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I
■J
Handwörterbuch
I r ■■' Ji-t
Staatswissenschaften.
Herausgegeben
Dr. J. Conrad, | Dr. W. Lexis,
Profeasor der StMtsirUMiiicb>ft«ii in Halles. S. I| PiofeBwir der StaaUwuBBiuoLatl«n In Oöltlngen.
Dr. L. Bister, i Dr. Bdg. Loeiiiug,
Gefa.BesieronKnBt a. vortraReDderB&t in Berlin. ' ProfeBeor der Recht« In Hnlle a. S.
Zweite, gänzlich uiiiyearbeitete Aaflage.
Vierter Band. OaiiHni— v. Justi.
Jena,
Verlag von Gustav Fischer.
1900.
Inhaltsverzeichnis
des 4. Bandes des Handwörterbuchs — Zweite Auflage.
G.
Seite
1
2
9
Von Dr. Lippert, Bibliothekar des
Kgl. preiiss. stat. Bureaus, Berlin 4
5
5
Galiani, Fernando
Ganilh, Charles
Garnier, Joseph Clement
Garnier, Germain
Gasser, Simon Peter
Garve, Christian
Gebäudesteuer (inkl. Thür- und Fenstei-steuer). Von Dr. K, Th. Eheberg, Prof.
an der Univ. Erlangen 6
Gebühren. Von Dr. Max von Heckel, Pmf. an der Akademie zu Münster (W.) 19
Geburtenstatistik. Von Prhr. von Fircks, Geh. Reg.-Kat und Mitglied des Kgl.
preuss. stat. Bureaus, Berlin 34
Gefängnisarbeit. Von Dr. Erohne, Geh. Reg.-Rat inid vertrag. Rat im Ministe-
rium des Innern, Berlin 38
Geheimmittelwesen. Von Dr. 0. Rahts, Geh. Reg.-Rat und Mitglied des Reichs-
gesundheitsamtes, Berlin 54
Gehöferschaften. Von Dr. K. Lamprecht, Prof. an der Tniv. Leipzig .... 59
Geisteskranke s. Irrengesetzgebung und Irrenwesen ; 00
Geitzkofler von Gailenbach und Hannsheim, Zacharias. Von Dr. Lippert,
Bibliothekar des Kgl. preuss. stat. Bureaus, Berlin 60
Geld. Von Dr. Carl Menger, Pref. an der Univ. Wien 60
Gemeindebesitz, i-nssischer s. Mir 106
(lemeindefinanzen. Von Dr. K. Th. Eheberg, Pref. an der Univ. Erlangen 106
Gemeinheiten s. Gemeinheitsteilung 145
Gemeinheitsteilnng 145
I. Allgemeines. 1 Von Dr. Friedrich Grossmann, Reg.-
n. Speolelle Gesetzgebung. ) Assessor, Berlin 151
Gemeinsinn. Von Dr. B. Heitz, Prof., Hohenheim 162
Gemein Wirtschaft. Von Dr. G. Gross, Dozent an der Univ. Wien 165
Gemengelage s. Zusammenlegung der Grundstücke 169
Genersdhufenschoss s. Hufenschoss 169
Genossenschaft Von Dr. G. Gross, Dozent an der Univ. Wien 169
Genovesi, Antonio | 173
Gentz, Friedrich von [ Von Dr. Lippert, Bibliothekar dos Kgl. 174
George, Henry | i)reuss. stat. Bureaus, BorHn . . . 175
G^rando, Joseph Marie I 176
Geschäftssteuer s. Börseusteuer 177
Geschlechtsverhältnis der Geborenen und der Gestorbenen. Von Dr. W. Lexis,
Geh. Reg.-Rat und Pref. an der Univ. Göttingen 177
VI Uebersicht
Seite
Gesellenverbände 182
I. Die Q^sellenverbände in |
n. Dl?^seS^?erbknde- in P"" ""'■ ^"^^ Sohoenlaok. Leipzig l^^
Frankreich ) 194
Gesellenvereine (katholische). Von Dr. Andreas BruU, Pfänder in Godesberg-
Plittersdorf 199
GeseUschaft nnd Gesellschaftswissenschaft Von Dr. E. Gothein, Prof. an
der üniv. Bonn 201
Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Von Dr. Eduard Rosenthal, Prof.
an der Univ. Jena 21G
GeseUschaftsvertrag (nacli bfirgerlichom Igelit). Von Dr. Victor Ehrenberg,
Prof. an der Univ. Göttingen 224
Gesetz (im gesellschaftlichen und statistischen Sinne). Von Dr. W. Lexis, Geh.
Reg.-Rat und Prof. an der Univ. Göttingen 234
Gesindeverhältnis. Von Dr. von Brünneok, Prof. an der Univ. Halle .... 241
Gestutwesen. Von Dr. Thiel, Wirkl. Geh. Oberreg.-Rat nnd Ministerialdirektor
im Ministerium für Landwirtschaft etc., Berlin 243
Gesundheitspflege, öffentliche. Von Dr. Karl Flesoh, Stadtrat in Frankfurt a. M.,
und Prof. Dr. M. Flesoh in Frankfurt a, M 246
Getränkesteuern. Von Dr. K. Th. Eheberg, Prof. an der Univ. Erlangen . . 269
Getreidehandel 275
I. Die ältere Getreidehandelspolitik und Allge-
meines. Von Dr. W. Lexis, Geh. Reg.-Rat imd Prof. an der
Univ. Göttingen 276
IL Technik und gegenwärtige Gestaltung des Qe-
treidehandels 283
A. Getreidehandel in Deutschland. Von Dr. K. Wieden-
feld, Assessor, Berlin 283
B. Getreidehandel in den Vereinigten Staaten. Von Dr.
M. Sering, Prof. an der Univ. Berlin 293
C. Getreidehandel in Russland. Von Dr. Gregor JoUos,
BerUn 297
m. Statistik des Getreidehandels in der neuesten
Zeit. Von Dr. von Juraschek, Hof rat und Prof., Wien. . . 304
Getreidepreise. Von Dr. J. Conrad, Geh. Reg.-Rat und Pi-of. an der Univ. Halle 320
Getreideproduktion. Nach Dr. A. Wirminghaus, Syndikus der Handelskammer
Köln, von Dr. I^aul Kollmann, Geh. Reg.-Rat und Vorstand des Grossh. stat.
Biu^aus, Oldenburg 326
Getreidezölle. Von Dr. J. Conrad, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der Univ. Halle 333
Gewässer. Von Dr. Stoerk, Prof. an der Univ. Gi*(;ifswald 348
Gewerbe. Von Dr. Karl Bücher, Prof. an der Univ. Leipzig 360
Gewerbegerichte. Von Dr. Wilhelm Stieda, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der
[Tniv. Leipzig 393
Gewerbegesetzgebung 410
L Einleitung. Von Dr. Edgar Loening, Geh. .)ustiz-Rat und
Pix)f. an der Univ. HaUe 410
n. Die Gewerbegesetzgebung in den einzelnen
Staaten 412
I. Die Gewerbegesetzgebung in Deutschland. Von Dr.
Georg Meyer, weU. Geh. Hof rat und Prof. an der Univ.
Heidelberg 412
n. Die Gewerbegesetzgebung in Oesterreioh. Von Dr.
Frhr. von Call, Ministeriali-at im Justizministerium, Wien 440
m. Die G^werbegesetzgebung in Ungarn. Von Dr. Földes,
Prof. an der Univ. Buchapest 458
IV. Die Gtowerbegesetzgebung in Frankreich. Von Dr.
Mataja, Ministerialrat, Wien 461
V. Die Gewerbegesetzgebung in Grossbritannien. Von Dr.
Stephan Bauer, Prof. an der Univ. Basel 468
VI. Die G^werbegesetzgebung in Italien. Von Dr. Carlo
F. Ferraris, Prof. an der Univ. Padua 479
üebersicht Vll
Seite
VII. Die GewerbegesetEgebung in der Schweiz. Yon Dr.
J. Schollenberger, Prof. an der Univ. Zürich . . . 482
Vm. Die Gewerbegesetzgebung in Skandinavien (Im 19.
Jahrhundert). Von Hugo Blomberg, Prof. an der üniv.
Upsala 486
IX. Die Gewerbegesetzgebnng in Bussland. Yon Otto
MueUer, Riga 490
Uewcrbeinspektion. Von G. Bvert, Regieningsrat im Kgl. preuss. stat Bureau,
Berlin 494
GewerbekamiuerD. Von Dr. Thilo Hampke, Rat bei der Gewerbekammer Hamburg 499
Gewerbestatistik (Gewerbeaufnahme). Von Dr. Paul Kollmann, Geh. Reg.-Rat
und Vorstand des Grossh. stat. Biu-eaus, Oldenburg 510
Gewerbesteuer. Von Wilhelm Burkhard, Kgl. Ministerialrat im Staatsministe-
rimn der Finanzen und Kronanwalt, München 535
Gewerbe vereine. Von B. Berghausen, Ingenieur, Vorstand des Verbandes
deutscher Gewerbevereine, Köln 558
Gewerbliche Anlagen. Von W. Bommel, weil. Senatspräsident am Oberver-
waltungsgericht, Berlin 574
Gewerblicher Unterricht Von Dr. Carl Boscher, Geh. Reg.-Rat und vertrag. Rat
im Ministerium des Innern, Dresden 581
Gewerkschaft s. Bergbau und Gewerkvereine . 611
Gewerkvereine 611
I. Die Gewerkvereine im allgemeinen (dogmatisch, that-
sächlich und kritisch). Von Dr. Lujo Brentano, Geh. Hofrat und
Prof. an der üniv. München 611
H. Die Gewerkvereine in den einzelnen Staaten . . 623
I. Die G^werkvereine in England. Von Dr. Lujo Bren-
tano, Geh. Hofrat und Prof. an der üniv. München . 623
n. Die G^werkvereine in Deutschland. Von W. Kule-
mann, Landgerichtsrat, Braunschweig 644
m. Die Gewerkvereine in Oesterreioh. Von Dr. H. Herkner,
Prof. an der üniv. Zürich 677
IV. Die Gewerkvereine in Frankreich. Von Dr. Emest
Mahaim, Prof. an der üniv. Lüttich 687
V. Die G^werkvereine in Belgien. Von Dr. Emest Mahaim,
Prof. an der üniv. Lüttich 694
VI. Die Gewerkvereine in der Schweiz. Von Dr. H. Herkner,
Prof. an der üniv. Zürich 699
Vn. Die G^werkvereine in anderen europäischen Ländern
imd in Australien. Von W. Kulemann, Landgerichts-
rat, Braunschweig 705
vm. Die G^werkvereine in den Vereinigten Staaten von
Amerika. Von Dr. A. Sartorius Frhr. von Walters-
hausen, Prof. an der üniv. Strassburg 710
Gewinubeteili^ng. A^on Dr. A. Wirminghaus, Syndikus der Handelskammer
Köhi 716
Gide, Charles. Von der Redaktion 724
Gifte s. Gewerbegesetzgebung 724
Gilbart, James William. Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. preuss. stat.
Biu-eaus, Berlin 724
Gilden. Von Dr. Richard Ehrenberg, Prof. an der üniv. Rostock . . . 725
Gioja, Melcbiorre. Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. preuss. stat. Biu^aus,
Berlin 727
Giroverkehr. Von Dr. R. Koch, Exe, Präsicient des Reichsbankdirektoriums,
Berlin 728
Glasversicherung (auch Spiegelglasvei*sicherung). Von Dr. A. Emminghaus,
Direktor der Lebensversicherungsbank für Deutschland, Gotha 745
Glücksspiel s. Spiel und Wette 747
Godin, Jean ßaptiste Andr^ \ Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. 747
Godwin, William / preuss. stat. Bureaus, Berlin . . . 747
VllI Uebersicht
Seite
Gold und Goldwährung. Von Dr. W. Lexis, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der
Univ. Göttinnen 748
Goldprämienpolitik s. Diskonto tmd Diskontopoiitik 764
Gold- und SUberwaren s. Feingehalt der Edelmetalle 764
Goschen, Georg Joachim. Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. preuss. stat.
Bureaus, Berlin 764
Gothein, Eberhard. Von der Redaktion 765
Gothenburger Ausschanksystem. Von Dr. Bredo Morgenstieme, Prof. an der
Univ. Christiania 765
Gonge, William M
Graslin, Jean Joseph Louis ....
Graswinckel, Dirk Janszoon ....
Graumann, Johann Philipp ....
Graunt, John
772
772
Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. i-o
' preuss. stat. Biu'eaus, Berlin . . . «ik
774
Grenznut^en. Von Dr. Prhr. von Wieser, Prof. an der Univ. Prag 775
Griechische Finanzen s. Finanzen, griechische 786
Grossbetrieb und Kleinbetrieb. Von Dr. W. Lexis, Geh. Reg.-Rat und Prof.
an der Univ. Göttingen 786
Grundbesitz 793
I. Bodenrechtsordnung (Die volkswirtschaftliche Principienfrage
der Rechtsordnung). Von Dr. Adolph Wagner, Geh. Reg.-Rat
und Prof. an der Univ. Berlin 793
n. Q^schiohte des Grundbesitzes. Von Dr. K. Lampreoht, Prof.
an der Univ. Leipzig 823
m. Statistik des Grundbesitzes. Von Dr. A. Wirminghaus, Syn-
dikus der Handelskammer Köln, ergänzt von Dr. Faul Koll-
mann, Geh. Reg.-Rat und Vorstand des Grossh. stat. Bureaus,
Oldenburg 849
Grundbuch. Von Dr. Schollmeyer, Geh. Justizrat und Prof. an der Univ. Würzburg 862
Grundgerechtigkeiten. Von Dr. von Brünneck, Prof. an der Univ. Halle . . 865
Grundrente. Von Dr. Th. Mithoff, weil. Prof. an der üniv. Göttingen, und Dr.
W. Lexis, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der Univ. Göttingen 870
Gmndschuld s. Hypotheken- und Grundbuchwesen 885
Grundsteuer. Von Dr. von Lesigang, k. k. Hofrat und Oberfinanzrat im Finanz-
ministerium, Wien 885
Grundsteuer in älterer Zeit Von Dr. G. vonBelow, Prof. an der Univ. Mar-
burg 917
Grundstücke, Zusaiumenlegung derselben s. Zusammenlegung der Grundstücke 925
Gründung s. Aktiengesellschaften und Emissionsgeschäft 925
Gruppenakkord s. Arbeitslohn 925
Guerry, Andr^ Michel \ Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. 925
Guicciardini, Francesco / preuss. stat. ßui-eaus, Berlin . . . 925
Gut. Von Dr. Frhr. von Wieser, Pix)f. an der Univ. Pi-ag 926
Gutsherrschaft (GrundhciTschaft, Leibeigenschaft, Eigenl>eh()rigkeit und Erbimter-
tliänigkeit). Von Dr. W. Wittich, Strassburg i. E 930
Gfiterschlächterei. Von Dr. H. Faasche, Geh. Reg.-Rat nnd Prof., Berlin . . 987
H.
Häfen. Von A. Regnöll, Hafenkassierer, Malmö 940
Haftpflicht nach dem Reichsgesetz vom 7. Juni 1871. Nach Dr. Ludwig Elster,
Geh. Reg.-Rat und voiii'ag. Rat im Ministerium der geistlichen, Unteirichts-
und Medizinalangelegenheiten, von Dr. W. Lexis, Geh. Reg.-Rat und Prof.
jin der Tniv. Göttingen 946
Haftpflichtversicherung. Von Dr. Alfred Manes, Gerichtsreferendar, Blumenau
(Hannover) 950
Haftung s. Scliuldverhältnisse 9r)r>
Hagelschädenversicherung. Von Dr. A. Emminghaus, Direktor der fjoliensver-
siclionnigsbank für Deutschland, (iotlia 955
Halbpacht s. Pacht 961
üebersicht IX
Seite
Haller, Karl Ludwig von \ Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. 961
Halley, Edmund / pi*euss. stat. Bureaus, Berlin . . . 962
Maltekinder (Kost-, ZiehMnder). Von Dr. E. Loening, Geh. Justizrat und Prof.
an der üniv. Halle 963
Mamilton, Alexander \Yon Dr. Lippert, Bibliothekar des KgL 966
Hamilton, Robert / preuss. stat. Bureaus, Berlin . . . 967
Hand- und Spanndienste s. Natiurdleistungen und Bauernbefreiung 968
Handel. Yon Dr. Mataja, Ministerialrat, Wien 968
Handelsbilanz. Yon Dr. H. v. Scheel, Geh. Ober-Reg.-Rat und Direktor des
kaiserl. stat. Amtes, Berlin 980
Handelsgehilfe. Yon Dr. Georg Adler, Prof., Berlin 984
Handelsgeschäfte. Yon Dr. Eduard Bosenthal, Prof. an der Univ. Jena. . . . 994
Handelsgesellschaften 998
I. Die Formen der Handelsgesellsohaften. Yon Dr. F. Laband,
Prof. an der üniv. Strassburg 998
n. Volkswirtschaftliche Bedeutung der Handelsgesellschaften.
Yon Dr. Biohard Ehrenberg, Prof. an der Univ. Rostock . . 1019
Handelskammern (Handels- und Gewerbekammern). Yon Dr. Rudolph Maresoh,
Begierungs- und Commercialrat, 1. Sekretär der Handelskammer Wien . . 1022
Handelsmuseen s. Ausfuhrmusterlager 1034
Handelspolitik. Yon Dr. W. Lezis, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der Univ. Göt-
tingen 1034
Handelsrecht (Geschichtliche Entw^ekelung). Yon Dr. L. Goldschmidt, weil.
Geh. Justizrat und Prof. an der Univ. Berlin, und Dr. Max Fappenheim,
Prof. an der üniv. Kiel 1047
Handelsschulen s. Gewerblicher Unterricht 1060
Handelsstatistik. Yon Dr. H. v. Scheel, Geh. Ober-Reg.-Rat und Direktor des
kais. stat. Amtes, Berlin 1060
HandelsTerträge. Yon Dr. A. Onoken, Prof. an der Univ. Bern 1067
Handfertigkeitsunterricht Yon Dr. Götze, weil. Direktor, Leipzig )084
Handfeuerwaffen. Yon G. Koch, Hauptmann a. D., Sömmerda 1090
Handwerk. Yon Dr. Wilhelm Stieda, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der Univ. Leipzig 1097
Handwerksorganisation s. Gewerbegesetzgebung 1114
Hanse. Yon Dr. Dietrich Sohaefer, Prof. an der Univ. Heidelberg 1115
Haussen, Georg. Yon der Redaktion 1119
Harnngton. James \ Yon Dr. Lippert, Bibliothekar des JJoo
SlISsÄederick ! ! '. ! ! '. ! !/ ^^'' P^"- ^^*- ^^^'^ ^'^^ ui
Haubergswirtschaft. Yon Dr. Th. Frhr. von der Goltz, Geh. Reg.-Rat und
Prof. an der Univ. Bonn 1123
Häusersteuer s. Gebäudesteuer 1126
Hausfleiss s. Gewerbe 1126
Hausgenossen s. Münzwesen 1126
Hanshaltung 1126
I. Die Haushaltung vona wirtschaftlichen und sozialen Stand-
punkte. Yon Dr. W. Lexis, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der
Univ. Göttingen 1126
n. Haushaltungsstatistik. Yon Dr. Friedrich Zahn, kais. Reg.-Rat
im kais. stat. Amt, Berlin 1130
Haushaltnngsbudget s. Konsumtion 1138
Haushof er, Max. Yon der Redaktion . . . . ' 1138
Hausierhandel s. Wandergewerbe 1138
Hansindustrie. Yon Dr. Werner Sombart, Prof. an der Univ. Breslau . . . 1138
Hauskommunion s. Ansiedelung 1169
Haxthausen, August Freiherr yon. Yon Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl.
preuss. stat. Bureaus, Berlin 1169
Hebammen 1 Yon Dr. Georg Meyer, weil. Geh. Hof- 1170
Heilanstalten / rat und Prof. an der Univ. Heidelberg 1171
Heilquellen s. Mineralquellen 1173
Heimatrecht Yon Dr. Hermann Behm, Prof. an der Univ. Erlangen .... 1173
Heimstattenreeht Yon Dr. M. Sering, Prof. an der Univ. Berlin 1175
Heimwerk s. Gewerbe 1184
Uebersicht
Seite
Heiratsstatistik. Von Dr. Friedrich Zalm, kais. Reg.-Bat im kais. stat Amt,
Berlin 1184
Heitz, Ernst Ludwig. Von der Redaktion 1192
Held, Adolf . 1 Von Dr. läppert, Bibüothekar des Kgl. 1192
Hellerich, Johann AUons Renatns von f preuss. stat. Bureaus, Berlin . . . 1193
Herdsteuer. Von Dr. M. v. Heokel, Prof. an der Akademie Münster (W.) . . 1194
Herkner, Heinrich. Von der Redaktion 1195
Hermann, Friedrich Benedikt Wilhelm y. ^Von Dr. Lippert, Bibliothekar des 1196
Herrenschwand / Kgl. preuss. stat. Bureaus, Berlin . 1197
Herrmann, Emanuel Ivx« /i^,. ^?^/q«t♦:/^r, 11^^
Hertzka, Theodor jVon der Redaktion ^^^^
Heuschling, PhilippFranz XavierTheodor 1 Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. 1199
Hildebrand, Bruno . / preuss. stat. Bureaus, Berlin . . . 1200
Hildebrand, Richard. Von der Redaktion 1201
Hilfskassen. Von Dr. Honigmann, Rechtsanwalt in Breslau 1201
Hill, Rowland s. Porto 1207
Hinterlegung von Wertpapieren. Von Dr. Riesser, Justizrat und Bankdirektor,
Berlin 1207
Hoards s. Banken 1212
Hof. Von Dr. W. Wittich, Strassburg i. E. . . 1212
Hofacker, Johann Daniel. Von Dr. Lippert, Bibliothekar des kgl. preuss. stat.
Bureaus, Berlin • 121S
Hof erecht Von Dr. M. Sering, Prof. an der Univ. Berlin 1219
HoferoUen s. Anerbenreoht 1227
Hoffmann, Johann Gottfried Won Dr. Lippert, Bibliothekar des 1227
Holzschuher, Berthold / Kgl. preuss. stat. Bureaus, Berlin . 1228
Holzzölle s. Forsten 1228
Hörigkeit s. Unfreiheit 1229
Hom, Eduai'd ] 1229
Homick, Friedrich Wilhelm von . . .(Von Dr. Lippert, Bibliothekar des 1230
Horton, Samuel Dana f Egl. preuss. stat. Bureaus, Berlin . 1230
Huher, Viktor Aim^ J 1230
Hufe. Von Dr. A. Meitzen, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der Univ. Berlin . , . 1232
Hufeland, Gottlieb. Von Dr. Lippert, Bibliothekar des KgL preuss. stat Bureaus,
Berlin 1241
Hufenschoss. Von Dr. G. v. Below, Prof. an der Univ. Marburg 1242
Hufenverfassung. Von Dr. A. Meitzen, Geh. Reg.-Rat imd Prof. an der Univ.
Berün 1243
Hüllmann, Karl Dietrich IVon Dr. Lippert, Bibliothekar des 1246
Hume, David / KgL preuss. stat. Bureaus, Berlin . 1247
Hundesteuer. Von Dr. M. v. Heckel, Pi-of. a. d. Akademie Münster (W.). . . 1248
Hypothekenbanken. Von Dr. Felix Heoht, Geh. Hofrat und Direktor der Rhei-
nischen H^^pothekenbank in Mannheim 1250
Hypothekenschulden (Statistik). Nach Dr. A. Wirminghaus, Syndikus der Han-
delskammer Köln, von Dr. Paul Kollmann, Geh. Reg.-Rat und Vorstand des
Grossh. stat. Bm-eaus, Oldenburg 1260
Hypothekenversicherung. Von Dr. A. Emminghaus, Direktor der Lebens-
Versicherungsbank für Deutschland, Gotha 1266
Hypotheken- und Grundbuchwesen. Von Dr. G. Schollmeyer, Geh. Justizrat
und Pi-of. an der Univ. Würzburg 1268
I n. J.
Jagd. Von Dr. M. Endres, Prof. an der üniv. . München 1299
Jagdrecht Von Dr. von Brünneok, Prof. an der üniv. Halle 1304
Jahrmärkte s. Märkte und Messen 1313
Jakob, Ludwig Heinrich von . . . .)Von Dr. Lippfdrt, Bibliothekar des 1313
James, Edmund Janes / Kgl. preuss. stat. Bureaus, Berlin . 1314
Identitätsnachweis. Von Dr. W. Lezis, Geh. Reg.-Rat und Prof. an der Univ.
Göttingen 1315
Jevons, William Stanley. Von Dr. Lippert, Bibliothekar des Kgl. preuss.
stat. Bureaus, Berlin 1320
Uebersicht
Impfung und Impfrecht Von Dr. C. Fränkel, Pr< I
Inama-Stemegg, Karl Theodor von. Yon- der Eec \
Individualismus. Yoq Dr. H. Dietzel, Prof. an dei
Indnlt (Moratorium). Yen Dr. E. Iioening, Geh. .
Univ. Halle
Indnstrial-Partnership s. Gewinnbeteiligung . . .
Indnstriesystem. Yon Dr. W. Lezis, Geh. Reg.- '
Gröttingen
Ingram, J. Keils. Yon der Hedaktion
Inhaberpapiere s. Wertpapiere
Innungen. Yon Dr. Wilhelm Stdeda , Geh. Eeg.- !
Leipzig
internationale s. Sozialdemokratie
Invalidenversichemng (Invaliditäts- und Altersversic i
Dr. von Woedtke, Wirkl. Geh. Oberreg.-Rat ur i
Innern, Berlin
John, Vincenz. Yon der Redaktion
Jonäk, Eberhard ) ^ t^
Jones, Richard #i
JoveUanos, Don Gaspar Melchor de . .' ^^^* P '
Irrenwesen (einschliesslich Irrenstatistik und Irrenge ■
Laehr, Zehlendorf b. Berlin
Iselin, Isaak. Yon Dr. läppert, Bibliothekar des Kgl
Jugendliche Arbeiter. Yon Dr. Wilhelm Stieda,
der üniv. Leipzig
Jnraschek, Franz von. Yon der Redaktion . . .
Jnsti, Johann Heinrich Gottlob von. Yon Dr. Li|
preuss. stat. Bureaus, Berlin
Nachtrage
— -oKX3t>-
Berichtigungen.
Zu Bd. I S. 142 Sp. 2 Z. 22 v. u. lies Bd. 112 statt 110.
Zu Bd. m S. 1240 Sp. 2 Z. 12 v. o. lies »die aktiven Wahlberechtigungen« statt
»die Wahlberechtigungen <; .
S. 1242 Sp. 2 Z. 14 V. u. lies »Brüssel (1897)<. statt »Brüssel (1898)<<.
Zu Bd. IV S. 327 Sp. 2 unten. Es steht hier: Ernteertrag in 1000 Tonnen. Doch sind
von 1891 an die vollen Tonnen beziffert.
S. 328 Sp. 1. In der üebersicht heisst es: Angabe in Tonnen; es muss
heissen: in 1000 Tonnen.
S. 330 Sp. 1 unten. Ueber der Nachweisung steht: in 1000 Dessätinen.
Dies bezieht sich nur auf die zweite Koliunne (im ganzen Reiche d. h. für
die 72 Gouvernements), während für die ei-ste Kolumne (europäisches Russ-
land, 60 Gouvernements) die Angaben in vollen Dessätinen gemacht sind.-
S. 688 Sp. 1 Z. 5 V. 0. lies ^>Korporationen« statt »Staatskörper«.
Z. 3 V. u. lies »Compagnonnage« statt »Arbeitervereinigung«.
Z. 1 V. u. lies ^>Korporatiou« statt »Regierungsform«.
S. 690 Sp. 2 Z. 26 v. o. lies »der Gegner^ statt »die Gegnerin«.
S. 694 Sp. 1 Z. 33 V. u. lies »Veunen« statt »Vem-enc
Sp. 2 Z. 27 V. u. lies )^Gewerkvereine<i statt »Vereine«.
S. 695 Sp. 2 Z. 29 v. il lies »Berufs vereinen« statt »Gewerkvereinen«.
G.
Oaliani, Fernando^
sei, am 2. Xu. 1728 zu Chiesi in Italien, 1765
Inhaber des Eanonikats zu Amalfi, 1760 und
folgende Jahre Gesandtschaftssekretär, Ge-
schäftsträger bezw. stdlyertretender neapolita-
nischer Gesandter in Paris, nnd 1777 — 1782
Fiskal der kgl. Domänenkammer sowie Mitglied
anderer höherer FinanzbehÖrden in Neapel. Er
starb als infnlierter Abt am 30. X. 1787 in
Neapel.
Von den itaUenischen Nationalökonomen,
die in der Periode kurz Tor dem Auftreten
Adam Smiths sich als selbständige Volkswirt-
schi^idie Denker hervorgethan haben, ist Ga-
liani einer der bedeutendsten. Mit dem Mer-
kantilsjBtem hängt er eigentlich nur noch durch
die Handelsbilanz und den Trugschluss zusam-
men, dass der Handelsgewinn des einen den
Handelsverlust des anderen Landes bedinge.
Dass Galiani, gleich den Merkantilisten, auf
eine starke Bevölkerung Gewicht lefft, beruht
bei ihm auf dem wirtschaftlichen Menschen-
kultus, der sich aus seiner Lehre vom Werte
(vgl. sein Werk „Della moneta*' s. u.) entwickelt.
Der Wert basiert bei ihm auf der Arbeit, und
da er nur menschliche, nicht eine durch die
Natur besorgte Arbeit, als solche anerkennt,
erklärt er den Menschen, den Arbeitsvollbrin^er,
als das vornehmste Beichtumsobjekt, summiert
also in diesem Wertbegriff Arbeit und Arbeits-
produkt. Den Wert selbst erkennt er in der
Güterwelt als Abstraktum nicht an, d. h. er
lässt die Wertbestimmung stets das Produkt
eines Vergleichs oder eines Verhältnisses zur
Nützlichkeit, Seltenheit oder zum Grade der
mühevollen Herstellung anderer mess- und ver-
g^leichbaren Güter sein. Seine Geldlehre schwankt
zwischen dem merkantilistischen Festhalten des
Metallgeldes im Lande und der neuzeitlichen
Degradierung des Geldes zum blossen Verkehrs-
mittel. Letztere Anschauung ist die durchdrin-
fende, denn Galiani betont einmal sogar, dass
ie Geldcirkulation als Signatur des YerKehrs-
bedürfoisses (vgl. Della moneta, Buch IV, c. 2
und 3) wichtiger als das Geld selbst sei, wes-
halb er auch gegen die Geldausfuhr nichts ein-
zuwenden hat. Seine Preistheorie stützt sich
auf die Produktionskosten und das Gesetz von
An&febot und Nachfrage ; die hohen Güterpreise
sind ihm daher ein Beweis wirtschaftlichen
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite
Au&chwunges, nicht Niederganges. Er be-
kämpft ferner jede BeschräiDcuncf der freien
Gütercirkulation durch Zins- und Wuchergesetze.
Zu seiner berühmten Streitschrift gegen die
Physiokraten: Dialogue sur le commerce des
bl6s (s. u.) muss zunächst bemerkt werden, dass
es keine doktrinäre Tendenzschrift gegen den
Freihandel überhaupt, sondern eine staatspoli-
tische Aktion gegen die grossen Getreidehändler
war, welche aus der freien Eomausfuhr, die
durch das Edikt von 1764 gewährleistet wor-
den, den ^össten Gewinn zogen, einen Gewinn,
den Galiani der Regierung: dadurch, dass diese den
Getreidehandel verstaatlichte, zufliessen lassen
wollte. Was den thatsächlichen Inhalt seiner
Dialoge betrifft, so macht er u. a. darin geltend,
dass Frankreich kein Ajerrarstaat, dass vielmehr
dessen Getreideproduktion, selbst wenn man
sich das noch brach liegende Land als bebaut
vorstellte, keine überflüssigen Eommengen für
die Ausfuhr erwarten lasse und dass es eine
grosse Ungereimtheit sei, Getreide zollfrei aus-
zuführen, ohne sich für den Notfall vom Aus-
lande das reciproke Verfahren durch Verträ&fe
gesichert zu haben. Im achten Dialog macht
er nun als Chevalier Zanobi den Vorschlag, das
Edikt von 1764 dahin zu modifizieren, sowohl
auf die Ausfuhr von französischem Getreide und
Mehl als auf die Einfuhr fremden Getreides
einen Zoll zu le^en. — Die ebenso geistreiche
als witzige Schnft, welche Galiani auf Grund
eines früheren Entwurfs von 1764 unter stilis-
tischer Beihilfe der Encyklopädisten Diderot
und Grimm verfasste, verursachte bei der phy-
siokratischen Klasse der Oekonomisten grosse
Bestürzung. Von ökonomischen Gegensclu*iften
sind die von dem Abbe Morellet und von Mercier
de la Rivi^re (s. u.) publizierten die bedeutend-
sten. Voltaire, übri&^ens einer der besten Hasser
der Physiokraten, Mite über die „dialogues"
folgendes Urteil: „U semble que Piaton et
Mou^re se soient r^unis pour composer cet
ouvrafife." Von gekrönten Häuptern waren es
besonaers Katharina II. von Russland und Frie-
drich II. von Preussen, die sich für den Abb6
Galiani interessierten, zumal dieser nicht nur
ein grosser Denker, ein genialer Schriftsteller,
sondern auch ein Libertin de qualit6 war.
Von seinen staatswissenschaftlichen Schriften
seien zunächst die zwei oben besprochenen hier
aufgeführt: Della moneta libri quinque. Neapel
Auflage. lY. 1
2
Gdiani — Garnier
1749 (auf dem sofifen. Schmntztitel eines Teils
der Aufl. ist 1750 als Erscheinungsjahr ange-
geben); dasselbe, 2. Aufl. 1780. — Dialogues
sur le commerce des bleds (bles) Londres (Paris)
1770; dasselbe, Neudruck, 2 Bde., Berlin 1795;
dasselbe, Neudruck in Bd. V und VI der Cus-
todischen Sammlung, Mailand 1803; dasselbe,
Neudruck in Bd. X v der CoUection des princi-
paux economistes, Paris 1848; dasselbe, ins
Deutsche übersetzt von H. L. W. Barkhausen,
Lemgo 1777; von H. W. Berisch, Laubanl778;
von D. C. W. Beicht, Glogau 1802 : von F. Blei,
Bern 1895. — Ausserdem veröffentlichte er:
Dissertazione suUe stato della moneta a' tempi
della guerra Trojana, Neapel 1743. — Della
nerfetta conservazione del grano, Neapel 1745,
Neudruck Mailand 1821 ; französ. Uebersetzung,
Paris 1754. (Vorstehende Schrift erschien unter
dem Pseudonym Bartolommeo Intieri.) — Istioria
vera delle controversia de grani di Marsiglia
Bulla giustizia della pretensioni delle parti Bti-
ganti, Neapel 1757. — Den Briefwechsel Ga-
Banis mit den Damen d'Epinay, Necker und
Geoffrin, mit den Häuptern der Encyklopädisten
und mit einigen Physiokraten sowie mit dem
Marquis Bemardo Tamuzzi etc. gaben heraus
Serieys, Guinguen^, Asse, Bmnetiöre, Perey,
Maugras, A. Bazzoni.
Vgl. über Galiani: (A. Morellet), Refutation
de Touvrage (de Galiani) qui a pour titre : Dia-
logues sur les commerce des oleds, London
(Ärifi) 1770. — (P. F. J. H. le Mercier de la
Kiviöre), L'int^r^t gen^ral de T^tat ou la li-
berte du commerce des bl^s etc., avec la r^-
tation d^un nouveau syst^me publik en forme
de dialogues etc. (par Galiani), Amsterdam et
Paris 1770. — Diodati, Vita dell' Abate F. Ga-
liani, Neapel 1788. — Morellet, M^moires, 2 vols.,
Paris 1818. — Tiraboschi, Storia della lettera-
tnra italiana, Bd. VI, X, Mailand 1824. —
Pecchio, Histoire de l'^onomie polit. en Italie,
trad. p. Gallois, Paris 1830, S. 116 ff. — Döh-
ring, Ualiani (Ersch u. Gruber, Encyklop&die,
I Sekt., Bd. 52, Leipzig 1851, S. 360ff. — Di-
derot, Oeuvres, Edit. Assezat. 20 vols. Paris
1875 u. 77 ; Band 3, 8, 11 und 18. — Mattei,
Galiani ed i suoi tempi, Neapel 1879. — Hous-
sonville, Le salon de Mme. Necker, 2 Bde.,
Paris 1882. — Alessio, Studi sulla teorica del
valore nel cambio intemo, Turin 1890. — Jean
Le Boy, Galiani, in Say u. Cbailley, Diction-
naire d'economie polit., Bd. I, Paris 1891, S.
1093 ff. — E. Gftudemet, L'Abb6 Galiani et la
qnestion du commerce des bl^s a la fin du
rfegne de Louis XV, Paris 1899.
lAppert,
Ganllh, Charles,
geb. 1758 in Allanche, französisches Departe-
ment Cantal, war vor der Revolution Parla-
mentsadvokat, wurde am 14. VII. 1789 von der
revolutionären Permanenzkommission des Pariser
Stadthauses nach Versailles zur Nationalver-
sammlung deputiert, um dort gesetzliche Voll-
machten zur Bewaffnung der in der Bildung
begriffenen Pariser National^arde zu erlangen,
war später Mitglied der Pariser Commune vom
10. VIII. 1792, welche die Revolution dieses
Tages leitete , zog sich nach den September-
morden von der Umsturzpartei zurück, wurde
1794 als verdächtig angeklagt und zur Depor-
tation verurteilt, von der ihn der 9. Thermidor
errettete. Vom Dezember 1799 bis 1802 war
Ganilh Mitglied des von Napoleon, als I. Con-
sul, nach dem 18. Brumaire errichteten Tribunats.
Er starb 1836 in Paris.
Granilh veröffentlichte folgende staatswis-
senschaftliche Schriften in Buchform: Essai
politique sur le revenu public des peuples
de Tantiquit^, du moyen äge, des si^cles
modernes et specialem ent de la France et
de TAngleterre, Paris 1806, neue Aufl. 1823.
— Des System es d'6conomie politique, de
leurs inconv^nients, de leurs avantages, de la
valeur de leurs doctrines, 2 Bde., Paris 1809,
2. Auflage 1821; hiervon erschienen 2 Ueber-
Setzungen ins Deutsche, die eine Berlin 1811,
die andere Wien 1814. — Im ersten Bde. dieser
Schrift handeln die Seiten 97 ff. von der „in-
fluence du travail sur la richesse", und Ganilh
entwickelt darin, in Uebereinstimmung mit
Smith, dass der Arbeit der Gtttererzeugung
nicht in jedem Falle die Konsumtion lolge,
sondern dass letzterer der Absatz der bezüg-
lichen Güter, als Nationalreichtumsvermehmngs-
faktor und Regulator des Gleichgewi^ts
zwischen Produktion und Konsumtion, vorher-
fehen müsse. — R^flexions sur le budget de 1814,
aris 1814. — Theorie de T^conomie politique,
(ond^e sur les faits (statistiques) recaeilUs ea
France et en Angleterre, Paris 1815, 2. Aufl.
1821. (In letzterer Schrift zeigt er sich u. a.
als Ge^er des Freihandels und Vertreter der
protektionistischen Richtung.) — Considörations
f§nerales sur la Situation financi^re de la
rance en 1815 et 1816, 2 Bde., Paris 1815—16.
— Opinion sur le budget de 1816, prononcee ä
la s^nce du 15 mal 1816, Paris 1816. — Dea
droits constitutionnels de la chambre des d4pnt^
en mati^re de finances, ou r^futation de M.
le comte Garnier dans son ranport k la chambre
des pairs sur le budget de lol5, Paris 1816. —
Des finances de la France depuis la restauration,
Paris 1817. — Du pouvoir et de 1 'Opposition
dans la soci6t^ civile, Paris 1824. — Dictionnaire
analytique d^economie politique, Paris 1826, im
nämlichen Jahre ins Spanische Übersetzt. —
Principes d'^conomie politique et de finances,
Paris 18a5.
Vgl. über Ganilh: Jochmanns von Pemau
Reliquien, Band I, Hechingen 1835, S. 220 ff.
— Dictionnaire de l'economie politique, par
Coquelin et Guillaumin, 2. Aufl., Paris 1^,
Bd. I, S. 819. — Röscher, Gesch. der Nat,
S. 597 u. 808. — Say et Chaillay, Nou-
veau dictionnaire d'6conomie polit., Bd.I, Paris
1891, S. 1097. Lippert
Garnier, Joseph Clement,
geb. am 3. X. 1813 zu Breuil im franzö-
sischen Departement Seealpen, .unterrichtete an
verschiedenen höheren Handelsschulen in Paris
und wutde 1846 Professor der Volkswirtschaft
Garnier
an der ^Ecole des ponts et chaussees". 1848
wurde er Chefredakteur des 1841 gegründeten
Journal des Economistes, welches er bis zu seinem
Tode redigiert hat. 1867 wählte ilm sein Hei-
matswahl&eis zum Senator in die Legislative,
und am 2b. IX. 1881 starb Garnier, als Mit-
glied des Instituts in Paris.
Als Anhänger der Say-Bastiatschen Frei-
handelsschule, befreundet mit Cobden (vgl. u a.
seine Schrift über ihn), p^ündete er zur Be-
kämpfung des Protektionismus mit Bastiat die
^Association pour la libert^ des echanges" und
beteiligte sich femer 1842 an der Gründung
der „^i6t6 d^economie politique", welcher er
als Vicepräsident und „secrötaire perpetuel"
bis zu seinem Tode angehörte. — Als Bevöl-
kenmgstheoretiker war er ein Anhänger von
Malthus (vgl. seine Schrift: du principe de po-
pvlation); als Grundrententheoretiker stellt er
den Sats auf, dass der landwirtschaftliche In-
dustriebetrieb eine doppelte Rente abwerfe,
erstens vom Boden, zweitens vom Kapital, wo-
mit der Betrieb arbeitet.
Er veröffentlichte an staatswissenschaftlichen
Schriften
a) in Buchform: Notice statistique sur
les houilles, Paris 1887. — Introduction k l'^tude
de r^conomie politiaue, avec des consid§rations
sur la statistique, la Kbert^ du commerce et
l'organisation du travail (ouvertnre du cours
d'eeonomie politique k TAthen^ royal le 4 jan-
Tier 1843), Paris 1843. — Coup d'oeil sur Tex-
position des produits dej'industrie fran<^aise en
1844^ Paris 1844. — Elements de F^conomie
rlitique, 1. Ausg., Paris 1845; 2. Aus^. 1848;
Ausg. 1856; (4. Ausg. s. u. Trait^ d'eoonomie
polit.). — Bichkrd Cobden. Les ligueurs et la
ügae; pr^s de Fhistoire de la demi^re r^vo-
lution economiqiie et financiire en Angleterre,
Paris 1846. — Etüde sur les profits et les sa-
laires, Paris 1847. — Congr^s des amis de la
paiz universelle,, röuni k Paris en 1849. Compte
rendu des seances des S2, 23, 24 aoüt. R^so-
Intions adoptees, etc., pr6c^d6 d'une notice histo-
riqne sur le mouvement en faveur de la paix,
Paris 1850. — Trois meetings des aniis de la
paix k Londres, Birmingham et Manchester, les
30 et 31 octobre et 1 novembre 1849, Paris 1850.
— Notes et petits trait^s, contenant : Elements de
statistique et opuscules divers, faisant suite aux
trait^s d'6conomie polit. et de finances, Paris 1857 ;
2. Aufl. 1865. — Du principe de Population. Energie
de ce principe; avantages et maux qui peuvent en
resnlter ; obstacles qu il rencontre ou qu'on peut
Ini opposer; remdde pour en contrebaiancer des
effets; theories ^nomiques, politiques, morales
et socialistes auxquelles il a donne lieu; con-
trainte morale ; reformes ^conomiques, politiques
et sociales ; Emigration, charitE, socialisme ; droit
an travail, Parw 1857 ; 2. Aufl. 1885. — Abrege
des Clements de TEconomie politique, Paris 1858 ;
neue Aufl. 1864; 6. Aufl. 1880 — Tableau des
canses de la mis^re et des rem^des qu'on peut
y apporter, Paris 1858. — Trait6 complet d'arith-
metique theorique et appUquee au commerce,
ä la banque, aux flnances, ä Tindustrie, etc.,
cours professE ä TEcole superieure du commerce,
Sar F. Wantzel et J. Garnier (r6dige par ce
emier), Paris 1858; 2. Aufl. 1861 ; 3. Aufl. 1880;
4. Aufl. 1887. ~ Trait6 des mesures metriques.
Expose snccinet et complet du Systeme fran^ais.
metrique et dreimal, avec une notice historique,
Paris 1858. — TraitE d'Economie politique, ex-
pose didactique des principes et des applications
de cette science et de l'organisation economique
de la soci6te, 4. ^nü.^ Paris 1860 (die 1. bis 3.
Aufl. s. 0. unter £16ments de FEconomie polit.) ;
5. Aufl. 1863; 6. Aufl. 1868; 8. Aufl. 1879; 9.
Aufl. verbessert und vermehrt von Professor
A. Liesse, Paris 1889. — ■ Trait6 de flnances.
L'impot en ^^neral ; son assiette, ses effets ^cono-
miques, politiques et moraux. Categories et esp^ces
diverses d'impöts. Les emprunts, le credit public
et les dettes dites consolid^es. Le$ d^penses
publiques et les attribntions de l'Etat. Les
reformes financi^res. L'impöt dans ses rapports
avec le progr^s et la mis^re. Notes histonques
et documents statistiques, 2. Aufl., Paris 1862
(1. Aufl. enthalten in „Notes et petits trait^s",
s. 0.); 3. Aufl. 1872; 4. Aufl., hrsg. von Courtois,
Paris 1882.— Association, extrait du^ Dictionnaire
g^n^ral de la politique'', Paris 1863. -- Qu'est-ce
que Teconomie industrielle? (enthalten in Cours
d'^conomie industrielle, recueilli et publik par
E. Th6venin, Ire g^rie, Paris 1866, S. 1—80).
— Ce qu'est T^conomie politique, son objet, son
caractöre, son utilit^ sociale et ses rapports
avec les autres sciences. Premi^res le^ns
d'6conomie nolitique profess6es en novembre 1877,
Nancy 1878.
b) in Zeitschriften und encyklo^
Eiädischen Werken: Journal des Economistes
mit Ausschluss aller seine kritisierende Th&tig-
:eit (comptes rendus) sowie seine Beteiligung
an den Sitzungen und Verhandlungen der Sod^ti
d'^conomie politique (opinions exprim^es et
questions discut^es) betreffenden Artikel, femer
aller statistischen Notizen], I. S6rie (1841 bis
1853). —B oranger , ^conomiste, Bd. I, S. 330.
— Etudes sur les Economistes financiers du
XVmiöme si^cle, Bd. VI, S. 82. — De la for-
mule phalanst^rienne : association du capitaJ, du
travaü et du talent, Bd. VI, S. 356. — Pr61u-
des de la röforme Economique en Angleterre,
Bd. XIII, S. 250. — Association centrale pour
la liberte des echanges, Bd. XIV, S. 305. —
De Teconomie politique de M. Gay-Lussac, k
propo« de Fimpöt du sei, Bd. XIV, S. 321. —
Position du problEme de la misEre; considErations
sur les moyens d 'Elever les classes pauvres a
une meilleure condition materielle et morale,
Bd. XV, S. 105. - Sur la rEforme douaniere
proposEe par le gouvemement et sur ceUe pro-
posEe par TAssociation pour la libertE des -
echanges, Bd. XVII, S. 142. — Notice sur la
vie et les travaux d'EugEne Daire, Bd. XVII,
S. 430. — Etudes sur la rEpartition de la ri-
chesse et sur les faits qui rEglent les rapports
des Profits et des salaire«, Bd. XVIII, S. 201
und Bd. XIX, S. 143. — PrEjugEs mercantiles-
et protectionnistes en France, Bd. XIX, S. 349.
— Sur la suppression de la chaire d'Economie.
politique au CoUEge de France et des curieuses
chaires destinEes a la remplacer, Bd. XX, S. 57.
— Causes Economiques de Tinsurrection de juin
1848, Bd. XX, S. 261. — Quelques mots au
sujet des principales formules socialistes, Bd. XX,
S. 375 und 407. — Notice sur la vie et les
travaux de P. Rossi, Bd. XXH, 8. 98. — RE-
flexions sur le premier message du PrEsident
de la REpublique, Bd. XXIH, S. 286. — Sur la
sEance du Conseil de Tagriculture. des manu-
1*
Garnier
factares et du commerce dans laqnelle les pro-
tectionnistes ont attaque les professenrs d*^co-
nomie politique, Bd. XXVI, S. 174. — L'ensei-
gnement de M. J. Garnier, attaqne par les pro-
tectionnist^, Bd. XXVI, S. 179 und 187. —
De la discussion, k TABsembl^e legislative, de
la rMorme donani^re proposee ^ar M. Sainte-
Beuve, et du discours prohibitioniste de M.
Thiers, Bd. XXIX, S. 243. — Notes critiques k
Tarticle de M. de Fontenay sur la rente fon-
ci^re Selon Ricardo, Bd. XXX, S. 93 und 206.
— Origine et filiation du mot 6conomie poli-
tique et des divers autres noms donn^s k la
science 4conomiqne, Bd. XXX IT, S. 300 und
Bd. XXXIII, S. 11. — Vie et Systeme de Fre-
d^ric List, Bd. XXXIII, S. 309.
n. Serie (1854—1866}: L'6conomie poli-
tique et Teconomie sociale definies par le tribu-
nai de premi^re instance et la cour imperiale,
Bd. IV, S. 468. — Analyse du pb^nom^ne de
la production, Bd. V, S. 161. — Observations
sur le nom donn4 a la science 4conomique, Bd.
VI, S. 277. — Du principe de propri6t6, Bd. IX,
S. 66. — De rutiüt^, dans la langue 6conomi-
qne, des termes: productivit^, ^cnangeabilite,
produits-cboses, produits-services, industrie im-
materielle etc., Bd. XV, S. 161. — Exposition
de la th^orie de la valeur, Bd. XXXVII, S. 369.
— La question des paysans en Pologne et les
ukases du 2 mars 1864, Bd. XLII, S. 230. —
Cr^ation d*une chaire d'^conomie politique k la
facult6 de droit de Paris, Bd. XLIV, S. 5. —
Bichard Cobden, hommages rendus k sa memoire,
Bd. XLVI, S. 98 und 269.
m. S 6 r i e (1866—1877) : Observations sur
Topinion de M. Duval sur les origines du mou-
vement coop^ratif, Bd. VIII, 8. 240. — Obser-
vations sur les expressions de bour^eois et de
travailleurs, Bd. X, 8. 461. — Keflexions, en
reponse k la lettre de M. J. Duval, sur Antoine
de Montcbr^tien, Bd. XIII, S. 301. — Observa-
tions sur Tarticle: „L'id^e de justice dans la
r^mun^ration du travail", par A. Ott, Bd. XVI,
S. 171. — L'impot sur les riches, Bd. XXVI.
S. 18. — L'^conomie politique et Fopinion pu-
bliipe en monarcbie comme en r^publique, Bd.
XXXII, S. 349. — Les nouveaux 6conomistes.
Observations, Bd. XL, S. 217. •— Concours re-
latif au mouvement de la population, Bd. XLIV,
S. 168. — La discussion des lois de finances,
Bd. XLV, 8. 7.
IV. S6rie (1878—1889): Les diverses d6fi-
nitions du socialisme, Bd. III, S. 6. — Modi-
fication k la proposition de loi sur la refonte
des monnaies, pi^sentee au S6nat, 27 novembre
1879, Bd. VIII, S. 395. — La profession d'6co-
nomiste, Bd. X, S. 66.
Garnier war der Terf asser der im „Journal
des Economistes" allmonatlich veröffentlichten
pchronique ^conomique" für die Jahre 1845 bis
Juli 1856 und fttr Februar 1866 bis JuU 1881 :
er war femer als Mitarbeiter beteiligt a) an den
Sammelwerken: Dictionnaire du commerce etc.
(Paris 1836—1839); Dictionnaire de la conver-
sation (1836); Dictionnaire de T^conomie poli-
tique, 3e ea. (1854); Nouveau dictionnaire du
commerce et de la navigation (1857—1862);
Dictionnaire de politique publik par Block (1866) ;
b) an den Zeitschriften: National (1835- 1844):
Patrie (1844—1851); Commerce (1848); Si^cle
(1851). Ausserdem redigierte er die Jahrgänge
1847—1855 von Blocks Annuaire de T^conomie
polit. et de la statistique sowie die Jahrgänge
1853—1860 des Nouveau Journal des connais-
sances utiles.
Er war femer beteiligt als Herausgeber
oder Mitkommentator c) an folgenden Werken:
Malthus, Population, Edition Prevost (1845
und 1852), Le droit au travail k l'Assembl^e
nationale (1848); Fonteyrand, Melanges
d'^conomie politi<}ue (1853); Smith, Richesse
des nations, Mition Germain Garnier, neue,
mit den Joseph Gamierschen Noten versehene
Auflage (1860 und 5. .Aufl. 1881). — Rossi,
Cours d'6conomie politique, 4. 6d. (1883).
Vgl. nber Garnier: Dictionnaire d^^onomie
politique, par Coquelin et Guillaumin, Paris
1854, S. 824/25. — Molinari, Joseph Garnier
(Jonmal des Economistes, Jahrgang 1881, Bd.
III, S. 1). — Biographie de Teconomiste Joseph
Garnier, s^nateur, membre de Tlnstitut de
France, extraite de principaux joumaux par son
fr^re J. J. Garnier, Turin 1882. — (Ferrara)
Esame storico-critico di economisti e dottrine
economiche del secolo XVIII, e prima meta del
XIX, vol. I, parte 2 (in der Abhandlung: Gar-
nier, Elementi di economia ^olitica), Turm 1889.
— Say et Chailley, Nouveau dictionnaire
d'6conomie polit., Paris 1891, Bd. I, S. 1097.
lÄpperU
tiamler, Germaln,
geb. am 8. XL 1764 zu Auxerre, franzö-
sisches Departement Yonne, studierte die Rechte,
war 1787 Prokurator am Pariser Chfitelet,
wurde 1789 zum Deputierten fttr die Versamm-
lung der Generalstände gewählt, ohne an deren
Sitzungen teil zu nehmen, darauf März 1792 durch
das Vertrauen des Königs zum Justizminister
desigiiiert und lehnte zu Gunsten Durantons ab.
Garnier emigrierte am 10. VIII. 1792 und
kehrte 1796 nach Frankreich zurück. 1799 war
er Präfekt des Seine- und Oisedepartements,
1804 Graf und Senator des Kaiserreichs, 1809
bis 1811 Senatspräsident, 1814, unter der Restau-
ration, Staatsminister und Pair von Frankreich.
1815, während der 100 Tage von Napoleon zum
Grosssiegelbewahrer ernannt, war er politisch
wetterkundig genug, wie 1791 den Justizminister-
posten, so auch jetzt die Würde des mit diesem
identischen garde des sceaux auszuschlap^n.
Nach Ludwig XVIII. Rückkehr nahm er seinen
Pairsitz als nomineller Staatsminister wieder
ein. Garnier gehörte dem Institut de la France
seit dessen Reorganisation (1796) an. Er starb
zu Paris 4. X. 1821.
Er veröffentlichte folgende staatswissen-
schaftliche Schriften in Buchform: De la pro-
priete dans ses rapports avec le droit pratique,
Paris 1792. — Abr6g6 el^mentaire des principes
de l'6conomie politique, Paris 1796. — Adam
Smith, Recherches sur la nature et les causes
de la richesse des nations, traduction, 5 Bde.,
Paris 1802, 2. Aufl., 6 Bde., ebenda 1822. (Gar-
nier lieferte damit die beste französische lieber-
Setzung des Lehrgebäudes des berühmten Schotten,
welche ausser den Noten des Uebersetzers noch
mit solchen von Buchanan, Mac Culloch, Malthus,
Garnier— Garve
a
J. Mül/ Hicardo, Sismondi, Storch, J. B. Saj
und A. Blanqui versehen ist. — Theorie des
banques d'escompte, Paris 1806. — Rapport snr
la loi des finances, Paris 1816. — Memoire sur
la valeur des monnaies de compte chez les
penples de Tantiquit^, Paris 1817. — Histoire
de la monnaie, depuis les temps de la plus
haute antiqnite jusqn'au r^gne de Charlemagne,
2 Bde., Paris 1819.
Fast alle diese Schriften kennzeichnen das
Bestreben, die physiokratischen Lehrsätze mit
dem freien Industriesystem Smiths in Einklang
zu bringen, an welchem letzteren er übrigens
bemängelte, dass Smith die immateriellen Güter
bei der Produktivität der Arbeit nicht berück-
sichtigt hatte. Garnier war auch auf schön-
S-eisti^em Gebiete thätig, aber sämtliche seiner
erartigen Schöpfungen hat eine meisterhafte
Uebersetzung des Komans „Caleb Williams"
tiberlebt, worin der englische Schriftsteller
William Godwin, den Garnier mit seiner Ueber-
setzung in Frankreich einführte, die englische
Kriminalgesetzgebung zu Ende des 18. Jahr-
hunderts in so klassischer Weise gegeisselt.
Vgl. über G. Garnier: Sandelin, B,eper-
toire d'economie polit., Bd. IV, Haag 1847,
S. 141. — Blanqui, Histoire de Teconomie
polit. en Europe, 3. Aufl., Bd. II, Paris 1848.
— Dictionnaire d'economie polit., 2. Aufl., heraus-
fegeben von Coquelin und Guillaumin, Bd. I,
ans 1854, S. 823. — Röscher, Geschichte
derNat., S. 597und808. — Say et Chailley,
Xottveau dictionnaire d'economie polit., Bd. I,
Paris 1891, S. 1097. lAppert.
Gasser, Simon Peter,
fäb. am 13. V, 1676 zu Kolberg, preuss. Regbez.
Öslin. studierte 1694—1699 in Leipzig und
Halle Jurisprudenz und wurde am 9. VII. 1710
ausserordentlicher und 1. VII. 1720 ordentlicher
Professor der Rechtswissenschaft an der Uni-
versität Halle. 1727 erhielt diese Universität
eine eigene Lehrkanzel der Oekonomie, das
heisst fiir die unter die ehemaligen BegriflFe
der Kameralwissenschaften fallenden Staats- und
wirtschaftspolitischen Wissenszweige. Der für
Hebung der Landwirtschaft und Industrie in
Preusaen nach merkantil istischem Rezept eifrigst
bemühte König Friedrich Wilhelm I. berief den
Merkantilisten Gasser am 24. VII. 1727 auf den
neugeschaffenen Lehrstuhl, der zunächst eine
Pflanzschule kameralistisch gebildeter Landwirte
und Verwaltungsbeamten werden sollte. Ein
eigentliches System der Wissenschaft, zu deren
Lehrer er berufen war, hat er nicht geschaffen,
auch der höhere Gesichtspunkt von der civi-
lisatorischen Aufgabe der Nationalökonomie, die
Förderung der Staatskräfte mit der des ein-
zelnen Individuums in Einklang zu bringen,
tritt nirgends in seiner „Einleitung" (s. unten)
hervor, die im übrigen von doktrinärer und
scholastischer Dialektik sich ziemlich frei hält.
Als Ansfluss seiner merkantilis tischen Grund-
sätze redet er darin einer progressiven Steuer-
erhöhnng, behufs Steigerung des preussischen
National Wohlstandes, das Wort, ohne Fälle der
ungerechten Belastung^ des einzelnen Individuums
abzuleugnen. Er beklagt letztere, räumt, nach-
dem er zuvor seine Sympathie für den Gross-
grundbesitz zum Ausdruck gebracht, die Un-
gleichheit in der Belastung zwischen dem Lati-
fandienbesitzer und kleinen Landwirt, zwischen
dem vermögenden Städter und armen Bauer,
ein, hütet sich aber, mit Vorschlägen zur Be-
seitigung dieser Missstände hervorzutreten.
Gasser starb in Halle am 22. XI. 1745.
Er veröffentlichte auf Staatswissenschaft
bezw. öffentliches Recht bezügliche Schriften in
Buchform : De jure publico Romanorum, Halle
1710. — De feudo sub formula Erbguth, Halle
s. a. (1720). — Einleitung zu den ökonomischen,
politischen und Kameralwissenschaften, I. (ein-
ziger) Teil, Halle 1729. (Es ist dies das ein-
zige von ihm in deutscher Sprache erschienene
Buch, welches in dieser ersten Abteilung Domänen-
wesen, Regalien und Steuern, Viehnutzung, land-
wirtschaftliche Nebengewerbe, bäuerliche Dienste
und Abgaben, Anschläge der Aecker, Wiesen
und Weiden, Jagd, Fischerei, Forst Verwaltung
und Rechnungswesen behandelt). — De rebus
creditis et de processu executivo secundum jus
Anhaltinum, Halle 1743. —
Vgl. über Gasser: Dreyhaupt, Beschrei-
bung des Saalkreyses, Bd. II, Halle 1756, S. 619.
— Er seh und Grub er, Encvklopädie, I. Sek-
tion, Teil 64, Leipzig 1852, S. 204. — Röscher,
Geschichte der Nat., S. 360, 372, 431. — All-
gemeine deutsche Biographie, Bd. VIII, Leipzig
1Ö78, S. 401. lÄppert.
Garve, Christian,
feb. am 7. I. 1742 zu Breslau, studierte in
rankfurt a. 0., Leipzig und Breslau und wurde
1768, nach Gellerts Tode, ausserordentlicher
Professor der Philosophie in Leipzifi^. Bereits
1772 bewog ihn körperliches Siechtum^ sein
dortiges Lehramt niederzulegen, er privatisierte
fortan in Breslau und starb daselbst am 1. XII.
1798. Als Populärphilosoph veröffentlichte er
auf dem Gebiete der Ethik, Aesthetik und
praktischen Weltweisheit eine Anzahl Schriften,
die hier nicht in Betracht kommen. Seine
Arbeiten staatswissenschaftlicher Natur, wozu
ihn hauptsächlich das Studium Humes anregte,
sind die folgenden:
a) Selbständige Werke : Ueber den Charakter
der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Guts-
herren und gegen die Regierung, Breslau 1786,
neue Ausgabe Breslau 1796. — Ueber die Lage
Schlesiens in verschiedenen Zeitpunkten und
über die Vorzüge der Hauptstadt vor Provinzial-
städten, Breslau 1788. — Abhandlung über die
Verbindung der Moral mit der Politik, Breslau
1788 (angeblich hervorgerufen durch Kants
Schrift „zum ewigen Frieden"); dasselbe ins
Französische übersetzt von Graf F. A. v. Zin-
zendorf, Berlin 1789. — Versuche über ver- •
schiedene Gegenstände aus der Moral, der
Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben,
5 Teüe, Breslau 1792 1802 (Teil IV und V
nach Garves Tode herausgegeben von Schneider
und Manso). — Fragmente zur Schilderung des
Geistes, des Charakters und der Regierung
Garve — Gebäudesteuer
Friedrich 11., 2 Teile, Breslau 1798, 2. Aufl.
1791 (Die Zeit des Erscheinens dieses Buches
fiel in die berüchtigte Periode Wöllner-Bischofs-
werder, und es gehörte damals immer ein ge-
wisser Mut dazu, in so freimütiger Weise, wie
Garve es bei Behandlung derB^gierungsmaximen
Friedrichs gethan, die Pflichten der Regenten
zu erörtern.)
b) üebersetzungen : Adam Smith, Unter-
suchungen über Natur und Ursachen des National-
reichtums, 3 Bde., Breslau 1794—96; 3. Aufl.
1810. Ueber die vorzüglichen Eigenschaften
dieser Verdeutschung, welche die schwerver-
ständlichsten Stellen des englischen Originals
in freier aber klarster Darstellung übertragen
hat, vgl. Smith a. a. 0. (s. u.) — Aristo-
teles, Politik, 2 Bde., Breslau 1799—1802 (Bandll
ist von G. G. FttUebom herausgegeben). —
Ausserdem übersetzte Garve Cicero, De officiis,
4 TeUe, Breslau 1783, 6. Aufl., 1819 und Werke
von Macfarlan und Payley.
c) Briefwechsel: Briefe an Christian Felix
Weisse, 2 Bde., Breslau 1803. — Briefwechsel
mit Zollikofer, Breslau 1804. — Briefe von
Friedrich Gentz an Garve (aus den Jahren
1789-98), Breslau 1857. —
Vgl. über Garve :Schlichtegroll, Nekro-
log auf das Jahr 1798, Bd. II, Gotha 1798,
S. 237 ff". — Schlesische Provinzialblätter, Jahrg.
1799 (Nekrolog von Manso), Breslau 1799. —
Seh eil er, Briefe über Garves Schriften und
Philosophie, Leipzig 1800. — J. C. F. Manso,
Vermischte Schriften, Teil I, 1801, S. 146 if. —
S. G. Dittmar, Erinnerungen aus meinem
Umgang mit Garve, Berlin 1801. — Hennings,
Deutscher Ehrentempel, Bd. VI, Gotha 1824,
S. 128 ff. — Er seh und Gruber, Encvklopädie,
I. Sektion, Teil 64, Leipzig ia')2, S. 90 ^von
Ö. Döring). — Röscher, Gesch. der Nat,
S. 603 ft*. — Allgemeine deutsche Biographie,
Bd. VIII, Leipzig 1878, S. 385 ff. — Daniel
Jacoby, Schiller und Garve, eine Untersuchung
(enthalten im Archiv für Litteraturgeschichte,
Bd. I, Heft 1), 1878. lAppert
Gebändestener
(inkl. Thür- und Fenstersteuer).
I. Einleitung. 1. Begriff und Berech-
tigung. 2. Geschichte. IL Das geltende
Recht. A, Deutsche Staaten. 3. Preussen.
4. Bayern. 5. Württemberg. 6. Sachsen. 7.
Baden. 8. Hessen. B. Ausserdeutsche
Staaten. 9. Oesterreich. 10. England. 11.
Dänemark 12. Frankreich (Thür- imd Fenster-
steuer). III. Beurteilung.
I. Einleitung.
1. Begriff und Berechtigung. Die Ge-
bäudesteuer, aueh Haus- oder Häusereteuer
genannt ist in ihrer vorzugsweise vorkom-
menden Form eine Steuer des Eigentümers
bezw. des dauernden Nutzniessers von dem
Ertrag der Gebäude und zählt demnaeh zu
den Ertragssteuern (s. d. Art. oben Bd. HI
8. 728 ff.). Die Gebäudesteuer ist wohl zu
unterecheiden von der Wohnungs- oder
Mietsteuer; denn diese letztere ist in ihrer
reinen Form eine auf dem Mieter liegende
Aufwandsteuer. Allerdings ist ihr steuer-
mässiger Charakter nicht immer klar; denn
mitunter gehen die Gebäudesteuer und die
Miet- oder Wohnungssteuer in einander über.
Die Berechtigung der Gebäudesteuer
liegt in der Ertragsfähigkeit der Gebäude.
Da aber diese bei der Verschiedenartigkeit
der Zwecke, denea die Gebäulichkeiten
dienen können, nicht klar und unzweideutig
bestimmt wenlen kann, so ist es erklärlich,
dass der Umfang der Gebäudesteuer sowolil
in der Theorie wie in der Praxis eine ver-
schiedene Begrenzung erfahren liat.
Scheidet man nämlich die Gebäude nach
ihrer Zweckbestimmung, so wird man finden,
dass sie entweder nur als Hilfsmittel der
Produktion, d. h. als landwirtschaftliche, ge-
werbliche, industrielle, merkantile Gebäulich-
keiten für bestimmte Produktions- oder Er-
werbszwecke benutzt werden, oder eigent-
liche Wohn- und Mietgebäude sind.
Wenn das Gebäude nur als Gnmdlage
und Hilfsmittel der Produktion dient, so
kann es eigentlich nicht selbständig als er-
traggebend bezeichnet werden; denn seine
Wirkung bei der Erziel ung des Ei-trages
tritt nicht besondere hervor, sondern ver-
mischt sich mit dem allgemeinen Ergebnis
der mit den Gebäuden verbundenen Er-
werbsgeschäfte. Streng genommen dürften
also Gebäude und Gebäudeteile, welche der
Ijandwii'tscliaft oder irgendwelchen Gew^erbe-
betrieben dienen, nicht Gegenstand einer
besonderen Gebäudesteuer sein, sondern nur
bei der Besteuerung der betreffenden Pro-
duktionszweige berücksichtigt werden.
Anders steht es bei den eigentlichen
Miet- und Woluihäusern. Sie dienen als
Kapitalanlage und gewähren einen unmittel-
baren Nutzen ; sie sind bestimmt, einen selb-
ständigen Ertrag zu erzeugen. Und es wird
nicht zweifelhaft sein können, dass auch
dieser Ertrag wie jeder andere der Besteue-
rung zu unterwerfen ist. Auch der Selbst-
bewohner wird mit Recht nach dem Miet-
werte seiner Wohnung zur Häusei*steuer
herangezogen, da ja das Selbstbewohneu nur
den sonst in der Miete hervortretenden Er-
ti-ag darstellt.
Aber obwohl sich diese Scheidung in
Wohnliäuser und gewerbliche Räumlichkeiten
mit Rücksicht auf die Natur des Ertrages
nicht bemängeln lässt, so haben doch die
sich hieraus für die Besteuerung ergebenden
Konseiiuenzen noch lange nicht in den Steuer-
gesetzen Eingang gefunden, vielmehr Lst die
Steuer in der Regel eine ziemlich allge-
meine, indem sie Gebäude aller Art, freilich
in vei-schiedenem Masse, erfasst. Allerdings
würde eine Ausscheidung lediglich der Wohn-
Gel>äudesteuer
gebäude zn Steuerzwecken auf erhebliche
Schwierigkeiten stossen; denn in vielen
FMen wird nicht nm* dasselbe Grebäude,
sondern auch derselbe Raum zu Wohn- und
gewerblichen Zwecken benutzt (Landwirt-
schaft, Hausindustrie, Kleingewerbe etc.).
Vereinzelt wird neben der Gebäudesteuer
noch eine Grundsteuer von dem überhauten
Areal und dem zum Gebäude gehörigen Hof-
raum erhoben.
2« Geschichte. Die Entwickelnng der Ge-
bäadeeteaem (bei deren Schilderung wir nament-
lich den Ausführim&fen v. Myrbachs folgen) steht
mit der wirtschaftlichen Entwickelung ihres
Objektes natnrgemäss im engsten Zusammen-
hang. Die Hausrente tritt erst dann und da
als selbständiges Einkommen hervor, wo Miet-
Verhältnisse häufiger werden.
Solange die Häuser, wie im Altertum,
lediglich Mittel zur Befriedigung des eigenen
Wohnungsbedürfnisses waren, dachte man an
keine Häusersteuer; doch entwickelte sich in
der späteren römischen Zeit, als die Städte
ausserordentlich anwuchsen, selbständige Ge-
werbe sich ausbildeten und die Vermögen rasch
zunahmen, das Miet Verhältnis in ausgedehnterem
Masse, und es scheinen auch zeitweilig Haus-
steuem vorgekommen zu sein, die sich aber auf
die wirklich vermieteten Wohnungen beschränkt
haben mögen.
Im Mittelalter finden wir in den italieni-
schen Republiken eine schon weiter entwickelte
Besteuerung der Häuser; sie erscheinen teils
miter den Objekten einer allgemeinen Vermögens-
steuer, wie in Florenz, Genua und Mailand, teils
als besondere Stenerobjekte, so bei der decima
delle case in Venedig.
Auf deutschem Soden wird man zwischen
Wohnungs- und Häusersteuern, d. h. Steuern,
welche lediglich an die Thatsache der Wohnung,
und solchen, welche bestimmt und gesondert an
den Ertrag der Gebäude anknüpfen, unter-
scheiden müssen. Bis ^egen das Ende des
Mittelalters wird man bei dem Mangel an ver-
mieteten Wohnungen in den Städten von einer
eigentlichen Ertr^sfähigkeit der Gebäude und
darauf sich stützenden Besteuerungsversuchen
nicht sprechen können. Wohl aber wird auch
hier schon frühzeitig die Wohnung als ein An-
haltspunkt für die persönliche Besteuerung nicht
nur in den Städten, sondern auch auf dem
Lande erkannt.
In der Form des Bauchhuhns und des Herd-
stattgeldes, in Ungarn der Portensteuer, erhielt
sich die an die Wohnung anknüpfende Familien-
Steuer, in gewisser Beziehung die Vorläuferin
der modernen Wohnungssteuem, bis zur Gegen-
wart. Es muss aber ausdrücklich bemerkt wer-
den, dass es sich hier nicht um eigentliche
Hanssteuem, sondern um Grund-, Familien-,
Vermögens- und Kopfsteuern handelt, auch wenn
der Name manchmal irreführenderweise auf die
erstere hinweisen möchte. So hiess die landes-
fttrstliche Abgabe des unterthänigen Bauern-
standes in ^ederOsterreich und Kärnten im
16. Jahrhundert „Hausgulden^, wobei das Haus
aber bloss als Biepräsentant der ^samten An-
sässigkeit diente. Von einer eigenthchen Häuser-
steuer dagegen kann erst mit dem rascheren
Aufblühen der Städte und dem Entstehen der
bürgerlichen Wohnhäuser die Rede sein. Aber
auch diese letzteren haben lange keinen anderen
Zweck als den, dem Besitzer als Mittel zur un-
mittelbaren Befriedigung seines Wohnungs-
bedürfhisses zu dienen, ihm Schutz gegen die
Witterung und die räumliche Unterlage seiner
gewerblichen und merkantilen Thätigkeit zu
gewähren. Der neu auftretende Einzelwirt-
Bchafter gründete für sich und die Seinigen ein
eigenes Haus, falls er es nicht ererbte. Als
aber die Bevölkerung der Städte wuchs, da
musste es innerhalb des durch die Stadtmauern
engbegrenzten Gebietes bald an dem Baume zur
Errichtung eigener Wohnhäuser gebrechen, die
Gärten und freien Plätze verschwanden immer
mehr, und das wachsende Wohnungsbedürfhis
führte zu immer intensiverer Ausnutzung des
Raumes. Ein Teil der städtischen Einwohner
ist auch nicht mehr in der Lage, die durch
höhere Preise der Baugründe etc. vermehrten
Kosten zum Bau eines eigenen Hauses aufzu-
bringen, und infolgedessen darauf angewiesen,
in fremden Häusern gegen Entgelt sich nieder-
zulassen, ein anderer Teil ist fluktuierend und
aus diesem Grunde dem Eigenbesitz abgeneigt.
So entstehen Mietwohnungen. Das Mieten von
Wohnungen nimmt immer mehr zu; denn auch
vermögliche Personen, namentlich auch die zu-
nehmende Zahl der Beamten, finden es wirt-
schaftlicher und bequemer, in fremden Häusern
sich niederzulassen. Aus den Mietwohnungen
werden Zinshäuser, d, h. Häuser, die aus-
schliesslich zur Auinahme von Mietparteien be-
stimmt sind. Und in steigendem Masse werden
Häuser als Kapitalanlagen und Handelsobjekte
febaut, der Hausbesitz wird immer mehr eine
rage des wirtschaftlichen Erwerbes, des Ge-
schäftes, und die aus der Vermietung des
Hauses erzielte Einnahme wird ein eigener
Einkommenszweig.
Auf dem Lande freilich bleiben aus nahe-
liegenden Gründen die eigenen Häuser die Regel,
nur dass sie auch hier allmählich besser werden
und eine wachsende Bedeutung erhalten. Die
Regel ist, wie v. Myrbach sagt, dass der Land-
bewohner sein eigenes Haus allein bewohnt,
dass es für ihn die Eigenschaft eines Nutz-
objektes behalten hat und dass er es als „ertrag-
los*' ansieht.
Während also auf dem Lande die Be-
dingungen einer Hausrentensteuer fehlten und
das Haus lediglich als Grundlage einer Familien-,
Kopf- oder Grundsteuer benutzt werden konnte,
war mit der Entwickelung des städtischen
Hauses zum Miethause allmählich der Zeitpunkt
eingetreten, in welchem sich aus den alten Ver-
mögenssteuern eine Ertragssteuer loslösen und
ausbilden konnte. Und während bei den früheren
Stadtsteuem die Häuser als ein Hauptbestand-
teil der Vermögen der Bürger nur der allge-
meinen Schätzung unterlagen, tauchen schon un
Beginn des 14. Jahrhunderts wenigstens auf
einzelnen Gebieten Anfänge eigentlicher Häuser-
steuern auf. Freilich scheint es mir, als ob in
dieser Zeit und bis in das 16. Jahrhundert in
den von v. Myrbach angeführten Fällen die alte
Auffassung des Hauses als Repräsentant der
gesamten Ansässigkeit noch prävalierte. Aber
m der Schlussakte einer allgemeinen Stände-
versammlung in Prag vom 11. Januar 1642,
8
Grebäudesteuer
welche die Steuerschuldififkeit der einzelnen
österreichischen Länder feststellen sollte, ist
ausdrücklich hinsichtlich der Bürger verfügt,
dass die Bürgerschaft ebenso wie ihre Güter
nnd Gülten anf dem Lande, so ihre Häuser in
Städten und Märkten^ welche Zins tragen, 'in
genauem Anschlag, die anderen aber, die keinen
Zins abwerfen, in ungefährem Anschlag schätzen
und demgemäss yersteuern solle. In Böhmen
führte der Landtag im Jahre 1567 an Stelle
der den Adel angeblich stark drückenden Ver-
mögenssteuer eine Haussteuer nach Klassen ein,
die aber freilich auch nur in den Städten als
rohe Form einer eigentlichen Haussteuer an-
fesehen werden kann. Ungefähr um die gleiche
eit kommt im Maf^eburgischen eine „gemeine
Anlage und Steuer^ für drei Jahre von Hufen,
Geldern, Häusern, Schafen, Getreide etc. auf.
Diese Steuer traf insbesondere den Grundbesitz
und zwar in den Städten als Gebäudevermögens-
steuer in der Art, dass für jedes Haus über
700 Gulden Wert 1 Gulden Steuer, bei Wert
unter 700 Gulden für je 100 Gulden Wert
3 Groschen Steuer erhoben wurden.
Einer weiteren Entwickeiung des Steuer-
wesens stellten sich in Oestereicn wie ander-
wärts die misslichen Zeitverhältuisse entgegen,
und erst zu Ende des 17. und im Verlaufe des
18. Jahrhunderts wurden da und dort neue An-
läufe zu einer besseren Ordnung gemacht. Es
ist bekannt, dass der erste Versuch eines ratio-
nellen Steuerwesens mit Benutzung der durch
die Wissenschaft inzwischen gebotenen Erkennt-
nis in der Lombardei zur Zeit Karls VI. unter-
nommen und später von Maria Theresia durch-
geführt wurde. Er knüpft an den censimento
milanese. Hinsichtlich der Besteuerung der Ge-
bäude waren die ursprünglichen Bestimmungen
für den censimento noch nicht genügend klar,
und erst die 1749 aufgestellte Steuerkommissiou
ging an die Aufgabe der Schätzung der Gebäude
nach drei Klassen: 1. die Miet- und Erbzins-
häuser, die vom Eigentümer gewöhnlich selbst
bewohnten Landhäuser und afle zum Gewerbe-
betriebe bestimmten Gebäude^ zusammengestellt
als nutzbringende Gebäude; 2. die rentenlosen
Gebäude, wie die Bauernhäuser, die landwirt-
schaftlichen Gebäude, die Sommerwohnungen;
3. die steuerfreien Gebäude der Kirchen etc.
Die erste Klasse steuerte nach dem wirklichen
resp. möglichen Ertrage, wobei jedoch von dem
geschätzten Rohertrag bestimmte Abzüge ge-
macht und der Rest zu 4 ^j^ kapitalisiert wurde ;
die zweite Klasse steuerte nach dem Flächen-
raume und zwar mit einem Drittel des für
gleichen Acker^und erster Klasse angenommenen
Wertes. Die im Jahre 1748 begonnene Sieuer-
rektifikation brachte in der Hauptsache keine
wesentliche Entwickeiung. Nur in Wien wurde
allmählich eine Haussteuer nach der Richtung
der Ertragssteuer ausgebildet. Schon im Jahre
1688 wurde gefordert, dass die Wiener Stadt-
steuer nicht nach dem Anschlage, sondern nach
dem wirklichen Erträgnis eingefordert werden
solle. Im Jahre 1704 kam hier eine neue Miet-
steuer auf, wonach die Hausbesitzer nach dem
Werte der Häuser, die Mieter nach der Höhe
des Mietzinses zu steuern hatten. Eine eigent-
liche Hansertragssteuer, wie sie in den Haupt-
punkten heute noch in Wien Geltung hat,
wurde dann durch die Rektifikationspatente von
1750 — 54 aufgestellt. Danach wurden die bürger-
lichen Häuser der Stadt Wien mit einem
Siebentel, die städtischen Freihäuser und die
übrigen Häuser in den Vorstädten mit einem
Zehntel des jährlichen Mietertrages zur Steuer
herangezogen ; die Haussteuer wurde nach dem
Zinse des Vorjahres bemessen, auch selbst-
bewohnte oder unentgeltlich abgelassene Woh-
nungen mussten angeschlagen, die Ausgaben
durften nicht abgerechnet werden; Neubauten
waren 3 Jahre lang steuerfrei. Die Josefinische
Reform der Häusersteuer, die mit der Reform
der Grundsteuer in enger Beziehung stand,
hatte nur kurzen Bestand. Eine neue Grnnd-
steuerreform von 1817 brachte auch eine Reform
der Gebäudesteuer, die von dem Grundsatze
ausging, dass die Gebändesteuer sowohl nach
dem möglichen Ertrage des dem Gebäude zu
Grunde liegenden Areals als auch nach dem
thatsächlichen oder möglichen Zinsertrage des
Gebäudes selbst erhoben werden solle. Immer
aber blieb die Gebäudesteuer noch ein Teil der
Grundsteuer. Erst im Jahre 1820 erfolgte die
Einführung einer selbständigen Gebäudesteuer
in den altösterreichischen und später in den
südlichen Landesteilen. Die Häusersteuer be-
stand danach aus einer Hauszins- und einer
Klassensteuer ; die erstere wurde auf die grösseren
vermögenden Orte, die Klassensteuer auf die
übrigen angewendet. Für die Klassensteuer
wurden 12 Klassen gebildet und als Merkmal
für die Einreih ang in dieselben bloss die Zahl
der in einem Hause enthaltenen Wohnräume
aufgestellt. Häuser mit mehr als sechs Wohn-
räumen wurden dann in die nächsthöhere Klasse
eingereiht, wenn sie Stockwerke besassen. In
den Jahren 1848 und 1849 wurden infolge ander-
weitiger Aenderungen im Steuerwesen auch
solche in der Gebäudebesteuerung vorgenommen.
Namentlich wurde die Hauszinssteuer auf alle
Gebäude ausgedehnt, die entweder in Ort-
schaften gelegen sind, in denen sämtliche Ge-
bäude oder doch wenigstens die Hälfte derselben
einen Zinsertrag durch Vermietung abwerfen,
oder welche, ausserhalb dieser Ortschaft gelegen,
durch Vermietung benutzt werden. Auf dieser
Grundlage beruht auch die neue österreichische
Gebäudesteuer v. 9. Februar 1882, von der
später die Rede sein wird.
Wenn schon in den österreichischen Landen,
wo die Gebäudestener früher eine selbständige
Entwickeiung erfahren hat, auf dem Lande die
Verbindung von Grund- und Haus- oder Ertrags-
und Vermögenssteuern vor Anfang dieses Jahr-
hunderts nicht gelöst werden konnte, so war
dies noch weniger in den anderen deutschen
Ländern der Fall. Allenthalben treffen wir bis
in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts,
zum Teil in noch viel späterer Zeit, die Ver-
einigung der Haus- mit der Grundsteuer oder
Haussteuern, welche nach Art der Herdstatt-
gelder mehr Vermögens- als Ertra^steuem
sind. So finden wir, um nur einige Beispiele
anzuführen, in Württemberg eine neue Katastrie-
rang der direkten Steuern, eingeleitet durch
eine Instruktion v. 24. Januar 1713, wonach
als steuerpflichtig erklärt wurden unter anderem
sämtliche Wohn- und Oekonomiegebäude. Als
allgemeine Regeln für die Einschätzung werden
bezeichnet: der Anschlag nach dem „Ertrag,
Kommodität, Verdienst und Nutzen". Also ein
Gebäudesteuer
HitteLding zwischen der Ertrags- nnd Ver-
mOgensbesteuernng. Erst im Jahre 1820 bewog.
die Man^lhaftigkeit des direkten Steuerwesens
die Regiemng, die Trennung der Grund-, Ge-
bäude- und Gewerbesteuer ins Auge zu fassen.
Die Neuregelung erfolgte durch G. v. 15. Juli
1821. In den älteren baverischen Gebieten be-
stand bis Ende des vorigen Jahrhunderts in der
Herdstattenanlage mit 25 Kronen für jeden
Herd ein Mittelding zwischen Real- und Per-
sonalsteuer. Zu Anfang dieses Jahrhunderts
gab es in Bayern die verschiedensten Belegungs-
normen, teils Steuern nach dem „Kurrentpreise"
der Häuser, wiederum mit mannigfachen Kombi-
nationen — so z. B. in den ehemals Fuldaischen
Landesteilen Schätzung ganzer Güter Im Kom-
Slexe und Veranschlagung der Realgewerbe mit
en Hänsern — , bis auch hier durch G. v. 15.
August 1828 die Häusersteuer definitiv als Er-
tragsstener ausgebildet wurde. In Preussen
löste erst ein G. v. 21. Mai 1861 die Verbindung
zwischen Grund- und Häusersteucr; im vorigen
Jahrhundert war hier die Hänsersteuer völlig
in den älteren Vermögens-, Personal- und Ein-
kommensteuern untergegangen. In England
hat die Haussteuer, die noch zu Anfang dieses
Jahrhunderts in Verbindung mit den Luxus-
steuem vorkommt, erst 1851 eine Regelung er-
fahren, die sie einer Ertragssteuer näher bringt ;
in Frankreich hat die finanzielle Not allerdings
schon im Jahre 1798 die Thür- und Fenster-
steuer, im wesentlichen nach englischem Muster,
hervorgerufen; aber diese hängt auch heute
noch ziemlich lose mit dem übrigen Steuerwesen
zusammen.
II. Das geltende Recht.
A. Deutsche Staaten.
3. Preussen. In Preussen wurde erst
durc-h G. v. 21. Mai 1861 eine allgemeine
Gebäudesteuer eingeführt, die an die Stelle
der verschiedenen bis dahin von den Ge-
bäuden erhobenen Steuern trat.
Nach diesem Gesetz unterliegen der
Steuer die Gebäude und dazu gehörigen
Hofräurae und Hausgärten. Befreit von der-
selben (§ 3) sind Gebäude, welche öffent-
Hchen Zwecken dienen, einschliesslich der
Gebäude für den öffentlichen Unterricht, der
Kirchen u. dei^L, der Diensthäuser der Erz-
bischöfe, Bischöfe, Pfarrgeistlicheu, Gymna-
sial-, Seminar- und Schullehrer, der Armen-,
Waisen- und Krankenhäuser, Gebäude, welche
sich im Besitze der Mitglieder des könig-
lichen Hauses oder eines der beiden hohen-
zoUernschen Fürstenhäuser befinden oder zu
den im Besitze des Staates befindlichen
Gütern gehören; die zu den Standesherr-
schaften der vormals reichsunmittelbaren
Fürsten und Grafen gehörigen Gebäude;
endlich diejenigen unbewohnten Gebäude,
welche nur zum Betriebe der Landwirt-
schaft bestimmt sind; nicht minder solche
zu gewerbüchen Anlagen gehörige Gebäude,
welche nur zur Aufbewahrung von Bau-
materialien und Rohstoffen sowie als Stallung
für das ledigUch zum Gewerbebetrieb be-
stimmte Zugvieh dienen.
Die Veranlagung der Gebäudesteuer er-
folgt derart, dass jedes der Steuer unter-
liegende Gebäude nach Massgabe seines jähr-
lichen Nutzungswertes in eine der in dem
Tarife bestimmten Steuerstufen eingeschätzt
wird (§ 54). Die Steuer beträgt (§ 5) für
Wohn gebäude 4 ®/o des Nutzungswertes, für
Gebäude , welche ausschliesslich oder vor-
zugsweise zum Gewerbebetriebe dienen,
namentlich Fabriken , Manufaktui*gebäude,
Brauereien , Brennereien , Hammerwerke,
Mühlen etc. 2®/o des Nutzungswertes. Es
sollen also vorzugsweise die Wohngebäude
von der Steuer betroffen werden. Der
Nutzungswert der Gebäude wird (§ 6) in
Städten und in denjenigen ländUchen Ort-
schaften, in denen eine überwiegende Anzahl
von Wonngebäuden regelmässig durch Ver-
mietung benutzt wird, nach dem mittleren
jährlichen Mietpreise der letzten 10 Jahre
abgemessen. Der Mietwert wird nach den
Angaben der Gebäudebesitzer, nach Auskunft
der Ortsvorstände oder der Mitglieder der
Veraniagungskommission, beim Mangel dieser
Hilfsmittel aber diuxjh Schätzung festgestellt.
In ländlichen Ortschaften, in denen aus wirk-
lichen Mietpreisen ein zureichender Anhalt
für ' die Feststellung des Nutzungs wertes
der Gebäude nicht gewonnen werden kann,
sind (§ 7) neben der Grösse, Bauart und
Beschaffenheit der Gebäude sowie der Hof-
räume und Hausgärten auch die Gesamtver-
hältnisse der dazu gehörigen Gnmdstücke
zu berücksichtigen. Da Wohngebäude mit
4^/0, Gebäude zu gewerblichen Zwecken
aber mit 2®/o des Nutzungswertes zu be-
steuern sind, viele Gebäude aber sowohl
zum Wohnen wie zum Gewerbebetrieb dienen,
so ist nach den allgemeinen Veranlagungs-
grundsätzen für die Gebäudesteuer vom 4.
Mai 1867 dieser doppelte Zweck bei der
Einschätzung zu beachten. Für jede Provinz
sind (§ 8) nach Vernehmung des Provinzial-
landtages die Merkmale zusammenzustellen,
nach welchen die steuerpfüchtigen Gebäude
mit Berücksichtigung der in der Provinz
obwaltenden Verhältnisse in die verschiedenen
Stufen des Tarifs eingeschätzt werden sollen.
Die Veranlagung der Gebäudesteuer ge-
schieht (§ 9) unter Leitung der Bezirks-
regierung durch Kommissionen unter dem
Vorsitz besonderer Ausführungskommissarien.
Die Mitglieder, deren Zahl von der Bezirks-
regienmg bestimmt wird, werden von der
kreisständischen Versammlung und für Städte,
welche einen Veranlagungsbezirk für sich
bilden, durch die Stadtverordnetenversamm-
lung gewählt.
Die Erhebung der Häusersteuer geschieht
(§ 14) nach Massgabe der für die Gnmd-
steuer bestehenden Bestimmungen. Die Ge-
10
Gebäudesteuer
meinden und Besitzer selbständiger Gutsbe-
zirke in den östlichen Provinzen sind ver-
pflichtet, die Häusersteuer von den einzelnen
Steuerpflichtigen einzuziehen und in monat-
lichen Beträgen an die betreffenden^ Kassen
abzuführen. Im übrigen ist für das Ver-
fahren bei der Grund- und Häusersteuer-
erhebung unterm 30. November 1868 eine
besondere Anweisung erlassen worden.
Um die SteuerroUen bei der Gegenw^art
zu erhalten,' müssen (§ 15) darin alle Ver-
änderungen nachgetragen werden, welche
dadurch entstehen, dass der Eigentümer
wechselt, dass bisher steuerpflichtige Ge-
bäude in die Klasse der steuerfreien tiber-
gehen und umgekehrt, dass Gebäude durch
Aenderung ihrer Bestimmung in anderem
Masse steuerpflichtig werden, dass Gebäude
neu entstehen oder gänzlich eingehen, dass Ge-
bäude d urch Aenderung ihrerSubstan z, nament-
lich durch Vergrösserung oder Verkleinerung,
an Nutzungswert gewinnen oder verlieren.
Bemerkenswert ist noch, dass (nach § 19)
neuerbaute Gebäude erst nach Ablauf zweier
Kalenderjahre seit dem Kalenderjahr, in
welchem sie bewohnbar bezw. benutzbar ge-
worden sind, zur Häusersteuer herangezogen
w^erden sollen, dass ebenso Steuererhöhungen
infolge von Verbessenmgen der Gebäude
erst nach zwei Kalenderjahren seit dem
Kalenderjahr, in welchem die Verbesserung
vollendet worden ist, in Kraft treten sollen.
Die Steuerveranlagung wird (§ 20) aUe
15 Jalire einer Revision unterworfen, bei
deren Ausführung die in dem Gesetze ent-
haltenen Voi-schriften ebenfalls zur Anwen-
dung kommen, und es mag bemerkt werden,
dass seit Ablauf der ersten 15 jährigen Pe-
riode von 1865 — 1879, nach welcher gesetz-
lich eine Revision der Veranlagimg eintreten
musste, sich der Ei'ti'ag von ca. 21 auf 30,8
3Iillionen Mark im Jahre 1889 erhöht hat.
Durch Gesetz vom 14. Juli 1893 ist der Er-
trag der Gebäudesteuer den Gemeinden über-
wiesen worden.
4. Bayern. Die gegenwärtige Häuser-
steuer beruht auf dem G. v. 15. August
1828. Durch G. v. 19. Mai 1881 wurde eine
Revision vorgenommen, die aber nichts an
den Grundlagen des frülieren Gesetzes än-
derte.
Die Häusersteuer ist, wie das Gesetz (§ 1)
sagt, eine direkte Staatsauflage, durch welche
die Nutzung aus Häusern in Städten, Märk-
ten und auf dem platten Lande belegt wird.
Der Massstab für die Besteuerung ist f§ 4)
die Mietertragsfähigkeit der Gebäude, welche,
soweit möglich, in dem jährlichen wirklichen
Mietsertrag, d. h. den thatsächlichen Miet-
zinsen, sonst in dem möglichen, also ge-
schätzten oder angeglichenen Mietertrag ge-
sucht wird. Genauer ausgedrückt, wird also
der zm' Versteuerung gelangende Mietertrag
gefunden da, wo in wirklichen Mietbeständen
noch Anhaltspunkte vorliegen, durch kontrol-
lierte Einhebung der jährlichen Mietzinse
vermieteter Häuser oder Hausteile und eine
an Mustern abgleichende !Mieteneinschätzung
unvermieteter Häuser und Hausteile, da da-
gegen, wo in wirklichen Mietbeständen keine
genügenden Anlialtspunkte der Schätzung
mehr gefunden werden können, durch die
Annahme einer Ertragsgrösse, welche sich
aus dem Flächeninlialt der überbauten und
zu Hofräumen bestimmten Plätze berechnet.
Die erstere Art der Versteuerung heisst
ffiethaussteuer, die zweite Arealhaussteuer.
In die letztere Kategorie sollen insbesondere
jene Gebäude gerechnet werden, welche dem
Betriebe der Landwirtschaft gcAvidmet sind,
diinn die Schlösser imd die Pfarrhöfe auf
dem platten Lande.
Die bayerische Häusersteuer setzt (§ 5)
einen niedrigsten Ertrag von 15 Itfark für
dm Besteuerung von Gebäuden fest, 15 Mark
deslialb, weil bei der Ai^ealhaussteuer als
Minimum der steuerpflichtigen Fläche 3 (als
Maximum derselben 25) Ar bestimmt sind
und vom Ar einfadi 5 Mark als Steuer er-
hoben w^erden. Das Gesetz bestimmt näm-
lich, dass der jährliche wirkliche oder ge-
seliätzte Mietei-trag der nach der Miete zu
besteuernden Gebäude in Mark ohne Bruch-
teil ausgedrückt wird und die Haussteuer-
verhältniszahl bildet, dass bei den Gebäuden
nach der Area das Produkt aus dem in Aren
olme Bruchteil ausgedrückten Flächeninlialt
des überbauten Grund und Bodens / sowie
der Hofräume und einem Ertragsanschlage
von 5 Mark vom Ar die Verhältniszahl für
die Haussteuer bilde (§ 6).
Die Befreiungen von der Haussteuer sind
seit der Revision vom 19. Mai 1881 nicht
unwesentlich reduziert worden. Nach dem
G. V. 15. August 1828 bestand eine zeit-
weise und eine ständige Befreiung von
der Haussteuer, die erstere umfasste bei der
Mietsteuer für Neubauten fünf Jahre, für
innere Bauveränderungen ein Jahr, bei der
Arealsteuer dagegen m beiden Fällen zehn
Jahre. Nach der Revision ist lediglich be-
stimmt, dass die Steuerpflicht für neu auf-
geffihrte Gebäude nach Ablauf des dem
Jahre, in welchem der Neubau vollendet
wurde, folgenden Kalenderjahres beginnt.
Ständig von den Steuern befreit sind (§ 2)
beispielsweise alle Staatsgebäude, Kirchen,
Schulen etc., überhaupt Gebäude des Staates
und für fromme oder wohlthätige Zwecke,
ferner die Standesherren hinsichtlich der
Schlossgebäude, welche sie besitzen oder
bewohnen.
Einer kurzen Auseinandereetzung bedarf
noch das Verhältnis der Miet- zur Areal-
steuer bezw. die Frage der Umwandlung
der Mietsteuer in die Arealsteucr und um-
Gebäudesteuer
11
gekehrt. Diese Umwandlung kann sowohl
von Seiten der Beteiligten als der Steuer-
behörden beantragt werden, wenn die Ver-
hältnisse, unter welchen in einer Gemeinde
entweder lüe Miet^ oder die Arealsteuer
eingeführt worden ist, sich so wesentlich
veränderten, dass eine andere dieser Gat-
tungen an die Stelle der früheren zu treten
hat (§ 30). Einem Antrag auf Einfühnmg
der Arealsteuer an Stelle der Mietsteuer
kann dann stattgegeben werden, wenn ausser
Zweifel steht, dass in vorhandenen Mietbe-
ständen keine ausreichenden Anhaltspunkte
für die Feststellung des Mietertrages oder
für die Einschätzung desselben nach Miet-
mustern mehr vorhanden sind, einem um-
gekehrten Antrag dann, wenn sich aus den
gepflogenen Erhebungen ergiebt, dass ein so
grosser Teil der örtlichen Bevölkerung wirk-
lich in der Miete wohnt, dass an dem Vor-
handensein hinlänglicher Mietmuster nicht
mehr gezweifelt werden kann. Dabei sind
verschiedene Gutachten zu hören, Anträge
zu stellen, Behörden zu vernehmen etc.
5. Württemberg. Das württembergische
direkte Steuerwesen ist aus zwei Gruppen
zusammengesetzt, aus drei Realsteuern einer-
seits und aus einigen Steuern auf Kapital-,
Eenten-, Dienst- und Berufseinkommen an-
dererseits. Zu den Realsteuem zählen die
(mmd-, Grebäude- und Gewerbesteuer, wel-
che durch das G. v. 28. April 1873 betr.
die Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer
geregelt worden sind, von denen die Häuser-
steuer in ihren Grundzügen aber heute noch
auf dem oben genannten Gesetz von 1821
beruht. Demnach unterliegen der Gebäude-
steuer, wie schon bis dahin, alle im Lande
vorhandenen Gebäude, einschliesslich ihrer
Grundflächen und Hofraiten sowie der nicht
unter einem Gebäude befindlichen, sondern
für sich bestehenden Keller.
Von der Steuer befreit sind neben den
zur Ki-ondotation gehörigen Grebäuden und
den ganz oder teilweise vom Staate zu unter-
haltenden Anstalten solche Gebäude, welche
öffentlichen Zwecken dienen, ohne dem
Eigentümer einen ökonomischen Nutzen ab-
zuwerfen, z. B. Kirchen, Pfarrgebäude, Schid-
lehrei-wohnungen und Lehrgebäude für Lehr-
anstalten, Hospitäler, Rathäuser, Gebäude zu
Feuerlöschzwecken.
Die Gebäudesteuer beruht auf dem System
der Wertkatastrierung, d. h. den Massstab
für die Besteuerung bildet (Art. 75) der
durch Schätzung zu ermittelnde volle
Kapitalwert, also derjenige Wert, um
welchen ein Gebäude samt Grundfläche und
Hofraite nach seiner Lage, Nutzbarkeit,
seinem Umfang, Bauzustand, nach den üb-
rigen auf den Wert einwirkenden Verhält-
nissen zur 2ieit der Gebäudekatastrierung
von dem Besitzer abgegeben und einen
Käufer flnden würde. Zur Vornahme des
Einschätzimgsgeschäftes in den einzelnen
Oberamtsbezirken und Steuerdistrikten wer-
den (Art. 7) Bezirksschätzungskommissionen
bestellt, in welche neben dem Steuerkoramissär
drei von der Katasterkommission zu er-
nennende Bauverständige als Bezirksschätzer
und ein von dem Gemeinderate der be-
treffenden Gemeinde zu wählender sach-
verständiger Ortsschätzer zu berufen sind.
Gegen die Einschätzung steht den Steuer-
pflichtigen das Recht der Reklamation zu.
Eine vollständige oder teilweise Abschreibung
des Steuerkapitals muss erfolgen, wenn ein
Gebäude oder Gebäudeteil ganz oder teil-
weise niedergerissen, ganz oder teilweise zu
Gninde gegangen oder sonst zur Benutzung
untauglich geworden ist: ferner, wenn ein
Gebäude eine Wertminderung diu-ch bau-
liche Veränderung erfahren hat oder wenn
es einer die Steuerfreiheit begründenden
Bestimmung zugeführt worden ist. Ebenso
wenn analoge Aenderungen an der Hofraite
vorgegangen sind. Dagegen hat eine Ver-
mehrung des Steuerkapitals einzutreten,
wenn ein Gebäude neu aufgerichtet oder in
die Höhe oder dem Flächenraum nach ver-
grössert worden ist, wenn es infolge bau-
licher Aenderung eine Werterhöhung er-
fahren hat, wenn bisher steuerfreie Gebäude
oder Gebäudeteile infolge anderer Bestimmung
die Steueiireiheit verlieren, wenn bisher un-
brauchbar gewesene Gebäude ganz oder teil-
weise nutzbar geworden sind, auch wenn
die Hofraite vergrössert worden ist. Endlich
hat eine Berichtigung des Steuerkapitals
dann einzutreten, wenn infolge von äusseren
Verhältnissen, welche seit der neuen Ein-
schätzung der Gebäude eingetreten sind, in
einem Steuerdistrikt der Wert- sämtlicher
Gebäude oder eines Teüs derselben um
mindestens 20®/o dauernd erhöht oder ver-
mindert worden ist.
Der aufzubringende Gesamtertrag der
drei oben genannten Realsteuern, der nach
den Etats Mitte der 80er Jahre ca. 9 Mil-
lionen Mark betrug, wurde periodisch kon-
tingentiert und nach Quoten auf die drei
Steuern repartiert, so dass *^/2i auf die
Grund-, je ^V24 auf die Gebäude- und Ge-
werbesteuer entflelen. Durch G. v. 14. Juni
1887 ist nach Beendigung und unter Zu-
grundelegung der drei Kataster die üeber-
führung dieser drei Steuern aus der Repar-
titions- in die Quotitätsbesteuerung erfolgt.
Ein G. V. 6. Juni 1887 bestimmte als steuer-
bare Rente den Satz von 3% des Steuer-
kapitalwertes der Gebäude. Der Steuerfuss
ist für alle drei Steuern der gleiche und
beträgt 3,9 »/o der Rente.
6. Sachsen. Nach den früheren Steuer-
gesetzen V. 30. Oktober 1834 und 9. Sep-
tember 1843 waren in Sachsen steuerpflich-
12
Gebäudesteuer
tig alle Gebäude mit Ausnahme deijenigen
des Staates und .einiger anderer, namentßch
der kirchlichen Zwecken dienenden Gebäude.
Die Art und Weise der Besteuerung war
verschieden; sie erfolgte teils nach dem
wirklichen oder möglichen Metzinse, teils
nach der Gnmdfläche. Das erstere war
der Fall insbesondere bei den Wohngebäuden
in der Stadt^ bei den gewerblichen Gebäu-
den und bei den lediglich zur Bewohnung
bestimmten Gebäuden auf dem Lande.
Wohnungen auf dem I>ande, welche mit
landwirtschaftlichen Wirtschaftsräumen in
Verbindung standen, wurden ebenso behan-
delt, soweit heizbare Stuben in Betracht
kamen, landwirtschaftlichen Zwecken die-
nende Gebäude etc. wurden nach der Fläche
besteuert, wobei die beste anstossende Boden-
fläche zu Grunde gelegt wurde. Die zur
Häusersteuer herangezogenen Gebäude unter-
lagen der Grundsteuer nicht.
In Sachsen entbrannte aber seit dem
Ende der sechziger Jahre ein langjähriger
Kampf um die Reform der direkten Be-
steuerung, der damit endete, dass im Jahre
187.4 zunächst provisorisch und am 2. Jidi
1878 definitiv ein neues Gesetz über die
Einkommensteuer imd am 3. Jidi 1878 ein
Gesetz über die direkten Steuern überhaupt
erlassen wiinle. Seit dieser Zeit liat die
Häusersteuer in Sachsen als selbständige
Steuer zu bestehen aufgehört und wird der
Ertrag der Gebäude lediglich nach den für
die Besteuerung der Einkommen überhaupt
gültigen Yorschriften besteuert. § 17 des
G. V. 2. Juli 1878 scheidet vier Haupt-
quellen für die Einschätzung des Einkora-
mens und nennt als deren erste: Yerpach-
timg von Grundstücken, Vermietung
von Gebäuden oder Benutzung der-
selben zur eigenen Wohnung, Be-
trieb der Land- und Forstwirtschaft auf
eigenen Grundstücken. Und § 18 bestimmt
imter anderem unter 2, dass für die Be-
rechnung und Schätzung des Einkommens
aus vermieteten Gebäuden oder Teüen von
solchen der wirklich erzielte Mietertrag
unter Abrechnung der dem Vermieter ob-
liegenden Lasten massgebend sei. Im übri-
gen verweisen wir auf den Art. Einkom-
mensteuer (speciell oben Bd. III, S. 398 ff.).
7. Baden. Die Häusersteuer ist hier
geregelt durch die Ordnung v. 18. Septem-
ber 1810 und das Häusersteuer-G. v. 26.
Mai 1866. Der Umfang der Haussteuer ist
sehr weit gezogen, indem ihr nach dem
letzterwähnten Gesetz (Art. 2 und 5) alle
Gebäude ohne Rücksicht auf ihre Bestim-
mung nebst Hofraiten und bewohnbaren
(rartenhäusern unterworfen sind. Ausge-
nommen von der Häusersteuer shid ausser
den zu öffentlichen Zwecken dienenden Ge-
bäuden nur die Pflanzen häuser in Gärten
und Weinbergen, die zum Bergbau dienen-
den Betriebsgebäude und Vorratshäuser, die
schlechthin unbrauchbaren Gebäude und
Gebäudeteile (Art. 3); den Massstab der
Besteuerimg bildet der reine Ertrag, be-
stimmt nach dem mittleren Wert, welcher
als Steuerkapital benutzt wird (Art. 9).
Dieser Wert wird zu ermitteln gesucht aus
den thatsächlichen Kaufpreisen, wenn nötig
unter Heranziehung einwandfreier Ueber-
nahmspreise in Erbfällen einer bestimmten
Periode, und zwar liegen der Besteuerung
nunmehr die Ergebnisse der Katastrierung
der Gebäude nach dem mittleren Kaufwerte
aus der Periode 1853 bis mit 1862 zu
Grunde. Lasten werden kapitalisiert und
abgezogen, jedoch- so, dass zwar die Haus-
besitzer das voUe Wertkapital versteuern,
aber die von den Berechtigten erhobenen
Gefällsteuern unter die Verpflichteten ver-
teilt werden. Nun ist die unmittelbare Er-
mittelung der Kapitalwerte und damit der
Steuerwerte aus naheliegenden Gründen nur
für einen Teil der Häuser möglich ; deshalb
muss für die grosse Masse derselben der
Steuerwert auf dem Wege einer angleichen-
den Schätzung an die als Musterhäuser auf-
gestellten Gebäude festgestellt werden;
dieses Verfahren hat namentlich bei isolier-
ten Gebäuden auf dem Lande zu erfolgen,
wobei insbesondere für Sclüösser nicht der
Bau wert, sondern der Verkehrsweg, den
sie als einfache Häuser haben würden, in
Betracht zu ziehen ist (Art. 13—15). Die
EinSteuerung wird von der durch G. v. 7.
Mai 1858 fi'u- die Katastrierung des land-
wirtschafthchen Gebäudes gebildeten Minis-
terialkommission geleitet (Art. 31) und er-
folgt durch die betreffenden Behörden miter
Zuziehung von Bauverständigen (Art. 32).
Steuerpflichtig ist der Eigentümer, eventuell
der Nutzeigentümer oder Nutzniesser ohne
Rtlcksicht auf den mit dem aUenfaUsigen
Mieter bestehenden Vertrag. Das Ergebnis
der Einschätzung wird in der Gemeinde zur
Einsicht der Beteiligten 14 Tage im Ge-
meindehause aufgelegt und sodann vor ver-
sammeltem Gemeinderat den Gebäudeeigen-
tümern verkündet, worüber ein Protokoll
aufzimehmen ist (Art. 36). Auf Vorlage der
Er(5ffnungsprolokolle setzt die Ministerial-
kommission die mittleren Kaufwerte der
Gebäude auf, über oder luiter die in den
Vorverhandlungen begutachteten Beträge
fest (Art. 36). Gegen diese Festsetzung
steht dem Eigentümer das Recht des Re-
kurses an das Finanzministerium innerlialb
4 Wochen zu (Art. 40).
Eine Aenderung der Steuerkapitalien
tritt ein bei entdeckten Fehlern, eine gänz-
liche oder teilweise Abschreibung beim
gänzlichen oder teilweisen Nieden-eissen
von Gebäuden, Verkleinenmg der Hofi-aite
Gebäiidesteuer
13
etc, (Art 26), die Büdung neuer bezw.
höherer Steiierkapitalien bei Errichtung
neuer Gebäude, bei baulicher Umwandlung
derselben, Yergrösserung der Hofraite (Art.
27). Wenn durch äussere Verhältnisse seit
der Einschätzung in einem Steuerdistrikt
der Wert sämtlicher Gebäude oder eines
Teils derselben um 20®/o bleibend erhöht
oder vermindert worden ist, hat eine Be-
richtigung einzutreten (Art. 28).
Steuerfreijahre sind nicht zugelaßsen.
Der Grund und Boden der Gebäude und
der der Häusersteuer unterliegenden Hof-
räume ist frei von der Grundsteuer.
Bemerkenswert ist^ dass die Gebäude-
steuer von jeher einheitlich mit der Gnmd-
steuer behandelt wurde, dass namentlich
gleicher Steuerfuss für die Steuereinheit
galt Die Verschiedenartigkeit der Wert-
bewegung von städtischem und ländlichem
Boden, von Miet- und Wirtschaftsgebäuden
konnte nur bei der Eatastrierung, wo sie
im Werte sich ausdrücken musste, berück-
sichtigt werden. Wertverändernngen mussten
unbeachtet bleiben, was naturgemäss zu er-
heblichen Ungleichmässigkeiten in der Be-
lastimg führen musste.
Das Katastrierungswerk für Grundstücke
und Gebäude war im Jahre 1875 vollendet
worden und bildete zum ersten Mal bei der
Erhebung der Steuer für das Jahr 1877 die
Grundlage derselben. Obwohl sich in der
Zwischenzeit eine wesentliche Steigerung
der Grund- und Gebäudesteuerkapitalien be-
geben hatte, wurde der Steuerertr^ doch
nicht erhöht, sondern einer den Ständen
gegebenen Zusage entsprechend wurde der
Steuerfuss der Grund- und Gebäudesteuer
in solchem Mass erniedrigt, dass trotz der
bedeutenden Erhöhung des Gesamtsteuer-
kapitals der Steuererteig der gleiche blieb.
Waren bisher auf 1(X) Mark Steuerkapital
44 Pfennig Steuer eriioben worden, so wur-
den vom Jahre 1879 ab nur noch 28 Pfennig
erhoben.
8. Hessen. Massgebend ist hier das G.
v. 13. April 1824 betreffend die Vollendung
des Inmiobüienkatasters. Danach sind der
Aufoahme in den Immobilienkataster unter-
worfen die Gebäude nebst den dazu gehöri-
gen Hofraiten (Art 1). Ausgenommen von
der Steuer sind die Schlösser des Gross-
herzogs, dann die öffentlichen Zwecken
dienenden Gebäude , als Kirchen , Zeug-
häuser, dann die Oekonomiegebäude, welche
sowohl zur Gewinnung und Aufbewahrung
der rohen Erzeugnisse des Ackerbaues als
auch zu Stallungen dienen (Art. 2). Für
jedes Steuerobjekt wird ein Steuerkapital-
ansatz gebildet, welcher den mittleren reinen
Ertrag derselben darstellt Dieses Steuer-
kapital wird bei Gebäuden und den dazu
gehörigen Hofraiten aus dem mittleren
Kaufwert abgeleitet in der Weise, dass bei
Gebäuden V25, bei Mühlen und Hammer-
werken Vdo des abgeschätzten lokalen Kauf-
wei-tes das Steuerkapital bildet (Art. 4).
Diu-ch Instruktion v. 27. August 1857
hat die Obersteuerdirektion zum Zweck ge-
nauer Feststellung der Steuerkapitalien für
die Gebäude eine neue Einschätzung der
Gebäude und der dazu gehörigen Hof-
raiten nach dem mittleren lokalen Aauf werte
angeordnet. Danach sind die Kaufwerte
der Gebäude und Hofraiten zu ermitteln
aus dem Neubauwerte der Gebäude mit
Bei-ücksichtigung der Wertminderung durch
Abnützung oder andere besondere Ursachen
und aus dem Werte des Hofraitegrundes.
Das Verfahren war ein ziemlich umständ-
liches. Zuerst musste der Neubauwert
der Gebäude abgeschätzt werden. Es ge-
schah dies in der Weise, dass aus den
lokalen Preisen der Baumaterialien mit
Rücksicht auf die lokalen Arbeitslöhne der
Preisanschlag für einen Quadratfuss über-
bauter Fläche je nach Baumaterial, Zahl
und Höhe der Stockwerke und Bauart aus-
gemittelt, sodann der Neubauwert durch
Multiplikation dieses Anschlags für einen
Quadratfuss mit der gesamten in Quadrat-
fussen ausgedrückten Grundfläche des Ge-
bäudes gefunden wurde. Von diesem so
ermittelten Neubauwert musste nun die
Wertmindening diuxjh Abnützimg abgezogen
und deshalb diese Abnützung in Prozenten
des Neubauwertes in Abstufungen von 5
zu 5®/o abgeschätzt werden. Daraus ergebt
sich der gegenwärtige Wert des Gebäudes
ohne den Hofraitegnmd. Dieser Wert wird
aber mit Rücksicht auf die weitere Wert-
abnahme, welche die Gebäude im Laufe der
längeren Reihe von Jahren, für welche das
Kataster der Besteuerung zu Grunde liegen
soll, um 25®/o ermässigt und so endlich der
steuerpflichtige Wert der Gebäude gefun-
den. Zu diesem billigen mittleren Wert
der Gebäude kommt sodann noch der Wert
des Hofraitegrundes derselben, welcher min-
destens nach dem billigen mittleren Kauf-
preise des Ackerfeldes 1. Klasse der be-
treffenden Markung abzuschätzen und für
bessere Ortslagen entsprechend höher anzu-
schlagen ist.
Vor Beginn der Einschätzung mussten
die Verkaufspreise von allen in den 15
Jahren 1840 — 54 unter normalen Verhält-
nissen vor sich gegangenen Häuserverkäufen
ermittelt und zusammengestellt werden,
um für die Einschätzung einen Anhalt zu
gewinnen.
Wenn durch Zusammenrechnung des
mittleren Gebäudewerts und des Werts des
Hofraitegrundes der mittlere lokale Kauf-
wert gefunden ist, so wird das betreffende
Gebäude nach einer Klassentafel in die-
14
Gebäuclesteuer
jenige Wertklasse eingereiht, deren Kauf-
wertsumme jener Einschätzungssumme am
nächsten steht, wobei die in der betreffen-
den Klasse enthaltene Summe als Kataster-
summe gilt
B. AuBserdeutsche Staaten.
9. Oesterreich. Die heutige öster-
reichische Gebäudesteuer beruht, wie oben
bereits bemerkt wurde, auf G. v. 9. Februar
1882, V. 1. Juni 1890 und 9. Februar 1892.
Sie ist eine auf den Gebäuden lastende
Steuer und verschieden bemessen je nach
den Eigenschaften des steuerpflichtigen Ob-
jekts. Steuerfrei sind die Gebäude ftlr
öffentliche Zwecke, Staats- und Militärge-
bäude, Kirchen, Schulgebäude, Wohlthätig-
keitsanstalten und dergleichen, dann Hütten,
Buden und Kramladen von nur vorüber-
gehender Bestimmung, dann (nach G. v.
6. Juni 1890) Alpenhütten und Weingarten-
häuser, sofern sie nur zeitweise für das Wirt-
schaftspersonal des Grundbesitzers dienen.
Im übrigen zerMlt sie in eine Hauszins-
steuer, die sich auf den Vermietungsver-
trag gründet, imd in eine Hausklassen-
steuer, welche Wohngebäude ohne Zinser-
trag l)esteuern will. Die Zinssteuer, wel-
che überall da Platz greift, wo wenig-
stens die Hälfte aller Wohnungen ver-
mietet ist, besteuert alle Gebäude und Ge-
bäudebestandteile, die Klassensteuer dagegen
nur die eigentlichen Wohngebäude.
Bei der Hauszinssteuer ist das Steuer-
objekt der Zinsertrag, sei es der wirkliche
oder der durch Vergleichung gewonnene
mögliche. Dabei dikfen Garten- und Möbel-
zinse, Beleuchtungs- und Wasserleitungsbei-
träge, Entschädigungen für Bedienimg und
dergleichen, ausserdem noch 15 resp. 20®/o
zur Bestreitung der Erhaltimgs- und Amor-
tisationskosten in Abzug gebracht werden.
Der Rest bildet den sogenannten reinen
steuerbaren Zinsertrag, von welchem die
Steuer mit 26^/8 bezw. 20 ®/o bemessen wird.
Die Gnmdlage der Besteuerung bilden in
erster Linie die Fassionen, dann die Ver-
nehmung, eventuell die kommissarische
Schätzung.
Die Hausklassensteuer richtet sich nach
der Zahl der in den Gebäuden enthaltenen
Wohnräume, so dass z. B. 40 — ^36 Wohnimgs-
bestandteile mit 220 fl. Steuer in der ersten
Klasse Stehen, 35^^0 mit 180 fl. in der
zweiten, während lediglich 1 Wohnraum in
der 16. Klasse 1 fl. 50 kr. bis 75 kr. zahlt
Bei der Klassifizierung der Wohnhäuser ist
hauptsächlich die Frage zu beantworten,
welche Häuser als Wohnhäuser, welche
Bäume als Wohnräume anzusehen sind.
Das Gesetz erklärt alle jene Gebäude als
Wohngebäude, welche solche Bestandteile
in sich fassen, die als Wohnungen -wirklich
benutzt werden oder zu dieser Benutzung
bestimmt sind, und als Wohnräume bloss
Zimmer und Kammern, die wirklich bewohnt
werden oder zur Bewohnung bestimmt
sind ohne Rücksicht auf die Zeit, durch
welche oder in welcher, und ohne Rück-
sicht auf die Art, nach welcher sie benutzt
werden. Als Wohnungsbestandteile sind
nicht anzusehen Küchen, Keller, Böden,
Stallungen, Scheunen und dergleichen, Schul-
zimmer, Werkstätten, Amtszimmer. Bei
Häusern, welche ursprünglich nach der
Zahl ihrer Wohnräume in eine Tarifklasse
eingereiht wiuden, bleibt dieselbe Haus-
klassensteuer solange in Geltung, als nicht
eine Vergrösserung oder Verkleinerung des
Umfanges des Hauses und zugleich eine
Vermehrung oder Verminderung der Wohn-
räume stattfindet Nach G. v. 1. Juni 1890
sind dem Verkehr entrückte Gebäude
(Schlösser^ Wirtshäuser) ohne nennenswerten
Ertrag mit der Hauszinssteuer für die ver-
mieteten und mit der Hausklassensteuer für
die nich vermieteten Wohnräume zu ver-
anlagen, t Bei der Hausklassensteuer unter-
worfenen Gebäuden, welche nicht mehi* als
9 Wohnräume enthalten und ein Jahr hin-
durch ohne Unterbrechung vollständig un-
benutzt geblieben sind, kann die Haus-
klassensteuer unter gewissen Bedingungen
abgeschrieben werden.
Zeitliche Befreiungen finden bei Neu-
bauten, Umbauten, Zu- oder Aufbauten statt
und zwar unter Umständen bis auf 12
Jahre. Nach G. v. 9. Febiniar 1892 sollen
Arbeiterwohnungen, welche entweder von
Gemeinden und gemeinnützigen Vereinen oder
von aus Arbeitern gebildeten Genossenschaf-
ten für ihre Mitglieder oder endlich von
Arbeitgebern für ihre Arbeiter errichtet
werden, auf die Dauer von 24 Jahren vom
Zeitpunkt der Vollendung des Gebäudes
an von der Gebäudesteuer befreit sein.
Weitere Voraussetzung ist aber, dass die
einzelnen Wohnräume den Anforderungen
des Gesetzes auf Grosse etc. entsprechen
und dass der jährliche Mietzins einen be-
stimmten Betrag nicht übersteigt. Das Ge-
setz soll auch nur in jenen Ländern und
Königreichen in Kraft treten, in welchen
den bezeichneten Neubauten im Wege der
Landesgesetzgebung durch Befreiung von
allen Landes- und Bezirkszuschlägen sowie
eine Ermässigung der Gemeindezuschläge
für die Dauer der staatlichen Steuerbefreiung
gewährt wird. Thatsächlich haben alle
Kronländer mit Ausnahme Dalmatiens ent-
sprechende Gesetze erlassen.
Lasten des Gebäudes wie die Zinsen
von Passivkapitalien gewähren keinen An-
spruch auf Verminderung der Steuer, da-
gegen ist dem Hausbesitzer das freilieh,
wie es scheint, illusorische Recht eingo-
Gebäuflesteuer
15
räumt, dem Gläubiger bei Bezahlung der
Zinsen von Passivkapitalien oder der Renten
5®/o derselben in Abzug zu bringen.
10. England. Nachdem schon im 15.
Jahrhundert eine Haus- und Familiensteuer
versucht wurde, wurde im Jahre 1696 eine
Art Haussteuer in Form einer Fenstersteuer
eingeführt, zu der im Jahre 1778 noch eine
besondere Ertragssteuer von Wohnhäusern
trat. Beide Steuern waren in der Haupt-
sache vom Inhaber und nicht vom Eigen-
tümer zu bezahlen und also auch die letzten
ihrer Wirkung nach keine Ertrags-, sondern
Wohnungs- oder Mietssteuem. Die Erti-ags-
steuer von Wohnhäusern, welche in den
Kriegszeiten zu Ende des vorigen Jahrhun-
derts bedeutend erhöht worden war, wurde
bei den Eeformen der 30 er Jahre aufge-
hoben und nur die Fenstersteuer beibe-
halten. Allein diese letztere Steuer war
wegen der mit ilir verbundenen Visitationen
unpopulär, hatte manche Nachteile auch in
gesundheitlicher Beziehung und wurde im
Jahre 1851 au%ehoben und an ihre Stelle
eine einzige reformierte Wohnungssteuer
(14 und 15. Vict. c. 36) gesetzt, die aber
Hur für Grossbritannien, nicht für Ir-
land gilt
Die jetzige Steuer von bewohnten Häu-
sern (inhabited houses tax) bildet einen
Teil des als Einkommensteuer bezeichneten
Steuersystems, ti^igt aber den gemischten
Charakter einer Häuserertrags- und einer
Wohnungssteuer. Sie ist bei geteilt ver-
mieteten Häusern vom Eigentümer, sonst
vom Bewohner bezw. Mieter zu entrichten.
Steuerfrei sind alle Wohnhäuser mit weniger
als 20 £ Jahresertrag, leerstehende Häuser,
Hospitäler, Armenschulen und technische
Anstalten, die Häuser der königlichen
Familie und unter bestimmten Voraus-
setzungen auch grössere Arbeiterhäuser.
Der normale Steuerfuss der eigentlichen
Wohnhäuser beträgt 9 d. vom £ — 3,75%,
von W^ohnhäusem, welche zugleich für ge-
werbliche Zwecke verschiedener Art dienen,
6 d. vom £ =z 2,50% des geschätzten Er-
trags. Nach den Angaben bei A. Wagner
^inanzwissenschaft 3. Teil, Ergänzungsheft
S. 19) unterliegt der Steuer, da Häuser un-
ter 20 £ steuerfrei sind, nur der fünfte Teil
aller Gebände (1894 : 1 342 148 von 6 893 242,
wovon 946275 bezw. 6019889 Wohnhäuser),
so dass die britische Häusersteuer im
Lzen wohl als ein Zuschlag zur direkten
^t^ueining der besser sitmerten Klassen
angesehen werden kann. In neuester Zeit
haben weitere Ermässigungen aus sozialen
Gesichtspunkten stattgefimden. So wurde
1890 der Steuerfuss für Häuser mit nied-
rigerem Mietwert herabgesetzt, nämlich von
6 und 9 d. auf 2 imd 4 bei Mietwert von
20—40 £ und auf 4 und 6 d. vom £ bei
Miet wert von 40—60 £, wodurch ein Steuer-
ausfall von 5—600000 £ zu Gunsten von
800000 Steuerflichtigen eintrat.
Die Veranlagung geschieht wie bei den
direkten Luxussteuem durch lokale Steuer-
einschätzer, welche von den Kommissären
der Landsteuer aus den Einwohnern des
Kirchspiels ernannt werden ; die Einschätzer
sind für die Vollständigkeit der Aufaahme
der Gebäude verantwortlich. Einzuschätzen
und also steuerpflichtig ist der voUe Miet-
wert, d. h., wenn der Eigentümer die
Steuer entrichtet, der Kohertrag. Wenn
dieser nicht im Erhebungsbezirke wohnt,
haben die Mieter die Steuer zu entrichten,
denen es aber überlassen bleibt, den Betrag
der Steuer von dem Mietzinse abzuziehen.
Für London gelten noch besondere Bestim-
mungen.
Der Ertrag der Gebäudesteuer ist teils
infolge der Bevölkenmgszunahme , noch
mehr aber infolge der Anhäufimg der Be-
völkerung in den Städten und der indus-
triellen Entwickelung in stetem Steigen be-
griffen. Er stellte sich 1893 auf 1,412
Millionen £ und beträgt nach dem Voran-
schlag von 1897/98 1,567 Millionen £.
11. Dänemark. Die direkten Steuern
Dänemarks beruhen im wesentlichen auf
der zu Anfang dieses Jahrhunderts vorge-
nommenen Regelung. Man beabsichtigte
damals ein ganzes System von Steuern ein-
zurichten, so dass die einzelnen Steuern
einander ergänzen sollten. Die eigentlichen
bleibenden direkten Steuern aber waren
teils eine Landsteuer, teils eine Gebäude-
steuer. Im Jahre 1844 erfolgte eine neue
El^hmg der Landsteuer, und zu gleiche
Zeit wurde auch als Ergänzung zu dieser
Land- oder Hartkomsteuer, welche nach
ihrer Veranlagung alle Landwirtschaft trei-
benden Personen treffen sollte, eine Ge-
bäude- oder Haussteuer ausgeschrieben, die
aber den Mieter bezw. den Selbstbewohner
eines Hauses, nicht den Eigentümer treffen
sollte. Diese Gebäudesteuer bezieht sich
teils auf die Häuser in den Städten, teils
auf solche Gebäude auf dem Lande, welche
nicht direkt zur Landwirtschaft oder als
Wohnung für Landarbeiter dienen, sondern
als Fabriken, Gasthäuser, Mühlen, Land-
häuser und dergleichen benutzt werden.
Der Besitzer soll mir dann der Steuerträger
sein, wenn er selbst sein Haus allein be-
wohnt, sonst aber soll der Mieter der eigent-
liche Steuerträger, der Besitzer nur der
Steuerzahler sein. Sie ist also mehr Woh-
nungs- als Haussteuer.
Die Steuer ist eine Arealsteuer, d. h. sie
wird mit einer bestimmten Summe von der
Quadratelle jedes Stockwerkes berechnet.
Der Betrag ist etwas verschieden in Kopen-
ha^n und in den anderen Städten ; in Kopen-
16
Gebäudesteuer
hagen ist er auch verschieden nach der
La^ und zum Teil der Art des Gebäudes
(ob das Gebäude an der Strasse oder gegen
den Hof liegt), in den Provinzstädten nach
dem Assekuran zweit des betreffenden Hauses.
Im übrigen kommt die Ijage des Gebäudes
nicht in Betracht. Um die unbemittelten
Mieter durch die Steuer, die in der Regel
in ganzer Summe auf den Mietpreis ge-
schlagen wurde, nicht zu hart zu treffen,
Hess man ursprünglich in Kopenhagen alle
Wohnungen mit weniger als 64 Quadrat-
ellen (= ca. 25 qm) von der Arealsteuer
frei. Als sich zeigte, dass diese Befreiung
zu einer nicht glücklichen Begrenzung der
Arbeiterwohnungen führte, hob man im
Jahre 1857 die Bestimmung auf, führte sie
aber, sds infolgedessen die Zahl der kleinen
Wohnungen abnahm, 1866 wieder ein und
dehnte sie 1873 auch auf die Wohnungen
mit nicht über 80 Quadratellen (ca. 31,5
qm) aus.
Der Gesamtertrag der Haussteuer ist
immer wachsend; er betrug:
1867/68 I 525 000 Kronen
1877/78 2 026 000
1884/85 2417000
n
n
12. Frankreich. (Thür-undFenster-
steuer.) Eine eigentliche Gebäudesteuer
gab es in Frankreich bis 1881—1883
nicht. Die alte Grundsteuer war nach
dem Plane der Revolutionszeit imd Napo-
leons I. eine allgemeine Ertragssteuer vom
gesamten Grund imd Boden einschliess-
Bch der Area und des Ertrags der Gebäude.
Durch die Gesetzgebung von 1881 — 1883
wurde die alte Grundsteuer in eine eigent-
liche Gnmdsteuer von dem nicht überbauten
Boden und eine Gebäudegnmdsteuer von
dem überbauten Boden geteilt und damit
ein wesentlicher Fortschritt herbeigeführt.
Durch G. V. 8. August 1890 wurde die Ge-
bäudegrundsteuer von der allgemeinen
Grundsteuer losgelöst. Sie beruht auf einem
ausgedehnten, alle 10 Jahre zu revidierenden
Kataster. Sie ist eine Quotitätssteuer im
Gegensatze zur Grundsteuer, welche Repar-
titionssteuer geblieben ist; ihr Steuerfuss
wird durch das Finanzgesetz bestimmt. Die
Bemessungsgrundlage bildet der von der
Verwaltung der direkten Steuern ermittelte
Mietwert (valeur locative) unter Abzug von
1/4 des Wertes bei gewöhnlichen (Jebäuden,
Vi bei Fabriken für Abnutzung, ünterhal-
tungs- und Reparatiffkosten. Der Steuer-
satz beträgt zur Zeit 3,20 **/o im Principal.
Neubauten sind erst vom dritten Jahre nach
der Vollendung an steuerpflichtig. Die
Steuer ertrug für den Staat 1883 : 58,33,
1888 : 63,43 , nach dem Voranschlag von
1896 : 80,04 Millionen Francs.
Neben dieser Steuer besteht in Frank-
reich als eine aus alter Zeit überkommene
eigentümliche Form der Haussteuer die
Thür- und Fenstersteuer. Sie wurde
neu als Ergänzung der Mobiliarsteuer ein-
geführt am 24. November 1798 oder 4. Fri-
maire VH. An diesem Gesetz sind später
einige Modifikationen vorgenommen worden,
so durch G. v. 3. Mai 1802 die Umwand-
lung aus einer Quotitäts- in eine Repartitions-
steuer, am 26. März 1831 die Rückver-
wandlung in eine Quotitäts-, am 21. April
1832 die abermalige Umwandlung in eine
Repartitionssteuer, aber diese sowie einige
andere spätere Gesetze haben an der ur-
sprünglichen Grundlage nichts Wesentliches
geändert.
Diese Steuer hat ihren Namen davon,
dass Thüren und Fenster, welche nach den
Strassen, Höfen und Gärten der Gebäude
und Fabriken hinausgehen, steuerpflichtig
sind. In der Gesetzgebune ist nun ein
Klassentarif aufgestellt, nach welchem die
Veranlagung vorgenommen werden soll, der
nach dem G. v. 21. April 1832 folgende
Gestalt zeigt:
Ortsklassen
Einwohner-
zahl
Häuser mit Oeffiiungen
Häuser mit 6 und mehr Oeffhungen für
jede der letzteren
Thorwe^e,
Magazin thore
u. dergl.
Gewöhnl. Thore,
Fenster d. unteren
Stockwerke bis inkl.
zweites Stockwerk
Fenster d.
3. n. höheren
Stockwerkes
Francs
0,30
0,45
0,90
1,60
2,50
0,40
0,60
1,35
2,20
3,25
0,50
0,80
1,80
2,80
4,00
0,60
1,00
2,70
4,00
5,50
0,80
1,20
3,60
5,20
7,00
1,00
1,50
4,50
6,40
8,50
Unter 5000
ö— 10000
10— 25000
25— 50000
50—100000
über 100000
Der Steuersatz wächst also einmal mit
der Grosse der Ortschaft, dann mit der
1,60
3,50
7,40
11,20
15,00
18,80
0,60
0,75
0,90
1,20
1,50
1,80
0,60
0,75
0,75
0,75
0,75
0,75
Grösse des Hauses und mit der Art der
Oeffnung.
Grebäudesteuer
17
Bas zu besteuernde Haus muss bewohn-
\Är sein; steht es leer, weil die Möglich-
keit fehlt, es zu vermieten, so bleibt es
■steuerfrei; steht es leer, weil man es nicht
vermieten will, so ist es steuerpflichtig.
"Was die Lage des Hauses angeht, so wird
es nur dann zur Stadt gerechnet, wenn es
innerhalb der Octroigrenzen liegt. Befindet
es sich ausserhalb derselben, so wird es als
zimi Lande gehörig betrachtet und in die
Orte mit unter 5000 Einwohnern eingereiht.
Was die Unterscheidung der Oeffnungen
anlangt, so sind nur diejenigen ThÜren und
Fenster steuerpflichtig, welche nach aussen
auf Wege, Höfe, Gärten und Felder gehen;
unverschlossene Oeffnungen dagegen werden
nicht als Thüren oder Fenster angesehen.
Steuerfrei sind die Thüren und Fenster
der Scheunen, Schäfereien, Ställe, Speicher,
Keller und die Dachluftlöcher, dann die
Oeffnungen nicht ziu* "Wohnung dienender
Räume, endlich die Thüren und Fenster der
Gebäude, welche im öffentlichen Dienst
verwendet werden, also staatliche Civil- imd
Müitärgebäude, ünterrichtsanstalten, Spitäler.
Dagegen haben die Beamten von Dienst-
wohnungen und Gebäuden die Steuer zu
entrichten.
Die Thür- und Fenstersteuer hat als
Steuerart einen gemischten Charakter. Sie
ist als Ergänzung der Mobiliarsteuer ge-
dacht und soll nicht den Eigentümer des
Hauses, sondern den Mieter bezw. den Be-
wohner nach der Zahl seiner steuerpflich-
tigen Thüren und Fenster treffen. Doch
sdl sie der Hauseigentümer, freOich auch
der üsufruktuar und Mieter eines ganzen
Gebäudes, entrichten, der sich die Steuer
in den entsprechenden Anteilen von seinen
Mietern wieder vergüten lassen soll. Dem-
nach vollzieht sich die endgültige Austei-
lung der Steuer in der Regelung der Miet-
preise, und so erscheint dieselbe, da sie,
wie es scheint, vom Eigentümer zunächst
nicht besonders eingefordert zu werden
pflegt, zum Teil als Hausertragssteuer, zum
Teil als Wohnungs-, mithin als Aufwand-
Steuer. Inwieweit sie das eine oder das
andere ist, lässt sich freilich bei den unbe-
rechenbaren üeberwälzungsverhältnissen die-
ser Steuer nicht sagen.
Die Thür- und Fenstersteuer ist ferner,
wie oben bereits bemerkt wurde, dem Ge-
setze nach keine Quotitäts-, sondern eine
Repartitionssteuer. Das Staatskontingent
betrug 1802 16 Millionen Francs, im Jahre
1832 22 Millionen. Ein G. v. 17. August
1835 bestimmte, dass die neuen Häuser zur
Steuer herangezogen und die Kontingente
dementsprechend vermehrt werden sollten.
Das G. V. 14. Juli 1838 sprach dann die
Absicht aus, alle zehn Jahre eine neue
Zählung der Oeffnungen vorzunehmen, die
Haadwörterbach der Staatswissenschaften. Zweite
Übrigens mit der Volkszählung verbunden
wurde. Da sich ferner nach G. v. 4. Au-
gust 1844 die Departementalkontingente ge-
mäss der von der wechselnden Grösse der
Ortsbevölkerung abhängigen Steuertarifsätze
veränderten, d. h. in der Regel erhöhten,
endlich fortwährend Zuschläge zum Princi-
pal der Thür- und Fenstersteuer für die
allgemeine Staatskasse erhoben wurden, so
vermochte man dieselbe im Gegensatz zur
Gnmd- und Personal- und Mobiliarsteuer
einigermassen mit den fiskalischen Interessen
und den Fordenmgen nach einer ent-
sprechenden lokalen Verteilung in Einklang
zu bringen. Sie betrug mit den Zuschlägen
für den Staat 1838 26,56, 1870 40,12, 1871
ohne Elsass 38,93, 1885 47,20 Millionen
Francs, stieg also um 77,7 %. So ist sie
ihrer Wirkung nach entgegen ihrer gesetz-
lichen Bezeichnung eigenÖich eine Quoti-
tätssteuer und zwar eine nach einem Klassen-
und Stufentarif erhobene Hausklassensteuer
von Wohnimgen bezw. Wohngebäüden für
die Hauseigentümer und Hauptmieter (A.
Wagner).
Obwohl die Thtlr- imd Fenstersteuer in
Bezug auf Technik und Veranlagung kunst-
voll ausgedacht ist, so kann sie doch in
keiner Weise als befriedigend bezeichnet
werden. Sie ist durchaus Hausklassensteuer
und steht als solche hinter der Hauszins-
steuer erheblich zimick, sie vermag den
Örtlichen Verschiedenheiten der Gebäude
weder nach Seite des Ertrags- noch des
Wohnungswertes gerecht zu werden, da sie
allzusehr schabionisiert. Auch kann die
feinste kasuistische Bestimmung die Will-
kür nicht ausschliessen, die an die leicht
dehnbaren Begriffe Oeffnung, Thorweg,
Thüre, Fenster etc. anzuknüpfen hinreichend
Gelegenheit findet. Man hat dies auch in
Frankreich selbst empfunden, wenn man in
Art. 10 des Finanz-G. v. 17. März 1852 der
Stadt Paris und später noch einzelnen an-
deren Städten erlaubte, die Thür- und
Fenstersteuer nach einem eigenen Tarif zu
erheben, in welchem ausser der Zahl der
Oeffnungen auch noch der Mietwert des
Gebäudes berücksichtigt wird.
Der Ertrag der Thür- und Fenstersteuer
stellt sich nach dem Budget von 1899 auf
61,200 Millionen Francs.
III. Beurteilnng.
Die Betrachtung der Gesetzgebung der
einzelnen Länder zeigt, dass die Gebäude-
steuer in verschiedenen Formen vorkommt.
Wenn wir von der Thür- und Fenstersteuer
absehen, so sind es im wesentlichen fol-
gende :
1. Die Hauszinssteuer, wobei die Steuer
nach den thatsäclüich gewonnenen oder
Auflage IV. 2
18
Gebäudesteuer
durchschnittlichen Zinserträgnissen erhoben
wird (Preussen, Oesterreich, Bayern).
2. Die EDausklassensteuer, wobei die Ge-
bäude nach Massgabe ihrer Grösse, Bauart,
Beschaffenheit, der Zahl der Wohnräume
und dergleichen in bestimmte Klassen ein-
gereiht und danach die Steuer bemessen
wird (Oesterreich und Preussen bei auf dem
Lande gelegenen Gebäuden).
3. Die Gebäudewertsteuer, wobei die
Steuer nach dem Fapitalwert der Gebäude
unter Berücksichtigung ihrer Lage und
Nutzbarkeit, üires Umämges, der baulichen
Einrichtung und der sonst den Wert be-
stimmenden Umstände in Prozenten des
Kapitalwertes erhoben wird (Württemberg).
4. Die Arealsteuer, bei welcher aus dem
Flächenraum des überbauten Bodens nebst
Hofraum unter Annahme eines bestimmten
Satzes, etwa der höchsten Bonitätsklasse
der Grundsteuer in der Ortsflur, eine Steuer-
verhältniszahl gebildet wird, von der die
Steuer in Prozenten bestimmt wird (Bayern
bei Gebäuden auf dem Lande).
Jede dieser Steuerarten, mit Ausnahme
der französischen^ englischen und dänischen,
sucht den aus dem Gebäude erzielten Er-
trag nach Abzug der ünterhaltskosten und
einiger anderer bald w^eiter, bald enger be-
messener Aufwendungen zu treffen. In
der That muss ja auch die Annäherung der
Besteuerung an den wirklich erzielten Rein-
ertrag als das Ziel der Ertrags- und folg-
lich auch der Gebäudesteuerpolitik bezeich-
net werden. Dieses Ziel kann freilich nur
da erreicht werden, wo, wie z. B. bei der
Hauszinssteuer in Preussen und Bayern,
eine thatsächliche Vermietung vorliegt und
der Wechsel der Mietpreise regelmässig
verfolg wird. Hier wini der Eigentümer
verpfhchtet, seine jährliche Mietrente zu
fatieren, und diese Fassion wird dem wahren
Verhältnis lun so mehr entsprechen, als
dieselbe leicht bei den Mietern kontrolliert
werden kann. Die Hauszinssteuer ist nicht
nur die beste Gebäudesteuer, sondern eine
der sichersten und am leichtesten zu er-
hebenden Ertragssteuem überhaupt. Wo
diese Steuerart ohne besondere Schwierig-
keiten durchführbar ist, also in den Städten
und überhaupt in denjenigen Orten , in
denen die Mehrzahl der Wohnimgen ver-
mietet ist und die nichtvermieteten danach
leicht eingeschätzt werden können, empfiehlt
sie sich unbedingt. In vielen iUllen aber
begnügt man sich damit, statt des mrk-
lichen Ertrages die Ertragsfähigkeit der
Gebäude nach dm'chschnittlich erzielten
Mieterträgen oder anderen Anhaltspunkten
zu ermitteln. Als solche benutzen die ver-
schiedenen Steuergesetze, wie aus der oben
gegebenen Uebersicht des geltenden Rechtes
ersichtlich ist, bald den mittleren Kaufwert
der Gebäude, bald die Grösse, Bauart, Be-
schaffenheit und andere Merkmale der Ge-
bäude, bald den von den Gebäuden und
den dazu gehörigen Hofräumen eingenom-
menen Flächenramn. Bei der Wahl der
Veranlagungsform entscheidet auch die Rück-
sicht auf die durch die Zweckbestimmung
derselben bedingte Ertragsfähigkeit, je nach-
dem also die Gebäude städtische oder länd-
liche, Wohn- oder Wirtschaftsgebäude sind.
Wo die Mietzinssteuer nicht angewendet
werden kann, also bei Wohngebäuden auf
dem platten Lande und in kleineren Städten,
da mag wohl die Hausklassensteuer die ge-
eignetste Form der Häusersteuer sein, ob-
wohl freilich auch sie bezüglich der Wahl
der zu Grunde zu legenden Merkipale, der
Bildung der Steuerkla^n etc. beta^htliche
Schwierigkeiten bietet. Die sogenannte
Arealsteuer ist allerdings sehr einfach, aber
doch auch sehr roh und willkürlich uad
nur bei niedrigen Steuersätzen anwendbar;
auch die Besteuerung nach dem Kaufpreise
steht jedenfalls hinter der Hauszinssteuer
zurück, da die Häuserpreise nach den Kon-
junktiu^n und konkreten Verhältnissen sehr
schwanken und zutreffende Mittelwerte aus
längeren Perioden mindestens für die
städtischen Gebäude sich schwer ermittein
lassen.
In der Regel kommen verschiedene Ver-
anlagungsarten in den Steuergesetzen neben-
einander vor, so dass die Häuser in den
Städten mit der Hauszinssteuer, die auf
dem Lande nach irgend welchen anderen
Bestinmiungen veranlagt werden. Das hat
selbstverständlich manches MissHche; es
wird namentlich nicht leicht sein, zwischen
der Besteuerung der städtischen und der
ländlichen Gebäude die richtige Verhältnis-
mässigkeit herzustellen, dies wird sich aber
bei der verschiedenen Natur von Stadt und
Land nicht umgehen lassen.
Hier ist übrigens auf die oben bereits
gestreifte principielle Frage hinzuweisen,
ob denn alle Gebäude oder ob nur gewisse
Kategorieen von Gebäuden der Häusersteuer
zu unterwerfen sind. Prindpiell und rein
theoretisch lässt sich nun wohl der Stand-
punkt vertreten, dass die Wohngebäude
allein der besonderen Steuer zu unterwerfen,
die wirtschaftlichen Zwecken dienenden Ge-
bäude dagegen bei der Grund- und Ge-
werbesteuer zu berilcksichtigen seien. Aber
man darf nicht übersehen, dass bei der
Beurteilung der konkreten Gesetzgebung
immer das Vorliandensein und die besondere
Gestaltung der anderen Ertragssteuem, na-
mentlich der Grund- und Gew^erbesteuer,
ihre Höhe etc. beachtet werden muss.
Auch das mag zu Gunsten einer allgemei-
nen Häuserateuer geltend gemacht werden,
dass es sehr schwer ist, die zu Wolui- und
Gebäiulesteuer — Gebühren
19
üie zu Gewerbezwecken dienenden Teile
eines Gebäudes zu trennen, und noch
schwerer, die Steuer da richtig zu bemessen,
wo derselbe Raum {gleichzeitig beiden
Zwecken dient. Wo die Steuer nicht zu
hoch ist, wo bei Bemessung der Steuer
auf die Lage der Gebäude und deren
Zweckbestimmung Rücksicht genommen
wird und wo die übrigen Ertragssteuem
mit der Gebäudesteuer ein einheitliches
Ganzes bilden, da Ifisst sich eine mehr
oder weniger allgemeine Steuer wohl recht-
fertigen.
Es mag hier im Zusammenhange auch
erwähnt werden, dass, obwohl die Ertrags-
Shigkeit der Wohnhäuser nicht bestritten
werden kann, doch die Häusersteuer viel-
fach angefochten wird. So hat z. B. v. Hel-
ferich dias Aufgeben der Häusersteuer als
Erbragssteuer befürwortet, iodem er sie an
dem Beispiel der bayerischen Häusersteuer
als auf die Benutzer überwäJzt betrachtet
und sie nur als indirekte Genusssteuer bei-
zubehalten wünscht, welche der Eigentümer
zahlt, aber der Mieter trägt. Nun ist ja
richtig, dass diese Steuer wie viele andei«
überwälzt werden kann. Aber A. Wagner
hat wohl rediit, wenn er sagt, dass es in
der Praxis von dem Einfluss der gerade
obwaltenden Konjunkturen abhänge, ob, in
welcher Richtimg und in welchem Masse
die Steuer überwälzt wird, und dass Miet-
preis und Steuerbetra^ zusammen eine
Grösse bilden, welche sich im ganzen nach
den Yerhältnissen von Angebot und Nach-
frage ändern. Jedenfalls lässt sich durch-
aus nicht mit Sicherheit annehmen, dass
die üeberwälzimg der Steuer immer oder
auch nur in der Mehrzahl der Fälle ge-
lingt und aus der Furcht vor üeberwälzung
ein Grund ableiten, gerade die Hausrente,
die namentlich in den Städten in erheb-
lichem Masse zur Bildung von Wohlstand
und Reichtum beiträgt, von der Steuer zu
befreien.
Litteratnr: Die bekannten Lehr- und Hand-
bücher, he», A, Wtigner, in Schönberg III, S,
Auß,, S. 3^48 ff. — Derselbe, Fin, III, 8. £56 ff.,
461 ff, und Ergämungshefi zu Teil III, S. 19 u.
€Sff. — W, Voeke, Die Abgaben, Auflagen und
die Steuer etc, 1887, S. S71—S90. — E. A,
Seh&fftCy Die Grundsätze der Steuerpolitik, 1880,
S. SIQ — S^ und die Steuern, S. 17 S. — JL, v.
Stein, Fin, S. Aufl. II, 2, Abt., S. 107—128.
— Eheherg, Grundriss der Finanzwieeenschafi,
S. Aufl., 1898, S. 172 ff. — Femer: J. v.
Helferieh, Reform der direkten Steuern in
Bayern, in der Zeitsehr. f. StaaUtw. 1878174- —
Vocke, Ueber Häuserateuer mit besonderer Rück-
^cht auf Bayern, ebenda 1875. — v. Philip^
pavich, Art. GtÄäudesteuer in Stengels Wörter-
burh des deutschen Veraaltungsreehts. — So-
üoffsky, Besteuerung der Gebäude, Riga 1892.
— An SpeeiaUitteratMr über die Häusersteuer
und Kammentare ßr: Preussen: Steilberg,
Die Reform der direkten Steuerte 1882. — Hen~
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1889. Dann die einschlägigen Abschnitte in
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Hoffmann, Geschichte der direkten Steuern in
Bayern, 1888. — Eheberg, Revision der direkten
Steuern in Bayern etc., Jahrb. f. V., 1882, S. 57 ff.
— Hoelc, HandJb. der ges. fHnanzverwaltung
im Königrisich Bayern, 1888, Bd. IL — Selsser,
Die Gesetze Über die direkten Steuern in Bayern,
Bd. I, 1882. — Seydel, Staatsrecht, Bd. IV,
1889, S. 119ff. — Württemberg: v. Rieeke,
Die direkten Steuern in Württemberg, in den
württemb. Jahrb. 1879. — Derselbe, Die neuen
württemb. Ste^ierkataster , im Fin.-Arch. 1888,
S. 820 ff. — V. Hochstetter, Grund-, Gebäude-
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— Sachsen: Oensel, Die neueste EntwickC'
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Jahrb. f. Nat. u. Stat., 1879, S. 445. — Walter, Das
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V. Lesigang, Versuche zur Reform der direkten
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V. Myrbaeh, Die Besteuerung der Gebäude in
Oesterreich und deren Reform 1886. — Her-
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Oesterreich, im, Jahrb. für Gesetzgebung, Ver*
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betreffend Begünstigungen für Neubauten mit
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1892. — England: Vocke, Geschichte der
britischen Steuern. — Dowell, History oftaxation
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— Dänemark: Wilh. ScharHng , Die
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S. 607 ff. — Frankreich: v. Kaufmann,
Die Finanzen Frankreichs 1882. — Perroux,
Die französischen direkten Steuern etc., deutsch
von Joppen, 1874. — Leroy^Beatilieu,
Traiti de la science de ßnances, livre II, chap. VII.
K. Th, Eheberg.
Gebühren.
L Allgemeines. 1. Begriff uod Wesen
der G. 2. ßegründmig und Grundsätze der
Bemessang der ü. 3. Abgrenzung der G. gegen
andere Einnahmearten. 4. Arten der G. 5. Er-
hebung der G. H. System der Gebühren-
gesetzgebung. 1. Charakter der Gebtlhren-
^esetzgeoung in den einzelnen Ländern. 2. G.
der Rechtspflege. 3. G. der Verwaltung. 4. Ge-
bührenartige Einnahmen: „Beiträge'^.
I. Allgemeines.
1. Begriff und Wesen der G. Ge-
bühren sind öffentlichi-echtMche Abgaben,
2*
20
Gebühren
welche als specieller Entgelt für die beson-
dei^e Inanspruchnahme der Aratsthätigkeit
öffentlicher Behörden nach Massgabe der
veranlassten oder verechuldeten Leistung
in von der Staatsgewalt einseitig festgesetz-
ter Höhe und Ausdehnung erhoben werden.
Für das Wesen der Gebühren, welche
nach Charakter und Zweck einen Teil der
öffentlichen Einnahmen bilden, ist
entscheidend einerseits der Anschluss ihrer
Erhebung an gewisse Amtshandlungen
öffentlicher Organe im Rahmen des ihnen
zugewiesenen Wirkungskreises und anderer-
seits der Zusammenhang der Gebühren-
leistung seitens des Pflichtigen mit einer
entsprechenden Gegenleistimg der in An-
spruch genommenen Amtsstelle, das Princip
der speciellen Entgeltlichkeit Der
oberste Grundsatz für oie Beurteilung einer
Abgabe als Gebühr ist demgemäßs stets die
nachweisliche Feststellung eines angemes-
senen Verhältnisses zwischen dieser und
dem Inhalte des geleisteten Dienstes.
Die Inanspruchnahme oder VenuBachung
der behördlichen Amtsthätigkeit kann eine
doppelte sein. Entweder ist sie eine bloss
mittelbare, indem der einzelne die Mit-
wirkung der Staatsgewalt zur Förderung
seiner persönlichen Interessen nur insoweit
veranlasst, als er zur Sicherung, Bestätigung
und Geltendmachung der ihm durch die
allgemeine Rechts- und Gesellschaftsordnung
zuerkannten Befugnisse einer besonderen
Rechtsform bedarf. Hier wird ein that-
sächlich bestehendes Machtverhältnis in an-
erkanntes Recht verwandelt. Das Princip
des staatlichen Eingriffs durch eine Amts-
handlung steht von vornherein fest, die Ver-
anlassung des speciellen Aktes durch das
Individuum ist nur für den Grad der öffent-
lichen Thätigkeit und damit für die Höhe
der zu fordernden Leistung massgebend.
Oder sie ist eine unmittelbare, wo von
einzelnen besondere Vorteile, die Zuwendung
positiver Rechtsvorzfige (Zugeständnisse)
oder die Schaffung einer Ausnahmestellung
in gewisser Beziehung vom gemeinen Rechte
— Konzession, Dispensation — durch die
Intervention der Staatsverwaltung angestrebt
werden bezw. durch seine Handlungen ein
Eingriff behördlicher Thätigkeit veranlasst
oder verschuldet ist.
2. Begriindoiig und GrandBätze der
Bemessnng der G. Eine ganze Reihe
von staatlichen Einrichtungen pflegt, unbe-
schadet ihres öffentlichen Cliarakters, doch
thatsäclilich vorwiegend von einzelnen be-
nutzt zu werden, so dass diese wesentlich
im Interesse gewisser Personen und Be-
vöikerungsklassen bestehen. Wenn nun die
fraglichen Amtsstellen an und für sich der
Gemeinschaft wegen errichtet sind und
unterhalten werden müssten, auch wenn
nur selten eine Inanspruchnahme an sie her-
anträte, so scheint es doch andererseits
wünschenswert, diejenigen Personen, für die
und auf deren Veranlassung hin die einzelnen
Handlungen vorgenommen werden, speciell
zur Kostendeckung heranzuziehen und die
Gesamtheit der Steuerzahler zu entlasten.
Die Gebühren erscheinen so als Beiträge
zur partiellen Bestreitung öffentlicher Ein-
richtungen, und ihre principieUe Berechti-
gung beruht daher auf den ökonomisch
differenzierenden Einflüssen vieler
öffentlicher Handlungen auf die Privatwirt-
schaften. Es heischt daher die Forderung
einer besonderen, das Eingreifen des ver-
waltungslechnischen Apparates bedingenden
Leistung auf der einen Seite, eine specielle
Bezahlung des erlangten Vorteils auf der
anderen.
Aus den eben angeführten Ursachen muss
das leitende Princip für die Gebührenbe-
messung stets die möglichst scharfe Gegen-
überstellung von Leistung und Gegenleistung
in ihrem objektiven Gehalte sein. Die An-
setzung der Gebühren wird nach einem
zweifachen Gesichtspunkte geschehen können:
derDeckung der verursachten Kos-
te n (Kostenersatzmoment) und dem Werte
der Leistung (specielles Entgeltlichkeits-
moment). Ersteres erfolgt regelmässig in
denjenigen Fällen, in welchen eine mehr
mittelbare Mitwirkung behördlicher Thätig-
keiten zur Förderung von Einzelinteressen
vorliegt, während letzteres dann in Frage
kommt, wenn unmittelbar besondere Rechts-
vorteUe erreicht werden. Der üebergang
von dem einen Bemessungsprincip zum
anderen, von dem reinen Kostenersatz zur
Bewertung der Dienstleistung wird sich in
dem Masse vollziehen, als die betreffenden
Staatsthätigkciten sich in ihren Wirkungen
als differenziale Förderungen des
wirtscliaftlichen Lebens zu Gunsten einzelner
verdichten, sei es, dass die Förderung im
persönlichen Interesse desjenigen liegt, der
die Amtshandlung veranlasst hat, sei es,
dass sie zu Gunsten Dritter erfolgt, die den
Schutz ihrer Interessen diuxjh die Anrufimg
einer Behörde zu erreichen suchen, wobei
der Verletzte eine amtliche Thätigkeit ver-
schuldet hat. Immerhin aber muss die
Gebührenfähigkeit des einzelnen Falles nach
dem thatsächlichen Umfange und der be-
sonderen Geartung der betreffenden Amts-
handlung beurteilt werden. Die Herein-
ziehung der individuellen Leistungsfähigkeit,
als Ausdruck der ökonomischen Gesaratlage,
ist aber für die Bestimmung der Gebülu^en
grundsätzlich auszuschliossen. Hier sind
nur objektive Merkmale des einzelnen Aktes,
niemals aber die subjektiven des Pflichtigen
zu berücksichtigen. Damit aber ist nicht
gesagt, dass das Gebührenwesen, als Ganzes
(rebühren
21
betrachtet, indirekt ein beachtenswertes
Mittel zur Durchführung des sozialpolitischen
Piindpes der Belastung der Einzelwirtschaft
nach dem Grade ihrer besonderen Beitrags-
kraft darstellen kann. Der Weg aber, dies
zu erreichen, liegt nicht in der stärkeren Be-
lastung der leistungsfähigeren Wirtschaft im
einzelnen Falle, sondern in der angemessenen
Ausdehnung oder Verstärkung der Gebtihren-
pflicht auf eine grössere Anzahl von Akten
und Amtshandlungen.
Endlich ist hervorzuheben, dass im Rah-
men des Gebührenbegriffes aus be-
sonderen Rücksichten eine Steigerung des
Gebührenbetrages über die Kosten und den
Wert der Dienstleistung eintreten kann, ohne
dass hierdm'ch der Gebührencharakter der
Abgabe verloren ginge. Solche Massregeln
haben meistens einen vorbeugenden oder er-
zieherischen Charakter, indem man in ge-
wissen Fällen die Benutzung von öffentlichen
Thätigkeiten möglichst erschweren will. Dem
steht indes der Fall gegenüber, dass die
umgekehrten Bestrebungen zu einer Erleich-
terung der Abgabe unter teil weisem, ja
völligem Verzicht auf die Erhebung von
Gebühren führen können.
3. Abgrenzniig der G. gegen andere
Einnahmearten. a) Von den sogenannten
privat wir tschaft liehen Staatsein-
nahmen sind die Gebühren dadurch ^und-
sätzlich verschieden, dass beim Privater-
werb (Domänen, Forsten, Staatseisenbahnen,
Lotterie-, Bankuntemehmungen, gewerbliche
Staatsbeüiebe , werbendes Vermögen) der
Staat nach den allgemeinen, auch für private
Unternehmungen im wesentlichen gütigen
Bedingungen im privatwirtschaftlichen Sys-
tem arbeitet und daher die einzelnen Er-
werbsgeschäfte bei einer derartigen Kapital-
nutzung in einer der freien Konkiurenz
ähnlichen oder nachgebildeten monopolis-
tischen Produktionsform erfolgen. Bei den
Gebühren dagegen wird die der Amtshand-
lung entsprechende Gegenleistung des Ver-
pflichteten lediglich durch die einseitige
J^ormierung der Staatsgewalt bemessen.
b) Von den Einnahmen aus den
öffentlichen Staatsanstalten (Post,
Telegraphen, Telephon, Kanäle, Strassen,
Wege, Brücken, Münze, Versicherungswesen)
sind die Gebühren gleichfalls streng zu
scheiden. Denn es handelt sich hierbei um
die Inanspruchnahme von Dienstleistungen
und Kapitalnutzungon, welche sich aus dem
Wirksamwerden einer Staatsanstalt ent-
wickeln. Die öffentliche Thätigkeit be-
schränkt sich hier auf die Sorge für die
angemessene Einrichtung und Verwaltung
der betreffenden Veranstaltimgen , die ein-
zelnen Vorgänge und Funktionen aber lösen
sich vom Kreise der Amtsthätigkeiten los.
Diese Ausscheidung der behörd-
lichen Leistung aus dem Bereiche der
eigentlichen Amtshandlungen, aus den all-
gemeinen Verwaltungsaufgaben , begründet
einen charakteristischen Unterschied zwir
sehen dieser Gruppe und den Gebühren.
c) Am wichtigsten ist die Abgrenzung
der Gebühren gegen die Steuern. Beiden
ist zunächst gemeinsam, dass sie auf Gnmd
von Normen des öffentlichen Rechts, zwangs»-
weise mit dem Eintritte des vorgesehenen
Ereignisses erhoben werden und Leistungen,
Uebertragungen aus Sachgütern (Vermögen,
Einkommen) der Pflichtigen, also Zahlungen
an den Staat und die Selbstverwaltimgs-
körper darstellen, regelmässig mit dem
Zwecke, diese ihrerseits zn befähigen,
Öffentliche Dienstleistungen vorzunehmen.
Sodann besteht eine weitere, rein äusser-
liche Aehnlichkeit zwischen beiden darin,
dass bei den Gebühren und Steuern das
Streben einer richtigen Tarifpolitik dahin
gehen muss, diuxjh die Aufstellung einer
Ober- und Untergrenze (Maximum und
Minimum) eine gewisse Abstufung der Sätze
herbeizuführen und der ansetzenden Behörde
einen massigen Bewegimgsspielraum nach
der specieUen Art der objektiven Sachlage
zu gewähren.
Hingegen unterscheiden sich Gebühr und
Steuer gnmdsätzlich dadurch, dass bei jener
das Princip der speciellen Entgelt-
lichkeit, bei dieser der Gnmdsatz der
generellen Entgeltlichkeit massgebend ist,
dort herrscht eine individuelle Abrechnung
von Fall zu Fall zwischen dem Pflichtigen
und dem Fiskus nach dem Inhalte des Ge-
gebenen und Empfangenen, hier liegt das
Aequivalent für den ^hler in dem Genüsse
der allgemeinen Leistungen des Staates auf
dem Gebiete des Rechts, der Kultur- und
Wohlfahrtsverwaltimg. Die Pflicht zur
Entrichtung von Gebühren tritt daher nur
dann und insoweit ein, als der besondere
Fall der Inanspruchnahme solcher Handlun-
gen vorliegt Die Zahlungspflicht wächst
also sozusagen nicht schon aus der That-
Sache der Zugehörigkeit zum Staatsganzen
als solcher heraus, sondern entsteht nur im
Zusammenhange mit einem bestinmiteu Vor-
fflmge des persönlichen oder Erwerbslebens.
Der CharaKter einer Abgabe als Gebühr
wird demgemäss durch das Vorhandensein
eines besonderen Falles einer beabsichti^en-
freiwiUigen oder unbeabsichtigten-unfrei wil-
ligen Benutzung einer öffentlichen Einrieb*
tung in der Erscheinungsform der amtlichen
Thätigkeit bezeichnet
d) Der Uebergang der Gebühren
in die Steuer wird herbeigefühlt durch
die Auflösung des Zusammenhanges zwi-
schen einer Leistimg der Staatsgewalt durch
eine besondere Amtshandlung und einer
entsprechenden Gegenleistung seitens des
22
Gebühren
Abgabepflichtigen. Mit der Aufhebung des
Bpeciellen Entgeltlichkeitsmomentes ver-
schwindet auch die Eigenart der Gebühren
als solcher. Die Methode des üeberganges
liegt dann in der immer schärfer hervor-
tretenden Tendenz, neben der objektiven
Geartung des einzelnen gebührenpflichtigen
Falles auch die subjektiven Beziehungen,
die individuellen Vermögens- und Einkom-
mensverhältnisse des Abgabepflichtigen bei
Ansetzung der Gebühren in Betracht zu
ziehen. Das Hinüberwachsen vom Gebühren-
gebiete in das Bereich der Besteuerung
vollzieht sich dann regelmässig in der Form
der Verkehrssteuern (s. d.), woneben
machmal auch andere Steuerarten (z. B.
Vermögens-, Einkommen-, Rangsteuern) vor-
kommen.
Die Art und Weise des üeberganges
kann in einer zweifachen Richtung je nach
den besonderen Merkmalen des Gebühren-
begriffes erfolgen. Einmal kann der innere
Grund einer Amtshandlung in Wegfall
kommen. Dies ist der Fall, wenn ohne
sachliche Motivierung lediglich im
fiskalischen lntei*esse die Inanspruchnahme
behördliciier Funktionen angeordnet und die
Unterlassung derselben mit Rechtsnachteilen
oder Strafen bedroht wird. Hier handelt es
sich häufig um Leistungen, welche der
Staat als solcher kraft seiner allgemeinen
Staatsaufgaben zu bieten hätte, z. B. den
Rechtsschutz bei Verträgen. Aus finanziel-
len Gründen wird hier die Beweiskraft im
Prozesse und an eine Registrierung mit
Abgabeleistung geknüpft ; die einzelne Amts-
handlung schliesst demgemäss für den Ab-
gabepflichtigen gar keinen speciellen Dienst
ein, der besonders zu bezahlen wäre. Hier
geht die Gebühr in die Steuer über. So-
dann aber kann die Abgabe von vornherein
so hoch bemessen werden, dass zwischen
beiden Leistungen das angemessene Ver-
hältnis von Kosten und Wert aufgehoben
ist, also mit der Beseitigung der speciellen
Entgeltlichkeit augenscheinlich die Absicht
vorliegt, in Anknüpf img an eine amtliche
Thätigkeit den Benutzer derselben zu einer
Steuer zu veranlagen; so z. B. bei einer
5V2<>/oigen Belastung der Kauf- oder Ver-
steigerungssumme (Frankreich) mit einer
Verkehrsabgabe.
4» Arten der G. Nach ihren sachlichen
Gnmdelementen kann man folgende typische
Erscheinungsformen der Gebüliren aufstel-
len:
L Allgemeine und besondere Ge-
bühren (generelle imd specielle Gebühren)
nach der Bemessungsgrundlage. Allgemeine
Gebühren sind diejenigen, bei welchen in
formaler Weise lediglich die Gebührenfähig-
keit einer Amtshandhmg festzustellen ist
(generalisierendes Moment). Sie werden
nach Massgabe der verursachten Kosten,
d. h. nach einer annähernden, auf Gnmd ge-
machter Erfahrungen festgestellten Abschät-
zung eines Kostendurchschnittes angesetzt.
Die Behandlung erfolgt in Anknüpfang au
die aktenmässigen Träger der amtlichen
Verhandlung, an die Eingaben, Protokolle,
Vorladungen, Verbeschiedungen etc. Zeigt
sich nun im einzelnen FaDe eine specielle
Gebührenfähigkeit einer Amtsthätigkeit in-
folge konkreter Umstände (specialisierendes
oder individualisierendes Moment), so treten
teils konkurrierend, teils selbständig beson-
dere Gebühren ein, welche das bewegliche
Element des Gebühren wesens zur Darstel-
lung bringen. Hier bildet der ungefähre
Wert des Dienstes den Massstab für die
Gebührenleistiing.
Beispiele. Allgemeine Gebühren:
Art. 1 des G. v. 13. Brumaire VH (3. Nov. 1798) :
Die Stempelabgabe wird auf alle bürgerlichen
und gerichtlichen Urkunden und zu Schrift-
stücken, welche vor Gericht vorgelegt und hier
znr Beweisfährang gebraucht werden können,
bestimmten Papiere gelegt." Hier liegt der
Uebergang zur Verkehrssteuer schon sehr nahe.
— Besondere Gebühren: Bei Besoldnngfs-,
Pensions- und ähnlichen Quittungen wird in
Bayern eine verhältnismässige Gebühr erhoben,
welche sich nach der abquittierten Summe richtet
(Gebührenges, v. 18. August 1879 Art. 231
und 232).
Wie aus dem ersten Beispiele ersichtlich
ist, kann leicht eine solche allgemeine Ge-
bühr einen Steuercharakter annehmen. Hier-
zu bedarf es nur der Ausdehnung der Ge-
bührenpflicht auf alle gerichtlichen und
aussergerichtlichen Urkunden überhaupt, wo-
durch dann das Gebiet der Verkehrssteuern
betreten wird.
2. Einzel- und Bauschgebühren
nach der Beziehung der Tarifaufstellun^.
Bei den ersteren macht der Gebührentanf
die einzelnen Schriftstücke namhaft imd
setzt für jedes Stück einen besonderen Ge-
bührensatz fest. Bei den letzteren dagegen
findet für den Zweck der Gebührenerhebung
die Zusammenfassung einer ganzen Reihe
von Amtsthätigkeiten , mitunter mit Zer-
legimg in einzelne Hauptabschnitte, statt. In
dem Masse, als die Bauschgebühren die
Einzelgebühren verdrängen, wird der Ge-
bührentarif einheitlicher, einfacher und ver-
ständlicher. Die Fortschritte und die natur-
gemässe Entwickelung der Tarif politik wird
daher auf eine allmäliUche Ersetzung der
Einzelgebühren durch ein System von
Bauschgebühren hinarbeiten.
Beispiele. Einen guten Beleg für die
Bauschgebühren bildet die Bank von England,
welche ein Stempelbauschale von 60000 £ jähr-
lich für das Recht der Banknotenanssabe an
den Staat entrichtet. Ebenso bezahlen die übri-
gen Zettelbanken an Stelle eines Staifeltarifes
nach StückgrOsse der Banknoten bauschalierte
J
Gebühren
23
Abfindnn^Qmmeii. Bei den Gerichtskosten
hat sich in den meisten Staaten, z. B. seinerzeit
in Prenssen, der Ueberganf von der Einzel-
geböhr zur Banschgebtthr youzogen. Vgl. preass.
G. V. 10. Mai 1851.
3. Feste und veränderliche Ge-
bühren nach Art der Gebührensätze. Feste
oder fixe Gebühren sind solche, welche
überall, wo sie zur Anwendung kommen, in
dem gleichen Betrage eingezogen werden.
Dagegen treten die veränderlichen Gebühren
in nach den jeweiligen Umständen ver-
schiedenen Sätzen auf. Unter den letzteren
werden ferner unterschieden:
a) Rahmengebühren, wenn die an-
setzenden Behörden einen Spielraum zwi-
schen einem Maximum und einem Minimum
haben, und
b) Gradationsgebühreri, wenn in
fester Abstufung nach bestimmten Merk-
malen (Zeitdauer des gebührenpflichtigen
Aktes, Rauminhalt des zum Protokollieren
notwendigen Papieres, Wertsumme etc.) die
Festsetzung erfolgt. Die Unterarten dieser
Gnippe sind daher
ff) Zeit- und Raumgebühren, bei
vrelchen die Bemessung nach Raum-
nnd Zeiteinheiten erfolgt, und
-«0 Wertgebühren, wo die Wert-
Bumme nach Weiteinheiten der ziu*
Behandlung stehenden Gegenstände
zu Grunde liegt. Nach der Methode
der Ansetzung kann man unterschei-
den Klassengebühren, wo die
Gebühr nach Klassenabstufungen in
festen Sätzen steigt, und Prozen-
tualgebühren, wo dies in Prozen-
ten des Wertes geschieht.
4. Unmittelbare (Kskus-) und mit-
telbare (Diener-) Gebühren nach der
Persönlichkeit der zum Bezüge Berechtigten.
Erstere fliessen aus der Hand des Gebühren-
schuldners sofort in die Staatskasse, letztere
werden den mit den öffentlichen Funktionen
betrauten Beamten als Schadloshaltung und
meist als w^esentliche Bestandteile ihrer Be-
soldung für ihre Mühewaltung überlassen.
Finanztechnisch hat die Ueberlassung der
Gebühren an Staatsdiener wegen der Ein-
^hheit mancherlei Vorzüge. Dagegen ent-
zieht sie dem Staate den Ueberblick über
die in Gebührenform erhobenen Abgaben,
sie öffnet der Beamtenwillkür Thür und
Thor, sie macht (jfebührennachlässe in sozial-
nolit^hem Interesse unmöglich und schafft
Missverhältnisse in den dienstlichen Be-
ziehungen, namentlich dann^ wenn die Ge-
haltsverhältnisse der mit fixer Besoldung
allgestellten Staatsdiener weniger günstig
sind £js die der (}ebührenbezugsberechtig-
ten infolge gewisser örtlicher Zustände
(Richter — Geri<Atsvollzieher!). Es dürfte
daher de le^ ferenda die thunlichste Er-
setzung der mittelbaren Gebühien durdi
unmittelbare das anzustrebende Ziel einer
richtigen Gebührenpolitik sein.
5. Erhebung der 6. Die Gebühren
können erhoben werden
1. in Stempelform. Die Einrichtung
der Gebühren geschieht hier durch die Ver-
wendung von gestempelten Formularen
(Stempelblanketts) für die gebührenpflichtig
erklärten Urkunden bezw. diuxjh Auiklebung
von Stempelmarken auf die betreffenden
Schriftstticke. Am zweckmässigsten ist diese
Erhebungsform da, wo eine specielle Be-
rechnung des Wertes der Leistung oder der
verursachten Kosten fehlen kann und die
Abgabe den Charakter einer gleichmässigen
oder nach ein^hen Merkmalen abgestuften
Vergütung eines öffentlichen Dienstes an-
nimmt.
Die Erhebung in Stempelform hat den
Vorzug, dass die Mühe der Berechnung und
des Ansatzes von der Behörde auf den Gte-
bührenptiichtigen übertragen wird und die
Kosten der Einziehung durch den Verkauf
der Wertzeichen ersetzt werden (Debit).
Das Rechnungs-, Kassen- und Bucmmgs-
wesen wird wesentlich vereinfacht, und dem
Publikum bleiben zeitraubende (j^änge zur
Erhebungsbehörde wegen geringfügiger Be-
träge erspart. Dagegen muss hier eine
nachfolgende Specialkontrolle über die wirk-
liche und richtige Anwendung der vorge-
schriebenen Stempel stattfinden, ferner die
böswillige oder fahrlässige Nichtbeachtung
der Kontrollvorschriften mit Strafen und
Ungiltigkeitserklärungen filr das Publikum
bedroht und endlich müssen besondere An-
ordnungen über Format und Beschreibung
der gebührenpflichtigen Schriftstücke, über
die Art der Benutzung der Stempelzeichen
und ihre Unbrauchbarmachung (Kassierung),
über Defraudationsstrafen bei Unterlassung
und über Kontrollstrafen bei vorschrifts-
widriger Verwendung von Stempeln erlassen
werden.
Um überhaupt die Erhebungsform des
Stempels anwenden zu können, muss sich
die Fälligkeit der Verpflichtung an (Je-
schriebenes, Urkunden, Eingaben, Bescheide
anschliessen. Diese ist aber nur eine
Form der Einziehimg und nur anwendbar
innerhalb eines begrenzten Gebietes. Sie
fordert ausserdem Einfachheit und Niedrig-
keit der Gebührenansätze und gestattet
immer nur eine beiläuflge oberflächliche
Bemessung der Gebühren nach den Kosten.
Sobald siÄ aber die Gebühren an die Amts-
handlungen selbst, nicht an die mit diesen
zusammenhängenden Urkunden anknüpfen,
lässt sich der Stempel nicht verwenden.
Im ganzen betrachtet ist die Stempelform
wohl mit die einfachste Erhebung der (Ge-
bühren, kann aber der Differenzierung und
24
Gebühren
fortschreitenden Specialisierung des Gre-
bührenwesens nicht folgen und bleibt daher
in vielen Fällen doch ein mangelhaftes
Mittel für die Einziehung. —
2. durch direkte Einziehung. So-
bald bei den gebührenpflichtigen Handlungen
ein individuelles Gepräge, eine Verschieden-
heit des einzelnen Falles an die Stelle des
Typischen und Gleichartigen tritt und eine
Bemessung nach dem Inhalte oder Werte
der Leistung erheischt, muss die unmittel-
bare Ansetzung und Erhebung der Ge-
bühren durch die betreffenden Behörden
den Stempel ersetzen. Die direkte Ein-
ziehung tritt daher zumeist bei den speciellen
und Bauschgebühren ein.
Die Vorzüge der unmittelbaren Ein-
hebung sind vor allem die vollständige
Sichenmg der Entrichtung der verfallenen
Gebühren und die Möglichkeit, die Wirkung
der Gebührensätze in den einzelnen Dienst-
zweigen zu überblicken. Andererseits aber
gestattet dieselbe die Beseitigung aller gegen
das Publikum gerichteten Kontroll- und
Strafmassregeln und macht im ganzen, wenn
auch nicht unbedingt, den Eingang der Ge-
bühren von dem Willen des Pflichtigen un-
abhän^g. Das gleiche wird wenigstens
teilweise für die Zahlungsfähigkeit des
Schuldners erreicht, wenn die Bezahlung
der Dienstleistung vorangeht. Allerdings
erfordert die direkte Erhebung auf der an-
deren Seite einen grösseren Verwaltungs-
apparat, ein zahlreicheres Beamtenpersonal
und ein umständlicheres Kassen- und Rech-
nungswesen.
Am einfeichsten und bequemsten füi* die-
jenigen, welche eine öffentliche Dienstleistung
in Anspruch nehmen, wäre es, wenn An-
setzung und Einzug von derjenigen
Amtsstelle ^schähe, deren Thätigkeit die
Gebührenpflicht begründet. Allein die da-
diuxjh bedingte Ausstattung sämtlicher Be-
hörden mit Kassen und Kassenbeamten so-
wie die nicht zu vermeidende, unverhältnis-
mässige Zersplittenmg des Verrechnungs-
wesens, haben es empfehlenswert erscheinen
lassen, die Ansetzung der Gebühren den in
Anspruch genommenen Organen zu über-
tragen, mit dem Einzug aber die Steuerbe-
hörde oder eine andere bereits vorhandene
Kassenstelle zu betrauen. Letztere werden
dann diux>h sogenannte Konferendenver-
zeiclmisse rüeksichtlich des voUständigen
und richtigen Einzugs der ihnen zur Er-
bung überwiesenen Gebühren überwacht.
In dem Masse, als die fortschreitende
Entwickelung und Differenzierung des Ge-
bührenwesens sich verfeinert, die Gebühren
aus Gebüliren von Urkunden zu solchen für
die feiniielnen Amtsverrichtungen werden,
die allgemeinen zu besonderen imd die
Einzelgebühren zu Bauschgebühren gestaltet
werden, wird auch die Erhebung in Stempel-
form der direkten Einziehung mehr und
mehr weichen müssen. Auch mer zeigt der
Werdegang die Tendenz, von der typischen,
schablonenhaften Form zur Speciahsiening
und Individualisierung fortzuschreiten.
II. System der Gebührengesetzgebniig.
1. Charakter der (rebührengesetz-
gebung in den einzelnen Ländern. —
1. Deutsches Reich (Reich und Bundes-
staaten). Im Deutschen Reiche hat
der Prozess der Ausscheidung der Verkehrs-
steuern aus dem Gebührengebiete durch die
Erhebung gewisser Verkehrssteuem als
Reichssteuern sowie durch die einlieitliche
Festsetzung einzelner Gebühren durch die
Reichsgesetzgebung begonnen. So werden
als eigentliche Reichssteuern erhoben der
Wechselstempel, der Spielkarten Stempel, die
Stempelabgaben von Aktien, Renten, Schuld-
verschreibungen, von Schlussnoten über
Kauf- und sonstige Anschaffungsgescliäfte
und Lotterielosen u. s. w. Dagegen wurden
von den Gebühren einheitlich festgesetzt:
die Consulatsgebühren (R.G. v. 1 Juli 1872
und vom 10. Juli 1879 § 44), die Eichge-
bühren (Taxe V. 12. Dezember 1869 mit
Nachträgen vom 30. Juni 1870 und 6. Mai
1871), die mit den Standesregistern zusam-
menhängenden Gebühren (R.G. v. 6. Februar
1875 § 42), die Gebühren betreffend den
Schutz des geistigen Eigentums an Schrift-
werken (R.G. V. 11. Juni 1870), an Werken
der bildenden Künste (R.G. v. 9. Januar
1876 § 16), an Mustern und Modellen (R.G.
V. 11. Januar 1876 § 12), die Gebühren für
Markenschutz (RG. v. 30. November 1874
§ 7), die Patentgebühren (R.G. v. 25. Mai
1877 § 8), die Gerichtsgebühren (Gerichts-
kosten-G. v. 18. Juni 1878 ; Gebührenordnung
für Gerichtsvollzieher vom 24. Juni 1878,
R.G. V. 16. Juni 1879 betreffend das Reichs-
gericht, § 2; Nov. vom 29. Juni 1881; G.
betreffend die Gewerbegerichte vom 29. Juli
1890 § 57), Gebühren für Ausstellung von
Arbeitsbüchern (Nov. ziu- Gew.-O. vom 17.
Juli 1878 §§ 109 und 112), Gebühren für
die Statistik des Warenverkehrs mit dem
Auslande (R.G. v. 20. Juli 1879 §§ 11—13),
Prüfungsgebühren für Seeschiffer (R.G. v.
30. Mai 1870), Gebühren für die Approbation,
als Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer (Be-
kanntmachung des Kanzlers vom 25. Sep-
tember 1869) und die Gebühren für Pässe
und Reisepapiere (Bundes-G. v. 12 Oktober
1867 § 8).
Viel weniger konsequent und im ein-
zelnen sehr vei-schieden hat sich die Trennung
der Gebühren von den Verkehrssteuern in
den Bundesstaaten des Deutschen Reichs
voUzogen ; zum grossen Teile steckt hier die
Entwickelimg nur in den ersten Anfängen.
InPreuBsen hat die Ausscheidung da-
durch stattgefundeo, dass die Gesetzgebung
einerseits tod den Gebühren die »Stemi)el-
steuern. (GG. v. 7. März 1822, 2. September
1862 u. s. w., besoDdere G. v. 31. Juli 1895)
lo6gel5et UQd andererseits die Erbscliafte-
gteuer verselbständigt hat (G. v. 24. Mai
1891 und G. v. 31. Juh 189Ü). Für die
neuen lAndesteile sind zaiilreiche Sonder-
bestimmungen erlassen und diese thuniichst
mit dem Rechtsznstande der alteo Provinzen
in Einklang gebracht. Kach dem Kriege
1870.71 fand infolge der günstigen Finanz-
lage die Aufhebung einej- Keihe von Stem-
pästeuem statt (G. v. 21. Februar 1872
[Gesindebücher], vom 26. März 1873 (Ge-
suche, Bescheide, Geburts-, Tauf-, Aufge-
bots-, Ehe-, Trau-, Toten- Beei'digungs-
Bcheine, wo der Stem])el eine Erhebimgsforra
der Gebühren war)). Die Gebühren der
nicht sti-eiligen Gerichtsbarkeit sowie die
durch das GerichtskostengesetK (E.G. v, 18.
Juni 1878) nicht geregelten Gebühren der
streitigen Gerichtsbarkeit sind neu durch
0. V. 25. Juni 189.T geordnet worden.
lu Bayern hat der Ausscheidungspro-
zess der ^ erkehrssteuem aus den Gebühren
nur geringe Fortschritte gemacht, üie Ge-
setzgebung hat in dem Haupt-G. v. 18.
Auguiit 1879 (mit verschiedenen Nachträgen ;
neue Textierung vom Jahre 1890, 1892 und
weitere Aenderungen der Gebührensätze vom
Jahre 1899) wesentüch beide Gruppen zu-
sammengefasst, indem sie teUs im Anschluss
an das R.G. Ober die Gerichtekosten vom
18. Jiuii 1878 die älteren Bestimmungen in
den rechtsrheinischen Gebietsteilen und in
der Pfalz, in welch letzterer grösstenteils
soch die französischen Gesetze über Stempel
und B^istnerung in Kraft waren, kodifi-
zierte und umänderte. Eine Ausnahme
macht die Erbschaftssteuer, die durch das
G. V. 18. August 1879 besonders geregelt
nnd als eine selbständige Steuer neben den
Abgaben des Gebflhrenwesens eingerichtet
wiude.
Sachsen hält Gebühren und Urkunden-
Stempel auseinander imd hat dtm:h zwei
GG. V, 13. November 1876 diesen letzteren
und die Erbschaftssteuer geregelt. Würt-
temberg hat seine Gebühren durch das
allgemeine Sportelgesetz v, 24. März 1881
geordnet und daneben ein besonderes G. v.
24. Mär? 1881 über die Erbschafts- und
Schenkungssteuer. Dagegen gehört die
Acciae (G. v. 18. Juli 1824) ganz dem Ver-
kehrssteuergebiete an. Die Abschälung der
Veitehissteuem von den Gebühren hat sich
demgemfiss in 'Württembe]^ ziemlich voll-
Etflndig vollzogen ; nur. entliält daa Sportel-
gesetz in den Wirtschaftssporteln, Sportein
. Ton Weinuiiunden, vom Erwerb von Liegen-
schaften durch Zwangsenteignung, von Ver-
pachtun^D und Vermietungen kommunaler
Immobilien etc. verkehrssteueraräge Bei-
sätze. Auch in Baden sind nur die Erb-
Bchafts- und Schenkungs- sowie die Liegen-
schaftsaccise vom Gebührenwesen als selb-
ständige Steuern abgelöst (Äcciseordnung
V. 4. Januar 1812 mit Abändeningen),
während im übrigeu in den Abgaben für
die Geschäfte dei- Rechtspolizei verwaltimg
(G. v. 20. Auglist 18Ö4 und 21. Juni 1874}
und der Civilstaatsverwaltimg und der
Polizeisachen (G. v. 29. Jidi 1S64 und 21.
Juni 1H74) beide Gnippen verschmolzen sind.
Desgleichen hat in Hessen der Ablösungs-
prozess erst durch die Einftihruug einer be-
sonderen Erbschaftssteuer (G. v. 30. August
1884) begonnen.
2. Frankreich hat sein Gebühren- und
Verkehresteuerwesen auf dem Principe der
möglichsten Ausdehnung des Systems der
Einzelgebühren aufgebaut, die Bauschgebflh-
ren grundsätzlich ausgeschlossen. Neben
den nach den Kosten der veranlassten Hand-
lung bemessenen allgemeinen Gebühren er-
scheinen zahlreiche specielle Gebühren,
welche die besondere Gebührenfähigkeit des
einzelnen Aktes zu würdigen suchen. Für
die ersteren besteht ein nach Grösse des
verwendeten Papiers abgestufter Dimensions-
stemjwl, wälirend die letzteren in Form der
Enregistrementsgehühren eingezo^n werden,
welche teils in fixem Betrage, teils als^ine
prezeutiiale Zuschlagstaxe erhoben weraen.
Ausnahmsweise treten statt des Stempels an
die Seite der Enregistrementsgehühren die
Gerichtsschrei bereigcbflhreu bei streitigen
Rechtssachen für gewisse Urkunden (z. B.
Urteilsausfeitigiuigen für Vormerkungen der
Streitsachen in den Sitzungsberichten), ferner
die H;^potheken gebühren bei den rechts-
polizeilichen Förmlichkeiten der Hypotheken-
eintragung und schliesslich die Siegelge-
bühren bei Verleihung besonderer Reclite
(z. B. Altersdispense, Verleihung oder Er-
neuerung von Stadtwappen). In keinem
Lande ist es so schwierig wie in Frank-
reich, eine genaue Ünterscheidimg zwischen
dem Gebühren- und dem Steuergebiet fest>
zulegpn, da beide in dem fiskalisch hoch-
entwickelten Systeme oft unmerklich in ein-
ander übergehen.
3.0esterreich besitzt ein ungemein aus-
gedehntes System von EinzelgebünreUj durch
welche fast jede Handlung von u^nd-
welcher Erheblichkeit im amtlichen oder
bürgerlichen Verkehr erfasst wird. Hier
treten regelmässig zunächst allgemeine Ge-
bühren von Urkunden, Schriftstücken, Doku-
menten aller Art auf, an die sich alsdann
besondere Gebühren für die einzelnen ver-
anlassten Ämtalianiilungen schliessen. Im
Gegensatz zur französischen Pi'axia versucht
die tisterreichische, die Urkunden gebühren
26
Gebühren
selbst thunlichst nach dem verschiedenen
Inhalte derselben zu individualisieren und
zu differenzieren. Die eigentlichen, specieüen
Grebühren, welche der besonderen Gebühren-
fähigkeit des vorliegenden Aktes Rechnung
tragen, beschränken sich im wesentlichen
auf eine Prozentualgebühr von gerichtlichen
urteilen imd Erkenntnissen und auf die
Taxen von Gnaden Verleihungen , Dienstbe-
stellungen, Privilegierungen, Verleihung ver-
schiedener Berechtigimgen , Zulassung zu
öffentlichen Aemtem. Gleichwie in Frank-
reich, so lässt sich auch in Oesterreich die
Ausscheidung der Verkehrsbesteuenmg nicht
mit voller Schärfe und Sicherheit vornehmen.
Die geschichtliche Entwickehmg hat in
beiden Staaten durch die exorbitanten Be-
dürfnisse der Finanzverwaltung einen der-
artigen ParaUelismus in Ausbildung beider
Gebiete erzeugt, dass eine systematische
GHedenmg beider Einnahmegruppen nicht
durchführbar ist.
Eine Effektenumsatzsteuer ist durch G.
V. 18. September 1892 neu eingeführt und
durch G. v. 9. März 1897 reformiert w^orden.
Yon ausländischen Aktien, Renten- und
Schuldverschreibungen vnrd gleichfalls nach
G. V. 18. September 1892 eine solche erhoben.
Ungarn nimmt auch in dieser Beziehung
Oesterreich gegenüber eine selbständige
Stellung ein.
4. Grossbritannien. Nach dem gel-
tenden Hauptgesetz über Stempel (Stamp
Duties), der Konsolidationsakte vom Jahre
1870 (33 u. 34 Viktoria c. 97, 98) hat hier
eine Ausscheidung der Yerkehrssteuern aus
den Gebühren gar nicht oder doch nur
stückweise stattgefunden. Durch G. v. 20.
Juni 1899 wurde das Stempelgesetz durch
Stempel auf koloniale und fremde Wert-
papiere sowie auf Inhaberaktien ausgedehnt.
Einzelne andere Dokumente wurden teils
neu besteuert oder deren Stempelsätze er-
höht. Nur in einem Falle, gleichwie in den
meisten Staaten, hat sich der Entwickelungs-
prozess ganz vollzogen, nämlich bei aer
Erbschaftesteuer. (Probate Duty, Legacy
Duty, Succession Duty, Estate Duty durch
57 und 58 Vict. c. 30 (1894) mit Erleich-
terungen durch die Finance Act v. 1898).
Ausserdem ist zu beachten, dass die grosse
Mehrzahl der hierher gehörigen Abgaben
wesentlich steuerartigen Inhalts ist, woneben
Gebühren laufen. Häufig lassen sich eigent-
liche Gebühren da waSnrnehmen, wo im
Principe Verkehrssteuern vorliegen, die aber
durch die Niedrigkeit des Ansatzes einen
Gebührencharakter annehmen, z. B. bei
Mietverträgen von Wohnhäusern bis zu einer
Jahresrente von 10 £ der Pennystempel.
Im übrigen finden sich Gebühr und Steuer
in der Gesetzgebung gemischt.
5. Italien und Belgien haben ihre
Gebührengesetzgebung auf dem französischen
Muster aufgebaut Ebenso besitzen die Nie-
derlande und Russland ein reich ge-
gliedertes Gebühren- und Verkehrssteuer-
wesen, bei welchem indes das Steuerprincip
vorherrschend ist. Auch die Vereinigten
Staaten von Nordamerika boten zur
Zeit des Bürgerkrieges manche bemerkens-
werte Erscheinung im Stempelwesen und
zeigen auch heute uoch^ namentlich in den
Erbschaftesteuern der Einzelstaaten, manche
Eigentümlichkeit.
Der Eindruck, welchen wir aus den vor-
stehenden üebersichten der Gebührengesetz-
gebung gewonnen haben, lässt sich im all-
gemeinen dahin zusammenfassen, dass der
Ausscheidungsprozess zwischen den ge-
bühren- und steuerartigen Abgaben noch zu
wenig vorgeschritten ist, um eine klare imd
sichere Abgrenzung in der Praxis zu er-
möglichen. Niu* die Erbschaftesteuem sind
in den meisten Ländern als selbständige
Verkehrssteuem durchgängig von dem öe-
bührenwesen losgetrennt, was sich aus der
grossen Bedeutung dieser Steuer erklärt
(England !). Im übrigen hat sich im Deutechen
Reiche die Entwickehmg am reichsten ent-
faltet, indem einesteils gewisse Abgaben
vom Gebührenwesen losgelöst und in Reichs-
verkehrssteuem umgewandelt wurden, wäh-
rend anderenteils einzelne Bundesstaaten
zwischen Gebtihren und Stempelsteuern
(Preussen, Sachsen, Württemberg) unter-
scheiden. Andere Staaten, wie Bayern, haben
das Gebühren wesen und die Verkehrssteuern,
ausschliesslich der Erbschaftssteuer, ein-
heitlich geordnet.
2. 6. der Rechtspflege. Gebühren der
Rechtepflege sind diejenigen Gebühren, wel-
che aus dem Rechteverkehr hervorgehen und
als specieUes Entgelt für die Leistungen der
Rechteverwaltung bei der Rechteprechung
der Gerichteorgane zu entrichten sind. Ihre
Erhebung erfolgt einmal, wenn der einzelne
in aktiver-freiwilliger Bethätigung
des Rechtsverkehrs den Kechteschutz der
Gerichte zur Geltendmachung seiner Rechte
in Anspruch nimmt; sodann aber bei pas-
sivem - zwangsweisem Eintritt der
Rechteprechung, wenn die Gemeinschaft
oder Gruppen von einzelnen bei Verletzungen
der Rechteordnung oder ihrer Interessen
gegen den Verletzer von Amtew^eu oder
auf Antrag durch die gerichtliche Thätigkeit
geschützt werden. Hier erwächst die Ge-
bührenpflichtigkeit teils aus einer veran-
lassten, teilsaus einer verschuldeten
Leistung der Staatsgewalt für den einzelnen.
Man unterscheidet
1. Gebühren der streitigen
Rechtspflege der Civilgerichts-
b a r k e i t. Die Begründung einer Gebühren-
erhebung liegt hier in dem Schutze und der
Gebühren
27
Obsoi^, welche die Staatsgewalt dem ein-
zelnen widmet, um seine Person und sein
Eigentum g^en die -widerrechtlichen Ein-
und üebergriffe Dritter zu schützen. Die
GebührenfÖiigkeit des betreffenden Aktes
ist nachgewiesen, wenn ein offenkundiger
Fall der Inanspruchnahme einer öffentlichen
Anstalt erfolgt Eine Forderung der Ge-
rechtigkeit ist es daher, dass ein specieller
Entgelt für die mit Kosten verbimdene ge-
richtliche Thätigkeit bei Behauptimg oder
Bestreitung privater Rechte geleistet wird.
Dagegen braucht die Deckung der Prozess-
kosten durchaus keine vollständige zu sein,
da die ganze Institution als solche zunächst
im Interesse des gemeinschaftlichen Zu-
sammenlebens besteht imd die Rechtsord-
nimg das materielle Substrat der gesell-
schaftlichen Selbstentfaltung ist. Die Ge-
bühren sollen im voraus möglichst bestimm-
bar sein und ihre Höhe von der grösseren
oder geringeren Geschäftsgewandtheit der
amtierenden Beamten unabhängig sein. Es
empfehlen sich daher in höherem Masse die
Baiischgebühren als ein System von Einzel-
gebühren. Doch hat auch das Bauschsystem
seinerseits die Schattenseite, dass ein rich-
tiges "Verhältnis der Gebührensumme im
Vergleich zur Verschiedenheit der Mühe-
waltung in den einzelnen Fällen schwer her-
zustellen ist.
Die Gebühren der Civilgerichtsbarkeit
stufea sich in der Regel ab nach dem un-
gefähren Umfang der Prozesssache, der
Schwierigkeit der richterlichen Thätigkeit,
nach Arten der Prozesse und nach den
verschiedenen prozessualischen Momenten,
femer nach der entscheidenden Instanz und
endlich nach dem Werte des Streitgegen-
standes, unter denselben kann man zwei
Gnippen unterscheiden : Gebühren in bürger-
lichen Rechtsstreitigkeiten und Gebühren im
Konkursverfahren.
DeatschesBeich: Reichsgerichtskosten-G.
V. 18. Juni imd Nov. v. 29. Juni 1881 findet An-
wendung anf aUe bei den ordentlichen Gerichten
zuständigen Rechtssachen der Civilprozess- nnd
Konkursordnnng. Die Landesgesetze können
die Materie nor im Anschluss an die Grund-
sätze des Beichsgerichtskosteng. regeln. Die Ge-
bühren des R.G.K.G. sind ein aus Bausch- nnd
Einzel gebühren gemischtes System nnd werden
fdr bürgerliche Rechtsstreitigkeiten verhältnis-
mässig^ nach dem Werte des Streitgegenstandes in
verschiedenen Klassenabstnfungen mit sinkender
Skala erhoben: bis 20 M. Wert 1 M. Gebühr,
20-60 M.: 2,40 M.; 60-120 M.: 4,60 M.; 120—
200 M.: 7,ö0 M.; 200-300 M.: 11 M.; 300—
450M.:15M.; 450-650 M. : 20 M. ; 650— 900 M. :
26 M.: 900—1200 M.: 32 M.: 1200-1600 M.:
38 M.: 1600—2100 M.: 44 M.: 2100— 2700 M.:
50 M.; 2700-3400 M.: 56 M.; 3400-4300 M.;
62 M.; 4300—5400 M.: 68 M.; 5400—6700 M.:
74 M.; 6700—8200 M.: 81 M.; 82—10000 M.:
90 M.; für je 20 000 M. Wert hnmer 10' M. Ge-
bühren mehr oder ^1^%. In der Berufungsin-
stanz steigen die Sätze nm Vi* in der Revisions-
inst«nz nm V2; die Wertfindonff ist im allge-
meinen Sache des freien richterhchen Ermessens ;
für besondere Fälle sind Vorschriften für die
Wertberechnung gegeben.
Die Erhebung der Gebühren schliesst sich
an die einzelnen Hanptmomente nnd Teile
des Verfahrens an nnd erfolgt regelmässig^ in
t'edem Falle nach den oben angeführten Ein-
leitssätzen als volle Gebühr. Diese Hauptvor-
gänge des Verfahrens sind drei : die kontradik-
torische mündliche Verhandlung — Verhand-
lungsgebühren , die Beweisaufiiahme — Beweis-
gebühren und eine andere Entscheidung —
Entscheidungsgebühren. In diesen drei Formen
erscheint die Gebührenleistunff in Form der
Bauscbgebühren. Hieran schliessen sich als
Einzelgebühren nnd besondere Gebühren, Ab-
gaben für untergeordnete prozessualische Ange-
legenheiten: beim Mahnverfahren für den Zah-
lungsbefehl, für den Vollstreckungsbefehl;
Schreibgebühren, Portoauslagen, Einzelgebtthren
für die Thätigkeiten des Gerichtsvollziehers
(Zustellungs-, Seglaubigungs-, Pfändungs- etc.
Gebühren).
Die Gebührenbefreiungen sind ent-
weder sachliche oder persönliche. Die
sachlichen Befreiungen liegen teils in der Nicht-
beachtung der Einzelvorgän^e zwischen den
Hauptvorgängen nach dem Wesen der Bausch-
gebühren, teils in der Gebührenfreiheit der
Prozess- und Sachleitung und teils in einer
Reihe von Ausnahmebestimmungen, deren In-
halt und Umfang der Art. 47 namhaft hat.
Die persönlichen Befreiunpfen stehen zu dem
Reiche vor den Landesgerichten und den Bun-
desstaaten vor dem Reichsgerichte, und sodann
eine einstweilige Gebtlhrenfreiheit ^niesst im
Armenrecht derjenige, welcher ohne Beeinträch-
tigung des für sich und seine Familie notwen-
digen Unterhaltes die Kosten des Rechtsstrdtes
nicht trafifen kann^ wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aus-
sichtslos ist. Ausländer gemessen diese Rechts-
wohlthat nur bei verbürgter Gegenseitigkeit.
Ein Gebührenvorschuss ist von der kläge-
rischen Partei in jeder Instanz zu der höchsten
Gebühr, die für emen Akt der betreffenden In-
stanz angesetzt werden kann, zu entrichten und
bei jeder Erweiterung der Anträge entsprechend
zu erhöhen. Ausländer als Kläger haben unter
fewissen Voraussetzungen den dreifachen Ge-
ührenvorschuss zu erlegen.
Die Gebühren hat im allgemeinen derjenige
zu tragen^ welchem durch den AusfaU des
Rechtsstreites vom Gerichte die Kosten aufer-
legt werden, bezw. derjenige, der durch seine
abgegebene Erklärung sicn zur Uebemahme
verpnicht-et hat.
Die Bestimmungen über die Gebührenleis-
tnng bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten fin-
den auch im Konkursverfahren Anwen-
dung; ihre Höhe richtet sich nach der Aktiv-
masse und nur ausnahmsweise nach der Schul-
denmasse, wenn sie geringer ist als die Aktiv-
masse. Im übrigen gelten hier ähnliche Grund-
sätze wie bei den civilprozessualischen Rechts-
streitigkeiten.
Bme steuerartige Höhe der Gerichtskosten
28
Gebühren
ist unbedingt zu verwerfen und steht mit
dem Wesen und den Aufgaben der gericht-
liehen Amtsthätigkeit im Widerspruch.
2. Gebühren der eigentlichen
Strafrechtspflege. Der Begriff der
Gebühren schfiesst nicht unbedingt einen
wirtschaftlichen Yorteil für den Gebühren-
pflichtigen selbst in sich, sondern wesentlich
eine amtliche Handlung imd ein derselben
entsprechendes specieUes Entgelt Daher
kann auch mit Recht bei passivem-zwangs-
weisem Eintreten der gerichtlichen Inter-
vention zu Gunsten der Gemeinschaft gegen
einen Rechts- oder Interessenverletzer eine
Gebühr erhoben werden. Nur liegt alsdann
die differenziale Förderung des wirtschaft-
lichen Lebens — mittelbar oder immittelbar
— nicht auf selten desjenigen, wegen dessen
die Inanspruchnahme öffentlicher Thätig-
keiten erfolgt, sondern bei denjenigen, welche
gegen das Verschulden des Rechtsbrechers
geschützt werden. Das doppelte Merkmal
äer Gebühren, behördliche Amtshandlung
und specielle Gegenleistung, ist indes liier
gegeben. Die Höhe der Gebühren ist fest-
zusetzen nach den Kosten des Verfahrens,
der Grösse des Vergehens und der hierfür
festgesetzten Strafe. Die Erzielung der
vollen Deckung der verursachten Kosten
wäre hier zwar an sich zu rechtfertigen,
ist aber doch praktisch wegen der meist
schlechten Vermögenslage des Verui-teilten
nicht zu erreichen. Daher findet vielfach
ein Verzicht auf die Erhebung der Gebühren
statt.
Deutsches Reich: R.G.K.G. v. 18. Juni
1878 mit Nov. v. 29. Juni 1881 findet Anwen-
dung auf diejenigen vor die ordentlichen Ge-
richte gehörigen Strafsachen, welche der Pro-
zessordnnng unterliegen. £s werden erhoben:
a) für die £rhebnng der öffentlichen An-
klage im Hauptverfahren eine verhältnis-
mässige Gebühr regelmässig für das Verfahren
der ganzen Instanz. Massstab der Gebühren
ist die rechtskräftig erkannte Strafe. Die Be-
messung findet statt nach der Höhe der Strafe
und erfolgt in 13 Abstufungen von 5 — 300 Mark.
Daneben erscheinen wiederum £inzel gebühren
für abweisende Entscheidnngfen, Zurückweisung
von Beschwerden etc. In der Berufuiigs- und
Revisionsinstanz werden die gleichen Sätze er-
hoben, wenn eine Hauptverhandlnnc; stattge-
funden hat und das Rechtsmittel nicht als un-
zulässig verworfen wird; bei Mangel einer Be-
weisaufnahme ist eine Reduzierung der Ge-
bühren um 7io statthaft. Ermässigte Gebühren
bei dem Verfahren mittelst amtsrichterlichen
Strafbefehls = */io und bei Verwerfung des
Einspruchs gegen den Strafbefehl = ^/iq. b)
Für die Erhebung der Privatklage, wenn
eine Verurteilung des Beschuldigten nicht er-
folgt. Privatkll^er und Beschuldigter haben
eine gleich bemessene, feste Bauschgebühr nach
dem Umfang des Verfahrens von 5— SiO Mark
in jeder Instanz zu entrichten. Für einzelne
Arten von Entscheidungen geringere Gebühren.
In den einzelnen Bundesstaaten werden
femer nach landesgesetzlicher Feststellung Straf-
Gebühren eingezogen in Forstrügesachen,
bei Znwiderhandlnngen gegen die
Zoll- und Steuergesetze nnd in Poli-
zeistrafsachen.
Endlich sind neben den genannten Fällen
Geld- nnd Ordnungsstrafen jeder Art
sowie das ganze Gebiet der Bussen hierher
zu rechnen, welche teils allein, teüs neben an-
deren, besonders Freiheitsstrafen von den Ge-
richten zuerkannt werden.
3. Gebühren der nicht streitigen
Rechtspflege, der freiwilligen Gerichts-
barkeit. Bei diesen kommen insbesondere
Leistungen öffentlicher Behörden zu Gunsten
von Handlungsunfähigen in Betracht : bei Min-
derjährigen, Entmündigten, bei Regulienmg
von Verlassenschaften, bei Kognition gewis-
ser Rechtsverhältnisse imd Thatsachen. Die
gerichtliche Mitwirkung erscheint hier ge-
eignet, wo es sich danim handelt, dui-ch
eine formale Ordnung ein Privatrechtsver-
hältnis nach Umfang und Inhalt gegen jeden
Zweifel von vornherein sicherzustellen. Die
Leistungen öffentlicher Anstalten, insonder-
heit der Gerichte, stehen hier unmittelbar
mit Berechtigungen und Verpflichtungen im
Zusammenhange. Es ist daher zu verlan-
gen, dass die Gebühren vollen Ersatz für
die den Organen der Rechtspflege erwachse-
nen Kosten bieten.
Geschichtlich und thatsächlich stehen
hier die Gebühren dem Steuergebiete sehr
nahe. Denn liäufig wird ein die Kosten
erheblich übersteigender Satz erhoben, öftei-s
walten sogar steuerrechtliche Motive (Be-
rücksichtigung der Leistungsfähigkeit!) ob
und haben wir es daher mit demjenigen
Punkte zu thun, wo die Gebühren in die
Verkehrssteuern übergehen.
Bei dieser Gruppe ist die Lianspruch-
nahme einer Behörde oftmals geboten, oft-
mals freigestellt. Die Unterlassung wird im
einen Falle häufig mit Rechtsnachteilen be-
droht, im anderen die Inanspnichnahme mit
Rechtsvorteilen verbunden.
Im einzelnen kommen hier in Betracht:
a) Gebühren in Vormundschafts-
und Pflegschaftssachen. Solche pflegen
erhoben zu werden bei erster Bestellung eines
Vormundes, beim Wechsel in der Person des
Vormundes, bei Berufung eines Kurators zu
einzelnen Handlungen, bei Vorlage nnd Durch-
sicht von Rechnungen der vor mundschaft liehen
Vermögensverwaltung etc.
b) Gebühren oei Nachlassre^ulie-
rungen. Das Mass der Gebührenpflichtigkeit
wird dadurch begründet, ob eine gerichtliche
Auseinandersetzung der Verlassenschaft geboten
ist oder ob nur einzelne vorbereitende, den
Nachlass sicherstellende Handlungen vorzuneh-
men sind. Hierher gehören: Gebühren fürVer-
willignng der Ausfolge des Vermögens eines
Verschollenen gegen Sicherheitsleistung vor
dessen Todeserklärung, Gebühren für Vornahme
Gebühren
29
und PTWfung von Teilungen, Gebühren für die
Kognition über zeitige oder gänzliche Unter-
lassung von Teilungen; Gebül5en für die Vor-
nahme des amtlichen Verschlusses des Nach-
lasses (Obsignation), für Lösung desselben (Re-
signation), Gebühren für Eröffnung von Testa-
menten etc. Das leitende Princip ist hier ein-
fache Kostendeckung des betreffenden Aktes
und möglichst niedrige Bemessung der Ansätze.
Bei einiger Höhe schlagen solche Abgaben leicht
in £rb3cnaftssteuern um.
c) Gebühren in Fideikommissange-
le^enheiten bei Errichtung, Erweiterung
und beim Besitzübergange. Diese Gebühren
gehen leicht in Steuern über oder bilden Be-
standteile von solchen.
d) Gebühren von Bechtsgeschäf-
ten. Der Staat hat ein Interesse bei einer
Anzahl von Bechtsgeschäften, dass der Ab-
schluss derselben unter Mitwirkung staatlicher
oder vom Staate delegierter Behörden erfolge
oder doch schriftlich beurkundet werde. Daher
wird in Verbindung mit dem Formalismus des
geltenden Privat- und Prozessrechtes in ver-
schiedenen Bechtssystemen und Ländern bei
gewissen Rechtsgeschäften wegen ihrer beson-
deren Wichtigkeit oder ihrer allgemein öffent-
lich-rechtlichen Bedeutung oder zur Wahrung
und Sicherung der Rechte Dritter die amtliche Be-
stätigunfi; und Kognition gefordert. Dies ist
der Fall namentlich bei Liegenschaften, bei
Erbabferti^ungsverträgen zur Beseitigung von
Nachlasstellungen, bei Verträgen über die Inter-
cession der Ehefrau, bei Eheverträ^en, bei Le-
gitimation unehelich Geborener, bei Adoptionen
und Gleichstellungs vertragen der Nachkommen
aus verschiedenen Ehen (Vor- und Nachkinder) etc.
Gesellt sich aber zu dem öffentlichen Inte-
resse noch ein fiskalischer Gesichtspunkt und
wird die Gebührenpflicht auf alle Verträge von
einiger Erheblichkeit ausgedehnt, die Unter-
lassung der Schriftlichkeit mit Rechtsnachteilen
verknüpft und die Befolgung der Vorschrift
durch Zwangsmittel des Prozessrechtes ge-
sichert, 80 w5d die Gebühr zur Verkehrssteuer.
Gerade hier ist es besonders schwierig, ja in
der Mehrzahl der Fälle überhaupt unmöglich,
die Grenze zwischen Gebühren und Steuern
anzugeben.
e) Begistergebühren werden einge-
zogen für die Führung öffentlicher Bücher über
persönliche Verhältnisse, Eigentum, dingliche
Kechte an Grundstücken und Gebäuden, Pfand-
rechte und über alle an solchen Rechten ein-
tretende Veränderungen (Grund- und Hypothe-
kenbücher). Femer zählen dazu: Einträge in
Handels- und Genossenschaftsregister, in das
Register über Autorrecht an schriftlichen Wer-
ken und Schöpfungen der bildenden Künste, in
die Register für Modelle, Muster, Marken,
Warenzeichen und Erfindungspatente, Einträge
in Register zur Wahrung von Vorrechten der
Ehefrau im Konkurse des Ehegatten, Einschrei-
bungen von Staatsschuldscheinen auf Inhaber,
Einträge in die Adelsmatrikel und in Schiffs-
register; endlich Civilstandsregistereinträge.
Auch bei diesen Gebühren muss der Grund-
satz der Niedrigkeit der Ansätze streng be-
obachtet werden, da dieselben Neigung haben,
sich in Verkehrssteuem zu verwandeln. In
einer Reihe von Fällen lässt sich diese Erschei-
nung wahrnehmen, z. B. bei Urheberrechten
und Patenten, wo häufig der Inhalt des ver-
liehenen Rechtes im Zusammenhange mit dem
zu erwartenden ökonomischen Vorteile für die
Bemessung: zu Grunde g^elegt wird. Das gleiche
findet nicnt selten beim Mobiliar- und Immo-
bDiarverkehre statt.
3. G. der Verwaltuog. Wenn bei den
Gebühren der Rechtspflege die Gemeinschaft
immer mehr oder weniger ein unmittelbares
Interesse an den Amtshandlungen hat, sei
es an der Feststellung gewisser thatsächlicher
Verhältnisse, sei es an der Sicherung der
Rechtsordnung und des ganzen Rechtslebens
als solchem, so handelt es sich bei den Ver-
waltungsgebühren zunächst immer um Son-
derinteressen, um die Zuwendung privater
Vorteile. Die Gesamtheit ist am einzelnen
Falle nur mittelbar interessiert, insofern das
geförderte EinzeUnteresse in seinen Reflex-
wirkungen auf die Entfaltungen des Ganzen
befruchtend wirkt. Während also bei den
Rechtsgebühren der Venirsacher einer Amts-
handlung nicht unbedingt eine Fördening
seiner Individualsphäre erhält, vielmehr das
Eingreifen der Staatsgewalt oftmals den
Schutz der Gemeinschaft gegen den einzelnen
bezweckt, so steht bei den Verwaltungsge-
bühren der Gebührenleistung des Pflichtigen
stets eine direkte oder indirekte Förderung
seiner persönlichen Interessen durch einen
öffentlichen Akt gegenüber.
Die Verw^altungsgebühren sind:
1. Allgemeine Verw«ltungsge-
b Uhren, wenn die Gebührenerhebung ent-
weder im Anschlüsse an Handlungen des
allgemeinen Dienstbetriebes der
Behörden erfolgt oder durch die Verlei-
hung und Bestätigung besonderer
Rechte bedingt ist. Allgemeine Verwal-
tungsgebühren heissen sie um deswillen,
weil sie allen Zweigen der Verwaltung ge-
meinsam sind und sein können, ohne an
eine specielle Organisation des technischen
Betriebes gebunden zu sein. Sie sind:
a) Anstellungs-, Bestallungs-
und Beförderungsgebühren. Die
Bestellung von Beamten auf Grund eines
vorgeschriebenen Bildungsganges und einer
besonderen Vorbildung erfolgt aus zwei Ge-
sichtspunkten: einmal im öffentlichen In-
teresse und sodann aus Gründen der Rück-
sicht für den Bestellten. Im ei-steren Falle
will man die freie Konkurrenz auf gewissen
Gebieten des Staatslebens aufheben oder
doch wesentlich beschränken. Die Gebühr
erscheint dann als eine Abgabe zur Kosten-
deckung für die verursachten Auslagen der
Bestallung. Im zw^eiten Falle will man
durch zweckmässige Einschränkung des rein
privatwii-tschaftlichen Systems dem Beamten
eine Erwerbsquelle sicherstellen, um die
Qualität seiner Leistungen zu erhöhen. Hier
ist die Gebühr eine thatsächliche Vergeltung
30
Gebühren
für die erfolgte Uebertragung eines öffent-
lichen Amtes. Diese letztere Auffassung
hat indes dazu geführt, den Akt der Be-
stallung nach seinem ökonomischen Inhalte
zu würdigen und denselben für die An-
legung von Sondersteuern nutzbar zu machen.
Zuweilen wird auf die Bestallimgsgebühr
von Seiten des Staates auch Verzicht ge-
leistet, wenn die öffentlichen Diener zwangs-
weise einer Witwen- und Waisenkasse bei-
zutreten haben, und insonderheit dann, wenn
die Einlagen im NichtbenutzungsfaÜe für
den Einleger verloren gehen. Zu Gunsten
solcher Anstalten kommen dann die Ge-
bühren in Wegfall.
Zu den hierher gehörigen Gebühren
zählen : die Gebühren für die Anstellung als
Staats-, Gemeinde- und Korporationsdiener,
sodann bei mittelbaren öffentlichen Beamten
Gebühren für die Immatrikulierung der
Notare und die Zulassung der Rechtsan-
wälte.
Der Uebergang zur Verkehrssteuer lie^
vor, wenn die Gebührenpflicht auch auf die
Privatbeamten ausgedehnt wird. Es liegt
alsdann unbedingt ein steuerrechtliches Mo-
tiv vor, den mit der uebertragung einer
Anstellimg verbundenen Wertverkehr zur
Leistung heranzuziehen, während die in der
Bestallung von Staatsbeamten begründete
Gregenleistung einer Amtsstelle beim Privat-
beamten we^äUt Hier liegt ein gutes Bei-
spiel für den Fall vor, dass durch die An-
ordnung der Benutzung einer öffentlichen
Dienstleistung ohne sachliche Begründung
eine gebührenartige Abgabe in die Steuer
lunschlägt.
b) Gebühren für Prüfungen und
Befähigungsatteste. Sie werden da er-
hoben, wo die Ausübung eines Benifes zu-
gleich mit einem Öffentlichen Interesse ver-
knüpft ist. Solche Gebühren werden ent-
weder sofort dem Prüfenden überlassen oder
sie werden von der Staatkasse vereinnahmt
und die Priifenden aus der Staatskasse ent-
schädigt Das letztere Verfahren verdient
den Vorzug.
c) Gebühren für Verleihung be-
sonderer Rechte. Sie werden erhoben,
wo einem einzelnen in seinem persönlichen
Interesse gewisse Rechte, namentlich aus-
schliessende erteilt werden. Die Bemessung
erfolgt hier regelmässig nach dem Werte
der verliehenen Vorteile. Solche sind: Ur-
heber- und Patentrechte, Erteilung der
Rechte einer juristischen Person, Afarkt-
gerechtigkeiten, Apothekenberechtigungen,
Bergwerksberechtigungen , Standeserhöhun-
gen und Nobilitierungen . die Verleihung
von Orden, Titeln, giademischen Graden,
Privilegien. Auch hier liegt das Steuerge-
biet sehr nahe; derartige Gebühren ver-
wandeln sich teils in Verkehrssteuern, teils
in Auflagen vermögenssteuerartigen In-
halts.
d) Gebühren für Exemtionen. Sie
sind mit der eben genannten Gruppe nahe ver-
wandt. Sie treten da ein, wo einzelne eine
Ausnahmestellung vom gemeinen Rechte
und der allgemeinen Norm beanspruchen.
Sie werden in ihrer Höhe passend an den
Wert des erlangten Vorteils angeschlossen.
Die wichtigsten FäUe dieser Art sind : Min-
derjährigkeitsdispensatiouen, Dispensationen
in Ehesachen, Dispensation vom Verbote der
Gnmderwerbung durch die tote Hand, Be-
freiungen oder Verkürzungen der Militäi'-
dienstzeit, Dispensen in Beerdigimgssachen.
Zum Teil schlagen diese Abgaben zur Steuer
um, wie bisweilen die Gebühren bei Miü-
tärpflichtbefreiungen in die Wehrsteuer.
2. Besondere Gebühren, insonder-
heit der Civilverwaltung im weiteren Sinne,
welche bei den einzelnen Zweigen des
öffentlichen Dienstes anfallen. Sie lunfassen
im Gegensatz zu den allgemeinen Ver-
waltungsgebühren solche Abgaben, welche
ihrem Wesen nach aus der speciellen be-
hördlichen Organisation der Amtsstellen ent-
springen. Diese sind:
a) Gebühren im Gebiete der Ver-
waltung der auswärtigen Angele-
genheiten. Hierher sind vor allem die
Consulatsgebühren zu zählen, welche von
den Consulaten erhoben werden und einer
abgeschlossenen Kreis von Rechts- imd Ver-
waltungsgebühren im Rahmen der consu
laren Amtsthätigkeit darstellen. Sie bezie
hen sich auf die duixjh diese Beamten er
langten Förderungen der Handels-, Ver
kehrs- und Schi&hrtsinteressen , wie di<
Mitwirkung bei Rettungs- und Bergungs
massregeln nach dem Umfange der Arbeil
für Dispache etc. Für die Erhebung gil
im allgemeinen als Regel, dass die Beruf^^
oonsuln (oonsules missi) diese Abgaben al
Fiskusgebühren für ihren Heimatsstaat, di
Wahlconsuln als Dienergebühren für sie
persönlich vereinnahmen. Für das Deiitscli
Reich gut hier R.G. v. 1. Juli 1872 in
Tarif.
b) Gebühren im Gebiete der in
neren Verwaltung. In dieser Grui3j
sind zu erwähnen:
er) Gebühren der amtlichen Statin
tik, insbesondere im auswärtigen Handel ui
Warenverkehr.
„Statistische Gebühren" im Deutsche
Reiche (R.G. v. 20. Juli 1879) 6 Pfennig f
je 100 kff verpackte, 10 Pfennig für je 1000 1
unverpackte Waren; 10 Pfennig für 10000 1
bestimmter Rohstoffe, 5 Pfennig für je 5 Stil
Vieh. Erhebung erfolgt in Stempelform. Aeli
lieh die DeklaratioiiBgebilhr in Frankreie
p) Pass geh Uhren für AnssteUang: v
Pässen und Reisepapieren.
/) Gebühren im Auswanderung'
Gebühren
31
wesen für Unternehmer nnd Agenten. Neben
der allgemeinen direkten Landesbesteuerong
nnterlie^en diese Gewerbe einer besonderen
Konzessioniemn^. Au die Seite dieser Abgaben
tritt zuweilen eine specielle Gebührenerhebung
beim GeschlÜftsbetriebe. Die Einziehung erfolgt
hier unter dem Gesichtspunkte der RontroÜe
der AuBwanderungsuntemehmer, ihrer Person,
ihres Gewerbes und ihrer Geschäfte.
Bayern: Erlaubnis zum Geschäftsbetriebe
eines Auswandemngsexpedientenhauses ÖO Mark
Gebühren, in Württemberg: für den Unter-
nehmer oder Hauptagenten 100 Mark, für die
Unteragenten 5—50 Mark, für eine Aenderung
in der Ermächtigung des Hauptagenten 20
Mark Gebühren.
d) Gebühren für Ausstellung von
Arbeits- und Dienstbüchern. Die Aus-
stellung solcher Dokumente ist meist aus so-
zialpohtischen Gründen gebührenfrei; eine Ge-
bühr wird regelmässig nur bei Herstellung eines
neuen Dienstbuches für ein in Verlust gerate-
nes oder unbrauchbar gewordenes („Duplikat")
erhoben.
f) Gebühren des Gesundheitswe-
sens für Impfung, Desinfizierung, Untersuchung
Prostituierter , Totenbeschau etc. Daneben
werden auch Gebühren erhoben für die Be-
nutzung öffentlicher, mit dem Gesundheitswesen
zusammenhängender Einrichtungen und Anstal-
ten für Gebär-, Kranken-, Irren-, S^italversor-
gnngs- und Blindenhäuser, wo die eigentlichen
Kosten durch Staats- oder Gememdemittel
bezw. durch Stiftungen bestritten werden, wo-
neben dann die Gebühren ein specielles Entgelt
für eine behördliche Leistung sind. Diese Ge-
bühren erscheinen wegen ihres lokalen Charak-
ters öfters im Finanzwesen der Selbstverwal-
tnngskörper. Teilweise können solche Leistun-
gen auch „Beiträge'' sein (s. unten sub 4).
^) Gebühren des Armen- undWohl-
thätigkeitswesens. Es herrscht zwar hier
im allgemeinen das Princip der Unentgeltlich-
keit, und die Bestreitung der Kosten ist Sache
des Staates, häufiger aber der Kommunalkörper
oder wird durch Erträge aus Fundationen her-
beigeführt. Doch treten hie und da für die
Auniahme, für Verpflegungskosten Ersatzleis-
tungen für Unterstützungen in Armen- und
Waisenhäusern ein, insbesondere dann, wenn in
der Heimatgemeinde des Betreffenden keine
entsprechend Anstalt Yorhauden ist und eine
Nachbargemeinde die Aufnahme gegen Entgelt
gewährt.
i7)Gebühren für die Jagdausübung.
Der Besitz oder die Pachtung von Jagdgründen
berechtigt an und für sich noch nicht zur Aus-
übung der Jajgd, vielmehr wird in der Regel
die I^sung eines Jagdscheines gefordert. Sie
hierdurch beschränkte Ausübung eines im Eigen-
tum bezw. durch die Pacht begründeten Rech-
tes hängt mit der Erlaubnis des Waffeutragens
zusammen und hat sich aus dem älteren landes-
oder grundherrlichen Jagdregal entwickelt.
Preussen: 12 Mark; Bayern: 15 Mark;
Sachsen: 12 Mark Jagdkarte, B Mark Tages-
karte; Württemberg: 20 Mark; Baden und
Hessen: 12 Mark; Elsass-Lothringen:
20 Mark, Zusatzjagdschein für fremde Jagd-
ffäste ö Mark. Frankreich: 18 Francs für den
Staat, 10 Francs für die Gemeinde.
c) Gebühren im Gebiete des Kul-
tus, des öffentlichen ünterrichts-
und Bildungswesens. Diese Abgaben
sind die folgenden:
a) Kirchen- und Kultnsgebühren.
Die ersteren werden erhoben, wenn der Staat
oder die Gemeinde als solche die Kirche und
ihre Diener unterhalten, für die Benutzung
kirchlicher Einrichtungen, der Kirche, der
Kirchhöfe etc.; die letzteren treten ein bei Be-
anspruchung kirchlicher Amtshandlung, der
Taufe, der Beerdigung etc. und heissen meist
Sportein und Stolgebühren und sind Diener-
gebühren.
ß) Schul-, Unterrichtsgelder nnd
Kollegienhonorare an öffentuchen Schulen
jeder Art des Staates oder eines sonstigen
Öffentlichen Körpers. Hierzu gehören des wei-
teren die Einschreibe-(Inskription8-, Immatriku-
lation8-)Gebühren, die Eintritts- und Austritts-
febühren mit ihren Nebenabgaben. Soweit der
chulzwang durchgeführt ist, dürfte ein Ver-
zicht auf jedwedes Schulgeld am Platze sein.
Dagegen erscheint die Erhebung eines Schul-
geldes bei den mittleren und höheren Unter-
richtsanstalten geboten, namentlich wenn es
sich um Fachschulen handelt. Das Schulgeld
stuft sich in der Regel nach der Eigenart der
Schule ab und steigt mit Ran^^ und Zweck der
in der Schule zugänglichen Bildungsmittel für
das Erwerbsleben. Der ganze oder teilweise
Erlass des Schulgeldes kann auch hier bei
nachgewiesener Dürftigkeit und persönlicher
Würdigkeit erfolgen.
Der Charakter der Gebühren steht beim
Schulgelde unbedingt fest. Die Unterrichts-
und Bildungsanstalten gehören nicht zu den
Staatsanstalten, wie die Verkehrsanstalten,
Münzwesen u. a. Anstaltei^ etc., da diesen
letzteren und demgemäs» auch ihren Einnahmen
der Erwerbscharakter noch immer anhaftet,
wenn auch nicht so ausschliesslich wie bei den
Grundlai^en der sogenannten privatwirtschaft-
lichen Einnahmen. Bei Schule und Unterricht
aber muss ein derartiger Gesichtspunkt un-
weigerlich ausgeschlossen werden.
y) Gebühren für Benutzung und
Besuch öffentlicher Kunst- und wis-
senschaftlicher Sammlungen, Museen,
Bibliotheken. Hier ist eine Abgabe an sich
berechtig und ihre Erhebung wohl auch öfters
erfolgt in der Form von Eintritts- oder Be-
nutzun^geldem. Doch hat im allgemeinen
diese Einnahmequelle, insbesondere in Deutsch-
land, keine erhebliche Bedeutung erlangt.
d) Gebühren im Gebiete der
volkswirtschaftlichen Verwaltung.
Wir unterscheiden dabei zwei Gruppen:
a) Die Beglaubigungs gebühren
werden bei denjenigen Gelegenheiten erhoben,
wo im öffentlichen Interesse und besonders aus
Rücksicht auf das Verkehrsleben die Ingebrauch-
setzung gewisser Gegenstände einer obrigkeit-
lichen Kognition bedarf, welche zur Einziehung
einer Abgabe Veranlassung giebt.
Die Eichgebühren sind Abgaben für
die amtliche Beglaubigung der Richtigkeit der
vom Privatj^ewerbe gelieferten Masse und Ge-
wichte. Die Verkehrshandlungen des wirt-
schaftlichen Lebens erheischen eine solche Vor-
32
Gebührea
kehrung nnbedinff't, nm vor Betrug und lieber-
vorteilung zu schützen. Der Gebrauch unge-
eichter Masse und Gewichte ist in der Regel
unter Strafe gestellt. Solche Gebühren haben,
wenn sie nicht sehr niedrig bemessen sind, das
Bestreben, zu steuerartigen Abgaben zu werden,
und bilden dann Bestandteile der Gewerbesteuer,
ja sogar der Verbrauchssteuern.
Die Gebühren der Punzierung
kommen zur Anwendung bei amtlicher Beglau-
bigung des Feingehalts von Ge&^enständen aus
edlen Metallen. Die Prüfung kann entweder
eine obligatorische oder eine fakultative, eine
ins Belieben der Beantragenden gestellte, sein.
Eine massige Gebühr entoehrt hier keineswegs
der inneren Berechtigung; es gehen aber diese
Abgaben nicht selten je nach Einrichtung und
Böhe ins Gebiet der Steuer über.
Endlich die Gebühren der Quali-
tätsprüfung von Produkten und Waren
kommen heutzutage weniger häufig vor als
früher. Die meisten älteren Vorschriften dieser
Art sind in Wegfall gekommen. Das wich-
tigste Beispiel dieser Art bildet die sogenannte
,, Schaugebühr ^ für die Fleischbeschau in den
grösseren und grossen Städten, namentlich
wichtig wegen der Trichinengefahr bei
Schweinen.
ß) Die Aufsichtsgebühren werden
da zur Verwendung kommen^ wo im Interesse
der Gesamtheit gewisse pnvatwirtschaftliche
Unternehmungen der fortwährenden Aufsicht
•durch behördliche Organe bedürfen, um das
Publikum vor Benachteiligung zu schützen,
Oefahren für das Arbeiterpersonal zu verhüten
oder eine sonstige, im Interesse des Ganzen zu
erstrebende technische oder haushälterische
Ausnützung von Naturschätzen durch die
Eigentümer zu gewährleisten. Die principielle
Berechtigung solcher Gebühren ist nicht zu be-
streiten ; doch hat praktisch in manchen Fällen
die Rücksicht auf nöhere Interessen, z. B, bei
Fabrikinspektion, zu einer Preisgabe der Ge-
bühren veranlasst.
Die Gebühren für die Apothe-
kenrevisionen sowie für die Revisionen
von Privatheilanstalten werden in
den meisten Staaten zur Sicherung von Leben
und Gesundheit der Bevölkerung erhoben.
Die Gebühren für Dampfkessel-
proben und -revisionen sowie Kontrolle
lebensgefährlicher Betriebe, Besichtigungen der
Privateisenbahnen verfolgen den gleichen Zweck.
Ebenso werden Gebühren eingezogen für
die Beaufsichtigung von Bergwer-
ken von Privaten im Interesse der Sicherheit
des Betriebes und der Erhaltung der dauernden
Betriebsfähigkeit der Werkes. Das Eingreifen
der Obrigkeit hat sich hier im Laufe der Ge-
schichte wesentlich gemindert, besteht aber
zum Teil heute noch und ist auch principiell
berechtigt. Der Uebergsng zur Steuer ent-
springt leicht der Höhe der Abgaben.
Endlich findet eine Gebührenerhebung bei
der Beaufsichtigung der Privat-, Ge-
meinde-, Korporationswaldungen
durch die staatlichen Forstbeamten statt. Die
Begründung liegt hier auf einem ähnlichen
Gebiete wie bei den Bergwerken; man mll
die Gefahr eines leichtfertigen oder gewinn-
süchtigen Abholzens durch die Spekulation
thunlichst beseitigen. Auch die sogenannten
„Beförsterungsgebühren*' als Ent-
gelt für die Mitbewirtschaftung von Gemeinde-
und Stiftungsforsten durch die Staatsforstbe-
amten ist hierher zu rechnen.
Weniger als der Wirkungskreis der Civil-
Verwaltung giebt die Justiz-, Militär- und Fi-
nanzverwaltung. Bei ersterer fallen die beson-
deren Verwaltungsgebühren ohnehin unter die
Gebühren der I^chtspflege, bei der zweiten
herrscht allgemein der Grundsatz der Gebtthren-
freiheit, während die eventuell vorkommenden
Abgaben, z. B. das Wehrgeld, Steuern sind,
und endlich auf dem Gebiete der Finanzver-
waltung ist nur ein sehr beschränkter Raum
für die Erhebung von besonderen Verwaltungs-
gebühren.
4. Gebührenartige Einnahmen: ,3®i-
träge". Yon den Gebühren im erörterten
Sinne müssen diejenigen Erscheinungen des
wirtschaftlichen Verkehrs unterschieden wer-
den, welche mit jenen nur den gleichen
Namen oder die homogene Bezeichnung ge-
meinsam haben. Infolgedessen sind vom
Gebiete des Gebühren wesens die Fleisch-,
Brot-, Arzenei- und Ähnliche Taxen
auszuschliessen, da diese lediglich obrigkeit-
lich angeordnete Festsetzungen der Preise
von Waren und Leistungen sind, deren Her-
stellung jedoch der privaten Erwerbsthätig-
keit überlassen ist Die staatliche Thätig-
keit ist hier nicht die Leistimg, welche
durch eine Gegenleistung auf selten des
Käufers beglichen wird, sondern sie stellt
nur einen autoritären Eingriff in das freie
Spiel der bei der Preisbildung wirksamen
Kräfte dar. Diese Taxen sind daher auch
keine Abgaben, welche nach Charakter und
Zweck einen Bestandteil der öffent-
lichen Einnahmen bilden. In die gleiche
Linie sind die reglementären Taxen der
Lohnfuhrwerke (Droschken) und die
Deserviten der Aerzte, soweit sie
ohne amtliche Veriu-sachung geleistet werden,
zu stellen.
Nicht unbedingt den Gebühren ist aber
noch eine Mehrzahl anderer öffentlichrecht-
licher Abgaben zuzuzählen. Für diese Gruppe
öffentlicher Einnahmen hat man neuerdings
den Ausdnick Beiträge oder auch Interessen-
beiträge gewählt.
Beiträge sind öffentlichrechtliche Ab-
gaben, welche zur Deckung eines entstan-
denen Aufwands von solchen Personen,
Wirtschaften oder Wirtschaftsgruppen zu
reichen sind, welche bestimmte Einrich-
tungen und Anstalten aussc^hliesshch oder
(loch vorwiegend in Anspruch nehmen. Sie
sind Entgelte für Leistungen von obrigkeit-
lichen und öffentlichen Instituten, welche
aber keine eigentlichen Amtshandlungen vor-
nehmen. Diese Beiträge erscheinen somit
als Steuerpräzipuen oder Prä zip u al-
leist ungen, welche in durch die obrig-
keitliche Gewalt einseitig bemessener Höhe
j
Gebührea
33
festgesetzt werden. Ihre Aufgabe ist wesent-
lich die Deckung der Kosten dieser Ein-
richtungen in der verursachten Höhe: sie
soUen nicht nur ziu: Bestreitung dieser sjpe-
eiellen Ausgaben beitragen — wie die Ge-
bühren — , sondern den Aufwand in der
Hauptsache decken. Die in Anspruch ge-
nommenen Anstalten sind zun&chst und in
erster Linie von diesen »Beiträgen« zu unter-
halten, Zuschüsse Dritter, d. h. solcher, für
welche jene Institute nicht errichtet sind
(Staat, Gemeinde, Stiftungen), haben einen
mehr subsidiären Charakter und treten nur
ergänzend ein, wenn die eigenen, durch Bei-
träge gewonnenen Einnahmen sich als un-
zulänglich erweisen.
Die wichtigsten Arten der Beiti'äge sind
folgende :
1. Staatsverwaltungseinnahmen
oder Anfälle, welche aus der Thätigkeit der
Verwaltung bezw. der verschiedenen Yer-
waltungszweige erwachsen. Sie haben meist
einen sehr heterogenen Charakter und sind
häufig mit Bestandteilen anderer Einnahme-
arten, namentlich aber mit privatwirischaft-
lichen Elementen unteimischt.
2. Einnahmen der öffentlichen
Staatsanstalten, wie diejenigen der
Post- und Telegraphen Verwaltung; femer
die Strassen-, Brücken-, Weg-, Fähr- und
Krahnengelder imd die Niederlage-, Markt-
und Messabgaben, allenthalben Einkünfte,
welche mit der Gestaltung des Verkehrs-
wesens im Zusammenhang stehen.
Mit dieser Gruppe dürfen aber die Ein-
nahmen aus den grossen 'Transportunter-
nehmungen des Staates, vornehmlich aus
der Verwaltung der Staatseisenbahnen so-
wie aus sonstigen Staatsbetrieben wie Lot-
terieen, Bankwesen u. s. f. nicht verwechselt
werden. Denn bei diesen ist die ganze
Wirtschaftsart auf die Erzielung von ü e b e r-
schüssen gerichtet, welche z. T. ganz er-
hebliche Beiträge für den Staatanaushalt
bilden. Diese Staats- bezw. öffentlichen
iänküufte sind daher den privat-(erwerbs-)
wirtschaftlichen Einnahmen beizuzählen.
3.Beiträge des Arbeiterversiche-
rnngswesens. Bei öffentlichen, nament-
lich auf Zwang beruhenden Kafisen und (öffent-
lichen) Versicherungseiurichtungen müssen
die Mittel zur Durchführung des Versiche-
mngszweckes durch Beitragsleistungen der
versicherten Arbeiter und Arbeitgeber im
wesentlichen aufgebracht werden. An dieser
Sachlage wird grundsätzlich nichts geändert,
wenn auch Dritte (Reich, Staat etc.) Zu-
schüsse leisten.
4 Beiträge bei Benutzung von
Spitälern, Krankenhäusern, Sana-
torien. Neben den schon früher (s. o.
sub n, 3. 2 b. f.) erwähnten Gebühren im
Bahmen aes Gesundheitswesens werden von
Handwörterbuch der StaatswineiiBchafteii. Zweite Auflage. IV.
den Benutzem dieser Anstalten überhaupt
oder von einzelnen Gruppen (z. B. Wohl-
habenden, Nicht-Stiftungsberechtigten) noch
besondere Leistungen verlaugt, welche zur
Bestreitung der verursachten Kurkosten be-
stimmt sind.
5. Beiträge für Benutzung von
(städtischen)Wasserleitungen, Schlacht-
häusern, Gas- und elektrischen Lei-
tuuffen sowie die Kanal-, Hafen- und
ähnlichen »Gebühren«. Auch hier kon-
kiurieren häufig wirkliche Gebühren mit
diesen Beiträgen, z. B. »Schaugebühren« für
die Fleischbeschau mit »Beiträgen« für die
Benutzung des Schlachthauses und seiner
Einrichtungen.
Lltteratur S Mau, Grundsätze der I^humztjnasen'
schoß ii 227— 146. — Pfeiffer, Staataeinnahmen,
Stuttgart 1866, 1, 294 — S6L — v. Hock, Die
öffentlichen Abgaben und Schulden, Stuttg, 186S,
§^ 4, SS, S4, — Utnpfenhaeh, Lehrbuch der
Finanzwissenachaß, 2. Aufl., Stuttg, 1887, §§ 42 ff,
— Stein, Fin. II, 1, Ä 1S9, 248, 6. Aufl, —
J^eumann, Steuer, Leipzig 1887, I, K, 4 — 5.
— SchaU, Abh. in Schönberg III, 4. Auß., S*
lOS, Tübingen 1891, S. 97, — Boscher, System
IV, §§ 22 ff. — Wagner, Fin, II, 2, Aufl.,
Leipzig 1890, S, SS ff, — Sax, Grundlegung,
Wien 1887, S, 444 ff, 472 ff, — Vocke, Ab-
gaben, Auflagen und die Steuer, Stuttgart 1887,
S. 22s, 565, 572, — Colvn, Finanzwiszenschaft,
Stuttgart 1889, bez. Buch I, Kap. S, — Schäfße,
Grundsätze der Steuerpolitik, TiUnngen 1880,
S, 62, 457, 496—607. — Beraelhe, Steuern,
Allg. Teil, Leipzig 1896 §§ 2S und I4S (Handb,
der StcuUsiüissensehaften). — Eheberg, Finanz-
wissenschqß, 6. Aufl., Erlangen 1898, S. 107. —
Ehlers, Stellung der Gebühr im Abgabesystem,
Schanz* Fin.-Arch. Bd. XIII, S. 489-619. —
Koczynshi, Untersuchungen über ein System
des österreichischen Gebührenrechts, ebenda Bd.
XV, S, 1—124. — ■ V. Mayr, Art. »Gebührenvi
in Stengels Wörterb, des deutschen VerwaltwagS"
rechtes; Bd. I, S. 466 ff,, mit Zusätzen in den
drei Ergänzungsbänden. — v. Hecket, Artikel
nGebührena im H. d. St., 1, At^,, Bd. III, S,
70Sff. — Derselbe, Art, »Gebührenn im n Wörter*
buch der Volkswirtschaf tu, Bd. I, S. 782 ff. —
Adann Smith, Wealth of Nations, b, V, ch, 1,
2. u. 4. Abt., ch, 2, 1. Abt, — J. Stuart MiU,
Principles 0/ PoUtical Economy, b, V, ch, 6. —
Eequirou de Parieu, Traiti des impots, Paris
1888 ff., III, 166. — Leroy-BeauHeu,, Traiti
de la science des finances, Paris 1888, 4* ^^* J*
ch. 9, — Qarnier, Traiti des finances 4 ^»t
Paris 1882, ch. 10. — Benia, L'impot, I, Sirie,
BruxeUes 1889, p, 46 (die einzige französische
Arbeit, welche eine scharfe Trennung zwischen
Gebühren und Steuern durchführt), — Beeohra^
8of, Impot sur les a,etes, in den MSmoires de
l'AccuUmie de St. Petersbourg, VII. Serie, Tome
X, Nr. 14 (1866). — Vergl. auch den LUteratur'
nachweis beim Art, » Verkehrssteuer«,
Max von Hechel,
34
Geburtenstatistik
Geburtenstatistik.
1. Aufnahme. 2. Internationale Vergleiche.
3. Gebnrtszififer. 4. Schwankungen der Ge-
burtsziffer. 6. Eheliche Fruchtbarkeit 6. Un-
eheliche Fruchtbarkeit. 7. Geborene nach dem
Geschlechte. 8. Totgeburten. 9. Uneheliche
Geburten. 10. Mehrgeburten. 11. Geburtszeit.
L Anfnahme. Die Ee^isterführung
liefert die Unterlagen für die Geburten-
statistik in der Form von Listen oder Zähl-
karten, welche die erforderlichen Angaben
über die Geborenen und deren Eltern auf
Grund der in die Geburts- bezw. Tauf-
register (für Totgeborene in die Sterbe-
register) erfolgten Eintragungen, zuweilen
auch über den Inhalt der Register hinaus-
gehende, für Zwecke der Verwaltung und
Wissenschaft verwertbare Nachweise ent-
halten. Die für die statistische Verarbeitung
bestimmten Listen oder Zählkarten ^eben
in der Regel Auskunft über die Registeiv
nummer und die Geburtsgemeinde, den Vor-
und Familiennamen, das Geschlecht, die
Lebensfähigkeit (ob lebend geboren oder
totgeboren), die Zeit der Geburt nach Tag
und Stunde, sowie ob dieselbe eine ehe-
liche oder uneheliche ist, bei Zwillings-,
Drillings- imd anderen Mehrgeburten ausser
der betreffenden Angabe auch den Hinweis
auf die Registemummem der übrigen Mehr-
lingskinder, das Religionsbekenntnis der Ge-
borenen, das Alter und Religionsbekenntnis,
den Stand, Beruf oder Erwerbszweig sowie
die soziale Stellung (Stellung im Berufe)
des Vaters und der Mutter (bei unehelich
Geborenen nur der Mutter) und die Angabe,
das wievielste Kind der betreffenden Ehe
daß geborene ist, Nachweise über Körper-
länge, Brustumfang und Gewicht der Gebo-
renen können, so wissenswert diese Angaben
für die Anthropologie auch sind, in die für
die amtliche Statistik bestimmten Listen
öder Zählkarten über Geburten nicht aufge-
nommen werden, weil im allgemeinen nur
in den wenigen Fäüen, in denen die be-
treffende Geburt in einem Krankenhause
oder einer Entbindungsanstalt stattgefunden
hat, zuverlässige Auskunft zu erhalten sein
würde. Auch über die Abstammimg der
Eltern bezw. des Kindes lassen sich in den
europäischen Staaten brauchbare Unterlagen
für die Geburtenstatistik nicht beschaffen,
weil die Rassenkreuzungen so mannigfaltig
sind, dass sie statistisch nicht mehr erfasst
werden können; man kann sich indessen
der Angaben über das Religionsbekenntnis
der Eltern in einzelnen Ländern bedienen,
um nach bestimmten Richtungen (z. B. über
die eheliche Fruchtbarkeit, das Vorkommen
von Mehrgeburten, die Lebensfähigkeit der
Geborenen) für einzelne Rassen (z. B. Polen,
Juden, Deutsche) einige Auskunft zu ge-
winnen. In Kolonialländem sind Angaben
über die Abstammung der Geborenen zu
beschaffen, und namentlich die Geburten-
statistiken von Canada, Honduras, Britisch-
Indien, Australien, Dänemark und der Ver-
einigten Staaten von Amerika entiialten
wertvolle Nachrichten über die Rassen-
kreuzungen. Die amerilumische Statistik
unterscheidet hierbei vier Rassen — Weisse,-
d. h. Personen europäischer Abkunft (white),
Neger (ooloured), Indianer (indian) und
Mongolen (chinamen). Von Mischlingen
kommen, vereinzelte Fälle abgerechnet, nur
in Betracht die Nachkommen aus Verbin-
dungen weisser Männer mit Ne^rinnen
(Mulatten) oder Indianerinnen (Mestizen),,
zwischen weissen Männern bezw. Frauen
mit Mulatten (Quarteronen), zwisdien Mu^
latten und Indianerinnen (Sambos).
2. Internationale Vergleiche. Für in-
ternationale Vergieichungen ist die Geburten-
statistik nur nach wemgen Richtungen zu
verwerten, da die Art der Gruppierung der'
beobachteten Thatsachen in den verschiede-
nen Staaten nicht übereinstimmt Im briti-
schen Reiche, Ungarn, Portugal, Serbien
und Japan werden z. B. Totgeburten nicht
registriert, ebenso im europäischen Russ-
land seit 1884; auch werden in einigen
Staaten diejenigen Geborenen, welche bis
zur Registnerung der Geburt verstorben
sind, zu den Totgeborenen gezählt. Im
Deutschen Reiche werden als totgeboren in
die Sterberegister alle vor oder während
der Geburt, d. h. bis zur Abtrennung des
Kindes von der Mutter, Grestorbenen sowie
leblos aufgefundene Neugeborene eingetra-
gen, sofern dieselben bereits ihrer sonstigen
Entwickelung nach als lebensfähig anzu-*
sehen sind. In Preussen und den meisten
anderen deutschen Staaten gelten nur Ge-
borene, welche mindestens 6 volle Monate
nach der Erzeugung geboren worden sind,
als lebensfähig; jüngere werden als Früh-
geburten (Fehlgeburten) bezeichnet und zwar
in einigen Landesteilen registriert, jedoch
nicht zu den Totgeborenen der amtiichen
Statistik gezählt. Die Mehrgeburten, die
eheliche oder uneheliche Geburt, das Alter
und Religionsbekenntnis der Eltern, deren
Beruf und Erwerbsthätigkeit bezw, soziale
Stellung sowie die Geburtenfolge werden
ebenfalls nur in einzelnen Staaten statistisch
er£asst. Am weitesten in die Vergangenheit
zurückreichende Nachweise der Geburten-
statistik sind für Schweden und den preussi-
schen Staat vorhanden; für internationale
Vergleichungen enthalten reichhaltige An-
gaben der sdljährlich erscheinende Statistical
abstract for the priucipal and other foreign
countries des Registrar-general of England
and Wales, Luigi Bodios Movimento dello
stato civile, confronti intemationali , die
OeburteD statlBtik
Statistique de la France (Paris 1875) von
Maurice Block und die von mir bearbeitete
BevOUierungslclire und Bevölkeningepolitik
(Leipzig 1898),
3. Gebnrtsüiffer. Als einfachster ziffer-
mSsmger Ausdruck für den durch Geburten
TeratuasBten Zuwachs der Bevölkening dieat
die Geburtaziffer, d. i. die Zahl der
wäfareud eines Jahres auf je 1000 PeiMneti
inoertialb eines bestimmten Gebietes (Staat,
Provinz, Bezirk, Gemeinde) oder bestimmter
Gebiels^ruppen (Städte, Landgemeinden,
Outsbezirke) oder bestimmter Bevölkerungs-
gruppen (Rassengruppen , Religionsgemein-
schaften, Beru^ und Erwerbs- bezw.
Sozialgruppen) vorgekommenen Geburten.
In den meisten Staaten wird die Geburts-
ziffer aus der Veorgleichung des Standes der
Bev&lkerung nach den Ereebnissen der
Volkszählungen mit der Zahl aller (lebend
und tot) Geborenen bestimmt , wobei die
Zahl der Lebenden för die zwischen zwei
Zählun^n liegenden Jahre entweder durch
Interpolation oder unter Berücksichtigung
des L'eberschuBsee der Geburten und Ein-
wanderuDgen über die Sterbefälle und Äus-
'wandeningen berechnet wird. Wo es an-
gftngi^ ist (z. B. in Städten mit zweckmässig
eii^erichletem Meldewesen für Ab- und
ZuzQge), wird man den Stand der Bevöl-
kerung filr die Jtonatsan fange feststeUen
und den Kittelwert aus diesen Zahlen für
das Jahr bestimmen; doch äussert sich der
l'nterechied gegen die Berechnung mit Hilie
des zu Anfang bezw. Ende des .Mires vor-
handenen BevölkerungBstandes nur an der
ereten Decimalstelle der Geburtsziffer im
Betrage bis zu -|- 2. Ueber die Geburts-
ziffer der wichtigsten europäischen Staaten
gebt für die Jahre 1879 bis 1888 folgende
Tabelle, in welcher die Lebendgeburten von
den Totgeburten unterschieden sind, Aus-
kunft
Ge-
Lebend-
Staat
bnns-
ge-
Toti
ziffer
boren
Dentschea Beicb
38,7
37,J
I
davon Preossen
39,4
37,9
„ Bajem
38,8
37,5
1'
„ Sachsen
43.8
42,1
„ Württemberg 38,7
37,3
1,
„ Baden
35,»
34, [
Oesterreich- Ungarn
40,8
davon Oest«mach
39,5
38,4
Ungarn
44,1
3",7
Niederlande
36^6
34,8
1'.
Dinemark
33,5
32,5
1.C
Norwegen
Schweden
31,9
30,4
30,9
29,6
'4
45ii
45,0
0,
Brnnänien
36,9
36,5
°f
Bulgarien
Seifien
36,4
36;3
40,2
luliea
3»;»
37,0
1,3
Ge- Lebend- rp„f„.._
Staat bnrtB- ge- ™8^
Ziffer bSren '«"^
Schweiz fnnr 1888) 27,8 26,7 1,1
Frankteich , 23,9
Belgien 32,2 30,7 1,5
Portugal (1886/87) . 36,1
4. SchwanküDgen der Geburtaziffer.
Wegen der Verechiedenheiten in der Re-
gistrierung der Totgeburten sind nur die
in der mittleren Spalte (Lebendgeburten),
enthaltenen Zahlen untereinander ein^r-
massen vei'gleichuogsfähig. Ueber dieZahl,
der auf 1000 Personen des Standes der Be-
völkerung jährlich vorgekommenen Lebend-
geburten finden sich in meiner Bevölkenings-
lehre für die Jahrzehnte von 1841 bis 1870
und die Jahrfünfte von 1871 bis 1895 An-,
gaben für die vorgenannten und einige
andere Staaten. Die Höhe der Oeburts-
ziffer hängt zumeist von der Zahl der
stehenden Ehen, deren lYauen gebärfähig-
sind , ab , wird also namentlich von der
Altersverteilung der Bevölkerung, deren,
durchschnittlichem Heiratsalter und der.
Heiratsziffer beeinflusst und ist deshalb bei
der städtischen und ländlichen Bevölkerung, ,
in stark gewerbetreibenden und vorwiegend
von der Landwirtecliaft lebendcQ Landes-
teilen, in der Ebene, im Hochgebii^ und"
der Eflste sowie bei den einzelnen Be-
rutsgruppen sehr verschieden. Wo reichlich .
Gelegenheit zum Erwerb und zur Begrün-
dung eigener Hauswirtschaft vorhanden ist
und die Ansprüche an den Genuss materi-
eller Güter bescheiden gebUeben sind, ist,
die Gebmlsziffer hoch wo diese Bedin-'
en fehlen, dagegen niedrig,
Fach grossen Kriegen, verheerenden
Seuchen und Jahren des Misswachses oder
wirtschafthcher Krisen sinkt die Geburts- '
Ziffer unter den Mittelwert, hebt sich jedoch
selir bald danach über denselben. In Staaten,
deren männhche Bevölkerung der allgemeinen
Wehrpflicht unterworfen ist, äussern Kriege .
von längerer Dauer einen erheblich stärkereu
Einfluss auf die Geburtsziffer als in Staaten,
deren Heer durch Werbung ergänzt wird
und deshalb verhäituismässig weniger Ver- ■
heiratete in seinen Reihen zählt. Reiche
Ernten, Aufschwung des Handels und der
Gewerbe, Oberhaupt günstige Veränderungen ,
der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung,
ja sogar politische Verändenmgen , welche
in einem grossen TcUc des Volkes die
Hoffnmig auf baldiges Eintreten einer Ver-
besserung der Wirtschaft liehen Lage er-
wecken, veranlassen eine Erhöhung der
Geburtsziffer. Die in einigen Staaten ver-
suchte Erhöhung der Gebluisziffer durch
besondere Massnahmen der Gesetzgebung
(z. ß. Junggesellensteuer, teilweise Steuer-
befreiung kinderreicher Männer, Beschräa-
36
Geburtenstatistik
kung der letztwilligen Verfügung über den
Nachlass für Personen, welche keine oder
nur einen Leibeserben hinterlassen, Befreiung
kinderreicher Männer von der Dienstpflicht
in der Reserve und Lwidwehr etc.) nahen
sich bisher nicht wirksam erwiesen. Die
statistischen Nachweise einiger Kulturstaaten,
über welche weit zurückreichende Nach-
richten vorhanden sind, scheinen den Be-
weis dafür zu erbringen, dass mit Zunahme
der Kultur die Geburtsziffer sinkt, und
namentlich in dem letzten Jahrzehnt sind
eine Reihe von Schriften erscliienen, welche
— in der Regel anknüpfend an das äusserst
langsame Anwachsen der Yolkszahl und die
niedrige Gebm-tsziffer Frankreichs — eine
derartige Abhängigkeit der Geburtsziffer von
der wirtschaftlichen Entwickelung und dem
Standard of lifo zu begründen versuchen.
Indessen ist die Thatsache, dass die Ge-
burtsziffer gesunken ist, statistisch keines-
wegs einwandfrei nachgewiesen. Es sind
bei allen Kulturvölkern, gleichviel ob die
Ghöburten durch Kirchenbehörden, Gerichte
oder besondere Standesbeamte registriert
wurden, die Geburten schon in den ersten
Jahrzehnten dieses Jahrhunderts nahezu
vollständig zu amtlicher Kenntnis gelangt,
während der Stana der Bevölkerung allent-
halben früherhin sehr viel weniger vollstän-
dig durch die Zählungen erfasst worden ist
als in neuester Zeit In Deutschland und
Preussen insbesondere enthält die Zahl der
Geborenen aus der Zeit vor 1875 auch die,
wie die Aufnahmen aus den folgenden
Jahren gezeigt haben, nicht unbeträchtliche
Zahl der in vorhergehenden Jahren ge-
borenen, aber erst nachträglich getauften
bezw. angemeldeten Kinder. Für die Ver-
gleichung der älteren und neueren Geburts-
ziffem der preussischen Bevölkerung tritt
hierzu noch die Erwägimg, dass die öst-
lichen, durch hohe Geburtsziffem gekenn-
zeichneten Provinzen schon zu Beginn der
statistischen Aufzeichnungen dem Staate an-
gehörten, während die Geburtsziffer der
neuerworbenen Landesteile eine verhältnis-
mässig niedrige ist SteUt man alle diese
Thatsachen in Rechnung, so ergiebt sich,
dass in Preussen vom Jahre 1820 bis zum
Jahre 1898 keine nennenswerte Abnahme
der Geburtsziffer nachzuweisen ist Ob und
inwieweit für andere Staaten dieser Nach-
weis zu führen ist, entzieht sich hier der
Beurteilung.
5. Eheliche Fmchtbarkeit Die ehe-
liche Fruchtbarkeit ist die Zahl, welche an-
giebt, wie viele Kinder diut^hschnittlich auf
jetle Ehe entfallen. Man berechnet dieselbe,
indem man die Zahl der innerhalb einer
längeren Reihe von Jahren vorgekommenen
Eheschliessungen mit der Zahl der ehelich
(auch von Witwen und geschiedenen Frauen)
Geborenen vergleicht, kann sie jedoch auch
durch die Yergleichung der vorhandenen,
im gebärfähigen Alter stehenden Frauen
bezw. noch nicht 9 Monate lang verwitweten
und geschiedenen Frauen mit der Zahl der
ehelich Geborenen alljährlich bestimmen.
Die erstgenannte Berechnungsweise ist ein-
facher und liefert zudem ein zuverlässigeres
Ergebnis, sofern die Zahl der Eheschliessungen
und ehelich Geborenen für einen längeren
Zeitraum bekannt ist; für einzelne Jahre
hingegen ist dieselbe nicht zu empfelilen,
weü die Zahl der Eheschliessungen in den
einzelnen Jahren viel stärkeren Schwankimgen
unterliegt als die der Geburten und der
Einfluss grosser Kriege, wirtschaftlicher
Notstände etc. sich bei den Eheschliessungen
unmittelbar, bei den Geburten erst in dem
folgenden Jahre oder noch später äussert
Die eheliche Fruchtbarkeit hat sich in den
Staaten von Mittel- und Westeuropa seit
dem Abschlüsse der napoleonischen Kriege,
soweit hierüber Nachrichten vorliegen, fast
gar nicht verändert und lieg^ in den Grenzen
von 4 bis 5 (einschliesslich der Totgeborenen).
Nur Frankreich macht eine bemerkenswerte
Ausnahme hiervon. Dort stellte sich dieselbe
von 1800 bis 1815 auf 3,93, 1816 bis 1830
auf 3,73, 1831 bis 1845 auf 3,31, 1846 bis
1860 auf 3,08, 1861 bis 1875 auf 3,01, 1876
bis 1887 auf 3,05, im Jahrzehnte 1881/90
durchschnittlich auf nur 2,90 und ist seit-
dem noch weiter gesunken. Die romanische
Rasse zeigt anderwärts keine auffällig nied-
rige eheliche Fruchtbarkeit; denn in Italien
steUte sich dieselbe z. B. für 1871/80 auf
4,5, für 1881/90 auf 4,4.
Im preussischen Staate entfielen durch-
schnittlich auf jede Eheschliessung folgende
Anzahl ehelich (lebend oder tot) Geborener:
Jahre überhaupt
1816—1820 3,8
1821-1830 4,4
1831—1840 4,1
1841—1850 4,1
Jahre überhaupt
1851—1860 4,2
1861—1870 4,4
1871—1880 4,2
1881—1890 4,3
Bis zum Jahre 1860 hin war in Preussen
die eheliche Fruchtbarkeit der Juden etwas
höher als die der Christen, seitdem ist die-
selbe jedoch niedriger als bei den Christen.
Ausserordentlich niedrig, nur auf 1,70, stellt
sich dieselbe für Mischehen zwischen
Christen und Juden, wobei es keinen unter-
schied macht, ob der Mann oder die Fratl
dem Judentimic angehört, sehr hoch da-
gegen für Ehen zwischen Personen polni-
scher Abstammung (5,42) und deswegen
auch bei den grossenteils von polnischen
Eltern stammenden Katholiken Preussens
(5,28), gegen 4,40 für evangelische und 4,39
für jüdische Ehepaai*e nach den Beobach-
tungen seit 1875.
6. Uneheliche Fmchtbarkeit Die un-
(Jehurtenstatistik
37
eheUche Fruchtbarkeit wird berechnet aus
der Yergleichung der Zahl der im gebär-
fähigen Alter stehenden, jedoch nicht oder
nicht mehr verheirateten weiblichen Per-
sonen mit der Zahl der unehelich gebend
oder tot) Geborenen. Sie wird stark beein-
flnsst von der Verteilung der Bevölkenmg
nach dem Geschlechte, der Dichtigkeit des
Zusammenwohnens , der Heiratszirfer und
dem durchschnittlichen Heiratsalter, der
wirtschaftlichen Lage und dem Umfange,
in welchem unverheiratete weibHehe Per-
sonen ausserhalb der Hauswirtschaft selb-
ständig erwerbsthätig sind.
Weniger geeignet zu Untersuchungen
auf dem Gebiete der Moralstatistik, aber für
manche andere Fragen Einblicke gewährend
ist die Zahl, welche den Anteil der unehe-
lichen an der Gesamtzahl der Geburten an-
giebt, und allen auf den Familienstand der
Geborenen bezüglichen statistischen Zusam-
menstellungen sowie den daraus abgeleiteten
Yerhältniszahlen haftet ein nicht wohl zu
beseitigender, die Zuverlässigkeit der Er-
febnisse nidit unerheblich beeinträchtigender
ehler an, welcher in dem Nichtbekannt-
werden der 2iahl der vor der Eheschliessung
erzeugten ehelichen, der nachträglich legiti-
mierten und der von verheirateten Personen
unehelich erzeugten Kinder begründet ist.
Auf 1000 im Alter von 20 bis 45 Jahren
stehende unverheiratete weibliche Personen
entfielen jährlich im Jahrzehnte 1881/90 in
Deutschland 50,7, in Preussen 44,6, in
Bayern 70,5, in Sachsen 86,2, in Württem-
berg 50,4, in Baden 37,4 unehelich Lebend-
feborene. Am höchsten ist die uneheliche
ruchtbarkeit weiblicher Personen im Alter
von 20 bis 25 Jahren.
7« Greborene nach dem Geschlechte.
Das Geschlecht der Geborenen wird am
zweckmässigsten in der Weise berechnet,
dass man feststellt, wieviel Knaben und
Mädchen durchschnittlich unter je 1000 Ge-
borenen vorgekonmien sind. Früherhin war
es üblich, anzugeben, wieviel Knabenge-
burten auf je 100 Mädchengeburten ent-
fielen, doch ist diese Zahl für manche
Bechnungen nicht unmittelbar zu verwerten.
In Preussen waren nach langjährigen Be-
obachtungen (1816/95) durchschnittlich 512,7
Knaben und 487,3 Mädchen im Tausend
aller Geborenen, auch zeigten die einzelnen
J^ire geringe Schwankungen gegen diese
Durchschnittswerte. Die Häimgkeit der
Knabengeburten scheint allmählich etwas
zuzunehmen, auch stieg dieselbe stets nach
Jahren des Misswachses, allgemein wirken-
der wirtschaftlicher Störun^n sowie nach
Kriegen. Unter den Mehrlingskindern be-
finden sich weniger (511,6), unter Zwillin-
gen nur 510,6, unter Vierlingen sogar niu*
438,1 Knaben, bei Drillingen hingegen 511,6
Knaben im Tausend, und Mehrlingsgeburten,
bei denen alle Kinder gleichen Geschlechtes
sind, kommen weit häufiger vor, als nach
der mathematischen Wahrscheinlichkeit zu
erwarten ist. Unter den ehelichen Kindern
befinden sich mehr, unter den unehelichen
weniger Knaben als imter allen Geborenen.
8. Totgeburten. Die Totgeburtsziffer
bezeichnet die Zahl der Totgeborenen unter
je 1000 Geborenen und stellt sich in Preussen
(seit 1816) auf 37; sie erhöht sich nach
Zeiten, in welche wirtschaftliche Störungen
fallen, ist zu internationalen Yergleichungen
nicht geeignet, nimmt in Preussen und
ebenso wahrscheinlich in allen Kulturstaaten,
neuerdin^ infolge der Fortschritte der ge-
burtshilfhchen Wissenschaft und besseren
Ausbildung der Geburtshelfer und Hebammen
von Jahr zu Jahr ab, wenn man in Betracht
zieht, dass die Totgeburten gegenwärtig
sehr viel vollständiger registriert werden
als früherhin. Unter den Knabengeburten
sowie den unehelichen Kindern konunen
Totgeburten sehr viel häufiger als diuxjh-
schnittlich bei allen Geborenen vor.
9. Uneheliche Geburten. Der Familien-
stand der Geborenen wird durch Angabe
der Zahl der unter 1000 Geborenen vor-
handenen ehelichen und unehelichen Kinder
gemessen. In den Städten machen die un-
ehelich Geborenen einen weit grösseren An-
teil der Geborenen aus als auf dem platten
Lande, und namentlich die Grossstädte
liefern regelmässig sehr viele uneheliche
Geburten, deren Häufigkeit überhaupt zu-
nimmt. Die einzelnen liUider zeigen be-
züglich des Famüienstandes der Geborenen
grosse Verschiedenheiten, welche indessen
z. T. auf Yerschiedenheiten in der Art der
Registrierung beruhen. In Preussen kommen
bei der katholischen Bevölkerung weniger
uneheliche Kinder unter den Geborenen vor
als bei der evangelischen, am seltensten
finden sich dieselben unter den von jüdischen
Müttern Geborenen, wobei vielleicht die
äusserst geringe Fruchtbarkeit geschlecht-
licher Yerbindungen christlicher Männer
mit jüdischen Frauen von entscheidendem
Einflüsse ist.
10. Mehrgeburten. Die Mehrgeburts-
ziffer kann auf zwei Arten berechnet werden,
je nachdem man angiebt, wieviel Mehrge-
burten unter je 1000 Entbindungen oder
wieviel Mehrlingskinder unter je 1000 Ge-
borenen sind. In Preussen steigt die Mehr-
geburtsziffer ; von 1000 Entbindungen waren
in den Jahren 1824—1840 11,36, 1841—1857
11,51 und 1858—1874 12,60 Mehrgeburten,
1889 bereits 12,93 und 1891—1895 12,7.
Im Regierungsbezirke Sigmaringen und
einem grossen Teile Süddeutschlands kommen
Mehrgeburten erheblich häufiger als in
Norddeutschland vor, und am seltensten
38
Geburtenstatistik — Gefängnisarbeit
•sind dieselben im nordwestlichen Deutsch-
land. Auf das Yorkommen von Mehrge-
burten scheint die Stammeszugehörigkeit
der Eltern starken Einfluss zu äussern;
doch sind die Aufnahmen noch nicht voll-
ständig genug, um auf dieselben hin inter-
nationale Tabellen aufzustellen. Hier wie
bei der Verteilung nach dem Geschlechte
ändern sich die verhältniszahlen beträcht-
lich, wenn nur die Lebendgeburten und
nicht die Totgeburten registriert werden.
11. Gebniltszeit Die Zeit der Geburten
wird statistisch auf verschiedene Weise dar-
gestellt. Man giebt an, wieviel von je 1000
Geborenen in den einzelnen Kalendermonaten
■geboren worden sind oder verteilt 1200 Ge-
borene auf diese Monate. Empfehlenswerter
ist es, für jeden Monat unter Berücksich-
tigung der Zahl seiner Tage, sowie etwaiger
Schalttage, die Zahl der täglich im Dui-ch-
schnitte ehelich und uneheüch Geborenen
anzugeben, da hierdurch die ungleiche Zeit-
dauer der Monate mit zum Ausdruck ge-
langt. Die ehelichen Geburten verteilen
sich der Zeit nach anders als die unehe-
lichen, auch äussert die Art des Wohnsitzes
(Stadt bezw. Land) auf die Yerteilung beider
merklichen Einfluss , vielleicht wegen der
verschiedenartigen JErwerbsthätigkeit der
städtischen und ländlichen Bevölkerung in
den einzelnen Jahreszeiten und der dadurch
mehr oder weniger bedingten gemeinsamen
Beschäftigung von Personen beider Ge-
schlechter.
In Preussen kommen die meisten ehe-
lichen Geburten im Staate und auf dem
platten Lande im September, die wenigsten
hingegen im Juni vor. In den Grossstädten
fällt das Maximum in den Januar, das Mi-
nimum in den Mai, in den Mittel- und
Kleinstädten das Maximum in den Februar
imd das Minimum in den Juni. Das Klima
äussert hierbei auch bei der ländlichen Be-
völkerung geringen Einfluss; denn sowohl
in Ostpreussen wie im Rheinlande, in
Schlesien wie in Schleswig-Holstein werden
im September mehr eheliche Kinder auf
dem platten Lande geboren als in jedem
der drei vorhergegangenen oder nachfolgen-
den Monate. Die Sachsengängerei verschiebt
in den davon betroffenen östhchen Provinzen
Maximum und Minimum der Gebm1»n (vgl.
Zeitschr. des kgl. preuss. Statist. Bureaus
-1885, S. 93 ff.).
Uneheliche Geburten kommen im Staate
wie in den Grossstädten, den Mittel-
imd Kleinstädten sowie auf dem platten
Lande am häufigsten im Februar vor, am
seltensten dagegen im August; nur für
die Grossstädte fällt das Minimum in den
Juli.
Aehnliche Angaben lassen sich für fast
sämtliche mittel- und westeuropäische Staa-
ten i) aus den Nachweisungen aufstellen,
welche seitens der amtlichen Statistik all-
jährlich veröffentlicht werden, da fast über-
all die Zahl der ehelich und unehelich Ge-
borenen nach Monaten der Geburt mitge-
teilt wird. Nur wo die Unterscheidung
nach dem Familienstande der Geborenei
fehlt, lassen sich die Zahlen für den ange
deuteten Zweck nicht verwerten.
A. Prhr, von Fircks.
Oefängnisarbeit.
1. Vorbemerkung. 2. Geschichtliches. J
Forderungen der Strafpolitik und der Wirl
schaftspolitik an die Organisation der Gefän^
nisarbeit. 4. Organisation der Gefängnisarhei
5. Würdigung der verschiedenen Systeme, i
Gefängnisarbeit ausserhalb der geschlossene
Anstalt. 7. Ertrag der Gefängnisarbeit. 8. Schlus
bemerkung.
^ 1. Vorbemerkung. Strafpolitik und Wir
Schaftspolitik haben an der Gestaltung d^
Gefängnisarbeit gleiches Interesse. \Vei
sie dabei häufig miteinander in Widerspru(
geraten, so ist es Aufgabe des Slrafrech
und vielmehr noch des Strafvollzugs, d<
Gegensatz zu überwinden, um die Ansprücl
beider gei-echt abzugrenzen, muss die x'u
umstrittene Frage nach dem Zwecke d
Strafrechts und der auf Grund desselb
verhängten Strafe benlhrt werden.
Das Strafrecht ist nur ein Teil des a
gemeinen Hechts und hat denselben Zwc
wie dieses. Der Zweck im Recht ist c
Schutz der Lebensinteressen der Gesellsch
(Jhering); der Zweck im Strafrecht ist c
verstärkte Schutz besonders schutzwürdig
und schutzbedürftiger Interessen durch I
drohung imd Vollzug der Strafe (v. Lis
Aufgabe der Strafpnolitik ist es, diesen Zw<
so vollkommen wie möglich zu erreich
Schutz und Föi'derung aer wirtschaftlicl
Interessen ist Aufgabe der Wirtschaftspoli
Das wirtschaftüche Gedeihen ist ein Lebe
Interesse der Gesellschaft; besondei-en Schul
bedürftig, würdig und besonders gefälu
diuxjh den Rechtsbruch. Somit ste
Strafpolitik und Wirtschaftspolitik auf d(
selben Boden und verfolgen gemeins£
Zwecke. Von Strafpolitik kann erst
Rede sein, nachdem die Gesellschaft i
staathch soweit organisiert und gefestigt
dass sie die plan- imd ziellose Rache
einzelnen, der Familie, Sippe, Geaossenscl
den »Gegenstoss gegen den Angriff ss
auf eine fremde Rechtssphäre«, in die si
liehe Strafe umwandelte ; in die zielbewu
»soziale Reaktion gegen antisoziale 11;
') Auch für Bulgarien seit 1881, für Sei
seit 1862, für Rumänien seit 1870, für eim
Jahre auch für Spanien und Portugal.
Gefängnisarbeit
39
lungen« (v. Liszt), in die »soziale Macht-
äussenmg im Dienste sozialer Selbstbe-
hauptung« (Merkel). Auf derselben Stufe
staatlicher Entwiekelung beginnt auch die
Wirtschaftspolitik; das zielbewusste, plan-
mässiee Abwägen und Fördern der wirt-
schafuichen Interessen der Individuen, be-
sonderer wirtschaftlicher Kreise, Verbände,
Genossenschaften unter einander und des
Staates gegenüber anderen Staaten. Von da
ab schreiten beide, Straf politik luid Wirt-
schaftspolitik, neben einander her, eng ver-
bunden, die eine auf die andere angewiesen.
PrincipieUe Gc^nsätze zwischen beiden
können daher nicht stattfinden; geraten sie
trotzdem in Konflikt, so sind es Fehler der
Praxis, deren Grund meist darin liegt, dass
sie die Fühlung verloren haben und jede
ihre eigenen Wege geht. So können auch
auf dem Teile der Strafrechtspflege, welcher
die Gefängnisarbeit umfasst, principieUe und
darum unüberwindliche Gegensätze zwischen
Strafpolitik und Wirtschaftspolitik, wie so
oft behauptet wird, nicht stattfinden; treten
sie dennoch hervor, so lassen sie sich bei
beiderseitigem gutem Willen und einigem
praktischen Geschick unschwer ausgleichen.
2. Geschichtliches. Als die Umwand-
lung der Reaktion gegen den Rechtsbruch
aus der Privatrache in die staatliche Strafe
sich voUzog, hat die Staatsgewalt im wesent-
lichen die Mittel, welche der Befriedigung
des Rachebedürfnisses gedient hatten, als
staatliche Strafmittel, wenn auch in anderer
Form, beibehalten. Es blieb die Vernich-
tung der Person des Rechtsbrechers durch
Tötung als Todesstrafe, das Quälen als
Leibesstrafe, die wirtschaftliche Vernichtung
durch Zerstörung des Eigentums. Neu hinzu
trat die Ausschliessung des Rechtsbrechers
aus der Staatsgemeinschaft durchVerbannung.
Alle diese Strafen schliessen die Zerstörung
wirte^afüicdier Werte in sich. Da nun jeder
Rechtsbruch die Schädigung wirtschafthcher
Interessen einzelner oder der Gesamtheit
nach sich zieht, so wird durch solche Straf-
mittel der durch den Rechtsbruch angerich-
tete wirtschaftliche Schaden noch vermehrt
Die Wirtschaftspolitik verlangt daher die
Strafe so zu gestalten, dass sie nicht nur
neue Rechtsbrüche verhütet, sondern zum
&8atze des angerichteten Schadens beiträgt
Man konfisadert daher das Eigentum des
Rechtsbrechers, statt es zu zerstören; man
1^ auf seine Person und seine Arbeitskraft
Beschlag; statt ihn durch Tötung, Ver-
stümmelung, Verbannung zu vernichten,
macht man den Rechtsbrecher zum Privat-
sklaven oder Staatssklaven; das ist die
Freiheitsstrafe mit Arbeitszwang in ihrer
rohesten Form. ' Das älteste wirtschaftlich
entwickelte Volk, die Eg^ter, hat zuerst
zeitliche . oder lebenslänglicne Zwangsarbeit
als staatliche Strafe eingeführt; Athen und
Rom haben die Verbrecher in die staatlichen
Bergwerke geschickt (ad metaUa) oder zum
»opus jjublicüm« (Bau von Wegen) angehalten;
die freien Reichsstädte Deutschlands haben
sie in die »Springer geschlagen« und die
Gassen kehren lassen. Die Handelsstaaten
am Mittelländischen Meere verwandten sie
als Ruderknechte auf den Galeeren. Die
Stadt Nürnberg verkaufte um 1570 eine An-
zahl Sträflinge an die Republik Genua und
machte damit ein leidliches Geschäft. Oester-
reich ist bis in die Zeiten der Maria Theresia
diesem Beispiele gefolgt, nur waren der
Doge von Venedig und der König von
Neapel bereitwillige Abnehmer. England
verkaufte bis gegen das Ende des 18. Jahr-
hunderts die zum Galgen Verurteilten statt
sie zu hängen an die Kolonisten Amerikas,
erzielte daßr Preise bis zu 20 £ für den
Kopf und setzte das Geschäft bis in die
Mitte dieses Jahrhunderts mit den nach
Australien Deportierten fort.
Eine derartige wii-tschaftliche Ausnutzung
des Rechtsbrechers stand in vollster Ueber-
einstimmimg mit der Strafpolitik, welche
lediglich von dem Gedanken des Abschreckens
und ünschädlichmachens getragen wurde,
sie vereinigte in sich deren Strafmittel des
körperlichen Quälens und Vemichtens und
gab noch einen wirtschaftlichen Ertrag. Mit
dem Verschwinden der Sklaverei und der
Sklavenarbeit kam dieser Handel ausser Ge-
brauch und man kehrte zu den unwirtschaft-
lichen Strafmitteln des Vemichtens und
Quälens zurück.
Seit dem Ausgange des Mittelalters wächst
infolge des Mangels jeder Wirtschaftspolitik
und imter dem Drucke verkehrter wirtschaft-
licher Massregeln sowie imter den Nach-
wehen zahlloser innerer und äusserer Kriege
die Zahl der Besitzlosen, Arbeitlosen, Heimat-
losen ins Ungeheuerliche. Als Bettler, Va-
ganten, Gauner, Diebe, Räuber, Brandstifter
gefährden sie die Rechtsordnung und die
wirtschaftliche Entwiekelung der kleinsten
Staatengebilde sowohl wie der grössten in
ihren Gnindlagen, wovon das aus dem An-
fange des 16. JaJirhunderts stammende ȟber
Vagatorum« Zeugnis giebt.
Die Strafpolitik mit ihren Strafmitteln:
G^gen, Rad, Henkerbeil, Schandpfahl, Staup-
besen, Brenneisen und Kerker ist diesen wirt-
schaftsfeindlichen, verbrecherischen Massen
gegenüber machtlos j ihre Organe: Rechtsge-
lehrte, Richter, Polizei ratlos.
Als mit steigender Kultur unter dem
Einflüsse geläuterter christlicher und humaner
Bildung weite Volkskreise gegen die nutz-
lose Blutarbeit der Strafrechtspflege sich
empörten, da ist von den Gemeinwesen, in
denen damals fast allein ein Verständnis
für wirtschaftliche Fragen vorhanden war
40
Gefängnisarbeit
und Wirtschaftspolitik getrieben vurde, auch
eine Aenderung der wirtschaftswidrigen Straf-
Solitik angegangen. Die vereinigten Staaten
er Niederlande nahmen nach Abschüttelung
der spanisch-katholischen Herrschaft einen
mächtigen Aufschwung auf allen Gebieten
wirtschaftlichen Lebens. Hier machte sich
die Störung und ffinderung durch jene
Massen unwirtschaftlicher Elemente, die
teils in den laugen Kriegsjahren auf eigenem
Boden erwachsen waren, teils aus den be-
nachbarten Ländern dem aufblühenden Ge-
meinwesen zuströmten, am empfindlichsten
bemerkbar; auch hier versagten die Straf-
mittel der bisherigen Strafpolitik. So viel
man von jenen Personen auch hängen oder
ausgepeitscht aus dem Lande jagen mochte,
sie wuchsen im eigenen Lande nach oder
fluteten an anderer Stelle über die Grenze
zurück. Hier ist zuerst ein Verständnis
dafür aufgegangen, dass wirtschaftliche
Schäden der Gesellschaft und unwirtschaft-
liche Eigenschaften der Individuen, körper-
liche oder geistige Minderwertigteit zur
Arbeit, gedankenloses Verfügen über den
Arbeitsertrag, ohne an die Zukunft zu denken,
Faulheit und Müssiggang die Hauptquellen
des Verbrechens sind und dass aie wohl
organisierte Zwangsarbeit ein geeigneteres
Mittel sei, die verbrecherischen Elemente
von ihrem wirtschaftsstörenden Treiben ab-
zubringen, als die bisherigen sinn- und nutz-
losen Leibes- und Lebensstrafen. Amster-
dam, die mächtigste und wirtschaftlich am
meisten entwickdte Stadt der Niederlande,
gestaltet den neuen Gedanken praktisch aus.
Die Bürgermeister beschliessen, »ein EEaus
zu gründen, in welchem man alle Vaga-
bonden, üebelthäter, Spitzbuben einsperren
und arbeiten lassen könne, auf so lange, als
es die Richter nach ihren Delikten oder Misse-
thaten für angemessen befinden würden.«
Ein aufgehobenes Eloster wird dazu einge-
richtet, für männliche Gefangene bestimmt,
mit dem den Charakter der neuen Strafe
trefflich bezeichnenden Namen »Zuchthaus«
benannt und am 3. Februar 1596 mit den
ersten 12 Ge&ngenen belegt Ein ähnliches
Haus für weibliche Personen und ein weiteres
für jugendliche üebelthäter folgten in den
nächsten Jahren nach. Zeitweiliges Aus-
scheiden der gegen die Rechtsordnung sich
auflehnenden Elemente aus der freien Ge-
sellschaft, Erziehung derselben durch Zucht
und Arbeit zur Achtung der Rechtsordnung
und zu geordnetem sozialen Leben, Steige-
rung der wirtschaftlichen Kraft des Indi-
viduums, das ist der neue Grundsatz, den
die Wirtschaftspolitik der Strafpolitik auf-
zwingt und den Jolm Howard zwei Jahr-
hunderte später in den Satz gcfasst hat:
>Make men diligent, and they wiÜ be honest«
Die Wirtschaftspolitik hat die G^fÄngnis-
arbeit geschaffen und übt auf ihre Organi-
sation den bestimmenden Einfluss. Bart
und schwer soll die Arbeit sein, Aufbietung
aller Kräfte fordern, denn auch der ehrliche
Mann muss hart arbeiten im Kampfe ums
Dasein. Wenn sie um einige Grade schwerer
imd unangenehmer gestaltet wird als die des
freien Arbeiters, so ist damit dem berech-
tigten Gedanken in der Strafpolitik, der Ab-
schreekungj gebührend Rechnung getra^n.
Dagegen wird die Forderung der Strafpohtik,
durch rücksichtslose Ausnutzung der ij*beits-
kraft, durch schlechte Behandlung, Vernach-
lässigung der Körper- und Geistespflege,
durch schlechte Ernährung den Ge^ngenen
leiblich und seelisch zu quälen oder wohl
gar zu Grunde zu richten, als unwirtschaftr
lieh abgelehnt Denn die wirtschaftpoli-
tisch denkenden Staatsmänner der Nieder-
lande erkannten, dass die durch solche Be-
handlung körperlich und geistig ausge-
mergelten Existenzen für das wirtschaftliche
Leben nach ihrer Rückkehr in die Freiheit
ebenso wertlos und vielleicht noch gefähr-
licher seien als vorher. Sie haben daher
darauf gehalten, dass neben der Erziehung
und Gewöhnung zu harter Arbeit durch
sorgsame leibliche und ^isfige Pflege,
durch gute Wohnung, Reinlichkeit, gute
Ernährung, die kaum heute den Getogenen
in dem umfange gewährt wird, durch
Unterricht, Seelsorge die körperlichen und
geistigen Kräfte der Gefangenen gestählt
würden, um sie für das freie wirtschaftliche
Leben wieder brauchbar zu machen. Sie
haben sich darin nicht irre machen lassen
durch den Spott der Strafpolitiker alten
Schlages, welche die Stadt wegen ihres
»Zuchthauspalastes« verhöhnten, um den
wirtsch^tlichen Wert des Gefangenen zu
erhöhen, haben sie namentlich die jüngeren
bildungsfähigeren Elemente in allerlei Hand-
werk unterweisen lassen. Ja sie haben den
Grundsatz aufgestellt, dass bei der Ausw^ahl
der Arbeit die Individualität des Gefangenen
(ingenium vel artus cujusque — ac robur)
berücksichtigt werden solle. Auch' in der
Auswahl der Arbeit zeigt sich der wirt-
schaftpolitische Blick der Amsterdamer
Bürgermeister. Indem sie das Raspeln der
Farbehölzer zur Hauptarbeit der Männer im
Zuchthause machte (daher auch der Name
Raspelhaus), sicherte sie dem Amsterdamer
Handel den Import dieser Hölzer und deren
Verwertung in der Industrie ; und da dieser
Arbeitszweig von freien Arbeitern noch wenig
betrieben wurde, sicherten sie ihn durch ein
Monopol für das Zuchthaus und vermieden
dadiu-ch den unwirtschaftlichen Wettbewerb
der Strafarbeit mit der freien Arbeit auf
lange Zeit hinaus. Wo er sich nicht ganz
vermeiden lässt, wie z. B. bei der handwerk-
lichen Ausbildung der Jugendlichen, da gaben
Gefängnisarbeit
41
^e den Begenten des ZuchÜiauses schon im
Jahre 1612 die Weisung: ne usum indus-
triamque ooUegiorum opificum impediant.
Quod absque detrimento rei publicae non
fieri potesL
Mit sicherer Hand sind hier die Grund-
zftge für die Gest^dtung der Ge&n^isarbeit
vorgezeichnet : Ernste Arbeit, die
Werte schafft, der Eigenart des
Gefangenen angemessen ist und
ihn wirtschaftlich hebt, die Störung
der freien Arbeit vermeidet.
Der Erfolg dieser neuen, auf wirtschafts-
politischem Grunde aufgebauten Strafpolitik
war geradezu wunderbsur. Wer im Amster-
damer Zuchthaus gesessen hatte, war vom
Betteln imd Stehlen kuriert Wie ein Lauf-
feuer verbreitete sich die Kunde von der
neuen Strafe unter dem fahrenden Volke
und Hess sie der Stadt mit dem Zuehthause
weit aus dem Wege gehen; die Strassen
wurden frei vom Bettel und Va«uitenvolk,
die Sicherheit von Eigentum imd Leben war
grSsser als je zuvor. Wie ein wunderthätiger
Heiliger wurde der Geist, der in dem Zudit-
und Kaspelhause waltete (Sanctus Raspinus),
gepriesen.
Von da an ist die Freiheitsstrafe ver-
banden mit wirtschaftlieh organisierter Ar-
beit in den Kreis der Strafpolitik getreten
und hat mit siegreicher Gewalt, allerdings
nach hartem Kampfe mit den Theorieen
und Gewohnheiten einer verknöcherten Straf-
politik, die Leibes- und Lebensstrafen bis
auf einen kleinen Ueberrest verdrängt. Am
ersten fand die neue Strafart Eingang in
den Staaten, die für wirtschaftliche Fragen
ein Verständnis hatten, in den nieder&n-
dischen Städten Brügge, Gent, in den deut-
schen Seestädten Danzig, Bremen, Hamburg,
Lübeck, wohin durch Schiffer und Kauf-
leute die Kunde von der neuen Einrichtimg
gedrungen war ; sie Hessen sich die Amster-
damer Zuchthausordnimg kommen und er-
richteten ähnliche Häuser. Der Gedanke
fand Anklang in England und wurde von
WiUiam Penn hinüber getragen in die neue
Welt,
In den eim)päischen Binnenstaaten war
während der Knege, die das 17. Jahrhundert
dnrchtobten, ebensowenig Platz für eine
durchgreifende Reform der Strafpolitik als
der Wirtschaftspolitik. Ge^en Ende des
Jahrhunderts wurde allerdings hin und
wieder, um der verbrecherischen und un-
wirtschaftlichen Elemente, welche der Krieg
geboren hatte, Herr zu werden, mit der
Errichtung von Zuchthäusern begonnen, aber
sie haben mit den Einrichtungen der Nieder-
länder und der Hansestädte nur den Namen
gemein. Die alte Strafpolitik hat diese
Zuchthäuser gegründet und beherrscht. Das
waren nicht Strafanstalten, in denen der
Rechtsbrecher durch die Strafe zu geord-
netem wirtschaftlichen Leben erzogen wird,
sondern Quälanstidten, wo er »in Msen und
Banden bei geringer Atzung und schlechtem
Lebensunterhalt mit harter Arbeit, Karbatsch-
und Rutenzüchtiguug oder in anderem We^
wohl empfindlich abgestraft und mortifi-
cirt wird«. Leiblich, sittlich und wirt-
schaftlich zu Grunde richten, das war der
Erfolg dieser Häuser; er trat in die Er-
scheinung in den Räuber- und Mordbrenner-
banden, die bis in den An&ng dieses Jahr-
hunderts in Deutschland sowohl wie in Eng-
land und Frankreich die öffentliche Sicher-
heit und das wirtschaftliche Leben ganzer
Gegenden gefährdeten ; frühere Insassen der
Zuchthäuser stellten dazu das Hauptkon-
tingent
Erst seit Anfang dieses Jahrhunderts
hat die Strafpolitik auch ausserhalb der
Niederlande angefangen, jenen Grundsatz
des Vernichtens und Abschreckens zu ver-
lassen, um an die von wirtschaftspolitischen
Gedanken getragene Strafpolitik der Hol-
länder und Hansestädte wieder anzuknüpfen,
und heute steht die Freiheitsstrafe mit wohl
organisierter Arbeit im Mittelpunkte der
Strsimittel aller Kulturstaaten; Geldstrafen,
die nicht beizubringen sind, werden durch
sie ersetzt; die Todesstrafe ist bis auf
ein verschwindendes Mass eingeschränkt,
die Leibesstrafen sind beseitigt So wurden
z. B. 1897 im Deutschen Reiche über 463 585
wegen Verbrechen und Vergehen gegen
Reichsgesetze verurteilte Personen verhängt:
53 Todesstrafen, 270208 Freiheitsstrafen,
155403 Geldstrafen, 9718 Verweise.
3. Forderangen der Straf politik nnd
der Wirtschaftepolitik an die Ori^ani-
sation der Gefängnisarbeit Die Gefäng-
nisarbeit ist ebensosehr eine wirtschafts-
politische als strafpolitische Notwendigkeit.
Wenn aus wirtschaftlichen Kreisen dem
entgegengehalten wird, dass die Gefängnis-
arbeit die freie Arbeit schädige, und daran
hin und wieder sogar die Forderung ge-
knüpft ist, sie zu beseitigen, so ist zunächst
darauf hinzuweisen, dass die Gefängnis-
arbeit sowohl nach der Zahl der in ihr be-
schäftigten Personen als der durch sie ge-
schaffenen wirtschaftlichen Werte gegenüber
der freien Arbeit eine verschwindende Rolle
spielt
Nach der Benifszählung vom 14. Juni
1895 waren in Preussen vorhanden Erwerbs-
thätige im Hauptberufe: 10807271, denen
etwa 30000 Gefangene in Strafonstalten,
Gefängnissen und Korrektionshäusern gegen-
überstehen, deren Arbeit mit der freien
Arbeit in Wettbewerb tritt, also auf 360
freie Arbeiter kommt ein Gefängnisarbeiter.
In Frankreich wird der Ertrag der freien
Arbeit auf mehrere Milliarden Francs ge-
42
Gelängnisarbeit
•schätzt, dem der Ertrag der öefäagnisarbeit
mit etwa 3 Mülionen Francs gegenübersteht.
In England bestätigt die vom Minister des
Innern 1894 zur Untersuchung des Qefäng-
niswesens eingesetzte Kommission : »that the
value of prison labour which is estimated
at from 111000 to 120000 £ pr. annum
induding the domestic Services of the prisons
is an infinitesimal proportion of the money
earned by free labour through out the
country.« — Ist trotzdem eine Schädigung
der freien Arbeit durch die öefängnisarbeit
nachweisbar, so liegt die Ursache nicht in
ihrem Wesen, sondern in ihrer Organisation.
Die Strafpolitik bedarf einer Differenzie-
rung der Freiheitsstrafen nicht nur nach ihrer
Dauer, sondern auch nach ihrer Art, um die
Strafe der Schwere des Rechtsbruches und
der Gefährlichkeit des Rechtsbrechers ftlr
die Rechtsordnung entsprechend abzumessen
und zu gestalten. Zu dieser Unterscheidung
muss in erster Linie die Ai'beit dienen.
Freiheitsstrafe mit Arbeitszwang und ohne
Arbeitszwang ist die einfachste und kon-
sequenteste Unterscheidung. Die Nieder-
lande haben auf Grund ihrer Jahrhunderte
alten Erfahrung diese Scheidung gewählt
imd in ihrem Strafgesetzbuch von 1881 ge-
setzlich festgelegt; Gefängnis mit Zwang zu
der auferlegten Arbeit, deren Ertrag dem
Staate gehört ; Haft mit Arbeit nach eigener
Wahl, deren Ertrag dem Gefangenen zufällt.
Beschafft der Gefangene sich keine Arbeit,
die mit der Ordnung und Zucht des Ge-
fängnisses verträglich ist, weil er nicht will
oder nicht kann, so wird sie ihm von der
Gefängnisverwaltung gegeben, denn nicht
arbeiten wäre unwirtschaftlich. Bis
jetzt ist noch kein anderer Staat diesem
Vorgange gefolgt; mehr oder w^eniger ge-
künstelt hat man Freiheitsstrafen mit un-
bedingtem, bedingtem, ohne Arbeitszwang
konstruiert — Zuchthaus, geschärfte Haft,
Gefängnis, Festungshaft, einfache Haft in
Deutschland; travaux forc6s, r^lusion,
emprisonnement correctionel , emprisonne-
ment simple, detention, in Frankreich; oder
man hat versucht, durch die Nomenklatur
die Quälarbeit vergangener Zeiten anzudeuten :
Penale servitude, imprisonment with or
without hard labour, in England.
Die Strafpolitik verlangt erstens, dass das
Wesen der Freiheitsstrafe: Abschliessung
von der freien Bevölkerung, ernste Be-
schränkung der Freiheit, Zwang unter die
Gefängnisdisciplin durch die Arbeit nicht
verändert werde, das lässt sich am voll-
kommensten nur innerhalb des Gefängnisses
erreichen und dadurch, dass nicht andere sds
staatliche Organe auf den Strafvollzug Ein-
.fluss gewinnen; zweitens dass die Arbeit
die körperliohen und geistigen Kräfte des
Gefangenen voll ^ in Anspruch nehme imd
nicht in einen Zeitvertreib, um die Lange-
weile des Gefängnisses zu bekämpfen, aius
arte; drittens, dass die Arbeit nicht Lebei
und Gesundheit des Gefangenen schädige
weil sonst die Freiheitsstrafe in eine un
gesetzliche Leibes- und Lebensstrafe ver
wandelt würde ; viertens dass die Arbeit di
erziehlichen Zwecke der Strafe fördere un»
dem leitenden Grundsätze im Strafvollzugs
der Lidividualisierung, nicht widersprecb
Die Wirtschaftspolitik steht ni:
allen diesen strafpolitischen Grundsätzen i
voUer Uebereinstimmung, sie mussaberausso:
dem verlangen, dass die Gefängnisarbeit wul
liehe und möglichst hohe Werte schaffe -
nicht Tretmühle, Kanonenkugeln von d^
rechten auf die Unke Seite und umgekeh
legen, Gräben aufwerfen, damit sie wied
zugeworfen werden — , dass sie aber nie
durch ungerechtfertigten Wettbewe
den Wirtschafts- und Arbeitsraarkt d
freien Arbeit störe.
4. Organisation der Gefängnisarbe
Jede Gefängnisverwaltung bedarf für ihr
eigenen Betrieb der Arbeitskraft der (3
fangenen; alle Arbeiten der Hauswirtsch;
vom Hausreinigen bis zur Unterhaltung c
Gebäude müssen diutih Gefangene aus^
führt werden. Die Zahl der dabei 1
scliäftigten Personen schwankt zwiscl:
15 bis 30 ^/o der Gesamtzahl. Die Arl
der übrigen Gefangenen muss anderw
verwertet werden und zwar den Forderung
der Strafpolitik entsprechend vorzugswe
innerhalb des Gefängnisses; ausserhalb €
dann, wenn der Anstaltszwang den ]
straften soweit unter die staatliche Ordni
gebeugt und zu ihrer Anerkennung
bracht hat, dass eine Milderung des Zwan
eintreten kann, und wenn die Aussenarl
den Charakter der Freiheitsstrafe nicht i
hebt.
Die Arbeit im Innern des Gefängnis
kann auf dreierlei Weise organisiert we«
1. Betrieb durch Unternehmer für d^
Rechnung.
II. Betrieb durch die Anstalt f ilr R<
nun^ eines Unternehmers.
ni. Betneb für eigene Rechnung
Anstalt.
I. a) Die einfachste aber auch roheste F
dieser Organisation ist die, dass der
samte Strafvollzug einem Unternehmer
Wissermassen in Entreprise gegeben >
Er stellt düe Gefängnisgebäude, gewölii
Baracken, bezahlt die Beamten, oft \
Gewährung eines Anteils am Gewinn,
Unterhalt und die Arbeitsbelohnungen
Gefangenen und hat dafür das Recht,
Arbeitskraft der Getogenen auszunii
Je nach den Umständen zahlt der Staat
Unternehmer einen geringen Ziischuss,
der Unternehmer zahlt dem Staate nocla
OefäDgaisarbeit
43
Enischftdigang, oder er zahlt nichts und
bekommt nichts (Pacht- oder Lease-System).
b) Eine mildere Form des Untemehmer-
betriebes ist, dass der Staat die Gebäude
und deren Einrichtung beschafft, die Beamten
anstellt und lohnt; ein Gteneraluntemehmer
übemimmt für alle Gefängnisse die Aus-
nutzung der Arbeitskraft der Gefangenen,
als Entölt liefert er alle wirtschaftlichen
Bedürfnisse für den Unterhalt der Ge-
fengenen und zahlt ausserdem eine Ent-
schädigung an den Staat. Im Vertrage
werden die Arbeiten festgesetzt, welche der
UnteiTiehmer betreiben darf, die dafür zu
zahlenden Löhne, der Preis für den Unter-
halt der Gefangenen und die Entschädigung,
welche an den Staat zu zahlen ist. Der
Generalunternehmer vergiebt die Arbeit der
Gefongenen in den einzelnen Anstalten weiter
an Einzeluntemehmer (General-Entreprise).
c) Die mildeste Form besteht darin, dass
der Staat die gesamte Verwaltung der Ge-
fängnisse in der Hand behält, in den ein-
zelnen Grefängnissen verschiedenen Unter-
nehmern eine kleinere oder grössere Zahl
von Gefangenen zur Beschäftigimg mit einer
bestimmten Arbeit gegen Zahlung eines
Stück- oder Tagelohnes Überweist. Die
Gefängnisverwaltung trifft die Auswahl der
Crefangenen, bestimmt die Arbeitsleistung;
der Unternehmer beschafft das Arbeits-
materiai, die Arbeitsgeräte, stellt Werkmeister
an, um die Gefangenen bei der Arbeit an-
zuweisen und zu überwachen (Special-
Entreprise).
n. Betrieb durch die Anstaltsverwaltung,
aber für andere Rechnung.
Der Auftraggeber liefert das Eohmaterial
\md allenfaUs noch die Arbeitsgeräte und
Maschinen, die Gefängnisverwaltung stellt
fechkimdige Werkmeister an, unter deren
Leitimg die Fabrikate hergestellt werden,
sie haltet für gute Arbeit und leistet für
verdorbenes Material Ersatz. Die Auftrag-
geber können Private oder öffentlidie Ver-
waltungen sein (Accord-System).
in. Betrieb durch die Anstaltsverwaltimg
für eigene Rechnung.
Die Geßlngnisverwaltung beschafft das
Rohmaterial und Arbeits^räte für eigene
Rechnung, lässt unter Leitimg ihrer Werk-
meister daraus Fabrikate herstellen, die sie
an Private oder öffentliche Verwaltungen
verkauft (Regiebetrieb).
Keines der vorgenannten Systeme
ist in irgend einem Staate allein und bis zur
äOMersten Konsequenz durch^f&hrt. DasPacht-
Lease-System findet sich heute nur noch in den
Vereini^n Staaten von Nord-Amerika und vor-
zugsweise in den ehemaligen Sklavenstaaten.
Die Gefangenen werden von den Unternehmern
ZOT Ausbentnng von Kohlenminen, Bau von
Eisenbahnen, znm Betriebe grosser Farmen ver-
wendet. Seine Entstehung und eine gewisse
BerechtuFung ist darin begründet, dass der
frösste Teil der Gefangenen Farbiee sind. (In
üd-Carolina waren z. B. von 844 männlichen
Gefangenen 788 Farbige).
Die Generalentreprise war bis zum Jahre
1882 in Italien allein üblich, in Frankreich bis
vor wenigen Jahren die Regel; letzt beginnt
man es aufzugeben und durch die unter Ic,
II und III genannten Formen zu ersetzen. In
Oesterreich sind die Weibergefängnisse weib-
lichen Ordenskongregationen in einer Art
Generalentreprise gegen einen vom Staate zu
zahlenden Pauschznschuss Überlassen.
Die Specialentreprise ist am weitesten ver-
breitet; sie findet sich in fast allen Kaltur-
Staaten in geringerem oder grösserem Umfange
mit den beiden folgenden Formen gemischt;
ganz besonders ausgedehnt ist sie in Preussen,
sowohl in der Geftngnisverwaltung des Ministe-
riums des Innern als der Justiz, wo sie seit
1850 auf Grund einer vom Landtage ausge-
sprochenen und von der Regierung gebilligten
Forderung das Regiesystem ersetzte.
Das Akkordsystem hat eine grössere Aus-
dehnang nur gefunden in Dänemark neben der
Specialentrepnse, in Belgien in den grösseren
Anstalten neben der Regie und neuerdings in
Prenssen in der Gefängnisverwaltnng des
Ministeriums des Innern durch die Herstellung
von Bekleidungs- und AusrüstiuigsstUcken für
die Heeresverwaltung.
Das Reffiesystem ist am strengsten durch-
geführt in England, Holland, Norwegen, Baden,
Idenburg, Württemberg und einigen Schweizer
Kantonen. In Italien sollte es seit 1882 an die
Stelle der Genersdentreprise treten ; indessen in
den Gefängnissen mit kurzen Strafen wird nur
wenig gearbeitet (auf 100 Hafttage kommen
nur8,2 Arbeitstage), von 680 781 Arbeitstagen
fallen auf Unternehmer 496541, auf Accord-
arbeit 133 378, auf Rechnung des Staates 50 862.
In den Strafanstalten mit langen Strafen ent-
faUen 2 167 269 Arbeitstage auf den Betrieb fUr
Rechnung der R^ierung und 1855 463 für
Rechnung^ der Unternehmer und Accordarbeit.
6. Wm-digmiff der verschiedenen
Systeme. L Das Unternehmersystem.
Vom strafpolitischen Standpunkte aus sind
alle Organisationen der G^fängnisarbeit, bei
denen ein privater Arbeitgeber selbst oder
durch seine Bediensteten in unmittelbare
Berührung mit dem Sträfling tritt oder auf
seine Arbeit Einfluss gewinnt, zu verwerfen.
Der Strafvollzug ist ein Rechtsakt ebenso
wie die Rechtsprechung ; ein Akt der Staats-
hoheit, dessen Ausübung auch nicht einmal
teilweise einer Privatperson übertragen wer-
den darf, mag die Aufsicht des Staates
auch in weitgehendster Weise gesichert
sein. Die Ar&it des Gefangenen ist ein
wesentlicher Teil der Freiheitsstrafe, ihre
Organisation greift so tief in die (Gestaltung
der Strafe ein, dass ihr Inhalt und ihre
Wirkung wesentlich dadurch bedingt wird.
Bei dem Pacht^Lease-System wird das staat-
liche Gefängnis zum Sklavenlager, bei der
Oeomn^ und Special-Entrepnse eine Fabrik
mit unfreien Arbeitern, in beiden ist die
44
Gefängnisarbeit
individualisierende Behandlung der Ge-
fangenen gehindert, wenn nicht unmöglich
gemacht. Der Strafzwang wird durch den
ungehinderten Verkehr mit den Unter-
nehmern und deren Bediensteten, die die
Verbindung der Gefangenen mit der Aussen-
welt vermitteln, aufgehoben. Trotz sorg-
fältiger Auswahl treten diese Privatpersonen
den erziehlichen Einflüssen der Beamten
entgegen; sie machen häufig, wenn nicht
offen, so doch insgeheim mit den Gefangenen
gemeinsame Sache; um sie zu höherer Ar-
beitsleistung anzuspornen, stecken sie ihnen
unerlaubte Genussmittel zu; die Disciplin
wird dadurch untergraben. Die Interessen
des Unternehmers und des Strafvollzuges
treten zu einander in Gegensatz, und wenn
man überhaupt Unternehmer gewinnen und
behalten will, muss oft der Strafvollzug zu-
rücktreten. Um ihres Vorteils willen suchen
die Unternehmer die Beamten zu beein-
flussen, wobei auch unrechtmässige Mittel
versucht werden; dem scharfen Blicke des
Gefangenen bleibt dies nicht verborgen, und
die Strafe hat seine Achtung vor der Staate
liehen Bechtsordnung jedenfalls nicht ge-
hoben.
Vom wirtschaftspolitischen Stand-
pimkte wird für diese Art des Betriebes gel-
tend ^macht, dass sie, nach den statistischen
Mitteilungen zu urteilen, einen verhältnis-
mässig hohen Ertrag zu bringen scheint
Der Wert dieser Behauptung wird unten sub 7
klar gestellt werden, aber angenommen, sie
wäre richtig, so würde daß allein noch kein
Grund sein, den Untemehmerbetrieb für die
Organisation der Gefängnisarbeit vom Wirt-
schaft spolitischen Standpunkt zu empfehlen.
Die Wirtschaftspolitik verlangt Sicherung der
grossen wirtschaftlichen Interessen gegen
die unwirtschaftlichen oder wirtschaftsfeind-
lichen Rechtsbrecher durch die Strafe; sie
muss diejenige Ausgestaltung der Strafe
verlangen, weiche diesen Zweck am besten
erfüllt. Wird die Wirkung der Strafe aber
durch den Untemehmerbetrieb geschwächt
oder wohl gar vereitelt, so wäre es Krämer-
politik, aber nicht Wirtschaftspolitik, ihn zu
verlangen, weil dabei eine Million mehr ver-
dient wird, die gegenüber den Milliarden,
die in der Gesamtwirtschaft eines Volkes
stecken und durch die Rechtsbrecher ge-
fährdet werden, keine Rolle spielt —
Aber das schwerste wirtschaftspolitische
Bedenken gegen den Untemehmerbetrieb
liegt darin, dass er durch ungerechtfertigte
Konkurrenz fast unvermeidlich zu Störungen,
ja sogar Schädigungen der freien Arbeit
führt und meist gerade dann, wenn sie
diese Störung am wenigsten vertragen kann,
in Zeiten wirtschaftlicher Schwankungen
oder wirtschaftlichen Niederganges. Dafür
spricht die Thatsache, dass die Klagen über
ungerechtfertigten Wettbewerb der Ge&n^-
nisarbeit mit der freien Arbeit gerade m
den Staaten laut werden, in deren Geföng-
nifisen der Untemehmerbetrieb vorwiegt,
z. B. in Frankreich, in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika, in Preussen;
Klagen, die vielfach übertrieben, doch immer
in irgend einer Richtung einen berechtigten
Untergrund haben. Die Klagen sind zu
Zeiten so heftig geworden, dass sie zu der
Forderung geführt haben, jede Gefängnis*
arbeit, die mit der freien Arbeit in Wett-
bewerb tritt, zu beseitigen, und dass diesen
Forderungen, wenn aucn nur für ganz
kurze Zeit, in Franki'eich imd Nordamerika
stattgegeben ist
Die Unternehmer müssen die Arbeit in
den Ge^gnissen in der Regel fabrikmässig
betreiben, denn nur auf diese Weise ist es
möglich, die Arbeitskraft der Gefangenen
vorteilhaft zu verwerten, welche den ver-
schiedensten Lebens- imd Arbeitsverhält-
nissen entstanunen und unter denen die
ganze Stufenleiter vom Künstler und durch-
gebildeten Handwerker bis zum einfachsten
Arbeiter, vom Gebildeten bis zum stupiden
Kretin, vom Manne in der vollsten Kraft
bis ziun Schulkinde und Greise vertreten
ist Besonders bevorzugt werden daher
solche Arbeitszweige, in denen durch ma-
schinelle Einrichtungen die Unerfeüu^nheit
oder das Ungeschick der Arbeiter ausge-
glichen werden kann, oder solche, bei denen
es nicht sowohl auf das Geschick und lang-
jährige Uebung als auf die einfache Arbeits-
kraft ankommt Durchmustert man die Ge-
fängnisstatistiken der verschiedenen Länder,
so findet man fast überall dieselben Fabri-
kationszweige. Schneiderei mit Nähmaschi-
nen; Schusterei mit Stanz-, Pflöck- und
Nähmaschinen ; Tischlerei mit Säge-, Bohr-,
Frais- und Hobelmaschinen* Anfertigimg
von Eisenwaren : Schlössern, Nägeln, Ketten
u. s. w. mit Hilfe von Press-, Bohr- und
Stanzmaschinen ; Maschinenstrickerei ; Fabri-
kation von Couverts auf der Maschine, An-
fertigimg von Kartonnagen und Bücherein-
binden mit Schneide-, Präge- und Heft-
maschinen; von Korsetts und Knöpfen, bei
denen ebenfalls die Maschine die Haupt-
rolle spielt. Vielfach werden die Maschinen
durch Dampf, Gas oder elektrische Motoren
in Bewegung gesetzt Daneben finden sich
die einfachsten und leicht zu erlernenden
Handarbeiten: Weberei jeder Art, Korb-
flechten ^ Bürsten- und Besenfabrikation,
Netzestncken, Mattenweben, Federschleissen,
Kaffee oder Hülsenfrüchte verlesen, Sack-
iiähen, Wolle- und Tauzupfen, Dütenkleben
u. s. w.
Gelegentlich findet sich in kleinerem
Umfange auch eine kunstvollere Arbeit, z. B.
Holzschnitzerei, Seiden- und Plüschweberei,
Gefängnisarbeit
45
je nachdem der Zufall dafür geeignete Ge-
fangene in ein Gefängnis verschlägt und die
lange Dauer der Strafe das Anlernen lohnend
macht. Schon diese fabrikmässige Organi-
sation der Arbeit an sich bietet eine wirt-
schaftliehe Gefahr. Der Anteil der indus-
triellen Bevölkening an der Kriminalität ist
erheblich grOsser als der anderer Berufe, z. B.
der Landwirtschaft, der Dienstboten und häus-
liche Dienste leistenden (Beichskriminalstatis-
tik ffir 1894, II S. 28). Dasselbe trifft zu bei
der Bevölkerung der grossen Städte und In-
dnstriecentren (R-Kr.-Stat 1895, 11 S. 29).
Werden nun die Bestraften, die nicht der
industriellen Bevölkerung angehören, und
die, weldie aus ländlichen Kreisen und
kleinen Städten stammen, während der Straf-
zeit industriell beschäftigt, so liegt die Ge-
fahr nahe, dass sie nach der Entlassung
in die Industrie und die grossen Städte
drängen und ihrem früheren Berufe sich
entfremden. Dadurch werden gerade den
Berufen und den G^enden, welche am
meisten unter Arbeitsnot leiden, die Kräfte
entzogen, und die Entlassenen sind in dem
neuen Benife und an dem neuen Wohnorte
erhöhter Gefahr des Rückfalls ins Ver-
brechen ausgesetzt.
Ganz besonders aber werden gegen den
üntemehmerbetrieb zwei Vorwürfe erhoben :
a) Die für die Gefängnisarbeit gezahlten
Löhne seien so gering, dass sie den
Lohn der freien Arbeiter herabdrückten.
b) Die Unternehmer Hessen in den Ge-
fängnissen minderwertige Waren her-
stellen, mit denen sie den Arbeits-
markt überschwemmten, gute Waren
im Preise drückten oder wohl gar
verdrängten.
Die erste Behauptimg wird mit den
Zahlen der Ge&ngnisstatistiken begründet.
Wenn z. B. die Ta^esarbeit eines männ-
lichen Gefangenen nut einer Strafdauer von
mehr als einem Jahre in den Centralanstalten
Frankreichs im Unternehmerbetriebe nur
89 Pfennige im Durchschnitt betrage und
in den einzelnen preussischen Strafanstalten
zwischen 49 und 93 Pfennigen schwanke,
wenn ausserdem dem Unternehmer die Ar-
beitsräume erwärmt und erleuchtet nebst
den erforderlichen Lagerräumen kostenlos
von der Gefängnisverwaltung gestellt wer-
den, so seien das Löhne und Arbeitsbe-
dingungen, mit denen der Unternehmer^ der
freie ^beiter beschäftige, nur konkiuneren
könne, wenn er die Löhne der freien Ar-
beiter herabdrücke. Es wird daher ge-
fordert, die Gefängnisverwaltungen sollen
die Arbeit der Ge&ngenen dem Unternehmer
nur unter denselben Lohnbedingungen über-
laden, die der freie Arbeiter auf dem Lohn-
markte erzielt. Diese Forderung haben die
Gc^Lngnisverwaltungen sich selbst schon ge-
stellt, so lange der Üntemehmerbetrieb in
den Gefängnissen besteht Sie haben sie
dadurch zu erreichen gehofft, dass sie die
Gefängnisarbeit ööentlich ausbieten, in
Frankreich werden vor Abschluss der Ver-
träge die Handelskammern über die Löhne,
welche in dem betreffenden Industriezweige
dem freien Arbeiter gezahlt werden, gehört ;
in Preussen wird in der Gefängnisverwaltung
des Ministeriums des Innern, soweit es
immer angeht, ein Stücklohn mit dem Unter-
nehmer vereinbart, um einen Vergleich mit
den Löhnen der freien Arbeit zu gewinnen;
aber es hat noch nie gelingen wollen, für
Gefängnisarbeit auch nur annähernd die
Löhne freier Arbeiter zu erzielen. Die
Unternehmer, welche am lautesten gegen
die niedrigen Löhne der Gefangenen eifern,
haben sich am lebhaftesten geweigert, Ge-
fangene auch nur zu diesen niedrigen Löhnen
zu beschäftigen. Die Ursache dafür liegt
einmal in der Beschaffenheit des Arbeiter-
materials und dann in der eigenartigen
Organisation des Gefibignisuntemehmerbe-
triebes.
Unter den Ge&ngenen befindet sich eine
grosse Anzahl von wirtschaftlich minder-
wertigen Existenzen, die verschuldet oder
unverschuldet den Wettbewerb auf dem
Arbeitsmarkte nicht haben aushalten können
und darum dem Verbrechen verfallen sind.
Diese finden sich vorzugsweise in den Straf-
anstEdten, in denen längere Strafen verbüsst
werden; wenn es überhaupt gelingt, sie in
der Arbeit wieder vollwertig zu machen, so
bedarf es dazu erst längerer Zucht und
Lemzeit Die Insassen der Geföngnisse
verbüssen meist so kurze Strafen, dass vom
Anlernen zu einer neuen Arbeit kaum die
Rede sein kann. In Deutschland z. B. über-
steigt die Haftstrafe nur ausnahmsweise die
Dauer von 6 Wochen, und nach der Beichs-
kriminalstatistik für 1897 hatten von den
auf Grund des Strafgesetzbuches erkannten
Gefängnisstrafen nur 5®/o die Dauer von
mehr als einem Jahre, 14 % von drei Monaten
bis unter zwölf Monate, 13% von einem
Monat bis unter drei Monate; der Rest be-
rechnet sich nur nach Tagen. Dass die
Arbeitsleistung derartiger Personen auch
nicht annähernd mit der der freien Ar-
beiter gleich bewertet werden kann, lie^
auf der Hand; es wird sich auch kern
Unternehmer finden, der für sie dieselben
Löhne za^t wie für freie Arbeiter.
Für den planmässigen Strafvollzug ist
ein stetiger, festgeregelter Arbeitsbetrieb
eine Notwendigkeit; die Verwaltung muss
daher mit dem Unternehmer auf eine Reihe
von Jahren Vertrag schliessen — in Preussen
auf 3 — 6 Jahre — . Damit die Gefilngnis-
verwaltung Herr des Strafvollzuges bleibt,
müssen dem Unternehmer eine solche Menge
46
Gefängnisarbeit
x'on Beschränkungen auferlegt werden, dass
er geschäftlich nicht frei über seinen Betrieb
disponieren kann. Der Unternehmer ver-
pf hebtet sich, eine Höchstzahl von Ge-
fangenen zu beschäftigen, die Gefängnisver-
waltung ist aber nicht verpflichtet, sie ihm
zu geben, wenn die Zahl der Gefangenen
herabgeht oder sie selbst ihrer bedarf. Die
Auswahl der Arbeiter steht der Verwaltung
zu, dabei ist natürlich in CTSter Linie der
Strafvollzug zu bei'ückalchtigen, in zweiter
der Betrieb des Unternehmers. Der Zu-
gewiesene muss beschäftigt werden, ob er
für die Arbeit geeignet ist oder nicht, ob
er gute oder schlechte Arbeit liefert, ob er
viel oder wenig Arbeitsmaterial verdirbt.
Ist ein Gefongener mit viel Mühe und
mancherlei Verlust zu einem brauchbaren
Arbeiter ausgebildet, so wird er dem Unter-
nehmer entzogen, weil die Strafe abgelaufen
ist oder Bücksichten auf den Strafvollzug
oder die Disciphn seine Entfernung von der
Arbeit fordern. Der Unternehmer weiss
nicht, ob er eine Konjunktur ausnutzen
kann; hat er viel Aufträge, so fehlen ihm
die Arbeiter — denn bei günstiger wirt-
schaftlicher Lage sinkt die Zahl der Be-
straften — und er kann nicht liefern; hat
er wenig Aufträge, so muss er die volle
Zahl der Arbeiter nehmen, muss herstellen,
ohne verkaufen zu können. Wird ihm Ar-
beitsmaterial oder Gerät verdorben, so hat
er keinen Anspruch auf Ersatz: der Ge-
fangene wird zwar disciplinariscn bestraft,
aber der Unternehmer muss den wider-
wilügen, ungeschickten Arbeiter behalten
und weiter beschäftigen. AUe diese Mög-
lichkeiten muss der gewissenhafte Geschäfts-
mann berücksichtigen und kann daher nur
einen aussergewöhnlich niedrigen Arbeits-
lohn bieten; Konkurrenz hat er kaum zu
fürchten, denn die Zahl der Gewerbetreiben-
den, welche sich auf ein so unübersicht-
liches Geschäft einlässt, ist gering, und
ausserdem sind niu* wenige Geschäftsleute
geneigt, ihren Betrieb ins Gefängnis zu ver-
legen. Sind alle Verhältnisse günstig, dann
kann allerdings der Unternehmer infolge
des billigen Arbeitslohnes die Waren billiger
herstellen als sein Konkurrent, der freie
Arbeiter bescliäftigt, und büliger verkaufen.
Ist die Menge der Ware, die er auf den
Markt bringt, auch nur gering in Vergleich
zu der von freien Arbeitern hergestellten,
so drückt sie doch auf die Preise des freien
Fabrikats. Der Abschlag muss zunächst
den Arbeitslohn treffen, denn Arbeitsmaterial
und Arbeitsgeräte kosten dem Fabrikanten,
der mit Gefangenen arbeitet, nicht mehr
als dem, der freie Arbeiter verwendet
Aber auch die Fabrikanten werden ge-
schädigt; denn der Arbeitslohn allein kann
den Abschlag nicht tragen, auch der Ge-
schäftsgewinn wird vermindert Schlimraei
ist jedoch die Einwirkung auf die gauz(
Geschäftslage in Zeiten wirtschaftliche
Schwankungen. Leidet ein Arbeitszweii
diux^h UeberfüUung des Marktes und niedrig
Pi^eise, welche dem Arbeiter nicht meli
einen für seine Existenz ausreichenden Lok
und den Fabrikanten keinen Geschäftsgewiu
lassen, so kann durch Beschränkung de
Fabrikation und Räumung des Marktes da
Geschäft in kurzer Zeit gesunden; bild(
der Arbeitszweig aber zugleich eine Ct(
fängnisindustrie, so wird der Gesundung!
prozess gestört oder erheblich verlängei
Der Gefängnisunternehmer kann seine Fabi
kation nicht einschränken, er muss seii
vertragsmässige Zahl von Arbeitern weit
beschätigen, muss seine Fabrikate auf d<
Markt bringen und zu jedem Preise vt
kaufen. Er kann das länger aushalten i
die freie Arbeit, weil jedes auch noch
minimale Anziehen der Preise, welches dur
Einschränkung der freien Arbeit bewii
wird, ihm zunächst zu gute kommt !
einer besonda?en wirtschaftlichen Gefa
wird der Untornehmerbetrieb, wenn er ii
der Hausindustrie in Wettbewerb tiitt u
die ohnehin kläglichen Löhne der in die^
beschäftigten Arbeiter noch weiter hen
drückt
Dieser wirtschaftliche Schaden des Unt
nehmerbetriebes kann d\uxjh eine un;
schickte und unverständige Oiganisation,
lediglich die Höhe des Arbeitslohnes
Auge hat, ins Unerträgliche gesteigert -^
den. Derjenige Unternehmer kia,nn
höchsten Löhne für Gefftngnisarbeit zah]
der über grosses Kapital verfügt, da
kann er jede Konjunktur beim Einkauf
RolLstoffe ausnutzen, die besten Masciiii
durch welche die Arbeitskraft der Gefange
wertvoller gemacht wird, beschaffen
sich eine grosse Anzahl von Gefange
mit möglichst freier Verfügung über
selben sichern. Das ist der Gefängnisgr
betrieb des Generalunternehmers, der
der Uebermacht jedes Grossbetriebes
beitskräfte, die nur für ihn billiger sind
freie Arbeit, verbindet. Der Grossui
nehmer wählt sich für die Tausemle
Gefangenen, die er sich gemietet, <
Rücksicht auf die freie Arbeit, Indus
zweige aus, welche am leichtesten und
teühaftesten im Gefängnisse betrieben
den können; er verfügt über die Arb
kraft der Gefangenen lediglich im Intoi
des Arbeitsertrages ohne Rücksicht auf
Strafvollzug, er koncentriert seine g
Geld- und Arbeitskraft auf einige ^^t
Industrieen, in denen er den Markt
herrscht. Das ist eine ernste CTefalii
die freie Arbeit Eine umsichtige, die s
und wirtschaftspolitischen Forderungen
Gefängnisarbeit
47
Tüeksiclitigende Organisation wird die Ge-
ämgenen auf eine grössere Zahl von Unter-
nelunem und Arbeitszweigen verteilen und
die Arbeitszweige auch mit Rücksicht auf
die freie Industrie auswählen. Sie wird
den einzelnen Arbeitszweigen nur so viel
Gefangene zuweisen, dass deren Zahl gegen-
über den in demselben Zweige beschäftigten
freien Arbeitern nur einen geringen Prozent-
satz beträgt und das in dem Betriebe an*
gele^ Kapital und die darin erzeugten
Fabrikate g^enüber denen der freien Arbeit
fast verschwinden, sie wird die Verwendung
von Kraftmaschinen iigend welcher Art bei
der Gefängnisarbeit nicht zulassen ; sie ^drd
bei der Auswahl von Gefangenen für die
Arbeit auf die Zukunft desselben und seine
Retablierung in der Gesellschaft Rücksicht
nehmen.
unter all derarti^n Beschränkungen wird
die Störung der freien Arbeit durch die Ge-
föngnisarbeit auf ein kaum fühlbares Mass
beschränkt, aber auch der Ertrag aus dem
Untemehmerbetriebe ganz erheblich herab-
gedrückt.
Diese Grundsätze sind fttr die Organisation
des Unteruehmerbetriebes, soweit er in den Ge*
fängnissen noch zugelassen ist, immer mehr zur
Anwendung gekommen. Am strengsten sind
sie wohl durchgeführt in den Strafanstalten
und Gefängnissen, die dem preussischen Ministe-
rium des Innern unterstehen. — Zunächst ist
die Zahl der für Unternehmer beschäftigten
Gefangenen von Jahr zu Jahr immer mehr ein«
geschränkt, seit 1869 ist sie von 78 ^/p der be-
schäftigten Gefangenen auf 49% im Jahre
1897/9» herabgegangen; immerhin sind es aber
noch 9733 Männer und 1190 Weiber. Diese
verteilen sich auf 17 Arbeitszweige der Männer
und 4 der Weiber, in denen je mehr als 100
Arbeiter, und eine noch fi^Ossere Zahl, in denen
weniger Arbeiter beschäftigt werden. Die
höchste Zahl der in einem Betriebe beschäftigten
Arbeiter beträft überhaupt nur 1304. ver*
gleicht man die Zahlen der in den einzelnen
Arbeitszweigen beschäftigten Gefangenen mit
den Zahlen der in denselben Betrieben im
Hauptberufe beschäftigten freien Arbeiter, wie
sie die Berufszählun^ von 1895 fttr Preussen
aufweist, so ergieht sich folgendes Bild:
Freie Arbeiter
Gefängnisarbeiter
männliche
weibliche
männliche
7o 1 weibliche
/o
222901
•
I 290
0,5
«
43603
30481
900
2,0
154
0,5
241 297
*
637
0,2
•
5827
■
557
9,5
•
22856
•
678
2,9
•
•
10266
•
•
187
l,s
23482
•
509
2,1
•
Schreinerei
C^arren-Fabrikation
Schuhmacherei
Bürstenfabrikation
Korbmacherei u. Flechterei v. Rohr etc.
Tapifiserie und Stickerei
Kaitonnage
An den einzelnen Arbeitszweigen sind eine
ganze Eeihe von Unternehmern beteiligt, indem
es möglichst vermieden wird, einem Unter-
nehmer mehr als 100 Gefangene zuzuweisen.
In ähnlicher Weise wird in Frankreich und
Oesterreich verfahren, wo die Sträflinge der
grossen Anstalten auf 10 — 12 Betrieb mit
mehr als 100 Arbeitern verteilt sind ; auch hier
sind selten mehr als 100 Arbeiter einem In-
dustriezweige zugeteilt.
Die Behauptung, dass die Gefängnis-
Unternehmer minderwertige Fabrikate her-
stellten, ist nicht ganz unzutreffend und
d»;au3 erklärlich, dass für die grosse Menge
von ungeübten Arbeitern, die fast sämtlich
erst angelernt werden müssen und dabei
Arbeitsinaterial verderben, der Unternehmer
wertvolles Kohmaterial nicht heiigiebt ; aber
dasselbe findet auch bei der Fabrikation
mit freien Arbeitern statt; auch hier giebt
es Lehrlingsarbeit, die auf dem Markte
verwertet werden muss, in solcher Menge,
dass darunter die geringe Menge minder-
wertiger Gefängnisarbeit verschwindet. Dazu
kommt, dass der heutige Konsam minderwer-
tige Mafisenartikel für geringen Preis verlangt,
ein Verlangen, dem auch die freie Arbeit ent-
sprechen muss. Wenn nun die Behauptung
richtig ist, dass durch minderwertige Waren
die besseren verdrängt werden, so ist daran
jedenfalls nicht die uefängnisarbeit schuld.
Bei der Strenge, mit welcher schon im In-
teresse des Strafvollzugs und des zukünf-
tigen Fortkommens des Gefangenen auf
gute Arbeit gehalten wird, kann der grösste
Teil der im Gefängnis hergestellten Fabri-
kate, was die Güte der Arbeit anbetrifft,
sich wohl mit gleichartigen von freien Ar-
beitern verfertigten messen.
Dass diese Art des Arbeitsbethebes trotz
all ihrer Mängel und der gegen ihn gerich-
teten, nicht unberechtigten Angriffe sich in
seiner Ausdehnung erhält, ist einmal Schuld
der Gefängnisverwaltung, weil er für sie am
bequemsten ist und an die Leistimgen der
Ghefängnisbeamten und ihre Verantwortlich-
keit die geringsten Anforderungen stellt.
Die grössere Schuld trägt aber die "Wirt-
scha&politik, w^enn sie den Staatsbetrieb
grundsätzlich bekämpfend, ihn auch im Ge-
fängnisse nidit zulassen will.
II. Das Accordsystem. Das Accord-
system entspricht allen Forderungen, welche.
48
Gefängnisarbeit
die Straf Politik aa die Organisation der Gre-
fängnisarbeit stellen muss. Die Qefängnis-
verwaltung ist vollständig frei in der Aus-
wahl der Arbeitszweige, welche für die
Erreichung des Strafzwecks am geeignetsten
sind; sie kann bei der Zuweisung zur Ar-
beit der Individualität der Ghefangenen in
vollstem Umfange Rechnung tragen; Privat-
personen kommen mit den Gefengenen nicht
m Berührung und gewinnen keinen Einfluss
auf die Gestaltimg des Strafvollzugs. Auch
die Forderun^n der "Wirtschaftspoli-
tik lassen sich durch diese Organisation
nach allen Richtungen erfüllen. Zunächst
lässt sich eine noch grössere Mannigfaltig-
keit in der Arbeit erzielen und damit der
Wettbewerb der Geföngnisarbeit mit der
freien Arbeit auf eine noch grössere Zahl
von Arbeitszweigen verteilen. Die für die
Arbeit zu zahlenden Löhne lassen sich
denen der freien Arbeiter — wenigstens
annähernd — gleich bemessen, dadiuxjh
wird der Druck auf diese Löhne vermieden.
Die Zahl der Arbeitgeber für die Gefäng-
nisarbeit wird sich vermehren, da das
Geschäft ebenso klar und übersichtlich ist
wie bei der Beschäftigung freier Arbeiter ; der
Arbeitslohnertrag wird sich steigern. Dar-
gegen läuft die Gefängnisverwjdtung durch
die üebemahme der Verpflichtung, für
schlechte Arbeit, verdorbenes Material und
Gerät Ersatz zu leisten, eine grössere Ge-
fahr, und bei ungeschickter oder nachlässiger
Leitung wird der zu zahlende Schadener-
satz dfen höheren Lohnertrag bedeutend
schmälern, wenn nicht ganz verschÜugen.
III. Der Regie-Betrieb. Der R^e-
betrieb ist vom strafpolitischen Stand-
punkte die geeignetste Organisation des Ar-
oeitsbetriebes , weil er die Gtefäugnisver-
waltimg am wenigsten hindert, alle die-
jenigen Zwecke, welche die Strafpolitik
erstrebt, zu verfolgen, soweit die Arbeit zu
deren Erreichung beiträgt. Dagegen liegt
in dieser Art des Betriebes eine nicht zu
unterschätzende wirtschaftliche Gefahr, wenn
die darin hergestellten Waren auf den
freien Markt gebracht werden. Da der
Gefängnisverwaatung das Betriebskapital
zinsfrei oder zu massigem, stets gleicnem
Zinsfusse, die Arbeitsräume, &leuchtung,
Aufsicht kostenfrei zur Verfügung stehen,
kann sie billiger herstellen, verkaufen und
damit sowohl auf die Arbeitslöhne sds den
üntemehmergewinn der Privatindustrie eben-
so schwer drücken wie der Untemehmerbe-
trieb. Da die Gefängnisbeamten in der
Regel nicht kaufmännisch geschult und
durch die bei einer staatlichen Verwaltimg
unvermeidlichen Verwaltungs- und Rech-
nungskontrollen in ihrem freien Handeln
beschränkt sind, so lie^ die Gefahr nahe,
dass die Konjunktur nicht richtig ausge-
nutzt und das Rohmaterial zu teuer einge-
kauft wird, für den Geschmack und das
Bedürfnis des kaufenden Publikums das
richtige Verständnis fehlt und ungangbai*e,
nur unter Wert zu verkaufende &gen-
stände angefertigt werden. Diese Gefahr
ist um so grösser, als in den einzelnen Ge-
fängnissen aus strafpolitischen Gründen, um
der Eigenart der Gefangenen gerecht zu
werden, eine ganze Reihe von Arbeits-
zweigen betrieben werden muss, deren
f*ündliche technische und kaufmännische
enntnis auch von sehr tüchtigen Beamten
nicht erwartet werden kann.
Nicht mindere Schwierigkeiten bietel
der Verkauf der Waren; die Gefängnisver
waltung kann sich nicht dirdct an das
kaufende Publikum wenden, sie kann nich
unter ihrer Firma Verkaufshallen in de;
Stadt oder wohl gar im Thorgebäude dei
Gefängnisses errichten, das würde die frei
Arbeit am Orte des Gefängnisses besonder
drücken; sie kann auch nicht wie de
Fabrikant Reisende hinausschicken, um ihr
Waren zu vertreiben. Sie wird also doc
wieder auf Privat-Untemehmer angewiese
sein, die sie durch billiger gestellte Preis
zur Abnahme willig machen muss * es kam
doch wieder auf ein Unterbieten der freie
Arbeit hinaus. Ja es wäre nicht ausg(
schlössen, dass die Gefängnisse desselbe
Staates oder benachbarter Staaten sie
unter einander Konkurrenz machten. 1
kleinen Staaten, deren Gefängnisbevölkerur
sich auf einige hundert beläuft, lassen si(
diese Schwierigkeiten aDenfalls überwinde
oder sie treten nicht in die Erscheinun
In grossen Staaten dagegen, wo die G
fängnisbevölkerun^ nach zehntausend^
zählt, wo das in diesen Betrieben angeleg
Staatskapital sich auf Millionen und die d
rin hergestellten Waren auf das Doppe'
beziffern, würden sie sich sehr bald unlit
sam bemerkbar machen. Eine umsichti
Wirtschaftspolitik wird daher einen d<
artigen Staatsbetrieb nur mit Vorsicht e
pfehlen.
Die Erfahranjg^ hat diese Bedenken voll)
gerechtfertigt. Bis zum Jahre 1848 war in c
preussischen Strafanstalten ein derartiger ]
trieb vorherrschend; die geringen finanziel
Ergebnisse, die lauten Klagen über Schädigt
der freien Arbeit haben damals zur Auf heb i
und Ersatz desselben durch den Unternehn
betrieb geführt. Auch die italienische *
fängnisstatistik zeigt, dass ein solcher Beti
zuweilen mit Verlust tür die Staatskasse arbei
Der Regie-Betrieb hat vom wirtscha
politischen Standpunkte nur dann volle ]
rechtigung, wenn er sich in weitestera I
fange mit der Anfertigung von Gegenstärn
für die Bedürfnisse öSentlicher Verv
tungen beschäftigt Dem wird entgegen
halten, dass die Gefängnisverwaltung"
Gefängnisarl)eit
49
ihren immerhin minderwertigen Arbeits-
kräften gar nicht imstande wäre, die Ge-
genstände, welche die verschiedenen Staats-
verwaltungen bedürfen, brauchbar herzu-
stellen, und dass ihre Anzahl nicht genügen
würde, ausreichend und dauernd Arbeit für
die Gefängnisse zu schaffen. Die in einer
Reihe von (refängnisverwaltimgen angestell-
ten Versuche haben den gegen die Güte
der Arbeit gerichteten Einwand wi<lerlegt,
eine weitere Ausdehnung dieser Versuche
miiss zeigen, ob damit ausreichende und
stetige Arbeit für die Gefängnisse gewonnen
wird. Jedenfalls wird dadurch soviel er-
reicht, dass die Zahl der Gefangenen, wel-
che noch im Unternehmerbetriebe beschäf-
tigt werden muss, weil anderweit Arbeit
für sie nicht zu beschaffen ist, sich erheb-
lich vermindert. Der internationale Gefäng-
niskoDgresR in St. Petersburg (1890) hat
ebenfalls die Verwendung der Gefängnis-
arbeit für die Bedürfnisse des Staates in
weitestem Umfange als notwendig anerkannt,
und sie findet in fast allen Kulturländern
eine immer grössere Ausdehnung.
Unter den Staatsverwaltungen, für welche
die Gefängnisarbeit ausgenutzt weixien
kann, steht natürlich allen voran die Ge-
fengnisverwaltung selbst; alle Gegenstände,
welche sie gebraucht, alle Ghebäude, welche
sie benutzt, können durch Gefangene her-
gestellt werden. Die Heeres- und Marine-
verwaltimg kann die Anfertigung der Be-
kleidungsstücke, der erforderlichen leinenen
und baumwollenen Gewebe, die Ausrüstung
der Kasernen und Lazarethe, die Eisenbahn
die Ausstattimg der Wartesäle, die Her-
stellung der Teppiche und Fussdecken, die
Post die Anfertigung der Postsäcke, die
Salinenverwaltung die Herstellung der Salz-
säcke und der dazu erforderlichen Gewebe,
die Unterrichtsverwaltung die Ausstattung
der Schulräume und Höreäle, der Kranken-
hänser nebst der dafür erforderlichen Wäsche,
alle Verwaltungen aber die Ausstattung der
Diensträume mit Möbeln, Teppichen und
Fussdecken der Gefängnisverwaltung über-
tragen; und bei gutem Willen auf beiden
Seiten werden sich noch eine Menge anderer
Gegenstände finden.
In welchem Umfange derartige Arbeiten
schon jetzt ausgeführt werden, geht ans
folgendem hervor. Es giebt wohl keine Ge-
fiü^isverwaltnng des In- und Auslandes mehr,
die nicht alle ihre Gebrauchs- Bekleidungs- and
Wäsche- Gegenstände einschliesslich der dazu
erforderlichen Gewebe selbst herstellte; ebenso
wird überall die bauliche Unterhaitang der
Gebäude ganz oder zum grössten Teil durch
Gefangene bewirkt. In England ist das grosse
Gefängnis zu PentonviUe durch Gefangene nm-
febaut und erweitert, Wormwood-Scmbs für
300 Gefangene umgebaut: für Heer und
Marine, Polizei werden Umformen und Aus-
HandwÖrtorbueh der StaatswiaseiiBchafteii. Zweite Auflage. lY.
rüstungsstücke gefertigt, fttr die Post die Post-
säcke, alle Verwaltungen mit Matten versehen.
In Schweden werden die Gefängnisbauten und
Einrichtungen niu* dnrch Gefangene ausgeführt.
In Frankreich wird für staatliche Verwaltungen
gewebt I im Gefängnis zu Melun ist eine
Druckerei für staatliche Zwecke. Besonders
ausgedehnt ist die Arbeit für Staatsbehörden
in Holland und in Italien, auch hier findet sich
eine Staatsdruckerei im Gefängnis Mantellate
zu Kom. In Preussen ist schon seit dem Jahre
1870 kein grosser Gefängnisumbau oder Neu-
bau ausgeführt, bei dem nicht in grosser oder
geringerer Zahl Gefangene beschäftigt wären.
Aus aen letzten Jahren mögen nur folgende
erwähnt werden. Für den Bau des grossen
Zellengefängnisses zu Siegbnrg sind durch-
schnittlich täglich etwa 100 Gefangene be-
schäftigt fi^ewesen ; sie haben den Bauplatz ein-
geebnet, die Fundamente für alle Gebäude ge-
legt, Dienstwohnungen für Beamte gebaut,
Bauteile und Einrichtun^sgegenstände vom ein-
fachen Fenstergitter bis zum buntverglasten
Kirchenfenster angefertigt. In derselben Weise
ist bei dem Neubau des grossen Zellengefäng-
nisses in Breslau verfahren. Ein früheres
Kloster ist in Gräfrath lediglich durch Ge-
fangene zu einer Erziehungsanstalt umgebaut;
der Umbau des grossen Gefängnisses in Köln,
für den etwa iS) (XX) Mark ausgeworfen sind,
wird nur durch Gefangene ausgeführt. Beim
Neubau des Gefängnisses in Wittlich sind täfi;-
lich über hundert Gefangene beschäftigt: alle
Bauten bis auf die grossen Gefängnisgeoäude
werden durch Gefangene hergestellt, und beim
nächsten Neubau wird man versuchen, auch
diese dnrch Gefangene erbauen zu lassen.
Bei den älteren Anstalten werden Dienst-
wohnungen für Oberbeamte und Unterbeamte
ohne ]^lastung der Staatskasse her&^estellt,
weil das darauf verwendete Baukapital durch
die wegfallende Mietsentschädigung verzinst
wird; ein Akt sozialer Fürsorge von nicht ge-
ringer Bedeutung. —
Für die Heeresverwaltung sind im Jahre
1897/98 1 \'8 Million grösserer Bekleidungsstücke
^fertigt, Ausrüstungsstücke für Kasernen und
Lazarethe, Geschosskörbe, Bürstenwaren. In
der Strafanstalt Moabit ist eine Druckerei,
welche nicht nur alle für die Gefangnisver-
waltung erforderlichen Drucksachen herstellt,
sondern auch für andere Staatsbehörden arbeitet.
Im ganzen waren im Jahre 1897 98 5160
Männer und 811 Weiber für die Gefänffnisver-
waltung und 3806 Männer und 426 Weiber für
andere Staats- und Reicbsbehörden beschäftigt.
Aus den Kreisen der freien Arbeit wird
geltend gemacht, dass hierdurch ihnen eine
grosse Menge Arbeit und Verdienst entzogen
und daher eine unberechtigte Konkurrenz
gemacht würde. In Bezug auf die Anferti-
gung von Bekleidungsstücken für die Heeres-
und Marineverwaltung trifft dies überhaupt
nicht zu; denn durch die Gefängnisarbeit
wird nui' die Zahl der auf den Oekonomie-
werkstätten beschäftigten Heerespflichtigen
eingeschränkt, welche dadurch für den Dienst
mit der Waffe frei werden oder auf deren
Einziehimg die Heeresverwaltung verzichten
4
50
Gefängnisarbeit
kann. Aber auch in betreff der anderen
Arbeiten für den Staat ist diese Klage als
unberechtigt abzuweisen. Aus der grossen
Masse der Erwerbsthätigen würde nur eine
verschwindend kleine Minderheit an der
Herstellung dieser Bedürfnisse sich beteili-
gen und (larin ihre Arbeit verwerten kön-
nen. Diese Minderheit kann aber nicht ver-
langen, dass der Staat seine Bedürfnisse
lediglich in der Weise deckt, wie es ihren
Interessen entspricht. Die Staatsverwaltung
hat das Interesse der gesamten Staatsbüi'ger
zu vertreten, und w^enn dieses verlangt, dass
die Arbeitskraft derer, welche die Rechts-
ordnung gestört haben, für die Zwecke des
Staates ausgenutzt wird, wirtschaftliche
Werte schafft, die der Gesamtheit zu gute
kommen, so müssen die Forderungen dieser
verschwindenden Minderheit zurücktreten.
Für die Wirtschaftspolitik fällt aber beson-
ders ins Gewicht, dass diese Verwertung
der Gefängnisarbeit die Preisbildung auf
dem Arbeitsmarkte überhaupt nicht beein-
flusst, weil die Ai'beit nicht auf dem Ar-
beitsmarkte in Geld umgesetzt wird, sondern
nur in den Büchern der Staatsbehörden.
Wie hoch die Staatsverwaltung die Arbeit
der Gefangenen in ihrem Dienste bewerten
will, ob sie dafür überhaupt Geldwert in
Rechnung stellen wül, ist eine rechnerische,
aber keine wirtschaftliche Frage. Diese
Organisation der Gefängnisarbeit ist dem alten
vollberechtigten »opus publicum« unserer
modernen Straf- und Wirtschaftspolitik an-
gepasst, und beide haben das lebhafteste
Interesse daran, sie zur Durchführung zu
bringen. Dass sie noch nicht weiter aus-
gebildet ist, liegt an dem Widerstände der
einzelnen Yerwaltungen im Staate, denen
daraus, wie nicht zu verkennen, mancherlei
Unbequemlichkeiten erwachsen, aber auch
an dem Widerstände der Gefängnisverwal-
tungen, denen sie vermelirte Arbeit und
Verantwortung bringt. Es ist Aufgabe der
Wirtschaftspolitik, diese Widerstände über-
winden zu helfen.
6. Gefängnisarbeit ausserhalb der
geschlossenen Anstalt. Wie schon oben
angedeutet, kann bei dieser Arbeit aus
strafpolitischen Gründen nur eine verhält-
nismässig geringe Zahl von Gefangenen be-
schäftigt werden. Alle Beschäftigiuig ausser-
halb der Anstalt mildert den Strafzwang,
der in der Freilieitsstrafc liegen muss, selir
erheblich. Sie kann daher nicht zur An-
w^endung kommen bei den zu kurzen Frei-
heitsstrafen Verurteilten, weil vsie den Emst
der Strafe nicht empfinden würden. Es ist
daher ein straf politischer Fehler, dass sie
bei der kurzen Strafe der sogenannten ge-
schärften Haft im deutsehen Strafgesetzbuche
(§ 362 Abs. 1) gegen Bettler. Vagabonden
u. s. w. zugelassen ist. —
Die zu laugen Sti-afen VenniÄÜten kön-
nen zu Ausseuarbeiten erst verwendet wer-
den, wenn sie den grössten Teil der Strafe
innerhalb der Anstalt verbüsst, tind während
derselben gezeigt haben, dass ihre Neigung
ziu* Auflehnung gegen die Rechtsordnung
überwunden ist, und wenn der Strafrest so
gering ist, dass er keinen Anreiz bietet, sich
der Strafe durch die Flucht zu entziehen.
Die Beschäftigimg darf nicht stattfinden in
industriellen Unternehmungen , Fabriken,
Bergwerken u. s. w., weil nadi der heuti-
gen Art dieser Betriebe eine Vermischung
der Gefangenen mit freien Arbeitern nicht
zu umgehen wäre und dadurch das Wesen
der Freiheitsstrafe aufgehoben würde. Der
Entwurf zu einem Gesetze über den Vollzug
der Freiheitsstrafen im Deutschen Reiche
hatte daher diese Art der Arbeit gesetzlicli
ausgeschlossen. Auch die Wirtschaftspolitil;
muss sich dieser Verwendung widersetzen
weil dadurch der Gefangene dem froiei
Arbeiter eine ungerechtfertigte Konkurren;
macht. In neuester Zeit ist aus landwirt
scliaftlichen Kreisen die Forderung gesteJll
Gefangene den Landwirten zu Bestellung^
und Erntearbeiten zur Verfügung zu stellet
um der Arbeiternot abzuhelfen. Auch dies
Fordenmg ist aus straf- und wirtschafte
politischen Gründen abzulehnen. Die gc
wohnliche landwirtschaftliche Arbeit würd
den Gefangenen mit den freien Arbeiter
und Dienstboten des Landwirts in fast ui
kontrollierbare Berührung bringen und durc
die freie Bewegung, die dem Landarbeit*
gewährt werden muss, die Freiheitsentzi
hung kaum noch während der Nacht besti
hen lassen. Die Wirtschaftspolitik niui
dem widersprechen, weil die Arbeit d
Gefangenen die oluiehin ungünstigen Loh
Verhältnisse der ländlichen Arbeiter no(
weiter verschlechtern, jedenfalls aber ih
Hebung hindern würde. Vor allem ab
würde es die soziale Stellung des Land^
beiters schädigen, wenn er in der Oeffoi
lichkeit neben den Gefangenen arbeit
müsste. Unter den Ursachen, welche d
ländlichen Arbeiter in die grossen Stäc:
und die Industriearbeit treiben, ist cl
dass der landwirtschaftliche Arbeiter
weiten Volkskreisen gegenüber dem städ
sehen und Industriearbeiter als der \m{
bildetere, seine Arbeit als eine roli<
gilt, noch lange nicht genug gewürdi
Dieses Vorui-teil wdrd noch dadurch v
stärkt, dass die Not die Landwirtscb
zwingt, Arbeiter, die fremden, auf niedrige
Kultui-stufe stehenden Nationen angehr)r
einzuführen imd neben deutschen Arbeit«
zu verwenden. Würde man nun auch m
Strafgefangene neben ihnen ven^'enden, e
Massregel, die Industrie und städtische
heiter sofort mit Arbeitsniederlegung hei
Gefängnisarbeit
51
-worteten, so wtirde das Ansehen der länd-
lichen Arbeiter noch weiter sinken und ihre
Flucht vom Lande noch befördert. Der vor-
übergehende Vorteil, den die Landwirtschaft
aus der Arbeit der Gefangenen zöge, wtirde
sich schliesslich zu einer schweren Schädi-
gung für sie selbst gestalten und die von
einer gesunden Wirtechaftspolitü zu er-
strebende angemessene Verteilung der Ar-
beiter auf Landwii-tschaft und Industrie
stören.
Als Aussenarbeit für Gefangene können
daher nur solche Arbeiten in Frage kommen,
die im öffentlichen Interesse ausgeführt
werden, bei denen ein Druck auf den Lohn
der freien Arbeiter nicht ausgeübt wird,
und die zugleich die Möglichkeit bieten, die
Gefcmgenen von freien Arbeitern so voll-
ständig getrennt und unter so strenger Auf-
sicht zu halten, dass der Charakter der Frei-
heitsstrafe gewahrt bleibt. Solche Arbeiten
sind der Bau von Festungswerken, die Her-
stellung von Uebungsplätzen für das Militär,
soweit dazu nicht im Interesse der militäri-
schen Ausbildimg Angehörige des Heeres
verwendet werden müssen, Bau von Kanä-
len, öffentlichen Wegen, Entwässerung von
Mooren und Sümpfen, Kultivierung oder
Aufforstimg von Oedländereien, Aufräumung
imd Verbauung von Wildbächen u. a. m.
Da erfahnmgsgemäss die bei derartigen
Arbeiten beschäftigten Arbeiter den land-
wirtschaftlichen Betrieben entnommen oder
aus dem Auslande eingeführt werden (Rus-
sen, Polen, Galizier, Italiener), so würde
durch die Verwendung von Gefangenen
der Verminderung der ländlichen Arbeiter
entgegen gewirkt, dem Zuströmen fi*em-
der, auf niedrigerer Kulturstufe stehen-
der Volkselemente gewehrt, durch Schaffung
neue« Kulturlandes die Neuansiedelung
bäueiiicher Besitzer ermöglicht und durch
Verbesserung vorhandenen Kulturlandes die
wirtschaftliche Lage des ländlichen Grund-
liesitzers gehoben.
