einer  öffentlichen  Lehranstalt  oder  einer 
Privatschule,  mit  Ausnahme  der  Sonntags- 
und Abendschulen,  innerhalb  des  Jahres,  in 
welchem  der  Zögling  das  zwölfte  Lebens- 

iahr  zurückle^,  sofern  er  nicht  nach  ärzt- 
ichem  Zeugnis  in  den  letzten  5  Jahren  die 
natürlichen  Blattern  überstanden  hat  oder 
mit  Erfolg  geimpft  worden  ist.  Die  Impfung 
geschieht  auf  einem  Oberarm;  sie  gilt  als 
erfolgreich  und  das  Kind  erhält  seinen 
»Impfschein«,  wenn  bei  der  »Nach- 
schau«, die  6--8  Tage  später  vor  dem 
Arzte  statt  hat,  mindestens  eine  gut  ent- 
wickelte Pustel  (bei  Wiederimpflingen 
Knötchen)  festgestellt  wird.  Ist  das  nicht 
der  Fall,  so  hat  im  nächsten  oder  bei  noch- 
maligem Versagen  auch  im  übernächsten 
Jahre  eine  Wiederholung  der  Impfung  statt- 
zufinden. 

Die  Impfung  wird  kostenfrei  in  Öf- 
fentlichen Impf  terminen  durch  besondere 
Impfärzte  und  meist  in  der  Zeit  vom 
Anfang  Mai  bis  Ende  September  vorgenom- 
men. Daneben  können  jedoch  auch  private 
Impfungen,  jedoch  nur  durch  approbierte 
Aerzte,  ausgeführt  werden. 

Eltern  (Pflegeeltern  und  Vormünder), 
die  den  Nachweis  der  erfolgten  Impfung 
(durch  Vorweisung  des  Impfscheins) 
auf  amtliches  Erfordern  nicht  erbringen, 
können  zu  einer  Geldstrafe  bis  zu  20  Mark, 
solche,  deren  Kinder  und  Pflegebefohlene 
ohne  gesetzlichen  Grund  der  Impfung  ent- 
zogen werden,  mit  Geldstrafe  bis  zu  50 
Mark  oder  mit  Haft  bis  zu  3  Tagen  be- 
straft werden.  Nach  dem  Urteil  unserer 
höchstin stanzlichen  Gerichte  (z.  B.  Kam- 
raergericht  10.  November  1892)  darf  die 
behördliche  Aufforderung  an  säumige  Eltern 
u.  s.  w.  solange  wiederholt  werden,  bis  der 
Nachweis  geführt  ist,  und  wegen  Nichtbe- 


folgung  einer  jeden  neuen  Auffordenmg  ist 
erneute  Bestrafung  zulässig. 

Einen  unmittelbaren  »I  m  p  f  z  w  a  n  g« 
unter  Anwendung  von  Gewalt  bestimmt 
das  Gesetz  also  nicht;  es  hat  sogai-  für 
den  Fall  des  Ausbruches  einer  Pockenepide- 
mie bei  den  gefährdeten  Personen  von 
Zwangsimpfungen  abgesehen  und  nur  ver- 
fügt, dass  die  etwa  vorhandenen  schärferen 
einzelstaatlichen  Vorschriften  hier  unberülirt 
bleiben  sollen.  Aber  im  grossen  mid  ganzen 
haben  sich  die  Anordnungen  des  Impfge- 
setzes doch  als  ausreichend  erwiesen,  um 
eine  allgemeine  Durchführung  der 
Impfung  in  Deutschland  zu  beNwken, 
und  endlich  sei  bemerkt,  dass  in  Preussea 
nach  einer  Entscheidung  des  preussischen 
Oben^erwaltungs^richts  vom  1.  März  1895 
die  Polizei  an  sich  aus  Titel  17  §  10  des 
Landrechts  und  §  132  des  preussischen 
Landesverwaltungsrechts  die  Berechtigung 
ableiten  kann,  ein  impfpflichtiges  Kind  zum 
Impftermin  auf  dem  IZwangswege  vorzu- 
führen, »da  die  Polizei  befugt  ist,  zur 
Durchftihrung  gesundheitspolizeilicher  Mass- 
nahmen auch  Zwangsmittel  anzuwenden,  und 
diese  Befugnis  durch  das  Impfgesetz  nicht 
gemindert  oder  ausgeschlossen  ist.« 

Ausland,  a)  Länder  mit  gesetzlichem 
Impfzwang: 

1.  Schweden:  Impfung  aller  Kinder 
vor  Ablauf  des  zweiten  Lebensjahres, 

2.  Dänemark:  vor  Ablauf  des  siebenten, 

3.  Schottland  und  Irland:  vor  Ab- 
lauf des  ersten, 

4.  Rumänien:  vor  Ablauf  des  ersten, 

5.  Italien  (G.  v.  22.  Dezember  1888 
und  königliche  V.  v.  31.  März  1S92). 
Impfung  der  Kinder  im  ersten  und  Wietler- 
impfung  im  10. — 11.  Jahre, 

6.  Ungarn  (G.  v.  7.  Mai  1897). 
Impfung  im  ersten  und  Wleilerimpfung  im 
12.  Jahre.  In  den  beiden  letztgenannten 
Staaten  ist  die  Durchführung  der  Bestim- 
mungen aber  zur  Zeit  noch  eine  mangelhafte, 
und  in  noch  höherem  Grade  gilt  dies  von 

7.  Russland,  wo  der  Impfzwang  an- 
geblich auch  besteht,  aber  in  Wahrheit  gar 
nicht  gehandhabt  wird. 

b)  Ijänder  ohne  gesetzlichen  Impfzwang. 

1.  Oesterreich:  indirekte  M4ssregeln, 
wie  früher  in  Preussen, 

2.  Niederlande:  desgleichen, 

3.  Belgien; 

4.  Frankreich:  seit  1889  darf  kein 
Kind,  das  nicht  geimpft  ist,  in  eine  öffent- 
liche Schule  aufgenommen  werden. 

5.  England:  Impfzwang  durch  Gesetze 
vom  Jahre  1867  und  1871  eingefülirt,  18i)9 
aber  Abänderungen  vorgenommen,  nach  denen 
die  bisherige  Strafandrohimg  gegen  solche 
Eltern  oder  Pfleger,  die  ihre  Kinder  nicht 
impfen  lassen,  weü  sie  überzeugt  sind,  das> 


Impfung  und  Impfrecht — Inama-Sternegg 


1827 


die  Impfung  der  Gesimdheit  des  Kindes 
nachträglich  sein  werde,  und  damit  also 
der  Im])f zwang  thatsächlich  aufgehoben  wird. 

6.  Schweiz:  Die  Regelung  des  Impf- 
wesens ist  den  Kantonen  überlassen,  von 
denen  einige  einen  mehr  oder  weniger  gut 
durchgeführten  Impfzwang  besitzen,  andere 
imd  zwar  gerade  die  wichtigsten,  wie  Basel, 
Bern,  Luzern,  Zürich  früher  einen  solchen 
gehabt,  aber  unter  dem  Einfluss  der  impf- 
ge^nerischen  Bestrebungen  in  der  letzten 
Zeit  wieder  abgeschafft  haben. 

7.  Amerikanische  Union:  Regelung 
durch  die  Einzelstaaten,  von  denen  jedoch 
keiner  den  Impfzwang  angenommen  hat. 

Litteratnr:  t/enner,  Inqttiry  into  the  cause« 
and  effecta  of  the  Variokie-vaccinae  other  cowpox, 
Landau  1798.  —  Schulz,  Impfung,  Jmpfgeschäft, 
Impftechnik,  S.  Aufl.,  Berlin  1891,  Enalin.  — 
Rapmundf  Das  IteichsimpfgeseU  und  seine 
Ausföhrungsbestimmungen,  Berlin  1889. — Blattern 
und  Schutzpockenimpfung :  Denkschrift,  be- 
arbeitet vom  kaiserlichen  Gesundheitsamt,  Berlin 
1896,  J.  Springer.  —  Kühler,  Arb.  aus  dem 
kaiserlichen  Gesundheitsamt. 

C.  FrdnkeL 


Inama-Sternegg,  Karl  Theodor  von, 

aus  einer  südtirolischen  Familie  stammend, 
wurde  am  20.  I.  1843  zu  Augsburg  geboren 
und  bezog  1860  die  Universität  München,  wo 
er  sich  hauptsächlich  historischen,  juristischen 
und  kameraHstischen  Studien  hingab.  Im  März 
1866  promovierte  ihn  die  dortige  staatswirt- 
schaftliche Fakultät  auf  Grund  einer  Preis- 
arbeit: „Die  volkswirtschaftlichen  Folgen  des 
dreissigj ährigen  Krieges  für  Deutschland"  (s.  u.) 
zum  Doktor  der  Staatswirtschaft.  Nachdem  er 
dann  eine  Zeit  lang  in  der  Gerichts-  und  Ver- 
waitungä^raxis  thätig  gewesen  war,  habilitierte 
er  sich  im  November  1867  an  der  Universität 
München,  um  schon  im  Herbst  1868  als  ausser- 
ordentlicher Professor  der  politischen  Wissen- 
schatten an  die  Universität  Innsbruck  zu  gehen, 
wo  er  1871  zum  Ordinarius  ernannt  wurde.  Im 
Frühjahr  1880  folgte  er  einem  Rufe  an  die 
Universität  Prag,  l&l  übernahm  er  die  Direktion 
der  administrativen  Statistik  in  Wien,  gleich- 
zeitig als  Honorarprofessor  in  den  Verband  der 
Wiener  Universität  eintretend. 

Im  Jahre  1884  zum  Präsidenten  der  k.  k. 
stat.  Centralkommission  ernannt,  reformierte  er 
successive  fast  alle  Zweige  der  amtlichen 
Statistik  und  organisierte  1890  zum  ersten  Mal 
eine  centrale  Bearbeitung  der  österreichischen 
Volkszählung  auf  der  Grundlage  des  Betriebes 
mit  elektrischen  Maschinen.  Inama-Sternegg 
wurde  1891  als  lebenslängliches  Mitglied  in  das 
österreichische  Herrenhaus  berufen,  wo  er  sich 
der  Verfassungspartei  anschloss  und  u.  a.  für 
die  Währung^sreform ,  Personaleinkommen- 
Bteuer  und  Unfallversicherung  als  Referent 
fungierte.  Er  ist  wirkliches  Mitglied  der  kais. 
Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien,  korre- 
spondierendes Mitglied  der  k.  preussischen  Aka- 
demie   der   Wissenschaften,    Ehrendoktor    der 


'  Rechte  der  Universitäten  Cambridge  und  Krakau 
und  Ehrenmitglied  zahlreicher  gelehrter  Gesell- 
schaften. 

Auf  dem  Gebiete  der  Nationalökonomie  ist 
er  ein  entschiedener  Anhänger  der  historischen 
Richtung.  Für  die  Pflege  der  internationalen 
Beziehungen  der  Statistik  ist  er  bei  den  Ver- 
sammlungen des  internationalen  statistischen 
Instituts,  zu  dessen  Präsident  er  1899  gewählt 
worden  ist,  seit  der  Gründung  des  Instituts 
thätig  gewesen.  Seit  1882  leitet  er  das  statis- 
tische Seminar,  dessen  jährliche  Berichte  in 
der  statistischen  Monatsschrift  erscheinen. 

Von  Inamas  Veröffentlichungen  seien  die 
nachfolgenden  genannt: 

a)  »eibständige  Bücher  und  Schriften : 
Ueber  die  Emancipation  der  Frauen.  Inns- 
bruck 1869.  —  Die  Tendenz  der  Grossstaaten- 
bildung in  der  Gegenwart,  ebd.  1869.  —  Ver- 
waltungslehre in  Umrissen,  zunächst  für  den 
akademischen  Gebranch  bestimmt,  ebd.  1870.  — 
Untersuchungen  über  das  Hofsystem  im  Mittel- 
alter, ebd.  1872.  —  Idealismns  und  Realismus 
in  der  Nationalökonomie,  ebd.  1873.  —  Die 
tirolischen  Weistümer,  B  Bde.  (2.,  3.  und  4.  Bd. 
der  österreichischen  Weistümer)  [in  Verbindung 
mit  J.  V.  Zinyerie],  Wien  1875-1880.  —  Adam 
Smith  und  die  Bedeutung  seines  Wealth  of 
nations  für  die  moderne  Nationalökonomie, 
Innsbruck  1876.  —  Die  Ausbildung  der  grossen 
Grundherrschaften  in  Deutschland  während  der 
Earolingerzeit  (in  den  Staats-  und  sozialwissen- 
schaftlichen Forschungen),  Leipzig  1878.  — 
Deutsche  Wirtschaftsgeschichte,  3  Bde.,  Leipzig 
1879—1899.  —  Die  persönlichen  Verhältnisse 
der  Wiener  Armen,  Wien  1892,  2.  Bearbeitung 
1899. 

b)  in  Zeitschriften  etc.  und  zwar: 
InRaumers  historischem  Taschen- 
buch (18B4):  Die  volkswirtschaftlichen  Folgen 
des  dreissi^hrigen  Krieges  für  Deutschland; 
(1874) :  Die^ntwickelung  der  deutschen  Alpen- 
dörfer. —  In  dem  Jahresbericht  des  bist. 
Vereins  von  und  für  Oberbayern  (1866): 
Erinnerung  an  Johann  Georg  Mayr.  —  In  der 
Zeitschrift  für  Staatsw. :  Der  Accisestreit 
deutscher  Finanztheoretiker  im  17.  und  18.  Jahrb. 
(186Ö);  Beiträge  zur  Lehre  vom  Staatsgebiete 
(1869);  Die  Rechtsverhältnisse  des  Staatsgebietes 
(1870) ;  Die  Gliederung  des  Staatsgebietes  (1872). 
—  In  Cottas  deutscher  Vierteljahrs- 
schrift: Ueber  Inhalt  und  Grenzen  des  Staats- 
lebens (1867);  Studien  über  Landwirtschafts- 
politik (1867).  —  In  dem  offiziellen  Wiener 
Weltausstellungsbericht  v.  J.  1873: 
Beiträge  zur  Geschichte  der  Preise.  —  In  der 
Zeitschrift  f.  d.  Privat-  und  öffent- 
liche Recht  der  Gegenwart:  Das  Recht 
der  Staatshilfe  in  wirtschaftlichen  Krisen  (1873) ; 
Zur  Reform  des  Agrarrechts,  insbesondere  des 
Anerbenrechts  (1882).  —  In  der  Zeitschrift 
für  deuts-che  Kulturgeschichte:  Haus 
und  Hof  zur  Zeit  Walthers  von  der  Vogel  weide 
(1875).  —  In  den  Sitzungsberichten  der 
philolog.-hist.  Klasse  der  Akademie 
der  Wissenschaften  in  Wien:  Ueber  die 
Quellen  der  deutschen  Wirtschaftsgeschichte 
(1877);  Zur  Verfassungsgeschichte  der  deutschen 
Salinen  im  Mittelalter  (1886).  —  In  den  Jahrb. 
f.  Nat.  und  Stat. :  Wert  und  Preis  in  der 
ältesten  Periode  deutscher  Volks  Wirtschaft  (1878) ; 


1328 


Inama-Sternegg — ^Individualismus 


lieber  Herrenschwand  (1880) ;  üeber  Philipp 
Wilhelm  von  Homick  (1880);  Zur  Kritik  der 
Moralstatistik  (1887).  —  In  der  Archival. 
Zeitschrift:  Ueber  ürbarien  und  Urbarial- 
auf Zeichnungen  (1878).  —  In  der  Deutschen 
Buudschau:  Das  Zeitalter  des  Kredits  (1881). 

S Dieser  Aufsatz  erschien  auch  besonders  unter 
lemselben  Titel,  Prag  1881.]  Vom  National- 
reichtum (^1883).  —  Inder  Deutschen  Revue: 
Alte  und  neue  Kolonisation  (1883) ;  Die  Anfänge 
des  deutschen  Bürgertums  (1881).  —  In  der 
Statistischen  Monatsschrift:  Vom  Wesen 
und  den  Wegen  der  Sozialwisseuschaft  (1881); 
Geschichte  und  Statistik  (1882);  Die  Statistik 
des  Grundeigentums  und  die  soziale  Frage 
(1882);  Die  Einnahmen  der  europäischen  Staaten 
(1882);  Die  Alpenwirtschaft  in  Deutsch-Tirol 
(l883);  Die  Statistik  der  Hypothekarschulden 
m  Oesterreich  (1883) ;  Die  Familienfideikommisse 
in  Oesterreich  (1883);  Die  österr.-ungarischen 
Consularämter  und  ihre  Geschäftsthätigkeit  in 
den  Jahren  1881/82  (1884) ;  Die  definitiven  Er- 
gebnisse der  Grundsteuerregelung  in  Oesterreich 
(1884);  Zur  Charakteristik  des  Grossgrund- 
besitzes in  Oesterreich  (1884);  Die  Quellen  der 
historischen  Bevölkerungsstatistik  (1886);  die 
Quellen  der  historischen  Preisstatistik  (1886);  Die 
Wiener  Getreidepreise  im  18.  Jahrhundert  (1887) ; 
Die  Aufnahmen  in  den  österreichischen  Ötaats- 
verband  und  die  Entlassungen  aus  demselben 
im  Jahre  1885  (1887) ;  Die  kumulativen  Waisen- 
kassen in  Oesterreich  im  Jahre  1885  (1887); 
Realitätenwerte  in  Oesterreich  im  Jahre  1886 
in  Vergleichung  mit  d.  J.  1866  (1888);  Die  Er- 
gebnisse der  Evidenzhaltung  des  Gnindsteuer- 
katasters  (1889);  Die  Realitätenwerte  in  Tirol 
und  Vorarlberg  (1889);  Die  Standesregister  in 
Oesterreich  (1889):  Neue  Beiträge  zur  allge- 
meinen Methodenlehre  der  Statistik  (1890); 
Eückgang  der  Warenpreise  und  die  österr.- 
unff arische  Handelsbilanz  (1890);  Die  nächste 
Volkszählung  (1890);  Geographie  und  Statistik 
(1891);  Ueber  Arbeitsstatistik  (1892):  Die  Er- 
gebnisse der  Erbschaftssteuer  in  Oesterreich 
1889  - 1891  und  ihre  Bedeutung  für  die  Schätzung 
des  Nationalvermögens  (1893) ;  Die  Statistik  der 
Healexekntionen  in  Oesterreich  (1894) ;  die  land- 
wirtschaftlichen Arbeiter  und  deren  Löhne  in 
Oesterreich  (1895) ;  Das  soziale  Connubium  in  den 
österreichischen  Städten  (1898);  Zur  Währungs- 
statistik (1899) ;  Statistik  des  Grundbesitzes  in 
Ober  -  Oesterreich  (1899).  —  In  den  Mit- 
teilungen der  anthropol.  Gesellschaft 
in  Wien:  Nationalökonomische  Vorstellungen 
bei  Naturvölkern  (1885);  Interessante  Formen 
der  Flur  Verfassung  in  Oesterreich  (1896) ;  Spuren 
slawischer  Flurverfassung  im  Lungan  (1899); 
Ueber  das  Studium  der  Ausiedelungsformen 
(1889).  —  In  den  Sitzungsberichten  des 
IV.  Kongresses  für  Demographie:  Die 
Entwickelung  der  Bevölkerung  Europas  seit 
1000  Jahren  (1887);  VIII.  Kongress  für  Demo- 
graphie (Budapest  1896);  Ueber  Generations- 
dauer  und  Generationswechsel.  —  In  Pauls 
„Grundriss  der  german.  Philologie" 
Abschnitt  „Wirtschaft'*  (1889,  2.  Aufl.  1898).  — 
Sallandstudien  (in  der  Festgabe  f.  Georg  Haussen, 
Tübingen  1889).  —  Das  Sinken  der  Warenpreise 
(in  den  Mitteilungen  der  Ges.  österr.  Volkswirte. 
1890).  —  In  der  Zeitschrift  für  Volks- 
wirtschaft,    Sozialpolitik    und    Ver- 


waltung: Die  Anfönge  des  deutschen  Städte- 
weseus  (1892);  Referat  über  die  Währungs- 
reform (1893).  —  In  der  Zeitschrift  für 
Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte 
(III.  1893):  Die  Goldwährung  im  deutscheu 
Keiche  während  des  Mittelalters.  —  In  v.  Mayrs 
allgemeinem  Statist.  Archiv  I  (1890): 
Der  statistische  Unterricht.  —  In  diesem 
„Hand Wörterbuche"  Art.:  Bevölkerung  des 
Mittelalters  und  der  neueren  Zeit  bis  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  in  Europa"  (11.  Bd.  S.  433 ff.): 
Art.:  Stände  (II.  Supplementoand).  —  In  dem 
Bulletin  de  l'institut  intern,  de  Sta- 
tist iq^ue:  Ueber  historische  Statistik  (1887). 

Seit  dem  Jahre  1892  giebt  Inama  in  Ver- 
bindung mit  E.  V.  Böhm-Bawerk  und  E.  v. 
Plener  die  „Zeitschrift  für  Volkswirtschaft, 
Sozialpolitik  und  Verwaltung"  heraus. 

Femer  sind  aus  Inamas  Feder  zahlreiche 
Biographieen  von  Nationalökonomen  und  Statis- 
tikern in  der  „Allgemeinen  deutschen  Bio- 
graphie" und  in  der  „Stat.  Monatsschrift"  er- 
schienen. 

Bed. 


Individualismus. 

1.  Begriffsbestimmungen :  Indi  vidual-,  Sozial- 
princip;  individualistische  und  organische  Sys- 
teme; Methode  der  Klassifikation  der  Systeme. 
2.  Axiomatischer  Charakter  der  beiden  sozial- 
ethischen Grundnormen.  3.  Die  zwei  Hanpt- 
richtungen  des  Individualismus:  Rechtsdoktrin 
und  Machtdoktrin.  4.  Skizze  der  Entmckelnng 
des  Individualismus :  A.  Altertum  und  Mittelalter. 
B.  Zeit  der  Renaissance;  Beginn  der  individua- 
listischen Opposition  gegen  das  herrschende, 
anti-individualistische  System.  C.  Neue  Zeit  (der 
Liberalismus  als  die  erste,  der  Kommunismas 
als  die  zweite  Erscheinungsform  der  Rechts- 
doktrin). 

1.  Begriff sbestimmungeii :  Individnal-. 
Soziolprincip ;  individualistische  und 
organische  Systeme ;  Methode  der  Klas- 
sifikation der  Systeme. 

Das  ethische,  d.  h.  das  über  das  Problem 
des  sozialen  Seinsollen s  grübelnde,  nach 
Principien  für  die  vollkommenste  Ordnung 
des  sozialen  Seins  suchende  Denken  niht 
nicht  eher,  als  bis  es  zu  einem  letzten,  nicht 
mehr  ableitbaren  Satze  sich  durchgenmgini 
hat.  Wie  unser  Geist  für  die  Naturphäno- 
mene  nach  einer  obersten  Ursache  bezüglich 
einem  Endziel  forscht  —  der  causa  causans 
bezüglich  causa  fiualis,  aus  deren  Er- 
kenntnis erst  ein  organisches  und  harnn.)- 
nisches  Bild  des  Gewordenseius ,  Seins, 
SeinweKlens  der  Natur  zu  gewinnen  ist  — , 
so  forscht  er  auch  für  die  sozialen  PhÄüo- 
mene,  welche  durch  menschliches  Wollen  und 
Handeln  gestaltet  und  gewandelt  werden, 
nach  einer  Orundnorm,  welche  alles  Wollen 
beherrschen,  welche  allem  Handeln  als  Richt- 
schnur dienen  müsse. 

Welches  ist  nun  dieses  höchste  ethische 
Gebot?  Wie  lautet  der  letzte  Satz  bezüg- 
lich des  sozial  Seinsollenden  oder  des  sozial 


Individualismus 


1329 


Gerechten?  Die  Antwort  klingt  in  ein  ent- 
weder— oder  aus.  Es  bieten  sich  zwei 
einander  kontradiktorische  Sätze  dar. 

Erstens  das  Sozialprindp,  d.  i.  der 
Satz,  dass  die  Gattung  oder  die  menschliche 
Gesellschaft  oder  das  soziale  Ganze  (die  ab- 
strakte Einheit  aller  Individuen)  oberster 
Zweck  sei,  die  Individuen  dienende  Organe 
im  Leben  des  Sozialkörpers,  wie  die  Glied- 
massen im  Leben  des  physischen  Körpers. 

Zweitens  das  Individual princip,  d.  i. 
der  Satz,  dass  das  Individuum  oberster 
Zweck  sei,  dass  alle  höheren  imd  niederen  sozi- 
alen Gebilde  —  Familie,  Stand,  Genossen- 
schaft, Staat,  Staatengesamtheit  —  nur 
Mittel  seien  für  die  Zwecke  der  einzelnen, 
die  sie  in  sich  fassen. 

Entweder  auf  dieses  oder  jenes  Princip 
baut  sich  jedes  System,  jede  Doktrin  vom 
sozialen  Seinsollen  auf  —  wenigstens  jedes 
nicht  aus  einer  Offenbarung,  sondern  aus 
der  Vernunft  gezogene. 

Demgemäss  scheidet  sich  die  Gesamtheit 
der  Systeme  in  zwei  grosse  Gruppen. 
Erstens  die  Gruppe  der  durch  das  Inoivi- 
dualprincip  beherrschten,  der  individu- 
alistischen Systeme  (Individualisraus). 
Zweitens  die  Gruppe,  welcher  die  anti- 
individualistische,  vom  Sozialprincip  durch- 
drungene Grundanschammg  gemeinsam  ist 
—  die  man  mangels  eines  besseren  unter 
dem  Gesamttitel  der  organischen  Sys- 
teme rubrizieren  mag,  da,  wie  oben  gesagt, 
hier  die  Entwickelung  des  sozialen  Orga- 
nismus das  souveräne  Leitmotiv  bildet. 

Der  Komplex  der  anti-individnalistischen 
Systeme  würde  emfacher  und,  da  direkt  ab- 
geleitet vom  Sozialprincip,  zweckmässiger  mit 
^Sozialismus"  zn  bezeichnen  sein. 

P.  Leroux,  der,  wie  er  von  sich  sagt, 
„das  Wort  schmiedete  als  Gegenstück  zu  dem 
eben  in  Kurs  kommenden  Individualismus", 
wollte  darunter  die  Doktrin  verstanden  wissen, 
gemäss  welcher  „Tindividu  serait  sacrifi^ 
äcette  entit6  qu'onnomme  lasoci6te". 

Auch  heute  noch  halten  manche  hervor- 
ragende Schriftsteller  an  dieser  Begriffsbestim- 
mung fest. 

^Sozialismus,  d.  i.  Anti-Individualismns, 
welcher  die  Naturrech tspostulate"  —  gemeint 
ist:  diePostolate  des  individualistischen  (s. unten) 
Xaturrechts  —  „verwirft.  .  .  .  Freiheit,  Gleich- 
heit, Gerechtigkeit  und  Brüderlichkeit  sind 
Postulate  des  .  .  .  Individualismus,  nicht  der 
Sozialistik,  in  welche  nur  die  Sozialdemokratie 
und  der  Nihilismus  sie  hineintragen"  (Schäffle, 
Tüb.  Ztschr.,  1883,  S.  498). 

„Socialism  . . .  any  theory  of  social  Organisa- 
tion which  sacrifies  the  legimitate  liberties  of 
the  individuals  to  the  will  or  interesta  of  the 
commimity",  des  sozialen  Ganzen.  „It  is  the 
exaggeration  of  the  rights  and  claims  of  society, 
just  as  Individualism  is  the  exaggeration  of 
the  rights  and  claims  of  individuals  (H.Fl  int, 
Socialism,  1895). 

Im  ethischen  Sinne  genommen,  ist  zn  be- 


stimmen „Socialism  as  implying  a  moral  unity 
or  Order  which  requires  the  Submission  of  the 
individual  .  .  .  In^vidualism  as  implying  the 
independence  of  the  individual  and  his  re^llion 
against  supposed  ultimate  Standards  of 
authority"  (S.  Alexander,  Moral  order  and 
progress,  1^2). 

Da  aber  die  Aussicht,  diesen  Usus  all^meüi 
zu  machen  und  damit  zu  einer  klaren  Termi- 
nologie für  das  Grundschema  der  Klassifikation 
der  ethischen  Systeme  zu  kommen,  überaus  ge- 
ring ist,  so  wird  wenigstens  dahin  zu  stre&n 
sein,  mit  der  bisher  üblichen  Gleichsetznng  von 
„Sozialismus"  und  „Kommunismus'*  —  die  eine 
terminologische  Verschwendung  bedeutet  —  zu 
brechen  und  nur  die  eine  Gruppe  der  kollek- 
tivistischen,  d.  h.  Privateigentum  und  freie 
Konkurrenz  ne^erenden  Systeme,  welche  aus 
dem  Sozialprincip  hergeleitet,  dem  Anti-Indivi- 
dualismus entsprungen  ist  (z.  B.  die  Systeme 
Piatos,  Campanellas,  Fichtes,  Rodbertus'),  als 
„Sozialismus^*,  die  andere  Gruppe,  welche 
im  Individnalprincip  wurzelt,  die  Verwirklichung 
des  „bonheur  commun"  aller  Individuen  zu  ihrer 
centralen  Idee  hat,  als  „Kommunismus'*  zu 
bezeichnen  (vgl.  H.  Dietzel,  Beiträge  zur  Ge- 
schichte des  Sozialismus  und  Kommunismus,  in 
Fraukensteins  Zeitschrift  für  Litteratur  und  Ge- 
schichte der  Staatswissenschaften.  Bd.  I S.  8, 11). — 

Wie  man  sich  auch  zu  der  i?itelfra^e  stelle 
—  die  Notwendigkeit,  behufs  Klassifikation 
der  Systeme  die  oben  angewandte  „dogmatische'* 
Methode  zn  gebrauchen,  d.  h.  die  Systeme  zu 
^uppieren  nach  dem  ethischen  Dogma,  in 
dessen  Bann  sie  stehen,  kann  nicht  bestritten  wer- 
den. Man  taufe  die  Systeme,  mit  welchen  Namen 
man  wolle;  aber  die  Principien,  die  ethischen 
Grundnormen,  müssen  Gevatter  stehen.  Sonst 
werden  diese  Kinder  des  Denkens  immer  in 
der  bedenklichen  Unklarheit  üb^r  ihre  Familien- 
beziehungen, an  welcher  sie  heute  leiden,  her- 
umlaufen, wird  die  Konfusion  fortbestehen,  die 
heute  bei  uns  herrscht,  und  welche  daher  rührt, 
dass  man  sich  (was  K.  Die  hl  z.  B.  verteidigt) 
der  „realistischen**  Methode  bedient  —  d.  h. 
ausschliesslich  nach  den  „praktischen  Zielen**, 
den  Weltverbesserungsprogrammen,  die  Grup- 
pierung vollzieht. 

Zunächst  muss  die  Frage  gestellt  werden: 
aus  welchem  von  jenen  beiden  polaren  Prin- 
cipien ein  System  abgeleitet  ist?  Aus  der 
diametralen  Verschiedenheit  der  ethischen  Grund- 
normen ergiebt  sich  die  Obereinteilung  der 
Systeme  in  individualistische  und  anti-indivi- 
dualistische. Erst  behufs  Unter  einteilnng  ist, 
innerhalb  dieser  wie  jener  Gruppe,  die  Differenz 
der  „praktischen  Ziele"  zu  berücksichtigen  — 
als  das  sekundäre,  nicht  als  das  primäre  Mo- 
ment. 

Wenn  mir  jemand  sagt:  in  dem  System 
dieses  Autors  wird  dies  Sozialprogramm  ver- 
treten, in  dem  System  jenes  ein  anderes,  ohne 
mich  verstehen  zu  lassen,  weshalb  hier  die, 
dort  jene  „praktischen  Ziele"  sich  zusammen- 
finden, mit  anderen  Worten  auf  welche  nicht 
mehr  ableitbare  ethische  Pnncipien  diese 
Forderungen  sich  stützen,  beruhigt  mich  die 
„Unruhe  des  Warumfragens**  (Sigwart)  nicht 
Um  das  Wesen  eines  Systems  zu  begreifen, 
muss  ich  die  allgemeinste,  die  Grundnorm  kennen, 
welche  alle  Einzelheiten  aus  sich  hervortreibt. 


Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften.    Zweite  Auflage.    IV. 


84 


1330 


Individualismiis 


Wer  die  Systeme  —  in  letzter  Linie  — 
klassifizieren  will  nach  den  praktischen  Zielen, 
nimmt  znm  ,,fandamentnm  cuv^ionis^'  die  Wir- 
kungen statt  der  Ursachen  und  speist  mich 
damit  mit  einer  völlig  unzulänglichen  Auskunft 
ah,  sucht  mich  mit  dem  ,,post  hoc'^  zu  be- 
friedigen, während  ich  nach  dem  „propter  hoc" 
verlangte. 

Die  Klassifikation  muss  sich  griinden  auf 
das  oberste  kausale  Agens  —  auf  das  ethische 
Axiom  oder  Dogma,  das  in  jedem  der  praktischen 
Ziele  als  seinen  Konsequenzen  sich  wiederspiegelt. 

Nur  mittelst  dieser  Methode  kann  die  Dar- 
stellung der  Systeme  erfolgen,  ihre  Geschichte 
geschrieben  werden.  Geht  man  von  den  Pro- 
grammen aus,  so  erhält  man  nichts  als  einen 
verwirrenden,  ermüdenden  Katalog  sozialer  Re- 
cepte.  (Vgrl.  meine  Polemik  gegen  K,  Die  hl 
in  den  „Beiträgen",  S.  11—26,  aus  der  die  letzten 
Sätze  zum  Teil  wörtlich  entlehnt  sind.)  — 

Der  Gegensatz  von  Individual-  und  So- 
zialprincip  und  der  aus  ihm  folgende  Gegen- 
satz der  övsteme  ist  vielfach,  audi  anders 
ausgedrückt  worden.  Besonders  häufig  er- 
scheint er  imter  der  Formel  des  Prozesses 
oder  der  Prioritätskontroverse  zwischen  In- 
dividuum und  Staat. 

Der  »letzte  geschichtliche  Gegensatz«  ist 
aber  nicht  der  zwischen  Individuum  und 
Staat,  sondern  der  » zwischen  Individuum 
und  Gesellschaft«  (Rodbertus),  zwischen 
dem  Individuum,  das  sein  kurzes  Leben 
lebt,  und  dem  aus  immer  wechselnden 
Individuen  zusammengesetzten  sozialen  Gan- 
zen ,  das  in  der  Reihe  der  Generationen 
sein  unsterbliches  Dasein  verbringt  —  zwi- 
schen dem  konkreten  Menschen,  dem  realen 
Einzelwesen,  das  seinem  Glücke  nach- 
trachtet, und  dem  /iaxgdvd'gconos  j  dem  »Men- 
schen als  Idee«  (Ahrens),  der  Gattung, 
die  in  der  ewigen  Folge  der  Einzelwesen 
ihrer  Vervollkommnung  zustrebt,  deren  im- 
endlicher  Strom  in  diesen  flüchtigen  WeUen 
zu  dem  Ziele  drängt,  das  ihm  bestimmt. 

Das  Individual-  und  das  Staat sprin  dp 
einander  gegenüberstellen,  »the  man  versus 
the  State«  (Spencer)  prozessieren  lassen,  ist 
nicht  nur  deshalb  ein  Fehler,  weil  dabei  der 
Gegensatz,  um  den  es  sich  in  Wahrheit 
handelt,  verhüllt  bleibt,  sondern  auch  des- 
halb, weil  bei  Adoption  dieser  Formel  der 
Gegensatz  nur  auftauchen  würde,  um  sofort 
wieder  zu  verschwinden:  in  dem  Streite 
zwischen  Individual-  und  Staats  princip 
wäre  der  Anspruch  des  letzteren  ohne  wei- 
teres »a  limine«  abzuweisen,  erschiene 
ersteres  als  das  allein  berechtigte. 

Um  das  Princip  zu  erhärten,  dass  das 
Wohl  des  Staates  —  oder  irgeDd  eines  an- 
deren aus  Individuen  bestehenden  Collec- 
tivum  —  dem  Wohle  des  Individuum  vor- 
gehe, im  Konfliktsfalle  dieses  jenem  weichen 
müsse,  bedarf  es  der  Prämisse,  dass  diesem 
CoUectivum  eine  Pflicht  im  Interesse  der 
Gattung  gesetzt  sei  —  gesetzt  durch  eine 


supranaturale,  über  Individuum  wie  Staat 
schwebende  Potenz. 

Ohne  solche  Sanktion  lässt  sich  ein  R  e  c  h  t 
des  Staates,  die  Individuen  als  dienende 
Organe  der  —  irgendwie  gefassten  —  Staats- 
idee zu  behandeln,  nimmermehr  konstruieren. 
Warum  sollen  diejenigen  Individuen,  welche 
die  Staatsidee  verwerfen  bezw.  sie  an- 
ders interpretieren  als  die  jeweiligen  Macht- 
haber, sich  dem  Zwange  fügen?  Warum 
die  realen  Individuen  ihre  realen  Interessen 
einer  Abstraktion  opfern  —  die  Lebenden 
ihr  Recht  auf  das  ümen  erreichbare  Maxi- 
mum von  Glück  darangeben  oder  sich  min- 
destens verkürzen  lassen,  auf  dass  in  Zu- 
kunft die  Staatsidee  sich  in  höherem  Masse 
verwirkliche  als  bisher?  Warum  soll  die 
Generation  von  1900  der  von  1930  -weichen? 

Nur  wenn  angenommen  wird,  dass  der 
Staat  eine  »göttliche  Mission«  zu  erfüllen 
habe,  dass  der  »Weltgeist«  in  der  Geschichte 
die  »Erziehung  des  Menschengeschlechts^, 
der  Gattung,  vollbringt,  nur  als  Gattungs- 
oder Sozial-,  nicht  als  Staatsprincip ,  kann 
das  anti-individualistische  Prindp  seine  Be- 
gründung finden.  Man  nenne  die  über  der 
Gattung  waltende  supranaturale  Potenz,  be- 
greife ilir  Wesen  und  ihr  Thun,  wie  man 
immer  woUe  —  vorausgesetzt  muss  sie 
werden,  sonst  schwebt  das  anti-individualis- 
tische Prindp  in  der  Luft;  es  bedarf  des 
Segens  »von  oben«,  ist  ohne  metaphysische 
Legitimation  unhaltbar. 

Wie  die  Naturwissenschaft,  so  steht  auch 
die  Ethik  vor  der  Alternative:  Gott  ist  — 
Gott  ist  nicht;  eine  supranaturale  Potenz 
waltet  über  der  menschheitlichen  Ent- 
wickelung  —  sie  waltet  nicht.  Wird  sie 
geleugnet  oder  als  unbeweisbar  ausser  Rech- 
nung gestellt  imd  müssen  demzufolge  die 
sozialen  Normen  ihren  Inhalt  allein  aus  der 
Vernunft  der  Subjekte  und  ihre  verpflich- 
tende Kraft  allein  aus  deren  Willen  schöpfen, 
so  kann  an  ihre  Spitze  als  oberstes  Gebot 
nur  das  Individualprincip  gestellt  wer- 
den. Das  Seinsollende,  das  dem  praktischen 
Verhalten  der  Einzelnen  und  CoUecciva  als 
Richtschnur  Gesetzte,  deckt  sich  dann  mit 
dem  den  Interessen  der  jeweilig  Lebenden 
Entsprechenden,  dem  von  ihnen  Begehrten. 

Wird  sie  dag^en  bejaht  und  müssen 
demzufolge  die  sozialen  Normen  von  dieser 
supranatuialen  Potenz  hergeleitet  werdeo, 
so  sinkt  das  Individualprindp  zu  einem 
sekundären  Postulat  herab  und  wird  das 
Sozialprincip  zum  primären,  "wird  die 
Entwickelung  des  sozialen  Ganzen  im  Sinne 
gewisser,  auf  jene  Potenz  bezogener  objek- 
tiver Ideeen  —  gewisser  »lütimate  Stan- 
dards« (s.  o.)  —  das  oberste,  die  einzelnen 
wie  die  Collectiva  sich  schlechthin  unter- 
werfende Gebot  Hier  deckt  sich  das  Sein- 
soUende  keineswegs  mit  dem  von  den  je- 


Individualismus 


1331 


weilig  Lebenden  Begehrten  — ein  schroffer 
Widerspruch  kann  zwischen  den  Geboten 
des  »Weltgeistes«  und  den  Strebungen  des 
»Zeitgeistes«  bestehen,  zwischen  den,  wie 
Stirn  er  sagt,  idealen  »Sparren«  und  den 
realen  Interessen. 

2.  Axiomatischer  Charakter  der  beiden 
sozialethischeii  Gnmdnormen.  Der  Streit 
zwischen  Individual- und  Sozialprincip  währt, 
seitdem  es  ein  Denken  über  das  soziale  Sein- 
sollen giebt  Ueberall  und  immer  hat  die 
ethische  Grundanschauung,  welche  das  In- 
dividuum in  den  Dienst  der  Familie  oder 
des  Standes,  der  Genossenschaft  oder  des 
Staates,  in  die  Demut  gegenüber  Religion, 
Gesetz,  Sittlichkeit  und  Sitte,  gegenüber 
objektiven  Ideeen  und  sie  vertretenden 
Mächten  zwingen  will  —  immer  und  über- 
aU  hat  diese  Grundanschauung  gerungen 
mit  der  ihr  feindlichen,  welche  das  Indivi- 
duum befreien  will  von  allem  Zwange  und 
es  zum  sozialen  Souverän  krönen,  dessen  An- 
spruch auf  VoUgenuss  des  Daseins  nur  so- 
weit jenen  Ideeen  imd  Mächten  sich  beugt, 
als  es  seiner  Subjektivität  genehm  ist,  dessen 
Vernunft  alles  sozial  Seiende  vor  seinen 
Richterstuhl  zieht. 

Und  dieser  Streit  wird  auch  in  alle  Zu- 
kiuift  fortdauern.  Denn  die  rationalistische 
Kritik  ist  ohnmächtig  gegenüber  diesen  Prin- 
cipien:  als  gleichwertige  Axiome,  welche 
nur  ein  Fürwahrhalten,  keinen  Beweis  zu- 
lassen, stehen  sie  sich  in  ewiger  Feind- 
schaft gegenüber. 

Das  Individualprincip  leuchtet  zwar  dem 
»gesunden  Menschenverstände«  sofort  ein. 
Es  ist  aber  ganz  ebenso  axiomatischer 
Natur  wie  das  Sozialprincip.  Denn  ebenso- 
wenig ist  beweisbar,  dass  eine  supranaturale 
Potenz  das  Leben  der  Menschheit  nicht 
beherrscht  —  woraus  die  Berechtigung  des 
Individualprindps  zu  detluzieren  wäre  —  als, 
dass  eine  solche  Potenz  da  ist  —  woraus  die 
Berechtigung  des  Sozialprincips  zu  dedu- 
zieren wäre. 

Beide  einander  polar  entgegengesetzte 
Principien  sind  gleichweiüge  Axiome.  Es 
besteht  zwischen  ihnen  eine  logische  Anti- 
nomie —  die  Vernunft  zwingt  uns,  ent- 
weder in  jenem  oder  in  diesem  den  letz- 
ten Schluss  sozialer  Weisheit  zu  suchen; 
aber  sie  sagt  uns  zugleich,  dass  die  Wahl 
nur  gestellt,  nicht  vollzogen  werden  kann, 
d.  h.  nicht  auf  Grund  eines  der  »reinen  Ver- 
nunft« entstammenden  Aktes. 

Wir  sind  Anti-Individuahsten  oder  Indi- 
vidualisten, wie  wir  Theisten  oder  Atheisten 
sind  nicht  deshalb,  weil  w^ir  das  Dasein 
Gottes  beweisen  könnten  oder  beweisen 
könnten,  dass  er  nicht  ist,  sondern  weil 
wir  entweder  glauben  oder  nicht  glauben 
—  weil  unsere  »praktische  Vernunft«  so  oder 
so  entscheidet. 


Solange  um  die  Gottesidee  gestritten 
wird,  solange  wird  das  Sozialprincip,  welches, 
wie  Rodbertus  einmal  von  seiner  auf  diesem 
Princip  beruhenden  GeseUschaftsdoktrin  sagt, 
»bis  zu  Gott  hinaufreicht«,  mit  dem  Individual- 
princip kämpfen,  welches  auf  Erden  haftet. 

Die  Methode  der  Deduktion  a  priori  ver- 
sagt. Dass  die  »absolute  Wahrheit«  dieses 
oder  jenes  Princips  auch  nicht  durch  die 
Methode  der  Induktion  a  posteriori  am  Ver- 
laufe der  Geschichte  sich  ergeben  kann, 
habe  ich  in  meiner  Bjritik  des  Versuches 
Rodbertus',  das  Sozialprincip  durch  diese 
Methode  zu  beweisen,  gezeigt.  Der  Versuch, 
zu  Gunsten  des  Individualprincips  unter- 
nommen, muss  gleicherweise  scheitern.  Die 
Geschichte,  wenigstens  die  der  abendländi- 
schen Kulturwelt,  zeigt  uns,  dass  Perioden, 
in  denen  das  Sozialprincip  die  Geister  be- 
herrscht, mit  Perioden  wechseln,  in  denen 
das  Individualprincip  regiert,  Perioden  der 
»association«  —  »siecles  organisateurs«  — 
mit  denen  des  »individualisme«  (St.  Simon), 
»organische«  Perioden  mit  Perioden  des 
»Freihandels«  (Rodbertus).  Dem  im  Banne 
des  Sozialprincips  befangenen  Denker  er- 
scheinen jene  als  die  Zeiten  der  Legitimität, 
diese  als  revolutionäre  Interimistika,  nach 
deren  Ueberwindung  die  Gesellschaft  immer 
wieder  in  das  korrekte  Geleise  des  Sozial- 
princips einlenkt  —  umgekehrt  dem  Indi- 
vidualisten die  Perioden,  in  welchen  das 
Subjekt  zu  grösserer  Freiheit  als  bisher  sich 
empoiTingt,  als  die  Sonnentage  der  Mensch- 
heit, die  Perioden  dagegen,  in  welchen  es 
unter  dem  Drucke  der  objektiven  Ideeen 
steht,  als  dunkle  Schatten,  welche  aber 
immer  wieder  dem  Morgenrot  einer  besseren 
Zeit  weichen. 

Je  nachdem  man  der  Geschichte  den  Spie- 
gel dieses.oder  jenes  Princips  vorhält,  wirft 
sie  dies  oder  jenes  Büd  zurück. 

Die  Frage :  xi  to  dUatov,  ijemäss  welcher 
ethischen  Grundnorm  soll  die  soziale  Ord- 
nung gestaltet  werden,  wird  daher  stets  die 
zwiefache  Antwort  erhalten,  die  ihr  bisher 
geworden.  Zu  einem  zweifelsfreien  urteil 
darüber,  ob  das  individualistische  oder  das 
anti-individuaUstische  Dogma  das  allein- 
seligmachende sei,  vermag  menschliches 
Denken  nicht  zu  gelangen. 

3.  Die  zwei  Hauptrichtnngen  des 
Individualisinus :  Rechtsdoktrin  und 
Maehtdoktrin.  Wenden  wir  uns  nun- 
mehr ausschliesslich  der  auf  dem  Individual- 
princip fussenden  Grundanschauung  zu.  Nach 
aussen  —  unter  dem  Gesichtswinkel  des 
Gegensatzes  zu  den  »organischen«  Systemen 
gesehen  —  erscheint  der  Individualismus 
als  eine  ideelle  Einheit.  Wird  er  aber  für 
sich  betrachtet,  so  wandelt  sich  das  Bild: 
man  erkennt,  dass  in  ihm  verschiedene,  dem 
ethischen  Obersatz  wie  den  praktischen  Zielen 

84* 


1332 


Individualismiis 


nach  verschiedene  Richtungen  neben  einander 
feeztiglich  gegen  einander  laufen. 

Zu  unterscheiden  ist  vor  allem  die  Rich- 
tung, welche  man  als  die  Rechtsdoktrin 
bezeichnen  kann,  von  der  Machtdoktrin. 
Erstere,  die  weitaus  mächtigere  Richtung, 
geht  von  der  Prämisse  aus,  dass  alle  Indi- 
viduen, als  Kinder  der  einen  Gattung,  als 
Oeschwister  von  einem  Fleisch  und  Blut, 
von  Natur  unter  sich  gleichberechtigt  seien 
—  dass  jedes  Individuum  gleichen  An- 
spruch auf  Vollgenuss  des  Lebens 
habe  und  jedes  Individuum  diesen  Anspruch 
in  jedem  anderen  achten  müsse. 

Letztere  verneint  das  Princip  des  einen 
Menschentums  imd  dessen  Folgerungen. 
Statt  der  Gleichheit  der  Individuen  als 
Oattungswesen  stellt  sie  die  Ungleichheit 
der  Individuen  als  Einzelwesen  an  die 
Spitze  und  spricht  dem  Individumn  das 
Recht  zu,  seine  Genusssphäre  so 
weit  aus  zu  spannen,  wie  seine  Macht 
ihm  gestattet  —  gleichviel  ob  diese 
Macht  das  Eagebnis  seiner  überlegenen  In- 
dividualität oder  des  Zusammenschlusses 
mit  anderen,  freiwillig  oder  zwangsweise 
ihm  verbimdenen  Individuen  ist. 

Während  die  Rechtsdoktrin,  indem  sie 
die  Gattungsidee  zu  Grunde  legt,  den  Kampf 
imis  Dasein,  welcher  in  der  Naturwelt 
herrscht,  für  die  Menschenwelt  grundsätzlich 
verneint,  so  wird  von  der  Machtdoktrin 
nicht  nur  zugelassen,  sondern  gefordert, 
dass  hier  wie  dort  die  Stärkeren  sich  die 
Schwächeren  unterwerfen. 

Aufs  schroffste  weichen,  trotz  der  Ge- 
meinsamkeit der  Grundanschauung,  dass  die 
sozialen  Gebilde  nur  da  seien  um  der  In- 
dividuen ^^^llen,  die  obersten  Richtpunkte 
dieser  beiden,  logisch  gleich  notwendigen 
Hauptarten  des  Individualismus  von  ein- 
ander ab. 

Behufs  Verwirklichung  des  Rechts-  wie 
des  Machtprincips  können  nun  aber  wieder 
ganz  verschiedene  praktische  Ziele  gesteckt, 
ganz  verschiedene  Progi-amme  entworfen  wer- 
den. Die  Meinung  darüber,  welche  soziale  Or- 
ganisationsform erforderlich  sei,  um  jenem  oder 
diesem  Princip  möglichst  voll  zu  entsprechen, 
hat,  oft  innerlialb  kurzer  Zeit,  ausserordent- 
lich gewechselt;  auch  zu  gleicher  Zeit  haben 
die  Vertreter  des  gleichen  Princips  dieser 
Organisationsfrage  halber  sich  aufs  heftigste 
befehdet. 

Nicht  minder  kann  es  sein,  dass  die 
gleiche  Organisationsform  von  den  Vertretern 
der  Rechts-  wie  der  Machtdoktrin  postuliert 
wird  —  weil  jene  ganz  andere  Wirkimgen 
von  ihr  erwarten  wie  diese. 

So  z.  B,  das  sogenannte  »Konkurrenz- 
sTstem«,  d.  h.  die  Form  der  Oi^sranisation 
des  sozial-'WTrtseliaftlichen  Lebens,  welche 
jetzt   in    den   Kultiu'ländern  besteht.     Wer 


dessen  Wirkungen  so  beurteilt  wie  die  Libe- 
raden des  18.  Jahrhunderts  (s.  il),  kann  ihm 
vom  Standpimkt  der  Recht sdoktrin  das 
Wort  reden ;  wer  dagegen  die  Ueberzeugung 
hegt,  dass  bei  freiem  Wettbewerbe  die 
Stärkeren  die  Schwächeren  sich  unterwerfen 
werden,  wird  dies  Konkiurenzsystem  vom 
Gesichtspunkt  der  Machtdoktrin  aus  ver- 
teidigen. 

Es  mag  hier  —  am  an  einem  Beispiele  zu 
zeigen,  zu  welchen  Irrtümern  es  führt,  wenn 
man  nach  den  „praktischen  Zielen^^  statt  nacli 
den  ethischen  Normen,  klassifizieren  will  (s.  oben) 
—  noch  bemerkt  werden,  dass  dies  selbe  Kon- 
kurrenzsystem nicht  nur  von  den  beiden  „feind- 
lichen Brüdern''  der  individualistischen 
Ideeenf amilie ,  sondern  auch  von  anti-indi- 
vidualistischer Seite  seine  Rechtfertigung 
zu  finden  vermag  und  gefunden  hat. 

Auch  wer  zu  der  Idee  des  Primats  des 
sozialen  Ganzen,  zum  Sozialprincip  sich  bekennt 
kann  aus  diesem  ethischen  Dogma  die  prak- 
tische Folgerung  des  „laissez-faire"  ziehen. 
Denn  —  argumentiert  er  (ob  mit  Recht  oder 
nicht,  ist  hier  nicht  zu  entscheiden)  —  die  Kon- 
kurrenz, der  Kampf  um  das  wirtschaftliche  Da- 
sein, bewirkt  ja  das  „survival  of  the  fittest"; 
nur  die  wirtschaftlich  höherwertigen  Individuen 
können  sich  halten,  die  wirtschcätlich  minder- 
wertigen werden  ausgemerzt;  eine  „soziale  Aus- 
lese" vollzieht  sich  und  mit  ihr  eine  Vervoll- 
kommnung der  Gattung. 

4.  Skizze  der  Entwickelmig  des 
Individualismus.  Eine  Geschichte  des  In- 
dividualismus wurde  eine  doppelte  Aufgabe 
sich  stellen  müssen.  Einmal  wäre  die 
äussere  Geschichte  zu  geben,  d.  h.  eine 
Darstellung  der  wecliselnden  Bedeutmig  des 
Individualismus  im  Leben  der  Völker;  er- 
örtert müsste  werden,  weshalb  er  jetzt  zur 
Herrschaft  gelangte  und  die  soziale  Ordnung 
nach  seinem  Bilde  formte,  dann  aber  wieder 
entthront  wai-d.  Zweitens  die  innere  Ge- 
schichte, d.  h.  eine  Darstellung  der  ach 
folgenden  Erscheinungsformen  des  Indivi- 
dualismus, der  mannigfachen  Varianten,  in 
denen  er  aufgetreten  ist. 

Hier  kann  nur  die  letztere  Aufgabe  in 
Angriff  genommen  werden,  und  auch  diese 
nur  in  begrenzter  Fassung.  Nicht  die 
»general  revolt  against  authorityc.,  sondern 
nur  die  verschiedenen  Phasen  des  Kampfe> 
fiir  wirtschaftliche  Vollbefriedigimg  des 
Subjekts,  für  Gestaltung  der  wirtschaftlichen 
Ordnung  nach  dem  Individualprincip,  'w-ül 
ich  zu  skizzieren  versuchen.  Lidern  so  dif 
Aufgabesich  sachlich  einzieht,  schnunpft 
sei  auch  zeitlich  zusammen.  Sollte  die 
innere  Geschichte  des  Individualismus  nach 
allen  Seiten  hin  dai^legt  werden,  so  wän* 
ein  breites  Eingehen  auf  die  Soziidethik  de:^ 
Altertums  und  des  Mittelalters  notwendig. 
So  dagegen  entfällt  diese  Notwendigkeit  ^ 
denn  erst  zu  Ende  des  Zeitalters  der  Renai>- 
sance  ergreift  die  indi^^dualistische  Idee  mit 


Individualismus 


133.9 


Kraft  und  Folgerichtigkeit  das  ökonomische 
Gebiet,  welches  sie  bis  daMn  nur  flüchtig 
imd  inkonsequent  gestreift  hatt«. 

A.  Altertum  und  Mittelalter. 

Die  Forderung  des  Primats  des  Indi- 
viduums reicht,  wie  bereits  oben  gesagt,  so- 
weit ziuiick  wie  die  Geschichte  des  sozial- 
philosophischen Denkens.  Die  hellenische 
öophistik  hat  Religion,  Sittlichkeit  und 
Staat  dem  Menschen  als  dem  »Mass  der 
Dinge«  unterworfen.  Die  objektiven  Ideeen, 
zu  denen  die  Ahnen  in  frommer  Scheu 
emporgeblickt,  erscheinen  den  aufgeklärten 
Zeitgenossen  der  Phidias  und  Perikles  als 
Geschöpfe  des  Subjekts,  seiner  Vernunft 
und  seinem  Willen  botmässig. 

Auch  an  der  wirtschaftlichen  Ord- 
nung rüttelt  der  Individualismus.  Aber 
diese  Bewegung  ist  dem  Umfange  wie  dem 
Grade  der  Energie  nach  weniger  bedeutsam 
als  der  Kampf  gegen  die  überkommenen  reli- 
giösen, moralischen,  politischen  Dogmen. 
Während  in  der  Litteratiu*  das  Wesen  imd 
Wirken  von  Monarchie  und  Tyrannis,  Aristo- 
kratie und  Oligarchie,  Demokratie  imd  Och- 
lokratie nach  allen  Seiten  und  mit  voUer 
Spannung  des  Denkens,  in  einer  Weise  imd 
mit  einem  Erfolge  erörtert  wird,  dass  auch 
heute  noch  jedes  Raisonnement  über  Yer- 
fassungsfn^n  zu  den  Ergebnissen  der  helle- 
nischen Geistesarbeit  Stellung  nehmen  muss, 
so  kommt  die  Doktrin  der  wirtschaftlichen 
Lebensformen  über  unsystematische  und 
scMaffe  Anläufe  nicht  hinaus. 

Wo  einmal  ein  sorgfältiger  ausgeführtes 
Bild  der  Welt  des  Besitzes  —  wie  in  dem 
»Staat«  imd  besonders  in  den  »Gesetzen« 
Piatos  —  vorließ,  da  ist  es  aus  einer  Feder 
geflossen,  die  im  Geiste  des  Sozialprincips 
schreibt.  Für  die  Rekonstruktion  des  wirt- 
schaftlichen Individualismus  sind  wir  fast 
ausschliesslich  auf  Material  beschränkt,  wel- 
ches in  den  Schriften  seiner  Gegner,  in  den 
platonischen  Dialogen,  in  den  aristophani- 
schen Komödien  sich  findet.  Doch  genügt 
das  Vorhandene,  um  das  Dasein  jener  beiden 
oben  charakterisierten  Hauptrichtungen  nach- 
zuweisen. 

Aus  der  Machtdoktrin  wird  von  den 
einen  die  Notwendigkeit  einer  »amorphen« 
Gesellschaft  gefolgert  —  eines  Zustandes, 
indem  das  von  allem  Zwange  losgebundene 
Subjekt  seine  Individualität  sclminkenlos, 
ohne  Rücksicht  auf  das  Wohl  und  Wehe  der 
übrigen  Individuen,  entfalten  könne. 

Solche  soziale  Ordnung  findet  ihre  Vor- 
kämpfer in  dem  attischen  Junkertum,  dessen 
Typus  wir  im  Kallikles  des  platonischen 
»Gorgias«  und  im  Thrasymachos  der  »Poli- 
teia«  vor  uns  haben.  Der  Raubtiermoral 
(Dümmler)  dieser  adeligen  Wölfe  ist  es  ein 
Dogma,  dass  ihnen  —  im  modernen  Jargon 


gesprochen:  den  »üebermenschen«  —  frei- 
stehen müsse,  die  bürgerlichen  Schafe  nach 
Belieben  zu  scheeren  oder  zu  zerfleischen. 

Die  anderen  ziehen  umgekehrt  aus  der 
Machtdoktrin  die  Konsequenz  eines  zu  Guns- 
ten der  Masse  regierten  und  regulierten  Ge- 
meinwesens. Der  Sophist  Kritias  lehrt,  dass 
der  Gesellschaftsvertrag  dem  Interesse  der 
Mehrheit  der  Schwachen,  sich  zu  verbünden 
und  gemeinsam  die  Minderheit  der  Starken 
niederzuhalten,  entspringe.  In  den  »Eccle- 
siazusen«  des  Aristophanes  wird  —  in  derber 
Verspottung  der  attischen  Sozialdemokratie 
und  ihi*er  Ütopieen  i)  —  ausgemalt,  wie  die 
Plebejer  sich  zusammenrotten,  um  die  Opti- 
maten  ihrer  Herrschaft  und  ihres  Reichtums 
zu  entkleiden  und  eine  völlig  kommunis- 
tische, die  Güter-  wie  die  Weibergemein- 
schaft enthaltende  Ordnung  zu  errichten. 
Der  Pöbel  reisst  kraft  seiner  auf  der  Ueber- 
zahl  der  Fäuste  und  der  Wahlstimmen  be- 
ruhenden Macht  den  »Gemeinbrei«  an  sich, 
verwaltet  ihn  nach  seiner  Willkür,  teilt  die 
nationale  Dividende,  die  bisher  der  grossen 
Quote  nach  an  eine  Kleinzahl  ausfloss, 
zu  seinen  Gunsten  —  aber  er  ist  weit  ent- 
fernt, diese  Aktion,  wie  die  modernen  Kom- 
munisten es  thun,  aus  der  Idee  des  einen 
Menschentums  zu  rechtfertigen;  er  denkt 
nicht  daran,  dass  die  Sklaven  »gewisser- 
massen  auch  Menschen«  sind,  die  ein  glei- 
ches Recht  zur  Teilnahme  hätten,  sondern 
lässt  diese  Schwächsten  der  Schwachen  wei- 
ter fronden,  damit  die  attischen  Bürger  ein 
zwischen  Essen,  Küssen  und  Schlafen  har- 
monisch geteiltes  Dasein  führen  können. 
Wie  den  aristokratischen  Raubtieren  geht 
diesen  ochlokratischen  das  Recht  nur  so 
weit,  wie  die  Macht  reicht. 

Von  der  Rechts  doktrin  finden  sich  weit 
weniger  Spuren.  Dass  aber  auch  diese 
Richtung  des  Individualismus,  die  allem, 
was  Menschenantlitz  trägt,  ein  (pvöei  gleiches 
Recht  zuerkennt  und  fordert,  da^s  das 
geschriebene,  vo>^  gesetzte  Recht  mit  die- 
sem Naturrecht,  dem  v6/uo£  ayganzoi^  in 
Einklang  gebracht  werde,  ihre  Vertreter  ge- 
funden hat,  ist  z.  B.  zu  ersehen  aus  der 
üeberlieferung  des  Wortes  des  Alkidamas, 
dass  Gott  allen  Individuen  die  Freilieit  ge- 


')  Dass  die  „Ecclesiaznsen"  deshalb  keine 
Parodie  der  platonischen  Republik  sein  können, 
weil  letztere  Jahrzehnte  später  geschrieben,  be- 
merkt Droysen,  Aristophanes'  Werke  S.  347. 
Zu  dem  gleichen  Ergebnisse  führt  aber  die  Be- 
trachtung des  Inhalts.  Was  Aristophanes  hier 
verspottet,  ist  eine  Ausgeburt  individualis- 
tischer Phantasie,  individualistischer  Genussfi^er. 
Die  „Republik"  Piatos  ist  eine  Ausgeburt 
anti-individnalistischer  Phantasie,  eines  über- 
spannten sittlichenRigorismus.  Vgl. H. Dietzel, 
Beiträge  u.  s.  w.,  II.  (Frankensteins  Zeitschrift 
S.  373—400). 


1334 


Individualismus 


geben,  die  Natur  niemanden  zum  Sklaven 
geschaffen  habe. 

Während  in  dieser  oder  jener  Variante 
die  Sophisten  das  individualistische  Dogma 
verkünden,  so  wird  ihnen  aus  dem  Kreise 
der  sokratischen  Schule  das  Sozialprincip 
entgegengehalten  —  vor  allem,  bis  zum 
Extrem  vorgetrieben,  seitens  Piatos,  weniger 
schroff,  mit  dem  Versuche  zwichen  den  kon- 
tradiktorischen Axiomen  zu  vermitteln,  seitens 
Aristoteles',  des  »Kathedersozialisten«  (Sal- 
vioni). 

Der  Gegensatz  wiederholt  sich  in  späte- 
rer Zeit.  Während  der  Epikureismus  das 
souveräne  Eecht  des  Subjekts  predigt,  so 
der  Stoizismus  die  absolute  Pflicht  des  In- 
dividuum, sich  in  den  Dienst  der  objektiven 
Ideeen  zu  stellen:  ein  ihrer  ethischen 
Grundnorm  entsprechendes  politisches  oder 
wirtschaftliches  Programm  hat  aber  weder 
jene  noch  diese  Schule  entwickelt.  Euer  wie 
dort  —  und  ebenso  bei  ihren  römischen  Epi- 
gonen —  waltet  die  gleiche  weltflüchtige, 
ieder  sozialpraktischen  Keformarbeit  feind- 
iche  Stimmung.  — 

Einen  weit  breiteren  Baum  als  in  der 
antiken  Litteratur  nehmen  Erörterungen 
über  das  Seinsollen  auf  ökonomischem  Ge- 
biet in  den  Schriften  der  Kirchenväter,  in 
dem  Corpus  juris  canonici,  in  den  Traktaten 
der  Scholastik  ein.  Der  Standpunkt  ist 
aber  hier  immer  anti-individualistisch;  wie 
die  platonische  und  die  stoische,  so  legt  die 
christliche  Ethik  das  Individuum  mit  seinen 
sündigen,  auf  materielles  Geniessen  zielenden 
Trieben  in  straffe  Fesseln;  will  das  Fleisch 
knechten,  um  den  Geist  zu  befreien.  Wenn 
das  Sondereigentimi  verdammt,  die  Güter- 
gemeinschaft als  »dulcissima  rerum«  ge- 
priesen wird,  geschieht  dies  nicht  aus  der 
individualistischenTen  denz,jedem  Individuum 
zum  Besitze  zu  verhelfen,  sondern  aus  der 
anti-individualistischen:  niemand  soll  etw^as 
sein  Eigen  nennen,  weil  das  Hangen  am  irdi- 
schen Mammon  das  Seelenheil  gefährdet. 

Bis  in  das  Zeitalter  der  Kreuzzüge  hin- 
ein bleibt  diese  asketische  Gruhdanschauung 
die  herrschende.  Dann  aber  beginnt,  all- 
mählich erstarkend,  die  Reaktion,  beginnt 
die  Empörung  gegen  die  Doktrin  der  »civi- 
tas  dei«,  gegen  das  Unterfangen,  die  Sehn- 
sucht nach  den  Gütern  dieser  Welt  aus  dem 
Herzen  der  Menschen  zu  reissen. 

B.   Zeit   der  Renaissance;   Beginn   der 

individualistischen  Opposition  gegen  das 

herrschende  anti-individualistische 

System. 

Nachdem  durch  den  Humanismus  die 
antike  Ethik  an  die  Seite  der  christlichen 
gestellt  worden  war  und  die  Eeformation 
die  Kirche  des  Abendlandes  in  zwei  Kon- 
fessionen, die  beide  der  Habe  des  echten 
Ringes   sich  rühmten,  gespalten  hatte,  gnib 


die  seit  den  Tagen  Friedrichs  11.  heran- 
rausdiende  rationalistische  Stromimg  sich 
ein  weit  breiteres  Bett  als  bisher.  Viel  mehr 
Köpfe  wie  früher  mühen  sich  jetzt  um  das 
Problem,  Moral  und  Religion  aus  der  Vernunft 
zu  finden  und  zu  begründen.  Mit  gewaltiger 
Energie  rüttelt  das  Individuum  an  den  theo- 
logischen Dogmen,  deren  Joch  seit  mehr 
denn   einem  Jahrtausend  auf  ihm  gelastet 

Dafiir  aber  verfällt  es  einer  desto  straf- 
feren, zwingenderen  Zucht  seitens  des  welt- 
lichen Regimentes.  Oeht  die  Macht  der 
Kirche  herab,  so  steigt  die  bis  dahin  von 
ihr  im  Schach  gehaltene  Macht  des  Staates 
jetzt  zu  voller  Majestät  empor.  Nicht  selten 
sind  es  dieselben  Denker  —  so  z.  B.  Mac- 
chiavell  imd  Bodin  — ,  welche  als  Vor- 
kämpfer des  ethischen  und  religiösen  Ratio- 
nalismus das  Subjekt  vom  Zwange  der  Kirche 
lösen,  während  sie  es  zum  Sklaven  des 
Staates  herabdrücken. 

Das  absolutistisch-merkantilis- 
tische  System,  welches  von  der  Renaissance 
bis  zum  Schluss  des  »siecle  Voltaire«  die 
Geister  beherrscht,  ist  auf  das  Sozialprincip 
gebaut:  in  der  —  wie  oben  gesagt,  grund- 
sätzlich nicht  haltbaren  —  Fassung,  dass  der 
Staat  Selbstzweck  sei,  der  einzelne  dienendes 
Organ,  Werkzeug  des  Ruhms  und  der  Herr- 
lichkeit der  Nation.  In  Berufung  auf  Plato 
und  Aristoteles  wie  auf  die  »geschriebene  Ver- 
nunft«, das  Corpus  juris  Justinians  mit  seinem 
absolutistischen  Staatsrecht,  wird  gefordert, 
dass  der  ünterthan  sicli  unbedingt  den  Ge- 
boten des  von  der  allweisen  Regierung 
authentisch  interpretierten  Staatsinteresses 
beuge.  In  allem  und  jedem :  in  Fragen  des 
Glaubens  wie  der  Sittlichkeit,  der  Büdung 
wie  der  Wirtschaft. 

Insofern  als  sie  dorchans  anti-individna- 
listisch  ist,  deckt  sich  die  Grandanschanung 
dieser  Zeit  mit  jener,  welcher  das  Denken  des 
Mittelalters  gehuldigt  hatte.  Aber  im  Negativen 
gleich,  weicht  doch  im  Positiven  das  neue 
System  gewaltig  ab  von  dem  alten;  es  lehrt 
die  Völker  und  ihre  Führer,  nach  Zielen  zu 
ringen,  auf  welche  die  christliche  Ethik  mit 
Verachtung  geblickt  hatte. 

Es  ist  ein  System  der  Weltbejahnng  statt 
der  Weltvemeinung.  Nicht  mehr  eilt  die  Er- 
ziehung des  Christenmenschen  zu  Tagend  und 
Gottähnlichkeit  als  die  oberste  Aufgabe  der» 
Staates ;  seine  Pflicht  wird  dorchaos  pro&n  ge- 
fasst.  Die  eigene  Macht  „über  alles'*  za  erheben 
—  wie  es  in  dem  Titel  der  bekannten  Schrift 
V.  Hornigks  heisst  —  und  den  Reichtum 
an  sich  zu  locken,  ihn  den  Rivalen  abwendig 
zu  machen,  erscheint  als  die  oberste  Norm  der 
Politik.  Die  Hybris,  die  Heraklit  am  Indivi- 
duum gescholten,  ist  jetzt  auf  die  Kollektivin- 
dividuen, die  Staaten,  übergegangen. 

Salus  publica  suprema  lex ;  quod  principi 
placuit,  legis  habet  vigorem;  omnia  sunt 
principis  (d.  h.  des  Staates)  —  in  diesen 
Sätzen  fasst  sich  kurz  das  System  zusammen. 


iDcLividualismus 


1335 


welches  bis  zur  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts mit  dem  Nimbus  der  Orthodoxie 
umgeben  ist. 

Allerdings  fehlt  es  nicht  an  Ketzern,  an 
einer  individualistischen  Opposition.  Zu- 
nächst erschallt  der  Ruf  nach  politischer 
und  Ökonomischer  Freiheit  von  selten  derer, 
welche,  während  sie  im  Mittelalter  die  Ge- 
walt mit  dem  Fürstentum  geteilt  hatten, 
durch  den  Sieg  des  Absolutismus  zu  Boden 
geworfen  waren. 

So  vertritt  die  jesuitische  Publizistik 
(Mariana,  Suarez  u.  s.  w.)  das  Recht  der 
Revolution,  selbst  des  Fürstenmordes  K\r  den 
Fall,  dass  der  weltliche  Herrscher  sich  an- 
masse,  in  die  Sphäre  des  Gewissens  einzu- 
greifen, über  die  aDein  die  geistliche  Gewalt, 
höher  als  die  irdische,  ein  Recht  habe.  Wäh- 
rend das  Papsttum  auf  unmittelbarer  gött- 
licher Einsetzung  beruhe,  leite  das  Fürsten- 
tum seine  Krone  aus  der  üebertragung 
seitens  des  Volkes  ab,  dessen  Willen  sie 
auch  zurücknehmen  könne.  Aehnhch  argu- 
mentieren die  schottischen  »Monarcho- 
machen«  des  16.  und  die  englischen  des 
17.  Jahrhimderts.  Weit  zahmer  im  Ton, 
aber  doch  in  gleichem  Sinne  sprechen  Fühi-er 
der  protestantischen  Bewegung;  so  fordert 
Luther,  dass  man  »die  gescluiebenen  Rechte 
unter  der  Vernunft  halte,  aus  der  sie  ge- 
flossen sind,  als  dem  rechten  Brunnen«,  be- 
tont, »dass  das  Evangelium,  wie  es  der 
Obrigkeit  Amt  bestätige,  auch  natürliche 
und  gesetzte  Rechte  bestätige«  und  »öffent- 
liche violatio  (seitens  der  Obrigkeit)  alle 
Pflichten  zwischen  dem  ünterthan  und  Ober- 
herm  jure  natiuae  aufhebe.« 

Wie  hier  das  kirchliche  Interesse  an 
Niederhaltung  der  weltliehen  Gewalt  dem 
sozialen  Individualismus  Bahn  bricht,  so 
wappnet  sich  auch  das  ständische  Inte- 
resse mit  dem  Schlagwort  des  zu  Nutzen 
der  Individuen  abgeschlossenen  Gesellschafts- 
vertrags, um  Eingriffen  des  Oberhaupts  in 
die  Genusssphäre  der  Glieder  zu  wehren. 
Steuern  seien  »gegen  die  Natur  einer  Staats- 
gesellschaft« —  erklärt  Braimschweig- 
Wolfenbüttel  auf  dem  Reichstage  von  1653 
—  »da  man  sich  nur  in  der  Hoffnung,  das 
Seine  zu  behalten,  in  bürgerliche  Verbin- 
dungen eingelassen  habe«. 

Iiidividuaüstisch  ist  aber  hier  wie  dort 
nur  die  Schale. 

Im  Kerne  ist  die  Doktrin  der  theologi- 
schen Gegner  des  Absolutismus  das  Gegen- 
teil einer  individualistischen.  Das  Indivi- 
duum wird  von  der  staatlichen  Kette  nur 
befreit,  um  es  desto  ausschliesslicher  in  die 
Fessel  der  geistlichen  Gewalt  zu  legen.  Nicht 
für  Autonomie  des  Individuums  streiten  sie, 
wenn  sie  der  Monarchie  den  Handschuh  hin- 
werfen, sondern  für  Autonomie  der  Kirche. 
Gleiches  gilt  von  den  Anwälten  der   stän- 


dischen »Libertät«  —  nur  so  weit  als  die 
wirklichen  oder  angeblichen  jura  quaesita, 
die  man  verteidigen  will,  sich  ei-strecken, 
reicht  ihr  Pseudo-Individualismus. 

Der  walire  Individualismus  findet  seine 
für  Jahrzehnte  bedeutsamsten  Vertreter  in 
Grotius  und  Locke,  Hobbes  und 
Spinoza. 

Gemeinsam  ist  ihnen  das  Dogma,  dass 
die  sozialen  Organisationsformen  bestehen 
um  der  Individuen  willen;  dass  der  Staat 
wie  alle  anderen  Collectiva  beruhen  auf  dem 
Konsens  der  Individuen,  ihre  Legitimation 
durch  ein  »pactum  sociale«  empfangen. 

Aber  Grotius  und  Locke  bekleiden  das 
Individuum  mit  »ewigen  Rechten,  die  droben 
hangen  unveräusserlich  und  unzerstörbai', 
wie  die  Sterne  selbst«,  mit  NatuiTechten, 
deren  es  sich  nicht  rechtsgiltig  entäussern 
kann,  und  legen  ihm  andererseits  Natur- 
pflichten auf,  denen  es  sich  nicht  entziehen 
darf.  Diese  Natiurechte  und  Naturpflichten 
—  die  »droits  et  devoirs  reciproques«,  von 
denen  bei  den  Physiokraten  dann  soviel  die 
Rede  ist  —  schweben  als  objektive, 
fvoBi  gegebene,  über  Indi\iduum  und  Ge- 
sellschaft. Die  Verwirklichung  dieser  »na- 
türhchen«  Ordnung  ist  die  dem  historischen 
Staate  gesetzte  Aufgabe,   sein   ideales  Ziel. 

Der  historische  Staat  ist  verderbt,  weil 
der  Mensch  entartet  ist.  Von  Natur  war 
der  Mensch  gut,  vom  Gattungsgefühl,  vom 
Gemeinschaftstriebe  durchdrungen ;  und  dieser 
Trieb  war  es,  welcher  die  isoliert  lebenden 
Individuen  zum  Absclüuss  des  »pactum  so- 
ciale« der  Urzeit  führte.  Allmälüich  aber 
wucherte  der  dem  Menschen  gleichfalls  von 
Natur  eigene  Individualtrieb,  der  Trieb  der 
Selbsterhaltung  und  Selbstentfaltung,  mehr 
und  mehr  empor,  eretickte  das  Einzelbe- 
wusstsein  das  Solidaritätsbewusstein. 

Mit  Kummer  sehen  Grotius  und  Locke 
auf  die  böse  Zeit,  in  der  sie  leben  —  die 
Zeit,  da  Staaten  gegen  Staaten,  Fürsten  gegen 
Völker,  einzelne  gegen  einzelne  stehen  in 
unnatürlicher  Eigensucht.  Hier  gelte  es, 
Wandel  zu  schaffen  —  allen  müssen  ihre 
natürlichen  Rechte  gewähiieistet  werden^ 
dafür  aber  auch  alle  zu  ihren  natürlichen 
Pflichten  sich  bekennen. 

Spinoza  und  Hobbes  dagegen  wissen 
nichts  von  einem  organischen  Bande  zwischen 
den  »creatures  of  the  same  rank  and  species« 
^Locke),  kennen  kein  ungeschriebenes,  ewiges 
Gesetz,  sondern  nur  vd/uo  gesetzte,  wandel- 
bare Normen,  kein  objektives  Sollen,  sondern 
niu-  ein  subjektives  Wollen.  Und  dies 
Wollen  der  Individuen  erscheint  ihnen  als 
durchaus  beherrscht  durch  den  gegen  das 
Wohl  und  Wehe  der  Mitmenschen  völlig 
gleichgiltigen  Egoismus :  homo  homini  lupus 
(Hobbes). 

Während  Grotius  und  Locke  der  ,specie8 


1336 


Individualismus 


homo'  das  Recht,  die  niederen,  schwächeren 
Lebewesen  im  Kampf  ums  Dasein  zu  unter- 
drücken, zugestehen,  aber  im  Gebiete  der 
Menschenwelt  nicht  die  Macht,  sondern  die 
Gerechtigkeit  zum  Princip  erheben,  wenden 
Hobbes  und  Spinoza  das  rrincip  des  »Rechts 
des  Stärkeren«  auch  auf  die  Menschenwelt  an. 

Der  Staat  und  seine  Ordnung  müssen  so 
sein,  wie  es  dem  Interesse  der  herrschen- 
den, durch  ihre  Zahl  oder  ihre  geschickte 
Taktik  herrschenden  Gruppe  entspricht.  Die 
sozialen  Organisationsformen  haben  keine 
Ideale  zu  erfüllen;  sie  sind  nicht  zu  beur- 
teilen danach,  ob  und  in  welchem  Masse  in 
ihnen  die  Postulate  der  Gleichberechtigung 
und  Gleichverpflichtung  Erfüllung  gefunden 
haben.  Jede  teleologische  Betrachtung  liegt 
Hobbes  und  Spinoza  fern :  sie  schildern  ein- 
fach den  sozialen  Eausalismus  unter  der 
Voraussetzung,  dass  die  zur  Herrschaft  taug- 
licheren Individuen  zur  Herrschaft  gelangen, 
und  dass  dies  geschieht,  nennen  sie  ge- 
recht. Die  Individuen  —  so  sldzziert 
Ahrens  (Naturrecht,  Bd.  I  S.  100)  die  Auf- 
fassung Spinozas  —  »haben  nur  soviel  Recht, 
als  sie  Macht  haben,  da  zu  sein  und  zu 
handeln«. 

Nicht  aus  dem  Gemeinschaftstriebe  ent- 
steht der  Staat,  sondern  er  ist  —  so  lehrt 
Hobbes  noch  dem  Vorgang  Gassendis,  dessen 
Theorie  wieder  auf  die  Antike  zurückweist 
(s.  oben)  —  das  Produkt  des  Interesses  der 
Schwächeren  an  Errichtung  einer  sozialen 
Gtewalt,  welche  sie  vor  der  Knechtung  durch 
die  Stärkeren,  bezw.  vor  der  Gefahr  des 
»bellum  omnium  contra  omnes«,  schirmen  soll. 

Dass  Hobbes  diese  Gewalt  in  die  Hand 
eines,  des  absoluten  Fürsten,  legt,  Spinoza 
dagegen  sie  den  Vielen,  dem  absoluten  Volke, 
zuweist,  deutet  keineswegs  auf  einen  Gegen- 
satz in  der  Gnmdanschaunng  beider.  Darin 
kommt  vielmehr  nur  die  Thatsache  zum  Aus- 
druck, dass  mit  der  Machtdoktrin  —  wie 
auch  mit  der  Rechtsdoktrin  —  die  verschie- 
densten Programme  sich  rechtfertigen  lassen. 
Auf  politischem  wie  auf  ökonomischem  Ge- 
biete: wenn  z.  B.  Hobbes  das  Sondereigen- 
tum und  die  Sklaverei  aus  dem  Interesse 
der  herrschenden  Klasse  legitimiert,  so  ist 
natürlich  auch  jede  andere  Ordnung  der  Be- 
ziehungen zwischen  Individuum  und  Sachen- 
welt wie  zwischen  Individuum  und  Indi- 
viduum legitim,  falls  nur  die  Individuen 
sich  finden,  in  deren  Macht  es  steht,  sie  zu 
erzwingen  und  zu  sichern. 

In  der  Folgezeit  tritt  diese  Macht  doktrin 
mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund.  Der 
Sieg  des  Individualprincips  über  das  Sozial- 
princip,  des  liberalen  Systems  über  das  »An- 
cien  Regime«,  wird  im  Zeichen  der  Rechts- 
doktrin der  Grotius  und  Locke  erfochten. 
Ix^tztere  gelangt  zu  so  unbedingter  Hegemonie, 
dass,  wenn  heute  von  dem  »Naturrecht«  die 


Rede  ist,  dabei  immer  an  diese,  durch  die  Idee 
des  einen  Menschentums  charakterisierte 
Spielart  des  Individualismus  gedacht  lÄ-ird, 
vergessen  wird,  dass  auch  die  andere  Spiel- 
art, die  Lehre  der  Hobbes  und  Spinoza,  ihre 
Schlüsse  aus  einem,  nur  anders  au^fasstea 
Naturrecht  zieht  und  nicht  minder  die  Ver- 
treter des  absolutistisch-merkantilistischeD 
Systems  ihr  Dogma,  dass  der  Staat  den  In- 
dividuen vorgehe,  »jure  naturae«  begründen. 

G.  Neue  Zeit. 

Der  Liberalismus  als  die  erste 
Erscheinungsform  der  Rechtsdok- 
trin. 

Der  Eemsatz  des  sozialethischen  Denkens 
des  Renaissancezeitalters  hatte  gelautet :  alle 
Individuen,  ob  hoch  oder  gering,  haben  die 
gleiche  Pflicht,  Sich  der  »ratio  statusc 
zu  beugen.  Gegen  1700  begann  ein  neues, 
das  liberale  System,  sich  Bahn  zu  brechen, 
in  dessen  Mittelpunkt  die  I^orm  stand,  dass 
die  »ratio  status«  allein  die  sein  dürfe,  jedem 
Individuum  das  gleiche  Recht,  sich  ge- 
mäss seiner  Eigenart  in  der  staatsbüiger- 
lichen  Gesellschaft  zur  Geltung  zu  bringen, 
zu  gewährleisten.  Und  wie  hinsichtlich  der 
Grundanschauung,  so  war  auch  hinsichtlich 
des  praktischen  Programms  das  liberale 
System  dem  überkommenen  diametral  ent- 
gegengesetzt. 

Bisher  hatte  die  staatliche  Ordnung 
beruht  auf  dem  Princip  des  Allrechts  und 
Alleinrechts  des  Fürsten,  des  Rechts  der 
Obrigkeit  auf  souveräne  Entscheidung  aller 
Fragen  des  nationalen  Lebens. 

Der  Liberalismus  verlangte  statt  der 
Omnipotenz  des  Monarchen  die  Teilung 
der  Gewalt  zwischen  Fürsten  und  Volk, 
die  Anerkennung  des  grundsätzlich  gleichen 
Rechts  jedes  Bürgers,  mit  seiner  Vemimft 
und  seinem  Willen  auf  den  Gang  der  öffent- 
lichen Angelegenheiten  einzuwirken. 

Durch  die  zweite  englische  Revolution 
ward  dies  oberste  Postulat  des  politischen 
Programms  der  Rechtsdoktrin  zu  dem  Grund- 
gesetz des  neuen  Gemeinwesens.  Der  erste, 
für  lange  Zeit  aber  auch  einzige  Triumph 
der  liberal-konstitutionellen  Idee  über  den 
Absolutismus ;  dem  19.  Jahrhundert  blieb  es 
vorbehalten,  sie  in  allen  Kulturl&idern,  mit 
Ausnahme  Russlands,  zum  Siege  zu  führen. 

Der  Liberalismus  forderte  zweitens,  dass 
die  ökonomische  Ordnung  von  Grund 
aus  umgestaltet,  mit  dem  Princip  der  Allein- 
mischung der  Bureaukratie  gebrochen  werde. 
Dem  Postulat  der  Teilung  der  Gewalt  stellte 
er  das  der  Einengung  der  Gewalt  der 
Regierung  in  wirtschaftlichen  Dingen  an 
die  Seite. 

In  England  wie  in  Holland  imd  in  Frank- 
reich —  vereinzelt  auch  in  Deutsehland  — 
hatte   sich  während   des   17.  Jahrhunderts 


Individualismus 


1337 


die  Opposition  wider  den  Merkantilismus 
geregt.  G^en  dessen  Ende  schwoll  sie 
überall  höher  und  höher  an*  vor  allem  im 
Staate  Louis  XIV.,  als  Coiberts  genialer 
Geist  imd  stupende  Energie  nicht  mehr  die 
»Staatsmaschine«  antrieb  und  leitete. 

In  England  hatte  Locke  (s.  o.)  das  neue 
politische  Programm  mit  aller  Schärfe  ver- 
fochten, die  alte  ökonomische  Ordnung  da- 
gegen nur  an  einzelnen  Punkten,  nicht 
grundsätzlich,  angegriffen.  Umgekehrt  mach- 
ten die  Franzosen  Vauban  und  Bois- 
guillebert  aufs  scliärf ste  Front  gegen  die 
traditionelle  Vielregiererei.  Konsequenter 
als  die  holländischen  Gesinnungsgenossen 
(Graswinckel,  die  Brüder  Delacourt), 
doktrinärer  als  die  englischen  (North, 
Tetty,  Barbon)  fassen  sie  ihr  Programm 
so  radikal  wie  möglich:  »cju'on  laisse  faire 
la  nature«,  d.  h.  man  lasse  in  wirtschaftlichen 
Dingen  das  Individuiun  völlig  frei  sich  be- 
wegen ;  Aufgabe  des  Staates  sei  nur,  für  die 
Freiheit  des  Verkehrs  und  die  Gerechtig- 
keit in  der  Besteuerung  Sorge  zu  tragen 
(les  chemins  libres  et  les  impöts  justement 
repartis). 

Sie  sind  keineswegs  Individualisten  wie 
Locke:  die  Grösse  und  der  Glanz  Frank- 
reichs, nicht  das  Glück  der  Individuen  ist 
ihr  Leitmotiv.  Auch  gilt  ihnen  die  bestehende 
politische  Ordnung  als  unantastbar.  Aber, 
wenn  auch  durchdrungen  vom  Sozialprincip 
imd  begeisterte  Apostel  des  Absolutismus, 
kommen  sie  in  der  rücksichtslosen  Gegner- 
schaft gegen  das  merkantilistische  Wesen 
mit  dem  Liberalismus  überein. 

Jahrzehnte  vergingen,  ehe  das  von  ihnen 
vertretene  ökonomische  Programm  neue,  er- 
folgreichere Vertreter  fand :  in  der  seit  1750 
Eiafluss  gewinnenden  Schule  der  Physio- 
kraten. 

War  Montesquieus  Kritik  des  Ancien 
Regime  wesentlich  im  Politischen  stecken 
geblieben,  so  erschien  den  Jüngern  dieser 
Schule  die  ökonomische  Reform  als  das 
dringlichste  Bedürfnis,  nsdim  ihr  Denken 
nahezu  voll  gefangen.  Erst  in  der  »neuen 
Wissenschaft«  dieser  Economisten,  wie  sie 
lursprünglich  sich  nannten,  verbindet  sich 
der  ethische  Kernsatz,  dass  das  soziale 
Ganze  um  der  Befriedigung  des  »d6sir  de 
jouir«  der  Individuen  willen  bestehe,  mit 
dem  Postulat  des  »laissez  &bire,  laissez 
passer«  —  erst  von  ihnen  wird  aus  der  in- 
dividualistischen Grundanschauung  die  für 
den  Liberalismus  charakteristische  Folgerung 
möglichst  weitgehender  Einengung  der  Ge- 
wiJt  des  Staates  auf  ökonomischem  Gebiete 
gezogen. 

Während  in  Frankreich  die  gegen  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  gewaltig  wachsende 
oppositionelle  Bewegimg  ihr  Interesse  teilt 
zwischen   dem  Problem  der  Neugestaltung 


der  Verfassimg,  das  Montesquieu,  und 
dem  der  Neugestaltung  der  Volkswii'tschaft, 
das  die  Quesnay,  Mirabeau,  Turgot 
aufgeworfen,  so  konnte  sich  der  Liberalismus 
Englands  in  der  Hauptsache  auf  die  Arbeit 
an  letzterem  koncentrieren.  Die  politische 
Emancipation  des  Volkes,  wenigstens  seiner 
leitenden  Schichten,  von  der  Krone  war 
vollzogen;  liier  handelte  es  sich  nur  noch 
um  die  wirtschaftliche  Emancipation 
des  Individuums  vom  Staate,  von  seiner  aus 
der  Staatsraison  diktierten,  die  Naturredite 
der  Individuen  nicht  achtenden  Bevormun- 
dung und  Wülkür. 

Immer  grösser  wird  die  Zahl  derer,  welche 
dem  Merkantilismus  das  gleiche  Los  berei- 
ten wollen  wie  dem  Absolutismus.  Neben 
den  Stimmen  derBerkeley  undTucker, 
Hume  und  Mortimer  werden  zwar  von 
Zeit  zu  Zeit  einzelne,  dem  Beharren  beim 
Alten  etwas  günstigere  laut,  z.  B.  die  H  u  t  c  h  e- 
sons.  In  James  Steuart  (1766)  fin- 
det die  merkantilistische  Praxis  noch  einmal 
einen  überzeugten,  redseligen  Herold.  Dass 
aber  der  Sieg  dem  neuen  ökonomischen  Pro- 
gramm werden  werde,  ist  schon  entschieden, 
als  ihm  Ad.  Smith  in  seiner  »Wealth  of 
Nations«  (1776)  die  klassische  Formulierung 
und  Begründung  giebt. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auszuführen, 
worin  die  Lehre  Quesnays  und  die  Lehre 
Ad.  Smiths  sich  unterscheiden,  noch  darzu- 
legen, weshalb  diese  und  nicht  jene  zur 
»Bibel«  des  wirtschaftlichen  Liberalismus 
geworden  ist.  Nur  was  ihnen  gemeinsam 
ist,  muss  kurz  betont  werden. 

Beiden  ist  das  Individuum  Selbstzweck, 
der  Staat  MitteL  So  falsch  es  wäre,  sie 
eines  vagen  Kosmopolitismus  zu  bezichtigen 
—  Quesnay  ist  ein  ebenso  guter  Franzose 
wie  Smith  ein  guter  Brite  —  so  kann  doch 
daran  kein  Zweifel  sein,  dass  nicht  die 
Machterweiterung  der  Nation,  sondern  die 
Erhöhung  der  Genussmöglichkeit  für  die 
einzelnen  ihnen  das  oberste  Gebot  des  so- 
zialen Seinsollens  bedeutet. 
'  Beide  sind  Individualisten  und  zwar 
Anhänger  der  Rechtsdoktrin.  In  bewusstem 
Gegensatze  zu  Hobbes,  in  deutlichem,  oft 
fast  wörtlichem  Anschluss  an  Locke  ent- 
wirft Quesnay  sein  »droit  naturel«.  Adam 
Smith  stützt  zwar  sein  Plädoyer  für  das 
neue  ökonomische  Programm  feist  ausschliess- 
lich auf  Zweckmässigkeitsgründe ;  soweit  aber 
ethische  Deduktionen  bei  ihm  sich  finden, 
sind  sie  aus  dem  Geiste  des  j»treatise  of 
civil  govemment«  empfangen. 

Beide  sind  eneigische  Gegner  des  »Rechts 
des  Stärkeren«.  Beide  finden  ihr  soziales 
Ideal  in  einem  Zustande,  da  die  Individuen 
in  Freiheit  neben  einander  leben,  im  ar- 
beitsteiligen Tauschverkehr  einander  ge- 
recht vergoltene   Dienste  leisten.     Beide 


1338 


Individualismus 


gehen  davon  aus,  dass  von  Natur  zwei 
Seelen  wohnen  in  des  Menschen  Brust: 
der  Individu^trieb,  das  Selbstinteresse,  und 
der  Geraeinschaftstrieb,  das  Interesse  an  den 
Mitmenschen.  Und  —  befangen  im  gleichen 
Optimismus  wie  die  Kommunisten  von  heute 
— geben  die  Jünger  Quesnays  oft  der  Hoffnung 
Saum,  dass  im  »ordre  naturel«,  in  dem 
liberalen  »Zukunftsstaate«,  das  Solidaritäts- 
bewusstsein,  das  Gefühl  der  Brüderlich- 
keit einen  mächtigen  Impuls  empfangen 
werde.  — 

Der  Sinn  dieses  neuen  Systems  der 
»natural  liberty«  ist  oft  missveratanden  wor- 
den. Das  politische  Programm  des  Li- 
beralismus hat  man  unter  dem  Gesichts- 
punkt angegriffen,  als  ob  damit  nur  bezweckt 
gewesen  sei,  die  Macht  der  herrschenden 
sozialen  Schicht  an  Stelle  der  Macht  des 
Fürsten  zu  setzen. 