In England werden ans den Strafanstalten
zu Borstal, Portland, Portsmouth etwa 700 bis
800 zu Zuchthaus (Penal-Servitude) Verurteilte
zur Errichtung nnd Instandhaltung von
Festungswerken, zum Bau von Häusern, Werk-
stätten, Strassen und sonstigen Anlagen für die
Marineverwaltung beschäftigt Frankreich hat
auf Korsika und in Algier je zwei für Landes-
kultur und Ackerbau bestimmte Strafanstalten
errichtet (Castellucoio, Chiavari; Berrhoua^gbia
und Lambessa). In Italien werden etwa «500 zu
Zuchthaus (Ergastolo und Reclusione) Verur-
teilte zu landwirtschaftlichen und Landeskultur-
arbeiten verwendet. In Oesterreich führen
etwa 600 Sträflinge Strassenbauten und Auf-
forstungen im Karst aus. In Preassen ist diese
Arbeit ttir die in der Verwaltung des Ministe-
riums des Innern stehenden Strafanstalten und
Gefängnisse durch den Erlass vom 14. Januar
1895 foigendermassen geordnet: Zuchthausge-
fangene, die wenigstens ein Jahr ihrer Strafe
verbüsst und deren Strafrest höchstens noch ein
Jahr beträgt, Gefängnisgefangene, die mindes-
tens 6 Monate ihrer Strafe verbüsst haben und
deren Strafe höchstens noch 2 Jahre beträgt^
die sich tadellos geführt haben, auch nicht
fluchtverdächtig sind, können zu Landeskultur-
arbeiten für den Staat, Genossenschaften und
Private verwendet werden, wenn diese Arbeiten
unterbleiben müssten, weil freie Arbeiter dafür
überhaupt nicht oder nur für einen Preis be-
schafft werden können, welche die Ausführung
der Arbeiten unrentabel erscheinen lässt. Die
Arbeitslöhne sind so zu bemessen, dass der An-
staltsverwaltung nach Abzug der Mehrausgaben
für bessere Verpflegung, stärkere Bewachung
und Unterbringung der Gefangenen ein Lohn von
40 Pfennigen für den Kopf und Arbeitstag ver-
bleibt. — Infolge davon ist die Kultivierung
des Augstumalmoores in Ostpreussen (5000 ha),
des Kehdingermoores (700 ha) und des Marcard-
moores (1000 ha) in der Provinz Hannover, des
Bargstedtermoores (250 ha) in der Provinz
Schleswig-Holstein in Angriff genommen, um
daraus Kenten^ter kleinerer und mittlerer
Grösse für Ansiedler zu bilden. Für die An-
siedelungskommission werden in Westpreussen
grössere Güter für die Aufteilung in Kenten-
güter in Stand gesetzt; für die Forstverwaltung
werden die Wanderdünen auf der kurischen
Nehrung, auf der Halbinsel Heia und dem-
nächst auf der frischen Nehrung durch Auf-
forstung festgelegt. Für Genossenschaften
werden in der Provinz Ostpreussen, der Pro-
vinz Westfalen und der Kheinprovinz Ent-
wässerungsarbeiten, in der Provinz Sachsen
Deicbarbeiten ausgeführt. In der Provinz
Schlesien und Brandenburg werden die durch
Ueberschwemmungen angerichteten Schäden
ausgebessert, die Flussbetten vom Geröll ge-
räumt. In der Provinz Westfalen wird ein
Kanal gebaut. Die Zahl der dabei beschäf-
tigten Gefangenen beträgt Über 1000. Die
Arbeitsstellen liegen fast durchgehends ausser-
halb des Verkehrs; die Gefangenen sind in
Baracken oder eigens dazu hergerichteten Ge-
bäuden untergebracht utid kommen mit freien
Arbeitern nicht in Berührung.
7. Ertrag der Gefängnisarbeit Die
Zalilen der Gefängnisstatistiken sind nicht
geeignet, ein klares Bild über den Ertrag
der Gefängnisarbeit zu geben ; geradezu falsch
wird das Bild, wenn man die Zalüen der
verschiedenen Länder unter einander ver-
gleichen will, denn die ziifermässigQ Dar-
stellung des Ertrages wird wesentlich be-
einflusst durch die Rechnungsgebarung in
den einzelnen Ländern, aber das Bestreben
der Gefängnisverwaltungen, das finanzielle
Ergebnis der Arbeit in möglichst günstigem
Lichte erscheinen zu lassen, führt zu Grup-
pierungen der Zahlen, die bewussl oder un-
bewusst über die wahre Sachlage täuschen.
Wenn z. B. in Frankreich bei den grossen
Centralmärmeranstalten bei einem Gesamt-^
ertrage der Arbeit von 2 601897 Francs die
Arbeit für den Hausdienst mit 324472 Francs
im Jahre in Rechnung gestellt wird, während
4*
bz
Gefäugnisarbeit
sie in England und in Prenssen bei den An-
stalten desMinisteriums des Innern ganz ausser
Ansatz bleibt, wenn ferner bei den Convict-
Prisons in England der Wert der für staat-
liche YerwaltiHigen geleisteten Ai*beit schät-
zungsweise ermittelt wird und daftlr Tage-
löhne von 1 — 3 Mark für den Tag in Rech-
nung gestellt, aber nicht bezahlt worden,
während in Preussen in der Gefängnis Ver-
waltung des Ministeriums des Innern dafür
nur 40 Pf. berechnet und wirklich bezalilt
werden, so leuchtet ein, dass die Zahlen
über den Ertrag der Arbeit aus den ver-
schiedenen Ländern unvergleichbar sind und
jeder Versuch, daraus Schlüsse zu ziehen,
verfehlt ist. Wie aber auch die Zahlen der Sta-
tistiken gestaltet sein mögen, eins geht daraus
klar hervor, dass der Durchschnittslohnertrag
eines Gefangenen in den Anstalten, in denen
längere Strafen verbüsst werden, zwischen
Vi und Vs des Lohnes der fi-eien Arbeiter
schwankt, und in den Gefängnissen, wo
Strafen von kurzer Dauer vollstreckt weiden,
auf 1.5, 1.6, Vio herabsinkt o<ler so minimal
ist, dass es niclit für der Mühe wert ge-
halten wird, ihn ziffermässig anzugeben.
Der Arbeitsertrag in den grossen Anstalten,
in denen Strafen von längerer Dauer verbüsst
werden, beträgt auf den Kopf und Arbeitstag
berechnet in
Land
Männer
Weiber
Bemerkungen
Italien
Frankreich
England
Oesterreich
Norwegen
Finland
Prenssen : Strafanstalten
a) für Reichs- u. Staats-
behörden
b) für Unternehmer . .
Pf.
22,0
97,8
135,0
42,0
76,2
32,0
41,9
66,3
Pf.
16
68
67
71,0
23,7
35,8
44,5
üntemehmerbetrieb.
geschätzt. Regiebetrieb für den Staat.
Weiberanstalten an Kongregationen vergeben.
Regiebetrieb znm Verkauf.
do.
Regie und Accord.
Wenn in den preussischen Anstalten der
Geldertrag der Gefängnisarbeit für die Staats-
und Reichsbehörden geringer ist als der für
Unternehmer, so kann daraus nicht gefolgert
werden, dass die erstere geringere wirtechaft-
liche Werte geschaffen habe jus die let^ztere.
So zahlt z. S. die Militärverwaltung an die
Gefänguisver waltung für Anfertigung eines
Mantels 130 Pfennige, einer Litewka 105 Pfennige,
einer Hose 75 Pfennige; nun liegt es aber auf
der Hand, dass diese Arbeit nach dem Masse
des freien Arbeit5»genusses einen viel höheren
Wert darstellt und dass der Preis nur deshalb
80 niedrig ist, weil grundsätzlich von der Ge-
fängnisverwaltung bei der Arbeit für Staats-
nnd Reichsbehörden der Arbeitstag nur mit
40 Pfennigen berechnet wird. Für die allge-
meine Staats Wirtschaft würde es übrigens
keinen Unterschied machen, wenn die Gefäng-
nisverwaltung überhaupt keine Entschädigung
in Geld erhielte, sondern nur die geleisteten
Arbeitstage und die darin hergestellten Gegen-
stände aufführte ; so ^schiebt es in der hollän-
dischen Gefängnisstatistik.
In Holland hat man auf die Darstellung
des Ertrages der Gefängnisarbeit in Geld ver-
zichtet und statt dessen Zahl und Masse der
hergestellten Gegenstände angegeben.
Zur Steigening des Arbeitserti*ages wird
fast überall dem Gefangenen, um ihn zu
fleissiger und sorgfältiger Ai*beit anzuspornen,
ein Teil des Ertrages der von ihm geleis-
teten Arbeit als Lohn oder Geschenk über-
wiesen. Das ist straf- und wirtschaftspoli-
tisch richtig, um ihm den Wert der Aroeit,
für dessen Schätzung er häufig das Ver-
ständnis verloren liat, zum Bewusstsein zu
bringen. Diese Belohnung darf aber nicht
so hoch bemessen werden, dass sie die Er-
sparnisse, welche ein freier Arbeiter nach
Abzug seines Lebensunterhalts machen kann,
übei-steigt. Verkehrt ist es, dem Gefangenen
zu gestatten, diese Belohnungen in grosserem
Umfange zur Beschaffung von Genussmitteln
zu verwenden, weil dadurch die Gier nach
materiellem Genuss, die so manche Gefangene
ins Verbrechen geführt hat, gesteigert und
ihm eine Lebenshaltung ermöglicht wird,
wie sie Tausende von fi-eien Arbeitern sich
nicht erringen können. Die dadurch erreichte
Steigenmg des Arbeitsertrages würde weit
tiberwogen durch den Schaden, welchen der
Ernst dos Strafvollzuges erleidet. Die Arbeits-
belohnung soll dem Gefangenen bei seiner
Entlassung helfen, sich in das geordnete
soziale Leben wieder einzufügen, und dadurch
den Zweck der Strafe fönlern.
Zur Erzielung höherer Erträge hat man
die GefängTiisbeamten am Ertrage der Ge-
fängnisarbeit beteiligt, indem man ihnen
geradezu einen prozentualen Gewinnanteil
oder eine mit der Höhe des Ertrages steigende
Remuneration gewährte. Dadiux^h werden
die Beamten zu einer vollständig verkehrten
Auffassung ihrer Aufgabe beim Strafvollzuge
verleitet. Sie werden die grossen straf- und
wirtschaftspolitischen Ziele der Strafe über
Gefängnisai'beit
53
den kleinlichen Ziffern des Arbeitsertrages
vergessen, und es liegt die Gefahi* nahe,
dass in den Augen der Gefengenen Zweifel
an der Integrität der Beamten entstehen,
die, mögen sie berechtigt oder unberechtigt
sein, ihre eigene Autorität und damit die
des Staates, welche sie dem Gefangenen
gegenüber verkörpern, schädigen.
Man hat den Erti-ag der Gefängnisai-beit
in Vergleich gesetzt mit den Kosten des
Strafvollzuges und die Gefängnisverwaltung
vom wirtschaftspolitischen Standpunkte für
die beste gehalten, welche den grössten Teil
der Kosten des Strafvollzuges aus dem Er-
trage der Arbeit deckt. Wäre die Auffassung
richtig, dann stände die Gefängnisverwaltung
der ehemaligen Sklavenstaaten Nordamerikas,
welche die sämtlichen Kosten des Strafvoll-
zuges durch die Arbeit der Gefangenen deckt
oder wohl gai* noch einen üebei'schuss er-
zielt, an ei-ster Stelle.
Je zweckmässiger der Strafvollzug organi-
siert ist, je besser er seine straf- und wirt-
sehaftspoütische Aufgabe, die Gesellschaft
gegen die Rechtsbrecher zu schützen, löst,
desto höher sind die Kosten, welche er er-
fordert ; mit der Zweckmässigkeit der Organi-
sation steigert sich aber keineswegs in
gleichem Verhältnisse der Ei*trag der Arbeit.
Gewiss wird jede tüchtige Gefängnisver-
waltung danach streben, den Ertrag der Ge-
fängnisarbeit zu steigern, aber sie wird dafür
niemals die Lösung der straf- und wirt-
schaftspoütischen Aufgaben, welche ihr ge-
stellt sind, verkaufen.
Der Ertrag der Gefängnisarbeit spielt
überhaupt gegenüber den Kosten, welche
die Gesellschaft zum Schutze der Rechts-
ordnung aufwenden muss, eine so minimale
Rolle, dass es finanzpolitisch verkehrt wäre,
um einer Steigerung des Eintrages der Ge-
^gnisarbeit willen, die sich ftuch in Gross-
staaten nur auf einige Hundeii;tausend Mark
belaufen kann, den Effekt der Millionen,
welche jährlich für den Rechtsschutz ausge-
geben werden, auch nur im geringsten zu
gefährden.
Der preussische Etat für 1899/1900 wirft
ans an Ausgaben:
für die Justizverwaltung ein-
schliesslich der von ihr verwalte-
ten Gefän^isse 112 Millionen,
für Polizei, Landgendarmerie und
Gefängnisverwaltung im Ministe-
rium des Innern 51 Millionen.
Diesen 163 MUIionen steht gegenüber ein
Ertrag ans der Geföngnisarbeit von etwa 8
Millionen; eine Steigerung desselben um eine
Million würde jene Kosten nur um 0,6% ver-
mindern.
Aber gegenüber den wirtschaftlichen
Gütern, welche durch das Verbrechen ge-
fährdet sind, verschwindet der Ertrag der
Gefängnisarbeit so vollständig, dass eine von
grossen Gesichtspunkten ausgehende Wirt-
schaftspolitik auf dem Boden stehen muss:
Wenn der Strafvollzug niu* seine Aufgabe
erfüllt, die wirtschaftlichen Güter der Ge-
sellschaft zu schützen, so fällt der grössere
oder geringere Ertra.g der Gefängnisarbeit
demgegenüber nicht ins Gewicht.
8. Schlnssbemerknng. Die W^irt-
schaftspolitik hat vor 300 Jahren die Ge-
fängnisarbeit in die Strafrechtspflege der
Neuzeit eingefülirt; ihre Vertreter, die
Bürgermeister von Amsterdam, haben den
Grundriss für deren Ausbau vorgezeichnet
Nach fast 300 jährigem Kampfe um die Ge-
staltung der Gefängnisarbeit gegen verkehrte
sti-af- und wii-tschaflspolitische Theorieen und
Massnahmen haben wiederum Vertreter der
Wirtschaftspolitik, die vom Ausschusse des
deutschen Handelstages eingesetzte Kommis-
sion, die Frage der (iefängnisarbeit geprüft
und haben sich auf den Standpunkt ihrer
Vorgänger von vor 300 Jahren gestellt, indem
sie zu folgendem Ergebnisse gcKommen sind :
1. Bei Beschäftigung von Gefangenen ist
neben dem in erster Linie stehenden
Zwecke des Strafvollzugs weder dem
Erwerbs- noch dem fiskalischen Stand-
punkte ein überwiegender Einfluss zu-
zuerkennen.
2. Es empfiehlt sich femer eine möglichste
Vielgestaltigkeit der Betriebszweige in
jeder einzeCien Anstalt.
3. Es erscheint zweckmässig, die Her-
steUung von Bedarfsartikeln für öffent-
liche Zwecke den Gefangenenanstalten
zuzuweisen. Dahin zählen beispielsweise
Lieferungen füi- Verkehrsanstalten, Ge-
richts- und Verwaltungsbehörden, Militär
u. 8. w.
4. Femer ist anzustreben die Schaffung
von selbständigen Strafanstaltskollegien,
in welchen neben dem Juristen, dem
Verwaltungs- und Finanzbeamten, dem
Arzte und dem Geistlichen auch den
Vertretern von Handel und Gewerbe
Sitz und Stimme, etwa nach dem Vor-
bilde Württembergs, eingeräumt wird.
Endlich ist:
5. die Herausgabe periodischer emgehender
Veröffentlichungen über Art und umfang
der Beschäftigung von Gefangenen unter
Anbahnung einheitlicher Grundlagen über
die Principien dieser Veröffentlichungen
in den verschiedenen Bimdesstaaten ge-
boten.
Littoratur: Handbuch des Gefängniswesens in
Einzelbeiträgen von Fr, v, Holizentlorff und
E, V, tTagentann, 2, Bd., Hamburg 1888;
besonders die Abhandlung über Gefängnisarbeit
von E, V. Jagetnann, Bd. II, S. 22Sff. —
Ä. Krohne, Lehrbuch der Gefängniskunde,
Stuttgart 1889 ; besonders S. 387 ff. — Enquete des
deutschen Handelstages über den Einfluss der
54
Gefängnisarbeit — Öeheimmittelwesen
Gefängnisarbeit auf den freien Gewerbebetrieb,
Berlin 1878. — P. Falckmer, I>i^ Arbeit in
den Gefängnissen, Jena 1888. — Verhandlungen
der internationalen Gefängniskongresse zu Stock-
holm, Bd. II, Rom und St. Petersburg, Bd. I,
S. 251—809, S. 591— 59S. — von Hippel,
Beiträge zur Geschichte der Freiheitsstrafe. Zeit-
schHft für die gesamte Strafrechtswissenschafi,
Bd. XVIII. — Tallacle, PenologiccU and
preventive Principles, London, II. Aufl.,
1896, S. 261. — Report from (he D^artmental
commitee on Prisons, London 1896, S. 18. —
nLaboura (Enquete im Auftrage des Ministers
des Innern). — Proceedings of the Annual
congress of the National Prison Association of
the United States hcld at Toronto and Nashville,
Chicago 1889, 1890. — Neueste Gefängnisstatistiken
von England, Frankreich, Italien, Oesterreich,
Schweden, Norwegen, Finland. — Statistik der
zum Ressort des kgl. preuss. Ministeriums des
Innern gehörenden Strafanstalten und Gefäng-
nüse für 1897198.
Krohne.
Geheimmittelwesen.
1. Begriffserläutening. 2. Ursachen des G.
3. Kampf gegen das G. 4. Gesetzliche Mass-
nahmen gegen das G.
1. Begriffserlänternng. Es darf als
eine offenkundige Thatsache bezeichnet wer-
den, dass Jahr fxir Jahr betiüchtliche Sum-
men Geldes für solche Stoffe und Zuberei-
tungen vergeudet werden, denen im Verkehr
fälschlicherweise geheimnisvolle Heilwir-
kimgen zur Beseitigung körperlicher Fehler
oder Krankheiten oder auch vermeintlicher
Fehler (Schönheitsfehler) beigelegt wer-
den, deren Bestandteile aber nach Art und
Menge für den Käufer nicht erkenntlich sind,
meistens auch vom Verkäufer auf Verlangen
nicht bekannt gegeben werden können oder
sollen.
Das Gebiet des Geheimmittelwesens ist
hiermit ganz im allgemeinen bezeichnet,
erschöpfend im Sinne unserer heutigen Rechts-
sprache lässt sich dasselbe kaum begrenzen,
da eine für aUe Fälle zutreffende und nach
jeder Richtung befriedigende Feststellung
des Begriffs »Geheimmittel« nicht leicht
möglich ist; wiixl doch sogar eine solche
Feststellung — auf gesetzlichem Wege —
nach Lage der Verhältnisse von erfahrenen
Juristen aufgegeben (vgl. Kronecker ; s. unten
Litteratur). Folgt man einer Entscheidung
des preussischen Kammergerichts vom
13. April 1893, so ist unter einem Geheim-
mittel eine angeblich heilkräftige
Zubereitung zu verstehen, derenNatur
und Bestandteile dem Publikum
als solchem, also der Allgemein-
heit, nicht deutlich erkennbar ge-
macht werden und welche auch
staatlich weder anerkannt noch
genehmigt worden ist. Die Kenntnis
einzelner Behörden oder Personen von don
Bestandteilen oder der Zubereitung der an-
gepriesenen Heilmittel beseitigt nicht deren
Eigenschaft als Geheimmittel« (vgl. u. a
Veröffentl. des Kaiserl. Gesundheitsamtes
Jalirg. 1893, S. 797).
Mittel zum Gebrauch bei Tieren fallci
gewöhnlich nicht unter die Geheimmitte
im engeren Sinne, sobald es sich um be
hördliche Massnahmen handelt, indessen is
als bemerkenswerteAusnahme hervorziihebei
dass ein Preussischer Ministerialerlass vor
14. Februar 1895 den Begriff im weitere
Sinne festsetzt und zwar bei Erläutenm
der durch Bundesratsbeschluss vom 18. Nc
vember 1892 genehmigten Vorschriften, dene
zufolge die steuerfreie Verwendung vo
undenaturiertem Branntwein zwar im al
gemeinen zu heilwissenschaftlichen und g<
werblichen Zwecken, nicht aber z. B. zi
Herstellung von Geheimmitteln zulässig is
Nach dem gedachten Ministerialerlasse sir
als Geheimmittel zu behandeln: alle zi
Verhütung oder Heilung kranl
hafter Zustände jeder Art beiMei
sehen oder Tieren feilgebotene
Arznei- oder Heilmittel, deren B
standteile, Gewichtsmengen ui
Bereitungsweise nicht gleich b
ihrem Feilbieten dem Publikum
gemeinverständlicher Form vol
ständig bekannt gemacht werde
Die blosse Beigabe emer Herstellungsvi
Schrift bei der Verabfolgung des Mitte
deren Verständnis besondere technise
Kenntnisse voraussetzt, geniS^ diesen ]
fordernissen nicht. Als Geheimraittcl vS
nicht anzusehen alle diejenigen Arznei- oi
Heilmittel, für welche in dem Arzneibm
für das Deutsche Reich und dessen Erg
Zungen, sowie in den Pharmakopoen andc
Länder Vorschriften enthalten sind« (
Reichsanzeiger vom 23. Februar 1895).
Es wird ferner empfohlen, bei gos
liehen Massnahmen gegen das Geheimmit
wesen aUe Desinfektionsmittel, I
geziefermittel und diejenigen Mi
welche als Nahrungs- imd Genii
mittel anzusehen sind, nicht unter
Begriff der Geheimmittel fallen zu Lasj
dagegen dürfen, um diesen Begriff nicht
zu sehr einzuengen, die zum Schutze
Gesundheit, d. h. zur Verhütung
Krankheiten in Arzneiform angepriesc
Mittel nicht ausgeschlossen sein. Uebrij
entspricht eine jede den modernen Ansc^
ungen angepasste Begriffsbestimmung
deutschen Ausdruckes »Geheimraittel« ^'
ganz dem, was man in früheren Zeitei
auch in Deutschland — unter ei
arcanum verstand, noch dem, was
Geheimmittelwesen
55
anderwärts unter einem Reklamemittel,
einer Patentmedizin oder Specialität
versteht. Diese verschiedenen Ausdrücke
decken sich nur teilweise, es würde aber
zu weit führen, auf die Veränderung des
Begriffes nach Zeit imd Ort hier näher ein-
zugehen.
2. Ursachen des G. Das Geheimmittel-
wesen ist so tief in der menschlichen Natur
begründet, dass man wohl behaupten darf,
seine Geschichte ist ebenso alt wie die Ge-
schichte der Menschheit. Der Hang zum
Wunderbaren und Geheimnisvollen, welcher
uns am wenigsten verhüllt bei den Natur-
völkern entgegentritt, ist auch dem Kultur-
menschen in hohem Masse noch eigen ; dem
Kinde wird er in der Regel so eindringlich
anerzogen, dass der Erwachsene sich nur
schwer, ja vollständig fast nie mehr von ihm
befreien kann. Je enger dem Einzelnen die
Grenzen des klaren^ verstandesgemässen Er-
kennens gezogen sind, mn so ausgedehnter
ist ihm das Gebiet des ünbegreifüchen, und
um so mehr ist er geneigt^ jede alltägliche
Erscheinung, auch das Kommen und Schwin-
den der Krankheiten, auf die Einwirkung
mystischer Kräfte zurückzuführen und von
ihuen Genesung und Heilung zu erwarten,
wenn die begriffenen Naturkräfte ihi'e Wir-
samkeit zu versagen scheinen.
Unstillbar wohnt dem Menschen die Sehn-
sucht inne, auf jede mögliche Weise die
Daner des Lebens zu verlängern und es
ohne Beschwerden im Vollgefühle der Kraft
und Rüstigkeit dahinbringen zu können.
"Was ärztlichör Wissenschaft und Kunst nicht
gelingt, sieht die Phantasie als erfüllbar an,
zumal wenn krankhafte Einflüsse sie be-
herrschen. Je unverständlicher die Wege
sind, welche zur Gesundheit und zum Wohl-
ergehen führen sollen, um so gläubiger und
be^eriger lauscht der vei-zagende Kranke
denjenigen, die ihm auf solchen Wegen Hilfe
verheissen. Insbesondere Kranke, deren
Nervensystem imd Gemütsstimmung an-
gegriffen ist, — mögen sie gebildet oder
ungebildet sein — kaufen und gebrauchen
erälhnmgsgemäss alles, was mit Sicherheit
schnelle Heilung zu bringen ihnen ange-
priesen wird. Die gedruckten Annoncen
und die üeberredungskünste bewusster und
unbewusster Geheimmittelagenten — meist
geschwätziger, kuriersüchtiger Nachbarn —
üben auf Personen, deren Urteils- und Willens-
kraft diu-ch lange dauerndes Leiden ge-
schwächt ist, eine unwiderstehliche Gewalt
aus, gegen die keine Belehrung des Sach-
verständigen hilft.
Erkennt man in solchen Umständen die
Ursache für die imgemein verbreitete Sucht
nach Geheimmitteln, so gewinnt man zu-
gleich die Ueberzeugung, dass an eine gänz-
liche Ausrottung des Geheimmittel wesens
nicht zu denken ist. Ebensowenig wie der
Glaube der Menschen an unerforschte, daher
geheimnisvoll wirkende Kräfte je verschwin-
den kann, ebensowenig wird das Vertrauen
auf Arzneimittel, in denen solche unbekannte
Kräfte vermutet werden, oder auf wunder-
kräftige, neue Heilverfahren jemals den
Menschen zu nehmen sein. Dank der Mystik,
welche den unsinnigsten Zusammensetzungen
anhaftet, fällt das Publikum nach jeder Ent-
täuschung durch ein Geheimmittel nicht
etwa einer heilsamen Ernüchterung, sondern
in der Regel der Ausbeutung durch einen
anderen, neueren, womöglich noch frecheren
Schwindel anheim.
In früheren Zeiten waren es zudringliche
Hausierer, Marktschi^eier und Quacksalber,
welche den Aberglauben an die Heilwirkung
geheimnisvoller Arzneimischungen ausbeu-
teten, heutzutage ist es haupteäclüich die
übermächtige Pressreklame, welche die
Leichtgläubigen heranzieht. Auf dem platten
Lande, wo die Wirkung der Tagespresse
geringer ist, bedient man sich daneben auch
heute noch besonderer Agenten, um die
wirtschaftlich unmündige, dem Aberglauben
besonders zugeneigte Bevölkerung, eventuell
mit Hilfe von marktschreierischen Flug-
blättern, zum Ankauf von allerlei Specialitäten
zu verlocken. Diesen Versuchungen durch
Annoncen und Agenten können selbst die
intelligenteren Bewohner des platten Landes,
Lehrer, Geistliche, Gutsbesitzer, nicht wider-
stehen, und oft genug müssen die natür-
lichen Feinde des Geheimmittel wesens ,
Aerzte und Apotheker, die Erfeihrung machen,
dass höhere Schulkenntnisse und höhere
Lebensstellung nicht immer mit höherer
Verstandesbüdung, die das Unwesen durch-
schaut, verbunden sind.
3. Kampf gegen das 6. Gegen die
geschilderte, weit verbreitete und tief in der
menschlichen Natur begründete Neigung zu
Geheimmitteln darf man von einer Beleh-
rung des Volkes seitens der Behörden und
Aerzte wesentlichen Erfolg nicht erwarten,
die Aufgabe der staatlichen Organe kann
vielmehr niu: darin bestehen, durch strenge
Beaufsichtigung des Heilmittel-
verkehrs eine übergrosse Schädigung
des Publikums zu verhüten.
Die Frage, ob eine erhebliche Schädigung
des öffentlichen Wohles durch den Geheim-
mittelhandel herbeigeführt wird, muss be-
jahend beantwortet werden, wenn es auch
in weiten Kreisen an solchen nicht fehlt,
welche den Kampf gegen das Geheimmittel-
wesen für bedenklicher als dieses selbst
halten. Die Verfechter der letzteren Ansicht
stellen die Rücksichtnahme auf die Neigun-
gen und Wünsche des Volkes höher als das
wohlerwogene Streben nach dessen Wohl-
ergehen. Das Publikum will ja allerdings
56
Geheiinmittehvesen
die Geheimmittel und sucht sie sich auf
alle möglichen Arten zu verschaffen ; selbst
wenn das angepiiesene Mittel nicht hilft,
glaubt der Kranke die durch die Anwendung
desselben in ilun angeregte und belebte
Hoffnung einiger Tage mit etliclien Mark
nicht zu teuer bezahlt zu liaben. Wie das
Lotteriespiel für eine grosse Anzahl von
Menschen der Hoffnungsstern ist, dessen
Strahl die öde Dunkelheit ihres Daseins
freundlich erhellt, so, meinen manche, ge-
währe auch das Geheimmittel dem unrett-
bar Kranken einen Hoffnungsschimmer, der
ihm den Wert des verlorenen Geldes reich-
lich ersetze.
Was daher, abgesehen von finanziellen
Gründen, immer ^\'ieder gegen die völlige
Beseitigimg des öffentlichen Lotteriespiels
vorgebracht wird, ist auch zur Verteidigung
des Gelieimmittelwesens herangezogen wor-
den: wie ersteres dem Unbemittelten Aus-
sicht auf Reichtum und Genuss bietet, so
biete das Geheimmittel dem unheilbar
Kranken und dessen Angehörigen wenigstens
eine Aussicht auf Rettung, die ihm ohne
Grausamkeit nicht genommen werden dürfe.
Andere erklären diesen Standpunkt, von
dem aus bekanntlich auch der unbegrenzten
Gewährung von Kurpfuscherei aller Art das
Wort geredet wird, für einen unzulässig-
sentimentalen und halten es im Gegenteil
für grausam, dass der Staat die betrügerische
Ausbeutung jener Unglücklichen zulässt und
einigen wenigen, gewandten Geschäftsleuten
gestattet, aus der Urteilslosigkeit armer
Kranker unverhältnismässig hohen Gewinn
zu ziehen.
Bei so entgegenstehenden Ansichten ist
es erforderlich, jedes Vorgehen gegen das
Unwesen ausschliesslich diut^h Rücksichten
auf das V o 1 k s w o h 1 zu begründen. Weder
einseitige Interessen der staatlich approbier-
ten Modizinalpersonen noch andererseits eine
Rücksichtnahme auf die Wünsche der am
Verdienste durch Geheimmittel stark be-
teiligten Presse dürfen bei dem beregten
Vorgehen aussclüaggebend sein.
In den Erläutenmgen zu einem dem
Bundesrat vorgelegten Entwurf von »Vor-
schriften über den Verkehr mit Geheim-
mitteln in den Apotheken« , welche in der
Fachpresse der Juristen und Apotheker be-
reits öffentlich besprechen worden sind,
werden als Nachteile des Geheimmittelwesens
bezeichnet :
1. Schädigimg des Volkswolüstandes ,
2. GesundheitSvSchädigung durch Anwendung
der Mittel, 3. Gesundheitsschädigung dadiu'ch,
dass der Käufer bei Anwendung des Mittels
den richtigen Zeitpunkt zur Befragung des
Arztes versäumt
Eine Gefährdung des öffentlichen Ge-
sundheitszustandes und des Wohlstandes
der Bevölkerung geht aus den nachge-
wiesenen Bestandteilen der meisten Ge-
heimmittel und den von den Fabrikanten ge-
forderten Preisen zur Genüge hervor.
Schwere Gesundheitsscliädigungen durch
solche Geheimmittel, welche heftig wii*-
kende Stoffe enthalten, sind oft genug be-
obachtet worden; sie kommen um so leich-
ter vor, als der Gebrauch von Geheim-
mitteln gewöhnlich sehr bald in einen
Missbrauch derselben ausiirtet.
Mögen sie aber kräftig wirkende oder
gleichgiltige Stoffe enthalten, so ist doch
unter allen Umständen der Gebrauch von
Geheimmitteln schon deshalb für verderb-
lich zu erachten, weil die Verwender ihren
Körper zum Opfer bedenklicher und ge-
fährlicher Experimente machen und sich
sachgemässen ärztlichen Ratschlägen ver-
sclüiessen.
In einer Botschaft, welche der schweize-
rische Bundesrat an die Bundesvei-sammlung
vom 12. November 1886 ergehen licvss,
heisst es: »Hunderttausende von Franken
wandern alljährlich aus den Taschen armer
Leute, die kaum ihren kärglichen Lebens-
unterhalt aufbringen, in die Kassen schlauer
Spekulanten. Wir wissen, dass Frankreich
jährlich an 105 Millionen seiner SpeciaU-
täten ausführt, dass England jährlich
60 — 70 Millionen £ für seine Geheimmittel-
patente einnimmt und dass beispielsweise
im Jahre 1878 aus Deutschland, Frankreich,
Oesterreich und Italien mehr als 1505 Cent-
ner Geheimmittel und fertiger Arzneimittel
in die Schweiz eingeführt wurden, weiche
nach Scliätzung von Sachverständigen im
]tfinimum einen Ankaufspreis von 900000
bis 1 000 000 Francs und einen Verkaufswert
von mindestens 1,5 — 1,8 Millionen Francs
repräsentieren.«
Der ungemein hohe Gewinn, welcher
mit dem Verkaufe von Geheimmitteln er-
zielt wird, ergiebt sich aus folgenden
(u. a. von Schwartz citierten) Beispielen-
Der Pillenfabrikant Halloway, welcher ein
Vermögen von 5 Millionen £ hinterliess,
verausgabte jährlich 40000 £ für An-
preisungen, — der Geheimmittelfabrikant
Richter für den gleichen Zweck jäluiich
125000 Mark. In England existieren En-
groshäuser, die sich mu* mit dem Vertriebe
von Geheimmitteln befassen, jälu'lich ca.
eine Million für Inserate ausgeben und
trotzdem eine Million verdienen.
Nach dem Grundsatze der (reheimmittel-
fabrikanten muss das Mittel gegen alle
mögliche Krankheiten helfen, doch werden
namentlich solche Kranke ins Auge gefasst,
welche mit chronischen Ner\'enleiden, Epi-
lepsie, Ijähmimgen, Stuhlverstopfung, Ge-
schlechtskrankheiten, Krebs \ind Lungen-
schwindsucht behaftet sind. Die Reklame
Geheimmittelwesen
57
für den Vertrieb der Geheimmittel er-
fonlert grosse schriftstellerische Gewandt-
heit und muss als solche belohnt werden.
Viel teurer als der Sold des Reklame-
schreibers kommen aber die Inserate zu
st<»hen. Wenn ii'gend ein Geheimmittel
3 Mai'k kostet, so betragen die wahren Her-
stellungskosten in der Re^el 10 Pfg., die
Inserate aber, in hinreichend grossem
Massstabe angewendet, kosten mindestens
die Hälfte der Gesamteinnahme, also 1 Mark
rxj Pfg.
Dieser grosse Gewinn, welcher durch
den Verkauf von Geheimmitteln bezw.
Reklamemitteln en*eicht zu werden pflegt,
reizt zu stets neuen Unternehmungen an.
(reeigrnete Mittel für den Geheimmittel-
fabrikanten sind besonders diejenigen, wel-
che die Darmentleerung befördern. Das
Bedürfnis nac^h solchen Mitteln und die
nach dem Gebrauche eintretende, w^enn
auch vorübergehende Erleichterung sichern
den abführenden Mitteln stets grosse und
nachhaltige Verbreitung, sie werden als
Gesimdheitspulver, Lebenselixire , Magen-
tropfen etc. dem Publikum angepriesen und
sind besonders beliebt in der leicht zu
nehmenden Form der Pillen. Vor 40 Jahren
beherrschte Morison mit seinen stark abfüh-
renden Pillen den Geheimmittelmarkt und
konnte in seinem Testamente über eine
stattliche Anzahl von Millionen £ vei-fügen,
dann wai'en eine Zeit lang die Strahlschen
Pillen vielfach im Gebrauch, neuerdings ist
eine andere diux^h eine geschickt betriebene
Reklame angepriesene Sorte von Abführ-
pillen trotz recht hohen Preises beim Pu-
blikum beliebt geworden, deren Hauptbe-
standteil, die Aloe, in zwei Schachteln der
Pillen kaum 1 Pfennig kostet, wälirend der
Verkäufer für jede Schachtel 1 Mark sich
bezahlen lässt (vgl. Wildermanns Jahrbuch
der Naturwissenschaften). Bei so enormem
Gewinn ist es kein Wunder, dass aüe
Mittel der Reklame aufgew^endet werden,
um den Absatz immer ausgiebiger zu ge-
stalten.
Als natürliche Feinde des Geheimmittöl-
wesens sind oben die Aerzte und Apo-
jtheker genannt worden, weil sie unzwei-
felhaft diejenigen sind, welche den mit Ge-
heimmitteln getriebenen Unfug am klarsten
durchschauen; damit soll indessen nicht
gesagt sein, dass sie auch thatsächlich
mmier als Feinde desselben aufgetreten
sind. Derjeüige Apotheker allerdings, wel-
cher seine Stellung zum öffentlichen Ge-
sund heitsw^esen als die einer für das Volks-
wohl mit verantwortlichen Medizinal-
person auffasst, wird stets das Geheim-
mittelwesen bekämpfen, derjenige aber,
dessen Streben einzig und allein auf Ge-
schäftsgewinn gerichtet ist, sieht nur zu
oft in dem Handel mit Geheimmitteln einen
besonders lukrativen Nebenerwerbszweig,
dessen Pflege, wie er meint, sein Ge-
schäftsinteresse erfordere; von dieser letz-
teren Seite liat man daher auf Unterstützung
im Kampfe gegen das Unwesen nicht zu
rechnen.
Den Aerzten steht eine Beteiligung am
Gewinne diu-ch Geheimmittel so selten in
Aussicht, dass die unmittelbare Föi-denmg
des Treibens durch einzelne Aerzte wenig
ins Gewicht fällt, dagegen lässt sich nicht
leugnen, dass mittelbar, wie u. a. Kratsch-
mer ausführt, durch die Aerzte bezw. durch
eine gewisse Richtung in der wissenschaft-
lichen Medizin der Absatz der Geheimraittel
eine Zeit lang nicht unw^esentlich gefördert
worden ist. Als die Erfolge der Hydro-
pathen, Homöopathen und der sog. l^atur-
heilkünstler den Aerzten die — nunmehr
längst wissenscliaftliches Allgemeingut ge-
wordene — Erf abrang aufdrängten, dass viele
Krankheiten bei zw^eckmässigem (diäte-
tischem) Verhalten des Kranken ohne jedes
der früher für erforderlich gehaltenen Medi-
kamente (auch ohne Aderlass, Schröpfen etc.)
in Heilung übergehen können, griff in
der Medizin eine Zeitlang ein »tlierapeu-
tischer Nilülismus« um sich, welcher den
Kranken auch solche Arzneimittel vorent-
hielt, durch welche eine Linderung der Be-
schwerden herbeigeführt und der günstige
Verlauf des Leidens erfahnmgsgemäss ge-
sichert oder abgekürzt wird. Diese negative
Richtung der Therapie, welcher jetzt die
Lehrer der ärztlichen Wissenschaft mit
Recht entgegentreten, war unzweifelhaft
den Geheimmittelkrämern indirekt von Vor-
teil. Das grosse Publikiun lässt sich ein-
mal den Glauben nicht nehmen, dass gegen
jedes Leiden ein besonderes Heilmittel
existiere, dass »gegen jede Krankheit ein
eigenes Kraut gewachsen« sei; die Kranken
also, denen der vorsichtig abw'artende Arzt
das ersehnte Arzneimittel vorenthielt, such-
ten es hinter dessen Rücken und öffneten
bereitwillig, zumal beim zögernden Eintritt
der Genesung, den Einllüsterungen der Ge-
heimmittelfabrikanten und anderer unbefug-
ter Heilkünstler ihr Ohr. Das kranke
Publikum verlangt von dem ersehnten Rat-
geber nicht abwartendes Zusehen, w^ie dieser
es oft für angebracht halten mag, sondern
handelndes Eingreifen; der praktische Arzt
muss darauf Rücksicht nelimen und be-
denken, dass er diu'ch eine zur Schau ge-
tragene Nichtachtung des wissenschaftlich
erprobten Arzneischatzes dem unbefugten
Handel mit Arzneimitteln Vorschub leistet
und das zu bekämpfende Geheimmittelwesen
nur fördert.
Ist es schon dem einzelnen Arzte und
dem Apotheker oft schwer, den richtigen
58
Geheimmittelwesen
Standpunkt im Kampfe gegen das Greheim-
raittehvesen einzunehmen, so hat noch mehr
die medizinalpolizeiliche Gesetzgebung in
dieser lYage einen schweren Stand. Von
einer eini^ermassen befriedigenden Lösung
derselben ist man nicht nur in Deutschland,
sondern auch in den anderen Kultiu^taaten
noch weit entfernt. Sieht man allerdings
die Aufgabe der Medizinalpolizei bereits
erfüllt, wenn in dem angezeigten Mittel
keine giftigen Stoffe mitverkauft wer-
den, und so eine unmittelbare, grobe Ge-
sundheitsschädigung der Käufer vermieden
wird, so wäre die Frage der Bekämpfung
des Geheimmittel Wesens sehr vereinfacht,
man wiU aber die Kranken auch davor be-
wahren, dass sie ihr leibliches Wohl ge-
wissenlosen Schwindlern anvertrauen, statt
sich sachgemässer Behandliuig zu unter-
ziehen, man will insbesondere verhüten,
dass die Anzeigen der Geheimmittelin-
teressenten, in denen gewöhnlich alle er-
denklichen Beschwerden zu beseitigen ver-
sprochen wird, kranke und gesunde Leser
beunnihigen und habgierigen Geschäftsleuten
in die Arme treiben. Allen diesen im In-
teresse der öffentlichen Gesundheitsj)flege
gestellten Ansprüchen gerecht zu werden,
soll das Ziel das Kampfes gegen das Ge-
heimmittelwesen sein.
4. Gesetzliche Massnahmen gegen
das 6. Als verfehlt im Sinne der Gesund-
heitspolizei muss man denjenigen Weg be-
zeichnen, den man in England gegen das
Geheimmittelwesen eingeschlagen hat. Hier
glaubte man durch eine hohe Steuer ein-
greifen zu können und hat dadiu^ch zwar
eine beträchtliche Mehrung der Staatsein-
ngthmen, aber nicht im entferntesten eine
Abnahme des Schwindels erreicht. Der
Handel mit Patentmedizinen, d. h. staatlich
besteuerten (gestempelten) Geheimmitteln
blüht in England mehr als anderwärts, und
auch eine Kontrolle der Giftigkeit der
Mittel konnte bei deren wechselndem Ge-
halt an giftigen Bestandteilen dort so wenig
erzielt weixlen, dass die betreffenden Mittel
sogar mit Vorliebe zu Selbstmorden benutzt
werden sollen (Wernich).
Wirksamer sind die in Frankreich
bereits am Anfange dieses Jalirhunderts er-
lassenen Massregeln gewesen. Durch die
GG. V. 21. Germinal des Jahres XI und
v. 29. Pluviose des Jahres XIII wurden alle
gedruckten Ankündigungen und Anschläge,
welche Geheimmittel zur Anzeige bringen,
streng verboten, die Zuwiderhandelnden im
zuchtpolizeilichen Wege verfolgt und mit
Geldstrafe bis zu 6000 Francs, im Rückfalle
mit Einsperrung bestraft. Man scheint
hierdurch in Frankreich wenigstens soviel
erreicht zu haben, das die französischen
Specialitätenhändler ihr Hauptabsatzgebiet
nicht im Inlande, sondern im Auslande
finden, wohin sie für 500 Millionen Franc«
jährlich exportieren.
Im Deutschen Reiche wird nach
§ 367 Nr. 3 des Str.G.B. bestraft, wer ohne
polizeiliche Erlaubnis Gift oder Arzneien,
soweit der Handel damit nicht freigegeben
ist, zubereitet, feilhält, verkauft oder sonst
an andere überlässt. Welche Arzneien frei-
gegeben sind, hat gemäss § 6 Abs. 2 der
Gewerbe-Ordnung die kaiserl. Verordnung
V. 27. Januar 1890 (ergänzt am 25. November
1895) bestimmt. Darnach dürfen gewisse
(in einem der Verordnung beigegebenen Ver-
zeichnis A. aufgeführte) Zubereitungen,
ohne Unterschied ob sie heilkräftige Stoffe
enthalten oder nicht, als Heilmittel nur
in Apotheken feilgehalten . oder verkauft
werden, ebenso dürfen bestimmte (in einem
Verzeichnis B. aufgeführte) Droguen und
chemischen Präparate niu: in Apotheken
feilgehalten oder verkauft werden. Das-
selbe gilt somit auch von Geheimmitteln,
sofern sie in einem der Formen des Ver-
zeichnisses A. dieser Verordnung auftreten
oder sofern sie Zusammensetzungen aus den
Droguen und Präparaten des Verzeichnisses
B. enthalten. (Der Grosshandel ist von
jenen Bestimmungen nicht betroffen.) —
§ 367 Nr. 5 des Str.G.B. bestraft ferner
denjenigen, welcher zur Zubereitung und
zum Feilhalten von Arzneien berechtigt
ist, aber hierbei die erlassenen Verord-
nungen nicht befolgt; eine solche Verord-
nung lautet hinsichtlich der Geheinmiittel
(§ 36 der preussischen Vorschriften über Ein-
richtung und Betrieb der Apotheken vom
16. Dezember 1893): »Geheimmittel dürfen
Apotheker im Handverkauf nur abgeben,
wenn ihnen die Zusammensetzung derselben
bekannt ist, die Abgabe der Bestandteile im
Handverkauf zulässig ist und der Gesamt-
preis sich nicht höher stellt, als das
auf Grund der Arzneitaxe der Fall sein
würde.«
Was die öffentliche Ankündigung
und Anpreisung von Geheimmitteln be-
trifft, so bestehen gesetzliche Straf Vor-
schriften hiergegen nicht, doch ist man im
Deutschen Reiche, namentlich seitens meh;
rerer preussischen Bezirksregierungen, be-
müht, durch Polizei Verordnungen die Re-
klame für Geheimmittel in den Zeitungen
mit Strafe zu bedrohen und endlich nach
dem Vorgange des Karlsruher Ortsgesund-
heitsrates amtliche Mitteilungen über die Zu-
sammensetzung und den wahren Preis aller
auftauchenden Geheimmittel zu veröffent-
lichen, um wenigstens das einer Belehrung
noch zugängige Publikum vor der Schädigung
möglichst zu bewahren. Nach einem neu-
eren Sanitätsberichte sind in Berlin die be-
züglichen Massregeln bei verständnisvoller,
GeheimmittelweseQ — Gehöferschaften
59
aber rücksichtsloser und unermüdlicher
Durchführung recht wirksam gewesen.
Eine weitere einheitliche Regelimg des
Geheimmittel wesen in den deutschen Bundes-
staaten nach dem Vorbilde des schon er-
w^nten, dem Bimdesrate vorgelegten, hier
ev. noch abzuändernden »Entwi^fs von Vor-
schriften« ist in naher Zukunft zu erwarten.
Litt6ratlir: ßichterf Das Geheimmiitclweaen,
Dresden 187:ä, — SchwarUf Gesetzliche Hegelung
des Geheimmiüelwesens (Deutsche Vierteljahrs-
schriß för öffentliche Gesundheitspflege 1891). —
Krat^schmer, Massregeln gegen den Geheim-
mitielschwindel (VI. internationaler Kongress für
Hygiene). — Wemich, Heklamemittel (Dammers
HandtcifTterbtich der Gesundheitspflege). — Kro-
necker ^ Die Geheimmittc{frage (in Nr. 15, Jahrg.
1S9S der Denischen Juristen-Zeitung).
Rahts,
Gehöferschaften.
Die Gehöferschaften sind agrarische Ge-
nossenschaften mit dem Gesamteigentum
ihres ganzen Gnmdbesitzes an Feldgärten,
Aeckem, Wiesen, sog. Wildländereien und
Waldungen (mit Lohhecken), unter perio-
dischem Wechsel der Interessenten an der
privaten Nutzung der Ländereien auf Gnnid
erneuter Verlosungen, soweit nicht eine ge-
meinsame Nutzung derselben stattfindet.
Dabei tritt die Gemeinschaft gelegentlich
noch in der vollen Form der Betriebsge-
meinschaft auf, und die ideellen Eigentums-
quoten der einzelnen Genossen sind frei
veräusserlich und teilbar.
Die Grösse des den einzelnen gehöfer-
schaftlichen Betrieben unterliegenden Be-
sitzes, der jetzt meist nur noch aus Wald
und Wildland besteht, schwankt ziemlich
stark ; bisweilen beträgt er einige Dutzende,
bisweilen Tausende von Morgen. Daher
gibt es Dorffliiren, in denen das Gehöfer-
schaftsland nur einen kleinen Bruchteil der
Gesamtfläche einnimmt, während in anderen
sich Gehöferschaftsland und Privateigen un-
gefähr die Wage halten; ja es kommt ver-
einzelt sogar der Fall vor, dass nach Abzug
der unverteilten Allmende die ganze Mark
niu" aus Gehöferschaftsland besteht.
Gehöferschaften und gehöferschaftsähn-
liche Institutionen finden sich vereinzelt im
ganzen Westen und Süden Deutschlands;
besonders verbreitet sind sie im mittleren
Westdeutschland, vor aDem an der Mosel.
Hier betrug der Umfang der gehöferschaft-
lichen Waldungen zu Anfang der 60 er
Jahre dieses Jahrhunderts in den drei
meist beteiligten Kreisen des Reg.-Bez.
Trier noch 10973 ha; im Sommer 1883
waren für den Reg.-Bez, Trier noch 26 Ge-
höferschaften, davon 20 in den Kreisen
Merzig imd Trier Land, bekannt.
Die Gehöferschaften hat man bis in die
neueste Zeit, vornehmlich auf Gnmd der
Forschungen Hanssens, als letzte Reste der
urgermanischen Agrarverfassung angesehen ;
man glaubte ihnen Momente der Erklärung
für schwierige Stellen bei Cäsar und Tacitus
entnehmen zu können. Demgegenüber ist
von Lamprecht (Deutsches Wirtschaftsleben
I, 451 ff.) nachgewiesen und auch von
Haussen anerkannt worden, dass die Ge-
höferschaften nicht der Verfassung der
freien Germanen, sondern vielmehr der
grossgrundherrlichen Verfassung des 10. — 14.
Jahrhunderts ihre Entstehung verdanken.
Die Grossgrundherren, deren Eigentum, an
Grundholde ausgethan, vielfach sehr zer-
streut durch eine Menge von Dörfern hin
lag, liebten es, die von diesem Eigen
fälligen Fi'onden in h'gend einem dieser
Dörfer, zumeist da, wo der Meier seinen
Sitz hatte, zum Anbau von grösseren Stücken
Rottlandes zu koncentrieren. In den Besitz
des Rottlandes setzten sie sich dabei als
Hufeninhaber und somit Markgenossen des
betreffenden Dorfes: noch galt im 10. und 11.
Jahrhundert das fi'eie Rottrecht aller Mark^
nossen auf der Allmende. Auf diese Weise
entstanden grundhörige Betriebsgenossen-
schaften auf grundherrlichem Kottlande.
Als dann die Grundherrschaften mit dem
12. Jahrhundert zu zerfallen begannen, in-
dem sich ihre Inhaber auf die blosse Per-
ception von Renten zurückzogen und die
Meier sich verselbständigten, liess sich
auch der alte Anbau des Rottlandes wie
die Nutzung grundherrUcher Wälder in ab-
gelegenen Meierhoforten unter unmittelbarer
wirtschaftlicher Teilnahme des Grundherrn
nicht mehr aufrecht erhalten. Statt dessen
verzeitpachteten oder vererbpachteten die
Grundherren jetzt das Areal an die bisher
grundhörige Betriebsgemeinschaft. Diese
konnte nun entweder teilen, oder aber sie
erhielt den bisherigen Fronbetrieb als mm-
mehr freien, aber in alter Weise gemeinsam
bleibenden Betrieb aufrecht: im letzteren
Falle entstand die Gehöferschaft. Der kom-
munistische bezw. kollektivistische Charakter
der Gehöferschaft ist also nicht urzeitlichen
Verhältnissen, sondern der besonderen Ge-
bundenheit der grundherrlichen Ver-
fassung bei im allgemeinen schon weiter
fortgeschrittener wirtschaftlicher Kultur ent-
sprungen.
Dementsprechend scheinen schon wäh-
rend des Mittelalters sich viele Gehöfer-
schaften durch Auseinandersetzung und
Teilung aufgelöst zu haben; sicher ist das
während des 16. bis 18. Jahrhunderts der
FaU. Eine ausgedehntere Aufteilungsperiode
trat aber wohl erst mit der Wirkung der
französischen Revolution ein. Von Bedeu-
tung waren in diesem Simie auf preussischem
60
Gehöferschaften — Geld
Gebiete noch später die Katastemiifnahme
der dreissiger und vierziger Jahre dieses
Jahrhunderts , die Gemeinheitsteiluugsord-
nung vom 19. Mai 1851 und neuere Special-
gesetze und Verordnungen. Im ganzen gab
es im Jalire 1878 im Reg.-Bez. Trier noch
20 Gehöferschaften mit 889 ha Ackerbesitz,
wovon 736 ha in Teihmg begriffen waren,
sowie 81 Gehöferschaften mit 74192,22 ha
Waldbesitz, wovon 1713,74 ha sich in
Teilung befanden.
Litteratnr: J. N. v. Schwerz, Beiträge zur
Kenntnis der Landwirtsr huft in der Gebirgs-
gegend des Hunfrücks (MÖgliner Annalen 27,
28/., 18S1). — Baersch, Statistik des Reg.-Bez.
Trier 1, 14, 226 f. (1849). - v. HaureVy Ein-
leitung S. 72 (1854). — Beck, Die Teihing und
Zusammenlegung der gehöferschaftlichen Lände-
reien zu Saarhölzbach (1801). — v. Briefen,
Urkundliche Geschichte des Kreises Merz ig, S.
249 f. (186S). — Hanssen, Die GehöferschafUn
(Erbgenossenschaften) im Reg.-Bez. Trier, Ab-
handlungen der Berliner Akademie der Wissen-
schaften, 186S, PhiL-hisi. Kl. S. 75 f. (= AgrarhiM.
Abh., 1, 99 f.). — MeitzeUf Der Boden und
die landwirtschafüichcn Verhältnisse des preus-
sischen Staates 1, 348 f. (1868). — Beck, Be-
sehreibung des Reg.-Bez. Trier, 1, S45f. (1868),
2, 96. — Denkschrift der preussischen Staats-
regierung über die Verhältnisse der Gehöje. -
schafts^icaldungen im Reg.-Bez. Trier (Aktenst.
des Abgeordnetenhauses, 14' LegisUiturp., JH.
Session, 1878 — 79, Nr. 54). — Lam/precht,
Zwei Notizen zur älteren deutschen Geschichte
(Zeitschr. des Bergischen GeschicJUsvereins 16,
17 4 f., 1880). — Hanasen, in Tübinger Zeitschr.
36, 4^'^ S'> umgearbeitet in Agrarhist. Abhandl.
2, If. (1884). — Schroeder, Ausbreitung der
Franken (Farschungen zur deutschen Geschichte
19, 151 f.). — Lamprechtf Deutsches Wirtschafts-
leben 1, 422 f. (1886).
K. Lamprecht
Geisteskranke,
s. Irrengesetzgebung und Irren-
wesen.
Oeltzkofler von Oailenbach und
Haanshelm, Zacharlas,
geboren von protestantischen Eltern 1560 in
Brixen, studierte in Strassburg und Basel, Hess
sich nieder in Augsburg, wurde königl. Bat,
Reichsritter und Freiherr und erhielt von
Rudolf II. den Titel eines Generalproviant-
meisters, für die kaiserliche Armee. 1597 trat
zu dieser Würde noch die eines Reichspfennig-
meisters und 1607 wurde er der Stifter des
nördlich der Fasshöhe des Brenner gelegenen
Bades, im gleichnamigen Doife in den Tiroler
Alpen. Geitzkofler starb 1617.
Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte er keine
auf Staatswissenschaft bezügliche Schrift, erst
nach seinem Tode erschien in Buchform:
Ausführliches in den Reichsconstitutionibus
und sonsten in der Experientz wolgegründetes
Fundamental Bedencken über das eingerissene
höchstschädliche Müntz Unwesen und stavefeniug
der groben Geltsorten von Golt und Silber, als
dem Kaiser vorgelegtes Gutachten, nach s. t.
Geitzkoflers Tode, von einem Liebhaber der Ge-
rechtigkeit der tentschen Nation zu Besten l(i22
zum Druck befördert, s. 1. In dieser wissen-
schaftlichen Bekämpfung des Münzunwesens tritt
Geitzkofler, als Verfechter des merkantilistiscben
Princips, den Rohprodukt^nexport aus Staats-
ökonomischen Gründen zu erschweren, für da?
Verbot der Ausfuhr ungemünzten Goldes und
Silbers ein und folj^ert aus dem Missverliältnii
zwischen der relativ wertvolleren, weil alli,ro
meine Bedürfnisse deckenden deutschen Waren
ausfuhr und der vom Auslande dagegen ein
getauschten, zum grösseren Teile aus Luxus
waren bestehenden Einfuhr eine drohende pro
gressionsmässige Verarmung Deutschlands, zi
deren Abwehr er strenge Luxusgesetze fordert
Vgl. über Geitzkofler: Adam Woli
Lukas Geitzkofler v. Reiffenegg, Wien 1873. -
Allgem. deutsche Biographie, Bd. VIII, Lei^zi
1878, S. 529. - Röscher, Gesch. d. Nat
S. 176.
Lippert.
Geld.
I.DerUrsprungallgemeingebräiul
lieber Tauschmittel. — 1. Einleitun
2. Aufgabe der Theorie des Geldes. 3. L
Schwierigkeiten des naturalen Tauschhaudcv
4. Die verschiedene Gangbarkeit (Marktgäniri
keit) der Güter. 5. Die Entstehung der Tausc
mittel. 6. Die Stellung der Tauschmittel :
Verkehre (ihre Eigenart im Kreise der übrip:
Güter). 7. Die Unterscheidung zwischen „Gt 1
und „Ware" in der Jurisprudenz. 8. Der Str
der Wirtschaftstheoretiker, ob das Geld ei
W^are sei. II.DieEntstehung des Ede
metallgeldes. III. Vervollkommnu^
des Metallgeldes durch Ausmünzu
derMetalle. IV. Die Vervollkommnu
des Geldes durch den Staat. V. 1>
Geld als Mittel für einseitige und sn
sidiäre Vermögensleistungen. —
Das Geld als Vermittler des Kapit
Verkehrs. VII. Das Geld als Mittel i
Thesaurierung, Kapitalisierung u
interloka.le Vermögensübertr aT^ 11
VIII. Das Geld als Preismesser. IX. I
Geld als Massstab des Tauschwer
derGüter. 1. Einleitung. 2. Ob die Schätzi
der Güter als eine Messung ihres Tausch we
zu betrachten sei ? 3. Die praktische Bedeut
der Bewertung der Güter in Geld. 4. Dass
in Geld ausgedrückte Tauschwert der (ti
unter verschiedenen örtlichen und zeitli(
Verhältnissen kein entsprechender Massstab
Mittel und Ergebnisse der Wirtschaften
ö. Das Streben nach einem Gute von uiii
sellem und unwandelbarem äusserem Tau
werte. 6. Versuche einer Messung der örtli«
Verschiedenheit und der Bewegung des äuss
Tauschwertes des Geldes; a) in Rücksicht
bestimmte Güterarten und bestimmte Gi
komplexe; b) in Rücksicht auf die Güter 1
Geld
61
banpt. 7, Ueber die örtliche Verschiedenheit
und die Bewegung des sogenannten inneren
Tauschwertes des Geldes. 8. Die populäre Auf-
fassang über die Beständigkeit des inneren
Tauschwertes des Geldes. 9. Die wissenschaftliche
Auffassung über den inneren Tauschwert des
Geldes und seine Bewegung. 10. Die Idee eines
universellen und unwandelbaren Massstabes des
inneren Tauschwertes der Güter. 11. Die Frage, ob
bestimmte Preisbewegungen (bezw. örtliche Ver-
schiedenheiten der Preise) auf Ursachen zurück-
weisen, die im Gelde, oder auf solche, die in
den Kaufgütem liegen. 12. Ob der innere Tausch-
wert des Geldes und seine Bewegung gemessen
werden können. X. Aus seinerEntwicke-
lung und seinen Funktionen sich er-
gebender Begriff des Geldes. XL Der
Bedarf der Volkswirtschaft an Geld.
— Litteratur.
I. Der Ursprung allgemein gebräuch-
licher TanschmitteL
1. Einleitung. Die Erscheiming, das8
gewisse Güter, bei fortgeschrittener Kultur
öold und Silber in gemünztem Zustande,
in der Folge auch diese letzteren vertretende
Urkunden, zu allgemein gebräuchlichen
Tauschmitteln werden, hat die Aufmerksam-
keit der Sozialphilosophen und der Praktiker
auf dem Gebiete der Volkswirtschaft seit
jeher in besonderem Masse auf sich gezogen,
bass ein Gut von seinem Besitzer gegen
ein anderes, ihm nützlicheres, im Austausche
hingegeben wird, ist ein Vorgang, welcher
auch dem gemeinsten Verstände einleuchtet.
Dass aber jedes wirtschaftende Subjekt eines
Volkes bereit ist, seine Waren gegen kleine,
an sich nutzlos erscheinende Metallscheiben,
oder gegen diese letzteren vertretende Ur-
kunden, einzutauschen: dies ist ein dem
gemeinen Laufe der Dinge so widersprechen-
der Vorgang, dass es uns nicht wunder
nehmen darf, wenn er selbst einem so aus-
gezeichneten Denker, wie Savigny^), ge-
radezu als »geheimnisvoll« erscheint.
Man glaube nicht, dass das Rätselhafte
der obigen Erscheinung in der Münz- oder
in der ürkundenform des gegenwärtig ge-
bräuchlichen Geldes liege. Selbst wenn
wir davon absehen und auf jene Stufen
volkswirtschaftlicher Entwickelung zurück-
greifen, wo, wie noch heute bei einzelnen
Völkern, Edelmetalle in ungemünztem Zu-
stande, ja bestimmte andere Waren (Vieh,
Tierfeile, Theeziegeln, Salztafeln, Kauri-
schnecken u. s. f.) als Tauschmittel funktio-
nieren, tritt uns die nämliche, der Erkläning
bedürfidge Erscheinung entgegen: die Er-
scheinung, dass die wirtschaftenden Menschen
bereit sind, gewisse Güter, auchwenn sie
derselben nicht bedürfen, oder ihr
Bedürfnis daran bereits gedeckt
ist, im Austausche gegen die von ihnen
zu Markte gebrachten Güter anzunehmen,
während sie rücksichtlich derjenigen Güter,
die sie sonst im Verkehre zu erwerben
beabsichtigen, zimächst doch ihr Bedürfnis
befragen.
Von den ersten Anfängen denkender Be-
trachtung der Gesellschaftserscheinungen bis
auf unsere Tage zieht sich denn auch eine
ununterbrochene Kette von Erörterungen
über die Natm* des Geldes und seine Eigenart
im Kreise der übrigen Objekte des Verkeh-
res. Was ist die Natur jener kleinen Metall-
scheiben und Urkunden, welche an sich
keinem Gebrauchszwecke zu dienen scheinen
und doch, im Widerspniche mit aller sons-
tigen Erfahrung, im Austausche gegen die
nützlichsten Güter, aus einer Hand in die
andere übergehen, ja, gegen welche seine
Waren hinzugeben, jedermann so eifrig be-
strebt ist? Ist das Geld ein organisches
Glied der Güterwelt oder eine Anomalie
der Volkswirtschaft?
2. Aufgabe der Theorie des Geldes.
Die Aufgabe der Wirtschaftstheorie ist, auch
in Rücksicht auf das Geld, durch die allge-
meine Natur dieser Wissenschaft gegeben.
Die Theorie des Geldes hat die Aufgabe,
das Wesen desselben (seine Eigenart im
Kreise der übrigen Güter), seine Funktionen
und den Zusammenhaug derselben ^ihren
Zusammenhang imter einander und mit der
Volkswirtschaft überhaupt) zu erforschen
und darzustellen, und uns solcherart das
theoretische Verständnis des Geldes und
seiner Funktionen in der Volkswirtschaft zu
verschaffen. Die Wirtschaftsgeschichte da-
gegen hat rücksichtlich des Geldes die Auf-
gabe, die Entwickelung des Geldes aller
Völker und Zeiten im einzelnen zu erfor-
schen und uns ein Bild dieser Entwicke-
lung zu bieten. Die Wirtschaftsgeschichte
ist eine der wichtigsten Grundlagen wirt-
schaftstheoretischer Forschung überhaupt
und der Theorie des Geldes insbesondere,
die Aufgabe der letzteren indes doch eine
wesentUch andere als die einer Geschichte
des Geldes. Auch die Theorie des Ursprungs
des Geldes darf mit einer Geschichte des
letzteren nicht verwechselt wei*den. Selbst
der Gedanke, eine Geschichte des Geldes
(diesen Zweig der Wirtschaftsgeschichte als
solchen !) im Systeme der Theorie des Geldes
behandeln zu wollen, muss als ein irrtüm-
licher, auch als ein undmxjhführbarer, zu-
rückgewiesen werden. 1)
Die Meinung, dass die Geldtlieorie sich
darauf beschränken solle, die »Entwickelungs-
gesetze des Geldes« (im Sinne von »Paralleüs-
men der Geschichte des Geldes aller Völker
0 Obligationenrecht, I, § 40.
*) S. meine Unters, über d. Methode d. See.
W. 1883. S. 2 ff. und K. Bücher, Entstehung
der Volkswirtschaft 1898, S. X.
62
aeld
und Zeiten«) festzustellen, ist eine einseitige.
Eine Darstellung dieser Art wäre nichts
anderes als »schematische Geschichte«,
welche (bei der komplexen Natur des Geldes
in seinem geschichtlichen Auftreten uud der
grossen Verschiedenheit seiner geschicht-
lichen Entwickelung in verschiedenen Län-
deni) uns Volkswirten für das Verständnis
des Wesens und der Funktionen des Geldes
und ihres inneren Zusammenhanges kaum
mehr bieten könnte, als etwa die Kenntnis
der Reihenfolge der Jalireszeiten dem Natur-
forscher für das Verständnis der Natur und
ihrer Prozesse. Eine Geldlehre dieser Art
würde mit Rücksicht auf die Zufälligkeiten
bei der Ceberlieferung geschichtlicher That-
bestände oder auf zufällige Parallelismen,
welche in der äusseren Entwickelung des
Geldes etwa zu beobachten sein würden,
uns zwai* einzelne Schemen mehr oder min-
der unwesentlicher Erscheinungsfolgen bieten,
indes die Klarstellung der wesentlichsten,
zumal auch der psychologischen Faktoren
der Entwickelung des Geldes und ihres Ein-
flusses auf diese letztere vermissen lassen. i)
3. Die Schwierigkeiten des naturalen
Tauschhandels. Die theoretische Unter-
suchung über den Ursprung und die Ent-
wickelung der Tauschmittel hat auf jener
Entwickelungsstufe der mensclilichen Ge-
sellschaften einzusetzen, wo »die verkehrs-
lose Naturalwirtschaft« allmählich in die
*) Ueber die Methoden der Forschung,
etwa mit specieller Rücksicht auf die verschie-
denen Aufgaben der Geldlehre zu handeln, kann
hier nicht meine Aufgabe sein. Nur rtick-
sichtlich der induktiven Methode sei be-
merkt, dass dieselbe nicht, wie manche in me-
thodologischen Fragen unerfahrene Schriftsteller
anzunehmen scheinen, in der Darstellung
eines ziellos angehäuften historischen und ethno-
graphischen Materials und in der Feststellung
der Parallelismen, die sich darin etwa vor-
finden, bestehe. Dies letztere ist keine In-
duktion, sondern „Abstraktion" in vorkan-
tischem Sinne. Das Wesen der Induktion
besteht in den, auf Grund einer möglichst um-
fassenden Kenntnis aller hiebei in Betracht
kommender Thatbestände und ihrer sorgfäl-
tigen Analyse, vorgenommenen Schlüssen (den
Induktionsschlüssen!). Die Induktion ist nicht
der mechanische Erkenntnisvorgang, wie ihn
die obigen Autoren sich denken, sondern eine
Methode, deren Anwendung die Fähigkeit zur
gründlichen Analyse der Erscheinungen und
zu richtigen — msofem es sich um realistische
Probleme der Forschung handelt - - an den That-
sachen zu erprobenden Schlüssen zur Voraus-
setzung hat Man kann, um nur auf das neueste
Beispiel des im übrigen sehr verdienstvollen
Ridgeway hinzuweisen, eine grosse Menge
historischen und ethnographischen Materials zu-
sammentragen und doch (infolge irriger Induk-
tionsschlüsse!) zu unhaltbaren Ergebnissen ge-
langen.
»Naturalwirtschaft mit naturalem Tauseh-
verkehr« tibergeht.^) Bevor diese Entwicke-
lung sich vollzogen hatte, sind die Menschen
wohl unübersehbare Zeiträume hindurch im
wesentlichen in verkehrsloser Indivichial-,
Stammes- und Familienwirtschaft der Befrie-
digung ihrer Bedürfnisse nachgegangen, bis,
gefördert durch die Entstehung des Privat-
eigentums, zumal des persönlichen Eigen-
tums, allmählich mannigfache den eigent-
lichen Güteraustausch vorbereitende Fonneii
des Verkehrs ^) und schliesslich dieser selbst
als Ergebnisse allgemeiner Kulturentwicko-
lung, zu Tage getreten sind. Ei-st hiornü
war die objektive Grundlage und Voraus
Setzung für die Entstehung des Geldes gc
g"eben.
In der Periode, in welcher die mensch
liehe Wirtschaft bereits zum naturalen Oüter
austausche vorgedrungen war, mussto siel
der Entwickelung des Verkehrs ein (innei
halb der Verkehrsformen der Natural wirl
Schaft!) nur schwer zu überwindende
Hemmnis entgegenstellen. In den Anfänge
des Verkehrs, wo die Erkenntnis des ök(
nomischen Vorteiles, welcher mit dei
Tausche verbunden ist, bei den wirtscha
tenden Subjekten nur allmählich erwarb
ihre Zwecke, wie dies der Einfachheit alb
Kulturanfänge entspricht, vorerst nur ai
das Nächstliegende gerichtet sind und doi:
gemäss bei Tauschgeschäften auch nur d
Gebrauchswert der zu erwerbenden Gut
in Betracht kommt, ist jedermann dara
bedacht, gegen die von ihm zu Markte '\) g
brachten Güter lediglich solche einzutauschc
nach denen er einen unmittelbaren Bedarf li
dagegen diejenigen zurückzuweisen , dor
er entweder überhaupt nicht bedarf od
mit welchen er bereits ausreichend versoi
ist. Es ist indes klar, dass imter solch
Verhältnissen die Zahl der thatsächlieli
Stande kommenden Tauschgeschäfte nur i)
sehr eng begrenzte sein kann. Wie seil
trifft sich nämlich dor Fall, dass für ieniand
ein in seinem Besitze befindliches Gut cii
') Vgl. W. Lexis Art. „Geld wir tschaft'
Elsters „Wörterbuch der Volkswirtschaft", 1^
I, S. 805 ff.
*) Ueber die primitivsten Erscheinun
des Güterverkehrs, in der Form einer w
gehenden freiwilligen oder halbf reiwilligeu (i
freundschaft, gegenseitigen Beschenkuiig-, s
Teile wohl auch des Raubes u. s. f. vgl. B ü c li
Die Entstehung d. Volkswirtsch. 1898, S. 78, 8;
H. Schürt z, Grundr. einer Entsteh un^Büe
d. Geldes, 1898, S. 175. Ein sehr charakt<
tisches Beispiel für die ältesten, bei Voll
primitiverer Kultur heute noch zu beobach
den Formen des Güterverkehrs bei M o s e s 1,
■^) Ich bezeichne (in einer in unserer Wis
Schaft gebräuchlich gewordenen Weise) mit
Ausdrucke Markt jeden Punkt, in dein
Angebot imd Nachfrage begegnen.
Geld
63
geringeren Gebrauchswert hat als ein an-
deres im Besitze einer anderen Person be-
findliches, während zugleich für diese letz-
tere gerade das umgekehrte Verhältnis statt-
findet? Um w^ie viel seltener noch der Fall,
dass diese beiden Personen einander be-
gegnen ! Man denke auch an die besonderen
Schwierigkeiten, welche sich dem unmittel-
baren Austausehe von Gütern in denjenigen
fMlen entgegenstellen, wo Angebot und
^Nachfrage sich quantitativ nicht decken,
wo z. B. ein unteilbares Gut gegen ver-
schiedenartige, im Besitze verschiedener
Personen befindliche oder wohl gar gegen
solche Güter ausgetauscht werden soll, wel-
che nur an verschiedenen Orten und in ver-
schiedenen Zeitpunkten oder nur von ver-
schiedenen Personen geleistet werden können.
Man erwäge nun gar die Schwierigkeiten,
wel<*he sich für diejenigen ergaben, die dem
ras(!hen Verderben ausgesetzte Güter gegen
solche umzusetzen beabsichtigten, deren sie
erst in einem künftigen Zeitpunkte benö-
tigten, oder schwer transportable Güter ^egen
solche, die sich auf einem entfernten Markte
befanden. Selbst in dem verhältnismässig
einfachen und so oft sich wiederholenden
Falle, dass ein wii-tschaftendes Subjekt A
eines Gutes bedurfte, welches B, dieses
eines solchen, welches C, das letztere aber
des Gutes, welches A zu Markte brachte,
niu.<ste unter der Herrschaft des blossen
Tausclihandels der Austausch der beti'effen-
den Güter regelmässig unterbleiben*).
*) Die beiden Hauptrichtungen der dogmen-
^scbichtlichen Entwickelung einer Theorie vom
Ursprünge des Geldes finden sich bereits bei
Aristoteles angedeutet. In seiner Politik (1, 6)
fuhrt er den Ursprung des Geldes auf die aus
dem Natural tausche sich ergebenden Schwierig-
keiten (mit besonderer Hervorhebung der aus dem
interlokalen GUterverkehre entstehenden Trans-
portschwierigkeiten) zurück, während er in der
>ikom. Ethik (V, 8) den Ursprung des Geldes
aus dem Bedürfnisse nach einem (gerechten)
Wertmasse beim Güteraustausche zu erklären
sucht. Die ökonomischen Schwierigkeiten, zu
denen der Tauschhandel führt, werden, über
Aristoteles hinausgehend, vom Juristen Paulus
:2. Jahrb. n. Chr.) dargestellt (L. 1, Dig. XVHI, 1).
Die zahlreichen mittelalterlichen Kommentatoren
und Bearbeiter des Aristoteles bilden dessen
Lehren nur in geringem Masse aus; sie be-
schränken sich in ihrer Darstellung zumeist
darauf, den ökonomischen und den ethischen
Ges^ichtspunkt des Aristoteles in äusserlicher
Weise mit einander zu kombinieren. Vgl. Aristo-
teles, Ethic. Hb. X cum Averroes (12. Jahrh.'t
comentar. Lugd. 1542, p. 72 ; Aristoteles, Politik
Leonard! Aretini (1369 — 1444) traductione.
Ibid. p. 187. So auch noch /ier Aristoteliker
N. Oresmtua (•}■ 1383) Tract. de orig. et jure
monetamm (Acta publica monetaria, 1691, p. 247),
indes bereits mit Hervorhebung der wesent-
lichen Schwierigkeiten des naturalen Güter-
4. Die yersehiedene Gangbarkeit
(Markt^ngigkeit) der Guter. Diese
Schwierigkeiten ^vilrden (trotz mancherlei
Einrichtungen zur Erleichterung des Ver-
kehrs, die bereits der natiiralwirtschaftlichen
Epoche eigentümlich sind) dem Fortschritte
des Güterverkehrs und der beruf liehen Arbeits-
teilung, insbesondere aber dem Fortschritte zur
Produktion von Gütern für den ungewissen
Verkauf, geradezu unflbersteigliche Hinder-
nisse entgegengestellt haben, hätte nicht in
der Natur der Dinge selbst ein diese Hinder-
nisse beseitigendes Hilfsmittel gelegen: die
verschiedene Gangbarkeit (Marktgängig-
keit) der Güter 1).
Auf den Märkten des Tauschhandels
tausches; in dieser Rücksicht mit seither nicht
übertroff euer Vollständigkeit : G. B y e 1 , Tractat.
de monetis. (1490) ibid. p. 271. Die zahlreichen
Schriftsteller des 16. und 17. Jahrhunderts über
Geld- und Münzwesen neigen, in Verkennung
der wahren Bestimmungsgründe der Preisbildung
(sie fassen die letztere vielfach unter dem Ge-
sichtspunkte einer mechanischen Messung des
Wertes der auszutauschenden Güter durch den
Wert des Geldes auf), wieder dazu, den Ursprung
des Geldes vorwiegend auf das Bedürfnis nach
einem Wertmassstabe zurückzuführen. Noch
Boizard (Traite des Monnoyes. Nouv. Ed. 1714,
p. 4 ff] kombiniert lediglich den ethischen und
den ökonomischen Gesichtspunkt des Aristoteles.
Die richtige Lehre wieder bei J Law, Memoire
sur l'usage des Monnoies (abgedruckt bei For-
bonnais: Recherches et considerations s. 1. Fi-
nances de France, 1758, VI, 193 ff.^; desselben
Money and trade considered. 1705. (Ch. I, p. 6. d.
edit 17öp) und Consid^rat. s. 1. numeraire. 1 720.
(Daire: Econ. financ. du XVIII. Siecle. p. 144 ff.).
Desgleichen bei J. Harris, An Essay upon
Money and Coins. 1707. Part. I. Ch. II. 1. (Over-
stone's Collection of scarce and valnable tracts
on monev, 1856, p. 368 ff. und A. Smith (W.
0. N. B. I, Ch. IV,). R. Malthus (Pr. o. P. E.
1836, p. 52) und J. B. Say (Traite, I, Ch. 21
§ 1) folgen im wesentlichen A. Smith ; die neueren
deutschen Bearbeiter (insbesondere auch Rau
und Röscher) diesem und J. G. Busch, (Vom
Geldumlaufe; 1780, I. S. 36).
^) Die meisten Sprachen, zumal die der
Handelsvölker, haben zahlreiche, vielfach nuan-
cierte Ausdrücke, um die Absatzfähigkeit der
W^aren zu bezeichnen. Im Deutschen: Gang-
barkeit, Marktgängigkeit, Absatzfähigkeit (im
Mittelhochdeutschen gank(h)aftich) ; im Eng-
lischen: saleableness, saleability, marketable-
ness; im Holländischen, Dänischen und
Schwedischen: gaugbaarheid, gangbarheet,
bezw. gangbarhet. Die Franzosen sprechen
von: marchandises de bon debit, debitables, de
vente facile; die Italiener von: merci di facile
spaccio, und von der: vendibilitä d'una merce.
Im Lateinischen: merces qui facile, com-
mode, expedite venduntur; im Griechischen:
ayroyifioi^ = gangbar. Diese Ausdrücke w^erden
in der geldwirtschaftlichen Epoche regelmässig
im Sinne der Absatzfähigkeit einer Ware gegen
Geld umgedeutet.
64
Geld
(wo, infolge der Schwierigkeiten des natu-
ralen Tauschverkehrs, auf die oben hinge-
wiesen worden ist, selbst derjenige, welcher
mit Gütern reichlich versehen zu Markte
geht, doch keineswegs sicher ist, hierfür
gerade die seinem speciellen Bedürfnisse
entsprechenden Güter eintauschen zu können,
auch dann nicht, wenn die von ihm be-
gehrten Güter sich thatsäehlich auf dem
Markte befinden) muss jedermann die gerade
auf dieser Entwickelungsstufe des Verkehrs
praktisch bedeutsame Beobachtung machen,
dass nach gewissen Gütern nur eine wenig
umfangreiche, oder nur eine gelegentliche,
nach Gütern anderer Art dagegen eine all-
gemeinere und konstantere Nachfrage be-
steht und demnach derjenige, welcher Güter
der ersteren Art zu Markte bringt, um da-
gegen Güter seines speciellen Bedarfes ein-
zutauschen, aller Regel nach geringere Aus-
sicht hat, diesen Zweck zu erreichen, als
derjenige, welcher mit Gütern der letzteren
Art zu Markte geht. Güter, nach denen
eine besonders allgemeine und konstante
Nachfrage besteht i), gewinnen auf den
Märkten des Tauschhandels solcherart einen
exceptionellen Charakter, den einer beson-
deren Gangbarkeit (Marktgängigkeit).
Also insbesondere:
1. Güter, in deren reichlichem Besitz sich
das Ansehen und die Macht der Besitzer
manifestiert, Güter, nach denen somit
eine dauernde und, praktisch genommen,
nahezu unl^egrenzte Nachfrage der tausch-
ki-äftigsten Marktgenossen vorhanden ist ;
also (nach Massgabe der Verschiedenheit
der Verhältnisse und der die Bevölkerung
eines Territoriums beherrschenden Vor-
') Diejenigen irren, welche, im Gegensatze
zu den ärf abrangen, die noch heute unter
analogen Verhältnissen zu Tage treten, an-
nehmen, dass auf den Märkten des Tausch-
handelsgeradedie Güter des allgemeinsten
Bedürfnisses und Gebrauches schlecht-
hin die marktgängigsten (gangbarsten) seien,
oder ohne weiteres annehmen, dass gerade
die obigen Güter Geld werden (vgl. z. B.
Kidteway, a. a. 0., S. 11 und 48). Auf
den Märkten eines Nomaden- oder eines primi-
tiven Ackerbauvolkes, in welchem jeder selb-
ständige Volksgenosse seinen Eigenbedarf an
tierischen bezw. an Bodenprodukten aller Regel
nach selbst erzeugt, sind diese Produkte
(zumal wenn noch keine Gelegenheit zur Ver-
wertung derselben auf dem Wege des Aussen-
handels besteht), obzwar Gegenstände des all-
gemeinsten Bedürfnisses und Gebrauches, doch
nichts weniger als besonders marktgängige
Güter. Nicht schlechthin die Güter des relativ
allgemeinsten Bedürfnisses und Gebrauches,
sondern diejenigen, nach denen die umfang-
reichst« und konstanteste Nachfrage begüterter
(tauschkräftiger) Marktgenossen besteht, sind
Güter dieser Art. (Vgl. meine Grunds, d. V.
W.L. 1871, S. 51 ff., 213 ff.)
Stellungen) z. B. Vieh, oder Vieh ho
stimmler Art, Sklaven, auszeichnendo
Schmuck (Ringe, Spangen, Miischehi \\m
Muschelschmuck, Glasperlen),Eclelmetalk
zu denen vielfach auch Kupfer um
Kupferlegierungen, Zinn u. s. f. gerecli
net werden, Waffen, übertragbare Jagd
und Siegestrophäen, Amulette u. 8.
Auch Güter, welche mit Vorliebe thesai
riert werden, sind hierher zu roc^hnei
2. Güter eines verbreiteten imd konstante
Bedarfes und Gebrauches, insofern sie i
einem Territorium nicht, oder nicht i
ausreichender Menge, erzeugt werde
und infolge dieses ümstandes Gegenstat
des Einfuhrhandels sind, nach dem
somit auf den Märkten des betreffend<
Territoriums eine umfangreiche und ko
staute Nachfrage bestellt ; z. B. in vioL
Ländern Salztafeln, Ziegelthee, Ed(
metalle, die gebräuchlichsten Nutzraeta
(Kupfer, Messing, Blei und insbesonde
Stangen imd Drähte aus diesen Metalle
Muscheln und Muschelschmuck, unl
Umständen Getreide, Reis, Kakaobohne
Baumwollzeuge u. s. f.
3. Gegenstände der Ausfuhr, welche i
den Märkten des naturalen Tauschhand
bei den die Ausfuhr vermittelnden Ka
leuten jeweilig gegen verschiedenart
von diesen bereit gehaltene Güter <
allgemeinen Bedarfes oder Wunsches a
getauscht werden können (z. B. Tierfe
Kabeljaus, Benzoekuchen u. s. f.).
4. Für den heimischen Konsum bestimi
Landesprodukte, insofern sie Geg
stände desallgemeinstenWunsches und
darfes sind, indes in den Hauswirtschai
zahlreicher tauschkräftiger Marktgenos
nicht, oder nicht in ausreichender Mei
erzeugt werden, nach denen (zumal n
besonders bevorzugten Erzeugnissen)
mit eine umfangreiche und konsti
Naclifrage besteht (z. B. in vielen Läni
noch heute Waffen, Schmuck, Baiimxs
zeuge, Tierfelle, Getreide, Reis, Ka!
bohnen).
Güter dieser und ähnlicher Art gewäl
in der Periode des Tauschhandels demjeni,
der sie zu dem Zwecke zu Markte bri
um sie gegen Güter seines speciellen
darfes auszutauschen, nicht nur den Toi
dass die Aussicht desselben, seinen Zv
zu erreichen, überhaupt eine ungl
grössere ist, als wenn er mit Güterc
Markte geht, welche den Vorzug der M<
gängigkeit nicht, oder doch in geringe
Masse, aufweisen ; er kann — da die I^
frage nach den von ihm zu Markte
brachten Gütern eine umfangreichere,
stantere und wirksamere als nach Gi
anderer Art ist — zugleich mit grösi
Wahrscheinliclikeit darauf rechnen, diese
Geld
65
jeweilig (in jedem voa ihm gewählten Zeit-
punkte!) zu ökonomischen (der allgemeinen
JJai'kÜage entsprechenden) Preisen gegen die
ihm speciell erforderlichen Güter abzu-
setzen*), da gerade bei Gütern der obigen
Art, der Natm- der Sache nach, von der
Wilikilr der einzelnen Kontrahenten in ge-
ringerem Masse beeinflusste Austauschver-
hältnisse (in der geldwirtschaftlichen Epoche
^laufende Geldpreise« !) sich bilden, als dies
bei Gütern anderer Art der Fall ist, und sol-
cherart Zufalls-, Willkür- und Notpreise mit
ungleich grosserer Wahrscheinlichkeit als
bei Gütern anderer Art ausgeschlossen sind.
5. Die Entstehung der TauschmitteL
Bei dieser Sachlage lag filr jeden ein-
zelnen, welcher Güter zu Markte brachte
(um sie gegen Güter seines speciellen Bedarfes
umzusetzen), der Gedanke nahe, dieselben,
wenn sein Zweck, wegen der geringen Gang-
barkeit seiner Güter, unmittelbar nicht
erreichl>ar war, auch gegen solche Güter aus-
zut.iuschen, deren er selbst zwar nicht be-
nötigte, die indes beträchtlich marktgängiger
als die seinen waren. Er erreichte hier-
durch das Endziel des von ihm beabsich-
tigten Tauschgeschäftes (die Erwerbung der
i h m speciell nötigen Güter) allerdings nicht
sofort und immittelbar. Er näherte sich
indes doch diesem Ziele. Er gewann auf
dem Umwege eines vermittelnden
Tausches (diu-ch Hingabe seiner minder
marktgängigen Waren gegen marktgängigere)
die Aussicht, seinen Endzweck sicherer und
ökonomischer, als bei Beschränkung auf den
direkten Eintausch, zu erreichen. Dieser
Fortschritt der ökonomischen Einsichten ist
nun als Ergebnis allgemeinen KultmHFort-
sehrittes allenthalben thatsächlich zu Tage
getreten. Das ökonomische Interesse der
einzelnen Wirtschaftssubjekte hat dieselben
mit der fortschreitenden Erkenntnis dieses
ihres Interesses — ohne Uebereinkunft, ohne
legislativen Zwang, ja ohne jede Rücksicht-
nahme auf das gemeine Interesse — dazu
geführt, in Verfolgung ihrer individuellen
'wirtschaftlichen Zwecke solche vermittelnde
Tauschgeschäfte vorzunehmen. 2)
^) Das hohe Mass der Absatzfähigkeit einer
Ware änesert sich nicht schon darin, dass sie
überhaupt — also etwa zu Notpreisen, oder
erst nach langem Zuwarten — sondern dass sie
der Regel nach jeweilig zu den der allge-
meinen Marktlage entsprechenden, also den
normalen, Preisen, in der geldwirtschaftlichen
Epoche gegen Geld, veränssert werden kann.
') yg\. meine Grunds, d. Volkswirtschafts-
lehre 1871 S. 2öOfF. — W. Röscher: „Die
klugem Wirte geraten allmählich von selbst
darauf, sich in der jeweilig umlauffähigsten
Ware bezahlen zu lassen" (System. I. § 116 ; seit
d. 10. Aufl. 1873); Knies, Geld u. Kredit, I.
Abteilung: Das Geld, 1873, S. 67 ff. —Die
Mit der örtlichen Ausbreitung des Güter-
verkehi^s und mit der auf immer weitere
Zeiträume sich ausdehnenden Vorsorge für
die Deckung des Güterbedarfs musste das
eigene ökonomische Interesse jeden einzelnen
dazu führen, auch darauf zu achten, für seine
minder gangbaren Güter insbesondere solche
vermittelnde Waren einzutauschen, welche
(neben dem Vorzüge einer hohen lokalen Markte
^ängigkeit) zugleich weite örthche und zeit-
Eche Grenzen der Absatzfäliigkeit aufwiesen,
oder Waren, deren Kostbai-keit, leichte Trans-
portabilität und Konservierungsfähigkeit dem
Besitzer nicht nur eine lokale und augen-
blickliche, sondern zugleich eine räumlich
und zeitlich mögüchst uneingeschränkte
Macht über alle übrigen Mai'ktgüter sicherten.
Mit der waclisenden Erkenntnis des
obigen ^wirtschaftlichen Interesses, insbe-
sondere durch überlieferte Einsicht und die
Gewohnheit ökonomischen Handelns, sind
denn auch auf allen Märkten die nach Mass-
gabe der Örtlichen und zeitlichen Verhält-
nisse marktgängigsten Waren zu solchen
geworden, welche jedermann im Austausche
gegen seine eigenen minder marktgängigen
Tauschgüter anzimehmen, nicht nur das
ökonomische Interesse hatte, sondern that^
sächlich bereitwillig annahm, die markt-
gängigsten aber deshalb, weil nur diese im
Verhältnisse zu allen übrigen Waren die
absatzfähigeren sind und somit nur sie zu
allgemein gebräuchlichen Tauschmitteln
werden konnten.
Die Geschichte der Tauschmittel aller
Zeiten und Völker und die noch in der
Gegenwart in Ländern primitiver Kultur zu
beobachtenden Verkehrserscheinungen be-
stätigen das obige durch die ökonomische
Natur der Menschen und die Sachlage, in
die sie gestellt sind, begründete Entwicke-
lungsgesetz. Wir sehen allenthalben die
nach Massgabe Örtlicher und zeitlicher Ver-
hältnisse marktgängigsten Güter, neben ihrer
Verwendung flu* Nutzzwecke, zugleich die
Funktion von allgemein gebräuchlichen
Tauschmitteln übernehmen.
richtige Doktrin bei E u g. v. Philippovich
Grundriss der Pol.Oek., 3. Aufl. 1899. ö. 218 ff.
— Die neuesten auf ethnographischer Grundlage
unternommenen Versuche einer Lösung des
obigen Problems gelangen ebenfalls zu dem
Ergebnisse, dass das Geld ursprünglich weder
durch ausdrückliche Uebereinkunft der Menschen
noch durch Gesetz entstanden sei: ... „it is
aijparent, that tbe doctrine of a primal Convention
with regard to the use of any one particular
article as a medium of exchange is just as
false as the old belief in an original Convention
at the first beginning of Langnage or Law."
(W. Ridgeway, The Origm of metallic
Currency etc., 1892, p. 47.) — Aehnlich H.
Schurtz. Grundriss einer Entstehung des
Geldes, 1898, S. 176.
HandwÖrterbnch der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. IV.
66
Geld
Von welch hoher Bedeutung gei-ade die
Gewohnheit für die Entstehung solcher
allgemein gebräuchlichen Tauschmittel ist,
liegt auf der Hand. Der Austausch von
minder absatzfähigen Waren gegen solche
von höherer Absatzfähigkeit ist im ökono-
mischen Interesse jedes einzelnen wirtschaf-
tenden Individuums gelegen; die bereitwil-
lige Annahme des Tauschmittels setzt indes
die Erkenntnis dieses Interesses seitens jener
wirtschaftenden Subjekte bereits voraus,
welche ein ihnen an und für sich vielleicht
gänzlich unnützes Gut im Austausche gegen
ihre Waren annehmen sollen. Diese Er-
kenntnis entsteht sicherlich niemals bei
^en Gliedern eines Volkes gleichzeitig; es
wird vielmehr, wie bei allen Kulturfort-
schritten, zunächst nur eine Anzahl von
wirtschaftenden Subjekten den aus dem
obigen Vorgange für ihre Wirtschaft sich
ergebenden Vorteil erkennen — ein Vorteil,
der an und für sich unabhängig ist von der
allgemeinen Anerkennung eiuer Ware als
Tauschmittel, weil immer und unter allen
Umständen ein solcher Austausch das ein-
zelne wirtschaftende Individuum seinem
Endziele, der Erwerbung der ihm nötigen
Gebrauchsgüter, um eiu beträchthches näher
bringt. Da es nun aber bekanntlich kein
besseres Mittel giebt, jemanden über seine
ökonomischen Interessen aufzuklären, als
die Wahrnehmung der ökonomischen Er-
folge derjenigen, welche die richtigen Mittel
zur Erreichung derselben zu gebrauchen
die Einsicht und die Thatkraft haben, so
ist auch klar, dass nichts so sehr die Ent-
stehung der Tauschmittel begünstigt haben
mag, als die seitens der einsichtsvollsten
und tüchtigsten wirtschaftenden Subjekte
zum eigenen ökonomischen Nutzen durch
längere Zeit geübte Annahme eminent markt-
gängiger Waren gegen alle anderen. Solcher-
art haben üebung und Gewohnheit sicher-
lich nicht wenig dazu beigetragen, dass die
jeweilig marktgängigsten Waren zu allge-
mein gebräuchlichen Tauschmitteln, das ist
zu solchen Waren wurden, welche nicht niu*
von vielen, sondern schliesslich von allen
wirtschaftenden Individuen im Austausche
gegen ihre zu Markte gebrachten (minder
absiitzfähigen !) Güter, und zwar von vorn-
herein in der Absicht angenommen wurden,
dieselben weiter zu vertausclien.
Zu allgemein gebräuchlichen Tausch-
mitteln gewordene Waren werden im wissen-
schaftlichen Sprachgebrauche (nicht schlecht-
hin im gemeinen Lel)en!) als Geld (Vieh-
geld, Musc'helgeld, Salzgeld u. s. w.), rich-
tiger wohl als Warengeld bezeichnet.^)
\) Die Untersuchung Über die für die Be-
griffsentwickelang des Geldes wichtige Frage
nach dem Ursprünge und dem wechselnden Ge-
Wenn eine grosse Anzahl von Schriftstellern
(zumal von Geschichtschreibem und Ethno-
brauche des Wortes „Geld" ist bisher eine sehr
zurückgebliebene. Die Bezeichnung des Geldes
ist bei den meisten Völkern erst der Mtinzform
des Geldes entlehnt worden ; so das (dem nach-
klassischen und poetischen Wortschatz angfe-
hörige) lateinische und das italienische
moneta, das französische monnaie, das eng-
lische nioney, das spanische mon^da^ das
portugiesische moeda, das arabische
fulus (Münzen) u. s. f. — In vielen Sprachen
hat sofi^ar die (zumeist pluralische) Bezeichnung*
der gebräuchlichsten Münzsorten (Denare, Pfen-
nige u. s. f.) die Bedeutung von „Geld" ge-
wonnen; z. B. das italienische danaro. das
spanische dinero(s), das portugiesische
dmheiro, das russische dengi (= halbe Ko-
peken), das polnische pienondze, das böh-
mische una slovenische penize, das dä-
nische penge, das schwedische und nor-
wegische penningar, das magyarische
penz, das neugriechische aanga (Asper:
kleine türkische Münze). (Beim Worte Pfennig
ist nicht sicher, ob die Bedeutung^ „Münze"
nicht die ältere ist.) — Manche Völker haben
freilich die Bezeichnung des „Geldes" schon
dem Namen des Geldstoffes, bezw. demjenigen
der zum Tauschmittel gewordenen Ware ent-
lehnt : Das hebräische Keseph (Silber), die alt-
griechischen uQYvgtov (Deminutiv von «pyt/pog
= kleines Silber) und xQveiov (Deminutiv von
Xifvnoq) ; die lateinischen argentum. aurum,
aes ; das französische argent, selbst das lat.
pecunia u. s. f. gehören hierher. — Das deutsche
und holländische Wort „geld" (Verbalsub-
stantiv von „gelten" = zahlen, eine Gegengabe,
oder einen Ersatz leisten) bedeutet ursprüng-
lich : Leistung, Vergeltung jeder Art. (Gotisch :
gild = Steuer, Zins, Abgabe; altenglisch: gild
= Ersatz, Opfer ; altnordisch : gjald — Zalilung,
Abgabe n. s. f.) Im heutigen Sinne erst im
Mittelhochdeutschen und entsprechend in ein-
zelnen anderen germanischen Mundarten. (Nach
Arnolds: Zur Geschichte des Eigentums in
den deutschen Städten, S. 89. — schon in einer
Urkunde von 1327.) Dieser Sprachgfebrauch hat
insbes. s. d. 16. Jahrhundert (mit dem fortschreiten-
den Durchbruche der Geld Wirtschaft) im Deut-
schen die Oberhand gewonnen und den älteren all-
mählich nahezu vollständig verdrängt. Die ur-
sprüngliche naturalwirtschaftliche Bedeutung
des Wortes (= Leistung, Entgelt überhaupt)
ist (ähnlich wie dies bei den Worten „Brücken-
geld", „Dienstgeld", „Strafgeld" u. s. f. der Fall
war) in die neuere geld wirtschaftliche („die in Geld
— im heutigen Sinne — bestehende Leistung",
bezw. das „Geld" schlechthin) übergegangen.
— Die Meinung Roschers, (System, L § 116,
N. 4), dass „Geld" von „gelten" stamme (weil es
tiberall gilt), ist eine irrige. (Vgl. schon meine
Grunds, d. V.L. 1871, S. 263 ff.) Interessant ist die
Bemerkung Tileman Friesens (Münzspiegel, lö92,
in „Acta publica monetaria". 1692. p. 3): „Daher
auch die Müntze wird Geld genannt, ab effectu,
dass man damit geldet und kauffet. An etlichen
Orten wird die Müntze auch Hellerchen, species
pro genere, genannt, d essgleichen das Wort
Pfennige vor Geld gebrauchet."
I
Geld
67
fraphen) diejenigen Güter, welche schon vor der
n^tebung^ allgemein gebräuchlicher Tausch-
mittel zu Thesaurierungszwecken verwendet, oder
in denen Vermögensbussen u. s. f. festgestellt, ins-
besondere aber auch Güter, in denen „Schätzungen''
vorgenommen wurden, als „Geld" bezeichnet,
90 beruht dies auf einer unklaren Auffassung
aber das Wesen des Geldes. Sicherlich sind
schon vor der Entstehung von Tauschmitteln,
ja vor der Entwickelung des naturalen Tausch-
verkehrs, besonders nützliche, seltene und zu-
gleich dauerhafte Güter in den einzelnen Wirt-
schaften angesammelt (in diesem Sinne thesau-
riert), sicherlich auch einseitige Vermögens-
leistnngen (Zehnten, Grundabgaben, Vermögens-
bussen, Tribute u. s. f.) in bestimmten (den
ortlich gebräuchlichsten und dem Empfänger
er wüns'ih testen!) Gütern festgesetzt und ge-
leistet worden; ebenso hat sich ohne Zweifel
bereits vor der Entstehung von Tauschmitteln
das Bedürfnis der Wirtschaftssnbiekte nach
einer Bestimmung der Grösse des Vermögens-
besitzes, der periodisch wiederkehrenden natu-
ralen Zuflüsse u. 8. f. geltend gemacht, ein Be-
dürfnis, dem durch Feststellung der für die Be-
urteilung der Vermögensverhältnisse der be-
treffenden Personen besonders kennzeichnenden
Güter (durch die ziffermässige Feststellung der
in ihrem Besitze befindlichen Viehstücke, Land-
güter, Sklaven u. s. f.), wohl auch durch eine
Schätzung der Güter in den gebräuchlichsten
Gütern des naturalen Tauschverkehrs, ent-
sprochen wurde. Die Bezeichnung der obigen
Güter als Geld im heutigen Verstände des Wortes
(als Geld in einer Epoche, in der es noch keinen
nennenswerten Austausch von Gütern, geschweige
denn Tauschmittel gab) ist indes unrichtig.
Die Institution der Tauschmittel, im
eminentesten Sinne des Wortes dem Ge-
meinwohle dienend, kann, wie ich später
ausführen werde, gleich anderen sozialen
Institutionen, auch durch autoritative (durch
staatliche, religiöse u. s. f.) Einflüsse, ins-
besondere auch auf legislativem Wege eiit-
stehen oder in ihrer automatischen Ent-
'wickelung gefördert werden. Diese Ent-
stehungsweise der Tauschmittel ist indes
weder die einzige noch auch die lu^prüng-
lichste. Es liegt hier vielmehr ein ähnliches
Verhältnis vor, wie das des Gesetzesrechtes
zimi Gewohnheitsrechte: Die Tauschmittel
sind ursprünglich nicht durch Gesetz oder
Konvention, sondern durch »Gewohnheit«',
«las ist durch ein gleichartiges, weil gleich-
artigen subjektiven Antrieben und Intelligenz-
fortschritten entsprechendes Handeln gesell-
whaftlich zusanunenlebender Individuen (als
das unreflektierte Ergebnis specifisch-indivi-
dueller Besti-ebungen der Gesellschaftsglieder)
entstanden und sclüiesslich d\u:ch fortschrei-
tende Nachahmung allgemein gebräuchlich
geworden.!)
') Ridgeway sucht, wie dies dem wesent-
lich metrologischen Inhalte seines verdienstvollen
Werkes entspricht, den Ursprung der Münz-
und Gewichtssysteme zu erklären, wobei
6. Die Stellung der Tauschmittel im
Verkehre (ihre Eig:enart im Kreise der
übrigen Güter). Die jeweilig absatzfähigsten
Grüter (mit den Fortschritten der wii-tschaft-
lichen Kultiu*: die durch ihre weiten quan-
titativen, personalen, örthchen und zeitlichen
Grenzen der Absatzfähigkeit sich besonders
auszeichnenden Edelmetalle) sind zu allgemein
gebräuchlichen Tausehmitteln geworden —
zu Gütern, gegen welche jedermann, der
Güter anderer Art zu Markte brachte, diese
letzteren zunächst umzusetzen, und die
jeder, der andere auf dem Maiite befind-
liche Güter erwerben wollte, sich zunächst
zu verschaffen, ein ökonomisches Interesse
hatte. Die edlen Metalle sind infolge der
fortschreitenden Erkenntnis dieses für jeden
einzelnen vorhandenen ökonomischen Inte-
resses — infolge allgemeinen Kidturfort-
schrittes, zu dem sich Gewohnheit und
Nachahmung, sowie staatliche Förderungs-
mittel dieser Entwickelung gesellten —
zum Gelde aller Völker von fortgeschrittener
wirtschaftlicher Kultur geworden.
Diese Thatsache hatte allerorten die not-
wendige Wirkung, dass die schon ursprimg-
lich relativ hohe Marktgängigkeit der Eclel-
metaJle an und für sich und im Verhältnisse
zu derjenigen aller übrigen Marktgüter noch
wesentlich gesteigert wurde. Wer mit einer
Ware zu Markte geht, welche zum allgemein
gebräuchlichen Tauschmittel geworden ist,
hat nunmehr, nicht nur, wie schon früher,
eine relativ grosse Wahrscheinüchkeit, son-
dern fortan die Gewissheit, seinem Besitze
an dieser Ware entsprechende Quantitäten
aller übrigen auf dem Markte befindlichen
Güter nach seinem Belieben und seiner
Wahl zu relativ ökonomischen Preisen je-
weilig erwerben zu können. »Pecuniam
habens habet omnem rem, quam vult habere« i).
Wer dagegen andere Waren zu Markte
bringt, befindet sich nunmehr aller Regel
nach in einer noch ungünstigeren I^age als
für ihn nahezu ausschliesslich die Funktion des
Geldes als Wertmassstab (welche er offenbar
für die primäre hält) in Betracht kommt. Das
Problem des Ursprungs des Geldes als Tausch-
mittel behandelt er nur gelegentlich und in
einigen ganz allgemeinen Sätzen (a. a. 0., S. 11
u. 48). Vgl. hierzu die seltsamen Ausführungen
von Lotz i. d. Jahrbüchern f. Nat.-Oek. u. Stat,
1894, III. Folge, 7. Bd., S. 337 ff.
^) Schon Aristoteles sagt (Nik. Ethik, V.,
8) : „Für Geld muss man, was man braucht, erhal-
ten können. ** Der ältere deutsche Sprich wörter-
schatz ist unerschöpflich in Ausdrücken über
die Vorzüge des Geldes vor anderen Waren :
Bargelt ist gute Waare; rede penge es beste
wäre; baares gelt ist lachender Kaut; haar gelt
dingt (kauft) wolfeü; haar geld macht ange-
nehmen markt; haar gelt ist die (beste) losung;
haar gelt dingt genaw. (K. F. Wand er
Deutsches Sprichwörter-Lexikon I, Sp. 1472.)
/
68
Geld
vorher, falls er dieselben unmittelbar
gegen die Güter seines speeiellen Bedarfes
austauschen will. Er stösst auf den Märk-
ten bereits auf die Gewohnheit, sich des
Tauschmittels zu bedienen, wodurch ein un-
mittelbarer Austausch von Gütern fortan mehr
und mehr erschwert, schliesslich aller Regel
nach nahezu unmöglich wird, zumal auch
manche der Epoche des naturalen Austau-
sches eigentümliche Vorkelirungen zur Er-
leichterung des naturalen Güteraustausches ^)
mit dem Entstehen eines allgemein gebräuch-
lichen Tauschmittels mehr und mehr ver-
schwinden. Der Umstand, dass eine Ware
zum allgemein gebräuchlichen Tauschmittel
wird, steigert somit in hohem Masse die
schon ursprünglich grosse Marktgängigkeit
derselben, während derselbe Umstand, —
die Entstehung und Verallgemeinerung des
Gebrauches von Tauschmitteln — mehr und
melu' die der Epoche des naturalen Aus-
tausches eigentümliche Marktgängigkeit der
übrigen Güter — die Möglichkeit ihres
unmittelbaren Umsatzes — mindert,
um dieselbe in der Folge, (bei fortsclireiten-
der Entwdckelung der Geldwirtschaft!) im
wesentlichen nahezu vollständig aufzuheben.^)
Der Umstand, dass die relativ markt-
gängigsten Waren auf den Märkten des
Tauschlfiindels zu allgemein gebräuchlichen
Tauschmitteln werden , bewirkt demnacli
eine gesteigerte Differenzierung
zwischen der Marktgängigkeit der-
selben und derjenigen aller übri-
gen Waren, ein Unterschied, welcher
nicht mehr lediglich als ein gradueller, son-
dern in gewissem SiRne bereits als ein
essentieller bezeichnet zu werden vermag.
Wer in einem Volke, in welchem bestimmte
Güter zu Tauschmitteln geworden sind und
sich im allgemeinen Gebrauche befestigt
haben, zu Markte geht, um seine Güter
gegen andere umzusetzen , hat nunmehr,
will er diesen Zweck erreichen, nicht nur
das ökonomische Interesse, er ist fortan
aller Regel nach genötigt, sie zunächst gegen
Geld zu veräussern, und wer auf dem
Mai'kte Güter erwerben will, befindet- sich
in der Zwangslage, sich vorher »Geld« zu
verschaffen. Hier (in seiner eigenartigen
Tauschmittelfunktion!) lie^ die ex-
ceptionelle Stellung des Geldes wo. Kreise
der Güter, die Eigenart, welche dasselbe
von allen übrigen Objekten des Verkehrs
imterscheidet, — eine Eigenart, welche wii*
uns am klarsten zum Bewusstsein zu bringen
vermögen, indem wir uns vergegenwärtigen,
dass auf unseren Märkten der Regel nach
*) Vgl. Bücher, a. a. 0. S. 97 ff.
*) Die zurücktretende Bedeutung des
Tausches hervorgehoben bei Dernburg, Pan-
dekten, §§ 94 u. 103.
alle Verkehrsobjekte gegen Geld veränssert
oder gegen Geld erstanden werden, nur das
(Wälirungs-) Geld weder ein Objekt des
Kaufes noch des Vorkaufes ist.^)
Was in der Theorie als imterscheidende
Merkmale des Geldes und der übrigen Ol)-
jekte des Verkehrs angefühi-t zu werdcM:
pflegt, ist zumeist mir eine Hervorhebunii
einzelner, mehr oder minder unwesentliche]
Seiten oder Begleiterscheinungen diesei
Tauschmittelfunktion.
Es ist richtig, dass in der geldwirtschaft
liehen Epoche jeder seine Waren gegen Gel(
zu veräussern sucht und zwar, der Rege
nach, nicht mn das letztere zu behaltei
sondern um dagegen Güter seines Bedarfe
zu erwerben ; es ist ebenso richtig, dass \vi
das Geld, der Regel nach, nicht wegen de
nützlichen Eigenschaften des Geiclstoffei
sondern, zum mindesten zunächst und ui
mittelbar, um seines Verkehrs wertes wille
gegen die von uns zu Markte gebrachte
Güter zu erwerben suchen ; es ist, wie raa
hinzufügen könnte, nicht minder richti
dass deijenige, welcher Geld gegen Gut«
seines Bedarfs hingiebt, dies zumeist in di
sicheren Voraussicht thut, demnächst geg(
Güter seines Uebei^flusses Geld wieder z
rückzuerwerben. All dies sind indes do<
nur besondere Seiten der Tauschmitteliun
tion des Geldes, oder Begleiterscheinung
derselben, die uns indes über das Wes
des Geldes und die Ursachen seiner eigo
artigen Stellung im Kreise der Güter i
Unklaren lassen. Ja sie treffen nicht oi
mal das wesentliche Merkmal, welcli
das Geld von den übrigen Waren unt<
scheidet, denn auch der Kaufmann, insl
sondere aber der Spekiüant. erworben (
Waren nicht, um sie zu behalten, auch ni(
in unmittelbarem Hinblick auf deren nü
liehe Eigenschaften, sondern um sie wio<
zu veräussern und um ihres Verkehrswor
^isdllen, und auch sie veräussern ilire Wai
in sehr zahlreichen Fällen, der Kaufniü
sogar regelmässig, in der sicheren A^ora
sieht, Waren gleicher Art demnächst wie'
zu erwerben.
Selbst der von einigen hervoiTa^enc
neueren Geldtheoretikern als unterscheid
des Merkmal des Geldes und der übri|
Verkehrsobjekte bezeichnete Umstand : »tl
eine Ware, um ihre Bestimmung zu
füllen, d. h. um gebraucht oder um ^
braucht zu werden«, vom Markte v
schwinden müsse, das »Geld« aber s(
Dienste leiste, indem es ausgegeben w^c
und auf dem Markte bleibe-), triät n
/) Den Versuch einer Theorie der Abs
fähigkeit der Güter habe ich in Edsrewo
j,Economic Journal", Vol. II., 1892, p. 243 flf.
öifentlicht.
*) S. Na8se(-Lexi8) in Schönberg-s H
Geld
69
das wesentliche unterscheidende Merkmal
des Geldes, sondern nur eine Begleiterschei-
nung, und zwar eine unwesentliche Begleit-
erscheinung, seiner Tauschmittelfunktion.
Es giebt ausser dem Gelde Objekte des
Verkehrs, z. B. gewisse Spekulationspapiere,
die, gleichsam als eiserner Bestand der
Spekulation, dauernd auf dem Markte blei-
ben ^), während umgekehrt auch edle Metalle,
welche als Geld funktionieren, gleichwohl
in den Konsum gelangen können und ge-
langen, somit vom Markte thatsächlich ver-
schwinden. Dies ^ilt schon für unseren
entwickelten geldwirtschjiftlichen Verkehr.
Nun vergegenwärtige man sich aber die
Marktverhältnisse derjenigen Völker, bei
denen noch minder entwickelte Formen von
Tauschmitteln bestehen, bei welchen die
dem Tauschmittelzwecke gewidmeten Teil-
quantitäten einer Ware von denjenigen, die
dem Konsimie zu dienen bestimmt sind,
(selbst äusserhch!) noch nicht streng ge-
schieden sind und die für den Tauschzweck
bestimmt en Güter (Rinder, Sklaven, Schmuck-
gegenstände u. s. f.) inzwischen thatsächlich
genutzt, oder Güter (Theeziegel, Salz, Kakao-
bohnen u. s. f. !), die in der Hand des einen
Marktgenossen gestern noch Tauschmittel
waren, in der Hand eines anderen, ja des
nämlichen ^lai'ktgenossen, heute Konsumgüter
sind! Die obige Auffassung ist zugleich
eine unhistorische 2).
buch d. Pol. Oek. I., 1896, S. 328; vgl. auch
Schaf fle. Für internationale Doppelwährung
1881. S. 22 ff. und R. Hildebrand, Theorie
des Geldes S. 6 ff.
') Im Effekten-Clearing, wie er neuerdings
an einzelnen Börsen eingeführt wurde, kann es
vorkommen, daäs bestimmte Quantitäten von
Effekten, obzwar sie unablässig den Eigentümer
wechseln, doch Dec«nnien lang in den Depots
der Clearing- Anstalten verbleiben, ohne vom
Anlage suchenden Publikum aufgenommen zu
werden.
*) Es liegt bereits im Begriffe eines Tausch-
mittels, ist demnach selbstverständlich, dass es
der Regel nach auf dem Markte verbleibt, die
Tauschobjekte (im Gegensatze zum Tauschmittel)
^ag^ß^ der Regel nach sich nur vorübergehend
auf dem Markte befinden. Es ist indes durch-
aufi willkürlich, hieraus zu folgern, dass das
Geld keine Ware sei. "Viel näher läge der
Gedanke (unter dem Gesichtspunkte ökonomi-
scher Betrachtung), hieraus den Schluss zu
ziehen, dass das Geld dauernd, die übrigen
Güter nur vorübergehend den Charakter
Ton Waren haben und dass das Geld schon
als eine den Güteraustausch vermittelnde Ware
(schon auf dem Markte!) eine wichtifi^e volks-
wirtschaftliche Funktion versieht, während die
übrigen Waren den ihrer Natur entsprechenden
Nutzen rege^ässig erst dann gewähren, wenn
sie in den Gebrauch übergehen, also aufhören,
«Ware" zu sein.
Was das Geld von allen übrigen Ob-
jekten des Güterverkehrs unterscheidet, sind
dessen Tauschmittelfunktion und die Kon-
sekutivfunktionen desselben; was uns diese
Eigenart verständlich macht, sind die der
Entwickelung des Güteraustausches vor Ent-
stehung des Geldes entgegenstehenden Hin-
dernisse (s. 0. S. 62; 63) und die Beseitigimg
derselben durch die ursprünglich relativ hohe,
schliesslich nahezu absolute Absatzfähigkeit
der Tauschmittel in Rücksicht auf die Markt-
güter.
Hier in diesem praktisch überaus be-
deutsamen Umstände liegt nicht nur das
Wesen, sondern zugleich die Erklänmg des
Unterschiedes zwischen dem Gelde und
allen übrigen Objekten des Güterverkehrs,
der Eigenart des Geldes im Kreise der
übrigen Güter. *
7. Die Unterscheidung zwischen
„Geld" und „Ware" in der Jurisprudenz.
Diese das Geld von allen übrigen Verkehrs-
objekten unterscheidende Eigenart (insbe-
sondere die an sich ausserordentlich grosse,
dm-ch die Ausmünzung der Geldmetalle, in
der Folge äxmih Rechtsfiktionen, welche der
Erleichterung des Verkehrs dienen^), noch
wesentlich gesteigerte Vertretbarkeit
des Geldes, sowie seine Bestimmung als
Tauschmittel und mit möglichst geringer
Behinderung des Verkehrs aus einer Hand
in die andere überzugehen — zu cirku-
lieren) hat sich auch im bürgerlichen Ver-
kehre und demgemäss auch im bürgerlichen
Rechte in augenfälliger Weise geltend gemacht.
Die Erwerbung und die Uebertragung des
Besitzes, des Eigentums luid der zeitlichen
Nutzung von Geldsummen, die Begründung
und Aufhebung von Geldfordenmgen u. s. f.
sind vielfach andere als diejenigen, deren
Objekte Güter anderer Art sind: beispiels-
weise die rechtliche Regelung des Kaufs
(der emptio-venditio) eine andere als die
des Tausches (der permutatio), die des Dar-
lehens (des mutuum) eine andere als die
der Leihe (des commodatum) u. s. f. Es
ist keine legislative Willkürlidikeit, sondern
eine Folge der Eigenart des Geldes im
Kreise der übrigen Verkehrsobjekte, dass
die Jurisprudenz zwischen dem Preise
(pretium) und . dem Kaufobjekte (merx),
zwischen Kauf und Tausch, zwischen Dar-
lehen und Sachmiete u. s. f., also zwischen
Geld und »Ware« (im engem, das Geld
^) Durch die Bestimmungen über die Re-
medien in Bezug auf Feinheit und Gewicht
werden die Wirkungen der technischen Mängel
der Ausmünzung, durch die Bestimmungen über
das Passiergewicht, die Wirkungen der Ab-
nützung der Münzen, in Rücksicht aaf den
Zahlungszweck (innerhalb bestimmter Grenzen)
rechtlich beseitigt.
70
Geld
ausschliessenden Sinne) unterscheidet*) nnd
zum Teile verschiedene Rechtsfolgen an
Rechtshandlungen knüpft, je naclidem sie
einen Geldbetrag oder Veikehrsobjekte an-
derer Art zum Gegenstande haben.^)
8. Der Streit der Wirtschaftstheore-
tiker über die Frage, ob das Geld eine
„Ware" sei. Die Eigenart des Geldes, die
augenfällige Besonderheit seiner Stellung im
Kreise aller übrigen Objekte des Verkehrs,
hat seit jeher auch die Aufmerksamkeit der
Geldtheoretiker in besonderem Masse auf
sich gezogen. Der Umstand, dass das Geld
nicht wegen des Nutzens, den es uns durch
seine Eigenschaften bietet, sondern aller
Regel nach (zum mindesten zunächst und
unmittelbar !) nur wegen seines Tauschwertes
im Verkehre gesucht und angenommen
wird, — die Schwierigkeit einer beiriediggen-
den Erklärung dieser Tliatsaciie — , hat die
Geldtheoretiker vielfach dazu verleitet, in
dem Gelde eine Anomalie der Volks-
wirtschaft zu erkennen. Die gerade beim
Gelde zu beobachtende Möglichkeit einer
willkiirlichen Regelung seines Verkehrs-
werteö durch den Staat, auch die vielfach
missverstandene Erscheinung der ihrem
Stoffe nach wertlosen Geldsiurogate, haben
den obigen Irrtum noch wesentlich geför-
*) üt aliud est vendere aliud emere, alius
emptor alius venditor: sie aliud est pretium,
aliud est merx, quod in permutatione discerni
non potest, uter emptor, uter venditor sit (L. 1
Dig, XVIII, 1). Vgl. Windscheid, Pan-
dektenrecht II, § 385. Aehnlich die neueren
Juristen: „Das Metallgeld, als das allgemeine
Tauschgut und Zahlungsmittel, bildet den
Gegensatz zu dem speciellen Tausch- und
Leistungsobjekt. Auf der Erkenntnis dieses
Gegensatzes beruht die Unterscheidung des
Kaufes vom Tausch, des Geldpreises
(pretium) und der Ware (merx) (Gold-
schmidt, Handelsrecht I, § 103; H. Dern-
burg, Pandekten, § 103). — Nur dort, wo Geld
ausnahmsweise thatsächlich die Bestimmung er-
hält, gegen Geld veräussert zu werden, wo
konkrete Geldstücke (species) für den berufsmässig
betriebenen Verkauf bereit gehalten werden, ver-
mögen dieselben den Charakter von Waren im
Sopulären, nur dort, wo dieselben Objekte
es -Kaufvertrages werden, den Charakter von
Waren im juristischen Sinne zu gewinnen.
'^) Der Eigentumserwerb ' fremden Geldes
findet aller Regel nach durch Vermischimg mit
dem eigenen statt (H. Dernburg, Pandekten,
I, § 210; Windscheid, Pandekt. II, § 189);
die Vindikation von Geld ist vielfach ausge-
schlossen (Krainz, Syst. d. öst. Privatr.
1894, § 364, S. 19), die Grundsätze des pericu-
lum und des commodum finden beim Kaufe
vielfach auf den Geldpreis keine Anwendung;
die dem Schuldner vom Gläubiger (ökonomisch!)
nur zur zeitlich begrenzten Nutzung tiber-
gegebenen Geldsummen gehen (im (jcffensatze
zu den Objekten der Sachmiete) rechtlich in das
Eigentum des Schuldners über u. s. f.
dert und zahlreiche Bearbeiter der Gekl-
lehre veranlasst, das Geld geradezu als ein
blosses Zeichen des Wertes, als ein blosses
Pfand der erwarteten Gegenleistung, als
etwas an sich wertloses (eine blosse Ver-
kehrsmarke!) zu bezeichnen, deren fak-
tischer Tauschwert lediglich auf die üeber-
einkunft der Menschen, auf Konvenionz
oder auf staatliche Anordnung ziu^ckzu-
führen sei.
Die Opposition gegen diese weitver-
breitete, auch für cüe Müuzpolitik vielei
Staaten verderblich gewordene IiTlehre fand
in dem Satze den Ausdnick, dass da?
Geld eine Ware sei. Dieser Satz hatte
demnach ursprünglich einen wesentlid
anderen Sinn als denjenigen, welcher dem
selben in der nationalökonomischen Tlieori^
späterhin, vielfach noch gegenwärtig, beige
legt wird. Die saclikimdigen Gegner de
obigen Irrlehre wollten mit diesem Satz«
nicht etwa den flachen Gedanken aus
sprechen, dass das Geld »ein zum Austauscl
bestimmtes Gut« (eine Ware in diesen
Sinne!) sei. Ebenso fern lag es ihnen in
des auch, zu leugnen, dass das Geld, ir
Verhältnisse zu den übrigen Objekten de
Verkehrs, bedeutsame Besonderheiten aui
weise, wohl gar zu behaupten, dass da
Geld »eine Ware gleich allen anderen, nichl
mehr und nichts weniger als eine Wai
sei«. Es sollte durch den für die Geldlehi
so wichtig gewordenen Satz lediglich di
oben gekennzeichnete Irrlehre bekämp
werden. »Das Geld ist ein Verkehi-sobjek
welches seinen Verkehrswert zunächst \w
unmittelbar aus den nämlichen Üi^saclu
herleitet^ wie die übrigen Objekte des Ve
kehrs : das Metallgeld aus dem Werte sein»
Stoffes und seines Gepräges, das Urkunde
geld aber (wie man der älteren Doktr
hinzufügen könnte) gleich anderen im Vt
kelire befindlichen Urkunden, aus dem Woi
der Rechtsansprüche, welche an seinen K
sitz geknüpft sind.« »DasGeldistkeii
Anomalie der Volkswirtschaft«. U
Satz, »dass das Geld eine Wai^e sei^, hai
bei den Geldtheoretikern ursprünglich n
diese Bedeutung und ist in diesem Sin
auch heute noch wahr.
Dass das Geld im Ki-eise der übrig
Verkehrsobjekte besondere Eigentümli(
keitcn aufweist, widei-spricht dem olä^
Satze so wenig , als der Umstand , dj
bereits die römischen Juristen die Eigen,
des Geldes erkannt und den Gegen s
zwischen Kaufpreis und Kaiifobjo
durch die Worte >> pretium« und >niei
bezeichnet haben. Werden, wie dies
den Juristen gesclüeht, die Kauf guter
Gegensatze zum Gelde als »Waren ^
zeichnet (die Begriffe Geld und W
einander koordiniert), so bedarf es \v
Geld
71
kaum der Bemerkung, dass das Geld keine
--Ware« in diesem technischen Verstände
des Wortes ist Die Lösung des ökonomischen
. Problems, *ob das Geld eine Ware sei?«
wird indess hierdui'ch in keiner Weise pi-ä-
judiziert.^) ^)
*) Ueber die Litteratur dieser Frage vgl.
W. Röscher, System 1886, I § 316, Note 6;
meine Grunds, d. V.L. S. 255 flf.; insbes. R.
Znckerkandl, Zar Theorie des Preises S. 133 ff.
-) Welchen wesentlichen und prak-
tisch bedeutsamen Unterschied zwi-
schen dem Gelde und allen übrigen
Objekten des Marktverkehrs der obi^e
Umstand begründet, wird sofort klar, wenn wir
uns vergegenwärtigen, dass die Ueberwindung
der Schwierigkeiten, welche aus der geringen
Absatzfähigkeit einer Ware für die Veräusserung
derselben sich ergeben, nur zum geringen Teile
in der Hand desjenigen liegt, welcher minder
absatzfähige Waren zu Markte bringt, vielmehr
gTossenteils von Umständen abhängig ist, welche
derselbe nicht beherrscht. Je weniger absatz-
fähig die Waren sind, die jemand zu Markte
bringt, um sie gegen Geld abzusetzen, um so
sicherer wird derselbe sich entweder eine E i n -
busse am ökonomischen Preise gefallen
lassen oder aber den Zeitpunkt abwarten
müssen, wo es ihm möglich sein wird, den
Umsatz zu ökonomischen Preisen zu bewerk-
stelligen. Man denke an den Besitzer eines
Lagers von astronomischen Instrumenten, wel-
cher dasselbe, durch Not oder von Gläubigern
g^^iigt} &:^6n Geld umsetzen muss. Die
Preise, welche er bei diesem Notverkaufe — und
ein gleiches ^It auch von allen sonstigen Um-
sätzen, die m Rücksicht auf den Zeitpunkt
Zwangsverkäufe sind — erzielen wird, werden
höchst zufällige, bei einer so wenig absatz-
ühigen Ware wie die obige, von vornherein
^ersäezu unberechenbare sein. Anders der-
jenige, welcher die zum Gelde gewordene
Ware gegen andere auf dem Markte befindliche
Waren umsetzen will, sogar wenn er genötigt
ist, diesen Umsatz sofort zu bewerkstelligen.
Er wird diesen Zweck nicht nur mit Sicherheit,
sondern gemeiniglich auch zu den der allg^e-
meinen ökonomischen Sachlage entsprechenden
Preisen erreichen. Ja wir sind infolge der Ge-
wohnheit wirtschaftlichen Handelns so sieher,
uns für Geld alle auf dem Markte befindlichen
Güter zu den der ökonomischen Sachlage ent-
sprechenden Preisen jeweilig verschaffen zu
können, dass wir uns zumeist des Umstandes
gar nicht bewusst werden, wie viele Käufe wir
tätlich vornehmen, welche in Rücksicht auf die
Dringlichkeit unseres Bedarfs und den Zeit-
punkt des Abschlusses Zwangs kaufe sind,
während Zwangs verkaufe infolge der öko-
nomischen Nachteile, welche mit denselben ver-
bunden zu sein pflegen, sich der Aufmerksam-
keit der Beteili^n in unverkennbarer Weise
aufdrängen. Die Eigentümlichkeit der zum
Gelde gewordenen Ware besteht somit darin,
dass ihr Besitz uns jeweilig, d. i. in jedem uns
geeignet erscheinenden Zeitpunkte, die gesicherte
Herrschaft über die Marktlage entsprechende
Quantitäten aller auf dem Markte befindlichen
Waren und zwar gemeiniglich zu den der je-
IL Die Entstehung des Edelmetallgeldes.
Die nach Massgabe örtlicher und zeit-
licher Yerhältnisse absatzfähigsten Güter
haben (neben ihrer bisherigen Verwendung
für Nutzzwecke!) die Funktion von all-
gemein ^bräuchlichen Tausclimitteln er-
langt bei den nämlichen Völkern zu ver-
schiedenen Zeiten und bei verschiedenen
Völkern zur nämlichen Zeit, Güter sehr ver-
schiedener Art^). Dass gerade die edlen
Metalle in so lier\'orragender Weise, bei
einzelnen Völkern schon ehe diese in die Ge-
schichte treten, in historischer Zeit bei allen
Völkern von fortgeschrittener wirtscliaft-
licher Kultur, als Tauschmittel benutzt
wurden, findet in ihrer grossen und, zumal
bei entwickelter Volkswirtschaft, alle übrigen
Güter übertreffenden Marktgängigkeit seine
Erklänmg.
Die Edelmetalle (zu denen in den altem
Perioden wirtschaftlicher Ent^ickelung auch
das Kupfer zu rechnen ist) sind, um ihrer
Nützlichkeit und besonderen Schönheit willen,
bei Völkern niederer Kiiltiu* an sich Schmuck,
in der Folge das vorzüglichste Material für
plastische und architektonische Verzierung
und insbesondere für Schmuck und Gerät
aller Art. Sie sind solcherart überall Gegen-
stand eines in allen Bovölkeningskreisen
verbreiteten, früh schon lebhaft hervortreten-
den Begehrs, zumal auf Kulturstufen und
weiligen ökonomischen Sachlage angemessenen
Preisen verschafft, während der Besitz anderer
Waren uns — um den gleichen Erfolg zu er-
zielen — vorher erst noch zum Umsätze der-
selben £regen Geld nötigt und uns solcherart
eine in Ilücksicht auf den Zeitpunkt, auch auf
den Preis — ungleich minder sichere Herrschaft
über die Marktgüter gewährt.
*) Ueber das Geld bei Völkern primitiver
Kultur und die ältesten Formen des Geldes
vgl. insbesondere Mommsen, Gesch. d. röm.
Mtinzwesens, 1860 (Einleitung und S. 169 flf.);
V. Carnap, Zur Geschichte d. Münzwissen-
schaft u. d. Wertzeichen (Tüb. Ztschr. 1860,
S. 348 flf.); Kenner, Die Anfänge des Geld-
wesens im Altertume (Wiener Akad. Schritten,
Phil.-hist. Sect. 1863, S. 385 flf.); Soetbeer,
Forschungen z. deutschen Gesch. (I, 207 flf.);
W. Röscher, System (I, § 118ff.); Brandes,
Das Münz-, Mass- und Gewichtswesen in Vorder-
asien (S. 72 flf.); Fr. L enorm and, La monnaie
dans rantiquit6, 1878, passim.; A. Delmar,
History of monetary Systems, 1894. — Auf
wesentlich ethnographischer Grundlage: Rieh.
Andree, Ethnographische Parallelen, 1878 u.
1889; Fr. 1 1 w 0 f , Tauschhandel und Geldsurrogate
1882; Osk. Lenz, Ueber Geld bei Naturvölkern
(Virchow-Wattenbachsche Sammlung g. v. Vort.,
1893. Heft 226); W. Rideeway, The oriein of
metallic currency and wei^t Standards. 1892 (vor-
wiegend metrologischen Inhalts); H. Schurtz,
Grundriss einer Entstehungsgeschichte des Gel-
des, 1898. '
72
Geld
in Klimaten, in welchen die Bekleidung vor-
zugsweise dem Zwecke der Ausschmückung
dient. Obzwar (zimial das Gold!) in der
Natur stark verbreitet und (insbesondere Gold
und Kupfer) diu-ch verhältnismässig einfache
. Prozesse zu gewinnen, ist die verfügbare
Quantität der edlen Metalle, im Vergleich
zu dem Begehr nach denselben, doch eine
so geringe, dass die Zahl derjenigen, welche
einen nicht, oder nur unvollständig gedeckten
Bedarf an diesen Gütern haben und der
Umfang des ungedeckten Bedarfes stets ver-
hältnismässig gross, ungleich grösser als bei
anderen wientigeren, indes reichlicher ver-
fügbaren Gütern ist. Der (offene und latente)
Begehr nach denselben ist ebenso umfang-
reich als konstant. Der Kreis von Personen,
welche •Edelmetalle zu erw'erben wünschen,
ist wegen der Natur der durch die Edel-
metalle befriedigten Bedürfnisse zugleich
ein solcher, welcher ganz besonders die
tauschkräftigsten Glieder des Volkes um-
fasst; der umfangreiche und konstante Be-
gehr nach Edelmetallen ist regelmässig zu-
gleicli ein wirksamer. Die grosse Teilbar-
keit der Edelmetalle und der Umstand, dass
auch sehr geringe Quantitäten derselben
doch eine erfreuliche Verwendung in der
Wirtschaft des Einzelnen gestatten, erweitern
indes die Grenzen des wirksamen Begehrs
nach Edelmetallen auch auf die minder
tauschkräftigen Scliichten der Bevölkerung.
Dazu kommen die weiten räumlichen und
zeitlichen Grenzen der Absatzfäliigkeit der
Edelmetalle, eine Folge der räimilich nahe-
zu unbegrenzten Verbreitung des Bedarfes
an denselben und der im Verhältnisse zu
ihrem Werte geringen Transportkosten.
Es giebt in der Verkehrswirtscliaft,
welche die ersten Stufen ihrer Entwicke-
lung überschritten hat, keine Güter, bei
welchen ebenso weite personale, quantitative,
räumliche imd zeitliche Grenzen der Absatz-
fähigkeit zusammentreffen, wie bei den
EdelmetaUen. Lange bevor die Edelmetalle
bei allen wirtschaftlich fortgeschrittenen
Völkern die Funktion von Tauschmitteln
gewonnen hatten, waren dieselben Güter,
') Wenn Knies (Geld u. Kredit, 1. Abt.,
Geld, 188Ö, S. 261) die Eigenart des Edelmetall-
geldes im Kreise der übrigen Güter auf einen
„speciellen" Wert, auf einen „specifischen Edel-
metallwert" zurückführt und daraus folgert,
„dass die Träger eines anders gearteten Wertes
nicht als Geld fungieren sollen^' : so ist dies
eine Konsequenz jener Auffassung, welche im
Gelde in erster Linie nicht ein Tauschmittel,
sondern einen „Wertmassstab" erblickt und des-
halb auch die Eigenart des Metallgeldes im
Kreise der Güter — nicht aus der hohen Markt-
gängigkeit — sondern, aus der Eigenart des
„Wertes" der Edelmetalle zu erklären, ge-
neigt ist.
welche nahezu allerorten, zu jeder Zeit und
in jeder auf den Markt gelangenden, prak-
tisch in Betracht kommenden Menge einem
ungedeckten, imd zwar einem wirksamen
Begehre begegneten.
Hiermit waren aber die Voraussetzung»»n
für die Funktion der Edelmetalle als allge-
mein gebräuclüiche Tauschmittel, auf die ich
im vorigen Abschnitte hingewiesen habe, in
hervorragendem Masse gegeben, für die Funk-
tion der Edelmetalle als Waren, gegen welche
jedermann seine Tauschgüter lunzusetzt-ii
sucht, — regelmässig nicht aus dem Gnuule
um die ersteren für den Eigenbedai-f zu
verwenden, sondern im Hinblicke auf ihr«-
besondere Marktgängigkeit und in der Ab
sieht, dieselben in der Folge, je nach Go
legenheit und Bedarf, gegen andere ihm un
mittelbar erfoixierliche Güter auszutauschen
Es war kein Zufall, auch nicht die Folic^
staatlichen Zwanges oder freiwilliger IJeljer
einkunft, sondern die richtige Erkonntni
der individuellen Interessen, welche bewirkti;
dass, sobald eine ausreichende Menge voi
Edelmetallen angesammelt und in den Vei
kehr gelangt war, gerade diese letztere!
die älteren Tauschmittel allmälüich vei
drängten und zu allgemein gebnlucliliche
Tausehmitteln der wirtschaftlich foi-tu«
schrittcnen Völker geworden sind. Aue
der Fortschritt von den minder kostbare
zu den kostbareren Metallen führt auf am
löge Ursachen zurück.
Wesentlich gefördert wurde diese Eii
Wickelung dadurch, dass das Austauscl
Verhältnis zwischen den edlen Metallen \u
den übrigen Gütern infolge der eigenartigi
Produktions-, Konsumtions- und Marktvr-
hältnisse der Edelmetalle ^) ungleich gerini^o
Schwankimgen aufweist, als das Austausc
Verhältnis zwischen den meisten ander»
Waren — für jeden ein Grrundmehr, seinen d
peniblen Tauschgütervorrat zunächst (d. i. l
zur Verwendung desselben ziun Austausc
gegen ihm unmittelbar erforderliche Güt<
in den relativ »wertbeständigen« Edelmetall
anzulegen, oder in solche umzuwande
Endlich hat auch der praktisch bedoutsai
Umstand, dass die Edelmetalle infolge (
Eigenart ihrer Farbe, ihres Klause
zum Teil auch ihres specifischeu G
wicht es bei einiger S^iclikunde iinsehv
erkennbar sind, ebenso der Umstand, il;
sie infolge ihrer Widerstandsfähigkeit ii
Formbarkeit ein dauerhaftes Gepräge ;
nehmen imd hierdurch auch für die l
kundigen in Bezug auf Qualität und (
wicht leicht kontrollierbar gemacht werc
*) Mit der wachsenden Bevölkerung' i
dem steigenden Reichtum derselben vernic
sich auch der angesammelte Vorrat der E
metalle !
Cielil
73
können, ziir Steigerung ihrer Absatzfähig-
keit beigetragen und den Prozess, durch
den die Edelmetalle zu allgemein beliebten
Tauschmitteln fortgeschrittener Wirtschafts-
epochen geworden sind, nicht unwesentlich
gefördert.
III. Vervollkommniuig des Metallgeldes
durch Ausmünznng der Metalle.
Es sprechen manche Gründe dafür, dass
die Metalle schon vor dem Eindringen der
Wage in den allgemeinen Gebrauch, nicht nur
in der Form von Gebrauchsgegenständen,
( Waffen,Aexten, Schmuck u. s. f.), sondern auch
in unvei-arbeitetem Zustande, (als gegossene
Barren, Stangen, Drähte etc. von usuellen,
den Bedürfnissen des Konsums angepassten
Formen und Dimensionen) in den Verkehr
gelangten. Diese je nach der Art der Metalle
und ihrer Gewiimungsstätteu verschiedenen
Stttcktypen und deren gebräuchlich gewor-
denen Teile mögen zu einer Zeit, in der das
Wägen der Güter im Tauschverkehre unbe-
kannt oder noch nicht allgemein geworden
war, wie bei manchen Gütern vielfach ja
noch heute, in gewissem Sinne die Wage
ersetzt und die Metalle in dieser Form auf
den ältesten ^lärkten auch bereits als Tausch-
vermittler und »Bewertungsmassstäbe« funk-
tioniert haben 1).
Als die Wage (zunächst wohl bei den
kostbarsten und solchen Gütern, die beim
Gebrauche eine besondere Genauigkeit er-
foKlerten: bei Edelmetallen, Specereien,
Heilmitteln u. s. f.) im Güterverkehre all-
gemeiner in Aufnahme gekommen war, sind
die minder genauen Stücktypen und Dimen-
sionsmasse bei zahlreichen Gütern allmäh-
üch durch die Wage verdrängt imd insbe-
sondere auch die Geldmetalle nach Gewicht
zugeteilt worden. Noch in unserem Jahr-
hundert, selbst in der Gegenwart vermögen
^ir diesen Zustand des (lüterverkehrs, bei
welchem die Geldmetalle nicht zugezählt,
sondern zugewogen werden, auf zahlreichen
Märkten zu beobachten.
Bei dem Zuwägen der Geldmetalle er-
gaben sich indes einige den Güterverkehr
schwer beeinträchtigende üebelstände. Die
verlässliche Prüfung der Echtheit und der
Feinheit der Metalle vermag nur durch
Sachverständige zu erfolgen, welche für ihre
Mühewaltung entschädigt werden müssen;
0 Nach der Ansicht der Alten iet oßoXog
soviel wie oßtlog (demin. oßBlianog)^ was man
sich damit erklärte, dass das älteste (Eisen-
oder £rz-)Geld in der Form von kleinen Stäb-
chen oder Spitzsänlen nmlief, deren 6 eine
Drachme (eine Handvoll) ansmachten. (Vgl.
hierzn M o m m s e n , Gesch. d. röm. Münzwesens,
1860, S. 169 ; H u 1 1 s c h , Metrologie. 1862, S. 106,
126, 133 flf.)
die Teilung der zähen Metalle in die im
Verkehre jeweilig erforderlichen Stücke ist
ferner eine Verrichtung, die bei der Ge-
nauigkeit, mit der sie, zumal bei den
Edelmetallen, vorgenommen werden muss,
genaue Instnimente erfordert und einen
nicht unerheblichen Stoffverlust (durch Ver-
splitterung und wiederholte Einsclimelzung !)
im Gefolge hat. Beide ()perationen sind
überdies mit einem für den Verkehr überaus
lästigen Zeitaufwande und Unbequemlich-
keiten mancherlei Ai*t verbunden.
Die Beseitigung dieser Hemmnisse des
Verkehrs musste um so dringlicher erschei-
nen, je mehr diese durch ihre unablässige
Wiederkehr sich allen Marktgenossen em-
pfindlich machten. Sie erfolgte auf ein-
zelnen Märkten zunäclist wohl in automa-
tischer Weise, indem Metallstücke, deren
Gewicht mit der Wage festgestellt worden
war (insofern sie handlich waren und den
im Verkehre gebräuchlichsten Gewichts-
mengen entsprachen) in Umlauf kamen und
sich in der Cirkulation erlüelten. MetaU-
stücke dieser Art mussten unter Umständen
noch nachgewogen oder auf ihre Feinheit
geprüft werden; dagegen entfiel die Mühe
und der Stoffverlust beim Zersclilagen der
Barren^).
') Darauf deuten schon manche Stellen in
den Schriften der alten Hebräer „Ich habe
noch einen silbernen Viertelsekel bei mir, den
magst du dem Gottesmanne geben.'' (I. Samuel,
9, 8) ... . „sie schenkten ihm jeder eine
Kesita^' (ein Stück Edelmetall von bestimmtem
Gewicht) (Hiob 42, 11), eine Stelle, die
nicht leicht anders gedeutet werden kann, als
dass es sich hier um ein Metallstück von
bestimmtem Gewichte handelt (nicht um
ein solches, das erst noch von einem Barren
abzuschlagen und nach seinem Gewichte zu be-
stimmen war). Vgl. noch I. Moses 42, 25, 35,
33, 19, Jos. 24, 32 (Kautzsch, Die heilige
Schrift d. a. Test., 1896, Beil. S. 107). — S. auch
Hultsch, Metrol. 1862 S. 126, 126; Böckh,
Metrologische Untersuchungen S. 76; Momm-
sen, Gesch. d. röm. Münzwesens, Vorrede
S. IX. — Auch die taXavza Homers scheinen mir
an einzelnen Stehen die Deutung zuzulassen,
dass es sich um Stücke Goldes von bestimmtem
Gewichte handle, die nicht erst von einem
Barren abzuschlagen und dem (jewichte nach
zu bestimmen waren. Auch ist nicht notwendig
vorauszusetzen, dass ihr Gewicht in irgend
einem einfachen Verhältnisse zum Handels-
oder dem usuellen Goldgewichte gestanden
habe, da es sich hier um ein Aequivalent-
ge wicht handeln kann.
Der Gedanke, dass bei einzelnen Völkern
des Altertums (bei denjenigen nämlich, bei
welchen eine Viehwährung thatsächlich be-
standen hat und diese unmittelbar in eine
Metall Währung übergegangen ist) das etwa
usuell gewordene Metalläquivalent eines Vieh-
stückes unter besonderen Umständen (zuraal
wenn die beiden Währungen längere Zeit
74
Geld
Auch dürfte schon friilizeitig die Fein-
heit der Barren, bezw. der in den Umlauf
felaugten Stücke des Ban-enmetaUs, durch
leine auf dieselben geprägte Stempel kennt-
lich gemacht worden sein. — (Anfangs, wie
noch heute vielfach in Ostasien, wohl durch
Privatpersonen, zumal durch Kaufleute, für
eigene Zwecke und nur den Benifsgenossen
verständlich, um durch diese Merkzeichen
daran erinnert zu werden, dass die betref-
fenden Barren und Metallstücke bereits
durch ihre Hände gegangen, geprüft und
nach ihrem Gehalte für gut befunden wor-
den seien. In der Folge geschieht dies häufig
nebeneinander bestanden hatten) zur Rech-
nnngseinheit der nenen Währung geworden sei,
ipt meines Erachtens nicht schlechthin zurück-
eisen (vgl. hierzu schon meine Grundsätze d.
V.W.L., 1871. S.
\'
zuweisen
262 u. 265). Einzelne geschieht
lieh beglaubi£^te Thatsachen stützen die obi^e
Annahme. Wenn aber R i d g e w a y (The origm
of metallic currency and weight Standards
p. 52 ff., 124 ff., 387 ff. u. passim.) behauptet,
1. dass in den Ländern Asiens, Europas und
Afrikas, in denen dasjeuige Gewichtssystem
entstanden sei, auf das alle Systeme des mo-
dernen Europas zurückzuführen seien, das Rind
ursprünglich allenthalben als hauptsächliches
Wertmass gedient habe (the cow universally the
Chief Unit of barter, p. 387); 2. dass das Rind
über diese ganze weite Länderstrecke nahezu den
gleichen Wert gehabt habe (we may fairly
asaume, the ox carried much the same value
trom Northern India to the Atlantic Ocean,
. 62 ff.); 3. dass in der Folge aber das dem
rVerte eines Rindes entsprechende (überall nahezu
gleiche!) Goldäquivalent (ca. 130 — 135 grains
Troy) zur allgemeinen Geldeinheit geworden sei,
(every where from India to the shores of the
Atlantic the cow originally had the same value
as the universally distributed gold unit, p. 387) :
so lie^t hierin eine so phantastische und mit
zahlreichen geschichtlich beglaubigten That-
sachen (überdies auch mit allen wirtschafts-
theoretischen Einsichten) im Widerspruch
stehende Generalisierung der obigen Hypothese,
dass sie in der Formulierung Ridgeway's (bei
aller Anerkennung, welche dem anregenden und
interessanten Werk Ridgeways in mancher Rück-
sicht zu teil geworden ist) doch notwendig die
entschiedenste Zurückweisung gerade der sach-
kundigsten Altertumsforscher, neuerdings auch
einzelner mit dieser Frage sich beschäftigender
Volkswirte finden musste. (Vgl. Hultsch im
„Litterar. Centralblatt" 1893, Sp. 121 ff.; C. F.
Lehmann in der „Philol. Wochenschrift" 1895,
S. 179 ff.; J. Taylor in „The Academy" 1892,
Nr. 1062, p. 218 ff.; Winthrop M. Daniels in
„Annais of American Acad. of Pol. and Social
Science", Vol. IH, 1893 (Jan.), p. 133 ff. ; William
Warrand Carlileim Journal of Polit. Economy,
Chicago, 1899 (June), p. 356 ff.) — Die obigen
gewagten Hypothesen Ridgeway's haben in W.
Lotz, welcher dieselben für Ergebnisse eines
mustergiltigen induktiven Verfahrens hält, einen
eifrigen, ziemlich kritiklosen Bewunderer ge-
funden. Vgl. dessen Ausführungen in den J.
f. N. u. St., 1894, III. F., VII, S. 337 ff.
in allgemeinerer und vertrauenswtirdig;erer
Weise diu'ch die auf den Märkten funktio-
nierenden Essay ers, welche für ihre Probe,
auch für die Güte des Geldes, den Kon-
trahenten, die ihre Dienste in Anspruch
nehmen und entlohnen, haften^).
In wie unzulänghcher Weise indes die
mit der Cirkidation ungemünzter Metalle
verbundenen Uebelstände durch die obic:^»
automatische Entwickelung behoben werden,
lehren uns die Erfahrungen, welclie auf den
Märkten derjenigen Völker, die bis in die*
neueste Zeit zu einem geordneten Münz-
wesen noch nicht gelangt waren, gemaclit
wurden. Die Gewichts- und insbesonden^
die Feinheitsproben der auf diesen Märkten
thätigen Essayer erweisen sich als unver-
lässlich und müssen bei der grossen Leich-
tigkeit, mit der die Stempel dieser Funktio-
näre gefälscht werden können, der Kegel
nach bei jedem Verkehrsakte wiederholt
werden, ein Umstand, welcher das Zah-
hmgswesen zu einem überaus zeitraubenden
und kostspieligeu macht. (Die Kommissions-
gebühren in Rangim werden z. B. zwisohei
1 und lV2^/o des Wertes angegeben, wozi
noch der durch die häufigen Proben uik
Stempelungen hervorgerufene Gewichtsvor
lust hinzutritt.^ -)
Die aus der Cirkidation ungemünzte
Metalle sich ergebenden, zumal für doi
Klein verkehr empfindlichen Uebelstände ver
mochten im wesentlichen erst dadurch ho
hoben zu werden, dass eine für den Voi
kehr ausreichende Quantität der Geld
metalle von vornherein in gleichartige fü
die Cirkrüation bestimmte (den Bedürfnisse
des Verkehres angepasste) Stücke zert«'i
und mit einem ihr Gewicht und ihren Fcii
fehalt verbürgenden (dieselben auch go^r-
älschungen und Defi-aude nach Möglicihko
schützenden) Gepräge versehen wHirden-
^) Vgl. Christ, und Friedr. Nobacl
Vollst. Taschenb. d. Münz-, Mass- und Gewicht
Verhältnisse, 1850, S. 394 ff. (China); Fried
N 0 b a c k , Münz-, Mass- und Gewichtsbuch. 18*;
S. 422 (Kanton); ebend. S. 753 (Bangan); eboL
S. 5 (Abessinien) u. s. f.
*) Fr. Noback, Münz-, Mass- und (
wichtsb. 1879 S. 753 (Rangun). Vgl. au
ebend. S. 52 (Annam); S. 394 ff. (Japan).
®) Der Begriff der „Münze" wird zum T
zu weit, zum Teü zu eng definiert. I
Münzen sind nicht „lingots. dont le poids et
titre sont certifies, rien d'autre et rien de ph
(M. Chevalier, Cours d.^E. P., III, La Monne
1866 p. 39 ff.), sie sind auch nicht lediglich
Feingehalte (Schrot und Korn) staatlich
glaubigte Barren (L. Goldschmidt, Hau
d. Handelsrechts I, 2. Abt., 1868, S. 101
Wären diese Auffassungen vom Wesen
Münze richtig, so müssten auch die von Be
werksverwaltnngen (jedenfalls die von ärariscl
Gold- und Silberbergwerken) für technis
Geld
7ö
Füi' die Vermittelung des Güteraus-
tausches bestimmte, oder demselben that-
sächlich dienende Metallstücke dieser Art
sind Münzen. Es hat diese Form der
Tauschmittel vor der Cirkulation unge-
münzter Metalle aber den Vorzug, dass sie
die litetige und mit ökonomischen Opfern
verbimdene Operation des Teilens und Zu-
lagen s der als Tausch vermittler fimktio-
nierenden Metalle erspart (dass diese letz-
teren im Verkehre niclit mehi- zugeteilt und
zugewogen, sondern nur zugezählt zu wer-
den brauchen). Sie ersparen oder erleich-
tern uns bei der Uebernahme der Edel-
metalle die Prüfung ihrer Feinheit \md
ihres Gewichtes, bei der Begebung den Be-
weis derselben.
Hiermit ist die Bedeutung der Aus-
münzung der Geldmetalle indes nicht er-
schöpft. Die vertrauenswürdige Feststellung
des Rauh^wichts und des Feingehalts ist
entfernt nicht der allein wesentliche Zweck
derselben. Man vergegenwärtige sich das
Geldwesen eines Landes, in welchem
Münzen cirkulieren würden, von denen jede
einzelne ein verschiedenes Gewicht, eine
verschiedene Form und einen verschiedenen
Grad von Affinierung hätte; selbst wenn
das Rauhgewicht und der Feingehalt aller
einzelnen Münzstücke in genauester und ver-
Zwecke in Handel gebrachten Edelmetallbarren
— insofern das Gewicht und die Feinheit der-
selben in vertrauenswürdiger Weise resp. staat-
lich beglaubigt sind — als Münzen anerkannt
werden. In Bezu^ auf Feinheit und Gewicht
b^lanbigte Metaflstücke können (zum Unter-
schiede von Metallbarren) nur dann als Münzen
(im ökonomischen Sinne) bezeichnet werden,
wenn sie für den Gddzweck bestimmt sind oder
diesem Zwecke thatsächlich dienen und ihre
Form und Bezeichnung (Guss, Stempelung, Ge-
präge u. s. f.) den Geldzweck derselben kennt-
lich machen. Dagegen wird von denjenigen,
welche nnr „die vom Staat (in seinem Namen
und nach seiner Vorschrift) für den Cirkulations-
zweck ausgeprägten, in Bezug auf ihren Wert
vom Staate garantierten Münzstücke" als
Münzen anerkennen (W. Lexis, H. d. St. IV
1892 S. 1248), der Begriff der Münze zu eng
bestimmt. Die von Privatmünzstätten ausge-
brachten Münzstücke sind (wenn allgemein ge-
bräncfalich gewordene Umlanfsmittel) unzweifel-
haft Münzen im ökonomischen Sinne, ebenso die
bei vielen Völkern noch heute cirkulierenden
fremden Handelsmünzen. Ich erinnere noch aus
neuester Zeit an die califomischen Privatans-
münzangen in den 50 er Jahren unseres Jahr-
hnnderts, an die Ausmünzungen der beiden
Bechtler in Rutherfordton (Nordcarolina), an
diejenigen der Mormonen u. s. f. — Der ökono-
mische Begriff der Münze ist in der Folge bis-
weüen auch auf nicht metaUische Geldzeichen,
welche die usuelle Münzform aufwiesen (Leder-
münzen!), und selbst auf bestimmte Gewichts-
mengen von Barrengeld (Rechnungsmünzen!)
ausgedehnt worden.
trauenswürdigster Weise bestimmt und be-
glaubigt wäre, vermöchten dieselben dem
Verkehrsbedürfnisse doch nur in sehr un-
vollkommener Weise zu entsprechen. Erst
dadurch, dass bei der Ausraünzung der
Geldmetalle dieselben von vornherein in
Stücke zerlegt werden, welche in den für
den Geldzweck entscheidenden Kücksichten
(also in erster Linie in Bezug auf Feinge-
halt, überdies auch in Bezug auf Rauhge-
wicht, Legierung und Form) innerhalb der
Grenzen technischer Möglichkeit gleich-
artig sind, sind wir m der Lage, be-
stimmte Edelmetallmengen, nicht nur aller
Regel nach ohne Prüfung von Rauhgewicht
und Feingelialt der einzelnen Münzstücke,
sondern zugleich ohne lästige und zeit-
raubende Berechnungen, durch blosses
Zuzählen der Münzstücke darzu-
stellen und zu leisten. Erst hierdurch
erlangen die Geldmetalle die Fähigkeit,
mühelos imd kostenlos aus einer Hand in
die andere überzugehen (solviei*t und über-
nommen zu werden), erst hierdurch das
hohe Mass von Cirkiüationsfähigkeit, welches
die gemünzten Geldmetalle auszeichnet.
Indes wird durch die Ausmünzung der
Geldmetalle in gleichartige Münzstücke noch
ein anderer wichtiger Erfolg herbeigefülirt.
Es wird hierdurch ermöglicht, bestimmte
Mengen gemünzten (also leicht übertrag-
baren, cirkulationsfähigen !) Geldmetalls in
einfacher und genauer Weise (durchblosse
Feststellung von Münzsorte und
Stückzahl!) zu bezeichnen, ein umstand,
dessen Bedeutung für den Verkehr, zumal
für den Abschluss von Verpflichtungsver-
h^tnissen, welche Geldmetalle zum Gegen-
stande haben, kaum hoch genug veran-
schlagt werden kann. Nicht schon dadurch,
dass bei der Ausmünzung die einzelnen
Metallstücke ihrem Gewichte und ihi^em
Feingehalte nach in vertrauenswürdiger
Weise beglaubigt, erst dadurch, dass die
Geldmetalle hierbei zugleich in gleicliartige
Stücke zerlegt werden, erlangen sie die
Eignung, zum Gegenstande ebenso leicht
zu begründender als zu solvierender Ver-
pflichtungsverhältnisse zu werden, deren
Inhalt bestimmte Quantitäten cirkulations-
fähigen Geldmetalls sind.
Allerdings hat die Ausmünzung der
Geldmetalle für den Verkehr auch einen
Uebelstand im Gefolge, indem gerade hier-
durch die genaue Anpassung der Geldpreise
an die im Verkelire vorkommenden Gegen-
werte in allen denjenigen Fällen erschwert
w4rd, in denen die Preise durch die cirku-
lierenden Münzen, die ihrer Bestimmung
nach ja unteilbar sind ^), nicht genau darge-
stellt werden können.
*) lieber Fälle, in denen Münzen im Ver-
76
Geld
Der nächstliegende Gedanke, diesem der
Münzfonn der Geldmetalle anhaftenden
üebelstande zu begegnen, ist wohl der, die
Geldmetalle schon bei der Ausmünzung in
Stücke zu zerlegen, welche den im Verkehre
am häufigsten vorkommenden Gegenwerten
entsprechen. Es ist nicht unwahrscheinlich,
dass bereits vor der Ausmünzung der Geld-
metalle derartige den Bedürfnissen des
Verkehrs angepasste Metallstücke bei ein-
zelnen Völkern als bevorzugtes Tauschmittel
cii'kuliert haben und hierdurch die er-
wähnte Schwierigkeit (unter primitiven
Verkehrsverliältnissen !) zum Teile beseitigt
worden ist. Audi in den Anfängen des
Mfmzwesens mag der obige Umstand in
einzelnen Fällen nicht ohne Bedeutimg für
das Gewicht der Münzen gewesen sein. Die
eigentlidien , zumal die staatlichen Aus-
münzungen sind indes, der Natur der Sache
nach, hauptsächlich von der Rücksicht be-
herrscht worden, durch ein abgestuftes
System von Münzsorten die leichte
und möglichst genaue Darstellung aller
im Verkehre vorkommenden Preise in ge-
münztem Metalle zu ermöglichen. Es ist
hierdurch die erwähnte Schwierigkeit in
\mgleich wirksamerer Weise behoben worden.
Die Systeme der Münzsorten haben sich
fast durchaus im Anschluss an die bestehen-
den Handels- bezw. Metallgewichte und
deren gebräuchliche Teile entwickelt. Mannig-
fache Einflüsse (die fiskalische Ausnützimg
der Münzhoheit, die Verschiebung der Wert-
relation der Geldmetalie, die Bedürfnisse
des Aussenverkehrs, die notwendige Rück-
sicht auf die Bewertimgsgewohnheiten der
Bevölkenmg u. s. f.) haben im Laufe der
geschichtlichen Entwickelung zu den gegen-
wärtigen Münzsystemen geführt, welche im
wesentlichen die Vorzüge eines aUe Wert-
stufen leicht und (innerhalb der Grenzen
technischer Möglichkeit) genau darstellenden
Systems von Münzsorten mit denen einer
den Verkehrsbedürfnissen nach Möglichkeit
sich anpassenden Münzeinheit und Münz-
stückelung verbinden.^)
kehre thatsächlich zerschlagen werden, vgl. Fr.
Noback, Münz-, Mass- und Gewichtsbiich 1879,
S. 168 ff. und 422 u. s. f.
^) Es ist zu beachten, wie schwierig
es im gemeinen Verkehre sein würde, die
in unseren heutigen Münzen enthaltenen
Edelmetallquanten (z. B. 7.96495 Gramm
'^/looo feinen Goldes — das deutsche 20-Mark-
stück — , oder 6.775067 Gramm Gold der näm-
lichen Feinheit — das osterr.-ungar. 20-Kronen-
stück — ) mit der Wage herzustellen, während
mit der usuellen Handelswage und den usuellen
Handelsgewichten leicht darstellbare Gold-
quanten, z. B. von 1000, 100 oder 10 Gramm
Gewicht, wiederum (man denke an die Gold-
kronen des deutsch-üsterr. Münzvertrags v. 21.
Januar 1857, die im internationalen Verkehre
Indem solcherart ein System von Münz-
sorten entsteht, wird zugleich ein für den
Verkehr und das Privatrecht überaus wich-
tiger Erfolg herbeigeführt. Es wird hier-
durch (insbesondere in Verbindung mit den
staatiichen Massregeln, von denen ich im
nächsten Abschnitte handle) bewirkt, da.ss
bestimmte Quantitäten von Münzeinheiten
durch Münzen verschiedener Münzsorten
leicht und einfach dargestellt imd geleistet
werden können. Es entsteht die Möglich-
keit nicht nm* von Schuldverhältnissen,
deren Inhalt eine bestimmte Anzahl von
Münzen bestimmter Sorte sind (von so-
genannten Genusschulden!), sondern
auch von solchen, deren Inhalt eine be-
stimmte (in Münzen verschiedener Sorte
darstellbare) Quantität von Münz- bezw,
Rechnungseinheiten ist (von Summen-
schulden!), deren Wiclitigkeit für diit
praktische Leben eine so überaus gi-osse ist.^
Fasse ich das Gesagte zusammen, so er
giebt sich, dass die Ausmünzung der Geld
metalle, insbesondere der Edelmetalle, füi
das Wirtschaftsleben und für die Rechts
Ordnung eine ungleich grössere Bedeutunj
hat, als ihr gemeiniglich zugeschrieboi
wird. Durch die Münzform wird nicht nu
das lästige und mit ökonomischen Opfer;
verbundene Erproben und Zuwägen de
Geldmetalle im Güterverkehre erspart. Die
selbe hat eine weit darüber hinausgehend
Bedeutimg. Indem der dem Geldzweck
gewidmete Teil der Edelmetalle und zw2
in solcher Weise ausgemünzt wird, dai
einheitliche Systeme von Münzsorten en
stehen, erlangen die Geldmetalle die Fähi|
keit, leicht, genau und nahezu kostenlos i
jeder den Bedürfnissen des Verkelu^ ai
gepassten Quantität dargestellt und \il>e
tragen zu werden. Sie gewinnen oii
Cirkulationsfähigkeit , wie sie in gleiche
Masse nur sehr wenigen Gütern ander
Art, insbesondere aber entfernt nicht ([<
Edelmetallen in Barrenform eigen ist.-) IJ
nie recht in Aufnahme zu gelangen verraochtei
nicht notwendig dem Verkehrsbedürfnisse ei
sprechen.
*) Man erwäge, um wie viel geringer (
Umständlichkeiten bei der Kontrahierun fr u
insbesondere bei der Solution einer Schuld sii
wenn deren Inhalt — nicht eine Gewichtsmen
von Barrenmetall, sondern eine bestimmte ^
zahl von Stücken einer bestimmten (gleich ar
ausgeprägten) Münzsorte, oder ^ar ein
stimmtes Quantum von Münzeinheiten ist.
-) Die Edelmetalle sind als Urstoife (
Elemente) gedacht, wie selbstverständlich v<
ständig homogen. Indes dienen sie in <
Wirklichkeit nicht als „Gattungen" oder
„Elemente" — es dienen vielmehr individu«
Stücke der Edelmetalle als Geld. Diese köin
aber in Rücksicht auf Gewicht, Feinheit i
Form (also in den für die Geldfunktioo €
Geld
77
gemünzten Geldmetalle erlangen aber zu-
gleich innerhalb der einzelnen Münzsorten
(unter Berücksichtigung der Legierung und
der Gewichts Verhältnisse vielfach auch inner-
halb verschiedener Münzsorten) einen hohen
Grad ökonomischer Vertretbarkeit,
ein Umstand, welcher ermöglicht, diu'ch
blosse Bezeichnung von Münzsorte und
Stückzalil, ja durch blosse Bestimmung einer
Anzahl von Münzeinheiten den Inhalt von
Goldobligationen in ebenso einfacher Weise
als genau zu bestimmen. Die Geldmetalle
werden Infolge ihrer Ausmünzung, wie kaum
ein anderes Gut, geeignet, zum Inhalte von
Gattiings- und Summenschulden zu werden,
deren Inhalt genau bestimmt ist und deren
Solvienmg (durch gemünztes Metall!) in
eben so genauer als einfacher und mülie-
loser Weise zu erfolgen vermag.^)
Allerdings können selbst das rationellste
Münzsystem und die • technisch fortge-
schrittenste Ausmünzimg der Geldmetalle
an sich die oben hervorgehobenen W^irkungen
in ihrer vollen Strenge nicht bewirken.
Es muss zu diesem Zwecke noch in mannig-
facher Rücksicht der staatliche Emfluss auf
das Geld- und Zahlungswesen hinzutreten.
scheidenden Rücksichten) überaus verschieden
sein. Ja es giebt wenige Dinge, welche so
grosse Verschiedenheiten aufzuweisen vermöchten
als verschiedene Stücke des nämlichen edlen
Metalles in Rücksicht auf den Geldzw^eck. Erst
dadurch , dass die Edelmetalle in der Weise
ausgemünzt werden, dass die einzelnen Münz-
stücke bezw. Münzsorten in Bezug auf Rauh-
gewicht, Feinjf ehalt und Form (innerhalb der
Grenzen technischer Leistungsfähigkeit) gleich-
artig sind, werden individuelle Stücke der Geld-
metalle für das praktische Wirtschafts-
leben vertretbar (fungibel).
*) Generische Obligationen (im Gegensatze
zu denjenigen Obligationen, deren Inhalt indi-
viduell bestimmte Leistungen sind) sind solche
Obligationen, deren Inhalt nur durch Merkmale
bestimmt ist (z. B. ein Pferd im allgememen,
ein bestimmtes Quantum von Usance -Weizen,
von Hektolitern Wein oder von Wein einer
bestimmten Sorte). Die grosse Bedeutung,
welche diese Obligationen für den Verkehr,
zumal für befristete Leistungen haben, bedarf
keiner Bemerkung. Wohl aber muss hier hervor-
gehoben werden, dass der Inhalt derselben, der
Natur der Sache nach, nicht ganz genau be-
stimmt ist. Durch die nähere Determination
des „genns*', durch Hinzufügung von Merk-
malen, gewinnt der Inhalt der Obligationen an
Bestimmtheit. In letzter Linie hängt die Be-
stimmtheit desselben indes zugleich von der
mehr oder minder strengen Vertretbarkeit der
von der „Gattung'* umiaasten Individuen ab.
Was nun die gemünzten Metalle in ganz be-
sonderer Weise auszeichnet und dieselben zu
Objekten von Genusobligationen in hervor-
ragendem Masse befähigt, ist die (nach Mass-
^oe der technischen Leistungsfähigkeit der
Münzstätten) strenge Vertretbarkeit derselben
IV. Die VervoUkomiiinniis des Geldes
durch den Staat
Den Ansprüchen der entwickelten Volks-
wirtschaft an das Geldwesen vermag die
automatische Entwickelung desselben nicht
zu genügen. Das Geld ist nicht durch Ge-
setz entstanden; es ist seinem Ursprünge
nach keine staatliche, sondern eine geseU-
schaftliche Institution. Die Sanktion des-
selben durch die staatliche Autorität ist dem
allgemeinen Begriffe des Geldes fremd. Wolü
aber ist die Institution des Geldes durch
staatliche Anerkennung und Regelung in
ähnlicher Weise vervollkommnet und den
vielaiügen und wechselnden Bedürfnissen
des sich entwickelnden Verkehrs angepasst
woi*den, wie das Gew^ohnheitsrecht durch
die Gesetzgebung.
Vor allem hat die umfassendste Erfah-
rimg gelehrt, dass die Ausmünzung der
Geldmetalle, sobald dieselbe für die Volks-
wirtschaft sich als notwendig erweist, das
Eingreifen des Staates mehr und melir zu
einem imabw^eisbaren macht. Die mit öko-
nomischen Opfern verbundene Versorgimg
der Märkte mit (nach Art und Menge) den
Bedürfnissen des Verkehrs entsprechenden
gemünzten Metallen, liegt wohl im Interesse
der Gesamtheit, vermag indes von den
unter dem Drucke der Konkiurenz stehen-
den, auf Gewinn angewiesenen und be-
dachten Einzelwirtschaften im Volke nicht
erwartet zu w^enlen. Die Privatausmttnzun-
gen, selbst diejenigen der neuesten Zeit,
haben denn auch dem allgemeinen Verkehrs-
bedüi'fnisse nur in sehr unvollkommener
Weise entsprochen, i)
innerhalb des durch die Münzsorte, in letzter Linie
durch die Münzeinheit gegebenen „Genus". —
Es dürfte nicht ohne Nutzen sein, hinzuzufügen,
dass die Logiker je nach dem Grade der Deter-
mination : Reich (regnum) , Kreis (orbis),
Classe (classis), Ordnung (ordo), Familie (familia),
Gattung (genus), Art (species), Unterart (sub-
species) u. s. f. unterscheiden, während die
Juristen alle obigen Kategorieen (bisweilen selbst
eine begrenzte Anzahl von Sachindividuen, aus
denen nach Wahl des Schuldners oder des
Gläubigers eine Leistung erfolgen soll) unter
dem Begriife „genus" zusammenfassen und die
Individuen (im Gegensatze zum Sprachgebrauch
der Logiker) als „species" bezeichnen. (Vgl.
Ueberweg's System der Logik, herausg. v.
J. B. Meyer, 1882, § 58; Dernburffs Pan-
dekten, I, § 7ö; und Windscheid s Lehrbuch
d. Pandektenrechts I, § 141, insbes. Note 1.)
^) Die noch im Anfange der 50 er Jahre von
den zahlreichen Privatmünzstätten Californiens
in Cirkulation gebrachten Münzen zu 50, 1,
Va und Vi Dollars erwiesen sich im allgemeinen
geringer als die von der Eegieruncf ausgeprägten,
Tin einzelnen Fällen bis 2 %) und wurden durch
oiejenigen der Nationalmünzstätte in San Fran-
cisco seit 1854 mehr und mehr verdrängt (Fr.
78
Gold
Es ist klar, dass nur der Staat ein
interesse daran hat, selbst mit ökonomischen
Opfern, die Volkswirtschaft mit den Ycr-
kelirsbedürfnissen entsprechenden Münzen
zu versorgen, wie denn auch niu* der Staat
die Machtmittel besitzt, das Münzwesen
gegen Falschmünzerei und die in Cirku-
lation gesetzten Umlaufsmittel gegen Ge-
wichtsminderung wirksam zu schützen.
Die Geschichte bietet uns überaus zahl-
reiche Beispiele von Fällen, in denen die
Regierungen die ihnen naturgemäss zu-
fallende Münzhoheit in ebenso eigennütziger
als gemeinschädlicher Weise missbraucht
haben. Nichtsdestoweniger ist die Yersor-
gimg der Volkswirtschait mit vertrauens-
würdig ausgeprägten Münzen allenthalben
als eine berechtigte Aufgabe staatlicher
Fürsorge anerkannt und diese Aufgabe
in einer den Yerkehrsbedürfnissen allseitig
entsprechenden Weise aller Regel nach auch
nur vom Staate thatsäehlich geübt worden.
Einen noch ungleich wichtigeren Einfluss
auf das Geldwesen übt der Staat, indem
er innerhalb der staatlichen Grenzen, ja in
der Folge im Wege internationaler Verein-
barungen darüber hinaus, das Geldwesen
einheitlich regelt. Die automatische
Entwickelung des Geldwesens führt der
Natur der Sache nach leicht zu einer filr
den Verkehr überaus abträglichen und
lästigen Vielgestaltigkeit des Geldes in
Rücksicht auf die Geldmetalle, ihre Le-
gierung, die Gewichtseinheit und die Teil-
gewichte, nach denen gerechnet wird. So-
bald die Ausmünzung der Geldmetalle ge-
bräuchlich wird, pflegt die Zersplitterung
des Münzrechts die nämlichen Wirkungen
zu äussern und zu einer dem Verkehre
Noback, Münz-, Mass- u. Gewichtsbuch. 1879,
S. 792). — Die von den Bechtlers in Nord-
carolina (in Rutherfordton) durch längere Zeit
ausgeprägten 5-Dollarstticke waren zum Teil
bis zu Vji^jo geringer; die im Jahre 1849 in
Philadelphia untersuchten ö-DoUarstücke er-
wiesen sich 4 Dollar 94 Cents und, wenn die
Silberlegierung in Anschlag gebracht wurde,
doch nur 4 Dollar 96 Va Cents wert. Die älteren
C. Bechtlerschen ö-DoUarstttcke waren soffar
1 — 6^0? im Durchschnitte 3**/o, die A. Bechtler-
schen 1 -Dollarstücke 2% unter ihrem Nenn-
werte ausgebracht. Auch die von den Mor-
monen im Staate Utah geprägten Goldstücke
zu 20, 10, ö und 2V2 Dollars erwiesen sich in
Feinheit und Gewicht sehr unregelmässig. Der
Wert des lO-DoUarsttickes war im Mittel
8 Dollar 52 Cents, derjenige der übrigen Sorten
im Verhältnis (ebend. S. 647). Vgl. rücksicht-
lich der Privatausmtinzungen in anderen Ver-
kehrsgebieten auch ebend. S. 158 ff. (Bogota);
S. 169 (Bombay); S. 620 (Montreal); S. 754
fHangun); S. 82l (Lokalmünzen in Siugapore);
S. 860 (Australien) : S. 866 (Tahiti) u. s. f. ; femer
Chr. und Fr. Noback, Vollst. Taschenb. d.
MünzTerhältnisse , 1850, S. 1620 (Califomien).
nicht minder abträglichen Mannigfaltigkeit
des Münxwesens (in Rücksicht auf dieMüuz-
metaUe, ihre Legierung mid Stückelung, die
Münzeinheit, die Genauigkeit der Aus-
prägimg, die Münzform, selbst die Benennung
der Münzsorten u. s. f.) zu fülu-en. Der
Staat erfüllt eine der wichtigsten Aufgaben
der Volkswirtschaftspflege, indem er sich
nicht auf die vertrauenswürdige Beglaubigung
der Rauhgewichte und der Feingehalte der
für den G-eldzweck bestimmten Edelmetall-
stücke beschränkt, sondern dui*ch einheitliche
Feststellung des Münzsystems (der Wäh-
rungsmetalle und ihrer Legienmg, des Münz-
grundgewichts, der Münzeinheit, des Münz-
fusses, der Münzstückelung, der Münzforineu
der Münznamen u. s. f.) das Geldwesen des
Staates, resp. umfassender Wirtschaftsge-
biete, in einer den Bedürfnissen dei-selbei
entsprechenden Weise einheitlich regeli
und indem er Münzen dieser Art in der
Yerkelir setzt, Münzen, welche diesen An
forderungen nicht entsprechen, aus den
Verkehre zieht, ein einheitliches Staat
liches Münzwesen, ein Landesgeh
(bezw. eine Landeswährung, ein«
Ijandesvaluta , in diesem weitesten Shun
des Wortes 1)) schafft.
^) Währung (mittelh. werunge, weiruugt
auch werschaft — seit dem 13. Jahrb. in Üi
künden und stadtrechtlichen Quellen — vo
weren = leisten, zahlen, befriedigen; spät€
noch bisweilen: „mit etwas gewähren'* = b(
friedigen) bedeutet ursprünglich so viel, wj
Gabe, Leistung, in der Folge (bei fortschre
tender Entwickelung der Geld Wirtschaft, ähi
lieh wie dies bei den Worten „gelten*' un
„geld", „zahlen" und „Zahlung" der Fall wa
hauptsächlich die Geldieistung resp. d
Leistung (die Zahlung) in gemünztem Geld
Daher bei älteren Schriftstellern „die grewogei
Mark" im Gegensatze zur „Mark Wehnui^
(der zugezählten Mark), („endlich sind al
Marcke zu Wehrung geworden, dass man s
zehlet, und nicht wieget", s. Tileman Friese 1
Müuzspiegel 1592, in Thom. ab Hagelsteins Ac
publ. monet. I, S. 6B). Zugleich hat das Wo
,,werung" aber von altersher auch die E
deutung: Verbürgung, Gutstehung, Siehe
Stellung, Gewährleistung, Gewährschaft. Bei
Begriffe verschmolzen zu dem Begriffe des (dur
die Ausprägungsnormen, insbesondere durch d
Münzfuss eines Landes oder einer Münzstätte) g
währleisteten Milnzwertes. — Bei d
grossen Buntheit von Münzen und Münzfuss, c
namentlich seit dem 12. und 13. Jahrhundert
den meisten Territorien herrschte, pfleg^te m
nicht nur einzelne Münzsorten, sondern au
bestimmte Münzsysteme durch Anführung d<
jenigen Prägestätten oder Länder näher zu 1
zeichnen, nach deren Norm, insbes nach dei
Fuss, (häufig auch von anderen Münzstätte]
die Münzen geprägt worden waren, z. B. „Wiei
Pfennige" oder „Pfennige wiener werung** 11
in ähnlichem Sinne von der Rotenburger, 1
winger, Swaebischen, Augspurger werung, ,,<
Geld
79
Indem der Staat dem Bedürfnisse des
Verkehrs nach einem einheitlichen Landes-
gelde entspricht, schafft er die Grundlage
und Voraussetzung für ein überaus verein-
fachtes und gesichertes Rechnungs- und
Zahlungswesen, ein — im Verhältnisse zum
vielgestaltigen Gelde automatischen Ur-
sprungs— in hohem Masse vervollkommnetes
(insbesondere auch den Zweifeln und Streitig-
keiten über den rechtlichen Inhalt der Geld-
schulden in mannigfacher Rücksicht vor-
beugendes) Verkehremittel.
Immerhin bleibt, auch nach Einführung
eines einheitlichen Systems von Landes-
gewöhnlichen wermig nach unseres landes ge-
wohnheit" u. s. f. zu sprechen (Lexers Mittelh.
Wörterb. 1878, m, Sp. 799). — Bei der grossen
Wichtigkeit, welche (zumal bei mangelhafter
Eegelnn^ und geringer Stabilität des Münz-
wesens, insbesondere auch bei Münzänderungen)
die Erklärung bestimmter Münzsorten als ge-
setzliches Zahlungsmittel für das Münzwesen
erlangte, gewinnt das Wort Währung vielfach
neben der alten auch eine neue Bedeutung.
Man versteht darunter die zu einem be-
stimmten Nominalwerte als gesetz-
liches Zahlungsmittel erklärten Lan-
desmünzen. So insbesondere im Art. 11 der
vielfach grundlegend gewordenen Reichsmünz-
ordnnng Ferd. I. von 1559. (Hier auch bereits
der unterschied zwischen der allgemeinen „ Wehr-
schaft" der Courantmünzen und der einge-
schränkten der Teilmünzen.) — Sobald das Metall,
ans dem die Courantmünzen eines Landes aus-
geprä^ wurden (das Metall, welches bei freier
Aosprä^ng für Privatrechnung zum allge-
meinen AVertmassstab wird!), zum Gegenstände
des öffentlichen Interesses, zumal auch des-
jenigen der Gesetzgebung und der Münz-
theoretiker geworden war, werden die örtlich
und zeitlich verschiedenen Währungen vielfach
anch durch das W^ährun^smetall näher be-
zeichnet und darnach klassifiziert. Man spricht
früh schon (Lex er a. a. 0. III, 797) von Gold-,
Süberw^ährung, in der Folge auch von Papier-,
selbst von Vieh-, Muschel-, Pelzwährnnff u. s. f.
Daher (offenbar in Verkennung der bloss ad-
jektivischen Bedeutung der W^orte : Gold-, Silber-
n. 8. f.) neben den älteren Auffassungen des
W^ortes „Währung" bei manchen neueren Schrift-
stellern noch diejenige des dnrch Gewohnheit
oder Gesetz anerkannten Geldgutes oder Geld-
stoffes (in diesem Sinne wohl richtiger : des zum
allgemeinen Freismesser und Wertmassstabe
gewordenen Geldstoffes!). — Die obigen Auf-
fassungen des Be^iffes „Währung" sind ins-
gesamt auch für £e Gegenwart noch von theo-
retischer und praktischer Bedeutung, und es
mnss als eine Einseitigkeit bezeichnet werden,
wenn eine einzelne derselben ausschliesslich als
die richtige bezeichnet wird. — Das englische
Standard bedeutet das Hichtmass, das Normal-
mass, den Münzfuss (twenty-florins Standard);
Standard of value : der W^ertregulator, die Wäh-
rung. Aehnlich das franz. 4talon (de mesure,
de poids) das Richtmass, Eichmass, Probe-
gewicht, Währung.
münzen und selbst bei rationellster Aus-
prägung der letzteren, eine Reihe von üebel-
ständen des Geldwesens bestehen, welche
dem Verkehre abträglich sind und durch
blosse münztochnische und die vorher ge-
kennzeichneten münzpolitischen Massregeln
nicht behoben werden können. Solche
Uebelstände sind: dass (cirkulationsfähige !)
Münzen, in denen alle im Verkehre vor-
kommenden W^ertstufen darstellbar sind,
nicht aus ein imd demselben Geldmetalle
ausgebracht werden können und insbeson-
dere die für den Kleinverkehr bestimmten
Münzsorten zum Teile aus andern Geld-
metallen als die Hauptmünzen geprägt
werden müssen; dass in vielen Ländern
selbst die Hauptmünzen usuell aus ver-
schiedenen GeldmetaUen (aus Gold und
Süber) ausgebracht w^erden ; dass die Münzen
verschiedener Wertstufe, selbst wenn sie
aus dem nämlichen Metall (mehr noch,
wenn sie aus verschiedenen Metallen her-
gestellt werden !), nicht den gleichen Präge-
aufwand erfoi-dern und somit bei gleichem
Innern Wert verschiedene Produktionskosten
verursachen ; dass die einzelnen Münzstücke
der nämhchen Münzsorte, selbst bei fortge-
schrittener Technik und sorgfältiger Aus-
prägung, schon beim Verlassen der Münz-
stätte in Bezug auf Feinheit und Gewicht
Verschiedenheiten aufweisen (ökonomisch
nicht vollständig vertretbar sind!),
ein Mangel, welcher durch die Cirkulation
derselben noch gesteigert wird; dass neben
den Landesmünzen vielfach auch Zahlungs-
mittel anderer Art (Banknoten, Staatskassen-
scheine) im Umlauf sind u. s. f.
Das Gemeinsame dieser durch münz-
technische Massregeln und selbst durch ein
noch so rationelles Münzsystem nicht voll-
ständig zu behebenden Uebelstände ist, dass
hierdurch die strenge ökonomische
Vertretbarkeit der Münzen der näm-
lichen Münzsorte und Wertstufe (mehr noch
die strenge Vertretbai-keit entsprechender
Quantitäten von Münzen verschiedener Wert-
stufen untereinander) genundert wird und
infolge dieses Urastandes die Vorteile eines
einheitlichen Systems von Landesmünzen, ins-
besondere diejenigen eines einheitlichen
Rechnungswesens nicht vollständig zur
Geltung gelangen würden, falls diese Uebel-
stände, insoweit sie sich im Verkehre geltend
machen, in ihren Wirkungen nicht beseitigt
zu werden vermöchten. Man vergegen-
wärtige sich den Zustand des Geldwesens
eines Landes, in welchem die Münzstücke
der nämlichen Münzsorte wegen der unaus-
weichlichen Ungenauigkeiten ilirer Aus-
prägung und der regelmässig eintretenden
Abnützungsverluste verschieden bewertet
werden könnten ; einen Zustand, bei welchem
aus verschiedenen Geldstoffen ausgebrachte
80
Geld
Münzen (insbesondere auch die Scheide-
münzen) wegen der Schwankungen der
Marktrelation der betreffenden Geldmetalle
gleich Pamllelwähi'ungen wirken könnten
u. s. f. Es ist klar, dass hierdurch die
wesentlichen Vorteile eines einheitlichen
Landesgeldes und eines noch so rationell
abgestuften Münzsystems, zum mindesten in
jenen Fällen, in denen die obigen Uebelstände
sich praktisch geltend machen würden, zum
Teile wieder aufgehoben werden müssten.
Ein vollständig gesichertes einheitliches
Rechnungswesen ist durch blosse münz-
technische und diu-ch die oben erwähnten
münzpolitischen Mängel nicht erreichbai*.
Die obigen Schwierigkeiten können in
ihren Wirkungen nur durch ein System von
staatlichen Massregeln beseitigt werden,
welche sich wesentHch auf die Regelung
der Solution der Geldschulden be-
ziehen und deshalb nicht nur dem Gebiete
der Münzpolitik, sondern auch dem des
Privat rechts angehören und für beide
von gleich hoher Bedeutung sind.
Massregeln dieser Art sind: dass der
Staat den Münzstücken der nämlichen Münz-
sorte (innerhalb der Grenzen der Remedicn
und des Passiergewichts) und ebenso den aus
dem gleichen Münzmetalle ausgebrachten
Ijandescourantmünzen verschiedener Sorte
(nach Massgabe ihres gesetzlichen Feinge-
halts) die gleiche Zahlkraft in Rücksicht auf
die Solution von Geldschulden verleiht; dass
der vStaat die Zalükraft der aus verschiedenen
Edelmetallen gepi-ägten Münzen (durch Be-
stimmung der Wertrelation bei ihrer Aus-
prägiuig oder durch Tarifierung der Münz-
sorten) feststellt; dass er die Zahlkraft der
unterwertig ausgeprägten Scheidemünzen in
ein festes Verhältnis zu derjenigen der Münz-
einheit bringt u. s. f.
Erst liierdurch ward das System der
Münzsorten eines Landes zu einem
Systeme von streng vertretbaren
(fungiblen) Rechnungseinheiten,
ein Umstand, welcher in hohem Masse
zur Vereinfachung des Rechnungs- und
Zahlimgswesens beiträgt und es selbst dem
in den Komplikationen des Geld- imd Münz-
wesens Unerfahrenen ermöglicht, einerseits
bei Abschluss von Geldschulden denselben
durch die blosse Bestimmung der An-
zahl von Rechnungseinheiten (Mark, Franc,
Ki-onen) einen genau bestimmten Inhalt zu
geben, und andererseits jeden Zweifel über
die zur Erfüllung von Geldschulden geeig-
neten Zahlungsmittel von vom herein aus-
zuschliessen.
y. Das Geld als Mittel für einseitige
und subsidiäre Vermögensleistungen.
Wenn in einem Volke eine Ware als
allgemein gebräuchliches Tauschmittel — als
Geld — funktioniert, so ergiebt sich als
weitere Folge dieser Entwickelung, dass:
auch einseitige (d.i. aus keinem »Tausch-
geschäfte« entstandene) vermögensivchtlichc
Leistungen, ob sie nun freiwillig darge
boten, oder zwangsweise auferlegt wei-
den, der Regel nach am Ökonomischestoi
in Geld erfolgen. Wer einer anderen Per
son ein Vermögensquantum in unentgelt
lieber Weise (als Geschenk, Legat, Heirate
gut u. s. f.j zuwenden will, wird dies unto
umständen iti Gütern thun, welclie de
Erwerbs- oder Aufwandwirtschaft des Em
pfängers unmittelbar zu dienen bestimn
sind, in allen übrigen Fällen aber am zwecli
massigsten in demjenigen Tauschgute, we
dies dem Empfänger die Herrschaft übe
alle Marktgüter gewährt — in Goh
Tauschgüter anderer Art müssen von dei
Empfänger nämlich ei*st gegen Geld uuijr»
setzt werden, was für denselben mit Oj^fii
mancherlei Art, was die Höhe des Erl(')s<
betrifft aber mit um so grösserer ünsicho
heit verbunden zu sein pflegt, je gering
die Absatzfähigkeit der betreffenden War(
ist. Eine in Tauschgütem, die nicht Go
sind, gewährte Leistung entbehrt, im Vc
hältnisse zu einer Geldsumme, für den Ei
pfänger auch der Bestimmtheit.
Aus demselben Gnmde werden in <\
geldwirtschaftlichen Epoche auch z w a n a-
weise auferlegte Leistungen (SU
ern, Vermögensbussen u. s. f.) übei-all de
wo es sich nicht um Zwangsleistungen v
Gebrauchsgütern (um Requisitionen, Na
ralabgabcn für den Eigengebrauch des E
pfängers u. s. f.), sondern schlechthin i
Vermögensquanten handelt, am zwe»
massigsten in Geld normiert. Sowohl
allgemeine Rücksicht auf die Ökonom is(
Zweckmässigkeit als auch die speci«
Rücksicht auf die Bestimmtheit einseiti
Vermögensleistungen, führen dazu, dass di
letzteren regelmässig in Geld erfolgcni.
Das gleiche gut von subsidiär
Vermögensleistungen. In der goldw
schaftlichen Epoche wird das Geld z
Repräsentanten des Vermögens üborha
Es ist dasjenige Vermögensobjekt, de?
Besitz oder Ei'werbung bei jedem zu ei
vermögensrechtlichen Leistung Vorpflic!
ten schlechthin vorausgesetzt wenlcMi ki
Vermag der letztere eine anderweitigo U
bedungene oder ihm auferlegte) vei-niüg«
rechtliche Leistung nicht zu orftillen,
tritt am zweckmässigsten die Geldlei s1
an ihre Stelle, weil zumeist nur dio letz
dem Berechtigten die ökonomischeste ¥
des Ersatzes für die entgangene I^eisi
zu bieten vermag, i)
») S. B. Windscheid, Lchrb. d.
dektenrechU, II. § 256.
Geld
81
Sobald eine Ware als allgemein ge-
bräuchliches Tauschmittel funktioniert, wird
dieselbe zugleich zum zwoc-kmässigsten
Mittel für einseitige (freiwillige und zwangs-
weise auferlegte) und für subsidiäre Ver-
mögensleistungen .
VI. Das Geld als Vermittler des
Kapitalverkehrs.
Sobald ausgebildete Tauschmittel funk-
tionieren, pflegt in jenen Fällen, wo es sich
nicht um eine blosse Sachmiete handelt,
die leihweise Ueberlassung von Vermögen,
aas Gründen, welche sich aus dem bereits
Gesagten ergeben, am vorteilhaftesten in
Quantitäten des allgemein gebräuchlichen
Tauschmittels zu erfolgen, zumal wenn das
letztere, wie dies dem Gelde entwickelter
Volkswirtschaften eigentümlich zu sein
pflegt, einen hohen Grad von Vertretbarkeit
aufweist. In der geldwirtschaftlichen Epoche
erhält der Empfänger eines in »Geld« be-
stehenden Konsumtionsdarlehens, wenn von
der Kreditierung von Konsumartikeln abge-
sehen w4rd, das ihm übergebene Vermö-
gensquantum regelmässig in der für seine
Aufwandwirtschaft zweckmässigsten Form;
der Entlehner von Geldsummen für Pro-
duktionszwecke diuxih die Leihsummen aller
Eegel nach (abgesehen von der Kreditierung
der Produktionsmittel) die für ihn zweck-
mässigste Form des ünternehmervermögens.
Wo tnereits ausgebildete Tauschmittel funk-
tionieren, pflegt, einerseits aus dem obigen
Grunde, andererseits auch um der Be-
stimmtheit von Leistung und Gegen-
leistung willen, dem Entlehner keine Form
des Darlehens, und deshalb auch denjenigen,
welche aus der leihweisen Ueberlassimg
von Gütern an andere Personen ein Ein-
kommen zu ziehen suchen, keine Form des
Stammvermögens erwünschter zu sein als
die des Geldkapitals. Das Geld wird we-
sentlich infolge seiner Funktion
alsTauschmittel zum hauptsächlichsten
Vermittler des Kapitalverkehrs, zum wich-
tigsten Leihmittel. Ja, es giebt in Wahr-
heit, nächst der Funktion des Geldes als
Tauschmittel (als Vermittler des Waren-
marktes!) und als Thesaurierungsmittel,
keine andere, welche so beträchtliche Quan-
titäten von Geld in Anspruch nimmt und
eine so hohe Bedeutung für die Volkswirt-
schaft aufweist als die Funktion des Geldes
als Vermittler des Kapjtalverkehrs (des
»Geldmai'ktes«).
VIL Das Geld als Mittel für Thesau-
riernng, KapitaUsierung und interlokale
Vermögensübertragnng.
Damit ein Gut ein zweckmässiges The-
saurienmgsmittel sei, muss es dauerhaft,
kostbar, mit möglichst geringen Ökonomischen
Opfern und Belästigimgen zu verwahren,
überdies gegen eine empfindliche Älinderung
seines Wertes gesichert sein. Diese Eigen-
schaften finden sich in dem erforderlichen
Masse nicht notwendig bei den zu allgemein
gebräuchlichen Tauschmitteln gewordenen
Gütern. Es kann vielmelir ein Gut unter
Umständen das geeignetste Tauschmittel,
dagegen ein melir oder minder ungeeignetes
Thesaurierungsmittel sein. Die Geschichte der
Volkswirtschaft bietet uns denn auch Bei-
spiele von Zuständen, unter welchen bestimmte
Wai*en als allgemein gebräuchliche Tausch-
mittel funktionierten,andere(Edelsteine,Perlen
und sonstige Kostbarkeiten) bevorzugte Mittel
für Thesaurienmgen waren. Nicht das Geld
als solches gewinnt den Charakter eines
allgemein gebräuchlichen Thesaurierungs-
mittels. Es ist ungenau, von einer Fimktion
des Geldes (des Geldes schlechthin!) als
Thesaurierungsmittel zu sprechen.^)
Dass die allgemein gebräuchlichen Tausch-
mittel so häufig zugleich zu besonders be-
vorzugten (wo gemünzte Edelmetalle cirku-
lieren, diese und ihre Surrogate aUer Regel
nach zu nahezu ausschliesslich gebräuch-
liolien) Thesaiuierungsmitteln werden, er-
klärt sich indes nicht nur aus dem Um-
stände, dass einige der wichtigsten Eigen-
scliaften, welche dazu beitragen, bestimmte
Waren zu allgemein gebräuchlichen Tausch-
mitteln zu machen, auch für die Wahl der-
selben zu Thesaurierungsmitteln von grossem
Einflüsse sind. Es besteht vielmehr auch
ein innerer Zusammenhang zwischen der
Funktion bestimmter Waren als Geld imd
der Wahl derselben für den Zweck der
Thesaurierung.
Mit der fortschreitenden Arbeitsteilung
und der wachsenden Abhängigkeit der ein-
zelnen Wirtschaften vom Markte gewinnen
gerade Tauschgüter für Thesaurierungs-
zwecke eine wachsende Bedeutung, unter
diesen aber ganz vorzugsweise die Tausch-
mitteL Wer Tauschgüter anderer Art thesau-
riert, muss, falls er zu dem angesammeltenVor-
rate die Zuflucht nimmt, dieselben gemeinig-
lich erst gegen das allgemeine Tauschmittel
imisetzen, während derjenige, welcher das
letztere thesauriert hat, die Mühe, die Un-
sicherheit und die allfälligen ökonomischen
Opfer dieses Umsatzes vermeidet oder aber
bereits überwunden hat. Nur Waren,
welche die Eigenschaften der Dauerhaftig-
keit, der Kostbarkeit und der Wertbestän-
digkeit aufweisen und mit relativ geringen
Kosten und Beschwerden verwahrt werden
können, eignen sich zu Thesaurierungsmitteln,
unter den Gütern dieser Art indes ganz
vorzugsweise die allgemein gebräuchlichen
Tauschmittel. Umgekehrt ist die besondere
^) Knies, Geld, 1885, S. 224 ff.
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Anfla^e. IV.
82
Geld
Eignung eines Gutes zu Thesaurierungs-
zwecken imd, als Folge hiervon, die ver-
breitete Verwendung desselben für den obigen
Zweck eine der wichtigsten Ursachen ihrer
relativ grossen Marktgängigkeit (s. oben S.
63 ff.) und somit ihrer Eignung zum Tausch-
raittel. Es liegt in der Natur dieses Verhält-
nisses, dass die allgemein gebräuchlichen
Tauschmittel regelmässig zugleich bevor-
zugte Thesaurierungsmittel sind.
Das Gesagte gilt nicht nur von der
Thesaurierung im engeren Verstände (der
Ansammlung von Vermögen für die Auf-
wandwirtschaft), sondern auch von der mit
steigendem Verkehre und wachsender Rechts-
sicherheit zu immer grösserer Bedeutung
gelangenden Ansammlung von beweg-
lichem Produktivvermögen. Bei
entwickelter Arbeitsteilung ist der Produzent
rücksichtlich der ihm erforderlichen Pro-
duktionsmittel im nämlichen Masse vom
Markte abhängig, wie der Konsument rück-
sichtlich der Genussgüter. Auch derjenige,
welcher Vermögen für produktive Zwecke
ansammelt, wird deshalb die ihm in Hin-
kunft erforderlichen Produktionsmittel sich
durch einen Vorrat von Tauschgütern, am
zweckmässigsten und ökonomischesten durch
einen solchen von Geld zu sichern trach-
ten; all dies in um so höherem Masse,
je fortgeschrittener die Volkswirtschaft ist.
In der letzteren wird das Geld zugleich das
zweckmässigste Mittel für die Ansamrohmg
von beweglichem Produktiv\^ermögen.
Aus den nämlichen Grfinden und unter
den nämlichen beschränkenden Voraus-
setzungen findet das Geld vorzugsweise auch
dort Anwendung, wo es sich nicht um eine
eigentliche Thesaurierimg oder Kapitali-
sienmg, sondern ledigUch daiiim handelt,
minder dauerhafte oder wertbeständige Güter
gegen dauerhaftere oder w^ertboständigere
umzusetzen, um das durch die ersteren dar-
gesteDte Vermögen der Wirtschaft zu er-
halten; ebenso dort, wo die Absicht der
Wirtschaftssubjekte auf interlokale Ver-
mögensübertragmigen mittelst Tauschgütern
gerichtet ist.
VIIL Das Geld als Preismesser.
Wird es als eine Forderung der »aus-
gleichenden Gerechtigkeit« hingestellt, dass
beim Güteraustausche jeder der beiden
Kontrahenten Güter von gleichem »Werte«
— ein gleiches »Wertquantum« — erhallen
müsse, widrigenfalls der eine Teil beim
Tauschgeschäfte ebensoviel an >Wert« ver-
liere, als der andere an »Wert« gcA\anne,
(quidquid alicui adjioitur alibi detrahitur):
so stellt sich, wie seit Aristoteles un-
zählige Male wiederholt worden ist, die
Notwendigkeit heraus, den Wei-t der im
Verkehre auszutauschenden Güter vor Ab-
schluss des Tauschgeschäftes zu messen,
ihn auszugleichen.^) Dies erfolgt nach
der obigen Lehre in der Weise, dass der
Wert der auszutauschenden Güter durch das
Geld (die Geldeinheit) gemessen und hierauf
Güter von gleichem Tauschw^erte (»gleiche
Tauschwertc[uanten umfassende Güter«) gegen
einander hingegeben werden. Das Geld
funktioniere solcherart im Güterverkehre als
ein Preismesser.
Der obigen Lehrmeinung liegt der Ge-
danke zu Grunde, dass die beim Tausch-
geschäfte massgebende Rücksicht der »gleiche
Tauschwert« der auszutauschenden Güter
sei. Dies widerspricht indes den wirklichen
Absichten, welche die wirtschaftenden
Menschen bei Güterumsätzen verfolgen. Sie
unternehmen aller Regel nach einen Güter-
austausch nur dann, wenn hierdurch jeder
der beiden Kontrahenten seine ökonomische
Lage zu verbessern Aussicht hat, und
nur innerhalb der durch diese Rücksicht
gebotenen Grenzen. Eine »Wertgleicli-
heit« der Tauschgüter herzustellen, in
welchem Sinne dieselbe auch immer aufge-
fasst werden mag, ist nicht das Ziel der
Tauschenden. Die wirtschaftenden Menschen
haben nicht die Absicht, gleiche »Nützlich-
keiten«, gleiche in den Gütern enthaltene
»Arbeitsmengen« (Ricardo) oder »Produk-
tionskosten« (J. B. Say), »Güter von gleicher
gesamtwirtschaftlicher Nützlichkeit« (G o 1 d -
Schmidt) oder wohl gar »gleiche Quanti-
täten fungibeln, von den Gütern umschlosse-
nen Gebrauchswertes« (Knies) auszu-
tauschen ; sie tauschen um ihres ökono-
mischen Vorteils willen, — nicht um Gleiches
gegen Gleiches hinzugeben, sondern lun ihre
Bedürfnisse so vollständig, als unter den ge-
gebenen Verhältnissen dies zulässig ist, zu
befriedigen. 2)
Das Streben nach Verbessenmg ihrer
ökonomischen Lage ist indes — was hier
der entscheidende Punkt ist — zugleich für
die Preisbildung massgebend. Jeder
der beiden Kontrahenten gewährt dem
anderen im Austausche gegen dessen Güter
^) „So wenig eine Gemeinschaft möglich wäre
ohne Austausch, so weni^ ein Austausch ohne
Gleichheit und eine Gleichheit ohne gemein-
schaftliches Mass" (Ar ist, Nik. Eth., V., 7 ff.;
Polit. I, 6); s. die Litteratur in meinen
Grunds, d. V. L., S. 173.
*) Vgl. meine Grundsätze d. V.L., S. leOfL;
E. v. Boehm-Bawerk, Grundzüge der Theorie
des wirtschaftlichen Güterwertes (Jahrb. f. Nat.
u. Stat., 1886, N. F. XIII, S. 483ff., msbes. 489ff.);
E. Sax, Grundlegung der theoretischen Staats-
wirtschaft, 1887, S. 271 ff. und 276 ff.; Fr. v.
Wies er, Der natürliche Wert, 1889, S. 3()0ff.,
:-i52fl', Litteratur ebend S. 44 ff., 88 ff.; R.
Zuckerkandl, Zur Theorie des Preises, 1889,
passim; E. v. Ph ilippovich, Grnndriss, 3.
Aufl., S. 204 und 221.
Geld
83
mir eine solche Quantität seiner eigenen
Güter, dass er hierbei, den obigen Zweck,
die Verbesserung seiner wirtschaftlichen
Lage, zu erreichen, die Aussicht hat. Das
Streben der Kontrahenten, ihren Gtiterbe-
darf so vollständig zu decken, als dies der
Sachlage nach möglich ist, ist nicht nur die
Ursache des Güteraustausches überhaupt,
sondern insbesondere auch die mass-
gebende Rücksicht für die im Aus-
tausche hingegebenen Gütermengen, für die
Preisbildung.
In der That sehen wir denn auch, dass
lange bevor Geld eirkulierte, also schon ehe
das Geld überhaupt als »Preismesser« (in
dem hier massgebenden Sinne) funktionieren
konnte, Güter (und zwar jedenfaUs doch be-
stimmte Quantitäten von solchen) im Aus-
tausche gegen einander hingegeben wiuxlen,
-wobei die wirtschaftenden Menschen aller
Regel nach nur ihre Bedürfnisse, die ihnen
verfügbaren Gütermengen, endlich die sub-
jektive Bedeutung der betreffenden Güter
für ihre Wirtschaften in Betracht zogen.
Durch den Eintritt des Geldes in seine
Punktion als Tauschvermittler wurde der
Vorkehr erleichtert und das ökonomische
Kalkül ein genaueres; das Wesen des
Tausches ist hierdurch indes kein anderes
geworden. Auch auf den Märkten der
geld wirtschaftenden Epoche ist das ökono-
mische Streben derKontrahenten (das Streben
ihren Güterbedarf so vollständig, als dies
der vorhandenen Sachlage nach möglich ist,
zu decken) nicht nur für Kauf und Verk af
überhaupt, sondern auch für die Preis-
bildung die massgebende Rücksicht. Es
bedarf für den obigen Zweck (für die Fest-
stellung der beim Gütertausche den ökono-
mischen Interessen der Kontrahenten ent-
sprechenden Güterqiianten !) keiner vorher-
gehenden Messung des »Tauschwertes« der
umzusetzenden Güter durch den »Tausch-
wert« des Geldes.^)
*) Die Autoren, welche der hier bekämpften
Lehre folgen oder durch dieselbe doch unbe-
wnsst beeinflüsst werden, sind hauptsächlich
durch den Umstand irregeführt worden, dass
auf einigermassen entwickelten Märkten die
einzelnen Kontrahentenpaare bei Feststellung
der Preise nicht ausschliesslich durch ihre sub-
jektive Bewertung der Güter, sondern zu-
gleich durch die Konkurrenz im Angebote und
in der Nachfrage der übrigen Marktgenossen
(bezw. durch die aus der Konkurrenz im An-
gebote und in der Nachfrage sich ergebenden
Marktpreise) beeinflüsst werden. (Vgl.
meine Grunds, d. V.L., S. 201 ff.). Wer z. B.
auf einem Markte für seine Güter von einem
Marktgenossen selbst solche Güter eintauschen
kfmnte, die für ihn (subjektiv) einen höheren Wert
haben s.U die ersteren, weist dies Geschäft (ob-
zwar er hierdurch seine wirtschaftliche Lage
subjektiv verbessern könnte!) doch regelmässig
Hätten indes die Kontralienten bei
Tauschgeschäften selbst die Absicht, den
Tauschwert der auszutauschenden Güter
vorher (vor dem Abschluss des Gescliäftes)
durch den Tauschwert des Geldes, etwa durch
denjenigen der Geldeinheit, zu messen: so
wäre doch nicht abzusehen, wie sie diese
Absicht zu verwirklichen vermöchten, da der
Wert eines Gutes doch nicht mit einem
Geldstücke gemessen werden kann, jede
Schätzung des »Güterwertes« vielmehr nur
auf der Grundlage von Preisen erfolgen
kann, also bereits die Kenntnis von Preisen
voraussetzt, die ohne vorhergegangene
»Messung des Tauschwertes« der betreffenden
Güter entstanden sein mussten. Der Ge-
danke, dass vor jedem Güteraustausche eine
Messung des Tauschwertes der auszu-
tauschenden Güter durch den Tauschwert
des Geldes erfolgen müsse, oder thatsäclüich
erfolge, und das Geld ein »Preismesser« in
diesem Sinne sei, ist ein Miss Verständnis.
Soll von der »Funktion des Geldes als
Preismesser« (in einer den thatsächlichen
ökonomischen Verhältnissen entsprechenden
Weise) überhaupt die Rede sein, so kaim
dies nur in einem wesentlich andern Sinne
geschehen. Sobald auf einem Markte Tausch-
mittel funktionieren, finden, als Konsequenz
dieser Thatsache, die Gütenimsätze aller
Regel nach durch Vermittelun^ des Geldes
statt. Die Güter werden gememiglich nicht
mehr unmittelbar gegen einander ausge-
tauscht, sondern gegen Quantitäten von
Geld veräussert imd erworben, die ver-
schiedenen Güter gegen eine verschiedene
Anzahl von Masseinheiten der zum Tausch-
mittel gewordeneu Ware. Es bestehen so-
mit auf unseren Mäi'kten, als Ergebnis
des Spiels der individuellen ökonomischen
Interessen, für alle Waren in Emheiten
des Tauschmittels (in Geldeinheiten) aus-
gedrückte Preise, welche uns eine Yer-
gleichung der Grösse dieser letzteren ge-
statten. Z. B. das Gut A habe einen Ver-
kaufspreis von 50, das Gut B einen solchen
zurück, wenn er die ihm angebotenen Güter
für ein geringeres Quantum seines Gutes von
einem anderen Markt^fenossen zu erwerben ver-
mag. Wir berücksichtigen bei Güterumsätzen
thatsächlich nicht nur unsere subjektiven Wert-
urteile, sondern, in Verfolgung^ unseres ökono-
mischen Interesses, auch die (mfolge des Spiels
der individuellen Interessen der übrigen Marktge*
nossen) sich bildenden Marktpreise. In dieser Be-
rücksichtigung der konkurrierenden Interessen
der übrigen Marktgenossen liegt indes doch
keine „Messung der Güterpreise". Es ist viel-
mehr klar, dass auch in diesem Falle die öko-
nomischen Bestrebungen der wirtschaftenden
Menschen nicht nur für den Abschluss der
Tauschgeschäfte überhaupt, sondern auch für
die Grösse der ausgetauschten Güterquantitäten
(für die Preisbildung!) massgebend sind.
6*
84
Geld
von 30, das Gut C von 200 Mark. Wenn
in diesem einfachen und gemeinverständ-
lichen Vorgange eine »^lessung der Gtiter-
preise durch das Geld« gefunden und dem
Gelde aus diesem Grunde diu^cliaus »die
Funktion eines Preismessers« zugeschrieben
werden soll, dann ist dagegen nichts ein-
zuwenden. Niu' muss festgehalten werden,
dass es sich hierbei niclit um eine der
Preisbildung vorangehende Messung emes
»von den auszutauschenden Gütern um-
fassten Tauschwertes« durch den »Tausch-
wert des Geldes«, sondern um eine ein-
fache Vergleich ung der aus dem Spiel
der ökonomischen Intei-essen sich ergebenden
in Geld ausgedrückten Preise handelt.
IX. Das Geld als Massstab des Tansch-
wertes der Güter.
1. Einleitmig. Die Ermittelung eines
Masses der Mittel und Ergebnisse der Wirt-
schaft, der eigenen sowohl als derjenigen
von Personen, mit denen wir durch Verkehr
verbunden sind oder sonst in geselligen
Beziehungen stehen, ist in überaus zahl-
reichen Fällen des privaten und öffentlichen
Lebens (bei Erbteilungon und sonstigen
Vermögensauseinandersetzungen , bei Ehe-
kontrakten, bei Kreditgeschäften, bei Steuer-
veranlagungen, bei der Festsetzung von
Vermögensbussen u. s. f.) von der grössten
praktischen Wichtigkeit, ja die Grundlage
und Voraussetzung zweckentsprechenden
Handelns. Auch die Ermittelung des Masses
der Bedeutung bestimmter Güter und
Güterkomplexe für die Wirtscliaft gewisser
Personen oder Personen\ erbände ist bei
zahlreichen Akten des Wirtschaftslebens
(bei Veräussenmgen , Vei-pfändungen, Ent-
schädigungen, Enteignimgen, Versicheriuigen,
JRentabilitätsberechnungen u. s. f.) die un-
entbehrliche Voraussetzung zweckmässiger
Wirtschaftsfühning.
In der naturalwirtschaftlichen Epoche
vermag man zu einem urteile über den
Vermögensbesitz oder über die periodischen
Eingänge einer Person nur durch die
Aufzählung der natm*alen Bestandteile ihres
Vermögens oder der naturalen Zuflüsse
ihrer Wirtschaft zu gelangen. Die ältesten
Nachrichten über den Vermögensbesitz und
die Einkünfte bestimmter Personen sind
• denn auch von dieser Art. Es wird die
Zahl der den Vormögen sbesitz derselben
bilderden Herden, Liiiulgfiter, Sklaven
u. s. f., bezw. die Art und Menge der Güter
(Ochsen, Schafe, Getreide, Butter, Käse,
Wein, Honig, Flachs u. s. f.) aufgezählt,
welche den betreffenden Personen innerhalb
bestimmter Zeitperioden für ihren Verbrauch
zu Gebote standen. Auch ein Urteil über
die Bedeutung einzelner Güter und Güter-
komplexe (insbesondere auch ein Urteil über
die relative Bedeutung derselben) für die
Wirtschaft des Eigentümers oder Niitz-
niessers können in dieser Epoche nur durch
die Kenntnis der natürlichen Beschaffenheit
der Güter und ilirer Stellung in der Wirt-
schaft der obigen Personen gewonnen werden.
Die UraständUchkeit dieses der natural-
wirtscliaftlichen Epoche eigentümlichen
VerfaJu'ens führt bei Ermittelung und
Daretellung von Vermögensverhältnissen
dazu, dass man sicli aller Regel nach auf
die Aufzählung der hauptsächlichen
Bestandteile des Vermögens oder der perio-
dischen Zuflüsse, insbesondere aber auf die
Aufzählung derjenigen Güter beschränkt,
welche einen Rückschluss auf die allgemeine
Wirtschaftslage der Personen gestatten, dercui
Vermögen und Einkommen in Fiage sind. Eh
ist dies ein Mangel des obigen Verfahrens,
zu dem noch der grössere hinzutritt, dasj:
selbst die aufgezälilten Vermögensobjektc
zumeist nur nach Art und Zahl bestimmt
werden, eine genaue Beschreibimg der ein-
zelpen Vermögensobjekte dagegen regel-
mässig unterbleibt. —
Sobald der Güterverkehr ein regelmässi
ger wird und die Entwickelimg desselbei
und der Geldwirtschaft mehr und mehr dazi
fülu*t, dass die Güter aller Kegel nach fü
Geld erworben und gegen Geld umgcsetz
werden können, entsteht ein neues, fib* di
Bedürfnisse des praktischen Lebens überau
wertvolles Mittel zur Gewinnimg eines üi
teils über die eigenen und fi-emden Vei
mögens Verhältnisse und über die relativ
Bedeutung bestimmter Vermögensobjekte f i
die Wirtschaft. Wer ein Urteil diest^r A
gewinnen will, vermag diesen Zweck fortii
in einer wesentlich vereinfachten und st»l
übersichtlichen Weise zu erreichen, indt^
er die Geldbeträge, für welche die betivffo
den Güter auf dem Markte voraussichtlic
veräussert oder erstanden werden könnr
feststellt oder auf dem Wege der Mitteihii
zur Kenntnis nimmt. Es bedarf fortan
zahlreichen Fällen des Wirtschaft siebe
nicht melir einer Aufzählung aller Hestaii
teile eines Vermögens oder Einkommens, i
sich über die Grösse der letzteren zu luitt
richten, ebenso wenig der genauen i:
Schreibung eines Wirtschaftsobjektos , i
sich über dessen relative wirtschaftliche I
deutung ein Urteil zu bilden. Es gern"
nunmehr in mannigfacher Rücksicht <
Kenntnis des in Geld ausgedrückten Taus<
wertes (des Geldwertes) der betroffene
Güter und Güterkomplexe für diesen Zwo
2. Ob die Sehätznng der Güter in G<
als eine Messung ihres Tauschwertes
betrachten sei? Die Schätzung der Gi'v
zmnal eine solche in Geld, hat eine gowi
äussere Aehnlichkeit mit einer M o s s u i
mit einem Verfalu-en, durch welches die i
Geld
85
noch unbekannte Grösse eines Objektes durch
die Vergleichung mit einer bekannten, als
Einheit angenommenen, gleichartigen Grösse
festgestellt werden soll.
Wird im Anschluss an den wissenschaft-
lichen Sprachgebrauch die Güterquantität^
welche für ein Gut im Verkehr erlangt,
oder diejenige, für welche das Gut im Ver-
kehr erworben werden kann^) (das >Ver-
^) Die meisten Darstelluiigeu der Geldlehre
gehen Ton der Voraussetzung aus, dass auf dem
nämlichen Markte und im nämlichen Zeitpunkte
alle Waren in einem bestimmten Austauschver-
hältnisse zu einander stehen, auf Grund dessen
sie beliebig gegen einander umgesetzt — eben-
sowohl erstanden als veräussert — werden können,
z. B. X Centner Eisen = y Centner Steinkohlen
= z Centner Kupfer. Diese Meinung, welche ins-
besondere für die Lehre vom Gelde als „Preis-
messer* und „Massstab des Tauschwerts*' eine
^grundlegende Bedeutung gewonnen hat, ist eine
irrtümliche, auf einer erfahrungswidrigen Fiktion
beruhende. Der „Tauschwert'* der Güter ist
keine einheitliche Grösse; er bewegt sich viel-
mehr aller Eegel nach zwischen den Grenzen
eines Angebot- und eines Nachfragepreises, z. B.
der Tauschwert der Masseinheit einer Ware
zwischen 9,50 Mark und 10 Mark. Zu dem
ersteren Preise wird die Ware gesucht, kann
für denselben demnach, insolange die Konjunktur
keine Aenderung erfahren hat, in jedem Momente
veranssert w^erden; zu dem letzteren wird sie
angeboten, kann demnach um diesen Preis je-
weilig erstanden w'erden. (S. die theoretische
Begründong in meinen Grundsätzen d. V.L,
S. 172 u. 272 ff.) Die obige Thatsache ist für
die Lehre vom Masse des Güterwertes
von grosser Wichtigkeit, da diese Lehre durch-
aus auf der Eingangs erwähnten irrigen An-
nahme aufgebaut zu werden pflegt. (lold-
schmidt schliesst sich (Handelsrecht, 11, 1883,
S. 88, Note 20) meiner Meinung an, dass es in
Wirklichkeit keine „objektiven Aeqnivalente**
in dem von der Volkswirtschaftslehre und der
Jurisprudenz gemeiniglich präsumierten Sinne
gebe. „Immerhin," meint er, „beruhe der
Gesamttauschverkehr auf einer Gleichstell ang
eines gewissen Quantums des Gntes x mit einem
gewissen Quantum des Gutes y hinsichtlich
ihrer gesamtwirtschaftlichen Nützlichkeit und
insofern sei (beispielsweise) 100 x gleichwertig
(Aeqaivalent von) 50 y." Hiergegen muss ein-
gewendet werden, dass eine „gesamtwirtschaft-
liche" (von der subjektiven Beziehung der Güter
zu den wirtschaftenden Individuen abstra-
hierende!) Nützlichkeit, wie sie von Goldschmidt
und einzelnen Wirtschaftstheoretikern ange-
nommen wird, in Wahrheit ebensowenig besteht,
als das von ihnen präsumierte Quantitätenver-
hältnis 100 X = 50 y u. s. f. Es giebt keinen
Markt, wo IPO x gegen öO y und umgekehrt
beliebig umgesetzt werden könnten. £s ist
dies übrigens eine Fiktion, deren die Jurispru-
denz nicht nur nicht bedarf, sondern die sie,
mit Rücksicht auf die hier hauptsächlich in Be-
tracht kommenden Probleme der subsidiären
Leistungen überhaupt und des Schadenersatzes
insbesondere, geradezu zurückweisen muss.
kehrsäquivalent« eines Gutes in dem oben
definierten Sinne), als dessen »Tauschweii:«,
und die betreffende Geldquantität (das geld-
wii-tsdiaftliche »Verkehrsäquivalent« eines
Gutes) als dessen »Tausehwert« im vor-
zugsweisen Sinne bezeichnet^): so stellt
sich der Schätzungsakt — der Vorgang,
durch welchen im konkreten Falle das vor-
her unbekannte »Goldäciiiivalent« eines Gutes
festgestellt und in Geldeinheiten ausgedrückt
wird — , in der That als eine Art von
»Messimg des Tauschwertes« desselben dar.
Wird beispielsweise der uns zunächst
unbekannte Geldwert eines Gutes (und zwar,
wegen der Vereinfachung des Problems, der
V e r k a u f s w e r t) 2) auf 100, derjenige eines
anderen Gutes (gleichfalls der Verkanfswert)
auf 30 Mark, der uns bis dahin unbekamite
Geldwert des Vermögens eines Wtrtschafts-
subjektes auf 100000, derjenige eines anderen
Eine wichtige Konsequenz, welche sich aus
(fer richtigen Auffassung der Austauschverhält-
nisse der (jüter ergiebt, besteht darin, dass bei
Schätzungen von Gütern diese letzteren, nicht
losgelöst von der Wirtschaft, in der
sie sich befinden, in Geld bewertet werden
dürfen, sondern der obige Umstand, wie dies
in der fortgeschrittenen Praxis der Güter-
taxation auch thatsächlich geschieht, berück-
sichtigt werden muss. Es besteht z. B. ein
Unterschied zwischen dem Schätzungspreise
(„dem Geldäquivalente") eines Gutes, je nach-
dem sich dasselbe im Besitze einer Person be-
findet, welche das Gut unmittelbar für ihre
Konsumtion oder ihre Produktion benötigt, oder
aber im Besitze einer solchen, für welche dasselbe
nur „Tauschwert*' hat. Die einem Gelehrten zur
Ausübung seines Berufes nötige Büchersammlung
muss auf Grundlage der (höheren) Angebot-
preise, die nämliche Bibliothek in den Händen
seiner Erben (aller Regel nach) auf Grund der
(niedrigeren) Nachf ragepreise bewertet und z. B.
im Falle eines Schadenersatzes, je nachdem der
eine oder der andere Fall eintritt, das demselben
entsprechende „Aequivaleut" geleistet werden.
Man erwäge den Schadenersatz, welchen der
Besitzer eines für den Eigengebrauch bestimmten
künstlichen Auges, und denjenij^en, welchen etwa
der Erbe rücksichtlich eines im Nachlasse des
ersteren befindlichen Objektes dieser Art bean-
spruchen kann.
') In der Sprache des gemeinen Lebens ist
der Ausdruck „Tauschwert" (bezw. „in Geld
ausgedrückter Tauschwert") zur Bezeichnung des
obigen Begriffes nicht gebräuchlich. Man spricht
im Deutsclien vom „Geldwert der Güter",
oder vom „Werte" derselben schlechthin. In
die wissenschaftliche Sprache der Deutschen ist
das Wort Tauschwert hauptsächlich durch
den Einfluss der nationalökonomischen Litteratur
der Engländer und Franzosen gelangt. Ge-
fördert wurde die Rezeption dieses Ausdrucks
durch den Umstand, dass das Wort „Geldwert",
und zwar gerade in Rücksicht auf Darstellungen
der Geldlehre, einen störenden Doppelsinn hat;
ebenso in anderer Rücksicht das Wort „Wert".
*) Vgl. oben Spalte 1, Note 1.
86
Creld
auf 40000 Mark geschätzt und werden die
solcherart ziffermässig festgestellten, uns eine
Verglelchung gestattenden geldwirtschaft-
lichen Verkehrsäquivalente als »Tauschwort«
der obigen Gtlter und Güterkoraplexe bezeich-
net : so mag man in den obigen, im gemeinen
Leben sich unablässig wiederholenden, prak-
tisch höchst bedeutsamen Schätzungsvor-
gängen immerhin eine Messung dos
»Tauschwertes der (jüter« und in dem
Geldc oder in der Geldeinheit, einen
»Mass Stabe des letzteren erkennen^).
Selbst gegen diejenigen, welche den
»Tauschw^ert« der Güter (in einem von dem
obigen abweichenden Sinne !) als die durch
den Besitz der Güter uns gewährte ökono-
mische Verfügimgsgewalt über die auf den
Mäi'kton befindlichen Waren und über die ent-
sprechenden »Geldä([uivalente« insbesondere
(als die »Tauschki^« der betreffenden
Güter!) auffassen und das Geld als Mass-
stab des so verstandenen »Tauschwertes« be-
zeichnen, vermag der Vorwurf einer unrealis-
tischen Betrachtungsweise nicht schlechthin
gerichtet zu werden. Wird der obigi^n, gleich-
falls dem wissenschaftlichen Sprachgebrauche
der Engländer entlehnten Ausdrucksweise-)
kein anderer Sinn unterlegt, als dass in der
geld wirtschaftlichen Ei)oche die Vermögen s-
raacht eines W^ii-tschaftssubjektes und die
Bedeutung bestimmter Güter für dasselbe
ihren hauptsächlichen Ausdruck und ihr Mass
in den »Vorkehrsäcpiivalenten« und ins-
besondere im Geldwoi-te seines Güterl)Ositzes
finde (dass wir also den Tauschwert der
Güter an der Grösse des in Geldeinheiten
ausgedrückten »Verkehrsäqiuvalentes« der-
selben »messen«): so kann auch diese Auf-
*) Der Geldwert des Vermögens, oder des
Eiükommens einer Person ist nur ein Mass der
Mittel, oder der Ergebnisse ihrer Wirtschaft, —
nicht schlechthin ein solches ihrer wirtschaft-
lichen Wohlfahrt (der grösseren oder geringeren
Vollständigkeit der Befriedigung ihrer Bedürf-
nisse). Diese hängt auch von der Art und dem
Umfange ihrer Bedürfhisse und — - selbst unter
den nämlichen örtlichen und zeitlichen Verhält-
nissen — zugleich von ihrer grösseren oder
geringeren wirtschaftlichen Tüchtigkeit ab.
Auch ist zu beachten, dass nicht jede Ver-
mehrung des Vermögens oder des Einkommens
einer Person eine streng verhältnis-
mässige Steigerung ihrer ökonomischen Wohl-
fahrt ermöglicht, da ja jede Vermehrung des
Güterbesitzes fortschreitend nur die Befriedigung
minder wichtiger Bedürfnisse der wirtschaften-
den Subjekte sichert (s. meine Grunds, d. V.L.,
S. 95 if.; Fr. v. Wieser, lieber den Ursprung
und die Hauptgesetze des wirtschaftlichen
Wertes, 1884, S. 126 ff).
*J A. S m i t h definiert „the value of exchange
of an objeet" als „the power of purchasing
other goods, which the possession of that ob-
jeet conveys-' (W. v. N., B. I, eh. IV., ed. 1776,
p. M).
fassung, obzwar sie in mannigfacher Rück-
sicht noch der näheren Bestimmung und Be-
richtigimg bedarf, doch nicht als unrealis-
tisch bezeichnet werden.^)
*) Erst dadurch, dass eine Reihe von Wirt-
schaf tstheoretikem (in Verkenn ung des üni-
standes, dass der in Geld ausgedrückte Tausch-
wert der Güter sich als ein Austauschverhält-
nis zwischen den KaufgUteru und dem GeUle
darstellt, als ein wechselndes Verhältnis, welches
im wesentlichen durch das Spiel der individuellen
Interessen der Marktgenossen bestimmt wird)
den „Tauschwert" der Güter als etwas den
einzelnen Gütern (den Waren sowohl als dem
Gelde) Innewohnendes, als ein denselben innewoh-
nend e.s „Tauschwertquantum" (und nicht etwa
nur bildlich, sondern in vollem Ernste, als eine
„den Gütern innewohnende Tauschkraft'') und
den Schätzungsakt der Güter in Geldeinheiten
als eine „Messung dieses Tauschwertquantums
durch das dem Gelde oder der Geldeinheit inne-
wohnende Tauschwertquantum", auffasste (vi^l.
noch Knies, Das Geld, 2. Aufl. 1885, S. 146 ff. i:
ist die Lehre vom Gelde als Massstab des
Tauschwertes der Güt^r auf eine unrealistische
(fiktive) Grundlage gestellt worden. — Zu unter-
scheiden von dem obigen sachlichen Irr-
tume ist der Gebrauch des Ausdrucks „innerer
Tauschwert" im technischenSinne. Selbst
diejenigen Autoren, welche von dem obii>on
I sachlichen Irrtum nicht beeinflusst werden, tre-
brauchen nämlich den Ausdruck „innerer Tausch-
wert" vielfach im Gegensatz zum „äusseren
Tauschwerte". Sie verstehen unter dem
äusseren Tauschwert eines Gutes : das in (lütern
irgend welcher Art, insbesondere aber das in
iGeld ausgedrückte „Verkehrsäquivalent" eines
Gutes; speciell unter dem „äusseren Tausch-
werte einer Geldsumme": die Quantität von
Kauf gutem, welche im allgemeinen für
diese Geldsumme eingetauscht werden kann.
Man spricht in diesem Sinne von einem
„grösseren oder geringeren äusseren Tausch-
werte des Geldes", je nachdem (nach Massgabc
verschiedener örtlicher oder zeitlicher \>rbält-
nisse!) geo^en gleiche Geldbeträge im allge-
meinen (im grossen und ganzen) grössere oder
geringere Quantitäten von Kaufgütem erstanden
Averden können. In diesem Sinne werden aiidi
die Ausdrücke „grössere oder geringere Kauf
beiähigung" oder „Kaufkraft" des Creldcs i^e
braucht. Unter dem sogenannten „innerei
Tauschwerte" eines Gutes versteht man da
gegen die auf scite des betreffendei
Gutes liegenden BestimmungsgrUnd«
des Austauschverhältnisses de sselbei
mit anderen Gütern; speciell unter dcMi
„inneren Tauschwerte des Geldes": die au
Seite des letzteren liegenden Bes t immun ij^.^
gründe der Preisbildung. Man spricht in diesei
Sinne von der „örtlichen Verschiedenheit" uu
der „Bewegung" des „inneren Tauschwerte
des Geldes", um auszudrücken, dass die örtlicb
Verschiedenheit und die Bewegung der Güte^
preise (auf verschiedenen Märkten, oder ai
dem nämlichen Markte in verschiedenen Zv'i
punkten) in Ursachen begründet sei , welcl
nicht in den Kaufgütem, sondern auf sei
des Geldes gelegen sind. Die obigen Aiisdi'üol
Geld
87
3. Die praktische Bedeutnn^ der Be-
wertung der Güter in Geld. Die grosse
praktische Wichtigkeit der Feststellung des
m Geld ausgedrückten Tauschwertes der
Güter für das gesamte Wirtschaftsleben,
der wesentliche Fortschritt, w^elchen dieser
Schat zu ngs Vorgang gegen das natumlwul-
schaftliche Verfahren bedeutet, dessen ich
einleitend gedacht habe, ergiebt sich be-
reits aus dem Gesagten. Es wird hier-
durch ein ungleich übereichthcheres und ge-
naueres Mass der Mittel und Erfolge der
Wirtschaft ermöglicht als beim naturalwirt-
schiiftlichen Verfahi-en i). Einer der fort-
gesclurittensten und sorgfältigsten unter den
neuein^n Darstellern unserer Wissen scliaft
charakterisiert dies in folgender Weise:
„Erst die allgemeine V'omahme der Güterwert-
Schätzung in Geld ermöglicht genaue Berech-
nungen der Produktionskosten und des Ertrages
in den einzelnen Unternehmungen und dadurch
ihre genaue Vergleichung und die exakte
quantitative Beurteilung des Produktionser-
folges für das Vermögen des Unternehmers.
Die Abschätzung aller in die Wirtschaft ein-
gehenden oder von ihr ausgehenden Güter und
Leistungen in Geld ist die notwendige Grund-
lage jeder Rentabilitätsberechnung und damit
einer genauen Wirtschaftsführung. Sie trägt,
gefördert durch den Wettbewerb der einzelnen
Unternehmungen, wesentlich dazu bei, das
Princip der grössten Wirtschaftlichkeit bei
Führung derselben zur Herrschaft zu bringen.
Sie bewirkt insbesondere eine genaue Berech-
nung der Preise und mathematisch genaue Ver-
anschiagiing der Gewinn- und Verlustgrenzen." *j
Es ist klar, dass die Schätzung der
Güter in Geld für das ^virtschaftliche Denken
und Handeln der Menschen eine um so
höhere Bedeutung gewinnt, je allgemeiner
das Geld seine vermittelnde Funktion im
Verkehre übt, je grösser mit der Ent-
wickelung der Arbeitsteilung und der Geld-
wirtschaft die Abhängigkeit der einzelnen
Wirtschaften vom Markte, je grösser end-
lich die Sicherheit und die Stabilität des
Geldwesens eines Landes sind.
4. Dass der in Geld ausgedrückte
Tauschwert der Güter unter verschie-
denen örtlichen und zeitlichen Verhält-
sind technische und für die Darstellung
zahlreicher ebenso verwickelter als praktisch
wichtiger Probleme der Geldlehre nahezu un-
entbehrlich, da sie nur durch weitläufige Um-
schreibungen und Wiederholungen vermieden
werden können.
*) „To measure easily and conveniently the
relative values of all commodities, compared
one with another, and to enable all dealers to
estimate the profits which they make upon
tbeir sales : this purpose is completely answered
by money" (R. Malt hu s, Princ. of P. E., 2. ed.,
1836, p. 84).
*) E. V. Philippovich. Grundriss d. P.
Ock., I., § 96, 4 (3. Aufl. 189i9, S. 220).
nissen kein entsprechender Massstab
der Mittel und Ergebnisse der Wirt-
schaften sei. Unter den nämlichen
örtlichen und zeitlichen Verhält-
nissen (auf dem nämlichen Markte und
in dem nämlichen Zeitpunkte) ist der in
Geld ausgedrückte Tauschwert des Yer-
mogens oder Einkommens einer Pei-son (ihi*
Nominalvermögen und Nominaleinkommen)
im wesentlichen auch der entsprechende
Ausdruck ihres Kealvennögens und Real-
einkommens. Sind uns der elftere und die
Marktverhältnisse bekannt, so ist es uns
möglich, uns ein für die meisten Zwecke
des praktischen Lebens ausreichendes Urteil
über die Vermögenslage der betreffenden
Pei*son zu bilden. Wir können auf diesem
Wege auch die Vermögenslage verschie-
dener Personen, welche gleichzeitig und
am nämlichen Orte leben, mit einander
vergleichen. Auch der Geldwei*t be-
stimmter Güter bietet uns unter gleichen
Verhältnissen eine genügende Grundlage
zur Beurteilung der i-elativen Bedeu-
tung derselben füi' eine Wirtschaft. Der
Geldwert des Vermögensbesitzes und des
Einkommens einer Person ist somit unter
den nämlichen örtlichen und zeitlichen Ver-
hältnissen in der That der richtige Mass-
stab für die ihr verfügbaren Mittel und
die Ergebnisse ihrer Wirtschaft, der Geld-
wert bestimmter Güter ein solcher der rela-
tiven wirtschaftlichen Bedeutung dieser Güter.
Nicht das gleiche gilt in Rücksicht
auf verschiedene Märkte oder auf
verschiedene Zeitpunkte. Der gleiche
Geldbetrag, ebenso das nämliche Nominal-
verm(")gen oder Nominaleinkommen, sichern
uns auf verschiedenen Märkten und in
verschiedenen Zeitpunkten nicht notwendig
die Verfügung über den nämUchen Güter-
besitz oder (selbst bei gleichen subjektiven
Verhältnissen) die gleiche "svirtschaftüche
Lage.
Wer tlber ein Einkommen von 5000
Francs verfügt, wird, selbst wenn von der
Verschiedenheit subjektiver Verhältnisse ab-
gesehen wird, seine Bedürfnisse doch nur
mit einem sehr verschiedenen Grade von
Vollständigkeit befriedigen können, je nach-
dem er in einer Grossstadt oder in einem
kleinen Marktflecken (z. B. in Paris oder in
einem rumänischen Landstädtchen) lebt.
Ebenso würde derjenige fehlgehen, welcher
aus dem Gnmde, weil zwei Personen, von
denen die eine im 15., die andere im 18.
Jahrhunderte lebte, das gleiche Nominalein-
kommen hatten, den Schluss ziehen würde,
dass denselben hierdurch der gleiche Lebens-
fuss ermöglicht worden sei.
Der Grund dieser Erscheinung liegt in
dem auf verschiedenen Märkten, und selbst
auf dem nämlichen Älarkte in verschiedenen
88
Geld
Zeitpunkten, zu beobachtenden verschiedenen
Austauschverhältnisse des Geldes und der
Kaufgiiter — in dem, was man liäufig als
die »örtlich und zeitlich verschiedene Kauf-
kraft des Geldes« oder auch als »die
örtliche Yerschiedenheit und die Bewegung
des (äusseren) Tauschwertes des Geldes«
bezeichnet hat.
5.Das Streben nach einemGute von uni-
versellem und unwandelbarem äusse-
rem Tauschwerte. Die augenfällige That-
sache, dass die nämlichen Geldmengen auf
verschiedenen Märkten, und selbst auf dem
nämlichen Markte in versclüedenen Zeit-
punkten, uns nicht die gleiche Yerfügimgs-
gewalt über die Marktgüter gewähren, dass
in dieser Rücksicht sich im Wirtschaftsleben
vielmehr sehr empfindliche Unterschiede
und Schwankungen geltend machen : hat zu
dem naheliegenden Gedanken geführt, im
Kreise der Verkelu-sobjekte nach einem an-
deren Gute (oder nach Gütergruppen und
Gütcrkomplexen !) zu suchen, welche, ent-
weder schlechtlün, oder doch in höherem
Masse als dies beim Edelmetallgelde der
Fall ist, dem obigen Zwecke zu entsprechen
vermöchten. Es ist dies das Problem der
Feststellung eines Gutes von universellem
und unwandelbarem (äusseren) Tauschwerte.*)
Die Bedeutimg, welche ein Gut von so
beschaffener »Wertbeständigkeit« für das
praktische Wirtschaftsleben haben würde,
könnte nicht hoch genug veranschlagt wer-
den. Ein. bestimmtes, in diesem Gute be-
stehendes Einkommen würde uns beispiels-
weise aller Orten und zu allen Zeiten eine
bestimmte Lebensführung, eine bestimmte
Quantität des betreffenden Gutes uns über-
haupt — unabhängig von örtlichen und zeit-
lichen Verhältnissen — die Mittel zur Yer-
^) Ueber die Vorschläge, die Preisschwan-
kungen der Waren aufzuheben: Jos. Lowe,
The present State of England etc., 1822. Uebers.
V. L. H. V. Jacob (1823). S. 445 ff., insb. 486 ff. ;
G. Poulett Scrope, Princ. of P. E.-, 1833, Ch.
XVI., S. 397 ff., 405 ff., 413, 421 ff. ; St. J e v o n s , A
serious fall in tbe value of gold, 1863, insb. Gh. II
u. V;Derselbe, Money and the mechanism of
exchange (1875), insb. Ch. XXV d. ed. 1882;
H. S. Foxwell, Irregularity of employment
and fluctuations of prices, 1886, p. 25ff.j 37 ff.;
Alfr. Marshall, Remedies for fluctuations of
feneral prices (Contempor. Rev. 1887 march, p.
55, 368 ff.); L. Wal ras, Theorie de la mon-
naie, 1889; Aneurin Williams, A „fixed value
of bullion" Standard, Econ. Journ., Vol. IL, 1892,
p. 280 ff.; Vgl. auch J.Nicholson, A treatise
on money, 1888, Part L, Ch. IL, §§ 10-12 u.
P. IL, Sect. 7; Derselbe, Princ. o. P. E., L,
1893, p. 327, 337 ff. ; (Ueber einige interess. Er-
scheinungen der österr.-ungar. Valuta;) B.
Földes, J. f. N. u. St., 1882, N.F. IV, S. 141 ff.
245 ff. ; s. hierzu die Litteratur beim Artikel
Preis (Statistische Best. d. Preisniveaus).
wirklichung bestimmter wirtschaftliclier
Zwecke sichern. Ein Gut dieser Art wäre
auch in Rticksicht auf langfristige Kredite,
unveränderlich gedachte dauernde Leis-
tungen u. s. f. überaus wichtig. Gäbe es
ein solches Q-ut, so würde es möglich sein,
einen nicht geringen Teil der gegenwärtig
im Wirtschaftsleben herrschenden Unsicher-
heit aus demselben zu eliminieren.
Ein Gut dieser Art wäre auch noch aus
einem anderen Gnmde von grosser Bedeu-
tung für die Theorie und (lie Praxis der
menschlichen "Wirtschaft. Das Geld und
der Geldwert der Güter bieten uns nur in
Rücksicht auf die nämlichen örtUchen und
zeitlichen Verhältnisse eiü richtiges Mass
zur Beurteilung der Älittel und der Erfolge
der Wirtschaft. Gäbe es ein Gut der obigen
Art, so böte uns dasselbe einen für alle
Märkte imd die entferntesten Zeitpunkte
gleich verwendbaren Massstab für tue Re-
Tuieilung der Veimögenslage der Wirt-
schaftssubjekte. —
Ich möchte der Untersuchimg über das
obige Problem, dem vielfach die Bezeich-
nung der nationalökonomischen Quadratur
des Zirkels zu teil geworden ist, zunächst
einige Bemerkungen voraussenden.
Dass auf den Märkten der Gegenwart
kein Verkehrsobjekt vorhanden ist, dosseu
Austauschverliältnis zu allen übrigen Gütern
(zu jedem einzelnen derselben
oder zu beliebigen quantitativ
und qualitativ kombinierten Gütor-
koraplexen) überall das gleiche wäre
und im Laufe der Zeit unverändert bliebe,
ja dass ein solches imter unseren heuligoii
Marktvorhältnissen undenkbar ist, ergiebl
sich ebenso wold aus der Erfahrung ah
aus der unbefangenen Analyse der Markt
erscheinungen. Ein Gut dieser Art würde di(
Stabilität des Austauschverhältnisses allei
Güter, auch desjenigen der Marktgiite
unter einander (bezw. die Identität desselbei
auf allen Märkten) zur notwendigen Voraus
Setzung haben. Nur bei staatlich streiij
geregelten Preisen (etwa unter Markt ver
häJtnissen, wie sie, rücksichtlich der haupl
sächlichen Bedürfnisse des täglichen Leben
und der Lohnarbeiten, im Edikte Diocletian
de pretüs rerum venalium vom Jalire 'MV
oder in den Dekreten des französische
Konvents über das Maximum v. 29. Soj
tember 1793 rücksichtlich der >\achtip:sto
Waren und Dienstleistungen beabsichtig
waren) i) wären Güter von einem im obige
Sinne stabilen Tauschwerte denkbar (otb
richtiger gesagt, jedes Verkehrsobjekt, -
auch das Geld! — für den obigen Zwo<
verwendbar). Unter unseren heutigen Mark
^) Vgl. A. M enger, Das Kecht auf d
vollen Arbeitsertrag 1891, S. 91 ff.
Geld
89
Verhältnissen ist das Streben nach Auffin-
dung eines Gutes dieser Art schleciithin
ein irriges.
Mit Rücksicht auf die heutige Yolks-
wirtschaft vermag es sich somit nur um die
Feststellung eines Gutes, oder eines Güter-
komplexes zu handeln, welchen im Ver-
hältnisse zu den Gütern überhaupt (den
Gutem im grossen und ganzen!), eine von
örtlichen und zeitlichen Verhältnissen unbe-
einflusste Beständigkeit des äusseren Tausch-
wertes zukommen ^ürde. Das Streben der-
jenigen Volkswirte, welche ernstlich an die
Losung des obigen Problems schritten, konnte
nur auf die Feststellung eines Gutes oder
Güterkomplexes gerichtet sein, welche uns
aller Oi-ten und zu allen Zeiten die gleiche
Verfügungsgewalt über die Marktgüter im
allgemeinen oder etwa eine solche über
gleiche (beliebig zusammengesetzte!) Ge-
samtheiten von Gütern zu verschaffen
vermöchten.
Die Losung des Problems ist in ver-
schiedener Richtung unternommen worden.
Die eine Qiiippe von Bearbeitern der Geldlehre
hat es versucht das Problem — nicht etwa
auf ausreichender preisstatistischer Grund-
lage, die ihnen ja nicht zu Gebote stand,
auch nicht auf derjenigen einer sorgfältigen
Analyse der realen Verkehrserscheinungen,
sondern auf der Grimdlage mangelhafter,
zum Teile irrtümlicher Preistheoricen zu
lösen, deren Sätze für die betreffenden Unter-
sudmngen eine axiomatische Bedeutung
gewannen. Hierher gehören diejenigen,
welche in der Quantität von Arbeit^), die
jemand mittelst der in seinem Besitze be-
findlichen Güter einzutauschen oder
sonst sich zu verschaffen vermag, ebenso
diejenigen, welche in der auf die Güter ver-
wendeten Arbeit einen universellen und
imveränderlichen Massstab des (äusseren)
Tauschwerts der betreffenden Güter entdeckt
zu haben glaubten. Die umfangreiche Litte-
ratur über diese Frage, welche insbe-
sondere die Klassiker und Xachklassiker
eifrig beschäftigte, hat, wie nach dem irr-
tümlichen methodologischen Standpunkte der
erwähnten Autoren bei Bearbeitung dieser
Lehre nicht anders zu erwarten war, zu keinem
klaren, abschliessenden Ergebnisse geführt.
Ja, es haben die erfolglosen Versuche der
obigen Gelehrten gruppe, zur Lösung des
Problems zu gelangen, mehr vielleicht
als irgend ein anderer Cmstand dazu bei-
getragen, die Wirtschaftstheorie in Verruf
zu bringen 2).
Andere haben auf die Erfahrungsthat-
sache hingewiesen, dass das Austauschver-
hältnis zwischen irgend einem bestimmten
Gute und allen übrigen Gütern auf verschie-
denen Märkten im einzelnen zwar regel-
mässig Verschiedenheiten aufweise, auch in
*) oder (für längere Zeiträume) von Ge-
treide, als dem hauptsächlichen Unterhalts-
mittel der Arbeiter.
') A. Smith, in seinen Ansichten über
..einen allgemeinen Massstab des Tauschwertes
der Güter" unklar und schwankend, hält die
Quantität von Arbeit, welche jemand mittelst
der in seinem Besitz befindlichen Güter einzu-
tauschen oder sich sonst zu verschaffen ver-
mag (an einzelnen Stellen seines Werkes auch :
die auf die Güter verwendete Arbeit!) für
das wahre von örtlichen und zeitlichen Ver-
hältnissen nnbeeinflusste Mass des Tauschwertes
der Güter; an Stelle der Arbeit anch das in
dem hauptsächlichen Unterhaltsmittel des Ar-
beiters, dem Getreide, ausg^edrückte Verkehrs-
äquivaleut der Güter (W. of N., B. I., Ch. V., ed.
1776, pp. 35, 39, 43). Er motiviert diese der Er-
fahrung widersprechende Ansicht, zu welcher
er durch das grundlegende Axiom seiner Preis-
lehre geführt wurde, überdies noch in un-
richtiger Weise dadurch „dass gleiche Quantitäten
von Arbeit zu allen Zeiten und allerorten von
gleichem Werte für den Arbeiter seien",
„da dieser immer das nämliche Opfer an Be-
quemlichkeit, Freiheit und Glück bringen
müsse" (a. a. 0., p. 38), während es doch seine
Aufgabe gewesen sein würde, den Nachweis zu
führen, dass gleiche Quantitäten von Arbeit
uns allerorten und zu allen Zeiten die näm-
liche Herrschaft über die Marktgüter gewähren,
— eine Meinung:, welcher er indes an einzelnen
Stellen seines Werkes ausdrücklich widerspricht.
Er hält auch das Problem eines Masses des
sogenannten „äusseren" und dasjenige des so-
genannten „inneren" Tauschwertes der Güter
(von dem ich im nächsten Abschnitte handle)
nicht strenge auseinander. — R. Malthus und
J. B. Say suchen die Lehre des A. Smith im
einzelnen zu berichtigen und zu vertiefen, ver-
wirren sie indes noch mehr, indem sie die Lehre
von einem allgemeinen Massstab des Tausch-
wertes der Güter mit ihren mangelhaften Preis-
theorieen in Einklang zu bringen bemüht sind.
— D. Ricardo neigt infolge der ihm eigentüm-
lichen Preistheorie dazu, in der auf die Güter
verwendeten Arbeit das Mass des Tausch-
wertes der Güter zu erkennen. Der Streit,
welcher unter den hauptsächlichen Vertretern
der klassischen Nationalökonomie über die obigen
Fragen sich erhob, hat zu zahlreichen Wand-
lungen und Neuformulierungen ihrer Ansichten
geführt (s. insb. J. B. S a v in der 4. Auflage seines
Traite 1819, L. II, Ch. 1; D. Ricardo in der
3. Aufl. seiner Principles of P. E., 1821, Ch. I
u. XXX; R. Malthüs in der 2. Aufl. seiner
Principl. of P. E., 1836, Ch. II, p. 83 ff. und
in dessen: On the Meaning which is most
usually and most correctly attached to the
Term „Value of a Commodity", 1827. (In den
Transactions of the Royal Society of Literature
of the U. K., 1829, Vol. I., Part IL, p. 74 ff.) Die
Ergebnislosigkeit dieser Untersuchungen geht
wohl am klarsten aus der ebenso absprechenden
als missverständlichen Behandlung der Frage
bei J. S. M i 1 1 (Princ. of P. E., B. lU., Ch. XV)
hervor.
90
Geld
der Zeit Waadlung-en erfahre, indes doch
nicht in der gleichen Richtung, vielmehr
der Verteuerung der einen Ware regelmässig
eine Verbilligung anderer Waren gegenüber-
stünde. Im Austauschverhältnisse zwischen
einem bestimmten Gute und einer Vielheit
anderer Güter zusammengenommen, ver-
möchten fleranach die Schwankungen der
Austauschverhältnisse im einzelnen sich —
zum mindesten im grossen und ganzen — auf-
zuheben: so zwar dass wir durch den Be-
sitz einer bestimmten Quantität des ersteren
— trotz der Verschiedenheit örtlicher und
zeitlicher Verhältnisse — gleich wolü auf
allen Märkten und zu allen Zeiten im wesent-
lichen über die gleiche Quantität aller üb-
rigen Güter zusammengenommen, oder einer
Vielheit von Gütern, zu verfügen ver-
möchten.
Die obigen Voraussetzungen sind indes
willkürlich. Die Bestimmungsgründe der
Preisbiidimg und der Prcisäuderungen sind
so zahlreich und so verschieden, sie machen
sich bei den verscliiedenen Güterarten in
verschiedenen Zeitpunkten und auf ver-
schiedenen Märkten auch in so ungleicher
Weise — bei der überwiegenden Mehr-zalil
der Güter bisweilen auch nur in einer
Richtung — geltend, dass die Annahme
einer vollständigen Kompensation ihrer Wir-
kung im Gesamtpreise ausserhalb jedes
eiuigermassen verlässlichen wissenschaft-
lichen Kalküls liegt. Die Annahme gm*,
dass es irgend ein Gut geben könne, dessen
Besitz ims auf allen Märkten und zu allen
Zeiten die Verfügungsgewalt über gleiclie
Quantitäten beliebig kombinierter
Vielheiten der übrigen Gtiter sichern würde
ider eigentlich i)raktische Kernpunkt des
i^roblems !), müsste geradezu als phantastisch
bezeichnet werden.
Noch andere haben die Schwierigkeiten
einer befriedigenden Lösung des obigen
Pix)blems dadurch zu überwinden gesucht,
dass sie nicht einzelne Güter, sondern
qualitativ (bisweilen auch quantitativ) in be-
stimmter Weise zusammengesetzte Güter-
komplexe als fixes Mass des äusseren
Tauschwerts der Güter liinstellten. Diese
Versuche beruhen auf dem Princip, dass
eine Vielheit von Gütern in ihrer Gesamt-
heit im allgemeinen eine grössere Stabilität
des äusseren Tauschwertes derselben ver-
bürge als ein einzelnes Gut, zumal wenn
bei der Wahl der Güter, aus denen der be-
treffende Güterkomplex besteht, von vorn-
herein darauf Bedacht genommen w^ird, dass
die auch hier vorausgesetzte Ausgleichung
der Preisbewegung unter allen denkbaren
Eventualitäten (z. B. ebensowohl bei einer
Aenderung der Arbeitslöhne als bei einer
solchen der Gnmdrente, des Kapitalzinses,
der ünternehmergcwinne, der Wohlhabenheit
der Bevölkerung u. s. f.) voraussichtlich ein-
träte.
Auch dieser l^ösungsmodus leidet indes,
was die Wahl der Güter im einzelnen be-
trifft, an dem Gebrechen der WLllkiu'lich-
keit. Was sein Princip betrifft, so ist liier-
bei unsere mangelhafte Kenntnis und die
schwierige Beherrschung der komplizierten
statistischen Sachlage, ferner der schwieric^e
Nachweis des präsumierten Ausgleiclis der
Preisschwankungen zu beachten. Auch darl
nicht übersehen werden, dass die Stabilität
des äusseren Tauschwertes eines Gütcrkoni-
plexes mit der Zahl der Güter, aus denen
er sich zusammensetzt, zumal bei richtigri
Wahl derselben,im allgemeinen zwai* zunimmt
man auf diesem Wege indes mehr und melu
zu Ergebnissen gelangt, die sich (man denke
z. B. an eine Gütergesamtheit, welche alli;
Konsumgüter umfassen und als ^LlSs de;
Tauschwerts der Güter dienen sollte) als theo
retisch und praktisch belanglose Tau toi o
gieen darstellen.
Auch der Gedanke, bei Feststellung oin^i
stabilen Masses des äusseren Tauschweil^^
Güter von relativ grosser Beständigkeit d«:-
»inneren Tauschwerts« (der eigenen Be
Stimmungsgründe der Preisbewegung) zi
wälilen ^), leidet an principiellen Gebre(*hoi
Dass es Gilter in der Volkswirtschaft giebi
deren »innerer Tauschwert« eine ivlati
grosse Beständigkeit aufweist, steht au ssr
Zweifel; ebenso, dass die betreffenden Güte
infolge dieses Umstandes, wie selbstvei
ständlich auch rüoksichtlich ihres äussere
Tauschwerts eine grössere Stabilität aufweise
als Marktgüter, bei denen die obige Vorauj
Setzung nicht zutrifft. Niemand zweifelt z. 1
daran, dass Gold oder die gebräuclilichstt-
Baumwollstoffe (infolge der relativ grosse
Beständigkeit ilires inneren Wertes !) \uis zi
gleich auch die Verfügungsgewalt über d
übrigen Marktgüter in einer von zeitliclu:
Verhältnissen minder abhängigen Weil
sichern, als etwa Hopfen oder Modeartik<
Der Mangel des obigen Verfahrens beste
indes darin, dass, auch durch die Wa
von Gütern, deren innerer Tauschwert eil
i-elativ gi'osse Beständigkeit aufweist, do<
nicht der Einfluss der auf seite all
übrigen Güter sich geltend machend«
Bestimmungsgründe der Preisbew^egiuig an
geschlossen wird.
Selbst durch eine sinnreiche Kombinati
der obigen Methoden vermag man sich ein
befriedigenden Lösung des Problems ii
wenig zu nähern. Das Problem der Fei
Stellung eines absolut stabilen Massstabes d
äusseren Tauschwertes der Güter, das
viele ausgezeiclmete Geister in so intensiv
*) J. B. Say, Traite, Liv. I, Ch. 27 (18
II., p. 90 ff.).
aeld
91
^Veise beschäftigt hat, kann als ein in der
Wissenschaft theoretisch klargestelltes, indes
unlösbares bezeichnet werden.^)
6. Versuche einer Messung der ört-
lichen Verschiedenheit und der Bewe-
gung^ des äusseren Tauschwertes des
Geldes, a) in Bücksicht auf bestimmte
Güterarten und bestinmite Güterkom-
plexe. Seitdem den Geldtheoretikern zum
Bewusstsein gelangt war, dass das Geld mit
Riicksicht auf verschiedene örtliche und
zeitliche Verhältnisse einen verscliiedenen
und wandelbaren äusseren Tauschwert habe
und das Streben nach anderen Gütern oder
nach Güterkomplexen von überall gleichem
und unwandelbarem äusseren Tauschwerte
aussichtslos sei : ist das Bestreben dei-selben
darauf gerichtet, die örtliche Verschieden-
heit und die Bewegung des äusseren Tausch-
wertes des Geldes zifferraässig festzustellen,
dieselben zu messen. Der Gedanke lag
nahe. Standen die Verschiedenheit und die
Schwankungen des äusseren Tauschwerts
des Geldes fest und war die Unsicherheit,
welche sie für das Wirtschaftsleben im Ge-
fol^ haben, nicht durch ein Gut von alle-
z*nt und überall gleichem äusseren Tausch-
werte zu beheben: so sollten dieselben
doch gemessen werden, damit auf diesem
Wege das obige Element der Unsicherheit
im Verkehrsleben beherrscht werde, nicht
uns belien-sche.
Das Pi*c)blem, welches von den Geld-
thooretikern vielfach mit dem Masse der
Bewcgxing des sogenannten »inneren
Tauschwertes« der Güter zusammengeworfen
worden ist, hat den Zweck, die allge-
meine Kaufkraft des Geldes (das allge-
meine Teuerungsverhältnis zwischen
dem Gelde tmd den Gütern, mit Rücksicht
auf verschiedene Märkte und auf ver-
schiedene Zeitpunkte) ziffermässig festzu-
steUen. Es wäre gelöst, wenn wir bei-
spielsweise festzustellen vermöchten, dass
auf dem einen Markte mit der nämlichen
Geldsumme im allgemeinen (imgrossen
und ^nzen) etwa um Vs mehr Güter als
auf einem bestimmten anderen Markte oder
auf dem gleichen Markte mit der näm-
lichen Geldsimime im allgemeinen etwa
um ein ^ g weniger oder um Vi mehr Güter
ausgetauscht werden könnten als in einem
anderen Zeitpunkte, etwa 1 Jahrhundert
früher oder später.
') Vgl. schon G. Montanari, della moneta
(1630), Cap. V. (Custodia p. a. III, p. 84) ; W. P e 1 1 y ,
Polit. Anatomy of Ireland (1631), Ch. X (in
Polit. öurvey bf Ireland, 1719, S. 66): F. Ga-
liani, Della moneta, (1749 u. 1780), Lib. II,
Cap, II (Custodi, p. m. III, p. 152 ff.); James
S t e u a r t , Inqniry mt. the Princ. of P. Oec. (1767),
Book in, Ch. in. (Vol. I., p. 535 ff., ed. 1767).
Die Schwierigkeiten, zu denen jeder Ver-
such zur Lösung des obigen Problems führt,
dessen grosse praktische Bedeutung von
selbst einleuchtet, sind keine geringen.
Dass bei Berechnung des Teuerungsver-
hältuisses zwischen dem Gelde und den
übrigen Objekten des Verkehi-s (diesen Ob-
jekten im allgemeinen, im grossen
und ganzen !) die auf verschiedenen Märkten
oder in verschiedenen Zeitpunkten be-
stehenden Vei'schiedenheiten der Geldein-
heit (also insbesondere Münzänderungen,
eine allfällige Entwertung des Papiergeldes
u. s. f.), ebenso der umstand zu berück-
sichtigen sei, dass Aenderungen im Me-
tallgehalte der Münzen und die Entwertung
der Geldzeichen nicht sofort und sclüecht-
hin im Austauschverhältnisse des Geldes
und der Güter zum Ausdrucke gelangen,
bedarf nicht erst der Bemerkung. In der
Berücksichtigung der Münzparitäten und
Valutenkurse ist die Hauptschwierigkeit
der obigen Berechnung indes nicht zu
suchen. Diese liegt vielmelir in umständen,
deren ungewöhnliche Komplikation ihi'e Be-
rücksichtigung bei der obigen Berechnung
auf das äusserste erschwert.
Schon die in Rücksicht auf verschiedene
Märkte oder Zeitpunkte vorzunehmende Be-
rechnung des Teueningsverhältnisses einer
b e s t i m m t e n G ü t e r ar t (z. B. des Weizens)
setzt nicht nm- die Zurückführung der dieser
Berechnung zu Grimde liegenden Preise auf
die nämliciie Mengeneiuheit, sondern auch
auf die nämliche Qualität des betreffenden
Gutes voraus, ein Umstand, welcher bei
einer nicht geringen Anzahl von Gütern
(man denke an Wohnräume, Arbeitsleistungen,
Nutztiere u. s. f.) zu grossen, bei einzelnen
Güterarten zu nahezu unübe^^vind]ichen
Schwierigkeiten führt. Hierzu treten überall
dort, wo die obige Berechnung nicht rück-
sichtlich einer bestimmten (jrütei'art, son-
dern aus Gütern verschiedener Art zusam-
mengesetzter Güterkomplexe (z. B. riick-
sichtlich des Güterbedarfs bestimmter Haus-
haltungen) vorgenommen werden soll, aus
der Ungleichheit der Konsumgewohnheiten
auf verschiedenen Märkten und in verschie-
denen Beobachtungsperioden sich ergebende
Schwierigkeiten besonderer Art, welche selbst
durch die Substituierung sich vikarierender
Güter und Preise nui* in unvollkommener
Weise überwunden zu werden vermögen.
Immerhin kann die Feststellung des
Teuerungsverhältnisses , rücksichtlich ein-
zelner Güterarten, ebenso rücksichtlich quali-
tativ imd quantitativ in bestimmter Art zu-
sammengesetzter Güterkoraplexe für ver-
schiedene örtliche und zeitliche Verhältnisse,
als ein theoretisch klargestelltes und, soweit
die der Berechnung zu Grunde zu legende
statistische Sachlage bekannt ist, auch als
92
Geld
ein praktisch lösbares Problem angesehen
werden. Wir vermögen unter den obigen
Voraussetzungen beispielsweise nicht nur zu
berechnen, dass das Teuerungsverhäitnis der
Mengeneinheit eines bestimmten Gutes, son-
dern auch dasjenige eines «pialitativ imd
quantitativ bestimmten Güterkomplexes, z. B.
das Teuerungs Verhältnis des Güterkonsums
eines bestimmten Haushaltes (auch dasjenige
einer bestimmten Güterproduktion), auf zwei
verschiedenen Märkten im gleichen oder
auf dem nämlichen Markte in zwei ver-
schiedenen der Vergangenheit angehörigen
Zeitpunkten sich wie 1 : l±x verhalten.
In der That sind auch zahlreiche Be-
rechnungen dieser Art mit Rücksicht auf ver-
schiedene Orte und Zeitpunkte (z. B. Berech-
nungen des Verliältnisses der Preise von Ge-
treide bestimmter Art für verschiedene Märkte
oder des ^Verhältnisses der Kosten der einer Ar-
beiterfamilie bestimmter Art nötigen Unter-
haltsmittel für Wien und Berlin), ebenso Be-
rechnungen ähnlicher Art für verschiedene
Zeitpunkte (z. B. des Verhältnisses der Preise
einzelner Güter oder der Kosten der einer
Beamtenfamüie bestimmter Kategorie nötigen
ünterhaltsmittel zur Zeit Maria Theresias
und der nämlichen Güter bezw. der näm-
licnen Unterhaltsmittel in der Gegenwart)
gemacht worden.
Aus der so festgestellten örtlichen Ver-
schiedenheit und der Bewegung der Markt-
preise vermag dann — durch Umkehnmg des
Verhältnisses ^) — die örtliche Vei-schieden-
heit imd die Bewegung der Kaufkraft des
Geldes in Kücksicht auf die betref-
fenden Güter und der betreffenden
(qualitativ und quantitativ be-
stimmten) Güterkomplexe ermittelt
zu werden.
Die Feststellungen der letzteren Art
können immerhin als eine Messung der
örtlichen Verschiedenheit und der Bewegung
des (äusseren) Tausehwertes des Geldes —
in Rücksicht auf einzelne Gütorarten bezw.
auf qualitativ und quantitativ bestimmte
Güterkomplexe — bezeichnet werden. 2)
^) Wenn der Geldpreis von Usanceweizen
in Odessa und London sich wie x : x + y ver-
hält, so verhält sich die Tauschkraft (oder der
sog. äussere Tauschwert!) des Geldes in Odessa
und London (in Rücksicht auf den obigen Ar-
tikel) wie X -|- y : X, mid wenn der Geldpreis der
zum Unterhalt einer Arbeiterfamilie erforder-
lichen Güter zur Zeit Friedrichs 11. und des
qualitativ und quantitativ j^leichen Güter-
komplexes in der Gegenwart sich wie a : a -f- z
verhält, so verhält sich die Tauschkraft des
Geldes (in Rücksicht auf die nämlichen Zeit-
perioden und den nämlichen Güterkomplex) wie
a + z : a.
*) Dem obigen Probleme ist dasjenige der
Feststellung veränderlicher Geldsummen,
welche uns aller Orten und zu allen Zeiten die
b) in Bücksicht auf die Güter über
haupt. Die Bedeutung, welche Berech
nungen der obigen Art, trotz mannigfache]
Mängel, die ihnen anhaften, sowohl für dai
praktische Leben als für die Theorie haben
ist klar. Ebenso sicher ist es aber auel]
dass jeder Rückschluss aus den Ergebnissei
einzelner dieser Berechnungen (z. B. aus de
örtlichen Verschiedenheit oder derBewegiini
der Tauschkraft des Geldes in Rücksicht an
Weizen, oder den Unterhaltsbodarf eine
Arbeiterfamilie !) auf die örtliche Versclüedeu
heit oder auf die Bewegung der Tauscli
kraft des Geldes überhaupt unstatthaft is
Der äussere Tauschwert des Geldes kan
rücksichtlich gewisser Artikel (z. ß. de
Weizens oder des Fleisches) auf dem eine
Markte grösser als auf dem anderen bez\
auf einem bestimmten Markte gestiegen soL
während doch auf den nämlichen "Mäikto
rücksichtlich anderer Waren das umgekohri
Verhältnis stattzufinden vermag. Ebonj
kann der äussere Tauschwert des Geld«
rücksichtlich eines bestimmten Güterkonsun
(z. B. der Mittel zum Unterhalte eines kiudo
reichen Tagelöhners) auf einem bestimmt!
Markte (z. B. in einer bestimmten Gro-;
Stadt) geringer sein, als rücksiclithch d
nämlichen Güterkomplexes auf einem anden
Markte (z. B. in einem Landstädtchei
während doch rücksichtlich eines qualitat
und quantitativ anders zusammengesetzt*
Güterkonsums (z. B. rücksichtlich des Hau
haltes eines reichen Junggesellen, seil
desjenigen eines unverehelichten Ai*beite:
auf den nämlichen Märkten das umgekelii
Verhältnis bestehen kann.
Es ist bei dieser Sachlage klar, dass \
aus der örtlichen Verschiedenheit und der 1
wegung des sogenannten äusseren Tausi.
wertes des Geldes in Rücksicht
einzelne Güterarten oder (quantitativ u
qualitativ) bestimmte Giiterkomplexe koii
Rücksclüuss auf die örtliche Voi-scliied«
heit und die Bewegung des (äusseren) Tau^^t
Werts des Geldes überhaupt ziehen düii'
Es wäre dies eine diu^chaus unzulilss
Verallgemeinerung, ein Induktionsschh
gleiche Verfügungsgewalt über die Güter >
schaffen würden, anäog. Auch dies Prob
ist selbstverständlich nur rücksichtlich
stimmter Güterarten oder in quantitativ
qualitativ bestimmter Weise zusaramengeset:
Güterkomplexe — nicht aber rücksichtlich
Güter überhaupt oder rücksichtlich beliebig: k
binierter Gütergesamtheiten — lösbar, wobei n
die Schwierigkeit der Voraussicht
Preisbewegfung m der Zukunft (für welche
ja die preisstatistische Grundlage fehlt) in <
jenigen Fällen in Betracht gezog-en wei
muss, in denen die Berechnung sich n
nur auf die Vergangenheit oder die Gegen \\
sondern auch auf die Zukunft bezieht. (
d. Art. Preis.)
Geld
93
welchem in zahli*eichen Fällen ebensoviele
negative Instanzen entgegenstünden als die
Zahl der ihn stützenden FäUe. Die Lösung
des obigen Problems ist auf induktivem
Wege nicht erreichbar.
WoUen wir zu einer wenigstens im
allgemeinen richtigen ziffermässigen
Feststeilung der örtlichen Verschiedenheiten
und der Bewegung des äusseren Tauschwertes
des Geldes im Verhältnisse zu den
Gütern überhaupt, und zwar auf
L reisstatistischer Grundlage, ge-
ngen: so müssen wir zu Durchschnitts-
ziffern unsei-e Zuflucht nehmen, deren
Eigentüniliclikeit ja darin besteht, dass sie
zwar nicht in Rücksicht auf die einzelnen
Fälle, auf die sie sich beziehen, wohl aber
»im allgemeinen« (»im grossen imd ganzen«)
richtig sind.
Indem wir zu dem obigen Hilfsmittel
CTeifen, wird das uns liier beschäftigende
Problem indes nicht unwesentlich verschoben.
Wir müssen uns gegenwärtig halten, dass
es sich nun nicht mehr um die Messung
der örtlichen Verechiedenheit und der Be-
w(^ng realer einheitlicher Aus-
tauschverhältnisse, sondern nur um eine
ziffermässige Feststellung ihrer Verschieden-
heit und Bewegimg im grossen und
ganzen handelt.^)
Gleichwohl wird niemand den Wert und
die Bedeutimg von Durchschnittsziffern der
obigen Art und der auf dieselben begrün-
deten Berechnungen in denjenigen FäUen
leugnen wollen, in welchen es sich nicht um
<lie Erkenntnis konkreter Verhältnisse oder um
logisch allgemeine Urteile, sondern um Er-
gebnisse der Forschung handelt, welche die
ortliche Verschiedenheit und die Bewegung
des äusseren Tauschwertes des Geldes uns
nur in allgemeinen Zügen (im grossen
und ganzen) zum Bewusstsein bringen sollen.
Was die verschiedenen in Vorschlag ge-
brachten Verfahnmgsarten zur Lösung des
obigen Problems betrifft, so scheint mir bei
dem gerade hier sehr lebhaften Methoden-
ßtreit vielfach übersehen worden zu sein,
dass sich jede Methode wesentlich nach
der Natur und Eigenart der angestrebten
Eigebnisse der Forschung zu richten hat
und demnach auch hier von einem einheit-
liehen (etwa allein richtigen!) Verfahren
nicht die Rede sein kann.
Soll ein Gesamturteil über die
^) Logisch unterscheiden sich die Ergeb-
nisse des obigen auf Durchschnitten begründeten
Verfahrens von den Ergebnissen der Induktion
dadurch, dass die letzteren allgemeine Ür-
teUe sind, welche auch im besonderen richtig
zn sein beanspruchen, während die ersteren nur
im grossen und ganzen, nicht aber im
besonderen, wahr sind.
örtliche Verschiedenheit und die
Bewegung des äusseren Tausch-
wertes des Geldes gewonnen werden,
so werden wir wohl am zweckmässigsten
die Preise der Um satzmengen (nicht
das arithmetische Mittel der Einheitspreise)
einer möglichst grossen Anzalil von Gütern
für die betreffenden . Märkte und Zeitpunkte
unserer Bei*ochnung zu Grunde zu legen
haben, da ja, in Rücksicht auf den obigen
Zweck (die Feststellung eines Gesamturteils
über den äusseren Tauschwert des Geldes
unter verschiedenen örtlichen und zeitlichen
Verhältnissen !), die Preisbildung jeder Güter-
art nicht die gleiche Bedeutung hat.
Dagegen werden wir überall dort, wo
es sich um die Beantwortung der Frage
handelt: ob ein bestimmter Geldbeti^
(oder ein bestimmtes Nominal vermögen und
Nominaleinkommen) uns auf einem be-
stimmten Markte oder in einem bestimmten
Marktgebiete (im grossen und ganzen!) die
Möglichkeit der Konsumtion, der Pro-
duktion oder der Erreichung anderer Wirt-
schaftszwecke in höherem oder geringerem
Masse gewälirt als auf einem anderen
Markte, oder um die Frage : ob dies auf dem
nämlichen Markte in einem bestimmten
Zeitpunkte in höherem oder geringerem
MaSvSe der FaU ist als in einem anderen
Zeitpunkte, — wohl am zweckmässigsten daran
thun, unserer Berechnung die durchschnitt-
lichen Kosten möglichst vieler gleichartiger
Haushalte bezw. die diu'chschnittlichen
Kosten • möglichst vieler gleichartiger Pro-
duktionen u. s. f. zu Grunde zu legen.
Ist unsere Absicht z. B. darauf gerichtet,
ein Gesamtiu-teil über die Tauschkraft des
Geldes auf verschiedenen Märkten
rücksichtlich der Führung eines
Haushaltes (eines solchen im allge-
meinen !) zu gewinnen : so werden wir zu-
nächst ein Schema aller wichtigeren Arten
von Haushaltungen, hierauf den durch-
schnittlichen Aufwand für jede Kategorie
dieser Haushaltungen auf dem einen Markte
und (unter Zugrundelegung einer möglichst
gleichen Konsumtion von Gütern innerhalb
der einzelnen Kategorieen von Hauslialten)
auch für den anderen Markt festzustellen
haben. Durch die Summierung der obigen
Kostenztffern für jeden der beiden Märkte
gelangen wir zu Gesamtziffern, deren Ver-
gleichung uns im grossen und ganzen
ein Urteü über die Verschiedenheit der
Haushaltungskosten auf den beiden Märkten
und mittelbar ein solches über die ver-
schiedene Tausch kraft des Geldes in Rück-
sicht auf die Fühnmg eines Haushaltes (im
allgemeinen !) ermöglicht.
Aehnliche Berechnungen der verschiedenen
Tauschkraft des Geldes können auch rilck-
sichtüch der Produktionskosten und
94
Geld
des für andere wirtscliaftliclie Zwecke im
allgemeinen nötigen Aufwandes, desgleichen
fiir vei"schiedene Zeitepochen angestellt
werden, wobei, wie kaum bemerkt zu werden
braucht, das einzuschlagende Verfahren den
durch die Verschiedenheit des Erkenntnis-
zweckes gebotenen Modifikationen unterliegt.
Auch die Kosten der in verschiedenen
Wirtschaftsgebieten innerhalb bestimmter
Zeiträume oder auf den nämlichen Märkten
innerhalb verschiedener Zeiträume von den
Aufwands>\nrtschaften oder von den Erwerbs-
wirtschaften überhaupt verwendeten
Gütermengen vermöchten (wenn richtig mit
einander verglichen!) die preisstatistische
Grundlage für theoretisch und praktisch
nicht schlechthin wertlose Gesamturteüe
über die örtliche Verschiedenheit und die
Bewegung des äusseren Tauschwertes des
Geldes in Rücksicht auf bestimmte Erkennt-
niszwecke zu bilden.
Eine abstrakte (allen beliebigen theo-
retischen und praktischen Zwecken, welche
mit Berechnungen dieser Art augestrebt wer-
den können, dienende) Lösung der Probleme
des äusseren Tauschwertes des Geldes scheint
mir allerdings uneiTcichbar zu sein.
7. lieber die örtliche Verschieden-
heit ninl die Bewegung des sogenannten
inneren Tauschwertes desGeldes, lieber
den sogenannten äusseren Tauschwert
des Geldes, seine örtlichen Verschiedenheiten
und seine Bew^egimg, endlich über die Ver-
suche, ein Mass desselben in Rücksicht auf
verschiedene örtliche und zeitliche Verhält-
nisse zu finden, habe ich in den voran-
gehenden Abschnitten gehandelt. Wesent-
lich verschieden von den eben behandelten
Frj^en (bei denen es sich hauptsächlich um
die mit dem Besitze von Geld auf ver-
schiedenen Märkten oder in verschiedenen
Zeitpimkten verbundene Verfügungsgewalt
über gi-össere und kleinere Quantitäten von
Kaufgütern handelte) ist das Problem des
sogenannten inneren Tauschwertes
des Geldes.
Ich werde zunächst das Problem selbst,
welches häufig mit dem des »äusseren Geld-
wertes« zusammengeworfen worden ist, klar
zu stellen suchen.
Die Austauschverhältnisse der Güter sind
das Ergebnis (dieResultante)vonBestimmungs-
gründen, welche auf beiden Seiten der
Tauschobjekte wirksam sind. Es ist un-
denkbar, das Austauschverhältnis zweier
Güter ausschliesslich auf Bestimmungsgründe
zurückzuführen, w^elche nur auf der einen
Seite der beiden Tauschobjekte liegen. Da-
gegen können bereits bestehende Austausch-
verhältnisse der (jüter allerdings durch eine
Aenderung von Bestiramungsgründen modi-
fizieili werden, welche lediglich auf einer
Seite der Tauschobjekte hervortritt. Die
konstituierenden Faktoren der Preishildun^
sind in ihrer Gesamtheit niemals, die um
modifizierenden unter Umständen allerdings
nur auf einer Seite der auszutauscliendei
Güter vorhanden.
Das Gesagte gilt auch von den Markt-
preisen. Auch die Austauschverhältnisse
der Kaufgüter und des Geldes sind stol;
das Ergebnis von Bestimmungsgründen
welche sowohl auf der Seite der ersteroi
als auch auf der Seite des Geldes liopreu
Die Schwankungen im Geldpreise de
Waren können dagegen im konkreten Fall
auch durch eine Aenderung der Bestimmung^
gründe der Preisbildung veranlasst werdor
welche entweder nur auf der einen odo
nur auf der anderen Seite der hier in Red
stehenden Verkelirsobjekte — auf Seite dt
Kaufgiiter oder des Geldes — eintritt.
Die wichtige Frage nach der Natur un
dem Masse des Einflusses, welchen di
Aenderung der auf seite des Gel de
liegenden Bestimmungsgründe der Preii
bildung auf die Austauschverhältnisse d(
Geldes und der Kaufgüter (auf die Mark
preise) ausübt, ist das Problem des sogi
nannten inneren Tauschwertes d<
Geldes und seiner Bewegung.
8. Die populäre Anffassnng über d
Beständigkeit des inneren Wertes d<
Geldes. Es ist eine dem ökonomisclK
Denken der grossen Menge eigentümlicl
Ungenauigkeit, welche uns in zahlreich»
Vorgängen des wirtschaftlichen Lebens ii
ablässig entgegentritt, dass die Bewegunij:»
des inneren Tauschwertes des Geldos unl
achtet bleiben. Die Praktiker auf dem G
biete der Wirtschaft sind gemeiniglich £
neigt, jede Aenderung der Marktpreise d
Güter (jede Verschiebung im Austausch v<
hältnisse des Geldes und der Kaufgüter!) c
Bestimmungsgründe zurückzuführen, welc
rücksichtlich der Kaufgüter wirksam i
woitlen sind, in dem Gel de aber ein von d
Bestimmungsgründen, welche das obige Ai
tausch Verhältnis modifizieren, unbeeinfluss
Verkehrsobjekt, eine in diesem Sinne i
veränderliche Wertgrösse« zu erkennen.
Der alte Irrtum macht sich im praktiscl
Wirtschaftsleben noch allenthalben beme
bar: in der Sprache des gemeinen Lebo
in dem ökonomischen Kalkül des Rontnt
in dem populären Werturteile über dauori
Geldrenten, selbst in der Bilanz des Fal
kanten und des Kaufmannes.^) Der Umsta
') Nichts ist gewöhnlicher, als dass ein "\
mögen oder Betriebskapital als verdoppelt
zeichnet wird, wenn deren äusserer Tauscliv
(deren Geldäquivalent) im Laufe der Zeit i
verdoppelt hat. Das gleiche gilt vom 1
kommen. Ebenso spricht man von dem Stei
oder vSinken des Wertes einer Ware, je m
Geld
95
dass alle Güter regelmässig in Geld summen,
die letzteren aber nicht umgekehrt in Quanti-
täten von Kaufgiitem bewertet zu werden
pflegen, der Umstand, dass im Gegensatze
zani eifrig beobachteten Wechsel des »Geld-
wertes der Kauf guter«, das Korrolar
desselben, der Wechsel des » Wa renwertes
des Geldes«, im gemeinen Leben nahezu
völlig unbeachtet bleibt, ist wohl der haupt-
sächliche Grund der obigen Erscheinung.
Das Geld, welches in so vieler Beziehung
thatsächlich eine eigenartige Stellung in der
Volkswirtschaft einnimmt, wird im öko-
nomischen Denken und Handeln der grossen
Menge auch in der obigen Rücksicht als
eine exceptionelle Erscheinung, ja als eine
Anomalie der Volkswirtschaft betrachtet.
9. Die wissenschaftliche Auffassung
über den inneren Tausehwert des Geldes
und seine Bewegung. Die obige popu-
läre Auffassung, welche auch von den
Schriftstellern des Altertums und den Geld-
theoretikern des Mittelalters geteilt wird,
vermochte sich gegenüber der fortschreiten-
den wissenschaftlichen Untersuchung nicht
zu behaupten. Jede unbefangene Analyse
der Markterscheinungen lässt uns den tief-
gehenden preisändernden Einfluss erkennen,
welchen die wechselnde Cirkulationsmenge
des Geldes, der wechselnde Bedarf der
Volkswirtschaft an Cirkulationsmitteln, die
wachsenden oder sich mindernden Produk-
tionskosten der Geldmetalle, der mehr oder
minder sich ausdehnende Gebrauch geld-
ersetzender Wertzeichen, und so viele andere
lediglich auf der Seite des Geldes liegende
Aenderungen in den Bestimmungsgi-ünden
der Preisbildung, auf das Austauschverhält-
nis des Geldes und der Kaufgüter ausüben.
Die Wissenschaft ist zu der obigen,
durch die umfassendste Erfahrung seither
bestätigten Erkenntnis gleichwohl nur sehr
aUmähiich vorgedrungen. Erst Bodin hat
(imter dem Einfluss des Zuströmens von
Edelmetallen aus Amerika nach dem Westen
Eiuropas und der dadurch, insbesondere in
der Mitte und der zweiten HäJfte des 16.
Jahrhunderts, bewirkten Preisrevolution) das
der richtigen Einsicht entgegenstehende
populäre Vorurteil bekämpft i); die strenge
dem ihr geldwirtschaftliches Marktäquivalent
grösser oder geringer geworden ist, ohne die
Bewegimg im sogenannten inneren Tauschwerte
des Geldes zu heachten. (Vgl A. Mars hall,
Principles of Economics, 3. ed., 1895, p. 673 if.)
*) Je trouve, que la chart6 que nous voyons,
viens qnasi ponr quatre on cmq causes. La
principale et presqne seule (que personne ius-
ques icy n*a touchee) est l'abondance d'or et
d'argent, qni est aujourd'huy en ce royaume
plus grande, qn'elle n'a este il y a quatre cens
ans ... La principale cause (de la Charte;, en
qnelque Heu que ce seit, est l'abondance de ce
wissenschaftliche Formulierung der ol)igen
Lehre war erst unserer Zeit vorbehalten^).
10. Die Idee eines universellen und
unwandelbaren MaHsstabes des ,anneren
Tauschwertes*' der Güter. Seitdem auch
das Geld als ein von den Bestiniraungs-
grlinden der Preisbildung beeinflusstes Ver-
kehi-sobjekt erkannt war, macht sich unter
den Geldtheoretikern das Streben geltend,
irgend ein anderes Marktgut zu entdecken,
dessen Austauschverhältnis zu allen übrigen
Giitern nicht durch Bestimmungsgründe
beeinflusst werden würde, die auf seite
dieses Gutes liegen würden. Sie suchen
nach einem Gute, dessen Austauschverhält-
nis zu allen übrigen Gütern zwar immerhin
örtlichen Verschiedenheiten und einem
Wechsel unterliegen könnte: indes doch
nur solchen, welche die Wirkung von Ur-
sachen wären, welche auf Seite der letzteren
(der übrigen Güter!) liegen würden; — sie
suchen nach einem Gute von universellem
und unwandelbarem »inneren Tauschwerte«.
Die Bedeutung der Entdeckung eines
Gutes dieser Art für die Theorie und die
qui donne estimation et prix aux choses. (Dis-
cours de Jean Bodin sur le rehaussement et
diminution des monnayes. Paris, chez Jacques
du Pays, 1678 4^ fol. f if.; in der lat. Ueber-
setzung von Herrn. Conring: Job. Bodini respons.
ad paradoxa Malestretti de caritate rerum,
Helmstad. 1671, p. 11 ff.)
^) There has been no more fr.nitful source
of error in the very Clements of political eco-
nomy, than the not distinguishing between the
power of purchasing generally and the power
of purchasmg from mtrinsic causes; and it is
of the highest importance to be fully aware
that, practically, when the rise or fall in the
value of a commodity is referred to, its power
of pnrchasing arising from extrinsic causes is
alwavs excluded (R. M a 1 1 h u s , Princ. of P. E.,
2. ed., 1836, p. 60.) — A. Smith deutet den
Unterschied zwischen dem äusseren und inneren
Tauschwert der Güter in seiner Untersuchung
über den „real price" und den „nominal price"
der Güter und der Arbeit an. Er meint
mit Rücksicht auf die Schwankungen im Preise
der Arbeit: „Equal qnantities of labour are
always of equal value to the labourer . . . ."
„In reality it is the goods (nicht die Arbeit!)
which are cheap in the one case and dear in
the other." (W. o. N., B. I., Ch. V., 1776, p 39.) Er
hält indes, was übrigens zum Teile auch von
Malthus gilt, die Probleme der örtlichen Ver-
schiedenheit und der Bewegung des sogenannten
äusseren Tauschwertes und diejenigen des
inneren Tauschwertes des Geldes nicht streng
auseinander. — Vgl. hierzu insbesondere die in der
obigen Rücksicht überaus verdienstvolle Ab-
handlung von W. Lexis: Ueber gewisse Wert-
gesamtheiten und deren Beziehung zum Geld-
wert (Tübing. Zeitsehr. f. d. ges. Staatsw., 44.
B., 1888, S. 222ff.) und V.Hermann, Staatsw\
Unters., 1832, S. 101 ff. und 2. Aufl. 1870, S
447 ff.
96
Geld
Praxis der mensclilichen Wirtschaft wäre
kaum geringer als diejenige eines Gutes von
universellem imd unwandelbarem äusseren
Tauschwerte (s. oben S. 88 ff.). Mit Hilfe
desselben vermochten wir die örtlichen
Verschiedenheiten und die Bewegung im
Austauschverhältnisse aller Güter unter
einem praktisch überaus wichtigen Ge-
sichtspunkte richtig zu beiuleilen. Würde
nämlich das Austauschverhältnis zwischen
dem ersten und irgend einem anderen Gute
eine Veränderung erfahren : so wüssten wir
von vornherein und ohne jede weitere
Untersuchung, dass diese Verschiedenheit
oder Veränderung auf Bestimmungsgründe
der Preisbildung zurückweise, die auf seite
des letzteren hegen. Rücksichtlich der
gegenwärtig so überaus schwer zu ent-
scheidenden Frage, ob die Ursache einer zu
beobachtenden Verschiebung des Austausch-
verhältnisses zwischen dem Gelde und einer
Ware in dem ersteren oder in der Ware
liege, wäre dann jeder Zweifel beseitigt.
Ein Gut der obigen Art wäre ein wahres
fios /not noi) OTM in der uns nirgends einen
festen Stützpunkt bietenden Bewegung der
Preise.
Ein Gut dieser Art wäre auch in einer
anderen Rücksicht von gei-adezu unschätz-
barer praktischer Bedeutung. Wer über
eine bestimmte Quantität desselben (z, B.
als jährliches Einkommen oder als Forde-
rung an einen Schuldner) verfügte, wäre in
seiner Wirtschaft und in der Herrschaft
über die übrigen Verkehrsobjekte zwar
auch dann noch von der örtlichen Verschie-
denheit und der Bewegung der Austausch-
verhältnisse der Güter abhängig; indes
doch nur insoweit, als die Bestimmimgs-
gründe derselben (z. B. eine Verändenmg von
Angebot imd Nachfrage, Aenderungen in
den Produktions- und Konsumtionsverhält-
nissen, Fortschritte in der Technik der
Produktion u. s. f.) sich auf seite der mit
dem wertbeständigen Gute einzutauschenden
Gtlter geltend mac'hen würden. Er wäre
aber dagegen gesichert, dass seine wirtschaft-
liche Lage durch eine Aenderung des »inneren
Tauschwertes« der »sein Einkommen bildenden
(wertbeständigen)Güter,d erObjekte seiner For-
denmg u. s. f. eine Aenderung erfahren könnte.
Die Versuche, die zu diesem Zwecke
unternommen wurden, laufen bei den Klassi-
kern luid Nachkkissikern vielfach parallel
mit dem Streben nach einem Gute von uni-
versellem und unwandelbarem äusseren
Tauschwerte. Diese Schriftsteller unter-
suchen schlechtliin das Problem eines un-
wandelbaren Massstabes des »Tauschwertes«
oder halten in üiren Ausführungen den
Unterschied zwischen dem »äusseren« und
dem »inneren Tausehwerte« der Güter doch
nicht strenge fest. Sie bezeichnen die
Arbeit, das Getreide, den Unterhaltsbedarl
eines gewöhnlichen Arbeiters oder ähnliche
Güterkomplexe als universellen und un-
wandelbaren jyiassstab des Tauschwortes dei
Güter, worunter sie ohne strenge Konsequen;
bald einen Massstab des »äusseren«, bah
einen solchen des »inneren Tauschwertes
verstehen. Auch die späteren Versuch
bewegen sich zum Teile in der obige
Richtung. Vielfach macht sich in der Litte
ratur auch die Meinung geltend, dass es sie!
hier um ein unlösbares Problem, ja ur
eine besonders abstrakte, ja niissverstäntl
liehe Formulierung der »nationalökonora
sehen Quadratur des Zirkels« handle. Di
Lösung der überaus verwickelten Frci^j
sei, wo .möglich, noch aussichtsloser a
die analoge des Ȋusseren Tauschwertes
ja undenkbar.
Was zunächst die Schwierigkeit d(
theoretischen Klarstellung des obigen Pro
lems betrifft, scheint mir diese Meimu
jedenfalls unrichtig zu sein.
Dass auf unseren Märkten weder e
Verkehrsobjekt vorhanden ist, dessen Av
tauschverliältnisse zu allen übrigen G
tern im Laufe der Zeit imverändert bleibe
noch auch ein solches, rücksichtlich dess
die bei den übrigen Objekten des V*
kehrs wii'ksamen preismodifizierenden E
flüsse sich schlechterdings nicht gelte
machen (dass es somit auf unseren Märk1
weder ein Verkehrsobjekt giebt, dess
»äusserer«, noch ein solches, dessen »in
rer Tauschwert« allerorten und zu al
Zeiten der nämliche ist, steht all
dings gleicherweise ausser jeddm Zwei
Nichtsdestoweniger besteht zwischen d
Probleme der Feststellung eines Gutes ^
stabüem äusseren Tauschwerte imd d(
jenigen der Feststellung eines solchen
stabilem inneren Tauschwerte ein wesc
lieber Unterschied. Die hauptsächli
Schwierigkeit einer Lösung des erste
Problems liegt in der notwendigen Bert
sichtigung der preisändernden Einflüsse a
übrigen Marktgüter, während diese Seh''
rigkeit bei Lösung des letzteren Probl
von vornherein — schon durch die Probl
Stellung ! — ausgeschossen ist. Das Prol
der Feststellung eines Gutes von bos
digem inneren Tauschwerte ist ein \\i\
gleichlich einfacheres als das analoge
äussieren Tauschwertes.
Dcizu kommt ein Umstand, welcher,
besondere auch für die Frage der praktis«
Durclifühnmg des obigen Gedankens,
grösster Wichtigkeit ist. Die preisänderi
Einflüsse machen sich auch rücksichtlicl
nämlichen Ware teils in positiver,
in negativer Richtung geltend. Diese
vermögen sich demnach bei der Pi-eisbii«
der betreffenden Ware aufzuheben.
Geld
97
preisändernden Einflüsse, welche aiif seite
eines bestimmten Verkehrsobjektes sieh
geltend machen, sind auf das Austausch-
verhältnis derselben und aller übrigen
Güter (auf die thatsächliche Preisbewegung)
mu" insofern von Einfluss, als diese innere
Ausgleichung nicht stattfindet. Der Weizen-
preis wird beispielsweise weder sinken noch
auch steigen, wenn die Steigerung des An-
gebots durch eine solche der Nachfrage in
ihrer Wirkung aufgehoben wiixi. Eine
solche die Stabilität des »inneren Tausch-
wertes« eines einzelnen Gutes ermöglichende
innere Ausgleichung der positiven und
negativen Bestimmungsgründe der Preis-
bildung ist nicht undenkbar; die Möglichkeit
eines Gutes von stabilem inneren Tausch-
werte ist nicht schlechthin ausgeschlossen.
Selbst das praktische Streben nach
einem Gut von stabilem »inneren Werte«,
scheint mir, sollte nicht von vornherein zu-
rückgewiesen werden. Der Umstand, dass
die auf den Markt gelangenden Quantitäten
gewisser Güter beliebig regidiert werden
können, bietet uns die Möglichkeit, die
sonstigen auf seite derselben hervortreten-
den, ihr Austauschverhältnis mit anderen
Gütern modifizierenden Einflüsse wieder
aufzuheben. Es giebt keine Güter, deren
»innerer Tauschwert« im freien Verkehre
ein unwandelbai-er ist, wohl aber vielleicht
solche, deren »inneren Tauschwert« durch
eine auf den obigen Erfolg hinzielende Re-
gulierung der zu Markte gelangenden Quan-
titäten imverändert zu erhalten, nicht
ausser dem Bereiche der Möglichkeit liegt.
Dies gilt insbesondere von jenem Verkehrs-
objekte, welches bei der hier in Rede
stehenden Frage in erster Reihe in Betracht
kommt, von dem Gelde, dessen Cirku-
lationsmenge (durch Einschränkung der Aus-
prägungen, l)ezw. durch Ausdehnung oder
Einscliränkung der Wirksamkeit der geld-
ersetzonden Institutionen !) im internen Ver-
kehre zu regeln, nicht ausserhalb der Macht-
sphäre der Staaten und Staaten Verbindungen
hegt. Selbst rücksichtlich des internatio-
nalen A'erkehrs scheint mir die Möglich-
keit einer Regelung des inneren Tausch-
wertes des Geldes nicht schlechthin ausge-
schlossen zu sein. Die Idee eines Verkehre-
objektes, dessen »innerer Wert«^ , um im
Bil<le zu bleiben, stets »auf dem nämlichen
Niveau« erhalten bleiben würde, ist gerade
in Rücksicht auf das Geld, bei dem sie
sich teilweise ja schon gegenwärtig in
automatisc^her Weise vollzieht, keineswegs
in sich widerspruchsvoll, keine ökono-
mische Quadratur des Zirkels. Es
ist kein undenkbares Beginnen, die im un-
beeinflussten Laufe der Dinge auch auf
seite des Geldes hervoi-tretenden preismodi-
fizierenden Einflüsse durch Beeinflussung
der Umlauß5menge des Geldes und dm'ch
Massregeln anderer Art in ihren Wirkungen
auf die Güterpreise aufzuheben und solcher-
art ein Umlaufsmittel zu schaffen, welches in
dem hier dargelegten Sinne wertbeständig
wäre, ein Ünuaufemittel, welches uns be-
fähigen würde, in der Preisbewegung die
Wirkungen der ausschliesslich auf seite der
Kaufgüter hervortretenden preisändernden
Einflüsse zu erkennen.
Dass die Durchführung des obigen Ge-
dankens nicht nur eine ausreichende Kennt-
nis der hier in Betracht kommenden statis-.
tischen Sachlage, sondern auch die richtige
theoretische Einsicht in den Zusammenhang
der Preiserscheinungen und der Bestim-
mungsgründe ihrer JBewegimg zur Voraus-
setzung haben würde, bedarf nicht der Be-
merkung. Auch die praktischen Schwierig-
keiten der Verwirklichung des obigen Ge-
dankens können nicht übersehen werden, i)
Die Schwankungen im Weltpreise der Edel-
metalle scheinen mir gegenwärtig immer noch
geringere Gefahren in sich zu schliessen als
die Regelung des inneren Tauschwertes des
Geldes durch Regienmgen oder politische
Parteien. Auch die Schwierigkeiten, die
mit der internationalen Regelung einer An-
gelegenheit von solchem Belange verbunden
sein würden, können ebensowenig über-
sehen werden als die Schädigung des
internationalen Verkehrs durch die autonome
Regelung der obigen Frage seitens der
einzelnen Staaten. Immerhin scheint mir,
dass dem Streben nach einem (im vorhin
gedachten Sinne) stabilen Masse deß soge-
nannten inneren Tauschwertes der Güter
ein Problem zu Gnmde liegt, dessen theo-
retische Lösung nur eine Frage der fort-
schreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis,
und dessen praktische Lösung, zu der die Welt-
wirtschaft unter Umständen ja gezwungen
sein könnte (bei der es sich auch nicht um
eine absolute, sondern nur um eine für
praktische Zwecke ausreichende Genauigkeit
der Feststellungen handeln würde), nicht an
unerreichbare A^oraussetzungen geknüpft ist.
11. Die Fra^e, ob bestimmte Preis-
bewe^ngen (bezw. örtliche Verschie-
denheiten der Preise) auf Ursachen
zurückweisen, die im Gelde, oder auf
solche, die in den Kaufgütem liegen.
Das grosso praktische Interesse, welches
sich an die isolierende Betrachtimg der Be-
wegung des »inneren Tauschwertes« des
Geldes und an diejenige des Einflusses
dieser Bewegung auf die Gestaltimg der
^) S. W. Ba^ehot, A new Standard of
value (Economist, Nov. 1875 und wieder im P^con.
Journ., IL, 1892, p. 472 fF.) und R. Giffen,
Fancy monetary Standards (Econ. Journ., ebeud.
p. 4Ü3 fe.).
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. IV. 7
98
Geld
Grüterpfeise k.iüpft, hat — insbesondere
seitdem das Problem der Feststellung eines
stabilen Massstabes des Güterwertes in den
Hintergrund des wissenschaftlichen Interesses
getreten war — zu der obigen Frage ge-
führt Ihi*e Lösung ist auf dem Wege von
WahrscheinUchkeitsschlüssen aus der rreis-
bewegung (also auf preisstatistischer Grund-
lage) angestrebt worden, ohne doch zu voll-
ständig befriedigenden Ergebnissen zu
führen. Das gleichmässige Steigen, oder
Sinken der Geldpreise alier Kaufgüter auf
aUen Märkten würde, falls eine statistische
Sachlage dieser Art sich unserer Beobach-
tung darböte, einen im Ergebnisse der Ge-
•wissheit nahekommenden WahrscJieinlich-
keitsschluss: gestatten, . dass ^die obige Ver-
schiebung des Austauschverhältnisses der
Käufgüter und des Geldes auf Ursachen
zurückweise, welche rücksichtlich des Gel-
des wirksam geworden sind .(auf ein Sinken
oder Steigen des »inneren Tauschwertes«
des Geldes.!); doch würde selbst in diesem
Falle die Möglichkeit nicht vollständig ausge-
schlossen sein, dass die Preisyerschiebung
in Ursachen begründet sei, welche gleich-
massig rücksichtlich aller Kaufgüter her-
vorgetreten sind. Die in gleicher Richtimg,
indes in ungleichmässiger Weise erfolgende
Verschiebung der Geldpreise aller Kaufgüter
auf sämtlichen Märkten würde den nahezu
ebenso verlässlichen Wahrscheinlichkeits-
schluss gestatten, dass der Preiswechsel
der Kaufgliter das Ergebnis einer kombi-
nierten Wirksamkeit von Ursachen sei, welche
sich zum Teüe rücksichtlich des Geldes,
zum Teile (in migleichmässiger Weise !) rück-
sichtlich der . Kaufgüter geltend gemacht
haben. Auch in diesem Falle würde indes
die Erklärung der Preisbewegung aus Be-
stimmungM^ründen , welche (in ungleich-
massiger Weise) lediglich bei den Kaufgü-
tern w^irksam geworden sind , keineswegs
ausserhalb des Bereiches der Möglichkeit
hegen. Umgekehrt gestattet das Steigen
oder das Sinken des Geldpreises einzelner
oder einer verhältnismässig geringen An-
zahl von Kaufgütern, während die Geldpreise
der übrigen Güter unverändert bleiben, den
Wahrscheinlichkeitsschluss , dass die Be-
stimmungsgründe der Preisänderungen auf
Seite der betreffenden Kaufgüter eingetreten
sind, ohne doch die Möglichkeit einer ent-
gegengesetzten Erklärung — der Erklärung
der betreffenden Preisänderungen aus Ein-
flüssen, welche rücksichtlich des Geldes
eingetreten sind, und der Erklärung des
BehaiTungszustandes der übrigen Preise
aus einer kombinierten Wirksamkeit der
rücksichtlich des Geldes und der (in ent-
gegengesetzter Richtung !) rücksichtlich aller
übrigen Güter wirksam gewordenen Ein-
flüsse — völlig auszuschliessen.
■ Die obigen und ähnliche Schlüsse be-
ruhen auf dem Princip, dass imter den ver-
schiedenen möglichen Erklärungsarten einer
Verschiebung der Marktpreise jene den
relativ höchsten Grad von Wahrscheinlich-
keit für sich in Anspruch nimmt, welche
das gleichzeitige Eintreten in der näm-
lichen Richtung wirksamer preisändernder
Einflüsse bei einer möglichst geringen,
Anzahl von Verkehrsobjekten voraussetzt.
Ein allgemeines Steigen der Marktpreise
vermag z. B. in ungleich wahrscheinlicherer
Weise aus dem »Sinken des Geldwertes <
als aus dem (nicht eben so leicht vorauszu-
setzenden) gleichzeitigen Steigen det^
»inneren Wertes« aller Kaufgüter erklärt
zu werden.
Je ungleichmässiger die Bewegung de.-
Preises der verschiedenen Güter nach Rich-
tung und Mass ist, um so weniger gestatt<.»i
indes die statistische Sachlage einen aiicl
nur einigermassen verjässlichen Schluss de;
obigen Art. Bestenfalls niu* ein Wahr
scheinlichkeitsschluss, versagt derselbe ii
zalilreichen unserer Beobachtung vorliegen
den Fällen nahezu vollständig. Die prak
tisch so wichtige Frage, ob eine beobachtet«
Preisbewegimg auf einem Wechsel in
»inneren Werte« des Geldes od.er der ein
zelnen Kaufgüter oder aber endhch an
einer kombinierten Wirksamkeit beider l)c
ruhe — in Wahrheit die Frage: ob ii
konkreten Falle die Bestinmiungsgründ
der Preisbewegung sich auf seite des Ge!
des, der Kaufgüter oder beiderseits gelten
gemacht haben — vermag auf dem obige
Wege nie mit voller Sicherheil
in zahlreichen Fällen nur mit einem $?<
ringen Grade von Wahrscheinlichkeit, l>ii
weilen überhaupt nicht beantwortet zu ^ve
den. Nun gar die Frage nach dem Mass
der Schwankimgen des »inneren Wert<»?
des Geldes und der einzelnen Kaufgüte
zumal in jenen Fällen, in welchen die Prei
bewegung sich als das Ergebnis ein<
kombinierten Wirksamkeit beiderseitig!
preisändernder Einflüsse darsteDt ! WoIqIh
Anteü an der Preisbewegung hat in d<
Fällen der letzteren Art die Aenderung d
»inneren Geldwertes« und welchen jene^ <1
»inneren Wertes« der Kaufgüter? 1)
obige Verfahren vermag uns auf diese iii
ähnhche Fragen keine sichere Autwort
bringen.
Aehnliche, wenngleich der Natiu: il
Sache nach in den meisten Fällen nie
gleich grosse Schwierigkeiten ergeben si
(wenn das nämliche Verfahren angewen«
wird) bei Untersuchung der praktii^
minder belangreichen Frage nach eleu l
Sachen der örtlichen Verschicdo
heiten der Preise und speciell nacth <l
Anteile , welchen eiue allfäUige örtlic
Geld
99
Verschiedenheit des iiiDeren Tauschwertes
des Geldes an denselben hat.
12. Ob der innere Tauschwert des
(leldes und seine Bewegung gemessen
werden können. Der Umstand, dass der
innere Tauschwert des Geldes keine von
der Yei-schiedenheit örtlicher und zeitlicher
Verhältnisse unbeeinflusste Bestfindigkeit
aufweist, hat zu dem Streben geführt, die
Bewegung (auch die öilliche Verschieden-
heit!) desselben zu messen. Dass dies
fast ausnahmslos auf preisstatisfischer
(irundlage versucht worden ist, konnte auf
den ersten Blick als ein Missverständnis
über die eigentliche Natur des hier in Be-
tracht kommenden Problems betrachtet
werden. Die Bew^e^ng der Güterpreise ist
im allgemeinen die Resultante von Be-
fetimmungsgründen, welche ebensowolü auf
der Seite der Kaufgüter als auf derjenigen
des Geldes wirksam geworden sind.
"NVie vermöchten wir demnach aus der
örtlichen V'erschiedenheit oder aus der
Bewegung der Güterpreise die Ver-
sdüedenheiten und die Wandlungen des
inneren Tauschwertes des Geldes zu
erkennen oder denselben auf dieser Grund-
lage wohl gar zu messen? Yon der augen-
fälligen Unzulässigkeit einer Lösung dieser
Frage auf preisstatistischer Grundlage be-
steht indes eine mögliche Ausnahme. Die
Bestimmungsgründe der Preisbewegung, so-
weit sie auf seite der Käufgüter liegen,
machen sich zum Teile in positiver, zum
Teile in negativer Kichtung, bezw. bei einem
Teile der Güter in überwiegend positiver,
bt»im anderen in überwiegend negativer
Richtung geltend (zum TeDe preiserhöhend,
zum Teile preisermässigend). Es ist nun
nicht schlechthin undenkbar, dass bei ge-
wissen rechnungsraässigen Zusammenfas-
sungen der Preisbewegimgen einer Vielheit
von Kaufgütern die positiven imd negativen
Kinwirkuugen der auf seite der Kaufgüter
liegenden Bestimmungsgründe der Preisbe-
wegung (sei es nun überhauj)t oder doch
im wesentlichen !) sich gegenseitig aufheben
imd, in Fällen dieser Art, die rech-
nungsmässigen Zusammenfassungen derPreis-
Viewegungen aller oder doch einer grossen
Anzahl von Gütern uns solcherart im we-
sentlichen niu- die Wirkungen der auf seite
<les Geldes liegenden Bestimmungsgi-ünde
der Preisbewegung (also die Bewegung des
inneren Tauschwertes des Geldes) nach
Richtung und Mass erkennen Hessen. Auf
«lieger Annahme beruhen alle V^ersuche zm*
Lösung des obigen Problems auf preissta-
tistischer Grundlage^)
^) Einen über die bisherigen Methoden hinaus-
gehenden Versuch zur Feststellung der Be-
wegung des sogenannten inneren Geldwertes
Die obige Voraussetziuig (die Voraus-
setzung, dass in zusammenfassenden Berech-
nungen der örtlichen Verscliiedenheit imd
der Bewegung der Pi*eise nur die (negativen
und positiven) auf der Seite der Kauf-
gtlter gelegenen Bestimmun^gründe der
Preisbildung sich in ihren Wirkungen auf-
heben, die Wirkung der auf seite des
Geldes liegenden preisändernden Einflüsse
dagegen rein zum Ausdnick gelangen) ist
indes eine so künstliche, auch so schwer zu
kontrollierende, dass selbst die sinnreichsten
Methoden der Diu'chführung dieses Gedan-
kens zu keinem befriedigenden Ergebnisse
führen können. Alle auf der obigen V^or-
aussetzung fussenden Methoden zur Be-
stimmung der örtlichen Yerschiedenheit
und der Bewegimg des inneren Tausch-
wertes des Geldes sind schon im Principe
willkürlich und imverbürgt
Das Problem eines Masses der örtlichen
Yerschiedenheit imd der Bewegung des so-
genannten inneren Tauschw^ertes des Geldes
bezweckt die Sonderung der auf seite
des Geldes und der auf seite der Kaufgüter
wirksamen Bestimmungsgründe der fteis-
bildung. Es soll überdies die Einwirkung
der auf seite des Geldes liegenden Be-
stimmungsgründe auf die Preisbewegung
nach Richtung imd Mass festgestellt werden.
Ein Problem dieser Art ist seiner innersten
Natur zufolge ein analytisches; es ver-
mag weder ausschliesslich durch eine, wenn
auch noch so genaue statistische Feststellung
der Preisschwankungen, die ja eine Resul-
tante der auf beiden Seiten wirksamen
unternimmt W. Lexis. Derselbe stützt sich
wesentlich auf die Beobachtung, dass die Mengen-
preise (der Verkehrswert der Konsumqnanten),
und zwar sowohl diejenige der Einzelwirtschaft als
der Volkswirtschaft, eine besondere Stabilität
aufweisen. Indem infolge der VerbüUgemng
einer Ware die Konsummenge erfahrungsgemäss
eine Steigerung, durch die Verteuerung aber
eine Minderung erfahre, werde die Bewegung
der Einheitspreise in den obigen Mengenpreisen-
zum mindesten zum Teil ausgeglichen; auch
finde das durch Verbilligerung der einen Ware
ersparte Einkommen fftt Konsume anderer Güter
Verwendung, so zwar, dass auch aus diesem
Grunde der Gesamtpreis der Mengen verschiede-
ner Waren, die in einer Volkswirtschaft nach
dem wechselnden Bedürfnisse in verschiedenen
Beobachtungsperiodeu konsumiert werden, eine
verhältnismässig grössere Stabilität aufweise
als der Durchschnitt der Einheitspreise derselben
Waren. Auch die Elasticität des Umlaufes der
Zahlungsmittel trage hierzu bei. lieber die
Verwertung dieser Beobachtungen für die Fest-
stellung der Bewegung des inneren Geldwertes
s. W. L e X i s , Ueber gewisse Wertgesamtheiten
und deren Beziehung zum Geldwert, Tübinger
Ztschr. f. d. ges. Staatsw., 44 B. 1888. S. 226 flf.
Vgl. auch Nasse (Lexis) in Schönbergs
Handbuch, 4. Aufl. 1896, 1. B., S. 342 ff.
i
100
Geld
• • • • ^
• •• •
•••
• •
• ••
• •• •
• •
•••
Bestiramiingsgrilndp der Preisbildung sind,
noch auch ausschliesslich mittelst Durch-
schnitten oder sonstigen zusammenfassenden
Darstellungen der obigen Preisbewegungen
und darauf begründeten Schlüssen gelöst zu
werden. Nur eine Preistheorie, w^elche uns
die wahren Bestimmungsgründe der Preis-
bildung und Preisbewegung zum Bewusst-
sein bringen imd uns zugleich lehren würde,
die Wirkungen der einzelnen Einflüsse auf
die Preisbewegung nach Richtung uud Mass
zu verfolgen, vermöchte das obige Problem
theoretisch klaraustellen. Die Beantwortung
der Frage, ob und in welchem Masse ge-
gebenen Falles eine Bewegung des soge-
nannten inneren Tausch wei-tes des Geldes
thatsächlich stattgefunden habe, würde fi^i-
lich auch dann noch wesentlich von der
Kenntnis der betreffenden statistischen Ver-
hältnisse abhängig sein, indes nicht nur
von einer sor^ältigeu und umfassenden
Statistik der Preise, sondern ebensowohl
von einer solchen der (statistisch fassbaren)
Ursachen der Preisbewegung.
Bis dahin wird jedes Urteil über die Be-
wegung des inneren Tauschwertes des Gel-
des das Ergebnis einer freien Würdigung
der Preisstatistik auf Gnmd der jeweiligen
theoretischen Einsicht und unserer Kenntnis
der die Bewegung der Güterpreise verur-
sachenden Thatsachen und ihres Masses sein.
X. Ans seiner Entwickelung und seinen
Funktionen sich ergebender Begriff
des Geldes.
Die ursprüngliche (die primäre) und
aJlen Entwickeluugsstufen des Geldes ge-
meinsame Funktion desselben ist die eines
(innerhalb bestimmter Wirtschaftsgebiete)
allgemein gebräuchlichen Tausclmiittels.
Zu allgemein gebräuchlichf^n Tauschmitteln
gewordene Verkehi'sobjekte (sowohl solche
von originärem als von abgeleitetem Ver-
kehrswerte) werden denn auch in der
Sprache des gemeinen Lebens, zumeist auch
in jener der Wissenschaft, als Geld (z. B.
als Viehgeld, Muschelgeld, Eisengeld, Barren-
geld, Papiergeld, Kreditgeld u. s. f.) bezeich-
net Dagegen erkennt der Si)rachgebrauch
Güter, welche sonstige dem Gelde ent-
wickelter Volkswirtscliaften eigentümliche
Fmiktionen vereehen, indes nicht zugleich
allgemein gebräuchliche Tauschmittel sind,
von einzelnen Schwankungen des Sprachge-
brauches abgesehen, nicht als »Geld« an. Der
Umstand, dass z. B. Edelsteine, Perlen uud
sonstige Kostbai'keiten unter Umständen als
Thesaurierungsmittel verwendet, ja für diesen
Zweck dem Gelde bisweilen vorgezogen
werden, macht dieselben noch nicht zum
Gelde, wie denn auch der Umstand, dass
auf ge>\issen Kulturstufen die Bewertungen
vielfach in Gütern vorgenommen werden.
die nicht zugleich Tauschmittel sind, diesen
Gütern noch nicht den Charakter des Geldes
verleiht. ^)
Dagegen werden allgemein gebräuchliche
Tauschmittel als Geld bezeichnet, auch
wenn nicht sie, sondern Güter anderer Art,
die Funktionen von »Thesaurierungsmitteln«
oder »Wertmassstäben« versehen. Der ur-
sprüngliche und der allen Entwickeluugs-
stufen des Geldes gemeinsame Begriff des-
selben ift der eines allgemein gebräuchlich
gewordenen Tauschmittels. Alle Begi-iffs-
bestimmungen des Geldes, welche die dem
Gelde entwickelter Kulturvölker eigentüm-
lichen Funktionen dem Gelde als solchem
zuschreibeu, im wesentlichen nichts anderes
als eine Zusammenfassung aller aus der
Beobachtung des Geldes der modernen Kul-
turvölker sich ergebenden Funktionen (auch
der blossen Konsekutivfunktionen der Tausch -
mittelfunktion) des Geldes sind-), müssen
demnach als irrig, im allgemeinen auch als ge-
scliichtswidrig zurückgewiesen werden.
Sollen die Konsekutivfunktionen und die
sonstigen gebräuchlichen Benutzungsarten
des Geldes, mit Rücksicht auf ihre hohe
praktische Wichtigkeit, der Begriffsbestim-
mung des Geldes beigefügt werden-^), so
rnuss dies in einer iliren konsekutiven bezw.
ihren accidentiellen Charakter kennzeichnen-
den Weise geschehen. »Geld« ist jedes
Verkehrsobjekt, welches als allgemein ge-
bräuchliches Tauschmittel und infolge dieses
Umstandes aller Regel nach auch als Mass-
stab des Tauschwertes funktioniert, Funktio-
nen, mit denen sich regelmässig auch die
eines Mittels für einseitige und subsidiäre
vermögensrechtliche Leistungen, eines Ver-
mittler des Kapitalverkehrs, falls der Geld-
M Man rechnete (bei den alten Griechen
nach Rindern und zahlte in zugewogenem Metull
(Hultsch a. a. 0., S. 124fF.).
*) Es widerspricht den Grundsätzen rich-
tigen Denkens, m die Definition des Wesen?
einer Erscheinung die Folgeerscheinungen der
selben aufzuuehmen, mit den wesentlichen Merk
malen einer Erscheinung zugleich abgeleitete
welche nur in der Entwickelung derselben ihn
Stelle finden dürfen, anzuführen. Es ist die;
ein Definitionsfehler — eine defiuitio abundans -
selbst unter der Voraussetzung, dass die Kon
sekutiverscheinnngfen sich aus dem Phänomen
dessen Wesen definiert werden soll, mit Not
wendigkeit ergeben: um so mehr dann, wem
dieselben mit der verursachenden Erscheinuii«
nicht notwendig, sondern nur regelmässig, ode
gar nur accidentiell verknüpft sind. Der alle
Erscheinungsformen und Entwickelungastufe
des Geldes allein entsprechende, der Weseii.^
begriflF desselben, ist der eines allgemein irt
bräuchlichen Tauschmittels. .
^) In allen Fällen, wo es sich nicht ui
eine Definition, sondern um eine Beschreibnn
(nicht um eine „definitio", sondern um ein
„descriptiü") des Geldes handelt.
Geld
lül
Stoff liierzu geeignet ist, auch die eines
Thesaiirierungsmittels verbinden.
Die Meinung, dass zum Begriffe des
Geldes der Zwangskurs gehöre, beruht
auf einer Verkennung der normalen Natiu:
des Geldes. Sobald ein Yerkehrsobjekt that-
sächlich die Funktion eines allgemein ge-
bräuchlichen Tauschmittels , insbesondere
aber wenn es zugleich die Konsekutivfunk-
tionen der letzteren erlangt hat, ist dasselbe
auch ohne Zwangskurs Geld. Umgekehrt
weixlen Dinge, die nicht ohnehin schon Geld
sind, dadurch, dass ihnen der Zwangskiu«
verliehen wiitl, nicht schlechthin Geld. Die
Geschichte des Geldes bietet uns zahllose
Beispiele von Fällen, in denen Yerkehi*sob-
jekte, denen kein Zwangskurs verheben
wortlen war, die Funktionen des Geldes ver-
sahen ; umgekehrt aber auch Beispiele von
solchen Fällen, in denen mit Zwangskm^s
versehene Geldzeichen (infolge der Unwirk-
samkeit der betreffenden Anordnung, insbe-
sondere des Widerstands der Bevölkerung)
kein Geld im ökonomischen Sinne geworden
sind.i) Wir müssen zwischen dem Begriffe
des Geldes und dem eines mit
Zwangskurs versehenen Zahlungs-
mittels unterscheiden. Es giebt Geld im
eigentlichen Verstände des Wortes, das
keinen Zwaugskurs hat, und umgekehrt mit
Zwangskure versehene Zahlungsmittel, die
nicht >Geld« sind. Der Zwangskurs gehört
vom Standpunkte der ökonomischen Be-
trachtung jedenfalls nicht zum Begriffe des
Geldes.
Die entgegengesetzte Meinung fiihrt denn
auch zu unlialt baren Konsequenzen. Danach
würde z. B. das in einem Lande frei (ohne
Zwangskurs) cirkidierende EdelmetaUgeld
originären Wertes, auch wenn dasselbe that-
sächlich alle Funktionen des Geldes vor-
trefflich versehen würde, kein »Geld« oder
doch um* »unvollkommenes Geldc sein. Da-
gegen wären entartete, mit Zwangskurs aus-
gestattete Geldzeichen, selbst wenn sie ein-
zelne* Funktionen des Geldes überhaupt
nicht, andere niu* höchst mangelhaft ver-
sehen, ja im freien Verkehre von der Be-
völkerung überhaupt zurückgewiesen werden
würden, »Geld«, wohl gar vollkommenes
Geld, was vom Standpunkte ökonomi-
scher Betraclitimg unhaltbar ist.
Auch die imter den Juristen 2), neuer-
dings auch unter den Volkswirten^), viel-
»j Vffl. Dernburg, Pandekt, III. Buch,
§26 (1894, II. Bd., S. 76); Derselbe, Prenss.
Privatr., III. Buch, § 32, insbes. Note 2; schon
Savigny, ObUg.-R., L, S. 408.
*j J. E. Kuntze, Die Lehre von den In-
haberpapieren, 1857, S. 431 ; P. L a b a n d , Staatsr.
d. deutschen Reiches, II, S. 163.
*; J. Ch. Ravit, Beiträge zur Lehre vom
fach verbreitete Meinung, dass nur mit
Zwangskiu« versehene Umlaufsmittel als
»Geld im Rechtssinne« bezw. als
»vollkommenes Geld« zu betrachten
seien, ist anfechtbar. Es wird diese An-
sicht in der Weise begründet, »dass jede
Rechtsordnung Bestimmungen darüber be-
dürfe, was (gesetzliches) Zahlungsmittel sein
solle, d. h. was der Gläubiger als Erfüllung,
sei es einer Geldschuld oder schliesslich
einer jeden Obligation, anzunehmen genöti^
sei, und an dessen Mchtannahme sich die
Folgen des (Annahme-)Verzugs knüpften.
Hiermit ei'st werde die letzte Konsequenz
jener Begriffe gezogen, aus welchen sich
der Geldbegriff zusammensetze. Vollkom-
menes Geld sei eben nur solches, welchem
durch Gesetz oder Gewohnheitsrecht jene
Eigenschaft als gesetzüches Zahlungsmittel
beigelegt sei« ^).
Nun ist vor allem unrichtig, dass Geld
(oder ein Objekt anderer Art), indem ihm
der Zwangskurs verliehen wird, zum »G e 1 d e
im Rechtssinne« werde. Es besteht
kein Zweifel darüber, dass vom Gelde auch
in. einem besonderen juristischen Sinne die
Rede sein kann, z. B. bei gesetzlicher Be-
stimmung dessen, was in Testamenten, Co-
dicillen, Urkunden u. s. f. unter dem Aus-
dnicke »Geld« zu vei^stehen sei. Hier han-
delt es sich in der Tliat um Geld in einem
gewissen dem Recht eigentümUchen Sinne,
im Gegensatze zum Gelde im gemeinen,
dem (ökonomischen) Verstände des Wortes.
Ebenso könnte in den Fällen, in denen der
Staat oder eine sonstige Autorität ein Geld
einführen würden, dessen sich infolge recht-
licher Satzung jedermann bei Strafe oder
unter Androhung sonstiger Rechtsnachteile,
als Tauschmittel, als Mittel für den Kapital-
verkehr, als Thesaurierungsmittel, als Wert-
messer u. s. f. bedienen müsste, von einem
Zwangsgelde (im Gegensatze zum frei
cirkulierenden Gelde) die Rede sein. Indem
der Staat einer bestimmten Ali; von Geld,
oder wohl gar von Dingen, die überhaupt
kein Geld smd^), den Zwangskiurs verleiht,
Gelde, 1862, S. 8ff.; L. v. Stein, V.L. 1878,
S. 107; (mit wesentlichen Einschränkungen)
A. Wagner, AUg. 0. theor. Volkswirtsch.
L., 1876, S. 49; E. Nasse in Schönbergs Handb.
1896, I, S. 329.
^) R. K 0 c h in Endemanns Handb. d. deutsch.
Handelsrechts, 1882, II, S. 115; vgl. hierzu
L. Goldschmidt's Handb. d. Handelsr., 1868,
II, 1. Abt. S. 1069 und 1079, Anm. 28; eben-
derselbe, System d. Handelsr. 1889, S. 126;
G. Hartmanu, Ueber d. rechtl. Begriff des
Geldes etc. 1868, S. 12 ff.; Dernburg,
Pandekt., III. Buch, § 26. — Einschränkungen
der obigen Auffassung bei G 0 1 d s c h m i d t a. a.
0. S. 1069 fi'.; bei Ko^ch a. a. 0. S. 115; F. Re-
gelsberger, Pandekt. L, § 104, Note 4.
*) Fr. N 0 b a c k (Münz-, Mass- u. Gew.-B.
*?
■ ij
102
Creld
werden dieselben indes wohl »mit
Zwangskurs versehene Zahlungs-
mittel«, nicht aber »Geld im Reehts-
sinne«. Nur der Umstand, dass für die
Juristen das Geld hauptsächlich als Zahlungs-
mittel in Betracht kommt, vermag die obige
Begriffsverwechselung bei einem Teile der
Juristen zu erklären.
Dazu kommt, dass ein Zahlungsmittel
nicht erst durch den Zwangskurs zum »Zah-
lungsmittel im rechtlichen Sinne« wird, der
Zwangskurs somit nicht einmal dem Begriffe
dieses letzteren wesentlich ist. Auch dori,
wo usuell cirkulierendes Geld besteht, werden
die Geldschulden aller Regel nach auf
dieses gestellt; das usuelle Geld bildet den
ausdrücklich oder stillschweigend »gewill-
kürten« Inhalt der betreffenden Fordenmgs-
rechte. Dasselbe ist, auch ohne dass ihm
der Zwangskurs verliehen wird, Zahlungs-
mittel im Rechtssinne, ein Zalüungsmittel,
das der Berechtigte (da es dem Inhalte der
Forderung entspricht) annehmen muss, wi-
drigenfalls für ihn die Folgen des Annahme-
verzugs eintreten. Die Leistung des ver-
einbarten oder sonst »gewillkürten« Inhalts
der Obligation ist an sich und ohne Erklä-
rung des usuellen Geldes zum Zwangszah-
lungsmittel eine wirkliche Solution — keine
»datio in solutum« ^). Indem dem Gelde
oder irgend einer anderen Art von Dingen
der Zwangskurs verliehen wird, werden sie
zu Zahlungsmitteln — nicht zum Gelde —
im Rechtssinne; in zahlreichen Fällen wird
indes auch usuelles Geld, ohne dass ihm
der Zwangskurs verliehen wird, zum ente-
ren. Der Zwangskurs gehört nicht nur
nicht zum allgemeinen Begriffe des Geldes,
sondern auch nicht zu dem eines Zah-
lungsmittels, sei es im ökonomischen,
sei es im Rechtssinne des Wortes.
Auch die grosse Wichtigkeit, welche in
den Untersuchungen über die obige Frage
dem Umstände zugeschrieben wird, dass
das Geld bei subsidiären Leistungen
»also in letzter Linie bei allen Obligatio-
nen rechtlich Zahlungsmittel sei«^), scheint
1879, S. 166) erwähnt, dass i. J. 1852 den
Staatsdienem in Bolivia gestattet worden ist,
ihre Zahlungen in Chinarinde zu leisten.
*) Viel eher dürfte in denjenigen Fällen,
in denen die Anordnung eines Zwangszahlungs-
mittels thatsächlich erfolgt, die erzwungene
Annahme des von dem vereinbarten Inhalt der
Obligation etwa verschiedenen Zahlungsmittels
durch den Gläubiger nicht als eine eigentliche
J.Erfüllung" der Obligation, sondern als ein
durch Gesetz normiertes „in solutum accipere"
aufzufassen sein. Vgl. AVindscheid, Fand.
I[, § 342, S. 294, inshes. Note 10.
*) Vffl. R. Koch in Endemanns Handb d.
deutsch. Handelsr. 1882, II, S. 115; E. Nasse
in Schönbergs Handb., I, 1896, S. 329.
mir nicht durchaus berechtigt zu sein.
Es ist nicht richtig, dass das Greld in letzter
Linie das Solutionsmittel aller Obligationen
sei, da zum mindesten in den modernen
Rechtssystemen die Leistung des Inhalts
der ObÜgaMonen, soweit dieselbe rechtlich
durchgesetzt werden kann, auch dann er-
zwungen wird, wenn der Inhalt der Obliga-
tion kein Geld, sondern eine Sache anderer
Art ist^). Darin aber, dass dem Gläubiger
an Stelle einer sonst unmöglichen oder nicht
durchsetzbaren Leistung (und zwar in
dessen eigenem Interesse) eine Geldsumme
zugesprochen wird, vermag zwar eine zweck-
mässige Massregel ziu* Beseitigung einer
Schwierigkeit der Durchsetzung von Rechts-
ansprüchen oder ein Ai'gument für die be-
sondere Eignung des Geldes fOr diesen
Zweck (S. 80 ff.), indes doch nicht ein Beweis
dafür erkannt zu werden, d^s der Zwangs-
kiu^ zum Begriffe des Geldes im Reclits-
sinne gehöre-).
Die Frage nach dem Begiif fe des Geldes
in rechtlichem Sinne kann nur in der Weise
gelöst werden, dass zwischen gesetz-
lichemKurse undZ wangskurse unter-
schieden vdrd, Mit der Ent Wickelung des
Verkehrs äussert sich der Einfluss des
Staates auf das Geldwesen insbesondere
auch in der Weise, dass der Staat bestimmte
Arten von Geld (bisweilen selbst Objekte, die
kein Geld sind) zu gesetzlichen Zahlungs-
mitteln erklärt. (S. 80). Der wirtschafts-
politische Zweck und die ökonomische AVir-
kung dieser Massregel (obzwar die letztere
>) § 883 (neue Zählung) der Civilprozess-
ordnung für das Deutsche Reich, Abs. 1 lautet :
„Hat der Schuldner eine bewegliche Sache oder
von bestimmten beweglichen Sachen eine Quanti-
tät herauszug;eben, so sind dieselben von dem
Gerichtsvollzieher ihm wegzunehmen und dem
Gläubiger zu übergeben." § 884 (n. Z.): „Hai
der Schuldner eine bestimmte Quantität vertret
barer Sachen oder Wertpapiere zu leisten. s(
findet die Vorschrift des | 883, 1. Aba. ent
sprechende Anwendung." — Aehnlich § 346 dei
Ost. Exekutionsordnung. (Vgl. v. Schrutka
Zeitschr. f. deutsch. Civilproz., B. 11, 1887
S. 164, welcher für den durch die obigen Be
stimmung^en geregelten Vorgang den Terra in u
exekutorische Surrogattradition in Vorschlai
brinfft.)
*) Es ist charakteristisch für die Entwicke
lung der volkswirtschaftlichen Anschauuntroi
im 19. Jahrhundert, dass die vorwiegend man
ch esterlich-liberalen Schriftsteller der erste
Hälfte desselben in dem Zwangskurse fast 4\\\^
nahmslos ein Symptom der Entartung des Gelde
erkennen (ein Umstand, welcher auch auf di
Geldlehre der Juristen zurückwirkt), wähieu
die Volkswirte der zweiten Hälfte des 19. Jahi
hunderts (unter dem Einflüsse der Juristen I) i
dem Zwangskurse ein Attribut des vollkommene
Geldes (des vollkommenen Geldes überhaupt
zu erblicken geneigt sind.
Geld
1Ö3
i'iiristisch zumeist in ein und derselben
^OTm auftritt und die Juristen deshalb ge-
neigt sind, dieselbe unterschiedslos zu be-
handeln) sind, je nach der Verschiedenheit
der FäDe, doch wesentlich verschieden.
Der Z'weck der obigen Massregel ist in
gewissen Fällen lediglich die einheit-
liche Gestaltung des Geld- und Rechnungs-
wesens eines Landes, die Einfühnmg eines
einheitlichen Landesgeldes (S: 77 ff.), oder die
Beseitigung der aus der mangelhaften Ver-
tretbarkeit der verschiedenen Münzstücke,
Münzsorten und anderer Geldarten für den
Verkehr sich ergebenden üebelstande (die
Beseitigung der rechtlichen Wirkungen, die
sich aus den ökonomisch thatsächlich vor-
handenen, w^enngleich zumeist ökonomisch
irrelevanten, geringfügigen, im Verkehre
grossen teils gar nicht empfundenen Ver-
schiedenheiten der hier in Betracht kom-
menden Geldstücke und Geldsorten ergeben.
S. 79ff.). Der Zweck der obigen
Massregel ist in diesen Fällen
demnach die Schaffung eines ein-
heitliehen, normal funktionieren-
den Landesgeldes.
In einer anderen Gruppe vpn Fällen er-
klärt der Staat bestimmte Arten von Geld
oder GeldsiuTOgaten zu gesetzlichen Zah-
lungsmitteln — nicht etwa um ein einheit-
liches oder ein normal fimktionierendes
Geldwesen zu schaffen, sondern (zumeist
sogar Tinter Preisgebung der wesentlichen
Zwecke, denen ein normales Geldwesen
dient, ni(*ht selten sogar unter Preisgebimg
der Stabilität der Rechtsverhältnisse) ledig-
lich zu dem Zwecke, um durch diese Mass-
regel die betreffenden Geld Sorten oder
Geld Surrogate (z. B. entwertete Bank-
noten und Staatekassenscheine, im lieber-
mass herausgegebene Scheidemünze, unter-
wertige neben dem Goldcourant cirkulie-
rende SUbercoiu^ntmünzen u. s. f.) zu einem
ihren Kurs im freien Verkehre übersteigen-
den Werte zwangsweise in Umlauf
zu setzen oder in demselben
zwangsweise zu erhalten.
Wir haben demnach zwei Gnipj)en von
Fallen vor uns, in denen der Staat gewisse
Geldsoi-ten zu gesetzlichen Zahlungsmitteln
erklärt. In den Fällen der ersteren Art dient
diese Massregel der Schaffung eines ein-
heitlichen, normal funktionierenden Geld-
wesens, in den Fällen der anderen Art
dient rlie nämliche Massregel (unter Preis-
pebung des obigen Zwecks) dazu, anormales
fielet durch rechtlichen Zwang in Umlauf
zu setzen oder in demselben zu erhalten.
Die obige Massregel (obzwar äusserlich die
nämliche) ist in beiden Fällen somit wesent-
lich verschieden — verschieden etwa wie
Schutzzoll imd Finanzzoll, die beide glei-
cherweise Zölle sind, regelmässig auch in
derselben Art erhöben werden, indes doch
nach Zweck und Wirkung und somit auch
begrifflich wesentlich verschieden sind. Niu*
in dem letzteren Falle kann von einem
Zwangskurse (cours forc6, corso forzoso)
im ersteren (in dem die betreffenden G^d-
sorten aUer Regel nach auch ohne die Er-
klärung zu gesetzlichen Zahlungsmitteln
cirkulieren würden und diese letztere ledig-
lich den Zweck hat, gewisse, in einzehxen
FUllen sich praktisch geltend machende
Uebelstände des Verkehrs zu beseitigen
oder die Einführung eines einheitlichen nor-
malen Geldes zu beschleunigen) lediglich
von einem gesetzlichen Kurse im engeren
Sinne (cours legal, corso legale) die Bede
sein.
Die Erklärung zum gesetzlichen Zahlungs-
mittel^) gehört nicht zum ökonomischen Be-
griffe des Geldes (man denke an frei drku-
lierende Banknoten und Staatskassenscheine
und an ustieU cirkulierendes vollwertiges
Metallgeld); sie gehört auch nicht zum Be-
griffe des »Geldes«, ja nicht einmal schlecht-
hin zu dem eines »Zahlungsmittels« im
rechtlichen Sinne. (S. 102). Wohl aber
giebt es eine Reihe von Fällen, in denen
gewisse Geldarten durch die ErWärung der-
selben als gesetzliche Zahlungsmittel zu
einem bestimmten Nominalwerte in ihrer
Funktion als Geld thatsäclilich vervollkomm-
net werden imd hierdurch das Geld- und
Zahlungswesen eines Landes überhaupt eine
wesentliche Vervollkommnung erfährt.
XL Der Bedarf der Volkswirtschaft
an Geld.
Die Meinung, dass die Ansammlung
möglichst grosser Quantitäten von Bar-
mitteln flir ein Volk besonders vorteilhjrft
sei, ebenso die Meinung, dass die Summe
des einem Volke erforderlichen Geldes
und der »Wert« der sämtlichen zur Ver-
äusserung ausgebotenen Güter sich das
') Zahlen (althochd. zal6n, mittelhd. zaln,
im älteren Sprachgebrauche: in Zahlen dar-
stellen, zählen, etwas Bemessenes dem Berech-
tigten zur Tilgung einer Verpflichtung leisten)
ist in dem neueren Sprachgebrauche im wesent-
lichen auf die Zuzählung (resp. Leistunfi^) einer
Geldsumme zur Tilgung einer auf Geld lau-
tenden Verpflichtung eingeschränkt worden.
Zahlung, sowohl der Akt, als das Objekt der
Leistung. (Ve;!. Heynes Deutsch. Wörterb.,
Artikel: Zählen, Zahlen, Bezahlen; auch
Sanders Wörterb. d. deutsch Sp.^ IL 3., S.
1693, Sp. 2, Anm.) — Von den Juristen wird
der Ausdruck solutio im Sinne der Aufhebung,
häufiger in dem engem der Erfüllung einer
Obligatio, auch in dem noch engem der
Zahlung, (der Erfüllung einer Geldooligation)
angewandt. (Vgl. Windscheid Lehrb. d.
Pandektenrechts II, 1875, §§ 341, Note 5 und
342, Note 1.)
104
Geld
GHeichgewicht halten müssten, sind über-
wundene Irrtümer. Indes auch diejenigen,
welche den Geldbedarf einer Volkswirt-
schaft aus den innerhalb einer bestimmten
Periode imazusetzenden Gütermengen oder
dem Betrage der innerhalb einer Periode
(gleichzeitig!) zu leistenden Zahlungen
einerseits und andererseits aus der »Um-
laufsgeschwindigkeit« des Geldes (aus
der grösseren oder geringeren Zahl der
FäJle, in welchen mit den nämlichen Geld-
stücken in der betreffenden Periode Zah-
lungen zu leisten sind) zu berechnen suchen^),
verkennen die wahren Bestimmimgsgriinde
des Geldbedarfs einer Volkswirtschaft. Sie
übersehen, dass die Geldmenge, welche bei
Zahlungen jeweüig zur Verwendung gelangt,
mu: einen Teil der einem Volke nötigen
Barmittel büdet, ein anderer Teil dagegen,
in der Form von Reserven mancherlei Art,
für die Sicherstelhmg imgewisser, in vielen
Fällen thatsächlich überhaupt nicht statt-
findender Zahlungen (im Interesse der un-
gestörten Funktion der Volkswirtschaft!)
bereit gelialten werden muss. Die im Me-
tallschatzo der Zettelbanken, in den Kassen
des Staates, der Si)arkassen, der Depositen-
banken, der Kreditinstitute, der Privatwirt-
schaften etc. befindJichen, nur für einen
ungewissen Bedarf, filr seltene und unge-
wöhnliche Gefaliren, ja zum Teil nur für
äusserste Fälle bereit gehaltenen Bestände
von Barmitteln bilden, obzwar für Zahlun-
gen regelmässig nicht in Anspruch genom-
men, doch ebensowohl einen Teil des Geld-
l^edarfs einer Volkswirtschaft als der Be-
darf an Scheidemünzen, welche mehrmals
im Tage aus einer Hand in die andere
übergehen. Auch die von den Einzelwirt-
schaften thesauriei'ten Geldsummen sind
hierher zu rechnen. Der Geldbedarf einer
Volkswirtschaft findet ähnlich wie derjenige
der einzelnen Privathaushalte in den Zah-
lungen, welche innerhalb einer bestimmten
Penode thatsächlich zu leisten sind, ent-
fernt nicht den lichtigen Ausdnick.
Ebenso wird in der klassischen und nach-
klassischen Wii*tschaftstheorie der Einfluss
der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes auf
den Bedarf emes Volkes an Barmitteln viel-
fach überschätzt. Die Umlaufsgeschwindig-
keit des Geldes ist, wie schon die Abnützung
der Münzen und Geldzeichen lehrt, im aU-
gemeinen bei Geldsorten von geringem Nenn-
werte eine besonders grosse. Ebenso crrku-
lieren die Barmittel von Aufwandswirt-
schaften mit kurzer Periodicität der Ein-
') Vgl. A. Smith, W. o. N., B. IV, 1
passim ; K i c a r d o , High price of bnllion. Works,
1871, S. 234 ; J. St. Mi 1 1 , Princ. of P. E., B. lU,
Ch. Vin, § 3; ältere Litteratur bei Koscher,
System I, § 123, 5.
nahmen und geringer Kassenhaltung (z. B.
der Taglöhner- Wirtschaften) und von Erwerbs-
wirtschaften mit raschem Umsätze des um-
laufenden Kapitals ^ ungleich schneller als
solche von Aufwands- oder Erwerbswirt-
schaften, bei welchen das Gegenteil der
Fall ist. Die verschiedene Umlaufsgeschwin-
digkeit des Geldes gelangt der Hauptsache
nach bei den verschiedenen Teüen des Geld-
bestandes einer Volks^virtschaft, nicht bei
diesem überhaupt zur Erscheinimg. Indes
selbst dort, wjd in einer bestimmten Zeit-
epoche eine allgemeine Steigening oder
Mindening der Lebhaftigkeit des Verkehrs
beobachtet werden kann (z, B. bei allgemein
günstigem oder ungünstigem Geschäftsgange),
äussern sich dieselben regelmässig nicht
etwa nur in der Weise, dass das nämliche
Geldstück häufiger oder seltener als bisher
aus einer Hand in die andere übergeht,
sondern zum nicht geringen Teile dadurch,
dass die vorhandenen, als Reserven dienen-
den Barbestände in stärkerem oder in
schwächerem Masse als bisher für Zalüuugcn
in Anspruch genommen -werden.
Zu einer der realen Sachlage entsprechen-
den Theorie des Barmittelbedarfes einer
Volkswirtschaft vermag nur eine Unter-
suchung zu führen, welche von dem Bar-
mittelbedarfe der Einzel- und der Gomein-
mrtschaften, aus denen Sich die »Volks-
wirtschaft« zusammensetzt, ihren Ausgang
nimmt.
Sobald in einem Yolke eine bestimmte
Ware zum allgemein gebräuchlichen Tausch-
mittel geworden ist, entsteht in jeder
einzelnen Wirtschaft, neben dem bis-
herigen Bedarf e an dieser Ware für die
Zwecke der Konsumtion und der technisclien
Produktion, ein weiterer, hiervon verschie-
dener Bedarf für Tauschzwecke. Jede Wirt-
schaft ist fortan genötigt, einen besonderen
Vorrat dieser Ware speciell für Tausch-
zwecke, in der Folge auch noch f ih- andeixi
an die Tauschmittelfunktion der beti*effendeii
Ware sich anschliessende Zwecke — gleich-
sam ein kleines Lager der beti-ef fori eleu
Ware^) — bereit zu halten. Ist ein Volk
') Rücksichtlich des Geldes befinden wir
uns alle in gewissem Sinne in der Lage des
Kaufmannes; denn wir tauschen regelmässig
das Geld ein, nicht nm es zu konsumieren oder
zu verarbeiten, sondern um es wieder zu ver-
äussem. Unser Barmittelvorrat hat somit eine
gewisse Aehnlichkeit mit einem Warenlaj^er.
Der Unterschied zwischen beiden Fällen besteht
darin, dass wir das Geld (als solches) nicht nur
infolge des Gewinnstrebens, welches in der geld-
wirtschaftlichen Epoche sich ja hauptsächlich in
Kauf und Verkauf bethätigt, sondern zugleich
um der Erleichterung des Guteraus-
tausches willen erwerben und veräussern.
(Vgl. dagegen R. Hildebrand, Theorie des
Geldes, S. 10.)
Geld
105
ziir Greldwirtschaft v(M^dningen, so bedingt
jede einzelne Aufwands- imd Erwerbswirt-
scliaft eine gei^isse Eassahaltung (eine Haus-
haltungs- bezw. eine Geschäftskasse), deren
Grösse sich nach den Aufgaben und den
verfügbaren Mitteln der betreffenden Wirt-
schaft und ihrer Stellung in der Volkswirt-
schaft richtet. Der bereit zu haltende Bar-
mittelTorrat der grosseren oder vom Markte
abhängigeren Wirtschaft wird selbstveretänd-
lich regelmässig ein grösserer als derjenige
der kleineren oder vom Markte minder ab-
hängigen, die Kassahaltung einer Aufwands-
wirtschart mit rascherer Periodicität der
Eingänge und Zahlungen (z. B. bei täglich
ausbezahltem Lohne, täglich zu entrichtender
Wohnungsmiete u. s. f.) regelmässig eine ge-
ringere sein, als unter sonst gleichen um-
ständen diejenige einer Aufwandswirtschaft,
liei welcher das entgegengesetzte Verhältnis
obwaltet Der bereit zu haltende Barmittel-
vorrat einer Erwerbswirtschaft, in welcher
das umlaufende E^pital überwiegt, wird
unter sonst gleichen Umständen denjenigen
einer Erwerbswirtschaft mit grösserem, in-
des überwiegend fix angelegtem Kapitale
uljertreffen. Auch die kleinere Wirtschaft,
welche thesauriert oder gewerbsmässig Kre-
ditgeschäfte betreibt, wird leicht mehr Bar-
mittel absorbieren als die ungleich grossere,
in welcher das Geld indes niu* als Tausch-
mittel Anwendung findet.
Der Geldbedarf einer Volkswirtschaft ist
der Inbegriff der durch dio Einzel- und
Gemeinwirtschaften eines Volkes beanspruch-
ten Geldbestände, in dereu Gesamtheit er
somit sein letztes Mass findet. Er ist eine
Grösse, deren Bedeutung nicht allein in
der Gesamtziffer, sondern wesentlich auch
in der Verteilung über die einzelnen Wirt-
schaften im Volke zum Ausdrucke gelangt.
Die Eigenart des Geldes im Kreise der
übrigen Güter bewirkt, dass mit jeder Aende-
rung in der Kaufkraft des Geldes auch der
nominelle Bedarf der einzelnen Wirtschaften
(somit auch der Volkswirtschaft) an Geld
wechselt, dass jede Erhöhung der Kaufkraft
des Geldes, den nominellen Geldbedarf zu
mindern, jedes Sinken derselben, ihn zu er-
höhen, die Tendenz hat. Die steigende
Wohlhabenheit eines Volkes pflegt den
Geldbedarf desselben aus einem doppelten
Gnmde zu steigern: einerseits dimih den
vermehrten Güterumsatz, die vermehrten
Zahlungen, Thesaurieningen, in Geld erfol-
genden Kapitalansammlungen und den
wachsenden Umfang des »Geldmarktes«
und andererseits durch die der Bequemlich-
keit und Sicherheit der Wirtschaftsführung
dienende allmähliche Gewöhnung der ein-
zelnen Wirtschaften, grössere Geldvorräte
verfügbar zu halten, den ökonomischen Be-
darf der Wirtschaft an Barmitteln vollstän-
diger zu befriedigen. Dieser Tendenz wir-
ken bei entwickelter Kreditwirtschaft Kom-
pensationsvorgänge mannigfacher Ali; (der
Kredit im allgemeinen, das Giro- und
Clearingwesen) und das Entstehen von In-
stituten entgegen, welche mit verhältnis-
mässig geringer Kassahaltung einer Mehrheit
von Einzelwirtschaften die Disponibilität über
eine ungleich grössere Menge von Barmitteln
ermöglichen (Depositenbanken, Zettelbanken,
Sparkassen u. s. f.). Auch die Beschleunigung
der Zahlungsvorgänge (infolge der dichter
werdenden Bevölkerung, der Vervollkomm-
nung der Transportmittel und der Technik
des Zahlungswesens) hat die Wirkung, den
Barmittelbedarf der Volkswirtscliaft zu ver-
ringern.
Litteratnr: 2>iV LUteratvr über das Geldwesen
ist eine überaus reiche. Sic umfasst — abgesehen
von den Werken über Numismatik — (nach
Scliätzumjen, die ich im Vereine mit J, Stamm-
hammerj auf Grund umfassender bibliogra-
phischer CoUectaneen für den gegenwärtigen
Zeitpunkt vorgenommen habe) 5000 — 6000
selbständige Schriße^i und in tcissenschaßliclien
Zeitschriften publizierte Abhandlungen. Eine
vollständige Bibliographie des Geldwesens würde
einen Oktavband von ca. 300 Seiten füllen. Ich
beschränke mich hier darauf, eine Uebersicht der
bisherigen auf das Geldwesen sich beziehenden
wichtigeren bibliographischen Publikationen und
Sammelwerke zu geben.
Bibliographische Werke: Philippu»
LabbCf Bibliotheca numaria ex theohgis, Juris-
consultis, medicis ac philologis coneinnata,
Parisiis 8 ^ 1664, «»«^ ^ß<^- — Anselm, Ban~
duruSf Bibliotheca numismatica, II. Lutet.
Paris. 1718, fol., herausgegeb. von Fabricius,
Hamburg. 1719, 4^. — F. E. BHUskmann,
Bibliotheca numismatica, oder Verzeichnis der
mehresten Schrißen, so vom Münzwesen handeln
was hiervon sowol ffislorici, Physici, Chymici,
Medici, als 'auch Juristen und Theologi ge-
schrieben, Wolffenb. 1729, 8^. Mit Supplemen-
ten aus den Jahren 1782 und 1741- — tfoh,
Christ, Hirsch f Bibliotheca numismatica
(omnium gentium) exhibens catalogum anctorum,
qui de re monetaria et numis tarn antiquis quam
recentiorihus scripsere, coUecta et indice verum
instmcta, Norimbergae. 1760, fol. — fT.Q. Lipsitis,
Bibliotheca numaria, sive catalogus auctorum,
qui usquc ad finem seculi XVIII de re mone-
taria aut numis scripscrunt, II, Lipsiae 1801, 8 ®.
Traktatensammlungen: Matti. Boy 88,
Tra^tatus varii atque uiiles de monetis earum-
que mutatione ac falsitate, Colon. Agripp. 1574,
8^. — Rener, Budelius, Tractatus varii at-
que utiles, nee non consilia singularesque additio-
nes tarn veterum quam neotericorum authorum,
qui de monetis, earundemque valore, liga, pondere,
potestate etc. scripserunt. (Im Anhange zu seinen :
De monetis et re nummaria libr. II, Colon.
Agripp. 1591, 4 ^O — ^^ monetarum augmento,
variationc et diminutione tractatus varii, Augus-
tae Taur. 1609, 8^. — Zwanzig Tractale, das
schlechte Münzwesen und den Wucher hey den
Äippen und Wippen betreffend, 1659, 4^' —
Hav. Thom. v. Hagelstein, Acta publica
106
Geld — Gemei ndefinan z en
monetaria (hier auch zahlreiche TVaktatc, unter
anderen die von Nie, Oresmius, Gab.
Byel, Joh. Äquila), Augspurg 169S, fol. —
Lord Oifergtone und JT. jR. Mc. Cullochy
A select coUection o/ aearce and valuahle tracts
on monney (Vaughau, Cotton, Petty, Lmcnd^^,
Newton, Prior, Harris and others), London 1856.
— Dieselbetif A »clect coUection of scarce and
valnahle tracts and other publicatioru on Paper-
Ourrenq/ and Banking (ffume, W^altace, Thom-
ton, Ricardo, Blake, Huskisaon and others),
London 1857.
Aeltere wertvolle Litteratur- ü eh er-
st cht e n : Dictionnaire de VEcon. Pol. von Coquelin
und Guillaumin, JI, 1858, Art. Monnaie (bis gegen
die Mitte des 19. Jahrhunderts reichend.) —
Mc Cullochf The literature of polit. economy,
London 1845, pp. 155 — 191, (hauptsächlich engl.
Litteratur).
Ne uere Litteratur • Ue ber sichten:
Dona Hortonf im Appendix zu dem International
monetary Conference held in Paris in August 1878u,
Washington 1879, pp. 854— 77 S (hauptsächlich
Litteratur des 19. Jahrh. bis zum Jahre 1879. —
H, St. fTevonSf Bibliographie ron Büchern und
Abhandlungen über Geld- und Münzwesen im
Anhange zu seinen ninvestigations in Currency
and Finance, Ed. by IL S. Fojnrell, London
1884», PP' ^^^ — 4H (ziemlich reichhaltige An-
gaben iit>er die Litteratur des Geldwesens von der
Mitte d. 16. Jahrh. bis zum J. 1882). — Ad, Soet-
beeVf Litteratumachweis über Geld- u. Münzwesen,
insbesondere über den Währungsstreit, 1871 — 1891,
Berlin, 1892. — R, H. Inglis Palgrave,
I>ictionary pf PblUical Economy, London 1896,
Vol. II, p. 795 ff. (Litteratur-Vehersicht bis 1896).
— Fo rtla ufe nde Berichte über die das
Geldwesen betreffenden neuen Litteratur- Er-
scheinungen (Werke und Abhandlungen) und
Gesetzgebungs-Arbeiten in den Jahrbüchern
für Nat.-Oekonomie u. Statist. (Jena);
in systematischer Sondentng seit 1882 {N. F.
Bd. 4)- — S. auch die Litteraturangaben bei den
Artikeln: Gold-, Silber-, Doppel-, Parallelwährung,
Preis — in diesem Werke.
C, Menger,
Gemeindebesitz, mssiseher, s. Mir.
Gemeindefinanzen.
I. Einleitung 1. Betriff der G. 2. Ge-
schichtliches. 8. Das heutige Verhältnis der
Gemeinden zum Staate. 4. Die moderne Ent-
wickelung des Gemeinde wesens in England,
ö.' Der heutige Zustand in Frankreich. 6. Deutsch-
land. 7. Oesterreich. II. DieGemeindeaus-
gahen. 8. Allgemeines. 9. Die Zunahme der Ge-
meindeaus^aben. 10. Der Personal- und Sachbe-
darf. 11. Die Ausgaben im einzelnen a) Ausgaben
für Polizei ; b) Ausgaben für Schulzwecke : c) Aus-
fifaben für Armenpflege ; d) Ausgaben für Gesund-
heitspflege, Wohlfahrt«- und Annehmlichkeitsan-
stalten. III. Die Gemeindeeinnahmen. 12.
Allgemeines. 13. Die Erwerbseinkünfte der Ge-
meinden. 14. Gebühren und Beiträge. 15. Die
Gemeindesteuern im allgemeinen. 16. Ver-
gleichung des Gemeindesteuerwesens in Eng-
land, Frankreich, Deutschland und Oesterreich.
17. Die Gemeindesteuerpolitik. 18. Dotationen
und Subventionen. IV. DasSchuldenwesen.
19. AUgemeines. 20. Arten und Höhe der Ge-
meindeschulden.
I. Einleitung.
1. Begriff der G. Das Wort Gemeinde-
finanzen (Gemeindehaushalt) bedeutet den
Gesamtzustand des Finanzwesens der Ge-
meinden, d. h. den Inbegriff aller That-
sachen, die sich auf ihre Einnahme- und
Ausgabewirtschaft sowie auf das Schulden-
wesen beziehen.
Wir denken- dabei, wenn hier von Ge-
meindefinanzen die Rede ist, nicht aus-
scliliesslich an die Gemeinden im engeron
Sinne, die Ortsgemeinden, sondern auch an
die anderen Kommunalkörper, d. h. die
zwischen dem Staat und den einzelnen
stehenden, auf territorialer Abgrenzung be-
ruhenden, zwangsgemeinwirtschaftlichen Or-
ganisationen. Freilich wenden wir unsor
Hauptaugenmerk dem wichtigsten Gliprl
derselben, den Ortsgemeinden, zu; aber dio
Darstellung wäi*e unvollkommen, wollte
man nicht auch der übrigen Kommunal -
körper, d. h. der sogenannten Kommunal-
verbände höherer Ordnung, die uns in den
verschiedenen Staaten als Bezirke, Distrikto.
Kreise, Departements, Provinzen, Graf-
schaften etc. entgegentreten, einigermassen
gedenken. Allerdings wird hier die Darstel-
lung einerseits durch die unübersehbaix?
Fülle der aus gescliichtlichen und anderen
Verhältnissen erklärlichen Verschiedenheiten,
andererseits durch den Mangel an aus-
reichenden Vorarbeiten, namentlich in finanz-
statistischer Beziehung, sehr erschwert.
Die Notwendigkeit der Existenz der Ge-
meinden imd ihrer Haushalte zu begin'in-
den, kann nicht hierher gehören. Diese
Begründung wie die Bestimmung des Um-
fangs und der Aufgaben der Kommunal -
körper muss dem Verfassungs- und Vor-
w^altungsrecht überlassen bleiben. Hier sind
niu» die finanziellen Konsequenzen zu ziehen,
welche aus dem Nebeneinanderbestehen der
verschiedenen öffentlichen Körper entstehen.
Doch mögen die folgenden Ausfüluiingen
über die Entwickehmg der Gemeinden iintl
deren Verhältnis zum Staat zum besseren
Verständnis des Gemeindefinanzw^esens bei-
tragen.