Es  gab  und  giebt  ja  noch  heute  eine 
extrem-liberale  Gruppe,  welche  das  Prindp 
des  Allrechts  und  Alleinrechts  des  Volks, 
mit  anderen  Worten  das  Princip  der  Parla- 
raentssouveränität,  vertritt.  Dieser  Richtung 
gehörte  aber  im  18.  Jahrhundert  nur  eine 
Minderheit  an.  Die  überwiegende  Zahl  der 
Reformer  erkannte  nicht  nur,  sondern  über- 
trieb sogar  die  Gefahr  einer  Verfassung, 
nach  der  der  Mehrheitswille  regieren  würde. 
"Wird  nicht,  fragten  sie,  in  diesem  Falle  nur 
eine  Verschiebung  der  Form  des  Absolu- 
tismus platzgreifen,  die  Despotie  des  einen 
nur  vertauscht  werden  gegen  die  Despotie 
sei  es  der  unteren  Masse,  sei  es  der  die 
Masse  wirtschaftlich  und  damit  auch  poli- 
tisch beherrschenden  oberen  Zehntausend? 

„Wer  beschützet  die  Menge  gegen  die 
Men^e'',  heisst  es,  unter  dem  frischen  Eindruck 
der  französischen  Revolution,  in  Goethes  Vene- 
tianischen  Epigrammen.  Wird  hier  die  Be- 
fürchtung laut,  dass  die  MehrheitsheiTschaft 
zur  Ochlokratie  führe,  so  in  den  berühmten 
Versen  Schillers  (Demetrius  I,  1)  die  Befürch- 
tung, dass  sie  die  Ochlokratie  heraufbeschwöre : 

Hat   denn  der  Arme  eine  Freiheit,   eine 

Wahl? 
Er  muss  dem  Mächtifipen,  der  ihn  bezahlt, 
Für  Brot  und  Stiefem  seine  Stimm'  ver- 
kaufen! 

Die  Physiokraten  lehnen  die  englische 
Verfassimg,  bei  der  der  Monarch  nur  ein 
Ornament  des  Staatsgebäudes  ist,  deshalb 
ab,  weil  es  den  eigennützigen,  »ungerechten 
Strebungen  der  Sonderinteressen«  (Quesnay) 
der  höheren  Klasse  Thür  und  Thor  öffne. 
A.  Smith  denkt  gleichfalls  und  aus  gleichem 
Grunde  ziemlich  skeptisch  über  das  parla- 
mentarische Regime,  kennzeichnet  es,  wenn 
auch  nicht  mit  deutlichen  Worten ,  als  die 
Herrschaft  der  Besitzenden  flber  die  Be- 
sitzlosen. 

So  hebt  er  beiläuf  g  hervor ,  dass  in  par- 
lamentarisch  regierten  Kolonieen  —  „wo   der 


Herr  Mitglied  der  Kolonialvertretung  oder 
Wähler  ist"  —  der  Sklavenschutz  wirkunfipslos 
bleiben  müsse.  Zur  Zeit  der  Kepublik  würde  in 
Hom  die  Regierung  „nicht  Macht  genug  gehabt 
haben,  solche  Gesetze  zu  erlassen  noch  den 
Herrn  (im  Fall  der  üebertretung)  zu  strafen"  — 
erst  unter  den  Cäsaren  sei  sie  za  Gunsten  dieser 
niedersten  Schicht  eingeschritten.  „The  sovereign 
can  never  have  either  interest  or  inclination  to 
pervert  the  order  of  justice,  or  to  oppress  the 
fifreat  body  of  the  people"  —  im  Interesse  der 
Masse  darf  deshalb  die  Kechtssphäre  des  Fürsten 
keine  zu  starke  Schmälerung  erfahren. 

Das  Postulat  der  Gleichberechtigung 
aller  Individuen,  die  liberale  Grundnomi, 
kann  nicht  verwii'klicht  werden,  solange  die 
Möglichkeit  offen  bleibt,  dass  »die  Menge 
der  Menge  Tyrann«  (Goethe)  werde  oder 
die  Minderheit  der  Reichen  den  Fuss  auf 
den  Nacken  der  Armen  setze. 

»Rien  ne  doit  domin  er  que  la  justice; 
il  n'y  a  de  dominant  que  le  droit  de  chacun«, 
rief  Mirabeau  im  August  1789.  Mit  dem 
Satze,  das  Gesetz  —  das  Gerechte  —  sei 
»auf  den  Thron  zu  stellen  und  wahre  Frei- 
heit zur  Grundlage  der  politischen  Verbin- 
dung zu  machen«,  bestimmte  Schiller  das 
Ideal  staatlicher  Ordnung,  das  dem  Libe- 
ralismus vorschwebte. 

Aber  wie  ?  Eine  absolute  Garantie  ge^n 
die  Möglichkeit,  dass  die  101  die  100  sich 
imterwerfen,  indem  sie  das  »Gesetz«  zu 
ihren  Gunsten  modeln,  giebt  es  nicht.  Aber 
eine  gewisse  Garantie  bietet  eben  die  Tei- 
lung der  Gewalt  zwischen  Fürst  und 
Volksvertretung.  Ein  Monarch,  der  kraft 
erblichen  Rechts  das  Scepter  führt,  steht 
über  der  »Zinne  der  Partei«  —  gilt  sein 
Wille  soviel  wie  der  der  Mehrheit,  so  kann 
er  als  Patron  des  Interesses  Aller  walten, 
kann  die  Nation  schimien  vor  der  Gefahr, 
dass  die  Mehrheit  ihre  Macht  in  ihrem 
Sonderinteresse  ausnutze.  Die  Teilung  der 
Gewalt  bedeutet  die  Konstituierung  eines 
»Parallelogramms  der  Kräfte«,  aus  deren 
Gegenbewegung  die  Mittellinie  sich  ergeben 
soll,  die  zu  einer  harmonischen,  alleii  be- 
rechtigten Interessen  gerecht  werdenden 
Entscheidung  der  staatlichen  Fragen  führt. 

Eine  gewisse  Garantie  liegt  in  der  Tei- 
lung der  Gewalt,  aber  keine  absolute.  Denn 
trotz  des  verfassungsmässigen  Gleichgewidits 
mag  zeitweise  die  eine  Kraft  die  andere  über- 
wiegen und  diese  Konjunktur  missbrauchen. 

Daher  —  so  schliesst  der  Liberalismus 
weiter  —  muss  die  Gewalt  des  Staates  über 
die  einzelnen  grundsätzlich  aufs  äusserste 
eingeengt  werden.  Der  Staatswillen,  gebü- 
det  durch  Fürst  imd  Volksvertretung,  darf 
so  gut  wie  nichts  wollen,  beschüessen,  be- 
fehlen dürfen.  Vor  allem  nicht  in  wirt- 
schaftlichen Dingen:  denn  soweit  Fragen, 
die  den  Geldbeutel  berühren,  anstehen,  ist 
die  Versuchung  für  die  Träger  der  Staat- 


Individualismus 


1339 


liclien  Hoheit,  sie  eigennützig  zu  beantwor- 
ten, grosser  als  irgend  sonst. 

^t  logischer  Notwendigkeit  verband  sich 
mit  dem  Princip  der  Teüung  der  Gewalt 
das  Princip  der  Einengung  der  Gewalt 
des  Staates.  Das  »laissez-faire  et  laissez- 
passer«  war  keine  blosse  Zweckmässigkeits- 
maxime  —  es  sollte  eine  Bürgschaft  mehr 
für  Realisation  des  Ideals  der  Gleichberech- 
tigung erbringen^). 

Noch  weit  häufiger  als  das  politische 
ist  dies  wirtschaftliche  Pi-ogramm  des 
Liberalismus  irrig  aufgefasst,  ist  venm- 
glimpft  worden  als  eine  Kreatur  der  Inter- 
essenpolitik des  dritten  Standes,  welcher 
dem  Merkantilismus  niu*  deshalb  Fehde  an- 
gesagt habe,  um  die  bureaukraüsche  Rege- 
hmg  der  Volkswirtschaft  durch  die  pluto- 
kratische  Vergewaltigung  zu  verdrängen. 
Mit  der  Proklamation  der  »Heiligkeit«  des 
Eigentimis  habe  die  Boiu-geoisie  nur  den 
eigenen  Besitz  sakrosankt  machen  wollen; 
die  Flagge  des  freien  Wettbewerbs  sei  nur 
aufgezogen,  um  den  grosseren  Unternehmern 
und  Kapitalisten  die  Schranken,  die  sie  bis 
dahin  am  Niederkonkurrieren  der  kleineren 
lünderten,  aus  dem  Wege  zu  räumen,  den 
Arbeitgebern  die  Möglichkeit  schrankenloser 
Ausbeutung  der  Arbeitnehmer  zu  eröffnen. 

Das  Gegenteil  trifft  zu.  Das  Postulat 
der  »Heiligkeit«  des  Sondereigentums 
richtete  seine  Spitze  gegen  die  steuerliche 
Willkür  des  Staates,  des  Adels,  des  Patri- 
ciats,  unter  der  die  untere  ländliche  und 
städtische  Bevölkerung  am  schwersten  ge- 
litten hatte;  es  war  erhoben  im  Interesse 
der  »pauvres  gents  taiUeables  et  cors^eables 
ä  merci«,  im  Interesse  der  »grossen  Zahl«, 
nicht  einer  Minderheit.  Und  es  wurde  be- 
gründet mit  dem  Motive,  »dass  der  indivi- 
duell geschaffene  Mensch  am  Sondereigen- 
tum ein  individuelles  und  somit  unabhängiges 
Werkzeug  für  die  Verwirklichung  seiner 
Zwecke  habe.  So  wird  seine  gesellschaft- 
liche Anerkennung  zu  einer  Garantie  der 
freien  Sittlichkeit,  zu  einer  Konstitution  der 
individuellen  Freiheit  gegenüber  dem  Abso- 
lutismus einer  selbst  liberal  verfassten  Staats- 
gewalt« (Eisenhart). 

^  Das  Postulat  der  wirtschaftlichen  Frei- 
heit —  Konkurrenz  —  floss  nicht  aus 
der  egoistischen  Absicht  der  Besitzenden 
und  Gebildeten,  den  Kampf  luns  Dasein  zu 
Nutzen  ihres  Geldbeutels  zu  entfesseln.  Die 
neue  Ordnung  erschien  vielmehr  den  Libe- 
ralen des  18.  Jahrhunderts  als  das  einfachste 
imd  sicherste  Mittel,  jedem  Individuum  zu 
seinem  natürlichen  Rechte,  unter  Wahrung 


^)  Die  letzten  Sätze  sind  wörtlich  meiner 
Schrift  „Das  neunzehnte  Jahrhundert  und  das 
Programm  des  Liberalismus"  (1900)  entnommen. 


des  gleichen  Rechts  aller  entmenschen  zu 
verhelfen. 

Im  »Ancien  Regime«  hatte  der  Adlige 
einen  Vorsprung  vor  dem  Bauern,  der  Pa- 
tricier  vor  dem  gemeinen  Bürger,  der  Sohn 
des  Meisters  vor  dem  des  Zunftfremden  — 
es  geboten  und  genossen  die,  welche  »nichts 
gethan  hatten  als  geboren  zu  werden« 
(Beaumarchais).  Und  wie  durch  Gimst  oder 
Ungunst  der  Geburt,  so  ward  weiter  auch 
der  Rang  des  Individimms  in  der  sozial- 
wirtschaftlichen Hierarchie  wesentlich  mit- 
bestimmt durch  Intervention  des  Staates, 
der  Gutsherrschaften  und  Dorfobrigkeiten, 
Magistrate  imd  Gilden  in  das  Erwerbsleben 

—  wurden  die  einen  vorwärts   geschoben, 
die  anderen  zurückgehalten. 

Die  wiiischaftliche  Freiheit,  die  der  Li- 
beralismus meinte,  soüte  in  erster  Linie  zu 
^te  kommen  dem  Bauern,  welchem  bisher 
im  Interesse  des  adligen  Obereigentümers  das 
Recht  freier  Verwertung  seines  Bodens  und 
seiner  Hände  beschnitten  war;  dem  Hand- 
werksgesellen, dem  die  glücklichen  Besitzer 
der  Meisterstellen  die  Bahn  zu  wirtschaft- 
licher Selbständigkeit  erschwerten  oder  auch 
gänzlich  vei-schlossen ;  dem  Arbeiter,  dessen 
Lohn  zu  Gunsten  des  Arbeitgebers  durch 
Lohntaxen  und  diu-ch  Beschränkungen  der 
Freizügigkeit  niedergehalten  ward ;  derbreiten 
Masse  der  Konsumenten,  denen  durch  die 
Monopole  der  Gutsherrschaften,  der  Zünfte 
und  der  —  damals  noch  spärlich  gesäten,  aber 
vielfach  mit  überaus  lukrativen  Privilegien 
ausgestatteten  —  Fabrikanten  und  Handels- 
kompagnieen  das  Leben  verteuert  wurde. 

Mcht  im  Interesse  der  Bourgeoisie,  son- 
dern in  dem  der  unteren  Millionen  ist  das 
Postulat  des  »laissez-faire«  gestellt  gewesen 

—  des  Hintersassen  des  Barons,  der  zum 
Freiherm  auf  der  Scholle  werden  soll;  des 
gewerblichen  und  agrikolen  Proletariats, 
damit  es  seine  einzige  Habe,  seine  Kraft 
und  sein  Geschick,  so  gut  zu  verwerten  ver- 
möge, wie  die  Konjunktur  es  gestattet;  des 
armen  Mannes,  dem  man  jede  Ware  zu 
möglichst  niedrigem  Preise  verschaffen  will. 

Wenn  alle  VoiTCchte,  deren  sich  bisher 
eine  Minderheit  erfreut  hat,  gekappt  sind, 
wenn  für  Hoch  und  Gering  das  gleiche  im- 
parteiische Recht  der  Konkurrenz  gilt  — 
dann,  so  hoffte  der  Liberalismus,  werden 
die  grossen  Vermögen  und  die  grossen  Un- 
ternehmungen bis  auf  winzige  Reste  ein- 
schrumpfen, werden  die  »petits  possesseurs« 
und  die  kleinen  und  mittleren  Betriebe 
weitaus  das  üebergewicht  erlangen,  d.  h.  eine 
soziale  Nivellierung  eintreten. 

AVenn  weder  der  Staat  noch  sonstige 
Zwangsgemeinschaften  sich  mehr  einmischen 
in  das  Erwerbsleben,  diesem  zum  Heile, 
jenem  zum  Schaden  —  wenn  jedermann 
gleiche,   freie   Bahn   geöffnet  ist,   so   wird 


1340 


Individualismus 


wirtschaftliche  Gerechtigkeit  waJten. 
»Chacun  ainsi  —  prophezeit  ein  Physiokrat 
—  dans  la  somme  totale  de  bonheur  com- 
mun,  prendra  la  somme  particuliere ,  qui 
doit  Im  appartenir.«  Denn  dann  werden  ja 
aUe  der  eigenen  Arbeit,  dem  eigenen  Kön- 
nen ihr  wirtschaftliches  Schicksal  danken. 

Die  ün^eichheit  des  Besitzes  wird  fort- 
bestehen. Da  sie  aber  nur  die  Differenz  der 
wirtschaftlichen  Tugenden  und  Leistungen 
wiederspiegeln,  nur  der  Reflex  der  naturge- 
gebenen Ungleichheit  der  Individuen  sein 
wird,  so  steht  sie  mit  der  Gerechtigkeits- 
idee in  Einklang. 

Selbstverantwortlichkeit  der  In- 
dividuen auf  wirtschaftlichem  Gebiet  —  das 
war  das  grosse  ethische  Ziel,  dem  die  Konkur- 
renz zu  dienen  bestimmt  war.  Das  Programm 
der  »non-interference«  entsprang  dem  Princip, 
dass  »suae  quisque  faber  fortunae«  werden, 
dass  jedermann  den  seinen  Kenntnissen  und 
Fähigkeiten,  seinem  Fleisse,  seiner  Sparsamkeit 
geziemenden  Rang  erhalten  solle.  Suum 
cuique  —  nur  das  darf  das  Individuum  als 
das  Seine  ansprechen,  was  es  aus  sich,  durch 
sich  selbst  erzeugt.  Nur  dies  ist  »properly 
his«,  wie  Locke  gesagt  hatte,  nur  »tiie 
labour  of  his  body,  the  work  of  his  hands«. 

Die  Liberalen  des  18.  Jahrhunderts  woll- 
ten keine  dem  Sonderinteresse  der  Bour- 
geoisie Vorschub  leistende,  sondern  eine  dem 
»interdt  de  tous«  entsprechende  Ordnung. 
Sie  mühten  sich  nachzuweisen,  dass  die  Kon- 
kurrenz jedes  Individuum  auf  diejenige 
Staffel  der  sozialen  Leiter  emportrage  oder 
herabzwinge,  welche  dem  höheren  oder  nie- 
deren Verdienste  des  Individuums  um 
die  Befriedigung  der  Bedtirfnisse  anderer 
Individuen  entspreche  —  dass  bei  freiem 
Wettbewerb  jedes  Individuum  zu  dem  Masse 
von  Lebensinhalt  gelange,  das  seiner  Indivi- 
dualität adäquat  sei,  und  so  die  Ansprüche 
aller  Mitglieder  der  staatsbürgerlichen  Ge- 
sellschaft gerecht  ausgeglichen  würden. 

Aber  nicht  nur  vom  ethischen  Stand- 
punkt, sondern  auch  vom  Standpunkt  der 
Zweckmässigkeit  erschien  den  Aposteln  des 
liberalen  Evangeliums  die  wirtschaftliche 
Ordnimg,  deren  Grundpfeiler  »liberty  and 
property«  sein  sollten,  als  die  denkbar  voll- 
kommenste :  denn  unter  ihr  werde  jedes  In- 
dividuum zum  Maximum  der  wirtschaftlichen 
Enei^e,  deren  es  fähig  sei,  zwingend  ge- 
spornt ;  unter  ihr  müsse  daher  den  Völkern 
das  Maximum  des  Reichtums  werden. 

Da  nun,  wie  gesagt,  die  Verteilung  des 
Volksreichtums  auf  die  einzelnen,  dank  der 
Konkurrenz,  gemäss  der  Norm  »jedem  nach 
seiner  Leistung«  sich  vollziehe,  so  sei  wie 
den  Interessen  der  Individuen  an  möglichster 
Steigerung  des  materiellen  Geniessens,  so 
demPostiüat  der  Gleichberechtigung  gleidier- 
weise  genug  gethan,  sei  die  »inviolable  union 


entre   l'intör^t  bien  entendu   et  la  justice« 
erzielt. 

Nachdem  diese  neue  Ordnung  ins  Leben 
getreten,  werde  die  paradiesische  Welt  des 
sozialen  Friedens,  werde  das  goldene  Zeit- 
alter, dessen  die  ersten  Geschlechter  der 
Menschen  sich  gefreut,  wiederkehren  und 
so  der  Zirkel  der  geschichtlichen  Enti^icke- 
lung  sich  voUenden.  — 

Dies  liberale  System  erobert  sich,  nach- 
dem es  zuerst  in  Frankreich  und  England 
festen  Fuss  gefesst,  ein  immer  weiteres 
Reich.  Die  Doktrin  der  Locke  und  Montes- 
quieu, der  Quesnay  und  Ad.  Smith,  ist 
schon  um  die  Wende  des  18.  zum  19.  Jahr- 
hundert Gemeingut  der  führenden  Geister 
der  Kulturwelt  geworden.  Mit  der  franzö- 
sischen Revolution  beginnt  sie  sich  in  That 
umzusetzen;  wie  —  mit  Ausnahme  Russ- 
lands —  überall  die  absolutistische  Verfas- 
sung der  konstitutionellen  weicht,  so  die 
merkantilistische  Verwaltung  der  der  »non- 
interference«.  — 

Der  Kommunismus  als  die  zweite 
Erscheinungsform  der  Rechts- 
doktrin. 

Das  liberale  System  triumphierte;  aber 
kaum  hatte  es  seinen  Siegeslauf  angeti-eten, 
so  entstand  ihm  ein  Gegner  im  eigenen 
Lager  des  Individualismus.  Kaum  war 
durch  die  physiokratisch-smithsche  Schule  die 
Bresche  in  den  Wall  des  »Ancien  Regime« 
gelegt,  so  drängten  die  Vertreter  kommu- 
nistischer Systeme  nach,  versuchten  das  er- 
oberte Land  für  sich  zu  occupieren. 

Wir  haben  zunächst  das  Verhältnis 
zwischen  Liberalismus  und  Kommunismus 
im  aligemeinen  zu  kennzeichnen.  Während 
die  physiokratisch-smithsche  Schule  ilire 
Wirtschaftsordnung  alif  die  Grundpfeiler  des 
Sondereigentums  und  der  Konkurrenz  aufhaut, 
so  geht  durch  aUe  die  ökonomischen  Ideale, 
w^elche  die  kommunistische  Bewegimg  her- 
vorgetrieben hat,  ein  Zug  zu  Gemeineigen- 
tum an  den  Arbeitsmitteln  und  Gemeinleitung 
der  Arbeit  (Organisation  du  travaü) :  nur  ist 
der  Kreis  jenes  und  dieser  bald  enger,  bald 
weiter  abgesteckt 

Was  das  Programm  betrifft,  so  liegt 
zwischen  den  liberalen  und  den  kommu- 
nistischen Systemen  eine  mehr  oder  minder 
tiefe  Kluft.  Durch  die  Identität  des  ethischen 
Kernsatzes,  des  Individualprincips,  sind  sie 
dagegen  aufs  engste  verbunden:  der  Kom- 
munismus kennzeichnet  sich,  mit  Schäffles 
prägnanter  Formel,  kurz  als  »potenzierten 
Individualismus«.  Heute,  wo  Bourgeoisie 
und  Proletariat  —  jene  eingeschworen  auf 
die  Losung  »liberty  and  property«,  dieses 
auf  kollektivistische  Manifeste  des  oder  jenes 
Wortlauts  —  in  schroffster  Feindschaft  ein- 
ander befehden,  wird  über  der  Verschieden- 


Individuaüsmus 


1341 


heit  der  praktischen  Ziele  die  Gleichheit  des 
Dogmas  oft  übersehen. 

Zwar  sind  die  ersten  namhaften  Apostel 
einer  der  liberalen  entgegengesetzten  kollek- 
tivistischen Ordnung  —  Rousseau  und  Mably, 
Robespierre  und  St.  Just  —  Anti-Individua- 
listen. Sie  erstreben  die  Gütergemeinschaft 
nicht  deshalb,  damit  jeder  etwas  habe,  son- 
dern damit  keiner  etwas  habe,  weil  das 
Sondereigentum  kraft  seiner  Folge,  der 
Eigensucht,  den  Erbfeind  der  Tugend  bilde, 
den  Krebsschaden  des  Sozialkörpers.  Ihr 
Ideal  ist  nicht  das  *bonheur  commun«,  son- 
dern das  »regne  de  la  vertu«,  das  Analogen 
des  Platonischen  Staates  und  des  Gottes- 
reiches der  Theologen. 

Aber  gleichzeitig  findet,  in  Frankreich 
wie  in  England,  die  Fordenmg  der  Güter- 
gemeinschaft ihre  Begründung  auch  vom 
individualistischen  Standpunkte.  In  der 
sozial  -  revolutionären  Litteratur,  die  gegen 
Ende  des  Jahrhunderts  die  Massen  jenseits 
und  diesseits  des  Kanals  erregt,  kommt  die 
Begierde  des  Individuiuns  nach  Gleichheit 
des  Geniessens,  statt  blosser  Gleich- 
berechtigung, zu  leidenschaftlichem  Aus- 
di'uck. 

Wenn  das  Verhältnis  zwischen  Liberalis- 
mus und  Kommunismus  dahin  bestimmt  wird, 
dass  letzterer  das  Postulat  der  »ögalito  de 
droit«,  bei  dem  elfterer  Halt  mache,  zum 
Postulat  der  »^galite  de  fait«  erweitert  habe, 
so  trifft  dies  —  wie  eben  angedeutet  — 
wenigstens  teilweise  zu  für  die  kommu- 
nistische Bewegimg  während  des  letzten 
Decennium  des  siecle  Voltaire.  Aber  in  deren 
weiterem  Verlaufe  wird  dieser  radikale,  plötz- 
üche  Sprung  ignoriert:  schrittweise  voll- 
zieht sich  die  Entwickelung  des  Kommunis- 
mus aus  dem  Liberalismus  und  die  immer 
schärfere  Differenzierung  dieses  und  jenes. 

Diese  Entwickelung  und  Differenziening 
betrifft  erstens  die  Gerechtigkeits- 
idee: wird  auch  das  Individualprincip 
festgehalten,  so  wird  doch  der  Begnff  des 
individualistisch  Gerechten  später  anders  ge- 
fasst  als  früher.  Sie  betrifft  zweitens  das 
behufs  des  Zwecks  des  »bonheur  commun« 
entworfene  Programm  einer  neuen  öko- 
nomischen Ordnung. 

A.  Entwickelung  des  Kommunismus  mit 
Rücksicht  auf  die  den  Systemen  zu  Grunde 
liegenden  Gerechtigkeitsideeen. 

1.  Den  zeitlich  älteren  kommunistischen 
Systemen  liegt  die  liberale  Gereclitigkeits- 
idee  zu  Grunde,  die  Lockesche  Norm: 
Jedem  nach  seiner  Arbeit  Von  ihnen 
gut  das  Wort  eines  französischen  Schrift- 
stellers, dass  sie  in  »filiation  continuelle«  aus 
dem  liberalen  System  herauswachsen. 

Mit  logischer  Notwendigkeit  nahm  das 
erste  kommunistische  System,  welches  in 
weiteren  Kreisen  Anhänger  warb,  das  in  der 


liberalen  Wirtschaftsordnung  zugelassene 
Erbrecht  zum  Stichpunkt  seines  Angriffs. 
Schon  der  radikal  Liberale  Bentham 
hatte  auf  dessen  Beschränkung  gedrungen; 
die  Schule  des  Grafen  St.  Simon  forderte 
die  gänzliche  Aufhebung.  Weit  entfernt, 
dem  Individuum  den  Privatbesitz  und  die 
wirtschaftliche  Freiheit  schmälern  zu  wollen 
oder  gar  die  Gleichheit  des  Geniessens  zu 
erstreben,  bezielt  dieser  Erbschaftskom- 
munismus nur,  dass  jedermann  sich  allein, 
nicht  dem  Fleisse  der  Ahnen,  dem  Zufall  der 
Geburt,  sein  wirtschaftliches  Los  danke. 
Der  Staat  soll  nur  erben  statt  des  Indivi- 
duum, um  die  Erbschaft  dem  besten  Wirte 
zuzuführen;  nur  in  einem  Momente  soll  das 
individuelle  Eigentum  zu  Gemeineigentum 
werden,  sonst  alles  beim  Alten  bleiben. 
»A  chacun  selon  sa  capacit6,  a  chaque 
capacite  selon  ses  oeuvres«  —  der  Wortlaut 
der  Formel  ist  St.  Simonistischen  Ursprunges, 
aber  sachlich  deckt  sie  sich  völlig  mit  der 
liberalen  Gerechtigkeitsidee.  Seitens  der 
St.  Simonisten  wird  nur  eine  Folgerung 
gezogen,  welche  der  Liberalismus  des  18. 
Jahrhunderts  keineswegs  übersehen,  deren 
ethische  Berechtigung  er  zugegeben,  die  er 
jedoch  aus  Zweckmässigkeitsgründen  abge- 
lehnt liatte. 

Es  war  nicht  minder  logisch  notwendig, 
dass,  ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  Erb- 
recht, das  private  Gnmdeigentum  in  die 
Acht  erklärt  wurde.  War  das  Erbrecht  die 
eine,  so  war  das  Recht  auf  Grundrente,  auf 
solches  »unearned  increment«,  die  zweite 
Inkonsequenz  des  liberalen  Systems.  Der 
Bodenkommunismus,  d.  h.  das  kom- 
munistische System,  nach  welchem  das 
Grundeigentum  verstaatlicht  werden  soll, 
dagegen  Sondereigentum  an  Kapital  und 
Konkurrenz  weiter  bestehen,  will  nichts  als 
Ernst  machen  mit  dem  Princip  der  Quesnay 
und  Smith,  dass  niemand  oluie  Arbeit  ge- 
niessen  dürfe,  dass  Arbeit  und  Genuss  im 
Verhältnis  stehen  müssen. 

Wie  die  Erbrechts-,  so  ist  auch  die  Gnmd- 
eigentnmsfrage  schon  den  Begründern  des 
Liberalismus  eine  „wohl  aufzuwerfende  Frage" 
gewesen. 

Nachdem  Locke  seine  Rechtfertigung  des 
Sondereigentums  auf  den  Satz  gestellt  hat,  dass, 
wenn  auch  die  Erde  den  Menschen  zu  gemein- 
samem Eigentum  gegeben  sei,  das  Individuum 
doch  das  Produkt  seiner  individuellen  Arbeit  als 
„property  his"  betrachten  und  zu  seinem  von 
den  übngen  zu  respektierenden  Dominium  er- 
klären dürfe,  stösst  er  auf  das  Problem,  mit 
dieser  „great  foundation  of  property"  das  Vor- 
kommen i^rosser  Vermögen  in  Einklang  zu 
bringen.   Wird  denn  nicht  durch  solche  ^enlar^ed 

Eossessions",  die  nicht  aus  der  Arbeit  der  In- 
aber  stammen  und  nicht  durch  ihre,  sondern, 
grösstenteils  wenigstens,  durch  die  Arbeit  Dritter 
nutzbar  gemacht  werden, 'dem  Satze,  dass  nur 
eigene  Arbeit  den  Rechtsgrnnd  des  Eigentums 


1342 


Individualismus 


an  beweglichen  wie  unbeweglichen  Dingen  bilden 
könne,  ins  Gesicht  geschlagen? 

Um  die  Entstehung  grosser  Yermögeu  zu 
erklären  und  solche  zu  rechtfertigen,  erfindet 
Locke  zunächst  die  Erfindung  des  Geldes  und 
einen  Sozialvertrag:,  durch  welchen  die  Mitglieder 
der  staatsbürgerlichen  Gesellschaft  übereinge- 
kommen seien  ^to  put  value  on  it";  ausserdem 
aber  noch,  speciell  zur  Legitimation  der  grossen 
Grundvermögen,  zwei  weitere  Sozialverträge, 
einen  Staats-  und  einen  völkerrechtlichen,  und 
schliesslich  weist  er  auf  das  Freiland  in  Uebersee 
hin,  auf  dem  das  natürliche  Becht  jedes  Indi- 
viduums, durch  Arbeit  Anteil  an  der  den  Menschen 
zu  gemeinsamem  Eigentum  gegebenen  Erde  zu 
erlangen,  sich  geltend  machen  Könne. 

Auch  Ad.  Smith  entgeht  die  Thatsache 
nicht,  dass  das  Sondereigentum  am  Boden  mit 
seiner  Konsequenz,  der  Kente,  ein  arbeitsloses, 
unverdientes  Geniessen  ermöglicht,  ein  Recht, 
dem  keine  es  legitimierende  Leistung  entspricht. 
Man  kann  den  Satz,  dass  die  Rente  aus  An- 
eignung eines  Teiles  des  Arbeitsproduktes 
anderer  erwächst,  kaum  deutlicher  machen  als 
durch  die  von  ihm  angezogenen  Fälle  (I,  Kap. 
XI).  „Die  Grundherren  wollen  ernten,  wo  sie 
nicht  gesäet"  —  aber  die  Frage,  ob  und  wie 
dieser  Verletzung  der  Gerechtigkeitsidee  abge- 
holfen werden  könne,  stellt  er  sich  nicht.  Er 
sagt  einfach,  dass  „der  ursprüngliche  Zustand, 
in  dem  der  Arbeiter  das  volle  Produkt  seiner 
Arbeit  bezog,"  —  d.  h.  der  dem  Lockeschen 
Princip  vom  Arbeitseigentum  entsprechende  Zu- 
stand —  „nicht  über  das  erste  Auftauchen  des 
Grundeigentums  .  .  .  andauern  konnte"  (I,  Kap. 
VIII). 

Die  Physiokraten  dageg-en  stellen  sich 
jene  Frage.  Ohne  zu  dem  von  ihnen  mit  Recht 
verspotteten  Hilfsmittel  der  Sozialverträge,  der 
„Conventions  ou  Etablissements  arbitraires*^,  zu 
greifen,  bemühen  sie  sich,  das  Sondereigentum 
am  Boden  zu  rechtfertigen,  indem  sie  einer- 
seits, wie  zu  Gunsten  des  Erbrechts,  Zweck- 
mässigkeitsgründe dafür  beibringen,  anderer- 
seits die  Ungerechtigkeit  des  Bezugs  von  wirt- 
schaftlich unverdienter,  durch  eigene  Arbeit 
nicht  legitimierter  Bodenrente  dadurch  aus  der 
Welt  zu  schaffen  suchen,  dass  sie  den  grossen 
Grundherren  die  Pflicht  auferlegen,  den  übrigen 
Mitgliedern  der  Gesellschaft  gewisse  wichtige 
Dienste  ohne  Entgelt  zu  leisten.  „Les  riches 
proprietaires  sont  etablis  . .  ,  pour  exercer 
Sans  retribution  les  fonctions  publiques."  Das 
arbeitslose  Einkommen  der  Landmagnaten  soll 
nicht  in  einer  unwürdigen  „oisivete"  vergeudet, 
sondern  auf  diesem  Wege  verdient  werden.  So 
wird  an  dem  zunächst  von  der  Kritik  (Mahl y, 
Graslin)  blossgelegten  Punkte  die  „justice" 
des  ,, ordre  naturel"  gerettet. 

Wenn  das  Grossgrundeigentum  auf  diese 
Weise  mit  dem  Princip  vom  Arbeitseigentum 
in  Einklang  gebracht  ist  und  ferner  auch  die 
,,fortunes  immenses",  die  grossen  Geldvermö^en 
—  durch  Aufhebung  der  Monopole  und  Privi- 
legien der  Fabrikanten  und  der  Handelskom- 
pagnieen,  durch  Beseitigung  des  Systems  der 
Steuerverpachtung,  durch  möglichst  seltene  und 
geringe  Inanspruchnahme  des  Staatskredits  — 
verschwunden  sein  werden,  so  wird^  meinen  sie, 
niemand  mehr  sich  auf  Kosten  eines  anderen 
bereichern  können. 


Man  mag  die  Art,  wie  Locke,  A.  Smith, 
die  Physiokraten  sich  mit  dem  Bedenken  der 
Ungerechtigkeit  des  Grundeigentums  abfinden, 
rügen.  Es  ist  aber  historisch  durchaus  zu  be- 
greifen, dass  sie,  obgleich  sie  erkennen,  dass 
hier  „etwas  faul  ist",  es  mit  der  Kur  wenig' 
Ernst  nehmen.  Denn  das  einzige,  ^rincipieU 
und  technisch  richtige  Mittel  (eben  die  Boden- 
verstaatlichung, wie  der  Bodenkommunisrnns  sie 
fordert)  musste  den  Männern,  welchen  der  Staat 
als  die  fleischgewordene  Willkür  vor  Augen 
stand,  als  völlig  indiskutabel  dünken  —  als  ein 
Mittel,  das  ein  kleineres  Uebel  heilt,  um  ein 
grösseres  zu  erzeugen. 

Nachdem  er  den  einen  Grundpfeiler  der 
liberalen  Wirtschaftsordnung  unterminiert 
hat,  bohrt  der  »potenzielle  Individualismuß« 
den  zweiten  an :  die  Konkurrenz.  Im  Mittel- 
punkt der  Systeme  Owens  und  Prou- 
dhons  steht  der  Satz,  dass  die  Konkurrenz 
eine  Verteilung  der  Güter  nach  der  Norm 
»Jedem  nach  seiner  Arbeit«  nicht  bewirke; 
es  sei  keineswegs  gewährleistet,  dass  Ver- 
käufer und  Käufer  von  Waren  oder  Diensten 
gleichen  Wert  hingeben  und  empfangen,  dass 
der  wirtschaftliche  Nutzen  des  Tauschakts 
ein  für  beide  gleich  grosser,  ein  durchaus 
wechselseitiger  sei.  Daher  heischt  der 
Mutualismus  (so  nennen  Proudhon  und 
seine  Schule  ihr  System,  der  Name  passt 
aber  auch  auf  das  System  Owens)  eine  Or- 
ganisation des  Tauschverkehrs,  welche  jedem 
Produzenten  den  gerechten  Preis,  den  wahren, 
nach  Massgabe  der  aufgewandten  Arbeit  zu 
bestimmenden  Wert  (Constitution  de  la  valeiir) 
sichert. 

Hier  wird  jenes,  dort  dieses  Progi'amm 
vertreten  —  aber  als  gemeinsames  Band 
schlingt  sich  um  diese  Gruppe  der  kommu- 
nistischen Systeme  die  Gerechtigkeitsidee 
des  Liberalismus.  Wirtschaftliche  Ungleich- 
heit gut  als  gerecht,  sofern  sie  nur  die  Wir- 
kung der  naturgegebenen  Ungleichheit  der 
Individuen  in  intellektueller,  moralischer, 
koiporeller  Hinsicht  ist;  wer  mehr  zu  pro- 
duzieren vermag,  soll  auch  melir  konsumieren 
dürfen,  das  Mass  des  Genusses  der  Grosse 
des  Airbeitsertrags  j)roportional  sein. 

In  seiner  ersten  Periode  zählt  auch  der 
Marxismus  zu  dieser  Gruppe.  Denn  noch 
im  Eisenacher  Programm  von  1869  fordert 
er  die  Garantie  des  »vollen  Arbeitsertrags 
für  jeden  Arbeiter«,  will  die  Norm  »jedem 
nach  seiner  individuellen  Leistungc  der 
Güterverteilung  zu  Grunde  legen. 

2.  Die  zweite  Gruppe  der  kommunistischen 
Systeme  setzt  an  die  Stelle  der  liberalen 
Gerechtigkeitsidee  die  Norm :  Jedemnach 
seinen  Bedürfnissen. 

Kann  denn  —  fragen  die  Vertreter  dieser 
Gruppe  ^Cabet  u.  s.  w.)  —  die  naturgegebene 
Ungleichneit,  welche  die  Differenzierung  des 
Produkts  der  Individuen  zur  Folge  hat,  einen 
Rechtsgrund  dafür  abgeben,  die  Individuen 


Individualismus 


1343 


imgleich  zu  beteiligen  am  Gesamtprodukt? 
Die  Antwort  lautet  verneinend.  Den  einen 
hat  die  Natur  die  Gaben  der  Klugheit,  des 
Fleisses,  der  Kraft  und  der  Geschicklichkeit 
in  die  Wiege  gelegt,  den  anderen  nicht; 
weshalb  aber  sollen  die  Sonntagskinder  ein 
grösseres  Recht  auf  Genuss  haben  als  die 
übrigen,  weshalb  die  Gunst  der  Natur,  die 
sie  nicht  verdient,  jenen  einen  Vorrang  aus- 
wirken vor  diesen,  die  ihre  Ungunst  nicht 
verschuldet? 

Jedes  Individuum  hat  die  Pflicht,  das 
Höchstmass  von  Arbeit  einzusetzen,  und  die 
höchstwertige  Art  von  Arbeit  zu  verrichten, 
welche  seine  Individualität  ihm  gestattet. 
Wenn  das  Individuum  quantitativ  Geringeres 
oder  qualitativ  Schlechteres  leistet,  als  es 
leisten  könnte,  so  gebührt  ihm  Strafe.  Nicht 
aber  ist  ihm  ein  Recht  auf  Prämie  zuzu- 
gestehen, wenn  es  leistet,  was  es  leisten 
kann  —  *es  giebt  für  das  Individuum  nur 
eine  Belohnung:  die  Freiheit  zur  Bethäti- 
gung  seiner  besonderen  Anlagen«  (Morris), 
und  diese  genügt  voUauf. 

Wenn,  bei  gleicher  Arbeitsart,  der  eine 
in  gleicher  Stundenzahl  mehr  fertig  bringt 
als  der  andere,  wenn  jener  zum  Ingenieur, 
dieser  nur  zum  Grobschmied,  jener  zum 
Kunsttischler,  dieser  nur  zum  Holzhacker 
taugt  —  faUs  sie  alle  ihr  Bestes  thun,  so 
haben  sie  Gleiches  gethan.  Nur  die  natur- 
gegebene Ungleichheit  der  Bedürfnisse,  nicht 
die  der  Fähigkeiten  darf  die  Richtschnur  der 
Güterverteihmg  bilden.  »De  chacun  selon 
ses  facultas,  a  chacun  selon  ses  besoins«. 
Als  Produzent  soU  jedes  Indi\dduum  seine 
Individualität  voll  entfalten,  indem  es  gemäss 
ihrer  zur  Vermehrung  des  materiellen  Glücks 
aller  beiträgt ;  als  Konsument,  indem  gemäss 
ihrer  die  Quote  sich  bestimmt,  welche  ihm 
von  der  »somme  totale  de  bonheur  conmiun« 
zukommt 

Dass  diese  zweite  Gruppe  die  Gerechtig- 
keitsidee in  dieser  Weise  fasst,  hat  seinen 
Grund  darin,  dass  sie  die  Idee  des  einen 
Menschentums  strikter  interpretiert  als  die 
erstere.  Das  Solidaritätsgefühl,  das  Bewusst- 
sein  der  Blutsverwandtschaft  der  »creatures 
of  the  same  rank  and  species«  ist  in  ihr 
weit  lebendiger.  Dadurch  wird  sie  zu  der 
Forderung  geleitet,  dass  die  von  Natur 
vor  anderen  begnadeten,  die  zuföllig  mit 
den  über  die  Gattung  verstreuten  Gaben 
reicher  ausgerüsteten  Einzelwesen  diese 
Differenz,  diese  Ueberlegenheit  ihrer  wirt- 
schaftlichen Kapacität,  nicht  zu  eigenem 
Nutzen,  sondern  zu  Nutzen  Aller  zu  ge- 
brauchen haben:  sie  geben  damit  nur  der 
Menschheit  wieder,  was  der  Menschheit  ist. 

Während  im  liberalen  System  imd  in 
jener  ersteren  Gruppe  kommunistischer 
Systeme  die  Doktrin  der  gegenseitig  anzu- 
erkennenden Naturrechte  und  Naturpflichten 


(droits  et  devoirs  röciproques,  s.  o.)  mehr 
nach  der  Seite  der  Rechte  hin  ent- 
wickelt ist,  so  in  dieser  zweiten  Gruppe 
nach  der  Seite  der  Pflichten  hin. 

Mit  dem  Gothaer  Programm  von  1875 
hat  der  Marxismus  sich  zu  dieser  zweiten 
Gruppe  gesellt:  »bei  gleicher  Arbeitspflicht 
nach  gleichem  Rechte,  jedem  nach  seinen 
vernunftgemässen  Bedürfnissen«. 

Die  Brücke  zwischen  beiden  Gruppen  bilden 
die  Vertreter  der  Norm  der  Gleichwertigkeit 
der  Arbeits  arten  (6qaivalence  des  fonctions: 
L.  Blanc). 

Mit  den  Erbschaftskommunisten  und  den 
Bodenkommunisten  halten  sie  an  dem  Priucip 
„jedem  nach  seiner  Arbeit"  fest.  Aber  wie  die, 
welche  die  Güterverteilung  nach  dem  Massstabe 
des  Bedürfnisses  vollzo&^en  wissen  wollen,  er- 
klären sie  es  für  Zufall^  dass  der  eine  mehr-, 
der  andere  minderwertige  Arbeit  zu  leisten 
vermag.  Die  Höhe  des  Anspruches  des  Individuum 
am  Gesamtprodukt  sei  ausschliesslich  zu  be- 
messen nach  der  Länge  der  Arbeitsdauer,  d.  h. 
nach  dem  Quantum  Lebenszeit,  das  es  der  Ge- 
samtheit zur  Verfügung  stellt ;  Arbeit  jeder  Art 
begründe,  wenn  gleiche  Zeit  kostend,  gleichen 
Anspruch. 

B.  Entwickelung  des  Kommunismus  mit 
Rücksicht  auf  das  Programm  einer  neuen 
ökonomischen  Onlnung. 

Wie  der  »potenzierte  Individualismus« 
ursprünglich  die  liberale  Gerechtigkeitsidee 
als  gegeben  hinnimmt  und  immer  konse- 
quenter zu  verwirklichen  strebt,  schliesslich 
aber  sie  durch  eine  neue  ersetzt,  so  entfernt 
sich  die  kommunistische  Bewegung  auch  in 
Bezug  auf  den  Organisationsplan  nur  all- 
mählich vom  liberalen  System,  gelangt  erst 
durch  manche  Zwischenstufen  zur  Aufstel- 
lung eines  dem  liberalen  völlig  entgegenge- 
setzten Programms. 

Zunächst  bezielte  sie  (s.  o.)  nichts  weiter, 
als  dass  der  Inhalt  des  Sondereigentums 
durch  die  Verstaatlichung  des  Erbrechts 
bezw.  dessen  Umfang  durch  die  Verstaat- 
lichung des  Bodens  verengt  werde.  Der 
andere  Grimdpfeiler  der  liberalen  Ordnung, 
die  Konkurrenz,  sollte  bestehen  bleiben.  Bis 
in  die  Mitte  des  Jahrhunderts  hinein  ward 
der  liberalen  Maxime  der  Nicht-Intervention 
des  Staates  ziemlich  strenge  Reverenz  er- 
wiesen —  von  Owen  wie  von  Proudhon, 
von  L.  Blanc,  dessen  Produktivassociationen 
(allerdings  mit  einiger  Unterstützung  und 
Direktive  von  Staatswegen)  durch  ihre 
Konkurrenz  die  privatkapitalistischen  Be- 
triebe überwinden  sollten,  wie  von  dessen 
Nachtreter  Lassalle. 

Im  Geiste  aller  dieser  Reformatoren 
haftet  noch  das  liberale  Credo,  dass,  vom. 
Zweckmässigkeitsstandpunkt  aus  betrachtet, 
eine  centralistische,  aui  Gemeineigentum  an 
allen  Arbeitsmitteln  imd  Gemeinleitung  aller 
Arbeit  beruhende  Ordnung,  starke  Bedenken 
gegen,   sich  habe  —  dass  dem  Ziele  mög- 


1344 


Individualismus 


liebster  Steigerung  des  Yolksi^eich- 
tums  durch  das  freie  Spiel  der  Einzelkräfte 
sicherer  und  einfacher  gedient  werde.  Wo 
sie  an  Sondereigentum  und  Konkurrenz  ab- 
brechen wollen,  motivieren  sie  diese  Korrek- 
turen —  wenn  auch  nicht  ausschliesslich, 
aber  in  erster  Linie  —  aus  der  Rücksicht 
auf  das  Ziel  möglichst  gerechter 
Yerteilung  des  Volksreichtiuns. 

Wie  die  Liberalen,  so  misstrauen  auch 
sie  dem  Staate  als  Generaldirektor  der  Volks- 
wirtschaft. Von  den  Erbschaftskommunisten 
wird  ihm  nur  die  Funktion  übertragen,  den 
sachverständigen,  unparteiischen  Vermittler 
zwischen  dem  früheren  Besitzer  und  dem 
Nachfolger  zu  spielen.  Die  Bodenkommu- 
nisten erheben  zwar  den  Staat  zum  Eigen- 
tümer des  Landes,  verwehren  ihm  aber  die 
Einmischung  in  die  Landwirtschaft:  die  In- 
dividuen verstehen  sich  besser  auf  den  Be- 
trieb. 

Bei  Owen  und  Proudhon,  L.  Blanc  und 
Lassalle  —  auch  bei  Fourier,  der  meint, 
mitten  in  die  ökonomische  Welt,  die  ist,  die 
ideale  seiner  »phalansteres«  hineinbauen  zu 
können  —  ist  die  Grenossenschaft  der 
»Spiritus  regens«  des  Erwerbslebens. 

Alle  diese  Kommunisten  scheuen  von 
einer  Wiederannäherung  an  das  bureaukra- 
tische  »Ancien  Regime«  zurück,  huldigen  — 
wie  Proudhon  es  so  scharf  von  sich  be- 
tont —  der  Maxime,  dass  die  Staatslosigkeit, 
die  »Anarchie«,  auf  ökonomischem  Gebiete 
so  weit  gehen  müsse,  wie  die  Rücksicht 
auf  die  Gerechtigkeitsidee  irgend  zulässt 

Erst  der  Marxismus  übei*windet  jene 
Staatsscheu  —  nur  in  seinem  Jargon  klingt 
sie  noch  nach,  indem  er  sorgfältig  vermeidet 
vom  »Staate«  zu  sprechen  und  dafür  »Ge- 
sellschaft« sagt. 

Im  schroffsten  Gegensatze  zu  jenen 
älteren  bezw.  gleichzeitigen  Systemen 
(Proudhon),  die  er  mit  dem  Stigma  des 
»Kleinbürgerlichen«,  des  noch  vom  liberalen 
Denken  Abhängigen  tiifft,  vertritt  er  eine 
centralistische  Wirtschaftsverfassung, 
wiU  alles  Eigentum  in  die  Hand  der  Ge- 
sellschaft legen,  ihr  die  souveräne  Leitung 
von  Produktion,  Circulation,  Distribution 
überantworten.  Um  dem  Vorwiu-fe  der 
/> Staatssklaverei«  zu  entgehen,  um  dem  riva- 
lisierenden System  Bakunins,  dem  Anar- 
chismus, welcher  seinen  Jüngern  vollste 
Gerechtigkeit  bei  vollster  Freiheit  von  allem 
behördlichen  Zwange  verheisst,  die  Sjntze 
zu  bieten,  suchen  natürlich  die  Marxisten 
den  Nachweis  zu  führen,  dass  trotz  der 
»Organisation  der  Arbeit«  in  ihrem  Zukunfts- 
staate das  Princip  der  Autonomie  des  Indi- 
viduums nicht  minder  gewälirleistet  sei  wie 
in  der  »amoi-phen«  Gesellschaft  Proudhon- 
scher  oder  Bakuninscher  Observanz. 

Der  Grund  dieses  Wechsels  im  Organi- 


sationsplane, dieses  Emporkommens  eine^ 
Systems,  welches  eine  Ordnung  anstrebt 
die  das  diametrale  Gegenteil  der  liberalen 
bildet,  ist  hier  nur  kurz  anzudeuten.  Er 
liegt  erstens  darin,  dass  allmählich,  vor  allem 
durch  die  rasch  sich  folgenden,  schweren 
Krisen  der  dreissi^r  und  vierziger  Jahre, 
der  Glaube  an  die  Zweckmässigkeit  des 
»laissez-faire«  erschüttert  ist;  durch  die  Er- 
fahrung scheint  die  These  erwiesen,  dass, 
im  Zeichen  der  »Desorganisation«,  weder 
das  Ziel  möglichst  gerechter  Verteilung 
noch  das  Ziel  möglichster  Steigerung  des 
Volksreichtums  erreicht  werden  könne.  Der 
Grund  liegt  zweitens  darin^  dass  immer 
mehr  der  Zug  zum  Grossbetnebe  sich  Bahn 
gebrochen  hat.  Je  weiter  diese  Entwicke- 
lung  fortschreitet,  mit  anderen  Worten  je 
koncentrierter  und  bureaukratischer  im 
Gegenwartsstaate  das  Erwerbsleben  sich  ge- 
staltet, je  mehr,  infolge  des  Zugs  zum  Gn»»- 
betrieb,  Aktiengesellschaften  und  später  dann 
Kartelle  an  die  Stelle  der  Individualbetriebe 
treten,  desto  plausibler  wird  ein  Zukimfts- 
staat,  wie  der  Marxismus  ihn  sich  kon- 
struiert hat. 

Dieser  »wissenschaftliche  Sozialismusc 
der  Marx  sehen  Schule  möchte  eine  scharfe 
Grenze  ziehen  z-vsischen  sich  und  den  »Uto- 
pisten«, d.  h.  den  Vorgängern,  die  gewissen 
ethischen  Normen,  gewissen  Gerechtigkeits- 
ideeen  zuliebe,  eine  neue  Ordnung  mittelst 
Deduktion  ersonnen  hätten.  Stolz  auf 
seine  »materialistische  Geschichtsphilosophiet 
leugnet  er,  dass  er  einem  Ideal  nachtrachte, 
si)6ttet  er  über  die  aus  dem  Gehirne  ge- 
zogenen Bilder  einer  schlechthin  vollkom- 
menen Wirtschaftsverfassung,  Der  Zukunfts- 
staat, den  er  male,  sei  mittelst  Induktion 
aus  den  Thatsächen  geschöpft,  sei  gewonnen 
auf  Grund  der  Erkenntnis,  dass  mit  Not- 
wendigkeit die  Evolution  der  privatkapita- 
listischen zur  societären  Produktionsweise 
sich  vollziehen  werde.  Was  bei  St  Simon. 
Fourier,  Owen  u.  s.  w.  als  ein  subjektiv 
gesetztes  und  gewolltes  Programm  erscheint 
giebt  sich  bei  den  Marxisten  als  ein  objek- 
tiv bestimmtes,  durch  die  Macht  der  That- 
sächen erzwungenes  Resultat  Die  Marxisten 
entwerfen  —  so  behaupten  sie  wenigstens 
—  kein  Programm,  sondern  stellen  eine 
Prognose.  Sie  sagen  nicht:  die  künftige  Ord- 
nung soll  so  gestaltet  werden,  damit  das 
Individualpiincip  sich  verwirkliche :  sondern : 
sie  wird  so  werden,  weil  die  heutige  Onl- 
nung  gewisse  in  dieser  Richtung  wirkende 
Kräfte  ausgelöst  hat. 

Die  Methode,  mittelst  deren  diese  Schule 
zur  Erkenntnis  des  Zukunftsstaates  gelangt, 
weicht  allerdings  ab  von  jener  der  >  Uto- 
pisten«. Dass  aber  dem  Marxismus  jede 
ethische  Voraussetzung  fehle  —  dass  hier 
rein  kausal  beti^achtet  und  gefolgert  werde. 


Individualismus — Indult 


1345 


trifft  nicht  zu.  Im  »Kapital«  ist  allerdings, 
bis  auf  ganz  wenige  Sätze,  keine  Beziehung 
auf  ethische  Normen  bemerkbar;  wer  aber 
z.  B.  einen  Blick  wirft  in  den  Abschnitt 
»SozialisieruQg  der  Gesellschaft«  von  Bebeis 
»Die  Frau  und  der  Sozialismus«,  erkennt, 
dass  auch  der  Marxismus,  gleich  seinen  Vor- 
gängern, der  individualistischen  Grundan- 
Bchauung  huldigt  —  dass  auch  er  im  Banne 
eines  Dq^as  steht,  das,  dem  Wesen  nach 
identisch  ißt  mit  dem,  zu  welchem  Grotius 
und  Locke,  Quesnay  und  Ad.  Smith  und 
die  »kleinbürgerlichen«  Kommunisten  sich 
bekennen. 

Ist  der  Liberalismus  der  ältere, 
80  der  Kommunismus  der  jüngere 
Bruder  aus  dem  Schosse  der  individualis- 
tischen Rechtsdoktrin.  Die  herrschende 
Natimrechtslehre  des  17.  und  18.  Jahrhun- 
derts, Physiokratismus  und  Smithianismus, 
die  kommunistischen  Systeme  in  ihren  zahl- 
losen Varianten  sind  alle  empfangen  aus 
dem  gleichen  Axiome,  dem  Individualprincip ; 
aüe  verbunden  durch  das  gleiche  Ideal :  die 
Herstellung  eines  Zustandes,  in  dem  das 
Postulat  der  Gleichberechtigung  und  Gleich- 
verpflichtimg aller  Individuen  in  Wahrheit 
erfüllt  und  »das  grösste  Glück  der  grössten 

Zahl«  gesichert  werde. 

Heinrich  JHetzel» 


Indult 

(Moratorium). 


1.  Einleitung.  2.  Aelieres  Recht.  3.  Neueres 
Recht.    4.  Generalindulte. 

1.  Einleitung.  Unter  Indult  oder 
Moratorium  versteht  man  einen  dem 
Schuldner  durch  Akt  der  Staatsgewalt  ge- 
gebenen Ausstand  zur  ErfüDung  fälliger 
Verbindlichkeiten.  Beide  Ausdrücke  sind 
erst  im  spätei-en  Mittelalter  entstanden,  der 
erstei-e  im  Anschluss  an  den  Sprachgebrauch 
des  kanonischen  Rechts,  der  letztere  in  An- 
knüpfung an  die  moratüiia  praescriptio  des 
römischen  Rechts  (C.  2,  Cod.  1,  19).  Im 
Gegensatz  hierzu  bezeichnet  in  der  Regel 
Stundung  einen  von  den  Gläubigern  dem 
Schuldner  gewährten  Ausstand.  Doch  ist 
der  Sprachgebrauch  kein  fester  und  nicht 
selten  werden  die  Ausdrücke  wechselweise 
gebraucht.  Hier  ist  nur  von  dem  diuxih 
(ien  Staat  gewährten  Zahlungsausstand  die 
Rede.  In  der  Zeit,  für  welche  ein  Indult 
gewährt  wird,  ist  der  Gläubiger  die  fällige 
Leistimg  zu  fordern  und  einzuklagen  nicht 
berechtigt.  Man  imterscheidet  Special-  und 
Generalindult.  Specialindult  wird  einem 
einzelnen  Schuldner  für  Ei-füUung  seiner 
Verbindlichkeiten  gewährt,  ein  Generalindult 

Handwörterbuch  der  Stastswissenschaften.    Zweite 


erstreckt  sich  atif  alle  oder  bestimmte  Klassen 
von  Schuldnern  (s.  jedoch  unten  S.  1346/47). 
2.  Aelteres  Hecht  Special-  und  Gene- 
ralindult kommen  schon  im  späteren  römi- 
schen Rechte  vor.  Nach  einer  Konstitution 
Kaiser  (^onstantins  von  325  konnte  durch 
kaiserliches  Reskript  ein  Specialindult  ge- 
währt wertlen,  nach  einem  späteren  Gesetze 
allerdings  nur  unter  der  Bedingung,  dass 
genügende  Sicherheit  für  die  Bezahlung  der 
Schuld  geleistet  werde  (C.  2,  4,  Cod.  1, 19). 
Auch  von  einem  Generalindult  haben  i^ir 
aus  einem  allerdings  nur  im  Auszuge  er- 
haltenen Gesetz  Justinians  Kenntnis.  Nach 
Erobenmg  Italiens  und  Zurückweisung  des 
Einfalls  der  Franken  gewährte  der  Kaiser 
den  Schiddnern  in  It9,Uen  imd  Sicilien  ein 
Moratorium  von  5  Jahren  und  Erlass  von 
50  Prozent  des  Kapitals.  Nach  Ablauf  der 
5  Jahre  hatte  der  Schuldner  die  Walü,  ent- 
weder die  Hälfte  des  Kapitals  zu  zahlen 
oder  dem  Gläubiger  die  Hälfte  seines  Ver- 
mögens abzutreten  (Anhang  zu  den  Novellen 
im  Corpus  Juris  ed.  Kriegel  111,  740).  —  In 
einzelnen  Fällen  haben  schon  im  13.  Jahr- 
hundert italienische  Städte  den  Schuldnern 
Ausstand  gewährt.  In  grösserem  Umfange 
haben  jedoch  erst  im  14.  Jahrhundert  die 
französischen  Könige,  gestützt  auf  die  im 
justinianeischen  Codex  enthaltenen  Stellen, 
Indulte  unter  dem  Namen  »lettres  de  repit« 
erteilt.  Nach  der  Ordonnanz  von  Orl6an8 
von  1560  sollten  künftig  niu*  die  Gerichte 
Zahlungsaufschub  gewäliren,  doch  zog  Lud- 
wig XIV.  das  Recht  hierzu  wieder  an  sich. 
Auch  im  Deutschen  Reiche  wurden  seit 
dem  15.  Jalu'hundert  von  dem  Kaiser  Indulte 
erteilt  (literae  respirationis,  rescripta  mora- 
toria,  AnStands-  otler  eiserne  Briefe,  Quin- 
quennellen)  und  zwar  meist  auf  5  Jahre. 
Aus  Missverst'lndnis  ward  die  Vorschrift  des 
römischen  Rechts,  wonach  die  Gläubiger, 
welche  von  dem  Gesamtbetrage  der  Schul- 
den eines  Schuldners  den  grösseren  Teil  zu 
fordern  hatten,  dem  Schuldner  eine  Stundung 
für  alle  seine  Schulden  auf  5  Jahre  be- 
willigen konnten,  auf  die  Erteilung  von 
Moratorien  bezogen  (C.  8,  Cod.  7,  71).  Da- 
gegen wurde  an  dem  Erfordernis  einer 
Sicherheitsleistimg  nicht  strenge  festgehalten. 
Die  Reichspolizeiordnungen  von  1548  Tit. 
22  §  2  und  1577  Tit.  23  §  4  bestimmten, 
dass  niur  bei  A\irklichen  Unglücksfällen  unci 
nur  nach  vorhergehendem  Berichte  der 
Obrigkeit  :>verdorbenen  oder  ausgestandenen 
Kaufleuten«  Moratorien  erteilt  werden  dür- 
fen. Wenn  dem  Kaiser  auch  bis  zur  Auf- 
lösung des  Reichs  das  Recht  verblieb,  Mora- 
torien für  Reichsimmittelbare  wie  Reichs- 
mittelbtire  zu  gewähren,  so  nahmen  doch 
auch  die  Landesherren  das  Recht  in  An- 
spruch, ihren  üntertlianen  solche  zu  erteilen, 
die  freilich  nur  gegen  die  bei  den  Gerichten 

Auflage.    IV.  85 


1346 


Indult 


des  betreffenden  Landesherrn  angestellten 
Klagen  einen  Schutz  verliehen.  Doch  fehlte 
es  schon  im  18.  Jahrhundert  nicht  an  Stim- 
men, welche  die  Nachteile  und  Ungerechtig- 
keit der  Specialindulte  hervorhoben  und 
deren  Bescliänkung  verlangten.  Der  Miss- 
brauch, welcher  von  manchen  LandesheiTen 
mit  der  Erteilung  von  Indulten  getrieben 
wurde,  führte  in  einzelnen  Fällen  sogar  zu 
einem  Einschreiten  der  höchsten  Eeichsge- 
richte  (so  im  Jahre  1722  gegen  den  Herzog 
von  Mecklenbm^g-Schwerin). 

Die  Erteilung  von  Generalindulten 
nach  einem  längeren  Kriege  war  allgemein 
üblich.  So  wurde  auf  Grund  des  westfäli- 
schen Friedens  (I.P.O.  Art.  YIII,  §  5)  in 
dem  Reichsabschiede  von  1654  §  170  ff. 
allen  Schuldnern,  »welche  diu-ch  den  Krieg 
ins  Verderben  gekommen«,  für  Bezahlung 
des  Kapitals  eine  Indultfrist  von  3  Jahren 
gewährt  und  ihnen  der  Rückstand  aller 
während  des  Krieges  aufgelaufenen  Zinsen 
bis  auf  ein  Viertel  erlassen.  Nach  Beendi- 
gung des  spanischen  Erbfolgekrieges  (1713), 
wie  nach  der  des  siebenjährigen  Krieges 
verliehen  die  Landesherren  der  durch  den 
Krieg  am  meisten  betroffenen  Länder  Gene- 
ralindulte  (Preussen  1763  für  Schlesien, 
Pommern  und  die  Neumark,  Mecklen- 
burg 1768).  Durch  das  preussische  Edikt 
vom  19.  Mai  1807  wurde  den  Gnmdbe- 
sitzern  ein  Genei'almoratorium  gegeben,  das 
später  für  die  Marken,  Schlesien  und  Pom- 
mern bis  Ende  1818,  für  Ost-  und  West- 
preussen  bis  Ende  1821  verlängert  ward. 

3.  Neneres  Recht  Die  neuere  Gesetz- 
gebung, die  zuerst  zu  einer  Beschränkung, 
sodann  zur  Beseitigung  der  Specialindulte 
führte,  beginnt  mit  der  preussischen 
Prozessordnung  von  1748  (Cod.  Friederic. 
March.),  deren  Bestimmungen  die  Grundlage 
für  die  preussische  aUgemeine  Gerichtsord- 
nung von  1794  (T.  I  Tit.  47  §  1  ff.)  bUde- 
ten.  Danach  können  Moratorien  (Special- 
moratorium, wenn  nur  gegen  einen,  Gene- 
ralmoratorium, wenn  gegen  mehrere  Gläubi- 
ger erteilt)  nur  noch  in  gerichtüchem  Ver- 
fahren durch  das  Gericht  gewährt  werden, 
sofern  der  Schuldner  nachweist,  dass  er  an 
und  für  sich  hinlängliches  Vermögen  besitze, 
um  den  Anforderungen  seiner  Gläubiger 
Genüge  zu  leisten,  dass  aber  umstände  vor- 
liegen, die  es  ihm  unmöglich  machen,  ohne 
seinen  Ruin  sogleich  proinpte  und  bare 
Zahlung  zu  leisten  (§  3).  Die  preussische 
Konkursordnung  vom  8.  Mai  1855  (§§  421 
bis  433)  hat  sodann  unter  Aufhebung  der 
Generalmoratorien  (in  dem  angegenenen 
Sinne  der  allgemeinen  Gerichtsordnimg)  be- 
stimmt, dass  das  Gericht  ein  Specialmora- 
torium höchstens  auf  ein  Jahr  und  nur  gegen 
Leistung  einer  genügenden  Sicherheit  für 
Kapital  und  Zinsen  gewähren  darf.    Auch 


war  das  Verfahren  wegen  Wechselfoi-denin- 
gen,  Fordenmgen  an  Kaufleute  aus  dem 
(Geschäftsbetriebe  etc.  ausgeschlossen.  —  In 
anderen  deutschen  Staaten  wurde  die  Ertei- 
lung von  Moratorien  durch  die  Verfassung 
ganz  ausgeschlossen  (Kurhessen  §  129, 
Sachsen  §  54,  Coburg-Gotha  §  57; 
ebenso  Bayern,  G.  v.  25.  Juli  1850)  oder 
nur  für  ausserordentliche  Fälle  vorbehalten 
(Hannover  1840  §  9)  oder  den  Gerichten 
überwiesen  (Oldenburg  Art.  49;  Braun- 
schweig  §  209).  In  den  Ländern  des 
französischen  Rechts  hatte  der  Code 
civil  Art.  1244  ebenfalls  nur  den  Gerichten 
das  Recht  gegeben,  dem  Schuldner  einen 
massigen  Ausstand  und  bei  der  Venirteilung 
Zahlungsfristen  zu  gewähren.  Doch  soll 
hiervon  nur  »mit  grosser  Vorsicht«  Gebrauch 
gemacht  werden.  In  Oesterreich  waren 
die  Moratorien  schon  diu'ch  die  Gerichtsord- 
nung von  1781  §  353  beseitigt  worden.  Das 
englische  Recht  kennt  sie  überhaupt  nicht 
und  5iie  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika  (Art.  1,  Sect  10  §  1) 
verbietet  ausdrücklich,  Moratoriengesetze  zu 
erlassen. 

Im  Laufe  unseres  Jalirhunderts  ist  die 
üeberzeugung  eine  allgemeine  geworden, 
dass  in  der  Erteilung  von  Specialmoratorien 
eine  ^dUktirliche  und  ungerechtfeiügte  Be- 
gttnstigimg  des  Schuldners  liegt,  aus  welcher 
dem  Gläubiger  grösserer  Schaden  als  dem 
Schuldner  Nutzen  zu  entspringen  pflegt  und 
welche  dm-ch  Schwächung  der  Sicherheit 
des  Kredits  die  Rechtsordnung  wie  das  wirt- 
schaftliche Leben  stört.  So  erfolgte  denn 
auch  unter  aUgemelner  Zustimmung  die 
Aufhebung  aller  noch  geltenden  Vorschriften 
über  Bewilligung  von  Moratorien  und  Zali- 
lungsfristen  bei  der  Verurteilimg  durch  die 
Gesetzgebung  des  Deutschen  Reichs 
(Einführungsgesetz  zur  C.P.O.  §  14  ZifL  4, 
Einführungsgesetz  zur  Konk.-O.  §  4).  Die 
gänzliche  Beseitigung  der  Moratorien  konnte 
aber  um  so  mehr  erfolgen,  als  nach  Auf- 
hebimg  der  Schuldhaft  (s.  diesen  Art,)  auch 
der  zahlungsunfähige  Schuldner  nicht  ver- 
hindert ist,  durch  Verwertung  seiner  Arbeits- 
kraft sich  eine  neue  wirtschaftliche  Existenz 
zu  gründen. 

4.  Generalindulte.  Etwas  anders  verhält 
es  sich  mit  Generalindulten.  Zwar  ist  über- 
all durch  die  oben  erwähnten  Gesetze  das 
Recht  des  LandesheiTn,  durch  Verordjixmg 
ein  Generalmoratorium  zu  erlassen,  aufge- 
hoben worden.  Im  Deutschen  Reiche  kann 
nur  durch  ein  Reichsgesetz,  in  anderen 
Staaten  nur  durch  Landesgesetz  ein  solches 
gegeben  werden.  Aber  in  Zeiten  einer  all- 
gemeinen wirtschaftlichen  Not,  insbesondere 
während  eines  verheerenden  Krieges  oder 
unmittelbar  nach  einem  solchen  kann  es  im 
allgemeinen  Interesse  des  Volkswohlstandes 


Indult — Ingram 


1347 


erforderlich  werden,  durch  Gewähning  eines 
Moratoriums  für  alle  Schulden  oder  einige 
Kategorieen  derselben  (Hypotheken-  oder 
Wechselschulden)  dem  wirtschaftlichen  Un- 
tergänge ganzer  feevölkerungsklassen  vorzu- 
beugen. Obgleich  es  nicht  vermieden  wer- 
den kann,  dass  durch  eine  solche  Massregel 
einzelnen  Gläubigern  ein  Schaden  zugefiigt 
wird,  so  ist  ein  Eingriff  in  die  piivatrecht- 
lichen  Verhältnisse  doch  dann  und  insoweit 
gerechtfertigt,  als  dadurch  wähi'end  einer 
kurzen  Uebergangszeit  den  Schuldnern,  die 
sich  zu  erhalten  noch  die  Kraft  haben,  die 
Möglichkeit  gegeben  wird,  ihren  durch  den 
Krieg  erschütterten  Yermögensstand  wieder 
herzustellen.  Ein  öeneraämoratorium  ist 
dann  durch  die  ausgleichende  Gerechtigkeit 
gerechtfeiügt.  Doch  dai'f  sich  dasselbe  nur 
auf  Eückzahlung  des  Kapitals,  nicht  auf  die 
Zahlung  der  laufenden  Zinsen  erstrecken. 
Erhielte  der  Schuldner  auch  für  die  Zins- 
zahlung Ausstand,  so  würde  dadurch  die 
wirtschaftliche  Existenz  der  Gläubiger,  die 
ai|f  den  Zinsbezug  angewiesen  sind,  ver- 
nichtet, während  ein  auf  Zahlung  des  Kapi- 
tals beschränktes  Moratorium  auch  dem 
Gläubiger,  sofern  er  auch  seinerseits  Schuld- 
ner ist,  zu  gute  kommt.  Auch  wird  durch 
ein  Generalmoratorium  der  wucherischen 
Ausbeutung  der  durch  den  Krieg  in  eine 
Notlage  versetztenSchuldner  entgegengewirkt. 
Aus  diesen  Gründen  wurde  auch  in 
Frankreich  während  und  nach  dem  Kriege 
von  1870/71  für  Schulden  aus  Wechseln  und 
anderen  Wertpapieren  ein  Generalmorato- 
rium erlassen,  ebenso  wie  in  dem  General- 
gouvernement Elsass-Lothringen  durch 
VV.  V.  13.  und  20.  März  1871  die  VerfaU- 
zeit  der  Wechsel  erstreckt  wurde.  Auch  in 
Portugal  hielt  es  die  ßegienmg  in  der 
\^'irtschaftlichen  und  finanziellen  Not,  die  im 
Jahre  1891  über  das  Ijand  hereinbrach,  für 
ratsam,  ein  Generalmoratorium  von  60  Tagen 
für  Schulden  aus  Wechseln  und  andei-en 
Wertpapieren  zu  gewähren  (königl.  Dekret 
V.  10.  Mai  1891). 

Litteratnr:  Ueber  dcu  römische  und  gemeine 
Recht  9,  die  Handbücher  des  römischen  Rechts 
und  des  gemeinen  Civüprotesses ,  ausßlhrli^^h 
namentlich  Schmid,  Handbuch  des  gemeinen 
deulBchen  Civilprozesses  III,  259 — 26S,  — 
MUtermaieVf  Archiv  fUr  civil,  Praxis,  XVI, 
450  f.  —  PüUer,  Beyträge  tum  TetUschen 
Staats-  und  Färstenr echte,  1777,  I,  SS^ff,  — 
Mandry,  Civilrechtlicher  Inhalt  der  deutschen 
Reichsgesetze  §  Sl,  4,  Aufl,  —  P,  Ascoli,  La 
moratoria  ed  ü  concordato  preventivo,  1896.  — 
Rau  II,  ^  IIL  —  Roseher  1,  §  94,  II  §  1S8, 

—  Knies,  Geld  und  Kredit  II,  S28ff,  —  IHe 
französischen  Gesetze  und  Verordnungen  aus 
den  Jahren  1870  und  1871  in  der  Zeilschr.  für 
Handelsrecht  XVI,   41Sff.,  666 ff,,  XVII,   5Säf. 

—  Eine  Uebersicht   und  Besprechung   der  zahl- 
reichen  Schriften   und  Abhandlungen,   die  über 


die  hierdurch  entstandenen  Streit/ragen  erschienen 
sind,  giebt  Goldschmidt  in  der  Zeitschrift  /. 
Handelsrecht  XVII,  294 ff.,  XVIII,  625 ff. 

E,  Loening. 


Indastrial-Partnership 

s.  Gewinnbeteiligimg  oben  Bd.  lY  S.  716  ff. 


Indastriesystem 

ist  eine  bei  älteren  Schriftstellern,  z.  B.  Lotz, 
gebräuchliche,  gegenwärtig  aber  ziemlich 
aufgegebene  Bezeichnung  für  die  von  Adam 
Smith  begründete  oder  wenigstens  zur  Herr- 
schaft gebrachte  Volkswirtschaftslehre  im 
Gegensatz  zu  dem  Merkantilsystem  und  dem 
physiokratischen  oder  AgrikultiuBystem.  Das 
wesentliche  Merkmal  desselben  bildet  der 
Satz,  dass  die  QueUe  des  National  Wohlstandes 
in  der  menschlichen  Arbeit  liege.  Das 
Wort  »Industrie c.  ist  also  in  dem  obigen 
Ausdruck  als  gleichbedeutend  mit  dem  eng- 
lischen »industry«  und  nicht  in  dem  im 
Deutschen  geltenden  engeren  Sinne  von 
Gewerbefleiss  oder  Grossgewerbe  zu  nehmen. 
Der  Ausdruck  ist  somit  missverständlich 
und  deswegen  ungeeignet.  Er  würde  besser 
für  das  die  Industrie  schützende  und  die 
Landwirtschaft  nicht  berücksichtigende  Mer- 
kantilsystem passen,  und  List  hat  in  der 
That  diesem  jenen  Namen  gegeben,  während 
er  die  »von  der  Schule  fälschlich  Industrie- 
system genannte«  Lehre  Adam  Smiths  als 
das  »Tauschwertsystem«  und  als  »das 
strengste  und  konsequenteste  Merkantil- 
system« bezeichnet.  Den  meisten  Anspruch 
auf  den  Namen  Industriesystem  hätte 
übrigens  Lists  eigene  Lehre,  da  diese,  un- 
abhängig von  den  merkantilistischen  Vor- 
urteilen in  Betreff  der  Edelmetalle,  die 
wesentliche  Bedingimg  des  Kulturfortschrittes 
einer  Nation  in  der  Entwickelung  ihrer 
»Manufakturkraft«,  d.  h.  ihrer  Industrie,  er- 
blickt. Das  von  Smith  vertretene  System 
wird  am  besten  nach  ihm  selbst  genannt, 
wenn  er  auch  keineswegs  als  der  alleinige 
Schöpfer  desselben  anzusehen  ist.  Wegen 
des  Inhaltes  desselben  verweisen  wir  daner 
auf  den  Artikel  über  Adam  Smith.  —  Vgl. 
die  Kritik  der  Bezeichnung  Industriesystem 
bei  List,  Nat.  System  der  politischen  Oeko- 
nomie,  in.  Bd^  Kap.  29  und  31;  auch  bei 
K.  Walcker,  Handb.  der  Nationalökonomie, 
5.  Bd.  S.  49. 

Lexis, 


Ingram,  J.  Keils, 

wurde  in  der  Grafschaft  Donegal,  Irland,  am 
7.  Vll.  1823  geboren.    Er  studierte  am  Trinity 

85* 


1348 


Ingram — Innungen 


OoUege  in  Dublin,  wurde  hier  1846  Fellow ,  1852 
Professor  der  Beredsamkeit  und  der  englischen 
Litteratur,  1866  Professor  für  griechische  Sprache, 
1879  BibUothekar  und  1898  Viceprovost.  Er  ist 
M.  A.,  LL.  D.  und  Litt.  D.  der  Universität 
Dublin  und  Hon.  LL.  D.  der  Universität  Glasgow. 

Als  Präsident  der  statistischen  und  volks- 
wirtschaftlichen Sektion  der  „British  Association 
for  the  Advancemeut  of  Science"  machte  er  im 
Jahre  1878  durch  seinen  Vortrag  über  „die 
gegenwärtige  Lage  und  die  Aussichten  der 
Nationalökonomie"  (s.  u.)  Aufsehen.  Ingram 
ging  von  der  Thatsache  aus,  dass  die  Yolks- 
wirtschaftswissenschaft  in  England  zur  Zeit 
eine  bedeutsame  Krisis  durchmache.  Er  wies 
dabei  insonderheit  auch  auf  die  deutsche  Wissen- 
schaft hin,  wo  die  hervorragendsten  ökono- 
mischen Schriftsteller  sich  schon  längst  in  Oppo- 
sition gegen  die  Lehre  und  Methode  der  Ricardo- 
schen  Schule  befänden.  Aber  auch  in  den 
anderen  Ländern,  insonderheit  in  Italien,  mache 
sich  eine  neue  llichtung  geltend,  und  ebenso 
trete  in  England  eine  entsprechende,  keineswegs 
auf  Nachamnung  beruhende,  sondern  durchaus 
orififinale  Bewegung  unter  Führung  Cliffe  Leslies 
auf  Gegen  die  alte  Schule  erhob  Ingram  vier 
Punkte  des  Tadels :  Sein  einer  Vorwurf  richtete 
sich  gegen  eine  zu  weitgehende  und  so  auch 
dem  ^arakter  der  Wissenschaft  Eintrag  thuende 
Abstraktion;  als  einen  ferneren  Fehler  bezeich- 
nete er  das  missbräuchliche  Vorwalten  der  De- 
duktion und  im  Zusammenhange  damit  den  zu 
absoluten  Charakter  der  theoretischen  und  prak- 
tischen Schlussfolgerungen;  endlich  bemängelte 
er  die  Isolierung  der  ökonomischen  Erscheinungen 
von  den  anderen  sozialen  Phänomenen.  So  wurde 
Ingram  einer  der  hervorragendsten  Vorkämpfer 
der  neuen  Schule  in  England  und  suchte  auch 
in  seinem  grösseren  Geschichtswerke  dieser 
„historischen  Richtung"  in  besonderer  Weise 
Anerkennung  zu  verschafifen. 

Von  semen  auf  Staats  Wissenschaften  bez. 
Schriften  etc.  (seine  zahlreichen  Arbeiten  über 
englische  Litteratur  und  griechische  und  latei- 
nische Etymologie  können  hier  natürlich  nicht 
berücksichtigt  werden)  seien  nur  die  nach- 
folgenden genannt : 

The  Present  Position  and  Prospects  of 
Political  Economy,  London,  Dublin  1878.  (Ins 
Deutsche  übersetzt  von  H.  von  Scheel  u.  d.  T. : 
Die  notwendige  Reform  der  Volkswirtschafts- 
lehre, Jena  1879.  Eine  dänische  üebersetzung 
veranstaltete  A.  Petersen.)  —  Work  and  the 
Workman,  eine  im  Jahre  1886  dem  Trades 
Union  Congress  überreichte  Adresse.  (Von  diesem 
Aufsatz  erschien  1887  eine  französ.  Üeber- 
setzung.) —  In  der  Encyclopaedia  Britannica 
(9.  Aufl.)  [19.  Bd.  S.  346  ff.  ISa^J  verfasste  Ingram 
den  Artikel:  „Political  Economy".  Dieser  Auf- 
satz erschien  später  als  besonderes  Buch,  in 
Einzelheiten  erglänzt  und  erweitert,  u.  d.  T. : 
History  of  Political  Economy.  Dieses  Werk 
wurde  ins  Deutsche,  Russische,  Polnische, 
Französische,  Italienische,  Spanische,  Schwe- 
dische, Böhmische  und  Japanische  übertragen. 
Die  deutsche  Üebersetzung  erschien  in  Tübingen 
1890  u.  d.  T. :  Geschichte  der  Volkswirtschafts- 
lehre. Autorisierte  Üebersetzung  von  E.  Roschlau. 
—  In  der  Encyclopaedia  Britannica  veröfiFent- 
lichte  er  ferner  den  Aufsatz  „Slavery"  (22.  Bd. 
S.    129  ff.    1887,    deutsche    Üebersetzung   von 


Leopold  Katscher,  1895)  und  viele  sehr  beachtens- 
werte biographische  Beiträge,  unter  denen  vor 
allem  die  Artikel:  Quesnay,  Turgot,  Petty, 
Adam  Smith,  Ricardo,  Arthur  Young,  Cliffe 
Leslie  zu  nennen  sind.  Auch  hat  er  viele  Ar- 
tikel zu  Palgraves  Dictionary  of  Political 
Economy  beigetragen. 

V^l.  über  Ingram:  Men  and  Women  of 
the  Time,  London  1891.  Cohn,  Die  heutig 
Nationalökonomie  in  England  und  Amerika  (m 
Jahrb.  f.  Ges.  und  Verw.,  13.  Jahrg.,  1889,  S.  31). 
V.  Böhm-Bawerk,  Aus  der  neuesten  national- 
ökonomischen Litteratur  Englands  und  Nord- 
amerikas (in  den  Jahrb.  f.  Nat.  u.  Stat.,  N.  F., 
18.  Bd.,  1889,  S.  6'?3). 

Re€L 


Inhaberpapiere 

s.  Wertpapiere. 


Innniigeii. 

1.  Die  sogenannten  gemeinschaftlichen  Ver- 
bände. 2.  Aufgabe  und  bisherige  Wirksamkeit 
der  I.  3.  Das  neue  Recht  der  I.  4.  Fach-  oder 
gemischte  I.  ö.  Innungsausschüsse.  6.  In- 
nungsverbände. 7.  Ausbau  des  Innungswesens. 
8.  Statistik  der  I. 

1.  Die  sogenannten  gemeinschaftlichen 
Verbände.  Die  in  der  Gewerbeordnung 
von  1869  voi-gesehenen  Innungen  um- 
fassten  zunächst  niu'  die  selbständigen 
Meister.  Indes  schien  mit  ihnen  den 
modernen  wirtschaftlichen  und  gewerb- 
lichen Verhältnissen  niclit  vollkommen  Ge- 
nüge zu  geschehen,  und  so  wurde  der  Vor- 
schlag zur  Errichtimg  sogenannter  gemein- 
scliaWicher  Verbände,  d.  h.  solcher,  in 
denen  auch  die  unselbständigen  Grewerbe- 
treibenden,  die  Gesellen  und  Gehilfen,  soll- 
ten aufgenommen  werden  können,  laut.  Der 
Herd  dieser  Pläne  war  Hamburg.  In  einer 
Schrift,  die  in  Form  eines  besonderen  Ge- 
setzentwurfes zur  Bildung  und  Anerkennung 
derartiger  Innungen  aufforderte,  wurde  im 
Jahre  1874  von  Hamburg  aus  auf  sie  hin- 
gewiesen. Neben  der  Verwaltung  ihrer 
Kassen  imd  ihres  Vermögens  sollte  diesen 
Innungen  die  Errichtung  von  Einigimgs- 
ämtern  zustehen,  die  Schlichtung  der  ge- 
werblichen Rechtsstreitigkeit-en,  die  Regelung 
und  Beaufsichtigimg  des  Lehrlingswesens, 
die  Regelung  des  Arbeitsnachweises  u.  dgl.  m. 
So  sehr  schien  der  Vorschlag  zu  ihrer  Er- 
öffnung einem  allseitig  empfundenen  Be- 
dürfnisse abzuhelfen,  dass  der  Bundesrat  bei 
der  bald  darauf  beginnenden  Entjuete  über 
die  Verhältnisse  der  Lehrlinge,  Gesellen  und 
Fabrikarbeiter  die  Frage  nach  solchen  Ver- 
bindungen  und    ihrer  Zulässigkeit   in   das 


Innungen 


1349 


A 


Programm  aufnahm.  »Griebt  es  Innungen, 
welchen  beizutreten  auch  Gesellen  das  Recht 
haben,  und  erecheinen  derartige  Einrichtun- 
gen erfahrungsmässig  geeignet,  die  Beziehun- 
gen zwischen  den  Gesellen  und  ihren  Ar- 
beitgebern zu  fördern?«  imd  »Ist  es  angäng- 
lich,  den  Arbeitgebern  und  ihren  Gesellen 
in  derartigen  Verbänden  völlig  gleiche 
Rechte  zu  gewäliren?«  —  Das  waren  die 
beiden  Punkte,  über  die  die  Regierung  Aus- 
kunft einzuziehen  beschloss.  In  Hamburg 
selbst  hatte  die  Idee  teilweise  Verwirk- 
lichung gefunden.  Eine  Färberinnung  war 
begründet  worden,  die  nach  ihrem  Statut 
ausdrücklich  eine  »Vereinigung  der  Meister 
und  Gesellen  des  Färbergewerbes  behufs 
Förderung  der  gemeinsamen  Interessen«  sein 
wollte.  In  ihr  bestand  der  Vorstand  zu 
gleichen  Teilen  aus  Mitgliedern,  die  einer- 
seits von  Meistern  und  Werkführem,  ande- 
rerseits von  den  Gesellen  gewählt  wurden. 
Die  Gleichberechtigimg  beider  Teile  war  so 
weit  getrieben,  dass,  wenn  in  den  Sitzungen 
des  gemeinsamen  Voi-standes  die  Mitglieder 
beider  Sektionen  in  ungleicher  Zahl  anwe- 
send waren,  diurch  das  Los  bestimmt  wurde, 
welche  Mitglieder  der  stärker  vertretenen 
Partei  sich  der  Abstimmung  zu  enthalten 
hätten.  Auch  in  anderen  Gewerben  waren 
in  dieser  Richtung  in  Hambui-g  Versuche 
gemacht  worden,  die  indes  nicht  alle  als 
gelungen  bezeichnet  werden  konnten.  Im 
allgemeinen  wiu^le  doch  über  eine  gewisse 
Lauheit  im  Zutritt  zu  den  Verbänden  seitens 
der  dasselbe  Gewerbe  ausübenden  Personen 
geklagt. 

An  und  für  sich  ist  der  Gedanke,  dass 
Arbeitgeber  und  -nehmer,  selbständige 
Meister  und  Gehilfen  sich  zusammenthun 
soUen,  durchaus  sympathisch.  Die  Gesellen 
lassen  sich  heute  in  der  früheren  unterge- 
ordneten Stellung,  in  der  sie  sich  alle  Vor- 
schriften des  einzelnen  Meistars  oder  der 
ganzen  Innung  gefallen  lassen  mussten, 
flicht  mehr  festhalten.  Vielmehr  ist  es 
nötig,  ihnen  einen  gewissen  Mnfluss  auf  die 
Gestaltung  des  Arbeitsverhältnisses  einzu- 
räumen, überhaupt  manche  Punkte  der  Ar- 
beitsordnung mit  ihnen  zu  beraten  und  ge- 
meinsam an  die  Ausführung  von  Beschlüssen 
zu  gehen.  Aber  es  fragt  sich,  ob  das  gerade 
in  Innungen,  die  grundsätzlich  beiden  Par- 
teien gleiche  Rechte  gewähren,  vor  sich 
gehen  muss.  Man  übersehe  nicht,  dass 
Meister  und  Gesellen  sehr  ungleichmässig 
vertreten  sind.  Mit  Recht  befürchten  die 
Meister,  dass  es  den  Gesellen  möglich  sein 
werde,  ihre  numerische  üebermacht  zu  Un- 
gunsten der  Arbeitgeber  auszunutzen  und 
diesen  unbequeme  oder  gar  nachteilige  Be- 
schlüsse durchzusetzen.  Um  die  auf  die 
Dauer  vielleicht  unangenehmen  Wirkungen 
später  nicht  an   sich  selbst  zu  verspüren. 


werden  sie  in  einer  anderen  Stadt  selbstän- 
dig. Die  Gesellen  wiederum  lassen  das 
Bedenken  laut  werden,  dass  ihre  Interessen 
nicht  in  gehöriger  Weise  zur  Geltung 
kommen  könnten,  da  die  kleinere  Körper- 
schaft der  Meister  ein  engeres  Zusammen- 
stehen erleichtere.  Bei  dem  Einflüsse,  den 
der  Arbeitgeber  immerhin  noch  auf  die  Ge- 
sellen ausübt,  würde  6s  leicht  sein,  deren  Ab- 
stimmung in  einem  ihm  günstigen  Sinne  zu 
gestalten. 

Bei  solcher  Sachlage  fielen  die  Antwor- 
ten, die  in  der  Bimdesratsenquete  erteilt 
wurden,  nicht  sehr  ermutigend  für  die  ge- 
plante Neuerung  aus.  Fast  nirgends,  wo 
Innungen  bestanden,  war  den  Gesellen  der 
Zutritt  gestattet,  und  kaum  erhob  sich  der 
Wunsch,  sie  zuzulassen.  Nur  ganz  aus- 
nahmsweise wurde  das  Hamburger  Projekt 
befürwortet  und  als  das  einzige  Mittel  »zur 
Herstellung  des  gewerblichen  Friedens  imd 
zur  Hebung  der  geschwundenen  gewerb- 
lichen Leistungsfähigkeit«  enipfohlen.  So 
hat  man  denn  die  Idee  einer  Heranziehung 
der  Gesellen  als  gleichberechtigter  Teilneh- 
mer an  der  Innung  ganz  fallen  gelassen,  und 
wenn  auch  noch  immer  die  Wiederherstel- 
lung der  Zunft,  das  allgemeine  Losungswort 
geblieben  ist,  so  wird  doch  nur  wie  frfiher 
an  die  Vereinigimg  selbständiger  Gewerbe- 
treibender gedacht. 

2.  Aufgabe  und  bisherige  Wirksam- 
keit der  I.  Die  Aufgabe,  die  den  Innimgen 
zugedacht  wird,  ist,  den  Ausgangs-  und 
Angelpunkt  für  alle  diejenigen  gewerblichen 
Angelegenheiten  zu  bilden,  die  nicht  direkt 
in  das  Gebiet  staatlicher  Regelung  und 
üeberwachung  fallen.  Sie  sind  öffentlidi- 
rechtliche  Korporationen,  denen  im  einzelnen 
folgende  Aufgaben  zugewiesen  sind:  Pflege 
des  Gemeingeistes  sowie  die  Aufrechter- 
haltung und  Stärkung  der  Standesehre  unter 
den  Mitgliedern;  Förderung  eines  gedeih- 
lichen Verhältnisses  zwischen  Meistern  und 
Geseüen,  des  Herbergswesens  und  des  Ge- 
sellenarbeitsnachweises ;  Regelung  des  Lehr- 
lin^wesens ;  Entscheidung  von  Streitigkeiten 
zwischen  den  Innungsmitgliedern  und  ihren 
Lehrlingen.  Dazu  kamen  die  Innungsprivi- 
legien, die  eine  Art  indirekten  Zwangs  zum 
Beitritt  zu  den  Innungen  ausübten.  Durch 
die  höhere  Verwaltungsbehörde  konnte  für 
den  Beitritt  einer  Innung,  die  sich  auf  dem 
Gebiete  des  Lehrlingswesens  ausgezeichnet 
hat,  erklärt  werden:  1.  dass  Streitigkeiten 
über  Lehrverhältnisse  auch  dann  von  der 
zuständigen  Innimgsbehörde  entschieden 
werden,  wenn  der  Arbeitgeber,  obwohl  er 
ein  in  der  Innung  vertretenes  Gewerbe  be- 
treibt, der  Innung  nicht  angehört,  2.  dass 
die  von  der  Innung  vorgenommene  Regelung 
des  Lehrlingswesens  auch  für  die  Lehrherren 
bindend  sind,  die  nicht  zur  Innung  gehören ; 


1350 


Innungen 


3.  dass  Arbeitgeber,  die  der  Innung  nicht 
angehören,  überhaupt  keine  Lehrlinge  mehr 
annehoQen  dürfen.  Weiter  konnte  für  den 
Betrieb  einer  Innung  auf  Antrag  derselben 
durch  die  höhere  Verwaltungsbehörde  er- 
klärt werden,  dass  Arbeitgeber  und  deren 
Gesellen,  die  nicht  zur  Innung  gehören, 
doch  zu  den  Kosten  der  von  dieser  ge- 
troffenen Einrichtungen  beitragen  müssen, 
wie  die  Innungsraitglieder  und  deren  Ge- 
sellen, nämlich  1.  zu  den  fiir  das  Herbergs- 
wesen und  den  Nachweis  der  Gesellenarbeit 
verursachten  Kosten,  2.  zu  denjenigen  Kosten, 
die  die  zur  Förderung  der  gewerblichen 
und  technischen  Ausbildung  von  Arbeitsge- 
sellen und  Lehrlingen  getroffenen  Einrich- 
tungen verursachen,  3.  zu  den  Kosten  des 
von  der  Innung  errichteten  oder  zu  errich- 
tenden Schiedsgerichts. 

Diese  Anordnungen  sollten  dazu  beitra- 
gen, unter  den  Gewerbetreibenden  die  Lust 
zu  erwecken,  sich  den  Innungen  anzuschlies- 
seu.  Ihren  Zweck  haben  sie  nicht  erreicht 
und  waren  wohl  auch  zu  weit  gegangen. 
Insbesondere  die  Zumutung  an  nicht  der 
Innung  Angehörige,  sich  den  Entscheidungen 
eines  Gerichts  zu  fügen,  das  aus  der  Wahl 
eines  Verbandes  hervorgegangen  ist,  zu  dem 
man  nicht  zählt,  war  hart.  Niemand  wird 
leugnen  wollen,  dass  Innungen  zum  Wohl 
des  Handwerkes  und  Gewerbestandes  wir- 
ken können.  Nur  muss  es  als  von  fraglichem 
Werte  gezeichnet  werden,  wenn  auf  dem 
Wege  des  Zwangs,  sei  es  dem  direkten  oder 
indirekten,  eine  Yereinigung  angestrebt 
werde.  Thatsächlich  ist  denn  auch  trotz 
des  weitreichenden  Aufgabenkreises  die 
Wirksamkeit  der  Innungen  eine  bescheidene 
gewesen.  Was  über  die  Thätigkeit,  die  sie 
in  einzelnen  deutschen  Ijändern,  Gebiets- 
teilen und  Städten,  wie  Schleswig-Holstein, 
Oberschlesien,  Berlin,  Breslau,  Dresden  u.  a. 
m.  entfaltet  haben,  bekannt  geworden  ist, 
zeigt  sie  nicht  in  günstiger  Beleuchtung.  Es 
soll  davon  abgesehen  werden,  aus  der  ge- 
ringen nachgewiesenen  Zahl  von  Innungs- 
mitgliedern —  im  Jahre  1890  321 219  d.  h. 
vielleicht  der  vierte  Teil  aller  Handwerks- 
meister —  Schlüsse  auf  die  Neigimg,  sich 
in  Innungen  zu  organisieren,  zu  ziehen. 
Denn  es  ist  gewiss  richtig,  dass  die  auf  derii 
Lande  oder  in  kleinen  Städten  wohnenden 
Arbeiter  nicht  immer  in  der  Lage  waren, 
bei  ihrer  geringen  Vertretung  des  Fachs 
eine  Innung  zu  bilden.  Wohl  aber  hat  man 
einen  besseren  Massstab  zur  Beurteilung  der 
Bereitwilligkeit,  sich  den  Innungen  anzu- 
schliessen,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt, 
wie  in  grösseren  Städten  die  Zahl  der 
Inmmgsmitglieder  und  der  ausserhalb  der 
Innung  bleibenden  Kleingewerbetreibenden 
desselben  Fachs  sich  stellt.  Leider  stehen 
in  dieser  Richtung  niclit   viele  Daten    zur 


Verfügung.  Nach  dem  Adressbuch  der 
Stadt  Rostock  gab  es  1897  dort  im 
Schneidergewerbe  71  Amtsmeister,  100 
ausserhalb  des  Amts;  im  Malergewerbe  63 
Meister  in  der  Innung,  40  ausserhalb  der- 
selben ;  in  der  Tischlerei  59  in  der  Innung, 
88  ausserhalb;  in  der  Schuhmacherei  127 
im  Amte,  171  ausserhalb  desselben;  in  der 
Tapeziererei  18  in  der  Innung,  28  ausser- 
halb; im  SchlÄchtereigewerbe  63  Amts- 
meister, 64  ausserhalb  des  Amts.  In  Leipzig 
aber  weist  das  Adressbuch  für  1900  nach 
in  der  Schuhmacherei  234  in  der  Innung, 
611  ausserhalb  derselben;  in  der  Fleißch- 
hauerei  311  in  der  Innung,  134  ausserhalb 
derselben;  in  der  Kürschnerei  33  in  der 
Innung,  45  ausserhalb  derselben.  Gegen- 
über solchen  Zahlen  kann  nicht  mehr  ein- 
gewandt werden,  dass  die  Handwerker  keine 
Möglichkeit  hatten,  eine  Innung  zu  bilden. 
Wenn  auch  jetzt  noch  in  Leipzig,  nachdem 
eine  ganze  Reihe  von  Zwangsinnungen  auf 
Gnind  des  neuen  Gesetzes  entstanden  itt, 
in  einzelnen  Gewerben  ein  derartiges  Miss- 
verhältnis zwischen  Mitgliedern  der  Innung 
und  Nichtmitgliedern  erscheint,  kann  die 
Lust  ziu"  Vereinigimg  keine  grosse  sein. 

Indes  vielleicht  noch  sclilimmer  als 
diese  Teilnahmlosigkeit  ist,  dass  in  den  In- 
nungen selbst  ein  sein*  geringer  Eifer  für 
Bethätigung  innerhalb  des  Rahmens  der 
ihnen  gestellten  Aufgaben  hervortrat.  In 
der  Reichshauptstadt,  wo  um  1895  etwa  68 
Innungen  mit  17 — 18000  Mitgliedern  be- 
standen, unter  denen  allerdings  verschiedene 
waren,  die  nicht  eigentlich  handwerksmässi- 
gen  Charakter  aufwiesen,  unterhielten  nur 
30  Innungen  Fachschulen,  mit  Zuschüssen 
überdies  von  selten  des  Magisti*ats.  Die 
Ausgaben  dafür  machten  pro  Kopf  der  In- 
nungsmeister etwa  eine  Mark  im  Jalu-  aus. 
Krankenkassen,  die  dem  §  73  des  Gesetzes 
entsprechen,  waren  bei  11  Innungen  anzu- 
troffo'\  Die  Thätigkeit  des  Inniingsschieds- 
gci.L-.ts  war  eine  verhältnismässig  imbedeu- 
tende. In  Breslau,  wo  61  Inmmgen  aber 
mit  nur  4279  Mitgliedern  nachgewiesen  sind, 
haben  24  Innungen  sich  vom  Innun^us- 
schuss  ferngehalten.  Die  Aufwendungen  für 
Sonntag-  und  Abendschulen  zusammen  mit 
denen  für  Fachschiden  —  9  an  Zalil  —  l>e- 
tragen  ebenfalls  nur  eine  Mark  pix>  Kopf 
und  Jahr.  Die  Ausgaben  filr  Herbergsweseu 
beliefen  sich  auf  555  Mark,  die  für  Arbeits- 
nachweis auf  304  Mark.  Dagegen  war  die 
zur  Löhnung  der  Innungsboten  ausgeworfene 
Summe  5136  Mark,  die  für  Abordnungen 
zu  Innungs-  und  Verbandstagen  1(I02  Mark, 
die  für  Jubiläen  und  derdeichen  2709  Mark. 
Die  Kürschnerinnung  zahlte  jährlich  12  Mark 
für  Schulwesen,  aber  900  Mark  an  ihren 
Vorstand.  Eine  der  dortigen  Fleischerinnnn- 
gen  liatte  50  Mark  für  Sonntags-  und  Abend- 


Innungen 


1351 


Bchulen,  aber  3600  Mark  als  Gehalt  an  ihre 
Vorstandsmitglieder  bewilligt. 

Man  kann  nun  freilieh  die  Wirksamkeit 
der  Innungen  nicht  lediglich  nach  ihren 
Ausgaben  messen,  da  ja  manches  in  der 
Ordnung  des  I^hrlings-  und  Öesellenwesens 
ihnen  keine  Unkosten  verursacht.  Immerhin 
wird  man  berechtigt  sein,  aus  der  Art,  wie 
die  Innungen  die  ihnen  ziu:  Verftlgung  ste- 
henden Gelder  verwenden,  einen  Schluss 
darauf  zu  ziehen,  ob  sie  für  die  ihnen  ge- 
stellten Aufgaben  Interesse  und  Verständnis 
zeigen  oder  nicht.  Und  wenn  man  hört, 
dass  von  314  Innmigen  in  Sclüeswig-Holstein 
14  selbst  erklären,  filr  Innungszwecke  ^r 
keine  Ausgaben  gemacht  zu  haben,  so  wird 
man  gezwungen,  das  letztei-e  anzunehmen. 
Die  Innungen  in  Schleswig -Holstein  ver- 
dienen übrigens  im  allgemeinen  gar  nicht 
einmal  ein  abfälliges  Urteil.  Denn  unter 
den  314,  auf  die  sich  die  vom  Kommerz- 
koHegium  in  Altena  veranstaltete  Enquete 
l)ezog  —  39  hielten  es  für  besser,  gar  keine 
Auskunft  zu  geben  —  waren  doch  71,  die 
für  Innungszwecke  200—500  Mark,  und  22, 
die  sogar  melir  als  500  Mai*k  ausgaben.  Da 
^  Imben  wir  Innungen  wie  die  der  Tischler 
zu  Altena,  die  bei  einem  Etat  von  525  Mark 
für  Sclud-  und  Lehrlingswesen  105  Mark, 
oder  eine  andere,  wie  die  der  Maler  ebenda, 
die  von  einem  Etat  im  Betrage  von  1240 
Mark  für  den  Zeielienimterricht  an  den 
Sonntagsschulen  6G4  Mark  verausgabt  haben. 
Das  sind  immerhin  ganz  achtbare  Leistungen. 
Aber  wir  haben  in  jener  Provinz  andere 
Innungen,  bei  denen  beispielsweise  die 
Jahresgesamtausgabe  von  530  Mark  sich 
wie  folgt  verteilt:  für  eine  Ehrengabe  00 
Miwk,  für  eine  Innungsfahne  350  ]yiark, 
diverse  Ausgaben  80  Mai'k.  Und  wenn  ge- 
rühmt wird,  dass  die  Innungsverbände  sich 
besonders  um  die  Einführung  gemeinsamer 
Verbandspapiere  verdient  gemacht  und  da- 
durch auf  das  Legitimationswesen  einen 
wohlthätigen  Einfluss  ausgeübt  hätten,  so 
fällt  doch  ins  Gewicht,  dass  von  353  Innun- 
gen nur  226  sich  diesen  Verbänden  ange- 
schlossen hatten.  Auch  war  es  gewiss  kein 
vielversprechendes  Zeichen,  dass  nur  92 
Innungen  die  im  §  97  a  der  Gew.-O.  sub  p.  4, 
5,  6,  vorgeselienen  Massnahmen  zur  Föitle- 
nmg  der  gemeinsamen  gewerblichen  Inte- 
ressen in  Wirklichkeit  lungesetzt  hatten,  d.  h. 
also  Sterbe-  und  Krankenkassen,  Schieds- 
gerichte ,  Arbeitsnachweise ,  Magazinkassen 
u.  s.  w.  ins  Leben  riefen. 

Sehr  lehrreich  ist  die  Statistik,  die  Dr. 
Pabst  im  statistischen  Jahrbuch  deutscher 
Städte  (VI.  Jahrg.  S.  244)  über  die  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  deutscher  Innungen 
im  Jahre  1895  in  48  Städten  veröffentlicht 
hat.  Bei  einer  Gesamtausgabe  von  1 028  543 
Mark  in  787  Innungen  (1S94  820707  Mark, 


1891  633753  Mark)  kamen  auf  daß  Schul- 
wesen 94572  Mark,  (1894  95544  Mark, 
1891  41513  Mark)  und  auf  das  Herbergs- 
wesen  82732  Mark  (1894  88831  Mark, 
1891  40206  Mark).  Es  hat  sich  demnach 
das  Interesse  für  diese  Seite  des  Innungs- 
lebens sehr  gesteigert.  Denn  1891  bezifferte 
sich  die  Ausgabe  für  Schulwesen  pro  Kopf 
des  Innungsmitgliedes  50  Pfennig,  1894 
(die  Innung  zu  81  Mitgliedern  gerechnet)  auf 
1,60  Mark,  1895  (die  Innung  zu  80,1  Mit- 
gliedern  gerechnet)  auf  1,80  Mark.  Fiirs 
Herbergswesen  aber  wmxlen  pro  Kopf  ver- 
wandt 1891  1,20  Mark,  1894  1,51  Mark 
und  1895  1,31  Mark.  Immer  aber  bleiben 
die  Mittel,  die  die  Innungen  für  die  Pflege 
ihrer  hauptsächlichen  Zwecke  haben  auf- 
bringen können,  nicht  erheblich. 

Es  scheint,  dass  dei-artige  an  die  Oeffent- 
lichkeit  tretende  Mitteilungen  doch  erkennen 
lassen  wie  wenig  die  Innungsgesetzgebung 
von  1881  und  den  folgenden  Jahi-en  am 
Platze  gewesen  ist.  Man  konnte  anfangs 
hoffen,  dass  die  Handwerker  in  die  ihnen 
winkenden  lohnenden  Aufgaben  sich  ver- 
tiefen und  hineinfinden  würden,  und  musste 
sich,  wenn  es  zu  langsam  zu  gehen  schien, 
damit  trösten,  dass  eine  gewisse  Schwer- 
fälligkeit rascherer  Entwickelung  hindernd 
im  Wege  stände.  Aber  schliesslich  sind  die 
Gedanken,  die  die  Innungsgesetzgebimg  von 
1881  ausgesprochen  hat,  nicht  neu  und 
müssen  gerade  jenen  Handwerkerkreisen,  die 
nicht  müde  werden,  sich  die  Vergangenheit 
zurückzuwünschen,  besonders  vertraut  sein. 
Wenn  aber  nach  mehr  als  einem  Jahrzehnt 
die  neuerliche  Anregung  nicht  gefruchtet 
hat,  dann  muss  der  Fehler  im  System  liegen, 
dann  drängt  sich  eben  die  Ueberzeugung 
auf,  dass  die  gewaltsame  Beförderung  der 
Vereinigung  der  Handwerker  nicht  das 
richtige  Heilmittel  zur  Hebung  des  ganzen 
Standes  sein  kann.  Einer  der  preussischen 
höheren  Beamten  hat  das  auch  anerkannt 
und  unumwunden  auf  dem  elften  deutscheu 
Gewerbekammertage  zu  Eisenach  im  Jahre 
1893  zugestanden,  dass  die  Erwartungen, 
die  man  an  die  Tliätigkeit  der  Innungen 
knüpfen  konnte,  von  diesen  \-ielfach  nur  in 
geringem  Umfange  gerechtfertigt  worden 
seien. 

Auch  die  Untersuchungen,  die  der  Verein 
für  Sozialpolitik  über  die  Lage  des  Hand- 
werlLS  veröffentlicht  hat,  können  diese  Auf- 
fassung von  der  Bedeutimgslosigkeit  der 
Innungen  im  allgemeinen  nur  bestätigen. 
Zwar  liat  an  einigen  Orten  die  Innung  ent- 
schieden Sinn  für  gemeinschaftliche  Inte- 
ressenvertretung, wie  z.  B.  die  Schlosser- 
innung in  Leipzig  sich  von  Anfang  an  sehr 
eifrig  für  die  Fachschule  in  Boss  wein  inte- 
ressiert hat.  Aber  wenn  in  verschiedenen 
Städten  die  Innung  sich  das  Verdienst  erwor- 


1352 


Innungen 


ben  hat,  die  Meister  in  freundnachbarliche  Be- 
ziehungen gebracht  und  von  ihrem  Konkur- 
renzkampf die  Gehässigkeit  verbannt  zu 
haben,  so  sind  dafür  an  nicht  wenigen  Orten 
die  Innungsverhältnisse  geradezu  kläglich. 
Vielfach  ist  es  die  Mittellosigkeit,  die  die 
Innungen  nicht  zu  rechter  Wirksamkeit 
kommen  lässt.  Aber  auch  wo  die  Mittel 
den  Innungen  nicht  fehlen,  ist  der  Eifer,  für 
die  Hebung  des  Gewerbes  etwas  zu  thun, 
sehr  gering.  Man  begreift  es,  wenn  man  in 
diesen  Schildenmgen  blättert,  dass  die 
Handwerker  selbst  in  manchen  Gegenden 
den  Wert  der  Innungen  gering  anschlugen. 
Ihr  grösster  Nutzen  soll,  wie  gelegentlich 
bemerkt  wird,  darin  bestehen,  dass  der  In- 
nungsmeister leichter  Lehrlinge  erhält.  Die 
Eltern  legen  nämlich  meistens  grossen  Wert 
darauf,  dass  ihr  Sohn  dereinst  regelrecht 
»freigesprochen«  wird,  obwohl  dies  praktisch 
für  ihn  ohne  jeden  Nutzen  ist,  da  die  In- 
nungsmeister bei  der  Annahme  von  Ge- 
sellen gewöhnlich  gar  nicht  nach  dem 
Lehrbrief  fragen. 

Es  ist  nur  natürlich,  bei  solcher  Saclüage 
die  Berichterstatter  des  Vereins  für  Sozial- 
politik gelegentlich  von  selbst  die  Frage 
nach  der  Bedeutung  der  Zwangsinnung  auf- 
werfen und  ablehnend  beantworten  zu  sehen. 
Es  ist  nicht  abzusehen,  meinte  einer  der 
HeiTen,  was  eine  Innung  in  der  Lohgerber- 
branche z.  B.  leisten  solle.  »Denn  von  einer 
Regelung  der  Produktion  durch  diese  kann 
nicht  die  Rede  sein,  und  eine  Absatzkon- 
kurrenz, die  zu  regeln  wäre,  besteht  über- 
haupt nicht,  da  dem  Handwerk  der  lokale 
MarKt  so  wie  so  verloren  ist.«  So  sehnlich, 
sagt  ein  anderer,  als  die  Handwerker  die 
Zwangsinnung  jetzt  wünschen,  so  flehentlich 
werden  sie  später  bitten,  von  ihr  loszukom- 
men. »Die  begeisterten  Anhänger  dieser 
Forderung  scheinen  nicht  zu  bedenken,  dass 
durch  solchen  Zwang  Genossen  wider  ihren 
WiUen  herangezogen  würden,  mit  denen  ein 
erspriessliches  Zusammenarbeiten  schlechter- 
dings ausgeschlossen  ist.« 

B.  Das  neue  Recht  der  I.  (Novelle 
vom  26.  Juli  1897).  Die  geringen  Erfolge, 
die  die  Innungen  seither  aufwiesen,  haben 
die  Handwerker  keineswegs  entmutigt, 
sondern  sie  nur  dazu  bewogen,  um  so 
energischer  für  den  Zwang  einzutreten.  Mit 
den  freiwilligen  Innungen,  sagen  die  An- 
hänger des  Zwangsgrundsatzes,  lässt  sich 
nichts  Bedeutendes  schaffen,  weil  sie  so 
wenig  Greifbares  bieten.  Selbst  wenn  ihnen 
noch  weitere  Rechte  verliehen  würden,  kämen 
sie  doch  nicht  zur  Blüte.  Denn  sie  seien 
niu'  für  ideale  Menschen  bei-echnet,  für 
Menschen,  wie  sie  sein  sollen,  und  nicht 
wie  sie  sind.  Und  nicht  nur  der  Eintritt 
in  die  Innung  muss  erzwungen  werden, 
auch  der  Innungsausschuss  und  der  Innungs- 


verband müssen  obligatorisch  werden.  Anders 
lässt  sich  eine  Bessenmg  der  heutigen  Zu- 
stände nicht  erwarten.  Diesem  Lieblings- 
gedanken ist  die  Erhebung  über  die  Ver- 
hältnisse im  Handwerk,  die  nur  bis  1895 
ausgeführt  wurde,  entgegengekommen.  >»Es 
besteht«,  so  hiess  es  im  Rundschreiben  des 
Reichskanzlers  vom  27.  Mai  1895,  »in 
Kreisen  des  organisierten  Handwerks  das 
lebhafte  Verlangen,  dass  dem  Handwerker- 
stande eine  festere  und  namentlich  auf  dem 
Gebiete  der  Lehrlingsausbildung  leistungs- 
fähigere Organisation  gegeben  werde,  als 
sie  die  bisherigen  fakultativen  Innungen  zu 
bieten  vermögen.«  Mit  Hilfe  der  Eaquete 
sollte  man  ein  urteil  über  die  thatsäcmiche 
Durchfühlbarkeit  einer  allgemeinen  lokalen 
Organisation  des  Handwerks  sich  ver- 
schaffen. Man  woUte  in  Erhebung  bringen, 
wie  weit  die  örtliche  Gruppienmg  des  Hand- 
werks noch  reiche,  um  den  Zwang  nicht  an 
Äscher  Stelle  auszusprechen,  ^ie  es  mit 
dem  Betriebe  von  Specialitäten  aussah,  wie 
die  Ausbildung  und  die  Vorbereitung  der 
heutigen  Arbeiter  für  ihren  Beruf  gewesen 
ist  u.  dgl.  ra.  Die  Erhebung  wurde  nicht 
im  ^nzen  Reiche  veranstaltet,  sondern  niu* 
in  emer  grösseren  Anzahl  von  Bezirken,  die 
in  Preussen,  Bayern,  Sachsen,  Württemberg, 
Baden,  Hessen  und  Lübeck  gewählt  worden 
waren,  im  ganzen  in  37  Distrikten.  Von 
den  gegenwärtig  vorliandenen  Kreisen  imd 
entsprechenden  Verwaltimgsbezirken  im 
Reiche  wnrde  auf  diese  Weise  der  27.  Teil 
in  die  Erhebung  einbezogen.  Dem  Flächen- 
inhalte nach  handelte  es  sich  um  den 
80.  Teil  der  Reichsfläche,  und  die  unter- 
suchte Einwohnerzahl  belief  sich  auf  un- 
gefähr den  22.  Teil  der  Reichsbevölkerung. 
Man  dachte  die  in  diesem  engeren  Raum 
gefundenen  Verhältnisse  als  typische  an- 
sehen zu  dürfen. 

Die  Ergebnisse  der  Enquete  haben  ge- 
zeigt, dass,  wenn  überhaupt  ein  Zwang  zum 
Anschluss  an  Innungen  ausgesprochen  werden 
soll,  er  auf  alle  Handwerker,  einsclüiessüch 
der  ohne  Personal  thätigen  Arbeiter  aus- 
gedehnt werden  muss.  Anders  liefe  man 
Gefahr,  wegen  der  imgenügenden  Zahl  von 
Meistei*n  die  Innung  überhaupt  nicht  be- 
gründen zu  können.  Sollten  nur  die  per- 
sonalbeschäftigenden Meister  zum  Eintritt 
in  die  Innungen  verpflichtet  werden,  so  ist 
die  Möglichkeit  zur  Bildung  dieser  Ver- 
einigungen ganz  gewaltig  eingeschränkt. 
Da  98  Handwerker  und  Specialitäten  in 
156  Zählbezirken  nachgewiesen  sind,  w 
müssten  für  15288  Innungen  die  Mitglieder 
gegeben  sein.  Statt  dessen  sind  Zählbezirks- 
innungen  möglich,  wenn  zur  Bildung  einer 
Innung  genügen 

5  personalbeschäftigende  Meister:  1391  in 

62  Handwerken 


InnuDgen 


135B 


10  personalbeschäftigende   Meister:  761  in 

43  Handwerken 
15  „  Meister:  453  in 

37  Handwerken 
20  „  Meister:  295  in 

28  Handwerken 
30  .  Meister:  137  in 

19  Handwerken. 


r 


Mit  anderen  Worten:  die  örtliche  Ver- 
teilung der  Handwerker  ist  derart,  dass  in 
Orten  von  der  Grösse  der  Zählbezirke  nicht 
durchweg  Innungen  ins  Leben  gerufen 
wei-den  können,  die  so  zalüreich  besetzt 
sind,  dass  man  von  ihi-er  Wirksamkeit  etwas 
erwarten  darf.  Innungen,  die  jedesmal  nur 
5  Handwerker  vereinigen,  würden  ganz  ge- 
wiss nur  einen  selir  geringen  Einfluss  auf 
die  Geschicke  des  betreffenden  Berufs  und 
des  Handwerks  im  allgemeinen  ausüben 
können.  Für  eine  ganze  Anzahl  von  Hand- 
werken aber  werden  selbst  diese  kleinen 
Innungen  nicht  einmal  gebildet  werden 
können. 

Bei  dieser  Sachlag-e  hat  die  Novelle  vom 
26.  Juli  1897  davon  abgesehen,  einen  Zwang 
schlechthin  zum  Eintritt  in  die  Innungen 
auszusprechen,  sondern  es  dem  Ermessen, 
der  Kleingew^erbetreibendeu  selbst  über- 
lassen, einen  solchen  anzuregen.  In  dem 
neuen  Innungsrecht  sind  zunächst  die  Auf- 
gaben der  Innung,  die  obligatorischen  wie 
die  fakultativen,  unverändert  geblieben.  Die 
ersteren,  wie  sie  oben  gekennzeichnet  wurden, 
sind  und  bleiben  die  Gnmdpfeiler  des  ge- 
nossenschaftlichen Zusammenwirkens.  Und 
ebenso  ist  nach  wie  vor  die  Möglichkeit  vorge- 
sehen ,  dass  Veranstaltungen  zur  Förderung  der 
gewerblichen,  technischen  und  sittlichen  Aus- 
bildung von  Meistern,  Gesellen  und  Lehrlingen 
getroffen,  Meister-  und  Gesellenprüfungen  ins 
Ii('ben  gerufen,  Unterstützungs-  und  Hilfs- 
kassen errichtet,  Schiedsgerichte  zur  Ent- 
scheidung der  Differenzen  mit  den  Gesellen 
begründet ,  gemeinschaftliche  Geschäftsbe- 
triebe zur  Fördening  des  Erwerbs  der  In- 
nungsmitglieder eingerichtet  werden  können. 
Schwer  dagegen  wiegt  die  Neuerung  der 
fakultativen  Zwangsinnung.  Von 
nun  an  kann  auf  Antrag  der  Beteiligten  die 
höhere  Verwaltungsbehörde  anordnen,  dass 
innerhalb  eines  bestimmten  Bezirks  sämt- 
liche Gewerbetreibende,  die  das  gleiche 
Handw^erk  oder  verwandte  Gewerbe  be- 
treiben, einer  neu  zu  errichtenden  Innung 
anzugehören  haben.  Der  Antrag  braucht 
nicht  gerade  darauf  auszugehen,  alle  Hand- 
werker einer  Art  zu  umfassen.  Er  kann 
sich  auch  nur  auf  diejenigen  Gewerbe- 
treibenden beschränken,  die  in  der  Regel 
Gesellen  und  Lelu'linge  halten.  Nicht  jeder 
Antrag  auf  Bildung  einer  Zwangsinnung  hat 
Aussicht  auf  Annahme.  Auch  ohne  eine 
Abstimmung  zu  veranlassen,   kann  der  An- 


trag von  vorn  herein  abgelehnt  werden,  wenn 
er  nämlich  1.  von  einem  verhältnismässig 
kleinen  Teil  der  beteiligten  Handwerker 
ausgeht.  Z.  B.  falls  in  einem  Ort,  wo  100 
Schlächter  angesessen  sind,  nur  5  den  An- 
trag stellen  sollten,  2.  w^enn  der  Antrag 
innerhalb  der  letzten  drei  Jahre  bei  einer 
Abstimmung  schon  abgelehnt  worden  ist. 
Man  nehme  an,  dass  die  Schlosser  und 
Schmiede  irgend  einer  Stadt  im  Mai  1898  den 
Antrag  zur  BUdung  einer  Zwangsinmmg  ge- 
stellt hatten,  jedoch  damit  nicht  durchdrangen. 
Dann  würden  sie,  falls  sie  im  Mai  1900  aufs  neue 
mit  dem  Anti-ag  kämen,  abgewiesen  werden. 
3.  Wenn  für  die  Wahrung  der  gemeinsamen 
gewerblichen  Interessen  am  Orte  in  anderer 
Weise  ausreichende  Fürsorge  getroffen 
scheint,  also  etwa  ein  grosser  Gewerbe- 
verein am  Orte  bereits  besteht.  Endlich 
erfolgt  auch  Ablehnung  des  Antrages,  wenn 
die  Zahl  der  vorhandenen  Handwerker  zur 
Bildung  einer  leistungsfähigen  Innung  nicht 
ausreicht.  Eine  Mindestzahl  ist  nicht  vor- 
gesehen. Hier  entspricht  einzig  das  Er- 
messen der  oberen  Verwaltungsbehörde. 
Notwendig  ist  ferner,  den  Bezirk  der  Innung 
so  abgegrenzt  zu  sehen,  dass  kein  Mitglied 
durch  die  Entfernung  seines  Wohnsitzes 
vom  Sitze  der  Innung  gehindert  wird,  am 
Genossenschaftsleben  teilzunehmen  imd  die 
Innungseinrichtungen  zu  benutzen.  Die 
Grösse  des  Bezirks  ist  nicht  bestimmt.  Man 
wird  sich  ganz  nach  den  thatsächlichen  Ver- 
hältnissen, vor  allen  Dingen  nach  den  Ver- 
kehrsbedingungen richten  müssen.  Ist  der 
Antrag  auf  Bildung  einer  Zwangsinnung 
angenommen,  so  fragt  sich,  wer  bei  tritt  s- 
p flichtig  ist.  Natürlich  alle  diejenigen, 
die  das  Gewerbe,  für  welches  die  Innung 
errichtet  ist,  als  stehendes  Gewerbe  selb- 
ständig betreiben.  Also  auch  diejenigen,  die 
bei  der  Abstimmung  nicht  anwesend  waren. 
Aber  man  kann  sein  Gewerbe  in  ver- 
schiedener Art  betreiben :  fabrikähnlich  und 
handwerksmässig.  Da  sind  denn  die,  die 
das  Gewerbe  fabrikmässig  betreiben,  vom 
Beitrittszwange  frei.  Was  darunter  ver- 
standen werden  soll,  steht  im  Ermessen  der 
oberen  Verwaltungsbehörde.  Da  die  Be- 
griffe »Handwerk«  und  »Handwerker«  im 
Gesetze  nicht  definiert  sind,  so  wird  die 
Entscheidung  immer  etwas  von  der  örtlichen 
Anschauung  abhängig  sein.  Soll  die  Innung 
bloss  für  personalbeschäftigende  Handwerker 
erklärt  werden,  so  wären  natürlich  vom 
Beitritt  befreit  diejenigen,  die  in  der  Regel 
keine  Lehrlinge  und  Gesellen  annehmen. 
Handwerker,  die  mehrere  Gewerbe  betreiben, 
haben  sich  derjenigen  Innung  anzuschliessen, 
die  ftir  das  hauptsächlich  von  ihnen  be- 
triebene Gewerbe  errichtet  ist.  Ein  Wagen- 
bauer mithin,  der  zugleich  Sattler  und 
Lackiererarbeiten  in  seinem  Geschäfte  ver- 


1354 


Innungen 


einigt,  würde  nur  der  Innung  für  das 
erstere  Gewerbe  sich  anzuschliessen  haben. 
Streitigkeiten,  die  hierüber  entstehen  können, 
hätte  die  Aufsichtsbehörde  zu  entscheiden, 
von  der  eine  Beschwerde  an  die  höhere 
Verwaltungsbehörde  möghch  ist. 

Mit  der  Bildung  einer  Zwangsinnung 
hören  die  anderen  Innungen,  die  für  das- 
selbe Gewerbe  seither  vorhanden  waren, 
auf.  Ihr  Vermögen  geht  dann  auf  die 
Zwangsinnung  über.  Waren  in  der  bis- 
herigen Innung  auch  solche  Mitglieder,  die 
nicht  zum  Anschluss  an  die  Zwangsinnung 
verpflichtet  sind,  so  geht  nur  ein  ent- 
sprechender Teil  des  Vermögens  in  die 
neue  Innung  über.  Mit  der  Begründung 
von  ZwangsmnuDgen  fallen  auch  die  Privi- 
legien, die  seither  aus  §  100  e  und  100  b 
der  Gtew.-O.  verliehen  werden  konnten,  weg. 
Es  wild  offenbar  vom  Gesetze  angenommen, 
dass  Innungen,  die  geeignet  sind,  diese  Vor- 
rechte zu  erhalten,  unschwer  in  eine  Zwangs- 
innung umgewandelt  werden  können.  Neben 
einer  Zw^angsinnung  aber  ist  für  eine  bevor- 
rechtete Innung  kein  Platz  mehr,  da  ja  als- 
dann keine  Berufsgenossen  vorhanden  siod, 
denen  gegenüber  die  Vorrechte  geltend  ge- 
macht werden  könnten.  Die  Innungen,  die 
Privilegien  aus  den  genannten  Paragraphen 
aufwiesen,  konnten  ohne  weiteres  in  Zwangs- 
innungen umgewandelt  werden. 

Skid  nun  aUe  glücklich  in  einer  Zwangs- 
innung untergebracht,  so  darf  sich  diese 
doch  nicht  wie  eine  freie  benehmen.  Es 
wird  ihr  vielmehr  immer  anhängen,  dass  sie 
auf  dem  Wege  des  Zwanges  das  Licht  der 
Welt  erblickte.  Sie  muss  sich  gewissen 
Vorschriften  bezüglich  ihrer  Wirksamkeit 
fügen.  Es  liegt  nämlich  die  Gefahr  vor, 
dass  die  neu  errungene  Machtstellung  ent- 
weder gegenüber  den  3iiitgliedern  oder  dem 
Publikum  gemissbraucht  weixien  kann.  In- 
dem das  Gesetz  diesen  Punkt  im  Auge  be- 
hält, hat  es  verboten  1.  Eintrittsgeld  zu  er- 
heben, 2.  gemeinsame  Geschäftsbetriebe  zu 
errichten,  3.  Preisfestsetzungen  für  Waren 
und  Leistungen  zu  beschliessen  und  die  Ge- 
nossen in  der  Annahme  von  Kunden  zu  be- 
schränken. Nach  einer  anderen  Seite  ver- 
langt das  Gesetz,  dass  die  Zwangsinnungen 
einen  Haushaltsplan  der  Genehmigung  der- 
Aufsichtsbehörden  unterbreiten.  I)as  erste 
ist  angeordnet,  um  keinen  schweren  Druck 
auf  vielleicht  nicht  recht  gut  situierte  Hand- 
werker auszuüben.  Das  zweite,  weil  das 
Vermögen  der  Innung  für  die  Verbindlich- 
keiten haften  müsste,  wenn  das  Geschäft 
auf  ihre  Rechnung  gehen  würde.  Ist  kein 
solches  vorhanden,  so  müssten  eventuell  er- 
höhte Beiträge  der  Mitglieder  die  Deckung 
verschaffen.  Das  ist  Ix^i  freien  Innuncron 
unbedenklich,  weil  jeder  wieder  austreten 
kann,   wenn    ihm  die  Last  zu  gross  wird. 


Hier  könnte  er  sich  ihrem  steigenden  Dnicke 
nicht  entziehen.  Damit  im  Zusammenhange 
steht  die  Fordemng,  einen  Etat  aufzustellen. 
Es  soll  eben  Sicherheit  geboten  werden,  dass 
die  zwangsweise  aufgebrachten  Gelder  sach- 
Hch  und  zweckentsprechend  gebraucht  wer- 
den. Das  dritte  Verbot  endhch  bringt  den 
Wimsch  zum  Ausdruck,  die  Bildung  von 
Ringen,  Preiskoalitionen  u.  dergl.  mehr  zu 
verhüten. 

Von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus 
ist  die  Beitragsleistung  in  den  Zwangs- 
innungen geregelt.  Bisher  pflegten  die  Bei- 
träge, die  an  die  Innung  zu  zaäüen  waren, 
für  alle  gleich  hoch  zu  sein.  Freie  Innun- 
gen können  auch  heute  noch  derart  ihre 
Seiträge  regeln.  Für  die  Zwangsinnung 
aber  ist  vorgesehen,  dass  sie  die  einzelnen 
Betriebe  nach  ihrer  Leistungsfähigkeit  heran- 
zieht. Nach  welchen  Umständen  sie  diese 
bemessen  will,  etwa  nach  der  Zalü  der 
Hilfskräfte,  der  Benutzung  maschineller  Vor- 
richtungen u.  s.  w.,  steht  ihr  frei.  Genug,  es 
herrscht  der  Grundsatz,  dass  wohlhabendere 
Mitglieder  mehr  zahlen  als  ärmere.  Ge>Äiss 
war  für  diese  Bestimmung  der  Wunsch 
massgebend,  eine  grössere  finanzielle  Leis- 
tungsfähigkeit der  Innung  zu  erreichen. 

Neu  ist  in  dem  Gesetze  ferner  die  Be- 
günstigung der  Gesellenausschüsse. 
Was  in  der  Grossindustrie  erst  seit  kurzem 
Eingang  gefunden  hat,  nämlich  eine  Vertre- 
tung der  Arbeiter  in  den  Arbeiterausschüssen 
(s.  oben  Bd.  I  S.  961),  hat  das  Kleingewerlje 
schon  lange  gekannt.  Man  hat  es  nicht  als 
unbillig  erachtet,  den  Gesellen  das  Recht 
einzuräumen,  in  gewissen  ihre  Verhältnisse 
betreffenden  Fragen  sich  zu  äussern  und 
Wünsche  verlauten  zu  lassen.  Zu  dem  zur 
Novelle  von  1881  gehörenden  Musterstatut 
für  Innungen  wurde  alsdann  die  Bildung 
von  Gesellenausschüssen  zur  Förderung  eines 
gedeihlichen  Verhältnisses  zwischen  Meistern 
und  Gesellen  ausdrücklich  empfohlen.  In 
der  That  scheint  der  Gedanke  Anklang  ge- 
funden zu  haben.  Wenigstens  konnte  im 
Jahre  1890  von  der  preussischen  Regierung 
konstatiert  werden,  dass  in  dem  überwiegend 
grössten  Teile  der  genehmigten  Inuungssta- 
tuten  Gesellenausschüsse  vorgesehen  waren. 
Aber  es  macht  fast  den  Eindruck,  als  ob 
diese  noch  auf  dem  Papiere  vorhanden  ge- 
wesen wären.  Denn  das  Statistische  Jahr- 
buch deutscher  Städte,  das  regelmässig  auch 
über  die  gewerblichen  Innungen  berichtet 
(vgl.  Pabst),  erwähnt  die  Gesellenaussc-hüs>e 
mit  keinem  Wort.  Nacli  einer  mecklen- 
burgischen Statistik  hatten  unter  437  Innun- 
1  gen  nur  56  einen  GesellenaiLSSchuss,  Nicht 
weniger  als  376  Innungen  beriditeten,  iLiss 
ein  Gesellenausschuss  nicht  gebildet  sei, 
da  einerseits  kein  Bedürfnis  hervorgetreten 
wäre,  r.ndererseits  die  Anzahl  der  beschäf- 


Innungen 


1355 


tigten  Gesellen  eine  zu  geringe  sei.  Da- 
gegen lässt  sich  aber  einwenden,  dass  in 
Mecklenbiu-g  in  427  Innungen  7592  Gesellen, 
d.  h.  diuxjhschnittlich  in  jeder  13  Gesellen 
nachgewiesen  sind.  Wenn  es  nun  183  In- 
nungen in  Mecklenburg  giebt,  die  noch 
nicht  2910  Mitglieder  aufweisen,  dann  kann 
auch  die  obige  Gesellenzahl  nicht  als  zu 
gering  angesehen  werden,  um  einen  Aus- 
schuss  zu  bilden.  So  liegt  daher  die  Ver- 
mutung nahe,  dass  man  in  Mecklenbtu^ 
für  die  Ausschüsse  sich  nicht  recht  zu  er- 
wärmen veimocht  hat  und  in  den  übrigen 
deutschen  Ländern  die  Neigimg  keine  grossere 
gewesen  sein  wird. 

Nunmehr  sind  die  Gesellenausschüsse 
obligatorisch  und  ihre  Aufgaben  näher 
specialisiert  worden.  Alle  volljälirigen  (21 
Jalire  alten)  GeseDen,  die  von  Innungsmit- 
gliedern beschäftigt  werden  und  im  Besitz 
cler  bürgerlichen  Ehreiu^chte  sind,  wählen 
unter  Leitung  eines  Mitgliedes  des  Innungs- 
voi'standes  den  Ausschuss.  Die  Gewählten 
können  zur  Ausübung  ihrer  Funktionen  an- 
gehalten werden.  Kommt  keine  Wahl  zu 
Stande,  verzichten  also  die  Gesellen  selbst 
auf  ihre  Rechte,  so  findet  eben  keine  Be- 
teiligimg  derselben  an  der  Verwaltung  der 
Innungseinrichtungen  statt.  Es  ist  aber 
kaum  glaublich,  dass  die  Gesollen  auf  die 
Ausübung  ihrer  Rechte  verzichten  werden. 
Darf  doch  z.  B.  der  GesoUenausschuss  auch 
die  Beisitzer  zu  den  Prüfungsausschüssen 
wählen.  Mit  dem  Ausschuss  werden  die 
Innungen  also  fortan  zu  rechnen  haben. 
Seine  Beteiligung  ist  erforderlich  1.  bei  der 
Regelung  des  Lehrlingswesens,  2.  bei  der 
ErrichtungvouHerbergen,  Arbeitsnachweisen, 
Innungsschiedsgerichten,  Kranken-  und  Un- 
terstützungskassen, 3.  bei  der  Verwaltung 
dieser  Anstalten  und  etwaiger  Fachschulen, 
sofern  sie  ihrerseits  ebenfalls  Beiträge  füi* 
deren  Unterhalt  zu  zahlen  haben,  4.  muss 
bei  der  Beratung  und  Beschlnssfassung  des 
Innungsvorstandes,  d.  h.  natürlich  nur  bei 
Beratungen  über  Verhältnisse,  die  die  Ge- 
sellen angehen,  ein  Mitglied  des  Gesellen- 
ausschusses anwesend  sein,  5.  endlich 
müssen  bei  der  Beratimg  und  Beschluss- 
fassung der  Innungsversammlung  die  sämt- 
lichen Mitglieder  des  Gesellenausschusses 
mit  voUem  Stimmrecht  zugelassen  werden. 

Eine  bemerkenswerte  Neuerung  erscheint 
weiter  in  der  Einführung  von  Innungs- 
inspektoren. Die  Innungen  sind  befugt, 
aus  ihi'er  Mitte  Beauftragte  zu  wählen,  die 
die  Ausfi\hrung  des  Gesetzes  überwachen, 
insbesondere  von  der  Einrichtung  der  Be- 
triebsräume und  der  für  die  Unterkunft  der 
Lehrlinge  bestimmten  Räume  Kenntnis 
nehmen  sollen.  Sollte  es  sich  hierbei  so 
unglücklich  ti-effen,  dass  die  Geschäftsinte- 
ressen durch  eine  derartige  Einrichtung  von 


selten  eines  Benifskollegen  voraussichtlich 
beeinträchtigt  werden  würden,  so  kann  an 
die  Stelle  des  Beauftragten  der  Innung  ein 
anderer  Sachverständiger  treten.  Augen- 
scheinlich ist  diese  Anordnimg  der  Erwä- 
gung entsprungen,  dass  die  ^yfitglieder  der 
Innung  es  gelegentlich  bei  der  Einhaltimg 
der  gesetzlichen  imd  statutarischen  Vor- 
schriften an  der  nötigen  Aufmerksamkeit 
fehlen  lassen  könnten.  Ein  Misstrauensvotum 
braucht  man  deswegen  gleichwohl  nicht 
darin  zu  erblicken.  Es  ist  vielmehr  dieser 
Paragraph  dem  ünfaUversicherungsgesetze 
analog  gebildet.  In  diesem  ist  ebenfalls 
(§  82)  den  Genossenschaften  das  Recht  zu- 
gesprochen, durch  Beauftragte  die  Befolgung 
der  zur  Verhütung  von  Unfällen  erlassenen 
Vorschriften  zu  überwachen. 

Weniger  fallen  die  anderen  Reformen 
ins  Gewicht.  Da  sind  z.  B.  nun  auch  die 
»Arbeiter«  der  Innungsmitglieder,  also  die 
ungelernten  Hilfspersonen,  an  den  Unter- 
stützungskassen beteiligt  und  der  Zuständig- 
keit der  Innungsschiedsgerichte  unterstellt. 
Ferner  sind  in  Bezug  auf  die  Vermögens- 
venvaltung  (§  89  a,  §  89  b)  Vorschriften  er- 
lassen, die  von  dem  Gedanken  durchzogen 
sind,  dass  bei  der  Vei*waltung  fremder 
Gelder,  in  diesem  Falle  das  Vermögen 
öffentlich-rechtlicher  Korporationen ,  Vor- 
sicht am  Platze  ist.  So  werden  die  Innun- 
gen jetzt  ihre  Einnahmen  und  Ausgaben 
von  allen  ihren  Zwecken  fi'emden  Verein- 
nahmungen und  Verausgabimgen  getrennt 
festzustellen  und  ihre  Bestände  gesondert 
zu  verwahren  haben.  Auch  bedürfen  sie 
der  Genehmigung,  der  Aufsichtsbehörde, 
wenn  sie  Grundeigentum  erwerben  oder 
veräussern  wollen  oder  Gegenstände,  die 
einen  geschichtlichen ,  wissenschaftlichen 
oder  Kunstwert  haben,  verkaufen  wollen. 
Es  ist  sehr  zu  bedauern,  dass  eine  derartige 
Bestimmung  nicht  schon  vor  20  Jahren  er- 
lassen wiu'de.  Dann  wären  alle  jene  Doku- 
mente aus  Pergament,  Trinkgefässe  aus  Silber 
oder  Zinn  und  sonstige  auf  die  ruhmreiche 
Vergangenheit  der  Zünfte  Bezug  habende 
Stücke,  die  man  jetzt  vei'geblich  bei  den 
Inniu)gen  sucht,  nicht  so  vielfach  in  un- 
rechte Hände  gekommen.  Nur  in  Sachsen 
hatte  man  nach  dieser  Richtung  Vorkehrung 
getroffen,  indem  eine  Entscheidung  des 
sächsischen  Ministeriums  von  1886  anordnete, 
dass  im  FaUe  der  Auflösung  einer  Innung 
Gegenstände  von  historischem  oder  kunst- 
gewerblichem Werte  nicht  verschleudert 
werden  sollten. 

Dankenswert  ist,  dass  in  Bezug  auf  die 
Iimungsschiedsgerichte  grössere  Klarheit  er- 
zielt ist.  Wenn  es  überhaupt  einmal  als 
zweckmässig  anerkannt  ist,  die  Entscheidung 
gewerblicher  Streitigkeiten,  wie  sie  aus  dem 
Arbeitsvertrag  hervorgehen,  Laiengerichten 


1356 


Innungen 


anzuvertrauen,  so  begreift  sich  die  Wichtig- 
keit, die  man  in  Innungskreisen  der  Mög- 
lichkeit eigener  Rechtsprechung  beüe^ 
Wunderbarerweise  ist  aber  doch  verhältnis- 
mässig selten  ihre  Errichtung  bis  jetzt  üb- 
lich gewesen.  Nach  der  Statistik  der  In- 
nungen in  Mecklenbiu'g  vom  Jahre  1895 
hatten  unter  437  Innungen  nur  13  Schieds- 
gerichte' ins  Leben  gerufen.  In  Breslau 
waren  1895—1897  von  57  Innimgen  niu:  12 
Schiedsgerichte  veranstaltet  (Verwaltungs- 
bericht der  Stadt  Breslau  für  die  Jahre  1895 
bis  1898  S.  614).  Von  838  Innungen  in 
42  Städten,  über  die  das  Statistische  Jahrbuch 
deutscher  Städte  Auskunft  giebt,  hatten  1891 
nur  16  Schiedsgerichte;  1894  von  865  In- 
nungen in  41  Städten  89 ;  1895  von  934  In- 
nungen 102.  Man  wird  diese  geringe  An- 
zahl kaiun  als  ein  Zeichen  grosser  Fried- 
fertigkeit ansehen  dürfen,  sondern  mehr  als 
eine  Folge  der  leider  so  oft  zu  Tage  getre- 
tenen Gleichgiltigkeit  betrachten  müssen. 
Daher  sind  die  Anordnungen,  die  jetzt  dazu 
bestimmt  sind,  die  Einrichtung  populärer  zu 
machen,  durchaus  willkommen  zu  heissen. 
Den  Beisitzern  wird  von  jetzt  ab  eine  Ver- 
gütung ihrer  baren  Auslagen  und  eine  Ent- 
schädigimg für  Zeitversäiunnis  zugestanden. 
Die  Anberaumung  des  ersten  Termins  hat 
innerhalb  8  Tage  nach  Eingang  der  Klage 
zu  erfolgen.  Wird  diese  Frist  nicht  einge- 
halten, so  kann  der  Kläger  sich  an  das  be- 
werbegericht  oder,  w'o  ein  solches  nicht  be- 
steht, an  das  ordentliche  Grericht  wenden. 
Endlich  ist  bestimmt,  dass  die  Entscheidung 
schriftlich  abgefasst  sein  muss,  wie  es  mit 
der  Vollstreckbarkeit  des  Urteils  zu  halten 
ist  u.  dgl.  m.  Da  alle  diese  Bestimmungen 
darauf  abzielen,  das  Verfahren  klar  zu  stellen 
und  zu  beschleunigen,  so  lässt  sich  fortan 
eine  häufigere  und  eifrigere  Begründung  von 
Innungsschiedsgerichten  erwarten  (s.  im  Art. 
Gewerbegerichte  oben  Bd.  IV  S.  4(X)). 
4.  Fach-  oder  gemischte  I.  Fiu*  ge- 
wöhnlich treten  die  selbständigen  Gewerbe- 
treibenden desselben  Berufs  zur  BUdung 
einer  (Fach-)  Innung  zusammen.  Es  kommt 
aber  auch  vor,  dass  Vertreter  verschiedener 
Hantierungen  sich  zu  einer  (gemischten)  In- 
nung vereinigen.  Welche  Form  .die  zweck- 
mässigere  sei,  ist  auf  den  Handwerker-  und 
Innungstagen  (z.  B.  Beriin  1885,  Köln  1886) 
wiederholt  Gegenstand  der  Erörterung  ge- 
wesen. Ja  die  Vorstandschaft  des  Allge- 
meinen deutschen  Handwerkerbundes  wandle 
sich  im  Frühjahr  1886  mit  einer  Denkschrift 
über  dieses  Kapitel  an  das  Reichskanzleramt. 
Die  Führer  der  Berliner  Handwerkerbewe- 
gimg  sehen  die  gemischten  Innungen  mit 
ungünstigen  Augen  an,  während  man  in 
Süd-  und  Westdeutschland  mehr  geneigt  ist, 
sie  gelten  zu  lassen.  Den  gemischten  In- 
nungen wird   nachgesagt,  dass  sie  den  In- 


nungsaufgaben nicht  ganz  genügen.  So 
soUen  sie  es  z.  B.  mit  den  Meisterprüfungen 
vielfach  leicht  nehmen  und  mit  dem  Meister- 
machen ein  förmliches  Geschäft  betreiben. 
Da  kommen  dann  aus  kleinen  Städten  Leute, 
die  eigentlich  nichts  Rechtes  gelernt  haben, 
nach  den  grösseren  Verkehrsplätzen  und 
täuschen  hier  das  Publikum  durch  den  er- 
worbenen Titel.  Indes,  falls  dieser  Vorwurf 
ein  berechtigter  sein  sollte,  ist  dabei  nicht 
zu  vergessen,  dass  in  kleineren  Orten  andere 
als  gemischte  Innungen  oft  gar  nicht  zu 
Stande  kommen  können.  Daher  ist  es  wohl 
richtiger,  beiden  Arten  von  Innungen  Exis- 
tenzberechtigung zuzugestehen  und  sie  als 
für  den  Handwerkerstand  gleich  nützlich 
anzusehen.  Wenn  im  allgemeinen  die  Fach- 
innung als  zunächst  zu  erstrebende  Eimich- 
tung  vorschwebt,  so  kann  doch  auch  die 
gemischte  Innung  die  diesen  Verbänden  zu- 
gedachten Aufgaben  lösen,  ja  vielleicht 
manches  Mal  nachhaltiger,  als  die  Faehin- 
nung  es  vermag.  An  einem  Orte  mit  llM 
Handwerkern,  die  20  bis  30  verschiedenen 
Gew^erben  angehören,  kann  immöglich  jede 
Innung  eine  eigene  Lehrlingsschule  eröffnen. 
Eine  gemischte  Innung  dagegen  wird  eher 
für  den  Lehrlingsuntenicht  überhaupt  in 
seinen  verschiedenen  Verzweigungen  die 
Mittel  aufbringen  können.  Umfasst  eine 
gemischte  Inmmg  eine  grössere  Anzahl 
kleinerer  Ortschaften,  so  kann  sie  viel  Gutes 
stiften  mid  in  manclien  Fällen  mehr,  als 
wenn  sie  in  eine  Reihe  von  Fachinnungen 
zerfiele.  Sie  kann  eine  Herberge  errichten, 
die  Durchreisenden  unterstützen,  eine  Kran- 
kenkasse eröffnen,  das  Lehrlingswesen  über- 
wachen etc.,  während  eine  Fachinnung,  die 
ihre  Mitglieder  in  12  bis  14  Ortschaften  hat, 
schliesshch  doch  nicht  über  Mittel  genug 
verfügt,  um  etwas  Tüchtiges  zu  leisten. 

5.  Innangsausschüsse.  Unter  den  In- 
nungen selbst  kann  wieder  eine  weitere  Ver- 
bindung angestrebt  werden.  Zunächst  ist 
es  den  Innungen  verschiedener  Gewerbe  an 
demselben  Orte  bezw.  innerhalb  desselben 
Aufsichtsbezirkes  erlaubt ,  ein  gemeinschaft- 
liches Organ,  den  Innimgsausschuss  zu  ei- 
richten.  Diesem  fällt  die  Vertretung  der 
gemeinsamen  Interessen  der  an  ihm  betei- 
ligten Innungen  zu.  Auch  kann  ihm  die  Losung 
gewisser,  in  erster  Linie  den  einzelnen  In- 
nungen obliegenden  Aufgaben  diutjh  Wahr- 
nehmung der  entsprechenden  Rechte  und 
Pflichten  übertragen  werden.  So  wird  er 
z.  B.  für  das  Schiedsgerichtswesen  sorgen, 
die  Errichtung  und  Beaufsichtigung  gemein- 
samer Herbergen  und  Arbeitsnachweise  in 
die  Hand  nehmen  können.  Er  ist  femer 
geeignet,  die  kommunalen  Interessen  der 
Handwerksmeister  kräftig  in  die  Hand  zu 
nehmen  und  den  in  Innungen  vereinigten 
Handwerkerstand    in    richtiger    Weise    zur 


Innungen 


1357 


Geltung  zu  bringen.  Er  wird  sein  Ansehen 
steigern,  venn  es  z.  B.  gelingt,  Innungsge- 
nossen zu  Mitgliedern  der  Stadtverordneten- 
versammlungen oder  Beiräten  der  Magistrate 
gewählt  zu  sehen.  Dabei  würden  die  In- 
nungsfaehschulen  am  meisten  Vorteil  ziehen, 
indem  die  Gemeindebehörden  alsdann  ver- 
anlasst werden  könnten,  an  die  Fortbildungs- 
schulen zugleich  die  Interessen  der  Fachin- 
nungsschulen anzuknüpfen. 

In  Wirklichkeit  ist  bis  jetzt  von  der 
segensreichen  Thätigkeit  der  Innungsaus- 
schüsse wenig  genug  zu  spüren  gewesen. 
In  Preussen  bestanden  am  1.  Dezember  1887 
überhaupt  63  Innungsausschüsse,  und  3  Jahre 
später  —  1.  Dezember  1890  —  war  ihre 
Zahl  auf  133  gestiegen.     Am  1.  Dezember 

1896  bestanden  iil  ganz  Deutschland  139 
Innungsausschüsse.  Von  855  Innungen  in 
41  deutschen  Städten  mit  66  666  Mitgliedern 
hatten  sich  (1894)  Innungsausschüsseu  ange- 
schlossen 437  mit  zusammen  40963  Mit- 
gliedern; 1895  von  928  Innungen  mit  73792 
Mitgliedern  438  mit  40  298  Mitgliedern.  Es 
geht  mithin  ihre  Bildung  nur  sehr  langsam 
vor  sich.  Den  Grund  dafür  sehen  die  Iiand- 
werker  selbst  darin,  dass  der  Innungsaus- 
schuss  keine  selbständige  voi^setzte*  Be- 
hörde über  die  beteiligten  Innimgen  ist, 
sondern  sein  Wirkungskreis  durch  das  Mass 
der  ihm  übertragenen  Rechte  bedingt  ist. 
Es  hängt  ganz  davon  ab,  ob  in  den  einzelnen 
Innungen  Männer  sind,  die  den  Nutzen 
eines  Innungsausschusses  begreifen  und 
seiner  Thätigkeit  die  richtigen  Grenzen 
stecken  sowie  Fähigkeiten  und  Zeit  genug 
haben,  um  als  Mitglieder  des  Ausschusses 
die  schwierige  Aufgabe  zum  Wohle  der  Ge- 
samtheit lösen  zu  können.  Der  Centralaus- 
schuss  der  vereinigten  Innungsverbände 
unterstützt  die  Gründung  von  Innungsaus- 
schüsseu, indem  er  Normalstatuten  un- 
entgeltlich ausgiebt.  Die  Regierungsbehör- 
den könnten  gleichfalls  manches  zu  ihrer 
Ausbreitung  thun,  wenn  sie,  wie  das  könig- 
liche PoHzeipi-äsidium  in  Berlin  dem  Ber- 
liner Innungsausschusso  gegenüber  gethan 
hat,  von  ihnen  Gutachten  über  gewerbliche 
Angelegenheiten  einholen.  Die  Ausschüsse 
würden  auf  diese  Weise  für  die  beteiligten 
Innungen  zu  Autoritäten  werden,  deren  Rat- 
schläge in  den  entsprechenden  Innungs- 
kreisen Beachtung  fänden.    Die  Novelle  von 

1897  hat  an  der  Stellung  der  Innungsaus- 
schüsse nichts  geändert.  Sie  sind  als  frei- 
willige Glieder  beibehalten  worden,  und  nur 
insofern  erscheinen  auch  sie  bevorzugt,  als 
ihnen  durch  die  Landescenti-albehörde  juris- 
tische Persönlichkeit  beigeleg-t  werden  kann. 

6.  Innnngsverbände.  Die  zweite  Mög- 
liclikeit  zu  engerem  Aneinanderschlusse  ist 
in  den  Innungsverbänden  gegeben.  Nach 
§  1 04  der  Gew.-O.  können  die  Innungen  an 


verschiedenen  Orten  ziu*  gemeinsamen  Ver- 
folgung ihrer  Aufgaben  sowie  zur  Pflege 
der  gemeinsamen  gewerblichen  Interessen 
der  beteiligten  Innungen  zu  Innungsverbän- 
den zusammentreten.  Sie  sollen  (nach  der 
Novelle  von  1897)  die  Innungen,  Innuugs- 
verbände  und  Handwerkskammern  in  der 
Verfolgimg  ihrer  gesetzlichen  Aufgaben  so- 
wie die  Behörden  dimsh  Vorschläge  und 
Anregimgen  unterstützen.  Ferner  sind  sie 
befugt,  den  Arbeitsnachweis  zu  regeln  imd 
Fachschulen  zu  errichten.  Auch  kann  in 
ihrem  Statut  bestimmt  werden,  dass  einzelne 
Gewerbetreibende  dem  Innungsverbande  ihres 
Gewerbes  mit  den  Rechten  und  Pflichten 
der  Mitglieder  der  ihm  angehörenden  In- 
nungen beizutreten  berechtigt  sind.  Die 
vorteilhafte  Seite  dieser  Vereinigung  zeigt 
sich  darin,  dass  auf  diese  Weise  fiir  gewerb- 
liche Zwecke  reichlichere  Mittel  zur  Ver- 
fügung stehen  und  eine  grössere  Operations- 
basis geschaffen  wird.  Manche  Einrichtung, 
die  die  Innung  nur  unvollkommen  schaffen 
kann,  vermag  der  Innungsverband  in  geeig- 
neter Weise  herzustellen,  wie  Kranken-  und 
Sterbekassen.  Wo  die  Kraft  der  Innimg 
nicht  ausreicht,  energisch  durchzugreifen, 
wie  z.  B.  im  Legitimationswesen  der  Ge- 
sellen, kann  der  Innungsverbaud  durch  gleich- 
massiges,  einheithches  Vorgehen  mehr  leisten. 
So  hat  z.  B.  der  Bäckerverband  »Germania«, 
der  860  Städte  umfasst,  die  Lehrlingsprüfung 
obligatorisch  gemacht.  Das  Herbergswesen, 
der  Arbeitsnachweis,  die  Wandenmter- 
stützung,  die  Regulienmg  des  Ijclirlings- 
wesens,  die  Eröffnung  von  Schiedsgerichten 
sind  würdige  Gegenstände  der  Fürsorge  der 
Innungsverbände.  Die  bis  jetzt  errichteten 
Inn  ungsverbände  sind  entweder  territorial 
abgegrenzt  oder  lunfassen  bestimmte  Ge- 
werbe bezw.  Gruppen  derselben.  Ersterer 
Art  ist  z.  B.  der  am  7.  Oktober  1885  ge- 
gründete Erzgebirgisch -Vogtländische  Be- 
zirksverband und  der  am  18.  Januar  1888 
genehmigte  Sächsische  Innungsverband,  der 
zur  Zeit  296  Innungen  mit  12000  Mitglie- 
der umfasst.  Die  Fachinnungsverbände  er- 
strecken sich  nach  der  Zeit  ihrer  Entste- 
hung geordnet  auf  folgende  Gewerbe  in 
ganz  Deutschland:  Im  Jahre  1884  tra- 
ten ins  Leben  Verbände  für  1.  Schneider, 
2.  Schuhmacher,  3.  Sattler,  Riemer  und 
Täschner,  4.  Schmiede,   5.  Schornsteinfeger, 

6.  Barbiere,  Friseure  imd  Perrückenmacher, 

7.  Tischler,  8.  Glaser,  9.  Perrückenmacher 
und  Friseiu^ ;  im  Jahre  1885  für  10.  Bäcker, 

11.  Dach-,  Schiefer-,  Blei-  und  Ziegeidecker, 

12.  Buchbinder,  13.  Fleischer,  14.  Bauge- 
werksmeister,  15.  Klempner,  16.  Kürschner, 
17.  Stellmacher  und  Wagner;  im  Jahre  1886 
für  18.  Drechsler,  19.  Tai^zierer,  20.  Korb- 
macher; im  Jahre  1887  für  21.  Böttcher, 
22.  Schlosser,  23.  Maler;  im  Jalire  1889  für 


1358 


lunungen 


24.  Steinsetzer ;  im  Jahre  1890  für  25.  Färber 
und  verwandte  Gewerbe.  1896  bestanden 
im  Reiche  19  grosse  und  8  kleinere  In- 
nungsverbände. Wieviel  Innungen  mit  wie- 
viel Mitgliedern  zu  dem  einzelnen  Verbände 
gehören,  entzieht  sich  leider  unserer  Kennt- 
nis. Ifach  einer  gelegentlichen  Mitteilung 
auf  dem  ersten  deutschen  Innungstage  in 
Berlin  1885  umfassten  die  damals  vorhan- 
denen Verbände  eine  Mitgliederzahl  von 
über  80000  Personen.  Wie  es  scheint,  giebt 
es  ausserdem  noch  in  einzelnen  Staaten  In- 
nungsverbände einzelner  Gewerbe,  z.  B.  der 
Schlachter,  der  Eisen-  und  Stahlgewerksin- 
nungen  etc.,  die  nicht  als  üuterverbände 
der  allgemeinen  Innungsverbände,  sondern 
selbständig  für  sich  bestehen.  Dass  auch 
an  diesen  Verbänden  die  Beteiligung  keines- 
wegs eine  allgemeine  ist,  zeigt  z.  B.  Breslau, 
wo  von  59  Innungen  (1895  bis  1897)  sich 
24  an  einen  Innungsverband  angeschlossen 
hatten. 

7.  Ausbau  des  Innungswesens.  Unter 
den  auf  die  Ausgestaltung  des  heutigen 
Innungswesens  verlauteten  Wünschen  ist  zu 
bemerken,  dass  der  Beitritt  der  Innungen 
zu  den  Innungsverbänden  obligatorisch 
gemacht  werden  soll.  Sie  allein  soUen  es 
sein,  die  verbindliche  Vorschriften  über 
Lehrlings-  und  Gesellenwesen  ihrer  Gewerbs- 
branche erlassen  dürfen.  Insow^eit  für  einHand- 
werk kein  Fachinnungsverband  besteht,  soll 
der  Bundesrat  die  Gnmdsätze  für  das  Lehr- 
lings- und  Gesellenwesen  zu  bestimmen 
haben.  Weiter  werden  verlangt  Innungs- 
kammern (vergl.  den  Artikel  Hand- 
vrerk  oben  Bd.  IV  S.  1097  ff .)  und  ein 
Reichsinnungsamt.  Nach  den  An- 
schauungen der  Berliner  Handwerkerkreise 
soll  das  letztere  die  Oberaufsicht  über  die 
gesamten  Einrichtungen  der  Innungsverbände 
ausüben.  Es  soll  der  technische  Beirat  in 
allen  Innungs-  und  Handwerkerangelegen- 
heiten werden,  die  Hebung  des  höheren 
Fachschulwesens  befördern  und  die  schieds- 
gerichtliche Rekursinstanz  in  allen  bei  der 
Innungs-  oder  Handwerkerkammer  anhängig 
gemachten  Streitigkeiten  bilden.  Der  Sitz 
des  Reichsinnungsamtes  soll  Berlin  sein; 
seine  Verwaltimg  w- ürde  einem  Staatsbeamten 
obliegen,  aber  der  Schwerpunkt  und  die 
Entscjheidung  in  den  einzelnen  Funktionen 
des  Amtes  würde  bei  den  praktischen  Bei- 
sitzern und  Decernenten  zu  suchen  sein,  die 
von  den  deutschen  Innungsverbänden  auf 
ihren  Delegiertentagen  gewählt  würden.  Die 
Kosten  des  Reichsinnungsamtes  hätte  das 
Deutsche  Reich  zu  tragen.  Man  kann  nicht 
sagen,  dass  alle  diese  Ideeen  anstandslos  auf 
den  \  ersammlungen  der  Handwerker  gut- 
geheissen  sind.  Der  Handwerkertag  von 
1892  hat  sich  auf  eine  Erörterung  über 
obligatorische    Ausschüsse    und    Verbände 


nicht  eingelassen,  und  das  projektierte  Reichs- 
innungsamt wurde  schon  seiner  Zeit  (1885 
auf  dem  Berliner  Innungstage)  von  dem 
Korreferenten  abgelehnt.  Wenn  auch  die 
auf  die  Einrichtimg  des  letzteren  und  die 
Eröffnung  von  Handwerkerkammem  bezüg- 
lichen Resolutionen  die  Zustimmung  der 
Versammlung  schliesslich  erfuhren,  so  beweist 
doch  die  in  diesen  Kreisen  selbst  auf- 
tauchende Opposition,  wie  wenig  lebensfähig 
diese  Neuerung  höchst  wahrscheinlich  sein 
würde.  Sicher  würde  das  Reichsinnungs- 
amt eine  so  schwierige  als  undankbare  Auf- 
gabe haben  und  es  den  Innungen  niemals 
recht  machen  können.  Ein  Zwang  aber  bei 
den  Ausschüssen  und  Verbänden  rechtfertigt 
sich  so  wenig  als  bei  der  Innung  den  Hand- 
werkern gegenüber. 

8.  Statistik  der  I.  Nach  einer  auf  dem 
Handwerkertage  in  Kosen  (1886)  ausge- 
sprochenen Vermutung  sollen  etwa  ^  lo 
des  gesamten  deutschen  Handwerkerstandes 
Innungen  angehören.  Richtiger  wird  es 
wohl  sein  (P.  Voigt,  Sehr.  d.  V.  f.  Sozialp. 
70,  S.  663,  H.  Böttger,  Gesch.  u.  Kriük 
S.  291),  anzunehmen,  dass  einige  20  Prozent 
aller  Handwerksmeister  seither  in  Innungen 
organisiert  waren.  Dabei  ist  die  Zahl  der 
Innungsmeister  (nach  einer  dankenswerten 
Mitteilung  des  Reichsamtes  des  Innern)  im 
Jahre  1890  auf  321219  angenommen.  Fest 
steht  soviel,  dass  in  Noradeutschland  der 
Innungsgedanke  mehr  Anhänger  findet  ab« 
in  Süddeutschland.  Wie  denn  z.  B.  1886 
auf  dem  bayerischen  Handwerkertage  in 
Augsburg  von  dem  Reichstagsabgeordaeten 
Biehl,  dem  man  ein  Urteil  über  die  Lage 
zutrauen  darf,  behauptet  wurde,  dass  man 
in  Bayern  mit  der  Büdung  von  Innungen 
noch  im  ersten  Stadium  begriffen  sei.  Wie 
weit  die  Neigung  der  selbständigen  Hand- 
werker reicht,  sich  den  Innungen  anzu- 
schliessen,  zeigt  die  lehrreiche  von  Dr.  Pabst 
mitgeteilte  Statistik  im  Jahrbuch  deutscher 
Städte  (VI.  S.  24  f.).  Damach  waren  in  3i> 
Städten  in  jenen  70  Gewerben,  die  nach  der 
Vorlage  des  Bundesrates  für  die  Bildung 
von  Innungen  in  Betracht  kamen,  197  739 
selbständige  Handwerker  ermittelt,  von  denen 
62485  Innungsmeister  waren,  d.  h.  31,6  ^o. 
In  norddeutschen  Städten  (ohne  Rheinland) 
berechnet  sich  die  2^1  der  Selbständigen 
auf  135122,  der  Innungsmitglieder  auf 
52091,  d.  h.  38,6®/o  der  ersteren;  d^^egen 
ergeben  sich  in  den  süddeutschen  S^ten 
(mit  Rheinland)  62617  Selbständige  imd 
10394  Innungsmitglieder,  d.  h.  16,6  ®/o  der 
ersteren.  Im  einzelnen  zeigt  sich  folgendes 
Bild.    Es  betrug  die  Zahl  der 


Innungen 


1359 


Selb-  Innungs- 

ständigen.    mitglieder. 

1895 
Norddeutsche  Städte 


Königsberg  . 

Danzig .    .  . 

Berlin   .    .  . 
Charlottenburg 

Stettin  .    .  . 

Breslau     .  . 

Magdeburg  . 

Halle  a.  S.  . 

Altona  .    .  . 

Hannover  .  . 
Dortmund 

Dresden     .  . 

Leipzij^      .  . 

Chemnitz  .  . 
Braunschweig 

Lübeck .    .  . 

Bremen     .  . 

Hamburg  .  . 


Frankfurt  a.  M 

Düsseldorf 

Elberfeld 

Barmen 

Krefeld 

Köln      . 

Aachen . 

München 

Nürnberg 

Stuttgart 

Mannheim 

Strassburg  i.  E 


3750 
2765 

46900 

2  144 

3  934 
9822 

5063 
2  866 

3725 
5  220 
1856 
8865 
9036 
4124 
2971 
I  810 

4132 
16  139 


1805 

1  253 
16808 

324 

2  100 

4179 
2516 

1340 
1464 

2153 
6io 

3967 
2848 

2433 

1484 

677 
1274 
4846 


Süddeutsche  Städte 


6586 
4065 

5039 
4562 

5846 

8040 

2834 

10863 

5378 
4350 
2923 
2  131 


600 
648 
854 
534 

977 

1  670 

461 

2  108 
1836 

460 

56 

190 


.0 


48,1 

45,3 

35,9 

15,1 

534 
42.6 

49J 
46,8 

39,3 
41,2 

32,9 

44,8 

31,5 
59,0 

50,0 
37,4 
30,8 

30,0 


9.1 

15,9 
17,0 

11,7 

16,7 
20,8 

16,3 

19,4 

34,1 
10,6 

^9 
8,9 


Wie  sich  im  Laufe  der  Jahre  seit  1888 
und  1890  bis  kurz  vor  der  Reform  die  Be- 
wegung gestaltete,  ergiebt  die  nebenstehende 
Tabelle  (nach  P.  Voigt,  H.  Böttger  und  den 
Angaben  des  Reichsamtes  des  Innern).  Sie 
erweist,  dass  in  Preussen  sich  während  des 
genannten  Zeitraumes  eine  kleine  Vermeh- 
rung der  Innungen  und  ihrer  Mitgüeder 
zeigte,  im  übrigen  Deutschland  die  Zahl  der 
Innungen  zurückging,  die  ilu^r  Mitglieder 
nur  wenig  anwuchs.  Unwillkürlich  di-ängt 
sich  die  Ansicht  auf,  dass  die  ganze  Re- 
oi-ganisalion  des  Innungswesens  in  einer 
sehr  innigen  Verbindung  mit  der  Politik, 
insbesondere  klerikalen  und  konservativen 
Strömungen,  steht.  Ob  das  zum  Vorteil  des 
Kleingewerbes  ausschlägt,  muss  bezweifelt 
werden. 

Wie  speciell  in  Preussen  sich  die  Be- 
wegung gestaltet  hat,  zeigt  die  folgende  Auf- 
stellung: es  gab  in  Preussen 


1878 
1888 
1896 


Innungen 

6018 

7424 
7940 


Mitglieder 

c.  150000 
219758 
224  956 


Auf  1  Innung 

Mitglieder 

24,2 

29,7 
28,3 


Lehrreich  wäre  es  auch^  sich  vergegen- 
wärtigen zu  können,  wie  weit  die  neue  Or- 
ganisation, die  bis  zum  1.  April  1899  abge- 
schlossen sein  sollte,  die  bisherigen  Verhflt- 
nisse  geändert  hat.  Leider  ist  aber  über  die 
Durchiührung  derselben  noch  wenig  zuver- 


Regierungs- 
bezirke 


Zahl  der 
Innungen 

1890  i  1896 


Zahl  der  Mit- 
glieder aller 

Innungen 
am 


1.  XII. 
1890 


1)  Königsberg 

2)  Gumbinnen 
H)  Danzig  .    . 

4)  Marienwerder 

5)  Potsdam     . 

6)  Frankfurt  a.O 

7)  Berlin    . 

8)  Stettin  . 

9)  Cöslin    . 

10)  Stralsund 

11)  Posen    . 

12)  Bromberg 

13)  Breslau  . 

14)  Liegnitz 

15)  Oppeln  . 

16)  Magdeburg 

17)  Merseburg 

18)  Erfurt    . 

19)  Schleswig 

20)  Hannover 

21)  HUdesheim 

22)  Lüneburg 

23)  Stade     . 

24)  Osnabrück 

25)  Aurich  . 

26)  Münster 

27)  Minden  . 

28)  Arnsberg 

29)  Cassel    . 

30)  Wiesbaden 

31)  Koblenz 

32)  Düsseldorf 

33)  Köln.    . 

34)  Trier     . 

35)  Aachen  . 

36)  Sigmaringen 


Preussen 
Staaten: 

1)  Bayern  .    . 

2)  Sachsen.    . 

3)  Württemberg 

4)  Baden    .    . 
5^  Hessen  .    . 

6)  Mecklenburg- 

Schwerin 

7)  S.-Weimar . 

8)  Mecklenburg- 

Strelitz    . 

9)  Oldenburg  . 
10^  Braunschweig 

11)  S.-Meiningen 

12)  S.-Altenburg 

13)  Sachs.-Coburg- 

Gotha .    . 

14)  Anhalt  .    . 

15)  Schwarzburg- 

Sondershaus 

16)  Schwarzburg- 

Budolstadt  . 

17)  Waldeck  und 

Pyrmont . 


521 
227 

136 
299 
719 

581 
70 

286 

227 

133 
488 

335 
S18 

475 
485 

191 

546 

135 

356 

70 

152 

171 

26 

19 
24 
44 
58 
95 
77 
29 

48 
127 
49 
23 
32 


528 
231 
140 
291 
708 
603 
68 

353 
230 

136 
542 
240 

594 

481 

502 
201 

587 
120 

360 

83 
148 

174 
29 

21 

27 
46 

56 
99 
84 
24 
48 

lOI 

48 

17 
20 


10422 

4783 
3619 

7564 
18265 

12886 

17972 

8239 

5  574 
2005 

12  071 

5  335 
19938 
12  016 
14487 

6559 

II  847 

3560 

9145 
3571 
3800 
3280 
679 

599 

634 
2946 

1928 

4  737 
2228 

1338 

1555 
6615 

2474 
614 

I  864 


1896 


10666 
4869 
4015 

7485 
18941 

13  106 

18359 
8306 

5677 
2669 

11  827 
5  222 

19932 

12  231 
14768 

7521 

II  837 
3064 

8834 
4052 
3809 

3  146 
709 
679 
667 

2773 
1771 

5089 

2083 

1279 
1085 

5233 

2340 

531 

781 


7823 

1888 

198 

1268 

28 

31 
29 

544 
80 

83 

23 
129 

72 
81 

105 

165 

20 

25 

II 


7940 

1893 

226 
1283 

29 
30 

33 

434 
89 

74 

33 

138 

65 
58 

98 
130 

23 
27 

II 


226  049  224  956 


1888 


1893 


II 114^)!  II  009 
55614  I  53865 

I  112 

1063 

1247 


8059 
1650 


I4I7 

I  161 

3164 

«430 
I6I3 

2354 
3271 

321 

438 

259 

I  121 

940 

I  177 

8  102 
1867 

I  121 
1275 

4  533 
1086 

I  246 

2506 
3240 

361 
426 

141 


*)  Einschliesslich  der  Mitglieder  von  42  nicht 
reorganisierten  Innungen. 


1360 


Innungen — Invaliilitäts-  und  Altersversicherung 


Zahl  der  Mit- 

• 

Zahl  der 

glieder  aller 

Staaten 

Innungen 

Innungen 

• 

am 

1 

1.  XII. 

1893 

1888 

1893 

1888 

18)  Beuss  alt.  L. 

19)  Reuss  jüng.L. 

31 

25 

2506 

2222 

i8 

23 

1937 

1973 

20)  Schaumburg- 

Lippe  .    .    . 

4 

6 

40 

311 

21)  Lippe     .    .    . 

9 

9 

179 

165 

22)  Lübeck  .    .    . 

22 

24 

716 

742 

23)  Bremen .    .    . 

24 

31 

I  175 

1315 

24)  Hamburg   .    . 

28 

29 

4258 

5208 

Deutsches  Reich  . 

10463 

10881 

325  786») 

331364*^ 

lässiges  Material  ans  Tageslicht  gekommen. 
Nach  dem  HandwerkerkaJender  für  Baden 
waren  dort  unter  34  Innungen  (1900)  mit 
1338  Mitgliedern  6  Zwangsinnungon  mit  125 
Mitgliedern,  4  weitere  in  Bildung  begriffen. 
Im  ganzen  weist  Baden  386  Vereinigungen 
mit  20775  Mitgliedern  auf.  Davon  gehören 
zum  Gewerbevereinsverband  176  mit  13297 
Mitgliedern,  zum  Handwerkerverband  (da- 
runter die  Zwangsinnungen)  137  mit  5173 
Mitgliedern.  73  Vereine  mit  2305  Mit- 
gliedern stehen  für  sich  da. 

Im  Königi-eich  Sachsen  war  am  1.  April 
1899  das  Verhältnis  das  folgende:^) 

Bestehende  l^.?_i^i^^_^ 
Zwangs- 


Kreishaupt 

mann- 

Schäften 


Zwickau  . 

Dresden  . 
Leipzig 

Bautzen  . 

Königreich 


Innungen 

34 

75 
38 
15 


begriffene 

Freie 

Zwangs- 

Innungen 

innungen 

105 

321 

30 

148 

50 

142 

22 

96 

162 


207 


707 


Die  meisten  Zwangsfachinnungen  finden 
sich  im  Bäckereigewerbe  (37),  dann  folgen 
die  Schneider  (21),  Schuhmacher  (18).  Tischler 
(12),  Schlosser  (7),  Klempner  und  öchmiede 
(15).  Die  übrigen  Gewerbe  sind  nur  ver- 
einzelt vertreten. 

In  Hamburg  sind (1899) von 28 Innungen 
23  Zwangsinnungen  und  5  freie.  In  allen 
zusammen  beläuft  sich  die  Mitgliederzahl 
auf  8641  gegen  4848  am  Schlüsse  des  Jahres 
1898.  Diese  starke  Zunahme  ist  darauf  zu- 
rückzuführen, dassin  den  23  Zwangsinnungen 
die  Mitgliederzahl  sich  nahezu  verdoppelte. 
Dagegen  sind  in  Bremen  die  Tischlei-, 
Schlosser-  und  Drechslerinnungen  mit  ihren 
bezüglichen  Antiilgen  auf  Bildung  von 
Zwangsinmmgen  abgewiesen  worden,   ohne 


M  Preussen  1888  mit  7428  Innungen  und 
219  758  Mitgliedern  gerechnet. 

-)  Peussen  mit  dem  Stande  von  1896  ge- 
rechnet. 

*)  Allgem.  Handwerkerzeitung  XVII,  S. 
302303, 


dass  zu  einer  Abstimmung  geschritten  wäre. 
Man  hat  darauf  hingewiesen,  dass  durch 
andere  Einrichtimgen  als  diejenige  einer 
Innung,  wie  Zeichenschule,  Technikum, 
Gewerbemuseum,  Gewerbe-  und  Industrie- 
verein  für  die  Wahrnehmung  der  gemein- 
samen gewerblichen  Interessen  der  betreffen- 
den Handwerker  ausreichende  Fürsorge  ge- 
troffen sei. 

lieber  die  gewerblichen  Genossenschaften 
in  Oesterreich  vergl.  den  Art.  Gewerbe- 
gesetzgebung  oben  Bd.  IV,  S.  4o0ff.: 
über  das  materielle  Recht  der  Innungen  im 
Deutschen  Reiche,  ebenda  S.  419  ff.,  433  ft; 
über  die  hof  rechtlichen  und  älteren  Innimgen 
vergl.  den  Art.  Zunftwesen. 

Litteratnr :  Ausser  den  im  Art,  Ha  ndwerk  oben 
Bd.  IV,  S.  IIISJI4  gegebenen  Ndchtceisen,  nament- 
lich: Ein  Wort  über principielle  Reform 
der  deutschen  Gew.-O.  Von  der  hamburgischen 
Gewerbekammer,  1878.  —  Cirkular  an  samt' 
liehe  königl.  Regierungen  und  Landdrosteienj 
betreffend  die  Anregung  zur  Errichtung  n^n 
Innungen,  1879.  —  V,  Böhmertf  Das  deutsche 
Handwerk  und  die  Zioangsinnungen,  1896.  — 
Oraetzer,  Zur  Statistik  der  Innungen,  in 
Bayerische  Handelszeitung  1895,  S.  J^lff.  — 
Kotze,  Die  Neubeltbung  der  Innungen  auf  der 
Grundlage  der  Gcw.-O.,  1880.  —  Landgraf, 
Zur  Innungsfmge  in  Badest,  1880.  —  Ijöhner^ 
Wie  das  de^ctsche  Kleingewerbe  über  die  Innungs- 
frage und  die  Reform  der  deutschen  Gew.-O.  denkt, 
1879.  —  A.  Lehren,  Die  Wiederherstellung  der 
Innungen.,  1880.  —  Nettgeboren,  Zwangs- 
genossenschaften und  Gewerbekammern,  1880.  — 
A,  Quarckf  Handwerk,  ZünßUrtum  und  Sozial- 
demokratie, 1896.  —  E.  Riehter,  Gegen  die 
Zwangsinnungen,  1896.  —  WUh,  Stteda,  Litte- 
ratur,  betreffend  die  Innungsfrage  in  Jahrb.  f. 
y^at.  u.  Stat.,  X.  F.  ^,  S.  27S—t8£.  —  X»er- 
selbe,  Die  Innungsenquete,  in  Jahrb.  f.  Xat.  u. 
Stat.,  S.  F.,  12,  S.  Iff.  —  Stolp,  Das  Innungs- 
wesen und  die  gewerbliche  Arbeiterfrage,  L^SO. 
—  Allgemeine  Handwerkerzeilung  1891,  Ar.  -^, 
28,  —  Ergebnisse  der  Erhebftngen  über  die 
Verhältnisse  der  Lehrlinge,  Gesellen  und  Fabrik- 
arbeiter. —  Handwerkerkalender  ßlr  Baden, 
1899,  1900.  —  Jahresberichte  der  hamburgischen 
Gewerbekammer,  1896 — 1899.  —  Paul  Voigt, 
Die  deutschen  Innungen,  in  Jahrb.  f.  (»>*.,  2*-'. 
S.  341  ff.  —  Derselbe f  Die  neuere  deutsche 
Hayid Werkergesetzgebung,  im  Arch.  f.  soz.  Ges.  11, 
S.  89 — 87.  —  Vergl.  auch  die  Litteratui  beim 
Art.  Ge w erbe gesetz gebung  oben  Bd.  IV, 
S.  440.  WUh.  Stfeda. 


Internationale 

s.  Sozialdemokratie. 


Invalidenversicheranp  (Invaliditäts* 
und  Altersversicherong) 

in  Deutschland. 

1.  Einleitung  (Sozialpolitik).  2.  Geschiebte, 
3.  Umfang  der  Versicherung.  4.  Organisation. 
5.  Gegenstand  der  Versichenmg.    6.  Besondere 


InvaliditÄts-  und  Altersversicherung 


1361 


Voraussetzungen  des  Anspruchs,  a)  Beitras^- 
leistung.  b)  Wartezeit.  7.  Berechnung  der 
Renten.  8.  Beiträge  und  Belastung.  9.  Er- 
hebung der  Beiträge.    10.  Verfahren. 

1.  Einleitiing  (Sozialpolitik).  Durch 
die  Allerhöchste  Botschaft  des  in  Gott 
ruhenden  Kaisers  Wilhelm  I.  vom  17. 
November  1881  wurde  das  Programm  für 
eine  Reihe  von  Gesetzen  veröffentlicht,  durch 
welche  »auf  dem  Wege  positiver  Förde- 
rung des  Wohles  der  Arbeiter  die 
Heilung  der  bestehenden  sozialen 
Schäden  gesucht«  werden  sollte,  um 
»dem  Vaterlande  neue  imd  dauernde  Bürg- 
schaften seines  inneren  Friedens  und  den 
Hilfsbedürftigen  grössere  Sicherheit  und 
Ergiebigkeit  des  Beistandes,  auf  den  sie 
Anspruch  haben«,  zu  gewährleisten.  Dies 
soDte  zunädist  in  der  Weise  geschehen,  dass 
den  auf  ihre  Handai-beit  angewiesenen  Volks- 
klassen für  diejenige  Zeit,  in  welcher  ihre 
meist  einzige  liwerbsqueUe,  die  körper- 
liche Arbeitskraft,  wegen  körper- 
licher Mängel  versagt,  eine  unbe- 
dingt sichere  finanzielle  Fürsorge  zugewendet 
wurde,  durch  welche  dem  Eintreten  der 
Hüfsbedürftdgkeit  und  der  dadurch  bedingten 
öffentlichen  Armenpflege,  die  ja  erst  einzu- 
treten hat,  nachdem  alle  Hilfsmittel  völlig 
erschöpft  sind,  vorgebeugt  werden  sollte. 
Konnte  auch  diese  Fürsorge,  wenn  sie  die 
Leistungsfähigkeit  nicht  übersteigen  und 
dadurch  unausführbar  werden  sollte,  bei  der 
Häufigkeit  ihres  Eintretens  zunächst  nur  in 
massigem  Umfange  gewährt  werden,  so  war 
sie  doch  gerade  wegen  ihrer  unbedingten 
Sicherheit  unendlich  wertvoll  und  jeden- 
falls eine  erhebliche  Verbesserung  der  be- 
vstehenden  Zustände,  die  um  so  mehr  wog, 
als  sie  von  dem  jiuigen  Deutschland  vor 
allen  Kultiurstaaten  zuerst  vei-sucht  wurde. 
Man  durfte  annehmen,  dass  die  solcherge- 
stalt begründete  Zuversicht,  beim  Nachlassen 
der  Arbeitskraft  nicht  dem  Elende  oder  der 
öffentlichen  Mildthätigkeit  anheimzufallen, 
der  Arbeiterbevölkenang  eine  ihrer  drückend- 
sten Sorgen  abnehmen  und  sie  mit  den  diese 
Fürsorge  gewährleistenden  Staatseinrichtun- 
gen, der  jetzigen  Gesellschaftsordnimg,  zu- 
friedener machen  wüixie.  Jedenfalls  erfüll- 
ten der  Staat  und  die  besitzenden  Klassen 
eine  soziale  Pflicht,  wenn  sie  durch  geeignete 
Massregeln  der  Not  der  zahlreichen  Mitglieder 
der  ärmeren  Klassen  vorzubeugen  und  nach 
Kräften  dahin  zu  streben  suchten,  dass  die 
Wünsche  der  Arbeiter  auf  Fürsorge  bei  Er- 
werbsunfähigkeit, soweit  diese  Wünsche  als 
berechtigt  anerkannt  werden  mussten,  im 
Rahmen  des  Möglichen  erfüllt  wurden.  Die 
in  dieser  Richtung  erlassenen  Gesetze,  die 
>^  Arbeiter  versieh  er  ungs  geset  ze  « ,  bilden 
neben  den  auf  den  Schutz  der  Arbeiter 
wälirend  ihrer  Berufsai'beit  erlassenen  be- 


sonderen Gesetzen,  den  sogenannten  »Ar- 
beiter schütz  gesetzen«,  die  vorzugsweise  in 
der  Gewerbeordnung  und  den  dazu  erlasse- 
nen Ausführungsbestimmungen  ihren  Piatz 
gefunden  haben,  einen  wichtigen  Teil  unserer 
»sozialpolitischen«  Gesetze.  Diejenigen  Be- 
strebungen, welche  die  bezeichneten  Zwecke 
verfolgen,  versteht  man  vorzugsweise  unter 
dem  Ausdruck  Sozialpolitik. 

Nach  ihrem  Zweck,  beim  Versagen  der 
Arbeitskraft  Subsistenzmittel  zu  gewähren, 
richteten  sich  die  Yersicherungsgesetze  zu- 
nächst auf  eine  Fürsorge  bei  (vorübei'gehen- 
den)  Krankheiten  und  bei* im  Berufe  (im 
Betriebe)  erlittenen  Unfällen.  Aber  schon 
die  eingangs  erwähnte  kaiserliche  Botschaft 
vom  17.  November  1881  nahm  eine  weitere 
Fürsorge  in  Aussicht:  »auch  diejenigen, 
welche  durch  Alter  und  Invalidität  er- 
werbsunfähig werden,  haben  der  Gesamtheit 
gegenüber  einen  begründeten  Anspruch  auf 
ein  höheres  Mass  staatlicher  Fürsorge,  suis 
ihnen  bisher  hat  zu  teil  werden  können.« 
Alle  diese  Massregeln  benihen  auf  dem 
Grundsatze  der  Versicherung,  welche 
sich  freilich  von  der  privatrechtlichen, 
freiwillig  eingegangenen  und  den  Regeln 
des  Civilrechts  folgenden  Versicherung 
in  melirfacher  Beziehung,  insbesondere 
durch  ihren  öffentlichrechtlichen  Charakter, 
unterscheidet:  sie  beruhen  ferner  auf  dem 
Grundsatze  des  Versicherungszwanges, 
weil  nach  den  bisherigen  Erfahi-ungen  auf 
eine  dem  Bedürfnis  genügende  freiwillige 
Beteihgimg  unmöglich  gerechnet  werden 
konnte  und  weil  das  zu  schützende  Literesae 
der  Gesamtheit  eine  imafassende,  allen  Be- 
teiligten zukommende  Fürsorge  erforderte. 
Jene  Massregeln  beruhen  endlich  auf  dem 
G  rundsatze  einer  VerteilungderLasten, 
insbesondere  einer  Heranziehimg  der  Ver- 
sicherten selbst  zu  Beiträgen  für  die 
Gesamtheit  der  ihnen  gewährten  Fürsorge, 
wenn  auch  die  Beitragsleistung  bei  den  ein- 
zelnen Einrichtungen  verschieden  gestaltet 
werden  musste.  Die  Krankenversiche- 
rung erfolgt  zu  1  3  auf  Kosten  der  Arbeit- 
geber, zu  ^;3  auf  Kosten  der  vereicherten 
Arbeitnehmer.  Die  Unfallversicherung 
erfolgt  auf  aUeinige  Kosten  der  Arbeitgeber, 
soweit  sie  nicht  in  die  Krankenversicherung, 
zu  welcher  beide  Teile  beitragen,  entfällt; 
letzteres  ist  nur  hinsichtlich  der  kleinereo, 
in  ihren  Folgen  schon  nach  wenigen  Wochen 
beseitigten  Unfälle,  welche  zwar  der  Zahl 
nach  weit  übei'>\iegen ,  hinsichtlich  ihres 
finanziellen  Belastungswertes  aber  durchaus 
zui-ücktreten,  und  bei  schwereren  Verletzun- 
gen nur  hinsichtlich  der  ersten  13  Wochen 
\  der  Fall.  Infolge  dieser  Verteilung  ruht  die 
Gesamtlast  der  Unfallversicherung  über- 
wiegend auf  den  Schulteni  der  Arbeitgeber ; 
so  entfallen  z.  B.  bei  industriellen  Betrieben 


Handwörterbnch  der  Staatswifisenschaften.    Zweite  Auflage.    lY. 


86 


1362 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


auf  die  Krankenkassen  etwa  16  ^/o ,  auf  die 
besonderen  Einrichtungen  für  die  Unfallver- 
sicherung aber  nicht  weniger  als  84  ®/o  der 
gesamten  ünfallbelastung.  Die  Invaliden- 
versicherung (Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung) endlich  erfolgt  je  zur  Hälfte 
auf  Kosten  der  Arbeitgeber  und  der  ver- 
sicheiten  Arbeitnehmer,  jedoch  mit  der 
Massgabe,  dass  das  Reich  zu  jeder  Rente 
einen  baren  Zuschuss  von  50  Mark  jährlich 
gewährt.  Eine  Witwen-  und  Waisen- 
versicherung steht  im  allgemeinen  noch 
aus,  wenngleich  bei  Unfällen,  die  den  Tod 
herljeigeführt  Tiaben,  den  Witwen  imd  Wai- 
sen eine  Hinterbliebenenrente  zu  gewähren 
ist  und  beim  Tode  eines  gegen  Invalidität 
versicherten  Arbeiters  seinen  Hinterbliebenen 
unter  Umständen  die  Hälfte  der  für  den 
Verstorbenen  entrichteten  Beiti-äge  zurück- 
zugewähren ist.  Im  übrigen  -würden  die 
Kosten  einer  auch  nur  geringfügigen  Wit- 
wen- und  Waisenversichenmg  sich  so  hoch 
steUen  (nach  neuesten  Berechmmgen  auf 
86  %  der  Kosten  der  Invalidenversicherung), 
dass  schon  aus  diesem  Grunde  einstweilen 
von  Durchführung  einer  solchen  Versiche- 
rung abgesehen  werden  muss. 

Es  Hegt  auf  der  Hand,  dass  die 
Kranken-,  die  Unfall-  und  die  Invalidiläts- 
und  Altersversicherung  nicht  gleichzeitig 
ein-  und  durchgeführt  werden  konnten; 
dazu  waren  die  Aufgaben  zu  verschieden- 
artig, zu  neu  und  schwer  und  ihre  Durch- 
fühnmg  von  zu  einschneidender  Wirkung 
in  administrativer  und  finanzieller  Beziehung. 
Man  durfte  vielmehr  niu*  schrittweise  vor- 
gehen, und  vollständig  sind  die  gesteckten 
Ziele  auch  bis  heute  nicht  en-eicht.  Zunächst 
wurde  die  Ki-ankenversicherimg ,  dann  die 
UnfaUversichenmg  in  der  Hauptsache,  zu- 
letzt die  Invaliditäts-  und  Altersvereicherung 
geregelt.  Es  besteht  aber  nicht  etwa  eine 
besondere  Invaliditäts-  und  eine  beson- 
dere Altersversicherung,  sondern  die  Ver- 
sicherung ist  derart  eingerichtet  worden, 
dass  sie  beide,  Invalidität  und 
Alter,  gleichzeitig  erfasst.  Dabei 
überwiegt  weit  die  Versicherung  gegen  Inva- 
lidität; wenn  auch  infolge  der  üebergangs- 
bestimmungen  in  den  ersten  Jahren  melir 
Alters-  wie  Invalidenrenten  zu  bewilligen 
waren,  so  hat  sich  das  doch  schon  jetzt  ge- 
ändert, und  in  weiterem  Verlauf  wird  die 
Altersversicherung  mit  nur  etwa  10  ^/o  der 
Gesamtlast  an  diesem  Zweige  der  Versiche- 
rung beteiligt  sein.  Um  diese  überwie- 
gende Bedeutung  der  Invaliditäts  Versicherung 
besser  als  bisher  auch  äusserlich  zu  kenn- 
zeiclmen,  ist  in  der  neuesten  Novelle  an  die 
Stelle  der  Bezeichnung  »Invaliditäts-  und 
Altersversicherung«  das  Wort  »Invalidenver- 
sicherung^ gesetzt  worden. 