Der Staat kann nicht alle in das Gebiet
der öffentlichen Aufgaben gehörigen Leis-
tungen selbst übernehmen. Mag die Re-
gienmg auch noch so ernstlich besti-ebt
sein, ihre Thätigkeit den wechselnden Ver-
hältnissen des Lebens anzupassen, sie ver-
mag ihnen doch nicht jederzeit zu folgen
sich von den Bedürfnissen der einzeln i>r
Gemeinden Rechenschaft zu geben und die-
Gemeindefinanzen
107
seihen zu befriedigen; sie muss dies viel-
mehr den lokal abgegrenzten öffentlich-
re<.htlicheii Verbänden zum Zwecke einer
möglichst entsprechenden und gerechten
Diux-hfühnmg der zu erfüllenden Aufgaben
überlassen und übertragen. Es wird unver-
meidlich sein, dass die Gemeinden etc. die
Durchführung zahlreicher öffentlicher Auf-
gaben übernehmen, vornehmlich solcher,
(leren Durchführung besondere Ortskenntnis
oder besondere Rücksichtnahme auf lokale
Interessen und lokale Hilfsmittel erfortlert.
Die finanziellen Folgen dieses Verhältnisses
äussern sich in der Bestreitung der not-
wendigen Ausgaben durch die Kommunal-
kurper und in der Fürsorge für die erfor-
derli(»he Deckung derselben, also in der
Fühnmg eines wohlgeordneten Haushalts.
Sind es so in erster Linie politische
Gründe, welche die Heranziehung der Ge-
meinden zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben
veranlassen, so sprechen doch auch finan-
zit^Ue Gründe und Rücksichten auf eine
möglichst gerechte Lastenverteilung mit.
So namentlich die Erwägung, dass bei einer
entsprechenden Organisation der Selbs^'er-
waltimg die durch ihre Thätigkeit bedingten
Listen besser auf die Bürger verteilt, die
Ausgaben genauer gepnlft, ihre Vorteile
augenscheinlicher gemacht weiden können.
Zudem entbindet die Selbstverwaltung, in-
dem isie das Interesse des einzelnen an der
sie zunächst umfassenden öffentlichen Orga-
nisation weckt und nährt, eine Menge tüch-
tiger Arbeitskräfte, die freiwillig und unent-
geltlich im Gemeindedienst thätig werden,
eine Menge materieller Mittel, die in Stif-
tungen, Beiträgen etc. für öffentliche Zwecke
dem Gemeinwesen zu gute kommen.
2. (Geschichtliches. Vergleicht man den
Umfang der Geraeindewirtschaft in der
Gee:en wart mit dem früherer Zeiten , so
winl man der Wahrnehmung sicli nicht
ontziolien können, dass derselbe im Laufe
der Jahrhunderte bedeutende Verandenmgen
erfaliren hat, dass er seit Anfang dieses
Jahrlnmderts rasch angewachsen ist und
unzweifelhaft die Tendenz zu fernerem
Wac-hsf^n in sich trägt. Das hängt zusam-
men mit der Umgestaltung, welche in dem
Verhältnis zwischen Staat und Gemeinde
durch clen Uebergang von der mittelalter-
lichen Rechtsordnung zum absoluten, dann
zum modernen Staat eingetreten ist, und
mit der damit verknüpften Umbildung der
(T<^nneinde aus einer Rechts- und Interessen-
genossen.schaft in eine staatsähnliche Kor-
iK)ration mit öffentlich-rechtlichen Aufga,ben.
Fonier mit der durch die Ausdehnung vieler
Staaten und die Vermehnmg der öffentlichen
Zwecke bedingten Notwendigkeit, weitere
Organe der Selbstven\''altung zwischen den
Staat und die Ortsgemeiride zu legen.
Namentlich muss hier daran erinneii;
werden, dass in der Auffassung und Be-
handlung der Ortsgemeinden sich im Laufe
der Jahrhunderte grosse Umwälzungen voll-
zogen haben. Jedoch wird man dabei
zwischen städtischen und ländlichen Ge-
meinden unterscheiden müssen. Die Rechts-
und Interessengemeinschaft der Gemeinde
beruhte lu^pnlnglich allenthalben auf dem
gemeinsamen Eigentum und gemeinsamer
Nutzung der Markgenossenschaft. Während
nun in den Städten dies Gemeineigentum
naturgemäss verhältnismässig früh imd fast
vollständig teils in individuellen Besitz
überging, teils zu besonderen öffentlichen
Zwecken, z. B. Strassen und Plätzen, be-
nutzt wurde, hat sich die gleiche Bewegung
in den Landgemeinden wesentlich später und
unvollkommener voDzogen. Doch entwickelte
sich auch hier allmählich aus den alten
Gemeinheiten individuelles Eigentum teils
der Genossen, teils der Gemeinde als solcher,
und nur Nutzungsrechte am Gemeinde-
eigentum haben sich erhalten. Hier wie
doli; waren es zuletzt dieselben bekannten
Faktoren, die in diesem Sinne wirkten und
die Auflösung des alten Gemeinschaftsver-
hältnisses sich zum Ziele setzten: das Ein-
dringen des römischen Rechts, der Sieg der
Philosophie und Nationalökonomie des vori-
gen Jahrhunderts. Schon seit dem dreissi^-
jährigen Kriege verschwand allmählich die
frühere Selbständigkeit der Gemeinden. Ein
Eingreifen der allmählich in ihrer Macht
erstarkenden Landesherren wurde häufig
durch die schlechte, indolente Wirtschaft
der Gemeinden geradezu provoziert; die
Landesherren begannen die Gemeinden, die
städtischen wie die ländlichen, zu beauf-
sichtigen, alle wichtigeren Handlungen der-
selben an ihre Erlaubnis zu binden, ihren
Haushalt zu kontrollieren. Diese im 17.
Jahrhundert beginnende Bewegung vol-
lendete sich im 18. Jahrhundert. Nament-
lich im Süden und Südwesten Deutschlands,
später auch in Preussen und anderen Staa-
ten, begegnet man derselben häufig. Unter
den aussei-deutschen Ländern weist insbe-
sondere das Ancien Regime in Frankreich
eine analoge, an Eingriffen noch reichere
Thätigkeit auf.
Ziu* Zeit des absoluten Staates war der
Wirkungskreis der Gemeinden ein selir eng
bemessener. Die dem Gemeindewesen des
Mittelalters innew^ohnenden genossenschaft-
lichen Elemente, die den einzelnen fast aus-
schliesslich an die Orts^emeinde banden,
wurden durch die centralisierende Tendenz
des absoluten Staates zurückgedrängt; an
ihre Stelle trat teilweise ein direktes Ver-
hältnis zwischen dem Staat und den einzel-
nen. In demselben Verhältnis, in dem die'
Macht- und Handlungssphäre des Staates
108
Gemeindefmaazen
zunahm, musste die Thäügkeit und Bedeu-
tung der Gemeinden zurückgehen. Die
Gemeinde bestand zwar äusserlich vielfach
in ihrer alten Form fort, jedoch ihre Thätig-
keit bekam inrnier mehr den Cliarakter einer
vom Staate befohlenen. Aber der absolute
Staat sorgte doch auch wieder für wachsende
Leistungen der Gemeinden, indem er sich
eine Eeihe neuer Aufgaben steDte, zu deren
Durchführung er der Mithilfe der Gemein-
den bedurfte. Der moderne Rechtsstaat
mit seinen decentralisierenden Bestrebungen
liat dann den Wirkungskreis der Gemeinden
nicht niu* erweitert, sondern ihnen auch
eine grössere Selbstbestimmung und Selbst-
verwaltung zurückgegeben. Die alte Inte-
ressen- und Rechtsgemeinschaft ist bis auf
einige Reste begraben. Obwohl der einzelne
nun wieder in höherem Grade mit der Ge-
meinde verknüpft ist, bleibt doch die eine
Tliatsache als Resultat der neueren ge-
schichtlichen Entwickelung, dass die Ge-
meinde durch den Staat Recht und Inhalt
ihres Lebens empfängt, ohne dass diese
Bewegung heute schon vöUig abgeschlossen
oder in allen Staaten in gleichem Grade
zum Durchbruch gelangt wäre.
3. Das heutige Verhältnis der Ge-
meinden zum Stifte. Die Gemeinden und
die Kommunalverbände höherer Ordnung
sind nicht souverän, sondern sind nur die-
nende Glieder des souveränen Staates; sie
sind der Oberaufsicht des Staates unter-
worfen. Sie können desloalb ihre Thätig-
keit nicht auf alle öffentlichen Angelegen-
heiten ihres Bezirks erstrecken, sondern
nur auf jene, welche ihnen vom Staate
übertragen oder überlassen worden sind.
InQerhalb dieses letzteren Gebietes haben
sie in wechselndem Umfang das Recht der
Autonomie. Da die den Gemeinden vom
Staate zugewiesenen oder überlassenen Auf-
gaben ziuneist wirtschaftlichen Inhalts sind,
so wird eine geordnete Finanzwirtschaft,
die in den grössten Städten einen ausser-
ordentlich grossen Umfang erreichen kann,
zur unerlässlichen Pflicht. Es äussert sich
aber selbstverständlich auch hier das eben
berührte Verhältnis der Gemeinden zum
Staate. Der moderne Staat, mit Aufgaben
ungleich schwerer belastet als der frühere,
kann nicht dulden, dass die Finanzen der
Gemeinden und der übrigen Kommunalver-
bände eine Richtung annehmen, die die
eigene Leistungsfähigkeit bedroht; er fühlt
sich verpflichtet, kraft seines Oberaufsichts-
rechts finanzielle Operationen, die der Zu-
kimft schaden könnten, hintanzulialten, er
behält sich z. B. Genehmigung vor für alle
Akte, wodurch rentierendes Gemeindever-
mögen veräussert, die Gemeindeangehörigen
mit Steuern belastet oder Schulden aufge-
nommen werden sollen. Das Verhältnis der
Gemeinden zum Staate bringt es aber auf
finanziellem Gebiete auch mit sich, dass der
Staat den Gemeinden mit positiven Leis-
tungen und Zuwendimgen an die Hand geht.
Aber das Verhältnis des Staates zu den
Gemeinden und der Gemeindewirtschaft ist
ein verscliiedenes in den verschiedenen
Staaten. Es richtet sich nach der konkreten
Entwickelung derselben. Da es massgebend
für die Organisation und den Wirkungskreis
des Gemeindefinanzwesens ist, so muss es
wenigstens für die bedeutendsten Staaten
kurz erörtert werden.
4. Die moderne Entwickelung des
Gemeindewesens in England. In Eng-
land, wo die Verwaltung überhaupt und die
Kommunalverwaltung insbesondere keine
fundamentale Neugestaltung erfahren hat,
haben die Reformen vorwiegend an das
praktische Bedürfnis angeknüpft. Daher
rührt der Mangel an Einheitlichkeit nnd
Planmässigkeit der kommunalen Organisa-
tion bei relativ hoher Leistimgsfähii>keit,
das Auseinanderfallen der Verwaltung- in
eine Reihe von Specialgemeinden. Erst in
jüngster Zeit ist mit den local governmental
AcÄ v. 13. August 1888 und 5. März isOJ
der Anfang zu einer Zusammenfassung: dei
isolierten Elemente gemacht worden.
Die wichtigsten Glieder der ländlichei;
Kommunalorganisation in England bildei
die parish, das Kirchspiel, die Pfarrgemeinde
welche früh an die Stelle der Gau- unc
Ortsgemeinde trat, und die meist aus einen
ländlichen Kirchspiel oder einer Stadt l>o
stehende Schidgemeinde. Die parish bilde
aber nicht eine neue einheitliche Orts^^e
meinde, sondern die verschiedenen Verwal
tungsz wecke wurden durch eme Reihe voi
Specialgemeinden, z. B. Deich-, Entwässo
rungs-, Beleuchtungs-, Wachtdienstverbänd
übernommen. Ziu: Erreichung gewisse
Zwecke wurden grössere Verbände gebildet
so die meist aus einer Stadt und ländlichei
Kirchspielen zusammengesetzten unions fü
Zwecke der Armenverwaltung. Die wic-h
tigsten Verbände sind die aus einer Stad
oder mehreren Kirchspielen bestehen de i
Distrikte, die das Gesundheits- und Wege
wesen zu besorgen haben. Der Schwerpunk
der kommunalen Lokalverwaltimg und de
kommunalen Finanzwesens liegt in den Spr
cialgemeinden und in diesen grösseren Yei
bänden, über welche die Centralstaatsbohörd
ein weitgehendes Aufsichtsrecht führt. Doc
hat sich die parish in einzelnen Gel»iote
einen grösseren Wirkungskreis erLolten,
Eine begünstigte Stellung mit Rücksirl
auf das Mass der Befugnisse stellt do
Städten und stadtähnlichen Verbänden, m
mentlich den sogenannten münicipalboronul
oder corporate towns zu, d. h. den nuu
der Städteordnung von 1895 bezw. ls>
Gremeindefinanzen
109
stehenden Wohnbezirken. Freilich macht
sieh auch hier die lokale Verschiedenheit
geltond. Gemein sam ist allen diesen das
Bfc»cht, ihre eigenen Angelegenheiten durch
ihre gewählte Obrigkeit führen zu lassen,
städtische Steuern bezw. Zuschläge zu den
Grafschaftssteuern zu erheben, das städtische
Vermögen zu verwalten, das Strassenwesen
und andere Anstalten der Gesundheitspflege,
das Kanal-, Schlachthof-, Friedhofwesen etc.
zn besorgen, Parks anzulegen, Museen zu
en-ichten; sie haben ferner wichtige Auf-
gaben auf dem Gebiete des Schidwesens;
dagi^gen keine auf dem Gebiete des Armen-
wr-$u?ns. Ein Teil dieser Städte hat auch
eigene Friedensrichter, lieber den Distrik-
ten stellt die Grafschaft (country), die sich
ans Städten und Distrikten zusammensetzt,
während die grosseren Städte eigene Graf-
schaften bilden. Die Grafschaft übt sowohl
wiclitige Aufsichtsrechte über die Kirchspiel-
und Distriktsbehörden als auch umfangreiche
direkte Verwaltungsbefugnisse aus.
5. Der heutige Zustand in Frankreich.
Den Gegensatz zu der ausserordentlichen
Vielgest^tigkeit Englands bildet das ein-
förmige Kommimalwesen Frankreichs mit
den zwei Kommunalverbänden, der Ortsge-
moinde und den Departements; die ersteren
Fortsetzungen der alten Ortsgemeinden, die
letzteren im wesentlichen Schöpfungen der
französischen Revolution. Die zwischen die-
sen beiden stehenden Arrondissements sind
blosse staatliche Verwaltungsbezirke ohne
nennenswerte eigene Verwaltungsbefugnisse.
AVährend die städtischen Gemeinden schon
unter der absoluten Monarchie zu einer ge-
wissen Gleichai'tigkeit gebracht und zur
Unselbständigkeit herabgedrückt worden
waren und in den ersten Jahren der Revo-
lution die Verdrängung der Ortsgemeinden
dnn:h die Kantonsgemeinden versucht wor-
den w^ar, stellte zwar das G. v. 28. pluv.
des Jahres VIII die Ortsgemeinde als im-
ten^tes Ghed der administrativen Organisa-
tion wieder her, aber in einer Weise, dass
allf Besonderheiten des früheren Zustandes
lieseitigt und die Form der Organisation fiU-
Stadt und Land in der Haui)tsache die
.deiche wurde. Die französische Revolution
konnte unmöglich das Aufkommen oder die
Erhalhmg einer nennenswerten Autonomio
lind Selbstverwaltung dulden, an welche
rückläufige Bestrebungen wieder anknüpfen
konnten, üirem Egalisienmgstriebe entsprach
viehnehr eine möglichste Beschränkimg der
Oemeindeautonomie, möglichst direkte Be-
ziehungen zwischen Staat und Staatsbürger,
Herabdrückimg der Gemeinden und ihrer
Vorsteher zu Organen des Staates. Erst
neuere Gesetze, namentlich das G. v. 5. April
1SS4, haben dem Geraeinderate die Befugnis
zur Ernennung der Maires überti'agcn. Zu
den Aufgaben der Gemeinden gehört heute
hauptsächlich die Polizeiverwaltung, das
Elementar- und zum Teil auch das mittlere
Schulwesen, das Wegewesen, die Gesund-
heitspflege, die Besorgung der kirchlichen
und einzelner volkswirtschafthcher Veran-
staltungen. Die Armenpflege lag bis vor
kiwzer Zeit und liegt auch heute noch in
erster Linie den Wohlthätigkeitsbureaus und
den Hospitälern ob. Eret dim;h das G. v.
15. Juli 1893 sind die Gemeinden und De-
partements auch verpflichtet worden, armen
kranken die nötige ärztliche Behandhmg,
Arznei und Pflege zu gewähren. Es ent-
spricht den Centraüsationsbestrebungen
Frankreichs, dass die Beschaffimg der für
solche Leistungen erforderlichen Mittel zum
grossen Teile auf den Beihilfen aus Depar-
temental- und Staatsmitteln beruht und
dass der Staat sich einen bedeutenden Ein-
fluss auf die betreffenden Verwaltungsan-
gelegenheiten gesichert hat.
Was die Departements anlangt, welche
die französische Revolution enogültig an
Stelle der alten Provinzialverfassung setzte,
um die decentralisierende Selbständigkeit
der Provinzen zu beseitigen, so erfüllen
diese, namentlich infolge einer glückhchen
territorialen Abgrenzung, in befriedigender
Weise die Aufgabe, die Tliätigkeit der Ge-
meinden teils zu ergänzen, teils zu ver^^oll-
ständigen. Zu ihren Aufgaben zählt nament-
lich die Fürsorge für das Departemental-
und' Vizinalwegewesen, die Waisen- und
Irrenpflege, die Unterhaltung der Departe-
mentalgefängnisse und -gebäude überhaupt,
Förderung von Landwirtschaft und Industrie
u. dgl.
Auch die DepartementalverwaJtung ist
dem Einwirken des Staates in hohem Grade
unterworfen: der Präfekt wird vom Staate
ernannt, er ist aber, soweit es sich um An-
gelegenheit des Departements handelt, an
die Beschlussfassungen des Generalrates und
seit einem Gesetz von 1871 auch an die
fortlaufende Mitwirkung und Kontrolle einer
Kommission des Generalrätes gebunden.
6. Deutschland. Deutschland steht
wie auf anderen Gebieten so auch hier
z'vvischen der bunten Vielgestaltigkeit Eng-
lands und der Einlieitlichkeit Frankreichs.
Die Orts^meinde bildet wie in Frankreich
so auch m Deutschland die Grundlage der
Kommunalverwaltung und umfasst mehr oder
weniger vollständig alle auf das Gemeinde-
wesen bezüglichen Aufgaben. Doch kommen
auch Sp'ecial- oder Zweckgemeinden in
gi'össerem Umfange vor; so namentlich in
der grossen Mehrzahl der S*:aaten die Kirchen-
gemeinden, dann die im Osten Preussens
fast allgemein verbreiteten Schulgemeinden.
Neben diesen Specialgemeinden giebt es auch
noch Interesseutengenossenschafien zur Aus-
110
Gemeimlefinanzeu
Übung gemeinsamer Rechte, so die Alt- oder
Nutzungsgemeinden für die Verwaltung des
Büi;gervermögen8, Genossenschaften der Jagd-
berechtigten sowie für landwirtschaftliche
Schutz- und Meliorationsanlagen, die aber
ihre selbständige wirtschaftliche Verwaltung
haben. Was den Untersclüed zwischen Stadt-
und Landgemeinden anlangt, s^) sind zwar
die schon früh hervortretenden Unterschiede
zwischen den ackerbautreibenden Land- und
den auf der Verschiedenheit des Wii-tschafts-
lebens beruhenden, gewerbereichen Stadt-
gemeinden durch die Auflösung der länd-
lichen Rechts- und Nutzungsgemeinschaft
sowie der städtischen Korporationen sehr
abgeschwächt worden, doch sind bemerkens-
werte Verschiedenheiten vorhanden: so die
Verschiedenheit der wirtschaftlichen Ver-
hältaisse und die Verschiedenheit der Ver-
fassung und Vervs^altungsorganisation.
Auch insofern ist die Entwickeluug des
Üemeindewesens bemerkenswert und für das
Finanzwesen folgenreich, als der Wirkimgs-
kreis der Gemeinden seit der in dieser Be-
ziehung massgebenden Städteordnung Preus-
sens von 1808 sich fortwährend erweitert
hat Zum Teil infolge des zunehmenden
Umfanges der den Gemeinden vom Staate
übertragenen Aufgaben, zum Teil infolge
der gesteigerten Anforderungen an die im
eigensten Wirkungskreise der Gemeinden
gelegene Thätigkeit. Zumeist g-ehören in
Deutschland dem Wirkungskreise der Ge-
meinden folgende Gegenstände an: die Hand-
liabung der Ortspolizei oder die Mitwii-kung
bei derselben, das örtliche Strassen- und
Wegewesen, das Schul- und Armen wesen;
dazu tritt in den grösseren Städten die Ftir-
sorge für die kostspieligen Anstalten der Ge-
suodheits- und Wohlfahrtspflege.
Die Konununalverbände höherer Ordnung
sind in Deutschland ihrer Mehi-zahl nach
aus administrativen Bezirken hervorgegangen
und erst in neuerer Zeit entstanden; sie
hängen aber so sehr mit der gesamten ad-
ministrativen Organisation der einzelnen
Staaten zusammen, dass es nicht möglich
ist, hier eine Uebersicht derselben zu geben.
Nur sei bemerkt, dass unter den preussi sehen
Kommunalkörpern namentlich die Provinzen
und Kreise, in Bayern die Kreise und Dis-
triktsgemeinden, in Sachsen die Bezirksver-
bände, in Württemberg die Aratskörper-
schaften, in Baden die Kreise einen kommu-
nalen Organismus darstellen. Daneben giebt
es auch Zweckverbände auf weiterer terri-
torialer Grundlage, wie vornehmlich die
Landarmen verbände.
7. Oest erreich. Unter den kommunalen
Körpern Oesterreichs ragen als den ver-
schiedenen Ländern Oesterreichs gemeinsam
hervor die Ortsgemeinde und das Land;
daneben kommen in mehreren Ländern die
Bezirke vor. Auch hier erstreckt sich wie
in Deutschland die Thätigkeit der Ortsge-
meinden namentlich auf Polizei, Armeu-
wesen, Volksschul-, Wege- und Kommuni-
kationswesen. Aus der Zahl der Ortsge-
meinden heben sich die mit einem Gemeinde-
Statut versehenen grösseren Städte durch
eine kompliziertere Verfassung undBeliürden-
organisation hervor.
Das »Land« ist ein selbständiger Fiuaiiz-
mid Verwaltungskörper mit einer verhält-
nismässig grossen Autonomie und ausg:c
dehnter Zuständigkeit Seine Kompetenz
die es durch Landtag und Landesausschus:
ausübt, umfasst diejenigen Gegenstände, hin
sichtlich deren die Leistungsfähigkeit de
Ortsgemeinden der Unterstützimg bedarf
besonders aber diejenigen, deren Bedeutuni
über die Ortsgemeinden hinausreicht, sowei
sie nicht dem Gesamtstaat vorbehalten sine
also namentlich die Verwaltung des Ver
mögens und der Anstalten des Ijande:
Hierher gehört die Unterhaltung der lande.«-
polizeiücnen Anstalten, dann der gi'össere
Armen-, Irrjn-, Gebär-, Findelanstalten, eine
Teils des Unterrichtswesens, des Strassei
und Bnlckenwesens etc. Eine erhöhte Wicl
tigkeit erhält der Landesausschuss dadurcl
dass ihm das Recht der Kontrolle gegenübt
den unteren Selbstverwaltungskörpern zi
steht.
Die Bezirke bilden Zwischenglieder z\v
schen den Ortsgemeinden und dem Land»
ihr Wirkungskreis deckt sich mit dem th
Gemeinden ; sie übernehmen Leistimgeu d«
Gemeinden oder unterstützen imd ergänze
dieselben.
II. Die Gemeindeausgaben.
8. Allgemeines. Man kann die An
gaben der Gemeinden in solche für staa
liehe Zwecke und Ausgaben für besoi
dere lokale Wohlfahrtseinric I
tungen oder ^ieUeicht noch besser (na*
Röscher) in Ausgaben für staatlicJ
Zwecke , Ausgaben für obligatoris(
kommunale Zwecke und Ausgaben f
fakultativ kommunaleZweckegliedoi
Diese Scheidung kann aber nicht die 1
deutung einer ausschliessenden haben. De
infolge der engen Beziehungen zwit^t-li
Staat und Komnmnalkörper ist die Erf filhi
der Staat sauf gaben stets auch von höh«
Wert für die im KommunalkÖi-per vereiniget
Ki-eise und umgekehrt die Thätigkeit <
Kommimalkörper von erheblichem Intere:
für den Staat. In diesem Sinne schlies.-
wu' uns der Einteilung Röschere an \i
beginnen mit den Ausgaben für stuatlu
Zwecke.
Es ist, ^^de oben schon erwähnt ^vlll■
unvermeidlich, dass die Gemeinden
Durchführung mancher eigentlich di
Gemeindefinanzen
111
Staate zustehenden Aufgaben über-
nehmen, nämlich in dem Falle, dass ihre
Durchfühnmg besondere Ortskenntnis oder
besondere Rücksichtnahme auf örtliche Id-
tereesen imd Hilfsmittel erfordert, ffierher
gehören, um nur die wichtigsten zu nennen,
aus dem Gebiete der inneren Verwaltung
die Sicherheits-, Gesundheits- und Baupolizei,
das Civilstandswesen , die Vornahine von
Volkszählungen, die Besorgung politischer
"Wahlen, in Deutschland jetzt auch die Mit-
wirkung bei den verschiedenen Arbeiterver-
sicherung8gesetzen ; aus der Finanzverw^al-
tung die Bildung von Steuerkominissionen
und die Erhebung gewisser Steuern; aus
dem Gebiete der Militärverwaltung die Ver-
quartierung und Verpflegung der Mann-
schaften und Pferde, die Vorspannleistuugen
und Naturalliefeningen. In welchem Um-
fange hier die Mitwirkung der Gemeinden
erwünscht oder geboten ist, ist freilich nicht
absolut festzustellen. An sich- geht die
Tendenz sichtbar dahin, bei der Zunahme
und wachsenden ünübersehbarkeit der staat-
hchen Verwaltungsaufgaben einen wachsen-
den Teil der Ausfühi'ung auf die lokalen
<Drgane und Korporationen zu übertragen,
die infolge der grosseren Bekanntschaft mit
ihren verhältnismässig engbegrenzten Ge-
bieten die Einzelheiten eher zu beherrschen,
die Angelegenheiten zweckentsprechender
zu erledigen, die Lasten besser zu verteilen
in der Lage sind. Zugleich wird damit
auch die in der Idee der Selbstver^^altung
gelegene Forderung einer tiefer greifenden
Beteiligimg der staatsbürgerlichen Elemente
bei Ausübung und Kontrolle der Verwal-
tung erreicht. Es ist aber mit Recht her-
vorgehoben worden, dass der Staat nicht zu
viele Lasten auf die Gemeinden abwälzen
feüUe, weil ein solches erzwungenes An-
wachsen der Ausgaben immer die ärmeren
Gemeinden am schwersten treffe. Es er-
klärt und rechtfertigt sich hieraus das viel-
fach wahrnehmbare Strebeu nach Beteiligimg
der grösseren Verbände, eventuell auch des
Staates an den Kosten der Gemeindever-
waltimg.
Unter den obligatorisch kommu-
nalen Zwecken werden solche verstanden,
welche jede auf der Höhe ihrer Aufgaben
fiteheude Gemeinde durchführt und deren
Durchführung eventuell vom Staate er-
zwungen w^iixl. Hierher zählen die Aus-
gaben für das Schulwesen, das Armenwesen,
das Wegtv, Brücken- und Feuerlöschwesen.
Man kann die für staatliche und obliga-
torisch kommunale Zwecke erfoixlerlichen
Ausgaben auch als Pflichtausgaben be-
zeichnen und zusammenfassen. Was als
Püichtausgabe gelten soll, unterUegt dem
kookreten Recht und ist demnach in den
einzelnen Staaten verschieden. Bei sol-
chen Pflichtausgaben ist die Selbstbestim-
mung der Gemeinden ausgeschlossen, ihre
Erfüllung kann im Verwaltungswege er-
zwungen wei*den. Die Form der Aiöübufig
dieses Zwanges ist regelmässig die mittelst
Beschlusses der Aufsichtsbehörde erfolgende
Einstellimg der für Pflichtausgaben erforder-
lichen Mittel in den gemeindlichen Voran-
schlag. Nach dem Vorgange des belgischen
Gemeinde-G. v. 30. März 1831 bezv. des
Proviuzial-G. v. 30. AprU 1836 und insbe-
sondere des französischen Municipal-G. v.
18. Juli 1837 bezw\ des Departemental-G. v.
10. Mai 1838 pflegen auch die deutschen
Gesetzgebungen dem Staat das Kecht der
zw^angsweisen Einstellung der Ausgaben für
solche Leistungeu, zu denen die Kommunal-
körper durch die Gesetzgebung verpflichtet
sind, in das Budget derselben vorzubehalten.
So sagt die bayerische Gemeinde-0. v. 29.
April 1869: »"Unterlässt eine Gemeinde,
die ihr gesetzlich obliegenden Verpflich-
tungen zu erfüllen, gesetzlich notwendige
Ausgaben in den Voranschlag aufzmiehmen
oder erforderlichenfalls ausserordentliche zu
genehmigen, Gemeindedienste für- gesetzlich
notwendige Zwecke anzuordnen, so ist sie
unter Angabe des Gesetzes aufzufordern,
binnen angemessener Frist die zur Erfüllung
ihrer Verpflichtungen erforderlichen Be-
schlüsse zu fassen. Wu*d innerhalb der an-
gesetzten Frist die gesetzliche Notwendig-
keit, der Umfang oder die Art der Leistung
bestritten, so hat die Behörde hierüber vor-
behaltlich des der Gemeinde zustehenden
Beschwerderechts Beschluss zu fassen, w^o-
bei auf die Leistungsfähigkeit der Gemeinde
besondere Rücksicht zu nehmen ist ... .
Wird die endgültig festgestellte Verpflichtung
innerhalb emer angemessenen Frist nicht
erfüllt, so hat die Staatsbehörde an der
Stelle der Gemeindebehörde die zum Vollzage
nötigen Verfügungen zu treffen, insbesondere
auch die etwa erforderliche Umlage anzu-
ordnen und deren Erhebung auf Kosten der
Gemeinde zu veranlassen.« Li Preussen
verfügt nach dem Zuständigkeitsgesetz in
den §§ 19 und 35, »wenn eine Stadtge-
meinde unterlässt oder verweigert, die ilir
gesetzlich obliegenden Leistungen auf den
Haushaltsetat zu bringen oder ausserordent-
lich zu genehmigeQ, der Regierungspräsi-
dent unter Anführung der Gründe die Ein-
tragung in den Etat bezw. die Feststellung
der ausserordentlichen Ausgabe«, wogegen
der Gemeinde die Klage beim Oberverwal-
tungsgericht zusteht. Die gleiche Befugnis
übt unter den gleichen Voi-aussetzungen bei
Landgemeinden und Gutsbezirken der Laud-
rat aus, dessen Verfügung durch Klage beim
Bezirksausschusse angefochten werden kann.
Aehnliche Bestimmungen kehren in fast
allen Landesgesetzgebungen wieder.
112
Gremeindefinanzen
Zu den fakultativ kommunalen
Ausgaben zählen diejenigen, welche über
das für staatliche und kommunale Zwecke
erforderliche Minimum hinausgehen. Hier
lässt sich allgemein mir sagen, dass, soweit
ihre Mittel reichen, die Gemeinde berech-
tigt ist, nach Erfordern Anstalten und Ein-
richtungen ins Leben zu rufen, welche dem
Gebiete der inneren Verwaltung angehören
und bestimmt sind, die materieUe und
geistige Entwickeln ng der Gemeindeange-
hörigen, die Bequemlichkeit und Annehm-
lichkeit des Lebens zu fördern. Hierher
gehören die Ausgaben für den höheren Un-
terricht, für Kunst, Wissenschaft, Museen,
für Pflasterung, Kanalisierung, Reinigung
der Sti-assen, für Beleuchtung, für Strassen-
erweiterung, Promenaden und Parkanlagen,
für Wasserleitung, Markthallen, Schlachthöfe
und dergleichen. Es mag übrigens gleich
hier daran erinnert werden, dass geiude
mit den zuletzt genannten Anstalten wieder
Einkünfte verbunden sind, die häufig nicht
nur die Kosten decken, sondern auch ganz
erhebliche Ueberschüsse ergeben.
Versucht man so die heute von den Ge-
meinden geleisteten Aufgaben nach gewissen
Kategorieen zu sondern, so können diese
Kategorieen doch niclit als absolute be-
trachtet werden. Sie sind vielmehr in
mehrfacher Beziehung schwankend. Sie
werden schwanken je nach den Ansichten
der Zeit bezüglich der Rechte und Pflichten
des Staates, der Austeilung der öffentlichen
Aufgaben zwischen Staat und kommunalen
Korporationen, den Ideeen über Centralisa-
tion und Decentralisation eta
Prüft man die" Frage, w-elches von den
drei obengenannten Gebieten der Gemeinde-
ausgaben zumeist an deren Wachstum be-
teiligt ist, so lässt sich allgemein nur sagen,
dass bezüglich des Anteils der Gemeinden
an der Erfüllung der Staat sauf gaben eine
den verschiedenen Gemeinden und Gemeinde-
arten gemeinsame Zunahme konstatiert
werden muss. Was die freiwilligen Aus-
gaben der Gemeinden anlangt, so ist deren
Zunahme zumeist nur bei der bescltränktcn
Anzahl solcher Gemeinden zu konstatieren,
bei denen die Notwendigkeit solcher Leis-
tungen klar zu Tage tritt, nämlich bei den
städtischen, namentlich den grossstädtischen.
Hier allerdings in solchem Masse, dass die
Ausgaben im Laufe der letzten Jahraehnte
verhältnismässig stärker gewachsen sind als
die Ausgaben des Staates. Hier ist die
Einbeziehung neuer Aufgaben eine Frage
der Zweckmässigkeit. Ist heute gerade auf
diesem Gebiete eine bedeutende Steigerung
der Gemeindethätigkeit auf Kosten der Pri-
vatindustrie zu bemerken, so ist das zwei-
fellos bedingt einei'seits durch den Umstand,
dass die private Thätigkeit, der in einfache-
ren Verhältnissen die Befriedigung mancher
Bedürfnisse der Wohlfahrtspflege überlassen
werden konnte, heute nicht mehr genügt,
andererseits durch die grösseren Ansprüche,
welche die grossstädtischen Btirger über-
haupt in hygienischer Beziehung und in
Bezug auf Komfort, Bequemlichkeit u. s. w.
erheben.
9. Die Zunahme der Gemeindeans-
gaben. Diese Zunahme der Gemeindeaus-
gaben hat zum Teil ein Mass erreicht,
welches die Empfindung des Druckes er-
zeugt, namentlich auch das Finanzwesen
des Staates nicht unbedenklich beeinflusst.
Allenthalben wird bemerkt, dass, wenn im
Laufe der letzten Zeit vielfach Klagen über
den zunehmenden Druck der direkten
Steuern erhoben w^orden sind, daran nicht
sowohl die Belastung mit Staatssteuern,
sondern vielmehr die üeberbürdung mit
Gemeinde-, Kreis- und Provinzialabgabeii
sowie mit Abgaben für Kirchen und Schu-
len die Schuld trage imd zwar nicht nur
wegen der allerdings auch vorhandenen Un-
ßichmässigkeit in der Verteilung der
sten, sondern wegen ihrer absoluten Hölie.
Dies trifft besonders da zu, wo Staat und
Gemeinde die nämlichen Steuerquelleu zur
Befriedigung ihrer Bedürfnisse benutzen.
Deshalb geht die Gemeindesteuerreform mit
Hecht von dem Gedanken aus, den Gemein-
den besondere von dem Staate nicht weiter
in Anspruch genommene Steuerquellen zu
eröffnen.
Einige Zahlenbeispiele mögen die Zu-
nahme der Gemeindeausgaben veranschau-
lichen.
Gegen 1869 ist in keiner der 52 gross
ten Städte Preussens mit mehr als 200U(
Einwohnern eine Vermindenuig der Hr'ilu
der Gemeindeausgaben eingetreten, sondori
ausnahmslos eine Zunahme, w^elche bei de
Mehrzahl derselben, nämlich bei 28, moh
als 140^/0 beträgt. '
Während sich die vom Staate erhobene)
direkten Steuern von 1876 bis 1880/81 un
ca. 15 Millionen Mark (0,42 Mark pro Ko]^i
vermelirt, dagegen von 1880. 81 bis 1888. s
infolge der Aufhebimg der untersten Klassen
steuerstufen um 16 2/3 Millionen Mark ((),(>
Mark pro Kopf) vermindert haben, sind di
Gemeindeabgaben in dieser Zeit unuutoi
brochen und selii' erheblich gestiegen, min
lieh von 1876 bis 1880/81 um 19^/ 1 Millic
neu Mark (0,42 pro Kopf), von 1880/81 h
1883/84 um 12^-1 MiUionen (0,52 pro Kopf
Diese Steigerung trifft naturgemäss ai
meisten die Stadtgemeinden, in welchon si
von 1876 bis 1880/81 151 3 Millionen (1SS>''
oder 0,95 Mark pix) Kopf) und von 1880 ^
bis 1883/84 8^/4 Millionen (8,8 ^Vo oder OS
Mark pro Kopf) betiiig; in den Lands^^
Gemeindefinanzen
113
meinden betrug sie in den beiden Zeiträu-
men nur 6,8^/0.
Es belief sich der auf den Kopf der
städtischen Bevölkerung Preussens entfal-
lende Durchschnittsbetrag an Gemeindeab-
gaben im Jahre
1849 auf 3,77 M.
1869 „ 6,47 n
1876 „ 9,58 „
1880/81 „ 10,53 „
1883/84 „ 11,46 „
Also eine Steigerung der Kopfl)etrage
gegen 1880/81 um Sfi%
1876 „ 19,6 „
1869 „ 77,1 n
1849 „ 204,0 „
n
n
In den Landgemeinden ist die Steige-
rung naturgemäss erheblich geringer. Die
Kopfquoten bctnigen hier 1875 : 3,70,
1880/81 : 3,76, 1883/84 : 4,02 Mark.
Im Jahre 1883/84 betrugen die Ausgaben
der Stadt- und Landgemeinden in 1000
Mark:
Positionen
Stadtgemeinden
mit Berlin
gesamte {ausserord.
Ausgaben
Stadtgemeinden
ohne Berlin
gesamte {ausserord.
Ausgaben
Landgemeinden
gesamte | ausserord.
Ausgaben
Für allgemein-staatliche Zwecke
„ Verkehrsanlagen ....
„ gewerbliche Anlagen . . .
„ Wohlthätigkeit und Armen-
pflege
p Unterrichtszwecke ....
^ allgemeine Gemeindeverwal-
. ÄisnngWdTügnngVon
Schulden
Aus nutzbarem Vermögen . . .
Sonstige Ausgaben
Summe
17 814
31 921
33778
35864
6I9S6
24073
26923
II 049
3065
272210
895
9288
10283
1487
5247
1049
I 603
I 623
13 991
24287
32708
27935
52265
19458
25302
10801
2 819
895
8846
7529
I 480
4506
1049
1597
I 422
7351
18464
873
12 901
92854
13280
7721
10496
396
3989
702
407
1818
234
786
1677
31477
215 301 27327
100882
9613
Die Ausgaben Berlins betrugen 1883/84
61,053 Millionen Mark -der Etat für 1898/99
ist in Ausgabe und Einnahme auf 98,046
^^üUionen Mark festgestellt.
Für Bayern fehlt eine neuere Statistik
der Gemeindeausgaben ; doch lässt die jähr-
lich veröffentlichte üebersicht über den
Stand der Gemeindeumlagen (direkte Steuern)
einen Schluss auf das Anwachsen der Ge-
meindeausgaben zu. Danach betrugen die
Gemeindeumlagen in den
unmittelb. mittelb.
Städten Gemeinden
in 1000 Mark
1 1 1 10,3
13 130,2
17937,3
oder in Prozenten der direkten Staatssteuern
1876 71 71 71
1886 88 72 77
1896 103 91 95
Besonders interessant ist die Thatsache,
<lass die Zunahme des Gesamtbetrages der
direkten Gemeindesteuern namentlich in dem
Zeiträume 1886—1896 eine beträchtliche
war und dass die Gemeindesteuern wenigs-
tens in den unmittelbaren Städten den Be-
trag der Staatssteuem bereits überschritten
haben.
Handwörterbuch der StaatswiSBenschaften. Zweite
1876
1886
1896
3 056,0
7515,0
12613,4
im
Königreich
14 166,3
20 645,2
30 550,7
Eine ganz analoge Entwickehmg, zum
Teil ein noch erheblich stärkeres Anwachsen
der Gemeindeausgaben zeigt sich in aussor-
deutschen Ländern.
In Grossbritannien stiegen die Aus-
gaben in den Kommunalverbänden von
1867/68—1892,93 von 36,1 auf 81,3 Millio-
nen £; besonders beträchtlich war die Zu-
nahme in dem kurzen Zeiträume von 1888/89
bis 1892/93, nämHch von 66,2 auf 81,3 Mü-
lionen £. Die rapide Steigerung der Aus-
gaben in dem zuletzt genannten Zeiträume
hat eine erheblich stärkere Ausnutzung der
direkten Steuern nötig gemacht, aber auch
eine bedeutende Vermehrung der Staatszu-
schüsse und deren teilweise Umwandlung
in überlassene Staatssteuem und Anteile
von solchen. Von 1867/68—1892/93 stiegen:
die Steuerlast um 126, die Verschuldung
um 132, die Staatszuschüsse um 774 ®/o.
In Frankreich betrugen nach Leroy-
Beaulieu die für Gemeindezwecke bestimm-
ten Zuschlagscentimes zu den direkten Staats-
steuern 1803 nur 57 Millionen Francs; sie
stellten sich 1864 auf 206, 1869 auf 248,
1878 auf 309, 1898 auf 384 Millionen Francs,
d. h. sie stiegen seit dem Anfange dieses
Jahrhunderts um 573, seit 1864 um 86%;
die Reineinnahmen aus dem Octroi stiegen
AnllaRe. lY. 8
Oemeindeö nanzen
Ton 44 Mülionon i. J. 1823 auf 70 i. J. 1843,
143 i. J. 1862, 296 i. J, 1896, sie haben sich
also in 73 Jairen iingefilhr versieben facht,
■während die Bevölkerang der Glemeinden
mit Octroi Bich kaum vei-doppelt liat. Die
Gesamtsumme der Ausgaben der französi-
sdien Gemeioden betnig 1877 998.6 Mil-
lionen FraiiCB, 1885 1060,8 MiUionen Francs.
Paris hatte 1813 bei 6220Ü0 Einwoltnern
ein ordentliches Budget von 23 Millionen
Francs — 37 Francs auf den Einwohner.
unter der Restauration stieg das Budget auf
32 Millionen bei 713 000 Einwohnern = 4ü
Francs pro Kopf. 1869 auf 168 Millionen
bei 1800 000 Einwohnern = 94 Francs pro
Kopf, 1S98 auf 299 Millionen Francs = 119
Francs pro Kopl. Es hat sich demnach die
AuBgabensumme verdreizehnfacht, während
die Bevölkening sich vervierfacht hat.
In den belgischen Gemeinden haben
sich die Gesamteinnahmen in der Zeit von
1865—1893 von 90,3 auf 179,3 Millionen
Francs gehoben. Die Gesamteinnahmen der
Gemeinden Italiens betragen 1863 264
Millionen Lire, 1874 371, 1897 554, Iiaben
sich also in 34 Jahren mehr als verdoppelt.
Im Jahre 1897 betrugen die Ausgaben Roms
27,1, Neapels 20,7, Mailands 18,5, Turins
11,0, Palermos 8,7, Genuas 12,1, Floren?.'
9,5, Venedigs 7,4 Millionen Lire. Allerdings
hat eine grossere Anzahl dieser Städte deu
enormen Aufwand auf die Dauer nicht er-
tragen können und entweder falliert oder
ihre Verpfliditimgen nicht cinlialten können.
Die Ausgaben der niederländischen
Gemeinden haben sich in der Zeit von 1879
bis 1894 verdoppelt; sie stiegen von 55,9
auf 107,1 Millionen Qulden.
Schliesslich seien noch Angaben über die
Ausgaben der grossen Städte Euroiws nach
Bereclinungen von Korösi bezw. Leroy-
Beaulieu bcigeffigt, die zwar das Jahr lBy5
betreffen , aber bei, der Dürftigkeit und
Lflckenliaftigkeit des statistischen Materials
immer noch von Wert sind. Es betrugen
Paria
Wien
München
Lyon
Petersburg
Moskau
Kopenhagen
Mailand
Turin
Dresden
Warschau
die Ausgaben
insgesamt
pro Kopt
(Frai
DCS)
29z 167654
5647477s
43,28
56440914
75,37
3645688z
27 798 698
66,30
27 289 546
24 249 788
"5,25
18 245 140
48,40
20,23
iz 973 285
17,22
45,25
10 735 759
30,50
9950529
9 497 S53
8 697 793
ao,i5
IUI
•3 M S-
:qp-liio6(«(i5rt^CJPSKis
Gemeindefinanzen
115
10. Der Personal- und Sachbedarf.
a) Der Personalbedarf. Der früheren
Naturalwirtschaft entsprach es, Dienste wie
Sachgiiter von den Gemeindeangefiörigen in
natura zu fordern. Erst seit dem Cebergang
zur Geldwirtschaft ira 16. und 17. Jalu*hun-
dert tritt auch in den Gemeinden, allerdings
in erheblich geringerem Grade als beim
Staate, das Bestreben hervor, Geldzahlungen
an Stelle der Dienste treten zu lassen und
die Dienste selbst gegen Entgelt im Wege
vertragsraässiger Vereinbarung zu beschaffen.
Diese Entwickelung ist am frühesten und
vollständigsten in England zum Abschlüsse
gekommen. Hier sind die Naturaldienste
der Gemeindemitglieder, abgesehen von den
ehrenamtlichen Verrichtungen, überall durch
Geldzahlungen ersetzt worden. Weniger
vollkommen geschah dies in Frankreich und
Deutschland, wo die unentgeltlichen Leis-
tungen der Gemeindegenossen auch heute
noch, namentlich in den Landgemeinden,
eine grossere Rolle spielen.
Die unentgeltlichen Dienstleistungen sind
entweder ehrenamtliche oder mechanische.
Was zunächst die ehrenamtlichen
Leistungen anlangt^ so ist ihre Ausdehnung
bekanntlich am grössten in der englischen
Kommunal Verwaltung; wenigstens nominell
niht die Ausführung überall auf ehrenamt-
Hehen Organen. Thatsächlich ist fi-eilich
die Bedeutung derselben wesentlich gemin-
dert, einmal dadurch, da*^s die Centralbe-
hörden sehr weitgehende Befugnisse be-
sitzen, dann aber namentlich dadm*ch, dass
auch hier bei der Spedalisierung der Ver-
waltung und den wachsenden technischen
Aufgaben in steigendem Masse das Bedürf-
nis sich herausgestellt hat, die eigentliche
Arbeit aiif besoldete und benifsmässig ge-
bildete Beamte zu übertragen. In Frank-
reich liegt die Departementsverwaltung ganz
in den Händen von Berufsbeamten; die
eigentliche Gemeindeverwaltung wird da-
gegen in der Hauptsache von unbesoldeten
Behörden geführt; freilich sind diese eben-
falls in zunehmendem Grade auf Mitarbeit
und Unterstützung eines berufsmässig vor-
gebildeten \md besoldeten Personals ange-
wiesen.
In Deutschland findet sich in den grösse-
ren Städten zumeist eine Verbindung be-
soldeter Aemter mit Ehrenämtern. Während
die Bürgermeister, die Beigeordneten, die
technischen Beamten und die Unterbeamten
aller Art besoldet sind, werden die übrigen
von diesen nicht zu leistenden Geschäfte
durch freiwillige Arbeit im Ehrenamte be-
sorgt. Was die ländlichen Gemeinden an-
langt, so wird hier die Verwaltung fast
ausschliesslich durch freiwillige Thätigkeit
geführt, nur dass, wie in Frankreich und
sonst, in besoldeten Gemeindesclireibem die
Anfänge eines Berufsbeamtentums erschei-
nen. Bei den Kommunal verbänden höherer
Ordnung wird in der Regel die Verwaltung
von besoldeten Kommunal- oder auch von
den Staatsbeamten geführt, so dass der
ehrenamtüchen Thätigkeit nur die Fassung
der als Direktive für die Verwaltung nöti-
gen Beschlüsse und eine beratende und
kontrollierende Mitwirkung bei der Ausfah-
rung zusteht.
Die mechanischen Dienstleistimgen
werden in den Landgemeinden Deutsch-
lands, Frankreichs und andei-er Länder noch
in ausgedehntem Masse unentgeltlich von
den Gemeindemitgliedern geleistet, oder
müssen eventuell von denselben in Geld ab-
gelöst werden; in England wohl nur noch
von bezahlten Arbeitern. Diese mechani-
schen unentgeltüchen Leistungen finden
sich namentlich im Wegebau, im Wachte
und Botenwesen. In Bayern, um nur ein-
zelne Beispiele anzuführen, sind dienst-
pflichtig die Bürger, die Besitzer eines
Wohnhauses und die seit sechs Monaten in
der Gemeinde wohnenden und mit direkter
Steuer angelegten selbständigen Einwohner ;
in der Pfalz können den Heimatberechtigten
Dienste ziu* Sicherheitswache imd im Wege-
bau auferlegt werden. In den sieben alten
Provinzen Preussens können die selbständi-
gen Einwohner und die in der Stadt be-
steuerten Forensen imd juristischen Perso-
nen durch Beschluss der Stadtverordneten
zu Diensten verpflichtet werden, wobei diese
in Geld abgeschätzt und nach dem Mass-
stabe der direkten Steuern verteilt werden.
In den Ijandgemeinden dieser sieben Pro-
vinzen sind die Gemeindegüeder bezw. die
Grundbesitzer dienstpflichtig. Die Hand-
dienste werden wie in Bayern nach Köpfen,
die Spanndienste nach Verhältnis der Klassen
verteilt, in welche die Ackerbesitzer nach
der Zahl ihrer Gespanne in jedem Orte ein-
geteilt sind. Aehn liehe Bestimmungen fin-
den sich in den anderen preussischen Pro-
vinzen wie in den anderen deutschen Staaten.
b) Der Sachbedarf. Er umfasst die
ziu- Diu-clifühnmg der Kommunalauf gaben
erforderlichen Verbrauchsgüter, Grundstücke
und Kapitalien bezw. das zu ihrer Beschaf-
fimg erforderliche Geld. Eine besondere
Stellung nehmen dabei diejenigen Sachgüter
(Immobilien imd Kapitalanlagen) ein, welche
dauernder und produktiver Natur sind imd
infolgedessen unten noch zu besprechen sind.
Ueber den Unterschied von ordent-
lichem imd ausserordentlichem Be-
triebs- imd Verwaltungsbedarf s. das oben
im Art. Finanzen S. 929 ff. Gesagte.
11. Die Ausgaben im einzelnen.
a) Ausgaben für Folisei. Wii- verstehen
hier unter Polizei die Sicherheits-, (re-
sundheits- und Baupolizei, d. h. diejenige
8*
i
116
Gemeindefinanzen
Thätigkeit, welche, sei es in vorbeugender,
sei es in repressiver Weise die Hindemisse
und Gefahren zu beseitigen bestrebt ist,
welche die leibliche, geistige und wirt-
schaftliche Existenz der Bevölkerung und
ihre Weiterentwickelung gefährden oder be-
drohen. Gemäss dem fast allenthalben zur
Anerkennung gelangten Grundsatze, dass die
Ortspolizei Sache der Gemeindeobrigkeit sei,
ist m Deutschland ihre Verwaltung dem
Bürgermeister bezw, einem eigens hierzu
bestellten Mitgliede des Magistrates über-
tragen (in Sachsen nur die Sicherheitspolizei) ;
ausnahmsweise ist in den grossen Städten
die Polizei Verwaltung in einer Weise ge-
regelt, welche den Einfluss des Staates mehr
zur Geltung kommen lässt, so z. B. in der
Weise, dass die Behörde seitens des Staates
ernannt wird, der dann auch die hierdurch
erwachsenden persönlichen Kosten zu tragen
hat. So in Preussen. In Bayern wird
wenigstens der grössere Teil der polizei-
lichen Funktionen in der Hauptstadt durch
eine königliche Polizeidirektion besorgt.
Bezüglich der Kosten der Ortspolizeiver-
waltung in den grössten preussischen Städten
YgL die folgende Tabelle.
Kosten der Ortspolizeiverwaltung.
Städte
Summe der Ausgaben
auf Ge-
meinde-
kosten
Pro Kopf
der
Bevölke-
rung
Berlin
7 984 148
I 438 544
Breslau
588 142
123084
Köln
351 909
171 368
Frankfurt a. M.
542 080
213785
Königsberg
338531
48569
Hannover
328 405
58236
Düsseldorf
167 842
Danziff
Magdeourg
266 299
47941
292 685
93 167
Elberfeld
204 995
6,45
2,17
2,01
4,41
2,16
1,98
1,06
2,47
2,06
1,62
Die Kosten des Feuerlöschwesens nehmen
in grösseren Städten einen wesentlichen
Umfang an, wie die folgenden Zahlen be-
weisen. Sie betrugen für 1896/97:
Berlin
Hamburg
Breslau
Hünchen
Dresden
Leipzig
Köln
Frankfurta
Mark
I 708 527 1)
167 907 *)
264 159
238 959
178427
252 979 ')
207 400
.M.236 966
Königsberg
Hannover
Stuttgart
Bremen
Düsseldorf
Nürnberg
Magdeburg
Mark
117963
133 930
91 180
211 176
167 907
62 160
203 457
^) In vielen Städten finden sich Zuschüsse
aus anderen Fonds ; besonders hohe in Hamburg
mit 747 956 und Leipzig mit 122 125 M., Berlin s. 0.
In Oesterreich hat das Gom.-G. v. 5.
März 1862 gewisse Zweige der Ortspolizei
dem eigenen Wirkungskreis der Gemeinden
überwiesen, nämJich die Fürsorge für die
Sicherheit der Person und des Eigentums
sowie des Verkehrs, die Flur-, die Mai'kt-
und Lebensmittel-, die Gesundheits-, die
Gesinde- und Arbeiter- und die Bau- und
Feuerpolizei Ausserdem sind die Gemeinden
verpflichtet, im übertragenen Wirkimgskreis
bei den dem Staate vorbehaltenen Zweigen
der Polizei mitzuwirken. Dagegen kann der
Staat aus höheren Staatsrücksichten be-
stimmte Geschäfte der Ortspohzei in ein-
zelnen Gemeinden besonderen Landesbehor-
den (Polizeidirektionen in Wien, Prag, Brünu
und anderen Städten) zuweisen.
In England fällt die Polizeiverwaltung
fast ausschliesslich der Gi'afschaft und den
grösseren Stadtgemeinden zu. Ihre Kosteu
werden durch eine besondere Grafschafts-
steuer, county police rate genannt, gedeckt.
Gewisse grössere Städte haben eine selb-
ständige Polizeiverwaltimg, die in der Haupt-
stadt wieder besonders geregelt ist. Der
Staat trägt zu den Kosten derselben ^/i bis
V2 des Betrages bei. In Frankreich sind
die Hauptorgane der Polizei die Polizei-
kommissäi-e, welche die Fimktionen der all-
gemeinen und der lokalen Polizei in sich
vereinigen und teils dem Minister de.*
Innern und den Präfekten, teils den Mairei!
unterstellt sind. In Paris sind die Ver-
hältnisse besonders geregelt. In die Koste c
teilen sich Staat und Gemeinde. Für 189^
sind die Kosten der Pariser Pohzeipräfektiu
in dem Budget der Stadt Paris mit 31 790 TD'
Francs etatisiert..
b) Ausgaben für Schulzwecke. Ei
ist bekannt, dass seit dem 17. Jjihrhun
dort das Schulwesen in steigendem Mass-
in seiner Wichtigkeit für die Kultur 01
kannt und in den Bereich der öffentliche
Thätigkeit einbezogen wurde. Dabei wurde
wenigstens in Deutschland, die Fürsorge f f j
den Volks- oder Elementanmterricht de
Ortsgemeinden oder einzelnen Specialf^<:
meinden übertragen. Es sind also zunäclii
die finanziellen Mittel der Gemeindei
welche das Erforderliche zu leisten habei
Doch hat auch hier das Anwachsen de
Ausgaben eine zimehmende Beteiligung^ de
Kommunal verbände höherer Ordnung bez\
des Staates notwendig gemacht.
Was das mittlere Schulwesen aulanp
so befindet sich dieses in der Regel in de
Händen des Staates; doch kommen
grösseren Städten auch Mittelschulen (Bilrge
schulen, Realschulen und dergleichen.) vc
deren Unterhaltung ganz oder teilweise a
Gemeindemitteln, bezw. aus den Mitteln v<
Kommunalkörpern überhaupt, bestritten \^-ii
Nicht selten sind die Kosten zwischen, de
GeineindefinaD zen
117
Staate und den KommunaLkörpem geteilt.
Der höhere Unterricht ist allenthalben aus-
schliesslich Sache des Staates. Es muss
ferner erwähnt werden, dass Fortbildungs-
schulen, niedere Fachschulen und ähnliche
nicht selten von Kommunalkörpem errichtet
nnd unterhalten werden. Ueber die Aus-
üben für ünterrichtsanstalten in 12 deutschen
Grrossstädten im Jahre 1896/97 sielie die
folgende nach dem Artikel Sübergleits über
das ünterrichtswesen in Neefes statistischem
J^rbuch der Städte, 1898, zusammenge-
stellte üebersicht, in welcher nur die Zu-
schüsse aus städtischen Mitteln (ohne den
oft recht erheblichen Bauaufw-and) berück-
sichtigt sind.
Städte
Kosten für das Schul-
wesen überhaupt
in Mark
pro Kopf
des
Schülers
davon
für
Volks-
schulen
Berlin
13 368 883
59,8
Breslau
2 934 036
54,7
Uünchen
2 380 792
48,0
Dresden
2 077 746
52,4
Leipzig
3 690 262
54,8
E91n
I 677 888
34,9
Frankfurt a. M.
2011 262
72,9
Hannover
I '»73 341
48,2
Stuttgart
913078
41,2
Bremen
I 505 430
70,5
Düsseldorf
970 177
34,4
Magdeburg
13965*3
39,0
10 523 537
2 1 10 503
1 875 850
1 158976
2 844 837
1 386 580
I 218610
894 663
444 959
815 313
740819
I 102 165
Auch in Oesterreich fällt die Unterhal-
tung der Volksschule, abgesehen von den
Verpflichtungen von Patronaten imd Stif-
tungen, der Gemeinde bezw. der Schul-
gemeinde oder dem Schulbezirke zur
Last Doch hat für den Fall, dass die Be-
lastung ein bestimmtes Mass von Steuerzu-
Bchlägen überschreitet, für den Mehrbetrag
das Land aufzukommen. Auch die Kosten
für die Gymnasien haben hier teilweise die
kommimalen Korporationen zu tragen.
In England und Frankreich setzt die
Sorge des Staates für das Volksschidwesen
verhältnismässig spät ein. In England ist
die ünterhaltimg der Elementarschiden
heute noch den Schulverbänden überlassen;
der Staat wirkt nur ein, wenn die vor-
handenen Schulen ungenügend sind. D^'e
Mittel fliessen zunächst aus Schulgeldern,
Staatssubventionen, Erträgen von Anlehen,
event aus Steuern der bietreffenden Kom-
munalverbände. Die mittleren und höheren
Schiüen wie die gewerblichen Lehranstalten
beruhen auf Stiftungen oder sind Anstalten
von Privaten oder Vereinen. Grosse Lasten
für das Schulwesen liegen in Frankreich auf
den Gemeinden, namentlich den grösseren.
Im Princip hat jede Gemeinde wenigstens
eine eigene Schule zu unterhalten, wenn
nicht der Departementalunterrichtsrat er-
laubt, dass sie mit einer Privatschule oder
einer benachbarten Gemeinde ein Abkommen
trifft. Auch die Unterhaltung der Mittel-
schulen fällt zum Teil, die der Colleges ganz
den betreffenden Gemeinden zur Last. Die
Mittel fliessen teils aus Zuschlägen zu den
direkten Staatssteiiern , teils aus anderwei-
tigen Einnahmen der Gemeinden, event. aus
Zuschüssen der Departements imd des
Staates. Nach dem neuesten Budget der
Stadt Paris für 1899 verwendet diese Stadt
auf den Volksschul- und allgemeinen höheren
Unterricht 28,3 Milhonen Francs, auf das
College Rollin 1,6 Millionen, zusammen also
rund 30 Millionen Francs.
c) Ausgaben für Armenpflege. Es
sind ausserordentlich grosse Summen, wel-
che Jahr für Jahr zu Zwecken der Ar-
menpflege aufgebracht werden. Sie er-
scheinen freilich nicht alle in den Gemeinde-
budgets und in den Budgets der anderen
öffentlichen Körperschaften, sondern sie
verteilen sich zum grossen Teü auch auf
die Stiftungen bezw. die Privatarmeupflege.
Namentlich ist dies der Fall in Frankreich.
Hier lag, wie oben erwähnt wurde, bis-
lang nur die Fürsorge für das Waisen- und
Irren wesen den kommunalen Korporationen,
nämlich den Depai-tements ob, an welche die
Gemeinden Beiträge zu leisten haben. Mit
G. V. 15. JuU 1893 sind jedoch die Ge-
meinden und Departements auch verpflichtet
worden, armen Kranken die nötige ärztliche
Behandlung, Arznei und Pflege zu gewähren.
Doch ist auch heute noch das meiste, soweit
nicht Stiftungen vorhanden sind, der Privat-
wohlthätigkeit überlassen. Immerhin be-
ziffern sich die Ausgaben der Stadt Paris
für Assistance publique, Ali^nos, Enfants
assistes, Etablissements de bienfaisance 1899
mit 28 685186 Francs. In England liegt
die ganze Armenpflege, mit Ausnahme der
den Grafschaften überwiesenen Irrenpflege,
den in ünions vereinigten Kirchspielen ob.
In Deutschland beruht wie in Oesterreich
die Pfhcht zur Armenunterstützung auf den
Gemeinden, sei es auf den Ortsarmenver-
bänden, wie in dem Geltungsgebiete des
Reichsg. v. 6. Juni 1870, sei es auf der
Heimatsgemeinde, wie in Bayern. Bei
solchen Verarmten, für welche der Orts-
armenverband bezw. die Heimatsgemeinde
nicht unterstützungspfhchtig sind, tritt der
Landarmenverband bezw. der Staat ein.
In Bayern liegt den Distrikten oder Kreisen
die Errichtung solcher Anstalten der Wohl-
thätigkeit ob, welche einen grösseren Aufwand
erfoiSem. Ueber die Höhe der Ausgaben
der Ortsarmenverbände in Deutschland siehe
die nachstehende Tabelle.
118
Gemeindefinan zen
Die Ausgaben der Ortaarmenverbände für die unmittelbar von ihnen Unterstützten haben
im Jahre 1885 folgende Höhe erreicht:
(Nach den Zusammenstellungen Neefes in seinem Statist. Jahrb. deutscher Städte,
Jahrg. I, S. 171 ff.)
Im
Deutschen
Reiche
überhaupt
M.
In den Städten mit über
In sämtl
Ausgaben
50 000
bis
100000
Einw.
M.
100000
Einw.
M.
60000
Einw.
M.
Städten
des
Deutschen
Reiches
M.
Ordentliche:
in barem Gelde verabreichte Unter-
sttitzungen
in Naturalien verabreichte Unter-
stützungen im Werte von
alle übrigen Kosten der Armenpflege
Ausserordentliche:
für Neubauten u. dergl
38 398 934
13956711
25 462 850
2 999 837
2 120 918
1 153954
2 190 129
145 796
8612693
2 358 948
10 961 262
668071
10 733 611
3512902
13 151 421
813867
28 211 801
4,39
22 741 320
7254855
20638 122
I 799 156
Summe :
Durchschnitt der ordentlichen Aus-
gaben auf einen Einwohner
80818332
1,66
5610797
3,51
22601 004
4,69
52 433 453
2,98
Es betrugen im Jahre 1894 nach den
Zusammenstellungen Flinzers im Jahi'b. D.
Städte YI, S. 201 ff. die städtischen Zu-
schüsse (in Mark) zu den
ni
Berlin
Hamburg
München
Leipzig
Breslau
Dresden
Köln
Frankfurt a. M.
Magdeburg
Hannover
Düsseldorf
Königsberg
Nürnoerg
Stuttgart
Chemnitz
Kosten, d.
offenen
Armen-
pflege
5 827 187
4096406
848 941
670 785
551407
388118
320551
472 566
332 939
410070
469 359
315468
365 292
337 550
130419
Kosten d.
allgem.
Stadt.
Kranken-
anstalten
I 547 485
I 050 S 1 1
515450
440753
341 965
122528
338 726
267342
283 196
28277
?
79096
30000
60500
105 620
Nach dem bayerischen statistischen Jahr-
buch für 1898 bezifferten sich in Bayern
die Ausgaben der gemeindlichen Armen-
pflegen für Unterstützungen im Jahre 1896
auf 8106 220 Mark (1887 : 6 649 080), für
Armenhäuser 547 484 (1887:796 419), im
ganzen auf 9 948 802 Mark (1887 : 8 079 982) ;
die Ausgaben der Distriktsgemeinden 1896
auf 113 039 Mark (1887:659404), die
der Ki-eisgemeinden auf 1 695 767 (bezw.
1 731 222).
Daneben finden sich überall erhebliche
Ausgaben für Altersversorgungsanstalten
(Hospitäler), Siechenhäuser, Waisenhäuser,
Kinderpflege-, Erziehungs- und Besserungs-
anstalten, Irrenanstalten u. s. w.
d) Ausgaben für Gesundheitspflege,
WoUf ahrts - und Annehmlichkeitsan-
stalten. Auf diesem Gebiete handelt es sich in
der Hauptsache um die Befriedigung von Be-
dürfnissen, welche erst in den letzten Jahr-
zehnten teils unter dem Eindruck der durch
das engere Zusaramenwohnen und die Zu-
nahme der Bevölkerung in den grossen
Städten bedingten Gefahren, teils infolge der
Anforderungen der heutigen medizinischen
Wissenschaft entstanden sind. Ein nicht
unwesentlicher Grund des gerade auf diesem
Gebiete sich kundgebenden Steigens der
Ausgaben liegt ferner in der Erhöhung der
Ansprüche, wie sie durch die grössere Ver-
breitung von Wohlstand und Bildung, die
Zunahme des gesellschaftlichen und gewerb-
lichen licbens hervorgerufen wird. Wii
zälüen hierher den Aufwand für Beleuchtung;
für Strassen- und Verkehrswesen iinc
Strassenerweiterung, für Promenaden iinc
Parkanlagen, für Wasserleitung, für Markt
hallen, Schlachtiiöfe imd dergleichen, nameni
lieh aber für Abfuhr und Kanalisation. Hie
nur ein paar Worte über die Unter ha 1
tung der Strassen und die Ausgabei
für Kanalisation.
Die Unterhaltung der Strassen, d. h
Pflasterung, Reinigung imd Bespren^mi
derselben verursacht einen erheblichen Be
darf, der freilich bei der Pflasterung teil
weise durch Beiträge der Adjazenten ge
deckt wird. Die Ausgaben (Nettoaiis^abe
nach Abzug etwaiger Einnahmen) für Pari
anlagen, Strassenreinigung und Strassenbe
G^meindefina nzen
119
Sprengung in den grössten deutschen Städten
betrugen nach einer Zusammenstellung
Fhnzers in dem Statistischen Jahrbuche
deutscher Städte Yll, S. 197 ff. für die Jahre
1896 oder 1896/97 folgende Summen:
Städte
Strassen-
remigung^)
Strassen-
besprengung
Parkanlagen
Unter-
haltung
Neu-
anlagen
Berlin . . .
Hamburg . .
München . .
Leipzig . . .
Breslau . . .
Dresden . . .
K51n ....
Frankfurt a. M.
Magdeburg . .
Hannover . .
Düsseldorf . .
Königsberg
Nürnberg . .
Stattgart . .
Chemnitz . .
2842
907
260
192
276
423
204
482
132
294
140
?
155
140
113
965«)
920
875
020
122
28s»)
296
647
ooo')
622
100
845
100
500«)
300000
95 777
29345
58395
29755
91678
27540
61 240
- ')
11 865
12 700
•
18920
12987
15 200
302 500
179000
84322
73662
169 623
61 200
107 497
79380
96524
59150
57147
17 000
47080
26763
49472
93800
47000
31655
2450
15970
2220
2419
12690
46980
36415
12304
4249
7265
*) Hier ist die Ausgabe für Abfuhr der Haushaltungsabfälle und Wegschaffung von Eis
und Schnee mit enthalten. *) Ohne Kosten für Abfuhr der Haushaltungsabfälle. ') In Position
Strassenreinignng enthalten.
Ein hoher Wert wird mit Recht seitens
der städtischen Verwaltungen auf eine den
hygienischen Anfordeningen entsprechende
Regelung des Abfuhrwesens und der Kana-
1 i s a t i o n und der Rieselfelder gelegt, und es
sind ausserordentlich grosse Summen, welche
hierfilr aufgewendet worden sind und noch
aufgewendet werden, wie die folgende Ta-
belle (s. den Quellennachweis zur vorigen
Tabelle) ausweist. Es betrugen:
Städte
Berlin . . .
Hamburg . .
München . . .
Leipzig . . .
Breslau . . .
Dresden . . .
Köln . . . .
Frankfurt a. M.
Magdeburg .
Hannover
Düsseldorf . .
Königsberg . .
Nürnberg .
Stuttgart
Chemnitz . .
die Ausgaben
für Unter-
haltung u.
Betrieb
099584
165 724
88024
67616
126320
62000
140000
186845
15000
106060
93200
88500
34216
40000
25555
für Er-
weiterung
2136959
340691
I 794831
279715
287317
422 584
I 176 700
363 063
399410
I 181 742
365 000
1203715
116 599
235000
173561
In diesem Zusammenhange erwähnen wir
noch die Ausgaben der bisher in Vergleich
gezogenen State für Hochbauten und Tief-
bauten (Neubauten, bauliche Unterhaltung
und Repüaraturen) in den Jahren 1895 bezw.
1895/96 nach den Zusammenstellungen
Hasses a. a. 0. S. 27 ff. Dabei sind unter
Hochbauten solche für die allgemeine und
Finan z Verwaltung , für Unterrichtszwecke,
Armen- und Bessenmgsanstalten, Kranken-
Sflege, Kirchen- und Begräbniswesen, Theater,
[useen, Gas- und Wasserwerke u. s. f., unter
Tiefbauten solche für Strassen und Wege
aller Art, Wasserleitungen, Kanäle, G^as-
leitungen u. s. f. zu verstehen.
(Siehe die an erster Stelle stehende
TabeDe auf Seite 120.)
III. Die Gemeindeeinnalimeii.
12. Allgemeines. Die übliche Unter-
scheidung der Staatseinnahmen in Erwerbs-
einkünfte imd öffentlichrechtliche
Einnahmen trifft auch hier zu. Auch bei
den Gemeinden fliesst ein Theil der Ein-
künfte aus privatwirtschaftlichen Erwerbs-
quellen, ein anderer wird durch Anwendung
des den Gemeinden zur Durchführung ihrer
Aufgaben seitens des Staates gegebenen
Zwangsrechtes gewonnen.
Auch die Geschichte der Gemeindeein-
nahmen weist eine jener der Staatseinnahmen
analoge Entwickelung auf, eilt jedoch in
mancher Beziehung der der Staatseinnahmen
voraus. Solange die Gemeinde Rechts- und
Interessengemeinschaft war, flössen die zur
Bestreitung ihrer allerdings sehr gering be-
messenen Aufgaben erforderlichen Mittel aus
dem lu^prünglichen Gemeindevermögen.
Während dieser Zustand bei den ländlichen
Gemeinden in der Hauptsache bis in die
Gegenwart hineinreicht und auch nach Auf-
120
Gemeindefinanzen
Städte
Hochbauten
Tiefbauten
überhaupt
davon aus
Anlagen
überhaupt
davon aus
Anlagen
3 764 263
452 684
10 290 440
2933351
2 678 332
787 785
7 052 207
2 185 149
3 549 958
2332 141
5 544 739
4 308 985
I 538 358
262200
I 639 147
358 925
3 223 106
I 279981
—
2575068
2031 968
3414330
I 019 893
3 072 234
5 729 801
—
I 435 040
693 170
1550637
287 188
I 295 657
981 602
221 246
798 943
236461
I 409 666
7 334
I 405 580
I 119763
1 178392
953 065
3 090 536
2 784 752
812 228
313708
I 069461
?
9
306571
125 120
584 347
136 560
Berlin . . .
Hamburg . .
München . .
Leipzig . . .
Breslau . . .
Dresden . . .
Köln ....
Frankfurt a. M.
Magdeburg
Hannover . .
Königsberg
Nürnberg . .
Stuttgart . .
Chemnitz . .
lösung der alten Gemeinschaft in den meisten
Gemeinden noch ein erkleckliches rentables
Gemeindeeigentiim namentlich an Wäldern
bestehen blieb mid die Ausgaben decken
half, haben die grösseren Bedürfnisse der
städtischen Gemeinden, selbst wo ein grösse-
res Gemeindecigentum vorhanden war, schon
frühzeitig auf die Benutzung und Erwerbung
neuer Einnahmequellen hingewiesen. Es ist
bekannt, wie die im 11. und 12. Jahrhundert
allmählich sich entwickelnden Städte von
den deutschen Königen Markt- und Münz-
rechte, Zoll- und Brückengelder sich ver-
leihen Hessen mid wie bedeutende Einnahmen
sie aus diesen sowie aus Kaufhausgeldern,
Yerleihung von Allmendstücken und der-
gleichen erzielten.
Mit dem 13. Jahrhundert finden wir aber
in den Städten die ersten Versuche einer
Besteuerung. Die wachsenden, zumeist frei-
lich durch Kriege, Bauten, äussere Verwal-
tung hervorgerufenen Ausgaben drängten auf
die Erschliessung anderer Einnahmequellen.
Hier in den Städten konnte das Steuerwesen
zuerst festen Fuss fassen und zu einer dau-
ernden Einrichtung werden. Denn das Auf-
kommen von Steuern ist, abgesehen von
einer gewissen Entwickelung des Gemein-
sinnes, an zwei Voraussetzungen gebunden,
nämlich einmal an einen höheren Grad der
Geldwirtschaft und dann an einen gewissen
üeberschuss der einzelnen Haushalte. Für
beides findet sich die Voraussetzung am
ehesten in den Städten ; sie sind bald Sammel-
punkte des Geld Verkehrs und gewinnreicher
Geschäfte. Hier finden yriv denn auch zu-
erst städtische Steuern zur Befriedigung der
städtischen Bedürfnisse, Schätzungen, Ver-
mögenssteuern, aber auch indirekte Steuern
wieWein-, Bier-, Mahlumgeld und dergleichen.
Dieser Zustand blieb in der Hauptsache
Jahrhunderte lang, bis der Absolutismus auch
liier eingiiff und das Steuerwesen der Ge-
meinden auf neue Grundlagen stellte, na-
mentlich in dem Sinne einer grösseren An-
näliening desselben an das Steuerwesen des
Staates. Wir haben oben bereits gezeigt,
wie das Verhältrös des Staates zur Ge-
meinde in unserem Jahrhundert dies Be-
streben begünstigen musste, wie aber anderer-
seits auch die wachsende Thätigkeit der Ge-
meinden und Kommunalverbände im Auf-
trage und in Sachen des Staates eine Er-
gänzung der Gemeindemittel durch Sub«
ventionon und Dotation des Staates mit siel
brachte. In letzterer Zeit sind den Ge
meinden, namentlich den grossen städtischer
Gemeinden, neue Mittel aus dem Betriel
von Gasanstalten und Wasserwerken, Markt
hallen, Schlachthäusern und ähnlichen Ein
richtungen erschlossen worden.
13. Die Erwerbseinkünfte der Ge
meinden. Es zählen hierunter die Einkunft
aus dem Grundeigentum imd aus Gewerl^e
betrieb.
Was 1) die Einkünfte aus dei
Grundeigentum, d. h. aus rentierende
Grundstücken und Häusern, dem sogenannte
Kämmereivermögen anlangt, so i?
dieses bekanntlich unter dem Eirifluss de
physiokratischen und A. Smithschen Lel^e
bedeutend vermindert worden; denn dt?
Grundeigentum ist vielfach diu-ch Auf teUun
in das Privateigentum der Gemeindegliod<
übergegangen. Doch hat dies Bestrebe
nicht überall gleichmässig Verwirklichiir
gefunden. Hat man doch in Franki*eic
selbst während der Revolution das 171
erlassene Gebot der Aufteilung alles Gemeii
delandes schon im Jahre darauf wieder rnd
gängig gemacht Auch in anderen Ländei
hat man die Gefahr einer völligen Aufteilui
noch bei Zeiten eingesehen und wenigste)
einen Teil des alten Gemeindevermögens j
erhalten gewusst Röscher hat recht, wer
er die rücksichtslose Tendenz zur Beseitigiu
des Gemeindeeigentums beklagt und nieii
dass durch die Erhaltung eines gut v€
Gemeindefinanzen
121
walteten Kämmereivermögens alle Gemeinde-
bediirfnisse der höheren Kultur, die man
den Bauern oft so schwer einleuchtend macht
(z. B. Ausgaben für Schule und Armenpflege),
ohne Steuererhöhung hätten befriedigt werden
können. Glücklicherweise ist der Wald am
wenigsten von den Aufteilungsbestrebungen
erfasst worden.
Es ist bekannt, dass die modernen Ge-
meindeordnungen die Fehler der Vergangen-
heit gut zu machen nach Kräften bestrebt
waren und wenigstens das zu erhalten
suchten, was noch zu erhalten war. Regel-
mässig ist die Gemeinde ohne Staatsgeneh-
migung nicht befugt, den Grundstock ihres
Termögens zu verändern. Fast immer wird
bei der Veräusserung von Gnmdstücken
und immobiliaren Gerechtigkeiten und bei
Abänderung des bestehenden Genusses der
Gemeindenutzun^en die Staatsgenehmigung
gefordert Den Immobilien werden, neben-
bei bemerkt, auch bisweilen gewisse MobiUen
gleichgestellt, so z. B. nach den preussischen
Stadtordnungen Gegenstände, welche einen
besonderen wissenschaftlichen, historischen
oder Kunstwert haben. Besonderen Be-
schränkungen unterliegen die im Kommunal-
besitz befindlichen Forsten; allerdings sind
es hier nicht ausschliesslich Rücksichten
auf die finanzielle Bedeutung der Forsten
für den Gemeindehaushalt, sondern auch
Rücksichten auf die wichtigen öffentlichen
Interessen, die mit der Erhaltung der Wal-
dungen im Zusammenhange stehen. Das
Einwirken des Staates bezweckt namentlich
die Sicherung der Nachhaltigkeit der Nutzung ;
es äussert sich in einer weitgehenden Kon-
trolle über die Wirtschaftsfülirung und geht
am weitesten da, wo der Betrieb der Kom-
munalforsten überhaupt der Leitimg der
Staatsforstbehörden unterstellt ist. In Preus-
sen ist z. B. erst neuerdings durch ein G.
V. 14. August 1876 für sämtliche östliche
Provinzen bestimmt worden, dass die Be-
triebspläne für die Oemeindeforsten der
Genehmigung des Regierungspräsidenten be-
dürfen. Die finanzielle Bedeutimg der Fors-
ten für die deutschen Gemeinden geht aus
dem Umfang der Gemeindeforsten hervor.
Es ergab sich für 1893 ein Bestand an Ge-
meindeforsten in Hektar:
= % der
m
ges. Forstfl
Prenssen
1 025 525
12,5
Bayern
316752
12,6
Sachsen
21861
5,6
Wärttemberg
177 211
29,5
Baden
254 570
45,0
Hessen
87308
36,3
Elsass
154412
55,4
Lothringen
44082
26,9
Sachsen-Weimar
15 163
16,3
Sachsen-Meiningen
23367
22,6
Waldeck
9684
22,5
Zusammen in allen deutschen Staaten ein
Gemeindewaldbesitz von 2 180 584 ha gegen
2 109 913 ha im Jahre 1883, so dass die Ge-
meindeforsten in dieser Zeit um 70671 ha
zugenommen haben.
Neben den Gebäuden imd Gnmdstücken
finden sich auch damit zusammenhängende
Gewerbe wie Kalkbrüche, Ziegeleien, Gruben
etc. Ihre Bewirtschaftungsform ist zumeist
die Verpachtung. Dagegen werden die
Forsten in der Eegel, und zwar aus ähn-
lichen Gründen wie die Staatsforsten, in
eigener Regie beüieben.
Auch aus der Vermietung von Plätzen
und Strassenterrain, z. B. zur Lagerung von
Baumaterialien, aus der mietweisen üeber-
lassung städtischer Lagerräume, Hallen u.
dgl. werden Einnahmen gewonnen. Die
Einnahmen aus dem rentierenden Gemeinde-
vermögen sind oft von ziemlicher Höhe.
Die Stadt Paris vereinnahmte (nach Körösi)
1886 aus Grundvermögen 2871700 Fres.,
aus Vermietung von öffentlichen Plätzen
10122701 Frcs., Berlin 978732 Frcs. bezw.
1076062 Frcs., Wien 4416861 Frcs. bezw.
426 608 Frcs., München 1 114792 Frcs. bezw.
234971 Frcs., Dresden 747 694 Frcs. bezw.
149 214 Frcs., Nürnberg 1 525 228 Frcs. bezw.
22398 Frc«.
2)Einnahmen aus dem Gewerbe-
betriebe. Es sind namentlich die Gas-
anstalten, die Wasser- und die Elektricitäts-
werke, welche hier in Betracht kommen.
Es gilt allerdings hier das gleiche, was man
von ähnlichen Erwerbsanstalten des Staates,
z. B, den Verkehrsanstalten, sagen kann,
sie werden nicht ausscliiiesslich oder auch
nur vorwiegend des Gewinnes willen be-
trieben, sondern zumeist deshalb, weil da-
mit ein öffentlicher Zweck erfüllt wird ; aber
thatsächhch werfen sie doch so bedeutende
Einnahmen ab, dass man dieselben kaum
anders denn als Erwerbseinkünfte wird auf-
fassen können. Die Tendenz geht offen-
kundig darauf hin, diese früher vielfach der
Privatindustrie zur Ausbeutung überlassenen
Unternehmungen in die Hände der Gemein-
den zu übernehmen und mit dem öffent-
lichen zugleich auch einem finanziellen Be-
dürfnisse zu dienen. In der That eignen
sich diese Anstalten, namentlich nachdem
nun ihre Technik geordnet und die Nach-
frage nach ihren Leistungen eine ganz all-
gemeine geworden ist, auch durchaus für
den Selbstbetrieb seitens grösserer Städte.
Man hat mit Kecht darauf aufmerksam
gemacht, dass der Betrieb dei'selben
namentlich auch deshalb für die Gemeinden
geeignet sei, weil er grösstenteils typisch
und reglementierfähig sei, weil die Be-
schaffung des Anlagekapitals seitens der
Gemeinden sich häufig leichter bewirken
lasse als seitens Privater, weil die Gemeinde
122
Gremeindefinanzeii
Eigentümerin des Strassenkörpers und zahl-
reicher Baulichkeiten sei, deren Benutzung
für die Ausführung solcher Anlagen uner-
lässlich, weil diese Anstalten häufig die
unentbehrliche Grundlage für die Erfüllung
öffentlicher Zwecke (Wasserwerke z. B. be-
züglich des Feuerlöschwesens) bilden, weil
die Vorzüge eines einheitlichen Grossbe-
triebes nur auf diese Weise vollkommen
realisiert imd eine die Zwecke schädigende
monopolistische Ausbeutung des Publikums
seitens einer Privatunternehmung so ver-
mieden werden könne. Die thatsächlichen
Verhältnisse beweisen, dass eine solche Auf-
fassung auch in der Praxis vorzuherrschen
beginnt. Von den 44 gi'össten in Neefes
Statist. Jahrb. D. Städte aufgenoiDmenen
Städten besassen 29, also zwei Drittel,
eigene Gaswerke, von denen die grössten
nach der Menge des erzeugten Gases die
drei städtischen Anstalten von Berlin waren
mit einer Jahresproduktion von 29,5, 29,3
und 22,4 Millionen cbm Gas. Auch bezüg-
lich anderer ähnlic^her Unternehmungen,
namentlich der Tramway- und Sti-assenbahn-
unternehmungen fet eine gleiche Ent^ücke-
lung nicht ausgeschlossen. Selbst in Eng-
land, wo der Betrieb solcher Anstalten durch
die städtischen Korporationen am wenigsten
verbreitet ist, begünstigt die Tramwayakte
von 1870 die Munizipalisienmg des Betriebes,
der seiner Natur nach monopolistisch ist,
viel Polizei erfordert und bei verhältnis-
mässig geringem Kapital grosse Gewinne
abwirft
Die Eechnungsergebnisse der 15 grössten
deutschen Städte bezüglich der Gas-, Wasser-
\md Elektricitätswerke ergeben 1894 bezw.
1894/95 nach dem Statist. Jahrb. D. Städte
VI, S. 70 f. und 276 ff. folgendes Büd:
üeberschüsse nach Abzug der Auf-
wendungen für Öffentliche Zwecke
(in K)00 Mark).
Städte
Berlin . . .
Hamburg . .
München . .
Leipzig . . .
Breslau . . .
Dresden . . .
Köln ....
Frankfurt a. M.
Magdeburg .
Hannover . .
Düsseldorf . .
Königsberg .
Nürnberg . .
Stuttgart . .
Chemnitz . .
2986
535
300
348
827
138
127
82
274
379
189
328
73
—
—
5451
1703
887
809
737
892
866
I 312
458
437
413
266
238
422
322
Dabei ist zu bemerken, dass hier nur
die Reingewinne nach Streichung der durch-
laufenden Posten etc. luid unter der An-
nahme, dass überall die Kosten der öffent-
lichen Beleuchtung von dem Gaswerk zu
tragen sind, Aufnahme gefunden haben.
Auch die Einnahmen aus städtischen
Markthallen, Fleischbänken, Schrannen u. dgl.,
die in den Etats einzelner Städte in ziem-
licher Höhe erecheinen, dürften wohl hier-
her zu rechnen sein.
14. Gebühren und Beiträge. Der Be-
griff der Gemeindegebühren im
engeren Sinne unterscheidet sich in
nichts von dem der Staatsgebühren. Auch
hier werden wir als Gebühren solclie Ab-
gaben bezeichnen, welche als Entgelt für
specieile Leistungen und Handlungen von
Behörden erhoben werden, die vom Gesetz
einseitig festgestellt und von denjenigen zu
entrichten sind, welche die Leistung oder
Handlung veranlasst haben. Der Grund dor
Gebühren liegt in der Thatsache, dass ge-
wisse Einrichtungen der Gemeinden unbe-
schadet ihres öffentlichen und allgemeineri
Charakters doch von bestimmten Personen
benutzt werden. Während daher die Her-
stellung solcher Anstalten unzweifelhaft von
der Gesamtheit, also durch Steuern, be-
stritten werden muss, werden die diwch die
einzelnen Handlungen verursachten Kosten,
die laufondon Kosten, passenderweise ent-
weder ganz oder teilweise durch besondere
Abgaben, d. h. durch Gebühren, gedeckt.
Die lebhaften Wechselbeziehungen und das
innigeit) imd fassbarere Verhältnis zwischen
Ijeistungen der Verwaltung und Vorteilen
und Interessen der einzelnen auf dem (Je-
biete des Gemeindelebens rechtfertigt hier
ebenso eine breite Anwendung des Gebühren-
wesens, wie der Mangel solcher Beziehunpren
die geringe Anwendung derselben in der
Finanzwirtschaft der Kommunal verbände
höherer Ordnung erklärt.
Fassen wir zunächst nur diese Gebüliren
im engeren Sinne ins Auge, so finden wir
solche namentlich auf dem Gebiete dor
Rechtspflege, der Polizeiverwaltung, des
Unterrichtswesens, auch auf einigen Gebieten
der inneren Verwaltung. Auf dem Gebiete
der Rechtspflege nenne ich Gebühren für
Aufnahme und Entlassung aus dem Oe-
meindeverbande, für Erteilung des Bürgt^r-
rechts, für Eintragung etc. in das Grund-
buch, insofern die Gemeinde mit der Führiing
derselben betraut ist (Baden), Gebühren für
Beglaubigungen und Beurkundungen , für
Handhabung des Civilstandswesens ; auf dem
Gebiete der Polizeiverwaltung namentlieh
Gebühren für Erlaubniserteilungen und Kon-
zessionen, dann für Benutzung der öffent-
lichen Mass- und Wägeanstalten, Gebühren
im Beertügungs- und Friedhofswesen; auf
Gremeindeünanzen
123
dem Gebiete der ünterrichtsverwaltting
namentlich die Schulgelder, die trotz ihrer
abnehmenden Bedeutung doch auch heute
noch, wie die oben bezüglich der Ausgaben
und Einnahmen im ünterrichtswesen mit-
geteilten Zahlen beweisen, einen grossen
Teil der Schidverwaltung decken; auf dem
Oebiete der Verwaltung des Innern die da
und dort noch in grosser Ausdehnung vor-
kommenden Wege- und Brückengelder, dann
Gebühren für Besorgung der Kehrichtabfuhr,
der Strassenbesprengung und -reinigimg
seitens städtischer Arbeiter.
Neben diesen Gebühren im engeren
Sinne kommen nun Abgaben an die Ge-
meinde vor, von den neueren Schriftstellern
Beiträge genannt, die in vielen Punkten
Aehnüchkeit mit denselben haben, sich aber
darin von ihnen unterscheiden, dass sie zum
ersten ausschliesslich auf dem wirtschaftlichen
Gebiete vorkommen, dass sie zweitens ihre
Begründung in den Vorteilen finden, welche
durch die betreffenden Gemeindeanlagen für
gewisse Örtlich abgegrenzte Gruppen von
Grundstücken entstehen, nicht selten aber
lediglich in der Thatsache des Besitzes eines
Grundstückes oder Gebäudes, dass sie drittens
sehr häufig nur in einmaligen Leistungen
bestehen. Wir meinen damit die Aufwen-
dungen, welche Haus- und Grundeigentümer
für Herstellung und Unterhaltung der öffent-
hchen Verkehrswege : der Strassen, Trottoira,
Plätze, Kais, Kanäle, für Beleuchtungs-, Ent-
und Bewässerungsanlagen zu machen haben.
Die Stadt Berlin hat beispielsweise für
Pflasterungsmaterial im Jahre 1888 89
1 35^3 356 Mark eingenommen. Gegenüber
der üblichen Befürwortimg dieser Beiträge
mag aber doch daran erinnert werden, dass
das Princip, die Kosten der Trottoirisierung,
Strassenpüasterung, Kanalisierung ganz oder
zum grossen Teil den Adjazenten aufzulegen,
auch nicht übertrieben werden darf; denn
es kann nicht in Abrede gestellt werden,
dass an den Vorteilen solcher Einrichtungen
nicht nur die Besitzer der betreffenden
Häuser und Grundstücke, sondern alle Be-
wohner participieren.
15. Die Gemeindesteuern im allge-
meinen. Wir haben oben bereits darauf
aufmerksam gemacht, dass mit der Zimahme
der Aufgaben der Gemeinden die alten Ein-
nahmequellen, namentlich die Erträgnisse
des rentierenden Gemeindevermögens, nicht
gleichen Schritt zu halten vermochten. Für
eine umfangreichere Anwendung des Ge-
bührenwesens fehlen vielfach die Voraus-
setzungen, so dass auch dieses der gewünsch-
ten Entwickelungsfähigkeit ermangelt. Des-
halb griff man allenthalben und zum Teil
schon fnihzeitig zur Besteuerung. Wir ver-
stehen dabei unter Gemeindesteueni , ent-
sprechend dem Begriff der Steuer überhaupt,
Zwangsbeiträge, welche von den Gemeinden
und Kommunalverbänden zur Deckung ihrer
Ausgaben nach einem generellen Massstabe
erhoben werden. Ohne das Mittel der Steuer-
erhebung w^ären weitaus die meisten Ge-
meinden nicht in der Lage, ihre Aufgaben
zu erfüllen. Die gerade in diesem Jahr-
hundert und wieder besonders in den letzten
Jahrzehnten zunehmenden Ausgaben für
Polizei, Armen-, Schul- und Wegewesen,
die, weil im Interesse des staatüchen Ge-
meindelebens begründet, für Stadt und Land
obligatorisch wiu'den, dann die Ausgaben
für Gesimdheits- und Annehmüchkeitszwecke
haben dazu beigetragen, dass die Steuern
eine wohl noch zunehmende Bedeutung er-
langt haben.
Wenn nun im allgemeinen in Bezug auf
Begriff, wirtschaftliche Natur, Terminologie
etc. kein wesentlicher Unterschied zwischen
der Staats- und der Gemeindebesteuerung
besteht, so ergiebt sich allerdings ein wesent-
hcher Unterschied bezüglich des Steuer-
empfängei-s. Während der Staat als Steuer-
herr die Verhältnisse der Besteuerung auto-
nom regelt und keine anderen Beschränkungen
zu berücksichtigen braucht als jene, welche
in der Rücksichtnahme auf die Erhaltung
dauernder Leistungsfähigkeit seiner Unter-
thanen gelegen sind, ist das Besteuerung-
recht der Gemeinden sachlich und räumhch
beschränkt. Es ist sachlich beschränkt,
weil das Herrschaftsrecht der Gemeinde ein
beschränktes ist ; denn die Gemeinde ist dem
Staate untergeordnet. Das äussert sich, wie
schon wiederholt betont wurde, vor allem
in dem Einfluss, den der Staat wie auf die
Einanzwirtschaft der Gemeinden überhaupt,
so besonders auch in Bezug auf die Ge-
meindebesteuerung sich vorbehält. Das Ge-
meindesteuerwesen hat, um dem Steuer-
wesen des Staates keine schädliche Kon-
kurrenz zu bereiten, sich dem System der
Staatssteuern ein- und anzufügen, es ist
durch das letztere bedingt und je nach den
die Gesetzgebungen beherrschenden Ten-
denzen mehr oder weniger von diesem ab-
hängig. Dieser Zustand der Unterordnung
des Gemeinde- unter das Staatssteuerwesen
tritt da am klarsten zu Tage, wo die Ge-
meinden und Kommunalverbände ihren
Steuerbedarf nicht durch Erhebung eigener
Steuern, sondern nur diuxjh Erhebung von
Zuschlägen zu Staatssteuern ausüben. Es
ist ferner räumlich beschränkt, d. h. es
umfasst ein kleuies Territorium und eine
beschränkte Anzahl von Personen. «Es kann
infolgedessen der Zusammenhang zwischen
den Aufgaben und der Mitlelbeschaffung,
welcher bei dem grösseren Ganzen des
Staates sich leicht verwischt, in mancherlei
Abstufimgen und Richtungen aufrecht er-
halten werden. Man kann deshalb auch
124
Gemeindefinan zen
sagen, dass im Gemeindesteuerwesen die
Besteuerung im Yerhältnis zu den Interessen
und Vorteilen, die der einzelne vom Ge-
meindewesen bezieht, in grösserem um-
fange als berechtigt erscheint, während im
Staatssteuerwesen das Princip der Be-
steuerung nach der Leistungsfähigkeit fast
aussclüiessliche Herrschaft verdient.
16. Vergleichniigdes Gemeindesteuer-
Wesens in England, Frankreich, Deutsch-
land nnd Oesterreich. Bevor auf die wich-
tigeren Erscheinungsformen der Gemeinde-
steuern eingegangen wird, mag es angezeigt er-
scheinen, die charakteristischen Unterechiede
im SteuePÄ'esen der wichtigsten Staaten
hervorzuheben. Zwei Länder stehen in
dieser Beziehung in besonderem Gegensatz
zu einander: England imd Frankreich.
Doli; ein Gemeindesteuerwesen, das mit dem
staatlichen in nichts zusammenhängt, hier
ein Steuerweseo, das in erster Linie auf
dem des Staates aufgebaut ist.
I) In England beruht das Steuerwesen
der Gemeinden durchaus auf selbständiger
Grundlage ; das Vorbild hat die Ai-men Steuer
nach dem Armengesetz der Königin Elisabeth
von 1601 gebildet, wonach der Ei-trag von
Land, Häusern, Zehnten, Kohlengruben und
verkäuflichem Niedei-wald der Steuer imtor-
lag. Durch die Rating Act von 1874 ist
auch der Eintrag von Hochwald und anderen
als Kohlenbergwerken der Steuer unter-
worfen worden. Demnach lastet die Kom-
munalbesteuerung fast ausschliesslich auf
dem Ertrag von Immobilien. SteuerqueUe
ist der Reinerti'ag der fraglichen Immobilien,
nach welchem der aufzubringende Jahres-
bedarf, ohne Unterscheidung der Quellen,
nach gleichem Verhältnis umgelegt wird.
Steuerpflichtig ist an sich der Benutzer der
Immobilien, bei kleineren Wohnungen der
Yennicter, der dann nur mit einem geringeren
Mietsertrag angelegt wird. Die Veranlagung
der Armensteuer und der auf der gleichen
Grundlage erhobenen anderen Steuern er-
folgt innerhalb der unions durch die Armen-
behörden. Nur vereinzelt kommen Ver-
brauchssteuern, so in der City von London
eine Auflage auf Wein, vor. Nach v.
Reitzenstein (Trildinger) belief sich der Ge-
samtertrag aller im Finanzjahr 1893/ 94 er-
hobenen Lokalsteuern in England und Wales
auf 33 222 893 £, welcher sich auf 23 ver-
schiedene Kategorieen von Behörden bezw.
Korporationen verteilte. Die erheblichsten
Anteile entfielen auf die städtischen Ge-
sundheitsbezirke mit 8 793 108, die Armen-
behörden mit 8160 588, die Schiüverwal-
tungon mit 3 619 168 und die Grafschafts-
verwaltungen mit 2 289 265 £. Alle diese
Ijokalsteuern werden, wie erwähnt, nach
dem bei der Armensteuer geltenden Princip
erhoben, jedoch bedingen die besonderen
Zwecke, für welche die Steuern l>estimmt
sind, manche Abweichungen sowohl bezüg-
lich der steuerpflichtigen Objekte wie be-
züglich der zur Erhebung gelangenden
Quoten. So werden zu den speciellen
städtischen Steuern, ferner zu Beleuchtunj^s-
und Wacht-, zur Museums- und Bibhotheks-
steuer, zur Wasserversorgungs-, zur haupt-
städtischen Kanalisationssteuer das unbe-
baute Grundeigentum sowie Zehuten nur mit
einem Viertel des Ertrages herangezogen,
weil es bei den bezüglichen Ausgaben in
sehr viel geringercm Grade interessiert ist
Die Kommunalbesteuerung Englands ist dem-
nach im wesentlichen eine Einheitsbe-
steuerung. Sie bietet als solche zwar in
formeller und administrativer Beziehung
manche Vorteile, erweckt aber in materieller
Beziehung schwere Bedenken ; denn bei der
heute üblichen Gemeindebesteuerung ruhen
die Ijasten, die ursprünglich als Belastung
der Eigentümer landwirtschaftlich genutzter
Grundstücke gedacht waren, auf dem Nutzer
von Immobilien, der mit dem Eigentümer
in weitaus der Mehrzahl der Fälle nicht
mehr zusammenfällt ; ausserdem ist das l>e-
wegliche Vermögen, das doch an der Er-
füllung der kommunalen Aufgaben auch
grosses Interesse hat^ fast gänzlich befreit.
Die englische Gemeindebesteuerung leidet
an einer starken Einseitigkeit, die, je höher
die Steuern gewoi-den sind, umso drückender
sich fühlbar macht. Deshalb hat man, um
den Steuerdnick zu ermässigen, in neuerer
Zeit die Erträge ganzer Staatssteuern oder
Anteile daran der Lokalverwaltung über-
lassen. Davon soU weiter unten noch die
Rede sein.
II) Ein ganz anderes Bild zeigt das
kommunale Steuer wesen in Frankreich.
Die Politik und Gesetzgebung der grossen
Revolution mit der Tendenz, einerseits nir)g-
lichst nur direkte Stcmem zuzulassen, an-
dererseits die Autonomie der Gemeinden
und der sonstigen öffentlichen Körper nacli
Mögliclikeit zu beschränken, führte dazu, die
Gemeinden und demnächst die Departements
aUein auf Zuschläge (Centimes additionelles
zu den direkten Staatssteuern anzuweisei
imd selbständige Kommunalsteuern auszu
schliessen. Die Erfahrung, dass diese Zu
schlage für die Bedürfnisse der städtischer
Gemeinden, namentlich der grösseren unte
denselben, nicht genügten, nötigte jedocl
scihon 1798 ff. das Direktorium, den bereit
früher vorhandenen Octroi, wenn auch ii
neuer, einheitlich geregelter Form, wiede
zuzulassen, unter dem ersten Kaiserreicl
verbreiteten sich die Octrois in fast allo
etwas bedeutenderen Stadtgemeinden, abt^
auch in vielen kleineren Gemeinden uii
bildeten in der Folgezeit eine feste Institn
tion der Kommunalbesteuerung. Auf (liest
Gemeindefinan zen
125
Grundlage steht in der Hauptsache noch
heute die kommuDale Steuerwirtschaft Fi-ank-
reichs; die daneben vorkommenden Anteile
an der Jagdscheinsteuer (10 Francs pro
Jagdschein), an der Wagen- und Pferde-
Bteuer (5"/o), der Yelocipedsteuer (25^/0) und
(he Hundesteuer fallen finanziell nicht er-
heblich ins Gewicht.
Was dieZuschläge zu den direkten
S t a a t s s t e u e r n , die Centimes additionolles,
betrifft, so werden dieselben von den sämt-
lichen vier direkten Steuern: der Grund-,
der Thür- und Fenster-, der Personal- imd
Mobiliarsteuer \md der Patent-(Gewerbe-)
Steuer erhoben. Yon den Zuschlägen treffen
einzelne nur eine oder mehrere der vier
Staatssteuem, die Mehrzahl wird von sflmt-
hchen vier Steuern erhoben. Es werden
oi-dentlicho und ausserordentliche Centimes
unterschieden, femer allgemeine und Spe-
cialcentimes, von denen die letzteren die
Katur von Zwecksteuem haben. Die Yo-
tienmg der Centimes erfolgt durch die Ge-
meinderäte bezw. die Generalräte der De-
mrtements, die jedoch rücksichtlich ihrer
Beschlüsse an bestimmte Maxima gebiuiden
äud. Eine solche Limitierung ist durchaus
nötig, lim zu verhindern, dass die Leistungs-
fähigkeit der Steuerzahler in einer für die
ErfüDiing der Staatsaufgaben bedenklichen
Weise in Anspruch genommen werde. Sie
ist teils eine feste, d. h. durch Gesetz ein
für alle Mal geregelte, teUs eine veränder-
liche. Das erstere ist der Fall hinsichtlich
der Special- Wege-Centimes : das Maximum
der ordentlichen Wege-Centimes ist für die
Gemeinden auf 5, für die Departements auf
7, das der ausserordentlichen Wege-Centimes
für die Gemeinden auf 3 festgesetzt. Ein
Maximum von 10, in gewissen Fällen von
20 Centimes besteht für Zuschläge, die den
Gemeinden bei verweigerter Besclüuss-
fassung zur Deckung obligatorischer Aus-
Sben auferlegt werden. Die veränderliche
mitienmg gi-eift in der Weise Platz, dass
das Maximum jährlich innerhalb der durch
das Finanzgesetz geregelten Grenze durch
die GeneraLräte festgelegt wird. Dieses
Maximum, innerhalb dessen die Generalräte
der Departements den Höchstbetrag der
ausseroraentlichen Gemeindezuschläge be-
stimmen können, beträgt zur Zeit 20 Cen-
times. Zur Deckung der ordentlichen Aus-
gaben werden in aUen Gemeinden 5 ordent-
liche Zuschlagscentimes von der Grund- und
Mobiliarsteuer und, soweit deren Erträgnis
nicht ausreicht, weitere Zuschlagcentimes
von allen vier Steuern erhoben.
Was die Departements anlan^, so be-
tragt das Maximum der ordentlichen Zu-
schlagcentimes 25 auf die Grund- und die
Personal-Mobiliarsteuer und 1 auf alle Steuern,
12 für die aussercrdentlichen Zuschläge auf
alle ner Steuern.
Die zweite wesentliche Steuenjuelle der
Gemeinden, namentlich der städtischen, in
Frankreich ist der Octroi. Er besteht zur
Zeit in über 1500 Gemeinden und bildet in
den Grossstädten, insbesondere in Paris, die
weitaus wichtigste Steuer. Die Octroiartikel
bilden 6 Klassen: Getränke und Flüssig-
keiten (Wein, Branntwein, Bier, Essig,
Limonaden, nicht mineralische Oele u. s. w.),
dann Esswaren (Fleisch , Delikatessen^
Früchte, Käse), Brenn- und Beleuchtungs-
stoffe, trockenes Yiehfutter, Baumatenal,
verschiedene andere Objekte.
Aus der Statistik des französischen
Kommunal Wesens mögen folgende Zahlen
Platz finden.
Der Gesamtertrag der vier grossen
direkten Steuern verteilte sich (nach Leroy-
Beaidieu a. a. 0. I, 787) auf Staat, Departe-
ments und Gemeinden wie folgt
Erträgnis in Francs
des Staates
1838 293 037 ICK)
1847 299 248 327
1852 277 349 072
1860 303812989
1870 344573586
1885 405 771 831
der De-
partements
60607 541
76 883 782
84471 251
102 537 541
135793063
174206993
der
Gemeinden
32 873 600
46 489 335
51 240827
73 575 809
104 777 856
175 525 869
Es hahen demnach von 1838 — 1885, also
in 47 Jahren die Erträguisse der direkten
Steuern für den Staat um ungefähr 40 ^/o,
die der Departements um 191 ®/o, die der
Kommunen um 430 ^/o zugenommen, während
das Gesamterträgnis um ungefähr 96 % sich
erhöht hat. Nach dem Budget von 1898
haben sich inzwischen die Erträgnisse für
den Staat auf 471128 316 Francs, für die
Kommunalkörper auf 383 039 686 erhöht.
Nach diesem Budget stellt sich der AnteU
des Staates bei der Grundsteuer auf
190 638 038, der der Kommunalkörper auf
205 371983 Francs, bei der Personal- und
Mobiliarsteuer auf 93 273 138 bezw. 75 094 065,
bei der Thür- und Fenstersteuer auf 59 717 140
bezw'. 34 781523, bei der Patentsteuer auf
127 V2 Millionen bezw. 67 792115 Francs.
Dabei haben die Steuereinnahmen der De-
partements etwas abgenommen (sie betrugen
1893 beispielsweise 171 228 815 Francs), was
mit der Aenderung der Finanzgesetzgebuog
für den Primäninterricht und der dadurch
bewirkten Entlastung der Departements zu-
sammenhängt, die Steigerung der Ausgaben
entfällt also ganz auf die Gemeinden.
üeber Verbreitung, Roh- und Reinertrag
der Octrois und die Grösse der Belastung
auf den Kopf der Bevölkening unterrichtet
die folgende TabeUe (a. a. 0. I S. 803).
126
Gemeindefinanzen
Zahl der
Ertraer
Er-
Belastunff
pro Kopf
M
rd
Gemein-
d. Octrois
hebungs-
08
den mit
kosten
Octroi
1000 Fr.
1000 Fr.
Fr.
1823
1434
44674
17 197
10,32
1833
1448
59693
6244
10,46
1843
M57
70671
12418
11,40
1863
1435
86764
9699
13,05
18G2
1 510
143 341
14098
16,43
1871
I 510
140 016
16 571
15,05
1879
1546
244125
21949
24,43
1887
1525
258 027
24685
22,97
1896
1513
296 857
29286
25,27
Die am Fusse dieser Seite stehende Ta-
belle nach dem Bulletin de Statistique (Mai
1898) zeigt die Verteilung der Octrois auf
die einzelnen Kategorieen der aufschlags-
pflichtigen Waren in Paris und den anderen
Gemeinden für 1896 (in Francs).
Der Ertrag der Octrois mit zusammen
nmd 826 Millionen Francs ist demnach er-
heblich grösser als der Ertrag der zu Gunsten
der Lokalgemeinden erhobenen Zuschläg'e zu
den direkten Steuern. In Paris, wo die
Octrois 155,7 Millionen Francs ergaben,
staute sich (1895) das Erträgnis der De-
partements- und Kommunalzuschläge bei der
auf Fr.
43 739 299
13684 195
26 222 492
52182533
Grundsteuer
Thür- und Fenstersteuer
Personal-Mobiliarsteuer
Patentsteuer
bisher ohne praktischen Erfolg geblieben
sind.
III) In dem Kommunalsteuerwesen
Deutschlands finden sich sowohl Zu-
schläge wie selbständige Steuern und beides
sowohl auf dem Gebiete der direkten wie der
indirekten Besteuerung.
a) Die Kommunalverbände höhe-
rer Ordnung decken ilir Steuerbedürfnis,
sofern sie nicht ihr Besteuerungsrecht nur
mittelbar durch die Ortsgemeinden und
Kommunalverbände niederer Ordnung aus-
üben, fast ausschliesslich durch Zuscliläge
zu den direkten Staatssteuera, In Pi*eusson
weisen die ordentlichen Solleinnahmen clor
höheren Kommunal verbände, ausschliesslich
der eigenen Einnahmen aus dem Landarnien-
und Korrigenden- sowie dem Irren-, Taub-
stummen- und Blindenwesen, für 1897 98
(nach dem Statist. Handbuch f. den preuss.
Staat, 1898) folgende Ziffern auf:
zusammen auf 135 828 521 Francs. Die
hohe Belastung der Bevölkenmg durch den
Octroi — ffir eine Familie mit 4 Personen
durchschnittlich 260 Francs, davon der
grösste Teil von Verzehrungsgegenständen
— hat zu einer Reihe von Bestrebungen
zur Beseitigung derselben geführt, die aber
Kommunal-
verbände
Dota-
tionen
M.
Umlagen
M.
Sonst. Ein-
nahmen
M.
Ostpreussen . .
2 873 640
1 098 000
477 360
Westpreussen .
I 851 601
I 148037
149852
Brandenburg .
2 897 072
2 170000
1415 158
Pommern . .
2 120 198
1 143 001
380 448
Posen ....
2069 115
I 478710
I 137900
Schlesien . . .
4149947
2 750 000
845 853
Sachsen . . .
3 123629
2014000
627 489
Schlesw.-Holst. .
1 820 539
1 065 000
409 262
Hannover . . .
4 131 559
2 279 570
494 791
Westfalen . .
3 246 397
I 663000
458 203
Hessen-Nassau .
a) Cassel . .
I 286 513
* 406 735
b) Wiesbaden
I 416 945
266000
535 755
Rheinland . .
4 176832
4 730 000
I 169 921
Hohenzollem .
162553
68844
Summe
35 326 683
21 805 318
9577571
Steuerpflichtige Gegenstände
Rohertrag
Paris
die anderen
Gemeinden
Mittlere Belastung
auf den Kopf
Paris
die ande-
ren Ge-
meinden
Wein
Cider und Obstwein . . .
Bier
Alkohol
Nicht mineralische Gele . .
Andere Flüssigkeiten . . .
Fleischwaren
Andere Nahrungsgegenstände
Brennstoffe
Viehfutter
Baumaterialien
Verschiedene Gegenstände .
Nebeneinnahmen
51 402084
710061
3 723 230
15044407
3 846 738
841 826
18 160336
16 805 149
22823315
6015544
13711056
2077 139
520 538
29 926 804
3 123 346
13709289
15374062
561 374
1 407 542
37417044
17 183907
19457286
11 808718
18059 760
2 135042
298 154
21,54
0,29
1,56
6,30
1,61
0,35
7,61
7,05
9,56
2,56
5,74
0,86
0,21
2,84
0,29
1.36
1,46
0,05
0,13
3,55
1,63
1,84
1,12
0,20
0J03
Summe 155681428 170462328 | 65,24
16,21
Gemeindefinanzeii
127
In Bayern haben die Kreisgemeinden
das Recht zur Erhebung von direkten Steuern,
den sogenannten Kreisumlagen, in Form von
Zuschlägen zu den fünf staatlichen Ertrags-
ßteuern. Steuerpflichtig ist jeder, der im
Regierungsbezirke mit direkten Steuern an-
gelegt ist. Die Kreiseinnahmen betnigen im
ganzen Königreich (nach dem statistischen
Jahrbuch für das Königreich Bayern 1898)
für das Jahr 1898 14100586 Mark; davon
entfielen 9823143 Mark auf die Kreisum-
lagen, 3 295 878 Mark auf Zuschüsse aus der
Staatskasse (davon 3 246 229 Mark für deut-
sche Schulen) und 981 565 Mark auf sonstige
Einnahmen. Im Jahre 1889 hatten die
Kreiseinnahmen 10849715 Mark betragen;
sie sind demnach in 10 Jahren um 3,3 Mil-
lionen in die Höhe gegangen. Die Kreis-
umlagen hatten
1889 7270071 = 25,6^/0 der Staatssteuer
1893 8 929 002 = 28,6 „ „ „
1898 9 823 143 = 29,4 „ n n
ertragen, sind also in dereelben Zeit um
nahezu 4®/o gestiegen. Das Besteuenmgs-
recht der Distriktsgemeinden beruht auf
denselben Rechtsverhältnissen wie das der
Kreisgemeinden, doch ist die Einkommen-
steuer nur bei jenen Umlagen mit heranzu-
ziehen, welche für Zwecke der Distrikts-
armenpflege erhoben werden. Die Einnah-
men der bayerischen Distriktsgemeinden be-
trugen 1889 8 412 502 Mark, davon 4781692
Mark aus Umlagen, 1898 10546781 Mark,
wovon 6003807 aus Umlagen. In Prozent
des Staatssteuersolls betrugen diese Umlagen
1889 24,5, 1898 28,9 0/0 , so dass bei den
Distrikten eine ganz ähnliche Zunahme der
Umlagen und des Umlagensatzes wie bei
den Kreisen erfolgt ist.
In Baden betrugen die Einnahmen der
Kreisverbände im Diu-chschnitt der Jahre
1885/94 2665045 Mark, 1894 3073028
Mark, davon 1 452 382 aus Umlagen, 960 000
Mark aus Staatsbeiträgen, 527378 aus dem
Strassenwesen.
b) Was die Gemeinden im engeren
Sinne und die Specialgemeinden anlangt,
so haben auch hier die Zuschläge zu den
Staatssteuem ein ausgedehntes, wenn auch
im einzelnen verschieden geregeltes Gebiet;
neben diesen bestehen jedoch teils selb-
ständige direkte Steuern, teils indirekte
Steuern, auch diese in mannigfaltiger Weise
ausgebildet. Bezüglich der Verbrauchsbe-
ßteuerung sind alle Gemeinden im Deutschen
Reiche den Einschränkungen unterworfen,
welche der Zollvereinsvertrag v. 8. Juli 1867
anfgestellt hat und die dahin gehen, dass
Gemeinden und Korporationen derartige
Steuern, sei es im Wege von Zuschlägen,
sei es im Wege selbständiger Besteuerung
nur von Gegenständen örtlicher Konsumtion
(Bier, Essig, Malz, Cider, die der Mahl- und
Schlachtsteuer unterliegenden Erzeugnisse,
Brennmaterialien, Markt viktualien, Fourage,
in W^einländern Wein und da, wo 1867 be-
reits ein Branntweinaufschlag bestand, auch
der Branntwein) erheben können und dass
die mit einem Einfuhrzoll von mehr als 3
Mark für den Doppelcentner belegten aus-
ländischen Erzeugnisse von inneren Ver-
brauchssteuern frei zu lassen sind; doch
findet die letztere Bestimmung nach Reichs-G.
V. 27. Mai 1885 keine Anwendung mehr auf
Mehl und Mehlfabrikate, Backwaren, Fleisch-
waren und Fett sowie auf Bier und Brannt-
wein.
Ueber das Gemeindesteuerwesen in
Preussen siehe den besonderen Artikel
Kommunalabgaben. Hier soU nur er-
wähnt werden, dass diu-ch die in den
Jahren 1885, 1891 und 1893 erfolgte Gesetz-
gebung das Kommunalsteuerwesen in dem
Sinne geregelt w^orden ist. dass den Ge-
meinden nicht nur die direkten staatlichen
Realsteuern (Grund-, Gebäude-, Gewerbe-
steuer) ganz überwiesen, sondern auch die
Einführung neuer besonderer Gemeindereal-
steuem begünstigt, dagegen die Erhebung
von Gemeindeeinkommensteuern beschränkt
wurde. Zur Deckung des Gemeindebedarfs
soUen neben den Gebühren imd Beiträgen
die Aufv\'and- und Verbrauchssteuern, eine
Bauplatzsteuer und eine Betriebssteuer be-
nutzt und nur, soweit deren Erträgnis nicht
ausreicht. Real- und Personalsteuern er-
hoben werden. Zuschläge zur Staatseinkom-
mensteuer sollen in der Regel nur dann er-
hoben werden dürfen, wenn auch die vom
Staate veranlagten Bealsteuern herangezogen
werden. Eine stärkere Heranziehung der
Realsteuern, ja eine ausschliessliche Benut-
zung derselben namentlich auch in der Form
besonderer kommunaler Realsteuern zur
Deckung des Gemeindebedarfs wird seitens
der Gesetzgebung begünstigt. Obwohl die
Reformbewegung noch keineswegs abge-
sclüossen ist, zeigt sich die Wirkung des
Kommunalabgabengesetzes von 1893 schon
heute darin, dass die Realsteuern, welche
früher Vi des Finanzbedarfes gedeckt liatten,
jetzt mehr als Vs decken, während die Zu-
schläge zur Einkommensteuer um etwas
melir als Vi zurückgegangen sind. (Weitere
Einzelheiten siehe in dem Artikel Kom-
munalabgaben.) Trotz dieser Bewegung
bestehen auch noch heute grosse Verschie-
denheiten in den einzelnen, namentlich den
städtischen Gemeinden, wie aus der weiter
unten S. 144 mitgeteilten Statistik des
Steuerwesens deutscher Städte erhellt.
Im rechtsrheinischen Bayern beruht
wie das Finanzrecht der Gemeinden über-
haupt, so auch ihr Steuerrecht auf derüe-
meindeordnimg v. 29. April 1869. Danach
128
Gemeindefinanzen
dürfen Steuern erhoben werden, soweit die
Erträgnisse des Gemeindevermogens und
der öemeindeanstalten, die für besondere
Zwecke vorhandenen Stiftungen, die Zu-
schüsse des Staates und anderer öffentlicher
Kassen sowie die auf besonderen Rcchts-
titeln beruhenden Leistungen Dritter nicht
hinreichen. Die zur Erhebung gelangenden
Gemeindesteuern sind Zuschläge zu den
staatlichen Ertragssteuern, die »Gemeinde-
umlagen«, Verbrauchssteuern und besondere
örtliche Abgaben. Die Yerbrauchssteuem
sind jedoch in doppelter Beziehung be-
schränkt ; sie dürfen sich 1. mu* auf Fleisch,
Getreide, Mehl und deren Produkte, Wein,
Wildpret, Gänse, Obst, Kaffee, Hafer, Futter-
melil, Kochgerste, Kraut und Hülsenfrüchte
sowie auf Zuschläge zum Lokalmalz- luid
Bieraufschlag beziehen, und 2. ist die
äusserste Höhe des Fleisch-, Getreide- und
Mehlaufschlages und die Art der Rückver-
gütung durch Y. v. 27. November 1875 be-
stimmt. Unter den besonderen örtlichen
Abgaben kommt namentlich der Pflasterzoll
in dem Einnahmewesen der grösseren
Städte in Betracht. In der bayerischen
Pfalz besteht neben den Zuschlägen in den
grösseren Städten noch eine dem französi-
schen Octroi nachgebildete Verbrauchsbe-
steuerung. Durch G. V. 15. Juni 1898 ist
den Gemeinden das Recht erteilt worden,
mit Zustimmung des Ministeriums des In-
nern eine Besitzveränderungsabgabe als Zu-
sclüagssteuer zur staatlichen Besitzverände-
rungsabgabe im Höchstbetrage von Vi der-
selben zu erheben. Diese Abgabe ist nach
ministerieller Erklärung nur als ein sub-
sidiäres Deckungsmittel gedacht, also niu*
anwendbar, wenn aus den Vermögens- und
Belastimgsverhältnissen sich ein Bedürfnis
ergiebt. Bei Erlass des Gesetzes ist die
Erwägung massgebend gewesen, dass die
Vorteile der gemeindlichen Einrichtungen,
besonders in den Städten, dem Immobiliar-
besitz in hohem Masse zu gute kommen und
dass es daher billig erscheine, dass von
solchen Liegenschaften bei Besitzverände-
rungen auch an die Gemeinde eine Abgabe
entrichtet werde. Dagegen ist es nicht in
der Absicht des Gesetzes gelegen, den land-
wirtscliaftlichen Besitz zu belasten. Die
Zahl der politischen Gemeinden, welche die
Genehmigung zur Erhebung des örtlichen
Zuschlages erhielten, betnig Ende 1898 be-
reits über 100.
Die folgenden statistischen Uebersichten
zeigen
1. die Höhe der Gemeindeumlagen über-
haupt nach Gemeindegruppen;
2. das Verhältnis der Umlagen zum
Staatssteuersoll ;
3. die Einnalimen der Gemeinden aus
den Verbrauchssteuern ;
4. die Höhe der Kopfbelastung bei den
Gemeindeumlagen und den Verbrauchs-
steuern ;
5. den Ertrag der Verbrauchssteuern in
den 7 grössten Städten des rechtsrheinischen
Bayern.
Diese Uebersichten sind nach dem sta-
tistischen Jahrbuch für das Kcmigreich
Bayern, 1898, S. 226 ff. zusammengestellt;
die 5. Tabelle ist der Arbeit Kaufmanns
Gemeindebesteuerung imd Massenkonsum ir
den 7 grössten Städten des rechtsrheinischer
Bayern (Finanzarchiv, 1897, S. 321 ff.), ent
nommen.
I. Gemeindenmlagen von 1876—1896 nach Gemeindegruppen.
Jahr
1876
1881
1886
1891
1896
Unmittelbare Städte
Gesamtbetrag der
direkten
Staats-
steuer
Gemeindenmlagen
überhaupt
% d.Staats-
8t«uer
Mittelbare Gemeinden
Gesamtbetrag der
direkten
Staats-
steuer
Gemeindeumlagen
überhaupti"'«!«'??'»
Königreich
Gesamtbetrag der
direkten
Staats-
steuer
GemeindeumI agen
überhaupt
% d. Staat
Steuer
1000 Mark
4 2S8,8
6 465,8
8 572,9
10 432,3
12292,5
3 056.0
5 488,7
7515,0
10095,2
12613,4
71
85
88
97
103
15 661,2
17088,8
18 337,5
18 985,2
19 774,7
II 110,3
1 1 222,2
13 130,2
15 536,3
17937,3
71
19 950,0
14 166,3
71
66
23 554,6
16 710,9
71
72
26910,4
20 645,3
77
82
29417,5
25631,5
87
91
32 067,2
30 550,7
95
Gemeindefinanzen
129
n. Höhe der Gemeindeumlagen
nach dem Ver- 1
hältnis zum Steuersoll 1896.
Zahl der G(
imeini
Umla
len
Kesfierungs-
oezirk
im
ganzen
ohne
Umlagen
mit
gen
in «0 deg Staats-
Bteuersolls
•
«3^
1-50
51 bis
100
101 bis
850
über
250
Oberbayem .
1239
1
15 1224
306
684
232
2
Niederbayem
956
8 948
294
475
176
2
Pfalz . . .
709
8; 701
48
56
341
256
Oberpfalz . ,
Oberfranken .
1088
4<io84
277
511
287
9
987
53
934
200
409
310
15
Mittelfranken
1023
73
950
225
396
309
20
ünterf ranken
1000
263
736
122
266
322
27
Schwaben
1017
105
912
239
409
256
8
Königreich .
8019
529
7490
I7II
3206
2233
340
1887
8027
768
7259
2620
2819
1578
242
III^ Einnahmen der Gemeinden aus den Ver-
brauchssteuern 1896.
Begierungs-
bezirke
Oberbayem
Niederbayem
Pfalz . . .
Oberpfalz .
Oberiranken
Mittelfranken
Unterfranken
Schwaben .
Königreich
1887
rv. Auf 1 Einwohner treffen
in den unmittel-
baren Städten
Zahl d.
erhe-
benden
Ge-
meind.
6
4
2
5
9
4
II
Betrag
der Ein-
nahmen
M.
in den mittel-
baren Gem.
IZahl d.
erhe-
benden
Ge-
meind.
41
38
2 527 472
. 320519
395 158
536 199
1 294 197
596210
1 247 053
6916808
5510316
609
192
16
264
278
190
91
122
I 762
I 408
Betrag
der Ein-
nahmen
M.
I 071 161
334818
770 356
360844
369 030
385067
179479
291 185
3 761 940
2 509 132
an direkten
Umlagen
an Verbrauchs-
steuem
Begiemngs-
bezirke
in den
un-
mittel-
baren
Städten
M.
in den
ande-
ren Ge-
mein-
den
M.
in den
nn-
mittel-
baren
Städten
M.
in den
ande-
ren Ge-
mein-
den
M.
Oberbayem . .
Niederbayem
Pfalz ....
Oberpfalz . . .
Oberfranken . .
Mittelfranken
Unterfranken
Schwaben . .
12,52
5,54
7,87
7,46
9,48
8,50
9,26
3,68
2,87
8,05
2,70
2,60
3,16
2,80
3,56
5,48
5,33
6,41
4,92
4,62
5,62
7,68
1,48
0,55
1,01
0,74
0,77
0,84
0,34
0,55
Königreich . .
188
7 *
io,i6
8,15
3,92
3,48
5,57
6,00
0,82
0,56
V. Verbrauchsbestenerung in den 7 grössten Städten des rechtsrheinischen Bayern 1895 in M.
^fS/l'fA
Hahlsteuem ^)
Fleisch-
aufschlag ^)
Malz- und Bier-
aufschlag
dieseVerbrauchs-
steuem 1894
ciauxe
Ertrag
pro
Kopf *)
Ertrag
pro
Kopf
Ertrag
pro
Kopf
•/o der Ge-
samt-
stenem
pro
Kopf
München . . .
Stamberg . .
Augsburg . .
Würzburg . .
Fürth ....
Begensburg . .
Bamberg . . .
335 678
361 416
132096
1 1 2 266
76657
47018
37503
0,83
2,23
1,98
1,63
1,64
1,13
0,96
263869
149 523
56564
98187
26040
39011
39 359
0,65
0,92
0,70
1,43
0,56
0,94
1,01
I 593 161
295 995
335400
178608
51673
150089
75137
3,91
1,82
4,13
2,60
1,11
3,54
1,93
36,7
32,7
35
47
26
38,4
29
8,53
6,37
6,95
6,53
3,83
6,40
3,70
*) Nach Abzug der Rückvergütungen. *) Ohne Schrannengebühr. ') Brattoertrag nach
Abzug der Btickvergütungen.
Im Königreich Sachsen lässt die ffir
das Gemeindesteuerwesen massgebende
Städte- und Landgemeinde-0. v. 24. April
1873 selbständige Gemeindesteuern sowohl
auf dem Gebiete des direkten wie des in-
direkten Steuerwesens zu. Doch können
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite
indirekte Abgaben für Gemeindezwecke nui*
unter besonderen örtlichen Verhältnissen
mit ministerieller Genehmi^mg erhoben
werden. Thatsächlich wii-d in den sächsi-
schen Gemeinden von indirekten Steuern
nur wenig Gebrauch gemacht. Die vor-
Auflage. IV. 9
130
GemeindefiDanzen
kommenden Verbranchssteuem sind Ver-
zehrungssteiiem und die Biersteuer. In
manchen Gemeinden besteht eine Miets-
steuer; schon seit langem bestehen Abgaben
bei Immobiliarbesitzveränderungen zur Ar-
men-, Kirchen- und Schiükasse, bezüglich
der versicherungspflichtigen Gebäude auch
ziu: Feuerlöschgerätekaßse. Sehr verbreitet
sind auch die sogenannten Lustbarkeitsab-
gaben. In jüngster Zeit ist in einer grossen
Anzahl von Slädten eine Umsatzsteuer auf
Detailgeschäfte mit 1% von Umsätzen im
Betrage von über 30000 Mark eingeführt
worden, die neben fiskalischen Zwecken
auch die sozialpolitische Aufgabe einer
Höherbelastung der Grossbetriebe zu Guns-
ten der Kleinbetriebe erfüllen soll. Weitere
Einnahmequellen bilden die Abgaben von
Wanderlagem imd Mobiliarauktionen, die
Wege- imd Brückengelder, die Hunde- und
Nachtigallensteuer. Ueber die Bedeutung
der wichtigsten dieser sogenannten indirek-
ten Steuern für die Gemeihdekasse s. die
folgende Tabelle m.
Was die direkten Steuern im engeren
Sinne (Einkommen- und Ertragssteuem) an-
langt, so kommen auch hier selbständige
und Zuschlagssteuern vor. Von einem
Zwange zu Staatssteuerzuschlägen, wie er
in Frankreich imd bei uns in Bayern, Würt-
temberg, Baden, Elsass-Lothringen, Hessen
etc., bezüglich der Einkommensteuer ancli
in Preussen besteht, ist hier nicht nel die
Eede, ebensowenig von einer besonderen
gesetzlichen Regelung, vielmehr herrscht
grundsätzlich eine weitgehende Autonomie
der Gemeinden. Es kommen demnach auch
in der verschiedenartigsten Anwendung so-
wohl Realsteuem, nämlich Gnmd- und Cfe-
werbesteuem, wie auch Personalsteuern vor.
Die letzteren sind fast ausschliesslich Ein-
kommensteuern. Weitaus der bedeutendste
AnteU fällt, wie die folgenden Uebersichten
zeigen, den Einkommensteuern zu. Es be-
tnig z. B. in den 10 höchst belasteten
Städten Sachsens
und zwar
in
der Ertrag der
a) der
Gemeinde
M.
Einkommensteuer
b) des d. h. a) ver-
Staates hält sich zu b)
M. wie 100 zu
Dresden .
Leipzig .
Chemmtz .
Plauen
Meissen .
Reichenbach
Freiberg .
Werdau .
Grossenhain
Bautzen .
3988000
6 762000
I 931 000
776000
230000
265000
345000
226000
142000
182000
4405000
4823000
I 464000
391 000
121000
177000
210000
118000
92000
179000
90,5
140,2
131,9
198,5
190,1
149,7
164,3
191,5
153,0
101,7
I. Die direkten und indirekten Steuern im allgemeinen.
Gesamtbetrag der
Gern eindestenem
Hiervon
7o -Verhältnis
d direkt z d
direkte Steuern indir. Steuern *)
Städte
im
ganzen
M.
Kopf-
betrag
M.
indir. Steuern
im
ganzen
M.
Kopf-
betrag
M.
im
ganzen
M.
Kopf.
betrag
H.
dlrektej aireicto
Steuern
überhaupt
mit mehr als 10000 Emw.
« . „ 5000 „
„ weniger als 5 000 „
28 145 248
24 345 790
26 852 254
1 292 994
17,69
20,84
18,92
7,52
24435265
20 989 280
23262 178
I 173087
15,30
17,97
16,39
6,83
3 709 983
3356510
3 590 076
119907
2,33
2,87
2,53
0,70
86,82
86,21
86,63
90,73
13,18
13,79
13,37
9,27
^) Einschliesslich der Steuern von Lustbarkeiten und der Erwerbs- und Besitzwechsel-
abgaben.
Diese starke Belastung des Einkommens
erklärt sich, wie oben bereits gelegentlich
bemerkt wurde, aus der geringen Entwicke-
lung der anderen direkten sowie der in-
direkten Steuern. Die sämtlichen 22 Städte
mit mehr als 10000 Einwohnern hatten aus
Steuern überhaupt eine Einnalime von
24346000 Älark und davon fielen auf die
indirekten rund 3,5 Millionen = 13,79 ^/o,
auf die direkten etwa 21 Millionen = 86,21 %,
und von den letzteren auf die sogenannten
Realsteuern nur ca. 3,8 Millionen = 12,67 ^/o,
so dass ca. 17,1 ^Millionen Mark — 71,43 ^/o
auf die Einkommensteuern entfielen. Von
den Kealsteuern kommen eigentlich nur die
sogenannte Grund-, d. h. Grund- und Ge-
bäudesteuer mit 2,9 Millionen jVfark =-.
11,98 ^/o in Betracht; unter den Einkommen-
steuern befinden sich auch, wenn schon in
verschwindenden Beträgen, Kopf- iin<]
Klassensteuern.
Was die Frage: selbständige oder Zu-
schlagssteuem anlangt, so kann hiov \oi
einem scharfen Gegensatze zwischen An
sclüuss an die Staatsstcuer und selbstän<li
ger Veranlagung, wüe J. Neumann a. a. O
S. 146 ff. ausführt, nicht wolü die Rede sein
Denn auch Regulative mit nicht selbstiindi
ger Steuer weichen von den YorscluiftcM
des Staatssteuergesetzes regelmässig ni(.:h
nur bezüglich der Höhe der einzelnen Stevior
Sätze, sondern auch in aUen Fragen de
Gremeixidefinanzen
131
Forensenbesteuerung, überhaupt in den Fra- ' tem Buche) giebt die erste eine üebersicht
gen interkommunaler Besteuerung erheblich i über die direkten und indirekten Steuern
ab. Doch neigen die grösseren Städte fast im allgemeinen, die zweite zeigt das Ver-
äusnahmslos dazu, sich der Staatseinkommen- 1 hältnis der direkten Steuern zu einander,
Steuer anzuschliessen. Von den folgenden
3 Tabellen (nach J. Neimianns unten citier-
die dritte das der indirekten Steuern.
n. Die direkten Steuern und ihr Prozentverhältnis zu einander.
Persönliche, insbes.
Einkommensteuern
Grund- u. Gebäude-
steuer
Gewerbesteuer
Dir.Aufwandsteuem
(Hundesteuer)
Städte
abso-
lut in
1000
M.
Kopf-
betrag
M.
%
abso-
lut
1000
M.
Kopf-
betng
M.
%
abso-
lut
1000
M.
Kopf-
betrag
M.
/o
abso-
lut
1000
M.
Kopf-
betrag
M.
/o
überhaupt
mit mehr alslOOOOEinw.
r r, » ÖOOO „
mitwenigeralsdOOO „
20470
17 102
19175
997
12,87
14,89
13,72
5,85
72,73
71,43
72,49
77,70
3155
2917
3055
120
1,98
2,50
2,14
0,70
11,21
11,98
11,30
9,32
221
169
206
14
0,14
0,14
0,15
0,09
0,79
0,69
0,77
1,16
348
285
324
23
0,22
0,24
0,23
0,14
1,24
x,i7
1,84
m. Die indirekten Steuern und ihr Prozentyerhältnis zu einander.
Indirekte Aufwandsteuem
Erwerbs-
Indirekte
Verbrauchssteuern
Steuern von
Lustbarkeiten
steuem, insbes.
Besitzwechsel-
abgaben
Steuern
über-
haupt
Städte
Biersteuer
Andere Ver-
brauchssteuern
überhaupt
1000
M.
pro
Kopf
%
1000
M.
pro
Kopf
Vo
1000 pro
M. Kopf
0/
/o
1000
M.
pro 0'
Kopf 10
1000
M.
pro
Kopf
0-
10
1000
M.
%
Oberhaupt
aber 10000 Einw.
, 5000 „
unter 5000 „
619
523
589
29
0,39
0,45
0,42
0,17
16,38
15,57
,16,42
,24,40
1290
1290
1291
1
0,81
1,10
0,91
34,79
38,44
35,95
1900
1813
1880
29
1,20
1,55
1,33
0,17
51,47
54,01
52,88
24,40
245
179
217
28
0,15
0,15
0,15
0,16
6,62
5,35
6,05
23,48
1478
1289
I417
61
0,93
1,10
1,00
0,36
39.86
38,45
39,49
51,52
3709
3356
3590
119
2,33
2,87
2,53
0,70
In Württemberg sind die Gemeinden,
soweit das eigene Vermögen nicht ausreicht,
berechtigt, den »Gemeindeschaden« in erster
Linie auf die steuerpflichtigen Gnmdstücke,
Gefälle, Gebäude und Gewerbe in der Fonn
von Zuschlägen zur Staatssteuer umzulegen.
In Ergänzung der Erträgnisse dieser Steuern
dürfen auch Umlagen von Apanagen, vom
Kapital-, Renten-, Dienst- und Berufsein-
kommen im Maximum von 1 ^/o des für die
Staatsbesteuerung ermittelten steuerbaren
Jahresertrages erhoben werden. Falls der
zur Deckung des Gemeindebedarfs erforder-
liche Steuerbedarf grösser ist als der Be-
trag der in derselben Gemeinde erhobenen
Staatssteuem von Grundeigentum, Gebäuden
und Gewerben, dürfen noch örtliche Ver-
brauchsabgaben von Bier, Fleisch und Gas
mit besonderer staatlicher Genehmigung er-
hoben werden. Eine besondere Gemeinde-
steuer Lst die Bürger- und Wohnsteuer.
Schliesslich soll noch das Steuerwesen der
grösseren deutschen Städte nach denum-
wssenden Arbeiten Würzburgers in dem Sta-
tistischen Jahrbuch deutscher Städte einer kurzen
Betrachtung unterzogen werden. Die folgende
Tebersicht lässt zunächst die Gesamterträge der ;
Gemeindesteuern und die Anteile der Verbrauchs-
abgaben an denselben sowie das Verhältnis der '
St«Qerbeträge zur Einwohnerzahl erkennen. Die |
Auswahl unter den von Würzburger berück-
sichtigten Städten ist so getroffen, dass sowohl
die Verschiedenheiten im Gemeindesteuerwesen
Nord- und Süddeutschlands als auch einige
innerhalb derselben Staaten vorhandene Ver-
schiedenheiten hervortreten. Danach wurden in
den untenstehenden nach Staaten und Ein-
wohnerzahl geordneten Städten insgesamt an
Gemeindesteuern überhaupt und darunter an
Verbrauchssteuern insbesondere im Rechnungs-
jahre 1896/97 (bezw. in den bayerischen und
sächsischen Städten sowie Karlsruhe im Kalender-
jahre 1896) erhoben:
Tabelle I.
Gemeindesteuern
davon Ver-
in
über-
haupt
•
auf
lEinw.
brauchs-
steuern
®/oder auf
in
lOOOM.
M.
Gem.- lEinw
St. M.
Berlin . . . .
47 263,2
28,04
1,49 0,42
Breslau. . . .
9 862,5
26,26
21,93 5,76
Köln a. Rh. .
. 7646,6
23,58
4,42 1,04
Frankfurt a. M
. 9 557,9
41,26
0,95 4,29
Magdeburg . ,
4 505,6
20,92
4,06 0,85
Hannover . .
. 4407,4
20,76
4,68 0,97
Düsseldorf .
. 4665,8
26,32
3,44 0,91
Königsberg .
. 3880,2
22,54
4,16 0,94
Altona . . . .
3 973,4
26,58
Stettin . . .
. 3 153,1
22,11
— —
Elberfeld . .
■ 3751,7
26,73
3,18 0,85
Charlottenburg
. 3860,1
28,35
9*
J32
Gemeindefmanzeti
Gemeindesteuern
dayon Ver-
•
über-
1 .
auf
brauchs-
steuern
m
haupt
lEinw.
% der
auf
in
lOÖOM.
M.
Gem.-lEinw.
St. M.
Bannen . .
2954,5
23,08
2,70
0,62
Danzig . . . .
2575,1
20,41
Halle a. S. . ,
2 413,5
20,67
4,29
0,89
Dortmund . . .
. 2641,1
23,12
Aachen. . . ,
2 779,5
25,02
26,61
6,66
Krefeld . . <
2 265,^;
21,03
Essen . . .
, 2426,8
24,70
3,30
0,82
Kiel ....
► 1908,4
22,22
—
Cassel . . .
. 2219,9
27,13
24,25
6,58
Erfurt . . .
. 1400,9
17,43
5,61
1,01
Wiesbaden . .
. 2711,1
36,31
23,80
8,62
München . .
. 9024,2
22,10
25,24
5,58
Nürnberg . .
. 3 108,2
19,06
28,90
5,51
Augsburg . .
■ W05,3
20,79
35,»9
7,32
Leipzig . .
. 9 353,2
23,34
Dresden . .
. 8708,4
25,82
21,07
5,44
Chemnitz . .
■ 3 934,4
24,43
2,72
0,66
Stuttgart . .
. 4980,6
31,17
22,99
7,17
Karlsruhe . .
. 1377,7
16,35
24,84
4,06
Mainz . . .
. 2434,4
31,47
21,97
6,91
Darmstadt
. 1849,4
28,75
30,32
8,72
Braunschweig
■ 1903,3
16,46
Strassburg i. E
■ 3321,2
24,32
85,33
20,75
Mülhausen i. E
. 2 056,0
24,64
78,99
19,46
Metz
. I 139,8
19,05
89,89
17,12
In der Tabelle II (S. 133) findet sich eine
Specialisierung der Erträgnisse der direkten und
der Hauptgruppen der indirekten Steuer n (e
schliesslich der Verkehrssteuem).
Die Tab. III (S. 134) weist die Erträ^isse der
Verbrauchssteuern im einzelnen für diejenigen
Städte nach, welche am meisten Verbrauchs-
steuern erheben.
Tabelle IV (S. 135) giebt eine gedrängte
Uebersicht über das ErtJäcpiis der Verbrauchs-
steuern in Strassburg, Mümausen, Metz, Darm-
stadt und Mainz.
Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl hatten
von den erwähnten Städten den höchsten
Gesamtbetrag an Gemeindesteuern Frank-
furt a. M. (41,26 Mark auf 1 Einwohner, immer-
hin noch viel weniger als beispielsweise Wien
.mit 42,10 Gulden und Paris mit 77,30 Francs
Kommunalsteuem pro Kopf der Bevölkerung),
Wiesbaden (36,21 Mark), Mainz (31,47 Mark),
Stuttgart (31,17 Mark), Darmstadt (28,75 Mark),
Charlottenburg (28,35 Mark), Berlin (28,04 Mark),
Cassel (27,13 Mark), den niedrigsten Karls-
ruhe (16,35 Mark), Braunschweig (16,46 Mark),
Erfurt (17,43 Mark), Freiburg i. B. (17,65 Mark),
Mete (19,05 Mark), Nürnberg (19,06 Mark). Es
ist indessen zu berücksichtigen, dass den säch-
sischen Städten sowie Braunschweig ausser den
eigenen Steuereinnahmen noch ihnen über-
wiesene Beträge von im Stadtgebiete erhobenen
direkten Staatssteuem, nämlich die den Schul-
gemeinden überlassenen halben Grundstener-
erträ^e im Königreich Sachsen und der Anteil
am Ertrage der Einkommensteuer in Braun-
schweig, zur Verfügung gestanden haben, wäh-
rend in Preussen die auf Grund des G. v. 14.
Mai 1885 erfolgten Ueberweisungen aus dem
Ertrage der landwirtschaftlichen Zölle an die
Gemeinden seit dem Rechnungsjahr 1895/96 in
Wegfall gekommen waren; nur Berlin und
Danzig haben die Ueberweisungen aus den Zoll-
einnahmen des Etatsjahres 1894/95, des letzten,
für welches das erwähnte Gesetz wirksam war,
erst in den Rechnungen für 1896/97 gebucht.
Besonders auffällig ist die sehr verschiedene
finanzielle Bedeutung der Verbrauchs-
steuern. In einer Reihe von Städten, näm-
lich in Frankfurt a. M., Leipzig, Altoua, Braun-
schweig, Charlottenburg, Danzig, Dortmund,
Krefeld, Kiel, Liegnit^, Stettin. Zwickau giebt
es überhaupt keine Verbrauchssteuern. Dag^e^en
deckten sie in Breslau, Aachen, Cassel, Wies-
baden, Posen, Potsdam, München, Nürnberg,
Augsburg, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe, Frei-
burg i. B., Mainz und Darmstadt 21 — 35®/«, in
den elsass-lothringischen Städten sogar 79—90%
des ganzen Steuerbedarfs. Dementsprechend
zahlte ein Einwohner Strassburgs durchschnitt-
lich 20,75 Mark Gemeindesteuern im Jahre auf
die von ihm konsumierten Lebensmittel etc.,
in Mülhausen 19,46 Mark, in Metz 17,12. Dann
folgen Dannstadt mit 8,72, Wiesbaden mit 8,62,
Augsburg mit 7,32, Stuttgart mit 7,17, Mainz
mit 6,91, Potsdam mit 9,60, Aachen mit 6,66,
Cassel mit 6,58, Breslau mit 5,76, München mit
5,58, Nürnberg mit 5,51, Dresden mit 5,44 Mark
städtischer Verbrauchssteuern pro Kopf der Be-
völkerung, während in Berlin nur 42 Pfennige
auf einen Einwohner kamen.
Die abgabepflichtigen Gegenstände sind sehr
verschieden. Ausschliesslich in Verbrauchsab-
gaben von Bier bezw. Zuschläj^en zur Brau-
malzsteuer bestanden die städtischen Konsum-
Steuern in Berlin, Köln, Magdeburg, Hannover,
Düsseldorf, Königsberg, Elberfeld, Barmen, Halle,
Essen, Erfurt und Chemnitz. In den übrigen
in Vergleich gezogenen Mittel- und Grossstädten
wurden, soweit sie überhaupt Verbrauchsabgaben
erhoben, zu solchen gleichzeitig mehrere Gegen-
stände herangezogen, am meisten in den hessi-
schen und elsass-lothringischen Städten.
An sonstigen indirekten Kommunalsteuern
wurden noch Aufwand- und Verkehrs-
steuern erhoben, von denen jedoch die erstereii
— Hundesteuer, Steuer von Vergnügung-en,
Pferdesteuer, Abgabe von Jagdscheinen, rJacnti-
gallensteuer u. s. w. — für den Gemeindehaus-
halt nur von geringer Bedeutung waren. Von
den Verkehrssteuem hat in den meisten nord-
deutschen Städten die Steuer vom Grundbesitz-
wechsel eine immer grössere Bedeutung erlangt.
Eine Steuer von Verträgen, Testamenten, Auk-
tionen erheben Kiel und Braunschweig. In den
süddeutschen Städten spielt der Pflasterzoll eine
grosse Rolle.
Finden so die indirekten Gemeindesteuer!
in Süddeutschland im allgemeinen eine breiter«
Verwendung als in Norddeutschland, so ist hier
insbesondere in Preussen, der Anteil der direktei
Steuern an der Deckung der städtischen Finanz
bedürfnisse entsprechend grösser als dort. Di<
direkten Kommunalsteuern sind entweder Ge
raeinderealsteuem oder Gemeindeeinkommen
steuern. Während erstere sowohl als Zuschlag*
zur staatlich veranlagten Grund-, Gebäude- un<
Gewerbesteuer wie als selbständige von Grund
besitz und Gewerbebetrieb erhobene Kommunal
steuern vorkommen, darf letztere, die Gemeinde
einkommensteuer, in der Regel nur in der Fori
Gemeindefinanzen
133
TabeUe 11.
Ertragssteuem
Allgem.
Auf-
Mer-
Ver-
brauchs-
steuern
"
Steuer
Städte
Grund- u.
Gebäude-
Btener
Gewerbe-
steuer
V. Lohn
u.Beruf8-
ein-
Kapital-
renten-
steuer
Ein-
kommen-
steuer
Miet-
steuer
wand-
steu-
ern*)
kehrs-
steu-
ern')
Gesamt-
betrag
1
kommen
Berlin . . .
15847536
6805021
_
21834743
13392
461 308 I 596 168
705051
47263218
Breslau . . .
2 255 532
994 581
3 956 508
119927 362956
2 163 020
9 862 524
Köln ....
2 064 677
966 172
3467351
2134981 596737
338 208
7 646 643
Frankfurt a. M.
2 156 798
925 142
5 209 67 1
354909231562 589308
90559
9 557 949
Magdeburg . .
1 169923
548 502
'
3 443 888
— 1 42275 1:8085
182903
4 505 576
Hannover . .
1 133002
404800
1 938 459
— 56678, 647963
206451
4407431
r>üs>eldorf . .
'i 117733
466 938
2454134
— 102854
363 501
i6o 674
4 665 834
Königsberg
944601
374604
—
—
2004653
— 23 989
370805
161 477
3 880 189
.lltona . . .
2 307 657
150687
—
—
I 269 465
— 132 189, 103359
3 973 357
Stettin . . .
1 039 426
426 027
1 371 987
— 34585! 281 106
3 153 130
Eberfeld . .
827 839
470 570
, r
2 224 228
— ' 35501
74264
119271
3751673
Charlottenburg
I 373 124
170284
1907417
— , 47967
361 349
—
3860141
Barmen . . .
604 199
327 777
I 801 416
— 31 565
99869
79654
2 954 479
Panzig . . .
676 878
288 745
___
1 251 139
190931 15 115! 152270
^^
2 575 078
Halle ....
571 051
281 967
■
I 392 072
— i 64936 —
103 437
2413463
P^rtmand . .
495 676
271 907
I 670 945
— 40 647 161 956
—
2641 131
Aachen . . .
588 121
245 437
1 060 853
— ' 57614! 87815
739 646
2779476
Krefeld . . .
494088
220 724
1 369 963
— 43220
60 149
2 265 756
Essen ....
530 896,
319690
I 330091
— 46 880
119149
80063
2 426 769
Kiel ....
719396,
131 980
899 886
— 61 503t 95 573
—
1 908438
ra??el . . .
486 479
215807
887 738
— 1 203171 71 123
538421
2219885
Erfurt . . .
381 I37i
136 614
)
695427
— 45647 63385
78654
1 400 864
Wiesbaden . .
493 279
126 725
1
1 089099
— ^ 56652; 209199
645380
2 711 116
München . .
2 085 162
1 434 340
625551
I 296 321
— ,132700
I 005 879
2 277 933
9 024 207
Nürnberg . .
687 361
660540
212 061
435 958
—
— ' 27 929I 144 256
898 362
3 108 182
Au^burg . .
268991
301 445
92766
241 418
— 1 25716 171844
579 399
I 705 343
Leipzig . . .
1 557 170
120*)
—
7017275
— 201204 569473
9 353 243
I^rÄden . . .
667 748
3898*
—
4947126*)
— 190 878! 1 064083
1834691
8 708 424
Chemnitz . .
583 9o6|
3213*)
^.^
—
2830 118
62 289 68363« 279 411
107065
3 934 365
>tnttgart . .
I 461 858
1 368 502
125 294
374 178
148810 59083! 300470
1 145 139
4 980 624
Karlsruhe . .
308 083
188416
306980
208 724
—
— 16336; . 21 626
342 287
1 377 728
Mainz . . .
448 018^
448 158
918831
146 782
—
— 1 1 620| —
534 726
2 434 374
I^armstadt . .
293 278
184458
1 295 665
166 363
—
— 1 10616
1
— ~—
560 709
I 849 379
Braunscbwei^.
^trassburg ilE.
I 400^)
____
I 824 763
— 41 091
36053
—
1 903 307
172 217
183825
—
—
68 955 62 099
2 834 055
3321151
Mülhausen L E.
168684'
193004
—
—
61354' 23787
—
1 624 124
2 056 023
Metz ... .
38 657,
1
51 016
11043
14506
1 024 534
1 139757
*) Hund^teuer, Steuer von Vergnügungen, sonstige Aufwandsteuern. *) Steuer vom Grundbesitz Wechsel,
Ton VertrÄgen, Testamenten, Auktionen und Pflasterzoll. •) Hier inbegriffen 231 550 Mark Einwohner- und
Bn^ersteuer. *) Nur Wandergewerbesteuer.
von Zuschlägen zur staatlichen Einkommensteuer
erhoben werden. Als städtische Steuerquelle
kommt daher die allgemeine Einkommensteuer
nur in denjenigen Staaten in Betracht, in denen
dieselbe als Staatssteuer besteht. Es besassen
demgemäss in dem bisher betrachteten Jahre
1896 97 die Gemeinden Bayerns, Württembergs
und Elsass-Lothringens keine allgemeine, wohl
aber statt dieser die Dayerischen und die württem-
bergischen die partiellen Einkommensteuern in
Form von ZuschlSgen zur staatlichen Steuer
von Lohn und Berufseinkommen und zur staat-
lichen Kapital rentenst euer. Der Anteil der in
den norddeutschen Städten erhobenen allge-
meinen Einkommensteuer an der Befriedigung
der Finanzbedürfnisse war sehr verschieden je
nach dem Masse, in welchem die anderen Steuern,
namentlich die Gemeinderealsteuern, herange-
zogen wurden. In Braunschweig lieferte die
Einkommensteuer sogar rund £6 ^/o des gesamten
städtischen Steuerertrages, in Leipzig 75, in
Chemnitz 73,5%. In den preussischen Städten
macht sich der Einfluss des Kommunalabgaben-
gesetzes I in dem Rückgang der Erträgnisse der
Einkommensteuer und dem Anwachsen der Er-
trägnisse der Bealsteuern, wie oben schon be-
merkt wurde, deutlich bemerkbar.
In.Oesterreich (vgl. Mischlers Ar-
tikel im österreichischen Staatswörterbuch)
sind die Gemeinden im allgemeinen auf
Steuerzuschläge angewiesen. Dabei ist in der
Gemeindeordnung bestimmt, daes die Steuer-
zuschläge zu den direkten Steuern in der
Re^el auf die einzelnen Klassen der Ge-
meindemitglieder und auf alle Arten der
134
Gemeindefinanzeu
Aachen . .
Augsburg
Breslau . .
Cassel . .
Dresden .
Frankfurt a.
Karlsruhe
München .
Nürnberg ,
Stuttgart
Wiesbaden
Geflügel. «)
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Essig und
Essigsäure
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i^ p-
»5 |!c
iPi
1
er
direkten Steuern gleichmässig aufzulegen
sind und dass Steuerzuschläge zur Verzeh-
ningssteuer nur den Verbrauch innerhalb
des Gemeindegebietes treffen dürfen. Das
Besteuerungsrecht der Gemeinden hinsicht-
lich der Zuschläge ist insofern beschränkt,
als der Gemeinde die Berechtigung nur bis
zu einer gewissen Obemenze zusteht und
dai'über hinaus die Bewilligung des Landes-
ausschusses bezw* bei bedeutenderer Ueber-
schreitung jene des Landtages erforderlich
ist. Die Obergrenze der eigenen Berecliti-
gung ist aber nicht einheitlich für die ganze
Monarchie geordnet. Es beträgt die Ober-
grenze der eigenen Kompetenz der Gemeinde
für Zuschläge zu
direkten Verzehrungs-
Steuern steuern
in Niederösterreich
f, Oberösterreich
Salzburg
Steiermark
Kärnten
Krain
Görz und Gradiska
Istrien
Tirol
Vorarlberg
Böhmen
Mähren
Schlesien
Galizien
Bukowina
Dalmatien
20
10
20
10
20
15
20
15
50
15
15
15
15
15
25
25
150
15
150
15
10
15
15
IS
20
20
20
20
$0
75
IS
25
üeber das Verhältnis der Benutzung
der Zuschläge zur Benutzimg selbständiger
Steuern unterrichtet die folgende TabeUo.
1 . g
Von
den Finanzgemeindeii
ahl der Fi
nzgemeind
keine
Steuer
haben
i
Länder
Zuschläge zu den
tänd.
iiern
direkten
Verz.-
•*- V
^0 oä
<^^
Steuern
Steuer
cx.
*
Niederösterr.
1780 457
1323
147
45
Oberösterr.
486 1 7
479
23
16
Salzburg
158 I
157
6
1
Steiermark
1566 54
1512
128
4-
Kärnten
220 2
217
93
7
Krain
335' 85
241
48
Görz u. Grad.
244 24
207
143
21
Istrien
158 46
HO
53
35
Tirol
920
150
767
73
23
Vorarlberg
102 2
97
68
Mähren
3042 1246
1793
35 17
Schlesien
529 6
522
II i 5
Bukowina
333
25
304
6
—
Dalmatien
631 3
611
77 \ 5<^
Zusammen
10504
2108
8340
843 2c);^
Böhmen
7038
2806
4232
37
1
Die Zahlen beziehen sich auf das Jaln
1884 bezw. für Böhmen auf 1883. Di^
Gemeindefinaiizen
135
TabeUe IV.
Es betrugen die Steuern auf
in StrasB-
burg
M.
in Mül-
hausen
in Mainz
M.
in Metz
M.
in Darm-
stadt
M.
Nahrungs- und Genussmittel ^)
Getränke
Viehfutter
Brennmaterialien ....*.
Beleuchtun^materialien . .
Baumaterialien
Sonstige Gegenstände . . .
563 104
I 354 469
120013
200925
127452
462861
5230
401 203
760 674
42 566
59 802
63476
293300
3103
238 542
172926
18 785
103 367
282 682
513163
83225
57845
47153
26962
14065
305315
141 839
114 151
Gesamtbetrag [2834055 | 1624124 534 726
1 024 534
560709
M In allen Städten Steuern von Vieh, Fleisch, Fleischwaren, Fett, Wild und Geflügel,
Essig und Essigsäure, in Darmstadt, Mainz und Mülhauseu auch Steuern von Getreide, Hülsen-
früchten, Mehl und Backwaren, in den drei elsass-lothringischen Städten auch Steuern von
Fischen und Schaltieren, fnschen und getrockneten Früchten, Trüffeln, in Metz und Mülhausen
auch von Kolonialwaren und Speiseöl, m Strassbnrg und Mülhausen auch von Konserven.
Ziffern der selbständigen Gemeindesteuern
stehen nach Mischler wohl weit unter der
Wirklichkeit, weil viele Gemeinden diese
gar nicht als eigene Steuern, sondern unter
anderen Bezeichnungen aufführen.
Endlich sollen in der folgenden kleinen
Tabelle noch einige Angaben über die Höhe
der Zuschl^ und die Zahl der dieselben
benutzenden Gemeinden gemacht werden.
Anzahl der Ortsgemeinden
mit
nebenstehenden Steuerzuschlägen
und
zwar
zu
Prozent-
satz
ind-
uer
|sl
1
n 1 ^
^ S ?*
1
M OD
liii
^ OD
!WS|
»5 *^
bis ö
1736
1587
1 1725
1704
1647
5— 10
4548
4132
4538
4919
4294
10— 16
34io
2815
3371
3235
3019
15— 20
414»
3655
4107
4025
3818
20- 30
3843
3330
3787
3688
3484
30— 40
2700
2281
2645
2543
2472
40— 50
2091
1772
2062
1948
1861
50— 60
940
831
923
888
866
60— 70
521
427
486
462
450
70— 80
444
395
424
428
411
80— 90
233
209
220
316
210
90— 100
304
290
301
285
234
100— 150
501
416
430
440
422
150— 200
173
142
154
162
153
200— 300
127
67
81
101
93
300— 400
69
39
45
58
56
400— 500
42
15
17
37
37
500— 600
22
8
10
20
18
eOO- 700
10
3
5
7
6
700— 800
4
2
2
2
2
800— 900
2
I
1
1
I
900—1000
2
I
2
2
I
zus. 1
25870
22418
25330
24671
23555
17. Die Gemeindestenerpolitik« a) S e 1 b -
ständige Steuern und Zuschläge.
Die bisherigen Ausführungen über das Ge-
meindesteuerwesen und die statistischen
Uebersichten zeigen, dass in einzelnen
Staaten die Steuerbedürfnisse in der Haupt-
sache durch Zuschläge zu den Staatssteuern
gedeckt werden, wälirend in anderen mehr
oder weniger selbständige Steuern erhoben
werden. Die selbständigen Gemeindesteuern
in ihrer reinen Form, wie sie beispielsweise
in England besteht, sind von dem Staats-
steuersystem unabhängig, sie fliessen aus
besonderen Steuerquellen, werden nach
eigenen Methoden veranlagt und nach be-
sonderen Steuerfüssen aufgelegt und erhoben.
Ihre Haupterscheinungsformen sind in der
indirekten Besteuerung zu suchen, sie konunen
aber, wie die Uebersichten zeigen, auch auf
dem Gebiete der direkten Steuern vor. Die
Zuschläge finden sich weit überwiegend auf
dem Gebiete der direkten Steuern, sie kom-
men aber auch, wie im bayerischen Lokal-
malzaufschla^, bei den indirekten Steuern vor.
Ueber die Vorzüge der selbständigen
Steuern und der Zuschläge hat sich vielfach
ein lebhafter Streit erhoben, der heute noch
keineswegs geschlichtet ist Jede der beiden
Benutzungsarten hat ihre Vorzüge, jeder
haften gewisse Mängel an.
Den Zusclüägen rühmt man nach, dass
sich bei ihnen die £rhebungskosten sehr
vermindern und dass sie infolgedessen ver-
hältnismässig gi'Ossere Reinerträge gewähren,
dass durch sie die Gemeinden an einer rich-
tigen Einschätzung der Steuerpflichtigen
interessiert werden, dass das Finanzwesen
der Gemeinden bei Zuschlägen einfacher
und übersichtlicher sei. Aber man hat nicht
mit Unrecht darauf aufmerksam gemacht,
dass gerade diese Leichtigkeit der Erhebung
ziu* Steigerung der Ausgaben verleiten und
dass da, wo die Trennung zwischen Staats-
und Gemeindesteuern nicht Mar gehalten
136
Gemeindefinanzen
werde, in dem Bewusstsein der Steuerzahler
sich leicht der Eindruck von dena, was sie
an den Staat, und von dem, was sie an
die Gemeinde leisten, zu Ungunsten des
Staates verschieben könne. Auch der Ein-
wand ist berücksichtigenswert, dass bei der
ünvoUkommenheit der Staatssteuern und bei
ihren unvermeidlichen Ungerechtigkeiten und
Ungleichheiten jede Vermehrung und Er-
höhung derselben, wie sie durch Zuschläge
bewirkt werde, bedenklich wirke. Der Staat
wird auch, selbst wenn er die Maxima der
den Gemeinden eingeräumten Zuschläge
niedrig greift, doch von der Finanzgebaning
der Gemeinden abhängig, namenthch auch
in Reformen behindert. Ein weiterer Ein-
wand gegen die Zuschläge gründet sich da-
rauf, dass sie nicht gestatteten, diejenigen
Quellen vorzugsweise zu erfassen, welche
für die gemeindliche Mittelbeschaffung be-
sonders geeignet sind, dass namentlich das
im Gemeindesteuerwesen vielfach berechtigte
Princip von Leistung und Gegenleistung
durch Zuschläge nur unvollkommen durch-
geführt werden könne.
Eine objektive Beurteilung wird nun an-
erkennen müssen, dass hier namentlich die
konkreten Verhältnisse berücksichtigt wer-
den müssen und dass nicht von einander
ausschliessenden Gegensätzen gesprochen
werden dürfe. Es wäre ebenso verfehlt, die
Gemeinden nur auf Zuschläge anzuweisen,
wie es irrig wäre, allen ein selbständiges
Steuerwesen vorzuschreiben. Ist das Steuer-
wesen des Staates so geartet, dass es Steuern
enthält, welche auf Quellen beruhen, die,
wie Grund und Boden und Gebäude, in Bfe-
ziehimg zur Entwickelung des Gemeinde-
wesens stehen, und dass die Erträgnisse
dieser Quellen sidi leicht ausscheiden lassen,
so ist es ohne Zweifel für Zuschläge Yiei
leichter zugänglich als ein anderes, bei dem
dies nicht der Fall ist. An sich betrachtet
lässt eine direkte Staatsbesteuerung, welche
sich wesentlich aus Ertragssteuem zu-
sammensetzt, welche Vermögensverkehrs-
steuern vom Immobüiarverkehr und Luxus-
steuern enthält, Zuschläge \iel eher und in
viel höherem Grade zu als ein Steuersystem,
welches vorwiegend auf indirekten Steuern
und allgemeinen Einkommensteuern aufge-
baut ist.
Auch die Höhe der Staats- bezw. Ge-
meindeabgaben spielt eine Rolle. Sind die
Staats-, Gemeinde-, Kreisabgaben etc. hoch
oder müssen sie bedeutend erhöht werden,
so wird eine Grenze auftreten, über welche
hinaus das Zuschlagssystem nicht mehr aus-
gedehnt werden kann, wo vielmehr eine
selbständige Besteueiiing einsetzen muss.
Auch in dieser Beziehung ist Stadt und
Land verschieden. Grosse Städte mit dem
lasch wachsenden Aufgabenkreise werden
unter Umständen schon lange auf selbstän-
dige Steuern angewiesen sein, während die
kleineren städtischen und vollends die Land-
gemeinden in Ländern mit einem leidhch
guten Ertragssteuersystem ihre Bedürfnisse
ganz wohl mit Zuschlägen bestreiten können.
b) Besteuerung nach der Leis-
tungsfähigkeit oder nach dem In-
teresse? Neben der eben erörterten Frage
der Zuschläge und der selbständigen Steuera
ist namentlich die andere Frage von Wich-
tigkeit, inwieweit im Gemeindesteuerweseu
der Grundsatz von Leistung und Gegenleis-
tung Anerkennung zu finden habe und
mittelst welcher Steuern er verwirklicht
werden solle. Es ist heute wohl nicht mehr
ernsthaft bestritten, dass eine Reilie von
Gemeindeausgaben dem einen mehr nützen
als dem anderen; namentlich sind es die
im städtischen Gemeindegebiete gelegenen
Grundstücke, Gebäude, Gewerbe, welclie
dem Gemeinwesen, und seiner günstigen
wirtschaftlichen Entwickelung einen grosseu
Teü ihrer Wertsteigerung und ihres Eiirags
verdanken. Daneben kommt freüich auch ein
sehr grosser Teil der Gemeindeausgal>eu der
Gesamtheit untrennbar zu gute und wiixl
durch Steuern, die nach dem Grundsatz
der Leistungsfähigkeit erhoben werden, zu
decken sein.
Wenn man ein gutes System von Ge-
bühren imd eine ausgedehnte Anwendunp;"
von Beiträgen voraussetzt, so wird man
dem Grundsatz von Leistung und Gegen-
leistimg gerecht werden, wenn daneben Ge-
meindesteuern vom Grund und Boden, von
den Gebäuden, vielleicht auch vom Gewerbe-
betriebe erhoben werden. In der That ^^ilxl
durch zahlreiche Veranstaltungen der Ge-
meinden, durch Anlegung von Strassen, Be-
leuchtungsanlagen u. s. w. vor allem der Wert
der Grundstücke und Häuser erhöht; der Zu-
sammenhang dieser Wertsteigenmg mit der
Entwickelung des Gemeindewesens ist un-
verkennbar. Ebenso bedarf der Zusammen-
hang zwischen dem Ertrage der Gewerbe
und der fortschreitenden Entwickelimg der
Gemeinde überhaupt kaum des Beweises.
Aus demselben Grunde würde es sich aiicli
empfehlen, den Gemeinden und besonders
den städtischen einen Anteil an den Ver-
kehrssteuern auf Immobilien zu gewähren .
Aber das Princip der Besteuerung nacli
dem Interesse kann aus den oben erwähnten
Gründen nicht allein massgebend sein; denn
wollte man die Steuerlast, nach dem ersten
Grundsatz, nur auf die Grund- und Hausbe-
sitzer legen, so würde dies nicht nur eineiv
äusserst schweren und ungleichen Druck
auf dieselben ausüben, sondern auch der
Thatöache widersprechen, dass die Gemeinde
alle Klassen der Bevölkenmg umfasst und
allen dient So wird die Gemeinde immer-
Gemeindefinaazen
137
hin auch Zuschläge zur Eapitalzins-, zur
allgemeinen oder zu den speciellen Ein-
kommensteuern zu erheben, eventuell eine
eigene Einkommensteuer einzurichten haben.
Es ist dabei, namentUeh was die Personal-
Steuern anlangt, wünschenswert, dass die
Gemeinde die steuerfreien Existenzminima
höher greift als der Staat.
Diese Steuern können teilweise passend
durch eine Miets- oder Wohnungssteuer er-
setzt oder ergänzt werden, die progressiv
zu veranlagen wäre und Wohnungen bis zu
einem gewissen Mietswerte steuerfrei zu
lassen oder wenigstens zu begünstigen hätte.
Denn die Wohnungen der kleinen Leute
haben häufig einen zu hohen Mietpreis und
absorbieren einen unverhältnismässig grossen
Teil ihres Einkommens. Auch gewisse
direkte Luxussteuem, z. B. Steuern von
Hunden und Equipagen, eignen sich wohl
für Gemeinden. In Paris beträgt die Steuer
von Omnibussen und Fiakern jährlich 4V2
Millionen, die auf Viehfutter (freilich eine
indirekte Steuer, die aber namentlich die
Pferdebesitzer trifft) gegen 4 Millionen Francs.
Neben diesen Steuern werden nun in-
direkte Yerbrauchssteuern auf Lebensmittel,
Getränke oder sonstige Gegenstände unentr
behrlich sein und zwar aus denselben finan-
ziellen Gründen, welche man auch zu
Gunsten der staaüichen Aufwandsteuem an-
führen kann. Es beniht auf der lokalen
Begrenztheit des Gemeindegebietes, dass sie
zumeist den Charakter von Binnenzöllen
tragen, d. h. von den Gegenständen erhoben
werden, wenn sie in das Gemeindegebiet
gelangen. In dieser Form heissen sie Oc-
trois imd Gefälle. Natürlich können ihnen
nur solche Gegenstände unterworfen werden,
welche in der Gemeinde selbst verbraucht
werden ; Durchfuhr und Ausfuhr, von denen
namentlich die erstere in den mittelalter-
lichen Städten bedeutende Abgaben zu
leisten hatte, können heute nicht mehr Gegen-
stand der Besteuerung sein. Zuschläge zu
den Staatssteuem sind hier nur in solchen
Fällen anwendbar, wo wie früher bei der
preussischen Mahl- und Schlachtsteuer, wie
heute noch bei dem französischen droit
d'entr^e auf Wein, die Staatssteuer beim
Eintritt der Waren in das Gemeindegebiet
oder da, wo die Steuer bei städtischen Pro-
duzenten erhoben wird, wie beim bayerischen
Lokalmalzaufschlag. Freilich muss im letz-
teren Falle für das aus dem Gemeindegebiet
ausgeführte Bier eine Eückvergütimg ge-
wä^ werden. Neben den üblichen Ein-
wänden gegen die indirekten Steuern über-
haupt hat man noch besonders hervoige-
hoben, dass dieselben, da sie nicht in allen
Gemeinden gleichmässig, sondern nur in
einer beschränkten Anzahl und in sehr ver-
schiedener Höhe erhoben werden, sehr ver-
schiedene Eonkurrenzbedingtingen schüfen,
dass mit ihnen möglicherweise auch eine
gemeindliche Schutzzollpolitik getrieben wer-
den und dass sie wegen ihrer relativen Un-
merklichkeit zu einer irrationellen Steige-
rung der Ausgaben führen könnten. Man
kann den ersten Einwand ja zum Teil als
berechtigt, anerkennen; immerhin wird man
sagen müssen, dass die Steuern nur da ver-
schiedene Eonkurrenzbedingungen schaffen,
wo sie in bedeutender flöhe erhoben wer-
den, dass aber sonst in den grösseren
Städten der Einfluss anderer wirtschaftlicher
Momente auf den Preis bedeutend stärker
ist. Was die Möglichkeit einer gemeind-
lichen Schutzzollpolitik anlangt, so wird
diese ebenso wie eine irrationelle Steigerung
der Ausgaben durch das Oberaufsichtsrecht
der Regierung verhindert werden können.
Jeden&dls ist sicher, dass ohne die Be-
nutzung der Octrois oft ganz nützliche und
dringende Ausgaben ungemacht bleiben wür-
den. Andererseits muss aber betont werden,
dass die Verbrauchsbesteuerung, wenn sie
einen Umfang erreicht wie in den elsass-
lothringischen und den hessischen, zum Teil
auch in den grossen bayerischen Stadtge-
meinden und wenn sie, wie hier, vorzugs-
weise auf den unteren Klassen lastet, zu
schweren Bedenken Veranlassung giebt
18. Dotattonen nnd Subventioneii.
Neben den bisher genannten Einkünften
stehen nun den Gemeinden und Koreimu-
nalverbänden noch besondere aus ihrer
Stellung zum Staate zu erklärende Ein-
nahmequellen zu Gebote, nämlich Zuwen-
dungen des Staates bezw. der Kommunal-
verbände höherer Ordnung, die Dotationen
und Subventionen. Die Gfründe für solche
Zuwendungen liegen einmal in der Erhöhung
oder Vervielfältigung der Anforderui^n an
die Gemeinden, die teils Folge der inneren
Ausgestaltung des Gremeindewesens selbst,
teüs und namentlich Folge der decentrali-
sierenden Tendenz der modernen Gesetz-
gebung sind, sie liegen ferner in der That-
sache, dass der Staat im Interesse seiner
eigenen Finanzwirtschaft oder aus Gründen
der allgemeinen Politik die Einnahmebe-
schafhing der Gemeinden beschränkt und
ihnen däir dann Teile seiner eigenen Ein-
künfte überweisen muss.
Man kann nun mit von Reitzenstein diese
Zuwendungen in Dotationen und Sub-
ventionen unterscheiden. Subventionen
sind solche Beitragsleistungen des Staates,
eventuell höherer Kommunalkörper an die
Gemeinden, bei denen eine Beziehung der-
selben zu den an die Gemeinden gestellten
Anforderungen oder zu den Ursachen ihrer
Bedürftigkeit erkennbar zu Tage tritt, Do-
tationen solche, bei denen dies nicht der
Fall ist. ' Freilich werden diese beiden Arten
138
GremelQdefiDaDzeQ
in der Praxis nicht immer scharf aus ein-
ander gehalten werden können.
Die Dotationen sind nach der Unter-
scheidung von Reitzensteins entweder for-
melle oder materielle. Die formelle
Dotation tiberträgt Verraögensobjekte oder
finanzielle Mittel auf die Gemeinden, ohne
dass dadurch ihre finanzielle Leistungsfähig-
keit gesteigert wird, so wenn Immobilien
oder Mobilien von dem Staate an die Ge-
meinden übergehen, z. B. wenn gewisse
Verwaltungszweige und damit zugleidi auch
die Dienstgebäude etc. an die Gemeinde ge-
langen. Solche Dotationen haben kein
finanzielles Interesse. Anders ist es mit
den materiellen Dotationen. Man ver-
steht darunter diejenigen, welche in der
üeberweisung bestimmter, sei es einmal, sei
es periodisch oder ständig zu gewährender
Summen, sodann in der üeberweisung be-
stinwnter Gebühren und Steuern oder be-
stimmter AnteUe an solchen bestehen. Zu
den von Büinski Dotationssteuem genannten
Steuerüberweisungen gehören auch die
Fälle, in denen der Staat die Gemeinden,
um ihr Interesse für die Beibehaltung und
Erhebung zu gewinnen, an dem Erti-age der-
selben mit einer zumeist in Prozenten aus-
gedrückten Quote beteiligt. So z. B., wenn
nach den preussischen Mahlsteuergesetzen
von 1848 und 1851 die Reinerträge der da-
mals in den grösseren Städten erhobenen
Mahlsteuern zu einem Drittel in die Ge-
meindekassen flössen; ebenso, wenn nach
der französischen Gesetzgebung 8 % vom
Ertrage der Gewerbesteuer den Gemeinden
zukommen.
Dotationen kommen namentlich vor in
Frankreich, dann in Belgien, wo ein eige-
ner Kommimefonds, bestehend aus einem
Anteü an dem Bruttoertrage des Betriebes
der Staatspost und an den Erträgnissen be-
stimmter Zölle und Verbrauchssteuern als
Ersatz für die durch ein G. v. Jahre 1860
erfolgte Aufhebung der Octrois errichtet
worden ist, an dem übrigens nicht nur die-
jenigen Gemeinden, denen die Octrois ent-
zogen wurden, sondern aUe teilnehmen.
AehuHch wurde in Holland durch G. v.
17. Jiüi 1865 bei Gelegenheit der Aufhebung
der örtlichen Verbrauchsabgaben den Ge-
meinden */5 des Ertrages der Personalsteuer,
später dafür ein fixierter Betrag überwiesen.
Ueber die neueren Dotationen im Finanz-
wesen Englands s. oben S. 113. Auch das
neue österreicliische Steuergesetz betreffend
die direkten Personalsteuern vom 25. Okto-
ber 1896 hat Ueberweisimgen an die Länder
festgesetzt, die zunächst mit 3 Millionen
Gulden veranschlagt sind.
Unter den deutschen Staaten hat nament-
lich Preussen dem Dotationsprincip einen
ziemlich erheblichen Spielraum gegeben.
Durch GG. v. 30. April 1873 und 8. Juli
1875 wurden, nachdem die preussische
Provinzialordnung vom 29. Juni 1875 den
Wirkungskreis der Provinzen bedeutend er-
weitert hatte, diesen zur Erfüllung ihrer
Aufgaben eine jährhche Dotation von 7,4
Millionen Mark nebst anderen Vermögens-
werten übertragen. Durch die sogenannte
lex Huene vom 14. April 1885 war die den
Betrag von 15 Mülionen Mark übersteigende
Summe des preussischen Anteils an den
Vieh- und Getreidezöllen an die Kreisver-
bände überwiesen worden mit der Massgabe,
dass 2/3 davon nach dem Verhältnis des Er-
trages der Grund- und Gebäudesteuer, ^s
nach der Einwohnerzahl an die Kreisge-
meinden verteilt werden soUe. Nach dem
preussischen Einkommensteuergesetz vom
24. Juni 1891 endlich wurde bestimmt, dass
gewisse durch die Umgestaltung der Ein-
kommensteuer erzielte Mehrerträge zur
Durchführung der Beseitigung der Grund-
und Gebäudesteuer als Staatssteuer bezw.
zur üeberweisimg derselben an Kommunal-
verbände verwendet werden sollen, (Ueber
die Höhe der Dotationen und Subventionen
der preussischen Kommunalverbände s. oben
S. 126). Neben Preussen ist es namentlich
Sachsen, welches dem Dotationsprincip teils
schon früher, teils erst wieder in der
jüngsten Zeit, so im Finanzgesetz für
1886/87 durch Üeberweisung der Hälfte der
Grundsteuer an die Schulgemeinden, sich zu-
neigt. Die Zuschüsse der bayerischen Kreise
aus der Staatekasse sind oben S. 127 be-
reite verzeichnet worden. Sie betrugen
1889 3038743. 1894 3295878 Mark, da-
von 3246229 Mark für deuteche Schulen.
Das Subventionsprincip findet un-
ter den deutschen Staaten namentlich An-
wendung in Bayern, Württemberg, Baden,
Hessen und Elsass-Lothringen. Es findet
sich aber auch neben der Anwendung des
Dotationsprincips in Preussen und Sachsen
und in den meisten ausserdeutschen Staaten.
Was das Ausland betrifft, so hat dasselbe
in Frankreich eine umfangreiche Verwen-
dung gefunden, was eben damit zusammen-
hängt, dass der Staat dort den Gemeinden
nicht die MögUchkeit einer selbständigen
Entwickelung ihres Einnahmewesens gege-
ben und nun auf andere Weise für ihre
finanziellen Mittel zu sorgen hat Nament-
hch sind es die Ausgaben für Schul-, Ai'men-
und Wegewesen, zu deren Deckung Sub-
ventionen gewährt werden.
IV. Das Schuldenwesen.
19. Allgemeines. Die normale Ordnung
des Gemeindehaushaltes besteht in dem
Gleichgewicht zwischen Ausgaben imd Ein-
nahmen. Um dieses erreichen zu können,
ist der Gemeindehaushalt, abgesehen von
Gemeindefinaiizeb
139
den kleineren Landgemeinden, nach einem
Yorgängigen Etat zu führen, in den alle
Ausgaben, Einnahmen und Dienste, soweit
sie voraiisbestimmt werden können, aufzu-
nehmen sind. An diesen jährlich oaer doch
periodisch aufzustellenden Etat ist die (Je-
meinde, Notfalle ausgenommen, gebunden.
Nach manchen Gtemeindeordnungen steht
der Staatsgewalt das Recht zu, bei der
Feststellung des Etats mitzuwirken und ihn
zu genehmigen; nach anderen, z. B. der
preuissischen Städteordnung, muss ihr der-
selbe wenigstens mitgeteilt werden und ist
ihre Zustimmung zu einzelnen Positionen
erfoixlerlich, sie kann auch gesetzlich not-
wendige Ausgaben demselben, falls sie fehlen
sollten, hinzufügen. Ebenso ist der Staats-
behönle am Schlüsse jeder Etatsperiode
Rechnung zu legen.
Trotz solcher Vorschriften wird es nicht
möglich sein, dann und wann ein Deficit
zu vermeiden, d. h. die notwendigen Aus-
gaben immer mit den zeitweilig zur Verfü-
gung stehenden Mitteln der Gemeindewirt-
schaft zu decken. In solchen Fällen, in
denen also ein plötzlich auftretender Melir-
aufwand durch Erhöhung oder Vermehrung
der bisherigen Einnahmequellen nicht ge-
deckt werden kann, muss die Deckung des-
selben, soweit die Veräussemng von Ge-
meindevennögen oder Neuauflegung und
Erhöhung von Steuern nicht möglich oder
nicht ziüässig ist, wie beim Staate diuxjh
Inanspnichnahme des Kredits erfolgen. Es
hat dies den Vorteil, die Mittel späterer
Finanzperioden zur Deckung momentaner
Bedürfnisse verwenden zu können. Freilich
wird es sich gemäss der ganzen Natur der
Gemeindewirtschaft, namentlich mit Rück-
sicht auf die immer möglichen Schwankun-
gen in der Bevölkenmgszahl und im Wohl-
st£uid, darum handeln, die Zukunft nicht
auf eine zu weite Zeit hinaus zu belasten.
Es ist deshalb ein allenthalben wahrnehm-
bares Bestreben der Gesetzgebung, nicht
nur die Schuldaufnahme seitens der Ge-
meinden auf die FäDe dringender Notwen-
digkeit oder erheblichen Nutzens zu be-
schränken, sondern dieselbe auch an die
Bedingung der Aufstellung eines auf nicht
zu ferne Zukunft sich erstreckenden Til-
gungsplanes zu binden. So bestimmt die
bayerische bezw. pfälzische Gemeindeord-
nung in Art. 61 bezw. 45, dass die Auf-
nahme eines Anlehens nur zur Abtragung
aufgekündigter Kapitalien oder zur Bestrei-
tung unvermeidlicher oder zum dauernden
Vorteil der Gemeinden dienender Ausgaben
stattfinden dürfe, wenn die Deckimg dieser
Ausgaben aus anderen Hilfsquellen nicht
ohne Ueberbürdung der Gemeindeangehöri-
gen geschehen könne, und in Art. 62 bezw.
46, dass ftir alle Gemeindeschulden Tilgungs-
pläne vorgesehen werden mtissen, welche auf
nachhaltigen Einnahmen für die Verzinsung
und Tilgung beruhen und der vorgesetzten
Behörde voraulegen sind. Die Distrikte be-
dürfen ebenso der Genehmigung der vorge-
setzten Behörden, die Kreise der des Land-
tages. Ebenso bedürfen in Preussen die
Gemeinden sowie die Kreise und Provinzen
zur Aufnahme neuer Schulden oder zur
Vergrössenmg der bisherigen derGtenehmi-
gimg der übergeordneten Selbstverwaltun^-
körper oder Staatsbehörden. In Oesterreich
brauchen die Gemeinden dann die Genehmi-
gung, wenn der Betrag des Anlehens mit
Einrechnung der bisherigen Schulden die
Jahreseinnahmen der Gemeinde übersteigt.
In England haben die Gemeinden und
öffentlichen Körper ebenfalls kein Recht zu
selbständiger Schuldaufnahme, sie bedürfen
der Zustimmung durch Gesetz in der Form
von Si)ecialakten oder durch Verordnung,
eventuell bei direkter Entnahme der An-
lehen aus Staatsfonds die der dafilr festge-
setzten Behörden. In Frankreich wird
unterschieden zwischen Anlehen, welche
durch den Eitrag von fünf ausserordent-
lichen auf die Dauer von fünf Jahren zu
erhebenden und innerhalb der gesetzlichen
Maximalsteuerzuschläge sich haltenden Zu-
schlagscentimes gedeckt werden können,
und solchen, bei denen dies nicht der Fall
ist. Die ersteren können die Gemeinderäte
selbständig beschliessen, zu den letzteren
bedürfen sie je nach der Höhe der Zustim-
mung des Präfekten oder Staatsoberhauptes.
Die Departements können selbständig An-
lehen aufnehmen, wenn die Tilgungsfrist
15 Jahre nicht übersteigt, sonst bedürfen
sie der gesetzlichen Ermächtigung.
Schon aus dem eben Angeführten ist
ersichtlich, dass man allenthalben ein be-
sonderes Gewicht darauf legt, dass der
Zeitraum für die Tilgung sich nicht
auf eine zu grosse Reihe von Jahren er-
streckt Auch in dieser Beziehung besteht
ein Gegensatz zwischen dem Staats- und
dem Kommunalfinanzwesen. Dort fordert
man aus guten Gründen und namentlich
mit Rücksicht auf die auf dauernden Grund-
lagen beruhende Finanzwirtschaft möglichst
lang bemessene Tilgungszeiten oder noch
besser reine Rentenanlehen ohne Kündigung
imd ohne regelmässige Tilgung; hier da-
gegen führt die Rücksichtnahme auf die
grösseren wirtschaftlichen Wandlimgen, wel-
chen das lokal und personal eng umschrie-
bene Gebiet der Gemeinde ausgesetzt sein
kann, dann aber auch die Rücksichtnahme
auf die Zwecke, denen wenigstens viele
Gemeindeanlehen dienen, zur Forderung
relativ kurzer TDgungsfristen. Was insbe-
sondere die Zwecke, zu deren Durchführung
Anlehen aufgenommen werden, anbetrifft,
140
Gemeindefinanzen
so werden Slaatsaolehen vielfach für solche
Zwecke verwendet, welche keine wirtschaft-
liche Rentabilität gewähren, mittelst der
Gemeiudeanlehen hingegen werden häufiger
Anstalten ins Leben gerufen, welche, wie
Markthallen, Schlachthäuser, Gasanstalten
und ähnliche, üeberschüsse gewähren, die
zur Verzinsung und Tilgung benutzt werden
können.
Von den von den grössten deutschen
Städten aufgenommenen Anlehen wurden
bis zum Jahre 1896/97 bezw. 1896 ver-
wendet
zu Zwecken der
von der
iStAdt
Strassen- und
Brücken-
bauten
Kanalisation
und Abfuhr
Wasser-
werke
Gas-
werke
Schlacht-
und
Viehhöfe
Markt-
hallen
M.
M.
M.
M.
M.
M.
Berlin . . .
28 196 386
104 876 373
81 782 199
31 HO 023
16 523 656
29 253 339
Hünchen . .
3 300000
7 120000
II 644000
1 200000
—
Breslau . .
5 500000
8620000
2 600000
2250000
7 700 ÜOO
Dresden . .
18 495 000
2470000
6300000
I 500000
5 000 000
Köhi . . .
600000
5 269 394
—
I 000000
7 200000
Magdeburg .
4188265
4 460 029
4 166 013
4516750
4096013
Hannover
351 571
8000000
200 030
w - ■
—
595000
Königsberg .
I 205 000
7 500000
5 680 000
3000000
Düsseldorf
1 789 166
4 668 988
3507000
2 200000
Stuttgart . .
600000
2564721
2 135 3^8
I 037 275
Man wird deshalb im allgemeinen wohl
von Reitzenstein Kecht geben dürfen, wenn
er meint, dass eine dreissigjährige Amorti-
sationsperiode schon als eine so lange anzu-
sehen sei, dass über dieselbe nur in ganz
exceptionellen Fällen hinausgegangen wer-
den sollte. Freilich fehlt es in den meisten
Staaten an einer derartigen gesetzlichen
Regelung der Tilgungszeiten und der Til-
gungsquoten. In Preussen müssen die An-
lehen jährlich mit mindestens 1 %, und
wenn sie zu gewinnbringenden Anlagen
verwendet werden sollen, mit mindestens
1^2^/0 getügt werden, und es sind ferner
hierzu die durch die fortschreitende Tilgung
ersparten Zinsen aus dem Ertragsüberschusse
der betreffenden Anlagen zu verwenden.
In den meisten anderen deutschen Staaten
besteht lediglich die allgemeine Bestimmung,
dass die Tügungspläne, sowie eventuelle
Abweichungen von denselben der Aufsichts-
behörde zur Genehmigung vorgelegt werden
müssen. So z. B. nach den oben bereits
erwähnten Artt. 62 und 63 bezw. 46 und
47 der bayerischen bezw. pfälzischen Ge-
meindeordnung. Ebenso besteht in England
kein diesbezügliches Gesetz, vielmehr wer-
den die Amortisationsperioden, namentlich
wo es sich um Anlehen grösserer Kommu-
nalkörper handelt, nicht selten auf 60 — 110
Jahre erstreckt. Für Frankreich ist wenig-
stens in denjenigen Fällen, in denen den
Gemeinden Anlehen aus Staatsmitteln ge-
geben werden, eine 30 jährige Tilgimgsfrist,
und in anderen Fällen eine 12jähi'ige bezw.
5jährige Tilgimgsfrist festgestellt worden
(s. unten). Bei Anlehen auf längere Til-
guugsperioden bedarf es besonderer staat-
licher Genehmigung.
Sucht so der Staat einer irrationelleii
Verschuldimg der Gemeinden wenigste us
einigermassen vorzubeugen, so lässt er sich
andererseits auch angelegen sein, dafür zu
sorgen, dass das Xreditbedürfnis der Ge-
meinden in entsprechenderweise befriedigt
werden kann. Dass diese Mitwirkung des
Staates geboten ist, geht aus der besonde-
ren Natur der Gemeindewirtschaft, welche
vermöge ihres kleineren Umfanges und ihrer
ganzen Organisation von dem vorhandenen
Kapitalangebot in der Regel nicht ent-
sprechenden Gebrauch zu machen im
Stande ist, hervor. Am energischsten ge-
schieht dies da, wo der Staat selbst die
zur Befriedigung des Kredits der Gemeinden
und kommunalen Korporationen erforder-
lichen Mittel schafft, sei es, dass er ihre
Kreditbedürfnisse überhaupt zu befriedigen
sucht, wie in England, oder dass er seine
Mittel w^enigstens zur Erreichung solcher
Zwecke darbietet, an denen er selbst ein
hervorragendes Interesse hat, wie in Frank-
reich.
In England ist die Kreditgev^^hrnng
seitens des Staates an kommunale Korpora-
tionen durch Gesetze von 1875 und 1879
geregelt worden. Die Vermittelung tiber-
nelmien die public works loan commissio-
ners, welche ermächtigt sind, diesen Kor})o-
rationen für bestimmte Zwecke, mid z^var
bis zum Betrag einer jährlich vom l*arla-
ment genehmigten Summe, Kredite zu ge-
währen. Doch darf für den einzelnen Dai--
lehnsnehmer der Betrag von 100000 £; im
öeraeindefinanzen
141
Jahre nicht überschritten werden. Die
Mittel zur Kreditgewährung fliessen gele-
gentlich aus üeberschüssen der Staatsfinanz-
wirtschaft, werden aber in der Regel durch
Ausgabe von Schatzbons aufgebracht. Nach
dem Gesetz von 1879 ist der Zinsfuss, der
von den Gemeinden bestritten werden muss^
dergestalt festgesetzt worden, dass er bei
innerhalb 20 Jahren rückzahlbaren Anlehen
3^2, bei zwischen 20 und 30 Jahren rück-
zahlbaren 3^4, bei zwischen 30 und 40 Jahren
riickzahlbaren 4, bei längerer Frist 4^/4 % be-
trägt. Die seit dem Jahre 1817 bis zum 31.
März 1883 diu-ch den Staat gewährten Anlehen
betrugen 5OV2 Millionen £, wovon 22 Mil-
lionen zurückgezahlt waren und 28 Millionen
noch ausstanden; hierzu kamen weitere
3 Millionen, welche in bereits vollständig
g^chlossenen Rechnungen nachgewiesen wur-
den, wovon wieder 1610000 erlassen worden
waren (von Reitzenstein). In Frankreich
werden, wie erwähnt, den Gemeinden und
Departements Staatsmittel kreditmässig für
Ijestimmte, den Staat besonders nahe be-
rührende Zwecke zur Yerfü^ng gestellt.
Hierher gehören namentlich die durch G. v.
11. JuH 1868 geschaffene Kasse der Yi-
einalwege und die durch G. v. 1. Juni 1878
errichtete und durch G. v. 2. August 1881
zur Caisse des lycöes, coUeges et 6coles
primaires erweiterte Kasse für Schulbauten.
Die erstere, jetzt mit 500 Millionen Francs
dotiert, gewährt an Gemeinden und eventuell
auch an Departements die Mittel zum Bau
von Vicinalwegen gegen die Entrichtung
von 30 Zinsraten im Betrage von 4% der
Anlehenssumme ; die zweite Kasse, mit 60
Millionen Francs zur Unterstützung von
Elementarschulhausbauten, mit 50,4 Millionen
Francs für Lyceen und 15 Millionen für
Gemeindegymnasien ausgestattet , gewährt
ebenfalls Vorschüsse auf 30 Jahre zu dem
oben bezeichneten Zinsfuss, jedoch gegen
60 halbjälirige Zinsraten von 2 ®/o, mit deren
Entrichtung ebenso ^ie im ersten Falle die
Verpflichtung der Kreditnehmer erlischt;
docJi können auch kürzere Tilgungsfristen
vereinbart werden. Die Mittel werden durch
die nachher noch zu erwähnende Caisse des
depots et oonsignations bereit gestellt
Wieder in anderen B^len stellt der Staat
zwar nicht selbst den Gemeinden die er-
forderlichen Mittel bereit, aber er errichtet
öffentliche Kreditinstitute, welche
die Kreditgewährung an Gemeinden über-
nehmen, oder er giebt bestehenden derartigen
Instituten die entsprechende Richtung. Das
erstere ist der Fall in Belgien, wo der Credit
communal durch G. v. 19. Juli 1860 lediglich
znm Zwecke der Kreditgewährung an Ge-
meinden und Provinzen ins Leben gerufen
wurde. Die Summe der daraus gewährten
Anlehen betnig bis 1. Januar 1884 109 621 700
Francs. Das zweite ist der FaU bei der
französischen Caisse des d^pots et oonsigna-
tions und beim deutschen Reichsinvaliden-
fonds. Die Caisse des döpots etc., welche
ursprünglich nur eiAe Kasse für die Annahme
genchtlicher Depots war, dann aber auch
mit der Verwaltung der Sparkassenfonds,
der disponiblen Staatsfonds und der bei der
Staatsschatzverwaltung zu hinterlegenden
verffigbaren Fonds der Gemeinden und An-
stalten betraut wurde, gewährt aus diesen
Mitteln den Gemeinden Darlehen zur För-
derung solcher Zwecke, für welche nicht
der Staat selbst die Mittel vorschiesst. Der
Zinsfuss beträgt in der letzten Zeit 4 und
4V4''/o, wozu noch eine ziemlich hohe Til-
gungsquote kommt, da die aufgenommene
Summe in ^ verhältnismässig kurzer Zeit
(höchstens 20 bezw. 12 Jahren) zurückgezahlt
werden muss. Der Invalidenfonds des Deut-
schen ßeichs, ein Teil des Reichsvermögens,
verwendet einen grossen Teil seiner G-elder
zur Kreditgewährung an kommunale Kor-
porationen. Der Zinsfuss beträgt 4V2 und
4 ^/o und die Gesamtsumme der ausgeliehenen
Gelder stellte sich im April 1896 auf
104831000 Mark.
Die Mitwirkung des Staates in Bezug
auf die Erleichterung der Kreditaufnahme
durch die Gemeinden kann sich endlich da-
rauf beschränken, Privatanstalten zur
Kreditgewährung zu veranlassen oder die-
selben zur Gnlndung solcher Anstalten an-
zuregen und ihre Thätigkeit in dieser Be-
ziehung zu regeln. Namentlich wird eine
solche Vermittelung nötig sein, wo es sich
um kleinere kommunale Korporationen han-
delt. In dieser Beziehung kommt vornehmlich
der Credit foncier in Paris in Betracht, der
bis zum Jahre 1895 die Summe von 4,075
Millionen Francs an unter Pfsindbriefausgabe
gewährten Anlehen an Ortsgemeinden, zu-
letzt zum Zinsfuss von 4,60 bezw. 4,35% aus-
geliehen hatte. Auch das preussische Cen-
traJbodenkreditinstitut hat seit einiger Zeit
mit solcher Thätigkeit sich befasst, aber
dieselbe über einen ziemlich engen Umkreis
nicht auszudehnen vermocht, da von selten
der Gemeinden namentlich der Invaliden-
fonds in Anspruch genommen wurde. In
anderen deutschen Ländern geben ähnliche
Institute (in Bayern z. B. die Yereinsbank)
Kredit an die kommunalen Korporationen.
20. Arten und Höhe der Gemeinde-
schulden. Wie der Staat, so kann auch die
Gemeinde ihre Anlehen in verschiedenen
Formen aufnehmen und auf verschiedene
Art begeben. Doch machen sich auch in
dieser Beziehung die Vei-schiedeuheiten in
der inneren Natur des Gemeinde- und Staats-
haushaltes geltend, auf welche schon wieder-
holt hingewiesen wurde, also namentlich in
dem Sinne, dass diejenige Schuldform, welche
142
Gemeindefinänzen
für den Staat als die geeignetste bezeichnet
werden muss, nämlich die fundierte Schuld
mit unbegrenzter Dauer, die Rentenschuld,
als für die Gemeinden am wenigsten ge-
eignet erscheint In der Begel wird es sich
um Anlehen mit einem festen Zinsfuss und
bestimmten Amortisationsquoten handeln,
welche im übrigen in den sonst üblichen
Formen aufgenommen werden. Im allge-
meinen wird man auch annehmen dürfen,
dass es Sache derjenigen Geldinstitute,
Banken und dergleichen ist, welche den
Gemeinden Kredit gewähren wollen, sich
über die finanzielle Leistungsfähigkeit der-
selben zu imterrichten. Eine Ausnahme
wird nur da zu machen sein, wo die Ge-
meinde ihr Anlehen in der Form von auf
den Inhaber lautenden Schuldti^eln bewirkt.
Da in diesem Falle die Schuldurkimden auf
einen grösseren Umlauf berechnet sind imd
den Inhabern derselben in der Regel ein
Urteil über die Sicherheit derselben fehlt,
da es sich hier femer um wichtige Interessen
des Effektenverkehrs handelt, so wird eine
besonders eingehende Prüfung und die Er-
füllung besonderer Vorbedingungen seitens
der Staatsbehörde gefordert werden können.
Zu den letzteren gehört namentlich die Er-
bringim^ des Nachweises eines wohlbegrfin-
deten Tilgimgsplanes und die Erfüllung der-
jenigen Anforderungen , welche durch die
Einreihung des Anlehens in das System des
Effektenhandels bedingt sind.
Im übrigen gelten hier dieselben Rejoreln,
welche für die Anlehnsaufnahme überhaupt
als massgebend betrachtet werden müssen;
die Gemeinden werden bestrebt sein, ihre
Schuldtitel unter möglichst günstigen Be-
dingungen namentlich mit Rücksicht auf den
Zinsfuss zu begeben und sich die Möglich-
keit einer Zinsreduktion zu wahren.
Können wir also bezüglich der Art der
Kommunalanlehen mit den eben bezeichneten
Einschi-änkungen 'auf das Staatsschidden-
wesen verweisen, so lie^ es uns noch ob,
einige Angaben über die Höhe der Ver-
schuldung der Gemeinden beizubringen.
Die bereits oben erwähnte stets steigende
Zunahme der Gemeindeaofgaben, zum Teil wohl
auch das Vorbild der ihre Schuldenlast stets
mehrenden Staatsverwaltungen, haben eine stetig
fortschreitende, oft rasch anwachsende Ver-
schuldung derselben bewirkt. Sie lässt sich bei
der Zersplitterung des Materials nicht fifleich-
mässig in den verschiedenen Staaten verfolgen,
aber was mitfireteilt werden kann, genügt, um
allenthalben die gleiche Tendenz anzunehmen.
Die Gemeindeschiuden der Vereinigten Staaten
schätzte ein amerikanischer Volkswirt im Jahre
1870 auf 278 Millionen Dollar, im Jahre 1876
auf 641, die Gemeindeschulden der ganzen Welt,
deren Anfang nicht eben weit zurückreicht, auf
4250 Millionen DoUar.
In der folgenden TabeUe geben wir eine
Uebersicht über die:
Entwickelung des Schuldenstandes der Gemeinden in Frankreich in Francs.
(Nach V. Eeitzenstein.)
Gesamtbetrag der Verschuldung
Sämtliche Ge-
meinden
Paris
Die übrigen
Gemeinden
am 31. März 1878
„ 30. Juni 1886
„ 31. März 1894
„ 31. März 1896
2 745 754 306
3 020 450 528
3514436672
3511984252
I 988 276 523
1 777914586
2 073 657 888
2 043 883 752
757477783
I 242 535 942
I 440 778 792
I 468 100 5cx>
Was Paris anlangt, so ist allerdings nach
den auf das Belagernngsjahr folgenden riesigen
Anlehen ein Stillstand eingetreten, ja es weisen
die Schlussrechnungen ein durch die Amorti-
sationsquoten bedingtes schwaches Zurückgehen
des Schuldenstandes auf, ähnlich wie in Wien,
wo nach den für öffentliche Bauten und die
Herstellung derWasserleitung gemachten grossen
Anlehen der Jahre 1867—1875 keine nennens-
werten neuen Schulden kontrahiert wurden.
Doch betrug die Schuldenlast 1896 immerhin
nahezu 2,044 Milliarden Francs, also mehr als
die Schuldenlast mancher Königreiche.
In England betrugen die Gemeindeschulden
im Jahre 1867- 68 etwas über as Millionen £,
im Jahre 1881—82 120,7 MiDionen ^.
Auch eine vergleichende Statistik der Kom-
mnnalschulden Italiens giebt wenigstens für die
Jahre 1873—1880 ein ähnliches Bild. Die Zu-
sammenstellung Perozzos zeigt, dass der Ge-
samtbetrag der Kommunalschulden wie die An-
I zahl der mit Schulden belasteten Gemeinden in
beständiger Zunahme begriffen ist und dasa
Zahl und Betrag der neuen Anlehen und Schuld-
verschreibungen sehr beträchtlich sind, während
die allmählichen Schuldentilgungen nur wenie^e
und unbedeutende Fortschritte machten. Die
mittlere jährliche Zunahme der Gemeinde-
schulden betrug in der Periode 1874 — 77 un-
gefähr 33 Millionen Lire, 25 Millionen im Jalire
1878, 38 Millionen in den Jahren 1879— 8().
Auffallend ist, dass die jährliche Zunahme der
Schulden der Stadtgemeinden eine Tendenz zur
Verminderung zeigt, während die betreffenden
Zunahmen in den Landgemeinden sich immer
mehr vergrössern. So betrug die jährliche Zu-
nahme der Schulden der Landgemeinden, Avelche
im Jahre 1878 gegen das Vorjahr 348 Millionen
Lire ausmachte, in den Jahren 1879 — 80 »chon
1349 Millionen Lire im Durchschnitt der beiden
Jahre. Im Jahre 1391 betrug die Anlehens-
verschuldung der italienischen Gemeinclen
Gemeindefiiianzen
143
1175663421, die der Provinzen 174935367
Lire.
Ueber die Verschuldung der Gemeinden in
Bayern im Verhältnis zu ihrem Vermögen
unterrichtet die folgende dem statistischen Jahr-
buch fttr das Königreich Bayern entnommene
Tabelle I und II:
I. Gesamtvermögen und Renten 1895.
Vermögen
Renten
Gemeinden
ins-
gesamt
1000 M.
ren-
tierendes
1000 M.
nicht ren-
tierendes
1000 M.
auf
1 Ein-
wohner
M.
vom gesamten
rent. Vermögen
von Gebäuden
und Rechten
auf
1 Ein-
überhaupt
1000 M.
0/
/o
überhaupt
1000 M.
%
wohn.
M.
unmittel-
bare*) . .
üebrige . .
Insgesamt .
1^ . . .
*) Daz
382786
347 928
730715
521 664
1 die pfölz
313377
243 914
557291
362 746
ischen Gei
69409
104014
173423
158919
neinden m
1
248,99 10419 3,32
81,27 10960 4,49
125,58 21 379 3,84
94,36 15711 4,33
t über 2500 Einwohnern.
6472
1544
8016
4498
3,57
7,76
3,98
6,28
6,78
2,56
3,69
2,84
IT. Gemeindeschulden und Vermögensabgleichung 1895 in 1000 Mark.
Gemeinden
Neuer
Schulden-
zugang
Schulden-
stand am
Ende des
Jahres
Amorti-
sationsauf-
wand
Ueberschuss \ ^It^fJ,^''
des Gesamt- 1?,JI°:
««. ...X»»»« tierenden
veimögens yen„ögens
Unmittelbare*) . .
üebrige ....
Insgesamt ....
1889
18966
6569
25535
16343
202716
59404
264 638
171415
9313
3 537
13363
6473
180070
280010
466 076
350 249
110 661
178844
292 653
191 330
*) Dazu die pfälzischen Gremeinden mit über 2500 Einwohnern.
Besonders hoch ist aus erklärlichen Gründen
der Schuldenstand in den grossen Stadtgemein-
den. Darauf wurde oben bereits aufmerksam
gemacht. Zur Ergänzung sei folgendes noch
aufgeführt. Nach den allerdings älteren Mit-
teilungen von Körösi ist der Scnuldenstand der
Städte Berlin, Wien, Budapest, Kopenhagen,
München, Stockholm, Leipzig, Triest, Königs-
berg und Christiania in den Jahren 1877— Iwl
von A2S Millionen Francs auf 538 V2 Millionen
Francs in die Höhe gegangen, so dass die durch-
schnittliche jährliche Zunahme nahezu 6,4%
betrug, während die Bevölkerung in demselben
Zeitraum nur um ca. 3% jährlich zugenommen
bat. Was die Verteilung der Gesamtschulden-
laüt der von KörÖsi behandelten Städte auf den
Kopf der Bevölkerung anlangt, so stand zur
angegebenen Zeit obenan die Stadt Florenz mit
der enormen Schuldenlast von 9337« Francs pro
Kopf, es folgte dann Paris mit 854 Vs Francs,
Washington mit 613, Frankfurt a. M. mit SOS'^/j,
die Städte Lüttich, Genua, Mailand, München,
Leipzig und Wien mit 300—200 Francs, Berlin
mit 147, Kopenhagen mit 135. Die geringsten
Schulden zeigten um jene Zeit die russischen
Städte, so Warschau 4,51, Petersburg 11,41,
Riga 19,58 Francs pro Kopf.
Nach den letzten Uebersichten von Körösi
(pro 1885) betrug der Schuldenstand von
Nürnberg
Kopenha^n
Christiania
Dresden
i7,4Mm.Fr.
41,8
123,9
26,8
rt n
n n
147,34 pro Kopf
144,91 n n
123,95 „ r,
107,78 „ „
Frankfurt a.
M.
53,8 Mill. Fr.
= 344,96 pro Kopf
Stockholm
65,6
n
n
= 299,45 n
»
Mailand
79,5
n
n
= 220,32 „
n
Prag
37,7
n
n
= 212,65 „
n
Wien
136,8
n
n
— 180,31 „
T)
Was das Schuldenwesen der grossen deut-
schen Stadtgemeinden anlangt, die wir in
den bisherigen Tabellen berücksichtigt haben,
so geben wir im folgenden eine Statistik des-
selben nach den Tabellen, welche G. Tenis zum
ersten Mal in dem Statist. Jahrbuch Deutscher
Städte veröffentlicht.
Freilich kann damit nur ein Angenblicks-
bild des Schuldenstandes der einzelnen Städte
am Schlüsse 'des Kechnungsjahres 1896/97 bezw.
1896 gegeben werden. Auch darf aus den mit-
geteilten Zahlen, wie Tenis selbst bemerkt,
nicht zu viel geschlossen werden; einer sta-
tistischen Vergleichung des Schuldenstandes
einer grösseren Anzahl von Städten stellen sich
kaum eu überwindende Hindernisse entgegen.
Die verschiedenen Rechtsverhältnisse sind in Be-
tracht zu ziehen ; lokale Unterschiede mancher-
lei Art bedingen eine grosse Mannigfaltigkeit
in den von den Städten zu erfüllenden Aufgaben,
für welche dieselben gezwungen sind, den
öffentlichen Kredit in Anspruch zu nehmen.
In besonderem Masse ist aber bei Ver-
gleichungen die Verwendung der aufgenomme-
nen Schulden zu berücksichtigen, da hier-
durch die eigentliche Belastung des Gemeinde-
haushalts mit der Schuld bedingt ist. Schulden
für ertragbringende Unternehmungen sind, wie
erwähnt, ganz anders zu beurteilen, weil sie
sich selbst verzinsen und tilgen, als Anlehen
144
GemeindefinaDzen
Uebersicht über den Scholdenstand am Schlüsse des Jahres 1896/'97 sowie der in diesem Jahre
für Verzinsung und Tilgung der Schulden aufgewendeten Beträge (im Vergleich mit den Ge-
meindesteuern).
Gesamtbetrag
der Schulden
Betrag
der Ge-
meinde-
steuern
pro
Kopf
Ausgabe für
Tilgung
Ausgabe für
Verzinsung
Gesamtausgabe für
Tilgung u. Verzinsung
Städte
über-
haupt
pro
Kopf
über-
haupt
pro
Kopf
überhaupt
pro
Kopf
überhaupt
pro
Kopf
In %
der Ge-
meinde-
steuern
Berlin ....
273 392 350
158,33
27,38
8414500
4,88
9 708 170
5,62
18 122670
10,50
38,3
Breslau . . .
51 307292
133,04
25,57
I 626 672
4,22
1 535 728
3,98
3 162 400
8,20
32,1
Köln ....
42721385
128,04
22.92
982 282
2,94
I 394314
4,18
2 376 596
7,12
31,1
Frankfurt a. M.
65 382 833
273,41
39.97
I 189253
4,97
2 241 748
9,37
3431001
14,34
35,9
Magdeburg . .
39 678 338
272,20
30,99
455 530
5,80
780 170
9,93
1 235 700
15,73
50,7
Hannover . . .
50 354 403
228,36
19,99
555 574
2,52
1649931
7,48
2 205 505
10,00
50,0
Düsseldorf . .
28811939
154,86
25,08
556993
2,99
1 052 682
5,66
1 609 675
8,65
34,5
Königsberg . .
19 124935
109,34
22,18
473 250
2,75
629 233
3,59
I 102483
6,34
28,4
Altona ....
30219099
199,99
26,29
581 427
3,85
1 045 678
6,92
1 627 105
10,77
40,9
Stettin ....
22499000
151,73
21,26
422000
2,85
802 235
5,41
I 224235
8,26
38,8
Elberfeld . . .
27 969 624
195,05
26,16
565 295
3,94
974 156
6,79
1539451
10,73
41,0
Charlottenburg .
20 743 700
136,06
25,32
277000
1,82
777 766
5,10
I 054 766
6,92
27,3
Bannen . . .
24 954 884
191,42
22,60
361 416
2,77
678804
5,21
I 040 220
7,98
35,2
Danzig ....
8937600
70,08
20,20
606500
4,76
363812
2,85
970312
7,61
37,8
Halle ....
14599651
121,02
20,01
289501
2,40
500036
4,15
789 537
6,55
32,7
Dortmund . .
15 291 118
124,31
21,47
297900
2,42
530461
4,31
828361
6,73
31,3
Aachen . . .
12615900
111,91
24,65
347200
3,08
482 274
4,28
829 474
7,36
29,8
Krefeld . . .
9 143 710
84,52
20,94
370 334
3,42
336 309
3,11
706643
6,53
31,2
Essen ....
13 793 442
133,77
23,53
327657
3,18
466096
4,52
793 753
7,70
32,7
Kiel
8 947 386
99,68
21,26
156800
1,75
303 269
3,38
460069
5,13
24,1
Cassel ....
16082950
189,11
26,10
417970
4,91
562003
6,61
979 973
11,52
44,1
Erfurt ....
7 400000
92,99
17,60
102 500
1,29
262814
3,30
365314
4,59
26,1
Wiesbaden . .
15029929
195,28
35,22
432813
5,62
523642
6,80
956 455
12,42
35,3
München 1896 .
87 770 544
208,10
21,40
801 227
1,90
3251400
7,71
4 052 627
9,61
44,9
Nürnberg 1896 .
26 230 673
152,02
18,01
340 155
1,97
889280
5,15
1 229 435
7,12
39,6
Augsburg 1896 .
10557 100
127,33
20,56
162000
1,95
361 162
4,36
523 162
6,31
30,7
Leipzig 1896 .
649 669 653
157,79
22,82
530271
1,29
2290714
5,59
2 820 985
6,88
30,2
Dresden 1896 .
39410499
113,24
25,02
730 567
2,10
I 465 099
4.21
2 195 666
6,31
25,2
Chemnitz 1896 .
14767454
88,08
23,46
505 706
3,02
677 974
4,04
I 183 680
7,06
30,1
Stuttgart . . .
20906718
127,40
30,35
121 940
0,74
800640
4,88
922 580
5,62
18,5
Karlsruhe 1896 .
17038408
197,05
15,93
292000
3,38
492513
5,69
784513
9,07
56,9
Mainz ....
21 380499
272,20
30,99
455 530
5,80
780 170
9,93
1 235 700
15,73
50,7
Darmstadt 1896
13 819 772
210,37
28,17
165 366
2,52
491 496
7,49
656 862
10,01
35,5
Braunschweig .
16539952
138,28
15,91
153329
1.28
726 563
6,07
879 892
7,35
46,2
Strassburg i. E.
1 1 587 970
82,96
23,78
547 526
3,92
322 127
2,31
869653
6,23
26,2
Mülhausen i. E.
5 143 500
60,41
24,15
201 600
2,37
183 593
2,15
385 193
4,52
18,7
Metz
5245
0,09
19,02
■
~~~
zur Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse, die
mit ihrem ganzen Etat den Gemeindehaushalt
belasten. Auch die yerschiedenen Bedingungen,
unter denen die Anlehen aufgenommen sind,
die Rückzahlungsverpflichtungeu u. s. w. er-
schweren die Vergleichbarkeit sehr. Insbesondere
dürfen die auf den Kopf berechneten Quoten
nicht ohne weiteres als Massstab für die grössere
oder geringere Verschuldung der Städte und für
den Druck der Schuldenlast angesehen werden ;
es müsste dann einer Vergleichung des Schulden-
standes auch eine solche des Vermögens gegen-
übergestellt werden , wie sie bezüglich der
bayerischen Gemeinden oben angegeben ist, für
die oben angeführten deutschen Städte j»ioch
zur Zeit noch nicht aufgestellt werden kann.
Litteratnr: l) Allgemeine Litteratnr: A,
Wagner, F.-W., Bd. I, Buch 1, Kap, 2, Ab-
schnitt 8, jf. Aufl., 188S. — L. V. Stein, F.-W.,
Teil I, S. 64 ff., 6. Aufl., 1895. — W. Hoscher.
F.-W., i 156—162. — G. Cohn, F.-W., 18Si*,
S. 641 ff. — Leroy-Beaulieu, Tratte des
Finances, 6. Aufl., 1899. — Jf. Block, IXctionn.
tfe VadminiHr. fran^. unter den enisprechenilen
Worten.
2) Specielle Litteratur: Bettonders dir
Schriften v. Reitaiensieins , nämlich: JM^
kommunale Finanzwesen, in Schänberg, Bd. IIJ,
4" Aufl., 1898, neu bearbeitet von O. Trü dinge r.
— Derselbef Das Kommunalsteuersystem. Frank-
reichs und die Reform in Preusscn, in d^n Sehr,
d. Ver. f. Sozialp., Bd. XII, S. 116 ff. — I>p>--
seihe, Ueber indirekte Verbrauchssteuern in den Ge-
meinden, in Jahrb. f. Nat. u. Stat., X. F. Bd. VIII,
S. Iff., Bd. IX, S. ai9ff., Bd. XVIII, S. 4^1 (f-
— Derselbe, Ueber finanzielle Konkurrenz t'f»>j
Gemeinden, Kommunalverbänden und SUuit, itu
im Jahrb. f. Ges. u. V., N. F. Jahrg. 11, S. I24 ff-
499 ff., 885 f., Jahrg. 12, S. 85 ff., 529 ff. — .S
Gemeindefinanzen — Gemeinheitsteilung (Allgemeines)
145
femer Ifeseelben ÄrtL Gemeindeanl-ehen, Ge-
meindedienatef Gemeindegchühren, Gefneindehaug-
halt. Gerne indeMeuem, Gemeindevcrmögeyi in v,
i^engeU Wörterbuch des Deutschen Verwaltungs-
rechts. — V. v, Srasch, Die Gemeinde und
ihr Finanzwesen in Frankreich, 3874» — v» J8i-
linsMf Gemeindebesteuerung und deren Reform,
1878. — BödikeTf Die KommuncUbesteuerung
in England und Wales, 1865. — NeumanUf
Die progressive Einkommensteuer im Staats- und
GemeindehaushaU, 1874. — Derselbe^ Ertrags-
oder persönliche Steuern, 1876. — Derselbe ,
Zur Genieindesteuerreform in Deutschland, Tab.
1895. — Di^ Kommunalsteuerfrage, zehn Gut-
achten und Berichte, veröffenil. v. Ver. f. Soz.
1877. Dazu die Verhandlungen der 5. General-
versammlung d. Ver. f. Sozialp., Schriften, Bd.
XIV. — Priedberg, Die Besteuerung der Ge-
meinden, 1877. — A. Wagner j Die Kommunal-
steuerfrage, 1878. — v, Gneist, Die preussische
Finanzreform durch Regulierung der Gemeinde-
steuern, 1881. — Oernifeldt, Städteßnamen in
Preussen, 1882. — Wright and Hobhouse,
An otUline of local govemement and taxation in
England and Wales, 1884, Supplement 1888. —
W, Tröltseh, Die bayerische Gemeindebesteue-
rung seit Anfang des 19. Jahrhunderts, 1. Abt.,
1891. — AdickeSf Veber die weitere Entwicke-
hing des Gemeindesteuerwesens auf Grund des
preussischen Kommunalabgabengesetzes, in der
Zeitschr. f. Staatsw., 1895. — W. Kahler^ Die
preussischen Kommunalanlehen, Jena 1897. — 8.
auch Finanzarchiv im Register s, v. Kommunal-
ßnanzen, bes. Kollm>anifi, Die Kotnmunalbe-
Steuerung im Grossherzogtum Oldenburg, Bd. I,
8. 62Sff. — KaufmanUf Gemeindebesteuerung
und Mcuuenkonsfim in den sieben gröseten Städten
des rechtsrheinischen Bayern, im Finanzarchiv
1897.
8) Statistik: Ausser mehreren der oben
citierten Schriften s. namentlich «T. Körösi,
Statistique internationale des grandes villes,
9* section, 1877. — Derselbe, Bulletin des
ßnances des grandes villes, seither 1877 — 1886,
erschienen 1879 — 1890. — Fii r Deutschland:
Neefe, Statistisches Jahrbuch deutscher Städte,
seit 1890. — Herrfurthy Verschiedene Artikel
über Gemeinde- und Kreisfinanzen, in der Zeit-
schrift des preuss. Statist. Bureaus, Bd. XVIII,
1877, dann Ergänzungsh. 6, 7 und 9. — X>er-
9elbe, Die Finanzlage der Städte und Landge-
meinden in Preussen, im Fin.-A., Bd. I, S. 748 ff.
— V. Taehoppe, Vergleichende Darstellungen
aus der FinanzstcUistik der preuss. Gemeinden
für das Jahr 1888,84, Zeitschr. des preuss. stat.
Bureaus, Jahrg. 24, 8. 20Sff. — ß. v. Mayr,
Beiträge zur Statistik der Gemeindebesteuerung in
Bayern in d. Zeitschr. des bayer. Statist. Bureaus,
Jahrg. 10, 8. 268 ff. und Jahrg. 12, S. 22 ff.
Hierzu die Fortsetzungen von v, Müller, ebenda,
Jahrg. 14, S. 167 ff. und Jahrg. 16, 8. 69 ff. —
K. Raspf Die Gemeindeumlagen im Königreich
Bayern in den Jahren 1882 — 1886, in den Bei-
trägen zur Statistik des Königreichs Bayern, S.
Iff. — M. Seydel, Zur Finanzstatistik der
grösseren Städte Bayerns, in der Zeitschr. des
bayer. Statist. Bureaus, Jahrg. 12, 8. 100 ff. —
Vgl. ferner die periodischen Statist. Publikationen
einzelner grosser Städte in Form besonderer
statistischer Jahrbücher, z. B. Statist. Jahrbuch
der Stadt Berlin, herausgegeben von R. Böckh,
Handwörterbach der Staatswissenschaften. Zweite
24. Jahrg., Berlin 1899 und die im Text citierten
statistischen Jahr- und Handbücher. — Ueber
Italien: L. Perozzo, Statistik der verzinslichen
Kommunal- und Provinzialschulden in Italien
am 31. XII. 1880, im Fin.-A. Jahrg. 1, 8. 244 f.
und die dort citierten Publikationen.
K. Th, Eheberg,
Gemeinheiten,
s. Gemeinheitsteilung.
Gemeinheitsteilnng.
I. Allgemeines (S. 145). II. Specielle Ge-
setzgebung (S. 151).
I.
Allgemeines.
A. Einleitung. B. Historische Ent-
wickelung. C. Charakteristik der Ge-
setzgebung.
A. Einleitung.
Zwei grosse gesetzgeberische Reformen
haben in der neueren Zeit tief in die be-
stehenden Grundbesitzverhältnisse einge-
griffen. Beide bezwecken die Befreiung
des Grundbesitzes von den Fesseln der äl-
teren Agrarverfassung, die eine, indem sie
die rechtliche Gebundenheit namentlich des
bäuerlichen Ginindbesitzers hinsichtlich seiner
Person und seines Eigentums, die andere, in-
dem sie die wirtschaftliche Gebundenheit der
einzelnen Grundstücke selbst beseitigt.
Beide dienen in hervorragendem Masse der
Landeskultur und werden daher auch als
Landeskidturgesetzgebung im engeren Sinne
zusammengefasst.
Für die erste dieser Reformen ist der
Name Bauernbefreiung (s. oben Bd. II, S.
343 ff.) allgemein üblich. Für die letztere
findet sich niu* in der älteren staatswissen-
schaftlichen Litteratur, z. B. bei Rau, bis-
weilen die einheitliche Bezeichnung »Ge-
meinheitsteilung«. Das Wort »Gemeinheit«
bedeutet, so gebraucht, die gemeinschaft-
liche Benutzung ländlicher Gnmdstücke zum
Zwecke des Landwirtschaftsbetriebes, das
Wort »Gemeinheitsteilung« die Aufhebung
dieser Benutzung.
In neuerer Zeit dagegen versteht man
unter Gemeinheiten diejenigen ländlichen.
Grundstücke, welche sich im Besitz einer
oder mehrerer Gemeinden oder gemeinde-
ähnlicher Korporationen befinden und von
den Mitgliedern derselben auf Gnmd ihrer
Mitgliedschaftsrechte genutzt werden. Ge-
meinheitsteilung ist dann Aufteilung der-
artigen Gemeinbesitzes unter die Berech-
tigten.
Es empfiehlt sich zur Venneidung von
Auflage IV. 10
146
Genieinheitsteilung (Allgemeines)
Verwechselungen, im folgenden den Aus-
druck in diesem Sinne beizubehalten; die
ältere Bedeutung des Wortes findet sich
jedoch liier und da in der Gesetzgebimg,
insbesondere in der preussischen.
Für jene grosse agrarische Reform ist
eine einheitliche Bezeichnung deswegen ent-
behrlich, weü dieselbe aus einer Reihe von
Massregeln besteht, welche zwar das gleiche
Ziel verfolgen, aber in durchaus verschiedener
Weise durchgeführt werden können und
durchgeführt worden sind. Diese Massregeln
beziehen sich vor allem auf die Beseitigung
der Gemengelage, und der Zersplitterung
des Grundbesitzes sowie des damit ver-
bundenen Flurzwanges; ferner auf die Be-
seitigung der wirtschaftlich schädlichen
Grundgerechtigkeiten, endlich auf die Tei-
lung und bessere wirtschaftliche Benutzung
der Gemeinheiten.
B. Historische Entwickelung.
Der Zusammenhang und die Bedeutung
dieser Massregeln und damit dieses Teils
der Landeskulturgesetzgebung lässt sich nur
historisch verstehen. Es ist daher not-
wendig, einen kurzen Bück zu werfen auf
die Betriebs- imd Besitzverhältnisse, wie
sie etwa bis zum Ausgange des 18. Jahr-
hunderts allgemein auf dem platten Lande
Europas nördlich der Alpen vorherrschten.
Der ländliche Betrieb jener Zeit ist
hauptsächlich durch die ursprüngliche Flur-
einteüung bestimmt (vgl. d. Art. Ansiede-
lung oben Bd. I, S. 354 ff.).
In dem Gebiete der deutsclinationalen,
dorfmässigen Siedelung wurde bei der ers-
ten Anlage eines Dorfes die Ackerflur
in verschiedene Abschnitte (Gewanne) ge-
teilt und jeder Hufe in jedem Gewanne
ein Anteil zugewiesen. Infolgedessen zer-
fielen alle Hufen in mehrere ParzeUen,
deren Zahl sich im Laufe der Zeit noch
vielfach durch Teilung vermehrte. Bei die-
ser sogenannten Gemengelage der Grund-
stücke, die zum Teü auch auf die Wiesen
sich erstreckte, hatte der einzelne Besitzer
nur ausnahmsweise für jede Parzelle einen
besonderen Zugang, meist musste er seinen
Weg über die Grundstücke seiner Nach-
barn nehmen. Er konnte also auch nicht
sein Besitztum frei bewirtschaften, sondern
musste sich in seinem Anbau nach seinen
Nachbarn richten, wenn anders nicht die
schwerste Schädigung seines oder seiner
Nachbarn Betriebe erfolgen sollte. Daher
bestand der Flurzwang feist überall. In
der Zeit aber, in der der Acker nicht be-
baut wurde und der Graswuchs auf der
AViese nicht der Schonung bedurfte, pflegte
das Land von der gemeinsamen Herde der
Dorfgenossen l)eweidet zu werden. So ver-
band sich mit dem Flurzwang meist Stoppel-
und Brachweide auf den Aeokem sowie
Herbst- und Frühlingsweide auf den Wiesen
der Dorfgemarkung.
Der gemeinsamen Nutzung unterlag aber
in der Regel auch die Gemeinheit. Diese
Gemeinheit ist, wie ja vielfach auch das
Weiderecht, der Rest des ursprünglichen
Gemeineigentums an Grund und Boden, der
als nicht au%eteilt im Besitz und Nutzung
sei es einer Dorfgenossenschaft als AUmend,
sei es einer Markgenossenschaft als Mark
geblieben war.
Ihrem wirtschaftlichen Charakter nach
bestand sie meist aus unkultiviertem Laude,
insbesondere Weide und Wald. Daher
diente sie den Berechtigten hauptsächlich
zur Weide und Holzung, ausserdem aber
vielfach zur Gräserei, zur Mast, zum Heide-,
Plaggen- und Bültenhieb.
Naturgemäss war bei einer derartigen
Agrarverfassung der einzelne Grundbesitzer
in der freien Verfügung über seine Gnmd«
stücke durch die unwirtschaftliche Plan-
lage und den Flurzwang einerseits, eine
Reihe von Servituten, insbesondere Weide-
und Wegeservituten andererseits, gehemmt.
Mit diesen Servituten waren auch die Ge-
meiheiten belastet und hierdurch einer in-
tensiveren Kultur entzogen.
Diese Eigentümlichkeiten finden sich
aber nicht nur auf dem Gebiete der älteren
deutschnationalen Siedelung, sondern sie
sind auch in die von den Deutschen neu
kolonisierten Slawenländer jenseits der
Saale und Elbe übertragen worden, soweit
dieselben nicht in Marschhufen, welche ge-
schlossene Güter bilden, besiedelt wur-
den. Allerdings sind die Anlagen des
Ostens nicht volksmässige , sondern guts-
herrliche. Daher haben hier namentlich die
Gemeinheiten nie einen solchen Umfang be-
sessen wie im Westen, die Marken fehlen ganz.
In dem Gebiete der Einzelhöfe ist die
Gemengelage durch die Art der Ansiedelung
nicht gegeben, vielmehr liegt der Besitz des
einzelnen arrondiert um seinen Hof. Es ist aber
auch hier im Laufe der Zeit durch Kauf, Tausch,
Teilung u. dergl. vielfach eine Zersplitterung
des Grundbesitzes entstanden, welche iii
ihren Wirkungen denen der Gemengelage ähn-
lich ist. Ausserdem haben hier die Öeraeiiihei-
ten allenthalben eine sehr grosse Ausdehnung,
an ihnen bestehen oft Servituten, die
sich auch an den Privatgnmdstücken beson-
ders mit der Entstehung der Gnindherrlich-
keit stark entwickelt haben.
Die wirtschaftliche Gebundenheit des
Gnindbesitzes entspricht durchaus der exten-
siven Wirtschaft der älteren Zeit Insbe-
sondere passt sie sich dem herrschenden
Wirtschaftssystem, der Dreifelderwirtschaft,
an. Denn diese bedarf grosser Strecken
Weidelandes, ihr dient daher der Gemein-
Gemeinheitsteilung (Allgemeines)
147
besitz als ständige Weide und als Ergänzung
hierzu die gemeinsam eAVeide der Dorfgenossen
auf der Ackerflur und die Wiesenhut.
Dalier erscheint die Betriebsgemeinschaft
dem einzelnen überwiegend vorteilhaft, sie
erspart ihm die Kosten einer spociellen Be-
aufsichtigimg des auf der Weide befind-
lichen Viehes und ermöglicht ihm auch eine
billige imd reichliche Ernährung des-
selben. Ausserdem bietet ihm der Öemein-
iDesitz noch manche Hilfe für seine Wirt-
schaft, liefert ihm Streu, Holz u. a. m.
Die Gesamtheit aber hat keine erheb-
lichen Nachteile von dieser Art der Land-
nutzung, solange die Bevölkerung dünn ist
imd ihren Bedarf an Nalirungsmittelu ohne
Schwierigkeit decken kann.
Mit dem Steigen der Bevölkerung ändert
sich dies, das Bedürfnis einer intensiveren
Kultur des Landes tritt hervor, die Technik
der rationellen Landwirtschaft ' bietet die
Möglichkeit, es zu befriedigen und durch
bessere Pflege der Viehzucht sowie durch
Einfühnmg neuer, besserer Wirtschafts-
systeme eine erhebliche Steigerung der Er-
träge herbeizuführen. Bei der überlieferten
Wirtschaftsverfassung aber ist der einzelne
Grundbesitzer durch die unwirtschaftliche
Lage seiner Gnmdstücke und die Grund-
gerechtigkeiten an den Betrieb seiner Nach-
barn gebunden und so oft verhindert, den
Fortschritten der Landwirtschaft zu folgen.
Andererseits macht sich das Streben nach
besserer Ausnutzung der Gemeinheiten gel-
tend. Es erscheint unwirtschaftlich und
verschwenderisch, grosse Strecken Landes,
die vielfach mit verhältnismässig geringer
Mühe in fruchtbaren Acker umgewandelt
oder doch w^enigstens sehr verbessert werden
könnten, fast brach liegen zu lassen. Diese
Ueberzeugung bricht sich um so mehr Bahn,
je mehr für den einzelnen mit der Ein-
führung der Stallfütterung und dem Anbau
der Futterkräuter der Nutzen namentlich an
der ohnehin nur schlecht gepflegten Gemein-
weide zurücktritt.
Aus diesen Verhältnissen heraus erklärt
sich das Bedürfnis nach einer Reform der
älteren Flurverfassung, es erklärt sich aber
^eichzeitig, dass dasselbe je nach der wirt-
schaftlichen und politischen Entwickelung
in den verschiedenen Ländern sich sehr ver-
schiedenartig äussert.
C. Charakteristik der Gesetzgebung.
Die Notwendigkeit der Reform tritt
naturgemäss vor allem da hervor, wo einer-
seits von alters her die wirtschaftiich schäd-
liche Betriebsgemeinschaft und eine grosse
Ausdehnung des Gemeinbesitzes gegeben
war, andererseits eine hohe Kultur und
dichte Bevölkerung eine möglichst wirt-
schaftliche Benutzung des Grundbesitzes
forderte. Dalier dürfte es kein Zufall sein,
dass eine Landeskulturgesetzgebung in dem
hier zu erörternden Sinne bisher nur in den
Ländern der deutschnationalen Siedelung
existiert. Am meisten entwickelt ist diese
Gesetzgebung in Deutschland, sie wird daher
auch im folgenden eingehend, die der übrigen
Länder nur im Umriss behandelt werden.
Das Eingreifen der Gesetzgebung ist
allerdings an sich nicht notwendig. Denn
die Beteiligten können meist schon durch
freiwDlige Vereinbarung Abhilfe schaffen.
Das Beispiel einer durchgehenden Reform auf
diesem Wege bieten die Kemptener Verein-
ödungen (s. d. Art Abbau oben Bd. 1, S. 1).
Einzelne Missstände sind wohl auch in
allen Ländern auf diese Weise beseitigt
worden. Aber überall da, wo man allgemein
und ernstlich an die Aufhebung der alten
Feldgemeinschaft ging, hat sich herausge-
stellt, dass dieselbe nur mit Hilfe des Staates
diu'chzuf Uhren ist. Den n der einzelne ist nach
Lage der Sache gänzlich ausser stände, sich
allein die freie Disposition über sein Grund-
stück zu verschaffen, sondern er bedarf hierzu
der Mitwirkung sämtlicher oder wenigstens
eines Teiles der Dorfmarkgenossen. Naturge-
mäss aber findet eine Reform, welche so tief in
die bestehenden Betriebs- und Wirtschafts-
verhältnisse einschneidet, fast stets bei
einigen oder mehreren Interessenten, insbe-
sondere bei deneUj die ihr eigenesln teresse nicht
gehörig bei-ücksichtigt glauben, Opposition.
In der That wird man nicht verkennen
dürfen, dass es unmöglich ist, allen Teil-
nehmern die gleichen Vorteile zu gewähren,
ja nicht einmal die Benachteiligung einzelner
vermieden werden kann. Dennoch hat sich
fast überall die Ueberzeugung Bahn ge-
brochen, dass der Nutzen, welcher der Ge-
samtheit aus der Durchführung der Reform
erwächst, es rechtfertigt, den einzelnen auch
gegen seinen WiQen zur Beteiligung zu ver-
anlassen. Einen solchen Zwang aber kann
nur der Staat statuieren.
Es ist jedoch keineswegs notwendig,
diesen Zwang unbedingt durchzuführen. Nur
da, wo sich das Bedürfnis wirklich geltend
macht und durch die Beteiligten selbst zur
Kenntnis des Staates kommt, soll verhindert
werden, dass durch den Widerstand ein-
zelner das aDgemeine Literesse leidet. Alle
Gesetze geben daher Bestimmimgen über
das Provokationsrecht j bemerkenswert ist,
dass, je allgemeiner sich die Ueberzeugung
von den Vorteilen der Beseitigimg der kul-
turschädlichen Betriebsbeschränkuugen ver-
breitet hat, dieses Recht einer immer ge-
ringeren Anzahl der Beteiligten gegeben
worden ist.
Das Eingreifen des Staates rechtfertigt
sich aber auch aus anderen Gründen. Denn
nur der Staat ist im stände, die notwendigen
10*
148
Gremeinheitsteilung (Allgemeines)
Reformmassregeln in der volkswirtschaftlich
"Wünschenswerten Einheitlichkeit und Gleich-
mässigkeit durchzuführen. Ein sehr wich-
tiges Mittel hierzu ist die Einsetzung einer
besonderen Behörde. Sie garantiert nicht
nur eine sorgfältige Ausführung der tech-
nischen Operationen, sondern eine sorgfältige
Prüfung und Auseinandersetzung der oft
ausserordentlich komplizierten Rechtsver-
liältnisse imter den beteiligten. Zugleich
wird hierdurch die Kostenlast vermindeii;
imd damit vielfach besonders für ärmere
•Gemeinden ein wesentliches Hindernis für
die Durchführung der Reform beseitigt.
Auch sonst ist es ja gerade dem Staate
leicht möglich, durch billigere Gebührensätze,
Stempelfreiheit etc. die Kosten zu ver-
mindern. Man ist hierin in neuerer Zeit
immer weiter gegangen, wenn man auch im
Princip daran festgehalten hat, die Beteiligten
wenigstens einen Teil der Kosten tragen zu
lassen. Der Staat kann endlich auch die
Rechte Dritter am besten wahren und die
erforderlichen Abänderungen der Grund-
imd Steuerbücher ausführen lassen. —
Die einzelnen Reformmassregeln können
aber, wie bereits angedeutet, in sehr ver-
schiedenartiger Weise durchgeführt werden.
Es empfiehlt sich daher, einen kurzen üeber-
blick über die wichtigsten derselben zu
geben, bevor auf die specielle Gesetzgebung
eingegangen wird.
Als das wesentliche auf der alten Fliu*-
verfassimg beruhende Hemmnis des rationel-
len landwirtschaftlichen Betriebes ist in
neuerer Zeit mehr und melir die Gemenge-
lage des Gnmdbesitzes hervorgetreten. Denn
die allzugrosse Zerstückelung des Landes
bedingt eine grosse Verschwendung von
Zeit und Arbeit bei der Bestellung und Ab-
erntung der Felder, sie verhindert die Ein-
führung von Maschinen und zwingt sogar
oft zur Verwendung von Menschenkraft an
Stelle von Zugkraft. Vor allem vorhindert
sie den üebergang zu besseren Wirtschafts-
systemen und damit die vielfoch mög'Üche
Steigerung des Ertrages; sie zwingt msbe-
sondere oft, an der Dreifelderwirtschaft fest-
zuhalten, weü der Flurzwang, selbst wenn
er rechtlich aufgehoben ist, doch bei dem
Mangel an Wegen noch faktisch bestehen
bleiben muss. Dazu kommt, dass durch
Feldraine imd Grenzfurchen ziemlich viel
Land vollständig verloren geht.
Allen diesen üebelständen aber ist nur
durch eine bessere Fei d eint eil ung ab-
zuhelfen.
Dies geschieht am gründlichsten dadiu'ch,
dass die bestehende Planlage einer Gemar-
kung oder eines Teiles derselben gänzlich
aufgehoben und eine neue Verteilung der
Ländereien vorgenommen wird, bei welcher
die Besitzer an Stelle vieler alter Parzellen
möglichst wenige neue arrondiert und mit
Zugängen versehene Pläne erhalten. Diese
Operation pflegt selir verschieden benannt
zu werden, am besten dürfte die Bezeichnung
Verkoppelung oder Zusammenlegung sein.
Geschieht die Zusammenlegung in der
Art, dass zugleich auch die alte Dorflage
aufgehoben wird und jeder Teilnehmer seine
neue Besitzung um seinen Hof hemm arron-
diert erhält, so bezeichnet man dies als Ab-
bau oder Ausbau.
Vielfach aber bezweckt die Reform nur
eine bessere Gestaltung und Zugänglichkeit
der einzelnen Parzellen bezw. Gewanne
herbeizuführen. Dies ist das Princip der
namentlich in dem ehemaligen Herzogtum
Nassau ausgebildeten Gei^'annregidierung
oder Konsolidation. Bei derselben findet
innerhalb der einzelnen Gewanne eine Zu-
sammenlegung der zerstückelten Parzellen
soweit als möglich statt.
Bisweilen hat man sich darauf besctoDkt,
durch eine Wegeregulierung wenigstens dem
schlimmsten üebelstande, dem Wegemangel,
abzuhelfen.
In allen Fällen ist namentlich in der
neueren Zeit, bei der immer mehr steigen-
den Vervollkommnung der Technik, das Be-
streben darauf gerichtet gewesen, zugleich
mit der Umgestaltung der alten Feld-
einteilung alle diejenigen Verbesserungen
des Ackerlandes durchzuführen, welche ge-
eignet sind, die Erträge möglichst zu stei-
gern, insbesondere die Regulierung nicht
nur des Wegenetzes, sondern auch der Ent^
und Bewässerung, Regulienmg der Bäche etc.
(Näheres über das Verfahren, Statistik etc.
s. im Art. Zusammenlegung der
Grundstücke). —
Die ältere Zeit hat die Bedeutung der
Zusammenlegung keineswegs in ihrem vollen
Umfange erkannt, für sie ist der Ausgangs-
punkt der Reform vor allem die Aufhebung
der alten Betriebs- und Nutzungsgemein-
schaft Estritt dabei die Frage der Rege-
lung des Gemeinbesitzes in den Vor-
dergrund. Die Nationalökonomen des 18.
Jalu'hunderts empfehlen vorzugsweise die Ge-
meinheitsteüimg zur Abhilfe. Hierzu wirken
nicht niu- die bereits oben angedeuteten
wirtschaftlichen Gründe, sondern auch, die
allgemeinen Anschauungen jener Zeit mit
Denn der Individualismus steht dem Ge-
meineigentum als solchem feindselig gegen-
über, und das populationistische Streben
das jene Epoche charakterisiert, begiinstig
jede Massregel, diux3h welche eine Vermeh
rung der Bevölkerung herbeigeführt 'werdei
kann.
Infolgedessen ist damals ein betraclit
lieber Teil der alten Gemeinlieiten aufg^^toU
worden, und es wäre dies ohne Zweifel noc»
viel mehr geschehen, wenn die bäuerlich
Gemeinheitsteilung (Allgemeines)
149
Bevölkerung das gleiche Interesse an der
Gemeinheitsteilung gehabt hätte wie die
Grundhen-en. Aber solange die gi-osse Masse
der Landbevölkerung noch durch Abgaben
und Dienste in ihrem Betriebe gehemmt
war, lag ihr an einer Aenderung der alten
Nutzungsgemeinschaft, insbesondere an einer
intensiveren Nutzung des G^meinlandes
nur wenig. Daher fand vielfach nur eine
Separation zwischen Gutsherren und der
Gemeinde statt, die Bauern setzten die alte
Feldgemeinschaft in der bisherigen Weise
fort und behielten die Gemeinheiten bei.
Als aber nach der Bauernbefreiung auch
die Separation mehr und mehr unter der
bäuerlichen BevölkenmgAusdehnung gewann,
da machte sich gleichzeitig von anderer
Seite eine Reaktion gegen die Gemeinheits-
teilungen geltend.
Es beruht dies vor allem auf dem Um-
schwünge, der in neuerer Zeit in den
allgemeinen Anschauungen über das Wesen
und die Bedeutung der Landgemeinden ein-
getreten ist Während früher die Gemeinde
fast nur als ein wirtschaftlicher Verband
angesehen wurde, eracheint sie gegenwärtig
als ein politischer. Für diesen haben aber
die Gemeinheiten eine ganz andere Bedeu-
tung als für jenen. Für den wirtscliaftlichen
Verband sind die Gemeinheiten lediglich
nutzbares Eigentum der einzelnen Genossen :
sobald die Gesamtheit derselben über eine
zweckmässigere Verwendung,, insbesondere
Teilung des bisherigen Gesamteigentums
einig ist, steht derselben rechtlich ein Hinder-
nis nicht entgegen. Für den politischen
Verband sind dagegen die Gemeinheiten Ge-
meindevermögen, an dessen Nutzung die
einzelnen Gemeindemitglieder wohl Anteil
haben können, dessen Substanz aber der Ge-
meinde als solcher gehört. Daher kann
DIU* eine solche Verfügung über dasselbe
erfolgen, welche dem Ganzen dauernd zum
Nutzen gereicht.
Demgemäss dringt die Rechtsanschauung
durch, dass das Eigentum der Gemeinde
nicht in das Privateigentum ihrer Mitglieder
übergehen kann. Ilierdiu*ch fällt aber eine
wesentliche Ursache zur Gemeinheitsteilung
hinweg. Je mehr andererseits die Ausgaben
der Gemeinde für Schulen, Bauten und
sonstige Zwecke steigen, desto wichtiger er-
scheint es für die Kommunalfinanzen, in
den Gemeinheiten ein wertvolles Objekt
dauernder Nutzung und Erleichterung der
Steuerlasten zu ernalten.
Die Möglichkeit hiervon hängt haupt-
sächlich von den bestehenden rechtlichen
Verhältnissen ab. Wir finden zur Zeit des
Beginns der Gemeinheitsteilungen im wesent-
lichen einen dreifachen Rechtszustand: teil-
weise sind die Gemeinheiten auf die poli-
tische Gemeinde als solche übergegangen,
ohne dass den Gemeindemitgliedem ein
Nutzungsrecht mehr zusteht, teilweise hat
sich die wirtschaftliche Gemeinde von der
rechtlichen völlig getreimt imd ist als Real-
gemeinde im Besitz und Nutzung der Ge-
meinheiten geblieben, teilweise endlich gelten
die Gemeinden zwar als Eigentümer der
Substanz der Gemeinheiten, den einzelnen
Mitgliedern aber steht an derselben ein be-
stimmtes Nutzungsrecht zu. Ueberall hat
sich dabei der Einfluss der Grundherrlich-
keit mehr oder weniger geltend gemacht.
Die hier angedeutete Entwickelung ist
hauptsächlich für die letztbezeichnete Klasse
der Gemeinheiten von grossem Einfluss ge-
wesen. Ein charakteristisches Beispiel hierzu
bietet sich in Preussen. Hier bestimmt die
Gemeinheitsteilungsordnung von 1821, dass
bei Grundstücken, deren Eigentum einer
Stadt- oder Dorfgemeinde zusteht, deren
Nutzungen aber den einzelnen Mitgliedern
derselben gebühren, jedes zur Benutzung
berechtigte Mitglied der Gemeinde für die
seinem Grundbesitz anhängenden Teilneh-
mungsrechte auf Auseinandersetzung anzu-
tragen berechtigt ist. Dagegen deklarierte
die V. V. 26. Juli 1847 diese Bestimmung
dahin, dass dieselbe sich niu* auf solche-
Nutzungsrechte der Gemeindemitglieder am
Gemeindevermögen beziehe, welche denselben
nicht vermöge ihrer Eigenschaft als Ge-
meindemitglieder, sondern aus einem ande-
ren Rechtstitel gebühre, und verbot für das
auf Grund öffentlichrechtlicher Befugnisse
genutzte Gemeinde vermögen , also für den
grössten Teil der alten Gemeinheiten, die
Umwandlung in Privatvermögen der Ge-
meindemitgfieder.
Die Erhaltung des Gemeinbesitzes er-
scheint jedoch vielfach nicht nur aus poli-
tischen, sondern auch aus rein wirtschaft-
lichen Gründen geboten. Dies gilt vor allem
hinsichtlich des Waldbesitzes. Der Wald
kann seiner Natur nach vorteilliaft niu* im
ganzen bewirtschaftet werden, eine Teilung
in einzelne Anteile zur Sondernutzung wird,
soweit der Waldboden nicht als Kulturland
verwendbar ist, in der Regel schädlich wir-
ken. Es ist daher neuerdings diurch die
Gesetzgebung die Naturalteilung eines ge-
meinschaftlichen Waldes meist verboten wor-
den. Ein solches Verbot rechtfertigt sich
auch da, wo die Erlialtung des Waldes aus
anderen Gründen, z. B. als Schutzwald not-
wendig erscheint.
Auch für das kulturfähige Land ist aber
der gemeinschaftliche Besitz keineswegs so
schädlich, wie die ältere Zeit niu* zu leicht
anzunehmen geneigt war. Vielmehr lässt
sich oft durch die Verpachtung eine ebenso
intensive Bewirtschaftung des Geraeinlandes
erzielen wie die des Privateigentums.
Selbst die gemeinschaftliche Nutzung
150
Gemeinheitsteihing (Allgemeines)
verdient da, wo sie sich als Allmendnutzung
(s. d. Art. Allem enden o. Bd.I, S. 255ff.)
erhalten hat, wie namentlich im südlichen
Mitteleuropa, den Vorzug vor der Gemein-
heitsteilung, namentlich aus sozialpolitischen
Gründen.
Demgemäss ist in neuerer Zeit die Frage
der G^meinheitsteilung mehr zurückgetreten ;
sie ist aber keineswegs bedeutungslos ge-
woi-den, da ein grosser Teü der alten Ge-
meinheiten noch jetzt in der That am besten
durch Teilung unter die Berechtigten genutzt
werden kann.
Hierbei empfiehlt sich die Verbindung
der Gemeinheitsteilung mit der Zusammen-
legung. Denn die Gemeinheiten können
dann mit Yorteü als Ausgleichungsobjekte
benatzt werden ; ausserdem hat die Gemein-
heitstfjilung olme Zusammenlegung vielfach
nur die Zerstückelung des Grundbesitzes
vermehrt.
Die wichtigste und zugleich schwierigste
Aufgabe bei der Gemeinheitsteilung ist die,
einen geeigneten Teilungsmassstab zu be-
stimmen.
An Stelle der Teilimg der Gemeinheiten
empfehlen einige Gesetze den Verkauf; ein
solcher ist jedoch nach Lage der Sache ver-
hältnismässig nur selten möglich.
Da, wo der gemeinschaftliche Besitz im-
geteilt bleibt, tritt die Regelung der Be-
nutzung in den Vordergi'und. Wie bereits
.angedeutet^ hat sich die gemeinschaftliche
Nutzung vielfach als Allmendnutzung erhal-
ten, sie ist aber stets in der Weise geord-
net, dass die unwirtschaftüchen und kultiu*-
schädlichen Benutzungsrechte erheblich ein-
geschränkt oder ganz beseitigt wurden.
Die Ablösung der Sonderrechte der ein-
zelnen Berechtigten regelt sich nach den-
selben Grundsätzen wie bei Ablösung der
Servituten, die auf dem Piivateigentume
lasten. —
Diese Servitutablösung gehört zu
den wichtigsten Aufgaben der Ijandeskultur-
gesetzgebung. Zu ilirer Lösimg bieten sich
verschiedene Möglichkeiten. Die Wege-
servituten lassen sich überhaupt vielfach nur
durch Zusammenlegung gänzlich beseitigen.
Auch für die Ablösung der übrigen Servi-
tuten empfielilt sich eine Verbindung mit
der Zusammenlegung und Gemeinheitsteilung
schon deshalb, weil die schwierigen Rechts-
fragen oft gleichartig liegen und die Abfin-
dungen sich am zweckmässigsten gleichzeitig
feststellen last^en.
Die auf Gegenseitigkeit beruhenden Weide-
servituten sowie andere direkt kultur-
schädliche Servituten sind namentlich im
Anfang unseres Jahrhunderts meist ohne
Entschädigung aufgehoben worden. Die
Aufhebung anderer Servituten ist dagegen
in der Regel gegen Entschädigung erfolgt.
Die Grundsätze für die Regelung der Ent-
schädigung sind naturgemäss sehr ver-
schieden. Das Prevokationsrecht steht meist
nicht nur den Verpflichteten, sondern auch
den Berechtigten zu.
Besondere — im folgenden nicht berück-
sichtigte — Gesetze sind zur Ablösung der
Forstservituten ergangen. —
Die geschilderten Reformmassregeln sind
aber nicht überall einheitlich und gleich-
zeitig, sondern vielfach nur schrittweise und
vereinzelt je nach den herrschenden Bedürf-
nissen ziu' Durchführung gekommen. Schon
aus diesem Grunde ist das Bild der Gesetz-
gebung fast in jedem Staate ein anderes.
Im allgemeinen lässt sich nicht ver-
kennen, dass in den nördlichen Staaten
Mitteleuropas die Reform viel früher imd
radikaler zu stände gekommen ist als in
den südlichen und westlichen.
Es beruht dies, abgesehen von politischen
üi^sachen, besonders dai*auf, dass das wirt-
schaftliche Bedürfnis ein verschiedenes ist.
Im Süden herrscht im allgemeinen der
Kleinbesitz vor und mit ihm eine intensivere
Kultur als im Norden. Infolgedessen ist
der Flurzwang vielfach schon früh ohne
Eingreifen der Gesetzgebung verschwunden,
auch die Servituten sind meist auf Wege-
servituten eingeschi"änkt worden. Anderer-
seits ist der individuelle Wert des Grund-
eigentums ein grösserer und hierdiu^ch die
Abschätzung der einzelnen Parzellen gegen-
einander erschwert. Daher ist eine Zu-
sammenlegung im allgemeinen erheblich
schwieriger zu stände zu bringen, um so
mehr, als die kleinen Besitzer, welche ilir
Feld selbst bewirtschaften, an den durch
die Zusammenlegung erzielten Vorteilen viel
weniger Interesse haben als die grösseren.
Man hat sich infolgedessen oft mit der
Feldwegereguliening begnügt, wenn auch
namentlich in neuerer Zeit das Bedürfnis
nach einer durchgreifenden Reform der Feld-
einteihmg immer entschiedener sich bemerk-
bar machte.
Hinsichtlich der Gemeinheitsteilung ist
man ebenfalls im Süden mehr konservativ
gewesen. Dies erklärt sich zum Teil daraus,
dass der kleine Besitzer mehr Nutzen von
der Gemeinheit liat als der grössere. Denn
der Anteil, welchen viele Besitzer bei einer
Teüimg erhalten, ist natürlich viel geriug-er
und viel weniger nutzbar als der Anteil
grösserer Besitzer.
Es kommt jedoch vor allem in Beti-aclit,
dass die Gemeinheiten im Süden überwie-
gend in den Besitz der politischen Gemeinde
übergegangen sind und von dieser als A.11-
menden genutzt weixien (vgl. diesen Ai-t.
oben Bd. I S. 255).
Gemeinheitsteilung (Specielle Gesetzgebung)
151
n.
Specielle Gesetzgebung.
A. Deutschland. 1. Preussen. a) Ge-
biet des Allgemeinen Landrechts, h) Gebiet
ansserhalb des Allgemeinen Landrechts. 1) Han-
noTer. 2) Rheinprovinz. 3) Hessen-Nassau. 4)
Schleswig -Holstein. 2. Die mittel- und nord-
deutschen Kleinstaaten. 3. Die süddeutschen
Staaten. B. Ausserdeutsche Länder.
I. England und Schottland. 2. Skandina-
vien. 3. Oesterreich - Ungarn. 4. Schweiz, ö.
Frankreich.
A. Deutschland.
1. Preussen. a) Gfrebiet des Allge-
meinen Landreohts. Die wichtigste deut-
sche (jesetzgebung auf dievsem Gebiete der
Landeskultur ist die preussische. Gharak-
teristi.«^ch ist derselben die Einheitlichkeit
des YerfahreDS, sie fasst als Gemeinheits-
teilung auf »die Aufhebung der gemein-
eamen Benutzung ländlicher Grundstücke«
und verbindet damit, soweit notwendig, die
RegiiJienmg der gutsherrlich bäuerlichen
Verhältnisse.
Als Schöpfer dieses sogenannten Separa-
tionsverfahrens ist mit Recht Friedrich der
Grosse bezeichnet worden. Zw^ar haben
bereits unter seinem Vorgänger namentlich
im eigentlichen Preussen Separationen statt-
gefunden, er aber hat zuerst die Massregel
in grösserem Stile energisch in Angriff ge-
nommen.
Wichtig ist besondei-s das Reglement
Tom 14. April 1771 für Schlesien. Es ent-
hält schon die wichtigsten Gnmdsätze,
welche bei der späteren grossen Reform nur
weiter entwickelt worden sind. Diese
ringen zunächst fast unverändert in das
Corpus ]\ms Fridericianum, die Allgemeine
Gerichtsordnung und das Allgemeine Land-
recht über.
Die Gesetzgebung bis zum Ende des
vorigen Jahrhimderts ist aber wesentlich
DIU* den grösseren Rittergütern zu gute ge-
kommen. Sie schieden aus dem Gemenge
mit den bäuerlichen Hufen aus und erhielten
für ihre Anteile an den Gemeinheiten Land-
abfindungen. Die Bauern aber blieben meist
bei der herrschenden Dreifelderwirtschaft.
Eist als durch die grossen agrarischen Re-
formen unter Friedrich Wilhelm IV. die po-
litische Freiheit des Bauernstandes herge-
stellt war, konnte gleichzeitig auch die
Lösung der wirtschaftlichen Gebundenheit
erfolgreich in Angriff genommen werden.
Das grundlegende Gesetz hierfür ist die
Gemeinheitsteiluugsordnung v. 7. Juni 1821,
welche unter dem Einfluss und der Beteili-
gimg Thaers zu stände gekommen ist.
Der Ausgangspunkt derselben ist, -wie
bemerkt, die Aufhebung der gemeinschaft-
lichen Benutzimg länmicher Grundstücke
zum Besten der aUgemeinen Landeskultur.
Der Aufhebung, die das Gesetz in seinem
ersten Teil ordnet, imterliegen aber nach
dem Gesetz nur
1. Weideberechtigimgen auf Aeckern,
Wiesen, Angern, Forsten und sonstigen
Weideplätzen,
2. Forstberechtigungen zur 3Iast zum
Mitgenusse des Holzes und zum Streuholen,
und
3. Berechtigungen zum Plaggen-, Heiden-
und Bültenhieb.
Das G. V. 2. März 1850, betr. die Er-
gänzung und Abändenmg der Gemeinheits-
teilungsordnung v. 7. Juni 1821, gestattet
noch die Ablösung weiterer acht minder
wichtiger Berechtigimgen, insbesondere der
Berechtigungen zur Gräserei, Fischerei und
Torfnutzung.
Die Aufhebung der kulturschädlichen
Servituten erfolgt auf Antrag auch nur eines
Teilnehmers, bei Dienstbarkeiten sowohl des
Berechtigten wie des Verpflichteten. Die
V. v. 28. Juü 1838 knüpft aber das Provo-
kationsrecht einzelner Gemeindemitglieder
für den Fall, dass die Gemeinheitsteilung
mit der Zusammenlegung der Grundstücke
innerhalb derselben Gemarkung verbimden
ist, an den Besitz des vierten Teils der von
dem Ackerumtausch betroffenen Ländereien.
Ausserdem aber darf nach der Deklaration
vom 26. Februar 1847 das zur Bestreitung
der Lasten und Ausgaben der ^ Mark- und
Landgemeinden bestimmte oder den einzel-
nen Öemeindemitgüedern auf Gnmd ihrer
Mitgliedschaft zukommende Vermögen der
Gemeinden niemals in Privatvermögen der
Gemeindemitglieder verwandelt werden.
Erbpächter und Lassiten mussten mit
dem Antrage auf Gemeinheitsteilung zwischen
sich und ihrem Grundherrn den Antrag auf
Reguhening der gutsherrlich - bäuerlichen
Verhältnisse verbinden, auf Grund des Ab-
lösungsg. V. 2. März 1850, diuxjh welches
die Erb^^hter Eigentümer wurden, ist für
die Lassiten, sofern die zu ihren Stellen ge-
hörigen Grundstücke mit dem gutsherrlichen
im Gemenge lagen, die Zusammenlegimg von
Amts wegen bei der Eigentumsregulierung
erfolgt.
Die Beteiligten werden nach ihren Teil-
nahmerechten abgefunden, der Umfang der
Teilnahmerechte richtet sich in Ermange-
lungrechtsbeständigerWiUenserklärimgenund
rechtskräftiger Erkenntnisse nach Orts-,
Provinzial- oder allgemeinem Landrecht.
Subsidiär gelten die Bestimmungen des Ge-
setzes. Dieses lässt bei Gemeinweiden als
Massstab im allgemeinen den Besitzstand
nach dem Diuxjhschnitt der letzten 10 Jahre
152
Gemeinheitsteilung (Specielle Gesetzgebung)
gelten, in besonderen Fällen die Berechnung
nach dem Durchwinterungsmasssjtabe.
Wechselseitige Dienstbarkeitsrechte, ins-
besondere Koppelhütungen werden ohne
Entschädigung aufgehoben. Im übrigen wird
die Aufhebung dadurch bewirkt, dass die
Teilnehmer an Stelle ihrer Berechtigung
eine angemessene Entschädigung zur aus-
schliesslichen und fi'eien Verffigung erhsdten.
Die Entschädigung erfolgt der Regel
nach durch Land, dessen Wert nach dem
ortsüblichen Ertrage geschätzt wird. Nur
ausnahmsweise ist Abfindung in Rente oder
Kapital zulässig. Kein Teilnehmer braucht
sich eine Entschädigung gefallen zu lassen,
welche eine Veränderung der ganzen bis-
herigen Art des Wirtschaftsbetriebes des
Hauptgutes nötig macht. Auch dem Abbau
braucht er nur ausnahmsweise sich zu unter-
werfen.
Die Naturalteilung eines Waldes darf
mangels einer Einigung zwischen den Be-
teiligten nur erfolgen, wenn die einzelnen
Anteüe entweder zur forstmässigen Be-
nutzung geeignet bleiben oder in anderer
Kulturart mit grösserem Vorteile als bei
Holzzucht benutzt werden können. Diese
Bestimmung erwies sich aber zum Schutze
des Waldes nicht ausreichend, es erging
daher das Gesetz über gemeinschaftliche
Holzungen vom 14. März 1881, weiches die
sogenannten Genossenschaftswaldungen und
Interessentenforsten hinsichtlich des forst-
wirtschaftlichen Betriebes unter die Ober-
aufsicht des Staates stellt und die Teilung
derartiger Wälder ausser in wenigen gesetz-
lich bestimmten Fällen verbot.
Die Landentschädigung soll den Teil-
nehmern möglichst in einer zusammenhän-
genden wirtschaftlichen Lage zugeteilt wer-
den, auch sind ihnen zu den einzelnen
Grundstücken die erforderlichen Wege und
Tiiften zu beschaffen.
Das Gesetz kennt die Zusammenlegung
nur als Mittel zum Zweck, nicht als selb-
ständige Massregel. Es bestimmt vielmehr
ausdrücklich, dass die bloss vermengte Lage
der Aecker, Wiesen und sonstigen Lände-
reien ohne gemeinschaftliche Benutzung keine
Auseinandersetzung begründet.
Diesem Älangel der Gemeinheitsteihmgs-
ordnung sucht das G. v. 2. April 1872 ab-
zuhelfen. Es gestattete eine zwangsweise
ümlegung einer servitutfreien Feldmark oder
eines Feldabschnittes, wenn dieselbe von der
einfachen Mehrzahl der Eigentümer — nach
Bodenfläche und Katastra&einertrag berech-
net — unter Genehmigung der zuständigen
Kreisversammlung beantragt wird. Wenn
lassitische bäuerliche Stellen im Gemenge
mit gutsheirlichen Grundstücken lagen,
musste nach dem Ablösungsg. v. 2. März
1850 zugleich mit der Eigenturasi-egulierung
eine Zusammenlegung auch der keiner Ge-
meinheit unterliegenden Grundstücke voa
Amts wegen vorgenommen werden.
Die Entschädigung ist ein Surrogat der
dafür abgetretenen Grundstücke oder da-
durch abgelösten Berechtigungen, sie erhält
daher in Ansehung ihrer Befugnisse, Lasten
und sonstigen Rechtsverhältnisse die Eigen-
schaften derjenigen Grundstücke, für welche
sie gegeben worden ist.
Schliesslich enthält die Gemeinheitstei-
lungsordnung in ihrem 2. Teil — im An-
schluss an das Landeskulturedikt vom 14.
September 1811 — Vorschriften über die
Einschränkung der Gemeinheiten, die jedoch
nur selir geringe praktische Bedeutung, am
meisten noch bei Forsten, erlangt haben.
Die Ausführung des Gesetzes wiuxie
durch das Ausführungsg. v. 7. Juli 1821 den
bereits für die Regulierung der gutsherrlich-
bäuerlichen Verhältnisse bestehenden Gene-
ralkoramissionen übertragen.
Für ihre Zusammensetzung und Ge-
schäftsbetrieb ist grundlegend die V. v.
20. Juni 1817 wegen Organisation der
Generalkommission etc., ergänzt durch die
VV. V. 30. Juni 1834 wegen des Geschäfts-
betriebes in den Angelegenheiten der Ge-
meinheitsteiluugen etc., und v. 22. Jiuii 1844
betr. den Geschäftsgang und den Instanzen-
zug bei den Auseinandersetzungsbehörden
sowie durch das G. v. 18. Februar 1880
betr. das Verfahren in Auseinandersetzungs-
angelegenheiten,
Gegenwärtig fimgieren als Auseinander-
setzungsbehörden (mit Einschluss der für
die neuen Provinzen gebildeten) 9 General-
kommissionen, jede derselben soll aus min-
destens 5 Mitgliedern bestehen, mehr als
die Hälfte der Mitglieder zum Richteramte
qualifiziert sein.
Die Generalkommission hat nicht nur
den Hauptgegenstand der Auseinander-
setzungen, sondern auch alle anderweitea
Rechtsverhältnisse, die bei vorschrifts-
mässiger Ausführung der Auseinandersetzung
in ihrer bisherigen Lage nicht verbleiben
können, zu regulieren.
Sie entscheidet die bei Auseinander-
setzungen vorkommenden Streitigkeiten in
erster Instanz, als Entscheidungsbehörde in
zweiter Instanz fimgiert das Oberlandeskiil-
turgericht in Berlin, welches 1844 unter
dem Titel »Revisionskollegium für Laudes-
kultursachen« an SteUe der aufgehobenea
9 Revisionskollegien errichtet wurde.
In dritter Instanz ist das Reichsgericht
zuständig, aber nur für solche Rechtsver-
hältnisse, welche ausserhalb eines Ausein-
andersetzungsverfahi'ens Gegenstand eines
Rechtsstreites hätten werden können und
dann vor die ordentlichen Gerichte gehört
hätten.
Gemeiiiheitsteilung (Specielle Gesetzgebung)
153
Die Auseinandersetzung selbst wird von
den der Generalkommission unterstellten
Specialkommissaren vorgenommen.
Zu Specialkommissaren werden teils
Juristen, teils Landwirte und Techniker
nach besonderer Ausbildimg und PrOfimg
ernannt.
Der Kommissar hat, nachdem die General-
kommission den Antrag für zulässig erklärt,
zimächst die notwendigen Informationen
mittelst aller ihm zu Gebote stehenden
Hilfsmittel einzuziehen imd sodann zu einer
bestimmten Ausmittelung des Sach- und
Rechtsverhältnisses in einer von den Be-
teiligten zu vollziehenden Generalverliand-
lung zu schreiten.
Ergeben sich hierbei Streitpunkte, wel-
che geeignet sind, den Fortgang des Ver-
fahrens zu hemmen, so werden dieselben
sofort zur Instruktion gezogen und sodann
von der Generalkonmiission entschieden,
anderenfalls werden die Streitigkeiten bis
zum Verfahren über den Auseinandersetzungs-
plan ausgesetzt.
Wenn notwendig, erfolgt nach der
Generalverhandlung Vermessung und Boni-
tienmg der Ländereien durch Feldmesser
und Boniteure, deren Resultate in beson-
deren Vermessungs- und Bonitierungsregis-
tem nach Genehmigung durch die Beteilig-
ten, eventuell nach schiedsrichterlicher Ent-
scheidung, niederzulegen sind.
Auf Grund der Register oder der an-
derweitigen Feststellungen der Teilnehmer-
rechte berechnet der Kommissar das Soll-
haben des einzelnen und stellt hiemach
unter Berücksichtigimg des Wege- und
Grabennetzes den Auseinandersetzungsplan
auf. üeber denselben haben sich die In-
teressenten zu entscheiden, einigen sie sich
nicht, so wird der Plan durch Erkenntnis
der Generalkonmiission festgestellt.
Schliesslich wird der Rezess von der
Kommission entworfen, von der Genti'al-
kommission geprüft und nach Vollziehung
durch die Beteiligten bestätigt.
Die Kosten des Verfahrens fallen den
Parteien nach Verhältnis des Vorteils, wel-
cher ihnen aus der Auseinandersetzung er-
wächst, zur Last, der Staat besoldet jedoch
die leitenden Beamten und gewährt Stem-
pelfreiheit sowie GebQhrenfreiheit für die
Eintragungen in das Grundbuch. Die Höhe
der Kosten ist seit dem Erlass des G. v.
24 Juni 1875 hauptsächlich dadurch be-
deutend ermässigt, dass an Stelle der für
die einzelnen Amtshandlungen berechneten
Gebühren Pauschsätze bezahlt werden.
b) Gtobiet ausserhalb des Allge-
meinen Iiandreohts. Die Gemeinheits-
teilungsordnung von 1821 gilt nur im Ge-
biete des preussischen Landrechts, die üb-
rigen Gebietsteile der Monarchie, insbeson-
dere die 1866 neu erworbenen Provinzen,
besassen meist schon, bevor sie unter pi-eus-
sische Herrschaft kamen, eine eigene Lan-
deskulturgesetzgebung, welche allerdings in
einzelnen Punkten der Ergänzung beduirfte.
Nur die altländische Verfahrungsgesetzge-
bung ist — mit verschiedenen, durch die
überkommenen Verhältnisse bestimmten
Modifikationen — allmählich auf alle Teile
der Monarchie, mit Ausnahme von Hannover
und den Reg.-Bez. Wiesbaden, ausge<lehnt
worden.
1) Hannover. Die erste Anregung
hat die iiannöversche Gesetzgebung von den
Erfolgen der Verkoppelungen in dem ehe-
mals zu Hannover gehörigen Herzogtum
Lauenburg erhalten. Hier wurde auf Grund
der Verordnungen v. 27. Juni und 8. Juli
1718, den ältesten in Deutscldand bekann-
ten Gesetzen zur Beförderung der Gemein-
heitsteüungen, im Laufe des 18. Jahrhun-
derts allmählich das ganze Land verkoppelt,
zuerst die Amtsdörfer, dann die Dörfer der
privaten Grundhen^en. Hierdurch veranlasst,
versuchte Georg 111. vor allem die Auf-
teilung der gi'ossen Marken Hannovers zu
befördern. Seine Bemühungen hatten aber
erst grösseren Erfolg, als dieselben durch Ge-
setze unterstützt wurden. Das erste und das
Muster aller späteren, z. T. auch der preussi-
schenGemeinheitsteilungsordnung vonl821 ist
die Gemeinheitsteilimgsordnung nlr das Fürs-
tentum Lüneburg v. 25. Juni 1802.
Hiernach haben Gemeinden und ge-
meindeähnliche Korporationen, selbständige
Höfe etc., wenn sie Berechtigungen und
Nutzungen auf einem Boden gemeinschaft-
lich mit anderen besitzen, das Recht, für
sich aus der Gemeinschaft zu treten und
Entschädigungen zum privativen Eigentum
zu verlangen (Geneialteüung).
Gegenstand der Gemeinheitsteilungen
sind vor allem die Gemeinweiden, ausser-
dem Mast-, Holz-, Torf- sowie Plaggen-
und Heidehiebsberechtigungen.
Der Gemeindebeschluss über eine Gene-
ralteilung ist gültig, wenn sich die Hälfte
der Stimmen nach Verhältnis der Teil-
nehmerrechte dafür erklärt. Dagegen können
die einzelnen Mitglieder einer Gemeinde
eine Specialteilung der generellen Abfindung
nur dann fordern, wenn dadurch ihre
Grundstücke einer vorzüglichen Kultur fähig
werden.
Die Principien der Abfindung sind älin-
lich normiert wie in Preussen, besonders
eingehend und sorgfältig aber sind die
Teuungsmassstäbe aufgestellt. Für die
Weiderechte sind deren \-ier angegeben, die
Berechnung nac^h dem durchschnittlichen
Viehstande der letzten 10 Jahre, eventuell
unter gleichzeitiger Berechnung der Be-
hütungszeiten, die Berechnung nach dem
154
öemeinlieitsteilimg (Specielle Gesetzgebung)
inneren Haiishaltimgsbedürfnis aller Inter-
essenten, verbunden mit dem Ansclilage des
Ackerlandes und der Wiesen, endlich der
Durchwintern ngsmassstab.
Zur Durchflihrung der Gremeinheitstei-
limgen wurden vde in Lüneburg, so auch
in den übrigen zu Hannover gehörigen
Fürstentümern mit Ausnahme von Ost-
friesland entsprechende Gesetze erlassen.
Charakteristisch ist für diese ältere han-
noversche Gesetzgebung der Satz, dass die
Gemeinheitsteilung als solche nicht mit
der Verkoppelung verbimden ist. Nur durch
gütliche Bemühung der Teilungsbehörden
kamen daher einige Zusammenlegungen zu
Stande, es war ein Glück, dass die älteren
Teilungen meist Generalteilungen waren
und nicht durch Specialteilungen die Nach-
teile der Gemengelage, die sich namentlich
in den südlichen Teilen der Provinz be-
merkbar machten, noch vermehrt wuiden.
Erst das G. v. 30. Juli 1842 gestattete
die zwangsweise ümlegrmg von Gnind-
stücken und zwar auf Antrag einer Majori-
tät von zwei Dritteln der Grundbesitzer
nach Flächeninhalt imd Steuerkapital, nach
dem Ergänzungsgesetz v. 8. November 1856
genügte die Hälfte.
Gegenstand der Zusammenlegung konnte
ursprünglich nur eine ganze, allerdings auch
servitutfreie Feldmark sein, später überhaupt
eine zusammenhängende, grössere Grund-
fläche, wenn die in derselben belegenen
Grundstücke rücksichtlich ihi-er Benutzung
von einander abhängig sind.
Forsten, Torfmooi*e, Gehöfte und gewisse
Gärten sind von der Zusammenlegimg aus-
geschlossen.
üeber die gänzliche Ablösung der Weide-
rechte auf fremdem Grund und Boden fin-
den sich die ei'Sten Vorschi'iften in den Ge-
meinheitsteilungsordnungen. Dieselben wm*-
den zwar noch erweitert in dem Ver-
koppelungsgesetz von 1842 und den das-
selbe ergänzenden Gesetzen, sie erwiesen
sich aber nicht ausreichend. Daher erging
das G. V. 8. November 1856. Dasselbe
giebt sowohl den Yerpflichteten wie den
Berechtigten die Befugnis zur Provokation
und ordnet die Abfindung, die in der Regel
in Land erfolgen soll. Zugleich setzt es
fest, dass bei der Zusamnienlegimg auch die
Ablösung der Weiderechte erfolgen muss.
Dieses Gesetz wurde unter prcussischer
Herrschaft durch das G. v. 8. Juni 1873
ergänzt und gleichzeitig die Abstellung auf
Forsten ruhender Berechtigungen und die
Teilung gemeinschaftlicher Forsten beson-
ders geregelt.
Das Verfahren bei Servitutablösungen,
Gemeinheitsteilungen und Yerkoppelmigen
lichtet sich nach dem G. v. 30. Juni 1842
betreffend das Yerfalu*en in Gemeinheits-
teilungs- und Verkoppelungssachen , es
weicht mehrfach von dem altländischon
Yerfalu-en ab, ist jedoch demselben durch
das G. V. 17. Januar 1883 sehr genähert
worden. Der wichtigste unterschied liegt noch
jetzt darin, dass in Hannover Streitigkeiten
über Berechtigungen , welche unabhängig
von einer Teilung hätten entstehen können
und dann im Rechtswege erledigt worden
wären, vor die ordentlichen Gerichte gehören.
2) Rheinprovinz. In der Rheinpro-
vinz — abgesehen von den landrechtlichen
Kreisen — galt im Anfang unseres Jahr-
hunderts für Gemeinheitsteilungeu nur im
Gebiete des französischen Rechts die allge-
meine Teilungsklage des Code civil Art. 815
und im Gebiete des gemeinen Rechts die
actio communi di\'idundo. Ausserdem be-
standen einige Vorschriften über Ein-
schränkung bezw. Aufhebung von Serdtuten.
Insbesondere hatte im Gebiete des Code
civil nach Art. 647 und 641 jeder Grnnd-
besitzer das Recht, seine Aecker und Wie-
sen von der Koppel- und Stoppelwoide an-
derer Grundbesitzer durch Einfriedigung-
seiner Besitzungen zu befreien, aber nur
gegen Aufgabe des eigenen Rechtes an
der gemeinen Weide.
In den Landesteüen links des Rheines,
wo der Code pönal galt, war der Flurzwantr
aufgehoben \md Koppel- und Stoppelweide
vor der Ernte resp. dem ersten Schnitt aut:
natih'lichen Wiesen verboten.
Diese Bestimmungen erwiesen sich je-
doch als durchaus lückenhaft, insbesondere
für diejenigen Teile der Provinz, in denen
nicht, wie in den Fhu:en unmittelbar am
Rhein und seinen Nebenflüssen, eine hohe
Kultur Weide- und ähnliche Servituten bereit?-
verdrängt hatte. Es erschien jedoch un-
zweckmässig, die Gemeinheitsteilungsordniing
von 1821 in der Provinz einzuführen, einer-
seits weil dieselbe vielfach auf dem Allge-
meinen Landrechte fusst, andererseits weil
der in dem Gesetz ausgesprochene Zwant]
zur Zusammenlegung den Anscliauungen clei
Rheinländer durchaus entgegenstand, aucl
bei dem vorherrschenden Kleinbetriel>e da:
Arrondienmgsbedürfnis minder dringlich er
schien.
Es kam daher zunächst nur die Gemein
heitsteilungsordnung v. 19. Mai 1851 zi
Stande.
Der Begriff der Gemeinheitsteilmig ist ii
diesem Gesetze aufgelöst in 1. Ablösung
der Servituten, 2. Teilung von gemeinscliaf t
lichem Eigentum.
Zu dem Antrage auf Teilimg eines ge-
meinschaftlichen Eigentums ist jeder ^lit
eigentümer, zu dem Autrage auf Ablösiia
einer Dienstbarkeit sowohl der Berechtigt
wie der Yeqif lichtete befugt. Eine zwangt
weise Umlegung nur zur Erlangung bessert::
Gremeinheitsteilung (Specielle Gesetzgebung)
155
virtschaftliclier Planlage ist ausdrücklich
ausgeschlossen.
Im übrigen schliesst sich das Gesetz
möglichst an die Gemeinheitsteilungsordnung
von 1821 und deren Ergänzungsgesetze an,
namentlich ist auch hier die Umwandlung
des Gemeindeeigentums in Pri^-ateigentum
verboten.
Das Verfahren ordnet ein besonderes
Gesetz von gleichem Datum, die Diu-ch-
ffihnmg desselben ist teils den Regierungen,
teils den Gerichten anvertraut.
Nach dem Erlass dieser Gesetze machte
sich aber immer dringender das Bedürfnis
nach Einfühnmg eines Zusammenlegimgs-
gesetzes geltend und ftihrte zunächst für
den Bezirk des ehemaligen Justizsenats
Elirenbreitstein zu dem Zusammenlegungsg.
V. 5. April 1869. Die Erfolge desselben trugen
trotz lebhafter — grösstenteils politischer —
Gegenagitation dazu bei, die Bedenken gegen
ein derartiges Gesetz in den übrigen Teilen
der Rheinprovinz zu beseitigen, es wurde
daher am 24. Mai 1885 das G. beti-effend
die Zusammenlegung der Grundstücke im
Gehnngsgebiete des rheinischen Rec^htes er-
lassen.
Das Gesetz gestattet die Zusammenlegung
einer ganzen Gemai'kimg wie auch einzelner
"wirtschaftlich zusammengehöriger Feldab-
schnitte, knüpft dieselbe aber an die Zu-
stimmung von mehr als der Hälfte der be-
treffenden Eigentümer, nach Bodenfläche
und Katastralieinertrag berechnet. Die Zu-
sammenlegung unterbleibt, wenn im Ein-
teilungstermin fünf Sechstel der Eigentümer
widersprechen.
Werden von der Zusammenlegung Grund-
stücke betroffen, welche einer nach dem G.
V. 1851 ablösbaren Nutzung unterliegen, so
muss die Ablösung der Berechtigimg gleich-
zeitig mit der Zusammenlegung bewirkt
werden. Die Bestimmung der Abfindung
und die Ausfühnmg der Zusammenlegimg
ist zunächst dem freien üebereinkommen
der Beteiligten überlassen, welches jedoch
der Genehmigung der Generalkommission
bedarf. Subsidiär treten die gesetzlichen
Bestimmungen ein, welche den altländischen
möglichst angenähert sind.
Ebenso wie in der Rheinprovinz ist die
Zusammenlegimg in Hohenzollern durch
das G. V. 23. Mai 1885 geregelt. Dieses
Gesetz enthält jedoch ausserdem noch zur
Ergänzung der bisherigen sehr lückenhaften
Gesetzgebung Vorschriften über die Ab-
lösung der wichtigsten Servituten und der
Teilung der Gemeinheiten, welche denen
des rheinischen Rechts analog sind.
Die Gemeinheitsteilungsordnung von 1851
für die Rheinprovinz ist auch auf Neu-
vorpommern und Rügen, das gemein-
rechtliche Gebiet in den östlichen Teilen
der Monarchie ausgedehnt. Es w^ar aber
hier eine zwangsweise Umlegung gemein-
schaftlich benutzbarer und vermischt liegen-
der Grundstücke auf Antrag eines Teil-
nehmers schon nach der schwedischen Y.
V. 18. Xovember 1775 unter gewissen Vor-
aussetzungen gestattet. Diese Verordnung
ist aufrecht erhalten worden.
3) Hessen-Nassau, a) Regierungs-
bezirk Wiesbaden mit Ausschluss
des Kreises Biedenkopf. Den Aus-
gangspimkt der nassauischen Landeskultur-
gesetzgebung, deren Anfänge bis in das
vorige Jahrhundert ziu^ickreichen, bildest da
Kulturedikt v. 7./9. November 1814, welches
fast aUe Hut- und Weideberechtigungen
während der für die Kidtur schädlichen
Zeiten gegen Entschädigung des Berechtigten
bei Strafe aufhebt.
Ihm schloss sich die V. des herzoglichen
Staatsministeriiuns v. 12. September 1829,
die Güterkonsolidation etc. betr., — ergänzt
durch vier Instruktionen v. 2. Januar 1830
— an.
Das Princip der Konsolidation ist bereits
oben dargelegt 'worden, hier ist noch her-
vorzuheben, dass man von Anfang an
darauf Wert gelegt hat, zugleich mit der
Zusammenlegung alle zur Kultur des Landes
dienenden Meliorationen, insbesondere Ent-
und Bewässenmgsanlagen, vorzimehmen.
Ausgenommen von der Konsolidation sind,
sofern sie grössere Distrikte ausmachen,
gemeinheitlicher Weideboden , Wüstungen
und Trieschland; ausserdem Weinberge,
Städte, Dörfer, geschlossene Landgärten etc.,
für Waldungen bedarf es specieUer Ge-
nehmigimg durch die Regierung. Es ist
jedoch den Gemeinden, die sich ziu: Konso-
lidation ihrer Gemarkung entschlossen haben,
ausdrücklich anempfohlen, auch für den
Dorfbereich soweit als möglich die erforder-
lichen Kidturverbesserungen vornehmen zu
lassen.
Die konsolidierten Gnmdstücke dürfen
unter ein gewisses Minimalmass, 50 DRuthen
für Aecker, 25 für Wiesen, nicht mehr ge-
teilt werden.
Das Verfahren ist ein durchaus eigen-
artiges (vgl. d. Art. Zusammenlegung
der Grundstücke), es w^urde unter
preussischer Herrschaft vereinfacht durch
das G. V. 21. März 1887, welches zugleich
das altländische Kostenwesen einführte.
Das Provokationsrecht war fniher nur
der Majorität von zwei Dritteln der Eigen-
tümer der betreffenden Grundstücke, falls
dieselben die Hälfte der zu konsolidierenden
Gnmdstücke besassen, eingeräumt, nach der
Sreussischen V. v. 2. September 1867 genügt
ie einfache Majorität.
Nicht ausreichend erwiesen sich in neuerer
Zeit die älteren Bestimmungen über die Ab-
156
Gemeinheitsteilung (Specielle Gesetzgebung)
lösung der Hütungsrechte, auch hatte sich
das Bedürfnis nach einer Teilung der ge-
meinsam benutzten Grundstücke allmähhch
geltend gemacht. Daher wurde auch für
den Begierungsbezirk Wiesbaden eine Ge-
nieinheitsteüimgsordnung v. 5. April 1869
erlassen, welche im wesentlichen mit der
rheinischen übereinstimmt. Dieselbe hält
jedoch die Bestimmungen über die Güter-
Konsolidation aufrecht und bestimmt, dass,
wenn von derselben solche Gnmdstücke be-
troffen werden, die einer gemeinschaft-
lichen ablösbaren Benutzung unterliegen,
die Sei*vitutablösung oder Teilung gleich-
zeitig mit der Konsolidation bewirkt wer-
den muss.
b) Regierungsbezirk Cassel ein-
schiesslich des Kreises Bieden-
kopf im Regierungsbezirk Wies-
baden. In dem ehemaligen Kurfürstentum
Hessen war unter dem alten Regiment zur
Beseitigung der kulturschädlichen Nutzungs-
gemeinschaft und der Zersplitterung der
Grundstücke nur sehr wenig geschehen.
Das G. V. 28. August 1834 betreffend
die Verkoppelung der Grundstficke be-
schränkte sich darauf, die freiwillige Zu-
sammenlegung zu erleichtern, war aber
infolgedessen so gut wie wirkungslos ge-
blieben. Auch die Servitutablosungen und
Gemeinheitsteilungen waren in den beiden
GG. V. 25. Oktober 1834 betreffend die
Teilungen der Gemeinheiten, welche hin-
sichtlich der Viehhuten bestehen, und v.
28. Oktober 1834, die Beseitigung mehrerer
die Verbesserung des Acker- und Wiesen-
baues entgegenstehender Hindemisse be-
treffend, durchaus imziüängüch geordnet.
Die preussische Regierimg erliess daher
schon am 13. Mai 1867 eine V. beti-effend
die Ablösung der Servituten, die Teilung
der Gemeinschaften und die Zusammenle-
gung der Grundstücke, welche durch das G. v.
25. Juli 1876 ergänzt wurde.
Die V. schliesst sich in Form und In-
halt an die rheinische Geraeinheitsteilungs-
ordnung an, regelt aber gleichzeitig auch
die Zusammenlegung der Grundstücke. Die
Bestimmungen hierüber sind hauptsächlich
der Gemeinheitsteüungsordnung von 1821
entnommen. Das Provokationsrecht aber
für die keiner gemeinschaftlichen Be-
nutzung unterliegenden Gnmdstücke ist an
den Besitz von mehr als die Hälfte des
Flächeninhaltes der umzulegenden Grund-
stücke geknüpft, bei einer solchen Zu-
sammenlegung muss eventuell die Servitut-
ablösung bezw. die Gemeinheitsteilung
gleichzeitig mit der Zusammenlegimg er-
folgen. Gewisse Kategorieen von Grund-
stücken wie Gebäude, Hausgarten, Obst-,
Hopfen- und Gartenanlagen etc. sind auch
lüer eximiert.
Der Geltungsbereich der Y. wurde ebenso
wie der des Gesetzes von 1876 auf die gross-
herzoglich hessischen Gebietsteile ausge-
dehnt, welche zum Regierungsbezirk Cassel
und zum Kreise Biedenkopf im Regierungs-
bezirk Wiesbaden gehören,
4) In Schleswig - Holstein begann
mit der Einführung der Feldgraswirtschaft
schon früh die Einkoppelung der Grund-
stücke, die Gesetzgebung griff jedoch erst
in der zweiten Hälfte des 18. Jgüirhunderts
ein. Für Schleswig gestattete die Y. v.
10. Februar 1766 jedem Landinteressenten,
seine zusammenliegenden Ländereien der
gemeinen Weide zu entziehen und einzu-
koppeln. Er konnte dabei nach der V. v.
26 Januar 1770 eine allgemeine Vermessung
sämtlicher Dorfländereien verlangen, die auf
gemeinsame Kosten der Beteiligten ging.
Ausserdem sollte, wenn eine Dorfschaft mit
der Hälfte (früher zwei Drittel) der nach
Landbesitz abzuwägenden Stimmen die Se-
paration eines ihr allein gehörigen Land-
stücks beschloss, dieser Beschluss auch dio
Minorität binden.
Eine der V. v. 1770 analoge V.
erging für den sogenannten könighchen
Anteü von Holstein, die Grafschaft Rantzau
und die Herrschaft Pinneberg unter dem
19. November 1771 ; für den grossfürstlichen
Anteil von Holstein war bereits am iiO.
August 1768 ein Regulativ erlassen worden,
welches die Einkoppelung von Amts
wegen ohne Befragung der Interessenten
anordnete.
Die Ausführimg der Reform erfolgte nach
den Verordnungen von 1770 und 1771 im
wesentlichen in der Art, dass zunächst die f^o-
samten Dorfländereien von vereidigten Land-
messern unter Zuziehimg dreier erfahrener,
von der Obrigkeit zu ernennender Sencl-
männer vermessen und dann von den letzteren
bonitiert wurden. Hiernach war demjenigen,
der die Aufteilung verlangt hat, oie ihm
gebührende Abfindimg möglichst an einem
Orte und in einer Strecke auszuweisen. Dio
Verteilung richtete sich nach Verhältnis des
Landbesitzes, eventuell nach Verliältnis des
Nutzungsanteils.
Auf Grund dieser durch mehrere Nach-
träge verschiedentlich ergänzten Vei'ord-
nungen >^^lrde bereits im vorigen Jahrhun-
dert die Verkoppelung der meisten Fluren
ausgeführt. Die Verordnungen galten aUer-
dings nm* für die Aemter, das Vorbild der-
selben wurde aber von den Adligen und
Klöstern nachgeahmt.
Diese älteren Verkoppelungen sind jedoch
vielfach sehr unwirtschaftüch ausgefülirt.
Auch wurden durch dieselben nur diejeiiip^en
Weiderechte und andere kulturschädliche.
Servituten beseitigt, welche auf den zu ver-
koppelnden Grundstücken lagen.
Gremeinheitsteilimg (iSpecielle Gesetzgebung)
157
Diese Lücken sucht das preussische G.
V. 17. August 1876 betreffend die Ablösung
der Servituten, die Teilung der Gemeinheiten
und die Zusammenlegiuig der Grundstücke
für die Provinz Schleswig-Holstein mit Aus-
schluss des Herzogtums Lauenburg auszu-
füllen, welches sich im wesentlichen an die
Bestimmungen der hessischen Gemein heits-
teilungsordnung vom 13. Mai 1867 anschliesst
und nur einzelne Vorschriften aus dem han-
noverschen Forstgesetz vom 13. Jimi 1873
mit aufnimmt. Der Zwang zur Zusammen-
legung ist aber bei jeder Zusammenlegimg
an die Zustimmung von mehr als der Hälfte
der Eigentümer, nach Bodenfläche und Ka-
tastralreinertrag berechnet, geknüpft.
2. Die mittel- und norddeutschen
Kleinstaaten. Die Gesetzgebung der klei-
neren mitteldeutschen Staaten schliesst sich
in ihren wichtigsten Bestimmungen vielfach
an die preussische an, doch sind meist be-
sondere Gesetze über Servitutablösung und
Zusammenlegimg ergangen und die Ge-
meinheitsteilungen mit der Zusammen-
legung verbunden. Die Herzogtümer Anhalt
imd &chsen-Meiningen sowie die Fürsten-
tümer Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarz-
burg-Sondershausen, Waldeck-Pyrmont und
Schaumburg-Lippe haben auf Grund beson-
derer Staatsverträge die Leitung der Aus-
einandersetzungsgeschäfte an Preussen über-
tragen, welches mit der Diurchfühnmg der-
selben die Generalkommissioncn in Cassel
bezw. Merseburg betraut hat
In Oldenburg fehlt in den Marschen
naturgemäss das Bedürfnis der Separation;
von den Einzelhofgebieten der Geest sind
die grossen Marken der Oldenbur^r Geest
und im Münsterland auf Grund emer Ver-
ordnung von 1806 fast gänzlich aufgeteilt.
Auf den Eschen hat sich die Notwendigkeit
der Zusammenlegimg wegen des Mangels
an Zugänglichkeit vieler Parzellen heraus-
gestellt, das G. V. 27. April 1858 gestattet
daher die zwangsweise Verkoppelung auf
Antrag der Eigentümer von menr als der
Hälfte der Boden fläche. Die Verkoppelung
kann zugleich mit der Gemeinheitsteilung
verbunden werden.
In Mecklenburg - Schwerin und
Mecklenburg-Strelitz sind die alten
Nutzimgsgemeinschaften und die Gemenge-
lage der Grundstücke seit Anfang des Jahr-
hunderts bei Gelegenheit der Regulierungen
beseitigt worden, soweit dies nicht schon
früher durch die Arrondierungen der Ritter-
güter geschehen war. Eines besonderen
Gesetzes bedurfte es nicht, weder fiir das
Domanium noch für den ritterschaftlichen
Besitz, da die Bauern meist nur Zeitpächter
waren.
Nur für den städtischen Grundbesitz
machte sich das Bedürfnis eines Separatious-
gesetzes geltend. Die am 6. Februar 1854
für Mecklenburg-Strelitz erlassene »Ver-
ordnung zur Aufhilfe des städtischen Acker-
bauwesens mittelst Separationen der städ-
tischen Feldmarken«, deren Vorschriften
durch das G. v. 5. Januar 1873 in Mecklen-
burg-Schwerin eingeführt wurden, hat aber
bisher nur wenig Erfolg gehabt.
Braun seh w^eig ist wohl der einzige
deutsche Staat, in welchem die Reform der
alten Flurverfassung im wesentlichen als
beendigt gelten kann. Schon bei Gelegen-
heit der allgemeinen Landesvermessung in
der Mitte des vorigen Jahrhunderts be-
günstigte man hier die Arrondienmg und
sonstige Kultiu'verbesserung des Grundbe-
sitzes, die neue Gemeinheitsteilungsordnung
vom 12. Dezember 1834, die an die Stelle
der mehr einen provisorischen Charakter
tragenden V. v. 26. März 1823 trat, giebt
analog der preussischen von 1821 die näheren
gesetzlichen Bestimmungen über die Auf-
hebung der schädlichen Nutzungsgemein-
schaften. Wie in Hannover werden General-
und Specialseparationen unterschieden, die
Majoritätsbestimmungen sind für beide ver-
schieden normiert. Das herzogliche Landes-
ökonomiekoUegium — 1834 errichtet — hat
im allgemeinen die Stolliuig einer preussischen
Generalkommission.
Im Königreich Sachsen ordnet das G.
V. 17. März 1832 nur die Ablösung der Ser-
vituten und die Gemeinheitsteilungen ; beide
sollten möglichst kombiniert werden. Zu-
sammenlegung der Grundstücke war dabei
nur auf gütlichem Wege zu erreichen. Erst
diu-ch das G. v. 14. Juni 1834 wiude die-
selbe auch zwangsweise ermöglicht, und
durch das G. v. 23. Juli 1861 noch mehr
erleichtert. Das Verfahren ist analog dem
preussischen. Die Ablösung der Servituten
— teils in Land, teils in Kapital — sowie
die Gemeinheitsteilungen sind im wesent-
lichen beendet, auch die Zusammenlegimgen
sind schon weit vorgeschritten.
3. Die süddeutschen Staaten. Wie
bereits oben angedeutet, ist die Entwickelung
der Reformgesetzgobung in den süddeutschen
Staaten eine andere gewesen als in den
noixldeutschen. Auch hier hat man gegen
Ende des 18. Jahrhunderts mit der Auf-
teilung der Gemeinheiten begonnen, dieselbe
ist aber nicht in so erheblichem Masse d\uxjh-
geführt worden. Sodann wurden in den
dreissiger und vierziger Jahren dieses Jahr-
hunderts die bestehenden Weide- und Forst-
servituten ziu* Ablösung gebracht, im wesent-
lichen durch Geldrenten. Wirksame Zn-
sammenlegungsgesetze kamen aber bei der
grossen Abneigimg gegen Zwangsbestim-
mungen erst in neuerer Zeit zu stände, sie ge-
statten übei-aU die Wahl siwischen Zusammen-
legmig und blosser Feldwegregulierung.
158
Gemeinheitsteiluiig (Specielle Gesetzgebung)
In Bayern liaben seit Mitte des 16. Jahr-
hunderts zahlreiche freiwillige Arrondie-
ningen unter gleichzeitigem Ausbau der
Dorfgenossen als sogenannte Vereinödungen
stattgefunden (s. d.Ai-t. Abbau oben Bd. I, S. 1).
Dieselben sind jedoch im wesentlichen auf das
Gebiet des ehemahgen Hochstiftes Kempten
beschränkt geblieben ; hier finden sich auch
seit Ende des vorigen Jahrhunderts gesetz-
liche Bestimmungen zur Erleichterung der-
artiger Arrondierungen.
In den Hauptteilen Bayerns wurde die
Arrondierung des Grundbesitzes schon gegen
Ende des vorigen Jahrhimderts gleichzeitig
mit der Aufteilung der Gemeinheiten em-
pfohlen, die zahlreichen Verordnungen hatten
jedoch nur wenig Erfolg: auch wurden die
Gemeinheitsteilungen bald inhibiert.
Gegen die Weiderechte erwiesen sich die
älteren Verordnungen aus, den Jahren 1805
und 1808 nicht hinreichend, sie sind daher
durch das G. v. 28. Mai 1852 über die Aus-
übung imd Ablösimg der Weiderechte auf
fremdem Grund und Boden ersetzt w^orden.
Dasselbe hebt die Weide auf Aeckern während
ihrer Fruktifikation und auf Wiesen während
ihrer Hegezeit ohne Entschädigung auf und
gestattet die Ablösung einseitiger Dienst-
barkeiten gegen Geld auf Antrag der Mehr-
heit der Verpflichteten^ gegenseitiger Dienst-
barkeiten durch Majontätsbeschluss.
Das Bedürfnis nach Zusammenlegung
trat gleichzeitig um so lebliafter vor, als
diu'ch die Keformgesetzgebung von 1848 der
grundherrliche Verband beseitigt war. Den-
noch scheiterte die sehr lebhafte Agitation
für Erlasß eines Zusammenlegungsgesetzes
mit Zwangsbestimmungen an dem Wider-
stände, der sich allentlialben gegen den an-
geblichen Eingriff in die Heiligkeit des
Privateigentums erhob, so sehr auch das
Bedürfnis nach ümlegung allgemein aner-
kannt wiude. Es kam nur das Arron-
dierungsgesetz vom 10. November 1861 zu
Stande, welches einen nennenswerten Erfolg
durch die Forderung einer sehr hohen Ma-
jorität der Interessenten bei zwangsweiser
Umlegung von vorn herein ausscliloss. Erst
das Flurbereinigungsgesetz vom 29. Mai 1886
bietet die Garantie einer grösseren Wirk-
samkeit und hat binnen kurzem nicht im-
erhebliche Erfolge erzielt.
Dies Gesetz versteht unter Flurbereinigung
sowohl die Zusammenlegung von Grund-
stücken als die Regelung von Feldwegen.
Zwischen beiden haben die Beteiligten die
Walü, die zwangsweise Durchfühnmg ist
an die Zustimmung der Mehrzahl der Grund-
besitzer nach Kopfzalil und Bodenfläche ge-
knüpft. Eximiert sind AVeinberge, Hopfen-
und Gartenanlagen, geschlossene Grund-
stücke etc., doch können dieselben eventuell
expropriiert werden. Bemerkenswert ist,
dass Fischerei- und Weiderechte sowie Dienst-
barkeiten unverändert bleiben ; nur die Dienst-
barkeiten, welche infolge der Flurbereinigung
entbehrlich werden, erlöschen ohne Ent-
schädigung. Spätere Teilungen der be-
reinigten Grundstücke dürfen nur in der
Weise erfolgen, dass die einzelnen Grund-
stücke freie Zufahrt erhalten. Zur Durch-
führung des Gesetzes ist eine besondere Be-
hörde, die Flurbereinigungskommission, ge-
bildet. Bei dem Verfahren ist den Be-
teiligten, wie auch in Nassau, eine wesent-
lich grössere Mitwirkimg eingeräumt als nach
der preussischen Gesetzgebung.
Die württembergische Gesetzge-
bung hat im wesentlichen einen der bay-
rischen analogen Verlauf genommen. Die
Vereinödungen nach Kemptener Muster
haben nur in einigen Aemtem Nachahmung
gefunden. Die Gemeinheiten sind meist
als Allmenden im Besitze der Gemeinden
geblieben.
Die Ablösung der Weiderechte auf land-
wirtschaftlichen Grundstücken sowie auf
Waldboden wurde durch das G. v. 26. Mäi-z
1873 geordnet Dasselbe verbietet gi-und-
sätzlich die Beschränkung des Gnindeigen-
üuns durch die Weide, die privatrechtlicheu
Kulturbeschränkungsbefugnisse hören gegen
Entschädigung, die übrigen ohne solche
auf.
Zur Beseitigung der zahlreichen Trepp-
und Ueberfahrtsrechte w^urde das Wege-
reguüerungs-G. v. 26. März 1862 erlassen.
Dasselbe erwies sich jedoch als ungenügend,
vor aUem deswegen, weil es die Möglich-
keit der Zusammenlegung und damit einer
S kindlichen "Reform zu sehr erschwerte,
ie Erkenntnis dieser Uebelstände frlhi-te
endlich zu dem Feldbereinigungsgesetze,
welches fast gleichzeitig mit dem baye-
rischen am 30. März 1886 zu stände kam
und in seinen wichtigsten Bestimmungen
nur unwesentlich von denen des bayerischen
Gesetzes abweicht.
In Baden können nach dem G. v. 31.
Jiüi 1848 die Weiderechte auf Verlangen
des Verpflichteten gegen Geld zur Ablösung
gebracht werden, die Schafweide war be-
reits durch die V. v. 12. Mai 1818 be-
schränkt.
Ein Bereinigungsgesetz, welches sowohl
die Zusammenlegung der Grundstücke wie
auch die blosse Feldwegreguliening zirni
Gegenstande hatte, erging am 5. Mai 185G,
es forderte jedoch eine zu hohe Majorität
der Beteihgten zur Durchführung der Un-
ternehmung; erst die Nov. v. 21. Mai 1882
beschränkte dieselbe auf die eingehe Mehi-
zahl nach Kopfzahl und Steuerkapital. Die
badische Gesetzgebung hat der bayerischen
und württembergischen vielfach zum Vor-
bilde gedient. Eigentümlich ist Baden das
Gemeinheitsteilung (Specielle Gesetzgebung)
159
Institut der Kulturingenieiu^, welche auch
\m der Feldbereinigung thätig sind.
Ln Grossherzogtum Hessen bezweckt
das Gemeinheitsteüungs-G. v. 7. September
1814 die Aufhebung der Gememweide,
Forstgemeinheiten, Yor- und Nachhut auf
AViesen etc. Jeder Belastete hat das Recht
auf Ablösung. Die Abfindung findet in der
Regel in Land statt. Die Ablösung der
"Waldweiden nach diesem Gesetze ist be-
endet; für die Hütungsrechte auf landwirt-
schaftlichem Boden erging das G. v. 7. Mai
1849, welches die Aufhebiftig bezw. Ab-
lösung derselben gegen Geld ordnet.
Getrennt von diesen Gesetzen ist auch
hier die Znsammenlegungsgesetzgebung. Die-
selbe hat zu zwei Gesetzen, dem v. 24. De-
zember 1857 imd V. 18. August 1871 ge-
fuhrt, die mehr auf dem nassauischen Kon-
solidationsprincip beruhten, aber nur wenig
Erfolg hatten, z. T. wegen zu hoher Majo-
ritätsbestimmungen und Umständlichkeit des
Verfahrens. Das neue G. v. 28. September
1S87 ordnet die Feldbereinigimg ähnüch,
wie dies in den Nachbarstaaten geschehen.
Schliesslich ist noch Elsass-Loth-
ringen zu erwähnen. Hier ist unter der
h^Qzösischen Gesetzcebung nur wenig für
die Verbesserung der Flureinteilung ge-
schehen; dem Mangel an Feldwegen sucht
(las G. V. 14. April 1884 entgegenzuwirken,
auch kann zur Anlage und Unterhaltung
Ton Feldwegen sowie zur Herstellung von
Be- uud Entwässenmgen nach dem G. v.
30. Juli 1890 der Austausch von Gnmd-
stücken im Zwangswege herbeigeführt wer-
den.
Für Ablösimg von Servituten gelten die
venigen Bestimmungen des französischen
Rechts (s. oben).
B. Ausserdeutsche Länder.
1. England und Schottland. In Gross-
britannien beginnt das Bestreben zur Um-
gestaltung der ursprünglichen Flui-verfassung
schon im 16. Jahrhundert. Es geht aus von
dem Grossgrundbesitz und wird vor allem
hervorgerufen durch denüebergang zur Feld-
graswirtschaft, die einer besseren Arrondie-
mn^ des Besitzes als die altüberlieferte
Dreifelderwirtschaft des Mittelalters bedurfte.
Bas Mittel hierzu war die indosure. Sie
ist wie die preussische Gemeinheitsteilung,
Aufhebung der alten N^utzungsgemeinschaft
und schliesst in sich Ablösung der Servi-
tuten, Teilung der Gemein weiden und Zu-
sammenlegung der Gnmdstücke, ausserdem
ist sie in der Regel mit der Zehntablösung
verbunden. Die Bezeichnung inclosiu^ rührt
daher, weil die separierten Gnmdstücke ein-
gezäunt wurden. Es gelang den Grundherren
hierdurch, vor allem ihre eigenen Ländereien
— meist vergrössert durch Bauemlegungen —
aus der alten Feldgemeinschaft auszuscheiden,
die Bauern setzten die alte Wirtschaft fort.
In Schottland erging schon 1668 ein
allgemeines Gesetz, wonach auf Verlangen
eines Teilhabers die Gemeinheiten nach
dem Werte der bisherigen Anteile unter die
Interessenten verteilt werden soUten. In-
folge dieses Gesetzes sind aJlmähhch fast
alle Gemeinheiten in Schottland geteilt wor-
den.
In England dagegen gab es für die
bäuerhchen Grundeigentümer zunächst die
MögUchkeit gütlicher Einigung, die aber nur
dann Gewähr bot, wenn sie gerichtlich be-
stätigt wurde. Sie wurde noch besonders
dadm-ch erschwert, dass der Grundherr (lord
of manor) und der Zehntbei'echtigte bei Auf-
hebung der Feldgemeinschaft für ihre Rechte
eine verhältnismässig grosse Abfindung for-
derten. Der andere Weg, der sich nament-
lich auch dann notwendig zeigte, wenn ver-
schiedene Grundherren in einem Dorfe wa-
ren, war der einer besonderen Parlaments-
bill. Dieser Weg hatte aber den Nachteil,
dass er sehr kostspielig und ausserdem —
wegen der Willküi* der Teüungskommissa-
rien — sehr unsicher war. Dennoch ist er
seit 1709 vielfach beschritten worden, es
wurden bis 1832 ca. 5600000 -acres auf
diese Weise geteilt.
Diese Gesetzgebung kam jedoch vor
allem dem grossen Grundbesitze zu gute, da
sie vor allem zur Abrundung der grossen
Güter diente.
Erst seit 1845 griff die Gesetzgebung
durch eine Reihe von Gesetzen ein und er-
möglichte die Separation auch für das mittlere
und kleinere Grundeigentum. Es wurde
eine besondere Behörde zur Durchführung
der Reform eingesetzt, die land-commissio-
ners for England. Diese lässt, wenn ein
Drittel der Interessenten den Anti'ag stellt,
eine Untersuchung der betreffenden Flur
durch einen Kommissar abhalten und erlässt
eine provisorische Ordnung, welche von den
Beteiligten zu genehmigen ist. Hiernach
findet die Ernennung eines Taxators zur Ab-
schätzimg und die Prüfung der Rechtsver-
hältnisse statt. Sodann wird ein Verteilungs-
plan aufgestellt. Wird derselbe von zwei
Dritteln der Interessenten genehmigt, so gilt
die Ablösung als perfekt.
Die Abfindung erfolgt durchgehends in
Land. Bei jeder Teilung müssen 4 — 10 acres
für öffentliche Spielplätze. Promenaden etc.
reserviert werden.
2. Skandinavien. In den skandina-
vischen Ländern beginnt die Aufhebung
der alten Feldgemeinschaft verhältnismässig
früh und zwar im wesentüchen aus dem
gleichen Grunde wie in England.
In Dänemark ergingen seit 1720 Ver-
ordnungen zur Erleichterung der allmählich
160
Gemeinheitsteiluug (Specielle Gesetzgebung)
sich ausbreitenden Feldgraswirtschaft. Das
Hauptgesetz ist das G. v. 28. April 1781,
welches im wesentlichen mit den für Hol-
stein und Schleswig erlassenen Verordnungen
übereinstimmt. Die Einkoppelungen -wniriden
ziemlich rasch befördert, iusbosondors als
1792 den Gutsbesitzern erlaubt wurde, von
den auf eine zweckmässige Zusammenlogung
verwendeten Gesamtkosten die Zinsen auf
die Bauern des betreffenden Dorfes zu repar-
tieren, üeber die Hälfte dos Landes wurde
noch im vorigen Jahrhundert eingefriedigt.
Vielfach hat Abbau stattgefunden mit Staats-
unterstützung und Arbeitslülfe der Dorfge-
nossen.
Die Gemeinheiten verschwanden meist
bei der Verdoppelung, nur in den Heide-
gegenden Jütlands existieren dieselben noch
jetzt in grossem Umfange.
Auch in Schweden beginnt die Reform
um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit den
gleichen Massregeln wie in Dänemark. Der
Abbau ist hier in grössei-em Massstabe er-
folgt, besonders seitdem er in der Provinz
Schonen im Anfang unseres Jahrhimderts
mehrfach mit Erfolg ausgeführt war (vgl.
oben Bd. I, S. 2). Ein ausführliches Sepa-
rationsgesetz, eine Ergänzung und Zusammen-
fassung der älteren Verordnungen ist die
»erneuerte gnädige Verordnung, die Fluren-
separation im Reiche betreffend«, v. 9. No-
vember 1866. Jeder Eigentümer hat hier-
nach das Recht, die gesetzliche Teilung zu
verlangen, d. h. die Separation ungeteilter
oder schon geteilter, aber noch vermengter
Fluren in so zusammenhängenden Abfin-
dungen, wie deren Beschaffenheit und Lage
ohne Schaden eines Teilnehmers dies zu-
lässt. Dem Zwange ziu* Zusammenlegung
unterliegen nicht die Waldungen in den
nördlichen Provinzen. Das Verfahren leitet
ein von den Interessenten vorzuschlagender,
vom Provinzialstatthalter zu genehmigender
Geometer.
In Norwegen ist durch G. v. 17.
August 1821 die Aufhebung der Feldgemein-
schaft eingeleitet worden.
3. Oesterreich-Ungam. In Oester-
reich wurden bei der Bauernbefreiung in
den Jahren 1848 und 1849 (s. d. Art. oben
Bd. II S. 343) die wechselseitigen Brach- und
Stoppel weiderechte aufgehoben, auch fielen
die sogenannten kleinen Waldnutzungen
der armen Hintersassen in den herr-
schaftlichen und landesfürstlichen Forsten
infolge der Aufhebung des persönlichen
Unterthänigkeitsverliältnisses weg. Dagegen
wui-de die Beseitigimg der eigentlichen
Holz- imd. Weideservituten , welche den
Bauern oder ganzen Gemeinden kraft der
Landesverfassung oder specieller Rechts-
titel an obrigkeitlichen Wäldern oder Weide-
gründen zustanden, erst durch das Servituten-
ablösungspatent v. 5. JuJi 1853 in Angriff
genommen. Dieses Patent, dessen Geltungs-
bereich sich auf ganz Oesten^eich mit Aus-
nahme von Dalmatien erstreckt, schreibt als
Regel die Ablösmig der Servituten vor, lässt
jedoch eine blosse Regulierung dann statt-
finden, wenn die Beteiligten dieselbe vor-
langen oder bei der Ablösung entweder der
übliche Hauptwirtschaftsbetrieb des beroch-
tigten oder veiiiflichteten Gutes auf eine
sonst unersetzliche Weise gefährdet werden
würde oder ül^erwiogende Nachteile der I^an-
deskultur entstünden.
Die Durchführung der Operation erfolgte
durch die »Gnmdablösungs- und Regiüio-
nmgsbehörden« von Amts wegen und war in
den meisten Kronländem Ende der 80 er
Jahre im wesentlichen beendet. Die Ab-
lösungen und Reguüenmgen sind jedoch,
namentlich in Galizien und den Alpenländoru
vielfach erheblich zu Ungunsten der servitut-
berechtigten Bauern ausgefallen, so dass von
verschiedenen Seiten eine Revision der Ser-
vitutgesetzgebung gefordert wird. —
Die zwangsweise Zusammenlegimg (Koni-
massation) der Grundstücke ist durch (la.s
R.G. V. 7. Juni 1883 ermöglicht, das Ge-
setz ist jedoch ein sogenanntes Rahmengesetz,
welches zur Durchfülirung in den einzelnen
Kronländem besonderer Landesgesetze l>e-
darf. Derartige Landesgesetze sind bisher
nur in Niederösterreich (1886), Schlesien
(1887), Mähren (1892) und Salzburg (1894)
erlassen. Ausserdem sind die Zusammen-
legungen durch verschiedene Bestimmung-on
der Reichs- und Landesgesetzgebung erht^l>-
lich erschwert. Infolgedessen liaben die Z\i-
sammenlegungsgesetze bisher nur selten An-
wendung gefunden.
Die Teilung der in Oesterreich selir zalil-
reich vorhandenen Gemeinheiten ist durch
ein zweites R.G. v. 7. Juni 1883 georclnot.
Auch dieses Gesetz ist aber nur ein Rahmen-
gesetz. LandesgesetÄC sind erm,ngen füi"
Mähren (1884), Kärnten (1885), Niedcroster-
reich (1882), Krain (1887), Schlesien (1887)
und Salzburg (1892), für Salzburg jeiloch.
wie das Zusammenlegungsgesetz, ohne <lii-
zur Durchführung erforderlichen VoIIzii£k>-
vorschriften.
Zulässig sind nach österreichischem Rocln
sowohl Teilungen der gemeinschaftUehoi
Grundstücke wie blosse Regulierungen dei
Nutzungsrechte. Bei den Teilungen wir<
unterschieden zwischen General- und Sj;)ocial
teilungen. Erstere betreffen die Genital n
Schäften, welche zwischen gewesenen Obrio
keiten \md Gemeinden oder ehemaligen Uiiter
thanen, zwischen Ortsgemeinden oder Ov
meindeteüen unter einander oder endlie'
zwischen solchen und einer agrarischen Gt
meinschaft im engem Sinne (Bauemklassoi
Singularisten u. dergl.) bestehen. Die Provc
Gemeinheitsteilung (Specielle Gesetzgebung)
161
kation muss von einem der beiden Teile,
welche in Gemeinschaft stehen, ausgehen,
zur Provokation von selten einer Ortsge-
meinde ist ein von dem Landesausschuss be-
stätigter Beschluss des Gemeindeausschusses,
ziu: Provokation von selten ehemaliger Unter-
thanen oder einer agrarischen Gemeinschaft
die Zustimmung der Hälfte der Beteiligten
erforderlich.
Auch die Regulierung ist von einem
Majoritätsbeschluss der Beteiligten abhängig
gemacht. Nur in Kärnten ist bestimmt, dass
überall, wo die Teilung von den Parteien
nicht innerhalb einer bestimmten Frist ge-
fordert wird, von Amts wegen die Regu-
Uerung der Nutzungsrechte durchgeführt
werden muss.
Ende Dezember 189G waren insgesamt
787 Teilungen und Regulienmgen einge-
leitet, die hiervon betroöene Fläche betrug
71729,2 ha, die Zahl der Beteüigten 20737.
Faktisch durchgeführt waren 247 Teilungen
und Regulierungen mit einer Fläche von
19190 ha und 7 072 Beteiligten. Bei der
grossen Ausdehnimg der Gemeinheiten in
Oesterreich ist dieses Ergebnis nicht sehr
erheblich.
Servitutablösungen , Zusammenlegungen
und Gemeinheitsteilmigen sind in Oesterreich
principiell getrennt ; eine Verbindung dieser
Operationen, wie sie namentlich in Preussen
mit so grossem Erfolge durchgeführt wonlen
ist, findet in der Regel nicht statt Nur ist be-
stimmt^ dass, wenn in eine Zusammenlegung
Grundstücke mit gemeinschaftlichem Besitze
oder Benutzungsrechte, abgesehen von Wäl-
dern, einbezogen sind, zugleich mit der
Zusammenlegung auch die Teilung oder
Regulierung der Gemeinheiten vorgenommen
werden muss. Auch schreiben die meisten
Landesgesetze die Ablehnung von Anträgen
auf Teuung der gemeinschaftlichen Gnind-
stücke vor, wenn anzunehmen ist, dass die
Zusammenlegung der landwirtschaftlichen
Grundstücke in den betreffenden Gebieten
bald stattfinden und durch dieselbe das Er-
gebnis der Teilung voraussichtlich wieder
gestört werde.
Der BehÖrdenoi^anismus zur Leitimg
der Zusanomenlegun^n und Gemeinheits-
teilungen ist ein dreifacher: für jeden ein-
zelnen Fall wird eine Lokalkommission
ernannt, für jedes Kronland besteht am
Sitze der Landesregierung eine Landes-
kommission, endlich im Ackerbauministerium
eine »Ministerialkommission für agrarische
Operationen«.
In Ungarn wurde die Segregation, d. h.
die Teilung der Weide- und Waldgemein-
heiten auf Antrag bereits 1836 gestattet, die
Zusammenlegung (Eommassation) gleich-
zeitig mit der Regulierung der gutsherrüch-
Handwörterbnch der Staatswissenscliaften. Zweite
bäuerlichen Yerhältnisse durchgeführt und
bis zur Gegenwart ziemlich vollendet
4. Schweiz. In dem platten Lande der
Schweiz machte sich wie überall das Be-
dürfnis nach einer Reform der alten Agrar-
verfassung in der Mitte des 18. Jahrhunderts
fjltend. Die allmälüiche Verbreitung des
unstgrasbaues und die Einführung der Stall-
fütterung machten die in grosser Ausdeh-
nung bestehenden Gemeindeweiden über-
flüssig. Sie wurden daher teils zu Privai>-
eigentum verteilt, teils als sogenanntes Pflanz-
land in Sondemutzun^ gegeben. Das erstere
ist aber nur in einigen Kantonen, z. B.
Luzern und Bern, ziemlich radikal geschehen,
zumal da man hier Gemeindeschulden durch
Verkauf der Gemeinheiten zu decken ver-
suchte, in den meisten Kantonen sind die
Allmenden erhalten geblieben (vgl. d. Art oben
Bd. I, S. 255 ff.). Der Uebergang zu besseren
Betriebsformen weckte vielfach das Bedürfnis
nach einer Reform der Gesetzgebung, die
aber überall nur sehr stückweise zu stände
gekommen ist. Seit Anfang dieses Jahr-
hunderts sind in einer Reihe von Kantonen
Gesetze erlassen, die sich aber meist auf
Feldwegregulierung beschränken oder höch-
stens eine partielle Zusammenlegung ge-
statten. Eigentümlich ist diesen Gesetzen,
dass der Zwang zur Reform nicht nur statt-
findet, wenn die Majorität der Beteiligten
(nach Kopfzahl und Bodenfläche) den An-
trag stellt, sondern auch auf Initiative der
Gemeindebehörden bezw. selbständiger Flur-
behörden erfolgen kann.
Die kulturschädlichen Grundgerechtig-
keiten sind in der Hauptsache als aufge-
hoben zu betrachten. Nm* einseitige Dienst-
barkeiten, die auf besonderen Rechtsmitteln
beruhen, aber mit der Art der Benutzung
der Grundstücke nicht in Zusammenhang
stehen, haben sich erhalten, weil sie eben,
wie z. B. die Wegeservituten, die notwen-
dige Folge der alten Feldeinteilung sind.
5. Frankreich. In Frankreich sind
durch das G. v. 10. Juni 1793 JEdle Gemein-
heiten der politischen Gemeinde als solcher
zugeteilt worden. Infolgedessen ist die Un-
teilbarkeit des Gemeindegutes die Regel,
nur die Nutzung unterliegt der Bestimmung
der Gemeinde und wird durch das System
der allotissements geregelt Hiemach ist
die Gemeindeflur in Lose — allotissements
— geteilt, die von der Gemeinde teils für
Lebenszeit, teils auf bestimmte Jahre ver-
liehen bezw. verpachtet werden.
Die Weiderechte sind durch den Code
rural geregelt rTit I, sect IV). Als Gnmd-
satz spricht scnon das G. v. 28. September
1791 aus: Das Recht, Gnmdstücke einzu-
hegen und die Einhegungen zu entfernen,
ist eine wesentliche Konsequenz des Eigen-
tumsrechts imd kann keinem Eigentümer be-
Auflage. IV. H
162
Gemeinheitsteilimg (Specielle Gesetzgebung) — Gemeinsinn
stritten werden. Demgemäss ist es jedem
Grundeigentümer gestattet, sein Eigentum
einzuhegen, allein er verliert dadurch auch
selbst das Recht an der Gemeinweide.
Es bestehen aber auch in grossem
Umfange das Eecht des parcours und der
vaine päture, welches jedoch auf künstlich
gebauten Wiesen, angesäten oder mit Früch-
ten versehenen Ländereien vor der Ernte
sowie auf natürlichen Wiesen vor Abbrin-
gung des ersten Schnittes nicht ausgeübt
werden darf.
Das Bedürfnis ziu* Zusammenlegimg der
Grundstücke hat. sich auch in Frankreich
vielfach bemerkbar gemacht, ein Zwang aber
widersteht dem herrschenden Individualis-
mus. Es ist daher der Gedanke der zwangs-
weisen reunion des parcelles zwar seit etwa
einem Jahrhundert in den Kreisen der land-
wirtschaftlichen Gesellschaften und der Re-
gienmg oft erörtert worden, bisher jedoch
ohne praktisches Ergebnis. Nur ist zur
Beförderung freiwilliger Zusammenlegungen
die Enregistrementsgebühr bei Yertauschung
kleiner Grundstücke für solche Fälle, in
denen wenigstens eines der letzteren an das
Grundstück des Erwerbers angrenzt, ermäs-
sigt. Auch bietet das G. v. 21. Juli 1865
die Möglichkeit zur Ausführung von Feld-
wegen.
Litteratnr: Eine sorgfältige und umfassende Zu-
sammenstellung tmd Bearbeitung der einschl/igigen
Litteratur findet sieh in dem Werke von jbr,
Bruno Schutte, Die Zusammenlegung der
Grundstücke in ihrer volkswirtschaftlichen Be-
deutung und Durchfährung, S Ahteüungenf Leip-
zig 1886,
Specieü die nationalökonomische Litteratur,
auch die des 18. Ja%rhundeTU, hat hei Röscher,
Sy»tem, Bd, II, Kap, 6 eingehende Berücksich-
tigung gefunden, vgl. auch Stein, Verwaltungs-
lehre, 1. Aufl., Teil VII, 3. Aufl.. Bd. II, S. 599
und 619.
Ueber die Entstehung und Entwicklung der
älteren Flurverfassung in dem grössten Teil Eu-
ropas nördlich der Alpen bietet jetzt das grosse
Werk von Meitzefif Wanderungen, Anbau und
Agrarrecht der Volker Europas nördlich der
Alpen, I. Abt., Siedelung und Agrarwesen
der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten,
Römer und Slaven, Bd. I—III (1895), er-
schöpfend Aufschhvss, vgl. a\ich Metzens Ab-
handlung über Agrarpolitik in Schönbergs Handb.
der politischen Oekonomie, Bd. II, 4. Aufl. (1897).
— Nach ihrer allgemeinen volks^Dirtschaftlichen Be-
deutung charakterisiert die Gemeinheitsteilungen
und Zusammenlegungen am besten Buchen-
hevgeVy Agrarwesen und Agrarpolitik, Bd. I
(189:2), Kap. III.
Eine üebersicht über die deutsche Gesetz-
gebung giebt O, MeyeVy Deutsches VerwaltungS'
recht, 2. Aufl. (189S), Bd. I, S. S07ff. — Die
österreichische Gesetzgebung hat neuerdings W.
Schiff, Agrarpolitik seit der Grundenüastung
1. Bd. (1898) eingehend dargestellt.
Im übrigen vgl. die Artikel Auseinander-
setzungsverfahren, Feldbereinigung und Gemein-
heitsleilung in v. Stengels Wörterbuch des deut-
schen Verwaltungsrechts (1890), die Artikel Gemein-
heitsteilung, Gemengelage und Zusammenlegung
der Grundstücke in Ehlers Wörterbuch der Volks-
wirtschaft (1898) sowie die Artikel Abbau (ob^n
Bd. I, S. Iff.), Allmende (oben Bd. I, S. 255ff.)>
Zusammenlegung in diesem Handwörterbuch.
Friedrich Grossfmanru
Gemeinsinn.
Der Ausdruck Gemeinsinn wii'd in mehr-
fachem Sinne gebraucht. Man bezeichnet
damit jene Hingabe an eine kleinere oder
grössere Gesamtheit, wie sie bei schweren
Unglücksfällen, gegenüber Armen und
Kranken, aber auch im Yereinsleben, im
Gemeindedienste u. s. f. hervortritt. Es
liegt darin unzweifelhaft etwas Instinktives,
ja Natürliches ; aber eben deshalb gewinnt
sie an innerer Bedeutung durch Er- '
Ziehung und durch die bewusste Erkenntnis,
dass in gewissen Verhältnissen die persön-
lichen Interessen ziuückzutreten, die Standes-
unterschiede zu fallen haben. — So schöne
Erfolge nun seit der ältesten Zeit dieser
Gemeinsinn aufzuweisen hat, seine Behand-
lung an dieser Stelle wäre damit nicht ge-
rechtfertigt. Wohl aber verdienen unsere
Aufmerksamkeit die Aeussenmgen des
Gemeinsinnsda,wo sie dauernde Organi-
sationen von sozialem Charakter
geschaffen haben.
Auch hier lässt sich ein Doppeltes unter-
scheiden. Man könnte an diejenigen Ein-
richtimgen denken, welche nach dem Vor-
gang Schäffles und Ad. Wagners
als »Gemein Wirtschaft« bezeichnet werden.
Aus der Sunrnie wirtschaftlicher Erschei-
nungen lassen sich nämlich gewisse Gnippen
von Funktionen loslösen, welche nicht dem
Einzelhaushalt noch dem Wettbewerb der
Einzelwirtschaften überlassen sind, sondern
von der Gesamtheit übernommen werden.
Zuweilen entscheiden hier ökonomische
Gründe, d. h. es giebt manches, wofür der
einzelne gar nicht oder nur mit imverhält-
nismässigem Aufwand zu sorgen vermag.
Daneben zeigt sich auch das Verlangen, ge-
wisse Verrichtungen dem freien Wettbewerb,
überhaupt der Behandlung nach den Grund-
sätzen des Erwerbslebens zu entziehen und
unter die Obhut der Gesamtheit zu stellen.
Und wo l%e dieser Wunsch näher als da,
wo die Maximen des wirtschaftlichen Lebens
mit den Forderungen des sozialen Friedens
oder des allgemeinen moralischen und kultu-
rellen Fortschrittes Konflikte herbeiführen
könnten !
Derartige Vorgänge zu schildern, wäre
hier nicht am Platze. Vor allem fehlt da-
bei das Moment der Freiwilligkeit, das doch.
Gremeinsinn
163
für die eigentlidie ^Gemeinnützigkeit«
charakteristisch sein dürfte. Dazu kommen
gnmdsätzliche und methodologische Be-
denken. Hat doch eine solche Gemeinwirt-
schaft zwai- überall bestanden, aber stets in
Form lind Ziel gewechselt, so dass alle
Modalitäten von der vollen Unentgeltlichkeit
der Einzelleistung bis zur starken Finanz-
queUe der öffentlichen Wirtschaft vertreten
sind. Letzteres ist bei dem, was wir mit »Ge-
meinnützigkeit« bezeichnen, undenkbar. Es
kommt hinzu, dass diese letztere eine Eigen-
tümlichkeit der Neuzeit, aus besonderen
Terhältuissen und Bedürfnissen hervorge-
wachsen ist. Der Gemeinsinn in Gestalt
der Gemeinnützigkeit ist ein Teil der Neu-
bildungen, welche das 18. Jahrhundert der
Folgezeit übermittelt hat.
Das Eigentümliche der wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Zustände der älte-
ren Zeit ist ihr autoritativer Charakter,
d. h. eine von aussen her in die Dinge
hineingetragene Ordnung. Das ganze öffent-
liche Leben bewegt sidi in festen Geleisen.
Jede zur ffitwirkung benifene Kraft erhält
einen bestimmten Auftrag, dem sie sich nicht
entziehen, über den sie aber auch nicht
hinausgreifen darf. Bei dem Minimimi
von geistigem und intellektuellem Fort-
schritte kam es wohl auch zunächst da-
rauf an, das aus früherer Zeit lleber-
nommene vor Untergang zu wahren. —
Dass das alles anders werden müsse, ver-
stand sich nach den grossen Entdeckungen
und Erfindungen des 16. Jahrhunderts, nach
der Wiederbelebung von Kunst und Wissen-
schaft aus der Antike heraus eigentlich von
selbst und es wurde unvermeidlich nach der
Begründung^ der Naturwissenschaft und der
durch die Fortschritte der Mechanik ge-
vSicherten Umwälzung in der gesamten Tech-
nik, vne sie das 18. Jahrhundert geliefert
h^tte. Aber wie war, um dauernde Erfolge
zu erzielen, der Wechsel vorzunelmien?
Es lag nahe genug, dem Staate dieFührer-
roUe zu überlassen, und so wissen wir, dass
er sich in fast allen Kulliurländern dieser
Aufgabe unterzogen hat, wir wissen aber
auch, dass er sich als unfähig erwies. Die
Gründe des Misserfolges sind hier gleich-
giltig. Wohl aber hängt damit zusammen,
dass sich fast überall eine Abkehr aller
Geister von Staat und Kirche — letztere
hatte sich speciell in Frankreich vom Hofe
ins Schlepptau nehmen lassen — vollzog,
als käme es darauf an, für das öffentliche
Leben ganz neue Grundlagen zu schaffen.
Unter den damaligen Strömungen politisch-
sozialer Art sind drei besonders bemerkens-
wert: die Wiedergebiui; der menschlichen
Gesellschaft durch die Rückkehr auf ihre
natürlichen, wahrhaft sittlichen Daseins-
grundlagen (Rousseau), die verfassungs-
mässige Teilung der Gewalten zwischen
Regierung und Bürgern (Montesquieu) und
die allmähliche Umgestaltung des öffent-
lichen Lebens aus der Initiative der Gut-
gesinnten heraus durch Schöpfungen, welche
allen Klassen einen gleichmässigen Anteil
an den geistigen imd technischen Fort-
schritten der kommenden Zeit sichern sollten
(Fergusson, Iselin und andere mehr). Bei
allen finden wir als unentbehi'liche Voraus-
setzung die Forderung der persönlichen Frei-
heit und politischen Gleichheit; ebenso
spielt ziemhch überall die seit J. Locke
neubegründete Erziehungslehre eine bedeut-
same Rolle ; von besonderer Wichtigkeit er-
schien den Vertretern der dritten Gruppe
das Vereinswesen, welches bereits zu Be-
ginn des Jalirhunderts als Mittel zur Förde-
nmg der Wissenschaft anerkannt worden
war. Nunmehr soUten durch dasselbe die
Fürsorge für die intellektuellen und beruf-
lichen Interessen der verschiedenen Volks-
schichten geweckt werden. Die Bewegung
gipfelt denn auch in der Gründung gemein-
ntltziger Gesellschaften (Genf 1776, Basel
1777 u. s. f.).
Diese flüchtige Skizze lässt schon ge-
wisse grundsätzliche Eigentümlichkeiten in
ihren Vorzügen erkennen. Das Ziel ist
nicht die Besserung eines besonderen Stan-
des, wie das immer wieder versucht worden
ist. Denn entweder wird dabei nichts er-
reicht, weil nicht zugleich die ökonomischen
Gnuidlagen umgestaltet werden können,
oder man muss einhalten, weil der Gegensatz
anderen Klassen gegenüber nur verschärft
würde. Pestalozzis erster Versuch i)
war verfehlt: es kam gewiss nicht darauf
an, die neuen Gnmdsätze der Pädagogik
»der Erziehung der Armen für die Armut«
anzupassen. So haben denn auch zahlreiche
Misserfolge bewiesen, dass die Gemeinnützig-
keit ausser stände ist, die Lage einer ein-
zelnen Volksschicht zu reformieren. Ist
ihr doch nicht einmal gelungen, durch Bei-
mischung einiger Wohlthätigkeitstropfen den
bitteren Kelch der bestehenden ökonomischen
Principien trinkbarer zu machen.
Selbst der wohl organisierte Gemeinsinn
ist nicht dazu angethan, tiefer gehende
Wandlungen zu vollbringen : ihm kommt es
vielmehr darauf an, zu finden und zu be-
nutzen, was unter zeitiich gegebenen Ver-
hältnissen an allen gemeinsamen Interessen
vorhanden imd zur Pflege einer höher ge-
arteten Gemeinschaft befähigt ist. Er stellt
sich nicht der Zeit entgegen, begiebt sich
vielmehr in ihren Dienst, benutzt aber auch
*) Vgl. 0. Hunziker: Pestalozzis Ver-
sach einer Armenerziehnng auf dem Neubof
(Praxis der Schweiz. Volks- und Mittelschule
1881) p. 69 ff.
11*
164
Gemeinsinn
die heute reichlicher verfügbaren Geld-
mittel und beruflich gebildeten Arbeitskräfte.
Natürlich musste man, um möglichst weite
Kreise zu gemnnen, sein Augenmerk in
erster Linie auf die Bedürfnisse der unteren
Klassen richten; allein es ist bezeichnend,
dass zuerst die Fürsorge füi* den methodi-
schen gewerblichen und den höheren weib-
lichen Unterricht, die Sparkassen und die Be-
mühungen für neue Erwerbszweige die Ge-
müter beschäftigte, während doch schon da-
mals. Einsichtige die Gebrechen des Lohn-
systems hätten erkennen und deren freie
Weiterentwickelung aufzuhalten suchen sol-
len. Und so hält es auch nicht schwer in
allem anderen — in der Pflege des Gesan^-
und Turnwesens, Fortbildungsschulen, Km-
der^ärten, Handfertigkeitsunterricht, Yolks-
bibhotheken, Lesesälen, Anstalten für Alters-
schwache, Blinde, Taubstumme, Blödsinnige,
in den Bade- und Waschanstalten, Krippen,
Volksküchen, Bau von Wohnungen, Organi-
sation der Vermietung, ünterstützungskassen,
Dienstbotenprämiierung, in der Fürsorge für
Gefangene, entlassene Sträflinge und gefal-
lene Mädchen, in den Frauenherbergen, den
Arbeitsnachweisbiu-eaus u. s. f. u. s. f. —
etwas zu finden, was die Sphäre jeden
Standes, jedes Berufes und jeder Bildungs-
sttife berührt. In der That besteht die Kunst
nicht sowohl darin, dem einen und anderen
Wertvolles zu bieten, sondern auch den
Geber zum Empfänger zu machen, überhaupt
jeden mit dem Ganzen zu verbinden.
Ist hierdurch der Gemeinsinn ein wich-
tiger Faktor des öffentlichen Lebens gewor-
den, so könnte der doppelte Umstand Be-
denken erregen, dass es nirgends zu einer
geschlossenen Organisation gekommen ist
und dass der Staat, vielfach jedenfalls die
Stadtgemeinde ursprünglich freiwillige Un-
ternehmimgen in sich aufgenommen, zudem
vieles Netie ins Leben gerufen hat. —
Beides hängt nahe zusammen. Dass die
Initiative der Bürger zuerst in der Stadt
auftrat und hier eine mehr allgemeine Form
annahm, um zugleich an verschiedenen
Punkten Fühlung zu bekommen mit dem
Bedürfnis, ist einleuchtend ; allein gerade da,
-wo die Arbeit gelingt, meldet sich immer
Neues, wofür neue Mittel, Interessenkreise
und Arbeitski-äfte gesucht werden müssen.
Die Centrale ist gut ziu* Untersuchung, zur
planmässigen Versorgung der Einzel -Insti-
tute, sie erleichtert die weitere Angliederung
— unentbehrlich ist sie nicht, zumal im
Wesen der Freiwilligkeit die Neigung zur
Ausbildung des Lokaltons, die Zuspitzung
auf besondere Verhältnisse liegt. Ist doch
auch die Centrale nicht befähigt, eine ge-
wisse Verknöcherung d. h. das Stillstehen
des einzelnen Institutes auf den Anschau-
ungen und Bedürfnissen einer früheren Zeit
zu verhindern oder die fast immer fühlbare
Knappheit der Geldmittel zu verhüten. Es
melden sich also zwei Erwägungen: man
sollte weiter ausholen und ausgiebiger
wirken können, und man giebt ihnen da-
diu:ch Folge, dass einzelne Anstalten von
grösserer Allgemeinbedeutung in die Hände
der öffentlichen Verwaltung übersehen. Ist
doch auch die letztere benifen, ein höheres
Gesamtinteresse zu kultivieren.
In der Regel wird diese Umgestaltung
der den öffentlichen Organen gestellten
Aufgabe als eine spontane behandelt. Liegt
nicht eher die Vermutung nahe, dass unter
dem Einfluss jener Freiwilligkeit
die öffentliche Verwaltung eine
Durchgeistigung erfahren habe,
dass der Gemeinsinn weit mehr als früher
alle Säfte des öffentlichen Lebens gesundet
hat, dass ihm insbesondere die Kräftigung
und inhaltliche Bereicherung der Selbstver-
waltung zu danken ist? Es Messe über
der Form die Sache vergessen, wollte man
von Gemeinsinn nur da reden, wo volle
Freiheit und Freiwilligkeit herrscken. Vor-
ausgesetzt, dass die Slotive und die Ziele
dieselben bleiben, wird es dem Gemein-
sinnigen nicht darum zu thun sein, seinen
Schöpfungen Selbständigkeit und Unab-
hängigkeit zu wahren. Die feste Gliederung
des Ganzen ist das Wesentliche.
Erfährt aber nicht doch durch solche
Einmischungen der organisierte Gemeinsinn
eine Art von Abbruch, gehen wir nicht
einer Zeit entgegen, welche dieses Glied des
öffentlichen Lebens auslöst, da sie auf frei-
willige Mithilfe verzichten kann? Schon
jetzt besteht innerhalb der Stadtverwaltung
ein förmlicher Wetteifer, und da, wo früher
wenige freiwillige Gaben ausreichen mussteu,
werden mit voller Hand öffentliche Gelder
gespendet. Und doch ist jene Vorstellung
unzutreffend. Wenn der Gemeinsinn an
dem einen oder anderen Punkte einem
dritten Faktor weicht, so geschieht das
nicht wegen eigner Ohnmacht, sondern weil
mit der Ausbildung des einzelnen Gliedes
seine Arbeit abschliesst, um an einem neuea
Punkte mit frischer Enei^e eingesetzt zu
werden mit dem Zwecke, auch hier die
richtige Form herauszufinden. Die öffent-
liche Verwaltung darf sich auf das Suchen
und Vei-suchen nicht einlassen; sie muss
ihren Organen ein bestimmtes Pensum iind
die erfalu'ungs massig notwendigen Mittel in
die Hand geben. Jene freiwilligen Unter-
nehmungen sind in diesem wichtigen Punkte
besser gestellt und ihnen wird auch künftig
überlassen bleiben, den Mängeln der be-
stehendenGesamteinrichtimgenbeizukonimen
und die Modalitäten ihrer Beseitigung aus-
findig zu machen. Und wenn aufrichtig,
einsichtsvoll und mit dem richtigen Takt
Gemeinsinn — Gemeinwirtsehaft
165
gesucht wird, durfte auch fortan der Erfolg j
nicht fehlen. Der Gemeinsinn zeigt seine
wahre Xraft im unermüdlichen Weiterbau
an dem grossen Versöhnungswerk. Es
wird hier natmgemäss an Misserfolgen
nicht fehlen, erweist sich doch oft genug der
Boden als felsig, das Werkzeug als zu
schwach. Das ist indessen immer so ge-
wesen und beweist, wie schwer im Gnmde
die Aufgabe ist und wie verfehlt es wäre,
die Arbeit lediglich den starken Fäusten des
Staates und der öffentHchen Verwaltung
zu überlassen. Oder: auf jene öffentlich-
rechtlichen Institutionen wird der zählen,
welcher glaubt, die soziale Frage an einem
Punkte kurieren zu können, welcher jeden-
falls das Problem niu* in der arbeitenden
Klasse sucht Wer umgekehrt davon aus-
geht, dass wir dieselben in Einzel fragen
aufzidösen und ausserdem den inneren
Schluss des Ganzen zu mehren oder noch
besser, dem steten Wandel unserer Kultur
und Technik anzupassen haben, der wird
der organisierten Freiwilligkeit, dem so ver-
standenen Gemeinsinn eine wichtige Rolle
auch für die Zukunft zuerkennen.
Litteratnr; a) Veber die Bestrebungen des 18.
Jahrhunderts: L. v» Stein, Die soziale Be-
wegung in Frankreich etc. (1864) > p<isstm.
Ephemeriden der Menschheit (1776 bis
1785). — V. Miasktntski, Isaak Iselin (1876).
— b) Ueber die spätere Entwickelung : Der^
selbe. Die Gesellschaft des Guten und Gemein-
nützigen in Basel (1876). — Heitz, Veber ge-
meinnützige Bestrebungen (Schweiz. Zeiischr. f.
Gemeinnützigkeit (1878), Heft JV. -^ Bücher,
Die Aufgaben der modernen Stadtgemeinde (1898).
E. Heitz,
Gemeinwirtsehaft.
1. Dogmengeschichtliches. 2. Begriff. 3.
Verbreitung.
1. DogmeDgesehichtliches. Die ältere
Nationalökonomie beschränkte sich darauf,
die sämtlichen wirtschaftlichen Vorgänge als
Erscheinungen eines einheitlichen Wirt-
schaf tsprincipes zu betrachten. So erscheint
noch in den Augen der klassischen National-
ökonomen selbst die Wirtschaft des Staates
eigentlich als eine niu* dem umfange nach
von den Wirtschaften der einzelnen Staats-
bürger verschiedene Wirtschaft. Konnte
auch der sofort in die Augen springende
Unterschied in der Gestaltimg der wirt-
schaftssubjekte nicht gänzlich übersehen
werden, so wurde derselbe doch nicht zum
Gegenstande wiSvSenschaftlicherlTntersuchung
gemacht, während die Erkenntnis, dass die
Art und Weise der Wirtschaftsfühnmg eine
von Grund aus verschiedene sei, dass ver-
schie<iene Beweggründe massgebend seien,
dass die Frage, ob imd inwieweit in der
einen oder anderen Wirtschaft das wirt-
schaftliche Gesetz der mindesten Kosten
und des höchsten Nutzens am vollkommen-
sten beobachtet werde, von ganz verschiede-
nen Gesichtspunkten aus zu beurteilen sei,
überhaupt nicht zum Durchbruche gelangte.
War schon die Grundanschauung von der
Wirtschaft des Staates eine höchst mangel-
hafte, so blieben die zahlreichen, zwischen
dem Staate und der Einzelwirtschaft stehen-
den Gesamtwirtschaften und vollends die
freien ^wirtschaftlichen Vereinigungen gänz-
lich ausserhalb des Bereiches der älteren
nationalökonomischen Wissenschaft.
Die Erkenntnis von dem tief einschnei-
denden Unterschiede zwischen den den Ver-
kehr der verschiedenen Wirtschaftssubjekte
imtereinander beherrschenden Grandsätzen
nahm ihren Ausgangspunkt von der Unter-
scheidung in der Natur der Bedürfnisse.
Hermann war es, der zuerst die Sonde-
rung von Einzel- und Gemeinbedürfnissen
in die Wissenschaft einführte. Als Gemein-
oder Kollektivbedürfnisse bezeichnete er
jene Beditrfnisse, deren Subjekt und Träger
die Gesamtheit ist, andererseits aber auch
jene, welche von der Gesamtheit ohne Be-
schränkung auf bestimmte Personen befrie-
digt werden. In teilweisem Gegensatze liier-
zu nennt Wagner jene Bedürfnisse Ge-
meinbedürf niss , welche beim einzelnen aus
dessen Angehörigkeit zur menschlichen Ge-
meinschaft hervorgehen. Diese Unterschei-
dimg zweier Kategorieen von Bedürfnissen
war der erste Schritt ziu» Unterscheidung
von Privatwirtschaft und Gemein wirtscliaft,
indem jene Vorgänge als Gemeinwirtschaft
bezeichnet wurden, durch welche Gemein-
bedürfnisse befriedigt werden. Ohne auf
den Unterschied zwischen Einzel- und Ge-
meinbedürfnissen, welchen namentlich C o h n
(in der Tübinger Zeitschrift 1881, S. 464 ff.)
näher behandelt hat, weiter eingehen zu
wollen, muss doch hervorgehoben wenlen,
dass diese Kennzeichnung des Unterechiedes
der beiden W^irtschaftssysteme zum mindes-
ten unzureichend ist, indem vielfach ein
und dasselbe Bedürfnis sowohl privat- als
gemein wirtschaftlich befriedigt werden kann.
— Die Sonderung der verschiedenen Wirt-
schaftssysteme bozw. -principien wurde
dann weiter entwickelt von Wagner und
Schäffle, ohne aber zu vollkommener Klar-
heit zu gelangen, weil die Unterscheidung
der Wirtschaf tsprincipien, d. h. der Grund-
sätze, nach welchen bei Verfolgung des
Wirtschaftszweckes vorgegangen wird, nach
welchen demnach der Verkehr gestaltet
wird, und der Wirtschaftsformen, d. h. der
verschiedenartigen Gestaltungen der Wirt-
schaftssubjekte nicht mit der erfoixlerliehen
Schärfe durchgeführt wui-de. Vielmehr
166
Gemeinwirtschaft
wurden häufig Wirtschaftsprincipien mit ge-
wissen "VVii*tschaftsformen identifiziert, so
namentlich das privatwirtschaftliche oder
spekulative Princip mit der Einzelwirtschaft,
das gemeinwirtschaftliche mit der Gesamt-
wirtschaft, mit welch letzterem Ausdnicke
wir alle jene Wirtschaftssubjekte bezeichnen,
welclie aus einer grösseren oder kleineren
Anzahl von Einzelwirtschaften und Familien-
wirtschaften zusammengesetzt sind. Dabei
wurde übersehen, dass die chai-akteristischen
Merkmale der Wirtschaftsprincipien eben
nicht in der Gestaltimg des die einzelnen
Wirtschaftsakte vornehmenden Subjektes,
sondern in der Gestaltung der Wirtschafts-
akte selbst gelegen sind. Schaf fle hat aller-
diogs neben den Organisationsprincipien
auch Or^anisationsformen anerkannt und
ausdrücklich hervorgehoben, dass auch Ver-
eine, Staaten, Gemeinden etc. spekulativen
Erwerb treiben können. Trotzdem hat auch
er Privatwirtschaft und Gemeinwirtschaft
wieder als Wirtschaftssubjekte einander
gegenübergestellt. Ebenso hat Wagner in der
dritten Auflage seiner »GiiindJegung« in
teilweiser Bei-ücksichtigung meiner Aus-
führungen anerkannt, dass die Gemeinwirt-
schaften und die Wirtschaften des karita-
tiven Systems ausser nach gemeinwirtschaft-
lichem bezw. karitativem Principe auch nach
privatwirtschaftlichem Principe vorgehen
können. Da er aber nichtsdestoweniger den
Ausdnick »Gemein Wirtschaft« auch weiter
in der Doppelbedeutung des Wirtschaftssub-
jektes und des Wirtschaftsprincipes ver-
wendet, wird auch hier der Begriff der
Gemeinwirtschaft nicht scharf präcisiert und
bleibt ein zweideutiger. Phüippovich er-
kennt zwar den Unterschied z-wischen
»Wirtschaftseinheit« und * Organisations-
formen« an, behält aber mit Rücksicht auf
den bisherigen Sprachgebrauch gleiclifalls
die Doppelsinnigkeit des Ausdnickes »Ge-
meinwirtschaft« bei. Auf die Weise konnte
bisher eine bestimmte, allgemein anerkannte
Terminologie nicht zum Durchbruch gelangen.
2. Begriff. Es muss vor allem der sehr
verbreitete, unrichtige, oder doch mindestens
ganz ungenaue Sprachgebraucli, wonach der
ganze, von Gesamt wirtschaften geleitete
Wirt sciiafts verkehr kurzweg als Gemein-
wirtschaft bezeichnet wird, richtig gestellt
werden. Die Gesamtwirtschaften, gleichviel
ob freie oder Zwangsgesamtwirtschaften,
können ebenso wie Einzel- und Familien-
wirtsehaften nach privatwirtschaftlichem und
karitativem Principe verkehren und ver-
kehren auch thatsächlich in dieser Weise
mit allen ausserhalb ihres Rahmens stehen-
den Wirtscliaften und selbst auch mit jenen
Wirtschaften, welche der betreffenden Ge-
samtwirtscliaft als Mitglieder angehören, in-
sofern es sich nicht direkt um einen aus
der Mitgliedschaft der Einzelwirtschaft ent-
springenden Verkehrsakt liandelt. Die Un-
terschiede der zur Anwendung gelangenden
Wirtschaftsprincipien sind eben nur zum
kleinsten Teile durch die Gestaltung der
den betreffenden Verkehrsakt durchführen-
den Wirtschaftssubjekte begi'ündet. Von
eigentlich massgebender Bedeutung sind
hingegen die bei der Durcliführung des Ver-
kehrsaktes zu Tage tretenden Motive und vor
allem die Art und Weise, in welcher die
verschiedenen Bewertungen der mit einander
in Verkehr tretenden Wirtschaftssubjekte
sich Geltung zu verschaffen suchen, so\rie
der Umstand, welcher der in Betraclit kom-
menden individuellen Werte zum gesell-
schaftlichen Werte erhoben wird. Die Ge-
staltung der Wirtschaftssubjekte ist eben
nur insofern massgebend, als das gemein-
wirtschaftliche Princip zwischen Einzel- oder
Famüienwirtschafteu nicht zur Anwendung
gelangen kann und ebensowenig z>.\4schen
zwei von einander unabhängigen Gesamt-
\virtschaften , sondern nur zwischen einer
Gesamtwirtschaft einerseits und iliren Mit-
gliedern andererseits, mögen diese letz-
teren nun Einzel-, Familien- oder Gesamt-
wirtschaften sein, und zwar nur insoweit es
sich um die Beschaffung der Mittel zur Ver-
folgung des Zweckes der Gesamtwirtschaft
von den Mitgliedern und um die Verteilung
der so beschafften wirtschaftlichen Güter
bezw. um ihre Benutzung durch die ^lit-
glieder handelt. Wo hingegen eine Gesamt-
wirtschaft mit anderen ausserhalb ihres üm-
fanges stehenden Wirtschaftssubjekten in
Verkehr tritt, wird dies nach privatwirt-
schaftlichem Principe geschehen. — Während
nun im privatwirtschaftlichen Verkehre die
vollkommene Freiheit der miteinander ver-
tragenden Teile das charakteristische Merk-
mal büdet, ist im gemeinwirtschaftlichen
Verkehr das Gegenteil der Fall. Hier
herrscht durchwegs der von der Gesamt-
wirtschaft bezw. von ihren verfassungs-
mässigen Organen den Mitgliedeni gegen-
über ausgeübte Zwang. Dies gilt nicht mu*
bei den Zwangsgesamtwirtschaften, deren
Mitgliedschaft eine Folge des von der öffent-
lic^hen Gewalt ausgeübten Zwanges ist, son-
dern auch bei jenen, deren Mitgliedschaft
durch freien Entschluss erworben und ver-
loren winl. Durch den Beitritt zu der Ge-
samtwirtschaft hat sich eben jedes Mitglied
freiwillig dem Zwange von selten der Ge-
samtwirtschaft unterworfen und muss dem-
selben Folge leisten, solange seine lyiitglied-
schaft besteht. Dieser Zwang macht sich
sowolil in der Richtung geltend, o b ein Ter-
kehrsakt durchgeführt werden soll' als auch
in der, wie er durchgefülirt weitlen soll.