Das  Ausland  ist  in  diesen  Beziehungen 


weit  zurück.  Nur  wenige  Staaten  (insbe- 
sondere Oesterreich-Ungarn  imd  Norwegen) 
haben  neuerdings  eine  Unfallversichenuig 
eingerichtet ;  eine  Invaliditäts-  und  Altersver- 
sicherunff  aber  besteht  nur  in  Deutsch- 
land, iöier  aber  sind  seither  schon  mehr 
als  Vs  Milliarde  an  Invaliden-  und  Alters- 
renten ausgezahlt  worden. 

2.  Geschichte.  Die  auf  der  Grun<llage 
eines  allgemeinen  gesetzlichen  Zwanges  ge- 
regelte Invaliditäts-  und  Altersversichenmg 
hat  in  Deutschland  oder  in  anderen  Staaten 
keinen  Vorgang.  Nachdem  die  Kranken-  und 
die  Unfallversichenmgsgesetze  in  der  Haupt- 
sache durchgeführt  waren,  wurden  am  17, 
November  1888,  dem  Jahrestage  der  denk- 
würdigen Botschaft  vom  17.  November  1881. 
zunächst  »Grundzüge«  verc^ffentlicht,  sodann 
ein  Gesetzentwurf  schon  im  Januar  1889 
dem  Reichstage  vorgelegt  imd  von  diesem 
am  24.  Mai  1889  mit  manchen  Aendenuigen 
angenommen.  A  m  22.  Juni  1889  ist  d  a  > 
Gesetz, betreffenddielnvaliditäts- 
und  Altersversicherung,  Allerhöchst 
vollzogen  worden  (R.G.Bl.  S.  97)  und  am 
1.  Januar  1891  seinem  vollen  Umfange  nach 
in  Kraft  getreten.  Drei  deutsche  Kaiser 
haben  dem  Zustandekommen  dieses  schwie- 
rigen Gesetzes  ihre  Kräfte  gewidmet ;  Kaiser 
Wilhelm  I.  hat  die  »Gnmdzüge«,  Kaiser 
Friedrich  III.  die  Vorlegung  des  Gresetz- 
entwurfs  an  den  Bundesrat  genehmigt, 
Kaiser  Wilhelm  IL  endlich  hat  das  Ge- 
setz, nachdem  er  sein  lebliaftes  Interesse 
an  dessen  Zustandekommen  wiederholt  nach- 
drücklich dargelegt  hatte,  AUerhöchst  voll- 
zogen. 

Bei  der  Neuheit  und  Schwierigkeit  der 
Materie  konnte  es  nicht  überraschen,  dass 
sich  in  der  Praxis  sehr  bald  das  Bedürfnis? 
nach  einzelnen  Abänderungen  des  Gesetzes 
geltend  machte.  Insbesondere  war  es  der 
Umstand,  dass  einzelne  Träger  der  Ver- 
sicherung (Versicherungsanstalten),  in  dei^n 
Bezirken    die   Wanderlust    und    der    Trieb 

den    ffrossen    Städten    und    nach    dem 


zu 


Westen  sich  besonders  nachteilig  geltend 
machten,  infolge  dieser,  von  ihrem  eigenen 
Verhalten  unabhängigen  Umstände  ausser- 
oi'dentlich  viel  mehr  Renten  zu  gewähren 
hatten  als  andere  insbesondere  grossstädtische 
und  industrielle  Anstalten.  Hieraus  hätte 
sich  notwendig  eine  sehr  erhebliche  Ver- 
schiedenheit dei  Beiträge  ergeben  müssen: 
während  Berlin  und  Hansestädte  in  der 
zweiten  und  dritten  Beitragsperiode  (nai,'h 
dem  G.  v.  22.  Juni  1891  sollten  die  Beiträge 
nach  bestimmten  Perioden  (zuerst  10.  dann 
je  5  Jahre)  zur  Deckung  der  in  diesen 
Perioden  voraussichtHch  entstehenden  Be- 
lastung im  voraus  berechnet  und  dabei  jedes 
Mal  Ueberschüsse  und  Fehll)eträge  der  bis- 
herigen Perioden  angerechnet  werden)  fast 


Invalidiläts-  und  Altersversicherung 


1363 


nichts    an    Beiträgen    hätten    zn    erheben '  darf  u.  a.  auf  den  in  diesem  Werke  bereits 
brauchen,    würde    Ostpreussen,    wo    obige  früher   veröffentlichten   besonderen  .Artikel 

Ar  beiter  Versicherung     (Allgemeines) 
oben  Bd.  I  S.  607  ff.  verwiesen  werden. 

3.  Umfang  der  Versicherung.  Im 
Gegensatz  zu  den  übrigen  sozialpolitischen 
Gesetzen     ergi*eift    das    Invalidenversiche- 


Verhältnisse  sich   am    schlimmsten  geltend 

machten,    das   2^'2 fache    seiner   bisherigen 

Beiträge  haben  erheben  müssen.    Dies  hätte 

nur  zu  einer  weiteren,  für  die  bedrängten 

Bezirke    noch    ungünstigeren  Yerschiebung 

der  Bevölkerungs Verhältnisse  führen  kön nen,  ningsgesetz    gleich     von    vornherein 

musste   also    durchaus   vermieden    werden,  die  ganze  Arbeiterschaft  aller  Beruf s- 


Das  Gesetz  bot  für  solche  zwar  schon  eine 
Möglichkeit  der  Abhilfe,  indem  es  gestattete, 
durch  anderweite  dem  Bundesrat  freigestellte 
Abgrenzung  der  einzelnen  Yersicherungs- 
träger,  insbesondere  durch  eine  Zusammenle- 
gung der  Versicherungsanstalten  zu  grösseren 
Anstalten,  eine  Ausgleichung  herbeizu- 
führen. Dieser  Weg  ei-schien  aber  insbe- 
sondere um  deswillen  misslich,  weil  die 
neuen  Anstalten  dann  vielleicht  zu  gross 
und  schwerfällig  geworden  wären  und  weil 
die  Auflösung  bestehender,  gut  wirkender 
,  Anstalten  und  deren  Einverleibung  in  andere 
Anstalten  notwendig  Verstimmung  herN'or- 
genifen  haben  würde.  Man  zog  deshalb 
vor,  durch  eine  Novelle  den  Ausgleich  in 
der  Weise  zu  vei-suchen,  dass  zwischen  den 
verschiedenen  Trägern  der  Versicherung  ein 
Gegenseitigkeitsverhältnis  geschaffen  wurde. 
Der  diesen  Zweck  verfolgende,  im  Jahre 
1897  vorgelegte  Entwurf  einer  Novelle  ge- 
langte im  Reichstag  nur  zur  ersten  Lesung ; 
dagegen  ist  die  im  Jahre  1S99  vorgelegte  neue 


zweige,  soweit  solche  Personen  thatsäch- 
lich  beschäftigt  sind,  dabei  Lohn  oder  Ge- 
halt in  barem  Gelde  beziehen  (§  3  Abs.  2) 
und  16  Jahre  alt  sind  (§  1).  Alle  diese 
Personen  sind  unbeschadet  der  später  zu 
erwähnenden  Ausnalimen  für  die  Dauer 
der  Beschäftigung  kraft  Gesetzes  der  Ver- 
sicherungspflicht unterworfen,  ohne 
dass  es  etwa  des  Abschlusses  eines  Ver- 
sicherungsvertrages bedarf,  ohne  Rücksicht 
auf  das  Lebensalter,  Gesundheitsverhältnisse 
und  Bedürftigkeit,  nach  für  alle  gleichen 
Grundsätzen.  Die  Versicherung  ist  in  diesem 
Sinne  eine  Kollektivversicherung. 

Andererseits  folgt  das  Invalidenversiche- 
rungsgesetz  den  übrigen  Versicherungs- 
gesetzen daiin,  dass  in  erster  Reihe  nur  die 
unselbständigen  Arbeiter  der  Versiche- 
rung unterworfen  werden.  Es  bleiben  ins- 
besondere die  Arbeitgeber  (Betriebsun- 
ternehmer)  auch  dann  ausgeschlos- 
sen, wenn  sie  nach  ihrer  finanziellen 
Lage  einer  Fürsorge  für  ihr  späteres  Leben 


Novelle  vom  Reichstag  angenommen.  Aller-  I  gleichfalls  bedürftig  sein  sollten.  Dieser 
höchst  vollzogen,  als  '>I  nvali den  ver- !  Grundsatz  ist  indessen  nicht  ohne  ein- 
siclierungsgesetz<^  veröffentlicht  und  am  |  schneidende  Ausnahmen  geblieben.  Durch 
1.  Januar  1900  in  Kraft  getreten.  Auf  Grund  .  Bescliluss  des  Bundesrates  können  nämlich 
der  in  §  168  Abs.  8  ihm  erteilten  Ermächtigung  'die  Hausgewerbetreibenden  sowie 
hat  dann  der  Reichskanzler  durch  Bekannt-  solche  kleine  selb  stand  igeBetriebs- 
machung  vom  19.  Juli  1899  (R.G.Bl.  S.  463)  i  Unternehmer,  welche  nicht  regelmässig 
den  Text  des  neuen  Gezetzes  unter  fort- '  wenigstens  einen  Arbeiter  beschäftigen,  der 
laufender  Nummerfolge  der  Paragraphen  Vei*sicheningspflicht  unterworfen  werden; 
anderweit  veröffentlicht;    nach   dieser  Neu-  hinsichtlich  der  Hausgewerbetreibenden   in 


redaktion  wird  das  » Invaliden versicherungs- 
gesetz'<  fortab  citiert.  Die  Novelle  bringt 
den  notwendigen  Ausgleich,  enthält  einen 
gegenüber  der  Regierun gsvorlcige  freilich 
sehr  abgeschwächten  besonderen  Unterbau 
für  die  Vei-sicherung  (Rentenstellen) 
und  ausserdem  eine  sehr  grosse  Anzahl 
von      Verbesserungen,      Verein- 


der  Tabaks-  und  Cigarrenfabrikation  sowie 
in  der  Textilindustrie  hat  der  Bundesrat  von 
dieser  Befugnis  Gebrauch  gemacht  (Bek,  v. 
16.  Dezember  1891,  R.G.Bl.  S.  395  bezw.  v. 
1.  März  1894,  R.G.Bl.  S.  329).  Soweit  der 
Bundesrat  die  Erstreckung  nicht  vornimmt, 
können  diese  Pei-sonen,  wenn  sie  das  40. 
Lebensjahr   nicht   überschritten   haben  und 


fachungen  und  Erleichterungen,  |  noch  nicht  invalid  sind,  Selbstversiche- 
die  sich  in  der  Praxis  als  möglich  heraus-  rung  nehmen,  d.  h.  freiwillig  in  die  Ver- 
gestellt hatten.  Beibehalten  ist  dagegen  I  Sicherung  eintreten  (§  4  Abs.  1).  Dieselbe 
insbesondere  das  Markensystem  (s.  unten).  Befugnis  ist  diffch  die  Novelle  weitergehend 
Die    nachfolgende    Darstellung    in    der  auch     denjenigen     selbständigen    Be- 


Fassung der  Novelle  beschränkt  sich  auf  den 
Inhalt  des  Gesetzes  und  dessen  Ausgestal- 
tung in  der  Praxis;  wegen  des  diesem  Ar- 
tikel zugewiesenen  nur  beschränkten  Raums 


triebs  unter  nehmern  eingeräumt  worden, 
welche  regelmässig  bis  zu  zwei  Ijohn- 
arbeiter  beschäftigten,  sowie  solchen  Betriebs- 
beamten, Ijchrern  u.  s.  w.,  welche  mehr  als 


muss  die  Dai*steUung  auf  Gnmdzüge  sich  1 2000  Mark,  aber  weniger  als  30oo  Mark 
bescliränken,  ohne  in  Einzellieiten  eingehen  I  Jahresarbeitsverdienst  (vgl.  unten)  haben, 
zu  können.  Hinsichtlich  der  theoretischen  i  Ausserdem  hat  jeder,  für  welchen  die  Ver- 
Grundlage  für  eine  derartige  Versicherung  |  Sicherungspflicht  einmal  V^egründ et  gewesen 

86* 


1364 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


ist,  die  Befugnis,  bei  etwaigem  Austreten 
aus  der  die  Versicherung  bedingenden  Be- 
schäftigung das  VersicherungsverhAltnis  frei- 
willig fortzusetzen  (Weiter  Versiche- 
rung; früher  freiwillige  Fortsetzung  des 
Versicherungsverhältnisses  genannt,  §  14 
Abs.  2).  Dies  hat  zur  Folge,  dass  z.  B. 
Handwerker,  welche  nach  Ablauf  ihrer  Ge- 
seUenzeit  sich  selbständig  machen,  oder 
Landwirte,  welche  die  Stellung  als  land- 
wirtschaftliche Tagelöhner  aufgeben  und  sich 
ein  eigenes  Grundstück  kaufen  oder  pachten, 
freiwillig  in  dem  Versicherungsverhältnis 
verbleiben  und  dadurch  ihre  Anwartschaft 
auf  Rente  nicht  nur  erhalten,  sondern  auch 
die  Höhe  des  Rentenanspruches  steigern 
können.  Auch  eine  freiwülige  Erneue- 
rung eines  bereits  erloschenen  Versiche- 
rungsverhältnisses ist  durch  das  Gesetz  ge- 
stattet (§  14  Abs.  1). 

In  weiterem  Umfange  gestattet  aber  das 
Gesetz  eine  freiwillige  Versicherung  nicht. 
Eine  solche  wüi-de  ohne  Schädigung  der- 
jenigen, für  die  das  Gesetz  in  erster  Linie 
bestimmt  ist,  niu*  dann  zulässig  sein  können, 
wenn  sie  unter  Berücksichtigung  des  Lebens- 
alters und  der  Gesundheit,  also  nach  Mass- 
gabe der  individuellen  Verhältnisse  erfolgen 
könnte;  hierbei  aber  würde  eine  zu  gi'osse 
Komplikation  der  Verwaltung  eingetreten  sein. 

Im  einzelnen  unterwirft  das  Gesetz  der 
Vei*sicherungspfHcht  (§  1) :  a)  alle  Personen, 
welche  als  Arbeiter,  Geliilfen,  Gesellen,  Lehr- 
linge oder  Dienstboten  gegen  Lohn  oder  Ge- 
halt beschäftigt  werden ;  b)  alle  Betriebs- 
beamten, Werkmeister,  Techniker,  Hand- 
lungsgehilfen und  -lehi'linge,  sonstige  Ange- 
stellte (z.  B.  Hausdamen),  sämtlich  wenn  sie 
nicht  mehr  als  2000  Mark  Jahresarbeitsver- 
dienst haben,  jedoch  mit  Ausnahme  der  Ge- 
hilfen und  Lehrlinge  in  Apotheken;  c)  die 
gegen  Lohn  oder  Gehalt  beschäftigten  Per- 
sonen der  Schiffsbesatzung  deutscher  See- 
schiffe und  der  Binnenschiffe.  Diese  Be- 
stimmungen bringen  den  Grundsatz  zum 
Ausdruck,  dass  alle  berufsmässigen 
Lohnarbeiter  männlichen  und  weiblichen 
Gesclüechts,  Inländer  oder  im  Lilande  be- 
sciiäftigte  Ausländer,  sowie  alle,  welche 
den  »Arbeitern«  im  engeren  Sinne  in  wirt- 
schaftlicher Beziehung  annähernd  gleich 
stehen  (Arbeiter  im  weiteren  Sinne),  ein- 
schliesslich der  unteren  Betiiebsbeamten, 
der  Versicherungspflicht  unterworfen  sind. 
Durch  die  Novelle  sind  diesen  Kategorieen 
mit  Rücksicht  auf  das  bei  ihnen  bestehende 
Bedürfnis  die  Lehrer  und  Erzieher 
gleichgosteUt. 

Nun  giebt  es  Kategorieen  von  Personen, 
bei  denen  es  zweifelhaft  sein  kann,  ob  sie 
versicherungspflichtige  Arbeiter  oder  von 
der  Versicherung  ausgenommene  Betriebs- 
uuternehmer    sind.     Im    allgemeinen    kann 


hier  nur  von  Fall  zu  Fall  entschieden  wer- 
den. Auf  Anregimg  des  Bundesrates  ist  in- 
dessen, um  der  Praxis  die  Wege  zu  weisen, 
bestimmt  worden,  dass  selbständige  Dienst- 
männer, Kofferti^er  etc.  (weil  sie  aus  vor- 
übergehenden Dienstieistungen  bei  wechseln- 
den Arbeitgebern  ein  selbständiges  Gewerbe 
machen)  als  selbständige  Betriebsunternehmer 
anzusehen  und  deshalb  nicht  versicherungs- 
pflichtig sind;  Waschfrauen,  Näherinnen, 
Schneiderinnen  und  Büglerinnen  sollen, 
wenn  sie  in  den  Häusern  ihrer  Kunden  ar- 
beiten, als  versicherungspflichtige  Arbeiter, 
wenn  sie  dagegen  in  der  eigenen  Behausimg 
thätig  sind,  als  selbständige  Betriebsunter- 
nehmer behandelt  werden. 

Ohne  Einfluss  auf  die  Versicherungs- 
pflicht  ist  die  Dauer  der  Beschäftigung: 
grundsätzlich  ist  auch  eine  lediglich 
vorübergehende  Thätigkeit  versiche- 
rungspflichtig. Indessen  ist  aus  praktischen 
Gründen,  insbesondere  um  deswillen,  weil 
für  die  Versicherung  Beiträge  zu  entiichteft 
sind,  dem  Bundesrate  die  Befugnis  einge- 
räumt worden  (§  4  Abs.  1),  zu  bestimmen, 
inwieweit  vorübergehende  Dienstleistungen 
als  »versicherungspflichtige  Beschäftigimg 
im  Sinne  dieses  Gesetzes  nicht  anzusehen 
sind«,  also  der  Versicherungspflicht  nicht 
unterliegen.  Auf  dieser  Bestimmung  fussen 
die  Beschlüsse  des  Bundesrates,  welche  in 
ihrer  neuesten  Fassung  in  der  Bek.  v.  27. 
Dezember  1899  (R.G.B1.  S.  725)  vom  Reichs- 
kanzler veröffentlicht  sind. 

Hiernach  wird  unterschieden  zwischen 
solchen  Personen,  welche  berufsmässig  Lohn- 
arbeit überhaupt  nicht  verrichten,  einerseits 
und  den  eigentlichen  Berufsarbeiten!  andeiw- 
seits.  Bei  ersteren  bleiben  vorübergehende 
Beschäftigungen  dann  frei,  wenn  sie  a)  nur 
gelegentiich,  insbesondere  zu  gelegentiicher 
Aushilfe,  b)  zwar  in  regelmässiger  Wiei^ler- 
kehr,  aber  nur  nebenher  und  gegen  ein  ge- 
ringfügiges Entgelt  verrichtet  werden.  Hier- 
durch werden  z.  B.  gelegentiiche  Aushilfs- 
arbeiten bei  der  Ernte  oder  der  Feldbestel- 
lung, wie  sie  häufig  von  den  Ehefrauen 
landwirtschaftlicher  Arbeiter  oder  von  kleinen 
selbständigen  Landwirten  geleistet  werden, 
von  der  Versicherungs-  und  Beitragspflicht 
befreit.  Bei  eigentlichen  Berufsarbeitem 
dagegen  konnte  in  dieser  Weise  nicht  ver- 
falu-en  werden,  weü  ilire  beruf smässigie 
Thätigkeit  oft  gerade  auf  solcher  wechseln- 
den Arbeit  bei  verschiedenen  ArbeitgeUmi 
beniht.  Bei  ihnen  sollen  aber  diejenigen 
Beschäftigungen  unberücksichtigt  bleitoii. 
welche  ohne  Unterbrechung  eines  stäiuligeii 
Arbeitsverhältnisses  nebenher  bei  anderen 
Arbeitgebern  verrichtet  werden,  eben?^; 
Dienstleistungen  zur  sclileunigen  Hilfe  hei 
L'nglücksfäUen  und  die  Tliätigkeit  in  Ver- 
pflegungsstationen.    Versicheruugsfi^i  ^i^^l 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


1365 


ferner  das  Personal  ausländischer  Binaen- 
schiffe  auf  inländischen  Wasserstrassen,  so- 
fern sie  nicht  im  Inland  einen  regelmäs- 
sigen Yerkehr  von  erheblicher  Dauer  unter- 
halten, sowie  farbige  Seeleute  auf  deutschen 
Schiffen  im  Orient  und  z.  T.  in  dem  Ver- 
kehr zwischen  dem  Orient  und  europäischen 
Häfen,  ebenso  Dienstleistungen  auf  See- 
schiffen im  Ausland,  soweit  die  betreffenden 
Personen  nicht  zur  Schiffsbesatzung  gehören, 
und  Einzelleistungen  von  Bediensteten  aus- 
ländischer, voriibergehend  in  das  Inland 
hinttbergreifender  Betriebe.  Ausserdem  sind 
die  Regierungen  der  einzelnen  Bundesstaaten 
ei-mächtigt  worden,  in  gewissenFäUen  voniber- 
gehende  Dienstleistimgen  von  Ausländern  aus- 
zunehmen ;  Preussen  hat  von  dieser  Delegation 
hinsichtlich  der  russisch-galizischen  Flösser 
(Flissaken)  Gebrauch  gemaciit.  Nach  der 
Novelle  darf  der  Bundesrat  ferner  solche 
Ausländer  von  der  Versicherung  befi'eien, 
denen  der  Aufenthalt  im  Inland  nur  filr 
bestimmte  Zeit  durch  die  zuständige  Behörde 
gestattet  ist  (insbesondere  russische  Arbeiter) ; 
doch  müssen  dann  die  sie  beschäftigenden 
Arbeitgeber  denjenigen  Betrag  an  die  Ver- 
sicherungsanstalt bar  zahlen,  den  sie  für  die 
Versicherung  wilrden  zahlen  müssen,  wenn 
diese  auch  für  die  betreffenden  Ausländer 
bestände  (§  4  Abs.  2). 

Das  Gesetz  kennt  aber  noch  weitere 
Ausnahmen  von  der  Versicherungspflicht. 
Auf  ihren  Antrag  sind  nämlich  diejeni- 
gen Personen  zu  befreien,  welche  vom 
Kelche,  einem  Bundesstaate,  Kommunalver- 
bande oder  einem  Träger  der  Invalidenver- 
sicherungpension oder  Wartegeld  wenigstens 
im  Mindestbetrage  der  Invalidenrente  be- 
ziehen, ferner  diejenigen,  welche  in  diesem 
Betrage  eine  Unfallrente  beziehen,  sowie 
diejenigen,  welche  70  Jahre  alt  und  infolge 
dessen  zur  Altersrente  berechtigt  sind  (§  6 
Abs.  1).  Dasselbe  gilt  nach  der  Novelle  für 
solche  Personen,  welche  Lohnarbeit  nur  in 
bestimmten  Jahreszeiten  für  nicht  mehr 
als  12  Wochen  oder  für  höchstens  50 
Tage  im  Jahre  verrichten,  im  tlbrigen 
aber  selbständig  als  Betriebsunternehmer 
oder  in  ähnlicher  Stellung  ihren  Lebens- 
unterhalt erwerben.  Denn  diese  Personen 
haben  nur  geringe  Aussicht,  auf  Grund  ihrer 
Lohnarbeit  jemals  die  Wartezeit  zurück- 
legen zu  können  (§  6  Abs.  2).  Ausser- 
dem aber  sind  einzelne  Kategorieen  auch 
kraft  Gesetzes,  also  unabhängig  von 
ihrem  Willen,  ausgenommen,  und  zwar 
a)  diejenigen  Lohnarbeiter,  welche  nach 
ihren  Gesimdheits Verhältnissen  schon  als 
invalid  anzusehen  sind  oder  die  Invaliden- 
rente beziehen  (§  5  Abs.  3,  4) ;  b)  Personen 
des  Soldatenstandes,  welche  dienstlich  als 
Arbeiter  beschäftigt  werden  (§  f)  Abs.  3); 
c)    jille    (an    sich    versicherungspflichtigen) 


Beamten  des  Reiches,  der  Bundesstaaten 
imd  der  Komräunalverbände  sowie  Lehrer 
und  Erzieher  an  öffentlichen  Schulen  oder 
Anstalten,  wenn  sie  An'wgui:schaft  auf  Pen- 
sion im  Mindestbetrage  der  Invalidenrente 
haben  (§  5  Abs.  1,  7)  oder  lediglich  zur 
Ausbildung  für  ihren  künftigen  Beruf  be- 
schäftigt sind;  ferner  Beamte  der  Träger 
der  Invalidenversicherung,  wenn  sie  An- 
wartschaft auf  Pension  im  Mindestbetrag 
der  Invalidenrente  haben  (§  5  Abs.  2), 
sowie  Personen,  welche  während  ihrer 
wissenschaftlichen  Ausbildung  für  den  künf- 
tigen Lebensbenif  Unterricht  erteilen  (§  5 
Abs.  3).  Dasselbe  gilt  (§7)  für  Beamte 
anderer  offen  tlicher  Verbände  oder  von  Körper- 
schaften sowie  für  Lelu'er  und  Erzieher  an 
nicht  öffentlichen  Schtilen  oder  Anstalten, 
wenn  sie  auf  ihren  Antrag  vom  Bundesrate 
diesen  gleichgestellt  werden;  letzteres  hat 
der  Bundesrat  insbesondere  hinsichtlich  der 
landesherrlichen  Hofbeamten  sowie  der  Be- 
amten einzelner  preussischer  Ijandschafts- 
verbände  und  zweier  grosser  Eisenbahnge- 
sellschaften angeordnet.  Darüber,  wer  als 
»Beamter«  (im  Gegensatz  zum  »Arbeiter« 
oder  »Gehilfen«)  anzusehen  ist,  entscheiden 
die  für  die  betreffenden  Kategorieen  gelten- 
den dienstpragmatischen  Bestimmimgen  (Mot. 
S.  75).  Die  Gründe  für  diese  besondere 
Behandlung  der  Beamten  finden  die  Motive 
darin,  dass  fiir  sie  regelmässig  schon  das 
Reich  bezw.  der  Staat  etc.  eine  ausreichende 
und  sichere  Füi-sorge  treffen,  so  dass  eine 
weitere,  mit  Kosten  und  Weitläufigkeiten 
verknüpfte  Fürsorge  entbehrlich  sei. 

Darüber,  ob  für  einzelne  Fälle  Beiträge 
zu  entrichten  sind,  also  eine  Versicherungs- 
pflicht vorliegt,  entsclieiden  die  Landesbe- 
hörden, die  sich  hierbei  in  Fühlung  mit  dem 
Reichsversicherungsamte  zu  halten  haben. 
Handelt  es  sich  dabei  um  Fragen  von  grund- 
sätzlicher Bedeutung,  so  ist  die  Entschei- 
dung auf  Anti'ag  einer  beteiligten  Versiche- 
rungsanstalt an  das  Reichsversichenmgsamt 
abzugeben  (§  122). 

Der  Kreis  der  Versicherten  ist,  wie  sich 
aus  dem  Vorstehenden  ergiebt,  sehr  gross; 
die  Schwierigkeiten  der  Einfüluning  \md 
Durchführimg  der  Versichermig  mussten 
sich  gerade  w^egen  dieses  grossen  Umfanges 
notwendig  steigern.  Die  Zahl  der  derVer- 
sichenmg  auf  Gnmd  ihrer  Beschäftigung 
unterliegenden  Personen  wird  in  der  der 
Begründimg  des  Gesetzes  von  1889  beige- 
gebenen Denkschrift  auf  Grund  der  Angaben 
der  Berufsstatistik  vom  5.  Juli  1882  auf 
rund  11  Millionen  geschätzt  und  soll  jetzt 
gegen  12  Millionen  betragen;  wieviel  Per- 
sonen nach  dem  Ausscheiden  aus  der  ver- 
sicherungspflichtigen Beschäftigung  freiwillig 
die  Versichenmg  fortsetzen  werden,  entzieht 
sich   naturgemäss   einer  Vorausberechnimg, 


1366 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


ebenso    wie    die    Zahl    derjenigen,    welche 
Selbstvei-sicherung  nelimen.     Infolge    ihres 
Umfanges  greift  die   In\-alidenversicherung 
in    fast    alle    Verhältnisse    und    Familien 
Deutsclilands  hinein;  es  werden  nicht  viel 
erwachsene  Pei*sonen  im  Deutschen  Reiche 
sein,  welche  nicht  an  dieser  Einrichtung  als 
Arbeitgeber   oder  als   Versicherte   beteiligt 
sind.    Nicht  mir  die  Vorteile  der  Versiche- 
rung, sondern  auch  alJe  Fehler  und  Mängel, 
die  dem  Gresetze  wie  allen  ohne  Unterlage 
praktischer    Erfahrungen     ins    Leben    ge- 
rufenen  erstmaligen    Versuchen   notwendig 
anliaften,  machten  sich  infolge  dieses  Um- 
fanges in  vergrössertera  Massstabe  geltend; 
um  so  breiter  war  auch  die  Angriffsfläche, 
welche  die  neue  Einrichtung  darbietet.    In- 
dessen durften  die  Gesetzgeber  hierauf  nicht 
Rücksicht    nehmen.      ^Massgebend    ftir    die 
gleichzeitige    Erfassung    aller  Klassen    der 
arbeitenden  Bevölkenuig  und  der  ihnen  so- 
zial gleichstehenden  Personen  war  vielmehr 
insbesondere  die  Rücksicht  darauf,  dass  ein- 
mal   die    Invalidenversicherung    eine    das 
ganze  Arbeitsleben  umfassende  ständige  Be- 
teiligung  erforderlich    macht,    andererseits 
aber  der  Orts-  und  Berufswechsel  unter  den 
deutschen    Arbeitern     sehr    erheblich    ist. 
Man  hatte  also  dafür  zu  sorgen,  dass  nicht 
die  in   einem  Berufszweige  erworbene  An- 
wartschaft   auf    dereinstige    Rente    durch 
Uebertritt    in    einen    anderen    Berufszweig 
verloren   gehen   könnte,   und   dies  geschah 
am  besten  dadurch,  dass  man  die  Versiche- 
ning  für  alle  Berufszweige  gleichmässig  und 
gleichzeitig  einführte.    Öazu  kam  die  Rück- 
sicht auf  den  Reichszuschuss,  den  man  nicht 
gut   einem  Teile  der  arbeitenden  Bevölke- 
rung auf  Kosten  der  Gesamtheit  zuwenden, 
einem  anderen  ebenso  bedürftigen  Teile  der 
Arbeiterschaft  aber  mit  der  Wirkung  ver- 
sagen konnte,  dass  dieser  letztere  Teil  zur 
Bessei-stellung    des    ei-steren    Teils,    ohne 
selbst    Vorteü    zu    haben,    mit    beitragen 
milsste.    Diese  Gesichtspunkte  sind  bei  der 
Novelle     entgegen     einer    weitverbreiteten 
Str()mung,  welche  Landwirtschaft  und  Hand- 
werk nachträglich  aus  dem  Gesetz  ausneh- 
men wollte,  unter  ausführlicher  Begründung 
ausdrücklich  aufrecht  erlialten  woixlen,  wo- 
bei insbesondere  die  Erwägung  massgebend 
war,  dass  der  Gesetzgeber  unmöglich  grossen 
Kategoriecn  eine  Rechtswohlthat  entziehen 
könne,  die  er  ihnen  eiimial  zu  ihrem  Vorteil 
eingeräumt  hatte. 

4.  Organisation.  Träger  der  Versiche- 
rimg sind  nicht  die  ziu-  Durchfülinmg  der 
Krankenvei'sichenmg  errichteten  Kranken- 
kassen, auch  nicht  die  zur  Durchführung 
der  Unfallversicherung  eirichteten  Benifs- 
genossenschaften.  sondern  besondere,  ledig- 
lich für  diese  Zwecke  bestimmte  terri- 
toriale     Versicherungsanstalten. 


Hierfür  waren  ausschliesslich  Zweckmässig- 
keitsgründe massgebend.  Die  Ki-anken- 
kassen  waren  für  die  Invalidenversiche- 
rung, die  wie  kaum  eine  andere  Ein- 
richtung breite  Schultern  und  Stetigkeit  des 
Bestandes  erfordert,  zu  klein  und  zu  sehr 
dem  Wechsel  ausgesetzt.  Bei  Anlelmung 
an  die  Berufsgenossenschaften  hätte  eine 
neu  zu  begründende  besondere  Verwaltimg 
unter  Mitbeteilig^ing  der  die  halben  Beiträge 
tragenden  Versicherten  nicht  entbehrt  wer- 
den können;  auch  wurden  die  Berufsge- 
nossenschaften aus  inneren  Gründen  nicht 
für  geeignet  gehalten,  Träger  der  Inva- 
lidenversicherung zu  werden,  zumal  sie 
vielfach  keine  Neigung  zu  dieser  ge- 
schäftlichen Mehrbelastimg  bezeugten.  Eine 
einheitliche  Reichsanstalt  würde  einen  zu 
gix)ssen  Umfang  angenommen  haben  und  in 
der  Verwaltung  zu  scliwerfällig  gewesen 
sein.  So  verfiel  man  auf  die  Bildung  neuer 
territorialer  Verbände.  Auch  hieran  hat  die 
Novelle  festgehalten.  Das  Bestreben,  die 
drei  grossen  Zweige  der  Arbeiterversiche- 
rung auch  in  der  Organisation  mit  einander 
zu  verschmelzen,  hat  ja  gewiss  viel  Be- 
stechendes, erweist  sich  aber  bei  näherer 
Prüfung  so  schwierig  und  in  vielen  Be- 
ziehungen bedenklich,  dass  wenigstens  für 
jetzt  von  einer  Verv^ii-klichung  dieses  Ge- 
dankens Abstand  genommen  werden  muss. 
Die  Fi-age  ist  zum  mindesten  noch  nicht 
reif.  Nur  der  Seeberufsgenossenschaft 
konnte  auf  ün-en  Wunsch  im  Hinblick  auf 
die  vielfach  besonders  gelagerten  Verhält- 
nisse der  Seeleute  (für  die  Seeleute  bestehen 
Musterbehörden ,  Musterrollen ,  Seefalu-ts- 
bücher  u.  s.  w.)  gestattet  werden,  mit  Ge- 
nehmigung des  Bundesrats  die  Invalidenver- 
sicherung der  Seeleute  selbst  zu  übernehmen; 
wenn  sie  das  aber  durchfülirt,  muss  sie  zu- 
gleich die  Witwen-  und  Waisenversichenin^ 
durchführen  (§  11). 

Die  Versicherungsanstalten  umfassen  die 
Bezirke  eines  weiteren  Kommunalverbandei> 
oder  Bundesstaates  oder  Teile  dessell>en: 
auch  ist  die  Vereinigung  mehrerer  Kommu- 
nalverbände oder  Bundesstaaten  zu  gemein- 
samen Versicherungsanstalten  ziüässig  (§  65). 
Es  bestehen  31  Vei-sicherungsanstalten :  IS 
für  Preussen,  wovon  5  gleichzeitig  andeiv 
Bundesstaaten  oder  Teile  dei-selben  mit  lun- 
fa^^sen  (sie  sind  nach  dem  Namen  der 
einzelnen  ProWnzen,  für  deren  Bezirke  sie 
bestehen,  benannt;  Berlin  liat  eine  besondert* 
Versicherungsanstalt) ;  8  für  Bayern  (je  eine 
für  den  Regierungsbezirk);  je  eine  für 
Sachsen,  Württemberg,  Baden,  Hessen,  Gi- 
denburg (exkl.  der  abseits  gelegenen  Füi-sten- 
tümer  Lübeck  und  Birkenfeld)  und  Braun- 
scliweig :  je  eine  für  beide  Mecklenbiu^g,  für 
die  3  Hansestädte,  für  8  thüringisi^-ho 
Staaten  und  füi'  Elsass-Lothringen. 


Invaliditäts-  und  Altersversichenmg 


1367 


In  der  Vei'sicherungsanstalt  sind  alle 
Personen  vereichert,  deren  Beschäfti- 
gungsort im  Bezirke  der  Vereicherungs- 
anstaJt  liegt ;  es  entscheidet  also  der  Ort  der 
Beschäftigung,  nicht  der  Wohnort.  Bei  Be- 
trieben, die  eine  Beschäftigung  an  wechseln- 
den Orten  mit  sich  bringen,  gilt  als  Be- 
schäftigmigsort  in  der  Regel  der  Betriebs- 
sitz nach  näherer  Bestimmung  des  §  5a  des 
Krankenversicherungs^setzes ;  bei  Betrieben, 
deren  Sitz  in  dem  Bezirk  einer  anderen  Ver- 
sichenmgsanstalt  belegen  ist,  findet  unter 
(umständen  die  Versicherung  bei  der  Ver- 
sicherungsanstalt des  Betriebssitzes  statt 
(§  65  Abs.  3). 

Die  Versicherungsanstalten  haben  Selbst- 
verwaltung und  jiuristische  Persönlichkeit. 
Sie  liaben  ein  Statut  zu  errichten,  welches 
der  Genehmigung  der  Aufwsichtsbehörde  be- 
darf. Ihre  Organe  sind  der  Voi-stand,  der 
Ausschuss,  die  RentensteUen  sowie  etwaige 
behufs  Einziehung  der  Beiträge  eirichtete 
ortliche  Hebestellen ;  ein  in  dem  Gesetz  von 
1889  fakultativ  weiter  zugelassenes  Organ, 
der  A\ifsichtsrat,  ist  bei  keiner  Anstalt  in 
Tliätigkeit  getreten  und  durch  die  Novelle 
ebenso  wie  die  Vertrauensmänner  des  bis- 
herigen Gesetzes  beteiligt.  An  der  Spitze 
des  Vorstandes  muss  ein  Beamter  des 
weiteren  Kommunal  Verbandes  oder  Bundes- 
staates, für  dessen  Bezirk  die  Versicherungs- 
anstalt enichtet  ist,  stehen,  auch  können 
dem  Vorstande  weitere  gleichai-tige  Beamte 
angehören  (§§  73,  74).  In  den  Vorstand 
sind  ausserdem  in  der  durch  das  Statut  zu 
bestimmenden  Anzahl  Vertreter  der  Arbeit- 
geber und  der  Versicherten  hineinzuwählen, 
deren  Zahl  gleich  sein  muss.  Der  Aus- 
schuss hat  die  Fimktionen  der  General- 
versammlung; er  besteht  aus  gleichviel  Ar- 
beitgebern und  Arbeitnehmern. 

Während  nun  Vorstand  xmd  Ausschuss  die 
Centralverwaltung  führen,  fehlte  es  im  Gesetz 
von  1889  an  einem  genügenden  Unterbau. 
Eine  wichtige  Veränderung  in  der  Organisa- 
tion hat  nun  die  Novelle  insofern  gebracht, 
als  sie  die  Decentralisation  der  Ge- 
schäfte zu  fördern  bestrebt  ist  und  beson- 
deren Wert  darauf  legt,  dass  bei  Anträgen 
auf  Rentenbewilligimg  schon  in  einer  ersten 
Lokalinstanz  die  Versicherten  selbst  gehört 
werden  und  zu  voller  Aufklärung  des  Sachver- 
halts Gelegenheit  geboten  wiixi.  Zu  diesem 
Zweck  ist  die  bereits  in  dem  älteren  Ge- 
setz (§  75)  vorgesehene  Mitwirkung  der 
unteren  Verwaltungsbehörde  weiter 
ausgebaut  und  zugleich  vorgeschrieben  wor- 
den, dass  dabei  in  den  wichtigeren  und 
zweifelhaften  Fällen  je  ein  Vertreter  der 
Arbeitgeber  und  der  Versicherten  zuzuziehen 
ist.  Im  einzelnen  ist  der  unteren  Vei'wal- 
tungsbehöi-de  durch  S§  57  ff.  der  Novelle  die 
Aufgabe  zugewiesen  worden,  Anträge  auf  Be- 


willigimg von  Renten  oder  Beitragserstat- 
tungen (s.  unten)  entgegenzunehmen,  vorzube- 
reiten und  zu  begutachten,  die  Entziehung  von 
Invalidenrenten  und  die  EinsteUimg  von 
Rentenzahlungen  zu  begutachten,  in  den  ge- 
eigneten FäUen  die  Einleitung  eines  Heil- 
verfahrens anzuregen  und  über  alle  die  In- 
validenversicherung betreffenden  Angelegen- 
heiten Auskimft  zu  erteilen.  Glaubt  die 
untere  Verwaltungsbehörde  ihr  Gutachten 
gegen  die  Gewährung  einer  Rente  oder  für 
die  Entziehung  einer  InvaMdenrente  abgeben 
zu  müssen,  so  soll  die  Sache  unter  Zu- 
ziehung je  eines  Vertreters  der  Arbeitgeber 
und  der  Vei'sicherten  und  thunlichst  unter 
Beteiligung  des  Rentenbewerbers  mündlich 
erörtert  werden ;  auch  kann  ein  solches  Ver- 
fahren in  anderen  Fällen  von  dem  Vorstand 
der  Versicherungsanstalt  verlangt  werden. 
An  Stelle  der  unteren  Verwaltungsbehörde 
können  nun  aber  von  der  Versicherungsanstalt 
besondere  örtliche  Organe,  die  Renten- 
stellen, mit  diesen  Obliegenheiten  und 
zugleich  mit  der  Beitragskontrolle,  unter 
Genehmigimg  der  Landescentralbehörde 
ausserdem  auch  noch  mit  weiteren  Obliegen- 
heiten betraut  werden  (§§  79, 80).  Sind  Renten- 
stellen errichtet,  so  kann  ihnen  durch  die 
Landescentralbehörde  an  Stelle  der  Begut- 
achtung über  .Rentenanträge  sogar  die  Be- 
schlussfassung darüber  übertragen  werden 
(§  86).  Die  Errichtung  von  RentensteUen 
wollte  die  Vorlage  obligatorisch  machen  und 
diese  besonderen  Organe  in  allen  Fällen  mit 
den  bezeichneten  Aufgaben  der  unteren  Ver- 
waltungsbehörde betrauen,  wobei  daran  ge- 
dacht war,  dass  in  der  Regel  die  untere 
Verwaltungsbehörde  an  die  Spitze  der 
Rentenstelle  zu  treten  haben  würde;  der 
Reichstag  aber  hat  in  der  bezeichneten 
Weise  die  Errichtung  von  Rentenstellen  nur 
fakultativ  gestaltet  und  diese  Emchtimg 
der  Regel  nach  der  Entschliessung  der  Ver- 
sichenmgsanstalt  (mit  Zustimmung  des  Pro- 
vinzialausschusses  (in  Preussen)  eventuell  der 
Landescentralbehörde)  überlassen ;  doch  darf 
»im  Fall  eines  geschäftlichen  Bedürfnisses 
insbesondere  in  Gegenden  mit  dichter  Bevölke- 
rung« die  Errichtung  auch  von  der  Ijandes- 
centralbehörde  angeordnet  werden  (§78  Abs. 
2),  wenn  sie  zuvor  die  Versicherungsanstalt 
sowie  dem  Provinzialausschuss  angehört  hat 
Solche  Anordnung  der  Landescentralbehörde 
wird  also  nur  da  zu  erwarten  sein,  wo  die 
untere  Verwaltungsbehörde  (Landrat  u.  s.  w.) 
ihre  jetzt  näher  ausgestalteten  und  dadurch 
umfänglicher  gewordenen  Aufgaben  bei  der 
Invalidenversicherung  nicht  mehr  erfüllen 
kann. 

Die  bai'en  Auslagen  des  Verfahrens  vor 
der  unteren  Verwaltungsbehörde  (§  64) 
sowie  die  gesamten  persönlichen  und  sach- 
lichen Kosten  der  Rentenstellen   (§  79 ff.) 


1368 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


trägt  die  Versicherungsanstalt. .  Der  Vor- 
sitzende der  Rentenstelle  wird  von  dem  Pro- 
vinzialausschuss  eventuell  von  der  Landes- 
centralbehörde  ernannt  (§  81);  die  von  der 
unteren  Verwaltungsbehörde  zuzuziehenden 
Vertreter  der  Arbeitgeber  und  der  Ver- 
sicherten werden  in  derselben  Weise  wie 
früher  die  Mitglieder  des  Ausschusses  von 
den  Vorständen  der  sogenannten  Zwangs- 
kassen (Ortskrahkenkasseu  etc.)  unter  Be- 
teiligung (nach  der  Novelle)  auch  solcher 
eingeschriebenen  Hilfskassen  gewählt,  deren 
Kassenbezirk  sich  über  den  Bezirk  der 
unteren  Verwaltungsbehörde  oder  Renten- 
stelle, fflr  den  die  Gewählten  fungieren 
sollen,  nicht  hinaus  erstreckt  und  die  ge- 
mäss §  75  des  Kranken versicheningsgesetzes 
den  Zwangskassen  gleichgestellt  worden 
sind.  Dabei  fungieren  als  Wahlkörper  für 
die  Wahl  der  Arbeitgeber  die  in  den  Kassen- 
vorständen sitzenden  Vertreter  der  Arbeit- 
geber, für  die  Wahl  der  Arbeitnehmer  die 
in  den  Kassenvorständen  sitzenden  Vertreter 
der  Versicherten.  Für  die  den  bezeichneten 
Kassen  nicht  angehörenden  Versicherten 
werden  die  Geraeindeki'ankenversicherungen 
oder  nach  Bestimmung  der  Landesrerierung 
weitere  Kommunalverbände  an  der  Wahl  be- 
teiligt. Das  Nähere  wird  durchWahlordnungen 
geregelt,  die  auch  über  das  Stimmverhältnis 
der  einzelnen  Wahlkörper  Vorschriften  ent- 
halten. Die  Vertreter  der  Arbeitgeber  xmd 
der  Versicherten,  die  bei  der  unteren  Ver- 
waltungsbehörde oder  Rentenstelle  mitzu- 
wirken haben,  werden  demgeraäss  durch 
indirekte  W^ahl  berufen,  wobei  die  in  den 
Krankenkassen  und  den  ilinen  gleichgestellten 
Hilfskassen  befindlichen  Versicherten  als 
Urwähler  fimgieren.  Die  für  die  Lokalin- 
stanz so  gewählten  Vertreter  der  Beteiligten 
wählen  dann  ihrerseits  die  Laienbeisitzer 
des  Ausschusses  der  Versicherungsanstalt, 
und  letztere  wählen  die  Beisitzer  des 
Schiedsgerichts. 

Die  Schiedsgerichte  sind  den  gleich- 
artigen Institutionen  bei  der  ünfallversiche- 
nmg  nachgebildet ;  sie  sind  dauernd  fungie- 
rende Specialgerichtshöfe  für  Berufungen 
gegen  Rentenfestsetzungs-  oder  -entziehungs- 
bescheide  der  Anstaltsvorstände.  Während 
früher  die  Bezirke  der  Schiedsgerichte  zu- 
meist klein  waren  und  in  Preussen  in  der 
Regel  einen  landrätlichen  Kreis  umfassten, 
sollen  die  Schiedsgerichte  nach  den  Absichten 
der  Novelle  gr()ssei*e  Bezirke,  in  Preussen  in  der 
Regel  einen  Regierungsbezirk  oder  Landge- 
richtsbezirk umfassen;  es  blieb  vorbehalten, 
mit  diesen  Schiedsgerichten  für  die  Invaliden- 
versicherung demnächst  die  Schiedsgerichte 
für  die  Unfallversicherung  zu  vereinigen. 
Diese  Zusammenlegung  der  Schieds- 
gerichte für  Invalidenversicherung  und 
fiir   die   verschiedenen  Zweige  der  Unfall- 


versicherung ist  durch  das  Gesetz  vom 
30.  Juni  1900,  betr.  die  Abänderung  der  Un- 
fallversichenmgsgesetze,  thatsächlich  durch- 
geführt; doch  ist  der  Zeitpunkt,  mit 
welchem  diese  neue  Regelung  in  Kraft 
tritt,  erst  durch  kaiserliche  Verordnung  zu  be- 
stimmen. Das  Schiedsgericht  besteht  aus 
einem  von  der  Landescentralbehörde  ernann- 
ten öffentlichen  Beamten  als  Vorsitzendem  und 
aus  den  nach  den  vorstehenden  Gesichts- 
punkten gewählten  Arbeitgebern  und  Ver- 
sicherten als  Beisitzern ;  während  bisher  fiir 
die  einzelnen  Spruchsachen  eine  Besetzung 
mit  3  Mitgliedern  genügte,  verlangt  die  No- 
velle eine  Besetzung  mit  5  Mitgliedern  (je  zwei 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer). 

Der  nach  dem  G.  v.  22.  Mai  1889  vor- 
gesehene Staatskommissar  bei  den  Ver- 
sicherungsanstalten ist  durch  die  Novelle 
beseitigt  worden. 

Was  die  Vermögensverwaltung  der 
Versicherungsanstalten  anbetrifftso  sind  sie 
im  allgemeinen  auf  mündelsichere  Werte  be- 
schränkt; nm'  höchstens  die  Hälfte  des  Ver- 
mögens darf  mit  Genehmigung  der  Auf- 
sichtsbehörde auch  anderweit  sicher  angelegt 
werden,  jedoch  ist  hierzu,  sobald  mehr  als 
ein  Viertel  in  dieser  Weise  angelegt  werden 
soll,  noch  eine  weitere  Genehmigimg  er- 
forderlich (§  164).  Für  den  FaU,  dass 
eine  Versicherungsanstalt  in  finanzielle 
Bedrängnis  geraten  soUte,  was  nach  dem 
in  der  Novelle  durchgeführten  finan- 
ziellen Ausgleich  schwerlich  vorkommen 
kann,  hat  der  weitere  Kommunalverband 
oder  Bundesstaat,  für  dessen  Bezirk  sie  er- 
richtet ist,  helfend  einzutreten,  leistet  also 
insofern  Garantie  (§  68). 

Die  Aufsicht  über  die  Schiedsgerichte 
liegt  der  zuständigen  Landesbehörde  ob 
(§  52  V.  V.  1.  Dezember  1890);  die  Auf- 
sicht über  die  Versicherungsanstalt  aber 
führt  das  Reiöhsversicherungsamt 
(§  108),  in  welchem  füi*  die  Angelegen- 
heiten der  Invalidenversicherung  eine  be- 
sondere Abteilung  errichtet  ist  (§  1  V.  v. 
25.  Dezember  1890).  Dasselbe  fungiert 
gleichzeitig  als  oberster  Gerichtshof  bei 
Revisionen  gegen  die  Entscheidungen 
der  Schiedsgerichte  über  Rentenansprüche 
(§  80).  Bei  Anstalten  für  einen  Bundes- 
staat, welcher  einLand  es  ver  sicher  ungs- 
amt  errichtet  hat,  führt  das  letztere  zwar 
die  Aufsicht,  fungiert  aber  nicht  als  oberster 
Gerichtshof  (§§  111);  man  wollte  für 
oberste  Entscheidungen  über  Rentenan- 
sprüche aus  der  Invalidenversicherung  eine 
einheitliche  Instanz  schaffen,  und  diese  bildet 
das  Reichsversicherungsamt. 

Neben  den  Versicherungsanstalten  können 
noch  weitere  Einrichtungen  zur  Durchfüli- 
rung  der  Invalidenversicherung  berufen 
sein.     Der   Bundesrat  ist   nämlich   befugt. 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


1369 


^besondere  Kasseneinrichtungen« 
für  grössere  Betriebe,  wenn  sie  gewissen 
Anfonlerungen  entsprechen,  dauernd  leis- 
tungsfähig sind  und  den  Versicherten  eine 
den  reichsgesetzlichen  Aufgaben  mindestens 
gleichwertige  Leistung  gewährleisten,  zur 
selbständigen  Durchführung  der  Invaliden- 
versicherung zuzulassen  (§§  8,  10).  Darüber, 
dass  nach  der  Novelle  auch  die  Seeberufs- 
genossenschaft als  besondere  Kasseneinrich- 
tung zugelassen  werden  darf,  vgl.  oben  S.  1366. 
Sofern  eine  solche  Zulassung  erfolgt  ist,  ge- 
nügen die  Mitglieder  der  Kasseneinrichtungen 
diu"ch  ihre  Beteiligung  an  den  letzteren  der 
gesetzlichen  Versicherungspflicht ;  die  Kassen- 
einrichtungen erhalten  dann  zu  ihren  Renten 
den  Reichszuschuss  und  treten  zu  den  Ver- 
sicherungsanstalten in  ein  Gegenseitigkeits- 
verhältnis. Zugelassen  sind  bisher  die  Ar- 
beiterpensionskassen grosser  fiskalischer 
Eisenbahnverwaltungen  (der  Reichseisen- 
bahnen und  der  Staatseisenbahnen  von 
Preussen,  Bayern,  Sachsen  und  Baden)  so- 
wie einige  Knappschaftsverbäude  (Knapp- 
schaftsverhand  im  Königreich  Sachsen,  Nord- 
deutscher Knappschafts  verein  in  Halle,Knapp- 
schaftsverband  in  Saarbrücken  und  Allge- 
meiner Knappschaftsverein  in  Bochum).  Jede 
zugelassene  Kasseneinrichtung  muss  zur  Ent- 
scheidung über  Rentenansprüche  mindestens 
ein  Schiedsgericht  haben.  Die  Aufsicht  über 
die  besonderen  Kasseneinrichümgen  führt 
nicht  das  Reichsversichenmgsamt,  sondern 
die  zuständige  Landesbehörde ;  das  Reichs- 
versicherungsamt entscheidet  aber  als  höchste 
gerichtliche  Instanz  auch  hier  über  Revi- 
sionen gegen  die  Entscheidungen  der  Schieds- 
gerichte. Pensionskassen,  welche  nicht  zur 
selbständigen  Durchführung  der  Invaliden- 
versicherung zugelassen  sind,  werden  nicht 
etwa  aufgelöst,  sondern  bleiben  bestehen 
und  treten  in  das  Verhältnis  einer  soge- 
nannten Zuschusskasse  (§  52);  die 
Kassenleistung  wird  dann  unabhängig  von 
der  gesetzlichen  Rente  gewährt  Um  aber 
übertriebenen  Versichenmgen  und  demge- 
mäss  zu  hohen  Beitragsleistungen  vorzu- 
beugen, ist  Vorsorge  getroffen,  dass  diese 
Zuschusskassen  ihre  Leistungen  bis  um  den 
Wert  der  gesetzlichen  Renten  herabsetzen 
können;  sie  müssen  dann  aber  gleichzeitig 
die  Beiträge  herabsetzen,  wenn  letztere  nicht 
etwa  zm*  Deckung  der  Kassenleistimgen 
auch  nach  deren  Herabsetzung  erforderlich 
bleiben  oder  zu  anderen  Wohlfahrtseinrich- 
tiingen  verwendet  werden. 

5.  Gegenstand  der  Versicherung. 
Zweck  der  Versicherung  ist  die  Gewährung 
eines  Anspruchs  auf  Invaliden-  oder 
Altersrente  (§  9).  Hierzu  tritt  luiter 
Umständen  der  Anspruch  auf  Rücker- 
stattung geleisteter  Beiträge  (§§ 
42  bis  44)  xmd  nach  Befinden  der  Versiche- 


rungsanstalt auch  eine  dem  Eintreten  der 
Invalidität  vorbeugende  oder  der  letzteren 
abhelfende  Kranken  für  sorge  (§§  18  ff., 
47  Abs.  2). 

Was  zunächst  die  vorbeugende  Kranken- 
fürsorge (§§  18  ff.)  anbetrifft,  so  leuchtet  ein, 
dass  dem  Eintritt  dauernder  Erwerbsunfähig- 
keit vorgebeugt  werden  kann  durch  eine  recht- 
zeitige und  sorgfältige  Krankenpflege.  Da 
diese  aber  grundsätzlich  nicht  zu  den  eigent- 
lichen Aufgaben  der  Invalidenversicherung, 
sondern  zu  denen  der  Krankenversicherung 
gehört,  so  stellt  das  Gesetz  eine  solche  vor- 
beugende Krankenfürsorge  nur  in  das  Belieben 
der  Versicherungskörper,  ohne  sie  obliga- 
torisch zu  macheu.  Nachdem  die  ei-sten  Ver- 
suche auf  diesem  Gebiet  sich  als  segens- 
reich erwiesen  hatten,  hat  die  Novelle  von 
1899  diese  Krankenfürsorge  weiter  ausge- 
baut. Fortan  kann  die  Versicheningsanstalt 
das  Heilverfahren  bei  jedem  Versicherten 
eintreten  lassen,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob 
er  der  reichsgesetzlichen  Krankenversiche- 
rung angehört  oder  nicht;  sie  kann  das 
Heilverfahren  selbst  durchführen  oder 
es  der  Krankenkasse,  welcher  der  Ver- 
sicherte angehört  oder  zuletzt  angehört 
hat,  in  dem  ihr  geboten  erscheinenden 
Umfang  gegen  Ersatz  der  Melu-kosteu  über- 
tragen. Bei  Unterbringung  des  Erkrankten 
in  einem  Krankenhause  oder  in  einer  An- 
stalt für  Genesende  ist  auch  den  Angehö- 
rigen des  Erkrankten  nach  Analogie  der  Be- 
stimmungen des  Krankenversicherungsge- 
setzes eine  massige  Unterstützung  zu  ge- 
wähi-en.  Versicherten,  welche  sich  diesen 
Massnahmen  entziehen,  kann  beim  Eintritt 
der  Erwerbsunfähigkeit  die  Rente  auf  Zeit 
ganz  oder  teilweise  versagt  werden,  wenn 
sie  auf  diese  Folge  hingewiesen  sind  und 
die  Ei-werbsunfähigkeit  erweislich  durch 
ihr  Verhalten  veranlasst  worden  ist.  In 
ähnlicher  Weise  kann  auch  solchen  Personen, 
welche  die  Invalidenrente  bereits  beziehen, 
ein  Heilverfahren  zu  dem  Zweck  zugewendet 
werden,  um  ihnen  die  Erwerbsfähigkeit 
wieder  zu  verschaffen  (§  47  Abs.  2). 

Auf  Rückerstattung  der  halben 
Beiträge  haben  Anspruch  a)  weibliche 
Versicherte,  welche  nach  mindestens  fünf- 
jähriger Beitragsleistung  in  den  Ehestand 
treten  und  eine  Rente  nicht  erlangt  haben 
(§  42) ;  b)  hinterbliebene  Witwen  und  Waisen 
solcher  Versicherten,  welche  nach  mindestens 
fünfjähriger  Beitragsleistung  versterben,  be- 
vor sie  eine  Rente  erlangt  haben  {§  44); 
doch  fällt  der  Anspruch  fort,  wenn  aus 
Anlass  des  Todesfalles  Unfallrenten  gewährt 
werden;  c)  nach  der  Novelle  auch  solche 
Versicherte,  welche  dxuxjh  einen  Unfall  er- 
werbsimfähig  geworden  sind  und  aus  diesem 
Anlass  zwai*  Anspnich  auf  Unfallrente,  aber 


1370 


lavaliditäts-  und  Altersversicherung 


nicht  auf  Invalidenrente  zu  erheben  haben 
(§  43  a). 

Der  Hauptanspruch  richtet  sieh  auf  In- 
validen- und  Altersrente  (§9).  Die- j 
selbe  ist  der  Regel  nach  in  bai-em  Gelde, 
nur  ausnahmsweise  in  Naturalbeziigen  (§  29) 
7.U  gewähren.  Kapitalabfindung  ist 
nur  bei  Ausländern,  wenn  sie  den  bisherigen 
Wohnsitz  im  Inlande  verlassen,  gestattet 
(§  26),  im  übrigen  aber  ausgesclilossen,  weil 
bei  Gewährung  eines  der  Gefahr  des  Ver- 
lustes und  unwirtschaftliclier  Verwendung 
ausgesetzten  Kapitals  der  durch  das  Gesetz 
erstrebte  dauernde  Genuss  der  Zuwendung 
nicht  gewährleistet  werden  kann. 

Invalidenrente  erhält  ohne 
RCicksicht  auf  das  Lebensalter 
jeder  Versicherte,  welcher  nach 
einer  bestimmten  Dauer  der  Bei- 
tragszahlung (Wartezeit)  erwerbs- 
unfähig wird  (§  15  Abs.  2).  Grund- 
sätzlich soll  die  Erwerbsunfähigkeit  dau- 
ernd sein  (§  15  Abs.  2);  doch  soll 
auch  derjenige  die  Rente  erhalten,  welcher 
zwar  nicht  dauernd  erwerbsunfähig  ist, 
wohl  aber  thatsächlich  bereits  26 
Wochen  hindurch  ei'v^^erbsunfähig  gewesen 
ist  (wegen  Kranklieit),  und  zwar  filr  die 
fernere  Dauer  dieses  Zustandes  (§  16).  Er- 
werbsunfähigkeit gilt  dann  als  vorliegend, 
wenn  die  ^Erwerbsfähigkeit  infolge  von 
Alter,  Kranklieit  oder  anderer  Gebrechen 
auf  weniger  als  ^/s  herabgesetzt  ist«,  und 
dieser  Zustand  ist  dann  anzunehmen,  w^enn 
der  betreffende  Versicherte  »nicht  mehr  im 
Stande  ist,  durch  eine  seinenKräften  mid  Fähig- 
keiten entsprechende  Thätigkeit,  die  ihm 
unter  billiger  Berücksichtigimg  seiner  Aus- 
bildung und  seines  bisherigen  Berufes  zuge- 
mutet werden  kann,  ^,3  desjenigen  zu  erwerben, 
was  körperlich  und  geistig  gesunde  Per- 
sonen derselben  Art  mit  ähnlicher  Ausbil- 
dung in  derselben  Gegend  diu-ch  Arbeit  zu 
verdienen  pflegen«  (§  5  Abs.  3,  §  15  Abs.  2). 
Diese  Bestimmung  verlässt  die  bisherige 
Vorschrift,  wonach  ein  ziemlich  kompü- 
ziertes  Rechenexempel  aufgestellt  weraen 
musste,  und  schliesst  sich  an  die  Pi-axis 
des  Reiehsvei-sichenrngsamtes  an;  sie  be- 
rücksichtigt mehr  als  bisher  die  individuellen 
Verhältnisse,  setzt  aber  auch  jetzt  noch 
allgemeine  Invalidität,  nicht  etwa  nur 
eine  bestimmte  B  e  r  u  f  s  Invalidität  voraus. 
Erstere  ist  um  deswillen  vorgeschrieben,  weil 
die  Versicherung  alle  Klassen  von  Arbeitern 
gleichmässig  erfasst,  bei  diesen  ein  häufiger 
Wechsel  des  Beruifs  stattfindet  und  mit 
Recht  verlangt  werden  muss,  dass  derjenige, 
welcher  auf  Kosten  der  Gesamtheit  eine 
Rente  beansprucht,  seine  Ai'beitskraft  zu- 
nächst voU  und  ohne  Beschickung  auf  eine 
besondere  Berufsthätigkeit  zu  verwerten 
suchen  muss.    Immerhin  darf  aber  nur  eine 


für  den  betreffenden  Versicherten  >•  geeig- 
nete« Arbeit  in  Betracht  gezogen  wenlen. 
Die  Berücksichtigung  der  konkreten  Arlieit»- 
gelegenheit  ist  absichtlich  ausgeschlossen 
worden  (vgl.  Motive  bei  Bosse-v.Woedtke 
S.  231).  Die  Erwerbsunfähigkeit  braucht 
nicht  eine  völlige  zu  sein;  sie  liegt 
vielmehr  schon  vor,  wenn  der  Betreffende 
nur  noch  sehr  w^enig  verdienen  kann.  Auf 
Grund  und  Aulass  der  Erwerbsunfähigkeit 
kommt  es  im  allgemeinen  nicht  an;  nurliei 
vorsätzlicher  Herbeiführung  der  Invalidität 
fällt  der  Anspruch  auf  Rente  fort  (§  17), 
und  unter  Umständen  kann  die  Rente  dann 
versagt  werden,  wenn  etwaigen  Anforde- 
rungen der  Versicherungsanstalten  wegen 
einer  Krankenfürsor^e  nicht  entsprochen  ist 
(§  22)  oder  wenn  der  Versicherte  die  Er- 
werbsunfähigkeit sich  bei  Begehung  eines 
Verbrechens  oder  vorsätzlichen  Ver^hens 
zugezogen  hat  mid  seine  Thäterschaft  durch 
den  Straf richter  fest^stellt  ist  (§  17).  Be- 
sondere Vorschriften  enthält  das  Gesetz  aber 
noch  hinsichtlich  der  durch  Betriebsunfall 
herbeigeführten  Erwerbsunfähigkeit.  Eine 
solche  belastet  zwar  die  Invalidenversiche- 
i-ung  vorbehaltlich  etwaiger  Beitragserstat- 
tung (s.  oben)  nur  dann  und  insoweit  als 
nicht  auf  Grund  reichsgesetzlicher  VorscJirift 
Uufallrente  zu  gewähren  ist  (§15  Abs.  2): 
es  bleibt  aber  dem  Verunglückten,  sofern 
im  übrigen  die  Voraussetzungen,  unter  denen 
eine  Invalidenrente  bewilligt  werden  darf 
(2, 3  Erwerbsunfähigkeit,  Wartezeit),  vorliegen, 
freigestellt,  seine  Ansprüche  auf  Rente  auch 
auf  Grund  der  Invalidenversicherung  zu  er- 
heben und  den  Trägem  der  letzteren  zu 
überlassen,  sich  wegen  der  Rente  an  die 
verpflichtete  Berufsgenossenschaft  zu  legres- 
sieren  (§  113). 

Altersrente  erhält  ohne  Rück- 
sicht auf  Erwerbsfähigkeit  der- 
jenige Versicherte,  welcher  nach 
einer  bestimmten  Dauer  der  Bei- 
tragszahlung (Wartezeit)  das  70. 
Lebensjahr  vollendet  hat  (§15  Abs.3i: 
sie  beginnt  frühestens  mit  dem  ersten  Tage 
des  71.  Lebensjahres  und  ruht,  sobald  dem 
Empfänger  (aui  seinen  Antrag)  Invaliden- 
rente gewährt  wird  (§  48  Abs.  3). 

Invaliden-  mid  Altererenten  sind  in  der 
Regel  für  die  Dauer  gewährt;  erstere  aber 
können  entzogen  werden,  wenn  in  dea 
Verh^tnissen  des  Enipfängei-s  eine  Aende- 
rung  eintritt,  die  ihn  nicht  mehr  als  dauernd 
erwerbsunfäliig  erscheinen  lässt  (jj  47  J. 
Ausserdem  kennt  das  Gesetz  Fälle,  wo  ge- 
währte Renten  ganz  oder  teilweise  ruhen 
(§  48).  Ein  teilweises  Ruhen  (Kürzung) 
tritt  nämlich  dann  und  insoweit  ein,  als  der 
Empfönger  ünfallrenten,  Staats-  oder  Ge- 
meindejiensionen  bezieht  imd  diese  zusammen 
mit  der  auf  Grund  dieses  Gesetzes  gewährten 


Invaliditäts-  und  Altersversichening 


1371 


Keilte  den  7  V2  fachen  Grund beti-ag  der  In- 
validenrente (  siehe  unten)  übersteigen;  ein 
völliges  Ruhen  der  Rente  findet  statt,  so- 
lange der  Empfänger  Freiheitsstrafen  von 
mehr  als  einem  Monat  verbüsst  oder  nicht 
im  Inlande  wohnt.  Auf  Grund  gesetzlicher 
Ermächtigung  hat  der  Bundesrat  indessen 
augeordnet,  dciss  die  Rente  auch  in  melu-eren 
an  Deutsclüand  angrenzenden  Bezirken  des 
Auslandes  ausgezahlt  werden  soll  (Bek.  v. 
16.  Mai  1891,  Centralbl.  S.  97).  Unabhängig 
hiervon  sind  weitere  Yorscliriften  des  Ge- 
setzes, wonach  bei  fortgesetzter  Nichtent- 
richttmg  von  Beiträgen  dieAn  wartschaft 
auf  Rente  erlischt  (§  46);  darüber 
siehe  unten  sub  6. 

6.  Besondere  Voranssetzungen  des 
Anspruchs,  a)  Beitragsleistung.  Es  wurde 
schon  darauf  hingewiesen,  dass  ein  An- 
spruch auf  Rente  nur  dann  besteht,  wenn 
während  einer  bestimmten  Zeit  Beiträge 
entrichtet  sind.  Nach  Anzahl  und  Höhe 
dieser  Beiträge  richtet  sich  aber  auch  die 
Berechnung  und  die  Höhe  der  Rente. 

Das  Gesetz  schreibt  vor,  dass  für  jede 
Woche,  in  welcher  eine  die  Versicherungs- 
pflicht begründende  Bescliäftigimg  stattge- 
funden hat,  ein  Beitrag  zu  entrichten  ist 
<S  30);  jeder  Einzelbeitrag  deckt  eine  Ar- 
beitswoche. Militärdienst  sowie  im  allge- 
meinen die  Zeiten  bescheinigter,  mit  Er- 
werbsunfähigkeit verbundener  Krankheit  ein- 
schliesslich der  Genesungszeit  und  eines 
regelmässig  verlaufenden  Wochenbetts  wer- 
den gleichfalls  als  Arbeitszeit  angerechnet, 
ohne  dass  für  dieselben  Beiträge  zu  ent- 
richten sind  (§  30j.  Bei  Selbstversichernng 
oder  freiwilliger  Weitervei*sicherung  (vgl. 
oben  sub  3  S.  1364)  ist  ebenfaDs  für  jede 
W^oche  ein  Beitrag  zu  entinchten  (§§  14, 146). 
Jede  Woche,  für  welche  ein  Beiti'ag  ent- 
richtet ist  oder  welche  sonst  angerechnet 
wird,  gilt  als  Beitragswoche;  für  jede 
Woche  kommt  nur  ein  Beitrag  in  Anrech- 
nung (§  30  Abs.  5).  Den  Begriff  eines  be- 
sonderen Beitragsjahi*s  (von  47  Beiti-ags- 
wochen)  hat  die  Novelle  fallen  gelassen. 
Die  einzelnen  Beitragswochen  brauchen  nicht 
unmittelbar  aufeinanderzufolgen,  können  viel- 
mehr durch  beitragslose  Zeiten  unter- 
brochen werden,  nur  dürfen  die  Unter- 
brechungen nicht  so  bedeutend  sein,  dass 
im  Zeiträume  von  2  Jahren  weniger  als  ins- 
gesamt 20  Beiträge,  oder  bei  Selbstver- 
sicherten weniger  als  40  Beiträge  heraus- 
kommen. Geschieht  letzteres  dennoch,  so 
80II  die  bisher  erworbene  Anwartschaft  als 
erloschen  angesehen  werden  (§  46),  und 
das  Versicherungsverhältnis  bedarf  dann 
eventuell  einer  Erneuerung;  nach  Zu- 
rücklegimg  einer  neuen  Wartezeit  (vgl. 
unten  S.  1372)  von  200  Wochen  lebt  nämlich 
die  alte  Anwartschaft  \s4eder  auf.  Der  Bezug 


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der  Invalidenrente  befreit  von  der  Weiter- 
entrichtung der  Beiträge ;  Pei*sonen,  die  über 
70  Jahre  alt  sind  und  deshalb  an  sich  alters- 
berechtigt sein  würden,  sind  auf  Anti-ag  von 
der  Beitragsverpflichtung  zu  entbinden  (§  6). 
Die  Wochenbeiträge  sind  nun  aber  nicht 
für  alle  Beteiligten  gleich  hoch.  Vielmehr 
bildet  das  Gesetz,  um  Renten  und  Beiträge 
thunHchst  der  Lohnhöhe  anzupassen,  nach 
der  Höhe  des  jährlichen  Arbeitsverdienstes 
fünf  Lohnklassen  (§  34),  nämlich 
Kl.  I      bis  zu  350  M.  Jahresar beitsveixiienst, 

II  von  mehr  als  350  bis    550  M. 

III  ,,        „      „     brA)    „      850 

IV  „        ,,      „    850    „     1150 

V  1 1  fS()  

Die  5.  Lohnklasse  ist  durch  die  Isovelle 
eingefülirt.  Für  jeden  Versicherten  sind  die 
Wochenbeiträge  in  derjenigen  Lohnklasse 
zu  entrichten,  in  welche  er  während  der 
betreffenden  Zeit  entfällt,  doch  darf  der 
Vei-sicherte  gegen  Ei*stattung  der  Mehrkosten 
eine  höhere  Klasse  wälilen.  Für  Krank- 
heits-  und  Militärdienstzeit  kommt  die  Lohn- 
klasse II,  für  Lelu^er  und  Erzieher  mindestens 
die  Lohnklasse  IV  in  Rechnung. 

Unter  dem  liier  in  Betracht  kommen- 
den Jahresarbeits Verdienste  ist  aus  prak- 
tischen Gründen  auch  jetzt  im  allgemeinen 
nicht  der  konkrete  Verdienst  des  einzelnen, 
I  der  Individuallohn,  zu  verstehen,  sondern 
[vielmehr  der  Örtliche  Durchschnitts- 
lohn derjenigen  Personenklasse,  in 
welche  der  Versicherte  bei  seiner  jeweiligen 
Beschäftigimg  nach  näherer  Vorschrift  des 
Gesetzes  entfällt  (§  34).  Nur  dann  ist 
nach  der  Novelle  der  Individuallohn 
massgebend  (§  34  Abs.  3),  wenn  der 
Versicherte  einen  festen,  mindestens  für 
Wochen  im  voraus  fixierten  Barlohn  erhält 
und  dieser  Barlohn  höher  ist  als  der  sonst 
für  ihn  massgebende  Klassenlohn.  Neben- 
bezüge an  Naturalien  etc.,  die  die  Be- 
rechnung des  IndividuaUohns  besonders 
schwierig  gestalten  würden,  bleiben  also 
hierbei  ausser  Betracht. 

Für  die  Klasseneinteilung  ist  bei 
Mitgliedern  einer  Orts-,  Betiiebs-  (Fabrik-), 
Bati-  oder  Innungs-Krankenkasse  derjenige 
Lohnbetrag,  von  w^elchem  die  Beiti-äge  zur 
Krankenversicherung  entrichtet  werden,  mass- 
gebend, bei  land-  und  forstwirtschaftlichen 
Arbeitern,  soweit  sie  einer  solchen  Kasse 
nicht  angehören,  sowie  bei  Mitgliedera  von 
Knappschaftskassen  und  bei  Seeleuten  der 
besonders  festzusetzende  Durchschnittsver- 
dienst, im  übrigen  der  ortsübliche  Tagelohn 
gewöhnlicher  Tagearbeiter  des  Beschäiti- 
gungsortes,  wobei  jedoch  für  einzelne  Be- 
lufszweige  ein  anderer  Durchschnittsver- 
dienst behördlich  festgesetzt  werden  kann. 
(Dai'über,  dass  diese  Einteilung  in  Lohn- 
klassen lu^prünglich  nicht  beabsichtigt  war, 


1372 


Invaüditäts-  und  Altersversicherung 


dass  man  vielmehr  anfänglich  nur  eine  Ein- 
heitsrente mit  Einheitsbeitrag,  dann  eine 
Abstufung  nach  Ortsklassen  so,  dass  für 
jeden  Ort  nur  der  in  demselben  geltende 
ortsübliche  Tagelohn  gewöhnlicher  Tagear- 
beiter massgebend  sein  sollte,  in  Aussicht 
genommen  hatte,  vgl.  Bosse-v.Woedtke,  Ein- 
leitung S.  121,  sowie  Anm.  1  zu  §  22). 

b)  Wartezeit.  DieWaii;ezeit  umfasst  eine 
Anzahl  von  Beitrags wochen  (§  29).  Die  Zahl 
der  erforderlichen  Beitragswochen  ist  in  der 
Novelle  im  allgemeinen  ermässigt  worden; 
sie  ist  verschieden  bei  der  Invalidenrente 
und  bei  der  Altersrente.  Ueber  die  Gründe 
dieser  Verschiedenheit  vgl.  Bosse-v,  Woedtke 
Anm.  1  u.  2  zu  §  16.  Bei  der  Altersrente  wer- 
den jetzt  1200  Beiti-agswochen  verlangt  (rech- 
net man  das  Jahr  =  50  Wochen,  so  würden 
24  Jahre  sich  ergeben) ;  bei  der  Invalidenrente 
genügen,  wenn  der  Anwärter  während  min- 
destens 100  Wochen  versicherungspflichtig 
beschäftigt  worden  ist,  200  Beitrags wochen 
(so  dass  er  also  100  Wochen  auch  auf  Grund 
freiwilliger  Versicherung  geklebt  haben  darf), 
während  er  anderenfalls  üOO  Beitragswochen 
aufweisen  muss;  aber  auch  von  diesen 
letzteren  mxlssen  nach  Ablauf  der  Ueber- 
gangszeit  wenigstens  1(X)  Marken  auf  Gnmd 
der  Versicherungspfliclit  oder  der  Selbst- 
versicherung beigebracht  worden  sein. 

Um  nnn  aber  die  Wohlthaten  des  Ge- 
setzes bald  in  die  Erscheinung  treten  zu 
lassen  und  sie  auch  solchen  Berufsarbeiten! 
zuzuwenden,  welche  alsbald,  nachdem  die 
Versicherungspflicht  für  ihren  Berufszweig 
in  Kraft  getreten  war,  invalid  wurden 
oder  das  zum  Bezug  der  Altersrente 
berechtigende  Lebensjahr  erreichten,  ohne 
Zeit  zu  haben,  die  volle  Wartezeit  zu 
erfüllen,  ist  die  Dauer  der  Wartezeit 
für  die  Uebergangszeit  erheblich 
verkürzt  worden,  xmd  hierin  ist  die 
NoveDe  noch  weiter  gegangen  als  das  bis- 
herige Gesetz.  Um  die  Altersrente  zu 
erwerben,  braucht  nämlich  derjenige  Ver- 
sicherte, der  bei  dem  Beginn  der  Versiche- 
rungspflicht seines  Benifszweigs  (in  der 
Regel  also  bei  dem  Inkrafttreten  des 
Gesetzes,  1.  Januar  1891)  über  40  Jahre 
alt  war,  für  jedes  Jahr,  um  das  er  da- 
mals älter  wai-  als  40  Jahre,  40  Wochen 
weniger  nachzuweisen,  als  die  volle  W^arte- 
zeit  (1200  Wochen)  beträgt  (§  190).  Er 
muss  nur  während  der  letzten  3  Jahre,  die 
dem  Inkrafttreten  der  Versicherungspflicht 
seines  Berufszweigs  unmittelbai*  vorange- 
gangen sind  (also  in  der  Regel  in  den  Jahren 
1888  bis  1890),  berufsmässig  eine  Beschäfti- 
gung gehabt  haben,  für  die  die  Versiche- 
rungspflicht demnächst  eingeführt  worden  ist, 
oder  eine  Beschäftigimg  mit  Spinnen,  Stricken 
und  ähnlichen  leichten  häuslichen  Arbeiten, 
wie  sie  landesiiblich  von  alternden  Personen 


geleistet  zu  werden  pflegen  (§  190):  aber 
auch  dieser  Nachweis  wird  erlassen,  wenn 
er  innerhalb  der  ersten  5  Jahre  nach 
dem  Inkrafttreten  der  Versicheningspflicht 
mindestens  2(Xj  Wochen  hindurch  ver- 
sicherungspflichtig bescliäftigt  worden  L<t. 
Weiter  konnte  man  auch  bei  der  Novelle 
nicht  wohl  gehen;  insbesondere  lag  kein 
ausreichender  Grund  vor,  dem  Gesetze 
insoweit  rückwirkende  Kraft  zu  verleihen, 
dass  alle  alten,  bei  dem  Inkrafttreten  des 
Gesetzes  schon  völlig  oder  doch  nahezu  er- 
werbsunfähigen Leute  ohne  jede  Beitrags- 
zahlung die  Altersrente  erhalten  sollten. 
Auf  Grund  jener  weitgehenden  Ermässigung 
der  Wartezeit  sind  im  Jahre  1891  für  bei- 
nahe 133  000  Personen  Altersrenten  gewähi-t 
worden. 

Auch  für  die  Invalidenrente  hat  die 
Novelle  Uebergangsbestimmungen  beibehal- 
ten, obwohl  diese,  nachdem  nunmehr  lU  Jahn? 
seit  dem  Inkrafttreten  des  Gesetzes  von  Ib^ 
verflossen  sind,  nur  noch  für  solche  Per- 
sonen Bedeutung  haben  können,  für  deren 
Benifszweig  die  Versicherungspflicht  erst 
später  in  Kraft  getreten  ist,  insbesondere  für 
diejenigen  Kategorieen,  deren  Versicherungs- 
pflicht durch  den  Bundesrat  auszusprechen 
(§  2)  oder  durch  die  Novelle  (wie  Wi 
den  Lehrern)  neu  begründet  ist  Es  s^ili 
solchen  Versichei'ten,  welche  innerhalb  drr 
ersten  fünf  Jahre  von  dem  Zeitpunkt  ab,  zu 
welchem  die  Versicherungspflicht  für  ihren 
Berufszweig  in  Kraft  getreten  ist,  invaUd 
w^erden,  die  Dauer  einer  vor  dem  Inkraft- 
treten liegenden  Beschäftigung  auf  die 
Wartezeit  angerechnet  werden ;  jedoch  muss 
der  Rentenbewerber  mindestens  40  Wochen 
hindurch  versicherungspflichtig  gewesen  sein, 
imd  die  anzurechnende  frühere  Zeit  mu>s 
jedenfalls  (§  189)  in  die  letzten  fünf  Jahie 
vor  Eintritt  der  ErsverbsunÄhigkeit  fallen. 

7.  BerechnuDg  der  Renten.  Jed»" 
Rente  besteht  aus  zwei  Teilen,  nämlich  ans 
einem  festen  Zuschuss  des  Reiches 
von  jährlich  50  Mark  und  einem  von  der 
Versicherungsanstalt  zu  gewäh- 
renden, in  den  einzelnen  Lohn- 
klassen verschieden  hohen  Betrage. 
Der  letztere  teilt  sich  bei  der  Invaliden- 
rente wiederum  in  zwei  Teüe,  nämlich  den 
Grundbetrag  und  die  einzelnen,  nach 
jedem  einzelnen  Beitrag  sich  bemessenderi 
Steigerun^sbeträge,  während  bei  der 
Altersrente  die  Steigenmgsbeträge  fortfalltu 
und  nur  ein  Gnindbetrag  gewährt  wii\L 
Während  der  Gnmdbetrag  der  Rente  bisher 
in  allen  Lohnklassen  gleich  war,  ist  er  nach 
der  Novelle  in  den  einzelnen  Lohnklasser 
verschieden  hoch.  Der  Gnmdbetrag  beläutt 
sich  in  den  einzelnen  Lohnklassen  bei  der 
Altersrente  (§  37) 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


1373 


in  Lohnklasse     I  auf 

60  M. 

II    „ 

90  „ 

III      r 

120  „ 

"            ,            IV    , 

150  ^ 

V 

180  „ 

bei  der  Invalidenrente  ergeben  sich  (§  36) 

-wöchentliche 

Gnmdbetrag 

Steigerung 

in  Uhnklasse    I          60  M. 

3  Pf. 

II           70    „ 

6   „ 

«       ni         80  „ 

8   , 

.           "         IV           90   „ 

10  „ 

V         100   „ 

12   „ 

Bei  Berechnung  des  Grundbetrags  für  die  In- 
validenrente sind  stets  500  Beitrags wochen 
zu  Grunde  zu  legen. 

Die  Renten  sind  monatlich  im  voraus  zu 
zahlen  und  fiir  den  Monat  auf  voUe  5  Pfen- 


nig nach  oben  abzurunden  (§  38) ;  sie  dürfen 
weder  vei-pfändet  noch  übertragen,  im 
allgemeinen  auch  nicht  gepfändet  werden 
(§  55). 

Die  neuen  Sätze  ergeben  insbesondere  in 
den  höheren  Lohnklassen  eine  zum  Teil 
nicht  unerhebliche  Steigenmg  der  Renten- 
beträge. Es  erhellt  dies  aus  folgender 
Gegenüberstellimg. 

Mit  Beichsznschnss  und  monatlichen  Abmndnn- 
gen  beträgt  jährlich  die  Altersrente 

°*^^  ^ 'oeset?'"^"''  ^*^^  d^'  ^'^^^^« 
in  Lohnklasse   I  106,40  M.  110,40  M. 

II  134,60   „  140,40 

III  167,80  ,.      170,40 

IV  191,00  „      200,40 
V  230,40 


n 


die  Invalidenrente: 


bei 
Bei- 
trags- 
wochen 


235  ^) 
2500«) 


in  Lohnklassen 
II  III 


IV 


V 


bisher 


Novelle  1  bisher    Novelle  1  bisher  ,  Novelle  1  bisher    Novelle  I  bisher 


Novelle 


Mark 


115,20 
157,20 


117,60 
185,40 


124,10 
251,40 


129,00 
270,00 


131,40  I  138,60 
321,60  1  330,00 


141.00 
415^80 


147,60 
390,00«) 


157,20 
450,00 


^)  bisherige  Wartezeit. 

^)  50  Jahre  mit  je  50  Beitrags  wochen ;  einen  eigentlichen  Höchstbetrag  kennt  das  Ge- 
setz nicht. 

')  Lohnklasse  IV  ist  nach  der  Novelle  geteilt,  indem  daraus  eine  neue  (höchste)  Lohn- 
klasse V  herausgehoben  ist. 


8.    Beiträge    und    Belastung.      Die 

Mittel  für  die  Gewähnnig  aller  durch  die 
luvaliden Versicherung  bedingten  Leistungen 
werden  durch  das  Reich,  die  Arbeit- 
geber und  die  Versicherten  aufge- 
bi-acht.  Das  Reich  entriclitet  jährliche  Zu- 
schüsse zu  den  einzelnen  Renten  und  trägt 
einzelne  Verwaltungskosten  (vgl.  unten) ;  die 
Arbeitgeber  und  die  Vei^icherten  aber  zalilen 
laufende  Beiträge  zu  gleichen  Teilen 
für  jede  Woche,  in  welcher  der  Versicherte 
beschäftigt  war  (§  30). 

Die  Beiträge  sollen  die  Gesamtaufwen- 
dungen der  einzelnen  Versichenuig-sanstalten 
decken.  Es  scheiden  also  zunächst 
aus  diejenigen  Leistungen,  welche  dai< 
Reich  aus  allgemeinen  Mitteln  gewälui:, 
und  zwar  a)  der  Reichszuschuss  zu 
jeder  einzelnen  Rente  (50  M.  jälirlich),  b) 
die  auf  die  Zeiten  militärischer  Dienst- 
leistungen entfallenden  Rentenan- 
teile, c)  die  Kosten  des  Reichs ver- 
sicherungsamtes  als  Aufsichtsbehörde 
und  letzter  vei'waltungsgerichtlicher  Instanz 
sowie  die  Kosten  der  R  e  c  h  n  u  n  g  s  - 
stelle,  welche  die  Verteilung  der  Renten 
auf  die  einzelnen  Anstalten  vermittelt,  d) 


dieKosten  der  Reichspost  Verwaltung, 
welche  die  Auszahlung  der  Renten  und  den 
Verkauf  der  Marken  vermittelt.  Ebenso 
scheiden  diejenigen  Kosten  aus, 
welche  aus  den  Mitteln  einzelner  Bundes- 
staaten zu  gewähren  sind,  nämlich  a)  die 
etwaigen  Vergütungen  für  Schieds- 
gerichts vor  sitz  ende,  b)  die  Kosten 
der  Landes- Versicherungsämter  als 
Aufsichtsbehörden  und  c)  die  Kosten  der 
besonderen  Postverwaltungen  in 
Bayern  und  Wüi'ttemberg.  Hiernach  bleiben 
den  einzelnen  Vei'sicherungsanstalten  zu 
decken  (§  20)  die  Mittel 

1.  für  die  Aufbringung  der  Renten 
(§§  15,  16),  soweit  sie  nicht  vom 
Reiche  getragen  werden,  und  füi*  die 
Rückzalüung  von  Beiträgen  (§§  42  ff.), 

2.  für  Krankenpflege  (§§  18,  47)  und 
sonstige  Mehrleistungen,  soweit  letztere 
zulässig  sind  (§  45), 

3.  füi-  die  eigenen  Ver\v'altiuigskosten  der 
Anstalten. 

Die  hierzu  erforderlichen  Beiträge  sind 
für  die  einzelnen  Lohnklassen  ver- 
schieden hoch,  innerhalb  jeder 
Lohnklasse  aber  —  ohne  Rücksicht  auf 


1374 


luvaliditäts-  und  Altersversicherung 


Alter  und  Gesundheitszustand  —  gleich. 
Sie  sind  seit  der  Novelle  nach  dem  Prä- 
miensystem (üiiher  nach  dem  System 
der  Kapitaldeckung  nach  Perioden)  zu  be- 
rechnen, sollen  also  die  vollen  Kapitalwerte 
der  von  den  Versichenmgsanstalten  aufzu- 
bringenden Rentenanteile  so\4ie  die  Anwart- 
schajften  der  Aktiven  auf  künftige  Reuten 
decken,  und  sie  sind  für  sämtliche  Träger 
der  Versicherung  in  den  einzelnen  Lohu- 
klassen  gleich  hoch.  Der  bislierige 
Gnmdsatz,  dass  jede  Versicherungsanstalt 
ihre  Beiträge  besonders  festsetzen  sollte  imd 
nur  füi*  das  erste  Jahr  ein  gemeinsamer 
Beitrag  festgelegt  war,  ist  in  der  Novelle 
verlassen  worden,  weil  sich  herausstellte,  dass 
in  Folge  von  Verhältnissen,  auf  dei-en  Ge- 
staltung die  einzelnen  Vei-sicheruugsanstalten 
keinen  Einfluss  hatten,  insbesondere  in  Folge 
der  verschiedenen  Altersgnippieruug  in  den 
einzelnen  Anstalten,  deren  pekuniäre  Belas- 
tung zu  vei-schieden  geworden  sein  würde 
und  zu  einer  weiteren,  die  ungünstiger  ge- 
stellten Anstalten  geradezu  gefährdenden 
Verschiebung  der  Bevölkenmgs Verhältnisse 
geführt  haben  würde.  Man  hat,  \m\  dies  zu 
vermeiden,  ein  Gegenseitigkeitsver- 
h  ä  1 1  n  i  s  unter  sämtlichen  Trägem  der  Ver- 
sicherung eingeführt  und  dadurch  einen  wirk- 
samen Ausgleich  geschaffen  (§  33).  Vom 
1.  Januar  1900  ab  sollen  sämtliche  laufende 
Renten,  also  sowolü  diejenigen,  die  später 
be'N^Tlligt  werden,  als  auch  diejenigen,  die 
bereits  früher  bewilligt  worden  waren,  aber 
noch  laufen,  zu  einem  grossen  Teil  von  den 
Versicherungsanstalten  geraeinsam  getragen 
werden,  und  zwai- in  folgender  Weise.  Diejeni- 
gen Ausgaben,  die  von  der  Höhe  der  Beiträge 
unabliängig  sind  und  immer  geleistet  wer- 
den müssen,  sobald  nur  die  Voraussetzungen 
für  die  Leistung  der  Vemclieningsanstalt 
im  übrigen  vorliegen  —  insbesondere  also 
die  Grundbeträge  der  Invalidenrente  im 
Gegensatz  zu  den  von  den  Einzelbeiträgen 
abhängigen  Steigerungsbeträgen  sowie  die 
Altersrenten,  die  überhaupt  nur  einen  Gnmd- 
betrag,  aber  keine  Steigerung  haben  (diese 
aber  ausnahmsweise  nicTit  im  Gesamtbetrag 
sondern  nur  zu  ^/i)  —  werden  auf  die  Gesamt- 
heit aller  Versicheningsträger  gelegt;  die 
sonstigen,  von  der  Zahl  und  Höhe  der  Bei- 
träge abhängigen  oder  in  der  Hauptsache 
arbiträren  Leistungen,  insbesondere  die  Steige- 
nmgsbeträge  der  Invalidenrenten  und  die 
Verwaltimgskosten,  trägt  jede  Anstalt  für 
sich  allein.  Dieser  Teilung  in  eine  Ge- 
meinlast und  eine  Sonderlast  ent- 
spricht die  Teilung  der  seit  1.  Januar  1900 
aufkommenden  Beitragseinnjahmen  (von  einer 
entsprechenden  Teilung  des  vorher  bereits  an- 
gesammelten Vermögens  hat  man  abgesehen) 
in  ein  Gemein  vermögen  und  ein  Son- 
dervermögen. Das  Verhält  nis,  in  welchem 


die  Gemeinlast  zur  Sonderlast  steht,  ist  auf 
Grund  der  bisherigen  Erfahnmgen  reeh- 
nungsmässig  auf  etwa  45  :  55  ermitt»*h 
worden;  in  diesem  Verhältnis  also  müssten 
eigentlich  die  Beiträge  in  jeder  Versirhe- 
rungsanstalt  geteilt  werden.  Der  Reichstai: 
hat  aber  beschlossen,  zur  Deekimg  der  (K»- 
meinlast  nur  40  vom  Hundert  der  Beitrüge  zu 
bestimmen,  so  dass  dem  Sondervermögen  der 
einzelnen  Anstalten  60  vom  Hundert  ihrer  Bei- 
träge verbleiben.  Man  ging  dabei  von  der  An- 
nalime  aus,  dass  bei  der  RentenbelastuuL' 
künftig  Ersparaisse  eintreten  wfirden.  hd^ 
Teilungsverhältnis  (40  :  GO)  kann  dunh  dt-n 
Bundesrat  geändert  werden ;  eine  Erhöhung: 
des  dem  Gemeinvennögen  zufliessemleii 
Teils  aber  bedarf  der  Zustimmimg  de^ 
Reichstags.  Die  Teilung  in  Gemein-  und 
Sondervermögen  ist  niu*  eine  biichmässiire : 
jedeAnstalt  schreibt  40  vom  Hundert  ihrer  Ein- 
nahmen auf  das  Conto  der  Gemeinlast  un! 
fügt  demselben  regelmässig  die  Zinsen  davou 
in  der  von  dem  Bundesrat  einheitlieh  zu  U- 
stimmenden  Höhe  hinzu.  Hierin  besieht  <la- 
viel  berufene  sogenannte  Ausgleichs verfiahi>':i 
der  Novelle  (§  33). 

Die  Höhe  der  Beiträge  belässt  dif 
Novelle  auf  14,  20, 24, 30  Pf.  für  die  I^itrair^- 
woche  in  den  verschiedenen  Lohnkla>^\ 
und  fügt  für  die  5.  liohuklasse  einen  B*-:- 
trag  von  36  Pf.  wöchentlich  hinzu  (??  :V2 
Abs.  5).  Diese  Beiträge  haben  sich  rei-h- 
uungsmässig  als  voraussichtlich  dauernd  au.— 
reichend  erwiesen.  Eine  anderweitige  Fe>t- 
setzung  der  Beiträge  bedarf  der  ZustimmuDi; 
des  Reichstages  (§  32  Abs.  G).  In  d  i  • 
Beiträge  haben  sich  Arbeitgeber 
und  Versicherte  zu  teilen.  Weuii 
ersterer  also  die  entsi)i'echenden  Marke!, 
katift  (siehe  unten),  so  soU  der  letztere  dk 
Hälfte  des  verauslagten  Betrages  bei  «ler 
Lohnzahlung  sich  abziehen  lassen  und  da- 
durch ei*statten;  will  der  Versicherte  Bei- 
träge aus  einer  höheren  Lohnkla&se,  als  er- 
forderlich, entrichtet  haben,  so  darf  er  ^li»"-> 
beanspnichen,  muss  aber  den  Mehrlielnt: 
lülein  tragen  (§  34  Abs.  4).  Es  lifs:: 
nicht  im  Sinne  des  Gesetzes,  wen  ; 
die  Arbeitgeber  allgemein  die  vol- 
len Beiträge  selbst  übernehme!.: 
das  Gesetz  wül  gi'undsätzlich  auch  den  Ai- 
beiter  verpflichten,  für  seine  dereinstict .i 
Ansprüche  auf  Rente  selbst  Beiträge  zu  ein- 
richten. Er  soll  die  Rente  dur^Mi 
eigene  Arbeit  und  eigene  Zahlun- 
gen erwerben.  Der  Arbeitgel>er,  weioh»^: 
allgemein  den  voDen  Betrag  aus  eigenvi 
Mitteln  zahlt,  nimmt  dem  Versicherten  je«lr> 
Bewusstsein  der  eigenen  Verpflichtimg,  ver- 
stösst  gegen  einen  wichtigen  sozialj^oli::- 
schen  Grundsatz  und  handelt  weder  im 
eigenen  noch  im  wohlverstandenen  Interes?^ 
der  Versicherten.     Dabei    ist    selbstnHieni 


lavaliditäts-  und  Altersversicherung 


1875 


nicht  ausgeschlossen,  dass  der  Arbeitgeber 
einzelnen  Versicherten  in  besonderen  Fällen, 
insbesondere  dann ,  wenn  es  sich  um  eine 
auszeichnende  Belohnung  für  besondere 
Dienste  oder  Treue  handelt,  die  Erstattung 
seines  Anteils  erlassen  dai'f;  dies  sollte 
aber  Ausnahme,  nicht  Regel  sein.  Es  kann 
auch  nicht  zugegeben  werden,  dass,  wie  oft 
behauptet  wiixi,  die  thatsäclilichen  Verhält- 
nisse dazu  drängen,  dass  der  Arbeitgeber 
den  vollen  Betrag  übernimmt:  die  Ver- 
sicherten müssen  an  die  Selbstleistung  nur 
erst  gewöhnt  werden,  und  n\ir  diese  Leber- 
gangsperiode mag  unbequem  sein.  In  der 
Krankenversicherung  lässt  sich  die  Industrie, 
bei  welcher  diese  Art  der  Fürsorge  seit 
lange  heimisch  ist,  ausnahmslos  den  auf  die 
Arbeiter  entfallenden  Teil  des  Beitrages  er- 
statten, und  den  letzteren  fällt  es  nicht  bei, 
hiergegen  sich  aufzulehnen.  Warum  sollte 
Aehnliches  hier  und  in  anderen  Berufs- 
zweigen ausgeschlossen  seinV 

9.  Erhebung  der  Beitrage.  Die  Hohe 
der  Rente  soll  sich,  wie  oben  dargelegt 
ist,  nach  der  Zahl  und  Höhe  der  geleisteten 
Wochenbeiträge,  d.  h.  nach  der  Zalü  der 
Arbeitswochen  in  den  einzelnen  Lohnklassen 
lichten,  und  jede  Versicherungsanstalt  soll 
an  dem  auf  das  Sondervermögen  entfallenden 
Teil  der  Rente  nach  dem  Verhältnis,  in  wel- 
chem der  Versicherte  in  ihrem  Bezirke  be- 
schäftigt gewesen  ist  und  Beiträge  entrich- 
tet hat,  teilnehmen.  Deshalb  muss  bei  der 
Erhebung  der  Beiträge  dafür  gesorgt  wer- 
den, dass  die  einzelnen  Wochenbeiträge  aus- 
einandergehalten werden  \\m\  erkennbar 
bleiben.  Dabei  musste  gleichzeitig  ein 
System  gefimden  werden,  Avelches  mit  thun- 
lichst  geringer  Mühe  verbunden  wai*;  ins- 
besondere waren  die  mit  viel  Schreibwerk 
verbundenen  einzelnen  Bescheinigungen  über 
Arbeitszeit  und  Beitragsleistung  zu  ver- 
meiden. Das  Gesetz  schreibt  vor,  dass  die 
Beiträge,  ähnlich  wie  bei  manchen  Hilfs- 
kassen und  wie  bei  den  Pfennigsparkassen, 
in  (restalt  von  Marken  beigebracht  werden 
sollen,  die  in  Quittungskarten  des  Ver- 
sicherten einzukleben  sind  (§  131). 

Jeder  Versicherte  soll  in  den  Besitz  einer 
Q uit tu ngs karte  gesetzt  werden,  welche 
die  Bezeichnung  der  ersten,  für  den  Inhaber 
der  Karte  örtlich  zuständig  gewesenen  Ver- 
sichenmgsanstalt  so>\ie  Raum  zur  Aufnahme 
von  mindestens  52  Beitragsmarken  enthält. 
Die  Karte  wird  durch  die  von  der  Landes- 
behöi-de  hierzu  bestimmten  Stellen  —  in 
Preussen  im  allgemeinen  die  Ortspolizeibe- 
hönlen  (Bek.  v.  26.  Juni  1890),  in  Bavern 
die  Gemeindebehörden  (Bek.  v.  27.  Juli  1890), 
in  Württemberg  die  Ortsbehörden  für  die 
Arbeitervereichenuig  (V.  v.  24.  Oktober  1890), 
in  Sachsen  (V.  v.  2.  Mai  1890)  und  in  Hessen 
(Bek.    V.   30.    Oktober    1890)    die    mit    der 


Einziehung  der  Beiträge  betrauten  Kranken- 
kassen, Gemeindebehörden  oder  sonstigen 
Stellen  —  ausgefertigt.  Ist  die  Quittungs- 
karte gefüllt,  so  wird  sie  in  eine  neue  um- 
getauscht. Der  Inhaber  ist  aber  auch  schon 
früher  jederzeit  zum  Umtausche  berechtigt, 
insbesondere  dann,  wenn  er  an  der  Karte 
irgendwelche  geheime  Kennzeichen  zu  be- 
merken glaubt,  die  wie  alle  nicht  ausdrück- 
lich zugelassenen  Eintragungen  und  Ver- 
merke in  und  an  der  (^>uittungskarte  verboten 
und  straffäUig  sind  (§  131  Abs.  2,  §  139,  184). 
Die  Quittungskarte  soll  eben  kein 
Arbeitsbuch  sein.  Bei  dem  Umtausche 
wird  die  Quittungskarte  aufgerechnet;  da- 
bei wird  festgestellt,  wieviel  Marken  der 
einzelnen  Lohnklassen  sie  enthält;  auch 
wird  die  Dauer  nachgewiesener  Krankheiten 
und  militäiischer  Dienstleistungen,  die  ja 
auch  ohne  Beiti'äge  als  Beitragszeiten  gel- 
ten, auf  der  Karte  vermerkt.  Hierüber  er- 
hält der  Inhaber  der  Karte  eine  »Bescheini- 
gung« (§  134).  Er  wird  gut  thun,  sich 
diese  Bescheinigungen  gesammelt  aufzube- 
waliren,  weil  er  aus  denselben  jederzeit 
über  die  Höhe  seines  Anspruchs  auf  Rente 
oder  Beitragsrückgewähr  sich  unterrichten 
kann.  Es  empfiehlt  sich  deshalb,  dass  fin- 
den Vei-^icherten  zur  Aufnahme  der  Be- 
scheinigungen Sammelhefte  angeschafft 
werden,  wie  sie  vielfach  zu  billigem  Preise 
zu  haben  sind.  Die  umgetauschten  Kai^ten 
werden  dm-ch  Vermittelung  der  für  den  Ort 
des  Umtausches  zuständigen  Anstalt  an  die- 
jenige auf  der  Karte  vermerkte  Vei^siche- 
nmgsanstalt  abgeführt,  in  welcher  der  In- 
haber seine  erste  versicherungspflichtige 
Beschäftigung  geliabt  hat  (§  138).  Bei  die- 
ser wenlen  seine  sämthchen  Quittungs- 
karten aufgesammelt,  so  dass  sie  in  ihrer 
Sammlung  ein  fortlaufendes  Conto  für  jeden 
Versicherten  bilden.  An  Stelle  der  Einzel- 
karten können  nach  näherer  Bestimmung  des 
Bundesrates  Sammelkarten  (Oonten)  für 
jeden  Versicherten  angelegt  werden  (§  138). 
Ist  eine  Quittungskarte  durch  den  Gebrauch 
abgenutzt  oder  verloren  oder  vernichtet,  so 
wird  an  ihrer  Statt  eine  neue  ausgestellt, 
in  welche  die  Eintraginigen  aus  der  älte- 
ren Karte  handschriftlich  übernommen  wer- 
den. Für  die  Selbstversicherung  hat 
der  Bundesrat  besondere  Quittungskarten 
vorgeschrieben  (§  132) ;  letztere  haben  grau- 
blauen Karton,  während  für  die  Quittungs- 
karten der  Versicherungspflichtigen  der  bis- 
herige gelbe  Karton  beibehalten  ist. 

Bei  regelmässigem  Arbeitsverhältnis  wer- 
den die  Karten  bald  nach  Ablauf  eines 
Jahres  gefüllt  ^ein  und  dann  umgetauscht 
weixlen  müssen.  Sie  dürfen  aber,  was  für 
freiwillige  Versicherung  und  für  unregel- 
mässige Arbeit  wichtig  ist,  2  Jahre  hin- 
dtu'ch  benutzt  werden  und  werden  erst  un- 


1376 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


giltig,  wenn  sie  nicht  vor  Schluss  dieses 
zweiten  Jahres  umgetauscht  sind.  Ver- 
sichenmgsanstalt  und  Bundesrat  können 
eine  Verlängerung  der  Giltigkeitsdauer  her- 
beiführen (§  135). 

In  die  Quittungskarte  werden  nim  je 
nach  der  Dauer  der  Beschäftigung  und  nach 
der  Lohnklasse,  in  welche  der  Versicherte 
fäUt,  Marken  derjenigen  Versicherungsan- 
stalt eingeklebt,  in  deren  Bezirke  die  Be- 
schäftigung stattgefunden  hat.  Für  jede 
Versicherungsanstalt  und  Lohnklasse  ist  je 
eine  Marke  bestimmt,  deren  Unterschei- 
dungsmerkmale jetzt  durch  die  Bekannt- 
machung des  Reichsversicherungsamts  vom 
27.  Oktober  1899  bestimmt  sind.  Da- 
gegen hat  die  Novelle  die  bisherige  Zu- 
satz- oder  Doppelmarke  für  die  frei- 
willige Versicherung  in  Fortfall  gebracht; 
letztere  erfordert  fortab  keinen  besonderen 
höheren  Beitrag  mehr.  Der  Verkauf  der 
Marken  erfolgt  zum  Nennwert  durch  die 
Postämter;  daneben  dürfen  die  Versiche- 
rungsanstalten besondere  Verkaufsstellen  er- 
richten. Die  Mai'ken  hat  der  Arbeitgeber 
zu  beschaffen ;  er  ist  befugt,  von  denVer- 
sicherten  die  Hälfte  des  verwen- 
deten Betrages  sowie  den  ganzen  auf 
Verlangen  des  Versicherten  ver- 
wendeten Mehrbetrag  für  Höher- 
versicherung wieder  einzuziehen 
(vgl.  oben).  Während  der  Reichstag  in  dem 
Gesetz  von  1889  in  der  wohl  nicht  begrün- 
deten Besorgnis,  dass  aus  einer  zu  grossen 
Zahl  der  Markenarten  Verwirrung  entstehen 
möchte,  vorgesehen  hatte,  dass  nur  Marken 
für  je  eine  Beitragswoche,  also  Wochen- 
marken  ausgegeben  wei'den  sollten,  ist 
nimmehr  die  Novelle  zu  dem  ersten  Regie- 
rungsentwurf zurückgekehrt,  wonach  durch 
Beschluss  des  Reichsversicherungsamts  ver- 
schiedene Appoints  von  Marken  einge- 
führt werden  können;  hierdurch  wird  das 
Klebegeschäft,  über  dessen  Umständlichkeit 
vielfach  geklagt  wird,  vereinfacht  werden. 
Das  Reichsversicherungsamt  hat  von  dieser 
Befugnis  Gebrauch  gemacht  (Bek.  v.  27.  Ok- 
tober 1899);  es  giebt  danach  jetzt  Marken 
für  1  Woche,  für  2  Wochen  und  für  13 
Wochen.  Die  Marken  sind  grundsätzlich  bei 
der  Lohnzahlung  einzukleben,  doch  kann  die 
Versicherungsanstalt  andere  Termine  be- 
stimmen. In  allen  Fällen  müssen  die  auf 
die  Dauer  eines  Arbeitsverhältnisses  ent- 
fallenden Marken  spätestens  in  der  letzten 
Woche  des  Kalenderjahres  oder,  wenn  das 
Arbeitsverhältnis  fri'iher  beendigt  wird,  bei 
dessen  Beendigung  eingeklebt  weixlen(§141). 
Nachkleben  ist  fortab  im  allgemeinen  nur 
für  höchstens  2  Jahre  gestattet  (§  146). 
Auch  für  jeden  Bruchteil  einer  Woche  mtiss 
—  falls  nicht  eine  vom  Bundesrate  für 
nicht  versicherungspflichtig  erklärte  vortiber- 


gehende  Beschäftigung  vorli^  —  eine 
Wochenmarke  beigebracht  werden,  und  zwar 
von  demjenigen  Arbeitgeber,  welcher  solchen 
unständigen  Arbeiter  in  der  betreffenden 
Woche  zuerst  beschäftigt  hat  (§  140  Abs.  2). 
Diese  Markenverwendung  fto  unständige 
Arbeiter,  welche  doch  aus  der  Versicherung 
nicht  ^anz  herausbleiben  konnten,  venu-- 
sacht  in  der  Praxis  natürlich  Schwierig- 
keiten; solche  dürften  aber  kaimn  ganz  zn 
vermeiden  sein. 

Die  Einklebung  der  Marken  in  die 
Quittungskarten  liegt  nach  der  gesetzlichen 
Regel  dem  Arbeitgeber  ob  (§  140).  Ys 
bleibt  aber  der  Centralbehörde,  den  Ver- 
sicherungsanstalten und  auch  jedem  einzelnen 
engeren  oder  weiteren  Kommunalverbande 
freigestellt,  die  Markeneinklebung  den  Ar- 
beitgebern abzunehmen  und  sie  auf  Kran- 
kenkasse n,  Gemeindebehörden  oder 
besondere  Hebestellen  zu  übertragen 
(Einziehung  der  Beiträge,  §  148),  wobei 
dann  Vorschriften  über  die  Anmeldung  der 
Versicherten  erlassen  werden  dürfen;  auch 
können  die  Krankenkassen  diese  Arbeit  für 
ihre  Kassenmitglieder  freiwiUig  übernehmen 
(§  152).  In  Fällen  der  ersteren  Art  hat  die 
Versicherungsanstalt  den  Krankenkassen  eine 
Entschädigung  zu  gewähren,  welche  van 
der  Centralbehörde  in  verschiedener  Höhe, 
bei  Ortskrankenkassen  meist  auf  3  oder  4 
vom  Hundert  der  eingezogenen  Betr%e, 
festgesteUt  worden  ist.  Wird  von  dieser 
Ermächtigung  Gebrauch  gemacht,  so  fällt 
die  mit  dem  Einkleben  der  Marken  ver- 
bundene, von  den  Arbeitgebern  erfahnmgs- 
gemäss  oft  schwer  empfundene  Bdä^- 
gung  fort,  zumal  besondere  Anmeldungen 
insoweit,  als  es  sich  um  kranken  ver- 
sicheningspflichtige  Personen  handelt,  ent- 
behrlich erscheinen;  dagegen  werden  durch 
die  zu  zahlende  Entschädigung  die  Ver- 
waltungskosten der  Versicherungsanstalten 
erhöht.  In  manchen  Bundesstaaten  ist 
die  Einziehung  durch  Krankenkassen  obli- 
gatorisch gemacht,  so  in  Sachsen,  Würt- 
temberg, Baden,  Hessen,  Hambui^  u.  a.:  in 
anderen  Bundesstaaten  sind  einzdne  Städte 
mit  gleichen  Anordnungen  vorgegangen,  Si-> 
in  Preussen  Hildesheim  und  Bonn.  Jeden- 
falls bietet  sich  liier  ein  Weg,  manchen 
Klagen  über  Belästigungen  wirksam  abzu- 
helfen, üeber  das  »Markensysteme  sin«! 
Klagen  dort,  wo  die  Beiträge  in  diest-T 
Weise  eingezogen  werden,  kaum  laut  ge- 
worden. Durch  die  Novelle  ist  auch  die 
Selbstentrichtung  der  Beiträge  dunh 
die  Versicherungspflichtigen  näher  geordnet: 
dem  Versicherten,  welcher  selbst  klebt  steht 
ein  Anspruch  gegen  den  Arbeitgeber  auf 
Erstattung  der  Beitragshälfte  zur  Seitt^ 
(§§  144,  145),  soweit  er  überhaupt  einea 
Arbeitgeber  liat. 


Invaliditäts-  und  Altersversicherung 


1377 


Eine  Entwertung  der  Marken  ist  all- 
gemein zulässig  tmd  zum  Teil  vorgeschrieben. 
Nach  der  Novelle  (§  141  Abs.  B)  und  den 
dazu  ergangenen  Ausfühningsvorschriften  des 
Bundesrates  (Bek.  v.  9.  November  1899)  sind 
Marken,  die  für  mehr  als  eine  Woche  gelten, 
immer  und  zwar  alsbald  nach  der  Ein- 
klebung zu  entwerten  ;  Marken  für  nur  eine 
Woche  müssen  beim  Einzugsverfahren  (s.  oben) 
und  bei  der  Berichtigung  der  Quittungs- 
karten entwertet  werden,  im  übrigen  ist 
deren  Entwertung  fakultativ,  kann  aber  bei 
der  freiwilligen  Versicherung  durch  Anord- 
nung der  Landescentralbehörde  ebenfalls  für 
obligatorisch  erklärt  werden.  Soweit  hier- 
nach Marken  noch  nicht  entwertet  sind, 
müssen  sie  beim  Umtausch  der  Karten  be- 
hördlich entwertet  werden.  Die  Entwertung 
darf,  abgesehen  von  dem  letzterwähnten  Fall, 
nur  dadurch  erfolgen,  dass  aufdieMarken 
der  Entwertungstag  in  Ziffern  an- 
gegeben wird;  eine  früher  vorgesehene 
Art  der  Entwertung  durch  Anbringung  eines 
wagerechten  Striches  ist  schon  durch  die  Be- 
stimmungen vom  24.  Dezember  1891  aufge- 
hoben worden. 

Für  Seeleute  ist  von  dem  Markensys- 
tem abgesehen  worden,  weil  dieses  hier 
schwer  durchführbar  sein  würde ;  Dauer  und 
Höhe  der  Versicherung  wird  vielmehr  durch 
Eintragimg  in  die  Seemannsbücher  festge- 
stellt, aus  welchen  gelegentlich  besondere 
Bescheinigungen  erteilt  werden,  während  die 
Beiträge  von  den  Reedern,  mit  besonderen 
Nachweisungen  über  die  Ali;  und  Zahl  der 
beschäftigten  Seeleute  belegt  oder  auf  Gnmd 
des  abgeschätzten  Mannschaftsbedarfs  jedes 
Schiffs  in  Jahresbeiträgen  an  die  Vei'siche- 
rungsaustalt  abzuführen  sind  (§  167  des  Ge- 
setzes, Bek.  V.  22.  November  1890  imd  20. 
Dezember  1894).  Die  bei  der  Versiche- 
rung von  Seeleuten  beteiligten  Versiche- 
rungsanstalten der  Küstenbezirke  haben 
eine  mit  der  hanseatischen  Versicherungs- 
anstalt in  Lübeck  verbundene  besondere  Ge- 
schäftsstelle zu  dem  Zwecke  errichtet,  um 
gemäss  §  99  des  Gesetzes  die  Versicherung 
der  Seeleute  gemehisam  durchzuführen.  — 
Den  zugelassenen  besonderen  Kassen- 
einrichtungen ist  die  Art  der  Beiti*ags- 
erhebung  freigestellt. 

10.  Verfahren.  Die  Bewilligung  der 
Renten  erfolgt  auf  Antrag,  nicht  von  Amts 
wegen.  Der  Antrag  ist  unter  Vorlegimg 
der  letzten  Quittungskarte  und  der  sons- 
tigen zur  Begründung  des  Anspruchs  dienen- 
den Beweisstücke  bei  der  unteren  Ver- 
waltungsbehörde oder  Rentenstelle  des 
Wohn-  oder  Beschäftigungsortes  anzubringen. 
Letztere  hat  den  Sachverhalt  klarzustellen 
(vgl.  oben)  und  die  Sache  sodann  an  die 
Versicherungsanstalt  ihres  Bezirks  abzugeben 
(§  112).    Diese  hat  über  die  Bewilligung  der  \ 

Uandwörterbach  der  StaatswisBenschaften.    Zweite 


Rente  kraft  eigenen  Rechts  selbständig  zu 
befinden ;  sie  fungiert  bei  dem  ganzen  Ver- 
fahren gleichzeitig  als  Mandatarin  aller 
übrigen  Versicherungsanstalten,  zu  welchen 
der  Ansprechende  während  der  Dauer  seiner 
Versichenmg  Beiti'äge  entrichtet  hatte,  ohne 
dass  sie  genötigt  wäi'e,  mit  diesen  Versiche- 
rungsanstalten wegen  Bewilligimg  oder  Ab- 
lehnung der  Rente  sich  in  \erbindung  zu 
setzen  (vgl,  oben).  Wird  die  Rente  ab- 
gelehnt oder  nicht  in  dem  beanspruchten 
Umfange  bewilligt,  so  findet  gegen  diesen 
Bescheid  Berufung  an  das  Schiedsgericht 
statt;  gegen  dessen  Bescheid  ist  nur  aus 
Rechtsgründen  Revision  bei  dem  Reichs- 
versicherungsamte gestattet.  Die  bewilligte 
Rente  wird  dem  Berechtigten  von  den  Post- 
ämtern vorschuss  weise  ausgezahlt,  wogegen 
die  Rechnungsstelle  des  Reichsversicherungs- 
amtes die  Abrechnung  sowie  die  Verteilung 
der  Renten  auf  das  Reich,  das  Gemeinver- 
mögen aller  Versicherungsträger  und  auf 
das  Sondervermögen  derjenigen  Versiche- 
rungsanstalten und  zugelassenen  beson- 
deren Kasseneinrichtungen  bewirkt,  zu  denen 
der  Versicherte  während  der  Dauer  seines 
Versicherungsverhältnisses  Beiti-äge  ent- 
richtet hatte  (vgl.  oben). 

In  ähnlicher  Weise  wie  bei  der  Fest- 
stellung der  Renten  wird  auch  bei  deren 
etwaiger  Entziehung  (§§  47, 121)  sowie  bei  der 
Erstattung  von  Beiträgen  (§  128)  verehren. 

Quellen  und  Litterator:  A.   Quellen:   IX^ 

Drucksachen  des  Reichstags  von  1888189  und 
1898  99,  insbesondere  die  Vorlagen  der  verbün- 
deten Regierungen  nebst  Begründungen  und 
Denkschriften f  sowie  die  Kommissionsberi-chte  des 
Reichstags.  —  Amtliche  Na chrichten  des 
Reichsversicherungsamts ;  dieselben  enthalten  seit 
1891  einen  besonderen  Abschnitt  für  die  Jnval.- 
Vers.  —  Ausserdem  für  Quellen  und  Litte  rat  u  r : 
Die  Arbeiter V ersorg u 71  g,  Zeitschrift,  be- 
gründet von  J.  Schmitz,  fortgesetzt  von  P. 
Ho nig  mann  (Berlin)  sowie  Die  In val i • 
ditäts-  und  Altersversicherung,  Zeil- 
sehr  iß  von  Fey  und  Zell  er  (Dannstadt). 

B.  Litteratur:  Die  Litteratur  des  Ge- 
setzes hat  sich  lebhaft  entwickelt.  Von  den  dem 
Verfasser  bekannt  gewordenen  Arbeiten  s-ind  ins- 
besondere zu  nennen:  van  der  Bovght  in 
Jahrb.  f.  Nat.  w.  Stat.,  Supplementheft  XVI, 
S.  4^  (vgl  auch  Bd.  XVIII,  S.  1).  —  Bosse 
(preuss.  Kulturminister)  und  \\  Woedthe,  Kom- 
mentar, ^.  Abdr.,  Leipzig  1891  nebst  Nachtrag 
1893.  —  Freund,  t.  Aufl.,  Berlin  1891.  — 
F\ild,  Erlangen  1890.  —  Gebhard,  I.  und 
A.V.  der  Seeleute,  Berlin  1892.  —  Derselbe, 
I.  und  A.V.  der  Hausgewerbetreibenden  der 
Tabakfabrikation,  Berlin  1892.  —  Gebhard  und 
Getbel,  Führer  durch  das  Gesetz,  betreffend  die 
I.  und  A.V.,  sowie  Anleitung  für  die  Anwendung 
desselben,  8.  Aufl.,  1891.  —  Dieselben,  Die 
Arbeiterfamilie  und  die  gesetzliche  I.  und  A.  V., 
Altenburg  1890  (behandelt  besonders  die  Ueber- 
gangsbestimmungen  des  Gesetzes  von  1889.)  — 
Henning,    I4.  Aufl.,    Greiz   1891,     (Diese   drei 

Auflage.    IV.  87 


1378 


Iiivaliditäts-  und  Altersversicherung — Jonäk 


sind  populäre  Darsteil ungen.)  —  tTiistf  Berlin 
1892.  —  Kulemann,  2.Aufl,,  Berlin  1890.  — 
Landmann  (jetzt  bayer.  KtUtuaministerJ  und 
Raspf  unter  besonderer  Rücksichtnahme  auf  die. 
bayer.  Verhältnisse,  München  1891.  —  v.  Schicker 
(württ,  BundesreUtberollmächtigter),   Kommentar. 

—  Eine  cortrefflirhe  systematische  Bearbeitung  der 
Arbeiterversicherungsgesetzgebung  des  Reiches  hat 
Professor  Hosin  in  Freiburg  unter  dem  Titel: 
nDas  Recht  der  Arbeitetrersichej^tngu  unter- 
nommen, 1,  Berlin  1890;  in  diesem  Werke  wird 
auch  di'e  I.  und  A.V,  atisfilkrlick  erörtert.  — 
Femer  kurz  und  prägnant  Bornhak,  Deutsche 
SozicUgesetzgebung,  Freiburg  (Separatabdruck  aus 
dem  preuss.  Üfaatsrechtj  Bd.  S).  —  Eine  kurze 
populäre  Darstellung  desselben  Stoffes  ist  vom 
Kanzleirat  Pfafferoth  (Berlin  1890)  bearbeitet. 

—  Vgl.  auch  Laband  (2)  II,  1  und  Seydel, 
J)as  Recht  der  Arbeiterversicherung  in  seiner 
Anwendung  auf  Bayern,  Freiburg. 

Für  die  Rechtslage  nach  dem  Erlass  der 
Novelle  seien  von  den  dem  Verfasser  besonders 
bekannt  gewordenen  Bearbeitungen  erwähnt: 
Oebhard  und  IPüttmann  (Vors.  v.  V.A.j, 
Kommentar  1900.  —  Hitze  (M.  d.  R.),  Was  Jeder- 
mann bezüglich  der  Invalidenversicherung  wissen 
muss,  Berlin  (Verl<ig  der  Germania)  1899.  — 
Hoffmann  (vortr.  R.  im  pr.  N.M.),  2.  Auß. 
(C.  Ileymann),  Berlin  1900.  —  Isenbat*t  und 
Spielhagen  (Mitgl.  d.  R.  V.A.) ,  Kommentar, 
Berlin  (Carl  Ileymann)  1900.  ^-  Las»  und  Zahn 
(Mitgl.  d.  R.V.A.) ,  Einrichtung  und  Wirkung 
der  deutschen  Arbeiterversicherung,  Berlin  (A. 
Asher)  1900.  —  Weymann  (Mitgl.  d.  R.V.A.), 
Berlin  (F.  Vahlen)  1900.  —  v.  Woedtke,  Text- 
ausgäbe  mit  Anmerkungen,  Berlin  (J.  Guttentag), 
7.  Aufl.,  1900. 

V,   Woedtke, 


träge",  herausg.  vom  deutsch.  Verein  z.  Ver- 
breitung gemeinnütz.  Kenntnisse  in  Pra^  über 
Schulsparkassen,  Postsparkassen  (Nr.  68). 
Genossenschaft  oder  Kartelle?  Ein  volks- 
tümlicher Vortrag  fNr.  257).  —  In  der 
,,Wiener  Statistischen  Monatsschrift**: 
Die  internationale  Gebändestatistik  und  die 
Volkszählung  von  1880  (1879).  —  In  „Jahrb. 
f.  Nat.  u.  Stat.":  Malthus'  Bevölkerungs- 
gesetz (N.  F.  2.  Bd.  1881).  —  Die  iUlienischen 
Arbeiterkammern  und  deren  Bedeutung  für  die 
nationale  Produktivität  (III.  F.  Bd.  19,  19ÜU. 
März  und  Mai).  -  Im  „Bericht  des  VI. 
intern.  Kongresses  f.  Hygiene  und  De- 
mographie": Die  jüngste  Entwickelung  der 
Bevölkerungstheorie,  Wien  1887  (auch  besonder^ 
erschienen).  —  In  der  „Zeitschrift  f.  Volks- 
wirtschaft, Sozialpolitik  und  Verwal- 
tung" (Wien):  Zur  Methode  der  heutigen 
Sozialwissenschaft  (T.  Bd.  1892).  —  Zur  Genesis 
der  realistischen  Wissenschaft,  histor.-kritisch^ 
Skizze,  Artikel  1  und  2  (II.  Bd.  1893).  —  Zur 
englisch-schottischen  Genossenschaftsbewegum; 
(III.  Bd.  1894).  —  Der  Kollektivismus  in  den 
englischen  Ge  werk  vereinen.  —  Gewerkvereine 
und  Produktivgenossenschaft  in  England  (IV.  B<1. 
1895).  —  An  Biographieen  in  der  „AUgeiu. 
Deutschen  Biographie**:  J.  P.  Sttssmilch. 
In  diesem  „Handwörterbuch  d.  Staatsw.": 
Achenwall,  William  Farr,  Finlaison,  Fletcher. 

Red. 


John,  Yinceuz^ 

geb.  in  Schneeberg  in  Böhmen  am  7.  XI.  1838,  gest. 
in  Innsbruck  im  März  1900,  studierte  in  Prag, 
Leipzig,  Halle,  Berlin,  habilitierte  sich  1880  an 
der  Universität  Bern  für  Staatswissenschaften 
und  1884  an  der  Universität  Prag  für  politische 
Oekonomie  und  Statistik,  wurde  1885  a.  o.  Pro- 
fessor der  Statistik  an  der  Universität  Czerno- 
witz,  1888  a.  o.  und  1890  ordentlicher  Pro- 
fessor für  Statistik  und  Verwaltungslehre  an 
der  Universität  Innsbruck. 

John  veröffentlichte  a)  in  Buchform: 
Die  Vorschuss-  und  Kreditvereine  (Volksbanken) 
in  Böhmen  (herausg.  vom  „Verein  für  Geschichte 
der  Deutschen  in  Böhmen"),  Pra§  1870.  —  Der 
Name  Statistik.  Eine  etymologisch-historische 
Skizze  (bes.  Abdr.  aus  der  Schweizer  stat.  Zeit- 
schrift), Bern  1883.  [Im  „Journal  of  the  Sta- 
tistical Society",  vol.  XL  VI  in  Uebersetzung 
veröffentlicht.]  —  Geschichte  der  Statistik, 
I.  Teil.  Von  dem  Ursprung  der  Statistik  bis 
auf  Quetelet,  1835,  Stuttgart  1884. 

b)  in  Zeitschriften  etc.  In  den  „Mit- 
teilungen des  Vereins  f.  Gesch.  der 
Deutsch en  in  Böhmen":  Zur  Sozialstatistik 
in  Böhmen  (VII.  Bd.).  —  Ueber  die  Konsum- 
vereine in  Böhmen  (VIII.  Bd.).  —  In  der 
„Sammlung    gemeinnütziger    Vor- 


Jouäk^  Eberhard, 

geb.  am  12.  IV.  1820,  gest.  am  11.  X.  1879  in 
Pra^,  war  1847  Assistent  an  der  Wiener  Uni- 
versität und  der  Theresianischen  Ritterakademir, 
habilitierte  sich  1847  als  Privatdozent  an  dt-r 
technischen  Hochschule  in  Wien,  folgte  1847 
einem  Rufe  nach  der  Universität  Krakau,  wunie 
1849  ausserordentlicher  und  18G0  ordentlicher 
Professor  der  Statistik  und  Nationalökonomie 
an  der  Prager  Universität  und  leitete  1865  bis 
1867  das  Centralkomitee  für  land-  und  foi^t- 
wirtschaftliche  Statistik  Böhmens. 

Jonak  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform:  Theorie  der  Su- 
tistik  in  Grnndzü^en,  Wien  1856.  (Die  Statistik 
ist  Jonak  nicht  die  Lehre  von  den  menschlichen 
Gemeinschaften,  sondern  Objekte  dieser  Wissen- 
schaft sind  ihm^  in  zeitgemässer  Umgestaltung' 
früherer  Definitionen  vornehmlich  der  Conrin?- 
Achenwallschen  Schule,  diejenigen  Staatsmerk- 
würdigkeiten, welche  nicht  als  „starre,  leblo^^e 
Schemen",  sondern  als  wirkende  Kräfte  den 
lebendigen  Organismus  des  Staates  beseelen,  nnd 
die  Statistik  hat  sich  daher  nach  ihm  mit  dem 

Gesamten  geistigen  und  materiellen  Leben  der 
[enschheit,  soweit  es  im  Staate  pulsiert  nnd 
zwar  nicht  in  seiner  Fluktuation,  sondern  im 
Zustande  der  ruhenden,  d.  h.  beschreib-,  mes»- 
und  zählbaren  Aktualität  zu  befassen.  Im  all- 
gemeinen scheint  dies  mit  Schlözers  Definidon : 
„Statistik  ist  stillstehende  Geschieht«",  überein- 
zustimmen, aber  Jonaks  geistvolle  wissenschaft- 
liche Ausführungen  gehen  über  die  Schlözeischc 
Darstellungsweise  weit  hinaus.  Joniks  „Theorir 


Jonäk — Jo  vellanos 


1379 


der  Statistik"  enthält  auch  eine  Geschichte  der 
Methodik  der  Statistik  mit  Aniehnniiff  an  Lorenz 
T.  Stein  (System  der  Staatswissenschaft,  Stutt- 

fart  18Ö2,  mit  dem  Separattitel:  System  der 
tatistik  etc.),  dem  er  auch  sein  Buch  gewidmet. 
Diese  Anlehiaung"  an  Stein  bezw.  die  Öster- 
reichische Schule  trafen  ihm  Mohl,  Haushofer 
und  teilweise  auch  Wappäus  nach.  Letzterer 
erklärt  übrigens  die  Schritt  ihrer  hohen  Wissen- 
schftftlichkeit  wegen,  die  übrigens  auch  von 
Mohl  anerkannt  wird,  als  zur  Einführung  in 
das  Studium  der  Statistik  nicht  geeignet).  — 
Tafeln  zur  Statistik  .der  Land-  und  Forstwirt- 
schaft des  Königreichs  Böhmen,  Bd.  I  (einziger) 
in  12  Heften,  Prag  1861—1872.  —  Der  land- 
und  lehentäfliche  Grundbesitz  im  Königreich 
Böhmen.  Statistische  Tafeln,  ebd.  1865;  das- 
selbe, 2.  Auflage,  ebd.  1879.  ■—  Jonak  redigierte 
femer  ^en  österreichischen  „Bericht  über  die 
allgemeine  Agrikultur-  und  Industrieausstellung 
zu  Paris  im  Jahre  1855",  3  Bde.,  Wien  1856.  — 

Vgl.  über  Jonak:  R.  v.  Mohl,  Geschichte 
und  Litteratur  der  Staatswissenschaften,  Bd.  III, 
Eriangen  1858,  S.  660  und  672.  —  W  u  r  z  b  a  c  h , 
Biographisches  Lexikon,  Bd.  X,  Wien  1863, 
S.  256 ff.  —  Ad.  Ficker,  Der  Unterricht  in 
der  Statistik  an  den  österreichischen  Hoch- 
schulen in  den  Jahren  1850 — 1875,  in  „Sta- 
tistische Monatsschrift",  Jahrg.  II,  Wien  1876, 
S.  116/17,  —  Derselbe,  Eberhard  Jonak,  Ne- 
krolog, in  Statistische  Monatsschrift  etc.,  Jahrg. 
V,  Wien  1879,  S.  525.  —  Wappäus,  Ein- 
leitung in  das  Studium  der  Statistik,  hrsg.  von 
O.  Gandil,  Leipzig  1881,  S.  107.  —  v.  Oet- 
tingen,  Moralstatistik,  3.  Aufl.,  Erlangen  1882, 
S.  8.  —  John,  Geschichte  der  Statistik,  Bd.  I, 
Stuttgart  1884,  Vorwort  S.  VIII,  ferner  S.  5,6 
u.  ö.  —  G.  Mayr  und  G.  B.  Salvioni,  La 
statistica  e  la  vita  sociale,  2.  Aufl.,  Turin  1886, 
S.  LXII.  —  Gabaglio,  Teoria  della  statistica, 
2.  Aufl.,  2  Bde.,  Maüand  1888,  Bd.  I,  S.  166/67, 
262/64,  287/89,  387/91,  437/40,  Bd.  II  S.  2. 

Lippert. 


Jones,  Richard, 

geboren  1790  in  London,  1820  magister  artium. 
gestorben  1855  als  Professor  der  National- 
ökonomie am  Haileybury  College,  in  der  eng- 
lischen Grafschaft  Hertford. 

Jones  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform: 

The  distribution  of  wealth,  and  on  the 
sources  of  taxation,  Teil  I  (einziger):  Rent, 
London  1831;  dasselbe,  2.  Aufl.  1844,  (Dieses 
Werk  stempelt  Jones  zu  einem  Vorläufer  dei* 
•Schule,  die  gegen  das  Ricardosche  Rentensystem 
und  dessen  Lehre  von  der  Verteilung  der  Güter 
Pront  macht.  Es  erschien  zu  einer  Zeit,  wo 
die  nüchterne,  an  die  Schwächen  des  Ricardo- 
schen  Systems  gelegte  Kritik  nur  erwarten 
durfte,  von  der  zahlreichen  und  die  öffentliche 
Meinung  beherrschenden  Anhängerschar  des 
Meisters  niedergekämpft  oder  ignoriert  zu 
werden,  und  von  letzterem  Schicksal  ist  es  denn 
Auch  während  der  ersten  zwanzig  Jahre  nach 
Ricardos  Tode  nicht  verschont  geblieben.  Jones 


nahm  im  Gegensatze  zu  Ricardo  seine  Unter- 
suchungen über  die  Grundrente  nach  der  in- 
duktiven Methode  vor  und  bekämpfte  haupt- 
sächlich die  folgenden  Sätze  des  gegnerischen 
Systems:  Eine  Erlahmung  der  Produktivität 
der  Agrarwirtschaft  ist  mit  der  Aufwärtsbe- 
wegung der  Pächterrenten  verbunden;  das 
Sinken  der  Kapital gewinnrente  steht  im  Kau- 
salnexus zur  Rentabilität  der  Bodenrente; 
Steigerung  .  der  Löhne  bedeutet  Verringerung 
des  Aapitalgewinnes ;  die  Interessen  der  Grund- 
eigentümer kollidieren  mit  denen  des  Staates 
und  jeder  anderen  konkurrierenden  Erwerbs- 
gesellschaftsklasse. —  Introductory  lecture  on 
political  economy,  with  a  syllabus  of  a  course 
of  lectures  on  the  wages  of  labour,  Londoa 
1833.  —  Nach  seinem  T(äe  erschienen :  Literary 
remains,  consisting  of  lectures  and  tracts  on 
political  economy.  Edited,  with  a  prefatory 
nolice  by  (the  Rev.)  W.  WheweU,  London  185». 

,  Vergl.  über  Jones:  Edinburgh  Review, 
Bd.  LIV,  Edinburg  1831.  (Ausftihrüche,  ab- 
fällige, vermutlich  von  Mac  CuUoch  herrührende 
kritische  Würdigung  des  ^distribution  of 
wealth".)  —  Blanqui,  Histoire  de  l'^conomie 
polit.,  3.  Aufl.,  Paris  1845,  Bd.  ü,  S.  382/83.  — 
Dictionnaire  de  Teconomie  polit.,  2.  Aufl.,  Bd.  11, 
Paris  1854,  S.  8.  —  Kautz,  Theorie  und  Ge- 
schichte der  Nationalökonomik,  Bd.  11,  Wien 
1860,  S.  515  und  520.  —  Berens,  Kritische 
Dogmengeschichte  der  Grundrente,  Leipzig  1868, 
S.  240/45.  —  Ingram,  History  of  political 
economy,  Edinburg  1888,  S.  142-45.  —  Pal- 
grave,  Dictionary,  vol.  II,  London  1896,  S,  409  f. 

Lippei't, 


Jovellanos,  Don  Gaspar  Heichor  de, 

geb.  am  5.  I.  1744  zu  Gijon  in  Asturien,  gest. 
daselbst  am  27.  XL  1811,  trat  1767  in  den 
Justizdienst,  wurde  1780  Staatsrat,  im  näm- 
lichen Jahre  Ordensrat  und  1797  unter  dem 
Premierminister,  Herzog  von  Godoy,  Minister 
der  Justiz  und  der  Gnadensachen  in  Madrid. 
Als  Ordensrat  hatte  er  durch  eine  Denkschrift 
für  Besteuerung  der  geistlichen  Besitzungen 
und  als  Minister  durch  den  Versuch  einer  Unter- 
stellung des  heiligen  Offiz  unter  das  gemeine 
Recht,  sich  mit  dem  hohen  Klerus  veneindet, 
der  durch  den  Einfluss  des  Grossinquisitors  1801 
seinen  Sturz  herbeiführte,  worauf  Jovellanos  in 
dem  Kapuzinerkloster  Valdemuza  auf  der  Insel 
Mallorca  interniert  und  1802  im  Staatsgefangnis 
zu  Belver  eingekerkert  ward,  aus  dem  ihn  erst 
1808  die  französische  Invasion  befreite. 

Jo?ellanos  ist  nicht  der  Schöpfer  einer  neuen 
Schule,  aber  er  bedeutet  für  sein  Vaterland 
den  Bahnbrecher  zu  den  wirtschaftlichen  An- 
schauungen, welche  die  neuere  wissenschaftliche 
Nationalökonomie  Spaniens  beherrschen.  Aus 
einem  Physiokraten  wandelte  er  sich  in  einen 
Smithianer,  noch  ehe  Smiths  „Wealth  of  nations^ 
(1794)  in  der  Ortezschen  Uebersetzung  in  Spanien 
eingeführt  wurde.  Die  vom  Merkantilismus  um 
Spanien  gezogenen  Zolllinien  und  zu  Gunsten 
der  HandelsbUanz  aufgerichteten  hohen  Tarife, 
überhaupt  alle  noch  vom  Mittelalter  her  kon- 
servierten Verkehrshindernisse  bekämpfte  er  im 

87* 


1380 


Jovellanos — Irrenwesen 


Geiste  des  Industriesysteins,  das  ihm  auch  in 
seiner  Steuerpolitik  als  Richtschnur  diente.  Sein 
Bestrehen,  die  damiederliegende  Landwirtschaft 
mit  Aufhietung  aller  staatlichen  und  sozialen 
Mittel  zu  heben,  will  als  erster  reformatorischer 
Schritt  zur  Lösung  der  damaligen  Agrar-  und 
Gmndherrschaftsfrage  Spaniens  betrachtet  sein. 
Jovellanos  veröffentlichte  von  Staats  wissen- 
schaftlichen Schriften  in  Buchform:  Dictamen 
de  la  Junta  formada  de  orden  de  S.  M.  para  el 
examen  y  aprobaciön  de  un  bauco  nacional, 
Madrid  1782.  —  Memoria  sobre  el  estable- 
cimiento  de  monte  pio  di  hidalgos  de  Madrid, 
leida  en  la  Real  Sociedad  de  Madrid,  en  12  de 
Marzo  de  1784,  ebd.  1784.  —  Consulta  de  la 
Junta  formada  para  la  resoluciön  de  un  ex- 
pediente  sobre  la  necesidat  de  fomentar  nuestra 
marina  mercantil,  ebd.  1784.  —  Dictamen  de 
la  Real  Junta  de  comercio  en  el  expediente 
seguida  sobre  renovar  6  revocar  la  prohibicion 
de  la  intraduccion  y  uso  de  la  museleni,  ebd. 
1784.  —  Informe  a  la  Junta  general  sobre  la 
libertad  de  artes,  ebd.  178ö.  —  Informe  de 
la  Sociedad  econömica  de  Madrid  al  Real  y 
supremo  Consejo  de  Castilla  en  expediente  de 
ley  agraria,  ebd.  1796;  dasselbe,  2.  AuA.,  Palma 
1814;  dasselbe,  3.  Aufl.,  Madrid  1820;  dasselbe 
in  deutscher  Uebersetzung  u.  d.  T.:  Gutachten 
der  ökonomischen  Gesellschaft  zu  Madrid  ttber 
die  ihr  vors-elegten  Entwürfe  zu  einer  land- 
wirtschaftlicnen  Gesetzgebung.  Aus  dem  Spa- 
nischen von  H.  V.  Beguelin,  Berlin  1816. 
(In  dieser  bedeutendsten  seiner  sozialökono- 
mischen Schriften  fordert  er  eine  gerechte  Be- 
lastung des  geistlichen  Grundbesitzes,  Auf- 
hebung des  Exemptionsrechtes  der  unveräusser- 
lichen Güter,  der  Fideikommisse  und  Majorate, 
Aufhebung  des  Privilegiums  der  Mesta,  Be- 
seitigung jeder  Beschränkuns:  der  freien  Ent- 
wickeluug  des  Verkehrs,  radikale  Reform  des 
bestehenden  Steuersystems,  Bekämpfung  der 
wirtschaftlichen  Unwissenheit  der  spanischen 
Landwirte  durch  die  Regierung.  Die  Schrift 
machte  grosses  Aufsehen,  hatte  jedoch  auf  die 
Verbesserung  der  Lage  der  spanischen  Land- 
wirtschaft keinen  Einnuss.  Der  spanische  Bauer 
fühlte  sich  überhaupt  auf  seinen  Zwergwirt- 
schaften und  kleinen  Erbpachtgütem  ganz  wohl ; 
sein  angeborenes  Phlegma  liess  es  zu  Jovellanos' 
Zeiten  noch  ruhig  geschehen,  dass  die  dortige 
Wiesenkultur  die  vernachlässigtste  unter  den 
romanischen  Staaten  war,  obgleich  dieselbe, 
mit  Zuhilfenahme  der  von  den  Mauren  über- 
kommenen vortrefflichen  Rieselanlagen,  bei  etwas 
Thätigkeit  die  reichsten  Futtererträgnisse  hätte 
abwerfen  können.  Auch  Jovellanos'  Ausfälle 
gegen  die  Mesta  erwiesen  sich  erfolglos,  und 
nach  wie  vor  wurden  die  racas  transhuraantes 
o<ler  die  wandernden  Merinoschafherden  der 
Prälaten  und  Notabein,  der  Wollent Wickelung 
wegen,  zweimal  im  Jahre  auf  einem  breiten 
Triftwege  durch  Spanien  getrieben.)  —  Jovella- 
nos übersetzte  gegen  1797  Rousseaus  „contrat 
social".  —  Gesammelte  Werke,  einschliesslich 
seiner  schön  wissenschaftlichen  Schriften:  Caiie- 
dosche  Ausgabe,  7  Bde.,  Madrid  1830—32;  das- 
selbe, 2.  Aufl.,  8  Bde.,  Barcelona  1839—40.  — 
Biblioteca  de  autores  espafiolas,  Bd.  46  und  50, 
herausgegeben  von  Nocedal,  Madrid  18ö8— 59. 
—  Oracioues  y  disoursos,  Madrid  1880. 


Vgl.  über  Jovellanos:  Jovellanos,  Me- 
moria a  mis  compatriotas,  en  que  se  rebaten 
las  calumnias,  etc.,  Coruna  1811  (als  eine  Art 
Selbstbiographie  zu  betrachten).  —  Edinburgh 
Review,  Bd.  XIV,  Edinburg  1813.  —  Bermu- 
dez,  Memoriaa  para  la  vida  del  Seaor  Don 
Gaspar  Melchor  de  Jovellanos,  Madrid  1814.  — 
Er  seh  und  Gr  über,  Encyklopädie,  Sektion  II, 
Teil  23,  Leipzig  1844,  S.  280ff.  —  Coimeiro, 
Storia  della  economia  politica  in  Es^uia,  Bd.  I, 
Madrid  1862.  —  Baum  garten,  Don  Gaspar 
Melchor  de  Jovellanos,  in  Sybels  „Historische 
Zeitschrift",  Bd.  X,  München  1863.  —  Nouveau 
dictionnaire  d'economie  polit.,  Bd.  II,  Paris 
1892,  S.  104/105.  —  Carracido,  JoveUanos, 
Madrid  1893. 

LipperU 


Irrenwesen 

(einschliesslich  Irrenstatistik  und 
Irrenge  setz  gebung). 

I.  Fürsorge  für  die  Geisteskranken 
1.  Einleitung.  2.  Begriff  und  Umfang.  3.  Irren- 
anstalten. 4.  Landwirtschaftliche  Kolonie  und 
familiale  Verpflegung.  5.  Kranke  ausserhalb 
der  Irrenanstalten.  6.  Irre  Verbrecher.  II.  I  r  r  e  n  - 
Statistik.  IIL  Die  Irrengesetzgebung 
in  den  einzelnen  Ländern.  1.  Deutsch- 
land. 2.  England.  3.  Schottland.  4.  Frank- 
reich. 5.  Belgien.  6.  HoUand.  7.  Norwegen. 
8.  Schweden.    9.  Andere  Länder. 

I.  Fürsorge  für  die  Geisteskranken. 

1.  Einleitnnff.  Dass  die  Geisteskrank- 
heiten (Irrsinn,  Psychosen)  auf  körperlichen 
Ursachen  beruhen  und  Krankheiten  des 
Nervensystems,  speciell  des  Gehirns  sind, 
ist  heute  unbestritten.  Trotzdem  werden 
sie  in  der  Gesetzgebung  von  anderen  Krank- 
heiten geschieden,  weil  in  ihnen  die  Fähig- 
keit, richtig  zu  fühlen,  zu  denken  und  dem- 
entsprechend zu  handeln,  mehr  oder  weni- 
ger aufgehoben  ist.  Dieselben  Erscheinun- 
gen wie  die  eigentlich  so  genannten  Geistes- 
kranken bieten,  wenn  auch  in  anderer 
Gruppienmg  und  in  anderem  Verlaufe,  frei- 
lich auch  viele  andere  Kranke,  deren  Ner- 
vensystem diu'ch  Fieber,  diux^h  Gifte  (Chloro- 
fonn,  Alkohol  etc.)  angegriffen  ist.  Bei 
ihnen,  wie  bei  den  eigentlichen  Geistes- 
kranken, muss  bisweilen  aus  gleichen  Grün- 
den, sei  es  zum  Schutze  der  Umgebung, 
sei  es  zu  ihrem  eigenen  Wohle,  Zwang 
ausgeübt  werden,  auch  sie  können  ebenscn 
wenig  wie  jene  für  die  in  diesem  Zustande 
vorgenommenen  Handlungen  verantwortlich 
gemacht  werden.  Dass  man  trotzdem  diese 
Stöningen  in  praktischer  Beziehung  nicht 
zu  den  Geisteskrankheiten  rechnet,  geschieht 
-weniger  aus  inneren  als  aus  Zweckmässif:- 
keitsgriiuden.  Sie  gehen  zu  rasch  vorüben 
imi  besondere  rechtliche  Massregeln  not- 
wendig zu  machen,  und  sie  bedürfen  zu 
ihrer  Behandlung  keiner  Specialanstalten. 


Irrenwesen 


1381 


Bis  in  die  Neuzeit  hinein  beschrankte  sich 
die  staatliche  Fürsorge  darauf,  die  Gesellschaft 
vor  Schädigung  durch  Geisteskranke  mittelst 
Freiheitsbeschränkung  und  eventuell  Entmün- 
digung derselben  zu  sichern.  Ein  neuer  Ge- 
sichtspunkt trat  erst  hinzu  mit  der  Ausbildung 
der  heutifi^en  Irrenanstalten,  die  nicht  nur  dem 
Zwecke  der  Sicherung  der  Kranken  und  der 
Gesellschaft,  sondern  auch  der  Heilung  dienen 
sollten.  Da  die  Erfahrung  die  Anstalt  als 
mächtigstes  Heilmittel  erwies  und  zugleich 
zeigte,  dass  der  Heilerfolg  um  so  grösser  war, 
je  früher  ihr  die  Kranken  anvertraut  wurden, 
so  musste  naturpfemäss  das  Streben  dahin  gehen, 
auch  solche  Geisteskranke,  welche  nicht  oder 
noch  nicht  gefährlich  schienen,  in  die  Anstalten 
aufzunehmen.  Andere  Gründe  kamen  dazu,  den 
Irrenanstalten  eine  weitere  Thätigkeit  und  eine 
erhöhte  Bedeutung  zu  schaffen.  Das  Anwachsen 
der  Bevölkerung  wirkte  in  stärkerem  Masse  auf 
die  Menge  der  Anstaltsbedürftigen  ein,  als  der 
einfachen  Vermehrunff  entsprach,  weil  dichteres 
Zusammenwohnen  schon  geringere  Abweichun- 1 
gen  vom  Normalen  auffällig  und  unerträglich 
machte.  Die  höheren  Anforderungen,  die  das 
moderne  Leben  an  den  einzelnen  stellt,  der  im 
Kampfe  ums  Dasein  nicht  erliegen  will,  die 
grössere  Unruhe  und  die  unendlich  zahlreicheren 
Beize,  die  das  Nervensystem  des  heutigen 
Menschen  treflFen,  brachten  eine  leichtere  Ab- 
nutzung desselben  zu  stände.  Endlich  liess  die 
zunehmende  Ausbildung  der  Psychiatrie  Krank- 
heit häufig  auch  dort  erkennen,  wo  mau  sonst 
nur  moralische  Schäden  sah,  und  nahm  ein 
grösseres  Gebiet  auch  für  die  Anstaltspflege  in 
Anspruch.  Alle  diese  Wandlungen  machten  die 
gesetzliche  Regelung  des  Irrenwesens  wichtiger 
und  zugleich  schwieriger,  sie  schufen  aber  auch 
eine  oft  erhebliche  Verschiedenheit  des  Stand- 
punktes bei  denen,  welche  berufen  schienen,  bei 
der  Lösung  dieser  Schwierigkeiten  mitzuwirken. 
Während  von  juristischer  Seite  die  Sicherung 
der  Person  und  der  Gesellschaft  vor  allem  er- 
strebt wurde,  stellten  die  Aerzte  im  allgemeinen 
den  gewiss  ebenso  berechtigten  Gesicntspunkt 
der  Heilung  in  den  Vordergrund. 

Besonders  über  die  Art,  wie  Geisteskrank- 
heit im  einzelnen  Falle  festzustellen  ist,  gehen 
die  Ansichten  auseinander.  Im  allgemeinen 
wird  wohl  grundsätzlich  allerseits  zugegeben, 
dass  Geisteskrankheit,  soweit  sie  rechtliche 
Folgen  haben  soll,  vom  Arzte  als  Sachverstän- 
digen geprüft  und  begutachtet,  dann  aber  auf 
gerichtlichem  oder  administrativem  Wege  staat- 
lich anerkannt  werden  muss.  Aber  die  Mit- 
wirkung des  Arztes,  die  nach  Analogie  anderer 
Krankheiten  ausschlaggebend  sein  müsste,  wird 
vielfach  möglichst  einzuengen  gesucht,  weil  in 
keinem  anderen  Gebiet«  der  Medizin  der  durch 
keine  Sachkenntnis  beschwerte  Verstand  des 
Laien  so  sicher  zu  urteilen  pflegt  wie  in  der 
Psychiatrie,  und  weil  nirgends  der  Zweifel  am 
ärztlichen  Ausspruch  so  leicht  sich  regt  wie  hier. 

Und  das  ist  durchaus  verständlich.  Wie 
überall  in  der  Natur,  sind  die  Uebergängje 
zwischen  geistiger  Gesundheit  und  Krankheit 
fliessend,  und  es  ist  bisweilen  auch  für  den  ge- 
übtesten Arzt  schwer  und  erst  nach  längerer 
Beobachtung  möglich,  zu  entscheiden,  ob  ein 
einzelner  Fall  noch  in  die  Breite  der  Gesund- 
heit fällt  oder  nicht.    Sehr  selten  wird  auch  die 


sorgfältigste  Untersuchung  Zweifel  hierüber 
bestehen  lassen.  Häufig  aber  wird  der  Kenner 
dieser  Zustände  Geisteskrankheit  zweifellos  fest- 
stellen können,  wo  der  Laie  nur  berechtigfte 
Eigentümlichkeiten  des  Vorstellens  oder  Stim- 
mungsänderungen sieht,  die  ihm  noch  nicht 
krankhaft  erscheinen.  Leicht  befremdet  es, 
wenn  der  Arzt  dieselbe  Vorstellung  oder  die- 
selbe Stimmungslage  bei  einem  Menschen  für 
gesund,  bei  dem  anderen  als  krank  ansieht. 
Aber  dieselbe  Vorstellung,  dieselbe  Stimmung 
kann  aus  ganz  verschiedenen  Ursachen  ent- 
stehen und  durch  das  Hinzutreten  anderer  Er- 
scheinungen, die,  für  sich  betrachtet,  vielleicht 
auch  nicJt  entscheidend  sind,  eine  ganz  ver- 
schiedene Bedeutung  erhalten.  Es  ist  eben  nie 
ein  einzelnes  Symptom,  das  die  Diagnose  der 
Geisteskrankheit  rechtfertigt.  Dieselbe  wird 
stets,  wie  dies  bei  jeder  anderen  Krankheit  del* 
Fall,  auf  der  zusammenfassenden  Beurteilung 
des  Ganzen  beruhen.  Diese  jedem  naturwissen- 
schaftlich Gebildeten  durchaus  geläufige  und 
auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften  und 
so  auch  der  Psychiatrie  allein  mögliche  Be- 
trachtungsart erscheint  Femerstehenden  leicht 
als  Willkür. 

2.  Begriff  und  Umfang.  Unter  Irren- 
wesen  ist  die  Fürsorge  für  alle  Geistes- 
kranken zu  verstehen^  sowohl  für  die,  die  in 
der  eigenen  oder  einer  fremden  Familie 
leben,  wie  für  die  kleinere  Zahl  derer,  die 
sich  mit  oder  gegen  ihren  Willen  in  Iri-en- 
anstalten  befinden.  Diese  Fürsorge  ist  im 
weitesten  Sinne  zu  nehmen,  sie  mag  vom 
Staat  oder  staatlichen  Verbänden,  von  ein- 
zelnen oder  durch  öffentliche  Wohlthätigkeit 
geleistet  werden. 

Irrengesetzgebung  bedeutet  für  uns 
die  gesetzliche  Regelung  des  Irrenwesesn, 
die  in  umfassender  Weise  bisher  nur  von 
einzelnen  Staaten  unternommen  wurde.  In 
anderen  helfen  Verordnungen  über  den 
Mangel  hinweg  oder  der  Staat  ist  sich  seiner 
Verpflichtimg  nach  dieser  Richtung  noch 
nicht  bewusst  geworden. 

In  bestimmten  Fällen  muss  der  Staat 
von  dem  Bestehen  der  Geisteskrankheit 
Notiz  nehmen.  Dies  einmal,  wenn  ein 
Kranker  Handlungen  begeht,  die  ihn  mit 
dem  Strafgesetz  in  Konflikt  bringen,  ferner, 
wenn  er  Bestimmungen  treffen  will  oder 
Aussagen  machen  soU,  die  der  Natur  der 
Sache  nach  einen  normalen  Geisteszustand 
zur  Voraussetzung  haben,  endlich,  wenn  er 
aus  Gründen  der  öffentlichen  Sicherheit 
oder  zu  seiner  Heilung  der  Freiheit  beraubt 
wird.  Diese  drei  Fälle  bedingen  notwendig 
eine  staatliche  Regelung,  auch  wenn  der 
humane  Gesichtspunkt  der  Fürsorge  für 
jeden  Kranken  noch  nicht  ziur  Geltung  ge- 
langt ist. 

Aus  praktischen  Gründen  wird  jedoch 
die  Irrengesetzgebung  nicht  alle  gesetzlichen 
Bestimmungen  lunfassen,  die  sich  auf  Geis- 
teskrankheit beziehen.  Ein  Teil  derselben 
ist  des  Zusammenhangs  wegen  besser  im 


1382 


Irrenwesen 


Strafreoht^,  ein  anderer  Teil  im  Civürecht 
untergebracht.  Unzweifelhaft  gehört  zur 
Irrengesetzgebung  nur  die  Regeliuig  der 
Irrenpflege  in  und  ausserhalb  specieller  An- 
stalten und  ihi'er  Beaufsichtigung,  und  sie 
ist  auch  der  wesentliche  Inhalt  der  beste- 
henden zusammenfassenden  Irrengesetze. 
In  einzelnen  Staaten  umfassen  diese  da- 
neben auch  die  Sorge  für  das  Eigentum 
der  Kranken  und  die  Bevormundung  der- 
selben. 

3.  Irrenanstalten.  Irrenanstalten  sind 
Kraukenhäuser  und  in  ihrem  Betriebe  von 
den  übrigen  niu*  so  weit  unterschieden,  als 
eben  die  besondere  Form  der  Erkrankung 
besondei'e  Heilmethoden  verlangt.  Aber  der 
trennende  Punkt,  der  den  Irrenanstalten 
eine  besondere  rechtliche  Stellung  anweist, 
ist  der,  dass  in  ihnen  Kranke  auch  gegen 
ihren  Willen  zur  Aufnahme  gelangen  und 
eventuell  lange  Zeit,  zuweilen  bis  an  ihr 
Lebensende  unter  Beschränkung  ihrer  Wil- 
lensäusserungen verbleiben  müssen.  Der 
Staat  muss  deshalb  die  Aufnahme  und  den 
Yerbleib  solcher  Kranken  unter  seine  Auf- 
sicht stellen.  Andererseits  aber  muss  diese 
Aufsicht  mögliehst  ohne  Belästigung  der  be- 
treffenden Kranken  geschehen,  damit  diesen, 
die  ja  gerade  vor  störenden  Einwirkungen 
geschützt  werden  sollen,  nicht  geschadet 
w^ird  und  damit  die  Angehörigen  nicht  ab- 
geschi'eekt  werden,  auch  in  leichteren  und 
namentlich  frischen  Fällen  die  Wohlthat  der 
Anstaltsbehandlung  ihren  Kranken  zu  teil 
werden  zu  lassen.  Denn  je  mehr  die  Auf- 
nahme erleichtert  wird  und  je  mehr  sie 
sich  der  in  anderen  Krankenhäusern  anreiht, 
um  so  früher  entschliessen  sich  die  Fami- 
lien, ihre  Kranken  dorthin  zu  geben,  und 
ein  um  so  geringerer  Bruchteil  der  letzteren 
wird  unheilbar. 

Alle  civüisierten  Staaten  haben  Irrenan- 
stalten errichtet  oder  diurch  ihre  Provinzen, 
Landverbände  oder  Städte  errichten  lassen. 
Da  aber  einerseits  diese  bisher  fast  nirgends 
für  das  vorliandene  Bedürfnis  ausreichen, 
andererseits  das  öffentliche  Interesse  nicht 
notwendig  erheischt,  für  die  wohlhabende- 
ren Kranken  den  ihren  Verhältnissen  ent- 
sprechenden Komfort  herzustellen,  so  haben 
sich  schon  früh  neben  den  öffentlichen 
Anstalten  Privatanstalten  erhoben  und 
bilden  jetzt  in  den  meivSten  Staaten  eine  sehr 
wünschenswerte  Ergänzung  der  ersteren. 
Sie  sind  in  der  Regel  für  die  wolilhabenden 
Stände  bestimmt,  doch  haben  manche  auch 
dmxih  Vertrag  mit  Staat  oder  Provinz  die 
Pflöge  armer,  gewöhnlich  unheilbarer  Geis- 
teskranker übernommen,  soweit  die  öffent- 
lichen Anstalten  keinen  Raum  für  dieselben 
bieten.  Das  neuerdings  in  einigen  Ländern 
auftauchende  Bestreben,  sie  gänzlich  abzu- 
scliaffen ,   wird   nur   dann   zu   billigen  sein, 


wenn  der  Staat  in  ausreichender  Weise  nicht 
nur  für  die  ärmeren,  sondern  auch  für  die 
reicheren  Geisteskranken  entsprechende  An- 
stalten baut  Berechtigter  eracheint  dagegen 
der  Wunsch,  dass  der  Staat  die  Erlaubnis 
zur  Leitimg  einer  Anstalt  nur  psychiatrisch 
gut  ausgebildeten  Aerzten  giebt,  deren  Per- 
sönlichkeit eine  Gewähr  gegen  Vernach- 
lässigimg von  Kranken  in  sich  schliesst 
Denn  diese  ist  es,  die  man  bei  schlechter 
Leitung  zu  fürchten  hat  nicht  die  Aufnahme 
von  Gesunden,  die  dem  grosseh  Publikum 
durch  Bestechung  von  Aerzten  so  leicht 
dem  Sachverständigen  unmöglich  erscheint 
da  sie  dem  Pflegepersonal  nicht  verborgen 
bleiben  könnte  und  in  kurzem  den  sicheren 
Ruin  der  Anstalt  herbeiführte.  Mehr  aber 
als  alle  Beaufsichtigimg  wird  stets  die 
Tüchtigkeit  des  Leiters  und  das  im  eigen- 
sten Interesse  des  Unternehmers  liegen<le 
Streben,  die  Anstalt  als  eine  gute  anerkannt 
zu  sehen,  vor  ernsteren  Missbnluchen  schüt- 
zen. Dass  übrigens  das  auch  bei  uns  Im^- 
stehende  Vorurteil  gegen  Anstalten  und 
namentlich  Privatanstalten  in  einem  grösse- 
ren Teil  des  Publikums  allmählich  ver- 
schwindet, zeigt  die  beständig  steigende 
Zahl  der  Patienten,  die  freiwillig  die  An- 
stalt aufsuchen.  Häufig  sind  dies  solch»\ 
die  bei  früherer  Erkrankung  die  Wohlthat 
der  Anstaltspflege  an  sich  selbst  kennen 
gelernt  haben. 

Jenes  Vorurteil  und  das  noch  nicht  überall 
überwundene  Misstraaen  gegen  Irrenanstalten 
stammt  ans  früherer  Zeit,  als  nicht  Heilan^ 
und  Pflege,  sondern  UnschädUchmachung  der 
Kranken  das  Ziel  der  Anstalten  war.  Aus 
teilweise  schrecklichen  Zuständen  haben  sich 
diese,  seitdem  sie  in  die  Hände  der  Aerzte  tiber- 
gingen, allmählich  in  die  heutigen  Verhältnisse 
hinübergerettet.  Auch  der  Ueber^ng,  der 
liauptsächlich  in  das  erste  Drittel  dieses  Jahr- 
hunderts fiel,  war  von  bedenklichen  Ausschrei- 
tungen nicht  frei,  weil  die  damaligen  Aerzte 
sich  erst  allmählich  von  philosophischen  Voreüi- 
genommenheiten  befreien  mussten  und  der 
Satz,  dass  Irresein  eine  Krankheit  wie  andere 
sei,  erst  allmählich  den  ärztlichen  Generationen 
in  Fleisch  und  Blnt  übergehen  konnte.  Aber 
seitdem  dies  der  Fall,  hat  das  Bestreben,  den 
Kranken  möglichste  Freiheit  zu  geben,  in  den 
Anstalten  stets  vorgewaltet  und  denselben  nach 
nnd  nach  einen  ganz  anderen  Charakter  aufge- 
prägt. Man  lernte  immer  mehr  mechanische 
Beschränkung  durch  sorgfältige  Aufsicht  nnd 
Aufwendung  reichlicherer  Geldmittel  vermeiden, 
und  die  vielgenannte  Zwang^acke  sieht  man  in 
den  meisten  Anstalten  jetzt  fast  nur  dann, 
wenn  ein  Kranker  ihr  darin  von  aussen  zuge- 
führt wird.  Neben  möglichster  Ruhe  und  dem 
Fernhalten  schädlicher  Einflüsse  nnd  Reize,  der 
Unterordnung  aller  unter  einen  festen  nnd  ziel- 
bewussten  Willen ,  dem  der  einzelne  sich,  hier 
unter  dem  Eindnck  des  von  vielen  anderen  $re- 
ß-ebenen  Beispiels  leichter  fügt,  war  es  9er 
Segen  nutzbringender  Arbeit  zu  rechter  Zeit, 
dessen  Bedeutung  in  der  modernen  Irrenbefaand- 


Irrenwesen 


1383 


lung    immer   mehr    anerkannt    wurde.     Dass 
neben  der  im  Torstehenden  ^anz  allgemein  an- 

fedenteten  psychischen  Einwirkung  unsere  Zeit, 
ie  in  den  öeistesstörungen  nur  eine  besondere 
Krankheitsgruppe  erkennt,  die  Behandlung  und 
namentUch  Kräftigimc  des  Körpers  nicht  ver- 
absäumt, wo  eine  solche  förderlich  erscheint, 
bedarf  kaum  der  Erwähnung.  Zeigt  sich  doch 
nirgends  so  deutlich  als  bei  den  Erkrankungen 
des  Nervensystems  die  Abhängigkeit  des  geisti- 

fen  Befindens  vom  körperlichen  und  umgekehrt 
as  körperlichen  vom  geistigen ! 

In  der  statistischen  Angabe  der  verschiede- 
nen Formen  jjeistiger  Erkrankung  findet  sich 
öfters  auch  die  Rubrik  „nicht  geisteskrank". 
Die  unter  dieser  Bezeichnung  aus  den  Anstal- 
ten Entlassenen  sind  zum  Teil  solche,  die  zur 
Untersuchung  ihres  Geisteszustandes  aufgenom- 
men waren ,  bisweilen  kommt  es  aber  auch  in 
den  Ländern,  die  die  strengsten  Aufnahmebe- 
stimmungen haben,  vor,  dass  ein  Irrtum  ausser- 
halb der  Anstalt  erst  bei  der  genaueren  An- 
staltsbeobachtung auf  diese  Weise  verbessert 
wird. 

Mit  den  Universitäten  pflegen  jetzt  in 
den  meisten  Landern  IiTenkliniken  verbun- 
den zu  sein,  in  denen  neben  dem  Zwecke 
der  Heilung  die  Kranken  auch  dem  Lehr- 
zweck dienen.  Die  Befürchtung,  dass  dies 
einen  nachü^iligen  Einfluss  auf  dieselben 
ausüben  konnte,  hat  sich  als  grundlos  her- 
ausgestellt, sofern  hierbei  mit  dem  notigen 
Takte  verfahren  wird.  Obwohl  diese  Klini- 
ken sich  im  übrigen  von  Iri-enanstalten  resp. 
In*enabteilungen  grösserer  Krankenhäuser 
nicht  unterscheiden,  bestehen  in  manchen 
Erleichterungen  der  Aufnahme,  um  ihnen 
für  die  wissenschaftliche  Beobachtung  und 
zur  Demonstration  ein  möglichst  geeignetes 
und  reiches  Kranken material  zu  sichern. 

Zwei  bestimmte  Kategorieen  von  Geistes- 
kranken wurden  bisher  meist  stiefmütter- 
lich beliandeit:  die  geistesgestörten 
Epileptiker  und  die  Idioten,  d.  h. 
Kranke  mit  erheblichen  angeborenen  oder  in 
den  ersten  Lebensjahren  erworbenen  geisti- 
gen Defekten.  Ihre  Unterbringung  in  liTen- 
anstalten  erfolgt  nur  ansnahmswcise ,  und 
oigene  Idioten-  und  Epileplikeranstalten  wur- 
den wenigstens  in  Deutschland  bis  jetzt 
meist  der  Privat wolilthätigkeit  überlassen, 
die  für  Idioten  nalimen  zudem  in  der  Regel 
nur  besserungsfähige  Kinder  auf.  Doch  wird 
auch  für  diese  Kranken  allmälilich  bessere 
Fürsorge  getroffen,  in  Preussen  namentlich, 
seitdem  durch  (t.  v.  11.  Juli  1891  die  Land- 
armenverbände hierzu  veraflichtet  sind. 
Dieselben  suchen  zwar  vorläufig  vielfach 
durch  Verträge  mit  Privatanstalten,  zumal 
solchen  geistlicher  Korporationen,  sich  dem 
Bau  eigener  Anstalten  zu  entziehen.  Wie 
jedoch  »geistliche  Irrenanstalten«  zwar  noch 
m  stattlicher  Anzahl  vorhanden  sind  und 
sogar  von  einzelnen  Provinzen  noch  neuer- 
dings untci-stützt  werden,   im  allgemeinen 


aber  immer  mehr  als  überwundener  Notbe- 
helf angesehen  w^erden,  so  wird  voraussicht- 
lich auch  die  Anstaltspflege  der  Epileptiker 
lind  Idioten  aUmählich  in  immer  weiterem 
Umfange  von  den  Landarmenverbänden  un- 
mittelbar übernommen  werden. 

4.  LsLndwirtschaftliche  Kolonieen  and 
faniiliale  Verpfleg[ang.  Das  Suchen  nach 
Mitteln,  den  psychisch  Kranken  möglichste 
Freiheit  und  Behaglichkeit  zu  gewähren, 
hat  im  Verein  mit  der  Notwendigkeit,  immer 
zahlreicheren  Kranken  Unterkunft  zu  ver- 
schaffen, neben  den  Anstalten  hauptsächlich 
zwei  Verpflegungsfonnen  in  Aufnahme  ge- 
bracht, die  landwirtschaftliche  Kolonie  und 
die  familiale  Verpflegung,  beide  von  wach- 
sender Bedeutung  für  die  Irrenfürsorge. 

Die  landwirtschaftliche  Kolonie  besteht  da- 
rin, dass  Kranke  auf  einem  ländlichen  Gute 
unter  der  nötigen  Aufsicht  untergebracht  sind 
und  die  landwirtschaftliehen  Arbeiten  selbst 
ausführen.  Eine  CeiitralanstaU?  in  welche  un- 
ruhige und  ungeeignete  Kranke  jederzeit  ge- 
bracht werden  können  und  welche  die  Auswahl 
der  für  die  Kolonie  passenden  Kranken  besorgt, 
hat  sich  als  notwendig  herausgestellt.  Aber 
auch  die  übrigen  Anstalten  suchen  in  immer 
wachsender  Zahl  ihre  Insassen  durch  die  ge- 
sunde und  zugleich  produktive  landwirtschaft- 
liche Arbeit  zu  beschäftigen  und  kleinere  Guts- 
höfe  in  der  Nähe  oder  in  einiger  Entfernung 
mit  ihnen  zu  belegen,  so  dass  zahlreiche  Ueber- 
gänge  von  der  Anstalt,  in  der  nebenbei 
landwirtschaftliche  Beschäftigung  getrieben 
wird,  zur  eigentlichen  Kolonie  existieren. 

Die  familiale  Verpflegung,  d.  h.  die  Unter- 
bringung eines  oder  mehrerer  Kranken  in  einer 
fremden  oder  auch  verwandten  Familie  ist  inso- 
fern älterer  Herkunft,  als  im  belgischen  Dorfe 
(rheel  die  Bewohner  seit  langer  Zeit  fremde 
Irre,  die  in  der  dortigen  Kapelle  der  heiligen 
D3^mphna  genesen  sollten,  bei  sich  aufnahmen 
uhd  so  im  Laufe  der  Jahrhunderte  allmählich 
einige  Uebung  und  grossen  Ruf  in  der  Pflege 
Geisteskranker  erwarben.  In  der  Mitte  dieses 
Jahrhunderts  überschätzt  und  als  „Paradies  der 
Irren"  gepriesen,  ist  Gheel  nach  Abstellung 
zahlreicher  Missstände  und  Einführung  notwen- 
diger Reformen  noch  gegenwärtig  ein  hervor- 
ragender Beweis  der  Möglichkeit  ausgedehnter 
Familienpflege.  Ferner  sind  in  Schottland  und 
Deutschland  erfolgreiche  Versuche  nach  dieser 
Richtung  gemacht  worden.  So  waren  im  Jahre 
1888  in  Schottland  2270  arme  Geisteskranke  auf 
diese  Weise  untergebracht,  und  diese  Zahl  be- 
lief sich  am  1.  Januar  1899  bereits  auf  2702 
oder  20,7^/0  aller  armen,  d.  h.  auf  öffentliche 
Unterstützung  ganz  oder  teilweis  angewiesenen 
Geisteskranken  Schottlands,  davon  befanden  sich 
mehr  als  */ft  in  fremden  Familien.  In  Deutsch- 
land sind  solche  Versuche  namentlich  von  der 
Privatanstalt  Uten  bei  Lehrte  und  neuerdings 
von  der  Anstalt  Uchtspringe  mit  gutem  Erfolge 
ausgegangen.  —  Bei  der  familialen  Verpflegung 
ist  aus  gleichen  Gründen  wie  bei  der  landwirt- 
schaftlichen Kolonie  als  Mittelpunkt  eine  Cen- 
tralanstalt  zu  erspriesslichem  Gedeihen  erfor- 
derlich. 


1384 


Irreiiwesen 


Die  familiale  Vei-pflegung  wird  sich  nicht 
ilberall  durchführen  lassen.  Zwar  sind  seit 
1885  sogar  in  Berlin  erfolgreiche  Versuche 
damit  gemacht  worden,  am  meisten  jedoch 
passen  ländliche  Gremeinden  mit  sessliafter, 
nicht  ganz  armer,  ordentlicher  Bevölkerung. 
Aber  mehr  noch  scheint  die  landwirtschaft- 
liche Kolonie  berufen,  Kranke  aufzunehmen, 
welche  zwar  mehr  oder  weniger  arbeits- 
fällig, aber  zum  Leben  in  der  Aussen  weit 
unbrauchbar  sind.  Jedenfalls  wird  diux^h 
die  beiden  hier  besprochenen  Yerpflegungs- 
formen  eine  Reihe  von  Elranken  in  natür- 
lichere und  darum  häufig  anheimelndere 
Verhältnisse  versetzt  und  in  den  Anstalten 
der  so  notwendige  Platz  für  frisch  Erkrankte 
frei  gemacht. 

5.  Kranke  ausserhalb  der  Irrenan- 
stalten. Die  familiale  Verpflegung,  die  von 
einer  Centralanstalt  aus  geleitet  wird,  büdet 
den  Uebergang  ziu*  Pflege  von  Geisteskran- 
ken in  der  eigenen  oder  in  fremden  Fami- 
lien ohne  Zusammenhang  mit  einer  Anstalt. 
Zumal  in  der  wohlhabenden  ßevölkerimg 
können  viele  Kranke,  die  in  günstigen 
Wohnungs-  und  Familienverhältnissen  leben, 
daheim  behandelt  oder  wenigstens  frühzeitig 
nach  Haus  entlassen  werden,  und  ihre  Zahl 
wird  zunehmen,  je  mehr  psychiatrisches  Wis- 
sen Allgemeingut  der  praktischen  Aerzte 
wird.  Viele  Formen  werden  freilich  auch 
unter  den  günstigsten  äusseren  Verhältnissen 
stets  am  besten  in  der  Arfstalt  aufgehoben 
sein.  So  lange  keine  ünzuträglichkeiten 
vorkommen,  namentlich  keine  Beschränkung 
der  pei-sönlichen  Fraheit  stattfindet  oder 
eine  solche  der  Handlungsfähigkeit  in  Be- 
tracht kommt,  wird  der  Staat  bei  der  Pflege 
ungefährlicher  Irrer  in  der  eigenen  Familie 
kaum  Veranlassung  liaben,  sich  einzumischen. 
Dagegen  wird  in  den  meisten  (Gesetzgebun- 
gen die  Pflege  in  fremden  Familien,  nament- 
Ech  wenn  mehrere  Kranke  in  derselben 
verpflegt  werden,  miter  die  für  die  Anstalts- 
pflege geltenden  Bestimmungen  gestellt, 
zum  mindesten  in  Bezug  auf  die  staatliche 
Ueberwachung. 

Eine  Reihe  leichterer  Krankheitsfälle 
findet  femer  in  sogenannten  offenen  Kur- 
anstalten oder  Wasserheilanstalten  eine 
durchaus  zweckentsprechende  Unterkunft,  so 
lange  bei  ihnen  das  Krankheitsbewusstsein 
imd  die  Fähigkeit  besteht,  auch  in  freier 
Umgebung  den  ärztlichen  Anordnungen 
nachzukommen.  Häufig  lässt  allerdings  das 
Vorurteil  gegen  die  In'enanstalten  auch 
solclie  Kranke,  die  gar  nicht  in  die  soge- 
nannten offenen  Anstalten  passen,  zu  ihiem 
eigenen  Schaden  dort  die  beste  Zeit  zur 
Heilung  versäumen.  —  Verhältnismässig 
wenig  Geisteskranke  befinden  sieh  in  ge- 
wöhnlichen Krankenhäusern  und  dann  meist 
nur  kurze  Zeit,  bis  für  sie  in  einer  Irren- 


anstalt Platz  wird,  es  sei  denn,  dass,  wie  in 
einigen  grösseren  städtischen  Krankenhäuseni, 
eine  besondere  Irrenabteilung  eingerichtet 
ist.  Doch  muss  letztere  schon  den  Irren- 
anstalten zugerechnet  und  ihnen  gesetzlieh 
gleichgestellt  werden. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die  Für- 
sorge für  diejenigen,  die  genesen  oder  ge- 
bessert aus  Irrenanstalten  entlassen  werden. 
Jede  Entlassung  ist  eigentlich  ein  Versuch, 
ob  der  Kranke,  der  sich  in  den  beschrän- 
kenden Verhältnissen  der  Anstalt  von  Krank- 
heitserscheinungen frei  .oder  wenigstens  ohne 
gröbere,  sozial  bedenkliche  Störungen  be- 
wegen konnte,  nun  auch  dem  Getriebe  des 
Aussenlebens,  den  Anregimgen  und  Sorgen, 
die  ihm  selten  fern  bleiben ,  seelisch  zu 
widerstehen  vermag.  Diesem  Versuche  kann 
in  vielen  Fällen  unbedenklich  ein  guter 
Ausgang  vorhergesagt  weixlen,  in  anderen 
bestehen  Zweifel  darüber,  und  der  Arzt  wird 
um  so  häufiger  und  um  so  früher  zur  Ent- 
lassung schreiten  können,  je  gesicherter  die 
Verhältnisse  und  je  günstiger  die  Umstände 
sind,  in  die  der  Genesene  oder  Gebesserte 
kommt.  Besonders  für  arme  Kranke  ist 
deshalb  weitere  Fürsorge  äusserst  ei'wüuscht. 
In  manchen  Staaten  geschieht  daher  die 
Entlassung  zunächst  gewöhnlich  nur  ver- 
suchsweise oder  in  der  Form  der  Bem'lau- 
bung,  und  der  Kranke  darf  somit,  falls  die 
Massregel  sich  nicht  bewährt,  innerhalb  einer 
bestimmten  Zeit  ohne  erschwerende  Fönn- 
lichkeiten  in  die  Anstalt  wieder  aufgenom- 
men werden.  Die  Ortsbehörden  und  Amts- 
ärzte können  in  solchen  Fällen  eine  Uel)er- 
wachuDg  ausüben.  Eine  sehr  segensreiche 
Aufgabe  erfüllen  aber  gerade  hier  vielfach 
die  Hilfsvereine  für  Geisteskranke, 
indem  sie  sich,  mit  der  Aüstalt  Hand  in 
Hand  arbeitend,  der  Entlassenen  annehmen, 
sie  mit  Rat,  Gerät  und  eventuell  mit  Geld 
unterstützen,  ihnen  Beschäftigung  schaffen 
und  Verständnis  für  das  Irrenwesen  über- 
haupt zu  verbreiten  suchen.  In  Preussen 
erstrecken  solche  Hilfsvereine  sich  gewöhn- 
lich über  eine  Previnz,  im  übrigen  Deutseh- 
land über  einen  Staat,  in  der  Schweiz  über 
einen  Kanton,  Dagegen  wirkt  für  ganz 
England  the  After-Care-Association  for  poor 
jyei^ons  discharged  recovered  from  asylums 
for  the  insane.  In  Italien  existieren  im  An- 
sclüuss  an  einzelne  Anstalten  Societa  cli 
Patrenato. 

Endlich  sind  hier  noch  die  Armen- und 
Sieche nhäuser  zu  erwähnen,  welche  in 
manchen  Ländern  einen  Teil  derjenigen 
armen  Geisteskranken  aufnelimen,  welche, 
unheilbar  und  besondrer  Anstaltspflege  nicht 
bedürftig,  aus  Mangel  an  Mitteln  oder  aus 
anderen  Gründen  häuslicher  Pflege  nicht 
leühaftig  werden  können.  Diese  Art  billiger 
Massen  Versorgung ,  welche   z.  B.  in  Baden 


Irrenweseu 


1385 


(Kreispflegeanstalten)  \md  in  Grossbritannien 
(Workhouses,  Poorhouses)  erheblichere  Be- 
deutung gewonnen  hat,  kann  wesentlich  zur 
Entlastung  der  Irrenanstalten  und  der  öffent- 
lichen Ausgab<m  dienen  und  wird  daher, 
wenn  nur  geeignete  Kranke  aufgenommen 
werden,  von  mancher  Seite  gelobt,  freilich 
von  anderen  durchaus  verworfen,  die  statt 
ihrer  eine  ausgiebigere  EiTichtung  reiner 
Irren pflegeanstallen,  zumal  mit  landwirt- 
schaftHchem  Betrieb,  fordern.  Vielleicht 
wird  später  auch  eine  weitere  Ausdehnung 
der  Farailienpflege  hier  Abhilfe  schaffen, 
freilich  nicht  auf  gleich  billige  Weise. 

6.  Irre  Verbrecher.  Eine  eigene  Stel- 
lung nimmt  eine  Gruppe  Geisteskranker  ein, 
die  sowohl  durch  ihre  wachsende  Menge  als 
auch  durch  die  sich  aus  ihrer  besonderen 
Natiu'  ergebenden  Schwierigkeiten  eine  zahl- 
reiche Lilteratur  hervorgerufen  hat.  Die 
irren  Verbrecher,  d.  h.  diejenigen,  die  nach 
ihrer  Verurteilung  imd  während  ihrer  Straf- 
haft in  Geisteskrankheit  verfallen,  werden 
vielfach  noch  jetzt  entweder  in  den  Gefäng- 
nissen zurilckbehalten  oder,  wenn  dies  nicht 
mehr  angeht,  den  Irrenanstalten  übergeben. 
Die  üblen  Eigenschaften,  die  sie  zum  Teil 
aus  ihr^er  Verbrecherlaufbahn  mitbringen, 
namentlich  ihre  i-affiniei^ten  Versuche  von 
Flucht  und  Gowaltthat.  ihr  schädlicher  Ein- 
f  luss  auf  andere  Kr'anke  durch  Aufreizung -und 
Mitteilung  begangener  Verbrechen,  dazu  die 
Erwägung,  dass  man  den  unbescholtenen 
Kranken  nicht  zumuten  könne,  mit  Ver- 
brechern als  Gleichberechtigten  zusammen- 
zuwohnen,  veranlassten  die  meisten  Psychia- 
ter, die  gewöhnlichen  Irrenanstalten  für  un- 
geeignet zur  Aufnahme  dieser  Gruppe  von 
Kranken  zu  erklären.  Noch  ungeeigneter 
aber  waren  sicher  die  Gefängnisse  und 
Zuchthäuser  sowie  deren  Lazarethe,  da  eine 
richtige  Pflege  hier  unmöglich  und  eine 
Belästigung  der  anderen  nicht  zu  verhindern 
war.  Eine  allgemein  anerkannte  Lösung 
der  Frage  ist  noch  nicht  gelungen,  weder 
besondei-e  Anstalten  für  irre  Verbrecher 
noch  ihre  Unterbringung  in  Adnexen,  sei 
es  von  Irrenanstalten,  sei  es  von  Gefäng- 
nissen und  Zuchthäusern,  haben  sich  in  der 
gegenwärtigen  Form  als  befriedigend  her- 
ausgestellt. 

Broadmoor  in  England,  1863  für  diejenigen 
Geisteskranken  errichtet,  welche  ein  Verbrechen 
gegen  Personen  oder  ein  ungeheuerliches  Ver- 
brechen begangen  haben,  nimmt  bis  jetzt  sowohl 
irre  Verbrecher  als  auch  solche  auf,  welche  im 
Gefängnis  als  krank  erkannt  werden,  aber  ihr 
Verbrechen  schon  in  der  Krankheit  begangen 
haben,  also  nicht  „irre  Verbrecher",  sondern 
„verbrecherische  Irre"  sind.  Aehnliche  Special- 
anstalten bestehen  noch  in  Irland  zn  Dnndrum, , 
in  Italien  zu  Montelupo  bei  Florenz  (1886  ge- 
gründet) und  in  den  Vereinigten  Staaten  von 
Amerika,  das  älteste  hier  zu  Aubnm  (N.  Y., 


1859  gegründet).  IrrenabteUnngen  an  Gefäng- 
nissen existieren  in  Schottland  (Perth)  und 
England  (Woking  und  Parkhurst).  Sachsen 
hat  am  Zuchthans  zu  Waldheim  und  Baden  am 
Gefängnis  zn  Bruchsal  derartige  psychiatrisch 
geleitete  IrrenabteUnngen.  Gegen"  sie  wird 
hauptsächlich  eingewendet,  dass  es  in  ihnen 
fast  unmöglich  sei,  die  relativ  kleine  Zahl  der 
Kranken  richtig  zu  gruppieren,  sie  angemessen 
zu  beschäftigen  und  zu  zerstreuen,  endlich  den 
der  Heilung  feindlichen  Geist  der  Strafanstalt 
zu  verbannen.  Weniger  ist  bisher  die  Unter- 
bringung der  irren  Verbrecher  in  besonderen 
Anhängseln  von  Irrenanstalten  versucht  worden 
(z.  B.  vor  der  Eröffnung  von  Broadmoor  an  der 
Irrenanstalt  Bedlam  und  neuerding[s  in  der 
rheinischen  Prov.  -  Anstalt  Düren).  Die  meisten 
Staaten  haben  sich  eben  damit  begnügt,  die 
Geisteskranken,  welche  die  Gefängnisse  nicht 
behalten  wollten  oder  konnten,  den  Irrenan- 
stalten zuzuweisen,  und  diese  mochten  sehen, 
wie  sie  sich  damit  behalfen.  In  Preussen  besteht 
seit  1888  eine  Beobachtungsabteilung  am  Zellen- 
gefänguis  zu  Moabit ,  welche  nach  Feststellung 
des  Geisteszustandes  die  erkrankten  Verbrecher, 
welche  nicht  in  kurzer  Zeit  genesen,  in  die  zu- 
ständigen Irrenanstalten  entlässt,  und  seit  1898 
eine  Irrenabteüung  im  neuen  Gefiingnis  zu 
Breslau  zur  Aufnstnme  derjenigen  Gefangenen 
ans  schlesischen  Strafanstalten  und  Gefän^is- 
sen,  welche  wegen  ihres  Geisteszustandes  emem 
Heil-  oder  Beobachtungsverfahren  zu  unter- 
ziehen sind.  Trotz  der  grossen  Unzutr&glich- 
keiten,  die  die  Ueberftihrung  der  irren  Ver- 
brecher in  die  gewöhnlichen  Anstalten  für  diese 
mit  sich  bringt,  haben  sich  doch  neuerdings 
auch  unter  den  Psychiatern  Stimmen  erhoben, 
welche  sich  für  diese  Lösung  der  Schwierigkeit 
aussprechen.  Die  Erfahrungen,  die  man  zumal 
in  Dalldorf  gemacht  hat,  lassen  erkennen,  dass 
auch  bei  einer  relativ  grossen  Anzahl  sehr  un- 
bequemer und  gefährlicher  Elemente,  wie  dies 
namentlich  geistesgestörte  Gewohnheitsver- 
brecher sind,  die  Schwierigkeiten  überwunden 
werden  können.  Freilich  werden  in  einer  be- 
sonders hierfür  konstruierten  Abteilung  der  An- 
stalt Sicherheitsmassregeln  notwendig,  die  mehr 
au  ein  Gefängnis  als  an  ein  Krankenhaus  ge- 
mahnen. Aehnlich  wie  in  Dalldorf  hat  man 
sich  in  Washmgtou  zur  eigenen  Befriedigung 
eingerichtet. 