Der Prozess, durch welchen der für den be-
treffenden Verkehi'sakt massgebende gesell-
Gemeinwirtschaft
167
schaftliche Wert festgestellt wird, ist folgen-
der: Das einzelne Mitglied der Gesamtwirt-
schaft bewertet die ihm von dieser gebote-
nen Vorteile und die ihm dafür auferlegten
Lasten unter Zugrundelegung seiner eigenen
Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die Bedürf-
nisse der übrigen Mitglieder. Die Leitung
der Gesamtwirtschaft muss hingegen die
Bewertung in der Weise durchführen, dass
sie die B^ürfnisse sämtlicher Mitglieder als
gleidiberechtigt anerkennt und auf dieser
Basis unter besonderer Berücksichtigung der
allen Mitgliedern gemeinsamen, insbesondere
der aus der Gemeinschaft entspringenden
Bedüi-fnisse die Bewertung der den Äüt-
gliedem gebotenen Vorteile und auferlegten
Lasten vornimmt. Zwischen diesen beiden
einander gegenüberstehenden Schätzungen
findet ein Preiskanipf ähnlich dem im pri-
vatwirtschaftlichen Verkehre nicht statt, und
es entfällt selbstverständlich auch der Ein-
fluss von Angebot und Nachfrage gänzlich.
Vielmehr wird vermöge des ausgeübten
Zwanges das Restütat der von der Leitung
der Gesamtwirtschaft ausgehenden Bewer-
timg unverändert zum gesellschaftlichen
Werte erhoben. Die individueUen Bewer-
tungen der einzelnen Mitglieder gelangen
nur indirekt ziu: Geltung, da dieselben in
ihrer Gesamtheit eben die Gesamtwirtschaft
darstellen und die Leitung derselben bei
noch 80 weitgehenden VoDmachten doch die
Anschauungen und Wünsche der Mitglieder
nicht unberücksichtigt lassen kann.
Ausser dieser im Wege des gesetzlichen
Zwanges ohne Entfaltung irgend -welcher
Konkurrenz herbeigeführten alleinigen Gel-
tung der von der Leitung der Gesamtwirt-
Bchaft aufgestellten Wertschätzung hat man
auch ein nur generelles Verhältnis von
Leistung und Gegenleistung im Gegensatze
zu dem speciellen Verhältnis von Leistung
und Gegenleistimg in der Privatwirtschaft
als Eigentümlichkeit der Gemeinwirtachaft
angeführt. Dies ist jedoch nicht ganz zu-
treffend, denn einerseits kommen auch im
privatwirtschaftlichen Verkehre Verkehrsakte
vor, bei welchen ein specieDes Verhältnis
von Leistung und Gegenleistung nicht nach-
gewiesen werden kann, so z. B. bei allen
rauschalverträgen. andererseits sehen wir
wieder Verkehrsakte, bei welchen I^eistung
imd Gegenleistung genau verhältnismässig
abgestuft erscheinen, welche aber doch ver-
möge des dabei ausgeübten Zwanges un-
zweifelhaft dem gemeinwirtschaftlichen Sys-
tem angehören, so alle Enteignungsakte, die
Entlohnung der zwangsweise ]hre Wehr-
pflicht erfüllenden Staatsbürger u. a. m. Auch
das stärkere Hervortreten des Mutualismus
und Altruismus im Gegensatz zum Egoismus
können wir kaum als wesentliches Merkmal
der Gemeinwirtschaft anerkennen, denn ab-
gesehen davon, dass jene Beweggründe im
karitativen System und innerhalb der
Familie in weit grösserem Masse entscheidend
sind als im gemeinwirtschaftlichen, kann es
sich hier doch niu: um graduelle ünterschei-
dmigen handeln, welche zur Aufstellung von
Kategorieen umso weniger geeignet erscheinen,
als eine Messung cßeser psychologischen
Momente unmöglich ist. Damit soU keines-
wegs bestritten werden, dass jenes Zurück-
drängen des Egoismus eine wichtige Er-
scheiüung in der Gemeinwirtschaft bildet.
In der dadurch bedingten Ueberwältigung
desEinzelintei-esses durch dasGesamtinteresse
liegt neben der Vereinigung wirtschaftlicher
Kräfte zur gemeinsamen Erreichung eines
Zieles der Hauptvorteil der Gemeinwirtschaft
gegenüber der Privatwirtschaft. Auf jenen
Gebieten, welche das gemeinwirtschaftliche
Princip beherrscht, wird die Konkurrenz der
ausschliesslich ihr Sonderinteresse verfolgen-
den einzelnen Wirtschaftssubjekte beseitigt.
Nun ist es allerdings unzweifelhaft richtig,
dass eben die Konkurrenz wesentlich zur
Anspannung aller wirtschaftiichen Kräfte
beiträgt, und das blosse Streben nach Aus-
zeichnung in einer gemeinwirtschafüichen
Organisation würde den Ansporn, welchen
die Verfolgung des Einzelinteresses ausübt,
schwerlich ersetzen. Nichtsdestoweniger
wird die Gesamtwirkung des freien Wett-
bewerbes in vielen Fällen eine ungünstige
sein, denn dieselben Momente, welche die
weitestgehende Anspannung der wirtschaft-
lichen Kräfte veranlassen, führen auch zur
rücksichtslosesten Ausbeutung der wirtschaft-
lichen üebermacht, zur skrupellosen An-
wendung aller geschäftlichen Ränke und
Kniffe, soweit dieselben nicht direkt ins
Zuchthaus führen, kurz zum Siege des
Starken über den Schwachen, des — Ge-
wissenlosen über den Ehrlichen. Die Ge-
meinwirtschaft hingegen gewährieistet oder
SOU wenigstens gewährleisten die Gleich-
stellung aller Sonderinteressen und die Zu-
rücksetzung derselben hinter das Literesse
der Gesamtheit sowie die Beseitigung aller
unlauteren, aller unsoliden wirtschaftlichen
Vorgänge. Sie wird also hauptsächlich dort
am Platze sein, wo es sich um die Be-
friedigung gleichartiger Bedürfnisse aller
Mitglieder der betreffenden Gesamtwirtschaft
handelt, und wo auch die zur Befriedigung
dieser Bedürfnisse dienenden Güter in der
Qualität keiner wesentlichen Differenzierung
unterliegen. Dort aber, wo Leistungen be-
sonderer Qualität, eine über das Durch-
schnittsmass wesentlich hinausgehende An-
spannung der Kräfte verlangt werden, ^drd
der gemeinwirtschaftliche Zwang schwerlich
genügen, tun den Ansporn des Wettbewerbes
zu ei-setzen.
3. Verbreitung. Es unterliegt kaum
168
Gemeiiiwirtschaft
einem Zweifel, dass das gemeinwirtschaft-
liche System immer mehr und mehr auf
Kosten des privatwirtschaftlichen an Boden
gewinnt. Der üebergang ist selbstverständ-
lich kein plötzlicher, sprungweiser, sondern
ein allmählicher, der sich auf verschiedene
Weise vollzieht. In den zahlreichen freien
Gesamtwirtschaften, welche imser ganzes
gesellschaftlichen Leben beherrschen, hat
das gemeinwirtschaftliche Princip einen ver-
hältnismässig beschränkten Spielraum, denn
manche wohlthätige Wirkungen der Gemoin-
wirtschaft können eben wegen der Frei-
willigkeit des Beitrittes und der dadurch
gegebenen Beschränkung des Kreises der
Mitglieder nicht zur vollen Geltung gelangen,
und tibeitlies liegt die Bedeutung der freien
Gesamtwirtschaften melu* in der Kooperation
als in der Anwendung des gemeinwirtschaft-
lichen Principes. Trotzdem niuss man sich
aber vor Augen halten, dass dieses Princip
thatsächlich innerhalb aller freien Gesamt-
wirtschaften, auch bei den Aktien- und
sonstigen Erwerbsgesellschaften zur Anwen-
dung gelangt, denn auch hier tritt hinsicht-
lich der Höhe der Einzahlungen und der
Verteüung des Gewinnes der Zwang der
Gesellschaft gegenüber dem einzelnen Mit-
gliede in Wirksamkeit. Bei anderen freien
Gesamtwirtschaften, welche die Persönlich-
keit ihrer Mitglieder in höherem Masse er-
fassen, gewinnt das gemeinwirtschaftliclie
Princip grösseren Spielraum, ja bei kleinen,
auf wenige Personen beschränkten freien
Gesamtwirtschaften ist sogar der Fall mög-
lich, dass diese ausschliesslich nach gemein-
wirtschaftlicliem Princij^e verkehren und die
Yermittelung des Verkehre mit der übrigen
Gesellschaft vollkommen der Gesamtwirl-
schaft überlassen. Solche Fälle können aber
— wenn sie überhaupt vorkommen — immer
nur höchst seltene Ausnahmen bilden. Von
viel grösserer Bedeutimg ist hingegen das
gemeiuwii-tschaftliche Princip in seiner An-
wendung innerhalb der Zwangsgesamtwirt-
schaften. Erst hier können die Vorteile
dieses Wirtschaftsprincipes zur vollen Gel-
tung gelangen, denn nur hier ist es möglich,
auch jene Elemente, welche aus verscliie-
denen Gründen ihre Interessen auf eigene
Faust besser wahren würden, zurückzudrän-
gen bezw. sie ziu* Fördenmg des Gesamt-
in tei*esses heranzuziehen: auch wird es nur
in der Zwangsgesamtwirtschaft möglich,
eine so grosse Menge Wirtschaftssubjekte
zu vereinigen, dass die Macht der Kooperation
in vollem Masse zur Geltung gelangt. Der
Üebergang vollzieht sich entweder in der
Weise, da.ss bestehende Zwangsgesamtwirt-
sohaften (Staat, Provinz, Gemeinde etc.)
neue Aufgaben übeniehmen oder dass ge-
wisse, durch Interessengemeinschaft ver-
bundene Wirtscliaftssubjekte zu selbständigen
Zwangsgesamtwirtschaften vereinigt werden,
üebrigens bedingt die Verfolgung irgend
eines wirtschaftlichen Zieles dimjh eine
Zwangsgesamtwirtschaft noch keineswegs
die vollständige Herrschaft des gemeinwirt-
schaftlichen Principes. Vielmehr wird anfangs
auch die Zwangsgesamtwirtschaft noch sehr
häufig das privatwirtschaftliche Princip an-
wenden, und nur allmählich und oft sehr lang-
sam gelangt auch die Gemein Wirtschaft zur
Herrschaft. Eines der deutlichsten Beispiele
in dieser Beziehung gewährt die Entwickelung
auf dem Gebiete des Verkehrswesens. Von
einer vollkommenen Herrschaft der Gemein-
wirtschaft kann man hier nur dann sprechen,
wenn der betreffende Verkehrsweg jeder-
mann zur unentgeltlichen Benutzung offen
steht und die Kosten für Anlage und Be-
trieb im Zwangswege von den sämtlichen
Mitgliedern der betreffenden Gesamtwirt-
schaft aufgebracht werden. Dieses Stadium
ist aber bisher nur bei einem Teile der
Land Strassen erreicht; alle übrigen Verkehrs-
mittel, welche gleichfalls von den Zwangs-
gesamtwirtschaften übernommen werden,
werden nur sehr langsam aus öffentlichen
Unternehmungen in öffentliche Anstalten
umgewandelt. Ein ähnlicher Prozess voll-
zog sich auf den meisten Verwaltungsge-
bieten bei Verfolgung des dem modernen
Staate gestellten Wohlfahi-tszweckes, während
auf dem Gebiete des Rechts- und Macht-
zweckes die Gemeinwirtschaft bereits weiter
lun sich gegriffen hat und nur noch verein-
zelte Reste des privatwirtschaftlichen Sys-
temes in der Form von Gebühren u. dgl.
zurückgeblieben sind. Diese stete Ausdeh-
nimg der Gemeinwirtschaft ist wohl geeig-
net, zu der Meinung zu veranlassen, dass
für dieselbe keine Grenzen bestehen, dass
vielmehr ein Zustand der Volkswirtschaft
möglich sei, in welchem die Gemein Wirt-
schaft das allein herrschende Wirtscliafts-
system wäre und so der Kommunismus im
vollsten Sinne verwirklicht würde. So wenig
geleugnet werden kann, dass die ganze Ge-
staltung der modernen Volkswirtscliaft mehr
und mehr nach gemeinwirtschaftlicher Or-
ganisation drängt, so kann doch bei kritischer
Untersuchung der massgebenden Verhältnisse
kein Zweifel obwalten, dass die ausschliess-
liche Herrschaft der Gemeinwirtschaft un-
möglich ist, dass vielmehr ein gewisses Ge-
biet (ganz abgesehen vom eigen wirtschaft-
lichen und karitativen) dem privatwirtschaft>-
lichen Svsteme wird überlassen bleiben
müssen. Vor allem widerspricht die mensch-
liche Natur, in welcher der Eigennutz einen
der hervoiragendsten Züge bildet, auf das
entschiedenste einer volkswirtschaftlichen
Organisation, in welcher für die Bethätigung
des Eigennutzes kein Raum vorhanden wäre.
Aber selbst abgesehen von diesem ganz aU-
Gtemein Wirtschaft — Gtenosseoschaft
169
gemeinen Bedenken kann die Gemeinwirt-
Schaft nach ihrem Wesen nicht ausgedehnt
werden auf die geistige Produktion, wie
überhaupt auf die Produktion solcher Güter,
welche nicht allgemein auftretende Bedürf-
nisse zu befriedigen geeignet sind; bei voll-
kommen gemeinwirtschaftlicher Organisation
könnten niur Massengüter produziert werden.
Alle Sonderbedürfnisse müssten von der
Befriedigung ausgeschlossen bleiben, wodurch
wieder jede Steigerung, jede Differenzienmg
der Bedürfnisse, welche aUein ein Fort-
schreiten der Kultur ermöglichen, verhindert
würde. Ein solcher Fortschritt wäre umso
weniger möglich, als auch das Gefühl der
Selbständigkeit, der Selbstverantwortlichkeit
und damit der Reiz zur aussergewöhnlichen
Anstrengung verschwinden müsste. Eine
Grenze in anderer Richtimg ist überdies der
Ausdehnung der Gemeinwirtschaft gezogen
durch die Familie, welche — mag sie wel-
che Form immer haben — die Gnmdlage
des Staates bilden muss und dazu eines
wirtschaftlichen Rückhaltes bedarf. Diese
Grenzen wird die Gemeinwirtschaft nicht
überschreiten können, nicht überschreiten
dürfen. Wie weit sie innerhalb derselben
vorschreiten wird, darüber Vermutungen
anzustellen, wäre müssig. Zw^ei feilos be-
finden wir uns noch im aufsteigenden Aste
dieser Bewegtmg, deren Ende vorläufig noch
nicht abzu.sehen ist.
Litteratlir : A. Wagner, Grundlegung, i. Aufl.,
Leipzig 1879, S. 196 ff., 3. Aufl., Leipzig 1893,
S. 827 ff. — Schdfße, GeaelUschafilicheg System,
S. Aufl., insbesondere II, S. 20 ff. — Derselbe,
Bau und Leben, S. Bd. — Gross, Wirtschafts-
formen und Wirtsckaßsprimipien, Leipzig 1888.
— Philippovieh , (rrundrisf, 2. Aufl., Frei-
bürg 1897, S. 8 ff. G. Gross,
Gemengelage
8. Zusammenlegung der Grund
stücke.
Generalhufenschoss
s. Hufenschoss.
Genossenschaft.
1. Begriff der G. 2. Historische Entwicke-
lung.
1. Be^iff der G. Der Ausdruck »Ge-
nossenschaft«: ist scheinbar einer der viel-
deutigsten in unserer Sprache. Der Grund,
weshalb oft sehr verschiedenartige Ver-
einigimgen als Genossenschaft xar' ^ioxvv
bezeichnet w^erden, so z. B. die Erwerbs-
und Wii-tschaftsgenossenschaften , die ge-
werblichen Genossenschaften und andere
mehr, liegt darin, dass man sich daran gewöhnt
hat, einzelne Kategorieen von Genossen-
schaften als Genossenschaft kurzweg ohne
nähere Bezeichnung zu benennen, wodurch
vielfach nicht mu* eine Mehrdeutigkeit des
Ausdnickes oder doch wenigstens eine Un-
sicherheit herbeigeführt, sondern auch der
Gesamtbegriff fast ganz in den Hintergrund
gedrängt \viutle. Den Gegenstand der fol-
genden Zeilen bildet ausschliesslich die Ge-
samtheit der Genossenschaften, während für
die einzelnen Arten auf die Specialartikel
über Erwerbs- und Wirtschaitsgenossen-
schaft, Zünfte, Allmende etc. etc. verwiesen
werden muss.
Im allerweitesten Sinne könnte unter
Genossenschaft jede Vereinigung mehrerer
Personen zu irgend einem Zwecke verstanden
wenlen, gleichviel ob diese Vereinigimg eine
gewollte, eine erzwungene oder eine zufällige
ist. Unter diesen Begriff wäre jede Besitz-
gemeinschaft, Famihe und Ehe ebenso wie
Gesellschaft und Staat, und vielleicht sogar
eine Genossenschaft des Weltverkehres zu
subsumieren. Aber eben deshalb, weil dieser
Begriff fast unbegrenzt ist, ist er unfrucht-
bar und gänzlich ungeeignet zur Heraus-
bildung eines Rechtsbegriffes. Der all-
gemeine Begriff der Genossenschaft wird
deshalb enger gefasst werden müssen, ohne
aber solche Vereinigungen, welche der Sprach-
gebrauch als Genossenschaft bezeichnet, aus-
zusclüiessen.
Die Genossenschaft ist eine echt ger-
manische Institution, ihr Rechtsbegriff aus-
schliesslich im deutschen Rechte entwickelt.
Die Theorie der Genossenschaft, deren Kern
der Gedanke der realen Gesamtpersönlich-
keit ist, wurde von Beseler begründet,
von Gierke weiter entwickelt und bis in
die kleinsten Einzelheiten durchgebildet^).
Danach haben wir als Genossenschaften alle
deutschrechtlichen Körperschaften, d. h. alle
Vereine mit selbständiger Rechtspersönlich-
keit unter Ausschluss von Staat und Ge-
meinde zu betrachten. Als das Ziel aller
korporativen derartigen Organisationen er-
scheint die Gestaltung des Bestandes zur
lebendigen Gesamtpersönlichkeit. In den-
selben erscheint die Einheit durch die Viel-
heit verkörpert, weshalb Einheit und Viel-
heit in der Genossenschaft nicht nur Gegen-
sätze, sondern auch Korrelate sind. In dieser
Verkörperung der Einheit durch die Viel-
heit in der dadurch bedingten teilweisen Ab-
sorption der Einzelpersönlichkeit durch die
Körperschaft, welche bis zum vollkommenen
Zurücktreten der Einzelpersönlichkeit gehen
kann, liegt die eigentliche charakteristische
Eigenschaft der deutschrechtlichen Genossen-
*) Auf dem epochemachenden Werke von
Gierke beruht auch die folgende Darstellung.
170
Genossenschaft
Schaft. — Die Entstehung derGenossenschaften
ist eine verschiedene; sie sind gewillkürte
Genossenschaften, wenn sie auf Grund einer
freien Vereinigung der Genossen, die dann
auch für die Rechtsnachfolger Giltigkeit haben
kann, entstanden sind; sie sind gewordene
Genossenschaften, wenn gewisse gemeinsame
Verhältnisse persönlicher oder sachlicher Art
die Mitglieder ohne besonderen darauf ge-
richteten Willensakt zusammengeführt haben,
wobei dann selbstverständlich die Entwicke-
lung der körperschaftlichen Verfassung nur
langsam und schrittweise erfolgen kann.
Endlich können aber Genossenschaften auch
dem Zwange einer öffentlichen Gewalt ihre
Entstehung verdanken, solche Genossen-
schaften tmterscheiden sich von den gewill-
kürten dadurch, dass die Bildung z\var auch
eine ausdrückliche Vereinigung der Genossen
voraussetzt, dass aber diese sowie der Beitritt
der einzelnen von ihrem freien Willen un-
abhängig ist. — Ebenso bestehen Unterschiede
hinsichtlich des Substrates der Genossen-
schaften, je nachdem, ob die Personen-
gesamtheit das einzige Substrat bildet oder
noch anderweitige Substrate objektiver Art
hinzutreten. Rein persönliche Genossen-
schaften waren beispielsweise die Standes-
genossenschaft im älteren deutschen Reiche,
so namentlich die des Adels zur Zeit des
Leluibandes , dann gewisse kirchliche Ge-
nossenschaften. Das sachliche Substrat der
Genossenschaften kann wieder sehr ver-
schiedenartig sein. Die Gemein siimkeit des
Wohnsitzes in einem gewissen Gebiete, die
gemeinsame Unterwerfung unter dasselbe
Amt und (xericht, vor allem aber die Ver-
mögenseinheit, die Gesarathabe, das Gesamt-
eigentum können die sachliche Grundlage
der Genossenschaften bilden. Die vermögens-
rechthche Gemeinschaft wird bei den meisten
Genossenschaften, auch bei jenen, bei welchen
sie nicht die eigentliche Gnmdlage bildet, eine
wichtige Rolle spielen. Weitaus die meistenGe-
nossen Schäften sind eben Gesamtwirtsclmften
(vgl. den Art. Gemeinwirtschaft oben
ö. 165 ff.), ohne dass aber die beiden Begriffe
sich decken. Zwar sind alle Genossenschaften
mit wirtschafthcher Grundlage, welche aber
keineswegs für die Genossenscliaft unbedingt
notwendig, Gesam t wirtschaften ; hingegen
haben zahli*ei(^he Gesamtwirtschaften nicht
den Chai^ter einer Genossenschaft. Zu-
nächst gilt dies von Staat Tmd Gemeinde im
modernen Sinne, welche von vornherein von
der Subsumienmg unter den Begriff der
Genossenschaft ausgeschlossen sind, dann
aber auch von zahlreichen freien Gesamt-
wirtschaften, welche lediglich eine Vereini-
gung wirtschaftlicher Kräfte bezwecken, ohne
deshalb die ihr angehörigen Wirtschafts-
subjekte zu einer Genossenschaft zusammen-
zuschliessen.
Die Genossenschaft erhält das Körper-
Bchaftsrecht, d. h. WiDens- und Handlungs-
fähigkeit entweder durch stillschweigende
Anerkennung, insofern nicht ausdrückliche
gesetzliche Bestimmungen entgegenstehen,
oder durch besondere staatliche Verleihung.
Das rechtliche Verhältnis der Genossenschaft
zu ihren Mitgliedern sowie die Bildung der
Organe der Genossenschaft wird durch ihre
Verfassung geregelt. Die Rechte der Mit-
glieder können sein individualrechtliche ge-
genüber der Genossenschaft und soziairecht-
üche nach aussen. Die rechtlichen Bezie-
hungen der Genossenschaft sind 1) individuaU
rechtliche, in denen die Verbandspei^son als
für sich stehende Einheit gut ; 2) gemeinheit-
liche Beziehungen, in denen die Verbands-
person als Ganzes ihren Gliedern gegen-
über berechtigt oder verpflichtet ist, und 3)
gliedmässige Beziehimgen, in denen die Ver-
bandsperson als Glied eines Ganzen berech-
tigt oder verpflichtet ist. Die Verfassung
der Genossenschaft ist das dem individuellen
Willen der Mitglieder entzogene Lebensgesetz
derselben und bestimmt, unter welchen Be-
dingimgen bestimmte Glieder des Vereins-
körpers dessen einheitliclies Leben, seine
Willens- und Handhmgsfähigkeit, zum Aus-
drucke bringen können. Sie bestimmt ferner
die Art und Weise der Büdung dieser Or-
gane und ihre Funktionen.. Die hauptsäch-
lichen Organe der Genossenschaft sind die
Mitgliederversammlung als die eigentliche
Verkörperung der Gesamtheit, der Vorstand,
der Ausschuss und richterliche oder schieds-
richterliche Organe. Die Abgrenzung zwischen
den Funktionen der einzelnen Organe ist
begreiflicherweise eine sehr mannigfaltige,
abhängig vom Zwecke der Genossenschaft
und ihrer Entstehung. Ebenso verschieden
ist die rechtliche Natur der Mitgliedschaft,
und es können auch innerhalb einer und
derselben Genossenschaft die Rechte und
Pflichten der Mitglieder verschiedene sein,
indem z. B. nur einem Teile der Glieder
Sitz und Stimme in der Versammlung der
Genossenschaft und damit Einfluss auf die
Leitung der Genossenschaft zusteht, während
die übrigen als Schutzgenossen zwar An-
spruch auf gewisse Leistungen seitens der
Genossenschaft, aber keinerlei aktives Ver-
fügungsrecht im Hinblick auf die Genossen-
schaft haben. — Die Beendigung oder Auf-
lösung der Genossenschaft kann erfolgen
durch darauf gerichtete Handlungen von
innen (Selbstauflösung) oder von aussen, ins-
besondere durch die Staatsgewalt, oder sie
erfolgt ohne solche Handlungen durch Weg-
fall sämtlicher Mitglieder, durch Wegfall
des objektiven Substrates oder endlich durch
die vollkommene Erfüllung des Zweckes der
Genossenschaft, so dass kein Raum für eine
weitere Thätigkeit bleibt.
Genossenschaft
171
2. Historische Entwickeläng. Die an
sich gewiss auffallende Thatsache, dass der
Rechtsbegriff der Genossenschaft ein aus-
schliesslich deiitschrechtlicher ist, findet ihre
Erklärung in der Verbreitung der genossen-
schaftlichen Vereinigungsformen. Die Ge-
nossenschaft ist eben eine ausscliliesslich
germanische Rechtsinstitution. Wenn auch
das klassische Altertum, die romanischen
imd slavischen Völker fast ebenso zahlreiche
Vereinigimgen verschiedener Gestaltung
kennen, ist doch der Charakter derselben
ein wesentlich anderer. Nirgends kommt
die ^»Einheit und Vielheit in der Gesamt-
heit«^ so zum Ausdrucke wie in der deutsch-
rechtlichen Genossenschaft, sei es, dass die
Einzelpei'SÖnlichkeit mehr hervortritt oder
aber gänzlich zurückgedrängt winl und voll-
kommen in der betreffenden Vereinigung
aufgeht. — Im klassischen Altertum und
namentlich im römischen Recht ist einer-
seits die Staatsidee, andererseits das Recht
des einzelnen Individuums zu stark ent-
wickelt ; während der Staat die selbständige
Entwickelung der Köri)erschaften hemmt
und hindert, ist das individuelle Selbstge-
fühl zu stark, um sich einer anderen Ge-
samtheit als dem Staate in entsprechendem
Masse unterzuordnen. Bei den slavischen
und vollends bei den orientalischen Völkern
hinderte wieder der Despotismus und die
Unfreiheit des Volkes die Entwickelung der
Körperschaften. Auf germanischem Boden
hiügegen gewährte die langsame Entwicke-
lung der Staatsidee und vollends der Obrig-
keit die erforderliche Unabhängigkeit, wäh-
rend die oft ungünstigen Lebensbedingungen
notwendigerweise zum engen Anschlüsse
der Individuen untereinander drängten. So
war jene innige Vereinigung möglich, welche
namentlich bei manchen älteren Formen fast
zum vollständigen Aufgehen des einzelnen
in der Genossenschaft führte. — Für die
Entwickelung der Genossenschaften tmter-
scheidet Gierke 5 Perioden: 1. Patriarchale
Periode bis 800 ; 2. patrimoniale und feudale
Periode 800—1200: 3. Periode der Einun-
gen, der gekorenen Genossenschaften 1200
bis 1525 ; 4. Periode der abhängigen Privat-
rechtskorporationen , der Privilegskorpora-
tionen unter der Herrschaft des Principes
der Obrigkeit 1525—1806; 5. Periode der
freien Association. Als die älteste Genossen-
schaft der ersten Periode erscheint die Ge-
schlechtsgenossenschaft, welcher das Haus,
die Familie im engeren Sinne, als hen*-
sehaftlich gestalteter Verband gegenüber-
stand, so dass schon hier der Gegensatz
zwischen genossenschaftlicher und herr-
schaftlicher Or^nisation zum Ausdruck ge-
langt. Aus der /usammenschliessung der Ge-
ßchleehtsgenossenschaften entstand die Volks-
genossenschaft, welche wieder in Teilge-
nossenschaften (Hundertschaften, Gaue etc.)
zerfiel. Diese Genossenschaften waren sämt-
lich innig mit Grund und Boden verknüpft,
und es entwickelten sich aus denselben die
Markgemeinden verschiedenen Umfanges, in
welchen sich das Sondereigentum an Grund
und Boden erst langsam durch das üeber-
«mgsstadium der Sondernutzung aus dem
Gesamteigentum entwickelte. — Daneben
nahmen die aus den Gefolgschaften ent-
standenen herrschaftliclien Verbände einen
immer grösseren Aufschwung und über-
wucherten mehr und mehr die freien Ge-
nossenschaften- Auch diese Verbände er-
scheinen schon im Anfange ihrer Entwicke-
lung mit Gnmd und Boden in der Weise,
verknüpft, dass gewisse herrschaftliche
Dienstverhältnisse mit der Verleihung von
Grund verbunden wurden. Dieses Verhält-
nis bildet die Grundlage des Lehnsystemes,
welches die nächste Periode (bis 1200) der
Entwickelung der Genossenschaften be-
herrscht. Die herrschaftlichen Verbände
gewinnen einen genossenschaftlichen Clia-
rakter, und es entstehen hofrechtliche, dienst-
rechtliche und lehnrechtliche Genossen-
schaften. Die ersteren waren vor aUem auf
dem gemeinschaftlichen Hufenbesitze in der
Hofgeraeinde basiert, wenngleich auch ge-
wisse Personen ohne Grundbesitz Genossen
der Hofgemeinde waren. Hofrechtlicher
Natur waren auch die ältesten Innungen der
Hof haud werker , in welchen das Handwerk
als herrschaftliches Amt die Grundlage der
Mitgliedschaft bildete. Vollkommen auf
persönlicher Grundlage, nämlich auf dem
Dienstverhältnisse zum Herrn, beruhten die
Genossenschaften der Dienstmannen. Von
diesen wesentlich verschieden waren die
lehnrechtlichen Genossenschaften der freien
Vasallen. Abgesehen davon, dass dieselben
nur in Angelegenheiten des Lohns dem
Lehnrechte unterworfen, sonst aber voDbe-
recht^igte Volksgenossen waren, tritt hier das
persönliche Verhältnis zum Herrn viel mehr
zurück, imd das dinglielie Verhältnis des
abhängigen Besitzes wiuxie successive zur
einzigen Grimdlage der lehnrechtlichen Ge-
nossenschaften. Aus diesen entwickelten
sich die Genossenschaften des Lehnadels
und der freien ritterlichen Vasallen als die
ei-sten ständischen Genossenschaften. Das
Lehnband beherrschte aber die öffentlichen
Verhältnisse in einem Masse, dass das ganze
Reich dadurch einen lehngenossenschaftlichen
Charakter gewann. Ausser den herrschaft-
lichen Genossenschaften begegnen wir in
dieser Periode noch den Resten der freien
Genossenschaften des alten Rechtes in den
Dorf- und Markgemeinden, welche sich nur
in wenigen Gegenden, so namentlich in der
Schweiz und in Friesland, länger erhalten,
und ferner den ersten Anfängen der freien
172
Genossenschaft
Einnng in den Gilden. Diese letzteren zei-
gen nach ihrer Entstehung, ihrer Organisa-
tion und ihren Zwecken grosse Mannigfal-
tigkeit; das gemeinsame charakteristische
Merkmal lag darin, dass die Mitghedschaft
nicht auf natürlicher Zusammengehörigkeit,
nicht auf der Gemeinsamkeit des Herrn,
sondern auf dem freien Willen der Genos-
sen benilite, gleich\iel, ob sie diu'ch reli-
giöse Gefühle, durch ein gemeinsames Schutz-
bedürfnis oder durch gleichartigen Beruf
zusammengeführt wurden.
Die dritte Periode (1200—1525) wird ge-
kennzeichnet durch das Aufblühen der
Städte, welchen es vermöge ihres zuneh-
menden Wohlstandes in verschiedenartiger
WeisQ gelang, sich ganz oder teilweise von
der Herrschaft geistlicher oder weltlicher
Herren zu emancipieren. Die Verfassung
der Städte war eine genossenschaftliche,
wobei allerdings niu* ein verhältnismässig
kleiner Teil der Bürgerschaft die Rechte
der Vollgenossen besass, so dass sich eine
förmliche Aristokratie der Geschlechter
herausbildete, gegen welche sich die üb-
rigen Stände sehr bald mit erwachendem
politischen Bewusstsein auflehnten. In den
sich daraus entwickelnden, Jahrhimderte
währenden Kämpfen sehen wir beide Streit-
teile genossenschaftlich organisiert, die Ge-
schlechter als Gilden, die übrigen Bürger
in den Zünften der Handwerker. (Vgl. die
betreffenden Artikel.) Nach dem Muster dieser
Genossenschaften vereinigten sich auch die
übrigen Benife, bis herab zu den fahrenden
Leuten, Bettlern und Räubern zu Gilden
oder Zünften. Aber nicht nur der gemein-
same Beruf giebt Anlass zur Einung, auch
mannigfache andere, einer Anzahl Bürger
gemeinsame, oft nur vorübergehende Ver-
hältnisse führen zur Bildung von Genossen-
schaften, welche zumeist das Bestrel>en
haben, ihre Zwecke zu erweitern und das
wirtschaftliche wie gesellschaftliche Leben
der Genossen mehi* und mehr zu beherr-
schen. Auch das geistige Leben des deut-
schen Volkes winl in dieser Periode vom
genossenschaftlichen Gedanken beheiTScht.
Die Kirche selbst wie die geistlichen Orden
und Brüderschaften nehmen mehr und mehr
die Gestalt der Genossenschaft an, während
die Universitäten als Korj)orationen, welche
Lehrer wie Lernende umfcissen, ins Leben
gerufen werden und überdies nach Fakul-
täten. Nationen, Bursen etc. eine genossen-
schaftliche Gliederung erhalten. — Vielleicht
die grösste Bedeutung aber gewann das
Einungswesen durch seine Anwendung im
politischen Leben; die Gemeinschaften blie-
ben nicht auf die einzelne Stadt beschränkt,
sondern es entstanden, ausgehend von einem
engeren Aneinanderechliessen der Kauf man ns-
gilden mehrerer Städte, auch Städtebünde,
von welchen die bedeutendste die »gemeine
deutsche Hansa« war, neben welchen aber
auch in Oberdeutschland mehrere grosse
Bünde bestanden. Diesen Städtebünden
wurden dann sehr bald Einungen des Herren-
Standes und der Ritterschaft entgegengesetzt,
welche einerseits gegen die wachsende Macht
der Städte, andererseits gegen die sich ent-
wickelnde landesftirstiiche Gewalt gerichtet
waren. Die Fortschritte der letzteren konnten
aber nicht dauernd gehemmt werden, und
wenn auch die einzelnen Länder vermöge
der genossenschaftlichen Organisation der
Stände selbst in gewissem Sinne als Ge-
nossenschaft erscheinen, so kommt doch
verhältnismässig rasch die absolute, obrig-
keitliche Gewalt des Landesfürsten zur Gel-
tung, und diese nimmt in der nun folgenden
Periode auch einen entscheidenden Einfluss
auf die Gestaltung und Ent Wickelung der
Genossenschaft.
An Stelle der freien Einung tritt zumeist
die Privilegskorporation, deren Wesen und
Form nicht mehr oder doch nur zum ge-
ringsten Teile von der Genossenschaft selbst,
sondern von der das Privileg erteilenden
Obrigkeit bestimmt wird. Sie wurde so zu
einer Anstalt, deren Bedeutung gegenüber
der Genossenschaft des älteren Rechtes da-
durch herabgedrückt wurde, dass sie des
öffentiichen Charakters ziun grössten Teil
entkleidet imd fast ganz auf das Privatrecht
beschränkt wurde. Die alte ländliche Ge-
meindegenossenscbaft, die Markgeraeinde,
deren Bestand schon in der früheren Periode
vielfach diu^ch Uebergang des Gh'und und
Bodens in heiTschaftliches Eigentum er-
schüttert war, verschwindet gänzlich oder
besteht höchstens noch in der Form von
Agrargenossenschaften und Genossenschaften
zm* Verfolgung einzelner wirtschaftiicher
Zwecke fort. An ilire Stelle tritt, geschaffen
durch, die obrigkeitliche Kmft, die politische
Landgemeinde. Ijangsamer, aber umso siche-
rer, vei^sch windet die genossen schaftlicheOrga-
nisation der städtischen Gemeinwesen. Indem
die politische Unabhängigkeit der meisten
Städte von der territorialen Gewalt zerstört
wird, sinken sie zu Verw^altungsbezirken
herab, mit welchen eine Privatrechtskorpo-
ration verbunden ist. Einzelne Städte er-
halten ihre Unabhängigkeit, werden aber
selbst zu Territorien, in welc»hen eine Kor-
poration die Landesherrschaft besitzt. Sdüiess-
lich vei-sch windet in unserem Jahrhunderte
der rechtiiche Unterschied zwischen Städten
und Landgemeinden fast ganz, und es er-
scheint die einheitliche Ortsgemeinde. Ueber
und neben diesen entstehen dann öffentlic^h-
rechtliche Genossenschaften teils zur Ver-
folgung besonderer Zwecke, wie die Kirchen-,
Schul-, Armen-, Wegegemeinden etc., teils
zur ErffiUung allgemeiner Verw^altungsauf-
Genossenschaft-^Genovesi
173
gaben, wie die Bezirke, Kreise und Pro-
vinzen. Nicht überall treten die letzteren
Selbstverwaltungskörper als Genossenschaften
auf, mehrfach auch als blosse Staatsanstalten.
Der moderne Staat kann keinesfaUs der Ge-
nossenschaft zugezählt werden. Vielmehr
erscheint im repräsentativen Verfassungs-
staate die genossenschaftliche Grundlage
(Staatsbürgergenossensehaft) und die obrig-
keitliche Spitze (Monarchie) organisch ver-
eint, so dass wir in demselben eine Ver-
söhnung der alten Genossenschafts- und
Herrscliaftsidee erblicken können. Während
in neuerer Zeit die auf der Gebietsgemein-
samkeit basierenden Genossenschaften viel-
fach ihren genossenschaftlichen Charakter
verloren und keineswegs einen neuen Auf-
schwung nahmen, haben die freien Associa-
tionen, vollständig gewillkürte Genossen-
schaften, um so mehr an Ausdehnung und
Bedeutung gewonnen. Die Anwendung des
genossenschaftlichen Grundsatzes zur Ver-
folgung politischer, religiöser, geistiger, sitt-
licher, sozialer und nationaler Zwecke bil-
dete für die Staatsgewalt den Anlass zur
gesetzlichen »Regelung« des Vereinsrechtes,
welche Regelung zumeist die möglichste
Einschränkung aller jener Vereine bezweckte,
welche irgendwie das öffentliche Leben zum
Gegenstande ihrer Thätigkeit machen woll-
ten. Nichtsdestoweniger hat das Vereins-
wesen immer weitere Kreise erfasst und
ünmer mehr Zwecke in den Bereich eines
Gebietes gezogen. Eine noch bedeutendere
Rolle aber spielen in neuerer Zeit die rein
wirtschaftlichen Genossenschaften , welche
sich nur die Verbesserung der wirtschaft-
lichen Lage ihrer Mitglieder zum Ziele ge-
setzt haben. Teils aus den Resten alter
Gewerbsgenossenschaften entstanden und an
diese anknüpfend, teils aus den neuen Be-
dürfnissen der immer mehr fortschreitenden
kapitalistischen Produktionsweise entsprun-
gen, liaben diese freien wirtschafthchen
Associationen, welche wir mit Gierke in
Vermögensgenossenschaften imd Personalge-
nosßenschafien einteilen können, der moder-
nen Volkswirtschaft ihren eigenartigen
Charakter aufgednlckt und dem Principe
der Kooperation auf allen Gebieten, auch im
Kampfe zwischen Kapital und Arbeit, zum
Durclibniche verhelfen. — In neuester Zeit
endlich, im letzten Jahrzehnte, hat dieEnt-
wickelung der Genossenschaften noch eine
weitere Förderung erfahi'en dadurch, dass
neben der freien Genossenschaft und zum
Teil an Stelle derselben der Zwangsgenos-
senschaft wieder ein grösserer, fast unab-
sehbarer Raum eingeräumt wird. Man hat
nicht nur die alten Berufsgenossenschaften,
insbesondere die des Gewerbes, in freilich
ganz veränderter Form zu neuem Leben er-
weckt, sondern man hat auch die Gemein-
samkeit anderer Verhältnisse, vor allem die
Gemeinsamkeit gewisser Gefahren zum An-
lasse genommen, um unter dem Zwange
der öffentlichen Gewalt neue genossenschaft-
liche Organisationen zu schaffen. Dmxüi die
Krönung des modernen Versicherungswesens,
durch die allgemeine Altera- und Invaliden-
versicherung, wiude der Weg zur Schaffung
einer grossen, die überwiegende Mehrzahl
sämtlicher Staatsbüi-ger umfassenden Zwangs-
geuossenschaft unter der Patronanz des
Staates beschritten. — Jedenfalls ist die
Entwickelung der Genossenschaften keines-
wegs als abgeschlossen zu betrachten, und
jeder Tag zeitigt neue Formen, neue Er-
scheinungen.
Litteratur: Oierke, Das deutsche Genossm-
schaftsrecht, S Bde., Berlin 1868 — 81. — Jter"
selbe, Die Genossenschaftstheorie und die deut-
sche Rechtsprechung, Berlin 1887. — Beseler,
System des gemeinen deutschen Privatrechts, S.
Aufl., Berlin 1878. — Maurer, Geschichte der
Dorfverfassung in Deutschland, 2 Bde., Erlangen
1866—66. — Derselbe, Geschichte der Städte-
verfassung in Deutschland, 4 Bde., SttUtgart 1870.
— Die ausserordentlich reichhaltige LiUeratur
über die historische Entwickelung der einzelnen
Genossenschaft siehe in dem erstcitierten Werke.
O, Gross.
Genovesi, Antonio,
geb. am 1. XL 1712 zu Castiglione bei Salemo
m Italien, 1736 als Priester geweiht, 1740
Professor der Metaphysik an der Universität zu
Neapel, 1754 Inhaber des 1753 in Neapel er-
richteten Lehrstuhls der politischen Oekonomie,
des ersten derartigen in Italien. Im Gegen-
sätze zu seinen in lateinischer Sprache gehal-
tenen Vorlesungen über Metaphysik, durch die
er sich als Eklektiker und Anhänger der Wolf-
schen Philosophie beim Erzbischof von Neapel
missliebig gemacht hatte, bediente er sich zu
seinen Vorlesungen seit 1754 der italienischen
Sprache. Genovesi starb am 22. IX. 1769 in
Neapel.
Genovesi ist der begabteste Vertreter der
merkantilistischen Schule in It^en. der seine
wirtschaftspolitischeu Studien mit einer staats-
philosophischen Behandlung des Stoffes einleitet.
Der wichtigste Faktor im Staatsleben ist ihm
der Mensch; er argumentiert, da der Staat ein
politischer Körper sei, erheische es sein Erhal-
tungsinteresse, innerhalb seiner politischen
Grenzen alle Mittel, die zur ErhöhuM: «einer
Potenz dienen können, auszunutzen. Zunächst
habe der Staat daher für eine starke, der Aus-
beutungsfähigkeit der Bodenkräfte angpemessene
intelligente und gewerbfleissige Bevölkerung zu
sorgen. Die Möfflichkeit des einstmaligen Ein-
tretens einer Üebervölkerung giebt er zu.
Dicht hinter dem Menschen führt er dann die
menschliche Arbeit als sicherste Eeichtums-
quelle auf. Die Handelsbüanztheorie wird
durch ein neues Element von ihm bereichert,
indem er in ihr eine Schutzwehr der wirt-
174
Genovesi — Gentz
schaftlichen Unabhängigkeit dem Auslande ge-
genüber erblickt und den Schutzzoll nur als
arantie für Aufrechterhaltung der inneren
Yerkehrsfreiheit und der blühenden, durch
Prämien anzuspornenden Industrie betrachcet.
Das Geld schätzt er als Cirkulationsmittel, je
zahlreicher die Hände, durch welche es geht,
um so schneller wird sich nach ihm der Geld-
umlauf vollziehen; er spricht femer von einer
Annäherungstendenz zwischen dem Gelde und
den Waren. Genovesi bekämpft die Humesche
Theorie von dem öffentlichen Kredit hinsicht-
lich ihrer missbräuchlichen Anwendung zur
egoistischen Bereicherung. Wer des Kredits
bedürftig, ist seine Meinung, dem soll die Ge-
legenheit. Geld aufzunehmen durch keine hem-
menden 2iin8nehmungs verböte erschwert werden ;
er bekämpft femer die italienischen Fideikom-
misse, die ihre mittelalterliche Form erst mit
dem siegreichen Vordringen der französischen
Revolutionsheere verlieren sollten; er bekämpft
auch die unwirtschaftliche Lahmlegung grosser
Immobiliarvermögen seitens der toten Hand.
^ur folgende hierher gehörige Schriften
Genovesis sind zu nennen : Delle lezioni di com-
mercio, o sia d'economia civile. Neapel 176ö;
dasselbe, 2.-4. Neudruck, Neapel 1748, 1770,
179Ö; dasselbe, 2. Aufl., Mailand 1768; dasselbe,
3. Aufl., Bassano 1769; dasselbe, Neudruck in
der Custodischen Sammlung (parte modema,
vol. VII, VIII, IX), Mailand 1803 ff. ; dasselbe,
Neudruck in Ferrara, Biblioteca dell' Econo-
mista, Bd. III, 1. Serie, Turin 18ö2; dasselbe
in deutscher Uebersetzung von A. Witzmann,
Leipzig 1776; dasselbe, in spanischer üeber-
setzung von V. de Villalba, Madrid 178ö;
dieselbe in neuer Ausgabe, Madrid 1804. Opus-
coli di ecouomia pubblica, in der Custodischen
Sammlung (s. o.) Bd. IX, 2. u. X. —
Vgl. über Genovesi : Galan ti, Elopo storico
di Sign, abbato A. Genovesi, Venedig (1774);
dasselbe, 3. Ausg., Florenz 1781. — Pecchio,
Histoire de Teconomie polit. en Italie, Paris
1830, S. 163/178. — Ferrara, Genovesi, sua vita,
sue opere (in Prefazione al vol. III, serie 1,
della Biblioteca deir Economista, Turin 1852).
— Röscher, System, Bd. I, Stuttgart 1854, S. 24
(hinsichtlich der von Genovesi aufgebrachten
unpassenden Bezeichnung „ecouomia civile"). —
Bobba, Commemorazione di Ant. Genovesi,
Beneveut 1867. — Say et Chaillev, Dictiounaire
d'^conomie polit., Bd. I, Paris 1891, S. 1003. —
H. d. St., 1. Aufl., m, 1892, S. 811 f. - Palgrave,
Dictionary of polit. economy, Bd. II, London
1896, S. 189 f.
Lippert,
Gentz, Friedrich toh,
geb. am 8. IX. (nach seiner Angabe 2. V.) 1764
zu Breslau, studierte in Königsberg, trat 1785
in den preussischen Staatsdienst und rückte
bei dem königl. Generaldirektorium vom Ge-
heimsekretär zum Kriegsrate (jetzigem Hech-
nungsrate) auf. Der Beginn seiner journalisti-
schen Thätifi^keit fällt in das Jahr 1790, wo er
mit G. N. Fischer die deutsche Monatsschrift
(5 Bde., Berlin und Braunschweig, Vieweg,
1790—95, Neue Folge, Leipzig, Nauck, 1795
bis 1803) gründete und bis 1795 gemeinschaft-
lich mit Fischer, dann allein redigierte. An-
fänglich ein Lobredner, nach den Ereignissen
von 1792 ein entschiedener Geg^ner der fran-
zösischen Revolution, führte er sich 1793 durch
eine vortrefflich stilisiert« und von ihm kom-
mentierte Uebersetzung von „Burkes Betrach-
tungen über die französische Revolution '^ als
Publizist in die litterarische Welt ein, der er
in kurzer Aufeinanderfolge auch zwei andere
Bücher aus der Feder antirevolutionärer fran-
zösischer Schriftsteller (Mallet du Plan und
Mounier) in deutscher Uebertragung vorlegt«.
Für den preussischen Staatsdienst galt Gentz,
der bei der Thronbesteigung Friärich Wil-
helm III. in einem Sendscnreiben an den König
(s. u.) dem Wunsche nach Steuer ermässigung
und Pressfreiheit für Preussen Ausdruck ge-
geben, überhaupt als abgewirtschaftet ; mindes-
tens war ihm der Eintritt in die höhere Be-
amtenkarriere fürs erste verschlossen. Im
April 1802 erfolgte seine Berufung als kaiser-
licher Rat mit einem Jahresgehalte von 4000
Gulden nach Wien. Gentz leistete derselben
Folge und wurde noch im nämlichen Jahre ge-
adelt. Seiner publizistischen Thätigkeit war
jetzt im höheren Auftrage Napoleon verfallen,
den er mit fulminantem Pathos in den Regie-
rungsorganen und in Manifesten bekämpfte.
Im preussischen Hauptquartier, vor der Schlacht
von Jena, entwarf er das erste Manifest gegen
Frankreich und ebenso ist er der Verfasser der
Manifeste Oesterreichs von 1809 und von 1813
gegen Napoleon. Nach dem Sturze der euro-
päischen Weltherrschaft Bonapartes und des
damit erfolgten Abschlusses der französischen
Revolution, wurde Gentz, seit 1809 Vertrauter
und Kabinettsrat Mettemichs, ein fanatischer
Bekämpfer aller liberalisierenden, dem Revolu-
tion sgedanken nahe oder entfernt verwandten
Regungen der Volksseele Europas. Die auf dem
Aachener Kongress, dem er als Protokolliührer
beiwohnte, gefassten reaktionären Beschlüsse
waren von Gentz in einer Metternich vorher
überreichten Denkschrift in ihren Grundzügen
entworfen, und der Urheber der durch Kotze-
bues Ermordung heraufbeschworenen Karls-
bader Beschlüsse war weniger Metternich als
sein Ratgeber Gentz. Die Inscenierunjf der
demagogischen Verfolgungen, die Puriflzierung
der Universitäten von Anhängern burschen-
schaftiicher Tendenzen besorgten als Handlauger
Mettemichs fast lediglich Gentz und sein
Freund Adam Müller, und die Autorschaft der
wichtigsten, den späteren Kongressen zu Trop-
pau, Laibach und Verona aus Mettemichs
Kanzlei vorgelegten Schriftstücke kommt Fried-
rich von Gentz zu, der bis zu seinem Tode als
Protokollführer bei allen Fürsten- und Minister-
kongressen fungierte. Er starb am 9. VI. 1832
in Wien. In nationalökonomischer Beziehung
war Gentz ein Smithianer, soweit die politische
Reaktion der Mettemichschen Aera der wirt-
schaftlichen Freiheit Bewegungsraum gönnte.
Er veröflFentlichte an sts^tawissenschaft-
lichen Schriften in Buchform:
Sr. kgl. Majestät Friedrich Wilhelm III.,
bei der Thronfolge allerunterthänigst überreicht,
am 16. XI. 1797, Berlin 1797. — Dasselbe.
Gentz — George
■4 ^" "
Neuer wörtlicher Abdruck nebst einem Vorwort
über das Damals und Jetzt von einem Dritten
geschrieben am 16. XI. 1819, Brüssel, Frank
vrecte Leipzig, Brockhans) 18^. — Politische
Parodien, ein Lesebuch für denkende Staats-
bürger, Leipzig 1799. — üeber den ürspmng
nnd Charakter des Eriejges gegen die franzö-
sische Revolution, Berlin lS)l (mit heftigen
Ausfällen auf die Kriegführung der Verbünde-
ten, die den Bevolutionsarmeeen ihre Siege so
leicht ^macht). — Essai sur T^tat actuel de
Tadministration des finances et de la richesse
nationale de la Grande Bretagne, Hamburg
1801 (Lobrede auf das Pittsche Kreditsystem).
— Ueber den politischen Zustand von Europa
vor und während der französischen Revolution,
2 Hefte, Berlin 1801—2 (frei nach „Hauterive,
De r^tet de la France ä la fin de l'an VIÜ.")
— De r^tat de TEurope avant et apres la Re-
volution frangaise. Hamburg 1802. (Revidierte
französische Uebersetzung des vorhergehenden.)
— Fragmente aus der Geschichte des politischen
Gleichgewichts in Europa, Leipzig 1804, 2. Aufl.,
ebenda 1806. (Atmet einen glühenden Patrio-
tismus, der zur Vergleichung der Schrift mit
„Fichtes Reden an die deutsche Nation** her-
ausfordert.) — Authentische Darstellung des
Verhältnisses zwischen England und Spanien
vor und bei dem Ausbruche des Krieges, Riga
1806. — An die deutschen Fürsten und an die
Deutschen. 1. Ausgabe, o. 0. u. J. (1814) ; 2.
Ausgabe, Leipzig 1814.
Gentz war für zahlreiche Zeitschriften
thätig, u. a. für die Augsburger All^. Zeitung,
die im Jahrg. 1818 den hervorragenden Artikel
von ihm „üeber das österreichische Geld- und
Kreditwesen" enthält.
Gesammelte Schriften: Veröffent-
lichungen aus seinem Nachlass. Briefwechsel.
Ausgewählte Schriften, zusammengestellt von
W, Weick, ö Bde., Stuttgart und Leipzig 1836
bis 1838. — Schriften. Ein Denkmal von G.
Schlesier, 5 Bde., Mannheim 1888-40. — Un-
gedruckte Denkschriften, Tagebücher und Briefe.
Herausgegeben vonG. Schlesier, Mannheim 1840.
— M^moires et lettres in^dits de Chevalier de
Gentz, publ. par G. Schlesier, Stuttgart 1841.
— Oekonomisch-politische Fragpnente, aus Gentz'
Nachlass mitgeteilt von A. v. Prokesch-Osten
und abgedruckt in der „Deutschen Vierteljahrs-
Schrift"^ Jahrg. 1840, Heft 3, S. 73—82, Stutt-
Sart (die Fragmente bestehen aus zwei Adam
[üUers Geld- und Preistheorie bekämpfenden
Artikeln: 1) Die Wirkung des Geldes; 2) Ueber
das^ Steigen der Preise in den letzten 60 Jahren
(1770 — lö20). — Briefwechsel zwischen Gentz und
Johannes v.MüUer, herausgegeben vonG.Schlesier,
Mannheim 1840. — Briefwechsel zwischen Gentz
imd Adam Müller, Stuttgart 1857. — Aus dem
Nachlasse Friedrich v. Gentz\ herausgegeben
(von A. V. Prokesch-Osten), 2 Bde., Wien 1867.
— Briefe von Gentz an Pilat, herausgegeben
von Mendelssohn-Bartholdy , 2 Bde., Leipzig
1868 (mit int^essanten Mitteilungen über das
Verhältnis von Gentz zu Fanny Eisner). (Den
Briefwechsel zwischen Gentz und Garvcs. im Art
G a r V e oben S.6.)— Ans demNachlasse Varnhagens
von Ense: TajO^ebücher von Friedrich v. Gentz,
4 Bde., Leipzig 1873—74 (umfassen die Jahre
1820—1826 und enthalten u. a. auch Gentz'
Tagebuch über seinen Aufenthalt im preussi-
schen Hauptquartier vor der Schlacht von Jena).
— Depeches inedits du Chevalier de Gentz aux
Hospodars de Valachie pour servir 4 Thistoire
de la politique europ6enne 1813 28, publi^s par
le comte Prokesch-Osten fils, 3 Bde., Paris 1876.
— Ueber Papiergeld Jaus seinem Nachlass ab-
gedruckt in Beer, Die Finanzen Oesterreichs
im 19. Jahrhundert, Prag 1877). — Zur Ge-
schichte der orientalischen Frage. Briefe aus
dem Naclüasse Friedrichs von Gentz, 1823 — 29,
herausgegeben von Prokesch-Osten, Wien 1877.
Vgl. über Gentz: Mensel, Gelehrtes
Deutschland, Bd. IL IX, XI, XIII, XVII, XXU,
Lemgo 1797—1828. — Neuer Nekrolog der
Deutschen, Jahrg. 1832, Bd. I, Hmenau. —
Varnhagen von Ense, Gallerie von Bildern
aus Raheis Umgang, Bd. II, Leipzig 1836. —
V. Wessenberg, Fr6deric de Gentz, o. 0. u.
J. (Freiburg 1836?). — Varnhagen von
Ense, Bibliographische Denkmale, 5 Bde.,
Berlin 1845—46. — Grenzboten, Jahrg. 1846,
Nr. 42, Leipzig. — Er seh und Grub er, En-
cyklopädie, Sektion I, Bd. &8, Leipzig 1854, S.
324 ff. — S y b e 1 , Historische Zeitschrift, Bd. I,
München 1859, S. 267 ff., Bd. XVIII, 1867, S.
182ff., Bd. XXIV, 1869, S. 431 ff. — Schmidt-
W e i s s e n f e 1 s , Fr. v. Gentz. Eine Biographie,
2 Bde., Pragl8ö9.— Josef Gentz, Friedrich
Gentz und die heutige Politik, Wien 1861. —
Derselbe, Ueber die Tagebücher von Fr.
Gentz, Wien 1861. — Mendelssohn-Bar-
tholdy, Friedrich von Gentz, ein Beitrag zur
Geschichte Oesterreichs im 19. Jahrhundert,
Leipzifif 1867. — Challemel-Lacour, Fre-
denc de Gentz (Revue de Deux Mondes, J^dirg.
1868, Paris, S. 611-48). — Klinkowström,
Aus der alten Registratur der Staatskanzlei,
Wien 1870. — Röscher, Geschichte der Nat.,
S. 598, 756, 765, 767 771, 776, 964, 969. —
Neuer Plutarch, Bd. V, Art. „Metternich", von
Beer, worin Gentz* Verhältnis zu Metternich
eingrehend erörtert ist, Leipzig 1877. — Allge-
meine deutsche Biographie, Bd. VIII, Leipzig
1878, S. 577ff. — Fournier^ Gentz und Cob-
lenzl. Geschichte der österreichischen Diplomatie
in den Jahren 1801—1805, Wien 1880.
Lippert,
George, Henry,
geb. am 2. IX. 1839 zu Philadelphia (Penn-
sylvania, Amerika), begann seine Laufbahn als
Buchdrucker, ging Gold zu graben nach Kali-
fornien, hatte kein Glück damit und arbeitete
als Setzer in einigen Zeitungsoffizinen San
Franciskos. 1871 gründete er das Journal
„San Francisko Posf^, 1872 das sozialistische
Pennyblatt die „Evening Post". Später wurde
er Gasinspektor und dann Volksbibliotheksvor-
stand in SanFrancisko. George starb alsRedakteur
einer Arbeiterzeitung am 29. X. 1897 in New- York.
1885 bei der Bürgermeisterwahl in New- York,
wo er. als sozialistischer Arbeiterkandidat, von
dem Demokraten Hewitt geschlagen wurde,
vereinigte er auf seine Person 68 iS) Stimmen,
davon 36.5 % demokratische. Er betrachtet die
soziale Frage nicht als Produktions-, sondern
als Verteilungsproblem, und seine sozialistische
176
George — Görando
Grundrententheorie gipfelt in dem Satze: Die
allmähliche Abschaffung des Privatgrundeigen-
tums muss durch Expropriation, bezw. Konfis-
kation der Grundrente erreicht werden; das
Privatkapital dagegen bleibt unangetastet. Als
Bevölkerungstheoretiker erklärt er das Malthus-
sche Gesetz für falsch und hält, in Anlehnung
an eine Büchner-Careysche Hypothese, es nicht
für ausgeschlossen, dass aus den Gesetzen der
Konsistenz der Kraft und der Unvergänglich-
keit des Stoffes die unbeschränkte Reproduk-
tionsfähigkeit des Menschengeschlechts sich er-
febe. Als Lohntheoretiker verteidigt er den
atz, dass der Lohn nicht dem Kapital ent-
nommen, sondern dass er von dem unmittel-
baren Ertrag der Arbeit vorweg genommen
werde.
Er veröffentlichte auf Staatswissenschaft
bezügliche Schriften in Buchform:
Our land and land policy, San Francisco
1871. — Progress and poverty, an inquiry into
the causes of industrial depressions and of
increase of want with increase of wealth: the
remedy, San Francisco 1879; — erlebte 1880
zwei in New- York erschienene, 1881—84 zehn
in London publizierte Ausgaben, darunter fünf
Volksausgaben; dasselbe deutsch unter dem
Titel: Fortschritt und Armut. Eine Unter-
suchung über die Ursachen der industriellen
Krisen und die Zunahme der Armut bei zu-
nehmendem Eeichtnm. Deutsch von Gütschow,
Berlin 1881, 2.-5. Aufl. 1884—1892; dasselbe
in dänischer Uebersetzung (Kopenhagen 188ö)
und in französischer Uebersetzung (Paris 1890) ;
ausserdem wurde es in noch 6 Sprachen, darunter
ins Chinesische und Japanische, übersetzt. — The
irish land question, New- York 1881, davon (1882
— 83) 4 Londoner Volksausgaben ä 3 pence ver-
öffentlicht. — The land question : what it involves,
and how alone it can besettled, New-York 1883 ;
verschiedene Neudrucke meist in Volksausg.,
die letzte von 1891. — Social problems. New-
York 1884; neue Ausgaben London 1884 und
1887; dasselbe in deutscher Uebersetzung: So-
ziale Probleme, deutsch von F. Stöpel, Berlin
188Ö, 3. Stereotypausgabe, 1890; dasselbe in
holländischer Uebersetzung (Deventer 1884). —
Protection or free trade : Questions with regard
to labour, New-York 1886; neue Ausgabe
London 1886 und 1888; dasselbe in französi-
scher Uebersetzung (Paris 1888); dasselbe in
deutscher Uebersetzung: Schutz- oder Frei-
handel, übersetzt von F. Stöpel, Berlin 1887
(Protection or free trade ist den Physiokraten
fewidmet; die Tendenz des Buches ist Be-
ämpfung des Schutzzollsystems durch die
arbeitenden Klassen, Verteidigung des produk-
tiveren Freihandels, Verbindung der Tarif- mit
der sozialen Frage). — Eine deutsche Gesamt-
ausgabe seiner wichtigsten Schriften (Fort-
schritt u. Armut; soziale Probleme; Schutz oder
Freihandel) veranstaltet von Gütschow und
Stöpel mit einer Skizze : H. Georges Leben und
Schriften, erachienen Berlin 1887.
Vgl. über George: Taylor, American
political philosuphy: an inquiry as to the re-
medies for social and political evils proposed by
H. George and others, Columbus (U. St.) 1883.
— R. S. Moffat, Mr. H. George, the „ortho-
dox", an examination of Mr. Georges position
as a systematic economist, and a review of the
competitive and socialistic schools of economy,
London 1885. — Ely, The labor movement in
America, New-York 1886. — W. A. Phillips,
Labour, land and law, London 1886, — Don-
neil, A history and criticism of the various
theories of wages (being the Whately memorial
prize essay for 1887), Dublin 1888. (Darin das
Kapitel: Socialist theories, Karl Marx and H.
George.) — George Gunton, Wealth and
progress. A critical examination of the wages
question and its economic relation to social re-
form, London 1888. — Stöpel, Die soziale
Frage. Neue Ideeen zur Lösung derselben,
Berlin 1888, S. 176 und ff. — Cathrein, The
Champions of agrarian socialism, a refutation of
Emile de Laveleye and H. George; trad. and
enlarged by Heinzle, Buffalo 1J»9. — Henry
Georges Agrarsozialismus in Deutschland (Christ-
lich-soziale Blätter, Jahrg. 1889, Heft 21/22.) —
Sartorius von Waltershausen, Der
moderne Sozialismus in den Vereinigten Staaten
von Amerika, Berlin 1890. — Menger, Das
Recht auf den vollen Arbeitsertrag, 2. Aufl.,
Stuttgart 1891, S. 147 f. — Rose, The new
political economy, the social teaching of Thomas
Carlyle, John Ruskin, and Henry George, with
observations on Joseph Mazzini, London 1891.
(Die Kapitel 17 bis 19 handeln von H. George.)
— L. Elster, Wörterbuch der Volkswirtschaft,
Bd. I, S. 396; Bd. n, S. 667.
Lippert,
O^rando, Joseph Marie,
geboren am 20. IL 1772 zu Lyon, kam
1797, nach Beendigung seiner philosophischen
Studien, nach Paris, zeichnete sich in dem
deutsch-französischen Feldzuge aus, wurde unter
dem I. Consul Ministerialsekretär im Ministerium
des Innern zu Paris, darauf Regierungsrat und
1809 baronisiert. 1837 trat er in fie Pairs-
kammer ein und starb am 18. XI. 1842, als
Mitglied des Instituts, in Paris.
Er veröifentlichte an staatswissenschaft-
lichen Schriften in Buchform: Le visiteur des
pauvres, Paris 1820, 4. Auflage 1828; dasselbe
deutsch mit Bemerkungen und Znsätzen von
E. Schelle, Quedlinburg lasi. -- Tableau des
soci^tes religieases et charitables de Londres,
Paris 1824. — De l'education des sourds-muets,
Paris 1827. — De la bienfaisance publique,
trait6 complet de l'indigence, 4 Bände, Paris
1839. — Des pro^r^s de l'indüstrie dans leurs
rapports avec le bien-^tre physique et moral de
la classe ouvri^re, Paris 1841 (von der Soci^te
industrielle zu Mülhausen im Elsass gekrönte
Preisschrift), 2. Aufl. Paris 1845. Dasselbe
deutsch u. d. T. : Die Fortschritte des Gewerbe-
fleisses in Beziehung auf die Sittlichkeit des
Arbeiterstandes. Mit einem Anhange über die
Bildung kirchlicher Altersgenossenschaften von
K. Bernhardi, Cassel 1842. — Instituts du
droit administratif frauf^ais, ou el6ments du code
administratif, 2. Aufl., Paris 1842—45. —
Von seinen philosophischen Schriften sind
noch zu erwähnen: De la gen4ration des con-
naissances humaines, Paris 1802 (von der Ber-
G^rando — Geschlechtsverhältnis der Geborenea und Gestorbenen
177
liner Akademie gekrOnte Abhandlnng). ^
Histoire compar^e des syst^mes de philosophie,
consideres relativement anx principe» des con-
naissances humaines, 3 Abteilungen in 7 Bdn..
Paris 1804 — 47. (Dieises in vorstehendem Titel
kurz zusammengezogene Werk war die schrift-
stellerische Hanptleistnng seines Lebens. Der
Abschlnss der 1. Abteilung fällt in das Jahr
1803, 1822 folgte die revidierte 1. 4md 2. Ab-
teilung, und der bis zum Ende des 18. Jahr-
hnuderts reichende Scbluss wurde 1847 aus
seinem Nachlass veröfifentiicht.) Hieran schliesst
sich, als Supplement zur 1. Abteilung^, die auch
staatswissenschaftlich wichtige Periode : Rapport
bistorique sur les progr^s de la philosophie de-
puis 1789 et sur son etat actuel, Paris 1808.
Vgl. über G6rando:— JulianSchmidt,
Geschichte der franzOs. Litteratur seit der Re-
volution 1789, Bd. I, Leipzig 1858, S. 60. —
Nourrisson, Tableau des progr^s de la pens^e
humaine, 2. Aufl., Paris 1859, S. 522. — Say
et J. C h a i 1 1 e y , Nouveau dictionnaire d'6cono-
mie polit., Bd. I, Paris 1891, S. 1104.
lAppert.
Geschäftssteiler
s. Börsen Steuer oben Bd. II, S. 1017 ff.
GescUechtsTerhftltnis
der Geborenen und der Ge-
storbenen.
Das beständige üebergewicht der Knaben
bei den Geburten (s. Geburtenstatistik) ist
nicht nur eine Erscheinung von hervor-
ragender biologischer und demographischer
Bedeutung, sondern gewinnt auch noch ein
besonderes methodologisches Interesse, weil
es das befriedigendste bisher bekannte Bei-
spiel für die Anwendbarkeit der Wahrschein-
lichkeitsrechnung auf bevölkenmgsstatisti-
sche Beobachtungen darbietet. Die That-
sache selbst wurde zuerst von Graunt wissen-
schaftlich konstatiert : er fand, dass in Lon-
don in den Jahren 1628—1662 auf 139782
Knaben 130866 Mädchen geboren worden
waren, was einem Geschlechtsverhältnis von
1068 : 1000 entspricht, während dasselbe
gegenwärtig für London nur etwa 1040 : 1000
beträgt. Graunt setzt es nmd gleich 14 : 13,
für die Landgemeinden aber, aus denen
ihm Beobachtungen vorlagen, auf 16 : 15,
doch hütet er sich vor einer damals noch
nicht berechtigten Verallgemeinenmg und
giebt zu, dass vielleicht in anderen Öegen-
den die Mädchengebiulen vorwalten und
somit eine Ausgleichung des gefundenen
Knaben Überschusses entstehen könnte. Süss-
milch dagegen war schon im stände, auf
Gnmd seiner zahlreichen Tabellen den Satz
allgemein auszusprechen, dass «im grossen
allezeit und überall 20 Töchter gegen 21
Söhne geboren würden«. Schon die beiden
Bernouilli, Nikolaus und Daniel, betrachte-
ten diese Erscheinung vom Standpunkte der
Wahrscheinlichkeitsrechnung , namentlich
aber wurde sie von Laplace und später von
Poisson als Beispiel der Anwendung wich-
tiger Sätze der Wahrscheinlichkeitstheorie
verwertet. Man begann aber auch bald,
sich mit der physiologischen Erklärung
dieser merkwürdigen Regelmässigkeit zu
beschäftigen. Süssmilch begnügte sich mit
der Annahme, dass »von dem aUerweisesten
Schöpfer eine Präexistenz aDer Samen an-
geordnet sei«. Ihres theologischen Gewan-
des entkleidet, würde diese Ansicht im
wesentlichen darauf hinauslaufen, dass schon
in den unbefruchteten Keimen das Geschlecht
bestimmt sei und zwar in dem Verhältnisse,
wie es sich bei den Geburten ergebe. Für
diese Hypothese lassen sich einige Beobach-
tungen an niederen Tieren anführen, und
viele Gynäkologen neigen sich ihr auch in
der neuesten Zeit zu. Sie giebt allerdings
keinen Aufschluss über die letzte Ursadie
der Erscheinung, aber sie ist keineswegs
nichtssagend, denn sie führt die beobachtete
Regelmässigkeit auf eine bei jeder Konzep-
tion gleichartig wirksame einheitliche Grund-
thatsache zurück und schliesst somit die
Erklärungen aus, welche das Geschlechts-
verhältnis der Geborenen aus Ursachen ab-
leiten, die erst nach der Konzeption ein-
treten oder überhaupt auf die einzelnen ge-
bärenden Individuen in verschiedener
Art einwirken.
Solche Erklärungen sind in grosser Zahl
versucht worden. Vielen Anklang hat die schon
1828 von Hofacker und 1830 von Sadler aus
sehr unzulän&flichem Materiale abgeleitete Hypo-
these gefunden, nach welcher die Altersver-
schiedenheit der Eltern von wesentlichem Ein-
fluss auf das Geschlecht der Geborenen sein
soll, indem bei überwiegendem Alter des Vaters
mehr Knaben, anderenfalls aber mehr Mädchen
geboren würden. Göhlert, Legoyt, Boulenger
traten dieser Ansicht bei, Noirot und Breslau
verwarfen sie, aber Verteidiger wie Gegner
stutzten sich auf Zahlen, die nicht ^oss genug
waren, um eine einigermassen sichere Ent-
scheidung zu geben. Ein reichlicheres Material
boten dann die elsass-lothringische und die nor-
wegische Statistik, das von W. Stieda, L. Franke,
M. Schumann zu erneuten Untersuchungen der
Frage benutzt wurde, wobei sich ergab, dass
die Hofacker-Sadlersche Hypothese unhaltbar
sei. Stieda fand auch, dass das absolute Alter
der Eltern keinen wesentlichen Einfluss auf
die Geschlechtsbestimmung ausübe, und das von
vielen nach kleinen Beobachtungszahlen be-
hauptete stärkere Vorherrschen des männlichen
Geschlechtes bei Erstgeburten erwies sich eben-
falls als nicht zutreffend. Ungenügend sta-
tistisch begründet ist auch die von Ploss auf-
gestellte und in der neuesten Zeit von anderen
wieder aufgenommene Hypothese, nach w^elcher
die Entscheidung des Geschlechtes während der
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. IV.
12
178
Geschleclitsverhältiiis der Geborenen und Gestorbenen
Schwangerschaft von den Ernährnngsverhält-
nissen der Matter abhängen soll, und das
gleiche gilt von der Ansicht Thurys, dass die
grössere oder geringere Eeife des Eies für die
Bestimmung des Geschlechtes massgebend sei.
In der neuesten Zeit hat man in mehrfacher
■ Art die Erzeugungsfähi^keit des Vaters und
der Mutter als den entscheidenden Faktor auf-
zustellen versucht. Nach Richarz liegt der
Schwerpunkt des Zengungsprozesses im weib-
lichen Organismus, und es entsteht ein Knahe,
wenn die mütterliche Leistungsfähigkeit be-
sonders hoch ist, weil das männliche Geschlecht
die höchste Stufe der Entwickelung darstellt.
Bei schwacher Erzeugungskraft der Mutter da-
gegen wird die Frucht weiblich, und es spielt
also nach dieser Ansicht die direkte Vererbung
bei der Geschlechtsbestimmung keine Bolle.
Dagegen glaubte Schumann ans seinen statisti-
schen Untersuchungen schliessen zu dürfen, dass
je grösser die sexuelle Befähigung der Erzeuger,
desto grösser der Einfluss derselben sei, S&ss
daher beide Eltern in den mittleren Jahren die
stärkste Einwirkung auf die Geschlechtsbestim-
mung ausüben; indes soll die Vererbungsfähig-
keit des mütterlichen Geschlechts weit weniger
deutlich hervortreten als die des väterlichen.
Eollmann andererseits gelangt aus dem in
Elsass-Loth ringen , Norwegen, Oldenburg und
der Stadt Berlin gewonnenen Materiale zu dem
Schlüsse, dass nur das Alter des Vaters von
Einfluss sei, und zwar insofern, als sowohl im
jugendlichen wie im vorgerückteren Alter des-
selben der Knabenüberschuss grösser sei. Er
sieht darin eine Bestätigung der Ansichten
Düsings, der namentlich aus den Abfohlungs-
resultaten in den preussischen Landesgestüten
den Satz abgeleitet hat, dass je mehr der
männliche Teil geschlechtlich in Anspruch ge-
nommen wird, um so mehr männliche Indi-
viduen erzeugt werden. Düsing stützte sich in
seiner letzten Zusammenstellung auf ungefähr
1200000 Beobachtungen, die nach der Zahl der
von jedem Hengste jährlich gedeckten Stuten
in sieben Klassen geteilt waren, von denen jede
also noch hinlänglich gross war. Hatte der
Hengst 60 und mehr Stuten gedeckt, so stellte
sich das Geschlechts Verhältnis auf 1012, mit der
abnehmenden Zahl der Deckungen ging es mehr
und mehr zurück und bei 20 — 34 Deckungen
betrug es nur 957. Mit diesem Satze Düsings
scheint auch die von Janke mitgeteilte Methode
des amerikanischen Viehzüchters Fiquet zur Be-
stimmung des Geschlechtes der Rinder vereinbar.
Um ein Stierkalb zu erhalten, Hess Fiquet die
Kuh reichlich ernähren und erst bei dem zweiten
Rindern zum Stiere zu, der Stier aber wurde
massig genährt und seine Geschlechtslnst herab-
gestimmt, was insbesondere durch wiederholtes
anderweitiges Zulassen zum Springen geschehen
kann. Düsing sowohl wie Fiquet sehen in
dieser Regelung derGesohlechtsbestimmung auch
eine in der Natur wirkende Tendenz zur Wieder-
herstellung des zerstörten Gleichgewichts. In-
des ist nicht recht abzusehen, wie diese Kompen-
sationstendenz sich in der menschlichen Ehe,
aus der doch im allgemeinen mehr als 90% der
Geborenen hervorgehen, Geltung verschaffen soll.
Sind im Kriege viele junge Männer zu Grunde
gegangen, so bleibt eine grössere Zahl von
Mädchen unverheiratet, aber deswegen werden
doch in der gesitteten Gesellschaft die ver-
heirateten Männer nicht stärker in Anspruch
genommen. Statistisch ist die Kompensations^
tendenz keineswegs mit genügender Sicherheit
nachgewiesen. Das von Ä. v. Oettingen ange-
führte Beispiel Frankreichs, wo in und un-
mittelbar nach der Kriegsperiode zu Anfang
dieses Jahrhunderts das G^schlechtsverhältnis
auf 1068 und 1066 stand, während es 1826—30
auf durchschnittlich 1059,8 gesunken war, ist
nicht ausreichend, denn in der Periode 1831 — ^35
stieg die Verhältniszahl wieder auf 1065, und
dann ging sie bis in die neueste Zeit im
ganzen, wenn auch langsam, immer mehr zurück,
ohne dass die Kriegs jähre 1870/71 einen Unter-
schied in dieser Bewegung gemacht hätten. In
diesen beiden Jahren zusammen erlitt Frank-
reich über die normale Sterblichkeit hinaus
einen Verlust von ungefähr 3ÖOO0O männlichen
und 160000 weiblichen Personen. Gleichwohl
stellte sich das Geschlechtsverhältnis der (lebend)
Geborenen, das 1866 noch 1053 betragen hatte,
1872 nur auf 1048,8 und 1873 auf 1050,3; es
sank dann noch weiter bis 1042,4 im Jahre 1882.
Auch machte sich nach dem Kriege keineswegs
eine erheblich gesteigerte Vermehrungstendenz
bemerklich, obwohl diese gerade in Frankreich
bei dem stark verbreiteten Zweikindersystem
nach einer Periode grosser Kindersterblichkeit
zu erwarten gewesen wäre. Die Geburtenzahl
von 1867 (1007765) wurde mit Berücksichtigung
von Elsass-Lothriugen nur in den Jahren 1872
und 1876 um je 16—17000 überschritten, im
übrigen aber zeigte sich eine fortschreitende Ab-
nahme der Fruchtbai'keit. — In seiner neuesten
Schrift hat Düsing das Geschlechtsverhältnis
der Geborenen in Preussen einer besonderen
eingehenden Untersuchung unterzogen und
manche interessante, für Preussen unzweifel-
haft richtige Thatsachen konstatiert. Ob sich
aus diesen aber allgemein geltende Sätze ab^
leiten lassen, wird nur durch ähnliche Einzel-
untersuchuugen für eine grössere Anzahl anderer
Länder entschieden werden können. Düsing hat
bei seinen Berechnungen des Geschlechtsver-
hältnisses auch stets den wahrscheinlichen Fehler
angegeben, wodurch die Beurteilung der Trag-
weite seiner Resultate wesentlich erleichtert
wird. Im allgemeinen aber wird eine noch
weitergehende Anwendung der Wahrscheinlich-
keitsrechnung erforderlich sein, wenn man über
das vorliegende schwierige Proljlem zu einiger
Klarheit gelangen will.
Poisfton hat bei seinen Untersuchungen
ohne weit^eres angenommen, dass eine kon-
stante Wahrscheinlichkeit der Knabengebiirt
den beobachteten Vorhältnissen der Zalil der
männlichen (m) zu der Gesamtzalü der Ge-
burten (g) zu Grunde liege. Wenn dies
aber wirklich der Fall ist, so muss sich
dies unmittelbar aus der Art erkennen
lassen, wie sich eine grössere Anzahl von
beobachteten Einzelwerten jenes Verhält-
nisses (z. B. für eine Reihe von Jahren)
um ihren Mittelwert gruppieren. Jeder
dieser Einzehverte vi, V2, vs etc. stellt einen
empirischen, mit einem grösseren o<.ler ge-
ringeren Fehler behafteten Ausdruck der
unbekannten konstanten Wahrscheinlichkeit
Geschlechtsverhältnis der Geborenen und Gestorbenen
179
dar, filr welche wir deren wahrschein-
lichsten Wert, nämlich das arithmetische
Mittel V aus jenen empirischen Eiuzelwerteu
annehmen dürfen. Die Verteilung der Ein-
zelwerte um den Mittelwert hängt nun
wesentlicli von der Grösse g ab, die wir
die Gnmdzahl dieser Verhältnisse nennen
wollen. Dieselbe muss in allen Einzelwer-
ten, wenn diesen gleiches Gewicht zuge-
sclirieben werden soll, wenigstens annähernd
gleich sein. Die Eiuzelwerte drängen sich
um so dichter, und zwar symmetrisch, um
den Mittelwert zusammen, je gi-össer die
(THindzahl ist, was aber nicht ausschliesst,
dass einige doch sehr beträchtlich vom
Mittel abweichen können. Die specielle
Formel zur Charakteristik des Genauigkeits-
grades oder der Präcision der beobach-
teten Einzelwerte mit der Grundzahl g ist
-rv-v --;. ---^, imd diesen der Wurzel aus g
y2v(l — v)
proportionalen Ausdruck wollen wir mit h
bezeichnen. Derselbe dient zugleich zur
Darstellung des wahrscheinlichen Felüers r,
d. h. derjenigen Abweichung von dem wahr-
scheinlichsten Werte v, die nach der posi-
tiven wie nach der negativen Seite hin
ebenso oft nicht erreicht wie überschritten
winl. Es ist nämlich r — - e'h (wo (> die
Konstante 0,4769), also umgekehrt propor-
tional der Präcision. Hat man nun eine ge-
nügend grosse Zahl von beobachteten Ein-
zelwerten mit annähernd gleichen Grund-
zahlen, so müssen diese Werte, wenn sie
wirklich empirische Ausdrücke einer kon-
stanten Wahrscheinlichkeit v sind, sich sym-
metrisch so um V gruppieren, dass an-
nähernd gleich viele von v bis v -[- r und
von V bis v — r und ebenso viele auch Ober
V + r und v — r hinaus fallen. Die
Theorie bestimmt aber die Art dieser sym-
metrischen Verteilung noch genauer: ist x
irgend ein Abstand von v und Ax ein
kleiner Zuwuchs von x, so ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass ein mit der Präcision h
iKiobachteter Einzelwert zwischen die Genzen
h2x2
X und X + Ax falle, gleich 0,564 e
hAx (wo e = 2,71828). Hiernach kann
mau nun auch die Wahrscheinlichkeit be-
rechnen, dass ein Einzelwert zwischen be-
liebige Grenzen x und y falle, und bei ge-
nügend grosser Anzahl von gegebenen Ein-
zelwerten muss die wirkliche Verteilung
annähernd dieser Walirscheinliclikeit ent-
sprechen, wenn überhaupt diesen Einzel-
werten eine gleiche konstante Wahrschein-
lichkeit V zu Grunde liegt.
Ich habe schon in einer 1876 erschienenen
Abhandlung gezeigt, dass dies in der That hin-
sichtlich der beobachteten Verhältnisse der
Knaben^eburten zu der Gesamtzahl der Ge-
borten m einem bestimmten Zeitabschnitte und
Beobachtete Fälle
Theorie
+
+ u. ~
ii6,5
119,5
119,5
158
155
157,5
46
41
42
7
5
4,5
für bestimmte Gebiete zutrifft. Will man statt
dieses Verhältnisses als Beobachtungsgrösse
lieber wie oben die Zahl z der Knabengeburten
auf 1000 Mädchengebnrten nehmen [z = 1000 v/
(1 — v)], so mnss man den obigen Ausdruck von
h mit 0,001 (1 — v)* multiplizieren und den von
r durch eben diese Grösse dividieren. So wurden
u. a. für die 24 Monate der Jahre 1868 und
1869 und für 27 Beobachtungsgebiete in Preussen
(die teils ans ganzen Regierungsbezirken be-
standen, teils ans 2 oder 3 Bezirken zusammen-
gesetzt waren) im ganzen 648 Einzelwerte für
das Geschlechtsverhältnis z berechnet. Als wahr-
scheinlichsten Wert des zu Grunde liegenden
konstauten Verhältnisses ergab sich aus der
Gesamtheit der Beobachtungen für den ganzen
Staat 1063. Die beobachtete und die theoretische
Verteilung auf die verschiedenen Stufen der Ab-
weichungen von diesem Mittelwerte war:
Abweichung
{±)
0—19,5
19,5—59,5
59,5—99,5
über 99,5
Die symmetrischeVerteilung der beobachteten
Fälle tritt deutlich hervor, und auch im einzelnen
ist die Uebereinstimmung mit der Theorie be-
friedigend. £s zei^t sich aber hier, dass selbst
bei einer durchschnittlichen Grundzahl von etwa
2500 Geburten das Geschlechtsverhältnis immer-
hin in 8 bis 9 Prozent der Fälle unter 1000
sinken, also einen Ueberschnss von Mädchen-
geburten aufweisen kann, ohne dass deshalb
das Vorhandensein der konstanten Wahrschein-
lichkeit 0,515 einer Knabengeburt (entsprechend
dem Werte z = 10(53) zweifelhaft wird. Anderer-
seits ist es mit dieser konstanten Wahrschein-
lichkeit auch vereinbar, dass ein ebenso grosser
Prozentsatz von Fällen über 1120 hinausgeht.
Bei Grundzahlen von etwa 600 sind in der-
selben Häufigkeit mehr als doppelt so grosse
Abweichungen vom Mittel nach beiden Seiten
hin zu erwarten. Man sieht hieraus, dass aus
der Vergleichung einzelner Verhältniszahlen,
die aus je 500 bis 1000 Fällen abgeleitet sind,
sich Überhaupt keinerlei berechtigte Schlüsse
ziehen lassen. Die obige Methode zur Beant^
wortung der Frage, ob einer beobachteten Ver-
hältniszahl wirklich eine konstante Wahrschein-
lichkeit zu Grunde liegt, setzt voraus, dass
eine grosse Anzahl von Einzelwerten des Ver-
hältnisses gegeben sei, und ist daher nicht
leicht anwendbar. Ich habe aber in der er-
wähnten Abhandlung ein anderes Verfahren an-
gegeben, bei dem schon 14 — 15 Einzelwerte von
annähernd gleichem Gewicht zur Entscheidung
J'ener Frage genügen. Der wahrscheinliche
Tehler ^oder auch die Präcision) jeder mit rein
zufälligen Fehlern behafteten Beobachtungs-
grösse lässt sich nämlich aus verhältnismässig
wenigen Einzelwerten mit genügender An-
näherung nach der Methode der kleinsten
Quadrate bestimmen. Ist das aus der konstanten
Wahrscheinlichkeit einer Knabengeburt (v) her-
vorgehende typische Geschlechtsverhältnis = z,
werden die n beobachteten Einzelwerte mit z,,
Z2, Zs etc. und die (positiven oder negativen)
Differenzen Zj — z, Z2 — z, Zj— z etc. mit ^1, ^2,
12*
180
Geschlechtsverhältnis der Geborenen und Gestorbenen
^8 etc. bezeichnet, so ist unter der Voraus-
setzung bloss zufälliger Störungen die wahr-
scheinliche Abweichung r = + ^
V-
2 [d^
n— 1
wo [^] die Summe der Quadrate aller Differenzen
^ darstellt. Dieser Ausdruck für r wird also
unmittelbar aus den BeobachtungsgrÖssen ge-
wonnen, ohne alle Rücksicht auf die besondere
Natur derselben. Der nach der ersten Methode
bestimmte Wert von r dagegen ist abgeleitet
aus der Voraussetzung, dass v eine konstante
Wahrscheinlichkeit darstelle, die analog ist dem
Verhältnis der Zahl der schwarzen Kugeln zu
der Summe der schwarzen und weissen Engeln
in einer Urne. Stimmen also diese beiden Werte
von r mit einander annähernd überein, d. h. ist
annähernd
^ y n~i = (i-v)« y
2v (1— v)
»
so wird dadurch angezeigt, dass nicht nur die
Grössen Zi, z«, Zg etc. lediglich zufällige Ab-
weichungen von einem konstanten Werte z
aufweisen, sondern zugleich, dass diese Ab-
weichungen der Art sind, wie sie auftreten,
wenn an einer Urne, die schwarze Kugeln in
einem der Wahrscheinlichkeit v einer Knaben-
' gehurt entsprechenden Verhältnis zur Gesamt-
zahl der Kugeln enthält, n Versuchsreihen von
g Zügen (mit jedesmaliger Zurücklegung der
gezogenen Kugel) vorgenommen werden. Die
nahe üebereinstimmung jener beiden Werte
von V habe ich für so zahlreiche Fälle aus ver-
schiedenen Ländern nachgewiesen, dass sie als
allgemeine Regel aufgestellt werden darf. Nimmt
man als BeobachtungsgrÖssen nicht Zi, z« etc.,
sondern unmittelbar die empirischen Wahr-
scheinlichkeiten einer Knabengeburt, Vj, Vg, Vj
etc., so sind unter d\, d« etc. die Differenzen Vi — v,
Vg-v etc. zu verstehen, und in dem anderen
1000
Ausdruck fällt dann der Faktor 7i ~ \2 weg.
Durch Beseitigung der Wurzeln und der ge-
meinschaftlichen Faktoren wird dann die obige
GleichuDg einfach [(^^Kn — 1) = v(l— v)/g. Durch
ihre Erfüllung wird also bewiesen, dass sich
die beobachteten Wahrscheinlichkeiten einer
Knabengeburt hinsichtlich ihrer Abweichungen
vom Mittel ebenso verhalten wie die Ergebnisse
der einzelnen Versuchsreihe eines entsprechend
eingerichteten Glücksspiels an einer Urne. H.
Westergaard hat in seiner Theorie der Statistik
diese Thatsache in der Art nachgewiesen, dass
er zeigte, dass die Zahl der Einzel werte, die
in eine Reihe von immer grösser angenommenen
Spielräumen zu beiden Seiten des Mittels fallen,
annähernd mit der theoretischen Verteilung
übereinstimmt, wenn auch nur eine massige
Angabe solcher Einzelwerte (z. B. 19) gegeben
ist. Noch eingehender aber ist die Üeberein-
stimmung der Ergebnisse der Geschlechts-
bestimmung mit denjenigen eines Glücksspiels
von Geissler dargethan worden, der aus dem
Beobachtungsmaterial der sächsischen Statistik
nachgewiesen hat, dass bei der gesonderten
Untersuchung der Ehen mit 2, 3, 4 etc. Kindern
die Geschlechtdkombinationen in jeder dieser
Gruppe annähernd den theoretischen Wahr-
scheinlichkeiten entsprechen. Ist die Wahr-
scheinlichkeit einer Ejiabengeburt v konstant
= 0,5148, so sind z. B. in der Gruppe der
(148903) Ehen mit 4 Kindern die theoretischen
Wahrscheinlichkeiten für die Kombinationen
4 K., 3 K. 1 M., 2 K. 2 M, 1 K. 3 M., 4 M.:
0,0702; 0,2648; 0,3743; 0,2352; 0,0554, während
die Beobachtung ergab: 0,0714; 0,2613; 0,3763;
0,2331; 0,0580. Bei den 223328 beobachteten
Fällen von Erstgeburt ergab sich für die Ejiaben
nicht nur keine höhere, sondern eine geringere
Wahrscheinlichkeit (0,5132) als die durchschnitt-
liche, und im allgemeinen zeigte sich in den
sehr fruchtbaren Ehen (mit 8 und mehr Kindern)
eine fortschreitende erhebliche Zunahme der
Knabengeburten. Dies ist aber nur dadurch
möglich, dass für diese Ehen die Analogie der
Geschlechtsbestimmung mit den Ergebnissen
eines Glücksspiels bei konstanter Wahr-
scheinlichkeit weniger genau zutrifft. Wenn
sich diese Erscheinung bei weiterer Unter-
suchung als beständig erweist, so wird man
für fruchtbare und weniger fruchtbare Ehen
besondere Werte des Geschlechtsverhältnissea
annehmen müssen. Wenn aber zugleich das
Zahlenverhältnis dieser Arten von Ehen unter
sich annähernd konstant bleibt, so wird man
doch wieder für das ganze Land eine feste
Totalwahrscheinlichkeit einer Knabengeburt an-
nehmen dürfen, von welcher die ebenfalls für
das ganze Land bestimmten Einzelwerte wieder
nur in den Verhältnissen des Glücksspiels ent-
sprechenden Grenzen abweichen würden. Das-
selbe gilt für den Fall, dass der Einfluss der
Ernährung, der geschlechtlichen Anstrengung
oder anderer in Frage stehender Umstände
sicher nachgewiesen werden sollte, was der
Fall sein würde, wenn für je 15—20 Versuchs-
reihen unter besonders bestimmten Umständen
bei verschieden angenommenen Wahrscheinlich-
keiten sich die annähernde Gleichheit der nach
den beiden obigen Methoden berechneten wahr-
scheinlichen Fehler ergäbe. Für einige Klassen
von Fällen lassen sich solche besondere Wahr-
scheinlichkeiten mit normaler „Dispersion" der
Einzelwerte mit genügender Sicherheit nach-
weisen. So finden wir in den meisten Ländern
bei den unehelichen Geburten einen erheblich
geringeren Knabenüberschuss als bei den ehe-
lichen, und dieser Unterschied ist nicht zufäll iff,
sondern specifisch, weil die besondere Behand-
lung von 15 —20 Einzel werten dieses Geschlechts-
verhältnisses für diese Länder das Vorhanden-
sein einer besonderen typischen relativen Wahr-
scheinlichkeit einer unehelichen Knabengeburt
ergiebt. In Belgien z. B. findet man im Durch-
schnitte aus den Beobachtungen der Jahre
1841—1860 als wahrscheinlichstes Geschlechts-
verhältnis bei den unehelichen 1034, mit Schwan-
kungen zwischen 1003 und 1075, bei einer durch-
schnittlichen Grundzahl von 10902. Nach der
ersten Methode ergiebt sich die (dem wahr-
scheinlichen Fehler umgekehrt proportionale)
Präcision gleich 0,0357, nach der zweiten gleich
0,0372, und diese nahe üebereinstimmung zeigt,
dass 1034 einen selbständigen typischen Wert
darstellt. Für die Totgeborenen, unter denen
das männliche Geschlecht um 25-30 und mehr
Prozent überwiegt, ergiebt sich ebenfalls ein
besonderes typisches Geschlechtsverhältnis mit
normaler Dispersion, und dasselbe unterscheidet
sich bemerkenswerterweise nur wenig von dem
Geschlechtsverhältnis der Greborenen und Gestorbenen
181
ebenfalls typischen Geschlechtsyerhältnisse der
Gestorbenen in den beiden ersten Alters-
monaten.
Was überhaupt das Geschlechtsverhältnis
der Gestorbenen betrifft, so müsste es bei
völlig stationärer Bevölkerung für die Ge-
samtheit aller Gestorbenen eines Jahres na-
türlich gleich dem der Geborenen sein. Da
aber in Wirklichkeit die Bevölkenmg im
allgemeinen zunimmt, daher die untersten
Altersstufen relativ stärker besetzt siod als
bei stationäi-em Zustande, in diesen aber
die Sterblichkeit des männlichen Geschlechts
bedeutend vorwaltet, so ist das Geschlechts-
verhältnis der Gestorbenen meistens grösser
als das der Geborenen und erreicht 1070
bis 1080, während jenes nur 1050—1060
beträgt. Doch kann diese Ei-scheinung durch
einen bedeutenden üeberschuss der leben-
den weiblichen Bevölkerung verdeckt wer-
den. In den einzelnen Altersklassen aber
zeigt sich eine ausserordentlich grosse Ver-
schiedenheit der Sterblichkeitsverhältriisse
der beiden Geschlechter; in einigen haben
die männlichen Gestorbenen , in anderen
aber die weiblichen ein entscliiedenes üeber-
gewucht, und dabei sind bei 1 5 — 20 Jahres-
ergebnissen die Abweichungen vom Mittel-
werte weit grosser, als es nach der Theorie
beim Vorhandensein einer typischen Wahr-
scheinlichkeit zu erwarten wäi*e, d. h. der
wirkliche wahrscheinliche Feliler r,. wie
er sich nach der zweiten Methode berech-
net, ist oft 3—4 mal grösser als das nach
der ersten Methode bestimmte theoretische
r,. Nur in den untersten und zuweilen
auch in den höchsten Altersstufen zeigt
sich eine annähernde Uebereinstimmung
zwischen r, und r,, so dass also in diesen
Lebensphasen, in denen hauptsächlich rein
physiologische Bedingungen lür die Sterb-
lichkeit massgebend sind, das Geschlechts-
verhältnis der Gestorbenen typische Werte
und normale Dispersion aufweist.
In Belgien betrug dasselbe z. B. nach den
Beobachtungen aus den Jahren 1841- 1860 bei
den Totgeborenen 1348 (mit Ti = 23,6 und r«
= 23,4), bei den Gestorbenen im Alter von
0—1 Monat 13ö9 (mit r, = 22.1 und rg = 18,5),
im Alter von 1—2 Monaten 13Ö3 (mit ri = 37,l
und Ta = 42,4), im Alter von 2-3 Monaten
1253 (mit ri = 40,8 und r« = 36.2), im Alter
von 2—3 Jahren 990 (mit r, = 22,1 und r« =
23,7), dagegen im Alter von 50-— öö Jahren
1124 mit Ti = 24,2 und r« = 104,4, während
in der Alteraklasse von 80- 85 bei einem Mittel-
wert« von 866 die Dispersion wieder nahezu
normal wird, indem man ri = 19,5 nnd r» =
24,5 findet. Ueber die Bedeutung der bei dem
Geschlechtsverhältnisse der Geborenen und ge-
wisser Altersklassen der Gestorbenen erscheinen-
den normalen Dispersion s. d. Art. Gesetz. —
W. Kammann hat in einer Göttinger Disser-
tation (1900) gezeigt, dass das Geschlechtsver-
hältnis der Gestorbenen in den ersten Lebens-
jahren auch in Preussen und Holland annähernd
die der normalen Dispersion entsprechende
maximale Stabilität besitzt, und ferner, dass
dies auch für das Geschlechtsverhältnis der
einer bestimmten Generation angehörenden
Uebe riebenden am Ende der ersten Lebens-
jahre gilt, jedoch nicht mit demjenigen wahr-
scheinlichen Fehler, der sich aus der Kombination
der als unabhängig von einander betrachteten
Geschlechtsverhältnisse der Geborenen und der
in den ersten Altersklassen Gestorbenen ergiebt,
sondern mit einem kleineren, so dass also
das Geschlechtsverhältnis der Ueberlebenden in
dieser Periode eine selbständige Tendenz zur
Stabilität besitzt.
Litteratar : Wappäus, BevölkerungutalUtik IT,
S. 166 ff. — A, V. OeUingen, Moralstatütik,
I. Aufl,, S. S81 — S5Sf wo sich auch viele An-
gaben über die äUere Litteratur finden. — W.
Stieda, Das SexualverhäUnis der Geborenen,
Strassburg 1875 (Heft V der Stat. MiUeilungen
über Elsass'Lothringen). — Ijejcis, Das Ge-
schUchtsverhältnis der Geborenen und die Wahr-
scheinlichkeitsrechnung, Jahrb. f. yat.-Oek. und
Stat., Bd. XXVII (1876), S. 209 ff. — Derselbe,
Zur Theorie der Massenerscheinungen in der
menschlichen Gesellschaft, 8. 64 ^., Freiburg 1877,
-— Derselbe, Ueber die Theorie der Stabilität
statistischer Reihen, Jahrb. f. Not. und Stat.
XXXII (1879), S. 60 ff. ■— Eimeluntersuchungen
in folgenden Freiburger Dissertationen : F, Stark,
Ueber das Geschlechtsverhältnis der Geborenen
bei unehelichen Geburten und Totgeburten (1877) ;
M. Oetgel, Die Stabilität des Geschlechts-
verhältnisses der Gestorbenen (1880); Q, Herrl,
Ueber die Stahilität des Geschlechtsverhältnisses
bei Mehrlingsgeburten (I884). — Prancke, Ein-
fluss des Alters der Eltern etc., Jahrb. f. Nat.
und Stat. XXIX (1877) S. 180, XXX S. 180. —
Richarz, Ueber Zeugung und Vererbung, Bonn
1880. — flanke. Die Vorau^bestimmung des
Geschlechtes beim Binde, 2. Aufl., Berlin 1881.
— Derselbe, Die willkürliche Ilervorbring^tng
de^ Geschlechtes bei Menschen und Haustieren, Ber-
lin und Leipzig 1887. — Düsingf Die Regu-
lierung des Geschlechtsverhältnisses bei der Ver-
mehrung der Metischen, Tiere und Pflanzen, Jena
I884. — Derselbe, Die Regulierung des Ge-
schlechtsverhältnisses bei den I^erden, in Thiels
nLandwirtschaftlichen Jahrb. n, Jahrg. 1887, S.
699 ff. und Jahrg. 1888, S. S7Sff. — Det*selbe,
Das Gcschlechtsrerhältnis der Geburten in
Preussen (Staatsw. Studien, hgg. v. Elster, III.
Bd. 6. Heß), Jena 1890. — Schumann, Die
Sexttalproportion der Geborenen, Oldenburg 1888.
— Geissler, Beiträge zur Frage des Geschlechts-
verhältnisses der Geborenen, Zeitschr. des kgl.
sächsischen statistischen Bureaus, XXXV (1889),
Heft I u. II. — Derselbe, Zur Kenntnis des
Geschlechtsverhältnisses bei Mehrlingsgeburten,
in v. Mayrs Allg. Stat. Archiv, 1896, S. 587 ff'.
— V. Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre,
II. Bevölkerungsstatistik, Freib. i. B. 1897, S.
186 ff., wo sich auch noch weitere Liiteraturan-
gahen finden. — Westergnard, Grundzüge der
Theorie der Statistik, Jena 1890, S. 89. —
Kolltnann, Einfluss des Alters der Eltern auf
das Geschlecht der Geborenen, Allg. Stat. Archiv,
Jahrg. 1890, S. 417 ff. — Derselbe, Statistische
Nachrichten über das Gross her zogtum Oldenburg,
182 Gescldechtsverhältiiis der Geborenen und Gestorbenen — Gesellenverbände (Deutschland)
Hefi XXII, Oldenburg 1890, S, 88 ff. — Lehr,
ZeiUchr, /. Staatsw, 1889, S. 172 ff. ti. S. 524 ff.
— Rauher, Der üebersrhuss der Knabenge-
burten, Leipzig 1900. Lends.
Gesellenverbände.
I. Die G. in Deutschland (S. 182). II. Die
G. in Frankreich (S. 194).
I.
Die Gesellenyerbände in Deutschland.
1, Einleitung. 2. Brüderschaft und Ge-
öellenschaft. 3. I)ie äussere Organisation des
Gesellenverbandes. 4. Die sozialpolitische Be-
deutung des Gesellenverbandes. 6. Die Gesellen-
verbände unter sich. 6. Kampfmittel der Ver-
bände. 7. Der geschichtliche Verlauf. Die Ge-
setzgebung.
1. Einleitung. Das mittelalterliche
Handwerk hätte im Verlaufe eines langen
Werdeganges nicht ohne heftige Kämpfe
eine bestimmtere Gestaltung gefunden, aas
Gewerbewesen fing an sich zu festigen, imd
technisch-wirtschaftliche Fortschritte übten
ihren bedeutungsvollen Einfluss aus. Die
Zeit der Zunftbildung war vorüber, die
zwei Gruppen der Meister liier, der Lehr-
kiiechte und Knechte dort begannen sich
schärfer zu scheiden. Dieser Vorgang
führte indes noch nicht zu heftigen Zu-
sammenstössen. Solange das Dienst- und
HeiTScliaf tsverhält nis , worin die Ai'beiter
sich befanden, nur ein zeitlich begrenzter
Abschnitt, ein Uebergang und Durchgangs-
punkt zur Selbständigkeit des Meistertums
war, solange blieb dem Zustande der patriar-
chalische Charakter gewahrt. Die straffe
Untei-ordnung unter den Lehrherru imd
Meister, die Eingliederung des Knechtes in
den häuslichen und ökonomischen Organis-
mus des Meisterhaushalts, die strenge Zucht
des Brotherrn und paterfamilias entsprachen
der Sachlage. Mit den Rechten dieser
Muntschaft waren die PfUchten der sorg-
samen Erziehung, des thatkräftigen Schutzes,
der Fürsorge für die Zeiten der Dürftigkeit
und der Krankheit innig verknüpft. Die
soziale . Differenzierung auf dieser Stufe
kennt zwar gesellschaftliche Unterschiede,
aber sie hat sich noch nicht zu schroffen
Gegensätzen zugespitzt. Jedeunoch in dem
Augenblicke, in dem die Thatsache der eben
gekennzeichneten Scheidung sich feststellen
lässt, ist auch der Gesellenstand ins Dasein
getreten. Und daraus ergeben sich folge-
richtig die Interessenkonflikte, die in der
mittelalterlichen Gesellenbewegung das Leit-
niotiv bilden, nicht auf einmal, nicht plötz-
lich, sondern in dem engst(»n Zusammenliange
mit der gesamten wirtschaftlichen Ent-
wickelmig. Man könnte die Geschichte des
Handwerks in zwei grosse Abschnitte teilen,
in die Periode der Auseinandersetzung mit
den bisher bevorrechteten sozialen Schichten
und in die Periode des Klassenkampfes im
Handwerke selber. Die zwtnte Periode ist
es, die hier in Betracht kommt. So be-
wundernswert auch die Blüte ist, der wir
Eingangs der neuen Epoche begegnen, die
offenbaren Merkzeichen des Niederganges
treten trotzdem hervor, eines nach dem
anderen. Die ersten Spuren der Entartung
erscheinen bereits an der Schwelle des vier-
zehnten Jahrhunderts. Dass dies so kommen
musste, war ein Ergebnis der materiellen
Produktionsverhältnisse, die allmählich sich
umgestalteten und aus der feudalen in die
bürgerliche Wirtschaftsweise Schritt vor
Schritt hinüberdrängten. Die reiche Zufuhr
von Arbeitskräften, die das platte Land den
städtischen Bezirken lieferte, bot die leichte
Gelegenheit, die urväterische Betriebsweise
zu .ändern, den feineren und mannigfal-
tigeren Bedürfnissen anzupassen und durch
Erweiterung der gewerklichen Thätigkeit
den raschen Aufschwung noch zu beschleu-
nigen, der die Handwerksmeister bereicherte
und sie von der alten üeberlieferung, der
ursprünglichen Sitte und Lebensführung nach
und nach loslöste. Die relative üeberschuss-
bevölkerung, die sich je nach dem Stande
der Kultur in den städtischen Gemein-
wesen des deutschen Mittelalters vom drei-
zehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert
geltend gemacht hat, wirkte auf die Mass-
regeln der Hand werkspolitik. Das Menschen-
material, das in dieser Üeberbevölkerung
zur Verfügung stand, wnirde nach Bedarf
benutzt, aber der bisherige Gang der Dinge
wuixle gestört. In demselben Masse, in
dem sich die Wohlständigkeit der Hand-
werker hob, ihre Machtstellung im öffent-
lichen Leben sich stärkte, sei es, dass sie,
wie an so vielen Orten ausgangs des vier-
zehnten Jahi'himderts, die Zügel des Ge-
meinwesens ganz in die Hand bekamen,
sei es, dass sie unmittelber oder mittelbar
kraft ihrer Position einen Anteil am Stadt-
regimente erhielten: in demselben Masse
wuchs auch die Neigung, die Erfolge dau-
ernd zu sichern, die mit schweren Opfern,
häufig mit dem Schwerte in der Faust imd
— Seite an Seite mit den schlagfertigen
Knechten erstritten worden waren. Die
Privilegien der Geschlechter waren zer-
trümmert oder erschüttert worden, damit
eine Handwerkeraristx)kratie sich neue Privi-
legien schaffen konnte. Kein Wunder, dass
die rücksichtsloseste Interessenwirtschaft
geil ins Kraut schoss. Das konnte nur
auf Kosten der Gesellen geschehen. Sie so-
lange wie möglich auszunutzen und ihnen
den Weg zum Meistertum mit allen denk-
Üesellenverbände (Deutschland)
183
baren Hindernissen zu versperren, die Ge-
sellenschaft für einen stetig wachsenden Pro-
zentsatz der Arbeiter aus einem blossen
üebergangsstadium in den dauernden Zu-
gtand umzuwandeln, das war die Losung in
jenen Tagen. Durch die chikanösesten Be-
stimmungen erschweile man den Zutritt
zmn Gewerbe, so dass ganze Bevölkerungs-
gruppen davon ausgeschlossen waren, man
begünstigte bis zum Nepotismus die Meister-
kinder, man bereitete den ausserhalb der
Zunft Geborenen bei der Amtsgewinnung
die erheblichsten Schwierigkeiten. Man
führte als Hilfsmittel gegen den Zudrang
Aussenstehender die Vorschrift des kost-
spieligen, zeitraubenden Meisterstückes durch,
die bei^its in der zweiten Hälfte des vier-
zehnten Jahrhunderts allgemein wird. Der
Zunftschluss fixiert die Zahl der Gewerbe-
betriebe und raubt zahlreichen Gesellen die
Möglichkeit, einmal selbständig zu werden.
Die Wanderpflicht, die seit dem fünfzehnten
Jahrhimdert eine zu Nutz und Frommen
der Meister ausgebeutete Einrichtung wird,
die Mutjahre, die den Erwerb der Meister-
schaft an eine lange Wartezeit binden, alle
diese Bestimmungen dienen dazu, der üeber-
setzung der Gewerke, dem drohenden Wett-
bewerbe vorzubeugen, den Nalirungsspiel-
raum zu Gunsten einer begrenzten Zahl Be-
vorrechteter einzuengen. Dazu kommt, dass
eine Keihe von Gewerken, die eine höhere
Durchschnittsrate der Betriebsmittel er-
heischen imd mehr und mehr der manu-
fakturmässigen Produktionsform sich zu-
wenden, von vom herein mit einem Bestände
an Arbeitskräften, die stets Arbeiter bleuten
oder höchstens hausindustriell angewendete
Meister im Dienste des Kaufmannskapitals
werden, zu rechnen haben. Die sozialpoli-
tische Umwälzung musste die Beziehungen
zwischen Meister und Gesellen von Grund
aus umgestalten; das alte Verhältnis hatte
sich überlebt. Die Meister, durch eine sich
fortwährend er\\'eitemde Kluft von üiren
Arbeitern getrennt, suchten die veralteten
Formen festzuhalten, obwohl der Inhalt ein
anderer geworden war. Es lag ihnen da-
ran, die Vorteile des früheren Zustandes
zu konservieren, die Botmässigkeit ül)er
die Knechte sich zu sichern, ohne die
einstigen Verpflichtungen weiter zu er-
füllen. Der Kontrast zwischen sonst
und jetzt war ein schreiender: An-
wender und Angewendete gingen nicht
mehr miteinander, sie standen sich als zwei
voneinander getrennte soziale Gruppen ge-
genüber. Die Interessengemeinscliaft Ih?-
stand nicht mehr, der Interessenwiderstreit
trat an ihre Stelle, und es versteht sich,
dass auf den Druck ein Gegendnick erfolgte.
Hochfahrend und hart verfuhren die Meister
mit den Gesellen. Die Arbeitslast, die auf
diesen ruhte, ward schwerer, die Hoffnung,
an ihrem Herfle als eigene Herren zu sitzen,
schwand für viele. Schroff wies man die
daseinsfrohe Jugend aus den festlichen Zu-
sammenkünften der sich vornehm abschlies-
senden Ai'beitsheiren. Aber die Furcht vor
Zetteleien duldete auch nicht, dass die Ge-
sellen auf eigene Faust in eigener Ge-
nossame sich ergötzten. Das Leben freud-
los, die Aussicht auf bessere Verhältnisse
gering, die Mühe ums tägliche Brot nicht
klein, die Ausbeutung der Knechte peinlich
und verbitternd, Lohndrückerei, Lotterkredit,
Truck, Lehrlingszüchterei durchaus nichts
Seltenes, der Kechtsschutz nur zu oft
mangelliaft, ungenügend, häufig eine Posse.
Denn was verschlug es dem Meister, wenn
der Geselle, der bei der Zunft sein Recht
nicht gefunden, bei einem Rat Berufung
einlegte, > der selbst nur die Exekutive der
Zünfte war? Die Willkür der Meister fand
hier und da ein Hemmnis, wo die alte Ehr-
barkeit die Regierung innehatte. Das Patri-
ciat spielte wohl dann und wann, um (üe
Handwerke nieilerzuhalten , die Gesellen
gegen die Meister aus und hielt die einen
(lurch die anderen in Schach. Allein auf
die Dauer war dieser Zustand niclit halt-
l)ar. Die ökonomische Entwickelung, die
in dem organisierten Handwerke die Ver-
einigung der Meister geschaffen hatte, er-
zeugte auf dem Gegenpol den Zusammen-
schluss der Knechte. So ist der Gesellen-
verband nur die naturwüchsige Rückwir-
kung der mittelalterlichen Arbeiter auf die
Klassenselbstsucht der Handwerksmeister,
deren Bund in seinem Schosse bereits die
Gesellengilde trägt. Die Gesellenbewegung
auf grösserer Stufenleiter nimmt ihren An-
fang im vierzehnten Jahrhimdert.
2. Bruderschalt und Gesellenschaft
Die Trägerin des mittelalterlichen Lebens
ist die Genossenschaft. Die Zugehörigkeit
zu einer Korporation war eine soziale Not-
wendigkeit, der einzelne erschien als Glied
einer solchen Vereinigung erst an seinem
richtigen Platze, das Individuum war der
Vertreter, die Verkörperung des genossen-
schaftlichen Gedankens. Aus dem wirt-
schaftlichen und sozialen Grunde der Asso-
ciation erwächst die Einzelpersönlichkeit.
Die ersten Ansätze der GeseUenorganisation
finden sich in der kirchlichen GeseUen-
brildei-schaft. Ursprünglich ist diese Form
der Vereinigung das Mittel zur gemein-
schaftlichen Bemedigung religiöser Bedürf-
nisse einerseits, der Kranken- und Armen-
pflege der Genossen andererseits. Die Kirche
begünstigte die Stiftung von Brüderschaften ;
der Glanz und die ]&cht des geistlichen
Wesens wurden gleicherweise dadurch ge-
hoben. Die kräftigen Fäuste der Gesellen
mochten der Geistliclikeit, die mit den öffent-
184
Gesellenverbände (Deutschland)
liehen Gewalten so oft um ihre Vorrechte
stritt und brauchbare Bundesgenossen gerne
willkommen hiess, nützlich erscheinen, und
die Errichtung von Kapellen, die Geschenke
für den Kirchenschatz, Altartücher, Leuchter,
Messgewänder, die Vermächtnisse zu Guns-
ten der Brüderschaft, die wirkungsvollen
Aufzüge der mit prächtigen Kerzen und
Bannern in der Prozession einherschreiten-
den Gesellen waren für den Klerus nicht
zu verachten. Die Sorge für die erkrank-
ten und in Not geratenen Gesellen war
gleichfalls eine Aufgabe der Brüderschaft
Man lieh dem Bedürftigen Geld, man unter-
hielt im Spital oder beim Wirte Betten zur
Aufnahme der Erkrankten. Stirbt ein Ge-
selle, so tragen ihn die Genossen zu Grabe,
lassen ihm eine »singende Seelmesse« hal-
ten und alle Wochen auf der Kanzel seiner
im Gebete gedenken. Der Beitritts- und
Beitragszwang war für die Gesellen selbst-
verständliche Vorschrift. Die Meister, die
die karitative Thätigkeit der Brüderschaft
von der Fürsorge fÄ die Knechte befreite,
hatten gegen die Einrichtung nichts einzu-
wenden, solange sie in den Grenzen eines
religiösen ünterstützungsvereins sich be-
wegte. Aber das Misstrauen, das vielleicht
von Anfang rege gewesen war, — sind doch,
worauf Schanz in seinem gnmdlegenden
Buche über die GeseUenverbände hinweist,
die Stiftungsurkunden auf Widerruf des
Eates oder der Zunft bestätigt — , blieb
nicht ohne Grund lebendig, dass die kirch-
liche Organisationsform die Coulisse bildete,
hinter der weltliche Bestrebungen sich ent-
wickelten. Nach und nach ging die alte
Brüderschaft in einen weltlichen Verband
über, oder die ursprüngKchen Zwecke ti^aten
zurück hinter der Tendenz, die Interessen-
ß)litik der Gesellen kräftig zu verfechten,
ie Einkünfte der Brüderschaft wurden
auch für die geselligen und gewerkschaft-
lichen Angelegenheiten verwendet die Zu-
sammenkünfte dienten nicht bloss auferbau-
lichen, sondern auch wirtschaftspolitischen
Angelegenheiten. Die Gerichtsl)ai*keit und
die Strafgewalt, für die eng abgesteckten
Kreise kirchlicher \md ethischer A\ifgaben
bewilligt, wurden ein Mittel, um die Mannes-
zucht, den Gehorsam im Dienste des Ver-
bandes, die Solidarität in der Verfolgung
geraeinsamer Ziele zu schaffen und zu
stützen. So mündeten zahlreiche Bnlder-
schaften in Berufsverbände der Gesellen
aus. Doch neben dieser Art der EntAvicke-
lung gab es noch an<lere Bildung-sformen.
Man findet GeseUenverbände weltlicher Na-
tiu", die von Anfang an als solche ins Leben
getreten sind. Man begegnet der weltlichen
Vereinigung neben der kirclilichen Brüder-
schaft, OS erscheinen Doppolgenossenschaften,
die, tkih fester, teils lockerer miteinander
verbunden, zusammenbestehen, kirchliche
und weltliche Aufgaben nebeneinander
lösend, bald mit denselben, bald mit ver-
schiedenen Oberen, bald mit einem, bald
mit getrenntem Säckel. Die Grenzlinien
sind nicht scharf gezogen, sie verschwimmen,
und in vielen Fällen tritt eine Mischung
der Funktionen, eine Verschmelzung beider
Richtungen ein. Der Gnmdgedanke jedoch,
der sich, ein roter Faden, durch die Ent-
wickelung des Gesellenwesens zieht, die
genossenschaftliche Interessenvertretung,hebt
sich schärfer und schärfer hervor, die reli-
giöse Hülle wird mehr und mehr ab-
gestreift, das Wesen der Kampforganisation
zu Schutz und Trutz, in Freud und Leid,
daheim und in der Fremde, zeigt sich kraft-
voll und unverhüllt Mag die kirchliche
Brüderschaft sich fortbilden zxa Gesellen-
schaft, mag eine Doppelgenossenschaft vor-
handen sem, die früher oder später den
Hauptaccent auf die sozialpolitischen Fragen
legt, mag der weltliche Gesellenverband
daß ursprüngliche sein, die Bedeutung der
Vereinigung liegt auf ökonomischem Ge-
biete. Der äussere Anstoss zur Gründung
von Verbänden kam von den verschieden-
sten Seiten. Dass er Erfolg hatte, war die
einfache Konsequenz der herrschenden Zu-
stände. Das soziale Bedürfnis war vorhan-
den, und so wui-de es befriedigt. In der
Mehrzahl sicherlich spontan, bisweilen je-
doch von oben her, aus gewerbepolizeilichen
Beweggründen oder als Handlung politischer
Klugheit, um den der Ehrbarkeit feind-
lichen Zünften ein Paroli zu biegen. Es
ist unmöglich, die bunte Fülle der Asso-
ciationen in eine bestimmte Schablone hin-
einzuzwängen, es geht nicht an, dieselbe
Art der Entstehung für sie alle anzunehmen.
Je nach den Verhältnissen überwiegt hier
die eine, dort die andere Form. Sicherlich
ist die ursprüngliche Brüderschaft, der
öfters auch Frauen und ausserhalb des Ge-
werks Stehende angehört haben, die um-
fassendere Organisation gewesen. Indes je
kräftiger der Gesellenstand sich entfaltete,
je energischer er seine Ziele verfolgte, desto
leichter wurden die fremden Elemente ab-
gestossen, die zusammengehörigen desto
inniger miteinander verbunden. Die letzte
Erinnerung an die ehemalige Wirksamkeit
ist dann nur noch der Name und ein Rest
von Aeusserlichkeiten, die den Kern nicht
berühren. Die Reformation machte reinen
Tisch mit den kirchlichen Rückständen, und
der Eifer der Handwerksmeister und Räte,
die Gosellenbrüderschaften abzustellen, rich-
tet sich in Wahrheit vor allem gegen den
weltlichen Inhalt in der religiösen Form,
gegen die Emancipationsversuche der Ge-
sollen. Die Gesellschaft, der gewerkliche
Verband trat nun desto offenkundiger in
Gesellenverbände (Deutschland)
185
n
die Erscheinung, nachdem die kirchlichen
Bestandteile ausschieden waren. Dies ist
der FaU auch m den Bezirken, die der
Protestautismus nicht ergriffen hat, der beste
Beweis dafür, dass wir es mit einer grossen
wirtschaftlichen Erscheinung zu thim haben.
In Städten mit gemischter Bevölkerung
finden sich (wie in Augsburg) manchmal
konfessionelle Verbände nebeneinander, die
aber hinsichtlich ihrer Interessen gemein-
sam agierten. Was nicht hindert, dass in
einigen katholisch gebliebenen Städten ein
Rückschlag eintrat, eine Zurückbildung der
(Jesellenverbände in rein kirchliche Korpo-
rationen. Ein Fall von sozialem Atavismus,
wie er in der Wirtschaftsgeschichte ab und
zu uns begegnet.
3. Die äugsere Organisation des Ge-
sellenverbandes. Die Wahl und die An-
zahl der Vorstände ist in der verschieden-
artigsten Weise geregelt. Die Bestimmun
hierüber sind so mannigfach wie die
Zeichnungen für die zwei oder vier oder
fünf Gesellen, denen die Leitung der Ge-
sellenschaft anvertraut war. Da finden wir
üertengesellen, Zuschickgesellen. Altknechte,
Beisitzerund Ladengesellen, Bücnsenmeister,
Zechgesellen und Füiyesellen, Fürergeselien,
Knappenmeister, Meisterknechte etc. Die
Amtsdauer ist bald kürzer, bald länger, sie
haben entweder mit der Gesamtheit der
Gesellen oder, wo deren Zahl zu gross ist,
mit einer Vertretung dieser zu raten und
zu thaten. Die ihnen obliegenden Pflichten
erfüllen sie bald gemeinsam, bald liegt eine
Teilung der Aufgaben imter die einzelnen
Vorstände vor. So hält z. B. der üerten-
gesell bei den Nürnberger Schreinern die
Umfrage, die Ladengesellen überwachen die
Gesellenlade. Bei den Nürnberger Messer-
schmieden führt der Zechgesell den Vorsitz,
die Fürgesellen sind zur Aufsicht über das
Wanderwesen bestellt. Die vier Altknechte
der Bäcker in Nürnberg wurden auf ein Jahr
von der Gesamtheit der Gesellen gewählt.
Bei den Schreinern gab es vier üerten-
gesellen, von denen je zwei von Monat zu
Monat ausschieden; an ihre Stelle wimlen
zwei andere gewählt Innerhalb des Rahmens
der Gesellenverordnungen hatten sich die
Gesellen ihren Vorständen imterzuordnen.
Die Versammlungen, für die eine genau vor-
geschriebene und peinlich beobachtete Eti-
kette, ein ganzer Codex von Ceremonieen
bestand, Messen Gebot, Umfrage, Ladentag,
Schenke, Tischgesass, Mittel, in späterer Zeit
Auflage. Der Associationszwang nötigte die
Gesellen des (Jewerks zum Eintritt und zur
Beitragspflicht bei Strafe der Aechtung.
Der Mittelpunkt der Vereinigung
war die Uerte, die Trinkstube, oder wie
man im 17. und in den folgenden Jahr-
hunderten gewöhnlich zu sagen pflegte, die
Herberge. Die Uerte war die Ratsstube der
Gesellen, der Brennpunkt des Verkehrs, wo
die Wandernden einkehrten, wo man Feste
feierte, wo beraten und Gericht gehalten
wurde. Das Verlialten . auf der Herberge
bildet einen Hauptbestandteil der Gesellen-
ordnungen. Die Gerichtsbarkeit, dieser
»Zankapfel bei allen Genossenschaften«, das
Palladium auch der Gesellenverbände, war
durch Jahrhunderte ein Gegenstand erbitterter
Kämpfe zwischen den Arbeitern auf der
einen, den Meistern und den städtischen
Regierungen auf der anderen Seite. So un-
scheinbar und engbegrenzt sie auch erscheint,
wenn man die zahlreichen Statuten durch-
liest, so bedeutungsvoll war sie in den Hän-
den der Gesellen. Die Gewalt, das Urteil
vor Genossen zu fragen und zu finden,
Strafen zu verhängen und zu vollstrecken,
die Möglichkeit, auf diese Art eine eiserne
Disciplin zu üben und das Bewusstsein der
Zusanmiengehörigkeit zu wecken und zu
pflegen, die Schulung in der Pflichterfüllung
gegenüber der Genossenscliaft, die Erziehung
zur Standesehre, der Drill zum Corpsgeist,
das sind sozialpädagogische Momente von
hervorragender Wichtigkeit. Hinter den
Trinkcomments, wie sie so viele Ordnungen
enthalten, hinter den geringfügigen Bussen
steht die straffe, einheitlich geleitete, ziel-
bewusste Organisation. Die Aufiechterhaltung
guter Sitte und würdiger Ordnung auf der
Trinkstube war in den guten Zeiten der
Gesellenschaft nur der Reflex des überhaupt
auf Tüchtigkeit und Zucht haltenden Standes-
bewusstseins, das festgegründet war auf die
Verbindung gleichgesinnter Genossen. Die
Niederschrift hielt gerade die grellen, in die
Augen fallenden, äusserlichen Dinge fest,
die Ueberlieferung und der unter dem Drucke
der Umstände sich steigernde Zusammenhalt
bürgten für die ernste Durchführung wirt-
schaftlich-sozialer Aufgaben. Die Geschichte
der deutschen Gesellenverbände hat der Bei-
spiele dafür zur Genüge geliefert. Die innere
Historie erfälirt man weit weniger aus dem
Inhalte der Statuten als aus dem bisher
erschlossenen Urkundenschatze, der in Rats-
protokollen, Briefbüchern, Handwerksladen
von dem Thun und Treiben, den Kämpfen
und Schicksalen der Gesellen uns authentisch
berichtet. Hier ist eine Fundgnibe der Wirt-
schaftsgeschichte, deren Ausbeute kaum erst
begonnen hat. Die Erkenntnis der mittel-
alterlichen Sozialzustände winl diurch die
Erforschung dieser Quellen auf das er-
freulichste gefördert werden.
Die Höhe der Beiträge, auf den durch-
schnittlichen Tagelohn berechnet, scheint
im Laufe der Zeit, soweit uns sichere
Angaben darüber vorliegen, nicht zu sehr
geschwankt zu haben. Die Nürnberger
Kammmacher zahlten alle vier Wochen
186
öesellenverbände (Deutschland)
^inen Batzen, also 4 Kreuzer, die Kar-
dätschenmacher alle Vierteljahre 12 Kreu-
zer, die Leckküchner alle Yierteljalire
4 Kreuzer, die Messerschmiede alle vier
Wochen 6 Pfennig, die Bortenwirker monat-
lich einen halben Batzen, die Schuhmacher-
gesellen 1 Kreuzer, die Jungen 2 Pfennig.
Bei den Kupfer- und Hufsclimiedsgesellen
zu Freiburg i. Br. belief sich im Jahre 1481 der
Beitrag auf 3,3 Tagelöhne jährlich ; bei den
Nürnberger Schuhmachern des Jahres 1635
zahlte ein Schuhknecht 3,2, ein Jünger, d. h.
ein ausgelernter Lehrjunge, 1,6 Tagelöhne
das Jahr über. Die verschiedenen Einnahmen,
Beiträge, Strafgelder u. s. w, wurden für die
gemeinsamen Zwecke verwendet, für Unter-
stützung und für Vergnügungen, für den
Schmuck der Trinkstube und für den Zehr-
pfennig, für den Willkomm und das Geleite,
für Arbeitslose und Sieche, für Boten- und
für Schreiblohn, für Spenden und Ehren-
geschenke. Einzelne Gesellen Schäften hielten
sich ilire Schreiber, die besser mit der Feder
umzugehen verstanden als die Gesellen, deren
Krähenfüsse dem Archivbenutzer gar manch-
mal Pein bereiten. Die Rechnungsbücher,
die z. B. in den Nürnberger Handwerks-
ladeu enthalten sind, geben Auskunft über
die Vielseitigkeit des Ausgabenetats der Ver-
bände. Die Gebote waren das amtliche
Stelldichein der Gesellen ; auf ihnen wimlen
die Verbandsangelegenheiten erledigt, die
Streitigkeiten beigelegt, die Frevel gegen
die Orclnungen gebüsst. Waren die üblichen
Zusammenkünfte feierlich, so bildete die
Aufnahme eines freigesprochenen Lehrlings
in die Gesellenschaft einen Glanzpunkt in
dem Leben des Jüngers, einen Festakt, der
an die genau fixierten Kegeln gebunden war,
für die Gesellen. Die tiefere Bedeutimg
des Ceremoniells, das oft an kirchliche Ge-
bräuche, an die Taufe u. s. w. sich anlehnte,
ging in der Zeit des Verfalls verloren und
entartete zu ödem Formelkram. Aber in
der Periode der Blüte lag der Nutzen und
der erzieherische Weii; des Hänseins tretz
seiner Derbheiten klar zu Tage. Das Mittel-
alter war urwüchsiger in seinem Empfinden
imd fasste gix)blicher zu. Aber die rehesten
Bräuche der Gesellen reichen nicht liinan
zu den Excessen, die bei den hanseatischen
Spielen, besonders auf dem Kontor zu
Bergen bei der Reception junger Kaufleute
von den Mitgliedern der Hansa geübt wunh^n.
Die G(»sellen, die den Ausgelernten in ihre
Genossenschaft eintreten liessen, bereiteten
ihn auf das Wandern vor, sie h^hrten ihn
die Bräuche, Grussformeln und Sprüche, an
denen sich die Glieder desselben Gewerkes
erkannten. Wer in diese Dinge eingeweiht
war, über die er Nichtgenossen gegenüber
zu strengem Schweigen verpflichtet war,
besass die Legitimation, ohne die er weder
wandern noch Arbeit finden konnte. Zu-
gleich bot die Aufnahme die Bürgschaft,
dass der neue Geselle sittlich und beniflich
befähigt war, dem Handwerke als voll-
berechtigter Geselle anzugehören : die Standes-
ehre litt keine unredlichen Elemente im
Verbände.
In den Sprachurkunden, die uns vom
Gesellenmachen überliefert sind, lebt ein gut
Teil im>prünglicher, aus den Tiefen des
Volkslebens quellender Dichtung. Der letzte
Schimmer al^ermanischer Götter- und Hel-
densage überglänzt diese Denkmäler der
Vergangenheit; man lese nur bei Frisius
die wunderbare Vorsage beim Schleifakte
der Böttcher. Schon Jakob Grimm hat 1815
mit feinem Sinne auf diese Erzeugnisse der
schöpferischen Volksphantasie hingewiesen.
In vortrefflicher Weise hat ein anderer
Germanist, Oskar Schade in Königsberg, in
den fünfziger Jahren die religions- und
kultiu*geschichtliclie Bedeutung des Gegen-
standes hervorgehoben: seine tiefgehenden
Untersuchungen sind leider von den Wirt-
scliaftshistonkern so gut wie gar nicht be-
achtet worden. Wie das Gesellenmachen
überhaupt im Zeitalter des Verfalles sich
zur Fratze verzerrte, so auch die Vorsage,
die Anfang des vorigen Jahrhunderts bis-
weilen nichts ist als eine platte Zote in
langatmigen Alexandrinern.
4. Die sozialpolitische Bedentnng des
Gesellenverbandes. Vier Gesichtspunkte
kommen für die Gesellenbewegung in erster
Reihe in Betracht: Arl)eitslohn, Arbeitszeit,
Arbeitsvermittelung, Arbeitsverti-ag. Diese
Fragen spielen in den Kämpfen der heutigen
Arbeiterschaft noch immer eine hervor-
ragende Rolle. Unter der Herrschaft der
alten Wirtschaftsverfassimg, diesseits der
entfalteten kapitalistischen Produktionsweise,
vollzieht sich die Auseinandereetzung in
anderer Art als in unseren Tagen. Wie
al)er ehemals die Dinge lagen, konnten bei
dem ganzen Aufbau des gesellschaftlichen
Lebens die Gesellen nur in den Bahnen
wandeln, die mit eherner Notwendigkeit der
Stand der ökonomischen Ent Wickelung ihnen
vorzeichnete. Und man muss sagen, dass
sie für ihre Ziele energisch eingetreten sind,
dass ihre Bewegung sich voll ausgelebt hat
und dass sie scheitern mussten, weil mit
ihnen das ganze System Schiffbruch litt
Wie der Kapitalismus die feudale Ordnung
abgelöst hat, so die moderne Arbeiterklasse
das alte Gesellen tum. Die Lohn frage führt
bereits früh zu Konflikten zwischen Meistern
und Knechten. Die ersteren suchten, solange
es anging, den Lohn von sich aus festzu-
setzen. Einspruch des Arbeiters war nicht
gestattet, und die Webermeister von Speier,
die 1351 den Lohn für alle Ewigkeit fixieren
wollen, sind in ihi-er Art ein Typus. Auch
Geselleaverbände (Deutschland)
187
die Meistertage, die schon im 14. Jahrhun-
dert zur gemeinschaftlichen Beratung und
Förderung der Zunftinteressen stattfanden,
regulierten den Lohn nach ihrem Gutdünken,
die oberrheinischen Schneiderzünfte noch im
Jahre 1457 z. B. gleich auf 28 Jahre. Die
Üüterl)ezalilung war für die Gesellen erträg-
lich in jener Periode des patriarchalischen
Handwerks, das die Gesellenzeit als Durch-
gang zur Meisterwürde betrachtete, sie wiu-de
unerträglich in dem Augenblicke, da die
Entfremdung zwischen dem Meister und
dem Gesellen, die vorhin gekennzeichnete
soziale Verstimmung Platz jriff. Die Art
der Löhnung war mannigfaltig; wir finden
Zeitlohn und seit Beginn des 15. Jahrhun-
derts eine neben diesem sich mehr und
mehr ausbildende verwickelte Stücklöhnung.
Je nach Ort und Zeit ist die Löhnungsweise
verschieden, sie wechselt in demselben Ge-
werke an demselbe* Ort, und wii' finden,
dass die Gesellen für Acoordlohn eintreten,
so gilt wie sie anderswo entschieden seiner
Einfühning sich widersetzen oder für seine
Abschaffung sich ins Zeug legen. Es scheint,
als ob Ausgangs des 15. Jahrhunderts der
AVidei-stand gegen den Stücklolm lebhafter
zu werden beginnt. Die Verbote dagegen
mehi-en sich; sogar die rückständigste Ar-
l)eitorgi*uppe, die Metzgergesellen, kämpfen
1523 in Nürnberg dagegen an, »sonsten sie
aufsten und in Krieg laufen woUen«. Jeden-
falls macht sich eine grundsätzliche Reaktion
der Gesellen gegen die einseitige Festsetzung
der Lohnhöhe seitens der Kleister Endo des
14. Jahrhunderts lobhaft geltend. Das 15.
Jahi'hundort mit seiner erstarkten Gesollen-
organisation eröffnet eine Aera der Lohn-
kämpfe. Denn der Verband ist es, der die
Fonlerung(»n seiner Mitglieder vertritt. Nicht
allein die Lohndrückerei wird l)ekämpft. Man
wahrt sich gegen versteckten oder offenen
Tnick, der mit Recht den Gesellen als eine
schier imleidliche Bedrückung erscheint. Die
Minderung des Arbeitseinkommens soll ver-
hütet, der Lohnsatz soll erhöht werden.
Allen voran gingen die Weberknechte, wie
sich dies versteht bei einer Arbeiterschicht,
die am frühesten mit dem Kapital in Kolli-
sion geriet und zuerst im Dienste kauf-
männischer Unternehmer gix>ssgewerblicher
Thätigkeit dienstbar gemacht wurde. In
Spoier setzen sie 1351 bereits eine Auf-
l)e8serung der Löhne durch. Die Thatsache,
dass vom 14. zum 15. und 16. Jahrhundert
eiuf» Lohnsteigerung im allgemeinen einge-
treten ist, dürfte nicht zu bt^streiten sein.
Mit Recht ist das 15. Jahrhundert das »gol-
dene Zeitalter der Arbeiter« genannt worden.
Dass nur die Vereinigung der Gesellen im
Stande gewesen ist, bessei-e Lohnverhältnisse
für die verschiedenen Gewerbe zu erlangen,
dass sie die schneidige Waffe wai-, mit der
Siege über die starrnackigen und gewinn-
süchtigen Meister davongetragen wurden,
das lehrt jedes Blatt der Wirtschaftsge-
schichte. Wo die Gesellen ohne dies feste
Bindemittel sind, wo sie vereinzelt für ihr
Dasein zu kämpfen haben, da fällt es jedes-
mal den Gegnern leicht, sie zu unterdrücken
und ohne Rücksicht auf die Wünsche der
machtlosen Gesellen den Frieden zu dik-
tieren. Die EiTungenschaften der organi-
sierten Gesellenschaft kontrastieren scharf
mit den Misserfolgen der nichtorganisierten
Arbeiter. Die gewaltige Umwälzung des
16. Jalirhunderts, die alle Wirtschaftsgebiete
ergriff, Handel imd Wandel revolutionierte,
die kapitalistische Pi*oduktions weise in ihi'en
Anfängen eretehen liess, die Verkehrswege
mit einem Schlage änderte, Europa mit Edel-
metallen überschwemmte mid durch Ent-
wertung des Geldes die Lohnzustände alte-
rierte, diese gi'osse Wandlung ging auch an
den Gesellen nicht spurlos vorüber. Man
kann vielleicht sagen, dass ihre Lage sich
noch gründlicher und schneller, als es wirk-
lich seit der Reformation geschehen ist, ver-
sclüechteil; hätte, hinsichtlich der Lohnfrage
wie auch in anderen Beziehungen, wäivn
nicht die Gesellenverbände gewesen. Sie
waren ein Hindernis, das stark genug war, sie
vorder zügellosesten Ausnützung zu bewahi'en.
Die Arbeitszeit war eine lange. Von
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, in vielen
Gewerben auch noch \yei Licht wird ge-
schafft. In den fünfziger Jahren des 14.
Jahrhunderts ist für die Helm-, Hauben-
und Waffenschmiede und die Kannengiesser
in Nürnberg vorgeschrieben, wer nach dem
Läuten der Feuerglocke oder vor derPfamnette
auf dem Handwerke wirke, solle dafür jedes-
mal an die Stadt 60 Heller geben. 14, 15,
16 Stunden sind etwas Gewöhnliches; bei
den Elitearbeitern des Baugewerbes finden
wir freilich auch einen Arbeitstag von durc*h-
schnittlich 10 — 11 Stunden. Die Gesellen
fordern durchgängig nicht eine Verkürzung
des ArK^itstages , sondern eine Reduktion
der Wochenarbeit durch Gewinnung eines
freien Wochentages. Dieses Verlangen war
ein wohlberechtigtes, und man begreift des-
halb die Zäliigkeit, mit der der Kampf für
den guten (blauen) Montag durch Jahrhim-
derte geführt wm*de. Die Gesellen trieben
hier positive Sozialpolitik in ihrem gutver-
standenen Interesse. Sie wollten einen Damm
wider die aufreiljende Uebei'arbeit, sie wollten
freie Zeit zur Erholung, zur Körperpflege —
der Badgang am Montag ist ein Stück Volks-
hygiene, das ei-st der BOjälirige Krieg be-
seitigt hat — , sie wollten einen Tag zur
Abhaltung ihrer Vei*sammlungen. Erst nach
langen Mühen gelingt es den Gesellenver-
l)änden, ein Zugeständnis nach dem anderen
auch in dieser Fi-age den Meistern und der
188
Gesellenverbände (Deutschland)
Obrigkeit zu entwinden. Im 14. Jahrhundert
wird jeder Tag Müssig^ng hart bestraft,
und Abzüge vom Lohn Hessen die Gesellen
die Macht des Brotherrn spüren. Es galt
sich von dem Zwange, der zum Vorteile der
Meister ausgeübt wurde imd die Arbeiter
der Willkür jener überantwortete, ent-
schlossen zu befreien. Aber erst seitdem die
Organisationen der Gesellen erstarken, seit
sie auf die Handwerkspolitik durch ihr ge-
schlossenes Vorgehen und ihre wirkungs-
volle Taktik Einnuss gewinnen, beginnt man
mit ihnen Kompromisse zu schliessen. Im
15. und zu Beginn des nächstfolgenden Jahr-
hunderts ist der ^te Montag schon eine
allgemeine Institution: ein halber Feiertag,
bald jede Woche, bald alle 14 Tage ist er-
kämpft Die Reformation hatte mit den
Feiertagen stark aufgeräumt, und das Be-
dürfnis nach einem offiziellen Ruhetage
wurde desto lebhafter. Es ist bekannt, dass
die Gesellen die Gefeihr, die in der Umwand-
lung von Feiertagen in Werkeltage für ihre
soziale Lage, drohte, bald einsahen. Sie
sollten ein weit grösseres Arbeitsquantum
ohne Erhöhung des Arbeitsverdienstes leis-
ten, sie wurden weit stärker als früher an-
gespannt und viel intensiver ausgebeutet.
Charakteristisch ist die von Schanz mitgeteilte
Eingabe der Strassburger Kürschnergesellen
aus dem Jahre 1529. Noch im letzten Viertel
des 16. Jahrhunderts klagen die Oertenge-
seUen und gemeine Gesellschaft des Ntim-
berger Barchentweberhandwerks dem erbaren
Rate: »wir haben auch hievor zu einer er-
getzlichkeit unserer mühe und arbeit siben
fesst gehabt, das ausswendig auf andern
werkstetten noch ist, aber alhier sein uns
dem flinf abgebrochen und helt man mis
nur zwey, als die fassnacht und liechtgenss.«
So leuchtet es ein, dass der gute Montag
ein thatkräftig verfochtener Programmpunkt
der Gesellenbewegung war. Im 16. Jahr-
hundert ist oft sogar der ganze Tag freige-
geben. Die Entscheidung des ICampfes um
den guten Montag zu Gunsten der Gesellen
lässt sich, wie man sieht, deutlich verfolgen.
Mit der Entartung des Handwerks, mit dem
furchtbaren Niedergange der deutschen Kul-
tur degeneriert auch diese Einrichtung.
Aber es ist unrichtig, den blauen Montag
bloss in diesem Zeitpunkte des Verfalls zur
Grundlage für seine Beurteilung zu nehmen.
So wenig jemand die grosse Bedeutung der
Zunft für die Wirtschaftsgeschichte richtig
zu erfassen vermag, der nur die Zunftmiss-
bräuche kennt und das zünftische Wesen
mit den Augen eines fridericianischen Ver-
waltungsl)eamten betrachtet, so wenig be-
greift man die Nützlichkeit und Notwendig-
keit des guten Montags, wenn man sich auf
die krankhaften Erscheinungen des 18. Jahr-
hunderts beschränkt.
Welchen Wert für die Position des G^
seUenverbandes die Arbeitsvermitte-
1 \i n g besass und besitzt. Hegt auf der Hand.
Wie heute die Arbeiter eines der einfluss-
reichsten deutschen Grossgewerbe einen er-
bitterten Kampf mit ihren Unternehmern
um diese Einnchtung geführt haben — man
erinnere sich an den Formerstreik — , so
haben auch die Handwerksknechte des Mittel-
alters die Wichtigkeit dieses Institutes zu
schätzen verstanden. Es war eine der ers-
ten Handlungen der organisierten Gesellen-
schaft, sich die Regelung des Arbeitsange-
botes zu sichern. Die Wanderpflicht hatte
das leichtfüssige Volk der Gesellen mobiH-
sierf, und es galt, für die Zugewanderten
zu sorgen, entweder ihnen Arbeit nachzu-
weisen oder nach freundlichem Empfang
und imter Gewährung von Pflege, Obdach
und Zehrpfennig sie nach einem anderen
Orte ziehen zu lassen, wo die Arbeitsgelegen-
heit günstiger war. Eine urwüchsige, aber
den damaügen Verhältnissen wonl ent-
sprechende Regulierung der Zufuhr und der
Nachfrage, die dem Gesellen, welcher einem
Verbände angehörte, überall gute Aufnahme
und Schutz vor Entbehrungen sicherte. Die
Herberge war der Sammelpunkt der Frem-
den. Dorthin begab sich der Wanderer,
und nachdem er durch Gesellengruss und
die Erfüllung der beim Hänseln ihm einst
gelehrten Ceremouieen sich als berechtigter
Genosse legitimiert, fand er hilfreiches Ent-
gegenkommen, ein fröhliches Gelage, ein
Nachtquartier. Die von der lokalen Ver-
einigung mit dem Arbeitsnachweis betrauten
Gesellen, mit Abzeichen geschmückt, nicht
selten den Degen an der Seite, fragten nach
einer bestimmten Reihenfolge für ihn um
Arbeit. Die geschenkten Handwerke
zeichnen sich vor allem durch den innigen Zu-
sammenhalt der Gesellen aus. Das Bewusst-
sein, überall, wo das Handwerk vertreten
wai*, hilfsbereite Berufgenossen zu finden,
der lebhafte Verkehr von Ort zu Ort festigten
ihre Lage. Nach Ausbildung des Wander-
wesens verstand man darunter, im Gegen-
satz zu den ungeschenkten Handwerken,
diejenigen, die dem Wandernden eine Gabe
zu reichen pflegten. Ursprünglich jedoch
handelte es sich, wie Schade zeigt, um den
Labetnmk, der dem Wandernden an der
Schwelle gereicht wukIc; der angebotene
Becher war der Willkomm, kurzweg das
Geschenk (schenken =: einschenken , ein-
giessen). Das Geschenk wmxle Symbol der
Brüdei-schaft, das Recht des Geschenkhaltens,
der Schenke galt sehr hoch. Geschenkte
Handwerke sind eigentlich die mit dem
Rechte der Schenke begabten Handwerke.
Im 15. und 16. Jahrhundert ist es diese
letzte Seite des genossenschaftlichen Lebens,
die stärker betont wird, der Zusammenhalt
Gresellenverbände (Deutschland)
189
der Gesellenschaft, wie er geboten war durch
die Herberge und die dort abgehaltenen Zu-
sammenkünfte, die Schenken auf der einen,
das Schenken der zugewanderten und fort-
wandernden Gesellen auf der anderen Seite.
Die Begrüssung, die feierliche Aufnahme der
in Arbeit getretenen Zugewanderten, ver-
knüpft mit sorgfältiger Prüfung der Hand-
werksehrlichkeit, war ein wichtiger Bestand-
teil des Gesellenrechts, ebenso das Ausschen-
ken der Gesellen, die die Stadt verliessen,
und das Geleit. Diese Brauche waren das
Mittel, den Corpsgeist der Handwerksge-
sellen zu erhalten und sie stets zu kontrol-
lieren. Wer sich dem Ein- und Ausschenken
entzog, der stand ausserhalb der Gesellen-
schaft, w^ar unredlich und sah sich einer
strengen Justiz überantwortet. Als das
Waadergebot sich zum Wanderzwang fort-
bildete, als sich das Wanderwesen immer
reicher entfaltete, trat die Darreichung des
Zehrgeldes, das den Gesellen der geschenkten
Handwerke gereicht wurde, mehr in den
Vordergrund: der Empfemg des Viatikums
hob diese Gesellen auf eine höhere Stufe
gegenüber denjenigen, die auf Almosen an-
gewiesen warerf.
Der Kontraktbrudi, in der ältesten Zeit
auf das härteste geahndet, wurde noch im
14. Jahrhundert durch drückende, von der
Meistei-schaft festgesetzte Geldstrafen ge-
büsst. Die Pön für dies Vergehen zu mil-
deru, war das von Erfolg begleitete Be-
mühen der GeseUenverbände. Die Bussen
wurden nach und nach herabgesetzt, imd
allgemach werden die Zustände günstiger.
Nicht die Meister allein haben zu entschei-
den, auch die Gesellen sprechen mit, wo
es sich um die Frage des Vertragsbruches
handelt An manchen Orten felilt sogar die
Strafbestimmung ganz. Es gelingt der
Organisation, eine gewisse Einwirkung auf
den Arbeitsvertrag zu erhalten. Hat
sie ja von Anfang an sich bestrebt, im ge-
werblichen Gerichte und in der Handwerks-
verwaltung ihre Vertreter zu haben, als
rechtmässige Repräsentantin der Gesellen-
schaft anerkannt zu werden.
Der Gresellenverband ist in der That der
berufene Mandatar der Arbeiterschaft, er
ist das Werkzeug der sozialpolitischen Agi-
tation, er erringt für die Arbeiter bessere
Arbeitsbedingungen, er hebt ihre materielle
Lage. Seinem Wirken ist es zu danken,
dass an die Stelle der Bezeichnung Knecht
von der Mitte des 15. Jahrhunderts an
mehr und mehr die Bezeichnung Geselle,
d. h. Genosse einer anerkannten Brüder-
schaft tritt, ein Ausdruck, der in diesem
Zusammenhange vorher mu* selten und spo-
radisch vorkommt. Der Gesellenverband
pflegt die Standesehre und das Standesbe-
wusstsein, die Feste der Gesellen werden
wahre Volksfeste (Höge der Hamburger Brau-
knechte, Münchener Schäfflertanz u. s. w.).
Der Gesellenverband erzeug eine Solidari-
tät der Interessen, die frei ist von lokaler
Beschränktheit, er wahrt »länger als die
Meisterzünfte den freien Charakter und
den auf das Allgemeine gerichteten Sinn«
(Gierke).
5. Die GeseUenverbände unter sich.
Das Geheimnis der dauernden Erfolge der
Gesellenbewegung ist ihre interlokale Orga-
nisation. Die StMte- und Meisterbündnisse
waren das Vorbild gewesen. Mit dem Fort-
schritt der wirtschaftlichen Entwickelung
und mit der Ausbildung des Wanderwesens
wiurden die Beziehungen zwischen den Ge-
sellen verschiedener Städte immer inniger.
Während die Meisterkoalitionen rasch zer-
fielen oder auf einen engeren Kreis be-
schränkt blieben — fehlte ihnen, den an
die Scholle Gebundeneu, in Kirchturminte-
ressen Befangenen doch der freiere Blick
und die Beweglichkeit der Gesellen — ,
treffen wir bei diesen bald einen Reichtum
von Zusammenhängen. Zunächst in kleine-
ren Bezirken schliessen sich die GeseUen-
schaften desselben Gewerkes zusammen.
Zonenweise dehnen sich diese Bezirke aus.
Im 15. Jahrhundert weist zunächst Südwest-
deutschland einen kräftigen Aufschwung
des Verbands Wesens auf. Im 16. und 17.
Jahrhundert ist das ganze deutsche Reich
mit einem dichtmasclügen Netze von Kar-
teUverbänden überspannt Schon um 1421
finden im Breisgau Seilertage statt; im
Elsass besteht ein grosser Bund der Wagner-
knechte. Der Grundgedanke ist stets imd
allerorten die Centralisation bestimmter Ge-
werke, fortschreitend von der engeren zur
weiteren Zone bis zur nationalen Vereini-
gung. Der grossailige Bund sämtlicher
deutscher Steinmetzen freilich, der mit
seinen vier Hauptstätten Wien, Köln, Züiich,
Sti-assburg 1452 ins Leben trat, gehört
nicht in den Bereich der eigentlichen Ge-
seUenorganisationen, da in ihm Gesellen,
Poliere und Meister infolge der eigenartigen
Genesis und Ausbildimg des Gewerbes ver-
einigt waren; trotzdem kommt auch hier
die specifische Arbeiterpolitik mehr als ein-
mal zum Durchbruch. Die Zugehörigkeit
zu einem lokalen GeseUenverbände sicherte
dem Mitgliede die Vorteile der übrigen
Verbände seines Gewerkes. Man kann
deutlich verfolgen, vde die Verbandsgebiete
in demselben Verhältnis, in dem sich die
Wanderungsgürtel erweitem , ^össer imd
umfassender werden. Welchen Emfluss diese
landschaftlichen und nationalen Vereinigungen
der Gesellen besassen, die mit eiserner Dis-
ciplin ihre Beschlüsse durchsetzten und sich
gegenseitig auf das aufopferndste beistan-
den, ist bekannt. Man braucht nur an den
190
Gesellenverbände (Deutschland)
Ausstand der Colmarer Bäckerknechte 1495
bis 1505 sich zu erinnern: hier knüpfte
der Streit an eine kirchliche Angelegenheit
an. Die grossartigste Kraftprobe der Ge-
sellenverbände im 16. Jahrhundert ist wohl
der in Südwestdeutschland mit Glück durch-
geführte Kampf um die Erlialtung der
Schenken, d. h. der Organisation selbst.
Den Anlass gab der Reichsabschied von 1566,
welcher die Abstelhmg der Schenken anord-
nete. Die Reichsstädte ülm,Augsburg, Regens-
burg, Nürnberg u. a. m. versuchten diese
Anordnung dm-chzuführen ; aber trotz aller
Bemühungen scheiterten sie an dem Zu-
sammenhalt der Gesellen, die über Nürn-
berg, dessen Rat der Leiter der gesellen-
feindlichen Bewegung war, einen wirkungs-
vollen Boj'^kott verhängten, die Gewerbe
fast zTun Stillstand brachten und es so über
die Stadtregierungen nach fast siebenjähri-
gem Kampfe davontrugen, üeberall "v^-irkte
die Warnung der Yereinigimgen, in Böhmen,
Mähren, Preussen, im Süden, im Westen
standen die Gesellen einmütig zusammen.
In den folgenden Jahrhunderten lassen sich
der Fälle noch nele für diese Solidarität
der Gesellen anführen. Der allgemeine
Niedergang blieb nicht ohne Einfluss auch
auf diese Verhältnisse. Im 17. und 18.
Jahrhundert erfolgt ein Rückschlag, die
nationalen Bezüge fallen zum Teil fort und
es entstehen gesonderte Gruppen mit eige-
ner Gewohnheit und eigenem Gruss (die
Gesellen der Seestädte , die sogenannten
Oberländer imd die der Landstädte). Trotz
alledem lebt lange noch über das 16. Jahr-
hundert hinaus gerade infolge der inter-
lokalen Verbindungen ein »gesunder ge-
nossenschaftlicher Geist« (Schmoller) in der
Gesellen Schaft. Und es ist nicht unzutref-
fend gesagt worden, dass die Verbände in dem
Chaos des nationalen Niederganges und der
Kleinstaaterei das wichtigste soziale Band der
Einheit des deutschen Reiches gewesen seien
und ein Stück Reichseinheit gerettet hätten.
6. Kampfmittel der Verbände. Die
gebräuchlichsten Waffen der Organisation
waren die Verrufserklänmg (das Schmähen,
Schelten, Auftreiben), der Ausstand, der
Boykott. Der Gesell, der gegen das Ge-
sellenrecht verstiess, so gut wie der Meister,
der gegen den Verbandsgenossen oder den
Verband sich verging, wurde für unredhch
erklärt. Jener fand keine Arbeit, dieser
keine Arbeiter mehr, bis sie ihr Vergehen
gesühnt hatten. Die Aechtung ganzer Ge-
werke, ganzer Städte war so gebräuchlich,
wie der Strike (vgl. d. Art Arbeitsein-
stellungen (Einleitung) oben Bd. I, S. 735 ff.;
der Nürnberger Blech seh miedausstand von
1475 ist allerdings eine un geschichtliche
Legende). Zu diesen Methoden der Abwehr
oder des Angriffs trat der Aufstand: das
18. Jahrhundert ist die Periode der Ge-
sellenaufstände, die mit Gewalt unterdrilckt
werden müssen. Der Verkehr der Gesellen-
schaften ist ein reger und in Anbetracht
der mittelalterlichen Verkehrsverhältnisse
ein i-ascher gewesen. Wandernde Gesellen,
eigene Boten brachten die Nachrichten, die
Lauf- und Brandbriefe von Stadt zu Stadt.
Wie eine Verrufserklärung wirkte, dafür
legt beredtes Zeugnis ab der Brief eines
Nürnberger Beutlergesellen in Ulm vom
Jahre 1536. Der für unredlich erklärte Ge-
sell erhält, obgleich er bereits sich zu
rechtfertigen versucht hat, in Ulm keine
Arbeit vor Austragung seines Handels. »Hab
darzu weder essen noch trinken, wie ich
mich dan vil tag mit einem reckla prots
auf schtegen und gassen niderleg . . . bin
meines alters im 24. jar kan ain gut hand-
werk, wird mir aber zutreyben verspert,
muss also in hungers not ganz armseliclich
mein zeyt mit allerlay anfechtung vertrey-
ben, welches turken und hayden erbarmung
hetten, aber bei dem peutler handwerk und
bürgern alhie wirt mir kain barmherzigkeit
bewysen«. Ausgestossen aus der Genossen-
schaft, die gegen die Meister sich gewendet
hätte, falls sie dem Ehrlosen Arbeit ge-
geben, irrt er so hülflos umher, wie der
Wildfang der germanischen Vorzeit
7. Der geschichtliche Verlauf. Die
Gesetzgebung. Vier Geschichtsperioden
des deutschen Gesellen wesens lassen sich
unterscheiden, die Perioden der ersten
Kämpfe, der Blüte, der Stagnation und des
Verfalls. Bis in die Mitte des 15. Jahr-
hunderts währen die im 14. Jahrhundert
energischer einsetzenden ersten Emancipa-
tionsversuche der Gesellen. Sie haben um
die Existenz ihrer Vereinigiuigen gegen
Handwerksmeister und Obrigkeiten hart zu
streiten. Aber unaufhaltsam ist diese Reak-
tion auf den Niedergang der patriarchali-
schen Gewerbe Verfassung. Man unternimmt
es, mit Verboten, mit Ausweisungen, wie
1389 in Basel, sowie mit allen möglichen
anderen Gewaltraassregeln die jugendfrischen
Regungen des Gesellenstandes zu ersticken.
In Danzig bedroht 1385 das Stadtregiment
die Gesellen, die die Arbeit einstellen, mit
dem Ohrenabschneiden. Mittelrheinische
Städte wollen 1421 die Trinkstuben der Ge-
sellen abschaffen und nur kirchliche Korpo-
rationen zulassen. Im Norden, im Osten,
in Südwestdeuts(»Jiland wurden städtische
und Zunftbüudnisse geschlossen, um die
Knechte der verschiedenen Bezirke zu bän-
digen. Es ist alles umsonst So sehr
Meister imd Ehrbarkeit sich abmühen, das
Knechtswesen niederzuhalten und das alte
Dienst- und Herrschafts Verhältnis zu ver-
ewigen, die Anerkennung der Verbände geht
dennoch vor sich mit der elementaren Ge-
GesellenverMnde (Deutschland)
191
walt, die durch Eepressi\Tnassregeln sich
nicht hemiuen lässt In der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhuuderts beginnen die Organi-
sationen der Gesellen ein bedeutsamer Faktor
des wirtschaftlichen Lebens zu werden, mit
dem die herrschenden Gewalten bon gre
mal gre rechnen müssen. Die höchste Blüte-
zeit währt unge&hr vom letzten Viertel des
15. bis zum zweiten Viertel des 16. Jahr-
hunderts. Von einer unerträglichen Tyrannei
der Knechte über die Meister vor imd nach
1500, wie sie Stahl fälsclilich annimmt, ist,
was schon Schmoller treffend hervorgehoben
hat, keineswegs die Rede. Das Gesellen-
recht wird kodifiziert, die Gesellenordnungen
fixieren es. Die wirtschaftliche Revolution
des Reformationszeitalters verschlechtert die
gewerblichen Zustände, der lieben smassstab
der Gesellen ist gefährdet, die Konflikte
werden heftig und zahlreich. Die Macht
und Kriegstüchtigkeit der Städte schwindet,
der Markt verengt sich zusehends, der Han-
del verfällt, und die Handwerkspolitik wird
kleinlich, beschränkt, philiströs wie nie zu-
vor. Die in ihrem Lebensnerv durch die
grosse ökonomische Krisis jener Epoche be-
drohten Handwerke suchen Schutz in der
Verschärfung und Fortbildung der aus-
schliessenden , absperrenden, engherzigen
Privilegienwirtschaft. Immer schwieriger
wird es für die Gesellen, selbständig zu
werden. Verheiratete Gesellen waren in
der Regel weder den Meistern noch den
Kampforganisationen der Gesellen willkom-
men, die über die bedrohlichen Wirkungen
eines verheirateten Gesellenstandes für ihre
soziale Bewegung sich klar waren. Das
Reservoir der überschüssigen Arbeitskräfte,
die Landsknechtschaft, der Kriegsdienst blieb
zwar in Funktion, aber der ewige Land friede
hatte dem Fehdewesen mit seinem Bedarfe
an wehrfähigen Leuten einen Riegel vorge-
schoben. Viele verkamen. Was nicht die
Land.strasse. das fahrende Volk und das
Gaunertum verschlang, das nahm in den
Kriegsläuften ein Stück »Geld auf den Lauf«
und trug Spiess und Schlachtschwert, wie
später zur Zeit der stehenden Heere im 17.
imd 18. Jahrhundert die Soldaten nach J.
G. Hoffmann grösstenteils friihere Handwerks-
gesellen gewesen sind. Die festen Korpo-
rationen der Gesellen, die den Ünter-
drückungsversuchen des Meistertiuns die
Stime boten, sind diesem ein Dom im Auge.
Und die Reichsgesetzgebung greift ein. So
lebhaft und dringend die Beschwerden über
die Gesellenschaft sind, so bitter die Aus-
führungen der Reichsabschiede, man ver-
gesse nicht, dass diese Aeusserungen ein-
seitig, STibjektiv gefärbt, von Klassenvoinir-
teilen l)eeinflusst sind. Man wiU vorgeblich die
Missbräuche beseitigen, die aus der Arbeits ver-
mittelung imd der eigenen Gerichtsl:)arkeit
der Gesellen sich entwickelt haben sollen,
aber man legt thatsächlich Hand an diese
Institute selbst. Es beginnt die neue Aera-
des Kampfes der öffentlichen Gewalten-
gegen das Koalitionsrocht der Gesellen.
Die Handwerksgesellen sollten in ein strafferes
Abhängigkeitsverhältnis herabgedrückt, sie
sollten isoliert und dadm*ch gefügig gemacht
werden. Auch politische Beweggründe
müssen mitgewirkt haben : in den unruhigen
Sturmzeiten des Bauernkrieges spielen die
gewerblichen Arbeiter eine nicht unbedeu-
tende RoUe. So folgte Reichsabschied auf
Reichsabschied, zuerst die »Ordnung und
Reformation guter Polizei im H. Rom. Reich
zu Augspurg anno 1530 aufgericht«, die der
Ortsobrigkeit und der Zunft alle polizeili-
chen und gewerblichen Streitigkeiten über-
wies.
Es kamen die Besclüüsse von 1548, von
1559, von 1566 gegen die geschenkten Hand-
werke, die Al)schiede von 1571, 1577, 1594
Bei der Zerfahrenheit des deutschen Reichs-
re^ments war an eine thatkräftige Exeku-
tion nicht zu denken, die Ordnungen blieben
auf dem Papier. Vereinzelte Verauche, sie
durchzuführen, schlugen fehl, wie 1567 bis
1571 in Süd Westdeutschland, oder sie hatten
nur kurze Zeit Erfolg. »Die Unterdrückung
der Gesellenverbände konnte so wenig ge-
lingen, als heute eine Unterdrückung der
Arbeiter- und Gewerkvereine. Es lag zu
sehr in der Natur der Sache, dass bei der
zimehmeuden Absclüiessung der Meisterver-
bände die Knechte sich ebenfalls zusammen-
schlössen« (Schmoller). Die Periode der
Stagnation währt bis zum 17. Jalirhundert.
Der dreissigjährige Krieg, der Deutsclüands
Kultur vernichtet, seine Wirtschaftszustände
verschlechtert, die Verwilderung und Bar-
barei in alle Schichten trägt, zertrümmert
die alte ökonomische Verfassung, raubt dem
Zunftwesen seinen Daseinsgnincl und signa-
lisiert den Verfall des Gesellenwesens. Die
Territorialfürstentümer erstarken. Sie als
Träger des absolutistischen Regimes sehen
schel auf die freiheitlichen R<:»gungen der
Gesellenschaft. Auf Grund des Reichstags-
abschiedes von 1654 versuchen sie, eigene
Gewerbeordnungen für ihre Gebiete zu
schaffen. Die württembergische Bauordnung
von 1655 wendet sich scharf auch gegen
Versammlungen und Gerichte der Gesellen.
Indes die Gesetze blieben fnichtlos. Wieder
musste die schwerfällige Maschinerie der
Reichsgesetzgebung in Thätigkeit treten.
Das Reichsgutachten von 1672, das der
Gnmdstock der Gewerbegesetzgebung des
18. Jahrhunderts geworden ist, kommt zu
Stande. Es setzte Strafen für Ausstand imd
Vertragsbruch fest, onlnete Freizügigkeit
der Gesellen auch an Orten mit anderen
Gewohnheiten an, richtete sich gegen Ver-
192
Gesellenverbände (Deutschland)
nifserklärungen und beseitigte die Gesellen-
verbände mit eigener Gerichtsbarkeit. Aber
erst im Jahre 1726 wird das Reichsgut-
achten publiziert. Derweil war mit raschen
Schritten die neue Zeit herangekommen, mit
ihr hob der erste Aufschwung der Manu-
faktur auf grösserer Stufenleiter an. Die
merkantilistische Regierungspolitik förderte
diese Entwickelung durcn Konzessionen,
Fabrikprivüegien, Monopole. All dies war
nicht vereinbar mit der alten Ordnung des
Gewerbewesens. Immer häufiger wurden
die Gesellenunruhen, immer bedrohlicher
erschienen sie den Regierungen. Die Ar-
beiter, auf der einen Seite von dem rück-
ständigen Handwerk, auf der anderen von
der aufstrebenden Manufaktur bedrängt, in
die Enge getrieben durch die öffentliche
Gewalt, die namentlich in Brandenburg-
Preussen energisch vorging, suchten die
Existenz ihrer Verbände mit allen Mittelii
zu ermöglichen. Die starren Formen der
Organisation waren geblieben, in der Stick-
luft jener Zeit aber war die frische, jugend-
ki'äftige Bewegung elend zu Grunde ge-
gangen. Ein kindisches Spiel mit dem
Elittertand unverstandener Sitten, ein wüstes
Treiben beim Spiel, in der Schenke und auf
den Gassen, eine zähe Anhänglichkeit an
die obsolet gewordenen Einrichtungen der
Vergangenheit, eine durch Vorurteile ge-
trübte Auffassung der Dinge, Missbränche
statt der Bräuche, statt guter Art die Ent-
artung. Die ganze Verlotterung des Bi'u^ger-
tums vor der Aufklärungsperiode zeigte sich
auch in dem Wesen und Behaben des Ge-
sellentums. Sie waren Kinder ihrer Zeit
Trotzdem hebt sie der ideale Zug des ge-
nossenschaftlichen Bewusstseins, das mann-
hafte Eintreten für ihr Koalitionsrecht hoch
empor über das Niveau des versumpften
Meistertums. Die von Schmoller eingehend
dargestellte Reform, die den Gesellenver-
bänden in aller Form ein Ende bereitete,
ist von Preussen ausgegangen. Anlass dazu
gaben die Händel der Lissauer Tuchknappen
im Jahre 1723: die Seele der ganzen Re-
torsionspolitik war der Dii-ektor der Küstiiner
Domänenkammer, Hille. HiUe schrieb ein-
mal über die Gesellenverbände : »Diese Leute
i 1 den sich ein, als wann sie ein besonderes
Corpus oder Statum in Republica formirten,
da sie doch vor weiter nichts als vor Ar-
beitsgehilfeu zu consideriren sind.« Eine
der hannoverschen Regierungsdenkschriften
aus den dreissiger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts erklärte sogar den gewöhnlichen
Handwerksgruss : »Grüsse Meister und Ge-
sellen, was ehrlich ist und was unehrlich
ist, hilf es redlich machen« für eine »gott-
lose Frivolität c, denn der Gruss entlialte
»eine feierliche Auftivibung der Unredlichen«.
Romanistische Juristen und rationalistische
Kameralisten standen den sozialen Zusammen-
hängen gleich urteilslos gegenüber. Auf
Preussens Betreiben kam es nach langwie-
rigen Verhandlungen zum Reichsgesetz v.
16. August 1731, das die Gesellenverbände der
Gerichtsbarkeit beraubte, die von der säch-
sischen Regierung in Vorschlag gebrachte
»Kundschaft«, d. h. das obrigkeitliche Füh-
rungszeugnis, die Wanderlegitimation ein-
führte, die Gesellen dadurch unter die
strengste Aufsicht stellte und ihre Verbände
inhaltslos machte. In Brandenbiu'g-Preussen
hatte man bereits 1603 einen Maximallohn
für Bauhandwerker gesetzlich festgelegt,
1636 den guten Montag zu unterdrücken
unternommen, 1694 die Lehriungentaufe,
den feierlichen Akt des Gesellenmachens
verboten. Preussen ging sofort daran, das
Reichsgesetz von 1731 durchzuführen. Die
preussische Handwerksordnung von 1733
setzt die schärfsten Strafen, Gefängnis, Zucht-
haus, Festungsbau, für Renitente den Tod,
auf Verstösse gegen die reichsgesetzlichen
Bestimmungen. Die Gesellenladen, die Ge-
sellenbriefe und Geselleninsiegel, die schwar-
zen Tafeln wurden beschlagnahmt, die
»Götzen cum ignomina quadam zerstört«.
Herberge, Stellenvermittelung, Krankenpflege
verblieb, unter steter Kontrolle, den Gesellen.
Aehnlich verfuhr die hannoversche Regierung.
Andere Staaten folgten langsamer nach. In
der Markgrafschaft Baden suchen 1760 die
»Generalzunftartikel« das Reichsgesetz gleich-
falls durchzuführen. Für Kurhessen ergeht
1762 das Marburger Reglement, am 4. März
1765 wird für das Herzogtum Braunschweig
und das Fürstentum Blanken bürg eine »Onl-
nimg für die Gilden« erlassen. • Im Jahre
1764 wird von Reichswegen das 1731er
Gesetz nochmals eingeschärft. Am 15. Juli
1771 geben Kiuiürsten, Fürsten und Stände
des Reiches ein Gutachten an den Kaiser
ab, das dieser am 30. April 1772 als Kom-
mission sdekret veröffentlichte: es ist vor
allem gegen die Gesellen gerichtet Der
blaue Montag soU abgestellt werden, die
gesetzlichen Anordnungen von 1731 werden
aufs neue eingeprägt ^). Die Gesellen sollen
sich — dies wirft auf die wirtschaftliche
Seite der Angelegenheit ein Streiflicht —
nicht dagegen setzen, mit Weibern zusam-
men bei einem Meister zu arbeiten. Das
allgeraeine preussische Landrecht enthält
ein Koalitionsverlxjt. In Bayern wurden
1809 die Arbeiterverbindungen zur Erzielung
günstigerer Arbeitsbedingimgen bei 1 bis 6
Monaten und bei Prügelstrafe verboten,
nachdem im Jahre 1808 das Auszechen oder
Ausschenken der geschenkten Zünfte gleich-
') Das preussische Edikt von 1783 hebt be-
sonders scharf die ökonomischen Beweggründe
(Vermehrung der Arbeitstage) hervor.
Gesellenverbände (Deutschland)
193
falls -wieder untersagt worden var. Am 3.
Dezember 1840 fasst die Bundesversamm-
lung einen Beschluss gegen Gesellenverbin-
dungen, Gesellengerichte, Verrufserklärungen.
Dies zeigt, dass unter der Asche die Glut
ncK^ fortgeglimmt hatte. !Nach Ortloff soll
es um 1800 noch in allen grosseren Städten
Preussens im geheimen Gesellenverbände
gegeben haben. Freilich konnten sie nur
ein Schattendasein führen, ihre Lebensbe-
dingungen waren fortgefallen. Der Bundes-
tag fürchtete offenbar, dass die Handwerks-
gesellen, bei denen die demokratischen und
kommunistischen Ideeen rasch Wurzel ge-
fasst hatten — man denke an den Bund
der Gerechten und an die Weitlingsche
Vereinig^g — , diese Vereinigungen als
Mittel zur Propaganda benutzte». Im
nächsten Jahre wurde der Bimdestagsbe-
schluss in den Einzelstaaten publiziert, so
in Bremen, wo noch im selben Jahre das
1731er Gesetz den Gesellen in Erinnerung
gebracht wird, so in Schleswig-Holstein,
wo die Gesellschaften bis in dieses Jahr-
hundert den Zünften gegenüber nach Eauerts
wohl etwas gefärbter Darstellung ziemlich
autoritär auftraten. In Preussen verbot die
Allgemeine Gew.-O. v. 17. Januar 1845 for-
mell die Verabredungen, Verbindungen, Ar-
beitseinstellungen. Das G. von 1731 hat
das Koalitionsrecht der gewerblichen Ar-
beiter zu nichte gemacht. Die Gesetzgebung
der Einzelstaaten baute auf seinem Grunde
fort. Die alte Wirtschaftsweise löste sich
auf, mit ihr schwanden die natürlichen Be-
dingungen für die Existenz der Gesellen-
verbände. Denn sie waren aus dem Erd-
reich des mittelalterlichen Handwerks empor-
gesprosst, waren das eigentliche Komple-
ment der Meisterzünfte und mussten mit
dem Zunftwesen absterben und eingehen.
Die polizeiliche Gewalt führte die letzten
todlichen Schläge gegen eine Organisation,
die veraltet und überlebt war. Aber sie
zertrümmerte zugleich das Koalitionsrecht
der Gesellen. Das blieb so, einzelne Staaten
ausgenommen, bis zum Jahre 1869. Denn
das Endziel der vielberufenen Reform des
18. Jahrhunderts war eben »die ümgestal-
tang des Arbeitsrechtes der Gesellen im
Sinne ihrer Unterordnung unter Polizei,
Heister und ruhigen Gang der Geschäfte«
(SchmoUer). Eine neue Welt entstand aus
dem Schutte der alten, die grosse Industrie
trat an die Stelle der handwerksmässigen
Produktion, der moderne Proletarier an die
Stelle des Zunftgesellen, an die Stelle des
Gesellen Verbandes die moderne Gewerkschaft.
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GesellenverMnde (Fraakreich)
195
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1. Vorbemerkung. Die gesellscliaft-
liehen und wirtschaftlichen Ursachen, die
die Gesellenbewegung des deutschen Mittel-
alters hervorriefen, sind wirksam auch fflr
das Entstehen und die Fortbildung des fi-an-
zosischen Knechtswesens, der Kompagnon-
nage. Es sei der Kürze halber auf die in
der Einleitung ziun vorigen Artikel darge-
legten allgemeinen Gesichtspunkte verwiesen,
die im grossen und ganzen auch für
Frankreich gelten. Nur dass hier, in dem
Lande der älteren, reicheren Kultur, der
Gang der ökonomischen Entwickelung ein
rascherer ist und die Geschichte des Ge-
seUen Wesens eine Reihe von Jahrzehnten
früher anhebt als in Deutschland.
2. Or^BJiisatioii der Kompagnonnage.
Die G-ewerbe, die mit Winkelmass und
Zirkel arbeiten, sind die Gnmdlage der Ge-
sellenverbände, sie haben sich onenbar zu-
erst organisiert. Charakteristisch für die
französischen Verhältnisse ist die Dreiteilung
der Verbände in streng von einander ge-
schiedene Gruppen, üeber die Entstehung
dieser drei Kategorieen ist nichts Sicheres
bekannt: die imter den Kompagnons ver-
breiteten sagenhaften Geschichten, die
bis auf den salomonischen Tempelbau zu-
rückreichen, bestehen nicht vor der Kritik.
Es giebt 1. Enfants de Salomon, auch »Ga-
vots« genannt ; sie heissen auch die Gesellen
voai Devoir de hbertö (devoir = Verband). Zu
ihnen gehörten früher nur Steinmetzen,
Schreiner, Schlosser, später auch eine von
der Regel des Pere Soubise abgefallene
Partei der Zimmerer; 2. Enfants de mattre
Jacques, ursprünglich auch bloss Korpora-
tionen von Steinmetzen,Schreinern,Schlossem.
Sie haben jedoch ihr Devoir, d. h. ihre Or-
ganisation, ihre Gewohnheiten, ihr Stich-
wort etc. später vielen anderen Handwerkern
mitgeteilt; 3. Enfants du pöre Soubise, an-
fangs bloss Zimmerleute, denen später die
Gipser und Dachdecker affilüert winden.
Zwischen den drei Gruppen bestand bittere
Feindschaft. Die Mitglieder der Verbände,
die den Regeln des SIeisters Jacques und
des Vaters Soubise folgten, hiessen ins-
gesamt: Compagnons du devoir oder devoi-
rsnts, die Mitglieder der ersten Gruppe
wurden als Angehörige des devoir de liberte
bezeichnet Wie diese rivahsierenden Frak-
tionen entstanden sind, ob sie auf eine ur-
sprüngUch regionale Gruppenbildung hin-
weisen, ist bis heute noch nicht festgestellt.
Die ewigen Fehden zwischen den devoirants
imd den compagnons du devoir de liberte
haben durch Jahrhunderte gewährt, eine
eigenartige Kriegslyrik ist daraus hervorge-
gangen, die devoirants haben den Schelt-
namen »dovorants« erhalten. In einem
Liede der »Gavots« heisst es:
„Pas de Charge 1 en avant!
Kepoussons tous ces brigands,
Ces gueux de dövorants,
Qui n^ont pas de bou sang^.
Die Disciplin in den Verbänden war eine
musterhafte. Es kam vor, dass zwei Gruppen
miteinander, sei es im Kampfe, im fned-
lichen Wettbewerb diu'ch ein Probestück
darüber entschieden, welche allein in einem
bestimmten Orte fiu* eine gewisse Zeit ar-
beiten durfte. Solche Verträge wurden mit
peinlicher Treue gehalten. Durch einen
siegreichen Kampf eroberten sich die Stein-
metzen, die zum Verbände der compagnons
etrangers gehörten, im Jahre 1720 die Stadt
Lyon auf 100 Jahre; erst 1820 kamen die
Arbeiter der anderen Gruppe wieder dort-
hin, um Beschäftigung zu suchen. Das
Herbergswesen und die anderen GeseUen-
institute waren sorgsam geordnet, ein bis
zum Pennalismus potenzierter Comment mit
Bändern und Stöcken etc. herrschte; das
GeseUenmachen imd andere Bräuche erinnern
an die deutschen Handwerksgewohnheiten.
Der Handwerksgruss und die inneren Ver-
enge blieben strengstes Geheimnis; die
Gesellen erhielten noms de guerre, wie es
überhaupt ein Idiotikon der Kompagnonnage
giebt. Die Reiseroute für le tour de France
war : Paris, Auxerre, Chalons-sur-Saone, Lyon
(»la capitale compagnonnityie de la France«,
wie es Maroussem nennt), Clermont-Ferrand,
Avignon, Marseille, Nimes, Beziers, Toulouse,
Montpellier, Bordeaux, La Rochelle, Angou-
leme, Nantes, Angers, Saumur, Tours, Or-
leans.
3. Geschichtliches. Die Kompa^on-
nage und die Gesetzgebung. Die soziale
Scheidung zwischen Meistern und Knechten
tritt sporadisch schon im 13. Jahrhundert
zu Tage und wird im 14. Jahrhundert
schärfer und allgemeiner. Der frühzeitige
gewerbliche Aufschwung brachte die Gegen-
sätze energisch zum Bewusstsein. Die
Lehrlingszahl festgelegt, das Lehrgeld hoch,
die Lelirzeit lang, die Amtsgewinnung er-
schwert, die Begünstigung der Meisterkin-
der driickend und ungerecht. Dazu tritt die
ausgebreitete Anwenaung der Weiberarbeit, •
die schon in früherer Zeit infolge der ünter-
bezahlung die Prostitution von Arbeiterinnen
im Gefolge hat. Die Arbeitezeit war lang,
die Löhne waren gedrückt. So erstanden
naturgemäss die Schutz- und Trutzvereini-
gungen der Gesellen, die in der Regel ihren
Ausgangspunkt in kirchUchen Brüderschaften
haben, in den vom Klerus zuerst begüns-
tigten confrC^ries. Im Süden unter dem
Namen »la caritat« bereite im 13., im Nor-
den erst seit Ende des 14. Jahrhunderte
• 13*
196
Gesellenverbäade (Frankreich)
zahlreicli, werden sie bald zum Stützpunkte
weltlicher Interessen des Gresellentums, imd
die Klagen der Meister über die Zeitver-
säumnisse ihrer Arbeiter, die Zechgelage etc.
mehren sich. Doch das Bedürfnis nach um-
fassenderen Korporationen machte sich gel-
tend, je exklusiver die Zünfte wurden, je
leidenschaftlicher und gehässiger sie die
Forderungen ihrer Arbeiter bekämpften. Die
Organisation der Gesellen, losgelöst von den
kirchlichen Beziehungen, durchaus verwelt-
licht, wird das Instrument der Gesellenpoli-
tik, vertritt die Interessen der Arbeiterschaft
und offenbart sich als Gegenstück der
Meisterassociationen. Seitdem das Wandern
in Frankreich zur allgemeinen Institution
wird (le tour de France) — dies geschieht
im 15. Jahrhundert — , ist die Notwendig-
keit straffsten Zusammenschlusses in Kartell-
verbänden naturgemäss gegeben. Die Hebung
der Arbeiterzustände durch geschlossenes
Vorgehen so gut wie die Ordnung des Her-
bergswesens, der Reise- und Krankenunter-
ßtützung, des Arbeitsangebotes führten zum
rapiden Wachstum der GeseUenverbände.
Die Klagen und Denunziationen der Meister
hören nicht auf, Ordonnanzen und Erlässe
der Obrigkeiten suchen zu Gunsten der Pa-
trone einzugreifen. Die Kampf es weise der
Kompagnonnage ist die altbewährte der
mittelalterlichen Arbeiter. Das Schelten,
die Yerrufserklärung , der Ausstand, die
Sperre, das sind die mit Geschick und Er-
folg gehandhabten Waffen. Die französischen
Gesellenverbände standen ausserhalb der
Gesetze, sie waren gezwungen, »den myste-
riösen Charakter geheimer Gesellschaften
anzunehmen« (Levasseiu*), imd dies hüllt
manche Partieen ihi*er Geschichte in un-
durchdringliches Dunkel. Dieser Umstand,
der Zwang zu strenger Geheimhaltung, er-
klärt die später üppi^ wuchernde Geheimnis-
krämerei, die sich ui den Yerbänden breit
macht. Aber, wie ein französischer Forscher
treffend hervorhebt, die Geheimnisse waren
nur die Form, der Inhalt war ein weit
ernsterer. Es handelte sich um einen Hilfs-
verband, der für den Gesellen im 15. Jahr-
hundort gerade so notwendig war wie im
13. Jahrhundert die Zunft für den Hand-
werker, der sich in seiner Thätigkeit durch
den feudalen Despotismus bedroht sah. Den
Geist der Bewegung kennzeichnen schon die
Erlasse, die wider sie gerichtet waren.
Schon 1349 untersagt eine Ordonnanz den
Gerbergesellen von Amiens, »zu konspirieren,
um ohne legitime Ursache eine Lohnerhöhung
herbeizuführen«. Unaufhaltsam sind die
Fortschritte der Kompagnonnage, trotz der
gegen sie systematisch angewendeten Retor-
sionsmassregeln. Im 16. Jahrhundert, der
Aera der Preisrevolution und der heftigen
Lohnkämpfe, will die öffentliche Gewalt der
Verbände, die sie als Urheber der Preis»
Steigerungen denunziert, zu Boden werfen.
Aber trotz aller königlichen Ordonnanzen,
die entweder gar nicht zur Ausführung ge-.
bracht werden oder wirkungslos sind, bleiben
die Gesellenverbände bestehen. Die Kluft
zwischen Meister und Gesellen wird immer
tiefer, die Ausbeutung der Arbeitskräfte, die
Lehrlingszüchterei immer ärger. Die Aus-
breitung der Manufaktiu*, die fortschreitende
Arbeitsteihmg, die z. B. in dem Textilge-
werbe die Lehrlinge zu ungeschickten Teü-
arbeiteru degradiert, tragen zur Verschär-
fung des Konfliktes bei. Die Wohlhabenden
imter den Gesellen, die Meistersöhne wer-
den auf das ärgste bevorzugt, das Meister-
stück ist für die grosse Mehi-zahl der Ge-
sellen, der Armen, ruinös durch seine Kost-
spieligkeit, die Unzufriedenheit nimmt be-
ständig zu. Auch unter den Meistern bildet
sich eine dreifach abgestufte Hierarchie aus,
zu Gunsten der ererbten Gewerbebetriebe,
zum Vorteil der Reichen. Auf den Wider-
stand der Gesellen gegen das Vorgehen der
Patrone reagiert das Königtum durch das
Verbot der GeseUenverbände im Jahre 1539.
Aber Franz I. und seine Nachfolger mussten
erfahren, dass ihr Verbot ein toter Buch-
stabe blieb. Fehlte es doch an einer that-
kräftigen Exekution in dem durch Kriege
und innere Zwistigkeiten zerrütteten Lande !
Und als die Sorbonne ihren Bannfluch gegen
das Gesellenwesen schleuderte — es war
am 30. Mai 1648 — und die »verderblichen
Versammlungen der Gesellen« mit ihrem
Interdikte belegte, blieb es wie natürlich
trotzdem beim Alten. Unter Ludwig XV.
wird am 2. Januar 1749 ein Verbot der
Biüderschaften, geheimer Gesellschaften »ca-
bales« erlassen, nachdem man bereits am
13. August 1720 einen Abkehrschein einge-
fülirt hatte. Weitere Unterdrückungsmass-
regeln folgen unter Ludwig XVI.: auf die
Kompagnonnage bezieht sich Art. 14 in dem
berühmten Edikt von 1776 betreffs der Auf-
hebung der Zünfte. Am 12. September 1781
wird das Koalitionsverbot durch einen Er-
lass wiederholt und dann weiter specialisiert
für die einzelnen Gewerbe. Schon am 5.
September 1773 war durch einen Erlass den
Gesellen verboten worden, sich in einer An-
zahl von mehr als vier zu vei*sammeln, den
Verruf zu erkläi'en, ein Abzeichen der Ge-
seUenverbände zu tragen. Ferner gehören
hierher die gegen die Gesellenbewegung
gerichteten Erlasse v. 21. Februar 1785, 23.
Februar 1786 und die V. v. 19. März 1786.
Das absolute Königtum auf dem Gipfel seiner
Macht war nicht fähig gewesen, der Ökono-
misch bedingten Verbände Herr zu werden.
Noch viel weniger gelang ihm dies am Vor-
abend seines Sturzes. Die gewerblichen
Arbeiter waren beim Ausbruch der Revolu-
Geselleaverbande (Frankreich)
197
üon so fest organisiert vie vorher. Die zur
Herrschaft gelangte Bourgeoisie proklamierte
die Freiheit der Arbeit und erliess das be-
rufene G. V. 14. — 17. Jimi 1791, dessen
Hauptz^^eck die Yemichtimg der Arbeiter-
koalitionen, die Sanktionierung des Koalitions-
verbotes gewesen ist Man »entzog dadurch
den faehgenossenschaftlichen Verbänden die
Möglichkeit einer gesetzlichen Existenz«
(Lexis). Die V. des Direktoriums v. 2. Sep-
tember 1796 (16. Fructidor IV) gegen die
Arbeiter der Papierindustrie greift auf ab-
solutistische Reglements Ludwigs XV. zu-
rück, um die Organisation der Arbeiter zu
zerstören. Das Consulat verschärft das £oa-
litionsverbot durch das G. v. 12. April 1803
(22. Germinal XI). Das Jahr 1810 bringt
die Artt. 414—416 des Code pönal, die
zwar auch ünternehmervereinigungen zu
»ungerechter oder missbräuchlicher Erniedri-
gung des Lohnes« mit 6 Tagen bis 1 Monat
Gre&ignis und mit Bussen von 200 bis 3000
Francs bedrohen, die Arbeiterkoalition dage-
gen mit 1 bis 3 Monaten, die »Führer oder An-
stifter« mit 2 bis 5 Jahren Gefängnis oder
zwei- bis fünfjähriger Polizeiaufsicht strafen.
Das G. V. 27. November 1849, ein Jahr und
etliche Monate nach der Pariser Junischlacht
gegeben, behält das Delikt der Koalition bei
und modifiziert die Artt. 414 — 416 dahin,
dass zwar Arbeiter und Unternehmer die
gleiche Strafe erleiden sollen, indes mit
Ausnahme der Bädeisführer der Arbeiterver-
bindungen. Die Verrufserklärung im Sinne
der Kompagnonnage wird wieder einmal
verpönt Unter dem zweiten Kaiserreiche
wird durch das G. v. 25. Mai 1864
eine Neuredaktion der Artt. 414 — 416 vor-
genommen: die Urheber und Förderer
sollen nur bei Anwendung von Gewalt
oder Betrug zur Rechenschaft gezogen wer-
den.
Die Politik der Scheinzugeständnisse an
die arbeitende Klasse lag tief im Wesen des
Imperialismus begründet. Die Tendenz der
ganzen hierauf bezüglichen Gesetzgebung
aber ist die Sicherung der diskretionären
Vollmachten der Regierung, nicht die Sicher-
stellung des Koalitionsrechtes. Das Gesetz
über Vereine und Versammlungen blieb be-
stehen, war also die bequemste Handhabe
zu Interventionen. Das G. v. 8. Juni 1868
setzt an. Stelle der Autorisation die Ueber-
wachung oder Repression der öffentlichen
Versammlungen ; nur wirtschaftliche Fragen
dürfen erörtert werden. Die dritte Republik
beschränkt diux;h das Gesetz gegen die Inter-
nationale des weiteren die Vereinsfreüieit
der Arbeiter. Erst durch das G. v. 21. März
1884 wird das Associationsverbot des G. v.
14.-17. Juni 1791 und des Art. 416 des
Code penal beseitigt und den gewerblichen
Syndikaten unter gewissen einschränkenden
Bedingungen eine öffentlichrechtliche Grund-
lage geschaffen.
4. Ursachen des Verfalles. Die Er-
starkung der staatlichen Gewalt, die seit
dem 18. Brumaire zielbewusst durchgeführte
Centralisation , die alles vom grössten bis
zum kleinsten administriert, haben gewiss
der Kompagnonnage Eintrag gethan, sie
haben die Gesellenverbände in tiereres Dunkel
gescheucht und ihre Taktik alteriert Aber
an der Polizeimacht sind die durch Jahr-
hunderte konservierten Einrichtungen nicht
zu Grunde gegangen. Trotz des Gesetzes
von 1791 z. B. bestanden in Frankreich in
einem Viertelhundert von Gewerken die In-
stitute der Kompagnonna^e, 1848 treten die
Verbände offen auf, in ihren Farben, mit
ihren Insignien, nachdem sie bereits in den
blutigen Sovembertagen des Jahres 1831
und im Aprü 1834 zu Lyon sich opfermutig
für die Arbeitersache geschlagen hatten.
Zum letzten Male erscheinen sie öffentlich
zur Zeit der Pariser Kommune; damals be-
teiligten sie sich an der Versöhnungsdemon-
stration auf den Wällen von Paris. Die
Kompagnonnage hat bis in unsere Tage
weiterbestanden, noch jetzt sind einzelne
Gewerke in der alten Art organisiert: von
den 3500 Pariser Zimmerern sind über 2200
wie seit Jahrhunderten in zwei rivalisierende
Gruppen rechts und links der Seine geteilt,
die aber in gewerkschafüichen Dingen ge-
meinsam operieren. Indes nur der Name
ist geblieben, die Bewegung hat einen neuen
Inhalt bekommen. Die wirtschaftliche Holle
der Kompagnonnage ist den Syndikalkam-
meru, den modernen Gewerkschaften zuge-
fallen. Die Komps^nonnage ist entweder
verschwunden oder sie fnstet als Unter-
stützungs- und Fortbildungsverein ihre Exis-
tenz. Die kapitalistische Produktionsweise
hat diese Umwandlung verursacht Die Ge-
sellenverbände beruhten auf dem zünftigen
Handwerk, sie umfassten ursprünglich bloss
die Gewerke, die Winkelmass und Zirkel ge-
brauchten, die Bauhandwerker, die Schlosser,
die Schreiner etc., also die Aiistokratie der
qualifizierten, durch längere Lehrzeit ge-
schulten Gesellen. So kam es, dass bereits
die Manufaktur in ihren Anfän^n, indem
sie die Teilung der Arbeit ausbildete und
die harmonische Entwickehing des Hand-
werkers durch die manuelle Geschicklichkeit
bei einer Teiloperation ersetzte, die erste
gefährliche Bresche in die Kompagnonnage
legte. Je weiter das Gewerbewesen auf
dieser Bahn ging, je fortgeschrittener die
Technik wiurde, je mehr das moderne Fa-
briksystem mit seiner verfeinerten, arbeit-
sparenden Maschinerie die Arbeitsweise um-
wälzte, um so gefährdeter die altfränkische
Kompagnonnage, die mit den zünftigen
Gewohnheiten, mit der handwerksmässigen
198
Gresellenverbände (Frankreich)
.Betriebsform innig verwachsen, im Getriebe
der grossen Manufaktur imd Industrie
-schwerfällig, unziureichend, lebensimfähig
wurde. Weil die Kompagnonnage der Not-
behelf der in ihrem Koalitionsreclite ver-
kürzten Arbeiter war, deshalb hatte sie sich
so lange halten können, obwohl ihre Zeit
erfüllet war. Der Koalitionsgedanke, die
Solidarität, die Organisationstendenz mussten
indes nachgerade eine neue Form gewinnen,
da sie anderen Zuständen gegenüber sich zu
bewähren hatten. So trat die moderne Ar-
beiterbewegung die Erbscliaft an. Die innere
Zerrüttung der Kompaguonnage musste zu
Tage treten bei und mit dem Verfall der
Zunftverfassung. Sobald dies Fundament
ers(;hüttert ward, geriet der stolze Bau der
Gesellenverbände ins Wanken. Er wurde
veräusserlicht, das Spielen mit Formeln und
Formen überwog, die allgemeinen Interessen
traten lünter die Eifersüchteleien, die klein-
lichen Zwiste zunick. Der Corpsgeist, in
der Periode der Blüte der Hebel der Aktio-
nen, artet aus, nicht bloss die Angehörigen
•verschiedener Riten, sondern auch die Mit-
gliedschaften der gleichen Gruppe befehdeten
sich. Die Schriften Perdiguiers u. a. sind
voll von charakteristischen Daten. Zank,
blutige Gewaltthat, richtige Schlachten
zwischen den Anhängern der verschiedenen
Devou-s, die das Einschreiten der be-
waffneten Macht erforderten, haben sich
abgespielt, so 1816 in Languedoc zwischen
den 5litgliedern zweier Steinmetz verbände.
Georges Sand Imt in ihrem anziehenden
•Romane: Le compagnon du tour de France
eine Schlacht bei Blois, in der Drilles
und (ravots sich bekämpften, packend
geschildert. Die Erbitterung zwischen den
feindlichen Verbänden ging soweit, dass sie
die gemeinsamen Interessen dem point d'hon-
neur, d. h. der traditionellen Feindschaft zu
Liebe oi)ferten: die Massregeln des einen
Verbandes wurden von dem anderen miss-
achtet \md illusorisch gemacht zum Schaden
der Arbeiter selbst. Diese Spaltimg eines
Gewerkes in zwei Lager war allein schon
unhaltbar. Die Mysterien der Handwerks-
geschicklichkeit, einst so peinlich bewahrt
und mit ein Hauptmotiv für die Gesclüossen-
heit und Abgeschlossenheit der Kompaguon-
nage, waren enthüllt, sie waren Gemeingut
d(*s Grossgewerbes geworden, sie wan^n
überholt durch die Triumphe der Techno-
logie. Man beachte, dass die französischen
Gesellenverbände in ei-ster Linie die Orga-
nisationen der gelernten £litearl)eiter von
Elitegewerken sind, so dass die Handwerke,
die am längsten sich fi'eihalten von dem
Eindringen der Maschinerie, sich am längsten
auch die Komjiagnonnage erhalten, wie
die Bauhandworke. Die Kompaguonnage
beruhte auf dem unverolielichten üesellen-
stande, und die neue Zeit hatte die Manu--
faktur- und Fabrikarbeiter, die sich Familien
gründeten, geschaffen, • Sie verliielt sich
einer Anzahl von Handwerken gegenüber,
die nicht mit »r(!*querre et le compas«
schafften, aristokratisch ablehnend, sie schied
aus dem Fluss der modernen Entwickelung,
mid darmn musste sie verschwinden. Die
Reformversuche, die aus der Kompagnon-
nage heraus angebahnt wurden, mussten
deshalb fehlschlagen, so eifrig vor allem
Pei'diguier, später Deputierter und Mitglied
der Montagne 1848—185^1, nach dem Staats-
streiche politischer Flüchtling, dann Moreau
und Gösset sich darum bemühten, von den
Schwarmgeistereien der Flora Tristan ganz
zu schweigen. Die Kompagnonnage zu reor-
ganisieren war unmögUch, da mm einmal
die fi'ühere Wirtschaftsweise der Vergangen-
heit angehörte. Die Fortgesc^lirittenen
ti'ennten sich von den alten Verbänden. Die
Kompagnonnage als gewerkschaftliche Orga-
nisation verschwindet, sie bildet die Basis
ffir Versicheningszwecken dienende Institute.
Abgestreift ist ihr der romantis(*he Schmelz,
ihre farbige Symbolik ist zerronnen, und
neue Gebilde erscheinen an ihrer Statt.
Litteratar: J". Barberet, Le Travail en France,
Monographien Professionellem, tom. I, p. 5, Paris
1886, tom. III, p. S7,isq. — CapuSf Conseüs
d'un rieux compagnon d son fils pret a partir
pour le tour de France, Tours I844. — Chovin,
Le conseiller des conxpagnons. — J'oseph
I>rioiiXy Ktude economirjue sur les associations.
Les coalitions d*ourriers et de patrons de 1789
d nos jours etc., p. :i65 sq., Paris 1884- — A,
Eyron, Le Livre de l'Ourrier. — O. W, Far-
nam, Die innere französische Geicerbepolitik
von Colhertbis Turgot, Leipzig 1878. — Hubert»
VallerouXy Compagnonnage, im Nouveau Die-
tionnaire d* Economie Poliiique par L. Say, L I,
p. 475—477, Paris 189S. — R. Jay, Das Ge-
setz betr. die Abschaffung der auf das Arbeits-
buch bezüglichen Bestimmungen, im Archiv für
soz. Gesetz, u. Stat. III, S. 6S2 — 684. — I>er»
ftelbCf Die Syndikate der Arbeiter und Unternehmer
in Frankreich, ebenda IV, S. 40Sff. — jBwt.
Leviisseur f Ilistoire des classes ouvrikres en
France, depuis de la conqucte de Jules Cesar
jusqu'ä la Revolution I, p. 191 sq., p. 809 sq.,
p. 4(>^ ^9'/ ^^> P- U'i i^q-, P' 811 sq., p. 862 sq.,
Paris 1859. — Derselbe^ Ilistoire des classes
ouvrihres en France de 1789 Jusqu^d nos jours,
I, p. 54 sq., p. 187 sq.. p. 868 sq. ; II, p. 160 sq.,
Paris 1867. — JE. Laurent, Le pauperisme et
les associations de prevoyance, I, p. 2^2 — 260,
Paris 1865. — W. Lexi«, Gewerkrereine und
L'nternehmerrerlHinde in Frankreich, tS. 11 ff'., S.
118ß., Leipzig 1879. — Marotissefn, Vharpentiers
de Paris, Question Ouvrure I, p. 127 sq., Pftris
1891. — P, Moreau f De la re forme de^ abus
du compagnonnage, AurciTe I848. — Derselbe,
Explication d tous les ouvriers relative d la lettre
de Mr. Perdiguier, Auxerre I848. — Agrieol
Perdiguier, LeLirre du Compagnonnage, Paris
1841; 8« edit., 2 vol., 1857. — Derselbe, Ilistoire
d'une scission du comjxtgnonnage. — Derselbe^
(resellenverbände (Frankreich) — Gesellenvereine (katholische)
1^9
Question vitale »ur le eompagnonnage et la classe
ouvriere, 1861. — Le Plny^ Le« ouvriers euro-
peens F, p. 460 »q., 2* ed., Tours 1878. — ^L
C.-G. Simony Etüde hUtorique ei morale sur
le Compagnonnage et sur quelques autres asao-
ciations d'ourriers, Paris 18öS. — G. Schön-
berg, Das Gewerhegericht in Frankreich, in
Schönberg II, *V. 519 ff., 8. Aufl., Tilbingen 1891.
Bruno Sehoenlank,
OeselleiiTereiiie
(katholische).
Die älteste und wegen ihrer eigenartigen
Organisation noch heute unübertroffene ka-
tholisch-soziale Schöpfung sind die von dem
vGesellenvater« Adolf Kolping (gob. 8.
Dezember 1813 zu Kerpen bei Köln) vor 50
Jahren ins Leben gerufenen Gesellen vereine.
Der thatkräftige Stifter derselben, welclier
durch seltene Energie vom SohustergesoUen
sich zum Priester emporrang, hat als solcher
sein ganzes Leben seinen früheren Standes-
genossen, den Handwerksgesollen geweiht.
Schon als Kaplan in Elberfeld, wo er einen
Jünglingsverem leitete, reifte in ihm die
Idee einer besonderen Organisation der
Handwerksgesellen, welche er in der Schrift :
»Der G e s e 1 1 e n V e r ei a, zur Beherzigung
für Alle, die es mit dem wahren Volkswohl
gut meinen« (Köln und Neuss 1849) nieder-
legte. Als Domvikar nach Köln berufen,
suchte er dann sofort seinen Gedanken in
die That zu übersetzen, indem er hier im
Frühjahr 1849 den ersten Gesellenverein
und 1852 das erste Gesellenhospiz gründete.
Unterdessen war aber Kolping auch aus-
wärts bereits für sein Werk mit grossem
Erfolge thätig gewesen, so dass 1853 schon
an 300 Vereine, meist in Rheinland und
Westfalen, bestanden. Doch hatte der Ge-
sellenverein auch in den meisten grösseren
Städten Deutschlands, wie München, Dres-
den, Freiburg, Breslau, Berlin, Wien u. a.,
schon festen Fuss gefasst.
Um die einheitliche Organisation der Ge-
sellenvereine zu wahren, entwarf Kolping
ein für aUe Vereine im ganzen bis heute
massgebendes Generalstatut. Die äussere
Organisation wurde 1864 im Anschluss an
die kirchliche Verwaltung in der Art be-
werkstelligt, dass jeder Jjokalverein einem
vom Bischof zu ernennenden, in der Regel
geistlichen Präses, die Vereine jeder Diözese
einem Diözesanpräses und der ganze Verein
einem Generalpräses unterstellt wimle.
Ausserdem bildete sich für Bayern und
Oesterreich-Üngarn eine gewisse Central-
organisation. Jährlich findet eine Konferenz
der Diözesanpräsides und alle drei Jahre
eine Generalversammlung sämtlicher Präsi-
des statt. Als Vereinsorgan dienen für die
Präsides die vom Generalpräsidium viertel-
jährlich ausgegebenen »Mitteilungen für
die Vorsteher der katholischen Gesellen-
vereine«, für die Mitglieder die von Kolping
bereits 1853 begründeten »Rheinischen Volks-
blätter«, welche wöchentlich mit der Bei^
läge ^GeseUenfreund« erscheinen.
Kolping blieb bis zu seinem Tode (4.
Dezember 1865) General präses. Ihm folgte
der gegenwärtige Generalpräses, Domkapitu-
lar Sebastian Schäffer zu AÖln, unter dessen
langjährigem Generalpräsidium der Gesellen-
verein stetig weitere Fortschritte gemacht hat.
Die Gesellenvereine zählen reichlich 80000
aktive Mitglieder d. h. unverheiratete Gesellen.
Die Verheirateten können nur inaktive oder
ausserordentliche Älitglieder bleiben, ebenso
die selbständig gewordenen Meister. Doch
haben sich vielerorts eigene MeisteiTcreine
im Anschluss an den Gesellenverein gebildet.
Ebenso sind vielfach in Verbindung mit
dem Gesellenverein eigene Lehrlingsvereine
ins Ijcben gerufen worden, so dass derselbe
das ganze Handwerksleben tunfasst. Der
Gesellenverein ist eine eminent soziale
Schöpfung, aber kein sozialpolitischer Verein.
»Die grosse Frage der Organisation des
Handwerks berührt ilin« , wie der gegen-
wärtige Generalpräses treffend bemerkt hat,
»nur mittelbar; er erachtet es nicht als
seine Aufgabe, in diese Frage sich einzu-
mischen, will dagegen dem Handwerk, wie
immer dasselbe äusserlich gestaltet wird,
stets gutes Blut, Gesellen vom rechten
Geiste zuführen. Ebensowenig greift der
Verein in die grossen, weltbewegenden
Kämpfe um Arbeits- und Lohnregelung
mitstreitend ein«. Der Gesellen verein unter-
scheidet sich daher wesentHch w^ie von den
mittelalterlichen Gesellenladen so besonders
von den modernen Gewerkvereinen, bei
welchen die Arbeits- und Lohnregelung
gegenüber dem Meister und Arbeitgeber im
Vordergrund steht. Der Verein setzt viel-
mehr gleich dem Handwerkerschutzgesetze
V. 26. Juli 1897 das patriarchalische Ver-
hältnis von Gesellen und Meistern voraus,
und dürfte derselbe sich zur Durchführung der
im § 95 des genannten Gesetzes vorgesehe-
nen GeseUenausschüsso als besonders -vsirk-
sam erweisen. Auf alle Fälle ist er her-
vorragend geeignet, der Erhaltung des selb-
ständigen Handwerks zu dienen. Wie weit
es zweckmässig erscheint, dass die Mitglieder
des Gesellenvereins sich an der neueren
christlif^hen Gewerkvereinsbewegung betei-
ligen, ist eine schwierige und augenblick-
lich viel verhandelte Fragte Jedenfalls wird
der Verein als solcher sich dieser an sich
höchst zweckgemässen Bewegung gegenüber
neutral verhalten müssen, wenn er seinen
lu^prünglichen Charakter behalten soll.
Der Gesellenverein ist seinem eigent-
200
Gresellenvereine (katholißche)
liehen Wesen nach ein auf religiöser Grund-
lage begründeter Standesverein ziun Schutz
der Handwerksgesellen in der Heimat und
besonders in der Fremde und auf der
Wanderschaft, zur Pflege der Standestugen-
den, der aligemeinen und gewerbliäien
Fortbildung sowie des Frohsinns und aoge-
messener Erholung. Die Mittel zur Er-
reichung des Vereinszweckes sind Vorträge,
Unterricht, Bibliothek und Lesezimmer, ge-
meinsame Unterhaltung und angemessene
Spiele. Der Unterricht lunfasst: Religion,
Deutsch, Rechnen, einfache Buchführung,
Zeichnen, Geschichte und Geo^phie, Na-
turkunde und Gesang. An diesem allge-
meinen Unterricht, welcher nicht obligato-
risch ist, nehmen von den ca. 1000 aktiven
Mitgliedern des Kölner Gesellenvereins
durchschnittlich 250 teil. Zum Zweck ge-
werblicher Fortbildung und zur Besprechung
specieller gewerblicher Fragen haben sich
in den letzten Jahren in den grösseren
Vereinen vielfach eigene Fachabteilungen
gebildet Solcher bestehen zur Zeit im
ölner Verein acht, je eine für Bäcker,
Schuhmacher, Schneider, Schreiner, Maler
und Anstreicher , Sattler , Polsterer und
Tapezierer, Metallhandwerker sowie für das
graphische Gewerbe. Die zu einer jeden
der genannten Klassen gehörenden Gesellen
haben in einem Räume des Hospizes regel-
mässige besondere Konferenzen, m welchen
gewerbliche Fragen erörtert und ent-
sprechende Vorträge gehalten werden. Jede
Abteilung hat ihre besonderen Fachzeit-
schriften, vielfach auch speciellen, von einem
Fachmann erteilten Unterricht So wurden
praktische Kurse abgehalten in Holz- und
Marmor-Malen, Vergolden, Bodenarbeit u. &,w.
Fast alle Gesellenvereine haben eigene Spar-
kassen, die meisten auch eigene Krankenkassen
oder Filialen sogenannter Hauptkranken-
kassen, wie die Sebastianuskrankenkasse zu
Köln und die Hauptkrankenkasse im Ge-
selleuhause zu Düsseldorf. Die Sparkasse
wies in Köln 1895 eine Einlage von 118732
Mark auf. Der Krankenkasse gehörten 900
Mitgheder an, während eine Zuschusskasse
250 Mitglieder zählte, meist verheiratete
Gesellen. Für die aus dem Verein hervor-
gegangenen Meister, 250 an der Zahl, be-
steht eine allgemeine Spar- und Kreditkasse
zur leichten Vermittelung billigen Kredits
an die Mitglieder, insbesondere zur Gewäh-
rung von Voi-schüsscn zur Beschaffung von
Rohstoffen imd Maschinen.
Erspriessliches leisten die Gesellenver-
eine durch Arbeitsnachweis und Stellenver-
mittehmg, weil sie besser für ilire Mitglie-
der garantieren können als die allgemeinen
Arbeitsnachweisestellen. Mit den grösseren
Vereinen ist allenthalben ein eigenes Arbeits-
nachweisbureau verbunden. Seit einiger
Zdt ist in einem Centralarbeitsnachweis
mit dem Sitz in Köln der Versuch gemacht,
durch Austausch der Vereine der Erzdiözese
Köln arbeitslosen MitgUedem rasch zu einer
Stelle zu verhelfen und so dem planlosen
und übermässigen Wandern vorzubeugen.
Auf der Wanderschaft erhalten die Gesellen
vorübergehend in den Gesellenh&usem oder,
wo solche noch fehlen, auf Kosten des
Vereins meist freies liOgis, obgleich ein
eigentliches Anrecht darauf nicht besteht
So hat der Kölner Verein in den 50 Jahren
seines Bestehens über 60000 Gesellen
Nachtlager und Logis gespendet In den
grösseren Vereinshäusern finden auch aus-
wärtige Mitglieder, welche nicht bei ihrem
Meister wohnen können, für billige Ver-
gitung ständig Kost und Lo^s. Das Kölner
ospiz mit seinen beiden Filialen beherbergt
durchschnittlich 300 Gesellen. Die Zahl
der durchreisenden Gesellen beträgt jähr-
lich ca. 2700.
Nach dem neuesten offiziellen Verzeich-
nisse wurden 1058 Vereine mit 316 Hospizen
gezählt Davon entfellen:
auf
Preussen
Bayern
Königr. Sachsen . .
„ Württemberg
Grossherzogt Hessen
Baden .
eine
Hospize
434
156
196
35
13
5
47
9
8
4
49
9
Insges. auf das Deutsche Reich 747
218
Oesterreich-Üngarn .... 257 81
Schweiz 30 7
Niederlande 8 7
Luxemburg 2 i
Belgien 2 i
Amerika 7 i
Je ein deutscher Gesellenverein besteht
in Paris, London, .Stockholm, Rom und
Alexandrien.
Litteratur: Adolf Kolping, Der GeseümvcUer,
ein Lebensbild, entworfen von & O» Sch&ffeTf
GcneralpräseSj 2. Aufl., Münster i. W. 1882. —
Vosen, Kolpings Gesellenverein in seiner
soziiUen Bedeutung, Frankfurt 1866. — Präses
MayVf Der katholische CeniralgeseUenverein in
München, eine Festschrift, München 1876, —
P, JPahn, Die katholischen Gesellenvereine in
Deutschland, Berlin 1882. — J, P. Nowiig,
Geschichtliche Entwi<'kelung des St. Eduard-
Meister- Vereins und des katholischen Lehrlings-
Vereins sowie die Gründung des katholischen
Gesellenvereins zu Berlin, Berlin 1895. — ML
Brandt« f Die katholischen Wofdthätigkeits-
anstalten und Vereine, Köln 1896.
Andr, BrüiU
Gesellschaft und Oesellschaftswissenschaft
201
Getellscliaft und Oesellschaftt-
wissenschaft.
1. Beg^riff der Oesellschaft. 2. Geschichte
des GeseU^af tsbegriffes und der Gesellschafts-
wiasenschaft. 3. Die Frage nach der Möglich-
keit einer Gesellschaftslehre und sozialer Ge-
setze.
1. Begriff der Gesellschalt Die For-
men gemeinsamen Lebens, gemeinsamer An-
schauungen, gemeinsamen Handelns, welche
die einzelnen Menschen miteinander ver-
binden, sind zwar höchst mannigfaltig, trotz-
dem liegt es nahe, in ihnen allen eine über-
einstimmende Grundlage, die Aeusserung
eines und desselben Triebes zu sehen und
sie deshalb auch insgesamt unter einen Be-
griff zu sammeln. Dies würde dann der
Begriff der Gesellschaft sein. Alle mög-
lichen Formen menschlichen Gemeinschafts-
lebens werden mit diesem Namen ziemlich
übereinstimmend in allen modernen Sprachen
bezeichnet Im Deutschen nennen wir schon
eine flüchtige Vereinigung zimi Zwecke des
gemeinsamen materiellen oder geistigen Ge-
nusses mit Vorliebe »eine Gesellschaft«.
Wir sprechen von der »guten«, der »feinen«,
der »gebildeten Gesellschaft«, lim anzudeuten,
dass bestimmte Interessen der ästhetischen
Büdun^ und der das Leben regelnden Sitte
in weiten, nicht genau abzugrenzenden
Kreisen der Bevölkerung gleichmässig vor-
handen sind. Wir nennen auch diese der-
gestalt konstnüerte Gruppe der Bevölke-
rung gern »die Gesellschaft« schlecht-
hin. Wir gehen in der Sondenmg und
Abstufung der geistigen Sphären, von
denen die Anschauungs- und Lebensweise
derer, die in ihi^en leben, bestimmt wird,
so weit, dass wir sogar von einer »gross-
städtischen« oder »kleinbürgerlichen Gesell-
schaft« reden. Auf der anderen Seite dehnen
wir den Begriff der Gesellschaft aus auf die
Gesamtheit der Mitglieder eines Staatswesens
oder der Staaten überhaupt, nennen sie »die
bürgerliche Gesellschaft« und kennzeichnen
sie hiermit als Trägerin aller der Zwecke,
die im Staat ihre Verwirklichung suchen.
Da aber sehr viele gemeinsame Interessen
der Menschen über die Machtsphäre des
einzelnen Staates hinausreichen, so stellen wir
auch oft den »Staat« und die »Gesellschaft«
in einen Gegensatz zu einander, — es scheint
dies heute der üblichste Gebrauch zu sein
— , wir bilden den Begriff einer »civili-
sierten«, vielleicht den einer »europäischen
oder abendländischen Gesellschaft«. Ein so
schaiier B^riffskritiker wie Kümelin wollte
sogar den Segriff Gesellschaft nur in dieser
B^renzung wissenschaftlich zulassen. Da-
rüber hinaus stellen wir aber noch die denkbar
weiteste Formulierung »die mensclüiche Ge-
sellschaft« an die Spitze aller dieser einzelnen
Gesellschaftsformen. Auch hier aber glauben
wir uns wieder berechtigt, von der Gesellschaft
schlechthin zu reden und dabei stillschwei-
gend zu verstehen, dass den Mitgliedern des
menschlichen Geschlechtes eine grosse Reihe
von Interessen gemeinsam ist und dass ihr
Einzelleben in seinen scheinbar willkürlichen
Aeusseningen durch diesen gemeinsamen
Anschauungs- oder Interessenkreis der Ge-
samtheit gefärbt oder bestimmt wird.
Hierbei ist noch dazu ausser acht ge-
lassen, dass der Jurist mit dem Wort Ge-
sellschaft auch noch eine auf Vertrag be-
ruhende Vereinigung mehrerer Personen zu
wirtschaftiicher Erwerbsthätigkeit und in
Analogie hierzu sogar die Kirchen als Reli-
gionsgesellschaften bezeichnet Von den bis-
her besprochenen Anwendungen des Wortes
scheiden sich diese letzten ersichtlich, da
diese Gesellschaften als solche auf einem
Rechtsakt beruhen. Demungeachtet sind
gerade sie für die Geschichte des allge-
meinen Gesellschaftsbegriffes von grösster
Bedeiitunff gewesen.
Von allen Formen menschlichen Gemein-
schaftslebens ist es also eigentlich nur die
Familie, die wir jetzt nie mit dem Worte
»Gesellschaft« bezeichnen, während es der.
Urheber des ganzen Begriffs, Aristoteles,
ausdrücklich that Von ihr sagt man im
Gegenteil wohl oft, dass sie »die Grund-
lage der Gesellschaft« sei und giebt im
übrigen nur zu, dass ihre besondere Ge-
staltung durch »den Zustand der Gesell-
schaft« bestimmt sei. Der Grund, weshalb
wir die Familie nicht in den Gesellschafts-
begriff einordnen, liegt offenbar darin,
dass wir in der Familie einen natürlichen,
durch gemeinsame Abstammung gegebenen
Verband sehen, bei dem Worte Gesellschaft
hingegen — selbst die bürgerliche und
menschliche Gesellschaft nicht ausgeschlossen
— eine gewisse Freiwilligkeit in der Zu-:
gehörigkeit, die jedoch die ünterwerfimg
unter eine äussere Regelung nicht aus-
schliesst, voraussetzen. Die erweiterte Fa-
milie nach der Art der Zadruga der Süd-
slaven bezeichnen wir auch sofort wieder
als »Hausgemeinschaft«, also mit einem der
Gesellschaft nahe verwandten Ausdrucke.
Wir denken die Vertragstheorie, obwohl wir
sie wissenschaftlich längst überwunden haben,
doch immer stillschweigend beim alltäglichen
Gebrauche des Wortes Gesellschaft mit
Neuerdings hat Tönnies den Versuch ge-
macht, die Formen blosser Gemeinschaft
und eigentlicher Gesellschaft schärfer, als
bisher geschehen, zu scheiden, so dass alle
diejenigen genossenschaftlichen Bildungen,
die aus der Famüie hervorgegangen sind
oder sie nachahmen, zur Gemeinschaft ge-
zälüt w^erden. Auf den höheren Kultur-
stufen, die eine sehr mannigfaltige luid
202
Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
verwickelte Gruppenbildung zeigen, ist
eine solche im Prineip berecrhtigte Abrech-
nung jedodi sehr schwer, wenn nicht un-
mödich.
Dass die Spra(the das Wort Gesellschaft
zur Bezeichnung aller irgendwie gearteten
Ideeen- und Interessengemeinschaften nicht
entbehren kann, ist klar; ob aber ihre Zu-
sammenfassung unter einem so verschwom-
menen Sammelbegriffe einen wissenschaft-
lichen Wert hat, ist, die spra(;hliche Un-
entbehrlichkeit auch zugegeben, noch immer
eine offene Frage. Jedenfalls ist aber die
Yorderung berechtigt, wenn nicht gar not-
wendig, dass, ehe man eine anspruchsvolle
Gesellschaftswissenschaft ausbaut, die fast
alle anderen Geisteswissenschaften teils er-
setzen, teils in sich aufnehmen will, Klar-
heit in dem Gnmdbegriffe gescliaffen werde,
durch den der Gegenstand dieser Wissen-
schaft * selber erst bestimmt wird. Es ist
das Verdienst Stammlers, neuerdings in ein-
dringender, \delseitiger Kritik diese Not-
wendigkeit und die ünzulänglicjhkeit aller
bisherigen Yersuche dargelegt zu haben;
die Ijösung, welche er selV>er giebt und kon-
secjuent an allen Problemen der Gesell-
schaftswissenschaft diu-chführt, ei'sc^heint mir
aber nicht befriedigend i). Er sucht das
^Moment, durch welches das gesellschaftliche
Zusammenleben gegenüber dem bloss physi-
schen Beisammensein bestimmt wird, imd
findet es in der von Menschen hennihrenden
Regelung ihres Verkehre und Miteinander-
lebens. Gesellschaftliche Vorgänge sind da-
her nach ihm menschliche Wechselbeziehun-
gen unter äusseren Regeln. Als äussere
Regelung menschlichen Verhaltens liat man
stets die Rechtsordnung bezeichnet, Stammler
fügt als eine Art Vorstufe oder SiUTOgat
derselben die Konvention hinzu, wie auch
H. Spencer von einer Herrschaft des Gere-
moniells als einer besonderen Entw'^ickelungs-
stufe der Gesellschaft spricht. Im wesentlichen
fallen ihm aber Rechtsordnung und Gesell-
schaftsordnung zusammen. Er bemüht sich zu
zeigen, dass auch die speciell »gesellschaftlich«
genannten Erscheinungen, z. B. die Bevölke-
nmgsbewegung , der Kampf ums Dasein
u. s. w., als solche nur bezeichnet werden
können, wenn sie auf die in ihnen vorkom-
menden Begriffe der Ehesclüiessung, des
Erwerbs, der Verbrechen u. s. w., die diu-ch
') Stammler wählt meine Ausführungen in
der 1. Auflage des H.W.B., lun die völlige Rat-
losigkeit der bisherigen Wissenschaft in der
Bestimmung des Begriffs Gesellschaft daran zu
illustrieren. Er thut dies mit vollem Recht ; aber
nach wie vor sehe ich in dem Wort Gesellschaft
nur einen Not- und Hilfsbegriff und glaube
nicht, dass es über eine brauenbare Allgemein-
vorstellung hinaus zum scharf bestimmten Be-
griff ausgebildet werden kann.
äussere Regeln konstituiert sind, bezogen
werden. So weit solche Beziehungen auf
äussere Regeln in wirtschaftlichen Erschei-
nungen nicht vorhanden sind, handelt es
sich nach ilim nicht um gesellschaftliche,
sondern um technische oder physische That-
sachen. Stammlers GeselLscliaftsbegriff wüixle
sich also auf den der »bürgerlichen Gesell-
schaft« reduzieren. Der Sprachgebrauch frei-
lich und die ihm instinktiv folgende Wissen-
schaft hat, wie wir sahen, die gesellschaft-
lichen Thatsachen eher gern in einen Ge-
gensatz zu den Rechts- und Staatsordnungen
gebracht oder sie als unabhängige Ursache
dieser aufgefasst. Dies würde nicht viel
ausmachen, vielmehr ist ohne weiteres zu-
zugeben, dass alle Erscheinungen des Ge-
mein scliaftslebens, da sie sich in rechtlich
geordneten Staaten abspielen, auch Einflüsse
der ihnen hierdurch gestellten Bedingungen
aufweisen. Das gilt aber ebenso von den
Erscheinungen des Innenlebens, die sich doch
als solche der äusseren Regelung entziehen :
von Moral und Religion. Es rilhrt dies
einfach daher, dass das Geistesleben jeder
Einzelperson ein Ganzes bildet, in dem sich
alle einzelnen Teile unter einander be-
stimmen.
Die »äussei'e Regelung« ist, wie es schon
ihr Begriff mit sich bringt jedenfalls nicht
die Hauj)tui*sache der gesellschaftlichen Er-
scheinungen ; als ürsacbe, die in ihnen mit-
wirkend ist, spielt sie nelmehr niu* in sie
hinein, während die Hauptursachen auf an-
deren Gebieten liegen. Man mag zwar die
rein physischen Ui-sachen in der That besser
ausschalten, aber dies geht nicht an liei
den Ureachen, die in Meinimg, Bildung, Moral,
Religion liegen, Faktoren, die auch Massen-
erschoinungen und nicht bloss individuell
sind ; man müsste denn, was Stammler nicht
thut, ihnen die Selbständigkeit absprechen
und sie nur als Funktionen, sei es des po-
litischen, sei es des materiell- wirtschaftlichen
Lebens auffassen. Die Bevölkerungsbewe-
gung z. B. liängt zwar auch von den Rechts-
ordnungen und der unter ihrem Einfluss sich
gestaltenden Produktion und Verteilung der
Güter, aber ebenso von allen jenen Faktoren
ab, und diese äussern sich geradein ihren Ver-
schiedenheiten \md Schwankungen ; erst um
aller dieser zusammenwirkenden Ursachen
willen bezeichnen wir die Bevölkenmgshe-
wegimg als die wichtigste Reihe sozialer
Ei>icheinungen. In den Thatsachen der
Konsumtion spielt vollends die Meinung
die entscheidende Rolle. Durch sie wird
die mittlere Lebenshaltung sehr stark, der
Luxus fast allein bestimmt während der
Einfluss der Rechtsordnung hier, w^e-
nigstens in der Neuzeit stark zui-ücktritt
und sicli fast nur indirekt durch deu
Einfluss, den sie auf die Eigentumsver-
Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
203
.teilung ausübt, geltend macht. Aber nicht
um dieser vereinzelten indirekten Beziehung
•Villen, sondern vielmehr wegen jener un-
vennittelten zu den geistigen Massenerschei-
nungen wird man die Konsumtion als so-
ziale Erscheinung betrachten. So stellt sich
Stammlers Begriffsbestimmimg zwar als
■genau, aber auch als zu eng heraus. Eine
Antwort auf die Frage nach dem Wesen des
schwankenden Gesellschaftsbegriffes und
Dac*h seiner Brauchbarkeit kann man zu-
nächst nur dadurch finden, dass man die
Rolle beobachtet, die dieser Begriff in der
Entwickelung der Geisteswissenschaften ge-
spielt hat. Diesen Weg, den man im Hin-
blick auf das Ziel vielleicht nur die nötige
Yorarbeit nennen wird, hat mit eutem Er-
folge namentlich Gierke eingeschlagen, wo-
bei die historische Unbefangenheit in der
Erfassung des einzelnen kemeswegs durch
seine ausgeprägte eigene Ansicht über das
Wesen des Staates und der Gesellschaft be-
einträchtigt wird.
2. Geschichte des Gesellschaftsbe-
griffes und der Gesellschaftswissen-
schaft. Der üi-sprung des Gesellschaftsbe-
griffes liegt unzweifelhaft in Aristoteles'
Politik, nachdem das Gesellschaftsproblem
in Vorbindung mit der Frage nach dem
Wesen des Staates und des Rechtes schon
von den Sophisten und von Piaton beliandelt
worden war. Aristoteles geht bei seiner
Untersuchung von dem Begnffe der youiatiu
aus, der dem römischen der sodetas, dem
deutschen der Gesellschaft mit Einschluss
der Gemeinschaft entspricht. Da ihm zu-
folge jede xoivatyia um eines Gutes willen
entsteht und besteht, so ist auch die Inte-
ressengemeinschaft als das Wesen der Ge-
sellschaft bereits von ihm bestimmt worden.
Der Staat selber erscheint hier als eine
xotrofyia; er ist uach Gierkcs treffender Be-
merkung bei Aristoteles weit mehr das, was
wir jetzt die bürgerliche Gesellschaft, als
was wir den Staat nennen. Indem diese
höchste Form der Gesellschaft, die, als die
vollendetste, der Idee nach die früheste, der
Zeit nach die späteste ist, in die Erschei-
nung tritt, geraten alle anderen von ihr in
Abhängigkeit; sie existieren nur noch durch
sie und für sie. Der Staatsabsolutismus, die
unl>edingte Unterordnung des Einzelwillens
und Einzelinteresses unter das Gesamtinte-
resse, wie er den Griechen infolge ihrer
ganzen historischen Entwickelung als ethi-
sches Ideal erscheint, herrscht schliesslich
auch bei Aiistoteles, wie sogar seine Recht-
fertigung der Ehe und des Eigentums deut-
lich zeigt* Sein Staatsideal ist, um wieder-
um Gierkes Worte zu gebrauchen, entschieden
sozialistisch, wie dasjenige Piatos kommu-
nistisch.
Wir können demgemäss sagen : der Staat
verschlingt bei den Griechen die Gesellschaft,
d. h. er lässt der selbständigen Bethätigung
individueller imd genossenschaftlicher Int^
ressen einen vergleichsweise geringen Raum ;
freilich verfliessen auch wieder im Begriffe
der Hoiviopia alle sondernden Unterschiede
zwischen dem Staate und den ihm einge-
oi-dneten Verbänden und Gruppen. Verträge
zu Erwerbszwecken, Opferverbände, wissen-
schaftliche Interessengemeinschaft, der Staat
fallen alle unter denselben Begriff, und es
wird kein principieller Unterschied zwischen
ihnen gemacht.
Bei Aristoteles war die Familie Keim
des Staates und ursprüngliche yioivmvia'^
schon vor ihm und vor Piaton hatte aber
bei den Sophisten eine individualistische
Staatslelire Platz gegriffen, die mit der
Unterscheidung dessen, was von Natur, und
dessen, was nur durch Satzung gerecht sei,
den Begriff eines Naturrechtes geschaffen
und dies Natiurecht schroff individualistisch
gefasst hatte. Trotz der glänzenden Be-
kämpfung durch Piaton lebte diese Rich-
tung mächtiger wieder auf, als die ent-
arteten Grossstaaten ihre Macht über die
Gemüter zu verlieren begannen und die
Entwickelung der Bildung so wie so zu
einer stärkeren Betonung der indivi-
duellen Interessen drängte. Stoiker und
Epikuräer wirkten, wenn auch unter ent-
gegengesetzten Gesichtspunkten, dahin zu-
sammen, den Einzelmenschen als Ausgangs-
punkt und entweder ihn oder die ge-
staltlose, gesamte Menschheit als Zielpunkt
der gesellschaftlichen Entwickelung darzu-
stellen. Namentlich von den Epikuräern
wird konsequent die Vertragslehre ausge-
bildet, wonach der Staat aus einem freien
Willensentscliluss seiner Mitglieder entstan-
den ist und niu: in ihm den Rechtsgrund
seiner Wirksamkeit findet. Damit erscheint
der Staat aus seiner beherrschenden Stellung
als notwendige, in der Natur des Menschen
begründete, höchste Entwickelungsform ver-
drängt; er ist nur noch eine der Formen
gesellschaftlicher Vereinigung. Um aber
eine selbständige Wissenschaft auch der
anderen Formen — also eine selbständige
Gesellschaftswissenschaft in unserem Sinne
— auszubilden, langte wohl die wissen-
schaftliche Kraft des späteren Altertums
nicht mehr aus.
Einflusslos auf die plülosophische Spekula-
tion des Altertums blieb die römische Jiuispni-
denz ; gerade in der Zeit ihrer höchsten Blüte
stand sie der damals geltenden Philosophie
unvermittelt gegenüber; erst im Mittelalter
beginnt die Lehre von der privafrechtlichen
Gesellschaft, wie sie sich hier vorfand, ihren
Einfluss auf die Auffassung des Staates aus-
zuüben. Die Vertragslehre, Yde sie sich im
späteren Mittelalter ausgebildet hat und in
204
Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
den ersten Jahrhunderten der Neuzeit zur
Herrschaft gelangt ist, führt sich weit mehr
auf diese Quelle als auf die antike philoso-
phische Spekulation zurück.
Das Christentum hat von Paulus an in
einer ganz neuen Weise die geistige Einheit
des Menschengeschlechtes, die bereits eine
philosophische Forderung der Stoa war, be-
tont und eine Entwickelung desselben nach
bestimmten Zielen postuliert. Die Mensch-
heit und ihre Geschichte erscheinen als
grosse Zweckzusammenhänge, eine Auf-
fassung, die dem Altertum durchaus fremd
war. Um diese Eiaheit auszudrücken, be-
diente man sich mit Vorliebe der Analogie
des menschlichen Körpers, des Organismus,
die jedoch schon Plato bei der Betrachtung
des Staates in seiner Beziehung zu den ein-
zelnen Gesellschaftsgruppen nicht fremd ist.
Die Kirche erscheint jetzt als die höchste,
als die ideale, gottgewollte Form des Ge-
meinschaftslebens. Nur hierdiutjh konnte
die Idee der Gesellschaft endgültig von der
des Staates emandpiert werden. Der mensch-
liche Ursprung, die nur äusserlichen Zwecke
des Staates dienen bei Augustinus als ein
Grund mehr, den Staat zu degradieren. Auch
als im Laufe der Zeit der Staat von neuem
als göttliche Ordnung erschien und hierdurch
wiederum mehr auf gleiche Linie mit der
Kirche rückte, konnte er doch niemals mehr
im Bewusstsein der Menschen dieselbe be-
herrschende Stellung einnehmen wie im
Altertum. Gerade Dante, der dem Staate
am meisten imter allen christlichen Staats-
philosophen einräiunt, schränkt ihn doch auf
die Bewahrung des Friedens imd die Ver-
waltung der Gerechtigkeit ein und sieht
trotz seiner Forderung, dass der Kaiser die
Menscliheit durch die Philosophie zum zeit-
lichen Wohle leiten soUe, als Ziel des ge-
sellschaftlichen Lebens die Freiheit, die
Selbstbestimmung an. Demgemäss steht im
Mittelalter der Gesellschaftsbegriff über dem
des Staates, imd innerhalb seiner läuft die Vor-
stellung der menschlichen und christlichen Ge-
sellschaft der der bürgerlichen den Rang ab.
Trotz grosser Abweichungen der einzelnen
Schriftstoller unter einander kann man mit
Gierke als die verbindende, dem Mittelalter
eigene Auffassung der Gesellschaft bezeich-
nen, »dass die gesamte Weltexistenz nur
ein einziges, gegliedertes Ganze, jedes be-
sondere G(*mein- oder Einzelwesen aber zu-
gleich ein durch den Weltzweck bestimmter
Teil und ein mit einem Sonderzweck be-
gabtes, engeres Ganze ist«.
Zugleich aber entwickeln sich, fuSvSend
auf den Rt»sten der antiken, nacharistote-
lischen Staatslehre und auf der fortschrei-
tenden römischrechtlichen Bildung die
natiUTCchtlichen Anschauungen weiter, und
sie gelangen bereits in der ereten Renaissance-
periode z. B. bei Aeueas Silvius zum Siege.
Neben der Theorie vom Staatsvertrage, ver-
möge dessen sich die einzelnen einer über
ihnen stehenden Gewalt unterordnen, macht
sich je länger je mehr die ergänzende Theorie
vom Gesellschaftsvertrage geltend, und zwar
wurde diesem der vermeintliche Staatsver-
trag selber unterstellt Von diesen Vor-
aussetzungen aus konnten die entgegen-
gesetzten Folgerungen gezogen werden, je
nachdem man den Inhalt des Vertrages be-
stimmte: auf der einen Seite folgerte man
einen Staatsabsolutismus, der nodi weit über
die Anschauungen des Altertums hinausging,
auf der anderen kam man zu einer Proklama-
tion der Volkssouveränität, auf einer dritten
zu einer vertragsmässigen Einschränkung
der Staatsgewalt, auf einer vierten zxmi Vor-
behalt der wichtigsten Rechte der Persönlich-
keit ; aber auf allen stellte sich doch immer
als der unvermeidliche Grundsatz der Lehre
vom Gesellschaftsvertrage die Herleitung
der bürgerlichen Gemeinschaft aus dem In-
dividuum heraus. »Man musste, wenn man
sich selbst treu bleiben wollte, schliesslich
immer bei den Sätzen anlangen, dass der
vereinzelte Mensch älter als der Verband,
dass jeder Verband das Produkt einer Summe
von individuellen Akten und dass alles Ver-
bandsrecht und somit die Staatsgewalt selbst
ein Inbegriff ausgeschiedener und zusammen-
gelegter Individualrechte sei« (Gierke-
Althusius S. 105). Rousseau hat im Contrat
social nur die letzten Konsequenzen gezogen,
indem er nur noch den Gesellschaftsvertrag
als einzige Grundlage des Staates erklärte,
diesen also nur als die Gesellschaft die aus
der Summe der einzelnen Individuen be-
steht, auffasste. Er hat freilich trotz der
Proklamation unveräusserlicher Menschen-
rechte diese verbundene Gesellschaft mit
einer fast absoluten Machtvollkommenheit
über den einzelnen ganz nach dem Muster
von Hobbes, jedoch nur solange der Bürger
den Vertrag nicht gekündigt hat, bekleidet;
bei seinen Nachfolgern trat hingegen das
individualistische Princip noch massgebender
hervor. So schon, wenn wir von den fran-
zösischen und englischen Epigonen Rousseaus
absehen, bei Kant Ihm ist die fortschrei-
tende Entwickelung zur persönli(;hen Frei-
heit Zweck der Gesellschaft und Inhalt der
Weltgeschichte. Dabei bleibt aber als ein
ungelöstes Problem die Thatfiache bestehen,
dass nur in der Gesamtheit und nur im
Laufe einer langsamen Entwickehmg dies
Ziel eiTcicht wird und dass Generationen
von Individuen nur als Mittel dienen, damit
spätere zur höheren Vollkommenheit gelangen.
Zuletzt hat dann Wilhelm von Humboldt
den Staat nur noch als ein Mittel für die
Zwecke des Individuiuns erklärt und daraus
die möglichst grosse Einschränkung der
Gesellschaft und G^ellschaftswissenschaft
205
Staatswirksamkeit als wesentliches Interesse
der Gesellschaft gefolgert.
Die historische Auffassung des Staats-
und Rechtslebens entzog diesen philosophi-
schen Konstruktionen den wissenschaftlichen
Boden. Allerdings waren durch lange Ge-
wöhnung und durch den grossen Einfluss,
den sie auf die Gesetzgebung und die Ver-
fassungen gewonnen hatten, naturrechtliche
Anschauungen so fest gewurzelt, dass sie,
wie namentlich Bergbohm erwiesen hat,
auch Itei denen noch fortlebten, die sie
bekämpfen; allein sie sind so abgeblasst,
dass sie doch nur noch in vereinzelten
Schlagworten ein schattenhaftes Dasein
fristen. Weder für die Präge nach der
Entstehung des Staates noch nach dem
Rechtsgrunde seines Bestehens war durch
diese naturrechtliche Gesellschaftswissen-
schaft, die Jahrhunderte hindurch die scharf-
ainnigsten Geister beschäftigt hatte, auch
nur das Geringste geleistet worden ; und
über den immer wiederholten Zirkeltanz der
Erörterung des Gesellschaftsvertrages hatte
man nie Zeit gewonnen nach der Entstehimg
und dem Wesen der einzelnen Gesellschafts-
formen zu forschen. Nur das Problem, wo
die Wirksamkeit des Staates aufhöre, war
scharf herausgebildet worden, ohne doch zu
irgend einer anerkannten Lösung zu gelangen.
Die alte Gesellschaftswissenschaft ist also
zwar ein gewaltiges historisches Ferment ge-
wesen, aber keine wirkliche Wissenschaft.
Dennoch hat sie bei der Entstehung einer
eigentlichen Wissenschaft, der National-
ökonomie, kräftig mitgewirkt. Das Problem
von den Grenzen der Staatsgewalt — schon
seit der Reformation ein Hauptgegenstand des
Interesses, soweit es sich auf das religiöse
und sonstige geistige Leben bezog — , bildete
seit den Pnysiokraten auch das Grundthema
dieser neuen Wissenschaft. Indem diese
mit der grössten Energie alle Staatsleitung
der volkswirtschaftlichen Thätigkeit ablehnte,
fasste sie überwiegend die gesamte mensch-
liche Gesellschaft als Trägerin derselben
auf. Auch da, wo sie die einzelnen Nationen
ins Auge fasste, bewegte sie sich immer
auf dem naturrechtlichen Boden. Sie sah
in ihnen nur Gruppen von Individuen, die
allein durch ihren wohlverstandenen Eigen-
nutz zu gemeinsamem Wirken verbunden
sind. Die klassische Nationalökonomie hat das
grosse Verdienst, für einen der wichtigsten
Teile menschlichen Gemeinschaftslebens eine
Wissenschaft, d. h. ein zusammenhängendes
System von Erkenntnissen, geschaffen zu
haben; auch war die Eundamentierung, die
sie dieser gab, immerhin solider, weil sach-
lich reichhaltiger, als die der älteren
Schwesterwissenschaft, der politischen Theo-
rie; ihre Schwächen rühren aber grossen-
teils von der unzulänglichen, von ihr aus
dem Naturrecht übernommenen Auffessung
der Gesellschaft her.
Erst die historische Rechtsauffassung
wiu^e den Verbänden, die sich in den Staat
einordnen, ohne völlig in ihm aufzugehen,
gerecht, die Nationalökonomie erhob den
Anspruch, einen wichtigen Teil mensch-
lichen Gemeinlebens zu erklären, ohne
anders als beiläufig auf den Staat einzu-
gehen — , beide wirkten daher zusammen,
um die Erörterung der »Gesellschaft« und
ihret einzelnen Abteilimgen neu zu beleben.
Es handelte sich aber im Ghnmde immer
um die alte Erörterung, wie der einzelne
und wie der Staat, die beiden fassbaren,
konkreten Grössen, sich zu einander und zu
allen den materiellen und geistigen Mächten,
die sich als gemeinsame Interessen und ge-
meinsame üeberzeugungen, also als Massen-
erscheinungen äussern, verhalten.
Die Neubegründer der Staatswissen-
schaften in Deutschland, vor allem R. v. Mohl
führten diese zwar auf den Boden der Ge-
schichte und der gegebenen Verhältnisse
zurück, aber sie gaben den unbegründeten
Ansprüchen der englischen Nationalökonomie,
die ihnen mit ihrer vermeintlichen Wissen-
schaftlichkeit über Gebühr imponierte und
ausserdem ihren praktisch-politischen An-
schauungen entsprach, zu viel nach. Als
Schlussresultat seiner Geschichte der Staats-
wissenschaften ergiebt sich für Mohl die
Notwendigkeit, die Gtesellschaftslehre aus
der Lehre vom Staate auszuscheiden. Als
Gegenstand -werden ihr alle natürlichen
Verbände zugewiesen, die aus irgend welcher
Interessengemeinschaft erwachsen und zwi-
schen der Famüie als der Organisation des
Privatlebens und dem Staate als der po-
litischen Organisation in der Mitte stehen.
Gegen jene Sonderung trat besonders
H. V. Treitschke in seiner ErstHngsschrift :
Die Gesellschaftswissenschaft (1859) auf.
Er hatte seinerseits von der historischen
Nationalökonomie, von Röscher und Knies,
bereits eine andere Auffassung des nationalen
Wirtschaftslebens empfangen und betont die
beständige Wechselwirkung der sozialen
Gebilde, Stamm, Rasse, Stand, Kirche, Bil-
dungs- und Wirtschaftsgruppen mit dem
Staate ; er weist nach, dass jede von diesen
Bildungen, die Familie noch hinzugerechnet,
zugleich auch einen politischen Charakter
trägt und dass dieser sich nur in den ein-
zelnen Zeiten der Entwickelung verschieden
stark geltend macht. Obwohl er schliesslich
die Hilfsbegriffe »soziale Gebilde« und
»soziale Interessen« nicht wohl entbehren
kann, so beantwortet er doch die Frage:
»Was ist diesen gesellschaftlichen Kreisen
gemeinsam?« ganz negativ: »Nimmermehr
ist eine Wissenschaft denkbar, welche aUe
diese heterogenen Dinge zusammenfasste.«
206
Gesellschaft und Gesellseliaftswissenscliaft
Die Verbindung derselben sieht er also eher
in ihrer geraeinsamen Beziehung zum Staats-
leben und gelangt deshalb auch zu der De-
finition: »Der Staat ist die einheitlich or-
ganisierte Gesellschaft.« Trotzdem führt
er, abhängig von den Lehren der eng-
lischen Nationalökonomie, wie er es noch
lange blieb, den Gedanken aus: »Die Ein-
wirkung der Staatsgewalt auf die Gesell-
schaft ist nicht schöpferisch.« Er sieht so-
gar den Entwickelungsgang der Staaten in
einer allmählichen Sonderung der rein po-
litischen und der sozialen Interessen, ein
Irrtum, der ihm auch als Historiker noch
lange nachgegangen ist. Mohl erkannte
daraufhin die politische Natur der früher
von ihm als reine Gesellschaftsgebilde cha-
rakterisierten Gruppen: Gemeinde, Provinz,
Stamm, an, hielt aber für die übrigen Ge-
meinschaften die Notwendigkeit einer all-
gemeinen Gesellschaftslehre als einer Be-
gründung des Begriffs und der allgemeinen
Gesetze der Gesellschaft fest. Da er der
Gesellschaft ein Avirkliches Leben, einen
ausser dem Staate stehenden Organismus
zuschrieb, musste er auch die beiden Wissen-
schaften trennen, da er aber ebenso wie
Treitschke auch die Wechselbeziehungen des
Staates und der sozialen Gebilde betonte,
so handelte es sich schliesslich nur mehr
um eine Frage der Einteilung, der Rubri-
zierung von anderweitig gefundener oder
noch zu findender Erkenntnis. Hier gilt
dami das treffende Wort Diltlieys: »Im
ganzen gleicht die Frage, ob irgend ein Teil-
inhalt der Wirklichkeit geeignet sei, von
ihm aus bewiesene und fruchtbare Sätze zu
entwickelUj der Frage, ob ein Messer, das
vor mir liegt, scliarf sei. — Man rauss
sclmeiden! Eine neue Wissenschaft wird
konstituiert durch die Entdeckung wichtiger
Wahrheiten, aber nicht durch die Absteckung
eines nicht occupierten Terrains in der
weiten Welt von Thatsachen.«
Das Programm, wie es von Mohl auf-
gestellt worden war, hat dann L. v. Stein
aurch eine Verbindung historischer Forschung
und dialektischer Methode auszufüllen ge-
sucht. Seine Gesellschaftslelu-e ist vor allem
bestimmt, eine Theorie aufzustellen, durch
welche die Staatswissenschaften einerseits,
die übrigen Geisteswissenschaften, soweit
es sich in ihnen um Massenerscheinungen
liandelt, andererseits mit einander vermittelt
und zu einer Einlieit zusammengofasst werden
sollen. Mit seinen Auffassungen steht er
durchaus auf den Schultern der Geschichts-
philosophie, wie sie von Herder entworfen,
von Hegel dialektisch ausgeführt worden
war; daher wendet er auch überall ein
Schema der Entwickelung an, das wenig
geeignet ist, den Reichtum der Wirklichkeit
in sich aufzimehmen. Diese Fassimg der
Aufgabe rückt ihn bei aller Verschiedenheit
der Beantwortung A. Comte und der von
ihm ausgehenden Soziologie nahe.
Eine bestimmte, zugleich philosophische
und historische Betrachtungsweise beherrscht
diese ganze Epoche der deutschen Gesell-
schaftswissenschaft; sie bezeichnet sich selber
als »organisch«. Ohne Unterschied der politi*
sehen Zugehörigkeit macht sich diese Auffas*
sung von Haller und A. Müller bis Molil und
Bluntschli geltend. Die Vergleichung des
Staates mit dem menschlicheu Körper legt
schon Plato seiner Betrachtung zu Gnmde,
in der christlichen Weltauffassung nahm die
Betrachtung der Kirche oder der Menschheit
als organisiertes Individuum einen bevor-
zugten Platz ein ; hier wie dort dient dieser
bildliche Ausdruck, wie wir sahen, dazu, um
die Abhängigkeit des einzelnen Gliedes vom
Ganzen und zugleich seine relative Selb-
ständigkeit in diesem Ganzen zu bezeichnen.
Aber auch bei Rousseau findet sich, sogar
in sehr ausgeprägter Form, diese Ausdrucks-
weise. Sie wurde in unserem Jahrhundert
ein beliebtes Symbol, um den Gegensatz zu
der »mechanischen« Auffassung des Natiu*-
rechts auszudrücken. Das richtige Problem
bestand darin, zu erklären, wie aus blosser
AneinandeiTeihung individueller Einzel-
handlungen eine rationelle, einheitliche Ge-
samtwirkung hervorgeht. Die alte Berufung
auf den wohlverstandenen Eigennutz der ein-
zelnen langte hierzu nicht aus. Ein weiteres
Problem bestand darin, wie wiederum der
einzelne in seinen Ansichten und Absichten
diux?h seine Zugehörigkeit zu einem ge-
sellschaftlichen oder politischen Ganzen be-
stimmt wird, ohne sich doch völlig in ihm
zu verlieren. Hatte die alte naturrechtliche
Gesollschaftslehre in den Jahrhunderten, wo
mathematisch - physikalisches Interesse im
Vordergnmde stand, ihre Methode und ihre
Ausdnicksweise von der Meclianik entlehnt,
so suchte die neuere mit den mächtig auf-
blühenden organischen Naturwissenschaften
zu wetteifern. Diese erneute üebertragung
einer naturwissenschaftlichen Anschauungs-
weise äussert sich am kenntlichsten in dem
umfassenden Werk, das Schäffle über Bau
und Loben des sozialen Körpers geschrieben
hat. Die einzelnen sozialen Erscheinungen
sind hier oft lebhaft und anziehend l)e-
schrieben; die Gnmdansehammg : für alle
Funktionen dos tierischen Körpers Analogieen
in den Erscheinungen des Gemeinschafts-
lebens aufzuweisen, artet aber in Spielei^i
aus. Schon das ^littelalter hat übrigens,
wie Gierke gelegentlich zeigt, solche phan-
tastische Ausgestaltungen der organischen
Staatslehre gekannt. Für England hat
H. Spencer mit landesüblicher Unkenntnis,
(lass es sich dabei um eine uralte Anschauung
handelt, die organische Methode »entdeckt«.
Gesellscliaft und Gesellschaftswisseuschaft
207
Die Angriffe auf die organische Staats-
und Gesellschaftsauffassung, die von Juristen
ausgingen, litten meist darunter, dass sie
selber auf dem individualistischen Stand-
punkt verharrten, also gerade das Berech-
tigte in der gegnerischen Auffassung be-
fehdeten; dagegen hat unter Anerkennung
des richtigen Kernes namentlich Rümelin
bei seiner Revision verschiedener Grundbe-
griffe die falsche Analogie in dem Vergleich
mit dem Organismus und die Yergeblich-
keit des Unternehmens, eine unerklärte Er-
scheinung durch eine noch unerklärlichere
zu deuten, schlagend erwiesen. Ebenso hat
Düthey darauf hingewiesen, dass wir uns
des gesellschaftlichen Zusammenhanges, in
dem wir selber stehen, doch unmittelbar
bewiisst sind, während uns das Problem
des Organismus weit dunkler ist, so dass
denn mit viel mehr Recht sich die Natur-
forscher vorsichtig gehandliabter Analogieen
mit der Vergesellschaftung zur Erklärung
des Organismus bedienen können. Rtlmelin
hat als ■ eine allgemeine Regel betont, dass
Individuen in ilirer Vereinigimg andere
Eigenschaften als in ihrer Vereinzelung ent-
falten: »Alle Wirkungen des Waldes sind
bedingt durch die Natiu* des Baumes, aber
manche derselben werden an dem einzelnen
Exemplar nicht erkennbar, sondern erst in
ihrer Verdichtung und Verstärkung diu:ch
die Masse der winzigen Anteüe«. Domge-
mäss definiert er die Gesellschaftswissen-
schaft als die Lehre von den natürlichen
Massen- und Wechselwirkungen des mensch-
lichen Trieblebens unter den Einflüssen des
Zusammenlebens vieler — wie mii- scheint,
die beste bis jetzt gegebene Definition.
Von der Einzel - Psychologie aus ist W.
Wundt zu einer ähnlichen Ansicht gelangt,
indem er betont, dass eine Summierung
von Einzelempfindungen auch specifisch
und nicht nur quantitativ verschieden sei
von diesen selber. Doch bleibt es immer
eine be<lenkhche Metapher von einem »Ge-
samtbewusstsein« gesellschaftlicher Gruppen
oder gar der Gesellschaft zu reden; denn
eine Mehrheit hat so wenig wie ein gemein-
sames Denkorgan ein gemeinsames Bewusst-
sein; vielmehr ist das, was man so nennt,
nur die übereinstimmende Ansicht der ein-
zelnen, die sich dieser Uebereinstimmung
bewusst sind. Hingegen wird man aller-
dings beim Staate, der als solcher Rechts-
persönlichkeit besitzt, von einem Gesamt-
wülen reden, da ja ein solcher unablässig
realisiert wird. Die Träger und Ausführer
dieses Willens wird man auch weiterhin,
da hier die Sprache längst entschieden hat,
Organe nennen. Hierin besteht eben ein
entecheidender Unterschied zwischen der
konkreten Grösse ^Staat« und dem abstrakten
flilfsb^riff ;> Gesellschaft«.
Neuerdings hat die französisch-englische
Soziologie auch in Deutschland einen
wachsenden Einfluss gewonnen und drängt
namentlich inn ihres wirklich oder ver-
meintlich positiven Charakters willen die
in teleologischer Weltauffassung wurzelnde
ältere deutsche Geschichtsphüosophie. merk-
lich zui*ück. Der Schöpfer dieser neuen
Wissenschaft, die jedenfalls ein kühnes und
konsequentes philosophisches System ist,
war Auguste Comte. Das System dieses
grossen französischen Philosophen stellt
sich zunächst als ein Unternehmen dar,
die Gesamtheit der gesicherten oder ihm
gesichert scheinenden Ergebnisse der Wissen-
schaft zu vereinigen, um einen gesetzmässigen
Entwickelungsgang der menschlichen Kultur
zu ergründen. Es steht darum der deut-
schen Geschichtsphilosophie im Grunde viel
näher als den eigentlichen Staatswissen-
schaften. Ueber die Genesis dieser seiner
Methode hat er selber ausführlich berichtet
(Cours IV IcQon 47). Mit Recht erblickt
er in Montesquieu — Macchiavelli, den er
ebenfalls hätte nennen können, ist er wegen
seiner Moral abgeneigt — den Begründer
einer echten historischen Auffassung des
Staates und schreibt ihm das Verdienst zu,
zuerat das Wesen eines historischen Ge-
setzes richtig erkannt zu haben. Im übrigen
sieht er niu* in Condorcets (resp. Turgots)
AperQu von der stufenweise erfolgenden
Entwickelung des menschhchen Denkens
einen FortscJiritt. Er hat an dieses seine
wichtigste Gedankenreihe angelehnt. Dass
er pqj^önlich bedeutsame Anregungen von
St. Simon empfangen habe, wül er freilich
nach dem Bruche mit diesem in seinem
Hauptwerke, dem Cours de la philosophie
positive, nicht mehr Wort haben. Dem un-
geachtet ist er von ihm mindestens ebenso
sehr wie von de Maistre, dem er diesen
Einfluss allein zuschreibt, in der Ansicht
beeinflusst worden, dass der durch die
metaphN^sische Weltanschauung des vorigen
Jahrhunderts und ihr Kind, die Revolution,
zersetzten GeseUschaft eine Reorganisation
vermöge einer herrschenden geistigen Ge-
walt not thue.
Der Zweck seines ganzen Werkes be-
steht darin, diese Notwendigkeit zu erwei-
sen und die Grundlagen für eine solche
Erkenntnis des Einzelmenschen und der
Gesellschaft zu bereiten, die den Leiter der
Gesellschaft, den Staatsmann der Zukunft,
über die blosse tastende Empirie hinaus-
hebe, während er für die Gegenwart dem
soziologischen Philosophen strenge Enthal-
tung von der Anteilnahme an der Leitung
des Staates und der Gesellschaft empfiehlt.
In diesem Unternehmen ist Comte freüich
gründlich gescheitert. Man mag das Princip
anerkennen, dass eine psychologische Er-
208
Ghesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
kenntnis des Einzelmenschen die physiologi-
sche und eine Erkenntnis der Gresellschaft
die des Einzelmenschen voraussetzt; es ist
aber ganz unzweifelhaft, dass keine einzelne
Wissenschaft auf die Resultate der anderen
warten kann, bis sie selber anfängt; genug
wenn sie von Zeit zu Zeit in ihren Bau
diese einfügt und nach den bewährten Ge-
sichtspunkten jener ihren Bauplan revi-
diert. Die Art, wie Comte die Physiologie
auf die Psychologie anwendet, ist, mild ge-
sagt, laienhaft; seine positive Gesellschafts-
lehre ist trotz der glänzenden Kritik der
früheren Leistungen selbst ziemlich dürftig
ausgefallen, ein halber Sozialismus, der ein-
flusslos gebheben ist; sogar die grossartige
platonische Idee von der Herrschaft der
organisierten geistigen Macht wird bei ihm
wie bei St. Simon in seinem Alter zu einem
Rückfall in das »religiöse Stadium«: eine
katholische Kirche, in der die Priester
durch die Soziologen ersetzt sind.
Um so besser ist ihm der Nachweis ge-
lungen, dass die Vereinzelung der Geistes-
wissenschaften unnatürlich oder höchstens
vorübergehend entschuldbar, für die Er-
kenntnis ihres wahren Entwickelungsganges
aber verhängnisvoll sei. In Frankreich
und England mussten diese Auseinander-
setzungen bei Geistern, die gewiUt waren,
ziu* Einheitlichkeit ihres Denkens zu ge-
langen, unwiderstehlich wirken ; in Deutsch-
land lebten diese Gedanken seit Herder
schon in der allgemeinen Bildung. Comte,
der die deutsche Litteratur nicht kannte,
hatte selber hiervon eine halbklare Vorstel-
lung; er hat sich aber die beabsichtigte
Beschäftigung mit den Deutschen durch J.
St. MiU wieder ausreden lassen. Daher hat
auch Comte nie den Versuch gemacht,
seinen Lehren eine erkenntnistheoretische
Grundlage zu geben, wie es im Betriebe
der Geisteswissenschaften in Deutschland
seit Kant stets gefordert werden muss.
Die Vereinzelung der Gegenstände gilt
für Comte nur als ein Symptom des meta-
Shysischen Zeitalters der Wissenschaft und
er Gesellschaft. Ein Gnmdgedanke, der
sein ganzes Werk durchzieht, besteht darin,
dass in der Natur des menschlichen Denkens
ein vorgezeichneter Entwickelungsgang von
der religiösen zur metaphysischen, von
dieser zur wissenschaftlich-gesetzmässigen
(positiven) Weltauffassung liege, und dass
alle anderen Lebensäusserungen der mensch-
lichen Gesellschaft ganz und gar von dieser
Entwickelung abliängig seien. Bei einem
so ausgeprägten Idealismus können die ma-
teriellen Faktoren nicht zu ihrem Rechte
kommen ; hierin liegt es zum Teil begründet,
dass gerade für die Staatswissenschaften,
die er umwälzen wollte, Comte wenig greif-
bare Resultate erzielt hat, während seine
Charakteristik der Entwickelung des wissen-
schaftlichen Denkens zwar öfters schematisch,
aber im ganzen meisterhaft und die des
religiösen Empfindens imd Vorstellens
wenigstens sehr geistreich und anregend ist.
I^ grösste wissenschaftUche Verdienst
Comtes bleibt die Kritik der Metaphysik
als einer zwar notwendigen, aber vorüber-
gehenden und in ihren Resultaten nur nega-
tiven Entwickelungsstufe des menschlichen
Denkens, als einer Phase, die aus der ihr
zuvorgehenden religiösen Stufe sich regel-
mässig entwickelt. Hierbei ist namentiich
auch seine Kritik der klassischen National-
ökonomie von Bedeutung, der er die Hohl-
heit ihrer Abstraktionen schlagend nach-
weist, wobei er in Frankreich auch zuerst
die richtige Würdigimg Adam Smiths im
Vergleich zu seinen Nachfolgern gefunden
hat. Dass er selber in die von ihm be-
kämpfte Richtung, in »derbe, natimilistische
Metaphysik« oft genug zurückverfäUt, ist
ein allgemein menschliches Schicksal, das
er mit anderen bahnbrechenden Denkern
teilt.
Gesellschaftswissenschaft bedeutet bei
Comte Zusammenfassung aller Zweige der
menschUchen Entwickelung, um zur rich-
tigen Erkenntnis jedes einzelnen und da-
durch z\vr richtigen Lenkung des ent-
sprechenden Gebietes menschlicher Hand-
lungen zu gelangen, in anderem Sinne
wendet der belgische Statistiker Quetelet
die von Comte entlehnten Worte statique
und dynamique sociale an. Er will die
regelmässig wiederkehrenden Thatsachen
des individuellen Lebens als Massenerschei-
nungen behandeln und als unabhängig vom
individuellen Wollen, als notwendige soziale
Gesetze erweisen. Seine Stärke besteht in
der genauen Kenntnis der physiscTien Eigen-
schaften des Menschen; jene Teile seiner
Werke, die diese und ihre Entwickelung —
also eine wesentlich physiologische Aufgabe
— behandeln, sind ihm am besten gelungen.
Im übrigen ist er aber diuxjh die Konstanz
vieler Zahlenreihen so eingenommen, dass
er aus ihnen einen notwendigen, regel-
mässigen Zustand der Gesellschaft zu er-
schliessen unternimmt. Um das zu können,
hat er freilich in seinen statistischen Tabel-
len immer nur auf die grossen Diuxjh-
schnittszahlen sein Absehen, er vernach-
lässigt nach Möglichkeit alle Varianten, an
denen die heutige beschi-eibende Statistik
mit Recht das grössere Interesse nimmt
Die Regelmässigkeit ist thatsächlich gamicht
in dem umfang vorhanden, wie es Quetelet
postuliert. Namentiich aber übersieht er
ganz, dass die Statistik immer nur That-
sachen quantitativ, nach ihrem Umfange,
feststellen kann, dass sie selber aber nie-
mals einen Kausalzusammenhang ergründet,
Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
209
dass, wo sie eine gleichbleibende Zahl er-
mittelt, dennoch der Komplex ihrer Ursachen
— zumal es sich bei sozialen Erscheinungen
immer um vielgestaltige Komplexe bestim-
mender Faktoren handelt — sich jetzt
ganz anders zusammensetzen kann als
friiher, dass endlich selbst, wo zwei Er-
scheinungen regelmässig in dem gleichen
Stärkeverhältnis neben oder nach einander
auftreten, daraus gar kein Schluss auf ihre
Abhängigkeit von einander zu ziehen ist.
Quetelet forscht überhaupt einem Kau-
salzusammenhang, der die von ihm ermittel-
ten Z^enverhältnisse erst als Resultat er-
giebt, gar nicht nach, sondern hinter diesen
festen Zahlen steht ftlr ihn als Erklärungs-
gnmd »der Zustand der Gesellschaft«, der
hier in der Tliat eine bloss metaphysische
Torstellung ist Gerade dieser Zahlenfata-
lismus Quetelets ist aber höchst populär
geworden, und namentlich durch ihn ist
»die Gesellschaft« das asylum ignorantiae
geworden, in das die Denkfaulheit, die auf
gsnaue Untersuchung Verzicht leistet, sich
üditet. Andere zogen aus Quetelets Aus-
führungen die Folgerungen eines ebenso
schroffen wie dürftig begründeten Determi-
nismus, denen er selbst noch ausgewichen
war; und in der Kriminalistik wurde zeit-
weise die Gesellschaft der grosse Sünden-
bock, auf den aUe Verantwortlichkeit ge-
schoben wurde. Es ist aber anzuerkennen,
dass gerade in dieser Wissenschaft allmäh-
lich an Stelle jenes abstrakten Gedanken-
wesens wieder die einzelnen erfassbaren
sozialen Erscheinungen getreten sind, denen
man einen Einfluss auf die Kriminalität
zuschreiben kann, und dass sie mit der
Zeit in der Feststellung der Wechselbe-
ziehungen zwischen der einzelnen Handlung
und den von aussen an den Handelnden
herantretenden Zuständen bedeutende Fort-
schritte gemacht hat. Die Einzelabrechnung
zwischen den äusseren und inneren Motiven
wird aber hier wie anderwärts immer
schwankend bleiben.
Weit unter jenen beiden genialen Män-
nern steht der Engländer Th. Buckle, der
bei scheinbarem Skepticismus sich gleich-
massig gläubig gegenüber dem mathemati-
schen Fatalismus Quetelets im Punkte der
psychologischen Erscheinungen, dem meta-
physischen Dogmatismus Bicaraos im Punkte
des wirlßchaftnchen Lebens und dem histo-
rischen Positivismus Gomtes im Punkte, der
wissenschaftlichen Entwickelung verhielt.
Seine besten Argumente gegen Vereinzelung
der Wissenschaftsgebiete hat er Comte ent-
nommen. An Comtes grosse historische
Auffassung reicht sein platter englischer
Utilitarifimus, der noch durch die naive
Annahme verstärkt wird , dass England
allein eine normale Entwickelung der Civüi-
Handwörterbnch der StaatswlsseiiBcbaften. Zweite
sation aufzuweisen habe, nicht von ferne
heran. Verdienstlich ist jedoch in seinem
Werke die Beschreibung der Hemmungser-
scheinungen, die der Ansammlung des
Wissens, in der er wie Comte den einzig
regelmässigen Fortschritt erblickt, in den
Weg treten.
Wie tief der Einfluss Comtes, der sich
in seinem Vaterlande nur langsam Gel-
tung verschaffen konnte, alsbald in Eng-
land ging, sieht man am besten an J. St.
Mill, der nach schwachem Widerstreben
schliesslich selber der Üeberzeugung lebte,
dass die von ihm neu gestützte KicMHiosche
Nationalökonomie nur noch ein «ephemeres
Dasein geniesse und mit der Zeit durch
eine Gesellschaftslehre im Sinne Comtes
abgelöst werden würde. In seiner Behand-
lung der induktiven Logik suchte er zu-
gleich, bereits unter Comtes Einfluss, die
Methode der Geisteswissenschaften festzu-
stellen; er stellte ihnen aber dabei aus-
schliesslich die Naturwissenschaften als
Muster hin, indem er den Trugschluss
beging, dass, da das gesicherte Voran-
schreiten jener grossenteüs ihrer Methode
zu danken sei, diese hingegen eines solchen
entbehren, jener Mangel auf das Fehlen
der naturwissenschaftlichen Methode zurück-
zuführen sei. Er hätte natürlich nur auf
den Mangel einer ihnen entsprechenden
Methode überhaupt nut eini^r Wahrschein-
lichkeit schliessen dürfen. Seitdem haben alle
fruchtbaren Bearbeitungen der Met hoden-
lehre, welche durch J. St. Mill allerdings
den neuen bedeutenden Anstoss erhalten
hat, gezeigt, dass man in Wahrheit von
der grundsätzlichen Verschiedenheit der
Objekte der Einzelwissenschaften auszu-
gehen hat.
Ebenfalls in England ist durch Herbert
Spencer ein neuer, umfassender Versuch
gemacht worden, die Lehre Comtes unter
Festhaltung der methodischen Grundlagen,
des encyklopädischen Aufbaus der von ein-
ander abhängigen Wissensgebiete, und der
beherrschenden Ansicht von einem natür-
lichen Entwickelungsgang der Gesellschaft
zu reformieren. So häufig Spencer auch
im einzelnen gegen Comte polemisiert, so
abhängig ist er im ganzen von ihm. Er
ernüchtert den phantasievollen Positivismua
Comtes; und in der That sclüiesst der Po-
sitivismus eigentlich die Phantasie aus !
Comte besass wirkliche Gelehrsamkeit nur
auf dem Gebiete der Mathematik und der
exakten Naturwissenschaften ; er war durch
seine tragischen Lebensschicksale verhindert
worden, seine Kenntnisse so zu erweitern,
wie es sein Ziel erforderte. Spencer da-
gegen gebietet über ein umfassendes Wissen
auf dem Gebiet der organischen Natur-
wissenschaften und der Ethnologie, auf dem
Auflage. IV. 14
210
Gesellschaft und Gresellschaftswissenscliafi
er auch selber sammelnd und forschend
vorgegangen ist. Auch er huldigt zu oft
dem Irrtum, dass der Philosoph oder So-
ziologe die fertigen Resultate der Wissen-
schaften nehmen und kombinieren dürfe,
um damit zu neuen sicheren Resultaten zu
gelangen. Namentlich aber gilt es auch
von ihm wie von Comte, dass der als not-
wendig postulierte Aufbau der Geistes-
wissenschaften auf die Naturwissenschaften
gar kein positives Resultat ergiebt. Seine Bio-
loge soll freilich ein sehr sorgfältiges Werk
sem, während sich Comte bei einem kind-
lichen Glauben an Galls Schädellehre be-
ruhigt hatt^; was sie aber der eigentlichen
Soziologie, die den Schluss von Spencers
encyklopädischem Werke bildet, genützt
haben soll, ist nicht ersichtlich. Im Gegen-
teil hat sie ihn zu einer biologischen Auf-
fassung der Gesellschaft als Organismus
verführt , die alle Schwächen der ent-
sprechenden deutschen Richtung teilt und
an origineller Phantasie hinter Schäffle zu-
rücksteht. Von seiner Psychologie macht er
allerdings in der Soziologie fortwährend Ge-
brauch. Abhängig von der Millschen Schei-
dung induktiver und deduktiver Methoden
— während doch bei allem Denken, das
mathematische vielleicht ausgenommen, In-
duktion und Deduktion fortwährend in ein-
andergreifen — , sucht er beständig die eine
durch die andere zu belegen. Er deduziert
aus der Psychologie und erfreut sich dann
der Uebei'einstimmung mit den induktiv
ermittelten Thatsachen der Gesellschaft.
Dabei täuscht er sich selber, da ihm sein
Zielpunkt schon vorher feststeht: er will
nämlich überall zu der Yemunftgemässheit
des landläufigen englischen Individualismus
gelangen. Unter diesem mehr oder minder
bewussten Zwange stehen sowohl seine
Vernunftschlüsse wie seine Auslese der
Thatsachen. So dilrftige Abstraktionen, wie
»industrieller Geist und militärischer Geist«,
die nun auf alle erdenklichen Erscheinungen
der Geschichte und der Gegenwart als nie
versagendes Reagens augewendet werden
— er konstatiert sogar in der englischen
Gesellschaft eine Stärkung des militärischen
Geistes ! — , sind nicht emmal — Metaphy-
sik. Spencer hat zwar ein eigenes Buch
geschrieben, um in der Weise Bacons die
Vorurteile, die das wissenschaftliche Urteil
hemmen oder trüben, zu kennzeichnen,
als Vonirteil ^t ihm aber dabei aUes,
was der liberal-mdividualistischen Schablone
im Wege steht. Die wirklichen Verdienste
seiner Soziologie liegen in den ethnologi-
schen Abschnitten, der Darstellung der
Hen*schaft des Ceremoniells in der Sitte
der Natiuvölker und den religiösen Urzu-
ständen. Allerdings sind seine psychologi-
schen Deutungen auch hier oft gewagt und
seine höchst einflussreiche Darstellung der
Religionsstufe des Animismus, die wesent-
lich eine Fortbildung der Theorie Comtes
von der Herrschaft des Fetischismus ist,
hält sich von dem Fehler der Uniformierung
nicht frei. Auf diesen beidea Gebieten hat
aber die Anregung, die Spencer gegeben,
fnichtbar gewirkt.
Die zahlreichen Versuche, die in teil-
weisem Anschluss an ihn in England und
Amerika gemacht worden sind, die Gesell-
schaftswissenschaft und ihr Fundament die
Kultur^schichte in eine Art psychologische
Dynamik aufzulösen, leiden an der Willkür
sowohl der psychologischen Voraussetzungen
als der Thatsachen-Auslese. Als der geist-
reichste Vertreter dieser Richtung sei der
Ameiikaner Patten genannt, der die Gesell-
schaftslehre als eine Mechanik der Schmerz-
und Lustempfindungen konstruiert.
In neuer Weise hat in Deutschland die
Probleme Comtes W. Dilthey in seiner Ein-
leitung in die Geisteswissenschaften aus-
gebildet. Der historischen Kritik der Meta-
physik, wie sie Comte entworfen, giebt er eine
strengere Begründung, die auf einem feineren
Verständnis der Sinnesart und der besonderen
Probleme der einzelnen geschichtlichen Epo-
chen beruht. Indem er die Methoden der ein-
zelnen Wissenschaften, wie sie thatsächlich
in Anwendung kommen, mit einander ver-
gleicht, gelangt er zu dem Ergebnis, dass
sie zwar insgesamt eine gemeinsame Be-
gründung, die dann nur in einer allgemei-
nen Theorie der Erkenntnis liegen kann,
bedürfen, dass sie aber eine Gemeinsamkeit
der Methode, wie sie die Gesellschafts-
wissenschaft Comtes naturalistisch, oder
wie sie die Geschichtsphilosophie teleo-
logisch in Anwendung bringt, ausschliessen.
Eine selbständige Erkenntnistheorie, auf die
sich eine Methodologie aufbauen könnte, hat
er nicht geliefert, sondern nur eine beschi'ei-
bende und analysierende Psychologie, die den
Menschen in der Gesellschaft, d. h. in seinen
versclüedenen Beziehungen zu seinen Mit-
menschen erfasst, als Gnmdlage aller
Geisteswissenschaften gefordert. Er hat
dabei die Methoden der experimentierenden
Individualpsychologie wohl zu sehr einge-
schränkt. Seine Ablehnung natiu^issen-
schaftlicher Methoden fflr die Geisteswissen-
schaften gründet sich darauf, dass uns der
Gegenstand selber hier und dort in ganz
verschiedener Weise gegeben ist : Die Natur
ist uns stumm, die Thatsachen der Gesell-
schaft sind uns von innen heraus verständ-
lich, wir können sie mitempfinden, nach-
bilden. Eben deshalb ist es auch unmög-
lich, die AVertiu^eile aus den Geisteswissen-
schaften zu eliminieren, wir schätzen in
unserem Urteile über Richtimgen, Institu-
tionen und dergleicheu immer zugleich
Gesellschaft und Gresellschaftswissenschaft
211
ihren ^'ert ab; auch zeigt das geistige,
besonders das gesellschaftliche Leben einen
viel grösseren Reichtum des Singulären,
viel weniger Gleichförmigkeiten als die
!Natur. Dass demuogeachtet die logischen
Operationen sich hier wie dort wieder-
holen, dass man auch nie einzelner den
Naturwissenschaften entlehnter Begriffe zur
Verdeutlichung der Erscheinungen sich
entschlagen wird, so wenig sich jene der
gleichen Entlehnung aus den Geisteswissen-
schaften enthalten, ist kaum zu bemerken
nötig. Die Rätlichkeit einer zusammen-
fassenden Gesellschaftswissenschaft leugnet
Dilthey deshalb, weil es keine Erkenntnis
des Ganzen der geschichtlich-gesellschaft-
lichen Wirklichkeit giebt. Das Suchen nach
einer einheitlichen Erklänmgsforuiel über
die Erkenntnisse der Einzelwissenschaften
hinaus von Herder bis Comte ist nur Meta-
physik ; meistens wird nur eine einzelne der
wirkenden Kräfte dabei herausgehoben, die
als Ausdruck der vielgestaltigen Wirklich-
keit unzulänglich ist. Um so mehr ist
allerdings erforderlich, dass in den Einzel-
wissenschaften die Beziehungen des Singu-
lären zum Allgemeinen und ihre Beziehungen
unter einander gepflegt werden.
Alle bisher besprochenen Richtungen
stimmen mit Ausnahme derjenigen Quete-
lets doch darin überein, dass in der Wissen-
schaft von der Gesellschaft wesentlich eine
Analyse jener geistigen Vorgänge, die sich
als gleichmässige oder weitverbreitete Er-
scheinungen äussern, angestrebt wurde;
man sah eine psychologische Grundlegung
für nötig an, bei der man die einfachen
Thatbestände des geistigen J^bens als wir-
kende Kräfte zu ermitteln suchte. Gerade
bei den Positivisten Comte und Spen-
cer ist diese ideologische Richtung stark
ausgesprochen. Hieran änderte nichts, dass
man auch den Einfluss der Naturbedingun-
^n auf die menschliche Entwicklung, die
in einer wohlbegründeten Einzelwissenschaft,
der Geographie, besonders behandelt wurden,
würdigte. Gerade von jenen Forschern, die
von Montesfjuieu und Herder bis zu Buckle
die Ideeeneutwickelung in Gesellschaft und
Staat zu ihrem Gegenstand gemacht hatten,
ist das besonders geschehen; Ausschrei-
tungen einzelner, wobei der Mensch aus-
schliesslich als das Produkt des Bodens
erschien, auf dem er lebt, kommen nicht in
Betracht; der Hinweis darauf, dass ver-
schiedene Völker unter denselben Natiu'be-
dingnngen sich doch verschieden entwickeln,
diente sofort zur Widerlegung dieser harm-
losen üebertreibungen. Es stand also diese,
auf eine Psychologie der höheren Geistes-
thätigkeiten gegründete Gesellschaftswissen-
schaft eigentiich in keinem Widerspruch zu
der herrschenden synthetischen Geschicht-
schreibung, wie denn auchRanke als leiten-
den Gesichtspunkt seiner Darstellung die Ent-
wickelung der Ideeen in der Geschichte
nahm, d. h. die grossen eine Epoche be-
herrschenden Geistesrichtungen, die sich
auf den verschiedenen Gebieten des Lebens
gleichmässig wirksam äussern. Ob dabei
in dem Worte Ideeen metaphysische An-
klänge vorhanden waren, kommt wenig in
Betracht, da namentlich Ranke sich sorgfältig
gehütet hat, einen theologischen oder auch
nur teleologischen Charakter in seine Ge-
schichtsbetrachtung selber hineinzutragen.
Eher könnte man bisweilen fragen, ob die
Analyse der geistigen Zeitströmungen stets
so weit geftihrt ist, dass sie auch auf ihren
einfachsten Ausdruck gebracht sind. So ist,
um ein Beispiel aus einer neueren Polemik
zu nehmen, »Idee der Centralisation« keine
gute Abstraktion, weil in dem Bestreben
der Centralisation noch zu viel verschiedene
geistige Aeusserungen beschlossen sind.
Ein entschiedener Mangel der Geschicht-
schreibung und der Ghesellschaftswissenschaft
war es immerhin, dass die wirtschaftliche
Seite der Vorgänge überhaupt weniger be-
achtet wimle, namentlich aber als Ursache
anderer Erscheinungen in den Hintergrund
trat. Auch die historische Schule der
Nationalökonomie änderte in ihrer ersten
Generation hieran nichts. Sie hatte keines-
wegs den Ehrgeiz, einen neuen umfassenden
Bau der gesamten Gesellschaftswissenschaf-
ten zu unternehmen, sie begnügte sich, den
Einfluss der verschiedenen Gebiete der
geistigen Kultur auf die Wirtschaft zu be-
tonen, sie bekämpfte namentlich auch die
Trennung der Volkswirtschaft vom Staats-
leben. Hierin bestand ihr Verdienst; sie
war aber in ihren ersten Vertretern selber
noch zu sehr in den dogmatischen Formu-
lienmgen der klassischen Nationalökonomie
befangen und nahm es mit ihrem eigenen
Princip der Entwickelung zu wenig streng,
als dass sie der Bedeutung des Wirtschafts-
lebens in den anderen Zweigen der Geistes-
wissenschaf t hätte Geltimg verschaff en können.
Die Nationalökonomie suchte noch mehr bei
der Geschichte als diese bei ihr Anlehnung.
Unzweifelhaft ist ein mächtiger Anstoss
zur Aenderung auch hier von den Urhebern
der Sozialdemokratie, von Marx und Engels,
ausgegangen. Mit der Entschiedenheit, wie
sie emseitigen Radikalismus stets . kenn-
zeichnet, stellten sie die wirtschaftlichen
Vorgänge in den Vordergrund , behaupteten
eine streng logische, naturgesetzliche Ent-
wickelung, die diese aus sich heraus näh-
men, und brachten alle anderen gesellschaft-
lichen Vorgänge, einschüesslich des politi-
schen Lebens, ja im Princip sogar der
Religion, in eine strenge Abhängigkeit von
diesen in sich notwendigen wirtscliaftlichen
14»
212
G^sellschAft und Gesellschaftswissenschaft
Verschiebungen. Es herrscht hier ein fata-
listischer Glauben an die unwiderstehliche
Macht des gesellschaftlichen Naturgesetzes,
der noch überzeugter ist als der Quetelets,
nur dass es sich bei ienem um Zahlenge-
setze, bei diesen um Entwickelungsgesetze
— immerhin eine Verbesserung — handelt.
För Marx, den letzten bedeutenden Hege-
lianer, war die dialektische Methode, nach
der sich die Dinge mit der Strenge der Be-
griffsformeln entwickeln, massgebend, wie
sie immer bizarrer noch bis zuletzt von ihm
zugespitzt wurde; die Anwendung auf die
feschichtlichen Vorgänge fiel vor allem
Ingels zu, doch stammt auch hier die ge-
schichtliche Grundanschauung von Marx,
dem überlegeneren Kopfe. Marx hat zuerst
das Problem erfasst, wie eine Produktions-
stufe mit innerer Konsequenz aus einer
früheren hervorgeht, wozu die alte Unter-
scheidung von Natural- und G^ldwirt-
schaft nur ein dürftiger Ansatz war;
er hat ebenso zuerst den innigen
Zusammenhang zwischen der volkswirt-
schaftlichen Verteilung und der Produktion
richtig erkannt, überhaupt der Lehre von
der Verteilung, die in Ricardos System be-
sonders metaphysisch-formelhaft ausgefallen
war, den ihr gebührenden Platz zugewiesen
und den bestimmenden Einfluss, den sie
auf das gesamte Kultiu*leben eines Volkes
ausübt, mit Recht betont. In der That
machten sich um die Mitte des 19. Jahr-
hunderts die Folgen wirtscliaftlicher Ver-
schiebungen auf (lie übrigen sozialen Ver-
hältnisse offenkundiger als früher geltend.
Fortan galt es nicht niu*, das Wirtschafts-
leben in den Fluss der Geschichte zu
stellen, sondern vor allem den Fluss der
Geschichte zum Teil aus dem Wirtschafts-
leben zu erklären. Marx hat, ganz abge-
sehen von seinen praktischen Folgerungen
und von der Organisation seiner Anhänger,
die sich auf diese eingeschworen haben,
auch wissenschaftlich die Knoten geschürzt,
die wir uns zu lösen bemühen müssen.
Diese Aufgabe hat die jüngere historische
Schide angetreten, namentlich bei den Arbeiten
Knapps imd Büchers scheinen mir ähnliche
Erwägungen stark mitgesprochen zu haben.
So trat hier ein neues System der Ge-
sellschaftswissenschaft auf, noch konsequen-
ter und geschlossener als das Comtes.
Jenes mag man einseitig idealistisch nennen,
beruhend auf einer Ueberschätzung der
Rolle des wissenschaftlichen Denkens, die-
ses bezeichnet sich selber gern als ein
materialistisches, wofür man wohl besser
ein einseitig wii'tscliaftiiclies sagen dürfte,
insofern es zu einer materialistischen Philo-
sophie wolü eine Analogie, aber keine un-
mittelbare Beziehung besitzt. Wer in
systematischer Einheitlichkeit das Wesen
der Wissenschaftlichkeit sieht, wird freilich
den Wert dieses Entwurfes höher schätzen
als wer wie wir dieses in jene Sicherheit der
Begründung setzt, die in genauer Unterschei-
dung des Verschiedenen besteht. Man
kann nicht einmal sagen, dass die mate-
rialistische Gesellschaftslehre ihr Princip
streng verwendet, die Formen des höheren
geistigen Lebens aus den wirtschaftlichen
Verschiebungen zu erklären; für die Reli-
gion, die ihm bekanntiich Privatsache ist, giebt
Engels selber die Schwierigkeit zu ; um für
das Gebiet der Sitte, wo die materiellen
Einflüsse deutlicher werden, das Princip
durchzuführen^ hat man die geistvollen, aber
öfters konstruierten Ansichten des Ameri-
kaners Morgan über den gesetzmässigen
Gang der^Entwickelung der Familienformen
zu Hilfe gezogen; am meisten hat man
Glück gehabt mit der Ansicht, dass das
Recht nuf eine Funktion der Wirtschaft
sei. Hier kam sowohl in der Wissenschaf t
des Ej-iminalrechts wie in der des Civil-
rechts dieser Auffassung eine starke Strö-
mung entgegen; man schied mehrfach, wie
Stammler es thut, Wirtschaft und Recht
nur wie Inhalt und Form, wobei immer
vorbehalten bleibt, dass die festgestellte
Form längere Zeit dem Inhalt nicht zu ent-
sprechen braucht, also unangemessen ist. Da
aber alle Jurisprudenz eine Wissenschaft
von Geboten ist und von der Voraussetzung
ausgeht, dass diese Rechtsgebote ein zweck-
mässiges Handeln der Menschen bestimmen
wollen und können, sehen sich selbst diese
Juristen veranlasst, jene Auffassung Marxs,
die nur einen unabänderlichen Determinis-
mus aus gegebenen Zuständen zulässt, zu
einer Teleologie umzubiegen, in der das
Zweckmässigkeitsprincip, wenn auch nur als
ein allgemeines formales Princip ohne be-
stimmten Inhalt herrscht.
Wer im Rechtsleben und demgemäss
auch im Staatsloben der Völker eine
selbständige Aeusserung psychischer Grund-
eigenschaften sieht, die nur in beständiger
Wechselwirkung mit dem wirtschaftlichen
Rohstoff stehen, der wird von vorn herein an
jener schematischen Einheit aller sozialen Er-
scheinungen keinen Gefallen finden. Jede Ab-
leitung der Ei^scheinungen des einen geistigen
Gebietes aus solchen des anderen ist un-
durchfülirbar, weil in den psychischen
Grundeigenscliaften, auf denen jedes einzelne
dieser Gebiete beniht, specifische Verschie-
denheiten liegen und weil si(*h in unserem Be-
wusstsein diese principielle Verscliieden-
heit beständig geltend macht Man gelangt
nie weiter, selbst wenn man niu* die unent-
wickelten Kulturzustände ins Auge fasst, als
die beständige, innige Wechselwirkung der
einzelnen Richtungen des geseUschaftiichen
Lebens zu konstatieren. So weit wir zu-
Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
213
rückblicken, so weit wir analysieren mögen,
es wird sich uns immer mir ein Nebenein-
ander, nie ein Nacheinander zeigen. Man
mag vielleicht, wie es Schopenhauer that,
den ganzen Begriff der Wechselwirkung als
ein logisch^ Unding ansehen und behaup-
ten, dass irgendwo ein Anfangspunkt für
den Kausalnexus vorhanden sein müsse, aber
kdnesfalls lässt sich ein solcher wissenschaft-
lich bestimmen. Die Hypothese hat hier freies
Spiel, und keiner kann dabei so leicht dem
anderen ein vaxagov ngoragov vorwerfen.
Von einigen besonderen Spielarten der
GeseUschaftslehre können wir hier absehen.
Die des Anarchismus hat in diesem H.W.6.
eine eingehende Würdigung erfahren. Früher
würde man von ihr gesagt haben: sie ver-
neint nicht nur die Yerbindlichkeit des
Staatsvertrages, sondern auch die des Gesell-
schaftsvertrages. Mit ihr verwandt ist
jene Auffassung, die in der Gesellschaft
und vollends im Staate niu" einen auf Ge-
waltverhältnissen beruhenden Verband sieht.
Die Bedeutung jener Verbände, denen ihr
Zweck von aussen durch den Willen eines
einzelnen, eines Herrn, gesetzt ist, hat
man auch bisher nie verkannt; auch die
Thatsache, dass innerhalb eines äusserlich
fiiedlichen Zustandes ein beständiger Kampf
um Macht mit gesetzlichen Mitteln statt-
findet, ist von der Zeit der Entstehung der
Nationalökonomie her genugsam anerkannt.
3. Der Frage nach der Möglichkeit
einer Gesellschaftslehre und sozialer
Gesetze. Die Abstraktion »Gesellschaft«
hat sich uns, so oft sie auch gemissbraucht
wird, als wissenschaftlich verwendbar, in
gewissem Sinne sogar als unentbehrlich ge-
zdgt. So oft wir dieses Wort gebrauchen
oder von Gesellschaftswissenschalten reden,
zeigen wir damit an, dass eine Vereinzelung
des besonderen Problems, das wir gerade
betrachten wollen, nicht möglich sei, dass
wir es in Beziehung zu anderen Aeussenmgen
des geistigen Lebens und als Teil einer
Massenersdieinung betrachten müssen. Um
diesen Zusammenhang uns denkbar machen
zu können, müssen wir aber einen gemein-
samen Tr^^er dieser Eigenschaften uns vor-
stellen, diesen nennen wir Gesellschaft.
Der Einzelmensch ebenso wie der Staat und
die Kirche sind konkrete Grössen, zumal sie
einen Willen, den Ausdruck der Persönlich-
keit haben, sogar eine bestimmte Volks-
menge,deren äussere Veränderungen wir beob-
achten, ist, obwohl ohne eigenen Willen, doch
eine konkrete Grösse, aber die Gruppen, die
wir als Träger gemeinsamer Gefühle,
Ideeen, Interessen konstruieren, sind es
nicht. Eine Gruppe von Interessenten wird
es z. B. erst diu-ch ihre Konstituierung als
Verband. Jene gemeinsamen d. h. weit-
verbreiteten Gefühle, Ideeen, Interessen
sind aber vorhanden, sie sind Massener-
scheinungen, sie machen sich als Ursachen
anderer Vorgänge geltend, sie werden be-
ständig modifiziert durch andere Gefühle
u. s. w.; wir können also gar nicht umhin,
ihnen Subjekte zu leihen und, da sie alle
zusammenhängen, diese Subjekte zu einem,
der Gesellschaft, zu vereinigen. Gesellschaft
ist eine brauchbare Allgemeinvorstellung,
ein Hilfsbegriff. Falsch ist jede Verwendung
des Begriffes, sobald man sich durch dieses
Zauberwort einer weiteren Untersuchung des
Kausalzusammenhanges überhoben glaubt. Er
ist dann ein »idolum fori« imd um nichts
besser als ^twa in der Metaphysik der Be-
griff »Substanz«.
Unrichtig ist es deshalb, die Gesell-
schaftswissenschaft in einen Gegensatz zu
den Staatswissenschaften zu bringen, da
doch gerade diese die soziale Behandlung
am meisten bedürfen, d, h. jede Erschei-
nung des Staatslebens in ihrem Zusammen-
hange mit den anderen Erscheinungen des
Kulturlebens erfassen müssen. Indem wir
die fortwährende Wechselwirkimg aller
historischen Erscheinungen unter einander
anerkennen, verzichten wir gerade darauf,
sie alle unter einem Gesichtspunkte zu be-
trachten, sie mit einerlei Methode zu er-
fassen, einerlei Kraft in allen mächtig zu
sehen. Eine Gesellschaftswissenschaft, die
dies versuchen will, ist ein Unding, zu-
mal wenn sie glaubt, mit fertigen Bau-
steinen schalten und walten zu können.
Allerdings kann eine Orientiening über den
Zusammenhang der Einzelwissenschaften
von Massenerscheinungen, eine von gleichen
Principien getragene Zusammenfassung
ihrer Ergebnisse, wenn sie von einem be-
deutenden Kopfe gehandhabt wird, frucht-
bar werden; es können aus ihr neue Ge-
sichtspunkte entspringen. Jedenfalls ist es
aber his auf weiteres wünschenswerter,
dass innerhalb jedes Gebietes jede Einzel-
arbeit stets im Hinblick auf die Gesamtheit
der Erscheinungen aus^führt werde, als
dass an einem einheitlichen, aber luftigen
Gebäude allzuviel gearbeitet werde.
Unzweifelhaft hat aber der Ausbau einer
besonderen Gesellschaftswissenschaft seit
Gomte einerseits, seit Marx andererseits das
Gute gehabt, dass die Einzelwissenschaften,
die sie umfassen, die Philosophie, die sie
ersetzen wollte, sich genötigt sahen, ihre
Grundbemffe und Methoden einer sorgfäl-
tigeren Betrachtung, teilweise einer Revi-
sion zu unterziehen. Eine eigene Methodo-
logie der Geisteswissenschaften ist eigent-
lich erst seit dieser Zeit entstanden. Eine
solche Selbstprüfung ist der Wissenschaft
wie dem einzelnen von Zeit zu Zeit zuträg-
lich ; niu* muss sich ihr Erfolg darin äussern,
dass man sich der eigenen Kraft besser be-
214
Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
wiisst werde und sie in Thaten kundgebe;
anderenfalls wird die Selbstprüfung lähmende
SelbstgröbeleL Die Geschichte und Kritik
der einzelnen Methoden ist teilweise schon
oben gegeben; hier sei noch zusammen-
fassend bemerkt : Es besteht ein gnmdsätz-
licher Gegensatz zwischen den Methoden
der Natur- und der Geistes- oder Gesell-
schaftswissenschaften^ der daher rührt, dass
ihre Gegenstände unserem Bewusstsein in
durchaus verschiedener Weise gegeben sind.
Wundt, und von ihm bestimmt Lamprecht
und Barth suchen neuerdings diese Metho-
den einander wieder möglichst zu nähern.
Sie betonen, dass die Forschujigsweise —
Analyse, Synthese, individuelle und gene-
rische Vergleichung — übereinstimmt, dass
ihi'er beider Ziel ist, Urteile zu bilden, die
auf das Gemeinsame, Typische gehen. Das
ist unzweifelhaft richtig; denn diese logi-
schen Operationen sind überall nötig, wo
wir ein Mannigfaltiges, Zusanmiengesetztes
begreifen wollen. Aber eine Hauptsache
ist übersehen: die Verschiedenheit der An-
schauung des Gegenstandes ist vernach-
lässigt. Von äusseren Naturgegenständen
haben wir eine objektive, diu-ch die Sinne
vermittelte Anschauung, vom Kausalzu-
sammenhang der Natiu-erscheinungen können
wir uns sachlich durch eine Gegenprobe,
das Experiment, überzeugen, fremde geistige
Vorgänge aber — gleichviel ob es indivi-
duelle oder ob es Massenerscheinungen sind — ,
müssen wir erst diu-ch Anempfindung in
uns rekonstruieren und alsdann müssen
wir verschiedene solcher Eindrücke als
Einheit empfinden, zu einem Bilde, einer
Anschauung komponieren. Dem Historiker,
dem Ethnologen, selbst dem Naüonalöko-
noraen ist sein Stoff, — der einzelne Mensch,
die Gruppe, das Volk, der wirtschaftliche
Vorgang nur gegeben, indem er ihn in
sich künstlerisch gestaltet, ihn anschaut.
Alle Geisteswissenschaft, zumal
die Geschichte, ist Kunst, nicht
etwa darum, weü sie die künstlerische
Form nicht entbehren kann, was nur der
letzte Absclüuss sein würde, sondern weil
schon ihr Grundmaterial ihr nur durch die
Phantasie, durch die selbstgebildete An-
schauung gegeben sein kann. Auch die
Verstandeskritik dient doch immer nur
dazu, die einzelnen Bestandteile, die zur
Anschauung zusammentreffen sollen, zu
prüfen und zu sichten. Deshalb kommen
diese Wissenschaften nie zur objektiven,
sondern immer nur zur künstlerischen Wahr-
heit, und es ist gar nicht die Aufgabe des
Forschers, seine Subjektivität zurückzudrän-
gen, sondern nur sie ins Grenzenlose zu er-
weitern, »die Welt in sich zurückzuschlin-
gen,« Mitgefühl mit dem Gesamtzusammen-
hang der Erscheinungen ist alles. Für den
Naturforscher wird in einer solchen Er-
fassung der Vorgänge immer ein Rest von
^evSos im Sinne der Griechen bleiben, die
Vertreter der Geisteswissenschaften mögen
sich über diesen Mangel damit trösten, dass
sie die Kräfte, deren Wirkungep sie unter-
suchen, von innen heraus verstehen, wäh-
rend die Kräfte der Natiu* an uns fremd
von aussen herantreten und ihr eigentliches
Wesen uns verschlossen bleibt. (S. oben
die Bemerkungen zu dem System Diltheys.)
Man hat nun gemeint — mit besonderer
Entschiedenheit thut es Lamprecht — , dass
nur das Irrationale und Singulare, d. h. hier
das Reich des praktisch-freien Willens, durch
die künstlerische Anempfindung erfasst
werde, dass diese individualistische Metliode
immer nur eine Ergänzung der kollektivisti-
schen sei, der aliein das Reich des Rationalen,
das dem Kausalitätsgesetze untersteht, zu-
gänglich ist. Allein zunächst untersteht
auch für unsere Erkenntnis das Reich der
Wülensäusserungen in der Erscheinung, wie
gerade Kant kräftig betont, diuxjhaus dem
Kausalitätsgesetz, wir können dieses nur um
der Kompliziertheit des Vorganges nicht im
einzelnen genau aufweisen, sodann gUt, wie
eben auseinandergesetzt wurde, die Möglich-
keit der Erkenntnis geistiger Vorgänge durch
die Mitempfindung allgemein und ausschliess-
lich. So viel ist richtig, dass auf die Anschauung
gleichartig und gleichmässig sich wieder-
holender Vorgänge die Möglichkeit der Ab-
straktion, der Typenbildung und besten Falls
der Begriffsbildung, ebenso wie die der Ana-
lyse sich gründet ; aber selbst in der Betrach-
tung der Bevölkerungsbewegimg, wo uns die
relativ grösste Regelmässigkeit begegnet, wo
die Vorgänge selbst, Geburt und Tod,
Naturvorgänge sind, müssen wir doch ihren
inneren Zusammenhang, sofern er sich auf
psychische (d. h. soziale, massenpsychologi-
sche) Thatsac».hen gründet, von innen heraus
begreifen. Vollends alle anderen wirtschaft-
lichen Vorgänge, ebenso die der Sitte wollen
gedeutet sein, um richtig erfasst zu werden.
Das wissenschaftliche Interesse geht
immer dahin, Massenerscheinungen zu kon-
statieren und sie in ilu*en Gründen zu be-
greifen. So viel man theoretisch gestritten
hat, wie weit Empfindungsleben und Hand-
lungsweise des einzelnen mit unter die Massen-
ersclieinung fällt und wie weit es schöpfe-
risch ist, so wenig hat man doch in der
Praxis, namentlich der Geschichtschreibimg,
jemals gezweifelt, dass es die Hauptaufgabe
sei, diese Wechselwirkung des Allgemeinen
und des Besonderen darzustellen. Wie die
Abrechnung im einzehien ausfällt, ist nicht
im voraus auszumachen, da im Individuum
etwas ünfassbares übrig bleibt, und weil
gerade hier auch die individuelle Anschau-
ungsweise des Beobachters in ihr volles
Gresellschalt und GeseUschaftswissenschaft
215
Becht tritt. Abzulehnen ist also nur die Auf-
iassung, die im Individuum nichts als das
.willenlose Produkt der umstände sieht. Auch
die grossen Genies sind zwai* von dem Be-
wusstsein getragen worden, dass sie die
iFordenmgen der Zeit ausgeführt haben,
aber auch von dem, dass nur sie im stände
hierzu waren. Die Umstände liefern das
Problem, das Individuum löst es. Jeder
neue Gedanke entsteht zuerst in einem In-
dividuiun, wird alsdann der Erwerb von
Gruppen und zuletzt Gemeingut, d. h. Besitz
einer Majorität.
Verwandt mit dieser Frage, aber schwie-
riger als sie ist die weitere nach dem Wesen
des Zufalls, und wie neben diesem Regel-
mässigkeit und Gesetzmässigkeit, also auch
Wissenschaft bestehen köonen. Die Logiker
und Statistiker haben meistens den Zufall
niu" in so weit behandelt, als er die Ab-
weichimg von der Regel darstellt; es
gleichen sich diese Abweichungen, da sie
selber er^rungsgemäss sich regelmässig
verteilen, bekanntlich bei einer genügend
grossen Anzahl von Fällen aus. Für die
historischen Wissenschaften reicht diese Be-
trachtung des Zufalls aber nicht aus; der
ZufeJl, der in ihnen eine massgebende Rolle
spielt, geht weiter. Es ist eines der Ver-
dienste Rümelins, auch diesen Begriff in
einer für uns einstweilen ausreichenden
Weise behandelt zu haben.. Er zeigt näm-
heh, dass der Zufall ganz wolü unter dem
ausnahmslosen Eausalnexus aller Erschei-
nungen; der ja für uns eine Denknotwendig-
keit ist, bestehen kann. Es stossen näm-
lich beständig Kausalreihen, die von ein-
ander unabhängig sind, auf einander,
physische und geistige ebenso wie geistige
unter einander. Dadurch werden unablässig
neue Kausalreihen eröffnet, die sich keines-
wegs nach kurzem totlaufen, sondern immer
weiter wirken. Diese ünberechenbarkeit
der Kombination nennen wir Zufall. Man
kann also mit demselben Rechte erklären:
»Alles ist zufällig« wie »Alles ist gesetz-
massig«. Diese beiden Sätze sduiessen
einander nicht aus.
Wenn man also von sozialen oder histo-
rischen Gesetzen verlangt, dass die Ereig-
nisse in einer bestimmten, womöglich im
voraus zu bestimmenden Reihenfolge ein-
treten und sich ebenso wiederholen, so
würde eine solche Forderung an die »Ge-
setzmässigkeit« durchaus unbillig sein. Ge-
setzmässigkeit dieser Art giebt es auch in
der Natur nicht, weil auch in jeder ihrer
Erscheinungen, selbst das isolierende Experi-
ment nicht ausgeschlossen, die Bedingungen
einander kreuzen und deshalb keine völlig
der andern gleicht.
Unter Naturgesetzen versteht man jetzt
gewöhnlich die einfachsten, einstweilen nicht
weiter zerlegbaren Erfahrungstliatsachen, aus
denen sich die verwickelbaren Erscheinungen
zusammensetzen, wälirend man die Erklä-
rung der Wirkungsweise oder des Kausal-
zusammenhanges lieber als Theorie resp.
als Hypothese bezeichnet. Doch wird man
wohl die Art, wie sich die Grundthatsachen
kombinieren und dadurch komplizieren, ihre
Wirkungsweise nennen und sie selber als
grundlegende Ursachen oder Kräfte auf-
Mtösen dürfen. Es scheint nicht wünschens-
wert, die Bc^ffe Gesetz und Kausalität von
einander zu trennen. In diesem Sinne würde
man zu einem sozialen Gesetz gelangen, so-
bald ein einfacher, psychischer oder mate-
rieller Thatbestand ermittelt wird, der, wo
er in den Wechselbeziehungen der 3Ienschen
unter einander, auftritt, von gleichen Folgen
begleitet ist. Gesetze konstatieren die Regel-
mässigkeit der Wirkungsweise wiederkeh-
render Ursacheo. Diesem Begriff wiixi z. B.
das Thünensche Gesetz völlig entsprechen:
eine bestimmte Ursache, die Ortsentfernung
resp. Verkehrsschwieidgkeit zwischen Pro-
duktionsplatz und Markt, übt auf die Preis-
bildung und durch diese auf die Gestaltung
der Produktion einen genau zu bestimmen-
den Einfluss aus. Es würde irrig sein, zu
verlangen, dass irgendwo die Gestaltung der
Produktion dem Thünenschen Schema genau
entspreche, da ja sowohl die Preisbildung
als auch die Produktion noch von vielen
anderen Bestimmungsgründen abhängen, und
zum Wesen eines Gesetzes genügt. es aber
auch, dass die Wirkimgsweise des einen
Faktors, die man festlegen will, bestimmt
wird. In diesem Falle kann sogar die Wir-
kungsweise der Ursache quantitativ genau
bestimmt werden, wenn sie dies selber ist.
Als allgemeine Fordemng lässt sich solche
quantitative Exaktheit nicht aufteilen, weil
man dann von vom herein auf alle psycho-
logisch-sozialen Gesetze verzichten müsste.
Unzweifelhaft ist in der Praxis die Be-
rufung auf gesellschaftliche oder wirtschaft-
liche Gesetze oft zu Unrecht erfolgt und
hat nicht selten Unheil gestiftet. Die Gründe
hierfür sind dieselben Quellen des Irrtums,
die auch in den übrigen Wissenschaften
häufig zu falschen oder unvollständigen For-
mulierungen geführt haben. Laienhait plump
ist die Verwechslung eines wissenschaftlichen
Gesetzes, das die Ursachen von Handlungen
ergründen will, mit einem Gesetzesgebot,
das selber die Ursache von Handlungen wer-
den will. Nicht viel besser ist das Miss-
verständnis, als ob die Einzelerscheinung
einem einzigen Gesetze allein unterstehe,
wie es sich z. B. in der übertriebenen An-
wendung des sogenannten Gesetzes der Ar-
beitsteilung äussert Hierher gehört auch
die Ueberschätzung, wonach man die Wir-
kung eines einzelnen Faktors für allein aus-
216 Gresellschaft und Gesellschaftswissenschaft— Gesellschaften m. beschr. Haftung
schlaggebend hält, z. B. in Malthus' Bevöl-
kerungsgesetz und Ricardos Grundrenten-
gesetz, das sozusagen nur sekundäre Rich-
tigkeit habe. Ferner hat man öfters auch
unsicheren Hypothesen den Rang von Ge-
setzen zugeschrieben, z. B. in der Zurück-
führung des Wertes allein auf Arbeitsquao-
titäten, oder auch geradezu falsche Kausal-
erklärungen wie die Quautitätstheorie so
benannt. Endlich hat man sehr gewöhnlich
feststehende, einfache Ursachen angenommen,
wo diese in der That verschiebbar und zu-
sammengesetzt waren. In diesem FaUe hat
man feste Gesetze untergeschoben, wo man
nach Entwickelungsgesetzen hätte suchen
sollen. Dies ist fast der gewöhnliche Fall
bei den psychologischen Erklärungen, z. B.
der Zurftckführung aller im Wirtschaftsleben
wirkenden Seelenkräfte auf den wohlver-
standenen Eigennutz.
Der Missbrauch hindert nicht, dass wir
in der Wissenschaft von den Wechselbe-
ziehungen der Menschen Gesetzmässigkeit
anerkennen und zu erforschen suchen. Mit
der blossen Beschreibung, sei sie statistisch,
sei sie historisch, ist nur Anschauungsstoff,
aber keine Erkenntnis gegeben. Diese be-
Mint überall erst mit der Einsicht in den
JoLausalzusanmienhang. Dass bisher niu* ein
geringer Bestand solcher Erkenntnis von
den sozialen Beziehungen der Menschen, von
den Massenerscheinungen ihres wirtschaft-
lichen und höheren geistigen Lebens vor-
handen ist, muss anerkannt werden, braucht
aber die Arbeit an der Vermehrung dieses
Bestandes nicht zu entmutigen.
E. Gotfiein,
Gesellschaften mit beschränkter
Haftung.
1. Bestrebungen zur Reform des Gesell-
Bchaftsrechts. 2. Charakteristik. 3. Zweck.
4. Errichtung. 5. Organisation. 6. Das Ge-
sellschaftsvermögen. A. Das Stammkapital.
B. Nachschttsse. 7. Der Geschäftsanteil. 8. Der
Anteil am Gewinne. 9. Die Auflösung und Nichtig-
keit der Ges. m. b. H. 10. Die Umwandlang
von Aktiengesellschaften in Ges. m. b. H. 11.
Verbreitung. 12. Kritik.
1. Bestrebungen znr Reform des Gre-
sellschaftsrechts. Die Vielgestaltigkeit
der Verhältnisse des modernen Handels-
und Gewerbebetriebes hatte in den beteDigton
Kreisen die Ueberzeugung befestigt, dass die
durch das bürgerliche Recht und die Han-
delsgesetzgebung Deutschlands dargebotenen
Rechtsfonnen ftlr die Beteiligung mehrerer
Personen an einem geschäftlichen Unter-
nehmen nicht ausreichten. (Vgl. d. Art.
A k t i e n ge se 1 1 s chaf t en (Volkswirtscliaft-
liehe Bedeutruig) oben Bd. I, S. 188.) Dem
Verlangen nach neuen Gestaltungen imseres
Gesellschaftsrechts wurde schon im Reichs-
tag bei der Beratung der Aktiennovelle v.
18. Juli 1884, sodann in den Reichstags-
verhandlungen (Meyer-Jena, Hammacher,
Oechelhäuser) und in der juristischen Litte-
ratur (Ring, Deutsche Kolonialgesell-
schaften, Berlin 1887, und Veit Simon,
Deutsche Kolonialaktiengesellschaften in
Goldschmidt, Zeitschrift für Handels-
recht, Bd. 34) gelegentlich der Erörterung
der juristischen Regelung unserer Kolonial-
gesellschaften Ausdruck verliehen.
Seitens der Vertretungsorgane des Han-
delsstandes wurde darauf hingewiesen, dass
gerade die Beschwerden über eine miss-
bräuchliche Benutzung der Rechtsform der
Aktiengesellschaften vielfach darin ihren
Grund hätten, dass die Ausbildung unseres
Gesellschaftsrechts nicht gleichen Schritt
gehalten mit der Entwickelung des modernen
V erkehrslebens. Der Rahmen des Gesell-
schaftsrechts sollte weiter gespannt werden,
um den einzelnen die Beteiligung an ge-
meinschaftlichen Handels- und Industne-
unternelimimgen nicht nur mit Kapital, son-
dern auch mit ihrer Intelligenz, mit ihrer
Arbeitskraft, aber mit Beschränkung ihrer
Haftpflicht zu ermöglichen.
Von den vorhandenen Gesellschaften legen
die Kommandit- und die stille Ge-
sellschaft mindestens einem Gesellschafter
eine unbeschränkte Haftung auf, schliessen
aber die persönliche Thätigkeit des Kom-
manditisten bezw^. des stillen Gesellschafters
aus. Im Gegensatz zur Absicht des Gesetz-
gebers wirken Komplementare bezw. Ge-
schäftsinhaber vielfach nur als Strohmänner.
Das Princip der freien gegenseitigen Kün-
digung im Widerspruch mit dem auf den
Fortbestand der Gesellschaft gerichteten
Wünschen der anderen Gesellschaft wirkt
hier oft störend.
Die Aktiengesellschaften sind
ihrer ganzen Stniktur nach nur geeignet
für die Vereinigung grösserer Kapitalien,
wie sie auch auf die Beteiligung einer
grösseren Zahl wechselnder Mitglieder an-
gelegt sind. Da aber die Form der Aktien-
gesellschaft die einzige war, welche die
Vereinigung mehrerer Personen zur Errei-
chung eines jeden gesetzlich erlaubten
Zweckes mit Beschränkung der Haftung der
Teilnelimer auf ihren Anteil zuliess, so be-
diente man sich ihrer auch für Unterneh-
mungen mit geringem Kapital und einer
begrenzten Anzahl von Teilnehmern und
für wnrtschaftliche und soziale Zwecke, für
welche diese Gesellschaftsform wenig ge-
eignet erschien, z, B. für studentische Kor-
porationen behufd Erbauung eines Hauses,
für religiöse der Krankenpflege gewidmete
Vereine, nur aus dem Grunde, weil eben
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
217
eine andere Rechtsfonn, die eine Beschrän-
kung der Haftung auf einen bestimmten
Betrag zuliess, nicht vorhanden war. Ferner
erschwerten auch die durch die Aktiennovelle
von 1884 eingeführten Schutzvorschriften
die Anwendung der Aktiengesellschaften für
eine Reihe von Unternehmungen, da die
vorgeschriebenen Veröffentiichungen beson-
ders auch der ausländischen Konkurrenz
einen freien Einblick in die Grundlage und
den Betrieb des Unternehmens gewährten.
Der verwickelte und kostspielige Apparat
der Aktiengesellschaften ist überhaupt für
kleinere Unternehmungen nicht zweckmässig.
Aber auch die Genossenschaften
mit beschränkter Haftpflicht reichen,
da sie nur für die durch das Genossenschafts-
gesetz vorgesehenen Zwecke, Förderung des
Erwerbs und der Wirtschaft ihrer Mitglie-
der, zulässig sind, für viele Vereinigungen
nicht aus, ganz abgesehen davon, dass auch
hier die Möglichkeit des freien Austritts
der Mitglieder hemmend wirkt.
Wenn auch die Ausbildung der neuen
Gesellschaft in Anlehnimg an die bergrecht-
liche Gewerkschaft im Sinne des preus-
sischen Berggesetzes v. 24. Juni 1865 ange-
strebt wurde, so sprach doch gegen eme
einfache VeraUgemeinerung dieser Gesell-
schaftsform die Gefeihr eines Missbrauchs
des Rechts der Mehrheit zur Einforderung
von Zubussen, während die zum Schutze
der Minderheit aufgestellten Kautelen wohl
für den Bergwerksbetrieb mit seinen altbe-
währten Einrichtungen, nicht aber für andere
Industriezweige genügten.
Leitstern der Reformbewegimg war die
Anerkennung des Princips der beschränkten
Haftimg auch f(ir individualistische Gesell-
schaften von der Art der offenen Handels-
gesellschaft, denn die unbeschränkte Solidar-
haft, auf welcher diese aufgebaut war,
schreckte viele von einer Beteiligung an
wirtschaftlichen Unternehmungen in dieser
Form ab. Kapitalkräftige Personen bevor-
zugten solche Gesellschaftsformen, bei denen
ihr Risiko ein ziffermässig begrenztes war.
So drängte die Förderung unseres Wirt^
schaftslebeus zur weiteren Ausbildung des
Princips der beschränkten Haftung im mo-
dernen Gesellschaftsrecht.
Man konnte zur Erhärtung des Bedürf-
nisses auf England verweisen, wo Tausende
von limited companies auch für Geschäfte
von geringem Umfange begründet worden
waren, und zwar, um diese auf die Grund-
lage der beschränkten Haftung stellen zu
können, formell als Aktiengesellschaften, in-
dem man, um die gesetzlich erforderliche
Anzahl von 7 Mitgliedern zu sichern, 3 — 4
als Strohmänner sich nur mit einer Aktie
von je 1 £ beteiligen liess.
Auf Anfrage des preussischen Handels-
ministers V. 20. April 1888 konnte dann der
Ausschuss des Deutschen Handelstags auf
Grund der von den Handelskammern und
kaufmännischen Korporationen erstatteten
Gutachten erklären, dass in den Kreisen des
Handels und der Industrie die Einführung
neuer Rechtsformen in das bestehende Ge-
sellschaftsrecht als ein drin^ndes Bedürfnis
anerkannt und eine Befriedigung dieses Be-
dürfnisses durch Zulassung der »Errichtung
von individualistischen und kollektivistischen
Gesellschaften auf der Grundlage der in
Anteile zerlegten Mitgliedschaft und der
beschränkten Haftbarkeit der Mitglieder«
durch die Gesetzgebung empfohlen werden.
Dabei wurde der wesentliche Unterschied
dieser beiden Gesellschaftsformen darin er-
blickt, dass die individualistischen den
Wechsel in der Person der Gesellschaften
als den Ausnahmefall, die kollektivistischen
dage^n als Regel betrachten, so dass die
Anteilsrechte der ersteren nicht an den
offenen Markt gebracht würden.
Für besonders geeignet erklärte man die
Form der Gesellschaften mit beschränkter
Haftung für gewerbliche Betriebe, deren
Fortffihrung nach dem Tode des Eigen-
tümers innerhalb der Mitglieder der Famüie
beabsichtigt werde, und sodann für solche
Unternehmungen, bei welchen den einzelnen
Beteiligten andere als Kapitalleistungen auf-
erlegt wurden, z. B. Rübenlieferungspflicht
bei Zuckerfabriken.
Die von dem AeltestenkoUegium der
Berliner Kaufmannschaft ausgearbeiteten
Gnindzüge für die Form einer Gesellschaft
mit beschränkter Haftpflicht fanden im
wesentlichen die Billigung des Ausschusses
des Handelstages.
Auf dieser Grundlage wurde vom Reichs-
justizamte im Dezember 1891 ein Gesetz-
entwurf veröffentiicht , dessen Grundsätze
vom Deutschen Handelstage mit freudiger
Zustimmung be^üsst wurden. Mit einer
Reihe von Modifikationen wurde er vom
Bundesrate und Reichstag angenommen und
als Reichsgesetz betreffend die Gesell-
schaften mit beschränkter Haftung v. 20.
April 1892 veröffentiicht
Aenderungen zu diesem Reichsgesetz
(besonders über Form der Anmeldung und
Eintragung, Nichtigkeitserklärung, Fort-
setzung der durch Konkurseröffnung aufge-
lösten Gesellschaft ra. b. H.) brachte Art. 11
(I — XXni) des Einführungsgesetzes zum
H.G.B. V. 10. Mai 1897. Sie waren zum
grössten Teil durch die Vorschriften des
neuen H.G.B., zum geringen Teile durch das
B.G.B. bedingt oder enthielten Ergän-
zungen. Der Reichskanzler hat auf Grund
einer ihm im Art. 13 des Einführungsge-
setzes zum H.G.B. erteilten Ermächtigung
den Text des Reichsgesetzes betreffend Ge-
218
Gresellschaflen mit beschränkter Haftung
•Seilschaften m. b. H. in der v, 1. Januar
1900 geltenden Fassung im ß.G.BL 1898
Nr. 25 (S. 846 ff.) bekannt gemacht
2. Charakteristik. Die Gesellschaft mit
beschränkter Haftung gehört zu den Handels-
gesellschaften im Sinne des H.G.B., auch
^enn der Gegenstand des Unternehmens
nicht in Handelsgeschäften besteht. Alle
Eechte und Pflichten der Kaufleute, insbe-
sondere die Pflicht zur kaufmännischen
Buchführung finden auf sie Anwendung.
Im Gegensatz zu den Vorschlägen des
Handelstags hat das Gesetz die Gesell-
schaften mit besclu^nkter Haftung nicht auf
der streng individualistischen Grundlage
der offenen Handelsgesellschaft aufgebaut,
sondern sie mehr als Kapitalsassociation ge-
dacht und den kollekti\4stischen Charakter
derart ausgeprägt, dass man sie als eine
Unterart der Aktiengesellschaft bezeichnen
darf. Sie erscheint daher wie diese als
juristische Person, als Korporation (selb-
ständiges Rechtssubjekt § 13, Vertretung
durch Geschäftsführer, ausschliessliche Haf-
tung des Gesellschaftsvermögens für die
Verbindlichkeiten, korporationsähnliche Or-
ganisation).
Immerliin bestehen wesentliche Unter-
schiede gegenüber der Aktiengesellschaft,
von denen nur einige hervorgehoben werden
sollen.
Da die Gesellschaften mit beschränkter
Haftimg nur auf eine beschränkte Anzahl
von Teilnehmern berechnet sind, so konnte
man von den eine Sicherung der Interessen
des grossen Publikums bezweckenden Kau-
telen der Aktiengesetzgebung absehen. Es
fehlen daher die für die Aktiengesellschaften
aufgestellten formellen Vorschriften über
den Gründungshergang und die Verantwort-
lichkeit der einzelnen Organe für diese, die
zwingenden Normen über die Aufstellung
und Veröffentlichung der Bilanzen — nur
für die Bankgeschäfte betreibenden Gesell-
schaften mit beschränkter Haftung ist eine
solche vorgeschrieben. Der Aufsichtsrat ist
hier kein notwendiges Organ. Während die
Aktionäre nur bis zum Betrage der Aktien
haften, herrscht bezüglich des Geschäfts-
kai)itals der Gesellschaften mit beschränkter
Haftung eine grössere Beweglichkeit, indem
die Gesellschafter statutarisch zur Zahlung
von Nachschüssen verpflichtet werden können.
Zur Sicherung des Grundkapitals ist im
Interesse der Gläubiger den Gesellschaftern
eine solidarische Haftung für die vollständige
Einzahlung des Stammkapitals seitens der
übrigen Gesellschafter sowie für die eine
Verminderung desselben herbeiführenden
imberechtigten Auszahlungen auferlegt.
Um die Gescliäftsanteile der Gesellschafter
dam Börsenverkehr zu entziehen, wurde
die Uebei-tragung derselben an das Erforder-
nis eines gerichtlichen oder notariellen Ver-
trags geknüpft. Auf diese Weise hoffte
man für diese Geschäftsanteile die Gefahren
auszuschliessen, welche die leichte Veräusscr
rungsmöglichkeit der Aktien für das grosse
Publikum bietet.
Endlich, während für die inneren Rechts^
Verhältnisse der Aktiengesellschaften zu-
meist zwingende Rechtsnormen massgebend
sind, werden die der Gesellschaften mit be-
schränkter Haftung durch den Willen der
Gesellschafter geregelt.
B. Zweck. Wie für Aktiengesellschaften
hat man auch für die Gesellschaften mit
beschränkter Hafttmg keine Beschränkung
der Gesellschaftszwecke eintreten lassen,
sondern neben den Zwecken wirtschaftlicher
Natur kann auch das weitere Gebiet sozialer
und gemeinnütziger Unternehmungen in
dieser Gesellschaftsform Befriedigimg finden.
Der in der Reichstagskommission gemachte
Vorschlag der Ausschliessung der Bank-
und Versicherungszwecke fand zwar keine
Annahme, veranlasste aber zur Verhütung
der für das grosse Publikum drohenden
Gefahren die bereits erwähnte Anordnung
der Veröffentlichungspflicht der Bilanzen
füi- diese Betriebe (§ 42) ; die Zulässigkeit
des Gesellschaftszwecks ist nach Öffentlichem
Reclite, insbesondere nach den Bestimmimgeu
der Vereins- und Versammlungsgesetzgebuug
zu beurteilen. Als Korrelat gegenüber der
Unbeschränktheit der Gesellschaftszwecke
wirkt die Möglichkeit polizeilicher (verwal-
tungsgerichtlicher) Auflösung der Gesell-
scliaften mit beschränkter Haftung im Falle
der Gefährdung des gemeinen Wohls nach
§ 62.
4. Errichtung. Ausgeschlossen ist die so-
genannte Successivgründung (vgl. a. a. 0. oben
Bd. I, S. 148). Der von sämtlichen — mindes-
tens zwei — Gesellschaftern zu unterzeichnen-
de Gesellschaf tsverti'ag (Statut) ist gerichtlich
oder notariell zu erricnten. Die Zahl der
Gesellschafter ist eine geschlossene; eine
Aenderung des Bestandes kann nm* durch
Veräusserung .der Geschäftsanteile oder bei
Erliöhung des Stammkapitals erfolgen. Die
Anmeldung zur Eintragung setzt voraus die
Einzahlung von V* der Stammeinlagen,
mindestens aber von 250 Mark. Erst mit
der Eintragung in das Handelsregister kommt
die Gesellscliaft mit bescliränkter Haftung
zur Entstehung.
Die Firma ist entweder Sachfirma, dem
Gegenstand des Unternehmens entnommen,
oder Namensfirma, die Namen aller oder
eines oder mehrerer Gesellschafter mit einem
das Gosellschaftsverhältnis andeutenden Zu-
satz enthaltend. Die Firma eines auf die
Gesellschaft übergegangenen Geschäfts kann
beibehalten werden. Jeder Geeellscliaftsfirma
muss der Zusatz »mit beschränkter Haftung«
Gesellschaften mit beschräokter Haftung
219
beigefügt werden. Der konsequente Staud-
punkt des Entwurfs, der nur Saehfirmen
zuliess, wurde in Hinblick auf die in Eng-
land gemachten Erfahrungen in der Reichs-
tagskommission Terlassen. Der Widerspruch
ist namentlich auffallend gegenüber der
Rrma der Kommanditgesellschaft, in wel-
cher der Name des doch haftbaren Kom-
manditisten nicht vorkommen darf.
5. Organisation, a) Das einzige not-
wendige Organ der Gesellschaft mit be-
schränkter Haftung bilden der oder die
Geschäftsführer, die aber nicht Gesell-
schafter sein müssen. Die frei widerrufliche
Bestellung derselben erfolgt in der Regel
im Gesellscbaftsvertrag, aber auch durch
Mehrheitsbeschluss der Gesellschafter. Sind
mehrere Geschäftsführer bestellt, so gilt als
Regel der Grundsatz der Kollektivverlretung,
wie auch im allgemeinen die Rechtsstellung
der Geschäftsführer der des Vorstands der
Aktiengesellschaft entspricht. Die Verire-
tungsbefugnis derselben ist Dritten gegen-
über unbeschränkbar, und gegenüber der
Gesellschaft sind sie an die statutarischen
Beschränkungen gebunden (§§ 35 ff.). Straf-
vorschriften sind hier nicht zum Schutze
der Gesellschafter, sondern zum Schutze
der Kreditgeber, denen nur das Gesellschafts-
vermögen haftet, erlassen. Strafe (bis 1 Jahr
Gefängnis imd zugleich bis 500 Mark) trifft
die Geschäftsführer wegen wissentlich fei-
scher Angaben über Einzahlung auf Stamm-
anlagen bei Gründung der Gesellschaft oder
bei Erhöhung des Stammkapitals oder "be-
züglich der Befriedigung oder Sicherstellung
der Gläubiger und wegen unwahrer Dar-
stellung und Verschleierung der Vermögens-
la^ der GeseDschaft in öffentlichen Mit-
teilungen. Wegen des letzten Delikts sind
auch Li<j[uidatoren und Mitglieder des Auf-
sichtsrats strafbar (§ 82). Nichtbeantragimg
der Konkurseröffnung bei Zahlungsunfähig-
keit oder bilanzmässiger Feststellung der
üeberschuldung der Gesellschaft macht den
Geschäftsführer. Verletzung der §§ 239 bis
241 der Konkursordnung diese oder die
Liquidatoren strafbar (§§ 64, 71, 83 f.).
b) Ein Aufsichtsrat ist nicht erforderlich.
Wird aber ein solcher eingesetzt, so hat er
die Rechtsstellung dos Aufsichtsrats einer
Aktiengesellschaft (§ 52).
c) Auch eine Generalversammlung, in
welcher der Wille der Gesamtheit zum Aus-
druck kommt, ist nicht obligatorisch. Es
werden wohl in der Regel die Beschlüsse
der Gesellschaften in der ^Versammlung«
Est, so dass diese als das allgemeine oberste
n für die Bildung des Gesellschafts-
ns erscheLut. An die Stelle der Be-
schlussfassung in der Versammlung kann
aber eine schriftliche Abstimmung treten,
sofern sich alle Gesellschafter hiermit ein-
verstanden erklären.
Den Wirkungskreis der Versammlung
bestimmt das Statut. Im Zweifel unter-
liegen den Beschltissen der Gesellschaft die
im § 47 aufgezählten Gegenstände (Fest-
setzung der Jahresbilanz, Einforderung von
Einzahlungen, Rückzahlung von Nachschüssen
etc.). Unbedingt erheischt einen Beschluss
der Gesellschafter: die Einforderung von
Nachschüssen (§ 26) sowie jede Abänderung
des Statuts.
Je 100 Mark eines Geschäftsanteils ge-
währen eine Stimme. Für die Fassung der
Beschlüsse wird in der Regel einfache Mehr-
heit der abgegebenen Stimmen gefordert.
^/4-Mehrheit der abgegebenen Stimmen ist
für Beschlüsse auf Statutenänderung und
Auflösung der Gesellschaft nötig. Dagegen
bedingt eine Erhöhung der statutarischen
Leistungen der Gesellschaft einen überein-
stimmenden Beschluss aller Gesellschafter
(§§ 47 ff.).
6. Das Gesellschaitsyermögeii. Die
Gesellschaft mit beschränkter Haftung hat
als juristische Person eigenes Vermögen.
Nur dieses Gesellschaftsvermögen haftet den
Gläubigern der Gesellschaft für deren Ver-
bindlichkeiten, dagegen besteht keine direkte
Haftpflicht der Gesellschafter gegenüber den
Gläubigern der Gesellschaft; nur der Ge-
sellschaft gegenüber sind sie zur Deckung
der Stammeinlagen und Nachschüsse ver-
pflichtet und haften auch füa die vollständige
Einzahlung des Stammkapitals.
Das Gesellschaftsvermögen setzt sich
zusammen aus dem Stammkapital und et-
waigen eingezahlten Nachschüssen.
A. Das Stammkapital ist das festbe-
stimmte Grundkapital der Gesellschaft, das
als dauernder Grundstock des Unternehmens
in seiner festgesetzten Höhe zu erhalten ist.
Unter keinen Umständen darf das zur Er-
haltung des Stammkapitals erforderliche
Vermögen an die Gesellschafter aus^zahlt
werden (§ 30 vgl. unten sub 8). Der Mindest-
betrag des Stammkapitals ist auf 20000 Mark
festgesetzt, um die Bildung nicht leistungs-
fähiger Gesellschaften mit allzu geringem
Grundkapital zu verhüten.
Das Stammkapital setzt sich zu-
sammen aus den Stammeinlagen sämt-
licher Gesellschafter, von denen keine unter
500 Mark betragen darf. Sie kann für die
einzelnen GeselLschafter in verschiedener
Höhe bestimmt werden, muss aber in Mark
durch 100 teübar sein (§ 5).
Die Rechtsfolgen des Verzugs in Ein-
zahlung der Stammeinlagen sind nach dem
Vorbilde des Aktienrechts (H.G.B. a. 219 ff.,
vgl. a. a. (). oben Bd. I, S. 150 f.) geregelt,
doch mit folgenden Abweichungen:
a) Die Gesellschaft muss die Verwirkung
220
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
(Reduziening) nicht gegen alle säumigen
Gesellschafter verfügen, sondern kann dies
nur gegen einen oder mehrere thun.
b) Androhung und Erklärung der Redu-
zierung muss durch eingeschriebenen Brief
erfolgen.
c) Die Haftung der Bechtsvorgänger der
Ausgeschlossenen ist wie im Aktienrecht
eine subsidiäre und successive (kein Sprung-
regress), doch dauert deren Haftpflicht ni(£t
2, sondern 5 Jahre.
d) Für den Fehlbetrag der Stammeinlage,
der weder durch den säumigen Gesellschafter
noch durch dessen Rechtsvorgänger noch
durch den Verkauf des Geschäftsanteils ge-
deckt ist, tritt Gesamthaftung aller Gesell-
schafter ein, der nach Verhältnis der Ge-
schäftsanteile auf diese verteilt wird (§ 20 ff.).
Dem Gesellschafter, der auf Grund der
Gesamthaftung gezahlt hat, steht ein Rück-
griffsrecht gegen den Zahlungspflichtigen zu.
B. NaohAchüsse. Um bei Bedarf
eine Vermehrung des Betriebskapitals über
den Beirag des Stammkapitals hinaus durch
Leistungen der Gesellschafter zu ermöglichen,
hat man die Nachschusspflicht, aber nur als
eine fakultative Einrichtimg eingeführt, d. h.
im Gegensatz zu den bergrechtlichen Ge-
werkschaften, wo die Zußchusspflicht eine
obligatorische ist, sollen solche ^achschüsse
(Leistungen über die Stammanteile) von den
Gesellschaftern nm* da gefordert werden,
wo das Statut dies ausdrücklich vorsieht.
Während das Stammkapital den Gläu-
bigern als Grundlage des Kredits durch
öffentliche Bekanntmachung in Aussicht ge-
stellt ist, erscheint dieser Gesichtspunkt für
die Nachschüsse nicht entscheidend. Des-
halb kann die Einfordenmg von Nachschüssen
nur auf Grund eines Beschlusses der Ge-
sellschafter stattfinden. Niu* von ihrem Er-
messen hängt es ab, ob sie von dem statu-
tarisch eingeräumten Reclite der Nachschuss-
fordenmg Gebrauch machen wollen oder
nicht. Den Gläubigern der Gesellschaft
fehlt jede Möglichkeit einer selbständigen
Einwirkung auf die p]inziehung von Nach-
schüssen, falls diese noch nicht beschlossen ist.
Der Betrag der zu leistenden Nachschüsse
ist stets nach dem Verhältnis der (iescliäfts-
anteile, also nach der Höhe der Staramein-
lagen für die einzelnen Gesellschafter zu
bemessen. Das ist der einzig zulässige
Massstab für die Festsetzung derselben.
Da die Nachschusspflicht im Statut be-
schränkt oder unbeschränkt festgesetzt wer-
den kann, so kennt das Gesetz 3 Arten von
Gesollschaften (alle mit festem Stammkapital)
a) solche ohne Nachschusspflicht,
^) solche mit unbeschränkter Nachschuss-
pflicht,
}■) solche mit besolu^nkter Nachschuss-
pflicht (unter statutaiischer Begren-
zung der Höhe der etwaigen Nach-
schüsse).
ad i^ In Bezug auf die Gesellschaften
mit beschränkter Nachschusspflicht ist zu
bemerken, dass nach dem Vorbilde des für
die bergrechtlichen Gewerkschaften ein
Abandonrecht (vgl. preuss. Berggesetz von
1865 § 130ff., bezüÄich des Abandonrechts
der Mitreeder H.GS. § 501) ausgebildet
worden ist, das jeden Gesellschafter, der
seinen Geschäftsanteil voll eingezahlt hat,
berechtigt, sich der Leistung der eingefor-
derten Nachschüsse dadurch zu entziehen,
dass er innerhalb eines Monats nach der
Aufforderung zur Einzahlung seinen Ge-
schäftsanteil zur Verfügung stellt (§ 27).
Die Gesellschaft erhält hierdurch Befugnis,
denselben in öffentlicher Versteigerung ver-
kaufen zu lassen. Aus dem Erlöse zieht die
Gesellschaft ihre Befriedigung für die Nach-
schüsse, während der erzielte üeberschuss
dem Gesellschafter, der bis zur Vollziehung
des Verkaufs noch als Inhaber der Geschäfts-
anteile betrachtet wird, ausbezahlt wird.
Ein unmittelbarer üebergang des Ge-
schäftsanteils auf die Gesellschaft tritt ein, so-
bald durch den Verkauf eine Befriedigung der
Gesellschaft nicht erzielt werden konnte ; erst
dann darf sie ihn für eigene Rechnung ver-
äussern.
Der Zurverfügungstellung des Geschäfts-
anteils durch den Gesellschafter steht die
Erklänmg der Gesellschaft gleich, dass sie
den Gescliäftsanteü als zur Verfügung ge-
stellt betrachte. Zu dieser Ei'klärung ist
die Gesellschaft befugt, wenn der Gesell-
schafter weder den Nachschuss bezahlt
noch den Geschäftsanteil innerhalb der an-
gegebenen Frist zur Verfügung stellt (§ 27).
Das Abandonrecht kann statutaiisch auf
die einen bestimmten Betrag überschreiten-
den Nachschüsse beschränkt werden.
ad y) Für Gesellscliaften mit beschränkter
Nachschusspflicht findet im Zweifel das
Abandonrecht nicht Anwendung, sondern es
wird bei Säumnis der Zahlung der Naeh-
schüsse ebenso wie bei säumiger Zalilimg
der Stammeinlagen verfahren (Kaduzierungs-
verfahren, vgl. oben sub 6 A), nur dass hier
die Haftung der übrigen GeseUschafter in
Wegfall gerät.
7. Der Geschäftsanteil. »Geschäfts-
anteil« bedeutet den Inbegriff der aus der
Mitgliedschaft fliessendeu Hechte des Ge-
sellschafters gegenüber der Gesellschaft
Der (Geschäftsanteil wird durch die Stamm-
einlage begründet, und das Verhältnis der
Beteiligung wird für jeden Gesellschafter
(\\xrch den Betrag der übernommenen Stamm-
einlage bestimmt (§ 14). Der (Jeschäflsan-
teil ist veräusserlich und vererblich. Für
Abtretung eines Geschäftsanteils und ebenso
für den obligatorischen Vertrag, durch den
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
221
sich ein Gesellschafter zur Yeräusserung
verpflichtet, ist (§ 15) gerichtliche oder
notarielle Fertigung erforderlich. Eine Ge-
nehmigung der Gesellschaft oder andere
formelle Erschwerungen können für die Ab-
tretung eines Geschäftsanteils statutarisch
vorgeschrieben werden. Eine Urkunde (ent-
sprechend der Aktie) muss über den Ge-
schäftsanteil nicht ausgestellt werden. Gegen-
über der Gesellschaft wirkt die Veräussenmg
erst auf Grund einer unter Nachweis des
Uebergangs bewirkten Anmeldung (§ 16).
Im Gegensatz zur Aktien- und Aktien-
kommanditgesellschaft ist hier eine Teilbar-
keit der Geschäftsanteile im Falle der Yer-
äusserung und Vererbung gestattet unter
der Voraussetzung schriftlicher Genehmigimg
der Gesellschaft, auf die allerdings statutarisch
für den Fall der Veräusserung an einen
anderen Gesellschafter oder der Teilung
von Geschäftsanteilen verstorbener Gesell-
schafter unter deren Erben verzichtet werden
kann. Auch jeder Teil eines Geschäftsanteils
muss durch 100 teilbar sein \md darf nicht
unter 500 Mark betragen.
Wenn das Eigentum an einem Geschäfts-
anteile mehreren Personen zusteht, so ist
nur eine gemeinschaftliche Geltendmachung
der Rechte möglich. Jeder Miteigentümer
haftet aber solioarisch für die rückständigen
Leistungen (§ 18).
Bei der Gründung der Gesellschaft kann
jeder Gesellschafter nur einen Geschäfts-
anteil übernehmen. Werden aber später
durch Veräusserung oder Erbgang m(5hrere
Geschäftsanteile in die Hand eines Gesell-
schafters vereinigt, so behält jeder seine
selbständige Existenz. Eine Verschmelzung
findet nicht statt, damit der Rückgriff an
die Vormänner offen bleibt wegen des noch
nicht bezahlten Betrags der Stammeinlage.
8. Der Anteil am Gewinne. Den Ge-
sellschaftern steht der Anspruch auf den
vollen bilanzmässigen Jahresgewinn zu. Den
Massstab der Verteilung bildet, wenn nichts
anderes bestimmt ist, die Ejoihe der Ge-
schäftsanteile. Die Auszahlung fester Zin-
sen und sogenannter Bauzinsen (H.G.B. Art.
215) ist unzulässig.
Die Zahlimg eines zu hohen Gewinn-
anteils sowie jede Zahlung, die eine Minde-
rung des Stammkapitals enthält, verpflichtet
den Empfänger zur Zurückerstattung an die
GeseUschaft. Eine Beschränkung erleidet
diese Rückerstattungspflicht zu Gunsten
des gutgläubigen Empfängers, von dem eine
Rückzahlung nur beansprucht werden kann,
sofern sie zur Befriedigung der Gesellschafts-
gläubiger erforderlich ist, eine Vorschrift,
die weit über die des Aktienrechts (H.G.B.
Art 217) hinausgeht, nach welcher die
Aktionäre zur Zahlung der in gutem Glauben
empfangenen Zinsen und Dividenden in
keinem FaDe verpflichtet sind (§§ 29 ff.).
9. Die Anflösnng nnd Nichtigkeit der
Ges. m. b. H. a) Auflösung. Die Auf-
lösungsgründe entsprechen denen der Aktien-
gesellschaft (Zeitablauf, Beschluss der Ver-
sammlung, Eröffnung des Konkursverfahrens).
Ein Auflösun^beschluss erfordert eine Drei-
viertelmehrheit der abgegebenen Stimmen,
sofern das Statut nicht andere, also auch
mildere Erfordernisse aufstellt, während für
Aktiengesellschaften statutarisch niu* eine
Erschwerung der Erfordernisse vorgeschrie-
ben werden kami.
Eine Auflösung kann ferner erfolgen
durch gerichtliches Urteil beim Vorhanden-
sein wichtiger Gründe, besonders wenn die
Erreichung des Gesellschaftszwecks unmög-
lich ist, auf Grund einer Auflösungsklage.
Das Recht zur Erhebung einer solchen steht
einer Minderheit von Gesellschaftern zu,
deren Geschäftsanteile zusammen mindestens
den 10. Teil des StammkapifcEds betragen.
Im Wege des Verwaltungsstreitverfahrens
oder (wo ein solcher nicht offen steht) durch
gerichtliches Urteil kann auf Betreiben der
höheren Verwaltungsbehöi^le eine Gesell-
schaft mit beschränkter Haftung aufgelöst
werden wegen Gefährdung des Gemeinwohls
durch Fassung gesetzwidriger Beschlüsse
oder durch wissentliches Geschehenlassen
gesetzwidriger Handlungen der Geschäfts-
führer (§ 62). Auf der Aufnahme dieser
dem § 79 des Genossenschaftsgesetzes von
1889 entsprechenden Vorschrift wurde seitens
der Regierung bei der vollständigen Freigabe
der Zwecke, zu w^elchen Gesellschaften mit
bescliränkter Haftung erachtet werden können,
besonderes Gewicht gelegt. Die Auflösung
der Gesellschaft ist, abgesehen vom Falle
der Konkurseröffnung, zur Eintragimg in
das Handelsregister anzumelden. Weitere
Auflösungsgründe können statutarisch fest-
gesetzt werden.
Die Bestimmungen über Liquidation und
Konkurs entsprechen den aktienrechtlichen.
b) Nichtigkeit. Neu in das Gesetz
eingefügt wurden in Nachbildung der §§ 309
bis 311 des H.G.B. die eine Nichtigkeits-
erklärung der eingetragenen Gesellschaft mit
beschränkter ELaftung ermöglichenden §§75
bis 77. Jeder Gesellschafter, jeder Geschäfts-
führer und eventuell jedes Aufsichtsratsmit-
glied kann auf Nichtigkeitserklärung der
GeseUschaft klagen (§§ 272, 273 H.G.B.)
beim Fehlen einer wesentlichen Bestimmung
(Firma, Sitz der Gesellschaft, Gegenstand
des Unternehmens, Betrag des Stammkapitals
und der Stammeinlage). Ein Mangel bezüg-
lich der Firma, des Sitzes und des Gegen-
standes des Unternehmens kann durch ein-
stimmigen Beschluss der Gesellschafter ge-
heilt werden.
222
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
10. Die Umwandlung yon Aktienge-
sellschaften in Ges. m. b. H. Eine Er-
leichterung dieser Umwandlung erschien er-
forderlich, da das sogenannte Sperrjahr
(H.a.B. § 301) die Fortsetzung des Betriebes
immöglich gemacht hätte.
Die Auflösung der Aktiengesellschaft
kann ohne Liquidation unter folgenden
Voraussetzungen erfolgen:
a) Das Stammkapital der neuen Gesell-
schaft darf nicht gennger sein als das Grund-
kapital der aufgelösten.
b) Die Aktien der sich beteiligenden Mit-
glieder müssen mindestens ^/4 des Grundkapi-
tals der aufgelösten Gesellschaft darstellen.
c) Der auf jeden Aktionär entfallende
Anteil an dem Vermögen der aufgelösten
Gesellschaft muss auf Gnmd einer Bilanz
berechnet sein, deren Genehmigung mit einer
Mehrheit von ^4 des in der Generalversamm-
lung vertretenen Grundkapitals erfolgt ist.
Die Beteiligung der Aktionäre an der
neuen Gesellschaft erfolgt in der Weise, dass
sie den auf ihre Aktien entfallenden Anteil
an dem Vermögen der aufgelösten Gesell-
schaft als Stammeinlage in die neue GeseU-
schaft einbringen.
Durch Universalsuccessiou geht das Ver-
mögen der aufgelösten Aktiengesellschaft
mit der Eintragung in das Handelsregister
auf • die neue Gesellschaft mit beschränkter
Haftung über.
Die Aktionäre, die sich bei dieser nicht
beteiligt haben, können von ihr die Aus-
zahlung eines ihren Anteilen an dem Ver-
mögen der aufgelösten Aktiengesellschaft
entsprechenden Betrags fordern (§§ 78 ff.).
11. Verbreitung. Die von Jahr zu Jahr
ganz beträchtlich steigende Anwendung der
neuen Gesellschaftsform zeigt am besten,
wie sehr deren Einführung einem wirtschafte
liehen Bedürfnisse entsprochen hat
Es wurden gegründet
1892 (seit 10. Mai) 63 Gesellschaften m. b. H. mit einem Stammkapital von
1893
1894
1895
1896
1897
183
254
297
376
640
n n »
n n n
n n n
n n n
« w n
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n
n
n
n
n
n
n
rt
n
n
n
n
n
n
28 864 700 M.
74500304 „
III 456 000 „
1497*11 100 „
128483700 „
136 491 300
Bis Ende 1897 gab es 18 13 Gesellschaften m. b. H. mit einem Stammkapital von . 629507 104 M.
Unter den Gesellschaften m. b. H. finden
wir die verschiedenartigsten Gebiete des
Handels und der Industrie vertreten (Banken,
Buch- und Kunsthandlungen, Plantagen- und
KolonisationsgesoUschaften, Bergwerke, Ma-
schinenfabriken, Stahlwerke, Schiffsbauan-
stalten, Werkstätten für Feinmeclianik, Bahn-,
Dampfschiftahrts- und Lagerhausgesellschaf-
ten, Steinbrüche, Cementwerke. Ziegeleien,
Glasfabriken, die verschiedenen Zweige der
Textil- und Bekleidungsindustrie, Brauereien,
Spiritusbrennereien, die chemische, Holz-,
Leder-, Papier-, Beleuchtungs-, Nahrungs-
und Genussmittelindustrie, Zuckerfabriken,
Landwirtschaftsbetrieb (Handel mit land-
wiitschaftlichen Erzeugnissen , Viehzucht,
Futtermittelfabriken), Eis- und Wasserwerke,
Hotels und Gasthäuser u. s. w.). Der Verlag
grosser Zeitungen, z. B. der Münchner Allge-
meinen Zeitimg, der Münchner Neuesten Nach-
richten, der Post, des Berliner Lokalanzeigers
August Scheri (Kapital: 62()00(X) Mark), Ber-
liner Neueste Nachrichten, das Kleine Joiu'nal,
Soziale Praxis, Frankfurter Journal, Frank-
furter Zeitung, Roman weit u. a. befinden
sich im Eigtmtum von Gesellschaften m. b. H.
Ferner wurden Bäder- und Heilanstalten,
gemeinnützige und Wohlthätigkeitsanstalten
(cliristliche Vei*einigungen, z. B. Lutherischer
Missionsverein in West-Schleswig, Volks-
wohl [katholische Vereinigung Barmen-
HeckinghausenJ, Heilsarmee in Berlin, evan-
gelisches Hospiz zu Bonn, Danziger frei-
[religiöser Verein, Arbeiterheim St. Josephs-
haus in Essen, Kleinkinderbewahranstalt
St. ßaphael in der Wiehre in Freiburg i. B.,
' Adlige Famüienstiftung zum heiligen Georg
iin Münster), Erziehungs- und Untenichts-
; anstalten, christliche VereiuvS- und Gesellen-
Ihäuser, akademische Corps- und andei-e
' Studenten häuser, Logeuhäuser, Gesellschaf ts-
' häuser und Vergnügungsetablissements in
I der Form der Gesellschaft m. b. H. be-
gründet.
Nach einer vom Centralverein der deut-
schen Gesellschaften m. b. H. aufgestellten
Statistik hatten von den bis Mitte Februar
1898 eingetragenen 1839 Gesellschaften m.
b. H. 183 Gesellschaften 20000 Mark, 342
von 20 bis 50000 Mark, 350 von 50 bis
100000 Mark, 659 2 bis 500000 Mark, 186
bis 1 MilL, 71 bis 2 IVIill., 24 bis 3 MiU.,
17 bis 5 MiU., 7 bis 10 MiU. und 1 über
10 MüL Mark Kapital. 295 Gesellschaften
m. b. H. hatten ihren Sitz in Berlin, 66 in
Hambtu*g, 62 in Köhi, 46 in Frankfurt a. M.,
in 578 Städten hatte je eine solche GeseU-
schaft ihren Sitz. Die besonders kapital-
kräftigen Gesellschaften m. b. H. dürften
zumeist sogenannte Familiengründungen zur
Erieichterung der Auseinandersetzung der
Erben sein.
12. Kritik. Man hat die gesetzliche Re-
form, die diese neue Gesellschaftsform in
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
223
unser Rechtsleben einführte, filr sehr be-
denklich gehalten. Namentlich 0. Bahr hat
sie als eine solche bekämpft, die nur dem
Schwindel zu gute kommen würde, da
durch die Zulassimg einer beschränkten Haf-
tung die Sicherheit des persönlichen Kredits
erschüttert werde. Hier wird aber die Be-
deutung der für die Gewährung von Per-
sonalkredit überhaupt in Betracht kommen-
den Eigenschaften des Kreditnehmers über-
sehen, zudem durch die veröffentlichte Höhe
des Stammkapitals doch eine für den Gläu-
biger sichere Basis der Kreditgewährung
gegeben ist, die bei dem Einzelkaufmann
und den offenen Handelsgesellschaften fehlt.
Der Zusatz der Firma »Gesellschaft mit be-
schränkter Haftimg« muss aber für jeden
vorsichtigen Kreditgeber als eine Warnung
erscheinen, sich über die Grundlage der
Kreditwürdigkeit auch durch einen Blick in
das Gesellschaftsregister zu vergewissem.
Das Princip der unbeschränkten Haftung
darf auch nicht überschätzt werden. Diese
nützt dem Gläubiger wenig da, wo der mit
seinem ganzen Vermögen haftende Schuld-
ner kein oder niu- geringes Vermögen be-
sitzt. Es wurde in Hinblick auf die Praxis
darauf hingewiesen, dass vielfach das Kon-
kursverfahren über das Privatvermögen der
Gesellschafter wegen der voraussichtlichen
Ergebnislosigkeit nicht eröffnet werde. Auch
von mehreren Handelskammern wurde her-
vorgehoben, dass beim Konkurse von offenen
Handelsgesellschaften durchschnittlich ein
sehr geringer Prozentsatz zur Verteilung
gelange. Die bisherigen allerdings nur in
einer Periode wirtschaftlichen Aufschwungs
gewonnenen Erfahrungen haben die pessi-
mistische Beurteilung der neuen Gesell-
schaftsform als durchaus unbegründet er-
wiesen. Auch die Konkursstatistik bietet
bis jetzt noch nicht hinreichendes Material
zu einer ungünstigen Berurteilung derselben.
Von Bedeutung erscheint auch der Um-
stand, dass bei den meisten Gesellschaften
m. b. H. die Geschäftsführer zugleich die
Hauptbeteiligten sind, so dass schon das
eigene Interesse zur Einschränkung des
Risikos und zur sorgsamen Geschäftsführung,
die man als Hauptwirkung der Solidarhalt
rühmt, drängt.
Für die Einzahlung und Erhaltimg des
Stammkapitals als der Kreditbasis der Ge-
sellschafter ist die Gesamthaftung aller Ge-
sellschafter eingeführt, welche die Interessen
der Gläubiger zu schützen wohl geeignet
ist, was von Bahr nicht genügend beachtet
wird.
Die Gefahr, dass nun jeder Verein, der
sich als Gesellschaft mit beschränkter
Haftung bilde, ohne Genehmigung der Staats-
gewalt die Rechte einer juristischen Person
erwerben könne, ist aber kein Novum
in unserem Rechtsleben, wie ein Blick auf
das Aktien- und Genossenschaftsrecht zeigt,
und wird durch die Möglichkeit der gericht-
lichen bezw. verwaltungsgerichtlichen Auf-
lösung wesentlich herabgemüdert. Auf die
für die Aktiengesellschaft notwendigen Kau-
telen bezüglich der Gründimg und Verwal-
tung konnte aber bei den Gesellschaften
mit bescliränkter Haftung verzichtet wer-
den, da deren Geschäftsanteile nicht als
Börsenwerte auf den Markt kommen, so
dass das grosse Publikum nicht durch deren
Besitz gefährdet werden dürfte.
Goldschmidt, der der neuen Gesellschafts-
form sympathisch gegenübersteht, mahnte
nur zur Vorsicht bezüglich der originellen
Rechtsschöpfung. Sein Vorschlag, Gesell-
schaften mit beschränkter Haftung nur zu
Handels-, höchstens Gewerbezwecken zu
gestatten, würde das Bedürfnis doch nicht
in vollem Umfange befriedigt haben. Da-
gegen hätte sein weiterer Vorschlag, Gesell-
schaften mit bescliränkter Haftung nur als
Zubussegesellschaften zuzulassen und even-
tuell den Maximalbetrag der Zubusse min-
destens auf die Hälfte des Geschäftsanteils
festzusetzen, manche berechtigte Bedenken
zu heben vermocht.
In Oesterreich denkt man im Inte-
resse der Förderung des Handels und der
Industrie an die gesetzliche Einführung
der neuen Gesellschaftsform, nachdem diese
im Deutschen Reiche eine so erfolgreiche
Ausdehnimg gefimden hat.
Litter atur: Robert Esser II, Die Gesellschaß
mit beschränkter Haftbarkeit. Eine gesetzgebe-
rische Studie, Berlin 1886, — Riesser, Zur
Revision des H,G.B. in Goldschmidts Zeitschr.
/. Handelsr., Beilageheß zu Bd. XXXIII, 1887,
S. £90f. — Deutscher Handelstag, Mit-
teilungen an die Mitglieder, Jahrg. SS, Nr. 6,
18, 19. — Mitteilungen des Vereins zur Wahrimg
der wirtschafilichen Interessen von Handel und
Gewerbe, Heft 25 u, 27. — Entwurf eines
Ges. betr. Ges. m. b. H., vorgelegt dem Reichs-
tage am 11. IL 1892 (St. Ber. über die Verhand-
lungen des Reichstags, 8. LegislcUurperiode, I.
Session 1890J92, 5. Anlageband Nr. 660). —
O. Bdhr, Gesellschaften m. b. H. im nGrenz-
bolenu 1892, Nr. 6. — L. Goldschmidtf Alte
und neue Formen der Handelsgesellschaft, Ber-
lin 1892. — K. Co8<ick, Lehrbuch des Handels-
rechts, 4. Aufl., Stuttgart 1898, S. 682 ff. — K.
Gareis f Das R.Ges. betr. Ges. m. b. H, syste-
matisch dargestellt, Berlin 1898. — Derselbe,
Das deutsche Handelsrecht, 6. Aufl., Berlin 1899,
S. 4S0ff. — J, lAibsxynskiy Das R.Ges. betr.
Ges, m. b. H, systematisch bearbeitet, Berlin
1893. — Neukamp, Die deutsche Ges. m. b. H.,
eine neue Gesellschaftsform (Zeitschr. f. Volks-
wirtschaft etc. von Böhm-Bawerk, Bd. VIII). —
i. Parisius und H, CrÜger, Das R.G. betr.
Ges. m. b. H., 2. Aufl., systematische Darstellung
und Kommentar, Berlin 1898. — Schlteck'
mann, Das Ges. über die Ges. m. b. H., Dar-
stellung dieses G. zum Gebrauch in der Praxis,
224
Gtesellschaften mit beschränkter Haftung — Gesellschaftsvertrag
Berlin 1896. — Kommentare zum R,G, betr, Ges.
m. h. H. von H, Birkenbihl (2. Aufl., Berlin 1899),
R, Esser (Berlin 1892), Ä. Förtsch (2, Aufl.,
Leipzig 1899), lÄehmann (4. Aufl. de« Kom-
mentars von Hergenhahn, Berlin 1899), MerZ'
ba^cher (München 1899), Zeller (München 1892).
— G, Cah/n, Die Ges. m. b. ff. im Gesell-
schaftsrecht, insbes. ihre Stellung z. schweizer.
Obligationenrecht, Schaffhausen 1899 (S. VI sind
Dissertationen über Einzelfragen des Rechts der
Ges. m. b. ff. eitiert). — K. Wieland, Die
Ges. m. b. ff. (Zeitschr. f. Schweizerisches Recht,
N. F. Bd. 14, S. 205 f.). — Statütik: Heiligen-
Stadt, Die Ges. m. b. ff. im Jahre 1892 und
1898 (Jahrb. f. Not. u. Stat., S. Folge, Bd. V, S. 712 ff.
u. Bd.VIII, S. 97 ff., 101<^ff.). — ffandbuch
der Ges. m. b. ff., Schumanns Verlag, Leipzig
1898. — Der deutsche Oekonomist, Jahr-
gang 1892 ff. Eduard Rosenthal»
Gesellgchaftsvertrag
(nach bürgerlichem Recht)
I. Verein. Gesellschaft. Gemein-
schaft, IL Der Geaellschaftsvertrag.
III. Pflichten und Rechte der Gesell-
schafter. 1. Die Pflichten. 2. Die Rechte
der Gesellschafter. 3. Gewinn und Verlust ins-
besondere. IV. Die Geschäftsführung. V.
Das Gesellschaftsvermögen. VI. Auf-
lösung der Gesellschaft. VII. Ver-
änderungen im Mitgliederbestande.
I. Verein. Gesellschaft Gemeinschaft
Wie der einzelne sich gewisse selbstge-
wählte Zwecke setzt, die er mit seiner eige-
nen Kraft, seinen eigenen Mitteln verfolgt, so
können auch melirere ihren Bestrebungen
nach freier Wahl einen gemeinsamen
Zweck setzen und diesen mit vereinter
Kraft, mit vereinten Mitteln verfolgen: das
Resultat einer solchen gemeinsamen Zweck-
setzung bezeichnet man als Personenver-
einigung.
Ist es dabei nicht auf das Zusammen-
wirken bestimmter Personen abgesehen,
soll die Vereinigung vielmehr den Wechsel
ihrer Mitglieder überdauern, ist sie also auf
einen fortwährenden Zu- und Abgang von
Personen zugeschnitten, so spricht man von
einem Vereine (s. dort), und man imter-
scheidet wieder Vereine mit und ohne Korpo-
ration scharakter (»rechtsfähige« imd »nicht
rechtsfähige« Vereine); w^enn dagegen die
Gründer der Vereinigimg ausschliesslich sich
selbst — und eventuell noch ihre Erben —
als Mitglieder im Auge haben, wenn sie also
lediglich unter sieh ein genossenschaftliches
Band herstellen wollen, so heisst das Re-
sultat ihres Willensentsclüusses »Gesell-
schaft«. Mit dieser allein haben w^ir es
hier zu thun. ^)
*) Weder ein Verein noch eine Gesellschaft
Wo sich Menschen in solcher Weise ver-
einigen, da pflegt es nicht auszubleiben, daas
sie Vermögen zusammenthun , um damit
ihre Zwecke zu fördern. Bei dem »Verein«
hört dieses Vermögen auf, Vermögen der
einzelnen Mitglieder zu sein, es ist fremdes
Vermögen, Vereins vermögen geworden:
am deutlichsten zeigt sich diese Wirkimg
bei den rechtsfähigen Vereinen, aber auch
bei einem nicht rechtsfähigen Vereine äus-
sert sie sich darin, dass der Austretende im
Zweifel nicht befugt ist, einen entsprechen-
den Teil des Vereinsvermögens herauszu-
verlangen. Ganz anders bei der Ge-
sellschaft. Hier bleibt das zusammen-
gebrachte Vermögen nach wie vor den Mit-
gliedern zuständig, es entsteht nur eine so-
genannte Gemeinschaft, d. h. die Rechts-
wirkung, dass gewisse Rechte mehreren
Personen gemeinschaftlich zustehen (B.G.B.
§ 741).
Eine solche Gemeinschaft kann auch
ohne ein Gesellschaftsverhältnis entstehen;
sie kann auf Zufall beruhen (z. B. die Bienen-
schwärme mehrerer Eigentümer vereinigen
sich), sie kann auf Erbfolge beruhen (Ge-
meinschaft der Miterben), sie kann auch auf
dem Willen der Beteiligten, jedoch ohne
Abschluss eines Gesellschaftsvertrages be-
ruhen (z. B. beim Aufspeichern von Ge-
treidevorräten mehrerer Interessenten in
einem Silo).
Mag der Gremeinschaft nun ein Gesell-
schaftsverhältnis zu Grunde liegen oder nicht,
in jedem Falle besteht ein Rechtsverliältnis,
und zwar ein Schuldverhältnis (Obligation)
zwischen den Teilhabern, d. h. diese Per-
sonen sind sich gegenseitig zu einem ge-
wissen Verhalten (Thim und unterlassen)
in Bezug auf das gemeinschaftliche Objekt
verpflichtet ; denn um die bei einer Gemein-
schaft besonders leicht auftretenden Strei-
tigkeiten fernzuhalten, muss durch gesetz-
liche Normen feststehen, in w^elcher Weise
das gemeinschaftliche Objekt zu verwalten
und zu nutzen ist, wie der etwaige Ertrag
und eventuell die Substanz selbst zu ver-
teilen ist u. s. f.
Hierbei zeigt sich ein scharfer Gegensatz
zwischen der Auffassung des römischen und
des deutschen Rechts.
Das römische Recht kennt nur eine
Gemeinschaft (communio) nach Bruch-
teilen (Quoten). Das beileutet, dass jeder
Teilliaber einen gew-issen Anteil an der Ge-
meinschaft und zwar als freien Bestandteil
seines Vermögens hat ; er kann diesen An-
ist die Ehe. Bei ihr handelt es sich nicht um
beliebige, freigewählte Zwecke. Ihre Entstehung,
ihre Beendigung und ihre Rechts Wirkungen
stehen unter besonderen Normen, welche grossen-
teils der Parteiwillkür entzogen sind.
Gesellschaftsvertrag
225
teil an andere Personen abtreten (verschen-
ken, verkaufen, zu Pfand geben), seine
Gläubiger können diesen Anteil pfänden, er
kann auch jederzeit Teilung des gemein-
schaftlichen Vermögens verlangen und die
Gemeinscliaft damit aufheben. Solche Ge-
staltung weist auch die römischrechtliche
Gesellschaft (societas) auf. Insbesondei-e
kann ein sodus jederzeit Aufhebung der
Gemeinschaft und Teilung des Vermögens
verlangen, aucli wenn der Gesellschaftsver-
trag auf bestimmte Zeit eingegangen und
diese vereinbai-te Zeit noch nicht abgelaufen
ist: aDerdinp wird eine derartige Hand-
lungsweise sich in der Regel als Vei'trags-
bruch charakterisieren und daher zum Sclia-
densersatze verpflichten, aber die Gesell-
schaft ist und bleibt aufgelöst. Denn die
römische societas ist nichts als ein Komplex
gegenseitiger Schuldverhältnisse, die sämt-
lich auf einem Vertrage beruhen und von
denen jedes das Vorhandensein aller übrigen
Schuldverhältnisse voraussetzt: mit dem
Ausscheiden eines einzigen socius ist daher
das gesamte Vertragsverhältnis aufgehoben
und ohne eine völlige Neugriindung kann
unter den übrigen Mitgliedern ein gleiches
Schiddverhältnis nicht existent worden.
Das deutsche Recht dagegen kennt
eine Gemeinschaft regelmässig nur in Ge-
stalt der gesamten Hand. Das heisst:
Es bestehen an dem Gemeinschaftsgute keine
selbständigen Teilrechte, über die eine ge-
sonderte Verfügung möglich wäre, viel-
mehr können — solange die Gemeinschaft
besteht — nur alle Betoiligten zusammen
(»zur gesaraten Hand«) über das Vermögen
oder über Teile desselben verfügen. Es ist
zulässig, das Recht der Teilhaber auf Auf-
hebung der Gemeinschaft und also die Tei-
lungsklage auf Zeit, ja auf ewig auszu-
schliessen, und wenn ein Teilhaber aus-
scheidet, so kann die Geraeinschaft trotzdem
bestehen bleiben, indem sein Anteil den
übrigen zuwächst Entsprechend kann auch
ein neuer Genosse in die Gemeinschaft auf-
genommen werden, ohne dass deshalb eine
gänzliche Neugründung stattzufinden hätte.
Dieser Unterschied des römischen und
deutschen Rechts erklärt sich aus der ältes-
ten und häufigsten Form der Gemeinschaft,
nämlich der Erbengemeinschaft. In Rom
pflegten die Erben — nach dem Verfall
der alten Eamilienverbände — regelmässig
sofort zur Teilung zu schreiten, die Fort-
dauer der Gemeinschaft erschien als der
abnorme FaU, und jeder Erbe behielt daher
das Recht, jederzeit die normale Gestaltung
herbeizuführen; dagegen nach altdeutscher
Sitte blieben die Miterben (die Brüder) regel-
mässig als Ganerben in der Gemeinschaft
sitzen, und nur aus wichtigen Gründen trat
ausnahmsweise eine Teilung und Auseinan-
dersetzung ein. Da aber sowohl in Rom
wie in Deutschland die freigegründete Ge-
sellschaft nur eine Nachbildung dieser älte-
ren Famüiengemeinschaft war, so erklärt
es sich leicht, dass auch bei ilu- dort die
lockere communio, hier die festgefügte ge-
samte Hand zur Anwendung gelangte.
Augenscheinlich ist jedoch die deutsche
fjsamte Hand, eben wegen ihrer solideren
onstruktion, weit besser als die römische
communio geeignet, die dauernde Verfolgimg
eines gemeinscliaftlichen Zweckes zu sichern.
Daher wird man, mag auch für andere Fälle
der Gemeinschaft die römischrechthche Form
vielleicht vorzuziehen sein, für die G e s e 1 1 -
Schaft zweifellos der deutschrechtlichen
Form den Vorzug geben. In der That hat
schon das Allgemeine deutsche Handelsge-
setzbuch die offene Handelsgesellschaft nach
den Grundsätzen der gesamten Hand ge-
staltet, und das Bürgerliche Gesetzbuch hat
auch die Gesellschaft des bürgerlichen Rechts
dem deutschrechtlichen Princip imtersteUt,
doch ist bei der offenen Handelsgesellschaft
das Princip weit energischer durchgeführt, die
gesamte Hand ist hier in bedeutsamer Weise
der korporativen Gestaltung angenähert wäh-
rend bei der Gesellschaft des bürgerlichen
Rechts die Selbständigkeit des Gesellschafts-
vermögens in engeren Grenzen gehalten ist.
Immerhin kann man auch hier von »der Gesell-
schaft« als einem selbständigen Faktor nicht
nur des wirtschaftlichen Verkehrs, sondern
auch des Rechtsverkehrs sprechen, und wäh-
rend OS bei der römischen societas stets nur
»die socii« sind, welche im Rechtsverkehr (ge-
meinschaftlich) handelnd auftreten, können
wir jetzt nicht ohne eine gewisse Berechti-
gung sagen: »die Gesellschaft« handelt, »die
(Gesellschaft« tritt in Beziehung zu dritten
Personen, »die Gesellschaft« hat zu fordern
oder schuldet u. s. f.
II. Der Gesellschaftsvertrag.
Die Gesellschaft entsteht durch einen
Vertrag, in welchem sich mehi-ere — min-
destens zwei — Personen gegenseitig zur
Förderung eines gemeinsamen Zeckes ver-
pflichten. Dieser Vertrag heisst Gesell-
schaftsvertrag (B.G.B. § 705). Er kann form-
los, d. h. auf jede beliebige Art und Weise,
auch mündlich eingegangen werden. Sein
Inhalt ist entscheidend für die gegenseitigen
Rechte imd Pflichten (s. unten sub III). Nur
soweit er keine Bestimmungen enthält, grei-
fen in der Regel die Vorschriften des Ge-
setzes (B.G.B. §§ 705—740) Platz ; diese Be-
stimmungen sind also grösstenteils nicht
zwingender, sondern nachgiebiger Natiur und
können daher durch die Parteien beliebig
aufgehoben, abgeändert, ergänzt werden (Aus-
nahmen z. B. § 723 Abs. 3, § 725, § 728).
Trotzdem ist auch die Bedeutung dieser nach-
Handwörterbnch der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. IV.
15
226
Qesellschaftsyertrag
giebigen Vorschriften eine sehr grosse ; denn
die meisten Gesellschaftsvertri^ sind un-
vollständig, viele beschränken sich auf einige
kurze Festsetzungen über die Höhe der
Einlage und die Gewinnverteilung, üeber-
haupt gehört die Ausarbeitung eines brauch-
baren, möglichst erschöpfenden und Streitig-
keiten fernhaltenden Gesellschaftsvertrages
zu den schwierigsten Aufgaben juristischer
Praxis: nur selten zeigt sich advokatische
Kunst dieser Meisterprobe gewachsen.
Der Zweck, zu dessen Förderung sich
die Parteien in dem GeseUschaftsvertrage
verpflichten, muss ein erlaubter, ein erreich-
barer imd natürlich ein solcher sein, der
eben von mehreren Personen zusammen ver-
folgt werden kann, sonst aber ist hierbei
dem Parteibelieben keinerlei Schranke ge-
setzt : wirtschaftliche und ideelle, egoistische
und selbstlose Zwecke können in Form der
Gesellschaft gefördert werden. Eine voll-
ständige Vermögensgemeinschaft zwischen
mehreren Personen (communio omnium bo-
norum), wie sie auf Grund der Ehe zulässig
ist, kann aber auf Gnmd eines Gesellschafts-
vertrages nicht stattfinden (B.G.B. § 310).
Wo es sich um die gemeinsame Förderung
wirtschaftlicher Zwecke, insbesondere um
den Betrieb eines gemeinschaftlichen Ge-
werbes handelt, da ist der Abschluss eines
Gesellschaftsvertrags stets Ausdruck eines
ganz besonderen Vertrauens. Für den
wichtigsten Fall, nämlich für den Betrieb
eines Handelsgewerbes, haben sich mehrere
besondere Gesellschaftsformen — die offene
Handelsgesellschaft , die Kommanditgesell-
schaft und die stille Gesellschaft — heraus-
jbildet ; die wichtigsten übrigen sogenannten
[andelsgesellschaften (die Aktiengesellschaft,
die GeseUschaft mit beschränkter Haftung)
sowie die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen-
schaften darf man nicht zu den »Gesell-
schaften« im technischen Sinne des Wortes,
sondern man muss sie zu den »Vereinen«
rechnen, weil es bei ihnen nicht auf die
individuelle Persönlichkeit der Mitglieder
ankommt; die Kommanditgesellschaften auf
Aktien nehmen eine eigentümliche Mittel-
stellung zwischen beiden Gruppen ein.
III. Pflichten nnd Rechte der Gesell-
schafter.
1. Die PfUchten. Durch den (^^esell-
schaftsvertrag vei-pflichten sich die Vertrag-
schliessenden gegenseitig, und zwar
jeder verpflichtet sich jedem, es entstehen
um so mehr gegenseitige Vei'ptiichtungs-
verhältnisse , je grösser die Zahl der Mit-
glieder ist, also bei zwei Mitgliedern eins,
bei drei Mitgliedern drei, bei vier Mit-
gliedern sechs, bei fünf Mitgliedern zehn,
bei sechs Mitgliedern fünfzehn und so fort:
nämlich da jedes weitere Mitglied zu i^ämt-
lichen übrigen ebenfalls in ein gegenseitiges
Rechtsverhältnis tritt, so vermehrt sich die
Zahl dieser Rechtsverhältnisse durch jedes
weitere Mitglied stets um die Zahl der
übrigen Mitglieder.
A. Jeder Gesellschafter verpflichtet sich
also jedem anderen Gesellschafter gegen-
über, die Erreichung des gemeinsamen
Zweckes zu fördern ; worin diese Förderung
bestehen soll (ob z. B. auch in Mitwirkung
bei der Geschäftsführung), das bestimmt
sich nach dem Gesellschaftsvertrage. AV^enn
ein Gesellschafter mr nichts zur Förderung
der gemeinsamen Zwecke thun soll, dann
liegt insoweit (mit Rücksicht auf ihn) kein
Gesellschaftsvertrag vor. Eine solche Ver-
pflichtung ist also dem (jesellscliaftsvertrage
wesentlich. Damit ist aber nicht zu ver-
wechseln die Verpflichtung, am etwaigen
Verluste, den das Gesellschaftsvermögen er-
leidet, zu participieren; diese liegt zwar
regelmässig jedem Gesellschafter ob, aber sie
ist nicht wesentlich, es widerspricht also
nicht dem Wesen des Gesellschaftsvei-tra^es,
wenn ein Gesellschafter nur am Gewinn,
nicht am Verlust beteiligt sein soll (darüber
s. unten sub 3).
B. Regelmässig bedarf die Gesellschaft
zur Erreichung ihrer Zwecke eines Ver-
mögens. Nach römischem Recht ist dies
sogar notwendig, und man hat daher die
societas geradezu als vertragsmässige Ver-
mögensgemeinschaft definiert. Das B.G.B.
weiss von diesem Erfordernisse nichts, aber
schon in der Definition des Gesellschafts-
vertrags (§ 705) weist es doch auf die
Bildung einer Gesellschaftskasse und auf ihre
Füllung durch Beiträge der Mitgheder als
regelmässigen Inhalt des Gesellschaftsver-
tra^s hin.
Die wichtigste Verpflichtung der Gesell-
schafter ist daher in der Regel die Bei-
tragsleistung. Was die Art der Bei-
träge anbetrifft, so bestehen sie meist in
Geld, können aber auch in anderen Sach-
einlagen und sogar in Diensten bestehen
(B.G.B. § 706 Abs. 2 und 3). Wirkliche
Sacheinlagen sind solche, welche gemein-
schaftliches Vermögen der Gesellschafter
werden sollen, deren Substanz also dazu be-
stimmt ist, das Gesellschaftsvermögen zu
bilden. Hier ist der Gesellschafter ver-
pflichtet, die dazu notwendigen Ueber-
tragungs-(Veräusserungs-)Akte vorzuneluneu,
also Besitzübertragung, Auflassung, Cession,
Indossament. Entsprechend den (rnrnd-
sätzen über Veräusserungsgeschäfte (Kauf)
geht dann die Gefahr auf sämtliche Gesell-
schafter über.
Sacheinlagen können aber auch in der
Art gemacht werden, dass nicht das Eigen-
tum daran gemeinschaftlich werden, son-
dern dass der Gesellschaft nur die Benutziuig
Gesellschaftsvertrag
227
des eingebrachten Gegenstandes (z. B. eines
Speichers) zustehen soll. Da es oft zweifel-
haft sein wird, ob das eine oder das andere
beabsichtigt ist, so steUt das B.G.B. § 706
Abs. 2 folgende Vermutungen auf: Vertret-
bare und verbrauchbare Sachen werden im
Zweifel gemeinschaftliches Eigentum der
Gesellsüliaiter; von anderen Sachen gilt dies
im Zweifel nur dann, wenn sie nach einer
Schätzung beizutragen sind und wenn diese
Schätzung nicht bloss filr die Gewinnver-
teilung bestimmt ist (die sich nämlich nach
der Höhe der Beiträge bestimmen kann),
sondern den Zweck hat, die Höhe der
Forderung festzustellen, welche dem ein-
bringenden Gesellschafter gegenüber den
übrigen Gesellschaftern wegen der ge-
machten Einlage erwächst (s. unten sub
2). Eine solche Forderung entsteht näm-
lich nicht, soweit der Beitrag in Diensten
oder in der blossen Gebrauchsüberlassung
besteht (B.G.B. § 733 Abs. 2). Wenn ein
Gesellschafter seiner Beitragspflicht nicht
genügt>, so treten die für alle gegenseitigen
Verträge vorgeschriebenen Rechtsfolgen ein
(B.G.B. §§ 320 ff.), deren DarsteUung hier
zu weit führen würde.
Die Höhe der Beiträge richtet sich
nach dem Gesellschaftsvertrage ; in Ermange-
lung einer anderen Vereinbarung sind sie
gleich hoch für alle Mitglieder (B.G.B. § 705,
§ 706 Abs. 1).
Da die Höhe sich nach dem Vertrage
bestimmt, so ist kein Gesellschafter wider
seinen Willen zu Nachschüssen verpflichtet,
sei es um die Einlage zu erhöhen, sei es
um die durch Verlust verminderte Einlage
zu ergänzen (B.G.B. § 707). Wie sich dieses
Verhätnis nach Auflösung der Gesellschaft
bei der Auseinandersetzung gestaltet, das
ist unten sub VI darzulegen.
C. Bei der Erfüllung der ihm obliegenden
Verpflichtungen hat der Gesellschafter nur
für diejenige Sorgfalt einzustehen, welche
er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden
pflegt (B.G.B. § 708), wird aber durch diese
Vorschrift nach allgemeinen Grundsätzen
von der Haftung für grobe Fahrlässigkeit
nicht befreit (B.G.B. § 277).
Dieser wichtige Rechtssatz, wonach ein
(}esellschafter niu» für sogenannte diligentia
quam suis haftet, kann historisch dadurch er-
klärt werden, dass die Gesellschaft sich aus
der Familie entwickelt hat; für die Gegen-
wart rechtfertigt er sich durch die Solidari-
tät der Interessen, welche auf Grund des
Gesellschaftsvertrages zwischen den Kon-
trahenten besteht, während alle anderen
Verträge kollidierende Interessen zwischen
den Kontrahenten erzeugen. Bei der Ge-
sellschaft schädigt jeder nicht nur die
anderen, sondern stets auch sich selbst,
wenn er bei der Erfüllung seiner Pflichten
fahrlässig handelt, und darin liegt eine ge-
nügend wirksame Garantie füi* die übrigen.
2. Die Rechte der GeseUschalter.
A. Arten. Die Rechte eines jeden Gesell-
schafters entsprechen zunächst den Pflichten
aller übrigen, jene bilden die Kehrseite von
diesen. Anders ausgedrückt : was jeder ein-
zelne zu leisten verpflichtet ist, das sind
alle übrigen von ihm zu fordern berechtigt.
Ausserdem aber können sich noch be-
sondere Ansprüche aus dem Gesellschafts-
verhältnisse ergeben. So hat jeder Gesell-
schafter einen Anspruch auf entsprechenden
Anteil an den Vorteilen, welche sich für
ihn aus der Erreichung des Gesellschafts-
zweckes ergeben, z. B. auf Benutzung der
gemeinschaftlichen Einrichtungen (Bibliothek,
Turngeräte, Dreschmaschine), und wenn
die Gesellschaft einen gewerblichen Charakter
hat, auf Anteil an dem erzielten Gewinne
(darüber s. imten sub 3).
Auch steht jedem Gesellschafter bei
Auflösung der Gesellschaft ein Recht zu
auf entsprechenden Anteil an dem nach
Tilgung aller Verpflichtungen übrig bleiben-
den Vermögen (auf die sogenannte Liquida-
tionsquote), und ein analoges Recht hat der
ausscheidende Gesellschafter.
Ferner erwächst demjenigen Gesell-
schafter, welcher einen Beitrag, der nicht
in Diensten besteht, gemacht hat, für den Fall
der Auflösung oder des Ausscheidens noch
ein besonderer Anspruch. Wurde die ein-
gebrachte Sache der Gesellschaft nur zur
Benutzung überlassen, so geht sein Anspruch
auf Rückgewähr der Sache. Wurde sie
dagegen in das Eigentimi aller Gesellschafter
übertragen, also ihrer Substanz nach in das
Gesellschaftsvermögen aufgenommen, so er-
hält der Gesellschafter einen Anspruch auf
Rückzahlung der eingebrachten Geldsumme
bezw. bei anderen Sachen auf Ersatz ihres
Schätzungswertes (B.G.B. § 733 Abs. 2); in
diesem Falle wird also jedem Gesellschafter,
der eine solche Sacheinlage gemacht hat,
der geleistete resp. der durch Schätzimg
festgestellte Betrag auf sein Separatkonto zu
gute geschrieben und bildet damit eine
Forderung, die ihm gegenüber den anderen
GesellschÄftern zusteht, die er aber erst
nach erfolgter Auflösung der Gesellschaft
bezw. nach seinem Ausscheiden aus der Ge-
sellschaft geltend machen kann. Endlich
können einem Gesellschafter, welcher die
Geschäfte der Gesellschaft besorgt hat, aus
dieser seiner Geschäftsführung Ansprüche,
z. B. auf Ersatz gemachter Auslagen, gegen-
über den anderen Gesellschaftern er-
wachsen.
B. Die Ansprilche, die danach den Ge-
sellschaftern aus dem Gesellschaftsvertrage
gegen einander zustehen, sind nicht über-
tragbar (B.G.B. § 717), also höchst persön-
15*
228
Gesellschaftsvertrag
lieber Natur, weil das ganze Verhältnis ein
Produkt gegenseitigen Vertrauens und rein
auf die ver&agschliessenden Personen zuge-
schnitten ist: daher sollen die übrigen Ge-
sellschafter nicht genöti^ sein, sich eine
andere Person wider ihren Willen als
Gläubiger aufdrängen zu lassen. Doch
macht das Bürgerliche Gesetzbuch eine
Ausnahme für gewisse rein finanzielle
Ansprüche, nämlich für die einem Ge-
sellschafter aus der Geschäftsführung zu-
stehenden Ansprüche (z, B. wegen geraachter
Auslagen), soweit deren Befriedigimg vor
der Auseinandersetzung verlangt werden
kann, ferner für die Ansprüche auf Gewinn-
anteil, auf Rückerstattung der Einlage und
auf die Liquidationsquote.
8. Ge\iinn und Verlust insbesondere.
Durch die Beiträge der Mitglieder wird das
Gesellschaftsvermogen geschaffen,
dessen eigentümliche rechtliche Stellung
weiter unten (sub V) näher charakterisiert
werden soll. Dieses ihr tu^j)rüngliches
Vermögen kann die Gesellschaft — wie
bercits mehrfach hervorgehoben wurde
— durch günstige Geschäfte vermehren,
durch ungünstige Geschäfte vermindern:
im ersten Falle entsteht Gewinn, im
letzten Falle Verlust. Gewinn wie Ver-
lust trifft also zunächst das Gesellschafts-
vermögen; da dieses jedoch den sämtlichen
(lesellschaftern zur gesamten Hand zusteht,
80 sind es im Zweifel sämtliche Gesell-
schafter, welchen der Gewinn zu gute
kommt, der Verlust ziun Nachteil gereicht,
und zwar participieren sie im Zweifel nach
Köpfen, also ohne dasa auf Art und Grösse
ihrer Beiträge dabei irgendwie Rücksicht
genommen würde (B.G.B. § 722 Abs. 1).
Indessen kann durch den Gesellschafts-
vertrag etwas anderes verein bai-t sein.
Einmal kann d i e H ö h e des Anteils am
Gewinn imd Verlust für die einzelnen Ge-
sellschafter verschieden bestimmt sein. Sehr
häufig wird nur für die Verteilung des Ge-
winnes (selten niu* für die des Verlustes)
ein solcher Massstab vereinbart: dann soll
im Zweifel dasselbe auch für die Kehrseite,
also für die Verteilung des Verlustes (bezw.
des Gewinnes) gelten (B.G.B. § 722 Abs. 2).
Sodann kann auch vereinbart sein, dass
ein Gesellschafter lediglich amGe winne
und gar nicht am Verluste beteiligt sein
soll. Notwendig ist, dass ihm die Verpflich-
tung auferlegt wird, in irgend einer Weise,
in der Regel durch eine Beitragsleistung,
die Zwecke der Gesellschaft zu fördern (oben
Seite 225); aber daneben kann recht wohl
vereinbart sein, dass der oder die anderen
Gesellschaftor diese Einlage verzinsen und
den etwaigen Verlust ganz allein tragen
sollen, dergestalt, dass jener gar kein Risiko
diu-ch seine Beteiligimg an der Gesellschaft
zu laufen hat : der Vertrag hört deshalb für
ihn nicht auf, ein Gesellschaftsvertrag zu sein.
Wenn umgekehrt vereinbart >\ard, dass
ein Gesellschafter ledig lieh amVerluste
und gar nicht am Gewinne beteiligt sein soll,
80 ist dies nach römischrechtlicher Auf-
fassung überhaupt kein Gesellschaftsvertrag,
man nannte eine derartige Vereinbarung
nach der bekannten Aesopischen Fabel eine
societas leonina. In der Tliat trägt eine
solche Vereinbai'ung viel mehr den Charakter
eines Garantievertrags (eventuell in Ver-
bindung mit einem Darlehen, dessen Rück-
zahlung resolutiv bedingt ist), aber nach dem
B.G.B. wird man in der Regel nicht umhin
können, sie doch als Gesellschaftsvertrag
aufzufassen; denn regelmässig wird auch
hier ein gemeinsamer Zweck vorliegen (z. B.
Herstellung einer Lokalbahn), zu dessen
Förderung die Pai'teien sich gegenseitig ver-
pflichten, und damit sind alle Voraussetzungen
erfüllt, welche das Gesetzbuch für den Ge-
sellschaftsvertrag verlangt (§ 705).
IV. Die Geschäftsführung.
Geschäftsführung ist Verwirklichung des
Gesellschaftszweckes. Worin sie besteht^
das hängt daher von dem Zwecke ab, den
die Gesollschaft verfolgt. AVenn dieser Zweck
ein gewerblicher ist, dann ist die Geschäfts-
führung naturgemäss viel komplizierter als
bei nichtgewerblichen Unternehmungen.
Die Geschäftsführung hat es stets mit
dem internen Verhältnis der Gesellschaf tor
unter einander zu thun (z. B. Einziehvmg
der Beitrage, Auszahlung der Gewinnanteile,
Bücher- und Kassenführung), meist aber
ti'itt die Gesellscliaft auch nach aussen,
dritten Personen gegenüber in rechtliche
Beziehungen (sie ist dann nicht bloss »Innen-
gesellschaft«, sondern auch »Aussengesell-
schaft«), und alsdann ei*streckt sich die Ge-
schäftsführung principiell auch auf diese
Ausseuseite, umfasst also auch die Vor-
tretung der Gesellschaft. Jimstisch ist
beides aber streng auseinanderzuhaltein.
A. Was zunächst da«^ interne Verhältnis
anbetiifft, so sind in der Regel sämtliche
Gesellschafter einander gegenseitig zur Ge-
schäftsfühnmg verpflichtet und berechtigt,
und zwar ist die Geschäftsführung im Zwei-
fel eine gemeinschaftliche, d. h. für jedes
Geschäft ist die Zustimmung aller erforder-
lich (B.G.B. § 709 Abs. 1), Indessen wird
häufig etwas anderes vereinbart. So kann
der Vertrag bestimmen, dass jeder Gesell-
schafter befugt sein soll, allein zu handeln :
dann kann auch jeder der Vornahme eines
Geschäfts durch einen anderen Gesellschafter
widersprechen, und wenn ein solcher Wider-
spruch erfolgt, muss das Geschäft unter-
bleiben (B.G.B; § 711). Der Vertrag kann
auch bestimmen, dass die Stimmenmehrheit
Gesellschaftsvertrag
229
entscheiden soll : dann wird die Mehrheit im
Zweifel nach Köpfen berechnet (B.G.B. § 709
Abs. 2). Sehr häufig bestimmt der Vertrag,
dass nnr ein Gesellschafter oder dass nur
einige Gesellschafter (letztere dann im Zweifel
wieder gemeinschaftlich) die Geschäfte zu
führen haben (B.GB. § 710): alsdann können
die übrigen Gesellschafter nur aus einem wich-
tigen Grunde (z. B. wegen grober Pflichtver-
letzung oder Unfähigkeit) diese ausschliess-
liche Befugnis wieder entziehen (B.G.B. § 712
Abs. 1), und andererseits ist auch ein solcher
Geschäiftsführer nur aus einem wichtigen
Grunde (z. B. wegen Erkrankung) befugt,
den übrigen die Geschäftsführung zu kün-
digen (B.G.B § 712 Abs. 2).
In dem zuletzt angeführten Falle sind
also einer oder mehrere Gesellschafter von
der Geschäftsführung ausgeschlossen und be-
halten dann nur gewisse Kontrollrechte. Sie
können sich von den Angelegenheiten der Ge-
sellschaft persönlich unterrichten, die Ge-
schäftsbücher und die Papiere der Gesell-
schaft einsehen und sich aus ihnen eine
üebersicht über den Stand des Gesellschafts-
vennögens anfertigen. Auch diese Rechte
können ihnen zwar durch den Gesellschafts-
yertrag entzogen werden, aber eine solche
Vertragsklausel ist dann unwirksam, wenn
Grund zu der Annahme unredlicher Ge-
schäftsfühnmg besteht (B.G.B. § 716).
Der oder die übrigen (gescliäftsführenden)
Gesellschafter gelten in diesem Falle als
Beauftragte der von der Geschäftsführung
ausgeschlossenen Gesellschafter, und ihre
Rechte und Pflichten bei der Geschäfts-
fühnmg bestimmen sich daher nach den für
den Auftrag geltenden Vorschriften der
§§ 664 bis 670, indessen niu*, soweit sich
nicht aus dem Gesellschaftsverhältnis ein
anderes ergiebt (B.G.B. § 713). So haben
sie z. B. auch bei der Geschäftsfühnmg nur
für diejenige Sorgfalt einzustehen, die sie
in eigener Angelegenheit anzuwenden pflegen
(oben S. 227). Der Umfang ihrer Befugnisse
bestimmt sich daher ebenfalls nach dem Ge-
sellschaftsvertrage oder nach einem diesen
Vertrag erweiternden oder einengenden Be-
schlüsse sämtlicher Gesellschafter. Wenn
eine deraitige ausdrückliche Anweisung nicht
voriiegt, so finden ihre Befugnisse an dem
Gesellschaf ts z w e c k e stets ihre selbstver-
ständliche Schranke: zur Vornahme eines
diesem Zwecke fremden Geschäftes ist also
stets die Zustimmung aller übrigen Gesell-
schafter erforderlich.
B. Dieselben Grundsätze finden aber —
falls die Gesellschaft eine sogenannte Aussen-
gesellsehaft ist — in der Regel auch auf
die Vertretungsmacht der geschäfts-
führenden Gesellschafter Anwendung. Die
Geschäftsführer gelten nämlich im Zweifel
auch als ermächtigt, die übrigen Gesell-
schafter gegenüber dritten Personen zu ver-
treten, imd zwar geht der Umfang ihrer
Vertretungsmacht im Zweifel genau so weit
wie ihre Befugnis zur sonstigen Geschäfts-
führung (B.G.B. § 714): insoweit kann sich
der Dritte also in der Regel auch getrost
mit ihnen einlassen, ohne befürchten zu
müssen, dass die übrigen Gesellschafter die
Handlungen des Geschäftsführers als für sie
unverbindlich ablehnen werden.
Doch gilt dies, wie gesagt, nur im Zwei-
fel, die Vertretung kann durch den Ge-
sellschaftsvertrag anders geregelt sein als
die übrige rein interne Geschäftsführung,
und es ist Sache des Dritten, sich hier wie
bei sonstigen Vertretungs- imd insbesondere
Auftragsverhältnissen über den etwa ab-
weichenden Inhalt der Vollmacht zu unter-
richten.
Falls aber der oder die geschäftsführenden
Gesellschafter dergestalt innerhalb der Gren-
zen ihrer Vertretimgsmacht gehandelt haben,
dann haften auch die übrigen Gesellschafter
genau so, wie wenn alle zusammen sich
gemeinschaftlich verpflichtet hätten, nämlich
als Gesamtschuldner (solidarisch): B.G.B.
§ 427. Man kann die dritten Personen,
denen gegenüber sämtliche Gesellschafter oder
die Geschäftsführer für sich und alle übrigen
Gesellschafter in dieser Weise eine Verpflich-
tung eingegangen sind, als »Gesell-
schaftsgläubiger« bezeichnen (und im
Gegensatz dazu die Gläubiger des einzelnen
Gesellschafters als dessen »Privatgläubiger«);
aber es ist wohl zu beachten, dass diese
Gläubiger nicht in der Lage sind, »die Ge-
sellschaft« zu belangen, vielmehr müssen sie
gegen sämtliche einzelne Gesellschafter
Klage erheben und obsiegMches Urteil er-
streiten, um zur Exekution in das Gcsell-
schaftsvermögen zu gelangen (darüber unten
sub V).
Umgekehrt kann man diejenigen Personen,
denen gegenüber sämtliche Gesellschafter
zusammen oder die Geschäftsführer füi- sieh
und alle übrigen Gesellschafter eine For-
deining erlangt haben, als^Gesellschafts-
schuldner« bezeichnen ; aber der Schiddner
kann wirksam nur an sämtliche Gesellschafter
oder an solche Geschäftsführer leisten, welche
Vertretungsmacht haben, und der einzelne
Gesellschafter als solcher kann ebenfalls nur
diese Art der Erfüllung verlangen (B.G.B.
§ 432). Auch dai*auf wird gleich im fol-
genden Abschnitt zurückzukommen sein.
V. Das Gesellschaftsvermögen.
Das Gesellschaftsvermögen setzt sich aus
drei Arten von Bestandteilen zusammen:
einmal aus Beiträgen — ursprünglichen
und späteren — der Gesellschafter (B.G.B.
§718 Abs. 1), sodann aus dem Erwerb
der Gesellschaft, nämlich aus solchen Sachen
230
Gesellschaftsvertrag
und Rechten, die durch die Geschäftsführung
(§ 718 Abs. 1) oder auf Grund eines schon
zum G^sellschaftsvermögen gehörenden Ge-
genstandes, z. B. als Früchte oder Zinsen
(§ 718 Abs. 2) erworben sind, endlich aus
Surrogatwerten, die an die Stelle von
Gegenstanden getreten sind, welche zum
Gesellschaftsvermögen gehörten, aber zerstört,
beschädigt oder diesem Vermögen entzogen
sind (§ 718 Abs. 2), z. B. Assekuranz-
forderungen.
Diese verschiedenen Bestandteile bilden
zusammen eine in rechtlicher Beziehung
einheitliche Masse, eben ein Vermögen.
Zwar erscheinen einerseits die wichtigsten
Arten der Beiträge (nämlich Geld- und wirk-
liche Sacheinlagen, oben S. 226) und anderer-
seits derjenige lirwerb, welcher sich als
Gewinn herausstellt, als selbständige Fak-
toren, aber nur ihrem Wertbetrage nach,
sie sind nur Rechnungsgrössen , und auch
als solche werden sie erst bei Auflösung
der Gesellschaft resp. beim Ausscheiden
eines Mitglieds praktisch (vgl. oben S. 227
und unten sub VI und VII) : sie bilden, wie
bemts früher erwähnt, selbständige For-
deningsrechte des einzelnen Gesellschafters
gegenüber den anderen Gesellschaftern, aber
nicht selbständige Bestandteile des Gesell-
Bchaftsvermögens.
Worin zeigt nun rechtlich dieses Gesell-
schaftsvermögen die Natur eines wirklichen
Vermögens? Es ist ja Vermögen der
Gesellschafter, aber es steht ihnen nicht
nach Bnichteilen zu, sondern als gemein-
schaftliches, zur gesamten Hand, es steht
ihnen als von ihrem übrigen Vermögen
nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich
getrenntes, als rechtlich gebundenes Ver-
mögen zu.
Diese Bindung zeigt sich zunächst nach
innen , für das Verhältnis der Gesellschafter
unter einander. Kein Gesellschafter kann
über seinen Anteil am Gesellschaftsvermögen
verfügen (ihn veräussern oder verpfänden)
und natürlich erst recht nicht über das Ge-
samtvermögen oder einzelne Teile desselben
(B.Q.B. § 719 Abs. 1). Daher kann er eine
Gesellschaftsforderung auch nicht teilweise
von dem Schuldner für sich eintreiben, ge-
schweige denn, dass eine solche Fordenmg
etwa von selbst nach Quoten geteilt wäre.
Auch ist kein Gesellschafter berechtigt,
Teilung des Gesellschaftsvermögens zu ver-
langen (B.G.B. § 719 Abs. 1 Satz 2), ja
selbst die A^'erteihmg des Gewinnes oder
A'^erlustos und den Rechnungsabschluss kann
er (falls der Gesellschaftsvortrag nicht etwas
anderes bestimmt) erst nach der Auflösung
der Gesellschaft verlangen (B.G.B. § 721
Abs. 1); nur bei Gesellschaften von längerer
Daner ist dies anders, indessen auch da hat
der Rochnmigsabschluss und die Gewinnver-
3
teüung im Zweifel nur am Schlüsse jedes
Geschäftsjahres zu erfol^n (§ 721 Abs. 2).
Aber die Gebundenheit des QeseUschaf ts^
Vermögens wirkt auch nach aussen,
das Princip der gesamten Hand entfaltet
auch Wirkungen gegenüber dritten Per-
sonen und zwar in folgender Ausdehnung:
1. Der Gesellschaftsschuldner ißt
genötigt, das Gesellschaftsvermögen als
selbständiges Vermögen zu respektieren.
Einmal kann er nur an »die Gesell-
schaft«, d. h. an sämtliche Gesellschafter
oder an einen Vertreter wirksam erfüllen,
er darf nicht einmal teilweise an einen ein-
zelnen Gesellschafter als solchen leisten
B.G.B. § 432). Dies gilt selbst dann, wenn
ie Forderung ursprünglich nicht der Ge-
sellschaft zustand, sondern von ihr erst
nachträglich erworben wurde; aber dabei
ist natürlich vorausgesetzt, dass der Schuld-
ner von der Zugehörigkeit der Forderung
zum Gesellschaftsvermögen Kenntnis erlangt
hat (B.G.B. § 720).
Ein Gesellschaftsscliuldner kann femer
gegen die (zum Gesell Schafts vermögen ^-
hörigej Forderung nicht, auch nicht teilweise
mit einer Forderung aufrechnen ^kompen-
sieren), die ihm gegen einen einzelnen Ge-
sellschafter zusteht (B.G.B. § 719 Abs. 2).
Das Gesetz leugnet also in diesem Falle
für die beiden gegenüberstehenden Forde-
rungen das Vorhandensein derjenigen Per-
sonenidentität, welche zur Aufrechnung
erforderlich ist: bei der Gesellschaftsfor-
derung gilt nicht, auch nicht teilweise die-
jenige Pei^son (der Gesellschafter) als Gläu-
biger, w^elche bei der anderen Forderung
Schuldner ist, vielmelir gilt für die Kompen-
sation lediglich die Gesellschaft selbst als
Gläubiger, so als wäre sie eine selbständige
juristische Person.
Natürlich darf der Gesellschaftsschuld-
ner dann kompensieren, wenn die Gesell-
scliaftsforderung ursprünglich demselbea
Gesellschafter zustand, gegen den der Schuld-
ner auch eine Forderung hat, und erst
später von diesem Gesellscliaf ter als Beitrag in
die Gesellschaft eingeworfen worden ist.
Aber das ist keine Ausnahme von der angego-
benenRegel,sondern lediglich eine Anwendung
der allgemeinen Cessionsgrundsätze (B.G.B.
§§ 406—408) auf den vorliegenden Fall
(B.G.B. § 720 Satz 2): nicht weü der
Schuldner des Gesellschaftsschuldners ein
Gesellschafter ist, sondern weil er Cedent
der nunmehrigen Gesellsehaftsforderung ist,
kann der nunmehiige GeseUschaftsschuldner
(der debitor cessus) seine Forderung gegen
ihn zur Aufrechnung bringen.
2. Auch die Privatgläubiger eines
Gesellschafters müssen das Gesellschaftsver-
mögen bis zu einem gewissen Grade als
selbständiges Vermögen respektieren. Denn
Gesellßchaftsvertrag
231
solange die Gesellschaft besteht,
kann der Privatgläubiger die aus dem Ge-
sellschaftsverhältnisse sich ergebenden Kechte
des Gesellschafters (seines Schuldners) nicht
geltend machen mit Ausnahme des An-
bruchs auf einen Gewinnanteil (B.G.B,
§ 725 Abs. 2).
Doch kann er aus eigener Macht dea
seinem Schuldner bei der Auflösung der Gesell-
schaft zukommenden Teil des Gesellschafts-
vermögens aus der Gebundenheit befreien,
er kann die gesamte Hand brechen, indem
er »den Anteil« des Gesellschafters am
Gesellschaftsvermögen pfänden lässt, darauf-
hin die Gesellschaft durch Kündigung zur
Auflösung bringt (s. unten sub VI) und auf
diesem Wege zur Befriedigung gelangt.
(B.G.B. § 725 Abs. 1).
3. Weiter geht die Selbständigkeit des Ge-
sellschaftsvermögens nach aussen nicht. Ins-
l^esondere hat die Gesellschaft keinen Namen,
sie kann als solche weder klagen noch ver-
klagt werden, ziu* Zwangsvollstreckung in
das Gesellschaftsvermögen ist ein gegen alle
Gesellschafter ergangenes Urteü erforder-
lich (C.P.O. § 736), endlich kann auch über
das Verm^en der Gesellschaft kein Kon-
kurs verhängt werden.
Alles dies ist anders bei der offenen
Handelsgesellschaft und der Kommanditge-
sellschaft und unterscheidet diese Gesell-
schaftsformen dadurch ganz wesentlich von
der Gesellschaft des bürgerUchen Rechts.
VI. Auflösung der Gesellschaft
Unter Auflösung der Gesellschaft ver-
steht man die Beendigung des Gesellschafts-
vertrages.
A. Die Gründe für eine solche Auf-
lösung sind folgende.
1. Ablauf der vereinbarten Zeit,
falls eben der Gesellschaftsvertrag auf be-
stimmte Zeit eingegangen ist; doch kann
eine Verlängerung nicht nur ausdrücklich,
sondern auch stillschweigend vereinbart
werden, und diese Verlängerung gilt dann
als auf unbestimmte Zeit erfolgt (B.G.B.
§ 724).
2. Wenn der Gesellschaftsvertrag unter
einer sogenannten Resolutivbedin-
gung eingegangen ist — ein Fall, der
freilich sehr selten sein dürfte — , so wird
die Gesellschaft mit Eintritt der Bedingung
ebenfalls aufgelöst
3. Natürlich kann auch durch Verein-
barung unter allen Gesellschaftern,
also durch einen neuen Vertrag, der Gesell-
schaftsvertrag aufgehoben werden.
4. Die Gesellschaft endigt ferner dann,
wenn der vereinbarte Zweck erreicht
oder dessen Erreichung unmöglich
geworden ist (B.G.B. § 726).
5. Durch den Tod eines der Gesell-
schafter wird die Gesellschaft aufgelöst,
weil das ganze Verhältnis rein auf persön-
lichem Vertrauen beruht und Vertrauen
nicht vererblich ist; doch kann sich aus
dem Gesellschaftsvertrage etwas anderes
ergeben (B.G.B. § 727 Abs. 1), z. B. dass
die Gesellschaft mit den Erben fortgesetzt
werden soll.
6. Die Gesellschaft wird auch durch die
Eröffnung des Konkurses über das
Vermögen eines Gesellschafters aufgelöst
(B.G.B. § 728), weil dessen Anteü am Ge-
sellschaftsvermögen zur Konkursmasse ge-
zogen werden muss.
7. Endlich kann die Gesellschaft auch
durch Kündigung aufgelöst werden, d. h.
durch die Willenserklärung eines Gesell-
schafters oder des Privatgläubigers eines
solchen.
Die Kündigimg hat im Zweifel an alle
GeseUschafter zu erfolgen.
a. Die Kündigung durch einen Ge-
sellschafter ist principiell nur dann zu-
lässig, wenn die Gesellschaft auf unbe-
stimmte Zeit eingegangen oder zwar auf
bestimmte Zeit eingegangen, aber bereits
stillschweigend verlängert ist; eine auf
Lebenszeit eines Gesellschafters einge-
gangene Gesellschaft gilt als auf unbe-
stimmte Zeit eingegangen (B.GÄ § 723
i. A., § 724). Ist im Gheseüschaftsvertrage
eine Kündigungsfrist vorgesehen, so muss
sie innegehalten werden.
Ausnahmsweise aber, nämlich dann,
wenn ein wichtiger Grund vorliegt,
kann auch die auf bestimmte Zeit einge-
gangene Gesellschaft vor Ablauf dieser
Zeit gekündigt werden, und unter derselben
Voraussetzung braucht auch die vereinbarte
Kündigungsfrist nicht innegehalten zu wer-
den. Ein solcher Grund ist insbesondere
vorhanden, wenn ein anderer Gesellschafter
eine ihm nach dem Gesellschaftsvertrage ob-
liegende wesentliche Verpflichtung verletzt
oder wenn die Erfüllung einer solchen Ver-
pflichtimg unmöglich wird (B.G.B. § 723
Abs. 1).
Die Kündigung darf nicht zur Unzeit
geschehen, auch wenn sie an sich frei zu-
lässig oder durch einen wichtigen Grund
gerechtfertigt ist, es sei denn, dass für die
unzeitige Kündigung abermals ein wichtiger
Grund vorliegt (B.G.B. § 723 Abs. 2
Satz 1). Zur Unzeit erfolgt eine Kündigung
aber dann, wenn wesentliche Interessen der
Gesellschafter durch den gewählten Zeit-
punkt der Auflösung verletzt Averden. Die
ohne einen wichtigen Grund zur Unzeit
erfolgte Kündigung ist trotzdem wirksam,
abp.r der kündigende Gesellschafter hat den
übrigen den daraus entstehenden Schaden
zu ersetzen (B.G.B. § 723 Abs. 2 Satz 2).
Eine Vereinbarung, durch welche dieses
232
Gesellschaftsvertrag
Kühdigiingsrecht der Gesellschafter ausge-
schlossen oder den angegebenen gesetz-
lichen Vorschriften zuwider beschränkt
wird, ist nichtig (B.G.B. § 723 Abs. 3).
Das Gesetzbuch hat also eine ewige Bindung
in Form der Gesellschaft für unzulässig er-
klärt ; da indessen die Gesellschaft auf eine
beliebig hohe Zahl von Jahren, z. B. auf
100 Jahre, eingegangen werden kann, und
für diese »bestimmte Zeit« eine Kündigung
damit ferngehalten ist, da femer die Auf-
lösung durch Tod eines Gesellschafters
ebenfiüls durch den Gesellschaftsvertrag
ausgeschlossen werden kann, so ist es doch
möglich, auf indirektem Wege den vom Ge-
setze missbilligten Erfolg zu erreichen;
lediglich das Recht der Kündigung »aus
einem wichtigen Grunde« kann durch Ver-
trag überhaupt nicht beseitigt oder einge-
schränkt werden.
b. Die Kündigimg durch den Privat-
gläubiger eines Gesellschafters
setzt voraus, dass der Gläubiger die Pfän-
dung des Anteils seines Schuldners am Ge-
sellschaftsvermögen erwirkt hat. Er kann
dann ohne Einhaltung einer Kündigimgsfrist
kündigen, sofern der Schuldtitel nicht bloss
vorläufig vollstreckbar war (B.G.B. § 725
Abs. 1).
B.Wirkungen der Auflösung. Mit
der Auflösung der Gesellschaft hören nicht
von selbst alle rechtlichen Beziehungen
zwischen den Gesellschaftern auf, ^äelmehr
tritt ein bald kürzeres, bald längeres Stadium
derNachwirlamgen des Gesellschaftsverhält-
nisses ein, während dessen das Geseli-
sehaftsvermögen zu erhalten und zu ver-
walten ist; doch soll die Schaffung neuer
rechtlicher Beziehungen, insbesondere die
Vornahme neuer Geschäfte nach Mög-
lichkeit ferngehalten und aUes auf eine thun-
lichst rasche Abwickelung der bestehenden
Beziehungen abgestellt w^erden. Diese
Thätigkeit wird Liquidation oder Aus-
einandersetzung genannt die Gesoll-
schaft wird während dieser Zeit als »in
Liquidation befindlich« bezeichnet, und so-
weit der Zweck der Auseinandersetzung es
erfordert, als noch fortbestellend betrachtet
(B.G.B. § 730).
Bevor jedoch dieser Schlussakt im Ijeben
der Gesellschaft näher ins Auge gefasst
werden kann, muss zunächst darauf hinge-
wiesen w^erden, dass sich unter Umständen
die Notwendigkeit einer ganz provisorischen
Füi'sorge fühlbar macht, nämlich dann,
wenn die Auflösung ül)erraseheud einti'itt
und die Beteiligten unvorbereitet trifft.
Dies ist der Fall beim Tod und beim Kon-
kurs eines Gesellschafters, und daher hat
das Gesetzbuch für diese Fälle in be-
sonderer Weise Vorsorge getroffen (§§ 727
Abs. 2. 728).
Die übrigen Gesellschafter sind nämlicli
zur einstweiligen Fortführung der Geschäfte
verpflichtet, die Gesellschaft gilt insoweit
als fortbestehend. Ferner hat der Erbe des
verstorbenen Gesellschafters den übrigen Ge-
sellschaftern den Tod unverzüglich anzu-
zeigen und, wenn mit dem Aufschübe Ge-
fahr verbunden ist, die seinem Erblasser
durch den Gesellschaftsvertrag übertragenen
Geschäfte fortzuführen, bis die übrigen Ge-
sellschafter in Gemeinschaft mit ihm ander-
weit Fürsorge treffen können.
Sodann ist zu beachten, dass — abge-
sehen von dem Falle der Kündigung — die
geschäftsführenden Gesellschafter möglicher-
weise von dem Eintritt eines Auflösungs-
grimdes keine Kenntnis erlangt haben und
ruhig die Geschäfte der aufgelösten Gesell-
schaft weiterführen. Daher wird in einem
solchen Falle zu ihi-en Gunsten angenommen,
dass die Gesellschaft noch fortbesteht ; aber
diese Annahme gilt für jeden einzelnen
natürlich nur bis zu dem Zeitpunkt, wo er
von der Auflösung Kenntnis erlangt oder
die Auflösung kennen muss (B.G.B. § 729).
Was die Liquidation selbst anbe-
trifft, so erfolgt sie durch alle Gesellschafter
gemeinschaftlich; die einem oder einigen
Gesellschaftern ausschliesslich zustehende
Befugnis zur Geschäftsführung ist, wenn
nicht aus dem Vertrage sich ein anderes
ergiebt, mit der Auflösung der Gesellschaft
erloschen (B.G.B. § 730 Abs. 2 Satz 2).
Die Liquidation zerfällt in folgende Haupt-
moniente :
1. Die schwebenden Geschäfte
sind zu beendigen und, soweit es hier-
zu erforderlich ist, können auch neue Ge-
schäfte eingegangen werden (B.G.B. § 730
Abs. 2 Satz 1).
2. Gegenstände, die ein Gesell-
schafter der Gesellschaft zur Be-
nutzung überlassen hat (vgl. oben
S. 226 f.), sind ihm zurückzugeben. Eventuell
ist ihr Weit zu ersetzen, doch kann füi* zu-
fälligen Abgang oder zufällige Verschlechte-
rung kein Ei-satz verlangt werden (B.G.B.
§ 732).
3. Sodann sind die Schulden zu be-
richtigen und die Einlagen zurück-
zuerstatten; soweit erforderlich, ist das
Gesollschaftsvermögen dazu in (leld umzu-
setzen (B.G.B. § 733 Abs. 3). Diese »Ver-
silberung« findet durch Verkauf statt und
zwar nach den in den §§ 753, 754 des B.G.B.
angegebenen Grundslitzen (B.G.B. §§ 731,
755 Abs. 3).
Im einzelnen :
a) Aus dem Gesellschaftsvermögen sind
zunächst die gemeinschaftlichen Schiüden
zu berichtigen, und zwar geholfen dahin
nicht nur (liejenigen, für welche die Gesell-
schafter solidarisch haften, also insbesondere
Gesell Schafts vertrag
233
die gemeinschaftlich eingegangenen Yer-
Sflichlnngen (oben S. 229), sondern auch
iejenigen, für welche jeder Gesellschafter
nur zum Teil haftet, z. B. Verpflichtungen
aus ungerechtfertigter Bereichenmg. Auch
solche Schulden gehören hierher, für welche
einem Gesellschafter die übrigen Gesellschafter
haften, z. B. wegen bei der Geschäftsführung
gemachter Auslagen (B.G.B. § 733 Abs. 1
Satz 1).
Ist eine Schuld noch nicht fällig oder
ist sie streitig, so ist das zur Berichtigung
Erforderliche zurückzustellen (§ 733 Abs. 1
Satz 2).
b) Aus dem nadi der Berichtigung der
Schulden übrigbleibenden Gesellschaftsver-
mögen sind alsdann die Einlagen zurück-
zuerstatten, jedoch — wie bereits oben S. 227
erwähnt — nur die Geld- und wirklichen
Sacheinlagen ; für die Leistung von Diensten
oder die Ueberlassung der Nutzung eines
Gegenstandes kann kein Ersatz verlangt
werden. Aber auch die wirklichen Sach-
einlagen sind nicht in natura zurückzugeben,
sondern es ist für sie nur der Wert zu er-
setzen, den sie zur Zeit der Einbringung
gehabt haben (B.G.B. § 733 Abs. 2).
4. Diese Berichtigung der Schiüden und
Znrückerstattung der Einlagen kann nun
ein verschiedenes Resultat er-
geben: entweder bleibt noch ein Vermö-
gensrest disponibel oder das Gesellschafts-
verm%en hat nicht einmal atisgereicht;
im ersten Falle ist ein Üeberschuss, im
zweiten ein Fehlbetrag vorhanden.
Der Üeberschuss wird wie Gewinn
behandelt und steht also nach den Gnmd-
sätzen, die oben S. 228 vorgetragen sind,
den Gesellschaftern anteilmässig zu. Für
die Teilung dieses üeberschusses verweist
das B.G.B. § 731 Satz 2 auf diejenigen Vor-
schriften, welche allgemein von der Teilung
einer Gemeinschaft gelten (§§ 752 — 757).
Der Fehlbetrag winl wie Verlust be-
handelt imd ist also von den Gesellschaftern
nach den oben S. 228 vorgetragenen Gnmd-
sätzen anteilmässig zu decken. Infolgedessen
haben diejenigen Gesellschafter, welche
keinen Anspruch auf Rückeretattung von
Einlagen haben, Nachschüsse zu leisten,
die übrigen aber büssen ihre Einlage ganz
oder teilweise ein und können sogar mög-
Kcherweise ebenfalls noch zur Leistung von
Nachschüssen veipflichtet sein.
Kann von einem Gesellschafter der auf
ihn entfallende Beitrag nicht erlangt werden,
so haben die übrigen Gesellschafter den
Ausfall zu tragen, und zwar wiederum nach
demjenigen Verhältnis, welches für ihren
Anteil am Verluste massgebend ist (B.G.B.
§ 735).
VIT. Verandemni^eii im Mitglieder-
bestände.
Wie wir gesehen haben, wird durch das
Princip der gesamten Hand ermöglicht, dass
ein Gesellschafter ausscheiden oder ein neuer
Gesellschafter eintreten kann, ohne dass die
Gesellschaft aufgelöst wird und neubegrilndet
werden muss. Doch hat das bürgerliche
Gesetzbuch diese Durchführung des Priucips
der gesamten Hand nicht ganz allgemein,
sondern nur in bestimmten einzelnen Fällen
anerkannt.
Von der Aufnahme neuer Mit-
glieder spricht dafl Gesetz nur im Falle
des Todes eines Gesellschafters: alsdann
kann der Gesellschaftsvertrag bestimmen,
dass die Erben des Verstorbenen ohne
weiteres Mitglieder werden sollen (vgl. oben
S. 231): in anderen Fällen wii-d es daher
stets eines neuen Gesellschaftsvertrages sämt-
licher bisheriger Mitglieder und des neu-
eintretenden Mitgliedes, also einer wirk-
li(^hen Neugründung der Gesellschaft be-
dürfen. Anders bei der offenen Handels-
gesellschaft (H.(}.B. § 130), die also auch
in dieser Beziehung das Princip der ge-
samten Hand viel energischer durchgeführt
hat als die Gesellschaft des bflrgerlichen
Rechts.
Auch die Möglichkeit des Ausschei-
dens eines Mitgliedes, während die
Gesellschaft fortbesteht, ist vom Gesetzbuche
nur in ganz bestimmten Fällen zugelassen;
liegen die genau i)räcisiei'ten Voraussetzungen
hierfür nicht vor, so muss die' Gesellschaft
also stets vollständig aufgelöst werden.
Diese gesetzlich anerkannten Fälle knüpfen
aber immer an eine Bestimmung des Ge-
seUscliafts Vertrages an, wonach das Fort-
bestehen der Gesellschaft beim Ausscheiden
eines Mitgliedes schon in diesem Vertr2^s:e
vorgesehen ist, nämlich einmal: Ist im
Gesellschafts vertrage bestimmt, dass wenn
ein Gesellschafter kündigt oder stirbt oder
in Konkurs verfällt, die Gesellschaft unter
den übrigen Gesellschaftern fortbestehen
soll, so scheidet bei dem Eintritt eines
solchen Ereignisses der Gesellschafter, in
dessen Person es eintritt, ohne weiteres aus
der Gesellschaft aus (B.G.B. § 736).
Und ferner: Ist im GeseQschaftsvep-
trage bestimmt, dass wenn ein Gesell-
schafter kündigt, die Gesellschaft unter den
übrigen Gesellschaftern fortbestehen soD, so
können die übrigen Gesellschafter unter Um-
ständen auch einen (lesell schafter aus-
schliessen, nämlich dann, wenn in der Person
dieses Gesellschafters ein Umstand eintritt,
der die übrigen zur sofortigen Kündigimg
des auf bestimmte Zeit abgesclüossenen Ge-
sel Isohafts Vertrages berechtigen würde (oben
S. 231). Das Ausscliiiessungsrecht steht den
übrigen Gesell schaftem gemeinschaftlich zu ;
234
Gesellschaftsvertiag — Gesetz
die Ausschliessung erfolgt durch Erklärung
gegenüber dem auszuscnliessenden Gesell-
schafter (B.G.B. § 737).
Wenn einer dieser Fälle vorliegt, so findet
nunmehr eine Auseinandersetzung zwischen
den übrigen Gesellschaftern (»der Gesell-
schaft«) emerseits und dem au^eschiedenen
Gesellschafter andererseits statt.
Das Gesellschaftsvermögen bleibt un-
geteilt, der Anteil des ausgeschiedenen Ge-
sellschafters wächst den übrigen zu (B.G.B.
§ 738 Abs. 1 Satz 1), nur sind diese natür-
lich verpflichtet, dem Ausscheidenden die
Gegenstände, die er der GeseUschaft zur
Benutzung überlassen hat, zurückzugeben,
auch müssen sie ihn von den gemeinschaft-
lichen Schulden befreien (§ 738 Abs. 1 Satz 2)
oder, soweit diese noch nicht fäUig sind,
ihm Sicherheit leisten (§ 738 Abs. 1 Satz 3).
Sodann ist der Wert des Gesellschafts-
vermögens (soweit erforderlich im Wege der
Schätzmig) zu ermitteln (§ 738 Abs. 2) und
alsdann festzustellen, ob und wie viel (an
Einlagen und üeberschuss) der Ausscheidende
erhalten würde, wenn die Gesellschaft zur
Zeit seines Ausscheidens aufgelöst worden
wäre: diesen Betrag haben die übrigen Ge-
sellschafter ihm zu zahlen (§ 738 Abs. 1
Satz 2), er kann weder Naturalteilung oder
Verkauf gemeinschaftlicher Gegenstände ver-
langen noch ist er verpflichtet, etwas anderes
als eine Geldabfindung sich gefallen zu
lassen.
Umgekehrt ist der ausscheidende Gesell-
schafter verpflichtet, falls der Wert des Ge-
seUschaftsvermögens zur Deckung der ge-
meinschaftlichen Schulden und aller Ein-
lagen nicht ausreicht, den übrigen GeseU-
schaftem für den Fehlbetrag nach dem
Verhältnisse seines Anteils am Verluste auf-
zukommen (§ 739).
An den zur Zeit seines Ausscheidens
noch schwebenden Geschäften bleibt der
ausscheidende Gesellschafter beteiligt: er
partieipiert an dem Gewinne und an dem
Verluste, den sie eingeben. Am Schlüsse
jedes Geschäftsjahres kann er daher Ab-
rechnung über die inzwischen beendigten
Geschäfte, Auszahlung des ihm gebührenden
Betrags und Auskunft über den Stand der
noch schwebenden Geschäfte verlangen ; da-
gegen sind die übrigen Gesellschafter be-
rechtigt, diese Geschäfte so zu beendigen,
wie es ihnen am vorteilhaftesten erscheint
(B.G.B. § 740), dem ausgeschiedenen Ge-
sellschafter steht kein Einfluss darauf zu.
Litteratur : Eine monographische Darstellung des
(wesellscha/lsrerirages fehlt bis jetzt. Es kann daher
nur auf Schal Itney er f Das Recht der einzelnen
Schuldverhältnisse nach dem B.G.B., S. 71 ff.,
sowie auf die Kommentare zum B.G.B. und auf
die Lehrbücher von Endemann, Matthiass und
Coaack venriesen werden, in dem Lehrbuthe
von Demturg ist das Geseüschaftsrecht bis
jetzt (Januar 1900) noch nicht dargestellt.
Victor Ehrenberg,
Gesetz
(im gesellschaftlichen und statis-
tischen Sinne).
In seinem eigentlichen Sinne bedeutet
das Wort Gesetz nichts anderes als eine
von einer Autorität aufgestellte, bestimmt
formulierte Vorschrift für das Handeln oder
Verhalten der Menschen. Es handelt sich
dabei zunächst um Gebote, Verbote, Normen
des Verkehrs, der gesellschaftlichen Ordnung
und anderer menschlicher Beziehungen, die
von Seiten des Staates oder berechtigter
öffentlicher Organe für alle Bürger oder
auch für besondere Kreise erlassen werden.
Ausserdem aber finden wir auch zahlreiche
Gesetze, die von religiösen Autoritäten
ausgegangen sind, und in theokratischen
Staaten sind die bürgerliche und die reli-
giöse Gesetzgebung aufs engste mit einander
verschmolzen. Der autoritative Charakter
des Gesetzes kommt praktisch dadurch zum
Ausdruck, dass die Erfüllung desselben
nötigenfalls durch Strafen oder Zwangsmass-
regeln durchgesetzt wird. Dies galt früher
auch in weitem Umfange hinsichtlich der
religiösen Gesetze, während diese gegen-
wärtig wenigstens in den Kulturländern nur
in einem mrahr oder weniger wirksamen
moralischen Zwan^ ihre Stütze finden. Von
den staatlichen wie von den religiösen Ge-
setzen im obigen Sinne zu imterscheiden
ist das sittliche Gesetz, wenn auch dessen
Inhalt materiell grösstenteils in jenen und
namentlich in den religiösen Gesetzen mit
enthalten sein und auch die subjektive Auf-
fassung desselben einen religiösen Charakter
haben kann. Die Besonderheit des sittlichen
Gesetzes liegt darin, dass es nicht von einer
äusseren Atitorität gegeben wird, sondern
aus dem persönlichen Gewissen des Menschen
entspringt. Auch fehlt ihm die für ein
äusseres Gesetz unentbehrliche Bestimmt-
heit der Formulierung, da sich das sittliche
Handeln und Verhalten nicht erschöpfend
durch abstrakte Sätze regeln lässt, vielmehr
in manchen Fällen eine durchaus konki'cte
Entscheidung gefordert wird, wie denn ja
auch die gleiche äussere Handlung je nach
den Umständen sittlich oder \msittlich sein
kann. Wir stehen schon an der Grenze des
eigentlichen Gesetzbegriffes, wenn wir von
Gesetzen der (Landes- oder Gesellschafts-)
Sitte oder gar der Mode sprechen. Aller-
dings stellen Sitte und Mode für das Thun
und Ijassen in gewissen Gesellschaftskreisen
Regeln auf, deren Befolgung der einzelne
Gesetz
235
Angehörige dieser Kreise nicht leicht ver-
weigern wird. Indes sind diese Regeln
und Gebräuche häufig ohne vernünftige Be-
gründung, daher auch sowohl örtlich wie
zeitlich einem grossen Wechsel unterworfen.
Auch besteht kein eigentlicher Zwang zu
ihrer Erfüllung, sondern sie weixien haupt-
sächlich durch Gewohnheit, Nachahmungs-
sucht oder Eitelkeit aufrecht erhalten.
In allen bisher angeführten FäUeu bildet
das Gesetz eine Richtschnur für den
menschlichen Willen, und man kann
daher sagen, dass die Gesetze im eigent-
lichen Sinne ausschliesslich Willensgesetze
seien. Von Verstandesgesetzen, d. h. von
logischen oder mathematischen, kann man
nur im übertragenen Sinne reden, indem
man die immittelbar gegebene Notwendig-
keit unserer fimdamentalen Anschauungs-
und Denkformen und des Zusammenhangs
von Grund und Folge bildlich als die Er-
füllung einer äusserlich aufgestellten Vor-
schrift betrachtet. Aber auch zu der Vor-
steUung eines Naturgesetzes gelangen
wir nur durch eine von dem Willensgesetz
ausgehende bildliche üebertragun^. Wir
beobachten in der Natur überall eigentüm-
liche Regelmässigkeiten des Geschehens.
Viele derselben, namentlich die der Ent-
wickelung tmd Formung der Organismen
lassen sich nur qualitativ beschreiben, andere
aber — und zwar sind dies die möglichst
isolierten einfachsten physikalischen und
chemischen Gnmderscheinungen — lassen
sich auf feste mathematische Formeln oder
wenigstens auf einen scliarf bestimmten
quantitativen Ausdruck biingen. Die Er-
mhnmg lehrt, dass der betreffende Natur-
vorgang sich unabänderlich nach dieser
festen Norm abspielt, und wir legen daher
dieser Form des Geschehens den Charakter
der Notwendigkeit bei. Diese Notwendig-
keit aber führen wir bildlich auf eine Vor-
schrift zurück, die wir von aussen her ge-
geben denken, während sie in Wirklichkeit
nur ein abstrakter Ausdruck des beobach-
teten Geschehens ist
Unter dem immer mächtiger werdenden
Einflüsse der naturwissenschaftlichen Welt-
anschauung ist mm aber der Begriff des
Naturcesetzes, der ursprilnglich metaphorisch
vom Willensgesetz abgeleitet ist, selbständig
hingestellt und nun seinerseits wieder auf
die Erscheinungen des Menschenlebens über-
tragen worden. Das Naturgesetz ist hier-
nach eine unabänderliche Formel für das
Geschehen aus physischer Notwendigkeit.
Als physischer Organismus ist auch der
Mensch zweifellos solchen Gesetzen unter-
worfen; aber man hat auch versucht, für
die menschlichen Handlungen, die individuell
unzweifelhaft vom Willen bestimmt werden,
die Herrschaft von Naturgesetzen nachzu-
weisen. Die Bestimmimg dieser Handlungen
durch den Willen wäre dann also nur eine
scheinbare ; über ihnen und den Handelnden
unbewusst waltete eine naturgesetzliche
Formel, die mit physischer Notwendigkeit
wenigstens in den Massenerscheinungen ein
bestimmtes Endergebnis herbeiführen müsste.
Diese Anschauung wurde erzeug durch die
Beobachtung der Gleichförmigkeit und Regel-
mässigkeit in gewissen Massenerscheinungen
des menschlichen Gesellschaftslebens, nament-
lich aber durch die statistische Feststellung
der annähernden Konstanz der Zahlenver-
hältnisse, in denen gewisse Handlungen in
einer grossen Bevölkerung auftreten. Ein
solches konstantes Zalilenverhältnis schien
eine unmittelbare Analogie mit einem Natur-
gesetz zu haben, und man legte ihm daher
dieselbe herrschende Kraft bei, die man
den Naturgesetzen zusclireibt. Dieser Ana-
logieschluss ist aber nicht berechtigt, denn
es kann bei grossen Beobachtungsreihen an-
nähernd dasselbe Zahlenverhältnis für ge-
wisse Handlungen einfach als nahezu gleich-
bleibendes Resultat des Zusammentreffens
der Einzelfälle hervortreten, ohne dass des-
wegen irgend ein heiTSchender oder leiten-
der, auf die Erzielung gerade dieses Zahlen-
verhältnisses gerichteter Einfluss zu bestehen
braucht. Immerhin jedoch bildet die Er-
klärung der Regelmässigkeiten in den ge-
sellschaftlichen Massenerscheinungen eine
wichtige wissenschaftliche Aufgabe.
Unmittelbar einleuchtend sind diese Begel-
mässigkeiten nur, wenn sie auf einem streng
durchgeführten gebietenden Willens-
gesetz, also namentlich einem staatlichen
Gesetze beruhen. Wenn das Gesetz befiehlt,
dass alle Kinder von einem bestimmten Alter
ab Schulunterricht erhalten sollen, dass alle
jungen Männer im Alter von 20 Jahren sich
den Militärbehörden zur Verfügung stellen, dass
alle Arbeiter gegen Unfälle und Invalidität ver-
sichert werden sollen, so wird in einem wohl
organisierten Staate die Zahl derjenigen, die
eine solche Verpflichtung nicht erfüllen, im
Verhältnis zu der Gesamtzahl der Verpflichteten
schon sofort nach Erlass des Gesetzes sehr klein
sein und wahrscheinlich von Jahr zu Jahr noch
weiter abnehmen, weil die beobachteten Ver-
letzungen des Gesetzes für die staatlichen
Organe einen Antrieb zu energischerer Hand-
habung ihrer Zwangsmittel büden würden. Das
Verhältnis der Zahl der Gehorchenden zu der
Zahl der Verpflichteten würde also immer ein
der Einheit nahe kommender Bruch sein, der
als Mass für die Intensität der Wirksamkeit
des Gesetzes zu betrachten wäre. Hätte diese
Intensität den unter den gegebenen Umständen
erreichbaren höchsten Grad dauernd erlangt, so
würden die etwa von Jahr zu Jahr bereclmeten
Einzelwerte nur äusserst wenig von einander
abweichen, z. B. vielleicht nur zwischen 0.99600
und 0,99600 schwanken. Diese Einzelwerte
wären keineswegs gänzlich unabhängig von
einander, sondern unter sich in der Weise
236
Gesetz
yerbunden, dass jede einigermassen rmge-
wohnliche Abweichung nach unten als Ursache
wirkt, um in den nächsten Jahren die Ab-
weichung zu vermindern. Auch die Werte,
die infolge besonders günstiger Umstände der
Einheit ungewöhnlich nahe gerückt sind, können
auf die folgenden erhöhend zurückwirken, indem
durch diese befriedigenden Ergebnisse die Thätig-
keit der Ausführungsorgane mehr angespornt
wird. So kann für solche Verhältniszahlen eine
Stabilität erreicht werden, die in dem unten
darfifelegten Sinne als „übernormaP' zu be-
zeichnen wäre. Jedoch ist ein solches Eesultat
keineswegs bei allen, wenn auch mit voller
Strenge durchgeführten Staatsgesetzen zu er-
warten. Man betrachte z. B. das Verhältnis
derjenigen, die eine direkte Steuer wirklich
zahlen, zu der Zahl der Steuerpflichtigen. Alle
Besitzer eines Einkommens, das über eine ge-
wisse Grenze hinausgeht, werden die ihnen
auferlegte Zahlung leisten, wenn sich auch
einzelne aus Nachlässigkeit oder anderen
Gründen vielleicht mahnen lassen. Unterhalb
jener Grenze aber wird nicht nur die Anwendung
von Zwangsmassregeln immer häufiger, sondern
es kommen auch immer mehr erfolglose
Exekutionen vor. Während also die erwähnte
Verhältniszahl für die erste Klasse der Steuer-
zahler konstant gleich 1 ist, bildet sie für die
zweite einen oft erheblich von der Einheit ab-
weichenden Bruch, in dessen Schwankungen
sich hauptsächlich die mehr oder weniger un-
günstige wirtschaftliche Lage der unbemittelten
Klassen abspiegelt. Manche Polizeiverordnungen
(z. B. über die Anmeldung von Fremden) wirken
nur mit verhältnismässig geringer Intensität,
weil eine strenge Kontrolle übermässige Kosten
verursachen würde. Die Zahl der Verpflichteten
ist in solchen Fällen oft gar nicht bekannt, und
der Grad der Durchführung der Vorschrift
kann dann nur unvollkommen durch das Ver-
hältnis der Zahl der Bestrafungen zur Zahl
der Einwohner oder einer bestimmten Klasse
von Einwohnern gemessen werden. Wenig inten-
siv ist in der Gegenwart auch die Wirkung man-
cher kirchlichen Gesetze oder Vorschriften, wie
z. B. die immerhin beträchtliche Zahl von Ehe-
schliessungen ohne kirchliche Trauung beweist.
Das Verhältnis der Zahl der Trauungen zu der
Gesamtzahl der Eheschliessungen ist jedoch
keineswegs konstant, sondern es bewegt sich
parallel mit dem Wachsen oder Abnehmen des
Einflusses der betreff'enden Kirche auf ihre An-
gehörigen.
Wenn sich aber auch wirklich die Ver-
hältniszahl, die den (rrad der Wirksamkeit
eines gebietenden Gesetzes misst, längere Zeit
hindurch annähernd unverändert erhält, so wird
deshalb doch niemand vernünftigerweise be-
haupten können, dass jene Zahl dann selbst
den Ausdruck eines Gesetzes bilde, d. h. die
Bedeutung einer naturgesetzlichen Formel be-
sitze. ^^ird die Handhabung des (tesetzes
schlaifer oder das Widerstreben der Bevölkerung
gegen dasselbe grösser, so nimmt jene Ver-
hältniszahl ab, anderenfalls nimmt sie zu; bleibt
sie aber annähernd gleich , so müssen wir
schliessen, dass die Art der Handhabung und
das Verhalten der Bevölkernns: im ganzen
gleich geblieben sind, wenn wir auch nicht im
Stande sind, im einzelnen nachzuweisen, warum
unter diesen Umständen nun gerade dieses Ver-
hältnis der Zahl der Gehorchenden zu der der
Verpflichteten herauskommt. „Handhabung des
Gesetzes" und „Verhalten der Bevölkerung"
sind eben keine scharf umgrenzten Begriffe, es
lassen sich daher aus diesen Ursachen keine
quantitativ bestimmten Wirkungen ableiten,
sondern man kann nur umgekehrt aus den be-
obachteten, zahienmässig ausdrückbaren Wir-
kungen auf die Grösse oder vielmehr auf die
Aenderungen der Grösse der Ursachen zurück-
schliessen.
Die Wirksamkeit eines verbietenden
Gesetzes lässt sich nicht mit gleicher Sicher-
heit durch ein Zahlenverhältnis charakterisieren
wie die eines gebietenden. Denn nicht alle
diejenigen, die das Verbot nicht verletzen,
können deshalb im positiven Sinne als Erfüller
des Gesetzes betrachtet werden. Vielen ist es
nach Alter, Geschlecht, Lebensverhältnissen
geradezu unmöglich, gewisse verbotene Hand-
lungen — Vergehen oder Verbrechen — zu be-
gehen, viele andere kommen niemals auch nur
entfernt in die Versuchung zu solchen Hand-
lungen. Für alle diese ist also das Verbot so
gut wie nicht vorhanden, und als wirksam
kann es nur hinsichtlich derjenigen gelten,
denen überhaupt jemals der Gedanke an eine
Uebertretun^ desselben gekommen ist und die
ihn durch die mehr oder weniger klare Er-
innerung an das Gesetz verscheucht haben. Da
es aber unmöglich ist, die Zahl dieser Personen
zu ermitteln, so lässt sich die Wirksamkeit des
(Tcsetzes nur unvollkommen und in umgekehrter
Proportionalität durch das Verhältnis der Zahl
der Uebertretungen zu einer mehr oder weniger
willkürlich abgegrenzten Gesamtheit von Per-
sonen abschätzen. Als letztere eignet sich die
ganze Einwohnerzahl am wenigsten ; man wird
jedenfalls die kindlichen Altersklassen ausscheiden
und auch die beiden (leschlechter für sich be-
handeln müssen. Im übrigen unterscheidet man
meistens nur noch eine Anzahl von Alters-
klassen und berechnet das fragliche Verhältnis
für jede derselben besonders. In jeder dieser
Gruppen ist nun wahrscheinlich der Prozent-
satz derjenigen, die irgendwie der Versuchung
zu der betreffenden Gesetzesübertretung aus-
gesetzt sind, ein verschiedener; andererseits
kann auch die durchschnittliche Neigung zu
der Uebertretung und die durchschnittliche
Widerstandskraft der Versuchten in jeder Klasse
verschieden sein. Die Strenge der angedrohten
Strafen und die Schnelligkeit und Cieschicklich-
keit in der Entdeckung der Urheber der Ge-*
setzos Verletzungen wird ohne Zweifel auch ein
Motiv liefern, das den Widerstand gegen die
Versuchung verstärkt. Die Relativzahlen für
die Häufigkeit der Vergehen und Verbrechen
in den verschiedenen Altersklassen drücken also
keineswegs einfach den relativen ,,penchant au
crime** des „mittleren Menschen** in diesen
Gruppen aus.
In welchem Masse die nicht vom Straf-
gesetze unterstützten sittlichen Gebote im
(jcsellschaftsleben zur Wirksamkeit gelangen,
lässt sich bisher höchstens nach allgemeinen
Eindrücken oder vereinzelten Anhaltspunkten
in vager Weise schätzen, aber nicht durch
statistische Verhältniszahlen auch nur annähernd
charakterisieren. Von den sittlichen Ver-
Gesetz
237
boten ^It dasselbe wie von den strafgesetz-
lichen: ihr Einflnss kann bestenfalls nur nn-
fenau und im umgekehrten Verhältnis nach
er Zahl der Uebertretungen bemessen werden.
Aber auch dies ist nur in wenigen Fällen mög-
lich, wie bei den unehelichen Geburten ^ den
Selbstmorden, den Veranlassungen zur Ehe-
scheidung. Man begnügt sich bei der statisti-
schen Untersuchung dieser unmoralischen Hand-
lungen ebenfalls meistens mit der Unterscheidung
der beteiligten Personen nach dem Geschlechte
und gewissen Altersklassen. Es kommt aber
auch nier wieder auf die relative Zahl der der
Versuchung Ausgesetzten in jeder Gruppe an.
ferner auf Neigung und Widerstandskraft der
Versuchten, ausserdem meistens weniger auf
den Einfluss abstrakt sittlicher Motive als viel-
mehr religiöser Vorstellungen und der Scheu
vor der öffentlichen Meinung.
Die Wirksamkeit aller verbietenden Gesetze
hängt also von Umständen ab, die noch weniger
festgestellt und in ihren Einzelheiten verfolgt
werden können als die bei den gebietenden
Gesetzen in Betracht kommenden. Die Relativ-
zahlen der Häufigkeit der Uebertretungen in
gewissen Gruppen bilden aber immerhin ein
Mittel zur quantitativen Charakterisierung des
Gesamteinflnsses jener Umstände: sie nehmen
zu oder ab, wenn die Wirksamkeit des Gesetzes
schwächer oder stärker wird, und wenn sie
längere Zeit annähernd unverändert bleiben, so
ist dies das einzige überhaupt fassbare zahlen-
mässige Kriterium für das ungefähre Gleich-
bleiben jenes Komplexes von Umständen, keines-
wegs aber die Wirkung einer die Umstände
selbst geheimnisvoll beherrschenden naturgesetz-
lichen Macht.
Ebenso sind nun aber auch die statistischen
Begelmässi^keiten des Gesellschaftslebens auf-
zufassen, die nicht mit Geboten oder Verboten
zusammenhängen, sondern aus weitverbreiteten
Neigungen, Bestrebungen und Motiven hervor-
gehen. Man darf z. B. annehmen, dass alle
Männer von einem gewissen jjugendlichen Alter
an die Neigung haben zu heiraten. Sie können
aber dieser Neigung erst folgen, wenn sie eine
gewisse wirtschaftliche Selbständigkeit erlangt
haben, und daher schiebt sich die wirkliche Ehe-
schliessung mehr oder weniger und in den ver-
schiedenen Gesellschaftsklassen in verschiedenem
Masse hinaus; manche zögern auch ungewöhn-
lich lange aus Vorsicht oder Berechnung, andere
aber sterben, bevor sie zu einem Entschluss
gelangt sind, andere verzichten aus irgend
welchen Gründen gänzlich auf die Ehe. Das
Gesamtergebnis dieser teils äusseren und teÜB
subjektiven, teils treibenden und teils hemmen-
den Bestimmungs^ründe und Einflüsse ist nun,
dass in den verschiedenen Altersklassen jährlich
ein gewisser Prozentsatz der in derselben
stehenden Männer wirklich heiratet, und diese
Belativzahlen bilden nun wieder eine Art von
Mass für die Gesamtwirkung jener mannig-
faltigen Umstände. Bedeutende plötzliche Aende-
rungen werden diese Zahlen nur bei wesent-
lichen Aenderungen der allgemeinen wirtschaft-
lichen Lage aufweisen ; denn die übrigen Lebens-
verhältnisse, die Altersverteilung, die vor-
herrschenden Motive sind in einer grossen Be-
völkerung keinem raschen Wechsel unterworfen,
sondern bleiben oft längere Zeit stetig oder
zeigen nur eine langsame Bewegung nach einer
zeitweilig beibehaltenen Richtung. Aber^ auch
die starken wirtschaftlichen Schwankungen
werden hauptsächlich auf das Verhältnis der
Gesamtzahl der Eheschliessungen zu der Zahl
der im heiratsfähigen Alter stehenden Männer
einwirken, während die relative Beteiligung der
einzelnen Altersklassen durch jene allgemein
wirkende Ursache mit Ausnahme etwa der
jüngsten Klasse weniger stark berührt wird.
Auch die relative Verteilung der Eheschliessungen
nach dem Familienstande der Heiratenden (Ver-
bindung von Junggesellen mit Jungfrauen, von
Junggesellen mit Witwen etc.) wird im ganzen
weniger stark schwanken als das allgemeine
Heirats Verhältnis, weil die Aenderung des volks-
wirtschaftlichen Zustandes auf jene — wenn
auch keineswegs völlig wirkungslos bleibt —
so doch weniger stark einwirkt als auf diese.
Was endlich die von der Statistik untersuchten
physiologischen Massenerscheinungen be-
trifft, die Geburten, Erkrankungen, Sterbefälle,
so hat jeder Einzelfall selbstverständlich eine
naturgesetzliche Verursachung, aber die Ver-
hältniszahlen, mittelst deren wir die Intensität
des Auftretens dieser Massenerscheinungen
messen, bilden ihrerseits ebensowenig den Aus-
druck von Naturgesetzen, als dies hinsichtlich
der entsprechenden Zahlen auf dem moral-
statistischen Gebiet der Fall ist. Sie bilden
wiederum nur ein Kriterium für die Gesamt-
wirkung eines verwickelten Komplexes von
Umständen, die überhaupt nicht anders gemessen
und auch nicht aus ihren Elementen genauer
abgeleitet werden kann. Die Stabilität der
Lebensverhältnisse hat als Resultat eine ge-
wisse Beständigkeit dieser charakteristischen
Relativzahlen, Sie aber deshalb nicht weniger
gegen jede Störung der normalen Zustände
empfindlich bleiben, fann eine auffällige Aende-
rung einer solchen Zahl als Folge einer er-
kennbaren Störung nachgewiesen werden, so
bildet sie zugleich eine Art von Mass für diese.
Jedermann wird diese bloss symptomatische
Bedeutung der moralstatistischen oder demo-
graphischen Zahlen Verhältnisse zugeben, wenn
sie dauernde Aenderungen in bestimmter Rich-
tung oder bedeutende Schwankungen in längeren
unregelmässigen Perioden zeigen, namentlich
wenn diese Bewegungen deutlich parallel gehen
mit gewissen Aenderungen der die Erscheinung
beeinflussenden Umstände. Aber wenn ein
solches Verhältnis eine längere Reihe von Jahren
hindurch annähernd konstant bleibt, so scheint
diese Thatsache vielen so auffallend, dass sie
für dieselbe eine besondere einheitliche Ursache,
also ein besonderes Naturgesetz, annehmen
möchten. Aber man wäre doch höchstens be-
rechtigt zu sagen: das Naturgesetz besteht
darin, dass der ganze Komplex von Ursachen
konstant bleibt, aus dem die betreffenden Er-
scheinungen hervorgehen. Dies jedoch würde
dem naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch
nicht entsprechen, denn nach diesem versteht
man unter Naturgesetz eine bestimmt nach-
gewiesene Norm für eine nicht weiter zerleg-
bare Grunderscheinung oder eine bestimmt nach-
gewiesene Norm für das Zusammensein mehrerer
Grunderscheinungen. Daher ist es kein Natur-
gesetz, dass Berlin eine mittlere Jahrestempe-
ratur von 8 Grad besitzt, sondern es ist dies
238
(resetz
nur das Besultat des empirischen Bestehens
eines verwickelten Komplexes von umständen
und Ursachen, der an derselben Oertlichkeit zur
Zeit Cäsars nnd vollends in früheren geologischen
Perioden wesentlich anders gestaltet war als ge-
genwärtig. Ebenso wäre also vom naturwissen-
schaftlichen Standpunkt jene zeitweilige Stetig-
keit statistischer Zahlenverhältnisse zu beurteilen.
Vor allem aber muss die Frage gestellt
werden: ist denn wirklich die Stabilität ge-
wisser Zahlenverhältnisse in einem Grade vor-
handen, der das namentlich seit Quetelet übliche
Staunen rechtfertigt? Zur Beantwortung dieser
Frage ist festzustellen, wie die Stabilität eines
solchen Verhältnisses gemessen wird. £s kann
dies zunächst rein empirisch geschehen, indem
man aus einer Beihe von Einzeiwerten des-
selben das arithmetische Mittel nimmt, die Ab-
weichungen von diesem in Prozenten desselben
berechnet und dann das Mittel dieser Ab-
weichungen sowohl nach der positiven wie nach
der negativen Seite bestimmt Hat der Mittel-
wert eine reale, typische Bedeutung, so werden
bei nicht allzu kleiner Zahl der Einzel werte die
mittlere positive und negative Abweichung
einander nahezu gleich sein. Man erhält auf
diesem Wege zwar kein Urteil darüber, ob die
Stabilität einer Beihe von Beobachtungen ab-
solut ^oss oder klein sei, aber man kann doch
verschiedene Beihen hinsichtlich ihrer Stabilität
mit einander empirisch vergleichen und man
wird dabei z. B. finden, dass im allgemeinen
sekundäre Verhältniszahlen in höherem Grade
konstant sind als primäre, wie dies oben schon
beispielsweise in betreff der relativen Grösse
der Heiratsziffer in den verschiedenen Familien-
stand&klassen erwähnt wurde. Von den Fehlem
der statistischen Zahlen selbst sehen wir hier
ab; diese sind jedenfalls grösser bei den aus
den Volkszählungen als den aus der Standes-
buchführung stammenden Angaben.
Eine absolute Beurteilung der Stabilität
statistischer Verhältniszahlen ist nur möglich,
wenn diese die Form von Wahrschemlichkeits-
grössen besitzen oder bekannte Funktionen
solcher Grössen sind. Als eine Wahrscheinlich-
keitsgrösse aber bezeichnen wir einen Bruch,
dessen Zähler eine Anzahl besonderer Fälle
darstellt, die aus der den Nenner bildenden
grösseren Zahl von Fällen oder Beobachtungs-
einheiten hervorgegangen ist. Unter dieser
Voraussetzung kann man nämlich die Ergeb-
nisse der einzelnen, z. B. jährlichen Beobachtungs-
reihen mit denjenigen eines analog eingerichteten
Glückspiels an einer Urne vergleichen, die in
einem festen Verhältnis schwarze und weisse
Kugeln enthält. Das Verhältnis der Zahl
schwarzer Kugeln zu der Gesamtzahl in der
Urne würde also der eigentlichen, konstanten
Wahrscheinlichkeit v eines bestimmten Ereig-
nisses entsprechen, die bei einer Reihe von lOUO
oder 10000 oder allgemein g Versuchen ge-
zogene Zahl s von (immer wieder zurück-
gelegten) schwarzen Kugeln, geteilt durch g
aber würde jedesmal einen mehr oder weniger
ungenauen empirischen Ausdruck v,, v», Vg etc.
jener zu Grunde liegenden Wahrscheinlichkeit
ergeben. Ist diese letztere selbst unbekannt,
so nimmt man als wahrscheinlichsten Wert der-
selben das Mittel aus den beobachteten Einzel-
werten. Wenn nun die durchschnittliche Ab-
weichung dieser Einzelwerte von ihrem Mittel-
werte nahezu ebenso gross ist, wie sie bei Ver-
suchen mit derselben Grundzahl g an einer
Urne nach der Wahrscheinlichkeitstheorie zu
erwarten ist, so betrachten wir sowohl die
Stabilität wie auch die Dispersion (das
Gegenteil der Stabilität) der Einzel werte als
normal. Ist jene durchschnittliche (oder statt
deren auch die sogenannte wahrscheinliche) Ab-
weichuuj^ grösser, als der Analogie mit dem
Glückspiel bei konstanter Wahrscheinlichkeit
entspricht, so ist die Stabilität der Beobachtungs-
werte unternormal, ist jene Abweichung kleiner
als die Vergleichsgrösse , so ist die Stabilität
übemormal, während die Dispersion im ers-
teren Falle als übernormal und im zweiten
als untemormal zu bezeichnen ist. Wie sich
die Verg] eichung ausführen lässt, ist an einem
Beispiel in dem Art. Geschlechtsverhält-
nis gezeigt, auf den hier verwiesen werden muss
(s. oben S. 179).
Wenn nun ein statistisches Zahlenverhält-
nis bei 15—20 Einzelbestimmungen mit an-
nähernd gleicher Grundzahl g normale Dis-
persion zeigt, so stehen diese Einzelwerte ebenso-
wenig unter sich in einem inneren Zusammen-
hange als die Ergebnisse von ebenso vielen
Reihen von g Versuchen an einer Urne mit
einer entsprechenden Anzahl schwarzer und
weisser Kugeln. Diese Ergebnisse des Glück-
spiels sind völlig unabhängig von einander in
dem Sinne, dass eine ungewöhnlich grosse Ab-
weichung eines Einzelwertes vom Mittel keines-
wegs eine Ursache bildet, weshalb ein anderer
Wert weniger stark abweichen sollte. Die
näheren Umstände jeder Ku^elziehung, die Art,
wie die Urne geschüttelt wird, wie die Kuij^el
blindlings ausgewählt wird, ist völlig will-
kürlich; die annähernde Uebereinstimmung der
Einzelergebnisse entsteht nicht durch ein
zwingendes Gesetz, sondern nur als Ausdruck
der Thatsache, dass die allgemeinen Grund-
bedingungen der Versuche — in diesem Falle
das Verhältnis der in der Urne enthaltenen
schwarzen und weissen Kugeln — konstant
bleiben und diese Regelmässigkeit tritt nur
mit einer Wahrscheinlichkeit zu Tage,
die zwar mit wachsendem g immer mehr steigt,
aber doch nie zur völligen Gewissheit wird.
Wenn also ein statistisches Verhältnis diesen
Grad von Stabilität aufweist, so liegt darin
nichts Unbegreifliches. Es* handelt sich dann
noch immer nur um eine unverbundeue
Massenerscheinung, d. h. eine solche, deren
Einzelfälle nicht aufeinander zur Erzeugung
einer übernormalen Stabilität einwirken. Nun
findet man aber unter allen Zahlenverhältnissen,
die in der Moralstatistik und der Demographie
herkömmlich berechnet werden, nur wenige, denen
man mit Sicherheit für längere Perioden nor-
male Stabilität zuerkennen kann: so namentlich
das Geschlechtsverhältnis der Geborenen und das
der Gestorbenen in den ersten Lebensjahren,
wobei zu bemerken ist, dass diese Verhältnisse
beide sich auf physiologische Massen-
erscheinungeii beziehen und dass sie beide
sekundäre sind. Das Verhältnis der Knaben-
und Mädcbengeburten bleibt also in dem Grade
stabil, als wenn in jedem Ovarium männliche
und weibliche Keime in gleichem Verhältnisse
vorhanden wären oder auch, als wenn in der
(jesetz
23
Gesamtheit aller Ovarien ein von Jahr zn Jahr
gleichbleibendes Verhältnis jener Keime bestände.
Wäre die Stabilität eine noch grössere , so
müsste man annehmen, dass zwischen den
einzelnen Geburten ein geheimnisvoller Zn-
sammenhang bestände, vermöge dessen ein
örtlicher oder zeitweiliger übergrosser Knaben-
überschuss als Ursache wirkte, um anderswo
oder zu einer anderen Zeit eine desto geringere
Anzahl von Enabengeburten herbeizuführen.
Das wäre zu vergleichen einem Spiele mit ge-
fälschten, d. h. mit so vorbereiteten Würfeln,
dass ein bestimmtes Resultat mit fast voll-
ständiger Genauigkeit herauskäme, und man
könnte dann wirklich von einem die sämtlichen
Einzel^le beherrschenden Naturgesetze reden.
Die normale Stabilität ist daher zugleich die
maximale, die bei un verbundenen Massen-
erscheinungen möglich ist. Eine höhere, also
eine übernormale Stabilität wäre nur bei solchen
Massenerscheinnngen begreiflich, die durch streng
dnrchfi^eführte Willensgesetze geregelt sind, wie
dies oben schon erwähnt wurde. Wirklich nach-
gewiesen ist sie aber auch für solche Fälle bis-
her noch nicht. Was aber die eigentlich moral-
statistischen Verhältniszahlen betrifft,so zeigen sie
durchweg selbst bei scheinbar nur geringer Ver-
änderlichkeit übernormale Dispersion, d. h.
sie besitzen noch nicht, teilweise sogar bei
weitem noch nicht den Grad von Stabilität, der
den Ergebnissen eines analogen Glückspieles
zukommt Westergaard findet allerdings in dem
Verhältnisse der Zahl der weiblichen Selbst-
mörder zu der Gesamtzahl in Dänemark in den
Jahren 1861 — 1886 und in Belgien in der Periode
von 1865 — 1883 üebereinstimmung mit den Er-
fahrungen beim Glückspiele; ebenso auch für
Dänemark in dem verhältnismässigenVorkommen
des Selbstmordes durch Erhängen und der rela-
tiven Häufigkeit desselben in den Monaten
Oktober bis Dezember. Aber in anderen Ländern
treten diese Verhältniszablen mit einem ge-
ringeren Grade von Stabilität auf. Für Frank-
reich z. B. habe ich gezeigt, dass die Belativ-
zahl der Selbstmorde durch Ertränken bei beiden
Geschlechtem in der Zeit von 1835—1868 über-
normale Dispersion aufweist, und dass man
normale Stabilität dieses Verhältnisses nur beim
weiblichen Geschlechte in einer kürzeren Periode
innerhalb jenes ^nzen Zeitraumes findet, der
eigens mit Rücksicht auf diesen Umstand aus-
gewählt ist. Auch der relative Anteil des weib-
lichen Geschlechtes am Selbstmorde hat in jener
Beobachtungsperiode nicht die normale Stabilität
behauptet, sondern im ganzen eine unverkenn-
bare Tendenz zum Sinken bekundet. Das
Vorherrschen einer bestimmten Veränderun^s-
richtnng bei einer Verhältniszahl ist natürlich
überhaupt mit normaler Stabilität derselben
nicht vereinbar. Tritt aber eine solche Tendenz
in einer längeren Beobachtungsreihe nicht her-
vor, so ist es von Interesse, zu untersuchen, ob
die Abweichungen vom Mittelwerte, wenn auch
die Stabilität der Reihe hinter der dem Schema
des Glückspieles entsprechendcD bedeutend zu-
rückbleibt, sich nicht dennoch in der Art
gruppieren, als wenn sie den Charakter rein
zufälliger Störungen besässen, d. h ob nicht
die Gruppierung der fiir die Wahrscheinlichkeits-
rechnung fundamentalen Exponentialfunktion
entspricht (s. darüber die Artt. Anthropo-
logie und Anthropometrie oben Bd. I
S. 388 ff. und Geschlechtsverhältnis oben
Bd. IV S. 177 ff.). So hat Lehr gezeigt, dass im
Deutschen Reiche in den Jahren 1841 — 1885 das
Verhältnis der Zahl der Totgeburten zu der Ge-
samtzahl der Geburten sowie auch das Verhältnis
der Gestorbenen zu der Gesamtzahl der Lebenden
nur Abweichungen vom Mittel aufweist, die als
zuföllige Störungen anzusehen sind, obwohl die
Dispersion der Einzelwerte bedeutend über die
normale hinausgeht. Dagegen fand Lehr, dass
die Verhältnisse der Zahl der Geburten und der
Zahl der Eheschliessungen zu den Lebenden
in demselben Zeiträume die Tendenz zu einem
mit der Zeit gleichförmig fortschreitenden
Steigen, das Verhältnis der unehelichen Ge-
burten zur Gesamtzahl der Geburten aber die
Tendenz zu einem gleichförmig fortschreitenden
Sinken besässen.
Es sind somit bisher keine statistischen
Verhältniszahlen von solcher Stabilität be-
kannt, dass man zur Erklärung derselben
einen naturgesetzlichen, auf die Herstellung
der Konstanz gerichteten inneren Zusammen-
hang der Emzelerscheinun^n annehmen
müsste ; vielmehr besitzen die meisten Ver-
hältniszahlen noch bei weitem nicht den
höchsten Grad der Stabilität, der bei unver-
bundenen Massenerscheinungen noch zulässig
erscheint, nämlich denjenigen, der den Er-
gebnissen eines entsprechend angeordneten
Glückspiel zukommt.
Wenn man von besonderen volkswirt-
schaftlichen Gesetzen spricht, so ver-
steht man darunter entweder allgemeine
Sätze über das wirtschaftliche Verhalten der
einzelnen Menschen oder allgemeine Schlüsse
aus der Annahme, dass eine Vielheit der
Menschen, von denen jeder für sich nach
gewissen wirtschaftlichen Erwägungen han-
delt, miteinander in Verkehr und Wettbe-
werb stehen. Jene Sätze über das indivi-
duelle Handeln sind durch psychologische
Abstraktion und durch die Beobachtung des
täglichen Lebens gewonnen ; sie wollen nur
aussagen, w^ie nach den thatsächüchen Er-
fahrungen die Mehrzahl der Menschen imter
gewissen Umständen zu verfahren pflegt,
stellen aber in keiner Weise zwingende
Normen auf, sondern lassen jedem volle
Freiheit, auch ^unwirtschaftlich« zu handeln,
z. B. sein Vermögen zu verschwenden oder
es für gemeinnützige oder patriotische
Zwecke zu opfern. In dem Geschäftsver-
kehre mit freier Konkurrenz üben allerdings
die Umstände auf den einzelnen einen ge-
wissen Zwang dahin aus, dass er streng
nach dem rrincip des wirtschaftlichen
Selbstinteresses handele: denn diejenigen,
die in diesem Kampfe rücksichtsvoll, be-
scheiden, grossmütig, freigebig auftreten,
laufen Gefahr, rasch eliminiert zu werden,
da die anderen ihnen nicht mit gleich edler
Gesinnung entgegentreten. Jedenfalls aber
handelt jeder Teilnehmer an dem Wettbe-
240
Gesetz
werbe nach seinen eigenen, klar bewussten
Motiven und nicht unter dem Drucke einer
naturgesetzlichen Notwendigkeit. Die Rich-
tigkeit der allgemeinen Sätze über die zu-
sammengCvSetzten wirtschaftlichen Prozesse
hängt natürlich zunächst davon ab, wie weit
die angenommenen Normen des individuellen
Handelns zutreffend sind. Meistens aber
werden auch sehr einfache äussere Be-
dingungen für den Verlauf des Prozesses
vorausgesetzt, während die wirklichen Ver-
hältnisse weit verwickelter sind, und da-
durch entstehen oft erhebliche Abweichungen
der thatsächlichen Erfahnmg von der nach
dem »Gesetz« zu erwartenden Gestaltung
der Dinge. Aber wenn das Gesetz auch
wirklich genau erfüllt wird, so Hegt doch
weiter nichts vor, als das vorausgesehene
Resultat des Zusammenwirkens vieler
Menschen nach erfahruogsmässig unter ihnen
vorhen'schenden, bewussten Motiven. Die
sogenannten geschichtlichen Gesetze
sind nur abstrakte Formulierungen gewisser
in ihren allgemeinsten Zügen aufgefassten
geschichtlichen Entwickelungen. Alles wirk-
lich geschichtliche ist individuell, zunächst
durch den Einfluss bedeutender Individuali-
täten ; aber auch das Volksleben als Massen-
erscheinung gestaltet sich um so indivi-
dueller und zeitlich einzigaiüger, je höher
die Kulturentwickelung steigt. Abstrakte
Sätze, in denen gerade das Individuelle der
Eutwickelungsgänge ausgescliieden ist,können
daher nm* von sehr beschränkter Bedeutung
sein imd namentlich keine irgendwie ver-
lässliche Grundlage für die Voraussicht des
künftigen Verlaufs der Dinge bilden.
Vergleiche der Entwickelung der Völker
oder der Kulturwelt mit einer andersai-tigon,
insbesondere mit der eines individuellen
Organismus sind ebenfalls niu- möglich auf
dem Boden ausgeleerter Abstraktionen, wie
Veränderung, Fortschiitt, Differenzierung etc.;
sie können auch nur zu bildlichen Analogieen
\md nicht zu einer wirklichen Vermehrung
unserer Einsicht in das Gescliichtsleben
ftihren, da jene abstrakten Bogriffe in den
beiden betrachteten Entwickelungen an gänz-
lich verschiedenen realen Erscheinungen
vorkommen, nämlich an solchen, in denen
sowolil die sich verändernden Elemente als
auch die Ursachen der Veränderungen durch-
aus verschiedener Natur sind. Und auf
diese besondere Natur der beiden Prozesse
kommt es für die wissenschaftliche Erkennt-
nis eben an, nicht auf die durch Abstrak-
tion von den Verschiedenheiten schliesslich
immer aufzufindende Uebereinstimmung der
allgemeinsten Formen des Geschehens. Die
meisten sogenannten »soziologischen« Gesetze
gehören zu der hier charakterisierten Art
von Abstraktionen. Auch die sogenannte
»organische« Methode, d. h. die Vergleichung
der Gesellschaft mit einem ehizelnen leben-
den Organismus führt nur zu bildlichen Ana-
logieen, da die zwischen den Menschen in
einer Gesellschaft bestehenden Beziehungen
ihrem ganzen Wesen nach von den zwischen
den Zellen eines Organismus waltenden che-
mischen, physikalischen und physiologischen
Wirkungen verschieden sind. Mehr Aus-
sicht auf Erfolg hat der von Tarde gemachte
Versuch, von den menschlichen Individuen
auszugehen und aus den zwischen ihnen
wirkenden psychologischen Beziehungen und
Triebfedern soziologische »Gesetze«, d. h.
ständige Massenerscheinungen abzuleiten. Er
hebt dabei namentlich aie Wirkung der
Nachahmung — das Wort in einem sehr
weiten Sinne genommen — liervor, die in
der That als die Hauptursache des gleich-
massigen Handelns grosser Massen zu be-
trachten ist.
Litteratnr : Die Schriften Quetelets sind in dem
Art. ^^ Anthropologie und Anthropornetrieii a. a. 0.
angeführt. Eingehende Kritik der AnsUhten Qaete-
leta von Rehnisch (Zur Orientierung über die Unter-
suchungen u. Ergebnisse der MoraUlatistiJ: in Ztschr.
für phil. und phil. Kritik, Bd. 68 und 69). — Voll-
ständig unhaltbare Anschauung von der Natur-
gesetzlichkeit im Gesellschaftslcben bei Bu4^kl€j
Geschichte der Civilisation in England. — A.
WdgneVf Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar
willkürlichen menschlichen Handlungen, Ilamb.
1864. — Ifet'selbe, Art. Statistik im St. W. B.
V. Bluntschli und Brater (auch besonders aus-
gegeben). — J[}robischf Die moralische 'Statistik
und die menschliche Willensfreiheit, Leipzig 1867.
— A, V, Oettinifen, Die Moralstatistik (be-
sonders in der später gekürzten Einleitung zur
ersten Aufl., Erlan/fcn 1868). — Rütnelinf Ueber
den Begriff eines sozialen Gesetzes (1867) ; Ueber
Gesetze der Geschichte (1878), wieder abgedruckt
in den Reden und Aufsätzen I und IJ, Freiburg
und TübingeJi 1875 und 1881. — Lexis, Zur
Theorie der 3Iassenerschcinungen in der mensch-
lichen Gesellschaft, h^eiburg 1877. S. auch die
Litteraturangaben des Art. nGeschlechtsverhältnisu
a. a. 0. — G. V. Mayr, Die Gesetzmässigkeit im Ge-
selhchaftsleben,München 1877. — Dornioy , Theorie
mathematique des assurances s^ir la vie, Paris
1878. (Der Verfasser behandelt in dem Kapitel
)) Theorie des ecartsa der Frage der Stabilität in
ganz ähnlicher Weise, wie ich es im Jahrg. 1876
der Ilädebrand-Conradschen Jahrb. gethan habe,
doch ist ihm meine Abhandlung nicht bekannt
gewesen.) — Edgeworth, Methods of staiistics.
Juhilee vol. of the Statistical Society, London
1885. — Lehr, Viert4:ljahrschr. f. Volksw. etc.
1888, S. Sff. — F. J. Neuntanrif Naturgesetz
und Wirt-schaftsgesetz, Zeitschr. f. Staatsw., Bd.
48, 1892. — Derselbe f WirtschafUi^he Gesetze
nach früherer und jetziger Aiiffassung, Jahrb.
f. Nat. u. Stat., S. F., Bd. 16, 1898. — Tartle,
Les lois de Vimitation, 8. ed., Paris 1898. —
Derselbe, Les lois sociaUs, Paris 1898. — M.
Westerg aar d , Grundzüge der Theorie der
Statistik, Jena 1890. — i. v. Bortkewitsch.,
Das Gesetz der kleinen Zahlen, Leipzig 1898.
Leocis,
öesindeverhältnis
241
Gesindeverhältnis.
1. Einleitung. 2. Gesindevertrag. 3. Die
ans dem Gesindeverhältnis entspringenden Ver-
pflichtungen. 4. Aufhebung.
1. Einleitiuis. Die Unterscheidung
zwischen freiem Gesinde mit vertragsmässi-
ger Dienstpflicht und zeitlich begi-enzter
Abhängigkeit und unfreien Dienern, welche
die Leibeigenschaft oder die Hörigkeit zimi
Zwangsdienste nötigte, begegnet zuerst in
den Rechtsbüchern und ötadtrccliten des
späteren Mittelalters. Die darin ausgebilde-
ten Rechtssätze gingen in die zahlreichen
Gesindeordnungen über, welche in der Zeit
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert entstanden.
Weil diese das Gesindewesen überhaupt be-
trafen, ohne immer genau das freie vom un-
freien Gesinde zu sondern, wurde nach
Aufhebimg der Leibeigenschaft und Unter-
thänigkeit eine Revision des Gesinderechts
notwendig. Deren Ergebnis liegt in den
neueren Gresindeordnungen vor, die in
Preussen (Gesindeordnung v. 9. November
181<)) und in anderen deutschen Staaten
seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts er-
lassen sind. Sie bleiben auch nach dem 1.
Januar 1900 in Kraft. Es finden neben
ihnen auf das Gesinderecht nur einzelne
bestimmte Vorschriften des B.G.B. und von
diesen der § 617 mit der beschränkenden
Massgabe Anwendung, dass ihm die Landes-
gesetze vorgehen, welche dem Gesinde
weitergehende Ansprüche gewähren (E. G.
Art. 95 Abs. 1 — 2, preuss. A.G. z. B.G.B.
Art. 14).
Das Gesindeverhältnis begreift die Rechte
und Pflichten zwischen Dienstherrschaft und
Gesinde. Nach römischem Recht würden
diese lediglich unter dem Gesichtspunkte
der Dienstmiete (locatio conductio operanmi)
zu beurteilen sein. Das deutsche Recht
aber leitet sie nicht bloss aus einem obliga-
torischen Vertrage her, sondern statuiert
zugleich eine persönliche Verbindung des
€resindes mit der Herrschaft, benihend in
der unter beiden Teilen bestehenden Haus-
gemeinschaft. An dieser persönlichen Ver-
bindung halten auch die neueren Gesinde-
ordnungen fest, wenngleich darin die Ab-
hängigkeit des Gesindes von der Herrschaft
als Folge der Aufnahme in die Hausgemein-
schaft nicht mehr so scharf her\'ortritt wie
in der älteren, namentlich in der preussi-
schen Gesetzgebung des A.L.R., welche das
Gesinde mit zur häuslichen Gesellschaft
rechnet und von den Rechten und Pflichten
des Gesindes beim Familienrecht handelt
(§ 4 I, 1; n, 5 A.L.R.). — Einen anderen
Standpunkt nimmt die französische Gesetz-
gebung ein. Wo diese noch innerhalb der
örenzen des Deutschen Reichs gilt, wie in
Elsass-Lothricgen imd in der ba^^erischen
Rheinpfalz, ist für die Rechte und Pflichten
von Herrschaft und Gesinde, den römischen
Principien entsprechend, der unter beiden
Teilen gesclilossene Dienstveiirag allein
massgebend (C. c. 1710, 1711, 1779, 1780,
2272. B.G.B. §§ 611—630. E.G. Art. 95
Abs. 1).
2. Gesindevertrag. Die G^sindedienste
sind entweder häusliche oder landwirtschaft-
liche, immer aber solche, welche dem Be-
dürfnisse gemäss nur geleistet werden
können, wenn das Gesinde der Herrschaft
jederzeit zur Verfügimg steht. Der Gesinde-
verti-ag setzt daher, abgesehen von dem
Versprechen ziu: Leistimg von Diensten der
bezeichneten Art für eine bestimmte Zeit
und gegen Zusicherung einer Vergütung zu-
gleich die Einwilligung des Gesindes voraus,
in die Hausgemeinscliaft der Herrschaft
aufgenommen zu werden.
Der Form nach ist dieser ein Konsen-
sualkontrakt. Jedoch gilt er regelmässig
erat dann für perfekt ^ wenn das Gesinde
von der Herrschaft em Draufgeld (arrha)
diu-ch Zahlung des üblichen Mietsgeldes
empfangen hat, welches nach einigen Rechten
auf den Lohn angerechnet wird, nach
anderen dem Gesinde noch ausser dem ÄJi-
spnich auf den vollen Lohn zukommt. —
Wer sich als Gesinde vermieten wiU,
muss über seine Person frei verfügen können.
Kinder in elterlicher Gewalt und Minder-
jährige müssen zum Vertragsabschluss die
Ermächtigimg ihres gesetzlichen Vertreters
(des Vaters bezw, der Mutter oder des Vor-
mundes) einholen, soweit es sich um den
Antritt des ei*sten Dienstes handelt. Weitere
Dienstverträge dürfen sie selbständig ein-
gehen. Die einmal erteüte Ermächtigung
wird so angesehen, als ob die Betreffenden
dadurch mit Bezug auf das Schliessen von
Gesindeverträgen allgemein für geschäfts-
fähig (handlungsfähig) erklärt sind (B.G.B.
§113 Abs. 4 S. auch CP.O. § 52).
Auf Seiten der Herrschaft ist bei be-
stehender Ehe das Mieten des Gesindes im
allgemeinen Sache des Älannes. Nur weib-
liche Dienstboten ist auch die Frau ohne
besondere ehemännliche Erlaubnis anzu-
nehmen befugt (preussische Gesindeordnung
1810 §§ 2, 3 ; schleswig-holsteinische Ges.-0.
1846 § 6 ; königlich sächsische Ges.-O. 1835
§§ 5—7. Vgl. B.G.B. § 1357).
Die Zeit des Dienstantritts und die Zeit-
dauer, welche das eingegangene Dienstver-
liältnis haben soll, richtet sich nach dem
Inhdt des Gesindevertrages, in Ermangelung
getroffener Abrede nach Ortsgebrauch oder
Gesetz. Eine Verlängerung auf einen weiteren
Zeitraum tritt ein, wenn nicht von einem
der beiden Kontrahenten vor Ablauf der
stipulierten Zeit das gegenseitige Verhältnis
aufgekündigt wird.
Handwörterbnch der StaatswiBsenschaften. Zweite Auflage. IV.
16
242
GesindeverhÄltnia
Verweigert das Gesinde trotz des ge-
schlossenen Gesindevertrages den Dienstan-
tritt, so ist es der Herrschaft nach manchen
Gesindeordnungen zum vollen Schadenser-
satz, nach anderen wenigstens zur Zahlimg
eines Teils des ausbedungenen Lohnes ver-
pflichtet. Andererseits hat die Herrschaft,
welche das gemietete Gesinde nicht an-
nimmt, diesem den vollen Lohn für die
ganze Mietszeit zu zahlen und es ausserdem
wegen der nicht gewährten Kost und Woh-
nung zu entschädigen.
3. Die aus dem GesindeverhaUnis
entspringenden Verpflichtungen. Die
gegenseitigen Verpflichtungen zwischen Ge-
sinde und Herrschaft richten sich nicht allein
nach den im Gesindevertrage getroffenen
Abreden. Vielmehr wird da zugleich die
Aufnahme des Gesindes in die Hausgemein-
schaft von Bedeutung. Wird doch, wie
schon bemerkt win-de, dadurch zwischen
ihm und der Herrschaft eine engere, über
das obligatorische Band hinausgehende per-
sönliche Verbindung hergestellt. Um des-
willen bestimmt der Gesindevertrag zwar im
allgemeinen den Kreis der häuslichen oder
landwirtschaftlichen Dienste, für welche das
Gesinde gemietet ist. Nicht aber darf dieses,
selbst wenn es rnu* zu gewissen Arbeiten
Bedungen ist, bei vorhandener Notlage der
[errschaft die Uebemahme anderer häus-
licher Verrichtungen ablehnen. Es ist ferner
nicht allein bei Ausführung der übernom-
menen oder aufgetragenen Arbeiten, sondern
nicht minder in semem ausserdienstlichen
Verhalten den Anordnimgen und Befehlen
der Herrschaft unterworfen. Es schuldet
»
ihr Gehorsam, Ehrerbietigkeit \md Treue.
— um das Gesinde zu seinen Pflichten an-
zuhalten oder wegen deren Verabsäumung
zu bestrafen, hatte die Herrschaft früher ein
Züchtigungsrecht. Gegenwärtig gilt solches
als unvereinbar mit der heutigen Stellung
der Dienstboten. Das E.G. zum B.G.B. Art.
95 Abs. 3 spricht es der Herrschaft aus-
drücklich ab. Wohl aber ist noch jetzt dem
Gesinde die gerichtliche Genugthuung zu
versagen, wenn es wegen ungebührlichen
Betragens oder Vernachlässigung seiner
Dienstpflicht von dem Dienstberechtigten
mit Worten getadelt und gescholten wird,
welche, zwischen anderen Pei'sonen ge-
braucht, für beleidigend zu erachten wären.
Das Gesinde hat seinerseits gegen die Herr-
schaft Anspruch auf Lohn, regelmässig auch
auf Kost und Wohnung. Die Forderung
wegen rückstandigen Lohnes und Kost-
geldes gehört zu den im Konkurse bevor-
zugten und bestgestellten Fordenmgen (K.O.
§ Gl, Nr. 1, vgl. auch R.G. über die Zwangs-
versteigerung v. 24. März 1897 § 10 Nr. 2).
Seine Beliaudlung durch die Heri-sc-haft muss
eine dem engeren pers()nlichen Verhältnis,
in dem es zu ihr steht, angemessene sein.
Nicht allein, dass ihm nichts zugemutet
werden darf, was strafbar ist oder gegen
die guten Sitten verstösst, hat die Herr-
schaft von ihm nicht übermässig schwere
Arbeiten zu verlangen, deren Ausführung
seine Kräfte übersteigen möchte. Sie hat
ihm die nötige Zeit zur Beiwohnung des
öffentlichen Gottesdienstes zu lassen. In
Ansehung der Wohn- und Schlafräume, der
Verpflegung sowie der Arbeits- und Er-
holungszeit hat sie diejenigen Einrichtungen
und Anordnungen zu treffen, welche mit
Rücksicht auf die Gesundheit, die Sittlich-
keit und Religion des Gesindes erforderlich
smd (B.G.B. § 618 Abs. 2—3, vgl. da-
zu noch §§ 842—846). Wenn ein Dienst-
bote erkrankt und die Krankheit nicht etwa
durch sein eigenes Verschulden entstanden
ist, muss der Dienstberechtigte ihm Kur
und Pflege im eigenen Hause oder in einer
öffentlichen Heilanstalt für eine gewisse
Zeit gewähren, ohne ihm darum etwas am
Lohne zu kürzen (E.G. Art. 95 Abs. 2,
vgl. mit B.G.B. § 617). Gegen Gefahren,
welche sein Leben oder seine Gesundheit
bei Verrichtung der von ihm zu leistenden
Dienste treffen können, ist das Gesinde zu
schützen. Dementsprechend hat der Dienst-
berechtigte die Räume, Vorrichtungen und
die von ihm zur Verrichtimg der Dienste zu .
beschaffenden Gerätschaften dergestalt ein-
zurichten und zu unterhalten und die Dienst-
leistungen selbst, welche unter seiner An-
ordnimg und Leitung vorzunehmen sind, so
zu regeln, dass den bezeichneten Gefahren
begegnet wird, soweit es die Natur der
Dienstleistungen gestattet (B.G.B. § 618
Abs. 1).
Verlässt das Gesinde den Dienst vor
Ablauf der Dienstzeit ohne Grund, so kann
es durch polizeiliche Zwangsmittel zur Er-
füllung seiner Verpflichtungen angehalten
werden und verfällt überdies in eine öffent-
liche Strafe (Geld- oder Gefängnisstrafe;
vgl. preussische Ges.-O. 1810 §§ 167, 168,
preussisches G. v. 24. April 1854 § 1), un-
beschadet des Rechts der Herrschaft, nach
ihrer Wahl es zu entlassen und auf seine
Kosten ein anderes Gesinde zu mieten oder
aber es im Dienste beizubehalten. Nach
einzelnen Rechten findet keine öffentliche
Bestrafung statt. Das Gesinde verliert nur
seinen Anspnich auf den rückständigen Lohn.
Hinwiederum hat die Herrschaft bei
grundloser Entlassung vor Ablauf der Dienst-
zeit dem Gesinde den vollen I^hn für die
ganze Dienstzeit und ausserdem Entschä-
digung wegen der nicht gewäluiien Kost
und Wohnung zu zahlen. — Schliesslich
noch die Bemerkung, dass ftlr die Beurtei-
lung mancher der bezeichneten Verpflich-
tungen, welche sich nicht aus dem Ge-
Gesincleverhältms — Gestütwesen
243
sindevertrage ergeben, sondern in der Haiis-
gemeinsehaft beruhen, bei entstehendem
Streit unter Herrschaft und Gesinde nach
vielen Gesindeordnungen nicht der Richter,
sondern die Polizeibehörde zuständig ist.
4. Aufhebmig. Das Gesindeverhältnis
endigt der Regel nach mit Ablauf der im
Gesindevertrage verabredeten Dienstzeit nach
vorgängi^r Aufkündigung, welche Jedem
Teile freisteht, jedoch an bestimmte Fristen
gebimden ist. Die Gesindeordnungen kennen
aber ausserdem noch gewisse Gnlnde, bei
deren Zutreffen entweder die Herrschaft
oder das Gesinde berechtigt ist, die einge-
gai^nen Verbindlichkeiten innerhalb der
Dienstzeit zu ktindigen oder selbst ohne
Kündigung aufzuheben.
Als solche gelten einmal erhebliche Ver-
legungen der Vei'tragspf lichten , die den
T<ertragstreuen Teil berechtigen, vor der
Zeit vom Gresindevertrage abzugehen, femer
aber Handlungen oder eintretende umstände,
welche die Aufhebung der unter den Kon-
trahenten bestehenden Hausgemeinschaft
notwendig oder doch wünschenswert machen.
Oründe der einen oder der anderen Art, um
•das Gesinde vor Ende der Dienstzeit zu
•entlassen, sind Mangel an Geschicklichkeit
in den zu verrichtenden Arbeiten, Vernach-
lässigung der Dienstpflichten, beharrlicher
Ungehorsam und Widerspenstigkeit gegen
•die Befehle der Herrschaft, Beleidigung und
Verleumdung derselben, Diebstahl und Ver-
untreuung, Unverti*äglichkeit mit dem Neben-
eesinde, Schwangerschaft des weiblichen
Uesindes und anderes mehr.
Dahingegen darf das Gesinde das Ge-
sindeverhältnis vorzeitig aufheben und den
biß zum Austritt verdienten Lohn fordern
w^en Verweigenmg der nötigen Kost,
wegen erfahrener Missnandlung, nicht weniger
aber auch dann, wenn es in sohwere Krank-
heit verfällt oder wenn sich ihm die Ge-
legenheit darbietet, durch Verheiratung oder
aiä andere Art eine eigene Wirtschaft zu
erlangen, welche ihm beim Aushalten der
Mietszeit entgehen möchte. Ist ein Dienst-
verhältnis für die Lebenszeit oder für längere
Zeit als fünf Jahre eingegangen, so greift
die Vorschrift des B.G.B. § 624 ein. Danach
kann das Gesinde der Herrschaft nach dem
Ablaufe von fünf Jahren mit Beobachtung
einer sechsmonatlichen Kündigimgsfrist auf-
sagen. —
Stirbt eint Dienstbote, so haben seine
Erben Lohn und Kostgeld nur für solange
zu beanspnichen, als beides nach Verhältnis
der Zeit bis zum Tode rückständig ist.
Anders verhält es sich beim Tode des
Dienstberechtigten. Damit wird, wie wenig-
stens die preussische und einige andere
Ges.-0. bestimmen, dasGesindeverhältnis nicht
ohne weiteres aufgehoben, sondern die Erben
der Herrschaft erlangen nur das Recht, dem
Gesinde zur gesetzlichen Ziehzeit zu kün-
digen, welche kürzer sein kann als die
durch Vertrag festgesetzte Dienstzeit.
Bricht über das Vermögen der Herr-
schaft der Konkurs aus, so steht jedem
Teile die Kündigung frei. Die Kündigungs*
frist ist, falls eine kürzere Frist nicht be-
dungen war, die gesetzliche (K.O. § 22).
Litteratnr: Gustav Hertz, Die HechtsverhäU-
nisse des freien Gesindes nach den deutschen Rechts-
quellen des Mittelalters, 1871 (Untersuchungen
tw deutschen Staats- U7id RechUgeschichte,
• herausgegeben von Gierke, VI). — Stoblfef
Handbu>ch des deutschen Privairechts, neu bear-
beitet von H, O. Lehmann III (S, Aufl,)^
H £49, Ä. 447 ff, — W, Kühler, Gesinderecht
und Gesindewesen in DeutscfUand (Sammlung
nat,-ök. Abhandlungen, s. Q)nrad ^r. 11) 1896,
Förster- Eccius, Theorie und Praxis des heu-
tigen preuss, Privatrechts (7. Aufl.), 1897 IV,.
§ 2S7, S, 288 ff. — Neubauer, Zusammen,-
Stellungen des in Deutschland gellenden Rechts,
betreffend verschiedene Rechtsmaterien (1880),^
S. 145 — 172. von Brünneck,
Gestfltwesen.
Ein Gestüt nennen wir jede, die Zucht
von Pferden als Hauptzweck verfolgende,
in grösserem Massstabe betriebene Haltung
von Stuten und Hengsten, unter Gestüt-
wesen muss man daher eigentlich alles
hierauf bezügliche, also auch die wirtschaft-
liche und technisch pferdezüchterische Seite
der Staats- und Privatgestüte verstehen,
doch soll hier nur auf das staatliche Ge-
stütwesen und die staatswirtschaftliche
Stelhing desselben eingegangen werden.
Von allen Zweigen der Landwirtschaft
hat wohl am frühesten die Pferdezucht eine
direkte Förderung durch die Regierungen
erfahren. Die Unentbehrlichkeit der Pferde
für den Privatgebrauch der Hofhaltungen
wie für militärische Zwecke musste es den
Ijandesfürsten nahelegen, für eine genügende
Remontierung ihrer Ställe selbst zu sorgen^
der nie fehlende Besitz grösserer Güter-
komplexe, auf deren Bewirtschaftung sie
ohnedies angewiesen waren, erleichterte die
Anlage eigener Zuchten, und so finden wir
entsprechend der mangelnden Unterschei-
dung zwischen staatlicher und landesherr-
licher Verwaltung die Anfänge der jetzigen
Staatsgestüte in dem speciell der Pferde-
zucht gewidmeten landwirtschaftlichen Be-
triebe fürstlicher Herrschaften. Hatte man
solche Gestüte zunächst nur zu eigenem
Gebrauch, so lag es doch nahe, die Hengste
dieser Gestüte auch anderen Privatzüchtern
zur Disposition zu stellen, woraus sich die
jetzt vorwiegende Form der staatlichen Ge-
16*
244
Gesttitwesen
Stute (Hengstdepots) allmählich entwickelte.
In dem Masse, wie sich das moderne Staats-
wesen zu seiner jetzigen scharfen Sonde-
rung zwischen Staatseigentum und Verwal-
timg und dem Eigentume der landesherr-
lichen Familien entwickelte, trat auch auf
dem Gebiete des Gestütwesens eine voll-
ständige Trennung ein, obwohl auch heute
nodi z. B. in Preussen in der Bestimmung,
dass die Hauptgestüte eine Anzahl Pferde
für den königlichen Marstall zu festen
Preisen zu liefern haben, ein letzter Rest
der früheren Yerhältnisse sich erhalten hat.
Eein staatliche Gestüte findet man jetzt in
allen grösseren europäischen Kulturstaaten
imd unterscheidet man eigentliche Gestüte,
also grössere Pferde- und zumal Stuten-
haltungen mit eigener Aufzucht der von
den Stuten fallenden Fohlen, in Preussen
Hauptgestüte genannt, und Hengstdei)Ots,
deren Insassen zur Deckzeit auf Hengst-
stationen im Lande verteilt werden, um die
Stuten der Privatbesitzer zu decken. In
Preussen werden diese Hengstdepots^ wohl
aus der früheren Zeit her, wo sie teilweise
mit den Hauptgestüten vereinigt waren,
nicht ganz richtiger Weise ebenifaUs Gestüte
und zwar Landgestüte genannt. Fast überall
hat man gefunden, dass die Sorge für die
Hengsthaltung zweckmässigerweise vom
Staate übernommen wird, sowohl um diesem
einen genügenden Einfluss auf die Pferde-
zucht zu sichern, als auch im wirtscliaft-
lichen Interesse des Privatzüchters. Dass
die Vereinigten Staaten von Amerika keine
Staatsgestüte haben, sondern die Förderung
der Pferdezucht ganz der Privatwirtschaft
überlassen, hängt innig mit der dortigen
Staatsorganisation und den sonstigen wirt-
schaftlichen Verhältnissen dieses Landes
zusammen; auch in England glaubte man
sich bis vor kurzem in betreff der genügen-
den Sicherung einer quantitativ und quali-
tativ für die militärischen und privatwirt-
schaftlichen Bedürfnisse des Landes aus-
reichenden Pferdezucht auf die Privatpferde-
züchter selbst verlassen zu können. Der
steigende Mangel an guten Vollbluthengsten
hat aber seit einigen Jahren dazu geführt,
dass man zwar nicht auf Staatskosten
Hengste selbst züchtet, wolü aber durch
Vermittelung der königlichen Landwirt-
schaftsgeseUschaft Staatsmittel dazu ver-
wendet, um einige geeignete Privathengste
auszuwählen imd dieselben an bestimmten
Stationen mit der Verpflichtung des Dockens
zu massigen Preisen aufzustellen. Für jeden
solchen Hengst zahlt die englische Regie-
rung eine Prämie von 200 £, eine Mass-
regel, die sich nur in der Ausführung,
nicht aber im Princip von dem Systeme
der Aufstellung staatlicher Landbeschäler
untei-scheidet. In ähnlicher Weise sorgt
man auch in Oldenburg, wo eine blühende
Pferdezucht ohne staatliche Laudbeschäler
besteht, durch hohe Prämien für die Erhal-
tung eines genügenden Bestandes von Pri-
vathengsten.
Die Hauptgestüte haben den Zweck,
Pferde im allgemeinen für Staatszwecke,
also auch Armeepferde zu produzieren, wohl
übeiull, mit Ausnahme vielleicht von Russ-
land, aufgegeben, sie beschränken sich jetzt
auf die Aiugabe^ Hengste für die Landes-
pferdezucht zu hefern und lassen das hierzu
und zur Benutzung in der eigenen Zucht
unbrauchbare Material an jungen Pferden
in Privatbesitz übergehen. Allein auch den
beschränkteren Zweck der Hengstproduktion
erfüllen sie nur teilweise, braucht doch z. B.
Preussen jährlich ca. 350 Hengste, von
denen die drei Hauptgestüte Trakehnen,
Graditz und Beberbeck nur ca. 75, also ca.
Vo liefern. Auch hat man es nirgendwo
versucht, alle Kategorieen von Hengsten,
deren die Landespferdezucht jetzt bedarf,
in eigenen Staatsgestüten zu züchten, son-
dern man beschränkt sich auf die Zucht
von Vollblut und von solchem Halbblut,
welches zur Erzielung von Militärpferden
geeignet ist, also im wesentlichen auf die
Zucht edlerer Pfei-de. Obgleich also der
Staat einen grossen Teil seines Hengstbe-
dürfnisses diu^ch Ankauf aus Privatzuchten
befredigt, erscheint es doch nicht angezeigt.,
diesen Teil der Pferdezucht ganz der Pri-
vatindustrie zu überlassen. Für die Beibe-
haltung der Hauptgestüte sprechen vor-
nehmlich folgende Gründe: Dadurch, dass
der Staat einen immerhin nicht unbeträcht-
lichen Teil des Bedürfnisses selbst produ-
ziert, kann er auf die Form und den Preis-
stand des übrigen Teiles der Hengste regu-
lierend einwirken imd ist gegen übertriebene
Forderungen einigermassen gesichert. Bei
der ungemein grossen Wichtigkeit, welche
für die Sicherheit des Zuchterfolges in der
durch eine zweckentsprechende Aufzucht
erreichten Gesundheit der Tiere und in der
genau bekannten, durch längere Generatio-
nen zu verfolgenden Abstammung der
Zuchttiere liegt, bietet die eigene Zucht die
grössten Garantieen für die Beschaffung von
rationell aufgezogenen Tiei*en mit ganz
zweiffellos feststehender Abstammimg. Je
edler die Pferdezucht ist, desto kostspieliger
wird sie einesteils durch die erforderlichen
Aufwendungen für Zuchtmate^ial, Fütterung,
Pflege und Waitung, anderenteils durch
die Seltenheit der Erzielung wirklich vor-
züglicher Pferde und die Schwierigkeit der
lohnenden Verwertung des zur Zucht un-
geeigneten Materiales. Die Zucht kaltblüti-
ger Pferde ist an und für sich billiger und
bequemer, und etwaige zur Weiterzucht im-
geeiguete Produkte sind immer noch als
Grestütwesen
245
Arbeitspferde gut zu verwerteo. Das viel-
fache Kisiko der edlen Pferdezucht, speciell
soweit es sich um die Produktion zu Land-
beschälem tüchtiger Hengste handelt, kann
daher nur der grossere Besitzer tragen.
Dies gilt vor allem von der Vollblutzucht,
in der selbst die grössteu Mittel und die
Beschaffung des besten Zuchtmateriales
nicht die absolute Sicherheit gewähren, nun
auch stets entspiechende Zuchterfolge zu
erzielen. Für die genügende Produktion
von zur Weiterzucht tauglichen Hengsten
würde man sich daher, was das für die
ganze edlere Pferdezucht unentbehrliche
Vollblut anbelan§;t, nur dann auf die Pri-
vatzucht ausschliesslich verlassen können,
wenn wir so zahlreiche und mit den reich-
sten Mitteln unterhaltene Vollblutzuchten
hätten, wie z. B. in England vorhanden
sind. Da dies nicht der Fall, so ist die
staatliche Vollblutzucht, wie sie in Preussen
und Oesterreich besteht, gewiss gerecht-
fertigt. Aber auch für die Halbblutzucht
ist es schon im Interesse der dauernden
Innehaltung bestimmter Zuchtrichtungen
entschieden vorteilliaft, für den Hengstbezug
nicht ausschliessHch auf die Privatzucht
angewiesen zu sein, welche weit mehr
Schwankungen der Zuchtrichtung und dem
Streben nach dem, Avas momentan den
grössten Geldgewinn bringt, untworfen ist.
Als Beweis dafür wie sehr diese Gesichts-
punkte sich Geltung verschafft haben, kann
es gelten, dass der preussische Staat noch
in allerjüngster Zeit das renommierte von
Simpson -Georgenburgsche Gestüt angekauft
hat um es neben den älteren Hauptgestüten
Trakehnen, Graditz und Beberbeck und dem
vor einigen Jahren rekonstruierten Haupt-
gestüt >ieustadt a. D. als Staatsgestüt wei-
terzuführen. Hervorragende Hof- und Staats-
gestüte sind ausser den vorgenannten in
Bayern: Achselschwang und Zweibrücken;
Sachsen: Moritzburg; Württemberg: Weil,
Mosbach ; Braunschweig : Harzburg ; in Russ-
land: Chrenowoye, Nowo-Alexandrowo,
Streletsk, Limarewo, Derkul, Janowo; in
Oesterreich-lTngam : Radantz, Kladrub, Li-
pitza, Mezehügyes, Babolna, Kisber, Fogoras ;
in Frankreich: Pompadour.
Wie im übrigen die staatlichen Haupt-
gestüte einzurichten sind, in welcher Weise
zweckmässig das Verhältnis des eigentlichen
Gestütes zu dem landwirtschaftlichen Be-
triebe des Gestütgutes zu regeln ist, bis zu
welchem Alter die Aufzucht auch der nicht
zu Gestützwecken brauchbaren Tiere erfol-
gen soll, auf welche Weise die Prüfung
imd Verwertung der Zuchtprodukte einzu-
richten ist, ob es speciell für die staatliche
Vollblutzucht zweckmässig ist, die eigene
Aufzucht vollständig zu behalten und auf
den öffentlichen Rennen mit konkurrieren
zu lassen oder sie in jugendlichem Alter
zu verkaufen und nur das in Privatbesitz
auf der Rennbahn bewährte seiner Zeit zu
Zuchtzwecken zurückzukaufen , das sind
technische und Zweckmässigkeitsfragen, die
je nach Zeit, Umständen und vorhandenen
Mitteln verschieden beantwortet werden
können. In Preussen ist wesentlich mit
Rücksicht auf die Erhaltung der staatlichen
VoUblutzucht als solcher die Sache jetzt so
geordnet, dass nur das zur Zucht untaug-
liche oder überflüssige Vollblutmaterial ver-
kauft, das ziu" Zucht ausersehene Material
aber in freier Konkurrenz mit den Pferden
der Privatzüchter auf der Rennbahn geprüft
wird. Die solchergestalt diu'ch Staatsi^ferde
gewonnenen Pi*eise werden im folgenden
Jahre als Rennpreise wieder ausgesetzt, so-
dass eine der Privatlialtung nachteilige Kon-
kurrenz vermieden ist.
Von weit grösserem direkten Einfluss
auf die Landespferdezucht als die Haupt-
gestüte sind die Hengstdepots oder Land-
gestüte, wenn wir uns der in Preussen
üblichen Benennung anschliessen wollen.
Solange es sich nur um die Erzielung von
Soldatenpferden handelte, die Verhältnisse
der Pferdezucht überhaupt einfacher lagen,
war die Aufgabe dieser Gestüte eine ver-
hältnismässig leic^hte. In dem Masse aber,
wie die Entwickelung der Landwirtschaft
und der Industrie für die verschiedensten
Gebrauchszwecke verschiedenartige und be-
sonders schwerere kaltblütige Pferde ver-
langte und wie das Bestreben der Pferde-
züchter, diesem Bedürfnisse entgegenzu-
kommen, zu dem Verlangen nach ent-
sprechenden Hengsten fülu-te , kamen die
staatlichen Gestütverwaltungen in eine
schwierige Position. Vielfach versuchte
man ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen
Verhältnisse und das durch dieselben be-
dingte Stutenmaterial den der Staatsver-
waltung am nächsten liegenden Zweck der
Produktion von Militäi-pferden einseitig
weiter zu verfolgen, dann machte man
Konzessionen nach den verschiedensten
Seiten hin in der Hoffnung, überall allen
Bedürfnissen gerecht werden zu können,
schliesslich hat man eingesehen, dass man
auf diesem Wege die einheitliche, den na-
türlichen Zucht Verhältnissen der betreffen-
den Gegenden entsprechende Landespferde-
zucht nur schädigt, und ist jetzt bestrebt,
die Auswahl der Hengste für die Besetzung
der Landgestüte nur mit Rücksicht auf be-
stimmte, für die betreffende Gegend wirk-
lich passende Zurichtungen zu treffen. In
Preussen ist diese Frage neuerdings so ge-
regelt, dass die Provinzen Ost- und West-
preussen, Posen und Hannover, mit Aus-
nahme des Regieningsbezirkes HUdesheim,
zu Remonteprovinzen erkläil: sind, d. h. dass
246
Gestütwesen — Gesundheitspflege, öffentliche
in diesen Provinzen nur solche Landbe-
schäler aufgestellt werden sollen, welche
sich zur Zucht von Armeepferden eignen,
und dass auch sonst die staatlichen Mittel
zur Förderung der Pferdezucht, speciell die
Prämiierungen so gehandhabt werden sollen,
dass sie der Militärpferdezucht ausschliess-
lich zu gute kommen. Auch bei den
Körungen soll auf dies Ziel möglichst Rück-
sicht genommen werden. In den übrigen
Provinzen .sind durch Vermittelung der
landwirtschaftlichen Centralvereine diejeni-
gen Zuchtrichtungen festgestellt worden,
welche in der ganzen Provinz oder be-
stimmten Teilen derselben staatliche För-
derung in der Auswahl der Landbeschäler
und der Anwendung der sonstigen staat-
lichen Hilfsmittel für die Pferdezucht er-
fahren sollen. Alle anderen Richtungen
der Pferdezucht können sich daneben in
allen Provinzen ungehindert entfalten, sind
aber ausschliesslich auf die private Initiative
angewiesen und können auf staatliche Un-
terstützung nicht rechnen. Hiermit ist für
die staatliche Gestütverwaltung wieder eine
feste Basis gewonnen, auf der sie vorgehen
kann, der züchterische und wirtschaftliche
Erfolg hängt freilich davon ab, dass die
Zuchtgebiete richtig gegriffen sind und
dass die Verwaltung Elasticität genug be-
sitzt, um bei tiefer eingreifenden wirtschaft-
lichen Veränderungen in den einzelnen Ge-
bieten auch den dadurch beeinflussten An-
forderungen der Pfei-dezucht folgen zu
können. Es liegt auf der Hand, dass, wenn
in einem Staate wie Preussen neben ca.
2900 staatlichen Hengsten nur ca. 1600
Privatliengste als zum Beschälen tauglich
angekört sind, — wozu allerdings noch die
Privathengste kommen , welche nur die
Stuten der Hengsteigentümer decken, die
daher nicht angekört zu werden brauchen,
sowie die Privathengste der verhältnismässig
kleinen Distrikte, in welchen Körordnungen
nicht existieren, — die Aufgaben der Ge-
stütverwaltung ganz ungemein verantwort-
liche sind. Das Einsclilagen einer falschen
Richtung kann hier sehr leicht, sei es zu
einer Schädigung der Remontierung und
damit der Welir&aft der Armee, sei es zu
imberechenbaren wirtschaftlichen Schäden
fiUiren. Eine vorzugsweise Betonung der
Interessen der Armee wird hier wie in an-
deren Ländern für jede Gestüt Verwaltung
auf die Dauer nur dann diu'chführbar sein,
wenn die von der Militärverwaltimg für
die Remonten gezalilten Preise die Armee-
pferdezucht mindestens ebenso rentabel
maclieu wie die Zucht sonstiger Gebrauchs-
pferde. Gegen das Einsclilagen einer wirt-
schaftlich falschen Richtung bietet die ge-
ordnete Teilnahme der landwii-tschaftlichen
Interessenten an der Auswahl und Veilei-
lung der Hengste kein genügendes Korrektiv,
da diese nie so weit gehen kann, dass die
Gestütverwaltung ihre Selbständigkeit ver-
liert, es ist deshalb von der grössten Wich-
tigkeit, dass, so sehr sich auch die Staats-
hengstnaltung quantitativ ausdehnen mag,
doch wenigstens die Möglichkeit einer loh-
nenden Privathengsthaltung dadurch erhal-
ten bleibt, dass die Deckgelder für die
Staatshengste nicht zu niedrig normiei*t
werden, also eine Konkurrenz von Privat-
hengsten für den Fall, dass die Staatsbe-
schäler nicht mehr den wirtschaftlichen In-
teressen entsprechen sollten, nicht schon
am Kostenpunkte scheitert. WoUte man
dies nicht thun, so würden besonders in
Gegenden mit geringer entwickeltem Ver-
ständnis für Pferdezucht und bei Vorwiegen
des bäuerlichen ßi^sitzes die betreffenden
Züchter den Verlockungen des billigeren
Preises der königlichen Hengste selbst
dann nicht widei'Stehen, wenn die letzteren
viel ungenügender für die Landespferde-
zucht wären als Privathengste, die, wenn
ihre Haltung nicht unrentabel werden soll,
zu höheren Preisen decken müssten.
Litteratlir: Stöckelf Königlich preuMÜche Ge-
atütsverwaUnng 1890, Berlin. — Deutsches Ge-
stüibtuh. Geschickte und Beschreibung deutscher
Gestüte von J. von Schwartz, Berlin 1858,
187 S, 187 S, — Landgestüte und Landespferde-
Zucht. Aphoristische Bemerkungen mit besonderer
Berücksichtigung der mittleren Provinzen des
preussischen Staates, Berlin 1863. — Dr, Ihtschf
Das GestiUxcesen Deutschlands, Berlin 1891. —
Comie de Banneval, Les Harras franqais de
1806 ä 18SS. — Librairie agricole. — Mayr,
Die k. k. Militärgestüte in Oesterreich. — Otto
Mayr, Die Gestüte im österreichischen Kaiser-
Staat. — Hü^el und Schmidt, Gestüte und
Meiereien des Königs Wilhelm von Würtiemherg.
— Bericht über das italienische StaatS'
gestüt, herausgegeben vom Ministerium für
Ackerbau, 4 Bde. — Gtissehuer, Die Pferde-
zucht in den im Reichsrat vertretenen König-
reichen und Ländern der österreichisch-ungarischen
Monarchie, Wien 9.i, 94 und 96. — JVrangel,
Ungarns Pferdezucht in Wort und Bild, 1891
bis 1895. Thiel.
Oeiientliche Gesundheitspflege.
1. Verhältnis der ö. G. zur Sozialpolitik.
2. Historisches ; Uebersicht über das Gebiet der
Gesundheitspflege. (Hygieine der Neugeborenen,
der Kindheit, der Schulzeit, des Greschlechts-
lebens, der Reifeperiode — Beruf, Nahrung, Klei-
dung, Wohnung, Verkehr — des normal und
des vorzeitig abfallenden Lehens, der Bestat-
tung). 3. Organisation der ö. G.: a) Interna-
tionale Veranstaltungen. b) Bundesstaaten:
Deutschland, Schweiz, Nordamerika, c) Einzel-
staaten: Preussen, Bayern u. s. w., England,
Frankreich, Italien u. s. w. 4. Statistik der Ö. G.
Gesundheitspflege, öffentliche
247
1. Verhältnis der o. 6. zur Sozial-
politik. Die Wissenschaft von den Mitteln
lind die Kunst der Handhabung der Mittel,
^velche die Terminderung der Krankheits-
ursachen und die Verbesserung der för das
physische Leben der Bevölkerung wichtigen
Verhältnisse bezwecken — ist nicht ein Teil
der Sozialpolitik, sondern eine selbständige
Disciplin. Aber sie steht mit unserem Ar-
beitsgebiet, — der Wissenschaft von den
Mittdn zur Herbeiführung eines befriedigen-
den Verhältnisses zwischen den verschiede-
nen, trotz der Rechtsgleichheit und infolge
der Vermögensungleichheit bestehenden Be-
völkerungsklassen — in engster Beziehung.
Sie stellt, soweit das körperliche Wohl der
Einwohner ia Betracht kommt, die Forde-
nmgen auf, deren Durchführung innerhalb
der bestehenden Volkswirtschaft die eigent-
liche Aufgabe der Sozialpolitik bildet; sie
ist die Theorie von der Erhaltimg und Ver-
mehrung der für die Volkswirtschaft erfor-
derten Arbeitskräfte. Es giebt keine volks-
wirtschaftliche Thatsache, die nicht, weil
sie die hierfür erforderlichen Mittel nxehrt
oder mindert, auch hygieinisch und deshalb
sozialpolitisch bedeutsam wäre; es giebt
keine hygieinische Forderung, deren Erfül-
lung oder Vernachlässigung nicht volkswirt-
schaftliche und sozialpolitische Konsequenzen
nach sich zöge.
Die Verdrängung des Kleinbauernstandes,
sei es durch Luxusgrossgrundbesitz, durch
Weidewirtschaft oder Plantagenindustrie,
führt nicht nur zur Entvölkenmg des flachen
Landes und Schwächung der Wehrkraft,
sondern auch zu Anhäufung eines sclilecht
genährten, in ungenügenden Wohnungen
untergebrachten Proletariats in den Gross-
städten und dadurch zur Verschlechterung
des Gesundheitszustandes, Vermehrung der
Epidemieen u. s. w. Die Einführung des
Impfzwanges, die Bekämpfimg der Tuber-
kulose dmrch Begründung von Volksheil-
stätten, die Erkennung der schw^eren Heil-
barkeit und des schlimmen Einflusses ge-
wisser weit verbreiteter geschlechtlicher Er-
krankungen auf die Arbeitsfähigkeit der
Ehefrau und die eheliche Fruchtbarkeit sind
Ergebnisse der öffentlichen Gesundheits-
pflege, deren volkswirtschaftliche Bedeut-
samkeit keiner Darlegung bedarf.
Ziu: Medizin, der Lehre von der Er-
kennung, Behandlung und Heilung des ein-
zelnen Krankheitsfalles verhält sich die Ge-
sundheitspflege etwa wie die Sozialpolitik
zur Armenpflege. Die Bemühung zur Be-
seitigung des Uebels in einem bestimmten
Fall führt zur Prüfung der Ursachen; er-
giebt sich, dass diese Ursachen vielfach
nicht oder nur zum Teil im Verhalten des
Erkrankten, — oder Verarmten, oder in von
deren Willen abhängigen Momenten zu
suchen sind, so entsteht natürlich der
Wunsch, neben der Erleichtemng des Lei-
denden auch für die Verhinderung jener
tieferen Ursachen zu sorgen. Das erstere
ist Aufgabe der Armenpflege und der Heü-
kunde ; das letztere die der Sozialpolitik und
der öffentlichen Gesundheitspflege.
Die Armenpflege liefert die Anregung
und das Material für die sozialpolitische
Forschung und lehrt die vergleiclisweise
geringe Nutzwirkung des Kampfes gegen
Symptome, der Lindenmg des vereinzelten
Notstandsfalles ; ganz ebenso führt die Medizin
zum Studium über die Krankheitsursachen,
zum Aufsuchen der Krankheitserreger, und
damit zur öffentlichen Gesundheitspflege.
So sind von jeher stets andere soziale
Thatsachen und andere Krankheitsarten aus
der auf einzelne Erscheinungsfälle be-
schränkten Behandlimg durch die Armen-
pflege bezw. aus der Thätigkeit der Aerzte
überführt worden in den Kreis derjenigen
Angelegenheiten, welche der Staat aus all-
gemeinen Rücksichten, ohne Bezugnahme
auf den einzelnen Fall und durch beson-
dere Verwaltungseinrichtungen zu beordnen
wünscht. Die Gefährdung der Jugend
mangels Schulunterrichts, die schlimme
Lage des durch Krankheit, Unfall u. s. w.
erwerbsunfähigen Arbeiters, die Schwierig-
keit der Erziehung eines verwahrlosten,
straffällig gewordenen Kindes geben Bei-
spiele aus dem Verhältnisse der Armen-
pflege zur Sozialpolitik (Schulzwang, Ver-
sicherungszwang, Zwangserziehung), denen
aus Medizin und Gesundheitspflege die
grossartigen Massnahmen zur Verbesserung
der sanitären Verhältnisse in den Städten
behufs Bekämpfung des Typhus, die Ein-
führung der Zwangsimpfung im Kampf
gegen die Blattern, die Einrichtung und
Dui-chführung der Quarantänemassregeln
gegen das Einschleppen der Pest an die
Seite gestellt weixien können. Das Arbeits-
gebiet der Privatwohlthätigkeit und der
öffentlichen Armenpflege ward dm^ch jene
sozialpolitischen Gesetze ebensowenig ein-
geschränkt wie die Thätigkeit der Medizin
durch die Emmgenschaften der öffentlichen
Gesundheitspflege. Für beide eröffnen sich
vielmehr neue Aufgaben erfolgreicherer
Wirksamkeit stets in dem Masse, als ihnen
öffentliche Institutionen die Arbeit auf ande-
ren Gebieten abnehmen. Die Hauspflege,
die Rekonvalescentenpflege, die Fürsorge für
Schwachbefähi^e u. s. w. sind von der
Privatwohlthätigkeit in Deutschland in weit
höherem Masse übernommen worden, seit-
dem die Versicherungsgesetze gewisser-
massen die gröbste Arbeit auf dem Gebiete
der Krankenfürsorge leisten.
Wenn es aber kaum ein Gebiet des
sozialen Lebens giebt, das den Einwirkungen
248
Gesundheitspflege, öffentliche
der öffentlichen Gesundheitspflege entrückt
ist, so sind doch ihre Methoden durchaus
naturwissenschaftliche und werden ihre Re-
sultate dimjhaus im Wege der natiu'wissen-
schaftlichen Forschung gew^onnen. Hieraus
entstehen natürlich für die systematische
Behandlung gewisse Schwierigkeiten (man
vergl. z. B. das Lehi'buch der Hygieine
von Gramer, Leipzig 1896, dessen Kapitel-
überschriften: Luft; Klima; Wärme und
Kleidung; Boden; AVasser; Ernährungs-
lehre ; Wohnung und Städteanlagen, Heizung
und Yentilation — u. s. w., zwar eine sehr
interessante Aufzählung von sozialpolitisch
und hygieiuisch gleich wichtigen Materien
bieten, aber keinerlei Garantie der Vollstän-
digkeit).
Diese Schwierigkeit wächst, wenn es
sich darum handelt, nicht etwa Aerzten eine
Uebereicht über den gegenwärtigen Stand
der ihnen nahe liegenden Wissenschaft zu
geben, sondern füi* Volkswirte die Zusam-
menhänge zwischen ihrem eigenen Arbeits-
feld und jener naturwissenschaftlichen Dis-
ciplin in Vollständigkeit zusammenzustellen.
Wii' gedenken dieser Schwierigkeit dadiurch
Herr zu werden, dass wir vor der Darstel-
lung der Gesetzgebung eine kurze Ueber-
sicht über die Geschichte der Wissenschaft und
deren wichtigste Ergebnisse, geordnet nach den
volkswirtschaftlich bedeutsamsten Thatsachen
des sozialen Lebens, vorausgehen lassen. Hier-
aus wird sich der Pai-aUeüsmus unserer
Wissenschaft mit der der öffentlichen Ge-
sundheitspflege am besten ergeben ; der Dar-
stellung der Organisation der mit der öffent-
lichen Gesundheitspflege befassten Behörden
in den wichtigsten Kulturstaaten sollen als-
dann noch die nötigsten Notizen über
die Statistik der Gesundheitspflege folgen.
Bearbeitet ist der sozialpolitische Teil von
Stadtrat Dr.Flesoh, der naturwissenschaftliche
von Prof. Dr. med. Flesch ; die statistischen
Notizen sind von Dr. Schnapper-Arndt zu-
sammengestellt.
2. Historisches; Uebersicht über das
Gebiet deKresundheitspf lege. Je höher ent-
wickelt die Organisation des Gemeinwesens, je
enger djis Zusammenwirken aller Teile, die
wechs(»lseitige Abhängigkeit der Individuen
sich gestaltet desto grösser wird das Interesse
der Gesamtheit an dem Wohlbefinden des
einzelnen. Dementsprechend finden sich der
Gesundheitspflege dienende Gesetze bei allen
Kulturvölkern; meist gehandhabt von den
mit den herrsehenden Klassen stets eng
verbundenen Priestern, oft von diesen in die
Hülle religiöser Vorschriften eingekleidet.
Ein glänztMides Beispiel ist die mosaische
Gesetzgebung, selbst (»ine Nenredaktion alt-
egj'ptischer Priesterweisheit. Di(* Gescliiehte
der Hygieine schliesst sich der Kulturge-
schichte eng an. Mit der Kultuivntwickelung
der Nationen halten einzelne Teile der
Hygieine Schritt j besser als aus irgend einem
historischen Bericht erscheint uns die hohe
Entwickelung Roms noch heute an den
Resten seiner Wasserleitungen, die ohne die
Hilfsmittel unserer Zeit unsere heutigen
Wasserversorgimgen in den Schatten stellen,
seine Badeanstalten, deren Ausdehnung (Bäder
des Caracalla) die unserer grössten Bau-
ten übertrifft. Die hygieinischen Massregeln
passen sich im einzehien den äusseren Le-
bensbedingungen der Völker an. Ein be-
sonders klares Beispiel zeigt die Umgestal-
tung des Begräbniswesens bei verschiedenen
Nationen: Höhlengräber und Katakomben
im alten Egypten mit seinem begrenzten
Ackerbaugebiet; weitausgedehnte, der Kultur
für immer entzogene Gräberflächen in den
weiten Ebenen Babyloniens und Chinas;
auf die Wiedereinführung der Feuerbestat-
tung gerichtete Bestrebungen der Neuzeit
durch die zunehmende Einengung des Bodens
für die wachsende Bevölkerung. In der
Neuzeit haben sich die Bestrebungen der
öffentlichen Gesundheitspflege noch beson-
ders nach einer Seite entwickelt, die sich
aus der mit der Kulturentwickelung ge-
steigerten Empfindlichkeit des modernen
Menschen ergiebt. Die Bekämpfung der
epidemischen Krankheiten hat diese alsFolgen
parasitärer Infektion erkannt. Wie die
Schädlinge des Weinstockes (Reblaus) vor-
wiegend nur die domestizierten Reben töten,
wälu'cnd die ursprünghche amerikanische Re-
be Widerstand leistet, so haben die Schädlinge,
welche die mörderischsten Krankheiten, vor
allem die Tuberkulose, bewirken, erst dm'ch
die Domestikation Boden gefunden. Schwere
Wunden werden von den niederen schwarzen
Rassen weit besser ertragen als von dein
für die Wundinfektion empfänglichen Euro-
päer. Die Unempfindüclikeit des Negei-s
gegen Sumpffieber macht ihn im Gegensatz
zum Europäer zum Plantagenarbeiter ge-
eigneter u. s. f. Die Höhe der Entwickelung
der modernen Hygieine liegt in deren Vor-
gehen gegen die Infektionskrankheiten. Die
speciell mit diesen beschäftigte Bakteriologie
ist zur Zeit das am meisten beai'beitete
Feld der wissenschaftlichen Hygieine ge-
worden.
Hygieine der Neugeborenen. Die
Gesundheit des Neugeborenen hängt in ei'ster
Linie ab von der ihm zugefallenen Körper-
konstitution, in zweiter Linie von den
E r n ä hr u n gs V e r hä 1 1 n i s s e n.
Die Körperkonstitution wiixl l»e-
einflusst durch die eigene Gesundheit der
Eltern ; sie kommt zum Ausdruck diuxih das
Auftreten erblicherErkrankungen am
Neugeborenen. Als solche erscheinen
vor allem Geschlechtskrankheiten.
Von diesen ist unmittelbar erblich die Sv-
GesTinclheitspflege, öffentliche
249
philis, deren Verhütung daher eine Auf-
gabe der Hygieine des Vorlebens der zeu-
genden Eltern darstellt (s. unten Prostitution).
Als Ansteckung bei dem Geburtsvorgang oder
während der Pflege des Neugeborenen durch
Venuireinigung mit den Absonderungen der
mutterlichen Geburtswege erscheint die
Gruppe der Trippererkrankimgen. Das
öffentliche Interesse desselben liegt in der
Entstehung zu Sehstörungen und Erblindung
führender Augenkrankheiten (Ophthalmoblen-
norrhoea neonatorum). Weitaus die Mehrzahl
der Erblindungen ist auf diese Krankheit
ziuückzuführen ; ihre Bekämpfimg liegt in
der von Credo in Leipzig eingeführten,
jetzt den Hebammen obligatorisch vorge-
schriebenen Behandlung der Augen des Neu-
geborenen durch Einträufeln von Höllenstein-
lösungen. Als seltene Ausnahme erecheint
direkte Vererbung der Tuberkulose. Un-
mittelbar vererbt sind in vielen Fällen Er-
krankungen des Nervensystems,
besonders Epilepsie und Idiotie; sie
erscheinen als Schluss der Entartung bei
erblich zu solchen Krankheiten veranlagten
oder durch Trunksucht dazu gelangten
Eltern. Unmittelbar erblich sind ausser-
dem gewisse Erkrankungen des Blutes,
besonders die sogenannte Bluterkrank-
heit — In anderen Fällen vererbt sich
nur die Anlage, die Neigimg zur Er-
krankimg in der den Eltern gleichen Weise.
Speciell gilt dies von der Tuberkulose, in
dieser Form der Vererbimg Skrofulöse
genannt. Wahrscheinlich ^t dasselbe von
der Lepra. Aufgabe der öffentlichen Ge-
sundheitspflege ist in diesen Fällen möglichste
Beschränkung der Ehen derartig erkrankter,
zur Zeugung ungeeigneter Individuen. Teil-
weise möglich ist dies durch ausgedehnte
Gründimg von Heimen für Epilep-
tische unter Trennung beider Geschlechter,
Leproserien, Pflegeanstalten für
Schwindsüchtige, die vielfach aus
Pflegebedürfnis heiraten.
Die Ernährungsverhältnisse der Neu-
geborenen sind wesentlich von den sozialen
Zuständen abhängig. Die natürliche Er-
nährung durch die Mutterbrust ist einer
grossen Zahl der Kinder vorenthalten. Viele
Mütter können nicht stillen, weil durch
Volksgewohnheiten — Schnürtracht mancher
Landesteile in Frauken und Schwaben
— die Brust degeneriert ist, andere weil
durch Jahrhunderte gebrauchsmässig oder
unter dem Druck äusserer Verhältnisse
die Mütter nicht gestillt und so die
Entartung herbeigeführt haben. Aber auch
von den zum StiUen geeigneten Frauen,
nach Hegar etwa 70%, kann die Mehi--
zahl dieser Pflicht nicht nachkommen, weil
sie bereits während der Aufziehung des
Kindes benifsmässig in einer Weise arbeiten
müssen, die das Stillen verhindert, ganz ab-
gesehen von der eigenen ungenügenden Er-
nährung, die die Milch versiegen macht.
An Stelle der natürlichen tritt die künstliche
Ernährung. Dieselbe geschieht am besten
mit Kuhmilch. Statistisch ist festgestellt,
dass die Sterblichkeit der Kinder in den
ersten 5 Lebensmonaten bei Brusternährung
7, bei Kuhmilch 16, bei Surrogaternähnmg
ca. 70 pro mille beträgt. Die wichtigste Auf-
gabe der öffentlichen Gesundheitspflege für
die Hygieine der Neugeborenen ist die Re-
gelung der Milchproduktion durch
Ueberwachung der Molkereien, besonders
durch Beschaffung gesunden Milchviehes.
Nachweislich wird ein grosser Teil der
Tuberkulose des frühen Kindesalters durch
die Milch hervorgerufen. Es erscheint weniger
wichtig, die Koncentration der Milch durch
Trockenfüttorungsanstalten (Muster die Frank-
furter Anstalt) als deren Keimfreiheit durch
Ausrottung der Tuberkulose zu erreichen.
Letzteres ist in Dänemark nahezu gelungen
durch die Impfung des Rindvdehes mit
Koch scher Tuberkellymphe und Schlach-
tung aller dabei als krank erkannten Tiere.
Neben der Qualität der Milch sind die so-
zialen Verhältnisse, unter welchen das Neu-
geborene aufwächst, für die Öffentliche
Gesundheitspflege von weittragendster Bedeu-
tung. Sobald die Mutter gezwungen ist,
an der Erwerbsthätigkeit zur Erhaltung der
Familie Teil zu nehmen, ist das Kind frem-
den Händen überlassen, die aus Bequem-
lichkeit zur Ueberfüttermig des Kindes ihre
Zuflucht nehmen, um sich vor dem Kinder-
geschrei zu schützen; in gleichem Masse
geschieht dies übrigens, wenn die Mutter
ihr Kind der Arbeit wegen länger verlassen
muss als auf die Dauer der physiologischen
Pause zwischen den einzelnen Nahrungs-
aufnahmen — 3 Stunden — und zu diesem
Zwecke die gefüllte Flasche zu dem Kinde
legt. Es entsteht als Folge der Ueber-
f ütterung die verbreitetste Volkskrankheit des
Kindesalters, die rhachitische Erwei-
chung der Knochen mit ihren Begleiter-
scheinungen, besonders den eine der häufigsten
Todesursachen des Kindesalters bildenden
»Krämpfen«. Auf diese Krankheit sind die
häufigen Verkrümmungen des Skeletts,
X-Beine, 0-Beine, Buckel, zurückzuführen.
Eine schwerwiegende volkswirtschaftliche
Schädigung erwächst ausserdem aus der Rha-
chitis durch die dauernde Beeinflussung des
weiblichen Beckens, das sogenannte platte
rhachitische Becken, das häufigste Ge-
burtshindernis. Tritt zu der üeberfüttening
ünreinlichkeit und mangelhafte Kleidung
hinzu, so erliegen die Kinder ihren Folgen in
Massen; daher die grosse Sterblichkeit der
ausserehelich geborenen Kinder, für welche
fast ausnahmslos die Brustemähiimg weg-
250
Gesundheitspflege, öffentliche
fällt; ziffernmässig ist deren Sterblichkeit
mit 120 pro mille gegen 70 pro mille bei
Surrogaternährung ehelicher Kinder festoe-
stellt. Die Aufgabe der öffentlichen Ge-
sundheitspflege ist die Schaffung von
Kin derbe wahran8talten,»Krippen« zur
Vorbeugung, von eigenen Kleinkinder-
hospitälern mit grossem Pflege-
personal zur Heilung dieser Zustände. Der
Gesellschaft liegt es ausserdem ob, durch
ausgiebige Frauenüberwachung Schematis-
mus und maschinenmässigen Schlendrian
ohne Individualisienmg fernzuhalten.
Hygieine der Kindheit. Ist das
Neugeborene bis zu der Reife gediehen,
welche bei Brustkindern das Entwöhnen,
bei künstlich genährten die Aufnahme an-
derer als der Milchkost ermöglicht, so be-
ginnt eine bis zu dem schulpflichtigen Alt^r
reichende Periode, in welcher filr das Kind
specifische Schädigungen aus dessen Leben
in der Gesamtheit nicht erwachsen. Die
Aufgaben der Gesundheitspflege für dieses
Lebensalter entspringen daher aus für das
gmze Leben gemeinsamen Gesichtspunkten,
ie Kinder leiden in dieser Periode natürlich
am meisten durch die Enge der Wohnungen,
mangelhafte Lüftung, imgenügende Heizung
und ungenügende üeberwachung, insbeson-
dere weil die Empfängüchkeit füi- gewisse
Infektionskrankheiten (s. u.) in dem jugend-
lichen Alter eine grössere ist. Der Aus-
gleich durch Schaffung gesunder Aufent-
haltsräume, Kleinkinderbewahranstalten u.s.f.
wii'd aufgewogen durch die Yergrösserung
der Infektionsgefahr bei der engeren Be-
rühnmg innerhalb dieser Anstalten. Auf-
gaben der öffentlichen Gesundheitspflege:
Errichtung möglichst zahlreicher
und dadurch nicht überfüllter
Kinderbewahranstalten, Kinder-
gärten und Kleinkinderschulen
mit ausgiebiger ärztlicher Üeber-
wachung. Letztere hat in erster Linie auf
die schnellste Isolierung ansteckend
Kranker zu wirken; für Waisenhäuser
und Kolonieen sollte die Verbring ung
in Hospitäler mit guten Isolier-
einrichtungen obligatorisch sein.
Eine wichtige Nebenaufgabe der
überwachenden Aerzte ist, gerade
in diesem Alter Anfänge rhachiti-
scher Körperkrümmungen, Sprach-
störungen, Erkrankungen des Na-
senrachenraumes, Schielen schon
vor dem Eintritt in das schul-
pflichtige Alter festzustellen und
zur Behandlung zu bringen.
H\'gieine des schulpflichtigen
Alters. Die vom Beginne des siebenten
Lebensjahres bis zu dem 14. Jahre reichende
Lebensperiode des Kindes ist charak-
teiisiert durch die obligatorische Anhäu-
fung der Kinder in Schullokalen zum Zweck
des gemeinsamen Unterrichts durch von
der Gesamtheit angestellte Lehrer und
durch die körperliche und geistige Inan-
spruchnahme der Kinder ziu- Enedigung
gemeinsamer Arbeitspensen.
Die Schule ist so zu gestalten, dass sie
einerseits die Schäden der Anhäufung
vieler Menschen nach Möglichkeit vermei-
det, andererseits durch ihre Anlage die
aus den Schulzwecken erwachsenden Ge-
fährdungen einzelner Organe umgeht. Das
Schulgebäude muss so gestellt sein, dass
es den Kindern leicht zugänglich ist (Er-
müdung diux5h übermässige Schulwege etc.) ;
in Städten von grosser Ausdehnung sind
die Schulhäuser möglichst an der Peripherie
gleichmässig verteilt anzulegen, um einer-
seits den Angliederungen neuer Häuserkom-
plexe Rechnung zu tragen, andererseits
durch Benutzung billigen Geländes grosse
Hofflächen zu gewinnen. Die Schulzimmer
sollen hoch sein, ausgiebigen Luftraum pro
Kopf der Schülerzahl jeder Klasse gewäh-
ren, die Fenster links haben. Die letz-
teren sollen, wenigstens in Mitteleuropa,
am besten nach Süden orientiert sein ; der
Nachteil der direkten Sonne ist durch ge-
eignete Jalousieen auszugleichen. Die
Fenster sollen, wo irgend möglich, dicht
an die Decke stossen. Für die Aufbewah-
rung der Ueberkleider sollen besonder
Räume ausserhalb der Klassenzimmer vor-
handen sein. Der Fussboden soll dicht, am
besten aus hartem Eichenholz gemacht sein.
Gute Ventilation durch zweckmässig ange-
legte Klappfenster im Sommer, geeignete
Heizanlagen — am besten Niederdruck-
dampfheizung — im Winter ! Beleuchtungs-
und Heizmaterialien sind je nach den loka-
len Verhältnissen zu wählen, so dass eine
Vorschrift nicht denkbai* ist. Die beste Be-
leuchtung ist die elektrische, in idealer Form
als indirekte Beleuchtung durch Bogenlicht
leider der Kosten we^n kaum zu erreichen.
Von besonderer Wichtigkeit ist ein grosser Hof-
raum zur Benutzung in den Zwischenpausen ;
er sollte nicht unter 5 Quadratjneter pro
Kind betragen, gut entwässert sein, am
besten fester Sandboden. Klosettanlagen soll-
ten möglichst ausserhalb des Schulgebäudes,
aber durch gedeckte Gänge mit diesen ver-
bunden sein. — Sehr vorteilhaft ftir die
Erhaltung reiner Luft in den Schulräumen
ist Beförderung der indi\'iduellen Reinlich-
keit der Schüler durch Anlage von Bade-
einrichtungen — Bmusebädern — in den
Schulgebäuden; dieselben können in den
KelleiTäumen untergebracht werden. Unbe-
dingt nötig ist Versoi'gung mit reinem
Trinkwasser.
Die Anhäufung der Kinder in der Schule
begünstigt die Ausbreitun ganstecken-
Gesundheitspflege, öffentliche
251
•der Krankheiten. Schwei-e Epidemieen
können die Fr^e des Schulschlusses
nahelegen. Bei Krankheiten mit langdauern-
der Inkubationsfrist, z.B. Masern, hat derselbe
von vornherein wenig Zweck, weil die An-
steckung der scheinbar gesunden Kinder
bereits erfolgt ist, bis die Thatsache fest-
steht. Ueberdies ist nicht zu vergessen,
<lass die Kinder ausserhalb der Schule auf
Spielplätzen u. s. f. weiter verkehren. Bei
Auftreten der Blattern ist obligatorische
Impfung aller Kinder einer Klasse
angezeigt. Typhus erfordert Prüfung
der Wasserverhältnisse. In allen
Fällen ist die Femhaltung erkrankter
Kinder auch bei nicht lebenbedroheu-
den Infektionskrankheiten (epidemische Au-
genentzündung), femer der Geschwister
derselben, auch wenn diese die Krankheit
überstanden haben, bis zu einer Frist ge-
boten, welche länger ist als die Inkubations-
dauer der Krankheit, z. B. bei Masern min-
destens 14, bei Scharlach 6 Tage u. s. f.
Die Aufgaben der öffentlichen Gesund-
heitspflege bezüglich der aus den Schul-
arbeiten selbst erwachsenden Schädigungen
sind nicht minder zalilreich. Sie betreÖen
die Körperhaltung durch geeignete Ge-
staltung der Subsellien und Anpas-
siuig derselben an die Körpergrösse der
Kinder; die letzteren sollen ausschliesslich
nach der Körpergrösse ihre Plätze erhalten.
Gegen einseitige Krümmung der AVirbel-
säuJe wird möglicherweise die Einfüh-
rung der Steilschrift anzustreben sein.
Für Erhaltung des Sehvermögens ist durch
Massregeln zur Bekämpfung der
Kurzsichtigkeit zu sorgen; bei der
Prüfimg der Zunahme der Kurzsichtigkeit
mit der Dauer des Schulbesuches darf aber
niclit übersehen werden, dass die Anlage
dazu angeboren ist und dass der Nahearbeit
in der Schule eine fördernde, nicht eine
primär ursächliche Bedeutung zukommt. —
Von grösster gesundheitlicher Bedeutung
ist die Einhaltung der Pausen zwischen
den Unterrichtsstunden. Insbesondere ist
darauf zu achten, dass der Befriedigung
körperlicher Bedürfnisse (btuhl-
und ürinentleemng) Zeit gelassen wird.
Das Verbot, dies während des Unterrichts
zu thun, ist verwerflich. Während der Pau-
sen gehört den Schülern absolut freie Be-
wegung im Freien oder bei schlechtem
Wetter in den Korridoren. Bei den Schüle-
rinnen der oberen Klassen ist auf die
eingetretene Menstruation durch
Befreiung von Turn- und Singun-
terricht Rücksicht zu nehmen. — Die
Schule hat darauf zu achten, dass bei
mehr als dreistündlicher Dauer
der Schulzeit die Kinder Gelegen-
heit haben, etwas zu geniessen
(Einrichtungen zu regelmässiger Verab-
reichung von Milch, an Unbemittelte auf
Kosten der Schule bezw. der Gemeinde!).
Die geistige Beanspruchung duixjh die
Schule vom Standpunkt der öffentlichen Ge-
sundheitspflege zu regulieren, verlangt zu-
nächst eine möghchst gleichmässige Zu-
sammensetzung des Schülermaterials. Min-
derbegabte und schwachsinnige Kinder sind
nötigenfalls auszuschliessen, am besten durch
Einweisung in eigene Schulen für
Minderbegabte. Ebenso sind mit be-
sonderen Störungen (Epilepsie, Veitstanz)
behaftete Kinder auszuschliessen, um Nach-
ahmung zu vermeiden ; Schulepidemieen wie
Veitstanz lassen sich manchmal nur schwer,
zuweilen nur durch Schluss der Klasse
unterdrücken. Die Unterrichtsdauer ist nach
dem Schulalter zu regulieren; folgen mehr
als 3 Stunden, so muss, um Uebermüdung
zu vermeiden, dieP^use zwischen den
späteren Stunden verlängert wer-
den. Der Beginn des Unterrichts
am Morgen soll nicht zu früh sein,
um bei entfernt wohnenden Kindern Ueber-
müdung diuxjh zu frühes Aufstehen zu ver-
meiden. Die Verbindung körj)erhcher Ue-
bungen mit dem geistigen Unterrfcht ist so
zu regulieren, dass eine Verlängerung der
Schulstunden auf Kosten der schiüfreien
Zeit zu vermeiden ist; es ist z. B. falsch,
in Städten mehr Timistunden zu geben,
wenn dadurch Nachmittagsunterricht nötig
wird. Die häuslichen Arbeiten sind soweit
zu beschränken, dass unter keinen Umstän-
den mehr als 2 Stunden denselben täglich
zu widmen sind; dagegen sind die Schüler
anzuhalten, die freie Zeit durch Turaspiele,
Schwimmen, Schlittschuhlaufen u. s. f. der
Pflege des Körpers zu widmen.
Die ausführenden Organe der Schul-
hygieine sind die Schulärzte. Dieselben
haben durch regelmässig zu wiederholende
Seh- und Hörprüfungen in ei-ster Linie die
körperliche Qualifikation des Schülers zm*
Teilnahme am Unterricht festzustellen. —
Sie sollen psychiatrisch vorgebildet sein,
um Prüfung der geistigen Befähigimg min-
derbegabter Schüler vornehmen zu können.
Es ist eine offene Frage, ob nicht eine
hygieinische Ausbildung der Lehrer selbst
nach diesen Richtungen anzustreben ist. —
Die Heranziehung der Schule zur Pflege
der Volksgesundheit durch AnsteUimg von
Schulzahnärzten wird neuerdings an-
gestrebt. Auch zur Prophylaxe der Ge-
schlechtskrankheiten durch Belehmng der
Schüler bei herannahender Geschlechts-
reife schon in der Schulzeit beizu-
tragen, ist von mehreren Seiten in Vorschlag
gebracht worden. Inwieweit durch Vereini-
gung beider Geschlechter in der Schiüe
gegen die vorzeitige Anregimg sexueller
252
Gesundheitspflege, Öffentliche
Eegiingen günstig eingewirkt werden kann
durch Erzielung hannloseren Yerkehi-es, ist
eine neuerdings angeregte, noch ungelöste
Frage.
Der Erhaltung der körperlichen Gesund-
heit während des schulpflichtigen Alters
widmen sich eine Anzahl besonderer In-
stitutionen : Verabreichung von warmer Kost
an Volksschulen, mit Rücksicht auf die
Feststellung, dass häufig die Kinder nüch-
tern zur Schule kommen; Gewährung von
Ferienaufenthalten in reiner Landluft (Ferien-
kolonieen) oder Kurorten (Kindersanatorien
in Soolbädem — Orb, Nauneim — oder an
der See); Schulreisen in der Schweiz.
Hygieine der Geschlechtsent-
wickelung und des Geschlechts-
lebens. Die Schulzeit schliesst annähernd
in dem Alter ab, in welchem sich die ge-
schlechtliche Reife einstellt. Letztere geht
dem Eintritt in das Bei:ufsleben meist voran ;
ihre Folgen sind deshalb zuerst zu behandeln.
Aufgaben erwachsen für die öffentliche Ge-
sundheitspflege aus den mit dem Geschechts-
leben zusammenhängenden physiologischen
Konsequenzen — Geburts- undWochen-
bettshygieine — und aus den pathologi-
schen Be^eiterscheinungen — Prostitu-
tion und Geschlechtskrankheiten.
a) Geburt und Wochenbett.
Der Geburtsvorgang tritt in die Reilie der
von der Gesamtheit zu überwachenden
Vorgänge, je mehr die sozialen Verhältnisse
der Mehrheit der Bevölkenmg die Frau auf
eigene Berufsarbeit hindrängen und es der
unbemittelten Familie unmöglich machen,
den Ausfall des Frauenerwerbs, der durch
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett
bedingt wird, aus eigenen Mitteln zu er-
gänzen. Unmittelbare gesundheitliche Ge-
fahren bringt die Geburt mit sieh, insofern
die wichtigste Wochenbettserkrankung, das
Woch enbettfieb er, alsdieFoIge äusserer
Einw'irkimg, Unreinlichkeit der bei der
Pflege Beteiligten, erkannt ist. Aufgabe der
öffentlichen Gesundheitspflege ist Schulung
und Ueberwachung der Geburtshelfer \md
Wochenpflegerinnen zu strenger »antisc^p-
tischer« Reinlichkeit. Die grösste Gefahi-,
die in der Ansteckung durch unsaubere
Hände an Sektionen beteiligter Studierender
gelegen war, ist heute beseitigt; die Sterb-
lichkeit an Puerperalfieber in grossen
Städten auf weniger als 1 pro mille herab-
gedrückt. So treten jetzt die Schädigungen
in den Vordergrund, welche durch unge-
nügende Schonung der Frau in der S(;hwan-
gerschaft und im Wochenbett bedingt sind.
Die in dieser Hinsicht bestehenden Arbeiter-
schutzgesetze bedürfen noch derErweitennig.
Die Errichtung von Wöchnerinnen-
asylen ermöglicht zwar unbemittelten
Fi-auen die Abhaltung des Wochenbettes
unter relativ günstigen hygieinischen Be-
dingimgen, trägt aber dem ethischen Be-
dürfnis keine Rechnung, weil die Familie
getrennt wird. Die Hauspflege vereine
vermeiden letzteres, indem sie der Wöch-
nerin ermöglichen, sich im eigenen Heim
die nötige Schonung zu gewähren.
b)Pro8titution und Geschlechts-
krankheiten. Die Befriedigimg des ge-
schlechtlichen Bedürfnisses ist diu'ch soziale
Gründe verschiedener Art erschwert Ge-
rade in der ersten Zeit der geschlecht-
lichen Reife, in der Zeit des heftigsten,
wenigst gezügelten Triebes ist die Ein-
nahme fast aller Männer zu gering, um die
gesetzlich vorgeschriebene Form der Befrie-
digung und deren Folgen, Ehe und Familien-
unterhalt, zu ermöglichen. Ist die Lehrzeit
vorbei, steht die Militärpflicht im Wege.
Dies einerseits, die mangelnde Erwerbs-
möglichkeit für die Frau andererseits führen
zur Prostitution der letzteren, d. h. zur ge-
schlechtlichen Hingabe der erwerbslosen
Frau an den geschlechtsbedürftigen unfähigen
Mann zu Erwerbszwecken. Die Prosti-
tuierten rekrutieren sich thatsächlich aus
den im Erwerbsleben Schwächsten, inso-
fern die überwiegende Zahl dei'selben nach-
weislich sich als minderbegabt
bis zum Schwachsinn er^weisen.
Durch den Verkehr mit Prostituierten wer-
den zwei Bj^nkheilsgruppen — Syphilis imd
Gonorrhoe? — verbreitet, deren Bekämpfung
Aufgabe der Hygieine ist. Sie erstrebt
deren Lösung im allgemeinen durch sani-
tä,re Ueberwachung und Zwangsheilmig er-
krankt befundener Prostituierter. Beide
Massregeln sind allenfalls bezüglich der
Sypliilis von Nutzen, bezüglich der Gonor-
rhoe fast ohne praktische Bedeutimg, weil
diese Krankheit gerade in den Formen, in
welchen sie bei den Prostituierten besteht,
derart, dass letztere fast ausnahmslos kurze
Zeit nach Beginn ihres Treibens an Gonorrhoe
erkrankt sind, unheilbar ist. Die öffent-
liche Gesundheitspflege versagt
zur Zeit gegen die Geschlechts-
krankheiten fast vollkommen, wie
daraus hervorgeht, dass an 80 ^/o der männ-
lichen Bevölkerung früher oder später in
ihrem Leben Gonorrhoe, an 15 ^/o Syphiüs
ausserdem gehabt haben und die Gefahr der
Ansteckung dfer Frau in die Ehe tragen.
Vorschläge zur Besserung gehen teils dahin,
durch strafrechtliche Verfolgung der wissent-
hch Kranken, welche Ansteckung bewirkt
haben, und Anzeigepflicht der Aerzte zu
wirken, teils dahin, diu'ch Aenderung der
rechtlichen Stellung der Prostituierten diese
zu vemulassen, sich freiwillig einer sicheren
und ausgiebigen Kontrolle und Heilung zu
unterzieiien.
Berufshygieine. a) Allgemeines.
Gesundheitspflege, öffentliche
253
Mit dem Eintiitt der Reife fäUt der Eintritt
in die praktische Berufsthätigkeit zusammen.
Eine solche liegt — wenn von der verhält-
nismässig klemen Zahl der oberen Zehntau-
send abgesehen wird — allen Erwachsenen
ob. Kinderarbeit sollte jprincipiell
ausgeschlossen sein. Das gänzhche
Verbot der Nachtarbeit von Kindern nicht
nur in Fabrikbetrieben, sondern auch im
Wirtschaftsbetriebe (Kegeljungen, BUlard-
groom u. dergl.) und im Hausierhandel
(Zeitungsverkauf, Blumenhandel), im Bäcke-
reigewerbe (Austragen der Frühbrötchen)
ist die einzige vom Standpunkte der Ge-
sundheitspflege mögliche Erledigung. Auch
bei Tage ist das gesetzliche Verbot ge-
wisser Arbeiten, vor allem in Bergwerken
und Ziegeleien, zu verlangen. Zulässig ist
die Mitarbeit von Kindern bei ländlichen
Arbeiten, wenn durch gleichzeitige geeignete
Anordnung der Unterrichtszeit daffu* gesorgt
ist, Doppelbelastung zu vermeiden. Die
Kinderarbeit in der Hausindustrie bedarf der
Einschränkung, soweit dieselbe zur Nacht-
arbeit ausartet; der mit ihr verbundene öko-
nomische Gewinn kann aber durch Ermög-
lichung einer besseren Lebenshaltimg den
Nachteil ausgleichen, der aus der Beschrän-
kung der dem Aufenthalt im Freien und
Spielen ausser den Schulstunden bleibenden
freien Zeit erwächst. Die in richtigen
Grenzen gehaltene Mitarbeit der
Kinder in kinderreichen Preletarierfamilien
kann durch Ermöglichung eines gewissen
Wohlstandes zum Segen werden. In all
diesen Fällen sollte die Altersgrenze auf
mindestens 10 Jahre gesetzt sein.
Die Berufsthätigkeit jugendlicher Arbeiter
in der Reifezeit ist vom Standpunkte der
öffentlichen Gesundheitspflege in erster Linie
wegen der unvollkommenen Ausbildung des
Knochensystems (Deformation der Glieder
— Plattfuss der Bäcker — ) einzuschränken.
Für weibliche jugendliche Arbeiter ent-
stehen schwere Schäden diu'ch ungenügende
Schonung zur Zeit der Menstruation. Aus-
führlicheres darüber siehe im Art. Arbeiter-
schutzgesetz gebung oben Bd.I,S.470ff.
Eine Scheidung der Berufsarbeit
nach dem Geschlecht für Erwachsene
ist nötig, soweit das Geschlechtsleben der
Frau die Arbeitsfähigkeit einschränkt, also
für die Zeiten der Menstruation, der
Schwangerschaft, des Wochenbettes und
des Säugens. Vom Standpunkte der
öffentlichen Gesundheitspflege
besteht kein Grund, nach irgend
anderer Richtung für die in einem
Beruf stehenden Frauen Sonderbestim-
mungen zu erlassen, soweit das Geschlechts-
leben nicht den Anlass giebt. Aus-
übung der Geschlechtsfunktion als Schwan-
gere und Wöchnerin ist mit schwerer körper-
licher Ai'beit unvereinbar. Die Menstniation
bedingt eine Einschränkung, keine absolute
Arbeitsunfähigkeit; durch einfache Anord-
nungen — Sitzgelegenheit für Verkäuferinnen
und Kellnerinnen — lassen sich viele
Nachteile vermeiden. Der anatomische Bau
der Frau — die Existenz einer nachgiebigen
Partie am Beckenboden — beschränkt deren
Arbeitstüchtigkeit überaD, wo Heben schwe-
rer Lasten und anhaltendes Stehen erforder-
lich sind. Gewisse als specifische Frauen-
berufe angesehene Arbeiten sollten deshalb
auf Männer übertragen werden; mehr als
die Hälfte der Büglerinnen leidet an Ge-
bäi-muttervorfall ! Im allgemeinen ist der
weibliche Körper eher widerstandsfähiger
als der männliche ; auch vor der Berufsreife
ist die Knabensterblichkeit grösser. Die
durchschnittliche grössere Krankheitsdauer
der Frauen bei geringer Krankheitshäuflg-
keit beruht darauf, dass eine Krankheits-
gruppe (Tripper) durch ihre Langwierigkeit
die Heüungsdauer ungünstig beeinflusst.
Berufsarbeit in höherem Alter
verbietet sich von selbst ; die physikalischen
Gründe sind grössere Zerreissbarkeit der
Muskeln, Brüchigkeit derGefässe (Blutungen,
Sclilaganfälle) , grössere Brücliigkeit der
Knochen, Abnalime der Sinnesschärfe, be-
sonders Trübungen der Linse des Auges (Star).
Gemeinsame Forderungen für jede Art
der Berufsthätigkeit vom Standpunkte der
öffentlichen Gesundheitspflege sind folgende :
1. Festsetzung einer maximalen Arbeitszeit.
2. Festsetzung minimaler zusammenhängen-
der Ruhepausen. 3. Genügende Pausen ziu*
Nahrungsaufnahme. 4. Anpassung der Ar-
beitslokale an die speciellen Berufe durch
Ventilationsanlagen, Staubschutz, Desinfekti-
ons- und Waschgelegenheiten. 5. Ausgiebige
Belichtung. Die Ventilation der Arbeits-
räume verlangt ein Luftquantum von 60
bis 100 Kubikmeter pro Stunde und Arbeiter.
Für das grössere oder geringere Lüftungsbe-
dürfnis ist massgebend die mehr oder weniger
vollkommene Verhütung von Verunreini-
gungen durch sich bildende Gase und Staub.
Mittel zur Erhaltung reiner Luft sind natür-
liche Lüftung durch Anbringung von Abzugs-
kanälen, Dachreitern; Anbringimg von
Druck- oder Saugventilation, Schachten mit
Lockflammen, Windfängen auf Schiffen.
Nötigenfalls muss Desinfektion der in die
Werkstätten gelangenden Materialien (Lum-
pen, Borsten) stattfinden; schlimmstenfalls
muss durch Arbeiten mit Schutzmasken für
Einatmen reiner Luft gesorgt werden. Wo
mit giftigen Stoffen gearbeitet wird, muss
besondere Fürsorge für die körperliche
Reinlichkeit der Arbeiter getroffen werden;
besonders wichtig sind Waschvorrichtungen,
die eine gründliche Reinigung der Hände
z. B. bei Bleiarbeitern ermöglichen, ehe sie
254
Gesimdheitspflege, öffentliche
in den Pausen etwas geniessen. (Weiss-
binder, Schriftsetzer, Akkumulatorenfabriken.)
b) Spedelles. Ein absoluter Massstab
für den gesundheitlichen Mnfluss der
einzelnen Berufsarten existiert nicht. Will
man die Sterblichkeitstafel als solchen an-
nehmen, so ist nicht zu vergessen, dass
ein Beruf günstiger erscheinen wird, wenn
er sich von vornherein aus besser situier-
ten Schichten reknitieit, dass andererseits
eine hohe Sterblichkeit durch die verschie-
densten äusseren Einflüsse, Ernfthnmgs-,
Wohnungs-, Sittlichkeitsverhältnisse bedingt
sein kann. Auch kann die Sterblichkeit
eines Berufes geringer erscheinen, wenn
ihn der Arbeiter gebrauchsmässig nur für
eine kürzere Lebensperiode betreibt, um sich
dann einem anderen Fach zuzuwenden. Die
grosse Sterblichkeit der Angestellten im Gast-
wirtsgewerbe beruht beispielsweise unzweifel-
haft auf dem Alkoholismus, der nicht unmittel-
bar aus dem Beruf hervorgeht ; Bäcker nehmen
in der Sterblichkeitstafel trotz ihrer enormen
Belastung mit Geschlechtskrankheiten u. s. f.
eine zu günstige Stellung ein, weil sie früh
den Beruf verlassen. Eine Anzahl von Be-
rufen mit den ihnen eigentümlichen Berufs-
krankheiten und ihren Ursachen giebt die
auf S. 255 folgende Tabelle.
Diese Tabelle kann nur Andeutungen
geben. Manche Industrieen bieten eine
überraschende Fülle specifischer Krank-
heitsformen, besonders gilt dies von den
zahllosen eigenartigen Vergiftungen der
chemischen Industrie; es entspricht dem
die Mannigfaltigkeit der Verhütungsmass-
regeln. Viele Berufsarten sind noch gänz-
lich unbeachtet, es fehlt z. B. eine Hygieine
des Lehrerberufs. Am ungilnstigsten stehen
alle Berufe, in welchen der Alkoholismus
eine Rolle spielt (Wirte, Kellner). Am
schlimmsten gestalten sich aber die, in wel-
chen Alkoholismus sich zu Arbeit in Nässe und
Unbilden der Wittenmg gesellt (Droschken-
kutscher, Känalarbeiter). Neben der Ver-
besserung der Wohnungsverhältnisse und der
Ernähnmg des Arbeiters ist der Kampf
gegen den Alkohol die wichtigste Auf-
gabe der Benifshygieine.
Hygieine der Kleidung, der Er-
nährung, des Wohnungs- und Ver-
kehrswesens. Sie schliessen sich dem
vorigen Absatz an, insofern sie der Haupt-
sache nach das Leben des Erwachsenen an-
gehen, ausserdem aber für die gesundheit-
liche Entwickelung der Berufsgruppen in
vieler Hinsicht massgebend wenleu.
a) Hygieine der Kleidung. Die
Köq)erbekleidung hat ihre wesentlichen Auf-
gaben in der Wärmeregulierung und der Rein-
haltung des Körpers. Für die Wärmeregulie-
nuig ist massgebend der Stoff, die Webart,
die Schichtung der Kleidungsstücke. Von
wesentlichster Bedeutung ist das Wärme-
leitungsvermögen der verwendeten Stoffe,
das bei Wolle nur halb so gross ist wie bei
Seide oder Leinwand, bei durchfeuchteten
Stoffen grösser als bei trockenen. Der
Wärraeverlust bei feuchten Stoffen wird
durch Verdunstung gesteigert; hindert aber
die Durchfeuchtimff den Luftdurchtritt ganz-
hch, so fällt die Wärmeabgabe durch Ver-
dunstung ebenso wie bei Gummistoffen
weg; nur Jägersche Wolle und Lah-
manns Baumwolle bleiben auch nass luft-
durchlässig. Da erstere gleichzeitig die
Wärme schlecht leitet, ist sie die für mitt-
lere Klimate geeignetste, leider aber teuerste
Bekleidung. Die Farbe der Kleidung kommt
in Betracht, wo sie Schutz gegen Erwär-
mung von aussen gewähren soU (Weiss in
den Tropen !). Auch bezüglich der Reinhal-
tung bietet Jägersche Wolle Vorzüge,
weil sie am meisten Schweiss aufsaugt —
Von grosser hygieinischer Bedeutung ist die
Fussbekleidung : Anpassung an die Fussform
im Stehen, am besten Schnürschuhe ; niedere
Absätze!
Die Anpassung der Kleidung an ver-
schiedene Berufe kommt in der Praxis diuxjh
die Errichtung specieller »Arbeitskleider-
Fabriken« zum Ausdruck. Hier wird auf
möglichste Beweglichkeit des Körpers bei
Bewegungen, auf Vermeidung flatternder
Klappen und Schösse, auf besonderes An-
schmiegen an den Körper bei verschiedenen
Berufen zu achten sein. Die Frauenkleidung
für die arbeitende Frau hat sich in wesent-
lichen Dingen der Männertracht zu nähern:
geschlossene Beinkleider, Verlegung des
Kleidergewichts auf die Schidtern durch
Anknöpfen der Kleider an Leibchen statt
des um ein Korsett gelegten Bundes (Reform-
kleidung); Rockbänder sind ganz zu ver-
werfen ; wo sie verwendet werden, besser auf
Korsett! Besondere Rücksicht verdient die
Kleidung der in der Krankenpflege beschäf-
tigten Personen: leichte Desinfektion! am
besten ausschliesslich waschbare Oberkleider
ohne die leider bisher noch gebräuchlichen
Kragen und Capes der üblichen Schwestern-
kleiduhg. Wie das Korsett in der Frauen-
kleidung sind Gürtel beim Sport und Müitär-
kleidung zu verwerfen. Auch hier möglichste
Verlegung des Gewichts auf die Schultern;
nur hülfsweise soll der Tornister auf dem
Becken ruhen.
Hygieine der Ernährung. Da die
Widerstandsfähigkeit und Erhaltung der
Leistungsfähigkeit des arbeitenden Körpeis
von der Zusammensetzung und der Qualitflt
der Nalu'ungsmittel abhängen, so ist die
Ueberwachung der Produktion und des Ver-
triebes der Nahnmgsmittel und die Kontrolle
ihi'er Beschaffenheit eine der wichtigsten
Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege :
Gesundheitspflege, öffentliche
255.
Beruf
Bäcker.
Bergleute.
Braaer.
Fleischer.
Gfirtner.
Glasarbeiter.
Hüttenarbeiter.
Lehrer, Geistliche.
Müller.
Steinmetzen.
Tabakarbeiter.
Textilarbeiter.
Berafsschädliohkeiten
Mehlstanb.
Hitze der Werkstätten.
Langes Stehen am Ofen.
Schlechte Wohnnngsver-
hUtnisse.
Betriebsunfälle.
Gebückte Stellung der
Schlepper.
Arbeiten in der Nässe.
Staubeinatmung.
Einatmung von Dampf.
Mangelhafter Sauerstoffge-
hiSt der Luft.
Arbeiten in komprimierter
Luft.
Schlechtes Trinkwasser.
Massenhaftes Trinken.
Betriebsunfälle.
Genuss von rohem Fleisch.
Unregelmässige Tagesein-
teilung.
Arbeiten in feuchtemBoden.
Staubeinatmung der
Schmelzer,
üeberanstrengnng derGlas-
bläser.
Strahlende Hitze.
Spie^elbelegen mit Queck-
siloer.
Arbeiten in der Hitze.
Grelle Belichtune^ der
S 'übenden Metalle,
altendes lautes Spre-
chen.
Mehlstaubeinatmung.
Steinstaubeinatmung.
Sitzende Lebensweise.
Lange Arbeitsdauer.
Rekrutierung aus schwäch-
lichen Individuen.
Vorgebeugte Haltung der
Stickerinnen.
Ueberlehnen der Band-
weberinnen.
Staubeinatmung der Weber
und Spinner.
Unmittelbare Berufs-
krankheiten
Krankheiten d. Atemwege.
Neigung zu infektiösen Er-
krankungen.
Flattfuss.
Erstickung.
Verbrennungen durch
schlagende Wetter.
Verletzungen.
jumbago (Hexenschuss).
Rheumatismus.
Lungenerkrankungen^Koh-
lenarbeiterlunge.
Quecksilbervergiftung.
Lungenerweiterung.
Blutungen.
Anchjlostoma duodenale.
Herzvergrösserung (Säufer-
herz).
Wunden der Hände, In-
fektionen (Panaritien, Fu-
runkel).
Bandwurm.
Erkältun^krankheiten.
Diphtherie.
Lungenkrankheiten.
Emphysem.
Bindehautkatarrhe , Er-
blindungen.
Quecksilbervergiftung.
Rheumatismus.
Tagblindheit.
Kehlkopf- und Luftröhren-
katarrh.
.Ohron. Bronchialkatarrh.
Steinhauerlunge.
Lungentuberkulose.
Skoliose, Kurzsichtigkeit.
Menstruationsstörungen,
Aborte.
Lungenkrankheiten.
Durch soziale Berafs
Verhältnisse begüns-
tigte Erkrankungen
Tüncher,
Arbeiter in Akku-
mulatorenfabri-
ken.
Wäscherinnen, Büg- Langes Stehen.
lerinnen.
Ziegelarbeiter.
> Beschäftigung mit Blei. Bleikrankheit.
Zündholzfabri-
kation.
Arbeiten in der Nässe.
Schlechtes Trinkwasser.
Einatmen von Fhosphor-
dämpfen.
Gebärmuttervorfall.
Rheumatismus.
Anchylostoma duodenale.
Phosphornekrose.
Tripper, Syphilis,
Krätze.
Verdauungsstö-
rungen durch
unregelmäs-
sige Ernäh-
rung, ungenü-
gende Pausen
während der
Arbeitszeit.
Alkoholismus.
256
Gresundheitspflege, öffentliche
sie schliesst sich der Berufshygieine an, in-
sofern es Aufgabe der Betnebsleiter und
Haushaltungsvorstände ist, Quantität und
Qualität der zu verabreichenden Nährmittel
zu überwachen. Man unterscheidet Nah-
rungsmittel im engeren Sinne von den Ge-
nussmitteln. Während erstere das Material
zur Bestreitung der physischen Yerbren-
nungsprozesse im Körjper liefern, wirken
letztere regulierend — verlangsamend oder
beschleunigend — auf die Vorgänge des
Stoffumsatzes, ohne selbst unmittelbar in den-
selben einzutreten. In die Gruppe der Nah-
rungsmittel gehören als "vsdchtigste Bestand-
teile Wasser und Luft; den Genussmitteln
sind die zum Rauchen verwendeten Dämpfe
— Tabak, Haschisch, Opium — und die
Parfümerieen anzureihen.
a) Nahrungsmittel. 1. Luft. Yon
den Bestandteilen der atmosphärischen Luft
sind der Sauerstoff und der stets in
wechselnder Menge beigemengte Wasser-
dampf von unmittelbarer Bedeutung; be-
züglich der anderen konstanten Bestand-
teile der normalen reinen Luft — Stick-
stoff, Argon, Helium u. s. f. — ist eine
unmittelbare Beziehung zum Wohlbefinden
des Menschen bisher nicht bekannt. Der
Sauerstoff findet sich in der Luft in zwei
Formen: in konstanter Menge (20,7 ®/o) als
normaler inaktiver Sauerstoff, nur in Berg-
werken, Minengängen und dergleichen ver-
mindert, in schwankendem geringem Be-
trag als aktiver Sauerstoff, Ozon, von Be-
deutung nur bei sehr reichlichen Vorkom-
men durch anregende Wirkung (Messung
durch Jodkali - Zersetzung ; es ist fraglich,
ob die in klimatischen Xurorten mit dem
angeblichen Ozongehalt getriebene Reklame
einen Wert hat). Der öehalt der Luft an
Wasserdampf ist von Bedeutung für die
Wasserausscheidung des Körpers. Zum Teil
hängt der Wasserdampfgehalt ab von der
Temperatur (Taugesetz), wenn durch Sinken
der Temperatur Wasserausscheidung statt-
findet (Bestimmung der Luftfeuchtigkeit
durch Hygrometer,Psychrometer, Atmometer).
Von gesundheitlichem Einfluss wird die Be-
schaffenheit der Luft aus physikalischen
Gründen durch den jeweiligen Druck (Ver-
minderung in der Höhe auf Bergen, bei
Ballonfahrten durch die Abnahme des
Partialdruckes des Sauerstoffes (künstliche
Atmung von reinem Sauerstoff unter anderem
als Mittel gegen Bergkrankheit), Steigening
in Taucherglocken und Caissons (Ohren-
krankheiten durch Aufenthalt in komprimier-
ter Luft). Aus örtlichen Gründen anderer Art
ergeben sich sonstige klimatische Faktoren
je nach der Wärme, Windrichtung, Luft-
druck und Feuchtigkeit Doch ist die un-
günstige Einwirkung verschiedener Klimaten
allem Anschein nach mehr von nebensäch-
lichen Einwirkungen — l^Iiasmen in den
Tropen, langes Ausbleiben des Lichtes einer-
seits, Fehlen der Nacht andererseits im Polar-
klima — abhängig; die Schwierigkeit der
Akklimatisation — grosser bei Europäern als
bei Farbigen — hängt melir von der mit den
tropischen Infektionskrankheiten verbundenen
Gefalir als von den Wärmeeinflüssen ab;
daher leichtere Akklimatisation des Süd-
länders im Norden als umgekehrt. Sehr
gross ist die Akklimatisationskraft der Chi-
nesen (Kulis)- von den weissen Rassen am
grössten die der Juden. — Verunreinigungen
der Luft sind teils gasförmiger, teüs fester
Natur. Von den gasförmigen ist die wich-
tigste die Kohlensäure; sie ist unschädlich
in geringer Menge bis zu 0,03 ^/o; schäd-
lich schon bei mehr als 0,1 ®/o. Da sie in
der tierischen Ausatmung produziert wird
— in der Natur kompensiert durch Kohlen-
säure - Einatmung der Pflanzen — so
kann schon die Anhäufung der Menschen in
ungenügend ventilierten Räumen schädlich
und tödlich werden; das früher angenom-
mene »Anthi'opotoxin« beim Sterben z. B. in
Schiffsräumen zusammengepresster Menschen
ist die Kohlensäure. Weitere schädliche gas-
förmige Beimengungen der Luft liefert die
chemische Industrie (schweflige Säure,
Schwefelkohlenstoff, Chlorwasserstoff, Queck-
silbertlampf ) , die langsame Verbrennung
faulender Substanzen (Sumpfgase). — Feste
Verunreinigungen nennt man Staub; man
kann anorganischen Staub (Steinsplitter,
Kohlenstaub) mit den von ihm abhängigen
Staubinhalationskrankheiten -^ Anthracose in
Kohlenbergwerken, Siderose in Feüenhaue-
reien, Steinhauerlunge u. s. 1 — , organischen
Staub (Mehl in Müllereien) und organisierter
Staub — Mikroben der Luft — unterschei-
den. Letztere bilden in Masse die Ursache
gewisser Epidemieen (Influenza-Invasion in
Perioden östlicher Winde); Aufgaben der
öffentlichen Gesundheitspflege bezüglich der
Luft sind: Regulierung des Aufenthaltes
unter ungünstigen Druckverhältnissen (kurze
Arbeitszeiten bei Arbeiten im Hochgebirge, bei
Caissonarbeiten), Reinhaltung der Luft (Ven-
tilation in Schulräumen, Sälen; Entstaubung
der Mühlenbetriebe; Bekämpfung des Aus-
trocknens bakterienhaltigen tuberkulösen Aus-
wurfes), Reguliening der Lufttemperatur (Hei-
zungsanlagen: Einzelheizungen, Oefen, am
besten gut ventilierende Dauerbrandöfen
[irische] und Gasöfen, wegen der fehlen-
den Staubentwickelung — am ungünstigsten
Flammöfen ohne Abzug — Petroleum !). Die
unbedingt beste, die elektrische Heizung, ist
vorläufig noch zu teuer, um in Betracht zu
kommen. Centralheizungen : Luftheizungen;
Wasserheizungen (am besten Mitteldruck-
heizung mit Wasser von 115 — 120^, bei einer
Atmosphäre üeberdruck), Dampfheizungen,
Öesundheitspflege, öffentliche
257
(am besten als Hochdruckheizung in Ver-
bindung mit Dampf wasseröfen, welche die
Wärme des überhitzten Dampfes aufnehmen
und behalten).
2. Wasser. Trinkwasser soll klar und
geruchlos sein ; zu kontrollieren ist sein Ge-
halt au Salzen (hartes imd weiches Wasser),
seine Reinheit von organischen Substanzen
luid von Bakterien (Verbreitung von Epide-
mieen durch Trinkwasser). Zur Benutzung
eignen sich der Reihe nach Quellwasser,
Gh-imdwasser, Wasser aus naturlichen Seeen ;
aus künstlichen Thalsperren ; filtriertes Fluss-
wasser. Je nach den Veninreinigungen muss
das Wasser vor dem Gebrauch vorbereitet wer-
den (Enteisenung eisenhaltigenGrundwassers ;
Filtration bakterienhaltigen Wassers durch
Hausfilter, auf chemischem Wege, durch
Kochen u. s. f.). — Eis soll nur aus keim-
freiem Wasser bereitet zu Speisezwecken
verwendet werden (KristaDeis aus destil-
liertem Wasser). Ebenso künstliche Mineral-
wässer.
3. Milch. Die Brauchbarkeit der Milch
hängt ab von der Reinlichkeit bei der Milch-
produktion. Zu kontrollieren sind durchweg
Fettgehalt, specifisches Gewicht, Keimfrei-
heit(Bacillengehalt der Milch von tuberkulösen
Tieren). Bei Epidemieen — Typhus, Schar-
lach, Diphtherie — kann die Milch Krank-
heitsträger sein, ebenso Milchprodukte (Käse,
Butter). Für die Säuglingsernährung ist
zweckmässig Sterilisation (Soxleth-Apparate),
die jetzt in Molkereien im Grossen geschieht,'
vielfach unter weiterer Präparation zur An-
näherung an die Muttermilch (Fettmilch nach
Gärtner, Labmüch nach Backhaus).
— Den Milchprodukten anzureihen ist
Margarine (Kuustbutter ; Mischungen
von reinen Fetten mit Milch oder Ranm
und Seaamöl) (Margarinegesetz !) vom hygiei-
nischen Standpunkte der Butter bei rein-
licher Darstellung füi* die Volksernährung
gleichwertig.
4. Fleisch; Eier, Fleischprodukte. Auf-
gaben der öffentlichen Gesundheitspflege.
Ceberwachung der Schlachthöfe bezügbch der
Gesundheit des zu schlachtenden Viehes
(Perlsucht der Rinder wegen Tuberkulose-
rifahr, Trichinose des Schweines),
innen (Bandwurmkeime) bei Rind und
Schwein; und der Frische des Fleisches
(Wurstgifte durch Fäulnis, Muschelgifte bei
aus ungünstigem Wasser kommenden Aus-
tern!). In Städten Kühlanlagen zur Frisch-
erhaltung des Fleisches; Kochanlagen' zur
Sicherung der Keimzerstörung in für die Frei-
bank bestimmtem minderwertigen Fleische.
Ueberwachung des konservierten Fleisches be-
züglich metallischer Gifte aus dem Material
der Büchsen. — Die Rolle des Fleisches für
die Entstehung gewisser Krankheiten ist viel-
seitiger als gewöhnlich angenommen. Band- 1 heiten). — Eine grosse Bedeutung für die
Handwörterbuch der Stafttswiasenscbaften. Zweite Auflage. IV. 17
würmer(Bothrycephalus) der Fische, Stralilen-
püze bei Wiederkäuern sind erst seit kurzem
nach dieser Richtung gewürdigt. Wichtigster
Schutz das Kochen ! — Dem Fleische anzu-
reihen sind die Eier; in erster Linie Vogel-
eier ; ihr Nährwert ist dem des Fleisches noch
überlegen; auch den Fischeiern — Caviar
kommt ein hoher Nährwert zu. Der Eierhandel
bedarf grösserer ueberwachung; besonders
bezüglich des Verkaufs sogenannter Bruch-
eier an unbemittelte. — Bedeutung haben
die neuerdings auch im täglichen Gebrauch
häufig verwendeten Fleischprodukte. Fleisch-
extrakt (kondensierte Bouillon, Liebigs
Fleischextrakt), peptonisiei'tes Fleischeiweiss
(Fleischpepton von Kemmerich), sie
stehen sich wie Fleischbrühe und Suppen-
fleisch gegenüber; eine Mittelstellung kommt
den Fleischsäften — Garne puro, Valen-
tines meat juice,Maggis Suppenwürze
zu. Eine specielle Aufgabe der öffentlichen
Gesimdheitspflege wird es sein, durch Ana-
lysen der Öffentlichen chemischen ünter-
suchungsämter deren wirklichen Nährwert
festzustellen, um den Preis dieser teilweise
in die Volksemährung übergegangenen Pro-
dukte durch Vergleich auf die richtige Höhe
zu normieren.
5. Mehlarten, Kartoffeln. Ihr
Nährwert beniht in erster Linie auf ihrem
Gehalt an Stärke, die in der inneren Masse
des Kornes, und IQeber — Eiweisskörper —
die unter der Hülle des Kornes, der Kleie,
haften; kleienhaltige Brotsorten (Pumper-
nickel, kölnisches Schwarzbrot, Gfrahambrot)
sind daher reicher an Nährstoffen als z. B.
reines Weizenbrot; doch ist die Ausnutzung
im Verdauungskanal weniger günstig, weu
die Lockerung beim Backen weniger voll-
kommen ist. Da das Brot durch das Backen
sterilisiert wird, ist es bezüglich Krank-
heitsübertragung die günstigste Form der
Mehlnahrung. Gesundheitlich ungeeignet ist
wenig gelockertes Brot; schädSch durch
Feuchtigkeit verschimmeltes Brot (Möglich-
keit von Schimmelpilzki'ankheiten). Andere
Formen der Mehlnahrung (Breie, Puddinge)
ermöglichen bessere Ausnutzung, bieten aber,
weü sie meist nicht zur Massen nahrung wer-
den, ein geringeres hygieinisches Interesse.
Bemerkenswert ist die Gefahr des Genusses
verdorbenem Mais dim^h die vermutlich
von
zu
wegen ihrer ursächHchen Beziehung
Geistesstörungen wichtige Pellagra. Vom
Standpunkte der öffentlichen Gesundheits-
pflege wichtige Beimengimgen der Mehle
und Verfälschungen (Mischung schwerer mit
minderwelligen Mehlen ; Zusatz von Schwer-
spat), Gehalt an giftigen Unkrautarten
(Kornrade, Taumellolch) Pilzen (Sesale cor-
nutum, Ursachen der Kriebelkrankheit,
Actinomyces, Ursache der Strahlenpilzkrank-
258
Gesundheitspflege, öffentliche
Volksemähmng kommt neuerdings den
durch Rösten oder Verarbeitung mit Milch
präparierten Mehlen zu: Rademanns,
Ku fekes Kind er me hl, Knorr 8 Hafer-
mehl, Nestles Kindermehl, Mellins
Food u. 8. f. Bei der zunehmenden Ver-
breitung derselben werden sie ähnlich wie
die Fleischkonserven der öffentlichen Kon-
trolle zu unterstellen sein. Dasselbe gilt
von den neuerdings viel verbreiteten Malz-
kaffees. — Die Kartoffel und die ihr ähn-
liche Batate stehen in ihrem Nährwerte den
Mehlen nahezu gleich nach deren Gehalt
an Stärke, etwas niedrer nach dem an Ei-
weiss. Schädlich wird die Kartoffel, wenn
sie verdorben genossen wird, sei es durch
Gefrieren und spätere Fäulnis, sei es durch
Krankheiten (Pilzinfektion).
6. Zucker. Ein Produkt der vei-schie-
densten Pflanzen ist der fabrikmässig rein
dargestellte Zucker nahe daran, aus seiner
früheren Stellung als Genussmittel mehr
und mehr zum Nährmittel zu werden ; schon
jetzt werden pro Kopf der Bevölkerung in
Deutschland ca. 12 Kilo verbraucht. Immer-
hin darf bei den ziu* Zeit sich abspielenden
Bestrebungen, den Zucker in reiner bezw.
durch Zusatz von Citronensaft u. dgl. modi-
fizierter Bonbonform in die Ernähnmg der
Soldaten einzuführen, nicht übersehen werden,
dass der Wert des Zuckers als Wärmebilder
kaimi grösser als der der Stärke und nicht
halb so gross als der des Fettes ist. Zur
Verwendung kommt der Zucker in der Form
des gewöhnlichen Rohr- oder Rüben-
zuckers, femer als Milchzucker, be-
sonders als Zusatz zur Milch bei der künst-
lichen Ernährung der Säuglinge. — Surro-
gate bilden die Fruchtzucker aus Fnicht-
säften, zu ihnen gehört auch der Honig.
Mischungen von Zucker und Malton spielen
als Nährmittel für Kranke eine Rolle. — Die
neuerdings viel verbreiteten künstlichen
Süssmittel, Saccharin u. s. f. sollten nicht
einmal als Genussmittel, sondern höchstens
als Arzneimittel für gewisse Kraukheits-
formen gelten.
7. Leguminosen. Kakao. Die wert-
vollsten pflanzlichen Nährmittel durch hohen
Eiweissgohalt , bei Hülsenfrüchten gleich
dem des Rindfleisches, bei Kakao etwas
niederer; daim kommen bei erateren reich-
liclie Stärke, beim Kakao Stärke und Fett
< Kakaobutter). Schwer vei*daulich ist die in
China verwendete an Eiweiss noch reichere
Sojabohne. Hygieinisch wichtig sind auch
hier wieder die künstlich verdaulicher und
wertvoDer gemachten Präparate, von Le-
guminosen einerseits aufgeschlossene Mehle
(Hartensteins Leguminosen), andererseits
Mischungen mit Fleisch (Erbswurst), von
Kakao Mischungen mit Melilen (Hafer-
kakao). Leguminosen (Leguminosen-
kakao, Theinhards Hygiama), mit
Zucker (Chokoladen). Durch seinen Gehalt
an dem dem Coffein verwandten Theobromin
reiht sich der Kakao den Genussmitteln ein.
8. Andere Nährmaterialien aus
dem Pflanzenreiche. Sie sind sämt-
hch von geringem Nährwert, hauptsäclilich
als Zusatznahrung wertvoll, insofern sie als
»Ballast« die Verdauung befördern. Zu
unterscheiden sind: Wurzelgemüse
(Spargel, etwas Eiweiss; Rüben, zucker-
haltig, Meerettich. Radieschen und dergleichen
fast ohne Nänrwert). Blattgemüse
(Kohlarten, etwas Eiweiss und Kohlen-
hydrate ; Rhabarber, etwas Zucker ; Pflanzen-
konserven). Schotengemüse (Erbsen ;
Bohnen etwas wertvoller durch die eiweiss-
haltigen Samen) ; Obstarten (Zucker, Pflanzen-
säuren); Nüsse und Mandeln (reichlich
Eiweiss, des beigemengten Fettes wegen
schlecht ausgenutzt, neuerdings zu Meluen
für Zuckerkranke verarbeitet). Pilze sehr
geringer Nährwert und besonders mit Rück-
sicht auf die Möglichkeit von Vergiftungen
mit Unrecht als Volksnährmittel empfohlen.
— Bei Rohgenuss in Form von Salaten
wei-den die Gemüse Trager von parasitären
Infektionen (Spulwürmer aus Ablagerungen
von Schnecken).
9. Salze. Die sämtlichen dem Tier-
reiche imd dem Pflanzenreiche entstammen-
den Nährmittel enthalten in verschiedener
Menge die für die Ernährung unentbehr-
lichen Salze. Als eigentliches Nahrungs-
mittel wird nur das Kochsalz in Massen
hergestellt und genossen ; Lösungen anderer
Salze kommen als Heil- und Genussmittel
in Form von natürlichen imd künstlichen
Mineral.wässern zur Verwendung. Die öffent-
liche Gesundheitspflege hat sich mit letzteren
wegen der Verwendung unreinen, bakterien-
haltigen Wassers, durch welches gelegentlich
Infektionskrankheiten verbreitet werden, zu
befassen.
b) Genussmittel: 1. Alkoholische
Getränke. Hierher gehören ausser Bier,
Wein, Branntweinen alle durch alkoholische
Vergärung zuckerhaltiger Flüssigkeiten her-
gestellten Genussmittel (Beerweine, aus
Johannis-, Heidel-, Stachelbeeren, Apfelweine,
Kefir — aus Kuhmilch — Kumys — aus
Stutenmilch). Eigentlichen Nährwei-t haben
nm' Bier — 1 Liter an Eiweiss = ca. 25 g.
Fleisch, 60 g Brot, an Stärke = 150 g Brot
— Kefir und Kumys. Sämtlich sind sie
nach ihrem Gehalt an Alkohol in erster
Linie zu beurteilen; letzterer ist das ge-
fährlichste Volksgift durch seine Herab-
setzung der körperlichen (hohe Sterbhchkeit
der Wirte u. s. f.) und der geistigen Wider-
standsfähigkeit (hohe Beteiligung der Alko-
holisten an Geisteskrankheiten und Ver-
brechen). Aufgabe der öffentlichen Gesund-
Gesundheitspflege, öffeutliche
259
heitspflege ist die Einführung alkohol-
armer Getränke, Thee, leichte Biere;
bessere Ernährung: letztere vermindert
den Bedarf an alkoholischen Eeizmitteln und
erhöht die Resistenz gegen deren Giftigkeit.
Angehörige der besser situierten Schichten
trinken ohne unmittelbaren Schaden und
ohne unmässig zu erscheinen, wie sich be-
rechnen lässt, das gleiche Quantum Alko-
hol (ca. 150 g in ^/2 Liter Wein, 5 Glas
Bier) wie ein Gewohnheitsschnapssäufer
(1/2 Liter 30 ^/o Schnaps). Die schädliche
Wirkung des Alkohol in Wein und Schnaps
wird gesteigert durch gleichzeitigen Gehalt
an Fuselölen, die des Bieres durch den
Massengenuss — 12 — 15 Liter täglich bei
Brauern, infolge üeberlastung des Herzens
(sog. Bierherz in München). Schaffung
von Trinkerheilstätten!
2. Gewürze. Von hygieinischer Be-
deutung ist der Essig wegen der verschie-
denen Essenzen, die gelegentlich zu Fäl-
schungen Aniass geben. Wermuth (Ab-
sinthtrinker in Frankreich), Y a n i 1 1 e (Krank-
heiten der Arbeiter in Fabriken, Vanille-
Eisvergiftungen) u. a. m.
3. Alkaloide. Coffein: in Kaffee und
Thee; als Reizmittel, eventuell in Thee
wohl der beste Ersatz der Alkoholica ; Nähr-
wert von Kaffee und Thee minimal. Der
sogenannte Malzkaffee hat mit dem echten
Kaffee gemein seinen durch das Rösten be-
wirkten Gehalt an Caramel (verbrannter
Zucker) und den ähnlichen Geschmack, be-
wirkt durch Benetzen der Malz (Gersten)-
kömer mit schwachem Kaffeeaufguss. Ueber
Theobromins. a.u.Leguminosen undKakao.
Cocain wird von Indianern durch Kauen
von Cocablättem genossen. Anzureihen ist
den betäubenden Genussmitteln das Betel -
kauen gewisser Völker (Ai'ecanuss). — Dazu
kommen die in Dampfform genossenen Nar-
cotica: Nikotin,das Alkaloid des Tabaks,
Morphin, das wirksame Princip des in China
gerauchten Opium; ihnen reiht sich an die
betäubende Substanz des Hanfes bei den
Haschisch räuchern. In sämtlichen Fällen
kommen für die öffentliche Gesundheits-
pflege leichtere und schwerere Schädigungen
des Nervensystems zur Geltung.
4. Aetherische Oele. Pflanzen-
säuren. Sie dienen als Genussmittel in viel-
facher Form als Bestandteil an sich wenig
wertvoller Nahrungsmittel, als charakteristi-
scher Bestandteil von Schnäpsen (Orange,
Pfeffermünze u. s. f.), zum Einatmen als
Parfüms. Von Pflanzensäuren hat die
Citronensäure sowohl als eigentliches Ge-
nussmittel (limonade, Drops) wie als Volks-
heilmittel Bedeutung.
5. Süssstoffe. In Betracht kommen
ausser den modernen Zuckersunx)gaten —
über diese s. u. Zucker — das Glycerin,
vielfach in der Conditorei verwandt, der
Süssstoff der Süssholzwurzel als Bestandteil
zahlreicher Thees und Arzneien.
6. Mineralische Genussmittel.
Bezüglich der Mineralwässer siehe auch unter
Salze. — Ausser diesen wird mancherorts
Arsenik, bezw. arsenige Säure, in kleinen
Mengen unter relativer Gewöhnung genossen,
anscheinend unter Wirkung auf die Blut-
mischung als Substitut für eine gewisse
minimale Menge Eisen.
• Wohnungshygieine. Verkehrshy-
g i e i n e. Das Zusammenleben der Menschen
äs Folge der Kulturentwickelung lässt diesel-
ben aus den Höhlen des Urzustandes in künst-
liche Wohnstätteo einziehen, welche den Be-
dingungen des Zusammenlebens angepasst
sind. Aus dieser Anpassung ergeben sich
Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege,
die zum Teil mit volkswirtschaftlichen Auf-
gaben sich decken und bei deren Bespre-
chung zu behandeln sind. Für die Anlage
der Wohnstätte bestimmend ist die Oert-
lichkeit durch gut drainierten, von Miasmen
freien Boden (Bodenhygieine). Die Woh-
nungen sind darauf in abgemessenem Ab-
stand unter Freilassung genügender Luft-
und Lichträume und mit Rücksicht auf die
Verkehrsraöglichkeit zu gruppieren : »S tädt e-
hygieine«. Specielle Aufgaben der letzteren
sind: Anordnungen für Wasserzufuhr
(vgl. oben), für Abfuhr der Abwässer (Kana-
lisation), der Fäkalien [(Kanalisation,
in Verbindung mit Klär- und Des-
infektionsanlagen bezw. Riesel-
feldern; wo dies nicht möglich, Abfuhr-
systeme, sei es duich Anlegen von öfter
und täglich zu entleerenden Tonnen, sei es
durch in regelmässigen Zeiträumen zu ent-
leerende gemauerte Grubenanlagen, durch
mit Saugvorrichtun^en nach L i e r n u r oder
Druckluft nach Shone auszupumpende
Röhrensysteme). Ganz zu verwerfen sind
im allgemeinen Schwemmkanalisation mit
Einleitung der imgeklärten Jauche in Flüsse,
deren »Selbstreinigung« nur in grösseren
Strecken die Abscheidung und Abtötung von
Krankheitserregern bewirken kann, einerseits,
Senkgniben mit Einsickern der Jauche in den
Boden andererseits], Beseitigung des Mülls,
sowohl des Haus- als des Strassenkehrrichts
(Abfuhr nach Schuttablagestellen;
Verbrennung des Mülls; letztere wohl
nur bei sehr kohlereichem Müll industrieller
Gebiete vorteilhaft). Anlage von Luftflächen
(Promenaden, Parks; vorteilhafte Umge-
staltung alter Friedhöfe) von staub- und lärm-
freien Strassen (geräuschlose Pflaster
je nach Hitze und Feuchtigkeitsverhält-
nissen Asphalt oder Holzpflasterungen). —
Die Einrichtung der Wohnung selbst
hat zu berücksichtigen : Trockenhaltung des
Baues ; Anlage an miasmenfreien Stellen ; Luft-
17*
260
Gesundheitspflege, öffentliche
und Lichtverteilung in den Räiunen; gut
steigbare Treppen zur Verbindung der Ge-
schosse; Wasserzufuhr; genügende Kloset-
anlagen, letztere in möglichster Trennung
von Küchenräumen, mit sicherem Syphon-
abschluss von Kanälen. — Die Aufgaben der
"Wohnungs hygieine liegen in erster Linie
auf volkswirtschaftlichem Gebiet — Der
Verkehr der bewohnten Centren
untereinander weist der öffentlichen
Gesundheitepflege ihre Aufgabe zu in der G e -
staltung der Verkehrswege (Brunnen-
anlagen!); der Ventilation und Rein-
haltung der Verkehrswerkzeuge
(Heizung der Eisenbahnwagen ; Desinfektion
derselben; Lüftung der Schiffe u. a. m.).
Hygieine der Abfallperiode des
Lebens, a) Normaler Verfall des
Lebens: Greisenalter. Die Aufgaben der
öffentlichen Gesundheitspflege ergeben sich
für den physiologischen Abfall des Lebens
durch allraählichen Krafteverfall aus der Not-
wendigkeit, für die Ernährung des ar-
beitsunfähig gewordenen (Alters-
versicherung) und die Pflege des
hilfsbedürftigen Greises, wo die Familie
fehlt oder selbst unfähig ist (Siechen-
häuser — s. unten) Sorge zu tragen.
b) Vor zeitiger Verfall desLebens:
Nach drei Richtungen gliedern sich die Auf-
gaben der öffentlichen Gesundheitspflege, je
nachdem vorzeitige Stönmgen der arbeits-
fähigen Lebensperiode durch äussere — Un-
fälle — , diu*ch das Individuum treffende Ent-
artungsvoi^nge (Geisteskrankheiten, Konsti-
tutionsanomalieeu), diu-ch die Gesamtheit
treffende Schädigungen (Epidemieen, Infek-
tionskrankheiten) bedingt sind ; in allen drei
Gnippen kann die Hemmung der Erwerbs-
fähigteit eine vorübergehende oder dauernde
sein.
1. Unfalls hygieine. Im weitesten
Sinne fallen in dies Gebiet ausser mechani-
schen Verletzungen — Bauuufälle, Gruben-
unglücke, Leuchtgas-, Schwefelkohlenstoff-
vergiftungen u. dgl. — alle aus Ge-
werbebetrieben sich entwickelnden Schä-
digungen (vgl. oben Gewerbehygieiue). Aber
auch darüber hinaus noch giebt es indirekt
aus dem Beruf hervorgehende Invaliditäts-
lU'sachen: Fehlgeburten bei an Webstühlen
arbeitenden Frauen in Bandwebereien u. dgl.
m. Aufgaben der öffentlichen Gesundheits-
pflege: Krankenfür sorge bei vorüber-
gehender Unfallsschädigung, er-
weitert durch die Einrichtung von Insti-
tuten für medicomechanische Be-
handlung, Volkssanatorien für
Rheumatismusleidende; Inyalidi-
tätsversicherun^bei dauernderEr-
werbsunfähigkeit.
2. Hygieine der konstitutionellen
Entartung. Diese tritt in Erscheinung
als Geisteskrankheit, Epilepsie, Nervosität,
Kriminalität Die Entartung kann im Indi-
viduum erworben sein, hauptsächlich
durch Alkoholismus und Syphilis (progres-
sive Paralyse und Rückenmarkszehrung) ;
ausserdem für gewisse Formen durch geis-
tige Ueberarbeitung (Neurasthenie) und
Ueberernähnmg (Zuckerkrankheit), durch
Unterernährung (Bleichsucht, Rhachitis). Sie
kann auf erblicher Anlage beruhen
(erbliche Geisteskrankheiten und Epilepsie,
konträre Sexualempfindung, Verbrecner-
familien, Anlage zur Kurzsichtigkeit und Er-
blindung) oder direkt angeboren sein
(Schwachsinn, Idiotie). Aufgaben der öffent-
lichen Gesundheitspflege: Errichtung von
Asylen für Trinker, zur Zeit noch
ganz fehlende Volkssanatorien für
Nervenkranke und Bleichsüchtige;
Anlage von Irrenheilanstalten und
Asylen, von Anstalten für Epilepti-
sche, von Irrenabteilungen für
geisteskranke Verbrecher zu lebens-
länglicher Detention für erblich belastete
bez w . unverbesserliche Verbrecher, Errich-
tung von Blindenanstalten, von
Schulen zur Erziehung schwach-
sinniger Kinder und Idiotenan-
stalten.
3. Hygieine des Kranken- und
Epidemieenwesens. Der Einfluss der
Umgebung führt zu Schädigungen der Ar-
beitsfähigkeit ausser durch die dem Er-
werbsleben entstammenden Stönmgen diu'ch
klimatische Verhältnisse, vor allem aber
durch die Berühnmg mit zur Ansiedelung
im menschlichen Körper geeigneten fremden
Organismen. Diese Gruppe der Schädigungjen,
deren Grundlagen als Bakteriologie, Parasito-
logie und Epidemiologie den grössten Teil der
Handbücher der Hygieine füllen, ist im
Wachsen, zum Teil iüdirekt durch die Fort-
schritte der Gesundheitspflege selbst : je mehr
unter verbesserten Lebensanordnungen, durch
bessere Kinderernährung, Wohnungsverhält-
nisse u. s. f. es gelingt, weniger kräftig ver-
anlagte Wesen am Leben zu erhalten, wie
aus der Erhöhung des mittleren Lebensalters
hervorgeht desto geringer ist die Wider-
standsfähigkeit; die Domestikation begüns-
tigt, wie beim Weinstock die Verheerungen
der Phylloxera, beim Menschen die ver-
heerende Wirkung von »Infektionskrank-
heiten«, besonders derjenigen, deren Ent-
stehung von einer vorgängigen krankhaften
Veranlagung abhängt (Zunahme der Ki-ebs-
erkrankungen und Auftreten derselben in
weit jugendlicherem Alter als in früheren
Zeiten). Erkrankimg durch Eindringen oder
Ansiedelung von »pathogenen« Organismen
kann erfolgen bei ganz gesunden Individuen
(Trichinose, Krätze) oder auf Gnmd einer
bestehenden angeborenen (Tuberkulose) oder
Gresundheitspflege, öffentliche
261
2. B. durch Erkältung erworbene Disposition
(Lungenentzündung) — Gegensatz angeborene
oder erworbene Immunität — oder endlich bei
Bestehen begünstigender epidemiologischer
Ursachen, Steigen des Gnmdwassers (Typhus),
andauernde trockene Witterung mit kalten
Winden (Influenza). Der infizierende Orcanis-
mus kann dem Tierreich (Trichine, Band-
wtlrmer nnd Finnen, Leberegel, Medina-
wurm, Krätzmilbe, Läuse u. s. f.), dem
Pflanzenreich [verschiedene Pilze — Mucor,
Actinomyces, Sarciua — Stäbchenbakterien
(Bacillen des Milzbrandes, der Tuberkulose,
der Influenza, des Heufiebers, des Wundstarr-
krampfes, des Typhus, der Diphtherie), Kugel-
bakterien (Mikroorganismen der Eiterung, der
Blutvergiftung und des Wochenfiebers, des
Scharlach, des Trippers, der Lungenentzün-
dung), Spiralbaktenen (Rtickfallfieber), Vibrio-
nen (Greisseibakterien der Cholera)!, oder den
Grenzorganismen, den Protozoen (rlasmodien
des Wechselfiebers) angehören. Für manche
unzweifelhaft auf Infektion beruhende Krank-
heiten ist der Träger noch nicht, oder nicht
sicher bekannt (Krebs — Leukämie, Keuch-
husten, Syphilis, Masern, Hundswut). Die An-
siedelimg kann in für jede Krankheit verschie-
dener Weise erfolgen: auf der unverletzten
Haut, in Wunden, m den Schleimhäuten, den
Atem- und den Verdauungswegen ; besonders
in letzteren kann sie^ durch BiutüberfüUung
bei plötzlicher Abkühlung — Erkältung —
begünstigt werden. An diese Stellen kann der
infizierende Körper gelangen durch Berüh-
rung denselben tragender Körperteile (Ge-
schlechtskrankheiten ; Diphtherieübertragimg
durch Küssen), Fremdkörper (schmutzige
Wäsche, milzbrandhaltige Felle), durch Ver-
schlucken (Trichinen und finnenhaltiges
Fleisch ; aus bakterienhaltigem Wasser stam-
mende Austern : cholera- und typhushaltiges
Trinkwasser; Milch von tuberkulösen Kühen),
durch Einatmen (Influenza, Tuberkulose),
durch üebertragung von Insekten (Wechsel-
fieber). Die &krankung kann bedingt sein
durch die örtliche Reizwirkung des Schäd-
lings (Trichinose), durch üeberschwemmimg
des Organismus mit demselben und Erzeu-
gung seines Giftes in der gesamten Blut-
bahn (Milzbrand), durch Ausscheidung gif-
tiger Produkte desselben am Orte seiner
Ansiedelung (Wundstarrkrampf, Diphtherie,
Cholera). Wo Giftausscheidungen den Körper
krank machen, kann derselbe durch Bildung
von Gegengiften reagieren; darauf beruht
die Selbstheüung, deren Zustandekommen
man als erworbene Immunität bezeichnet;
diese kann von kürzerer (Diphtherie) oder
längerer Dauer (Scharlach) sein. Wo bei der
Immunität die Gegengifte in der Blutflüssig-
keit aufgespeichert sind, kann durch Üeber-
tragung dieser Flüssigkeit von immunen
Tieren ein nicht immunes Wesen vor In-
fektionsschädigung geschützt, im Anfang
der schon erfolgten Ansteckung sogar
geheilt werden (Senimbehandlung der Diph-
therie nach Behring). In etwas an-
derer Weise lässt sich das Rückenmark
wutkranker Tiere zur Immunisierimg und
Heilung nach Paste ur verwenden. Bei
anderen Infektionskrankheiten scheint die
Empfindlichkeit durch einmaliges Erkrankt-
sein zu steigen (Tuberkulose); in solchen
Fällen ist beim Menschen wenigstens eine
Immunisierung durch Gewöhnung an das
Gift (Kochs Tuberkulin) noch nicht ge-
lungen. Die giftigen Eigenschaften der
Bakterien können übrigens schwanken;
durch Aendem der äusseren Lebensbe-
dingungen kann man sie abschwächen; ab-
geschwächte Züchtungen können dienen,
durch künstliche Erzeugung der gemilderten
Krankheit, Immunität gegen stark giftige
Infektion hervorzubringen (Schutzimpfung
gegen Milzbrand, Rauschbrand, Schweinerot-
lauf). Andererseits können Bakterien, die
ihre Virulenz verloren hatten, sie durch
Wechsel der äusseren Bedingungen wieder-
erhalten (plötzliches Wiederauftreten der
Cholera). — In der ^li-de behalten manche
Bakterien oder wenigstens deren Sporen
ilire Giftigkeit monate- und jahrelang;
manche Seuchen können daher durch Be-
graben nicht genügend unschädlich gemacht
werden (Milzbrand). Auch bei verschiedenen
Tierarten ist die Giftigkeit desselben Bacillus
verschieden; durch üeberimpfung auf eine
andere Tierart lässt sich Abschwächung er-
zielen, die durch Rückimpfung zur Immuni-
sierung verwendet werden kann (Schutz-
pocken). Die Hervorrufung einer Krankheit
mittelst rein kultivierter Bakterien ist am
Menschen mit den Kugelbakterien des Rot-
laufs gelungen.
Die Aufgaben der öffentlichen Gesund-
heitspflege ergeben sich aus der Erkennt-
nis der begünstigenden Momente einer-
seits, aus der Bakteriologie andererseits.
Die öffentliche Gesundheitspflege hat sich
den einzelnen Erki-ankungen anzupassen;
eine grosse Schwierigkeit erwächst unter
Umständen für die ausschliesslich bakterio-
logisch begründeten Massregeln daraus, dass
Schutzmassregeln gegen eine Krankheit
die andere direkt fördern : Da Tuberkulose
durch Einatmen beföi-dert wird, weil ihr
Erreger im trocknen Staub verbreitet wird,
ist gegen sie durch Staubbekämpfung, vor allem
also Feuchtlialten der Strassen, vorzugehen ;
der Cholerabacillus wird durch Austrocknen
zerstört, feuchte Wohnungen fördern im-
zweifelhaft die Diphtherie ! In den Voixier-
grund sind daher in erster Linie die allgemein
hygieinischen Massregeln zu stellen: Kräfti-
gung den Infektionen ausgesetzter IndiW-
duen durch gute, zweckmässige Ernährung,
262
Gesundheitspflege, öffentliche
um sie widerstandsfähiger zu machen, Rein-
lichkeit, um die Ansiedelung der patho-
genen Organismen zu vermeiden, Sorge für
reines Trinkwasser, Drainage und Regulie-
rung des Grundwasserstandes durch gute
Kanalisation; Schaffung gesunder, nicht zu
dicht bevölkerter Wohnungen. In zweiter
Linie hat die Öffentliche Gesundheitspflege
jeder Zunahme der Volksinfektionen nach
den Eigentümlichkeiten der Krankheit ent-
gegenzutreten. Bezüglich der verheerendsten
Seuchen seien genannt — Tuberkulose:
Errichtung von Yolksheilstätten mit beson-
derer Rücksicht auf Belehrung der ärmeren,
besonders bedrohten Volksklassen zm* Rein-
hchkeit und auf Fettansatz gerichtete Er-
nährung; Warnung vor dem Genuss roher
Milch; Zerstörung tuberkulösen Fleisches
in den Schlachthöfen. — Cholera: Sorge
für gutes Trinkwasser; in Epidemiezeiten
öffentliche Verteilung von abgekochtem
Wasser ; Warnung vor der mit Abfällen be-
schmutzten Wäsche. — Blattern: Immu-
nisierung durch Kuhpockenimpfung. —
Diphtherie: Gesunde, helle und trockne
Wohnungen, keimfreie Bodenfüllungen. —
Typhus: Trinkwasser; Gefahr der Ver-
breitung durch Milch. — Scharlach:
Lange Isolierung der Kranken wegen der
Verbreitimg durch die Abschuppung der
infizierten Haut. — Wochenbettfieber:
Einschränkung der Berührung der Wöchne-
rin durch die unreinen infizierenden
Hände schlechtgeschulter Hebammen imd
an Leichen beschäftigter Studenten. —
Wechselfieber: Anlage der Wohnungen
an vor Mosquitos geschützten Stellen.
Allgemeine Aufgaben für die durch
Krankheiten erwachsenden Schädigungen der
Gesamtheit sind: die Errichtung zweck-
mässiger, Isolierung der verschiedenen Krank-
heitsformen diu-ch möglichste Verteilung
der Kranken ermöglichender Kranken-
und Siechenhäuser (Pavillonsystem
fürinfektionskrankheiten und Ii-renan stalten !),
Errichtung von D e s i n fe kt i 0 n s a n s talten
für Betten und Wäsche, Quarantänen, Vorsorge
für Krankenpflege im Haus (Schwes-
tern- und Diakonissenheime). Erhaltung des
Hausstandes bei Erkrankimg der Mutter in
imbemittelten Familien durch Ersatz ihrer
Arbeit durch Hauspflege; Vorsorge für
den Ausfall der Arbeitskraft in Krankheits-
fällen (Krankenversicherung).
Hygieine bei Tod und Bestattung.
Die an den Abschluss des Lebens sich
anschliessenden Aufgaben der Hygieine die-
nen dem Schutze der Ucberlebenden. Ob
bei dem herannahenden Tode eine Er-
leichterung der Qualen selbst auf die Ge-
fahr einer Beschleunigung statthaft ist
(Euthanasie) ist eine jm^istisch-ethische,
keine hygieinische Frage. Aufgaben der
öffentlichen Gesundheitspflege nach dem:
Tode sind: die Entfernung der Leiche aus
dem Sterberaum; Desinfektion des Sterbe-
raums; Bestattung der Leiche.
a) Die Entfemimg der Leiche aus dem
Sterberaum, Beistellung, hat zu erfolgen
wegen der sofortigen Beendigung der An-
steckungsgefahr bei Infektionsloankheiten
und wegen der Entwickelung der Fäulnis-
erscheinungen. Zu erstreben ist obligatorische
Beistellung, um Unbemittelte die Beistel-
lung nicht als Zurücksetzung empfinden zu
lassen, am besten in Leichenhallen, mit
grossen, die Besichtigung von aussen er-
möglichenden Fenstern und Schmuck der
Särge auf öffentliche . Kosten ; Beistellung
in Einzelzellen ist viel kostspieliger. Ein
Sektionsraum, in Städten in Verbindung mit
KüMraum zur Frischerhaltung auszustellen-
der Fundleichen, ist zweckmässig.
b) Die Desinfektion des Kranken-
raumes erfolgt durch Waschen aller
waschbaren Teile — Böden, Wandtäfelungen
— Desinfizientien ; Subliniat oder Carbol,
Abreiben oder Erneuern von Tapeten und
Decken. Sehr zweckmässig ist nachträgliche
Räucherung mit Formoldämpfen mittelst
tragbarer Lampen und in Pastillenform er-
hältlichen Formalins. Betten werden der
Sonne ausgesetzt; in Städten sind sie am
besten den Desinfektionsapparaten der Kran-
kenhäuser zu übergeben.
c) Die Bestattung der Leichen erfolgt
zur Zeit fast überall in Friedhöfen. Vom
Standpunkt der öffentlichen Gesundheits-
pflege ist gegen solche nichts einzuwenden,
wenn sie die nötigen Bedingungen erfüllen-
der Boden des Friedhofes darf nicht dauema
nass sein, um Leichenwachsbildung, nicht
zu trocken, um Mumifikation zu verhindern ;
er muss luftdurchlässig sein, um den für
die Verwesung nötigen Luftzutritt zu ge-
statten. Die Gräber soDen ausreichend
etwa 1,5 m tief und mit ihrer Sohle V2 m
über dem höchsten Grundwasserstand sein.
Auf jedes Grab eines Erwachsenen sollen
4 m Fläche kommen. Der Friedhof soll weit
genug von den Städten entfernt sein, um
Gasausströmungen nicht störend werden zu
lassen, nahe genug, um den Besuch nicht
allzusehr zu erschweren. Der Turnus für
die wiederholte Benutzung desselben Grabes
könnte bei so angeordneten Friedhöfen aus
hygieinischen Gründen ca. 8 — 10 Jahre, nach
welcher Zeit die Verwesung beendet ist,
betragen: praktisch aus Pietätsrücksichten
25 — 30 Jahre. Werden diese Bedingungen
erfüllt, so erhalten die Friedhöfe einen
hygieinischen Wert, insofern sie, allmählich
von den sich ausdehnenden Städten umfasst,
für diese Plätze mit ausgedehnter Bepflan-
zung offenhalten. — Die neuerdings wieder
vielfach befürwortete Feuerbestattung
Gesundheitspflege, öffentliehe
263
ist danach an sich keine hygieinische Not-
wendigkeit, wo gute Friedhöfe möglich sind ;
bei Grossstädten mit dichtbevölkerter, orts-
reicher Umgebung ist das aber thatsächlich
nicht mehr allerwärts der Fall; das nötige
Terrain (ca. 20000 qm bei 25 jährigem
Turnus auf 100000 Menschen bei der rela-
tiv geringen Jahressterblichkeit von 20 : 1000
Einwohnern) ist fast unerschwinglich und
nötigt, die Friedhöfe in sehr grosse Entfer-
nungen zu legen. Von den angebüchen
Hindernissen nir die Feuerbestattung —
Unmöglichkeit der Sektion bei legalen Fällen
imd religiöse Einwände — kann das eine
durch obligatorische Leichenschau
beseitigt wei*den; das andere ist vielerorts
bereits von der Geistlichkeit aufgegeben.
Die Verbrennung selbst erfolgt in eigens
konstruierten Oefen (Siemens-Klingenstjerna)
mit geringerem Kostenaufwand einschliess-
lich des Aschengrabes als die Erdbestattung.
Für Kriege und Epidemieverwendung sind
transportable Apparate konstruiert, welche
hier die Feuerbestattung ermöglichen.
Endlich muss noch die sozialpolitisch
so bedeutsame Kostenfrage berührt werden.
Die Bestattung ist eine öffentliche Ange-
legenheit; die Bestattungskosten werden
von den Angehörigen bezahlt Sie sind eine
Steuer, die erhoben wird, wenn der Steuer-
träger ökonomisch besonders geschwächt ist
(Kosten der Krankheit), die um so öfter er-
hoben wird, je mehr er — durch Wieder-
holung von Todesfällen in der Familie —
geschwächt ist ; und um seltener, je weniger
er Angehörige hat. Sie sind also das Ideal
einer schlechten Steuer; und die Gesetz-
gebung derjenigen Schweizerkantone, die,
wie Zürich, Bern, Basel u. s. w. (vgl. Zürich
G. V. 29. Juni 1890; Bern V. v. 16. Juni
1897) die Bestattungskosten auf die Ge-
meinde übernehmen, erweisen sich sozial-
politisch als nicht nur berechtigt, sondern
geradezu als selbstverständlich. Sie ver-
liindern die Aufzehrung der Ersparnisse
durch Totenluxus und erleichtern die Einfüh-
rung der Feuerbestattung, die im Gegensatz
zu der Erdbestattung um so billiger ist, je
öfter sie wiederholt wird.
3. Organigation der ö. O. Die Organi-
sation gerade dieses Yerwaltun^sgebietes muss
natnrgemäss eine sehr komplizierte sein. Es
liegen zogleich vor rein lokale Bedürfnisse (Für-
sorge für freie Plätze und Spaziergänge in den
Stiften ; Fürsorge für gesundes Trinkwasser u.
8. w.) und Aufgaben, die nur einheitlich, inner-
halb des Staatsgebietes gelöst werden können
(Medizinalstatistik, Schutz vor Verkauf unge-
sunder Nahrungsmittel; Bekämpfung der Aus-
breitung ansteckender Krankheiten durch An-
zeigepfticht, Zwangsuntersnchungen) — oder
direkt internationale Vereinbarnngen verlangen
i Beseitigung der Yerunreini^ng der Flüsse;
Quarantänen gegen das Einschleppen von
Seuchen). Ebenso muss der Bebördenapparat
umständlicher und schwerer übersichtlich sein
als auf irgend einem anderen Gebiet, nicht nur
wegen der Yielgestaltigkeit der Aufgaben an
sich, sondern namentlich weil zur Lösung jeder
Aufgabe Techniker und Verwaltnngsbeamte zu-
sammen wirken. In Bundesstaaten und Staaten-
bünden (Deutschland, Schweiz, Amerika) ist zu-
dem die Kompetenz noch zwischen den Beichs-
behörden und den Staatsbehörden geteilt.
a) Internationale Veranstaltungen. Der
öifentlichen Gesundheitspflege dienen sehr wesent-
lich die internationalen Kongresse, von denen
hier nur genannt sein sollen die alle Zweite
der öifentlichen Gesundheitspflege gleichmässig
umfassenden grossen internationalen Kongresse
für Hygieine und Demographie (der letzte IX.
fand 1898 in Madrid, der VIII. 1894 zu Pesth
statt); die medizinischen (der XII. ward 1897
zu Petersburg abgehalten); ferner die interna-
tionale Konferenz für Eisenbahn- und Schiffahrts-
hygieine zu Brüssel 1897; der internationale
landwirtschaftliche Kongress (vergl. z. B. die
auf die internationale Bekämpfung der Tier-
seuchen bezüglichen Beschlüsse des III. 1895 zu
Brüssel abgehaltenen Kongresses. Yeröffent-
lichunjBfen des Reichsgesundheitsamts 1895 S. 908) ;
der 1899 zu Berlin abgehaltene Kon^ress zur
Bekämpfung der Tuberkulose als Yolkskrank-
heit etc.
Wichtiger freilich als diese Kongresse, die
ihre Bedeutun&r nur aus dem Wert ihrer Ar-
beiten selbst ziehen, sind die offiziellen Konfe-
renzen, zu welchen sich die Delegierten der
europäischen (und mancher asiatischen und afri-
kanisch en) Staaten seit den letzten Jahrzehnten
zusammenfinden, um insbesondere Fragen der
Seuchenverhütung zu beraten. Die ersten sol-
chen Conferences sanitaires fanden 1868 zu Kon-
stantinopel und 1874 zu Wien statt. Schon
vorher natte die drohende Gefahr der Cholera-
verschleppung, welche die besonders mangel-
haften sanitären Zustände mancher durch den
Handelsverkehr oder die Pilgerfahrten wichti-
gen Yerkehrscentren in der Türkei fortwährend
herbeiführen, die Bildung einer internationalen
Quarantänebehörde — conseil sup^rieur de sante
— zu Konstantinopel veranlasst, an die 1881
ein conseil international zu Bukarest zur spe-
ciellen Wahrung der sanitären Interessen an der
Donaumündung angeschlossen ward (vgl. den
Wortlaut der Uebereinkunft R.G.Bl. 1882 S.
61). Im letzten Jahrzehnt, in dem man sich
der Notwendigkeit des einheitlichen Yorgehens
gegen die allen Staaten gemeinsam drohenden,
[andel und Yerkehr wie Leben und Gesund-
heit gleichmässig gefilhrdenden Wanderseuchen
(Cholera, Pest, gelbes Fieber u. s. w.) mehr und
mehr bewusst ward, sind aus jenen vereinzelten
Zusammenkünften internationale Konferenzen
geworden, die fast regelmässig stattfinden (zu
Venedig 1892, zu Dresden 1893, Paris 1^,
Yenedig 1897), deren Beschlüsse vielfach den
Charakter förmlicher diplomatischer Abmachim-
ffen haben (vgl. z. B. die im B.G.B1. 1894 S.
oiS abgedruckten Beschlüsse der internationalen
Uebereinkunft, betr. Massregeln ge^en die Cho-
lera, zu Dresden v. lö. April 189B; die Beschlüsse
der Pariser Konvention von 1894 mit den Zusatz-
erklärungen V. SO.Oktober 1897 ; 6Yeröifentlichun-
gen des Beichsgesundheitsamts 1898 S. 832,
264
Gesundheitspflege, öffentliche
betr. insbesondere die Yerhütane^ der Pest, und
die Ueberwachung der Pilgerfahrten im roten
Meer), denen andereStaaten nachträglich beitreten
und die dann zur Grondlaee weittragender Terri-
torialgesetze in den nächst berührten Staaten
dienen. (Die ostindische pllgrim ships Act y. 4. Ok-
tober 1895 ist die Ausführung der Bestimmungen
der Pariser Konvention ; vgl. Veröffentlichungen
des Gesundheitsamts von 1895 S. 622, 927.)
Ueber ähnliche internationale Vereinbarun-
gen mehrerer Staaten des amerikanischen Kon-
tinents wegen gemeinsamer Massnahmen gegen
die Seucheneinschleppung berichten Veröffent-
lichungen des Gesundheitsamts 1888 und 1890.
b) Bundeaataaten : Deutschland, Schweiz,
Nordamerika.
1. Deutschland. Nach dem Eingang
zur Reichsverfassung vom 16. April 1871 soll
das Reich dienen dem Schutz des Bundesgebiets
und des innerhalb desselben geltenden Rechts
sowie der Pflege der Wohlfahrt des
deutschen Volkes. Artikel 4 überweist
demnächst der Beaufsichtigung des Reichs und
seiner Gesetzgebung 1. die Bestimmungen über
den Gewerbebetrieb; 15. Massregeln der Medi-
zinal- und Veterinärpolizei. Die Lösung dieser
Aufgaben ist dem Bundeskanzler und dem
Bundeskanzleramt (errichtet durch kaiserlichen
Erlass vom 12. August 1867, später Reichs-
kanzleramt und Reich samt des Innern ge-
nannt) zugewiesen, und zur Unterstützung die-
ser Behörden ward 1876 mehrfachen Anregun-
gen des Reichstags folgend das Kaiserliche
Gesundheitsamt begründet (Denkschrift zum
Etat von 1876), das „einen lediglich beratenden
Charakter'^ ohne eigene Exekution haben sollte.
Es hat den Reichskanzler bei Ausübung des
Aufsichtsrechts über die Massnahmen der Medizi-
nal- und Veterinärpolizei in den Einzelstaaten
und bei Vorbereitung der bezüglichen Gesetz-
gebung zu unterstützen und zu diesem Zweck
von den Einrichtungen in den einzelnen Bun-
desstaaten Kenntnis zu nehmen, die Wirkungen
der ergriffenen Massnahmen zu beobachten, Aus-
künfte an Staats- und Gemeindebehörden zu
geben, die Entwickelung der Medizinalgesetz-
gebung in ausserdeutschen Ländern zu verfol-
gen sowie die medizinische Statistik für
Deutschland herzustellen. Daran reihte sich
bald die Errichtung eines chemischen, hygieini-
schen und bakteriologischen Laboratoriums. Es
besteht zur Zeit aus 1 Direktor, 8 ordentlichen
und 32 ausserordentlichen Mitgliedern (vgl. die
Denkschrift: Das Kaiserliche Gesundheitsamt;
Rückblick u. s. w. 1886, bei Springer).
Das Gesundheitsamt giebt ausser den Be-
richten über die „Arbeiten aus dem Reichsge-
sundheitsamt** und medizinalstatistischen Mit-
teilungen insbesondere die wöchentlichen Ver-
öffentlichungen des Kaiserlichen Ge-
sundheitsamts heraus, welche — zur Zeit 23
Jahrgänge — wohl die wichtigste und leichtest
zugängliche Quelle für alle Thatsachen auf dem
Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege, die
deutsche wie die ausländische Gesetzgebung,
die internationalen Abmachungen u. s. w. ab-
geben. Sie werden hier als V. d. G.A. citiert.
Die Ausgestaltung des Gesundheitsamts zu
einem mit der laufenden Verwaltung in engerer
Fühlung stehenden Reichsgesundheitsrat
war in dem Entwurf eines Gesetzes zur Be'
kämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vor-
gesehen, der von der Reichsregierung 1894 dem
Reichstag (Nr. 145 der Drucksachen) zur Be-
ratung vorgelegt ward, aber leider nicht zur
Beratung gelangte.
Die Keichsgesetz^ebung hat das Gebiet der
öffentlichen Gesundheitspflege bisher noch wenig
berührt. Sieht man von dem allerdings auch
für die menschliche Gesundheit hochwichtigen
Gebiet der Viehseuchengesetzgebung (Reichs-
gesetze V. 23. Mai 1880 und 1. Mai 1894)
ab, so wären hauptsächlich aufzuführen das
Impfgesetz v. 8. April 1874; femer die durch
die Sewerbeordnung bewirkte Regelung des
ärztlichen, zahnärztlichen und Apothekerberufes
(vgl. namentlich § 29 Gew.-O. — Die Errichtung
von Apotheken, ferner von Privatkrankenan-
stalten jeder Art, das Hebammenwesen sind der
Landesgesetzgebnng überlassen § 6, § 30 Gew.-O ).
Zum Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege
gehören femer die Bestimmungen der Gewerbe-
ordnung und die zugehörigen Erlasse des Bun-
desrats über die Gesundheit der gewerblichen
Arbeiter (vgl. insbesondere § 120a, 120 e, § 139 a
Gew.-O. und die betreffenden Erlasse z. B. in
der Grotefundschen Ausgabe der Gewerbeord-
nung); endlich die Gesetze gegen die Verfäl-
schung von Nahrungsmitteln (G. v. 14. Mai
1879 Detreffend den Verkehr mit Nahrungs-
mitteln ; V. 25. Juni 1887 betreffend den Verkehr
mit blei- und zinkhaltigen Gegenständen, v. 5.
Juli 1887 betreffend die Anwendunff gesund-
heitsschädlicher Farben ; v. 6. Juli 1898 oetreffend
künstliche Süssstoffe ; das Gesetz über den Ver-
kehr mit Butter v. 12. Juli 1887 und mit Wein v.
20. April 1892). Eine Reichsseuchengesetzgebung
fehlt noch gänzlich ; und die Arbeiterschutzgesetz-
gebung der Gewerbeordnung berücksichtigt noch
so gut wie nicht die gesamte Hausindustrie
und die Werkstätten. Lediglich um zu zeigen,
dass dies nicht nur vom speciellen Standpunkt
der Arbeiterinteressen, sondern namentlich auch
von dem der öffentlichen Gesundheitspflege ein
schwerer Fehler ist, mag darauf hingewiesen
werden, dass z. B. die englische Fabrik- und
Werkstätten^esetzgebung (neueste Fassung vom
6. Juli 1895, Nr. 6) insbesondere auch denjenigen
Arbeitgeber mit schweren Geldstrafen belegt,
der veranlasst oder duldet, dass Kleidun^-
stücke für seine Rechnung in einem Wohnhaus
verfertigt, werden 'in welchem sich Pocken- oder
Scharlachkranke oefinden.
2. Ganz ähnlich wie dem Reich in Deutsch-
land stehen auch in der Schweiz dem Bund
auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheits-
pfle^ nur diejenigen Befugnisse zu, die ihm
die Bundesverfassung (vom 29. Mai 1874, teil-
weise abgeändert durch Volksabstimmung vom
25. Oktober 1885) zuweist.
Es sind im wesentlichen Art. 31 d und Art. 69 :
sanitätspolizeiliche Massregeln gegen Epidemieeu
und Viehseuchen, Art. 32: die Gesetzgebung
über Fabrikation und Verkauf gebrannter Was-
ser; Art. 33: die Ausübung der wissenschaft-
lichen Berufsarten (also auch der Heilkunde!);
Art. 34: die Fabrikgesetzgebung.
Die wichtigsten auf Grund dieser Bestim-
mungen erlassenen Bundesgesetze sind — auch
hier ausser der Viehseuchengesetzgebung vom 8.
Febmar 1872 — das im Deutschen Reich leider
Gesundheitspflege, öffentliche
265
noch fehlende Gesetz betreffend Massnahmen
ge^en gemeingefährliche Epidemieen Tom 2. Juli
1886 mit dem Beglement yom 4. November 1887
betrefiend die Ausrichtung von Bnndesbeiträgen
an Kantone und Gemeinden zur Bekämpfung
femeingefährlicher Epidemieen ; femer das Bun-
esgesetz betreffend die Arbeit in den Fabriken
Yom 23. März 1877; und die Massregeln zur
Bekämpfung des Alkoholismus im G. y. 23. De-
zember 1886 betreffend gebrannte Wasser.
Die zuständige oberste Verwaltungsstelle
ist im wesentlichen das Departement des
Innern, welchem seit 1889 ein eidgenössischer
Sanitfttsref erent , dem eine Aerztekommission
(ehrenamtlich ; Delegierte der drei grossen ärzt-
lichen Gesellschaften) zur Seite steht. Die Me-
dizinalstatistik wird von dem eidgenössischen
statistischen Bureau auf Gmnd eines Bundes-
beschlusses vom 17. September 1875 wahrge-
nommen.
Im übrigen wird insbesondere auch wegen
der teilweise sehr ausgebildeten Sanitätsgesetz-
fi^ebnng der Kantone auf die amtliche Darstel-
lung des schweizerischen Gesundheitswesens vom
Sanitätsreferenten Schmid verwiesen, die — er-
schienen Bern 1891 — im einzelnen freilich viel-
fach überholt, doch im ganzen noch zutreffend
sein dürfte.
3. Die Konstitution der nordamerikani-
schen Union erwähnt die Angelegenheiten
der öffentlichen Gesundheitspflege überhaupt
nicht, so dass anzunehmen wäre, dass sie nicht
zur Zuständigkeit des Kongresses gehören.
Immerhin ^iebt sie (Sect. I Abschn. 8 §3) dem
Kongress die Befugnis, to regulato Commerce
with foreign nations and among the several
States, und so hat sich , obwohl anerkannt ist,
dass die einzelnen Staaten verbindliche Gesund-
heitsgesetze erlassen können, eine ziemlich weit-
gehende und eingreifende Bundessanitätsgesetz-
gebnng gebildet. Dieselbe regelt einmal —
selbstverständlich — die öffentliche Gesundheits-
pflege in dem keinem Staat angehörigen Distrikt
Columbia mit der Bundeshauptstadt Washing-
ton (z. B. das Gesetz zur Verhinderung der
Ausbreitung ansteckender Krankheiten im
Distrikt Columbia vom 3. März 1897, Veröffent-
lichung des Gesundheitsamts 1897 S. 778 ff.), die
am 24. April 1880 mit Gesetzeskraft ausge-
statteten Verordnungen des board of health zu
Columbia, betreffend nuisances, injurions to
health : revised Statutes of the U. S. Supplement I
S. 574 ff.); ausserdem umfasst dl« Kongressge-
setzgebung aber auch das Quarantänewesen,
die Verhütung der Einschleppung von Seuchen
und von ungesunden Nahrungsmitteln. Die
Ausführung und Handhabung dieser Gesetze
ist der Hauptsache nach dem Schatzamt (trea-
sury department), bezüglich der Einfuhr und
Ausfuhr von Vieh, Fleisch und Nahrungsmitteln
vielfach auch dem landwirtschaftlichen Minis-
terium (department of agriculture) übertragen. G.
V. 30. August 1890 : act providing the inspection of
meats for exportation, prohibiting the importa-
tion of adulterated food (V. d. G.A. 1890 S. 800;
91 S. 246). Bei dem Schatzamt, dem insbeson-
dere auch die Beau&ichtignng der Handels-
und Schiffahrtsangel^enheiten zugewiesen sind
und das statistisdie Amt (bureau of statistics)
der Vereinigten Staaten " untersteht , ist auch
die An&icht über die für die Verhinderung der
Seucheneinschleppung besonders wichtigen Qua-
rantänemassregeln der Union wie aller Einzel-
Staaten dem obersten Arzt des Seehospital-
dienstes (snpervisin^ surgeon general of the
marine hospital service) zugewiesen, der selbst
natürlich oem Chef des Schatzamtes (secretary
of the treasury) untersteht (G. v. 15. Februar
1893, durch welches das frühere Gesetz zur
Verhinderung der Einführung infektiöser oder
kontagiöser Krankheiten, und zur Schaffung
eines Gesundheitsamts, vom 3. März 187^
wieder aufgehoben ist (v^. den Wortlaut ausser
in den revised Statutes : V. d. G.A. 1893 S 214).
An den supervising surgeon general haben auch
die Consnln in auswärtigen Hafenstädten
wöchentliche Berichte über den dortigen Ge-
sundheitszustand einzusenden; ebenso wie der
Staatssekretär die Pflicht hat, von allen Unions-
staaten und Städten das auf die öffentliche Ge-
sundheit bezügliche Material einzuziehen und
in jährlichen Berichten an den Kongress zu
veröffentlichen.
Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten
steht das Kecht zu, im Interesse der Verhinde-
rung der Seucheneinschleppung und der Auf-
rechthaltung der öffentlichen Gesundheit die
Einfuhr von Waren gänzlich zu verbieten, wenn
er die blossen Quarantänemassregeln nicht für
ausreichend hält.
Auf die sanitäre Gesetzgebung der einzel-
nen Staaten, die wohl sämtlich ihre boards of
health mit umfangreichen jährlichen Berichten,
Statistiken u. s.w. haben, kann hier nicht ein-
gegangen werden. Die Gesetze zum Schutz der
Gesundheit der Arbeiter sind in der schönen
Publikation des Arbeitsamts zu Washington
(labor laws 1892) für alle Unionsstaaten voll-
ständig gesammelt; eine ähnliche leicht zugäng-
liche Quelle für die übrigen Zweite der öffent-
lichen Gesundheitspflege ist mir nicht bekannt;
es gilt hier alles, was Holst (Marquardsens
Handbuch IV, 1, 3) über die Schwierigkeiten
der Darstellung des amerikanischen Staaten-
Staatsrechts ausführt.
Dass übrigens das Nebeneinanderbestehen
der Befugnisse der Unionsbehörden und der
Staatenbehörden bezüglich der Quarantäne- und
Senchengesetze zu recht ärgerlichen Komplika-
tionen führen muss, ist ersichtlich; ein Gesetz-
entwuri, welcher die ausschliessliche Kompetenz
des secretary of the treasury und die Erweite-
rung der Befugnisse des Marinehospitaldienstes
zu einer wirldichen obersten Sanitätsbehörde
bezweckt, la^ denn auch 1898 dem Senat der
Union vor. Derselbe ist abgedruckt in dem
dem Staatssekretär 1899 erstatteten report des
supervising surgeon general of the marine
hospital Service, welcher sehr eincfehenderweise
sich überhaupt über alle Verhältnisse der
öffentlichen Gesundheitspflege in der Union ver-
breitet. (Washington, govemment printing
Office, 855 Seiten.)
o) SSiuselstcuiten: Freuseen, Bayern
u. 8. w., England, Frankreich, Italien u. s. w.
Zu der Gesetzgebung der Einzelstaaten
übergehend wird zunächst bemerkt, dass die
Darstellung, abgesehen von der Kompliziertheit
der Materie, dadurch erschwert wird, dass die
Behördenorganisation fast nirgends einheitlich
gestaltet ist, sondern sich überall, je nach den
besonderen hygieinischen Eriordemissen und dem
266
GresuQdheitspflege, öffentliche
früheren oder späteren Erkennen der Bedeutsam-
keit des Verwaltungsgfebietes , in die älteren
Ressorts eingeschoben hat. Nor wenige Staaten
sind 80 glücklich wie Rumänien, wo fast die
Gesamtheit der öffentlichen Gesundheitspflege
in zwei grossen, neuerdings erlassenen Gesetzen
(loi sanitaire v. 14. Juni 1893, 180 §§, und loi
de police sanitaire v^terinaire v. 6. April 1891,
182 §§, V. d. G.A. 1894 S. 470 ff. und S. 724 ff.) so-
zusagen kodifiziert ist, derart, dass die Kapitel-
überschriften fast ein System der Wissenschaft
darstellen.
In keinem Staat freilich ist die Verordnung
willkürlicher und zufälliger als in Preussen, wo
eine gründliche Neuorganisation des Medizinal-
wesens bekanntlich seit langem als unumgäng-
lich empfunden wird.
„Die allgemeine Polizei im ausgedehntesten
Sinn, dazu auch das Medizinalwesen
gehöret^, war ursprünglich, namentlich auch
in der grundlegenden Verordnung über die Ver-
fassung der obersten Staatsbehörden v. 27.
Oktober 1810, dem Ministerium des Innern zu-
fewiesen. Durch Kabinettsordre v. 3. November
817 ward indessen von diesem Ministerium
das für Kultus, Unterricht und Medizinalwesen
abgezweigt und dadurch der jetzige Zustand
geschaffen, der, nach der Erklärung des Ministers
Sosse in der Sitzung des Abgeordnetenhauses
vom 2. März 1898, „das Gewissen des Ministers
wegen der damit verbundenen Verantwortlich-
keit sehr erheblich belastet", der aber gleich-
wohl und trotz der mehrfachen Resolutionen
des Abgeordnetenhauses wegen Neuorganisation
des gesamten Medizinal wesens v. 27. Januar
1868, 8. Februar 1878, 20. Februar 1879, 19.
Mai 18% auch noch durch das G. v. 16. September
1899, betreffend die Dienststellung des Kreis-
arztes, nicht abgeändert ist.
In dem Ministerium besteht als Central-
stelle für die medizinischen Angelegenheiten
— lediglich das Veterinärwesen und die Vete-
rinärpoTizei sind durch den Erlass v. 27. April
1872 dem Ministerium für Landwirtschaft über-
wiesen — dessen dritte Abteilung, von der un-
mittelbar die wissenschaftliche Deputation für
das Medizinalwesen (Geschäftsanweisung v. 4.
Oktober 1888, Min.Bl. 143) und die technische
Kommission für die pharmaceutischen Angelegen-
heiten ressortieren , beides lediglich begut-
achtende, nicht entscheidende Stellen.
In den unteren Instanzen gehört die öffent-
liche Gesundheitspflege zum I^ssort der Ober-
präsidenten, Regierungspräsidenten und Land-
räte, deren Befugnisse wesentlich durch die all-
gemeinen Vorschriften über Umfang und Ver-
teilung der polizeilichen Aufgaben (Landesver-
waltungsgesetz, ZuständigkeitBgesetz u. s. w.)
bestimmt sind. Dem Oberpräsidenten steht zur
Seite dsa Provinzial-MedizinalkoUegium , dem
Regierungspräsidenten ein Regiernngs- und
Medizinalrat, dem Landrat der Kreisphysikus ;
dazu kommen dann in den Staaten die auf dem
Erlass v. 8. April 1835 beruhenden Sanitäts-
kommissionen, die allerdings nach dem G. v. 16.
September 1899 betreffend die Stellung eines Kreis-
arztes durch in Gemässheit der Städteordnung ge-
bildete Gesundheitskommissionen, in den Landge-
meinden durch vom Landrat beliebig zusammen-
gesetzte „Gesundheitskommissionen" ersetzt sind,
denen stets der Kreisarzt mit beratender Stimme,
aber mit dem Recht, jederzeit gehört zu werden,
angehört (§ 10 a. a. 0.). „Der charakteristische
und mangelhafte Zug der preussischen Sani-
tätsverwaltung besteht in der Abstufung von
vier Instanzen sachverständiger, aber lediglich
referierender Behörden, deren jede ein An-
hängsel an die entsprechende Instanz der all-
gemeinen Polizei Verwaltung bildet und nur mit
dieser sich in direkter amtlicher Beziehung er-
halten darf. Dabei ist ein wirklicher Gesund-
heitabeamter nicht vorhanden." Diese scharfe
Kritik, die Finkelnbnrg in der ersten Auflage
dieses Buches an dieser Stelle aussprach, wird fast
uneingeschränkt auch noch zu Recht bestehen,
wenn auf Grund jenes Gesetzes (§ 6, § 8) der
bisher in seiner Thätigkeit lediglich auf das
Belieben des Landrats angewiesene Kreisarzt
wenigstens eine gewisse Bewegungsfreiheit er-
langt haben wird durch das Recht, sich selb-
ständig über die sanitären Verhältnisse des
Kreises zu informieren und in Eilfällen selb-
ständig Anordnungen zu treffen.
Im einzelnen vergleiche über die Organi-
sation des preussischen Medizinalwesens das
Werk von Pistor: Das Gesundheitswesen in
Preussen. 2 Bände, 1896 und 1898, und in mate-
rieller Beziehung den 1897 erschienenen ersten,
von der Medizinaläbteilung: herausgegebenen Ge-
samtbericht über das Sanitätswesen des preussi-
schen Staates (im Auszug V. d. G.A. 1892 S. 70).
In den übrigen deutschen Staaten ist die
Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege
in der äusseren Anordnung meist der preussi-
schen gleich. Centralinstanz ist stets das
Ministerium, meist das des Innern, was natür-
lich, wegen der so hergestellten steten Fühlung
mit dem Armen wesen und der Kommunal Ver-
waltung überhaupt, der preussischen Ressort-
einteihing vorzuziehen ist. Der Centralinstanz
gehört überall an ein medizinal technisches Mit-
glied und ein hauptsächlich begutachtendes
sachverständiges Kollegium, in Bayern der Ober-
medizinalausschuss , in Sachsen das Landes-
medizinalkoUegium, in Württemberg das Medi-
zinalkollegium u. s. w. Daran reiht sich in
den grösseren Staaten als Mittelinstanz in
Bayern und Württemberg die Kreisregierung,
in Sachsen die Kreishauptmannschaft, in Elsass-
Lothringen das Bezirkspräsidium und endlich
die untere Instanz (Bezirksamt, Amt u. s. w.),
der ein Gesundheitsbeamter (Bezirksarzt, in
Württemberg Oberamtsarzt) beigegeben ist,
deren Stellung aber fast in allen Staaten eine
günstigere, mit höherem Gehalt und Pensions*
Berechtigung ausgestattete ist als in Preussen,
wo der Physikus bei einem Gehalt von 900 Mark
bisher noch nicht einmal Pensionsrechte hatte!
Vgl. im einzelnen über die Organisation
der öffentlichen Gesundheitspflege in Bayern
das Werk von Martin und Kuby, Medizinal-
fesetzgebung in Bayern; in Württemberg
"rause, Das Medizinalwesen Württembergs,
Eine sehr brauchbare tabellarische üeber-
sicht über die Organisation der Behörden and
die Stellung insbesondere der ärztlichen Be-
amten in sämtlichen Bundesstaaten bei Rap-
mund und Dietrich, ärztliche Rechts- und Ge-
setzeskunde, Leipzig 1899.
Wenn nunmehr noch Angaben Über eiuisy-e
ausserdeutsche Staaten folgen, so ver-
steht es sich von selbst, dass Vollständigkeit;
Gesundheitspflege, öffentliche
267
derselben weder beabsichtigt noch erreichbar
war. Das einzige Werk^ welches dies Ziel an-
strebte (Belval, essai snr Torganisation generale
de rhygiäne pnblique, gedruckt in nur 2öO
Exemplaren für den Brüsseler medizinischen
Kongress von 1875, besprochen in der Viertel-
lahrsschrift für Öffentliche Gesundheitspflege
1880 S. 273), war mir nicht zuzüglich, wäre
jetzt auch Jängst veraltet. Die kurze Dar-
stellung der Organisation der öffentlichen Ge-
sundheitspflege in den wichtigsten Kultur-
staaten, welche Finkelnbur^ als Einleitung zu
dem von Wevl herausgegebenen zehnbändigen
Handbuch der Hygieine (Bd. I S. 1—28)
gegeben hat, erstreckt sich nur auf wenige
europäische Staaten und nur bis 1892. Ebenso
sind auch bei der schnellen Entwickeluug, welche
die Gesetzgebung gerade, auf diesem Gebiete
genommen hat, die Angaben schon vielfach
überholt, welche in den Motiven zu dem oben
citierten, in den Reichstagsdrncksachen ver-
öffentlichten (Nr. 145 der fi. Session 1893/94)
Gesetzentwurf bezüglich mehrerer Staaten
(Belgien, Dänemark, Grossbritannien, Italien,
Niederlande, Oesterreich, Schweden, die Schweizj
enthalten sind, und die bezüi?lich einer Anzahl
weiterer Staaten (Kroatien-Slawonien, Serbien,
Ungarn, Türkei, Schweden) durch die kurzen
und übersichtlichen Darstelluni^en ergänzt wer-
den können, welche in den Berichten des achten
internationalen Kongresses für Hygieine und
Demographie (Bd. V, Budapest 1895) gegeben
werden. Wer tiefer eindringen will, als diese
relativ leicht zugänglichen Hilfsmittel — und
für den allgemeinsten Ueberblick die Dar-
stellnufi^en der Verwaltung der einzelnen Staaten,
die sich z. B. in Marquardsens Handbuch
finden — gestatten, muss zu den Veröffent-
lichungen des Gesundheitsamts greifen, um den
Text, und zu der Viertel jahrsscbrQt für öffentliche
Gesundheitspflege, um wenigstens den wesent-
lichen Inhalt der die öffentliche Gesundheits-
pflege betreffenden Gesetze, internationalen Ver-
träge, Kongressbeschlüsse u. s. w. kennen zu
lernen. Hier soll nur einiges Material gegeben
werden, das zum Vergleich mit den deutschen
Verhältnissen anregen und vielleicht, ebenso
wie die oben gemachten wenigen Angaben über
die Schweiz und Amerika, die Schwierigkeit
der Materialbeschaffung wenigstens in etwas
erleichtern kann.
In Frankreich ist dem Ministerium des
Innern ein aus nicht weniger als 37 Mitglie-
dern bestehendes comite consultatif d'hygi^ne
publique beigep:eben, das alle auf die öffent-
liche Gesundheitspflege im weitesten Sinn be-
züglichen Fragen zu prüfen hat (Dekret v.
3. Febraar 1®6; V. d. G.A. 1898 S. 606).
Dem Komitee gehören ständig nicht nur die
obersten Sanitätsbeamten und der Direktor der
Armenpflege im Ministerium des Innern selbst,
sondern auch die Leiter aller irgend in Frage
kommenden Dienstzweige aus den anderen
Ministerien (des Consularwesens , Zollwesens,
des Armensanitätswesens, des Elementarschul-
wesens u. s. w.) und der Vorsitzende der Pariser
Handelskammer und des Pariser Armenwesens,
endlich zehn Aerzte an. Das Komitee teilt sich
in drei Sektionen (1. hy^i^ne des villes et des
campagnes, mit Epidemieen, Tierseuchen, Sta-
tistik, Gesundheitsräte, Mineralquellen ; 2. Nah-
rungsmittel und Gewerbehygieine ; 3. Gesetz-
gebung, Ausübung der Heilkunde).
Daneben besteht dann das comitS de direc-
tion des Services de l'hygiene, dem ausser dem
Präsidenten des comitö consultatif und dem
Leiter des Armenwesens noch die Delegierten
der anderen Minittterien angehören. Des weiteren
besteht in jedem Arrondissement ein .conseü
d'hygifene publique et de salnbrit^ (G. ' v. 18.
Dezember 1848), und ebenso im Departements-
hauptort ein solcher für das Departement, die
sich jedoch lediglich und ausschliesslich mit
Prüfung der ihnen vom Präfekten zugewiesenen
Fragen zu beschäftigen haben. Der Selbstver-
wcdtun^ der Gemeinden ist die Öffentliche Ge-
sundheitspflege, ebenso wie in Preussen, fast
g^änzlich entzogen, wenn auch der conseil muni-
cipal „zu hören isf* (est appel^ ä donner son
avit), z. B. über das Budget der Hospitäler und
WoUthätigkeitsanstalten (Art. 70 des Gesetzes
über die Organisation munici^ale v. 5. April
1884). Die Ausübung der police sanitaire im
weitesten Umfang liegt vielmehr dem Maire
ob, der an das Gutachten des conseil d'hygi^ne
des Arroiidissements rechtlich nie gebunden,
sondern lediglich dem Präfekten unterstellt ist
(vgl. für das Land — police rurale — das
gerade bezüglich der Gesundheitspflege sehr
ausführliche G. v. 21. Juni 1898, Veröffent-
lichung des Gesundheitsamts 1898 S. 799 ; für die
Städte Art. 82, 97 des G. v. ö. April 1844,
abgedruckt z. B. in dem von der Pariser
Gemeindeverwaltung herausgegebenen recueil
annot6 der Gemeindeverwaltnngsgesetze , im-
primerie municipale 1890).
Die englische Gesetzgebung beruht
bekanntlich auf mehreren umfangreichen Ge-
setzen, den Public health acts. deren wichtigste
die ^osse public health act 1895 mit ihren 343
Abscnnitten, «sections", mehrfach geändert und
ergänzt durch das Abänderungsgesetz v. 18.
Juli 1890 (Public health Amendment act 1890;
62 sections), dann das Gesetz über die Anzeige-
pflicht bei ansteckenden Krankheiten (Infections
disease notification act 1889, erweitert durch
die extension act 1899); femer das Gesetz zur
Verhütung der Ausbreitung ansteckender Krank-
heiten V. 4. August 18^ (Infections disease
prevention act, 24 Abschnitte), und die speciell
für London bestimmte Public health London
act V. 8 August 1891. Oberste Behörde
ist das local govemment board, also dieselbe
Stelle, in welcher auch das Armenwesen und
die kommunale Finanzverwaltun^ ihre Spitze
finden ; lokale Instanz sind wesentlich die speciell
für die Handhabung der öffentlichen Gesund-
heitspflege eingerichteten städtischen oder länd-
lichen sanitary districts, von deren Beschlüssen
vielfach die Giltigkeit der einzelnen Gesetze
für den betreffenden Distrikt abhängig ist. Im
übrigen kann för die nähere Kenntnis des sehr
umständlichen und vielverzweigten Behörden-
organismus nur auf die in den Veröffentlichungen
des Gesundheitsamts leicht zugänglichen Ge-
setze selbst^ zur schnellen Uebersicht auf die
klare ; freilich vielfach veraltete Darstellung
verwiesen werden, die ein englischer Praktiker
in der Vierteljahrsschrift für öffentliche Ge-
sundheitspflege 1881 S. 562 gegeben hat.
Die ungemein eingehenden, detaillierten Vor-
schriften der Public health acts über Kanäle,
268
Ghesundheitspflege, öffeaüiclie
Eni- und Bewässenmg, Abtritte, Wohnungs-
polizei, Beaufsichtigung von Nahrungsmittdn,
Verhütung von Infektionen, Beseitigung von
Schädlichkeiten — nuisances — jeder Art, Für-
sorge für gutes Trinkwasser u. s. w. mögen
einen preussischen Verwaltungsbeamten sehr
sonderbar anmuten; sie stellen gewissennassen
nichts dar als eine Erläuterung der kurzen
Worte, welche die Grundlage aller preussischen
Gesundheitsgesetzgebung sind ; — dass nämlich
zu den Gegenständen der ortspolizeüichen Vor-
schriften gehören -r § 6 f . des Gesetzes über die
örtliche Polizei Verwaltung v. 11. März 1850 —
die Fürsorge für Leben und Gesund-
heit. Ja, diese wenigen Worte erlauben ein
noch viel entschiedeneres, bequemeres, all-
seitigeres Eingreifen der Behörde, die nicht,
wie in England, stets genötigt ist, zu prüfen,
ob in den hunderten von Gesetzesklauseln auch
eine ist, die auf den vorliegenden Fall passt.
Auf keinem anderen Gebiet zeigt sich aber so
schroff, wie auf dem der öffentlichen Gesund-
heitspflege der Unterschied zwischen dem, was
die schrankenlose polizeiliche Willkür, und dem,
was die genaue gesetzliche Regelung yermag.
Jeder preussische Landrat kann, das Wort
formell genommen, für seinen Bezirk mehr an-
ordnen, als jene englischen Gesetze enthalten;
und gerade deshalb ist unsere öffentliche Ge-
sundheitspflege fast ganz auf den guten Willen
der einzelnen Gemeinden gestellt und liegt in
den ländlichen Gemeinden völlig darnieder.
Und während in England stets genau vor-
geschrieben ist, wie die Kosten der von den
Sanitätsbehörden angeordneten Massregeln auf-
zubringen sind (vgl. z. B. Art. 6 der infections
disease act: Betten u. s. w., deren Desinfektion
angeordnet ist, müssen kostenfrei abgeholt und
zurückgeliefert und der Eigentümer für jede
nicht unvermeidliche Beschädigung entschädigt
werden), knüpfen sich in Deutschland an jede
von der Sanitätspolizei erlassene Verordnimg
sofort Streitigkeiten wegen der Zahlungspflicht
an. Der Gegensatz speciell zur deutschen Ge-
snndheitsgesetzgebung wird gut dargelegt von
Jakobson, Viertel jahrsschr. f. gerichtl. Medizin
1894 S. 130; der — ganz ähnlich geartete —
Gegensatz zur französischen von Monod, les
mesures sanitaires en Angleterre depuis 1875
et leurs resultats (Paris 1891). — Noch sei
darauf aufmerksam gemacht, dass ähnliche, teil-
weise noch weitgehendere Gesetze wie das
Mttsterland England sich auch viele der Eolonieen
— Canada, Ostindien, Neusüd wales ~ gegeben
haben. Insbesondtre scheint der letztgenannte
Staat wie mit seiner Arbeiterschutzgesetzgebung,
so auch mit seiner Gesundheitsgesetzgebung
fi:eradezu vorbildlich zu sein, die bezüglichen
Gesetze sind in den Veröffentlichungen des Ge-
sundheitsamts 1896 und 1898 abgedruckt.
Die italienische Sanitätsgesetzgebnng
hat eine gute, knapp gefasste offizielle Dar-
stellung gefunden in der vom Ministerium des
Innern herausgegebenen Schrift „La legislation
et Tadministration sanitaire en Italic'', Kom 1894.
Die Organisation ist neuerdings durch Erlass
V. 1. Juli 1896 modifiziert; Spitze ist die Ab-
teilung IV im Ministerium des Innern, der eine
konsultative Behörde, der Gesnndheitsrat, bei-
fi-egeben ist. Grundlage bildet ein Gesetz über
Gesundheitspflege (tntela deir hygieine e della
sanita publica) v. 22. Dezember 1888, das in
seinen 71 Artikeln ein vollständiges System
der Hygieine enthält und durch die gründ-
lichsten , ausführlichsten Ausführungsverord-
nungen und ministeriellen Reglements ergänzt
wird.
Wenn mitg^eteilt wird, dass z. B. in den
Ministerialvorschriften über die Boden- und
Ortshygieine (vom 20. Juni 1896, 141 Artikel)
angeordnet ist, dass auf dem flachen Lande in
jedem Schlafraum 15 cbm für die Person be-
rechnet werden und jede Familienwohnung mit
einem besonderen Abtritt mit direkter Lüftung
versehen sein muss, so ist ersichtlich, dass es
wenigstens an den weitestgehenden Vor-
schriften nicht fehlt!
Ueber Bussland vergleiche die ausführliche
Darstellung von Wiljce: Die Organisation des
Medizinalwesens und die hygieinischen Verhält-
nisse im europäischen Russland. Supplement
zu Jahrgang 1896 der Vierteljahrsschrift für
gerichtl. Medizin 133—172.
4. Statistik der ö* G« Statistische Auf-
stellungen über den zu verschiedenen Zeiten
oder an verschiedenen Orten oder bei verschie-
denen Gesellschaftsklassen herrschenden Gesund-
heitszustand erfordern unbedingt die Beachtung
gewisser methodologischer Vorschriften, ohne
welche sie in den meisten Fällen zu Fehlschlüs-
sen führen und zu Vergleichungen unbrauchbar
werden. Am häufigsten wird in der Weise ge-
fehlt, dass der natürliche Einfluss der Alterszu-
sammensetzung einer Gruppe auf die in ihr
herrschende Morbidität und Mortalität ausser
acht gelassen und dass alsdann auf Rechnung^
anderer Faktoren (Beruf ^ Oertlichkeit etc.) ge-
schoben vrird, was gänzlich oder zum Teil nur
eine Fol^e jener besonderen Alterszusammen-
setzung ist. Die aus der populären Litteratur,
auch aus manchen älteren oekannten wissen-
schaftlichen, namentlich medizinalstatistischen
Werken herrührenden Daten sind deswegen nur
mit grosser Vorsicht und Auswahl zu fi^ebrau-
chen. In der neueren Zeit ist die Bearbeitung
der einschlägigen Fragen namentlich seitens
der Fachstatistiker eine immer sorgfältigere
^worden. Statistische Untersuchungen über
die Veränderung der Sterblichkeit in den Gross-
Städten sowie Vergleichungen der städtischen
und ländlichen Sterblichkeit lieferten in neuerer
Zeit u. a. >Dr. Karl Singer, „Die Abminderung
der Sterblichkeitszifier Münchens", München 1895 ;
Dr. J. Dreyf uss, „Ueber die Sterblichkeitsabnahme
in deutschen Grossstädten im Laufe der letzten
drei Decennien". Berlin 1899; Ballod, „Die
Lebensföhigkeit der städtischen und ländlichen
Bevölkerung", Leipzig 1897 und „Die mittlere
Lebensdauer in Stadt und Land", Leipzig 1899;
Bleicher, „Ueber die Eigentümlichkeiten der
Städtischen Natalitäts- und Mortalitätsverhält-
nisse" (S.-A. aus den Verhandlungen des intern.
Kongr.^f. Hygieine und Demographie", Budapest
1897). Knise, „Die Verminderung der Sterb-
lichkeit in den letzten Jahrzehnten" in der
Zeitschrift für Hygiene Bd. 25; Dr. Fr. Prin-
zing „Die Vergleichbarkeit der Sterblichkeits-
ziffern verschiedener Zeiträume" in der Zeit-
schrift für Hygieine und Infektionskrankheiten
31. Bd. 1899. Ueber Bernfssterblichkeit vieles
Material bei Westergaard, „Die Lehre von der
Mortalität und Morbidität'', Jena 1882. Zu be-
Gesundheitspflege, öffentliche — Qetränkesteuern
269
achten von fortianf enden Veröffentlichungen ins-
besondere die Mitteilnngen der städtestatisti-
schen Aemter, namentlich das von Böckh her-
ausgegebene Berliner stat. Jahrbuch mit seinen
jäurlichen Sterbetafeln und Absterbeordnungen
nach Todesursachen, die medizinalstatistischen
Mitteilnngen aus dem Kaiserlichen Gesundheits-
amte, die Medizinalstatistiken von Baden und
Württemberg, die preussische Statistik, nament-
lich die Ar&iten von t. Fircks, zuletzt Zeit-
schrift des königlich preussischen statistischen
Bureaus 1897, die Statistik des Deutschen
Reichs Neue Folge Bd. 44, die Vierteljahrs-
schrift des Vereins für öffentliche Gesundheits-
pflege u. s. w. Mit der Frage der Methodologie
der Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik zur
Erlangung vergleichbarer internationaler Resul-
tate beschäftigten sich die internationalen sta-
tistischen Kongresse und der Kon^ess für
Hy gieine und Demographie, besondere \ erdienste
um die internationale vergleichende Statistik
erwarben sich namentlich Bodio und Korösi.
Ausführliche Litteratur in v. Mayr, Statistik und
Gesellschaftsiehre Freiburg 1897.
M, Flesch, JC. Flesch,
Getränkestenern.
1. Be^ff und Beurteilung. 2. Allgemeine
G. H. Statistik der Getränkebesteuerung. 4. Der
Einflusa der G. auf den Getränkeverbrauch.
1. Begriff und Benrteiliing. Unter
den Getränkesteuem versteht man in der
Regel nur die Steuern auf die geistigen
Getränke : Bier, Wein, Obstwein und Brannt-
wein. Doch kommen auch Steuern auf
Meth, Essig (Frankreich, Italien) iind auf
kohlensaure Wasser (Italien) vor, die wir je-
doch hier von der Betrachtung ausschliessen
wollen. Sie zählen zu den Aufwand-, im
engeren Sinne zu den Verbrauchssteuern
tmd nach der Form der Erhebung zu den
indirekten Steuern.
Die Getränkesteuern, insbesondere die
Weinsteuern, gehören zu den ältesten Ver-
brauchssteuern. Sie haben sich seit dem
12. Jahrhundert zuerst als Lokal-, später als
Landessteuem bis in die Gegenwart be-
hauptet. Ihre Geeignetheit für eine steuer-
mässige Erfassung kann nicht wohl in Ab-
rede gestellt werden, wenn auch über das
Mass dieser Geeignetheit rücksichtlich der
einzelnen Getränke die Meinungen ausein-
andergehen. Wenn die allgemeine Ansicht
mit Recht diejenigen Objekte als besonders
geeignet für oie Verbrauchabesteuerung er-
klärt, welche Gegenstände allgemeinen, aber
freiwilligen Genusses sind, deren Genuss
aber, eben weil er nicht notwendig ist,
seitens des einzelnen nach seinen wirtschaft-
lichen Verhältnissen ausgedehnt oder einge-
schränkt werden kann, so werden die Ge-
tränkesteaern im allgemeinen schon aus
diesem Gesichtspunkt als empfehlenswerte
Aufwandsteuem bezeichnet werden dürfen.
Die geistigen Getränke sind nicht Nahrungs-
mittel, sondern Genussmittel, sie sind fast
immer Gegenstände der Luxuskonsumtion,
denn es kann auf ihren Genuss ohne Be-
einträchtigung, ja manchmal zum direkten
Nutzen der Gesundheit verzichtet werden.
Wissenschaft und Erfahning haben nachge-
wiesen, dass dieselben mehr Schaden als
Nutzen verursachen. Wenn auch ein mas-
siger Genuss, namentlich von Bier und Wein
nicht als gesundheitsschädlich bezeichnet
werden kann, so wirkt doch sowohl der nur
zeitweise auftretende zu starke Genuss wie
der regelmässige tägliche Konsum bei grös-
serer Ausdehnung zerstörend auf das Ner-
vensystem. Insbesondere gilt dies von
Branntwein. Er wirkt auch wirtschaftlich
schädlich; denn er entzieht einen erheb-
lichen Teil des Einkommens der unteren
Klassen einer geeigneteren Verwendung.
Gleichwohl ist der Genuss wegen des mit
demselben verbundenen Wolübehagens sehr
weit verbreitet.
Man macht gegen die Getränkesteuer
geltend, dass man durch sie nicht eine all-
gemeine, d. h. jeden steuerkräftigen Kon-
sumenten treffende Besteuerung verwirk-
lichen könne. Nun ist allerdings richtig,
dass sich manche an sich steuerkräftigen
Pereonen der Besteuening entziehen, indem
sie die von ihr getroffenen Getränke nicht
geniessen. Dafür haben die Getränkesteuern
aber auch den nicht zu unterschätzenden
Vorteil, dass sie wenigstens in der Haupt-
sache nur auf die erwachsene, also arbeits-
und erwerbsfähige männliche Bevölkerung
entfallen und nicht wie z.B. die Salzsteuer
auf die ganze Bevölkerung ohne unterschied
des Geschlechts, des Alters und des Ein-
kommens und dass man wenigstens teilweise
den Besteuerungsmodus so einzurichten ver-
mag, dass die Konsumenten nach ihrem
EinKommen oder nach ihrer Leistungsfällig-
keit getroffen werden. Wenn sich einzelne
in guten Vermögensverhältnissen Befind-
liche den Getränkesteuem entziehen, weil
sie keine geistigen Getränke geniessen, so
bieten doch gerade diese Steuern der Be-
völkerung auch die Möglichkeit der Selbst-
belastung bezw. Selbstentlastung in hohem
Grade, indem ja der Genuss der einzelnen
Getränke und das Mass desselben in dem
freien Ermessen gelegen sind. Wollte man
übrigens den oben erwähnten Einwand
ernstlich aufrecht erhalten, so müsste man
sich auch gegen die Tabak- und Zucker-
steuer erklären, denn auch liier entziehen
sich manche durch Unterlassung des Ge-
nusses völlig der Besteuerung. Wenn wirk-
lich der weniger Bemittelte manchmal mehr
für Getränke ausgiebt als der Wohlhaben-
270
Getränkesteuern
dere, so handelt er damit in der Regel
■wirtschaftlich irrationell; aber die Steuer-
gesetzgebung hat keine Veranlassung, auf
diese Unregelmässigkeit Rücksicht zu neh-
men. Richtig ist allerdings, dass die unte-
ren Klassen auch bei massigem Genuss
geistiger Getränke einen verhältnismässig
grösseren Prozentsatz ihres Einkommens für
diesen aufwenden als die höheren, infolge
dessen auch relativ mehr Steuern zu ent-
richten haben. Allein diesem Umstände
kann auf dem Gebiete der Einkommens-
und Ertragsbesteuerung durch geringere Be-
lastung der unteren Klassen teilweise Rech-
nung getragen werden.
Es darf aber nicht in Abrede gestellt
-werden, dass die Besteuenmg der geistigen
Getränke, auch abgesehen von dem eben
besprochenen Einwand, manche eigentüm-
liche Sch^'ierigkeiten bietet, Schwierigkeiten,
die teils in Bezug auf die Steuertechnik,
teils in Bezug auf die Principien des Steuer-
wesens überhaupt, teils endlich in Bezug
auf die Volkswirtschaft erwachsen.
1. Die Schwierigkeiten einer richtigen
steuerlichen Erfassung der geistigen Ge-
tränke beruhen zunächst in der Zersplitte-
nmg der Prodiiktion und des Verkelirs mit
denselben, wodurch ein gi-osser steuerlicher
Apparat erfordert wird, der wieder einen
grossen Teil des Ertrages verschlingt. Nach
dem neuesten statistischen Jahrbuch des
Deutschen Reiches (1899) beträgt die Zahl
der im Reichssteuergebiet vorhandenen
Brennercien 1897/98 60779, wobei von
sämtlichen Brennereien nahezu ^!i auf land-
wirtschaftliche Nebenbetriebe für den Haus-
gebrauch entfallen. Besser liegen die Ver-
hältnisse bei der Biergewinnimg. Hier zählt
man 1897/98 7542 Brauereien für das nord-
deutsche Brausteuergebiet, darunter 6818
gewerbliche, 724 nicht gewerbliche; die Zahl
der Brauereien in Bayern betnig 1897
4857, in Württemberg 1897/98 6285, dar-
unter 1715 gewerbliche, 4570 private. Da-
gegen ist der Wein wieder grösstenteils ein
Erzeugnis des landwii-tschaftlichen Kleinbe-
triebs. Es ist femer nicht zu leugnen, dass
auch die Methoden der Besteuerung, also
die Arten der Veranlagung, noch viel zu
wünschen lassen und dass keine der bisher
bekannten Formen der Bier-, Branntwein-
und Weinbesteuenmg völlig genügen kann.
Entweder berücksichtigen sie die Qualität
des Steuergegenstandes nicht oder nur un-
genügend und es entstehen damit, abge-
sehen von einer ungleichen Belastung, auch
bezüglich der Bemessung der Steuerrück-
vergütungen bei der Ausfuhr grosse Schwie-
rigkeiten, wie dies namentlich bei den Pro-
duktions- oder Rohstoffl)esteuerungsmethoden
der Fall ist, oder die Erhebungsmethoden
machen zwar den Vereuch, die mit Rück-
sicht auf die grössere Leistungsfähigkeit
und demnach höhere Belastung der Wohl-
habenderen zu fordernde Besteuenmg nach
der Qualität zu verwirklichen, erfordern
aber dann einen sehr grossen steuerlichen
Apparat und belästigen die Produzeuten
und Händler in bedenklichem Masse.
2. Was zum zweiten die Schwierigkeiten
anlangt, die in der Berücksichtigung der
obersten Grundsätze im Steuerwesen gelegen
sind, so meinen wir damit namentlich die
schwierige Wahl des Steuerfusses* also die
Frage, in welchem Verhältnis die Steuer-
sätze der drei Getränkearten zu einander
stehen und wie hoch sie sein sollen.
Die Beantwortung dieser Frage ist eben-
so schwierig wie die praktische Verwirk-
lichung der als richtig erkannten Lösung.
Im allgemeinen besteht freilich die Ueber-
zeugimg, dass der Branntwein höher als der
Wein und dieser hoher als das Bier be-
steuert w^erden müsse. Die Gesetzgebungen
haben auch da, wo die drei Getränkearten
neben einander besteuert werden, wie in
Frankreich und England, nahezu überall dies
Verhältnis pro Masseinheit der Getränke
festgehalten. Die specielle Wirkimg der
alkoholischen Getränke beruht auf ihrem
Gehalte an Alkohol, der bei Bier ca. 3, bei
Wein 6—7, bei Branntwein 40—50% be-
tragen soll. Er ist also bei Branntwein selu*
hoch, und da mit der Höhe des Alkoholge-
haltes auch die Gefährlichkeit des Getränkes
für die Gesundheit zunimmt, so empfielilt
sich schon um deswillen eine höhere Be-
steuerung des Branntweins gegenüber dem
Wein und Bier. Aber es wäi*e doch unzu-
lässig, lediglich den Alkoholgehalt als
Grundlage für die Höhe des Steuerfusses
zu bestimmen, da, wie die Verhältnisse zur
Zeit liegen, der Branntweinkonsum gerade
in den unteren Klassen besonders stark ver-
breitet ist. Allgemein lässt sich nur sagen,
dass die Branntweinsteuer bis zu jener
Höhe gehen dürfe, bei welcher die finan-
ziellen Einkünfte zm'ückzugehen drohen.
Weiter zu gehen kann kaiun als sittliche
Pflicht des Staates betrachtet werden. Eine
übertrieben hohe Besteuerung des Brannt-
weins verbietet sich schon diu'ch die Rück-
sichtnahme auf die Branntwein brennei-ei und
die vielen technischen Zwecke, zu denen
der Spiritus benutzt wird; sie wurde auch
die unteren Klassen, insolange als kein Er-
satz in anderen Getränken geboten werden
kann , überaus hart treffen und sie • eines
beliebten Reiz- und Genussmittels berauben.
Die Biersteuer wird^ vornehmlich in
Ländern mit grosser Bierproduktion, am
niedrigsten gehalten werden müssen, weil
das Bier vermöge seines Malzgehaltes wenig-
stens bis zu einem gewissen Grade den
Nahrungsmitteln sich nähert, massig genos-
Getränkestellern
271
sen nicht schädlich ist, und weil eine zu
starke Besteuenmg des Bieres dem Brannt-
wein konsnra Vorschuh leisten würde. Auch
der Wein wird in Weinproduktionsländern
vorsichtiger zu behandeln sein als der
Branntwein, aber eine völlige Freilassung
des Weines von einer Inlandsteuer, wie bei
uns in Deutschland, widerspricht entschie-
den den obersten Grundsätzen im Steuer-
wesen und lässt sich nur aus den Schwie-
rigkeiten einer richtigen steuerlichen Erfas-
sung und aus Kücksichtnahme auf die Wein-
produktion erklären.
3. Endlich hat die Getränkebesteueining
auch auf die in der Getränkeindustrie be-
schäftigten Produzenten und Händler Rück-
sicht zu nehmen, woraus neue Schwierig-
keiten erwachsen. Es ist oben bereits darauf
hingewiesen worden, dass mit mancher Yer-
aulagimgsmethode bedeutende Belästigimgen
der Produktion verbunden sind; schwerer
aber wiegt die Frage, ob nicht durch die
Art und Höhe der Besteuerung gewisse
Klassen von Produzenten schwer geschädigt
werden. Das kann namentlich bei der Bier-
und Branntweinbereitung, besonders wieder
bei der letzteren eintreten. Grosse Brauereien
sind unter Umständen in der Lage, die
Steuer ganz oder teilweise abzuwälzen, durch
verbesserte Maschinen, verbesserte Produk-
tionsmethoden, kurz durch die Vorzüge des
Grossbetriebes die Steuer einzubringen;
kleinei-e können diese Vorteile nicht an-
wenden und sind, soweit es ihnen nicht
gelingt, die Steuer auf die Konsumenten
zu überwälzen, nicht mehr konkiurenzfähig.
So führt die Getränkebesteuerung leicht zur
Betriebskoncentration , die zwar in steuer-
technischer Beziehimg erwünscht, in volks-
wirtschaftlicher jedoch bedenklich sein kann.
Die Zahl der Bierbrauereien im norddeutschen
Brausteuergebiet ist von 1878 bis 1897 von
11867 auf 7 542, in Bayern seit 1888 bis
1897 um nahezu 600 zurückgegangen und
würde wohl noch einen stärkeren Rückgang
zu verzeichnen haben, wenn nicht die Ge-
setzgebung den kleineren Brauereien durch
Staffeltarife und ähnliche Vorkehrungen zu
Hilfe gekonunen wäre. In Ländern, in denen
die Lfcmdwirtschaft auf den Kartoffelbau und
damit im Zusammenhang auf die Brannt-
weinbrennerei und die Verwertung der
Branntweinschlempe zu Viehfutter in grösse-
rem umfange eingerichtet ist, wird diese
eine Berücksichtigung erfordern, die häufig
mit den Forderungen der Steuerpolitik im
Widerspruch stehen wird. In der That be-
willigen zahlreiche Gesetzgebungen auch den
kleinen landwirtschaftlichen Brennereien
Steuervorzüge, ohne welche diese die Kon-
kurrenz der grossen Fabriken nicht auszu-
halten vermöchten.
2. Allgemeine 6. Wie aus den bis-
herigen Ausführungen hervorgeht, erfordert
die besondere Natur der einzelnen alko-
holischen Gretränke auch eine besondere,
ihre eigentümlichen Produktions- und Kon-
sumtionsverhältnisse berücksichtigende Be-
steuerung. Doch giebt es Steuerformen,
die bei allen drei Getränken gleichmässig
anwendbar sind imd thatsäcMich , wenn
auch mit Modifikationen im einzelnen, ange-
wendet weiden. Es sind das die allge-
meinen Schanksteuern und die Besteuenmg
durch Lizenzen.
a) Die allgemeine Schanksteuer.
Unter Schanksteuern im eigentlichen Sinne
sind Abgaben zu verstehen, welche von dem
den Ausschank oder Kleinverkauf gewerbs-
mässig Betreibenden neben der Gewerbe-
steuer nach Massgabe der Grösse des ge-
samten Ausschankes oder Kleinverkaufs von
Getränken erhoben werden. Solche Schank-
steuern können sich bloss auf eine einzelne
Getränkeart beziehen, wie das württem-
bergische Weinumgeld, die Kleinverkaufs-
abgabe vom Wein (droit de detaü) in Frank-
reich, die österreichische Branntweinschank-
steuer (Branntweinverschleissabgabe). Dem
gegenüber bezweckt die allgemeine
Schanksteuer eine ergänzende Belastung des
gesamten durch den Wirtshausausschank
und den Kleinverkauf vermittelten Konsums
an allen geistigen Getränken. Ihre Begrün-
dung liegt darin, dass die Specialgetränke-
steuer hinsichtlich einzelner Getränke, z. B.
des Weines, schwer durchführbar sind und
dass sie den Konsum nicht genügend er-
fassen. Dass die allgemeine Schanksteuer
nur als Ergänzungssteuer angewendet wer*
den kann und dass sie auch als solche,
steuertechnisch betrachtet, unvollkommen ist,
lässt sich nicht bestreiten. Sie erfordert
eine äusserst sorgfältige Ueberwachung der
Schank- und Kleinhandelsbetriebe bezüglich
ihrer Einkäufe und Absätze, die doch ihr
Ziel niemals völlig erreichen wird. Sie lässt
ferner den Verbrauch des selbsterzeugten
sowie häufig auch den des direkt oder im
Grossen bezogenen Getränkes steuerfrei. Dass
das selbst erzeugte Getränk steuerfrei bleibt,
fällt allerdings weniger ins Gewicht, da der
Hausverbrauch in der Regel nicht sehi*
steuerkräftig ist, dass aber der Bezug im
Grossen, der zumeist auf grössere Steuer-
kraft schliessen lässt, von dieser Ergänzungs-
steuer frei bleibt, ist umso bedenklicher, als
die üblichen Formen der Getränkebesteuerung
eine Abstufimg der Steuersätze nach der
Qualität der Getränke nur in sehr beschei-
denem Masse zulassen. Zu Gunsten der
Schanksteuer beruft man sich jedoch auf
gesundheits- und sittenpolizeiliche Motive,
auf das Wünschenswerte der Erschwenmg
imd Mehrbelastung speciell des Wirtshaus-
konsums und des Kiemhandels mit geistigen
272
Getränkesteuern
Oetränken (Ungarn) so^*ie auf die Möglich-
keit, dadurch die Steuerkontrolle bezüglich
der eigentlichen Getränkesteuern wirksamer
zu machen (Frankreich). Auch mag Mandello
<Art. Ungarisches Schankgefälle im
Finanzarchiv VI, 380 ff.) recht haben, wenn
er meint, dass die Schanksteuer zum Teil
am Schankgewerbe haften bleibt.
Die Schwierigkeit der Uebei-wachung des
Ausschanks und Kleinhandels haben dazu
geführt, an Stelle der nach den thatsäch-
lichen Umsätzen bemessenen Schanksteuer
Abfindungen (Akkorde) zwischen der
Steuerbehörde una den Steuerzahlern oder
Lizenzen treten zu lassen. Die letzteren
kommen als Steuern nur insoweit in Betracht,
aJs sie jährlich erhoben werden und an
feiner abgestufte Merkmale des Betriebs-
umfangs anknüpfen; aber auch sie haben
vielfach und häufig vorwiegend den Charakter'
von Gewerbesteuern. Auch Steuerver-
pachtungen und Thorsteuern werden
als allgemeine Formen der Getränkebesteue-
rung benutzt.
Die bemerkeDswerteste allgemeine Schank-
steuer ist die in Ungarn durch G. v. 28.
Dezember 1888 eingeführte. Sie wird von dem
Ausschank und Kleinverkauf, d. h. vom Ver-
kauf von Wein und Branntwein in Mengen
unter 100 1, von Bier in Mengen unter 2ö 1
bei AVirten, Bierbrauern, Branntweinbrennern,
Händlern, Kanfleuten, Zuckerbäckern, Kaffee-
siederu, Produzenten erhoben und beträgt für
1 hl Wein in geschlossenen Städten 2 Gulden,
in offenen Orten 3 Gulden, für Obstwein 1
Galden, Bier 3 Gulden, Branntwein bis 30 Grad
Alkohol 4,50 Gulden, über 30—50 Grad 7,50
Gulden, über 50 pro Hektolitergrad 0,15 Gul-
den, für Liköre, Pnnschessenzen und andere
versüsste geistige Getränke, Arac, Rum, Cognac,
sofern sich nicht nach dem Hektolitergrad eine
höhere Steuer berechnet, 12 Gulden. In den
geschlossenen Städten wird die Steuer als Thor-
steuer, in offenen Orten aber entweder durch
Abfindung oder im Wege der Verpachtung an
einen ünt»*rnehmer oder unmittelbar durch die
Finanzbehörden erhoben. Die Grundlage der
Bemessung bilden die von Amts wegen ge-
sammelten Daten hinsichtlich des Quantums,
der Sorte, der Qualität der von den Steuer-
pfiichtigen ausgeschenkten oder im Kleinen ver-
kauften Geträ&e. Der Reinertrag der Schank-
steuer (incl. Schankgebühr) betrug 1890—94:
18,0, 18,3, 17,3, 10,3, 9,0 Millionen Gulden.
In Frankreich sind neben anderen Ge-
werbetreibenden auch alle dielenigen, welche
sich mit dem Gross- und Klein verkauf und
Austscbank von Getränken befassen, einer jähr-
lichen Lizenzabgabe unterworfen, die Debitanten
d. h. Kleinverkäufer und Wirte einer solchen
von 15—50 Francs je nach der Grösse des Ortes,
die Grosshändler einer solchen von 125 Francs ;
ausserdem haben auch die gewerbsmässigen
Brenner und Destillateure (25 Francs) sowie die
Brauer (75- 125 Francs) eine Lizenzabgabe zu
entrichten. Sie gilt regelmässifif nur für eine
gewerbliche Unternehmung oder Anlage in
einer Gemeinde, ist also bei mehreren Eta-
blissements desselben Unternehmens mehrfach zu
entrichten. Diese Lizenzabgaben haben ersicht-
lich einen vorwiegend gebührenartigen Cha-
rakter.
Ans den französischen Lizenzabgaben hat
sich die j, Lizenzgebühr für den Kleinverkauf
von geistigen Getränken^ in Elsass- Loth-
ringen (G. V. 5. April 1880, 23. März 1882
und 23. März 1888) entwickelt. Als Kleinver-
kauf gilt der Verkauf von Wein, Bier, Meth.
Branntwein oder Likör in Menden von 15 1
und weniger, mit Ausnahme des selbsterzeugten
Branntweins aus Obst, Beerenfrüchten, Knzian,
Wein, Hefe in Mengen von 3 1 und des Klein-
verkaufs von denaturiertem Spiritus. Der
Steuersatz beträgt vierteljährlich
in Gemeinden
unter 2000 Seelen
von 2000—10 000 „
über 10000 „
im Mittel
Mark
75
mindestens
Mark
15
25
30
In der einzelnen Gemeinde ist derjenige
Satz aufzubringen, der sich durch Multiplikation
der Zahl der Lizenzpflichtigen mit dem Mittel-
satze ergiebt. Die einzelnen Steuerpflichtif^en
werden nach dem Umfange und der Beschaffen-
heit ihrer Geschäftsbetriebe veranlagt; doch
hat jeder Pflichtige zum wenigsten den Mindest-
satz zu entrichten. Das Erträgnis betrug 1896
rund 1,50 Millionen Mark.
Eine ähnliche Lizenzabgabe besteht in
Württemberg (Jährliche Wirtschafts-
sporteln"). Sie ist in Jahresbeträgen von 1, 2,
3, 5 und 8 Mark von Gastwirten, gewerbs-
mässigen Bierbrauern, Schankwirten und allen
denjenigen zu entrichten, welche geistige Ge-
tränke ständig ausschenken und Wein, Obst-
most oder Bier in Mengen von weniger als 20 1
bezw. Branntwein oder Spiritus in Mengen unter
2 1 über die Strasse verkaufen. Die Niedrig-
keit dieser Abgabe lässt sie deutlich als Ge-
bühr erscheinen.
In Enjsfland haben neben vielen anderen
Gewerbetreibenden auch die Bierbrauer, Brannt-
weinbrenner, Baffineure, Fabrikanten von Süss-
wein, femer die Grosshändler mit Getränken,
endlich die Kleinhändler, Wirte, Schankwirte,
Speisebauswirte Lizenzen zu entrichten, die
sich im allgemeinen nur auf den Betrieb
eines Gewerbes mit einem speciellen Gegen-
stande beziehen. Doch schliessen gewisse
Lizenzen das Recht ein, neben dem Hauptge-
tränk auch noch andere zu verkaufen, oder es
ist zur Hauptlizenz eine Zusatzlizenz erforder-
lich. (S. d. Art. Lizenzen.) In die Staatskasse
fliessen übrigens nur die Lizenzen der Brauer
und Branntweinbrenner, während die übrigen
den örtlichen Verwaltungen überwiesen sind.
Aehnliche Lizenzen bestehen auch in den Ver-
einigten Staaten.
3. Statistik der Getränkebesteuenuig.
In der folgenden Tabelle (nach G. Schanz
a. a. 0.) sollen nur einige Angaben über
Höhe der Inlandsteuer, Eingangszoll bezw.
Uebergangsabgabe, Rückvergütung und Kopf-
belastung der Bevölkerung bezüglich der
Getränkesteuem
273
drei Oetränkearten gemacht werden; weitere Augaben sind in den Specialartikeln zu
suchen.
Inland-
Btener
Eingangs-
zoU bezw.
Ueber-
gangsab-
gabe
Zusammen
Rückver-
gütungen
Reiner-
trag
O 4) S
1. Branntwein (Betriebsjahr 1.
Oktober 1896/97) .....
2. Wein
a) ReichszoU 1897
b) Elsass-Lothringen 1896/97 ^)
c) Württemberg 1896/97 «) . .
d) Baden
Wein zusammen
3. Bier
a) ReichazoU 1896/97 . .
b) Brausteuergebiet 1896/97
c) Bayern 1896 ....
d) Württemberg 189697 .
e) Baden 1896 (13 Monate)
f) Elsass-Lothrmgen 1896 97
Bier zusammen
SämÜ. Getränke zusammen
Deutschland
153 02I 600
40 823 355
6330600
15 251 000
2690000
164 974
159352200
15 251 000
1 206601
2 296 636
2 169 707
20 923 944
2690000
40 988 329
10532600
6 895 080
148 819 600
15 251000
1 206601
2 296 636
2 169 707
20 923 944
2690000
35376500
34 093 240
8 863 800
7 170700
3 059 500
91 253 749
260 797 293
^) Die Lizenzabgaben vom Eleinverkauf geistiger Getränke betrugen 1557995 M.
•) Inkl. Obstwein.
2,79
0,40
0,05
0,85
5,80
4,22
4,13
1,85
1,71
4,90
Inland-
steuer
Rückver-
gütungen
Reiner-
trag
Pro Kopf der
Bevölkerung
Branntwein
Wein . .
Cider . .
Bier . . .
Lizenzen .
Reinertrag zus
Frankreich.
Rechnung 18%. Angaben in France
268 672 957
205 518 188
14966260
25 402 479
268 039 944
633013
155427188
49091 000
14965677
583
23 756 479
I 646000
13 640 513
—
0,80 Mark.
268 672 957
205518 188
14966260
25 402 479
13 640 513
6,97 Fr
5,34
0,39
0,66
0,35
n
n
n
5,58 M.
4,27 „
0,31 n
0,53 «
0.29 n
527 200 387113,71 Fr. = 10,98 M.
Grossbritannien und Irland.
Rechnung 1. April 1896/97. Angaben in £ = 20,43 Mark.
Branntwein
Wein . .
Bier . . .
Reinertrag zus.
Lizenzabgaben :
a) Branntwein
Destillateure . .
Händler . . .
Wirte ....
b)Wein u. Süssig-
keiten ....
c) Bier u. Cider, Bier
u. Wein ....
d) Brauer . . . .
17299339
1 1 502 566
4 527 821
I 299 593
17 261
21 827 160
I 299 593
II 519827
483 639
I 213
182 982
21343531
I 298 380
11*336845
0,49
£
10,01
M
0,03
n
=
0,61
»
0,29
n
=«
5,92
n
12 177
141 184
I 595 404
73 475
186 341
12387
304
3130
309
212
99
33 978 736
12 177
140880
I 592 274
73 166
186 129
12288
0,81 £ = 16,54 M.
Haadwörterbnch der StaatawittesBChaften. Zweite. Auflage. IT.
18
274
Getränkesteaem
Inland-
stenem
Eingangs-
zoll
Zasammen
Rückver-
gütungen
Rein-
ertrag
Pro Kopf der
Bevölkerung
Branntwein
Wein . .
Bier . . .
Reinertrag zus.
Holland.
Rechnung 1896. Angaben in Gulden = 1,69 Mark.
26 764 000
I 851 cxx>
I 191 000
72CXX)
81 000
26 836 000
I 851 000
I 272 OCX)
266000
26570000
1 851 000
i 272000
5,47Guld.
0,38
0,26
9,24 M.
0,64 „
0,44»
29693000 6,i3Guld.=io,32M
Branntwein
Wein . .
Bier . . .
Dänemark.
Rechnung 1896. An^ben in Kronen = 1,125 Mark.
Heinertrag zus.
3 155000
4 223 500
268200
828400
n 500
3423200
828400
4 235 500
15000
3408200
828400
4 235 500
Branntwein
Wein . .
Bier . . .
— I 8 472 100
Norwegen.
Rechnung 1897. Angaben in Kronen "=» 1,125 Mark.
1,48 Kr.
0,36 „
1,84 n
1,66 M.
0,40 „
2,07 „
3,68 Kr. = 4,12 M.
Reinertrag zus.
7536000
3068000
1 388000
696000
I 974000
8924000
696000
5042000
5 136000
53000
3 788000
696000
4 989 000
1,79 Kr.
0,32 „
2,36 n
2,01 M.
0,36 „
2,65 „
Vereinigte Staaten
Rechnung 1. jfli 1896/97.
Branntwein
Wein . .
Bier . . .
82 008 543
32472 162
4 012 880
3376314
616082
9473000
von Nordamerika.
Angaben in Dollar = 4,20 Mark.
4,47 Kr. = 5,02 M.
86021 423
3376314
33 088 244
Reinertrag zus. | — | — |
4. Der Einfliiss der 6. auf den
Getränkeverbrauch. Es ist wiederholt
darauf hingewiesen worden, daßs die Ge-
tränkebesteuerung auch zu gesundheits-
und luxuspolizeilichen Zwecken benutzt
wird, und es liegt deshalb die Frage
nahe, ob und welche Wirkung sie in dieser
Beziehung äussert
Der Genuss der geisti^n Getränke ist
schon seit Jahrhunderten in allen LÄndern
weitverbreitet; er hat heute vielfach einen
Umfeng angenommen, dem gegenüber der
Verbrauch der sonstigen Yerbrauchsgegen-
stände, namentlich der besseren Nahrungs-
mittel leiden muss. Es betrug in den
letzten 3 bezw. 5 Jahren vor 1896 der Kon-
sum an geistigen Getränken pro Kopf der
Bevölkerung folgende Mengen (in Liter):
86021 423
3376314
33 088 244
i,i9DoU.= 5,00 M
0,05
0,46
n
n
0,21 „
1,93 „
Bier Wein
Deutsches Reich
Oesterreich-Üngam
Frankreich
Grossbritannien
Vereinigte Staaten
Russlaud
Schweiz
Italien
Holland
Belgien
Schweden
Norwegen
Dänemark
106,8
5,7
35,0
22,1
22,4
103,0
145,0
1,7
47,0
1,8
4,7
3,3
37,5
55,0
0,9
95,2
29,0
2,6
169,2
3,7
11,0
0,4
15,3
1,0
33,3
1,0
Branntwein
(100%)
4,4
4,15
4,04
2,8
2,58
4,7
3,1
0,67
4,7
4,7
1,6
4.0
8.9
122485981I i,7oDoll.= 7,i4M.
Welch ungeheure Werte in dem Getränke-
verbrauch zur Erscheinung gelangen, zeigt
die Berechnung von Zellers, der ihn für
Deutschland im Jahre 1894/95 bei einem
Konsum von 55,26 Millionen hl Bier, 2,8
Millionen hl Wein und 2,22 Millionen hl
100 grädigen Branntwein auf rund 2 Milliarden
Mark, das ist auf den Kopf über 37 Mark
veranschlagt. Man muss demnach den Ge-
nuss geistiger Getränke im Deutschen Reich
als übernormal bezeichnen, namentlich wenn
man bedenkt, dass bei weitem nicht die
ganze Bevölkerung zu den Konsumenten
gehört. Es scheiden die Kinder grössten-
teils aus, ebenso die Frauen ; in der Haupt-
sache dai-f man wohl die männliche über
15 Jahre alte Bevölkerung als die eigent-
lichen Konsumenten ansehen. Legt man
nur diese Bevölkenmg zu Gnmde, so erhält
man einen durchschnittlichen Bierverbrauch
von 300 — 350 1 und einen Branntweinver-
brauch von rund 7 1 100 grädigen oder
14 — 14,5 1 Trüikbranntwein. Der schädliclie
Einfluss der Getränkekonsiuntion auf die
übrige Bedürfnisbefriedi^ng zeigt sich um-
somehr, in je tiefere Einkommensschichten
man herabsteigt. Engels hat nachgewiesen
(»Das Rechnungsbuch der Hausfrau«, Berlin
1885), dass in den Haushaltungen von drei
verheirateten Arbeitern bei einer Gesamt-
ausgabe von 1278 bezw. 1760 und 1096 Mark
die Ausgaben für Getränke 126 Mark (oder
L
Getränkesteuern — Geti-eidehandel
275
9®/o der Gesamtansgaben), bezw. 120 Mark
n <>/o) und 84 Mark (7,7 %) betragen haben.
Bei zehn unverheirateten Arbeitern betrugen
nach dem Böckh'schen Jahrbuch (VIU, 137)
<lie höchsten Ziffern für diesen Ausgabe-
posten 198, 180 imd 162 Mark bei einer
GesEuntausgabe von 1176, 1251 und 751 Mark
also = 16,8, 14,4 und 22,2^/0 derselben.
Nach Angaben Conrads (Finanzwissenschaft
S. 68) stellten sich die Ausgaben eines sehr
soliden Handwerkers für Getrftnke auf 6 ^/o,
bei einem Subaltembeamten auf 3V2 %, da-
ge^n bei einem höheren Beamten auf 2,
bei einem anderen niu* auf 1%.
Dass die Höhe der Besteuerung einen
merklichen Einfluss auf den Eonsiun aus-
zuüben vermag, lässt sich deutlich an den
Wirkungen der Branntweinsteuererhöhung
im Deutschen Reich vom Jahre 1887 er-
weisen. Dieses Branntweinsteuergesetz ver-
folgte nach den Motiven die doppelte Ab-
sicht, 1. den Steuerertrag zu erhöhen, 2. den
Branntweinkonsum einzuschränken. Bei der
Einbringung rechneten die Motive für die
bisherige Branntweinsteuei-gemeinschaft auf
einen Rückgang von 375000 hl und schätzten
den zukünftigen Verbrauch auf etwa 2 125000
hl oder 5,58 1 pro Kopf ; thatsächlich betnig
er erheblich weniger, denn die Konsumziffer
sank bis 1888/91 auf 4,55 1. Dieser Rück-
gang des Branntweinkonsums ist um so er-
freiüicher, als gerade der im Deutschen
Reiche hergestellte und verbrauchte Kartoffel-
schnaps (Fusel) das schädlichste alkoholische
Getränk ist. Er mag zum Teil auch Folge
der zunehmenden Bildung des Volkes sein,
die ja vielfach eine Abwendung von den
niederen Genüssen zu den besseren verur-
sacht, er ist aber in der Hauptsache wohl
der Erhöhung der Steuer im Jahre 1887
zuzuschreiben. Die günstigen Wirkungjen
einer hohen Besteuerung auf die Vermin-
derung der Trunksucht hat man neuer-
dings nicht nur in Schweden und Norwegen
nachgewiesen (hier allerdings im Zusammen-
mit einer enei^sch betriebenen Reform des
Gothenburger Systems, sondern auch bei
uns in Deutschland zeigt sich nach den
Ausfühnmgen W. Bodes und G. Heimanns
der bessernde Einfluss der Erhöhung der
Branntweinsteuer.
In den allgemeinen Heilanstalten Preussens
werden seit 1886 jährlich 10—11000 Trunk-
süchtige behandelt * ihre Zahl steigt seitdem
kaum, obwohl die Zahl sämtlicher Patienten
dieser Anstalten um 54 ^/o zugenommen hat.
Von 100 in diesen Krankenhäusern behan-
delten FäUen kamen 1886 2,7, 1895 1,9 »/o
auf Trunksucht. Ebenso günstig ist das
Ergebnis für das ganze Reich. Auf 100
Krankheitsfälle, die in den Krankenhäusern
des Reiches behandelt sind, kamen 1886 bis
1888 2.7 von Alkoholismus, 1889—91
1,5, 1892—93 1,3. Von 100 männlichen
Patienten in den Irrenhäusern Preussens
litten 1886 und 1887 je 7 am Delirium
tremens, seit 1888 nur noch 4 pro Jahr
(abgesehen von 1890, wo es 5 waren). Von
den männlichen Kranken der Irrenanstalten
Deutschlands litten 1886 14,1 »/o am Säufer-
wahnsinn, 1887 13,4, 1888—90 9,4,
1891 9,0, 1892—94 9,4. Nach den Be-
richten der Standesbeamten in Preussen
starben an Trunksucht von 1877 — 87 jährlich
zwischen 1080 und 1429 Personen, 1887/88
findet sich eine plötzliche Abnahme auf 581,
und seitdem bis 1895 schwankt die Zahl
nur zwischen 544 und 664. Auffallend ist
der Umschlag in Hambiu^. Dort starben
von 10000 Einwohnern an Alkoholismus
1871 1,08; diese Ziffer stieg bis 1888
auf 2,04, fiel dann im nächsten Jahre plötz-
lich auf 0,76 und hat seitdem 0,88 nicht
mehr überschritten. Aus diesen Zahlen ist
zu entnehmen, dass neben den andauernden
Ursachen grösserer Massigkeit noch eine
besondere m der im Jahre 1887 erfolgten
Erhöhung der Branntweinsteuer wirksam
war. Dadurch stieg der Preis des Brannt-
weins erheblich, und um das nicht so em-
pfindlich zu machen, griffen die Wirte und
Händler zu dem Mittel der Verdünnung.
Wenn mit diesen 2iahlen auch nicht erwiesen
werden kann, dass das Trinken abgenommen
hat, so kann doch die Abnahme der Tnmk-
sucht behauptet werden.
Lltieratnr: W. Boseher, Syst. IV, ^ 96. —
A, Wagnet* f Finanzwissentchaft , namentlich
Bd. III und Ergänzungsheß. — Ckmr€ul,
Finanzwistensrhaft, S. 67 f. — K, Th, Eheberg,
Grundrut der Fin., 5. Aufl., 8. £64 ß. — v.
Zeller f Die Getränkestenem, in Schönberg, 4*
Aufl., Bd. .t, 1 HaJbb., S. 602 ff. — Hölzer,
Ifistorisrhe Darstellung der indirekten Steuern etc.,
Wien 1888. — Statistisches Jahrbtich ßir das
Deutsche Reich, 1899, und ßir das I^nigreieh
Bayern, 1899. — Zu S, O. Schanz, Der Steuer-
ertrag von Branntwein, Wein, Bier, Zucker,
Tabak und Salz in mehreren Staaten i. J. 1896
im F.-A. 1898, S. 668—670. -^ Zu 4. K. Appell,
Die Konsumtion der iüichti{fsten Kulturländer,
Berlin 1899, S. 116 ff. — G, Heimann, Das
Vorkommen von Alkoholismus in den Heilanstalten
Preussens, in der Zeitschr» des k. preuss. stat.
Bureaus 1899, 1. Vierteljahrsheß. — W, Bode,
Die uibnahme der Trunksucht in Deutschland,
in Soz. Praxis, VIII. Jahrg., Nr. 38.
K. Th, Eheberg.
Getreidehandel.
I. Die ältere Getreidehandelspolitik und
Allgemeines (S. 276). II. Technik und gegen-
wärtige Gestaltmig des G. (S. 288). III. Statistik
des G. in der neaesten Zeit (S. 304).
18*
276
Gretreidehandel (Aeltere Getreidehaadelspolitik und Allgemeines)
I.
Die Sltere
Oetreidehandelspolitik und
Allgemeines.
1. Altertum. 2. Mittelalter. 3. Preussen.
Dentschland. 4. Frankreich. 5. £ng:land. 6]
Andere Länder. 7. Allgemeine Bemerkungen.
Neueste Bestrebungen.
L Altertnm. Das Getreide bildete bei
den Kultorvölkem des Altertums in noch
höherem Grade als bei denen der Gegen-
wart das Hauptnahningsmittel, und es wur-
den daher namentlich in den stark bevöl-
kerten Städterepubliken bald staatliche Mass-
regeln für nötig gehalten, um die genügende
Versorgung der Bürgerschaft mit diesem
notwendigen Lebensbedürfoisse sicherzu-
stellen. Dieselben bestanden teils in der
Begünstigung der privaten Getreideeinfuhr
und dem Yerbot der Ausfuhr, teils in dem
unmittelbaren Eingreifen des Staates in den
Handel, indem er seinerseits Getreide zu
niedrigen Preisen verkaufte, wozu häufig
auch noch unentgeltliche Spenden kamen.
Hieraus ergab sich zugleich die Notwendig-
keit, staatliche Getreidelager zu imterhalten.
Ferner finden wir schon im Altertum Brot-
und Mehltaxen, Verbot des Aufkaufens von
Getreide und andere Erschwerungen des
Verkehrs, die keineswegs immer den beab-
sichtigten Zweck erreichten.
Attika führte zur Zeit des Demosthenes
jährlich etwa 800000 Medimnen (420000 hl)
Weizen und Gerste ein, hauptsäi^hlich aus dem
Pontos, aber auch aus Thracien, Aegypten,
Lybien, Sicilien. Die Zufuhr wurde durch
grosse Kornflotten vermittelt, die in Kriegs-
zeiten von bewaffneten Schiffen begleitet waren.
Durch einen Vertrag mit Leukon. dem Herrn
des Bosporus, wurde den athenischen Kauf-
leuten in den bosporanischen Häfen der Aus-
fuhrzoll erlassen und ihnen das Recht zuge-
standen, zuerst vor allen anderen Getreide zu
laden. Bei der Einfuhr wurde zwar auch vom
Getreide der allgemeine Zoll erhoben, aber die
Getreidekaufleute genossen eine gewisse Ab-
gabenfreiheit, über die man zwar nichts Ge-
naueres weiss, die aber wahrscheinlich jenen
Zoll wieder ausglich. Von allem im Komhafen
einlaufenden Getreide mussten zwei Drittel auf
den städtischen Markt gebracht werden; die
Ausfuhr aus dem inneren Verkehr war gänz-
lich verboten. Die Sitophylaken, deren zur Zeit
Aristoteles' 20 für die Stadt und 15 für den
Peiraieus durch das Los gewählt vmrden, hatten
darüber zu wachen, dass das auf den Markt
kommende Gtetreide aen gesetzlichen Vorschriften
gemäss verkauft werde, dass die Müller das
[ehl dem Preise der Gerste entsprechend und
die Bäcker das Brot dem Preise des Weizens
gemäss verkauften. Sie stellten demnach, wie
in der neuentdeckten Schrift des Aristoteles
ausdrücklich erwähnt wird, eine Brottaxe auf.
Das Aufkaufen von Getreide über eine gewisse
massige Menge hinaus war verboten, die von
Boeckh angenommene Begrenzung^ des Preis-
aufschlages beim Wiederverkaufe e^ber hat nicht
bestanden. Ueber „Komwucher" wurde schon
bitter geklagt; ein Beispiel dafür in grossem
Stil lieferte Kleomenes, Alexanders Satrap in
Alexandria, der das für Griechenland bestimmte
ägyptische Getreide aufkaufte und zurückhielt
und dadurch eine ausserordentliche Teuerung
hervorrief, bis Zufuhr aus Sicilien kam. Der
internationale Spekulationshandel mit weitver-
zweigter Korrespondenz, der das Getreide von
den billigen Märkten zu den teueren leitete,
war schon beträchtlich entwickelt. In Athen
gab es öffentliche Getreideniederl^n, in denen,
wie es scheint, sowohl die den Kautleuten ge-
hörende Ware verkauft als auch staatliche Vor-
räte aufbewahrt wurden. Letztere wurden teils
aus StaatsmittehcL teils aus freiwilligen Bei-
trägen angeschafft und zu einem niedrigen
Preise, vielleicht zuweilen auch ganz unentgelt-
lich an das Volk abgegeben. Einzelne grössere
Getreidespenden, namentlich von auswärtigen
Verbündeten kommende, werden erwähnt, doch
wurden dieselben nicht, wie in Rom, zu einer
stehenden Einrichtung.
In Bom wurde schon im ö. Jahrhundert
V. Chr. in Sicilien, Etrurien und Umbrien von
Staats wegen Getreide aufgekauft, um durch
den Wiederverkauf desselben den Preis niedrig
zu halten. Der Komwucher war verboten, und
als solcher galt es auch schon, wenn die Beichen
bei ungünstigen Ernten ihre Früchte nicht
„aequis pretiis" verkaufen wollten (Dig. XL VII,
11, 6). Nach der Lex frumentaria des C. Grac-
chus von 123 V. Chr. sollte der Modius Weizen
allen in Bom ansässigen Bürgern für ß% As
geliefert werden, während der Preis in Sicilien
doppelt so hoch war. Unter Sulla scheint diese
staatliche Freigebigkeit aufgehört zu haben, im
Jahre 73 v. Chr. aber wurde sie mit dem er-
wähnten Preise wieder aufgenommen, und durch
Clodius vollends kam im Jahre 58 v. Chr. das
System der unentgeltlichen Getreideverteilung
an die Bürger zum Siege, von der, wie es
scheint, nur die Senatoren und Bitter ausge-
schlossen waren. Unter Cäsar wurden im Jahre
46 von den damals vorhandenen 320000 Em-
pfangsberechtifi^n 170000 ausgeschieden, und
für die Zukunft sollte die Zahl der Empfänger,
von denen jeder monatlich 5 Modii (ungefähr
44 Liter) erhielt, fest auf 150000 begrenzt
bleiben. Unter Augustus wurde dieselbe jedoch
auf 200000 erhöht, und sie scheint seitdem auf
diesem Stande geblieben zu sein. Ausserdem
aber verkaufte die Regierung grosse Men^n
Getreide aus ihren Magazinen zu einem nied-
rigen Preise gegen „tesserae", die von den
Käufern vorher zu lösen waren. Auch begüns-
tigte man die private Getreideeinfuhr durch
besondere Privilegien für Schiffsreeder und
Kaufleute. Die gesamte Regelung des Getreide-
verkehres (cura annonae) lag ursprünglich den
Aedilen ob, zuweilen aber wurden auch ausser-
ordentliche praefecti annonae ernannt. Pompejus
erhielt 57 v. Chr. die Getreideverwaltung' auf
5 Jahre mit der Vollmacht, das ^anze Reich
für die Versorgung der Hauptstadt in Anspruch
zu nehmen, und Augustus übernahm diese Voll-
macht dauernd. Als kaiserlicher Beamter stand
an der Spitze dieser Verwaltung der praefectus
Qetreidehandel (Aeltere Getreidehandelspolitik und Allgemeines)
277
aimonae, der bis auf Konstantin zn den höchsten
Wttrdenträffem des Reiches |fehOrte. Die Mittel
zu seinen Schenkungen erhielt der Staat teils
durch die Naturalabgaben der Provinzen, nament^
lieh Afiikas und Aegyptens (zu deren Aufnahme
es in allen Teilen des Beiches Getreidemagazine
fabjj teils auch durch bedeutende Ankäufe. Zur
rleichtemng der letzteren war die Ausfuhr
Yon Getreide aus Sicilien nach anderen Ländern
schon früh verboten, und ein ähnliches Verbot
bestand später fttr Aegypten. das vor Konstantin
seinen Weizen nur nach Korn, nachher aber
nur nach Konstantinopel lieferte. Im ganzen
wurden aus Sicilien zur Zeit Ciceros jährlich
6800000 Modü (600000 Hektoliter) Weizen far
Rechnung des Staates nach Born geführt, und
unter Augustus soU allein Aegypten 20 Millionen
Modii geliefert haben. Diese Men^e soU aber
nur den Bedarf für 4 Monate gedeckt haben,
und die ganze Zufuhr hätte also 60 Mill. Modii
(5200000 Hektoliter oder ungefähr 390000
Tonnen) betragen. Diese aus gelegentlichen
Notizen kombinierte Angabe hat aber offenbar
nicht die Bedeutung einer wirklichen statistiscben
Zahl. Auch wenn sie auf die gesamte und nicht
auf die bloss von Staats wegen erfolgende Ein-
fuhr bezogen wird, erscheint sie noch zu gross,
da die Zahl der Einwohner Borns nach den
neueren Ansichten nur 800000 betrug und der
Getreideverbrauch derselben unter dieser An-
nahme nicht einmal 300000 Tonnen erreicht
haben kann.
2. Mittelalter. Im früheren Mittelalter
finden wir ebenfalls schon staatliche Anord-
nungen in betreff des Getreideverkebres. Deis
Konzil von Frankfurt (794) bestimmt, dass der
Preis des Hafers, der Gerste, des Borgens und
des Weizens nie mehr als 1, 2, 3 und 4 Denare
fttr den neuen Modius (nach Gu6rards allerdings
sehr anfechtbarer Bestimmung 52,2 Liter) be-
tragen dürfe. Das Getreide aus den königl.
Gütern soll billi|fer verkauft werden, nämlich
die genannten vier Arten zu V«, 1, 2 und 3
Denaren. Das Capitulare von Nymwegen (806)
setzt wegen der Teuerung die Maximalpreise,
wie es säieint, speciell für die Inhaber könig-
licher BenefLzien, auf 2, 3, 4 und 6 Denare.
Der Getreidehandel war bei der noch vor-
herrschenden Naturalwirtschaft sehr beschränkt.
Die Inhaber von Benefizien werden ermahnt,
zuerst für ihre Leibeigenen zu sorgen, damit
keiner von ihnen Hungers sterbe; den lieber-
schnss konnten sie verkaufen. Aufkaufen zum
Zwecke des Wiederverkaufes zu einem höheren
Preise wird als schändlicher Wucher gebrand-
markt.
Im späteren Mittelalter finden wir in
Deutschland eine weit^ifende Begelun^ des
Getreidehandels von selten der Städte, die als
Sammelpunkte grösserer Volksmengen bei den
damaligen Verkärsschwierigkeiten an der regel-
mässigen Zufuhr der wichtigsten Nabrungs-
mittel zu leidlichen Preisen ein besonders
drinfl^endes Interesse baben mussten. Vor allem
wurde das Marktrecht in diesem Sinne ausge-
bildet. Niemand durfte auf dem Felde oder vor
dem Thore das Getreide verkaufen, alles musste
auf den Markt gebracht werden, wo der Ver-
kauf erst zu einer bestimmten Stunde beginnen
durfte. Zuerst sollten dann die Bürger ihren
eigenen Hausbedarf einkaufen, und dabei war
es in manchen Städten sogar verboten, dass der
eine den anderen überbiete. Die Händler (Frag-
ner), Bäcker und auf Vorrat kaufenden Beleben
soUten in den ersten Marktstunden ebenfalls
nur ihren Hausbedarf decken dürfen. Hatte ein
Beicher eine ^ssere Menge G^etreide an sich
febracht, so durfte seih ärmerer Bürger von
iesem Vorrat so viel zu dem Einkamspreise
für sich verlangen, als er für seinen Haushalt
brauchte. Der Getreidehandel in den gegebenen
engen Grenzen war nur einheimischen Kaufleuten
festattet; die Ausfuhr des Getreides aus der
tadt war häufig verboten, ebenso die Zurück-
haltung desselben auf den Lagern zu spekula-
tiven 2iwecken. Zur Bekämpfung von Teuerungen
wurden jedoch nicht nur öffentliche Magazine
unterhalten, sondern auch da« Halten von Privat-
vorräten, namentlich seitens der Bäcker, vorge-
schrieben. Ein erheblicher Grosshandel in Ge-
treide konnte sich nur in den grösseren Städten
entwickeln, die an einem bequemen Wasserwege
lagen und ein fruchtbares, Ueberschüsse er-
zeugendes Hinterland besassen, wie Hamburg,
Stettin und Danzig. Für den Zwischenhandel
erlangten die niederländischen Häfen eine mehr
und mehr steigende Bedeutung, indem sie be-
sonders den Absatz des von der Ostsee kommenden
Getreides in den selbst nicht genug erzeugenden
Mittelmeerländem vermittelten.
3, PrensseD, Dentsehland* Die seit dem
16. Jahrhundert immer mehr eingreifende Wohl-
fahrtspolizei der grösseren Territorialstaaten
richtete sich hinsichtüch des Getreidehandels eben-
falls nach dem Grundsatze, dass vor allem die
Ernährung der Bevölkerung sicher gestellt und
jede künstliche Preissteigeruufi^ durch Kom-
wucher — in dem man immer die Hauptursaehe
der Teuerung zu erkennen glaubte — verhin-
dert werden sollte. Wo aber die Interessen der
Grundbesitzer oder der Handelsstädte besondere
Berücksichtigung verlangten, suchte man einen
Ausweg durch vermittelnde Zugeständnisse. So
erneuert in Brandenburg eine Verordnung von
lö3ö die schon früber enassene Vorschrift, dass
die adeligen Grundbesitzer zwar berechtigt sein
sollen, Getreide ihres eigenen Wachstums ausser
Landes zu führen, dass sie aber von den Bauern
kein Korn zu diesem Zwecke kaufen dürfen
und dass diese letzteren das Getreide nur auf
dem Markte der nächsten Stadt verkaufen
dürfen. Ein Mandat von 1571 erneuert das
Verbot der Ausfuhr vor Lichtmess auch in be-
treff des dem Adel gehörenden Getreides. Auch
das Verbot des Aufkaufens seitens des Adels
bei den Bauern wird mehrfach erneuert Es
sollen aber auch keine Bürofer, Handwerker oder
Kaufleute, viel weniger nicmt angesehene Leute,
noch aucn die Geistlichen und Schreiber auf
dem Lande von den Bauern Korn und andere
Erzeugnisse aufkaufen. Das Getreide hatte
übrigens beim Berühren der binnenländischen
Zollstätten verschiedene Land- und Wasserzölle,
beim Eingang in die Städte auch Accise zu
entrichten. Bitterschaft und Prälaten waren
für ihr eigenes Erzeugnis von dem alten Kom-
zolle befreit, den neuen Zoll aber mussten sie
bei der Ausfuhr bezahlen. Derselbe betrug z. B.
in der Neumark nach der Zollrolle von 1660
sowohl zu Wasser wie zu Lande für einen
Wispel Weizen 27 Gr. und für einen Wispel
Boggen 21 Gr., wozu für die nicht Befreiten
278
Getreidehandel (Aeltere G^treidehandelspolitik und Allgemeines)
■noch 6 Gr. als alter Zoll kamen, unter dem
Grossen Kurfürsten brachten die Getreidezölle
den grössten Teil des ganzen Zollertra^s auf.
Sie hatten jedoch keine protektionistiscne Be-
deutung, da sie auch von den inländischen Er-
zeugnissen erhoben wurden. Für den vom
Lande kommenden Weizen war nach dem Accise-
tanf von 1684 beim Eingang in die Städte vom
Scheffel 1 Gr., für den Scheffel Boggen 6 Pf.
zu entrichten und bei der üeberführung des
Getreides in die Mühle wurde, wenn es nicht
-zum Hausbacken bestimmt war, nochmals eine
Abgabe von demselben Betrage erhoben. Dazu
kam in den der Mahlziese von 1572 unter-
worfenen Städten noch die Scheffelsteuer von
1 Gr. Anfänge von Schutzzöllen auf Getreide
kommen schon unter Friedrich Wilhelm I. vor :
so wurde 1730 auf Bitte des Direktors und der
Landräte der Prie&nitz „zum Nutzen des Land-
mannes'^ die Verordnung erneuert, dass von dem
aus Mecklenburg eingeführten Getreide ein
Impost von 8 Gr. auf den Scheffel zu erheben
sei. Friedrich der Grosse handhabte eine ein-
greifende Getreidehandelspolitik mit Hilfe der
von ihm errichteten staatlichen Getreidemas^a-
zine. Er trat damit der sonst vorherrschenden
Begünstigung der städtischen Interessen ent-
Segen und suchte in der Preisbildung nach
[ö^lichkeit das Gleichgewicht zwischen Stadt
und Land aufrecht zu halten. Naud^ rühmt
die Erfolge dieses Systems, das das einzige Bei-
spiel in der Weltgeschichte liefere, dass es der
Staatsgewalt in der That gelungen sei, eine
erstaunliche Stetigkeit und Unveränderlichkeit
der Getreidepreise herzustellen. SchmuUer äussert
eich mit grösserer Zurückhaltung dahin, dass
das System neben gewissen Schattenseiten im
ganzen gut funktioniert und einen erheblichen
privaten Exporthandel aus Elbin^ und Königs-
berg nicht unmöglich gemacht habe. — Das
Venwt das Auf- und Vorkaufens des Getreides
ging auch noch in das preussische Landrecht
über und wurde erst durch die V. v. 20. No-
vember 1810 aufgehoben.
In den übrigen deutschen Staaten herrschte
bis zu der neueren Verkehrsentwickelung eine
ähnliche Gtetreidehandelspolitik. Ausser staat-
lichen Magazinen finden wir auch z. B. in
Württemberg obligatorische Gemeindemagazine,
femer die Emrichtung, dass die Landwirte einen
bestimmten Vorrat halten mussten (Kontri-
butionskömerfonds in Böhmen und Mähren,
1788. Asservationsanstalt im Hildesheimischen,
1803). Gegenseitige Ausfuhrverbote der Einzel-
staaten wirkten noch 1816 sehr störend; durch
die allmähliche Ausbreitung des Zollvereins aber
wurden sie für den Verkehr der Mehrzahl der
Bundesstaaten untereinander unmöglich gemacht,
dagegen verbot Bayern 1847 noch die Kornaus-
fuhr nach Oesterreich, nachdem letzterer Staat
mit einem solchen Verbote den Anfang gemacht
hatte. Ueberhaupt kamen bei dem Notstande
von 1846/47 die meisten Hilfsmittel der älteren
Getreidehandelspolitik wieder zur Verwendung,
so (in Kurhessen) Aufsuchen imd Zwangsverkauf
der von den Eigfentümem zurückgehaltenen
Vorräte, Beschränkung des anderweitigen Ver-
brauchs, namentlich durch Verbot der Kom-
brennerei (Preussen, Sachsen), staatliche Zufuhr
von Hülsenfrüchten, Beis etc. fürbilligen Preia
üeber die neuere Entwickelung der Getreide-
zölle s. d. Art.