Ausser  den  Geisteskranken,  welche  in  den 
Strafanstalten  stören  und  deshalb  ans  ihnen 
entfernt  werden,  befinden  sich  in  denselben  nach 
dem  Zeugnisse  fast  aller  Gefängnisärzte  eine 
ganze  Anzahl  von  harmlosen  Irren,  welche  sich 
nicht  besonders  bemerklich  und  unbequem 
machen.  Vielleicht  würden,  wenn  auch  diese 
ausgeschieden  und  mit  den  Uebrigen  einer  An- 
stalt für  irre  Verbrecher  resp.  einem  besonderen 
Adnex  einer  Strafanstalt  unter  selbständiger 
Leitung  eines  Irrenarztes  übergeben  würden, 
manche  Schwierigkeiten  wegfallen  und  den 
gewöhnlichen  Irrenanstalten  die  Aufgabe  erspart 
werden,  auch  die  erkrankten  Verbrecher  zu 
verpflegen. 

In  Italien,  wo  eine  geminderte  Zurech- 
nungsfähigkeit gesetzlich  anerkannt  ist,  werden 
die  auf  Grund  derselben  Verurteilten,  soweit  sie 
der  Pflege  in  einer  Irrenanstalt  bedürfen,  auch 
in  die  Anstalt  zu  Montelupo  aufgenommen.   Bei 


1386 


Irreoweeea 


uns  ist  die  geminderte  ZorechnungsÜlbigkeit 
trotz  der  vielen  für  ihre  Einftthmnis:  sprechen- 
den Gründe  im  Strafgesetzbuch  nicht  ausge- 
sprochen. Annahme  mildernder  Umstände  und 
eine  gewisse  Breite  in  richterlicher  Strafzumes- 
sxmg  müssen  Ersatz  dafür  bieten. 

II.  Irrenstatistik. 

Eine  zuverlässige  Statistik  über 
die  ausserhalb  der  Irrenanstalten 
lebenden  Geisteskranken,  soweit 
sie  nicht  gerichtlich  als  solche  erkannt 
werden  oder  der  öffentlichen  Fürsorge  an- 
heimfallen, giebt  es  nicht,  da  die  Grrenze 
zwischen  geistiger  Gresundheit  und  Krank- 
heit flüssig  ist  und  ziunal  bei  flüch- 
tiger Untersuchung  nicht  gezogen  wer- 
den kann.  Verschiedenheiten  in  der  Auf- 
fassung verschiedener  Beurteiler  werden 
sich  also  schon  bei  demselben  Beobachtungs- 
material zeigen.  Diese  Vei-schiedenheit  muss 
wachsen,  wenn  die  Forschimg  sich  auf  ver- 
schiedene Länder  oder  verschiedene  Zeiten 
ei-streckt,  weil  die  Erscheinungen  geistiger 
Erkrankung  in  ungleicher  Umgebung  sehr 
ungleich  zu  Tage  ti-eten  können.  Derselbe 
Grad  des  Schwachsinns,  der  in  einfachen 


Verhältnissen  nicht  auffällt,  weil  er  noch 
eine  selbständige  Lebensfilhrung  gestattet 
kann  diese  unter  verwickeiteren  soziaiea 
Bedingungen  unmöglich  machen.  Und  das- 
selbe gilt  für  andere  geistige  Krankheitszn- 
stände.  Daher  die  Unsicherheit  in  der  Be- 
antwortung der  Frage,  ob  mit  steigender 
Kultur  geistige  Erkrankimg  an  Häufigkeit 
zunimmt. 

Im  ländlichen  Gouvernement  Moskau  fanden 
sich  1893  nach  einer  von  den  Aerzt«n  und 
Geistlichen  aufgestellten  und  von  umhergesand- 
ten  Irrenärzten  nachgeprüften  List«  auf  le  lOuCt 
Einwohner  2,3  Geisteskranke,  nach  der  gleichen 
Methode  1895  in  dem  ländlichen  Gouvernement 
Petersburg  auf  je  lOOO  Einwohner  2,4  Geist«^*- 
kranke.  Dagegen  zählten  in  England  und  Wales 
die  Commissioners  in  Lunacy,  welche  noch  da- 
zu diejenigen  Geisteskranken  nicht  mitrechnen, 
die  ohne  Schaden  in  ihrer  Familie  leben  und 
der  öffentlichen  Unterstützung  nicht  anheim- 
fallen, trotz  dieser  Einschränkung  im  Jahre 
1898  105086  oder  3,3 «oo  der  Bevölkerung.  Die 
entsprechenden  Zahlen  hatten  1859  nur  367H2 
und  lj^%Q  betragen. 

Guttstadt  giebt  nach  den  Ergebnisseu  der 
Volkszählung  vom  1.  Dezember  1871.  1880 
und  2.  Dezember  1895  folgende  Tabelle  für  die 
Verhältnisse  im  Königreich  Preussen: 


Staat,  Provinzen 


Geisteskranke  in  der  Be- 
völkerung überhaupt 


1871 


1880 


1895 


Auf  10000  Ortsanwesende 
kommen  Geisteskranke 


1871 


1880 


1895 


Staat    

Provinzen 

Ostpreussen 

Westpreussen 

Stadtkreis  Berlin^)    .    .    .    .    . 

Brandenburg 

Pommern 

Posen 

Schlesien 

Sachsen    .    .    

Schleswig-Holstein 

Hannover 

Westfalen 

Hessen-Nassau 

Rheinland  und  HohenzoUem  .    . 

')  einschliesslich  Dalldorf. 


55  043 


3674 
2519 

1  006 

4  12S 

2734 

2349 

6334 
408g 

3710 
5827 

4651 
4039 
9984 


66  345     i    82  850  22,4 


4044 
2961 

1985 

5695 
3418 
2738 

8357 
4809 

3800 

6317 
5348 

4715 
12  is8 


4641 

3  347 
4824 

7618 

4273 

3586 

II  181 

5524 

3897 
6647 

6881 

5428 

15003 


20,2 
19,2 
12,2 
20,3 
19,1 

I4;8 

17,1 

19,4 

37,3 

29,7 
26,2 

28,8 
27,4 


24,3 


20,9 
21,1 

I7J 

25,1 
22,1 

16,1 

20,9 

20,8 

29,8 
26,2 

30:3 

29,4 


26.0 


23.1 

22.4 
28.7 

27.0 

27.1 
19.6 

2^fO 
20.5 

30^3 

27,4 
25.5 

30,9 
29.0 


Hier  muss  zunächst  fraglich  bleiben,  ob  die 
Zunahme  der  Geisteskranken  eine  wirkliche 
oder  durch  grössere  Annäherung  der  späteren 
Zählungen  an  die  wirklichen  Verhältnisse  und 
durch  die  wachsende  Fürsorge  und  dadurch 
verlängerte  Lebensdauer  der  Kranken  vorge- 
täuschte ist.  Betrachtet  man  die  Zahlenver- 
änderungen in  den  einzelnen  Provinzen,  so  fällt 
die  schnelle  Zunahme  der  Geisteskranken  in 
Brandenburg,  Pommern,  Schlesien,  vor  allem 
aber  im  Stadtkreis  Berlin  auf,  während  in 
Hannover,  Westfalen  und  namentlich  Schleswig- 
Holstein  eine  Abnahme  zu  Tage  tritt.  Wir 
dürfen  hier  wohl   zunächst   an   eine  Wirkung  • 


des  Wandertriebs  und  der  Freizügigkeit Jaenktn. 
da  nicht  Heimat  oder  Geburtsort,  sondern  Orts- 
anwesenheit für  die  Einreihung  in  Betracht 
kam.  Die  verhältnismässig  kleinen  Zahlen  in 
Posen,  West-  und  Ostpreussen  entsprechen  dra 
einfacheren,  meist  ländlichen  Verhältnissen  dii~ 
ser  Provinzen  im  Gegensatz  zu  Hessen  -  Nassta 
und  der  Bheinprovinz .  während  die  Zahlen 
einerseits  für  Sachsen,  andererseits  für  Schles- 
wig-Holstein hiermit  nicht  zu  erklären  sind. 

Auf  sicherer  Unterlage  nihen  ilagegou 
die  statistischen  Ergebnisse,  die  aus  den 
Irrenanstalten  gewonnen  wenlen.   Lei- 


LTenwesen 


1387 


der  wird  ihr  Wert  gerade   dadurch  beein- 
trächtigt, dass  sie  nur  einen  und  zwar  sehr 


Auch  hier  können  natürlich  nnr  die  wich- 
tigsten Ergebnisse  an  einzelnen  Beispielen  ins 


versdiiedeneu  Teü  der  Geisteskranken  über-   ^nge  gefasst  werden.    Folgende  Tabelle   von 


haupt  umfassen. 


Guttstadt  erläntert  die  Fürsorge  der  einzelnen 
preussischen  Provinzen  für  ihre  Geisteskranken : 


Staat,  Provinzen 


Geisteskranke 
in  Irrenanstalten 


Von  100  Geisteskranken  über- 
haupt sind  in  Irrenanstalten 


1871 


1880 


1895 


1871 


1880 


1895 


vStaat 


Provinzen : 


Ostpreupsen 

Westpreussen 

Stadtkreis  Berlin ') 

Brandenburg 

Pommern 

Posen 

Schlesien 

Sachsen 

Schleswig-Holstein 

Hannover 

Westfalen 

Hessen-Nassau 

Kheinland  und  Hohenzollem  .    . 

')  einschliesslich  Dalldorf. 


II  760        18894 


357 
352 
560 

1257 
302 
176 

I  209 
762 

943 
I  461 

907 

967 

2507 


578 

434 

I  193 
1941 

765 
366 

2228 

1333 

1  181 

2  119 
I  285 

1497 

3  974 


43  711 


2026 

I  155 
3293 

4369 
2042 

1  281 
5906 

2757 

2  171 

3331 
3458 

3238 
8684 


21,4 


9,7 
14,0 

SSJ 
30,5 
11,0 

7,5 
19,1 
18,6 

25,4 
25,1 
19,5 
23,9 
25,1 


28,5 


H,3 

14,7 
60,1 

34,1 
22,4 

13,4 
26,7 

27,7 

31,1 

33,5 
24,0 

31,7 
32,7 


52,8 


43,7 
34,5 
68,3 
57,4 
47,8 

35,7 
52,8 

49,9 

55,7 
50,1 

50,3 
59,7 
57,9 


Man  bemerke  die  gewaltige  Zunahme  der 
Anstaltspfle^e  in  allen  Provinzen  und  die  aus- 
gedehntere Fürsorge  in  den  westlichen  Provin- 
zen, in  denen  ältere  Kultur,  dichtere  Bevölke- 
rung und  verwickeitere  Lebensverhältnisse  die- 
selbe notwendiger  machten  und  durch  grösseren 
Wohlstand  erleichterten.  Man  beachte  ferner 
die  Ausnahmestellung  der  Grossstadt  Berlin,  die 


besonders    in    den     früheren    Jahren    hervor- 
tritt. 

Welchem  Geschlecht  und  Familienstand  die 
43711  am  2.  Dezember  1895  in  den  preussischen 
Irrenanstalten  befindlichen  Geisteskranken  an- 
gehörten und  bei  wie  vielen  die  Krankheit  an- 
geboren, bei  wie  vielen  später  erworben  war, 
lehrt  folgende  Tabelle: 


Männlich 


Familien- 
stand 


geistes- 
krank 
geboren 


krank  ge-'  ^°^^^^     überhaupt 
I   worden   1  -^"s**"^ 


Weiblich 


geistes-      geistes-  ,       1 
krank     krank  ge-    Angabe 
geboren      worden  ^ 


überhaupt 


ledig    .    . 
verheiratet 
verwitwet 
geschieden 


4564 
12 


12  106 

5  103 
789 
161 


125 
21 

5 


zusammen 


4578 

(13  210) 


18  159 


151 


(27  360)  ,  (2  878) 


16795 
5136 

794 
163 

3899 

19 
16 

22888 

(43  448) 

3  934 
(11  064) 

9319 

4717 

2395 

279 


16  710 

(25  524) 


151 

20 
6 

2 


13369 

4756 

2417 

281 


179 

(2814) 


20823 

(39  402) 


In  der  untersten  Reihe  sind  die  entsprechen- 
den Zahlen  für  die  Gesamtbevölkerung  in 
Klammem  beigefügt. 

Wir  finden  also  zunächst  ein  entschiedenes 
Uebergewicht  des    männlichen    Geschlechts   reu  Volkszählungen: 
unter  den  Geisteskranken  sowohl  in  den  An- 


stalten wie  in  der  Gesamtbevölkerung.  Und 
dass  dies  Verhältnis  auch  früher  in  Preussen 
bestanden  hat,  lehrt  die  Vergleichung  mit  den 
Ergebnissen  der  Anstaltsstatistik  wie  der  frühe- 


In  Preussen  befanden  sich 

In  der  Gesamtbevölkerung 

Unter  100000  Anwesenden: 

1871           1880     ,      1895 

1871 

1880 

1895 

Geisteskranke  überhaupt     .    .    . 

davon 

männlich    .    .    .    *. 

weiblich 

55  043        66  345 

28  002    '     34  309 
27041    j     32036 

82850 

43448 
39402 

223 

231 
216 

243 

256 
231 

260 

278 
243 

1388 


Irrenwesen 


In  den  Irrenanstalten  wurden  verpflegt  im  Jahre 

1875  18267  Geisteskranke,  davon    9856  Männer  und    8  411  Weiber 

1895  56647             „                 „30521        „           „    26126  „ 

1896  58534             „                 r      31750        „          „    26784  „ 


(Bei  diesen  Zahlen,  die  durch  Verwertung 
der  jährlich  dem  statistischen  Bureau  einge- 
sandten Zählkarten  gewonnen  wurden,  ist  der 
Anstaltswechsel  berücksichtigt.) 

Die  stärkere  Beteiligung  des  männlichen 
Geschlechts  an  Geisteskrankheiten  gilt  jedoch 
nicht  für  alle  Länder.  So  zeigt  z.  B.  Schott- 
land das  umgekehrte  Verhältnis.  Die  folgende 
Tabelle  umfasst  die  schottischen  Anstalten,  aus- 
genommen die  Erziehungshäiiser  für  schwach- 
sinnige Kinder  und  die  Irrenabteilung  am  Ge- 
fängnis (Anstaltswechsel  berücksichtigt): 


Durch- 
schnitt 
der  Jahre 


1860—64 
1865-69 
1870—74 
1875—79 
1880—84 
1885-89 
1890—94 
1898 


Bestand  am 
1.  Januar 


m. 


w. 


ge- 
samt 


Aufnahmen 


m. 


w. 


ge- 
samt 


2  132 

2475 
2896 

3352 
3960 

4275 
4  739 
5830 


2412 

4  544 

2737 

5  212 

3231    6127 

3758 

7  HO 

4310 

8270 

4  579 

8854 

5135 

9874 

6324 

12  154 

667 
792 

895 
1 115 
1 178 

1 194 

1433 

1 715 


757 
881 

I  026 

1  202 

1332 

1345 
1530 
I  802 


1424 

1673 

1  921 

2317 

2  510 

2  539i 
2963 

3517 


Also  nicht  nur  in  der  Zahl   der  Anstalts- 
pfleglinge, sondern  auch  in  der  Zahl  der  Auf- 
nahmen überwiegt  in  Schottland  das  weibliche 
Geschlecht.    Interessant  ist ,  dass  eine  allmäh- 1 
liehe  Verschiebung  dieses  Verhältnisses  beob- 1 
achtet  werden  kann ,   wie  es   in  England  der  1 
Fall  war:  I 


Aufnahmen  in  engl. 

Anstalten,  auf  je 

10000  der  Gesamt- 

bevölkerung 

männl. 

weibl. 

zus. 

1881 

5,25 

5,12 

5,18 

1882 

5,20 

5,14 

5,17 

1883 

5,42 

5,45 

5,44 

1884 

5;37 

5,24 

5,30 

1885 

4,86 

4,95 

4,91 

1886 

4,98 

4,88 

4,93 

1887 

5,21 

5,07 

5,14 

1888 

5,23 

5,24 

5,24 

1889 

5,21 

5,37 

5,29 

1890 

5,55      5,71 

5,63 

Durch-  r  *'*^'^®il886-90 
schnitt  f.\io    „      1881    90 

5,22 

5,24 

5,18 
5,26 

5,20 

5,25 

5,23 

5,22 

5,22 

Dort  zeigte  demnach  die  erste  Hälfte  der 
80  er  Jahre  ein  Ueberwiegen  des  männlicheit 
die  zweite  Hälfte  ein  Ueberwiegen  des  weib- 
lichen Geschlechts,  beides  freilich  in  nicht  sehr 
ausgesprochener  Weise.  Viel  gleichmässi^er  aU 
die  Beziehung  des  Geschlechts  ist  die  des 
Familienstandes  zur  Geisteskrankheit  und 
zwar  sind,  wie  die  oben  angeführte  Tabelle  der 
am  2.  Dezember  1895  in  den  preussischen  Irren- 
anstalten befindlichen  GeistesKranken  zeigt,  die 
Ledigen  bei  weitem  stärker  betroffen  als  die 
Verheirateten,  und  dies  Verhältnis  besteht  auch 
dann,  wenn  man  die  Ledigen  mit  den  Ledigen 
der  Gesamtbevölkerung  u.  s.  w.  zusammen- 
stellt Voreilig  aber  würde  es  sein,  wollte  man 
hieraus  schliessen,  dass  die  Ehelosigkeit  ditf 
Geisteskrankheit  begünstige:  in  senr  vielen 
Fällen  wird  umgekehrt  nicht  nur  bei  den 
geisteskrank  Geborenen,  sondern  auch  bei  den 
Uebrigen  die  geistige  Erkrankung  oder  dazu 
disponierende  Charaktereigentümlichkeit  Ursache 
der  Ehelosigkeit  sein.  Gerade  beim  weiblichen 
Geschlecht,  bei  dem  man  am  ehesten  eine 
günstige  Wirkung  der  Ehe  erwarten  mag,  tritt 
auch  bei  glücklichem  Eheleben,  das  ja  allein 
schützenden  Einfluss  üben  könnte,  vennehne 
Gefahr  durch  die  Entbindungen  ein.  Von 
69560  weiblichen  Geisteskranken,  die  1878  bi« 
1887  in  England  und  Wales  den  Irrenanstalten 
zugeführt  wurden,  verdankten  1  %  der  Schwan- 
gerschaft, 6,7  der  Entbindung  oder  dem  Puer- 
perium und  2,2%  der  Lactation  ihre  Erkran- 
kung. —  Dass  unter  den  Verwitweten  der  An- 
teil der  Frauen  ein  unverhältnismässig  hoher 
ist,  dürfte  nicht  wunderbar  erscheinen. 

Das  Lebensalter,  in  welchem  Geines- 
kraukheit  am  häufic^sten  auftritt,  ist  bei  uns 
das  zwischen  30  und  50  Jahren,  und  zwar  lieet 
im  allgemeinen  für  Männer  der  Höhepunkt  me^ 
zwischen  dem  30.  und  40.  Jahre,  während  für 
Frauen  auch  das  Jahrzehnt  zwischen  dem  40. 
und  50.  Jahre  ebenso  gefährdet  ist. 

Dass  auch  das  religiöse  Bekenntnis 
von  Einfluss  auf  die  Häufigkeit  geistiger  Stö- 
rung ist,  ergiebt  sich  aus  der  Uebexeinstim- 
mung,  dass  überall  die  Juden  am  meisten,  s^ 
dann  die  Evangelischen  und  am  wenigsten  die 
Katholiken  davon  betroffen  werden.  Bei  der 
Verschiedenheit  zwischen  Juden  und  Christen 
spricht  gewiss  der  Bassenunterschied  mit,  wäh- 
rend derselbe  für  den  dagegen  freilich  recht 
fireringen,  aber  konstanten  Unterschied  zwischen 
Katholiken  und  Evangelischen  nicht  vorhanden 
ist.  Ich  führe  als  Beispiel  das  Ergebnis  der 
Zählung  vom  2.  Januar  1895  für  Preussen  an. 
Damals  befanden  sich  unter  fe  100000  Qrtsan- 
wesenden  desselben  Bekenntnisses  und  desselben 
Geschlechts 


Geisteskranke 

evang. 

katho 

männliche 

weibliche 

zusammen 

278 
246 
261 

270 
231 
250 

jüdische 

534 
462 

498 


andere 

Protestant. 

248 

211 

228 


andere 
christliche 

172 

175 
173 


andrer 
Religion 
.  592 

495 


unbe- 
stimmt 

536 
84S 

639 


IiTenwesen 


1389 


Die  Ursachen  der  Geistesstörungen  sind  |  mannigfaltig.    Ich  führe  nur  die  Prozentsätze 


statistisch  .  weniger  fassbar ,  weil  gewöhnlich 
mehrere  zusammentreffen  und  weil  verschiedene 
Beobachter  daher  den  meisten  sehr  verschiedenen 
Wert  biegen.  Die  ftLr  die  einzelnen  Anstalten 
und  Länder  gewonnenen  Zahlen  sind  daher  sehr 


für  einige  Ursachen  an,  wie  sie  für  die  1878 
bis  87  in  die  Anstalten  von  England  und  Wales 
aufgenommenen  136478  Geisteskranken  (66918 
männliche,  69560  weibliche)  aufgestellt  sind: 


Häusliche  Erregungen,  einschl.  den  Verlust  von  Verwandten  und 
Freunden 

Widrige  Verhältnisse,  einschl.  geschäftliche  Sorgen  und  Geld- 
schwierijB^keiten 

Unmässigkeit  im  Trinken 

Frühere  Geistesstörung 

Nachgewiesener  Einflnss  der  Erblichkeit 

Unbekannt 

Die  Zahlen  der  Tabelle  für  Schwangerschaft 
u.  8.  w.  sind  bereits  oben  mitgeteilt. 

Ueber  die  Häufigkeit  der  einzelnen  For- 
men von  Geisteskrankheit  geben  nur 
diejenigen  Aufstellungen  Gewähr  für  Richtig- 
keit, welche,  wie  die  preussische  Zählkarten- 
statistik, sich  auf  die  Heraushebung  weniger, 
aber  gut  charakterisierter  Krankheitsarten  be- 
schränken.   Will  man  mehr  erreichen  und  z.  B. 


männl.      weibl.       zus. 


4,2 


9,7 


7,o 


^'5 

3,7 

5,9 

19,8 

7,2 

13,4 

14,3 

18,9 

16,6 

19,0 

22,1 

20,5 

21,3 

20,1 

20,7 

die  „einfache  Seelenstörung''  der  preussischen 
Statistik  in  verschiedene  Gruppen  zerteilen,  so 
erhält  man  infolge  der  verschiedenen  Gruppie- 
rung verschiedener  Beobachter  unbrauchbare 
Zamen. 

Unter  je  100  der  1876  bezw.  1896  in  die 
preussischen     Irrenanstalten     Aufgenommenen 


litten  an 


1875 


1896 


m. 

einfacher  Seelenstörung .51,93 

paralytischer  Seelenstörun^ 15,34 

Seelenstörung  mit  Epilepsie 6,40 

Imbecillität,  Idiotie,  Kretinismus 8,97 

Säuferwahnsinn 17,20 

waren  zur  Beobachtung  überwiesen 0,16 

Unter  den  Abgegangenen  ist  die  Zahl 
der  Todesfälle  klar,  weniger  eindeutig  ist  die 
Unterscheidung  zwischen  Geheüten,  Gebesserten 
und  Ungebesserten ,  weshalb  in  manchen  Län- 
dern auch  nur  „Geheilte"  und  „Nichtgeheilte" 
aufgeführt  werden.  Ich  führe  eine  Tabelle  über 
die  Bewegung  in  den  Kreisirrenanstalten 
Bayerns  an: 


w. 

m. 

w. 

80,54 

45,79 

71,00 

3,88 

i8,39 

7,62 

5,80 

9,47 

8,75 

8,55 

10,77 

10,18 

1,18 

12,94 

1,00 

0,05 

2,64 

1,45 

Im  Jahre 
1887       1      1896 

Durch- 
schnitt d. 
10  Jahre 
1887    96 

Anfangsbe- 
stand    .    . 

3780 

4787 

4240 

Zugang     . 

1383 

1525 

1442 

Abgegangen : 
genesen 
gebessert  . 
nngebessert 
jfestorben  . 
im  ganzen 

280 
303 
455 
359 
1397 

273 
396 
278 

432 

I  418*) 

260 

347 
313 
396 

1  331*) 

Schhissbest. 

3766 

4894 

4351 

Dass  auf  die  Zahl  der  Todesfälle  wie  auf 
die  der  Heilungen  Alter  und  Krankheitsform 
wesentlichen  Einflnss  haben,  ist  natürlich.  Für 
die  Zahl  der  Heilungen  kommt  aber  noch  ein 
anderer  Umstand  sehr  in  Betracht,  das  ist  die 
Zeit,  die  seit  Ausbruch  der  Krankheit  bis  zur 
Aufnahme  des  Kranken  in  die  Anstalt  verflos- 
sen ist.  In  der  rheinischen  Irrenanstalt  zu 
Düren  waren  in  den  Jahren  1878—87  von  den 
Genesenen  bei  der  Aufnahme  krank  gewesen 


männl. 
bis  zu  1  Monat    41,8  Proz. 

2-  3   „    30,1 

4—  6   „    15,7 

7-12   „    4,8 

im  2.  Jahre     4,8 

von  über  2  Jahren  2,8 


n 
n 


n 


weibl. 
40,9  Proz. 

35,6      „ 

14,8      „ 

6,2 

1,0 

1,5 


n 


n 


In  der  lothringischen  Bezirksirrenanstalt  bei 
iSaargemüud  ergab  sich  für  die  Jahre  1887  bis 
1896   folgende   Daner   des    Anstaltsaufenthalts 
der  als  geheilt  Entlassenen: 


Dauer  der 
Krankheit 
vor  der  1. 
Aufnahme 


Aufenthalt  in  der  Anstalt 


1 — 3  Monate 
M.      !      F. 


3—6  Monate 
M.     I      F. 


6—12  Monate 
M.           F. 

Ueber 
M. 

1  Jahr 
F. 

1 
16          27 

3             6 

1             3 
I             2 

11 

3 
6 

2 

16 

2 

4 

5- 

Summe 
M.  u.  F. 


1 — 3  Monate 

:^6      „ 
6-12     „ 

Ueber  1  Jahr 


41 

5 
6 

4 


27 
6 

2 

2 


44 
8 

6 
4 


218 
36 

32 
24 


Zusammen 


56 


47       !      37 


62 


21 


38 


22 


27 


310 


*)   einschliesslich    der    lediglich    zur    Beobachtung    aufgenommenen    und    wieder    abge- 
gangenen Nichtgeisteskranken. 


1390 


Irrenwesen 


Einige  Angaben  über  die  Zahl  der 
Irrenanstalten  in  Deutschland  mö- 
gen hier  noch  folgen.  Dem  preussischen  sta- 
tistischen Bnrean  gingen  1896  ans  228  Irren- 
anstalten Zählkarten  zn.  Davon  waren  4  Staats- 
anstalten ;  den  Provinzen  und  Bezirksverbänden 
gehörten  55  selbständige  Anstalten  und  3  Irren- 
abteilungen von  Kranken-  und  Armenhäusern; 
städtischer  Besitz  waren  13  selbständige  Irren- 
anstalten und  16  Irrenabteilungen  von  Kranken-, 
Siechen-  und  Armenhäusern;  41  Wohlthätig- 
keitsanstalten  waren  im  Besitz  von  Orden  und 
Vereinen,  vorzugsweise  für  Idioten  bestimmt; 
von  96  Privatirrenanstalten  hatten  38  Aerzte 
zu  Besitzern,  58  gehörten  anderen  Privatper- 
sonen. 

III.  Die  Irrengesetzgebang  in  den 
einzelnen  Landern. 

Ausser  Deutschland  werden  hier  nur  die- 
jenigen europäischeil  Länder  berücksichtigt, 
welche  besondere  Irrengesetze  besitzen. 

Um  ein  leichteres  Zurechtfinden  zu  ermög- 
lichen, ist  jedesmal  folgende  Einteilung  ge- 
troffen :  a)  Allgemeine  Aufsicht  über  das  Irren- 
wesen, b)  Aufsicht  über  Geisteskranke  ausser- 
halb der  Anstalten,  c)  Verpflichtung  zu  Bau 
und  Unterhaltung  öffentlicher  Anstalten,  d) 
Konzessiouierung  von  Anstalten,  e)  Specielle 
Beaufsichtigung  und  Organisation  der  einzelnen 
Anstalten,  f)  Aufnahme  von  Kranken,  g)  Ent- 
lassung derselben,  h)  Staatliche  Sorge  für  das 
Vermögen  derselben,  i)  Bestimmungen  über 
irre  Verbrecher.  Mit  Ausnahme  von  Deutsch- 
land, das  ja  bisher  einer  zusammenfassenden 
Irrengesetzgebung  ermangelt,  sind  Bestimmun- 
gen, die  in  den  Irrengesetzen  nicht  enthalten 
sind,  nur  gelegentlich  zum  besseren  Verständ- 
nis herangezogen  worden. 

1.  Deutsehland.  Manche  Fragen  des 
In-en  Wesens,  zumal  die  der  Entmündigung, 
sind  reichsgesetzlich  geregelt,  andere  den 
Einzelstaaten  überlassen. 

a)  Obwohl  nach  Art.  4  der  Verfassung 
Massregeln  der  Medizinalpolizei  der  Beaufsich- 
tigung seitens  des  Reichs  und  der  Gesetzgebung 
desselben  unterliegen,  Übt  das  Reich  eine  Auf- 
sicht über  die  Irrenpflege  nicht  aus.  Im  Reichs- 
gesundheitsamt ist  die  Psychiatrie  nicht  ver- 
ti-eten.  Wohl  aber  ist  seit  1895  in  Preussen 
ein  Hilfsarbeiter  im  Medizinalministerium  zur 
Bearbeitung  der  Irrenanstaltsangelegenheiten 
im  Nebenamt  angestellt.  In  Württemberg  ist, 
ebenfalls  seit  1895,  ein  psvchiatrisch  gebildetes 
Mitglied  dem  Medizinalkollegium  beigefügt,  das 
seine  Thätigkeit  ganz  dem  Irrenwesen  widmet. 

b)  In  Preussen  ist  durch  Min.-Runderlass 
vom  25.  April  1898  den  Regierungspräsidenten 
die  Beaufsichtigung  der  ausserhalb  von  Irren- 
anstalten untergebrachten  Geisteskranken  an- 
heim  gegeben,  falls  ein  Bedürfnis  dazu  vorliegen 
sollte.  In  diesem  Falle  haben  die  Ortspolizei- 
behörden ein  Verzeichnis  der  in  ihrem  Bezirke 
befindlichen  Geisteskranken,  Geistesschwachen 
und  Blödsinnigen  unter  ärztlicher  Mitwirkung 
aufzustellen,  dies  Verzeichnis  ist  vom  Landrat 
resp.  der  Polizeiverwaltung  jährlich  zu  prüfen, 
eventuell  durch  den  Kreisphysikus  zu  berichti- 
gen und,  falls  besondere  Uebelstände  wahrge- 


nommen werden  und  deren  Abstellung  nicht  za 
sichern  ist,  die  Anstaltsbehandlun^  der  betreffen- 
den Kranken  in  die  Wege  zu  leiten. 

c)  Nicht  jeder  deutsche  Staat  hat  seine 
eigene  Irrenanstalt.  Schaumburg-Llppe,  Waldeck 
und  Schwarzburg- Sondershausen  scnicken  ihre 
Kranken  in  Anstalten  anderer  Staaten ;  Sachsen- 
Meiningen,  Sachsen-Coburg-Gotha  und  Schwarz- 
burg-Rudolstadt  haben  zusammen  eine  gemein- 
same öffentliche  Anstalt  und  ebenso  Sachseu- 
Altenbnrg  und  beide  Reuss.  Die  übrigen  Staa- 
ten haben  eigene  Anstalten  errichtet,  in  Bayern 
liegt  die  Verpflichtung  hierzu  den  Kreisen  ob. 
Der  preussische  Staat  besitzt,  abstehen  von 
Irrenabteilungen  an  2  StrafanstjJten,  nur  3 
Irrenanstalten,  die  Irrenabteilnng  der  Charit^ 
zu  Berlin  und  die  psychiatrischen  Kliniken  zu 
Greifswald  und  Halle,  alle  drei  für  Lehrzwecke : 
sonst  haben  hier  die  gesetzlichen  Körperschaften 
der  Selbstverwaltung  die  Pflicht,  Anstalten  zu 
bauen,  und  zwar  lie^^t  nach  dem  G.  v.  16.  Jnli 
1891  den  Landarmenverbänden  ob,  für  Bewah- 
rung, Kur  und  Pflege  der  hilfsbedüiftigen 
Geisteskranken,  Idioten  und  Epileptischen,  so- 
weit dieselben  der  Anstaltspflege  bedürfen,  in 
geeigneten  Anstalten  Fürsorge  zu  treffen. 

d)  In  Preussen  bedürfen  die  Beschlüsse  der 
Selbstverwaltungen  über  Errichtung  und  Aende- 
run^  der  Anstalten  der  Billigung  des  Ober- 
präsidenten und  die  Anstaltsstatuten  der  des 
Ministers.  —  Die  Konzessionierung  von  Privat- 
anstalten ist  durch  Reichsgesetz  an  die  Zuver- 
lässigkeit des  Unternehmers,  die  Beobachtung 
der  gesundheitspolizeilichen  Anforderungen  und 
die  Vermeidung  von  erheblichen  Nachteilen  oder 
Gefahren  für  Mitbewohner  und  Nachbarn  ge- 
bunden, dagegen  wird  ein  Arzt  als  Leiter  nicht 
verlangt  (Gew.-O.  mit  Abänderung  v.  6.  August 
1896:  §  30,  49,  53,  147,  151). 

e)  In  Preussen  ist  durch  Erlass  v.  11.  Mai 
1896  für  jeden  Regierungsbezirk  eine  Besuch»*- 
kommission  geschaffen  worden,  welche  aus  einem 
höheren  Verwaltungsbeamten  als  Vorsitzenden, 
dem  zuständigen  Regierungs-  und  Medizinalrat 
und  dem  Direktor  einer  öffentlichen  Irrenanstalt 
besteht.  Die  Privatanstalten  sind  nach  der 
Anw.  v.  20.  September  1895  zweimal  jährlich 
vom  zuständigen  Kreisphysikus  oder  dessen 
Stellvertreter  und  in  der  Regel  einmal  jährlich 
von  der  Besuchskommission  unter  Zuziehun;: 
des  Kreisphysikus  unvermutet  zu  besichtigen. 
Die  Anstalt  muss  von  einem  in  der  Psychiatrie 
bewanderten  Arzte  geleitet  werden,  der  der  Ge- 
nehmigung des  Regierungspräsidenten  durch 
Vermittelung  der  Ortspolizeibehörde  bedarf.  — 
Aehnliche  Bestimmungen  sind  auch  für  andere 
Staaten  getroffen,  für  Bayern  durch  Erlass  v. 
3.  Dezemoer  1895. 

f)  Die  Regelung  der  Aufnahmen  erfolgt 
bis  auf  den  einen  Fall,  dass  das  Gericht  nach 
§  81  der  deutschen  Strafprozessordnung  einen 
Angeschuldigten  einer  öffentlichen  Anstalt  auf 
sechs  Wochen  zur  Beobachtung  seines  Geistes- 
zustandes überweist,  durch  die  Einzelstaaten. 
In  Preussen  soll  die  Aufnahme  in  eine  Anstalt 
nach  Reskript  des  Staatsrats  v.  29.  September 
1803  erst  nach  der  Wahn-  oder  Blödsinnigkeits- 
erklärung stattfinden,  wenn  das  die  Unter- 
suchung führende  Gericht  nicht  die  einstweilige 
Unterbringung  in  ein  Irrenhaus  verfügt.  Ver- 
fügungen V.  16.  Februar  1839,  25.  April  1862  und 


In-enwesen 


1391 


8.  März  187.S  milderten  dies  dahin,  dass  jetzt  ge- 
meingefährliche Kranke  auch  infolge  eines  An- 
trags der  Verwandten  auf  Grund  eines  ärztlichen 
Zeugnisses,  nicht  gemeingefährliche  nur  auf 
polizeiliche  oder  gerichtliehe  Requisition  in  eine 
öffentliche  Anstalt  aufsrenommen  werden  dürfen. 
Anzeige  von  der  Aufnahme  ist  der  Staatsanwalt- 
schaft zu  machen  (Erlass  v.  24.  September  1880). 
IHe  Aufnahme  in  Privatanstalten  regelt  die 
preussische  Anw.  v.  20.  September  1895  dahin, 
dass  hierzu  ein  Zeugnis  des  für  den  Wohnsitz 
resp-  Brkrankungsort  zuständigen  Kreisphysikus 
nötig  ist.  Nur  in  dringenden  Fällen  genügt 
stAtt  dessen  das  Zeugnis  eines  approbierten 
Arztes,  doch  muss  dann  die  Untersuchung  durch 
den  für  die  Anstalt  zuständigen  Kreisphysikus 
nachfolgen.  Von  dieser  nachträglichen  amts- 
ärztlichen Untersuchung  kann  jedoch  abgesehen 
werden,  wenn  ein  wegen  Geisteskrankheit  Ent- 
mündigfter  auf  Antrag  seines  Vormunds  mit 
einem  privatärztlichen  Zeugnis  aufgenommen 
worden  ist  oder  wenn  das  Aufnahmezeugnis 
von  dem  ärztlichen  Leiter  einer  öffentlichen 
Irrenanstalt  oder  einer  psychiatrischen  Universi- 
tätsklinik unter  Beifügung  des  Amtscharakters 
ausgestellt  worden  ist.  Die  Aufnahme  ist  der 
für  die  Heimat  des  Kranken  wie  der  für  die 
Anstalt  zuständigen  Polizeibehörde  und  dem 
Staatsanwalt  des  für  die  Heimat  des  Kranken 
zuständigen  Landgerichts  anzuzeigen.  Ausser- 
dem können  in  besonders  dazu  ermächtigten 
Privatanstalten  „freiwillige  Pensionäre''  aufge- 
nommen werden  nur  auf  eine  ärztliche  Be- 
scheinigung der  Zweckmässigkeit  und  ihre  oder 
ihrer  gesetzlichen  Vertreter  schriftliche  Ein- 
willigung, und  zwar  ist  in  diesem  Falle  die 
Aufnahme  nur  der  Ortspolizeibehörde  der  An- 
stalt anzuzeigen.  —  Auch  sonst  ist  überall  in 
Deutschland  das  Zeugnis  eines  Arztes  und  die 
Mitwirkung  der  Ortspolizeibehörde  erforderlich. 
Ebenso  hat  überall  die  Polizeibehörde  das  Recht, 
bei  gemeingefährlichen  Kranken  den  Aufnahme- 
antrag  auch  gegen  den  Willen  der  Angehörigen 
zu  stellen,  wenn  diese  den  Kranken  nicht  hin- 
reichend bewachen  können  oder  wollen.  Da- 
gegen beschränkt  sich  der  Unterschied  zwischen 
Öffentlichen  und  Privatanstalten  nur  auf  Preussen 
und  Bayern,  wo  für  Privatanstalten  ein  amts- 
ärztliches Aufnahmezeugnis  vorgeschrieben  ist 
ausser  bei  Gefahr  im  Verzuge  oder  freiwilligem 
Eintritt,  doch  hat  dann  die  amtsärztliche  Unter- 
suchung nachzufolgen.  Aehnlich  in  Württem- 
berg (\ .  V.  18.  November  1899).  —  Eine  eigene 
SteUnng  nehmen  die  Irrenkliniken  zu  Würzbnrg 
und  Leipzig  ein,  da  hier  allein  der  Direktor 
über  die  Aufnahme  der  Kranken  verfügt,  ohne 
dass  das  Zeugnis  eines  anderen  Arztes  verlangt 
wird  oder  auch  eine  Anzeige  an  Staatsanwalt 
oder  Ortsbehörde  erfolgt.  Diese  völlige  Gleich- 
stellung einer  Irrenanstalt  mit  anderen  Kranken- 
häusern hat  zu  keinerlei  Unzuträglichkeiten 
geführt. 

g)  Die  Entlassung  aus  öffentlichen  An- 
stalten erfolgt,  wenn  der  Kranke  geheilt  ist 
oder  der  Anstaltspflege  nicht  mehr  bedarf, 
femer  eigentlich  nur,  wenn  die  Behörde,  die 
ihn  eingeliefert,  die  Entlassung,  eventuell  auf 
Wunsch  der  Angehörigen,  verlangt.  Bei  Privat- 
anstalten tritt  der  Fall  hinzu,  das^  der  gesetz- 
liche Vertreter  des  Kranken  die  Entlassung 
fordert,     doch    muss    bei    gemeingeföhrUchen 


Kranken,  falls  nicht  die  unmittelbare  Ueber- 
führung  in  eine  andere  Anstalt  sichergestellt 
ist,  die  Polizeibehörde  des  künftigen  Aufent- 
haltsortes zustimmen  und  für  sichere  Ueber- 
führung  gesorgt  sein.  Freiwillige  Pensionäre 
müssen  auf  il^  Verlangen  jederzeit  entlassen 
werden,  wenn  nicht  der  Kreisphysikus  die  Not- 
wendigkeit ihrer  Aufnahme  in  eine  Irrenanstalt 
feststellt.  —  So  in  Preussen;  ähnlich  in  den 
anderen  Bundesstaaten. 

h)  Das  Entmündigungsverfahren  ist  nicht 
öffentlich  (§  172  des  G.V.G.  v.  27.  Januar  1877). 
Es  wird  formell  durch  die  deutsche  C.P.O.  v. 
30.  Januar  1877  (in  der  Fassung  der  Bekannt- 
machung V.  20.  Mai  1898)  §§  645-679  geregelt. 
„Die  Entmündigung  wegen  Geisteskrankheit  oder 
wegen  Geistesschwäche  erfolgt  durch  Beschluss 
des  Amtsgerichts.  Der  Beschluss  wird  nur  auf 
Antrag  erlassen."  Der  Antrag  kann  von  dem 
Ehegatten,  einem  Verwandten  oder  dem  Vor- 
munde gestellt  werden,  gegen  eine  Ehefrau  aber 
im  allgemeinen  nur  vom  Ehemanne,  und  gegen 
eine  Person,  die  unter  elterlicher  Gewalt  oder 
Vormundschaft  steht,  nur  vom  gesetzlichen  Ver- 
treter; stets  aber  ist  der  Staatsanwalt  des 
Landgerichts  dazu  befugt.  Für  die  Einleitung 
des  Verfahrens  ist  das  Amtsgericht,  bei  welchem 
der  zu  Entmündigende  seinen  allgemeinen  Ge- 
richtsstand hat,  ausschliesslich  zuständig,  kann 
aber  Verhandlung  und  Entscheidung  dem  Amts- 
gericht des  Aufenthaltsortes  überweisen.  Der 
zu  Entmündigende  muss  persönlich  unter  Zu- 
ziehung eines  oder  mehrerer  Sachverständigen 
vernommen  werden,  falls  dies  nicht  mit  be- 
sonderen Schwierigkeiten  verbunden  oder  nicht 
ohne  Nachteil  für  den  Gesundheitszustand  des 
zu  Entmündigenden  ausführbar  ist.  Auch  kann 
das  Gericht  den  zu  Entmündigenden  auf  die 
Dauer  von  höchstens  sechs  Wochen  einer  Heil- 
anstalt zur  Beobachtung  überweisen,  falls  dies 
nach  ärztlichem  Gutachten  zur  Feststellung  des 
Geisteszustandes  geboten  erscheint  und  den  Ge- 
sundheitszustand des  Betreffenden  nicht  |»:e- 
fährdet ;  doch  muss  der  Antragsteller  seine  Ein- 
willigung geben  und  steht  dem  zu  Entmün- 
digenden sofortige  Beschwerde  ^egen  die  Aii- 
ordnunj^  des  Gerichts  frei.  Kemenfalls  aber 
darf  die  Entmündigung  beschlossen  werden, 
bevor  ein  oder  mehrere  Sachverständige  gehört 
sind.  Der  Entmündigungsbeschluss  wird  dem 
Vormundschaftsgericht  und  eventuell  dem  ge- 
setzlichen Vertreter  des  Entmündigten  zuge- 
stellt, im  Falle  der  Entmündigung  wegen 
Geistesschwäche  auch  dem  Entmündigten.  Eine 
etwaige  Anfechtungsklage  erfolgt  vor  dem  Land- 

ferichte.  Sie  steht  auch  dem  wegen  Geistes- 
rankheit  Entmündigten  frei,  und  zwar  beginnt 
die  Verjährungsfrist  erst  mit  dem  Zeitpunkt, 
in  welchem  derselbe  von  der  Entmündigung 
Kenntnis  erlangt. 

Nach  dem  Bürgerlichen  Gesetzbuch  kann 
entmündigt  werden,  wer  infolge  von  Geistes- 
krankheit oder  von  Geistesschwäche  seine  An- 
gelegenheiten nicht  zu  besorgen  vermag  (ausser- 
dem ist  Entmündigung  wegen  Verschwendung 
und  Trunksucht  vorgesehen),  und  zwar  ist  die 
Entmündigung  aufzuheben,  wenn  der  Grund 
derselben  wegfällt  (§  6).  Fol^e  der  Entmündi- 
gung we^en  Geisteskrankheit  ist  Geschäfts- 
unfänigkeit  gleich  derjenigen  eines  Kindes  unter 
sieben  Jahren  (§  104),  womit  auch  die  Nichtig- 


1392 


Irrenwesea 


keit  der  WiUenserkläning  gegeben  ist  (§  lOö), 
während  der  wegen  Geistesschwäche  Entmün- 
digte in  der  Beschränkung  seiner  Geschäfts- 
fähigkeit dem  Minderjährigen  gleichsteht,  der 
das  siebente  Lebensjahr  vollendet  hat  (§  114), 
so  dass  er  im  allgemeinen  dann  ein  Rechts- 
geschäft abschliessen  kann,  wenn  es  ihm  ledig- 
lich rechtlichen  Vorteil  bringt.  Er  kann  ein 
Testament  zwar  nicht  errichten,  aber  ein  früher 
errichtetes  widerrufen  (§  2229  flf.)  und  sogar  mit 
Einwilligung  seines  Vormunds  eine  Ehe  ein- 
gehen (§  1304),  während  die  Eheschliessung 
eines  wegen  Geisteskrankheit  Entmündigten 
nichtig  ist  (§  1325).  —  Ist  der  Entmündigungs- 
antrag  gestellt,  so  kann  das  Vormundschafts- 

fericht,  um  eine  erhebliche  Gefährdung  der 
erson  oder  des  Vermögens  abzuwenden,  eine 
vorläufige  Vormundschaft  (mit  der  Wirkung 
beschränkter  Geschäftsfähigkeit  —  §  114)  ein- 
richten (§  1906).  —  Ausser  der  Vormundschaft 
ist  auch  die  Einrichtung  der  Pflegschaft  vor- 
gesehen, und  zwar  kann  ein  Volljähriger,  der 
nicht  unter  Vormundschaft  steht,  aber  infolge 
geistiger  oder  körperlicher  Gebrechen  einzelne 
seiner  Angelegenheiten  oder  einen  bestimmten 
Kreis  seiner  Angelegenheiten,  insbesondere  seine 
Vermögensangelegenheiten,  nicht  zu  besorgen 
vermag,  für  diese  einen  Pfleger  erhalten,  jedoch 
ist  hierzu  die  Einwilligung  des  Gebrechlichen 
erforderlich,  es  sei  denn,  dass  eine  Verständigung 
mit  ihm  nicht  möglich  ist  (§  1910). 

Hiernach  sind  also  gewissermassen  drei 
Stufen  geschaffen:  1.  Entmündigung  wegen 
Geisteskrankheit.  Folge :  volle  Geschäftsunfähig- 
keit. Voraussetzung:  ein  die  freie  Willens- 
bestimmung ausschliessender  Zustand  krank- 
hafter Störung  der  Geistesthätigkeit,  der  seiner 
Natur  nach  nicht  nur  vorübergehend  ist  (vgl. 
§  104).  2.  Entmündigung  wegen  Geistes- 
schwäche. Folge:  beschränkte  Geschäftsfähig- 
keit. Voraussetzung:  Unfähigkeit,  seine  An- 
gelegenheiten zu  besorgen,  infolge  geringerer 
krankhafter  Störung  der  Geistesthätigkeit,  so 
dass  der  Wille  nicht  nur  durch  krankhafte  Ein- 
flüsse bestimmt  wird.  3.  Pflegschaft  wegen 
geistigen  Gebrechens.  Folge:  Geschäftsunfäfig- 
keit  für  einen  bestimmten  Kreis  von  Ange- 
legenheiten. Voraussetzung :  krankhafte  Störung 
der  Geistesthätigkeit,  die  die  Besorgung  der 
Angelegenheiten  nach  mancher  Richtung  nicht 
hindert,  und  Einwilligung  in  die  Beschränkung 
der  Geschäftsfähigkeit.  —  Hervorzuheben  ist, 
dass  hier  Geisteskrankheit,  Geistesschwäche  und 
l^eistiges  Gebrechen  nicht  ärztliche,  sondern 
juristische  Begriffe  sind.  Es  wird  daher  z.  B. 
ein  im  ärztlichen  Sinne  Schwachsinniger  oder 
Melancholiker  je  nach  dem  Grade  seiner  Krank- 
heit im  Sinne  des  Gesetzes  geisteskrank,  geistes- 
schwach oder  geistig  gebrechlich  sein  können. 

i)  Die  Vollstreckung  einer  Freiheitsstrafe 
ist  aufzuschieben,  wenn  der  Verurteilte  in 
Geisteskrankheit  verfällt.  Ist  der  Verurteilte 
nach  Beginn  der  Strafvollstreckung  in  eine  von 
der  Strafanstalt  getrennte  Krankenanstalt  ge- 
bracht worden,  so  ist  die  Dauer  des  Aufent- 
haltes in  der  Krankenanstalt  in  die  Strafzeit 
einzurechnen  (Deutsche  Strafprozessordnung  v. 
1.  Februar  1877  §§  487  und  493).  Im  übrigen 
gilt  für  Deutschland,  was  vorher  über  die  Unter- 
bringung irrer  Verbrecher  im  allgemeinen  ge- 
sagt ist. 


2.  England.  Die  englische  Irreuge- 
setzgebung  stammt  aus  verschiedenen  Zei- 
ten, und  nur  notdürftig  sind  oft  einzelne 
Bestimmungen  miteinander  in  Verbindung 
gebracht. 

a)  An  der  Spitze  des  gesamten  Irrenwesen«! 
stehen  —  nur  dem  Lordkanzler  unterstellt  — 
,,Commis8iouers  in  Lunacy''.  Diese  waren  bis- 
her elf  an  der  Zahl,  darunter  drei  Aerzte  und 
drei  mindestens  zehn  Jahre  im  Amte  stehende 
Richter  oder  Rechtsanwälte,  doch  hat  seit  1889 
der  Kanzler,  der  sie  ernennt,  das  Recht,  eine 
andere  Zahl  festzusetzen  und  die  Art  ihrer 
Amtsführung  zu  ändern,  namentlich  auch  ihr 
Amt  mit  dem  der  später  zu  nennenden  Masters 
in  Lunacy  zu  verschmelzen.  Diese  Oommissio- 
ners,  von  denen  drei,  der  ständige  Vorsitzende, 
ein  Arzt  und  ein  Jurist,  das  ^private  committee' 
bilden,  welches  viele  Geschäfte  ohne  Hinzu- 
ziehung der  anderen  abwickelt,  sind  befugt^ 
ebenso  wie  die  Masters  in  Lunacy,  im  Verfolg 
der  ihnen  gesetzlich  zustehenden  Untersuchungen 
jedermann  vorzuladen  und  unter  Eid  zu  ver- 
nehmen. Sie  dürfen  kein  Nebenamt  annehmen 
und  sind  „during  good  behaviour"  unabsetzlich. 

b)  Die  „armen  Geisteskranken'^  —  pauper 
lunatics  — ,  d.  h.  solche,  die  ganz  oder  teilweise 
auf  öffentliche  Kosten  unterhalten  werden,  sind 
vom  Armenpfleger  zu  registrieren  und  erhalten 
regelmässigen  ärztlichen  Besuch.  Aber  auch 
die  übr^en  —  private  patients  —  sollen  von 
jedem  Bezirksbeamten  zur  Anzeige  gebracht 
werden,  sobald  derselbe  davon  hört,  dass  sie 
ungeeignet  verpflegt  und  beaufsichtigt,  grausam 
behandelt  oder  vernachlässigt  werden.  Wer 
einen  Geisteskranken  aufnimmt,  bedarf  zwar 
keiner  Anstalt^konzession  —  daher  uniicensed 
house  — ,  untersteht  aber  im  übrigen  denselben 
Regeln  und  derselben  Beaufsichtigung  wie  Privat- 
anstalten. Alle  Einzelpatienten  —  paupers  und 
die  angeriebenen  private  patients  —  müssen  den 
Commissioners  angezeigt  und  jährlich  wenigstens 
einmal  von  diesen  besucht  werden.  Ausserdem 
sind  Aerzte  als  lokale  Visitors  bestellt. 

c)  Die  einzelnen  Bezirke  haben  für  ihre 
Geisteskranken,  sei  es  durch  Errichtung  eigener 
Anstalten,  sei  es  durch  Verträge  mit  anderen, 
zu  sorgen.  Die  Paupers  werden  meist  in  die 
sogenannten  Asyle  —  county  oder  borough 
asylums  —  aufgenommen,  doch  können  ge- 
eignete Kranke  auch  an  Irrenabteüungen  von 
Workhonses,  die  als  Pflegeanstalten  gelten,  ab- 
gegeben werden.  Private  patients  kamen  bis- 
her meist  in  Hospitals,  die  ans  Stiftungen, 
Schenkungen  und  dergleichen  erhalten  werden, 
oder  in  eigentliche  Privatanstalten  —  licensed 
houses.  Doch  sollen  von  jetzt  an  die  C-ounties 
und  Boroughs  Abteilungen  oder  Anstalten  für 
Privatkranke  eröffnen  oder  Privatanstalten  an- 
kaufen. Der  Staat  selbst  besitzt  nur  eine  An- 
stalt, Bedlam  in  London. 

d)  Die  Konzessionierung  von  Anstalten  er- 
folgt direkt  oder  indirekt  durch  die  Commis- 
sioners. Sie  gilt  für  Privatanstalten  höchstens 
13  Monate  und  muss  dann  stets  erneuert  werden. 
Neue  Privatanstalten  dürfen  seit  1889  nur  noch 
für  Idioten  oder  Schwachsinnige  errichtet  werden. 
Als  Privataustalten  gelten  alle  Häuser,  die 
mehr  als  einen  Kranken  aufnehmen. 

e)  Jedes  Asylum  steht  direkt  unter  einem 


Irrenwesea 


1393 


besonderen  Committee  of  Visitors,  das  Kontrakte 
und  Liefeningsverträge  abschliesst,  Statuten  und 
Kostsätze  aufstellt,  Aerzte  und  Beamte  anstellt 
und  mindestens  zweimonatliche  Besichtigungen 
mit  umfassenden  Befugnissen  vornimmt.  Die 
Privatanstalten  sind  in  einer  Reihe  Ton  Orten, 
die  als  unter  der  speciellen  Gerichtsbarkeit  der 
Commissioners  stehend  im  Gesetze  von  1845 
namhaft  gemacht  sind,  diesen  direkt  unterstellt, 
in  den  i\brigen  ernennen  die  Friedensrichter 
Visitors  für  sie.  Dieselben  müssen  Aerzte  sein 
und  gelten  auch  für  die  Einzelpatienten.  In 
jeder  Privatanstalt  mit  mehr  als  100  Kranken 
muss  ein  Arzt  wohnen.  Die  Commissioners 
müssen  die  ihnen  unmittelbar  unterstehenden 
Anstalten  jährlich  yiermal,  die  anderen  zweimal 
unvermutet  in  allen  Einzelheiten  untersuchen. 
Visitors  und  Commissioners  dürfen  auch  die 
Diät  der  armen  Kranken  bestimmen.  Besuche 
bei  den  Kranken  mit  oder  ohne  Beisein  des 
Anstaltsdirektors  zulassen.  Die  Kranken  dürfen 
Briefe  verschlossen  an  die  Commissioners,  Visi- 
tors, Eichter.  den  Staatssekretär  und  andere 
bestimmte  Personen  absenden,  und  in  Privat- 
anstalten müssen  den  Kranken  leicht  zugäng- 
liche Anschläge  dies  und  andere  Bechte  kund 
thun.  Ueber  Anwendung  von  Zwangsmitteln, 
die  nur  auf  Zeugnis  des  Direktors  stattfinden 
darf,  um  chirurgische  oder  innere  Massnahmen 
durchzusetzen  und  um  den  Kranken  oder  andere 
vor  Verletzung  zu  schützen,  muss  vierteljähr- 
lich den  Commissioners  berichtet  werden. 

i)  Ein  Kranker  darf  gegen  seinen  Willen 
in  Anstalts-  oder  andere  Pflege  nur  auf  richter- 
lichen Befehl  gebracht  werden.  Dieser  Befehl 
wird  bei  armen  Kranken  auf  Antrag  der  Armen- 
behörde und  das  Zeugnis  eines  Arztes  erteilt, 
bei  Privatkranken  auf  Antrag  eines  Verwandten 
oder  Freundes  und  Beibringung  zweier  ärzt- 
licher Zeugnisse.  Ist  der  Richter  noch  nicht 
von  der  Krankheit  des  Betreffenden  überzeugt, 
so  kann  er  innerhalb  acht  Tagen  einen  Termin 
zu  weiterer  Beratung  ansetzen,  den  Kranken 
besuchen,  Zeugen  vernehmen  etc.,  eventuell  auch 
die  Sache  nochmals  um  14  Tage  verschieben. 
Kommt  er  auch  dann  nicht  dazu,  den  Befehl 
auszustellen,  so  muss  er  die  Gründe  der  Ab- 
lehnung schriftlich  dem  Antragsteller  und  den 
Commissioners  mitteilen.  Letztere  können  sich 
der  Sache  weiter  annehmen.  In  eiligen  Fällen 
kann  jedoch  ein  Kranker  in  eine  Anstalt  oder 
als  Einzelpatient  auf  den  Antrag  eines  Ver- 
wandten und  das  Zeugnis  eines  Arztes  unter- 
gebracht werden,  doch  muss  dann  das  übrige 
nachgeholt  werden.  Hat  der  Richter  den  Kranken 
nicht  persönlich  geprüft,  so  muss  dem  Kranken 
binnen  24  Stunden  nach  seiner  Einlieferung 
vom  Anstaltsdirektor  resp.  Pfleger  ein  Brief 
übergeben  werden,  der  ihn  auf  sein  Recht,  per- 
sönlich vom  Richter  beurteilt  zu  werden,  auf- 
merksam macht,  und  der  Kranke  darf  innerhalb 
acht  Tagen  verlangen,  dem  Richter  vorgeführt 
zu  werden.  Die  Aufnahme  muss  sogleich  den 
Commissioners  und  eventuell  den  Visitors  an- 

fezeigt  und  nach  einem  Monat  ein  Bericht  über 
en  körperlichen  und  geistigen  Zustand  des 
Kranken  den  Commissioners  übersandt  werden. 
Sobald  wie  möglich  müssen  sich  Visitors  und 
Commissioners  persönlich  von  der  Geisteskrank- 
heit des  Aufgenommenen  überzeugen,  letztere 
können  sich  aber  auch  vertreten  lassen.  —  Nach 


einem  Jahre  erlischt  der  Aufnahinebefehl,  wenn 
der  Direktor  nicht  durch  besonderen  Bericht 
das  Fortbestehen  der  Krankheit  bestätigt,  das- 
selbe muss  dann  nach  zwei,  hierauf  nach  drei 
und  von  da  an  stets  nach  fünf  Jahren  geschehen. 
—  Freiwillige  Kranke  (boarders)  können  ohne 
die  vorgesclmebenen  Zeugnisse,  aber  unter  so- 
fortiger Benachrichtigung  der  Commissioners 
aufgenommen,  müssen  aber  auf  eigenen  Wunsch 
stets  binnen  24  Stunden  entlassen  werden. 

g)  Jeder  Privatkranke  kann  auch  vor  seiner 
Genesung  jederzeit  von  dem,  der  seine  Auf- 
nahme beantragt  hat  und  der  auch  verpflichtet 
ist,  ihn  mindestens  einmal  im  Halbjahre  zu 
besuchen  oder  besuchen  zu  lassen,  jeder  arme 
Kranke  von  der  Ortsarmenbehörde  ans  der  An- 
stalt genommen  werden,  wenn  nicht  Gemein- 
gefährlichkeit vorliegt,  in  welchem  Falle  die 
Commissioners  entscheiden.  Femer  können  zwei 
Commissioners  (ein  Arzt  und  ein  Jurist,  die 
überhaupt  bei  Revisionen  die  Körperschaft  zu 
vertreten  pflegen)  auf  einen  Besuch  hin  stets 
die  Entlassung  eines  Kranken  verfügen  oder 
ihn,  wenn  er  in  Einzelpflege  ist,  in  andere 
Pfl^e  bringen  lassen.  Aber  auch  jeder,  ob 
Verwandter  oder  nicht,  kann  sich  von  den 
Commissioners  die  Erlaubnis  erbitten,  einen 
Geisteskranken  durch  zwei  Aerzte  untersuchen 
zu  lassen.  Finden  diese  ihn  bei  zwei  Besuchen, 
die  acht  Tage  auseinander  liegen  müssen,  gesund 
oder  fähig,  ohne  Schaden  für  sich  oder  andere 
entlassen  zu  werden,  so  können  die  Commissio- 
ners seine  Entlassung  binnen  zehn  Tagen  an- 
ordnen. 

h)  Auf  Antrag  der  Commissioners,  oder 
wenn  ein  Kranker  ein  Jahr  in  Pflege  gewesen 
ist,  hat  der  Kanzler  das  Recht,  einen  cfer  zwei 
von  ihm  ernannten  Masters  in  Lunac^  zu  ent- 
senden, der  sich,  wie  es  ihm  hinreichend  er- 
scheint von  der  Geisteskrankheit  des  Betreffen- 
den überzeugt.  Der  Kanzler  kann  auf  solchen 
Bericht  durch  Ernennung  eines  Vormundes  oder 
anderweitig  für  Schutz,  Pflege  und  Unterhalt 
des  Kranken  sorgen.  Auch  eine  teilweise  Ent- 
mündigung kann  eintreten:  es  kann  jemandem 
die  freie  Verfügung  über  sein  Vermögen  ge- 
nommen, die  über  seine  Person  gelassen  werden. 

i)  Wird  jemand  während  der  Untersuchung 
wegen  Mordes  oder  eines  ungeheuerlichen  Ver- 
brechens geisteskrank,  so  kann  das  Gericht 
statt  einer  Verurteilung  anordnen,  dass  er 
during  her  Majesty^s  pleasure  verwahrt  werde. 
Er  kommt  dann  nach  Broadmoor  und  bleibt 
dort,  auch  wenn  er  gesund  wird,  bis  eine  be- 
sondere Verfüg^ung  inn,  eventuell  unter  be- 
stimmten Bedingungen,  der  Freiheit  wieder- 
giebt.  Daneben  werden  —  jetzt  allerdings  nur 
noch  auf  der  Frauenabteilung  —  auch  irre  Ver- 
brecher, die  während  der  Straf verbüssung  geistes- 
krank geworden  sind,  daselbst  ver^flefirt.  Für 
die  übrigen  irren  Verbrecher  ist  in  Irrenab- 
teilnngen  von  Gefängnissen  gesorgt.  Auch  sie 
kommen  jedoch  nach  Broadmoor,  wenn  ihre 
Strafhaft  abgelaufen,  ihre  Geisteskrankheit  aber 
noch  nicht  geschwunden  ist.  Wie  alle  Geistes- 
kranken imterstehen  auch  die  irren  Verbrecher 
den  Commissioners  in  Lunacy,  die  auch  jedes 
Gefängnis,  Armenhaus  etc.  auf  Geisteskranke 
und  deren  Verpflegung  untersuchen  können. 


Die  Einrichtung   der  Commissioners  in 

Handwörterbuch  der  SteatswiBsenschaften.    Zweite  Auflage.    IV.  88 


1394 


Irrenwesen 


Lunacy  hat  dem  englischen  Irrenwesen  un- 
zweifelhaft grosse  Förderung  gebracht.  Es 
stehen  hier  Männer  an  der  Spitze,  die  sich 
der  Sache  ganz  widmen  und  sie  zu  ihrer 
Lebensaufgabe  machen.  Weniger  erspriess- 
lieh  erscheinen  die  lokalen  Committees  of 
Visitors,  über  deren  ün>^'issenheit  in  den 
ihnen  unterstehenden  Dingen  manchmal  ge- 
klagt wird.  Die  häufigen  Visitationen  sind 
vieBeicht  imstande,  offenbare  Missstände, 
unnötigen  Zwang  imd  dergleichen  unmöglich 
zu  machen,  aber  sie  belasten  den  Direktor 
auch  erheblich  und  zwingen  ihn,  sein  Inte- 
resse mehr  den  äusserlichen  Formen  zu 
widmen.  So  wird  leicht  die  individuelle 
Fürsorge  benachteiligt,  zumal  in  England 
das  Verhältnis  der  Aerzte  zur  Krankenzahl 
im  Vergleich  mit  Deutschland  sehr  gering 
ist  und  grosse  Anstalten  mit  1000  und  mehi* 
Kranken  häufig  sind.  Dazu  kommen  die 
vielen  Bestimmungen,  die,  um  die  Einsper- 
rung Gesunder  zu  verhindern,  den  Kranken 
die  ihnen  so  nötige  Ruhe  nehmen.  Die  un- 
zweckmässigsten  derselben  sind  durch  das 
(jesetz  von  1889  getroffen,  glücklicherweise 
in  einer  Fassimg,  die  es  den  Commissioners 
ermöglicht,  sie  als  Benihigungsmittel  der 
öffentlichen  Meinung  auf  dem  Papier  zu  be- 
lassen. 

3.  Schottland. 

a)  Ein  Board  of  Commissioners  in  Lunacy 
steht  an  der  Spitze  des  Irren wesens.  Er  wird 
von  drei  (ärztlichen)  Mitgliedern  gebildet,  denen 
der  Staatssekretär  einen  oder  zwei  Juristen, 
wenn  nötig,  hinzufügen  kann.  Ausserdem  können 
sie  selbst  ärztlichen  Beistand  zuziehen.  Sie 
überwachen  das  gesamte  Irrenwesen,  stellen 
die  Kegeln  für  Leber  wachung  der  Anstalten 
auf,  und  zwei  von  ihnen  haben  wenigstens 
zweimal  im  Jahre  jeden  Ort  zu  besuchen,  wo 
ein  oder  mehrere  Geisteskranke  sich  befinden, 
und  über  deren  Befinden  und  Behandlung  zu 
berichten. 

b)  Jeder   arme   Geisteskranke    muss    den ; 
Commissioners  gemeldet  werden  und  steht  unter  ' 
ihrem  Schutze,  ein  Privatkranker  in  der  eigenen 
Familie  nur  dann,  wenn  es  bekannt  wird,  dass 
er  vernachlässigt  oder  schlecht  behandelt  wird. 

c)  Die  Distrikte  sind   verpflichtet,   für  die 
Anstaltsversorgung    der   derselben   bedürftigen  j 
armen  Kranken  zu  sorgen.  | 

d)  Die  Commissioners  erteilen  die  Konzession 
für  Anstalten. 

e)  Ausser  den  Commissioners  dürfen  Sheriff 
und  Friedensrichter  jederzeit  jeden  Ort  be- 
sichtigen, wo  sich  Geisteskranke  aufhalten. 

f)  Die   Aufnahme   eines   Kranken   in   eine 
Anstalt   oder  in   fremde  i^flege   geschieht  auf 
die   Zeugnisse   zweier   Aerzte   hin    durch  Ver- 
fügung des  Sheriffs,  in  eilii,^en  Fällen  auf  das  ' 
Zeugnis  eines  Arztes,  eventuell  auch  eines  der ' 
Anstalt,  doch  müssen  dann  die  anderen  Papiere  | 
in  drei  Tagen  nachgeholt  werden.    Kann   der 
Kranke  nach  drei  Jahren  noch  nicht  entlassen 
werden,    so     muss    der    Anstaltsdirektor    dem 
Sheriff  die  Notwendigkeit  weiterer  Detinierung 


eidlich  versichern  und  dies  von  da  an  eventaell 
jedes  Jahr  wiederholen. 

g)  Der  Sheriff  kann  jederzeit  auch  g^en 
die  Ueberzeugung  Ües  Anstaltsleiters  die  Ent- 
lassung eines  Kranken  verfügen,  wenn  zwei 
Aerzte  denselben  für  gesund  erklären;  die 
Commissioners  bedürfen  dazu  nur  ihrer  eigenen 
Ueberzeugung,  keiner  ärztlichen  Bescheinigung. 
Privatkranke  können  von  ihren  Verwandten^ 
arme  Kranke  von  ihrer  Heimatsbehörde  stets 
aus  der  Anstalt  genommen  werden,  ausser  wenn 
der  Direktor  sie  für  gefährlich  erklärt  nnd  der 
Distriktsprokurator  ihre  weitere  Detinierong 
anordnet.  Freiwillige  Kranke  müssen  jeder- 
zeit auf  ihren  Wunsch  binnen  drei  Tagen  ent- 
lassen werden. 

h)  Die  Commissioners  haben  das  Recht  die 
Ernennung  eines  gerichtlichen  Verwalters  für 
das  Vermögen  eines  Kranken  zu  veranlassen, 
sobald  sie  glauben,  dass  dasselbe  nicht  richtig 
verwaltet  wird;  auch  später  haben  sie  bei 
Visitationen  darauf  zu  achten,  ob  der  gericht- 
liche Verwalter  darin  das  Bichtige  thut. 

4.  Frankreich.  In  Frankreich  gilt  bis- 
her die  Loi  sur  les  Ali^n^s  v.  30.  Juni  1838^ 
ergänzt  durch  die  V.  v.  19.  Dezember  1839 
und  durch  das  Irrenanstaltsreglement  von 
1857.  Verschiedene  Gesetzesentwürfe  sind 
seit  den  70  er  Jahren  in  den  Kammern  be- 
raten ,  aber  bisher  nicht  angenommen  wor- 
den. So  blieben  die  französischen  Anstalten 
vor  manchen  harten  und  schädigenden  Mass- 
regeln bewahrt,  haben  aber  auch  manches 
Erwünschte,  wie  die  Einrichtung  der  frei- 
willigen Pensionäre,  noch  nicht  erreicht. 

a)  Das  Anstaltswesen  untersteht  dem  Minis- 
terium des  Innern.  Die  Öffentlichen  Anstalten 
unterstehen  der  Leitung,  die  privaten  der  Ueber- 
wachung  der  Staatsgewalt.  Eine  den  Com- 
missioners ähnliche  Behörde  fehlt. 

b)  Staatliche  Aufsicht  über  Irre  ausserhalb 
der  Anstalten  besteht  nicht. 

c)  Jedes  Departement  muss  eine  öffentliche 
Anstalt  haben  oder  mit  einer  anderen  Anstalt 
einen  Vertrag  zur  Unterbringung  seiner  Kranken 
schliessen. 

d)  Die  Errichtung  einer  Anstalt  setzt  die 
staatliche  Genehmi^ng  voraus,  die  Hausord- 
nung muss  vom  Ministerium  gebilligt  werden. 
—  Die  Konzession  für  Privatanstalten  kann, 
nach  einer  Reihe  von  NachM-eisen,  vom  Prä- 
fekten  erteilt  werden.  Der  Besitzer  und  ev.  der 
dirigierende  Arzt  muss  in  der  Anstalt  .wohnen. 
Die  Stellvertretung  und  Schliessung  der  An- 
stalt ist  sehr  genau  geregelt. 

e)  Die  öffentlichen  Anstalten  werden  diu-ch 
je  eine  vom  Präfekten  ernannte  Commission 
de  surveillance  von  5  Mitgliedern  überwacht, 
die  über  alle  Verwaltungsangelegenheiten  mit- 
zureden hat.  Alle  Anstalten  unterliegen  einer 
periodischen  Revision  durch  eine  Kommission, 
die  aus  dem  Präfekten,  dem  Gerichtspräsidenten, 
dem  Staatsanwalt,  dem  Friedensrichter  und  dem 
Maire  besteht  und  alle  Klagen  der  Patienten 
zu  prüfen  hat;  ferner  besichtigt  der  Staatsan- 
walt die  öffentlichen  Anstalten  mindestens  alle 
sechs,  die  privaten  mindestens  alle  drei  Monate 
einmal.  Klagen  von  Patienten  an  Gericht  und 
Behörde  müssen  befördert  werden.  —  Irrenab- 


Irren  weson 


1B95 


teilnn^en  gewöhnlicher  Krankenhäuser  müssen 
für  mindestens  fttnfzic;  Kranke  eingerichtet 
sein  nnd  unterstehen  denselben  Bestimmungen 
wie  öffentliche  Anstalten,  nnr  dass  keine  Oom- 
missions  de  snrveillance  gebildet  werden. 

f)  Die  Aufnahme  eines  Kranken  erfolgt  auf 
schriftlichen  Antrag  und  auf  ein  ärztliches 
Zeugnis,  das  die  Notwendigkeit  der  Anstalts- 
behandlung bekundet,  in  dringenden  Fällen  aber 
fehlen  kann,  sowie  nach  Feststellung  der  Iden- 
tität des  Antragstellers  und  des  Kranken.  Die 
Anfnahme  wird  binnen  24  Stunden  dem  Prä- 
fekten  mitgeteilt,  der  bei  Privatanstalten  inner- 
halb dreier  Tage  durch  einen  oder  mehrere 
Aerzte,  denen  er  auch  jemand  anders  beiordnen 
kann,  den  Greistesznstand  des  Aufgenommenen 
untersuchen  lässt.  14  Tage  nach  der  Aufnahme 
mnss  der  Anstaltsdirektor  dem  Präfekten  einen 
ausführlichen  Bericht  über  den  Kranken  zu- 
senden. —  Besondere  Bestimmungen  gelten  für 
die  Kranken,  welche  auf  Befehl  des  Präfekten 
der  Anstalt  überliefert  werden,  weil  ihr  Geistes- 
zustand die  öffentliche  Ordnung  oder  die  Sicher- 
heit von  Personen  gefährdet.  Hierbei  kann  in 
dringenden  Fällen  der  Maire  auf  ein  ärztliches 
Zeugnis  vorläufig  statt  des  Präfekten  handeln. 
Ueber  den  Zustand  dieser  polizeilich  Internierten 
hat  der  Anstaltsleiter  zu  Anfang  jeden  Halb- 
jahres und  auch  zwischendurch,  wenn  die  Ge- 
meingefährlichkeit geschwunden  ist,  dem  Prä- 
fekten zu  berichten,  der  über  Verbleib  oder 
Entlassung  entscheidet.  —  Aufnahme  und  Ent- 
lassung jedes  Kranken  muss  dem  für  die  Heimat 
desselben  wie  dem  für  die  Anstalt  zuständigen 
Staatsanwalt  angezeigt  werden.  Ausserdem  be- 
richtet der  Präfekt  darüber  an  den  Minister. 

g)  Die  Entlassung  muss  jederzeit  auch  vor 
der  Heilung  erfolgen,  wenn  sie  vom  Kurator, 
den  Verwandten  oder  dem  Antragsteller  ver- 
langt wird;  doch  kann  hiergegen  der  Maire 
Einspruch  thun,  wenn  nach  Ansicht  des  Arztes 
Gefährdung  der  öffentlichen  Ordnung  oder 
Sicherheit  dadurch  zu  befürchten  steht.  End- 
giltig  entscheidet  hierüber  der  Präfekt.  Ein 
so  zurückgehaltener  Kranker  gilt  als  polizeilich 
interniert.  —  Jederzeit  kann  der  Pröfekt  die 
sofortige  Entlassung  eines  Krauken  verfügen. 
Ferner  kann  der  Kranke,  sein  Vormund,  jeder  ■ 
Verwandte  oder  Freund,  endlich  auch  der  j 
Staatsanwalt  die  Entlassung  beantragen,  die  i 
von  dem  für  die  Anstalt  zuständigen  Gerichte 
ohne  Angabe  der  Gründe  verfügt  wird,  wenn 
es  die  beigebrachten  für  stichhaltig  hält.  j 

h)  Für  Kranke  in  einer  Anstalt  kann  das 
(•ivilgericht  auf  Antrag  einen  vorläufigen  Ver- ' 
mögensverwalter  ernennen,  dessen  Befugnis  mit , 
der  Entlassung  des  Kranken  erlischt.  Sonst  j 
wird  das  Vermögen  der  nicht  entmündigten , 
Kranken  durch  die  Commission  de  surveillance  ' 
verwaltet.  Ferner  kann  das  Gericht  einen  I 
Kurator  bestellen,  der  dafür  sorgt,  dass  das 
Einkommen  im  Interesse  des  Kranken  verwaltet 
wird  und  dass  derselbe,  sobald  sein  Znstand 
es  erlaubt,  die  freie  Ausübung  seiner  Rechte  , 
zurückerhält.  j 

Die  Interdiktion  selbst  beschränkt  die  Ver- ' 
fUguugsgewalt  nur  über  das  Vermögen  und 
setzt  einen  dauernden  Zustand  von  Geistes- 
krankheit voraus,  wobei  lichte  Zwischenräume 
nicht  anerkannt  werden.  (Tode  Napoleon  Buch  I.  i 
Tit.  11,  Kap.  2,  Art.  489  ff.) 


5.  Belgien.  Das  G.  v.  28.  Dezember 
1873  regelt  die  belgische  Irrenpflege.  Es 
ist  in  Verbindung  mit  den  Ausfflhrungsbe- 
Stimmungen  vom  1.  Juni  1874  ungewöhn- 
lich eingehend  lind  klar.  In  vielen  Dingen 
lehnt  es  sich  an  das  französische  Gesetz  an. 
Besondere  Bestimmungen  bestehen  für  die 
Irrenkolonieen  Gheel  und  Lierneux. 

a)  Die  Regierung  lässt  die  Anstalten  so- 
wohl durch  besondere  Delegierte  wie  durch 
ständige  Inspektionskomitees  der  einzelnen  Ar- 
rondissements  revidieren. 

b)  Niemand  darf  in  seiner  oder  eines  anderen 
Wohnung  in  seiner  Freiheit  beschränkt  werden, 
wenn  nicht  zwei  Aerzte,  deren  einer  vom 
Friedensrichter  bestimmt  wird,  seine  Geistes- 
krankheit bescheinigt  haben.  Der  Friedens- 
richter muss  den  Kranken  mindestens  einmal 
vierteljährlich  besuchen,  sich  ebenso  oft  ein 
Zeugnis  des  Hausarztes  vorlegen  lassen  und 
kann  ausserdem  den  Kranken  durch  einen 
anderen  Arzt  besuchen  lassen,  so  oft  es  ihm 
nötig  scheint. 

c)  Ausser  den  Staats-  und  Provinziaian- 
stalten  sind  von  den  Gemeinden  provisorische 
As^s'le,  wenn  möglich  im  Anschluss  an  bestehende 
Krankenhäuser  zu  errichten,  in  denen  Geistes- 
kranke bis  zur  Abwickelung  der  zur  Aufnahme 
nötigen  Formalitäten,  aber  nicht  länger  als 
nötig,  verbleiben  können.  Daselbst  sind  auch 
arme  Kranke  unterzubringen,  welche  auf  dem 
Wege  zur  Anstalt  des  Ausruhens  bedürfen. 

d)  Als  Irrenanstalt  gilt  jedes  Haus,  in  dem 
auch  nur  ein  Geisteskranker  verpflegt  wird, 
der  nicht  zur  Familie  des  Pflegers  gehört  oder 
unter  dessen  Vormundschaft  steht.  Die  Kon- 
zession wird  durch  kgl.  Ermächtigung  und  nur 
auf  verschiedene  Bedingungen  hin  erteilt.  Der 
Arzt  darf  mit  dem  Inhaber  nicht  verwandt 
sein  und  wird  auf  dessen  Vorschlag  vom  Mi- 
nister ernannt,  der  auch  sein  (rehalt  bestimmt 
und  ihn  bei  grober  Nachlässigkeit  und  Pflicht- 
verletzung absetzen  kann.  Sogar  die  Zahl  der 
Zellen  (^höchstens  1  auf  100  Kranke)  wird  be- 
stimmt. Bei  Privatanstalten  muss,  wie  übrigens 
auch  in  Frankreich,  der  Inhaber  eine  Kaution 
stellen. 

e)  Die  Anstalten  werden  wenigstens  alle 
Halbjahre  vom  Bürgermeister,  alle  drei  Monate 
vom  Staatsanwalt,  alle  Jahre  vom  (xouverneur 
oder  einem  Delegierten  desselben  besichtigt,  die 
provisorischen  Asyle  alle  Vierteljahre  vom 
Bürgermeister  und  Friedensrichter.  —  Neuer- 
dings ist  auch  eine  aus  Irrenärzten  bestehende 
Besuchskommission  eingeführt. 

fi  Die  Aufnahme  in  eine  Anstalt  erfolgt 
entweder  auf  Antrag  einer  Privatperson  oder 
auf  Verlangen  verschiedener  Behörden  unter 
Vorlegung  eines  ärztlichen  Zeugnisses,  das  in 
eiligen  Fällen  bis  24  Stunden  später  nachge- 
liefert werden  kann.  Bei  einem  Entmündigten 
genügt  der  Antrag  des  Vormundes  im  Verein 
mit  dem  Beschluss  des  Familienrates.  Tritt  ein 
Kranker  freiwillig  ein,  so  muss  dies  sofort  dem 
Bürgermeister  angezeigt  werden,  der  den 
Kranken  binnen  24  Stunden  ärztlich  untersuchen 
lässt.  —  Der  Anstalt.sleiter  hat  von  der  Auf- 
nahme dem  Gouverneur  der  Provinz,  dem  für 
die  Anstalt  und  dem  für  die  Heimat  des  Kranken 
zuständigen  Staatsanwalt,  dem  Friedensrichter, 

88* 


1396 


IrreQwesen 


dem  Bürgermeister  und  dem  Comite  de  sur- 
veillance  der  Anstalt  Kenntnis  zu  ffeben.  Vom 
Staatsanwalt  der  Heimat  werden  dann  die  lo- 
kalen Behörden  und  von  diesen  die  Verwandten 
des  Kranken  und  seine  Wirtsleute  benachrich- 
tigt. —  Während  der  ersten  fünf  Tage  muss 
der  Anstaltsarzt  den  Kranken  täglich  besuchen 
und  in  ein  bestimmtes  Register  Beobachtungen 
und  Urteil  eintragen.  Am  6.  Tage  hat  er  eine 
Abschrift  davon  dem  Staatsanwalt  seines  Be- 
zirks einzureichen. 

g)  Erklärt  der  Anstaltsarzt  den  Aufgenom- 
menen für  nicht  geisteskrank  oder  genesen,  so 
muss  er  dem,  der  den  Aufhahmeantrag  gestellt, 
sowie  dem  Vormund  und  allen  Behörden,  denen 
die  Aufnahme  angezeigt  war,  Mitteilung  davon 
machen.  Fünf  Tage  später  erfolgt  dann  die 
Entlassung.  Ist  der  Kranke  noch  nicht  geheilt, 
so  haben  die,  die  ihn  eingeliefert  haben,  ev.  der 
Vormund  stets  das  Recht,  seine  Entlassung  zu 
fordern.  Jeder  Kranke  und  jeder  andere,  der 
Interesse  daran  hat,  kann  sich  stets  an  das 
Gericht  wenden,  das  sofortige  Entlassung  ver- 
fügen kann.  Gerichtskosten  werden  dafür  nicht 
erhoben. 

h)  Jeder  Geisteskranke  in  einer  Anstalt, 
der  nicht  bevormundet  ist,  kann  auf  Antrag 
gerichtlich  einen  provisorischen  Verwalter  er- 
halten, w^obei  Familienrat  und  Staatsanwalt  ge- 
hört werden  müssen.  Für  die  Anstaltskranken, 
die  weder  Vormund  noch  provisorischen  Ver- 
walter haben,  übt  die  Pflichten  des  letzteren 
ein  Mitglied  des  comite  de  surveillance  aus, 
doch  kann  auch  für  bestimmte  Zwecke  statt 
dessen  ein  Notar  eintreten.  Rechtsgeschäfte,  die 
von  Kranken  während  ihres  Anstaltsaufenthaltes 
vorgenommen  werden,  sind  anfechtbar. 

i)  Verurteilte,  Angeklagte,  Untersuchungs- 
und Schuldgefangene,  oei  denen  Geistesstörung 
erkannt  wird,  sollen  auf  Antrag  der  zuständigen 
Behörde  in  eine  durch  die  Regierung  be- 
stimmte —  öffentliche  oder  private  —  Anstalt 
kommen  und  hier  die  Verurteilten  von  den 
übrigen  getrennt  verwahrt  werden. 

6.  Holland.  Das  holländische  Irrenge- 
setz datiert  vom  27.  April  1884. 

a)  Mindestens  zwei  ärztliche  Inspektoren 
üben  die  Staatsaufsicht  aus  Über  Irrenanstalten 
und  über  diejenigen  Irren,  welche  ihrer  Freiheit 
beraubt  sind  und  nicht  in  eigener  oder  elter- 
licher Wohnung  verpflegt  werden. 

b)  Wer  einen  Irren  verpflegt,  der  der  Auf- 
sicht der  Inspektoren  unterliegt,  hat  dies  binnen 
zwei  Tagen  dem  Bürgermeister  und  durch 
diesen  dem  Staatsanwalt  und  den  Inspektoren 
anzuzeigen.  Diese  beiden  dürfen  den  Kranken 
^egen  den  Willen  des  Pflegers,  der  aber  zu 
jeder  Auskunft  verpflichtet  ist,  nur  unter  Vor- 
zeigen eines  schriftlichen  Auftrages  und  in 
Gegenwart  des  Richters  oder  Beamten  besuchen  ; 
das  Protokoll  des  Besuches  wird  dem  Pfleger 
mitgeteilt.  Findet  der  Inspektor  den  Kranken 
schlecht  behandelt,  so  berichtet  er  dies,  falls  es 
nicht  geändert  wird,  dem  Staatsanwalt.  An- 
wendung von  Zwangsmitteln  muss  rej^istriert 
und  den  Inspektoren  auf  Verlangen  mitgeteilt 
werden. 

c)  Irre,  die  vom  Reiche  unterhalten  werden 
müssen,  und  diejenigen,  deren  Unterbringung 
in  eine  Anstalt  durch  den  Strafrichter  veranlasst 


wird,  werden  entweder  in  einer  Reichsanstalt 
verpflegt,  die  auch  ev.  arme  Kranke  auf  Kosten 
der  Gemeinden  aufnimmt  oder  es  wird  für  sie 
durch  Vertrag  mit  anderen  Anstalten  oder 
Privatleuten  gesorgt  (G.  v.  15.  Dezember  1896 1. 
Im  übrigen  sorgen  die  Provinzialregierungen 
für  Anstalten  für  ihre  Irren,  falls  nicht  ander- 
weitig das  Bedürfnis  gedeckt  ist. 

d)  Als  Anstalt  mrd  jede  Wohnung  ange- 
sehen, in  welcher  mehr  als  zwei  Geisteskranke 
verpflegt  werden.  Bei  Erteilung  der  Konzession 
wird  das  Maximum  der  Kranken  und  das  Mini- 
mum der  Aerzte  durch  die  Behörde  fest- 
gesetzt. 

e)  Zu  den  Irrenanstalten  haben  Inspektoren 
wie  Staatsanwalt  stets  freien  Zutritt.  Der 
Staatsanwalt  hat  in  Begleitung  eines  Inspektors 
oder  eines  anderen  von  den  Inspektoren  be- 
stimmten Arztes  vierteljährlich  mindestens 
einmal  die  Anstalten  seines  Bezirkes  zu  be- 
suchen und  sich  zu  überzeugen,  dass  niemand 
sich  widerrechtlich  darin  befindet  und  dass  die 
Kranken  ordentlich  behandelt  werden.  Ihm 
wie  dem  Staatsanwalt  des  Heimatsortes  ist 
jede  Aufnahme,  Beurlaubung  und  Entlassung 
mit  Angabe  der  Gründe  und  ev.  des  Antrag- 
stellers sowie  jeder  Todesfall  anzuzeigen. 

f)  Die  Aufnahme  kann  von  verschiedenen 
Verwandten  oder  vom  Vormunde  des  Kranken 
beantragt  werden,  sowie  vom  Staatsanwälte, 
wenn  die  Verwandten  verwirrt  sind  oder  ein 
Inspektor  oder  Bürgermeister  danim  ersucht. 
Auch  kann  jeder  Volljährige  seine  Aufnahme 
selbst  beantragen.  Stets  ist  ein  ärztliches 
Zeugnis  notwendig.  Die  Ermächtigung  zur 
Aufnahme  erteilt  der  Kantonsrichter  oder,  wenn 
der  Staatsanwalt  den  Antrag  stellt,  der  Arron- 
dissementsgerichtspräsident  ev.  nach  Verhör. 
Verweigert  er  sie,  so  entscheidet  dass  Arron- 
dissementsgericht.  Der  Kantonsrichter  resp. 
der  Staatsanwalt  zeigt  die  Aufnahme  dem  betr. 
Bürgermeister,  dieser  den  Verwandten  oder  dem 
Vormund  an.  —  In  dringenden  Fällen  kann  der 
Bürgermeister  einen  Geisteski*anken  ohne  ärzt- 
liches Zeugnis  in  einer  Anstalt,  nötigenfalls 
auch  in  einem  Gefängnis  vorläufig  verwahren 
lassen,  muss  aber  soiort  den  Staatsanwalt  be- 
hufs Stellung  des  Aufnahmeantrags  benach- 
richtigen. —  Eine  Abschrift  der  Krankenge- 
schichte wird  dem  Staatsanwalt  drei  Tage  nach 
der  Aufnahme,  eine  zweite  binnen  vier  Wochen 
eingereicht,  letztere  mit  motivierter  Erklärung 
des  Anstaitsarztes  über  die  Notwendigkeit 
ferneren  Anstaltsaufeuthalts.  Auf  ein  von  emem 
Anwalte  unterzeichnetes  Gesuch  oder  auf  Re- 
quisition des  Staatsanwaltes  entscheidet  nun 
das  Arrondissementsgericht,  ev.  auch  nach 
Zeugenbeweis  und  Verhör  des  Kranken,  das^s 
der  Aufgenommene  eine  bestimmte  Zeit,  nicht 
über  ein  Jahr,  in  der  Anstalt  zu  belassen  sei. 
Später  kann  die  Dauer  durch  neues  c^leiches 
Gerichtsverfahren  wieder  auf  ein  Jahr  venängeri 
werden  u.  s.  f. 

^)  Die  Entlassung  erfolgt  nach  der  Heilung 
des  Kranken  oder  auf  Verlangen  des  Staatsan- 
waltes oder  der  Verwandten  oder  beim  Aus- 
bleiben der  Zahlung.  Die  Rückkehr  in  die  Ge- 
sellschaft wird  dann  im  Einverständnis  mit  den 
Verwandten  oder  im  Notfalle  mit  dem  Bürger- 
meister geregelt,  falls  der  Kranke  nicht  aof 
eigenes  Ersuchen  aufgenommen  war.    Fürchtet 


Irrenweseii 


1397 


der  Arzt  eine  Stönmg  der  öffentlichen  Ordnung 
oder  Sicherheit  durch  die  Entlassung,  so  he- 
schliesst  darüber  das  Arrondissementsgericht. 
Der  Staatsanwalt  hat  die  Entlassung  zu  ver- 
langen, wenn  ihm  jemand  ungesetzlich  aufge- 
nommen resp.  zurückgehalten  oder  wenn  ihm 
jemand  genesen  erscheint. 

h)  Während  des  Anstaltsaufenthaltes  ver- 
liert der  Kranke  die  Verfügung  über  sein  Ver- 
mögen, und  das  Arrondissementsgericht  seines 
Wonnortes  ernennt,  wenn  nötig,  auf  Antrag 
der  Verwandten  ^der  des  Staatsanwaltes  einen 
vorläufigen  Verwalter.  Eine  Entmündigung 
kann  nach  Ablauf  der  ersten  Ermächtigung 
zum  Anstaltvsaufenthalte  auf  Autrao;  der  Be- 
rechtigten oder  des  Staatsanwaltes  erfolgen,  und 
sie  wird  dem  Kranken  mitgeteilt  falls  dies  ihm 
nicht  nach  ärztlichem  Urteile  schädlich  ist. 

i)  Jemand,  der  eine  strafbare  Handlung  be- 
gangen hat,  aber  wegen  Geistesstörung  nicht 
verantwortlich  gemacht  werden  kann,  darf  vom 
Strafrichter  für  ein  Jahr  einer  Anstalt  über- 
wiesen werden. 