4. Frankrelcli« Auch in Frankreich
finden wir im Mittelalter zuerst die Städte als
Träger einer lediglidb nach ihren Interessen
geleiteten lokalwirtschaftlichen Getreidepolitik«
ie Gtetreidehändler (ursprünglich in Paris
blatiers genannt) bildeten, wie es scheint, be-
sondere Korporationen und waren bestimmten
Vorschriften unterworfen. Sie wurden amtlich
registriert und hatten einen Eid in betreff üirer
Geschäftsführnuff zu leisten. Die Landwirte,
Adeligen und Fmanzbeamten durften sich nach
der Ordonannz von 1577 nicht am eigentlichen
Getreidehandel beteiligen, wohl aber natürlich
ihre eigenen Erzeugnisse auch an Händler ver-
kaufen. Die sichere Versorgung der Städte be-
ruhte vor allem auf der strengen Marktordnung,
die ähnlich wie in Deutschland gestaltet war.
Das Geschäft des sogenannten „R^^ratiers^, das
Kaufen für den Wiederverkauf am Orte selbst,
ist häufig gänzlich verboten worden, tauchte
aber doch immer wieder auf. Die grossen Ge*
treidehändler durften nur jenseits einer be-
stimmten Entfernung im Umkreise der Stadt
(7—8, später 10 lieues um Paris) Getreide
kaufen, auf dem Markte durften sie nur eine
gewisse massige Menge auf einmal kaufen, auch
in den Städten keine grossen Lager halten^
sofern dies nicht auf Veranlassung oder mit
Erlaubnis der Polizeibehörde und dann in voller
Oeffentlichkeit g^eschah. Solches Getreide durfte
dann auch nicht wieder aus der Stadt ausge-
führt werden. Die geheim gehaltenen Vorräte
wurden nicht selten Konfisziert. Die Ordonnanz
von 1577 befiehlt Übrigens allen Städten, eigene
Getreidelager zu halten. Vereinigungen der
Getreidehändler zu Gesellschaften waren früher
gänzlich verboten, seit 1699 aber war dieses
Verbot auf geheime Gesellschaften beschränkt.
Wucherische geheime Koalitionen mögen trotz-
dem zuweUen vorgekommen sein, wenn auch
ein „pacte de famine" mit Beteiligung der
Regierung, wie ihn sich die Volksphantasie in
den letzten Jahrzehnten vor der Revolution
ausmalte, sicherlich nie existiert hat. Ein nicht
unwichtiger Best der alten Gesetzgebung hat
sich übrigens bis zur Gegenwart in den Artikeln
419 und 420 des Code p6nal erhalten, nach
welchen mit Gefängnis von 2 Monaten bis zu
2 Jahren und Geldstrafe von 1000 bis 20000
Frcs. diejenigen bestraft werden, welche auf
den Preis des Getreides, Mehles und anderer
Waren durch Vereinigung oder Koalition der
bedeutendsten Warenbesitzer oder andere ver-
botene Manöver steigernd oder herabdrückend
eingewirkt haben. — Von grosser Bedeutung
für die Gestaltung des französischen Getreide-
handels war auch das Binnenzollsystem (s. d. Art.
Binnenzölle oben Bd.IIS.893fr). Eswarnicht
nur bei dem Uebergang ans einer Provinz in ein
anderes ZoUgebiet ein Zoll zu entrichten, sondern
bei drohender Teuerung wurde auch die Ausfuhr
aus einer Provinz in die andere wie auch in das
Ausland verboten. Unter Heinrich III. wurde 1571
die Getreideausfuhr für ein königliches Do-
manialrecht erklärt, und seitdem dreht sich
die staatliche Getreidehandelspolitik haupt-
sächlich um die Freiheit der Getreideau»*
fuhr aus dem Lande. Dem inneren Ver-
kehre kam dieses Eingreifen der nach Cen<>
Getreidehandel (Aeltere Getreidehandelspolitik und Allgemeines)
279
tralisation strebenden Monarchie entschieden
2U gnte. Die Getreideausfuhr von Provinz zu
Provinz wurde schon durch die Ordonnanz von
1539 thatsächlich gestattet, und nachdem sie
1559 einige Beschiänkungen erfahren, in den
Ordonnanzen von 1567 und 1577 ausdrücklich
wieder als keiner besonderen Erlaubnis bedürfend
iinerkannt. Die Ausfuhr aus dem Königreiche,
die auch früher häufig verboten worden war,
sollte nach der Ordonnanz von 1539 nur auf
Grund eines besonderen Patentes gestattet sein.
Die verschiedenen Provinzen Mrurden hinsichtlich
der Ausfuhrbefugnis nach dem Stande ihrer Ge-
treideproduktion verschieden behandelt und die
Erteilung der Erlaubnis nach den Kompreisen,
«päter nach dem Ernteerträge geregelt, im
letzteren Falle mit Festsetzung einer Maximal-
menge. Unter Sullys die Landwirtschaft be-
sonders begünstigender Verwaltung wurde die
Freiheit der Getreideausfuhr gewährt, teilweise
schon 1598, vollständig aber durch das Patent
vom 26. Februar 16^1, nach welchem Ein-
heimische sowohl wie Fremde diese Ausfuhr
ohne weiteres gegen Entrichtung der alther-
gebrachten Zdlle und frei von den später ein-
geführten Zuschlagstaxen betreiben konnten,
ülbert aber wich von dem Principe der Aus-
fnhrfreiheit wieder ab, srinff aber dabei doch
vorsichtig zu Werke. Nach dem Tarife von
1664 war für Weizen, wenn die Ausfuhr er-
laubt wurde, ein Zoll von 22 Livres für das
Muid zu bezahlen, während der Einfuhrzoll nur
2Ve Livres betrug. Nach Naud6 bestand in
den 168 Monaten der Ck>lbert8chen Verwaltung
während 56 das Ausfuhrverbot, während 112
die Erlaubnis der Ausfuhr mit Zollfreiheit oder
Zollentrichtung zu verschiedenen Sätzen, wobei
in zweckmäs»ger Weise auf die Marktverhält-
nisse Bttcksicht genommen wurde. Später galt
lange Zeit das Ausfuhrverbot als die Regel,
wenn auch sowohl für gewisse Provinzen als
für das ganze Königreich zeitweise die Ausfuhr-
erlaubnis und nach sehr reichen Ernten auch
teilweise oder gänzliche Befreiung vom Aus-
fuhrzölle gewährt wurde. Unter dem Einflüsse
der physiokratischen Ansichten trat dann in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wieder
eine Wendung zu Gunsten der Landwirtschaft
ein. Durch eine Deklaration vom 25. Mai 1763
wurde dem inländischen Getreidehandel volle
Freiheit der Bewegung gewährt, wenn er auch
den Binnenzöllen unterworfen blieb. Das Edikt
vom 7. November 1764 aber gestattete die Ein-
und Ausfuhr des Getreides ffegen einen Zoll
von 1 Proz. und untersagte die letztere nur in
dem Falle, wenn der Preis des Weizens während
dreier Märkte 30 Livres für den Septier (19,8
Frcs. das Hektoliter) erreicht habe.
Infolge der Preissteigerung wurde im Jahre
1770 die Getreideausfuhr verboten und bald
darauf auch der grOsste Teil der früheren Be-
schränkung des inneren Komhandels, namentiich
in Bezug auf den Marktverkehr und die Stellung
der GeUeidehändler, wiederhergestellt, Turffot
abersetzte 1774 wieder die Deklaration von 1763 in
Kraft Ueber die im folgenden Jahre bewilligten
Einfuhrprämien s. d. Art. (oben Bd. III S. 319 ff.).
Necker und Calonne griffen wieder zu zeitweiligen
Ausfuhrverboten nach administrativem Ermessen.
Eine Deklaration von 1787 erkennt die Ausfuhr-
freiheit principiell an und lässt nur die Sus-
pension derselben auf Antrag der Provinzial-
stände und zwar nur auf ein Jahr zu. Indes
erfolgte ein. solches Verbot schon wieder im
Jahre 1788, und im folgenden Jahre wurde wegen
der Teuerung wieder von dem ganzen Ars^ud
der alten Getreidehandelspolitik Gebrauch ger
macht. Die Assignatenwirtschaft vollends führte
am 3. Mai 1793 zu dem Konventsbeschluss über
das Preismaximum: alle Gtetreidehändler und
Landwirte sollen ihre Vorräte deklarieren und
zu einem von jeder Gemeinde anzusetzenden
Preise auf dem Öffehtiichen Markte verkaufen.
Die Ausfuhr war während der ganzen republb-
kanischen Zeit verboten. Erst durch ein Dekret
vom 25. Prairial XII wurde sie nach bestimmten
Ländern g«?en einen massigen Zoll bis zu einer
gewissen Aeisffrenze gestattet. Das Dekret
vom 2. Juli 1806 erhöhte diese Grenze bei
Weizen bis 24 Frcs. für das Hektoliter, setzte
aber auch den Ausfuhrzoll in mehreren Ab-*
stufungen auf 2--8 Frcs. für 100 kg. Allge-
meine Ausfuhrverbote wurden noch 1810 und
1815 erlassen, die Ordonnanz vom 8. Oktober
1819 und das G. v. 4. Juli 1821 behielten sie
(mit Herabsetzung des Ausfuhrzolles auf ein
Wa^:egeld) noch bei Ueberschreitung gewisser
Preisgrenzen bei, und erst das G. v. 15. April
1832 begnügt sich mit einem schliesslich für
jeden Franken Preiserhöhung um 2 Frcs. stei-
nenden Ausfuhrzoll. Indes wurde noch 1839
die Ausfuhr zur See durch eine Ordonnanz
suspendiert. Die Ausfuhrzölle wurden 1857 be*>
deutend herabgesetzt und 1861 ganz aufgehoben.
— In betreff der von den Bäckern zu haltenden
Vorräte erwähnen wir nur noch, dass nach der
V. vom 19. Vendemiaire X. in Paris jeder Bäcker
15 Sack Mehl in einem öffentlichen Magazin
hinterlegen und ausserdem noch eine besondere
Reserve in seinem eigenen Lager halten musste,
^e von der Bedeutung seines Betriebes abhing.
Die Quantitätsbestimmun^n erfuhren mehrfach
Abänderungen, zuletzt sälte nach dem Dekret
vom 1. November 1854 jeder Bäcker im ganzen
soviel Vorrat halten, als seinem Bedarfe in drei
Monaten entsprach. Das Dekret vom 22. Juni
1863 aber hob diese wie auch die übrigen
Beglementierungen der Bäckerei auf. S. auch
d. Art. Bäckereigewerbe. Das G. v. 16. Juli 1819
gab das Prindp der Freiheit der Getreideein-
fuhr auf (der Tarif von 1816 hatte nur ein
Wagegeld von 50 Cents für 100 kg festgesetzt)
und setzte eine nach den Marktpreisen be*
stimmte bewegliche Zollskala ein mit Unter^
Scheidung von 3 (später 4) Marktregionen. Im
übrigen wird hinsichtlich der Einfuhrzölle auf
den Artikel Getreidezölle verwiesen.
5« England« Auch in England finden wir
im Mittelalter das Verbot des Auf- und Vor-
kauf ens von Getreide in gleicher Strenge wie
auf dem Kontinent. Die Ausfuhr war schon im
12. Jahrhundert nur auf Grund einer besonderen
königlichen Lizenz gestattet, und auch für die
Ueberführung von Getreide aus einer Grafschaft
in die andere scheint eine solche Erlaubnis er-
forderlich gewesen zu sein. Die Carta Mercatoria
von 1303 erteilte den fremden Kaufleuten
allgemein die Lizenz zur Komausfuhr gep'en
einen- Zoll, in der Folgezeit aber wurde diese
Erlaubnis mehrfach zurückgenommen imd wieder
erneuert. Bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts
zeigte sich das Parlament als Gegner der Aus-
280
Gtetreidehaadel (Aeltere (retreidehandelspoiltik und Allgemeines)
fahrfreiheit und namentlich anch des Rechtes
des Königs, ans eigener Machtvollkommenheit
die eintr^liche Lizenz zn erteilen. Dann aher
veranlasste das agrarische Interesse eine Um-
Btimmnng zu Gunsten jener Freiheit, und im
Jahre 1&3 wurde auf Verlangen des Parla-
mentes schon ein Getreide ein fuhr verbot
erlassen für den Fall, dass die Preise unter ge-
wisse Grenzen gesunken wären. Im 16. und
in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts
wurde das System der Verbote der Einfuhr
Izum Verkauf im Inlande) und der Ausfuhr bei
)estimmten Preisgrenzen den neuen Preis Ver-
hältnissen gemäss ausgebildet, wobei d£is könig-
liche Recht des Verbots der Ausfuhr und der
Lizenzerteilung aufrecht erhalten blieb. Unter
Cromwell wurde 1666 die Preisgrenze, bei wel-
cher die Ausfuhr erlaubt sein soUte, noch weiter
erhöht, und nach einer abermaligen Hinaus-
Bchiebung derselben im Jahre 1663 wurde sie
1670 ganz aufgehoben mit Beibehaltung eines
geringen AusfunrzoUes. Dasselbe Gesetz aber
brachte auch hohe agrarische Schutzzölle, indem
z. B. für Weizen bei einem Preise unter 63 Schill,
für das Quarter 16 Schill, und bei einem Preise
zwischen 53 und 80 Schill. 8 Schill, an Einfuhr-
zoll zu entrichten waren. Seitdem blieb bis zu
der modernen Reformgesetzgebung das Interesse
des Grundbesitzes für die englische Getreide-
handelspolitik ausschliesslich massgebend. Der
Thronwechsel brachte ihnen eine weitere Be-
günstigung : im Jahre 1689, noch im ersten Re-
^erungsjiuire Wilhelms und Marias, wurde für
die Aimuhr von Weizen, wenn der Preis des
(Winchester-) Quarter nicht mehr als 48 Schill,
betrug, eine Prämie von ö Schill, bewilligt, und
ebenso erhielten Roggen, Gerste und Malz von
bestimmten Preisgrenzen ab Ausfuhrprämien
von 3V9 nnd 2Ve Schill, für das Quarter. Zu-
fleich fiel dann der Ausfuhrzoll weg, während
ieser bei höheren Preisen noch bis zum Jahre
1700 erhoben, dann aber p^änzlich aufgehoben
wurde. Bei Teuerungen indess wurden auch
unter der Herrschaft des Prämiensystems als
Aumahmemassregeln noch Ausfuhrverbote er-
lassen. Die Einfuhrzölle wurden im Laufe des
vorigen Jahrhunderts mehrfach abgeändert;
nach dem konsolidierten Tarife von 1787 z. B.
hetrugen sie für Weizen bei einem Preise unter
48 Schill. 24 Vi Schill., bei allen höheren Preisen
aber nur 6 Pence. Die Ausfuhrprämien wurden
erst 1814 förmlich abgeschafift, aber sie waren
schon längst ohne praktische Bedeutung, da
seit mehreren Jahrzehnten die vorgeschriebene
untere Preisgrenze (die 1774 auf 44 Schill,
herabgesetzt worden) nicht mehr erreicht worden
war. Ueber die zeitweilig bewilligte Einfuhr-
Srämie s. d. Art. (a. a. 0.). Seine äusserste Ausbil-
ung stellt das agrarische Schutzsystem durch das
G. von 1815, das die Einfuhr von Weizen bis
zu dem Preise von 80 Schill, gänzlich verbot,
darüber hinaus aber frei liess. S. d. Art. Anti-
Corn-Law-League (oben Bd. 1 S. 410ff.).
6. Andere Länder. Von den hierher ge-
hörenden Massregeln anderer Staaten erwähnen
wir noch das seit dem 16 Jahrhundert im
Königreich Neapel und im Kirchenstaate be-
stehende Annonanystem, das die Getreidever-
sorguog der beiden grossen Hauptstädte sicher-
stellen sollte, deren Interessen die der Land-
wirtschaft geopfert wurden. Die Landwirte
mussten ihre Ernten deklarieren, Ausfuhr und
Ankauf über den eigenen Bedarf hinaus war
nur mit okrigkeitlicher Erlaubnis zulässig, und
der Staat requirierte nach seinem Ermessen
das Getreide zu einem von ihm bestimmten
Preise für seine Magazine. Im Gegensatz dazu
wurde in Toskana 1766 schon der Versuch ge-
macht, die Teuerung durch völlige Frei^ebung
des inneren Getreideverkehrs sowohl wie der
Ausfuhr zu bekämpfen. — Gegenwärtig besteht
noch in Russland wenigstens theoretisch ein
vollständiges System von gesetzlichen Bestim-
mungen zur Abwehr von Hungersnot, das im
wesentlichen aus der Zeit Kathannas 11. stammt.
Jedes Dorf muss einen Reservevorrat von Ge-
treide halten, jedoch kann derselbe auch teil-
weise durch Geld ersetzt werden. Ausserdem
wird von den Gouvernements ein Reservekapitai
febildet und zwar mittelst einer für jeden Kopf
er männlichen bäuerlichen Bevölkerung er-
hobenen Taxe von 48 Kopeken. Endlieh wird
auch beim Ministerium des Innern aus beson-
deren Beiträgen ein zu demselben Zweck be-
stimmter Fonds unterhalten. Die Gemeindelager
sollen nötigenfalls zinsfreie Vorschüsse von
Saatgetreide gewähren, die übrigen Fonds dienen
zur weiteren Unterstützung der Hilfsbedürftigen
durch zinsfreie oder erst nach drei Jahren zu
3% verzinsliche Darlehen. Im Gouvernement
Archangel und in Sibirien bestehen auch staat-
liche Getreidemagazine. Die Ausfuhr kann bei
hohen Preisen verboten werden. Angesichts der
unbefriedigenden Ernte von 1891 ist im August
dieses Jahres zum ersten Male seit dem Krim-
kriege wieder ein Verbot der Roggenausfuhr
erlassen worden und auch eine Ermässigung
der Eisenbahnfrachtsätze zur Erleichterung der
Zufuhr nach den notleidenden Provinzen enolgt.
— In Indien, wo besonders in den reisbauenden
Landesteilen alle 10 — 12 Jahre infolge der
Trockenheit eine Hun^rsnot einzutreten pflegt,
wird seit 1877 jährlich ein besonderer Posten
von 1600 000 £ unter dem Titel „Famine relief
and Insurance^ in das Budget eingestellt. Was
nicht wirklich zur unmittelbaren Bekämpfung
von Hungersnot ausgegeben wird, dient zur
Herstellung von Bewässerungs- und Verkehrs-
anlagen zu demselben Zwecke oder zur Schulden-
tilgung.
7. AllgeineiDe Bemerkungen. Neueste
Bestrebungen. Den Gegensatz der älteren
und der neueren Ansichten über den G^e-
treidehandel hat schon öaliani treffend aus-
gedrückt, indem er sagte, dass man früher
das Getreide als ein Verwaltungsobjekt be-
trachtet habe, jetzt aber aus demselben ein-
fach einen Handelsgegenstand machen wolle.
Der Wohlfahrtszweck, den die staatliche Ver-
waltung auf diesem Gebiete erstrebte, war
ursprünglich und vorzugsweise die Siche-
rung der Volksernährung. Dazu aber trat
unter der Herrschaft der merkantilistischeu
Anschauungen die Rücksicht auf die In-
dustrie, deren Absatzfähigkeit, wie man än-
nalmi, durch die Billigkeit der Nahrungs-
mittel gefördert würde. Galiani aber hob
auch hei'vor, dass die gewerblichen Erzeug-
nisse im Gegensatze zu den landwirtschaft-
Getreidehandel (Aeltere Getreidehandelspolitik und Allgemeines)
281
liehen von einem Jahre zum anderen in an-
nähernd gleicher Menge erzeugt würden,
dass daher ihre Preise und infolge davon
auch die Löhne der gewerblichen Arbeiter
nahezu unverändert büeben. Jede Steige-
nmg des Getreidepreises mache sich daher
für diese auf das empfindlichste fühlbar,
und es sei also für ein überwiegend indus-
trielles Staatswesen unumgänglich, den Ge-
treidepreis möglichst gleichmässig zu er-
halten. In den kleinen Staaten, wie Genf,
den italienischen Stadtrepubliken etc. lasse
sich dies durch ein zweckmässiges Magazin-
system einigermassen erreichen; in mittel-
grossen Eüstenstaaten, wie Holland und die
Republik Genua, sei ähnliches schon nicht
mehr möglich, aber diese seien imstande,
durch ihren nach allen Seiten ausgedehnten
Seehandel sich immer auf den billigsten
Märkten zu versorgen. Für Grossstaaten
wie Frankreich aber, mit einer Bevölkerung
von vielen Millionen und einem grossen
Binnenlande ohne genügende Wasserwege,
sei dieser Ausweg nicht vorhanden und da
auch amtliche Preistaxen nicht durchführbar
seien, so gebe es in der That kein Mittel,
um die Gleichmässigkeit der Getreidepreise
in genügendem Masse zu erreichen, und
daher gedeihe die Industrie stets besser in
den kleinen Republiken als in den grossen
Heichen. Aber ein Volk, das sich aus-
schliesslich dem Ackerbau w^idme, sei »eine
Nation von Spielern«, und Galiani giebt
deutlich genug zu verstehen, dass er in
dem Gesetze von 1764 über die Freiheit der
Getreideausfuhr eine den Ackerbau zum
Nachteile der industriellen Entwickelung
übermässig begünstigende Massregel sehe.
In England beriefen sich die Verteidiger
der Einfuhrzölle und der Ausfuhrprämien
für Getreide ebenfalls auf das Interesse der
gesamten Volkswirtschaft, da eine blühende
Landwirtschaft die beste Bürgschaft füi* das
Wachstum der Industrie bilde. Houghton
gab schon 1683 der vielen Anklang finden-
den Ansicht Ausdruck, dass hohe Eompreise
für die Industrie besser seien als niedrige,
weü die Arbeiter bei den ersteren zu grös-
serem Fleisse genötigt oder zu der Erfin-
dung besserer Produktionsmethoden geführt
würden. — Im allgemeinen wird man nicht
annehmen können, dass die Beschränkungen
des Getreidehandelß, die sich während mehr
als zwei Jahrtausenden bei allen Kultur-
völkern wiederholen, lediglich auf Verken-
nung der richtigen Wege zu dem beabsich-
tigten Ziele beruhten. Im Vergleiche mit
den heutigen Zuständen muss stets vor
allem die miher bestehende grosse Schwie-
rigkeit und Kostspieligkeit des Landtrans-
portes im Auge behalten werden. Galiani
weist darauf hin, dass die am meisten Ge-
treide erzeugenden Provinzen Frankreichs
in der Nähe der Küste liegen, also immer
geneigt seien, ihr Korn auf dem biUigen
Wasserwege ins Ausland zu führen, wenn
auch in den schwer zugänglichen Binnen-
provinzen grosse Ausfälle zu decken seien.
Für die lokalen Notstände in den Gegenden
mit ungenügenden Verkehrsmitteln Konnte
bestenfalls nur mit grosser Verspätung Hilfe
gebracht werden, lud zur Deckung eines
bedeutenden EruteausfaUes in einem grossen
Gebiete reichten die Kräfte des älteren
Handels überhaupt nicht aus. Da nun aber
das Getreide das notwendigste Lebensmittel
für die Masse der Bevölkerung bildet, so
steigt bei unzuläo^licher Versorgung des
Marktes der Preis m noch stärkerem Ver-
hältnisse, als die Zufuhr abnimmt, eine That-
sache, die Grregory King diux^h die Eegel
ausdrückte, dass bei einem Fehlbeträge ohar
Ernte um 10, 20, 30, 40, 50 «/o des Durch-
schnittes der Preis lun 30, 80, 160, 280s
450 ®/o stei^. Diese Regel hatte freilich
selbst für die Zeit ihrer Entstehung — Ende
des 17. Jahrhunderts — nur die Bedeutung
eines charakteristischen Zahlenbeispieles.
Der »Komwucher« war unter solchen Um-
ständen keineswegs immer ein blosses Phan*
tasiegebilde. Weaa Getreide nach reich-
lichen Ernten aufgekattft und für den Fall
eines künftigen Mangels aufgespeichert
wurde oder wenn bei mutmasslicher Miss-
ernte die Nachfrage der Aufkäufer schon im
voraus den Preis erhöhte und dadurch ein
Wamungssignd gab, so war ein solches Ein*
greifen des Handels ohne Zweifel volkswirt-
schaftlich nicht nur berechtigt, sondern auch
nützlich. Aber jedenfalls wiurde auch häufig
das Aufkaufen und Aufspeichern erat wäh-
rend des Notstandes vorgenommen, um durdi
weitere Verminderung des Angebotes die
eben erwähnte unverhältnismässige Preis-
steigerung herbeizuführen. Diese Spekula-
tion konnte leicht gelingen, wenn die Ver-
kehrsmittel eine rasche Entwickelung der
Konkurrenz nicht gestatteten, und die Be-
kämpfimg dieses Wuchers durch den Staat,
namentlich durch Verkauf von Getreide aus
öffentlichen Lagern, war dann principieU
durchaus gerechtfertigt, wenn auch häufig
unzweckmässige Mittel angewandt wurden.
Gegenüber dem grossartigen Getreidewelt-
handel der Gegenwart haben nattirlich die
auf kleine Verhältnisse berechneten alten
Polizeimassregeln gegen den Wucher keinen
Sinn und Zweck mehr. Auch ist ja die
Handelspolitik der meisten eiux)päaschen
Staaten in der neuesten Zeit, ganz im Gegen-r
satze zu den älteren Bestrebungen, d£^uf
gerichtet, den durch die überseeische Kon-
kurrenz ausgeübten Druck auf den Getreide^
preis zu mildern und denselben künstlich
auf einem höheren Stande zu erhalten. Zu
diesem Zwecke dienen zunächst die Getreide-
282
Getreidehandel (Aeltere Getreidehandelspolitik und Allgemeines)
Zölle (s. d. Art.), und an diese hat sich in
Deutschland diu'ch die Aufhebung des Iden-
titätsnachweises des ein- und ausgeftthrten
Getreides (s. d. Art.) eine Ausfuhrprämie an-
geschlossen. Grosse Hoffnungen setzten die
WordKihrer der deutschen Landwirtschaft
auf die Beschritokung der Börsenspekulation,
da sie voraussetzten, dass diese grundsätz-
lich die Getreidepreise immer herabzudrücken
suchte. Zunächst klagte man über die geringe
Qualität des Lieferungsgetreides, da man
annahm, dass dessen niedriger Preis auch
auf die besseren Sorten drückend einwirke.
Daher setzte Fürst Bismarck als Handels-
minister 1888 trotz des Widerstrebens der
Beteiligten durch, dass an den preussischen
Produktenbörsen Termingeschäfte nur in Ge-
treide von einem gegen das früher übliche
erhöhten Qualitätsgewicht geschlossen wer-
den durften. Im Jahre 1891 aber stiegen
die Getreidepreise wieder auf eine enorme
Höhe, und die Börse wurde jetzt für diese
Bewegung ebenso verantwortlich gemacht
wie für die niedrigen Preise von 1887 und
1888. Bald trat jedoch wieder ein starker
Rückgang ein, den man einesteils den Han-
delsverträgen von 1892 und namentlich dem
Vertrage mit Russland von 1894, anderen-
teils aber auch wieder dem bösen Willen der
Börse zur Last legte. In Wirklichkeit aber
kommt an der Börse nur die durch die
weltwirtschaftliche Geschäftslage, durch die
Produktions- und Transportbedingungen be-
stimmte Tendenz zum Ausdruck. Diese
Tendenz aber ist naturgemäss in einem
Lande, dem aus sehr billig produzierenden
Ländern mit relativ geringen Transportkosten
grosse Massen Getreide zugeführt werden,
auf Preiserniedrigung gerichtet, und hier
wird daher auch die Spekulation, wenn nicht
ein ungewöhnlicher Bedarf eintritt, bis zu
einem gewissen Punkte der Baisse zuge-
wandt sein, während sie in den Ausfuhr-
ländern nonöalerweise überwiegend für die
Hausse eintritt Seiner Natur nach hat der
Börsenterminhandel in Getreide also weder
ftlr die eine noch für die andere Preisbe-
wegung eine besondere Vorliebe* er sucht
nur die durch die realen Umstände bedingte
richtig vorauszusehen, was ihm auch, wie
die Erfahnmg gezeigt hat, bis zu einem ge-
wissen Grade gelingt. Die kleinen Preis-
bewegungen werden durch den Termin-
handel, weil dieser nicht nur einen grossen,
sondern auch einen sehr sensitiven Markt
schafft, vielleicht vervielfältigt, die grossen
al)er werden jedenfalls gemildert, da immer
eine Partei vorhanden ist, die zur Realisie-
rung ihres Gewinnes die Richtung ihrer
Operationen ändern, also z. B. von den
Blankoverkänfen zu Deckungskäufen über-
gehen muss. Nur wenn mächtige finanzielle
Kräfte in einer falschen Richtung auf
den Markt einwirken, können durch die
Börsenspekulation zeitweilig starke unnatür-
liche Preisschwankungen hervorgerufen wer-
den, obwohl auch in diesem Falle das End-
resultat dasselbe bleibt Denn auch der
grossartigste »Corner« wäre heutzutage nicht
imstande, den Markt eines Welthandels-
ai*tikels von so ungeheuerer Massenhaftig-
keit wie das Getreide längere Zeit wirklich
nach seiner Willkür zu beherrschen. Wirk-
lichen Einfluss auf die Preisbildung können
nattirlich nur diejenigen Spekulanten aus-
üben, die nötigenfalls mit grossen Geld-
mitteln oder grossen Warenmengen einzu-
greifen imstande sind. Das Treiben der
weder Geld noch Ware besitzenden Börsen-
spieler kann nur die allgemeine Tendenz
deutlicher zum Ausdruck bringen, aber keine
wesentliche Wirkung auf den Markt haben,
da es nur aus Wetten oder einem sich
selbst neutralisierenden Spiele zweier ent-
gegengesetzt operierender Parteien besteht
Indes besitzen auch die reinen Spekulanten
im allgemeinen ein gewisses Kapital, wenig-
stens so viel als nötig ist, um ihre m{%-
lichen Differenzen zu decken. Daher bieten
sie denjenigen B[aufleuten und Mühlenbe-
sitzern, die sich mit ernst gemeinten Zeit-
käufen von jedem Risiko freihalten wollen,
die Mögliclikeit einer Versicherung dar. Die
Gegner des Terminhandels in Getreide haben
indes den Sieg davongetragen, und er ist
durch das Börsengesetz v. 26. Juni 1896
verboten. Nachweisliche Vorteile sind der
Landwirtschaft daraus nicht erwachsen, denn
die Preissteigerung des Weizens in den
Jahren 1897 und 1898 war wieder eine all-
gemein weltwirtschaftliche Erscheinung und
von dem deutschen Börsengesetz, das in
den anderen Ländern keine Nachahmung
gefunden hat, gänzlich unabhängig.
Zu den »grossen Mitteln«, die zur Hebung
des Getreidepreises vorgeschlagen wurden,
gehörte auch die Monopolisierung des Ein-
und Verkaufs des zum Verbrauch im deutschen
Zollgebiet bestimmten ausländischen Getrei-
des mit Einschluss der Mühlen&brikate, wie
sie der 1895 dem Reichstag vorgelegte An-
trag Kanitz verlangte. Obwohl dieser An-
trag wohl nur noch ein historisches Interesse
hat, mögen die gegen denselben entscheidend
sprechenden Gründe, abgesehen von der
Unvereinbarkeit des Projekts mit den be-
stehenden Handelsverträgen, nochmals an-
geführt werden. Als Wirkung eines solchen
Monopols würde sich thatsächlich eine
dauernde beträchtliche Erhöhung der deut-
schen Getreidepreise über die des freien
Weltmarkts, insbesondere die englischen,
ergeben, denn die vorgeschlagenen Mittel-
preise würden bei ungünstigen Ernteverhält-
nissen ganz gewiss überschritten werden,
vielleicht noch weiter als im Jahre 1891.
Getreidehandel (Aelt Getreidehandelspol. u. Allg. — Techn. u. gegenw.Gest. ; Deutschland) 283
Diese Verteueruogder notwendigsten Lebens-
mittel wtbnde nicht nur eine Schädigung der
Mehrzahl der Bevölkerung bedeuten, sondern
auch die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs
der deutschen Industrie mit England nur
auf Kosten der Arbeiter ^tatten. Der Ge-
winn aus diesen Nachteilen für die übrige
Bevölkerung aber käme zu einem grossen
Teile solchen Grundbesitzern zu, die trotz
der unbefriedigenden Lage der Landwirt-
schaft ihrem Einkommen nach zu der wohl-
habenden oder reichen Klasse zu rechnen
sind. Die ganze Einrichtung würde formell
einen sehr bedenklichen sozialistischen Cha-
rakter haben, dabei aber materiell nicht, wie
die sozialistischen Projekte, zur Verbesse-
rung des Loses der besitzlosen Masse der
Bevölkerung, sondern im Interesse einer be-
sitzenden Minderheit zu wirken bestimmt
sein. Dass Friedrich der Grosse mit seinem
Magazinsysteme befriedigende Erfahrungen
gemacht hat, kann angesichts der heutigen
unendlich komplizierteren Yerhältnisse für
den Antrag Kanitz nicht geltend gemacht
werden. Die noch weiter gehenden Pläne,
wie das von dem Mühlenbesitzer Till vor-
geschlagene staatliche Bäckerei- und Brot-
monopol würden vollends in das Gebiet des
Staatssozialismus überführen, übrigens auch
auf unübersteigliche Organisations- und Yer-
waltungsschwierigkeiten stossen.
Litteratnr: BoeckK St€Uiishauskait der Athener,
ä, Aufi,f keravjfgegeben v. Franke L — JBilcIt-
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(1896). — Derselbe, Einige Worte zum Antrag
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Oalia'n'i, Dialogues sur le Commerce des Blis
(1770). — Neeker, Sur la Ugislation et le
commerce des gruins (1775). Beide Schriften
abgedruckt im 16. Bde. der Collection des prvn-
cipaux ieonomistes, S. 5 — tOi und 211 — S58, —
MoreiUet, Refutation des Dialogues sur le
commerce des bUs (Paris 1770); teilweise als
Anmerkungen in der angeführten Ausgabe der
Dialoge abgedruckt. — Targot, Lettres sur la
librriS du commerce des grains (1770). —
Oeuvres ed. Daire t. I. — Rettnarus, Die
icichtige Frage von der freien Atis- und Einfuhr
des Getreides, Hamburg 1771. — Derselbe,
Die Freiheit des Getreidehandels nach der Natur
und Geschichte, Hamburg 1790. — Norrmann,
Die Freiheit des Getreidehandels, Hamburg 1802.
— RÖssig, Die Teuerungspolizei, ein hisUrrisch-
politischer Versuch, Leipzig 1808. — v. Hazei,
Betrachtungen über Teuerung und Not der ver-
gangenen und gegenwärtigen Zeit, München 1818.
— Graf Soden, Die cmnonarische Gesetzgebung,
Nürnberg 1828. — Röscher, lieber Komhandel
und TeuerungspolUik , S. Aufl., Stuttgart und
Tübingen 1858. — A, Toung, The expediency
of a free erportation of com at this time, Lon-
don 1771. — J'ames Anderson, An inquiry
into the nature of the com laws, Edinb. 1777,
nebst zwei anderen Schriften Andersons. Deutseh
herausgegeben von Brentano, Leipzig 1898.
— Maltfms, Observations on the effect of the corth
laws, London I8I4. — Ricardo, On the in-
fluence of a law price of com on the profits of
stock, London 1815. (Oeuvres in der GuiUaumin-
schen Sammlung, S. 5^1 ff.) — Kablukow,
Die russische Gesetzgehing über die Versorgung
des Volkes bei Missemten (in Brauns Archiv für
soz. Gesetzgebung IV, S. 890 ff,). Lexia.
n.
Technik und gegenwärtige
Gestaltung des Getreide- .
handels.
A. Getreidehandel in Deutschland (S. 283).
B. Getreidehandel in den Vereinigten Staaten
(S. 293). C. Getreidehandel in Russland (S. 297).
A. Getreidehandel in Deutsehland.
1. Die Entwickelnng des deutschen G. 2.
Der Verkehr mit' den Landwirten. 3. Der
Effektivgrosahandel. 4. Der Terminhandel, h.
Die Transport- und Lagereinrichtnngen.
1. Die Entwickelnng des deutschen 6.
Noch in den ersten «^hrzehnten unseres
Jahrhunderts produzierte Deutschland in
allen seinen Teilen normaler "Weise soviel
Getreide, als zur Ernährung der Bevölke-
rung erforderlich war; selbst Mannheim,
heute der bedeutendste Weizeneinfuhrplatz
des europäischen Festlandes, gab reeelmässig
von den Getreidemengen an, die durch die
Bauern der Umgegend auf den städtischen
Markt gebracht wurden. Ein Grosshandel,
der dauernde Beziehungen zum Ausland
unterhielt, bestand damals nur in den Hafen-
plätzen der Ostsee und Nordsee, von wo aus
die Ueberschüsse der Küstenprovinzen nach
England, Holland und Skandinavien expo]>
tiert wurden ; ein geringerer Ausfuhrverkehr
hatte sich von Süddeutschland nach der
Schweiz und nach Tirol hin entwickelt Im
Innern Deutschlands hemmten die zahllosen
BinnenzöUe und vielfachen Ausfuhrverbote
den Austausch zwischen den einzelnen
Bundesstaaten und selbst zwischen Gebieten
desselben Staates. Bei den noch unent-
wickelten Yerkehrsverhältnissen, unter denen
(Getreide nur zu Wasser und sehr langsam
284
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung ; Deutschland)
auf grössere Entfernungen hin transportiert
werden konnte, waren Teuerungen und
Hungersnöte häufige Erscheinungen, wäh-
rend zu anderer Zeit und an anderem Ort
überreiche Ernten keinen Absatz finden;
die Preise schwankten örtlich und zeitlich
um das Vielfache.
Im zweiten Viertel des Jahrhunderts be-
ginnen sich diese Verhältnisse von Grund
aus zu ändern, nachdem an die Stelle der
hart merkantilistischen Abschliessungspolitik
der Einzelstaaten schon vom zweiten Jahr-
zehnt an die Grundsätze grösserer Be-
wegungsfreiheit getreten waren imd Deutsch-
land im Zollverein sich zu einem einheit-
lichen Wirtschaftsgebiet zusammengeschlos-
sen hatte, nachdem der Rückschlag der
Franzosenzeit endlich überwunden war.
Die sich kräftig entwickelnde Industrie
schuf jetzt in emigen Gebenden Deutsch-
lands, so besonders am Rhem imd im König-
reich Sachsen, ein immer stärker werdendes
Bedürfnis nach Getreidezufuhren, ein Be-
dürfnis, dessen Befriedigung der Ausbau der
neuen Verkehrsmittel, Dampfschiffahrt, Ei-
senbahn, Telegraphie, in sich stetig vervoU-
konminender Weise ermöglichte. Mittel-
d'eutschland (Hannover u. s. w.) hörte auf,
ins Ausland Getreide zu exportieren, da der
Eigenbedarf gestiegen war und die noch er-
zidten üeberschüsse ihren Weg nach West-
deutschland nahmen: nur der preussische
Osten und Teile von Silddeutschland blieben
noch Ausfuhrgebiete, dafür kam aber in
stark steigendem umfang Getreide aus Russ-
land und Oesterreich-Ungam in die Indus-
triegebiete Deutschlands hinein. In den
fünfziger Jahren wurde der Zeitpunkt er-
reicht, von dem an die Einfuhr an Roggen
ständig die Ausfuhr überstieg, und seit 1875
werden auch an Weizen ^Ijährlich mehr
Mengen ein- als ausgeführt; Deutschland
ist durch seine Bevölkenmgszunahme und
dmx^h die Entwickelung der Verkehrs-
mittel unlöslich in das Getriebe des Welt-
marktes verflochten, und wenn infolge-
dessen auch Hungei-snöte wohl nicht mehr
zu fürchten imd die Preise, mit den frühe-
ren Zuständen verglichen, sehr viel gleich-
massiger sind, so ist doch dadurch anderer-
seits der Einfluss der heimischen G^treide-
produktion auf die Preisbildung wenn nicht
ganz ausgeschlossen, so doch auf ein sehr
geringes Mass beschränkt worden.
Die Getreideausfuhr geriet ganz ins
Stocken, als der auf 3 und 5 Mark erhöhte
Zoll den Inlandspreis im Verhältnis zum
Weltmarkt hochhielt ; nur der Mühlenindus-
trie, der schon 1882 die Aufhebung des
Identitätsnachweises bewilligt wurde, gelang
es, die 1880/81 unterbrochenen Au^ands-
beziehungeu wieder anzuknüpfen und na-
mentiich für Roggenmehl, weniger für
Weizenmehl aufrecht zu erhalten. Erst seit
1894, seitdem auch bei der Ausfuhr von Ge-
treide nicht mehr der Identitätsnachweis
als Voraussetzung der Zollvergütung gefor-
dert wird, hat sich für das Rohprodukt
wieder ein regerer Verkehr zwischen den
östlichen Provinzen Preussens und England,
Holland, Skandinavien sowie zwischen Süd-
deutschland und der Schweiz entwickelt;
niedrige Ausnahmetarife der deutschen Bah-
nen sollen die Ausfuhr noch besonders för-
dern 1).
Von tiefgreifender Bedeutung für die Ge-
treidehandelsbeziehungen innerhalb Deutsch-
lands waren die sogenannten Getreide- und
Mehlstaffeltarife, die unter der Führung der
preussischen Staatsbahnen am 1. September
1891 auf den norddeutschen und den elsass-
lothringischen Eisenbahnen eingeführt wur-
den und für weitere Entfernungen ganz er-
hebliche Ermässigungen gegenüber den Nor-
malsätzen brachten^). Es gelang mit Hilfe
dieses Tarifs, ostdeutsches Mehl- und Brot-
getreide in grosser Menge nach Mittel- und
Westdeutschland zu überführen, während
andererseits besonders bayerisdier Hafer
sich ein weiteres Absatzgebiet in Nord-
deutschland eroberte: der Austausch zwi-
schen den einzelnen Gebieten Deutschlands
wurde also beträchtlich gefördert. Der
Tarif wurde jedoch, allem Anschein nach
zu Unrecht, von der west- und süddeutschen
Landwirtschaft und Müllerei für die niedri-
gen Preise der Jahre 1893 und 1894 ver-
antwortlich gemacht, und so wurde er leider
aus Anlass des russischen Handelsvertrags
auf Drängen der süddeutschen Regierungen
zum 1. August 1894 aufgehoben. Die so-
eben erst angeknüpften Handelsbeziehungen
mussten sich lösen, die üeberschüsse des
Ostens finden wieder nur wenig Abnahme
im zufuhrbedürftigen Westen.
2. Der Verkehr mit den Landwirten.
Der Getreideabsatz der Landwirte wird in
Deutschland wie überhaupt in der alten Welt
von einer Unzahl kleiner, in allen Städten
und Dörfern des platten Landes verteilter,
duix3haus nicht immer reell verfahrender
Händler beherrscht, die zu dem Landmann
ins Dorf und auf den Hof kommen, sein
Getreide aufzukaufen, und die ihn häufig
') Auf den preussischen Staatsbahnen werden
bei Auflfnhrgetreide für die Entfemangen über
lÜO km nur 1,43 Pfennige für 1 km anstatt
des regelmässigen Satzes von 4,5 Pfennigen er-
hoben.
') Während der Normalsatz für Getr^de
und Mehl 4,5 Pfennige für 1 tkm ist (Special-
tarif I), wurde nach dem Staffeltarif dieser Satz
nur für die ersten 200 km berechnet, für Ent-
fernungen zwischen 201 und 300 km aber nuir
3 Pfennige und darüber hinaus nur 2 Pfennige
für 1 tkm angestossen.
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
285
schon durch Darlehen an sich ^fesselt
hahen; auch die im Produktionsgebiet noch
ziüilreichen. in ihrer Existenz jedoch hart
bedrängten kleinen Handelsmühlen decken
ihren Bedarf zu gutem Teil unmittelbar bei
den Bauern ihrer Gegend. Der direkte
Verkehr zwischen den Produzenten und
Gross - Konsumenten (Grosshandelsmühlen,
Brauereien, Proviantämtern u. s. w.) ist da-
gegen trotz der auf seine Hebung gerichte-
ten Bemühungen der Staatsverwaltungen i)
nicht so entwickelt, wie man es im Inte-
resse der Landwirtschaft wünschen muss;
ihm stehen hauptsächlich entgegen die un-
endliche Mannigfaltigkeit der in Deutsch-
land dicht neben einander angebauten Sorten,
die erst durch den Händler zu einer ein-
heitlicheren Ware zusammengemischt wer-
den müssen, ehe sie in den Konsum über-
gehen können, und die Unfähigkeit der
kleineren Bauern, grosse Mengen auf ein-
mal zu liefern, sodann auch der Mangel an
Sorget, mit dem der Durchschnitt der
deutschen Landwirte das Korn zu reinigen
und zu sortieren pflegt, und die Unacht-
samkeit, mit der die Produzenten auf ge-
naue Uebereinstimmung von Probe und
Lieferung sehen, endlich und nicht zum
wenigsten das Kreditbedürfnis vieler Land-
wirte, das zwar der Händler, nicht aber
der Konsument zu befriedigen vermag.
Selbst der städtische Markt, auf dem früher
die Konkiurenz der kaufenden Händler,
MtUler, Bäcker imd sonstigen Stadtleute
wirksam hervortrat, wird jetzt nur noch in
wenigen Gegenden, besonders in Süddeutsch-
land, rege besucht; auch ihn beherrschen
jetzt die kleinen Aufkäufer und Handels-
müller, seitdem die Bäcker und Brotkonsu-
menten es vorziehen, das Fabrikat zu kaufen
anstatt das Rohprodukt in der Lohnmühle
auf eigene Kosten vermählen zu lassen.
Nur verhältnismässig wenige Grossgrund-
besitzer stehen in Beziehungen zu den
grossen Handelshäusern der Börsenplätze
und bedienen sich ihrer als Kommissionäre,
das Korn bestmöglich am Börsenorte selbst
oder in einer Bedarfsgegend unterzubringen.
Den nordöstlichen Provinzen Preussens
eigentümlich ist das Faktorenverhältnis *).
Der Faktor ist ein Händler, der in allen
Geschäften des Landwirts seine Hand hat;
er kauft das Getreide, liefert die Futter-
') Die Proviantämter sind angewiesen, den
direkten Bezug von den Landwirten nach Mög-
lichkeit zu bevorzugen; in Bayern kaufen sie
sogar am Prodnktionsorte selbst ein, wodorch
das Getreide fiskalisches Gut wird und eine
Frachtermässigung von 2b \ auf den Bahnen
geniesst (Böhm, die Komhftuser S. 89).
') Aehnliches, ohne den Namen, kommt
auch im Übrigen Deutschland vor, doch nicht
so allgemein.
und Düngemittel, besorgt die Versicherungen
als Agent der Gesellschaften, leiht die er-
forderlichen Barmittel und steht für jeden
beliebigen Bedarf seinem Auftraggeber zur
Verfügimg. Häufig ist er es nur, der durch
ein Därlehn nach dem anderen den Land-
wirt noch auf seiner Scholle hält, um nur
die Zinsen seines Kapitals zu erlusdten, bis
er schliesslich auf beides, auf Kapital und
Zinsen verzichten muss, da der Erlös der
Zwangsversteigerung seine Forderung in
der Regel nicht mehr deckt. Oft stehen
schon Generationen von Produzenten imd
Kaufleuten in diesem auf gegenseitiges Ver-
trauen fundierten Verhältnis. Doch hat sich
in den letzten Jahren unter dem Druck der
Preisverhältnisse eine Lockerung vielfach
bemerkbar gemacht, ohne indes zu einer
grösseren ^ufmännisdien Selbständigkeit
der Produzenten zu führen.
Der Krebsschaden im Getreideabsatz der
Landwirte ist der allgemein herrschende
leidige Brauch, den Getreideabnehmer zu-
gleich als Bankier zu benutzen. Er ist
hervorgerufen durch das Bedürfnis der
Produzenten, ihrem Geldbedarf, der wegen
mangelnden Betriebskapitals und infolge der
ständig sinkenden Reinerträge die Grenzen
des reinen Personalkredits übersteigt, die
gegenwärtigen und zukünftigen Erträge des
Feldes dienstbar zu machen, imd da die
Banken sich auf diese rechtlich nicht zu
bindende Sicherheit nicht einlassen können,
wenden sich 'die Landwirte an ihre Ge-
treidehändler, die sich aus dem Erlöse der
Erntemengen bezahlt machen. Die Folge
ist, dass von einer Konkurrenz mehrerer
Käufer nicht mehr die Rede sein kann und
der Verkäufer je nach der Höhe seiner
Schuld mehr oder minder (vor allem durch
unberechtigte Qualitätsbemängelungen) im
Preise gedrückt und dadurch immer tiefer
in die Abhängigkeit gestossen wird. Aber
nicht nur der Produzent wird durch diese
Darlehen seines Händlers niiniert, auch der
Gläubiger läuft grosse Gefahr, sein Geld zu
verlieren, und so haben sich in der That
eine grosse Anzahl angesehener Firmen nach
erheblichen Verlusten aus dem Getreide-
geschäft herausgezogen und das Feld skru-
pellosen Neulingen überlassen, denen der
Bankerott nichts Furchtbares ist; der Händ-
lerstand des Ostens sinkt allmählich immer
tiefer.
In West- und Mitteldeutschland macht
sich der starke Anbau des englischen
square-head-Weizens nachteilig geltend, der
zwar quantitativ einen höheren fkixag als
die alten deutschen Landweizen giebt, seines
geringen Klebergehalts wegen aber nicht
ungemischt zu backfähigem Mehl verarbeitet
werden kann. Die Klagen der Landwirte
über schlechte Absatzfähigkeit sind zu
286
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
grossem Teil auf diesen umstand zurück-
zuführen, und sofern eine Steigerung der
inländischen Produktionsmenge hauptsäch-
lich durch erweiterten Anbau dieser Sorten
bewirkt wird, macht sie jedenfallß eine Ein-
fuhr ausländischen "Weizens — besonders
der aus Südrussland und einige argentini-
sche Sorten zeichnen sich durch hohen
Klebergehalt aus — nicht nur nicht über-
flüssig, sondern der erforderlichen Mischung
wegen sogar in immer stärkerem Masse
notwendig. Im Osten und auch im Süden,
wo in den letzten Jahren der englische
Weizen ebenfalls Eingang gefimden hat,
macht sich die Schädigung in der Absatz-
möglichkeit noch nicht so stark geltend,
weü hier einstweilen noch daneben ge-
nügend Landweizen gebaut wird, mit dem
jene Sorten gemischt werden. Aber es ist
zu wünschen, dass der immer weiteren
Verbreitung des auf Mischung schlechthin
angewiesenen square-head-Weizens Einhalt
gethan wird.
Ueberall in Deutschland, vde auch in
den anderen Ländern, zwingt der Mangel
an Betriebskapital die Landwü'te, ihr Ge-
treide möglichst schnell nach der Ernte zu
Geld zu machen, um die Schuldzinsen und
Barlöhne bezahlen zu können; diesem Be-
dürfnis, das mit der Zunahme der Barlöh-
nungen sich steigert, kommt die Einführung
der Dampfdreschmaschinen nur allzu sehr
entgegen, und so ist regelmässig bald nach
der Ernte ein starkes Angebot des neuen
Produkts und folgeweise ein niedriger Preis-
stand zu beobachten, während von dem
späteren Steigen die Produzenten mangels
verkaufsfähiger Vorräte kaum einen Vorteil
haben; selbst über das Entbehrliche hinaus
wird nicht selten zur Beschaffung von Bar-
geld im Herbst und Winter verkauft, so
dass dann im Sommer wieder eingekauft
werden muss. Im Interesse der Landwirte
läge es aber, möghchst gleichraässig im
ganzen Jahr die verkaufsfähige Ware an
den Markt zu bringen und bis zum Verkauf,
da nun einmal das Kreditbedürfnis besteht,
sie in bankmässig geregelter Form ver-
S fänden zu können ; Voraussetzung dafür ist
ie Bescliaffung zuverlässiger Lagerräume
und die Errichtung von Lombanlienmgs-
stellen im unmittelbaren Bereich der Pro-
duktionsgebiete.
In den Preisen richtet sich der Klein-
verkehi» durchaus nach den Notierungen der
nächsten Provinzialbörse, im Osten früher
vielfach direkt nach Berlin. Die Abhängig-
keit geht teilweise so weit, dass im voraus
für alle Lieferungen als Preis die höchste
(in Berlin früher die für sogenannte Liefe-
rungsqualität höchste) Börsennotiz abzüglich
eines festen (der Fracht bis zum Börsenplatz
und einer früher nicht bedeutenden, seit
der Erschwerung des Termingeschäfts aber
vielfach erhöhten Risikoprämie entsprechen-
den, nach der durchschnittlichen Beschaffen-
heit der Lieferungen sich richtenden) Satzes
vereinbart wird. Die Provinzialbörsen haben
namentlich durch das Einstellen der Ber-
liner Preisnotierung an Einfluss gewonnen;
im unmittelbaren Geltungsbereich Berlins
sind an die SteUe der amtlichen Angaben
die privaten Nachrichten getreten, die fest
jeder Getreidehändler und Handelsmüller
täglich von Berliner Kommissionshäusern
erhält, die sich aber jeder Kontrolle ent-
ziehen, so dass die Abhängigkeit nament-
lich der ihrem Getreideabnehmer verschul-
deten Landwirte noch verschärft worden
ist. — Diese absolute Unselbständigkeit der
Preisbildung ist zu beklagen. Denn selbst
an der pössten Börse können vorüber-
gehende Mnflüsse und Machenschaften die
wirkliche Marktlage für kurze Zeit ver-
schleiern, ohne dass es deshalb berechtigt
ist, die Notierungen als falsch zu bezeichnen.
Die Landwirte sollten deslialb, ebenso wie
die Händler, die Börsennotiz nur als allge-
meine Richtschnur, nicht als absoluten Preis-
massstab für ihre Verkäufe benutzen.
Die Angaben der Centralnotiemngsstelle
der preussiscnen Landwirtschaftskammem kön-
nen, insoweit sie sich von den Notierungen der
Börsen und grossen Märkte selbständig halten
und auf einzelne thatsächlich abgeschlossene
Geschäfte sich beziehen, irgend welchen An-
spruch auf die Bezeichnung als Marktpreis
nicht erheben, ebensowenig wie die in den
Einzelstaaten schon lange und seit dem 1. Ja-
nuar 1897 auch von Reichs wegen an zahlreichen
Märkten polizeilich vorgenommenen Notierungen
auch nur den geringsten Wert haben. Denn
während an den Börsen tagtäglich grosse Men-
gen umgesetzt werden und ein Ueberblick über
nie wirkliche Preislage sich daher regelmässig
gewinnen lässt, ist schon der Verkehr, um von
den anderen Mängeln nicht zu sprechen, auf
den kleinen Märkten zu gering und unregel-
mässi^, als dass all die kleinen Momente, die
im Emzelfall den Kaufpreis mitbestimmen —
wie z. B. Kreditfähigkeit des Käufers, Schulden-
stand des Verkäufers, Zuverlässigkeit der Par*
teien, Grösse der verkauften Menge, Qualitäts-
unterschiede, Zeit und Ort der Ablieferung
u. 8. w. — und die begrifflich einen wesentlichen
Unterschied zwischen dem Vertragspreis des
einzelnen Geschäfts und einem Marktpreis be-
gründen, herausgeschält werden könnten. Sehr
bezeichnend für die Unfruchtbarkeit des gegen
die Börsennotiz geführten Kampfes ist, dass
die Centralnotiemngsstelle nach privaten Er-
mittelungen regelmässig eine Angabe über den
in Berlin für die frühere Liefemngsqualität er-
zielten Preis bringt.
Eine Besserung in der Absatzorganisation
ist von der Ausbreitung der Getreidever-
kauf sgenossenschaften zu erwarten. Denn
die Vereinigung ist imstande, den kleinen
Aufkäufer zu ersetzen und die Konkun^enz
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
287
der Abnehmer zu erwecken; sie vermag
den Verkehr mit den Grosskonsimienten zu
pflegen und wird auch ihre Mitglieder zu
einem mehr einheitlichen Anbau erziehen;
sie bietet endlich in ihren Lagerräumen
eine geeignete Grundlage für die Verpfän-
dung des Getreides und kann durch ein
Hand in Handgehen mit den Darlehnsge-
nossenschaften zugleich selbst als Lombar-
dienmgsstelle wirken ; in der Genossenschaft
treten die Landwirte als selbständige Kauf-
leute auf, die nach kaufmännischen Grund-
sätzen der Gegenwart, nicht in überlebten
Gewohnheiten der Vergangenheit den Ab-
satz ihres Hauptprodukts betreiben. Vor-
aussetzung für die Wirksamkeit der Ge-
nossensclmftsbewegung ist, dass es gelingt,
die von den Händlern abhängigen Landwirte
aus deren Fesseln zu befreien — die Ver-
kaufsvereinigungen bedürfen hierzu der Er-
gänzung durch Darlehnskassen und Kon-
sumvereine — , und dass geschäftskimdige
Männer, am besten Kaufleute, an die Spitze
gestellt werden (vgl. den Art. Korn-
speicher).
3. Der EffektivgrosshandeL Der Ge-
treidegrosshandel ist im Osten Inlands-,
Ausfuhr- und Transithandel. Im Inland
geht das östiiche Produkt zum Teil über
Stettin und die märkischen Wasserstrassen,
zum Teil unter Benutzung eines bis Berlin
geltenden Ausnahmetarifs i) mit der Eisen-
bahn nach Berlin und Mitteldeutschland.
Der Transithandel, den Memel, Königs-
bei^ und Danzig mit russischem Getreide
treiben, steht in scharfem Wettbewerb
mit dem Ausfuhrhandel der baltischen
Häfen Riga und Libau; ihn zu stützen,
hat der preussische Eisenbahnminister
im russischen Handelsveitrage (Schlnss-
protokoll zu Art. 19) auf einen Teil seiner
Tarifhoheit insofern vollständig verzichtet,
als die von Russland für die russischen
Bahnen eingeführten und etwa noch eiazu-
führenden Getreide- und Mehltarife ohne
weiteres auch für die zwischen der Grenze
und den genannten Häfen Preussens liegen-
den Staatsbahnstreeken Geltung erbeten
müssen. Es ist aber ein Unikum in der
Tarif politik aller Welt, dass die Frachtsätze
auf den Bahnen eines Staats von der Regie-
rung eines fremden Staats festgesetzt wer-
den, ohne dass jener erste Staat, obwohl In-
haber dieser Bahnen, dabei irgend mitzu-
reden hat; war es also auch sachlich be-
rechtigt, den deutschen Ostseehäfen möglichst
die Vorteile der russischen Tarifierung, die
') Dieser sogenannte Ostbahutarif enthält
bis zn 50 km den regelmässigen Satz von 4,5
Pfennigen für 1 tkm, auf weitere Entfemnngen
fällt er von 3,8 Pfennigen (zwischen 51 und
400 km) bis auf 3,2 km (über 650 km).
auf weite Entfernungen sehr niedrige Sätze
berechnet, für den Bezug russischen Getrei-
des zuzuwenden, so ist doch die Form, in
der es geschehen ist, die die Entscheidung
über die auf den preussischen Staatsbahn-
strecken für diese Sendungen zu erheben-
den Frachten in die Hand der russischen
Regierung legt, mit Recht getadelt worden,
wie es andererseits den inländischen Interes-
senten auch nicht verargt werden kann, dass
sie nun ebenso billige Sätze, wie sie dem
russischen G^etreide bewilligt werden müssen,
auch für sich beanspruchen.
Berlin ist für Getreide vollständig Ein-
fuhrplatz geworden, mu- die grossen Rioggen-
mühlen unterhalten noch eine lebhafte Aus-
fuhr ihres Fabrikats. Der Rohstoff kommt
von den üeberschussgebieten Deutschlands
und über Hamburg oder Stettin vom Aus-
land. Berliner Grosshändler betreiben auch
durch Agenten und Füialen einen regen
Handel nach anderen Teilen Deutschlands
und unmittelbar von Ausland zu Ausland.
— Die überragende Bedeutung Berlins für
den deutschen' Getreidehandel liegt aber
nicht so sehr in der Grosse des effektiven
Umsatzes — darin steht Mannheim nicht
nach — als vielmehr in der Entwickelung
seines Terminmarktes ; denn durch den Aus-
bau des besonders der Preisbildung dienen-
den Termingeschäfts (s. unten sub 4) hat
sich Berlin zum Mittelpunkt des deutschen
Getreidehandels aufgeschwungen , nach
dessen Preisnotierungen sich nicht nur das
gesamte Inland, sondern auch das Ausland
richtete. Durch die am 1. Januar 1897 er-
folgte Selbstauflösung der Berliner Produk-
tenbörse ist jedoch allem Anschein nach
diese Bedeutung nicht unbeträchtlich abge-
schwächt, und während vordem Deutschlands
Macht als Ein- und Ausfuhrgebiet, im Ber-
liner Terminhandel sich koncentrierend und
in der Berliner Preisnotiz sichtbar werdend,
für die Preisbildung des Weltmarktes von
unmittelbarem Einfluss war, sind jetzt
überall selbst im Inland die Preisnotierungen
von Chicago und New- York der Massstab,
nach dem der Handel sich richtet; die Ab-
hängigkeit des deutschen Getreidemarktes
vom Auslande, die man durch das Verbot
des Börsentenningeschäfts zu mindern
hoffte, ist eher noch grösser geworden.
Die Auflösung der Berliner Produktenbörse
ist nicht erfolgt wegen des im Börsengesetz
enthaltenen Verbots des börsenmässigen Termin-
handels in Getreide und Mehl. Denn wenn sich
auch wegen dieses Verbots, das die Grundlage
der Bedeutung Berlins berührte, eine begreif-
liche Errefifung der Berliner Börsenhändler be-
mächtigt hatte, so war doch schon im Herbst
1896 das sogenannte handelsrechtliche Liefe-
rungsgeschäft an die SteUe des Termingeschäfts
gesetzt worden, und es war noch abzuwarten,
ob dies nicht nach einiger Gewöhnung mit
288
Getreidehandel (Technik irnd gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
fleicbem Erfolge ^ehandhabt werden konnte;
ie Organisation einer grossen Börse war doch
zu wertvoll, um wegen des Verbots einer Ge-
schäftsform aufgegeben zu werden. Erst die —
nach dem preussischen Landwirtschaftskammer-
besetz allerdings unvermeidliche — Forderung
der preussischen Eegierung, in den Börsenvor-
stand Vertreter der branaenburgischen Land-
wirtschaftskammer, auch wenn sie nicht Mit-
glieder der Börse waren, aufzunehmen, führte
auf den Gedanken, dieser als unberechtigte
Massregelung empfundenen Vorschrift durch die
Auflösung der Produktenbörse zu entgehen;
man war um so mehr empört, als kurz zuvor
ferade von Mitgliedern der Landwirtschafts-
ammer heftige An^fie gegen die Richtigkeit der
früheren Börsenpreisnotierungen gerichtet wor-
den waren und sds in anderen Bunaesstaaten, für
die allerdings nur das Börsengesetz selbst mass-
febend war, die in den Börsenvorstand eintreten-
en Landwirte Mitglieder der Börsen werden
mussten. Die Auflösung wurde vollzogen, als
die Börsenordnung, die am 1. Januar 1897 in
Kraft treten sollte, am 30. Dezember 1896, also
nur zwei Tage zuvor und unabänderlich, mit
der verhassten Bestimmung vom Handels-
minister den Aeltesten der Kaufmannschaft
übersandt wurde. Zunächst war aber ein
Unterschied gegen den frt\heren Zustand im
Handel nicht zu bemerken. Denn im Feenpalast,
einem der Börse gegenüber gelegenen Verjg^nü-
gungslokal, kamen jetzt die Früheren Mitglieder
der Produktenbörse unter einer freieren Ver-
einsorganisation zusammen, und es wurden an-
fangs auch Preise unter der Autorität des Ver-
einsvorstandes notiert; als dies dann, um jeden
Anschein einer Börse zu vermeiden, eingestellt
wurde, traten private und Zeitungsnachrichten
über die Preise an die Stelle der Vorstandsnotiz,
die sich auswärts fast des gleichen Ansehens
erfreuten wie die frühere börsenamtliche Notiz.
Erst als die Vereinigung der Berliner Getreide-
und Produktenhändler die Forderung der Re-
gierung, den Feenpalastversammlungen auch
formell den Charakter einer Börse zu geben,
ablehnte und als das weitere Zusammenkommen
deshalb vom Berliner Polizeipräsidenten unter
Berufung auf § 1 des Börsengesetzes verboten
wurde, da trat am 12. Juni 1897 eine grund-
sätzliche Aenderung ein: die Händler mieteten
einzeln oder in Gruppen ie ein Zimmer im
früheren Hospital zum Heiligen Geist (daher
die Bezeichnung Spittelbörse), von wo ans sie
zu bestimmten Tagesstunden den persönlichen
Verkehr pflegten ; jede Form einer Organisation
wurde vermieden, und die Veröffentlicnung von
Preisübersichten wurde verhindert. Seitdem
erhalten die auswärtigen Interessenten nur noch
durch Privatmitteilungen ihrer Berliner Ge-
schäftsfreunde Kenntnis von den Preisen, das
grössere Publikum und die Oeffentlichkeit ist
auf unkontrollierbare Angaben einiger Zeitungen
angewiesen, Berlins beherrschende Macht hat
sich zu gutem Teil verflüchtigt. — Inzwischen
ist die Verfügung des Polizeipräsidenten, die die
Feenpalastversammlungen verbot, vom Oberver-
waltungsgericht bestätigt worden, und in der
That lässt sich weder die Börseneigenschaft
dieser Zusammenkünfte noch die Absicht des
Börsengesetzes, derartige Versammlungen als
Börsen der Staatsaufsicht zu unterwerfen, be-
streiten. Denn ein Markt wird dadurch zur
Börse, dass ausschliesslich vertretbare Sachen
dort gehandelt werden, dass hauptsächlich Kauf-
leute unter einander verkehren, dass höchstens
Proben mitgebracht werden und dass der un-
mittelbare Einfluss der dprt abgeschlossenen
Geschäfte weit über den Kreis der Beteiligten
hinausragt') — alles dies traf bei den Feen-
palastversammlungen ZU; die Verfootsnatur des
§ 1 Abs. 1 des Börsengesetzes ergiebt sich aber
unverkennbar aus der Absicht des Gesetzgebers,
den au den Börsen bisher koncentrierten, für
das Wirtschaftsleben des Volkes so wichtigen
Handel unter staatliche Regelung und Aufsicht
zu stellen. Nicht schlüssig ist aber die Beweis-
führung des Oberverwaltungsgerichts, wenn es
nun aus allgemeinen Polizeibefugnissen das
Recht der Polizeiverwaltung herleitet, solche
ungesetzlichen Börsen zu verbieten; dasselbe
Gericht hat in anderen Entscheidungen es ab-
gelehnt der Polizei die Sorge für die Erfüllung
aller öffentlichrechtlichen Gesetze ohne weiteres
zuzusprechen, ihre Befugnis vielmehr auf die
Aufrechterhaltung der äusseren Ordnung be-
schränkt, und es liegt deshalb allerdings im
§ 1 des Börsengesetzes eine lex imperfecta vor.
Im Westen sind die 'wichtigsten Plätze
Duisburg, von wo aus das rheinisch-west-
fälische Industriegebiet mit dem erforder-
lichen Brotkorn versehen wird, Frankfurt,
das einen regen Handel nach Bayern hinein
treibt, und vor allem Mannheim, das den
ganzen Südwesten und Süden Deutschlands,
die Schweiz und Ostfrankreich unmittelbar
beherrscht und durch ein weites Netz von
Zweiggeschäften und Agenturen am Ge-
treideverkehr aller Länder beteiligt ist*). —
Ist für den Kleinverkehr die Zersplitte-
rung bezeichnend, so macht sich im Gross-
handel Deutschlands wie der Welt eine
starke Koncentrationsbewegung geltend, die
in Deutschland noch beschleunigt worden
zu sein scheint, seitdem die Erschwerung
des Termingeschäfts die grossen Handels-
häuser begünstigt, die im umfange des
eigenen Geschäfts die Versicherung gegen
Verluste finden und daher der im lebhaften
Terminhandel gegebenen Möglichkeit, das
Risiko abzuwälzen, nicht bedürfen. Beson-
ders die sehr kapitalkräftigen Importeure
Berlins und der Rheinhäfen verdrängen all-
mählich immer mehr die kleineren Händler,
die das Risiko eines Seetransportes nicht zu
übernehmen vermögen, und drücken sie zu
Agenten, Terminkommissionären und Mak-
lern herab. Im Osten ist diese Bewegung
') Dass eine amtliche Preisnotiz kein
Begriffsmerkmal ist, zeigt am deutlichsten die
Hamburger Börse, an der keinerlei Preise bör-
senamtlich notiert werden, die Notierungen
vielmehr von den für jeden Handelszweig be-
stehenden Interessenten Vereinigungen besorgt
wird : den Einfluss festzustellen, ist Thatfrage.
*) Die rechtliche Organisation der deutschen
Getreidebörsen s. im Art. Börsenrecht oben
Bd. II S. 980 flf.
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
289
noch nicht so weit vorgeschritten ; hier fehlt
es an reichen Getreidekaufleuten, auch er-
fordert der Betrieb des Inland- und des
Exporthandels weniger Kapitalien als der
sich über die ganze Erde verbreitende riesen-
hafte Importhandel. und die kleinen Händler
helfen sich hier bei fallenden Preisen durch
eine Erhöhung der vom Landwirt zu tragen-
den Eisikoprämie, durch eine Preiserniedri-
gung.
AVährend man im Ortsverkehr, um jede
nicht unbedingt notwendige Spese zu er-
sparen, möglichst alle Mittelspersonen ver-
meidet, wird der Handel von Ort zu Ort
zum weitaus grössten Teile durch Agenten
vermittelt Besonders in den Beziehungen
zum Auslände, im Export- und Import-
handel, sind diese Hüfski'äft« gar nicht zu
entbehi'en ; sie kennen die örtlichen Verhält-
nisse, finden leichter den passenden Käufen
oder Verkäufer, und auch mancher Streit
winl durch eine mündliclie Aussprache im
Keime erstickt, es werden Korrespondenz-
spesen gespart. Früher war London der
Platz, wo die Agenten aller Exporteure und
Importeure sich •zusammenfanden; jetzt
haben Liverpool und Antwerpen einen Teil
dieser Vermittelung an sich gezogen, und
vor allem gi^eift bei den Exporteiu^n das
Bestreben' um sich, in den Bedarfsgegen-
den selbst vertreten zu sein. So finden wii*
jetzt in allen grossen Importplätzen Deutsch-
lands Agenten der ausländischen Kaufleute,
die unter Umgehung von London direkt
mit diesen verkehren. Einige wenige
deutsche Firmen haben im Auslande, m
Russland und Argentinien, Einkaufsfilialen
errichtet. —
Die Formen des deutschen Getreidegross-
handels sind die des Welthandels. Man
verkauft loco, auf Abladung, roDend oder
schwimmend, auf Lieferung.
Der Exporteiu" verschliesst in der Regel
auf Abladimg, d. h. er verpflichtet sich,
innerhalb bestimmter Frist das Getreide zu
verladen und abzusenden ; die Gefahren des
Transports und eines Preisrückgangs trägt
dann der Käufer, der sie auch seinerseits
schleunigst durch Weiterverkauf (auf Ab-
ladung, schwimmend öder auf Lieferung je
nach dem Zeitpunkt dieses Geschäfts) abzu-
wälzen sucht Selten verfrachtet ein Händ-
ler unverkauftes Getreide, und dann sucht
er es wenigstens unterwegs (schwimmend,
rollend) abzusetzen ; Konsignationsware, d. h.
Korn, das erst nach der Ankunft verkauft
werden soll (arrived), erscheint immer sel-
tener auf dem Markte und auch nur in
London, nie auf deutschen Plätzen.
Hat der Käufer zufällig günstige Ver-
frachtungsgelegenheit in dem Ausfuhrhafen,
80 kauft er auf Abladimg fob (free on board) ;
er bestimmt dann das Schiff und hat Fracht
und Versicherung zu tragen. In der Regel
wird aber — sowohl auf Abladung wie
schwimmend — cif gehandelt; der Ver-
käufer hat dann ausser der Ladung (cost)
auch die Versicherung (insurance) und die
Fracht (freight) bis zum Bestimmungshafen
zu tragen» Dieser- Hafen wird entweder
sofort endgiltig angegeben (cif Rotterdam
z. B.), oder das Schiff soll erst unterwegs
ihn in einem sogenannten Orderhafen (port
of call, df for order Gibraltar z. B.) erfah-
ren. Durch diese Orderstellung ermöglicht
sich der Käufer eine freiere Disposition, da
die Häfen so gelegen sind (die üblichen
sind Gibraltar, Funchal, südenglische Küsten-
plätze), dass jedes Bedarfsgebiet von ihnen
aus ohne Umweg eiTcicht werden kann.
Natürlich kann aber nur cif for order ge-
liandelt werden, wenn eine ganze Schiffs-
ladung (cargo) verkauft wird; sobald Teil-
ladungen (parcels) verschlossen werden,
muss sofort der Bestimmungshafen genannt
sein, da der Rest der Ladung berücksichtigt
werden muss, und es wäre seltener Zufall,
wenn alle die aus den verschiedensten
Waren bestehenden parcels auch vom Order-
hafen aus an den gleichen Platz dirigiert
würden. Mit dem Zunehmen fester Dampfer-
linien und den wachsenden Gehalt der
Schiffskörper (bis zu 4000 Tonnen) nimmt
aber auch der Handel in parcels allmählich
zu. — Sofort nach Abgang des Schiffs
werden dem Käufer mit der Post das Kon-
nossement und die Versicherungspolice samt
einer grösseren Probe übersandt; gegen
ihren Empfang ist bar der Betrag der vor-
läufigen Rechnung zu bezahlen. Etwa sich
nach Ankunft der Ladung ergebende Diffe-
renzen sind besonders zu begleichen. Die
Papiere vertreten die Ladung und wandern
nun von Hand zu Hand.
Die Hauptschwieri^keit bietet dem Ge-
treidehandel die Qualitätsbestimmung. Ei-
nerseits will der Käufer wissen, was für
Ware er zu erwarten hat; auf der anderen
Seite muss telegraphischer Abschluss des
Vertrages mörfich sein, imd dies Moment
der Schnelligkeit ist im heutigen Welthandel
von so entscheidender Bedeutung, dass ein
Handel nach Individualprobe von Ort zu
Ort überhaupt nicht mehr vorkommt Enl^
weder werden Typrauster zu Grunde ge-
legt, die nur ungefähr die Qualität des zu
liefernden Getreides angeben und von den
Exporteuren ihren Agenten zugesandt und
je nach Bedarf fortlaufend ersetzt und er-
gänzt werden. Oder aber man greift zu
ganz allgemeinen Bestimmungen und ver-
kauft Durchschnittsqualität der letzten Ernte
oder der Verschiffungen des Abladungs-
monats; bei stark schwankenden Qualitäten,
wie sie das russische Getreide zeigt, pflegt
man noch das Mindestgewicht zu bezeich*
Handwörterbuch der StaatowiBsenschaften. Zweite Auflage. IV.
19
290
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
nen *). Nordaraerikanisches Koni wird nach
der Elevatorgradierung gehandelt.
Es ist selbstverständlich, dass diese
mangelnde Bestimmtheit der Qualitätsbe-
zeichnung zu zahlreichen Streitigkeiten An-
lass giebt, imd in jedem Eontrakt findet
sich daher eine Yereinbarung über die Be-
gutachtung durch Sachverständige; nur für
nordamerikanisches Korn gilt schlechthin
das Certifikat des Getreideinspektors (eines
Börsen- oder Staatsbeamten) als beweisend.
Die Arbitration ist im übrigen freundschaft-
lich — dann ernennt jede Partei einen
Sachverständigen — oder amtlich. Für die
amtliche Begutachtung, die stets eintritt,
wenn die Qualität nach irgend welchem
Durchschnitt bezeichnet ist, wird auch
heute noch meist London gewählt; hier
kommen die grössten Mengen aus aller
Herren Länder zuerst zusammen, und der
Londoner Getreidehändler ist daher der ge-
eignetste Sachverständige, auch wewien hier
möglichst bald nach jeder Ernte Standard-
muster angestellt, die eine relativ feste
Grundlage für die Beurteilung bilden. Na-
türlich wird über die Sachverständigen sehr
geklagt, der unterliegende Teil fühlt sich
bekanntlich stets benachteiligt ; aber man
hat bisher noch nichts Besseres gefunden.
Fehlerhaft ist aber in der Tlmt, dass
die Certifikate der nordamerikanischen Ge-
treideinspelctoren im Importlande schlecht-
hin unanfechtbar sind; die Grade sehen in
jedem Elevator thatsächlich besonders aus,
und auch aus demselben Speicher kommt
nicht immer die gleiche Qualität untei^ der
gleichen Bezeichnung; hier müsste das Ur-
teil ganz unparteiischer, grosse Gebiete
überblickender Sachverständiger, wie sie
die Getreideinspektoren nicht sind und nicht
*) Das Qualitätsgewicht bezieht das Gewicht
auf ein bestimmtes Hohlmass. In Dentschland
wird es ietzt meist in Gramm auf ein Liter
aasgedrückt, in Südnissland in Pud (16,88 kg)
und Pfund (0,41 kg) auf ein Tscbetwert (2,1 hl),
in den baltischen Häfen nach der sogenannten
holländischen Probe in holländischem Troypfnnd
(492,2 g) auf einen Zak (83,44 1), in England
nach englischen Pfunden ((),4ö kg) auf einen
Quarter (2,91 hl), in Oesterreich-TJngarn und in
Prankreich in Kilogramm auf ein Hektoliter.
Eine einfach durch Multiplikation gewonnene
Beduktion der verschiedenen Masse auf einen
Massstab, etwa das Litergramm, führt jedoch
nicht zu vergleichsfähigen Zahlen, da in einem
kleinen Gefäss die Dichtigkeit geringer ist als
in einem grossen, und so muss man z. B. nach
den Untersuchungen der Normalaichungskom-
mission die Angaben in Grammliter, um sie in
Eilogrammhektoliter auszudrücken, nicht mit
100, sondern bei Weizen mit 101,036 und bei
Roij:gen mit 101,047 multiplizieren (Lexis, allge-
meine Technik des Getreidehandels, im H. d.
St.W., I. Aufl., Bd. 3, S. 867).
sein können, anzurufen sein. London eman-
cipiert sich daher auch mehr und mehr von
dieser Gradierung, Deutschland ist noch ab-
häogig; überall wehrt man sich jedoch
gegen eine Erweiterung des amerikanischen
Systems, wie sie z. B. von Argentinien aus
erstiebt wird (Goodwin certificate nach dem
Kaufmann und Speicherbesitzer Goodwin),
weil dabei die Interessen der Einfuhrgebiete
nicht gewahrt werden.
Der Importeur, der so auf Abladung
oder schwimmend gekauft hat, verkauft
unter derselben Qualitätsbezeichnung ent-
weder auch wieder auf Abladung oder
schwimmend, oder aber — und das ist
wegen des dabei zu erzielenden höheren
Preises die Regel — er berechnet ungefähr
die Ankimft des Schiffes und verkauft auf
Lieferung zu dieser Zeit, sich eine Span-
/lung von 1 oder 2 Monaten lassend. Ist
das Getreide endlich, mehrere Wochen nach
Abgang des Dampfers, mehrere Monate
nach dem des Seglers, angekommen, so
wird es meist nach Probe weitergehandelt;
vor allem die Konsumenten lassen sich nicht
auf eine allgemeine (^ualitätsbestimmung
ein. —
Die Bezugsquellen wechseln je nach dem
Ausfall der heimischen und der ausländi-
schen Ernten. Im allgemeinen ^kommen
wir Weizen aus Eussland, den Balkanstaaten,
Oesterreich-Ungam, Nordamerika und Argen-
tinien (in seiner Exportkraft stark schwan-
kend, aber bei reichen Ernten infolge seiner
als Ausfuhrprämie wirkenden Papierwährung
alle anderen Gebiete unterbietend), bei
höheren Preisen auch aus Indien; Roggen
wird fast nur aus Russland und den Ballum-
staaten, in geringerer Menge aus Ganada
eingeführt; Russland liefert auch Futter-
gerste, Oesterreich Braugerste ; von steigen-
der Bedeutung wird die Maiseinfuhr aus
den Vereinigten Staaten von Amerika, neben
der noch die von den Baikaustaaten in Be-
tracht kommt ; das importierte Weizenmehl
stammt hauptsächlich aus Ungarn imd auä
den Vei-einigten Staaten von Amerika. —
Die Ausfuhr ist von Norddeutschland regel-
mässig nach Skandinavien und HollAnd
(Weizen, Roggen und die geringeren Mehle
aus beiden Arten), nach England (Weizen
und etwas Weizenmehl, Hafer und Gerste)
und nach Finland (geringes Roggenmehl)
gerichtet, während Süddeutschland nach der
Schweiz Gerste, Hafer, Weizen imd Weizen-
mehl in schwankenden Mengen ausführt.
4. Der TerminhandeL Niu: selten ge-
lingt es dem Importeur, für die eingekaufte
Ware, die doch von individuell, wenn auch
ziemlich allgemein bestimmter Beschaffen-
heit ist, einen Käufer zu finden; nicht
immer kann die Mühle, die einen grossen
Posten Mehl zu liefern übernommen hat,
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
291
sofort auch die entsprechende Menge Koms
der gewünschten Qualität sich erstehen.
Beide Teile müssen also das Risiko einer
Preisbewegung tragen, und dies hat zur
Einführung des Terminhand eis ^) ge-
führt, sobald der Umfang der Geschäfte die
Gefahr zu hoch für die finanziellen Ki'äfte
des einzelnen erscheinen Hess. Ein Tennin-
geschäft unterscheidet sich vom sogenannten
effektiven Lieferungsgeschäft dadurch, dass
mit Ausnahme des Preises aUe Bestand-
teile eines Kaufvertrages, besonders die
Qualitätsbestimmung, die Festsetzung der
Quantität und der Lieferungszeit, teils ab-
solut teils bis zu einem die einheitliche
Abwickelung garantierenden Grade der
Parteiwillkür entrückt sind. Dadurch ist
es ermöglicht, dass mit einiger Sicherheit
auf jederzeitigen Abschluss in beliebiger
Höhe gerechnet werden darf; Importeur
\md Müller können daher das Risiko ab-
wälzen, und da dies jeder weitere Beteiligte
auch thut, so verteilt sich die Gefahr auf
zahlreiche Schultern.
Hat sich der Importeur so den Preis
f sichert, so versucht er nunmehr einen
äufer für seine individuelle Ware zu finden.
Wenn irgend möglich, verwendet er diese
nicht zur Erfüllung seines Terminengage-
ments, da unnütze Transportkosten ent-
stehen und die Qualitätsfrage Schwierig-
keiten machen kann, er »deckt sich viel-
mehr den Termin ein«, d. h. er kauft zu
der ihm günstig scheinenden Zeit ein
gleiches Quantum auf denselben Lieferungs-
termin, wie er vorher verkauft hat, imd
übergiebt seinem Käufer nachher nur den
Kündigungsschein, den er von seinem Ver-
käufer erhält. Das Termingeschäft dient
nicht sowohl der Raumausgleichung, als
vielmehr der Preisbestimmung und ist die-
1'enige Geschäftsform, die am meisten der
ntemationalität des Getreidehandels ent-
spricht, sie aber auch am reinsten zum
Ausdruck bringt*). —
In Deutschland ist Berlin der einzige
Platz, an dem — in Roggen seit den 30 er
Jahren, in Weizen seit 1866 — Terminge-
*) Vgl. den Art. Börsen wesen oben Bd. II,
8. 1023, insbesondere 1047 ff., wo die allgemei-
nen Gesichtspunkte besprochen sind und die
Litterator verzeichnet ist.
') Der gegen das Termingeschäft gerichtete
Ansturm der Landwirte aller Länder hat hierin
seinen inneren Gnmd ; es wird dabei aber über-
sehen, dass die Intemationalität der Getreide-
preisbildnng nicht durch ein Verbot der sie er-
leicbtemden Geschäftsform ans der Welt geschafft
wird und dass sich Deutschland wegen der zu
grösserem Teü von der Industrie lebenden Be-
vOlkemngszunabme nicht vom Weltmarkt ab-
achliessen kann. Die sogenannte Baissetendenz
des Termingeschäfts ist nicht erwiesen.
Schäfte betrieben werden. Stettin, wo die
Geschäftsform sich zuerst herausgebildet
hat, musste seinen Verkehr an die
Hauptstadt abtreten, als diese dazu über-
ging; in Mannheim, wo der effektive, auf
naumüberwindung gerichtete Handel bei
weitem überwiegt, ist der 1888 unternom-
mene Versuch einer Einführung des Termin-
geschäfts erfolglos geblieben. Das Börsen-
gesetz mit seinem wunderhch geratenen
Verbot des Börsentermingeschäfts hat nur
insofern wirtschaftlich etwas geändert, als
das Privatpublikum sich jetzt wegen des
Fortfalls der Preisnotiz vom Getreidetermin-
geschäft fernhält und als auch — dies ist zu
bedauern — den Provinzialhändlern die Be-
nutzung dieser Preissicherung sehr er-
schwert ist Im übrigen ist aber das im
sogenannten Kontoriiaus zu Berlin, dem
früheren Hospital zum HeiUgen Geist, ge-
handhabte »handelsrechtliche Lieferungsge-
schäft« zwar kein Börsentermingeschäft im
Sinne des Börsengesetzes und daher nicht
verboten; — denn hierzu müssten die Ge-
schäftsbedingungen vom Börsenvorstande
festgesetzt sein und die Terminpreise börsen-
aratlich notiert werden, während die im
Kontorhaus zusammentreffenden Händler
jede börsenaiüge Organisation vermeiden — ;
es ist jedoch ebenso zweifellos ein Termin-
geschäft im wirtschaftlichen Sinne und nur
vielleicht, wenn man den Mangel jeglicher
Preisuotiz nicht für entscheidend hält, nach
§ 51 Abs. 2 des Börsengesetzes von der —
nicht mehr bestehenden — Börse ausge-
sclilossen. Denn in dem neuen Schluss-
schein, den die Vereinigung Berliner Pro-
duktenhändler ihren Mitgliedern zur frei-
wiUigen Benutzung vorgeschlagen hat und
der selbstverständlich ausschliesslich benutzt
wird, sind zwar »alle Börsengebräuche« aus-
drücklich ausgeschlossen; es ist aber die
Qualitätsbestimmung ^) , die Geschäftsab-
wickehing durch Dispositionsschein (früher:
Kündigungsschein), die Berechnung von Fehl-
gewicht, die Qualitätsentscheidung durch
bestimmte Sachverständige auch formell
durch Aufnahme entsprechender Vertrags-
bedingungen beibehalten, und wo der
Schlussschein Abweichungen zulässt^ wie
für die Vereinbarung der Quantität m an-
M Hiess es in den Börsenbedingangen:
lieferbarer Weizen muss ,,gnt, gesnnd, trocken»
frei von Darrgreruch sein (Kauh-, Knbanka- und
syrischer Weizen ausgeschlossen) und durch-
schnittlich 765 g pro Liter wiegen", so wird
jetzt „gesunder, trockener und fttr Müllerei-
zwecke gut verwendbarer (!) Weizen, weiss oder
rot (gelb) und wenigstens 755 g pro Liter wie-
gen" verkauft unter Ausschluss von Rauh-,
Kubanka-, syrischem, egyptischem und Laplata-
Hartweizen. sowie von künstlichen Mischungen
weissen und roten (gelben) Weizens.
292
öetreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Deutschland)
deren Mengen als dem Vielfachen eines
Einheitsschlusses ^) und in den Yerzugsbe-
stiramungen 2), da hat die Macht der Ge-
wohnheit und das materielle Interesse an
Einheitlichkeit, wie auch der stark erregte
Korpsgeist dafiir gesorgt, dass thatsächiich
auch in diesen Beziehungen das Geschäft
in den alteingefahrenen Gleisen geführt
wiitl %
Der Yerkehr mit den auswäiügen Händ-
lern wird nach vde vor durch die Berliner
Kommissionäi*e unterhalten, die alltäglich
an ihre Kunden imd Agenten sogenannte
Anstellungen senden, d. h. Verzeichnisse
der Preise, zu denen der Kommissionär
Lieferimgskäufe und -verkaufe abzuschliessen
bereit ist. Auf die Einzelheiten des Kom-
misssionsgeschäfts einzugehen, fehlt es an
Baum ^).
5. Die Transport- nnd Lagereinrich-
tnngen. Der Transport des Getreides voll-
zieht sich überwiegend zu Wasser; die
Kosten sind so erheblich geringer als bei
der Landbeföinlerung, dass diese füi* grosse
Entfernungen ganz ausgeschlossen ist. Nur
so lange bei kleineren Wegen die Spesen
des Eisenbahntransports die Wasserfracht
nur wenig übereteigen, wird wegen der
grösseren Sicherheit und Pünktlichkeit der
Landweg noch vorgezogen.
Bei beiden Verkehiismitteln sind die Be-
förderungspreise mit der Ausdehnung der
Eisenbalinen und der Dampfschiffalui: stark
gesunken, und die vernichtende Wucht der
* überseeischen Konkurrenz beruht nicht zum
geringsten Teile auf dem Fallen der Trans-
portspesen. Kostete doch (nach Soetbeer
m Jalirb. f. Nat. u, Stat, 3. Folge, Bd. 11)
eine Tonne Weizen von New- York nach
Liverpool zu befördern im Durchschnitt der
Jahre 1873/75 noch 30,68 Mark, 1891/95
dagegen nur 7,90 Mark. In den letzten
Jahren wurde für eine Tonne Getreide
durchschnittlich gezahlt (nach dem Bericht
der Mannheimer Handelskammer für 1898):
^) Auch letzt mu8s aber der Verkäufer dem
Käufer die Dispositionsscheine über je öO t,
eventaell einen über den Best ausstellen. —
Der frühere Schluss betrug 50 t.
*) Es kann Gewährung einer Nachfrist ge-
fordert werden; der handelsrechtlich gestattete
Rücktritt des anderen Teils ist aber vertrag-
lich ausgeschlossen.
') lieber die Einzelheiten vgl. eine auf per-
sönlichen Erkundigungen beruhende, demnächst
erscheinende Arbeit von Goldenbaum, der Ge-
treideterminhandel in Berlin seit dem Erlass
des Reichsbörsengesetzes (Göttinger Doktor-
dissertation).
*) Y^\. Wiedenfeld, der deutsche Getreide-
handel, m Jahrb. f. Nat. u. Stat., 3. Folge,
Bd. VII, und Wiedenfeld, die Börse in ihren
wirtschaftlichen Funktionen und ihrer recht-
lichen Gestaltung vor und unter dem Börsen-
gesetz (1898).
nach Rotterdam
von
Ostsee . . . .
Schwarzem Meer
New-York . .
La Plata . . .
Indien . . . .
1894 1895 : 1896 1 1897 i 1898
Mark
6,02
11,17
9,88
18,87
21,10
6,49
12,35
11,12
16,79
20,50
6,65
11,61
10,72
15,25
12,16
5,95
9,25
12,85
12,65
11,95
5,60
10,70
14,40
15,85
17,95
Die Rheinfracht Rotterdam - Mannheim
betrug fftr eine Tonne
1894 3,775 M.
1895 4,565
1896 3,73
1897 3,78
1898
n
n
4.225
Die Eisenbahnfracht bewegte sich (nach
Berlin und seine Eisenbahnen, 1896) auf
den wichtigsten nach Berlin führenden
Bahnen im Jahre 1846 zwischen 7,4 und
16,9 Pfennig für ein Tonnenkilometer; jetzt
ist sie allgemein auf den deutschen Bahnen
auf 4,5 Pfennig festgesetzt, Ausnahmetariie
gehen bis auf 1,45 Pfennig herunter. Der
Normalsatz ist dabei immer noch so hoch,
dass für den Betrag, der von New-York
nach Rottenlam erhoben wird, nur etwa
300 km Eisenbahn zurückgelegt werden ;
weitei^ Ermässigungen werden aber durch
den Interessengegensatz zwischen Ost- und
West-Süddeutschland , wie sich bei den
Staffeltarifen schon gezeigt hat, hintange-
halten.
Die Befördeining geschieht auf dem
Wasser überwiegend in loser Schüttung,
während auf der Bahn fast ausschliesslich
noch Säcke benutzt werden; nur russisches
Getreide kommt gelegentlich einmal auch
auf dem Bahnwege in loser Schüttung an;
besonders für diese Transportart eingerich-
tete Wagen, wie sie die Bahnen der Yer-
eijiigten Staaten von Amerika und auch
Russland dem Getreideverkehr stellen, sind
in Deutschland nicht üblich. —
Die Speichereinrichtungen lassen
im Osten Deutschlands, selbst in Berlin viel
zu wünschen übrig, während sie im Westen,
vor allem in Hamburg und am Rliein allen
Anforderungen entsprechen. Im Osten sind
es, infolge des Kapitalmangels, noch die
alten Speicher, in aeren Stockwerke jeder
Sack durch eine Winde emporgehoben und
horizontal dann durch Menschenhände fort-
bewegt wird. In Berlin finden sich zwar
die neueren Transporterleichterungen wie
Elevatoren und Bänder; aber keiner der
Speicher liegt gleichzeitig an Bahn und
Wasser. Im Westen sind dagegen gross-
artige Bauten aufgeführt, die von den
Stadtverwaltungen oder besonderen Lager-
Qetreidehan(iel(Technik und gegenwärtige Gestaltung ; Deutschland — Vereinigte Staaten) 293
hausgesellschaften gegen geringe Gebühren
jedermann zur Einlagerung zur Verfügung
stehen und vom Wasser wie von der bahn
gleich gut zu erreichen sind. Am Bhein
bestehen auch einige Silospeicher, d. b.
Speicher, in denen das Gretreide in hohen
Schachten fest verschlossen aufbewahrt und
nur in bestimmten Zwischenräumin durch
ümschachten gelüftet wird. Der Lagerhaus-
besitzer ist aber stets nur Verwahrer des
Getreides, er hat nicht wie die amerikani-
schen grain-elevator-oompanies das Ver-
fOgungsrecht über die eingelagerten Mengen
und darf daher auch nicht die Quanten ver-
schiedener Einlieferer durcheinander mischen.
Dadurch geht der Hauptvorteil der Silo-
lagenmg, die Raumausnutzung, leicht ver-
loren; denn nicht immer reicht die einge-
lagerte Menge aus, einen ganzen Schacht
zu füllen. Auch an einer guten Reinigimg
und Ausgleichung des Getreides hat der
Lagerhausbesitzer kein Interesse; er steht
dem Einlieferer durchaus anders gegenüber
als der amerikanische elevatorman : jener ist
Beauftragter, dieser Käufer. Der Erlass
eines Warrantgesetzes, wodurch dem I^ager-
hausschein der Chai-akter eines die Ware
vertretenden Traditionspapiers beigelegt und
dem Lagerhaushaiter das Verfügungsrecht
über den eingelagerten Einzelposten gegeben
wird, steht noch aus.
Litteratur: Sonndcrfet*, Technik des Welt-
Handels , Wien und Leipzig 1899. — FuchSj
Der englische Getreidehandel (in Jahrb. f. Not.
u. Slat. y. F. XX). — Die Materialien der
^örsenuntersuchungskommission, vor allem die
Protokolle über die Sa^chversUlndi^jenvernehmungen,
Sitzvng SS— 47 und 5S— 56. — Weber, Börsen-
enquete (in Zeitschr. f. ges. HandeUrecht, Bd. 4S).
— Wiedenfeld, Der deutsche Getreidehandel
(in Jahrb. f. Not. u. Stat. S. Folge VII, Termin-
und Kommissionsgeschäft; IX. Getreideabsatz
der Landwirte und Effektirgrosshandel). —
BorgiuBf Mannheim und die Entwickelung des
südtr estdeutschen Getreidehandels (Volksir irisch.
Abhandlungen der basischen Iloclischulen, Bd. 11,
Heft 1, 1899). — Wied^enfeldf Deutschlands Ge-
treidehandel und Getreidepreisbildung im 19.
Jahrhundert (in Jahrburh /. (res. u. Venealt.
1900 Heft 2). — Handelskammerberichte, bes.
Berlin, Mannheim und Frankfurt. — J, Meyer,
Berichte über den Getreide-, Gel- und Spiritus-
handel in Berlin und seine intenmtionalen Be-
ziehungen (alljährlich). — Vgl. auch die Litteratur-
angaben in den Artikeln über Börse.
K. Wiedenfeld,
B. Getreidehandel in den Vereinigten
Staaten.
Einleitung. 1. Die Handelsplätze. 2. Die
Gmndzüge der Organisation. 3. Das Lager-
hanswesen. 4. Die Gradiemng des Getreides.
5. Die Lagerscheine. 6. Die Vorratsstatistik.
7. Die Missstände in der Getreidehandelsorga-
nisation. 8. Eeform versuche .
Einleitimg. Die Kulturperiode, welche
mit der Einfü&ung der Dampfechiffe, Eisen-
bahnen und Telegraphen anbrach, stellte dem
Getreidehandel die Aufgabe, die neuen Ver-
kehrsmittel für das Nalirungsbedürfnis der
Menschheit vollständig nutzbar zu machen.
Es handelte sich darum, eine konrnaerzielle
Technik und Organisation zu finden, welche
die üeberf ührung der voluminösen Brotstoffe
von den fernsten rroduktionsgebieten nach den
dicht bevölkerten Teilen der Erde mit höchst-
möglicher Schnelligkeit und geringstmög-
lichem Aufwände gestatteten. Begreiflicher-
weise ist diese Airfgabe am vollkommensten
in demjenigen Lande gelöst worden, dessen
Civilisation — im grössten Teile seines heute
besiedelten Gebietes — ei*st diu-ch die Eisen-
bahnen geschaffen worden ist, in Nordame-
rika, wie die nordamerikanische Bevölke-
rung mit ausserordentlichem wirtschaftlichen
Scharfsinn die räumliche Anordnung ihrer
Ansiedelungen, die Bodenkultur und indus-
trielle Verfassung, so hat sie auch die For-
men und Hilfsmittel ihres Handels und des-
sen w^ichtigsten Zweiges, des Getreidehan-
dels, den eigentümlichen diurch das moderne
Verkehrswesen geschaffenen Bedingungen
auf das genaueste anzupassen gewusst.
1. Die Handelsplätee. Die wichtigsten
binnenländischen Sammelpunkte für die Bo-
denerzeugnisse des atlantischen Nordamerika
sind Chicago am Südwestende der grossen
Seeen und St. Louis am Zusammenfluss
des Missoiui und Mississippi. Aber mit den
Ansiedehuigen nicken auch die Märkte weiter
nach Westen. Duluth am Oberen See,
St. Paul - Minneapolis , die Mühlendoppel-
stadt an den Fällen des oberen Mississippi,
Kansas City am Missouri beeinträchtigen
inrnier mehr ihre älteren Konkurrenten, in-
dem sie die Getreidezufuhren der Produk-
tionsgebiete abfangen und in durchgehenden
Transporten nach den Bevolkerungscentren
und Exporthäfen im Osten imd Süden be-
föi-dern. Die beiden erstgenannten Plätze
haben Chicago im Weizenhandel wälirend des
letzten Jahrzehntes bereits weit überflügelt.
Neun Zehntel der westlichen Getreideüber-
schüsse bewegen sich in östlicher Richtung
(nach Monti*e?ü, Boston, New- York, Phila-
delphia, Baltimore), davon die Hälfte nach
New-York, Vio geht auf oder entlang dem
Mississippi nach New-Orleans.
Eine Sonderstellung nimmt vermöge
ihrer geographischen Lage und klimatischen
Verhältnisse die Pacificküste ein (s. u. am
Schluss). Ihre bedeutenden Getreideüber-
schüsse werden in Portland (Oregon) und
San Francisco gesammelt und von da fast
ausschliesslich auf dem Wasserwege um das
294 Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Vereinigte Staaten)
Cap Hörn den amerikanischen und euro-
päischen Importgebieten zugeführt.
2. Die Grnndzlige der Organisation.
Nichts fördert die Anknüpfimg dauernder Han-
delsbeziehungen nach fernen Märkten mehr als
die Feststellung bestimmter auf allen mass-
gebenden Börsen bekannter Handelsmarken,
die Aufstellung einer festen Skala von Sor-
ten. Derartige Welthandelsmarken entheben
der Notwendigkeit, nach Probe zu kaufen,
die Bezeichnung der Gattung genügt, um
die Lieferung einer bestimmten Qualität
sicher zu stellen.
Im atlantischen Nordamerika ist nun,
begünstigt durch die ungemein gleichförmi-
gen Produktionsbedingungen in den Getreide-
Exportgebieten des mittieren und nördlichen
Mississippibeckens und den angrenzenden
canadischen Prärieen, die Scheidung des in
den Handel kommenden Getreides in eine
verhältnismässig geringe Zahl von Typen
mit einer Folgerichtigkeit durchgeftlhrt wie
nirgendwo sonst. Jede der oben erwähnten
binnenländischen Handelsstädte hat ihre be-
stimmten »Getreidegrade«, und die ent-
sprechende Sortierung ergreift alles in dem
ihr tributären Gebiete zum Absatz gelan-
gende Getreide von dem Augenblicke an,
wo es die Hände des Farmers verlässt.
Diese Einrichtung klärt den Markt, verein-
facht die Verkehrsformen und gestattet
einen überaus prompten Massenabsatz nach
den entferntesten Gegenden der Erde. Die
konsequente Durchführung der Sortierung hat
aljer auch zu einer sehr beträchtlichen Er-
leichterung und Verbilligung der Lagening,
Fortbewegung, Reinigimg ete des Getreides
geführt.
Alle diese Vorteile ergeben sich daraus,
dass erst durch die Sortienmg die Ge-
treidekömer die Natur einer wahrhaft
fungiblen Ware gewinnen, deren einzelne
Exemplare imter sieh völlig gleichartig
und vertretbar sind. Die gleichen Sor-
ten werden ohne Rücksicht auf den
Eigentümer wie Flüssigkeiten zusammenge-
worfen. An die Stelle der individuell be-
zeichneten und jedesmal vom Uebernehmer
zu prüfenden Ware treten im Handel An-
weisungen (Lager- oder auch Ladescheine),
lautend auf eine bestimmte Menge Getreide
von einer Qualität, welche durch die Zuver-
lässigkeit der klassifizierenden Organe ge-
sichert erscheint. Weder beim Ab- oder
Einladen noch beim Transport, Einlagern
oder Abwiegen, nirgendwo in der That, so-
lange die Getreidekörner im Handel bleiben,
werden sie in Säcken, sondern ausschliess-
lich in loser Form (in bulk), und zwar allein
mit Hilfe mechanischer Motoren erfasst und
befördei't.
Die Handelsbewegimg vollzieht sich dem-
nach unter vollkommenster Raum-, Zeit-
und Arbeitserspamis in der Weise, dass das
vom Farmer nach der nächsten Eisenbahn-
oder Wasserstation gebrachte Getreide dort
nach der Skala des nächsten grossen Han-
delsplatzes klassifiziert wird und nunmehr
in den Strom gleichartiger Getreidemassen
einfliesst, welcher von den verschiedenen
Stationen her gespeist, in die Lagerhäuser
dieses Handelsplatzes einmündet. Die Klas-
sifikation wird hier endgütig voi^nommen,
und der verstärkte Strom gleitet dann wei-
ter nach den Exporthäfen, um* von da in
unveränderter Form — lose in die Schiffs-
räume eingeschüttet — nach Europa geleitet
zu werden.
8. Das La^erhauswesen. Die Durch-
führung dieses Planes setzt die Ausrüstung
der Verkehrswege mit einem System von
gleichartigen Ge tr ei d espeichern voraus,
welche nicht nur als solche, sondern zugleich
als Sortierungs- und ümladestellen dienen.
In der That sind sämtliche Wasser- und
Eisenbahnstationen des atlantischen Getreide-
exportgebietes und die Exporthäfen mit der-
artigen »Silospeichern«, »grain-elevators« ver-
sehen.
Das Princip ihrer Einrichtung ist das
folgende : Auf der einen, inneren oder äusse-
ren Seite oder auch in der Mitte des Ge-
bäudes wird das ausgeschüttete Getreide
durch Dampfkraft vermittelst eines mit
becherartigen Schaufeln besetzten, über Rollen
laufenden endlosen Gurtes auf die Höhe des
Gebäudes gehoben. Dort wird es automa-
tisch abgewogen, auf Wunsch auch in einer
Windkammer und durch Siebe gereinigt.
Von dem Wägebehälter lässt man die Körner
durch verstellbare Röhren in einen der vor-
handenen Lagerräume (Bins) gleiten. Das
sind grosse, nach unten spita zugehende
Kasten, Schächte. Um sie zu entladen,
öffnet man einen Schieber auf ihrem Boden
und leitet die Körner durch eine bewegliche
Röhre in den Eisenbahnwagen oder das
Schiff. Auf den kleineren Stationen des
Binnenlandes von geringerem Umfange,
höchstens dem Fassungsvermögen eines
Güterzuges entsprechend, sind die Elevatoren
in den centralen Handelsplätzen mächtige
Gebäude, welche oft für mehrere ^Millionen
Busheis Getreide Raum haben.
Dieses Speichersystem verdankt seine
Entstehung dem Zusammenwirken des Han-
dels und der Eisenbahngesellschaften. In
den Export häfen sind die Elevatoren meist
von den letzteren erbaut und noch viel-
fach in deren Verwaltung; in den west-
lichen Sammelplätzen sind sie meist als
selbständige Unternehmungen ins Leben
getreten.
Die Landelevatoren der Produktionsbe-
zirke entstanden sogleich bei der erst-
maligen Herstellung der Balmlinien ent-
•
Qetreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Vereinigte Staaten) 295
weder so, dass die Eisenbahngesellschaft
sie erbaute und dann verpachtete oder dass
Händler, Grossmüller, Mevatorkompagnieen
ihre Errichtung auf dem 'Grundbesitz der
Bahn übernahmen. Dies geschah oft gegen
besondere Vergünstigungen, z. B. das Ver-
sprechen, dass die Sahn kein anderes Ge-
treide verfrachten werde, als was, den Ele-
vator passiert habe.
4. Die Gradiemng des Getreides im
Landelevator ist Sache der Vereinbarung
zwischen dem Farmer und dem Agenten
oder Händler. Die autoritäre Feststellung
der Getreidegrade erfolgt erst in den Börsen-
plätzen, und zwar beim Eingang in den
Speicher. Die Gradienmg entstand seit den
50er Jahren in Chicago und war dort —
^■ie noch jetzt in den Exportplätzen an der
Küste — Sache der Produktenbörse. Unter
dem Drucke der agrarischen Bewegung,
welche aus der Preiskrisis hervorging, wurde
die Gradierung in Chicago im Jahre 1882
auf den Staat übertragen. Auch in Missouri,
Kansas, Nebrasca und Minnesota — kurz in
allen Gebieten, deren Börsen für den ersten
Ankauf der Getreideernte massgebend sind,
werden die Getreideinspektoren heute von
Staatswegen ernannt.
Die Getreideskala, auf Grund deren die
Klassifikation erfolgt, wird entweder — und
dies ist die Regel — alljährlich nach dem
Emteausfall revidiert oder bleibt im Princip
Jahr für Jahr unverändert, so in Chicago. Der
praktische unterschied zwischen beiden Me-
thoden ist indessen gering, weil sich in
jedem Falle »die Gradierung imwillkürlich
dem Emteausfall wenigstens in den pri-
mären Märkten mehr oder weniger anpasst«.
(Schumacher.) Ein kaiun vermeidlicher
Mangel ist femer die geringe Bestimmtheit
der Kriterien für die Qualität; dem subjek-
tiven Ermessen des einzelnen Inspektors ist
stets ein weiter Spielraum gelassen. Schlimmer
ist die willkürliche Veränderung der Gra-
dierungsregeln, die jeder Börsenplatz, auch
wo Staatanspektion besteht, leicht diuxjh-
setzt, wenn der Stadt daraus im Konkurrenz-
kampf ein Vorteil erwächst. Der Händler,
der sich der Entscheidung des Inspektors
nicht fügen will, lässt sein Getreide gegen
eine specielle Gebühr in einen besonderen
Schacht thun — sofern er solchen ganz zu
füllen vermag — und verkauft dann nach
Probe.
5. Die Lagerscheine (warehouse re-
ceipts). Der Verkauf nach Probe ist auf
der Börse die Ausnahme, man handelt fast
ausschliesslich mit den von den grossen
Speichern ausgestellten Lagerscheinen. Das
sind Ordrepapiere, welche, regelmässig diu-ch
Blankoindossament übertragen, leicht von
Hand zu Hand wandern imd Beleihung
finden. Sie gewähren nach der englisch-
amerikanischen Rechtsauf&fisung ein ding-
liches Recht an dem betreffenden Ver-
mengungsdepositum des Elevators, obwohl
dieses in beständiger Veränderung begriffen
ist. Die Gefahr des Verlustes oder der
Verschlechtemng (Erhitzung) der Lagerware
trägt deshalb der Einlagerer, der Speiclier-
besitzer haftet nur für Verschulden. Die
Sicherheit, dass die auf dem Lagerschein
bezeichnete Ware auch stets vorhanden ist,
wird durch besondere Kautelen erzielt:
üeberall können nur diejenigen Lagerhäuser,
welche auf Grund der Börsensatzungen als
»reguläre« oder »öffentliche« anerkannt sind,
Scheine ausstellen, die im Terminhandel als
lieferbar angesehen . werden. Nm* solche
Scheine werden auch von den Banken ohne
weiteres beliehen. Ferner verknüpft sich
vielfach (Missoiuri, Minnesota) eine fortlau-
fencle Kontrolle über die Lagerhäuser nait der
zu statistischen Zwecken — wohl überall —
vorgeschriebenen Registriemng der Scheine.
Dann bedürfen sie der Abstempelung diurch
den Kegisterbeamten, der durch die täglichen
Berichte der Getreideinspektoren genau über
die Ein- und Ausgänge bei jedem öffent-
lichen Elevator unterrichtet ist und den
Stempel nur erteilt, wenn das Vorhandensein
des verbrieften Quantums feststeht. Ebenso
müssen dem Beamten die eingelösten Scheine
zur Löschung und Annulliemng vorgelegt
werden.
Das öffentliche Vertrauen,, dessen sich
die Lagerscheine erfreuen, vereinfacht un-
gemein die Mechanik, mittelst deren alljähr-
lich die zum Ankauf der Ernte erforder-
lichen grossen Barmittel den westlichen
Stapelplätzen zufliesseo. Soweit dies nicht
durch den sofortigen Weiterverkauf der ein-
gehenden Getreidemengen bewirkt wird,
gescMeht es im Wege der Lombardierang
der Lagerscheine in New- York und den
anderen Geldplätzen des kapitalreichen Ostens.
6. Die Vorratsstatistik. Auf Gmnd
der Registerbücher wird eine fortlaufende
Vorratsstatistik geführt. Sie unterrichtet
über den sogenannten »sichtbaren Vor-
rat«, den visible supply. Sichtbar sind aber
lediglidi die Vorräte der öffentlichen Lager-
liäuser in den wichtigsten Handelsplätzen des
atlantischen Getreidegebiets und ausser-
dem die jeweüs auf den grossen Seeen und
dem Eriekanal schwimmenden Getreide-
mengen ; dagegen erfasst die Statistik nicht
die sehr bedeutenden in Privatspeichern
ruhenden und auf den Eisenbahnen rollenden
Waren.
7. Die Missstande in der Getreidehan-
d^Isorganisation. In den ersten Jahrzehnten
der Besiedelung der westlichen Prairiege-
biete funktionierte das geschilderte System
zur allgemeinen Zufriedenheit. Aber in dem
Masse, als cUe ihm eigentümlichen sozialen
296 öetreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Vereinigte Staaten)
Entwickeluugstendenzen Zeit gewannen, sich
geltend zu machen, erwuchs eine leiden-
schaftliche, von den Farmern, aber auch von
den Böi-senleuten getragene Bewegung, welche
die Fortbildung oder ßeseitigimg des Systems
forderte.
Aus dem Konkurrenzkampf der ver-
schiedenen Lagerhäuser untereinander gingen
in den centralen Marktplätzen des Westens
durch Fusion riesenhafte Einzelunterneh-
mungen hervor, die sich aber nicht mit dem
Lagerhausbetrieb begnügen, sondern selbst
mit Getreide handeln und durch ihre Kapital-
macht, die Verfügung über die Lagerräume,
ihre engen Beziehungen zu den Eisenbahn-
und SchiffahrtsgeseUschaften gegenüber dem
gewöhnlichen Händler, Kommissionär, Makler
ein gewaltiges Uebergewicht erlangt haben.
Die gleichen Betriebe bemächtigten sich aber
auch des Handels auf dem Lande, indem
sie die dortigen Elevatoren in ihren Besitz
brachten und jeden Mitbewerb zurückzu-
drängen wussten. Die Koncentration der
Landelevatoren ist am weitesten in den
nordwestlichen Prairieen fortgeschritten, wo
der Weizenbau im landwirtschaftliclien Be-
triebe ganz überwiegt und besonders wert-
volle, harte Qetreidearten gewonnen werden.
Während weiter im Süden des Getreide-
gebietes (Kansas, Missoiui) noch zahlreiche
Elevatoren in den Händen von selbständigen
Händlern sind, die sich untereinander, und
zwar, wo mehrere Elevatoren vorhanden
sind, auch am selben Orte Konkurrenz
machen, ist das Elevatoraetz im Nordwesten
ziemlich ganz imter die Botmässigkeit der
grossen, eng mit einander verbundeneu
Mühlen und Elevatorgesellschaften von
Minneapohs und Duluth gekommen.
. Der Gross-Farmer kann sich dieser Um-
klammerung entziehen, indem er — \rte es
die Regel ist — einen eigenen Elevator an
der Bahn baut und sein Getreide durch
einen zuverlässigen Kommissionär am näch-
sten Börsenplatze verkaufen lässt. Ist der
kleine Farmer mit dem Preisangebot imd
der Gradierung seitens des Elevator-Agenten
nicht zufrieden, so kann er vom gleic'hen
Mittel im allgemeinen nur Gebrauch machen,
sofern er genug Getreide hat, um einen
ganzen Schacht in dem Elevator seiner Sta-
tion zu füllen, und in der Grossstadt sich
so guter Geschäftsbeziehungen erfi*eut, dass
er wagen darf, seinen Weizen unter Wah-
rung der Identität dortliin zu koiisignieren.
Dies ist aber nur selten der Fall.
Mit der fortschreitenden Bosiedelung und
Ausdehnung des Getreideliaus hat ferner
die Möglichkeit immer mehr aufgehört, iYi
die kleinen Jjand-Elevatoren Getreide ein-
zulagern und unter Lombardierung des
Lagerscheins günstige Preiskonjunkturen
abzuwarten. Da<lurch hat sich der Vorteil,
den die Elevatoren durch die Ersparung
eigener Vorratshäuser für den Farmer er-
gaben, in den Zwang verkehrt, gleich nach
dem Erdrusch ^die Ernte verkaufen zu
müssen. Gerade in den Gegenden mit
einseitigem Weizenbau, der mu* eine ein-
malige Einnahme im Jalu* liefert, befindet
sich freiüch der Farmer sehr oft so tief im
Vorschuss bei dem Krämer und Händler,
dass er ohnehin mit dem G^treideverkauf
nicht warten kann.
Endlich ist das Gradierungswesen als
solches dem Farmer nachteilig, weil der
Preis innerhalb jedes Grades naturgemäss
nach dessen Minimalgrenze tendiert, die
besseren Qualitätsabstufungen im Preise also
unberücksichtigt bleiben. Die Elevator-
gesellschaften machen sich diesen Umstand
zu nutze, indem sie durch kleine Zusätze
das Getreide auf einen höheren Grad brin-
gen und überall versuchen, mit dem aus
dem Elevator hinausgehenden . Getreide
genau die Minimalgrenze jedes Grades zu
erreichen. Schumacher weist auf die preis-
drückenden Tendenzen hin, die sich aus
diesem Verfahren ergeben. Beim Ankauf
der Ernte haben die ElevatorgeseUschaften
ohnehin das naturgemässe Bestreben, den
Kaufpreis möglichst unter das jeweilige
Weltmarktniveau herunter zu drücken, und
sie wissen es einzurichten, dass die Börsen-
notiz sich diesem Interesse anpasst; das
Hausseinteresse aber, das sie als Verkäufer
haben, wird — ganz abgesehen von den
Versicherungsverkäufen im Terminmarkt —
dadurch zurückgedrängt, dass sie ihren
Geschäftsgewinn mehr auf den meist
gleichbleibenden Preisunterschied zwischen
den verschiedenen Graden als auf die Diffe-
renz zwischen Ein- und Verkaufspreis
gründen.
8. Reformversnche. Der von den
ausserhalb des Elevatorringes stehenden
Böreenleuten mehrfach gemachte Versuch,
dessen Monopol durch ein Verbot des Ge-
treidehandels für die Speicherbesitzer im
Wege der Gesetzgebung oder Börsenordnimg
(so in Chicago) zu brechen, ist jedes Mal an
dem Einfiuss und der Uebermacht der Ele-
vatorleute und ihrer Verbündeten gescheitert
Nicht minder der Plan, Staats- oder Bundes-
elevatoren einzurichten. Dagegen sind in
Norddakota 1892 und in Minnesota 1893
Gesetze ergangen, welche die ländlichen
Ijagerhäuser unter staatliche Aufsicht stellen,
ihre Gebühren regeln und den Versuch
machen, die Abhängigkeit der Farmer zu
mildern. Nach dem Minnesotagesetz kann
der Farmer oder Elevatoragent, wenn sie
sich über die Gradierung nicht einigen, eine
Durchschnittsprobe an den Oberinspektor in
St. Paul einschicken, dessen Entscheidung
alsdann den Ausschlag giebt. Thatsächlich
\
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung ; Vereinigte Staaten — Russland) 29'
ist von dieser Befugnis indessen nur selten
Gebraudi gemacht worden, offenbar, weil
die ünterbringimg des umstrittenen Ge-
treides bis zur Entscheidung häufig
Schwierigkeiten macht. In DÄota und
anderwärts kann femer die Eisenbahn ge-
zwungen werden, das Getreide auch ausser-
halb der Elevatoren aufzunehmen, die
geforderteu Wagen in bestimmter Frist zu
liefern etc.
Von diesen und ähnlichen Vorscliriften
vermag der vereinzelte kleinere Farmer
wenig Nutzen zu ziehen. Wirksamer
hat sich die genossenschaftliche Organisation
des Getreideverkaufs erwiesen. Dafür wird
von dem amerikanischen Bund der Land-
wirte, der Farmers Alliance eifrig agitiert.
Obwohl aUerwärts über das mangelnde Zu-
sammengehörigkeitsgefühl der Farmer ge-
klagt wird, sind doch nicht wenige Genos-
seuschaftselevatoren entstanden, und manche
arbeiten mit gutem Erfolg. Die Genossen-
schaft versendet das Getreide nach Duluth,
Port William etc., wo ein Beauftragter der
Alliance die Gradierung überwacht oder
imter ümgehimg der dortigen Lagerhäuser
die Umladung ins Schiff bezw. auf die
andere Eisenbahnlinie mit Hilfe eines be-
weglichen Elevators bewirkt und das G^
treide weiter nach dem Osten oder direkt
nach Europa dirigiert. Man rühmte mir,
dass es auf diese Weise gelungen sei, die
besonders gute Qualität des versandten
harten Getreides im Preise besser zur
Geltung zu bringen. Aber die Schwierig-
keiten des genossenschaftlichen Absatzes
sind gross, schon deshalb, weil gleich-
zeitig uneigennützige und geschäftskundige
Leute selten zu finden sind.
In ziemlich grossem Umfange sind die
Farmer dazu übergegangen, sich Scheunen
zu bauen. Ja man kehrt hier und da zur
Versendung in Säcken zurück.
Dieses Sj'stem hat von jeher in Cali-
fornien bestanden, teils weil das trockene
Klima es gestattet, das Getreide in Säcken
ohne weiteren Schutz aufzubewahren,
namentlich aber weil das lose einge-
schüttete Getreide auf der Fahrt nach
£im)pa über den Aequator leicht verdirbt.
Aus diesem Gnmde können sich die Ele-
vatoren auch in Oregon und Washington
nicht einbürgern.
Qaellen nnd Litteratur: Die vorsUhende Dar-
stellung beruht teilweise auf eigenen Reisenotizen
(von 189S) und dem Werk des Verfassers nZHe
landw. ICajihtrrenz Nordamerikas u, Leipzig 1887
(S. 4^1 ff.) f teils auf neueren Handelskammer-
berichten und auf der eingehenden Reisesiudie
ron H, SchumacheTf nDer Getreidehandel in
den Ter. Stallten und seine Organisation^ , in d.
Jahrb. f. Nat-Oek. u. Stat., S. F., Bd. X (1895),
ü. sei ff., 801 ff., Bd. XI (1896) (Getreidebörsen),
S. 35 ff., 161 ff. ; vgl. auch O. Böhm, Die Korn-
häuser, Münchener volksw. Studien, Heft 26,
Stuttgart 1898. Jf. Serlng,
ۥ Getreidehandel in Bussland.
Zwischen den einzelnen grossen Absatz-
gebieten Russlands bestehen wesentliche
Unterschiede in der Gnippierung der im Ge-
treidehandel thätigen Faktoren sowie in der
mehr oder weniger intensiven Ausnutzung
technischer Hilfsmittel. Im grossen und
ganzen sind aber die Fördenmgen, welche
dem Getreidehandel zu teil wurden durch
Erweiterung des Eisenbahnnetzes, Regulie-
rung der Getreidefrachten, Verbilligung des
Kredits, Errichtung von Elevatoren und
Verbreitung von zuverlässigen Handelsbe-
richten, der Menge* des Exports, den
Zwischenhändlern und den Grossgi'undbe-
sitzern zu gute gekommen. Die grosse
Mehrzahl der Bauern aber verkauft immer
noch an den Dorf Wucherer, an den Kauf-
mann im nächsten Marktflecken und in den
günstigsten Fällen, wenn der Besitzer in
der Nähe eines Exporthafens sitzt, an den
grösseren Spekulanten. Eine Armee von
kleinen Maklera erwartet vor den Thoren
der Handelsplätze die ankommende Bauem-
karawane und geleitet die Verkäufer in die
Speicher der Spekulanten. Die Preise,
welche hier erzielt werden, weichen um
ein bedeutendes zu Ungimsten des Ver-
käufers von denen im Grosshaudel ab, was
schon aus der Thatsache erhellt, dass die
Maklergebühren nicht selten 5 — lO^/o des
Kaufschillings betragen. Noch schlimmer
ist die Lage des Bauern im Innern des
Reiches, der noch vor, jedenfalls aber bald
nach der Enite sein Getreide an den näch-
sten Kornhändler verkauft; und ist er —
was auch keine Seltenheit ist — des letz-
teren Schuldner für das zur Entrichtung
der Steuern vorgestreckte Darlehen, so tritt
ims ein Kornwucher in seiner urwüchsigen
Form entgegen, bei dem der erlöste Preis
nur kaum die Hälfte des wirklichen Markt-
preises erreicht und der darauf hinzielt, den
Bauer in Knechtschaft beim Wucherer
lebenslänglich zu erlialten.
An der Spitze der Handelshierai'chie
stehen die Exporthäuser in Peters-
burg, Odessa, Libau, Rostow und den übri-
gen Hafenplätzen. Die Basis, auf welcher
in den meisten Fällen das Exportgeschäft
gegründet wird, ist die folgende: Das
Exporthaus steht in nächsten Beziehungen
zu einer Reihe grösserer Kommissionsge-
schäfte in London, Hamburg, Antwerpen,
Marseiile etc., welche nach der jeweiligen
298
Üetreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Russkind)
Lage des Marktes ihre festen oder approxi-
mativen Offerten machen, auf Grund deren
der Exporteur seine Einkäufe bei den
grösseren Spekulanten und den Kommissions-
geschäften des Hafenplatzes selbst besorgt
oder an seine Agenten im Innern Kaufauf-
träge erteilt. In Petersburg ist der Expor-
teur hauptsächlich auf die Kommissionäre
der grossen Wolgahändler angewiesen und
nicht selten ist er selbst der Kommissionär
des in direkten Verkehr mit dem Ausland
tretenden Grossspekulanten ; in Odessa, Nico-
lajew , Rostow , Libau haben die bedeuten-
<leren Exporthäuser auch ihre eigenen Agen-
ten in dem gesaraten an ihre Geschäftsorte
angrenzenden Gebiete, welche entweder bei
den grösseren Grundbesitzern oder bei den
Ortshändlem ihre Einkäufe besonn. In
den seltensten Fällen besitzt der Exporteur
grössere Vorräte in seinen eigenen Speichern,
sondern die am Orte selbst und an den
Stapelplätzen gekauften Waren wandern so
schnell wie möglich in die bereit stehenden
Dampfer, zur Deckung bereits geschlossener
Verträge oder — und dies ist die Minder-
heit — sie werden zur Spekulation »kon-
signiert«.
In allen Fällen stellt der Exporteur gleich-
zeitig mit der Absendnng der Ware Tratten
aus anf den Käufer, anf die Kommissionäre oder
auf eine mit diesen in Verbindung stehende
grosse europäische Bank. Da die Tratten sofort
an eine vermittelnde Bank oder einen Bankier
verkauft werden und gewöhnlich bis zu dem
Betrag von 90—95% des Wertes der verladenen
Waren ausgestellt werden, so gewinnt das
Exportgeschäft dadurch, zu einem Teil auch
durch ziemlich ausgedehnten ausländischen
Kredit — an Elasticität, und werden Umsätze
erzielt, die in keinem Verhältnis zum eigenen
Kapital des Exportears stehen. Ein den früheren,
bis in die Mitte der 70 er Jahre herrschenden
Zuständen, als das Exportgeschäft in wenigen
Händen lag und mit eigenem Kapital betrieben
wurde, gänzlich widersprechendes Bild, das
selbstverständlich seine Licht- und seine Schatten-
seiten hat! Auch ist mit der Ausdehnung des
Getreidehandels die Zahl der Exporteure be-
deutend grösser gneworden : in Petersburg zählt
man deren jetzt 34, gegen 10—12 in den 70 er
Jahren, in Odessa sind es etwa 40.
Ein geordnetes Warenbörsensystem exis-
tiert selbst in den grössten Exporthäfen,
wie Odessa und Petersburg, noch nicht.
Der Zwischenhandel und die
immer noch mangelhafte Ausnüt-
zung der technischen Hilfsmittel
im Getreideverkehr bilden die
weseiltlichsten Mängel, welche
dem inneren wie dem auswärtigen
Getreidehandel Husslands anhaf-
ten. Der chaotische Zustand der Klassi-
fikation der Getreidearten, welcher in grel-
lem Widerspruch gegen die einfache, auf
wenige Nummern reduzierte amerikanische
Sortierung steht, im Verein mit
hafter Trocknung und Reinigung <
haben dem nissischen Absätze auf
päischen Märkten eine viel un^
Verwertung zugewiesen, als sie nj
tat der Ware zu erwarten wäre,
der russische Weizen, trotz seine
liehen natürlichen Beschaffenheit,
um 5 — 8®/o billiger notiert als d
kanische. Gelangt er aber auf den
Markt über Königsberg oder Da
trocknet, gereinigt und auch ent
assortiert, so erzielt er einen höht
als der amerikanische.
Einen bedeutsamen Schritt in
gestaltung des inneren Getreideht
dete das Auftreten der Eisenbi
Kreditgeber und Handelsagenten
seit Mitte der 80 er Jahre seine
nimmt. Es war im Jahre 1884, a
malige Südwestbahn, imi den
kehr zu heben und der Konkn
anderen Gesellschaften entgegt
neben einer Verbilligung der
tarife auch die Beleihung des Ix
frachteten und nach Odessa un
berg bestimmten Getreides, teils a
Betriebsmitteln, teils in Verbir
zwei grosseren Handelshäusern
hat. Als diese Operationen einen
den Umfang angenommen hatten,
Südwest bahn beim Finanzministe
stellig und ersuchte, ihr durch <
bank Kredite zu bewilligen,
eigenen Betriebsmittel niciit av
der Privatkredit aber zu teuer w
Finanzministerium fasste den Fall a
auf: da die Staatsbank nur Filia
grösseren Städten besass, konnte il
keit in der Getreidebeleihung, die
her begonnen hatte, nur den Hänt
aber den Produzenten zu gute
Würden aber die Eisenbahnen al
1er zwischen Staatsbank und Lani
fungieren, so könnte der billig
den eigentlichen Produzenten n
sie vor Uebervorteüung durch d
schützen. So verallgemeinerte i
terte sich der Gedanke einer aus ]
entstandenen Privatmassregel zu e
gemeinten Plan einer direkten
des Produzenten mit den Exportl
tuell sogar unter Umgehung c
Zwischenhandels. Das auf (rrund
jekts des Finanzministers pul
V. 14./26. Juni 1888 umfasst d
punkte der kommerziellen Thä
Eisenbahnen: erstens macht os
Eisenbahnverwaltungen zu Ag
Staatsbank in der Beleihung (\v
transporte, zweitens w^erden die 1
ermächtigt, Lagerhäuser zum Te
rantenausgabe und unter staatliche
Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Hussland)
299
lnspektion zu errichten, und drittens dürfen
sie in den Handelsplätzen eigene Handels-
agenturen zum Verkauf der bei ihnen be-
liehenen Ware errichten. Von den von der
Regierung aufgestellten, zum Teil mit den
Eisenbahnen vereinbarten Normativbestini-
mungen für diese kommerzielle Thätigkeit
seien hier nur folgende erwähnt : die Eisen-
bahnen sind der Staatsbank für die gewähr-
ten Kredite verantwortlich und haben dafür
das Recht, ^/s ^/o der Beleihungssumme so-v^-ie
ein weiteres ^/s ®/o für ihre Verniittelung zu
erheben. Die Beleihung darf 60% des
Wertes nicht überschreiten. Für die Auf-
hebung des Getreides in den Lagerbauten
der Eisenbahnen durfte höchstens Va Kopeke
monatlich pro Pud erhoben werden und das
Geb-eide nicht über 6 Monate in den Lager-
häusern behalten werden. Die Kommission
für de^/ Getreideverkauf darf nicht über 1 %
betragen.
Ursprünglich wurde das G. v* Jahre 1888
nur für 3 Jahre als ein provisorisches er-
lassen, es wiuxle aber 1891 und 1894 ver-
längert, in einigen Punkten auch modifiziert
(so wurde den Eisenbahnen gestattet, bei
kurzfristigen Beleihungen 80, sogar 85 ®/o des
Wertes vorzusehiessen), und durch G. v.
1. 13. Juli 1899 wurden die Bestimmungen
von 1888, mit einigen wesentlichen Zusätzen,
zu dauernden proklamiert und auf andere
Waren angewandt (Eisen, Steinkohlen, Salz,
WoUe, Oele). Fragen wir nun nach den
Wirkimgen dieser Massregel, so tritt uns
zunächst die schwache Entwickelung des
Elevatorensystems entgegen: nur in 4
Eisenbahn Verwaltungen begegnen uns nen-
nenswerte Versuche, Elevatoren nach ameri-
kanischem Muster zu errichten, die übrigen
begnügen sich mit altväterlichen Getreide-
speichern, in denen weder eine Vermischung,
noch irgend welche Kontrolle der Qujdität
vorhanden ist. Dem Umfange nach vergrös-
serten sich aUerdings die Lagerhäuser sehr
wesentlich, was eine Folge der grösseren
kommerziellen Bedeutung der Eisenbahnen
war. So fassten die Lagerhäuser der Eisen-
bahnen 1894 21 MiUionen Pud Getreide,
1897 aber schon 34,5 Millionen, und deren
jährliches thatsächliches Getreidequantum
stieg im selben Zeitraum von 24,6 auf 53^6
Millionen Puds. Die Hauptsache bleibt die
Beleihung des Getreides, welches in der
Mehrzahl der Fälle nach Ankunft in die
Marktplätze von den Agenten und Kommis-
sionären der Verfrachter abgenommen wird.
Immerhin aber betrug die von sämtlichen
Eisenbahnen bewilligten Kredite 1897 kaiun
23 Millionen Rubel: eine noch verschwin-
dende Summe im Vergleich mit dem Wert
des gesamten Getreidehandels- Auch wurde
der Hauptzweck — den billigen Kredit
und die gewissenhaftere Verniittelung den
Landwirten zu gute kommen zu lassen,
nicht erreicht. Wie aus den detaillier-
ten Mitteilungen der Charkow-Nicolajewer
(Staats-)Bahn zu ersehen ist, wurden
m die Elevatoren im Dm^chschnitte der
Jahre 1894—1897 nur 11 »/o Getreide von
Landwirten und 89®/o von Kaufleuten auf-
genommen, von den bewilligten Krediten
entfielen nur 10,7 °/o auf Produzenten. Aehn-
lich werden die Verhältnisse auch bei den
anderen Eisenbahnverwaltungen gewesen
sein.
Mit Ausnahme einer privaten Unterneh-
mung in Riga war das ganze Elevatoren-
system bis Mitte der 80 er Jahre in Buss-
land gänzlich unbekannt. Erst als der Rück-
gang der Preise auf dem Weltmarkt den
russischen Landwirten fühlbar wurde, fass-
ten die Landschaften von Jeletz und andere
mehr den Gedanken einer systematischen
Gründung von Elevatoren. Durch das G.
V. 30. März 1888 über Lagerhäuser und
Warrants wurde auch eine rechtliche Basis
für die neuen Errichtungen geschaffen. Den
Anfang machte die oben erwähnte Landschaft
Jeletz, die an die Spitze der Verwaltung des
Elevators ein Komitee aus Vertretern der
Landwirtschaft, des Getreidehandels und der
staatlichen, sowie kommunalen Autoritäten
einsetzte, daneben aber auch eine Geti-eide-
inspektion, mit einem von der Regierung be-
stätigten Getreideinspektor ins Leben rief.
Ihr folgte ein Privatunternehmen in Petersburg,
das einen grossartigen Elevator unter städtischer
Kontrolle gegründet hat. Hauptsächlich be-
mächtigten sich aber der Idee die Eisenbahn-
gesellscbaften : die Südwestbahnen allen voraus,
welche La^rhänser in Odessa und an 9 be-
deutenden Stationen errichtet haben. Im Bndget
des Jahres 1891 figurierte unter den Ausgaben
des Verkehrsministeriuins ein Posten von vier
Millionen Bubel znr Errichtung von Lager-
häusern in Nicolajew und anderen Eisenbahnsta-
tionen. Es sollte der Hauptzweck der Institution
sein, durch die Herausgabe doppelter Scheine
einen generellen und billigen Warenkredit zu
verschaffen, dnrch Vermischung des Getreides
eine einfachere Klassifikation herzustellen, durch
Trocknung und Reinigung die Qualität des Ge-
treides zu erhohen und durch vollkommene
technische Herrichtung sowie durch Verbindung
mit den Zufuhr- und Ausfuhrwegen eine Ver-
billi^ng der Auf- und Abladnu^skosten zu
erreichen. Letztere sind selbst m den be-
deutenden Ausfuhrhäfen noch ganz enorm und
belasten nach einer Ermittelung des Finanz-
ministeriums in einzelnen Posten ein Pud Ge-
treide bis 6 Kopeken. Kommen doch selbst in
Plätzen wie Odessa Fälle vor, wo die Trans-
port- und Umladungskosten aus der Eisenbahn-
station nach den Privatspeichem und von diesen
nach dem Hafen ebenso viel betrugen wie die
Seefracht von Odessa nach London.
Ausser den Eisenbahnen, und auch von
diesen, wie gesagt, nur in beschränktem Masse,
wurde die ursprünglich mit Begeisterung auf-
gefangene Idee der Elevatorengründung sehr
300
Gretreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Russland)
unbedeutend und unsystematisch in Thaten um-
gesetzt. Eigentliche Elevatoren existieren nur
m Jeletz, St. Petersburg, Keval, Odessa und
Nicolajew, die übrigen etwa 260 „Lagerhäuser"
sind meist gewöhnliche Getreidespeicher. Ob-
wohl schon im Jahre 1892 das Finanzministe-
rium eine Kommission von Sachverständigen
nach Petersburg berufen hat, um Massregeln
zur Gesundung des Getreidehandels zu beraten,
fand es seitens der Interessenten und selbst in
einem grösseren Teil der Landwirte wenig Ent-
gegenkommen. Das Ministerium charakteri-
sierte die Auffassung der beteiligten Kreise mit
den Worten, dass die Gegner einer Reglemen-
tierung des Getreidehandels von oben m dem
Mangel von Ordnung und Organisation ein
kleineres Uebel sahen als die staatliche Bevor-
mundung, welche den Händlern wie den Produ-
zenten ^eich schaden könnte. Zweifellos haben
die ErffiSirungen des vorhergegangenen Hunger-
jahres wesentlich die Hoffnungen auf ein ziel-
bewusstes und energisches staatliches Eingreifen,
welche früher in der agrarischen Intelligenz
bis zur Befürwortung eines staatlichen Getreide-
exportmonopols sich steigerten, herabgestimmt.
Andererseits aber waren die Versuche einer ge-
nossenschaftlichen Selbsthilfe auf dem Gebiete
des Getreideexports so unbedeutend und zu-
gleich in ihren Praktiken so wenig den Forde-
rungen eines internationalen Verkehrs gewachsen
(so z. B. in der recht unglücklichen Getreide-
spekulation eines Syndikats südrnssischer Grund-
besitzer), dass auch von dieser Seite keine
Besserung zu erwarten war. Den Getreide-
handel aber sich selbst zu überlassen und von
der „Konkurrenz" alle wohlthätigen Folgen zu
erwarten, wie es von einzelnen Vertretern des
Handels in der 1892 er Kommission versucht
wurde, verboten erstens die Rücksichten auf die
Interessen der bäuerlichen Besitzer, zweitens
aber die sich mehrenden Hindemisse für den
auswärtigen Absatz, welche ihren Grund in der
mangelnden Beschaffenheit des russischen Ge-
treides und in der ünsolidität des Handels
hatten. So bekam denn eine mittlere Richtung,
die von einem Zusammenwirken von staatlicher,
g^enossenschaftlicher und privater Thätigkeit
eine Besserung der Handelszustände erwartet,
die Oberhand und fand ihren Ausdruck in einer
Reihe hochbedeutender Beschlüsse der Ende
Februar 1899 in Petersburg stattgefundenen
„Konferenz zur Regulierung des Getreidehan-
dels", bei der Vertreter von staatlichen Behörden,
Landschaften, Landwirtschaft und Handel die
hauptsächlichen Mängel der bestehenden Zu-
stände erörterten.
Von den Beschlüssen der Konferenz ist der
bedentendste auf den systematischen Ausbau
eines Lagerhäuser- und Elevatorennetzes und
dessen Verwaltung gerichtet. Ohne ein be-
stimmtes Princip aufzustellen, wie es von
einigen Seiten verlangt wurde (so waren viele
Landwirte für das ausschliessliche Recht der
Landschaften, Elevatoren zu errichten, wogegen
die Eisenbahnen und die Vertreter des Händeis
selbstverständlich protestierten), sprach sich die
Konferenz dafür aus, dass eine Bevorzugung
landschaftlicher Getreidespeicher im inneren Ge-
treideverkehr am Platze sei, aber auch private
Gründungen nicht abgewiesen werden dürfen.
Damit aber der ganze Ausbau nach bestimmten
Grundsätzen stattfinde und die Verwaltung
nicht spekulative Zwecke verfolgte, müssen sämt-
liche Elevatoren einer öffentlichen Kontrolle
unterstehen. Diese soll von einer kollegialen,
aus Vertretern aller beteiligten Kreise gewählten
Körperschaft, den Getreidekomitees, ausgeübt
werden, zu deren gewählten Mitgliedern auch
einige vom Staate bestätigte Inspektoren hinzu-
treten. Während die Verwaltung der Elevatoren
denjenigen Behörden und Personen zusteht,
welche sie begründen, sorgt das Komitee für
die Ueberwachung der Geschäftsführung, er-
lässt für alle Lagerhäuser Regulative, be-
stimmt über Klassifizierung des Getreides^
dessen Reini^ng, entscheiaet über Streitig-
keiten zwischen Lieferanten und Verwaltung,
über die Beschwerden gegen die Inspektoren etc.
In periodischen Zusammenkünften von Ver-
tretern sämtlicher Komitees sollen neue Ge-
sichtspunkte erörtert und gemeinsame Erfah-
rungen ausgetauscht werden. In den inneren
Rayons ist den Landwirten mindestens die
Hälfte aller Stimmen im Komitee zugesichert,
dsLgegen soll. in den Ausfuhrhäfen die Majorität
dem Handel überlassen werden. In der Koiäerenz
standen sich zwei Richtungen entgegen, von
denen die eine einen wesentlichen Fortschritt
nur von Elevatoren in den Ausfuhrhäfen und
Centralmärkten erhoffte, die andere dagegen
einen Vorteil für die Landwirtschaft sich nur
von einem Netz kleinerer Getreidespeicher an
den Eisenbahnstationen und inneren Märkten
versprach. Auch hier Ti-urde schliesslich eine
Einigung in mittlerer Richtung erzielt, welche
beide Typen für vorteilhaft hält, wenn sie mit
einander verbunden werden und Hand in H^nd
arbeiten. Die Hauptfrage, aus welchen Mitteln
Elevatoren errichtet werden sollen, falls, wie
vorauszusehen ist, die Privatthätigkeit und die
der Landschaften zu einer dem Bedarf ent-
sprechenden Bauthätigkeit nicht ausreichen wer-
den, wurde in dem Sinne beantwortet, dass die
bei einzelnen Eisenbahnen bestehende Abgabe
von Vft Kopeken pro Pud „Lagergebühren" zum
Zweck der Elevatoren errichtet und (nach Ab-
zug der Lagerspesen) verwendet werden soll,
und ebenso die in den Ausfuhrhäfen bisher für
städtische und Hafenbauten vorhandene Aus-
fuhrabgabe von ^/a Kopeken pro Pud. Sehr
weitläufige Erörterungen wurden durch das
Verlangen einiger Exporteure hervorgerufen,
das in die Elevatoren aufzunehmende öetreide
durchweg nach amerikanischem Vorbilde nach
bestimmten Typen zusammenzuwerfen und da-
durch eine Vereinfachung des Getreidehandels
sowie eine gründliche Eeinigung zu erzielen.
Die Mehrzahl fand aber nach russischen Ver-
hältnissen ein derartiges Verfahren bedenklich
und schliesslich einigte man sich in dem Vor-
schlage, die ihrer Individualität entzojprene
Ware höher und zu einem billigeren Zinsmsse
zu beleihen, was indirekt und allmählich die
Vermengung und Klassifizierung befördern
würde. Was die Kreditgewährung betrifft, so
sollen die Getreidespeicher in zwei Kategorieen
geteilt werden. Zur ersten gehören diejenigen,
deren Hauptfunktion die Aufbewahrung und
Bearbeitung des Getreides ist, hier werden nur
einfache Quittunsfen auf die Person des Liefe-
ranten ausgfestellt , welche zwar übertragbar,
aber nicht für den Verkehr von Hand zu Hand
Gretreideliandel (Technik luid gegen wältige Gestaltimg; Russland)
301
bestimmt sind. Dageg:eii sollen die ^eigentlichen
Elevatoren*' mit staatlicher Qenehmi^ong Lager-
scheine ausstellen, nach Art der Kreditpapiere,
durch Indossament übertragbar, aber ohne
wechselmässig^e Kegresspflicht des Indossanten.
Eine Reihe anderer Fragen wurde in
specieUen Subkommissionen erörtert, so die all-
gemeine Einführung der Arbitrage, die Fest-
setzung bestimmter Prozentsätze für Bei-
mischungen zum exportierenden Getreide etc.
Definitive Beschlüsse wurden aber in dieser
Richtung nicht gefasst Jedenfalls steht jetzt
der russische Getreidehandel vor organisatori-
schen Massregeln, die durch Verbindung von
Staatskontrolle mit genossenschaftlicher und
privater Thätigkeit den schreienden Missständen
entgegentreten sollen.
Sehr wesentliche Veränderungen sind auch
innerhalb der Tarifverhältnisse und specieU
auf dem Gebiete der Getreidetarife
der russischen Eisenbahnen zu ver-
zeichnen. Die Höhe der Transportkosten
bildet selbstverständlich einen der wichtig-
sten Faktoren für den Getreidehandel. Ein
enormer Umschwung in der Gestaltung^ des
Getreidehand^ls war durch den Ausbau des
Eisenbahnnetzes eingetreten; während in
den 50 er Jahren, als die französischen
Grundbesitzer bereits über die russische
Konkurrenz zu klagen begannen, Russland
ein Land ohne Eisenbahnen war, verfügt es
jetzt über einen Schienenweg von über
40000 Kilometer. — Noch in der Mitte der
80 er Jaiire aber hatte der Getreidehandel
mit einer systemlosen, vom individuellen
Nutzen der einzelnen Gesellschaften gelei-
teten Eisenbahnpolitik zu rechnen, der die
Gesetzgebung trotz mancher Versuche keinen
energischen Widerstand zu leisten vermochte.
Seit dem G. v. 20. März 1889, welches spe-
cielle Behörden für die Tarifaugelegenheiten
schuf imd als oberstes Princip den Satz auf-
stellte : »Die Leitung der Tarifangelegenheiten
im Interesse der gesamten Bevölkerung, der
Industrie, des Handels und des Fiskus, steht
dem Staate zu«, sind die Verhältnisse wesent-
lich umgeändert. Schon die Ankündigung
des bevorstehenden Einschreitens des Staates
veranlasste die Eisenbahngesellschaften zu
einem Entgegenkommen den landwirtschaft-
lichen Interessen gegenüber, welches im
ersten allgemeinen Eisenbahnkougress des
Jahres 1888 sich in noch grösserem Masse
äusserte und zu einem Versuche einer plan-
mässigen Tarifienmg für den Getreideexport
führte, die noch jetzt massgebend ist für die
Beurteilung der Transportzustände im Ge-
treideexpoi-t Der Grundgedanke des damals
gewonnenen und noch jetzt in seinen allge-
meinen Zügen bestehenden Systems ist der,
dass mit Beseitigung der früheren Konkur-
renz einzelner Gesellschaften sämtliche
Bahnen in gleich günstige Verhältnisse be-
züglich der Getreideausfuhr gebracht werden
sollten, entferntere PlDduktionsgebiete vor den
näheren begünstigt werden und die einschnei-
denden Unterschiede in den Seefrachten und
sonstigen Unkosten in den einzelnen Aus-
fuhrhäfen, in der entsprechenden Verbilli-
gung resp. VerteuenmgderEiseubahnfrachten
ihren Ausgleich finden sollten. Wurde auf
dieser Grundlage füi* entferntere Gebiete der
Weltmarkt eröffnet und sämtlichen Produ-
zenten eine grössere Freiheit bezüglich der
Auswahl der Exporthäfen zugestanden, so
wurde aber zugleich — und dadurch dass
die Tarife für nähere Rayons, welche V»
der gesamten Getreideausfuhr besorgten,
wesentlich erhöht wimlen — eine Erschüt-
tenmg heraufbeschworen, welche, da sie mit
einem Sinken der Gelreidepreise im Aus-
land und .mit einer zufälligen Erhöhung der
Seefrachten, welche ein Hauptelement in
jenem von den Eisenbahnen aufgestellten
Kalkül ausmachten, zusammentraten, von
nachteiligsten Wirkungen begleitet waren.
War aber der Versuch auch fehlgeschlagen,
so liaben wir es jedenfalls mit einem vom
allgemeinen Gesichtspunkt goti-agenen S^'^tem
zu thuu, das in seinen Voraussetzungen und
auch in seiner Grundidee verbessert werden
konnte und thatsäcbUch verbessert wmxle.
Neben der Gestaltung der Transportpreise
ist aber von nicht geringer Wirkung die
durdi das staatliche Eingreifen erzielte
Sicherheit vor willkürliclien und häufigen
Tarifändenmgen , Begünstigungen einzelner
FiXporteure und sonstige Auswüchse des
immer noch nicht unbedeutenden Privatbe-
triebes an den Eisenbalmeu. Die mangel-
haften Einrichtungen an den Stationen, in
denen sich das Getreide sammelt und wo
es meistens ohne ii'gend welche Vorkehrun-
gen zum Schutze vor imgünstiger Witterung
aufgestapelt wird, der Mangel an beweg-
lichem Material, liauptsäclüich Waggons,
bilden eine weitere Ursache von Klagen der
Landwirte, welche jetzt den Gegenstand
staatlicher Einwirkung bilden sollten und
auch in der oben erwähnten Kommission
ausführlich erwähnt worden sind.
Was die absolute Höhe der" Getreidetarife
an den Eisenbahnen belangt, so beginnt sie
nach der jetzt geltenden .Zusammenstellung
der Getreidetarife" vom 1. November 1897 für
nahe Entfernungen von den Ausfuhrhäfen mit
(durchschnittlich) Vsß Kopeke per Pud und Werst,
verbilligt sich bei Entfernunffen von 321 — 800
Werst auf Vs» — Vw ^^nd fällt bei Entfernungen
von über 1120 Werst (1350 Kilometer) bis Vw,
in einzelnen Fällen selost bis Vino pro Pud und
Werst. Es sind dann die Transportkosten an den
russischen Eisenbahnen bei grösseren Entfer-
nungen vielfach nicht höher als die entsprechen-
den Kosten in den Vereinigten Staaten. Die
Frachten von Zarizin nach Petersburg (1616
Werst) oder von Sawara nach Reval (1936) sind
ungefähr so hoch wie diejenigen von Kansas-
City bis Baltimore (^1805 Werst) : die von Chicago
nach New- York sind allerdings viel niedriger.
J
302
Geti'eidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Bussland)
"Wenn auch weit hinter den Eisenbahnen
zurückstehend, spielen die Wasserwege
eine immer wichtigere Rolle im Getreide-
handel Russlands. Während die Menge des
auf den Eisenbahnen transportierten Ge-
treides im Durchschnitte der 1880 — 1889 er
Jj^re 350 bis 400 Millionen Puds betrug,
erreichte sie auf den inneren Wasserwegen
120 Millionen. Im Jahre 1895 betrug der
fesamte Warenverkehr an den russischen
lisenbahneü 5588 Millionen Puds (ä 32 kg),
auf den inneren Wasserwegen dagegen nur
1 1/2 Milliarde Puds , von denen 2/5 Holz-
ti-ansporte waren, feine eigentliche Kon-
kurrenz zwischen Wasser- und Schienen-
wegen existiert an der Wolga, wo die Eisen-
bahnen früher auch verschiedene. Tarife für
die Sommer- und Wintermonate besassen.
Der grosse Rayon, welcher nach Petersburg
tendiert, ist jetzt noch die Domäne der
Segelschiffe.
Ein wunder Punkt im Getreideverkehr
sowie in den gesamten landwirtschaftlichen
Verhältnissen ist der Zustand der Zufuhr-
wege zu den Eisenbahnen und den
Wasserwegen. Wenn nach den vorhan-
denen statistischen Erhebungen nur 60 Mil-
lionen Pud oder *, 6 bis Vb der Getreideaus-
fuhr direkt an die Ausfuhrhäfen imd Seeen
per Achse gelangen, so muss doch, wie ein
Blick auf die Eisenbahnkarte Russlands be-
weist, der grösste Teil des mit der Eisen-
bahn und Schiffen beförderten Getreides
eine mehr oder minder grosse Strecke bis
zu den Bahnstationen und Landungsplätzen
auf den Landstrassen und Vizinalwegen
durchgehen, deren Zustand jeder Beschrei-
bung spottet.
Schon in normalen Verhältnissen, d. h. im
Sommer und Winter, beträgt die Fracht auf
den Landstrassen, die zur Zarizin-Eisenbahn
führen, Via bis % Kopeke per Pud und Werst
und zu Odessa durchschnittlich Vs Kopeke.
Treten aber die Herbstregen ein, so erhöhen
sich die Ausgaben bis 1—2, ja in einzelnen
Fällen bis 9 Kopeken per Pud und Werst, was
ungefähr so viel ist wie die Seefracht von
Odessa nach London. Monate lang, gewöhnlich
vom September bis Ende Novemoer und von
März bis Ende April, ist auf den meisten Wegen
überhaupt kein Verkehr denkbar; um ein Bei-
spiel zu nennen, legen im Herbst die Fuhren
mit Getreide von einem Dorfe, das 8 Kilometer
von Samara entfernt ist, den Weg in 36 Stunden
zurück. Beim jetzigen Zustande der Land-
strassen können auch in den günstigsten Fällen
nur diejenigen Wirtschaften am Getreidehandel
participieren , die höchstens 60 Kilometer von
einer Eisenbahn oder in der Nähe eines grösseren
schiffbaren Flusses gelegen sind, die übrigen
aber — und dies sind noch die Mehrzahl —
sind überhaupt vom Weltmarkt isoliert.
Ein nicht unwesentliches Moment zur
Beurteilung des russischen Exports ist die
Höhe der Seefrachten und der See-
versicherungs-Prämien. Bekanntlich
besitzt Russland keine nennenswerte eigene
Handelsflotte, und ist das Reich für seine
Seeausfuhr hauptsächlich auf die englischen
und französischen Handelsscliiffe angewiesen.
Die seit 1886 — 1887 infolge einer üeberpro-
duktion eingetretene aUgemeine Verbilligung
der Seefrachten kam auch der nissischen
Getreideausfuhr zii gute.
Im allgemeinen kann behauptet werden,
dass die Seefrachten aus den baltischen Häfen
niedriger, aus denen des Schwarzen Meeres um
etwa Vs höher sind als die ans New- York. Die
Frachten aus Indien aber sind zwei- bis dreimal
80 hoch. Die Höhe der Frachten schwankt mit
der Jahreszeit, der Menge der Ernten und noch
anderen, vom russischen Getreidehandel unab-
hängigen Faktoren sehr bedeutend ; so schwankte
sie in den Jahren 1889 imd 1890 in Odessa
zwischen 12 und 26 Schillings pro Tonne Talg
= 6 V« Quarters Weizen. (Dieses veraltete Fracht-
system nach Tonnen Talg, welches in den Süd-
häfen üblich war, verschwand endlich mit 1890,
indem man zur zweckmässigeren Berechnung
überging, zu der nach Quarters.) In diesem Jahre
(1899) kostete die Fracht von Reval nach Eng-
land 1 Schilling bis 15,3 d pro 496 engl. Pfund,
von Odessa nach Hüll und Antwerpen 11 — 13
Schilling pro Tonne (ca. 2240 engl. Ffund). —
Was schliesslich die Seeassekuranz betrifft, so
ist sie aus den Häfen des Baltischen Meeres
ungefähr so hoch wie aus den Vereinigten
Staaten (V4 bis •/4%)> während die aus den
südlichen Häfen um 60% höher berechnet wird.
Von genauen Kennern der transatlanti-
schen und speciell der nordamerikanischen
landwirtschafthchen Zustände ist der Ge-
danke nahegelegt resp. direkt ausgesprochen
worden, dass die überseeische Konkurrenz
nicht im Auf-, sondern im Absteigen begriffen
ist: eine Vermutung, die durch die Gestaltung
des Getreidehandels von 1888 bis 1890 viel
an Wahrscheinlichkeit gewann, dim^h die
Thatsachen der 90 er Jahre aber wieder er-
schüttert wurde. Wollte man eine Prognosis
für die Ent Wickelung der russischen Ge-
treidekonkurrenz, so müsste man zu einem
entgegengesetzten Ürteü gelangen. Es er-
scheint uns der Gang dieser Konkurrenz,
wenn wir von den exceptionellen Verhält-
nissen der Jahre 1891—92 und 1898—99 ab-
sehen und nicht nach kurzen Fristen, die vom
Zufall der Ernte abhängig sind, sondern nach
grösseren Perioden berechnen, in ununter-
brochener Zunahme. Von 1870 bis 1890 hat
sich die Getreideausfuhr Russlands mehr als
verdoppelt Dieser Aufschwung geschah unter
anfangs ganz primitiven Verkehrs- und Pro-
duktionszuständen, die sich erst seit 10 — 12
Jahren umzuwälzen begannen, und gerade
diese Jahre treffen schon zusammen mit
einem trotz ungünstiger Preisgestaltung auf
den Weltmärkten und schwankenden Ernte-
erti-ägen beschleimigteren Tempo der Ge-
treideausfuhr des Landes. Die Gestaltung
der Getreideausfuhi- von 1890 bis 1899 und
Getreidehandel (Technik und gegenwäi-tige Gestaltung; Russland)
303
deren Beziehung zum Reinertrag einerseits
und dem Konsum der eigenen Bevölkerung
andererseits wird in folgender Tabelle ver-
anschaulicht. Die einzelnen Zahlen, haupt-
sächlich die vom Statistischen Centralkomitee
gesammelten Emteei^ebnisse, sind zwar
recht mangelhaft, gestatten aber immerhin
einen einigermassen zuverlässigen Vergleich
mit den entsprechenden Veröffentlichungen
in anderen LäÄdern.
Eons.
Reinertrag
der Ernten
Export
Innerer
Konsum
pro
Kopf
In 1000 Puds (ä 32,38
4
kg)
w
eizen
Puds
1890—91
265 957
171 008
94 949
0,98
1891-92
201 125
59603
141 522
1,49
1892—93
331 913
139 593
192 320
1,92
1893—94
535909
186 732
349177
3.44
1894—95
503 244
243851
259 393
2,44
1895—96
520 773
224 575
296 198
2,84
1896-97
493 819
196505
297314
2,76
1897 98
360597
233 406
127 191
1,16
1898—99
562 875
117 936
>ggen
444 939
4i03
1890—91
817213
97341
719872
7,46
1891-92
556 868
1249
559619
5>68
1892-93
738 684
21 903
716 781
7,16
1893-94
936 747
60 196
876551
8,54
1894 95
1115314
96698
1018716
9,72
1895—96
991535
85261
906274
8,45
1896—97
961 059
69311
891 748
8,30
1897—98
741 755
83658
658097
6,05
1898—99
879 969
52491
827 478
7,51
Hafer
1890—91
386182
56475
329 707
1891 92
276 786
21452
255 334
1892—93
305431
27 127
278 304
•
1893—94
512201
97209
415000
1894—95
521 567
75976
445591
1895—96
492 339
57919
434 420
1896-97
494 832
66608
428 224
1897 98
367 254
29025
338 229
1898 99
398 905
24358
374 547
Gerste
1890-91
181 647
51 571
130076
1891—92
151 341
29547
121 794
1892—93
202009
68470
133 539
1893—94
368 732
154 138
214594
1894 95
288 722
133899
154823
1895—96
273 538
88716
184821
1896-97
263319
75022
188297
1897-98
248851
100674
148 177
1898-99
337 652
109578
228 074
Unwillkürlich drängt sich der Gedanke auf :
Wird dieses ungeheure Gebiet von 60 Millionen
Desjätinen bebauter Aecker, welches jetzt
einen Bruttoertrag von nur 2918 Millionen
Pudß (im Dimshschnitt der Jahre 1893—97)
Getreide liefert, intensiver bewirtschaftet
werden, neue brach liegende Ländereien in
die Kultur herangezogen, die Wege ver-
bessert, das Eisenbahnwesen ausgedehnt,
Sibirien dem europäschen Verkehr ange-
gliedert, das Land mit einem Netze von
Elevatoren bedeckt, die hohen Abladungs-,
Komraissions- und sonstigen Spesen ver-
billigt, so ist Russland noch einer Ausdeh-
nung seines Absatzes fähig, die selbst die
Phantasie des verwegensten deutschen
Agrariers sich nicht in ihrer ganzen Grösse
malen kann. Die Möglichkeit ist allerdings
gegeben, allein eine ruhige, volkswirtschaft-
liche Betrachtung wird nie ausser acht
lassen, dass die Entwickelun^ derjenigen
Elemente, welche die Produktivität der land-
wirtschaftlichen Arbeit befördern und die
Erhöhung der Kultur im allgemeinen her-
beiführen, alich eine Hebung des Wohlstan-
des des Landes selbst imd eine bessere An-
passung des Absatzes an die Bedürfnisse
der eigenen Bevölkerung bewirken.
Nicht nur die Zunahme des Eonsnnis der
ländlichen Bevölkernng haben wir hier im Auge,
obwohl schon diese der Ausdehnung recht fähig
ist, denn während in Frankreich auf einen Ein-
wohner ca. 200 kg Weizen konsumiert and
selbst in Deutschland beim hohen B.oggen- und
^artoffelkonsum 60 kg Weizenbrot auf einen
Einwohner berechnet werden, kommt in Russ-
land auf . einen Einwohner noch nicht 40 kg
Weizenbrot, bei einem Ko&fgenkonsum von nur
130 kg pro Kopf der Bevölkerung und bei fast
gänzlichem Mangel irgend welcher anderen Nähr-
stoffe. Auch nicht die sich ausdehnende Industrie,
obwohl diese einen mächtigen Faktor bilden wird,
der einer Ausdehnung des Exports entgegen-
wirken kann. Was zunächst in Betracht kommt,
ist eine den eigenen Interessen der landwirt-
schaftlichen Bevölkerung Russlands mehr an-
gepasste Verteilung der Beträge zwischen den
nach der Bodenbeschaffenheit und den Ausfällen
der Ernte sehr verschiedenen Gebietsteilen des
weiten Reiches. Eine Thatsache ist es, die
durch massenhaftes statistisches Material be-
wiesen worden, dass nicht selten, und nicht
etwa in Notjahren, das russische Korn in London
und Hamburg billiger verkauft wurde als in
vielen Gegenden Rasslands selbst, welche vom
Weltmarkte abgeschnitten sind, Ja dass in ge-
wöhnlichen Jahren in den ärmeren Distrikten
wie im Gouvernement Orenburg und bei partiellen
Missemten selbst im reichen Samaragebiet
Hungerpreise bezahlt worden sind, während die
südlichen und mittleren Gouvernements auf dem
Weltmarkte die Preise drückten und für ihre
Ernte kaum die Herstellungskosten erzielten.
Selbst im Verhältnis des gesamten Exports zu
der gesamten Getreideproduktion tritt uns schon
ein sehr ungesunder Zustand entgegen, der zu
berechtigten Klagen seitens vieler Beobachter
in Rusäand über ein planloses Jagen nach
grösstmöglicher Ausfuhr zum Schaden der
eigenen Bevölkerung Anlass gegeben hat. Nach
Untersuchungen, die vom landwirtschaftlichen
Departement in Russland vorgenommen wurden,
beträgt die Menge des exportierten Getreides
etwa 20% der Ernten: ein ganz ungünstiges
Verhältnis, wenn man berücksichtigt, dass die
Vereinigten Staaten durchschnittlich nicht über
I 8 % ihrer Ernte exportieren und pro Kopf der
304 Getreidehandel (Technik und gegenwärtige Gestaltung; Russland — Statistik)
Bevölkerung mindestenB 2V» mal so viel behalten
wie Rassland, für dessen eigenen Konsum noch
nicht 300 kg pro Kopf der Bevölkernug und
inklusive Viehmtter zurückbleibt. Ein anderes
Element, welches sehr wesentlich zur Beurteilung
der künftigen Gestaltung der Konkurrenz Russ-
lands beiträgt, ist die Rentabilität des aus-
wärtigen Absatzes. Wir berühren hier eine der
schwierigsten und nach dem heutigen Stand
der Statistik kaum zu beantwortenden Fragen
nach den Gestehungskosten des Getreides, können
aber nicht unerwähnt lassen, dass vom russischen
Landwirtschaftsministerium zahlreiche Unter-
suchungen angestellt worden sind, deren Er-
gebnisse sind, dass auf dem Gebiete der
„schwarzen Erde", d. h. in den fruchtbarsten
Gegenden die Produktionskosten um 15—18%
höher sind als in Ostindien, und um ca. 12%
niedriger als in den Vereinigten Staaten. Be-
rücksichtigt man aber noch, dass bei ungefähr
gleichen Seefrachten aus den Vereinigten Staaten
und den russischen Häfen der Landtransport
für das russische Getreide viel höher ist und
dass die Abladungs-, Kommissions- und sonstigen
Auflagen einen grossen Bruchteil des vom
Produzenten erzielten Preises verschlingen,
während sie in Amerika bis zum Minimum
reduziert sind, so tritt die Wahrscheinlichkeit
sehr nahe, dass ein Druck auf die Preise seitens
Russlands, ähnlich wie er seit Mitte der 80 er
Jahre ausgeübt wird, auch bei Verringerung
der Transport- und Handelskosten, auf die
Dauer nicht wohl möglich ist. Und so glauben
wir uns zu der Meinung berechtigt, dass ein
weiterer Fortschritt in aer Ent Wickelung der
russischen Landwirtschaft und eine gesunde
Entwickelung in der Technik des Getreide-
marktes, welche nur mit einer rationelleren
Verteilung des Getreidereichtums des Landes
zwischen den einzelnen Teilen und einer Hebung
der landwirtschaftlichen Bevölkerung selbst
denkbar ist, auch vom westeuropäischen Stand-
punkte kulturfreundlich, aber nicht kulturfeind-
lich wirken- kann.
Litteratnrs Neben den bekannten l'eberHchien
von Neunuinn'-Spallart sind atis der deut-
schen LiUercUur einige Besprechungen tJon
Stieda in Jahrb. /. Ges. u. Veno, zu erwähnen,
sowie ein Aufsatz von Ballod in derselb&n Zeit-
schritt, JaJirg. 1898. Die hauptsächlichen Quellen
ßir das Studium des russische^i Getreidehandels
sind (sämtlich in russischer Sprache): 1) Der
Einfluss der Ernten und der Getreidepreise auf
die russische Volksunrtschafi. Herausg. von
Prof. A, Tsohuprow und A. O, Poswiikotc.
^) Die Berichte der vom Ministerium des
Innern eingesetzten Kommission zur Erforschung
der Ursachen des Sinkens der landwirtschaftlichen
Produkte (haupts. der Bericht von M, Fedorow,
M üet>ersicht des intenicUumalen Getreidehandelsu,
PeUrsburg 1889); S) »Der Getreidehandel in
den russischen Häfen und in Kimigsbergn, eine
Enquete vom Kon^ress der Eisenbahnen 2. Gruppe
veranstaltet und bearbeitet von M. Fedorow
(Moskau 1886); 4) »Der Getreidehandel an der
Wolgau von A. Kl4>pot€: 5) nDie Regelung der
Eisenbahn- Tarife im Getreidetransporin von A.
Tschuprow und Jf. Mussnitzky, Petersburg
1890; 6) Jahresberichte der Hof- und Börsen-
makler in Odessa eU.; 7) Uebersichten des aus-
wärtigen Handels, herausg. vom Handels-Departe-
ment im Finaiizminist.erium ; 8) Kurier für
Finanzen, Gewerbe und Handel; eine Wochen-
schrift, herausgegeben vom Finanzministerium;
9) KaaperoxCf Der Getreidehandel Russlands,
Petersburg 1897. t/oftos.
IIL Statistik des Oetreide-
handels in der neuesten Zeit.
1. Allgemeines. 2. Anteil der einzelnen
Länder am Getreide- und Mehlhandel. 3. An-
teil der Getreidearten am Welthandel. 4. Wei-
zenausfuhrländer. 5. Weizeneinfuhrländer. 6.
Uebersicht des Weizenhandels. 7. Roffgen-
handel. 8. Handel mit Gerste, Hafer und an-
deren Getreidearten. 9. Mehlhandel.
1, Allgemeines. Das weitaus ^vichtigste
Welthandelsgut ist heutzutage das Getreide,
sowohl wegen der Masse nhaftigkeit seines
Umsatzes, als auch wegen seiner Bedeutung
filr die Ernährung der Menschheit. Noch
im vorigen Jahrhundert und zu Beginn des
gegenwärtigen war der Umsatz gering, weil
die Verkehrsmittel nicht ausreichten, um
ein so schweres und leicht verderbliches
Gut in entsprechender Menge und mit ge-
nügender Raschheit von Ort zu Ort zu be-
fördern. Seit der grossen Umgestaltung der
Verkehrsmittel durch Anwendung der
Dampf kmft hat sich jedoch der internatio-
nale Handel auch dieses Massengutes be-
mächtigt und dessen Austausch in sieghafter
Weise ausgebildet. In der That hat er die
Ungimst der Natur, die Launen der Witte-
rung besiegt und clie Menschen in der Wahl
ihres Wohnsitzes vielfach unabhängiger ge-
macht, indem er die Lebensmittel, welche
die Kai*gheit des Bodens dauernd oder die
Missgunst eines Jahres vorübergehend ver-
sagte, durch Zufuhren aus allen Teilen der
Erde ersetzt. Hungersnot und Brotteuerung
mit all ihren nachteiligen Einwirkungen auf
die Bevölkerungsbewegung, auf die materi-
ellen und sittlichen Zustände der Völker
scheinen damit für die civilisierten Nationen
der Erde fast ausgeschlossen und selbst
schon in Indien zur Seltenheit geworden
zu sein. Missernten auf der ganzen Erde
dürften wohl kaum je vorkommen, ,und wenn
auch ganze Erdteile, yd^ 1873 Eim)pa, 1881
Nordamerika von Missernten heimgesucht
weixlen, so reichen die aufge8{)eicherten
Vorräte und die Erträge der anderen Ge-
biete des Erdballes vollkommen aus, um
den Bedarf der geschädigten Gebiete zu
bestreiten. Selbst für das Exportland wird
dieser Ausgleich zu einem Segen, wie dies
1887 für Ostindien klar wurde, welches
Land in diesem Jahre bei der Missernte in
verschiedenen Feldfrüchteu zweifelsohne
eine Hungersnot zu verzeichnen gehabt
hätte, wenn nicht die ziur Ausfuhr nach
Getreidehandel (Statistik)
305
Europa bestimmten Weizenmengen zur Ver-
fügung gestanden wären. Die inländischen
Preise hoben sich gleichmässig mit der
Nachfrage, und die Ausfuhr des Jahres
1887/88 sank nahezu auf die Hälfte des
Betrages vom Vorjahre, während der Kest
den Bedarf des Heimatlandes bestritt imd
die Gefahr einer Hungersnot beseitigte. Der
Gretreidehandel kann also mit Recht mit
einem Sicherheitsventil verglichen werden.
Die modernen Verkehrsmittel und der
auf denselben beruhende internationale
Handel befreien jedoch nicht bloss die civi-
lisierte Menschheit von Hungersnot und
Brotteuerung, sondern sie haben auch, in-
dem sie die Möglichkeit gaben, den jung-
fräulichen Boden der entlegensten Gebiete
und die billigsten Arbeitskräfte auszunützen,
die Getreidepreise andauernd herabgesetzt
und dadurch die Ernährung der Menschheit
trotz ihrer fortwährenden Vermehrung we-
sentlich erleichtert Sie erhalten femer die
PreLse von Ort zu Ort, von Jahr zu Jahr und
von Jahreszeit zu Jahreszeit auf einem weit
fleichmässigeren Niveau, als dies früher der
'all war. Allerdings kann man nicht er-
warten, dass die Getreidepreise jemals
allerorten gleich hoch und zeitlich stabü
sein könnten, denn das Getreide bleibt doch
ein Massengut und die Hemmnisse von Zeit,
Kaum und Materie werden zwar fortwährend
beschränkt, aber niemals ganz beseitigt wer-
den. Daher kann die Ernte eines Staates
auf die Preisbildung innerhalb desselben
gar wohl im Gegensatze zu den Weltmarkt-
verhältnissen Einfluss nehmen, besonders
wenn seine Ernte den Ernten der grossen
Exportländer vorangeht Daher werden die
Preise in einer Grossstadt, in dicht bevöl-
kerten Landstrichen, in stets bedürftigen
Importländern stets höher stehen als am
flachen Lande und in Exportgebieten. Dazu
kommt, dass die zufällige Anhäufung von
Getreidemassen an einem Orte, die Thätig-
keit der Spekulation die örtliche Preisbü-
dung wesentlich beeinflusst so dass die
Preise von den Strömungen am Weltmarkte,
wie von den örtlichen Verhältnissen be-
stimmt, von Staat zu Staat, von Ort zu Ort
andauernd und oft bedeutend differieren;
aber immerhin sind diese Differenzen in-
folge der Einwirkung des internationalen
Handels auf ein Minimum herabgedrückt
und keineswegs vergleichbar mit den Un-
terschieden, welche noch in der ersten
Hälfte unseres Jahrhunderts oft in zwei
einander ganz nahe gelegenen Gebieten
herrschten. Die Preisschwankungen von
Jahr zu Jahr verloren hingegen deshalb an
Intensität, weil der gesamte Ernteertrag der
Erde weit geringeren Schwankungen unter-
liegt als der eines einzelnen Landes, wo-
doreh natürlich der Getreidepreis im allge-
meinen viel zäher auf der gleichen Höhe
sich erhalten wird, als dies frilher der Fall
war. Aehnlich wird die Ausgleichung der
Preise der einzelnen Jahreszeiten dureh die
verschiedenen Erntezeiten der fraglichen
Gebiete herbeigeführt. Während nämlich
früher das Angebot sich auf die wenigen
Erntewochen des betreffenden Landes zu-
sammendrängte und im übrigen Teile des
Jahres die Nachfrage allein am Platze blieb,
wird gegenwärtig auä so vielen Teilen der
Erde das Getreide bezogen, dass fast in
jedem Monate eine neue Ernte für die
Nachfrage in Betracht kommt imd die Zu-
fuhr nach den Absatzmärkten keine Unter-
brechung leidet.
Alle diese bedeutenden Wirkungen konnte
aber der Getreidehandel nur mit Hilfe ganz
gewaltiger ümsatzmengen bewirken. In der
That nimmt auch der Getreidehandel, zu
dem man den Mehlhandel wohl hinzurech-
nen darf, gerade in dieser Beziehung den
ersten Platz in der Weltwirtschaft ein und
hat sich kein anderer Zweig des internatio-
nalen Handels zu einer ähnlichen Höhe
ebenso i-asch emporgeschwungen. So schätzte
im vorigen Jahrhundert Turgot den inter-
nationalen G^treidebandel der Erde auf un-
gefähr 10—11 Millionen hl; dagegen wurden
nachweisbar von Getreide und Mehl umge-
setzt in der
1887
1888
1897
Einfuhr Ausfuhr zusammen
Millionen Kilogramm
18257 17429 35686
19753 22641 42394
26 116 26650 52766
Danach kann man derzeit den inter-
nationalen Gesamthandel mit Getreide und
Mehl auf die ungeheuere Menge von 530
Millionen Meter-Centner veranschlagen.
Die Länder, welche an diesem Welthan-
delszweige den grössten Anteil nehmen,
haben denselben mit einer Schnelligkeit
entwickelt, welche alle Eiiahrungen über-
trifft. Russland verschickte jährlich
zwischen 1800 und 1813 erst 3V2 Millionen
hl, zwischen 1844 und 1853 nur IIV2 Milli-
onen hl, in der letzten Zeit aber 7 — 8 mal
soviel Getreide und Mehl.
Es wurden nämlich über alle Grenzen
exportiert
im Jahres-
durchschnitte
1876—1880
1881—1885
1886-1890
1891—1893
1894-1897
Millionen
Mtr.-Ctr.
44,4
46,8
66,9
52,4
86,7
Die Vereinigten Staaten von
Amerika waren in den Jahren 1840 — 1850
füi' den G^treidehandel kaum in Betracht
zu ziehen, denn ihr jährlicher Gesamtex-
Handwöiterbach der StaatswisseiiBchaften. Zweite Auflage. IV. 20
306
Gretreidehandel (Statistik)
port belief sich durchschnittlicli auf 5 Milli-
onea hl.
Dagegen exportierten sie an Getreide
lind Mehl (dieses auf Getreide umgerech-
net) im
Durchschnitt der Fiskaljahre,
Millionen
resp. im Fiskaljahre
Mtr.-Ctr.
1870/71 1874/75
23,17
1875/76—1879/80
49,86
1880:81 1884/85
50,37
1885/86—1889/90
43,83
1890/91—1894/95
54,89
1896/96
56,46
1896/97
91,80
1897/98
124,55
1898/99
107,14
Ebenso hat Britisch - Ostindien
seinen Export von Reis von 1868 bis 1892
von 6j23 auf 16,85 MüHonen Meter-Centner
und m der gleichen Zeit seinen Export
von Weizen und anderen Körnerfrüchten
von 0,43 auf 16,87 Millionen Meter-Centner
ausgedehnt. 1896/97 war allerdings der
Ebcport auf 14,37 resp. 1,80 Millionen Meter-
Centner zurückgegangen, • aber 1898/99 be-
trug er doch wieder 19,27 resp. 11,57 Mil-
lionen Meter-Centner. Umgekehrt hat E n g -
land von 1800 — 1810 jährlich nur unge-
flÜir 1,6 Millionen hl Weizen und einige
Hunderttausend Centner Mehl eingeffihrt;
dagegen hatte es einen Import von Getreide
und Mehl aller Art (dieses auf Getreide um-
gerechnet)
im Jahresdurchschnitte
resp. Jahre
1881—1885
1886-1890
1891—1895
1896
1897
1898
1899
Millionen
Mtr.-Ctr.
70,1
75,9
88,9
101,6
95,0
100,3
102,0
In gleicher Weise stieg der Wert der
umgesetzten (totreide- und Mehlmavssen bis
zum Jahre 1879 auf rund 7301 Millionen
Mark, wovon 8706 Millionen auf die Einfuhr
und 3595 Millionen auf die Ausfuhr ent-
fielen. Seither ist zwar infolge des Preis-
falles, der Einfühnmg und Erhöhung von
Gotreidezöllen sowie infolge einer dem
internationalen Handel abträglichen Vertei-
lung der günstigen und ungünstigen Ernte-
ergebnisse der Handelswert wesentlich redu-
ziert worden, immerhin aber betrug er
s'elbst 18S6 4805 Müüonen Mark und hob
sich im Jahi-e 1888 wieder auf 5534
Millionen, 2713 Millionen in der Einfuhr,
2821 MiUionen in der Ausfuhr. 1897 be-
lief er sich infolge wesentlich grösserer
ümsatzmengen sogar auf 5854 Millionen
Mark, wovon 3125 Millionen auf die höher
bewertete Einfuhr und 2739 Mllionen auf
die Ausfulir entfielen. Es sind dies Sum-
men, welche fast den zehnten Teil der ge-
samten Welthandelswerte ausmachen und
den Wertbetrag jedes anderen Zweiges des
Güteraustausches weit übertreffen.
2. Anteil der einzelnen Länder am
Getreide und Mehlhandel. Den grössten
Anteil an diesem riesigen Umsätze haben
die Vei-einigten Staaten von Amerika, Gross-
britannien und Russland. 1897 repräsentierte
der Umsatzwert und die ümsatzmenge die-
ser drei Staaten mehr als die Hälfte des
Gesamtumsatzes in Ein- und Ausfuhr. Auf
die Vereinigten Staaten entfiel mehr als
ein Drittel der Gesamtausfuhr und auf
Grossbritannien ebenso ein gutes Drittel der
Gesamteinfulir nach Menge und Wert.
Russland war 1897 hinter den Vereinigten
Staaten zurückgeblieben, während es 1888
diese weit übertraf und mehr als ein Drittel
der Gesamtausfuhrmenge bestritt Nach
Russland sind die bedeutendsten Export-
staaten Rumänien, Argentinien, Bulgarien^
Canada, Britisch - Ostindien, Chile und Ser-
bien mit einem Mehrexport von 1787 resp.
496, 402, 238, 158, 120 und 62 Meter-Centner
Getreide und Mehl im Jahre 1897. Alle
diese sieben Länder zusammen exportieren
aber nicht halb soviel als Russland und
kaum den dritten Teil dessen, was die
Vereinigten Staaten ausführen. Ihre Aus-
fuhr stellt etwa den achten Teil der Ge-
samtausfuhr dar. Die bedeutendsten Import-
staaten nach Grossbritannien sind Deutsch-
land, Belgien, Frankreich, die Niederlande,
die Schweiz. Italien, Dänemark und Schwe-
den-Norwegen. 1897 entfiel mehr als die
Hälfte des Gesamtimj)ortes auf Grossbri-
tannien und das Deutsche Reich, ein Drittel
auf die anderen vorhin genannten Staaten.
Folgende Tabelle zeigt die Anteilnahme
der einzelnen Staaten an dem internatio-
nalen Getreide- und Mehlhandel nach Ein-
und Ausfuhr, sowie nach Menge und Wert
in den Jahren 1888 und 1897 ^). Sie lassen deut-
lich die gewaltigen Verschiebungen erkennen^
die in diesem Jalirzehnt im Preise der
Cerealien, in deren ümsatzmenge und vor
allem in der Stellung der Staaten im Ge-
treide- und Mehlhandel Platz gegriffen haben.
') Für 1888 unter Zugrundelegung der
Uehersichten der Weltwirtschaft. Jahrgang
1885—1889 fortgesetzt von Dr. Fr. v. Juraschek
S. 17B; für 1897 nach den offiziellen Handels-
ausweisen.
Getreidehandel (Statistik)
307
Welthandel mit Getreide und Mehl.
Länder
1888
Wert in
Millionen M.
Einf. Ausf.
Menge in
Millionen kg
Einf. Ausf.
1897
Wert in
Millionen M.
Einf. Ausf.
Menge in
Millionen kg
Einf. Ausf.
Grosshritannien
Rassland
Vereinigte Staaten von Amerika')
Niederlande
Britisch Ostindien *)
Frankreich
Belgien
Oesterreich-Un^am
Deutsches B^ich
Rumänien
Italien
Australien
Canada')
Schweiz
Spanien
Argentinische Republik ....
Schweden
Dänemark
Bulgarien
Europäische Türkei*)
Algier
Norwegen
Egypten
Griechenland
Japan
Portugal
Chüe ....
Finland
Tunis«)
Urufi^ay
Capland und Natal . * . . .
Serbien . ,
1047,2
33,7
322,7
2,5
299,8
237,6
10,7
211,8:
0,71
128,4 I
42,1 I
27,1 I
82,5 1
55,0 1
0,3
30,7
32,9
0,1
34,9
8,7
34,6
6,0
27,0
2,4
23,2
12,4
5,8
0,5
1,6!
0,2
14,8
796,4
520,3
173,6
310,1
11,7
73,8
269,1
34,8
164,2
10,2
85,0
47,5
1,5
8,2
58,4
19,9
17,4
38,1.
30,0
27,0
0,8
22,4
0,2
23,7
0,8
22,0
4,5
3,5
6,6
8,7
?
7476
19
369
1673
17
3127
1591
94
1871
10
734
230
257
459
353
2
226
297
I
105
56
307
42
148
'^)c. 21
145
ca. 1 1 1
?
I
9
2
64
8621
3915
932
2 170
132
502
I 222
195
1742
65
572
450
6
31
349
196
j 117
' 429
75
157
7
187
I
ö)c.2IO
4
123
ca. 50
45
?
92
1094,6
1,6
8,1
331,2
2,7
200,8
260,8
68,2
551,4
1,5
75,9
25,4
37,6
102,5
48,1
3,9
25,9
65,4
o,i
26,5
io,o
41,7
14,7
27,1
0,9
27,1
33,1
15,6
2,0
20,0
0,8
21,2
739,5
1038,9
206,7
25,8
73,1
112,5
69,0
142,5
4,5
24,6
68,6
1,3
18,8
46,1
1,4
15,0
37,0
27,9
18,4
0,3
9132
14
87
2975
53
1385
1985
682
5093
16
556
233
478
618
322
23
205
753
I
149
74
379
2,0
123
0,2
149
0,1
10
1,0
166
10,9
—
3,1
218
9,8
73
4,6
25
9
•
133
:\,^
6
127
7632
10659
1897
211
47
568
587
500
1803
31
1x8
715
3
68
519
24
131
403
148
III
2
16
I
I
2
ca. 120
32
80
26
?
68
Totale: 2725,0 2805,2 19753 2266113125,2 12739,1 126 116 26650
») Fiskaljahr endigend am 30. Juni 1889, Kalenderjahr 1897. «) Fiskaljahr endigend am
31. März 1889 resp, 31. März 1897. •) Finanzjahr endigend am 30. Juni 1889 resp. 1897.
*) Türkisches Jahr endigend am 28. Februar 1889 resp. 1896. '*) Nach den Preisangaben im
Resumg Statist, du Japon geschätzt. ^) Fttr das Fiskaljahr 1888/89 und das Kalenderjahr 1897.
3. Anteil der Getreidearten am Welt-
handeL Weitaus den grossten Anteil an
dem Gesamtumsatz von Getreide und Mehl
hat Weizen und Weizenmehl, als die wert-
vollsten, den grossten Nährwert enthalten-
den und in den Imporistaaten, insbesondere
in England und Frankreich beliebtesten
Produkte- Ihnen zunächst kommt Mais,
wovon die Vereinigten Staaten die grossten
Quantitäten ausführen, sodann Gerste und
Malz, endlich Hafer und Roggen. Aber
während 1887 Weizen etwa zwei Fi'inftel
des Gesamtumsatzes repräsentierte, ist er
1897 fest ein Drittel zurückgegangen und
hat sich der Anteil von Mais von einem
Achtel auf etwa ein Fünftel erhöht Neben
Mais bat nur noch Gerste und Malz 1897
einen gr{36seren Anteil gewonnen, alle an-
deren Getreidearten sind in ihren AnteiJen
zurückgegangen, und relativ am stärksten
Roggen. Offenbar hat der wachsende und
immer mehr sich verbreitende Bierkonsum,
dann die Verwendung von Mais in der
Industrie und zur Viehfütterung, diese früher
ziemlich stabilen Verhältniszahlen so sehr
verschoben. Üebrigens sind sie für die ein-
zelnen Staaten je nach deren Produktions-
verhältnissen, dann nach der Wohlhabenheit
imd den Gewohnheiten ihrer Völker sehr
verschieden. Eine üeberaicht des Anteiles
dieser Getreidearten imd des Mehles am
Gesamtumsätze in den Jahren 1887 und
1897 bietet die folgende, für 1887 den
Uebersichten der Weltwirtschaft^) entnom-
mene, für 1897 in der gleichen Weise ge-
arbeitete Tafel.
^) Ebenda S. 179.
20*
308
Getreidehandel (Statistik)
1887
Einfuhr
Ansfuhr
Gesamt-
umsatz
in Millionen Kilogramm
1897
Einfuhr
Ausfuhr
Gesamt-
umsatz
in Millionen Kilogramm
Anteil
am Ge-
samt-
amsatz
in
Prozent
1887
Anteil
am Ge-
samt*
Umsatz
in
Prozent
1897
Weizen^) . . .
Boggen ....
Gerste u. Malz*)
Hafer , . . .
Mais
And. Getreide*) .
Mehl
7 673,79
I 672,37
1 991,29
1 689,49
2 475,47
1063,44
I 691,16
6714,55
1 861,13
2 193,08
1 677,81
2513,30
655,59
I 813,47
14 388,34
3 533,50
4 184,37
3 367,30
4988,77
I 719,03
3 504,63
9065,0
2 027,2
3 345,7
2 557,5
5 970,3
1 121,6
2 028,9
9415,3
18480,3
2 101,4
4 128,6
3 268,9
6614,6
2 215,4
4 772,9
6 892,3
12 862,6
655,0
I 776,6
2 102,1
4 131,0
40,32
9,90
11,73
9,43
13,98
4,82
9,82
35,02
7,83
12,53
9,05
24,38
3,37
7,82
Zusammen :
18 257,01 I 17 428,93 I 35 685,94
26116,2 26650,4 52766,6 i 100,00
100,00
^) Für 1888 Weizen und Spelz.
') Die hier für 1897 angegebenen Zahlen sind grösser als die im Abschnitte 8 folgenden,
weil hier noch ein Malzumsatz berücksichtigt wurde mit 121,9 Millionen Kilogramm in der
Einfuhr und 188,7 Millionen Kilogramm in der Ausfuhr.
^) Bei Grossbritannien und Kussland mit Einschluss von Hülsenfrüchten, sonst nur Buch-
weizen, Hirse, Halbfrüchte, Gemenge und für 1897 auch Spelz.
4. Weizenausfnhrländer. Da, wie
bereits erwähnt wurde, Weizen weitaus
den grossten Teil des im internationalen
Verkehr umgesetzten Getreides ausmacht,
so zeigen sich beim Weizenhandel am
schärfsten die im Getreidehandel überhaupt
auftretenden Erscheinungen. Insbesondere
die Weizenausfiüir einzelner Staaten hat
sich, wie folgende Tafel lehrt, mit der Ent-
wickelung der modernen Yerkelirsmittel
ganz enorm vermehrt
Weizenausfuhr
aus
Oeflt^r-
Im Jahres- Vereinigte Rnssland reich- Dentech- Frank-
dnrch- Staaten (europ. Un- land^; reich*;
schnitte v. Amerika Grenze) gam ') Hekto-
Hektoliter Mtr.-Ctr. liter
000 ausgelassen, also 87 = 87000 etc.
1831—40 87 5 639"»)
1841—50 462 3 998*)
1851—60 1 948 7 337
1861-70 7 759 13317
1871—80 27 625 21 222
1881-90 25313 29780
1891—97 36628 38067
213
245
411
2975
1982
2541
748
1856
2543
3423
5225
4936
260
566
344
1129
2755
1991*)
835*)
44*"^
12
es
Die Weizenausfuhr hat sich somit von
1830 bis 1870 in den Vereinigten Staaten
auf das 90 fache, in Oesterreich-Üngarn auf
das 14 fache, in Frankreich auf das 6 fache
erhöht. In Deutschland hat sich die Weizen-
und Weizenmehlausfuhr in der gleichen
Zeit fast auf das 3 fache gehoben, in Russland
*) Inkl. Spelz.
•) Weizen und Weizenmehl, letzteres auf
Weizen reduziert. Von 1871 Weizen allein.
«) Für das Jahr 1830.
*) Für das Jahr 1840.
*) Für 1861-1869.
•) 1000 Mtr.-Ctr.
ist die Weizenausfuhr in den zwei Decennien
von 1851 bis 1870 aufs Doppelte gestiegen.
Seit 1870 haben sich die Verhältnisse we-
sentlich geändert. Die Ausfuhren aus den
Vereinigten Staaten und aus Russland sind
neuerdings gewachsen, die Diu-chschnitte
der 90 er Jalire sind fast 5 resp. 3 mal so
gross als jene der 60 er Jahre. Die Aus-
fuhren OesteiTeich-üngams , Deutschlands
und Frankreichs sind fortgesetzt kleiner
geworden und speciell die Ausfuhr aus
Frankreich ist auf ein Minimum reduziert.
Die Entwickelung nach einzelnen Jahren
zeigt folgende Cebersicht auf S. 309.
Die 70 er und 80 er Jahre sind somit
besonders charakterisiert durch das Auf-
treten Indiens als Weizenexportland, durch
die vergrösserte Ausfuhr aus den Vereinig-
ten Staaten und Russland, durch den Still-
stand der österreichisch-ungarischen Aus-
fuhrmengen und den gänzlichen Verfall der
Ausfuhr aus Frankreich und Deutschland.
Die 90 er Jalu^e zeigen eine kräftige Ent-
wickelung der Ausfuhr nur noch bei den
Vereinigten Staaten und Russlaud; die in-
dische imd österreichisch - ungarische Aus-
fuhr verfällt, die französische Ausfuhr wird
ganz unbedeutend und nur die deutsche
Ausfuhr hebt sich einigerraassen, wobei
nicht zu übersehen ist, dass die Weizenein-
fuhr in den drei letztgenannten Ländern
fortgesetzt wächst und in Frankreich und
Deutscliland längst die Ausfuhr überflü-
gelt hat
Die amerikanische Weizenaus-
fuhr erreichte einen Höhepimkt im Jahre
1879 mit 54 Millionen hl infolge rascher
Ausdehnung der eigenen Anbauflächen und
vorzüglicher Ernteergebnisse, bei gleichzei*
tigen Minderernten in Europa, besonders in
Getreidehandel (Statistik)
309
Weizenausfuhr
ans
Im
•s
B
den Verein.
Staaten von
Amerika *)
Rnsaland
Über alle
Grenzen
Britisch-
Indien *)
Oesterreich-
Ungam*)
Bnshels
ä.35,2 1
Pud Ä
16.88 kg
Egl.Ctr.
& 50.8 kg
Meter-Gentner
000 ausgelassen, also 26423 = 26423000 etc.
1871
1875
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
26423
55073
150565
75272
106 3S6
70349
84654
57 759
loi 972
65789
46414
54388
55 "32
157 280
117 121
88415
76 103
60650
79562
148 231
139 433
109
95
58
78
121
134
108
155
91
135
214
190
182
176
81
156
205
237
219
213
177
497
365
356
145
837
140
756
114
517
250
729
546
085
369
557
230
739
161
588
263
481*
637
2498
7 444
19864
14 144
20956
15831
21 061
22263
13538
17 610
13805
14321
30307
14973
12 157
6890
10004
I 911
2393
19520
2800
1005
2016
2080
4 335
2808
I 109
1576
2096
2335
4142
2560
2369
1549
752
763
646
679
563
282
29
7
59
1835
89
86
65
104
40
74
28
9
13
II
6
7
8
18
32
21
11
6
17
5360
5700
1782
534
625
808
362
141
83
28
II
8
2
3
2
3
792
699
752
1714
1348
1974
Russland. Danach war im Zusammenhange
mit grossen Ernteerträgen in Russland, mit
der wachsenden indischen und australischen
Konkurrenz, mit einzelnen Fehlemten, aber
auch, infolge des rasch wachsenden Kon-
sums der vermehrten Bevölkerung ein be-
deutender Rückgang eingetreten, so dass 1890
die Weizenausfuhr nur 19,4 Millionen hl
betrug. In den Folgejahren ergaben sich
bei einem reduzierten Inlandskonsum, bei
besseren Ernten und geschwächter Konkur-
renz wieder grössere Exporte; 1891 wurde
die grösste Menge 55,4 Millionen hl und
1897 resp. 1898 wieder ein Betrag von 52,2
resp. 49,1 Millionen hl exportiert.
Die russische Ausfuhr leidet be-
ständig unter den ausserordentlichen Schwan-
kungen der Ernteerträge, welche wegen der
meist primitiven Feldwirtschaft und dem
excessiven Kontinentalklima besonders gross
sind. In den 70 er Jahren waren überdies
die Bahnen minder stark entwickelt und
^) Fiskaljahre, endigend am 30. Juni 18*^2,
1873 Q. s. f. Die Ausfuhr bezieht sich auf ein-
heimischen Weizen allein.
*) Fiskaljahre, endigend am 31. März 1872,
1873 TL 8. f.
^) Mit Einscbluss von Spelz.
*) Mit Einscbluss von Spelz und Halbfrucht.
*j Ueber die europäische Grenze, das Schwarze
Meer und nach Finland.
der Handel weniger gut organisiert, so dass
sich damals gegenüber dem Drucke der
guten amerikanischen und indischen Ernten
ein besorgniserregender Rückgang der Aus-
fuhr ergab. 1880 betrug die letztere nur
9,6 Millionen Meter-Centner. Seither wur-
den die Anbauflächen wesentlich vergrössert.
1883 — 1887 vnirde die durchschnittliche
Anbaufläche von Weizen für das europäische
Russland mit 11202000 Dessjatin angege-
ben, 1898 betrug sie 13 790 000 Dessjatin,
und dazu kamen noch die Weizenfelder
im Kaukasus in Sibirien und Mttelasien,
deren Ausdehnung sich von 1894 bis 1898
allein von 3073000 Dessjatin auf 3627000
Dessjatin erhöhte, üeberdies ergaben sich
einige gute Emtejahre, so dass 1893, 1894,
1898 an 124 resp. 122 und 125 Millionen
Meter-Centner produziert wurden und die
Ausfuhr im Zusammenhang auch mit dem
zurückgehenden Rubelkurs und den von der
Regiening zu Gunsten des Getreidehandels
getroffenen Massregeln (Regelung der Fracht-
sätze, Errichtung von Lagerhäusern, Eleva-
toren) enorm stieg. 1888 war sie bereits
auf 35,2, 1889 auf 31,2 Millionen Meter-
Centner gestiegen. 1892 war sie aUerdings
wieder auf 13,4 Millionen Meter-Centner
reduziert. 1893 hob sie sich auf das Doppelte,
und 1895, 1896, 1897 betrug sie 38,8 resp.
36,0 und 34,9, 1898 aber nur 29,1 Millionen
Meter-Centner. Welche weitere Entwicke-
lung die russische Weizenausfuhr nehmen
werde, ist gleichwohl schwer vorauszusagen.
Wohl könnte die Bodenkultur weit intensiver
betrieben werden, selbst 1898 wurden
durchschnittlich per ha nur 6,5 Meter-Cent-
ner gewonnen, und sind ausgedehnte Land-
flächen besonders im mittleren Sibirien dem
Pfluge noch nicht dienstbar gemacht, so
dass die Weizenproduktion noch sehr be-
deutend gesteigert werden könnte; auch
könnte weiterhin die Konkurrenzfähigkeit
Russlands gegenüber Amerika und Indien
noch mehr gehoben werden durch Anwen-
dung grösserer Sorgfalt bei Behandlung
(Reinigung und Trocknung) des Weizens
diu^h Verkehrs- und Krediterleichteningen
in weiterem Masse : es darf aber nicht über-
sehen werden, dass Russland eine unver-
hältnismässig grosse Menge seiner Ernte
ohnedies bereits abgiebt und dass dieser
Anteil eher kleiner als grösser wird. Es
betnig nämlich seine Weizenausfuhr im
Durchschnitte der Quinquennien 1883 — 1887,
1888—1892 und 1893—1897 32 resp. 43
und 30^/0 der gesamten Weizenernte.
Die indische Weizenausfuhr hat sich
erst zu Beginn der 70 er Jahre entwickelt
und ist in den 80 er Jahren besonders stark
gewesen. Von 1871 auf 1891 hat sie sich
unter mannigfachen Schwankungen um das
50 fache erhöht und erreichte 1886 und 1891
^
310
Getreidehandel (Statistik)
mit 11,3 resp. 15,4 Millionen Meter-Centner
•ihre höchsten Ziffern. Seither ist sie auf-
fallend zurückgegangen und belief sich 1896
und 1897 nur noch auf 0,97 resp. 1,2
•Millionen Meter-Centner. 1893 ist sie
wieder auf 9,9 Millionen Meter-Centner
gestiegen. Auf die indische Ausfuhr
wirken neben den sehr ungleichen Ernte-
ergebnissen von Weizen (1881 — 1885
durchschnittlich 81, 1884—1891 ebenso 69,
1896 56, 1897 49 MiUionen Meter-Centner)
auch jene von Reis und den anderen Nähr-
früchten, sodann der Konsum der grossen
Bevölkerung und die Schwankungen des
Goldkiu^es ein. Die grossen Differenzen
in der Ausfuhrmenge werden dadurch leicht
erklärt.
Die Weizenausfuhr aus Oesterreich-
Ungarn war zu Beginn der 70 er Jahi'e
bei gleichzeitig gi'össerem Inlandsverbrauch
sehi' gering. Im Zusammenhange mit der
veimmderten Kaufkraft der Bevölkerung
nach der Krise von 1873 und in den 80 er
Jahren infolge mehrerer guter Ernten ist
sie sehr bedeutend gewachsen und erreichte
1882 und 1888 einen beträchtlichen Hoch-
stand von über 4 Millionen Meter-Centner.
Seither ist sie trotz einer grösseren Produktion,
— 1892—1896 wurden durchschnittlich
57,3 gegen 50,7 Millionen Meter-Centner
im Quinquennium 1887 — 1891 gewonnen
und nur 1897 ergaben sich 33,4, 1898 51,4
Millionen Meter-Centner — sehr stark zu-
rückgegangen, so dass sie 1897 nur den
zehnten, 1898 mit 29000, 1899 mit 7000
Meter-Centner kaum den hundertsten Teil
jener des Jahres 1871 beträgt, üeberdies
ist die 1888 auf das Minimum von 11000
Meter-Centner reduzierte Einfuhr fortgesetzt
gestiegen und betrug 1898 2 026 000 Meter-
Centner.
In Frankreich und Deutschland
ist die Weizenausfuhr durch die Einführung
der G^treidezöUe imd durch deren Erhöhung
allmählich bis auf ein Minimum herabge-
drückt worden. In beiden Ländern über-
trifft eben die Einfuhr schon seit längerer
Zeit die Ausfuhr und bewirkten daher die
Getreidezölle in erster Linie die Verbrauchs-
zunahme inländischen Getreides im Inlande.
Das Anschwellen der deutschen Ausfuhr
seit 1894 steht im Zusammenhang mit der
am 1. Mai 1894 erfolgten Aufhebung des
Identitätsnachweises, wonach die Zollrück-
vergütung bei der Ausfuhr erfolgt, ohne
dass das ausgeführte Getreide als ausländi-
sches nachzuweisen wäre. Ausserdem ist sie
mit einem viel stärkeren Anwachsen der
Einfuhr verbunden. Diese betrug 1893 7,0,
1894 11,5, 1898 14,8, 1899 13,7 MiUionen
Meter-Centner.
Ausser den in der Tafel angeführten
Staaten sind wichtigere Weizenausfuhrländer
in Europa die Balkan Staaten. Es ex-
portierten Weizen
in 1000 Meter-Centner
Eumänien ....
Serbien
Bulgarien ....
Die europäische Türkei 663
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
9 454
9228
6614
7710
7030
6836
9712
12248
4340
S803
499
635
862
795
877
5^7
623
I 030
309
617
3215
2686
3135
3458
3496
2814
3859
6047
2817
1865
663
582
776
337
79
69
182
ca.2oo ca.2oo ca.200
13 831 13 191 II 387 12300 11482 10246 14376 19525 7666 8485
Der Weizenexport der Balkanstaaten, der
in der Mitte der 80 er Jahre erst 4 — 5
Millionen Meter-Centner betnig, stieg be-
reits 1888 auf mehr als das Doppelte (11,5
^Unionen), erhielt sich in den ersten 90 er
Jahren auf 10 — 13 MiUionen und erreichte
1895 und 1896 dieHochzif fem von 14,4 und 19,5
Millionen Meter -Centnern. Die schlechten
Ernten von 1897 und 1898 haben ihn aller-
dings wieder selir stark, jedoch nicht dau-
ernd reduziert.
Der Zollkriög Rumäniens mit Oester-
reich-Ungarn hat die Weizen- und Getreide-
ausfuhr Rumäniens wenig beeinflusst. Da-
gegen wurde die Exportrichtung ganz ausser-
ordentlich geändert. 1885 gingen 512 Mil-
lionen kg Getreide und Mehl nach Oester-
roich-Ungarn und 693 nach Grossbritannien ;
1J^88 gelangten in die Österreich-ungarische
Monarchie nur 17, nach England aber 1157
Millionen kg Geti^eide und Mehl. Sofort
nach Beseitigimg des Zollkrieges war das
Verhältnis wieder umgekehrt und 1897
gingen wieder nach Oesterreich-Ungarn 371,
nach Grossbritannien 501 Millionen kg Ge-
treide und Mehl.
Von aussereuropäischen Weizen-
exportländorn müssen insbesondere noch
die folgenden genannt werden.
Australien mit Einschluss von Tas-
manien und Neuseeland hat seit Beginn der
70 er Jahre und insbesondere in den 90 er
Jahren seine Weizenanbauflächen sehr be-
deutend vermehrt 1890 umfasste sie 3,5,
1897 4,7 Millionen Acres. Trotz exo^ssiven
Klimas und wiederholt imgünstiger Witte-
rungsverhältnisse hat es infolgedessen stei-
gende Ernteerträge. 1875/76 ergab die
Weizenernte 7,8, 1893/94 15,3. 1895/96
allerdings nur 9,1, 1897/98 wieder 12,2
Millionen lil. Die Weizenausfuhr ist daher
in jüngster Zeit recht bedeutend, wegen
Gretreideliändel (Statistik)
311
der ungleichen Ernteerträge aber ganz enorm
schwankend. Sie belief sich nämlich 1885
auf 12642, 1893 auf 15785, 1896 auf 1368,
1897 auf 1007, 1898 auf 1814 Tausend eng-
lische Bushel.
Yon grosser Bedeutimg für die Versor-
gung Frankreichs mit Brotgetreide ist Al-
gier, obschon hier die Ernteergebnisse und
mit ihnen die Ausfuhr noch unvermittelter
schwanken als in Australien. So wuKlen
1885' 1751, 1890 1466, 1893 nm- 383, 1895
wieder 1130, 1897 457, 1898 an 500 Tau-
send Meter-Centner Weizen aus Algier aus-
geführt. Fast die ganze Masse dieser Aus-
fuhr geht nach Frankreich, 1897 451, 1898
486 Tausend Meter-Centner.
In Aegypten wurde die Weizenanbau-
ßäche in der letzten Zeit ganz ausserordent-
hch vergrössert von 890699 Feddans im
Jahre 1877 auf 1298310 Feddans im Jahre
1888 und 1215841 Feddans im Jähre 1891.
Nichtsdestoweniger hat sich die Weizenaus-
fuhr nicht in dem entsprechenden Masse
gehoben; vielmehr befindet sie sich seit
1879, allerdings unter grossen Schwankun-
gen, im Rückgange und wurde 1897 und
1898 auf ein Minimum reduziert. In eini-
gen Jahren, so 1882, 1886, 1893, 1896, 1897,
wurde sie von der Einfuhr übertroffen.
Offenbar sind Missemten in Aegj^ten häufig
und der Bedarf der Bevölkerung verhältnis-
mässig gross. Die Weizenausfuhr betrug:
^ t
in 1000 Mtr.-Ctr.
1879
1926
1892 420
1896
113
1885
279
1893 159
1897
59
1890
413
1894 270
1898
83
1891
924
1895 228
1899
34
Die Weizeneinfuhr betrug dagegen 1890
310, 1895 132, 1896 265, 1897 127, 1898
68 Tausend Meter-Centner.
Auch die Weizenausfuhr von Tunis
unterliegt grossen Schwankungen. Sie geht
fast ganz nach Frankreich. In dieses Land
wurden aber von Tunis importiert 1895 610,
1896 488, 1897 434, 1898 517 Tausend
Meter-Centner Weizen.
Eine grössere Beständigkeit hat die
Weizenausfuhr aus Canada. In den letz-
ten Jahren ist sie bei einer nur massig ver-
grösserten Einfuhr sehr stark gewachsen.
Es wiutien exportiert:
1000 Busheis Weizen
1884—85 5424 1893—94 14108
1888—89 1 785
1890-91 4 539
1891-92 13659
1892—93 13008
1894-95 11946
1895—96 13219
1896—97 13 141
1897—98 23915
Die Weizenausfuhr der südamerikanischen
Staaten Argentinien, Uruguay und
Chile ist seit den 80er Jahren recht be-
deutend geworden, obschon in der letzten
Zeit ein sehr starker Abfall eintrat. Es
wurden exportiert:
aus
Argentinien
Uruguay .
Chüe*) . .
1890
3279
183
12
1891
3956
5
1077
1000 Meter-Centner
1892
4701
o
I 162
1893
10081
60
I 311
1894
16082
I 108
996
1895
IG 103
I 000
528
1896
5320
64
984
1897
1018
125
513
Zus. 3474 5038 5863 11452 18 186 11631 6368 1656
£i^) ngeführt von Chile nach Grossbritannien.
1898
6452
?
410
Auch Japan, wo in der letzten Zeit die
Weizenanbaufläche und damit die Produk-
tion von Weizen sehr zugenommen hat. da
das Klima den Anbau europäischer Getrei-
depflanzen mehr begünstigt als den von
Reis, kommt hier in Betracht. 1895 wur-
den von dort 25600 Meter-Centner expor-
tiert. 1896, 1897 und 1898 war die Ausfuhr
minimal, dagegen betrug die Einfuhr 23 500,
96 800, 29 100 Meter-Centner.
6. Weizeneinfnhrländer. Weitaus die
grösste Weizeneinfuhr hat Grossbritan-
nien. Es geht regelmässig mehr Weizen
dahin als nach dem übrigen Europa. Ent-
sprechend dem grossen Konsum der rasch
wachsenden Volksmenge werden die Zu-
fuhren fortwährend grösser. In den 21 Jahren
von 1861 bis 1882 hat sie sich verdoppelt,
indem sie von 15,2 auf 32,6 Millionen Meter-
Centner stieg. In den folgenden 80 er
Jahren wurde die Einfuhi' zwar geringer,
doch betnig sie auch 1886 noch 24,1 Millionen
Meter-Centner. Seither wuchs sie beständig
und betrug 1895 sogar 41,5, 1898 wieder
33,1 Millionen Meter-Centner. Diese Zu-
fuhren sind weit ^össer als der inländische
Ernteertrag ; ja mit Einschluss der Weizen-
mehlimporte ist die Zufuhr gegenwärtig
3 — 4 mal so gross als die inländische Wei-
zenproduktion. Der Yerbrauch von aus-
länoischem Weizen per Kopf der Bevölkerung,
der in den 50 er Jahren etwa ein Viertel^
in den 60 er Jahren schon mehr als zwei
Fünftel des ganzen Weizenkonsums aus^
machte, stieg in den 80 er Jahren auf zwei
Drittel, in den 90 er Jahren auf drei Viertel
dieses Gesamtverbrauchs und mehr. Es
betrug nämlich der Weizenkonsum pro Ein-
wohner
312
Getreidehandel (Statistik)
Durchschnitt- Eilogramm
lieh, resp. vou eigenem von fremdem ^^^
Zu-
Weizen
103,6
36,7
140,3
91,4
60,5
151,9
56,6
108.3
164,9
50.6
116,6
167,2
23,8
132,8
156,6
36,7
127,1
163,8
34,5
126,5
161,0
im Jahre
1862—69
1860—67
1881—85
1891
1895
1896
1897
Lange nicht so gross, aber gleichfalls
wachsend ist, wie die folgende Tafel
zeigt, die Weizeneinfuhr nach Frank-
reich, Deutschland und Oe st erreich-
üngarn.
Weizeneinfuhr
§
nach
1
Qrossbri-
08
•-5
tannien
Frank-
Deutsch-
Oesterr.-
s
in 1000
reich *)
land
üngam •)
'^
engl.Ctm.
.s
ä 50,8 kg
in 1000 Meter-Centnem
1861
1865
1870
1871
1875
1876
1877
1878
1879
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
im)
29956
20963
30901
39390
51877
44 455
54270
49906
59592
55 262
57148
64241
64139
47306
61499
47436
55803
57261
58552
60474
66313
64902
65462
70 126
81750
70026
62 740
65 228
66637
9198
232
3 773
9498
3 494
5281
3 397
13877
22 171
19994
12849
12937
10 118
10549
6458
7097
8967
11 357
II 418
10552
19602
18842
10032
12496
4507
1585
5227
19545
3510
2 130
3080
4390
4990
6850
9400
10 600
9150
2 276
3619
6872
6419
7 545
5724
2733
5 473
3398
5 169
6726
9053
12962
7035
11538
13382
16527
" 795
14775
13709
243
o
489
615
1031
I 162
1435
1455
2331
3246
2493
2296
1 662
I 286
1381
226
79
II
18
42
95
131
207
278
188
133
1275
2026
734
Ein Vei-gleich der Ein- und Aiishihr-
daten ^) zeigt, dass Frankreich, und zwar
trotz des Rückganges der Einfuhr seit 1893,
*) Mit Einschluss von Spelz und Halbfrncht.
*) Mit Finschluss von Spelz bis 1877.
^) Vgl. auch die Tabellen in der I. Auflage des
Handwörterbuches Bd. III S. 881, 883.
seit 1871 in keinem Jahre, Deutschland
nur in den Jahren 1871, 1872 und 1875,
Oesterreich - Ungarn aber in den
Jahren 1871, 1876—1879, 1882, 1883, 1885
bis 1896 Mehrausfuhren hatte. Frankreich
hatte noch 1864 — 1866 bei geringen Weizen-
einfuhrmengen eine Mehraushihr, ist aber
seither im stei^nden Masse ein Importland.
Aehnliches ergiebt sich auch, wenn mau,
wie das Annuaire de la JVance, den Mehl-
handel einrechnet Damach hatten von den
46 Jahren zwischen 1821 und 1866 24 einen
Mehrexport, von den folgenden Jahren seit
1867 hatten aber nur die Jahre 1875, 1877
eine geringfügige Mehrausfuhr, und seit
1878 übertrifft die Emfuhr jährlich die Aus-
fuhr mit der beträchtlichen Durchschnitts-
ziffer von 17,3 Millionen hl. Deutschland
ist seit Beginn der 70 er Jahre ein ausge-
sprochenes Importland, auch wenn man den
Mehlhandel hinzuzieht, Oesterreich-Üngarn
scheint es zu werden, es befindet sich etwa
auf dem Standpunkt Frankreichs zu Anfang
des Jahrhunderts. Selbst unter Einrechnung
des Mehlhandels hat es nämlich bereits
1872, 1873, 1880, 1897 und 1898 eine Mehi--
einfuhr von Weizen.
Die Einführung und Verschärfung der
Getreideschutzzölle (1879, 1880, 1885, 1886)
hat in allen drei Staaten offenbar die Grösse
der Einfuhr vermindert, aber während in
Franki-eich und Deutschland mindere Ernten
und der wachsende Bedarf der Bevölkerung
die Einfuhr bald wieder auf die frühere
Höhe emportrieben, ja eine grössere Mehr-
einfuhr erzeugten, ist in Oesterreich-Üngarn,
als einem Exportlande, die Einfuhr seit 1886
(Zollkrieg mit Rumänien) auf ein Minimum
reduziert worden. In den 90 er Jahren
haben in Frankreich die überaus grossen
Ernten der Jahre 1892—1896 (durclischnitt-
lich 87,8, 1894 sogar 93,7 Millionen Meter-
Centner) die Weizeneinfuhr von 1893 ab
fortgesetzt reduziert; in Deutschland liat
dagegen die schlechte Ernte von 1891 die
Einfuhr von 1891 und 1892 gehoben, wäh-
rend die guten Ernten von 1892 und 1893
nur die Einfuhr von 1893 reduzierten, und
in den folgenden Jaliren trotz günstiger
Ernteergebnisse, offenbar im Zusammenhang
mit der Beendigung des deutsch-russischen
Zollkampfes, dem wirtschaftlichen Auf-
sch\^^ing und der vermehrten Konsumkraft
des deutschen Volkes die Weizeneinfuhr
grösser wurde als je. Auch in Oesterreich-
üngarn wui^de die Konsumkraft seit 1H92
bedeutend grösser, sodass, wie erwähnt, die
Ausfuhr trotz guter Ernten kleiner wurde
und die Einfuhr massig anwuchs. Die
schlechte Ernte von 1897 inusste danach
naturgemäss die Einfuhr von 1897 und 1898
steigern, ja zu einer Melireinfuhr umwan-
deln. Es betrug übrigens in
Getreidehandel (Statistik)
313
im
Jahre
1876
1877
1878
1879
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
Deutschland Frankreich Oesterreich-
Ungarn
die Mehr-
die Mehreinfuhr aasfuhr
in 1000 Meter-Centnem
2970
2050
2750
3 100
494
3085
6247
5611
7183
5583
2650
5 445
3387
5 161
6724
9050
12960
7032
10846
12683
15775
10081
13427
11735
4620
1925
13 781
22 115
19905
12763
12872
10014
10509
6384
7069
8958
"344
11407
10546
19594
18834
10014
12464
4487
1573
5221
19528
37
2286
2168
1471
—1230*)
— 413^)
2039
1146
— 177^)
195
1870
2256
4130
2542
2327
1453
620
555
368
491
429
— 993^)
— 1997I)
— 727
Unter den Bezugsländem von Weizen
stehen filr Frankreich seit 1878 die Verei-
nigten Staaten und Russland obenan, und
zwar liefern bald jene (so 1879-^1884,
1886—1887, 1891, 1892, 1898), bald dieses die
grössten Quantitäten. Ihnen folgen Britisch-
Ostindien, die Türkei und Rumänien, deren
Import aber seit 1895 auf ein Minimum
reduziert ist, sodann Algier und Tunis, die
seit 1890 recht bedeutende Beträge liefern,
1896 mehr als Russland und Amerika. Für
Deutschland sind bis 1890 Russland imd
Oesterreich-üngam die wichtigsten Weizen-
zufuhrländer gewesen, 1891 kamen die
Vereinigten Staaten, 1893 Argentinien und
Rumänien hinzu, während die Einfuhr aus
Oesterreich-Üngarn fortgesetzt zurückging
und jene aus Russland 1892—1894 infolge
des Zollkampfes vorübergehend stark ge-
drückt war. Seit 1895 liefert Russland
wieder mehr als die Hälfte des ganzen Im-
poi-tes, wie schon früher zwischen 1884 imd
1891. Es wurden nämlich importiert von
Im Jahre
Russland
Oesterreich-üngam Vereinigte Staaten
Rumänien
Argentinien
in 1000 Meter-Centnem
1880
556
833
336
30
^^^
1881
822
905
I 128
9
1882
2 176
2601
746
49
1883
2490
2034
424
181
—
1884
3259
828
722
301
—
1885
3232
468
288
127
—
1886
1418
439
167
1887
2559
1044
541
—
—
1888
1540
I 206
84
—
1889
3012
1347
24
255
—
1890
3708
I 112
520
618
78
1891
5152
752
M35
429
124
1892
2573
457
6302
918
662
1893
216
238
3 149
1436
1514
1894
2806
194
3235
1430
3462
1896
6782
268
1936
I 272
2632
1896
8519
230
2669
3200 •
I 416
1897
7519
137
2073
I 521
326
1898
7 755
58
5280
565
830
1899
3324
22
7 103
406
2522
Oesterreich-üngam schickt seinen Weizen
noch immer hauptsächlich nach Deutschland
und in die Schweiz. In den letzten
Jahren waren di^ Exporte in diese Länder
klein, 1896—1899 158, 117, 19 und 3 resp.
402, 164, 9 und 0,3 Tausend Meter-Centner.
Dagegen sind die, wie erwähnt, stark re-
duzierten Weizeneinfuhrmengen aus Russ-
land, Rumänien imd selbst aus Deutschland
seit 1806 wieder recht bedeutend geworden ;
sie betrugen 1896 — 1899 aus Russland 25,
*) Mehreinfahr.
615, 1155, 238, aus Rumänien 50, 207, 845,
65, aus Deutschland 1, 278, 337, 176
Tausend Meter-Centner.
Zu den Weizenimportstaaten zählen alle
bisher nicht genannten Staaten Europas,
Italien, Spanien, Portugal, die Schweiz,
Belgien, Niederlande, Dänemark, Schweden,
Norwegen, Finland und Grriechenland.
Speciell in Italien hat die Weizenein-
fuhr in der letzten Zeit infolge schwächerer
Ernten und wegen der raschen Bevölke-
nmgsvermehrung den Schutzzöüen und ihrer
Erhöhung (1888) zum Trotz ausserordent-
314
Getreidehandel (Statistik)
lieh zugenommen. In den Jahren 1862 bis
1884 schwankte die Einfuhrmenge zwischen
147 (1881) und 488 (1879) Millionen kg und
.erreichte nur einmal die Ziffer von 764
Millionen kg. In den folgenden fünf
Jahi^n (1885—1889) aber betrug die Ein-
fuhr, bei einer von 13 Millionen kg auf 0,6
Millionen kg sinkenden Ausfuhr durch-
schnittlich 843,6 Millionen kg imd gipfelte
. 1887 mit 1016 Millionen kg. In den 90 er
Jahren blieb die Ausfuhr gleich niedrig,
während sich die Einfuhr im Zusammenhang
mit einigen besseren Ernten etwas verrin-
gerte; sie betrug 1890 645, 1891 464,4,
1892 697,1, 1893 861,4, 1894 486,8, 1895
657,8, 1896 698, 1897 414, 1898 8782
Tausend Meter-Centner.
Dänemark hatte bis 1876 eine Mehr-
ausfuhr von Weizen. Dieselbe betrug 1875
noch 284848, 1876 111 859 Tonnen zu 1,4 hl.
Seither hat es aber eine ständige Mehrein-
fuhr. Sie betrug im Jahresdurchschnitt
1886—1890 schon 29,1, 1891—1895 aber
47, 1896 48,3, 1897 36,4, 1898 49,1 Millionen
kg. Dieser Umschwung ergab sich sowohl
als eine Folge der vergrösserten Bevölkerung
als auch als eine Folge des vermehii;en in-
dividuellen Konsums.
6. Uebersicht des Weizenhandels.
Den Umfang und die Bedeutung des AVei-
zenhandels in den wichtigsten Staaten der
Erde lässt für das Jahr 1897 die folgende
Tabelle erkennen:
Weizen.
Einfuhr Ausfuhr Mehrausf.
in 1000 Meter-Centnern
I. Ausfuhrländer.
Kussland ') ca. 8o
Vereinigte Staaten
675
34 93* 34 85*
von Amerika *) *)
Kumänien
Bulgarien
Canada*)*)
Ar^entiuien
Bnt. Ostindien*)
Chüe •)
Algier
Serbien
Uruguay
105
I
1592
144
305
11
35
4
30 568 »)
4 339
2817
3580
I 018
991
? 513
457
308
125
29893
4234
2816
I 988
874
686
513
446
273
121
Summe 2 952 79 648 76 696
n. Einfuhrländer.
Grossbritannien 31 872
Deutsches Keich 1 1 795
154
1714
Mehreinf.
31 718
10081
') Das Pud zu 16,38 kg. Vgl. üebersicbten
Jahrg. 1885 89 S. öO.
«) Kalenderjahr 1897. Den Bushel zu Ö8
engl. Pfd. gerechnet. Ebenda S. 25.
') Inklusive fremden Weizen 628 982 Meter-
Centner.
*) Fiskaljahr 1896197.
^) Den Bushel zu 60 engl. Pfd. gerechnet.
Ebenda S. 94.
*) Import nach England.
Einfuhr
Ausfuhr
Mehreinf.
in 1000 Meter-Centnern
Belgien
10983
2362
8 121
Frankreich
5227
6
5 221
Italien
4 141
5
4x36
Schweiz
3532
2
3530
Niederlande *)
II 105
8744
2361
Spanien
1417
I
I 416
Portugal
I 412
0
I 412
Griechenland
1297
I
I 296
Schweden-Norweg<
m I 205
0
I 205
Oesterreich-Ungam i 275
282
993
Cap-Kolonie
837
?
837
Dänemark
583
218
483
Australien *)
535
294
261
Japan
97
I
96
Türkei »)
258
182
76
Aegypten
127
59
68
Summe :
87698
14505
73193
Die Differenz zwischen der Mehrein-
nnd*Mehraiisfuhr erklärt sich völlig zutref-
fend aus der Ungleichheit der Nachweis-
perioden, aus der Anhäufung von Lagerbe-
ständen ausser den Zollgebieten, aus dem
Zeitunterechied zwischen dem Abgange
der Exportware und der Ankunft der Im-
portware und endlieh aus der ünvollstän-
digkeit der Aufzählung von Ein- und Aus-
fuhrgebieten.
Für das Jahr 1888 hatten wir eine
grössere Mehrausfuhr und eine kleinere
Mehreinfuhr, nämlich 78552 resp. 67 836
Tausend Meter-Centner berechnet-*). In den
dazwischen liegenden 10 Jahren haben sich
eben sehr bedeutende Veränderungen erge-
ben, die diese Differenz leicht erklären. Die
Mehrzahl der Importstaaten (7) hat eine
wesentlich grössere Mehreinfulu-, und vier
Staaten sind 1897 Importstaaten, die 1888
als Expoi-tstaaten aufgetreten sind, Oester-
reich-Ungarn, Austi-alien, die Türkei und
Aegypten. Umgekehrt ist die Zahl der Ex-
port'staaten 1897 kleiner als 1888, ihr Ex-
port aber niu* in wenigen Fällen (so bei den
Vereinigten Staaten) grösser geworden.
7. RoggenhandeL Der Roggenhandel
hat bei weitem nicht die Bedeutung des
Weizeiihandels. In den überseeischen Ghe-
bieten wird wenig oder gar kein Roggen
augebaut So liaben die Vereinigten Staaten
von Amerika im Jahresdurchschnitte 1870
bis 1874 3,9, 1890—1894 7,1, 1895—1898
6,6 Millionen Meter-Centner Roggen geern-
tet Die Ausfuhr betrug jdanach im Jahres-
duivhschnitte 1870.71—1874/75 161, 1890/91
bis 1894 '95 716 und in den Jaliren 1895.96
251, 1896/97 2174, 1897. 98 3948 Tausend
*) Den Hektoliter zu 78 kg gerechnet.
Ebenda S. 143.
*) unvollständige Nach Weisung.
«) Fiskaljahr 1895|96.
*) Siehe I. Auflage des Handwörterbnchei
III. Bd. S. 885.
Getreidehandel (Statistik)
315
Meter-Centner. Auch in xien westlichen und
südlichen Staaten Europas ist der Boggen-
anbau und -verbrauch und infolgedessen
auch der Handel gering. So betrug die
Koggenanbaufläche in Grossbritannien 1898
nur 81 285 Acres gegen 2,1 Millionen Acres
Weizenanbaufläche und so beläuft sich in
Frankreich die Roggenernte im Durchschnitt
der Jahre 1893—1897 auch niu- auf 16,7,
im Jahre 1897 auf 12,1 Millionen Meter-
Centner. Auch der Roggenhandel ist da-
selbst sehr gering. Es wurden nämlich
1896 resp. 1897 von Frankreich umgesetzt
in der Einfuhr 182 resp. 7549, in der Aus-
fuhr 1365 resp. 25 Tausend Meter-Centner.
Bedeutend ist der Roggenanbau und -han-
del nur in den östlichen und nöixllichen
Staaten Europas, insbesondere in Deutsch-
land, Russland, Oesterreich- Ungarn, Fin-
land, Schweden-Norwegen, Dänemark, auch
in den Balkanstaaten, den Niederlanden und
Belgien. Die Roggenausfuhr der drei erst-
genannten Staaten und ,die Roggeneinfuhr
nach Deutsehland seit 1861 stellt folgende
Tabelle dar: Roggen.
Ausfuhr aus
Einfuhr
nach
Bufwland
im
über alle
Grenzen
Oesterr.-
Dentflc
bland
Jahre
in 1000
Pud
Ungarn
k 16,38 kg
in lOOC
I Meter- Cei
itnem
1861
17858*)
175^)
258 0
1 310
1360
1866
1330**)
1 140
I 660
1871
33 158*)
I 360
I 570
4180
1876
51847
745
I 560
7000
1876
72979
714
1 000
11 000
1877
90249
477
I 760
II 900
1878
85502
443
I 960
9450
1879
102 387
748
I 460
14700
1880
50808
642
266
6896
1881
37057
613
116
5 755
1882
48449
746
158
6583
1883
65892
266
121
7770
1884
65977
77
63
9616
1885
76093
73
40
7697
1886
65861
14
32
5653
1887
78213
II
31
6385
1888
107 270
57
23
6528
1889
84288
34
6
10597
1890
76906
33
I
8799
1891
68006
373
I
8427
1892
12066
310
9
5486
1893
32 184
7
3
2243
1894
80970
3
497
6536
1895
91293
4
360
9648
1896
79255
2
383
10307
1897
73 559
1
1 064
8568
1898
67056«)
4
1297
9 141
1899
—
6
1235
5613
') In den Jahren 1861 und 1866 mit Ein-
scbloss von Heidekorn, Hirse and Spelz in Hülsen.
') Ueber die europäische Grenze allein.
Danach hat sich die russische Rog-
genausfuhr in ähnlicher Weise ent-
wickelt wie die Weizenausfuhr. Allerdings
bew^egt sich der Export nicht in gleich
grossen Mengen. In den 70 er Jahren kam die
Roggenausfuhr der Weizenausfuhr noch
ziemlich nahe, ja 1877 war jene mit 90
Millionen Pud grosser als diese, die nui-
86,6 Millionen Pud betrug. In den 80 er
Jahren blieb sie schon stark zurück und
belief sich nur etwa auf die Hälfte der
Weizenausfuhr. Zwischen 1890 und 1893,
zur Zeit des ZoUkampfes ging sie absolut
und relativ sehr stark zurück; 1892 betrug
sie nur etwa ein Siebentel der Weizenaus-
fuhr. Obschon sie sich seither sehr stark
gehoben hat, so betrug sie doch 1895 nur
etwa 40, 1896, 1897 und 1898 nur etwa 36
resp. 34 und 38®/o der Weizenausfuhr. Im
Quinquennium 1885 — 1889 wurde siebenmal
so viel Roggen ausgeführt als im Quinquen-
nium 1861—1865, 1894—1897 war aber die
Roggenausfuhr diuxjhschnittlich ebenso gross
wie 1885—1889.
Die Roggenaüsfuhr aus Oesterreich-
üngarn ist, offenbar im Zusammenhange
mit den sehr kleinen Roggenernten in Un-
garn, auffallend zurückgegangen. Die Gre-
IreidezöUe haben sie ähnlich wie in einem
Importstaate seit 1883/84 stark reduziert, und
seit 1893 sind sie gar auf ein Minimum
herabgesunken, üeberdies steht der Roggen-
ausfuhr eine starke Einfuhr hauptsächlich
aus Russlatid und Rumänien, neuestens auch
aus Deutschland gegenüber, so dass seit
1872 nur sieben J^ire eine Mehrausfuhr
und zwanzig Jahre eine Mehreinfuhr an
Roggen nachweisen. 1893 — 1899 betrug
diese 62, 30, 272, 509, 1748, 2278 und 200
Tausend Meter-Centner Roggen,
Deutschland ist trotz seiner grossen
Roggenernten, die regelmässig doppelt so-
gross sind als seine weizenernten, auch im
Koggenhandel passiv. Bis 1890 war die
Mehreinfuhr von Roggen viel grösser, ja oft
doppelt so gross, so noch 1889, als jene von
Weizen. Seit dem Zollstreit mit Kussland
nahm sie sehr ab und betrug 1893 nicht
mehr ein Drittel der Mehreinfuhr von Wei-
zen, 2,2 Millionen Meter-Centner gegen 7,0
Millionen Meter-Centner; auch im Durch-
schnitte von 1894—1898 beträgt sie nicht
zwei Drittel letzterer, nämlich 8,1 gegen
12,6 Millionen Meter -Centner. Wie die
nachfolgende Tabelle lehrt, ist die Mehrein-
fuhr von Roggen seit den 70 er Jahren und
insbesondere in den ersten 90 er Jahren sehr
stark zurückgegangen. Die letzten vier
Jahre haben allerdings wieder eine Steige-
rung gebracht, doch bleibt die Ziffer gegen
jene von 1875 — 1879 wesentlich zurück.
Die auffallende Veränderung dürfte wohl
auch mit den Preisgestaltungen des Gf^etrei-
316
Getreidehandel (Statistik)
1870-74
1452
6256
1875—79
1548
10810
1880-84
145
7324
1885—89
26
7374
1890—94
102
6298
1895—99
870
8655
des und den Wohlstandsverhältnissen in
Deutschland zusammenhängen. Es betrug
aber im Jahresdurchschnitt die
Ausfahr Einfahr Mehreinfuhr
4804
9262
7179
7348
6196
7785
Die wichtigsten Zufuhrländer von
Roggen sind für Deutschland wiederum
Russland, Rumänien und die Vereinigten
Staaten, welch letztere Länder nunmehr
Oesterreich-Üngams Stelle vertreten. Russ-
land beschaffte, wie folgende Tafel zeigt,
vom Gesamtimporte 1886— -1890 durchschnitt-
lich fast 76, 1893 nur 43, 1894^1897 fast
80 0/0.
Roggeneinfuhr nach Deutschland aus
Roggenhandel.
I. Ausfuhrländer
n, Einfahrländer.
1
P
h
Oß
^
-<
Es]
<
Tausend
Tausend
Mtr.-Ctr.
Mtr.-Ctr.
Bassland
0,0
12048
Deutschland
8568
1064
Vereinigte
Niederlande
5062
3HI
Staaten von
Schweden-
Amerika ^)
8,4
2690
Norwegen
2349
2
Rumänien
5
1427
Oesterreich-
Balgarien
2,6
168
Un^[am
1749
I
Türkei •)
4
51
Belgien
828
379
Serbien
0,0
29
Dänemark
761
25
Spanien
2
Frankreich
479
I
Japan
I
Finland
298
9
j
Schweiz
72
0,1
im
Jahre
1879
1880
188Ö
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
Bussland
Tausend Mtr.-Ctr.
Verein.
Staaten
5879
4212
4212
3294
4168
4704
9202
7505
6190
1234
959
5334
8420
7880
6107
6113
4604
1779
634
III
119
161
87
389
344
4
4
8
6
3
3
66
67
320
237
233
268
527
884
938
1291
738
371
152
95
92
^6
50
209
643
1361
182
56
31
648
1430
2489
705
Zur Charakteristik des Roggenhandels
geben wir in nebenstehender Tabelle noch
eine kurze üebersicht der Ein- und Aus-
fuhr von Roggen in den für diesen Handel
wichtigsten Ländern im Jahre 1897.
8. Handel mit Gerate, Hafer und
anderen Getreidearten. Der Handel mit
Gerste und Malz hat in den letzten
Jahren einen recht kräftigen Aufschwung
genommen imd fibertrifft gegenwärtig den
Roggenliandel in nicht geringem Masse.
Auch der Handel mit Hafer steht letzte-
rem in betreff der Menge wenig nach. Für
beide Getreidearten geben wir im folgenden
eine knapj)e Üebersicht- der Ein- und Aus-
fulir der wichtigsten Staaten im Jahre 1897.
Gegenüber 18S8 zeigen sich in dem genann-
ten Jahi-e wesentliche Veränderungen. In
beiden Getreidesorten haben die Vereinigten
Staaten jetzt eine sehr starke Mehraiisfulir ;
auch sind jetzt die Balkanstaaten sowie
Canada weit bedeutendere Exportländer als
vor zehn Jahren. Umgekehrt liat jetzt
Deutschland (statt England) den gi-össten
Mehrimport von Gerste und (statt Frank-
reich) den zweitgrössten Mehrimi)ort an
Hafer. Auch sonst ist in den Importstaaten
wohl im Zusammenhang mit dem wachsen-
den Bierkonsum die Mehreinfuhr von Gerste,
und im Zusammenhang mit der vergrösser-
ten Pferdehaltung der Haferkonsum gestie-
gen. Oesterreich-ün^m, das 1888 noch
eine Mehrausfutr von Hafer, und Dänemark,
das damals eine Mehrausfuhr von Gerste
hatte, haben 1897 auch von diesen Getreide-
sorten melir importiert als exportiert.
(Siehe die an erster Stelle auf S. 317
stehende Tabelle.)
Die Rolle, welche Russland im Handel
mit Gerste und Roggen spielt, fällt im
Maishandel den Vereinigten Staaten von
Amerika zu, welche regelmässig vier Fünf-
tel und mehr von der gesamten Maispro-
duktion der Erde erzeugen. Ihnen zunächst
kommen, wie die folgende Tabelle zeigt,
Rumänien, Argentinien, Russland und Bul-
garien. Oesterreich- Ungarn hat trotz der
grossen Maisproduktion Ungarns regelmässig
eine Mehreinfuhr und ebenso neuestens auch
Italien. Im Jahre 1897 betrug übrigens die
Einfuhr resp. Ausfuhr von Mais:
(Siehe die an zweiter Stelle stehende
Tabelle auf S. 317.)
*) Kalenderjahr 1897, den Bushel zu 66 eng-
lische Pfuod gerechnet. Vgl. Üebersicht Jahrg.
1885/89 S. 16.
3j Fiskaljahr 1895/96.
»} Kalenderjahr 1895.
Getreidehandel (Statistik)
317
Gerste
Hafer
I. Ausfuhrländer
Ein-
fuhr
Aus-
fuhr
Ein-
fuhr
Aus-
fuhr
in 1000 Mtr.-Ctm.
Bussland
ca. 20
14645
ca. 2
7144
Oesterreich -Ungarn
438
3582')
619
15
Vereinigte Staaten
Ton Amerika^
179
3471
3
7585
Rumänien
4
3338
4
543
Türkei*)
92
725
0,4
323
Bulgarien
3
176
0,5
36
Canada
454
853
Algier
430
337
—
276
Serbien
I
35
I
176
Japan
2
5
0,0
Argentinien
8
5 —
Australien
119
42 138
302
Summa
1 296
26815
768
17253
n. Einfuhrländer.
Deutsches Reich*)
10635
185
5 479
214
Grossbritannien
9631
79
8187
127
Niederlande*)
3281
2375
2925
2544
Belgien •)
3089
754
4637
1448
Frankreich
1938
137
1984
22
Schweden-Norwe-
gen')
1075
3
154
215
Dänemark
559
370
193
15
Schweiz ')
500
I
865
2
Aegypten
87
17
Finland
88
0
89
310
Italien
35
66
15
4
Portugal
24
0
0
Capland und Natal
?
9
•
259
9
•
Summa
30942
3987
24807
4901
Der Handel mit den sogenannten klei-
neren Getreidearten beträgt, wie er-
wähnt, kaum 5"/o des Gesamtumsatzes an
Getreide imd Mehl. Nur wenige Staaten
haben einen grösseren Handel in diesen Ar-
tikeln. Spedell aus Russland wurden im
Durchschnitte der Jahre 1876—1880 erst
118, 1891—1895 aber 207 und im Jahre
1897 164 Tausend Meter- Centner Buch-
*) Dazu noch 1 684 000 Meter-Centner Malz.
1899 wurden 4143000 Meter-Centner Gerste
und 1823000 Meter-Centner Malz exportiert.
*) Ealendeijahr lfi07. Den Bushel Gerste
zu 21,8, Hafer zu 14,6 kg gerechnet. Vgl.
üehersichten Jahr?. 1885/89 S. 16.
*) Fiskaljahr 1896/96.
Dazu noch Malz Einfuhr: 984, Ausfuhr:
152 Tausend Meter-Centner. Im Jahre 1895
resp. 1899 betrug bei Gerste die Einfuhr 11631
und 11042 die Ausfuhr 127 und 140; bei Malz
die Einfuhr 936 und 1032, die Ausfuhr 121 und
109 Tausend Meter-Centner.
*) Den Hektoliter Gerste mit 66,6, Hafer 45,6
kg gerechnet. Ebenda S. 143.
•) Bei Gerste ist Mähe, bei Hafer ist Mais
und Buchweizen mitgerechnet.
^ Bei Gerste ist Malz mitgerechnet.
I. Ausfuhrländer
Einfuhr Ausfuhr
in 1000 Mtr.-Ctr.
Vereinigte Staaten
Ton Amerika^)
I
48038
Rumänien
39
7818
Argentinien
Russland
I
ca. 10
3 749
3464
Bulgarien
Serbien
0
20
780
134
Türkei
64
126
Spanien
Canada
0
?
106
1836
Summa
135
66051
II. Einfuhrländer
Grossbritannien
27323
375
Deutsches Reich
12663*)
1
Niederlande
5 120
1503
Dänemark
5030
559
Frankreich
3965
14
Oesterreich-Üngam
2312
189
Italien
1282
94
Schweiz
602
I
Aegypten
423
84
Australien
289
27
Uruguay
209
H
Algier
171
11
Schweden-Norwegen
142
Finland
37
Summa
59568
2872
weizeu und in den gleichen Jahren 36 resp.
172 und 229 Tausend Meter-Centner Hirse
exportiert. Ebenso wurden aus Rumänien
1891—1895 durchschnitlHch 248, 1897 356
und 1898 536 Tausend Meter-Centner Hirse
und in der gleichen Zeit 1200 resp. 500 und
1291 Meter-Centner Buchweizen ausgeführt.
Aus Bulgarien wurde bis 1890 relativ viel
Buchweizen und Hirse exportiert, 1886 bis
1890 im Jahresdurchschnitte 321 000 Meter-
Ceutner. Seither ist aber diese Ausfuhr
sehr stark zurückgegangen und betrug 1896
2980, 1897 8410 und 1898 43930 Meter-
Centner. Mit den fallenden Preisen scheint
sich der Handel immer mehr auf die grossen
Getreidegattimgen zu koncentrieren.
Grosse Mengen von Hülsenfrüchten
endlich exportieren Russland, Aegypten und
Canada. Importiert wurden 1897 resp. 1898
nach Grossbritannien 3,474 resp. 2,271 Mil-
lionen Meter-Centner Buchweizen und Hül-
senfrüchte, nach Deutschland 295330 resp.
275200 Meter-Centner Buchweizen haupt-
säclüich aus den Vereinigten Staaten und
Russland, dann 1339890 resp. 1169740
Meter -Centner Hülsenfrüchte hauptsächlich
aus Russland und Oesterreich-Üngarn.
^) Kalenderjahr 1897. Ben Bushel Mais zu
26,4 kg gerechnet.
*) 1898 15 806, 1899 16 266 Tausend Meter-
Centner.
318
Getreidehandel (Statistik)
9. Mehlhandel. Mit dem Wachsen des
Getreidehandels musste sich natiirgemäss
auch der Mehlhandel vergrössern, und in
der That war besonders in den letzten Üe-
cennien das Wachstum des letzteren sehr
bedeutend. So haben ilie Vereinigten Staa-
ten ihren Mehlexport in den letzten 20 Jah-
ren zweimal verdoppelt. Es wurden näm-
lich von da exportiert
in den Jahresdurch-
schnitten
Tausend
Mtr.-Ctr.
1870/71 1874/75
1875/76 1879/80
1880/81-1884/85
1885/86 1889/90
1890/91—1894/95
3284
4418
7863
9848
. 13679
Vor einigen Jahrzehnten hatte Oester-
reich-üngarn die Fühnmg im Mehlhandel,
seit jenem grossen Aufschwung wurde es
aber von der amerikanischen Union weit
überflügelt, \md schon am Beginn der 90 er
Jahre exportierte letztere, wie folgende
Tafel zeigt, etwa zehnmal soviel als Oester-
reich-üngarn. Durch die Schutzzölle ist
die Mehleinfuhr Oesterreich-Ungarns fast auf
Null reduziert worden — iaS9 400 Meter-
Centner — , während die Mohlausfuhr erst
seit 1891 stark abnalim und neuestens nur
ein ^Minimum der vor zehn Jahren erhobenen
Ausfuhr beträgt. Auch in Deutschland haben
die ZöHe den Mehlhandel sehr stark einge-
schränkt und ganz besonders die Einfuhr.
Die Ausfuhr hat sich, nachdem sie zwischen
1880 und 1H82 stark gedrückt war, sehr ge-
hoben, so dass Deutschland gegenwärtig
eine die Einfuhr vier- bis fünfmal über-
wiegende Ausfuhr hat.
Wie diese Tafel zeigt, ist die r u s s i s c h e
Mehlausfuhr weit kleiner als die der Vor-
einigten Staaten von Amerika, die etwa
neun- bis zehnmal so gix>s8 ist als die
russische. Bis 1891 war diese auch kleiner
als die österreichisch-ungarische Mehlausfuhr
und erst seither ist sie wegen des Rück-
ganges letzterer ihr so sehr überlegen. Seit
achtzehn Jahren ist sie ziemlich stationär
und ausser jedem Verhältnis zu der grossen
Getreideausfuhr, offenbar infolge der schwä-
cher entwickelten Mühlenindustrie \md der
geringen Sorgfalt in der Beliandlung \md
Verarbeitung der Feldprodukte. Aus gleicher
Ui'sache ist der chilenische Mehlhandel
auf ein Miniraum eingescliränkt worden.
1870 80 exportiei-te nämlich Chile jährlich
noch 126000 Meter-Centn er, 1888 nur noch
86 (KM), welche Quantität fast ganz in Süd-
amerika abgesetzt wimle, da chilenisches
Mehl in Europa unaubringlich sein soll.
1896 kamen noch 200 englische Centner
Weizenmehl aus Chile nach England, 1897
wunle aber von Chile kein Weizenmehl
mehi- importiert. Dagegen wächst die MeM-
Mehl.
Ausfuhr von
Einfuhr nach
1879
1880
1881
1882
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
© ► 08
TS
a
I
ja
5e
CO 'Ö
O I
I
I
d
'S ^
OD »4
00 £3
2
o
o
in 1000 Meter-Centnem
5 355
1209
2423
2020
2075
5653
694
130I
806
526
7 445
666
1222
501
617
5514
1091
1816
928
446
9689
1488
1500
1290
217
7860
1298
1454
1332
170
0542
1318
1283
1322
212
0885
1478
2061
1511
109
8651
1209
1762
1452
139
1300
1059
1365
1162
H3
0393
984
994
1042
140
3848
IIOI
454
1052
266
5026
1248
418
1466
269
5275
1334
262
1884
309
3853
1331
114
1667
325
0742
1287
110
1590
485
3 575
1404
105
1622
385
4 754
? 35
1374
302
7 399
9
•
38
1619
438
5804
5725
5890
6 792
8433
7 700
9631
8925
7724
8349
8685
II 713
10702
10 114
9823
11 572
10826
10676
12980
129
293
239
330
309
259
268
490
459
336
751
427
160
206
347
218
243
551
ausfuhr Argentiniens und Uruguays
ziemlich rasch an.
Es betnig nämlich
in Argentinien die
in ürugua}' die
Aus-
Ein- Ein-
Aus-
Ein-
im
fuhr
fuhr
fuhr
fuhr
fuhr
Jahre
Mehl
von Weizenmehl
anderer
von Weizenmehl
Art
1000 Metrische
Centner
1878
29
0,0
8
9
•
9
•
1880
14
12,7
36
V
•
9
•
18ao
74
0,0
22
62
0,4
1890
120
0,2 17
6
19,5
1893
379
0,0
17
115
19,7
1894
407
0,1
II
339
13,3
1895
539
0,0
19
194
16,6
1896
517
0,1
15
177
19,2
1897
414
3,6
35
115
34,5
1898
234
1,1
21
—
Yon den Balkanstaaten hat nur Rumä-
nien und Bulgarien eine Mehrausfuhr
von Mehl. Im Jahresdurchschnitte 1891 bis
M Fiskaljahre 1878;79, 1879/80 u. s. f. Die
Ziffern geben die Ausfuhr von Mehl aller Art
an. Bei Hafermehl ist der Barrel zu 196 engl.
Pfd. gerechnet.
*) Ueber alle Grenzen. Mehl aller Art.
') Mehl ans Getreide, Reis etc.
*) Mehl aus Weizen, Roggen, Gerste und
Hafer.
Getreidehandel (Statistik)
319
1895, dann 1896 — 1898 expoiiderte ersteres
2Ö5 resp. 243, 102 und 186, letzteres 41 resp.
73, 36 und 72 Tausend Meter-Centner. Von
den überseeischen Gebieten haben die
australischen Kolon ieen und Canada
einen grösseren Mehlliandel. Doch ist der
Handel ersterer bald passiv, bald aktiv. In
den Jahren 1890, 1895, 1897 und 1898 wurden
z. B. von dort exportiert 2320 resp. 1700^
1060 und 1230 Tausend englisciie Centner
Mehl, dagegen in die einzelnen KoLonieen
importiert 1238 resp. 822, 2006 und 1391
Tausend englische Centner. Nach Gross-
britannien wurden hingegen 1890, 1895 und
1898 aus Australien 131, 73 und 9 Tausend
englische Centner importiert. 1896 und 1897
war die Einfuhr von dort gleich Null. Der
Mehlhandel C a n a d a s zeigt erst in jüngster
Zeit eine kräftige Entwickelung, dabei geht
die Einfuhr stark zurück. Sie betrug 1890
185, 1895 149, 1897 85, 1898 41 Tausend
Barrels. Die Ausfuhr betrug in den gleichen
Jahren 150 resp. 325, 482 und 1255 Tausend
Barrels. Nach England kamen in diesen
Jahren 9^3, 2343, 1531 und 1969 Tausend eng-
lische Centner Mehl aus Biitisch-Nord-
amerika.
Der grosste Mehlimportstaat ist Gross-
britannien. Sein Import, der sich in den
letzten zwanzig Jahren verdoppelt hat, be-
wegt sich so ziemlich auf gleicher Höhe
mit dem Mehlexport Amerikas. Erst in den
letzten Jaliren ist letzterer wesentlich
OTösser geworden. Eine Uebersicht seiner
Bezugsländer und ihrer Stärke giebt fol-
gende Tafel.
aus
Vereinigte
Staaten von
Amerika
Frankreich
Brit. Nord-
amerika
Oesterreich-
Ungam
Dentschland
Rnssiand
Dänemark
Argentinien
BaBian-
staaten
Brit Indien
Australien
Chüe
And.Staaten
Znsammen
Einfuhr von Weizenmehl (Meal and
Floor) nach England
in 1000 engl. Centner
1885 1890 1895 1897 11898^)
II
732
12026
13132
14063
187
103
I 126
1682
280
933
2343
1531
811
1370
1306
I 144
415
895
244
74
85
196
35
56
120
22
0
34-
I
28
23
7
0
10
10
3
4
0
0
I
131
131
73
0
—
I
—
67
60
_
751
86
17446
438
1969
729
107
123
20
27
9
13
136
15833115 7741 18 3681 18 681 21 017
^] 1899 importierten die Vereinigten Staaten
Die Differenzen dieser und der vorher-
gehenden Tafel liinsichtlich der Nachwei-
sungen für Oe st erreich -Ungarn erklä-
ren sich dadurch, dass Oesterreich-Üngarn
zwar im Specialhandel eine kleine Mehr-
ausfuhr von Mehl hat, dagegen im Verede-
lungsverkehr eine sehr starke Mehi'einfulir
von Weizen, Roggen, Halbfrucht, Hafer,
Mais, Buchweizen und Hirse und eine sehr
starke Mehrausfuhr von «Mehl, Gerste und
Malz nachweist. Rechnet man Specialhandel
und Veredelungsverkehr zusammen, so be-
trägt die Mehrausfuhr aus Oesterreich
im Jahre
in 1000 Mtr.-Ctr.
Mehl Malz
1891
1307
1189
1892
IIOO
1222
1893
1358
1369
1894
1350
1293
1895
1375
1413
1896
1341
1544
1897
956
1684
1898
732
1645
Der französische Mehlimport ist in
den 80 er Jahren trotz der Schutzzölle ge-
stiegen und, wie die oben gegebene Tafel
lehrt, erst seit 1892 riickgängig, während
gleichzeitig die Ausfuhr etwas zunahm. Sie
betrug in den Jahren 1891 bis 1898 72,
137, 202, 248, 138, 182, 194 und 417 Tausend
Meter-Centner. Da diese Ausfuhrziffem an
die angegebenen Einfuhrzahlen Frankreichs
nach England nicht heranreichen, ist es klar,
dass auch für Frankreich ähnliches wie von
Oesterreich-Ungam gilt.
Besonders schwankend ist der Mehlhan-
del Italiens. In den 23 Jahren von
1876 bis 1898 waren 10 Jahre mit einer
oft bedeutenden Mehreinfuhr (1876, 1877,
1884—1887, 1889, 1890, 1892, 1894) und
13 Jahre mit einer Mehrausfuhr, die 1895
bis 1898 mit 94, 85, 126 und 68 Tausend
Meter-Centner ihren Höhepunkt erreichten.
Das gleiche gilt von Belgien, das 1885
bis 1889, 1891, 1892, dann 1897 und 1898
eine Mehi-ausfuhr, 1890, 1893—1896 eine
Mehreinfuhr von Mehl und Mahlprodukten
hatte. Es betrug nämlich 1896, 1897 und
1898 die Einfuhr 158, 76 und 104, die Aus-
fuhr 140, 180 und 360 Tausend Meter-
Centner. Aehnlich hatte Spanien 1883 bis
1886 eine Mehrausfuhr von "Weizenmehl,
1887/89 aber eine Mehreinfuhr. Seither ist
die Einfuhr ständig zurückgegangen und
zw^ar von 254 860 Meter-Centner im Jahre
1890 auf 8206 Meter-Centner im Jahre 1897,
während die Ausfuhr von 1890 bis 1893
von 317 430 auf 9 120 Meter-Centner fiel,
dann aber bis 1896, 1897 auf 578 290 resp.
18406, Frankreich 641, Britisch Nordamerika
2499, Oesterreich-Ungarn 1080, Deutschland 61
Tausend englische Centner Weizenmehl.
320
Getreideliandel (Statistik) — Getreidepreise
496410 Meter-Centner stieg, sodass sich
1892 und 1893 zwar eine Mehreinfuhr, seit-
her aber, wie in Italien, eine starke Mehr-
ausfuhr ergab, 1898 betrug die Einfuhr
30 977, die Ausfuhr 159 755 Meter-Centner.
Eine ständige .Mehrausfuhr von Mehl und
Mahlprodukten hatte Dänemark bis in
die 90 er Jahre. 1886 bis 1890 betrug die
durchschnittliche Mehrausfuhr von Weizen-
mehl 24,3 Millionen kg, die von Melü
und Mahlprodukten anderer Art 2 Älillionen
kg. Im Durchschnitt der Jahre 1891—1895
war die Mehrausfuhr von Weizenmehl auf
597426 kg gesunken, während in den
ilbrigen Mehl- und Mahlprodukten eine
Mehreinfuhr von 5 Millionen kg eingetreten
war. In den Jahren 1895, 1896, 1897
und 1898 ergab sich bei allen Melil und
Mahlprodukten eine Mehrausfuhr und zwar
von 25,9 resp. 23,5, 22,5 \md 26,3 Milli-
onen kg.
Während Dänemark in dieser Weise zu
einem Importstaate geworden ist, trat
Portugal zu Beginn der 90er Jahre wie
Italien und Spanien infolge von Zollmass-
regeln in die Reihe der Exportstaaten.
1880—1889 betrug im Durchschnitt die
Mehleinfulir 27, die Mehlausfuhr 5 Tausend
Meter-Centner. Im Durchschnitt von 1890
bis 1892 stieg jene auf 30, diese auf 13
Tausend Meter-Centner. 1893 wurden nur
14940 Meter-Centner Mehl importiert und
17 330 Meter-Centner exportiert. Seit 1894
ist die Weizenmehleinfulir ganz beseitigt,
von anderen Mehlgattungen werden nur
minimale Mengen (18^7 170 Meter-Centner)
eingeführt, dagegen stieg der Export von
Weizenmehl im DuK^hschnitt der Jahre
1894—1897 auf 20178, der von anderen
Mehlgattimgen ebenso auf 504 Meter-Centner.
Ausgesprochene Mehlimportstaaten sind
dagegen m Europa noch die Nieder-
lande, die Schweiz, Schweden-
Norwegen, Serbien und die Türkei,
ausserhalb Europas Aegypten, Algier und
Südafrika. Die Einfuhr von Mehl- und
Mahlprodukten in diese Gebiete belief sich
im Jahre 1897 auf 1751530 resp. 582000,
911820, 6455, 1067110 (für 189rv— 1896)
560080, 130000 und 227 597 Meter-Centner.
Litteratar: Mucke, Deutschlands Getreideverkehr
mit dem Auslande, Greifncald 1887, — Ueher-
Hchien der Weltwirtschaft , begründet von f Dr.
von Neumann- Spallart, fortgesetzt von Dr.
von Juraschek, Jahrg. 1885189 und frühere,
Berlin 1891. — Das Getreide im Welt-
verkehr, Wien 1900. — Die offiziellen Handels-
ausweise der einzelnen Staaten.
V, Juraschek.
Oetreidepreise.
1. Die Beguliening der G. 2. Die Er-
hebung der G. 3. Das statistische Zahlen-
material.
1. Die Regalienmg der 6. Wie die
Bildung der Getreidepreise vor sich geht,
hat Hemrich v. Thiinen in seinem »isolierten
Staat« in der klagten Weise charakterisiert.
In einer von der übrigen Welt abgeschlos-
senen Ebene mit völlig gleichen natürlichen
und wirtschaftlichen Bedingungen, in deren
Mitte der einzige Marktort liegt, welcher
den Ueberschuss landwirtschaftlicher Pro-
duktion allein absorbiert, wird der öetreide-
preis so hoch steigen müssen, dass die Pro-
duktionskosten desselben plus den Trans-
portkosten in den entiegensten Gegenden
noch gedeckt werden, welche noch zur Liefe-
rung von Getreide nach dem Centralpunkte
herangezogen werden müssen, um den Be-
darf zu decken. Je mehr die Bevölkerung
in der Stadt steigt, je mehr damit der •Be-
darf an Getreide wächst, lun so weitere
Gegenden müssen zur Lieferung nach der
Stadt hinzugezogen werden, und entsprechend
den höheren Frachtkosten müssen die Ge-
treidepreise steigen. Es ist der Marktort
mit seinem Bedarfe und seiner Nachfrage
einerseits, mit dem unter den ungünstigsten
Verhältnissen produzierenden Ijandstriche,
der noch zum Angebote von Getreide ver-
anlasst werden muss, um der Nachfrage zu
genügen, andererseits, welche die Höhe des
Preises bestimmen. Jede Ermässigimg der
Produktionskosten, jede Verminderung der
Fracht z. B. durch Verbesserung der Kom-
munikationsmittel, wird den Preis herab-
drücken, jede Transporterschwerung den-
selben steigern.
Diese Abstraktion bietet den besten An-
halt zum richtigen Verständnis der Vor-
gänge im praktischen Leben. Den Central-
markt repräsentiert gegenwärtig besonders
für Weizen England; die mit den grössten
Kosten dorthin liefernden Länder, welche
den Preis bestimmen, liegen im Innern von
Amerika, Indien, Russland, Argentinien etc. ;
diese treten mit einander in Verbindung,
um über die Köpfe der dazwischen liegen-
den Territorien den Preis zu normieren
und der übrigen Welt zu octroyieren. So
liaben specieU die Landwirte in Deutschland
keinen Einfluss auf den Weizenpreis des
Weltmarktes. Für Roggen ist das Haupt-
bezugsland Deutschland, das Produktions-
gebiet Russland. Die durchschnittiichen
Produktionskosten im Innern jenes Landes
und der Frachtaufwand bis zum Absatzge-
biete bilden die Basis der Preisnormierung.
Ob in Deutschland der Anbau von Weizen
oder Roggen etwas mehr oder weniger aus-
gedehnt wird, ist von untergeordneter Be-
Getreidepreise
321
<lentnng. Das Territorium, welches Einsatz
dafür bieten kann, ist zu gross, als dass es
dagegen anzukämpfen vermr>chte. Dagegen
ist zuzugeben, dass jedes Ijand, selbst jeder
Bezirk noch bis zu einem gewissen Grade
trotz des entwickelten Handels seine eigene
Pi*eisbildung besitzt. Selbst innerhalb Deutsch-
lands liegen erhebliche Abweichungen vor,
die auch in dem Durchschnitte mehrerer
Jahre zu Tage treten, z. B. zwischen dem
Westen und Osten Preussens, Lindau und
Hamburg etc. Hier sind die Preise dauernd
höher, dort durchschnittlich niedriger, weil
das Verhältnis von Angebot zu Nachfrage
nachhaltig ungünstiger ist. Die lokale Pro-
duktion hat immer noch für den lokalen
Bedarf eine hohe Bedeutung, und nament-
lich in einzelnen Momenten verschiebt sich
das Verhältnis von Angebot und Nachfrage
unter lokalen Einflüssen und bringt örtliche
Preisschwankungen hervor, die an anderen
Orten nicht gespürt werden.
Von den Durchschnittspreisen, welche
in der erwähnten Weise reguHert werden,
weichen die Preise der einzelnen Jahre und
Monate erheblich ab, wobei das Verhältnis
von Angel)ot und Nachfrage massgebend
wird, bedingt durch den Ernteausfall, vor-
handene Warenvorräte des Vorjahres und
sonstige Konstellationen des Handels. Der
Bedarf verändert sich immer nur unwesent-
lich von einem Jahre zum anderen, bedeu-
tender dagegen die Dringlichkeit des Be-
darfes. Auch eine rapide Bevölkerungszu-
nahme bringt hier nur unbedeutende Ver-
änderungen hervor; schon grosser sind die
Schwankungen in dem Bedarfe an Vieh-
futter, welcher je nach dem Gras wüchse
des Jahi-es, der Grösse des Viehstandes Ver-
änderungen erleidet. Ist somit der Bedarf
auch sehr stabil, so ist es doch keineswegs
die faktische Nachfrage in dem Masse, wie
man es gewöhnlich annimmt. Vielmehr
wird dieselbe wesentlich durch den Preis
beeinflusst, wie durch die sonstigen Mo-
mente, welche die Kauffähigkeit bedingen.
Hohe Getreidepreise verweisen die grosse
Masse der Bevölkenmg mehr auf den Kar-
toffelkonsum ; dasselbe ist der Fall zur Zeit
wirtschaftlicher Krisen und Arbeitslosigkeit.
In der Zeit von 1838 — 1861 schwankte der
durchBclmittliche Weizenverbrauch in einem
Jahre in den mahl- und sclüachtsteuerpflich-
tigen Städten Schlesiens zwischen 152 und 76
Rund pro Kopf ; in Ostpreussen der Roggen-
verbrauch zwischen 203 und 290 Pfund ; in
der Provinz Sachsen zwischen 205 und 353
Pfund; in Berlin zwischen 140 und 229
Pfund. Im Jahre 1847 reduzierte sich in
Berlin der Verbrauch an Brotgetreide auf
214 Pfund pro Kopf, während er 10 Jahre
später, 1857, sich wesentlich höher stellte,
nämlich auf 365,7 Pfimd. Auch wenn man
nicht auf aussergewöhnliche Jahre zurück-
greift, ist der Unterschied oft ein bedeuten-
der; im Jalire 1870 wiu-den in Berlin V2
]\Iillionen Centner Brotgetreide mehr konsu-
miert als 1874, obgleich die Bevölkenmg in
diesen 4 Jaliren nicht unbedeutend gestiegen
war.
Wie gross der Prozentsatz ist, der von
dem Brotgetreide zur Viehfütterung ver-
wendet wird, ist auch nicht annäiiernd
Ziffern massig zu belegen; man kann aber
mit Sicherheit sagen, dass sich das Quan-
tum in teueren Jahren auf das wertlosere
Korn beschränkt. In dei*selben Weise redu-
ziert sich der Verbrauch in Brennereien,
Stärkefabriken etc., während in billigen Jah-
ren diese Verwendung grosse Dimensione€
anzunehmen vermag. Wir untersuchten
diese Verbrauchsverhältnisso auf 14 Gütern
der verschiedensten Gegenden und mit un-
gleichen Wirtschaftsverhältnissen und stellten
fest, dass im Durchschnitte von 5 Jahren
22,2^/0 des Ertrages an Brotgetreide nach
Abzug der Saat an Ort imd Stelle an das
Vieh verfüttert worden waren; von den
übrig bleibenden 77,8 ^/o wiu-den noch wie-
derum ca. 15^/0 an Kleie dem mensclüichen
Konsume entzogen, so dass auf diesen
Gütern voUe 40 ^/o des Ei*nteertrages an
Brotgetreide als Viehfutter verwendet wur-
den. Von dem übrigen Teile von 60 ^/o ver-
fiel aber noch ein weiterer erheblicher Teil
der Verarbeitung in den erwähnten Fabriken
und wurde damit teils ganz dem mensch-
lichen Konsum entzogen, teils nur in ge-
waltig reduziertem Zustande in der Form
von Alkohol etc. als Nahrungsmittel benutzt.
Diese Verwendmigsarten spielen nmi bei
der Nachfrage nach Getreide nicht nur
eine bedeutende, sondern besonders selu*
schwankende Rolle. Sie unteretützen die-
selbe bedeutend bei niedrigen Preisen,
sie vermindern sie bei hohem Preise
und wirken damit abschwächend auf die
Preisschwankungen. Gleichwohl liegt das
Streben vor, einem gewissen durchschnitt-
lichen Bedarf Deckung zu schaffen, und je
nachdem der ErnteausfaU hierfür zu genügen
oder nicht auszureichen scheint, werden die
Preise von einem Jahre zum anderen modi-
fiziert.^ Schon die Ernteaussichten sind im
Sommer liierauf von Einfluss und geben der
Spekulation Anhalte, die Preise bald in die
Höhe zu treiben, bald herabzudrücken,
während sie sich im Laufe des Winters
den faktischen ErnteausfaU immer mehr zur
Richtschnur nehmen und niu* dm*ch lokali-
sierte Verachiebungen des momentanen Vor-
rates und Bedarfes davon abgelenkt werden.
Die Dringlichkeit des Bedarfes an Nah-
rungsmitteln ist nun Veranlassung, die
Preise noch stärker schwanken zu lassen, als
es der ErnteausfaU im Verhältnis zum Be-
UandwöTterbnch der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. lY.
21
322
Getreidepreise
darf rechtfertigen lässt, und ebenso treibt
die Schwierigkeit und Kostspieligkeit, Ge-
treide bis zum nächsten Jahre aufzuspeichern,
und die Gefalir, dasselbe in der Qualität ver-
ringert zu sehen und diu'ch einen weiteren
Preisröckgang niu* mit Yerlust anbringen zu
können, bei einem zu erwartenden üeberflusse
den Preis in einem stärkeren Verhältnis
zurück, als das Verhältnis des Vorrates zum
Bedarf e verschoben ist. Der Engländer
King hatte sogar versucht, für diese Preis-
schwankungen im Verhältnis ziun Ernteaus-
fall eine bestimmte Regel aufzustellen,
welche indessen durch die Erfalinmg als
unhaltbar erwiesen ist. Die zusammenwir-
kenden Momente sind zu mannigfaltig, als
dass sie eine solche Regelmäßigkeit gestatten
sollten.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass die
Jahrespreise je nach dem Emteaus^e um
den Dimihschnitt oscillieren, welcher wieder-
um durch Produktions- und Frachtkosten
in der erwähnten Weise bestimmt wird.
Dieser Durchschnittspreis musste bisher
naturgemäss innerhalb grösserer Perioden
mit der Kulturentwickelung und der Zu-
nahme der Volksdichtigkeit fortdauernd stei-
gen. Das Ackerland ist nur in beschränkter
Quantität vorhanden und kann nur durch
erheblichen Kapitalaufwand vermehrt wer-
den. Die occupierte Fläche lohnt die inten-
sivere Ausnutzung in> grossen Ganzen nur
in geringerem Masse, daher an Ort und
Stelle die Produktionskosten steigen und
der Bezug vom Auslande grössere Dimen-
sionen annimmt. Unter den bisherigen Ver-
hältnissen musste daher der Preis der Boden-
produkte stärker steigen, als der der Manu-
lakte. Und nächst dem Holze ist thatsäch-
lich das Getreide im Laufe der Jahrhunderte
am stärksten im Preise gestiegen. Die ge-.
waltigen Erfindungen der Neuzeit hab^n
aber auch diese bisherige Regel umgestaltet.
Die Verbilligimg der Transportkosten zur
See wie zu Lande durch die verbesserten
Kommunikationsmittel , die Aufschliessung
der verschiedenen, bis dahin der Kultur ver-
schlossenen Gegenden durch Eisenbahnen
ermöglichten einen internationalen Austausch
der Landesprodukte, wie er bisher nicht
geahnt war, erweiterten den Getreidemarkt
und gestatteten auf diese Weise einen Aus-
gleich der Preise zwischen den verscliiede-
nen Ijändern und bewirkten damit für die
Hauptkulturländer Europas eine bedeutende
Preisreduktion, zu deren Ueberwindung
längere Zeit nötig ist, die aber sicher in ab-
sehbarer Zeit überwunden werden wird.
Die Preise der verschiedenen Ge-
tr ei de arten stehen in Wechselbeziehung,
w^eU sie sich bis zu einem gewissen Grad^
zu ersetzen vermögen und somit als Surro-
gate anzusehen sind.
Ist der Preis des Roggens hoch, so wird
Weizenmehl geringer Qualität mit Roggen-
mehl gemengt verbacken und im Roggen-
brote verkauft, wälirend zugleich im Ver-
hältnis mehr Weizen- als Roggenbrot ver-
zehrt wird. Dies erweitert die Nachfrage
nach Weizen, vermindert dieselbe nach
Roggen, sodass ein übermässiges und
längeres Auseinandergehen der Preise ver-
hindert wird; dazu kommt, dass, wenn das
Missverhältnis einige Zeit andauert, der
Landwirt sich veranlasst sieht, Land, welches
er bisher mit Weizen bestellte, obgleich es
sich nicht besonders dafür eignete, nun der
Roggenkultur zu übergeben, was gleichfedls
das Verhältnis von Angebot und Nachfrage
beeinflusst In ähnlicher Beziehung steht
der Roggen zum Hafer, weil er sehr gut
zum Viehfutter zu verwenden ist und des-
halb die Stelle des Hafers vertreten kann.
In derselben Weise ergänzen sich Gerste
und Hafer und bis zu einem gewissen
Grade Gerste und Roggen. Nur dadurch
hat die Gerste eine isolierte Stellung, dass
sie bei der Bierbrauerei durch keinen Kon-
kurrenten verdrängt werden kann, doch
handelt es sich dabei nur um die beste
Qualität, welche als »Braugerste« bekannt ist
Wird der durchschnittliche Rog^npreis
nach Gewicht in Deutschland gleich 100
gesetzt, so war der Weizenpreis dazu in der
ersten Hälfte des Jahrhunderts gleich 134,
der Preis der Gerste 93, der des Hafers 90.
In der zweiten Hälfte haben sich diese
Zahlen etwas verschoben, Weizen ist auf
ca. 126 heruntergegangen, Gerste und Hafer
sind auf 100 gestiegen.
2. Die Erhebnng der 6. Bei der
hohen Bedeutung des Getreides für die
Volksernähning hat man den Getreidepreisen
schon früh eine besondere Aufmerksamkeit
zugewendet, und die Chroniken überliefern
uns eine Menge Angaben schon aus dem
Mittelalter; aber dieselben pflegen exceptio-
nellen Jahren zu entstammen, wo die be-
sonders hohen und niedrigen Preise die
Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich
zogen. Regelmässige Notierungen finden
sich erst in dem merkantilistischen Zeitalter,
dort allerdings mit besonderer Zuverlässig-
keit, weil sie polizeilich vorgenommen wur-
den, um danach die Brottaxen zu normieren.
Deslialb stellte der Magistrat an jedem Markt-
tage wie an jedem Marktorte Erhebungen
an und wurde dabei von der Bäckerzunft
auf das genaueste kontrolliert. Die Preis-
angaben aus dem 17. und 18. Jahrhundert
haben deshalb meistens eine grössere Zuver-
lässigkeit als die gegenwärtigen.
Die statistischen Angaben über die Ge-
treidepreivse der Gegenwart betreffen teils
Engi-os-, teils Detailpreise. Das letztere ist z. B.
der FaU bei den von dem preussischen statis-
Gctieidepreise
323
tischen Biireaii publizierten, welche von dem
Magistrate meist durch Polizeiorgane auf
den Wochenmärkten erhoben \md zusammen-
gestellt werden. Je nach der Zuverlässig-
keit des Beamten und dem Interesse, welches
er dem Gegenstande entgegenbringt, wird
die Aufstellimg eine grössere oder geringere
Zuverlässigkeit haben, d. h. dem wirklichen
Durchschnitte der Preise entsprechen. Da
ausserdem unter den mehr als 80 Städten,
in welchen die Aufnahme stattfindet, sich
Grossstädte mit gewaltigen Umsätzen wie
kleinere Ortschaften mit rein lokalem Ver-
kehre befinden, so ist der dadurch gewonnene
Durchschnitt für das ganze Land oder eine
Provinz aus Zahlen mit sehr ungleicher Be-
deutung erzielt. Die Getreidepreise, welche
für das Deutsche Reich seit dem Jahre 1878
von dem statistischen Eeichsamte publiziert
werden, sind dagegen Engrospreise, wie sie
von den Handelskammern für bedeutendere
Börsenplätze zusammengestellt sind. Da
an jedem Orte die hauptsächlich gehandelte
Ware zur Notierung gelangt, so hat man es
an den verschiedenen Orten nicht mit der-
selben Qualität zu thun, wodurch allein
Preisverschiedenheiten an selbst nahe ge-
legenen Orten in sonst imerklärbarer Weise
zu Tage treten. Eben dadurch kommen aber
auch lokalisierte Preisschwankungen vor, die
allein darauf zurückzuführen sind, dass sich
gerade an der massgebenden Qualität, z. B.
Saalgerste Nr. 1, für Brauzwecke ein be-
sonderer üeberfluss oder Mangel herausge-
stellt hat und Preisänderungen herbeiführte,
welche das übrige Getreide gar nicht mit-
machte. Die Börsenpreise werden wiederum
beeinflusst durch die festgestellte Lieferungs-
qnalität Ist dieselbe eine geringe und da-
her niedrig im Preise, so kann das Unein-
geweihten gegenüber zu einem Druck auf
die fteise verwertet werden. Im übrigen
vermag die Börsenspekulation wohl von Tag
zu Tag, ausnahmsweise auf Wochen die
Preise zu beeinflussen, aber nicht nachhaltig,
und um so weniger, je ausgedehnter der
Markt ist, da dann die in Betracht kommen-
den Massen viel zu bedeutend sind, um
durch einzelne beherrscht werden zu können.
Der allgemeine Weltverkehr beherrscht da-
her die Weizenpreise, wie das enge Zu-
sammengehen der Pr^e auf den verschie-
denen Weltbörsen von Monat zu Monat
leicht erkennen lässt. Das ist auch noch
bei dem Roggen der Fall^ besonders durch
die grosse Aoncentration des Handels an
einem Punkte, in Berlin, wo sich das An-
gebot der disponiblen Massen zusammen-
findet und die Nachfrage aus den verschie-
denen Himmelsgegenden in hohem Masse
vereinigt auftritt. Weniger ist das der Fall
bei der Gerste, wo die Qualität grosse Preis-
verschiedenheit und verschiedene Käufer-
kreise bedingt; noch weniger bisher bei
dem Hafer, für welchen die Lokalmärkte
eine höhere Bedeutung bewahrt haben. Da-
her sind bei den letzteren Früchten die
Preisschwankungen noch von Monat zu
Monat in demselben Erntejahre weit grösser,
als bei dem Brotgetreide, wie die Verschie-
denheit der Preise zwischen den einzelnen
Gegenden. Naturgemäss vermag ein reicher
Händler den Lokalmarkt leichter zu beherr-
schen als eine Weltbörse, und je ausgebil-
deter der Handel an der Börse ist, um so
mehr gleichen sich die Preise aus, während
die Schwankimgen des Kassageschäfts in
monatlichen Durchschnitten weit grössere
sind, die Schwankungen von Tag zu Tag
dagegen geringer.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass die
Preisangaben der offiziellen Statistik keines-
wegs für alle Untersuchungen ausreichende
Gleichartigkeit und Korrektheit besitzen und
dieselben niu: mit Vorsicht und Sachkenntnis
zu verwerten sind.
3. Das
TabeUe I.
1401-
1451
1501-
1551-
1581-
1601-
1701-
1801-
1861-
1891-
1851-
statistische ZahlenmateriaL
England.
per Quarter
7 sh. I d.
6 .. 2
-1450
1500
-1550
-1580
-1600
-1700
1800
-1850
-1890
-1898
-1898
12
17
26
39
41
64
49
31
44
o
9
8
I
I
2
3
2
2
»»
»I
11
Tabelle II. Getreidepreise in Berlin pro Tonne
ä 1000 kg in Mark R.-W.
Jahr
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
1
2
3
4
5
1651—1700
74,50
53,40
54,64
52,94
1701 1730
84,78
62,72
52,92
52,52
1751 1800
125,32
101,42
108,40
96,50
1801--1850
185,80
136,00
127,20
136,60
1851—1897
196,69
155,16
153,21
151,88
1851-1880
211.00
161,40
153,60
155,20
1881 -1890
176,20
146,00
152,80
144,40
1891 1897
164,63
141,54
152,14
148,34
1898
178,00
140,00
131,00
159,00
Verhältnis
1651—1700
1701—1730
1751—1800
1801—1850
1851—1880
1881 -1890
1891-1897
1851—1897
zum Roggen
139,5
100
102,3
135,1
100
84,3
123,5
100
106,8
136,6
100
93,5
130,7
100
95,1
120,7
100
104,7
116,3
100
107,4
126,8
100
98,7
99,1
83,4
95,1
100,4
95,1
98,9
104,8
97,9
21*
Gotrcidepi-eiüc
Tabelle III. Preise
landwirtatbaftlicher Produkte von
a 1000 kg in Mark E.-W
1816-
1898 f
r die Tonne
Weizen
1
,
III
ssSä
Uli
ll
M
€
i
1
i
i
1816—1820
364,0 1 365,5
206,2
-157,8
iS[,8 ,240,3 ' -
- 59,0
151,8 1 131.4 1 129,8
162.4
1821-1830
266,0 ! 192.4
121,4
-144,6
109,2 132,6 -
- 23,4
126,8 1 76,6 79,8
97,0
1831-1840
as4,o 1 199,2
138.4
-115,6
J33.S 1 147,3 : -
- 14,0
100,6 1 87,6 ; 91,6
107.4
1841-1860
240,0 1 206,6
167,8
— 72,2
- 21,6
123,0 111,2 ,100,6
130,0
1851—1860
250,0 Z3[,4
211,4
- 38,6
19916 223I6 , -
r- 24,0
165,4 150,2 144,0
176,0
18fil— 1870
248,0 1 224,6
204,6
— 43,4
195,0 218,6 i -
^ 23,6
154,6 146,0 , 140,2
i68,j
1871-1875
246.4 1 ^48,8
235,2
225,0 1 246,0 -
■ 21,0
179,2 170,8 163,2
224.4
J876— 1880
206,8 1 219,4
211,2
- 4,4
h 20,2
166,4 162,0 : 152,6
231,8
1881-1885
[80.4 1 205,6
189,0
" .^'^
?32;6 'il'i 1 -
y- 15,0
160,0 154,8 ,145,«
237,2
]886-18i)0
H2.8 1 I9i,2
173,9
165,6 ! 183,6 ■
h 18,0
H3,o 138,4 135,2
209,4
1891-1895
128,2 1 .78,5
■65,5
■ 37.3
163,2 ; 173,4 ! ■
h 10.2
148,5 1 142,5 1 143,4
220,6
18%
123,0 1 157,0
■ 29,1
147,0 155,0 1 -
r ä,o
119,6 1 128,3 1 1^1,5
200,9
1897
14',S 205,0
'64,7
■ 23,2
164,0 169,0 1 -
h 5,0
123,7 1 133,3 1 134,3
205,9
1898
159,0 |3o6,o
184,0
-
- 2S,0
180,1
196,0
H
r 13,0
147,4
144,3
146,9
222,9
Aus dcQ voi'stehendon Tabellen I und II
ergifbt sich vor allem eine fortdauernde
Steigerung der Getreideiireise innerhalb
giflsBerei' Perioden. In Bezug anf die Zalden
fflr England, welche den Werken von Rogei-s,
Tooke und Newmarch und dem Statistical ab-
stract entnommen sind, ist zu bemerken, dass
die älteren Zahlen nicht genaue sind, weil sie
verschiedenen (Quellen und Oi-ten entstammen,
und dabei nicht auf die Veränderung der
Münz Verhältnisse Rücksicht genommen wer-
den konnte. Immerhin geben sie einen un-
gefähren Anlialt. Jedes Land war darauf an-
gewiesen, in der Hauptsache den eigenen
Bwlarf selbst zu decken. Die wac'hsende Ite-
völkorung steigerte die Nachfrage und trieb
den Preis in allen Iiänderu mit fortschrei-
tender Kultur in die Höhe. Innerhalb der
grossen Perioden sind mm die Preisschwan-
knngen in alter Zeit weit gi'üBSore gewesen
als in der Gegenwart. Bei der AV^eschie-
denheit des Marktes musstc der Einfluss
des Ernteausfalles ein weit bedeutenderer
sein als jetzt, wo die verschiedensten Län-
der unter einander je nach Bedarf ihre Ueljer-
schflsse austauschen. In England scliwankten
die Preise des Getreides im 1.^. Jahrliundert
nni dae Tjöfache, im 14. JaJirhundert um
das 40fache, im 15. Jahrhundert um das
20 fache, im 16. Jahrhmidert um das Sfache,
im 17. um das 3 'jä fache, im IR um das
4';£faohe, aber auch in diesem Jahrhundert
Hegen noch Schwankungen um das 4fache
vor. 1812 listete der gnarter ]2fi sh. 6 d.
18r.5 74 sh. 1 d., ISKÜ 31 sh. 1 d., wenn
man Jahres durclischnitte in Reclinnng zieht.
Die dritte Tabelle zeigt den Ausgleich,
welcher im I^aufe dieses Jalirhundorts zw'
sehen Deutsoliland imd England in de
Pi-eisen stattgefimden Iiat. In den ei-sten
Decennien dieses Jalirhunderts war der
Weizenpreis in England dopijolt so hoch als
in Proussen, das letztere Land erzeugte
melir, als es gebranclite, das erstere dagegen
ar mehr und mehr auf Zufuhr vom Aus-
lande augewiesen, gi-enzte sich aber künst-
lich durch einen hohen Schutzzoll von dem-
sellien ah und steigerte den Getreidepreis
dnrch die berühmte gleitende Skala in ausser-
onicntlichem JLisse. Die Ermässigung der
Zölle in den 30er und auch in den 40er
Jaliren und der sdüiessliclie Fortfall in den
CO er Jahi-en übten einen erheblich herah-
drückenden Einflnss auf dieselben aus, wäh-
rend die Zufulir durch die Ausbildung der
Dampfschiffalu-t wesentlich ei'leichtert wurde.
Nur in England ist in der zweiten Hälfte
dieses Jahi'himderts der Weizenpreis gegen-
über der ereten von 64,2 auf 44,2 sli. zu-
rückgegangen wie 100; 08,8, wofür die Ge-
schichte bei aufsteigender Kultm- bisher
sonst noch kein Beispiel bietet. Es war dem
Sieitalter des Dampfes vorbehalten, durch
die Verbesserung der Eommimikationsmittel
diese Ei'scheinuiig horvorzunifen. Beachtens-
wert ist es, dass die Pi'eisentwickelung in
Berlin eine andeifi war ; dort ist der Weizen
in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
gegenüber der ersten wie 100:105,8 ge-
stiegen. Erst in dem letzten VierteljaSr-
hundert sind die Preise erheblieh niedngere
infolge der Aufschliessung bisher ttnkiilti-
vierter Gegenden , die dem jungfränlichen
Acker mit wenig Kosten grosse Massen (ie-
treiiie abzugewinnen vermögen, dann durch
die erhebliche VerbUligimg der Fracht inner-
halb der Länder auf Bahnen, Kanälen und
Stnimen, auf iler See durch Dampfschiffe
Getreidepreise
325
und iii der neuesten Zeit durch eiserne
Schiffe. Es trat noch die Entwertung der
Valuta in den 70 er und 80 er Jaliren in
Russland unil Indien, in den 90 er Jahren
in Argentinien hinzu, um einen Druck auf
die Preise auszuüben. Jene überseeischen
Länder wie das Innere Russlands sind in
einen näheren Thünenschen Kreis gerückt,
wodurch das bisherige Monopol vieler euro-
päischer Staaten gebrochen wurde. Frülier
oder später wird auch dieses dui'ch die Zu-
nahme der Bevölkening ausgeglichen wer-
den, doch sind nocli immer Territorien vor-
handen, die neu in Kultur genommen wer-
den können.
Die Senkung der Preise kann nun ausser
dvu'ch üeberpi-oduktion allein durch Yerbil-
hgung der Produktion oder Verminderung
der Beschaffungskosten herbeigeführt wer-
den, und vielfach haben beide Momente zu-
sammengewirkt.
Bis Mitte der 70 er Jahre bewirkte
in Deutschland die Zunahme der Bevölke-
rung eine Steigenmg der Getreidepreise.
Dann warf die Konkurrenz des Auslandes
dieselben melir und mehr ziunick, trotz der
Auflegimg erheblicher Schutzzölle. Durch
diese und durch den zimehnienden heimi-
schen Bedarf sind aber die Preise in
Deutschland mehr und mehr über dem Niveau
des Weltmarktes gehalten.
Wir haben noch auf einen besondei*en
Punkt einztigehen. Es ist eine besondei-s
bei Landwirten sehr verbreitete Meinung,
dass die Getreidepreise unmittelbar nach
der Ernte am niedrigsten, vor der Ernte
uu verhältnismässig hoch seien. Es hängt
dies mit der Annahme zusammen, dass die
Kaufleute die Preise künstlich zu ihi-em
Vorteil beeinflussen und daher zu der Zeit
die Preise drücken, wo der Landwirt seine
Produkte zu Markt bringt und sie in die
Höhe schrauben, wenn sie das Getreide in
Händen haben. Wir haben deshalb die
Monatspreise in Preussen für eine grössere
Reihe von Jahren verfolgt und Verhältnis-
zahlen für die einzelnen Monate berechnet,
sind aber, wie die folgende Tabelle ergiebt,
für die Gegenwart zu dem entgegengesetzten
Resultat gekommen. (S. Jahrb. f. Nat. u.
Stat, IIL Folge, Bd. IX, *Die Monatspreise des
Getreides«, S. 247.)
Tabelle IV.
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Jan.
Febr.
März
April
Mai
Juni
Juli
CO
(-1
N
Monatliche Weizenpreise in Verhältniszahlen.
Preuss. Staat
1865-93
Berlin (nach der
Reichsstat.)
1883—93
Berlin fültimo-
preise an der
Börse)
1878-93
Gnesen
1888—93
ioi,o
99,0
99,5
99,5
98,5
98,5
98,0
98,5
100,0
102,5
102,9
102,9
100
ioi,9
98,4
97,8
98,7
98,4
99,2
99,0
99,2
101,0
103,4
101,4
101,6
100
98,3
96,4
98,2
98,1
97,4
99,0
99,9
99,7
103,7
104,3
101,0
103,6
100
102,7
97,8
96,7
99,5
98,8
98,8
96,7
97,8
100
105,0
103,3
104,4
100
4,9
5,6
7,9
8,3
Roggen preise
Preus.s. Staat
1816-65
1865-93
Berlin
Ultiraopreise
1878—93
Gnesen
1888-93
98
98,2
98,7
94,9
98 1102 102
98,2 1 101,2 101,8
98,7 101,7 100,2
99,4
101,5
105,7
100
100
100
98
98
102
106.1
104,1
100
100,6
99,4
98,8
98,2
98,8
100,6
101,8
101,2
100
101,1
100,6
100,2
98,9
100,3
100,4
100,7
98,7
100
101,9
100,9
99,4
97,4
97,4
100,3
100
100,6
100
8,1
3,6
3,0
10,8
Preuss. Staat 1
1865—93 97,4
Gerstenpreise
97,4
99,4
100,6
100
99,4
100
100
101,3 100,9
101,3
100.6 liool
3,9
Preuss. Staat 1
1865-93 102
Haferpreise
95,3. 96
97,3 ' 96,7
96,7
97,3
99,3
102
104,7 iio6 1107,3 |ioo|
12,0
326
Geü'eideijreise — GetreidepiX)diiktion
Die Weizenpreise waren in Preussen
von 1865 bis 1893 in den di*ei ersten Mo-
naten nach der Ernte im Verhältnis zum
Jahrespreise 99,7, in den letzten drei Mo-
naten 102,8. Die Differenz ist 3,1 ®/o, welche
noch nicht den Zinsverlust und die Lage-
rungskosten von ^-4 Jahren zu decken ver-
mag. Der Landwirt that am besten, im
August zu verkaufen. Bei dem Roggen ist
die Differenz in dieser Zeit zwischen 99,2
und 101,2 gar nur 2 ^/o. Die Schwankungen
der Monatspreise sind überhaupt sehr ge-
ringe. Viel bedeutender ist der Unterschied
zwischen den einzebien Monaten in Gnesen,
einer kleinen Provinzialstadt, wo der Lokal-
handel dominiert, aber auch da sind am
Schluss des Erntejahres bei dem Roggen
die Preise nur wenig höher als im Beginne
desselben; mehr tritt dies bei dem Weizen
hervor. Beachtenswert ist es ferner, dass
die Schwankungen in früheren Zeiten weit
grösser gewesen sind als in den letzten
ecennien. Die Differenz war 'Von 1816 bis
1865 bei dem Roggen zwischen dem ersten
Yierteljahr 99,3 und dem letzten 104,1 fast
5%. Ausserdem ist bemerkenswert, dass
die Preise des Hafers, wo der Handel
weniger koncentriert ist imd ein Termin-
handel nie Platz gegriffen hat, weit grössere
Abweichungen von Monat zu Monat auf-
weisen als das Brotgetreide. Es ist aus
diesen Angaben unbedingt zu entnehmen,
dass in der neueren Zeit die Preise eine
grössei-e Gleichmässigkeit zeigen als in
früheren Zeiten, dass insbesondere am An-
fange des Erntejahres die Preise für den
Landwirt im Durchschnitte günstiger sind
als am Schlüsse; dass kein Anhalt aus den
Zahlen für die Annahme gewonnen werden
kann, dass die Börse einen für den Land-
wirt nachteiligen Einfluss auf die Preisent-
wickelung ausübt, und dies auch nicht von
dem Terminhandel zu sagen ist.
Wir geben schliesslicli noch zwei kleine
Tabellen, V und VI, welche die Verschie-
denheit der Getreideproise innerhalb des
Deutschen Reiches in den letzten Jahren
zeigen, sowie die verschiedenen Sätze in
einigen anderen Ijändern.
Tabelle V. Getreidepreise im Durchschnitt der
Jahre von 1889—1898 nach der Statistik des
Deutschen Reichs.
1000 kg in Mark.
Roggen Weizen Hafer Gerste
Danzig 131,47 135,32 121,24 135,22
7i4gp. L. neuer dz.
Köln 157,91 182,63 — —
712'gp.L. m. 75S g
Mannheim 159, 74 193.24 149,86 172,51
mittel
München 160,49 192,19 152,35 173,71
gut mittel
Tabelle VI. Getreidepreise im Durchschnitt von
1892 — 98 nach den Monatl. Nachweisen über den
auswärtigen Handel des deutschen Zollgebietes.
Herausgeg. vom Kaiser!. Statist. Amt
1000 kg in Mark
Roggen Weizen Hafer Gerste
Wien 125,6 154,9 113,1 149,4
Petersburg 98,1 133,0 91,0 —
Paris 113,1 176,6 140,1 131,6
London — 128,1 124,0 138,3
Chicago — 109,0 — —
New- York — 123,4 — —
Litteratnr: LiUeratur zur Geschichte der Ge-
treidepreise : J, F, Vnger, Von der Ordmnuj
der Fruchtpreise und deren Einflüsse in die
wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen
Lebens, 1752. — JL Seuffert, Statistik des Ge-
treide- und ViktuaUenhandels im Königreiche
Bayern mit Berilcksichtigung des Auslandes,
I847. — Tooke und Xewnvarch, Die Geschichte
und Bestimmung der Preise während der Jahre
169S—1857, deutsche Ausgabe, 1862. — - T, Ro-
gers y A history of agriculture and prices in
England, 1866, 1882. — Hanauer, Etudes
economiques sur l'Alsace, 1878. — Für die ein-
zelnen Länder bilden die offiziellen statistischen
Jahrbücher, Abstracts etc. die betreffende Quelle.
Für das Deutsche Reich fortlaufend die statis-
tischen Monatshefte und das statistische Jahrbuch
des Deutschen Reichs. Für Preussen die statis-
tische Korrespondenz, die Zeitschrift des preussi-
schen statistischen Bureaus und das amtliche
Jahrbuch. Für Oesterreich das statistische Hand-
buch der Österreich iscJien Monarchie. — S. auch
Krent/Pf Ueber den Einfluss des Emteausfallps
auf den Getreidepreis, Jena 1879. — Derselbe,
Ernten und Fruchtpreise in Jahrb. f. ydt. u.
Stat., K. F. Bd. IX, S. S4ljf. — J. Conrad,
in Jahrb. f. Nat. u. Stat., iV. F., Bd. IX u. S. F.
Bd. XL
tT. Conrad.
Getreideprodnktion.
I.Vorbemerkung. II. Die Getreide-
produktion in einzelnen Ländern.
1. Deutsches Reich. 2. Grossbritannien und
Irland. 3. Frankreich. 4. Italien, ö. Oester-
reich - Ungarn. 6. Russland. 7. Rumänien.
8. Vereinigte Staaten von Amerika. 9. Britisch-
Ostindien. III. Allgemeiner Ueberblick.
I. Vorbemerkimg.
Die hervorragende Bedeutung des Getreide-
baues für die Ernährungsfrafi^e und überhaupt
die gesamte Volkswirtschaft hat dazu geführt,
dass gegenwärtig in allen Kulturländern statis-
tische Ermittelungen über den Umfang der Ge-
treideproduktion veranstaltet werden. Freilich
kann es sich stets nur um Schätzungen handeln,
welche indessen bei geeignetem Verfahren und
sorgfältiger Durchführung einen hohen Grad
von Brauchbarkeit erlangen können und erlang
haben. Je nach der Zweckmässigkeit des in
den einzelnen Ländern in sehr verschiedener
Weise beobachteten Verfahrens und der Zuver-
Getreideproduktion
327
lässigkeit der mit der Erhebung beteiligten
Organe sind denn aacb die Ergebnisse von recbt
verschiedenem Werte. Während in den früheren
Jahrzehnten die Erhebungen im allgemeinen
noch sehr unzuverlässig waren, hat jedoch die
längere Erfahrung und das grössere Interesse
seitens der an der Erhebung unmittelbar be-
teiligten Volkskreise neuerdings zu befriedigen-
deren Ergebnissen geführt, welche sich überall
da als vömg ausreichend erweisen, wo geringere
Abweichungen von den thatsächlichen Verhält-
nissen nicht ins Gewicht fallen. So können die
betreffenden Angaben dazu dienen, uro die Be-
deutung des Getreidebaues in seinen einzelnen
Zweigen sowie gegenüber den sonstigen Erzeug-
nissen der Landwirtschaft in das rechte Licht
zu stellen ; femer um die zeitliche Entwickelung
der Produktion annähernd zu verfolgen und die
Bedeutung der Ernteschwankungen für die
Volkswirtschaft zu ermessen. Zur Beantwortung
einiger dieser Fragen genügt bereits die An-
baustatistik, welche gegenüber der Ernte-
statistik den Vorzog grösserer Zuverlässig-
keit besitzt. (Vgl. den Art. Agrarstatistik, 6.
und 7. Abschnitt: Anbau- und Erntestatistik,
oben Bd. I, S. 71 ff., woselbst auch bereits einzelne
statistische Daten mitgeteilt wurden.) Am
vollkommensten sind die Erntemittelungen
jedenfalls dort, wo sie sich an eine Anbau-
erhebung anschliessen in der Weise, dass der
mittlere Ernteertrag für die Flächeneinheit der
angebauten Fruchtart.en festgestellt und durch
Multiplikation dieser Erntemenge mit der ent-
sprechenden Anbaufläche der Gesamtertrag be-
rechnet wird. So geschieht es auch seit 1878
im Deutschen Reiche, in welchem die Anbau-
fläche in zehnjährigen Abschnitten eingehend
erhoben und flir die Zwischen jähre die jähr-
lichen Verschiebungen im Anbau annähernd
ermittelt werden. Seit 1899 haben hier die Ernte-
ermittelungen dadurch eine wesentliche Ver-
besserung erfahren, da^s sie nicht nur auf ganz
kleine Gebietsabschnitte, wie Gemeinden, vor-
genommen werden, sondern dass auch innerhalb
dieser kleinen Erhebungsgebiete je die ab-
abweichenden Bodenarten bei der Abschätzung
des Durchschnittsertrages zu berücksichtigen
sind, um übrigens feststellen zu können, in
wieweit die Produktion eines Landes zur Deckung
des eigenen Bedarfs hinreicht bezw. denselben
übersteigt, sind neben den Angaben über die
Getreide
Erntefläche
in ha
1898
Weizen 1969 311
Roggen 5 945 191
Gerste i 660 126
Hafer 3996521
Spelz 328078
Buchweizen 140389
Emtemengen auch die Aus- und Einfuhrver-
hältnisse des Getreidehandels zu berücksichtigen.
Zu den für die landwirtschaftliche Produktion
in Betracht kommenden Getreidearten gehören :
Weizen nebst seinen verschiedenen Abarten, wie
Spelz, Dinkel, Emmer, Einkorn u. s. w.^ femer
Roggen, Gerste, Hafer, Buchweizen, Mais, Reis,
Hirse u. a. In Europa sind die vier ersten
Arten bekanntlich bei weitem von der grössten
Bedeutung, während in den Vereinip^ten Staaten
von Amerika der Mais und in Ostindien neben
dem Weizen auch der Reis im Vordergrunde steht.
Eine vortreffliche Zusammenstellung und
kritische Bearbeitung des statistischen Materials
findet sich in den von Neumann-Spallart
begründeten und zuletzt als Jahrgang 1885 bis
18ö9 von Franz v. Juraschek neu herausge-
gebenen nUebersichten der Weltwirt-
schaft", welche vielfach herangezogen worden
sind. Wenn auch vorzugsweise den Anbau be-
handelnd, kommt doch auch für die allge-
meine Beurteilung der Emteverhältnisse das
in seiner Art einzige grosse Werk von Th. H.
Engelbrecht, „Die Landbauzonen der
aussertropischen Länder" (3 Bde., Ber-
lin 1899) in Betracht. Im übrigen ist auf die
Litteraturangaben des Art. Agrarstatistik a. a.O.
zu verweisen.
Wo in den nachfolgenden Angaben mehrere
Jahre zusammengefasst sind, beziehen sich die
Zahlen stets auf den Durchschnitt der Periode.
Gesamte Erntemenge
in 1000 Tonnen
(zu 1000 kg)
Emtemenge
vom ha in Tonnen
1888,97
2796714
6 366 075
2 277 149
4 733 540
389 369
102 433
1898
3 292 945
7 532 706
2 514024
5 780 699
426 407
99487
1888/97
^43
1,09
1,35
1,20
1,12
0,58
1898
1,27
1,51
1^45
1,30
0,71
II. Die Getreideprodnktion in einzelnen
Ländern.
1. Deutsches Reich. Für das gesamte
Reichsgebiet (vgl. Statistik des Deutschen
Reiches, Vierteljahi-shefte 1898, III und
früher) hat die Ei*mittelimg der Getreide-
produktion zu folgenden Ergebnissen geführt :
Der Wechsel des Emteausfalies inner-
halb der letzten beiden Jahrzehnte wird
durch nachstehende üebersicht für die wich-
tigsten Getreidearten gekennzeichnet.
Ernteertrag in 1000 Tonnen.
Jahre Roggen Weizen Gerste Hafer
1881 5 466 2 065 2 079 3 770
1882 6414 2562 2260 4523
1883 5 625 2 359 2 134 3 729
1884 5470 2487 2233 4251
1885 5 842 2 608 . 2 264 4 358
1886 6092 2666 2337 4855
1887 6375 2830 2205 4301
1888 5 522 2 530 2 260 4 647
1889 5 363 2 372 1 938 4 197
1890 5867 2831 2283 4913
1891 4782804 2333757 2517374 5279340
1892 6827712 3162885 2420736 4743036
1893 7460383 2994823 1946944 3242313
1894 7075020 3012271 2432913 5250152
1895 6 595 758 2 807 557 2 41 1 731 5 252 590
1896 7232320 3008385 2317334 4968272
1897 6 932 506 2 913 291 2 242 015 4 841 446
1898 7 532 706 3 292 945 2514 024 5 780 699
328
Getreideproduktion
Die Jahressc^wankimgen waren teilweise
nicht unerheblich, so z. B. zwischen 1890
und 1892 beim Roggen, der 1891 einen sehr
geringen Ertrag abwarf, so zwischen 1892
und 1894 bei der Gerste, die 1891 sichtlich
weniger erbrachte, und so zwischen 1893 und
1894 beim Hafer, der im letzten Jahre eine
namhaft grössere Ernte als im Vorjahre er-
gab. Auch 1898 stieg die Hafei-ernte be-
merkenswert.
Das kaiserliche statistische Amt hat fiir
die wichtig-sten Getreidearten und die Kar-
toffeln eine Verbrauchsberechnung aufge-
stellt, derart, dass zu dem gesamten Ernte-
ertrage die in den ffeien Verkehr einge-
führten ]ilengen hinzugezählt und die aus
demselben ausgeführten Mengen in Abzug
gebiucht werden. Aus der so gewonnenen
zur Verfügung stehenden Gesamtmenge er-
giebt sich dann nach Abzug des ange-
nommenen Aussaatquantums der zum Ver-
brauch verbleibende Betrag. Für die Jalu'e
1894—1898 seien nachstehend die so er-
haltenen Ergebnisse (Angaben in Tonnen)
mitgeteilt :
Roggen Weizen Gerste Hafer
Geerntet
Einge-
führt
Ausge-
führt
Gesamt-
menge
1894
1895
1896
1897
11898
/1894
1 1895
11896
1897
1898
18i^4
1895
1896
1897
1898
1894
1895
18%
1897
11898
1894
1895
1896
7075
3012
2433
5250
6596
2808
2412
5253
7232
3008
2317
4968
6933
2913
2242
4841
7533
3293
2514
5781
681
1280
U83
681
887
1537
971
887
974
1493
1246
974
895
1289
1209
1246
728
1603
1302
1209
92
109
36
50
60
72
66
44
214
148
32
19
304
269
37
26
296
179
26
66
7665
4184
3580
5534
7423
4273
3317
5450
7992
4354
3532
5553
7523
3933
3414
5347
7965
4716
3790
6046
1028
339
244
637
1002
331
254
645
1017
330
251
637
1014
329
250
640
lOII
337
249
639
6637
3845
3335
4908
6421
3942
3063
4805
6975
4024
3280
4916
6584
3605
3165
4707
6955
4380
3541
5407
Aussaat- j
qiiantum jigo^
(l898
il894
Bleiben U«95
zum Ver- U896
brauch |1897
(1898
Bei der Wichtigkeit, welche die Kartoffeln
für den Nahrungsbedarf der Nation haben, er-
scheint es gerechtfertigt, auch diese Frucht hier
kurz zu berücksichtigen. In dem Zeiträume
1892/97 wurden geerntet (Angaben in lOüOTonnen)
27 ü.-)? 581, dagegen im Jahre 1898 3I79168H
und in dem gleichen Jahre eingeführt 224, aus-
geführt 148; die Gesamtmenge belief sich auf
31867, da<s Auasaatquantum auf 6161 und end-
lich die zum Verbrauche zur Verfügung stehende
Menge auf 2570(i.
Uebriffens stellt das zum Verbrauch ver-
bleibende Quantum noch nicht den zur mensch-
lichen Nahrung dienenden Betrag dar, da ein
gewisser Teil als zu industriellen Zwecken ver-
wendet in Abzug gebracht werden muss. Für
das eigentliche Brotgetreide (Weizen, Spelz und
Roggen) sind von verschiedenen Seiten (Engel,
Lexis, Juraschek) entsprechende Berechnungen
angestellt worden, welche übereinstimmend danin
gehen, dass an zum Nahrungsbedarf erforder-
lichem Brotgetreide auf den Kopf der Bevölke-
rung pro Jahr etwas über 180 kg entfallen.
2. Grossbritannien und Irland. Muss
schon im Doutsohen Reiche etwa der zehnte
Teil des als Nahrungsmittel dienenden (re-
treidequantums vom Auslande bezogen wer-
den, so ist dies in noch weit höherem Masse
in dem industriell fortgeschritteneren England
der Fall. In treffender Weise gelangt diese
Thatsache in der folgenden, den »Ueber-
sichten der Weltwirt'^chaft« entnommenen
Berechnung zum Ausdnick, welche aus-
schliesslich den Weizen, das Hauptnahrungs-
mittel des englischen Volkes, berücksichtigt.
Leider liegen die Berechnungen nur bis
1800 vor, da die »Uebereichten« für die
jüngere Zeit nicht melu* erschienen sind.
Die Angaben betreffen das gesamte Ver-
einigte Königreich. Der Gesamt verbrauch
setzt sich zusammen aus der heimischen
Weizenproduktion nach Abzug des Saat-
gutes und aus den NTettoimporten an Weizen
und Mehl (1 Qu. -- 290,8 Liter, 1 Bushel
= 3C,H Liter.)
Ernte- Verbrauch
Jahr Produktion Import ry,.^ pro Kopf
(1. IX.— in 1000 Quarters '^"^- in Busheis
31. VIII.)
1852/59 1 3 1 60 4653 1 7 8 1 3 5,08
186()'ri7 12254 8098 20352 5,50
18()8 75 11632 10746 22378 5,63
1876/80 9140 14727 23867 5,58
1881/85 9242 17648 26890 5,97
1886/87 7255 18523 25778 5,54
1887 88 8856 17929 26785 5,70
1888 89 8561 19004 27565 5,81
188iV90 8770 19268 28038 5,85
Der hier ei*sichtliche Umschwung in den
Verhältnissen ist eiuerseits auf die rasch zu-
nehmende Bevölkerungszahl , anderei-seits
aber auch darauf zurückzufiUiren, dass die
heimische Weizenproduktion erheblich zu-
rückgegangen ist. Es betrugen die Anbau-
flächen in 100<J Acres (1 A. ^^ 40,5 Ar) für
Jahre Weizen Gerste Hafer Roggen
1866 70 3801 2458 4453 66
1871/75 3737 2598 4233 67
1876 80 3190 2752 4170 62
1881 85 2829 2478 4296 57
1886^90 2489 2314 4257 75
891/115
2016
2277
4371
75
1894
1980
2268
4524
103
1895
1456
2346
4528
80
1896
1734
2286
4304
89
1897
1939
2214
4226
90
1898
2158
2069
4098
81
Getreideproduktion
B29
Ueber die Getreideproduktion selbst
liegen erst seit 1884 zuverlässige, amtliche
Schätzungen vor, welche zu den folgenden
Ergebnissen gefiihrt haben. Der Gesamt-
ertrag ist dabei in 1000 Busheis, der mitt-
lere Ertrag, welcher sich übrigens nur auf
(ri-ossbritannien bezieht, in Busheis pro Acre
angegeben.
Jahr^UtSr^- «itüerer Ertrag
Weizen Gerste Hafer Weizen Gerste Hafer
1884 82066 79917 161 403 29,90 34,21 37,85
1885 79635 85721 160440 31,24 35,18 37,58
1886 63347 78309 169376 26.89 32,32 38,46
1887 76224 69948 150789 31,97 31,12 34,25
1888 74493 74 545 157 975 27,97 31,03 37,95
1889 75883 74703 164078 29,89 32,37 39,75
1890 75 994 80794 171 295 30,66 35,23 31,54
1891 74 743 79 555 166472 31,30 34,72 40,46
1892 60755 76939 168181 26,48 34,78 39,83
1893 50913 75746 168588 26,08 29,30 38,14
1894 60704 78601 190863 30,70 34,77 42,34
1895 38285 75028 174476 26,33 32,09 38,67
1896 58247 77825 162860 33,63 34,16 37,97
1897 56295 72613 163556 29,07 32,91 38,84
1898 74885 74731 172578 34,75 36,24 42,27
Die Intensität des landwirtschaftlichen
Betriebes ist fortgesetzt eine sehr bedeutende,
uud es ist lediglich dem Rückgang der An-
baufläche zuzuschreiben, dass in der Weizen-
produktion eine so beträchtliche Verminde-
rung eingetreten ist. Ueber den Roggen
werden amtliche ErnteermittelungeD nicht
veranstaltet, wohl deshalb, weil diese Frucht
im Königreiche von sehr geringer Bedeu-
tung ist.
3. Frankreich. Es betrug hier (vgl.
Annuaii*e statistique) :
die Anbaufläche der Ernteertrag
für in 1000 ha pro ha in hl
1886/95 1815 1835 1855 1875 1885 1886/95
Weizen 6881 8,59 13,43 1 1,36 14,48 i5,79 15,56
Hafer 3847 14,5817,4123,7721,8023,21 22,68
Gerste 932 12,12 13,99 18,75 ^7,38 18,22 r8,4i
Roggen 1574 7,65 12,50 io,o8 14,21 14,39 14,93
Wenn auch diese Erhebungen, soweit sie
der älteren Zeit entstammen, nur mit Vor-
sicht zu benutzen sind, so darf ihnen doch
entnommen weixlen, dass die Kiütur im
Laufe der Jahre erheblich ertragreicher ge-
wonlen ist. Ausser den genannten Getreide-
arten wurden während der Jahre 1879/88
in 1000 ha angebaut : Mais 596, Buchweizen
628, Halbfrucht 364 und Hirse 47. lieber
die gewonnenen Emtemengen giebt folgende
Uebersicht Auskunft (Angaben in 1000 hl).
1876/85 1889 1893 1896
loi 767 108320 97792 119 742
6 118 4560 3699 4130
24916 23127 22516 24465
18277 15806 12 241 16 241
9 555 9 335 8718 8605
81257 85260 62562 92003
9 138 9 151 9 186 10722
637 533 555 453
Weizen
Mengkom
Roggen
Gerst«
Buchweizen
Hafer
Mais
Hirse
zusammen 251665 256092 217269 276361
Seit den siebziger Jahren ist Frankreich
genötigt, seinen Nahruugsbedarf teilweise durch
Einfuhren aus anderen Ländern zu decken. So
betrug 1871 80 die Ausfuhr an Weizen (in
1000 Doppelcentnem) noch 835,;die Einfuhr 9461,
dagegen 1891/95 erstere bloss 17, diese aber
13096. Dieser wachsende Bedarf ist weniger
eine Folge der Bevölkerung^s Vermehrung, welche
bekanntlich nur gering ist, als vielmehr des
zunehmenden Konsums der einzelnen, was
seinerseits als Symptom des steigenden Volks-
wohlstandes angesehen werden darf. Während
nämlich in den zwanziger und dreissiger Jahren
auf den Kopf der Bevölkerung nur 150 bis
200 Liter Weizen entfielen, ist diese Quote in
den siebziger Jahren bertits auf 240 und 1887/88
gar auf 2tö Liter gestiegen.
4. Italien. Hier büdet neben dem Weizen
auch der Mais einen wesentlichen Faktor
der landwirtschaftlichen Produktion. Nach
dem Annuario statistico (1898) waren:
Getreide
Anbaufläche Ernteergebnisse
in 1000 ha ' in 1000 hl
1890/96 1879/83 1884/90 1891/97
Weizen
4 535
4 343
42 130
43490
Mais
1 922
I 892
29175
25029
Hafer
458
437
5963
6456
Gerste
312
338
3 191
30178
Roggen
142
160
1553
I 526
Reis
177
201
7452
5853
Auch Italien ist in Bezug auf seinen Ge-
treideverbrauch, und zwar in erheblichem Masse,
vom Auslande abhängig. Die Ausfuhr, an wel-
cher hauptsächlich Mais und Reis beteiligt sind,
ist im Laufe der letzten Jahre beträchtiich zu-
rückgegangen und 1889 gar auf etwa 20000
Tonnen gesunken. Um so grösser ist die Ein-
fuhr, welche im Durchschnitt der letzten Jahre
etwa 1 Mill. Tonnen betragen hat, wovon etwa
vier Fünftel auf den Weizen entfallen.
6. Oesteireich-Ungarn. Im Jalire 1897
betrugen (nach dem österreichischen bezw.
ungarischen statistischen Jahrbuche) die
Ernteflächen in 1000 ha
Oesterreich Ungarn J^J?^ ^ -;^^
Weizen
Roggen und
Spelz
Gerste
Hafer
Mais
1058 2780
1844
1173
1912
336
1002
946
897
1988
233
95
69
95
357
4071
2941
2188
2904
2681
zusammen 6323 7613
849 14 785
Das Ernteergebnis war in 1000 hl
W- eizen f%^li^ Gerste Hafer
1. Oesterreich.
Mais
1891
14474
24676
19478
38569
6756
1892
17681
29617
21 804
39683
6783
1893
15385
27854
18 502
31503
5468
1894
16982.
30009
21 321
38659
4861
1895
14720
23539
20824
40013
6597
330
Getreideproduktion
Weizen
Roggen
u. Spelz
Gerste
Hafer
Mais
2. Ungarn,
1891/95 52 664
16938
19506
23629
42912
1895
55682
15908
18486
24 364 50 303
1896
52844
17 lOI
20384
24643
45413
1897
29450
12462
14550
18552
36029
3.
Kroatien-SlavonieB
L.
1891/'95
2713
980
852
1388
5334
1895
3053
737
850
1473
6151
1896
3388
1138
1064
1698
6208
1897
2217
885
755
1422
4991
Juraschek (a. a. 0. S. 53) macht darauf auf-
merksam, dass nach der eingehalteneu Erhebungs-
methode die Angaben über die Ernte Oester-
reichs zuverlässiger sein dürften als jene von
Ungarn, dass aber in beiden Ländern und ins-
besondere in Ungarn die Erntemen^en in Wirk-
lichkeit höher seien, als sie offiziell nachge-
wiesen werden.
Bosnien und die Herzegowina haben nur
geringfügige Ernten und dürfen hier ausser
Betracht bleiben.
Entsprechend den wechselnden Ernteergeb-
nissen haben auch die Ein- und Ausfuhrver-
hältnisse des Getreidehandels im Laufe der
Jahre erhebliche Schwankungen gezeigt, welche
näher zu verfolgen hier indes zu weit führen
würde. Wir begnügen uns mit dem Hinweise
darauf, dass die reiche und namentlich in den
letzten Jahren erheblich gesteigerte Produktion
Ungarns nicht nur der ein regelmässiges Deficit
aufweisenden österreichischen Reichshälfte, son-
dern auch dem Auslände zu gute kommt.
6. Russland. Ueber die russische Ge-
treideproduktion liegen erst seit wenigen
Jahren zuverlässigere Naclirichten vor. Nach-
dem 1881 eine allgemeine Erhebung der
ßodenbenutzung stattgefunden hatte, erfolgte
zwei Jahre später die erste statistische Er-
mittelung der Ernteerträge in der Weise,
dass auf Grund der Angaben über die be-
baute Fläche und des jedesmaligen Durch-
sc^hnittsertrages die gesamte Produktion be-
i'cchnet wird. Nach den neuesten vorliegen-
den Angaben der Statistique de l'empire de
Russie betrug die Erntefläche:
(in 1000 Dessätinen = 109,25 Ar)
im europ.
im ganzen
Russland
Reiche
(60 Gouverne-
(72 Gouverne-
ments)
ments)
1898
1898
Winterweizen
3212084
4601
Sommerweizen
10577 806
12815
Winterroggen
24590370
25284
Sommerroggen
262680
672
Gerste
6 903 297
7632
Hafer
14 138 772
15429
Mais
871 062
I 032
Buchweizen
2 213 460
2 264
Spelz
427 449
436
Hirse
2351039
2754
zusammen 65 547 983
72919
Die geernteten Erträge beliefen sich auf
1000 Puds (zu 16,38 kg)
(60Gouverne- ^^^l^^'
'°«^^) ments)
1898
256 164
506 926
I X 18 041
25599
407951
609232
74306
58419
6168
130727
1893/97
1898
Winterweizen
167 420
194 132
Sommerweizen
369 859
397244
Winterroggen
I 156566
I 088 936
Sommerroggen
10953
9370
Gerste
329 720
364 434
Hafer
624 422
545 345
Mais
45810
612998
Buchweizen
54675
56726
Spelz
15722
5655
Hirse
96136
103 338
zusammen 2871283 2826478 3193533
Heute ist Russland neben den Vereinigten
Staaten von Amerika das wichtigste Getreide-
ausfuhrland für Europa. (Die Einfuhr ist un-
bedeutend.) Der Export richtet sich in erster
Linie nach Grossbritannien und Deutschland;
daneben kommen Holland, Frankreich, Belgien
und Italien mit erheblichen Zufuhren in Betracht.
Grossbritannien deckt etwa ein Fünftel seines
von auswärts zu beziehenden Bedarfes (haupt-
sächlich Weizen) durch russische Zufuhren,
während Deutschland gar zwei Drittel seines
Mehrbedarfs (Weizen und Roggen) aus Russland
erhält. An Weizen und Roggen wurden aus-
geführt in 1000 Puds und zwar an:
Weizen
Roggen
1891/95
198570
72910
1894
204 580
81 590
1895
237 HO
91 760
7. Rninänien. Von den für die Ge-
treideerzeugung nicht unbeträchtlichen Kul-
turländern hat nach Juraschek-Hübners
»Geographisch-statistischen Tabellen« Rumä-
nien im Mittel von 1893/97 geerntet : Weizen
23,4, Roggen 3,1, Gerste 7,9, Hafer 4,0 und
Mais 23,3 mil. hl.
8. Vereinigte Staaten von Amerika.
Diese haben zwar früher als Russland,
aber doch auch erst um die Mitte des 19.
Jahrhunderts begonnen, ihre Getreidepro-
duktion erheblich zu erweitern, dann aller-
dings in solch überraschender Weise, dass
sie den europäischen Staaten plötzlich eine
früher nie geahnte Konkurrenz bereiteten.
Das spricht sich auf das deutlichste in den
nachstehenden Daten über die Erntemengen
aus. (1 Bushel — 35,2 Liter.)
Ernteerträge in
L 1000 Busheis.
Weizen
Hafer
Mais
1850
104486
146 584
592 07 1
1860
173 105
172643
838 793
1870/79
312153
341 441
I 184487
1880/84
463 973
495509
I 575 194
1885,89
435417
653 222
I 831 714
1890
399 ^62
523 621
I 490000
1891
6 c I 780
738 394
2060000
1892
5<5 949
661035
I 628000
Getreideproduktion
331
Weizen
Hafer
Mais
1893
400473
638 855
I 619000
1894
460795
662 784
I 214205
1895
467 330
825000
2153409
1896
428 125
707 386
2 286 932
1897
530 1 14
698 864
I 903 409
1898
598 Ol 1
669 034
I 826 705
Für die Jahi-e 1889 und 1890 wird die
AVeizenernte auf 490 bezw. 414 Mill. Busheis.
die Maisernte auf 2112 bezw. 1600 mU.
Busheis angeft^eben. Die Ursache der ge-
waltigen Zunahme der letzten Jahrzehnte liegt
nun nicht in einer etwaigen Steigerung der
Intensität des Landwirtschaftsbetriebes, denn
der Ei-trag pro Acre (= 40,5 Ar) war z. B.
in Busheis bei
Weizen
Mais
1870/79
12,4
27,1
1880/88
I2,0
23,8
1889
12,9
27,0
1890
II, I
20,7
1891
«5,3
27,0
1892
»3,4
23,1
1893
11,4
22,5
1894
13,2
19,4
1895
13,7
26,2
1896
12,6
28,2
Auch im Vorgleich zu den in eim)päischen
Ländern erzielten Erträgen sind diese Diu^ch-
schnittszahlen als massig zu bezeichnen.
Die Produktionssteigerung erklärt sich viel-
mehr daraus, dass im Laufe der Jahre immer
grossere Flächen des weiten, dünn besiedelten
westlichen Gebietes zur Kultur herangezogen
worden sind. Der Umfang des kulti\'ierten
Bodens betrug nämlich 1850 113032614,
1S60 163110720, 1870 188921099, 1880
284771042 und 1890 357 616755 Acres.
In diesem letztei*en Jahre haben die Farmen
insgesamt (einschl. unkultivierten Boden)
eine Ausdehnimg von 623218619 Acres er-
langt. Was insbesondere die dem Weizen-
und Maisbau dienenden Flächen anbetrifft,
so betrugen dieselben in Acres beim
im J.
1819
1859
1869
1871
1875
1880
1886
1887
1888
Weizen
8000
14500
20000
19943
26381
37986
36806
37641
37336
Mais
m
9
•
34091
44841
6^317
75694
72392
75672
im J.
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
Weizen
38 123
36087
39917
38554
34629
34882
34095
34491
Mais
78326
71971
76205
70627
72036
62 526
82 104
80984
Die Daten aus den letzten Jahren lassen
erkennen, dass in der weiteren Ausdehnung
der Anbauflächen des Weizens ein gewisser
Stillstand eingetreten ist, dass dagegen die
des Mais in neuester Zeit eine Erweitenmg
erfahren haben.
Obgleich die rasche Bevölkeningszanahme
der Vereinigten Staaten einen erhöhten hei-
mischen Gretreideverbrauch mit sich bringt nnd
z. B. der Weizenkonsum, welcher in der Mitt«
der siebziger Jahre 200 Mill. Busheis erreichte,
1888/89 auf 327 Mill. Busheis angewachsen ist,
standen auch in den letzten Jahren noch sehr
ßrrosse Mengen zum Export zur Verfügung.
Nachdem die gesamte Getreideausfuhr bereits
zu Beginn der siebziger Jahre etwa 100 Mill.
Busheis erreicht hatte, stieg sie 1878/79 auf
220 Mill., 1879/80 gar auf 256 MUl. Busheis.
Hiermit war sie auf ihrem Höhepunkte ange-
langt. Nachdem noch 1880 81 246 Mill. Busheis
exportiert wurden, ist die .ausfuhr seitdem sehr
rasch gesunken, wenn sie sich auch mit 91 Mill.
im Jahre 1887.88 und 118 Mül. Busheis im
Jahre 1888,89 immer noch auf beträchtlicher
Höhe hält. Vorzugsweise kommen für die Aus-
fuhr Mais und Weizen in Betracht. An letzterem
wurde ausgeführt 1861/70 22, 1871,80 78,
1881/90 72, 1891/95 88, 1896 61 Mill. Busheis.
Die Getreideeinfuhr in die Vereinigften Staaten
tritt gegenüber diesen Ausfuhrzifi'ern völlig
zurück und ist nur für Gerste von Bedeutung,
deren wachsender Bedarf durch die inländische
Produktion nicht gedeckt wird.
Unter den von den Vereinigten Staaten mit
Getreide versorgen europäischen Ländern stehen
Grossbritannien und Irland mit fast zwei Dritteln
des gesamten Exports in erster Linie. Daneben
kommen namentlich Frankreich und Belgien in
Betracht.
9. Britisch-Ostindien. Seit etwa einem
Jahrzehnt ist auch Indien den für den Welt-
markt hauptsächlich massgebenden Getreide-
exportländern hinzugetreten. Die Haupt-
früchte sind Weizen und Reis. Die wach-
sende internationale Bedeutung des indischen
Produktiousgebietes erhellt aus nachfolgenden
Angaben in 1000 englischen Centnern (zu
50,8 kg) über die Ausfuhren:
1876/81
1881/86
1886/87
1887/88
1888/89
1889/90
1890/91
Weizen
4522
18371
22 263
13538
17610
13805
14320
Reis
21 414
27179
26461
28 149
22 768
34 474
1891/92
1892/'93
1893/94
1894/95
1895/96
1896,D7
1897/98
Weizen
30303
14973
12 157
6 888
10003
I 911
2393
Reis
32740
27396
24020
33722
34636
27820
26272
Die starken Schwankungen des Weizen-
Exports beruhen, abgesehen von dem £in-
fluss der amerikanischen Konkurrenz, vor
allem auf dem durch die klimatischen Ver-
hältnisse bedingten schroffen Wechsel des
Ernteausfalles. Die Weizenausfuhr richtet
sich in erster Linie nach England. Die An-
baufläche (Agriciütural statistics of British
India, 1898) ist 1884/85 für Weizen zu
19732, 1896 97 zu 16184, die für Reis
1884/85 zu 20919 und 1896/97 zu 66234
Tausend Acres ermittelt worden.
III. Allgemeiner Ueberblick.
Nachdem im Vorstehenden die wichtigeren
Staaten emzeln vorgeführt sind, erübrigt es,
soweit es angänglicli ist, einen Blick auf
332
Getreideproduktion
die gesamte Produktion der Erde zu werfen.
Für frühere Jahre haben die »Ueber-
sichten über die Weltwirtschaft« versucht,
diese zusammenzufassen und dabei ausser-
halb Europas auf die Vereinigten Staaten,
Canada, Chile, Argentinien, Britisch - Ost-
indien, Japan, Algier, Tunis und Australien
Rücksicht genommen. Das ergab für den
Dimihschnitt von 1885/89 an Gretreidepro-
duktion in Millionen Hektoliter:
m
europäischen Staaten . .
aussereuropäischen Staaten
Weizen
n. Spelz
448,5
328,7
zusammen 777,2
Koggen Gerste Hafer
451,3
10,5
228,1
48,4
461,8
559,0
277,8
Mais
138,7
668.6
276,5 836,8 807,3
Für die neuere Zeit bieten geeignete Unterlagen hinsichtlich des Weizens Beerbohms
Evening Com Trade List und für Roggen, Gerste, Hafer, Mais Broomhalls Corn Trade
Year Book. Gemäss den Umrechnungen des kaiserlichen statistischen Amtes (Viertel-
jahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches, 1897, III) betrug in 1000 Tonnen (zu
1000 kg) im Jahre 1896 der Ernteertrag an :
in Weizen Boggen Gerste Hafer Mais
Europa
Deutschem Reich 2830,5 6640,7 2630,9 5 377,9 —
Oesterreich-Üngam 4898,9 3200,6 2413,2 2702,7 3810,2
Rnssland, europ. ohnp Kaukasus . . 9362,3 18267,4 3683,3 9294,1 344,o
Kaukasus i i97,5 ....
Grossbritannien und Irland .... 1578,5 — i 74^8 2813,0 —
Frankreich 9^4,6 2177,3 1088,6 4371,2 —
Italien 3 592,5 io8,9 181,4 372,3 2003,1
Spanien 2177,3 ....
Portugal 108,9 ....
Rumänien 1 877,9 326,6 689,5 248,2 i 741,8
Serbien 381,0 ....
Bulgarien und Ostrumelien 1 360,8 ^) 130,6 453,6 96,5 174,2
Türkei, europäische 1 088,6 ....
Griechenland 163,3 ....
Schweiz 130,6 ....
Holland 163,3 304,8 117,9 27^,8 —
Belgien 544,3 783,8 72,6 386,1 —
Dänemark 108,9 500,8 544,3 661,9 —
Schweden und Norwegen .... _^ 108,9 631,4 308,5 937,7 —
zusammen 40818,6 33072,9 13925,6 27537,4 8073,3
Weizen Roggen Gerste Hafer Mais
Amerika
Vereinigten Staaten 12192,8 653,2 1578,5 12189,9 62052,5
Canada 925,3 — 362,9 1 654,7 479,0
Mexiko 272,2 ....
Argentinien 870,9 — — _ i 277,3
Chile 326,6 ....
Uruguay 163.3 _ — — 152,4
Indien 5 573,9 ■ ' •
Australien 631,4 ....
Anderen Gebieten
Algier 544,3 — 671,3 82,7 —
Tunis 141,5 — 90,7 . —
Aegypten 217,7 — -- - 936,4
Capland 119,7 ....
Syrien 326,6 ....
Klein-Asien 979,8 ....
Persien 544,3 ....
zusammen 23830,3 653,2 2703.4 13927,3 65797,6
Im ganzen 64648,9 33726,1 16629,0 41464,7 73870,9
*) Ohne Ostrumelien.
Getreideprodiiktion — GetreidezOlle
333
Lii Mittel der Jahre 1892/96 ergaben ffir diese Länder die Ernten in 1000 Tonneu:
in Weizen Roggen Gerste Hafer Mais
europäischen Staaten 40059,1 35036,0
aussereuropäischen Staaten 27 108,0 729,0
13905,2
2 872,3
28019,5
13 592,7
7912,0
51 012,0
zusammen 67 167,1 35 7^4,9 16777,5 41612,2 58924,1
(Nach -i. Wirmtnghinut:) Paul Kollmann,
Getreidezölle.
1. Allgemeines. 2. Geschichte und gegen-
wärtiger Stand der Getreidezollgesetzgebung.
a) Deutschland, b) Frankreich, c) England,
d) Gestenreich - Ungarn, e) Italien, Schweiz,
Schweden .und Norwegen, Eussland, Spanien,
Niederlande und Belgien, f) Portugal. 3. Die
Wirkung der Zölle auf die Preise. 4. Die Ein-
wirkung der G. auf die Landwirtschaft. 5. Ein-
fluss des G. auf die andern Produktionszweige.
6. Die Bedeutung des G. für die Konsumenten.
7. Wann sind die G. notwendig? 8. Der dau-
ernde G. 9. Massregeln zur Milderung der Nach-
teile des G. a) Die Beseitigung des Identitätsnach-
weises. b)DiegleitendeSkala. 10. Schlussergebnis.
1. Allgemeines. Da bei den Getreide-
zöllen die Ausfuhrzölle und ebenso die
Durchfuhrzölle im allgemeinen in Fortfall
gekommen sind und nur noch ganz aus-
nahmsweise und vorübergehend herangezogen
werden, so haben wir es jetzt nur mit den
Einfuhrzöllen zu thun, also den Zöllen,
welche von Getreide bei dem Uebersehreiten
der Landesgrenze erhoben werden. Von
einem FinanzzoU kann heutigen Tages eben-
falls kaum noch die Rede sein, der also nur
aus Rücksichten für die Staatskasse einge-
führt wird, da es den Principien der Finanz-
wissenschaft durchaus widerspricht, auf ein
notwendiges Nahnmgsmittel eine Steuer zu
legen. Thatsächlich spielt daher auch der
Getreidezoll nur als Schutz zoll eine Rolle,
und als solchen werden wir ihn daher auch
nur zu betrachten haben.
2. Geschichte und gegenwärtiger
Stand der Getreidezollgesetzgebung.
In dem 17. und 18. Jahrhundert waren die
Regierungen den merkantilistischen Anschau-
ungen entsprechend in erster Linie bestrebt,
die Industrie eventuell auch auf Kosten der
Landwirtschaft zu fördern. Daher finden
sich in jeuer Zeit häufig Ausfuhrverbote oder
auch Ausfuhrzölle für Getreide, um dem
Lande und namentlich der Arbeiterbevölke-
nmg dieses Nahnmgsmittel möglichst billig
zugänglich zu machen. Nur ausnahmsweise
griff man zu einer Erschwerung der Ein-
fiihr, wenn reichliche Ernten die Preise
übermässig herabdrückten. Erst im Laufe
dieses Jahrhunderts haben sich hauptsächlich
die Anschauungen über die Aufgaben des
Staates und die notwendigen Massregeln in
dieser Hinsicht geändert.
a) Deutschland. In Preussen wiu'de
durch Edikt vom G. Juni 1810 die Ausfuhr
von Getreide gestattet, aber noch mit einem
Zoll von 32 ^-2 Thaler pro Last belegt. Noch
in demselben Jahre wurde der Satz für den
Seeverkehr erraässigt, 1818 auf einen Pfennig
pro Scheffel festgesetzt, 1822 ganz beseitigt.
Der epochemachende preussische Tarif
von 1818 führte dagegen bereits einen Ein-
gangszoll ein, der bis 1865 verschiedene
Wandlungen erfaliren hat, den wir in der
folgenden kleinen Tabelle übersichtlieh vor-
führen. Von 1865 bis Ende 1879 war dann
der Eingang von Getreide in Deutschland
freigegeben, um mit dem Jahre 1880 wieder
einer Schutzzollperiode Platz zu machen.
Der Zoll betrug pro Scheffel in Mai-k:
seit
1. Jan.
1819 1822
0,187 0,187
0,075
0,0625
0,0375
Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
Hülsen-
früchte 0,125
0,062
0,062
0,039
19. Nov.
1. ;
Fan.
1824
1857
1865
0,50
0,20
Nichts
0,50
0,05
r
0,50
0,05
n
0,50
0,05
n
0,15
0,50 0,20
Mühlenfahrikate
Weizen
Roggen
Hkfer
Hülsenfrüchte
Gerste
Mais
Buchweizen
1885
1887
1891
75
30
30
15
105
50
50
40
73
35
35
2g
15
10
22,5
20
20
16
10
20
16
Der Zoll betrug pro Tonne in Mai'k:
1. Januar
1880
20
10
10
10
5
5
5
. 5
b) Frankreich. In Frankreich waren
noch während des vorigen Jahrhunderts
Ausfuhrzölle für Getreide an der Tages-
ordnung, die nur vorübergehend nachgelas-
sen wurden. Noch im Jahre 1810 wurde
die Kornausfuhr verboten, 1814 ein ZoU auf-
gelegt, wenn der Preis 19 Francs pro quintal
I metrique Weizen eiTeichte. Das Jahr 1816
1 brachte zum ersten Mal einen Einfuhrzoll
, von 50 Cent, pro quintal metrique, der aber
j noch in demselben Jahr durch eine Einfuhr-
prämie infolge eingetretener Teuerung er-
' setzt wurde. Vom 16. Juli 1819 datiert die
Iprincipielle Aenderung des Systems in
I Frankreich , um fortan die Landwirtschaft
! diu-ch einen Zoll zu schützen, da sie durch
einen gewaltigen Rückgang der Getreide-
I preise in jener Zeit erheblich zu leiden
I hatte.
i
334
Getreidezölle
Wie bisher für die Ausfulir, so wurde
nun für die Einfuhr das Land in drei Teile
geschieden und für jeden ein besonderer
Zollsatz festgesetzt, zu dem ein Zuschlag
hinzutrat, wenn die Preise erheblich san-
ken. Wenn sie aber in dem einen Teile
pro Hektoliter imter 16, in dem anderen
unter 18, in dem dritten unter 20 standen,
wurde die Einfuhr verboten ; 1821 über die
Häfen der Provence sogar schon bei einem
Preise von 28 Francs pro Hektoliter. Am
15. April 1846 wiu^e ein Gesetz erlassen,
nach welchem das Einfuhrverbot durch eine
Zollskala ersetzt wurde, um den Preis in
der einen Hälfte des Landes auf 20 Francs,
in der anderen auf 24 Francs zu erhalten.
Den Massstab gaben bestinunte Preistaxen
ab. Erst in den Jahren von 1853 — 59, wo
eine ^sse Teuerung herrschte, wurde sie
beseitigt und der Handel freigegeben. Gegen
dieselbe war schon seit längerer Zeit eine
grosse Agitation entstanden, da die bezweckte
Gleichmässigkeit der Preise dadurch doch
nicht erreicht war. Nach vorübergehendem
Inkrafttreten des alten Gesetzes wurde
Ende des Jahres 1860 pro 100 Kilo Weizen
eine Einfuhigebühr von 62 Gentimes, für
Mehl 1,25 Francs erhoben, während das
übrige Getreide frei blieb. Der Tarif von
1881 brachte hiervon eine ganz unwesent-
liche Aenderung, dagegen nahm das Gesetz
von 1885 einen mehr schutzzöUnerischen
Charakter an. Von 100 Kilo Weizen wurden
3 Francs, bei aussereuropäischem Ursprung
und aus europäischen Entrepots sogar 6,60
Francs, von Weizenmehl 6 Francs, Hafer, Rog-
gen, Gerste 1,50 Francs erhoben. 1887 wiu*-
den die Sätze erhöht für Weizen auf 5 resp.
8,60 Francs, für Mehl auf 8 resp. 21,60
Francs, für Gerste, Roggen und Hafer auf 3,
Mehl 5 Francs, Erbsen 3 Francs. Nach
vorübergehender Ermässigung im Jahre 1891
und unbedeutender Veränderung im Jahre
1892 wurde am 27. Februar 1894 der Weizen
auf 7 Francs, der Zoll auf Mehl nach dem
Prozentsatz des Auszugs auf 11 bis 16
Francs erhöht. Die anderen Zölle blieben
auf den Sätzen von 1887. Die Missernte des
Jahres 1897 veranlasste die Suspendierung
des Zolles für Weizen vom 4. Mai bis 1. Juli
1898. Gequetschte Kömer mit mehr als
10 % Mehl zahlten 1 Franc, Mehl von 70 »/o
Auszug und darüber 1 Franc, unter 60%
2 Francs, Brot 1 Franc. Seitdem sind die
früheren Sätze wieder in Kraft getreten.
Frankreich hat sich für die Getreidezölle
nicht die Hände durch Verträge gebunden
und geniesst gleichwohl als meistbegünstig-
tes Land jede Herabsetzung der Zölle,
welche in Deutschland aus irgend einem
Grunde vorgenommen wird.
o) Die grösste Bedeutung haben die Ge-
treidezölle eine sehr lange Zeit in England
gehabt, wo die Grundbesitzer die politische
Macht in den Händen hatten und diese zu
ihrem Vorteil verwerteten. Schon in der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
suchte man der Landwirtschaft durch wie-
derholte Einfuhrverbote und Ausfuhrprämien
zu nützen. In der zweiten Hälfte des vori-
gen Jahrhunderts hörte die Ausfuhr auf, und
die starke Zunahme der Bevölkerung machte
immer häufiger eine Einfuhr notwendig. Im
Jahre 1791 wurde zum ersten Mal ein Ein-
fuhrzoll aufgelegt, pro Qiiarter Weizen mit
6 d., der aber bei einem Sinken der inlän-
dischen Preise auf 55 Sh. auf 2 Sh. 6 d.,
bei einem Preise von 50 Sh. sogar auf 23 Sh.
6 d. stieg. Erst im Beginne dieses Jahi*-
hunderts kamen diese erhöhten Sätze zur
Geltung. Als sich gleichwohl die gewünschte
Preiserhöhung nicht einstellte, wurde 1804
der Nonnaisatz auf 4 Sh. 3 d. erhöht, so
lange der Quarter Weizen auf inländischem
Markte nicht 63 Sh. kostete. Stieg er dar-
über bis 66 Sh., so wurde der ZoU auf
2 Sh. 6 d., erst bei 66 Sh. und darüber auf
6 d. ermässigt. Auch die dadurch erstrebte
Preishöhe genügte den Landwirten noch
nicht. Seit 1815 suchte man sie auf min-
destens 80 Sh. zu erhalten. Selbst aus den
nordamerikanischen Kolonieen durfte Weizen
erst bei einem Preise von 67 Sh., sonstiges
Gretreide erst bei 44 Sh. importiert werden.
Gleichwohl gingen Anfang der zwanziger
Jahre die Preise weit unter jenes Mass her-
unter, obgleich man die Zollerhöhung noch
verschärfte. Die Missernte von 1825 zwang
wieder zu einer vorübergehenden Herab-
setzung. Schon im Jahre 1828 nahm man
einen neuen Anlauf zur Erhöhung des
Schutzzolles in der berühmt gewordenen
gleitenden Skala, von welcher man die Er-
reichung gleichnaässiger Preise erhoffte, da
sie sich in einem höheren Masse als die
bisherigen den Preisschwankungen anschloss.
Bei 68 Sh. pro Quarter war der Zoll 18
Sh. 8 d., bei 69 Sh. 1 6 Sh. 8 d., u. s. w.,
bis bei 80 Sh. der Zoll nur noch 1 Sh. be-
trug. Diese Einrichtung blieb in der Haupt-
sache unverändert bis 1842 bestehen, und
auch da wurden trotz der Opposition gegen
die Massregel nicht das Pnncip geändert,
sondern nur die Sätze. Bei einem. Preise
von 51 Sh. begann der Zollsatz mit 20 Sh.,
um dann mit jedem Shilling der Preis-
erhöhung um einen Shilling zu fallen,
bis wiederum bei 73 Sh. der ZoU nur noch
einen Shilling betrug. 1846 erlangte die
freihändlerische Opposition eine Ermässigung,
und am 1. Februar 1849 fiel die Skala über-
haupt, die durch einen festen Zoll von einem
Shilling pro Quarter, 1864 von 3 d. pro
Centner ermässigt wurde, der auch am
1. Juni 1869 endgültig in Fortfall kam. So
hatte schliesslich die Anticorolawleague (s.
Getreidezölle
335
diesen Art. oben Bd. I, S. 410 ff.) ihren Zweck
erreicht, und trotz des bedeutenden Preisrück-
ganges des Geti-eides in den letzten Decennien,
"welcher kein Land so stark betroffen hat als
England, hat man nicht wieder zu dem Schutz-
zoll gegriffen, obgleich die Landwirtschaft
in ausgedehnten Strichen des Landes, die
auf Getreidebau angewiesen sind, erheblich
gelitten hat.
Die Erfahrungen, welche man in England
mit den Zöllen gemacht hat, sind ungemein
lehrreich. Es hat sich ergeben, dass man
auch durch die höchsten Zollsätze nicht im-
stande gewesen ist, gegenüber dem Welt-
markt hohe Preise zu erzwingen, und ebenso
wenig die Steigerung der heimischen Pro-
duktion derartig zu fördern, dass sie auch
nur annähernd mit dem Wachstimi der Be-
völkerung Schritt zu halten vermochte. Die
gleitende Skala hat sich als verfehlt erwie-
sen. Sie bewirkte nicht eine grössere Aus-
gleichung der Preise, wie man von ihr ge-
hofft hatte, sondern brachte im Gegenteil
cewaltige Schwankungen hervor, die gerade
aie Eigentümlichkeit der Zollmassregel ver-
schuldet hatte. Sie gab der Spekulation
besondere Anhalte, indem sie die Preise
und damit den ZoU willkürlich zu beein-
flussen vermochte, imd dieses zu ihren
Gunsten verwertete, während der Farmer
daninter zu leiden hatte. Waren die Preise
im Inlande niedrig und daher der Zoll hoch,
so hielten die Händler die Ware zurück, bis
die Preise erheblich gestiegen und der Zoll
auf ein Minimum gesunken war, um dann
das bisher in den Hafenorten aufgespeicherte
Getreide in kurzer Zeit massenhaft in das
Land zu werfen, wodurch die Preise
wiedenmi übermässig gedrückt wurden. Der
kleine Landwirt, der unter dem Druck der
Verhältnisse verkaufen musste, was er ge-
droschen hatte, konnte diese Konjunkturen
weder vorausberechnen noch im Momente
angemessen ausnutzen. Daher richtete sich
gerade die Opposition der Landwirte gegen
die Skala, und sie verlangten feste 2iOllsätze.
(S. Diehl, die gleitende Skala, in Jahrb. f.
Nat. u. Slat. 1900, Bd. 19, konnte von
uns leider nicht mehr benutzt werden.)
üeber die Zollschwankimgen giebt die
folgende Tabelle nach dem Werke von Tooke
und Newmarch »Die Geschichte und die Be-
stimmung der Preise«, übersetzt von Asher
1862 s. Bd. 2 S. 804, Auskunft:
Weizenpreise in England von 1829 — 47 für den Quarter in Sh.
Jahre
1829
1830 1 1831
1832
1833
1834
1835
1836 1837
1838
Sh. d. Sh. d. ;Sh. d.
Sh. d.
Sh. d.
Sh. d. Sh. d.
1
Sh. d.
Sh. d.
Sh. d.
Jahresdarchschnitt . .
Höchster 1 Wochen-
EleinRter / durchschnitt
Differenz
66 3
75 II
55 4
20 7
64 3
74 II
55 5
19 5
66 4
75 I
59 2
15 9
58 8
63 7
51 3
12 4
52 II
56 5
49 2
7 3
46 2
48 6
40 6
8
39 4
44 —
36 -
8
49 6
61 q
36 -
25 9
55 10
60 I
51
9 I
64 7
78 4
52 4
26
Jahre
1839
1840
1841
1842
1843
1844
1845
1846
1847
Jahresdurchschnitt . .
Höchster \ VVochen-
IJeinster / durchschnitt
Differenz
70 8
81 6
65 6
16
66 4
72 10
58 10
14 —
64 4
76 I
60 7
15 4
57 3
65 8
46 IG
18 8
50 I
61 2
45 5
15 9
51 I
56 5
45 I
n 4
50 10
60 I
45 -
15 I
54 8
64 4
45 I
19 3
69 9
102 5
49 6
52 11
Beachtenswert ist, dass gerade die
Pächter, also die wirtschaftenden Landwirte
vielfach durch die Zölle in Verlegenheit
gebracht wurden, weil sie durch die
Hoffnung auf die Wirkimg der Zölle sich
zu hohen Pachtgeboten verleiten Hessen, die
sich nachher, als die Wirkung der Zölle
ausblieb, als zu hoch heraus stellten. Wäh-
rend aber von Seiten der Grundaristokratie
nach Beseitigung der Getreidezölle ein all-
gemeiner Rückgang der Landwirtschaft
prophezeit war, stellte sich thatsächlich im-
mittelbar nach derselben in den fünfziger
und sechziger Jahren ein ganz bedeutender
Aufschwung der Landwirtschaft ein, die nun
erst in die richtigen Bahnen einer erweiter-
ten Viehzucht emlenkte, während bisher
künstlich der Getreidebau in unrationeller
Weise begünstig war. Die Pachtsätze gin-
gen daher seit jener Zeit nicht zurück, son-
dern im Gegenteil ausserordentlich in die
Höhe. Erst in den achtziger Jahren ist
darin eine rückläufige Bewegung eingetreten,
durch welche aber in den meisten Gegenden
der landwirtschaftliche Betrieb in angemes-
sener Weise erhalten werden konnte. In
der neuesten Zeit hat sogar der Getreidebau
wieder eine Erweitenmg erfahren.
d) Oesterreioh-Ungam hat seit 1853
für Weizen und Kerne 40 Kreuzer,
für Roggen und Hülsenfrüchte 80 Kr., für
Hafer und Gerste 20 Kr. pro Metercentner
bei der Einfuhr erhoben. Der Tarif v. 25.
Mai 1882 steigerte die Sätze für Weizen,
Spelz, Hirse und Buchweizen auf 50 Kr.^
für die übrigen Getreidearten auf 25 Kr.
336
Getreidezölle
Das O. V. 21. Mai 1887 erhöhte den Tarif
abermals, und zwar für Weizen, Spelz.
Roggen und Halbfrucht auf 150 Kr., Bohnen
und Hülsenfrüchte 100 Kr., Gerste und
Hafer 75 Kr., Buchweizen, Hii-se und ^lais
50 Kr. Vom Februar bis Juli 1890 w^urde
die Einfuhr aus Russland für bestimmte
Mengen zollfi*ei gestattet.
e) Italien erhob 1883 einen Weizen-
zoll von 14 Lire pro Tonne. 1887 w^urde
er im April vorübergehend geändert und
durch den Tarif vom 14. Juü desselben
Jahres auf 30 Lire, für Hafer auf 20, Geilste
und anderes Getreide mit 11,50, für Mehl mit
60 Lire angesetzt. Schon in dem folgenden
Jahre erfiüu-en die Sätze eine abermalige
Erhöhung, pro Tonne Weizen wurde der Zoll
auf 50, "Hafer auf 40, Mehl auf 87 Lire
erhöht. Im Jahi^ 1898 wurde vom 25.
Januar ab der Zoll auf (jerste und Roggen
auf 30 Lire , weissen Mais auf 50 Lire
pro Tonne, j)ro Doppelcentner Weizenmehl
auf 8 Lire, Gries auf 10,50, Kleie auf 2,50,
Roggenmehl und Gerste auf 4,60 angesetzt,
vorübergehend aber der Zoll auf Weizen
Roggen, Weizen, Gerste, Mais, Erbsen
und Bohnen
Hafer und Wicken
Malz
Anderes Getreide
Mehl und Grütze aller Art
Brot, feine Sorte
Brot, gewöhnliche Sorte
und Weizenmehl ganz aufgehoben. Vom
1 5. August an sind die früheren Sätze wieder
in Gültigkeit.
Die Schweiz, welche hauptsächlich
auf Getreideeinfuhr angewiesen ist, hat erst
diu-ch den Zolltarif vom 10. April 1891 einen
geringen Einfuhrzoll von 3 Francs pro Tonne
Getreide, Mais und Hülsenfi-üchte, für Mehl
und Mühlenfabrikate 25 Francs aufgelegt.
Die meist begünstigten Nationen genossen
aber noch bis 1892 den niedrigen Satz auf
Melü etc. von 10 Francs.
Niederlande und Belgien hatten
1835 für Weizen eine gleitende Skala ein-
geführt, welche "bei einem Preise von 9
Gulden pro Hektoliter mit Vi Gulden be-
gann und bei einem Preise von 5 Gulden
das ^Faximum von 3 Gulden errcichte.
Belgien führte 1850 den festen Zoll von
1 Franc pro 100 kg Weizen ein, der aber
1887 wieder . beseitigt ^^^u'de. Auch in
Holland bestehen jetzt keine GetreidezöUe.
Schweden imd Norwegen haben erst
durch den Zolltarif am 14. Februar 1888
agrarische Schutzzölle eingeführt :
durch G. v. 28. Sept. 1895
/ Roggen etc. 3,70 Kr.
pro
100 kg
2.50
Kronen \
n
100 „
1,00
n /
n
100 „
3,00
n
n
100 „
2,50
n
rt
100 „
4,30
n
rt
100 „
4,30
r
n
100 „
2,50
»1
Mehl
6,50
n
Im Jahre 1892 war vorübergehend der j
Zoll flir Getreide auf 1,25 Kronen, für Mehl !
auf 2,50 Kronen herabgesetzt. |
Russland erhebt nur einen Einfiüir-
zoU auf Mehl, Malz und Grütze von 3,97
Mark pro 100 kg.
Spanien verlangt nach dem Tarif von
1883
im General- im Konventional-
tarif tarif
für 100 kg
Weizen 4,32 Pes. 4,20 Pes.
Weizenmehl 6,48 „ 6,00 „
Anderes Getreide 3,20 „ 3,10 „
Mehl daraus 4,80 „ 4,50 „
Hülsenfrüchte 3,20 „ 3>io n
Durch G. V. 9. Februar 1895 ü^t für
Weizen ein Zusclilag von 2,50 Pesetas und
füi" Weizenmehl von 4,12 Pesetas hinzu,
im Jahre 1898 sah man sich genötigt, am
20. Mai die Zölle auf Weizen, Mais etc. auf-
zuheben, die Ausfuhr zimRchst zu verbieten,
dann am 1. Jiüi gegen einen Zoll von 2^/2 "/o
des Wertes freizugeben. Am 15. November
wurde aber der frühere Zustand wieder her-
gestellt.
f) Portugal liat in einer interessanten
Weise besonders eingreifende Versuche ge-
macht, der Land Wirtschaft auf schutzzoU-
norischem Wege hohe Getreidepreise zu ge-
währleisten. Der Zolltarif vom 17. Oktober
1885 bestimmte folgende Sätze:
vom 17. September 1885 ab :
Weizen pro kg 10 Eeis = 4,5 Pf.
Roggen n n 9 „ =4,05 „
Mais, Gerste u. Hafer „ „ 8 ^ = 3,6 „
Weizenmehl „ „16 „ = 7,2 „
Roggen- und 3Iaismehl „ „11 „ = 4,95 „
Gersten- u. Hafermehl
Brot
12 „ =5,04^
•n
n
Seit jener Zeit haben die Sätze ausser-
ordentlich geschwankt. Im Jahre 1888 und
1889 war er vorübergehend auf 20 Reis für
Weizen in die Höhe gesetzt. Vorübergehend
ist auch, z. B. vom 26. Mai bis 7. Juli 1898,
der Zoll für Roggen aufgehoben. Daneben
wm*de im Jahre 1888 der Regierung das
Recht eingeräumt, mit Zustimmung der
Generalräte für Handel und Landwirtschaft
den ZoU auf Mehl herabzusetzen, wenn es
zur Vermeidung einer Verteuenmg des
Brotes notwendig wäre. Im Falle dieses
nicht genügte, durfte sie auch die Getreide-
z()lle ermässigen und städtischen Bäckereien
amtliche Gebäude zur Verfügung steilen,
Getreidezölle
337
um billiges Brod zu schaffen. In besonderer
Weise suchte man die Verwendung hei-
mischen Getreides durch eine Befreiung von
der Gewerbesteuer für diejenigen Mühlen
zu erreichen, welche ausschliesslich inlän-
disches Getreide verarbeiteten. Diuxjh G. v.
15. Juli 1889 ging man noch einen Schritt
weiter und verbot im allgemeinen die Weizen-
\md Mehleinfuhr. Niu* wenn der Importeur
naclizu weisen vermochte, dass er doppelt so
viel einheimischen Weizen gekauft und ver-
mählen habe, oder wenn der Preis des hei-
mischen Weizens durchschnittlich auf 60
Reis pro Kilo gleich 270 Mark pro Tonne
gestiegen war, wurde ihm gestattet, aus-
ländisches Getreide zu beziehen, für welches
dann 20 ßeis Zoll zu zahlen waren. Mehl
sollte nur eingeführt werden bei Nachweis
wirklichen Mangels und zu einem Zolle von
15 bis 30 Reis.
Durch das Getreidegesetz vom 14. Juli
1899 sind die Bestimmungen, welche in der
Hauptsache schon 10 Jahre in Anwendung
waren, ausführlicher und mit einigen Modi-
fikationen festgelegt. Bei der Eigentümlich-
keit des ganzen Vorgehens wird es ange-
bracht sein, die hauptsächlichsten Bestim-
mungen hier wiederzugeben:
Portugal. Getreidegesetz v. 14. Juli 1899.
Nach § 1 soll der Handel mit einheimischem
Weizen und Mais, die Fabrikation von Brot
und Mehl sowie die Ein- und Ausfuhr von
letzterem durch Gesetz ^regelt werden.