7.  Norwegen.  Xorwcgen  besitzt  sein 
V  Gesetz  iXher  (Uo  Behandlung  und  Verpfle- 
gung von  Geisteski-ankeu«  seit  dem  17. 
August  1848. 

a)  Das  Irrenwesen  untersteht,  wie  das 
Medizinal wesen  überhaupt,  dem  Ministerium  der 
Justiz  und  Polizei.  Der  König  kann,  so  oft  er 
es  für  nötig  hält,  geeignete  Leute  mit  der  In- 
spektion der  Anstalten   besonders  beauftragen. 

b)  Kein  Geisteskranker  darf  von  Personen 
oder  Lokalbehörden  detiniert  werden  ohne  so- 
fortige Anzeige  an  den  Prediger  oder  direkt  an 
den  Arzt,  der  verpflichtet  ist,  zu  untersuchen, 
ob  die  Massnahmen  gesetzlich  sind.  Tobende 
oder  rasende  Kranke  müssen,  wenn  ihre  Unter- 
bringung in  eine  Anstalt  nicht  möglich  ist, 
wenigstens  ärztlich  behandelt  werden,  event. 
auf  öffentliche  Kosten;  arme  Geisteskranke,  die 
keiner  besonderen  Bewachung  und  Pflege  be- 
dürfen, sind  \^'ie  andere  Arme  zu  verpfle§:en. 
Jeder  Arzt  ist  verpflichtet,  ünzuträglichkeiten 
in  der  Pflege  Geisteskranker  anzuzeigen  und 
jährlich  ein  Verzeichnis  der  ihm  gemeldeten 
Geisteskranken  dem  Ministerium  des  Innern  ein- 
zureichen. Kein  Kranker  darf  mit  Verbrechern 
zusammen  detiniert  werden. 

e)  Eine  Verpflichtung  zur  Unterhaltung 
von  Anstalten  wird  durch  das  Gesetz  nicht  aus- 
gesprochen, doch  trägt  nach  G.  v.  27.  Juni 
1891  der  Staat  *'io  der  Kosten  für  arme 
Geisteskranke,  während  ^;,o  von  der  Kommune 
und  ^',0  vom  Kreise  aufzubringen  ist.  Doch 
ge.«<chieht  dies  nur,  soweit  arme  Geisteskranke 
besonderer  Pflege  und  Bewax'hung  bedürfen. 
Ob  dies  der  Fall,  entscheidet  der  Amtsarzt,  dem 
die  Aufsicht  über  die  Geisteskranken  seines 
Amts  anvertraut  ist. 

d)  Jede  Errichtung  und  Umänderung  einer 
Irrenanstalt  sowie  das  Regulativ  derselben  be- 
darf der  kgl.  Genehmigung.  Eine  Reihe  von 
Erfordernissen  hierfür  sind  vorgeschrieben.  Der 
Arzt  muss  vom  König  speciell  dazu  ermächtigt 
sein,  er  kann  bei  Privatanstalten  zugleich  der 
Besitzer  sein. 

e)  Die  Aufsicht  über  jede  Anstalt  wird 
durch  je  eine  Kommission  geführt,  die  aus  drei 
vom  König  ernannten  und  staatlich  besoldeten 


Mitgliedern,  darunter  einem  Arzt,  besteht.  Diese 
müssen  bei  jeder  Visitation  ein  genau  vorge- 
schriebenes Personal-  und  Behandlungsprotokoll 
unterschreiben  und  ev.  Bemerkungen  hinzu- 
fügen. Ein  Auszug  aus  diesen  Protokollen 
wird  alle  drei  Monate,  ein  Generalbericht  alle 
Jahre  vom  dirigierenden  Arzte  durch  die  Kom- 
mission dem  Ministerium  eingesandt.  Isolierung 
und  Zwang  ist  in  notwendigen  Fällen  nur  auf 
kurze  Zeit,  körperliche  Bestrafung  überhaupt 
nicht  gestattet. 

f)  Jeder  Geisteskranke,  der  die  öffentliche 
Sicherheit  stört  oder  zu  Hause  nicht  angemessen 
verpflegt  wird  oder  für  dessen  Unt^jrhalt  je- 
mand zu  sorgen  sich  verpflichtet,  kann  in  eine 
Irrenanstalt  aufgenommen  werden,  wenn  der 
Arzt  derselben  feststellt,  dass  dies  für  den 
Kranken  zweckmässig  oder  für  die  Aufrecht^r- 
haltung  der  öffentlichen  Ordnung  und  Sicher- 
heit erforderlich  ist.  Gegen  die  ärztliche  Ent- 
scheidung steht  den  Angehörigen  die  Berufung 
an  die  Anstaltskommission  zu,  der  das  Aui- 
nahmeprotokoll  innerhalb  48  Stunden  zugehen 
muss  und  die  bei  Beschwerde  sogleich,  sonst 
bei  der  nächsten  Visitation  die  nötigen  Unter- 
suchungen darüber  anstellt,  ob  der  Kranke  in 
der  Anstalt  zu  belassen  ist. 

g)  Abgesehen  von  der  Genesung  kann  ein 
Kranker  jederzeit  von  den  Angehörigen  aus  der 
Anstalt  genommen  werden,  wenn  ihn  nicht  die 
Behörde  eingeliefert  hat  oder  der  Arzt  ihn  für 
sich  oder  andere  gefährlich  erklärt.  In  letzterem 
Falle  kann  die  Entscheidung  der  Kommission 
gefordert  werden. 

8.  Schweden.  Schweden  hat  sein 
Iri-enwesen  diu'ch  das  G.  v.  2.  November 
1883  geregelt. 

a)  Die  höchste  Behörde  ist  die  Medizinal- 
verwaltung, die  jede  irgend  wichtige  Massregel 
der  Anstaltsdirektionen  genehmigen  muss.  — 
Der  Medizinalverwaltung  untergeordnet,  im 
übrigen  aber  selbständig,  wirkt  daneben  seit 
1899  ein  Oberinspektor  des  Irrenwesens,  der  ein 
geschulter  Psychiater  sein  muss.  Ihm  liegen 
jährlich  oder  öfter  Inspektionen  aller  öffentlichen 
und  privaten  Irrenanstalten  ob ;  im  besonderen  hat 
er  die  Verhältnisse  der  Krankenpflege  zu  über- 
wachen und  die  Rechtmässigkeit  der  stattge- 
fundenen Aufnahmen  zu  prüfen. 

b)  Wird  jemand  geisteskrank,  so  muss  die 
Umgebung  oder  die  Ortsbehörde  ihn  ärztlich 
untersuchen  lassen  und  Fürsorge  für  ihn  treffen. 
Jeder,  der  einen  Geisteskranken  umsonst  oder 

fegen  Bezahlung  verpflegt,  hat  dies  schriftlich 
em  Pfarrer  und  auf  dem  Lande  dem  Gemeinde- 
vorsteher, in  der  Stadt  dem  betreffenden  Arzte 
anzuzeigen.  Letzterer  muss  auf  ordnungsmässige 
Pflege  sehen.  Pfarrer  und  Gemeindevorstand 
haben  jährlich  Verzeichnisse  aller  Geisteskranken 
den  beamteten  Aerzten  einzuschicken,  die  auf 
ihren  Reisen  den  Zustand  und  die  Pflege  der 
Kranken  kouti-ol Heren  und  eventuell  auf  Ab- 
stellunc:  von  Missständen  dringen  sollen. 

c)  Neben  den  staatlichen  Hospitälern  (Irren- 
heil-)  und  Asylen  (l'flegeanstalten)  soll  jeder 
Regierungsbezirk  in  einem  Krankenhause  Ein- 
richtungen für  Geisteskranke  treffen,  die  wegfen 
Ueberfüllung,  Jahreszeit  etc.  nicht  ins  Hospital 
gebracht  werden  können. 

d)  Für  Staats-  und  Privatanstalten  werden 


1398 


Inenwesen 


fenaue  Bauvorschriften  gegeben.  Letztere  be- 
ürfen  der  königlichen  Genehmigunfr,  die  nur 
unter  specieUen  Bedingungen  erteilt  werden 
darf.  So  muss  der  leitende  Arzt  von  der  Medi- 
ainalverwaltung  hierzu  besonders  ermächtigt 
sein.  Er  ist  für  die  Pflege  verantwortlich.  Jeder, 
der  mehr  als  5  Geisteskranke  verpflegt,  gilt  als 
Inhaber  einer  Privatanstalt. 

e)  Jede  Anstalt  steht  unter  einer  Direktion, 
deren  Vorsitzender  der  Landeshauptmann  ist 
und  die  im  übrigen  aus  den  Anstaltsärzten  und 
vier  vom  König  ernannten  Mitgliedern  besteht. 
Die  Befugnisse  der  Direktion  und  des  Oberarztes 
sind  sehr  genau  geregelt,  die  Unterordnung  des 
Verwalters  unter  den  Oberarzt  ausdrücklich 
ausgesprochen. 

f)  Das  Aufnahmegesuch  in  ein  Hospital 
muss  mit  einem  aiLsführlichen  ärztlichen  Be- 
richte, einem  Zeugnis  des  Geistlichen,  einer 
gutachtlichen  Aeusserung  desselben  und  anderer 
glaubwürdiger  Personen  sowie  einer  Zahlungs- 
verpflichtung an  die  Direktion  eingereicht  werden. 
In  dringenden  Fällen  kann  die  Polizeibehörde 
den  Kranken  ohne  weiteres  einbringen,  dann 
müssen  die  verlangten  Zeugnisse  nachgeliefert 
werden.  Dieselben  Nachweise  werden  für  ein 
Asyl  gefordert,  falls  die  Kranken  ihm  nicht  vom 
Hospital  aus  zugeführt  werden.  Arme  Kranke 
werden,  wenn  im  ersten  Monat  nach  Beginn 
der  Krankheit  angemeldet,  die  ersten  zwei 
Monate  hindurch  umsonst  verpflegt.  Binnen 
3  Tagen  hat  der  Arzt  einer  Privatanstalt  über 
jede  Aufnahme  Bericht  nebst  Abschrift  der 
Verhandlungen  der  Medizinalverwaltung  einzu- 
senden. 

g)  Die  Entlassung  erfolgt  auf  Anordnung 
des  Oberarztes,  wenn  jemand  nicht-geisteskrank 
oder  genesen  befunden  wird,  auf  Anordnung  der 
Direktion,  wenn  der  Kranke  soweit  gebessert 
ist,  dass  er  der  Anstalt  nicht  mehr  bedarf,  oder 
wenn  ein  Unheilbarer  ungefährlich  und  ein 
anderer  der  Anstalt  mehr  bedürftig  ist.  Bei 
Untersuchungs-  und  Strafgefangenen  entscheidet 
die  Medizinal  Verwaltung.  Ausserdem  kann  der, 
der  die  Aufnahme  beantragt  hat  oder  die  Kosten 
trägt,  den  Kranken  jederzeit  herausnehmen, 
falls  dies  ohne  Gefahr  der  öffentlichen  Sicher- 
heit geschehen  kann  und  genügende  ander- 
Aveitige  Pflege  nachgewiesen  wird.  Von  jeder 
Entlassung  muss  unter  anderen  auch  der  Geist- 
liche des  heimatlichen  Kirchspiels  benachrichtigt 
werden.  Ruhige  Geisteskranke  können  vom 
Oberarzt  beurlaubt  werden,  mittellose  Genesene 
von  der  Direktion  eine  Unterstützung  an  Geld 
oder  Kleidung  erhalten. 

9.  Andere  Länder.  In  Europa  haben 
mit  Ausnahme  von  Genf,  dessen  G.  v.  5 
Februar  1S38  dem  französischen  ähnelt,  und 
N  e  u  c  h  a  t  e  ] ,  dessen  G.  v.  23.  Mai  resp.  3. 
Juni  1S79  sich  die  Genfer  Bestimmungen 
zum  Vorbilde  genommen  hat,  andere  Län- 
der keine  eigentliche  liTengesetzgebung.  In 
0 esterreich  haben  nur  einzelne  Kron- 
länder Vei-suche  dazu  gemacht.  Als  Gegen- 
sätze z.  B.  in  Behandlung  der  Aufnahme 
mögen  Dänemark  und  Portugal  er- 
währ.t  werden:  dort  genügt  ein  ärztliches 
Zeugnis,  hier  entscheidet  der  leichter,  und 
d(n*  Arzt  muss  in  Gegenwart  desselben  und 


anderer  Zeugen  den  Kranken  untersuchen. 
In  Dänemark  steht  dal)ei  das  Irren wesen 
trotz  beinahe  völligem  Mangel  an  gesetz- 
lichen Bestimmungen  auf  einer  ähnlich 
hohen  Stufe  wie  in  Schweden  und  Nor- 
wegen, während  von  Spanien  und  Portu- 
gal nichts  in  dieser  Hinsicht  zu  rühmen 
ist.  Irlands  Gesetze  schliessen  sich  denen 
Englands  und  Schottlands  an,  sind  aber 
weniger  ausgebildet.  In  Italien  ist  das 
von  den  Psychiatern  Lombroso  und  Tambu- 
rini vorbereitete  Irrengesetz,  das  viele  be- 
merkenswerte Einzelheiten  bietet,  bisher 
nicht  angenommen  worden. 

Dort  macht  sowohl  das  Civil-  wie  das  Straf- 
recht einen  Unterschied  zwischen  Personen, 
welche  des  Verstandes  ganz  beraubt  sind,  und 
solchen  mit  verminderter  Verstandesthätij^keit. 
Jene  verlieren  durch  die  Entmündigung^  (mter- 
dizione)  die  Freiheit,  über  Person  und  Vermögen 
zu  verfügen,  während  für  diese  die  Geschäits- 
unfähigkeitserklärungjinabilitazione)  vorgesehen 
ist,  welche  nur  die  Verfügung  über  das  Ver- 
mögen beschränkt.  Das  Entmündigungsver- 
fahren findet  vor  einem  Kollegialgericht  statt, 
ein  Familienrat  wird  hinzugezogen,  und  die 
Staatsanwaltschaft  übt  auch  weiterhin  die  Auf- 
sicht über  den  Entmündigten  und  die  Thätig- 
keit  des  Familienrates  aus. 

In  Russland  endlich  ist  die  Irrenpflege 
in  denjenigen  Gouvernements,  wo  die  Mbst- 
verwaltung  eingeführt  ist,  Sache  der  Land- 
stände (Semstwo).  Gewöhnlich  verfügt  der 
Anstaltsdirektor  die  Aufnahme  auf  Grund 
eines  Antrags  des  angestellten  Gemeinde- 
arztes. Im  übrigen  waltet  noch  ziemliche 
Willkür  der  Regieiningsbehörden  auf  diesem 
Gebiete,  obwolü  in  neuer  Zeit  gute  Anstal- 
ten gel.)aut  sind  und  in  der  wissenschaft- 
lichen Psychiatrie  eifiiges  Streben  herrscht. 

Einen  eigenen  Chai'akter  tragen  den 
dortigen  Verhältnissen  entsprechend  di*» 
1  rren  gesetzgebungen  der  Vereinigten 
Staaten  Nordamerikas,  die,  untereinander 
sehr  abweichend,  zum  Teil  sehr  ins  einzelne 
ausgearbeitet  sind  und  neben  ungewöhn- 
lichen Auswüchsen  des  Misstrauens  und 
der  Furcht  vor  widerrechtlicher  Freiheits- 
beraubung auch  viele  selir  erfreuliche  Züge 
tragen.  Die  Aufnahme  in  eine  Irrenanstalt 
erfolgt  z.  B.  auf  höchst  verschiedene  Wei.se 
in  den  einzelnen  Staaten,  nämlich  auf  An- 
ordnung 1.  des  Friedensrichters,  2.  des  Rich- 
ten, 8.  einer  ordentlichen  Jury  (z.  B.  in 
Colorado,  wo  in  öffentlicher  Verhandlung 
nach  Anhörung  des  Staatsanwalts  und  des 
Verteidigers  der  »Angeklagte«  für  »schuldig, 
geisteskrank  zu  sein«,  erklärt  wiitl),  4.  einer 
gemischten,  halb  aus  Aerzten  bestehenden 
Jury,  5.  des  Staatskanzlers,  6.  einer  vom 
Richter  ernannten  Kommission,  7.  der  Irren- 
inspektoren, S.  des  Aufsichtsrats  der  An- 
stalten, 9.  eines  oder  mehrerer  Aerzte, 
Trotz  mancher  uns   schwer  verständlichen 


Irrenwesen—Iselin 


1399 


Einrichtung  steht  Iirenwesea  und  Iri*en.c:e- 
setzgebung  iu  manchen  Staaten  der  nord- 
amerikanischen Union  und  ferner  besondei*s 
in  den  australischen  Koionieen  woliJ 
denen  Europas  nicht  nach.  Ziemhch  überall 
finden  wir  eine  ausgebildete  Organisation 
und  Uoberwachung  des  Irren wesens  durch 
besondert»  Kommissionen  mit  teilweise  sehr 
weitreichenden    Befugnissen. 

Litteratur:  Reuss,  Rechtsschutz  der  Gehtes- 
kninken,  Leipzig  18 8S.  —  Atisser  der  dort  an- 
gegebenen Litteratur  besonders:  O,  A,  TuckeVf 
Lunacy  in  many  Uinds,  Sydney  1887.  —  D,  H, 
TukCi  Histoj^  of  the  Insane  in  ihe  British 
Isles,  London  1882.  —  Derselbe^  Dictionary 
of  Psychologicul  Medicine ,  London  189:i.  — 
Heinr,  Laehv  und  M,  Lewald,  Die  Heil- 
und  Pflegeanstalten  für  Psychisch- Kirtnke  des 
deutschen  Sprachgebietes  am  1,  Jan.  1898,  Berlin 
1899.  —  Ferner:  Aufsätze  in  der  Allg.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie,  Berlin;  Annales  intdico-j>sycho- 
iogiques,  Paris;  Journal  of  mental  seience,  London. 

Hans  Laehr. 


Iselitt,  Isaak, 

geb.  17.  in.  1728  zu  Basel,  gest.  daselbst  15. 
VII.  1782,  studierte  Geschichte  und  die  Rechte, 
wurde  1754  Mitglied  des  grossen  Rats  und  1756 
Eatsschreiber  in  seiner  Vaterstadt  und  gründete 
1760,  gelegentlich  der  dreihundertjährigen  Stif- 
tungsfeier der  Universität  Basel,  mit  Salomon 
Hirzel,  Salomon  (t essner  und  iSchinz  die  1763 
ins  Leben  getretene  „helvetische  Gesellschaft". 

Iselin  war  ein  Menschenfreund  in  des  Wortes 
idealster  Bedeutung.  Für  Hebung  des  Schul- 
wesens imd  Umgestaltung  der  Erziehungs- 
methoden, nach  Basedowschen  Grundsätzen,  für 
Pflege  des  Landbaues,  für  Besserung  der  Sitten, 
für  gemeinnützige  Bestrebungen  aller  Art  wirkte 
er  durch  Wort,  Schrift  und  That.  Röscher  be- 
zeichnet ihn  als  sehr  interessantes  Mittelglied 
zwischen  Montesquieu  und  den  Physiokraten. 
Ueber  Iselins  Stellung  zu  Rousseau  vgl.  die  Be- 
merkung zu  seiner  „Geschichte  der  Mensch- 
heit" (s.  u.j.  Iselin  macht  imter  den  deutschen 
Physiokraten  darauf  Anspruch,  sich  zuerst  zu 
der  Lehre  Quesnays  und  seiner  Schüler  öffent- 
lich bekannt  zu  haben.  Von  grossem  Interesse 
ist  seine  diplomatische  Befreundnng  zu  Gunsten 
des  Physiokratismus  mit  einzelnen,  eine  doppel- 
sinnige Auslegung  zulassenden  Umschreibungen 
von  Begriffen  des  Industriesystems,  wie  sie  in 
Smiths  „wealth  of  nations"*  sich  darbieten  (vgl. 
Ephemeriden  der  Menschheit,  s.  u.,  Bd.  II,  1777, 
iS.  1 70/206).  Ueber  das  Wiesen  der  Konkurrenz 
äusserte  er  sich  (vgl.  Ephemeriden,  Bd.  II,  Jahrg. 
1777,  S.  59):  das  erste  Recht  zu  jeder  Ware 
gehört  dem,  der  am  meisten  dafür  bezahlt,  und 
aas  erste  Recht,  eine  Ware  los  zu  werden,  dem, 
der  sie  zum  niedrigsten  Preise  weggeben  will, 
welches  Theorem  sowohl  das  Vorkaufsrecht  als 
die  gesetzlichen  Beschränkungen  der  Schleuderet 
anfechten. 

Iselin  veröffentlichte  von  staatswissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform:   Der  Patriot  und 


Antipatriot,  Zürich  1758.  —  Ueber  die  Gesetz- 
gebung, Basel  1758;  2.  Aufl.,  Zürich  1760.  — 
Ueber  die  Entvölkerung  unserer  Vaterstadt, 
Basel  1758.  —  Philosophische  und  patriotische 
Träume  eines  Menschenfreundes,  Zürich  1759; 
2.  Aufl.,  Basel  1776.  —  Philosophische  und 
politische  Versuche,  Zürich  1760;  2.  Aufl.,  1767. 
—  Plutus,  oder  von  den  Reichtümern,  ein  Ge- 
spräch, Basel  1762.  —  Ueber  den  wahren  Ge- 
brauch der  Reichtümer,  ebd.  1762.  —  Philo- 
sophische Mutmassungen  über  die  Geschichte 
der  Menschheit,  2  Bde.,  Frankfurt  und  Leipzig 
1764  (erschien  anonym);  dasselbe,  2.  Aufl.  mit 
seinem  Autornamen,  u.  d.  T.:  Ueber  die  Ge- 
schichte der  Menschheit,  2  Bde.,  Zürich  1768; 
dasselbe,  8.  Aufl.,  1770;  dasselbe,  4.  Aufl ,  Basel 
1779;  dasselbe,  5.  Aufl.,  1786;  dasselbe,  6  Aufl., 
1791.  (Die  Grundidee  dieses  Werkes  imd  der 
I  bereits  genannten  „philosophischen  und  patrio- 
tischen Träume  eines  Menschenfreundes"  cha- 
rakterisiert sie  als  Versuche  einer  praktischen 
Glückseligkeitslehre.  Im  Gegensatze  zu  Rousseau, 
der  die  Aera  der  menschlichen  Glückseligkeit, 
mit  Bestreitung  der  Möglichkeit  einer  Wieder- 
kehr derselben,  in  die  Vergangenheit  verleet, 
verteidigt  Iselin  die  Ansicht  von  einer  erst  der 
Zukunft  vorbehaltenen  Inaugurierung  dieses 
goldenen  Zeitalters.  Seine  Ausführungen  atmen 
die  lauterste  Vaterlands-  und  Menschenliebe, 
ihr  philosophischer  Kern  ist  aber  der  falschen 
Prämisse  entspnmgen,  dass  eine  stetig  fort- 
schreitende intellektuelle  und  soziale  Entwicke- 
lung  der  Menschheit  erstens  gleichen  Schritt 
mit  deren  sittlicher  Vervollkommnung  halte, 
zweitens  die  materiellen  Vorbedingungen  zur 
Erreichung  des  erhofften  GltickseliÄeitszu- 
standes  mittelst  der  Philosophie  in  sich  trage, 
welcher  er  die  Aufgabe  zuscnreibt,  die  Mensch- 
heit zu  beglücken  und  aus  ihren  sozialen  Nöten 
zu  erlösen.  Er  greift  Rousseau  an,  weil  dieser 
sich  von  der  Natur  entferne,  zu  der,  als  Mutter 
der  Glückselififkeit,  zurückzukehren,  er  die  ein- 
zelnen Individuen  und  die  bürgerliche  Gesell- 
schaft wiederholt  auffordert.  J.  G.  Schlosser  in 
seinem  „Brief  über  Träume  eines  Menschen- 
freundes" (s.  u.)  bemerkt  dazu:  „Rousseaus 
Gang  der  Natur  ist  ein  Gang  im  Staube, 
Iselins  ein  Gang  in  den  Wolken.")  —  Schreiben 
an  seinen  Sohn,  der  sich  der  Handelschaft  widmen 
will,  0.  J.  (ca.  1765j.  —  Schreiben  an  die  Hel- 
vetische Gesellschaft  über  Basedows  Vorschläge 
zur  Verbesserung  des  Unterrichts  der  Jugend, 
Basel  1769.  —  Ueber  die  Notwendigkeit  der 
Prachtgesetze  in  einem  Freistaate,  Zürich  1769. 
(Iselin  erklärt  sich  darin  gegen  jeden  die  re- 
publikanische Sitteneinfachheit  gefährdenden 
Luxus.)  —  Versuch  über  die  gesellige  Ordnung, 
ebd.  1772.  —  Schreiben  an  Ulysses  von  Salis- 
Marschlins  über  die  Philanthropieen  in  Dessau 
und  in  Graubünden,  Basel  1776.  —  Ephemeriden 
der  Menschheit,  10  Bde.,  Bd.  I— VIII,  Basel 
1776—79,  Bd.  IX— X,  Leipzig  1780—82.  (Diese 
Zeitschrift  war  den  „Ephemerides  du  citoyen", 
1767  flf.  nachgebildet;  sie  wurde  nach  Iselins 
Tode  von  Becker  in  Dresden  bis  1786  fortgesetzt.) 

Vffl.  über  Iselin:  Leu,  Helvetisches  Lexi- 
kon, 26  Teile,  einschl.  Supplemente,  Zürich 
1747-95,  Teü  19  u.  26.  —  J.  G.  Schlosser, 
Brief  über  „Träume  eines  Menschenfreundes"  in 
„Ephemeriden  Bd.  IX",  Leipzig  1780,  S.  225 ff. 


1400 


Iselin — Jugendliche  Arbeiter 


—  Salomon  Hirzel,  Denkmal  Isaak  Iselins, 
gewidmet  von  seinem  Freunde,  Basel  1782.  — 
Tentsches  Museum,  Jahrg.  1783,  Leipzig,  No- 
vemberheft. —  J.  G.  Schlosser,  Denkmal  auf 
Isaak  Iselin  in  „Verhandlungen  der  helvetischen 
Gesellschaft  in  Ölten  im  Jahre  1783",  Basel 
1783.  —  Nachrichten  über  Iselins  Leben  und 
Schriften  in  der  5.  Aufl.  seiner  „Geschichte  der 
Menschheit"  von  1786.  —  Lutz,  Nekrolog 
denkwürdiger  Schweizer  aus  dem  18.  Jahr- 
hundert, Aarau  1812.  —  Ersch  und  Gruber, 
Encyklopädie,  Sektion  II,  Teil  24,  Leipzig  1845, 
S.  336 ff  —  K.  Goedeke,  Grundriss  zur  Ge- 
schichte der  deutschen  Dichtung,  Bd.  II,  Hannover 
1859,  S.  619.  —  K.  Morell,  Die  Helvetische 
Gesellschaft,  Winterthur  1864.  —  Röscher, 
Geschichte  der  Nat.,  München  1874,  S.  487,  528, 
600.  —  A.  V.  Miaskowski,  Isaak  Iselin.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  volkswirtschaft- 
lichen, sozialen  und  politischen  Bestrebungen 
der  Schweiz  im  18.  Jahrhundert,  Basel  1875.  — 
K.  Dändliker,  Geschichte  der  Schweiz,  Bd. III, 
Zürich  1887,  S.  71  und  136. 

Lippert, 


Jagendliche  Arbeiter. 

1.  Grundsätzliche  Berechtigung  der  Be- 
schäftigung minderjähriger  Personen.  2.  Zu- 
stände in  der  älteren  Zeit.  3.  Zustände  im 
19.  Jahrhundert,  a)  England;  b)  Frankreich; 
c)  Deutschland ;  d)  Italien ;  e)  Schweiz.  4.  Um- 
fang der  Arbeit  von  Kindern  und  jungen  Leuten 
in  der  Gegenwart  seit  1880.  a)  Deutschland; 
b)  Italien;  c)  Belgien;  d)  Holland;  e)  Frank- 
reich; f)  Schweiz;  g)  England.  5.  Neuere 
deutsche  Schutzgesetzgebung. 

1.  Grundsätzliche  ßerechtignng  der 
Beschäftigung  minderjähriger  Personen. 

Bei  den  jugendlichen  Arbeitern  müssen  zwei 
Alterskategorieen  auseinandergehalten  wer- 
den :  die  Gnij)pe  der  eigentlichen  jugendlichen 
Arbeiter  bis  zum  vollendeten  16.  Lebens- 
jahre und  die  Gruppe  der  16 — 21  jährigen 
halberwachsenen  Arbeiter.  Während  nun 
die  regelmässige  industrielle  Beschäftigung 
von  Kindern  und  jugendlichen  Personen  Be- 
denken hervorruft,  lässt  sich  gegen  eine 
regelmässige  Heranziehung  halberwachsener 
Personen  zur  Arbeit  nichts  einwenden.  Indes 
sollte  man  auch  hier  zweckmässigerweise 
nicht  ausser  acht  lassen,  dass  man  es  mit 
noch  nicht  völlig  erzogenen  Personen  zu 
thun  hat.  Daher  empfiehlt  sich  einerseits, 
den  jüngeren  unter  ihnen  die  Gelegenheit 
zur  Vervollständigung  ihrer  Ausbildung  nicht 
zu  verkümmern  und  andererseits  über  sie 
aUe  eine  gewisse  Aufsicht  zu  führen,  damit 
sie  vor  jugendlichen  Ausschreitungen  be- 
wahrt bleiben. 

Bezüglich  der  Kinder  imd  jugendlichen 
Personen  unter  16  Jahren  gilt,  dass  diese 
in  erster  Linie  dazu  bestimmt  erscheinen, 
ihre  körperhchen  und  geistigen  Fähigkeiten 
für    die    spätere    Wirksamkeit    auszubilden 


und  zu  lernen.  Soll  nicht  frühzeitige  Er- 
schlaffung der  Leistungsfähigkeit  eintreten, 
so  ist  es  durchaus  geboten,  die  Kräfte  des 
in  der  Entwickelung  begriffenen  Kindes  zu 
schonen  und  sie  nicht  übermässig  anzu- 
strengen. Nur  sehr  schwer  wird  sich  der 
Schulunterricht  mit  regelmässiger  gewerb- 
licher Arbeit,  insbesondere  der  Thätigkeit 
in  Fabriken,  vereinigen  lassen.  Das  in  der 
Schule  geistig  angestrengte  Kind  hat  ziur 
Wiederherstellung  des  gestörten  Gleichge- 
wichts zw^anglose  Bewegung  im  Freien  und 
die  Möglichkeit  harmlosen  Spiels  mit  Alters- 
genossen nötig.  Dazu  aber  ist  bei  regel- 
mässiger Fabrikarbeit  keine  Zeit  mehr  vor- 
handen. Diese  verlangt  die  günstigsten 
Tagesstunden  und  lässt  keinen  Raum  für 
die  Erledigung  der  Schularbeiten,  geschweige 
denn  zur  Erholung  in  angedeutetem  Sinne. 
Nur  zu  nahe  liegt  die  Grefahr,  dass  bei  den 
entgegenstehenden  Interessen,  Lernen  imd 
Geldverdienen,  der  Unterricht  in  den  Hinter- 
giiind  gedrängt  und  als  eine  lästige  Ein- 
schränkung der  Erwerbsarbeit  empfunden 
wird.  Dazu  kommt,  dass  die  gleichzeitige 
Beschäftigung  von  Kindern  und  Erwachsenen 
in  einem  Baume  für  die  ersteren  moralische 
Schädigungen  birgt.  Das  Kind  muss  dabei 
manches  sehen  und  hören,  was  seiner 
Fassungskraft  nicht  angemessen  erscheint, 
und  gewinnt  oft  frühzeitig  einen  Einbhck 
in  Verhältnisse,  die  besser  noch  auf  lange 
liinaus  vor  seinem  aufkeimenden  Yerständ- 
I  nis  verborgen  gehalten  werden. 

Bei  alledem  kann  nicht  geleugnet  werden, 
dass  für  gewisse  Klassen  der  Bevölkerung 
die  Kinderarbeit  geradezu  eine  Notwendigkeit 
geworden  ist.  Wo  eine  zalilreiche  Kinder- 
schar im  Familien  haushalte  vorhanden,  ist 
der  Vater  oder  sind  die  Eltern  oft  nicht 
in  der  Lage,  soviel  zu  erwerben,  dass  der 
Unterhalt  aller  auskömmlich  gesichert  er- 
schemt.  Die  Kinder  solcher  Familien  sind 
<larauf  angewiesen,  sobald  ihre  Kräfte  es 
erlauben,  in  die  Reihe  der  Erwerbsthäligen 
einzutreten  und  den  liarten  Kampf  ums 
Dasein  aufzunehmen,  sei  es,  um  sich  selbst 
zu  erhalten,  sei  es,  um  für  jüngere  Ge- 
schwister oder  erwerbsunfähige  oder  er- 
krankte Eltern  zu  sorgen.  Die  Not  des 
;  Lebens  zwingt,  unbekümmert  um  die  Folgen, 
sich  frfili  regelmässiger  Arbeit  zu  unterziehen, 
wo  Wohlhabendere  ihren  Kindern  noi-h 
schonende  Füreorge  angedeihen  lassen  können. 
Daneben  w'ill  in  Betracht  gezogen  sein,  dass 
in  Familien,  wo  beide  Eltern  früh  am  Morgen 
das  Haus  verlassen,  um  auf  Erwerb  aus- 
zugehen, und  wenn  nicht  den  ganzen  Tag, 
so  doch  viele  Stunden  fernbleiben,  für  die 
zurückbleibenden  Kinder  schlecht  gesorgt 
ist.  Der  Besuch  der  Volksschule  und  die 
Erledigung  der  Schularbeiten  lassen  viele 
I  freie  Müsse,  die,  wenn  die  Beaufsichtigung 


Jugendliche  Arbeiter 


1401 


der  Eltern  fehlt,  leicht  missbräuchlich  aus- 
genutzt wird.  Jugendheime  und  Knaben- 
oder Mädchenhorte,  die  hier  helfend  ein- 
zutreten in  der  Lage  sind,  werden  natur- 
gemäss  immer  nur  einen  beschränkten  Wir- 
kimgskreis  haben  können.  Vielleicht  darf 
schliesslich  auch  in  die  Wagschale  geworfen 
werden,  dass  unter  den  Entbelirungen  und 
Strapazen,  an  die  Kinder  aus  Arl>eiter- 
familien  sich  leider  gewöhnen  müssen,  der 
Körper  abgehärtet  und  frfiher  widerstands- 
fähiger wird,  als  es  sonst  der  Fall  ist,  sowie 
eine  frühere  geistige  Entwickelung  sich  zeigt, 
unter  dem  l>uck  solcher  \erhältnisse 
kann  es  nicht  darauf  ankommen,  die  gewerb- 
liche Thätigkeit  untersechzehnjäliriger  Per- 
sooen  ganz  zu  verbieten,  sondern  nur  darauf, 
ihr  Grenzen  zu  ziehen,  die  sich  mit  der 
natürlichen  Entwickelung  verti-agen.  Die 
Heranziehung  zu  leichterer  Acker-  und 
(rartenai'beit ,  Botengängen ,  Hirtendiensten, 
Handreichungen  in  der  Hausarbeit  oder  auch 
in  der  väterlichen  Werkstätte  wird  niemand 
missbilligen  w^ollen,  natürlich  immer  in  der 
Voraussetzung,  dass  sie  sich  in  den  diu^ch 
die  Körperkraft  der  Kinder  und  die  Not- 
wendigkeit dos  Schulunterrichts  gegebenen 
Schranken  hält.  Dagegen  gewinnt  die 
Arbeit  der  Kinder  einen  im  höchsten  Grade 
besorgniserregenden  Charakter,  wenn  sie, 
wie  das  in  Fabriken  lange  der  Fall  war, 
ein  Ersatz  für  die  Leistungen  erwachsener 
Männer  sein  soll  und  den  unglücklichen 
Geschöpfen  zugemutet  wird,  mit  diesen  in 
Bezug  auf  Ausdauer  und  Mass  zu  w^ett- 
eifern. 

2.  Zustände  in  der  älteren  Zeit.  Soweit 
Nachrichten  darüber  bekannt  geworden  sind, 
lässt  sich  nicht  behaupten,  dass  während  der 
Epoche  der  Zunftverfassung  die  Kinder  in  auf- 
fallender und  besorgniserregender  Weise  zur 
gewerblichen  Thätigkeit  herangezogen  wurden, 
wenn  es  auch  wahrscheinlich  ist,  dass  sie  in 
Haus  und  Hof,  auf  Feldern  und  Gärten  mit- 
geholfen haben,  so  überschritt  das  ihnen  zuge- 
mutete Mass  von  Leistungen  nicht  ihre  Kräfte. 
Wenigstens  sieht  man  nur  selten  und  vereinzelt 
ihre  Beschäftigung  obrigkeitlicherseits  geregelt. 
So  ordnet  das  Statut  der  Glasschleifer  in  Venedig 
vom  Jahre  1284  an,  dass  die  beiden  Lehrburschen 
oder  Lehrmädchen,  die  jeder  Meister  zu  halten 
berechtigt  ist,  wenigstens  acht  Jahre  alt  sein 
müssen  (octo  annos  et  non  ad  minus),  und  findet 
man  in  Venedig  schon  seit  dem  Ende  des  14. 
Jahrhunderts  Gesetze  zum  Schutze  der  Knaben 
und  Mädchen,  die  sich  einem  Meister  zur  Ar- 
beit zu  vermieten  pflegten.  Diese  standen  unter 
dem  vormundschaftlichen  Schutze  einer  be- 
sonderen Behörde,  welche  die  mit  dem  Meister 
abzuschliessenden  Lehr-  und  Arbeitsverträge  zu 
begutachten  hatte.  Aber  es  ist  doch  sehr  frag- 
lich, inwieweit  man  aus  dem  Erlass  derartiger 
Bestimmungen  auf  besonders  grelle  Zustände 
zu  schliessen  berechtigt  ist.  In  den  Bau- 
gewerben derselben  Stadt  Hess  z.  B.  kein  Hand- 
werk einen  Burschen  als  Lehrling  zu,  der  das 


13.  Lebensjahr  nicht  vollendet  hatte,  und  ver- 
langte für  gewisse  mühsame  Arbeiten  ein  noch 
höheres  Alter.  Bei  den  Pariser  Handwerks- 
zünften  des  14.  Jahrhunderts  pflegten  die  Sta- 
tuten kein  bestimmtes  Alter  von  den  eintreten- 
den Lehrlingen  zu  fordern.  Man  sieht  die 
Knaben  im  Alter  von  8,  von  9,  von  10,  von 
14 — 17  Jahren  ihre  Lehrzeit  anfangen,  imd  in 
derselben  Zunft  konnte  diese  bald  früher,  bald 
später  beginnen.  Die  Goldschmiede  z.  B.  nahmen 
nach  ihrem  Statut  von  1599  Lehrlinge  im  Alter 
von  10 — 16  Jahren  auf.  Man  richtete  sich  augen- 
scheinlich ganz  nach  den  individuellen  Verhält- 
nissen, nach  der  körperlichen  oder  geistigen 
Entwickelung  der  Kinder.  Wenn  im  allge- 
meinen das  Rind  wirklich  früh  zur  Erlernung 
des  Handwerks  zugelassen  wurde,  so  kann  das 
auch  den  Sinn  gehabt  haben,  dass  man  meinte, 
nur  durch  frühzeitige  Schulung  vollendete  Ge- 
werbetreibende erziehen  zu  können,  und  es  ist 
nicht  gesagt,  dass  sie  tiberanstrengt  wurden. 
Ein  derartiger  Gedanke  scheint  der  Bestimmung 
der  Lübecker  Gerberrolle  aus  dem  14.  Jahr- 
hundert zu  Grunde  zu  liegen,  in  der  es  heisst, 
dass  der  anzunehmende  Lehrling  das  Alter  von 
12  Jahren  nicht  überschritten  haben  durfte  (si 
aliquis  unum  juvenem  reciperet  ad  docendum 
ille  minus  quam  duodecim  annorum  senex  esse 
deberet)  *j.  Die  Lehrzeit  dauerte  in  diesem  Ge- 
werbe 6  Jahre,  und  vor  dem  vollendeten  20.  Lebens- 
jahre konnte  ein  Gerberssohn  in  der  Regel  nicht 
selbständiger  Meister  werden  (ausnahmsweise 
etwa  bei  frühzeitigem  Tode  seines  Vaters  mit 
Zustimmung  des  Rates  .  und  Amtes  wohl). 
Uebrigens  lässt  sich  dieser  Anordnung  der 
Gerber  keine  ähnliche  Verfügung  eines  anderen 
Gewerbes  in  Lübeck  oder  den  benachbarten 
Städten,  Hamburg  und  Lüneburg,  an  die  Seite 
stellen;  die  Gerber  selbst  haben  sie  in  der 
späteren  Rolle  von  14ö4  fallen  lassen.  Im 
ganzen  enthalten  die  deutschen  Zunftrollen  nur 
wenig  Bestimmungen  über  die  Altersgrenze, 
bei  der  Lehrlinge  zuzulassen  oder  abzuweisen 
waren.  Die  Buchbinder  in  Nürnberg  verlangten 
1598  mindestens  14  Jahre,  die  Ziegler  in 
Württemberg  1589  15  Jahre,  die  Schneider  in 
HoheuzoUern  1598  1.3 — 14  Jahre,  die  Zimmer- 
leute in  Nürnberg  im  16.  Jahrhundert  16  Jahre 
für  die  Zulassung.  Dagegen  zeigt  sich  die 
Forderung  eines  Altersmaximums  bei  den  Kamm- 
machern m  Lübeck.  Diese  nahmen  1531  keinen 
Lehrling  mehr  an,  der  das  18.  Lebensjahr  tiber- 
schritten hatte.  Den'  Spenglern  in  Nürnberg 
hatte  die  Obrigkeit  vorgeschrieben,  dass  sie 
keinen  Lehrjun^en  annehmen,  der  über  15  Jahre 
alt  sei.  Aber  diese  erklärten  1564,  dass  sie  mit 
so  kleinen  Jungen  das  Handwerk  nicht  fördern 
könnten,  worauf  ihnen  gestattet  wurde,  auch 
solche  Lehrjungen  anzunehmen,  die  über  dieses 
Alter  hinaus  waren.  Missbräuchlich  kam  es 
vor,  dass  die  Kinder,  namentlich  Meistersöhne, 
noch  in  der  Wiege  liegend,  in  das  Handwerks- 
buch eingeschrieben  wurden,  eine  Massregel, 
die  wohl  mit  der  seit  dem  16.  Jahrhundert  ver- 


')  Stahls  Vermutung  eines  Schreibfehlers 
an  dieser  Stelle  der  Urkunde,  nämlich  der  Aus- 
lassung eines  ,.non"  vor  dem  „minus",  so  dass 
das  Maximum  sich  in  ein  Minimum  verwandeln 
würde,  scheint  mir  nicht  recht  begründet. 


1402 


Jugendliche  Arbeiter 


längerten  Lehr-,  Wander-  und  Gesellenzeit  sich 
einbürgerte.  Wann  die  Knaben  in  der  That 
regelmässig  zu  arbeiten  begannen,  entzieht  sieh 
unserer  Kenntnis.  Immerbin  deuten  die  in 
Württemberg  1771  und  1772  notwendig  werden- 
den Synodalreskripte,  dass  keiner  vor  der  Kon- 
firmation zum  Handwerk  aufgenommen  werden 
dürfe,  auf  Erscheinung  von  Missständen  in 
dieser  Richtung.  Auf  die  gleiche  Spur  führt 
uns  eine  Verordnung  des  Züricher  Rates  vom 
Jahre  1779,  dass  Eltern  oder  Leute,  die  fremde 
Kinder  in  Kost  zu  nehmen  pflegten,  ihre  eigenen 
oder  fremden  Kinder  nicht  täglich  mit  einem 
gewissen  Pensum  Manufakturarbeit,  wie  Spinnen, 
Zupfen,  Sortieren  etc.  beschäftigen  durften.  Die 
Kinder  sollten  nicht  früher  in  der  angegebenen 
Weise  benutzt  werden,  als  nachdem  sie  aus  der 
Schule  entlassen  waren.  Sonst  würde  der  so  sehr 
benötigte  Unterricht  vernachlässigt  und  könnten 
leicht  gefährliche  Uebel  daraus  entstehen. 

Häufig  erscheint  Kinderarbeit  bereits  im 
17.  Jahrhundert  in  Holland,  wo  ja  das  Fabrik- 
wesen sich  zeitiger  als  in  anderen  Ländern  ent- 
wickelte. Schon  Pieter  de  la  Court  und  andere 
Schriftsteller  dieser  Zeit  klagen  über  die  Aus- 
dehnung der  Frauen-  und  Kinderarbeit.  Am 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  fand  E versmann 
auf  einer  technologischen  Reise  durch  Holland 
Kinder  von  7  und  8  Jahren  in  der  Pfeifen- 
fabrikation beschäftigt.  In  dem  Masse,  als  dann 
Fabriken  errrichtet  und  mit  immer  vervoll- 
komraneteren,  durch  Dampf  in  Bewegung  ge- 
setzten Maschinen  betrieben  wurden,  nahm  die 
regelmässige  Verwendung  von  Kindern  in  zum 
Teil  harter  und  andauernder  Tagesarbeit  in 
besorgniserregender  Weise  zu.  Zur  Bedienung 
der  Maschinen  reichten  die  kindlichen  Körper- 
kräfte aus,  und  für  den  Fabrikanten  zeigte  sich 
der  Vorteil  ihrer  vergleichsweise  niedrigen  Be- 
zahlung. Diese  an  sich  zunächst  nicht  unge- 
rechtfertigte Heranziehung  artete  dann  in  der 
Weise  aus,  dass  die  jugendlichen  Arbeiter  die 
erwachsenen  förmlich  zu  verdrängen  drohten. 
Die  Dinge  wurden  völlig  auf  den  Kopf  gestellt, 
indem  die  Kinder  die  Ernährer  ihrer  Eltern 
wurden.  Bei  den  Erwachsenen  aber  bürgerte 
sich  die  Vorstellung,  dass  dieses  Verhältnis  das 
normale  sei,  derart  ein,  dass  frühzeitig  Ehen 
geschlossen  wurden  in  Hinsieht  auf  den  Bei- 
trag, den  die  Kinder  zu  den  Kosten  des  Haus- 
haltes zuschiesjien  würden. 

3.    Zustände    inr    19.    Jahrhundert. 

a)  England.  Besondere  schlimm  gestaltete 
sich  die  Beschäftigung  von  Kindern  in  dem 
fabrikreichen  England.  Hier  wurden,  wie 
Engels  schildert,  von  Anfang  der  neuen  In- 
dustrie an  Kinder  in  den  Fabriken  beschäftigt ; 
anfangs  wegen  der  Kleinheit  der  später 
vergrösserten  Maschinen  fast  anssclüiesvslich. 
Man  nahm  die  Kinder  zuerst  aus  den  Armen- 
häusern, von  denen  sie  scliarenweise  an  die 
Fabrikanten  als  »Lehrlinge<  vermietet  wur- 
den. Die  Unglücklichen  wohnten  gemein- 
sc^haftlich,  wurden  gleich  gekleidet  und 
waren  die  vollständigen  Sklaven  ihrer  Brot- 
herren, von  denen  sie  mit  der  gi-össten 
Rücksichtslosigkeit  und  Barbarei  behandelt 
wurden.     Obwohl   dieses  System   schon  im 


Jahre  1796  den  öffentlichen  Unwillen  her- 
vomef  und  in  einem  Gesetz  von  1802  die 
Abstellung  der  grössten  Missbräuche  be- 
wirkt wurde,  so  erreichte  man  weiter  nichts, 
als  dass  Kinder  unter  8 — 9  Jahren  in  der 
Regel  nicht  mehi*  beschäftigt  wurden.  Mit 
dem  neunten  Jahre  begann  ganz  regelmässig 
die  Arbeit.  Die  Fabrikkommission  von  1SH3 
stellte  fest,  dass  die  Fabrikanten  die  Kinder 
häufig  mit  6,  sehr  oft  mit  7,  meist  mit 
8 — 9  Jahren  zu  beschäftigen  anfingen  dass 
die  Arbeitszeit  oft  14 — 16  Stimden  (ausser 
Freistunden  zu  Malüzeiten)  täglich  dauere, 
dass  die  Aufseher  die  Kinder  schlugen  und 
raisshandelten  und  oft  die  Fabrikanten  selbst 
sich  an  ihnen  vergriffen.  Bis  zum  Jahre 
1839  war  die  Kinderarbeit  soweit  verbreitet, 
dass  von  419560  Fabrikarbeitern  des  bri- 
tischen Reiches  192887,  d.  h.  beinahe  die 
Hälfte,  unter  18  Jahren  waren.  Im  Bezirk 
Manchester  allein  waren  zu  Beginn  des 
Jahres  1840  in  143  Fabriken  2422  Kinder 
unter  13  Jahren  beschäftigt,  von  denen  177S 
acht  Stunden  lang  ohne  Ablösung  arbeiteten. 
Hierbei  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  schon 
5  Jahre  vorher  dasjenige  Gesetz  veröffent- 
licht war,  das  die  Arbeit  von  Kindern  unter 
9  Jahren  verbot.  Indes  dieses  Gesetz  s«* 
wenig  wie  das  spätere,  das  die  Kinder  unter 
13  Jahren  nur  6  Stunden  täglich  zu  l>e- 
schäftigen  erlaubte,  vermochte  dem  Miss- 
brauche  ganz  zu  steuern.  Die  Fabrikanten 
beschäftigten  nunmehr  vorzugsweise  nur 
solche  Jungen,  die  so  aussahen,  als  ob  sie 
schon  ISjähiig  waren.  Karl  Marx  behauptet. 
I  indem  er  sich  auf  die  Aussagen  der  Fabrik- 
'  Inspektoren  bezieht,  dass  die  manchmal  l>e- 
obachtete  sprungweise  Abnahme  in  der  An- 
zahl der  von  Fabrikanten  beschäftigten 
Kinder  unter  13  Jahren  grösstenteils  das 
Werk  der  amtlich  qualifizierten  Aerzt«» 
(certif^nng  surgeons)  war,  die  das  Kindes- 
alter  der  Exploitationslust  der  Kapitalisten 
und  dem  Scliacherbedürfnis  der  Eltern  ge- 
mäss ven?choben.  Wirklich  lässt  sich  in 
,  der  Periode  von  1850  bis  1875  folgende 
:  Verschiebung  in  der  Zusammensetzung  <ler 
englischen  Textilarbeiterbevölkenmg  nach- 
weisen. 


1.  Baumwollenindustrie. 

a  =  Kinder  unter  13  Jahren, 
b  =  Männliche  Arbeiter   von  13 — 18  Jahren, 
c  =  „  y,         über  18  Jahre, 

d  =  Weibliche  Arbeiter  über  13  Jahre. 


Arbeiter- 
katego rieen 

a 
b 
c 
d 


1850 


1861 


14  993  39188 

37  059  41  207 

94  960  1 19  268 

183  912  251  306 


1871 

43  181 

38209 

117  046 

25^  55» 


1875 

66900 

36  557 
ii5  39i 
2S8  667 


Jugendliche  Arbeiter 


1403 


Arbeiter-          ^g^^^ 

1861 

1871 

1875 

4.  Flac 

hsindustrie. 

kategorieen 

2.  Woll< 

^nindustrie. 

a 
b 

I  581 
8012 

3644 
8754 

5562 
13666 

12678 
^5  195 

a              7094 

5969 

6  021 

8528 

c 

II  998 

16646 

18268 

31  344 

b            II  844 

II  213 

14  197 

13972 

d 

46843 

65039 

97876 

112  570 

c            18655 

35  179 

47302 

49169 

d            26810 

35622 

61  426 

66324 

3.  Kam  mg 

arnind 

ustrie. 

5.  Seid 

enindustrie. 

a              9956 

13  178 

18306 

29828 

a 

7  151 

7014 

6928 

6871 

b             7695 

6614 

9481 

11259 

b 

3214 

3229 

2  662 

I  381 

c            15  185 

18619 

24950 

31  622 

c 

25  III 

32029 

29481 

27841 

d            46901 

47652 

56280 

69388 

d 

7668 

10  162 

9053 

8466 

Von  100  Arbeitern  waren  demnach  in  der 


BaumwoUen- 

WoUen- 

Kammgam- 

Flachs- 

Seide- 

Arbeiter- 

I 

n  d  u  s  t  r  i 

e 

kategorieen 

1850 

1875 

1850 

1875 

1850     1875 

1850 

1875 

1850 

1875 

a 

1 
6,4        14 

'8,5 

6 

12,7 

20 

2,3 

7,4 

2,3 

7 

b 

10,3          8 

14,1 

10 

8,1 

8 

11,7 

8,8 

II, I 

9 

c 

27,4 

24 

38,7 

36 

20,6 

23 

^Z'5 

18,2 

17 

18 

d 

55,9 

54 

38,7 

48 

58,6 

49 

68,5 

65,6 

69,6 

66 

b)  Frankreich.  Kaum  bessere  Zustände 
weist  Frankreich  auf,  obgleich  hier  seit  1841 
ein  Gesetz  zum  Schutze  der  in  Fabriken  und 
Hütteuwerken  mit  mechanischen  Motoren  und 
fortwährender  Feuerung  oder  in  Fabriken  mit 
mehr  als  20  Arbeitern  beschäftigten  Kinder  er- 
lassen worden  war. 

Wenn  Sismondi  darüber  kla^t,  dass  in  den 
grossen  Hauptstädten  des  Kontinents  die  Ar- 
beiter durch  die  Fabriken  gezwungen  wären, 
ihre  Kinder  vom  zartesten  Alter  an  mitarbeiten 
zu  lassen,  so  hat  er  sicher  auch  an  Paris  ge- 
dacht, und  in  Villermes  1839-1840  veröffent- 
lichten Berichten  erscheint  die  Lage  der  Fabrik- 
kinder, besonders  in  den  Industriegegenden,  in 
sehr  trauriger  Beleuchtung.  Die  im  Jahre  1867 
veranstaltete  Enquete  über  die  Wirksamkeit  des 
Gesetzes  von  1841  ergab,  dass  in  7959  in- 
dustriellen Betrieben  99  212  Kinder  im  Alter 
von  8^16  Jahren  beschäftigt  wurden.  Davon 
standen  5005  im  Alter  von  8 — 10,  17  471  im 
Alter  von  10—12,  76  786  im  Alter  von  12—16 
Jahren.  Neben  diesen  waren  in  9938  dem  Ge- 
setze nicht  unterworfenen  gewerblichen  An- 
stalten 25  003  Kinder  beschäftigt,  wovon  1360 
im  Alter  von  8—10,  5253  im  Alter  von  10—12, 
18  390  im  Alter  von  12 — 16  Jahren  standen. 
Für  das  Oberelsass  nimmt  Herkner  die  Zahl 
der  Fabrikkiuder  auf  etwa  12000  im  Jahre 
1842  an,  doch  die  Enquete  von  1867  wies  nur 
8767  für  den  oberrheinischen  Bezirk  nach,  und 
so  wird  wohl  die  von  diesem  Schriftsteller  ge- 
machte Bemerkung,  dass  die  angeführten  Zahlen 
weit  hinter  der  Wirklichkeit  zurückbleiben,  da 
es  an  jeder  sicheren  Grundlage  wie  jeder 
Kontrolle  für  die  Angaben  fehlt,  auf  ganz 
Frankreich  ausgedehnt  werden  dürfen.  Zur 
Zeit  des  Erlasses  des  neuen  Gesetzes  über  die 
Kinderarbeit  nach  der  Abtrennung  von  Elsass- 
Lothringen  waren  in  8829  dem  Gesetze  von 
1841  unterstehenden  Fabriken  und  gewerblichen 
Anstalten   108  889   Kinder    thätig,    von   denen 


12  357  im  Alter  unter  12  Jahren,  96  532  im 
Alter  von  12 — 16  Jahren  waren.  Nur  58  Kinder 
sollten  damals  in  ganz  Frankreich  im  Alter  von 
unter  8  Jahren  in  Fabriken  thätig  gewesen  sein 
c)  Deutsohland.  Aehnliche  Wahr- 
nehmungen, wenn  auch  glücklicherweise 
nicht  in  gleichem  Umfange  wie  in  England 
und  Frankreich,  machte  man  in  Deutsch- 
land. Die  Entwickelung  der  Industrie, 
vornehmlich  die  Ausbreitung  der  Spinnerei 
am  NiedeiThein,  hatte  eine  ausgedehnte  Be- 
scliäftigung  von  Kindern  in  den  Fabriken 
zur  Folge.  Trotz  des  Schiüzw^anges  war  in 
den  preussischen  Industriebezirken  massen- 
hafte Kinderarbeit  an  der  Tagesordnung. 
Als  im  Jahre  1824  der  Minister  von  Alten- 
stein durch  eine  Cirkularverfügung  an  die 
Regierungen  zu  Aachen,  Trier,  Köln,  Koblenz, 
Düsseldorf,  Arnsberg,  Münster,  Minden, 
Breslau  und  Liegnitz  Nachrichten  über  die 
in  den  Fabriken  der  genannten  Regierungs- 
bezirke etwa  beschäftigten  Kinder  einzog, 
stellte  sich  kein  erfreuliches  Bild  heraus. 
Je  nach  der  industriellen  Entwickelung 
traten  die  Uebelstände  mehr  oder  iveniger 
hervor.  Am  imgünstigsten  erschien  der 
Kreis  Iserlohn  im  Regierungsbezirk  Arns- 
berg, in  dem  die  Lebensweise  der  Fabrik- 
kinder sich  als  ein  wahres  Jammerbild  dar- 
stellte. Teilweise  schon  vom  6.  Jahre  an 
wurden  die  Kleinen  zur  Fabrikarbeit  heran- 
gezogen, die  in  der  Regel  von  6  Uhr  früh 
bis  8  Uhr  abends  wähi-te.  In  Westfalen 
und  in  der  Rheinprovinz  wurden  so  ziemlich 
in  allen  Arbeiten  der  Fabrikation  und  in 
ausgedehntem  Masse  Kinder  bescliäftigt. 
Doch  lassen  sich  zwei  Gebiete  unterscheiden, 
sofern    Düsseldorf    und    Aachen    sehr    un- 


1404 


Jugendliche  Arbeiter 


giinstige  Zustände  aufweisen,  während  in 
Köln,  Koblenz  und  Trier  die  Fabrikarbeit 
der  Kinder  anscheinend  weniger  Nachteile 
im  Gefolge  hatte.  In  den  schfesisehen  Re- 
^erungsbezirken  Breslau  und  Liegnitz  war 
ihre  Verwendung  eine  geringere ;  immerhin 
wurden  z.  B.  in  den  Liegnitzer  Glasfabriken 
die  Kinder  auch  schon  vom  6.  Jahre  an 
aufgenommen.  Auf  eine  Feststellimg  der 
Gesamtzalü  der  Fabrikkinder,  sowohl  absolut 
als  im  Verhältnis  zu  den  nicht  in  Fabriken 
arbeitenden  Kindern  oder  zu  allen  Fabrik- 
arbeitern, gingen  die  Berichte  der  ver- 
schiedenen Regierungen  nicht  ein.  Die  ge- 
legentlich laut  gewordene  Auffassung,  dass 
die  ganze  Generation  durch  die  Fabrikarbeit 
»gleichsam  im  Keime  vergiftet  werde«,  ist 
jedenfalls  übertrieben,  und  man  wird  die 
Zahl  aller  jugendlichen  Arbeiter  nicht  zu 
hoch  schätzen  dürfen.  Auch  in  der  Zeit 
nach  Erlass  des  Regulativs  von  1839  scheint 
die  Gesaratzahl  der  Fabrikkinder  keine  sehr 
grosse  gewesen  zu  sein.  Die  Nachforschungen 
über  die  Ausführung  des  Regidativs  im 
Jahre  1844  stellten  fest,  dass  in  6  Regienmgs- 
bezirken  (Gumbinuen,  Danzig,  Marienwerder, 
Posen,  Bromberg,  Köslin)  überhaupt  gar 
keine,  in  10  anderen  Regieningsbezirken  in 
geringer  und  nur  in  9  Bezirken  in  grcisserer 
Ausdehnung  Kinder  in  Fabriken  beschäftigt 
wurden,  nämlich  in  Breslau,  Frankfurt, 
Magdeburg,  Merseburg,  Minden,  Arnsberg, 
Düsseldorf,  Köln  und  Aachen.  Selbst  in 
(liesenn  ahm  die  Kinderarbeit  keinen  be- 
sonders grossen  Umfang  ein ;  der  Bezirk 
Arnsberg  z.  B.  wies  nicht  melu*  als  1240 
Fabrikkinder  auf.  Sehr  nel  beträchtlicher 
aber  imd  zugleich  mit  den  ungünstigsten 
Nebenumständen  verknüpft  war  die  Be- 
schäftigimg von  Kindern  in  der  Hausindustrie. 
Wie  gross  deren  Zahl  gewesen  sein  dürfte, 
lässt  sich  nicht  annähernd  schätzen.  Aber 
wenn  es  erlaubt  ist,  aus  der  Thatsache,  dass 
in  Krefeld  unter  2 — 3000  mit  Spulen  und 
Weben  beschäftigten  jugendlichen  Arbeitern 
nur  20  Fabrikkinder  waren,  auf  das  Ver- 
hältnis in  anderen  Bezirken  einen  Schluss 
zu  ziehen,  so  kann  ihre  Zahl  nicht  gering 
gewesen  sein.  Si)äter  wuchs,  offenbar  in 
dem  Masse,  als  die  industrielle  Entwickelung 
zunahm,  die  Zahl  der  Fabrikkinder  ausser- 
ordentlich, und  bei  den  Vorbereitim gen  zu 
dem  G.  v.  16.  Mai  1853  wurde  festgestellt, 
dass  in  ganz  Preussen  etwa  8000  Kinder 
im  Alter  von  9 — 12  Jahren  und  etwa  24000 
im  Alter  von  12 — 14  Jahren  in  Fabriken 
beschäftigt  waren.  Im  Vergleich  mit  der 
Gesamtzahl  von  etwa  2  Millionen  Kindern 
desselben  Alters  im  ganzen  Lande  mochte 
diese  Zalil  geringfügig  erecheinen.  Aber 
man  darf  nicht  übersehen,  dass  die  Fabriken 
sich  damals  in  wenigen  Gegenden  zusammen- 
gedrängt   fanden   imd    überhaupt   vielleicht 


nicht  mehr  als  eine  halbe  Million  Menschen 
beschäftigten.  Wie  schwer  die  Zahl  von 
32000  \sdegt,  erhellt  auch  aus  dem  Ver- 
gleiche mit  der  Gegenwart.  Auf  dem  mitt- 
lerweile sehr  vergrösserten  Staatsgebiete 
Preussens  wurden  1888  und  1890  Kinder 
unter  12  Jahren  überhaupt  nicht  mehr  in 
Fabriken  beschäftigt,  und  die  Zahl  der 
12— 14  jährigen  Fabrikkinder  war  1888  6225. 
1890  6636.  Gerade  diese  Zeit  der  oOer  Jahre 
hat  Thun  mit  im  Auge,  wenn  er  von  der 
Krefelder  Seiden  industrie,  der  Gladbacher 
Baumwollweberei,  der  Aachener  Tuch- 
macherei  in  Bezug  auf  die  Kinderarbeit  so 
düstere  Bilder  entwirft.  Beschäftigimg  von 
Kindern  im  Alter  von  6 — 9  Jahren  war  all- 
gemein üblich,  selbst  die  von  o jährigen 
Kindern  kam  vor.  »Kinder  von  o  Jahren 
an  sitzen  in  der  unberjuemsten  Lage,  mit 
zusammengezogenen  Beinen  und  gebücktem 
Rücken  in  überfüll tem  Räume  am  Spulrade- 
(Thun  I,  109),  und  als  so  selbstverständhch 
waren  die  Arbeiter  gewöhnt  worden,  die 
Ausbeutung  der  kindliehen  Körperkraft  an- 
zusehen, dass  daraufhin  frühe  Ehen  unter 
den  Fabrikarbeitern  üblich  wurden.  In 
Familien,  die  kleine  Kinder  hatten,  die  noch 
nicht  arbeiten  konnten,  herrschte  ehronisi'her 
Notstand,  während  Familien  mit  so  weit 
erwachsenen  Kindern,  dass  diese  5 — 7  Mark 
wöchentlich  verdienen  konnten,  in  ziemlich 
gesicherter  Lage  waren. 

Die  Kinder  arbeiteten  stets  in  Reih  und 
Glied  mit  den  Erwachsenen,  die  in  den 
TextiLfabriken  eine  Arbeitszeit  von  mindestens 
12  Stunden,  gewöhnlich  14 — 15  Stimden, 
oft  nachweisbar  16 — 17  Stunden  leisten 
mussten.  Die  Folgen  für  die  Kinder 
charakterisiert  Thun  in  seiner  drastischen 
Manier  mit  diesen  Worten:  >Sehwä(hlini]:e, 
übermüdet,  der  Kopf  grindig,  die  Aug^u 
triefend,  die  Brust  schwindsüchtig,  der 
Magen  leidend,  zum  Militärdienst  taug«Mi 
sie  nicht,  in  die  Schule  kommen  sie  nicht, 
und  verirrte  solch  ein  Geschöpf  sich  einmal 
daliin ,  so  fand  es  wenigstens  auf  einige 
Augenblicke  den  Schlaf  und  die  Ruhe, 
welche  ihm  sonst  die  schreckliche  Stimme 
des  Werkmeisters  raubte.  Von  einer  Schul- 
bildung war  keine  Rede,  viele  wussten  nicht 
ihr  Alter  und  manche  nicht  einmal  <len 
eigenen  Namen«  (II,  177).  Im  Regierungs- 
bezirk Arnsberg,  wo  in  den  40er  Jaliren 
1240  Fabrikkinder  l)eschäftigt  waren,  war 
1855  die  Zahl  der  jugendlichen  Arbeiter 
2938,  1856  2984,  1857  2635,  1858  2724, 
1859  2091.  Am  1.  Jiüi  1856  wurden  in 
Preussen  jugendliche  Arbeiter  unter  14  Jaliren 
bescliäftigt  in  Fabriken  6691,  in  Bere-, 
j  Hütten-  und  Hoch  werken  1061 ,  zusammen 
|7752;  jugendliche  Arbeiter  über  14  Jahre 
in  Fabriken  12665,  in  Berg-,  Hütten-  nml 
Hoch  werken  3482.  zusammen   16147.    Die 


Jugendliche  Arbeiter 


1405 


19  Jahre  später  vom  Bundesrate  ausgeführte 
Enquete  (1875)  über  Frauen-  und  Kinder- 
arbeit wies  für  Preussen  7076  jugendliche 
Arbeiter  im  Alter  von  12 — 14  Jahren  in 
Fabriken  nach,  eine  Angabe,  die  im  Ver- 
gleich zu  den  aus  früherer  Zeit  bekannten 
Daten  offenbar  zu  niedrig  ausgefallen  ist. 

üeber  die  Entwickelung  der  Kinderarbeit 
in  anderen  deutschen  Staaten  ist  man  nicht 
unterrichtet.  Für  das  ganze  Reich  erfährt 
man  von  ihrer  Ausdehnung  aus  der  Enquete 
von  1875.  Damals  wurden  in  den  Industiie- 
zweigen,  auf  die  die  Erhebung  sich  er- 
streckte, 88000  jugendliche  Arbeiter  be- 
schäftigt, von  denen  24  ^/o  im  Alter  von 
12—14  Jahren,  76<>/o  im  Alter  von  14—16 
Jahren  standen.  Verglichen  mit  den  in 
denselben  Fabriken  angestellten  erwachsenen 
männlichen  und  weiblichen  Arbeitern  stellten 
die  jugendlichen  den  10.  Teil  der  Gesamt- 
arbeitskraft dai",  da  880500  Personen  über- 
haupt in  diesen  Industriegruppen  beschäftigt 
waren.  Der  Wochenlohii  der  12 — 14  jährigen 
Fabrikkinder  schwankte  von  1  Mark  ini 
niedrigsten  Satze  bis  zu  9  Mark  im  höchsten. 
Die  Altersklasse  der  14 — 16  jährigen  zeigte 
Verschiedenheiten  von  1^  2  Mark  im  Minimum 
bis  13^2  Mark  im  Maximum.  Durchschnitt- 
lich  betrug   der  AVochenlohn   der   unteren 


Altersklasse  etwa  3  Mark,  der  der  höheren 
etwa  5  Mark.  Damals  erwies  es  sich  auch, 
dass  die  Vorschriften  der  Gewerbeonlnung 
über  die  Bedingungen,  unter  denen  Kinder 
in  Fabriken  zur  Arbeit  zuzulassen  waren, 
keineswegs   genügend   eingehalten  wurden. 

Wie  sich  seit  dieser  Zeit  bis  zum  Aus- 
gange der  70  er  Jahre  die  Kinderarbeit  im 
ganzen  Deutschen  Reiche  gestaltete,  sind 
wir  nicht  in  der  Lage  anzugeben.  Es 
scheint,  als  ob  im  Zusammenhange  mit  den 
gedrückten  wirtschaftlichen  Verhältnissen 
sie  ein  wenig  ziurückging,  indes  doch  nur 
zeitweilig.  Die  selir  vollständige  Statistik 
für  Baden  zeigt  folgendes  Bild. 

In  badischen  Fabriken  waren  bescliäftigt : 


im 


Jugendliche  Arbeiter 

von  14—16  Jahren 

6932 

4736 

5511 

6975 

7619 

9010 

10436 

II  569 

Im  Fabrikinspektionsbezii'k  Berlin  be- 
obachtete man  folgende  Bewegung  der  Kinder- 
arbeit : 


i  Jahre 

Kinder  von 
12—14  Jahren 

1874 

2883 

1877 

1957 

I8ÖO 

1332 

1883 

1  664 

1886 

1603 

1888 

1589 

1889 

2215 

1890 

2360 

Es  waren  in  Berlin  beschäftigt  jugendliche  Arbeiter  von  12 — 16  Jahren: 


Industriegruppen : 


über- 
haupt 


in  \ 
aller 
Arbei- 
ter 


1874 


über- 
haupt 


in»/, 
aller 

Arbei- 
ter 


1875 


über- 
haupt 


in% 
aller 
Arbei- 
ter 

1877 


in  % 
über-    aller 
haupt  Arbei- 
ter 

1879 


Bergbau 

Industrie  der  Steine  und  Erden  .    . 

Metalle 

Maschinenindustrie 

Chemische  Industrie 

Forstwirtschaftliche  Nebenprodukte . 

Textilindustrie 

Papier  und  Leder 

Holzindustrie 

Nahrungs-  und  Genussmittelindustrie 
Bekleidung  und  Reinigungsgewerbe 

Baugewerbe 

Polygraphische  Industrie      .... 
Verschiedene  Industrieen     .... 


Summa : 


33 
6 

369 

19 
22 

206 

524 

118 

80 

195 


425 


1998 


hS 
0,9 

1,3 
2,2 

0,9 
3,7 
8,3 
1,9 
1,9 
5,4 

9fi 


20 
163 
122 

32 

12 

186 

389 
60 

94 
209 

• 

459 

5 


I 

2,4 
0,7 
4,1 
0,4 

2,9 

5,4 
I 

1,8 
4,1 

8^7 
1,7 


42 

133 
108 

13 

II 

139 

313 
80 

105 

121 

• 

411 

2 


2,5 
2 

0,8 

1,9 
0,4 

2,5 
4,6 

1,4 
2,5 
2,5 

7',6 
I 


58 
284 

344 
36 
12 
188 
566 
204 
121 
302 

3 

475 
4 


3,9 

4,3 
2,2 

4,2 

0,4 

3 

7,9 

3,4 

2,8 

4,9 

4 

8,4 

1,3 


3,1    t  I  733 


2,6 


1468        2,5    I2579        4,6 


d)  Italien.  In  Italien  war  man  nach 
Friedländer,  der  sich  auf  die  in  den  Jahrbüchern 
des  Ministeriums  für  Ackerbau,  Handel  und 
Gewerbe  im  Jahre  1877  veröffentlichten  Unter- 
suchungen über  die  Lage  der  Fabrikarbeiter 
beruft,  von  Zustünden,  wie  sie  aus  England 
und  Frankreich  berichtet  wurden,  weit  entfernt. 
Indes  erlaubt  jene  amtliche  Veröffentlichung 
doch  nicht  mehr,  als  anzunehmen,  dass  je  nach 
der  Art  des  Gewerbes  und  den  besonderen  Ge- 


sundheits-,  Stärke-  und  Fähigkeitsverhältnissen 
der  Kinder,  das  Alter  für  ihre  Zulassung  zu 
den  Fabriken  verschieden,  im  Durchschnitt  etwa 
9—12  Jahre,  war.  Wenn  Friedländer  der  That- 
sache,  dass  in  Spinnereien  allerdings  schon 
kleine  Kinder  von  6—7  Jahren  beschäftigt  seien, 
hinzufügt,  „nur  mit  leichten  Arbeiten  und  als 
i  Gehilfen  ihrer  Mütter",  so  ist  damit  nicht  be- 
wiesen, dass  die  Heranziehung  der  Kinder 
keinen  besorgniserregenden  Umfang  gewonnen 


1406 


Jugendliche  Arbeiter 


hat  noch  dass  die  Mehrzahl  der  Kinder  nnter 
normalen    Verhältnissen     beschäftigt     werden. 
Einem  mir  durch  die  Güte  des  Herrn  Professor  j 
Bodio  in  Rom  zur  Verfügung  gestellten  hand- 1 
schriftlichen   Aufsatze  über  die  Wirkung  des  | 
Fabrikgesetzes   von    1886    entnehme    ich    die 
Thatsache,  dass,  abgesehen  von  der  Bergwerks- 
industrie, die  Zahl  der  in  der  Industrie  im  Jahre 
1876  arbeitenden  Kinder  sich  auf  865^  belief, 
die  sich  auf  die  einzelnen  Zweige   folgender- 
massen  verteilten: 

Seidenindustrie  64  273 

Baumwollenindustrie  n  i74 

Wollenindustrie  4621 

Flachs-  und  Hanfindustrie      2  247 
Seilereien  1  775 

Weberei  gemischter  Stoffe        760 
Filzhütefabrikation  561 

Zubereitung  von  Häuten        i  122 
Offenbar  sind  diese  Angaben  aber  nur  als 
Minimalzahlen  aufzufassen. 

e)  Schweiz.  In  der  Schweiz  waren  nach 
der  vom  Bundesrate  angeordneten  Erhebung 
vom  18.  VII.  1869  in  664  Fabriken  9540  Kinder 
beschäftigt,  von  welchen  52  unter  10  Jahre  alt, 
436  im  Alter  von  10—12  Jahren  und  9017  im 
Alter  von  12 — 16  Jahren  standen. 

4.  UmfaDg  der  Arbeit  von  Kindern 
und  jungen  Leuten  in  der  Gegenwart 
seit  1880.  a)  Deutschland.  Ueber  die 
Altersgliederung  nach  dem  Beruf  befinden 


sich  bereits  im  Art.  Altersgliederung  der 
Bevölkerung  oben  Bd. I  S.  277  einige  sta- 
tistische Angaben.  Auch  hat  der  Art  Be- 
ruf und  Berufsstatistik  oben  Bd.  II 
S.  625  die  Zahl  der  Kinder  und  Greise 
unter  den  Erwerbsthätigen  mehrerer  Länder 
mitgeteilt,  soweit  es  nach  den  Ergebnissen 
der  Volkszählungen  möglich  war.  Nach 
jenen  Daten  zeigt  unter  den  dort  aufgeführten 
9  Staaten  Italien  die  relativ  stärkste  Kinder- 
arbeit. Yon  den  Erwerbsthätigen  sind 
7,08%  Kinder.  An  zweiter  Stelle  steht 
England  mit  Wales  mit  5,21  **/o  Kindern,  an 
dritter  Stelle  Schottland  mit  4,89%,  an 
vierter  Stelle  die  Vereinigten  Staaten  von 
Nordamerika  mit  2,65%.  Das  Deutsche 
Reich  weist  nach  dieser  Statistik  die  ge- 
sundesten Verliältnisse  auf,  insofern  hier 
nur  0,97  %  aller  Erwerbsthätigen  im  Kindes- 
alter imter  14  Jahren  sich  befinden.  Die 
deutsche  Berufsstatistik  gestattet  aber  aucii, 
festzustellen,  -wie  sich  die  arbeitenden  Kinder 
und  jungen  Leute  auf  die  einzelnen  Berufe 
verteilen.  Die  nachstehende  Zusammenstel- 
lung gew^ährt  diesen  Ueberblick,  aus  dem  man 
ersieht,  dass  die  Kinderarl)eit  in  der  Landwirt- 
schaf t  die  verliältnismässig  bedeutendste  und  in 
der  Industrie  eine  etwas  geringere  Rolle  spielt. 


Nachweisung  der  einem  Berufe  obliegenden  Kinder  und  jungen  Leute  im  Deutschen  Reiche 

nach  der  Berufszählung  von  1882. 


Berufsabteilungen 


Kinder  unter 
15  Jahren 


Junge  Leute 
von  15  bis 

(noch  nicht) 
20  Jahren 


Von  allen  Erwerbsthätigen 
sind  % 

I  Junge  Lent« 
Kinder  unterj  von  15  bis 
15  Jahren    j  (noch  nicht) 
'    20  Jahren 


1.  Landwirtschaft,  Tierzucht,  Gärtnerei . 

2.  Forstwirtschaft,  Jagd,  Fischerei     .    . 

3.  Industrie  einschl.  Bergbau  u.  Bauwesen 

4.  Handel    und    Verkehr    einschl.    Gast- 
und  Schankwirtschaft 

5.  Häusliche   Dienstleistung    und   Lohn- 
arbeit wechselnder  Art 

6.  Staats-,  Gemeinde-,  Kirchen-  etc.  Dienst 


291  289 

834 
1 43  262 

16033 

4948 
4  108 


I  497621 

9279 

I  114  303 

167  114 

30  885 
54  115 


3,59 

0,72 

2,24 

1,02 

1,24 
0,71 


18,44 
8,00 

17,42 
10.64 

7J7 


2873317 


2,61 


16.30 


Summe  der  Erwerbsthätigen  ;      460474 
Bis   zum  Jahre  ISGo  hat  sich   nach  der  |  Es    waren    unter   den    Erwerbsthätigen  im 
zweiten  Berufszälilung  die  Beschäftigimg  von  1  Jahre  1895 : 
jugendlichen  Arbeitern  wie  folgt  verschoben. 


in  den  Berufsabteilungen  der 


Kinder  unter 
'    14  Jahren 


!  Von  allen  Erwerbsthätigfen 
Junge  Leute  sind  '^(^ 

von  14—20  '  TT«*. 

Jahren      iKinder  unter.  •^"°^?  .KS  ' 
14  janren         j^^^^ 


1.  Landwirtschaft,  Tierzucht,  Gärtnerei  . 

2.  Bergbau,  Hüttenwesen,  Industrie  und 
Bauwesen 

ä.  Handel  und  Verkehr 

4.  Häusliche  Dienste,  Lohnarbeit  wechseln- 
der Art 

5.  Militär-,  Hof-,  bürgerlicher  Dienst,  freie 
Berufsarten 

Summe 


135  125 


8267 
5296 


35313 


95 


I  712  911 

I  770316 
344  402 

623  490 
88978 


16,3 

4,6 
2,3 

14,2 

J,2 


206,6 

2I3,S 
H7r3 

352 
82,1 


204  254 


4  540091 


9,79 


205,3 


Jugendliche  Arbeiter 


1407 


Obwold  man  wegen  der  verschiedenen 
Gruppierung  des  Alters  die  Ergebnisse  von 
1882  und  1895  nicht  direkt  vergleichen  kann, 
so  scheint  es  doch  den  Eindruck  zu  machen, 
als  ob  die  Kinderarbeit  in  der  Landwirtschaft 
zurückgegangen  ist.  Absolut  freilich  nimmt 
sie  noch  jetzt  in  dieser  Berufsabteilung  die  erste 
Stelle  eui.  Vielleicht  hängt  dieser  verhält- 
nismässige Rückgang  damit  zusammen,  dass 
Kinder,  die  nur  als  »helfende  in  der  Land- 
wirtschaft« nachgewiesen  wiurden,  bei  der 
Verarbeitung  der  Zählungsergebnisse  nicht 
berücksichtigt  sind. 

Ist  nach  diesen  Zahlen  die  Beteili- 
gung der  Kinder  an  der  Erwerbs- 
thätigkeit  überhaupt  eine  geringe,  so  er- 
scheint sie  etwas  stärker,  wenn  man  die 
arbeitenden  Kinder  zu  allen  vorhandenen 
Altersgenossen  in  Vergleich  stellt  In  der 
Bevölkerung  waren  189r>  16853931  Kinder 
unter  14  Jahren,  d.  h.  also  12,7  ®/oo  dei*selben 
erwerbsthätig.  Indes  auch  diese  Angabe 
dürfte  der  Wirklichkeit  kaum  entsprechen. 
Vielmehr  sind  offenbar  sehr  viele  Kinder, 
die  zu  verdienen  pflegen,  in  der  Beruf s- 
zähhmg  als  erwerbsthätig  gar  nicht  nach- 
gewiesen, und  es  mag  jene  Schätzung,  dass  die 
Zahl  der  erwerbsthätigen  Kinder  in  Deutsch- 
land eher  zwei  als  eine  Million  sein  möchte, 
nicht  unwahrscheinlich  sein.  Nach  Agahd 
waren  in  21  Städten  bis  zu  41%  der  schulpflich- 
tigenKinder  erwerbsthätig.  In  Breslau  werden 
10,6  ®/o  aUer  Volksschiilkinder  gew^erblich 
beschäftigt.  In  Karlsruhe  war  jedes  siebente 
Volksschulkind  erwerbsthätig,  Knaben  dop- 
pelt so  viel  wie  Mädchen.  Von  den  Kindern 
der  einfachen  Volksschule  waren  wiederum 
doppelt  so  viele  erwerbsthätig  als  von  denen 
der  erweiterten  Volksschule ;  hier  war  jedes 
zehnte,  dort  jedes  fünfte  Kind  erwerbstliätig. 
In  Braunschweig  sind  1898  3085  erwerbs- 
thätige  Schulkinder  ermittelt,  d.  h.  4,8% 
der  sämtlichen  imd  10,4%  derjenigen  Schul- 
kinder, in  deren  Klassen  überhaupt  erwerbs- 
thätige  Schüler  festgestellt  worden  sind. 
Auf  Stadt  und  Land  verteilt  sich  diese  Ge- 
sammtsumme  etwa  zu  vier  und  drei 
Siebentel.  Die  Art  der  Beschäftigung  ist 
hier  wie  in  anderen  Reichsgebietsteilen  der 
Ausgehe-  und  Botendienst,  vornehmlich  das 
Brot-  und  Zeitungsaustragen,  aber  docii 
auch  das  Kegelaufsetzen,  das  Hausieren, 
Beschäftigung  am  Theater,  Ballauflesen  auf 
den  Spielplätzen  u.  dgl.  m.  Schädliche 
Folgen  für  die  Gesundheit,  die  übrigens 
statistisch  auch  nicht  leicht  nachweisbar 
sind,  sind  allerdings  nur  in  seltenen  FäUen 
ermittelt.  Desto  weniger  erfreulich  ge- 
staltet sich  aber  der  Unterricht,  der  selbst- 
verständlich vernachlässigt  wird.  Es  ist 
doch  gewiss  schlimm,  wenn  im  grössten 
AVeberort  im  schlesischen  Gebirge,  in  Langen- 
bielau,    von    2104   Kindern    53%   erwerbs- 


tliätig  sind,  als  Spuler,  Tücherknttpfer, 
Haspler,  Kammstricker  beschäftigt  werden. 
Oder  wenn  in  dem  sächsischen  Weberort 
Hohen  stein  -  Ernstthal  (Glauchau  -  Zwickau) 
von  den  ca.  2400  Schulkindern  etwa  60®/o 
mit  Arbeiten  am  Webstuhl,  mit  Knüpfen, 
Treiben,  Spulen,  Drehen  von  Quasten,  Nähen, 
Formen  etc.  angestrengt  sind.  Vollkommen 
mit  Fug  und  Recht  protestieren  die  Lehrer 
gegen  diese  ausgedehnte  gewerbsmässige 
Beschäftigung  von  Kindern,  und  es  ist  sehr 
bedauerlich,  wenn  hohe  Gerichte  Pohzei- 
verordnungen ,  die  diesem  Unwesen  ent- 
gegenzutreten sich  bemüht,  als  ungültig 
erklärt  haben,  weil  nicht  im  Einklang 
mit  dem  Reichsgesetze,  das  die  Beschäftigung 
von  Schulkindern  regle.  Dieser  Auffassung 
gegenüber  bedeutet  es  nicht  genug,  wenn 
in  treussen  im  April  1899  der  Kultusminister 
sämtlichen  Regienmgen  und  Oberpräsidenten 
ein  Urteil  des  Kammergerichts  übermittelt 
hat,  nach  dem  eine  Polizei  Verordnung,  die 
schulpflichtigen  Kindern  in  der  Zeit  von 
7  Ulu*  nachmittags  bis  7  Uhr  vormittags 
gewerbliche  Arbeit  untersagt,  Rechtsgültig- 
keit habe.  Zw^eifellos  wird  hier  eine  reichs- 
gesetzliche weitere  Ausdehnung  des  Kinder- 
schutzes auf  die  Dauer  nicht  zu  umgehen  sein. 

Man  mag  sich  gegenüber  den  heutigen 
Zuständen  damit  trösten,  dass  die  Kinder 
nur  mit  Arbeiten  bedacht  sind,  die  ihrer 
Körperkraft  entsprechen  —  immer  trifft  das 
nicht  zu  —  oder  mit  dem  Hinweis  darauf,  dass 
die  Kinder  in  den  Betrieben  des  Vaters  unter 
dessen  Aufsicht  beschäftigt  sind  —  man 
kennt  nur  zu  gut  die  Hartherzigkeit  man- 
I  eher  Eltern  und  das  traurige  Los ,  das 
nicht  wenigen  Kindern  dadurch  bereitet  ist. 
Die  Notlage  allein  rechtfertigt  solches  Vor- 
gehen nicht;  es  hat  hier  auch  die  Gesamt- 
heit ein  Wort  mitzusprechen,  dass  ihre  An- 
gehörigen nicht  vor  der  Zeit  erschlafft  und 
abgestumpft  werden. 

Besonders  stark  sind  nach  der  Berufs- 
statistik die  Kinder  in  folgenden  Berufs- 
arten (1895)  angetroffen  worden: 


Maurer 

Weberei 

Schneiderei 

Tischlerei 

Schlosserei 

'  Wäscherei 

I  Ziegelei 

I  Näherei 
Spinnerei 


zusammen 
2272 
2  199 
2156 
2  107 
2075 

1919 

I  575 
I  223 

I  148 


Schuhmacherei  2  026 


männl. 
2  152 
1057 
1  729 
2078 
2062 
1803 

I  453 

459 
I  962 


weibl. 

120 
1  142 

427 

29 

13 
116 

122 

I  223 

689 

64 


Ob  das  Umsetzen  und  Verputzen  der 
Rohsteine,  das  Mörtelrühren,  Handlanger- 
dienste in  der  Maurei*ei  u.  dgl.  m.  wirk- 
lich den  Kindern  angemessene  Thätigkeiten 
sind,  möchte  bezweifelt  werden  können. 
Und  wenn  man  135  Kinder  unter  14  Jahren 


1408 


Jugendliche  Arbeiter 


bei  (1er  Erzgewinnung,  274  bei  Stein-,  Braun- 
kohlen- und  Koksgewinnung,  302  Kinder  in 
Steinbrüchen  thätig  findet,  so  werden  dabei 
geeignete  und  ungeeignete  Dienste  von  ihnen 
verlangt  werden,  die  nicht  immer  ausein- 
andergehalten werden  können. 

Sehr  viel  stäi'ker  fäUt  selbstverständlich 
die  Beteiligung  junger  Leute  im 
Alter  von  14 — 20  Jahren  am  Erwerbsleben 
der  Nation  aus.  Persönlichkeiten  dieser 
Altei*sstufen  gab  es  1895  in  Deutschland 
6  301 800,  und  davon  wären  also  mehr  als  72  ^/o 
erwerbsthätig  gewesen.  Besorgnis  könnte 
unter  diesen  indes  doch  nur  die  Beschäftigung 
der  14 — 16  jährigen  einflössen.  Ihrer  gab  es 
2113816,  von  denen  1285011  erwerbsthätig 
waren,  d.  h.  nahezu  61  ^/o.  Wenn  mau  er- 
wägt, dass  die  Berufszählung  kaum  alle 
wirklich  erwerbsthätigen  jugendlichen  Per- 
sonen von  14 — 16  Jahren  als  solche  kennt- 
lich hat  machen  können,  so  erscheint  der 
ausgerechnete  Prozentsatz  doch  recht  hoch. 

Am  schlimmsten  hat  sich  seither  gerade 
die  Beschäftigung  von  Kindern  in  der  In- 
dustrie herausgestellt,  und  diese  Missbräuche 
sind  es  gew^esen,  die  in  allen  Kulturstaaten 
den  Regieningen  als  Pflicht  es  haben  er- 
scheinen lassen,  Massregehi  zum  Schutze 
der  Kinder  zu  erlassen.  Vgl.  den  Art. 
Arbeiterschutzgesetzgebung  oben 
Bd.  I  S.  470 ff. 

Wie  sich  nun  seit  1882  in  den 
deutschen  Fabriken  die  Kinderarbeit  ge- 
staltet hat,  lässt  sich  nach  den  in  den  amt- 
lichen Mitteilungen  der  mit  Beaufsichtigung 
der  Fabriken  betrauten  Beamten  jeweilig 
enthaltenen  Angaben  feststellen.  Die  zum 
Vergleiche  wünschenswerten  Daten  über  die 
Bewegung  der  erwachsenen  Arbeiter  lassen 
sich  leider  nur  für  die  letzten  Jahre  be- 
schaffen. Es  waren  in  Fabriken  und  diesen 
gleichstehenden  Anlagen  beschäftigt: 


Jahre 


Kinder  von 
12—14 
Jahren 


1882 
1886 
1890 
1895 
1896 
1897 
1898 


14600 
21035 
27485 

4327 

5312 
6  151 
7072 


Junge  Leute 

von  14—16 

Jahren 


Jugendliche 

Arbeiter 

von  12    16 

Jahren  überh: 


123  543 
134589 
214252 

2 1 7  422 

239  548 
259  570 
276  386 


138  143 
155642 

241  737 

221  749 

244860 

265  721 

283  458 


Vorausgesetzt  also,  dass  es  sich  in  diesen 
Jahren  immer  um  den  gleichen  Erhebungs- 
kreis handelt,  hätte  die  Zahl  der  Fabrik- 


kinder bis  1890  sich  beständig  vergröss^rt. 
wäre  dann   infolge    der  Novelle    von  1n91 
zurückgegangen,  um  in  den  letzten  Jahren 
wieder   zu  steigen.     Die  Zahl   der  juncren 
Leute  aber  hätte  sich  bis  1898  um  123%. 
die  der  jugendlichen  Arbeiter  überhaupt  um 
105  ^/o    vermelu^.      Nun    wiU     freilieh  in 
Betracht  gezogen  sein,  dass  in  den  2^bleii 
für  1890  die  Reichslande  Elsass-Lothriiigen 
zum    ersten  Mal  mit   enthalten  sind.     Den 
rechten  Massstab  zur  Beurteilung  der  Trag- 
weite dieser  Elrscheinung  hätte  man  ferner 
erst   mit   der  Kenntnis   des   Datums   über 
die  Veränderung  der  Zahl  der  erwachsenen 
Arbeiter.    Die  vAmtüchen  Mitteilungen^  be- 
tonen   mehrfac^h,    dass    die    Heranziehung 
jugendlicher   Arbeiter    zur    Fabrikthätigkeit 
ziemlich   ^nau   der  Vermehrung   der  Ar- 
beiterzalü  im  allgemeinen  entspräche.    Doch 
lassen  sich  hierfür  beispielsweise  angeführte 
Zahlen  somit  ohne  weiteres  verallgemoinern. 
Vielleicht  ist  der  Ausgangspunkt  der  Vor- 
^leichimg    nicht    gut    gewählt,    sofern  die 
Zahlen  des  Jalires  1882  aus  einem  zu  eng^n 
Beobachtungskreise    stammen.      Wenigstens 
bleiben    die    Angaben     der     beschäftigten 
jugendlichen    Arbeiter    zurück    hinter   den 
entsprechenden  der  Berufszählung. 

Im  ganzen  findet  miverkennbar  im  Zu- 
sammeiüiange  mit  der  steigenden  geschäft- 
lichen Bewegung  und  der  vermehrten  Nach- 
frage nach  Arbeitskräften  eine  häufigen» 
Einstellung  von  jugendliehen  Personen  statt, 
und  es  mag  wolü  auch  zutreffen,  was  die 
»Amtlichen  Mitteilungen <-  (1896  S.  77)  ein- 
mal hervorheben,  dass  die  Arbeitgeber  in 
der  Beac^htung  der  gesetzlichen  Schutzvor- 
schriften kein  so  wesentliches  HindernLs  für 
die  Beschäftigung  jugendlicher  Arl)eiter  melir 
zu  erblicken  scheinen,  wie  dies  früher  der 
Fall  war. 

In  welcher  Weise  die  einzelneu  In- 
dustriegruppen an  der  Zunahme  der  Arlnnt 
jugendlicher  Personen  beteiligt  sind,  ergiebt 
die  nachstehende  Tabelle.  Sie  zeigt,  dav- 
von  1883  bis  1890  eine  Abnahme  der  Zahl 
der  beschäftigten  Kinder  nur  vereinzelt  vor- 
kommt. Sie  lässt  sich  niu:  beim  Bergtiau, 
bei  der  chemischen  Industrie  und  in  der 
Gnippe  »Verschiedene  Industiieen«^  nach- 
weisen. In  allen  anderen  Gruppen  hat  die 
Arbeit  der  Fabrikkinder  zugenommen.  Das 
gleiche  gilt  für  die  Arbeit  junger  Leute, 
die  in  allen  Gruppen  eine  Vermehnmg  zeigt. 

In  den  90  er  Jahren  aber  zeig^  siwi  dann 
in  allen  Industriegruppen,  mit  Ausnahme 
der  Industrie  der  Heiz-  imd  Leuchtstoffe, 
wieder  unverkennbar  die  Neigung,  sich  mehr 
der    kindlichen   Arbeitskraft    zu    bedienen. 


Jugendliche  Arbeiter 


1409 


Kachweisnng   der  Anzahl  der  im  Deutsclien  Beiche  von  1882—1898  in  Fabriken  und  diesen 

gleichstehenden  Anlagen  beschäftigten  jugendlichen  Arbeiter. 


Industriegrnppen 


1895 


.1898 


von  J"„         von 

von       ^2-14 


12-14 


14—16 


Junge 

Leute 

von 

14—16 


Bergbau  

Industrie  der  Steine 
und  Erden    .    . 

MetaUe     .... 

Maschinen ,  Instru- 
mente .... 

Chemische  Industrie 

Industrie  der  Heiz- 
und  Leuchtstoffe 

Textilindustrie .    . 

Papiere  und  Leder 

Holz-  u.  Schnitzstoflfe 

Nahrungs-  u.  Gtenuss- 
mittel 

Bekleidung  und  Bei- 
nigung 

Polygr.  Gewerbe  .    . 

Versch.  Industrieen  . 


I  076 

I  500 
947 

520 

413 

45 

6943 

714 

686 

4306 

520 

449 
276 


16075 

843 

II 713 

I36I1 

3173 
1566 

9842 
1453 

934 
360 

370 
34748 

7672 

3901 

52 
9404 
1314 
1358 

12972 

6340 

4  126 

I  212 

4133 
3789 

681 
248 

22  730 

21  686 

25  loi 

21  48g 

3515 

853 
58038 

II  930 
8771 

20517 

8398 
7188 
4066 


94 

976 
379 

311 

27 

30 
I  309 

178 
228 

402 

187 
171 

35 


19  194 

24821 
27016 

21356 
3366 

933 
56521 

II  690 

10  175 


112 


25383 


1 481 ;  31 145 


715 


36683 


591 
42 

33844 

4  397 

14 

1977 

348 

507 

I  127 
62217 
14928 
13296 

21  869 

680 

9460 

4370 
I  651 

317, 

244 

39 

27439 
I26I5 

II  445 
1867 


18395    I  124275  I  27485      214  252  I       4327     217  422  I       70721276386 


Für  die  Jahre  1888  und  1890  lässt  sich 
das  numerische  Verhältnis  der  jugendlichen 
Arbeiter  zu  allen  Fabrikarbeitern  bestimmen. 
Nach  den  »Amtlichen  Mitteilungen«  waren 
von  je  100  Arbeitern  überhaupt  jugendliche : 

In  den  Aufsichtsbezirken  1890    1888 

Berlin-Charlottenburg 5,3  5>2 

Posen 3j7  4,2 

Breslau-Liegnitz 5,4  6,9 

Oppeln 6,4  4,7 

Magdeburg 6,2  6,0 

Merseburg-Erfurt 8,5  8,2 

HohenzolTem 9,7  10,2 

Dresden 8,4  8,1 

Chemnitz 13,5  I3t5 

Zwickau 15,3  i5,7 

Leipzig 8,6  9,2 

Bautzen 11,6  — 

Meissen 10,3  10,4 

Plauen 14,3  i4,3 

Neckar-  und  Jagstkreis      .    .    .    .  9,4  \jj. 

Schwarz wald-  und  Donaukreis    .    .  10,7  /    ^^ 

Provinz  Starkenburg  (Hessen)    .    •  ii,5  l  qc 

Provinz  Oberhessen 8,7  /  ^' 

Mecklenburg-Schwerin 1,9  i,7 

Oldenbui^ 8,0  8,2 

Sachsen-Altenburg 9,9  9,6 

Schwarzburg-Sondershausen    ...  8,1  7,1 

Schwarzburg-Budolstadt     ....  8,8  8,8 

Beuss  ä.  L 5,1  5,5 

Beuss  j.  L 9,9  9,1 

Lübeck 5,0  4,7 

Bremen 4,3  4,2 

Hamburg 4,0  3,7 

Für  Baden  und  Sachsen  stellt  sich  auf 
Grund  besonderer  Zählungen  sowie  im  Reich 

Handwörterbach  der  StaatawiBBenachaften.    Zweite 


nach    der   Gewerbestatistik    von    1895   das 
numerische    Verhältnis     der    jugendlichen 
Arbeiter  zu  allen  folgendermassen. 
(Siehe  die  Tabelle  auf  S.  1410.) 

Im  ganzen  Deutschen  Reiche  sind  nach 
der  Gewerbezählung  von  1895  in  der  Indus- 
trie, einschliesslich  Bergbau  und  Bauge- 
werbe 5035766  erwachsene  und  514439 
jugendliche  Arbeiter  (imter  16  Jahren)  nach- 
gewiesen worden  i),  d.  h.  von  allen  Arbei- 
tern waren  9,3  jugendliche,  was  den  Pro- 
zentsätzen für  Baden  und  Sachsen  nahekommt. 
Dabei  hat  man  die  interessante  Wahrnehmung 
gemacht,  dass  mit  der  Grösse  der  Betriebi 
im  aUgemeinen  die  Zahl  der  jugendlichen 
Arbeiter,  wenn  auch  nicht  absolut,  so  doch 
im  Verhältnis  ziu*  Zahl  der  dort  beschäftig- 
ten erwachsenen  Arbeiter  abnimmt.  Es 
sind  nämlich  in  der  Industrie  einschliess- 
lich Bergbau  und  Bauwesen  von  100  Arbei- 
tern jugendliche: 

in  Betrieben  mit    1 — 5      Personen    17,4 

6—20  «  10,9 


21  u.  mehr 


6,1 


Gewiss  spiegelt  sich  hier  der  Einfluss 
des  modernen  Arbeiterschutzes  gerade  auf 
die  Betriebsverhältnisse  in  den  grösseren 
Etablissements  wieder. 

Der   Reichsdurchschnitt    wird    in    einer 


*)  Ausschliesslich  mitarbeitender  Familien- 
angehöriger. 

Auflage.    IV.  89 


1410 


Jugendliche  Arbeiter 


Industriegruppen 


Arbeiter 

Ge- 
samt- 
zahl 

Baden  1892^) 


Da- 
runter 
jugend- 
liche 


Die  Ju- 

gendl. 

in% 

aller  A. 


A 

Ge- 
samt- 
zahl 


r  b  e  1 1  e  r 

Da- 
runter 
Jugend 


Ifche 


Die  Ju- 
gendl. 
ino/o 

aller  A. 


Sachsen  1893*) 


ImDentschen 
Reich  waren 
von   100  Ar- 
beitern 
jugendliche 
1895«) 


Bergbau,  Hütten-  und  Salinenwesen 
Industrie  der  Steine  und  Erden  .    . 

Metallverarbeitung 

Maschinen,  Werkzeuge,  Instrumente, 

Apparate 

Chemische  Industrie 

Leuchtstoffe,  Fette,  Oele     .... 

Textilindustrie 

Papier  und  Leder 

Industrie  der  Holz-  u.  Schnitzstoffe 
Nahrungs-  und  Genussmittel  .  .  . 
Bekleiduns:,  Reinigung   ..... 

Baugewerbe 

Polygraphische  Gewerbe  .... 
Sonstige  Industriezweige     .... 


395 
10378 

15404 

15297 

4253 
I  213 

23431 
10  172 

7238 
31673 
2666 
1673 
2369 
134 


15 

523 

1413 

744 
302 

52 

2692 

698 

406 

4097 

209 

66 

239 
6 


3,79 

5,04 
9,28 

4,86 
7,10 
4,26 
11,02 
6,88 

5,63 

12,94 

7,85 

3,95 
10,08 

4,59 


5244 
40227 

22031 

48  383 
4229 

3196 

157967 

26262 

21  813 

25361 

19435 

17057 
3221 


125 
2256 

2  320 


710 

143 
82 

820 

827 

666 

679 

862 


15 
I 

I 

I 

I 


2,4 

5,6 
10,5 

7,6 

3,3 

2,5 
10,0 

6,9 
7,6 
6,6 

'9,5 


2,9 
6,8 

15,0 


2053     12,0 

225 1      6,9 


7,9 

4,0 

3,3 

8,7 
12,0 

12,1 

9,7 
16,1 

6,8 

13,5 


126296 


II  480 


9,14 


394  426;  33  228      8,3 


9,3 


^)  Jahresber.  d.  Grossherzogl.  Badischen  Fabrikinspektion  1892  S.  o8flf. 

2)  Jahresber.  d.  Königl.  Sftchs.  Gewerbeinspektion  1893  S.  227. 

3)  Stat.  d.  D.  R.  N.  F.  119  S.  102*. 


mzen  ßeihe  von  Gewerbearten  übertroffen. 

kommen  Gewerbe  vor,  in  denen  26,8  ®/o 
aller  Arbeiter  jugendliehe  sind,  so  die 
Schlosserei.  Indes  auch  Schneider,  Tisch- 
ler, Schuhmacher,  Bäcker,  Fleischer,  Grob- 
schmiede, Stellmacher  weisen  eine  zwischen 
15  bis  18,8  ^lo  schwankende  Beteiligung 
jugendlicher  Arbeiter  auf.  In  anderen,  wie 
der  Maurerei,  Ziegelei,  Verfertigung  von 
Maschinen  tritt  zwar  i-elativ  die  ßeschäfti- 
gimg  jugendlicher  Arbeiter  nicht  so  stark 
hervor,  aber  sie  geht  doch  absolut  über 
10000  Köpfe  heraus. 

Im  Handel  und  Verkehr  hat  die 
Kinderarbeit  keine  grosse  Bedeutxmg.  Sie 
kommt  da  insbesondere  im  Waren-  und 
Produktenhandel  und  in  der  Berufsaii;  Be- 
herbergung und  Eixjuickung  vor.  Auch  die 
Verwendung  jugendlicher  Arbeiter  ist  ge- 
ringer als  in  der  Industrie.  Man  zälüte 
1895  805615  erwachsene  und  65332  jugend- 
liche Arbeiter,  d.  h.  die  letzteren  machten 
7,5%  aller  aus.  Auch  bei  Handel  und  Ver- 
kehr erscheint  dieselbe  Beobachtung  wie  in 
der  Industrie,  dass  mit  der  Grösse  des  Be- 
triebs die  Neigung,  sich  jugendlicher  Ar- 
beitskräfte zu  bedienen,  ziu-ücktritt.  Es 
"waren  von  100  Arbeitern  jugendliche 

in  Betrieben  mit    1 — 5    Personen    9,2 

n     6-20         „  7,5 

„  „  „     21  u.  mehr  „  3,5 

Mehr  als  10000  jugendliche  Arbeiter 
weisen  der  Handel  mit  Kolonialwaren  und 
der  Handel  mit  Sclmittwaren  auf. 

Sehr  erheblich  scheint  die  Verwendung 
jugendlicher  Personen  in  der  Hausin- 
dustrie zu  sein  und  geraile  liier  die  Aus- 


nutzung ihrer  Körperkräfte  in  gemeinschäd- 
licher  Weise  vor  sich  zu  gehen.  Nach  der 
Bei-ufszählung  von  1882  stehen  allerdings 
unter  339644  Hausindustriellen  nur  4449 
im  Alter  von  w^eniger  als  15  Jahren,  d.  h. 
1,3^/0,  und  die  Berufsstatistik  von  1895  hat 
nur  1617  Kinder,  unter  ihnen  1481  im  Alter 
von  12  bis  14  Jahren  ermittelt,  d.  h.  etwa 
0,5^/0.  Etwas  grosser  fällt  die  Zahl  der 
14 — 16  jährigen  Hausindustriellen  aus,  von 
denen  10466  nachgewiesen  sind,  d.  h. 
etwas  mehr  als  3®/o.  Nach  der  Gewerbe- 
statistik, die  etw^as  andere  2iahlen  hat,  sind 
457  984  Hausindustrielle  ermittelt,  unter 
ihnen  24501  jugendliche  (weniger  als  16 
Jahre  alte  Arbeiter),  was  immer  niu*  wenig 
über  5  ^'0  jugendlicher  Arbeitskräfte  heissen 
würde.  Aber  offenbar  ist  die  Zahl 
der  hausindustriell  beschäftigten  Kinder  zu 
gering  angegeben.  Ueber  die  weitreichende 
Verwendung  der  Kinderarbeit  in  der  Haus- 
industiie  ist  so  oft,  auch  von  amtlicher 
Seite,  geklagt  worden,  dass  man  wohl  glau- 
ben kann,  es  sei  seitens  vieler  Familienväter 
die  Angabe  der  regelmässigen  Gewerbsthä- 
tigkeit  der  Kinder  unterlassen  worden.  Von 
der  linksrheinischen  Seiden-  und  Sanimet- 
industrie  ist  bekannt  geworden,  dass  die 
Kinder  ganz  allgemein  zum  Spulen  heran- 
gezogen werden.  In  der  thüringischen 
Holzspielwarenindustrie  ist  es  üblich,  die 
aus  der  Schule  kommenden  Kinder  sofort 
beim  Bemalen  der  Figuren  oder  sonstigen 
leichteren  Hantierungen  bis  in  die.  sinkende 
Nacht  zu  beschäftigen.  In  der  Filetstrickerei 
der  Taunusdörfer  werden  Kinder  schon  vom 
dritten  Jahre  an  zum  Einziehen  der  Gummi- 


Jugendliehe  Arbeiter 


Uli 


bändchen  in  die  Netze  und  Handschuhe  und 
zum  Füllen  der  Nadeln  etwa  2 — 8  Stunden 
am  Tage  gebraucht.  Im  lospektionsbezirke 
Zwickau  fand  der  Beamte  1881  in 
kleinen  Stickereien  Kinder  nach  8^  2  Uhr 
abends  und  Kinder  imter  dem  für  die  Zu- 
lassung in  Fabriken  vorgesehenen  Alter  be- 
schäftigt. In  der  Wollwarenindustrie  von 
Apolda  wiurden  1885  von  2886  Sc^hulkindern 
1177,  also  40,9  ^/o  gewerbhch  beschäftigt 
und  zwar  in  der  Hausindustrie  1119,  in  der 
Fabrik  58.  Von  den  ersteren  waren  5GÜ 
im  elterlichen  Hause,  617  ausserhalb  des- 
selben beschäftigt.  In  hohem  Masse  wird, 
so  insbesondere  in  der  Schachtelfabrikation, 
im  Filetnähen,  in  der  Knopfhäkelei,  in 
Schlesien  noch  immer  bei  der  feeschäftigtmg 
von  Kindern  gesündigt.  Kurz,  viele  An- 
zeichen und  Thatsachen  lassen  sich  darüber 
vereinigen,  dass  von  der  Hausindustrie  über 
das  zulässige  Mass  der  Kinderbeschäftigung 
weit  hinausgegriffen  wird. 

Dieses  Verhältnis  hat  sich  in  den  letzten 
Jahren  eher  verschlimmert  als  verbessert. 
In  der  Trikot-  und  Strickwarenindtistrie,  in 
der  gesundheitsscliädlichen  Tabaksindustrie 
und  rutzfederindustrie  u.  s.  w.  nimmt  die 
Beschäftigimg  von  Kindern  zu.  Man  will 
beobachtet  haben,  dass  die  Arbeitsverhält- 
nisse der  infolge  der  Schutzbostimmungen 
der  Hausindustrie  zugetriebenen  Kinder  viel- 
fach schlechter  geworden  sind,  als  sie  es 
vor  Erlass  des  Gesetzes  waren.  Es  ertönt 
die  Klage,  dass  Kinder  bereits  im  Alter  von 
6  bis  8  Jahren  von  ihren  Müttern  ztir  Hilfe- 
leistung bei  gewerblicher  Thätigkeit  heran- 
gezogen werden.  Soweit  greift  die  Be- 
scliäftigung  um  sich,  dass  beisjüeisweise 
im  Bezirke  Aachen  allein  nach  den  »Amt- 
lichen Mitteilungen«  (1897)  4-— 5000  Kinder 
thätig  sein  sollen.  Wie  aus  diesen  Miss- 
ständen Rettung  wird  geschafft  werden 
können,  ist  gar  nicht  abzusehen,  da  die  ge- 
Scimte  Hausmdustrie  xmter  das  wachsame 
Auge  des  Gesetzes  zu  nehmen  unverkennbar 
die  grössten  Schwierigkeiten  hat.  Immer 
blielK)  es  freilich  im  höchsten  Gmde  wün- 
schenswert, dass  man  den  Kindern,  die  man 
vor  der  aufreibenden  und  früh  ei*schläffen- 
den  Thätigkeit  in  den  Fabriken  bewahren 
wollte,  nun  nicht  in  der  Hausindustrie  und 
sonstiger  gewerblicher  Thätigkeit  den,  wie 
man  sieht,  ihnen  so  überaus  notwendigen 
Schutz  entzieht. 

Ausserhalb  Deutschlands  wird  clie  Kinder- 
arbeit gegenwäi'tig  noch  übei-all,  in  Italien, 
Belgien,  Holland  sowohl  als  in  der  Schweiz, 
Frankreich  und  England  in  gix)ssem  Um- 
fange geübt.  Genauere  Daten  und  ein- 
gehende Schildenmgen,  die  ein  Urteil  über 
die  Ausdehnung  und  Bedingungen  der 
Kinderarbeit  gestatten  würden,  sind  nicht 
aus    allen     Ländern    zu    beschaffen.       Im 


ganzen  scheinen  in  den  3  erstgenannten 
Ländern  die  Kinder  unter  härteren  Bedin- 
gimgen  thätig  sein  zu  müssen  als  in  den 
drei  letztgenannten.  Einen  Schutz,  wie  er 
den  Kindern  im  Deutschen  Reiche  zu  teil 
wiKl,  geniessen  sie  jedenfalls  in  keinem 
dieser  Länder. 

b)  Italien.  In  Italien  lässt  die  nach- 
stehende Nachweisung  erkennen,  welche  In- 
dustriezweige namentlich  gern  sich  der  Kinder- 
arbeit bedienen.  Man  findet  keinen  einzigen 
Industriez weij?,  in  dem  nicht  die  Verwendung 
von  Kindern  (d.  h.  bis  zum  vollendeten  14.  Jahre) 
über  den  Prozentsatz  aller  Erwerbsthätigen 
hinausgeht ,  der  für  die  gesamte  Indnstrie- 
abteilune  in  ganz  Deutschland  1882  sich  heraus- 
gestellt hat :  2,24.  Wohl  aber  zeigen  mehrere 
Crrnppen,  dass  nahezu  der  10.  Teil  und  mehr 
ihrer  Arbeiter  aus  Kindern  unter  14  Jahren  be- 
steht, so  in  der  Bekleidungs-,  der  Metall-,  der 
Papierindustrie,  der  Anfertigung  von  Luxus- 
gegenständen und  in  den  polygraphischen  Ge- 
werben. Ja  diejenigen  Industrieen,  in  denen 
die  Kinderarbeit  besonders  stark  ist,  treten  in 
dieser  Aufstellung  gar  nicht  hervor,  wie  z.  B. 
die  Seidenspinnereien,  in  denen  19%  aller  Ar- 
beiter Kinder  sind  (146514  Erwerbsthätige, 
darunter  28175  Kinder),  und  die  Schwefelgruben, 
in  denen  fast  12%  aller  Beschäftigten  im  kind- 
lichen Alter  stehen  (25482  Erwerbsthätige  über- 
haupt, worunter  3057  im  Kindesalter).  Gerade 
in  der  letzteren  Industrie  zeigt  sich  die  Kinder- 
arbeit in  abschreckendster  Gestalt. 

Während  ausgewachsene  starke  Männer  tief 
unten  in  den  Stollen  das  Schwefelgestein  mit 
Hacke  und  Hammer  ausbrechen,  tragen  Knaben 
im  Alter  von  6—11  Jahren  das  losgelöste 
Material  aus  den  Minen  hemuf  zu  den  Meilern, 
wo  es  geschmolzen  wird.  Die  Kinder  arbeiten 
8 — 10,  auch  11—12  Stunden  am  Tage,  je  nach- 
dem sie  unter  oder  über  der  Erde  beschäftigt 
sind,  und  verdienen,  die  kleinsten  im  Alter  von 
6 — 8  Jahren  ^,U  Lire,  oft  auch,  wenn  sie  schwäch- 
lich sind,  nur  35  Centesimi,  die  grösseren  und 
stärkeren  bis  zu  15  Jahren  IV... — 2  Lire  täglich. 
Die  Wohnung,  die  sie  sich  von  diesem  kümmer- 
lichen Lohne  verschaffen  können,  ist  eine  sehr 
dürftige.  Das  einzige,  was  sie  essen,  ist 
trockenes  Brot.  In  den  weit  entlegenen  Minen 
bringen  die  Kinder  Montags  ihr  Brot  mit,  das 
bis  Donnerstag  reichen  mnss.  Donnerstag  früh 
vor  Sonnenaufgang  machen  sie  einen  Gang  nach 
Hause,  um  sich  neues  Brot  zu  holen,  das  bis 
Sonnabend  Abend  vorhalten  mnss.  Den  Sonn- 
tag bringen  sie  in  dem  heimatlichen  Dorfe  zu. 
Die  Gesundheit  der  Kinder  wird  dabei  ausser- 
ordentlich angegrifTen ;  die  meisten  tragen  schon 
nach  wenij^en  Alonaten  den  Stempel  der  Schwind- 
sucht auf  dem  Gesiebt  und  sind  zu  frühem  Tode 
verurteilt.  Wie  es  scheint,  hat  das  neue  Gesetz, 
das  die  Beschäftigung  von  noch  nicht  10jährigen 
Kindern  unter  der  Erde  und  noch  nicht  9jährigen 
Kindern  bei  der  Berg  wer  ksarbeit  überhaupt 
untersagt,  noch  keine  Besserung  zu  erzielen 
vermocht. 


89* 


1412 


Jugendliche  Arbeiter 


Nachweisung:  der  in  Italien  in  der  Urproduktion 

und  in  der  Industrie  beschäftigten  Emder  nach 

der  Volkszählung  von  1881. 


Berufsarten   bezw. 
Gegenstände  der  Fabri- 
kation der  verschie- 
denen Industriegruppen 


Landwirtschaft    .    .    . 

Tierzucht,  Bienenzucht 

Gartenbau 

Forstwirtschaft   .    .    . 

Fischerei  und  Jagd 

Bergwerke 

Mineralurg.  Industrieen 

Webereien 

Häute 

Bekleidung 

Nahrungsmittel  .    .    . 

Bauwesen,  auch 
Strassenbau.    .    .    . 

Möbel  u.  Haushaltungs- 
gegenstände    .    .    . 

Wagenbau,  Sattlerei    . 

Schiffsbau 

Fabrikation  von  Waffen 
und  Munition  .    .    . 

Metalle 

Maschinen  und  Werk- 
zeuge   

Präcisions-  und  Musik- 
instrumente.    .    .    . 

Papier.  Spielkarten.    . 

Typographie ,       Litho- 
graphie     

Chemische  Industrie    . 

Luxusgegenstände  .    . 

Beinigungsgewerbe .    . 


8173389 
244452 

73  339 
59651 
48241 

59512 

755 
I  322  806 

18515 

941  460 

505  795 
904  785 

110978 
24023 
12014 

10247 
190954 


617326 
56973 


.5-35 


7,5 
23,3 


3  743     5,1 


2974 
2992 

4514 
,       36 
110  355 
664 
84885 
14490 

58158 

8259 

1881 

356 

491  i 
17811I 


34065 

1947 

8271 

406 

22513 

2530 

18  821 

2  III 

14350 
35864 

13352 

I  126 

3907 
5576 

4,9 
6,2 

7,5 
4,7 
8,3 

3,5 
9,0 
2,8 

6,4 

7,4 
7,8 
2,9 

4,7 
9,3 

5,7 

4,9 
11,2 

11,2 

7,8 
10,9 

4,9 


In  dem  vorerwähnten  Berichte,  aus  dem 
Professor  Bodio  auf  der  internationalen  Arbeiter- 
schutzkonferenz  gleichfalls  Mitteilungen  gemacht 
hat,  wird  für  I808  die  Zahl  der  in  den  Schwefel- 

fruben  von  Sicilien,  Sardinien,  der  Romagna  und 
en  Marken  beschäftigten  Kinder  unter  15  Jahren 
auf  6753  angegeben,  d.  h.  also  bedeutend  höher, 
als  nach  der  Bernfsstatistik  von  1881  beziffert. 
Unter  27  897  in  den  Schwefelgruben  beschäftigten 
Arbeitern  befinden  sich  nach  dieser  Quelle  mithin 
24,1%  im  kindlichen  Alter  bis  zum  (noch  nicht 
vollendeten)  15.  Lebensjahre.  In  der  Seiden- 
spinnerei liegen  die  Verhältnisse  für  die  Kinder 
insofern  besser,  als  sie  in  grossen,  luftigen,  ge- 
sunden Gebäuden,  die  nach  der  Schilderung 
eines  Augenzeugen  den  Eindruck  der  Sauber- 
keit, Frische  und  Ordnung  machen,  mit  zum 
Teil  untergeordneten  leichten  Arbeiten,  wie  den 
Boden  zu  reinigen,  die  Körbe  mit  den  Cocons 
oder  Abfällen  wegzutragen  etc.,  beschäftigt 
werden.  Aber  man  denke,  dass  die  Kinder  von 
morgens  früh  bis  gegen  6  oder  7  Uhr  abends 
arbeiten  müssen,  für  einen  Ta^elohn  von  20—40 
Centesimi,  die  älteren  bei  einem  Lohne  von 
etwa  60  Centesimi.  Von  Unterricht  kann  dabei 
schlechterdings  nicht  die  Rede  sein.  Nach  der 
oben  genannten  Quelle  waren  1889  in  dieser 
Industrie  etwa  40000  Kinder  unter  15  Jahren 
beschäftigt,  vorzugsweise  Mädchen,  also  beinahe 


12000  mehr  als  vor  einem  Jahrzehnt.  Naxsh 
einer  Statistik,  welche  die  Gesellschaft  für 
Seidenhandel  und  Seidenindustrie  in  Mailand 
aufgestellt  hat,  waren  in  86  Spinnereien  der 
Lombardei  unter  100  Arbeitern: 

11  im  Alter  von  9—10  Jahren 
15   „       „        „  10-12       „ 
19   „       „        ,   12-15       „ 
55   „   höheren  Alter. 

Da  scheint  denn  in  der  That  eine  Industrie 
auf  eine  den  natürlichen  Verhältnissen  wider- 
sprechende Grundlage  aufgebaut,  und  es  wäre 
zu  wünschen,  dass  die  Gesetzgebung  in  Italien 
recht  bald  eine  Aendemng  solcher  Zustände 
herbeizuführen  imstande  wäre,  etwa  in  dem 
Sinne,  wie  Professor  Bodio  sie  auf  der  inter- 
nationalen Konferenz  befürwortete  (Protok., 
deutsche  Ausgabe,  S.  176). 

Geplant  wird  schon  seit  geraumer  Zeit  eine 
Ausdehnung  des  Kinderschutzes.  Indes  haben 
bis  letzt  die  Entwürfe  (Lacada  1893,  Barazzuoli 
1893,  Guicciardini  1897)  es  noch  nicht  zur  An- 
nahme gebracht.  Nach  Vorlagen  aus  dem  Jahre 
1898  war  die  Altersgrenze  für  die  Beschäftigung 
von  Kindern  bis  zum  vollendeten  10.  Jahre 
hinaufgeschoben  und  die  zulässige  Arbeitszeit 
beschränkt  auf  8  Stunden  innerhalb  24  für 
Kinder  unter  12  Jahren  und  auf  12  Stunden 
innerhalb  24  für  Kinder  unter  15  Jahren.  Nacht- 
arbeit wird  für  jugendliche  Arbeiter  unter  15 
Jahren  ganz  verboten.  (Vergl.  d.  Art.  Ar- 
beiterschutzgesetzgebung in  Italien 
oben  Bd.  I  S.  061  ff. 

c)  Belgien.  Für  Bek^ien  ist  gleichfalls 
zu  fürchten,  dass  die  neue  Gesetzgebung  einst- 
weilen wenig  Besserung  auf  dem  Gebiete  der 
Kinderarbeit  zu  schaffen  vermocht  hat  Die  auf 
Grund  der  amtlichen  Industriestatistik  berech- 
nete nachstehende  Uebersicht  zeigt,  wie  erheb- 
lieh  in  einzelnen  Industriezweigen  die  Kinder- 
arbeit Platz  gegriffen  hat. 

Eühmliche  Ausnahmen  bieten  die  chemische 
Industrie,  die  Leder-,  Wachstuch-  und  Gummi- 
industrie, die  Baugewerbe  und  die  Industrie  der 
Leuchtstoffe. 

Allerdings  soll  nach  derselben  amtlichen 
Quelle  seit  1846  die  Arbeit  jugendlicher  Per- 
sonen in  der  Abnahme  begriffen  sein.  Wenigstens 
erweist  die  folgende  Zusammenstellung,  dass 
von  9  in  ihr  genannten  Gewerbearten  bei  vieren 
dies  der  Fall  war. 

Von  100  Fabrik- 

arbeitem')  waren 

r««,o»K^^^f^«  Kinder  (Knaben  und 

Gewerbearten  Mädchen)  unter 

16  Janren 

1846  1880 
Steinkohlengewinnung    .    .      22  17 

Flachsindustrie 26  22 

Zuckerindustrie 30  22 

Wollenindustrie 18  19 

Keramische  Industrie ...      25  28 

Eisenindustrie 7  16 

Baumwollenindustrie  ...      27  17 

Schiefer-,  Stein-,  Marmorbrüche  11  13 

Glasindustrie 18  22 


^)  Statistique  de  la  Belgique.   Recensement 
de  1800,  I  S.  70. 


Jugendliche  Arbeiter 


1413 


Kinderarbeit  in  Belgien  1880*). 


Gewerbearten 


Zahl 
derKinder 

unter 
14  Jahren 


i  Zahl  der 
Kinder 
im  Alter 

von 
14-16 
Jahren 


Von  100  Arbeitern 
sind  Kinder 


*««  14  I  Im  Alter 
^?^f  1^     V.  14-16 
J^^^^    I    Jahren 


1.  Bergbau^  Hütten  nnd  Stein wesen    .    . 

2.  Industrie  der  Steine  nnd  Erden .    .    . 

3.  Metallverarbeitung 

4.  Maschinen,  Instrumente,  Apparate  .    . 

5.  Chemische  Industrie 

6.  Leuchtstoffe,  Fette,  Oele,  Firnisse  .    . 

7.  Textilindustrie 

8.  Panierindustrie 

9.  Leaer-,  Wachstuch-,  Gummiindustrie  . 

10.  Nahrungs-  und  Genussmittelindustrie  . 

11.  Baugewerbe 

12.  Polygraphische  Gewerbe 


7691 

4  933 
283 

1043 

32 

357 

6493 

345 
106 

2778 
98 

555 


;  124607 

12703 

5267 

50046 

626 

6038  . 

2370 

29841 

165 

2  721 

406 

6530 

10  152 

91795 

802 

6761 

266 

4  397 

450 
828 


4470 
49884 

5  943 
5318 


6,2 

9,9 
4,6 
3,5 

5,6 
7,7 
SP 

«,3 

5,6 

1,6 

10,4 


10, 1 

10,5 

10,3 

7,9 

6,1 

6,1 

11,8 

5,9 

8,8 

7,5 

15,5 


Summa     24  709 
^)  Berechnet  nach  Statistique  de  la  Belgique. 


38336   I  384050   , 
Recensement  de  1880. 


6,43 


9,98 


Indes  bleiben  die  Industriezweige,  wie  Berg- 
bau und  Textilindustrie,  doch  noch  immer  mit 
einer  sehr  grossen  Anzahl  jugendlicher  Arbeiter 
belastet.  Die  Steinkohlenindustrie  z.  B.  be- 
schäftigt 6346  Kinder  unter  14  Jahren  und 
10093  im  Alter  von  14—16  Jahren,  d.  h.  von 
ihren  94767  Arbeitern  insgesamt  stehen  17,3% 
im  jugendlichen  Alter.  Wenn  die  von  dem 
belgischen  Delegierten  auf  der  Berliner  inter- 
nationalen Arbeiterschutzkonferenz  gemachten 
Angaben,  dass  in  den  Kohlenbergwerken  2747 
Kinder  von  12- 14  Jahren  und  4792  von  14—16 
Jahren  arbeiteten,  der  Wirklichkeit  entsprechen 


sollten  (Protok.  S.  176),  so  müssen  die  Verhält- 
nisse sich  im  letzten  Jahrzehnt  ausserordentlich 
zu  Gunsten  der  Kinder  gebessert  haben. 

Was  die  Textilindustrie  betrifft,  so  geht 
auch  bei  ihr  die  beschäftigte  Kinderzahl  über 
den  Durchschnitt  hinaus,  der  sich  für  alle 
belgischen  Industrieen  berechnen  lässt.  Wie 
ihre  einzelnen  Zweige  sich  der  Kinderarbeit  be- 
dienen, lässt  die  nachfolgende  Zusammenstellung 
erkennen.  In  zweien  derselben,  der  Leinen- 
industrie und  der  Wirkerei,  sind  nahezu  der 
4.  Teil  der  Arbeiter  —  Kinder.  In  der  Hanf- 
industrie sogar  mehr  als  der  4.  Teil. 


Nachweisung  der  Zahl  der  in  der  belgischen  Textilindustrie  beschäftigten  jugendlichen  Arbeiter. 

1880. 


Gewerbearten 


Kinder 

von 
12—14 
Jahren 


Junge    i  ' 


Von  100  Arbeitern 
sind 

junge 

Leute  V. 

14—16 


Jahren 


Leinenindustrie 

Hanfindustrie 

Baumwollenindustrie 

Wollindustrie 

Bleicherei 

Weberei  gemischter  Stoffe    .    .    . 
Schafwoll-  und  Baum woU Wirkerei 


2815 

305 
1  067 

I  739 
82 

135 
350 


4  437 

317 
1705 

2  640 

75 
506 

472 


33048 

2242 

16654 

23359 
I  002 

II  940 
3550 


8,5 
13,6 

6,4 
7,4 
8,1 

1,1 
10,0 


13,4 

10,2 

i',3 
7,4 
4,2 

13,3 


Textilindustrie  überhaupt  j     6493    !    10 152    |   91725 


7,7 


",5 


Eine  Besserung  erscheint  darin,  dass  mit 
Verboten  der  Beschäftigung  von  Kindern  in 
gewissen  besonders  gesundheitsschädlichen  Zwei- 
gen begonnen  worden  ist.  z.  B.  1898  für  die 
Hutfabrikation. 

d)  Holland.  Ein  grosses  Mass  von  Ueber- 
arbeitung  und  Verwahrlosung  zeigt  dje  Be- 
schäftigung jugendlicher  Personen  in  Holland. 
Wenn  auch,  wie  der  holländische  Delegierte 
auf  der  internationalen  Arbeiterschutzkon^renz 
ausführte  (Protok.  S.  181),  weder  eine  Person 


unter  18  Jahren  noch  eine  einzige  weibliche  Per- 
son „unter  Ta^"  arbeitet,  obgleich  ein  gesetz- 
liches Verbot  in  dieser  Hinsicht  nicht  besteht, 
so  hat  doch  die  1886  eingesetzte  parlamentarische 
Untersuchungskommission  ein  schreckenerregen- 
des Bild  entworfen.  Nach  den  für  die  Provinz 
Limburg  von  ihr  beschaiften  Daten  —  für  das 
ganze  Land  waren  die  Angaben  nicht  zu  er- 
halten —  waren  in  1940  (Fabrik-,  Handwerk-) 
Betrieben  11 156  Arbeiter  beschäftigt,  von  denen 
1821  im  Alter  von  12—16  Jahren,  1351  im  Alter 


1414 


Jugendliche  Arbeiter 


von  16 — 18  Jahren  sich  befanden.  Erstere 
machten  16,3  <*/o,  letztere  12,1  ®/o  aller  Arbeiter 
ans.  Geht  schon  dieses  Verhältnis  über  das  der 
meisten  europäischen  Staaten  heraus,  so  ist 
hinzuzufügen,  dass  die  Beschäftigung  jugend- 
licher Personen  in  den  meisten  Branchen  in 
stetiger  Zunahme  begriffen  ist  und  die  Kinder 
zu  sehr  schweren,  ungesunden  Beschäftigun^^en 
herangezogen  werden,  wie  in  Eisengiessereien, 
Glasbläsereien,  Schriftgiessereien  etc. 

e)  Frankreich.  In  Frankreich  ist  die 
Zahl  der  in  den  Fabriken  beschäftigten  Kinder 
beiderlei  Geschlechts  unter  16  Jahren  keine  ge- 
ringe: 1889  160256,  worunter  1049 10— 12jährige 
und  149207  12— 16  jährige;  1890  16Ö858,  wovon 
1044  10 -12  jährige  und  164814  12— 16jährige. 
Zu  diesen  Zahlen  kommen  noch  die  der  in  den 
Waisenhäusern,  Zufluchtsanstalten  und  Arbeits- 
sälen (orphelinats,  maisons  de  refuge,  onvroirs), 
wie  sie  sowohl  von  Laien  als  von  geistlichen 
Brüderschaften  ins  Leben  berufen  werden,  be- 
schäftigten Kinder  unter  16  Jahren.  Nach  den 
in  einzelnen  Berichten  der  Fabrikinspektoren 
hierüber  enthaltenen  Daten  würde  es  sich  im 
Jahre  1890  noch  um  mindestens  7053  Kinder  in 
diesen  Anstalten  handeln.  Von  ihnen  sind  3274 
10— 12  jährig,  2308  12-15  jährig,  929  15-16- 
jährig  und  o42  12— 16  jährig.  Alle  diese  Zahlen 
enthalten  durchaus  Mindestangaben.  Denn  sie 
geben  nur  den  Umfang  der  Kinderarbeit  an, 
wie  sie  die  Inspektoren  in  den  von  ihnen  im 
Laufe  des  Berichtsjahres  besichtigten  gewerb- 
lichen Anstalten  antreffen.  Die  Inspektoren 
können  aber  nicht  alljährlich  alle  dem  Gesetze 
unterstehenden  Fabriken  besuchen.  Im  Verhält- 
nis zu  den  in  den  besuchten  Etablissements 
beschäftigten  Erwachsenen  beiderlei  Geschlechts 
erscheint  die  Kinderarbeit  recht  beträchtlich. 
Neben  881798  Erwachsenen  und  100388  16—21- 
jährigen  Mädchen  sind  in  18  Anfsichtsbezirken 
(für  den  8.,  15.  und  17.  sind  die  Angaben  über 
die  erwachsenen  Arbeiter  teils  nicht  vorhanden, 
teils  nicht  benutzbar)  129324  Kinder  unter 
16  Jahren  thätig,  d.  h.  von  allen  Arbeitern 
waren  11,6  •L  Kinder  unt«r  16  Jahren. 

Die  Zahl  der  minderjährigen  Mädchen  von 
16 — 21  Jahren  betrug  in  den  besichtigten  ge- 
werblichen Anstalten  1889  112265,  im) 
123798.  Wieviel  Kinder  unter  Tage  und  im 
bergmännischen  Betriebe  überhaupt  beschäftigt 
werden,  lässt  der  Bericht  der  oberen  Kommission 
nicht  erkennen.  Nach  einer  auf  der  Berliner 
internationalen  Konferenz  von  1890  gemachten 


Angabe  waren  1887  imter  Tage  4504,  über  Tage 
3482  Kinder  von  12—16  Jahren  im  Bergwerks- 
betriebe beschäftigt. 

Die  Yermehrnng  der  Zahl  der  in  Fabriken 
nachgewiesenen  Kinder  und  minderjährigen 
Mädchen  von  119462  im  Jahre  1876  auf 
289656  im  Jahre  1890  hängt  mit  der  allmäli- 
liehen  Ausdehnung  der  Fabrikinspektion  zu- 
sammen. 1876  wurden  nur  10041,  1890  69416 
gewerbliche  Anstalten  besucht.  Nach  dem  Be- 
richt der  commission  sup^rieure  du  travail  für 
das  Jahr  1897  unterstanden  dem  Gesetze  von 
1892  290305  Betriebe  mit  2591288  Arbeitern, 
unter  denen  433467  Knaben  und  Mädchen  von 
weniger  als  18  Jahren  waren.  Es  würden  also 
in  der  französischen  Industrie  unter  100  Arbeitern 
16,7  jugendliche  sein,  während  nach  den  An- 
gaben der  deutschen  Berufsstatistiker  von  100 
llrwerbsthätigen  in  Industrie,  Bergbau  nnd 
Hüttenwesen  13,76  weniger  als  18  Jahre  alt 
waren.  Auch  in  Frankreich  hat  man  einge- 
sehen, dass  den  Jugendlichen  Arbeitern  grössere 
Schonung  zu  teil  werden  muss,  und  durch  das 
Gesetz  vom  30.  März  1900  für  alle  unt€r  18 
Jahre  alten  eine  allmähliche  Herabminderong 
der  höchstzulässigen  Arbeitszeit  auf  10  Standen 
am  Tage  verfügt,  die  nach  und  nach  im  Laufe 
der  nächsten  4  Jahre  Platz  greifen  soll. 

f)  Schweiz.  In  der  Schweiz  machten 
noch  1880  die  Kinder  und  jugendlichen  Personen 
14  ^/o  aller  Fabrikarbeiter  aus,  aber  die  neueren 
Berichte  der  Fabrikinspektoren  betonen,  dass  in 
den  letzten  6 — 8  Jahren  die  Zahl  der  Kinder 
und  iungen  Leute  unter  18  Jahren  in  den 
Fabriken  abgenommen  habe.  Man  führt  es  dort 
nicht  auf  das  Fabrikgesetz  allein  zurück,  son- 
dern auf  den  Umstand,  dass  man,  durch  Er- 
fahrung belehrt,  die  Kinderarbeit  nicht  mehr  so 
hoch  verwertet.  Immerhin  kommt  gesetzwidrig 
Beschäftigung  von  Kindern,  namentlich  in 
Stickereien,  vor. 

g)  England.  Ueber  den  Umfang  der  Ar- 
beit von  Kindern  und  jugendlichen  Personen 
in  ganz  Grossbritannien  giebt  es  keine  Daten. 
Der  Bericht  des  Hauptinspektors  der  Fabriken 
und  Werkstätten  stellt  wohl  die  Zahl  der  Yer- 

fehen  gegen  die  Bestimmungen  in  betreff  der 
inderarbeit  fest,  aber  nicht  die  Gesamtzahl 
aller  beschäftigten  Kinder  und  jugendlichen  Ar- 
beiter. Nur  für  die  Textil-  und  die  Bergwerks- 
industrie geben  die  Quellen  Aufschluss.  In 
sämtlichen  Textilbetrieben  des  vereinigten 
Königreichs  waren: 


unter 
13  Jah- 
ren 


Arbeiter 

von 
13—18 
Jahren 


über 

18 

Jahren 


Arbeiterinnen 


unter 
13  Jah- 
ren 


13Jah- 
re  alt 
u.    da- 
rüber 


Summe 


1885 
1890 


43308 
40558 


81  871 
88696 


279  834 
298  828 


48343  ;  580905 
46941  i  610608 


I  034  161 
I  084  63 1 


Hiemach  machten  die  unter  13  jährigen 
Kinder  beiderlei  Geschlechts  von  allen  Fabrik- 
arbeitern im  Jahre   1885  8,8  Prozent  und  im 


dustrie  also  hat  die  Zahl  der  Fabrikkinder 
augenscheinlich  die  Tendenz,  geringer  zu 
werden.    In  der  Kohlenindustrie  wuraen  be- 


Jahre 1890  nur  3,8  Prozent.    In  der  Textilin- j  schäftigt : 


Jugendliche  Arbeiter 


1415 


Unter  Tage 


10    12-;  12    16- 
jährige    jährige 

Arbeiter 

über  16- 
jährige 

Summe 

Vonallen 

Arbei- 
tern wa- 
ren 10  — 
I6jährig- 

1887 
1888 
1889 
1890 

299 

127 

• 
• 

40647 
42045 
47960 
44090 

387  594 
396  730 
458  852 
419  510 

428  540 
438902 
506812 
463600 

9,5 
9,6 

9,4 

9,5 

Ueber  Tage 


1887 
1888 
1889 
1890 


10— 12- 
jährige 


12—13-13—16-  über  16- 
jährige  i  jährige  jährige 


Arbeiter  und  Arbeiterinnen 


B 

B 

0 


Von  allen 

Arbeltern 

warenio- 

Ißjährig 


lO 


317 

243 
232 

220 


8877    87621 

9  7101  96594 
10909  1  107078 
II  485    123863 


96815 
106552 
118219 
135928 


9,5 

9,3 

9,4 
8,8 


In     den    Metallbergwerken    (metalliferous 
Mines)  waren  thätig 

Unter  Tage 


;12— 13- 

I  jährige 


13— 16- 
jährige 

Arbeiter 


über  16- 
jährige 


B 

a 

B 


Von  allen  < 
I    Arbeitern 
waren   12—  1 
IBjährig     ! 

0'       I 


1887 

7 

1888 

14 

1889 

12 

1890 

6 

630 

645 
671 

704 


24476  25  113 

25  445  2^  ^04 
24896  25579 
24  148  24  858 


2.5 
2,5 
2,6 

2,8 


Ueber  Tage 


10-13- 


18-18- 


jährige  jährige 
Arbeiter  u.  Arbeiterinnen 


über  18- 
jährige 


s 
s 

CO 


Von  allen 

Arbeitern 

waren  10— 

iHjährig 
0 
.0 


1887 

123 

3476 

13037 

16636 

1888 

93 

3570 

13705 

17368 

1889 

71 

3703 

14067 

17841 

1890 

84 

3427 

13685 

17  196 

21,6 
21,0 

21,1 
20,4 


Nach  diesen  Angaben  beanspruchen  die 
Kohlengruben  sowohl  unter  Tage  als  über  Tage 
noch  eine  erhebliche  Anzahl  jugendlicher  Arbeits- 
kräfte, wenn  auch  die  Beschäftigung  10  bis 
12  jähriger  Kinder  ganz  geschwunden  scheint. 
Sehr  viel  weniger  werden  jugendliche  Arbeiter 
in  den  Metallbergwerken  unter  Tage  gebraucht. 
Die  12 — 13  jährigen  Kinder  sind  nur  in  geringer 
Zahl  vertreten;  die  kleine  Zunahme  der  13  ois 
16  jährigen  wird  hoffentlich  nur  eine  vorüber- 
gehende sein.  Ueber  die  Beschäftigung  der 
Jugendlichen  Arbeiter  über  Tage  kann  man 
:ein  so  klares  Bild  gewinnen,  weil  die  Quellen 
die  Klassifikation  nach  dem  Alter  in  anderer 
Weise  vorgenommen  haben.  Wenn  indes 
mehr  als  der  ö.  Teil  aller  Arbeiter  im  Alter 


von  weniger  als  18  Jahren  steht,  so  ist  das 
ziemlich  viel. 

Erscheint  hiemach  die  Verwendung  jüngerer 
Arbeitskräfte  in  Grossbritannien  nicht  unbe- 
trächtlich, so  kommt  hinzu,  dass  ca.  65000 
,,Half -Timers"  ausserhalb  der  Fabrikgesetze 
stehen  und  dass  im  übrigen  die  schulpflicntij^en 
Kinder  zu  verschiedenen  Erwerbsthätigkeiten 
regelmässig  in  sehr  weitem  Umfange  herange- 
zogen w^erden.  Allgemein  wird  jetzt  zuge- 
standen, das  die  bestehende  Fabrikgesetzgebung 
die  Kinder  recht  ungenügend  schützt.  Denn  sie 
erlaubt,  Knaben  bereits  vor  vollendetem  12.  Jahre 
in  Erzbergwerken  bis  zu  54  Stunden,  in  der 
Woche  und  die  ,, Halbzeiter"  sogar  schon  vom 
11.  Jahre  an  zu  beschäftigen.  So  wurde  denn 
für  die  letzteren  eine  sofortige  Heraufsetzung 
des  Alters  auf  12  Jahre  und  in  3  Jahren  auf 
13  Jahre  erstrebt,  eine  Neuerung,  die  am 
1.  März  1900  im  Unterhause  in  zweiter  Lesung 
mit  sehr  starker  Mehrheit  durchge^fangen  ist. 
Der  Vicepräsident  des  Unterrichtsministeriums, 
Sir  John  Gorst,  hat  den  Antrag  nachdrücklich 
befürwortet  und  betont,  dass  wenn  auch  für 
viele  Familien  ein  Lohnausfall  eintreten  würde, 
dennoch  das  Land  gewinnen  würde  durch  den 
besseren  Unterricht,  der  erteilt  werden  kann. 
Was  aber  die  Thätigkeit  schulpflichtiger  Kinder 
betrifft,  so  arbeiten  nach  Angaben  des  Londoner 
Schulamts  (1899)  in  112  Schulen  —  von  ins- 
gesamt 485  Schulen  —  1143  Kinder  wöchentlich 
19-29  Stunden,  729  Kinder  wöchentlich  30  bis 
39  Stunden,  285  Kinder  wöchentlich  40  und 
mehr  Stunden. 

Nach  einer  Veröffentlichung  des  Handels- 
amts aber  über  Kinderarbeit  in  England  und 
Wales  waren  von  2568176  Kindern,  über  die 
die  Schulleiter  Zusammenstellungen  machen 
konnten,  der  allergrösste  Teil  ausserhalb  der 
Schulzeit  erwerbstnätig.  Die  Nachweisung 
unterscheidet  zwischen  London,  den  grö8.sereu 
Städten  und  dem  flachen  Lande  mit  den  kleineren 
Orten.  Das  Ergebnis  war,  dass  in  London  nicht 
mehr  als  6%,  in  den  beiden  anderen  Gruppen 

far  nur  4%  unbeschäftigt  sind  ausser- 
alb  der  Schule.  Speciell  in  London  sind  nach 
Frank  Hind  Kinder  noch  immer  die  ausge- 
bentetsten  Lohnsklaven.  Man  bereift,  wenn 
unter  solchen  Umständen  auf  dem  Tradesunion- 
kongress  in  Birmingham  1897  die  gesetzliche 
Abschaffung  aller  Kinderarbeit  unter  15  Jahren 
gefordert  wurde.  (S.  auch  die  Tabelle  auf  der 
folgenden  Seite.) 

5.  Neuere  deutsche  Schntzgesetz- 
^bnng.  Die  im  letzten  Jahrzehnt  zum 
Schutze  der  Kinderarbeit  erlassenen  Gesetze 
verschiedener  Kultui-staaten  haben  in  diesem 
Handwörterbuche  bereits  bei  dem  Art.  Ar- 
beite rsc  hu  tzgesetzgebung  Berück- 
sichtigung ei-falu-en.  (YgL  oben  Bd.  I  S.  476.) 
Kann  man  nach  dem  Vorausgeschickten 
sich  zu  der  Ausdehnung  des  Schutzes  seit 
1891  nur  sympathisch  verhalten  und  nur  den 
Wunsch  hegen,  dass  in  anderen  Kiüturstaaten 
die  Beschäftigung  der  Kinder  in  gleicher 
Weise  geregelt  würde,  so  darf  man  sich 
nicht  verhelüen,  dass  infolge  der  neuen 
Massregeln  zwei  Gefahren  drohen,  zu  deren 
teilweiser  Abwendung  wenigstens  ein  wei- 


1416 


Jugendliche  Arbeiter 


Im   Jahre  1896  waren  in  Grossbritannien 
und  Irland  thätig  in 


Kinder 

unter 

14  J.*) 


Jugdl. 

von 

14-18 

Jahren 


Textilindus- 
trieen    .    . 

Nichttextilin- 
dustrieen  ^) 

Workshops') . 


53256 

7241 
3  116 


Personen 

über 
18  Jahre 


236  245    788  186 


436  502 


2221  988 


Summe 


163982    488467 


I  077  687 

2665791 
655  565 


63  61 3  836  729  3  498  641 14  398  983 

I 

In  Prozenten 


Textilindus- 

trieen    .    . 

5,0 

22,0 

73,0 

Nichttextilin- 

dustrieen  . 

0,3 

16,4 

83,3 

Workshops    . 

0,5 

25,0 

74,5 

100,0 


100,0 
100,0 


1,4 


19,0    !     79,6 


100,0 


teres  Gesetz  fast  unvermeidlich  scheint. 
Die  eine  betrifft  die  Möglichkeit,  die  leider 
schon  zur  Wirklichkeit  geworden  ist,  dass 
die  aus  den  Fabriken  verdrängten  Kinder 
zahlreicher  als  bisher  in  der  I^usindustrie 
Unterkunft  finden.  Eine  häufigere  Beschäf- 
tigung der  Kinder  aber  in  hausindustriellen 
Werkstätten  bedeute  eine  Verschlechterung 
der  heutigen  Zustände.  Es  steht  that- 
sächlich  fest,  dass  die  hygieinische  ße- 
scliaffenheit  dieser  Betriebe  auch  den  be- 
scheidensten Anforderungen  in  den  meisten 
Fällen  Hohn  spricht,  dass  die  Arbeitszeit 
länger,  der  I^hn  niedriger  ist  als  in  den 
Fabriken.  Indes  haben  gerade  die  unbehag- 
lichen Zustände  der  Hausindustrie  schon  seit 
geraumer  Zeit  nahe  gelegt,  ihr  ähnliche 
Schranken  auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung 
zu  ziehen  wie  den  Fabriken.  So  wird  hier 
kaum  etwas  anderes  übrig  bleiben,  als  recht 
bald  die  Aufsicht,  der  die  Fabriken  und 
ihnen  gleichstehenden  Anlagen  unterworfen 
sind,  auf  die  hausindustriellen  Betriebsstätten 
auszudehnen,  obgleich  ihrer  wirksamen 
Durchfühnuigsich  besondere  Schwierigkeiten 
entgegenstellen. 

Die  zweite  Gefahi*  zeigt  sich  darin,  dass 
durch  das  Verbot  der  Beschäftigung  von 
Kindern  ein  Ausfall  in  den  Einnahmen 
einer  Arbeiterfamilie  entstehen  kann.  Die 
gut  gemeinte  Schutzbestimmung  wird  viel- 

')  Dazu  gehören  bestimmte  im  Fabrikgesetz  " 
vorgeschriebene     Gewerbebetriebe     wie    Zeug- 
druckereien, Bleichereien,    Färbereien,   Streich- 
holzfabriken, Hüttenwerke  etc. 

*)  In  der  Hauptsache  Betriebe  ohne  mecha- 
nische Kraft,  also  etwa  Klein  Werkstätten. 

^)  Die  so^en.  Half-Timers,  weil  sie  nur 
einen  halben  Tag  arbeiten  dilrfen,  die  iibrige 
Zeit  in  der  Schule  sein  müssen. 


leicht  augenblicklich  von  den  betroffenen 
Kreisen  sehr  schmerzlich  empfunden  wer- 
den. Auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung 
kann  hier  nicht  geholfen  werden.  Wo  no- 
torischer Eigennutz  der  Eltern  die  Kinder 
seither  zu  übermässiger  Anstrengimg  veran- 
lasste, muss  man  das  Verbot  als  eine  heil- 
same Neuerung  begrüssen.  Wo  aber  die 
Not  des  Lebens  dazu  zwang,  die  Kinder 
früh  zur  regelmässigen  Arbeit  anzuhalten, 
muss  man  auf  eine  Aenderung  der  bisherigen 
Gewolmheit  hoffen,  indem  durch  den  Weg- 
fall der  Kinderarbeit  den  Erwachsenen 
mehr  Spielratim  zum  Erwerbe  geboten  wer- 
den wird. 

Eine  nicht  direkt  auf  ihren  Schutz  ab- 
zielende anderweitige  Regelung  hat  die  Ar- 
beit jugendlicher  Personen  in  den  §§  107, 
119a,  134b  der  Gew.-O.  erfahren. 

1.  Nach  der  bestehenden  Gewerbeortl- 
nung  sind  alle  minderjährigen  Arbeiter  zur 
Führung  eines  Arbeitsbuches  verpflichtet, 
dessen  erstmalige  Ausstellung  auf  Antrag 
oder  mit  Zustimmung  des  Vaters  oder 
Vormundes  erfolgt  Ziu*  Eingehung  und 
Auflösung  des  Ai-beitsverhältnisses  ist  der 
Minderjährige  selbständig  berechtigt,  dem 
also  das  Arbeitsbuch  ausgehandigt  wird. 
Diese  Anordnung  hat  nun  insofern  Wandel 
erfahren,  als  in  Zukunft  das  Arbeitsbuch 
der  Arbeiter  imter  16  Jahren  (§  107  der 
Gew.-O.),  falls  nicht  die  Gemeindebehörde 
andere  Verfügungen  trifft,  bei  der  Lösung 
des  Arbeitsverhältnisses  regelmässig  dem 
Vater  oder  Vormund  ausgehändigt  werden 
muss.  Bei  den  über  16  Jahre  alten  Minder- 
jährigen muss  wenigstens  dann  die  Aus- 
händigung des  Buches  an  Vater  oder  Vor- 
mund erfolgen,  wenn  diese  es  verlangen. 

2.  Nach  der  im  §  119  a  Abs.  2  ge- 
troffenen Bestimmung  steht  der  Gemeinde 
das  Recht  zu,  ortsstatutarisch  festzusetzen, 
dass  der  von  minderjährigen  Arbeitern  ver- 
diente Lohn  an  die  Eltern  oder  Vormünder 
und  niu*  mit  deren  scliriftlicher  Zustim- 
mung oder  nach  der  Bescheinigung  über 
den  Empfang  der  letzten  Lohnzahlung  im- 
mittelbar  an  die  Minderjährigen  gezahlt 
\N'ird. 

3.  In  §  134  b  Abs.  3  ist  die  Anordnung 
enthalten,  dass  mit  Zustimmung  eines  stän- 
digen Arbeiterausschusses  in  die  Arbeitsonl- 
nung  Vorschriften  über  das  Verhalten  der 
minderjährigen  Arbeiter  ausserhalb  des  Be- 
triebes aufgenommen  werden  können. 

Mit  diesen  drei  Bestimmungen  ist  es 
darauf  abgesehen,  die  elterliche  Autorität  zu 
unterstützen.  Durch  die  erste  wird  es  mög- 
lich, die  beliebige  Aenderung  des  Arbeits- 
verhältnisses seitens  eines  jugendlichen  Ar- 
beiters, zu  der  Leichtsinn  und  Unerfahren- 
heit  nur  zu  oft  neigen,  zu  erschweren,  indem 
es  der  Zustimmung  des  Vaters  oder  Vor- 


Jugendliche  Arbeiter 


1417 


mundes  bedarf,  die  das  Arbeitsbuch  in  den 
Händen  halten.  Wieweit  die  Arbeiter  von 
dieser  Vergünstigung  Gebrauch  machen 
werden,  um  sich  der  heranwachsenden  Ju- 
gend  gegenüber,  deren  ünbotmässigkeit  so 
oft  beklagt  wird,  ihr  Ansehen  zu  w^ahren, 
bleibe  dahingestellt.  Jedenfalls  lässt  sich 
von  dem  gesunden  Sinn,  der  den  deutschen 
Arbeiter  im  allgemeinen  beseelt,  das  Beste 
erwarten.  In  derselben  Richtung  bewegt 
sich  die  dritte  Anordnung,  nach  der  die 
Arbeitgeber  vereint  mit  den  Arbeitern  zu- 
sammen die  Erziehung  der  Jugend  in  die 
Hand  zu  nehmen  aufgefoi-dert  werden.  Bei 
Vorschriften  über  das  Verhalten  minder- 
jäliriger  Arbeiter  ausserhalb  des  Betriebes 
wird  in  erster  Linie  doch  an  solche  den 
Eltern  gegenüber  gedacht  w^erden  können, 
wie  Wohnen  im  elterlichen  Hause,  gemein- 
same Mittags-  und  Abendkost,  Verwendung 
des  Lohnes,  Besuch  von  Wirtschaften 
u.  dgl.  m.  Dui-ch  derartige  Anordnungen 
kann  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit 
von  Eltern  und  Kindern  wieder  mehr  er- 
w^eckt  und  entwickelt  werden.  Was  end- 
lieh  die  Frage  der  Lohnzahlung  anlangt,  so 
haben  sich  gerade  auf  diesem  Gebiete 
schwere  Missstände  gezeigt.  Wenn  zur  Zeit 
der  gröösten  Ausdehnung  der  Kinderarbeit 
gewissenlose  Eltern  ihre  Kinder  gleichsam 
aiLsbeuteten  und  sie  als  Geld  verdienende 
Maschinen  ansehen,  so  änderte  sich  das  auf 
die  Dauer,  indem  die  Kinder  ihre  Stellung 
im  Hause  zu  begreifen  anfingen.  Sie  hiel- 
ten es  nicht  für  nötig,  den  ganzen  ihnen 
atisgezahlten  Lolin  den  Eltern  auszuliefern, 
sondern  fälschten  die  Lohnzettel,  behielten 
einen  Teil  zurück  und  vergeudeten  dieses 
Geld  in  Gesellschaft  ihrer  leichtsinnigen 
Kameraden.  Die  Eltern  aber  waren  viel- 
fach nicht  in  der  Lage,  solches  Vorgehen 
zu  kontrollieren,  weil  manche  Fabriken  keine 
Lohnzettel  ausgaben,  andererseits  sie  die 
gefälschten  Zettel  nicht  als  solche  zu  er- 
kennen vermochten.  Es  liegt  nahe  genug, 
wie  sehr  damit  der  Ausbreitung  der  Ver- 
gnügungssucht, des  Luxus,  des  Lasters  Vor- 
schub geleistet  wird.  Somit  ist  es  durch- 
aus im  Interesse  der  Arbeitgeber,  wenn  sie 
einst  zuverlässige,  ordentliche,  unverdorbene 
Arbeiter  liaben  wollen,  die  Erziehung  der 
Ton  ihnen  beschäftigten  jugendlichen  Per- 
sonen mit  zu  überwachen.  Durch  allge- 
ineine  Einführung  der  erwähnten  Massregel 
"wird  sie  erleichtert.  Die  wenigen  Fälle, 
"WO  hartherzige  und  habsüchtige  Eltern  die 
"von  ihren  Kindern  verdienten  Summen  le- 
diglich für  sich  verbrauchen  und  jene 
schlecht  halten  Avürden,  können  füglich 
ausser  Ansatz  gelassen  werden.  Die  Haupt- 
sache bleibt,  dass  der  jugendliche  Arbeiter 
nicht  zu  früh  der  elterlichen  Autorität  ent- 
zogen  wird,   wozu   in   dem  Masse,  als   er 


grössei'e  Beträge  verdient,  um  so  mehr 
Neigimg  vorhanden  zu  sein  pflegt.  Wäh- 
rend in  den  höheren  Schichten  der  Gesell- 
schaft der  Knabe  oder  junge  Maim,  solange 
er  das  G}Tiinasium  besucht,  ganz  von  den 
Eltern  abliängi^  ist,  tritt  bei  den  Arbeiter- 
klassen die  wirtschaftliche  Selbständigkeit 
der  jungen  Leute  früh  ein.  Sie  untergräbt 
die  elterliche  Autorität  und  birgt  die  Gefahr, 
dass  jede  andere  Autorität  gleichfalls  ange- 
zweifelt werde.  Nach  allen  diesen  Rich- 
tungen scheinen  die  neuen  Bestimmungen 
ausersehen,  Wandel  schaffen  zu  können,  und 
es  wäre  nur  zu  wünschen,  dass  sie,  obwohl 
keine  Zwangsverfügungen,  recht  oft  zur  An- 
wendung kommen  möchten. 

Litterat ar :  Die  LUteratur  ist  bei  dem  Artikel  Ar- 
heiterachuizgesettgehung  a.  a.  O.  bereite 
eingehend  angegeben.  Die  historischen  Angaben 
för  die  allere  Zeit  stammen  aus  den  gewerbege- 
schichtlichen  Arbeiten^  von  Fa gniez ,  Fleming , 
Stahl,  Stockbauer  und  Wehrmann;  für 
die  neuere  Zeit  vntrden  die  im  Archiv  ßir  soziale 
Gesetzgebung  enthaltenen  Untersuchungen  von 
Herkner,  Jay,  Naef,  Pringsheim  be- 
nutzt. Die  Statistik  lieferten  die  amtlichen  Mit- 
teilungen der  FatfHkavf Sichtsbeamten,  die  Statistik 
des  DeuUchen  Reichs  £20,  N,  F,  WS,  S.  3,  lll 
S,  154g.,  119  S.  77  ff.,  und  andere  amtliche  Ver- 
öffentlichungen, namentlich  F.  W,  H.  Zlninier~ 
mann  in  Beiträge  zur  Statistik  des  IferzogtuwM 
Braimschweig,  I4,  S.  öl,  sowie  Friedr.  Schäfer 
in  Beiträge  zur  Statistik  der  Stadt  Karlsralie, 
No.  7,  1899.  Sehr  viel  Materied  bietet  die  inSozicUe 
Praxis u  in  jedem  Jahrgang.  Von  besonderer 
Bedeutung  für  das  vorliegende  Thema  sind:  OtMt, 
Cohn,  Uebcr  internationaJe  Fahrikgesetzgebung, 
in  Jahrb.  f.  Nat.  v.  Stat.,  X.  F.  3,  S.  313  f,  — 
Frtedländet;  II  lavoro  deüe  donne  e  dei 
fanciuUi,  Rom  1886,  deutsch  von  E.  Fleischer, 
1887.  —  »Jules  Simon,  L'ouvrier  de  huit  aM, 
Paris  1867.  —  Conference  Internationale 
ctjncemant  le  reglement  du  travail  aux  etablisse- 
ments  industriels  et  dans  les  uHnes,  Leipzig 
1890.  —  K.  Agahd,  Die  Erwerbsthätigkeit 
schulpflichtiger  Kinder,  in  Arch.  f.  soz.  Gesetzg., 
12,  S.  373,  sowie  in  der  Sammlung  pädago- 
gischer Vorträge,  Heß  9  u.  10,  1897.  —  Frank 
Hind,  The  cry  of  the  children,  1898.  — 
Miiy ,  Das  Verhältnis  des  Verbrauches  der 
Massen  etc.,  Jahrb.  für  Oesetzg.,  23,  S.  S77.  — 
Arth.  Dodd,  Die  Wirkung  der  Schutzbestim- 
mungen für  die  jugendlichen  und  weiblichen  Fabrik- 
arbeiter, 1898;  —  Für  die  Geschichte  der  preus- 
sisch-deutschen  KinderschtUzgeselzgebung  sind 
massgebend:  Thun,  Beiträge  zur  Geschichte  der 
Gesetzgebung  etc.  der  Fabrikarbeiter  in  Preussen, 
in  Zeitschr.  d.  königl.  preuss,  stat,  Bureaus, 
1877,  und  neuerdings  K.  Anton,  Geschichte 
der  preußischen  Fabrikgesetzgebung,  Leipzig  1891. 
—  üeber  die  sächsischen  Verhältnisse  vgl.  M* 
Frhr,  v.  Weich,  Das  Fabrikschulwesen  imi 
Königreich  Sachsen,  in  Jahrb.  für  Gesetzg.,  23, 
S.  87 ff. 

WilK  Stied4Jt, 


1418 


Juraschek 


Jnraschek,  Franz  von, 

wurde,  zu  Arad  in  Ungarn  am  25.  Februar  1849 
geboren.  Derselbe  studierte  an  den  Gymnasien 
m  Budapest,  Wien,  Erakau  und  Graz,  sodann 
an  der  philosophischen  resp.  juristischen  Fa- 
kultät der  Universität  in  Graz  (1868—72), 
ferner  an  den  Universitäten  in  Breslau  (1872 
bis  1873)  und  Göttingen  (1873—74)  und  er- 
warb 1872  den  philosophischen,  1873  den  juris- 
tischen Doktorhut  in  Graz.  Ebenda  erhielt  er 
1875  die  venia  docendi  für  allgemeines  und 
österreichisches  Staatsrecht,  1880  die  für  Sta- 
tistik. 1881  wurde  er  als  a.  o.  Professor  für 
Statistik  und  Staatsrecht  an  die  Universität  in 
Czemowitz,  1883  in  derselben  Eigenschaft  an 
jene  in  Innsbruck  berufen.  Hier  erhielt  er  die 
ordentliche  Professur  im  Oktober  1885.  Zwei 
Jahre  später  wurde  er  unter  Beibehaltung  von 
Titel  und  Charakter  eines  Universitätsprofessors 
als  Re^erungsrat,  seit  1895  als  Hofrat  der  k.  k. 
statistischen  Centralkommission  in  Wien  ange- 
stellt und  nimmt  als  solcher  sowie  als  Sekretär 
und  a.  0.  Mitglied  der  Kommission  hervorragen- 
den Anteil  an  den  Arbeiten  auf  dem  Gebiete 
der  administrativen  Statistik  Oesterreichs.  Als 
Mitglied  des  internationalen  stÄtistischen  In- 
stitutes seit  1888  sowie  als  Ehrenmitglied  der 
Royal  Statistical  Society  seit  1894  und  anderer 
statistischer  und  staatswissenschaftlicher  Ver- 
einigungen hat  er  vielfach  mit  Erfolg  an  der 
Ausgestaltung  der  Gleichmässi^keit  der  sta- 
tistischen Erhebungen  der  verschiedenen  Länder 
mitgewirkt.  Gegenwärtig  tra^t  derselbe  auch 
an  der  Wiener  Universität  Statistik  und  Staats- 
recht, an  der  k.  u.  k.  Kriegsschule  in  Wien 
Staats-  und  Volksrecht  vor. 

Er  veröffentlichte  an  Staats  wissenschaft- 
lichen Schriften 

a)  in  Buchform:  Personal-  und  Realunion, 
Berlin  1878.  —  Beiträge  zur  Darstellung  des 
Rechtes  der  Landtage  und  ihrer  Mitglieder. 
Wien  1879.  (Selbstverlag.)  —  Die  Volkszählung 
von  1880  in  Oesterreich-Ungarn.  Im  Anhange 
die  Zählung  von  1879  in  Bosnien  und  der  Her- 
zegowina. Czemowitz  1882.  —  Hübners  geo- 
graphisch-statistische Tabellen  aller  Länder  der 
Erde,  herausgegeben  seit  1884  jährlich,  Frank- 
furt a.  M.  —  Uebersichten  der  Weltwirtschaft. 
Jahr^.  1885—89,  herausgegeben  seit  1890,  Berlin. 
—  Die  Ortsgemeinde  und  die  Ortschaft  in  der 
Wählerklasse  der  Städte,  Märkte  u.  Industrial- 
orte  im  österr.  Wahlrechte.  Wien  1895.  —  Die 
üsterr.  Städte  in  der  Reichsratswahlordnung. 
Wien  1896. 

b)  In  Zeitschriften :  In  Grünhuts  Zeitschrift 
für  privates  und  öffentliches  Recht:  Die  recht- 
liche Natur  der  Delegationen,  Jahrg.  1878,  S.  270 
bis  *283.  —  Im  Jahrb.  f.  Ges.  u.  Verw. :  Die  öster- 
reichischen Städteordnungen,  II.  Jahrg.  1878, 
S.  97—139.  —  In  Hartmanus  Zeitschrift  (Ber- 
lin): Die  Entwickelungsgeschichte  der  Begriffe 
Personal-  und  Realunion,  IV.  Bd.,  1878,  S.  105— 
124.  —  In  der  Österreichischen  Zeitschrift  für 
Verwaltung :  Ueber  collegia  publica  an  unseren 
Universitäten  Jahrg.  1877.  —  Oesterr.  Landes- 
ordnungen n.  Landtagswahlordnungen,  Jahrg. 
1879.  —  Zu  §  B  der  Reichsratswahlordnung  Jahrg. 
1896.  —  In  derBukowiuaer  Rundschau :  Ergebnisse 
der  Zählung  in  den  Occupationsl ändern  I.  Jahrg. 
1892.  —  Die  Volkszählungen  L  II.  IIL    1.  Jahrg. 


1882.  —  In  der  volkswirtschaftlichen  Wochen- 
schrift: Das  Gewicht  eines  neuen  Goldguldens. 
Wien  1892.  —  In  der  Zeitschr.  f.  Staatsw. :  Das 
Wahlrecht  der  Staatsdiener,  1884,  Tl.  Heft.  - 
In  Jahrb.  f.  Ges.  u-.  Verw.:  Die  Reichspartei, 
Jahrg.  1882.  —  In  der  statistischen  Monats- 
schrift: Besuch  der  österreichischen  Universi- 
täten in   den  Jahren  1861—1875,  Jahrjg.  1876. 

—  Die  Temperatur  Schwankungen  und  die  Sterb- 
lichkeit, 1882.  —  Die  aktive  Armee  und  die 
Bevölkerung  Oesterreich-Ungams,  1882.  —  Die 
unehelichen  Geburten  in  Oesterreich  seit  1830, 

1883.  —  Die  mittlere  Bevölkerungsziffer  in 
Oesterreich  1830—1881,  1883.  —  Der  Einfluss 
der  Ernten  und  Fruchtpreise  auf  die  Volksbe- 
wegung in  Oesterreich  1872—1881,  ISaS.  —  Die 
Ernten  und  die  Fruchtpreise  in  Oesterreich 
1872—1881,  1883.  —  Die  Wirksamkeit  der  sU- 
tistischen  Centralkommission  1863—1888,   1888. 

—  Leopold  V.  Neumann  (biographische  Skizze), 
1889.  —  Baumwollproduktion,  -handel  und  -In- 
dustrie, 1890.  —  Australischer  Census  von  1890, 
1891.  —  VII.  internationaler  Kongress  für 
Hygieine  und  Demographie  in  London  1891, 
1891.  —  Hermann  Ignaz  Bidermann  (biograph. 
Skizze),  1892.  —  Eine  Statist.  Centralkommis- 
sion für  die  Niederlande.  1893.  —  Sterblichkeit 
in  Wien  im  Jahre  1891,  1893.  —  Zur  Stetif^tik 
der  Sterblichkeit  der  arbeitenden  Klassen,  1893. 

—  Der  VIII.  internationale  Kongress  f.  Hygieine 
und  Demographie  in  London  1^4,  1894.  —  Die 
Einwohnerzahl  Wiens  Ende  1894,  1895.  —  Erste 
allgemeine  Volkszählung  in  Russlaud,  1896.  — 
Das  Wachstum  des  Territoriums,  der  Bevölke- 
rung und  des  Verkehrs  in  Wien  1887 — 1894, 
1896.  —  Konferenz  der  Sekretäre  der  Csterr. 
Handels-  und  Gewerbekammem,  1898.  —  Der 
IX.  internationale  Kongress  für  Hygieine  und 
Demographie  in  Madrid  1898,  1898.  —  Zur  Be- 
völkerungsstatistik und  Politik  1899.  —  Dr. 
Vincenz  Göhlert  (ein  Nekrolog),  1899.  —  Der  aus- 
wärtige Warenverkehr  Bosniens  und  derHerzesro- 
wina  1898,  1899.  —  In  Kettelers  Zeitschrift  für 
wissenschaftliche  Geographie :  Zur  Volkszählung 
in  Oesterreich-Ungarn,  1881.  —  In  den  Ver- 
öffentlichungen des  IV.  demographischen  Kon- 
gresses :  Der  Einfluss  der  Berufsverhältnisse  auf 
Erkrankung  und  Sterblichkeit.  Heft  23.  Wien 
1887.  —  In  dem  Bulletin  des  internationalen 
Statist.  Institutes:  Bericht  über  die  Verhand- 
lungen des  VII.  internationalen  Kongresses  für 
Hygieine  und  Demographie  über  Arbeiterfragen. 
VI.  Bd.  S.  101  ff.  —  Bericht  über  die  Fort- 
schritte d.  Statistik  in  Oesterreich  seit  1891 
VIII.  Bd.  S.  120  ff.  —  In  Scobels  geographischem 
Handbuch  zu  Andr^es  Handatlas:  Die  Abschnitte 
Weltproduktion  und  Welthandel  III.  Auflage 
S.  868—911.  —  In  Mayrs  allgem.  statistischen 
Archiv:  Die  neuzeitliche  Entwickelung  der 
volkswirtschaftlichen  Verhältnisse  in  Dänemark 
Jahr^.  1894  S.  540—581.  —  Die  Bevölkerung 
Bosniens  und  der  Herzegowina  nach  der  Zählung 
des  Jahres  1895.  Jahrg.  1895  S.  545  ff.  —  Der 
auswärtige  Handel  der  französischen  Kolonieen 
1882-1891.  Jahrg.  1895  S.  551  ff.  —  Auswär- 
tiger Handel.  Internationale  statist,  Ueber- 
sichten.   Jahrg.  1896  S.  697—716.  — 

In  den  Berichten  des  internationalen  land- 
wirtschaftlichen Kongres.ses  in  Budapest  1896: 
Der  Preisniedergang  der  Cerealien,  Hauptbericht 
S.  372-404  und  Compte  Rendus  S.  388—392. 


Juraschek — Jnsti 


1419 


—  In  diesem  „Handwörterbuch  der  Staatswissen- 
schaften'' die  Artt. :  Aktiengesellschaften  in 
Oesterreich,  Ungarn,  Grossbritannien  und  Irland, 
Indien,  Italien,  Frankreich,  Kussland,  Belgien 
und  in  den  Niederlanden.  —  Banmwollindnstrie 
(Geschichte  und  Statistik).  —  Bergbaustatistik. 

—  Statistik  des  Eisens.  —  Statistik  des  Ge- 
treidehandels. —  Seide  und  .Seidenindustrie.  — 
Wolle  und  Wollenindustrie,  Statistik. 

Ausserdem  sind  in  mehreren  Zeitschriften, 
vor  allem  in  der  „Statistischen  Monatsschrift-*, 
viele  und  oft  sehr  ausführliche  Bezensionen 
Jurascheks  zum  Abdruck  gebracht. 

lled. 


Justi,  Johann  Heinrich  Gottlob  Ton, 

geboren  gegen  1702  zu  Brücken  in  Preussen, 
j-eis  Sangerhausen,  studierte  in  Wittenberg 
und  Jena  Jura  und  Cameralia,  wurde  relegiert, 
trat  in  preussische  Kriegsdienste,  geriet  während 
des  österreichischen  £rbfolgekrieges  in  öster- 
reichische Gefan&fenschaft,  flüchtete  nach  Leipzig, 
wo  er  sich  auf  das  Studium  der  Metallurgik 
legte,  folgte  1750  einem  Rufe  als  Professor  der 
Kameralistik  und  deutschen  Beredsamkeit  an 
das  neu  errichtete  Theresianum  in  Wien  und 
ging  1755  mit  dem  Charakter  eines  Bergrats 
nach  Göttingen,  wo  er  Vorlesungen  über  Staats- 
ökonomie und  Naturwissenschaft  hielt.  1762 
berief  ihn  Friedrich  II.  mit  dem  Charakter 
eines  königl.  preussischen  Berghanptmanns  als 
Oberaufseher  der  fiskalischen  Bergwerke  Preus- 
sens  nach  Berlin.  1768  unter  der  unbewiesen 
gebliebenen  Anschuldigung,  staatliche  Gelder 
unterschlagen  zu  haben,  abgesetzt,  starb  er  am 
20.  VII.  1771  als  Gefangener  auf  der  Festung 
Küstrin. 

Justi  bietet  die  Erscheinung  eines  Eklektikers 
dar,  der  sich  von  den  Einwirkungen  der  ab- 
strakten GlückseUgkeitsschule  Wolns  frühzeitig 
emancipiert  und  vom  Merkantilismus,  der  eigent- 
lichen Basis  seiner  wirtschaftspolitischen  Theo- 
rieen  Über  Handelsbilanz,  Populationistik,  Geld 
und  Geldcirkulation,  Streifzüge  zu  den  Theo- 
remen der  Physiokraten  unternimmt,  stets  aber 
wieder  zum  Merkantilismus  zurückkehrt,  von 
dessen  handelspolitischen  Schlagworten  er  u.  a. 
nach  Melons  „le  commerce  est  l'^change  du 
superflu  pour  le  necessaire"  usurpiert  hat :  „Die 
Ausfuhr  der  überflüssigen  Güter  ist  der  Grund 
des  auswärtigen  Handels."  Die  Geschichte  der 
Staatswissenschaft  muss  in  Justi  den  ersten 
deutschen  Systematiker  anerkennen,  wenn  auch 
der  Gründlichkeit  und  Tiefe  seines  Nachfolgers 
auf  diesem  Gebiete,  Sonnenfels,  der  Vorrang 
gebührt.  Während  er  dem  Studium  der  Ency- 
klopädisten  das  in  seinen  späteren  Schriften 
vorwiegende  Hervortreten  physiokratischer  An- 
schauungen verdankt,  zeigt  er  sich  als  theo- 
retischer Politiker  dem  Einflüsse  Montesquieus 
unterworfen. 

Justi  veröffentlichte  von  Staats  wissenschaft- 
lichen Schriften  in  Buchform:  Von  der  Aus- 
tretung des  Eeichslehns  im  Frieden  mit  aus- 
wärtigen Mächten,  Wien  1751.  ■—  Gutachten 
von  dem  vernünftigen  Zusammenhange  und 
praktischen  Vortrage  aller  Ökonomischen  und 
Kameral Wissenschaften   etc.,   Leipzig    1754.   — 


Neue  Wahrheiten  zum  Vorteil  der  Naturkunde 
und  des  gesellschaftlichen  Lebens  der  Menschen^ 
12  Stücke  in  2  Bdn.,  ebd.  1754—58.  (Ent- 
hält u.  a.:  Betrachtung  über  die  genuesischen 
Lotterieen.  —  Vorschlag  von  Verbindung  der 
Feuerasseknranzassocietäten  mit  einer  Leihe- 
banko  auf  die  Häuser.)  —  Staatswirtschaft,  oder 
systematische  Abhandlung  aller  ökonomischen 
und  Kameralwissensch&ften,  die  zur  Regierung 
eines  Landes  erfordert  werden^^  ebd.  1755; 
dasselbe,  2.  Aufl.,  1758.  (Das  Werk  ist  der 
Kaiserin  Maria  Theresia  gewidmet;  es  ist  noch 
ganz  im  merkantilistischen  Geiste  geschrieben, 
welcher  die  Bevölkerungszunahme  mit  dem 
Wachsen  des  Nationalwomstandes  identifiziert; 
nur  überbieten  Justis  Ausführungen,  wonach 
selbst  übermässige  Volksvennehrung  ein  Ein- 
treten wirtschafuicher  Nachteile  ausschliesse, 
noch  die  von  Homeck,  Seckendorf  und  Gasser 
über  Populationistik  aufgestellten  Theoreme.  In 
seiner  Propaganda  für  lokale  Decentralisation 
der  Industrie,  des  Handels  und  der  Bevölkerung 
hat  er  in  Deutschland  keinen  Vorgänger,  wes- 
halb ihn  auch  L.  v.  Stein  nicht  mit  Unrecht 
den  „Vater  der  Verwaltungslehre"  nennt.)  — 
Göttingische  Polizeiamtsnachrichten  oder  ver- 
mischte Abbandlungen  zum  Vorteile  des  Nah- 
rungsstandes aus  allen  Teilen  der  ökonomischen 
Wissenschaften  vom  Monat  Juni  1755  bis  Juli 
1757,  Göttingen  1757.  —  Grundsätze  der  Polizei- 
wissenschaft in  einem  vernünftigen,  auf  den 
Endzweck  der  Polizei  gegründeten  Zusammen- 
hang, zum  Gebrauche  akademischer  Vorlesungen 
abgefasst,  ebd.  1756;  2.  Aufl.,  1759;  3.  Aufl., 
vermehrt  von  J.  Beckmann,  1782.  (.iuch  auf 
diesem  Gebiete  ging  Justi  bahnbrechend  in  der 
Systematisierung  vor.  Den  Bang  einer  Wissen- 
schaft hatte  man  dem  Polizeiwesen  bisher  kaum 
zuerkannt,  sondern  es  nur  als  Appeodix  der 
Kameral  Wissenschaft  betrachtet,  Justi  zog  aber 
die  Grenzen  der  Polizeigewalt  viel  zu  weit, 
indem  er  u.  a.  den  Geldumlauf  und  Öffentlichen 
Kredit  unter  Polizeiadministration  stellte.)  — 
Der  handelnde  Adel,  welchem  der  kriegensche 
Adel  entgegengesetzt  wird,  ebd.  1756.  —  Voll- 
ständige Abhandlung  von  den  Manufakturen 
und  Fabriken,  2  Bde.,  Kopenhagen  1758 — 61; 
dasselbe,  2.  Aufl.,  herausgegeben  von  J.  Beck- 
mann, Beriin  1780;  dasselbe,  3.  Aufl.,  1788. 
(Das  Werk  ist  dem  Grafen  Bernstorff  gewidmet, 
und  als  Hauptzweck  der  Fabriken  ist  der 
merkantilistische  Satz  in  den  Vordergrund  ge- 
stellt, dass  sie  die  Herstellung  aller  sachlichen 
Bedürfnisse  in  dem  Masse  zu  decken  hätten, 
dass  möglichst  wenig  Geld  für  vom  Auslande 
bezogene  Gebrauchsgegenstände  über  die  Grenzen 
zu  ^ehen  habe.)  —  Die  Chimäre  des  Gleich- 
gewichts von  Europa,  aus  den  wichtigsten 
Gründen  der  Staatsknnst  erwiesen  und  aus  den 
neuesten  Weltbegebenheiten  erläutert,  2  Teile, 
Altona  1758.  t-  Der  Grundriss  einer  guten 
Begierunc:,  Frankfurt  a.  M.  1759.  —  Die  Wir- 
kungen der  Folgen  der  wahren  und  falschen 
Staatskunst  in  der  Geschichte  des  Psammitichus, 
Königs  von  Egvpten  und  der  damaligen  Zeiten, 
2  Teile,  ebd.  1759—60.  —  Die  Natur  und  das 
Wesen  der  Staaten  als  die  Grund^vissenschaft 
der  Staatskunst,  der  Polizei  und  aller  Regieruugs- 
wissenschaften,  desgleichen  als  die  Quelle  aller 
Gesetze  abgehandelt,  Berlin  1760;  dasselbe, 
2.  Aufl.  mit  Anmerkungen  von  H.  G.  Scheide- 


1420 


Justi 


mantel,  Mietau  und  Leipzig  1771.  —  Abhand- 
lung von  der  Macht,  Glückseligkeit  und  Kredit 
eines  Staates,  Ulm  1760.  —  Oekonomische 
Schriften  über  die  wichtigsten  Gegenstände  der 
Stadt-  und  Landwirtschaft,  2  Bde.,  Berlin 
1760—61 ;  dasselbe,  neue  Titelausgabe,  1766—67. 

—  Die  Grundveste  zu  der  Macht  und  Glück- 
sei i&^keit  der  Staaten  oder  ausführliche  Vor- 
stellung der  gesamten  Polizeiwissenschaft,  2  Bde., 
Königsberg  und  Leipzig  1760—61.  (Dieses  Werk 
ist  nur  eine  Erweiterung  seiner  „Grundsätze 
der  Polizeiwissenschaft"  (s.  o.).  In  dem  Ab- 
schnitt „Manufakturen,  Fabriken  und  Korn- 
merzien"  warnt  Justi  vor  der  Kontrahierung 
von  Schulden  im  Auslande,  weil  der  Modus  der 
Zinsregulierung  ein  Abhängigkeitsyerhältnis  des 
zinszaMenden  von  dem  zinsemp&ngenden  Staate 
begründe.  Er  warnt  gleichfalls  davor,  den 
Banken  Depots  anzuvertrauen  und  will  Noten- 
emissionen nur  in  beschränktem  Masse  zulassen.) 

—  Abhandlung  von  der  Vollkommenheit  der 
Landwirtschaft  und  der  höchsten  Kultur  der 
Länder,  Ulm  1761.  —  Gesammelte  politische 
und  Finanzschriften  über  wichtige  Gegenstände 
der  Staatskunst,  Kriegswissenschaft  und  des 
Kameral-  und  Finanzwesens,  3  Teile,  Kopen- 
hagen 1761—64.  (Enthält  u.  a.:  Von  der  Finanz- 
verwaltun^  des  Postwesens,  Justi  bekämpft 
darin  den  Monopolzwang  der  Post.)  —  Abhand- 
lung von  den  Steuern  und  Abgaben,  Königs- 
berg 1762.  (Justi  will  die  Accise  durch  die 
Gewerbesteuer  ersetzt  haben.  Seine  Polemik 
gegen  die  Schrift  von  der  Liths  „Politische 
Betrachtungen  über  die  verschiedenen  Arten 
von  Steuern",  worin  dieser  die  Accise  vor  allen 
übrigen  Konsumtionssteuerformen  bevorzugt, 
imponiert  durch  die  lo^sche  Schärfe  der  Be- 
weisführung. Selbst  Lith  wurde  dadurch  be- 
kehrt und  die  neue  Auflage  seiner  Schrift  (Ulm 
1766)  enthält  das  Eingeständnis  seines  Irrtums.) 

—  Von  dem  Manufaktur-  und  Fabrikreglement, 
Berlin  1762.  —  La  chimöre  de  r^quilibre  du 
commerce  et  de  la  navigation,  Kopenhagen  1763. 
(Streitschrift  gegen  Maubert  und  dessen  „Irr- 
lehre" von  der  Handelsbilanz.)  —  System  des 
Finanzwesens  nach  vernünftigen,  aus  dem  End- 
zweck der  bürgerlichen  Gesellschaft  und  aus 
der   Natur   aller    Quellen    der    Einkünfte    des 


Staates  hergeleiteten  Grundsätzen  und  Regeln 
ausführlich  abgehandelt,  Halle  1766.  (Diese 
erste  wissenschaftliche  Systematisiemng^  des 
Finanzwesens  in  deutscher  Sprache  ist  Fried- 
rich dem  Grossen  gewidmet.)  — 

Justi  war  Herausgeber  des  Werkes :  Deutsche 
Memoires,  oder  Sammlung  verschiedener  An- 
merkun^^en,  die  Staatsklugheit  und  das  Krieg^s- 
wesen  betreffend,  3  Bde.,  Wien  1760.  —  Von 
der  technischen  Abteilung  der  Diderot-  und 
d'AIembertschen  Encyklopädie  „Description  des 
arts  et  metiers"  übersetzte  er  die  4  ersten  Bde. 
u.  d.  T.:  Schauplatz  der  Künste  und  Hand- 
werke etc.,  Berlin  1762—65. 


VergL  über  Justi:  (Madame)  D.  M.,  Precis 
histofique  sur  la  vie  de  Mr.  Justi  in  „Jonmal 
desSavants",  Paris  1777,  September.  —  Pütter, 
Akademische  Gelehrtengeschichte  von  der  Uni- 
versität Göttingen,  2  Bde.,  Göttingen  1765—88, 
Bd.  I,  S.  113,  Bd.  n,  S.  68.  —  Hock s  Lebens- 
beschreibung berühmter  Kameralisten,  Bd.  I, 
Heft  1  (einziges),  Nürnberg  1794.  —  (Salz- 
maun),  Denkwürdigkeiten  aus  dem  Leben  aus- 

fezeichneter  Deutscoen  des  18.  Jahrhunderts, 
chnepfenthal  1802,  S.  681flf.  —  Beckmann, 
Vorrat  kleiner  Anmerkungen,  3.  Sammlung, 
Göttingen  1806.  —  Er  seh  und  Grub  er,  Encv- 
klopädie,  IL  Serie,  Teü  30,  Leipzig  1853,  S.  1516. 

—  k  a  u  t  z ,  Theorie  und  Geschichte  der  National- 
ökonomik, Bd.  II,  Wien  1860,  S.  292/93.  — 
Röscher,  J.  H.  G.  Justi,  in  Arch.  für  säch- 
sische Geschichte,  Bd.  VI,  Leipzig  1867,  S.  76  ff. 

—  Derselbe MJesch.  der  Nat. ,  München  1874, 
S.  444 ff.  —  Walcker,  Schutzzölle,  laissez 
faire  und  Freihandel,  Leipzig  1880,  S.  568/69. 

—  Allgemeine  deutsche  Biographie,  Bd.  XIV. 

Leipzig  1881,  S.  747.  —  v.  Böhm-Bawerk, 

Kapital  und  Kapitalzins,  Bd.  I,  Innsbruck  1884, 

S.  47  und  67.  —  John,  Geschichte  der  Statistik, 

Bd.  I,  Stuttgart  1884^  S.  259.  —  G.  Deutsch, 

Job.    Gottl.    V.    Justi,    der   erste   Lehrer   der 

Kameralwissenschaft  in  Oesterreich,  in  Oesterr.- 

ungar.  Revue  (Wien),  Januar  1896.  —  Ingram. 

Justi,  in  Palgrave,  Dictionary,  vol.  II,  S.  499, 

London  1896. 

lAppert, 


Nachträge. 


Diehl,  Karl, 

geboren  27.  März  1864  in  Frankfurt  a.  M.,  stu- 
dierte in  Berlin,  Jena,  Halle  Rechts-  und  Staats- 
wissenschaften, promovierte  1888  in  Halle, 
arbeitete  während  des  Jahres  1889  in  Wien  und 
habilitierte  sich  Sommer  1890  in  Halle,  wurde 
Januar  1893  ausserordentlicher  Professor  der 
Staatswissenschaften  in  Halle,  folgte  Ostern 
1898  einem  Rufe  als  Ordinarius  nach  Rostock, 
Ostern  1899  einem  Rufe  zu  gleicher  Stellung 
nach  Königsberg  i.  Pr. 

Er  veröffentlichte  a)  in  Buchform :  P.  J.  Prou- 
dhon.  Seine  Lehre  und  sein  Leben.  3  Bände.  Jena 
1888  96.— Ueber  dasVerhältnis  von  Wert  und  Preis 
im  ökonomischen  System  von  Karl  Marx.  (Aus : 
Festschrift  zur  Feier  des  25  jährigen  Bestehens 
des  staatswissenschaftl.  Seminars  zu  Halle  a.  S.) 
Jena  1898.  b)  Artikel  in  diesem  Handwörter- 
buch :  Bodenbesitzreform,  Fichte,  Lassalle,  Marx 
(Litteratur),  Monis,  Proudhon,  Rodbertus,  Rous- 
seau, c)  La  den  Jahrbüchern  für  Nat.  u.  Stat.  : 
Wirtschaft  und  Recht.  (1897,)  —  Die  Grund- 
rententheorie im  ök.  System  von  Karl  Marx. 
(1899.)  —  Ueber  die  Frage  der  Einführung  be- 
weglicher Getreidezölle  beim  Ablauf  der  be- 
stehenden Handelsverträge.  (1900.)  d)  In  den 
Preuss.  Jahrbüchern:  Sozialismus  und  so- 
ziale Bewegung  im  19.  Jahrhundert.    (1897.) 

Red. 


Friedberg,  Robert, 

geb.  am  28,  VI.  1851  zu  Berlin,  studierte  1871— 
74  in  Heidelberg,  Leipzig  und  Berlin  Rechte 
und  Staatswissenschaften.  Er  erwarb  1875  an 
der  Universität  Leipzig  die  philosophische 
Doktorwürde  und  g'm^  darauf  nach  Paris,  wo 
er  die  Vorlesungen  Michel  Chevaliers  und  Le- 
vasseurs  hörte.  Nach  einem  mehrmonatlichen 
Aufenthalte  in  England  kehrte  er  nach  Deutsch- 
land zurück  und  hess  sich  als  Privatdozent  der 
Nationalökonomie  in  Leipzig  nieder.    1884  sie- 


delte er  nach  Halle  über  und  übernahm  dort  im 
folfi^enden  Jahre  die  neubegründete  ausserordent- 
liche Professur  für  Staats  Wissenschaften.  1894 
wurde  er  zum  ordentlichen  Professor  ernannt. 
Gleichzeitig  war  er  auch  parlamentarisch  thätig. 
Im  Jahre  1886  wählte  ihn  der  Wahlbezirk 
Halle-Saalkreis  zum  Mitgliede  des  Preussischen 
Abgeordnetenhauses,  wo  er  sich  der  national- 
liberalen Partei  anschloss.  Seitdem  hat  Fried- 
berg diesen  Wahlkreis  ununterbrochen  vertreten. 
1893 — 98  war  er  zugleich  Mitglied  des  Reichs- 
tages für  den  Wahlkreis  Anhalt  II. 

Er  veröffentlichte  a)  in  Buchform:  Die 
Börsensteuer.  Eine  finanzwissenschaftliche  Stu- 
die, Berlin  1875.  —  Die  Besteuerung  der  Ge- 
meinden. Finanz  wissenschaftliche  Erörterungen, 
Berlin  1877,  —  Vorschläge  zur  technischen 
Durchführung  einer  prozentualen  Börsensteuer, 
Jena  1882. 

b)  In  den  Jahrb.  f.  Nät,  u.  Stat.:  Zur 
Theorie  der  Stempelsteuern.  (1878.)  —  Die 
italienische  Mahlsteuer.  (1884.)  —  Das  Reichs- 
börsensteuergesetz,  (1884.)  —  Zur  Reform  der 
Gemeindebesteuerung  in  Preussen.  (1893.)  — 
Im  Deutschen  Wochenblatt:  Moderne  Staatsro- 
mane. (1891.)  —  Zahlreiche  Rezensionen  im 
Litterarischen  Centralblatt,  in  den  Jahrb.  f.  Nat. 
u.  Stat.  und  in  der  Tübinger  Zeitschrift. 

Red, 


Zur  Litteratur  des  Art. Gewer k vereine 
!  in  Frankreich  (oben  S.  694)  ist  noch  nach- 
zutragen: Circulairs  du  Mus6e  Social, 
1897  (Serie  A)  Nr.  15  und  16;  1897  (Serie  B) 
Nr.  15;  1898  (Serie  A)  Nr.  21  ff.;  1900  Nr.  3; 
und  zu  dem  Ministire  du  Commerce  et 
de  r Industrie,  dass  seit  1899  jedes  Jahr 
ein  Band  davon  erscheint. 

Zur  Litteratur  des  Art.  Gewerkvereine 
in  Belgien  (oben  S.  699):  L.  Varlez,  Les 
syndicats  en  Belgique  et  la  loi  du  31  Mars  1898 
(Questions  pratiques  de  Legislation  ouvriere. 
Fevrier  1900  S.  52  ff.).