Die Preise des heimischen Weizens, der bei
dem Centralmarkt für landwirtschaftliche Pro-
dukte eingeliefert wird, werden wie folgt be-
stimmt :
Weichweizen, pro kg 64—72 Reis, Hart-
weizen 61 —69 Reis je nach dem Gewicht von
73—81 kg pro ha.
§ 2. Bis zum 15. November jedes Jahres
wird die B^erung zur Anmeldung des ein-
heimischen Weizens auffordern, um die Ver-
teilung dieses Weizens anzuordnen sowie auch
um, unbeschadet anderer Mittel zur Information,
berechnen zu können, wie viel fremder Weizen
in dem betreffenden Emtejahr eingeführt werden
muss, um den Anforderungen des Konsums zu
genügen.
§ 3. Die Einfuhr von Weizen, gleichviel
welcher Herkunft, ist nur gestattet:
1. Den gehörig immatrikulierten Fabri-
kanten.
2. Den Landwirten als Saatkorn.
Bis zum 31. Dezember jeden Jahres wird
die Regierung durch eine Verordnung die Men^e
des einzuführenden Weizens, den zu entrich-
tenden Zollsatz und die pro rata Verteilung
unter die Fabrikanten, sowohl des fremden als
auch des in Gemässheit der zweiten Basis an-
gemeldeten einheimischen Weizens bestimmen.
In den Monaten August bis November
sind die Fabrikanten verpflichtet, pro rata in
jedem Monat bis zu 16 Millionen kg einhei-
mischen Weizens von den Produzenten zu
kaufen, die denselben vom 15. Juli an bei dem
Centralmarkt für landwirtschaftliche Produkte
Haad Wörterbuch der Staatswissensc haften.
oder bei den betreffenden Kreislegationen ange*
meldet haben.
§ 4. Die Mehlfabrikanten, die den auf sie
fallenden pro rata Anteil an Weizen nicht sofort
kaufen, sind verpflichtet, in jedem Monate
von Dezember bis Juli wenigstens den achten ,
Teil dieses Anteils zu kaufen. Der Teü, der
nicht von diesem Pflichtigen Teil gekauft wird,
wird sofort unter die anderen Fabrikanten ver-
teilt.
§ 5. Die Menffe des einzuführenden frem-
den Weizens wird der E^ffierung von dem
Landwirtschaftsrat vorgeschlagen. Zur Be-
schaffung der Unterlage soll nicht nur die
Statistik der Produktion, sondern auch der zum
Backen verbrauchten Quantitäten zusammenge-
stellt und veröffentlicht werden.
§ 6. Der Zollsatz wird der Regierung von
den zu gemeinsamer Sitzung vereinigten
obersten Bäten für Landwirtschatt, Handel und
Industrie vor^eschla&:en. Das Streben geht da-
hin, den Preis auf 69 Heis pro kg zu halten.
Nach dem Durchschnittspreise auf dem Weltmarkt
während der letzten 30 Tage plus den Zu-
schlagsspesen wird der dazu nötige Zoll fest-
gesetzt.
^ 7 u. 8. Die Leistungsfähigkeit der
Fabrikanten und ihre thatsächliche Verar-
beitung wird offiziell publiziert. Es kann gegen
die Angaben bei dem Bat für Landwirtschaft
Berufung eingelegt werden.
§ 9. Die Mehlfabrikanten dürfen fremden
Weizen erst einführen, nachdem sie den auf sie
fallenden Anteil an heimischem Weizen gekauft
haben. Einfuhr darf nur vom 15. Januar bis
31. Juli stattfinden.
§ 10. Alle grösseren Mühlen müssen drei
MehJtypen herstellen. Für diese sind für Lissa-
bon die Preise von 100, 90 und 82 Reis fest-
festellt, für Porto 3 Reis Aufschlag auf diese
ätze. Für Hausbrot dürfen die Preise nicht
höher sein, als 90 bezw. 80 Reis pro kg.
§ 11. Die Mühlen können mehr Weizen
importieren, wenn sie nachweisen, entsprechende
Quantitäten Mehl bereits exportiert zu haben.
Der Einfuhrzoll von 18 Reis für das kg
auf fremden Mais bleibt bestehen.
§ 12. Die Zahl der Bäckereien ist be-
schränkt auf eine schon früher normierte Zahl.
Erlaubnis zur Errichtung von Bäckereien er-
teilt das Ministerium der öffentlichen Arbeiten.
In einer besonderen Verordnung sind die
hygieini sehen und Betriebsbedingungen, denen
die Bäckereien genügen müssen, zusammenge-
fasst.
Die bestehenden Bäckereien haben inner-
halb dreier Monate die Erlaubnisscheine einzu-
holen.
Die Regierung kann die Zahl der Bäckereien
in Orten mit mehr als 8000 Einwohnern ein-
schränken, wenn sie die Zahl als über das Be-
dürfnis hinausgehend ansieht.
Als Ergänzung der obigen Bestimmungen
hat man gesucht, den Getreidebau auszudehnen,
indem man durch dieselben Gesetze die Be-
freiung von der Grundsteuer auf 10 Jahre für
alle Ländereien gewährt, die mit Getreide be-
baut werden und bis dahin unbebaut waren.
Die Hälfte der Grundsteuer ist für 5 Jahre er-
lassen für Ländereien, die fortan zum Getreide-
bau hauptsächlich von Mais und Weizen be-
Zweite Anflage. IV. 22
338
Getreidezölle
mLtxt werden, wenn sie bis dahin nicht mit
diesen Getreidearten bestellt waren.
Aus dem Angeführten ergiebt sich, dass
in der neueren Zeit die Schutzzollbestrebungen
in fast allen in Betracht kommenden Ländern
'zu Gimsten der Landwirtschaft enorme Fort-
schritte gemacht haben. Abgesehen von
den noch exportierenden Ländern sind es
nur England, Belgien, Holland und Däne-
mark, welche sich ohne Getreidezölle be-
helfen, die sämtlich durch Klima und Boden-
beschaffenheit besonders für die Viehzucht
prädestiniert sind, und daher der Getreide-
bau nicht in einer solchen Weise für die
Landwirtschaft von Bedeutung ist, wie in
den anderen in Betracht kommenden Ländern.
Ein Moment, welches wohl Beachtung ver-
dient.
8. Die Wirkung der Zolle auf die
Preise. Der Einfluss des Zolls wird je
nach den volkswirtschaftlichen Verhältnissen
des Landes wie auch je nach der Höhe
desselben ein verschiedener sein. Die alte
Schule ging davon aus, dass der Zoll als
Teil der Beschaffungskosten genau in dem
Preise im Inlande zum Ausdruck kommen
■müsste, daher auch voll und ganz von den
Konsumenten getragen werde. In der
neusten Zeit ist, namentlich angeregt durch
den Reichskanzler Fürsten von Bismarck, in
Deutschland die Ansicht vertreten, dass das
Ausland den Zoll tragen müsse. Das Richtige
liegt auch hier in der Mitte. Die Freihandels-
schule stellte sich die Vorgänge in dem
wirtschaftlichen Leben w^eit einfacher vor,
als sie in Wirklichkeit sind. Sie nahm nicht
auf die starken Reibungen Rücksicht, welche
in der Volkswirtschaft überall zu Tage treten
und daher die genaue Wirkung eines Stosses
nicht in infinitum ziu: Erscheinung treten
lassen. Unsere Agrarier dagegen unter-
schätzen die Bedeutung des internationalen
Handelsverkehrs für die Bildung der Preise.
Ohne jede Wirkung auf die Preise im
Inlande wird der Zoll bleiben, wenn das
Land einen Zuschuss zu dem eigenen Erbau
überhaupt nicht gebraucht, sondern den Be-
darf selbst zu decken vermag. Die Wirkung
steigt, je grösser der Bedarf ist, je mehr
das Inland als Käufer der ausländischen
Ware auf dem Weltmarkte auftreten muss.
Die Wirkimg tritt um so schärfer hervor,
je höher der Zoll ist, während er in den
Zwischenhänden verschwindet und sich we-
nigstens nicht verfolgen lässt, wenn er
niedrig und im Vergleich zu den Frachtspesen
und sonstigen Unkosten bedeutungslos ist.
Daraus erjgiebt sich, dass auch in demselben
Lande die Wirkung dos Zolles in ver-
schiedenen Jahren ungleich sein kann, ja
selbst sich in den einzelnen Landesteüen je
nach den Konjunktm*en verschieden gestalten
wird. Ist z. B. in Deutsclüand die Ernte
eine günstige gewesen imd auch im Auslände
ein Ueberschuss vorhanden, so werden deut-
sche Kaufleute im Auslande nur wenig
Nachfrage nach Getreide halten. Dagegen
müssen ausländische bestrebt sein, ihr Ge-
treide hier abzusetzen und werden zu
grösseren Preiskonzessionen bereit sein, um
das Getreide los zu werden: mit anderen
Worten, sie werden einen TeU des Zolles
auf sich nehmen. Wenn dagegen umgekehit
Deutschland eines bedeutenden Zuschusses
vom Auslande bedarf,, während auch dort
kein Ueberfluss vorhanden ist, so werden
die deutschen Händler nicht nur auf dem
Weltmarkte die Preise in die Höhe treiben,
sondern sie werden auch im Inlande in der
Lage sein, sich den Zoll ganz ersetzen zu
lassen, ja in ihren Forderungen noch darüber
hinaus gehen können. Die Preisdifferenz
zwischen In- und Ausland wird nicht nm'
dem Zoll entsprechen, sondern mitunter nocJi
grösser sein. In einem ausgedehnten Lande,
z. B. in Deutschland zeigt es sich sogar,
dass in den einzelnen Landesteilen in dem-
selben Jahre die Wirkung des Zolles eine
verschiedene war. Während im Osten bei
allgemein günstigen Ernten die Preise sehr
gedrückte waren und dem Auslande gegen-
über der Zoll nicht voll zur Geltimg kam,
weil dort mehr vorhanden, als Bedarf vor-
lag, und die ausländische Konkurrenz noch
einen ergänzenden Druck ausübte, war zur
selben Zeit im Westen, wo die Produktion
nie zur Deckung des Bedarfes ausreicht, der
Zoll in seiner ganzen Höhe in dem in-
ländischen Preise hervorgetreten. Die Dif-
ferenz der Preise zwischen Osten und Westen
kann daher unter der Einwirkung des Zolles
eine grössere werden, als es ohne denselben
gewesen wäre. Je höher der Zoll ist, um
so weniger werden die Zwischenhändler in
der Lage sein, ihn auf sich zu nehmen, und
der Einfluss auf die Preise wird sich auch
bei dem Mehle wie dem Brote nachweisen
lassen, weü er einen erheblichen Teil jder
gesamten Beschaffungskosten ausmacht. Da-
mit ist nicht gesagt, dass er nicht auch bei
geringerer Höhe schliesslich von den Kon-
sumenten gezahlt wird, aber die Preisstatistik
ist nicht genau genug, um die geringen Ver-
änderungen feststellen zu können, und der
Handel besitzt eine Menge Mittel, um die
Preisveränderungen z. B. durch Modifikation
der Qualität, namentlich durch Zusätze
anderen Rohmaterials zu verschleiern.
Jeder Zoll bedarf ferner einiger Zeit, um
seine Wirkung voll zur Geltung zu bringen.
Je länger der Zoll aufgelegt ist, um so wei-
ter \vTrd er seine Wii-kung erstrecken und
schliesslich bis zum Konsumenten gelangen ;
um so mehr werden die verscliiedenen Kon-
junkturen sich im Durchschnitte ausgeglichen
haben und dem Inlande aufgebünlet sein^
GctieidezöUe
339
welche voriibergehend vohl das Ausland auf
sich nimmt. Wo wie jetzt in Deutschland
der Bedarf an Getreide zum grossen Teile
vom Auslande gedeckt werden muss und es
wie bei dem Weizen einem gix)ssen inter-
nationalen Markte gegenüber steht, hat der
Handel sich auf diese Verhältnisse einge-
richtet, und es hegt für das Ausland kein
Gnmd vor, Deutscluand besondere Preiskon-
zessionen zu machen. Das letztere liat den
Zoll in der Hauptsache zu tragen, wenn
auch in dem einen Jahre mehr als in dem
anderen. Bei dem Roggen kommt der aD-
gemeine Weltmarkt nur wenig in Betracht,
sondern es steht Deutschland mit seinem
Bedarf als ausschlaggebend da und ihm
gegenüber Kussland aJs der hauptsächlichste
Lieferant. Die Ernteverhältnisse beider
Länder, und zwar in ihrem Verhältnis zu
einander, sind bestinmiend für die Preise.
Der Emteüberschuss in Russland ist in be-
sonderem Masse auf den Absatz in Deutsch-
land angewiesen und, ist er ein bedeutender,
so wird der Lieferant den Zoll in höherem
Masse zu tragen haben, ist er gering, so
wird das nachfragende Land mindestens bis
zur Höhe des Zolles Eonzessionen machen.
Von verschiedenen Seiten, besonders von
Ruhland ist nun die Behauptung aufge-
stellt, dass der Zoll dem geschützten Lande
überhaupt eine Preiserhöhung nicht ver-
schaffe, sondern nur einen entsprechenden
Druck auf den Weltmarktpreis ausübe. Diese
Auffassung kann durch die Beobachtung
gestützt werden, dass der Zuckerpreis in
hohem Masse durch die Höhe der Export-
piämie beeinflusst worden ist, indem mit
neraufsetzung einer Exportprämie in Er-
wartung einer entsprechenden üeberfüllung
des Mffl-ktes die Preise gedrückt wurden,
bei einer Verminderung die Preise stiegen.
Indessen liegen die Verhältnisse bei dem
Zucker doch wesentlich anders als bei dem
Getreide. Die Zuckerproduktion wird in hohem
Masse durch die Proctuktionskosten bestimmt ;
das in den internationalen Verkehr tretende
Quantum Zucker ist viel kleiner, die Zahl
der konkurrierenden Länder geringer, und
der Konsum selbst wird wesentlich durch
die Preise beeinflusst. Das alles trifft
bei dem Getreide nicht zu, und
am
wenigsten bei dem Weizen. Der Zoll kann
den Weltmarktpreis auf die Dauer niu* be-
einflussen, wenn dadurch der Bedarf des
beschützten Landes auf dem Weltmärkte
^mindert wird. Das ist bei dem deutschen
)11 erwiesenermassen nicht der Fall ge-
wesen. Die Nachfrage ist mit dem Wach-
sen der Bevölkerung fortdauernd gestiegen.
Ist auch vielleicht im ersten Momente bei
einer Erhöhung des Zolles die Spekulation
in Besorgnis versetzt und zu einer Reduk-
tion der Preise veranlasst, so kann doch
dies nur solange vorhalten, als man über
die Wirkung des Zolles in üngewissheit ist.
Sobald sich herausgestellt hat, dass das
geschützte Land in ungeschwächter Weise
als Käufer auftritt, muss natürhch auch der
Preisdruck wieder verschwinden. Die volks-
wirtschaftliche Wirkung wird aber eine beson-
ders hohe durch die Preisdifferenz zwischen
In- und Ausland. Untersuchen ynr auf
Ginind der Preisstatistik die Wirkung der
Zölle auf die deutschen Preisverhältnisse.
Die Einfuhr in Deutschland hat sich wie
folgt entwickelt.
Weizen Roggen Gerste Hafer
in Tonnen
1880—84 534633 732381 320867 265127
1885—89 449422 737250 479932 181 192
1890—94 946236 629733 798604 208x66
1895—98 141 1832 941594 1 043431 434462
Die fortdauernde Steigerung der Zufuhr
ist hiernach eine sehr erhebliche. Die Not-
wendigkeit derselben tritt ebenso klar her-
vor, wie die Unwirksamkeit des Zolles sie
zurückzuhalten.
Die Erntefläche in Deutschland:
Weizen u.Sp. Roggen Gerste Hafer
in ha
1878 2217090 5934927
1885 2293831 5 841 841
1890 2 327 026 5 820 317
1897 2 247 287 5 966 776
I 620 483 3 743 070
I 742 386 3 786 827
I 664 188 3 904 020
1 666 014 3 999 052
Ein Rückgang in dem Anbau von Getreide
hat mithin nicht stattgefunden.
Der Ernteertrag im Durchschnitte der
Jahre :
Weizen Roggen
1878-80 2878517 5817797
1881—85 2876672 5763934
1886-90 3051765 5844565
1891—95 3281 312 6548335
1896—97 3095599 7082413
Gerste Hafer
2177411
2194743
2 205 030
2 345 940
2279674
4515702
4126592
4583^10
4753486
4904859
Die Zunahme ist unverkennbar, aber nur
bei dem Roggen wii-klich erheblich. Bei
der Unsicherheit der Erhebung kann ein
grosses Gewicht ohnehin nicht darauf gelegt
werden.
In diesen Zahlen kommt die Wirkung
des Zolles auf den inländischen Preis klar
zum Ausdruck, und sie liefern den Beweis
eines dem Zolle fast entsprechenden Ein-
flusses.
22*
340
Getreidezölle
1879/83
Königsberg 196,71
Danzig unverzollt . . . 19^,^5
London 200fCx>
Berlin 205,08
Lindau 245,»8
Danzig unverzollt, weni-
ger alsT Königsberg . . +2,14
Berlin mehr als London. -[- SP^
Lindau mehr als London +45) i^
Die Ghetreidepreise.
Tonne Weizen in Mark
1886/90 1891/95 1896
1884/85
160,92
150,17
153,41
161,55
202,85
— 10,75
+ 8,14
+49,44
168,20
139,63
»42,73
174,21
213,06
-28,57
+31,48
+70,33
162,88
134,46
119,72
166,13
212,70
—28,42
+46,41
+93,18
147,75
152,84
117,93
153,83
156,19
— 29,82
+32,75
+62,74
1897
167,70
131.50
141,54
223,40
—36,20
+81,86
1898
182,50
«48,73
159,23
244,93
—33,77
+85,70
Sind "wir so zu dem Ergebnis gelangt,
dass ein dauernd aufgelegter hoher Zoll die
Getreidepreise des Inlandes im grossen
Durchscnnitte entsprechend erhöht, so folgt
daraus, dass davon die Landwirte einen ent-
sprechenden Yorteil, die Konsimienten den
Nachteil haben, und die Bedeutung dieses
ümstandes muss nun des näheren unter-
sucht werden.
4. Die Einwirkung der 6. anf die
Landwirtschaft Eine momentane Preis-
erhöhung des Getreides durch den Zoll
kommt zunächst dem wirtschaftenden Land-
wirte zu gute. Der Pächter ist in der Lage,
dadurch einen höheren Ertrag zu erzielen,
während er dieselbe Pachtsumme weiter zu
zahlen hat. Der Grundbesitzer entrichtet
die gleichen Hypothekenzinsen wie bisher,
während seine Einnahmen gewachsen sind.
Der wirtschaftende Landwirt wird somit
durch den Zoll zunächst ebenso begünstigt
wie der Industrielle, der gegen die auslän-
dische Konkurrenz durch einen ZoU ge-
schützt wird. Besteht aber der ZoU längere
Zeit, so stellt sich zwischen der Landwirt-
schaft und der Industrie in der Wirkung
ein principieller bedeutsamer Unterschied
heraus. Ist der Vorteil für den Industriellen
ein erheblicher, so vermehrt er im Iniande
selbst die Konkurrenz, indem eine grössere
Zahl von Unternehmern von den günstigen
Konjimkturen profitieren wollen und ihre
Proauktion erweitern oder neue Fabriken
einrichten, wodurch in einiger Zeit das Ueber-
mass beseitigt wird, aber das gesamte Land
nachhaltig eine Förderung durch den ZoU
erfährt, indem der Bedarf wachsend im In-
iande gedeckt wird. Anders in der Land-
wirtscliaft. Sind durch den Zoll die Preise
in die Höhe gegangen, so ist die entspre-
chende Wirkung, dass die Pacht in die Höhe
geht, der Wert des Gnmd und Bodens
steigt, der sich nach den Getreidepreisen in
hohem Masse richtet. Der Grundbesitzer, der
im Momente der Auflegung des Zolles den
Gnmd und Boden in der Hand hat, macht
also dementsprechenden Gewinn, sein Grund-
stück hat einen höheren Kapitalswert, und
diese Steigerung schliesst eine Kapital-
schenkung in sich. Der neue Pächter oder
Käufer, der auf Grund der erhöhten Preise
mehr Pacht oder eine grössere Kauf summe ge-
zahlt hat, bezieht dann einen entsprechen-
den VorteU von dem ZoUe nicht mehr. Er
wirtschaftet vielmehr unter denselben be-
drängten Verhältnissen wie sein Vorgänger,
oder hat er nur ein teüweises, dem ZoUe
nicht entsprechendes, höheres Gebot gemacht,
so ist seine Situation allerding seine güns-
tigere, aber es schwebt über ihm das Da-
moklesschwert der Beseitigung des ZoUes,
die er wiederum aUein zu tragen hat. Sie
schliesst für den Besitzer eine Kapital-
konfiskation in sich wie für den früheren
Besitzer die Auflegvmg des ZoUes eine Schen-
kung. Es Uegt deshalb die Grefahr vor,
dass der landwirtschaftüche Betrieb selbst
nicht den voUen Vorteil von dem Getreide-
zoUe hat, sondern nur der momentane
Grundbesitzer. Das hat sich auch in Deutsch-
land in hohem Masse gezeigt. Die Hoffnung
auf die Wirkung der Zölle hat die Land-
wirte fast anderthalb Jahrzehnte von 1880
bis 95 veranlasst, zu hohe Pacht, zu hohe
Kaufpreise zu bieten. Beide sind dadurch in
der unnatürlichen Höhe erhalten, auf welche
sie durch die hohen Getreidepreise Anfang
der siebziger Jahre hinaufgeschraubt waren.
Da nun allgemein zugestanden wird, dass
eine Hauptursache der neueren Agrarkrisis
auf die übertrieben hohen Preise des Grund-
wertes wie der Pacht zurückzuführen ist,
so muss man sagen, dass die Gesundung
der Verhältnisse wesentUch durch die G^-
treidezöUe zurückgehalten ist. Eine grosse
Zahl von Grundbesitzern hat sich dadurch
veranlasst gesehen, rechtzeitig den Verkauf
unter Preisgabe eines geringen Kapitalsteües
zu unterlassen, um dann später die Hoffnung
auf das Steigen der Preise getäuscht zu
sehen und dem Konkm^e zu verfallen oder
eine weit grössei'e Kapitaleinbusse zu erleiden.
Fast zwei Decennien waren notwendig, um
die Landwirte davon zu überzeugen, dass
die ZöUe eine aUgemeine Preiserhöhung
nicht zu l:)ewirken vermochten und eine
Reduktion zur Sanierung der Landwirtschaft
im Preise des Grund und Bodens und
der Pacht, wie sie sich in England
längst entwickelt hatte, notwendiff sei. Die
landwirtschaftliche Produktion kann auf
diese Weise nicht so gefördert werden wie
Getreidezölle
341
die der Industrie. Die Emancipation vom
A\islande wird dadurch tlberhaupt nicht er-
heblich und bei weitem nicht so zu er-
warten sein wie in der Industrie, weil die
Ackerfläche nur wenig vermehrt werden
kann und die Steigening der Ernteerträge
nur langsam, und nicht allein durch mehr
Kapitalsaufwand, sondern vor allem durch
höhere Intelligenz und überhaupt nur inner-
halb enger Grenzen möglich ist.
Sehr allgemein ist aber die Auffassimg
unter den Landwirten verbreitet, dass es die
Aufgabe des Staates sei, mit allen Mitteln,
besonders durch Schutzzölle, eine Entwer-
tung des Grund und Bodens zu verhindern,
da dadurch das Nationalvermögen entspre-
chend geschädigt werde. Diese Auffassung
ist auf das entschiedenste zu bekämpfen, da
sie von durchaus irrigen Voraussetzungen
ausgeht. Eine hohe Bewertung des Gnmd
und Bodens liegt durchaus nicht im Inte-
resse der Gesamtheit, sondern nur in dem
der Inhaber des Grund und Bodens. Im
Gegenteil ist es wünschenswert, dass den
Landwirten das Produktionsmittel möglichst
billig zugänglich ist, genau so wie die Ge-
samtheit einen Vorteil davon hat, wenn das
Kapital zu einem niedrigen Zinsfuss der
Industrie zugänglich ist, obwohl die Kapitals-
inhaber dadurch einen Nachteil erleiden.
Ebenso wie es das Nationalvermögen nicht
berührt, ob der Kurs der Papiere steigt oder
fällt, während der Ertrag der betreffenden
Unternehmungen derselbe bleibt, so wird
durch das Sinken des Grundwertes das
Nationalvermögen, welches eben anders zu
berechnen ist als das Privatvermögen, nicht
l)erührt Steigt der Wert der städtischen
Gnmdstücke, so gewinnen damit die be-
treffenden'Besitzer, aber in derselben Weise
schliesst dieses einen Nachteil für das übrige
Publikum ein, dem die Erlangimg des Gnmd-
besitzes entsprechend erschwert ist. Dem
gegenüber hegt der Einwand nahe, dass der
Schaden für die Gesamtheit vorliegt, wenn
«lie Entwertung des Grund und Bodens her-
beigefülirt ist durch die Reduktion des Er-
trages. Auch hier wird man unterscheiden
müssen, wodurch die Ertrags Verminderung
herbeigeführt ist. Beruht sie auf einem
Rückgang der Ernteerträge, so ist dies un-
zweifelhaft ein Schaden für die Gesamtheit,
ist sie dagegen herbeigeführt diuxih eine
Steigerung der Löhne, oder eine Verminde-
nmg der Getreidepreise, so steht dem Nach-
teil für die Landwirtschaft ein entsprechen-
der Vorteü für die konsumierende Bevölke-
nmg resp. der Arbeiterschaft gegenüber.
Der Ertrag der Nationalwirtschaft braucht
dadurch nicht beeinträchtigt zu sein. Die
damit verbundene Einkommensverschiebung
kann Nachteile mit sich führen, sie kann
aber auch für die Gesamtheit einen Vorteü
repräsentieren. Die Steigerung der Mieten
in den Städten, deren Bevölkerimg zunimmt,
schliesst für eine grosse Zahl von städtischen
Gnmdbesitzern einen bedeutenden Vorteil
in sich. Die übrige städtische Bevölkerung
wird dadurch nur in einem höheren Masse
denselben tributpflichtig, der gesamte Wohl-
stand der Nation hat dadurch nicht gewonnen.
In derselben Weise wird eine Steigerung
des Ertrages der Landwirtschaft durch
künstliche Preiserhöhung des Getreides und
der damit erhöhte Grundwert keineswegs
die Lage der Gesamtbevölkerung, den Na-
tionalertrag und das Nationalvermögen er-
höhen, und ein Herabgehen derselben
schliesst nicht eine Verarmung der ganzen
Nation notwendig ein, sondern kann viel-
mehr an derselben spiu'los vorübergehen.
Hiermit ist daher der Getreidezoll nicht zu
rechtfertigen. Wenn Fürst Bismarck in
einer seiner berühmten Reden des Jahres
1879 auseinanderzusetzen suchte, dass nicht
niedrige, sondern hohe Preise für die Volks-
wirtschaft günstig seien, indem er darauf
hinwies, dass in Serbien, Rumänien trotz
der niedrigen Preise die Kultur eine nied-
rige, die Armut der Bevölkerung eine all-
gemeine sei, während sich die hochstehen-
den Kultiu*völker bei hohen Preisen weit
besser stünden, so beruht das auf einer Ver-
wechselung des post hoc und propter hoc.
An und für sich haben hohe und niedrige
Preise nüt dem Wohlbefinden der Bevölke-
rung gar nichts zu thun, sie haben niu* eine
rechnerische Bedeutung. Ein Volk kann
sich sowohl bei hohen wie bei niedrigen
Preisen sehr wohl befinden. Die Ver-
schiebungen sind es, welche Nachteile
in sich schhessen. Ist alles in der gleich-
massigen Bahn, sind mit den Preisen Pacht
und Wert des Grund und Bodens, die Löhne,
der Zinsfuss etc. in Einklang gebracht, so
geht der volkswirtschaftliche Betrieb genau
so weiter, ob die Preise hoch oder niedrig
sind.
Die Getreidezölle können aber die Wir-
kung haben, den landwirtschaftlichen Betrieb
in seiner bisherigen Intensität zu erhalten,
oder ihn dazu anzuregen durch höhere Auf-
wendung von Arbeit und Kapital die Ernte-
erträge zu steigern , was natürlich aus vei>
schiedenen Rücksichten wünschenswert sein
wird. Gehen die Preise unter ein gewisses
Mass henmter, so kann der Jjandwirt da-
diurch gezwungen sein, zu einem extensive-
ren Betriebe überzugehen und damit nicht
mehr das bisherige Quantiun an Nahrungs-
mitteln für die Bevölkenuig zu liefern, die
damit in einem höheren Masse auf auslän-
disches Getreide angewiesen und von dem
Auslande abhängig wird. Man pflegt zu
sagen, dass dieses notwendig eintreten muss,
wenn die Produktionskosten nicht mehr ge-
342
Geti-eidezolle
deckt werden. Hierbei wird aber sehr all-
gemein der Begriff der Produktionskosten
misch aufgefasst, indem darunter die
Verzinsung des in Grund xmd Boden, Ge-
bäuden etc. angelegten Kapitals mit einbe-
rechnet wird. Je höher nun der Ankaufs-
preis war, um so höher werden dann die
rroduktionskosten berechnet , welche der
Landwirt als das Minimum hinstellt, welches
er gedeckt haben muss; imd hiernach be-
rechnen die Landwirte die Getreidepreise,
die sie vom Staate garantiert haben wollen,
um bestehen zu können. Das ist offenbar
eine gänzlich falsche Aufstellung. Unter
Produktionskosten sind nur diejenigen Auf-
wendungen zu verstehen, die zur Durch-
führung des Betriebes selbst wie zur In-
standhaltung des Gutes in seiner Leistungs-
fähigkeit notwendig sind. Es gehören also
auch dazu die Instandhaltung der Gebäude,
des lebenden und toten luven tariums, der
Meliorationen, wie Drainage etc. Es gehören
aber nicht dazu die Zinsen für das An-
kaufskapital. Haben die Landwirte für den
Grund und Boden zu viel gezahlt, so hat der
Staat ihnen dieses ebensowenig zu garan-
tieren, wie dem Industriellen seine Fabrik-
anlagen, dem Rentier, der sich an einem
Aktienuntemehmen beteiligt oder ausländi-
sche Papiere kauft, der Kurs gewährleistet
werden kann. Reichen die Preise nicht aus,
um den bisherigen Kaufwert der ländlichen
Güter nach dem Landeszinsfusse zu ver-
zinsen, so braucht dai-um die landwirtschaft-
liche Produktion noch nicht gefährdet zu
sein, sie können noch immer ausreichen, um
die Produktionskosten zu decken. Der Land-
wirt kann sich darum sehr wohl genötigt
sehen, denselben Betrieb durchzuführen, weil
ihm dieser den höchsten Ertrag aus dem
Grundstücke verschafft. Der Gnmdbesitzer
kann vielleicht nach der Preisreduktion nicht
mehr die bisherige Pacht erlangen, damit
ist aber nicht gesagt, dass er überhaupt
keinen Pächter findet, der mit derselben
bisherigen Intensität zu wirtschaften ge-
neigt ist, bei einer Pachtsumme, die den
Gnmdbesitzer in den Stand setzt, das Gut
in dem bisherigen Zustande zu erhalten, und
einen genügenden Anreiz bietet, das in dem
Gute steckende resp. mit demselben ver-
bundene Kapital in Gebäuden, Inventarium
etc. zu erhalten und nicht verfallen zu
lassen. Die Berechnung, wo diese Grenze
üegt, wird allerdings schwer durchzuführen
sein, und es ist sehr begreiflich, dass darüber
die Anschaiumgen wesenüich auseinander
gehen.
Wir haben bisher niu: in Betmcht
gezogen, wie weit der Getreidezoll das
Interesse des Produzenten berührt,
unsere Aufgabe ist es nun festzustellen,
wie der Konsument und die verar-
beitende Industrie dadurch beh'offen wer-
den.
6. Einflnss des G. anf andere Pro-
duktionszweige. Der Zoll, der den Preis
des Getreides erhöht, verteuert der In-
dustrie das Rohmaterial. Das betrifft hier
nicht nur die Müllerei und Bäckerei, sondern
vor allem auch die Landwirtschaft selbst, so
weit Viehzucht damit verbunden ist. Zur
Mästung in den Molkereien, wie in den
Wirtschaften mit vorwiegender Aufzucht
von Schweinen, Geflügel im kleinen, Pferden,
Rindvieh im grossen, werden nicht un-
bedeutende Quantitäten an Futtergetreide
febraucht. Da in unserer Zeit die tierischen
'rodukte im Verhältnis höher im Preise
stehen als die übrigen gewöhnüchen Nah-
rungsmittel, so ist es von wachsender Be-
deutimg für die Landwirtschaft, die ersteren
zu erzeugen, und dieses wird wesentlich
erschwert durch die künstliche Verteuerung
des Getreides. Es sind sowohl ganz kleine
Wirtschaften, wie die des einfachen Tage-
löhners, Käthners, die sich durch Aufziehen
von Schweinen und Geflügel einen ent-
sprechenden Nebenverdienst schaffen; wie
dann die grossen Güter mit Mastviehwirt-
schaft und Molkerei, die Hafer, Roggen,
Gerste kaufen müssen, um den Betrieb
durchzuführen, und denen die Verteuerung
ihres Materials keineswegs wünschenswert
ist. Kann fiir die Mühlen durch die Rück-
gewährung des Zolles das Arbeiten für das
Ausland wieder entsprechend erleichtert
werden, so ist für die anderen Gewerbe,
welche ausschliesslich für das Inland arbeiten,
hier ein Ersatz nicht möglich.
Der Schwei-punkt der Wirkung des Ge-
treidezolles liegt aber in der Belastung der
Konsumenten. In dem grössten Teile von
Deutschland ist noch der Roggen das haupt-
sächlichste Nahnmgsmittel , in Frankreich
dagegen der Weizen. Der Roggenzoll be-
lastet mitiiin dort die grosse Masse der
ärmeren Bevölkerung. Die Kaufkraft des
Lohnes des einfachen Arbeiters wird da-
durch verringert, was namentlich gegenüber
dem Auslande auch in der Zeit ins Gewicht
fällt, wo ein allgemeiner Preisrückgang den
Zoll einigermassen ausgleicht. Ein neu auf-
gelegter Zoll wird deshalb gleichbedeutend
mit einer entsprechenden Lohnreduktion
sein, und die Erfalirung hat gelehrt, dass
es einer längeren Zeit und für den Arbeiter
günstiger Konjunkturen bedarf, um eine
Lohnerhöhung füi' den Arbeiter zu erwirken
und dieses auszugleichen. Nur auf Grund
harter Kämpfe \md vieler Entbehnmgen ist
eine solche Ausgleichung zu bewirken.
Ist aber die Lohnerhöhung erreicht, so
liegt die Gefahi» vor, dass das geschützte
Ijand verhältnismässig höhere Löhne zahlen
muss als das Ausland und ilmi dadurch
Getreidezölle
343
die Konkurrenz auf dem Weltmarkt wesent-
lich ei-sch^wert wird. Dies war der Gnind
zur Gründung der Anti-corn-law-league unter
Richard Gobden in England. Deutschland
hat noch immer verhältnismässig niedrige
Löhne, doch haben sie sich im Laufe der
Zeit gegenüber England schon erheblich aus-
geglichen. Die ' Weizenpreise haben aber
die folgende Entwickelung genommen:
Die Tonne Weizen kostete:
in England in Preussen in England
mehr
1821/40 260 M. 130 M. +130 M.
1841)'60 245 „ 190 „ +56 „
1861/80 350 „ 325 ,, + 25 .,
ISSl.lK) 147 „ 174 „ - 27 „
1891/98 133 „ 165 „ - 32 „
In Westfalen kostete von 1891—98
der Weizen 33 Mark mehr als in London;
in Lindau von 1879 — 85 47 Mark mehr, von
1886—90 70 Mark, von 1891-95 93 Mark,
1898 86 Mark mehr als in London. Dies
muss allmählich unsere Industrie England
gegenüber immer ungünstiger stellen, und
wenn sie es in dem jetzigen Aufschwiuig
noch nicht empfindet, so wird es sich in
der Zeit der wirtschaftlichen Depression
um so mehr fühlbar machen.
. Die Müller wie die Landwirte bedürfen
häufig des ausländischen Getreides, um das
inländische damit zu mischen und dadurch
eine angemessene Qualität herzustellen, wie
sie zur Mehl- und Brotbereitung notwendig
ist. Es ist bekannt, dass in vielen Gegenden
Deutschlands nicht ein Weizen gebaut wird,
der den nötigen Klebergehalt besitzt und
nur durch Zusatz von besonders kleber-
reichem Weizen, wie polnischem, amerikar
nischem, die Backßlhigkeit erlangt. Ist zm*
Zeit der Ernte eine ungünstige Wittenmg,
so vermehrt sich die Quantität unzulänglichen
Getreides in erheblichem Masse und der
Import gewisser Sorten Getreides wird zur
Notwendigkeit, um das heimische Produkt
angemessen verwerten zu können. Aus
demselben Grunde ist auch bei reichen
Ernten häufig eine bedeutende Zufuhr an
Getreide nach Deutschland notwendig, weil
infolge ungünstigen Emtewetters und ähn-
licher Eventiuditäten ein bedeutender Teil
des Ertrages nur als Yiehfutter zu verwenden
ist und dafür Ersatz von aussen zur Deckung
des Brotbedarfes beschafft werden muss.
Auch nach dieser Seite hat daher der Ein-
fuhrzoll einen nachteiligen Einfluss für die
Volk.swirtschaft.
6. Die Bedeutung des 6. für die
Kongumenten. Ein Zoll auf Brotgetreide
trifft nach allem die grosse Masse der Be-
völkening wie eine Art Kopfsteuer. Ja, es
ergiebt sich, dass die städtische Arbeiter-
bevölkerung pro Kopf sogar mehr Getreide
verbraucht als die wohlhabende, sie deshalb
sogar mehr Zoll zahlen muss als diese. Einen
Yorteü von dem ZoU hat mithin nur der-
jenige Landwirt, der mehr produziert alö
er gebraucht, und das ist erst bei einem
umfange der Ackerfläche von mindestens
2 ha an der Fall. Dazu kommen noch
einige ländliche Tagelöhner, die an Natuiul-
lieferungen mehr erhalten als sie gebrauchen,
doch hat sich diese Zahl in der neueren
Zeit sehr wesentlich vermindert, da durch
die Anwendung der Dreschmaschine der
Dreschverdienst ziu'ückgegangen ist. Nach
der Erhebung von 1895 stellen sich nun
die betreffenden Zahlen wie folgt: In ganz
Deutsclüand gab es 3 236 000 land>virtschaft-
liche Betriebe mit weniger als 2 ha land-
wirtschaftlich nutzbarer Fläche, von 5,56
Millionen Betrieben überhaupt, das sind
58,2%, während Betriebe von 2—5 ha
981000 Betriebe, das sind 17,6 «/o, schon
öfter, aber nicht allgemein, ein Interesse an
hohen Preisen haben werden. Es sind die
Inhaber von 1233106 Betrieben, welche in
Deutschland hauptsächlich an hohen Ge-
treidepreisen interessiert sind. Das betrifft
etwa 6 Millionen Einwohner oder 12 % der
Bevölkerung ; rechnet man noch die Betriebe
von 2 — 5 ha hinzu, so sind es 11 Mülionen
oder 21%, also wenig über ^/s der Be-
völkerung.
Dazwischen steht die Zahl derjenigen,
welche durch eigenen Erbau oder in I^a-
tur«dlohn die Deckung des Bedarfes erhalten,
sodass das Steigen und Fallen der Ge-
treidepreise ftir sie bedeutungslos ist. Seiir
reichhch gerechnet wird diese Zahl auf
etwa ein Fünftel der Bevölkerung zu be-
ziffern sein, während, wie wir sahen, ein
weiteres Fünftel Vorteil von den Getreide-
zöllen hat. Reichlich drei Fünftel der Be-
völkerung haben dagegen die Last zu tragen,
und zwar ist es unter diesen die Arbeiter-
bevölkerung, welche dadurch am schwersten
betroffen wird.
Nun ist eingewendet, dass der land-
wirtschaftliche Arbeiter indirekt davon Vor-
teil habe, wenn die Landwirtschaft bhlhe,
und mit ihr durch ungilnstige Konjunktiu^n
leide. Das ist jedoch niu* in beschränktem
Masse der FaU und viel weniger als in
der Industrie. Die Beschäftigung der land-
wirtschaftlichen Arbeiter kann niu: wenig
eingeschränkt werden, so lange der Betrieb
aufrecht erhalten wird, und dieser wird
auch bei ungünstigen Konjunktm^n nur
wenig beeinflusst. Es sind nur die bei
ausserordentlichen Arbeiten, wie Bauten,
Meliorationen etc. beschäftigten Personen,
die in ihrem Verdienst bedroht sind, und
diese Zahl ist keine sehr erhebliche.
Ertrag der ZöUe auf Getreide, Hülsen-
früchte und Malz in Deutschland war:
344
öetreidezöllö
Jahr
in 1000 M.
^Iq des ges.
Zollertrags
auf den Kopf
in Pf.
1880
14455
8,7
32,4
1881
16575
8,6
36,9
1882
19029
9,4
42,1
1883
18825
9,0
41,4
1884
23816
10,8
52,0
1885
30137
12,5
65,3
1886
30194
12,2
64,9
1887
46479
17,2
98,2
1888
57167
19,7
119,8
1889
98740
27,4
201,9
1890
1 1 1 440
28,2
225,4
1891
107 140
27,2
214,6
1892
103 668
26,4
205,4
1893
70691
19,8
138,7
1894
99648
25,5
193,5
1895
108 95 1
26,6
208,8
1896
146 021
31,5
276,2
1897
134 861
28,4
251,0
1898
148 170
28,8
271,9
Eine Arbeiterfamilie in der Stadt mit
5 Köpfen zaMt hiernach allein an Getreide-
zollen durchschnittlich 12 bis 15 Mark.
Nimmt man den Verdienst auf 900 Mark
an, wovon 600 Mark als Existenzminimum
anzusehen sind, so zahlt dieselbe hierin
allein über 1,5% des Einkommens, aber
5% des freien Einkommens. Der Zoll be-
dingt aber eine allgemeine Preissteigerung
des Getreides, und der Arbeiter konsumiert
mehr Getreide als der Wohlhabende. Da-
durch steigert sich für ihn die Last noch
sehr erheblich, und sie ist nur erträglich
gebKeben durch den allgemeinen Preisrück-
gang und die Steigerung der Löhne. Da
nun ausserdem der Arbeiter in Deutscliland
noch für Petroleum, Kaffee, Schmalz und
Fleisch, auf Heringe, Tabak, ganz abgesehen
von dem Zoll auf Baumwollen- und Wollen-
waren, Zoll zu zahlen hat, so erhöht
sich der Zoll auf 6 Mai-k pro Kopf, und
i^chnet man die Salz- und die Getränke-
steuern hinzu, so ergiebt sich ein üebermass
der Steuerbelastung für die unteren Klassen
durch die indirekten Steuern, welche durch
den Getreidezoll in ganz bedeutendem Masse
gesteigert wird. Dadurch erhält die recht
erhebliche Einnahme für die Staatskasse
einen sein* hässlichen Beigeschmack, der
nur gemildert werden könnte durch die
Verwendung dieser Bezüge zum Besten der
unteren Klassen. Sie sollten nicht in die
allgemeine Staatskasse fliesscn, sondern zu
besonderen Fonds für wohlthätige Zwecke,
z. B. zur Dm'chfühning einer allgemeinen
Witwen- und Waisenversichernng oder zur
Versicherung der Arbeitslosen Verwendung
finden.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass den
Goti-eidezöllen sehr gi^osse Bedenken ent-
gegenstehen. Sie ])elasten die unteren
Klassen in übermässiger Weise. Sie kommen
nicht in dem Masse der landwirtschaftlichen
Pi-oduktion selbst zu gute wie die Industrie-
zölle, sondern begünstigen eine kleine Klasse
von Gnindbesitzern auf Kosten der übrigen
Bevölkerung. Sie werden deshalb nur zu
rechtfertigen sein, um besondere Notstände
zu lindern und dürfen allein als Uebergamg,
nicht aber als dauernde Institution acceptiert
werden.
7. Wann sind die 6. notwendig? Wie
schon oben angedeutet, werden sie gerecht-
fertigt, ja selbst unvermeidlich sein, wenn
ein plötzlicher sehr bedeutender Preisstiu^
des Getreides eintritt, durch welchen eine
Ueberzahl der Landwirte in ihrer wirt-
schsrftlichen Existenz oder ihrer Besitzstellung
bedroht ^drd. Der Landwirt, der seinen
Ruin vor Augen sieht oder in der Hoffnung
auf bessere Zeiten sich unter allen Um-
ständen noch einige Jahre zu halten strebt,
wird vor allem an Wirtschaftskosten sparen,
daher notwendige Meliorationen unterlassen,
aber auch Reparaturen imd Ergänzungen
an Gebäuden und Inventar. Der Wert des
Gutes wird dadurch reduziert, aber auch
die Leistungsfähigkeit desselben nachhaltig
untergraben. Die sclüechtgehaltenen Ge-
bäude verfallen schnell, die Reduktion des
Viehstandes schwächt die Dungkraft. Man-
gel an Zugvieh und Maschinen verhindert
eine angemessene Behandlung des Bodens,
was Verqueckung zur Folge hat. Ein
bedeutender Kapitalaufwand und viel Arbeit
sind erforderlich, ein so heruntergebrachtes
Gut wieder zur alten Leistungsfähigkeit zu
bringen. Der Kapitalverlust, der damit ver-
bunden ist, trifft sowohl den Landwirt wie
die ganze Volkswirtschaft, und es liegt im
Interesse der Gesamtiieit, diesen zu verliin-
dern. In einer ähnlichen Weise wirkt ein
häufiger Wechsel der wirtschaftenden Per-
sönlichkeiten, vor allem des Besitzers, der
durch eine Agrarkrisis wesentiich gesteigert
wird. Bei dem Zugrundegehen einer An-
zahl Grundbesitzer werden aber nicht nur
diese im Vermögen geschädigt, sondern
leicht auch ihre Gläubiger. Auf dem Grund
und Boden sind in einem Lande wie Deutsch-
land Milliarden hypothekaiisch eingetragen,
und unter den Gläubigern befinden sich eine
Menge kleiner Leute, Witwen, Waisen etc.,
dann aber auch Versicherungsgesellschaften,
von deren Zahlungsfälligkeit wiederum eine
sehr bedeutende Zahl von Existenzen ab-
hängt. Wird also der Grundbesitzerstand
durch den Preisrückgang in seinen Grund-
festen erschüttert, so ist es sicher die Pflicht
des Staates, zu seinen Gunsten einzutreten,
und wo eine Wirkung davon zu erwarten
steht, Getreidozölle aufzulegen. Die Last.
welche den Konsumenten dadurch aufgelegt
ist, wii-d dann ausgeglichen durch die Vor-
teile, welche indirekt die Gesamtheit dadurch
Getreidezölle
345
gewinnt. Dies wird um so leichter der Fall
sein, wenn sie nur vorübergehend zu tragen
ist. Einen solchen Zoll dauernd der JBe-
völkerung aufzubürden, erscheint in hohem
Masse bedenklich. Einmal wegen der oben
ausgeführten Wii*kimg derselben auf die
Steigerung resp. künstliche Hochhaltung
des Grrund wertes; dann wegen Ueberlastimg
der unteren Bevölkerung, deren Löhne im
Laufe der Zeit gegenüber dem Auslande,
wie ausgeführt, entsprechend erhöht werden
müssen und die Konkurrenzfähigkeit der
Industrie erschweren, und dadurch leicht
erheblichere Nachteile der Gesamtheit zu-
fügen können, als die dadurch erreichten
Vorteile auszugleichen vermögen.
8. Der dauernde G. In Deutsclüand
werden zu Gunsten der dauernden Zölle
zwei Argumente ins Feld geführt, einmal
die Landwirtschaft sei die notwendige Grund-
lage eines jeden Staates, sie sei bei den
gegenwärtigen Preisen in ihrer Existenz
bedroht, der Staat müsse sie notwendig er-
halten. Darin liegt die offenbare üeber-
treibung, als ob der landwirtschaftliche Be-
trieb selbst bei den jetzigen Preisen, w^ie
sie auf dem Weltmarkt sind, nicht mehr
erhalten werden könnte. Wir sahen schon
früher, dass wenn auch der gegenwärtige
Grundbesitzer sich nicht erhalten kann, weil
er die Verzinsung des Kaufkapitales nicht
mehr zu erzielen vermag, danim doch nicht
der landwirtschaftliche Betrieb selbst auf-
gegeben werden muss. Vielmehr kann der
neue Käufer, der das Gut zu einem niedri-
geren Preise übernommen hat, dabei in der-
selben Weise weiter wirtschaften imd sich
sehr wohl dabei fühlen. Nicht nur Oester-
reich, wo der Getreidezoll wirkungslos ist,
aber allerdings die Löhne niedriger sind als
in Deutschland, sondern auch Dänemark,
HoDand und Belgien haben ihren Getreide-
bau bewahrt, und selbst England, wo die
Getreidepreise viel niedriger sind, die Löhne
dagegen viel höher, der Arbeitermangel weit
grosser, ist der Getreidebau zwar zurück-
gegangen, erhält sich aber in einem grossen
Teil des Landes und hat in der neuesten
Zeit wiederum eine Erweiterung erfahren.
Der erhebliche Preisrückgang hat auch bis-
her in Deutsclüand eine Einschränkung des
Getreidebaues nicht herbeigeführt, und nir-
gends ist man zu einem extensiveren Be-
tiiebe übergegangen. Es fehlt an jedem
Anzeichen, dass der landwirtschaftliche Be-
trieb als solcher gefähi-det sei. Gleichwohl
wai' Mitte der achtziger Jahre ein Zoll not-
wendig und ist es auch noch.
Beachtung verdient auch der zweite Ein-
wand, Deutschland sei darauf angewiesen, den
Bedarf an Brotgetreide selbst zu decken. Im
Falle eines Krieges liege sonst die Gefahr
vor, dass es ausgehungert werden könne.
Es kann liier nicht die Aufgabe sein, diese
mehr praktische als theoretische Frage zu
untersuchen. Wir begnügen uns mit fol-
genden Bemerkungen : Bei der grossen Aus-
aehnung und Mannigfaltigkeit der Grenzen
Deutschlands ist eine vollständige Ab-
schliessung in keiner Weise zu erwarten,
vielmehr nur zur See, eventuell nach Russ-
land und Frankreich, während die Grenzen
nach Oesterreich und der Schw^eiz offen
blieben, von welchen bei den modernen
Kommimikationsmitteln jeder Bedarf zu
decken wäre. Mit den neueren Hilfsmitteln
kann sich ein Krieg in Europa unmöglich lange
hinziehen. Für eine kurze Zeit würde aber
durch den heimischen Vorrat an Nahrungs-
mitteln auf Kosten der Brennereien, Stärke-
fabriken sowie unter Heranziehung des sonst
als Viehfutter dienenden Getreides eine
Hungersnot sicher länger als ein Jahr abzu-
weisen sein. Dazu kommt aber die wesent-
liche Frage, ist Deutschland im stände im Mo-
mente überhaupt den Getreidebaii so zu
steigern, dass es sowohl in der Gegenwart
wie für die absehbare Zukunft der Bevölke-
rung die nötij^e Nahrung liefern kann? Die
Frage wird von verschiedenen Seiten (Nach-
richten des deutschen Landwirtschaftsrats
Nr. 9 des Jalirg. 1898 und von Rümker,
Mittheil, der landw^ Institute der Univ. Bres-
lau, 1898 S. 152—194.) bejaht. Man stützt sich
auf den Nachweis, dass durch bessere Aus-
wahl des Saatgutes, reichlichere Düngung und
sorgfältigere Behandlung des Bodens der
Ernteertrag noch in sehr bedeutendem Masse
gehoben werden kann und dass eine Anzahl
Güter durch intelhgente Wirte thatsächlich
in kurzer Zeit in ihrer Produktion ganz ge-
waltig gesteigert sind. Das wird niemand
bestreiten. Aber diese Möglichkeit hat zu
allen Zeiten vorgelegen, und vereinzelte Bei-
spiele hervorragender Leistungen sind stets
zu verzeichnen gewesen. Zu einem jeden
derartigen Kulturfortschritt gehört nicht nur
Kapital, sondern auch Intelligenz und Kennt-
nisse, die sieh nur sehr langsam erlangen
lassen. Obgleich die deutsche Landwirtschaft
in den letzten beiden Decennien grössere
Fortschritte gemacht hat wie in dem vor-
hergegangenen halben Jahrhimdert, war sie
nicht im stände, in ihren Getreidelieferungen
nur mit dem Wachsen der Bevölkenmg
Schritt zu halten. Dass sie in den folgenden
Decennien melir zu leisten vermag, ist eine
willkürliche Annahme. Mau meint, dass
eine Steigerung der Preise genügende An-
regung bieten würde, um eine w^eit grössere
Steigerung der Produktion herbeizuführen.
Auch diese Voraussetzung ist eine durchaus
willkürliche und entspricht nicht der Erfah-
rung. Die deutsclie Landwirtschaft hat die
gi'össten Fortschritte nicht gemacht in der
Zeit der hohen Preise, in den sechziger und
346
GetreidezöUe
Anfang der siebziger Jahre, sondern unter dem
Druck der niedrigen Preise in den achtziger
und neunziger Jahren. Nicht die verhältnis-
mässig kleine Zahl der intelligenten Gutsbe-
sitzer kommt in Betracht, sondern die grosse
Masse der schwerfälligen Bauern, die in dem
alten Schlendrian verharren, wenn sie dabei
ihren Unterhalt verdienen, die erst zu einem
Fortschritt gebracht werden, wenn die Not sie
dazu zwingt. Auch England hat den höch-
sten Aufschwung in der Landwirtschaft
nicht zur Zeit der hohen GetreidezoUe ge-
macht, sondern gerade erst nach Beseitigimg
der Zölle in den vierziger Jaliren.
Man hat auch gemeint, den Nalirungsbe-
darf der Bevölkerung decken zu können,
wenn das gesamte Getreide zm' mensch-
lichen Erhährung dazu benutzt würde
und nicht so viel als Yiehfutter in Ab-
zug käme. Nun ist aber stets ein erheb-
licher Teil des Erntekorns mindei-wertig und
nicht backfähig und wird nicht willkürlich,
sondern notgedrungen als Viehfutter ver-
wendet. Dieser Betrag schwankt erheblich
je nach dem Erntewetter und ähnlichen
Momenten. Es ist deshalb ganz unthunlich,
den ganzen Ernteertrag nach Abzug der
Saat dem Bedarf an Brotgetreide gegen-
überzustellen.
Nach allem wird man sagen müssen,
dass, wenn die bisherigen Zölle auch zur
Zeit der grössten Höhe nicht im stände
waren, eine Zunahme des Bedarfe an aus-
ländischem Getreide aufzuhalten, dies auch
für die Zukunft nicht anzunehmen ist, so-
lange die Bevölkerung in der bisherigen
Weise um mehr als eine halbe Million
Köpfe pro Jahr anwächst, welches eine jähr-
liche Zunahme des Bedarfs um ca. zwei
Millionen Centner Brotgetreide in sich
schliesst und damit schon einen erheblichen
Anspruch an die Steigerung der landwirt-
schaftlichen Produktion macht, (im hiermit
allein Schritt zu halten. Wir können uns
daher nur wenig nach dieser Richtung von
einer Erhöhung der Zölle versprechen. Der
zu erwartende Vorteil steht in gar keinem
Verhältnis zu dem damit verbundenen
Nachteil.
Es kommt aber auch die Wiikung der
Zölle auf den Handel in Betracht.
Fürst Bismarck war es besonders, der
im Jahre 1879 die Einführung von Getreide-
zöllen für wünschenswert erklärte, weil der
inländische Produzent, namentlich der Bauer,
sein Produkt in kleinen Quantitäten nur
schwer los zu werden vermöchte, da es die
Grossindustrie wie der Grosshandel vorzöge,
bedeutendere Quantitäten gleicher Ware auf
einmal aus dem Auslande zu beziehen als
kleine Mengen verschiedener Beschaffenheit
im Inlande zusammen zu kaufen, und die
Zwischenhändler, welche dieses Geschäft
fiu* sie übernehmen, Gelegenheit finden, den
Produzenten erheblich zu bedrücken. Er
hoffte, dass schon ein geringer Zoll aus-
reichen würde, dieses auszugleichen und
dem heimischen Bauer den Absatz zu er-
leichtern. Diese Hoffnung ist im grossen
Ganzen nicht in Erfüllung gegangen. Die
Klage über die zeitweilige ünverkäuflichkeit
des Getreides ist auch heute noch bei den
deutschen Ijandwirten verbreitet. Ja, der
Zoll hat im Gegenteil darauf hingewirkt, den
Getreidehandel mit dem Auslande in wenig
Händen zu koncentrieren und den Gross-
untemehmungen ein noch bedeutenderes
Uebergewicht als bisher zu verschaffen. Die
erheblichen Mittel, die jetzt notwendig sind,
um den Zoll bei der Einfuhr auszulegen,
erschweren dem kleinen Müller wie dem
kleinen Kaufmann den Handel mit dem Aus-
lande. Sie treten deshalb mehr und mehi*
in den Hintergrund, und die kleine Zahl,
welche übrig bleibt, bekommt in höherem
Masse ein Monopol in die Hand. Die
Schwierigkeiten aber, welche der Landwirt
hat, sein Getreide los zu werden, liegen an
dem üblen Umstände, dass in Deutschland
jeder Landwirt in der Produktion glaubt
seinen eigenen Weg gehen zu können, dass er
das Saatgut allein nach seinem landwirtschaft-
lichen Urteile auswählt ohne Rücksicht auf die
Absatzfähigkeit. Daher ist die Ungleichheit
der Qualität, welche selbst aus der gleichen
Gegend stammt, ausseroi'dentlich gross, und
dadiu:ch ist die kaufmännische Verwertung
ausserordentlich erschwert. Dazu kommt
die selir ungleiche und vielfach unzureichende
Behandlung des Getreides von selten der
Bauern, wodiu'ch die Ungleichheit der
Qualität noch wesentlich verschlimmert
wird. Nicht durch Geti-eidezölle , sondern
allein durch höheres Verständnis für die
kaufmännischen Aufgaben bei dem Landwirt
kann hier eine Besserung herbeigeführt
werden, worauf auch die Silountemehniun-
gen und besonders die Landwirtschafts-
kammern entsprechend hinzuwirken suchen.
9. Massregeln zur Milderung der
Nachteile des (t. a) Beseitiguiig des
Identitätsiiachweises. Wie oben ausgeftlhrt
wurde, ist die Wirkung des Zolles auf die
vei^chiedenen Landesteile eines grossen
Zollgebietes sehr verschiedenartig. In
Gegenden, welche mehr produzieren als sie
bedürfen, wie der de\itsche Nordosten, muss
der Getreidezoll darauf hinwirken, da das
Getreide im Inlande höher im Preise steht als
im Auslande, den Ueberschuss innerhalb
des Zollgebietes abzusetzen, also nach Mittel-
und Süddeutscliland zu beföi-dern, und es
auch dann durch die Eisenbahnen ziu: weite-
ren Verfi'achtung zu bringen, wenn das
Getreide zweckmässiger vom Auslande zu
beziehen gewesen wäre, also auch wenn es
GetreidezöUe
347
volkswirtschaftlich unzweckmässig ist. Die
weitere Folge hiervon muss sein, dass, wie
schon oben ausgeführt, die Preise in diesen
Gegenden infolge der teueren Verfrachtung
gedruckte sind und niedrigere, als sie es bei
Freigebung der Grenzen und der Möglich-
keit der Ausfuhr in das Ausland wären.
Daraus ergiebt sich, dass das Getreide durch
den Zoll den natürlichen Handelswegen
entzogen und gezwungen wird, teurere zu
benutzen, und zugleich gerade die Agrar-
gegenden, welche des Zolles am meisten
bedürfen, den geringsten Nutzen davon
haben, während die Yerteuenmg des Ge-
treides in jenen Gegenden weit grösser ist,
wo die industrielle Bevölkerung überwiegt
und dieser dadiuxih ihr Unterhalt erschwert,
die Konkiurenzfähigkeit mit dem Auslande
geschwächt wird, um dieses zu vermeiden
und zugleich den Mehlexport zu erleichtern,
also die heimische Mühlenindustrie von der
Wirkung des Zolles zu befreien, hat man
zuerst begonnen, den Zoll für exportiertes
Getreide, welches vom Auslände stammte,
und auch bei dem Mehl, welches nach>veis-
hch aus ausländischem Getreide hergestellt
war, zunlckzuerstatten. Da dieses aber für
den erstgenannten Zweck nicht ausreichte,
ging man einen Schritt weiter und zahlte
nir ausgefülirtes Mehl überhaupt den Zoll
zurück, es mochte von ausländischem oder
inländischem Getreide herrühren, denn man
beabsichtigte eben den heimischen Konsum
zu besteuern, nicht aber die Verarbeitung
des Getreides in irgend einer AVeise zu ver-
hindern, und noch weniger die Arbeit für
den . Export zu bedrücken. Noch einen
Sclu'itt weiter ist man in Frankreich durch
die Ausstellung der acquitß ä caution ge-
gangen, das sind Scheine, die den Expor-
teuren ausgestellt werden, auf Grund wel-
cher er ein entsprechendes Quantum gleichen
Getreides zollfrei einführen kann. Dasselbe
ist 1894 in Deutschland durch die Beseiti-
gung des Identitätsnachweises, dass es vom
AuvSlande importiert sei, durchgeführt, und
dadurch den östlichen ProWnzen ermöglicht,
ihr Getreide wie in alter Zeit zur See in
das Ausland zu führen. Für jedes expor-
tierte Quantum werden Berechtigungsscheine
zur Einführung entsprechender Mengen aus-
gestellt, die nun an Importeure der west-
uchen und nördlichen Häfen und Eisenbahn-
plätze, wie Hamburg, Bremen, Mannheim
verkauft werden, um damit die zollfreie
Einfuhr der gleichen Quantitäten zu errei-
chen. Da diese Scheine etwas billiger ab-
gegeben werden, als der ZoU beträgt, er-
leichtert dieses entsprechend den Bezug
ausländischen Getreides in den Industrie-
gegenden, ohne dass der Staat eine Zoll-
einbusse dabei erleidet. In der That ist
auch seit jener Zeit die Getreideausfuhr
aus Deutschland nicht unwesentlich ge-
stiegen.
Zu gleicher Zeit war aber auch die Ein-
fuhr erheblich gewachsen. Allerdings waren
in einzelnen Jahren auch schon früher erheb-
liche Ausfuhrquanten vorgekommen, doch nur
ausnahmsweise und nicht in der jetzigen Höhe.
b) Die gleitende Skala. Sowohl in Frank-
reich wie in England hat man eine lange
Zeit versucht, die Wirkung der Getreide-
zölle den Zwecken dadurch in höherem
Masse anzupassen, dass man sie mit der
Höhe der Preise in Zusammenhang brachte
und sie mit dem Sinken derselben steigen,
mit ihrem Wachsen dagegen sinken Hess,
um dadurch eine Ausgleichung der Preise
herbeizuführen. Es ist dies die schon
früher berührte gleitende Skala, auf welche
wir noch einmal zurückkommen müssen, da
sie in der neueren Zeit von verschiedenen
auch beachtenswerten Seiten verlangt wird.
Theoretisch erscheint eine solche Massregel
allerdings in hohem Masse wünschenswert,
weil ein hoher Zoll ein üebel wird, wenn
bei knappen Ernten die Preise ohnehin
schon hoch sind, während gerade eine inten-
sive Wirkung der Zölle l>ei niedrigen Preisen
erstrebenswert erscheint. Wie aber bereits
oben ausgeführt, hat die Erfahrung beson-
ders in England gezeigt, dass die Wirkung
eine ganz andere, als man erwartete, ge-
wesen ist. Die Schwankungen in den Preisen
innerhalb kürzerer Zeit sind infolge der
Spekulationen bedeutend vermehrt worden.
Man hat nun gemeint, dass sich die Ver-
hältnisse m der neueren Zeit genügend ge-
ändert haben, um ein solches Ergebnis aus-
zuschliessen. Indessen ist nicht recht abzu-
sehen, welche Aenderungen hierfür ent-
scheidend gewesen sein sollen. In England
stellte sich heraus, dass die Zufuhr zurück-
gehalten wurde, so lange die ZöUe hoch
waren, und erst sobald durch eine einge-
tretene Knappheit die Preise in die Höhe
getrieben, damit die ZöUe ermässigt waren,
wurde massenhaft das Getreide in das Land
hinein geworfen, welches dann einen Di-uck
auf die Preise ausüben musste. Genau das-
selbe Vorgehen ist nun auch für die Gegen-
wart zu erwarten. Das Interesse aller
Händler ist hier durchaus das gleiche. Der
ZoU hat eine grosse Koncentrierung des
Handels in wenig Händen zur Folge gehabt,
die sich deshalb zu gemeinsamem Vorgehen
leicht einigen können und unzweifelhaft
leicht einigen werden. Der Bedarf Deutsch-
lands an ausländischem Getreide ist heuti-
gen Tages bedeutend genug, um einen
erheblichen Einfluss auf die Preise aus-
üben zu können und die Zurückhaltung
der Zufuhr fühlbar zu machen. Fort-
dauernde Schwankungen sind daher unver-
meidlich. Nun ist in der neueren Zeit ge-
348
Getreidezölle — Gewässer
Jahr
Gesamtaiisfuhr über die Zollgrenze.
Weizen
Roggen
1890—93 zwischen 132—174000
1894 1 72 000
1895 195 000
1896 246 000
1897 410000
1898 331 000
Gerste
Tonnen
24 — 38 000
83000
64000
58000
116000
144000
20 — 32000
56000
66000
37000
32000
30000
Hafer
10 — 44000
56000
91 000
74000
77000
103000
rade von selten der Landwirte auf die
grossen Schädigungen hingewiesen, welche
sie durch diese Schwankungen erfediren,
weü sie nicht den geeigneten Moment zum
Verkauf abwarten können, ihn auch nicht
genügend vorherzusehen vermögen und
deshalb gegenüber dem Kaufmann den
kürzeren ziehen. Es kann deshalb sicher
nicht eine Einrichtung als wünschenswert
bezeichnet werden, welche ^rade die
Schwankungen steigert, ohne m anderer
Weise ein Aequivalent zu bieten.
10. Schlnssergebnis des bisher Gesagten
fassen wir in der folgenden Weise zusam-
men: Die Getreidezölle schliessen viel
grössere Lasten und Ungerechtigkeiten für
die Bevölkerung in sich als die sonstigen
Zollauflagen; sie bediiicken den am wenig-
sten leistungsfähigen Teil der Bevölkerung
am meisten. Sie kommen nur einem kleinen
Teil der Produzenten zu gute und nützen
am meisten dem momentanen Besitzer und
nicht nachhaltig dem landwirtschaftlichen
Betriebe. Die Hauptwirkung kommt auf
eine Erlir'.::ng des Gnmdwertes hinaus, der
Einfluss isl deshalb für die Produktion weit
weniger vorteilhaft als der der Schutzzölle
für die Industrie. Sie werden dalier nm*
ausnahmsweise in Anwendung kommen
rlürfen, wenn der Grundbesitzer- und
Pächterstand übermässig in seiner Existenz
\md seinem Betriebe gefährdet ist und ent-
weder eine baldige allgemeine Preiserhöhung
des Getreides wieder zu erwarten steht
oder der Uebergang zu einem niedrigen
Niveaii auf eine längere Zeit verteilt werden
muss.
Die Wirkung der Zölle wird aber nur
eine angemessene sein, wenn sie von vorn-
herein als eine Uebergangsmassregel hinge-
8t<*llt werden die Landwirte somit auf die
Beseitigung dei'selben stets rechnen müssen
imd deshalb der Grundwert nicht künstlich
gesteigert wird. Es muss zweckmässig er-
scheinen, dieselben nur für eine bestimmte
Zeit aufzulegen, imd nach einer vorher festge-
setzten Frist eine allmähliche Verminderung
von Monat zu Monat in ganz geringen Beträgen
anzusetzen, damit sich die gesamten Pro-
duktions- und Handelsverhältiiisse danach
einrichten können. Xur so wird nach allem
eine so einschneidende Massregel zu recht-
fertigen sein. Das pekuniäre Ergebnis sollte
aber nicht in die allgemeine Staatskasse
füessen, sondern der unteren Klasse speciell
zu Gute kommen.
Litteratar: Die Zahl der Schriften über Ge-
treidezöUe ist Legion; sie aUe hier anziifuhren
kaum möglich und aurh nicht nötig, da unter
ihnen sehr viele reine Parteischriften sind ohne
dauernden wissenschaftlichen Wert. Wir nennen
daher nur die vnchtigstenArbeiten und verspeisen auf
Conrads Besprechung über nDie neueste Litteratur
über GetreidezÖlleu, Jahrb. f. Not. u. Stat. Bd.
XXXlIIy 8. 145—158. Vgl. femer Conrad, Die
Tarifreform im deutschen Reiche etc., ebd. Bd.
XXXIII, S. 4SS und XXXIV, S. 208 ff. — JPer-
seihe, ebd., K. F. Bd. X, S. 2S7. — Derselbe,
ebd. III. F. Bd. I., S. 481—518. — Derselbe, Ar-
tikel nAgrarzöUea, in Schönbergs Handbuch, 3.
Aufl., 2. Bd., 8. 224 ff. — Röscher, Ueber Korn-
handel und Teuemngspoliiik, Stuttgart 1852. — von
Räumer, Die Komgesetze Englands, Leipzig
I84I. — Udo Eggert, Getreidezölle, Berlin 1879.
— Jül, Kühn, Die GetreidezöUe in ihrer Be-
deutung für den kleinen und mittleren Grund-
besitz, 2. Aufl., Halle a. S. 1885. — Leoeis, Die
Wirkung der GetreidezöUe, Festgabe für Georg
Hanssen, Tübingen 1889, S. 197 ff. — Köttgen,
Studium über Getreideverkehr und Getreidepreise
in Deutschland (Staatsw. Sttidien, III. Bd.),
Jena 1890. — von MaUekowits, Die Zoll-
politik der Österreichisch-ungarischen Monarchie j
und des Deutschen Reiches, Leipzig 1891. —
Stumpf, Der kleine Grundbesitz und die Ge-
treidepreise, Leipzig 1897. — Alfr. List, Die
Interessen der deutschen Landwirtschaft im
deutsch-russischen Handelsvertrag, Stuttgart 190t).
J* Conrad,
Gewässer.
1. Die principiellen Grundlagen und recht-
liche Gliederang der Objekte des Wasserrechts.
2. Die Landesgewässer und ihre rechtliche Ord-
nung: a) Privatgewä.sser ; b) G. im beschränkten
öffentlich-rechtlich geordneten Gemeingebrauch;
c) die im freien Gemeingebrauch stehenden
öffentlichen G. 3. Die Ktistengewässer und die
Seegrenze. 4. Die freien G. der hohen See und
die Rechtsgrundlagen der Meeresfreiheit.
1. Die principiellen Grundlagen und
rechtliche (Tliedernng der Objekte des
Wasserrechts. Nicht das Wasser an sich
in den verschiedenen Formen der Aggregat-
zustände, welche es seiner physikalischen
Beschaffenheit nach annehmen kann, sondern
nur Gewässer, d. h. gi*össere Ansammlungen
Gewässer
349
desselben, die eine nennenswerte dauernde
Beziehung zum staatlichen Leben erkennen
lassen, bilden den Gegenstand rechtlicher
Ordnung in jedem Gemeinwesen, sobald
diesem die hohe Bedeutimg des Wassers ftlr
die Entwickelüng der gesamten Kultur be-
wusst geworden ist. — Die rechtsgeschicht-
liche Betrachtimg, welche bis zur Stunde
noch aussteht und seit dem schwachen Ver-
suche Romagnosis »Della condotta delle
acque« (1833) kaum merkliche Fortschritte
gemacht hat, könnte nicht davon absehen,
die Geschichte des menschlichen Kampfes
mit dem mächtigen »Elemente« aufziuDllen
und die mannigfachen Rechtsgestaltungen
vorzuführen, die aus jenem im Zuge der
Zeiten hervorgegangen sind. Es ist wieder-
holt darauf hingewiesen worden, dass sich
in Beziehung auf die Entwickelüng der
wasserrechtlichen Verhältnisse drei grosse
Abschnitte aufstellen und unterscheiden
lassen, in denen ein verschiedenes, aber
scharf ausgeprägtes Verhalten zur Natiir-
kraft des Wassers und der Verwendung
derselben zu gewissen Zwecken erkennbar ist.
In der Kindheitsperiode der Ge-
sellschaft mit schwacher Bevölkerung, be-
schränktem Ackerbau und geringer Nutzung
der Naturkräfte ist das Gebahren des ein-
zelnen YTie der Gemeinschaft dem Wasser
gegenüber vorwiegend defensiv. In
dieser Periode ist man mehr auf die Ab-
wehr als auf die Aneignung des Wassei's
bedacht; es wird mehr als Last denn als
Vorteil angesehen.
In der Entwickelungsperiode mit
wachsender Bevölkerung, zunehmender inten-
siver Wirtschaftspflege, aufblühendem Handel
nimmt der Wassergebrauch einen lukra-
tiven Charakter an; die Industrie bemäch-
tigt sich desselben in zimehmendem Masse
unter praktischer und gesetzlicher Ver-
drängung der Landwirtschaft, und die Be-
nutzung der Triebkraft des Wassers wird
durch künstliche Vorrichtungen den Ver-
kehrszwecken in höherem Masse zugänglich
gemacht. In den Tagen des gesteigerten
Volkswirtschaftsbetriebes mit starker Bevöl-
kerung, ausgedehnter und intensiver Land-
wirtschaft, bei inniger Verbindung mit In-
dustrie und Handel steigert sich der Cha-
rakter des Gebahrens mit Wasser zu all-
seitig produktiver Verwertung seiner
Leistungskräfte; die Verwendung desselben
^\'i^d neben den Zwecken der Ortsverände-
rung auch für die Zwecke aller wirtschaft-
lichen Arbeit im Lande beansprucht. Seine
Benutzung wird allen Bedürfnissen zugäng-
lich gemacht, und die Abwehr seiner Ge-
fahren tritt in den erweiterten Kreis der
wasserrechtlichen Verhältnisse und verwal-
tungsrechtlichen Aufgaben des Kultm*-
staates ein.
unsere Zeit steht zum gi-ossen Teil mit
ihren wirtschaftspolitischen Bedürfnissen
und Forderungen auf dem Boden des Systems
der dritten, mit ihrer positiven Gesetzgebung
auf dem der zweiten Periode. Die meisten
deutschen Wasserrechte bieten nur Stück-
werk und zwar nicht allein in Beziehung
auf das Ganze, sondern auch rücksichtlich
der einzelnen Zweige. Die meisten der in
den grösseren deutschen Staaten aufgestellten
Gesetzentwürfe haben zumeist des einseiti-
gen Standpunktes halber, von dem sie auf-
gebaut waren, entweder bei den Vertretern
der Wissenschaft oder denen der Landwirt-
schaft oder denen der Industrie Widerspruch
gefimden und sind zudem meist nicht zur
vollen Ausführung gekommen. Selbst jene
Staaten, welche wie Preussen und Bayern
einzelne Fragen gesetzgeberisch behandelt
haben, sind in anderen den Schwankungen
der Rechtsprechung und der angewandten
Doktrin unterworfen und zumeist auf den
dürftigen Inhalt der nicht selten wider-
spruchsvollen Landrechte und Partikularge-
setze angewiesen.
Wir haben an anderer Stelle (s. d. Art.
Binnenschiffahrt oben Bd. II S. 873 ff.)
die Gründe für die Erscheinung entwickelt,
dass der Staat bis in unsere Zeit den Nutzungs-
wert der Gewässer für die staatliche Gemein-
schaft und Verwaltung ledighch oder doch vor-
wiegend nach den Bedürfnissen der Ortsver-
änderung, des Güter- und Personen Verkehrs
zu bemessen geneigt war. Heutzutage da-
gegen hat dui'ch das allseitige Bestreben nach
intensiver Wirtschaftspflege mit ihrem System
von Ab- und Zideitungen, Meliorationen,
Drain^en etc., die Zunahme der industri-
eDen Thätigkeit die Ausnutzung der Natiu»-
kraft des stehenden wie des fliessenden
Wassers eine Bedeutung erlangt, von der
Antike, Mittelalter und selbst neue Zeit in
den dürftigen Ansätzen der jeweiligen
wasserrechtlichen Anordnungen keine Ahnung
hatten.
Aber auch nach einer anderen Seite hin
steht das Wasserrecht unserer Zeit vor
grundsätzlichen Aenderungen, deren Durch-
bruch in der neueren Gesetzgebung sich un-
aufhaltsam vollziehen muss. Richtunggebend
ist hier der Gedanke, dass unabhängig von
ihrer örtlichen Lage die Menge des Was-
sers ausschlaggebend ist für ihre dem
Dienste der Gemeinschaft zugewandte
Bestimmung.
Die Bewegung, die zu einer Befreiung
von den einengenden Grenzen der strengen
privatrechtlichen Auffassung führen wiU,
wird sich daher besonders empfindlich
gegen die zur Zeit herrschenden Rechts-
gebilde in dem Sinne wenden, dass die
grosse Wassermasse an sich, abgesehen
von Triebkraft, Beweglichkeit oder ruhender
350
G^ewässer
Beschaffenheit, mit Rücksicht auf ihre wirt-
schaftliche, klimatische etc. Bedeutung aus
der Herrschaft des privatrechtlichen Eigen-
tumsystems herausgenommen und ihrem
Umfange nach als res publica der verwal-
tungsrechtlichen Einwirkung des Staates
unterstellt werden müsse.
Diese Auffassung ist weit davon ent-
fernt, zu den Irrttimern der älteren Lehre
vom Staatseigentiun an den öffentlichen
Flüssen und zu den Einseitigkeiten der über-
wundenen Regaltheorie zu gelangen. Sie
ist nur geeignet, der bereits aus Gesetz-
gebung und Rechtsprechung deutlich her-
vorleuchtenden Idee von der Gemeinge-
hörigkeit grösserer Wasserraengen
im Rechtssystem zum Durchbruch zu ver-
helfen. Unverkennbar liegen verwandte An-
schauungen auch dem Ansturm zu Grunde,
den in unseren Tagen Vertreter der agrari-
schen Interessen gegen die einseitige Aus-
beutung der Gewässer für die Zwecke von
Handel und Yerkehr führen. Schon zu
einer Zeit, da die Rücksicht auf Leichtigkeit
und Förderung des Yerkohrs in der aJler-
vordersten Linie der durch die Gesetz-
gebungspolitik zu verwirklichenden Inte-
ressen lag, hat die Lehre wiederholt und
mit Nachdruck auf den Widersinn aufmerk-
sam gemacht, der darin liegt, die Ausbeu-
tung der Gewässer für kommerzielle und
industrielle Zwecke vor dem wichtigen Er-
werbszweige der Landwirtschaft in dem
Masse zu bevorzugen, dass die Interessen
der letzteren in offenbaren Nachteil gesetzt
wurden.
Hier kann eine Remedm* nur dadurch
gewonnen werden, dass die Einengung
wieder aufgehoben wird, welche der Begriff
der Oeffentlichkeit der Gewässer in
neuerer Zeit gefimden und welche unsere
Gesetzgebung; überraschenderweise unter
das Niveau des genossenschaftlichen Geistes
selbst des römischen Rechtes gestellt hat.
Zutreffend hat bereits Endemann (Das
ländliche Wasserrecht) im Hinblick auf
diesen Punkt betont, dass für die Antike
der Unterschied der öffentlichen und Privat-
flüsse bei weitem nicht den Wert hatte, der
demselben in der Neuzeit beigelegt wii-d,
da im römischen imd sicherlich weit mehr
im deutschen Rechtssystem überhaupt das
private und das öffentliche Leben nicht so
weit auseinanderlagen, als dies gegenwärtig
in Rechtsprechung und Lehre der Fall
scheint. Wenn man die öffentlichen Gewäs-
ser ausgeschieden hatte, so war dies fi-eüich
nicht geschehen, um sie in unserem Sinne
der Staatsgewalt und der staatsbehördlichen
Aufsieht zu überantworten, sondern es galt
nur, dem öffentlichen Gebrauche be-
sonderen Schutz zu verleihen. Waren auch
die Nutzungsformen wenig zahlreich, welche
im römischen wie im germanischeu Volks-
leben nach Mass der zeitlichen Wirtschafts-
entwickelung überhaupt stärker in Betracht
kommen konnten, — s. Ssp. II, 28: »S^Ä-ilch
wazzer strames vlüzet, daz ist gemeine zu
varende und zu vischende inne. Der
vischer müz euch wol daz ertriche nuczen
also verne, als her eines geschi'iton mag uz
dem schiffe — [von dem rechten Stade],« —
so hatte naturgemäss dem Gegensatz zwischen
öffentlichen und Privatgewässern in der älte-
ren Lehre und in der Verwaltung des älte-
ren Staates bei weitem jene intensive
Schärfe gefehlt, die ihm jetzt innewohnt.
Der Unterschied wird aber erst dann
recht einschneidend, wenn wir uns dessen
bewusst werden, dass auch die privaten
Gewässer nach römischem und germani-
schem Rechte nicht in dem Sinne Privat-
eigentum waren, dass das Wasser den
Pnvaten gehört hätte , sondern alles im
Fliessen begriffene Wasser allen Menschen
gemeinsam war, und zwar ^t dies sowohl
für grosse wie für die kleinsten Gewässer.
Dadurch, dass später die Tragkraft
der perennierenden Wasserläufe vornehm-
lich unter Einwirkung des zum fiskalischen
Vorteil gehandhabten Wassen'egals in den
Vordergrund rechtlicher Beurteilung ge-
schoben wurde, hat das deutsche Wasser-
recht sein gemeinrechtliches einfaches Prin-
cip der freien Wassernutzung der fliessen-
den Welle verloren, und es hat dafür ein
anderes sicheres, gemeingültiges und vor
allem ein das Bedürfnis der Gegenwart
besser befriedigendes nicht gefunden.
Die mit dieser Erscheinung verbun-
denen wirtschaftlichen Gefahren werden
in den Rechtssvstemen der einzelnen
Staaten mu» durch unvermeidliche In-
konsecjuenzen der Wassernutzungsnormeu
teilweise vermieden sowie durch eine zu-
sammenhangslose Gelegenheitsgesetzgebimg,
die der jeweilig herrschenden wirtschafts-
politischen Hauptrichtung gerecht zu wer-
den sucht. Dem Vorausgeschickten nach
wird es daher einleuchten, wenn wir der
schidgemässen Einteilung der Gewässer in
a) natürlich fliessende und natürlich ste-
hende, b) künstlich fliessende und künstlich
stehende, c) perennierende und wilde, nur vor-
wiegend technische, der Einteilung end-
lich d) in öffentliche und private niu* sekun-
däre juristische Bedeutung beimessen.
Sekundäre, weil z. B. einzelne Gesetzgebim-
gen, wie die Sachsens und Weimars, auf
jene Unterscheidung ganz verzichten zu
können glaubten, und sodann, weil der Ver-
such, den Eigentumsbegriff für die Zwecke
der principiellen Gliederung des Stoffes zu
verwerten, als verfehlt angeschen werden
muss. Denn wenn zugegeben werden muss,
wie dies mit anderen Nieberding thut,
Gewässer
351
dass von der geringen Wassermenge, die
auf einem Grundslücke angesammelt er-
seheint, bis zum Meere die rechtliche Natur
des Wassers sich in immer weiteren Gren-
zen entwickelt, dass sie dort mit dem vollen
Inhalt des Eigentums beginnt imd hier den-
selben gänzlich vernichtet — so ist damit
klar, dass das Eigentum mit seiner spröden
juristischen Natur nicht als systematisches
Teüungsprincip der wasserrechtlichen Ver-
hältnisse Verwendung finden kann. Ihre
rechtliche Ordnung ffilt vermöge der unlös-
baren Beziehimgen aller umfangreicheren
Gewässer zu den allgemein staatlichen Inte-
ressen nicht bloss unter das Eichtmass pri-
vatrechtlicher, sondern immer auch zugleich
öffentlichrechtlicher Normen, in deren Hand-
habung sich denn auch überall Justiz und
Verwaltung teilen. Dieselbe Wasserwelle,
welche aus der privaten Quelle, dem einem
einzelnen gehörigen Brunnen geflossen, ihren
Lauf nimmt, tritt als Substanzteil im Bach,
Graben, Fluss, Strom, Meer aus einem
»Bechtsgebiet« unaufhaltsam in das andere
über. Es lässt sich daher für alle Gewässer
ein zutreffendes Teilungsprincip nur in dem
Masse gewinnen, je nachdem ein Gewässer
seiner Natur nach zu grösserer oder gerin-
gerer Gemeinschaft bestimimt ist Demnach
unterscheiden wir drei rechtlich scharf ge-
sonderte Gruppen von Gewässern:
1. Die Laiiidesgewässer, welche a) bald
in Einzelnutzung, b) bald im faktischen Ge-
brauche einer rechtlich bestimmten Zahl
von Intei-essenten, c) bald endlich potenziell
im Gebrauche aller Staatsbewohner stehen;
2. die Eüstengewässer ;
3. die Gewässer der hohen See.
Wir werden im folgenden die Grundzüge
der jeder dieser Gruppen eigentümlichen
Systeme mit ihren specifischen, den Wasser-
gebrauch regelnden Normen im einzelnen
vorführen.
2. Die Landesgewässer und ihre recht-
liche Ordnung. Das im modernen Staats-
begriff liegende Erfordernis der festländi-
schen Gnmdlage des staatlichen Baues wird
in seiner rechtlichen Geltung durch die
Thatsache nicht diu'chbi'ochen, dass die Ge-
bietseinheit auch mehr oder minder ausge-
dehnte Wasserflächen lunfasst. Aiich in
diesen erhält der Staat, um mit v. Gerber
zu reden, seine »körperüche Qualifizienmg«.
Sie unterstehen trotz ihrer inkonsistenten
Beschaffenheit in allen Beziehungen der
Gebietshoheit, mögen sie nach Mass der
rechtlichen und faktischen Nutzungsfähigkeit
bald unter den Gesichtspunkt des Privat-
eigentums, bald unter den des öffentüchen
Gutes fallen. Wir unterscheiden sonach:
a) Privatgewässer. Die in der Lit-
teiatur vielfach unternommene Ableitung
des Begriffes der Privatgewässer aus dem
Gegensatze des öffentlichen Wassers erweist
sich als methodisch verfehlter Versuch. Der
Eigentumsbegriff ist feststehend; der Vor-
stellungsiuhalt der »Oeffentlichkeit« wechselt
von Rechtssystem zu Rechtssystem und stellt
sich genau wie der der »Meeresfreiheit* bei
näherer Prüfung lediglich als Abwehi» älte-
rer, mit den Forderungen des Gemeinda-
seins unvereinbarer individualistischer For-
derungen und praktischer Missbräuche dar.
Die Privatgewässer stellen sich demnach
als solche Substanzmassen dar, auf welche
die juristisch relevanten Merkmale des
Eigentums passende Anwendung finden
können. Das Wasser, welches in Teichen,
Cistemen, Brunnen und Haltern sich befin-
det, oder durch nattirliche Beschaffenheit
des Ortes an einer im Privateigentum be-
findlichen Erdoberfläche, in einem Gefässe
u. dgl. sich sammelt, ist im Privateigentum.
Quellen, soweit nicht besondere Regalitäts-
verhältnisse eintreten, sind dem Verfügungs-
rechte des Grundeigentümers überlassen.
Auch die Abflüsse der genannten Gewässer
teilen deren rechtliche Eigenschaft, solange
sie auf dem Grund und Boden des Eigen-
tümers der Teiche, Cistemen, Brunnenhäter
und Quellorte fliessen.
Die genannten Gewässer werden mit
dem Grundstücke, auf welchem sie sich be-
finden, als Gegenstände des Besitzes bezw^.
als Zubehör des Grundstückes (portio fundi)
selbst angesehen, über welches dem Eigen-
tümer ein völlig freies Dispositionsrecht zu-
steht. Insbesondere ist es dem letzteren
unverwehrt, das durch Natur oder Kunst
auf seinem Grundstücke zu Tage geförderte
Quellwasser zu fassen, beliebig zu benutzen,
zu verbrauchen oder anderen zur Benutzung
zu überlassen, Vorkehrungen zu treffen,
durch welche das auf seinem Boden ent-
springende QueUwasser verhindert wird, auf
das niedriger liegende fremde Grundstück
abzulaufen. Ebenso darf er auf seinem
Gnmdstücke Bnmnen graben oder denselben
grössere Tiefe geben, wenn auch fladurch
die Wasseradern auf den benachbarten
Gnmdstücken versiegen oder die Brunnen
der Nachbarn vertrocknen sollten. Dies er-
giebt sich aus den unser Privatrecht be-
herrschenden Gnmdsätzen, die in ihrer
vollen individualistischen Geltung durch
§ 905 B.G.B. unverändert erhalten w^orden
sind. Alle Einwürfe, die gegen den im be-
zeichneten Paragraphen ausgesprochenen
Lieblingssatz der romanistischen Doktrin^
dass das Herrschaftsrecht des Eigentümers
von Grund und Boden sich auf den Raum
über und unter der Grundfläche erstrecke,
erhoben worden sind, erweisen sich auch
hier als völlig begründet. Die Absurdität
seiner unbedingten Anerkennung würde sich
allerdings gerade in Anwendung auf die
352
Gewässer
Wasserrechtsverhältnisse aufs klarste er-
weisen.
Die Kommission für die Ausarbeitung
des Entwurfes eines B.G.B. scheint sich
erst im Laufe ihrer Arbeiten entschieden zu
haben, von der Kodifizierung des ganzen
Wasserrechtes abzusehen, da die Vorkom-
mission vom Jahre 1874 in ihrem an den
Bundesrat erstatteten Berichte über Plan
und Methode des Gesetzbuches es der
sorgfältigen Erwägung empfohlen hatte, ob
nicht die privatrechtlichen Grundprincipien
des Wasserrechtes sich zur gemeinschaft-
lichen Regelung im deutschen Civilgesetz-
buche eignen, wenn auch das Wasserrecht
zu den Rechtsinstituten gehöre, welche, wie
das Mühlen-, Flötz- imd Flössereirecht etc.,
im einzelnen nur unter dem Bedürfnis und
den geschichtlich gegebenen Verhältnissen
grösserer und kleinerer Distrikte geregelt
werden können und deren teilweise polizei-
licher Inhalt ein weiteres Hindernis der
Kodifizierung bilde. Dazu hatte der Justiz-
ausschuss des Bundesrates in seinem über
das Gutachten der Vorkommission abgege-
benen Bericht bemerkt, dass allerdings in
specieDer Gliedenmg und mit Regelung der
Einzelheiten jene Rechtsiostitute in das
Gesetzbuch nicht aufzunehmen seien, wohl
aber ihre privatrechtlichen Grundprincipien,
hinsichtlich deren sie dodi unter dem allge-
meinen Civilrecht ständen.
Aber im Verlauf der Vorarbeiten für
den Entvs'urf scheint man auf die gemein-
same Regelung der Hauptgrundsätze jener
Rechtsinstitute, so auch des Wasserrechts,
weniger Gewicht gelegt zu haben; denn
Art. 65 des Einführungsgesetzes zum Bür-
gerlichen Gesetzbuche lässt die landesge-
setzlichen Voi-schriften, welche dem Wasser-
recht angehören, unberührt vom gi^ossen
Kodifikationswerk.
Eine Teilnahme weiterer Kreise des Ge-
meinwesens an der Nutzung der im vor-
stehenden rechtlich gekennzeichneten Ge-
wässer ißt demnach innerhalb des herrschen-
den Privatrechtssystems im allgemeinen
nur unter den rechtlichen Bedingungen der
im öffentlichen Interesse durchzuführenden
Zwangsenteignung gegen Entschädigung zu-
lässig. Im rheinischen Rechte ist jedoch
dem Besitzer für solche Fälle, wo seine
Quelle allein im stände ist, der Umgegend
den notwendigen Wasserbedarf zu sichern,
von vornherein eine jede Verfügimg unter-
sagt, welche den freien Gebrauch des Was-
sers beeinträchtigen ^ilrde; es steht ihm
nur eine durch Sachverständige zu bemes-
sende Entschädigung für die ihm auferlegte
Beschränkung zu. In der allgemeinen Lan-
desgesetzgebung der alten Provinzen Preus-
sons hat eine entsprechende Bestimmung
auf die PrivatfJüsse und deren Quellen An-
wendung gefunden. (G. v. 28. Februar 1848
§ 15.)
b) G. im besohränkten, öffent-
lichrechtlicli geordneten Gemeinge-
brauch. Während die Beteiligung einer
grösseren Zahl von Nutzniessern im
Wege des Vertrages oder auch der Dienst-
barkeit den Rahmen der privatrechtiichen
Nonnen nicht durchbricht, tritt eine not-
wendige »Beugung« des reinen Civilrechts-
systems sofort ein, sobald entw^eder die
Menge der eingeschlossenen Gewässer oder
ihre fliessende Natur mit der dadurch not-
wendig verbundenen Beziehung zum Ge-
meingebrauch den Linienlauf des reinen
Privatrechts stört. Dies ist der Fall bei den
grosseren, von der Gesetzgebung nicht aus-
drückhch als öffentliche charakterisierten
Gewässern, deren Bezeichnung als Privat-
gewässer aber doch immer irreführend
wirkt. Die Pointe ihrer rechtlichen Natur
ist eben darin zu suchen, dass bei ihnen
zwei Principien: das der Allgemeinge-
hörigkeit der grossen Wassermenge und
das der ausschliessenden Rechtswirkungen
des Privateigentums an den angrenzen-
den Ufern — ihre in der positiven Gesetzge-
bung mehr oder minder gelungene Ver-
mittelung gefunden haben. Die grosse
Wassermenge, eine Wohlthat zugleich und
zugleich die Quelle von Gefahren, lässt von
vomeher nur eine beschränkte Disposition
des einzelnen zu. Die Eigentumsbetliätigimg
gewinnt sofort den Charakter einer Turba-
tivhandlung dann, wenn verschiedene
Anlieger vorhanden sind, von welchen das
Wasser zu verschiedenen Zwecken be-
nutzt werden soll. Der Interessenkollision
und den dauernden Rechtsstörungen vorzu-
beugen, erfolgt hier die Feststellung der
Wasserverhältnisse zwar für einen engeren
Kreis von Interessenten, aber immer seitens
staatlicher, kommunaler etc. Organe und
kraft zwingender Normen des öffentlichen
Rechts. Die ältere Lehre hat zur Erklänmg
dieser Erscheinung zur gekünstelten Idee
der »Wasserhoheit« gegriffen und aus dieser
hei-aus das Oberaufsichtsrecht für den Staat
in Anspruch genommen. Im Anschlüsse
daran entwickelte sich, fast in allen deut-
schen Ländern, Württemberg ausgenommen,
der im Gegensatze zum römischen und älte-
ren deutschen Rechte von der Beschaffen-
heit der Wasserwelle unabhängige Unter-
schied der öffentlichen und nicht öffentlichen
Gewässer. Die beiden Ausdrücke finden
sich in allen deutschen Wasserrechtssvstemen :
gleichwohl wohnt ihnen eine ausreichende
Kraft zur Bestimmung der praktischen
Rechtsverschiedenheit der Gewässer nicht
inne. Ueberall findet sich wohl als Gliede-
rungsprincip der Gnmdgedanke vor, diejenigen
Gewässer, über welche dem Staate ein weit-
Gewässer
353
gehendes Hoheitsrecht, den einzelnen Pri-
vaten aber nur geringe, positiv begrenzt«
Herrschaftsrechte zustehen, von denjenigen
Gewässern zu trennen, wo jenes Hoheits-
recht im wesentlichen fehlt und die aus-
schliesslichen Dispositionsbefugnisse der
Privaten überwiegen. Dabei ist aber immer
angenommen, dass auch die nicht öffent-
lichen kraft der mehr oder minder weit-
gehenden diskretionären Gewalt der Obrig-
keit deshalb nicht als Eigentumsgewässer
oder Privatgewäßser im engeren Sinne,
sondern nur als Gewässer angesehen wer-
den sollen, deren Gemeingebrauch ein be-
schränkter, relativer ist
Wir ziehen somit die Summe, dass nach
geltendem ßechte, vornehmlich Pi-eussens,
auch die nicht öffentlichen als rela-
tiv öffentliche anzusehen und zu be-
handeln sind. Die civilrechtliche Konstruk-
tion macht vergebliche Anstrengungen, die-
ser rechtsgeschichtlichen Thatsache Herr
zu werden, und tröstet sich mit dem Ge-
danken, dass es für die Praxis in der That
einerlei ist, ob man dem Nutzniesser des
Wassers, dem Anlieger etc. ein Privateigen-
tum zuschreibt, welches durch die Einwir-
kung der öffentlichen Gewalt besclu^nkt
und im Einklang mit den Interessen der
anderen Beteiligten gelialten wird, oder ob
man, die öffentliclie Qualität des Flusses
voranstellend, dem einzelnen nur ein inner-
halb der polizeilichen Anordnimgen sich be-
wegendes privates Nutzungsrecht zuerkennt.
Endemann (a. a. 0.) zieht denn auch aus
dem Vordersatz die richtige Konsequenz,
dass hiernach die reinen Privatgewässer,
namentlich diejenigen, an welchen die
öffentliche Gewalt gar keine Berechtigung
habe, sehr reduziert seien und dass daher
alle Gewässer, deren Anlieger sich jene
staatliche Einwirkung gefallen lassen müs-
sen, ebensogut öffentliche heissen können,
was ja nicht ausschliesst, dass der einzelne
dennoch Privatrechte, sogar Privateigentum
am Wasser haben könne.
Zu dieser Gnippe gehören vor allen die-
jenigen Gewässer, welche nicht rings um-
schlossen sind, die Wasserleitungen, Kanäle
und Gräben, insbesondere aber die eigent-
lichen Privatflüsse, deren rechtliche
Regelung gewissermassen den Mittelpunkt
der dem Wasserrecht vorbehaltenen Probleme
ausmacht.
Alle Flüsse, welche von Natur nicht
schiff- oder flössbar sind, ferner Quellen,
Bäche, Fliessen, sowie Seeen, welche einen
Abfluss liaben, sind unter die Privatflüsse
zu zählen. Diesen sämtlichen Gewässern
gegenüber stehen, ausser dem im Boden
steckenden Wasser, die Quellen und das
wild ablaufende Wasser; das letztere
umfasst alles Wasser, welches aus dem
Handwörterbuch der Staatswissenschafteii. Zweite
Boden hervonj^uillt oder aus der Atmo-
sphäre herabsinkt und ohne bestimmten
Lauf sowie ohne festes Bett seinen Abfluss
sucht.
Der wirtschaftlichen Wichtigkeit nach
treten denn auch aus der einschlä^gen Ge-
setzgebung namentlich die die Privatflüsse
betreffenden Normen hervor; hier hat sich
am früliesteu die Notwendigkeit eines be-
hördlichen Schutzes der Wassernutzuug im
genossenschaftlichen Geiste geltend ge-
macht.
In der That hat die preussische Recht-
sprechung schon vor einem halben Jahr-
hundert trotz der Unklarheiten des G. v. 28.
Februar 1843 über die Benutzung der Pri-
vatflüsse diesen Begriff des genossenschaft-
lich beschränkten Gemeingebrauches ihren
Judikaten zu Grunde gelegt. So sagt das
Obertribunal in einem urteil aus dem Jahre
1845: »Das Eigentum an dem Privatflußse
unterliegt dem aus der Natur der Sache be-
hufs Nebeneinanderbestehens der Rechte
der verschiedenen Eigentümer folgenden
Beschränkungen«, und in einem Urteil vom
16. Dezember 1853 erweitert es diese Auf-
fassung dahin, dass »an und für sich jeder
Eigentümer befugt sei, die Sache, welche
Gegenstand des Eigentums ist, soweit nicht
gesetzliche oder konventionelle Beschrän-
kungen entgegenstünden, ausschliesslich zu
benutzen und darüber ausschliesslich zu
verfügen. Dieser Grundsatz könne aber auf
Privatflüsse nicht unbedingt angewandt
werden. In dem Allgemeinen Laudrecht
und den besonderen Verordnungen, welche
sich auf das Wasserrecht bezögen, sei
nirgends ausdrücklich bestimmt, dass den
üferbesitzern das privative Eigentum an
dem Flussbette und Flusswasser, soweit der
Fluss die Grundstücke derselben berühre,
zustehe und das Eigentum der gegenüber-
liegenden Grundbesitzer insbesondere bis in
die Mitte des Flusses reiche. Aus den ein-
zelnen Bestimmungen der Gesetze §§ 245
bis 264, Tit. 9., Tl. I, §§ 39—45, 15, Tl. H
Allg. L.-R. folgte aber, dass das Eigen-
tum der üferbesitzer an dem Pri-
vatflusse und das Eigentum der
gegenüberliegenden Besitzer ins-
besondere nicht lediglich nach den
allgemeinen Grundsätzen über das
Eigentum zu beurteilen, sondern in
mehrfacher Hinsicht beschränkt sei. — Nach
dem allen könnten die gesetzlichen Kon-
sequenzen, welche an und für sich die Be-
nutzung des Eigentums und der Verfügung
darüber gelten, nicht ohne w^eiteres auf das
beschränkte Recht der Uferbesitzer am Fluss-
bett und Wasserachatze angewandt werden;
es müssten vielmehr zugleich und
wesentlich die besonderen Ver-
hältnisse, welche hier obwalteten
Auflage. IV. 23
354
Gre Wässer
und von Einfluss seien, ins Auge
gefasst werden.« —
Der neueren Wassergesetzgebung ist vor-
nehmlich die Tendenz gemeinsam, die Ge-
wässer der hier besprochenen Kategorie in
höherem Masse, als dies bisher der Fall ge-
wesen, den Zwecken der Landeskultur
dienstbar zu machen. Hierauf beziehen sich
innerhalb des vielfach zerrissenen preussi-
schen Rechts die wichtigsten der in Wirk-
samkeit stehenden Gesetze. So stellt das
bereits genannte vom 28. Februar 1843 den
Satz an die Spitze, dass jeder üferbesitzer
an Privatflüssen berechtigt ist, das an seinen
Grundstücken vorbei fliessende Wasser zu
seinem besonderen Vorteile zu benutzen.
Obwohl man durch diese Yorschriften für
die Bewässeruugsunternehmungen jedwede
Vorsorge getroffen zu haben glaubte, ge-
nügten dieselben in der Wirlmchkeit den
eigentlichen Anforderungen einer ausgebil-
deten Bewässerungskultur jedoch noch lange
nicht. Für eine solche war die gestattete
Nutzung des Wassers noch vielfedi an zu
enge Ghrenzen gebunden.
Zugleich wurde den Bedürfnissen der
Land eskul tu r nach Wiesenbewässerung
durch das G. v. 28. Februar 1843 und
ausserdem noch durch die GG. v. 23. Januar
1846, V. 11. Jimi 1853 und durch das G. v.
14. Juli 1856 wegen Verschaffung der Vor-
flut Rechnung getragen. Das Deichwesen
erhielt seine Regelung diu'ch das G. v. 28.
Januar 1848. Es sollte diu'ch dieses nicht
nur die Erhaltung der vorhandenen Schutz-
bauten mehr als vorher sichergestellt, son-
dern auch die Weiterführung derselben in
jeder Weise gefördert werden. Das Gesetz
brachte deshalb ihren Bau und ihre Unter-
haltung unbedingt imter die Aufsicht des
Staates, stellte die Wiederherstellung ver-
fallener Anlagen ausschliesslich in sein Er-
messen und gab endlich auch die Bildung
förmlicher Socieläten zum Behufe solcher
Schutzunternehmungen völlig in seine Hand.
Gleichzeitig wurtle die Entstehung solcher
Verbände durch mannigfache Privilegien
begünstigt.
Seit dem Jahre 1866 hat sich die Ge-
setzgebung im wesentliclien darauf beschränkt,
einigen besonders dringend gewordenen ört-
lichen Bedürfnissen teils durch Erlass von
Specialgesetzen, teils durch Erweiterung des
Geltungsbereiches einiger bestehender Ge-
setze zu entsprechen, die Rechte der Strom-
baTl Verwaltung an öffentlichen Flüssen zu
regeln, das Wassergenossenschaftswesen zu
reformieren und auf die Beschaffimg von
Geldmitteln zur Ausführung von Meliorations-
und Schutzanlagen Bedacht zu nehmen.
Die Befugnisse der Strom bau Ver-
waltung gegenüber den Uferbesitzem an
öffentlichen Flüssen sind durch das G. v.
20. August 1883 daliin geregelt, dass der
Strombauverwaltung ein Enteignungs-
recht in Bezug auf Gnmd imd Boden und
Erde, sowie eme Servitut zur Benutzung
von Arbeits- und Lagerplätzen eingeräumt
wird, sofern im öffentlichen Interesse Deck-
werke, Buhnen-Coupierungen oder andere
Stromregulierungswerke angelegt werden
sollen.
Eine wesentliche Förderung fanden die
hier ins Auge gefassten Bestrebungen durch
die Gründung von genossenschaftlichen Ver-
bänden der beteiligten Grundeigentümer.
Derartige Genossenschaften können sich
übrigens nicht nur auf Be- imd Entwässerung,
sondern auch auf üferschutz, Wasserleitung,
Kanalisation, Schiffalirtsanlagen u. dgl. be-
ziehen. Man unterscheidet dabei zwischen
fipeien und öffentlichen Wassergenossen-
schaften. Erstere werden nach preussi-
schem Rechte durch gerichtlichen oder nota-
riellen Vertrag und durch Eintragung in
das Genossenschaftsregister begründet; ihr
Charakter ist ein privatrechtlicher. Dagegen
wurzeln die öffentlichen Wassergenossen-
schaften im öffentlichen Rechte. Sie können
nur im Falle eines öffentlichen Interesses
oder eines gemeinsamen Nutzens begründet
werden. Ihre Errichtimg setzt ein amtliches
Verfahren voraus und die Genossenschaft
ist hinsichtlich ihrer Organisation und Thä-
tigkeit der behördlichen Aufsicht unterstellt
Dabei ist in fast allen neueren Gesetzen
eine Zwangspflicht zum Beitritt be-
gründet, insofern es sich um Be- und Ent-
wässerungsanlagen handelt, und zwar wird
in der Regel auch die Drainage den
zwangsgenossenschaftlichen Entwässenmgs-
imternehmungen zugerechnet. Naöh dem
preussischen G. v. 1. April 1879 können
Widersprechende durch einfachen Mehrheits-
beschluss der Beteiligten in die Genossen-
schaft hineingezogen werden, wenn dies zur
zweckmässigen Ausführung der Be- oder
Entwässerung notwendig und für die zuge-
zogenen Grundstücke vorteilhaft ist. Die
Mehrheit wird nach dem Flächengehalte und
dem Katastralertrage der betreffenden Gnmd-
stücke berechnet. In Baden ist eine Mehr-
heit von zwei Dritteln der beteiligten Grund-
stücke erforderlich, während nach anderen
Wassergesetzen schon die Hälfte genügt
Beiträge und Strafen werden im Wege der
administrativen Zwangsvollstreckimg beige-
trieben. Für Württemberg s. 2. Abschn.
des Entwurfs eines Gesetzes betreffend die
Benutzung der öffentlichen Gewässer vom
Jalire 1895.
Liegen hier keimfäliige Ansätze vor zur
höheren Verwertung der Gewässer filr die
Zwecke der Landeskultur, so zielen zahl-
reiche andere wasserpolizeiliche An-
ordnungen des deutschen Öffentlichen Rechts
Gewässer
35.')
darauf ab, die hier in Rede stehenden wie
die ira vollen Gemeingebrauche stellenden
Wasserlaufe den Zwecken des Verkehi'es
und der Industrie ungestört zu erhalten.
Sie betreffen hauptsächlich: die Ziuiick-
haltung der Gewässer im Quellgebiet, die
Anlegung von Wasserleitungen, die Beseiti-
gung der Abwässer der Städte und indus-
trieller Anlagen, Verhütung der Yeninreini-
gung der Gewässer, Stauanlagen, Flussregu-
lierungen, Sammelbecken, Thalsi)erren, Deich-
korrekturen etc. Der Stillstand der
Verwaltung in allen bezeichneten Punk-
ten wurzelt vor allem in der Zerrissenheit
des Rechtszustandes in allen deutschen
Bundesstaaten und ferner darin, dass es an
einer die verschiedenartigen lokalen Behör-
den zu höheter Einheit und planmässiger
Aktion zusammenfassender Centralbehörde
im Einzelstaate sowohl als im ßeichsver-
bande fehlt.
(S. hierzu die ins Detail gehenden fach-
kundigen »Vorschläge für Verbesserung des
deutschen Wasserrechts«, aufgestellt vom
Sonderausschuss für Wasserrecht der »Deut-
schen Landwirtschaftsgesellschaft«, Berlin
1891.)
c) Die im freien Gfremeingebrauoli
stehenden öffentlichsten G. Alle dem
Verkehre dienstbaren Flussadem sind
kraft einer längst zum Abschluss ge-
brachten Rechtsentwickelung jeder Form
des freien bezw. des der behördlichen Kon-
zession bedürftigen Gemeingebrauches er-
öffnet. Die Hauptfigur der hier in Betracht
kommenden Gewässer bilden die schiff-
und f löss bar enW assers trassen, deren
specielle Rechtsverhältnisse wir im Hand-
wörterbuch der Staatswissenschaften in den
Artikeln über »Binnenschiffahrt«, »Fähren«,
,>Flaggenrecht« imd »Flösserei« einer näheren
Prüfung unterzogen haben. Hier sind dieser
Kategorie noch beizuzählen die sogenannten
Eigengewässer, die kleinen oder grös-
seren Mn buchtungen der Landesküste, die
Walten zwischen den Inseln, die Seeein-
brüche; in Preussen: ki-aft ausdrücklicher
Gesetzesvorschrift auch die offenen Meeres-
buchten, die Haffe, sowie die grösseren
Ströme in ihren untersten Teilen bei der
Mündung. Die an solchen Gewässern er-
bauten Häfen und Reeden sind selbstver-
ständlich nach übereinstimmender nationaler
Gesetzgebung Eigentum des Staates. (All-
gemeines Preussisches Landrecht II, 15,
§ 80.) Da sie aber ihrer Bestimmmig nach
wesentlich den Zwecken des Schiffahrtsver-
kehres dienen und ihrer Lage nach einen
Uebergang vom Staatsgebiete zum Meere
vermitteln, fallen sie in einzelnen Punkten
wohl unter dasselbe rechtliclie Regime wie
die Küstengewässer selbst. Desliadb ist es
aber doch zweifellos, dass ihr rechtliches
Verhältnis zur Staatsgewalt ein anderes und,
rein physisch genommen, intensiveres ist
als das der letzteren, und es ist darum
principiell verfehlt wenn manche Autoren,
wie noch Heffter, die Souveränität über
Meereseinbrüche, Reeden und Häfen aus der
Souveränität über die Küstengewässer folgen
lassen. (S. hierzu die neueste Bearbeitung
der Fragen bei Heilborn, System des
VölkeiTCchts, S. 36 ff. »Das Wassergebiet«.)
Die rechtiiclien Unterschiede, welche sich
vielfach daraus ergeben, ob eine und die-
selbe Thätigkeit innerhalb oder ausserhalb
der Eigengewässer vorgenommen wird,
macht die genaue Abgrenzung dieser für
den staatlichen wie für den internationalen
Verkehr zu einer notwendigen Verwaltungs-
massregel. So operiert sowohl das Deutsche
Handelsgesetzbuch wie das R.G. betreffend
das Flaggenrecht der Kauffahrteischiffe v.
22. Juni 1899 mit der Voraussetzung, dass
ihre Normen nur für die zum Erwerb durch
die Seefahrt bestimmten Schiffe (Kauffahrtei-
schiffe) berechnet seien. Die Bedeutung des
Wortes »Seefahrt« ist aber hier überall eine
durchaus zweifelhafte, da der Umfang des
Begriffes der See besonders da schwankend
wird, wo der Zusammenfluss der verschie-
denen Eigen-(Hafen-)ge Wässer und Küsten-
gewässer die physischen Grenzen füesseud
erscheinen lässt. Dieser Sachlage entspricht
der Gesetzgeber regelmässig dadurch, dass
er zur näheren Abgrenzung des Begriffes
der Seefahrt für alle Hafenreviere ge-
nau die geographischen Punkte angiebt,
welche als Seegrenzen der Häfen zu gelten
haben, so dass die nur im Hafen oder nur
bis zu jenen Punkten verkehrenden Schiffe
rechtlich nicht als Seeschiffahrt betreibende
Schiffe angesehen werden. Umgekehrt resul-
tiert aber auch aus denselben von seite
des Staates bezw. des Reiches publizierten
Bestimmungen die für die Sicherheit des
internationalen Verkehres wertvolle Gewiss-
heit darüber, bis zu welchem Pimkte die
Binnengewässer des Staates reichen und wo
somit die für diese geltenden staatlichen
Normen ihren räumlichen Anfang nehmen.
(Füi* das Deutsche Reich s. Bekanntmachung,
betreffend Ausführungsbestimmungen zum
§ 25 des Flaggengesetzes v. 22. Juni 1899,
V. 10. November 1899. Ceiitralblatt Nr. 17 ;
für Preussen auch noch Revierschiffahrtsord-
nungen auf Grund der §§ 7 6 ff. der Provin-
zialordnung v. 29. Juni 1875, der §§ 65 ff.
des Zuständigkeitsgesetzes v. 1. August 1883
und der §§ 6, 12 und 15 des Polizeiver-
waltungsgcsetzes v. 11. März 1850.)
In gleichem reclitlichen Verbandsverhält-
nisse wie die Häfen stehen die künstlichen
Seeverbindungsstrassen, Kanäle, die das Ge-
biet eines Staates durchschneiden. Es
macht principiell für ihre Frage der Staat&-
23*
356
Gewässer
Zugehörigkeit und dementsprechend für die
Frage der Staatskompetenz innerhalb ihrer
Gewässer keinen Unterscliied aus, ob die zu
ihrer Herstellung erforderlichen Mittel aus
staatlichen oder privaten Quellen geschöpft
wurden.
Der freie Zutritt zu den genannten »Eigen-
gewässern« steht, dies kann als Grundsatz
festgehalten werden, auch den Angehörigen
fremder Staaten offen. Mit Ausnahme
weniger den Kriegsschiffen der Seestaaten
verschlossener Häfen und Hafenteile stehen
principiell alle Häfen derjenigen Staaten,
welche der Rechtsgemeiuschaft des Völker-
rechts angehören, den Schiffen aller Staaten
offen. Dieser freie Zutritt ist übri-
gens von einem besonderen kon-
ventionellen Verhältnis zwischen
den Staaten nicht mehr abhängig.
Zum grösseren Nachdnick kommen in An-
sehung der fi*eien Ein- und Ausfahrt der
Schiffe die vertragschliessenden Staaten
regelmässig daiin überein, dass die Ange-
hörigen befugt sein sollen, frei und sicher
mit ihren Schiffen und deren Ladungen
nach allen Plätzen, Häfen und Flüssen in
dem Gebiete des anderen zu verkehren ; bei
den aussereuropäischen Staaten zudem unter
Beschränkimg auf diejenigen Häfen, welche
dem fremden Handel geöffnet sind oder
künftighin würden geöffnet werden.
3. Die Küstengewässer und die See-
grenze. Jenseits seiner Staatsküste bethä-
tigt sich der Staat auch weit über seine
Gebietsgrenzen hinaus. Er findet und sichert
sich in dem an sein Festland grenzenden
Meeresteile, in den sogenannten Küst en-
ge wässern ein freies Bewegungsgebiet,
das zTu* See nur deshalb räumlich begrenzt
werden muss, weü die örtliche ünbeschränkt-
heit hier die verkelirswidrige Kollision aller
Berecht igim gen hervorrufen müsste. Mag
nun auch aas Ausmass und die Art der
Bestimmung jener Zusammengehörigkeit von
Küstenstaat und Küstenmeer in vielen Einzel-
heiten kontrovers sein, darüber hat doch in
der neueren Staaten praxis nie ernstlich
Zweifel geherrscht, dass eine solche recht-
liche Verbindung dem Begriffe des Ufer-
staates komplementär sei und ihn notwen-
dig ergänze.
Das leitende Princip für die Beurteilung
der jmistischen Natiu* der Küstengewässer
büdete in früherer Zeit die privatrechtliche
Eigentumstlieorie und die Analogie des
civürechtlichenVerhältnisses zwischen Haupt-
sache (Staat) und Nebensache (Küstenge-
wässer), während die neuere, der wirklichen
Staatenpraxis zugewandte Lehre in der
Einheit der Staatsverwaltung die
juristischen Grundlagen erblickt für die Aus-
dehnung der Staatsgewalt über die Küsten-
linie des Staatsgebietes. Sie gelangt da-
durch zur Erscheinung des in seil
diu'ch seine Bevölkerung lebendig:e
samen Gemeinwesens, dessen LebVi
keit in Gesetzgebung, ßechtspi-echi
Verwaltung so weit reicht, als dj
liehe Ordnungsbedürfnis besteht.
Die Uebertragung dieser gewonn
kenntnis auf die Frage der Küsten
ist allein geeignet, einen Leitgeda
die einander widersprechenden Kon'
abzugeben und die hier obwalten'
liältnisse in ihrer wahren jimstiscli
erkennen zu lassen. Weil der Staa
der benachbarten Seefläche sich v
den Verkehr als seine, d. h. die li
Sphäre seiner Angehörigen berül
kennt, dehnt er auch seine vo
Thätigkeit auf jenen aus und unto
her, soweit der erstere reicht, d<
platz desselben seiner staatlichen
Die Staatsgewalt überschreitet
soweit ihre festländische Basis, als
schaftliche Leben der Staatsangchi
See die Ausbildung eines besondert:
der verw^altenden — Bedürfnisse
den und Bedürfnisse befriedig
Staatsthätigkeit ziu* Notwcndigk<
Zu dieser rechtlichen Verkehrson
der in ihrem Gefolge eintretende
gung dauernder Verwaltungsoin
bedarf aber der Staat weder eiiK
deren Seehoheit noch eines iini
Spruches auf ȟberschwemmtes
Eigentum«. Wir haben es hier
mit Aeusserungen der Staatsgewü
die sich wohl inhaltlich der mai
schaffenheit der Verwaltimgsol)jok
müssen, für deren rechtliche Cl
rung und für deren den Staat sj
bindende Kraft aber die Oertlieh
sich jener Verkehr vollzieht, nie
dend ist.
Die * Thatsache, dass ein ^
seiner Angehörigen im Güter verl
und in der Gewinnung der Natu
Meeres den Lebensunterhalt^ der
liehen Beruf findet, macht deir
rechtliche Ordnung der einschläg
Verhältnisse, die rechtliche Uc
der die Einheit des inariti
k e h r s bildenden Erscheiniingei
Schiffahrt zur See, Fischerei, Küst
werden zu ebenso vielen Zweig
liehen Aufsicht wie Ackerbau
und Güterverkehr im Linern
Hierin ist die Basis für die x
gestaltung und juristische Koni
sogenannten »üf errechte« gego
Gleichwohl kommt den Küs
keineswegs bedingungslos jurisl
landscharakter« zu.
Durch eine bedingungslose
des Inlandscharakters auf di
Gewässer
357
Wässer — abgesehen von dem fiktiven Ge-
halt einer solchen Gesetzesbestimmung —
würden dem fremdländischen Verkehr in
vielfacher Hinsicht nutzlose Lasten auferlegt
werden, Lasten, welche der internationalen
Schiffahrt leicht zur Fessel werden könnten.
Aber auch für die diesseitige Staatsgewalt
selbst würde dadurch eine die effektiven,
praktischen Bedürfnisse weitaus übereteigende
Aompetenz und eine damit verbundene er-
drückende Verwaltungspflicht begründet
werden.
Die Staaten begnügen sich vielmehr —
wie Deutschland in seinen ZoUgesetzen, in
seinen Gesetzen betreffend das Seestrassen-
i-echt, die Untersuchung von Seeunfällen und
Hilfeleistung etc., Frankreich in seinen Zoll-
gesetzen , Marineordonnanzen , Hafenord-
nimgen, England in seinem Custom- und
Howering-, Merchant-Shipping-, Foreign
enlistment-Acts und in anderen Gesetzen — ,
den Anwendimgsbereich der staatlichen
Normen im völkerrechtlichen Verkehr auf
mehr oder minder bestimmt bezeichnete
Kategorieen von Fällen zu beschränken, in
diesen Fällen aber auch nach Bedürfnis das
Recht ihrer Kompetenz mit vollem Nach-
drucke zu wahren.
Das so gewonnene Anschlussgebiet für
die staatliche Verwaltung bedarf aber be-
grifflich und pi'aktisch einer räumlichen
Abgrenzung. Die Ermittelung dieser
Linie als eines wichtigen Requisites für die
rechtliehe Ordnung des Seeverkehrs bildete
von jeher ein an Schwierigkeiten reiches
Problem für die an der Ausbildung und
praktischen Befestigung des Seerechts be-
teiligten Faktoren. Während die ältere Zeit
sich der nach Bynkershoek mit Erfolg auf-
gestellten Theorie — Terrae dominium fini-
tur, ubi finitur arraorum vis — anschloss,
drängten mannigfache Rücksichten in neuerer
Zeit dazu, ein präciseres und zugleich kon-
sequenter festgehaltenes Distanzmass für
die Ordnung des Seeverkehrs ausfindig zu
machen. Denn entweder muss jener auf-
gestellten Regel gemäss die Möglichkeit der
Beherrschung des Seegebietes vom Strande
aus wörtlich genommen werden, dann er-
scheint es aber principwidrig, dass die Trag-
weite der Geschütze einer Zeitepoche ge-
wissermassen ideell generalisiert als juris-
tische Norm aufgestellt werde; oder es
kommt nicht darauf an, ob ein Staat gerade
an allen Küstenpunkten im Besitze von Ge-
schützen der zur Zeit grössten Tragweite
ist, in welchem Falle dann aber eine solche
Art der Grenzbestimmung der Willkür freie
Bahn eröffnet. Worauf kommt es denn im
Grunde an bei der Fixierung der in Frage
stehenden Seegrenze? Zunächst doch
sicherlich darauf, an jener SteUe, wo das
staatliche Territoriiun mit seiner specifischen
Gesetzgebung das Meer berührt, — das einer
nationalen Gesetzgebung sonst nicht unter-
liegt, — der Herrschaft des positiven Rechts
noch so weit Geltung zu sichern, als es mit
dem Begriffe der Meeresfreiheit vereinbar
ist. Diese Berechtigungssphäre des Einzel-
staates muss aber auch darum möglichst
genau fixiert sein, und deshalb erscheint
uns die in einem bestimmten Länge n-
mass ausgedrückte Distanz als verläss-
lichere Norm für den Seeverkehr in Küsten-
ge wässern. Die völkeiTechtliehe Theorie
beschäftigt sich mit Vorliebe mit der soge-
nannten Dreimeilengrenze. Unter
Meilen sind liier Seemeilen zu verstehen,
von denen 60 auf den Meridiangrad gehen,
vier auf eine geographische Meüe, drei auf
eine Sea le^ue. Diese Grenze findet sich
auch in zahlreichen Staatsverträgen, nament-
lich in Fischereikonventionen, ferner in Ge-
setzen, Reglements, Neutralitätserklänuigen,
Kapereiverordnungen und anderweitigen Er-
lässen einzelner Regierungen. Ihr üi-sprung
ist allerdings darin zu finden, dass man
seinerzeit drei Seemeilen als die Grenze der
Tragweite von Geschützen ansah.
Folgerichtig hat seither die moderne
Staatenpraxis im Quellenmateriale die Grenz-
fixierung nach Massgabe der Schussweite in
den meisten Fällen verlassen, wohl auch
schon um deswillen, weil der Küstenstaat mit
seinem reich entwickelten System subma-
riner Verteidigungsmittel den Umfang des
seiner Beherrschung durch Kriegsmittel unter-
werfbaren Seestreifens weit über die Trag-
kraft der zur Zeit leistungsfähigsten Kanonen
auszudehnen im stände ist.
Es hat sich daher namentlich seit der
Mitte dieses Jahrhunderts die Fixierung der
Seegrenzen nach bestimmten festen
Massen immer mehr eingebürgert und
zwar unter Annahme der Seemeile als
Grundmass. Entsprecliend der Natur des
zu regulierenden Verwaltimgszweiges \s'ird
mit Hilfe jenes Grundmasses eine ver-
schiedene Seegrenze normiert, d. h.
es wird nach gegenwärtiger Staatenpraxis
selbst innerhalb desselben Staatsseerechts
ein räumlich verschiedener Anfangspunkt
bestimmt, von welchem ab auch das fremde
Schiff unter die Herrschaft bestimmter ge-
setzlicher oder polizeilicher Verwaltungsvor-
schriften des üferstaates tritt, je nachdem
es sich um Massregeln der Zollkontrolle,
der Quarantäne, der Fischerei, Küsten-
schiffahrt, Strafrechtspflege, Neutralitätszono
in Kriegszeiten etc. handelt.
4. Die freien G. der hohen See und
die Rechtsgrundlagen der Meeresfrei-
heit. Die Kompetenz des Ufei-staates zur
rechtlichen Ordnung der in unmittelbarer
Nähe seiner Küste und in engeren Beziehun-
gen zu seinem persönlichen Dasein stehen-
358
Grewässer
den Lebensverhältnisse auf See endet für
den modernen Staat da, wo die üeber-
wachung der letzteren nicht mehr durch
die Rücksicht auf die Einheit seines Yer-
waltungssystems geboten erscheint. Die
Ansprüche auf eigentumsgleiche Innehabung
unabsehbarer Flächen des "Weltmeeres, An-
sprüche, welche in vergangenen Jahrhun-
derten nur unvollständig die Ziele konkur-
rierender handelspolitischer Systeme mit
dem Gewände eines dem Anscheine nach
juristischen Principienstreites bedeckten,
sind dem seiner Aufgaben und Mittel be-
wusst gewordenen modernen Staate durch-
aus fremd. Soweit Leben und Verkehr der
Seinigen reichen, so weit begleitet er diese
auch gebietend, verbietend und ordnend auf
das endlose Wellengebiet der hohen See,
in die unwiililichen Striche des Polarmeeres
— s. R.G. V. 4. Dezember 1876 über das
Verbot des Robbenfanges in den Nordpolar-
gewässern vor dem 3. April jedes Jahres —
und sogar in fremdes Staatsgebiet, um
auch hier mit Hilfe gesandtschaftlicher oder
consularischer Funktionäre Rechtsregel und
Ordnung in die Lebensverhältnisse der Sei-
nigen zu bringen. Die Entfaltung der
staatlichen Wirksamkeit ist hier überall in
keiner Weise an das eigentumsgleiche Inne-
haben der Erdoberfläche geknüpft, auf
welcher sich der Verkehr der Nationalen
bewegt.
Nicht so sohl* die Unmöglichkeit als
vielmehr die Nutzlosigkeit des Anspruches
auf eine eigentumsmässige ausschliessliche
Beherrschung des hohen Weltmeeres hat
denn auch nach langwierigen politischen
imd theoretischen Kämpfen zur Ausbild img
der Lelire von der Meeresfreiheit ge-
führt.
Trotz der scheinbaren allgemeinen üeber-
einstimmung über den Effekt der »Meeres-
freiheit« bleiben doch über das Wesen der-
selben die Meinungen weit von einander
entfernt; und insbesondere scheint es not-
wendig, neben der praktischen und histori-
schen Betrachtung auch der zumeist im
Dunkel gelassenen juristischen Seite
der Frage hier einige Bemerkungen zu
widmen. Soweit nämlich der Begiiff der
Meeresfreiheit dem Vorausgeschickten nach
überhaupt juristischen Charakter aufweist,
ergiebt sich derselbe aus der Zusammen-
fassung mehrerer Negationen, welche das
Eintreten fi*üher üblich gewesener verkehrs-
störender Handlungen verhindern sollen.
Der Bogriff umfasst nämlich a) die Eigen-
tumsunfähigkeit des Meeres und b) das
daraus folgende Nichtunterworfensein
des Meeres \mter die beherrschende Norm
eines Staates.
Da die staatliche Herrschaft entweder
das Band des Gesetzes ziu* Voraussetzung
hat für die Subjekte des Genossenschafts-
lebens oder das der physischen Unterwer-
fung für die sachliche Welt, so kann von
einem Imperium eines Staates schlechthin
in Ansehung der hohen See nicht die Rede
sein. Denn jenes Band der Gesetze besteht
nicht für die auf hoher See befindlichen
fremden Unterthanen, fremden Schiffe,
und das Meer ist selbst nur in einem so
minimalen Verhältnisse zu seiner gewaltigen
Ausdehnung der wirklichen physischen,
dauernden Beherrschung imterworfen, dass
kaum von einem ernst gemeinten Besitz,
geschweige denn von einem gesicherten
Herrschafts Verhältnis die Rede sein kann.
Dagegen muss andererseits als juristisch
feststehend anerkannt werden, dass da, wo
durch die thatsächliche Ueberwindung der
Natur des Meeres die Voraussetzungen für
die physische BeheiTSchung eines Teiles
der Meeresoberfläche auf natüi4ichem oder
künstlichem Wege gewonnen wurden, auch
die vollen, rechtlichen Wirkungen des sach-
lichen Eigentumserwerbes und danach die
der staatlichen und völkerrechtlichen Ge-
bietsherrschaft eintreten können.
In diesem Sinne bildet das Weltmeer, in
seiner ünstaatlichkeit, Anationalität erkannt,
die geographische Grundlage der Volke r-
verbindung, wie das Festland in seiner
territorialen Gliederung als die Grundlage
der nationalen Sonder ung und Staateu-
bildung aufgefasst werden kann. Führt
demnach der wesentlich nur abwehrende
Begriffsinhalt der Meeresfreiheit zum völker-
rechtlichen Verfassungsprincip des freien
Seegebrauches, so fordert das Princip der
internationalen Verwaltung, dass der See-
verkehr selbst der Befrieclung nicht ent-
behre : diese wird aber vermittelt durch den
Grundsatz, dass nur der Staat Rechtssubjekt
des freien Seeverkehrs ist, nicht das vom
Staate losgelöste Individuum.
Die Schiffe als Mobilien sind vermöge
ihrer Zugehörigkeit , eigentumsrechtlichen
Unterwerfung unter den Willen eines oder
mehrerer Nationalen als in nexu mit dem
heimatlichen Recht der letzteren stehend
anzusehen; ausserdem bleiben die an Bord
befindlichen Personen nach dem Civil- und
Kriminali*echt fast aller Kulturstaaten, auch
in Handlungen und Geschäften, die sie
ausserhalb des Staatsgebietes vornehmen,
an die heimatlichen Gesetze gebunden. (S.
§ 10 St.Pr.O.) Zu beiden Gründen tritt aber
auch noch der Umstand hinzu, dass das Schiff
vermöge seiner Flagge sich als zu einer be-
stimmten staatlichen Gemeinschaft gehörig
erklärt, in deren rechtlichem Schutz es
steht, deren wirtschaftliche Vorteile es ge-
niesst: es ist daher eine durchaus konse-
quente Ent Wickelung der internationalen
Staatenpraxis, im Scliiff mit den darauf be-
Grewässer
359
findlichen Personen eine physische Fort-
setzung der Rechtsgemeinschaft zu
erblicken, deren Flagge das Schiff führt. In-
folgedessen bleibt das Schiff natiirgemäss
auch dort, wo eine freradstaatliche Gewalts-
übung — innerhalb des friedlichen Verkehrs
— nicht stattfinden darf, der heimatlichen
Staatsgewalt unterworfen.
Alle rechtlich relevanten Thatsachen,
welche sich daher auf hoher See innerhalb
der durch die Flagge staatlich charakteri-
sierten Gemeinschaft abspielen, fallen unter
das Hichtmass des heimatlichen Rechts, sie
werden unter Ausschluss aller fremden Ju-
risdiktionsbefugnisse ebenso beurteilt, als
hätten sie sich innerhalb des Heimatsge-
bietes ereignet. Und da auch im Staats-
gebiete selbst die Fremdenqualität fiu- die
rechtliche Beurteilung des gesetzten That-
bestandes in der Regel irrelevant ist, so
kann es bei der den Scliiffen staatsgesetz-
lich und durch die Staatspraxis angewiese-
nen Rechtstellung ebenfalls nicht von Be-
lang sein, ob die beteiligten Personen In-
länder oder Ausländer sind. —
Verbleiben so nach übereinstimmender
Rechtsentwickelung der seefahrenden Staa-
ten Schiff und Besatzung auf hoher See
ausschliesslich in Rechtspflege und Verwal-
tung der Hoheit des Flaggenstaates unter-
stellt, so haben doch die immer dichter
werdenden Rechtsbeziehungen ziu: konven-
tionellen Ordnung gemeinsamer Kultur- und
Verkehrsinteressen gefülirt. Ihre jiuristische
Pointe liegt in der Thatsache, dass die im
Seeverkehr stehenden Staaten in einer Reihe
von gemeinsamen Angelegenheiten in An-
sehung ihrer eigenen Ünterthanen auf den
aus der Meeresfreiheit füessenden imkon-
troilierten Seegebrauch verzichtet imd ver-
tragsmässig bestimmten Aufsichtsorganen
fremder Staaten auf hoher See umfassende
Jurisdiktions- und VerwaltimgskonlroUbe-
fugnisse eingeräumt haben. Deiurtige ver-
trs^mässige Dmxjhbrechungen des Princips
der Meeresfreiheit wurden bisher begründet :
1. zum Zwecke der wechselseitigen Hülfe
zur Unterdrückung des afrikanischen Sklar
venhandels zur See (Londoner Vertrag v.
20. Dezember 1841); 2. zum Schutze der
submarinen Kabel (Pariser Konvention v.
14. März 1884) ; 3. zur polizeilichen Ordnung
der Hochseefischerei in der Nordsee (Haager
Konvention v. 6. Mai 1882); 4. ziu* Hintan-
haltung des missbräuchlichen Verkaufes
geistiger Getränke an Fischer innerhalb der
Kordsee (Haager Konvention der Nordsee-
küstenstaaten V. 16. November 1887).
Es liegt unverkennbar in der Tendenz
des moderneu Verkehrsrechts, den Umfang
dieser gemeinsamen Verwaltungsgebiete
zu erweitem und noch zahlreiche andere
Aufgaben des maritimen Verwaltimgsrechts
der Kulturstaaten der vertragsrechtlichen
Ordnung zuzufülu^en.
Litteratur: v, Gerber, System des Deutschen
Privalrechts, 15. Aufl. — Lioening, Verwaltungs-
reckt, S. S72ff. — Baron, Begriff und Be-
deutung des öffenüichen und privaten Wasser-
laufs. Zeitschrift f. vergl. Rechtswissenschaft,
Bd. I, S. ^62 ff. — Böt*ner, Revision der
neueren Lehren von der Zugehörigkeit der be-
ständig fliessenden Gewässer nach römischem
und deutschem Recht. .Archiv f. civ, Prcueis,
38. Bd. — Schwab, Die Konflikte der Wassei'-
fahrt, ebendas., Bd. 30, Beilageheft. — Baumert,
Die Unzidänglichh'it der bestehenden Wasserge-
setze, Berlin 1876. — Neubauer, Zusammen-
stellung des in Deutschland geltenden Wasser-
rechts, 1881. — i?. Pözl, Die bayerischen Wojiser-
gesetze, 2. Aufl., 1880. — Banda, Beiträge zum
österr. Wasserrecht, 2. Aufl., Prag 1878. —
Bissmann, Wasserrecht nach gemeinem und
legi. Sachs. Recht, 2. Aufl. — v, Stengels
Wörterbuch d. deutschen Verwaltungsrechts, s.
O. Mayer über n Binnenschiffahrt«, v. Staudinger
über rtFischerei und Fischereipolizei« , Hermes
.über n Unterhaltung der fliessenden Gewässern,
und n Wassergenossenschaf tenu. — Lette, Ge-
setzgebung über die Benutzung der Privatflüsse,
Berlin 1850. — Bomagnosi, Vom Wasser-
leitungsrecht, auszugstreise übersetzt von M. Nie*
buhr. Haue I84O. — Nasse, Gewässer, deren
Benutzung, in St. W. B. v. Bluntschli u. Brater,
IV. Bd., Stuttgart und Leipzig 1859. — Ende-
ntanrif Das ländliche Wasserrecht, Kassel 1862.
— Gluss, Die wasserrechtliche Gesetzgebung
auf dem Standjyunkte der Gegenwart, Altenburg
1856. — Kappeller, Rechtsbegriff des öffentl.
Wasserlaufes, Zürich 1867. — Heiger, Veber
die Aufnahme des Wasserrechts in das bürgerl.
Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1890.
— G, Meyer, Lehrbuch des de^Uschen Verwil-
tungsrechts I, 2. Aufl., Leipzig. — Nieberding,
Wasserrechte und Wasserpolizei im preussischen
Staate, 2. Aufl. von E. Frank, Breslau 1889, s.
dazu auch Anhang: Preussische Gesetze über
Wasserrecht und Wasserpolizei, Breslau 1866.
— Scheele, Das preussische Wasserrecht, Lipp-
stadt 1860. — S. auch Vorschläge ßir
Verbessenmg des deutschen Wasserrechts, aufge-
stellt vom Sonderausschuss für Wasserrecht der
Deutsehen Landwirtschaftsgesellschaft, in deren
Jahrb. Bd. VL
Ad. S und 4* Stoerh in v. Holtzendorffs
Handb. des Völkerrechts, Bd. II und im HL Er-
gänzungsband zu V. Stengels Wörtcrb. d. D.
Verwaltungsrechts Art: »Schiffahrt^ . — Pereis,
Das internationale öffentliche Seerecht der Gegen-
wart, Berlin 1882. — Harburger, Der straf-
rechtliche Begriff Inland und seine Beziehungen
zum Völkerrecht und Staatsrecht, NÖrdlingen
1882. — W, Schüching, Das Küstenmeer,
GöUingen 1897. — Carath4odory , Droit
international concemant les grands cours d'eau
und ders. in v. Holtzendorffs Handbuch de^
Völkerrechts, Bd. II. — Plocque, De la mer
et de la navigation maritime, 1870. — Dahl~
gren, Maritims international Law, Boston 1877.
Stoerh,
360
Gewerbe
Gewerb e.
1. Begriff. 2. Gewerbezweige und -arten
3. Die Entstehung des G. 4. Die Betriebs-
systeme. 5. Das Hauswerk (erste Stufe). 6. Die
zweite Stufe des Hauswerks. 7. Das Lohnwerk.
8. Die beiden Formen des Lohnwerks. 9. Ent-
stehung des Lohnwerks. 10. Das Lohnwerk
im Altertum. 11. Das Lohn werk im Mittelalter.
12. Sozialrechtliche Stellung der Lohnwerker.
13. Der Kampf gegen die Störer. 14. Der
Uebergang zum Preiswerk» 16. Das Wesen des
Handwerks. 16. Das Wandergewerbe. 17. Ma-
nufakturen und Fabriken. i8. Das Verlags-
system. 19. Die Entstehung des Verlagssys-
tems. 20. Die Fabrik. 21. Einteilung der
Fabriken; ihr Verhältnis zu den älteren Be-
triebsformen. 22. Vergleichung der fünf Be-
triebssysteme. 23. Gegenwärtiger Zustand. 24.
Tendenz der Fortentwickelung.
1. Begriff. Das Wort Gewerbe hat im
gemeinen Sprachgebrauch wie in der Wissen-
schaft zwei verschiedene Bedeutungen : eine
lüstorisch-relative und eine wirtschaftlich-
absolute. Obwohl volkswirtschaftlich niu*
die letztere in Betracht zu ziehen ist, so
muss in diesem einleitenden Abschnitte doch
auch kiu'z auf die erstere Rücksicht ge-
nommen werden, da sie in verschiedenen
Partieen des Yerwaltungsrechtes eine Rolle
spielt.
Sprachlich geht Gewerbe auf denselben
üi-sprung zurück wie Erwerb, nämlich auf
das Zeitwort werben. Dieses bedeutet in
der älteren Sprache: 1. sich um eine Achse
drehen, sich kreisförmig bewegen, umroUen,
wovon das Substantiv Wirbel; 2. in über-
tragenem Sinne: sich umthun, thätig er-
streben, zu erlangen suchen, woraus der
Werber: der sich um et^'as bemüht, je-
manden zu gewinnen sucht. Diese zweite
Bedeutung differenziert sich wieder in den
Ausdrücken: erwerben, Erwerb, durch
Thätigkeit erlangen, und Gewerbe (seltener
das Zeitwort ge werben), schon im Mittel-
alter mit Hantierung erklärt: wiederholte
Thätigkeit, um etwas zu erlangen, häufiges
Werben. Bereits im 16. Jalirhundert wird
das Wort Öfter für die Thätigkeit des
Kaufmannes gebraucht und bezeichnet später
jede bestimmte berufsmässig aus-
geübte Thätigkeit zum Zwecke des
G ü t e r e r w e r b 8.
In diesem Sinne ist denn auch der Aus-
druck in die Sprache der Gesetze und selbst
der Wissenschaft übergegangen. Man s])richt
so von einem Landwii-tschafts- , Handels-,
Yersicherungs- , Verkehregewerbe, von gc-
lehi'ten Gewerben (des Arztes, Schriftstellers,
Rechtsanwaltes), vom Gewerbe des Schmie-
des, Barbiere, Schornsteinfegers etc. Nicht
zu den Gewerben rechnet man : a) die blosse
Eigenproduktion, b) den Gesindedienst und
die Thätigkeit des Taglöluiere, c) die Be-
rufsthätigkeit der Beamten, d) einzelne Er-
werbshandlungen von Privaten, z. B. den
Bau oder Verkauf eines Hauses mit Gewinn,
die Vermietung eines Zimmere, die Ver-
äusserung oder Verleihung eines beweglichen
Gegenstandes. Dagegen ist der städtische
Bauunternehmer, welcher Häuser zum Zwecke
des Verkaufs oder der Vermietung heretellt,
ein Gewerbetreibender. Ebenso der Inhaber
einer Leihbibliothek, einer Musikalienverleih-
anstalt, einer Schlafgängerei und dergleichen,
e) Die Thätigkeit des Staates, soweit sie auf
Erfüllung wesentlicher Staatszwecke ge-
richtet ißt. Wohl aber werden die Bewirt-
schaftung der Staatsforaten, der Betrieb von
Staatsfabriken, .Eisenbahnen, Banken als
»Staatsgewerbe« bezeichnet
Aus dieser Umgrenzung des Begriffes
geht hervor, dass er an zwei eng zusammen-
hängende volkswirtschaftliche Voraussetzun-
gen geknüpft ist: berufsmässige Arbeits-
teilung und die Möglichkeit verkehramässigen
Erwerbs. Die Produktion muss aufgehört
haben, reine Eigenproduktion zu sein; die
einzelnen Wirtschaften müssen bestimmte
Güterarten, obwohl sie dieselben zu ihrer
Bedürfnisbefriedigung gebrauchen, entweder
gar nicht erzeugen, während andere sie über
ihren Bedai'f hinaus hervorbringen, oder sie
müssen doch wenigstens fremder Berufs-
arbeiter bedürfen, um die von ihnen er-
zeugten Rohstoffe genussreif zu machen.
Mit anderen Worten: es muss Berufsarbeit
auf dem offenen Markte käuflich sein;
keineswegs aber ist es zur Ausbildung von
Gewerben erforderlich, dass diese Berufs-
arbeit sich schon in unternehnumgsw eisern
Betriebe bethätigt, dass Warenproduktion
stattfindet.
Imwirtschaftlich-absolutenSinne
bezeichnen wir als Gewerbe denjenigen
Teil der Produktion, welcher in
der Formveränderung von Roh-
stoffen besteht. Das Gewerbe in dieser
Bedeutung ist die wirtschaftliche Ordnung
der (mechanischen und chemischen) Stoff-
umwandlung oder Stoffveredelung. Ihr Ziel
wird unter modernen Verhältnissen in der
Regel die Erzeugung von Tauschwerten
oder tausch werten Leistungen sein. Aber
das ist für den Begriff selbst nebensächlich.
Vielmehr werden wir auch die noch nicht
zu wirtschaftlicher Selbständigkeit gelangte
Stoffumwandlung kulturarmer Völker ebenso
als Gewerbe zu bezeichnen haben, wie wir
ihre Pflanzenproduktion unbedenklich Land-
wirtschaft nennen. In diesem Sinne tritt
das Gewerbe in Gegensatz: 1. zur Ur-
produktion oder Rollstoff erzeugung, deren
Gegenstand die Vermehnmg natürlicher
Brauchlichkeiten ist (Landwirtschaft mit
Viehzucht, Jagd, Fischfang, Foretwirtschaft,
Bergbau), 2. zum Handel imd Transport-
wesen, welche sich mit der berufsmässigen
Gewerbe
361
Yermiltelung der Gütercirkulation befassen,
3. zu den persönlichen Dienstleistungen,
namentlich den höheren des Arztes, Lehrers
etc., dem Yersichernngswesen.
Der absolute Begriff des Gewerbes imter-
scheidet sich vom historischen etwa wie
das englische industry von trade. Das Ge-
werbe im historischen Sinne setzt berufs-
mässige Gliederung der Bevölkerung und
verkelirsmässigen Gütererwerb voraus; das
Gewerbe im absoluten Sinne ist bloss ein
bestinunter Abschnitt des wirtschaftlichen
Prozesses der Gesamtproduktion. Die meisten
Schriftsteller fordern auch für diesen Be-
griff berufsmässige Organisation und Tausch-
wertproduktion. Allein dadurch wird ohne
Not die wissenschaftliche Bezeichnung ffir
den Produktionszweig und die Analogie mit
der Landwirtschaft, dem Bergbau, der Jagd,
Viehzucht etc. aufgegeben imd dem Begriffe
ein Nebensinn verliehen, den das synonym
gebrauchte Industrie nicht hat.
Ein hie und da auch in die wissenschaft-
liche Terminologie eingedrungener schlechter
Sprachgebrauch stellt Gewerbe und In-
dustrie einander gegenüber, dergestalt, dass
ersteres für den Kleinbetrieb, letzteres für
den Grossbetrieb der Stoffumwandlung an-
gewendet werden soll. Die vielbenutzten
Ausdrücke »Kleinindustrie« und »Gross-
gewerbe« illustrieren drastisch das Wider-
sinnige dieses Gebrauches.
Einige Schwierigkeiten macht die Ab-
grenzung des Gewerbes (hier, wie weiter-
hin immer, im wirtschaftlichen Sinne) gegen
die Urproduktion. Herkömmlich wird mit
letzterer vielfach auch die erste rohe Be-
arbeitung der gewonnenen Erzeugnisse in
dem gleichen Betriebe vereinigt. Der Land-
wirt besorgt das Dreschen und Reinigen
des Getreides, das Dörren des Obstes, die
Verarbeitung der Trauben zu Wein, der
Kartoffeln zu Spiritus, der Milch zu Butter
und KSise^ das Rösten, Brechen und Hecheln
des Flachses, oft auch noch das Spinnen
und Weben, und nur da etwa, wo solche
Stoffumw^anrllung eine eigene, vom Haupt-
betrieb getrennte wirtschaftliche Organisation
erfordert (Branntweinbrennerei, Rübenzucker-
fabrikation, Ziegelei) spricht man von land-
wirtschaftlichen Nebengewerben.
Die Verhüttung der Erze ist oft mit ihrer
Gewinnung zu einer Unternehmung ver-
bunden ; die Forstwirtschaft schliesst gerade
bei rationellem Betriebe nicht bloss die
Fällung des Holzes, sondern auch seine
erste Bearbeitung ein. Die Grenzen können
aber nach dieser Seite nur dem als un-
bestimmt erscheinen, der die beiden Ge-
werbebegriffe nicht genügend auseinander-
hält. Im engeren Sinne ist die Molkerei
oder das Spinnen in einem landwirtschaft-
liehen Betriebe nicht weniger eine gewerb-
liche Thätigkeit als die gleichen Verrich-
tungen, wenn sie in selbständigen Unter-
nehmungen ausgeübt werden. Anders steht
es mit der Gärtnerei und gewissen Zweigen
niederer persönlicher Dienstleistung und
Reinigungsarbeit (Barbiere, Friseure, Bader,
Kaminfeger), die nur deshalb zu den Ge-
werben gereclmet werden, weil sie mit der
Masse der selbständigen Gewerbezweige
friiher die zunftmässige Organisation geteilt
haben und noch heute der Gewerbeordnung
unteretellt sind.
2. Gewerbezweige und -arten. Als Teil
der volkswirtschaftlichen Gesamtproduktion zer-
fällt das Gewerbe infolge specieller Arbeitstei-
lung in zahlreiche verschied enaitige Zweige,
deren jeder unter den gegenwärtigen Verhält-
nissen ein berufsmässig abgeschlossenes Gebiet
der Stoffumwandlung bildet, je nach Art der
Stoffe, welche er veredelt, oder nach der Zweck-
bestimmung der erzeugten Produkte oder nach
der Handfertigkeit, welche zu seiner Ausübung
nötig ist. Jede dieser besonderen Produktions-
zweige ist ein Gewerbe ; die Gesamtheit der
das gleiche Gewerbe treibenden Personen wird
wohl als Gewerk bezeichnet.
Die Zahl der Gewerbezweige ist ausser-
ordentlich gross, und es zeigt sich darum das
Bedürfnis, sie in Klassen und Ordnungen tiber-
sichtlich zusammenzufassen. Eine befnedigende
Einteilung ist bis jetzt nicht gefunden; insbe-
sondere ist es nicht gelungen, ein Einteilungs-
princip überall festzuhalten. Meist werden
technologische und ökonomische Gesichtspunkte
dabei vermischt.
Die Technologie teilt die Gewerbe ein
nach der Natur der zur Verwendung gelangen-
den Rohstoffe und nach der Verschiedenheit
des Produktionsverfahrens ; aber selbst die Ver-
bindung beider Gesichtspunkte reicht nicht
völlig aus. Die Nationalökonomie kann
die Gewerbe einteilen nach der Art und Dring-
lichkeit der Bedürfnisse, denen sie dienen, nach
Absatzkreisen und Absatzarten, nach den Kon-
sumtionszwecken ihrer Produkte. Nach der
Natur der Bedürfnisse unterscheidet man
z. B. zwischen ordinären und Luxusge-
werben. Abarten der ersteren sind die Imi-
tations- und Surrogatgewerbe. Beide
wollen teuere Produkte durch billigere ersetzen.
Die Surrogierung richtet sich auf den Stoff, die
Imitation auf die Form und äussere Erschei-
nung der Produkte. Vom Luxusgewerbe ist die
Kuustindustrie zu unterscheiden. Die
Luxusindustrie richtet ihr Absehen auf die Be-
friedigung entbehrlich erscheinender Bedürfnisse.
Die Kunstindustrie legt auf ästhetische Wir-
kung das Hauptgewicht: geschmackvolle Aus-
führung und Ausstattung der Produkte. —
Nach Absatzkreisen unterschied man früher :
Gewerbe mit (örtlich, landschaftlich, national)
beschränktem und unbeschränktem (für den
Weltmarkt bestimmtem) Absatz. Man könnte
auch nach der Absatzweise einteilen und
erhielte dann 3 Gruppen: 1. Gewerbe, welche
auf Sttickbestellung von Konsumenten arbeiten,
2. Marktgewerbe, 3. Gewerbe, welche für den
Handel produzieren. — Nach der Zeitdauer
des Betriebes kann man unterscheiden:
362
Gewerbe
konstant betriebene, Kampagne- nnd Saison-
industrie. Eampa^neindustrieen sind solche, deren
Betrieb auf bestimmte Jahreszeiten beschränkt
ist, während des übrigen Jahres aber ganz
ruht (Zucker-, Cichorien-, Konservenfabriken);
Saisonindustrieen sind solche mit periodisch ver-
stärktem und dann wieder nachlassendem Be-
triebe (Weihnachtsindustrie, Konfektion, Bau-
fewerbe). — Nach dem Grade der Vollen-
ung, in welchem das Produkt den einzelnen
Betrieb verlässt, kann man wohl Halbfabri-
kation, VoUendungs- und Veredelung8-( Appretur-)
Gewerbe unterscheiden. — Nach den Ver-
wendungszwecken der Produkte bildet man
Gruppen, wie Bau-, Bekleidungs-, Nahrungsge-
werbe u. s. w.
Am meisten Beifall hat sich das von Engel
bei Gelegenheit der deutschen Gewerbezählung
von 1875 zuerst aufgestellte und mit geringen
Aenderungen auch bei der Berufsstatistik von
1882 und 1895 angewandte Schema erworben.
Letztere unterscheidet in der Abteilung „In-
dustrie einschliesslich Bergbau und Baugewerbe"
15 Gruppen mit 160 Berufsarten, von denen
indessen einige der Urproduktion zugezählt
werden müssen. Die Berufsgruppen sind:
I. Bergbau, Hütten- und Salinenwesen, Torf-
gräberei (nur zum Teil hierher gehörig), IL
Industrie der Steine und Erden, III. Metallver-
arbeitung, IV. Industrie der Maschinen, Instru-
mente und Apparate, V. chemische Industrie,
VI. Industrie der forstwirtschaftlichen Neben-
produkte, Leuchtstoffe, Seifen, Fette, Oele und
Firnisse, VII. Textilindustrie, VIII. Papier-
industrie, IX. Lederindustrie, X. Industrie der
Holz- und SchnitzstofFe, XL Industrie der Nah-
•rungs- und Genussmitte], XII. Bekleidungs- und
Reinigungsgewerbe, XIII. Baugewerbe, XIV.
polygraphische Gewerbe, XV. künstlerische Ge-
werbe.
3. Die Entstehmig des G. lieber die
Rolle, welche das Gewerbe in der wirt-
schaftlichen nnd sozialen Entwickelnngs-
gescliichte der Völker spielt, herrschen viel-
fach ebenso unklare Ansichten wie über
die wirtschaftlichen Entwickelungsstufeu
überhaupt. Das vielgebrauchte Schema der
letzteren : Jäger- bezw. Fischervolk — No-
madenvolk — reines Ackerbauvolk — Ge-
werbe- und Handelsvolk — Industrievolk
ist geschichtlich ebenso unrichtig als wissen-
schaftlich unfnichtbar. Denn es überträgt
in seiner scharfen Scheidung der verschie-
denen Hauptrichtungen der Produktion die
Kategorieen der ausgebildeten Verkehrswirt-
schaft auf primitive Verhältnisse, für die
sie keine Geltung liaben. Nicht weniger
verkehrt sind die rationalistischen Konstnik-
tionen der Physiokraten (vgl. z. B. Turgot,
Roflexions § II ff.) und Adam Smith's
(Buch I, Kap. 2), welche Gewerbe und ver-
kehrsmässige Versorgimg der Einzelwirt-
schaften schon \mter den primitiven Ver-
hältnissen eines Jäger- oder Fischervolkes
aus der dem Menschen angeborenen Neigung
zum Tausche und aus der Einsicht in die
einleuchtenden Vorteile der Arbeitsteilung
entstehen lassen. Soweit derartige Kon-
struktionen an historische oder ethnogra-
phische Beobachtung anknüpfen, verwechseln
sie gewöhnlich die Erscheinungen der ge-
werblichen Technik mit denjenigen ihrer
wirtschaftlichen Organisation. Nun steht
es aber ausser jedem Zweifel, dass die
ersteren weit früher auftreten als die letzte-
ren. Ueberall auf der Erde haben die
Menschen die Gespinstfasern der Wolle,
des Hanfes und Flachses zu Garn drehen
und dieses zu Zeug verweben gelernt, ehe
sie die Weberei zu einem eigenen Belaufe
machten ; sie haben den Thon, das Holz, die
Tierknochen, den Stein, das Metall kimst-
gemäss verarbeitet, ehe die Handwerke des
Töpfers, des Zimmermanns, des Tischlers, des
Schmiedes betrieben wui-den. Einen wesent-
lichen Einfluss auf die Organisation der
Volkswirtschaft gewannen diese Methoden
der StoffumwandJung erst von dem Zeit-
punkte, ab, wo eine technische Fertigkeit
die Unterlage eines eigenen Berufes und
der verkehrsmässigen Gewinnung des Lebens-
unterhaltes bilden konnte.
Suchen wir in dem völkerkundlichen
Beobachtungskreise den Anfang der stoff-
umwandelnden Thätigkeit, in welcher wii*
das Wesen des Gewerbes erblicken, so
kommen wir bis zu der occupatorischen
Sammelthätigkeit der Urzeit (Stufe der in-
dividuellen Nahrungssuche) ziu-ück. Spielende
Versuche, die der Urmensch an den von
der Natur ihm dargebotenen Gaben macht,
lassen ihn zuei-st erkennen, dass sie bei
einer bestimmten Art der Zubereitung seinen
Zwecken dienen können. Steine, Muscheln,
zugespitzte Hölzer sind seine frühesten Werk- .
zeuge. Allmählich werden auch diese ihrem
Zwecke durch Beai'beitung angepasst Und
jeder Schritt weiter vermehrt die Zahl dieser
Gegenstände. Um von dem Sammeln wild-
wachsender Früchte \md kleiner Tiere zu
Jagd und Fischfang tiberzugehen, bedurfte
der Mensch Waffen und Fanggeräte; der
primitivste Ackerbau setzt ein Instrument
(Grabholz oder Hacke) voraus, um den Boden
aufzulockern; die Handmühle in Form des
Reibsteins findet sich schon bei Völkern,
welche wohl wildwachsende Sämereien
sammeln, aber sie nicht anbauen. Im all-
gemeinen aber macht diese primitive Tech-
nik nur sehi' langsame Fortschritte; das
Beste muss die Arbeitsgeschicklichkeit leisten,
die sich weniger Universalinstrumente zu
den verscliiedensten Zwecken bedient. Kraft-
ersparende Hilfsmittel wie Keil, Hebel, Zange,
Schraube kennt kein Naturvolk aus eigner
Erfindung. Die Bearbeitung der Metalle ist
den Urbew^ohnern Amerikas, Australiens,
Melanesiens und Polynesiens vor dem Ein-
treffen der Europäer unbekannt; nur den
Negern ist sie seit langer Zeit geläufig, ohne
Gewerbe
363
jedoch tiefere Einwirkungen auf ihre wirt-
schaftliche Entwickelung geübt zu haben.
Wie ihre ganze Wirtsch?ift, so sclüiesst
sich auch die stoffumwandelnde Thäligkeit
der Naturvölker aufs engste an die örtlich
gegebenen Naturbedingungen an, und sie
weist darum von Stamm zii Stamm grosse
Yerschiedenhciten auf. Fast jeder Stamm
bevorzugt einen bestimmten Rohstoff imd
giebt demselben -die umfassendst-e Verwen-
dung. So sehen wir hier die Flechtkunat,
dort die Töpferei, an einer anderen Stelle
den Kahnbau, die Holz- oder Muschelbear-
beitiuig früh zu relativ grosser Vollendung
gelangen. Komplizierte Arbeitsprozesse sind
dabei nicht selten; die ünvoiJkommenheit
der Technik erzwingt mancherlei Umwege.
Die Ausgestaltung der Produkte zeigt über-
all, wo es nur möglich ist, künstlerische
Momente, entsprechend dem spielenden,
bildnerischen Charakter der ältesten Stoff-
bearbeitung überhaupt.
Das Gewerbe in diesem Sinne ist älter
als die Familie. Dies lehrt der individuell
persönliche Charakter jener Techniken, bei
denen Stoffgewinnung und Stoff um Wandlung
st«ts von der gleichen Person bewerkstelligt
weixien. Aber nicht jede Art der Produk-
tion wird von jeder Person verstanden und
geübt. Vielmehr besteht eine scharfe Tren-
nung der Funktionen nach Geschlechtern,
dergestalt, dass jedes Geschlecht einen be-
stimmten Teil der Produktion für sich hat :
die Frau alles, was mit der Ge^sannung und
Zubereitung von Pflanzenstoffen zusammen-
hängt, der Mann die Jagd, den Fischfang,
die Viehzucht, die Herstellung der Waffen
und Geräte für diese Thätigkeiten, die Be-
arbeitung der Tierknochen und Häute, meist
auch das Braten des Fleisches. Der Frau
liegt demgemäss das Mahlen des Getreides
ob, das sie im Hackbau gewinnt, aber auch
das Formen und Brennen der irdenen Koch-
topfe, weil sie bei der Zubereitimg der
Pflanzenkost nötig sind. Nur das Spinnen,
Weben und Flechten ist bei dem einen
Stamme diesem ^ beim anderen jenem Ge-
schlechte zugewiesen. Immer aber ist die
Trennung der Thätigkeitsgebiete von Mann
und Weib durch die Sitte so befestigt, dass
die beiderseitigen Wirtschaftsfunktionen, die
sich von der Produktion in die Konsumtion
hinein fortsetzen, wie eine Art sekundärer
Geschlechtsmerkmale erscheinen.
Das Wesentliche für unsere Betrachtung
ist, dass der Frau anfänglich der grf>sste
Teil der Produktion und somit auch der
gewerblichen Thätigkeit zufällt und dass in
dem Masse, als sich die Familie fester aus-
bildet, für sie eine allmälüiche Entlastung
einti'itt, bis sie schliesslich auf die Regelung
der Konsumtion und die damit zusammen-
hängenden letzten Herrichtungs- und In-
slandhaltungsarbeiten beschränkt wird. Dieser
Entwickelungsgang ist am vollständigsten
bei den Kidturvölkern Europas zu über-
blicken, und darum werden wir diese bei
der folgenden Betrachtung der gewerblichen
Betriebssysteme vorzugsweise im Auge zu
behalten haben.
4. Die Betriebssysteme. Derselbe
Prozess der Differenzierung und Integration,
welcher die ^nze Geschichte der Gesell-
schaft dun^hzieht, offenbart sich auch in
der Entwickelung der Gewerbes. Auch sie
beginnt mit vielfältig zusammengesetzten
Gebilden, schreitet dann zum Einfachen fort,
um sclüiesslich wieder mit Zusammenge-
setztem zu enden. Ursprünglich giebt es
nur einen grossen Produktionsprozess , zu
dem freioccupatorische , landwirtschaftliche
und gewerbliche Arbeiten gehören ; die Wirt-
schaft ist nichts weiter als vorsorgliche Be-
dürfnisbefriedigung der Familie, sozusagen
die materielle Seite des Familienlebens;
Produktion und Konsumtion gehen in ihr
unvermittelt fortwährend in einander über.
In dieser umfassenden Organisation liegt
das Gewerbe wie eine Keimzelle einge-
schlossen.
Die Umformung der Naturgaben ist noch
ungetrennt von der Occupation in Jagd und
Fischfang oder der künstlichen Vermehrung
derselben in Viehzucht und Ackerbau, und
ebensowenig als man die Stoff gewinnung
noch als eine Erwerbsthätigkeit zu be-
zeichnen berechtigt ist, wird man der Stoff-
veredeluiig eine Sonderexistenz zuschreiben
dürfen. Diese erlangt sie erst auf höheren
Stufen der Entwickelung, und zwar zuerst
nur als individuelle Ai-beitsgeschicklichkeit,
später auch mit ihrer sachlichen Ausstattung,
um schliesslich selbst wieder in der Unter-
nehmung zur Grundlage umfassender Sozial-
gebilde zu werden.
Wollen wir diesen ganzen Entwickelungs-
prozess überschauen und wissenschaftlich
beherrschen, so kann dies nur so geschehen,
dass wir seinen typischen Verlauf in den
EEauptphasen feststellen. Wir gelangen so
zu einer Reihe auf einander folgender Ent-
wickelungsstufen , deren jede das gewerb-
liche Ijcben von einem besonderen Princip
des wirtschaftlichen Handelns beherrscht
zeigt und die wir darum als Betriebssysteme
bezeichnen können. Die gewerblichen Be-
triebssysteme stellen die wechselnden Or-
ganisationsformen dar, denen die Stoffum-
wandlung im ganzen und in ihren einzelnen
Zweigen im Laufe der geschichtlichen Ent-
wickelung unterworfen gewesen ist. Sie
zeigen ebensowolü die innere Ordnung des
Gewerbebetriebes als auch die Art, wie das
Gewerbe sich in das Ganze der volkswirt-
schaftlichen Organisation einfügt. Wir unter-
scheiden fünf solcher Betiiebssysteme :
364
Grewerbe
1. das Hauswerk (Hausfleiss),
2. das Lohnwerk,
3. das Handwerk i. e. S. (Pmswerk),
4. den Yerlag (Hausindustrie),
5. die Fabrik.
Indem wir an diese fünf Betriebssysteme
im folgenden die Entwickelung des Gewerbes
stufenförmig aufreihen, gelangen wir zu
einer sehematischen Darstellung der Ge-
werbegeschiehte. Aber die so gebildeten
Entwickelungsstufen erheben nicht den An-
spruch, das gesamte gewerbliche Leben
ganzer Yölker und Zeiten erschöpfend zu
charakterisieren. Sie bezeichnen nur eine
Stufenfolge immer vollkommener werdender
Lebensformen, welche die einzelnen Zweige
der Stoffumwandiung unter* gegebenen Ver-
hältnissen annehmen und annehmen müssen.
Damit soll keineswegs gesagt sein, dass
jeder Gewerbezweig alle Stufen nacheinander
durchlaufen müsse. Einzelne Stufen können
sehr wohl übersprungen weixlen, und bei
spät entstandenen Gewerbezweigen ist es
selbstverständlich, dass sie sofort in der-
jenigen Betriebsorganisation ins Leben treten,
die der wirtschaftlichen Gesamtentwickelung
ihrer Zeit entspricht, umgekehrt können
aber auch Gewerbe auf einem älteren Be-
triebssysteme verharren, wann und wo sie
unter Existenzbedingungen sich befinden,
die gerade dieses Betriebssystem als das
ergiebigste erscheinen lassen.
Die Gewerbesysteme sind daiin mit den
Ackerbausystemen gleichartig. Wie die
Dreifelderwirtschaft, die Koppelwirtschaft,
die Fruchtwechselwirtschaft nur unter be-
stimmten volkswirtschaftlichen Vorausset-
zungen eintreten können, imter diesen aber
auch nach den Untersuchungen v. T h ü n e n ' s
eintreten müssen, so ist es aucli mit Haus-,
Lohn- und Handwerk, Verlag und Fabrik.
Diese wie jene bezeichnen eine Stufenfolge
der Intensität, in der wir die Menschen-
arbeit immer wirkungsvoller werden sehen.
In einem grossen Lande können in Acker-
bau und Gewerbe voj-schiedene Intensitäts-
grade des Betriebs neben einander Platz
finden; ja im Gewerbe ist dies noch in
höherem Masse der Fall als in der Land-
wirtscliaft, weil die grosse Zahl der Gewerbe-
zweige nicht unter einheitlichen Voraus-
setzungen steht.
Aber es bestehen doch auch orfiebliche
L'nterschiede zwischen der Entwickelung
der Landwirtschaft und derjenigen der In-
dustrie. In der Landwirtschaft unterscheidet
sich jedes höhere Betriebssystem von jedem
niedei-en dadurch, dass es ein gi-össeres
Güterquantum mit verhältnismässig höheren
Kosten erzeugt; in der Industrie dagegen
nehmen die Ilerstellungskosteu mit fort-
schreitender Betriebsintensität ab. Die ür-
saclie üegt in der hier gi^össeren , dort ge-
ringeren Ergiebigkeit der späteren Kapital-
verwendungen. Der landwirtschaftliche Fort-
schritt ist darum an die Voraussetzung ge-
knüpft, dass die Preise der Produkte steigen ;
der mdustrielle Fortschritt kann nur erfolgen,
wenn er mit einer Erniedrigung der Preise
verbunden ist. Jener ist die Folge, dieser
die Ursache höherer Kultur.
5. Das Hanswerk (erste Stufe). H a u s -
werk ist gewerbliche Arbeit im
Hause für das Haus aus selbster-
zeugten Rohst offen. Der Ausdruck Haus
ist hier im weitesten Sinne zu verstehen als der
Mittelpunkt jeder wirtschaftenden Gemein-
schaft und diese Gemeinschaft selbst. Er ist
also auch auf Völker auszudehnen, welche
keine festen Wohnsitze haben, sobald sie nur
in ihrer Bedürfnisbefriedigung über die Stufe
des Tieres hinausgekommen sind und für
sie eine gewisse Vorsorge bethätigen. Denn
eine solche bedingt notwendig den Zusam-
menscliluss mehrerer zu einer dauernden
Lebensgemeinschaft, und dieser findet eben
in der gemeinsamen Schutz- und Hegestätte,
dem Hause, seinen deutlichsten Ausdruck,
mag dieses Haus auch nur eine Hütte aus
Palmblättern oder ein Zelt aus Tierhäuten
sein. Hauswerk müssen wir darum jede
gewerbliche Produktion für den Eigenbedarf»
nennen, einerlei ob sie bei sogenannten
Jäger-, Fischer- und Nomadenvölkem oder
bei Ackerbauvölkern sich findet. Es ist
überhaupt nicht an eine bestimmte Ent-
wickelungsstufe gebunden. Aber es giebt
doch eine Zeit, in der das Hauswerk aus-
schliesslich in der Produktion herrscht, und
eine andere, in der es vorherrscht Beide
fallen zusammen mit der Wirtscliaftsstufe
der geschlossenen HausAvirtschaft.
In seiner ursprünglichsten und reinsten
Gestalt setzt das Hauswerk voraus, dass
kein Tausch besteht. Die Rohstoffe wei-den
in derselben Wirtschaft (durch Occupation
freier Katurgaben oder durch künstlichen
Anbau) gewonnen, in welcher ihre Verarbei-
tung und ihr Verbrauch erfolgt. Die ge-
werbliche Produktion ist also durcliaus
»bodenständig«, insofern sie sich über das,
was der Boden liefert, nicht liinaus erweitern
kann, und demgemäss ist die technische
Geschicklichkeit einseitig, von den geogra-
phischen Bedingungen des Wohnsitzes ab-
hängig. Die Arbeit ist zwar wenig qualifi-
ziert, aber dui'cliaus individualisiert. Denn
sie findet nur statt nach Massgabe des eige-
nen Bedarfs und in engster Anpassung an
denselben. Das Interesse des Arbeitei-s an
seinem Produkte ist das denkbar stärkste;
es überdauert weit die Zeit der unmittel-
baren Erzeugung und erlischt erst mit dem
völligen Verbrauch des Ei'zeugnisses. Ein
gelungenes Produkt bringt dem Verfertiger
Ehre beim Gebrauche, ein misslungenes
Gewerbe
365
trägt ihm den Spott der Genossen ein. So-
weit es sich um Herstellung von dauerbaren
Gütern handelt, bethätigt darum an ihnen
der Arbeiter nicht bloss sein ganzes tech-
nisches Können, sondern er verkörpert in
dem Werk seiner Hände auch die ersten
Regimgen des Kunstgeschraackes. Was auf
diesem Gebiete einmal gewonnen ist, pflanzt
sich fort von Geschlecht zu Geschlecht. So
selir aber auch im ganzen das Hauswerk
den Charakter der Stabilität trägt, so ist es
doch von mechanischer Nachahmung des
Ueberkommenen weit entfernt Kein Stück
gleicht dem anderen bis in alle Einzel-
heiten; jedem hat der Urheber etwas von
seinem eigenen Wesen aufgeprägt, und
wenn sich auch im ganzen innerhalb
grösserer sozialer Gruppen (Gemeinde,
Stamm, Volk) die Formen wenig ändern,
so beruht das hauptsächlich darauf, dass
die Bedürfnisse viele Menschenalter hin-
durch die gleichen bleiben und dass die
Hauswerkserzeu^nisse mit der Zeit ebenso
dem Machtbereich der Sitte unterwoifen
werden, wie alle nach aussen tretenden
Aeusserungen des häuslichen Lebens.
Bei den Naturvölkern der tropischen
Zone trägt das Uauswerk ganz den desul-
torischen Charakter, den all ihre Arbeit hat.
In den Ländern der gemässigten imd kalten
Zone, für welche der schroffe Wechsel der
Jahreszeiten immer ein Moment der wirt-
schaftlichen Ordnung und Erziehung gebildet
hat, fallen die Arbeiten der Stoffumwandlung
naturg^^mäss in den Winter, während die
bessere Jahreszeit alle Kräfte für die Stoff-
gewinnung im Freien in Anspruch nimmt.
Wo die Familie sich auf die Verwandten
und etwaige freie Dienstboten beschränkt,
ei^ebt sich von selbst eine Arbeitsteilung
zwischen den Hausgenossen. Wie vielseitig
sich aber das Hauswerk entwickeln kann,
lässt sich noch heute an der Wirtschaft der
Nordgermanen und der meisten slawischen
Völker beobachten. Bei den Südslaw^en gab
es bis auf die neuere Zeit keine andei-en
Handwerker als die Schmiede ; bei den Nor-
wegern findet sich die Schmiede wie die
Mühle in manchen Landesteilen bei jedem
Bauernhof, so dass fast alles, was das Haus
bedarf, aus der Arbeit der Hausgenossen
hervorgehen kann.
Wo die Sippenverfassung zur Aus-
bildung gelangt, gewinnt das Haus die
Mi^lichkeit, durch Anwendung von Arbeits-
gemeinschaft und Arbeitsteilung auch
schwerere Aufgaben der Stoffumwandlung
ganz mit eigenen Kräften zu lösen. Wo dagegen
das System der unfreien oder hörigen Arbeit
Platz greift, wie in den Sklavenwirtschaften
der antiken Völker und auf den mittelalter-
lichen Fronhöfen, ist natürlich eine weiter-
gehende Arbeitsteilung und eine grössere
Verfeinerung der Bedürfnisse möglich. In
der familia rustica der Römer finden wir
Sklaven als Müller, Bäcker, Köche, Schmiede,
Zimmerleute , K^kbrenner , Wollschläger,
Weber, Walker, Leinweber und Schneider
(Scriptores rei rust. ed. Gesner III, p. 496),
und es scheinen die Handwerkerabteilungen
(aitificia) eine ähnliche Organisation gehabt
zu haben wie die Rotten der Landarbeiter
(officia). In der familia urbana gestaltet
sich die Arbeitsgliederung weit reicher, wie
die Inschriften der Columbarien vornehmer
römischer Häuser beweisen. Am reichsten
natürlic^h in der kaiserlichen Hofhaltung.
In dem Columbariiun libertorum et servorum
Liviae Augustae finden wir ausser einer
zahlreichen luid vielartigen Dienerschaft :
Fäi-ber, Maler, Vergolder, Spinner, Kistner,
Bäcker, Walker, verschiedene Arten Kleider-
macher, Schuster, Perlarbeiter, Goldschmiede,
Tischler, Maurer, Zimmerleute, Dachdecker,
Spiegelmacher, Estrichmacher. Die Vor-
schriften Kai'ls des Grossen über die auf
seinen Kammergütern erforderlichen Hand-
werker (artifices: Cap. de villis c. 45) er-
strecken sich auf zwölf verschiedene Spe-
dalitäten , ungerechnet die Spinnerinnen,
Weberinnen, Kleidermacherinnen etc. des
Fraueuhauses. Nicht minder entwickelt
war das Hauswerk in den zahlreichen
Klosterwirtschaften. Noch im Jahre 1146
hielt das Kloster Weihenstephan bei Frei-
sing u. a. einen Bierbrauer, Gerber, Metzger,
Weber, Schuhmacher, Kürechner, Fassbinder,
Krämer (institor), Maler, Bäcker, Schmied
sowie eine Wein- und Bierschenke.
Varro (de re rust. I, 22) spricht ein-
mal den Grundsatz aus, der Gutsbesitzer
solle nichts kaufen, wozu das Rohmaterial
auf dem Gute erzeugt und was von den
Haussklaven angefertigt w^erden könne.
(Aehnlich Plinius N. H. XVIII, 40.) Damit
ist die charakteristische Eigentümlichkeit
der antiken Oiken Wirtschaft gegeben, die
Rodbert US in seinen bahnbrechenden
Aufsätzen über die römischen Tributsteuern
ndt den Worten bezeichnet, es finde keine
Scheidung von Grund- und Kapitaleigentum
statt. Der Grandeigentümer ist der Pi-odu-
zent schlechthin, und wenn auch in den
Wirtschaften der grossen Besitzer die
Technik der Stoffumwandlung eine ziemlich
weitgehende Ausbildung, die Arbeit eine
gewisse berufsähnliche Organisation erfährt,
so folgt daraus noch nicht notwendig eine
verkehrsmässige Verbindung der Einzel-
wirtschaften und eine soziale Differenzierung
der Bevölkerung.
6. Die zweite Stufe des Hanswerks.
Das Hauswerk ruht auf der Unterlage der
Urproduktion, insgemein der Landwirtschaft.
Es erhält sich jedoch als reine Selbstver-
sorgung in der Regel nur für solche Pro-
366
Gewerbe
clukte, welche überall erzeugt werden kön-
nen. Was dagegen ein Stamm vermöge
der besonderen Natiirbedingimgen seines
Wohnortes Eigentündiches hervorbringt, das
wird leicht auch zum Gegenstande des Be-
gehrs für andere Stämme, namentlich wenn
es einem weit verbreiteten Bedürfnisse ent-
spricht. Produkte des Hauswerks gelangen
so von Stamm zu Stamm in den Umlauf,
lange Zeit bloss als Geschenk oder Kriegs-
beute, später auch auf dem Wege des
Tausches. Es entwickelt sich ein ent^lt-
licher Verkehr, der in dem Markte semen
Mittelpunkt und seine Ordnung findet, und
es liegt in der Naüir der Dinge, dass jeder
Stamm auf diesen Markt das zu schicken
suchen muss, was seine Produktion Eigen-
tümliches aufweist. Natürlich muss er das
dann auch im üeberflusse zu erzeugen
suchen. Handelt es sich um ein hausge-
werbliches Erzeugnis, das unter besonders
günstigen Umständen hervorgebracht wird,
so gewinnt dabei leicht auch die Technik,
und es büden sich ganze Stammgewerbe
(eventuell auch Ortsgewerbe) aus; die ge-
schlossene Hauswirtschaft wird insofern
festgehalten, als jede Familie nach wie vor
alle Bedürfnisse, deren Befriedigung die
Natur ihres Wohnsitzes gestattet, durch
eigene Arbeit zu decken sucht; aber jeder
Stamm (oder Ort) treibt für eines oder
einige seiner Erzeugnisse Ueberschusspro-
duktion, um dafür diejenigen Erzeugnisse
einzutauschen, die im eigenen Stamme gar
nicht oder doch nicht gleich gut und kunst-
voll erzeugt werden können. Ist ein solches
Stammesprodukt eine in weiten Kreisen ge-
suchte Ware, so wird es für die Stämme,
welche dasselbe entbehren, zum Gelde (Salz,
Kupferbarren, eiserne Spaten, Thontassen,
Matten, Gewebe u. s. w.).
Soweit sich bis jetzt diese Dinge über-
sehen lassen, ist diese gewerbliche Differen-
zierung der Stämme in Afrika ganz allge-
mein, und sie wird in den politisch foi*tge-
schrittenen Gebieten auch staatlicli dadurch
anerkannt, dass die Steuerleistungen der
Unterworfenen in solchen Stammesprodukten
festgesetzt werden. Sie findet sich sodann
in sehr schönen Beispielen bei den Melane-
siern und Polynesiern und ist auch bei den
Eingeborenen Amerikas nicht unbekannt.
Man wird danach in ihr eine der gewerb-
lichen Differenzierung der einzelnen Per-
sonen oder Wirtschaften, die wir in unseren
Ländern allein vor Augen liaben, voraus-
gehende Phase der sozialen Entwickelung
zu erblicken haben. Spuren derselben sind
aber auch in Europa leicht nachzuweisen,
insbesondere in der dorf weisen Fortbildung
bäuerlichen Hauswerks, wie sie sich in
Russland, Ungarn, der Balkanhalbinsel häufig
findet. In Central- und Westeuropa führt
vielfach die zunehmende Ungleichheit des
Grundbesitzes die Einzelwirtschaft auf den
gleichen Weg. Zwar sucht auch hier die
Bauernfamilie so lange als möglich die Au-
tonomie der Güterversorgimg aufrecht zu
erhalten; aber sie bringt üeberschüsse des
Hauswerkes in derselben Weise auf den
Markt wie das Getreide, das sie nicht selbst
verwendet, das Jungvieh, das sie nicht
selbst aufziehen kann, die Butter, die Eier,
das Dörrobst, den gehechelten Flachs etc.
und erwirbt dafür Güter, welche die eigene
Wirtschaft überhaupt nicht oder nicht mehr
liefern kann. Ja, ebenso wie sie einen
Zweig der landwirtschaftlichen Produktion,
z. B. den Wein- oder Hopfenbau, für den
Absatz besonders pflegen kann, so kann sie
auch über den Bedarf Holzgerät oder Leinen-
tuch oder Spitzen erzeugen, sei es, um vor-
handene Arbeitskräfte zweckmässig auszu-
nützen, sei es, um diu-ch den Austausch der
Hauswerksprodukte Lücken, die in der
sonstigen Güterversorgung bleiben, zudecken.
Und ähnlich wie für manche landwirtschaft-
liche Produkte bilden sich wohl auch für
die Erzeugnisse des ländlichen Hauswerkes
Aufkäufer, welche sie einem weiteren Ab-
nehmerkreise zuführen. Noch häufiger be-
sorgt dies der Bauer oder einer seiner An-
gehörigen selbst. So bieten auf den Wochen-
märkten der ungarischen, galizischen, rumä-
nischen Städte die Frauen vom Lande neben
Gemüse, Käse, Eiern und dergleichen auch
die von ihnen angefertigten wolleneu und
leinenen Gewebe, Spitzen, Teppiche aus,
und die Männer erscheinen mit ihren Korb-
und Binsenwaren, ihren Küfer- und Stell-
macherarbeiten. Hier und da bildet sich
auch ein Hausierhandel mit Hauswerkspro-
dukten (namentlich Frauenarbeiten) aus, wie
im früheren Mittelalter bei den Friesen und
heute noch vielfach in Russland, Schweden
(Dalekarlier) , Norwegen , auch in Tirol
(Grödener).
Bemerken wir hier bereits die Anfänge
eines selbständigen Handels mit gewerb-
lichen Produkten, der somit älter ist als
das selbständige Gewerbe , so lehrt ein
Rückblick auf die grossen geschlossenen
Hauswirtschaften des Altertums und des
früheren Mittelalters, dass diese vermöge
ihrer grösseren Arbeiterzalü im stände ge-
wesen sind, einerseits gewerbliche AVai*en-
produktion im grossen zu treiben, anderer-
seits dem Absätze eine eigene Oi'ganisation
zu geben. Namentlich in Athen wninle
es üblich, grössere Sklavenscharen für eine
bestimmte Fabrikationstechnik abzurichten
und durch sie Gewerbeprodukte für den
Markt herzustellen. Allbekannt sind die
Gerbereien des Kleon und des Anytos, des
Anklägers des Sokrates, die Lampenfabrik
des Hyperbolos, die Flölenfabrik, mit wel-
Gewerbe
367
eher Theodoros, der Yater des Rednera
Isokrates, ein grosses Vermögen erworben
hatte. Lysias und sein Bruder Polemarchos
beschäftigten 120 Sklaven mit der Anferti-
gung von Schilden; Demosthenes hatte von
seinem Vater eine Schwert- und Messer-
schmiedwerkstätte imd eine Bettstellen-
macherei geerbt; für die erstere wurden
32, für die letztere 20 unfreie Arbeiter ge-
halten. Die ganze griechische Eunstindus-
trie, die Töpferei, die Bronzenfabrikation,
die Seidenweberei, scheint in dieser Weise
betrieben worden zu sein. Daher die grossen
Ziffern, welche uns Ober die Menge der
Sklaven Korinths und Aeginas überliefert
sind. Man darf dieses einseitig fortgebildete
Hauswerk aber nicht mit unserer unter-
nehmungsweise betriebenen Fabrikindtisthe
verwechseln. Denn es handelt sich in der
Hauptsache nur um eine Art der Vermögens-
nutzimg des Oikos: die wirksamste Exploi-
tation seines Menscheneigentums. In Rom
finden wir Aehnliches, nur in engem An-
schluss an den Grossgnmdbesitz. Dahin
gehören sowohl die mit Sklaven betriebenen
hindwirtschaftlichen Nebengewerbe , wie
Sandgruben, Steinbruche, Ziegeleien. Töpfe-
i-eien, Webereien, Walkmühlen, als auch
Spekulationsgeschäfte, wie sie Crassus trieb,
der abgebrannte und eingestürzte Häuser
kaufte, sie wiederaufbaute und dann ver-
mietete. Er hielt zu diesem Zwecke 500
unfreie Zimmerleute und Maurer.
Was den Absatz der so gewonnenen
Produkte betrifft, so hatte jede grössere
römische Sklavenfamilie dafür ihren nego-
tiator. Oft teilten sich mehi-ere in die Viel-
ehen Geschäfte, welche der Verkehr einer
80 ausgedehnten Wirtschaft mit der Aussen-
welt notwendig machte (actores, procura-
tores, exactores, insularii); auf dem Lande
fehlte niemals der villicus, der als oberster
Wirtschaftsleiter auch für Ein- und Verkauf
sorgte. Gleichen Einrichtungen, verbunden
mit einem ziemlich entwickalten Transport-
wesen, begegnen wir auf den mittelalter-
lichen Fronhöfen. Unter den Klosterleuten
von Weihenstephan fanden wir bereits einen
institor; mercatores sind bezeugt von St.
Emmeran in Regensburg (12. Jahi-hundert) ;
ein ^Kaufmann« von der Propstei Neuweiler
im Elsass. Bekannter ist aer Wein- und
Bierausschank der Klöster für den Ver-
schleiss der eigenen Erzeugnisse (Bann-
wein I), der Verkauf von Tuch und Lein-
wand auf dem städtischen Markte, der sie
später vielfach in Konflikt brachte mit den
Gerechtsamen der städtischen Handwerker,
Gerade auf dem Gebiete der Leinwel>erei
ist auch der Absatz der Produkte des bäuer-
lichen Hauswerkes zuerst obrigkeitlich or-
ganisiert worden. Es sei liier erinnert an
die mehrfach schon im Mittelalter vorkom-
menden städtischen Stempel- und Schau-
anstalten und an das Frankfurter Leinwand-
haus, dessen ßetriebseinrichtungen haupt-
sächlich auf der Marktfälligkeit des Bauern-
tuches bemhten. Später hat der Staat sich
der Sache angenommen. Die grossartigste
Oi^nisation dieser Art stellen die schlesi-
schen Beschauanstalten und die westfälischen
Linnenleggen dar, deren Absehen haupt-
sächlich darauf gerichtet war, die über-
schüssige Hausleiuwand der ländlichen Be-
völkerung exportfähig zu machen. In
neuester Zeit lassen sich ähnliche Bestre-
bungen in Ungarn, Rumänien und Schwe-
den — auch hier hauptsächlich für den
Absatz von Geweben — beobachten.
Damit, dass ein Zweig des Hauswerkes
sich vorzugsweise auf den Markt einrichtet,
stirbt er sozusagen an der Spitze ab: nicht
die eigene Bedarfsdeckung giebt ihm weiter
die Richtung, sondern fremde Nachfrage.
Aber das Hauswerk kann auch an der
Wurzel absterben, wenn der Rohstoff oder
die Geräte und Werkzeuge, deren es bedarf,
nicht mehr in eigener Wirtschaft erzeugt
werden. Von dieser Art ist in imseren
Ländern gegenwärtig das Hauswerk der
weiblichen f'amilienglieder vom Stricken,
Sticken, Kleidermachen bis zur häuslichen
Speisebereitung. Auf dem Lande ist es
selbst in seiner ersten Stufe noch in
grösserem Umfange erhalten.
7. Das Lohnwerk. Es ist ein bemerkens-
werter Zug der Gewerbegeschichte, dass
auf den früheren Stufen der Entwickelung
alle höhere Kunstfertigkeit erst im Schosse
des sich selbst genügenden Hauses aus-
reifen muss, ehe sie wirtschaftlich selbstän-
dig wird. Fanden wir oben einen grossen
Teil der späteren Handwerke bereits in den
grossen Sklavenwirtschaften der Alten und
auf den mittelalterlichen Fronhöfen in voller
technischer Ausbildung, so lässt sich bei
neu entstehenden Gewerben die Thatsache
bis in das vorige Jahrhundert hinein ver-
folgen, dass technische Fortschritte zuerst
in den grossen Wirtschaften für den eigenen
Bedarf gemacht werden. In den Klöstern
des Mittelalters hat sich die Glasmalerei,
die Goldschmiedekunst, der Glockenguss,
die Seiden- und Metallstickerei zuerst aus-
gebildet; in den Häusern reicher französi-
scher Büeherliebhaber (Grolier, de Thou)
ist im 16. Jahrhundert die Kunstbuchbinde-
rei zur Entfaltung gekommen, und wie
zahlreich sind die Luxusindustrieen, deren
Ursprung an den Höfen der Grossen zu
suchen ist, von der Gold- und Silberstoff-
weberei Indiens bis zur Teppich- und Por-
zellanfabrikation des Occidents! Röscher
(III, § 105) hat die feine Beobachtung ge-
macht, dass die Luxusindustrie allgemein
fniher zur Blüte komme als die ordinäre
368
Grewerbe
Lidustrie, welche für den Bedarf der Massen
arbeite. Ohne Zweifel ist die Ursache
darin zu suchen, dass auf deu früheren
wirtschaftlichen Entwickelungsstufen jede
Industrie mit innerer Notwendigkeit zuerst
die Form des Hauswerkes annimmt.
Die Weiterentwickelung ist eine scliritt-
weise, und es bildet sich keineswegs sofort
das sog. Handwerk dergestalt, dass die lu*-
sprüngliche YoUwirtschaft, welche Urproduk-
tion und Fabrikation zugleich ist, sozusagen
in zwei Teile zerschnitten wird, von denen
der eine die Stofferzeugung, der andere die
Stoffveredelung übernimmt \md von denen
jeder volle Bedarfsdeckung nur durch Aus-
tausch mit dem anderen erzielen kann. Viel-
mehr tritt von den beiden Elementen, auf
welcnen spätei^ jede selbständige unterneh-
mungsweise gewerbliche Produktion sich
notwendig aufbaut, Arbeit und Produktions-
mitteln (Werkzeuge und Rohstoffe), bloss
die Arbeit mit ihrer technischen Ausrüstung,
dem Werkzeug, aus dem geschlossenen
Kreise der reinen Eigenwirtschaft heraus,
während das »Betriebskapital« in den meis-
ten Arten der Stoff um Wandlung noch lange
Jahrhunderte in derselben verharrt. Der
gewerbliche Arbeiter emancipiert sich von
dem Hauswesen, dem er bis dahin als un-
freies oder doch abhängiges Glied allein
seine Dienste zu widmen hatte, steht ihm
aber auch ferner noch mit seiner Arbeits-
kraft ziu* Verfügung, und nicht ihm allein,
sondern auch anderen, die seine Gescliick-
lichkeit gegen Entgelt benutzen wollen. Der
Rohstoff wird ihm zu diesem Zwecke ent-
weder in seine Wohnung hinausgegeben,
oder er wird zeitweise in das Haus des
Kunden hineiugenommen. Auf alle Fälle
werden nur Arbeitsleistungen von ihm ver-
langt; er bethätigt dieselben an fremdem
Material und produziert bloss Gebrauchs-
werte. Der Rohstoff bleibt von seiner Er-
zeugung bis zur völligen Genussreife in der
Wirtschaft, in der er entstanden ist und die
ihn nach seiner Veredelnng verbraucht. Um
die Sache an einem bekannten Beispiel zu
verdeutlichen: der Bauer erzeugt den Flachs
oder Hanf; dieser wird durch die Arbeits-
kräfte seines Hauses gerostet, gebrochen,
vielleicht auch gehechelt und zu Garn ver-
si)onnen. Das Garn erhält der Leinweber
gegen Stücklohn zum Verweben; die rohe
Leinwand kehrt zum Eigentümer zurück,
wird hier gebleicht oder dem Färber zum
Färben wieder hinausgegeben, ebenfalls
gegen Lohn ; endlich wird die Näherin oder
der Schneider auf Taglohn ins Haus be-
rufen, um den Stoff zu Kleidungsstücken
zu verarbeiten. Das gebrauchsfertige Kleid
hat auf seinem ganzen langen Wege vom
Lein- oder Hanfsamen bis zur völligen Ge-
nussi'eife nie den Eigentümer gewechselt;
es ist niemals »Kapital« im Sinne der mo-
dernen Theorie gewesen, sondern immer nm*
Gebrauchsgut auf einer bestimmten Stufe
der Produktion.
Wir liaben hier ein Betriebssystem, auf
welches der Begriff Handwerk in seiner ge-
wöhnlichen Auffassung nicht zutrifft. Ja es
Hesse sich beweisen, dass das Handwerk
schon am Ausgange des Mittelalters sich in
bewussten Gegensatz zu dieser Pi-oduktions-
weise gesetzt hat. Da es für dieselbe in der
Litteratur an einem Namen fehlt, so nenne
ich sie Lohn werk, und es liegt mir nun-
mehr ob, über ihre Entstehung und weitere
Verbreitung das Notwendigste beizubringen.
Zuvor einige Bemerkungen über
8. die beiden Formen des Lohnwerks.
Das Lohnwerk ist gewerbliche Berufs-
arbeit, bei welcher der Rohstoff
dem Kunden,» das Werkzeug dem
Arbeiter gehört. Dasselbe kann, wie
schon angedeutet, zwei verschiedene Formen
annehmen, a) Der Lohn werker tritt als
Tag- oder Stücklöhner zeitweise in die Wirt-
schaft der Kunden ein, erhält hier die Kost,
oft auch das Nachtlager und bleibt so lange,
bis dem vorhandenen Hausbedarf genügt ist.
Diese Arbeit heisst Stör, nach Schmeller
ursprünglich = Mühsehgkeit, also mit ähn-
lichem ^ebensinne wie Arbeit, labor, novog
etc. Das Wort wird in älteren Sprachdenk-
mälern bald stör, bald ster geschrieben und
davon ein Substantiv störer (sterer) gebüdet
— der gewerbliche Arbeiter im Kunden-
hause. Da in Süddeutschland und der
Schweiz der Ausdruck »auf der Stör
arbeiten« noch sehr gewöhnlich ist, so
empfiehlt es sich, danach das ganze Arbeits-
system auch in der Wissenschaft zu beuen-
nen. Störer sind diejenigen Gewerbetreiben-
den, deren Werkzeug sich leicht transpor-
tieren lässt, wie Schneider, Schuhmacher,
Sattler, Hausschiachter, alle Bauliandwerker,
zuweilen aber auch Weber, Schreiner, Fass-
binder. Der Störer hat entweder seine feste
Wohnung innerhalb eines lokal begrenzten
Kundenkreises, in der er die Rast- und
Feiertage bei den Seinigen zubringt, oder er
wandert auf grössere Entfernungen und hält
sich niu: im Winter bei seiner Familie auf.
b) Der Lohnwerker hat eine feste Betiiebs-
stätte, in welcher er den ihm von den
Kunden gelieferten Rohstoff gegen Stiick-
lohn bearbeitet. Wir können diese Betriebs-
form als Heimwerk bezeichnen. Sie um-
fasst meist solche Gewerbetreibende, deren
Werkzeug eine feste Betriebsanlage erfordert,
wie Müller, Bäcker, Leinenweber, Wagner,
Färber. Hie und da entwickelt sich das
Heimwerk aus der Stör. Das bekannteste
Beispiel ist der Betrieb des Schneiderge-
werbes, wie er bis vor kurzem allgemein
üblich war , wo der Kunde den Stoff beim
Gewerbe
369
Tuchhändler kauft oder ihn in eigener Wirt-
schaft erzeugt und nach Mass das Kleidungs-
stück in der Werkstätte des Schneiders an-
fertigen lässt Sprichwort und Volkslied
haben in mannigfacher Weise den Haupt-
übelstand dieser Betriebsform gekennzeich-
net: die Materialuhterschlagung. Daher
mag es kommen, dass bei vielen Lohnge-
werben Stör und Heimwerk sich neben ein-
ander finden, je nach Orts- und Landesge-
wohnheit. Die Stör gestattet, den Material-
verbrauch besser zu überwachen. Im römi-
schen und griechischen Altertum sind Gold-
uud Silberarbeiter meist Heimwerker, eben-
so in den deutschen Städten im Mittelalter.
Störarbeit dagegen finden wir bei den Edel-
metallarbeitern in Indien, Persien, der Tür-
kei, bei den Grold- und Silberstickern in
Marokko, den Silberschmieden in Libeiia,
den Seidenweberinnen in Kandia. Sehr
interessant ist in dieser Hinsicht die Ver-
teilung der Arbeit bei der Lohnbäckerei in
den verschiedenen Teilen Deutschlands.
Bald erhält der Bäcker von dem Kunden
das Mehl nebst dem Holz zum Heizen des
Backofens und liefert auf je 3 Pfund Mehl
4 Pfund Brot; bald hat er die Bereitung
des Teiges und das Formen des Brotes im
Hause des Kunden zu vollziehen, und es
wird das ausgeformte Brot zum Backofen
gebracht; bald besorgt die Hausfrau das
Kneten des Teiges und Ausformen des
Brotes selbst, und dem Bäcker bleibt nur
die Besorgung des Ofens; bald überwacht
die Kundin diese Manipulationen in der
Backstube des Bäckers. Daher kommt es
denn auch, dass in den aus der Litteratur
für die Verbreitung des Lohnwerks zu
ziehenden Nachweisungen vielfcich nicht klar
ersichtlich ist, ob Stör oder Heimwerk vor-
liegt, und es empfiehlt sich, beide Formen
in der Betrachtung zusammenzufassen.
9. Entetehong des Lohnwerks. Der
Ursprung des Lohnwerks scheint allgemein
darauf zurückgeführt werden zu müssen,
dass die älteren umfassenden Familienver-
bände sich auflösen und dass dabei Lücken
in der Güterversorgung sich herausstellen.
Die Einzelwirtschaften sind nicht mehr im
Stande, die Umformung selbsterzeugter Roh-
stoffe im eigenen Betrieb zu vollziehen : ent-
weder fehlt ihnen die dazu nötige Arbeits-
kraft, oder sie entbehren gewisser stehender
Produktionsmittel (der Mühle, der Kelter,
des Backofens, des Webstuhls); andere
Wirtschaften dagegen haben diese Arbeits-
kräfte bezw. Produktionsmittel, ohne sie für
den eigenen Bedarf vollkommen ausnutzen
zu können. Hier hilft man sich zunächst
durch gegenseitiges Leihen von Arbeits-
kräften und Produktionsmitteln; später
nimmt man in dem einen Falle fremde Ar-
beiter zeitweise gegen Kost und Taglohn
Handwörterbuch der StaatBwissenachaften. Zweite
ins Haus, um sie die nötigen Umformungs-
arbeiten vollziehen zu lassen; im anderen
Falle giebt man den Rohstoff hinaus an den
Eigentümer der Mühle, des Backofens, des
Webstuhls, um von diesem die Arbeit
gegen Vergütung verrichten zu lassen. In
beiden Fällen leisten die Hausgenossen des
Materialeigentümers oft noch Hilfe bei der
Arbeit, bis diese schliesslich von dem Lohn-
werker gänzlich übernommen wii'd.
Sodann macht es einen Unterschied, ob
sich diese Vorgänge bei Völkern mit un-
freier oder bei solchen mit freier Arbeit
vollziehen. Bei der Sklaven Wirtschaft der
antiken Völker ist es früh üblich geworden,
Ai'beitern von besonderer Kunstfertigkeit,
für die der Herr in seinem Hauslialt nicht
genügend Beschäftigung hatte, zu gestatten,
ihre Geschicklichkeit gegen Lohn anderen
auszubieten. Der Sklave wohnte für sich
und hatte den grössten Teil seines Verdiens-
tes an den Herrn abzidiefem. Aus dem
Reste bestritt er seinen Lebensunterhalt,
sammelte daraus auch im glücklichen Falle
ein Sondergut, mit dem er sich später frei-
kaufen konnte. Als Freigelassener mochte
er das Grewerbe in gewohnter Weise weiter
treiben, natürlich jetzt ausschiesslich zum
eigenen Nutzen. Wir vermögen noch deut-
lich zu erkennen, wde dieser Gebrauch ent-
standen ist. Ursprünglich vermietete der
Herr den Sklaven selbst auf bestimmte Zeit
an eine andere Wirtschaft und bezog dafür
einen nach Arbeitstagen berechneten Miet-
zins. In der Zeit der hochentwickelten
athenischen Volkswirtschaft ist es sogar
eine ganz gewöhnliche Kapitalanlage, (jte-
werbesklaven von bestimmter Kunstfertig-
keit an jene industriellen Grossbetriebe zu
vermieten, welche wir oben kennen gelernt
haben, und diese letzteren werden hierdurch
zu einer ganz eigentümlichen Art von »Un-
ternehmungen«. In der pseudoxenophoD-
tischen Schrift von den Einkünften wird auf
diese Sitte sogar ein eigenes Finanzprojekt
begründet. Auch in Rom war die Sklaven-
vermietung sehr verbreitet. Auf Ijandgü-
tern, welche zu klein waren, um ständige
unfreie Arbeiter für alle Wirtschaftszweige
zu unterhalten, wurden für einzelne Ver-
richtungen, insbesondere solche der Stoff-
verarbeitung, Sklaven auf Zeit von anderen
entliehen. In der Stadt konnte man Leute
jeder Art, vom Koch und Flötenspieler bis
zum Weber und Hauslehrer, um Lohn haben,
mochten sie nun vom Herrn vermietet wer-
den oder in freierer Stellung selbst ihre
Dienste ausbieten. Diese beiden Arten des
Lohnwerks werden auch von den Juristen
scharf auseinandergehalten, indem sie bald
von den servi sprechen, qui aliqua parte
anni agnim colunt, aliqua parte in merce-
dem mittuntur, bald von dem servus arte
Auflage. IV. 24
370
Gewerbe
fabrica peritus, qiii annuam mercedem prae-
Btat. Die letztere Stellung bildet aucii in
Rom vielfach die Vorstufe der Freilassung.
Im Mittelalter vollzieht sich die Loslö-
sung der hörigen Industriearbeiter von der
geschlossenen rronhofswirtsohaft in etwas
anderer Weise. Soweit jene Unfreie waren,
standen sie dem Haushalt des Hofes mit
ihrer ganzen Arbeitskraft zur Verfügung
mid empfingen dafür die volle Verpflegung.
Soweit sie als Hörige oder Kolonen in der
Nähe des Fronhofes auf eigenen Landstellen
angesiedelt waren, mussten sie nach Bedarf
auf dem Hofe ihre Arbeit leisten und er-
hielten an den Frontagen dort auch die Kost
Es ist das offenbar schon ein der Stör ähn-
liches Verhältnis, nur dass der Arbeiter an
Stelle des Lohnes die Nutzimg der Zinshufe
empfängt oder die Arbeit an Stelle des Zin-
ses leistet. Früh auch findet sich die Ein-
richtung, dass fertige Gewerbeprodukte als
Zins geliefert werden müssen, und -zwar
meist solche, zu denen der Rohstoff auf dem
Zinsgute oder im Walde gewonnen werden
konnte, wie Brot, Bier, Leinwand, WoUen-
zeug. Schindeln, Fassdauben, Reifen, Tonnen,
Wagen, Schüsseln, aber auch Platten, Kessel
imd andere metallene Geräte. In einzelnen
FäJlen wird ausdrücklich angegeben, dass
der Rohstoff von der Herrschaft geliefert
werden muss (panni de dominico Imo, de
dominica lana etc.) — also Heimwerk, das
mit Landnutzung gelohnt wird. Es ergiebt
sich leicht, dass diese hörigen Leute bei
dem freieren Verhältnis, in dem sie zur
Gutswirtschaft standen, bald auch anderen
ihre Dienste anboten und dass sie sich in
dem Masse von der Landwirtschaft mehr
zur gewerblichen Arbeit wenden muss-
ten, als im Laufe der Zeit ihre Land-
stellen kleiner und für die Ernährung einer
Familie weniger zureichend wurden. Da
aber auch die unfreien seit dem 10. Jahr-
hundert immer mehr in den Stand der Zins-
leute übertraten, so liegt es auf der Hand,
dass auch sie, soweit sie gewerbliche Arbeit
verstanden, immer mehr zum Lohn werk
übergehen mussten, namentlich wenn sie
von ihrem früheren Herrn nicht mit Grund-
besitz ausgestattet worden waren. Die
Folge der Städtebildung für diese gewerb-
lichen Tag- und Stücklöhner war dann
keine andere als die, dass sie sich an ein-
zelnen Punkten des Territoriums koncen-
trierten, von denen aus sie, auch im Besitze
der vollen persönlichen Freiheit, noch Jahr-
hunderte lang bloss mit Diensten ihren Mit-
bürgern und der imiwohnenden Landbevöl-
konmg zur Verfügung standen, bis sie all-
mählich zur Warenproduktion übergingen.
In Ländern, wo das unfreie Arboits-
system unbekannt war oder doch nicht bis
zu den Anfängen eines eigenen Standes von
gewerblichen Produzenten ausdauerte, ist
das Lohnwerk eine einfache Folge der zu-
nehmend imgleicher w^erdenden Veileilung
des Grundeigentums und der verringerten
Kopfzahl der Familien. Wo eine solche Ent-
wickelung Platz greift, wie bei den Süd-
slawen und den Russen seit Auf hebung der
Leibeigenschaft, lässt sich das System der
reinen Eigenproduktion nicht ferner aufrecht
erhalten. Zwar behält ein Teil der Haus-
stände noch Grundbesitz genug, um aus den
Bodenerträgnissen alle Bedürfnisse des Hau-
ses zu bestreiten ; aber sie haben nicht mehr
die nötige Arbeiterzahl, um die alte fami-
liale Arbeitsteilung aufrecht zu halten, ins-
besondere um auch bei grösseren Ansprüchen
an das Leben sämtliche Umformungen von
Rohstoffen selbst vorzunehmen. Ein anderer
Teil der Hausstände befindet sich nicht
mehr im Besitze einer zum Unterhalt und
zu voller eigenwirtschaftlicher Beschäftigimg
der Hausgenossen ausreichenden Bodenfläche
und ist deshalb genötigt, entweder einzelne
Zweige des Hauswerkes über Bedarf anzu-
bauen (§ 6) oder die männlichen Glieder
des Hauses im Lohnwerk zeitweise den
Hausständen der ersten Kategorie ziur Ver-
fügung zu stellen. Beide Formen der ge-
werblichen Arbeit, das spedalisierte Haus-
werk und das Lohnwerk, finden sich darum
so häufig in den nördlichen und östlichen
Ländern von Europa neben einander (oft bei
dem gleichen Produkte) und wei-den dort
gleichnaässig als »bäuerliche Industrie« be-
zeichnet. Nicht selten steht hier der Lohn-
werker zu seinem Kunden noch im Jahres-
vertrag: er verpflichtet sich, alle in sein
Gewerbe einschlagenden Arbeiten für den
Kunden zu leisten, wogegen dieser ihm
eine Vergütung in Naturalien, meist Ge-
treide, schuldet. So in Indien imd bei den
Südslawen. In Montenegro heisst ein solcher
Vertrag aljetica. Verwandt damit ist die
Stellung der ostelbischen Gutsschmiede und
-Sattler, welche auf Jahresvertrag und festos
Deputat gesetzt sind.
10. Das Lohnwerk im Altertum. Es ist
oben bereits gesagt, dass beide Formen des
Lohnwerks bei den Völkern des klassischen
Altertums vorkommen und hier ein Mittel bil-
den konnten zur Milderung der Sklaverei. Da-
bei war nicht übersehen ^ dass in Athen wie
in Rom Gewerbe nicht bloss von Sklaven und
Freigelassenen, sondern auch von ärmeren
Freien betrieben wurden, namentlich Fremden
(Metöken). Ebenso wird gern zugestanden,
dass auch fertige Gewerbeerzeugnisse auf dem
Markte käuflich waren. Eine eingehendere
Untersuchung über die Betriebsweise der an-
tiken Gewerbe würde aber hier scharf zwischen
den einzelnen Industriezweigen und den ver-
schiedenen Zeiten zu unterscheiden haben. Die-
selbe würde für die älteren Epochen unzweifel-
haft das Vorherrschen, wenn nicht das alleinige
Vorkommen des Lohnwerks ergeben. In den
Gewerbe
371
Homerischen Gedichten wird die Lieferung des
Rohstoffes durch den Besteller ausdrücklich be-
zeugt. Ueberhaupt kommen dort nur vier
eigentliche Gewerbe, bezw. Namen für gewerb-
liche Arbeiter vor, der des Töpfers, des Holz-,
Metall- und Lederarbeiters. Alles andere war
Hauswerk. Alle späterhin für den Handwerks-
betrieb bei den Griechen gebrauchten Wörter
{rexvitijg^ ßdvavoos, ;u«*ooTfi;i^r»7g, xeioatta^) be-
zeichnen entweder bloss technische Handfertig-
keit überhaupt oder sitzende Lebensweise und
werden in einem sehr weiten Sinne angewendet.
Zu den Texvttai rechnet man auch die Athleten,
Schauspieler, Redner, Wahrsager, und die
ßavavaoi stellt Aristoteles (Pol. III, 3, 3J mit
den Taglöhnem auf eine Linie und bringt oeide
in Gegensatz zu den Sklaven : sie dienen jeder-
mann, während die Sklaven nur einem dienen.
Damit stimmt es, dass die Bezahlung des Hand-
werkers als fiio^öq^ Lohn bezeichnet wird, und
dass uns wohl zahlreiche Macherlöhne von ge-
werblichen Produkten überliefert sind, aber
wenige Preise. In den aristokratischen Staaten
Griechenlands waren alle Gewerbetreibende
Sklaven, in Epidamnos sogar Staatssklaven, und
die gleiche Einrichtung schlug der Redner Dio-
phantos auch für Athen vor. Wie wäre das
alles denkbar, wenn sich die Griechen den freien
Gewerbetreibenden vorzugsweise als Unter-
nehmer hätten vorstellen müssen? Als haupt-
sächlicher Lohnwerker heisst der Gewerbetrei-
bende igyoXdtiogy iffyfovrjgy Arbeitnehmer, der
Besteller ^pyodorTyg, fwdorr/ff, Arbeitgeber (eigent-
lich Arbeiliiinausgeber). Der Besteller giebt
den Rohstoff hinaus (aus dem Hause: iyiöidovai
Igyov tüj drjfxiovQyqi) oder mietet den Lohn-
werker {fjnö^ovad^aij ; der letztere übernimmt
den Rohstoff (ixXafißavfiv) oder vermietet sich
luiG^ov tQ/a^t«f4tat). Das Heimwerk hat in der
igyoXaßua eine besondere Rechtsform gefunden,
die namentlich an der Verdingung staatlicher
Bauten ihre Ausbildung erfuhr (Hermann,
Gr. Privatalterth., § 69). Für die Stör liefen
weniger Nachweisungen vor. Sie findet sich
etwa bei zeitweise gemieteten Spinnerinnen und
Weberinnen, die in diesem Verhältnisse fgt^oi
hiessen.
Sehr scharf tritt das Lohnwerk im römi-
schen Rechte, namentlich dem älteren, hervor.
Für das Heimwerk haben die Römer die Ver-
tragsform der locatio conductio operis, für die
Stör diejenige der locatio conductio operarum
ausgebilaet. Im ersteren Falle nimmt der Ar-
beiter den Rohstoff mit, im zweiten holt sich
der Hausvater den Arbeiter, dessen Dienste er
zeitweise bedarf, ins Haus. Daher ist hier der
Arbeitgeber, dort der Arbeiter als conductor
bezeichnet. Es erscheint nicht unmöglich, dass
das in ältester Zeit gewiss häufigere Lohnwerk
freier Arbeiter den Ausgangspunkt für die Ent-
wickelung des römischen Mietrechts überhaupt
gebildet hat. Darauf weist auch der Ausdruck
merces hin, der für den Mietzins gebraucht
wird, sprachlich aber nur auf den Entgelt für
Arbeitsleistungen passt. Auf die Häufigkeit des
f ewerblichen Lohnwerks deutet endlich noch
ie berühmte Streitfrage der Juristenschuleu
über den Eigentümer des Fabrikates bei der
Stoffumwandlung (specificatio), wenn der Ver-
arbeiter nicht zugleich Eigentümer des Materi-
ales war. Es war ohne Zweifel im Sinne der
altnationalen Auffassung und Wirtschaftsweise,
wenn die Sabinianer ausnahmslos zu Gunsten
des ' Materialeigentümers entschieden wissen
wollten, weil die naturalis ratio dies erfordere.
Die erst in der Kaiserzeit aufgekommene
Theorie, dass dem Arbeiter das Arbeitsprodukt
zufalle, ist nie vollständig durchgedrungen —
ein Beweis, wie fremdartig auch in späterer
Zeit den Römern die Vorstellung eines mit
eigenem oder geliehenem Betriebskapitale wirt-
schaftenden gewerblichen Unternehmers war.
War es den Juristen doch auch durchaus nicht
ausgemacht, ob man es mit einem reinen Kaufe zu
thun habe, wenn der Handwerker das Material
lieferte oder vielmehr mit einem Geschäfte, das
aus Kauf und Miete zusammengesetzt sei.
Alles dies kann und soll nichts weiter be-
weisen, als dass Griechen und Römer den Ver-
kehr des Publikums mit den Gewerbetreibenden
vorzugsweise unter dem Gesichtspunkte des
Lohn Werks auffassten. Eine umfassende Bestä-
tigung dafür, dass dem die Wirklichkeit ent-
sprach, geben die überaus zahlreichen Lohnsätze
der Taxordnung des Kaisers Diokletian v.J. 801.
Aus dieser geht hervor, dass damals das Lohn-
werk ausschliesslich herrschte in den Bange-
werben, der Metallindustrie einschliesslich der
Edelmetallverarbeitung, dem Buchgewerbe, der
Schneiderei und Stickerei, endlich bei Schreinern,
Zimmerleuten und Schiffbauern ; neben der Pro-
duktion für den Verkauf kommt es vor in der
Textilindustrie, der Wagnerei, der Bäckerei;
dagegen fehlt es in der Lederindustrie. Als
Lohnformen kommen vor: Zeitlohn mit Bekösti-
gung, Stücklohn mit und ohne Beköstigung,
sowie Kombinationen von beiden -^ die Stück-
löhne z. T. in sehr feiner Durchbildung.
11. Das Lohnwerk im Mittelalter« Nach
dem gegenwärtigen Stande der Forschung mag
es zweifelhaft erscheinen, ob die Zunft Ver-
fassung direkt aus der Organisation des ge-
werblichen Personals der Fronhöfe hervorge-
gangen ist. Was aber nicht bezweifelt werden
kann, ist die Thatsache. dass die Betriebs-
weise auch des städtischen Gewerbes sich un-
mittelbar an diejenige der hofhörigen Stör- und
Heimarbeiter anschloss. Bis ins 14. Jahrhun-
dert sind die städtischen Handwerker zum
allergrössten Teile Lohnwerker. Viele von
ihnen sind es noch weit länger geblieben,
manche bis auf den heutigen Tag. Der Begriff
des „Handwerks", wie er jetzt allgemein gefasst
wird, passt nicht auf den Gewerbebetrieb der
mittelalterlichen Städte, wenn er auch vielleicht
das Ideal bilden mochte, dem zünftiges Selbst-
interesse schon in der zweiten Hälfte des 14.
Jahrhunderts bewusst nachstrebte. Wären die
erhaltenen Handwerksordnungen auf den Be-
triebscharakter des sogenannten Handwerks so
eifrig untersucht worden wie auf die äussere
Organisation desselben, so müsste längst erkannt
sein, dass die Materiallieferung durch den Be-
steller gerade in den grösseren zünftig geord-
neten Handwerken bei weitem vorherrschte,
dass Kundenarbeit mit Stofflieferung durch den
Meister und Arbeit für den Markt daneben weit
zurücktraten. Schon die leicht zu machende
Beobachtung, dass unter den Zünften die Bader,
Scherer, Sackträger oder Mötter, Schröder,
Wein knechte, Weinrufer, Rebleute, Hacker, ja
selbst Taglöhner u. dergl., also reine Arbeiter,
24*
372
Gewerbe
auftreten, hätte davon abhalten sollen, in dem
Normalhandwerker einen kleinen Unternehmer
zu sehen. Mischzünfte, wie diejenige * der
Scherer, Schildmaler, Glaser und Sattler hätten
sich wohl kaum hilden können, wenn die einen
bloss Lohndienste ausgeboten, die anderen
Waren produziert hätten. Dazu kommen die
mancherlei Taxordnungen, in welchen für Bau-
handwerker, Schreiner, Küfer, Müller, Bäcker,
Leinenweber, Schneider, Schuhmacher. Haus-
schlachter, Kannengiesser , Gold- und Kupfer-
schmiede, die Tag- oder Stücklöhne festgesetzt
und zuweilen selbst vorgeschrieben wird, wann
sie am Morgen zur Arbeit, am Abend davon
gehen sollen, was sie an Essen und Trinken
fordern dürfen, wie es mit dem Materialabfall
gehalten werden soll. Die vielen noch erhalte-
nen Stadtrechnungen weisen zahllose Ausgaben
auf für Material und Arbeitslöhne. Da wird
dem Schmiede das Eisen, dem Kerzengiesser
das Wachs, dem Dachdecker das Stroh, dem
Schreiner und Wagner das Holz für Geräte und
Feuerleitern, dem Glaser Blei und Glas, dem
Ofenmacher Kacheln, Decksteine, Lehm, Haare,
dem Kannengiesser das Zinn, dem Büchsen-
schmied Zinn und Kupfer für die Mischung,
Eisen für die Ladstöcke geliefert (Frankfurt
a. M.), und auch da, wo der Meister das Ma-
terial stellt, pflegt der Betrag für dasselbe ge-
trennt gehalten zu werden von dem für die
Arbeit.
Allerdings sprechen die Handwerksordnun-
fen weit häufiger von den Brot tischen und
leischbänken, den Tuchgaden und Gewand-
häusern als von der Lohnbäckerei, dem Haus-
schlachten und dem Wirken für das Bürger-
haus. Aber wer das Mittelalter kennt, muss
das natürlich finden. Kauf und Verkauf auf
dem Markte sind das Neue, Ungewohnte;
„Pfennwerte" kauft fast nur der Arme. Es be-
darf darum der regelnden und schützenden
Norm, welche nur die öifentliche Gewalt geben
kann. Ist doch die ganze mittelalterliche Ge-
sellschaft von einem tiefen Misstrauen gegen
jedes Handelsgeschäft erfüllt, das sie den ver-
schiedensten Kontrollen durch Marktmeister,
Wäger, Messer und Unterkäufer, vor allem
aber dem Schutze der Oefi'entlichkeit unterstellt.
Der Verkehr zwischen dem Lohn werker und
seinen Kunden ist das Altgewohnte; er voll-
zieht sich nach dem Herkommen, oft in der
Stille des Bürgerhauses, wo der einzelne sich
selbst gegen Benachteiligung und Unredlichkeit
schützen kann, zumal wenn er den vermögenden
Klassen angehört. Der Gewerbetreibende tritt
zeitweise fast in ein Dienst- oder Treuverhält-
nis zu seinen Kunden. Der Handwerker, wel-
cher eine ihm zur Verarbeitung übergebene
Sache veruntreut, wird rechtlich ebenso behan-
delt wie der Knecht, welcher seines Herrn Gut
veräussert oder verspielt (Heusler, Instit. II,
214). Erst allmählich, als im Zusammenhang
mit der ganzen städtischen Entwickelung auch
die Hauswirtschaft der Stadtleiite stärkeren
Einwirkungen der voranschreitenden Geld Wirt-
schaft nachgab, wird die Stolflieferung durch
den Meister häufiger, und schliesslich erscheint
sie als die Kegel, das Lohnwerk aber als Aus-
nahme. Von äiesem Augenblicke an stellt sich
die Notwendigkeit ein, auch dieses öffentlicher
Regelung zu unterwerfen, weil es nicht mehr
von der Tradition getragen wurde und nicht
mehr in der gesamten G^ffanisation des wirt-
schaftlichen Lebens wurzelte. So kommt es,
dass die Taxordnungen für Lohnhandwerker
erst mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts zahl-
reicher hervortreten. Sie lassen sich dann bis
ins 18. Jahrhundert hinein in den zahlreichen
Landesordnungen der deutschen Territorien ver-
folgen, und wenn in unserem Jahrhundert die
Gesetzgebung ihre Hand von diesem Gegen-
stande zurückgezogen hat, so geschah es gewiss
nicht deshalb, weil er alle Bedeutung ver-
loren hat.
Es dürfte sich kaum ein Gewerbe finden,
für das sich nicht einmal in mittelalterlichen
Quellen die Stofflieferung durch den Kunden
nachweisen Hesse, i^^icht selten steht ein Ge-
werbe zum anderen im Verhältnisse des Lohn-
werks. So der Müller zum Bäcker, der Gerber
zum Schuster, Sattler, Beutler, Riemenschneider,
der Schleifer zum Hamischmacher (Plattschlä-
ger), der Hutstaffierer zum Hutmacher, endlich
der Wollschläger, Zauer, Kämmer, Walker,
Färber und die Spinnerin zum Wollweber. Wie
fest gewurzelt das System war, ergiebt sich
wohl am besten daraus, dass es auch da zur
Anwendung "kommt, wo der Besteller den Roh-
stoff nicht mehr in der eigenen Wirtschaft er-
zeugt, sondern ihn auf dem Markte kaufen
muiifl (z. B. Zinn für den Kannengiesser, Eisen
für den Schmied, Leder für den Schuster, Satt-
ler etc., Tuch für den Schneider), und dass in
den Hansestädten der Handwerker, welcher für
Ausfuhrzwecke arbeitet, nicht selten zum Kauf-
mann im Verhältnis des Lohnwerkers steht.
So die Repschläger in Lübeck, Riga, Reval,
die Böttcher in Rostock, die Wandlärber und
Wandbereiter in Hamburg und Lübeck.
12. Sozialrechtliche Stelioiig der
Lohnwerk er. Mit dem Auftreten des Lohn-
werks beginnt in der Geschichte die ge-
sellschaftliche Arbeitsteilung. Als Beriifs-
arbeiter, der jedermann gegen Vergütimg
zu Dienste steht, wird der Lohnwerker eine
Persönlichkeit von öffentlichem Charakter,
ähnlich vne der Priester, der Arzt, der
Zauberer, der Sänger, die als Träger be-
sonderer Gaben am frühesten zu einer
Sonderstellung gelangen. Sie alle über-
nehmen der Gesamtheit gegenüber die dau-
ernde Erfüllung bestimmter Pflichten, und
damit ist der Begriff des öffentlichen Amtes
gegeben.
So sind noch heute im indischen
Dorfe der Gemeinde Wächter, der Brahmine
(für die religiösen Ceremonien), der Schuh-
macher, der Sattler, der Töpfer einander
völlig gleichgestellt; in grösseren Orten
reiht sich ihnen auch ein Messinggiesser
oder Silberschmied an. Diese Benifsthätigen
sind die einzigen, die sich aus der Masse
der Ackerbauer herausheben ; sie sind Dorf-
beamte : jeder von ilinen hat ein Stück Land
zur Bebauung von der Gemeinde und erhält
ausserdem von jedem Ackerbauer eine her-
kömmlich feststehende Belohnung in Körnern,
die beim Ausdreschen der Ernte verabreicht
Gewerbe
373
wird. Die Gewerbetreibenden sind aus-
schliesslich Lohn werker, und zwar Störer.
Bei Homer heissen die gewerblichen
Berufsarbeiter öTjuiovgyoi] denselben Namen
führen aber auch die Heix)lde, Sänger, Aerzto
und Seher, also alle, welche eine nicht jedem
geläufige Kunstfertigkeit für andere ausüben,
öclion die alten Erklärer sagen, das Wort
bedeute bei Homer im Gegensatze zum
späteren attischen Sprachgebrauche t6v
dfjuoaiq fiia^ttQvovvttt^ den jedermann um
Lohn sich vermietenden (Yolksarbeiter).
Später differenziert sich der Ausdnick ; bei
den Attikern heisst drifitovQyog jeder Kunst-
verständige, bei den Dorern eine obrigkeit-
liche Person. Dies wäre unverständlicli,
wenn nicht in älterer Zeit der Gewerbe-
treibende eine beamtenartige Stellung ge-
habt hätte.
Auf dieselbe Anschauung scheint die
Eirichtung der altrömischen Hand-
werkerkollegien durch Numa hinaus-
zuführen. Als erstes derselben werden die
Flötenspieler genannt, die auerkanntermassen
eine öffentliche Stellung hatten ; die übrigen
sind die Goldarbeiter, Zimmerleute, Färber,
Schuster, Gerber, Schmiede, Töpfer — alle
auch bei anderen Völkern als Lohnwerker
vorkommend.
Auch die mittelalterliche Zunft-
verfassung muss in ihren Anfängen auf
die gleiche Auffassung zurückgehen. Die
Zunft ist ein Amt, eingerichtet zum all-
gemeinen Besten. Die korporativen Verbände
von Arbeitern des gleichen Berufes haben
ein ausschliessliches Recht auf die gewerb-
liche Arbeit in der Stadt; sie haben dagegen
die Pflicht, dafür zu sorgen, da&s die ihren
Mitghedem obliegenden Verrichtungen gut
imd probehaltig ausgeführt werden. Der
grössere Teil der Bestimmungen der älteren
Zunftrollen nimmt das Jjohnwerk zur
Voraussetzung. So die Vorschrift, dass
niemand zum Gewerbe zugelassen werden
darf, der es nicht mit eigener Hand betreiben
kann, der aUes beherrschende Gnmdsatz der
brüderlichen Gleichheit, das Verbot, einander
die Kunden abzuspannen, das von einem
anderen angefangene Werk fortzusetzen, die
Lohntaxen, die Bestimmungen über Arbeits-
zeit und Werklohn. Dazu kommt, dass bis
zum 13. Jahrhundert der Unterschied zwischen
Meistern und Gesellen nicht vorkommt, ganz
wie bei den Griechen und Römern.
Auf die gleiche Grundanschauung ist
möglicherweise die Ausbildung der
Zwangs- und Bannrechte zurückzu-
führen, die den Inhabern gewisser Gewerbe-
anlagen (Mühlen, Backöfen, Keltern, Brau-
häusern) ein ausschliessliches Recht auf die
Kundschaft in bestimmten Orten einräumen
und ihre schärfste Ausbildung im gutsherr-
lichen Verbände finden. Ueberall handelt
es sich um Heimwerk, und der wirtschaft-
liche Grund der Bannrechte liegt zweifellos
in den grossen Kosten, welche die Her-
stellung jener stehenden Produktionsmittel
verursacht und deren Vergütung nur bei
allgemeiner Benutzung sichergestellt war.
13. Der Kampf gegen die Störer. Die-
jenige Form des Lohnwerks, welche am
meisten an die frühere Unfreiheit der ge-
werblichen Arbeit erinnert, die Stör, ist in
den mittelalterlichen Städten zu der Zeit,
aus welcher wir reichlicher mit Zunftord-
nungen versehen sind (14. Jahrhundert),
bereits stark im Rückgang. Unangefochten
erhält sie sich eigentlich nur bei den Bau-
handwerken, die in der Zeit des vorherr-
schenden Holzbaues lange einen halbländ-
lichen Charakter bewahrten. Mit dem Er-
starken der Zünfte macht sich eine aus-
gesprochene Abneigimg gegen diese des
freien Bürgers unwürdig scheinende Arbeits-
ai't bemerklich, und bald wird es zum Un-
terscheidungsmerkmal zwischen dem städ-
tischen und dem Landhandwerker, dass
letzterer im Kundenhause arbeitet, der
erstere aber nicht. In dem Masse, als das
Gewerbe in den Städten sich koncentriert
und das Land wirtschaftlich von der Stadt
abhängig wird, gewinnt die Anschauung an
Boden, dass auf dem Dorfe überhaupt Ge-
werbe nicht getrieben werden sollten. Die
städtischen Handwerker weigern sich, auf
dem Lande zu arbeiten, und umgekehrt
suchen sie die Konkurrenz der Dorfhand-
werker, der Störer, in der Stadt auszu-
schliessen. Schliesslich verwischt sich die
ursprüngliche Bedeutung des Wortes; Stö-
rer bedeutet dann jeden, der unbefugt, ohne
Zunftrecht und nicht nach Zunftgewohnheit
ein Gewerbe treibt. Und das gleiche Schick-
sal scheint das gleichbedeutende Wort B ö n -
hase gehabt zu haben. Schon am Ende
des 17. Jahrhunderts weiss A d r i a n B e i e r
beide Ausdrücke nicht mehr zu erkläi-en.
Er übersetzt Störer mit tiu-bator, Invasor,
Usurpator.
Da ist es denn nicht ohne Bedeutung,
dass der ältere Sprachgebrauch die beiden
Wörter vorzugsweise auf die Schneider an-
wendet. In der That haben die Bekleidungs-
gewerbe am frühesten die Arbeit im Kunden-
hause bekämpft. Schon 1361 verbietet ein
sehlesischer Schneidertag, Störer in die
Brüderschaften aufzunehmen. In der ältesten
Frankf uiter Schuhmacherordnung (1355) wird
vorgeschrieben: »Wer auch nuwe schuhe
machet, der sal zu huse siezen.« Niu* den
Flickschustern oder Ruszen (auch Reussen,
Altreussen, Leppor) ist es noch gestattet,
in der Kunden Hause zu arbeiten. In einer
Reihe von Städten liegen Neuschuster und
Altreussen fortwälu^end miteinander im
Streite, und noch im 17. Jalirhundert bildet
374
Gewerbe
AI t reis se ein Schimpfwort, das mit Störer,
Sttimpler, Pfuscher, Bonhase gleiche Be-
deutung hat. Das gleiche VerhiÜtnis waltet
zwischen den Neu- und Flickschneidern ob.
Bald folgten ihnen andere Gewerbe nach.
In Lübeck gebietet eine Ordnung von 1371,
dass ein Goldschmied »in den husen nicht
werken schal«. In Augsburg schreibt eine
Weberordnung von 1549 vor : »Es soll auch
kain Maister ausserhalb seiner werckstatt
nit würckhen lassen ohn erlaubnuss der
verordneten sechs herren.« Dass hier das
Arbeiten auf der Stör gemeint ist, geht aus
einer anderen Bestimmung hervor, in welcher
jedem Lohnweber gestattet wird, mit vier
breiten Stühlen (in seinem Hause) Lohn-
werk zu wirken. Um dieselbe Zeit ver-
sichern die Augsbm-ger Maler, Glaser, Bild-
schnitzer und Goldschläger, es sei »von alter
herkommen, dass kein maister oder derselben
gesellen under obgemelten handwerckern
kein tagv^^erckh arbeiten«. In Pegau wollen
1595 die Sattler ihren Genossen das stören
ufn dörffern nicht erlauben. In Pforzheim
sind es die Küfer, welche den Meistern ver-
bieten, den Bürgern um Stücklohn xu ar-
beiten oder einen Knecht aufs Dorf zur
Arbeit zu schicken. Bei den Kunthor- und
Panelenmachern in Hamburg und Lübeck,
welche in der Stadt noch auf der Stör ar-
beiten, werden Massregeln gegen die Ge-
sellen ergriffen, die auf eigene Hand hier
und da bei Herren und Junkern auf dem
Lande arbeiteten.
In der eigentümlichen Stellung der Ge-
sellen bei der Stör lag wohl der Haupt-
grund des Widerstandes der Meister gegen
diese Betriebsweise überhaupt Der Meister
empfing ffir seine wie für des Gesellen Ar-
beit von den Kunden blossen Taglohn. Die
Gesellen beanspruchten den letzteren ohne
Abzug, und dies führte in Deutschland wie
in England und Frankreich zu fortwährenden
Streitigkeiten. Wo der Meister das ganze
Werkzeug stellte, wurde für dieses eine
Entschädigmig zugestanden. Besass aber
der Geselle sein eigenes Werkzeug, so gab
es kaum ein sachliches Hindeniis ftir üin,
auf eigene Hand Kundenarbeit anzunehmen.
Man begreift danach, was die viel berufene
Bönhasenjagd der Schneider in den
norddeutschen Städten auf sich hatte. Es
war ein Aufsuchen der Störer in den Kunden-
häusern, wobei die öffentliche Gewalt
schwach genug war, von ihnen bloss zu ver-
langen, dass sie »von den Einwohnern mit
Glimpf begehren, ihnen die Bönhasen folgen
zu lassen«.
Die fürstliehen Landesordnungen traten
dieser Abneigung der Zünfte gegen die Stör
zum Teil selir entschieden entgegen. In
der kiu'sächsischen von 1482 heisst es:
»Da jemand eines Haudwercksmannes, es
sey Schuster, Schneider, Kürschner, Tischer,
Glaser oder andere, in seinem Hause zu
arbeiten begehren würde, sol der Hand-
wercksmann sich dessen, ausserhalb Kranck-
heit oder dass er etwa einem andern zu
arbeiten albereit beweisslich versprochen
hätte, nicht verweigern, bey Straff drey
Gulden.« Aus zwei kurpfälzischen Tax-
ordnungen von 1559, welche insbesondere
aucli für die Stadt Heidelberg Geltung haben
sollten, ist zu ersehen, dass damals noch
Zimmerleute, Steinmetzen, Maurer, Tüncher,
Decker, Schreiner, Küfer, Schneider imd
Schuhmacher im Taglohn auf der Stör zu
arbeiten pflegten, während. Gerber, Gold-
schmiede, Tuchscherer, teilweise auch Huf-
schmiede und Glaser als Heimwerker er-
scheinen. Aehnliches findet sich später auch
in norddeutschen Taxordnungen wie der
braunschweigisch-lüneburgischen von 1646
und der vorpommerischen von 1681. Da-
gegen scheint in den Reichsstädten den
Zünften die Verdrängung des Störbetriebs,
wenn man von den Baugewerben absieht,
vollständig gelungen zu sein.
Auch dem Heimwerk waren die Zunft-
anschauungen keineswegs günstig. Im Jahre
1454 gebieten die Gerber in Lübeck : »Item
so enschal nymand in vnsem ampte ledder
gheren vmnje geld«. Dasselbe thun 1465
die Pergamenter, um 1500 die Russfärber.
Im allgemeinen wird jedoch behauptet wer-
den dürfen, dass die Verdrängung des Heim-
werks den Zünften bei weitem nicht in dem
Masse gelungen ist, wie die Untei'drückimg
der Stör.
14. Der Uebergang zum Preiswerk.
In der Ordnung, welche die Steinmetzen zu
Frankfurt a. M. sich 1355 vom Rate be-
stätigen Hessen, findet sich der Satz : »Auch
han wir f unden durch des [gemeinen] besten
willen, das kein meystir under uns nymanne
ensal gebin in syme gedingeten werke kalk
adir mm*steyne, uff das yman bedrogen
werde.« Damit ist die Ursache angedeutet,
welche im Mittelalter das Lohnwerk empfahl
und die Materiallieferung durch den Meister
unzulässig erscheinen Hess. Der tote Stoff
sollte kein Erwerbsmittel w^erden können,
sondern nur die lebendige Menschenkraft,
und auch nachdem fertige Handwerksprodukte
längst Gegenstand des Marktverkehrs ge-
worden waren, unterschied man noch zwischen
dem Preise des Rohstoffes, den der Meister
bloss vorgeschossen hatte, und dem Lohne
für seine Arbeit. Man konnte sich den
Handwerker ebensowenig als »Warenver-
käufer« vorstellen, als man den Begriff des
Kapitalzinses zu erfassen vermochte. Im
Rohstoffeinkauf hat er hinter dem Bürger,
der für den eigenen Bedarf kauft, zurück-
zustehen ; bei Verkauf des feitigen Pi-oduktes
liat er wahrheitsgetreuen Aufsclüuss über
Gewerbe
375
das verwendete Material zu gebea : »biickea
schuhe vur bücken, scheffen tot scheffen,
rindern vur rindern«, wie es in einer Schuh-
raacherordnung heisst. Der Handwerker
erschien nach dieser Seite wie der Unter-
käufer, der den Verkehr des einheimischen
Konsumenten mit dem fremden Produzenten
oder Kaufmanne vermittelt hatte, seine Ar-
beit als ein Dienst, der dem BLause geleistet
wunle, an das sein Erzeugnis überging.
Dennoch Hess sich bei allen Arten der
Stoffverarbeitung, bei welchen der Kunde
das Material nicht in eigener Wirtschaft
erzeugte, der üebergang vom Lohnwerk zum
Preiswerk (so wollen wir diejenige Form
der gewerblichen Produktion für fremden
Bedarf nennen, bei welcher der Produzent
zugleich Arbeiter und Ei^ntümer der Roh-
und Hilfsstoffe ist) auf die Dauer nicht ver-
meiden. Mochte anfänglich der Konsument
aus alter Gewohnheit noch den Rohstoff
selbst einkaufen, mochte er später den Hand-
werker, weil dieser sich besser auf die Sache
verstand, dabei als Vermittler benutzen oder
ihm einen Vorschuss geben, damit er selbst
das Nötige beschaffe, schliesslich gelangte
der letztere bei Fleiss und Sparsamkeit selbst
zu den notwendigsten Betiiebsmitteln, und
die Materialbeschaffung ging ganz an ihn
über. Wer nicht so glücklich war, mochte
l»ei dem bessergestellten Genossen als Ge-
hilfe eintreten.
Diesem unausweichlich gewordenenUeber-
gange von der Gebrauchswert- zur Tausch-
wertproduktion muss wohl die Ausbildung
des Gesellenwesens zugeschrieben wer-
den und der ganzen aufsteigenden Personen-
gliederung des mittelalterlichen Gewerbes.
Der Geselle hat in vielen Gewerben noch
jahrhundertelang sein eigenes Werkzeug.
Ursprünglich ein minder glücklicher Arbeits-
genosse seines Meisters wird er zu dessen
Knecht, sobald dieser zum Eigentümer eines
Betriebskapitals wird. Dass er nicht in
noch grössere Abhängigkeit von demselben
gerät, hegt an dem glücklichen Umstände,
dass der grössere Teil des Zunftrechts auf
der Voraussetzung des Lohnwerks beruhte
oder doch nur eine konsequente Weiterbildung
des Rechtes dieser Betnebsform war.
Dahin gehört vor allen Dingen die künst-
liche Kleinhaltung der Betriebe, die Be-
schränkung in der Zahl der Knechte, das
Verbot der Association mehrerer Meister,
der Nacht- und Sonntagsarbeit, das Recht
auf Teilung beim Materialeinkauf, die Be-
stimmung, dass keiner mehr als eine Werk-
stätte oder Verkaufsstelle haben dürfe, das
Verbot, einander die Knechte abzuspannen,
mit den Produkten des eigenen Handwerks
Zwischenhandel zu treiben, die Festsetzung
des Maximaiumfangs der Produktion. Alles
dies konnte keinen anderen Zweck haben,
als auch nach dem Aufkommen der Stoff-
lieferung durch den Meister einen eigentlich
kapitalistischen Betrieb sich nicht entwickeln
zu lassen. Hatte man beim Lohnwerk die
Bestimmungen zur Aufrechterhaltung der
Gleichheit mit der Formel gerechtfertigt:
es solle »jeder bei seines Leibes Nahnmg
erhalten werden«, so glaubt man jetzt ver-
sorgen zu müssen, »dass der Reiche den
Armen nicht verderbe«.
Dass im allgemeinen die Betriebsmittel
der mittelalterlichen Handwerker lange Zeit
sehr beschränkte blieben, darf einerseits aus
dem öfter vorkommenden Ankauf des Roh-
stoffes durch die ganze Zunft, andererseits
aus der Thatsache geschlossen werden, dass
überall, wo eine grössere Kapitalanlage not-
wendig erscheint, die gesamte Bürgerschaft
eintreten muss. Die Stadt baut Schlacht-
häuser, Walkmühlen, Schleifwerke, Gerbe-
häuser; sie stellt die Kessel der Färber auf,
unterhält die Tuchrahmen der Weber, die
Mangen des Bleichhauses; ihr gehören viel-
fach die Verkaufsstände, die Lederhallen,
Kürschnerlauben und Gewandhäuser. Auch
später, als einzelne Handwerker zu Wohl-
stand gelangen, äussert sich dieser weniger
in einem schwunghafteren Gewerbebetneb
als darin, dass die Erübrigungen des letz-
teren, der natürlichen Anziehungskraft des
Grimdeigentums folgend, die Form von
Aeckem, Häusern, Renten und Gülten an-
nehmen. Die Zeit, in der die bewegliche
Habe eine ihr eigene Accumulationskraft
bewähren sollte, war noch nicht gekommen.
Der üebergang vom Lohnwerk zum Preis-
werk fand am frühesten in den kleinen
nichtzünftigen Gewerben statt und in den
zahlreichen Zweigen der Metallindustrie, bei
denen die Rohstoffproduktion. in den Wirt-
schaften der Konsumenten ausgeschlossen
war. Sehr langsam folgen die grossen
zünftigen Gewerbe. Die meisten von ihnen
haben das ganze Mittelalter hindurch, wie
die Bäcker, Metzger, Gerber, Schuster, Lohn-
mid Preiswerk neben einander getrieben, das
eine für die wohlhabenden, das andere für
die ärmeren Konsumenten.
16. Das Wesen des Handwerks. Was
wir seither zur Markierung eines wichtigen
Unterschiedes als Preis werk bezeichnet haben,
ist nichts anderes, als was der gemeine
Sprachgebrauch und die wissenschaftliche
Litteratiu* Handwerk nennen. Es empfiehlt
sich nicht, diesen Namen fallen zu lassen,
wohl aber sein Anwendungsgebiet in der
Weise zu beschränken, dass wir das Lohn-
werk davon ausschhessen , was auch der
Uebung der neueren wissenschaftlichen
Litteratur entspricht.
Wirverstehen dann unterHand-
werk dasjenige gewerbliche Be-
triebssystem, bei welchem der Pro-
376
Gewerbe
duzent als Eigentümer sämtlicher
Betriebsmittel Tauschwerte für
nicht seinem Haushalt angehörende
Konsumenten erzeugt. Handwerk ist
immer Kundenproduktion, Produktion für
bekannten Absatz. Mag der Meister bloss
Werkzeug und Rohstoffe bereit halten, um
sie jedesmal auf Stückbestellung in Bewe-
gung zu setzen, mag er in Ermangelung
von Einzelbestellungen auf Voirat arbeiten,
um ihn auf Wochen- und Jahrmärkten zu
vertreiben: immer ist es der Verbraucher,
an den er das Produkt absetzt. Eine »Güter-
cirkulation« findet nicht statt. Das Absatz-
gebiet ist eng. Es ist durch die Stadt und
ihre nähere Umgebung ein für allemal ge-
geben : nur selten werden entferntere Märkte
besucht. Die Arbeit ist wegen ihrer benifs-
mässigen Ausübung qualifizierter als beim
Ha US werk ; aber sie ist nicht mehr in dem-
selben Masse individualisiert. Am meisten
ist sie dies noch, wo der Meister auf Stück-
bestellung arbeitet und das Werk den Be-
dürfnissen und Wünschen der Kunden an-
passen muss. Aber ein individueller Zug
ist auch noch den Produkten eigen, welche
der Handwerker nach eigenem Ermessen
schafft, um sie der Kimdschaft anzubieten,
die sich auf dem Markte bei seinem Stande
einfindet. Arbeitet er auch hier für Diu'ch-
schnittsbedürfnisse, so sind es doch die ihm
genau bekannten Verhältnisse eines örtlich
begrenzten Einwohnerkreises, dem er sich
anzubequemen hat. Wird sein Produkt in
diesem Falle Ware, so ist es doch nicht
Dutzendware für alle Welt, sondern Kunden-
wai*e von lokaler Eigenart, »wärschaft Gut«,
wie man im Mittelalter sagte, für das der
Meister oder die Zunftschau dem Konsu-
menten haftet.
Hängt der Lohn werker sozusagen noch
an der Nabelschnur der geschlossenen Haus-
wii-tschaif, so ist beim Handwerk diese
Verbindung gelöst. Es ist gleichsam ein
Querschnitt (oder auch mehrere) durch die
Produktion gezogen worden, und aus der
einzigen Wirtschaft des Grundeigentümers,
in der alle Umformungen des Rohstoffes
bis zur Genussreife, wenn auch immerhin
mit Zuhilfenahme fremder Arbeit, sich voll-
zogen und in der das ganze Nationalprodukt
zusamraenfloss, sind nun zwei oder mehr
Wirtschaften gewordQU, von denen jede ihr
besonderes Eigentum imd ilu-en besondeien
Ertrag hat. War mit der Ausbildung des
Lohnwerks bloss der Arbeiter aus der
Wirtschaft des Grundeigentümers ausgetre-
ten, so folgen ihm jetzt auch die Produk-
tionsolemeute, an denen or seine Geschick-
lichkeit bethätigt. Wo die Grenze zwischen
Ur- und Kunstproduktion gezogen, wie oft
die letztere noch untergeteilt wird, ist zwar
durchaus nicht willkürlich, unterliegt aber
auch keiner inneren Notwendigkeit. Ob
z. B. das innerhalb der Landwirtschaft vor
sich gehende Stück des Produktionsprozesses
der Kleidung beim rohen oder dem ge-
hechelten Hanf oder Flachs oder ob es
beim fertigen Gespinst oder beim rohen
oder gar beim gebleichten und gefärbten
Gew^ebe abbricht, ist immer Sache technisch-
wirtschaftlicher Zweckmässigkeit. Im ersten
Falle entstehen wie neu aufgesetzte Stock-
werke am Bau der Gesamtproduktion die
Gewerbe der Spinner, Weber, Färber und
Schneider, im letzten Falle bloss dasjenige
der Schneider. Auch lässt sich durchaus
nicht behaupten, dass immer das letzte
Stück des Produktionsprozesses zuerst sich
verselbständigen müsse, während die vor-
ausgehenden Stadien desselben noch eine
Zeit lang beim Hauswerke oder dem Lohn-
werk verharren. Bei der Bereitung wollener
Kleider hat das Mittelalter zuerst das
Mittelstück, die Weberei, zum Handwerk
gemacht, während das Spinnen der Wolle
noch eine Zeit lang Hauswerk und das Nähen
der Kleider Lohnwerk oder auch Hauswerk
blieb. Das wichtigste wirtschaftliche Er-
gebnis der so sich vollziehenden Produk-
tionsteilung ist die Notwendigkeit des gegen-
seitigen Austausches zwischen den durch
diese hervorgebrachten einseitigen Wirt-
schaften. Die letzteren werden so zu Er-
werbswirtschaften, während es vorher nur
Bedarfswiiischaften gab. Das wichtigste
soziale Ergebnis ist die Entstehung eines
neuen werbenden Eigentums, des gewerb-
lichen Betriebskapitals, dessen Bewirtschaf-
tung, wie seither bloss diejenige des Grund-
eigentums, einen selbständigen Ertrag ab-
wii-ft, der mit dem Arbeitslohn des blossen
Lohnwerks zu einer neuen Einkommens-
kategorie, dem Untemehmereinkommen, ver-
schmilzt. Dadurch wird der Stand der Ge-
werbetreibenden aus einem blossen Benifs-
ai'beiterstand zu einer neuen Besitzklasse,
die eben auf Grund dieses Besitzes dieselbe
soziale und politische Geltung erstrebt, die
vorher mu: den Grundeigentümern zukam.
Die soziale Stärke des Handwerks liegt
in der engen Vereinigung von Arbeit und
Besitz, von Arbeits- und Besitzeinkommen.
Und zwar ist es ein Besitz, der Arbeitspro-
dukt ist und den die Arbeit sich unterwor-
fen hat, nicht ein Besitz, der auf aus-
schliesslicher Aneignung von Naturgaben
beruht, wie der Grundbesitz, der in seiner
starren Unbeweglichkeit sich die Arbeit un-
terworfen hatte. Wälirend das Grundeigen-
tum die Arbeit an sich gefesselt, sie ver-
dinglicht hatte, ist jene neue Art von Eigen-
tum die persönliche Ausstattung des Arbei-
tera, die ihn frei macht.
Die Verselbständigung der gewerblichen
t PiTwluktion im Handwerk vollendet die mit
Gewerbe
377
der Ausbildung des LoliQwerks begonnene
Ersetzung der früheren häuslichen durch
eine besondere Art der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung. Wir haben dieselbe oben
als Produktionsteilung bezeichnet. Je
nach der Zahl der Produktionsabschnitte,
die der alten Hauswirtschaft entnommen
werden, schwankt die Zahl der Handwerks-
betriebe, die ein vom Urproduzenten abge-
stossener Rohstoff durchlaufen muss, bis er
die Genussreife erlangt. In der Regel ist
nur ein Gew^erbe dazu nötig (Metzger,
Kürschner, Bierbrauer); manchmal auch
zwei (Müller — Bäcker), drei (Metzger —
Gerber — Schuster) oaer mehr (Textilge-
werbe). Bei den letzteren wird das Produkt
des einen immer wieder Betriebsmittel des
anderen Gewerbes. Soweit wir sehen kön-
nen, ist es ein ziemlich seltener Fall, dass
später ein auf die angegebene Weise selb-
ständig gewordener Produktionsabschnitt in
weitere Etappen zerfällt. Die bekanntesten
Beispiele sind die der Schuhmacher, die in
manchen Städten früher auch das Leder
gerbten, der W^agner, die zugleich Schmiede
waren, der Hutmacher, von denen sich die
Hutstaffierer trennten. Einer fortgesetzten
Produktionsteilung stemmt sich die städti-
sche W^in Schaftsorganisation, welche in der
Hauptsache auf allseitige Versorgung eines
eng begrenzten Konsumentenkreises hinaus-
lief, ebenso entgegen wie die Beschränkt-
heit des Kapitalbesitzes dei- Handwerker. .
Dagegen ermöglichten imd beförderten
diese Verhältnisse eine andere Art der ge-
sellschaftlichen Arbeitsteilung, die wir als
Berufsspaltung oder Specialisation
bezeichnen können. Sie besteht darin, dass
ein gewerblicher Produktionsabschnitt sich
gleichsam der Länge nach durchspaltet, so
dass die Herstellung eines Teils seiner Er-
zeugnisse sich als selbständiger Gewerbe-
zweig ablöst. So trennen sich von den
Küfern die Kubier, von den Wagnern die
Pflugmacher, von den Zimmerleuten die
Schreiner, Drechsler, Wagner, Mühlenbauer;
die Lederer zerfallen in Loh- und Weiss-
fTber; von den Sattlern splittern sich die
ummeter, Riemenschneider, Beutler ab;
von den Schneidern die Hutmacher und
Seidensticker. Der Schmied der alten Zeit
macht jede Art der Eisenarbeit. Seinem
umfäuglidien Produktionsgebiete entw^achsen
nach und nach die Gewerbe der Huf-
schmiede, Nagelschmiede, Scheren- und
Messerschmiede, Schlosser, Nadler, Kamm-
schmiede, Waffenschmiede, Sarwerten (Rüs-
tungmacher). Das Gewerbe der Waffen-
schmiede zerfällt später in die selbständigen
Zweige der Sporer, Klingenschmiede,
Schwertf eger und Pfeilsticker ; das der Sar-
werteu in Haubenschmiede , Harnischer,
Blechhandschuher und Beingewänder. Die
Harnischer teilen sich mit der Zeit in
Platner und Ringharnischer. In grosseren
Städten geht diese Specialisierung zuweilen
weit über das Mass hinaus, welches uns
technisch und wirtschaftlich zweckmässig
erscheint. W^eist doch Frankfurt a. M., das
nur als Stadt von mittlerer Grösse gelten
kann, im 14. und 15. Jahrhundert an 200
selbständige Berufsarten im Gewerbe auf.
In kleineren Städten war die Berufsspaltung
eine geringere. Und gerade darin liegt ein
grosser Vorzug, dass das Produktionsgebiet
jedes Gewerbes sich eng den Absatzverhält-
nissen anschmiegte und sich sträubte, unter
das Mass des zur Ernährung einer Familie
Notwendigen herabzusinken.
Aber wie jede Zeitrichtung der Ueber-
treibung fähig ist, so hat auch die Berufs-
spaltung im Handwerk schon gegen den
Ausgang des Mittelalters hie und da das
zulässige Mass überschritten. Ihr wichtigstes
Ziel, die Zahl der selbständigen städtischen
Nahrungen zu vermehren, ging dann ver-
loren ; es traten lebensunfäluge Gebilde auf.
Und dies in dem Masse mehr, als die
Handwerker den Landwirtschaftsbetrieb, den
sie für den eigenen Bedarf auch in der
Stadt beibehalten hatten, aufgaben und zu
reinen Gewerbetreibenden wurden. Daher
die damals schon sehr häufige Verbindung
zweier verschiedener Borufsarten , eines
zünftigen und eines nichtzünftigen Gewerbes
oder des Gewerbes mit städtischem Dienst
oder sonstiger Ijohnarbeit. Daher auch che
allmählich aufkommende Sitte, mit dem
Handwerksbetriebe einen kleinen Kramladen
zum eigenen Produkt passender Artikel zu
verbinden und die daraus hervorgegangene
Einreihung zahlreicher kleiner Handwerke
in die Krämerzunft. In der ülmer Krämer-
zunft befanden sich schliesslich: die Säck-
ler, Taschenmacher, Weissgerber, Hand-
schuhmacher, Sattler, Spengler, Nadler,
Seiler, Bürstenmacher, Glaser, Würfelmacher,
Pergamenter , Spindeldreher , Weinzieher,
Tüncher, Pfästerer, Maler und Bildschnitzer ;
in Basel wurden im 15. Jahrhundert nicht
weniger als 22 eigentliche Handwerke zur
Kramerei gerechnet, meist spät entstandene.
16. Das Wandergeweini)e. Wir müssen
hier den Faden unserer Untersuchung: einen
Angenblick abbrechen, um kurz bei emer ge-
werblichen Betriebsform zu verweilen, deren
entwickelungsgeachichtliche Bedeutung für die
westeuropäischen Länder sich mehr ahnen als
feststellen lässt. Morphologisch steht das Wander-
gewerbe zwischen Haus- und Lohnwerk, und so
steUt sich uns dasselbe auch in den slawischen
Ländern allgemein dar. Bei geringem und un-
regelmässigem Bedarf an Handwerksarbeit er-
scheint es natürlich, dass der Gewerbetreibende
von Ort zu Ort zieht, und so wäre das Wander-
gewerbe in gleicher Weise ein Vorläufer des
stehenden Gewerbebetriebes, wie der Hausier-
378
Gewerbe
handel ein Vorläufer des stehenden Handels ist.
Der Wandergewerbetreibende gliedert sich ent-
weder zeitweise dem fremden Hanse ein, in dem
er Arbeit findet, oder er schlägt im Freien seifte
unstete Werkstätte auf oder er mietet sich für
kurze Zeit ein notdürftiges Betriebslokal. Fast
immer ist er Lohn werker; nur wo er mit ganz
billigem Material arbeitet (Siebmacher, Korb-
flechter, Drahtbinder), nimmt sein Betrieb hand-
werksartigen Charakter an.
Die ^osse Zahl der fahrenden Leute, über
welche die mittelalterlichen Quellen berichten,
lässt vermuten, dass diese Betriebsweise auch
in Deutschland einmal einen breiten Boden ge-
habt hat, und es ist nicht unmöglich, dass das
später auf die Handwerksgesellen beschränkte
Wandern nur ein R«st einer ehemals auch all-
gemein auf die „Meister" sich erstreckenden
Gewohnheit ist. Wenn dem die feststehenden
Betriebsanlagen zu widersprechen scheinen,
welche wir bei vielen Gewerben gewohnt sind,
so ist zu beachten, dass diese das Ergebnis
einer langen Entwickelung sind und dass noch
heute bei niedrig kultivierten Völkern, ja selbst
bei den Indem, Chinesen und Japanern, fast
alle berufsmässigen Handw^erker ihren ganzen
Werkzeugvorrat bequem auf dem Rücken fort-
tragen können. Auch die StofPveredelung der
Nomaden Völker, namentlich die bei den meisten
von ihnen sich findende Schmiedekunst, sprechen
für die leichte Beweglichkeit primitiver In-
dustrie.
Fast bei allen Völkern gelten die Schmiede
als die ersten selbständigen Handwerker. Kaum
minder verbreitet ist die Erscheinung, dass die-
selben einem anderen Stamme angehören als
demjenigen, welcher ihre Dienste in Anspruch
nimmt, und dass sie mit dem letzteren kein
connubium haben. Da der Schmied auf dieser
Entwickelimgsstufe auch das Eisen aus dem Erz
fewinnen muss, so scheint er uns mit zwingen-
er Notwendigkeit an eine feste Betriebsstätte
gebunden, und man hat daraufhin die Ver-
mutung ausgesprochen, dass man es mit Besten
höher kultivierter Stämme zu thun habe, welche
bei der Unterwerfung eben wegen ihrer nütz-
lichen Kunst verschont geblieben seien. Allein
noch heute wandern die Schmiede in manchen
Teilen Afrikas und ihre primitive Aufbereitung
der Erze lässt sich überall vornehmen, wo sich
der Raseneisenstein findet. Ja auch in Griechen-
land, Albanien. Serbien ziehen die Schmiede
(meist Zigeuner) von Ort zu Ort. „An gewissen
allgemein bekannten Stationen machen sie Halt,
und die Bauern aus der ganzen Nachbarschaft
bringen herbei, was sie gemacht haben wollen",
wobei sie oft noch heute, wie schon zu Zeiten
Homers (II. 23, 834) und Hesiods (op. 423 if.),
das Material stellen. Auch in Kurdistan ziehen
nach einem englischen Consularberichte die
Schmiede, obwohl sie einen festen Wohnsitz
in der Stadt haben, während der guten Jahres-
zeit im Lande umher, um die Bauern an Ort
und Stelle zu bedienen.
Was bei den Schmieden möglich ist, wird
auch auf die meisten anderen Gewerbe zutreffen.
Burton und Speke beobachteten in dem ost-
afrikanischen Negerreiche Unyanyembe zahlreiche
„reisende Handwerker, die übrigens sämtlich
Sklaven sind. Man findet Schmiede, Kessel-
macher, Maurer. Zimmerlente, Töpfer, Seiler,
Schneider. Die meisten kommen mit den Kara-
wanen von der Küste herauf." Aehnliches
scheint im Sudan und in Senegambien vorzu-
kommen. Bei den Joloffen wandern die Schmiede ;
die Maurer von Goree sind an der ganzen Küste
berühmt und dehnen ihre Reisen bis Sierra-
Leone aus. Ueberhaupt lässt sich das Wandern
der Bauhandwerker weithin verfolgen. So
haben Scharen italienischer, besonders lombar-
discher Bauleute seit Karl d. Gr. jahrhunderte-
lang die Länder im Norden der Al^en besucht
und hier zur Verbreitung des romanischen Bau-
stiles beigetragen. Im 17. Jahrhundert klagen
in der Markgrafschaft Baden die ansässigen
Handwerker über die Konkurrenz der „welschen
Maurer", und in neuester Zeit hal^n diese
Wanderungen eine ungeahnte Ausdehnung ge-
wonnen. Fast auf der ganzen Balkanhalbinsel
wird das Bauwesen durch Genossenschaften
(Tscheta, Dru&ina) umherziehender macedonischer
und albanischer Handwerker (Djulgeri) besorgt,
deren Vorsteher Majstor heisseu. Unter ihnen
sind die fleissigen Leute aus den Distrikten
Dibbra und Konitza besonders gesucht.
Ausserordentlich entwickelt ist das Wan-
dergewerbe in Russland. Aus manchen Pro-
vinzen (Wladimir, Wjätka) schwärmen Tausende
von Zimmerleuten, Schreineni, Glasern aus;
seltener sind die Maurer, Töpfer, Stuccatur-
arbeiter und Steinmetzen. Die Zimmerlente
wandern und arbeiten in ganzen Artelen und
sind Lohnwerker; die Glaser halten Gesellen
und liehrlinge, die sie mit dem nötigen Materiale
aussenden, wären also als Handwerker zu
charakterisieren. Meist- treiben die Bauern
eines ganzen Dorfes oder gar eines Bezirkes
das gleiche Gewerbe und gehen im Sommer auf
Verdienst aus, während Frauen, Kinder und
Greise das Land bestellen. Aber nicht bloss
die „SaLsonge werbe" der Bauhandwerker, son-
dern auch die Bekleidungsg^ewerbe (Schneider,
Kürschner, Schuster) beteiligen sich am Wan-
derbetriebe, der sie oft Hunderte von Werst
weit von ihrer Heimat abführt. Manche nehmen
Gesellen mit und mieten sich dann an dem
Orte, wo sie auf längere Beschäftigung rechnen
können, eine Stube; die meisten aber gehen zu
den Kunden auf die Stör. Endlich wandern
noch die Fassbinder in Russland, und sie sollen
dabei selbst noch ihr Material (Dauben) mit-
führen.
Von dem früheren Wanderbetriebe in un-
seren Gegenden ist ausser den Nachrichten über
die Kessler oder Kaltschmiede, die es zu einer
umfassenden zünftigen Organisation gebracht
hatten, weni^ auf uns gekommen. Ihre Nach-
folger sind die umherziehenden Zinngiesser und
Kesselflicker, die neben Korbflechtern, Sieb-
machern, Scherenschleifern und den auf Repa-
raturen sich beschränkenden Glasern, Uhr-
machern, Hafenbiudem die Erinnerung an die
Urform des selbständigen Gewerbes noch eine
Zeit lang wach erhalten werden.
17. Mannfaktureii und Fabriken.
Handwerk und Städtewesen bedingen ein-
ander. Darum finden wir ein auf nationa-
lem Boden aufgeblühtes Handwerk nur bei
denjenigen Völkern, die eine städtische Kul-
tur gezeitigt liaben: in Italien, Franki^ich,
Deutsclüand und England. In Spanien ist
Gewerbe
379
die gleiche Entwickelung nicht zur Reife
gelangt. In den nordgermanischen und
slawischen Ländern ist das Handwerk aus
Deutschland importiert und hat hier nur
an wenigen Punkten Wurzel gefasst. Die
nationalen Kleingewerbe der Skandinavier,
Russen, Südslawen, Ungarn, Rumänen und.
Griechen haben den bäuerlichen Charakter
nie verloren. Nur in den orientalischen
Bazaiindustrieen stoj^en wir noch auf eine
unserem Handwerke halbwegs entsprechende
Erscheinung.
Mit der Ausbildung centralisierter Staa-
ten und grosser einheitlicher Wirtschaftsge-
biete im 16. und 17. Jahrhundert kommen
die Existenzbedingungen des Handwerks
ins Wanken. Die inneren Zollschranken
werden beseitigt; der enge städtische Markt
erweitert sich zum nationalen, ja durch die
Eröffnung überseeischer Absatzgebiete zum
internationalen. Für den Vertrieb der Ge-
werbeprodukte werden nun andere Rück-
sichten massgebend, andere Mittel erforder-
lich. Der unmittelbare Uebergang derselben
aus der ersten in die letzte Hand ist nicht
femer möglich ; die reine Kundenproduktion
hat sich überlebt. An Stelle der lokalen
Arbeitsteilung der autonom wirtschaftenden
Stadtgebiete tritt eine nationale Arbeitstei-
lung, welche allen Produktionszweigen den-
jenigen Standort anzuweisen strebt, wo die
Bedingungen für ihr Gedeihen am güns-
tigsten sind. Unter diesen Verliältnissen
bildet sich im 17. und 18. Jahrhundert ein
neues gewerbliches Betriebssystem aus, das
die Zeitgenossen als Manufaktur oder
Fabrik bezeichnen.
Willkürliche Begriffsspalterei hat in neuerer
Zeit diesen Ausdrücken verschiedenen Sinn nnter-
felegt. Der amtliche Sprachgebraach des vorigen
ahrnunderts weiss von einem solchen Unter-
schiede nichts; er bedient sich gewöhnlich der
Mehrzahl: „Mannfakturen und Fabriken ''. Ein-
zelne Gelehrte suchten schon damals nach einer
Unterscheidung; sie wollten als Fabriken die-
jenigen Betriebe bezeichnen, bei welchen Feuer
und Hammer angewendet würden, als Manu-
fakturen diejenk^en, bei welchen die Arbeiten
„bloss mit der Hand ohne Feuer und Hammer''
geschehen. Darüber aber war man allgemein
einig, dass es sich um eine neue, im Gegensatz
zum zünftigen Handwerk sich ausbildende Art
des Gewerbebetriebes handle.
Die charakteristischen Eigentümhchkeiten,
die das nene Betriebssystem in den Augen der
Zeitgenossen kennzeichneten, sind von S. F.
Hermbstädt, Gmndriss der Technologie,
Berlin 181^ folgendermassen zusammeugefasst
worden: „Fabriken und Manufakturen werden
die grCisseren Gewerbsanstalten oder Kunstge-
werbsinstitute genannt, welche von den ge-
wöhnlichen Handwerken dadurch unterschieden
sind:
1) dass sie ihre Fabrikate nur im grossen
anfertigen ;
2) dass ihre Produkte, bevor sie ihre Voll-
endung erreicht haben, durch die Hände ver-
schiedener Arbeiter gehen , von denen jeder
einzelne nur einen Teil der dazu bestimmten
Bearbeitung verstehet;
o) dass ihre Unternehmer keiner Zunft oder
Innung verpflichtet sind;
4) dass sie eine nicht beschränkte Anzahl
Arbeiter beschäftigen;
5) dass bei ihnen weder eine Aufdingnng,
noch Wanderung, noch Lossprechung, noch
die Anfertigung eines Meisterstückes erforderlich
sind."
Sehen wir hier von den bloss auf die Ge-
werbeverfassun^ bezüglichen Punkten ab, so
unterscheiden sich Mannfakturen und Fabriken
nur in zwei Punkten vom Handwerk: Pro-
duktion im Grossen und Arbeitsteilung
im Innern der Unternehmung. Produktion
im Grossen bedingt einen weiteren Absatz; der
Produzent kann nicht mehr direkt mit dem
Konsumenten verkehren. War das Handwerk
mehr übemehmungsweise als unternehmunffs-
weise betrieben worden, so entsteht jetzt aie
reine gewerbliche Unternehmung für einen nur
indirekt erreichbaren Konsumentenkreis und
damit notwendig eine kommerzielle Behandlung
des Absatzes. Der Anstoss zur Produktion geht
nicht mehr vom Konsumenten, sondern vom
spekulierenden Produzenten oder Händler aus.
Das ist das eine. Das andere ist die neue Art
der Arbeitsteilung.
Dass ein Produkt, „bevor es seine Voll-
endung erreicht, durch die Hände verschiedener
Arbeiter ging", war auch vorher keine unge-
wöhnliche Erscheinung. Um einen Glasschrank
anfertigen zu lassen, bedurfte man des Schreiners,
des Schlossers, des Glasers, des Lackierers und
vielleicht auch noch des Drechslers. Aber zur
Zeit des Lohn- und Handwerks waren diese
verschiedenenTeilproduzenten zusammengehalten
durch den Konsumenten, der den Lauf der Pro-
duktion dirigierte. Sie hatten darum selbstän-
dige, von einander unabhängige Betriebe. Das
zeitweise Verhältnis zu ihrem Auftraggeber
löste sich wieder, sobald sein Bedarf befriedigt
war. Sie standen zu ihm nicht in persönlicher
Unterordnung. ' Jetzt ändert sich das insofern,
als die verschiedenen Arbeiter, deren Hände
ein Manufaktur- oder Fabrikprodukt bis zu
seiner Vollendung durchläuft, zusammengehalten
werden durch einen kaufmännischen Unternehmer.
Ihr Verhältnis zu dem letzteren ist ein bald
mehr bald weniger dauerndes Vertragsverhält-
nis, und ihre Abhängigkeit von ihm wird um
so grösser, sie wird um so mehr zu einem Ver-
hältnis persönlicher Unterordnung, je ausschliess-
licher der Unternehmer in den Besitz der Pro-
duktionsmittel kommt. Und in demselben Masse
vermindern sich für den einzelnen die Aussichten,
zu einem eigenen selbständigen Betriebe zu ge-
langen. Die neue Art der Arbeitsteilung, wel-
che die Manufakturen und Fabriken einführen,
bedingt einen dauernden Lohnarbeiterstand,
während die Arbeitsteilung im Handwerk, wel-
che oben als Bernfsspaltung bezeichnet worden
ist, die entgegengesetzte Wirkung hatte: sie
vermehrte die Zahl der selbständigen Existenzen.
Wir wollen die neue Arbeitsteilung Arbeits-
zerlegung nennen, was sich dadurch recht-
fertigt, dass der Unternehmer lediglich nach
technischen Bücksichten des Betriebes die ein-
380
Gewerbe
zelnen Manipulationen der Produktion aus-
einanderlegt und sie besonderen Arbeitern
anvertraut. Der einzelne an der Herstellung
eines Manufakts oder Fabrikats beteiligte Ar-
beiter rückt um so weiter von dem Konsu-
menten seines Produkts ab, je näher seine Ar-
beit den Anfangsstadien des Produktionsprozesses
liegt. Darum vollzieht sich der Uebergang
aus der alten in die neue Produktionsart so
häufig in der Weise, dass der Fertigmacher zum
Manufaktur- oder Fabrikunternehmer wird,
während seine Vordermänner seine Lohnarbeiter
werden.
Man liebt in neuerer Zeit das Auftreten
der Manufakturen und Fabriken als einen Ein-
bruch in das Produktionsgebiet des Handwerks
darzusteUen. Soweit die zünftigen Handwerke
in Frage kommen, ist das unrichtig. Diese be-
hielten ihre seitherigen ausschliessenden Absatz-
verhältnisse und den städtischen Markt, solange
die Zunftverfa&sung unangetastet blieb, und es
ist noch am Anfang des 19. Jahrhunderts die
allgemeine Ansicht^ dass Handwerk und Manu-
fakturen bei richtiger Polizei einander keine
Konkurrenz machen können.
So wenig die Zeit, welche die neue ge-
werbliche Produktionsweise entstehen sah,
zwischen Manufakturen und Fabriken zu
scheiden wusste, so hat man doch sehr
bald beobachtet, dass der mit diesen Aus-
drücken bezeichnete Grossbetrieb zwei ver-
schiedene Arten der Organisation zuliess.
J. H. G. V. Justi kennzeichnet sie mit den
Worten, der Entrepreneur könne entweder
eine grosse Menge von Arbeitern imterhal-
ten oder einzelne Meister verlegen. Das
ei-ste ist unser Fabrik betrieb, das
letzte ist, was der neuere wissenschaftliche
Sprachgebrauch Hausindustrie zu nen-
nen pflegt. So raisslich es sein mag, eine
bereits eingebürgeile Bezeichnung zu ver-
drängen, so sind die Missverständnisse und
sonstigen üebelslände, welche der schiefe
Ausdruck im Gefolge gehabt hat, doch zu
gross, als dass nicht der Vereuch gemacht
werden düi'fte, das gut deutsche Verlag
in sein historisches Recht wieder einzu-
setzen.
18. Das Verlagssy Stern ist dieje-
nige Art des gewerblichen Be-
triebs, bei welcher ein Unterneh-
mer regelmässig eine grösser£
Zahl von Arbeitern ausserhalb
seiner eigenen Betriebsstätte in
ihren Wohnungen beschäftigt. Ver-
legen ist gleich beileutend mit vorlegen;
Verlag ist Auslage, Vorlage, Vorschuss,
Kapital; Verleger ist derjenige, welcher
andei-en das Rohmaterial oder den Preis
ihrer Produkte so lange vorschiesst. bis sie
an den Konsumouten gelangt sind. Insofern
dieser letztere allein wahre Zahlungsfähig-
keit für das Produkt besitzt, ist der seit
dem 15. Jahrhundert vorkommende Gebmuch
jener Ausdrücke auch volkswirtschaftlich
wohl gerechtfertigt. Als Hausindustrie
kann logischer Weise nur das Arbeitsverhält-
nis des Verlagssystems bezeichnet werden.
Die Produktion erfolgt auf Rechnung des
Verlegers ; er bringt die Produktionselemente
zusammen, weist ihrer Wirksamkeit Mass
und Richtung an; er besorgt den Absatz.
Der Verleger ist darum allein der Unter-
nehmer und Arbeitgeber; die Hausindus-
triellen sind seine Arbeiter (Heimarbeiter).
Allerdings können diese Arbeiter wirt-
schaftlich in verschiedenem Masse abhängig
sein ; das Verhältnis zwischen beiden Teilen
kann verschiedene Rechtsformen annehmen,
und man kann danach drei verschiedene
Formen des Betriebs unterscheiden:
1. Der Hausarbeiter beschafft den Roh-
stoff selbst und besitzt sein eigenes Werk-
zeug. Er produziert entweder auf Bestel-
lung und nach Mustern des Verlegers gegen
einen im voraus vereinbarten Dutzendpreis.
Oder er stellt die Waren auch auf Vorrat
nach bekannten Typen her, um sie bald
diesem bald jenem Verleger anzubieten.
Der Rohstoff ist entweder ein leicht zu be-
schaffender Naturgegenstand (Holz, Stein,
Thon) oder ein Handelsartikel des Verlegei-s.
2. Der Verleger liefert den Hauptstoff;
der Hausarbeiter hat das Werkzeug und
empfängt Stücklohn.
3. Der Verleger liefert nicht bloss den
Rohstoff, sondern ist auch Eigentümer des
Hauptwerkzeuges (Webstuhl, Stickmascliine,
Nähmaschine); der Hausarbeiter zahlt für
letzteres einen Mietzins und w^ird für seine
Arbeit ebenfalls nach Stück gelohnt.
Im ersteren Falle verkehren Verleger
und HausindustrieUe mit einander auf dem
Wege des Kauf- oder Werklieferungsvertrags ;
im zweiten wird in der Regel einfacher
Werkvertrag vorliegen; im dritten Arbeits-
vertrag. Immer aber bleibt dem Haus-
industriellen ein bis zu gewissem Grade
selbständiger Betrieb erliallen, und er führt
in seiner Produktion innerhalb der Unter-
nehmung des Verlegers eine Art Sonderda-
sein. Der Verlagsbetrieb ist sozusagen ein
fixleratives Gebilde, in welchem die Funk-
tionen zwischen Hauptbetrieb und Gliedbe-
trieben dergestalt verteilt sind, dass jener
den Absatz besorgt und die Produktion ent-
sprechend den Marktverhältnissen dirigiert,
während die Ileimarbeiterbetriebe auf die
Produktion in dem von der Verlagsunter-
nehmung gegebenen Rahmen beschränkt
bleiben. Jener ist der herrschende, diese
sind dienende Betriebe; mögen sie immer-
hin unter einander im Verhältnis der Ar-
beitsteilung stehen, dieses Verhältnis bedingt
unter ihnen keine Ueber- und Unterordnung,
wie in der Fabrik. Die Arbeitsteilung,
welche unter den Hausarbeitern stattfindet,
ist bei der ei-sten der drei oben unterschie-
Gewerbe
381
denen Formen gewöhnlich Specialisatiooj
bei der zweiten, und dritten kann sie auch
Arbeitszerlegiuig sein.
Vielfach verbindet sich die Hausindustrie
mit der Landwirtschaft oder einem anderen
Gewerbe ; oft beschränkt sie sich auf Frauen,
Kinder und Greise; fast immer gestattet
ihre Ausübung innerhalb der Wohnräume,
alle im Haushalt nicht ganz verwendbare
Zeit und Kraft dem Industriebetriebe dienst-
bar zu machen. Alles dies setzt voraus,
dass die Technik einfach sei und keine an-
haltende üeberwachung erfordere.
Der Verleger ist entweder bloss Händ-
ler, sei es mit fertigen Produkten, sei es
auch mit Rohstoffen der Hausindustrie, oder
er betreibt daneben noch ein Fabrikgeschäft
(Fabrikkaufmann) in verwandten Artikeln.
Der Absatz erfolgt entweder in städtischen
Magazinen, die der Verleger hält (Klei-
der, Schuhe, Haushaltimgsgegenstände),
durch Stückverkauf, oder die Ware w^ird im
Grossen an auswärtige Händler abge-
führt; oft wird sie zum Artikel des Welt-
marktes. Hauptbedingung dafür ist, dass
sie den individuellen Charakter, der ihr ver-
möge ihrer Entstehung in vielen kleinen
Arbeiterbetrieben anklebt, abzustreifen im
Stande ist, dass sie Dutzendware wird.
Dies wird in älterer Zeit durch amtliche
Warenschau , Stempelung , Gewerbei-egle-
mente erreicht; später dadiu-ch, dass der
Verleger den Rohstoff und die Arbeitsmo-
delle liefert, oft auch die letzte Zurüstung
des Produkts in einer eigenen Fergstube
übernimmt.
Sehr oft schieben sich zwischen Verleger
und Hausarbeiter besondere Vermittler
ein (Aufseher, Ferger, Faktoren,
Zwischenmeister), die bald bloss im
festen Lohnverhältnis zum Verleger die Ar-
beit beaufsichtigen, bald auch die empfange-
nen Aufträge nach eigenem Ermessen unter
die Heimarbeiter verteilen, die fertigen Pro-
dukte einsammeln und prüfen sowie den
Lohn auszahlen, wofür sie Tantiemen nach
der Menge der hergestellten Waren oder
dem ausgezahlten Lohnbetrag empfangen,
bald sogar als »Zwischenverleger« Heim-
arbeiter auf eigene Rechnung beschäftigen,
indem sie ihren Gewinn aus der Differenz
der Löhne ziehen, die sie mit den Haupt-
verl^em und den von ihnen beschäftigten
Arbeitern vereinbaren. Nicht selten handeln
diese Vermittler zugleich mit den in der
betreffenden Verlagsindustrie gebrauchten
Roh- und Hilfsstoffen, oder sie treiben
Spezereihandel, Gastwirtschaft und dergl.;
manchmal beschäftigen sie sogar in einem
eigenen Betriebslokal Lohnarbeiter. Dadurch
kann die Betriebsorganisation des Verlags
sich sehr verwickelt gestalten.
Der wichtigste unterschied zw^ischen
Handwerk und Verlagssystem liegt nicht
sowohl dai'in, dass ein kaufmännischer Un-
ternehmer den Produktionsprozess in zahl-
reichen kleinen Werkstätten beherrscht ;
äusserüch ist der Betrieb des Hausarbeiters
ja oft vom analogen Handwerksbetriebe gai*
nicht zu imtei-scheiden. Er lie^ vielmehr
daidn, dass das Produkt, ehe es in die Hand
des Konsumenten gelangt, noch ein- oder
mehrmal (je nach Zahl der eingeschobenen
kommerziellen Mittelglieder: Ferger, Ver-
leger, Grosshändler, Kleinhändler) Waren-
kapital wird, d. h. Erwerbsmittel für eine
oder mehrere nicht an der Produktion, son-
dern an der Cirkulation beteiligte Personen.
Aus dem Cirkulationsprozess des fertigen
Produktes leiten sich die Eigentümlichkeiten
ab, welche die Hausindustrie so unvorteil-
haft \fcr dem Handwerk auszeichnen: die
stossweise Ueberspannung der Produktion,
die schweren Krisen, das Trucksystem, die
Abrechnungsmissbräuche, die niederen Ar-
beitslöhne, die ungeregelte Arbeitszeit, die
Frauen- und Kinderarbeit, die wucherischen
Schuldverhältnisse, die ganze soziale Hoff-
nungslosigkeit der Lage ihrer Arbeiter.
19. Die Entstehung des Verlagssys-
tems. Wie das Verlagssystem sich gebildet
und entwickelt hat, lässt sich noch ziem-
lich gut überschauen. In den Seestädten
kommt es schon im Mittelalter häufiger vor,
dass Kaufleute durch Lohnwerker Waren
zum Export anfertigen oder veredeln lassen.
Sobald diese Beschäftigung regelmässiger
wurde, waren die Voraussetzungen des Ver-
lagssystems gegeben. In den Binnenstädten
entwickelte sich ein ähnliches Verhältnis
aus der zu weit getriebenen Specialisierung
der Handwerke und der Organisation des
Messhandels. Durch die Berufsspaltung
waren Gewerbezweige entstanden, w^elche
auf dem lokalen M«Äte nicht Absatz genug
fanden. Soweit Nebenberufe und Kram-
handel (§ 15) nicht Aushilfe boten, half
man sich zuwächst dadurch, dass man ent-
ferntere Messen bezog und dort mit einem
weiteren Konsumentenkreise in Verbindung
zu treten suchte. Oft fehlten dazu dem
kleinen Manne die nötigen Mittel; sein
Warenvorrat war zu gering; der Gewinn
vergütete nicht die Reisekosten und Zeit-
versäumnis. Er stellte sich besser, wenn
er einem Kaufmanne oder wohlhabenden
Handwerksgenossen, der ohnehin die Messe
besuchte, den Verkauf seiner Produkte gegen
Provision übertrug. Der Beauftragte fand
das Geschäft lohnend; er lernte Wünsche
und Ansprüche der fremden Käufer genauer
kennen, und bald ergab es sich von selbst,
dass er bei dem kleinen Handwerksspecia-
listen Bestellungen machte. Blieb das Ge-
schäft lohnend, so schloss er mit mehreren
Meistern Lief erungs vertrage ab, vereinigte
382
Gewerbe
verwandte Produkte zu Kollektionen, schoss
den kleinen Gewerbetreibenden das Betriebs-
kapital vor oder lieferte ihnen den ßohstoff.
Es bildete sich so ein Abhängigkeitsver-
hältnis zwischen Kaufmann und Handwerker,
wie wir es schon ira 15. Jahrhundert aus
Ott Eulands Handlungsbuch für die
Tafel- und Paternostermacher kennen lernen.
You da ab finden wir häufiger den Unter-
schied gemacht zwischen Handwerkern,
welche »sich verlegen lassen« und solchen,
die »selbst Yerlag haben«.
Eine Zeit lang arbeitet der Handwerker,
der sich so verlegen lässt, noch für seine
alten Kunden in der Stadt und Umgegend
weiter, da diese ihn besser bezahlen als der
Yerleger, der selbst seinen Gewinn machen
will. Allmählich giebt er den Stückverkauf
vollständig auf und wird zum blossen Ar-
beiter im Dienste des Yerlegers. Ist der
letztere ein ehemaliger Handwerksgenosse,
so behält er sich wohl auch die letzte
Appretur der Ware für den auswärtigen
Markt, das Fertigen oder Fertigmachen vor.
Da der Yerleger seine Hauptkraft dem Yer-
trieb der Ware zuwendet, so gehngt es ihm
bald, sein Absatzgebiet zu erweitern. Immer
mehr kleine Gewerbetreibende treten in
seine Dienste; der jugendliche Nachwuchs
weiss es schon gar nicht mehr anders, als
dass er ihr einziger »Arbeitgeber« ist.
Am leichtesten vollzieht sich der Ueber-
fang zum Yerlagssystem in früheren
johnge werben, wo der eine Yerleger
an Stelle der vielen Privatkunden tritt, ohne
dass eine wesentliche Umgestaltung der Be-
triebsweise nötig würde. Langsamer ge-
staltet sich die Entwickelung bei ausgebil-
deten Handwerken, bei denen der Meis-
ter den Stoff darzuthun gewohnt war.
Allein es ist für das System nicht wesent-
lich, dass der Yerleger das Material liefert ;
ja in den meisten Fällen ist es für ihn von
Yorteil, wenn er diesen Teil des Geschäftes
dem Hausarbeiter überlässt, da* er so gegen
Unterschlagung geschützt ist. Daher die
garnicht seltene Erscheinung, dass der Yer-
leger im Grossen den Stoff ankauft, um ihn
je nach Bedarf wieder an die kleinen
»Meister« zu verkaufen, ihnen das Produkt
gegen Dutzendpreise wieder abzunehmen
und so doppelten Handelsgewinn zu ernten.
Gewöhnlich sind es kleine Handwerke, die
nie eine rechte Zunft gebildet hatten,
welche dem Yerlagssystem anheimfallen:
die Nadler, die Nagel-, Messer- und Scheren-
schmiede, die Strumpfwirker, Bändelmacher,
Knopf machor, Drechsler , Büi-stenmachcr,
Handschuhmacher etc. Yielfach geht nicht
das ganze Handwerk in das Yerlagssystem
über, sondern nur die Anfertigung eines
besonders gangbaren Artikels: von der
Sattlerei z. ß. die Kiemen- und Peitschen-
febrikation, von der Drechslerei die Her-
stellung von Knöpfen oder Stöcken oder
Pfeifen, von der Schlosserei oder Klein-
schmiederei die Anfertigung von Hänge-
sclilössern, Bohrern, Hobeleisen, Meissein,
Sägen, Sensen, Sicheln, von der Schuh- .
macherei die Pantoffel- und Zeugschuh-
fabrikation. Hie und da giebt ein neu
aufgekommenes Produkt oder ein
neuer Eohstoff, dessen Zugehörigkeit zu
einer der alten Zünfte zweifelhaft erscheint,
den Anlass zur Entstehung eines Yerlags
und einer von ihm abhängigen »Hausindus-
trie«. So entsteht die hausindustrieUe
Barchentweberei neben der Woll- und
Leinenweberei, die Metallschlägerei neben
der Goldschlägerei, die Portefeuillefabrika-
tion neben der Buchbinderei, die Geigen-
macherei und zahlreiche andere Specialitäten
der Instrumentenmacherei. Das städtische
Handelskapital bemächtigt sich des neuen
Artikels und behauptet ihn im Kampfe mit
den verwandten Zünften, welche Anspruch
darauf erheben, wobei die durch die seit-
herige Produktions- und Absatzweise be-
dingte Abgrenzung der Gewerbegebiete den
Zünften zum Fallstrick wird. Immerhin
hat dife Zunftverfassung noch Kraft genug,
die auf diese Weise neu entstehenden Ge-
werbezweige formell sich zu unterwerfen;
die Heimarbeiter nennen sich Meister; sie
halten Lehrlinge und Gesellen; sie wachen
über ihre »Gewerbegerechtsame« ebenso
eifrig und engherzig wie die alten Kunden -
handwerke.
Bei einer vierten — vielleicht der be-
deutendsten — Gruppe seiner Fabrikations-
zweige knüpft das Yerlagssystem an das
uralte bäuerliche Hauswerk an. Wir
wissen bereits, dass dieses auf der zweiten
Stufe seiner Entwickelung zu einer einsei-
tigen Ueberschussproduktion wird, indem
Rohstoffe, welche in der eigenen Landwirt-
schaft erzeugt oder als freie Güter der
Allmende entnommen werden können, für
den Tauschverkehr umgeformt wenden. Wir
haben auch bereits die Ansätze einer eigenen
Organisation des Absatzes für diese Produkte
(Besuch der Wochenmärkte, Hausierer, Auf-
käufer) kennen gelernt. Hier bedarf es nur
des Hinzutritts eines kaufntännischen Unter-
nehmers, der die seitherigen Aufkäufer oder
Hausierer als Mittelspei-sonen (Faktoren,
Ferger, Agenten) in seine Dienste nehmen
mag, und das Yerlagssystem ist fertig. Die
Zersplittening des Grundbesitzes in der
Ebene, die allgemeinen Schwierigkeiten der
Erwerbsverhältnisse in Gebirgs^genden,
niedrige Arbeitslöhne befördern diese Ent-
wickelung. Beabsichtigte das Haus werk
zweiter Stufe bloss eine Zuschussproduktiou,
um das magere Eilrägnis der Landwirt-
schaf t aufzubessern , so "wird die Hausin-
Grewerbe
383
(liistrie bald ein unentbehrlicher Nebenbe-
trieb; schliesslich tritt die Landwirtschaft
immer mehr zurück und wird selbst zum
Xebenbetrieb ; die Existenz der bäuerlichen
Bevölkerung ganzer Dörfer, ganzer Thäler
hängt fast ausschliesslich von der Industrie
ab. Es ist natürlich, dass die alte umfäng-
liche häusliche Technik einer sehr vielsei-
tigen Anwendung fähig ist und dass sie sich
im weiteren Verlaufe der Entwickelung,
entsprechend den Anforderungen des Mark-
tes, spedalisiert. Weder Bauer mancher-
lei Hausgerät aus Holz zu fertigen gewohnt
war, da wird er auch leicht zum hausin-
dustriellen Kubier, Holzschuhmacher, Schach-
telmacher, Tierschnitzer, Korb-, Spielwaren-,
Wanduhr-, Bürstenmacher, Korkschneider
etc.; wo die Frauen Flachs oder Wolle zu
spinnen, zu stricken, Spitzen zu klöppeln,
die Männer Leinwand zu weben pflegten,
da findet auch die Baumwollspinnerei, die
Wollen- und Baumwollweberei, die Plüsch-
fabrikation, die Teppichknüpf erei , Häkelei,
Stickerei, Posamenterei, Handschuh- und
Pelznäherei leicht eine Stätte. Schliesslich
reizt das Vorhandensein unbeschäftigter
Hände auf dem Lande, das Vorkommen
eines industriell verwertbaren Rohstoffs
(Schiefer, Marmor, Thonerde) zur Einfühnmg
jeglichen nur irgend passenden Industrie-
zweiges, und wenn im Manufakturzeitalter
die Verleger vielfach auf das Land gingen,
um den städtischen Zunftplackereion auszu-
weichen, so ist es jetzt vorzugsweise der
Umstand, dass der Liandbewohuer im Be-
sitze seines ererbten Häuschens und seiner
wenigen Aecker seine und seiner Ange-
hörigen Arbeitskraft unter den Selbstkosten
der Industrie zur Verfügung stellt, der sie
verlockt.
Man könnte diejenigen Zweige der Haus-
industrie, welche unmittelbar aus dem Haus-
werke hervorgegangen sind oder an dasselbe
anknüpfen, als primäre, diejenigen, welche
durch die Zwischenstufe des Handwerks
hindurchgegangen sind, als sekundäre
Hausindusüieen bezeichnen. Die letzteren
sind vorzugsweise in Deutschland, England,
Frankreich, den Niederlanden, Spanien und
Italien vertreten, während die sogenannten
^nationalen Haustndustrieen« der ost- imd
nordeiux)päischen Völker entweder die Stufe
des Hauswerks noch gar nicht verlassen
haben oder aber den primären Hausindustrieen
zuzurechnen sind. Dabei ist aber nicht zu
übersehen, dass auch in den westeuropäi-
schen Ländern unter den Verlagsindustrieen
sich zahlreiche Beispiele der primären Form
finden. Vielleicht bilden sie sogai' die
Mehrzahl. Der Betrieb der Landwirtschaft
neben der Fabrikation ist kein untrügliches
Zeichen für den primäi'en Charakter einer
Verlagsindustrie; auch ehemalige städtische
Handwerke sind, sobald sie dem neuen Be-
triebssysteme anheimgefaUen waren, auf das
Land übertragen worden.
Sozial leitet üch die Entstehung eines
Heimarbeiter- oder Hausindustriellenstandes
aus zwei grossen Quellen ab: den untersten
Schichtöü des städtischen Handwerks und
dem Kleinbauemstande. Dagegen lässt sich
bei dem Stande der Verleger viel weniger
ein einheitliches Gepräge beobachten; ja
vielfach hat er sich überhaupt nicht von an-
deren Berufsständen abgeschieden. Bald
sind es städtische Kapitalisten, Kaufleute
oder die wohlhabendsten unter den beteilig-
ten Handwerkern, bald Dorfkrämer, Auf-
käufer, Hausierer, in Russland selbst ge-
wöhnliche Bauern, die sich zu einer solchen
Stellung emporschwingen. Natürlich giebt
es zahlreiche Zwischenstufen zwischen dem
Handwerke und dem Hauswerke auf der
einen und dem Verlagssysteme auf der
anderen Seite. Für vollständig ausgebildet
wird das letztere nur da gelten können, wo
der Verlag den ganzen kaufmännischen Ver-
trieb eines Produktes in seine Hand gebracht
hat und der alleinige Arbeitgeber oder Ab-
nehmer einer Gruppe von Heimarbeitern ge-
worden ist. Dabei ist es durchaus nicht
nötig, dass jeder einzelne der letzteren bloss
zu einem Verleger im Arbeitsverhältnis
stehe. Vielmehr sind die Fälle ziemlich
häufig, dass ein Hausindustrieller bald die-
sem, bald jenem Verleger seine Dienste
widmet oder seine fertige Ware anbietet
oder gleichzeitig von mehreren Verlegern
Bestßllimgen hat. Eine ständige Arbeiter-
schaft hat der Verleger dann nur in dem
Sinne, wie der Gastwirt oder Spezereihänd-
ler eine ständige Kundschaft hat.
20. Die Fabrik. Fabrik ist die-
jenige Art des gewerblichen Be-
triebes, bei welcher ein Unter-
nehmer regelmässig eine grössere
Zahl von Arbeitern ausserhalb
ihr er Wohnung in eigener Betriebs-
stätte beschäftigt. Verlag ist decen-
tralisierter , Fabrik centralisierter Grossbe-
trieb. Beide sind kapitalistische Betriebs-
weisen: der Verlag kapitalistische Gestal-
tung des Vertriebes, die Fabrik kapitahs-
tisclie Durchdringung des Produktion spro-
zeSvses. Jener hat fast nur Betriebskapi-
tal; diese ist an und für sich eine bedeu-
tende Kapitalfixierung. Einfachheit der
Technik, rasche Abwickelung des Herstel-
hmgsverfahrens sind die Lebensbedingungen
der Hausindustrie; Kompliziertheit des ver-
möge eines umfänglichen Apparates von
Produktionsmitteln sich vollziehenden Ar-
beitsprozesses, die Notwendigkeil einheit-
licher Leitung und steter Ueberwachung
desselben begründen das Dasein der Fabrik.
Verlag ist die kommerzielle Zusammenfas-
384
Gewerbe
sung gleichartiger Einzelkräfte; Fabrik ist
die technische Zusammenfassung und Dis-
ciplinierung verschiedenartiger Kräfte für
eine einzige gewerbliche Produktionsaufgabe.
Darum dort ein verhältnismässig grosses
Mass freier Bewegung für den einzelnen
Arbeiter, hier die Unterordnung desselben
unter eine straffe, fast militärische Disciplin.
Hausindustrie ist immer Arbeitsteilung;
Fabrik ist zunächst bloss Arbeitsgemein-
schaft. Hausindustrie ist regelmässig Mas-
senproduktion, Fabrik ist es häufig, aber
nicht notwendig. Der Verlag ist wesentlich
Handelsunternehmung, die Fabrik wesentlich
Produktionsunternehmung.
Ist es hauptsächlich ein volkswirtschaft-
liches Moment, welches bestimmend wird
für die Entstehung von Yerla^industrieen,
die Erweiterung des Absatzgebietes, so sind
es vorzugsweise technische Umstände, welche
die Beg^ndung von Fabriken veranlassten.
Zu diesen Umständen gehört aber nicht, wie
oft geglaubt wird, cüe Verwendung von
Maschinen; auch nicht die Notwendigkeit
grösserer Kapitalfixienmg an und für sich.
Sonst hätte schon im Mittelalter der Ge-
brauch des Wasserrades zum Mühlenbetriebe
die Mehlfabrikation ins Leben rufen müssen,
was bekannthch nicht der Fall war. Es
gehört dazu vielmelir eine solche Gestaltung
des Produktionsprozesses, dass Arbeiter von
höherer \md niederer Qualifikation, Geistes-
und Muskelkraft in gegenseitiger Ueber- imd
Unterordnung ständig zusammenwirken müs-
sen, wenn der Produktionszweck in wirt-
schaftlicher Weise erreicht, d. h. ein Pro-
dukt auf den Markt gebracht werden soll,
dessen niedrigster durch die Produktions-
kosten gegebener Tauschw^ert seinem allge-
meinen Gebrauchswerte noch entspricht.
Es ist danim höchst bezeichnend, dass so
viele der im 17. und 18. Jahrhundert ge-
gründeten Fabriken auf Erzeugimg von
Gütern des Kulturbedarfes und vielfach des
Luxus ausgingen, nicht auf solche des Exis-
tenzbedarfes: feine Wolltuche, Sammt,
Seiden- und Halbseidenwaren, Bänder, Tep-
piche, Gobelins, Tapeten, Wachstuch, Gold-
imd Silberdraht, Papier, Spiegelglas, Porzel-
lan, Stärke, Tabak, Cichorien, Zucker, Seife,
Blaufarbe. Man beachte dabei die Häufig-
keit der Surrogate und Imitationen! Der
Ersatz eines kostbaren durch einen billigen
Rohstoff, die blosse Nachahmung einer kunst-
vollen Technik, beides konnte nur den Zweck
verfolgen, durch geringe Preise den Konsu-
mentenkreis von Artikeln zu erweitern,
welche vorher bloss den reichsten Klassen
zugänglich gewesen waren. Darin liegt die
grosse stimulierende Macht der Fabrik, dass
sie Waren, deren Grenznutzen hoch steht,
weil sie von vielen begehrt, aber nur weni-
gen erreichbar vsind, in die Arm weite der
grossen Masse herabrückt und deren Lebens-
haltung dadiu:t5h bereichert.
Während das Verlagssystem davon aus-
geht, die Nachfrage grosser Konsumtionsge-
biete auf einen Punkt zusammenzuleiten
und in dem Masse, als ihm dies gelingt, den
hausindustriellen Kleinbetrieb organisiert,
geht das Fabriksystem davon aus, durch
wohlorganisierte Grossproduktion Massen
von neuen gewerblichen Erzeugnissen biUig
auf den Markt zu werfen, den latenten Be-
darf hervorzulocken, .grössere Nachfrage erst
zu erwecken, wo solche seither nur verein-
zelt auftrat. Der Verlag ist an sich schon
Absatzorganisatiou ; die Fabrik als blosse
Produktionsanstalt hat, wo sie nicht bereits
einen koncentrierten Bedarf vorfindet, nach
Roschers treffendem Ausdrucke »die
Bundesgenossenschaft des Krämers nötig«.
Doch hat sich nach dieser Richtung die
Entwicklung in verschiedenen Ländern ver-
schieden gestaltet. In England, den Ver-
einigten Staaten von Amerika und Frank-
reich, wo fast ausschliesslich technisch ge-
bildete Personen Unternelimer von Fabriken
sind, betrachtet der Geschäftsleiter mit der
Produktion seine Aufgabe als erfüllt und
überlässt die Besorgimg des Absatzes selb-
ständig gestellten Kommissionären und Agen-
ten; in Deutschland, wo die Unternelmier
in erster Linie Kaufleute sind, wird der
produktiven eine kommerzielle Organisation
aufgesetzt. Die Fabrik hält selbst einen
Stab von Prokuristen, Kommis, Handlungs-
reisenden, welche in der Aufsuchung des
Absatzes bis zu den örtlichen Kleinhändlern
heruntersteigen, stellenweise sogar bis zu
den Konsumenten.
üeberhaupt muss man sich vor der dujxsh
die meisten Erörterungen dieses Gegenstan-
des sich hinziehenden Meinung hüten, die
Fabrik arbeite »auf Vorrat«, sie »bringe
Waren hervor, ohne mit den Konsumen-
te n dii*ekt Fühlung zu haben und ohne zu
wissen, wo sie den Absatz endgiltig finden
werde«. Eine Kutschen-, Dreschmaschinen-,
Lokomotiven-, Schienen-, oder Kanonenfabrik
arbeitet unmittelbar für den, der ihre Pro-
dukte zur Verwendung bringt, wenn diese
Verwendung auch keine persönliche Bedürf-
nisbefriedigung ist ; viele Fabriken setzen ihre
Erzeugnisse wieder an andere Fabriken in
Gestalt vor Halbfabrikaten, Hilfsstoffen, Ma-
schinen, Apparaten oder sonstigen Pi-oduk-
tionsmitteln ab. Bei der Ganzfabrikation
erreicht die Fabrik, sobald es sich um Mas-
senprodukte handelt, allerdings gewöhnlich
nicht den letzten Verbraucher; aber sie
weiss doch meist selir gut, »wo sie den
Absatz endgiltig finden wird«. Denn sie
liefert auf Bestellung des stehenden Han-
dels; sie kennt die Stadt oder Gegend, wo
ihre Erzeugnisse in den Verschleiss kommen
Gewerbe
385
und richtet Ausstattung und Verpackung
derselben darnach ein. Auch wo es sich
um überseeischen Absatz handelt und an
den Exporteur in der Seestadt oder an einen
auswärtigen Konsignatär geliefert wird,
kann das Absatzgebiet kaum mit Fug als
unbekannt bezeichnet werden. »Auf Vorrat«
wird überhaupt nur produziert, weun keine
Bestellungen vorliegen. Hat sonach die
Fabrik auch keine »Privatkunden«, so hat
sie doch ilire ständigen Abnehmer; nur sind
diese meist Kaufleute.
In der Gestaltung der Produktionsauf-
gabe weicht die Fabrik erheblich vom Hand-
werk ab. Das umfassende Arbeitsgebiet des
letzteren ist für sie ganz ungeeignet. Sie
ergreift danim in der ersten Penode ihrer
Entwickelung einen einzelnen Produktions-
abschnitt oder ein einzelnes Produkt (s. u.),
dessen Herstellung sie durch ein vervoll-
kommnetes technisches Verfahren wirtschaft-
hcher gestaltet. Sie ist danach ein Ergebnis
entweder der volkswirtschaftlichen Produk-
tionsteüung oder der Specialisation. Im
letzteren Falle verschmilzt die Fabrik nicht
selten verschiedene Handwerke, die bis da-
hin bei der Erzeugung eines Produktes zu-
sammen wirkten, zu emem einheitlichen Be-
triebe. Es sei auf das berühmte Beispiel
der »Kutschenmanufaktur« verwiesen, wel-
ches K. Marx analysiert hat, ferner auf
Möbel-, Koffer-, Billard-, Pianofortefabriken,
Schiffbauanstalten und dergleichen. In bei-
den Fällen ist das Mittel, das die Fabrik
zur zweckmässigeren Einrichtung des Pro-
duktionsprozesses anwendet, die Arbeits-
zerlegung: Trennung der qualifizierten
von der rohen (»ungelernten«), der schweren
von der leichten Arbeit, Auflösung aller
Arbeitsvorgänge in ihre einfachsten Ele-
mente, welche aus Bewegungen bestehen.
Dadurch gelangt sie zu einem System auf-
einanderfolgender Manipulationen und wird
in den Stand gesetzt, Menschenkräfte der
verschiedensten Art, vom Kind, das man
eben von der Strasse genommen hat, bis
zum akademisch gebildeten Techniker zu
beschäftigen. Während das Arbeitssystem
des Handwerks darauf beruht, dass eine all-
seitige technische Beherrschung eines gan-
zen Produktionsgebietes durch den Arbeiter
(gleiche Qualifikation) erzielt wii'd und dai-
au8 die aufsteigende Personengliederung:
Lehrling, Geselle, Meister hervorgeht, kennt
die Fabrik nur verschieden qualifizierte Ar-
beiterkategorieen, aber kein Aufsteigen von
der einen zur anderen. Sie hat keine Ar-
beiter, welche alle Stufen des Produktions-
prozesses manuell und geistig beherrschen.
Der einzelne Arbeiter kann darum wohl zum
Vorarbeiter oder Aufseher einer Arbeiter-
gruppe werden; aber der üebergang aus
einer Arbeiterkat^;orie in die andere würde
gewöhnlich nur zu seinem eigenen und zum
Schaden der Unternehmung ausschlagen.
Es ist ein Irrtum, wenn vielfach ange-
nommen wird, die Fabrik bedürfe der »ge-
lernten Arbeit« gar nicht Sie bedarf der-
selben nur nicht überall und nicht in dem-
selben Umfang wie das Handwerk, das auch
unqualifizierte Arbeit mit qualifizierten
Kräften verricliten muss. Als gegliedertes
Zusammenwirken vieler sucht sie überall die
Arbeiterverwendung entsprechend der ge-
forderten Leistung zu gestalten. Sie scheut
sich darum nicht, neben der ungelernten
Arbeit der einfachen Fabriktagelöhner und
der gelernten Arbeit, welche in der Haupt-
richtung ihrer Produktion liegt, noch Hilfs-
arbeiter von anderer Berufsbildung heran-
zuziehen, die sie vielfach dem Handwerk
entnimmt. Sie bildet endlich einen ganz
neuen Stand höherer Betriebsbeamten, teils
von technischer oder artistischer, teüs von
kaufmännischer Berufsbildung aus. Der
Unternehmer selbst beteiligt sich an der aus-
führenden Arbeit meist überhaupt nicht
Aehnlich wie die Arbeitsverwendung ge-
staltet sich die Verwendung der sach-
lichen Produktionsmittel in der
Fabrik. Werkzeuge, Apparate und Maschinen
werden in umfassendster Weise differenziert.
Während im Handwerk dasselbe Werkzeug
den verschiedensten Zwecken dieaen muss,
finden in der Fabrik die verschiedensten
Konstniktionen desselben Geräts, derselben
Maschine je nach der Dimension oder Quali-
tät der zu bearbeitenden Werkstücke Ver-
wendung. Während der Handwerker mit
dem Fortschreiten des Produkts immer wie-
der das Werkzeug wechselt, verharrt der
einzelne Fabrikarbeiter stets an der gleichen
Stelle des Herstellungsvorgangs und hat
immer das gleiche Werkzeug in der Hand
oder steht bei derselben Maschine, weil
immer Massen gleichartiger Arbeit "vorhan-
den sind. Dieser Umstand lohnt wieder die
Einstellung kostspieliger mechanischer Hilfs-
mittel, die um so billiger arbeiten, je an-
haltender sie in Anspruch genommen wer-
den, je grössere Fabrikatmengen ihnen zu-
geführt werden können. Wenn schon manche
von der Hand auszuführenden Industriepro-
zesse denselben Produktionsaufwand erfor-
dern, einerlei, ob sie an wenigen oder an vielen
Objekten zugleich vorgenommen werden (z.
B. Schleifen, Färben, Trocknen), so ist es
geradezu eine EigentümUchkeit vieler Ma-
schinen, dass sie wirtschaftlicher Weise nur
verwendet werden können, wenn ein grös-
seres Quantum Produkt zugleich hergestellt
wird. Bei Erzeugung nur eines oder weni-
ger Exemplare würde Handarbeit billiger
sein.
Manche neueren Systematiker wollen in
durchaus unhistorischer Ausdeutung einer
Handwörterbuch der Staatowiasenschaften. Zweite Auflage. IV. 25
386
Gewerbe
einmal gegebenen Benennung diejenigen
koncentrierten Grossbetriebe als Manu-
fakturen bezeichnen, in denen bloss Hand-
arbeit verwendet werde, oder gar schon die-
jenigen, in denen »wesentliche Teile des
rroduktiousprozesses durch Handarbeit aus-
geführt werden«. Sie lassen dann die Fabrik
erst mit der reichlicheren Verwendung
von Maschinen beginnen. Denn das kön-
nen sie doch kaum übersehen haben, dass,
solange es eine Grossindustrie giebt, Ar-
beits- wie Kraftmaschinen, wo nur irgend
zulässig, zur Anwendung gelangt sind, nur
dass dieselben, solange sie bloss mit Men-
schen- oder Tierkraft, Wasser oder Wind
bewegt worden sind, ein störendes Element
in der ganzen Betriebsorganisation werden
mussten, so oft jene Kräfte versagten. Erst
als mit der Erfindung der Dampfmaschine
eine Triebkraft gegeben war, welche nie
den Dienst weigerte und sich überall sowie
in jedem Umfange anwenden Hess, wimien
die Arbeits- oder Werkzeugmaschinen ein
wichtiges organisatorisches Element für den
Fabrikbetrieb. Nun überstürzte eine Erfin-
dung die andere ; aber es war das nur des-
halb möglich, weil die Organisation des
älteren koncentrierten Grossbetriebs durch
fortgesetzte Arbeitszerlegung ihnen den Bo-
den vorbereitet hatte, weil an vielen Stellen
des Betriebs die Zurttckführung der Arbeit
auf einfache Bewegungen schon vorher ge-
lungen war. Die Maschine arbeitet mit
einer der Menschenhand unerreichbaren
Gleichmässigkeit, Ausdauer und Baschheit;
dies machte sie für die auf Versorgung
weiter Handelsgebiete ausgehende industrielle
Warenproduktion unschätzbar. Sie hat dar-
um in kurzer Zeit die innere Organisation
der Fabrik sich unterworfen. Während sie
ursprünglich in die Arbeitsgliederung der
letzteren niu* da eindrang, wo diese geeig-
nete Operationen für sie bot, hat die fort-
gesetzte Vervollkommnung des meclianisch-
technischen Apparats dahin geführt, dass
der lebendigen Menschenkraft auf manchen
Produktionsgebieten nur noch die Lücken
auszufüllen bleiben, welche der künstliche
Mechanismus lässt. Aber die Maschinen-
verweiidung ist nicht auf die Industrie be-
schränkt geblieben. Gleichzeitig ist sie auch
auf den Gebieten des Transportwesens, der
Landwirtschaft, des Bergbaues und selbst
des gewölmlichen Haushaltes unaufhaltsam
\'orgedrungen ; sie hat sogar im Kleingewerbe
sich jeden geeigneten Arbeitsprozess zu
unterwerfen gesucht, und da sie einen sol-
chen Prozess fast nie ganz übernimmt, son-
dern zu ihrer Ergänzung zalilreicher Men-
schenhände bedarf, so hat sie hier selbst
wieder Veranlassung zur Entstehung neuer
Fabrikindustricen gegeben. Man wird des-
halb abschliessend sagen dürfen: die Ma-
j
schine hat die Ausbreitung des Fabriksjstems
gewaltig gefördert, aber sie hat dieses System
nicht geschaffen.
21. Einteilung der Fabriken; ihr Ver-
hältnis zu den älteren Betriebsformen.
An einer wissenschaftlich brauchbaren Ein-
teilung der Fabriken fehlt es noch. Nach
der Natur der Fabrikate kann man unter-
scheiden : 1. Fabriken, welche gebrauchs-
fertige Waren nach Durchschnittstypen
für den unmittelbaren Konsum erzeugen,
2. Fabriken, welche Produktionsmittel
erzeugen, die in anderen Betrieben zu fer-
nerer Produktion dienen und zwar a) Halb-
fabrikate, b) Maschinen, Geräte, Werkzeuge,
ganze Fabrikeinrichtungen, Verkehrsmittel;
ö, Fabriken, welche sich mit der Verede-
lung der Erzeugnisse anderer Fabriken
beschäftigen. Zu letzteren gehören Eattim-
druckereien, Bleichereien, Färbereien, Appre-
turanstalten, Lohnwebereien, Lohnschneide-
reien (für holzverarbeitende Gewerbe). In
der Regel ^ht bei ihnen das Produkt nicht
in das Eigentum des Veredelungsunter-
nehmers über und man kann danim wohl
im Unterschiede vom Lohnwerk) von Lohn-
abriken sprechen.
Ihrem Ursprünge nach kann man die
Fabrikindustricen in primäre imd sekun-
däre einteilen. Die ersteren sind schon
bei ihrer Entstehung wegen des grossen für
ihi-en Betrieb nötigen Kapitals fabrikmässig
organisiert worden, z. B. Glas-, Papier-,
Porzellan-, Zucker-, Stärke-, Holzstoff-,
Kautschuk- , Farben- , Maschinenfabriken.
Viele von ihnen verdanken ihr Dasein Er-
findungen der Neuzeit Sekundäre Fabrik-
industricen liegen da vor, wo die Verdrän-
gung eines älteren gewerblichen Betriebs-
systems stattgefunden hat. In einer gar
nicht kleinen Zahl von Fällen ist dies das
Hauswerk, z. B. Wollwäschereien und -Käm-
mereien, Spinnereien, Konserven-, Nudel-,
Zwiebackfabriken ; in anderen das Lohnwerk,
z. B. bei Dampf mühlen, Färbereien, Bau-
fabrikeu; wieder in anderen das Handwerk
oder das Verlagssystem. Das Verhältnis
des Fabriksystems zu den beiden letztge-
nannten Betriebsformen bedarf einer aus-
führlicheren Darstellung.
Man hat oft gesagt, die Fabrik vernichte
das Handwerk, und noch öfter ist das
falsch verstanden worden. Wie wir wissen,
ist durch das Aufkommen der Fabriken vom
16. bis zum 18. Jahrhundert dem Handwerk
höchstens insofern einiger Abbruch gesche-
hen, als es gehindert wurde, neue lohnende
Artikel in sein Produktionsgebiet aufzuneh-
men. Erst später greift die Fabrik auch
auf die alte Domäne des Handwerks über,
nimmt einzelne, von den Meistern viel-
leicht wenig beachtete Artikel heraus und
unterwirft sie einem neuen, sich rasch ver-
Gewerbe
387
besserndeu Herstellungsverfahren. Dem
Schlosser wird die Herstellung von Thflr-
und Fensterbeselilägen oder Riegeln oder
Sehrauben, dem Zeugschraied die Anferti-
gung von Sägen, Striegeln, Ketten, Gewich-
ten, dem Bürstenmacher die Erzeugimg von
Pinseln oder Zahnbürsten, dem Buchbinder
<lie Verfertigung von Geschäftsbüchern oder
Pappschachteln, dem Bäcker die Broterzeu-
gung abgenommen. Oft wird ein Artikel, des-
sen Produktion für den lokalen Markt vor-
her nicht ausgereicht haben würde, einen
einzigen kleinen Handwerksspecialisten zu
ernähren, für den grossen nationalen oder
Weltmarkt produziert, zur Unterlage eines
Fabrikbetriebs, der Hunderte von Äbeitern
beschäftigt. Auf diese Weise setzt sich die
alte Berufsspaltung fort; aber sie erzeugt
auf dem Gebiete der reinen Warenproduk-
tion nicht mehr selbständige Existenzen,
sondern vernichtet sie.
Noch häufiger und meist auch früher
zieht die Fabrik die Anfangs Stadien der
Handwerksproduktion an sich. Das
Mittelalter kennt eigentlich nur Ganz-
fabrikation, d. h. in der Regel machte der
Rohstoff, wie er vom ürproduzenten em-
p^gen war, alle Stadien des Produktions-
prozesses in einer Werkstätte durch. Zur
weiteren Produktionsteilung (§ 15) schritt
man meist nur da, wo ein Halbfabrikat zu-
gleich von mehreren Handwerkern weiter
verarbeitet und nebenbei noch direkt an
Konsumenten abgesetzt zu werden pflegte,
z. B. Leder, Mehl, Leinwand. Da gerade
die erste rohe Bearbeitung eines Stoffes die
grössten Kraftleistungeü beansprucht, so er-
wies sich die Halbfabrikation als ein
besonders dankbares Feld der mit mächtigen
Produktionsmitteln ausgestatteten fabrik-
mässigen Arbeitsgemeinschaft. Man denke
an die Erzeugimg von Garnen, rohen Ge-
weben, Filz, Stab-, Band-, Fa<;'oneisen, Stahl,
Platten, Blechen, Rohren, Draht, Brettern,
Latten, Parketf ussboden , Fournieren, Glas-
tafeln, Leim, Lack, Farben und dergleichen.
Es folgt dann die Einbeziehung von mancher-
lei Hilfsmitteln der Produktion in
den Fabrikbetrieb, von Werkzeugen, Geräten,
Maschinen, Messinstrumeuten, Armaturen,
Treibriemen, Packmaterial, Etiketten, Ge-
fässeu. Schmier-, Dichtungs-, Reinigungs-
materialien, Schrauben, Nägeln, Beschläjgen,
Zinkomameuten etc. Auf tliese Weise büdet
sich eine grosse Zahl von Fabrikations-
zweigen, die halb auf der Produktionsteilung,
halb auf der Berufsspaltung beruhen und
die, wenn sie auch das Endprodukt des
einzelnen Handwerks nicht antasten, doch
sein Arbeitsgebiet fortwährend einengen.
Besonders wichtig ist dabei die Einwirkung
neuer Rohstoffe und neuer maschineller
HersteUungsweisen. Die Drahtstiftfabrikation
legt den grössten Teil der Nagelsehmiederei
Isdim; das Drahtseil macht dem Hanfseil
starke Konkurrenz; Neusilber und Alfenide
schränken den Gebrauch silberner, zinnener,
kupferner und messingener Geräte ein,
Guttapercha verdrängt für gewisse Gebrauchs-
zwecke das Leder und die Leinwand, ge-
gossene, gestanzte, gedrückte Metallartikel
werden statt der geschmiedeten oder von
Hand getriebenen gebraucht. So geht das
Handwerk zwar niclit zu Grunde, aber es
verarmt.
Verhältnismässig selten sind die Fälle,
in welchen die Fabrik aus der Zusammen-
ziehung mehrerer selbständiger
Handwerke in einen Betrieb sich
bildet. Als Beispiel sei die Möbelfabrik ge-
nannt, welche Tischler, Holzschnitzer, Drechs-
ler, Polsterer, Maler, Lackierer, jeden für
bestimmte Teile seines Produktionsgebietes
sich eingliedert. Ferner gehören dahin Piano-
fortefabriken, Wagenbauereien , Schiff- und
Maschinenbauanstalten , Lokomotiven- und
Waggonfabriken.
Vollständig vom Fabrikbetrieb aufgesogen
sind von den alten Zunfthandwerken nur
die BaumwoD Weberei und bis auf geringe
Reste auch die Wollen- und Leinenweberei ;
von später aufgekommenen die Gewerbe der
Knojpfmacher, Kammmacher, Nadler, Karten-
macher, Schriftgiesser, Strumpfwirker, Zeug-
schmiede und ähnliche; diu-ch veränderte
Geschmacksrichtung verdrängt die Perücken-
macher und Pergamenter; zu Reparatur-
handwerken herabgedrückt die ührmacherei
und Büchsenmacherei, beinahe auch schon
die Böttcherei, Messerschmiederei . Hut-
macherei; fabrikähnhch gewoi-den die Bier-
brauereien , Seifensiedereien , Gerbereien,
Buchdruckereien. Die gi-ossen, wirtlich
kräftigen städtischen Handwerke, welche am
Ende des 18. Jahrhunderts vorhanden waren,
stehen heute nach der Zahl der Betriebe und
der beschäftigten Personen in keinem un-
günstigeren Verhältnis zur Bevölkerung als
damals. Sie haben sich nur nicht ent-
sprechend der Erweiterung und Bereicherung
unseres Bedürfniskreises vermehrt Manche
von ihnen liaben durch Aufnahme neuer
Techniken und besserer Werkzeuge eine
innere Kräftigung erfahren. Es kann jedoch
nicht übersehen werden, dass durch die
Verengerung ihrer Produktionsgebiete und
die veränderten Verkehrsverhältnisse den
meisten die Aufrechterhaltung der alten
Kundenproduktion erschwert wird. Der
Handwerker specialisiert sich für einen
engbegrenzten Teil seines Produktionsge-
bietes und wird nicht bloss für den Rest
desselben, sondern auch für allerlei ver-
wandte Fabrikware Kleinhändler mit stehen-
dem Ladengeschäft, oder er tritt als Liefer-
meister in die E^ieutel eines grossen ]Ma-
25*
888
Gewerbe
gazins. Das alte Handwerk mit seinem ge-
schlossenen lokalen Absatzgebiete verschwin-
det; es wird Kleingewerbe, das dem
Druck des ganzen nationalen Marktes aus-
gesetzt ist, ^'ielfach nur Reparatur- und Füll-
arbeit zu veirichten hat, aber doch im
ganzen gegen die Aermlichkeit und Stag-
nation des 17. und 18. Jahrhunderts durch
Regsamkeit und Fortscliritt vorteilhaft ab-
sticht. Dass ganze Kleingewerbe durch das
Fabriksystem bedroht wären, wie die Schuh-
macherei durch die mechanischen Schuh-
fabriken, die Schneiderei durch die grossen
Konfektions- und Massgeschäfte, ist verhält-
nismässig selten. Gewiss wird der Gross-
betrieb weitere Fortschritte machen; Pro-
duktions- und Berufsteilung werden noch
manche Verschiebung der Produktionsgebiete
herbeiführen; es geht aber viel zu weit,
wenn behauptet wird, dass der ganze hand-
werksmässige Kleinbetrieb unaufhaltsam dem
Untergang zueile. Namentlich ist zu be-
achten, dass die erwähnten Erscheinungen
der Zersetzung sich nur in den Grossstädten
in voUer Stärke bemerkHch machen, während
auf dem Lande das Handwerk seit dem Be-
stehen der Gewerbefreiheit sich mächtig
ausgebreitet hat und hier auch vielfach noch
die Bedingungen einer gedeihlichen Fort-
existenz findet.
Aehnliches gilt auch von dem Verhält-
nisse des Verlagssystems zur Fabrik.
Es ist masslose Uebertreibung , wenn man
die Hausindustrie allgemein als Zwischen-
stufe zwischen Handwerk und Fabrik auf-
gefasst und von einer successiven »Herab-
drückung der Handwerksmeister zu Haus-
industriellen« und später der letzteren zu
Fabrikarbeitern gesprochen hat. Für eine
solche Konstniktion der Gewerbegeschichte
kann nur das eine Beispiel der Textilindustrie,
insbesondere der Baumwollspinnerei und
Weberei angeführt werden. Auf anderen
Produktionsgebieten lässt sich wohl der
Uebergang einzelner zu fabrikmässiger Mas-
senproduktion geeigneter Artikel und ein-
zelner dem System der Heimarbeit wider-
strebender Warenqualitäten an die Fabrik
beobachten. Aber im allgemeinen ist das
Verlagssystem keine Vorfnicht des Fabrik-
systems, sondern eine gleichbei-echtigte Be-
triebsweise der gewerblichen Grossunter-
nehmung, die vor der Fabiik den eigen-
tümlichen Vorzug hat, dass sie gestattet,
einen grossen Teil des Betriebsrisikos von
dem Unternehmer auf den Arbeiter abzu-
wälzen. Solange das System der unter-
nehmungsweisen Produktion besteht, wird
dieser Vorzug — man mag es bedauern —
überall da ausschlaggebend bleiben, wo es
sich um Waren von rasch wechselnder Nach-
frage und grosser Mannigfaltigkeit der Sorten
liandelt Die Vorzüge des koncentriei-ten
vor dem zerstreuten Betrieb (grössere Gleich-
mässigkeit des Fabrikats, stete Lieferungs-
bereitschaft, Sicherung gegen Stoffunter-
schlagung und Beschädigung) lassen in ein-
zelnen Fällen auch da zum Fabriksystem
übergehen, wo dasselbe sich keines anderen
technischen Verfalirens bedienen kann, wie
die Hausindustrie. Beispiele bieten die
sächsische Cigarrenindustne , die Schwarz-
wälder Uhren- und Bürstenfabrikation, die
vogtländische und ostschweizerische Stickerei,
die westschweizerische Taschenuhren^rika-
tion. Allein die Hausindustrie hält sich da-
neben aufrecht; ja in den Stickereibezirken
will man eine Rückbildung von der Fabrik
zum Verlagssystem beobachtet haben. In
den Städten gewinnt letzteres sogar noch
fortwährend dem Handwerk neuen Boden
ab. Die kapitalschwachen Meister speciaU-
sieren sich auf einen oder wenige Artikel;
aber sie können diese nicht mehr selbst
vertreiben, sondern müssen sich dazu des
Magazininhabers bedienen. So ist auf dem
Gebiete der Holz- und Schnitzwaren, der
Bekleidungsindustrie, der Leder- und Papier-
indiLstrie noch im letzten Menschenalter
vielfach neue Heimarbeit entstanden, imd
allem Anscheine nach ist diese Bewegung
noch nicht abgeschlossen.
Schliesslich ist noch einer eigentümlichen
Verbindung zu gedenken, welche das Hand-
werk und die Heimarbeit mit der Fabrik
eingehen und welche lebhaft an die Stellung
der auf Landstellen angesetzten hörigen
Werkleute im früheren Mittelalter erinnert.
Gewisse Arbeiten, welche in der Fabrik nicht
in solcher Menge vorkommen, dass es sich
lohnte, eigene Betriebseinricbtungen dafür zu
treffen, werden an einzelne Hausindustrielle
und Handwerker hinausgegeben. Hier und
da erhalten die ständigen Arbeiter der Fa-
brik regelmässig solche Arbeiten, die sie
nach Feierabend mit Unterstützung von Frau
und Kind zu Hause verrichten. Ein Schrei-
ner macht nur Packkisten für eine oder
mehrere Fabriken , ein Buchbinder steht
ausschliesslich im Dienste einer Verlags-
firma, ein Küfer in demjenigen einer Bier-
brauerei oder Spritfabrik. Sobald jedoch
solche Arbeiten regelmässiger werden, wird
es vorteilhaft, in den Räumen der Fabrik
selbst einen Nebenbetrieb dafür einzurichten.
Die meisten grösseren Fabriken haben ihre
Schlosser- und Reparaturwerkstätte, in
welcher ausser einem »Meister« mehrere
Gesellen, hier und da auch schon Lehrlinge
beschäftigt werden. Eine ähnliche An-
gliederung des Handwerks nehmen
viele Grossbetriebe auf dem Gebiete des
Handels und Verkelirswesens vor. Jede
grössere Fuhrunternehmung hat ihre eigene
Schmiede-, Wagner-, Sattierwerkstätte, jede
Weinhandlung ihre Küferei. Es entsteheu
Gewerbe
389
dadurch specialisierte Nebenbetriebe, die in
ihrer Organisation sich dem Wirtschafts-
zweck der Hauptunternehmung diu-chaus
anpassen mtlssen.
22. Yergleichung der fünf Betriebs-
systeme. Bei dem grossen, schier ver-
wirrenden Formenreichtum der Gewerbege-
schichte war es nötig, die vorstehend ge-
zeichnete Entwickelung auf möglichst ein-
fache Linien zui-ückzirführen imd die fünf
historisch aufeinanderfolgenden Betriebs-
systeme: Hauswerk, Lohnwerk, Handwerk,
Verlag und Fabrik ohne Berücksichtigimg
etwaiger Zwischenformen klar hervorzu-
heben. Jene Entwickelung beginnt mit
grossen Verbänden, die durch die Blutsver-
wandtschaft, die Autorität des Familien-
hauptes zusammengehalten werden ; sie
schliesst mit grossen Verbänden, deren Or-
ganisation auf dem abstrakten Rechtsprincip
des freien Vertrags beruht. Im Anfang das
natürlich erwachsene Sozialgebilde der Baus-
gemeinschaft, am Ende die künstlich in der
Firma verselbständigte Rechtsperson der
Unternehmung. Dazwischen liegen Gestal-
tungen des Abbruchs und des Neubaiies.
Lost sich im Lohnwerk die Arbeit persön-
lich von der geschlossenen Hauswirtschaft
des Grundeigentümers ab, so wird sie im
Handwerk diux^h njichfolgende Herausziehung
ihrer Betriebsmittel auch sachlich frei und
selbständig ; im Verlagssystem tritt sie per-
sönlich in eine neue Abhängigkeit: in die
Klientel der Unternehmung des Kapital-
eigentümers; im Fabriksystem wird sie
auch sachlich von demselben abhängig.
Hausgemeinschaft und Fabrik zeigen mor-
phologisch manche Verwandtschaft, beson-
ders wenn man sie in Beispielen ihrer
höchsten Entwickelung einander gegenüber-
stellt. Und ebenso Lohnwerk und Heim-
arbeit. Wie das Lohnwerk zur Wirtschaft
des Gnmdeigentümers, so verhält sich die
!^usindustrie zur Handelsuntemehmimg des
Kapitalisten. Die Parallele des Fabrikar-
beiters mit dem antiken Handwerkssklaven
ist zu oft gezogen worden, um hier aus-
führlich wiederholt werden zu müssen.
In der Mitte dieser ab- und aufsteigen-
den Entwickelung steht das Handwerk als
Grund- und Eckstein derselben. Vom Haus-
werk bis zum Handwerk : allmähliche Eman-
dpation des Arbeiters von der grundständi-
gen Hauswirtschaft und Bildung des Kapi-
tals, vom Handwerk bis zur Fabrik: all-
mähliche Loslöeung des Kapitals von der
Arbeit und ünterwerfimg des Arbeiters
unter das Kapital. Auf der Stufe des Haus-
werkes giebt es noch kein Kapital, sondern
nur Gebrauchsgüter auf verschiedenen Stufen
der Genussreife. Alles gehört dem Hause:
Rohstoff, Werkzeug, Fabrikat, oft selbst der
Arbeiter. Beim Lohnwerk ist nur das
Werkzeug Kapital in der Hand des Arbei-
ters; Roh- und Hüfsstoffe sind Vorräte des
Hauses, die noch nicht genussreif sind; die
Betriebsstätte gehört entweder ebenfalls
dem Hause, welches das fertige Produkt
verbrauchen will (Stör), oder dem Arbeiter,
der es herstellt (Heimwerk). Ln Handwerk
sind Werkzeug, Betriebsstätte und Rohstoff
Kapital im Eigentum des Arbeiters ; der
letztere wird Herr des Produkts, setzt
dieses aber immer nur an den unmittel-
baren Konsumenten ab. Im Verlagssystem
wM auch das Produkt Kapital, aber nicht
des Arbeiters, sondern einer ganz neu auf
dem Plane erscheinenden Person, des kauf-
männischen Unternehmers ; der Arbeiter be-
hält entweder sämtliche Produktionsmittel,
oder er verliert zunächst das Stoffkapital,
dann auch das Werkzeugkapital. So sam-
meln sich alle Kapitalbestandteile schliess-
lich in der Hand des Fabrikunternehmers,
der auf ihrem Grunde die gewerbliche Pro-
duktion neu organisiert. In seinen Händen
wird selbst der Anteil des Arbeiters am
Produkte zu einem Teile des Betriebska-
pitals.
Dieser Anteil des Arbeiters besteht auf
der Stufe des Hauswerkes im Mitgenuss
der erzeugten Produkte, beim Lohnwerk in
der Kost nebst Zeit- oder Stücklohn, welcher
bereits eine Vergütung für die Abnutzung
der Werkzeuge mit enthält, beim Handwerk
in dem vollen Produktionsertrage. Beim
Verlagssystem nimmt der Verleger bereits
einen Teil dieses letzteren im Gewinne
seines Betriebskapitals vorweg, beim Fabrik-
system werden alle kapitalisierbaren Pro-
duktionselemente zu Krystallisationspunkten
für Kapitalprofite; dem Arbeiter bleibt nur
der vertragsmässige Arbeitslohn.
Werfen wir endlich noch einen Blick
auf die Verwendung der erzeugten Produkte,
so rückt diese im Laufe der ganzen Ent-
wickelung immer weiter von der Erzeugung
ab. Beim Hauswerk und der Stör wird das
Produkt in derselben Wirtschaft verbraucht,
wo es entstanden ist. Beim Heimwerk er-
folgt schon die letzte Zmichtung zum Ge-
brauche in einer anderen Wirtschaft. Beim
Handwerk wird das ganze Produkt ausser-
halb der es verbrauchenden Wirtschaft er-
zeugt; aber es geht direkt aus der produ-
zierenden in die konsumierende Wirtschaft
über. Beim Verlags- und 'Fabriksystem
schieben sich kommerzielle Zwischenglieder
zwischen Produzenten und Konsumenten
ein; das Produkt wird Ware: es cirkidiert
erst, ehe es an die Wirtschaft gelangt, in
der es zur Bedürfnisbefriedigung dient.
Wollen wir die ganze fünfstufige Ent-
wickehmg in kurzen Worten charakterisieren,
so sagen wir: Hauswerk ist centralisierte
gewerbliche Eigenproduktion, Lohnwerk ist
390
Gewerbe
zerstreute gewerbliche Kundenarbeit, Hand-
werk ist gewerbliche Kundenproduktion,
Yerlag ist decentralisierte und Jabrik cen-
tralisierte gewerbliche AVarenproduktion. In
der ganzen Stufenfolge stehen somit Verlag
und Fabrik auf gleicher Linie.
23. Gegenwärtiger Zustand. Wie auf
dem Gebiete des Verkehrswesens ältere
Transport weisen durch neue vollkommenere
und leistungsfähigere nicht gänzlich besei-
tigt, sondern nur auf dasjenige Bereich zu-
rückgedrängt werden, wo sie ihre eigen-
tümlichen Vorzüge am besten entfalten
können, so dauern auch die älteren gewerb-
lichen Betriebssysteme neben den neuen
und neuesten foi-t. Selbst bei den »Indus-
trie Völkern« Europas, welche alle diese
Systeme nacheinander im I^ufe der Jahr-
hunderte durclilebten und jedes dahin-
schwinden sahen, wenn vollkommeneres es
ablöste, erblicken wir noch namhafte Eeste
des Hauswerks, dos Lohnwerks und des
Handwerks, oft hart neben den modernen
Wai'enproduktionsformen. Die verschiedenen
Gewerbezweige machen in diesem Punkte
eine vei-schieden rasche Entwickelung durch,
imd oft sehen wir auf demselben Produk-
tionsgebiete in Stadt und Land verschiedene
Betriebsformen. So ist auf dem Lande auch
bei uns das ILiuswerk noch keineswegs er-
loschen; ja bei genauer Beobachtung kann
man erkennen, dass es stellenweise wieder
zunimmt, wo landwirtschaftliche Produkte
im Zustand der Verarbeitung eine bessere
Verwertung versprechen. Dr.s Lohnwerk
hat selbst in den Städten, wo es in den
letzten drei Jahrhimderten fast ganz zu-
sammengeschwunden wai', neuerdings aus
dem absterbenden Hauswerk, ja selbst aus
dem Verlags- imd Fabriksystem wieder
neue Nahning gewonnen. Man denke nur
an Näherinnen, Stickerinnen, Strickerinnen,
Kleidormacherinnen,Fleckenreiniger, Wäsche-
reien, Plättei*eien, Lohnköche, Boden wichser,
Möbelix)lierer, Teppich-, Bettfedern- und
Schaufensterreiniger. Seit Schlösser, Riegel,
Thür- und Fensterbescliläge fabrikmässig
erzeugt werden, ist der Schlosser ziun
blossen Anschläger geworden. Aehnlich
wird durch den Verlust des grössten Teiles
der eigentlichen Produktion der Bautiscliler
zum Parkettbodenleger, der Tapezierer zum
blossen Tapetenkleber u. s. w. Auf dem
Lande hat das Lohnw^erk die Müllerei,
Bäckerei, Schuhmacherei, Sattlerei grössten-
teils verloren; aber in der Schneiderei und
den Baugewerben dauert es fort; ja in
einigen Gebirgsgegenden besteht noch der
Störbetrieb in ziemlichem Umfange. Das
Handwerk ist allerdings in den grossen
Städten stark zersetzt und hält sich eigent-
lich hier nur noch sow^eit die Natur des
Produkts einen unmittelbaren Verkehr zwi-
schen Produzenten und Konsumenten er-
forderlich macht, und auch hier nur bei
kleinkapitalistischem Betriebe. Dagegen liat
es auf dem Lande neuen Boden gewonnen
und scheint hier in vielen Zweigen ftir ab-
sehbare Zeit gesichert. Versuche, dieser
Betriebsform aUgemein durch Wiederbe-
lebung der Kimstindustrie oder allgemeine
Verbreitung von Kleinkraftmaschinen neue
Lebenskraft zuzuführen, bieten wenig Aus-
sicht auf Erfolg.
In den nordischen Ländern, in Russland,
Ungarn, Rumänien, in den Slawenländern
Oesterreichs und der Balkanhalbinsel ist
man niu* vereinzelt bis zur Stufe des Hand-
werks gelangt. Sie haben bis in die neueste
Zeit auf der Stufe des Hauswerks und
des Wandergewerbes verharrt; sie zeigen
hier und da Anfänge des stehenden Lohn-
werks ; aber es schiebt sich sofort über diei;e
primitive Gestaltung der Stoffveredelung die
aUermodernste des Verlags- und Fabrik-
systems, ohne dass die Mittelstufe des
Handwerks durchschritten würde. In Russ-
land wird der kaum aus der Leibeigenschaft
befc-eite Kleinbauer gleich zum Hausindus-
triellen oder Fabrikarbeiter; aus der Hörig-
keit des Gnmdeigentiuns tritt er in die-
jenige des Kapitaleigentums — ein unver-
mittelter Gegensatz mehr in der Geschichte
dieses an schroffen Uebergängen so reichen
Volkes.
Aber das ist das Scliicksal aller niedrig
kidtivierten Völker, dass sie durch die mo-
dernen Verkehrsmittel gewaltsam in die
mächtige Bewegimg dos westeiux)päisch-
nordamerikanischen Kulturkreises hineinge-
rissen werden, gleichsam über den unüber-
brückbaren Abgi'und von Jahrtausenden
hinweg und dass dabei auch die lebens-
kräftigen Keime eigener nationaler Entwicke-
lung dahinw^elken. Soweit sich zur 2ieit
übersehen lässt scheint kein aussereuropäi-
sches Volk eine unserer Fabrik ähnliche
Organisation der Stoffumwandlung aus eige-
ner Kraft erreicht zu haben. Selbst bei den
Chinesen und Japanesen finden wir auf na-
tionalem Boden ausschliesslich Kleinbetriebs-
formen. Auf weiten Gebieten der gewerb-
lichen Produktion herrscht hier • noch das
Hauswerk vor, namentlich auf demjenigen
der Textilproduktion. und wenn dasselbe
\ielfach auch zur Tauschwerterzeugimg (H.
Stufe) fortgeschritten ist und hie und da
bereits dem Verlagssystem ähnliche Er-
scheinungen aufweist, so verharrt es doch
bei der ^ahnmgsmittelproduktion meist noch
auf seiner Urform und hat auf dem Gebiete
der Holz- und Metallverarbeitung höchstens
handwerksähnlichen Betrieben, untermischt
mit Lohnwerk, Platz gemacht. Bei den
Indern sehen wir auf den Dörfern einen
Stand von lohnarbeitenden Gewerbetreiben-
Gewerbe
391
den, deren Stellung an die Demmrgen
Homers erinnert. In den Städten finden
wir ein uraltes Kunstgewerbe, das eine
eigene Technik in Silber, Stahl, Kupfer,
Messing, Elfenbein bethätigt und lohn-
oder handwerksartigen Betrieb aufweist.
Aber die ganze Seiden- und ein grosser
Teil der Baumwollverarbeitung ist Haus-
werk, bei der Baumwolle allerdings in eigen-
tümlicher Mischung mit dem aus England
importierten Fabriksystem. In Persien und
der asiatischen Türkei sowie in den mo-
hammedanischen Ländern Nordafrikas findet
sich in den Städten ein armseliges Kleinge-
werbe, halb Handwerk, halb Lohnwerk; auf
dem Lande fast niu* wanderndes Lohnwerk
und hie und da ein verlagsmässig organi-
siertes Hauswerk.
Die ürvölker Afrikas, Australiens und
Südamerikas sind über die Stufe des Hans-
werks nur an einzelnen Stellen hinausge-
kommen, wo ein entwickeltes Marktwesen
oder günstfge Verkehrsverhältnisse die Pro-
duktion für den Absatz ermöglichen. So
finden wir auf einzelnen Südseeinseln eine
Prwluktion von irdenen Töpfen, Booten und
Schmuckartikeln, die dmx;h weite Seefahi'ten
bei anderen Stämmen abgesetzt werden. In
Afrika herrscht das Stammgewerbe (als
Hauswerk II. Stufe) mit Uebcrschussproduk-
tion für benachbarte Märkte imd eine dera-
entspreehende gewerbliche Differenzierung
von Volk zu Volk, oft sogar von Ort zu
Ort. Daneben kommen Wanderbetriebfr-
formen mit störweiser Stoffverarbeitung, im
Sudan auch Heim werk vor. Im ganzen
aber gehen diese indigenen öewerbeformen
mit dem Vordringen des europäischen Ilan-
<lels technisch zurück und verlieren auch
mehr imd mehr ihre wirtschaftliche Gnmd-
lage.
Leider lässt sich nicht mehr als diese
lückenhafte üebersicht geben, solange gerade
die wirtschaftlichen Erscheinungen unter
den Natur- und Halbkulturvölkem von den
europäischen Reisenden so wenig beachtet
und ihr gewerbliches Leben niu* vom Stand-
punkte der Technik oder dem für unsere
Zwecke noch weniger zureichenden der
internationalen Konkurrenz betrachtet wird.
24. Tendenz der Fortentwickelnng.
Die Entwickelung des Gewerbes steht unter
drei eigentümlichen Voraussetzungen. Zu-
nächst ist das Gebiet der Stoffumwandlung
kein fest abgegrenztes; fortgesetzt lösen
sich von der Hauswii-tschaft und der Ur-
j)roduktion Teile ab, um zu selbständigen
Gewerbezweigen zu werden. Sodann ist die
Güterwelt, Avelche zur Befriedigung unserer
Bedürfnisse und zu unserer Ausrüstung im
Kampf ums Dasein dient, stets in der Ver-
mehning und Vervollkommnung begriffen,
imd so entstehen immer neue Güterarten.
Endlich sind die Kulturvölker in ihrer ge-
werblichen Produktion nicht auf den eigenen
Bedarf beschränkt, sondern sie sind gerade-
zu darauf angewiesen, einen mit wachsender
Bevölkei-ung zunehmenden Teil ihrer ge-
w^erblichen Erzeugnisse auszuführen. Somit
erscheint zunächst die Eutwickelungsfähig-
keit ihi-er gewerblichen Thätigkeit kaum an
eine erkennbare Grenze gebunden, und that-
säclilich vermehrt sich bei ihnen trotz aller
technischen und wiirtschaftlichen Vervoll-
kommnung der Produktion die Zahl der ge-
werbeti'eibenden Menschen in rascherem
Masse als die Gesamtbevölkenmg.
Zugleich aber vei-schieben sich auf dem
Boden der modernen kai)italistischen Pro-
duktionsweise die gewerblichen Betriebs-
formen in der Richtung einer stets zunehmen-
den Koncentration. Bedingt und gefördert
wird diese letztere durch eine der modernen
Volks wii-tschaft eigentümliche Erscheinung,
die wir als Bedarfskoncentration be-
zeichnen können. Zunächst entledigt sich
die Hauswirtschaft immer mehr aller pro-
duktiven Elemente, um sich allein auf die
Regelung der Konsumtion zu beschränken.
Die ünterscliiedo der Lebensgewohnheiten
und Gebrauchssitten gleichen sich zwischen
den verschiedenen Bevölkerungsschichten
aus; der Kulturbedarf der breiten Massen
erweitert sich. Die Aufhebung alter Absatz-
schranken durch die Einführung der Ge-
werbefreiheit, die Verbilligung des Trans-
ports diu-ch Post, Eisenbahnen u. s. w. er-
möglichen es, die früher abgeschlossenen
Lokalkundschaften der Lohn- und Hand-
werker zu grossen Verlags- und Fabrik-
kimdschaften zusammenzufassen. Die gross-
städtischen Menschenanhäufungen, die Staaten
mit ihren Kriegsheeren imd Flotten, Ge-
fängnissen, Krankenhäusern, SchulanstalteU)
die gewaltigen Transportunternehmungen,
die Fabriken und die Grossbetriebe auf dem
Gebiete des Handels-, des Bank- und Ver-
sicherungswesens bilden ebenso viele Mittel-
punkte eines Massenbedarfs an Indus-
trieprodukten. Dazu kommt, dass das mo-
derne Kulturleben der Industrie an vielen
Punkten die grossartigsten und kompliziertes-
ten Aufgaben stellt, zu deren Lösung die
älteren Kleinbetriebsformen technisch und
wirtschaftlich ausser stände sind. Die An-
fertigung einer Lokomotive oder eines Dampf-
krahns, der Bau eines Kriegsschiffs oder
einer Strombrücke, die Anlage einer Wasser-
leitung, eines städtischen Gas- oder Elek-
tricitätswerks, einer Strassenbahn — sie alle
erfordern mechanische Einrichtungen von
gewaltiger Leistimgskraft, hochgebildete
Techniker und sehr viele verschieilen quali-
fizierte Arbeiter.
Dieser Bedarfskoncentration entspricht
auf Seiten der Industrie eine zunehmende
392
Gewerbe
Betriebskoncentration. Letztere geht
zunächst aus von der grossen Absatzver-
einigung, die in den Grossbazaren, Ver-
sandtgeschäften und Konsumverei-
nen gegeben ist Indem diese die Nach-
frage zahlreicher Konsumenten (zum Teil
mit Hilfe des niedrigen Packetportos) auf
einen Punkt zusammenleiten, erlangen sie
eine bedeutende Macht über die Industrie.
Sie beschränken sich nicht mehr darauf,
wie die gewöhnlichen Ms^azine, eine Gruppe
von Liefermeistem und Stubengesellen von
sich abhängig zu machen ; sie nehmen ganze
Fabriken in ihre Dienste, binden sie anfangs
durch Vorschüsse und Lieferungsverträge,
erwerben dann wohl die Mehrzahl ihrer
Aktien oder bei Einzeluntemehmungen das
volle Eigentum und stellen so Produktions-
und Absatzvereinigungen grössten Stües dar.
Eine zweite ähnliche Bewegung geht
von den Fabriken selbst aus. In der ersten
Zeit ihrer Ausbreitung ergriffen diese mit
Vorliebe einen einzelnen Produktionsab-
schnitt, weil in diesem das Kapital sich
häufiger umschlagen und somit das Gesamt-
erfordernis an Betriebsmitteln auf ein relativ
geringes Mass reduzieren Hess. Mit der
Zeit aber ist diese etappenweise Produktion
zu teuer geworden, weil das Produkt, bevor
es an den Konsumenten gelangt, zu viele
Unternehmungen passieren muss — .ein
Kleid z. B. die Wollkämmerei, Spinnerei,
Weberei, Färberei, Dnickeroi, Appretier-
anstalt, das Konfektionsgeschäft. Auf jeder
Etappe schlagen sich beim Eigentumsüber-
gang zum Rohstoffpreise neben den Fabrika-
tionskosten Zinsen , Unternehmergewinne,
Transport- und Vermittelungsspesen. Dies
musste den Gedanken nahe legen, behufs
Verminderung der Kosten die Vordermänner
oder Zwischenglieder auszustossen und den
ganzen Produktionsprozess , soweit er sich
überhaupt fabrikmässig organisieren liess,
in eine Hand zu bringen. So geht das
Streben aller grossen Fabriken heute darauf
hinaus, ihren ganzen Bedarf an fremden
Gewerbeprodukten selbst zu erzeugen und
sich bezüglich des Bezugs von Halbfabiikaten,
Hilfsstoffen und sonstigen Produktionsmitteln
unabhängig zu stellen. Sie greifen dabei
einerseits bis zur Urproduktion ziurück, wie
die grossen westfälischen Eisenwerke, welche
nicht bloss Hochöfen anlegten, sondern auch
Eisensteingruben. Kohlenzechen und selbst
Waldungen für inren Bedarf erwarben; an-
dererseits dehnen sie ilire Thätigkeit bis
zum Kleinverschleiss ihrer Fabrikate aus,
indem sie in zahlreichen Städten Verkaufs-
filialen errichten, wie manche Tabaksfabriken
und die Münchener Bierbrauereien. Die
Verlagsfirma F. A. Broekhaus in Ijcipzig
vereinigt in e i n e m Betriebe : Buchdmckerei,
Schriftgiesserei , Stereotypengiesserei , gal-
vanoplastische Anstalt, Schriftschneiderei
und Gravieranstalt, Stahl- und Kupfer-
dnickerei, lithographische Anstalt, xylo-
graphische Anstalt, Buchbinderei, Verlags-
buchhandlung, deutsches und ausländisches
Kommissionsgeschäft, deutsches und auslän-
disches Sortimentsgeschäft. Man hat diesen
Vorgang als Kombination bezeichnet;
wir werden ihn vielleicht zutreffender Be-
triebsvereinigung nennen.
Eine dritte Bewegung, die ersichtlich
dem gleichen Ziele zustrebt, ist die der
massenhaften Kartellbildung. Die ver-
tragsmässigen Vereinigungen selbständiger
Unternehmer, welche durch dauernde mono-
polistische Beherrschung des Marktes den
höchstmöglichen Kapitalprofit erstreben,
wirken vereinheitlichend auf Zahl und Art
der Warensorten imd -masse, auf Preise,
Rabattsätze , Zahlungsfristen , Agentenpro-
visionen; in ilirer höchsten Ausbildung ge-
langen sie zu gemeinsamen Verkaufs-
stellen oder gar zur Fusion und Trust-
bildung, bei welcher ein ganzer Produk-
tionszweig von einer Stelle aus einlieitlich
durch das ganze Ijand geleitet wird.
Diese drei von verschiedenen Ausgangs-
punkten begonnenen Koncentrationsbewe-
gungen iassen gewerbliche Riesen-
unternehmungen entstehen, von denen
jede eine ganze Anzahl verschiedener Fa^
brikbetriebe in sich vereinigt, zugleich aber
auch eine Herrschaft über die korrespon-
(jüerende Urproduktion und den Ab.satz ge-
winnt, wie sie bis dahin unerhört war. Ob
daraus ein neues Betriebssystem des Ge-
werbes hervorgehen wird, das an Stelle der
Warenproduktion eine gemeinwirtschaftliche
Gütererzeugung mit öffentlichrechtlidi fun-
diertem Verteilungsprozess wenigstens für
eine Anzahl von Produktionszweigen setzen
wird, wird niemand heute zu sagen wagen.
Das so jetzt stellenweise schon geschaffene
System autonomer Wirtschaft erinnert in
manchem lebhaft an die Grossgrundherr-
schaften des Altertums oder an die Villen-
verfassung Karls des Grossen — nur mit
dem Unterschiede, dass es sich auf diesen
um die Erzeugung des gesamten Hausbedarfs
handelte, während die gewerblichen Riesen-
imternehmungen der Neuzeit die Eraelung
des höchstmöglichen Reingewinnes bei der
kapitalistischen Warenproduktion erstreben.
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gewerbliche Arbeit und ihre Organisation, Arch,
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K, Bücher.
Oewerbegerichte.
1. Die Orp^anisation der gewerblichen Rechts-
pflege. 2. *Die älteren deutschen Einrichtnnfipeu.
ä. Die deutschen G. seit 1869 und ihre Neu-
organisation vom 29. Juli 1890. 4. Die Recht-
sprechung der deutschen G. 5. Reformvor-
schläge, Kaufmännische Schiedsgerichte. 6.
Berggewerbegerichte. 7. Statistik der deutschen
G. 8. Die Conseils de prud' hommes in Frank-
reich. 9. Die G. in Italien, Belgien, in der
Schweiz und Oesterreich.
1. Die Organisatioii der gewerblichen
Rechtepflege. Die gewerbliche Rechts-
pflege erstreckt sich auf verschiedene Arteu
gewerblicher Streitigkeiten. Es kann sich
handeln 1) um Differenzen des Publikums
mit den Gewerbetreibenden über die Güte
der Leistungen oder gekauften Waren, 2) um
Uebertretungen obrigkeitlicherseits erlassener
Vorschriften, 3) imi Streitigkeiten der Ge-
werbetreibenden unter einander imd 4) um
Streitigkeiten selbständiger Gewerbetreiben-
der mit ihren Gesellen, Gehilfen und Lehr-
lingen, die sich auf den Antritt, Fortsetzung
oder Aufhebung des Arbeits- oder Lehrvei'-
hältnisses, auf die gegenseitigen Leistungen
während der Dauer desselben oder auf die
Erteilung oder den Inhalt gewisser Zeug-
nisse beziehen. Die Art, wie man alle diese
Streitigkeiten zu erledigen versucht, ist in
den verschiedenen europäischen Kultm*staatea
keine gleiche. In Grossbritannien wird die
gesamte bürgerliche Rechtspflege von den
bürgerlichen Gerichten geübt. Die englischen
Grafschaftsgerichte, die schottischen Sheriffs-
gerichte der Grafschaften und die irischen
Civilgerichte erscheinen als die für die frag-
lichen Angelegenheiten verordneten Spruch-
behörden. Die St. Leonardsakte von 1867,
welche die Councils of conciliation, d. h.
/
894
Gewerbegerichte
eigene ständige Gerichtsinstanzen für Ar-
beitsstreitigkeiten zu schaffen beabsichtigte,
ist nie zui* rechten Wirksamkeit gelangt. In
Dentsclilancl, Oesterreich, Frankreich, Belgien
und der Schweiz unterscheidet man zwischen
den gewerblichen Sti-eitigkeiten und weist
die Erledigung der drei ersten Gruppen den
ordentlichen Gerichten zu, während für die
vierte Gruppe der Arbeitsstreitigkeiten in
engerem Sinne Sondergerichte bestehen. In
Deutschland sind neben diesen auch die
Gemeindevorsteher als gerichtliche Instanzen
in solchen Fällen tliätig. Während nun die
Zweckmässigkeit der Anordnung, dass die
Streitigkeiten der beiden ersten Kategorieen
dem gewöhnlichen Gerichte unterworfen sind,
nü'gends in Zweifel gezogen ist, hat man
für die Entscheidung der Streitigkeiten der
letzteren Art lange geschwankt zwischen den
onlentlichen und den Fach- oder Sonderge-
richten, sich aber schliesslich mit Ausnahme
von England überall für das Princip der
letzteren ausgesprochen.
Die Erledigung 'der Streitigkeiten selb-
ständiger Gewerbetreibenden mit ihren Hilfs-
personen durch den ordentlichen Rich-
ter bietet in kleinen Städten mit geringer
industrieller Bevölkerung alles, was man
von der Justiz erwarten kann. In grösseren
Induötriebezirken dagegen ist das Anhängig-
machen dieser Streitsachen bei den ordent-
lichen Gerichten mit entschiedenen Unzu-
t Wlglichkeiten verknüpft. Weder die Schnellig-
keit der Entscheidung noch sachgemässes
Urteil sind dann gewährleistet, imd ebenso
lässt die W^ohlfeilheit der Rechtsprechung
zu wünschen übrig. Für die Entscheidung
vieler der hierher gehörenden Klagen ist
genaue Kenntnis der wirtschaftlichen und
technischen Verhältnisse des Gewerbebe-
triebes unentbehrlich, die der ordentliche
Richter keineswegs immer besitzt. Demge-
roäss müssen Sachverständige vernommen
werden, deren Gutachten erst den richter-
lichen Spruch ermöglicht. Dies verschle[)pt
die Urtoilsfällung und kann bewirken, dass
der Richter sich der Meinung der Sachver-
ständigen anbecjuemen muss, also seine Selb-
ständigkeit gefährdet sieht. Selbst in Fällen,
wo es eigentlich specuell technischer Kennt-
nisse nicht bedarf, wird gleichwohl eine all-
gemein praktische Ansclianimg davon, was
in dorn Verhältnis zwischen Meister und
Gesellen oder Fabrikanten und Arbeitern
üblich und schicklich ist, erforderlich sein,
um die Entscheidung zu finden. Auch das
muss in Betracht gezogen werden, dass sehr
oft in der Nähe kleinerer Städte oder länd-
licher Ortschaften mit rege entwickelter In-
dustrie ordentliche Gerichte erster Instanz
nicht vorhanden sind. Da unterlässt dann
der Arbeiter, um nicht Zeit und Geld zu
verlieren, die Klage anzubringen. Wenn man
gelegentlich gemeint hat, durch die Verwei-
sung der Streitigkeiten vor die ordentlichen
Gerichte die Zahl der Rechtsstreitigkeiten
einschränken zu können, so hat sich diese
Ansicht als ganz irreführend herausgestellt.
Denn nicht die Zahl der Streitigkeiten nimmt
ab, sondern nur die Zahl der auf rechtlichem
Wege erledigten und ausgeglichenen Streit-
sachen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind
darum nicht weniger von ihrem Rechte
durchdrungen, wenn sie es nicht durch-
setzen können. Sie fülilen sich vielmehr
tief benachteiligt, imd die Thatsache, dass
sie daran gehindert werden, ihr Recht auf
gesetzlichem W^ege zu suchen, macht sie
bitter und unzufrieden.
Die Entscheidung gewerblicher Streitig-
keiten durch die Gemeindevorsteher,
wie sie in Deutschland lange Zeit vor-
herrschte und auch jetzt noch subsidiär
üblich ist, hat manches für sich. Bei vielen
gewerblichen Bagatellsachen, insbesondere
auf dem platten Ijande, wäre der Apparat
eines Sondergerichtes zu kostspielig und
umständlich. Dabei wirkt die \ereinigung
von Verwaltung und Rechtspflege oft wchl-
thuend und befriedigend. Indes spricht ge-
rade der zuletzt berührte Umstand, nämlich
(iass die Gemeindebehörden Verwaltungsbe-
hörden sind, die mit der Rechtspflege nichts
zu thun haben, wieder gegen sie. Die Auf-
gaben der Gemeindebehörden sind an sich
sehr umfangreiche und in der Zunahme be-
griffen; ein Gemeindevoreteher wird selten
zum Richteramt qualifiziert sein; innerhalb
des Gemeindevorstandes können kirchliehe
und politische Parteiströmungen die richter-
liche Unabhängigkeit trüben und zwischen
Industrie und Landwirtschaft in manchen
Gemeinden öi-tliche Konflikte vorkommen,
welche die Unparteilichkeit der entschei-
denden Behörden ernstlich in Frage ziehen.
Erscheint hiernach im allgemeinen die Uober-
ti'agung der gewerblichen Streitigkeiten auf
die Gemeindebehörde nicht angemessen, so
lässt sich doch gegen die Art, wie man sie
insbesondere in Deutschland subsidiär ein-
treten lässt, nichts einwenden. In Gegen-
den mit gering entwickelter Industrie und
einfachen Verhältnissen wird ein Sonderge-
richt nicht angebracht und als dessen Ersatz
die Gemeindebehörde vollkommen am Platz
sein.
Die zweckmässigste und vollendetste Or-
ganisation der gewerblichen Rechtspflege
wird immer die sein, wo dem Bedürfnis
nach schneller verständnisvoller und ge-
rechter Beurteilung zu entsprechen Son-
dergerichte und zwar solche, bei denen
Standesgenosson der Streitenden herange-
zogen werden, ausei^sehen sind. Diese ersparen
den Parteien Kosten und Zeitversäumnisse,
sie legen viele Streitigkeiten im Urspnmg
Gewerbegerichte
395
bei und halten sich überhaupt in den Grenzen
eines ausgleichenden Verfahrens. Mehrere
Gninde können für sie geltend gemacht wer-
den. In moralischer Beziehung lassen sie
sicli mit dem allgemein bekannten umstände
rechtfertigen, dass die Gewerbetreibenden
eine eigene Scheu vor der richterlichen
Thätigkeit ihrer Genossen haben. Aus dem
Prozess vor dem allgemeinen, ihnen persön-
lich femstehenden Richter machen sie sich
meist wenig, während die Möglichkeit, vor
das genossenschaftliche Gericht gezogeu zu
werden, ihnen einen heilsamen Schrecken
einzujagen pflegt. Arbeitnehmer und Ar-
beitget)er fahren besser. Letztere werden
nicht gern sich vor den Benifsgenossen
wegen ungerechtfertigter Behandlung ihrer
Arbeiter verantworten wollen und Klagen
mithin zu vermeiden suchen. Erstere wer-
den sich dem Urteile des Gerichts, in wel-
chem Genossen sitzen, in der Regel williger
fugen. Das aber hat den Vorteil für den
Arbeitgeber, dass er z. B. in Fällen, wo seine
Arbeiter ihn ohne Kündigimg verlassen
haben, hoffen kann, zu seinem Rechte zu
kommen, während er sich gestehen muss,
dass an der Rückkehr eines nur dem Zwange
gehorchenden Arbeiters ihm nicht viel ge-
legen sein kann. Zweitens ist das bereits
erwähnte Moment in Betracht zu ziehen,
dass in vielen Fällen eine Sachverständig-
keit zur Beurteilung erforderlich ist, die
den lediglich juristisch ausgebildeten Rich-
tern abgeht. Drittens ist thunlichste Schnel-
ligkeit der Entscheidung wesentlich für beide
Parteien. Ist der Arbeitgeber böswillig ver-
lassen worden, in einer Zeit, wo die Abliefe-
nmg einer Quantität Ware vor der Thtlr
stand, so hat der Prozess für ihn nur Be-
deutung, wenn er hoffen kann, denselben
beendet zu sehen, ehe jener Termin ver-
strichen ist. Der Arbeitnehmer aber, der
etwa bei der Lohnauszahlung sich verkürzt
glaubt, ist nicht in der I^age, der paar Mai'k
wegen, die er noch bekommen soll, wochen-
lang an einem Orte zu verweilen, den er
sonst verlassen würde, oder etwa nach
einiger Zeit wieder dahin zurückzukehren.
Der etwas schleppende Geschäftsgang der
ordentlichen Gerichte würde dieses Bedürf-
nis nach sdileuniger Entscheidung meist
nicht ganz befriedigen können, während bei
den gewerblichen Fachgerichten ein Urteil
gewöhnlich in fünf, höchstens zwölf Tagen
zu erlangen ist und eine Vertagung zu den
Seltenheiten gehört. Ein Gericht, dessen
Obliegenheit in der Erledigung nur einer
bestimmten Art von Prozessen besteht, kann
l)ei allmählich erworbener Routine rascher
vorgehen als dasjenige Gericht, bei welchem
diese Prozesse nur einen kleinen Bruchteil
all derer bilden, die überhaupt bei ihm an-
hängig gemacht werden. Viertens spielt die
Wohlfeilheit der Prozessführung eine Rolle,
die in Anbetracht der geringen Mittel der
Arbeiterklasse von nicht zu unterschätzender
Wichtigkeit ist.
Eine bestimmte einheitliche Form hat sich
für diese Sondergerichte nicht herausgebildet.
Es handelt sich im Princip um ein Fach-
gericht, das unter Mitwirkung von Standes-
genossen der Streitenden Recht sprechen
soD. Die verbreitetste Form ist die der
französischen Conseils de prud'hommes. Von
Frankreich aus haben diese ihren Weg nach
Belgien, in einige schweizerische Kantone
sowie in die deutsche Rheinprovinz und
nach Elsass-Lothringen genommen. Den
französischen ähnliche Gerichte sind die in
Oesterreich durch G. v. 14. Mai 1869 ins
Leben gerufenen. Einen zweiten Typus
stellen die deutschen Gewerbegerichte vom
28. Juli 1890 dar, und einen dritten findet
man in den gewerkschaftlichen Gerichten,
auch wohl Berufsgerichte genannt, die in
erster Linie immer nur für ein bestimmtes
Gewerbe fungieren. Zu diesem gehören in
Deutschland das Innungsscliiedsgericht und
die Innungsspruchbehörde, in Oesterreich
die schiedsrichterlichen Ausschüsse der Ge-
nossenschaften und in Ungarn die auf Ai'-
tikel XVII des Gesetzes von 1884 beruhen-
den Einigungskommissionen der Gewerbe*
korporationen. Auch die Schiedsgerichte
der deutschen Berufsgenossenschaften auf
Grund des Unfallversicherungsgesetzes kann
man hierher zählen, nur dass eben ihre
Kompetenz sich auf die Beurteilung der aus
der Haftpflicht hervorgehenden Entschädi-
gungsansprüche beschränkt.
2. Die älteren deutschen Einrich-
tungen. Mit der Einverleibung des linken
Rheinufers in den französischen Staatsver-
band wurde in jenem Landesteil die Ge-
werbefreiheit und in der Folge, als 1806
das Gesetz über die PnKrhommes erging,
auch dieses eingeführt. Durch Dekret v. 1.
April 1808 wurde in Aachen-Burtscheid das
erste derartige Gewerbegericht eröffnet dem
1811 in Krefeld und Köln zwei andere
folgten. Als Preussen nach Beendigung der
Freiheitskriege von der Rheinprovinz Besitz
ergriff, hielt man es für das zweckmässigste,
an den Grundsätzen, nach denen diese Ge-
richte angeordnet waren, nichts zu ändern,
bemühte sich vielmehr, ihnen in anderen
Landesteilen, wenn auch etwas umgestaltet,
Anerkennung zu verschaffen. Erst 1830
und 1833 wurden die Räte der Gewerbe-
verständigen insofern reformiert, als ihre
Zusammenstellung geändert wurde ; im übri-
gen rief man sie nach und nacli, da man
mit ihrer Wirksamkeit durchaus zufrieden
war, in anderen rheinischen Städten gleich-
falls ins Leben: 1835 in Gladbach, 1840 in
Elberfeld, Barmen, Solingen, Lennep, Rem-
396
Gewerbegerichte
scheid, 1843 in Biirscheid, 1844 in Düssel-
dorf, 1857 in Mühlheim a. Rh. Für aUe
Gerichte galt die V. v. 7. Anglist 1846,
nach der sie von nun an als »königliche
Gewerbegerichte« bezeichnet wurden. Sie
waren kompetent fflr Streitigkeiten zwischen
Fabrikanten und deren Aufsehern und Ar-
beitern, sowie zwischen selbständigen Ge-
werbetreibenden und ihren Gesellen und
Lehrlingen. Die sogenannten Hausindus-
triellen waren ausdrücklich ihrer Gerichts-
barkeit unterstellt. Der Beurteilung unter-
lagen alle Streitsachen, die sich auf Antritt,
Fortsetzung oder Auflösung des Arbeits-
oder Lehrverhältnisses, auf die gegenseitigen
Ijeistungen, auf Erteilung und Inhalt von
Zeugnissen, Geldforderungen, Ersatz des
Schadens für verdorbene oder schlechte Ar-
l)eLt u. a. m. beziehen.
In andei-en preussischen Provinzen war
gelegentlich einzelnen grösseren industriellen
Unternehmungen eine Patrimonialgerichts-
barkeit für gewisse Streitigkeiten mit ihren
Arbeitern zugestanden worden, so z. B.
schon 1722 den Gewehrfabriken in Pots-
dam und Spandau. In Berlin war lu^prüng-
lich die Erledigung der Streitigkeiten zwi-
schen Fabrikunternehmem und iliren Ar-
beitern dem Magistrate, dann dem Polizei-
direktorium übertragen und durch das Re-
glement Ton 1792 neu geregelt worden.
Hieraus entwickelte sich im Laufe der Jalire
das am 4. April 1815 als eine besondere
Deputation des Stadtgerichts eröffnete Fa-
brikengericht. Di eses bestand aus einem
Mitglie^le des Stadtgerichtes und einem
technischen Mitarbeiter und trat einmal
wöchentlich zusammen, um die Parteien, die
sich uneingeladen eingefimden hatten, zu
hören und die anberaumt-en Termine abzu-
halten. Seiner Beurteilung unterstanden
1. alle Streitigkeiten der Fabrikunternehmer
und ihrer Arbeiter Über schlechte, kontrakt-
widrige Arbeit, über ihre Verzögerung und
Verfälschung, über das Verderben der Ge-
rätschaften und Materialien, über die Ent-
fernung und Abdankung der Arbeiter vor
der Zeit, überhaupt alle Streitigkeiten, die
unmittelbar die Fabrikation und die doshalb
übernommenen oder gesetzlich vorgeschrie-
benen Verpflichtungen und BefugnisvSe zum
Gegenstand haben ; 2. die Streitigkeiten der
Fabrikuntemehmer unter sich wogen Ver-
führung und Abspenstigmachens der Ar-
beiter; 3. die Untersuchung der gegen Fa-
brikgesetze von den Unternehmern und den
Arbeitern begangenen Kontraventionen; 4.
Injurien zwischen den Fabrikvorgesetzten
und den Ai'boitem sowie zwischen den Ar-
beitern unter sich; 5. Schuldsachen, soweit
sie aus der Fabrikverbindimg entstehen, mit
Ausnahme der Wechselsachen: 6. Hand-
lungfen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, deren
Gegenstand das Fabrikwesen betrifft, sofern
deren Objekt keine stempelfähige Summe
erreicht.
Die Wirksamkeit dieses Fabrikengerichts
war eine bescheidene, und Nachahmungen
desselben sind in grösserem Massstabe nicht
versucht worden. Immerhin wurden am 26.
November 1829, indem wie es scheint sein
Reglement zu Grunde gelegt wurde, in neun
westfälischen Städten die sogenannten Fa-
brikengerichtsdeputationen ange-
ordnet. Die Kompetenz derselben war gegen-
über der des Berliner Gerichts insofern ge-
ändert, als die Befugnis zur Aufnahme von
Handlungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit
fehlte und zwei neue Arten von Streitig-
keiten ebenfalls zuständig wurden. Die De-
putation war nämlich ausser in den schon
erwähnten Fällen kompetent 1. für Streitig-
keiten aus Lieferungsverträgen über Fabriken-
bedürfnisse und 2. in konnexen Sachen,
wenn die Erfüllung eines zwischen einem
Lieferungsberechtigten und -verpflichteten
geschlossenen, vor der Fabrikengerichtsdepu-
tation streitigen Lieferungskontraktes mit
Verbindlichkeiten zusammenhing, deren Er-
füllung der Lieferungsverpflichtete gegen
die ihm verpflichteten Arbeiter, Unterliefe-
ranten etc. vor dem gewöhnlichen Gerichte
klagend verfolgte. Gebildet wurde diese
Deputation aus einem Richter und einem
Techniker sowie aus zwei Fabrikinhabern
aus dem Gerichtsorte als Beisitzer, die aus
der Klasse der Gewerbetreibenden mit kauf-
männischen Rechten durch, die Gewerbe-
steuerpflichtigen des Gerichtsbezirkes aiif
die Dauer von zwei Jahren erwählt wiutlen.
Sie trat nicht in allen westfälischen Städten,
für die sie geplant war, ins Leben, sondern
nur in Altena, Hagen, Iserlohn, für den Ge-
richtsjaezirk Lüdenscheid und für den Kreis
Siegen, auch hier nur eine untergeordnete
Wirksamkeit entfaltend.
In der preussischen Gewerbeordnung von
1845 wimie zwar die Rechtsprechung der
Innungen beträchtlich eingeschränkt, aber
mit der auf diese Weise allmählich sich
herausbildenden Ueberweisung aller gewerb-
lichen Streitigkeiten an die ordentlichen Ge-
richte war man in Handwerkerkreisen nicht
zufrieden, sondern verlangte Gewerbegerichte
nach französisch-rheinischem Muster. Die
Nationalversammlung sprach sich im allge-
meinen für gesonderte fachliche Laieuge-
richte aus, und § 47 der Grundrechte lautete :
»Die bürgerliche Rechtspflege soU in Sachen
besonderer Berufserhebung durch sachkun-
dige, von den Borufsgenossen gewählte
Richter geübt oder mitgeübt werden.« War
auch in dem Ent^nirfe einer deutschen Ge-
werbeoi'dnung, den das Parlament ausarbeiten
liess, die Errichtung gewerblicher G«nossen-
gerichte nicht vorgesehen, so wurden sie
Öewerbegerichte
397
doch von den verschiedensten Seiten befür-
wortet, und unter dem Drucke der öffent-
lichen Meinung berief die preussische Re-
gierung einen Ausschuss von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern zur Beratung über die
Frage nach Berlin. Dieser stellte unter
Mitwirkung von Mitgliedern des Handels-
imd Justizministeriums einen Entwurf, betr.
die Errichtung von Gewerbegerichten, auf,
der am 2. Februar 1849 Gesetzeskraft er-
hielt. Für die ganze Monarchie bestimmt,
traten diese Gerichte im Laufe der nächsten
drei Jahre doch nur an 11 Orten wirklich
ins Leben : in Magdeburg, für die Grafschaft
Wernigerode, in Halle, Stettin, Breslau,
Schwedt, Minden, Liegnitz, Görlitz, Hatibor
und Sagan, gingen aber bald wieder ein.
Allerdings schloss sich die neue Gesetz-
gebung der bewährten rheinischen an, allein
man unterliess, das Verfahren genau vorzu-
schreiben, stellte die Zuständigkeit nicht
ganz klar, setzte die Gerichtskosten zu hoch
an und arbeitete viel zu langsam. So er-
rangen die Gerichte weder bei den Gemein-
den noch bei den Gewerbetreibenden Beifall.
In Sachsen war gleichfalls in den 40er
Jahren die Errichtung besonderer Fabrik-
gerichte durch Petitionen angeregt und 1846
in der zweiten Kammer darüber verhandelt
wonlen, ohne dass es zu einem greifbaren
Ergebnis gekommen war. Zum zweiten
Male wai' 1857 in einem den Kammern von
der fiegierung vorgelegten Entwürfe einer
Gewerbeordnung von Gewerbegerichten die
Rede, doch blieb auch jetzt der Gegenstand
unerledigt. Erst am 15. Oktober 1861 kam
es, im Zusammenhange mit einer allgemeinen
Regelung der gewerblichen Verhältnisse, zu
einem Gesetz, betreffend die Errichtung von
Gewerbegerichten. Hiernach konnten Ge-
werbegerichte auf Anordnimg des Ministe-
riums des Innern, auf Antrag der Handels-
und Gewerbekammer oder von Gewerbe-
treibenden eröffnet werden. Der Vorsitzende
soUte ein rechtskundiger Verwaltungsbeamter
sein, der vom Ministerium des Innern er-
nannt wiuxle. Arbeitnehmer und Arbeit-
geber, auf je 6 Jahre von den betreffenden
Klassen gewählt, bildeten die Beisitzer. Die
Wirksamkeit dieses Gesetzes war eine sehr
geringe. Nur ein einziges Gericht wurde
ins Leben genifen: in Meissen, aber selbst
dieses erlangte nie ii'gend eine Bedeutung.
Von den übrigen deutschen Staaten hat
nur das Herzogtum Sachsen-Gotha, in
Anlehnung an die von dem Handwerker-
kongress in Frankfurt a. M. geäusserten
Wünsche, den Versuch gemacht, Gewerbe-
gerichte zu eröffnen. Nach zwei gleichlau-
tenden Gesetzen vom Jahre 1849, die für
die Städte Ohrdruf, Waltershausen und den
Amtsbezirk Ichtershausen erlassen wiu*den,
war die Organisation die folgende. Neben
den Obermeistern der Innimg, die keine
eigentliche Gerichtsbarkeit besassen, befand
sich ein aus der Innung hervorgegangenes
Friedensgericht, das vorzugsweise dazu aus-
ersehen war, die Streitigkeiten mehr persön-
licher Natm' zwischen Meistern und Ge-
sellen zu schlichten, indes auch über reine
Rechtssachen entscheiden konnte, sofern die
Parteien damit einverstanden waren, üeber
dem Friedensgerichte stand als eine Abtei-
limg der Gewerbekammer das eigentliche
Gewerbegericht. Gelangte nun eine Klage-
sache nicht vor dem Friedensgerichte zur
Entscheidung, so wiurde sie vor das Ge-
werbegericht gebracht, wo aber zunächst ein
Sühneversuch angestellt werden musste.
3. Die deutschen G. seit 1869 und
ihre Nenorganisatioii vom 29. Juli
1890. Nach § 108 der Gewerbeordnung
von 1869 wai*en in erster Linie die Ge-
meindebehörden für die Entscheidung der
Streitigkeiten selbständiger Gewerbetreiben-
der mit ihren Hilfepersonen zuständig. Alle
Uneinigkeiten, die sich auf den Antritt, die
Fortsetzung oder Aufhebung des Arbeits-
oder Lehrverhältnisses, auf die gegenseitigen
Leistungen während seiner Dauer oder auf
die Erteilung oder den Inhalt gewisser
Zeugnisse bezogen, mussten, sofern nicht
besondere Behörden bestanden, hier zum
Austrag kommen. Der Rechtsweg für die
ordentlichen Gerichte konnte nicht frilher
beschritten werden, bevor die Entscheidung
der Gemeindebehöi-de ergangen war. Statt
der Gemeindebehörden konnten durch Orts-
statut besondere Schiedsgerichte mit der Er-
ledigung dieser Streitigkeiten betraut wer-
den. Ferner war seit 1881 den Innungen
die Entscheidung von Streitigkeiten der er-
wähnten Art zwischen Innungsmitgliedern
und deren Lehrlingen als obligatorische
(Innungsspnichbehörde), zwischen Innungs-
mitgliedern und ihren Gehilfen als fakulta-
tive Aufgabe (Innungsschiedsgericht) zuge-
fallen. Seit 1887 war die Kompetenz cler
letzteren dahin erweitert, dass auch Nicht-
innungsmitglieder und deren Gesellen ihnen
unterstellt werden konnten. Endlich gab
es in einigen Gebietsteilen die schon er-
wähnten, auf landesgesetzlichen Normen be-
ruhenden Behörden. Die sachliche Zustän-
digkeit dieser vier Arten von rechtsprechen-
ien Behörden erfuhr durch das Kranken-
versicherungsgesetz von 1883 eine Ausdeh-
nung. Von nun ab wurden die Streitig-
keiten zwischen Arbeitgebern und den von
ihnen beschäftigten Personen über die An-
rechnung und Berechnung der Kranken-
kassenbeiträge ebenfalls von ihnen ausge-
tragen. Diese Mannigfaltigkeil der Organi-
sation war weit entfernt von befriedigenden
Zuständen. Die Gemeindebehörden erwiesen
sich der ihnen zugemuteten Aufgabe nicht
398
Grewerbegerichte
recht gewachsen; gewerbliche Sclüedsge-
richte wurden in geringer Zahl begründet,
und die Innungen, deren Wiederbelebung
zunächst überhaupt langsam vor sich ging,
bequemten sich gleichfalls nur selten zur
Eröffnung von Schiedsgerichten. Auf diese
Weise offenbarte sich ein Mangel an Ge-
richten, der sehr bedenklich wai», weil er in
dem Arbeiter das Gefühl der Rechtsver-
weigerung hervorrufen konnte, und nicht
minder beklagenswert war die Buntscheckig-
keit in der Verfassung der wenigen amtie-
renden Schiedsgerichte. So war bereits seit
1873 die Reformbedürftigkeit dieser Ange-
legenheit anerkannt, und der Reichstag be-
fasste sich wiederholt mit auf die Einfüh-
rung von Gewerbegerichten bezüglichen Vor-
lagen. Doch dauerte es nahezu 20 Jahre,
bis endlich am 29. Juli 1890 das Gesetz zu
Stande kam, das der heutigen Organisation
zu Grande liegt.
Die gewerbliche Rechtspflege der cha-
rakterisierten Art ist gegenwärtig den Ge-
werbegerichten, den Innungsgerichten und
den Gemeindevorstehern anvertraut. Der
Schwerpunkt des Gesetzes ruht in den G^
Werbegerichten, deren Einsetzung den Ge-
meinden und weiteren Kommunalverbänden
überlassen bleibt. Diese Gewerbegerichte
sind nicht als kommunale Einrichtungen an-
zusehen, sondern sind staatliche Gerichte,
die im Namen des Landesherm Recht
sprechen. Sie stehen mit den Amtsgerichten
auf einer Stufe, und von ihnen ergeht die
Berufung an das Landgericht, in dessen
Bezirk das Gewerbegericht seinen Sitz hat.
Die sachliche Zuständigkeit des neuen
Gewerbegerichts ist in ihren bisherigen
Grenzen geblieben und nur insofern be-
stimmter bezeichnet worden, als ausdrück-
lich auch alle Ansprüche auf Entschädigung,
einschliesslich derjenigen, die erst mit dem
Zeitpunkt der Entlassung oder des Austritts
des Arbeiters entstehen, vor die Gewerbe-
gerichte verwiesen werden. Dagegen ist
die persönliche Zuständigkeit auf mehrere
Arbeiterkategorieen ausgedehnt worden. Es
können nämlich für die Bergarbeiter
gleichfalls Gewerbegerichte emchtet >\'erden,
die aber von der Landescentralbehörde an-
geordnet werden und ausschliesslich nur
für die Bergarbeiter des betreffenden Bezirks
zuständig sind. Weiter sind die Streitig-
keiten der Vorstände der unter staatlicher
Verwaltung stehenden gewerblichen Anlagen
mit ihren Arbeitern ebenfalls den Gewerbe-
gerichten unterworfen. Dahin gehören die
Reichs- und Staatsdruekereien , die staat-
lichen Münzanstalten und die hei den
Staatsbahnen befindlichen Werkstätten,
wälu'ond die luiter der Militär- und Marine-
verwaltung stehenden Betriebsanlagen, d. h.
also die staatlichen Pulver-, Gewehr- und
sonstigen Waffenfabiiken, Werfte, Reparatur-
werkstätten ausdrücklich ausgenommen sind.
Endlich sind die Gewerbegerichte für die
»Heimarbeiter uüd Hausgewerbetreibende«
zuständig, von denen zwei Kategorieen aus-
einander gehalten werden. Nur sofern ihi-e
Besch^igung auf die Verarbeitung oder
Bearbeitung der ihnen von ihren Arbeit-
gebern gelieferten Rohstoffe oder Halb-
fabrikate sich bezieht, sind sie dem Ge-
werbegericht obligatorisch unterworfen. Ob
die Hausindustriellen, die sich die zu ver-
arbeitenden Rohstoffe oder Halbfabrikate
selbst beschaffen, gleichfalls der Kompetenz
des Gewerbegerichts unterliegen oder nicht,
bestimmt die Gemeinde. Die Streitigkeiten
der Hausindustriellen mit den etwa von
ihnen beschäftigten Personen gehören stets
vor die Gewerbegerichte.
Das Gewerbegericht ist zusammengesetzt
aus einem Vorsitzenden, dessen Stellver-
treter und mindestens vier Beisitzern, von
denen zwei Arbeitgeber, zwei Arbeiter sein
müssen. Der Vorsitzende und sein Stell-
vertreter dürfen weder Arbeitgeber noch
Arbeitnehmer sein und werden durch den
Magistrat oder durch die Gemeindever-
tretung, in weiteren Eommunalverbänden
durch die Vertretung des Verbandes ge-
wählt. Eine besondere Vorbildung, z. B.
Befähigung zum Richteramte oder zum
höheren Verwaltungsdienste ist für sie nicht
vorgesehen, doch unterliegt es keinem
Zweifel, dass ortsstatutarisch bestimmte Er-
fordernisse, wie etwa juristische Bildung,
vorgeschrieben werden können. Die Wahl
des Vorsitzenden und des Stellvertreters
bedarf der Bestätigung der höheren Ver-
waltungsbehörde, in deren Bezirk das Gre-
werbegericht seinen Sitz hat. Die Beisitzer
werden in unmittelbarer und geheimer Wahl
in gleicher Anzahl von den Arbeitgebern
und Arbeitern gewählt. Das aktive Wahl-
recht steht nur denen zu, die ihr 25. Lebens-
jahr vollendet haben und seit mindestens
einem Jahre in dem Gerichtsbezirke wohnen
oder beschäftigt sind. Die Wählbarkeit
aber ist an die Vollendung des 30. Lebens-
jahres und an mindestens zweijährigen
Wohnsitz oder Beschäftigung im Gerichts-
bezirke geknüpft. Eine Besoldung der Bei-
sitzer ist gesetzlich aiusgeschlossen, doch
kann ihnen eine Entschädigung für Zeitver-
säumnis und eine Vergütung etwaiger Reise-
kosten zugebilligt werden.
Die wichtigste Aufgabe des Gewerbege-
richts ist nun, den bei ihm anhängig ge-
machten Rechtsstreit gütUc^h beizulegen. Es
besteht eine Verpflichtung des Gerichts, bei
Anwesenheit der Pai-teien auf eine Aus-
söhnung hinzuwirken, und erst wenn der
Vergleich nicht zu stände kommt, ist über
den Reclitsstreit zu verhandeln. Üebrigens
Gewerbegerichte
399
kann der Sühneversiich in jedem Stadium
der Verhandlung erneuert und muss beim
Schliiss wiederholt werden. Das Verfahren
selbst lehnt sieh eng an die Vorsclu-iften
an, die die Civilprozessordnung für das
Verfahren vor den Amtsgerichten vorge-
schrieben hat. Die wichtigste Abweichung
ist, dass der Prozessbetrieb diux-h die
Parteien durch den Offizialbetrieb seitens
des Gerichts ersetzt ist Eine Berufimg ist
unzulässig bei einer Werthöhe des Streit-
gegenstandes von 100 Mark; dagegen ist
das Rechtsmittel der Beschwerde unab-
hängig von dem Werte des Streitgegen-
standes anwendbar. Die Kosten der Er-
richtung und Unterhaltung der Gewerbege-
richte fallen der Gemeinde oder dem
weiteren Kommunalverbande zu ; die Kosten
der Berggewerbegerichte müssen von der
Staatskasse bestritten werden. Die Gerichts-
gebühren sind sehr nässig angesetzt: sie
steigen in Wertklassen und betragen bei
einem Streitgegenstande bis 20 Mark ein-
schliesslich 1 Mark, von mehr als 20 — 50
Mark einschliesslich 1 — 2 Mark, von mehr
als 50 — 100 Mark einschliesslich 3 Mark
und so fort bis höchstens 30 Mark. Die
ferneren Wertklassen steigen um je 100
Mark, die Gebühren um je 3 Mark. Bei
Vereleichen wird keine Gebülir erhoben.
Das Gewerbegericht aber ist nicht nur
ein rechtsprechendes Forum, sondern es übt
gleichzeitig eine gutachtende Thätigkeit aus.
Es ist verpflichtet, auf Ansuchen von Staats-
behörden oder des Voi*standes von Kommu-
nalverbänden über gewerbliche Fragen Gut-
achten abzugeben, zu deren Abfassung Aus-
schüsse aus seinen Mitgliedern gebildet wer-
den können. Ueber das Gewerbegericht als
Einigungsamt s. d. Art. Einigungs-
ämter oben Bd. III S. 336ff.
Wo ein Gewerbegericht nicht vorhanden,
kann in gewerblichen Streitigkeiten der be-
regten Axt die Entscheidung des Gemeinde-
vorstehers nachgesucht werden, aber die
Parteien sind nicht verpflichtet sie anzu-
rufen, sondern können ihre Klagen auch
dii-ekt bei den ordentlichen Gerichten an-
hängig machen. Die riditerliche Thätigkeit
des Gemeindevorstehers ist nur eine aus-
hilfliche, seine Entscheidung mu* eme vor-
läufige und kann binnen einer Notfrist von
10 Tagen durch Klage bei dem ordentlichen
Gerichte beseitigt werden, üeberdies ist
seine Zuständigkeit eingeschränkt. Er kann
nur Streitigkeiten über den Antritt, die
Fortsetzung oder die Auflösung des Arbeits-
verhältnisses sowie über die Aushändigung
oder den Inhalt des Arbeitsbuches oder
Zeugnisses und über die Berechnung und
Anrechnung von Krankenkassenbeiträgen
entscheiden. Für Streitigkeiten über Leis-
tungen und Entschädigungsansprüche aus
dem Arbeitsverhältnisse und in Bezug hier-
auf bedungene Konventionalstrafen ist er
nicht einmal subsidiär zuständig.
Neben dem Gewerbegerichte smd die
Inuungsspnichbehörde und das Innungs-
schiedsgericht nach wie vor zur Entschei-
dung von Streitigkeiten auserseheu; ihre
Zuständigkeit schliesst die Zuständigkeit
eines für den Bezirk der Innung bestehen-
den oder später errichteten Gewerbegerichts
aus. Die Innungsspruchbehörde, früher nur
subsidiär zur Rechtsprechung berufen, ist
jetzt ausschliesslich zur Entscheidung von
Lehrlingsstreitigkeiten berechtigt, selbst da,
wo Gewerbegerichte schon ins Leben ge-
treten sind. Das Innungsschiedsgericht ist
zunäclist zuständig für Streitigkeiten der
InnungsmitgHeder und deren Gesellen.
Wenn aber durch die Verwaltungsbehörde
bestimmt ist, dass Arbeitgeber und deren
Gesellen, die der Innung nicht angehören,
obwohl sie ein in derselben vertretenes
Gewerbe betreiben, zu den Kosten des er-
öffneten Innimgsschiedsgerichts beizutragen
haben, so tritt es an die Stelle der sonst
zuständi^n Behörden, falls es von einem
der streitenden Teile angerufen wird. Die
sachliche Zuständigkeit beider Institutionen
ist die gleiche wie die des G^werbegerichtes,
doch smd ihre Entscheidungen nur vor-
läufige. Binnen 10 Tagen steht die Be-
nifung auf den Rechtsweg durch Erhebung
der Klage bei den ordentlichen Gerichten
offen.
Bei der Errichtung von Gewerbegerichten
auf Grund des neuen Gesetzes sind Diffe-
renzen zwischen Behörden, Unternehmern
und Arbeitern nicht ausgeblieben. Ver-
schiedene Konuuunen und Landescentralbe-
hörden nahmen eine ablehnende Haltung
ein und haben dieselbe bis auf den heutigen
Tag noch nicht aufgegeben. Als Grund
wird gewöhnlich angeführt Geringfügigkeit
der gewerblichen Entwickelung oder selte-
nes Vorkommen gewerblicher Streitigkeiten.
Dahinter mögen andere nicht ausgesprochene
Motive lioffen, wie etwa Scheu vor den Kosten
oder vor dem sozialdemokratischen Einfluss
auf die arbeitenden Klassen. Indes ist die Be-
rechtigung dieser Bedenken doch zweifelhaft.
Denn wenn beispielsweise vor dem Amts-
gericht oder dem Magistrat wenig Streit-
sachen abgehandelt zu werden pflegen, so
ist damit noch nicht gesagt, dass kein Be-
dürfnis nach Rechtsprechung vorliegt. Ge-
rade die mit der Anrufung des gewöhnlichen
Gerichts verbundenen Zeitverluste und Kos-
ten sowie das geringe Vertrauen auf ein
sachgemässes Endurteü hindern die Inte-
ressenten, es so in Anspruch zu nehmen,
als es ihnen wünschenswert erscheint. Es
ist daher zu fürchten, dass die ablehnenden
Bescheide der Behörden unter den Antrag-
400
Gewerbegerichte
stellerQ ünzufriedeuheit und Erregung her-
vorrufen, die in der Gesamtheit sich em-
pfindlicher geltend machen als der Miss-
brauch, der eventuell bei der neuen Ein-
richtung vorkommen könnte. Uebrigens
ist in den Kreisen der Beteiligten selbst
auch noch keine volle üebereinstimmung
über die Bedeutung und den Wert der
neuen Gerichte erreicht. Und dieser Um-
stand mag auf die EntSchliessungen der
Behörden zurückwirken. Zwar heben die
neueren Mitteilungen der Gewerbeaufsichts-
beamten (1897, 1898) hervor, dass die In-
anspruchnahme der Gewerbegerichte zuge-
nommen hat und ihre Wirksamkeit als eine
segensreiche bezeichnet werden könne. Ins-
besondere in den Kreisen der Arbeiter er-
freuen sie sich einer fortgesetzten Aner-
kennung, seit es bekannt geworden ist, dass
nicht nur die gelernten, sondern auch die
in einem Gewerbebetriebe beschäftigten ge-
wöhnlichen ungelernten Arbeiter vor ihrem
Fonim das Kecht suchen können. Dafür
aber stehen noch immer manche Arbeit-
geber und Betriebsleiter den Gewerbege-
richten kühl gegenüber, wenn auch die
einsichtsvoUeren unter ihnen die für das
Gesamtwohl erspriessliche und segensreiche
Thätigkeit zugegeben habeu. Augenschein-
lich befürchtet man in diesen Ki*eisen eine
Erschwerung der Aufrechterhaltung der
Disciplin und den grundsätzlichen Wider-
stand der Arbeiter gegen die Urteile der
Gerichte, sofern sie nicht mit ihnen über-
eingestimmt haben. Aber gewiss sind das
Vorurteile, die um so mehr zu bedauern
sind, als wie die Gewerbeaufsichtsbeamten
selbst betonen, die von den G^werbegerich-
ten allmählich geschaffene Einheitlichkeit
der Rechtsanschauungen von grossem Werte
auch für die Handhabung des Gewerbeauf-
sichtsdienstes ist.
Schwere Eingriffe in die Rechte der
Gewerbegerichte erwartet man von der Ver-
allgemeinerung der Innungsschiedsge-
richte, wie sie mit dem neuen Hand-
werkergesetz verbimden ist. Wenigstens
hat eine Konferenz der Arbeiterbeisitzer der
pfälzischen Gewerbegerichte kürzlich diese
Ansicht zum Ausdruck gebracht. Man er-
blickt in der Organisation der Innungs-
schiedsgerichte eine ungerechte Stärkung
des Einflusses der Arbeitgeber, die in den
meisten Fällen von vornherein die Majorität
haben werden und sich dadurch leicht dem
Vorwurfe der Parteilichkeit aussetzen. Auch
hält man ilmen vor, dass ihnen alle pro-
zessualen Garantieen und Rechte felilen und
ihre Urteüe ohne Rücksicht auf den Wert
des Streitgegenstandes anfechtbar sind. In
jener Konferenz hat man beschlossen, mit
allen gesetzlichen Mitteln im Interesse einer
einheitlichen Rechtsprechung in den aus
dem Arbeitsvertrage sich ergebenden Strei-
tigkeiten gegen die Errichtung von Innun^-
scbiedsgerichten zu wirken. Indes schemt
diese Besorgnis etwas übertrieben. Denn
haben seither die Innungsscliiedsgerichte die
Wirksamkeit der Gewerbegerichte nicht zu
beeinträchtigen vermocht, so werden sie
trotz der neuerlichen Massnahmen, sie po-
pulärer zu machen, da sie doch in ihrem
Wesen keine Verändenmgen erfahren haben,
wahrscheinlich auch in Zukunft keine grossen
Erfolge aufzuweisen haben.
Wie sehr man die Zweckmässigkeit der
Gewerbegerichte in weiten Kreisen der Be-
völkerung anerkennt, dafür spricht ein
Beschluss, wie er im August 1898 auf dem
deutschen Katholikentage gefasst wurde, der
darin gipfelte, ihre Errichtung in allen In-
dusü-iegegenden thunlichst zu befördern,
sowie auch der in anderen Schichten des
Erwerbslebens auftauchende Wunsch nach
ihnen. Nicht nur, dass von vielen Seiten
die Ausdehnung der Zuständigkeit auf den
Handelsstand erstrebt wird, haben neuer-
dings die Landwirte ebenfadls Neigung für
sie bekundet Der im März 1895 in Berlin
versammelte Deutsche Landwirtschaftsrat
hat beschlossen, den Reichskanzler zu er-
suchen, bei der in Aussicht genommenen
Reform der Civilprozessordnung auf die Er-
richtung landwirtschaftlicher Schöf-
fengerichte Bedacht nehmen zu wollen.
Desgleichen hat der zweite deutsche See-
raannskongress, der vom 9. — 11. Januar 1899
in Hamburg tagte, für die aus dem Arbeits-
veilrage zwischen Seeleuten und Eleedem
resp. deren Vertretern herrührenden Streit-
fälle Seeschöffengerichte verlangt
Unter den bestehenden Gewerbegerichten
ist seit dem Juni 1893 eine engere Ver-
einigung erzielt worden, die gegenwärtig
etwa 80 Städte umfasst. Sie bezweckt den
gegenseitigen Austausch der gemachten Er-
fahrungen sowie die Mitteilung wichtiger
Urteile, Gutachten, Anträge, Statuten, Ge-
schäftsberichte. Unter dem Titel »Mittei-
lungen des Verbandes deutscher Gewerbe-
gerichte«^ wird eine Druckschrift herausge-
geben, die ursprünglich als »Beilage zur
sozialen Praxis«, seit 1899/1900 selbständig
in 14tägigen Zwisclienräumen erscheint
Es ist vorgesehen, alle auf die Thätigkeit
der Gewerbegerichte bezüglichen Gutachten
und dergleichen mehr zu sammeln, nach
einheitlichem Formular regelmässig Berichte
über den Geschäftsumfang der Gerichte auf-
zustellen und zeitweise Zusammenkünfte
zu veranstalten, auf denen wichtige, das
Gesetz von 1890 und die Gewerbeordnung
oder einschlägige Gesetze betreffende Fragen
erörtert werden sollen. Zu den Kosten der
Vereinigung haben beitretende Gewerbege-
richte einen Beitrag von mindestens 20 Mark.
Gewerbegerichte
401
Privatpersonen von mindestens 10 Mark zu
leisten.
4. Die Rechtsprechung der deutschen
G. Ueber die Entscheidungen der Ge-
werbegerichte sind namentlich in der ersten
Zeit und zwar vorzugsweise, wenn nicht
ausschliesslich, auf Seiten der Unternehmer
Klagen laut geworden. So sollten vielfach
einseitig arbeiterfreundliche und juristisch
widersinnige Urteile zu stände gekommen
sein. Dass die Gewerbegerichte Urteile ge-
fällt haben, die gegen den wahren Wortlaut
des Gesetzes verstiessen und in denen sie
sich über das, was Rechtens ist, hinweg-
setzten, giebt Jastrow (a. a. 0. in Jahrb. f.
Nat. u. Stat Bd. 14, S. 368), der sich mit diesem
Thema eingehend beschäftigt hat, allerdings
zu. Aber er hat wohl nicht Unrecht, wenn er
darauf aufmerksam macht, dass überall, wo
ein Machtinteresse in die Jurisdiktion hinein-
spielt, — und der Gegensatz von Arbeit-
geber und Arbeitnehmer erzeugt dieses —
die Versuchung vorhanden ist, die jurisdik-
tioneUe Befugnis zur Stärkimg der Macht-
sphäre zu gebrauchen. Es würde sich
demnach nicht um eine specifische Erschei-
nung gerade der Gewerbegerichte handeln.
Dass sozialdemokratische Mitglieder des
Gewerbegerichts von einer Centralstelle aus
mit Rücksicht auf ihre Abstimmung beein-
flusst und zur Verantwortung gezogen wor-
den sind, ist ferner in der That vorgekom-
men. Aber diese Centralstelle ist eigentlich
zu einem anderen Zweck errichtet worden,
nämlich um die Beisitzer und solche, die es
werden wollen, mit den einschlägigen Fra-
gen an der Hand von Fällen aus dem prak-
tischen Leben vertraut zu machen. Und es
darf darauf verwiesen werden, dass in den
Kreisen der Arbeiter selbst diese AuMcht
über ihre Genossen, die als Beisitzer funk-
tionieren, keineswegs gebüligt wird, ja direkt
jene Anschauung bekämpft worden ist, die
es für notwendig hielt, dass Beisitzer zur
Verantwortung gezogen werden könnten.
So ist also zu hoffen, dass diese, freilich
mit dem Richteramte unvereinbare Kon-
trolle sich nicht wiederholen wird. Es hat
denn auch die Erfahrung gelehrt, dass man
mit der Haltung der Beisitzer im allgemei-
nen durchaus zufrieden sein kann. Wie
denn z. B. der Vorsitzende des Gewerbege-
richts Karlsruhe, der gleichzeitig auch dem
Gewerbegerichte Durlach präsidiert, gelegent-
lich sich dahin ausgesprochen hat : der Fall,
dass ein Urteil anders als einstinunig ge-
fasst werde, sei ihm in seiner Praxis über-
haupt nicht vorgekommen. Einerseits sind
die Beisitzer stets von dem Bestreben be-
seelt, vorhandene Streitfälle in Güte auszu-
gleichen. Andererseits aber erkennen sie
da, wo richterliche Entscheidung nötig ist,
das Gesetz als Richtschnur wiUig an, selbst
Handwörterbach der StaatBwusenschaften. Zweite
wenn die Entscheidungen ungünstig und
hart für die Arbeiter ausfallen. Dabei unter-
liegt es keinem Zweifel, dass die Recht-
sprechung sich bewährt So schnell, billig
und bequem wie beim Gewerbegericht kön-
nen weder Amtsgericht noch Gemeindevor-
steher die Klagen erledigen. Die Erfahrun-
gen einzelner Gerichte, z. B. die des Stutt-
garter, bezeugen das offenkundig. Und
wenn aus der von Pabst mitgeteilten Sta-
tistik sich ergiebt, dass von den sämtlichen
48652 in 52 Städten im Jahre 1896 und
51449 in 55 Städten im Jahre 1897 ver-
handelten Sachen durch Vergleich 22901
(47,1 o/o) und 24726 (48,1^/0) ihre Erledi-
gung fanden, so spricht dieses Verhältnis
ebenfalls zu Gunsten des Gewerb^richts.
Ob die Klagen in Ab- oder Zunahme
begriffen sind, lässt die Statistik weniger
Jahre noch nicht erkennen. Uebrigens ist
man auch in ZweiEel, wie man sich mit der
Bewegung der Klagen abfinden soll. Es
mag wohl richtig sein, wenn z. B. in
Nürnberg die Abnahme von Klagen auf gute
Arbeits- und Fabrikordnungen und allgemein
befriedigende ^;eschäftliche Verhältnisse zu-
rückgeführt wird. Aber es braucht deshalb
umgekehrt aus der Zunahme der Klagen
nicht gerade ein ungünstiger Zustand ge-
folgert zu werden. Im Gegenteil muss man
sagen, dass, wenn nun einmal Streitigkeiten
zwiscnen Unternehmern und Arbeitnehmern
nicht vermieden werden können, es wün-
schenswert ist, sie zum Austrag vor Gericht
kommen zu sehen. Denn wieL ante nschla-
ger treffend bemerkt: nichts erbittert einen
Menschen so sehr, als wenn er glaubt, dass
das Recht auf seiner Seite sei und er es
doch nicht erlangen kann. Haben sich mit-
hin nach Eröffnung eines G^werbegerichts
die Klagen gemehrt, so kann daraus wesent-
lidi nur geschlossen werden, dass die Ar-
beiter Vertrauen zu dem Institute gewonnen
haben und ohne gresse Schwierigkeiten und
Kosten zu ihrem Rechte gelangen können.
In diesem Sinne ist auch die charakteristi-
sche Wahrnehmung zu deuten, dass da, wo
G^werbegerichte Stehen, die Klagen der
Arbeiter erheblich zahlreicher als die Klagen
der Unternehmer sind, während da, wo kein
Gtewerbegericht vorhanden ist, die Zahl der
von Unternehmern erhobenen Klagten unver-
hältnismässig gross ist Die Arbeiter unter-
lassen eben in letzterem Falle häufig die
Klage, weü sie fürchten, nicht zu ihrem
Rechte zu kommen, wogegen sie zu dem aus
ihren Wahlen hervorgegangenen Gericht
Vertrauen haben.
So kann man denn wohl Jastrow zu-
stimmen, wenn er sagt: Weit entfernt da^
von, ein neues Moment der Parteilichkeit in
unsere Gerichtsverfassung getragen zu ha-
ben, stellen vielmehr die Gewerbegerichte
AaflaKe. IV. 26
402
Grewerbegerichte
das erste organische Mittel dar, um dieser
Parteilichkeit innerhalb des einzelnen Ge-
richts Herr zu werden. Auch das
will bemerkt sein, dass die Unternehmer
nicht, wie mehrfach behauptet wurde, zu
den Gewerbegerichten kein Vertrauen haben
und sich von ihnen fern halten. Vielmehr
zeigt die Statistik, dass von 68798 Klagen,
die im Jahre 1896 anhängig gemacht wor-
den waren, herrührten:
von Arbeitern gegen Un-
ternehmer 63 462 = 92,2 o/o,
von Unternehmern gegen
Arbeiter 5176= 7,5 «/o,
von Arbeitern desselben
Unternehmers gegenein-
ander 160= 0,3%.
Dass bei Streitigkeiten aus dem Arbeits-
vertrage die Rolle des Klägers in der
Bq^l dem Arbeiter zufällt, versteht sich
von selbst. Der Unternehmer kann nach
§ 119 a der Gewerbeordnung sich auch
aussergerichtliche Hilfe gegen seine Arbeiter
verschaffen. Wenn mithin, nach der obigen
Statistik auf 14 Arbeiterklagen 1 Unter-
nehmerklage kommt, so ist das kein un-
günstiges Verhältnis imd beweist, dass die
Unternehmer ebenfalls die Ueberzeugung
haben müssen, vor dem neuen Forum zu
ihrem Rechte kommen zu können.
5. Ref ormvorschlfige. Kaufmännische
Schiedsgerichte. Auf dem Boden des
Deutschen Reichs sind im Jahre 1896
284 Gewerbegerichte thätig. Davon sind
29 auf Grund älterer Landosgesetze eröffnet
worden; nämlich 16 kömgliche G^werbe-
gerichte in der Rheinprovinz, 5 kaiserliche
Gewerbegerichte in Elsass-Lothringen, 3 Ge-
werbegerichte in den Hansestädten sowie
5 Bergschiedsgerichte im Königreich Sachsen.
Die übrigen, grösstenteils aus der Initiative
der Gtemeindeveriretungen hervorgegangen,
stammen hauptsächlich aus den Jahren
1892 — 94, in denen im Diu-chschnitt jede
Woche 1 — 2 Gewerbegerichte errichtet wur-
den. Die Einwohnerzahl aller Bezirke zu-
sammengenommen beträgt 16,3 Millionen
Einwohner, d. h. von 52 Millionen Ein-
wohnern des Deutschen Reichs besitzen
etwa 30 ®/o gewerbegerichtliche Jiuisdiktion.
Obwohl dieses Ergebnis als ein im ganzen
erfreuliches angesehen werden darf, so
ist doch in weiten Kreisen der Bevölkerung
Neigung dazu vorhanden, die Errichtung von
Gewerbegerichten obligatorisch zu machen.
Im Jahre 1899 sind eine Petition in diesem
Sinne und zwei darauf bezügliche Anträge
dem Reichstage zugegangen. Die erstere
rührt von den Hirsch-Dunckerschen Gewerk-
vereinen her und wül neben der obligatori-
schen Errichtung von Gewerbegeriehten in
allen Bezirken oder Gemeinden mit ent-
wickeltem Gewerbebetrieb das Wahli'echt
und die Wählbarkeit auch auf weibliche
Arbeitgeber und Arbeiter erstreckt wissen
sowie das Gewerbegericht schon bei Anru-
fung nur eines Teiles als Einigungsamt ein-
treten lassen. Yon den beiden Anträgen
will der von der sozialdemokratischen Partei
eingebrachte die Zuständigkeit obligatorisch
zu errichtender Gewerbegerichte auch auf die
Entscheidung von Streitigkeiten ausdehnen,
die aus dem Lohn-, Arbeits- und Dienst-
verhältnis aller im Gewerbe und Bergbau,
in der Land- und Forstwirtschaft und
Fischerei, im Handel und Verkehr oder als
Grinde beschäftigten Personen entstehen,
femer die Wählbarkeit und das Wahlrecht
auf das vollendete 20. Lebensjahr herab-
setzen und den Personen weiblichen Ge-
schlechts zugestehen. Dagegen haben einige
Mitglieder der Gentrumspartei beantragt, (üe
Regierung möge eine Novelle vorlegen zu
dem Zwecke, eine geordnete Aufstellung
der Wählerlisten wirksamer zu sichern, die
Eröffnung von Gewerbegerichten obligatorisch
zu machen \md die Gewerbegerichte als
Einigimgsämter auch ohne Aurufen der
streitenden Parteien wirken zu lassen. Bei
den hierüber am 18. und am 25. Januar im
Reichstage vor sich gegangenen Verhand-
lungen wurde schliesslich der Centrums-
antrag allein einer Kommission zur weiteren
Beratung überwiesen. Der alsbald erstattete
sehr ausführliche Kommissionsbericht er-
kennt denn in der That die Reformbedürftig-
keit des Gesetzes an. Er schlägt vor, die
Gewerbegerichte in Gemeinden mit mehr
als 20(l5o Einwohnern obligatorisch zu
machen; femer die Zuständigkeit zu er-
weitern, indem auch über Entschädigungs-
ansprüche aus gesetzwidrigen Eintragungen
in Arbeitsbücher, Zeugnisse, Krankenkassen-
bücher und Quittungskalten der Invaliditäts-
und Altersversicherungsanslalten sowie wegen
widerrechtlicher Vorenthaltung dieser Papiere
soll abgeurteilt werden können; die Ein-
richtung von Wahllisten obligatorisch zu
machen und endlich Vorkehrung zu treffen,
dass das Gewerbegericht als Einigungsamt
auch dann in Wirksamkeit treten kann,
wenn es zunächst nm* von Seiten einer der
streitenden Parteien angerufen ist.
Nicht überaD haben diese Vorschläge
Billigung erfahren. Namentlich haben einige
Handelskammern die zwangsweise Vorladung
der Parteien vor das Einigimgsamt und die
obligatoriscjhe Einführung der Gtjwerbege-
richte ohne Rücksicht auf die Bedürfnis-
frage bekämpft. Doch unterliegt es kaum
einem Zweifel, dass diese projektierten
Neuerungen eine wertvolle Ergänzung des
(resetzes bilden würden. Ja man möchte
sogar weiter gehen und noch andere Ver-
vollständigungen als erwünscht bezeichnen.
Das bezieht sich zwar nicht auf die Frage
Gewerbegerichte
403
der Berufung, der bekanntlich einen
grösseren Spielraum zu gewähren eine be-
denidiche Bewegung im Gange ist. Bis
jetzt ißt sie nur zulässig, wenn der Wert
des Streitgegenstandes den Betrag von 100
Mark übersteigt Faktisch ist aber von der
Berufung seither nur ein geringer Gebrauch
gemacht worden. Nur etwa ein Dutzend
üewerbegerichte hat mehr als drei Be-
rtthingen im ganzen Reich aufzuweisen. Im
ganzen kamen (1896) auf 2948 anhängig ge-
wordene Sachen über 100 Mark 272 Be-
rufungen, d. h. 9,2%. Nur bei sechs Ge-
werbegerichten (Berlin, Hambiurg, München,
Stuttgart, Frankfurt a. M., Köln) spielen sie
eine erheblichere Bolle, indem auf 308
kontradiktorische Urteile in Sachen über
100 Mark 91 Berufungen kamen. Doch
wurden von diesen 31 durch Zurücknahme
oder Vergleich erledigt und von den anderen
60 hatten nur 20 einen Erfolg. Es haben
nun die Unternehmer, verkörpert durch den
Centralausschuss Berliner kaufmännischer,
gewerblicher und industrieller Vereine, im
Januar 1895 dem Reichskanzler die Bitte
unterbreitet, die Berufung unabhängig von
der Höhe des Objekts für sämtliche Urteile
des Gewerbegerichts zulässig zu erklären.
Sollte diese Veränderung in der That be-
hebt werden, so würde sie wohl eine Ver-
schlechterung des geltenden Rechts be-
deuten, und die Mainzer Handelskammer
hatte gewiss recht als sie dieses Vorgehen
dazu geeignet erklärte, den mit dem Ge-
werb^ericnt verfolgten Zweck zum Teil
illusorisch zu machen.
Zu bedauern bleibt es, dass in dem
Eommissionsbericht des Reichstages die
Frage des Proportionalwahlver-
fahrens keine eingehende Behandlimg er-
feihren hat. Bei diesem besetzt die meist-
bestimmte Partei nicht sämtliche Mit-
glieder der zu erwählenden Behörde, sondern
nur so viel, als ihr im Verhältnis zu den
anderen Parteien, die sich an der Wahl be-
teiligen, zukommt. Wenn z. B. 30 Arbeiter
zu wählen sind und abgegeben werden
320 Stimmen für die Sozialdemokratie, 516
Stimmen für die Innungspartei, 180 Stimmen
für eine gemischte Liste, so würde bei
Majoritätswahlen die Innungspartei das ^anze
Gewerbegericht besetzen. Beim Proportional-
wahlsystem dagegen erhielten die Innungen
16, die Sozialdemokraten 9, die dritte Liste
5 Beisitzer (Flesch in Blätter für soziale
Praxis, HL Nr. 77 S. 218). Wenn z. B.
in Ulm im November 1897 bei der Gewerbe-
gerichtswahl auf Seiten der Arbeiter von
511 Stimmen 350 auf die gewerkschaftliche
Liste entiKelen, so ist die Minorität von ca.
160 Stimmen, die bei Proportionalwahlver-
&hren Anspruch auf etwa \'s der Kandidaten
hätte, im Gewerbegericht gänzlich unver-
treten geblieben. Der unbestreitbare Vor-
zug eines derartigen Wahlmod\is liegt darin^
dass alle Strömungen zur Würdigung kommen
nach Massgabe der Stellung, die sie im Er-
werbsleben bereits errungen haben, und auch
die an Zahl geringeren Parteien sich eifriger
als bisher an der Wahl beteiligen werden,
da sie sich unter allen Umständen eine ge-
wisse Vertretung im Gericht sichern. Miss-
lich bleibt dabei, dass die wirtschaftlichen
Schichten, die, jede ihrer Bedeutung ge-
mäss, im Gewerbegericht vertreten sein
sollten, nicht in der Art geschlossen und
durch ein Programm von einander deutlich
getrennt sind, wie das bei politischen
Parteien der Fall ist.
Um das Vertrauen auf eine wirklich sach-
gemässe Behandlung der Streitigkeiten zu
erwecken, wird sich ferner eine berufliche
Gliederung des Gewerbegeriohts empfehlen.
Es müssten eine Anzahl Kammern für be-
stimmte Gewerbegruppen gebildet und die
Beisitzer auf sie verteilt werden. Dann lässt
sich in weitaus den meisten Fällen Berufs-
gleichheit der Beisitzer mit den streitenden
Parteien bewirken und die erforderliche
Fachkenntnis zur Beurteilung des Falles
schaffen. Thatsächlich ist dieser Anforde-
rung wenig genügt, indem meist nur eine
Kammer besteht. Ausnahmen bilden Krefeld,
Aachen, Magdeburg, wo 2 Kammern, Ham-
biug, wo 7, Berlin, wo 8 Kammern gebildet
sind. In Krefeld und Aachen ^ebt es eine
Kammer für die Textilindustne, und eine
andere für alle übrigen Gewerbe. In Magde-
burg besteht eine Kammer für die Bauge-
werbe und eine zweite für alle anderen.
Das Berliner Gewerbegericht gliedert sich
in folgender Weise: 1. Schneiderei- und
Näherei, 2. Textil-, Leder-, Pelzindustrie;
3. Baugewerbe; 4. Holz- und Schnitzstoffe:
5. Metalle; 6. Nalirungsmittel ; 7. Handel
und Verkehr; 8. Sonstige Gewerbe. Ein
Uebelstand dieser Spedalisierung ist, dass in
einer Gerichtssitzung die Zusammensetzung
des Gerichts je nach dem Beruf der Strei-
tenden unter Umständen wiederholt sich,
ändern muss.
Zweifelhaft steht es mit der Wahlbe-
rechtigung der Arbeitslosen. Gegen
sie wird geltend gemacht, dass die im § 13
des Gesetzes angeführten Bedingungen des
Rechts zur Teilnahme an den Wahlen —
Vollendung des 25. Lebensjahres und ein-
jähriger Wohnsitz — nicht alle Erforder-
nisse einschliessen. Vielmelir sei auch auf
§ 2 ziuilckzugreifen, in dem bestimmt weide,
wer als »Arbeiter« im Sinne dieses Gesetzes
zu betrachten sei. Auf Personen nun, die.
arbeitslos wären, keinen Arbeitgeber hätten,
passe jene Erläuterung des § 2 nicht; sie
seien eben mit niemandem durch eine der
im siebenten Titel der Gewerbeordnung ge-
26*
404
Gtewerbegerichte
regelten Rechtsbeziehungen verknüpft Diese
Auffassung führt jedoch zu unhaltbaren
Scrhlussfolgerungen. Wäre sie richtig, so
könnte unter Umständen bei einer allge-
meinen Strikebewegimg eine Beisitzemeu-
wahl überhaupt nicht stattfinden. Das Ge-
werbegericht würde dann beständig in einem
seine Wirksamkeit beeinträchtigenden Stande
der Unruhe sein, denn die Vornahme von
Neu- und Ergänzungswahlen wäre in
Permanenz erklärt. &wägt man, dass es
zweckmässig ist, die Beschränkung der Wahl-
berechtigung auf das thunlichst geringste
Mass ziuückzuführen, so empfiehlt es sich,
die Arbeitslosen ebenfaUs zur Wahl zuzu-
lassen. Es ist unbillig, denjenigen, der eine
Beihe von Jahren in einer Stadt gewohnt
hat, vom Wahlrecht auszuschliessen, weil er
unverschuldet zur Zeit der Wahl ohne Be-
schäftigung ist Er geht dadurch, wenn er
8 Tage später wieder Stellung gefunden hat
und damit ipso jure der Kompetenz des
Gewerbegerichts untersteht, des Rechtes ver-
lustig, sich wie seine Standes^enossen an
der Wahl seiner ordentlichen Richter betei-
ligen zu können. Da, worüber die Begrün-
dung des Gesetzentwurfs seiner Zeit keinen
Zweifel übrig Hess, das aktive und passive
Wahlrecht sich auf alle diejenigen Personen
erstreckt, die eintretendenfalls der Rechte
sprechung des Gewerbegerichts unterworfen
sind, so muss, wenn ein Arbeiter die Vor-
aussetzungen des § 13 sonst erfüllt, ihm
unverwehrt sein, sich an der Walü zu be-
teiligen, unabhängig davon, ob er am Wahl-
tage Arbeit hat oder nicht (Levin in Blätter
für Soz. Praxis, 1893, I, S. 60—61).
Es hat daher wohl ganz folgerecht das
Königliche Gewerbegericht in Köln (im
August 1897) angeregt, diejenigen Arbeits
geber, welche zur Zeit der Wanl vorüber-
gehend keine gewerblichen Arbeiter be-
schäftigen, als auch diejenigen Arbeiter, die
aur Zeit der Wahl vorübergehend arbeitslos
sind, für wahlberechtigt zu erklären. Indes
hat der preussische Handelsminister es ab-
gelehnt, auf diese Anträge einzugehen, jedoch
immerhin darauf verwiesen, dass die Polizei-
behörde bei Erteilung der massgebenden Be-
scheinigungen in richtiger Würdigung der
Sachlage des Einzelfalles nicht aUzu eng-
herzig zu verfahren braucht.
Was die Wahlberechtigimg der juristi-
schen Personen, Aktiengesellschaften etc.
anbelangt, so wird es hier darauf ankommen,
ob man das Gewerbegericht lediglich als
Organ der Rechtsprechung oder zugleich als
eine Interessenvertretung ansieht Eine
juristische Person als solche ist handlungs-
unfähig; sie kann selbst nicht wählen, aber
sich auch nicht durch den Vorstand ver-
treten lassen, weil das Wahli*echt ein höchst
persönliches Recht ist, das eine Stellver-
tretung nicht zulässt. Zeigt sich daher in
der Wahl des Richters die Bethätigung eines
politischen Rechts, so kann die Aktiengesell-
schaft nicht darauf Anspruch erheben, sich
an der Wahl der Beisitzer des Gewerbese-
richts zu beteiligen. Ist dagegen das öe-
werbegericht dazu ausersehen, die Gesaml-
interessen des Gewerbestandes zu vertreten
— worauf aus der ihm beigelegten gutach-
tenden Thätigkeit geschlossen werden kann
— so erscheint, wie bei den Wahlen zu den
Handelskammern, eine Stellvertretung der
Aktiengesellschaft angemessen. Eine ver-
mittelnde Auffassung würde dahin geltend
gemacht werden können, dass allerdings die
juristische Person, die einen gewerblichen
Betrieb unterhält, kein Wahlrecht hat, wohl
aber die mit der Leitung desselben betrau-
ten Vorstandsmitglieder wählen dürfen. Diese
sind zwar nicht selbst Arbeitgeber, aber sie
sind diesen gleich geachtet MissHch ist je-
doch bei dieser Lösung, dass Personen ward-
berechtigt werden, die, wie die Direktoren einer
Aktiengesellschaft, eine gewerbliche Thätig-
keit im Sinne des Gesetzes nicht ausüben.
Die Erweiterung der Kompetenz der Ge-
werbegerichte, die die Reichstagskommissioa
angeregt hat, nämlich dass auch Entschädi-
gungsansprüche aus gesetzwidrigen Eintra-
fungen in Arbeitsbücner u. s. w. vor das
brum gehören, kann nur sympathisch be-
rühren. Denn thatsächlich waren nach dem
bisherigen Wortlaut des Gesetzes die Ge-
werbegerichte dafür nicht zuständig, wenn
auch nach der ratio legis die Gewerbege-
richte in der Regel in solchen Fällen wohl
ihre Zuständigkeit angenommen haben dürf-
ten. Bei Streitigkeiten aber wegen Vorent-
haltung von Zeugnissen, Quittungskarten,
Krankenkassenbüchem u. s. w. haben die
Ansprüche ihre rechtliche Begründung nicht
in dem Arbeitsverhältnis, sondern in einem
aus Anlass desselben begründeten ander-
weitigen Rechtsverhältnis. Demnach waren
die Gewerbegerichte ebenfalls für ihre Ent-
scheidung nicht zuständig. Um so besser ist
es, wenn nunmehr jeder Zweifel gehobea
werden soll.
Hinsichtlich der Ausdehnung der Zu-
ständigkeit auf andere Personen, so ist eine
solche besonders verlangt worden gegenüber
den Eisenbahnarbeitern und den
Kaufleuten. Hinsichtlich der ersterea
ist das Gesetz undeutlich. Nach der einen
Auffassung fallen die im Gewerbebetrieb
der Eisenbahnunternehmung als Verkehrs-
anstalt thätigen Arbeiter nicht unter das
Gewerbegericht, die dagegen in den Repa-
raturwerkstätten, Wagenbauanstalten etc. be-
schäftigten Arbeiter wohL Eine andere
Auffassung aber macht geltend^ dass jede
gewerbliche Thätigkeit einer Eisenbahnun-
ternehmung nicht als eine selbständige Er-
Grewerbegerichte
405
■werbsqiielle, sondern nur als die Förderung
des Transportzwecks zu denken sei. Daher
seien die Gewerhogerichte für alle Eisenbahn-
arbeiter ohne Ausnahme nicht zuständig. Denn
nach § 2 des Gesetzes beständen Gewerbege-
richte nur für die Arbeiter, die zu Titel VII der
Gewerbeordnung gehören. Der Gewerbebe-
trieb der Eisenbahn aber falle überhaupt nicht
unter die Gewerbeordnung. In der Praxis hat
sich nun ein krauses Durcheinander offen-
bart. Bei den Wahlen zum Gewerbege-
richt in Berlin hatten sich verschiedene
Eisenbahndirektionen und Betriebsämter für
ihre in Berlin belegenen Betriebswerkstätten,
Gasanstalten , Telegraphenwerkstätten etc.
behufs Ausübung der Wahh^chte eintragen
lassen. Dagegen hat der Minister der öffent-
lichen Arbeiten der Eisenbahndirektion Han-
nover und vermutlich auch den anderen
Direktionen Weisung zugehen lassen, alle
Kechtsstreitigkeiten zwischen ihr und ihren
Arbeitern vor den ordentlichen Gerichten
zur Entscheidung zu bringen. Zweifellos
wäre es erwünscht, dieser Zerfahrenheit ein
Ende gemacht zu sehen und alle Eisenbahn-
arbeiter unter das Gtewerbegericht zu stel-
len. Die verschiedene Behandlung der bei-
den Kategorieen ist kaum zu rechtfertigen,
da sie sich sozial von einander nur wenig
unterscheiden.
Dass für Streitigkeiten der Kaufleute
mit ihren Gehilfen das Gewerbegericht eben-
fjJls zuständig w^eixle, war ein Wunsch, der
schon bei den Verhandlungen über das Ge-
setz von 1890 geäussert wurde. Jetzt, nach-
dem die Bedeutung des letzteren allgemeiner
zum Bewusstsein kommt, wird er noch
dringender ausgespi'ochen^ und ein so sach-
licher Gewährsmann wie Lautenschlager
glaubt zu seiner Bedründung weiter nichts
sagen zu sollen als: er sehe nicht ein, wes-
halb Kaufleute und Dienstboten es schwerer
als die übrigen Arbeiter haben soUten, zu
ihrem Rechte zu gelangen.
Thataächlich hat sich denn auch sowohl
im Reichstage als auch in den Kreisen
der kaufmännischen Angestellten selbst eine
starke Bew^ung für kaufmännische Schieds-
gerichte gezeigt. Man kann nicht leugnen,
dass das soziale Verhältnis zwischen Prin-
zipal und Angestellten sich zugespitzt, die
Interessen Solidarität abgenommen und eine
gewisse gegensätzliche Spannung Platz ge-
griffen hat. Noch am 6. Juni 1898 hat die
in Hamburg tagende Hauptversammlung des
deutschen Verbandes kaufmännischer Ver-
eine die Errichtung von Schiedsgerichten
zur Schlichtung von Streitigkeiten aus dem
kaufmännischen Anstellungsverhältnis befür-
wortet. Auch auf Seiten der Prinzipale fin-
det der Gedanke mehr Anklang, und ein von
der Handelskammer in Braunschweig auf
freiwilliger Grundlage ziu: Benutzung nach
§§ 851 ff. der C.P.O. kaufmännisch eingerich-
tetes Einigungsamt hat den Wert von Schieds-
gerichten, in denen beide Parteien vertreten
sind, praktisch erwiesen. Zuletzt ist dann
im Dezember 1898 von der nationalliberalen
Partei der schon früher eingebracht ^we-
sene Antrag auf Errichtung kaufmännischer
Schiedsgerichte wiederholt worden, dem das
Haus einstimmig zugestimmt hat. (E. Francke
in »Das Gewerbegericht« IV, Nr. 5). In
Wirklichkeit liaben vereinzelt G^werbege-
richte sich auch für Streitigkeiten der Kauf-
leute mit dem Teil ihres gewerblichen Hilfs-
personals, der wie die Austräger, Knechte,
Kutscher etc. als Arbeiter sich charakteri-
sieren lässt, zuständig erklärt. Indes darf
doch nicht ausser acht gelassen werden,
dass bei der Verschiedenarti^keit der Inte-
ressen und der Sachkenntnis es misslich
wird, kaufmännische Streitigkeiten durch
Gewerbetreibende und umgekehrt entschei-
den zu lassen. Der an sich wohl begreif-
liche Wunsch wird daher kaum anders zu
verwirklichen sein, als indem bei den vor-
handenen Gewerbegerichten besondere B^am-
mern für Streitigkeiten des Handelsstandes
eröffnet werden. Die Beisitzer müssten als-
dann die aus Wahlen der Kaufleute und
ihrer Gehilfen hervorgegangenen Berufsge-
nossen sein.
Die Idee, »kaufmännische« oder richtiger
Handlungsgehilfensachen als dringende eilige
Sachen in summaiischem Verfahren vor dem
Amtsgericht erledigen zu lassen (Reichel a.
a. 0., Haase in Berliner Gerichtszeitung 1897
Nr. 181 1. Beilage) ist vielleicht doch durch-
führbar. Doch will mir der von den Prin*-
zipalen und Handlungsan^estellten gewählte,
von der Regierung bestätigte und vom Amts-
richter vereidigte kaufmännische Beirat^ der
auf 6 Jahre enrenamtlich zu funktionieren
haben würde, nicht so angemessen vor-
kommen und scheint nicht die gleichen
Gkirantieen zu bieten wie das Institut der
Beisitzer. Wenn übrigens die den Reichs-
tag gegenwärtig noch beschäftigende Novelle
zur Gewerbeordnung Gesetz wird, wonach
u. a. im Titel VH der Gewerbeordnung ein
Abschnitt VI über die Arbeitsbedingungen
der in offenen Verkaufestellen thätigen Ge-
hilfen, Lehrlinge und Arbeiter eingeschoben
werden soll, der alsdann auch auf die in
zugehörigen Schreibstuben (Komptoire) und
La^rräumen thätigen Personen zu er-
strecken wäre, so würde wenigstens die
Ausdehnung des Gewerbegerichts auf das
kaufmännische Hilfspersonal erreicht.
6. Berggewerbegerichte. Nach Mass-
fabe des Reichsgesetzes sollten diese in
reussen zum 1. April 1893 in den be-
deutenderen Bergbaubezirken ins Leben ge-
rufen werden. Als ihre Sitze sind Beuthen
iO.-S., Waidenburg, Dortmund, Saarbrücken
406
Grewerbegerichte
und Aachen in Aussicht genommen. Bei
jedem dieser Gerichte ist eine entsprechende
Anzahl von Kammern — im ganzen 32 —
vorgesehen, und zwar als sogenannte de-
tachierte Kammern am Amtssitze der könig-
lichen Bergrevierbeamten der betreffenden
Gerichtsbezirke. Der preussische Etat' hat
für sie den Betrag von 58500 Mark jähr-
lich ausgeworfen, ausserdem einmalig für
die erste Einrichtung den Betrag von 16000
Mark. Im Juli 1893 hat der Minister für
Handel und Gewerbe Anordnungen über die
Yerfassuög und Thätigkeit des Berggewerbe-
gerichts zu Beuthen erlassen, die die Wirk-
samkeit der neuen Schöpfung vorbereiten
sollten, im wesentlichen den Inhalt des Ge-
setzes von 1890 wiedergeben. Das Gericht
zu Beuthen hat 9 Kammern und bei jeder
derselben eine Gerichtsschreiberei. In Saar-
brücken und Aachen sollten am 1. Januar
1895 Gerichte eröffnet werden. — Im König-
reich Sachsen gelangte ein von der Regie-
rung aufgestellter Entwurf, betreffend die
Eröffnung vno Bergschiedsgerichten, in der
zweiten Kammer des Landtages zu Anfang
des Jahres 1892 zur Annahme. Gegenwärtig
sind ihrer 5 dort in Thätigkeit. — In Braun-
schweig sind unter dem 27. Oktober 1892
Anordnungen für Errichtung eines Gerichtes
in den Braunkohlengruben des Herzogtums
erlassen worden, das am 1. Januar 1893 in
Helmstedt ins Leben getreten ist. Diese
Stadt ist gewählt worden, weil sie sich in
,der Nähe der sämtlichen im Betriebe ste-
henden Braunkohlengruben befindet, mithin
von den rechtsuchenden Bergleuten bequem
erreicht werden kann.
7. Statistik der deutschen G. An
Streitigkeiten waren 1896 bei 284 Gewerbe-
gerichten anhängig 68638 (1893:37386)
zwischen ünternelunern imd Arbeitern und
160 (1893 : 221) zwischen Arbeitern desselben
Arbeitgebers. Erledigt wurden durch Ver-
gleich 30798 (45,6%), 1893 14865(42,9%),
Verzicht 428 (0,6 %), 1893 374 (1,1%), Zu-
rücknahme der Klage 16057 (23,8%), 1893
6346 (18,3%), Anerkenntnis 775 (1,1%),
1893 727 (2,1%), Versäumnisurteil 5207
(7,7 %), 1893 3766 (10,9 %) und durch sons-
tige Endurteüe 14 291 (21,2 %), 1893 8579
(24,8%), zusammen 67 556 (1893 34657)
Klagen. Ein Teil der anhängigen Streite
Sachen erledigte sich auf andere Weise.
8. Die Conseils de prud'hommes in
Frankreich. Am 18. März 1806 wurde in Lyon
das erste conseil de prud^hommes eröffnet mit
der Aufgabe, die unter den Fabrikanten und
Arbeitern „tätlich sich erhebenden kleinen
Streitigkeiten im Wege der Güte zu schlichten"
oder durch Kichterspmch zu entscheiden. Das-
selbe war gleichsam die Wiederholung eines
ähnlichen Gerichts, des trihunal commun, das
die Streitigkeiten zwischen den Seidenfabrikan-
ten und ihren Arbeitern geschlichtet und bis
zur Revolution bestanden hatte. Durch das
kaiserliche Dekret vom 11. November 1809
wurden die Conseils auch in einifi:en anderen
Städten eingeführt und durch mehrere andere
Dekrete die Gesetzgebung bis zum Jahre 1810
vervollständigt. Im Jahre 1846 erfreuten sich
68 Städte der wohlthätigen Wirksamkeit dieser
Gerichte, und 1886 gab es in ^anz Frankreich
ihrer 136. Paris hatte bis 1884 noch kein Con-
seil aufzuweisen, da die 1818 und 1828 über
seine Errichtung geführten Verhandlungen nicht
zu einem befriedigenden Ergebnisse geführt
hatten. Im Jahre 1844 wurde das erste Conseil,
zunächst für ein einzelnes Gewerbe, die Metall-
industrie, eröffnet, dem 1847 drei weitere Con-
seils folgten.
Auf Antrag oder mit Zustimmung der Ge-
meindebehörde vom Handelsminister errichtet,
besteht der Rat der Gewerbeverständigen aus
einer gleichen Anzahl von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern, die in freier Wahl von den in
Berufsklassen gruppierten Berufsgenossen ge-
wählt werden. Wahlberechtigt sind alle Unter-
nehmer derjenigen Industriegruppen, für die
das Gericht errichtet ist, sofern sie 25 Jahre
alt sind, seit 5 Jahren eine Erwerbssteuer
(patente) zahlen und seit 3 Jahren in dem G^
richtsbezirke wohnen; ferner alle Arbeitnehmer
höherer Kategorie (chefs d^ateliers, contre-
maitres) und gewöhnliche Arbeiter (ouvriers),
die ein Alter von 25 Jahren besitzen, seit 5
Jahren in dem betreffenden Gewerbszweige be-
schäftigt sind und seit 3 Jahren in dem Ge-
richtsbezirke wohnen. Die Wählbarkeit ist
durch das Alter von 30 Jahren und die Kennt-
nis des Lesens und Schreibens bedingt. Den
Vorsitz führt ein aus der Mitte der Richter
durch diese selbst gewähltes Mitglied, das so-
wohl den Unternehmer- als den Arbeiterkreisen
angehören kann. Doch ist bestimmt, dass der
Vorsitzende und sein SteUvertreter nicht beide
der gleichen socialen Klassen angehören dürfen,
so dass, falls der Vorsitzende aus der Zahl der
Arbeitgeber genommen ist, sein Stellvertreter
der Klasse der Arbeiter entstammen mnss. Die
Vorsitzenden werden auf ein Jahr gewählt; von
den Beisitzern scheidet alle drei Jahre die
Hälfte aus, bleibt jedoch wieder wählbar.
Die Kompetenz des Conseils erstreckt sich
1. auf Schlichtung von Streitigkeiten zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie zwischen
den letzteren unter sich (Aufseher, Hilfsarbeiter,
Arbeiter, Lehrlinge], wenn ^e Zwistigkeiten
sich auf die Benusarbeit und das Arbeitsver-
hältnis beziehen. Streitfälle, die nicht auf dem
Arbeitsvertrage beruhen, wie z. B. die £nt-
schädi^ingsklagen in Unfällen, gehören nicht
vor sein Forum. Im übrigen ist der Umfang
der Kompetenz nicht ganz zweifelsfrei. Es ist
u. a. fraglich, ob die Kompetenz bei Arbeits-
streitigkeiten in dem Sinne eine obligatorische
ist, dass die ordentlichen Gerichte, insbesondere
die Friedensrichter dort, wo ein Conseil besteht,
solche Streitigkeiten von Amts wegen abzu-
weisen haben. Weiter liegt dem Gerichte ob,
bei Anzeigen über Uebertretung der den Ge-
werbefleiss betreffenden Gesetze und Verord-
nungen, der an Rohstoffen verübten Diebstähle
etc. den Thatbestand festzustellen. Sind diese
Befugnisse richterlicher Natur, so hat das Con-
seil 2. administrative Aufgaben zu erfüllen.
Gewerbegerichte
407
Es hat die Hegistrierimg der Muster und
Dessins und die Feststellung: der vorhandenen
Gewerbebetriebe sowie die Zahl der in jedem
derselben verwandten Arbeiter. Auch ist es
zur Entgegennahme der schriftlich geschlossenen
Lehrverträge und zur Entscheidung gewisser
ans dem Lehrvertra^e hervorgehender Streitig-
keiten berufen. Endlich hat es 3. eine polizei-
liche Funktion, nämlich die Eon trolle der dem
französischen, insbesondere dem Ljoner Arbeits-
rechte eigentümlichen Quittungsbücher, welche
alle Vorsteher von Werkstätten für jeden
WebstTihl, auf dem sie arbeiten lassen, anlegen
müssen.
Für das Verfahren gilt, dass jeder Streit-
fall zunächst vor die Vergleichskammer (bureau
particulier) zu bringen ist und erst, wenn keine
Aussöhnung zu stände kommt^ vor der Urteils-
kammer (bureau general), die aus dem Vor-
sitzenden und mindestens je zwei Arbeitgebern
und Arbeitnehmern besteht, erledigt wird. In
der Vergleichskammer erscheinen die Parteien
entweder freiwillig oder der Beklagte wird
durch einen Brief des Gerichtssekretärs geladen.
Leistet er dieser Aufforderung nicht Folge, so
tritt die förmliche Ladung (citation) durch den
Huissier ein. Bleibt er auch dann aus, so er-
hält der Kläger das Recht, den Gegner vor das
Bureau general laden zu lassen. Gegen das
Urteil des Conseils steht die Berufung an das
Handelsgericht ofifen, falls der Wert des Streit-
gegenstandes die Summe von 200 Francs über-
steigt. Ein weiterer Rechtsweg ist nicht vor-
gesehen, iedoch ist als ausserordentliches Rechts-
mittel die Kassation (demande en Cassation)
möglich, freilich nur bei sehr beschränktem
Anwendungsgebiete.
Die Gesetzgebung, deren Grundzüge vor-
stehend erörtert sind, ist seit 1860 mannigfach
geändert worden. Das Dekret vom 27. Mai
1848 erkannte der eigentlichen Arbeiterklasse
das dieser bisher vorenthaltene Wahlrecht zu
und regelte dasselbe im einzelnen auf ziemlieh
breiter Grundlage. Das G. v. 6. Juni 1848
schuf noch eine dritte Kategorie von Prud'-
hommesy die Prud'hommes chefs d'ateliers, die
von den bisherigen Prud'hommes patrons abge-
trennt und zwischen diese und die Prud'hommes
ouvriers eingeschoben wurden. Als chefs
d'ateliers sollten betrachtet werden diejenigen
Arbeiter, die bezahlt wurden und ihrerseits
auch Lohnarbeiter beschäftigen. Jede der B
Kategorieen stellte eine eigene Kandidatenliste
auf, aus denen die chefs d'ateliers die Prud'-
hommes patrons und die Prud'hommes ouvriers
wählten. Die Prud'hommes chefs d'ateliers aber
sollten zur Hälfte von den Arbeitern, zur
Hälfte von den Unternehmern gewIUilt werden.
Das Gericht bestand dann aus einer gleichen
Zahl von Prud'hommes der drei sozialen Klassen.
Das G. V. 1. Juni 18o3 beliess allerdings der
grossen Masse der Arbeiterschaft das Wahl-
recht, aber knüpfte es an manche der früheren
einschränkenden Bedingungen, insbesondere an
ein höheres Alter und behielt dem Kaiser das
Recht vor, die Vorsitzenden zu ernennen. Das
G. V. 24. Mai 1864 war lediglich ein Disciplinar-
gesetz für die Prud'hommes selbst. Im Jahre
1869 wurde eine Enquete über die Wirksam-
keit der Conseils und über die Arbeitsbücher
veranstaltet (veröffentlicht 1869 in 2 Bänden
als „enqu^te sur les Conseils de prud'hommes
et les livrets d'ouvriers"), deren Ergebnisse für
die Praxis zu verwerten der Eintritt des Krieges
hinderte. Indes haben auch die neueren seit
1880 getroffenen Aenderungen auf die in der
Enquete enthaltenen Ratschläge und Wünsche
kaum zurückge^ffen. Das G. v. 7. Februar
1880 verfügte die Wahl der Vorsitzenden durch
die Mitglieder des Gerichtes selbst. Das G. v.
21. Februar 1881 war bestimmt, die Conseils in
Algier einzubürgern. Am 24. November 1883
wurde den Teilnehmern der Firmeninhaber
ebenfalls das Wahlrecht zugestanden, jedoch
nur kollektiv, und das G. v. 11. Dezember 1884
regelte die FäUe, in denen Enthaltung von der
Wahl oder Wahl von wahlunfähigen Personen
die Thätigkeit der Gerichte zu unterdrücken
bemüht war. Seit 1886 ist man in der Depu-
tiertenkammer mit der Beratung neuer Gesetze
beschäftigt; doch ist zur Zeit noch kein Ab-
schluss eäolgt. Der von der Deputiertenkammer
1892 angenommene Antrag hat den Beifall des
Senats noch nif'ht gefunden. Er geht von der
Kammer zum Senat und umgekehrt, ohne dass
es den jeweiligen Aenderungen gelingt, die
beiderseitige Zustimmung zu erwirken. Die
wesentlichen Gesichtspunkte, auf welche die
Reform abzielt und in denen keine Einigung
erzielt werden kann, sind diese: Prud'hommes
sind auch für Handel, Landwirtschaft und Berg-
bau zu wählen; die Wählbarkeit beginnt mit
dem 25. Lebensjahre, das Wahlrecht mit dem
21. Lebensjahre und ist von denselben Be-
dinpfungen abhängig wie die Ausübung des
politischen Wahlrechts. Werkführer und Chefs
d'ateliers sind zu den Arbeitgebern (patrons)
zu rechnen; Unternehmer und Arbeiter bleiben
auch noch in den nächsten zehn Jahren, nach-
dem sie aufgehört haben in ihrem Berufe prak-
tisch thätig zu sein, wählbar und wanlbe-
r echtigt; Frauen im Alter von 21 Jahren, die
in dem betreffenden Gerichtsbezirk länger als
6 Monate gewohnt haben, sind wahlberechtigt;
die Entscheidung der Prud'hommes ist bei
Streitgegenständen bis zur Werthöhe von 2000
Francs endgültig. Von allen diesen Reformen
will der Senat nichts wissen, mit Ausnahme
der Bergschiedsgerichte. Seinerseits hat er als
Neuerung vorgeschlagen, den Vorsitz dem
Friedensrichter anzuvertrauen, statt ihn, wie
bisher, unter Arbeitern und Unternehmern ab-
wechseln zu lassen. Gegenüber den von der
Kammer gebilligten Reformen hält der Senat
daran fest, dass das Wahlrecht mit dem 25.,
die Wählbarkeit mit dem 30. Lebensjahre be-
ginnen soll. Der Wähler soll ausserdem nicht
nur im Besitze des politischen Wahlrechts sein,
sondern seit mindestens 6 Jahren seinem Be-
rufe obliegen und seit 3 Jahren in dem be-
treffenden Gerichtsbezirk wohnen. Gegen die
Gleichstellung der Werkmeister mit den „Pa-
trons" wendet der Senat ein, dass die ersteren,
weil zahlreicher als die letzteren, dieselben
oft überstimmen und nicht zu Worte kommen
lassen würden. Derjenige femer, der nicht
mehr im praktischen Erwerbsleben stehe, habe
nicht mehr die gleichen Interessen zu vertreten
und könne daher nicht mehr die gleichen Rechte
beanspruchen. Es habe mithin keinen Sinn,
ihm Wahlrecht und Wählbarkeit zuzugestehen.
Die Ausdehnung der Prud'hommes auf Kauf-
408
GewerbegericMe
leute und Landwirte bekämpft der Senat, weil
die auf diesen Gebieten vorkommenden Streitig-
keiten in das gemeine Recht fallen, zu dessen
Anwendung der Laienrichter nicht geeignet ist.
Die Frau müsse man von den Aufregungen des
politischen Lebens fem zu halten suchen; ihre
Interessen seien auf die Aufrechterhaltung des
Familienlebens zu beschränken. Die Endgültig-
keit der Urteile der Prud'hommes solle bei einer
Werth^he des Streitgegenstandes von 300
Francs aufhören.
Zuletzt ist das Parlament im Dezember
1898 mit einem Antraf^ betreffend die Beform
der Conseils der Prud'hommes beschäftigt ge-
wesen, dem die zu einer Prüfung eingesetzte
Kommission zugestimmt hat. Em nationaler
EongresB der Arbeiterbeisitzer in den Conseils
des Prud'hommes wurde vom 14. bis 16. Juli
1899 in Paris abgehalten ^ um alle die Be-
schwerden, die man in Arbeiterkreisen gegen die
geltende Gewerbegerichtsordnung hegt, zum
Ausdruck zu bringen. Seine Wünsche sind in
der Hauptsache identisch mit den von der
Deputiertenkammer jeher vertretenen Reformen.
Es funktionierten 1897 138 Gewerbe-
gerichte (1896 133 Gewerbegerichte), vor
welchen 51326 Angelegenheiten anhängig
gemacht waren (1896 51975). Die erste
Instanz schlichtete davon 21317 (1896
21 584), während 10761 noch vor dem Spruch
zurückgezogen wurden (1896 8636). Yon
den 19117 Konflikten, die nicht gütlich
ausgetragen werden konnten (1896 21569)
gelangten n\M 15652 vor die zweite mit
ürteilsgewalt ausgestattete Instanz (1896
15754). Unter diesen wurden etwa ^/s
(1896 8394) noch vor der Urteilsfällung
zurückgezogen. Von 100 angestrengten
Klagen bezogen sich auf
1897 1896
Lehrlinfifsvertrag i,6
Verabscniedungen 14,5
Lohnfragen 64,2
Verschiedene Anlässe . . .' . 19,7
1,9
14,9
66,3
x6,9
0. Die G. in Italien, Belgien, in der
Schweiz nnd Oesterreich. In Italien
ist, nachdem schon vor 15 Jahren von einer
durch königliche Eabinettsordre eingesetzten
Kommission zur Untersuchung der Strikes die
Errichtung von Gewerbegenchten empfohlen
worden war, am 25. Juni 1893 das Institut der
„Probi-viri" geschaffen worden. Nach 10 jährigen
Verhandlungen ist man zu einem Gesetze ge-
langt, das französische und deutsche Erfahrungen
verwertet. Das Collegio dei Probi viri
wird durch königliches Dekret auf Vorschlag
der Minister ins Leben gerufen. Ueber die Be-
dtirfnisfrage soUen die Arbeitervereinigungen
vorher gehört werden. Unternehmer und
Arbeiter bilden in üblicher Weise das Gericht,
wobei interessanterweise die Frauen nicht nur
wählen dürfen, sondern auch wählbar sind.
Jedes Kollegium besteht aus zwei Kammern:
dem Einigungsamte fuffizio di conciliazione)
und dem Gewerbegerichte (giuria). Die erstere
hat nicht nur die Aufgabe, einen Sühneversuch
anzustellen, der übrigens im Falle des Miss-
lingens vor dem Gewerbegperichte wiederholt
werden muss, sondern ist ein wirkliches
Einigungsamt mit selbständigen Kompetenzen,
das in bekannter Weise bei Ausbruch von
Streitigkeiten zwischen Untemehmem und
Arbeitern auf deren friedliche Beilegung und
auf Festsetzung der Arbeitsbedingungen hinzu-
wirken berufen erscheint. Hinsichtlich der
sachlichen Kompetenz weichen die Probi viri
nicht von der bekannten Verfassung derartifi^er
Laiengerichte ab; bei Streitigkeiten, die den
Wert von 200 Lire überschreiten, hören sie auf,
zuständig zu sein. Die Personenkompetenz er-
streckt sich auf die Arbeiter oder Lehrlinge in
Fabriken und industriellen Unternehmungen
einschliesslich der Hausindustrie. Der Plan,
die Kollegien auch für Landarbeiter zu errichten,
ist zunächst aufgegeben worden.
In Belgien entstanden die ersten Conseils
de prud'hommes während der französischen Herr-
schaft 1809 und 1810 in Brügge und Gent. Ein
G. V. 9. April 1842 redigierte die überkommene
französische Gesetzgebung neu und ermächtigte
die Regierung, an 17 Orten weitere Conseils zu
eröffnen. Hiervon wurde indes wenig Gebrauch
femacht, und erst infolge des G. v. 7. Februar
859 entstanden 8 neue Conseils, so dass 1860
23 Gerichte bestanden. Dann aber geriet die
Errichtung wieder ins Stocken, und erst 1884
sind 2 Conseils dazugekommen, in Charleroi
und La Louviere. Em neues Gesetz hat am
31. Juli 1889 die königliche Sanktion erhalten.
Die belgischen Conseils lehnen sich an die fran-
zösischen Vorbilder an, weisen aber verschiedene
Abweichungen auf. Sie erstrecken sich nicht
nur auf die Fabrikanten und Leiter industrieller
Etablissements, sondern auch auf die Eigen-
tümer von Berg- und Hüttenwerken, die Be-
sitzer von für die Seefischerei bestimmten Fahr-
zeugen, auf Handwerker, Werkmeister, sonstige
Arbeiter und Seefischer. Die Wählbarkeit, 1^-
dingt durch ein Alter von 30 Jahren, ist femer
den von ihren Geschäften und ihrer Arbeit zu-
rückgetretenen Unternehmern und alten Arbeitern
zugestanden. Beide sozialen Klassen müssen
aber dann in gleicher Zahl und höchstens zum
vierten Teile der Gesamtzahl der Prud'hommes
vertreten sein. Die Wahlberechtigung ist ab-
hängig von einem Alter von 25 Jiüiren, der
belgischen Staatsangehörigkeit, einjährigem
Wonnsitze im Gerichtsbezirke und 4jfiJing>er
Ausübung des Gewerbes. Der Vorsitzende und
sein Stelhrertreter werden vom Könige ernannt
auf Grund einer doppelten Kandidatenliste,
deren eine von den Prud'hommes aus dem
Unternehmerstande, deren andere von den Prud'-
hommes aus dem Arbeiterstande au^est«llt
wird. Der Schreiber (^reffier) des Gerichts
wird ebenfalls vom Könige auf Grund einer
vom Conseil aufj^estellten Liste ernannt. Die
Conseils entscheiden endgiltig bis zu 200
Francs, darüber hinaus ist die Berufung beim
Handelsgericht zulässig, in Bergwerkssachen
bei dem Civilgerichte erster Instanz. Die Prud'*
hommes erhalten Tagegelder, deren Höhe durch
die Deputation permanente du Conseil provincial
bestimmt wird. Ausser ihrer richterlichen
Thätigkeit in Civilsachen haben die Conseils
eine Strafgerichtsbarkeit in Fällen von
Untreue (infid^lit^), groben Verstosses und
Gewerbegerichte
409
HandJnngen, welche die Ordnung und Disciplin
der Werkstätte zn stören geeignet sind. Die
Strafe ist im Höchstbetrage 25 Francs. End-
lich ist die Eegiemng berechtigt, die Conseils
zu Gutachten über allgemeine gewerbliche An-
gelegenheiten aufzuforden.
Im Jahre 1895 bestanden 27 Conseils, deren
Wirksamkeit sich seit 1882 wie folgt gestaltete :
imiTc
Streitfälle
Vergleich
Urte
1862
2761
2345
179
1865
3382
2712
419
1875
4158
2750
578
1885
3336
2365
322
1889
4578
3391
477
1890
4531
3399
457
1895
7153
5365
632
In der Schweiz kannte geraume Zeit
nur das romanische Gebiet die Conseils de
prudliommes, nämlich die Kantone Genf,
Neuenburg, ersterer laut G. v. 3. Oktober
1883, letzterer durch G. v. 20. November 1885.
In Genf ist für jede Gewerbegruppe ein be-
sonderes Gewerbe^ericht aus 30 Mitgliedern er-
richtet worden; die Kaufleute sind mit berück-
sichtigt und in der Gruppe der Verkehrsge-
werbe untergebracht. Bei Berufungen tritt in
Genf eine aus den besonderen Gruppengerichten
gebildete Appellationskammer in Thätigkeit;
m Neuenburg ist die Berufung ausj^eschlossen
mit Ausnahme derjeni£:en Sachen, die vor das
Handelsgericht gebracht werden können, was
nur möglich ist bei Streitwerten von 3000
Francs an. In beiden Kantonen können der
Staatsrat oder der grosse B^t alle Prud'hommes-
Räte zu einer Gewerbeversammlung zusammen-
benrfen, um wichtige industrielle oder kommer-
zielle Fragen j^meinschaftlich zu beraten. Seit
Dezember 18^ ist auch im Kanton Basel-
Stadt ein gewerbliches Schiedsgericht auf der-
selben Grundkige errichtet worden. Sämtliche
Gewerbe sind in 10 Gruppen zusammengefasst,
auf die je 12 Richter entfallen, so dass die Ge-
samtzahl der Beisitzer 120 beträgt. Der Ob-
mann ist juristisch gebildet. Die Zahl der er-
ledigten Streitfälle wird auf durchschnittlich
500 im Jahre angegeben. In Aargau hat eine
von mehreren hundert Arbeitern besuchte Ver-
sammlung an den Re^ierungsrat das Ansuchen,
ein gewerbliches Schiedsgericht einführen zu
wollen, gestellt, ist aber abschlägig beschieden
worden. In Solothurn und Zürich trägt
man sich seit einiger Zeit mit Projekten zur
Einfühnmg derarti^r Gerichte.
In Oesterreich beruhen die durch G. v.
14. Mai 1869 begründeten Gewerbegerichte auf
den Grundlagen der älteren französischen Ge-
setzgebung über die Conseils. Sie werden durch
Verordnung des Justizministeriums im £inver-
nehmen mit dem Handelsministerium nach ein-
geholtem Gutachten des Provinziallandtages
eröffnet. Der Entwurf der Geschäftsordnung
wird dem Justizministerium zur Genehmigung
durch das Oberlandesfi^ericht vorgelegt, das auch
die Aufsicht über das Gewerbegericht führt.
Entg^egen der Entwickelung , die die französi-
schen Conseils von Gerichten für einzelne In-
dustriezweige zu Gerichten für das gesamte
Gewerbe durchgemacht haben, sind die öster-
reichischen ausschliesslich für fabrikmässig be-
triebene Gewerbe kompetent. Bei Streitigkeiten
zwischen Handwerkern und deren Hilfspersonen
können sie nicht angerufen werden. Sie be-
stehen in Wien, Brunn, Reichenberg und Bielitz.
Ihre Thätigkeit ist sehr gering. In Brunn
wurden bei dem Gewerbegerichte für Textil-
industrie im Jahre 1893 93 (1891 125), bei dem
für Metallindustrie 76 (1891 20) Klagen an-
hängig gemacht. In Wien umfasste das Ge-
werbegericht für Maschinen und Metallwaren
im Jahre 1893 207 Klagefälle (1892 158), und
in Bielitz wurden 1893 57 Klagen (Textil-
industrie) erhoben. Ueber langsamen Gang der
vermittelnden Thätigkeit und der Rechtsprechung
wird geklagt, und da überhaupt wenig Gewerbe-
gerichte bestehen, hat 1894 bei Gelegenheit der
Beratung über eine neue Civilprozessordnung
der Abgeordnete Baerenreither den Antrag
auf Einführungvon Gewerbegerichten im wesent-
lichen unter Berücksichtigung des deutschen
Verfahrens gestellt. Er hat zum Erlass des
G. V. 27. November 1896 gjeführt, das am 1. Juli
1898 in Kraft getreten ist. Auch in Oester-
reich ist hierbei der fakultative Weg gewählt.
Die Errichtung geschieht durch eine vom Justiz-
ministerium im Einvernehmen mit den be-
teiligten Ministerien zu erlassende Verordnung.
Die Landtage sowie andere Korporationen sind
Anträge auf Errichtung eines Gewerbegerichtes
zu stellen berechtigt.
Um möglichst viele Gerichte ins Leben ge-
rufen zu sehen, hat die österreichische Gewerk-
schaftskommission eine umfassende Propaganda
in Scene gesetzt. Sie hat in einem Aufrufe
vom Februar 1898 sich dahin ausgelassen, dass
nicht nur, wenn das Justizministerium es für
gut befindet, Gewerbegerichte eröffnet werden
sollten, sondern überall da, wo es notwendig
und im Interesse der Arbeiter gelegen ist. Doch
ist zu hoffen, dass das Justizministerium die
Situation nicht verkennen wird. Bis zu 50 Gulden
sind die Urteile der Gewerbegerichte endgiltig.
Ueber diesen Betrag hinaus ist Berufung mög-
lich. Bei Objekten bis zu 60 Gulden ist Be-
rufung wegen „Nichtigkeitsgründen" zulässig.
Als Einigungsämter funktionieren die Gewerbe-
gerichte nicht. Als weitere Funktion neben
ihrer Rechtsprechung ist aber vorgesehen, dass
sie auf Ersuchen der Landesbehörden Gutachten
abzugeben haben und an letztere Anträge in
gewerblichen Angelegenheiten stellen dürfen.
>urch Verordnung des Justizministers v. 21.
November 1899 sind 4 neue Gewerbegerichte in
Lemberg, Krakau, Mährisch-Ostrau und Mährisch-
Schönberg errichtet worden, so dass vom 1.
Februar 1900 Oesterreich im ganzen 8 Gewerbe-
gerichte aufweisen wird. Für die in Genossen-
schaften vereinigten Handwerker bestehen die
nach § 122—124 der Gewerbeordnung von 1885
gegründeten schiedsrichterlichen Aus-
schüsse und für die Gewerbetreibenden, soweit
sie einer Genossenschaft nicht angehören, können
sogenannte ,,schiedsrichteriiche Kolle-
gien'^ ins Leben gerufen werden.
Litteratur: Den Nachweis der ältei'en LiUeratur
8. bei Wilh, SHeda, »Das Gewerhegerichtn, Leip'
zig 1890. — Die zahlreichen Kommentare, unier
denen der von Wilhelmi und Für st, Berlin
410
Gewerbegerichte — GewerbegesetzgebuBg (Einleitung)
1891, der eingehendste ist, sind grösstenteils in
der Abhandlung des Unterzeichneten, Das Reichs^
gesetx betr. die Gewerbegerichte in Jahrb, f. Nat.
u. Stau, 8, F. Bd. 2, S. 69—81, 209—222 namhaft
gemacht. — Viel Material enthalten die Amtlichen
Mitteilungen aus den Jahresberichten der Geicerbe-
aufsichtsbeamten, das Statistische Jahrbuch deut-
scher Städte (Artikel: Gewerbegerichte von G.
Pabst), das Sozialpolitische Ztmtralbl., 1892—1894,
Blätter für soziale Praxis, 189S — 1899, Soziale
Praxis, seit Oktober 1894 ^««^ <^^ ^ Beilage
abgedruckten uMit-teilungen des Verbandes deut-
scher Gewerbegerichteu, die seit dem 10. Ok-
tober 1894 selbständig ausgegeben werden. —
Ch, Morisseaux, Conseils de l'indtistrie et du
travail, BruxeUes 1890. — Q. Stein, Das Reichs-
gesetz vom 29. Juli 1890 betr. die Gewerbege-
richte, Berlin 1891. — Hans Reichel, Das
Gewerbegericht, Hermhut 1898. — A, Bloch,
Gesetz vom 27. November 1896 in historisch-
dogmatischer und exegetischer Darstellung, Wien
1899, — Ä PoUah, Das Gesetz betretend
die Einführung von Gesetzen in Oesterreich, im
Archiv f. soz. G., X, 272 ff. — J. SUbermann,
Die Frage der kaufmännischen Schiedsgerichte
in Deutschland, im Arch. f. soz. Ges., XI, 666.
— Hof mann, Die Thätigkeit der Gemeindevor-
steher nach dem R.G., betreffend die Gewerbe-
gerichte, V. 29, VII. 1890, Leipzig 189S. — P.
Schmitz, Die königlichen Geioerbegerichte in
der Rheinprovinz, Düsseldorf 1894. — E»LatUen-
Hchlager, Die Rechtsprechung im Gewerbe-
gerichie im Jahrb. f. Ges. und Verw., 1893, S.
137 — 140. — Werner Sombart, Das ita-
lienische Gesetz, betr. die Einsetzung von Probi
viri im »Archiv für soziale Gesetzgebung n, 6.,
S. 549 — 565. — Charles Chruet, Les conseils
de prud'hommes et le projet de loi sur leur
Organisation devant le parlement in nRevue
politique et parlementaireii, 2, S. 255 — 274» —
</. Jastrow, Die Erfahrungen in den deutsehen
Gewerbegerichten, in Jahrb. f. Nat. u. Slot.,
3. F., 14, S. 321. — Otto V. Boenigh, Schiede-
gerichie für kaufmännische Angestellte, in Jahrb.
f. Nat. u. Stat., 3. F., 13, S. 428. — E. Unger,
Entscheidungen des G. in Berlin unter Berück-
sichtigung der Praxis anderer deutscher Gerichte,
1898. — Laurant Hecheene, La concüiation
industrielle en Belgique in Revue d'Seon. pol.
(1897) XI, 343.
Wilhelm Stieda,
Gewerbegesetzgebnng.
I. Einleitung (S. 410). II. Die Gewerbe-
gesetzgebung in den einzelnen Staaten (S. 412).
I.
Einleitung.
In dem Art. Gewerbe (oben S. 360 ff.)
ist der Begriff des Gewerbes erörtert und
die Gewerbegeschichte in ihren Grundztlgen
dargelegt worden. Die Aufgabe der folgenden
Artikel ist es, das heute geltende Gewerbe-
recht, wie es sich in den grösseren euro-
päischen Staaten im Laufe des 19. Jahr-
hunderts gestaltet hat, eingehend darzu-
stellen. Trotz der Verschiedenheit der Ent-
wickelungsstufe, auf der sich die gewerb-
liche Produktionsweise in den einzelnen
Ländern befindet, ruht die rechtliche Ord-
nung des Gewerbewesens in allen Staaten
der europäisch -amerikanischen Civilisation
heute auf dem Principe der Gewerbe-
freiheit, wenn dasselbe auch von den
einzelnen Gesetzgebungen in einer bald
mehr, bald minder beschränkten Gestalt zur
Durchführung gebracht ist. Die charakte-
ristischen Eigenheiten der mittelalterlichen
Gewerbeverfassung sind in dem Art. Ge-
werbe hervorgehoben worden. Es ist ge-
zeigt worden, wie und aus welchen Ursachen
der mittelalterliche Gewerbebetrieb, der in
den Zünften seine Organisation gefunden
hatte, sich umbilden und weiter bilden
musste. Die eingehendere Darstellung der
Entstehung, Organisation und wirtschaft-
lichen Bedeutung wie des allmälilichen Ver-
falles und der Auflösung der Zimftver-
fassung wird der Art. Zünfte bringen,
unter Aufrechterhaltung der alten Formen
des Zunftwesens hatte aber schon im Laufe
des 17. und 18. Jahrhunderts zuerst in
Frankreich, dann auch in den grosseren
deutschen Staaten, wie namentlich in
Preussen, der Gewerbebetrieb durch
obrigkeitliche Regelung und durch Grewerbe-
regulative eine weitgehende Umgestaltung
er&hren. Die Auswüchse und Ausartungen
des Zunftwesens wurden bekämpft, das
Handwerk einer obrigkeitlichen Bevormun-
dung unterworfen, der mehr und mehr auf-
kommende Fabrikbetrieb von landesherr-
licher Konzession abhängig gemacht. Li
England, wo die Zünfte niemals die Be-
deutung wie auf dem Festlande erlangt
hatten, blieben zwar die alten beschränken-
den Rechtsvorschriften formell bestehen, sie
wurden aber thatsächlich nicht mehr be-
achtet. Begünstigt und gefördert von der
herrschenden Aristokratie konnte dort eine
Grossindustrie im Laufe des 18. Jahrhun-
derts sich entwickeln, so gross und mächtig,
wie sie kein anderes Land damals aufzu-
weisen hatte.
Unter dem Einflüsse der physiokratischen
Theorieen hatte in Frankreich die R^ie-
rung schon seit 1775 die Verwirklichung
des Systems der Gewerbefreiheit vorbereitet.
Wurde auch das bekannte Edikt Turgots
V. 12. März 1776, das die Zünfte aufhob,
nach seiner Entlassung wieder zurück^-
nommen, so wiuxle doch die von ihm ein-
geschlagene Bahn der Reformen nicht ver-
lassen, und die Gesetzgebung der Revolution
führte nur das von dem Ancien Regime in
Angriff genommene Werk zu Ende. Durch
das G. V. 2.— 17. März 1791 winden alle
Zünfte und gewerbliche Korporationen auf-
Gewerbegesetzgebung (Einleitung)
411
gehoben und v. 1. April 1791 ab die Ge-
werbefreiheit eingeiülirt. Jedermann
ward zum Betriebe eines jeden Gewerbes
zugelassen und die Beschränkungen der
Ausübung des Gewerbebetriebes, soweit sie
in der alten Gewerbeverfassung begründet
waren, beseitigt. Nicht aber wiurde der
Gewerbebetrieb von einer jeden Be-
schränkung befreit Das System der
Gewerbefreiheit ist nicht ein System
schrankenloser Freiheit Die Gewerbefreiheit
besteht vielmehr darin, dass die Zulassung
zum Gewerbebetriebe und dessen Ausübung
dimjh Gesetz nur solchen Beschränkungen
unterworfen werden , welche durch das
öffentliche Interesse erfordert werden.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben alle
europäischen Staaten nach diesem Principe
ihre Gesetzgebung umgestaltet. In einzel-
nen Staaten, wie in den skandinavischen
Bei che n, hat mau versucht, einige der
älteren Rechtsinstitute festzuhalten, um
den Gefahren, die aus der Gewerbefreiheit
entspringen können, vorzubeugen. In ande-
ren Staaten, wie in Oesterreich, hat
die neueste Gesetzgebung wenigstens für
die meisten Kleingewerbe, für das eigent-
hehe flandw^erk gerade dieser Gefahren
wegen das Prindp der Gewerbefreiheit so
abgeschwächt, dass in ihr eine Verbindung
der Gewerbefreiheit für die Grossindustrie,
den Fabrikbetrieb und die Handelsgewerbe
mit der Gewerbeunfreiheit für das Hand-
werk sich findet, die auf Befähigungsnach-
weis, Lehrlings- und Gesellenzwang sowie
Zwangsinnung beruht. Aber auch in den
anderen Staaten, welche an dem Principe
der Gewerbefreiheit festgehalten haben, sind
Umfang und Inhalt dieser Freiheit ver-
sdiieden und auch in den einzelnen Staaten
zu verschiedenen Zeiten verschieden be-
grenzt worden. Die in der Gesetzgebung
zum rechtlichen Ausdrucke gelangenden An-
sichten über die Beschränkungen, welche
im öffentlichen Interesse notwendig
sind, gehen weit auseinander und haben
mehrfach gewechselt. Die Geschichte der
greussischen Gesetzgebung von 1810
is 1861 sowie die der deutschen Ge-
setzgebung von 1869 bis auf die Gegenwart
bieten hierfür lehrreiche und interessante
Beispiele dar. Hat auch die Erfahrung die
übertriebenen Befürchtungen, die vor der
Einführung der Gewerbefreiheit vielfach ge-
hegt wurden, wie dass sie die Veraimimg
des Volkes und die Auflösung aller wirt-
schaftlichen Ordnung verursachen werde,
nicht gerechtfertigt, so kann sie doch, wie
jede Freiheit, zu Missständen und Miss-
bräuchen führen. Freilich verkennt man
den widiren Zusammenhang der Dinge,
wenn man, wie dies nicht selten geschieht,
die Ursacihe der tiefsten und schwersten
Schäden unseres wirtschaftlichen Lebens in
der Gewerbefreiheit erblickt, statt in jenen
grossen allgemeinen Faktoren, die das ge-
werbliche Leben der Gegenwart beherrschen
und die in den Artt Fabrik (oben Bd. HI,
S. 771 ff.) und Gewerbe (a. a. 0.) in
ihrer Bedeutung und ihrer Wirkung auf das
Gewerbe erörtert und gewürdigt wurden. Der
Macht dieser Faktoren — Maschinenbetrieb,
Arbeitsteilung, Ausbildung des Weltmarktes
etc. — kann sich kein Kulturvolk entziehen,
und deren nachteilige Wii-kungen sucht man
vergebens durch polizeiliche Beschränkungen
der Konkurrenz oder durch Rückkehr zu
Instituten der Vergangenheit zu bekämpfen.
Gesetze, die dies erstreben, vermögen nur die
üebel, die sie verhindern wollen, zu steigern.
Wohl aber hat die Erfahrung gelehrt,
dass die Gesetzgebung sich nicht darauf
beschränken darf, die Gtewerbefreiheit zu
sichern und im öffentlichen Interesse den
Gefahren des Gewerbebetriebes vorzubeugen,
gegen welche der einzelne sich nicht zu
schützen vermag. Der moderne Staat hat
auch grosse und wichtige positive Auf-
gaben zu erfüllen, die das gewerbliche
Leben der Gegenwait ihm stellt Es sei
hier nur hingewiesen auf das grosse Pro-
blem der sogenannten sozialen Frage, an
dessen Lösung der Staat mitzuarbeiten hat,
indem er eine Rechtsordnung schafft, in
welcher den arbeitenden Klassen und zu-
vörderst den gewerblichen Arbeitern die
Möglichkeit geboten wird, nicht bloss als
Werkzeuge an der Kulturarbeit des Volkes
teilzunehmen, sondern auch sich selbst wirt-
schaftlich und geistig fortzuentwickeln, und
in welcher ihnen die bürgerliche und po-
litische Freiheit nicht bloss formeD, sondern
auch thatsächlich gesichert ist Sache der
Gewerbegesetzgebung ist es. das rechtliche
Verhältnis der gewerblichen Arbeiter zu
den Gewerbeunternehmern durch öffentlich-
rechtliche Normen zu regeln, soweit nach
dem soeben angedeuteten Gesichtspunkte
das Privatrecht einer Ergänzung durch das
öffentliche Recht bedarf. Doch werden die
hierher gehörigen Gesetze in den folgenden
Artikeln nur soweit berührt, als dies zur
Charakterisierung des heutigen Standes der
Gewerbegesetzgebung in den einzelnen
Staaten erforderlich erscheint In den um-
fassenden Artikeln über Arbeiterschutz-
gesetzgebung, Arbeiterversiche-
rung (Krankheits-, Unfall-, Alters- und In-
validenversicherung) etc. (oben Bd. I, S. 470 ff.
bezw. S. 607 ff. etc.) finden sie die ein-
gehendste Erörierung. Sodann aber hat
der Staat, soweit die Gesetzgebung und
staatliche Verwaltimg dies vermögen, die Ent-
wickelung des Gewerbebetriebes durch Für-
sorge für die gewerbliche Ausbildung (Er-
richtung und Unterhaltung oder Unter-
412
Gewerbegesetzgebung (Einleitimg— Deutschland)
Stützung gewerblicher Fachschulen der ver-
schiedensten Art), durch Regelung des
Lehrlingswesens, durch Unterstützung ge-
werblicher Ausstellungen etc. zu fördern.
1. die Artt. Ausstellungen (oben ßd . II,
51ff.), Gewerblicher Unterricht,
Lehrlingswesen.) Endlich ist es eine
.wichtige Aufgabe der Gewerbegesetzgebung,
den Gewerbetreibenden, insbesondere den
Handwerkern, die den schweren Kampf gegen
die Grossindustrie zu kämpfen haben, den
Zusammenschluss in öffentliche Korpora-
tionen zu ermöglichen, während die Frei-
heit, sich in Vereinen und Genossenschaften
zu vereinen, ihnen schon durch die allge-
meine Vereins- und Genossenschaftsgesetz-
gebung ermöglicht ist (s. die betreffenden
Artikel). Nicht die alten Zünfte mit ihren
ausschliessenden Privilegien sollen wieder
aufleben, aber den Gewerbetreibenden ist
die rechtliche Möglichkeit zu geben, öffent-
liche Korporationen zu bilden , die mit
solchen öffentlichen Rechten auszustatten
sind, um sie zu heftigen, dem einzelnen
einen Halt zu gewähren und die gemein-
samen Interessen ihrer Glieder in wirk-
samer Weise zu fördern. (S. hierüber den
Art. Innungen.)
Ijoening.
n.
Die Gewerbegesetzgebung in
den einzelnen Staaten.
I. Die G. in Deutschland (S. 412). II. Die
G. in Oesterreich (S. 440). III. Die G. in
Ungarn (S. 4ö8). IV. Die G. in Frankreich (S.
461). V. Die G. in Grossbritannien (S. 468).
VI. Die G. in Italien (S. (479). VII. Die G.
in der Schweiz (S. 482). VIII. Die G. in Skan-
dmavien (S. 486). IX. Die G. in Russland (S.
490).
I. Die Gewerbegesetzgebnng in
D'entschland.
I. Geschichtliche Entwickeinng.
1. Die preussische G. 2. Die deutsche G.O. vom
21. Juni 1869. 3. Abänderungen der G.O. II.
Das geltende Recht. 4. Geltungsbereich
der G.O. 5. Allgemeine Grundsätze des dent-
schen Gewerberechts. 6. Stehender Gewerbe-
betrieb. 7. Ausübung des stehenden Gewerbe-
betriebes. 8. Gewerbebetrieb im Umherziehen.
9. Marktverkehr. 10. Gewerbliche Taxen. 11.
Innungen und Handwerkskammern. 12. Ge-
werbliche Arbeiter. 13. Gewerbliche Hilfskassen.
III. Bestrebungen auf Abänderung der
G.O.
I. Geschichtliche Entwickeinng.
1. Die prenssische G. In Preiissen
wurde der Grundsatz der Gewerbe-
freiheit durch das Gesetz über die Ein-
führung einer allgemeinen Gewerbesteuer
vom 2. November 1810 zur DurchfOhnmg
gebracht, welchem das Gesetz über die po-
lizeilichen Verhältnisse der Gewerbe vom
7. September 1811 ergänzend zur Seite trat.
Nach den Bestimmungen dieser beiden Ge-
setze sollte der Betrieb eines Gewerbes
künftig nur von der Lösung eines Ge-
werbescheines, für den eine ent-
sprechende Steuer zu zahlen war, abhängig
sein. Der Gewerbeschein wimie je für ein
Jahr ausgestellt. Er durfte niemandem ver-
sagt werden, welcher ein Attest der Polizei-
behörde seines Ortes Über seinen rechtlichen
Lebenswandel beibrachte. Nur bei solchen
Gewerben, bei deren ungeschicktem Betriebe
gemeine Gefahr obwaltete oder welche eine
Öffentliche Beglaubigung oder ünbescholten-
heit erforderten, sollten Gewerbescheine
lediglich dann erteilt werden, wenn die
Nachsuchenden zuvor den Besitz der er-
forderlichen Eigenschaften auf die vor-
geschriebene "Weise nachwiesen. Als Ge-
werbtreibende dieser Art wurden die ver-
schiedensten Personen behandelt: Sanitäts-
personen, Gasl^ und Schankwirte, Bauhand-
werker, Justizkommissarien imd Notare,
Schornsteinfeger, Abdecker, Lotsen, Schiffer
und Steuerleute für Seeschiffe, Schauspiel-
direktoren, Feldmesser, Markscheider, Hau-
sierer. So waren denn auch die von den
einzelnen Gruppen verlangten Nachweise
ausserordentlich verschieden. Bei einigea
handelte es sich um die Darlegung besonderer
Kenntnisse und Fertigkeiten, bei andereu
um eine polizeiliche Prüfung der persönlichen
Eigenschaften. Der Zunftzwang wurde
aufgehoben. Die ausschliesslichen Ge-
werbeberechtigungen sollten abgelöst
werden. Die polizeilichen Taxen der
Lebensmittel-, Kaufmanns- und Backwai'en
wurden aufgehoben, auch die Gastwirte
waren fortan nur verpflichtet, in den Städ-
ten 1. und 2. Klasse, auf Grund besonderer
polizeilicher Verordnung auch in denen
3. Klasse, ihre Preise in der Gaststube an-
zuschlagen.
Die Erweiterung des Staatsgebietes im
Jahre 1815 hatte eine Aenderung der Ge-
werbegesetzgebung zunächst nicht zur Folge.
Die GG. V. 2. November 1810 und 7. Sep-
tember 1811 blieben daher für den Bereich
des damaligen Staates bestehen, die neu
hinzugekommenen Gebietsteile behielten da-
gegen ihre hergebrachte Gewerbeverfassung.
Nur die Gewerbesteuer wurde durch ein
G. V. 30. Mai 1820 einheitlich geregelt Erst
am 17. Januar 1845 erfolgte der Erlass einer
allgemeinen Gewerbeordnung für
den ganzen Umfang der Monarchie.
Diese Gewerbeordnung hielt an dem Grund-
satz der Gewerbefreiheit fest. Auf-
gehoben wurden alle Yerbietimgsrechte und
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
413
ausschliesslichen Gewerbeberechtigungen,
alle Berechtigungen von Privatpersonen zur
Erteilung von Konzessionen, alle Abgaben
vom Gewerbebetrieb ausser der Gewerbe-
steuer. Auch die Zwangs- und Bannrechte
wurden teils aufgehoben, teils für ablösbar
erklärt Die Beschränkung gewisser Gew^erbe
auf die Städte hörte auf, der gleichzeitige
Betrieb verschiedener Gewerbe wurde jeder-
mann gestattet.
Wer ein stehendes Gewerbe be-
treiben wollte, hatte der Eommunalbehörde
des Ortes Anzeige zu machen. Gewisse
gewerbliche Anlagen, namentlich solche,
welche für die Besitzer oder Bewohner der
benachbarten Gbnindstücke oder für das
Publikum überhaupt erhebliche Nachteile,
Gefohren oder Belästigungen herbeiführen
konnten, durften nur mit polizeilicher Ge-
nehmigung errichtet werden. Auch einzelne
Gewerbebetriebe wurden aus Gründen der
öffentlichen Wohlfahrt oder Sicherheit ent-
weder von dem Nachweis der Befähigung
oder der Erteilung einer polizeilichen Er-
laubnis abhängig gemacht. Befähigungs-
nachweise, welche auf Grund einer beson-
deren Prüfung erteilt wurden, waren vor-
geschrieben : 1. für Aerzte einschliesslich der
Wundärzte, Augenärzte, Zahnärzte, Geburts-
helfer, femer für Apotheker, Hebammen,
mit einem Worte für Medizinalpersonen;
2. für Seeschiffer und Seesteuerleute ; 3. für
Bauunternehmer und Bauhandwerker, na-
mentlich Maurer, Steinhauer, Schiefer- und
Ziegeidecker, Haus- und Schiffszimmerleute,
Mühlen- und Brunnenbaumeister; 4. für
Fährmeister, d. h. Vorsteher öffentlicher
^Fähren, Schornsteinfeger, Personen, welche
sich mit Aufstellung von Blitzableitern be-
schäftigten, welche Feuerwerk zum Verkauf
brachten oder gegen Entgelt abbrannten,
Eastrierer, Abdecker, Bandagisten und Ver-
fertiger chirur^scher Instrumente. Polizei-
liche Konzessionen hatten einzuholen: 1.
Schauspieluntemehmer; 2. Personen, welche
Pressgewerbe betrieben ; 3. Schlosser, Pfand-
leiher, sowie diejenigen, welche mit gebrauch-
ten Kleidern oaer Betten, mit gebrauchter
Wäsche oder altem Metallgerät, mit Schiess-
pnlver oder Giften handelten, ferner die-
jenigen, welche aus der Vermitteln ng von
Geschärten oder der Uebemahme von Auf-
trägen, namentlich aus der Abfassung schrift^
lieber Aufsätze für andere ein Gewerbe
machten oder möblierte Zimmer oder Schlaf-
steUen gewerbsweifle vermieteten, Kammer-
jäger, Lohnlakeien und andere Personen,
welche auf öffentlichen Strassen und Plätzen
oder in Wirtshäusern ihre Dienste anboten,
ingleichen diejenigen, welche auf öffentlichen
Strassen und Plätzen Wagen, Pferde, Sänf-
ten, Gondeln und andere Transportmittel
zu jedermanns Gebrauch bereit hielten; 4.
Unternehmer von Tanz- oder Fechtschulen,
Bade- oder Tumanstalten. Die Geschäfte
der Baukondukteure, Feldmesser, Nivellierer,
Markscheider, Auktionatoren, See- und Bin-
nenlotsen, Mäkler, Dispacheurs und Gtesinde-
vermieter durften nur von denjenigen Per-
sonen betrieben werden, welche als solche
von den verfassungsmässig dazu befugten
Staats- oder Kommunalbehörden oder Kor-
porationen angestellt oder konzessioniert
waren. Ein gleiches galt von denen, welche
den Feingehalt oder die Beschaffenheit, die
Menge oder richtige Verpackung von Waren
irgend einer Art feststellten, von Güterbe-
stätigem, Schaffern, Wägern, Messern,
Brackem, Schauem, Stauern etc. sowie von
denjenigen, welche ein Gewerbe daraus
machten, Leichen zu reinigen und anzukleiden
oder die zur Bestattimg von Leichen er-
forderlichen Gerätschaften und Wagen zu
halten. Der Kleinhandel mit Getränken,
sowie der Betrieb der Gast- und Schank-
wirtschaft war schon durch Kabinettsordre
vom 7. Februar 1835 und 21. Juni 1844 für
den gesamten Staat einheitlich geregelt imd
von einer polizeilichen Erlaubnis abhängig
gemacht worden; diese Vorschriften wurden
diurch die (Gewerbeordnung aufrecht erhalten.
Für das Schomsteinfegergewerbe sollten
Kehrbezirke da, wo sie bestanden, beibehalten
und da, wo sie nicht bestanden, eingeführt,
andererseits aber auch aufgehoben und ver-
ändert werden können.
Der Gewerbebetrieb im Umher-
ziehen wurde durch die G.G. v. 17. Januar
1845 nicht näher geregelt. Dieselbe begnügte
sich, auf die bisher geltenden Bestimmungen
zu verweisen. Diese waren teils in dem
Gewerbesteuergesetz vom 30. Mai 1820, teils
in dem R^üativ vom 28. April 1824 ent-
halten. Danach wurde für die Ausübung
des Gewerbebetriebes im Umherziehen die
Lösung eines Gewerbescheines erfordert,
der von der Regierung zu erteilen und für
den eine bestinmite Abgabe zu entrichten
war. Die Lösung des Gewerbescheines
diente also gleichzeitig den Zwecken dgr
Besteuerung und der Konzessionierung der
Hausiergewerbe.
Dagegen enthielt die G.G. v. 17. Januar
1845 nähere Vorschriften über den Markt-
verkehr. Der Besuch der Märkte sowie
der Kauf und Verkauf auf denselben wurden
freigegeben und die Gegenstände sowohl
des Wochen- als des Jahrmarktverkehres
genau bestimmt.
Polizeiliche Taxen waren nach den
Vorschriften der Gewerbeordnung im all-
g^emeinen nicht zulässig. Brottaxen sollten
jedoch mit Genehmigung der Ministerien in
einzelnen Orten gestattet sein, ausserdem
die Bäcker und Gastwirte zum Anschlagen
der Preise durch die Ortsobrigkeit angehalten
414
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
werden können. Obrigkeitliche Taxen wurden
femer bei Schornsteinfegern, Abdeckern und
den sogenannten Strassengewerben für zu-
lässig erklärt; auch die auf älteren Fest-
setzungen beruhenden Taxen für Apotheker
und Medizinalpersonen blieben bestehen.
Die vorhandenen Innungen sollten
nach der Gewerbeordnung fortdauern; sie
konnten sich jedoch selbst auflösen und aus
überwiegenden Gründen des Gemeinwohles
aufgelöst werden. Die Bildung neuer In-
nungen war gestattet
Die Yerhätnisse des gewerblichen
Hilfspersonals (Gewerbe^ehilf en , Ge-
sellen, Fabrikarbeiter, Lehrünge) wurden
durch die Gewerbeordnung eingehend ge-
regelt. Jeder selbständige Gewerbetreibende
hatte das Recht, Gesellen und Gehilfen zu
halten. Auch die ßefu^is, Lehrlinge zu
halten, stand im allgemeinen jedermann zu,
bei dem nicht besondere Ausschliessungs-
gründe (Begehung von Verbrechen, Kriminal-
untersuchung, Konkurs etc.) vorlagen. Bei
einzelnen Gewerben erlangten jedoch die
Gewerbetreibenden die Befugnis, Lehrlinge
zu halten, nur durch den Nachweis der Be-
fähigung, welcher entweder bei Gelegenheit
des Eintrittes in eine Innung oder durch
eine besondere Prüfung erbracht werden
konnte.
Ein Entschädigungsgesetz vom
17. Januar 1845, das gleichzeitig mit der
Gewerbeordnung erlassen wurde, traf Be-
stimmung über die für die aufgehobenen
oder ablösbaren Gewerbeberechtigungen zu
leistenden Entschädigungen.
Die G.G. V. 17. Januar 1845 wiu:de durch
eine sogenannte Notverordnung vom 9. Fe-
bruar 1849, welche später die Genehmigung
der Kammern erlangte (Bekanntmachung
vom 30. Januar 1850), einer ziemlich weit-
gehenden Abändenmg unterworfen. Die-
selbe bestimmte zunächst, dass für jeden
Ort, wo ein Bedürfnis dazu obwaltete, auf
den Antrag der Gewerbetreibenden ein Ge-
werberat gebildet werden soUe, dessen
Mitglieder zu gleichen Teilen aus dem Fa-
brikautenstande , dem Handelsstande und
dem Handw^erkerstande zu entnehmen waren.
Derartige Gewerberäte sind auch in einer
Reihe von preussischeu Städten gebildet
w^orden. haben aber kaum irgendwo eine
erheblicne Bedeutung erlangt. Viel ein-
greifender waren die Bestimmungen der
Verordnung über den handwerksmässi-
gen Betrieb, welche das Princip der
uewerbefreiheit in eingehender Weise diu*ch-
brachen und die Rechtsverhältnisse der
Handwerker Bestimmungen unterwarfen, die
stark an die ehemalige Zunftverfassung er-
innerten. Einer Reilie von Handwerkern
wurtle die selbständige Ausübung des Ge-
werbes nur unter der Bedingung gestattet,
dass sie entweder in eine Innung nacli vor-,
gängigem Nachweise der Befähigung auf-
genommen waren oder diese Befähigung vor
einer Prüfungskommission nachgewiesen
hatten. Die Feststellung der prüfungs-
pflichtigen Handwerke erfolgte in so weitem
Umfange, dass fast sämtliche Handwerker
dem Prüfungszwange unterworfen waren.
Von geringerer Bedeutung waren die
Abänderungen, welche die G.G. vom 17.
Januar 1845 durch die GG. v. 15. Mai 1854
und 22. Juni 1861 erfuhr. Durch letzteres
wurde die Konzessionspflicht für Sdilosser
und Zimmervermieter beseitigt
In den im Jahre 1866 erworbenen
Landesteilen wurde die G.G. vom 17.
Januar 1845 nicht eingeführt. Für einen
Teil derselben wurden aber im Laufe des
Jahres 1867 kürzere Gewerbegesetze erlas-
sen, welche den Zweck verfolgten, die
Grundsätze der Gewerbefreiheit daselbst zur
Geltung zu bringen, insbesondere die Vor-
rechte und Verbietungsrechte der Zünfte zu
beseitigen. Derartige Bestinunungen erfolg-
ten durch VV. v. 29. März 1867 für das
frühere Kurfürstentum Hessen und das
frühere Königreich Hannover, durch V. v.
9. August 1867 für den Amtsbezirk Hom-
burg, dim;h V. v. 23. September 1867 für
die Herzogtümer Schleswig und Holstein.
2. Die deutsche 6.0. vom 21. Jnni
1869. In den übrigen deutschen Staaten
waren die Grundsätze der Gewerbefreiheit
ebenMls im Laufe des gegenwärtigen Jahr-
hunderts zur Geltung gelangt. Nur sehr,
vereinzelt, wie namentlich in den Ländern
des fi-anzösischen Rechtes, bestand die Ge-
werbefreiheit schon seit Anfang des Jahr-
hunderts; die meisten Staaten hatten die-,
selbe erst im Laufe der sechziger Jahre zur
Durchführung gebracht
Die Verfassung des norddeutschen Bun-
des erklärte den Gewerbebetrieb für einen
Gegenstand der Bundesgesetzgebung.
Schon im Jahi*e 1868 wurde seitens des
Bundesrates eine Gesetzesvorlage gemacht,
welche das Gewerberecht auf der Grundlage
der Gewerbefreiheit für den norddeutschen
Bund einheitlich zu regeln bestimmt war.
Die Vorlage beruhte auf der preussischen
G.O. V. 17. Januar 1845. Nach einer zwei-
fachen Richtung machte sich jedoch eine
Umgestaltung des preussischen Gewei'bege-
setzes notwendig, wenn dasselbe auf den
norddeutschen Bund ausgedehnt werden
sollte. Einmal stellte sich das Bedürfnis
heraus, über gewisse Gegenstände, welche
in Preussen nicht durch die G.G., sondern
diu*ch Specialgesetze geregelt waren oder
einer nälieren Regelung zur Zeit noch ent-
behrten, Bestimmungen in die G.O. für den
noitldeutschen Bima aufzunehmen. Dazu
gehörten namentlich der Gewerbebetrieb im
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
415
Umherziehen, das Sehankgewerbe , die ge-
werblichen Hilfskassen, die Beschäftigung
jugendlicher Arbeiter in Fabriken, das Truck-
system. Andererseits erforderte die inzwi-
schen eingetretene Entwickelung der wirt-
schaftlichen Verhältnisse sowie die weiter
fortgeschrittene Gesetzgebung der anderen
deutschen Staaten und der neuen preussi-
schen Provinzen eine Aenderung des bis-
herigen preussischen Rechtes im Sinne der
Gewerbefreiheit. Insbesondere waren die
Handwerkeiprüfimgen unhaltbar geworden;
sie wurden von der Vorlage ohne weiteres
aufgegeben. Die Motive rechtfertigten die-
ses Aufgeben mit folgenden Worten: »Mit
der Aufhebung des Innungszwanges ist zu-
gleich die Prüfungspflicht der Handwerker
beseitigt Darüber, dass die Handwerker-
prüfimgen nicht diejenigen Garantieen ge-
währen, welche sie zu gewähren beabsich-
tigen, dass sie dagegen dadurch nachteilig
werden, dass sie den Handwerker zm* Auf-
wendung von Zeit und Kosten zu einer Zeit
zwingen, wo er alle seine Kapital- und Ar-
beitskraft auf die Gründung seiner Existenz
verwenden muss, und dass sie die Notwen-
digkeit des Versuches einer theoretisch un-
durchführbaren, praktisch die Entfaltung der
Gewerbthätigkeit hemmenden Abgrenzung
der Arbeitsgebiete herbeiführen, dürfte es
kaum nCtig sein, den Streit aufzunehmen,
da die Bundesgesetzgebung mit der Ein-
führung der Freizügigkeit, die, wenn sie
wirksam sein soU, mit der Prüfungspflicht
als lokaler Vorbedingung der gewerblichen
Niederlassung unvereinbar ist, die Frage
bereits entschieden hat«. (Sten. Ber. des
Reichstages, Bd. IL S. 125.)
Obgleich der Entwurf wesentliche Fort-
schritte in gewerbefreiheitlicher Richtung
enthielt, so genügte er in dieser Hinsicht
doch nicht den Ansprüchen des Reichstages.
In der zur Beratung desselben eingesetzten
Kommission zeigten sich vielfache Meinungs-
verschiedenheiten zwischen den Regierungs-
vertretern und den Mitgliedern des Reichs-
tages, namentlich hinsichtlich der konzes-
sionspflichtigen Gewerbe. Während die Re-
gierungsvorlage bestrebt war, die landesge-
setzlich festgesetzte Konzessionspflicht ge-
wisser Gewerbe aufrecht zu erhalten, ging
die Majorität der Reichstagskommission dar-
auf hinaus, die Konzessionen möglichst ein-
zuschränken. Da sich herausstellte, dass
eine vollständige Durchberatimg des Gesetz-
entwurfes in der laufenden Session des
Reichstages nicht zu ermöglichen war, so
brachten die Abgeordneten Lasker und
Miquel einen kurzen Gesetzentwurf ein, der
sich darauf beschränkte, die Grundsätze der
Gewerbefreiheit und der gewerblichen Frei-
zügigkeit im ganzen Bundesgebiete zur
Durchführung zu bringen. Dieser Entwurf
fand die Zustimmung des Reichstages und
später auch die Genehmigung des Bundes-
rates. Die Ausfertigung des Gesetzes er-
folgte am 8. Juli 1868; dasselbe führt den
Titel: »Gesetz, betr. den Betrieb der stehen-
den Gewerbe«, wird aber gewöhnlich als
Notgewerbegesetz bezeichnet. Das
Gesetz beseitigte die Ausschliessungsrechte
der Zünfte und kaufmännischen Korpora-
tionen, erklärte einen Befähigungsnachweis
nur noch bei Aerzten, Apothekern, Hebam-
men, Advokaten, Notaren, Seeschiffern, See-
steuerleuten und Lotsen für zulässig, hob
die Unterscheidung zwischen Stadt und
Land in Bezug auf den Gewerbebetrieb auf,
gestattete den Gewerbetreibenden, GeseDen,
Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter jeder Art
imd in unbeschränkter Zahl zu halten, und
bestimmte, dass polizeiliche Konzessionen
künftighin nur im Wege der Bundesgesetz-
gebung eingeführt werden könnten.
In der Session 1869 wurde dem Reichs-
tage eine neue Vorlage gemacht, welche
den in der Reichstagskommission 1868 aus-
gesprochenen Wünschen bis zu einem ge-
wissen Grade entgegen kam. Die wesent--
lichßten Bestimmungen des früheren Gesetz-
entwurfes wurden jedoch aufrecht erhalten,
insbesondere die über die konzessionspflich-
tigen Gewerbe. Nur in Bezug auf die so-
genannten Pressgewerbe machte die
Regierungsvorlage ein wesentliches Zuge-
ständnis. In dem Gesetzentwurf des Jahres
1868 waren die Verhältnisse der Pressge-
werbe der landesgesetzlichen Regelung vor-
behalten, damit also die Fortdauer der lan-
desrechtiich vielfach bestehenden Konzes-
sionspflicht ausgesprochen. Der Entwurf
des Jahres 1869 stellte dagegen den Betrieb
der Pressgewerbe unter die allgemeinen
Vorschriften derG.O. und sprach damit die
vollständige Beseitigung der Konzessions-
pflicht aus. Eine Reihe von anderen Ge-
werben sollte dagegen nur auf Grund ent-
weder einer Approbation oder einer polizei--
liehen Konzessionierung betrieben werden
dürfen.
Approbationen, d. h. Zulassungen
zum Gewerbebetriebe auf Grund eines durch
Prüfungen zu erbringenden Befähigungs-
nachweises wurden ftir die Medizinal-
gewerbe, nämlich Aerzte, Apotheker,
Hebammen sowie für Seeschiffer und
Seesteuerleute in Aussicht genommen.
Bei der Feststellung des 1868 er Gesetzent-
wurfes im Bimdesrate war die Frage in
Erwägimg gezogen worden, ob die Prüfungs-
pflicht auf die Baugewerbe, welche ja
auch nach der preussischen G.O. v. 17.
Januar 1845 einer solchen unterworfen waren,
ausgedehnt werden sollte. Für eine der-
artige Ausdehnung sprach der Gesichts-
pud[t, dass die Gewerbe zu denjenigen ge-
416
Grewerbegesetzgebung (Deutschland)
hörten, durch deren »ungeschickten Betrieb
daß Gemeinwohl gefährdet werden könnte«.
Trotzdem gelangte man zu einem entgegen-
fjsetzten Eesultat Die Motive der 1868 er
orlage sprechen sich darüber folgender-
massen aus: »Andere Gesichtspunkte bieten
sich in betreff der Bauhandwerker dar.
Während die Seeschiffer und Medizinalper-
sonen in allen Bimdesstaaten prüfungspflich-
tig sind, ist der Betrieb der Bauhandwerke
in Oldenburg, Bremen, Hamburg und dem
vormaligen Herzogtum Nassau ein freies
Gewerbe. Während es zulässig ist, die
Prüfungen der Seeschiffer und Medizinal-
personen auf wenige Orte zu beschränken
und dadurch die Kontrolle über die Gleich-
mässigkeit des Verfahrens zu sichern, wür-
den für die Bauhandwerker sehr zahlreiche
Prüfungebehörden eingerichtet werden müs-
sen, für deren Kontrolle es an Organen
fehlen würde. Wenn hiernach die Alter-
native sich aufdrängte, entweder auf die
Freizügigkeit für diese grossen Gewerbe
oder auf die Prüfung für den Betrieb der-
selben zu verzichten, so entschied sich der
Entwurf für die Wahl des letzteren Weges
aus den sachlichen Bedenken, welche gegen
eine Einrichtung sprechen, die tägüch um-
gangen wird, die eine Garantie verheisst,
ohne dieselbe zu gewähren, und die durch
Trennung der Verantwortlichkeit für den
Bau von der thatsächlichen Leitung des
Baues das Gefühl der Verantwortlichkeit
bei den Personen abstumpft, von deren
Gewissenhaftigkeit die Sohdität des Baues
abhängt Es konnte endlich nicht unbe-
achtet bleiben, dass das freie Gewerbe der
Civüingenieure die verantwortungsvollsten
Bauten ausführt, ohne an eine Prüfungs-
pflicht gebunden zu sein.« (Sten. Ber. a. a.
0. S. 125.) Aus diesen Gründen hatte man
schon im Jahre 1868 von einer Prüfungs-
pflicht für die Bauhandwerker abgesehen,
und das sogenannte Notgewerbegesetz hatte
den Prüfungszwang, soweit er noch bestand,
beseitigt Es war selbstverständlich, dass
man im Jahre 1869 auf die Frage nicht
wieder zurückkam.
Im Gegensatz zu den Approbationen
sollte bei der polizeilichen Konzes-
sionierung gewisser Gewerbe namentlich
die Zuverlässigkeit der Gewerbetreibenden
in sittlicher Beziehung den Gegenstand der
Prüfim^ bilden. Bundesgesetzlich
sollte die Konzessionspflicht für Unternehmer
von Privatkranken-, Privatentbindungs- und
Privatirrenanstalten, für Schauspielunterneh-
mer, für solche Pei-sonen, welche Gastwirt-
schaft, Schankwirtschaft oder Kleinhandel
mit Branntwein oder Spiritus treiben und
für den Gewerbebetrieb im Umherziehen
ausgesprochen weixlen. Der Landesge-
setzgebung wTU'de aber vorbelialten, den
Betrieb zahlreicher anderer Gewerbe eben-
falls von einer Konzessionierung abhängig
zu machen. Diese Gewerbe waren : die Er-
teilung von Tanz-, Turn-, Fecht- oder
Schwimmunterricht; der Gifthandel: die
Gewerbe der Kammerjäger, Pfandleiher,
Gesindevermieter: der Betrieb von Bade-
anstalten ; der Handel mit gebrauchten Klei-
dern, gebrauchten Betten oder gebrauchter
Wäsche, mit altem Metallgerät und Metall-
bruch (sogenannter Trödelhandel) ; der Han-
del mit Garnabfällen, Enden oder Dräumen
von Seide, Wolle, Baumwolle oder Leinen;
die sogenannten Strassengewerbe , d. h. der
Gewerbebetrieb solcher Personen, welche
auf öffentlichen Strassen oder Plätzen ihre
Dienste anbieten oder Wagen, Pferde, Sänf-
ten, Gondeln oder andere Transportmittel zu
jedermanns Gebrauch bereit halten. Ausser-
dem sollte die Landesgesetzgebung vor-
schreiben dürfen, dass das Gewerbe der
Feldmesser, Markscheider^ Auktionatoren,
Lotsen, Dispacheurs, derjenigen, welche den
Feingehalt edler Metalle oder die Beschaf-
fenheit, Menge oder richtige Verpackung
von Waren irgend einer Art feststellen, der
Güterbestätiger, Schaffer, Wäger, Messer,
Bracker, Schauer, Stauer niur von denjenigen
Personen betrieben werden dürfe, welche
von den verfassungsmässig dazu befugten
Staats- oder Kommunalbehörden bestellt
oder konzessioniert seien. Dagegen sollte
die Konzessionspflicht für einzelne andere
Gewerbebetriebe, welche derselben nach
Landesrecht unterlagen, beseitigt werden, so
z. B. füi* die sogenannten Rechtskonsulenten
in Preussen, für Agenten und Kommissio-
näre in Sachsen, für Darlehnsvermittler in
anderen Staaten.
Bei den Beratungen des Jahres 1869 trat
im Reichstag ein zweifaches Bestreben her-
vor. Einerseits suchte man an die SteUe
der vom Entwurf beabsichtigten landes-
rechtlichen Regelung möglichst eine
bundesrechtliche zu setzen; anderer-
seits wünschte man die Konzessions-
pflicht einzuschränken und, soweit
eine solche zugelassen wurde, die Entschei-
dung der zuständigen Behörde an genau
präcisierte objektive Voraussetzun-
gen zu binden. Für die Fechtlehrer, Un-
ternehmer von Badeanstalten, Kammerjäger
imd Dispacheure wurde die Konzessions-
pflicht überhaupt beseitigt. Für Tanz-,
Turn- und Schwimmlehrer, Trödler, Händ-
ler mit Garnabfällen und dergleichen, Pfand-
lei her und Gesinde Vermieter trat an Stelle
der landesgesetzlichen Konzessionspflicht
die Befugnis der Behörden, den Gewerbe-
betrieb zu untei-sagen, wenn die betreffen-
den Personen wegen gewisser Verbrechen
oder Vergehen bestraft werden. Die Befug-
nis der Bundesgesetzgebung, den Betrieb
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
417
gewisser Gewerbe von einer Konzessionie-
rung abhängig zu machen, wurde nur beim
Gifthandel, bei Markscheidern und Lotsen
zugelassen , für letztere aber ausserdem
bundesgesetzlich eine Approbation vorge-
schrieben. Die Gewerbe der Feldmesser,
Auktionatoren und der Personen, welche
den Feingehalt edler Metalle oder die Be-
schaffenheit, Menge oder die richtige Ver-
packung von Waren feststeUen, sollten frei
betrieben werden dürfen; die Befugnis ge-
wisser Behörden und Korporationen, für
diese Gewerbe bestimmte Personen anzu-
stellen, dauerte aber fort. Die Strassenge-
werbe wurden der ortspolizeilichen Rege-
lung unterworfen. Der Kreis derjenigen
Gewerbe, für welche eine bundesgesetzliche
Konzessionspflicht in Aussicht genommen
war, blieb unberührt. Während aber die
Regierungsvorlage die Verweigerung der
Konzession dann zuliess, wenn dem Nach-
suchenden die Zuverlässigkeit in Bezug auf
den beabsichtigten Gewerbebetrieb fehlte,
also dem Ermessen der Behörde einen
weiten Spielraum einräumte, suchte der
Reichstag dieses Ermessen durch genaue
Fixierung der Voraussetzungen einzuschrän-
ken. Auch die Aufwerfung der Bedürfnis-
ira^ bei der Konzessionierung des Brannt-
weinhandels sowie der Gast- und Schank-
wirtschaften wurde nur in sehr viel ge-
ringerem Umfange gestattet, als die Regie-
rungsvorlage in Aussicht genommen hatte.
Obwohl die Abänderungen des Reichs-
tages in den Kreisen des Bundesrates
maanigfache Bedenken erregten, nahm doch
letzterer die Vorlage in der Fassung der
Reichstagsbeschlüsse an, weil er auf die
Durchfülirung der gewerblichen Freizügig-
keit und die Herstellung einheitlicher ge-
werberechtlicher Grundsätze ein so ent-
scheidendes Gewicht legte, dass er dem
gegenüber anderweite Bedenken zurück-
treten liess.
So entstand die Gewerbeordnung für den
norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869. Die-
selbe wurde durch Art. 80 der Verfassung vom
15. November 1870 in Südhessen, durch
Reichsgesetz vom 10. November 1871 in Würt-
temberg und Baden, durch Reichsgesetz
vom 12. Juni 1872 in Bayern eingeführt. In
Elsass-Lothringen erfolgte zunächst keine
Einführung der Gewerbeordnung. Nur der
auf den Gewerbebetrieb der Aerzte und
Apotheker bezügliche § 29 erlangte durch
G. V. 15. Juli 1872 verbindliche Geltung.
Ausserdem wurden die Vorschriften der
Gewerbeordnung über den Gewerbebetrieb
im Umherziehen, über die Aufsuchung von
Warenbestellungen, über den Kleinhandel
mit Branntwein und Spiritus, über die ge-
werbsmässig Besor^ng fremder Rechts-
angelegenheiten dort m Kraft gesetzt, jedoch
Handwörterbach der Staatowissenschaften. Zweite
nicht durch Einführung der betreffenden
Paragraphen der Gewerbeordnung, sondern
durch besondere, aber mit der Gewerbe-
ordnung inhaltlich und ^ssenteils auch
dem Wortlaut nach überemstimmende Ge-
setze. &st durch Reichsgesetz vom 27. Fe-
bruar 1888 wurde die gesamte Gewerbe-
ordnung in Elsass-Lothringen eingeführt.
3. Abändenuigeii der 6.0. Die Reichs-
gewerbeordnung hat während der Zeit ihres
Bestehens eine grosse Reihe von Abände-
rungen erfahren, durch welche die Gewerbe-
freiheit in verschiedenen Beziehungen ein-
geschränkt worden ist. Die Bestrebungen
auf Abänderung der Gewerbeordnung waren
ursprünglich niu* eine naturgemässe Reaktion,
welche sich gegen die zu weitgehenden
Beschlüsse des Reichstages geltend machte.
Die ersten Abänderungsgesetze näherten die
Bestimmungen der Gewerbeordnung wieder
demjenigen Standpunkte, welchen die Vor-
lagen der verbündeten Regierungen aus den
Jahren 1868 und 1869 einnahmen. Die
durch die Novellen zur Gewerbeordnung
eingeführten Beschränkungen des Gewerbe-
betriebes blieben sogar noch hinter den-
jenigen zuinick, weldie damals in Aussicht
genommen waren. Im Laufe der Zeit hat
man sich aber immer mehr von dem ur-
sprünglichen Standpunkte der Gewerbe-
ordnung entfernt, und die neuesten Gesetze
sind bis hart an die Grenze desjenigen ge-
gangen, was mit dem Gnmdsatz der Qe-
werbefreiheit überhaupt noch vereinbar er-
scheint
In den ersten Jahren nach Erlass
der Gewerbeordnung sind an derselben nur
geringfügige Modifikationen vorgenommen
worden. Die Abänderungsgesetze aus dieser
Zeit verfolgen lediglich den Zweck, die Vor-
schriften der Gewerbeordnung mit Rücksicht
auf veränderte thatsächliche Verhältnisse
oder auf neu erlassene Gesetze zu ergänzen
und fortzubilden.
Das G. V. 12, Juni 1872, welches die
Einfühnmg der Gewerbeordnung in Bayern
anordnete, nahm zugleich einige Modifikatio-
nen in den Strafbestimmungen vor, um die-
selben mit dem inzwischen erlassenen Straf-
gesetzbuch für das Deutsche Reich in Ein-
klang zu bringen.
Die Gewerbeordnung enthält ein Ver-
zeichnis gewerblicher Anlagen, welche
einer Genehmigung bedürfen. Mit der
Fortentwickelung der Industrie stellte sich
das Bedürfnis heraus, diesen genehmigim^-
pflichtigen Anlagen neue hinzuzufügen. Dies
ist dm*ch ein G. v. 2. März 1874 sowie
durch zahlreiche Verordnungen geschehen,
welche vom Bundesrat auf Grund einer
in § 16 der Gewerbeordnung enthaltenen Er-
mächtigung erlassen sind und später die
zu ihrer fortdauernden Gültigkeit erforder-
AuHage IV. 27
418
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
liehe Zustimmung des Reichstages gefunden
haben.
Das gewerbliche Hilfskassen-
wesen war diu-ch die Gewerbeordnung
nicht näher geordnet worden. Man hatte
in dieser Beziehung zunächst die Landes-
gesetze fortbestehen lassen und die bundes-,
bezw. reichsrechtliche Regelung des Gegen-
standes der späteren Gesetzgebung vorbe-
halten. Diese Regelung erfolgte durch das
G. V. 8. April 1876, dem ein Gesetz über
die eingeschriebenen Hilfskassen vom 7. April
pgffallel ging.
Am 11. Juni 1878 wurde ein Gesetz er-
lassen, welches die über den Gewerbebetrieb
der Seeschiffer und Seesteuerleute bestehen-
den Vorschriften auf die Maschinisten
der Seedampfschiffe ausdehnte.
Während diese Gesetze durchaus auf der
bestehenden Grundlage fortbauten, trat na-
mentiich in der Zeit von 1878 bis 1883
eine erhebliche Umgestaltung der Gewerbe-
ordnung ein, welche einerseits zu wesent-
lichen Einschränkungen der Gewerbefreiheit
führte, andererseits die korporative Organi-
sation des Gewerbestandes, insbesondere der
Handwerker, zu befördern und neu zu be-
leben bestrebt war. Die Bewegung wurde
eingeleitet durch zalilreiche Petitionen,
welche schon seit Mitte der 70 er Jahre im
Reichstag erschienen und Abänderungen der
Gewerbeordnung sowohl in Bezug auf die
Yerhältnisse des gewerblichen Hilfspersonals,
namentlich 'das Lehrlingsverhältnis, als in
Bezug auf die Hausiergewerbe, insbesondere
den Betrieb der Wanderlager, fonlerten.
Dann fanden die Bestrebungen auf Ab-
änderung der Gewerbeordnung ihren Aus-
druck auch in einer Reihe von Anträgen,
welche aus dem Schosse des Reichs-
tages hervorgingen. Derartige Anträge
wmden in der Reichstagssession von 1877
von den Abgeordneten von Seydewitz und
Genossen (Drucksachen Nr. 23, Sten. Ber.
Bd. III, S. 175), Graf Galen und Genossen
(Drucksachen Nr. 74, Sten. Ber. a. a. 0.
S. 274), Rickert, Dr. Wehrenpfennig und
Genossen (Drucksachen Nr. 77, Sten. Ber.
a, a. 0. S. 276), Bebel Fritzsche und Ge-
nossen (Drucksachen Nr. 92, Sten. Ber.
a. a. 0. S. 316) und Dr. Hirsch und Ge-
nossen (Dnicksachen Nr. 107, Sten. Ber.
a. a. 0. S. 354) eingebracht. Sie bezogen
sich sämtlich auf das Lehrlingsverhältnis,
betrafen im ilbrigen aber sehr verschiedene
Gegenstände und verfolgten auch sehr ver-
schiedene Ziele. Sie wurden einer ersten
Beratung im Plenum unterzogen und an
eine Kommission verwiesen, dei-en Verhand-
lungen beim Sclüuss der Session noch nicht
zum Abschluss gelangt waren.
Im Jahre 1878 wurde den Anregungen
insofern Folge gegeben, als der Bundesrat
einen Gesetzentwurf vorlegte, welcher na-
mentlich die Yerhältnisse des gewerb-
lichenHilfspersonals zum Gegenstande
hatte, üeber diesen Gesetzentwurf kam
eine Vereinbanmg mit dem Reichstage zu
Stande, und derselbe gelangte am 17. Juli
zur Publikation. Das G. v. 17. JuH 1878
bezweckte eine festere Gestaltung des Ar-
beitsvertrages, insbesondere des Lehrlings-
verhältnisses , eine Verbesserung der Be-
stimmungen über jugendliche Arbeiter und
Einsetzung von Fabrikinspektoren zur Be-
aufsichtigung der Fabriken, lieber einen
gleichzeitig vorgelegten Gesetzentwiirf, wel-
cher sich auf Gewerbegerichte bezog
(Drucksachen Nr. 41, Sten. Ber. Bd. HI,
S. 513 f^.), wurde eine Verständigung unter
den beiden gesetzgebenden Organen nicht
erreicht, so dass der Erlass des Gesetzes
unterbleiben musste. Ein dritter Gesetz-
entwurf (Drucksachen Nr. 182, Sten. Ber.
Bd. IV, S. 1259 fg.), welcher den Betrieb
von Privatkranken-, Privatentbin-
dungs- und Privatirrenanstalten
sowie den Betrieb der Gast- und Schank-
wirtschaft und den Kleinhandel mit
Branntwein und Spiritus zum Gegen-
stande hatte, kam wegen Schluss der Session
nicht mehr zur Erledigung. Dasselbe Schick-
sal hatte ein von den Abgeordneten
von Seydewitz und Genossen bean-
tragter Gesetzentwurf (Drucksachen Nr. 107,
Sten. Ber. Bd. ffl, S. 852 fg.), welcher Be-
stimmungen über Schauspieluntemehmer,
Schankgewerbe , Auktionatoren , Gewerbe-
betrieb im Umherziehen und Innungen ent-
hielt.
In der Reichstagssession von 1879 wurde
der Gesetzentwurf über Privatkrankenanstal-
ten und das Schankgewerbe von neuem ein-
gebracht und demselben noch Bestimmungen
über das Pfandleihgewerbe hinzugefügt
(Drucksachen Nr. 156, Sten. Ber. Bd. Iv,
S. 1324 fg.). Auf Grund desselben kam das
R.G. V. 23. Juli 1879 zu stände. Dasselbe
enthielt für Unternehmer von Privat-
kranken-, Privatentbindungs- und
Privatirrenanstalten und für das
Schankgewerbe verschärfende Bestimmungen
und unterwarf das Pfandleihgewerbe,
für welches bisher nur ein polizeiliches Verbie-
tungsrecht bestand, der Konzessionspflicht,
Die Konzession sollte verweigert werden dür-
fen, wenn Thatsachen vorlägen, welche die
Un Zuverlässigkeit des Nachsuchenden in Be-
zug auf den beabsichtigten Gewerbebetrieb
darthäten. In derselben Session waren auch
die Anträge der Abgeordneten v. Sey-
dewitz und Gen. wieder eingebracht
worden, allerdings nicht in der Gestalt eines
formulierton Gesetzentwurfes, sondern in
der Gestalt von Resolutionen (Drucksachen
Nr. 21, Sten. Ber. Bd. IV, S. 349fg.). Ueber
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
419
diese Anträge hatte eine Yerhandlung im
Plenum imd in einer Kommission stattge-
funden, welche zwei mündliche Berichte zu
erstatten beabsichtigte (Dnicksachen Nr. 234,
235, Sten. Ber. Bd. IV, S. 1529). Wegen
Schluss des Reichstages sind aber ihre Be-
richte nicht mehr zur Verhandlung im
Plenum gelangt.
Eine erneute Einbringung der Anträge
des Abgeordneten v.Seydewitz und
Genossen fand in der Reichstagssession
1880 statt (Drucksachen Nr. 42, Sten. Ber.
Bd. m, S. 317 ff.). Dieselben wurden dieses
Mal einer gründlichen Durchberatuug unter-
worfen. Nach einer ersten Beratung im
Plenum erfolgte die Verweisung an eine
Kommission, welche darüber drei Berichte
erstattete (Drucksachen Nr. 97, 125, 130,
Sten. Ber. Bd. IV, S. 718, 775, 780). In
Bezug auf die Schauspielunternehmer
legte die Kommission ein formuliertes Ge-
setz vor, welches die Genehmigung des
Reichstages und des Bundesrates fand und
am 15. Juli 1880 publiziert worden ist. Die
übrigen Anträge, namentlich die auf Ge-
werbebetrieb im Umherziehen und
Innungen bezüglichen wurden in den
Reichstagssitzungen vom 26. April und 5.
Mai einer eingehenden Beratung unterzogen
und nach Massgabe der Kommissionsanträge
angenommen (Sten. Ber. Bd. 11, S. 939 §.,
1177 ff.). Die damaligen Reichstagsbeschlüsse
sind auf die Fortbildung der Gewerbegesetz-
gebtmg, namentlich auf das G. v. 18. Juli
1881 und vom 1. Juli 1883 von wesentlichem
Einflüsse gewesen.
Das G. V. 18. Juli 1881 bezieht sich auf
die Innungen und verfolgt den Zweck,
die damals wieder einigermassen in Fluss
gekommene Innungsbewegung zu fördern
und zu unterstützen. Es geht darauf hin-
aus, die Aufgaben der Innungen genauer zu
fixieren, ihre Organisation eingehender zu
regeln und sie mit Rechten verschiedener
All auszustatten. Das Gesetz gewährt so-
gar die Möglichkeit, die Thätigkeit der In-
nungen im Lehrlingswesen und bei Lehr-
lingsstreitigkeiten diu-ch eine Verfügung der
höheren Verwaltungsbehörde auch auf Nicht-
mitglieder zu erstrecken. Eine Bestimmung,
wonach die höhere Verwaltungsbehörde
auch befugt sein sollte, den Innungsmeistern
das ausschliessliche Halten von Lehrlingen
zu gestatten, wurde damals vom Reichstage
abgelehnt.
Ein tief eingreifendes Gesetz war die
Nov. V- 1. Juli 1883. Dieselbe bezog sich
auf einen grossen Teil der stehenden
Gewerbe und auf den Gewerbebetrieb
im Umherziehen. Bei den stehenden
Gewerben wurde die Konzessionspflicht aus-
gedehnt auf die Veranstaltung von Sing-
spielen, Gesangs- und deklamatorischen Vor-
trägen, Schaustellungen von Personen oder
theatralischen Vorstellungen, mit denen ein
höheres Interesse der Wissenschaft oder
Kunst nicht verbunden ist, in geschlossenen
Räumen; sowie auf die Veranstaltung von
Musikauffühnmgen , Schaustellungen, thea-
tralischen Voratellungen und sonstigen Lust-
barkeiten, bei denen ein höheres Interesse
der Wissenschaft oder Kmist nicht obwaltet,
von Haus zu Haus oder auf öffentlichen
Wegen, Strassen, Plätzen. Der Landes^e-
setzgebung wird freigestellt, den Betrieb
des Hufbeschlagsgewerbes von dem Beste-
hen einer Prüfung abhängig zu machen.
Die Verbietungsrechte der Polizeibehörden
sollen künftighin auch auf Unternehmer von
Badeanstalten, Rechtskonsulenten, Vermitte-
lungsagenten für Immobiliarverträge , Dar-
lehen und Heiraten, Auktionatoren, Stellen-
vermittler und Gesindevermieter Anwendung
finden. Der Erlass eines Verbotes wird so-
wohl bei diesen Gewerbetreibenden als bei
denjenigen, welche schon früher dem Ver-
bietungsrechte unterlagen, nicht mehr von
einer strafrechtiichen Verurteilung abhängig
gemacht, sondern kann schon erfolgen, wenn
Thatsachen vorliegen, welche die ünzuver-
lässigkeit des Gewerbetreibenden in Bezug
auf den Gewerbebetrieb darthun. Die Ver-
steigerung von Immobilien ist den ange-
stellten Auktionatoren vorbehalten. Der
Gewerbebetrieb im Umherziehen wird einer
verstärkten polizeilichen Aufsicht unterwor-
fen und dem Geschäftsbetriebe der Hand-
lungsreisenden engere Grenzen gezogen.
Man glaubte, dass mit dem G. v. I.Juli
1883 die Revision der Gewerbegesetzge-
bung im wesentlichen zum AbscMuss ge-
bracht sei. Dem Reichskanzler wurde des-
halb die Befugnis erteilt, eine neue Re-
daktion der G.O. zu publizieren, welche
aUe bisherigen Abänderungen in sich auf-
nehmen sollte. Diese Publikation erfolgte
am 1. Juli 1883. Trotzdem erfuhr die
G.O. sehr bald wieder verschiedene Abände-
rungen.
Ein aus der Initiative des Reichstages
hervorgegangenes G. v. 8. Dezember 1884
traf die schon in der Regierungsvorlage vom
Jahre 1881 in Aussicht genommene Bestim-
mung, dass durch Verfügung der höheren
Verwaltungsbehörde den Mitgliedern einer
Innung die ausschliessliche Befugnis zum
Halten von Lehrlingen in dem betreffenden
Gewerbe beigelegt werden könne.
Durch ein G. v. 26. April 1886 wurde
bestimmt, dass Innungsverbänden durch Be-
sclüuss des Bundesrates Korporationsrechte
beigelegt werden könnten.
Ein G. V. 6. Juli 1887 legte den Innun-
gen das Recht bei, kraft einer Verfügung
der höheren Verwaltungsbehörde auch Nicht-
mitglieder zu den Ausgaben für Herbergs-
27*
420
Gewerbegesetzgebung (Deutsclüand)
Avesen, für Fachschulen und für Schiedsge-
richte heranzuziehen.
In viel stärkerer Weise als die bisheri-
gen Gesetze griff die Gesetzgebung der
neunziger Jalire in das deutsche Gewerbe-
.recht ein. Zunächst unterzog ein G. v. 1.
Juni 1891 die Bestimmungen über die ge-
werblichen Arbeiter, namentlich im Inter-
esse der Gewährung eines wirksameren
Arbeiterschutzes, einer weitgehenden Umge-
staltung. Dasselbe bedarf aber hier keiner
ausführlicheren Erörterung, da es dieselbe
an einer anderen Stelle dieses Werkes (S.
oben Bd. I, S. 471 ff.) gefunden hat.
Diesem Gesetze folgte ein weiteres vom
6. August 1896, welches eine Reihe der
verschiedensten Bestimmungen enthält, die
sich sowohl auf den stehenden Gewerbe-
betrieb als auf den Gewerbebetrieb im Um-
herziehen beziehen. Eine weitere Ein-
schränkung des Hausierliandels wru-de in
den Kreisen der sesshaften Gewerbetreiben-
den seit langer Zeit lebhaft erstrebt. Aller-
dings hatte schon die G.O.-Novelle v. 1.
Juli 1883 weitgehende polizeiliche Beschrän-
kungen des Gewerbebetriebes im Umher-
ziehen eingeführt; aber ihre Bestimmungen
genügten denjenigen Teilen des Gewerbe-
standes nicht, welche in dem Hausierhandel
ihren hauptsächlichsten Feind erblickten.
Von diesen Strömungen getragen brachte in
der Reichstagssession 1892 der Abgeordnete
Hitze die Angelegenheit in der Form einer
Interpellation zur Sprache ; ausserdem stellten
die Abgeordneten Ackermann und Kropat-
schek einerseits, die Abgeordneten Gröber
und Genossen anderei'seits Anträge, welche
eine wesentliche Einschränkung des Hausier-
handels bezweckten (Drucksachen Nr. 73,
Sten. Ber. Anlagen Bd. I S. 431 ff.). Diese
Anträge wimlen zwar wiederholt in Kom-
missionen beraten, eine endgiltige Erledigung
derselben im Plenum fand aber nicht statt.
In der Reichstagssession 1894/95 erfolgte
die Einbringimg eines Regienmgsentwurfes
über Abänderung der Gewerbeordnung;
dieser gelangte zwar damals noch nicht zur
Verabschiedung, auf Grund desselben kam
aber in der folgenden Session eine Yer-
ständigimg zu stände, deren Ergebnis das
vorher erwähnte G. v. 6. August 1896 war.
Dasselbe bezieht sich sowohl auf den
Hausierhandel als auf den stehenden Ge-
werbebetrieb und hat ziemlich tief in die
Gewerbeordnung eingegriffen. Die Bestim-
mungen über Heilanstalten und Schauspiel-
untemehmungen sind dadurch wesentlich
verschärft, die Vorschriften über Gast- und
Schankwirtschaften imd über Sonntagsrulie
auf den Betrieb der Konsumvereine aus-
gedehnt, die Verbietungsrechte der Polizei-
behörden auf den Handel mit Dynamit und
Sprengstoffen, mit Losen von Lotterieen
und Ausspielungen, mit Droguen und chemi-
schen Präparaten zu Heilzwecken sowie auf
den Kleinhandel mit Bier eretreckt worden.
Namentlich aber hat eine ganz neue Ab-
grenzung des stehenden Gewerbebetriebes
vom Gewerbebetrieb im Umherziehen statt-
gefunden, indem auch das Aufsuchen von
Warenbestellungen bei Privaten unter die
Gnmdsätze über den letzteren gestellt ist.
Von sehr grosser Bedeutimg endlich ist
das G. V. 26. Juli 1897 über die Hand-
werkerorganisation. Dieses hat eine
lange Vorgeschichte.
Während die Gewerbeoi-dnung den Be-
trieb der Gewerbe grundsätzlich jedermann
gestattete und nur ausnahmsweise von einer
polizeilichen Genehmigung abhängig machte,
traten seit den 80 er Jahren im Reichstage
Bestrebungen hervor, welche die Ausübung
des Handwerks von der Erbringung eines
Befähigungsnachweises abhängig machen
wollten. Diese standen unter nachweisbarem
Einfluss der neueren österreichischen Ote-
Werbegesetze. In Oesterreich war durch
ein G. v. 20. Dezember 1859 Gewerbefrei-
heit eingeführt worden. Eine Novelle v.
15. März 1883 hatte aber die »handwerks-
mässigen« Gewerbe von der Erbringung
eines Befähigungsnachweises abhängig ge-
macht. Die Bezeichnung der als Iiand-
werksmässig zu behandelnden Gewerbe war
Verordnungen des Ministeriums des Innern
und des Handelsministeriums überlassen.
Der Befähigungsnachweis musste durch ein
LehrlingszeugnLs und ein Arbeitszeugnis
über eine mehrjährige Verwendim^ als Ge-
hilfe in demselben Gewerbe oder m einem
dem Gewerbe analogen Fabrikbetriebe er-
bracht wei-den. An Stelle dieser Nachweise
konnte auch ein Zeugnis über den mit Er-
folg zurückgelegten Besuch einer gewerb-
lichen Unterrichtsanstalt treten. Neben den
österreichischen Einrichtungen übte auch die
Erinnerung an die in Pi-eusseu von 1849
bis 1868 bestehenden Handwerkerprüfungen
eine Einwirkung aus. Endlich machte sich
eine Strömung im Handwerkerstande selbst
geltend, welche die Anscliauimg vertrat,
dass das Handwerk infolge der Gewerbe-
freiheit und der dadurch bedingten Kon-
kurrenz in eine Notlage geraten sei und
dass ihm nur duix;h eine Rückkehr zu den
alten Zunfteinrichtungen geholfen werden
könne.
Die ei*sten Anträge auf Einführung eines
Befähigungsnachweises wurden schon in der
Reichstagssession von 1884/85 seitens der
Abgeordneten Ackermann, Biehl und
Genossen eingebracht (Dnicksachen Nr. 1 19
Sten. Ber. Bd. V S. 457 ff.). Nach dem In-
halt derselben sollte für das Handwerk ein
Befähigungsnachweis eingeführt werden.
Der Bundesrat hatte im Verordnungswege
Grewerbegesetzgebung (Deutschland)
421
die haadwerksmässigen Betriebe zu be-
stimmen, deren Ausübung künftighin von
der Erbringung eines solchen abhängig
sein sollte. Der Nachweis war, sofern nicht
von den Centralbehörden für das Gewerbe
besondere Prüfungsbehörden eingesetzt wer-
den, durch das Lehrlingszeugnis und ein
Arbeitszeugnis über eine mehrjährige Ver-
wendung als Geselle und Gehilfe oder durch
das Zeugnis einer gewerblichen ünterrichts-
anstalt zu erbringen. Alle weiteren Be-
stimmungen blieben dem Verordnungswege
vca-behaJten. Die Anträge gelangten zur
ersten Beratung im Plenum und wimien
einer Kommission überwiesen, kamen aber
in der betreffenden Session nicht mehr zur
Erledigung. In der nächsten Session (1885/86)
erfolgte eine erneute Einbringung, aber in
einer veränderten Gestalt (Drucksachen Nr. 31,
Sten. Ber. Bd. IV S. 97 ff.). Den Antrag-
stellern war bei der frühei-en Verhandlung
mit Recht entgegengehalten, dass sie die
Schwierigkeiten in bequemer Weise zu lösen
suchten, indem sie die Festsetzung aller
zweifelhaften Punkte, namentlich (üe Be-
stimmung der einzelnen Handwerke dem
Bundesrate überliessen. Um diesen Vor-
würfen zu entgehen, suchten sie nunmehr
die Frage selbst zu erledigen und nahmen
ein Verzeichnis der Handwerke, für welche
künftig ein Befähigungsnachweis gefordert
werden sollte, in das Gesetz auf. Das Ver-
zeichnis war so reichhaltig, dass es fast
sämtliche Handwerksbetriebe umfasste. Der
Nachweis der Befähigung sollte nach den
jetzigen Anträgen nicht mehr durch ein
Lehrling- und Gesellenzeugnis, sondern
durch eme Prüfung erbracht werden, welche,
soweit nicht für einzelne Gewerbe staatliche
Prüfungsbehörden eingesetzt werden, ent-
weder vor der in dem Orte bestehenden
Innung oder vor einer besonderen Prüfungs-
kommission abgelegt werden musste, die
von den selbständigen Handwerkern des be-
treffenden Gewerbes gewählt wurde. Das
Prüfungszeugnis sollte durch das Zeugnis
einer staatlich anerkannten gewerblichen
Unterriditsanstalt ersetzt werden können.
In dieser Gestalt haben die Anträge Jahre
lang den Gegenstand der Verhandlungen des
Reichstages gebildet und sind namentlich
wiederholt in Kommissionen beraten worden.
Der Versuch, den Befähigungsnachweis in
einer abgeschwächten Form zu realisieren,
wurde durch einen Gesetzentwurf gemacht,
den die Abgeordneten v. Eardorff una
Bachem zuerst in der Reichstagssessiou
1886/87 (Drucksachen Nr. 49, Sten. Ber.
Bd. U S. 379) einbrachten. Dieser unter-
sclüed sich vom Ackermann-Biehlschen Ge-
setzen twurfe namentlich dm'ch zwei Punkte.
Der Kreis der Handwerker, für welche der
Befähigungsnachweis gefordert wui-de, war
weniger umfangreich, und der Befähigungs-
nachweis sollte nicht durch eine Prüfung,
sondern durch Lelirlingszeugnis und Ge-
sellenzeugnis erbracht wei*den. Nur bei
solchen Gewerben, welche bei mangelhafter
Ausübung Gefahren für Leben und Gesund-
heit herbeiführen konnten, insbesondere den
Baugewerben, war die Ablegung einer tech-
nischen Prüfung vor einer staatlichen Prü-
fungsbehörde vorgeschi'ieben. Zu einer end-
giltigen Entscheidung über die Anträge kam
es erst in der Reichstagssession von 1889/90.
In dieser wui-den die Ackermannschen An-
träge am 13. Dezember 1889 in zweiter und
am 20. Januar 1890 in dritter Beratung an-
genommen (Sten. Ber. Bd. 11 S. 901, 1119),
die der Abgeordneten v. Kardorff und Bachem
gleichzeitig abgelehnt.
ParaDel den Anträgen auf Einführung
des Befähigungsnachweises gingen ander-
weite Anträge, welche von denselben An-
tragstellern herrührten und eine weitere
Stärkung der Innungen bezweckten. Nach
denselben sollten diejenigen Vorrechte, welche,
den Innungen bisher nach Ermessen der
höheren Verwaltungsbehörde beigelegt wer-
den konnten, nämlich die Ausdehnung ihrer
Lehi'lingseinrichtungen und der Entschei-
dungsbefugnisse in Lehrlingsstreitigkeiteu
auf Nichtmitglieder sowie das Recht, aus-
schliesslich Lehrlinge zu halten, einer Innung
verliehen werden müssen, wenn ihr mehr
als die Hälfte der Gewerbetreibenden an-
gehörte, welche das betreffende Gewerbe
in dem betreffenden Bezirke betrieben.
Diese Anträge gelangten gleichzeitig mit
denen über cüe Einführitng des Befähigungs-
nachweises zur Annahme.
Die verbündeten Regierungen verhielten
sich sowohl gegenüber den Bestrebungen
auf Einführung eines Befähigungsnachweises
als gegenüber denen auf Ausdehnung der
Innungsprivüegien durchaus ablehnend. Auch
die wiederholte Behandlung der Fragen im
Reichstage während der Jahre 1892 — 95
veranlasste dieselben nicht, von diesem Stand-
punkte abzugehen. Dagegen wurde die
Frage einer Organisation des Hand-
werks in den Regierungskreisen einer
ernsten Erwägung unterzogen.
Am 18. August 1893 teilte der preus-
sische Minister für Handel und Gewerbe,
Freiherr von Berlepsch, den Oberpräsi-
denten Vorschläge über eine Handwerksorga-
nisation zur gutachtlichen Aeussening mit,
welche gleichzeitig auch durch die Presse ver-
öffentlicht wurden, um den beteiligten Kreisen
und der öffentlichen Kritik Gelegenheit zu
geben, sich darüber zu äussern. Nach diesem
Organisationsplan sollten für die einzelnen
Zweige des Handwerks zunächst Fach-
genossenschaften errichtet werden, welche
den Charakter von Zwangsverbänden hatten
422
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
und denen ähnliche Aufgaben wie den In-
nungen zugewiesen waren. Neben denselben
sollten aber die Innungen fortbestehen.
Üeber die Fachgenossenschaften waren Hand-
werkskammern in Aussicht genommen, wel-
che aus Wahlen derselben hervorgingen.
Biesen wurde die Aufsicht über die Fach-
genossenscliaften und Innungen ihres Be-
zirkes, die Aufsicht über Lehrlingswesen,
Arbeiterschutz, Arbeitsnachweis und Her-
bergswesen übertragen; sie hatten ausser-
dem auf Ansuchen der Behörden Gutachten
und Berichte über gewerbliche Fragen zu
erstatten. Ausserdem enthielt der Entwurf
nähere Bestimmimgen über das Lehrlings-
wesen.
Die Vorschläge fanden vielfachen Wider-
spruch und wurden sogar überwiegend un-
^instig aufgenommen. Bedenken erhoben
sich namentlich nach der Richtung hin, ob
ein Nebeneinanderbestehen von Fachgenossen-
schaften und Innungen, welche annähernd
die gleichen Ziele verfolgten, thunlich und
ob letztere, welche anscheinend für grosse
Bezirke in Aussicht genommen waren, im
Stande sein würden, die ihnen zugewiesenen
Aufgaben zu erfüllen. Es lag daher die Er-
wägung nahe, ob es nicht zweckmässiger
sei, zunächst mit der Errichtung von Hand-
werkskammern vorzugehen, mit deren Hilfe
die Verbesserung des Lehrlingswesens durch-
zuführen, und die aUgemeiue Organisation
des Handwerks einer späteren Zeit vorzu-
behalten. Diese Anschauung erlangte auch
in den Regierungskreisen eine Verbreitung
imd wurde namentlich von dem damaligen
Staatssekretär des Reichsamtes des Innern,
Staatsminister von Bötticher, vertreten. Ein
Ausfluss derselben war der Gesetzentwurf
über Handwerkskammern, welcher am
13. Dezember 1895 dem Reichstage vor-
gelegt wurde. Die Handwerkskammern
sollten von den Handwerkern, welche das
25. Lebensjahr vollendet hatten, gewählt
werden und die Aufgabe haben, bei der Or-
ganisation des Handwerks mitzuwirken und
in gewerblichen Angelegenheiten eine gut-
achtliche und beratende Thätigkeit zu ent-
wickeln. Der Gesetzentwurf gelangte im
Reichstag am 16. und 17. Dezember 1895
zur ersten Lesung, fand aber dort nur ge-
ringes Entgegenkommen, weil er namentlich
den zünftlerisch gesinnten Elementen nicht
weit genug ging. Er wurde an eine Kom-
mission von 21 Mitgliedern verwiesen, wel-
che sich mit demselben aber nicht weiter
befasste, sondern ihn völlig liegen Hess.
Diese Stellungnahme des Reichstages
mag mit dazu beigeti-agen haben, dass zu-
nächst innerhalb der preussischen Regienmg
die andere Strömung wieder die Oberliand
gewann. Gegen Anfang August 1896 ge-
langte ein preussischer Antrag an den Bun-
desrat, der einen Gesetzentwurf über eine
vollständige Organisation des Handwerks
enthielt, welche sich auf der Grundlage der
Zwangsinnung aufbaute. Zwangsinmmgen
sollten für mehr als 70 Gewerbe, welche in
dem Entwürfe specieU aufgeführt waren,
gebildet werden. Diesen war eine Reihe
von teils obligatorischen, teils fakultativen
Aufgaben zugewiesen. Für grössere Bezirke
wurde je ein Handwerksausschuss in Aus-
sicht genommen, welcher die obligatorischen
Aufgaben der Innungen für solche Gewerbe,
für welche Innungen nicht gebildet waren,
zu übernehmen hatte und dem die Innungen
auch anderweite Funktionen übertragen
konnten. Für noch grössere Bezirke sollten
Handwerkskammern errichtet werden, die
aus den Wahlen der Handwerksausschüsse
hervorgingen. Gegen diese Vorsdiläge er-
hoben sich aber vielfache Bedenken. Man
nahm Anstoss an der ausserordentlichen
Kompliziertheit der Organisation, welche sieh
in der dreifachen Gliederung von Zwangs-
innung, Handwerksausschuss und Hand-
werkskammer aufbaute. Man erhob be-
rechtigte Zweifel, ob die Innungen zm*
Durchfühnmg der ihnen übertragenen Auf-
gaben geeignet sein und ob sich überall
das erforderliche Material für die Bildung
lebensfähiger Innungen finden werde. End-
lich konnte man sich nicht verhehlen, dass
die Diu-chfühnmg der geplanten Organisation
sehr leicht die Handhabe zur Einführung
des Befäliigungsnachweises hätte bieten
können.
Auch in den Kreisen der verbündeten
Regierungen verschloss man sich diesen Be-
denken nicht Der Entwurf erfuhr daher
im Bundesrate eine sehr bedeutende
Umgestaltung. Die allgemeine obligatorische
Zwangsinnung wiu^e aufgegeben; die Bil-
dung von Zwangsinnungen sollte nur auf
Gnmd eines Mehrheitsbeschlusses der be-
teiligten Handwerker und der Genelimigung
der höheren Verwaltungsbehörde stattfinden
können. Der Handwerksausschuss wurde
in WegfaD gebracht, die Bestimmungen über
Handwerkskammern und Lehrlings wesen
entsprechend umgestaltet. In dieser Ge-
stalt wurde der Entwurf vom Reichs-
tage angenommen. Der in der Kommission
desselben gemachte Versuch, Zwangsin-
nungen auch ohne Mehrheitsbeschluss der
Beteiligten zuzidassen, scheiterte an dem
energischen Widerstände der verbündeten
Regienmgen. Die Publikation des Gesetzes
erfolgte am 26. Juli 1897.
>Iit diesem Gesetz haben die Abände-
rungen der Gewerbeordnung vorläufig ihren
Abschluss gefunden.
IL Das geltende Recht
4. Geltangsbereich der Gewerbeord«
Gewerbegesetzgebiiug (Deutschland)
423
niuig. Die Reichsgewerbeordnung vermeidet
es, eine Definition des Gewerbes zu geben.
Sie begnügt sich damit, eine Reihe von
Thätigkeiten zu bezeichnen, auf welche sich
ihre Bestimmungen nicht erstrecken sollen.
Dies sind teüs Thätigkeiten, welche schon
begrifflich nicht zu den gewerblichen ge-
hören, teils solche, auf welche die Be-
stimmungen der Gewerbeordnung grund-
sätzlich Anwendung finden würden, für
welche sie aber durch eine ausdrückliche
Vorschrift ausgeschlossen werden. Bei den
letzteren ging die Absicht entweder dahin,
ihre Regelung der Landesgesetzgebung zu
überlassen oder sie besonderen Reichsge-
setzen vorzubehalten.
Die Reichsgewerbeordnung geht von dem
engeren Begriff des Gewerbes aus,
der auch den ehemaligen Landesgewerbe-
ordnungen zu Grunde lag. Nicht jede
dauernde selbständige und erlaubte Thätig-
keit zum Zweck des Vermögensorwerbes,
sondern nur Industriegewerbe, Handelsge-
werbe und die Leistung solcher persön-
lichen Dienste, welche eine höhere wissen-
schaftliche und künstlerische Ausbildung
nicht voraussetzen, gelten ibr als Gewerbe-
betrieb. Deshalb erstrecken sich ihre Vor-
schriften nicht auf den Betrieb der Land-
und ForstAvirtschaft sowie auf die Ausübung
der Jagd, obgleich dies nicht ausdrücklich
ausgespi'ochen ist. Ebensowenig finden sie
auf künstlerische Berufe wie z. B. auf den
des Malers oder Bildhauers Anwendung.
Bei einer Reihe von Thätigkeiten hat die
Gewerbeordnung ausdrücklich erklärt, dass
sich ihre Bestimmungen auf dieselben nicht
beziehen soDen. (G.O. § 6.) und zwar zer-
fallen diese in zwei Gruppen. Auf einen
Teil derselben findet die Gewerbeordnung
gar keine Anvrendung. Dies sind die
Fischerei, die Errichtung und Verlegung
von Apotheken, die Erziehung von Kindern
gegen Entgelt, das ünterrichtswesen , die
advokatorische und Notariatspraxis, der G^
Werbebetrieb der Auswanderungsunter-
nehmer und Auswanderungsagenten, der
Versicherungsuntemehmer und der Eisen-
bahnunternehmungen, die Befugnis zum
Halten öffentlicher Fähren und die Rechts-
verhältnisse der Schiffsmannschaften auf
Seeschiffen. Auf andere Thätigkeiten findet
die Gewerbeordnung insoweit Anwen-
dung, als sie ausdrückliche Be-
stimmungen darüber enthält, d. h.
nur die besonderen Vorschriften,
welche für die speciellen Gewerbe er-
lassen sind, nicht aber die allgemeinen Be-
stimmungen der Gewerbeordnung gelten für
dieselben. Zu diesen gehören das Berg-
wesen, die Ausübung der Heilkunde, der
Verkauf von Arzneimitteln, der Vertrieb
von Lotterielosen und die Viehzucht.
5. Allgemeine Grundsätze des deut-
schen Gewerberechts. Das deutsche Ge-
werberecht beruht auf dem Grundsatz der
Ge Werbefreiheit. Beschränkungen der
Befugnis zum Gewerbebetriebe bestellen nur
insoweit, als sie durch die Gewerbeordnung
vorgeschrieben oder zugelassen sind. (G.O.
§ 1.) Diese Bestimmung bezieht sich
auf öffentlichrechtlicne Beschrän-
kungen gewerbepolizeilicher Na-
tur. Solche können daher sowohl durch
Landesgesetze als durch Polizei Verordnungen
oder Ortsstatuten als durch Polizeiver-
fügungen nur insoweit angeordnet werden,
als die Gewerbeordnung es ausdrücklich ge-
stattet. Dagegen bezieht sich die fragliche
Vorschrift nicht auf Besdiränkungen, welche
aus anderweiten polizeilichen
Gründen, z, B. aus Gründen der Strassen-,
Feuer- oder Baupolizei diu-ch die Landesge-
setzgebung und die Landespolizeibehörden
verfügt werden. Sie bezieht sich ebenso-
wenig auf Beschränkungen, welche jemand
sich selbst durch Privatdisposition
z. B. einen Vertrag auferlegt. Verträge,
durch welche sich jemand verpflichtet, ein
Gewerbe in einer bestimmten Zeit oder in
einem bestimmten Bezirke nicht zu betreiben,
sind dalier rechtsgiltig und verbindlich.
Die Gewerbeordnung hat alle Beschrän-
kungen des Gewerbebetriebes in Wegfall
gebracht, welche Ausfluss der frühe-
ren Zunftverfassung waren, so na-
mentlich die Unterscheidung von Stadt und
Land, das Verbot des gleichzeitigen Be-
triebes verschiedener Gewerbe sowie des-
selben Gewerbes in mehreren Betriebs- und
Verkaufsstätten, die Beschränkung der
Handwerker auf den Verkauf selbstver-
fertigter Waren, die Ausschliessungsreehte
der Zünfte und kaufmännischen Korpora-
tionen (§§ 2 — 4). Dagegen ist in den Be-
schränkungen des Gewerbebetriebes, welche
auf den ZoU-, Steuer- und Postgesetzen be-
ruhen, durch die Gewerbeordnung nichts
geändert worden. (G.O. § 5).
Die ausschliesslichen Gewerbe-
berechtigungen sowie die Zwangs-
und Bannrechte sind teils aufgehoben^
teüs für ablösbar erklärt worden. Aufge-
hoben sind: 1. die noch bestehenden aus-
schliesslichen Gewerbeberechtigungen, d. h.
die mit dem Gewerbebetriebe verbundenen
Berechtigungen, anderen den Betrieb eines
Gewerbes zu untersagen oder sie darin zu
beschränken ; 2. die mit ausschhesslichen Ge-
werbeberechtigungen verbundenen Zwangs-
und Bannrechte ; 3. alle Zwangs- und Bann-
rechte, deren Aufhebung nach dem Inhalte
der Verleihungsurkunde ohne Entscliädigung
zulässig war; 4 die Berechtigungen : a) der
Inhaber von Mühlen, Brennereien, Brenn-
gerechtigkeiten, Brauereien, Braugerechtig-
424
GewerbegesetzgebuDg (Deutschland)
keifen oder Schankstätten, die Konsumenten
zu zwingen, dass sie bei dem Berechtigten
ihren Bedarf mahlen oder schroten lassen
oder das Getränk ausschliesslich von dem-
selben beziehen (sogenannter Mahlzwang,
Branntweinzwang, Brauzwang), b) der
städtischen Bäcker und Fleischer, die Ein-
wohner der Stadt, der Vorstädte oder der
sogenannten Bannmeüe zu zwingen, dass
sie ihren Bedarf an Gebäck oder Fleisch
ganz oder teilweise von ihnen entnehmen;
vorausgesetzt, dass diese Berechtigungen
nicht auf einem Vertrage zwischen Bei*ech-
tigten und Verpflichteten beruhen; 5. die
Berechtigungen, Konzessionen zu gewerb-
lichen Anlagen oder zum Betriebe von Ge-
werben zu erteilen, die dem Fiskus, Kor-
porationen, Instituten oder einzelnen Be
i-echtiglen zustanden ; 6. alle Abgaben, welche
für den Betrieb eines Gewerbes entrichtet
wurden, sowie die Berechtigung, dergleichen
Abgaben aufzuerlegen, jedoch vorbehaltlich
der an den Staat oder die Gemeinde zu
entrichtenden Gewerbesteuern. Der Ab-
lösung unterliegen: 1. die nicht aufge-
hobenen Zwangs- und Bannrechte, sofern
die Verpflichtung auf Grundbesitz haftet,
die Mitglieder einer Korporation als solche
betrifft oder den Bewohnern eines Ortes
oder Distriktes vermöge ihres Wohnsitzes
obliegt; 2. das Recht, den Inhaber einer
Schankstätte zu zwingen, dass er für seinen
Wirtschaftsbedarf das Getränk aus einer
bestimmten Fabrikationsstätte entnehme.
Die näheren Bestimmungen über die Ab-
lösimg erlassen die Landesgesetzgebungen.
Diese haben auch zu bestimmen, ob und in
welcher Weise den Berechtigten für die auf-
gehobenen Berechtigimgen eine Entschä-
digung zu leisten ist. Aufgehobene oder
für ablösbar erklärte ausschliessliche Ge-
werbeberechtigungen oder Zwangs- und
Bannivc:hte können fortan nicht mehr er-
worben werden (G.O. §§ 7—10). Die Ab-
deckereien fallen nicht unter die Be-
stimmungen der Gewerbeordnung; in Be-
zug auf sie sind daher sowohl die aus-
schliesslichen Gewerbeberechtigungen als
die Zwangs- und Bannrechte bestehen ge-
blieben, dieselben unterliegen jedoch der
Aufhebung und Ablösung im Woge der
Landesgesetzgebung (vgl. d. Art. Abdecke-
rei oben Bd. I, S. 3 ff .).
R eal gew erbe be recht ig un gen dür-
fen nicht mehr begründet werden (G.G.
§ 10). Die bestehenden sind aber durch die
Gewerbeordnung nicht beseitigt worden, sie
haben niu* den Charakter ausschliesslicher
Gewerbeberechtigungen, soweit sie diesen
besassen, verloren. Ihre Bedeutung liegt
jetzt darin, da«^s bei konzessionspflichtigen
Gewerben der Betrieb dem Realgewerbebe-
rechtigten nur wegen Mangels der persön-
sönlichen Eigenschaften verweigert werden
darf, also weder eine Prüfimg der Bedürf-
nisfrage noch eine Untersuchung über Be-
schaffenheit und Lage des LoKals statt-
findet. Von Bedeutung sind die Realge-
werbeberechtigungen namentlich noch auf
dem Gebiete des Apothekergewerbes und
des Schankgewerbes.
Zum Betriebe eines Gewerbes sind gnmd-
sätzlich alle physischen Personen l>e-
fugt. Insbesondere begründen Alter und
Geschlecht in dieser Hinsicht keinen
Unterschied. Ehefrauen bedürfen nach
dem B.G.B. für das Deutsche Reich zum
Betrieb eines Gewerbes keiner ehemänn-
lichen Genehmigung. Wohl aber kann eine
solche nach Massgabe des ehelichen Güter-
rechtes zum Abschluss von Rechtsgeschäften
und zur Führung von Rechtsstreitigkeiten
notwendig sein, wenn diese gegenüber dem
Manne und hinsichtlich des seiner Verwal-
tung und Nutzniessung unterworfenen Ver-
mögens wirksam werden sollen. Erteilt der
Mann aber der Frau die Einwilligung zum
selbständigen Betrieb eines Erwerbsge-
schäftes, so ist seine Zustimmung zu solchen .
Rechtsgeschäften und Rechtsstreitigkeiten
nicht erforderlich, welche der Geschäftsbe-
trieb mit sich bringt. Der Elnwilligjmg des
Mannes steht es gleich, wenn die Frau mit
Wissen und ohne Einspruch des Mannes
das Erwerbsgeschäft betreibt (B.G.B. §§ 1405,
1452, 1519, 1549; E.G. Art. 36 Nr. I).
Minderjährige bedürfen zum Betrieb
eines Gewerbes ebenfalls keiner Genehmi-
gimg. Sie unterliegen jedoch hinsichtlich
des Abschlusses von Rechtsgeschäften den-
jenigen Beschränkun^n, welche durch ihre
Minderjährigkeit bedmgt sind. Ihr gesetz-
licher Vertreter kann sie aber mit Geneh-
migung des Vormundschaftsgerichtes zum
selbständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäf-
tes ermächtigen; in diesem Falle sind sie
für solche Rechtsgeschäfte, welche der Ge-
schäftsbetrieb mit sich bringt, unbeschränkt
geschäftsfähig. Eine Ausnahme machen nur
solche Rechtsgeschäfte, zu denen der Ver-
treter der Genehmigung des Vormundschafts-
gerichtes bedarf (B.G.B. § 112).
Auch Reichs-, Staats- und Ge-
mein dean gehörigkeit sind — von
einzelnen später zu erwähnenden Ausnahmen
abgesehen — auf die Befugnis zum Ge-
werbebetrieb ohne Einfluss. Insbesondere
ist die Zulassung zum Gewerbebetriebe jetzt
nicht mehr von dem Erwerbe des Bürger-
rechtes in einer Gemeinde abhängig. Wenn
jedoch jemand einen Gewerbebetrieb be-
gonnen und drei Jahre fortgesetzt hat, so
kann die Gemeinde, sofern dies nach der
bestehenden Gemeindeverfassung gestattet
ist, von ihm den Erwerb des Bürgerrechtes
fonlern. Es darf jedoch in diesem Falle
(Jewerbegesetzgebung (Deutschland)
425
weder ein Bürgerrechtsgeld beansprucht,
noch verlangt werden, dass der Betreffende
Bein anderweit erworbenes Bürgerrecht auf-
gebe. (G.O. § 13.)
Die Beschränkungen, welche in Bezug
auf den Gewerbebetrieb der Personen des
Soldaten- und Beamtenstandes sowie
deren Angehörigen bestehen, werden durch die
Gewerbeordnung nicht berührt (G.O. § 12).
Auch juristische Personen sind
zum Gewerbebetriebe berechtigt Sogar
solche konzessionspflichtige Gewerbe , zu
deren Betriebe gewisse persönliche Eigen-
schaften erfordert werden, dürfen von jims-
tischen Personen betrieben werden, wenn
die Ausübung durch einen Stellvertreter er-
folgt, der den gesetzlichen Eigenschaften
entspricht. Praktische Bedeutung hat die
Frage namentlich hinsichtlich der Gastwirt-
schaft, welche häufig von Aktiengesellschaf-
ten betrieben wird. Die Erteilung einer
Ronzession an solche Gesellschaften muss
trotz einzelner entgegenstehender verwal-
timgsrichterlicher Entscheidungen (Entschei-
dungen des bayerischen Verwaltungsgerichts-
hofes, Bd. IS. 797, Bd. H S. 514 ff., des
preussischen Oberverwaltungsgerichtshofes,
Bd. IX S. 286 ff.) für zulässig ei-achtet wer-
den. (Vgl. M. Sevdel in den Annalen
des Deutschen Reichs, 1882, S. 620 ff.,
Rehm, Gewerbskonzession, S. 45.) In Be-
zug auf den Gewerbebetrieb juristischer
Personen des Auslandes sind nach
den Bestimmungen der Gewerbeordnung die
Landesgesetze massgebend (G.O. § 12). Diese
Vorschrift bezog eich ursprünglich sowohl
auf die Anerkennimg der juristischen Per-
sonen als auf deren Zulassimg zum Ge-
werbebetrieb. Nachdem die Anerkennung
der Rechtsfähigkeit ausländischer Vereine
jetzt dem Bondesrat übertragen ist (E.G.
zum B.G.B. Art. 10), kommen die Landes-
gesetze nur noch für den Gewerbebetrieb
derselben in Betracht Die landesgesetzliche
Zuständigkeit in Bezug auf die juristischen
Personen des Auslandes war aber wesent-
lich mit Rücksicht auf die verschiedenartige
privatrechtliche Stellung derselben in den
einzelnen Bundesstaaten festgesetzt worden ;
nachdem diese jetzt einheitlich geregelt ist,
würde es sich empfehlen, auch über die Zu-
lassung derselben zum Gewerbebetrieb ein-
heitliche Vorschriften — sei es im Wege
der Reichsgesetzgebung, sei es durch Ver-
ordnung des Bundesrates — zu erlassen.
6. Stehender Gewerbebetrieb. Die
Gewerbeordnung unterscheidet stehenden
Gewerbebetrieb. Gewerbebetrieb
im Umherziehen imd Marktverkehr.
Die gewerblichen Thätigkeiten, welche unter
den Begriff des Gewerbebetriebes im Um-
herziehen oder des Markt Verkehrs fallen,
sind gesetzlich genau fixiert. Als stehender
Gewerbebetrieb erscheint derjenige, der
weder Gewerbebetrieb im Umherziehen noch
Marktverkehr ist.
Der stehende Gewerbebetrieb unterliegt
einer Anzeigepflicht. Die Anzeige ist
gleichzeitig mit dem Beginn des Gewerbe-
betriebes an die nach den Landesgesetzen
zuständige Behörde zu erstatten. Ausser
den selbständigen Gewerbetreibenden sind
auch die Agenten von Feuerversicherungs-
anstalten zur Erstattimg der Anzeige ver-
pflichtet Personen, welche Pressgewerbe
betreiben, nämlich Buch- und Steindrucker,
Buch- und Kunsthändler, Antiquare, Leih-
bibliotheken, Inhaber von Lesekabinetten,
Verkäufer von Druckschriften , Zeitungen
und Bildern haben auch das Lokal des Ge-
werbebetriebes anzugeben (G.O. § 14). Ge-
werbetreibende, die einen offenen Laden haben
oder Gast- oder Schankwirtschaft betreiben,
sind verpflichtet, ihren Familiennamen mit
mindestens einem ausgeschriebenen Vor-
namen an der Aussenseite oder am Eingange
des Ladens oder der Wirtschaft in deutlich
lesbarer Schrift anzubringen. Kaufleute, die
eine Handelsfirma führen, haben zugleich
die Firma in der bezeichneten Weise an
dem Laden oder der Wirtschaft anzubringen
(G.O. § 15a, E,G. zum H.G.B. Art. 9).
Die Befugnis zum stehenden Gewerbe-
betriebe unterliegt einer Reihe von poli-
zeilichen Beschränkungen. Diese
äussern sich teils in vorgängigen Ge-
nehmigungen (Konzessionen), teils
in Verbietungsrechten. Sie beziehen
sich teils auf gewerbliche Anlagen,
teils auf Gewerbebetriebe als solche.
Von den gewerblichen Anlagen
unterliegen einer Konzessionspflicht: 1.
solche, welche für die Besitzer oder Be-
wohner benachbarter Gnmdstücke oder für
das Publikum überhaupt erhebliche Nach-
teile, Gefahren oder Belästigungen herbei-
führen können; der Konzessionierung hat
in diesem Falle ein Aufgebots- und kontra-
diktorisches Verfahren vorauszugehen; 2.
die Dampfkessel, bei denen nur eine Pri\-
fung von Amts wegen stattfindet. Polizei-
liche Verbietungsrechte bestehen gegenüber
solchen Anlagen, mit deren Betneb ein
überwiegender Nachteü oder Gefahr für das
Gemeinw^ohl verbunden ist oder welche un-
gewöhnliches Geräusch verursachen und in
der Nähe von öffentlichen Gebäuden. Kirchen,
Schulen, Krankenhäusern oder Heilanstalten
belegen sind . (Vgl. die Artt. Dampfkessel-
polizei (oben Bd. III, S. 108 ff.), Ge-
werbliche Anlagen.)
Bei den Konzessionen, welche für Ge-
werbebetriebe vor^schrieben sind, ist
zwischen Approbationen und Kon-
zessionen im engeren Sinne zu un-
terscheiden. Approbationen sind solche Kon-
426
Grewerbegesetzgebuiig (Deutschland)
zessioneil, welche auf Grund eines Nach-
weises der Befähigung erteilt werden, beim
Vorhandensein eines solchen aber auch er-
teilt werden müssen (vgl. d. Art. Approba-
tionen oben Bd. I, S. 445/46). Bei den
Konzessionen im engeren Sinne kommen da-
gegen Erwägungen vei-schiedenste^Art, na-
mentlich die persönlichen Eigenschaften des
zu Kozessionierenden, die Bedilrfnisfrage, die
Beschaffenheit des Lokals in Betracht.
Approbationen sowohl wie Konzessionen-
im engeren Sinne sind teils reichsgesetzlich
vorgeschrieben, teils ist es der Landesgesetz-
gebung überlassen, sie für gewisse Gewerbe-
betriebe anzuordnen.
Reichsgesetzlich angeordnete
Approbationen bestehen für 1. Apotheker
(vgl. d. Art. Apotheken oben Bd. I, S. 433f f.).
2. Aerzte (vgl. d. Art Arzt oben Bd. II, S.
1 Iff .), 3.Hebammen (vgl. d. Art. Hebammen),
4. Seeschiffer, Seesteuerleute, Maschinisten
auf Seedampfschiffen und Lotsen (vgl. die
Ai'tt. Lotsengewerbe, Seeschiffer).
Einer Konzession im engeren
Sinne bedürfen nach reichsgesetzlicher Vor-
schrift folgende Gewerbetreibende : 1. Unter-
nehmer von Privatkranken-, Privatentbin-
dungs- und Privatiii-onanstalten (vgl. d. Art.
Heilanstalten), 2. Schauspielunterneh-
mer, d. h. Personen, welche gewerbsmässig
theatralische Darstellungen veranstalten (vgl.
d.Art. Schau apielunt er nehm un gen),
3. Personen, welche Gastwirtschaft, S(!hank-
wirtschaft oder Kleinhandel mit Branntwein
oder Spiritus betreiben wollen (vgl. d. Art,
Schankgewerbe),4. Personen, welche ge-
werbsmässig Singspiele, Gesangs- und dekla-
matorische Vorträge, Schaustellungen von
Pei'sonen oder theatralische Vorstellungen,
ohne dass ein höheres Interesse der Wissen-
schaft oder Kunst dabei obwaltet, in ihren
Wirtschafts- oder sonstigen Räumen veran-
stalten oder zu deren öffentlicher Veran-
staltung ihre Räume benutzen lassen wollen ;
ferner Personen, welche gewerbsmässig
Musikauf fühnmgen , Schaustellungen, thea-
tralische Vorstellungen oder sonstige Lust-
barkeiten, ohne dass ein höheres Interesse
der Kunst oder Wissenschaft dabei obwaltet,
von Haus zu Haus oder auf öffentlichen
Wegen, Strassen, Plätzen darbieten wollen,
5. Pfandleiher und Rückkaufshändler beweg-
licher Sachen (vgl d. All;. Pfandleih- und
Rückkaufsgeschäfte).
Landesgesetzlich können Appro-
bationen gefordert werden von : 1. Mark-
scheidern (G.O. § 34). Die denselben erteilte
Approbation hat den Charakter einer landes-
rechtlichen Approbation, ist also in ihren
Wirkungen auf das beti*effende Land be-
schränkt, 2. Personen, welche das Hufbe-
schlaggewerbe betreiben wollen (G.O. § 30 a).
Bei diesen hat kraft ausdrücklicher reichsge-
setzlicher Vorschrift die erteilte Approbation
für das gesamte Reichsgebiet Wirksamkeit.
Konzessionen im engeren Sinne
können durch Landesgesetze vorgeschrieben
werden für : 1. den Handel mit Giften, 2. das
Lotsengewerbe (G.O. § 34).
Polizeiliche Verbietungsrechte
bestehen gegenüber: 1. Personen, welche
Tanz-, Tum- oder Schwimmunterricht er-
teilen und den Unternehmern von Badean-
stalten, 2. Personen, welche Trödelhandel,
d. h. Handel mit gebrauchten Kleidern, ge-
brauchten Betten oder gebrauchter Wäsche,
sowie Kleinhandel mit altem Metallgeräte,
Metallbruch oder dergleichen, ferner solchen
Peraonen, welche Kleinhandel mit Gamab-
fallen oder Dräumen von Seide, WoUe,
Baumwolle oder Leinen, endlich denjenigen
Personen, welche Handel mit Dynamit und
anderen Sprengstoffen sowie Handel mit
Losen von Lotterien und Ausspielungen
oder mit Bezugs- und Anteilscheinen auf
solche Lose betreiben, 3. Personen, welche
fremde Rechtsangelegenheiten und bei Be-
hörden wahrzunehmende Geschäfte besorgen,
insbesondere darauf bezügliche schriftliche
Aufsätze abfassen (sogenannte Rechtskonsu-
lenten), gewerbsmässigen Vermittelungsagen-
ten für Immobiliarverträge, Darlehen und
Heiraten, Gesindoveriiiieter, Stellenvermittler
und Auktionatoren. Die üntei'sagimg des
Gewerbebetriebes darf in allen diesen
Fällen cifolgeu, wenn Thatsachen vorliegen,
welche d:c Unzuverlässigkeit der Gewerbe-
treibenden in Bezug auf den Gewerbebetrieb
darthun. (G.O. § 35, G. v.^ 6. August 1896,
Art. 4 Vgl. die Artt. Trödelhandel
und Auktionatoren, letzterer oben Bd.
n, S. 27/28). Ferner ist der Handel
mit Droguen und chemischen Prä-
paraten, welche zu Heilzwecken
dienen, zu verbieten, d. h. muss verboten
werden, wenn die Handhabung des Gewerbe-
betriebes Leben und Gesundheit von Men-
schen gefährdet. Der Kleinhandel mit
Bier endlich kann untersagt werden, wenn
der Gewerbetreibende wiederholt wegen
Zuwiderhandlungen gegen § 33 der (Ge-
werbeordnung, d. h. wegen unerlaubten Be-
triebes der Schankwirtschaft bestraft worden
ist. (G.O. § 35. — G. v. 6. August 1896,
Art 5). Nach den ursprünglichen Bestim-
mungen der Gewerbeordnung war es zwei-
felhaft, ob die Polizeibehörde jemand, dem
sie den Betrieb eines Gewerbes untersagt
hatte, die Wiederaufnahme desselben
gestatten konnte. Auch die Praxis der ein-
zelnen Staaten wies in dieser Hinsicht
Vei-schiedenheiten auf. Es erschien aber
billig, demjenigen, dem der Gewerbebetrieb
durcii polizeiliche Verfügung verboten war,
für den Fall der Besserung die Mögliclikeit
zu gewähren, das fragliche Gewerbe wieder
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
427
zu betreiben. Um die Zweifel abzuschnei-
den, hat die G.O.-Novelle v. 6. August 1896
bestimmt, dass die Landescentiulbehörde
oder eine andere von ihr zu bestimmende
Behörde die Wiederaufnahme des Gewerbe-
betriebes zu gestatten befugt ist, wenn seit
der üntersagung mindestens ein Jahr ver-
flossen ist. (G.O. § 35 Abs. 5).
Für gewisse Gewerbebetriebe können
bestimmte Personen von Behörden oder
Korporationen angestellt werden. Solche
Anstellungsrechte bestehen in Bezug auf
Feldmesser, Auktionatoren, Personen, welche
den Feingelialt edler Metalle oder die Be-
schaffenheit, Menge oder richtige Ver-
packung von Waren irgend einer Art fest-
stellen, Güterbestätiger, Schaff er, Wäger,
Messer, Bracker, Schauer, Stauer. Der Be-
trieb der betreffenden Gewerbe ist frei. Die
angestellten Personen haben vor den nicht
angestellten lediglich den Vorzug, dass sie
thatsächlich beim Publikum ein grösseres
Vertrauen geniessen und dass sie allein
Handlungen vorzunehmen im stände sind,
welchen eine besondere Glaubwürdigkeit
beigelegt ist oder an welche besondere
rechtliche Wirkungen geknüpft sind (G.O.
§ 36). Vei-steigerungen von Immobilien
dürfen jedoch nur durch angestellte Auktio-
natoren erfolgen. (G.O. § 35. Vgl. d. Art.
Auktionatoren a. a. 0.)
Die Ordnung des Schornsteinfeger-
gewerbes ist der Landesgesetzgebung
überlassen, welche die Einrichtung von
Kehrbezirken gestatten kann. (G.O. § 39.
Vgl. d. Art. Schornsteinfeger). Die
Strassenge werbe unterliegen ortspoH-
zeilicher Regelung. (G.O. § 38. Vgl. d. Art.
St rassenge werbe.)
7. AdsübuDg des stehenden Gewerbe-
betriebes. Auch in Bezug auf die Aus-
übung des stehenden Gewerbebetriebes
spricht die Vermutung für die Freiheit.
Insbesondere kann der Gewerbetreibende
Gesellen, Gehilfen, Arbeiter jeder Art und
in beliebiger Zahl und, soweit die Gewerbe-
ordnung nicht ausdrücklich etwas anderes
festsetzt, auch Lehrlinge halten (G.O. § 41).
Die Befugnis zum stehenden Gewerbebetriebe
giebt ferner das Recht, das Gewerbe inner-
halb imd ausserhalb des Ortes der Nieder-
lassung zu betreiben (G.O. § 42). Beschrän-
kungen in der Ausübung bestehen nur, so-
weit sie ausdrücklich festgesetzt sind. Diese
Beschränkungen beruhen teils auf unmittel-
baren reichsgesetzlichen Vorscliriften, teils
auf Verordnungen der höheren Verwaltungs-
behörden oder Anordnungen der Gemeinden,
welche kraft reichsgesetzlicher Ermächtigung
erlassen werden. Die reichsgesetzlichen
Vorschriften beziehen sich teils auf den
Gewerbebetrieb am Orte der Niederlassimg,
teüs auf den Gewerbebetrieb ausserhalb
des Ortes der Niederlassung.
ReichsgesetzlicheBeschränkun-
gen für den Gewerbebetrieb am Orte
der Niederlassung bestehen in zwei-
facher Hinsicht. Einmfd dürfen Gegenstände,
welche von dem Ankaufe oder Feil-
bieten im Umherziehen ausge-
schlossen sind, von Haus zu Haus oder
an öffentlichen Orten nicht feilgeboten oder
zum Wiederverkauf angekauft werden. Eine
Ausnahme besteht in Bezug auf Bier und
Wein in Fässern und Flaschen. Weitere
Ausnahmen können von der Landesregierung,
Ausnahmen in Bezug auf geistige Getränke
vorübergehend auch von der Ortspolizei-
behörde zugelassen werden. Den Ausschank
geistiger Getränke zum Genuss auf der
Stelle, welcher infolge eines konzessionierten
Gast- oder Schankwirtschaftsbetriebes statt-
findet, fällt nicht unter die Beschränkung
(G.O. § 42 a). Ausserdem ist zur Verbrei-
tung von ) Druckschriften an öffentlichen
Orten eine polizeiliche Erlaubnis erforder-
lich; nur bei Verteilung von Stimmzetteln
und Drucksachen zu Wahlzwecken während
der Wahlzeit bedarf es einer solchen nicht.
(G.O. § 43. Vgl. d. Art. Pressgewerbe)
Ausserhalb des Ortes seiner
Niederlassung ist der Gewerbetreibende,
der ein stehendes Gewerbe betreibt, befugt,
Warenbestellungen aufzusuchen und Waren
aufzukaufen. Das Aufkaufen von Waren
darf aber nur bei Kaufleuten, Produzenten
oder in offenen Verkaufsstellen, das Auf-
suchen von Warenbestt-llungen ohne vor-
gängige ausdrückliche Auffordenmg nur bei
Kaufleuten in deren Geschäftsräumen oder
bei solchen Personen geschehen, in deren
Geschäftsbetriebe die Waren Verwendung fin-
den. (G.O. § 44, G. V. 6. August 1896,
Art. 9.) Das Aufkaufen von Waren und das
Aufsuchen von Warenbestelluugen bei ande-
ren Personen sowie das Feilbieten von
Waren gelten nicht als Ausfluss des stehen-
den Gewerbebetriebes, sondern als Gewerbe-
betrieb im Umherziehen und unterliegen den
für diesen massgfebenden Bestimmungen. Bis
zu der G.O.-Novelle v. 6. August 1896 war
das Aufsuchen von WarenbesteUunffen bei
Privaten als Ausfluss des stehenden Ge-
werbebetriebes anerkannt; die Klagen der
sesshaften Gewerbetreibenden über die Aus-
dehnung des Betriebes der sogenannten
Detailreisenden haben aber Veranlassung
gegeben, letztere den Hausierern vollständig
gleichzustellen. Es lässt sich aber nicht
verkennen, dass zwischen beiden Arten des
Geschäftsbetriebes doch erhebliche Unter-
schiede bestehen und dass manche G^werbs-
zweige nach der ganzen Art ihres bisherigen
Betriebes wesentlich auf einen Absatz durch
Aufsuchen vonWarenbesteUungen angewiesen
428
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
sind. Den Bedenken, welche sich aus diesem
Gesichtspunkte ergeben, hat das Gesetz in-
sofern Rechnung getragen, als dasselbe ge-
wisse Ausnahmen zulässt. Eine unmittelbar
auf dem Gesetz beruhende Ausnahme be-
steht für das Aufsuchen von Bestellungen
auf Dnickschriften, andere Schriften und
Bildwerke; nur ist der Aufsuchende hier
wie beim Feilhalten der betreffenden Gegen-
stände verpflichtet, der zuständigen Verwal-
tungsbehöixie seines Wohnortes ein Verzeich-
nis zur Genehmigung vorzulegen. Weitere
Ausnahmen kann der Bundesrat zulassen.
Er hat von dieser Befugnis in der Ausf.-V.
V. 27. November 1896 zu Gunsten des Wein-
handels sowie des Handels mit Erzeug-
nissen der Leinen- und Wäschefabrikation
und mit Nähmaschinen Gebrauch gemacht
Den Fabrikanten von Gt)ld- und Silberwaren,
Taschenuhren , Bijouterie- und Schildpatt-
waren sowie den Personen, welche mit
diesen Gegenständen sowie mit Edelsteinen,
Perlen, Kameen oder Korallen Grosshandel
treiben, ist sogar das Feilhalten ihrer
Fabrikate oder Handelsartikel ausserhalb des
Ortes der gewerblichen Niederlassung als
Ausfluss ihres stehenden Gewerbebetriebes
gestattet.
So weit das Aufsuchen von Warenbe-
stellungen und das Aufkaufen von Waren
als Ausfluss des stehenden Gewerbebetriebes
erscheint, kann dasselbe entweder durch
den Gewerbetreibenden selbst oder durch in
seinen Diensten stehende Reisende geschehen.
Derjenige, der diese Thätigkeiten ausübt, sei
es der Prinzipal, sei es ein Handlungsrei-
sender, bedarf dazu einer LegitimationsKarte.
(G.G. § 44 a.) Eine solche war schon nach
der G.G. v. 21. Juni 1869 erforderiich. Da-
mals hatte sie lediglich den Charakter einer
Beglaubigung, sie durfte daher den Gewerbe-
treibenden und deren Reisenden nicht ver-
weigert werden. Durch die G.O.-Nov. v. 1.
Juli 1883 hat dagegen die Erteilung der
Legitimationskarte den Charakter einer poli-
zeilichen Konzessionienmg angenommen j sie
kann und muss wegen des Mangels gewisser
persönlicher Eigenschaften 'verweigert und
kann aus gesetzlich l)estimmten Gründen
zurückgenommen werden.
Durch Verordnung der höheren
Verwaltungsbehörde, welche nach An-
hörung der Gemeinde zu ergehen hat, oder
durch Beschluss der Gemeindebe-
hörde, füi' welche die Genehmigung der
höheren Verwaltungsbehörde einzuholen ist,
können für einzelne Gemeinden gewisse ge-
werbliche Thätigkeiten der Personen, die
daselbst ein stehendes Gewerl)e betreiben,
von einer vorgängigen Erlaubnis abhängig
gemacht werden. Diese Thätigkeiten sind:
1. das Feilbieten von Wai^n, 2. das Ankaufen
von Warfen zum Wiederverkauf bei anderen
Personen als bei Kaufleuten oder Produ-
zenten und an anderen Orten als in offenen
Verkaufsstellen, 3. das Aufsuchen von Waren-
bestellungen bei Personen, in deren Gewerbe-
betriebe Waren in der gedachten Art keine
Verwendung finden, 4. das Anbieten ge-
werblicher Leistimgen, hinsichtlich deren
dies nicht Landesgebrauch ist, sofern die-
selben auf öffentlichen Wegen, Strassen,
Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten
oder ohne voi^ängige Bestellung von Haus
zu Haus betrieben werden. Die Bestimmung
kann auf einzelne Teile des Gemeindebezirks
oder auf gewisse Gattungen von Waren und
Leistungen beschränkt werden. Das Be-
dürfnis zu solchen Massregeln ist nament-
lich in grossen Städten hervorgetreten, wo
die gedachten Thätigkeiten der ansässigen
Gewerbetreibenden sich kaum noch vom
Hausierbetriebe unterscheiden. Für die Er-
teilung, Versagung und Zurücknahme der
Erlaubnis sind die Grundsätze massgebend,
welche in Bezug auf den Gewerbebetrieb
im Umherziehen gelten. Von einer vorgän-
gigen Erlaubnis darf jedoch nicht abhängig
gemacht werden: das Feilbieten von Er-
zeugnissen der Ijand- und Forstwirtschaft,
des Garten- und Obstbaues, der Geflügel-
und Bienenzucht, der Jagd und Fischerei
sowie von Gegenständen des Wochenmarkt-
verkehres; der Verkehr mit Druckschriften
von Haus zu Haus; endlich das Feilbieten
von Gegenständen, welche kraft Bundesrats-
beschlusses ausserhalb des Oiies der ge-
werblichen Niederlassimg feilgeboten werden
dürfen, bei solchen Personen, welche damit
Handel treiben. Auch wenn eine Bestim-
mung der gedachten Art nicht erlassen ist,
dürfen Kinder unter 14 Jahren auf Öffent-
lichen Wegen, Strassen, Plätzen oder an
öffentlichen Orten oder ohne vorgängige Be-
stellung von Haus zu Haus Gegenstände
nicht feilbieten. Nur an Orten, wo ein der-
artiges Feilbieten durch Kinder herkömmlich
ist, kann die Ortspolizeibehörde ein solches
für bestimmte Zeitabschnitte, welche in
einem Kalenderjahre 4 Wochen nicht über-
schreiten, gestatten. (G.O. § 42 b, G. v. 6.
August 1896, Art. 7, 8.)
Der Gewerbebetrieb eines selbständigen
Gewerbetreibenden kann nach seinem Tode
für Rechnung seiner Witwe oder seiner
minderjährigen Erben fortgesetzt wer-
den, ohne dass es dazu bei konzessions-
ß flichtigen Gewerben einer Erneuerung der
Konzession bedarf. Die Ausübung des Ge-
werbebetriebes erfolgt in diesem Falle durch
einen Stellvertreter. Ein solcher Stell-
vertreter kann aber auch an Stelle eines
selbständigen Gewerbetreibenden treten oder
während einer Kuratel oder Nachlassregu-
lierung fungieren. Der Stellvertreter muss
die für das Gewerbe vorgeschriebenen
Grewerbegesetzgebung (Deutschland)
429
Eigenschaften besitzen, bedarf aber keiner
besonderen Konzession. Er betreibt das Ge-
werbe nicht für eigene Rechnung , sondern
für Rechnung des Vertretenen. Die privat-
rechtlichen Rechte und Verbindlichkeiten,
welche aus dem Gewerbebetriebe hervor-
gehen, stehen nicht ihm, sondern dem Ver-
tretenen zu. In öffentlichrechtlicher Bezie-
hung dagegen tritt er voUständig in die
Pflichten des Vertretenen ein. Sind bei
Ausübung des Gewerbebetriebes polizeiliche
Vorschriften übertreten worden, so trifft ihn
die Strafe. Ist die üebertretuug mit Kon-
zessionsentziehung bedroht, so entsteht für
den selbständigen Gewerbetreibenden die
Verpflichtung zur Ehitlassung des Stellver-
ti-etei-s. Strafe und Konzessionsentziehung
kann gegen ihn selbst nur ausgesprochen
werden, wenn er verfügUGgsfähig ist und
die üebertretung von dem Stellvertreter mit
seinem Vorwissen begangen wurde (G.O.
§§ 45-47, 151).
8. Gewerbebetrieb im Umherziehen.
Der Gewerbebetrieb im Umherziehen, wenn
er auch für ländliche und dünn bevölkerte
Gegenden unentbehrlich ist, scliliesst doch
gewisse Gefahren in sich. Namentlich kann
er zur Begehung von Verbrechen oder ziu*
Sichei-ung des Erfolges von Verbrechen, z. B.
zum Vertriebe gestohlener Sachen, miss-
braucht werden. Deshalb ist er von jeher
ix)lizeilichen Beschränkungen unterworfen
und imter polizeiliche Aufsicht gestellt
woi'den. Nach der früheren preussischen
Gesetzgebung wurde für den Gewerbebetrieb
im Unterziehen ein Gewerbeschein ge-
fordert, der gleichzeitig den Zwecken der
Besteuerung und der polizeilichen Konzes-
sionierung diente. Für die deutsche Ge-
werbeordnung kam, da sie nur die polizei-
liche Regelung des Gewerbebetriebes zum
Gegenstande hat, lediglich der letztere Ge-
sichtspunkt in Betracht, Der Entwurf der
Gewerbeordnung von 1869 behielt aller-
dings für die zu erteilende polizeiliche Er-
laubnis die Bezeichnung»G ewerbeschein«
bei. Der Reichstag aber, um den polizei-
lichen Charakter der betreffenden Urkunde
deutlicher zum Ausdruck zu bringen, wählte
statt dessen die Bezeichnung »Legitima-
tionsschein«; seit der Novelle vom 1.
Juli 1883 heisst dieselbe »Wanderge-
werbeschein«.
Unter den Begriff des Gewerbebetriebes
im Umherziehen fallen nach der Gewerbe-
ordnung folgende Thätigkeiten, vorausgesetzt,
dass dieselben ausserhalb des Wonnortes
der Gewerbetreibenden bezw. der durch An-
ordnung der Verwaltungsbehörde dem Wohn-
orte gleichgestellten nächsten Umgebung,
ohne Begründung einer gewerblichen Nie-
derlassung an dem fremden Orte und ohne
vorgängige Bestellung vorgenommen weixlen :
1. das Feilhalten von Waren, 2. der Ankauf
von Waren zum Wiederverkauf bei anderen
Personen als bei Kaufleuten oder Produzen-
ten oder an anderen Orten als in offenen
Verkaufsstellen, 3. das Aufsuchen von Waren-
bestellungen bei anderen Personen als bei Kau f-
leuten oder bei Gewerbetreibenden, in deren
Gewerbetrieb die Waren Verwendung finden,
4. das Anbieten gewerblicher Leistungen,
das Darbieten von Musikaufführungen, Schau-
stellimgen, theatralischen Vorstellungen und
sonstigen Lustbarkeiten, bei welchen ein
höheres wissenschaftliches oder Kunstinter-
esse nicht obwaltet. Die ersteren drei
Thätigkeiten gelten jedoch dann nicht als
Gewerbetrieb im Umherziehen, wenn sie
innerhalb des Marktverkehrs stattfinden,
während die letzteren auch in diesem Falle
als Gewerbebetrieb im Umherziehen behan-
delt werden (G.O. § 55). Eine gewerb-
liche Niederlassung gut als nicht vorhanden,
wenn der Gewerbetreibende im Inlande ein
zu dauerndem Gebrauche eingerichtetes, be-
ständig oder doch in regelmässiger Wieder-
kehr von ihm benutztes Lokal für den Be-
trieb seines Gewerbes nicht besitzt (G.O.
§ 42). Das Lokal, in dessen Besitz er sich
befinden muss, braucht aber nicht notwendig
ein Verkaufslokal, sondern kann auch ein
Arbeitslokal sein.
Ausgeschlossen vom Ankauf und
Feilbieten im Umherziehen sind fol-
gende Gegenstände: 1. geistige Getränke;
2. gebrauchte Kleider, gebrauchte Wäsche,
gebrauchte Betten und gebrauchte Bettstücke,
insbesondereBettfedern,Men8chenhaare,Garn-
abfälle, Enden und Dräumen von Seide,
Wolle, Leinen oder Baumwolle; 3. Gold-
und Süberwaren, Bruchgold und Bruchsil-
ber, sowie Taschenuhren ; 4. Spielkarten ; 5.
Staats- und sonstige Wertpapiere, Lotterie-
lose, Bezugs- und Anteilscheine auf Wert-
papiere und Lotterielose ; 6. explosive Stoffe,
insbesondere Feuerwerkskörper, Schiesspul-
ver und Dynamit: 7. solche mineralische
und andere Oele, welche leicht entzündlich
sind, insbesondere Petroleum sowie Spiritus ;
8. Stoss-, Hieb- und Schusswaffen ; 9. Gifte
und gifthaltige Waren, Arznei- und Geheim-
mittel; 10. Bäume aUer Art, Sträucher,
Schnitt-, Wurzelreben, Futtermittel und
Sämereien mit Ausnahme von Gemüse- und
Blumensamen; 11. Schmucksachen, Bijoute-
rieen, Brillen und optische Instrumente ; 12.
Druckschriften, andere Schriften und Bild-
werke, welche in sittlicher und religiöser
Beziehung Aei^ernis zu geben geeignet sind
oder mittelst Zusicherung von Prämien oder
Gewinnen vertrieben werden oder in Liefe-
rungen erscheinen, wenn nicht der Gesamt-
preis des Werkes auf jeder einzelnen Liefe-
rung an einer in die Augen fallenden Stelle
bestimmt nachgewiesen ist. Der Ankauf
430
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
und das Feilhalten einzelner dieser Gegen-
stände kann jedoch im Falle des Bedürf-
nisses vom Bundesrate und, sofern Bäume,
Sträucher und andere unter 10 genannte
Gt^genstände in Betracht kommen, auch von
den Landesregierungen gestattet, das Feil-
bieten geistiger Getränke sogar vorüber-
gehend von der Ortspolizeibehörde erlaubt
werden (G.O. §§ 56, 56 b; G. v. 6. August
1896 Art. 12, 13).
Yom Gewerbebetriebe im Umherziehen
sind ferner folgende Thätigkeiten
ausgeschlossen: 1. die Ausübung der
Heilkunde, insofern der Ausübende ftfi* die-
selbe nicht approbiert ist ; 2. das Aufsuchen
sowie die vermittelung von üarlehnsge-
schäften und von Rückkaufsgeschäften ohne
vorgängige Bestellungen, femer das Auf-
suchen von Bestellungen auf Staats- und
sonstige Wertpapiere, Lotterielose und Be-
zugs- uüd Anteilscheine auf Wertpapiere imd
Lotterielose; 3. das Aufsuchen von Bestel-
lungen auf Branntwein und Spiritus bei
Personen, in deren Gewerbebetriebe dieselben
keine Verwendung finden ; 4. das Feilbieten
von Waren und Aufsuchen von Bestellungen,
wenn die betreffenden Waren gegen Teil-
zahlungen unter dem Vorbehalt veräussert
werden, dass der Veräusserer wegen Nicht-
erfüllung der dem Erwerber obliegenden
Verpflichtungen von dem Vertrage zurück-
treten kann (G.O. § 56 a; G. v. 6. August
1896. Vergl. R.G. betr. die Abzahlungsge-
schäfte vom 16. Mai 1894 §§ 1, 6).
Der Kreis der vom Gewerbebetriebe im
Umherziehen ausgeschlossenen Gegenstände
und Thätigkeiten kann aus Gründen der
öffentlichen Sicherheit sowie zur Abwehr
und Unterdrückung von Seuchen durch
Verordnungen des Bundesrates
zeitweilig noch ei^weitert werden. In drin-
genden Fällen tritt an SteUe des Bundes-
rates der Reichskanzler im Einvernehmen
mit dem Bundesratsausschuss für Handel
und Verkehr. Die betreffenden Verordnun-
gen müssen dem Reichstage bei seinem
nächsten Zusammentritte mitgeteilt und
ausser Kraft gesetzt werden, wenn der
Reichstag seine Zustimmung nicht erteilt.
Durch die Landesregierungen können An-
ordnungen über den Gewerbebetrieb im Um-
herziehen insofern erlassen wenien, als das
Umherziehen mit Zuchthengsten ziu* Deckung
von Stuten untersagt und zur Abwehr und
Unterdrückung von Sou(;hen der Handel mit
Rindvieh, Schweinen, Schafen, Ziegen oder
Gefltigel Beschränkungen unterworfen oder
auf l)estimmt(» Zeit verboten werden darf
(G.O. § 56 b G. V. 6. August 1897 Art. 14).
Soweit der Gewerbebetrieb im Umher-
ziehen tU)erhaupt gestattet ist, wird für den-
selben eine polizeiliche Konzession
erfordert, deren Erteilung in der Form eines
Wandergewerbescheines stattfindet.
Nach der Regierungsvorlage vom Jahre 1869
sollte die polizeiliche Erlaubnis dann versagt
weixlen dürfen, wenn dem »Gewerbetreiben-
den die Zuverlässigkeit in Bezug auf den
Gewerbebetrieb fehlt«. Hier war also dem
Ermessen der Verwaltimgsbehörde ein wei-
ter Spielraum gelassen. Der Reichstag
suchte dagegen die Verweigerunffsgriinde
gesetzlich genauer festzustellen und die Be-
fiignis zur Verweigerung an bestimmte ol:>-
jektive Thatbestände zu knüpfen. An die-
sem Standpunkte haben auch die Novellen
vom 1. Juli 1883 und 6. August 1896 fest-
gehalten und lediglich den durch die G.O.
vom 21. Juni 1869 festgestellten Verwei-
gerungsgründen eine Reihe von anderweiten
hinzugefügt. Diese Verweigerungsgründe
sind teils obligatorische, teUs fakul-
tative. Der Wandergewerbeschein muss
versagt werden, wenn der Nachsuchende:
1. mit einer abschreckenden oder anstecken-
den Krankheit behaftet oder in abschrecken-
der Weise entstellt ist; 2. unter Polizeiauf-
sicht steht ; 3. wegen strafbarer Handlungen
aus Gewinnsucht, gegen das Eigentum, gegen
die Sittlichkeit, wegen vorsätzlicher Angriffe
auf das Leben oder die Gesundheit der
Menschen, wegen Land- oder Hausfriedens-
bruchs, wegen Widerstandes gegen die Staats-
gewalt, wegen vorsätzlicher Brandstiftung,
wegen Zuwiderhandlungen gegen Verbote
oder Sicherungsmassregeln betreffend Ein-
führung oder Verbreitung ansteckender
Krankheiten oder Viehseuchen zu einer Frei-
heitsstrafe von mindestens drei Monaten ver-
urteilt ist und seit Verbüssung der Strafe
drei Jahre noch nicht verflossen sind; 4
wegen gewohnheitsmässiger Arbeitsscheu,
Bettelei, Landstreicherei, Tnmksucht übel
berüchtigt ist (G.O. § 57; G. v. 6. August
1896 Art. 16). Der Wandergewerlx*scliein
ist in der Regel zu versagen, wenn
der Nachsuchende: 1. entweder das 25.
Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ausge-
nommen wenn er Ernährer einer Familie
und bereits vier Jahre im Wandergewerbe
thätig gewesen ist; 2. oder blind, stumm
oder taub ist oder an Geistesschwäche leidet
(G.O. § 57 a; G. v. 6. August 1896 Art. 17).
Der Wandergewerbeschein darf vei-sagt
werden, wenn der Nachsuchende: 1. im
Inlande einen festen Wohnsitz nicht hat, 2.
wegen strafbarer Handlungen aus Gewinn-
sucht, gegen das Eigentum, gegen die Sitt-
lichkeit, wegen vorsätzlicher Angiiffe auf
das Leihen und die Gesundheit der Mensehen,
wegen vorsätzlicher Brandstiftung, wegen
Zuwiderhandlungen gegen Verbote oder Siche-
rungsmassregeln betreffend Einführung oder
Verbreitung ansteckender Krankheiten oder
Viehseuchen zu einer Freiheitsstrafe von
mindestens einer Woche verurteilt ist und
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
431
seit Verbüssung der Strafe ftlnf Jahre noch
nicht verflossen sind, 3. wegen Verletzung
der auf den Gewerbebetrieb im umherziehen
bezuglichen Vorschriften im Laufe der letz-
ten drei Jahre wiederholt bestraft ist, 4. ein
oder mehrere Kinder besitzt, für deren Un-
terhalt oder, sofern sie im schulpflichtigen
Älter stehen, für deren Unterricht nicht ge-
nügend gesorgt ist (G.O. § 57 b; G. v. 6.
August 1896 Art. 18). Ueber die Ziüassung
der Ausländer zum Gewerbebetriebe im
Umherziehen hat der Bundesrat nähere Vor-
schriften zu erlassen (G.O. § 56d; Ausf.-V.
V. 31. Oktober 1883, Centr.-BL S. 305).
Die Erteilung des "Wanderge-
werbescheines erfolgt durch die höhere
Verwaltungsbehörde und zwar die des
"Wohnortes oder Aufenthaltsortes des Nach-
suchenden (G.O. § 61). Der Wanderge-
werbeschein wird für ein Jahr erteilt, er
berechtigt den Inhaber zur Ausübung des
Gewerbebetriebes im ganzen Gebiete
des Deutschen Reiches (G.O. § 60).
Seine Wirkung erstreckt sich nur auf die-
jenige Person, für welche er ausgestellt ist.
Der Gewerbebetrieb im Umherziehen kann
allerdings auch durch Stellvertreter und
Gehilfen ausgeübt werden; in diesem Falle
müssen aber die betreffenden Personen
einen auf ihren eigenen Namen lautenden
Wandergewerbeschein besitzen (G.O. § 60 d).
Eine Zurücknahme des Wandergewerbe-
scheines ist aus denselben Gründen ziüässig,
aus denen eine Verweigerung desselben
stattlinden darf (G.O. §§ 58, 61).
Für einzelne Arten des Gewerbe-
betriebes im Umherziehen bestehen beson-
dere Vorschriften, welche teils Er-
gänzungen des bestehenden Rechtes, teüs
Abweicnungen von demselben enthalten.
Die Wandergewerbescheine für das Darbieten
von Musikaufführungen, Schau-
stellungen, theatralischen Vor-
stellungen und sonstigen Lustbar-
keiten, bei welchen ein höheres Interesse
der Wissenschaft oder Kunst nicht obwaltet,
gelten nicht für das ganze Reich, sondern
immer nur für den Bezirk einer höheren
Verwaltungsbehörde. Sie sind von der
höheren Verwaltungsbehörde desjenigen Be-
zirkes, in welchem das Gewerbe betrieben
werden soll, zu erteilen, und die Erteilung
ist zu verweigern, wenn für den betreffen-
den Bezirk eine genügende Anzahl von
Wandergewerbescheinen ausgestellt ist. Die
Erteilung kann auch für einen kürzeren
Zeitraum als das Kalenderjahr oder für be-
stimmte Tage während des Kalenderjahi-es
erfolgen. Endlich bedarf derjenige, der die
angegebenen Thätigkeiten von Haus zu
Haus oder auf öffentlichen Wegen, Strassen,
Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten
ausüben will, noch einer besonderen Erlaub-
nis der Ortspolizeibehörde (G.O. §§ 56, 60,
60 a, 61). Für die Ausübung des Gewerbe-
betriebes im Umherziehen in Grenzbe-
zirken ist neben dem Wandergewerbe-
scheine noch eine Genehmigung der obersten
Landesfinanzbehörde erforderlich. (Vereins-
zoUg. V. 1. Juli 1869 § 124). Das Feil-
bieten geistiger Getränke, welches
im Falle eines vorübei^ehenden Bedürfnisses
ausnahmsweise zugelassen wird, darf stets
nur in räumlicher und zeitlicher Beschränkung
gestattet werden ; diese Beschränkimgen sind
im Wandergewerbescheine anzugeben (G.O. §
60). Endlich bestehen noch besondereBeschrän-
knugen für den Vertrieb von Druckschriften im
Umherziehen, die sogenannte Colportage
(vgl. d. Art. C o 1 p o r t a g e ob. Bd. in, S. 67f f .).
Als Gewerbebetrieb im Umherziehen er-
scheint auch der Betrieb der sogenannten
Wanderlager, d. h. der vorübergehende,
aber in festen Verkaufslokalen stattfindende
Verkaiif von Waten seitens solcher Personen,
welche an dem betreffenden Orte weder
einen Wohnsitz noch eine gewerbliche
Niederlassung haben. Derselbe ist also nur
auf Grund eines Wandergewerbescheines
zulässig. Wanderauktionen und Wan-
derlotterieen, d.h. Absetzen der Waren im
Wege der Versteigenmg oder des Glück-
spieles sind verboten, soweit nicht die zu-
ständige Behörde Ausnahmen zulässt. Der-
artige Ausnahmen dürfen jedoch bei Wan-
derversteigeruugen nur hinsichtlich solcher
Waren gemacht werden, welche dem raschen
Verderben ausgesetzt sind (G.O. § 56 c; G.
V. 6. August 1896 Art. 15).
Die Mitführung von Begleitern
beim Gewerbebetriebe im Umherziehen ist
sowohl zu gewerblichen Zwecken als aus
sonstigen Gründen gestattet, bedarf jedoch
einer besonderen im Wandergewerbescheine
auszudrückenden Erlaubnis. Für Erteilung
und Zurücknahme dieser Genehmigung gel-
ten, sofern es sich um Personen über 14
Jahre handelt, ähnliche Grundsätze wie für
Erteilung imd Zurücknahme des Wander-
gewerbescheines. Kinder unter 14 Jahren
dürfen für gewerbliche Zwecke nicht mit-
geführt werden. Auch sonst kann die Mit-
lührung derselben, ebenso wie die Mit-
fühnmg von Personen anderen Geschlechtes,
nach Ermessen der Behörden versagt werden
mit Ausnahme von Ehegatten, Kindern und
Enkeln. Die Mitführung von schulpflichtigen
Kindern darf nicht gestattet werden, wenn
für deren Unterricht nicht genügend gesorgt
ist (G.O. § 62).
Ftlr einzelne Thätigkeiten, welche den
Charakter des Gewerbebetriebes im Umher-
ziehen haben, ist ausnahmsweise ein
Wandergewerbeschein nicht er-
forderlich. Diese Thätigkeiten sind: 1.
Das Feilbieten von selbstgewonnenen oder
432
Gewerbegesetzgebuiig (Deutschlaad)
rohen Erzeugnissen der Land- und Foret-
wirtschaft, des Garten- und Obstbaues, der
Geflügel- und Bienenzucht, von selbstge-
wonnenen Erzeugnissen der Jagd- und
Fischerei ; 2. das Feilbieten selbstverfertigter
Waren, welche zu den Gegenständen des
Wochenmarktverkehres gehören, und das
Anbieten gewerblicher Leistungen, liinsicht-
lich deren dies Landesgebrauch ist, in der
Umgegend des Wohnortes des Gewerbe-
treibenden bis zu 15 km Entfernung; 3.
das Anfahren selbstgewonnener Erzeugnisse
oder selbstverfertigter Waren, hinsichtlich
deren dies Landesgebrauch ist, zu Wasser
und das Feilbieten vom Falirzeuge aus. Die
Ausübung dieser Gewerbebetriebe kann
jedoch denjenigen Personen, denen der
Wandergewerbeschein verweigert werden
muss, und Kindern unter 14 Jahren unter-
sagt werden. Die Landesregierungen sind
befugt, den Gewerbebetrieb im Umherziehen
mit Gegenständen des gemeinen Verbrauches
ohne Wandergewerbeschein noch in weiterem
Umfange zu gestatten. Auch die Örtspolizei-
beliörden dürfen bei Festen, Truppenzu-
sammen Ziehungen oder anderen ausser-
gewöhnlichen Gelegenheiten das Feilbieten
gewisser von ihnen näher zu bestimmender
Waren erlauben (G.O. §§ 59, 59 a, 60 b:
G. V. 6. August 1896 Art. 19).
9. Marktverkehr. Märkte sind Versamm-
lungen Gewerbetreibender zum Zwecke des
öffentlichen Feilhaltens von Waren, welche
an bestimmten Orten zu gewissen feststehen-
den Zeiten stattfinden. Die Beilentung des
Marktverkehres liegt darin, dass derselbe
von den gewöhnlichen Besclu'änkungen des
Gewerbebetriebes, und zwar nicht bloss des
Gewerbebetriebes im Umherziehen, sondern
auch des stehenden Gewerbebetriebes befreit
ist. Die Gegenstände des Mai'ktverkehres
sind gesetzlich festgestellt (vgl, den Art.
Märkte und Messen).
10. Gewerbliche Taxen. Die Gewerbe-
ordnung bestimmt, dass polizeiliche Taxen
— abgesehen von einzelnen gesetzlich be-
stimmten Ausnahmen — nicht zulässig sein
sollen (G.O. § 72). Dieser Grundsatz, der
schon in der preussischen G.O. v. 17. Januar
1845 zur Durchfülirung gelangt war, ist
eine Konsequenz des Piancips der Gewerbe-
freiheit. In Preussen und verschiedenen
anderen Staaten war allenlings die Ein-
führung von ßrottaxen für ennzelne Orte
vorbehalten worden. Aber auch diese Mass-
regel ist durch die Gewerbeordnung be-
seitigt wortlen. Dagegen wurde im Anschluss
an die frühere preussische Gesetzgebung
den Ortsi)olizeiV)ehörden die Befugnis bei-
gelegt, Bäcker und Verkäufer von
Backwaren sowie Gastwirte anzu-
halten, Verzeichnisse ilirer Preise einzu-
reichen imd durch Anschlag an oder in den
Verkaufslokalen bezw. in den Gastzimmern
bekannt zu machen. Den Bäckern und Yer-
käufern von Backwaren kann ausserdem die
Verpflichtung' auferlegt werden, im Yer-
kaufslokale eine Wage mit den erforder-
lichen geeichten Gewichten aufzustellen und
die Benutzung derselben zum Nachwiegen
der verkauften Backwaren zu gestatten. Die
Festsetzungen der Bäcker und Verkäufer
von Backwaren gelten für gewisse von der
Behörde zu bestimmende Zeiträume, die
Gastwirte sind jederzeit zur Aendeniug be-
fugt (G.O. § 73—75). Die Einreichung und
Bekanntmachung der Preise liat um- eine
privatrechtliche Wirkung. Der Gast bezw.
Käufer der Backwaren braucht keinen
höheren Preis zu zahlen, als in dem ange-
schlagenen Verzeichnis festgesetzt ist, wäh-
rend der Wirt bezw. Verkäufer den Preis
ermässigen kann (G.O. § 79). Bei Streitig-
Keiten zwischen Wirten und Reisenden über
diese Preise steht der Ortspolizeibehönle
eine vorläufige Entscheidung vorbehaltlich
des Rechtsweges zu (G.O. § 75). Dagegen
äussert die Ueberschreitung der in dieser
Weise festgesetzten Preise keine strafrecht-
lichen Wirkungen, denn § 148 Nr. 8 der
Gewerbeordnung bedroht nm* die von der
Obrigkeit vorgescliriebenen oder genehmigten
Taxen mit Strafe. Hier liegen aber gar
keine obrigkeitlichen Taxen, sondern nur
Preise vor, welche \'X)n dem Gewerbe-
treibenden festgesetzt und der Obrigkeit
angezeigt sind.
Eine Festsetz ung behördlicher
Taxen ist zulässig für Sti-assengewerbe (vgl.
d. Art Strassen gewerb e), Schornstein-
feger (vgl. d. Art. Schornsteinfeger) und
für die von Behörden angestellten Feldmesser,
Auktionatoren und Personen, welche den
Feingehalt edler Metalle oder die Beschaffen-
heit Menge oder richtige Verpackung von Wa-
ren feststellen (vgl. d. Art. Auktionatoren
a. a. 0.). Diese Taxen haben privatrechtliche
und strafrechtlicheBedeutung. Die privati^cht-
liche liegt darin, dass sie Älaximal- und
Normalsätze für die von den fi-aglichen Ge-
werbetreibenden prästierten Leistungen ent-
lialten. Wer diese Leistungen in Anspruch
nimmt, braucht niemals mehi als die Taxe
zu zahlen, er muss aber die Taxe zahlen,
wenn er nicht mit seinem Kontrahenten
über eine Ermässigung derselben ausdrücklich
übereingekommen ist. Die Uebei-schreitung
der Taxe ist ausserdem mit Strafe beilroht (G.O.
§§ 76—79, 148 Nr. 8). Endlich bestehen noch
Taxen für Aerzte und Apotheker (vgl. die
Artt. Arzt, Apotheken a. a. 0.).
11. Innmii^eD und Uandwerkskammem.
Aus dem Princip der Gewerbefreiheit ergab
sich von selbst, da»s die ausschliessliclieu
Gewerbeberechtigungen und Verbietungs-
rechte der Innungen, soweit sie beim Erlass
Öewerbegesetzgebung (Deutschland)
433
der Gewerbeordnung überhaupt noch be-
standen, aufzuhören hatten. Dagegen war
vöUiges Einverständnis darüber vorhanden,
dass sowohl die vorhandenen Innungen fort-
dauern sollten, als dass den Gewerbetrmben-
den die Möglichkeit zu gewähren sei, zu
neuen Innungen zusammenzutreten. Es ent-
stand nur die Frage, ob die Innungen die
Eigenschaft reiner Privatvereine haben oder
ob denselben ein gewisser Öffentlicher Cha-
rakter beigelegt, insbesondere dafür gesorgt
werden sollte, dass das Vermögen derselben
unter allen umständen den gemeinnützigen
gewerblichen Zwecken erhalten bliebe. Die
Regierungsvorlage des Jahres 1869 hielt im
allgemeinen den letzteren Standpunkt fest,
obwohl sie ein besonders lebhaftes Interesse
für den Fortbestand der Innungen kaum
erkennen Hess. Noch weniger Sinn für die-
selben war im Eeichstage vorhanden, der
an den Bestimmungen der Regierungsvor-
lage noch wesentliche Abschwächungen vor-
nahm. Die genauere Formulierung der In-
nungszwecke wurde gestrichen, die in Aus-
sicht genommene Beitreibung der Innungs-
beiträge und Innungsstrafen im Wege der
Yerwaltungsexekution beseitigt und (fie Ver-
teilung des Innungsvermögens unter die
Mitglieder im Falle der Auflösung wenigstens
dann gestattet, wenn dasselbe aus Beiträgen
der Innungsmit?lieder entstanden war. So
enthielt die G.O. v. 21. Juni 1869 nur we-
nige und ziemlich dürftige Vorschriften über
die Rechtsverhältnisse der Innungen.
Erst gegen Ende der 70 er Jahre gelangte
man wieder zu einer richtigeren Würdigung
der korporativen Organisation des Hand-
werkerstandes. Sehr anregend wirkten na-
mentlich die Bestrebungen des damaligen
Bürgermeisters von Osnabrück, Dr. Miquel,
auf Errichtung von Innungen und Innungs-
ausschüssen. Sein Statut für die Osnabrücker
Schuhmacherinnung wTuxie eine Art Normal-
slatut für Innungen überhaupt. Ein Erlass
des preussischen Mandelsministers vom 4. Ja-
nuar 1879 veranlasste die Behörden, der
Begründung neuer und der Reformierung
bestehender Innungen eine fördernde Thätig-
keit zuzuwenden. Auch die Reichsgesetz-
gebuug beschäftigte sich von neuem mit
der Handwerkerorganisation. Das Reichs-
gesetz vom 18. Jiüi 1881, dessen Bestim-
mungen in die Redaktion der Gewerbe-
ordnung vom 1. Juli 1883 übergingen, hob
die öffentlichen und gemeinnützigen Auf-
gaben der Innungen entschiedener hervor,
verstärkte die staatliche Aufsicht über die-
selben, legte den Innungen bezw. deren
Mitgliedern gewisse Vorrechte bei, wielche
dieselben früher nicht besassen, und enthielt
Bestimmungen über Innungsausschüsse und
Innungsverbände. Sehr viel weiter ging
das G. V. 26. Juli 1897, welches unter ge-
HandwÖrterbach der StaatswiBseiiBchafteiL Zweite
wissen Voraussetzungen die zwangsweise
Bildung von Innungen gestattete und eine
Vertretimg des Handwerkerstandes in Hand-
werkskammern geschaffen hat. Durch dieses
Gesetz ist der betreffende Titel der Gewerbe-
ordnung vollständig neu gestaltet worden,
so dass die jetzt massgebenden Bestim-
mungen ledighch auf diesem Gesetze be-
ruhen.
Die selbständigen Gewerbetreibenden kön-
nen zur Förderung der gemeinsamen ge-
werblichen Interessen zu einer Innung
zusammentreten (G.O. § 81). Die Aufgaben
der Innungen zeriEallen in obligatorische und
fakultative. Obligatorische Aufgaben sind
1. die Pflege des Gemeingeistes sowie die
Aufrechterhaltung und Stärkung der Standes-
ehre; 2. die Föiderung eines gedeihlichen
Verhältnisses zwischen Meistern und Ge-
sellen, sowie die Fürsorge für das Herbei^-
wesen und den Arbeitsnachweis ; 3. die Re-
gelung des Lehrlingswesens und die Für-
sorge für die technische, gewerbliche und
sittliche Ausbildung der Lehrlinge; 4. die
Entscheidung gewerblicher Streitigkeiten
zwischen den Innungsmitgliedern und ihren
Lehrlingen. Als fakultative Aufgaben
werden bezeichnet: I.Herstellung von Ein-
richtungen zur Förderung der gewerblichen,
technischen und sittlichen Ausbildung von
Meistern, Gesellen und Lehrlingen, nament-
lich Unterstützung, Errichtung und Leitung
von Schulen ; 2. Veranstaltimg von Gesellen-
und Meisterprüfungen; 3. Errichtimg von
Kranken-, Sterbe-, Invaliditäts- und sonstigen
Unterstützungskassen; 4. Errichtung von
Schiedsgerichten ziu» Entscheidung gewerb-
licher Streitigkeiten zwischen Innungsmit-
gliedern und deren Gesellen; 5. Errichtung
gemeinschaftlicher Geschäftsbetriebe zur
Förderung des Gewerbebetriebes der In-
nungsmilglieder (§ 81a, b).
Nach der früheren Gesetzgebung besassen
die höheren Verwaltungsbehörden die Be-
fugnis, den Innungen besondere Vor-
rechte zu verleihen, namentlich die Wirk-
samkeit derselben in Bezug auf Lehrlings-
wesen und Lehrlingsstreitigkeiten über den
Kreis ihrer Mitglieder hinaus zu erstrecken,
die Ausbildung von Lehrlingen den In-
nungsmitgliedem ausschliesslich vorzubehal-
ten und die Heranziehung von Nichtmit-
gliedern zu den Ausgaben der Innungen
für Herbergswesen und Fachschulen zu ge-
statten. Diese Befugnis ist durch das G. v.
26. Juli 1897 in Wegfall gekommen. Man
ging bei Erlass desselben von der Voraus-
setzung aus, dass bei Innungen, die geeignet
seien, mit derartigen Rechten ausgestattet
zu werden, auch die Bedingimgen für Er-
richtung einer Zwangsinnung vorliegen, bei
der Bildung einer solchen aber für Vor-
rechte kein Raum vorhanden sein würde,
Annage. IV. 28
434
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
da sämtKche Berufegenossen der Innung
angehören müssten. Die bisher verliehenen
Pnvilegien kommen 6 Monate nach dem
Inkrafttreten der betreffenden Bestimmungen
des Gesetzes, dessen Zeitpunkt durch eine
kaiserliche mit Zustimmung des Bundes-
rates zu erlassende Verordnung bestimmt
wird, in Wegfall (Art. 6).
Den Innungen ist die Pflicht auferlegt,
einen Gesellenausschuss zu bilden.
Derselbe geht aus Wahlen der bei den In-
nungsmitgliedem beschäftigten Gesellen her-
vor und ist bei der Regelung des Lehrlings-
wesens, der Gesellenprüfung, sowie bei allen
Einrichtimgen zu beteiligen, welche zur
Unterstützung der Gesellen bestimmt sind,
oder für welche diese Beiträge entrichten
bezw. eine besondere Mühewaltung über-
nehmen (§§ 95, 96).
Zwangsinnungen können durch Be-
schluss der höheren Verwaltungsbehörde
unter folgenden Voraussetzungen errichtet
werden: 1. Die Errichtung muss von den
Beteiligten beantragt werden und zwar ent-
weder von einer bestehenden Innung oder
von Handwerkern, welche zu einer neuen
Innung zusammentreten wollen. Der An-
trag kann ohne weiteres abgelehnt werden:
wenn: a) entweder die Antragsteller einen
verhältnismässig nur kleinen Bruchteil der
beteiligten Handwerker bilden; b) oder ein
gleicher Antrag innerhalb der drei letzten
Jahre von der Mehrheit der Beteiligten ver-
worfen ist; c) oder durch andere Einrich-
tungen für die Wahrnehmung der gemein-
samen gewerblichen Interessen der betei-
ligten Handwerker ausreichend Fürsorge ge-
troffen ist. 2. Die Mehrheit der Beteihgten
muss der Einführung des Beitrittszwanges
zustimmen. Um festzustellen, ob dies der
Fall ist, hat die höhere Verwaltimgsbehönle
eine Abstimmung zu veranstalten, bei welcher
die Mehrheit derjenigen, welche an derselben
teilnehmen, die Entscheidung giebt. 3. Der
Bezirk der Innung muss so abgegrenzt sein,
dass kein Mitglied durch die Entfernung
seines Wohnortes vom Sitze der Innung be-
hindert wird, am Genossenschaftsleben teil-
zunehmen und die Innungseinrichtungen zu
benutzen. 4. Die Zahl der im Bezirk vor-
handenen Handwerker muss ziu* Bildung
einer leistungsfähigen Innung ausreichen.
Die Zwangsinnungen können nur für g 1 e i c h e
und verwandte Handwerke gebildet wer-
den. Als verwandte Handwerke sind solche
anzusehen, welche nach örtlichem Brauche
wlfach gemeinsam betrieben werden und
in ihrer Technik einander so nahe stehen,
dass der Betrieb des einen zugleich ein
ausreichendes Veretändnis für die technischen
Fertigkeiten, den geschäftlichen Betrieb und
die Interessen des anderen gewährleistet.
Auf Antrag kann die Bildung der Innung
auf solche Gewerbetreibende beschrSakt
werden, welche in der Hegel Gesellen oder
Lehrlinge halten (Art 1 §§ 100— 100b).
Die Aufgaben der Zwangsinnungen
entsprechen denen der freien Innungen. Nur
gemeinsame Geschäftsbetriebe dürfen die
2wangsinnungen nicht errichten. Ebenso
können sie ihre Mitglieder zur Teilnahme
an Unterstützungskassen nur insoweit ver-
pflichten, als letztere den Charakter von
Krankenkassen haben, welche den Vor-
schriften des Erankenversicherungsgesetzes
entsprechen (§ 100 n). Den Innungen ist
ausdrücklich untersagt, ihre Mitglieder in
der Festsetzung der Preise ihrer Waren oder
in der Annahme von Kunden zu beschränken
(§ 100 (j). Der Charakter der Innung sJs
Zwangsinnung darf von der höheren Ver-
waltungsbehörde wieder aufgehoben werden,
wenn ^/4 der Innungsmitglieder zustimmen
(§ 100 t).
Für diejenigen Innungen, welche der-
selben Aufsichtsbehörde unterstehen, kann
ein Innungsausschuss gebildet werden,
welchem die Vertretung der gemeinsamen
Interessen der beteiligten Innungen obliegt
(§§ 101, 102).
Zur Vertretung der Interessen des Hand-
werks in grösseren Bezirken sind durch
Verfügung der Landescentralbehörde Hand-
werkskammern zu errichten. Die Mit-
glieder derselben werden gewählt: 1. von
den Handwerkerinnungen, sowohl den fiakul-
tativen als den Zwangsinnungen, aus der
Zahl der Innungsmitglieder; 2. von denje-
nigen Gewerbevereinen und sonstigen Ver-
einigimgen, welche die Förderung der ge-
werblichen Interessen des Handwerks veiv
folgen und mindestens zur Hälfte aus Hand-
werkern bestehen, wobei jedoch nur die-
jenigen ihrer Mitglieder, welche ein Hand-
werk betreiben, wahlberechtigt und wählbar
sind (108, 103 b). Der Handwerkskanuner
liegt ob: 1. die nähere Regelung des Iielu^
lingswesens; 2. die üeberwachung der da-
rauf bezüglichen Vorschriften ; 3. die Unter-
stützung der Staats- und Gemeindebehörden
durch thatsächliche Mitteilungen und Er-
stattimg von Gutachten in Angelegenheiten
des Handwerks; 4. Formulierung von Wün-
schen und Anti*ägen sowie Ei*stattung von
Jahresberichten gegenüber den Behörden;
5. Bildung von Prüfungsausschüssen für die
GeseUenprüf tmg ; 6. Bildung von Ausschüssen
zur Entscheidung über Beanstandungen von
Beschlüssen der Prüfungsausschüsse für die
Gesellenprüfung. Die Handwerkskammern
sind ferner befugt, Veranstaltungen zur Aus-
bildung von Meistern, Gesellen und Lehr-
lingen zu treffen, Fachschulen zu errichten
tmd zu unterstützen. Sie sollen in allen
wichtigen, die Interessen des Handwerks
betreffenden Angelegenheiten gehört werden
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
435
(§ 103 e). Bei jeder Handwerkskammer ist
von der Aufsichtsbehörde ein Kommissar
zur üeberwachung derselben zu bestellen
(§ 103 h) und ein Gesellenausschuss zu bil-
den. Letzterer wird von den Gesellenaus-
schüssen der Innungen und nach Anordnung
der CentraJbehorde auch von solchen Ge-
sellen gewählt, welche bei den wahlberech-
tigten Mitgliedern der Gewerbevereine und
sonstigen Vereinigungen beschäftigt sind.
Er hat mitzuwirken: 1. beim Erlass von
Vorscliriften über das Lehi'lingswesen ; 2.
bei Abgabe von Gutachten und Erstattimg
von Berichten, welche die Yerhältnisse der
Gesellen und Lehrlinge berühren; 3. bei
Entscheidung über Beanstandungen von Be-
schlüssen der Prüfungsausschüsse für die
Gesellenprüfung (§§ 103 i, 103 k).
Innungen, welche nicht derselben Auf-
sichtsbehörde unterstehen, können sich zu
In nungs verbänden vereinigen. Diese
haben die Aufgabe, die gemeinsamen Inte-
ressen der in ihnen vertretenen Gewerbe
zu fördern. Durch Besclüuss des Bundes-
rates können ihnen Korporationsrechte bei-
gelegt werden (§ 104 ff.).
Den Vorschnften über Innungen und
Handwerkskammern gehen in dem G. v. 26.
Juli 1897 parallel Bestimmungen über das
Halten von Lehrlingen und die Führung des
Meistertitels.
Die Befugnis, Lehrlinge auszubil-
den, steht nur solchen Personen zu, welche
1. das 24. Lebensjahr vollendet und 2. in
dem betreffenden Gewerbe a) entweder die
von der Handwerkskammer vorgeschriebene,
eventuell eine mindestens dreijährige Lehr-
zeit zurückgelegt und die Gesellenprüfung
bestanden, b) oder fünf Jahre hindurch per-
sönlich das Handwerk ausgeübt haben bezw,
als AVerkmeister oder in ähnlicher Stellung
thätig gewesen sind. Die höhere Verwal-
tungsbehörde kann aber auch Personen,
welche diesen Anfordenmgen nicht ent-
sprechen, die Befugnis zur Anleitung von
Lehrlingen verleihen (§ 129).
Den Meistertitel dürfen künftig Hand-
werker nur führen, wenn sie in ihrem Hand-
werk die Befugnis zur Anleitung von Lehr-
lingen erworben und die Meisterprüfung be-
standen haben. Zu letzterer sind sie in der
Regel nur zuzulassen, wenn sie di^i Jahre
als Geselle in ihrem Gewerbe thätig ge-
wesen sind. Die Abnahme der Prüfung er-
folgt diuxjh Prüfungskommissionen, welche
aus einem Vorsitzenden und vier Beisitzern
bestehen und durch die höhere Verwaltungs-
behörde nach Anhörung der Handwerks-
kammer errichtet werden. Die Prüfung hat
den Nachweis der Befähigung zur Aus-
übung und Kostenberechnung aer gewöhn-
lichen Arbeiten des Gewerbes sowie der
zum selbständigen Betriebe desselben sonst
notwendigen Kenntnisse, insbesondere auch
in der Buch- und Rechnungsführung zu er-
bringen (§ 133).
(Für die genauere Darstellung der liier
behandelten Fragen ist auf die Artikel
Innungen und Lehrlingswesen zu
verweisen).
Das G. V. 26. Juli 1897 enthält eine
Reihe von Bestimmungen, welche man un-
bedenklich als eine Verbesserung der be-
stehenden Zustände bezeichnen kann. Zu
diesen gehören die Vorschriften über die
Handwerkskammern und über das
Lehrlingswesen. Der Handwerkerstand
entbehrte bisher gänzlich einer geordneten
Vertretung seiner Interessen. Er konnte
mit Fug und Recht beanspruchen, dass ihm
eine solche ebenso gut eingeräumt werde,
wie Handel und Grossindustrie sie besitzen.
Aber auch für die Organe der Gesetzgebung
und Verwaltung ist es von Vorteil, bei der
Beratung und Feststellung von Gesetzent-
würfen und Verwaltungsmassregeln sich
eines sachverständigen Beirates bedienen zu
können. Endlich erscheint die Handwerks-
kammer in hohem Masse dazu geeignet^ die
gesetzlichen Bestimmungen über die Ver-
hältnisse des Handwerks da, wo es erforder-
lich ist, durch Einzelvorschriften zu ergänzen.
Auch die Regelung des Lehrlings-
wesens, wie sie in dem Gesetze vorge-
sehen ist, kann im allgemeinen durchaus
befriedigen. Eine Verschärfung der für das-
selbe massgebenden Gnmdsätze war ein
dringendes Bedürfnis. Die Klagen, welche
innerhalb des Gewerbestandes seit vielen
Jahren über die mangelhafte Ausbildung der
Lehrlinge laut geworden sind, erscheinen,
wenn dabei auch einzelne Uebertreibungen
mit unterlaufen, doch im wesentlichen als
.berechtigt. Es war daher durchaus ange-
messen, diejenigen Personen, welche als zur
Ausbildung der Lehrlinge ungeeignet zu er-
achten sind, von der Befugnis, solche anzu-
leiten, auszuschliessen und die Pflichten der
Lehrherren gegenüber den Lehrlingen ge-
nauer zu formulieren. Namentlich für die
künftige Entwickelung des Handwerkerstan-
des ist die sorgfältige Ausbildung der Lehr-
linge von grosser Wichtigkeit. Nur hervor-
ragende individuelle Leistungen können den
Handwerkerstand lebensfähig erhalten und
ihm die Möglichkeit geben, sich im Kampfe
mit der Grossindustrie zu behaupten. Aus
diesen Gründen ist eine möglichst umfas-
sende Einführung von Gesellenprüfungen,
wie sie das Gesetz anstrebt, durchaus zu
bilHgen. Es erscheint auch angemessen,
dass regelmässig nur diejenigen sich mit
der Anleitung von Lehrlingen befassen soUen,
welche selbst eine ordnung'smässige Lehrzeit
durchgemacht und die Gesellenprüfung be-
standen haben. Die Härte, welche in dieser
28*
436
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
Bestimmung für einzelne Personen liegen
könnte, ist dadurch ausgeglichen, dass die
angegebenen Erfordernisse auch durch die
selbständige Ausübung des Handwerks bezw.
die Thätigkeit als Werkmeister oder in ähn-
licher Stellung während eines Zeitraumes
von fiinf Jahren ersetzt werden und dass
in geeigneten Fällen die Behörde solchen
Personen, welche den vorgeschriebenen Er-
fordernissen nicht entsprechen, die Befugnis
zur Anleitung von Lehrlingen trotzdem ver-
leihen kann.
Nicht so günstig wie das urteil über
diese Teile des Gresetzes kann daß über die
übrigen Partieen desselben lauten. Aller-
dings enthält dasselbe gegenüber dem
preussischen Entwürfe erhebliche
Verbesserungen. Diese bestehen na-
mentlich darin, dass, von der allgemeinen
Einführung der Zwangsinnungen abgesehen,
neben den Innungen auch den Gewerbe-
vereinen und anderen die Förderung des
Handwerks bezweckenden Vereinigimgen
eine entsprechende Stellung eingeräumt und
die überflüssige Zwischeninstanz des Hand-
werksausschusses in Wegfall gebracht ist.
Mit vollem ßecht wird in der Begründung
zur Bundesratsvorlage darauf hingewiesen,
dass in einem grossen Teile des Reiches
das Material für die Bildung lebensfähiger
Innungen bei den meisten Gewerben gar
nicht vorhanden sein und dass die Errich-
tung gemischter Innungen sich deshalb nicht
empfehlen würde, w^eil diese für die Er-
füllung der Hauptaufgaben der Innungen
wenig geeignet sind.
Aber die Konsequenz, welche aus diesen
Ausführungen eigentlich hätte gezogen wer-
den sollen, die völlige Aufgabe der
Zwangsinnung, ist nicht eingetreten.
Man hat dieselbe trotz der vorerwähnten
Erwtoingen beibehalten, wenn auch nur in
der Form der sogenannten fakultativen
Zwan^sinnungen, welche kraft eines
Mehrheitsbeschlusses der beteiligten Hand-
werker und einer Anordnung der höheren
Verwaltungsbehörde errichtet werden können.
Dieses Zwittergebüde wäre meines Erachtens
durchaus entbehrlich gewesen. Die Ver-
tretung des Handwerkerstandes in Hand-
werkskammern hätte auch ohne die Zwangs-
innungen hergestellt werden können, indem
man das Wahlrecht teils auf freie Innungen,
Gewerbevereine und ähnliche Organisationen
basiert, ausserdem aber auch den nicht
korporierten Handwerkern ein solches ein-
geräumt hätte. Dass letzteres nicht ge-
schehen ist, muss überhaupt bedauert wer-
den. Denn bei der jetzigen Organisation
wird in den Handwerkskammern doch immer
nur ein Teil des Handwerkerstandes ver-
treten sein. Das Femhalten eines Hand-
werkers vom genossenschaftlichen Leben
braucht nicht immer in Trägheit und Gleich-
gUtigkeit seinen Grund zu haben, sondern
kann auch durch wohlberechtigteErwägungen,
z. B. durch den Geist und die Tendenzen,
welche in der bestehenden Organisation die
Oberherrschaft haben, motiviert sein. Ebenso
wäre die Durchführung der Lehrlings-
prüfungen ohne Zwangsinnung möglich ge-
wesen, wenn man dieselben teüs den freien
Innungen, teils den von der Handwerks-
kammer gebildeten Prüfungsausschüssen
übertragen hätte. Auf manchen anderen
Gebieten aber wird die Zwangsinnung so-
gar erheblich weniger als die freie Innung
leisten, da sie weder gemeinsame Geschäfts-
betriebe errichten noch auch ausserhalb des
Gebietes der reichsgesetzlichen Krankenver-
sicherung ünterstützungskassen mit obli-
gatorischem Beitritt begründen kann.
Die Zwangsinnung erscheint daher wenig
geeignet, ihre Mitglieder wirtschaftlich zu
imterstützen und zu fördern. Diejenigen
Personen, welche gegen ihren Willen durch
Mehrheitsbeschluss in dieselbe hineinge-
zwängt werden, stehen ihr naturgemäss von
vornherein abgeneigt gegenüber. Sie sind
auch für die Innung schwerlich ein grosser
Gewinn. Aber auch diejenigen, welche die
Zwangsinnung ursprünglich erstrebt haben,
werden vielfach enttäuscht sein, wenn sie
erkennen, wie wenige wirtschaftliche Vor-
teile ihnen dieselbe gewährt.
Die Erfordernisse, welche das Gesetz
für die Bildung von Zwangsinnungen auf-
stellt, sind ziemlich streng. Wenn die Be-
hörden — wie es zu wünschen ist — sich
bei Zulassimg derselben genau an diese Vor-
schriften halten, so ist das Resultat aller
Wahrscheinlichkeit nach das, dass in den
meisten Gegenden nur wenige zahlreich ver-
tretene Gewerbe zu Zwangsinnungen zu-
sammengefasst werden. Auch wird sich
vermutlich eine territoriale Verschiedenheit
entwickeln. Im Norden und Osten Deutsch-
lands kommt es vermutlich in weit höherem
Masse zu der Errichtung von Zwangs-
innungen als im Westen, Süden und auch
wohl in Mitteldeutschland, da sich der
Handwerkerstand in diesen Gegenden gegen-
über den zünftlerischen Bestrebungen über-
wiegend ablehnend verhält. Eüne derartige
Verschiedenheit der gewerblichen Organi-
sation in dem einheitlichen Wirtsclmfte-
gebiete des Deutschen Reiches ist aber ge-
\^n8s keine eiireiüiche Erscheinung.
12. Gewerbliche Arbeiter. Die Ge-
werbeordnung erklärt die Festsetzung der
zwischen den selbständigen Gewerbetreiben-
den und den gewerblichen Arbeitern be-
stehenden VerhÖtnisse für einen Gegenstand
freier Uebereinkimft, soweit nicht reichs-
gesetzliche Beschränkungen bestehen (G.O.
§ 105). In der Gewerbeoriänung selbst finden
Gewerbegesetzgebung (DeutscMand)
437
sich zahlreiche Yorschriften über das Ar-
beitsverhältnis, welche teils einen privat-
rechtlichen, teils einen Öffentlichrechtlichen
Charakter liaben. Namentlich ist auch der
sogenannte Arbeiterschutz daselbst eingehend
feregelt. Eine Erörterung der betreffenden
ragen fällt ausserhalb des Rahmens des
gegenwärtigen Artikels, da dieselben in
zahlreichen Specialartikeln eine eingehende
Behandlung finden (vgl. die Artt. Arbeit,
Arbeiter oben Bd. 1 S. 446 ff., Arbeiter-
schutzgesetzgebung, ebenda S. 470ff.,
Arbeitsvertrag, ebenda S. 979 ff., Ar-
beitsvertragsbruch, ebenda S. 993 ff.,
Frauenarbeit, Bd. ms. 1195 ff., Jugend-
liche Arbeiter, Kinderarbeit, Lehr-
lingswesen).
13. Gewerbliche Hilfskassen. Die
preussische Q.O. v. 17. Januar 1845 sowie
spätere preussische Gesetze hatten den Ge-
meinden und höheren Verwaltungsbehörden
die Befugnis beigelegt, sowohl die selb-
ständigen Gewerbetreibenden als das ge-
werbliche Hilfspersonal im weitesten Um-
fange zur Bildung von Hilfskassen und zum
Eintritt in dieselben zwangsweise anzuhalten.
Die G.O. V. 21. Juni 1869 beseitigte die auf
diese Weise begründeten Verpflichtungen
für die selbständigen Gewerbetreibenden.
Dagegen hielt sie in Bezug auf die gewerb-
Hchen Hilfskassen der Gesellen, Gehilfen
und Fabrikarbeiter zunächst die Landes-
gesetze aufrecht, eine spätere reichsgesetz-
liche Regelung des Gegenstandes wurde
vorbehalten. Durch das R.G. v. 7. April
1876 wurden eingehende Bestimmungen über
Hüfekassen erlassen. Im Anschluss an dieses
Gesetz wurde durch eine Abänderung der
G.O. V. 8. April 1876 den Gemeinden imd
grösseren EommunaJverbänden die Befugnis
beigelegt, die Bildung derartiger Kassen für
Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter durch
statutarische Anordnung obligatorisch zu
machen. Infolge der neueren Arbeiterver-
sicherung, insbesondere durch das Kranken-
versicherungsgesetz hat diese Bestimmung
ihre Bedeutung verloren (vgl. den Art. Ar-
beiterversicherung oben Bd. IS. 607 ff.).
III. Bestrebungen auf Abändemng. der
G.O.
Dem gegenwärtigen Reichstage ist ein
Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung
der Gewerbeordnung, vorgelegt worden
.(Drucksachen Nr. 165, Sten. Ber. Anlagen
ö. 1231 ff.), welcher die verschiedensten
Gegenstände betrifft. Ein Teil derselben
bezieht sich auf gewerbliche Anlagen.
Dem Gewerbetreibenden, welcher lun Kon-
zessionierung einer gewerblichen Anlage
nachgesucht hat, soll künftighin auf seinen
Antrag in dem Konzessionsbescheide die
unverzügliche Ausführung der baulichen An-
lagen auch vor Ablauf des Rekursverfahrens
gestattet werden können, die Behörde ist
aber befugt, dem betreffenden Gewerbe-
treibenden eine Sicherheitsstellung aufzuer-
legen und die Gestattung von der Leistung
der Sicherheit abhängig zu machen (Art. 1
Nr. I). Der Zweck der Vorschrift ist, solche
Verzögerungen der Genehmigung zu ver-
hüten, durch welche die Interessen des
Unternehmers wesentlich beeinträchtigt wer-
den können. Den Sachverständigen,
welche bei Konzessionierung von Gewerbe-
anlagen zugezogen werden können, wird die
Pflicht der Verschwiegenheit hinsichtlich
der zu ihrer Kenntnis gelangten Betriebs-
einrichtungen imd Betriebsweisen auferlegt
(Art. 1 Nr. H). Diese Bestimmungen sind
durchaus sachgemäss und werden im Reichs-
tage kaum eine Beanstandung finden. Das-
selbe gilt von einer Vorschrift, welche sich
auf die Zulassung von konzessionspflichtigen
gewerblichen Anlagen in einzelnen Orts-
teilen bezieht. Nach der bisherigen Gesetz-
gebung konnten solche Anlagen mw durch
Ortsstatut ausgeschlossen werden. Die
in Aussicht genommene Fassung spricht
aus, dassalle landesrechtlichen Vor-
schriften, nach welchen bestimmte An-
lagen in einzelnen Ortsteilen gar nicht oder
nur unter Beschränkungen zugelassen sind,
auf die konzessionspflichtigen Anlagen An-
wendung finden (Art. 2 Nr. H). Endlich
ist noch eine auf Privatschlächtereien
bezügliche Anordnung zu erwähnen. Solche
konnten bisher nur in solchen Orten unter-
sagt werden, in welchen öffentliche Schlacht-
häuser in genügendem Umfange vorhanden
waren. Ob ein Verbot dieser Art auch zu
Gunsten öffentlicher Schlachthäuser, die sich
in einer Nachbargemeinde befanden, erlassen
werden konnte, war streitig. Die in dem
Entwürfe vorgeschlagene neue Fassung wül
ein derartiges Verbot zulassen; Äivat-
schlächtereien sollen in solchen Gemeinden
untersagt werden können, für welche
öffentliche Schlachthäuser in genügendem
Umfange bestehen oder errichtet werden
(Art. 2 Nr. I). Das Bestreben, die Schlach-
tungen möglichst in öffentlichen Schlacht-
häusern zu koncentrieren, ist durchaus an-
zuerkennen ; es kann aber doch zu UnbiUiff'
keiten führen, die Schlächter einer Gemeinde
zu zwingen, dass sie die Schlachtungen in
einer Nachbargemeinde vornehmen. Die
Bestimmung hat daher schon bei der ersten
Beratung des Gesetzentwurfs im Reichstage
zu Beanstandungen geführt jand wird auch
bei den weiteren Verhandlungen zweifellos
noch den Gegenstand eingehenderer Er-
örterungen bilden.
Ausser mit gewerblichen Anlagen be-
schäftigt sich der Gesetzentwiu'f namentlich
noch mit Gesindevermietern und
438
Grewerbegesetzgebung (Deutschland)
Stellenvermittlern. Deren Gewerbe-
betrieb, welcher bisher lediglich einem poli-
zeilichen Yerbietungsrechte unterlag, soll
künftig unter Konzessionspflicht gestellt wer-
den, lieber den Geschäftsbetrieb der genannten
Personen sollen durch Landesgesetze und Ver-
ordnungen beschränkende Bestimmungen er-
lassen werden dürfen. Den Gesindevermietern
und Stellenvermittlern wird endlich die Ver-
pflichtung auferlegt, die für ihre gewerblichen
Leistungen aufgestelltenTaxen derOrtspolizei-
behörde einzureichen und in ihren Geschäfts-
räumen anzuschlagen (Art. 3). Diese Vor-
schriften werden mit Missständen motiviert,
welche sich in dem Gewerbe der Gesinde-
vermieter und SteUenvermittler ausgebildet
haben. Diese Missstände sind auch unleug-
bar, und eine Abstellung derselben ist drin-
gend zu wünschen. Andererseits darf man
nicht ausser acht lassen, dass die Einrich-
tungen für Stellenvermittelung ausserordent-
lich verschieden sind und dass daher eine
genaue Prüfung notwendig ist, in welchem
Umfange die gedachten Vorschriften auf
sie Anwendung finden sollen. Dass sich
dieselben auf korporative und kommunale
Arbeitsnachweise nicht erstrecken werden,
scheint selbstverständlich, und es liegt auch
wohl nicht in der Absicht des Gesetzes, sie
darauf auszudehnen. Aber auch die Ver-
hältnisse der Theateragenturen werden noch
einer eingehenden Untersuchung bedürfen.
Anderweite Bestimmungen über persönhche
Gewerbebetriebe sind folgende. Die Be-
stimmungen über das rfandleihgewerbe
sollen auch auf die gewerbsmässige
Pfandvermittelung Anwendung finden
(Art. 3 No. 11). Der Gewerbebetrieb der
Auktionatoren kann durch landesgesetz-
liche Anordnungen und Verordnungen der
Centralbehörden geregelt werden (Art. 3
No. IV). Die Landesregierungen werden
für befugt erklärt, Bücherrevisoren
öffentlich anzustellen und auf die Beobach-
tung der bestehenden Vorscluiften zu be-
eidigen (Art. 4). Vom Feilhalten und
VerkaufimUmherziehen sollen künftig
auch Bnichbänder ausgeschlossen sein (Art. 5).
Endlich findet sich in dem Gesetzent-
wurf eine Reihe von Vorschriften, welche
dem Gebiete des Arbeiterschutzes
angehören und sich namentlich auf die
Kleider- und Wäschekonfektion sowie auf
Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter in offenen
Verkaufsstellen beziehen. Dieselben fallen
aber ausserhalb des Rahmens des vorliegen-
den Artikels. .
Der Gesetzentwurf ist in der Reichstags-
sitzung vom 20. April 1899 einer Kommis-
sion zur Vorberatung überM^esen worden
(Sten. Ber. S. 1909), welche daran verschie-
dene Aenderungen vorgenommen hat. Er
wii-d ei-st in der AVintersession 1899/1900
zur zweiten Beratung im Plenum gelangen.
Sein Schicksal ist daher noch nicht abzusehen.
Während der augenblicklich dem Reichs-
tage vorliegende Gesetzentwurf nur Einzel-
heiten beöft und die Grundlagen der
Reichsgewerbeordnung unberührt lässt, be-
stehen anderweite Tendenzen, welche so-
wohl in B[andwerkerkrei8en verbreitet als
von einzelnen politischen Parteien vertreten
werden und ausserordentlich viel weiter
gehen. Die Anhänger derselben wollen,
dass mit dem Grundsatz der Gewerbefreiheit
vollständig gebrochen werde. Wenn sie
auch nicht gerade auf eine völlige Wieder-
herstellung der alten Zunftverfassung hinaus-
gehen, so fordern sie doch mindestens die
Einrichtung von Zwangsinnungen nach dem
Muster des ehemaligen Berlepschschen Ent-
wurfes und die Einführung des Befähigungs-
nachweises für das Handwerk. Auch mit
den Zugeständnissen, welche durch die G.O.-
Novelle V. 26. Juli 1897 gemacht worden
sind, erklären sie sich nicht für befriedigt
und betrachten dieselben höchstens als eine
Abschlagszahlung. Es ist daher notwendig,
auf die Bedenken, welche gegen derartige
Einrichtungen bestehen, am Schluss des
vorliegenden Artikels noch kurz einzugehen.
Es wurde schon bei der Besprechung
der G.O.-Novelle v. 26. Juli 1897 hervorge-
hoben, dass gegen die sogenannte fakultative
Zwangsinnung sich mancherlei Einwendun-
gen erheben lassen. Die Einführimg der
obligatorischen Zwangsinnung würde aber
noch eine bedeutende Verschlechtening des
bestehenden Rechtszustandes sein. Dem
Handwerkerstande würden dieselben wenig
bieten. Dies ergiobt sich am klarsten, wenn
die Aufgaben, welche ihnen nach dem
Berlepschschen Entwürfe zugewiesen waren,
einer Prüfung unterzogen werden. Am ehesten
wären sie vielleicht noch im stände sein,
auf dem Gebiete des Lehrlingswesens etwas
zu leisten, doch reichen auch hier die be-
stehenden Einrichtungen vollkommen aus.
In allen anderen Beziehimgen dagegen ist
von den Zwangsinnungen äusserst wenig zu
erwarten. Förderung des Gemeingeistes imd
Stärkung der Standeselire sind gewiss sehr
erstrebenswerte Ziele. Aber zwangsweise
Organisationen erscheinen ziu: Verwirk-
lichung derselben ganz ungeeignet Für das
Herbergswesen und den Arbeitsnachweis
würden wohl nur einzelne Innungen in
grossen Städten Erhebliches leisten können.
Der Arbeitsnachweis bedarf, wenn er wirk-
sam sein soU, einer viel stärkeren Centrali-
sation, als bei den Innungen möglich ist.
In neuerer Zeit sind seitc^ns einzäner Ge-
meinden Arbeitsnachweise enichtet worden.
Die Aufgabe der Zukunft liegt vielmehr in
dem weiteren Ausbau dieser Ehirichtimgen
und der Ausdehnimg derselben auf grössere
Gewerbegesetzgebung (Deutschland)
439
Bezirke als in der Uebertragung der betref-
fenden Thätigkeiten auf die Handwerker-
innujigen. Noch weniger erscheint die
Mehrzahl der Innungen für die Errichtung
von Schulen und sonstigen Bildungsanstalten
geeignet; diese Aufgabe kann nur von dem
Staate und den kommunalen Verbänden
erfüllt werden. Zur Begründung von Kran-
ken-, Sterbe- und Invaliditätskassen seitens
der Innungen besteht ein geringes Bedürf-
nis, nachdem Kranken-, Unfall-, Invaliditäts-
und Altersversicherung durch eine gross-
artige sozial-politische Organisation im gan-
zen Reiche durchgeführt sind. Diese Or-
ganisation leidet schon jetzt an einer etwas
zu grossen Kompliziertheit, ein Mangel, dem
schwerlich dadurch abgeholfen würde, dass
zu den schon bestehenden Kassen und An-
stallen nun noch die von den Innungen
errichteten hinzuträten. Ausserdem erfordern
Yersicherungseinrichtungen — und um solche
handelt es sich hier — wegen der Vertei-
lung des Risikos 'grosse Verbände; die
meisten Innungen sind für die Durchführung
solcher Aufgaben viel zu klein. Die richter-
liche und schiedsrichterliche Tliätigkeit der
Innungen in Lehrlings- und Gewerbestreitig-
keiten würde eine starke Diu'chbrechung der
erst vor wenigen Jahren geschaffenen Or-
ganisation der Gewerbegerichte zur Folge
haben.
Es muss aber auch bezweifelt werden,
ob sich das erforderliche Material für die
Büdunglebensfälü^er Innungen finden würde.
Dieses Bedenken ist mit vollem Rechte auch
in der Begründung zu der Bundesratsvor-
lage, aus welcher das G. v. 26. Juli 1897
hervorgegangen ist, geltend gemacht worden.
Innungen, welche etwas leisten soUen, dür-
fen nur solche Gewerbetreibende umfassen,
welche dasselbe Handwerk ausüben. Ge-
mischte Inmmgen sind gerade für die
Hauptaufgaben wenig geeignet. Anderer-
seits müssen aber auch die Bezirke der
Innungen so abgegrenzt werden, dass dem
einzelnen Mitgliede die Möglichkeit gewahrt
bleibt, an dem Genossenschaftsleben teilzu-
nehmen und die Innungseinrichtimgen zu
benutzen ; sie dürfen also nur einen Ort und
dessen nächste Umgebung umfassen. Nun
werden aber selbst in Städten mittlerer
Grösse manche Gewerbe gar nicht von so
viel Personen betrieben, dass die Möglich-
keit besteht, für sie eine lebensfähige In-
nung zu bilden. Es genügt in dieser Be-
ziehung auf die Gewerbe der Brunnen-
macher, Dachdecker, Feüenhauer, Gas- und
Wasserleitungsinstallateure ,* Glockengiesser,
Graveure, Handschuhmacher, Kammmacher,
Mühlenbauer, Schornsteinfeger, Seifensieder^
Siebmacher, Schirmmacher, Büchsenmacher,
Stuckateure u. a. zu verweisen. Ja es er-
schien äusserst zweifelhaft, ob ausser für
Schneider, Schuhmacher, Tischler, Schlosser,
Schmiede, Bäcker und Fleischer überhaupt
viel Innungen gebildet werden könnten,
welche die für eine erspriessliche Wirksam-
keit erforderliche Mitgliederzahl besitzen
würden.
Ebenso gewichtige Bedenken stellen sich
der Einführung des Befähigungsnach-
weises entgegen. Derselbe bedeutet im
Grunde eine Rückkehr zu den allen Zunft-
einrichtungen, welche von der thatsächlichen
wirtschaftlichen Entwickelung überholt wor-
den sind. Da die Prüfungen in die Hände
der Innungen oder solcher Konmiissionen,
welche von den Gewerbetreibenden selbst
gewählt werden, also von Konkurrenten
gelegt werden sollen, so besteht die Gefahr,
dass alle Missbi-äuche des Zunftwesens
sich wieder einschleichen. Die Befürchtung,
dass die Prüfenden bei der Beurteilung der
Leistungen sich nicht von objektiven Ge-
sichtspunkten, sondern von dem Streben
leiten lassen werden, einen unangenehmen
Konkurrenten fern zu halten, ist nach den
Erfahrungen früherer Zeiten nur zu be-
gründet. So könnte die neue Einrichtung,
anstatt den Handwerksstand zu fördern,
sich sehr leicht zu einem Hindernis für
aufstrebende Talente gestalten. Aber auch
die praktische Durchführung des Befähi-
gungsnachweises begegnet grossen Schwie-
rigkeiten. Sie erfordert eine Scheidung
zwischen Handwerk und Fabrik, yde sie
bei vielen Gewerbebetrieben heutzutage ein-
fach unmöglich ist. Mit der Einführung des
Befähigungsnachweises wird eine genaue
Abgrenzung der einzelnen Gewerbe von
einander erforderlich; die unvermeidliche
Folge davon ist die Entstehung zahlreicher
Kompetenzstreitigkeiten unter denselben, wie
solche namentlich in Oesterreich hervoree-
treten sind. Die Vereinigung mehrerer Ge-
werbe zu einem einzigen Betriebe wird da-
durch ausserordentlich erschwert, vielfach
sogar unmöglich gemacht. Dasselbe gilt
von dem Betriebe von Nebengewerben, ein
Umstand, der namentlich auf dem Lande zu
grossen Unzuträgliclikeiten führen würde.
Gegen den Befähigimgsnachweis spricht aber
endlich auch noch der Umstand, dass er dem
Handwerke enge Schranken zieht, der Gross-
industrie dagegen völlig freie Bewegung ge-
stattet, dem ersteren also die Konkurrenz
mit der letzteren nicht erleichtern, sondern
erschweren wird. Die Einfühnmg desselben
würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
zu einer Förderung, sondern zu einer erheb-
lichen Schädigung des Handwerkerstandes
füliren.
Höchstens bei den Baugewerben
würde die Frage der Einführung des Prü-
fungszwanges erwägungswert sein. Es wäre
seine die Rückkehr zu den Vorschriften der
440
Qewerbegesetzgebung (Deutschland— Oesterreich)
preussischen G.O. v. 17. Januar 1845 im
Gegensatz zu den weitergehenden Vor-
schriften der V. V. 9. Februar 1849. Die
Baugewerbe sind, weil sie eine Arbeit an
Ort und Stelle erfordern, ihrer Natm* nach
handwerksmässige Gewerbe. Die Abgren-
zung von Fabnibetrieben macht also hier
keine Schwierigkeit. Ausserdem kommen
bei den Bau^werben Gesichtspunkte der
öffentlichen Sicherheit in Frage; eine man-
gelhafte Ausführung von Bauten kann Leben
und Gesundheit gefährden. Eine absolute
Garantie würde aber in dieser Beziehung
auch der Befähigungsnachweis nicht ge-
währen. Denn fehlerhafte Bauten können
nicht bloss Ausfluss mangelnder Befähi-
gung, sondern auch Ausfluss mangelnder
Sor^fedt sein. Was die früher erwähnten
Motive zur G.O. v. 1868 über diesen Punkt
sagen, ist sehr beachtenswert. Jedenfalls
aber müssten, wenn man dem Gedanken
eines Prüfungszwanges für die Baugewerbe
näher treten wollte, die Prüfungen in die
Hände von staatlichen Prüfungsbehörden
und nicht in die von KonkmTcnten gelegt
werden.
Die Bestiumiungen der G.O.-Novelle v.
26. Juli 1897 müssen als das äusserste Mass
derjenigen Konzessionen bezeichnet werden,
welche möglich sind, wenn nicht die ganzen
Gnmdlagen unseres Gewerberechtes umge-
stossen werden sollen. Auch die verbünde-
ten Regierungen haben bestimmt erklärt,
dass sie über diese Zugeständnisse nicht
hinausgehen -bürden. Hoffentlich zeigen
sie sich kräftig genug, weitergehenden Be-
strebungen einen energischen Widerstand
entgegen zu setzen. Es wäre äusserst be-
klagenswert, wenn die reaktionäre Strömung
auf gewerblichem Gebiete völlig die Ober-
hand gewänne und eine Rückkehr zu ver-
alteten Formen des Wirtschaftslebens ein-
träte, welche für das Handwerk geradezu
verhängnisvoll wenien und dasselbe der
Fähigkeit berauben würde, sich imter den
heutigen schwierigen Verhältnissen dauernd
zu behaupten.
Litteratur: O. Meyer, Lehrbuch des deutschen
Vencaltun^srechtes , Bd. I, S, S71ff. — E.
lA>ening, Lehrbuch des deutschen Vencaltungs-
rechtes, S. J^Uff. — v. Stengel, Lehrbuch des
deutschen Verwaltungsrechtrs , S. S8S^. —
Laband, Staatsrecht des deutschen Reiches, S.
Aufl., Bd. II, S. 185 jf. — Zorn, Staatsrecht
des deutschen Reiches, Bd. II, S. Iff. — X».
Jacobi, Die Gewerbegesetzgebung des deutschen
Reiches, Berlin 1874. — ^» Seydel, Das Ge-
irerbepolizei^ericht des deutschen Reiches in den
Annalen des deutschen Reiches, 1881, S. 569 ff.
— O. Meves, Die strafrechtlichen Bestimmungen
der deutschen Gewerbeordnung, Erlangen 1877.
— Schihiberg in seinem Handbuch der poli-
tischen Oekonomie, 4. Aufl., Bd. II, 1 S. 5^^ ff.
JE, Meter, Art. Gewerbebetrieb, Gewerbe freiheil,
Gewerbegerichte, Gewerbeordnung in v. Sbltzen-
dorffs Rechtslexikon, Bd. II, S. 161 ff. — ZeUer,
Gewerbepolizei in v. Stengels Wörterbuch de*
deutschen Verwaltungsrechtes, Bd. I, S. ^86 ff,
— Boediker, Das Gewerberecht des deutsehen
Reiches. Im, amtlichen Auftrage, Berlin 188S.
— H, Rehnt, Die rechtliche Natur der Ge^
xoerbshmxession, München 1889. — NeuHamp,
Das Verhältnis des Bürgerlichen Gesetzbuches
zur Reichsgewerbeordnung, im Verwaltungsarchiv,
Bd. V, S. 209 ff. — Kommentare zur Gewerbe-
ordnung O, von Marcinowski, 6. Aufl.„Ber-
lin 1898; Schicker, 4. Aufl., Stuttgart 1898;
Schenkel, 2. Aufl., Karlsruhe 1892 — 94; Land'^
mann, S. Aufl., München 1897 ; P, Kay 8er,
2. Aufl., Berlin 1888. — Ueber den Befähigungs^
nachweis vgl. Stieda im Jahrb. f. Ges. u. Verw,,
Bd. 19, S. 219 ff., 617 f. — Th, Hampke,
Der Befähigungsnachweis im Handwerk, Jena
1892. — S, Mayer, Die Aufhebung des Be-
fähigungsnachweises in Oesterreich, Leipzig 1894,
— H. Waentig , Gewerbliche Midelstands-
Politik, Leipzig 1898, S. 228 ff.
Oeorg Meyer,
II. Die Oewerbegesetzgebung In
Oesterreich.
1. Bechtsgeschichtliche Einleitung : a) EarU
VI. Handwerkspatente und Generalzunftartikel.
b) Theresianische Zeit, c) Die G.O. v. Jahre 1859.
d) Die Novellen zur G.O. 2. Allgemeine Grund-
sätze des geltenden Rechtes. 3. Einteilung der
Gewerbe 4. Bedingungen für die Zulassung
zum Gewerbebetriebe. 5. Genehmigung der Be-
triebsanlage bei einzelnen Gewerben. 6. Inhalt
und Umfang der Gewerbebefugnisse. 7. Er-
löschen der Gewerbeberechtigung. 8. Gewerbe-
rechtliche Beschränkungen des Gewerbebetriebes.
9.BesondereBeschränkungen hinsichtlich einzelner
Gewerbebetriebe. 10. Marktverkehr. 11. Gewerb-
liche Hilfsarbeiter: a) Deren Stellung im allge-
meinen, b) Arbeitsbücher. c)Entlassung, Dienstans-
tritt, Kontraktbruch, d) ^rankenversorgnng. e)
Streitigkeiten ans dem Arbeitsverhältnisse, f) Lehr-
lingswesen. 12. Gewerbliche Genossenschaften:
a) Obligatorischer Charakter und organisa-
torische Bestimmungen, b) Wirkungskreis, c)
Pflichten der Mitglieder, d) Verwaltungsorgane.
e] Statute, f) Staatsaufsicht. 13. Strafbestim-
mungen. 14. Behörden und Verfahren. 15. Rück-
blicke. 16. Ausblicke.
1. RechtsgeHchichtliche Einleitung.
a) Karls VL Handwerkspatente und
G^neralzuiiftartikel. Die ersten Versuche
einer staatlich obrigkeitlichen Regelung
des Gewerbewesens sind in Oesterreich
schon Ende des 17. Jahrhunderts unter-
uDnamen worden. Sie erlangten praktische
Gestaltung in den Handwerkspatenteu, auch
Handwerksgenemlien genannt, die unter
Karl VI. zuerst für die böhmischen Erb-
lande (1731) und im folgenden Jahre auch
für einige andere Kronländer erlassen worden
sind. Der Zweck dieser Bestimmungen war
die Abstellung der Zunftmissbräuche. Dies
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
441
sollte erreicht werden durch Betonung des
Grundsatzes, dass die Errichtung von Zünften
ein landesfürstliches Recht sei. Für diet
Verfassung der Zunftsatzungen wurden Nor-
mativbestimmungen aufgestellt, denen auch
derogierende Kraft gegenüber bestehenden
Zunftsatzungen zukommen sollte. Nicht
genehmigte Zünfte (Winkelztinfte) wai*en
verboten.
Als sich die Durchführung dieser Mass-
regeln unmittelbar durch die Hofstellen als
unmöglich erwies, wurden im Jahre 1739
die Generalzunftartikel für die böhmischen
Länder erlassen, eine Art Normalstatut für
Zünfte, von dem Abweichungen diu-ch lan-
desfürstliche Genehmigung von Specialzunft-
artikeln nur ausnahmsweise für Zünfte in
grösseren Städten eintreten sollten. Solchen
Specialartikeln wurde der Charakter von
Privilegien beigelegt, die im FaUe eines
Thronwechsels zur Prüfung und landesfürst-
lichen Bestätigimg vorzulegen waren.
Die GeneraJzunftartikel nahmen eigent^
Uche Zünfte überhaupt nur für grössere Ort-
schaften in Aussicht. In kleineren Orten
trat das Princip der berufsgenossenschaft-
lichen GHedenra^ hinter dem Territorial-
princip diurch Bildung sogenannter Reili-
zünfte, die Angehörige verschiedenartiger
Gewerbszweige m sich vereinig:ten. zurück.
— Die Zunftartikel regelten eingenend das
Lehrlings- imd Gesellenwesen (Bestimmung
der Lehrzeit — meistens 3 Jahre — , Wan-
derpflicht, Gesellenherbergen, Arbeitsver-
mittelung — sogenannte Zuschickordnung — ,
Krankenversorgimg der Gesellen) und setzten
die Bediugimgen für Erlangung des Meister-
rechtes fest, das zwar nur durch die Auf-
nahme in die Zunft erworben werden konnte,
aber vermöge des Grundsatzes, dass das
Meisterrecht ein von der Obrigkeit erteiltes
Recht sei, von der Zunft nicht willkürlich
verweigert werden durfte. — Zur Leitung
der Zunft waren der von der Behörde ab-
geordnete Zunftkommissär und die periodisch
g3wählten, vielfach audi einer obrigkeitlichen
estätigung unterliegenden Zunftältesten be-
rufen. — Das Disciplinarrecht der Zunft
über Meister, Gesellen und Jungen war auf
niedere Geldstrafen (nicht über 2 fl.) einge-
schränkt — Die Zunftversammlungen waren
vierteljährlich und nur in Anwesenheit des
Zunftkommissärs abzuhalten. — Die Ab-
schaffung der Störer und Pfuscher stand
nui' der Behörde zu, die auch in Lohn-
streitigkeiten entschied, wenn die Vermitte-
lung der Zunftorgane sich als vergeblich er-
wiesen hatte.
b) Theresianisohe Zeit. Die mangel-
hafte Diurchführung der Generalzunftartikel
gab unter Maria Theresia zu weiteren Mass-
regeln gegen das Zunftwesen Anlass. Zwar
wurde die im Jahre 1751 gemachte An-
regung, die Zünfte völlig aufzuheben, in der
Folge wieder fallen gelassen, aber das Zunft-
princip • wurde in mehrfachen Richtungen
endgiltig durchbrochen. Zunächst wurde
mit der Einzüuftung bisher unzünftigter Ge-
werbe innegehalten und bestehenden Zunft-
artikeln vielfach die Genehmigung verweigert.
Auch wo die Zünfte uodi fortbestanden,
ging die Verleihung des Meisterrechtes immer
mehr auf die Staatsbehörden über. Zur Er-
langung desMeisterrechtes genügte die Vorlage
des 3Ieisterstückes und selbst auch nur ent-
sprechender Zeugnisse über eine längere
Gesellenzeit an die Behörde, die das Meister-
stück durch die kaiserlich königliche Fabrik-
inspektion prüfen Hess. Dabei wurden die
einzelnen Gewerbebefugnisse sachlich und
räumlich erweitert, die Realgewerbe und
verkäuflichen Gewerbe mehi-fach beschränkt
Die Geschlossenheit der Zünfte wurde auf-
gegeben, indem die »Hofbefreiungen«, die
vereinzelt schon Ende des 16. Jahrhunderts
vorkommen, und die »Schutzdekrete« (per-
sönliche, als Privilegien anzusehende Be-
freiungen vom Zunftzwang), die sich bis
zum Jahre 1725 ziuKickverfolgen lassen,
immer mehr in Aufnahme kamen. Durch
diese erlangten Gesellen, deren Aufnahme
in die Zunft nicht erfolgen konnte (Akatho-
liken, arme Gesellen, welche die Meister-
rechtsgebühren nicht aufzubringen im stände
waren, geschickte, aus dem Auslande ein-
gewanderte Gesellen etc.), sogenannte ein-
fache Arbeitsbefugnisse. Selbst das Recht,
Gesellen und Lehrlinge zu halten, konnte
ihnen verliehen werden. Die Schutzdekrete
bildeten auch die Form, in der das in seiner
Entwicklung von Staats wegen kräftig ge-
förderte Fabrikswesen dem Zunftzwange
entzogen wurde. Den Fabriken wurde ins-
besondere gestattet, auch wenn sie Erzeug-
nisse zünftiger Gewerbe produzierten, alle
erforderlichen Hilfsarbeiter zu halten und
selbst Gesellen zu Meistern freizusprechen.
Ebenso wurden alle als Künste erklärten
Beschäftigungen als unzünftig anerkannt. —
Von den unzünftigen Gewerben, die auf diese
Weise immer mehr an Boden gewannen,
wurde mit der Zeit eine Reihe ganz frei-
gegeben. Freie Gewerbe bestanden im Jahre
1765 schon 36 ; ein Entwurf vom Jahre 1776
zählte deren sogar 84 auf. Die Unterschei-
dung der Manufakturgewerbe in Eommerzial-
gewerbe (auf Erzeugung von Exportware
gerichtete Gewerbe) und Polizeigewerbe
(das sind solche, die nur den örtlichen Kon-
siun im Auge haben) ermöglichte eine
freiere Behandlung der ersteren. Das Vor-
handensein eines lokalen Bedürfnisses bildete
nur noch bei Polizeigewerben die Yorfrage
ftlr ilire Zulassung. Bei einer Reihe von
Kommerzialgewerben wurde dann auch von
der Prüfimg der persönlichen Qualifikation
442
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
der Bewerber Umgang genommen und die
Einreihung dieser Gewerbe in die freien
ausgesprochen. Aehnlich gestaltete sich die
Entwickelung bei den Handelsgewerben,
die der Melirzalil nach als freie Gewerbe
anerkannt wurden. Nur wenige galten als
beschränkte Handelsgewerbe in dem Sinne,
dass der Bewerber die entsprechende Fach-
ausbildung nachzuweisen verhalten wurde,
c) Die G.O. vom Jahre 1850. In
der Zeit nach Maria Theresia und Joseph II.
trat ein Stillstand in der angedeuteten
Entwickelung der österreichischen Ge-
werhegesetzgebung ein. In den Erblanden
wurde lediglich unter formeller Aufrecht-
erhaltung der Zünfte der Einfluss der
Staatsverwaltung auf das Gewerbe wesen
immer mehr gestärkt, in den italienischen
•Provinzen dagegen die daselbst bestehende
volle Gewerbefreiheit unangetastet gelassen.
Ein Umschwung trat erst durch die Er-
lassung der im allgemeinen auf vorge-
schritten freiheitlicher Gnmdlage benihenden
Gewerbeordnung vom 20. Dezember 1859
(RG.iBL Nr. 227) ein, die ein einheitliches
Kecht für das ganze Reich (ausgenommen
Venetien und die Militärgrenze) schuf. Die
Gewerbeordnung vom Jahre 1859 unterschied
lediglich zwischen konzessionierten, nämlich
an eine behördliche Bewilligung gebundenen
und freien Gewerben. Die alten Verbände
w^uKlen zwar in der Forai von Zwangs-
genossenschaften in dem Sinne, dass jeder
Gewerbetreibende zur Mitgliedschaft bei
einer Genossenschaft verpflichtet war, auf-
recht erhalten. Aber der Wirkungskreis der
Genossenschaften war ein überaus beschränk-
ter, den Hilfsarbeitern, die als Angehörige der
Genossenschaften galten, wurde kein Einfluss
auf die (Geschäftsführung und nur ein un-
zulänglicher auf die Verwaltimg der Gesellen-
kassen, auch eine nicht ausreichende Ver-
tretung im Schiedsgerichte der Genossen-
schaft eingeräumt. Hierzu kam, dass be-
stehende Innungen, selbst gegen ihren Willen,
durch behördliche Verfügimg in eine Ge-
nossenschaft zusammengelegt werden konnten,
dann, dass auch die febriksmässigen Betriebe
in die Genossenschaften einbezogen >verden
sollten, was naturgemäss eine aUzu grosse
Verschiedenheit der in den einzelnen Ge-
nossenschaften vereinigten Elemente zur
Folge hatte. Alle diese Momente mussten,
wie dies auch thatsäclüich der Fall war, die
Entfaltung einer gedeihlichen Thätigkeit der
Genossenschaften von vornherein nahezu
ausschliessen. Auch bezüglich des Arbeits-
vertrages huldigte die Gewerbeordnung vom
Jahre 1859 im allgemeinen dem Princip der
Freiheit. Bezüglich der aus dem Gesichts-
punkte des Arl)eiterschutzes statuierten Ein-
schränkungen ist auf den betreffenden Ar-
tikel (oben Bd. I, S. 51B) zu verweisen.
d) Die Novellen aur G.O. Die
Gewerbeordnung vom Jahre 1859 enthält
heute nur noch im Einffihrungspatente,
dann im V. Hauptstücke (Marktverkehr),
im Vni. (Uebertretungen und Strafen)
und im IX. (Behörden und Verfahren)
geltendes Recht. Alle anderen Bestim-
mungen wiu*den, nachdem das Staats-
grundgesetz über die Reichsvertretung vom
21. Dezember 1867 (R.G.B1. Nr. 141) im
§ 11 lit. e die Gewerbegesetzgebung (mit
-Ausschluss der Gesetzgebung über die
Propinationsrechte) als zum Wirkungskreise
des Reichsrates gehörend erklärt hatte,
d\ux3h Reichsgesetze geändert. Diese Novellen
zur Gewerbeordnung schlössen sich, ausge-
nommen das Gesetz über die Sonn- und
Feiertagsruhe und das Gesetz über die Ge-
werbegerichte, in der Nummerierung der
Paragraphen an die Gewerbeordnung vom
Jahre 1859 an, so dass die Citierung ein-
zelner Paragraphen schlechtweg als Para-
graphen der Gewerbeoixinung erfolgt.
Ergänzungen und Abänderungen erfuhr
die Gewerbeordnung vom Jahre 1859 durch
nachstehende Gesetze:
1. Das G. V. 15. März 1883 (R.G.B1. Nr. 39).
Dieses Gesetz modifizierte das I. — ^IV. Haupt-
stück der Gewerbeordnung (Einteilung der Ge-
werbe, Bedingimgen des Gewerbebetriebes,
gewerbliche Betriebsanlagen, Umfang und
Ausübung der Gewerberechte), dann das VII.
Hauptstück (Genossenschaften). Hervorzu-
heben ist die unter Einschränkung des
Kreises der freien Gewerbe erfolgte Schaffung
einer dritten Kategorie von Gewerben, der
handwerksmässigen , bei welchen die Zu-
lassung — den Fall fabriksmässigen Betriebes
ausgenommen — von der Erbringung eines
Befähigungsnachweises abhängig erklärt wur-
de. Eine Stärkung der gewerblichen Ge-
nossenschaften strebte das Gesetz insbeson-
dere durch eine Erweiterung ihres Wirkungs-
kreises, speciell auf dem Gebiete des Lehr-
lingswesens, durch Ausscheidung derfabriks-
mässig betriebenen Gewerbe (die in Zukunft
nur noch beitrittsberechtigt sein sollten)
aus dem Genossenschaftsverbande, und durch
Vermehrung des Einflusses der Hilfsarbeiter
auf die sie betreffenden Genossenschafts-
angelegenheiten an. Behöi'dliche Verfügungen
principieller Natiu: wurden der Regel nach,
hier und da auch behördliche Entscheidungen
in Einzelfällen von der vorläufigen Einver-
nehmung der beteiligten Genossenschaften
abhängig erklärt.
2. Das G. V. 8. März 1885 (RG.Bl. Nr. 22)
ersetzte das VI. Hauptstück (Gewerbliches
Hilfspersonal) durch neue Bestimmungen,
die vorwiegend dem Gebiete der Arbeiter-
schutzgesetzgebung angehören (s. den Art
ol)en Bd. I, S. 511 ff.), aber auch sonst im Sinne
der damals zur Geltimg gelangten sozial-
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
443
politischen Forderungen das Arbeitsverhält-
nis zu beeinflussen, ferner eine Hebung des
Lehrlingswesens anzubahnen bezweckten.
3. Das G. V. 16. Januar 1895 (R.G.Bl.
Nr. 21), betreffend die Regehing der Sonn-
und Feiertagsruhe im Gewerbebetriebe, das
an Stelle des von der Sonntagsruhe han-
delnden § 75 der Gewerbeordnung (in der
Fassung des Gesetzes vom Jahre 1885) trat
und im Artikel Arbeiterschutzgesetz-
gebung (oben Bd. I, S. 516) näher be-
sprochen ist.
4. Das G. V. 4. Juli 1896 (R.G.B1. Nr. 205),
das durch einen Zusatz zum § 38 der Ge-
werbeordnung (Fassung des Gesetzes vom
Jahi'e 1883) eine Abgrenzung des Umfanges
einiger Detailhandelsgewerbe im Verord-
nungswege zu ermöglichen bezweckt
5. Das G. V. 25. November 1896 (R.G.B1.
Nr. 218), betreffend die Einführung von Ge-
werbegerichten und die Gerichtsbarkeit in
Streitigkeiten aus dem gewerblichen Arbeits-,
Lehr- imd Lohnverhältnisse. Die Gewerbe-
ordnung vom Jahre 1859 hatte Streitigkeiten
der bezeichneten Art, wenn sie nicht erst
30 Tage nach dem Aufhören des Dienst- etc.
Verhältnisses angebracht wurden, der ge-
richtlichen Judikatur entzogen und, falls sie
Genossenschaftsmitglieder betrafen, der durch
Gehilfenvertreter verstärkten Genossen-
schaftsvorstehung mit Anfechtbarkeit vor
der politischen Behörde, anderenfalls aber
immittelbar der politischen Behörde zur
Entscheidung überwiesen. An die Stelle der
genossensdiaftiichen und verwaltungsbehörd-
Bchen Gerichtsbarkeit trat in einzelnen Be-
zirken für bestimmte Industriezweige auf
Grund des G. v. 14. Mai 1869 (R.G.Bl. Nr.
63) die Gerichtsbai*keit besonderer Gewerbe-
gerichte, die jedoch nur an wenigen Orten
erriditet werden konnten und auch da nur
selten und -von Jahr zu Jahr abnehmend in
Anspioich genommen wurden. Nachdem
durch die Novelle vom Jahre 1883 die Ge-
richtsbarkeit der Genossenschaften ihres
obligatorischen Charakters entkleidet und zu
einer bloss fakultativen, durch den schieds-
gerichtlichen Ausschuss der Genossenschaft
auszuübenden umgestaltet worden war,
machte die Novelle vom Jahre 1885 den
Versuch, in den gleichen Grenzen eine eben-
faDs nur fakultative schiedsgerichtliche Ju-
dikatur für die in keinem genossenschaft-
Hchen Verbände stehenden Gewerbebetriebe
zu ermöglichen. Zu diesem Zwecke sollten
eigene schiedsgerichthche Kollegien gebildet
werden, die jedoch thatsächlich nie zur Er-
richtung gelangt sind. Das G. v. 25. No-
vember 1896 hob die Institution der schieds-
gerichtlichen Kollegien (nicht auch die der
schiedsgerichtlichenAusschüsse der Genossen-
schaften), die bestehenden Gewerbegerichte
und die Kompetenz der politischen Behörden
in Streitigkeiten aus dem Arbeits- etc. Ver-
hältnisse auf und übertrug die Gerichtsbar-
keit in solchen Streitigkeiten neu organi-
sierten Gewerbegerichten und, wo keine Ge-
werbegerichte bestehen, den Bezirksgerichten.
6. Das G. V. 23. Februar 1897 (R.G.Bl. Nr.
63), das einige Bestimmungen über das
Lehrlings- und das Genossenschaftswesen
modifizierte, ein weiterer, aber wohl noch
nicht der letzte Schritt auf dem Gebiete der
Bestrebungen, eine bessere Ausbildung der
Lehrlinge zu sichern und die Genossen-
schaften leben s- und thatkräftiger zu ge-
stalten.
2. Allgemeine Grundsätze des gel-
tenden Rechtes. Die Gewerbeordnung er-
streckt sich auf alle gewerbsmässig be-
triebenen Beschäftigungen, sie mögen die
Hervorbringung, Bearbeitung oder Umge-
staltung von Verkehrsgegenständen, den Be-
trieb von Handelsgeschäften oder die Ver-
richtung von Dienstleistungen und Arbeiten
zum Gegenstande haben (Artikel IV Ein-
führungspatent).
Von dem Wirkungskreise der Gewerbe-
ordnung ausgenommene Beschäftigungen und
Unternehmungen sind (Artikel V des Ein-
führungspatentes) ausser den in dem citierten
Artikel Arbeiterschutzgesetzgebung
oben Bd. I, S. 514 angeführten, der Bergbau
samt den von bergamtlicher Konzession ab-
hängigen Werksvorrichtungen, die litterarische
und künstlerische Thätigkeit (nicht aber das
Kunstgewerbe), die Geschäfte der Advokaten,
Notare und Handelsmäkler, der Ingenieure,
dann der Privatgeschäftsvermittier in anderen
als Handelsgeschäften, die Ausübung der
Heilkunde, die Unternehmungen von Heilan-
stalten, das Apotheker- und Veterinärwesen,
der Privatunterricht und die Erziehung, die
gewerblichen Arbeiten der Straf- und der-
gleichen Anstalten, Banken und Versiche-
rungsanstalten, Theater und dergleichen, die
Unternehmungen und der Verschleiss perio-
discher Druckschriften, endüch der Hausier-
handel und die sonstigen Wandergewerbe.
Die Realeigenschaft der radizierten und
der verkäuflichen Gewerbe (welch letztere
den radizierten Gewerben sehr nahe stehen,
jedoch nicht im Grundbuche, sondern in be-
sonderen, von der Gewerbsbehörde geführten
Verzeichnissen nach Art eines Grundbuches
eingetragen sind) blieb unverändert. Neue
Redgewerberechte dürfen jedoch nicht mehr
gegründet werden (Artikel VII Einführungs-
patent).
Zum selbständigen Betriebe eines jeden
Gewerbes wird in der Regel Eigenberech-
tigung erfordert (§ 2 Gew.-O.). Jiu'istische
Personen sind gleich physischen zugelassen,
müssen jedoch einen geeigneten Stellver-
treter oder Pächter bestellen (§ 3). Die Ge-
meindezugehörigkeit ist für den Antritt
AAA
Gewerbegesetzgebiing (Oesterreich)
eines Gewerbes nicht Bedingung (§ 7). Aus-
ländern gegenüber wird formelle Redwocität
beobachtet (§ 8). Der gleichzeitige Betrieb
mehrerer Gewerbe ist an sich und im all-
gemeinen gestattet (§ 9). Personen, die
wegen eines Verbrechens oder wegen be-
stimmter minderer Delikte verurteilt wurden,
können während eines bestimmten Zeit-
raumes vom Antritt eines Gewerbes ausge-
schlossen werden, wenn nach der Eigen-
tümlichkeit des letzteren im Zusammenhalte
mit der Persönlichkeit des Unternehmers
und der von ihm begangenen strafbaren
Handlung ffissbi-auch zu besorgen wäre (§ 5).
3. Einteilung der Gewerbe. Die Ge-
werbe sind (§ 1) entweder freie oder hand-
werksmässige oder konzessionierte Gewerbe.
— Bis zur legislativen Feststellung können
die handwerksmässigen Gewerbe im Yer-
ordnungswege bezeichnet werden, wobei
als handwerksmässige Gewerbe jene anzu-
sehen sind, bei denen es sich um Fertig-
keiten handelt, welche die Ausbildung im
Gewerbe durch Erlernung und längere Ver-
wendung in demselben erfordern und für
welche diese Ausbildimg in der Regel aus-
reicht. Handelsgewerbe (im engeren Sinne)
und fabriksmässig betriebene Unternehmungen
sind von der Einreihung unter die hand-
werksmässigen Gewerbe, die gesamte Haus-
industrie ist aber von der Einreibung unter
die Gewerbe überhaupt ausgenommen. Im
Zweifel, ob ein gewerbliches Unternehmen
als ein fabriksmässig betriebenes bezw. ein
Handelsgewerbe im engeren Sinne anzusehen
sei, entscheidet die politische Landesbehörde
nach Anhörung der Handels- und Gewerbe-
kammer mid der beteiligten Genossen-
schaften und im Rekurswege der Minister
des Innern im Einvernehmen mit dem Han-
delsminister. — Jene Gewerbe, bei denen
öffentliche Rücksichten die Notwendigkeit
begründen, die Ausübung derselben von
einer besonderen Bewilligung abhängig zu
machen, werden als konzessionierte behan-
delt. Ausser den unmittelbar durch das
Gesetz an eine Konzession gebundenen Ge-
werben können auch andere nach Einver-
nehmung der Handels- und Gewerbekammer
und der betreffenden Genossenschaft durch
Ministerialverordnungfürkonzessionspflichtig
erklärt werden ^§ 24). — Alle Gewerbe, wel-
che nicht als nandwerksmässige oder als
konzessionierte erklärt werden, sind freie
\Tf^ \^pi*bp
Zufolge Min.-Erl. v. 16. September 1883
Z. 26 701 sind als Handelsgewerbe im engeren
Sinne jene Handelsgewerbe anzusehen, bei
welchen der Handelsbetrieb das alleinige
Geschäft bildet, also keine eigentlich ge-
w^erbliche (produzierende) Thätigkeit statt-
findet, als Hausindustrie aber jene gewerb-
liche, produktive Thätigkeit, die nach ört-
licher Gewohnheit von Personen in ihren
Werkstätten, sei es als Haupt-, sei es als
Nebenbeschäftigung, jedoch m der Art be-
trieben wird, dass diese Personen ihrer
Erwerbsthätigkeit nur persönlich oder unter
Mitwirkung der Angehörigen des eigenen
Hausstandes obliegen, nicht aber gewerbliche
Hilfsarbeiter beschäftigen, üeber den Be-
griff »fabriksmässig betriebene Unterneh-
mung« nach der österreichischen Termino-
logie siehe den Min.-Erl. v. 18. Juli 1883
in dem citierten Artikel Arbeiterschutz -
gesetzgebung oben Bd. I, S. 514.
Als handwerksmässige Gewerbe sind
derzeit rMin.-Y. v. 30. November 1884 [R.G.BL
Nr. IIOJ u. a.) im ganzen 48 bezeichnet
Konzessionierte Gewerbe sind (§ 15 G.G.
imd verschiedene Min. -Verordnungen):
1) Alle Gewerbe, welche auf mechanischem
oder chemischem Wege die Vervielfältigung von
litterarischen oder artistischen Erzeugnissen,
oder den Handel mit denselben zum Gegen-
stande haben (Buch-, Kupfer-, Stahl-, HoLz-,
Steindruckereien und dergleichen, einschliesslich
der Tretpressen, dann Bucbhandlungen , ein-
schliesslich der Antiquarbuchhandlungen, Kunst-,
Musikalienhandlungen) ;
2) die Unternehmungen von Leihanstalten
für derlei Erzeugnisse und von Lesekabineten ;
3) die Unternehmungen periodischer Per-
sonentransporte ;
4) die Gewerbe derjenigen, welche an öffent-
lichen Orten Personentrausportmittel zu jeder-
manns Gebrauche bereit halten, oder persönliche
Dienste (als Boten, Träger und dergleichen) an-
bieten ;
5) das SchiflFer|^ewerbe auf Binnengewässern ;
6) das Baumeister-, Bninnenmeister-, Man-
rermeister-, Steinmetz- und Zimmermannsge-
werbe (hierzu Ausführungsg:esetz vom 26. De-
zember 1893, R.G.B1. Nr. 193);
7) das Rauchfangkehrergewerbe ;
8) das Kanalräumergewerbe;
9) das Abdeckergewerbe;
10) die Verfertigung und der Verkauf von
Waffen und Munitionsgegenständen;
11) die Verfertigung und der Verkauf von
Feuerwerksmaterial , reuerwerkskörpem und
Sprengpräparaten aller Art;
12) das Trödlergewerbe;
13) das Pfandleihergewerbe (hierzu Aus-
ffthrungsgesetz vom 23. März 1885, R.G.BI.
Nr. 48);
14) die Darstellung von Giften und die
Zubereitung der zu arzneilicher Verwendung
bestimmten Stoffe und Präparate, sowie der
Verschleiss von beiden, insofern dies nicht aus-
schliesslich den Apothekern vorbehalten ist;
dann die Erzeugung und der Verschleiss von
künstlichen Mineralwässern;
15) die Gast- und Schankgewerbe einschliess-
lich des durch ein besonderes Gesetz geregelten
Ausschankes und Kleinverschleisses von ge-
brannten geistigen Getränken (G. v. 23. Juni 1881 ,
R.G.B1. Nr. 62j;
16) die gewerbsmässige Erzeugung, der Ver-
kauf und der Ausschank von Kunstweinen nnd
Halbweinen (G. v. 21. Juni 1880, R.G.B1. Nr. 120;
Oewerbegesetzgebung (Oesterreich)
445
17) die Ausführung von Oasrohrleitungen,
Beleuchtungseinrichtungen und Wassereiäei-
tungen;
18) das Gewerbe der Erzeugung und der
Reparatur von Dampfkesseln;
19) das Gewerbe der Spielkartenerzeugung;
20) die Ausübung des Huibeschlages ;
21) das Gewerbe der Vertilgung von Ratten,
Mäusen, schädlichen Insekten und dergl. durch
gifthaltige Mittel;
22) die gewerbsmässig betriebene Her-
stellung von Anlagen für Erzeugung und Lei-
tung von Elektricität ;
23) der in einigen Grenzbezirken gewerbs-
mässig betriebene Hademhandel;
24) der Betrieb von Informationsbureaux
zum Zwecke der Auskunftserteilung über die
Ereditverhältnisse von Firmen;
25) der Betrieb von Leichenbestattungs-
untemehmungen ;
26) das Zahntechnikergewerbe;
27) der Betrieb von Reisebureaux ;
28) die Abfüllung von Bier in Flaschen
zum Zwecke des Vertriebes von Flaschenbier.
4. Bedin^ngen lür die Zulassung
zum Gewerbebetriebe. Bei freien Ge-
werben besteht lediglich die Anmeldepflicht
(Lösung des Gewerbescheines) (§ 11). Waltet
nach dem vorstehend in § 2 Gesagten gegen
die Person oder gegen die Beschäftigung
oder den Standort ein gesetzliches Hindernis
ob, so findet die üntersagung des Gewerbe-
betriebes durch die Behörde statt (§ 13).
Zum Antritte von handwerksmässigen
Gewerben ist überdies der Nachweis der Be-
fShignng erforderlich, der in der Begel durch
das Le&zeugnis und ein Arbeitszeu^nis über
eine mehrjährige Verwendung als Gehilfe in
demselben Gewerbe oder in einem dem be-
treffenden Gewerbe analogen Fabriksbetriebe
zu erbringen ist. Die Zeugnisse unterliegfen
der Bestätigung durch den Gemeindevorsteher
und bei Angehörigen einer für das betreffende
Gewerbe am Standorte desselben bestehenden
Genossenschaft auch durch den Vorsteher dieser
Genossenschaft. Die Bestimmung der erforder-
lichen Lehr- und Gehilfenzeit ist dem Verord-
nungswege vorbehalten. Schulzeugnisse ge-
werblicher Unterrichtsanstalten können durch
Verordnung, in der die betreffenden Anstalten
und Gewerbe zu bezeichnen sind, als Ersatz
der Lehr- und Arbeitszeugnisse anerkannt wer-
den. Ausnahmsweise kann die Landesbehörde
nach Einvemehmimg der beteiligten Genossen-
schaft, eventuell des Ausschusses des Genossen-
schaftsverbandes und in Ermangelung dieser
Organe der Handels- und Gewerbekammer Dispens
von dem Befähigungsnachweise erteilen, um
Inhabern handwerksmässiger Gewerbe den Be-
trieb eines verwandten Gewerbes zu ermög-
lichen, ferner auch ohne diese Voraussetzung
von der Beibringung des Lehrzeu^isses ab-
sehen. Bei gemeiniglich von Frauen betriebenen
handwerksmässigen Gewerben kann die Ge-
werbebehörde Frauenspersonen hierzu auf Grund
eines beliebigen anderen als des gesetzlichen Be-
föhigungsnachweises zulassen (§ 14).
Durch die Min.-Verordn. v. 17. September
1883 (ß.G.BL Nr. 149) und vom 5. Juü 1892
(R.G.ßl. Nr. 106) wurde es den Genossenschafts-
Statuten überlassen, die Lehrzeit zwischen 2
und 4 Jahren (bei entsprechender Ausbildung
in einer allgemeinen Handwerkerschule mit nur
VL Jahren), die Zeit der Verwendung als Gre-
hilfe oder Fabrikarbeiter aber mit mindestens
2 Jahren zu bestimmen.
Der Antritt eines konzessionierten
Gewerbes ist von einer besonderen gewerbs-
behördlichen Bewilligung abhängig (§ 22),
die jedenfalls zu verweigern ist^ wenn vom
Standpunkte der Sicherheits-,Sittlichkeits-,Ge-
sundheits-, Feuer- oder Verkehrspolizei ein An-
stand gegen den beabsichtigtenGewerbebetrieb
obwaltet (§ 23). Ferner haben die Bewerber,
nebst Erfüllung der allgemeinen Bedingungen,
Verlässlichkeit mit Beziehung auf das be-
treffende Gewerbe und bei der Mehrzahl
der konzessionierten Gewerbe auch eine be-
sondere Befähigung nachzuweisen, worüber
die näheren Bestimmimgen durch eine Reihe
von Min.- Verordnungen getroffen wurden.
Wiederholt ist auch die Bedachtnahme auf
die Lokalverhältnisse vorgeschrieben (§ 23).
— Noch weitergehende Beschränkungen be-
steben hinsichthch der Gast- und Schank-
gewerbe, die nur an unbescholtene Personen
verüehen werden dürfen. Vor der Kon-
zessionierung eines Gast- oder Schankge-
werbes ist auch die Gemeinde des Stand-
ortes zu hören, und es steht dieser im Falle
der Erteilung der Konzession ein Rekurs-
recht zu. Aehnüches gilt für den Fall der
üebersiedeluog eines Schankgewerbes in
ein anderes Lokal innerhalb derselben Ort-
schaft, üeberdies kann eine und dieselbe
Person in einer imd derselben Ortschaft
nur eine einzige Konzession zum Ausschänke
und Kleinverschleisse gebrannter geistiger
Getränke, und zur Ausübung eines anderen
Gast- oder Schankgewerbes, höchstens zwei
Konzessionen erwerben (§§ 16 — 20).
Der Urheber einer Erfindung und dessen
Rechtsnachfolger ist gnmdsätzlich , soweit
er sich auf die Ausübung der patentierten
Erfindung beschränkt, an die bezüglich des
Antrittes der Gewerbe geltenden Vorschrif-
ten nicht gebunden (§ 17 des Patentgesetzes
vom 11. Januar 1897 RG.B1. Nr. 30 und
Min.-Verord. v. 15. September 1898 R.G.B1.
Nr. 162).
5. Genehmigung der Betriebsanlage
bei einzelnen Gewerben. Bei Gewerben,
die mit besonderen Feuerstätten, mit Motoren
oder Wasserwerken betrieben werden, dann
bei Gewerben, deren Betrieb eine Gefährdung
oder Belästigung der Nachbarschaft in
höherem Grade mit sich bringt, ist die be-
hördliche Genehmigung der Betriebsanlage
erforderlich (§ 25). Die Prüfung der Zu-
lässigkeit der Anlage vom gewerbepolizei-
lichen Standpunkte und die Feststellung der
etwa nötigen Bedingungen und Beschrän-
kungen in betreff der Einrichtung der An-
446
Gewerbegeeetzgebong (Oesierreich)
läge erfolgt von Amte wegen (§ 26). Hin-
sichtlich bestimmter Betriebsanlagen (derzeit
sind 53 Arten als solche erklärt) muss vor
der Entscheidung ein besonderes Ediktal-
verfahren durchgeführt werden, zu dem der
Gemeindevorstand und die bekannten A^n-
rainer individuell zu laden sind. Werden
lediglich privatrechtliche Einwendungen vor-
gebracht, so ist deren Austragimg auf den
Rechtsweg zu verweisen und ohne Kücksicht
darauf die gewerbepolizeiliche Entscheidung
zu fällen (§§ 27—31). Für den FaU einer
Aendening in der Beschaffenheit der Be-
triebsanlage oder in der Fabrikationsweise,
dann für den Fall einer bedeutenden Er-
weiterung oder der Wiederherstellung einer
durch Elementarereignisse zerstörten Be-
triebsanlage gelten ähnliche Vorschriften
(§§ 32 u. 33). — Inwiefern die Einstellung
der Benutzung einer genehmigten Betiiebs-
anlage aus Kücksichten des öffentlichen
Wohles erfolgen könne, ist in der Gewerbe-
ordnung allgemein nicht entschieden. Hier-
für und für die Frage der Eutschädigimg
des Gewerbetreibenden im Falle einer Ein-
stellung des Betriebes sind demnach die
Bestimmungen des allgemeinen Bürgerlichen
Gesetzbuches massgebeud (§§ 364 u. 365),
welche verfügen, einerseits dass die Aus-
übung des Eigentumsrechts nur insofern
stattfindet, als dadurch die in den Gesetzen
zur Erhaltung und Beförderung des allge-
meinen Wohles vorgeschriebenen Einschrän-
kungen nicht übertreten werden, anderer-
seits dass, wenn es das allgemeine Beste
erheischt, gegen eine angemessene Schadlos-
haltung selbst das vollständige Eigentum
einer Sache abgetreten werden muss. Nur
hinsichtlich der Privatschlachthäusser be-
stimmt die Gewerbeordnung (§ 35), dass
die fernere Benutzung bestehender und die
Anlage neuer Privatschlachthäuser behördlich
untersagt werden könne, sobald an einem
Orte von der Gemeinde oder von Genossen-
scliaften errichtete öffentliche Sclilachtliäuser
in genügendem umfange vorhanden sind.
6. Inhalt nnd Umfang der Gewerbe-
befngnisse. Die G.O. vom Jahre 1859
hatte mit dem bis dahin festgehaltenen
System der abgeschlossenen Arbeits^gebiete
gebrochen und die Grenzen, die der Ge-
werbsthätigkeit des einzelnen durch die Ar-
beitsborechtigimgen der einzelnen Innungen
vielfach sehr enge gezogen wai*en, fallen
lovssen. An diesem Grundsatze des erwei-
terten Ai'beitsrccht(\s, wonach jeder Gewerbe-
treibende das Recht hat, alle zur voll-
kommenen Hei*stelhing seiner Erzeugnisse
notwendigen Arbeiten zu vereinigen und
die hierzu erforderlichen Hilfsarbeiter auch
anderer (bewerbe zu haiton, hat die Novelle
vom Jahre ltS83 mit der einzigen Ein-
scliränkung festgehalten, dass darunter das
Recht, auch Lehrlinge anderer Gewerbe zu
halten, sofern es sich um handwerksmässige
Gewerbe handelt, nicht verstanden sei (§ 37).
— Der Umfang eines Gewerberechtes wird
nach dem Gewerbescheine oder der Kon-
zession beurteilt. Im Zweifel entsdieidet
die Behörde nach Einvernehmung der Ge-
nossenschaften und der Handels- und (je-
Werbekammer (§ 36). — Den gewerblichen
Produzenten steht insbesondere das Recht
zu, mit ihren Erzeugnissen und Waren
Handel zu treiben, und es findet dabei eine
Beschränkung auf den Verkauf der selbst-
gefertigten Waren nicht statt. Die Ge-
werbetreibenden können ihre Produkte auch
ausserhalb ihres Standortes in Kommission
geben oder auf Bestellung liefern und, von
besonderen polizeilichen Beschränkungen bei
einzelnen Gewerben abgesehen, bestellte Ar-
beiten überall verrichten (§ 41). Sie sind
weiter befugt, im ümherreisen unter Mit-
führung von Mustern selbst oder d\irch Be-
vollmächtigte (Handlungsreisende, Agenten)
BesteDungen zu suchen. Waren zum Ver-
kaufe dürfen nur auf Märkten mitgeführt
werden (§ 59).
Besondere Bestimmungen regeln den
Hausierhandel und die anderen Wander-
gewerbe. (S. den Art. Wandergewerbe.)
Unter den Bestimmungen über den Um-
fang der verschiedenen Arten der Handels-
gewerbe ist insbesondere § 38 AI. 3 G.O.
beachtenswert, wonach der Inhaber eines
Handelsgewerbes im engeren Sinne (§ 1,
Alinea 3) die handwerksmässige Herstellung
oder Vei-arbeitung von Gewerbserzeugnissen
nur dann betreiben darf, wenn er den Vor-
schriften Übel den Befähigimgsnachweis ent-
sprochen hat. Hierzu erfloss eine Ent-
scheidung des Verwaltimgsgerichtshofes v.
23. Febniar 1888 Z. 563, die den Grund-
satz aufstellt, dass Konfektionäre (Handel
mit fertigen Kleidungsstücken) berechtigt
sind, Bekleidungsstücke auch auf Bestellung
zu liefern und abändern zu lassen und zu
diesem Behufe die Masse der verlangten
Kleidungsstücke selbst abzimehmen und dem
Handwerker anzugeben, eine Entscheidung,
die in Handwerkerkreisen als eine Preis-
gebung der wesentlichsten Errungenschaften
der Einführung des Befähigungsnachweises
betrachtet wurde imd noch andauernde Be-
stn^bungen nach einer weitergehenden Ein-
schränkimg der Befugnisse der Handels-
gewerbe veranlasst hat.
Von der durch das G. v. 4. Jidi 1896
(R.G.Bl. Nr. 205) eingeräumten Ermäch-
tigimg, den Umfang der Berechtigung ge-
wisser kleinerer Detailhandelsgewerbe (Ge-
mischt waren verscldeiss, (jreissler-, Fragner-
odcr H<")cklergeworbe , Viktualienhandel und
dorglei(ihen) im Verordnungswege zu regeln,
hat die Regierung bisher nur hinsichtlich
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
447
der Flaschenbierfülliing und des Flaschen-
bierhandels (Mia.-Yer. v. 30. März 1899,
RG.B1. Nr. 64) Gebrauch gemacht.
Der Gewerbebetrieb durch einen Stell-
vertreter oder Pächter ist in der Regel zu-
lässig, sofern der Stellvertreter (Pächter) den
gesetzlichen Anforderungen entspricht. After-
verpachtung ist untersagt (§ 55).
7. Erloschen der Gewerbeberech-
ügüng. Der Tod des Gewerbetreibendea
hat in der Regel daß Erlöschen der Ge-
werbeberechtigung zur Folge (§ 56). Der
Verlust kann von der Behörde ausgesprochen
werden, wenn nachtraglich der ursprüng-
liche und noch fortdauernde Mangel eines
gesetzlichen Erfordernisses bekannt wiixi,
bei mehreren konzessionierten Gewerben
auch dann, wenn längere Zeit hindurch mit
dem Betriebe ausgesetzt wurde (§ 57). Ent-
ziehung der Gewerbeberechtigung für immer
oder bestimmte Zeit kann endlich von der
Gewerbebehörde und in einzelnen Fällen
auch vom Gerichte als Strafe verfügt werden.
8. Gewerberechtliche BeschrajDkiuigeii
des Gewerbebetriebes. Zum Schutze gegen
unlauteren Mitbewerb (concurrence d^loyaie),
femer zum Schutze der Konsiunenten gegen
Warenfälschung oder sonstige Täuschungen
enthält die Gewerbeordnung seit der Wirk-
samkeit der Novelle vom Jahre 1883 in den
§§ 44 — 50 eingehende Bestimmungen. Die
Gewerbetreibenden sind zu einer entsprechen-
den äusseren Bezeichnung ihrer Betriebs-
stätten verpflichtet (§ 44). Unter der Ueber-
schrift Eingriffe ist in § 46 u. a. bestimmt :
»Kein Gewerbetreibender ist berechtigt,
zur äusseren Bezeichnung seiner Betriebs-
stätte oder Wohnung sowie in Cirkularien,
öffentlichen Ankündigungen oder Preis-
kurants den Namen, (üe Firma, das Wappen
oder die besondere Bezeichnung des Etab-
lissements eines anderen inländischen Ge-
werbetreibenden oder Produzenten wider-
rechtlich sich anzueignen, oder in der oben
aogeffthrteu Weise die Gegenstände seines
Gewerbebetriebes fälschlich als aus einer
anderen Betriebsstätte hervorgegangen zu
bezeichnen. — Ein solcher Eingriff be-
gründet für den Verletzten das Recht, auf
die Einstellung des ferneren Gebrauches der
widerrechtlichen Bezeichnung bezw. auf die
Untersagung der fälschlichen Ankündigung
vor der zuständigen Gewerbebehörde zu
dringen, c
Wissentliche Eingriffe sind nach der
Gewerbeordnung strafbar. Die Verfolgung
findet jedoch nur auf Antrag des Verletzten
statt (§ 47). Der Schutz gegen Eingriffe
wird unter der Voraussetzung der Gegen-
seitigkeit auch ausländischen Gewerbetreiben-
den gewährt (§ 48). Einer Uebertretung
der Gewerbeordnung macht sich nach § 49
femer schuldig:
„1) Jeder Gewerbetreibende, der in Fällen^
welche nicht bereits durch § 46 oder durch dag
Gesetz zum Schutze der gewerblichen Marken
getroffen sind, zur äusseren Bezeichnung seiner
Betriebsstätte oder Wohnung, zur Bezeichnung
von Gewerbserzeugnissen oder überhaupt beim
Betriebe seiner Geschäfte und bei Abgabe seiner
Unterschrift sich eines ihm nicht zustehenden
Namens bedient, ohne hierzu durch die bereits
erfolgte Eintragung seiner Firma in das Han-
delsregister berechtigt zu sein;
2) jeder Gewerbetreibende, der in den im
Punkte 1 bezeichneten Fällen sich Auszeich-
nungen beilegt, welche ihm nicht verliehen
wurden;
3) jeder Gewerbetreibende, der in den im
Punkte 1 bezeichneten Fällen sich einer Be-
zeichnung bedient, welche die Annahme eines
Gesellschaftsverhältnisses zulässt, während ein
solches thatsächlich nicht besteht;
4) jeder Gewerbetreil»ende , welcher, ohne
durch die bereits erfolgte Eintragung seiner
Firma in das Handelsregister hierzu berechtigt
zu sein, in den im Punkte 1 bezeichneten Fällen
sich nicht seines vollen Vor- und Zunamens
bedient ;
5) jeder Gewerbetreibende, der in den im
Punkte 1 bezeichneten Fällen beim Bestände
eines Gesellschaftsverhältnisses einer Bezeich-
nung sich bedient, in welcher nicht bloss Namen
von Gesellschaftern, sondern ausserdem ein das
Vorhandensein einer Gesellschaft andeutender
Zusatz enthalten ist, ohne zu der Führung einer
derartigen Firma im Sinne des Handelsgesetz-
buches berech ti|i: zu sein.^
Zufolge § oO steht die Entscheidung über
Ansprüche auf Ersatz des durch die in den §§
46 und 49 bezeichneten Eingriffe und Ueber-
tretungen zugefügten Schadens ausschliesslich
den Gerichten zu.
Das G. V. 16. Januar 1895 (R.G.Bl. Nr. 26) bin-
det die Veranstaltung von angekündigten öffent-
lichen Ausverkäufen zum Zwecke einer be-
schleunigten Veräusserung von Waren im Klein-
verschleisse an die Bewilligung der Gewerbe-
behörde. Vor der Bewilligung ist der Handels-
und Gewerbekammer und der beteiligten Ge-
nossenschaft Gelegenheit zur Aeusserung zu
geben.
Auf einem anderen Gesichtspunkte beruhen
die durch das Gesetz v, 27. April 1896 (R.G.Bl.
Nr. 70) für Ratengeschäfte getroffenen Sonder-
bestimmnngen (s. darüber den Artikel Abzah-
lungsgeschäfte, oben Bd. I S. 18).
Hier ist endlich auch des Gesetzes v. 7 .April
1870 (R.G.B1. Nr. 43) zu gedenken, das ße-
Stimmungen hinsichtlich der Verabredungen
von Gewerbsleuten zur Erhöhung des Preises
einer Ware zum Nachteile des Publikums
(Kartelle) enthält. Solche Verabredungen,
dann Vereinbarungen zur Unterstützung der-
jenigen, welche bei diesen Verabredungen
ausharren, oder zur Benachteiligung der-
jenigen, welche sich davon lossagten, haben
keine rechtliche Wirkung. Wer, um das
Zustandekommen, die Verbreitung oder die
zwangsweise Durchführung einer solchen
Verabredung zu bewirken, ein Abgehen
davon durch Mittel der Einschüchterung
448
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
oder Gewalt hindert oder zu hindern ver-
sucht, macht sich einer mit Arrest bis zu
drei Monaten strafgerichtlich zu ahndenden
Uebertretung schuldig.
9. Besondere Beschränkungen hin-
sichtlich einzelner Gewerbebetriebe. Die
behördliche Festsetzimg von Maximaltarifen
ist für den Kleinverkauf von Artikeln, die
zu den notwendigsten Bedürfnissen des täg-
lichen Unterhalts gehören, und für die oben
in § 3 Z. 3, 4 und 7 — 9 genannten Gewerbe
zulässig. Den autonomen Organen (Ge-
nossenschaften etc.) ist hierbei eine ent-
sprechende Einflussnahme gewahrt (§ 51).
— Bei dem Kleinverkaufe der eben er-
w^ähnten Artikel, dann bei den in § 3 Z. 3,
4 und 15 genannten Gewerben sind die
Preise mit Rücksicht auf Quantität imd
Qualität ersichtlich zu machen (§ 52). —
Die Inhaber von Bäcker- und Fleischer-
gewerben, dann der in § 3 Z. 3, 7 und 8
genannten Gewerbe haben die beabsichtigte
Betriebseinstellung \der Wochen früher der
Behörde anzuzeigen (§ 53). In Special-
gesetzen findet sich für bestimmte Ge-
werbebetriebe eine Reihe einschränkender
Yorschriften, die auf den verschiedenartigsten
Gesichtspunkten benihen. Nur beispiels-
weise ist auf das G. v. 16. Januar 1896
(R.G.B1. Nr. 89 von 1897) über den Ver-
kehr mit Lebensmitteln und einigen Ge-
brauchsgegenständen und auf das G. v. 23.
März 1885 (R.G.B1. Nr. 48) betreffend das
Pfandleiherge werbe hinzuweisen.
10. Marktverkehr. Die Gewerbeordnung
beschränkt sich darauf, durch allgemeine
Anordnungen die Berechtigung zum Markt-
besuch (auch für Ausländer), die Gleich-
berechtigung der Marktbesucher und die
Abgrenzung der Rechte dieser von den
Rechten der sesshaften Gewerbetreibenden
zu regeln, überlässt aber die Einzelbestim-
mungen den Marktordnungen, die von den
betreffenden Gemeinden festzusetzen sind
und der behördlichen Genehmigung unter-
üegen (§§ 62-71).
IL Gewerbliche Hilfsarbeiter, s) Deren
Stellung im äUgemeinen. üeber den
Begriff der gewerblichen Hilfsarbeiter, dann
über die einschlägigen, dem Gebiete der
Arbeiterschutzgesetzgebung angehörigen Be-
stimmungen siehe den citierten Art. Ar-
beite rschutzgesetzgebung oben Bd. I
S. 511 ff., insbesondere S. 514.
Während die Gewerbeordnimg vom Jahre
1859 die Festsetzung der Verhältnisse
zwischen den selbständigen Gewerbetreiben-
den und ihren Hilfsarbeitern im allgemeinen
dem freien Uebereinkommen überliess, be-
tont die Novelle vom Jahre 1885 (im § 72)
ausdnlcklich , dass ein solches Ueberein-
kommen nur innerhalb der durch die Ge-
setze gezogenen Grenzen statthaft sei. Einen
Musterentwurf einer — nur für Fabriks-
und sonstige grössere Gewerbeuntemeh-
mungen obligaten — Arbeitsordnung hat
das Centralgewerbeinspektorat ausgearbeitet
und das Handelsministerium mit Erlass v.
10. September 1897 veröffentlicht
b) Arbeitsbücher. Alle Hilfsarbeiter
müssen mit Ausweisen, und zwar die kauf-
männischen mit behördlich vidierten Zeug-
nissen ihrer früheren Dienstgeber, alle
übrigen Hilfsarbeiter mit förmlichen Arbeits-
büchern versehen sein (§ 79). Die Gewerbe-
inhaber dürfen das Zeugnis, zu dessen ab-
gesonderter Ausfertigung sie auf Verlangen
verpflichtet sind (§ 81), in das Arbeitsbuch
mir insoweit aufnehmen, als es für den
Hilfsarbeiter günstig lautet (§ 80 d), andere
Eintragimgen oder Anmerkungen, als in den
Rubriken des Arbeitsbuches vorgesehen sind
(geheime Zeichen u. dgl. m.), jedoch in oder
an dem Buche nicht machen (§ 80 g). Die
Nichtbeachtung der hinsichtlich der Arbeits-
bücher bestehenden Yorschriften macht den
G^werbeinhaber dem Hilfsarbeiter gegen-
über entschädigungspfUchtig, doch muss
dieser den Anspruch binnen vier Wochen
gerichtlich geltend machen (§ 80 g).
c) Entlassung, Dienstaustritt, Eon-
traktbruoh. Die Fälle der Entlassung oder
des Dienstaustrittes eines Hilfsarbeiters vor
Ablauf der vertragsmässigen Zeit und ohne
Kündigimg sind im Gesetze (§§ 82, 82 a und
101) einzeln imd zwar, wie auch durch eine
ausdrückliche Verfügimg der niederöster-
reichischen Statthalterei anerkannt wurde,
taxativ aufgezählt, ohne dass durch üeber-
einkunft der Parteien davon abweichende
Bestimmungen vertragsmässig festgesetzt
werden könnten.
Der Kontraktbruch wird verschieden-
artig behandelt, je nachdem er seitens des
Gewerbeinhabers oder seitens des HiUb-
arbeiters stattfindet. — Der Gewerbeinhaber
ist lediglich civilrechtlich zur Vergütung
des Lohnes und der sonst vereinbarten Ge-
nüsse bis zum Ablaufe der Kündigungsfrist
verpflichtet (§ 84) — Hilfsarbeiter dagegen,
welche kontraktbrüchig werden, machen sich
einer mit Arrest bis zu drei Monaten zu
bestrafenden Uebertretung der Gewerbe-
ordnung schuldig. Daneben besteht ihre
civilrechtliche Verpflichtung zum Schaden-
ersatze. Auch können sie durch die Be-
hörde zur Rückkehr in die Arbeit für die
noch fehlende Zeit verhalten werden (§ 85).
Nach § 86 sind auch mitschuldige Ge-
werbeinhaber (solche, die den entlaufenen
Hilfsarbeiter wissentlich in Arbeit behielten)
vor der Gewerbebehörde und civilrechtlich
verantwortlich. — Diese Bestimmungen,
welche ähnlich schon in der Gewerbeord-
nung vom Jahre 1859 vorkamen, wurden in
dem der Novelle vom Jahre 1885 zu Grunde
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
449
liegenden Regierungsentwurfe (Nr. 253 der
Beil. zu den stenogr. Prot, des Abgeord-
netenhauses, 9. Session) durch den Hinweis
auf die grosse Verschiedenheit der that-
sächüchen Verhältnisse und der persön-
lichen Lage der Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer zu begründen versucht. Es wurde
auf die nur selten mögliche Realisierung
von Schadenersatzansprüchen gegen Hilfs-
arbeiter hingewiesen und betont, dass es
seit dem Wegfall der im Jahre 1868 auf-
gehobenen Schuldhaft auf dem Gebiete des
(Jivili-echts vollständig an einem wirksamen
Kompelle gegenüber den EQlfsarbeitem zur
Einhaltung des Vertrags fehle. Als wei-
teres Argument wurde auch die Analogie
mit der Sti-afbarkeit der dolosen Beschä-
digung einer fremden Sache geltend ge-
macht und schliesslich hervorgehoben, dass
die Hintanhaltung von unvermuteten Ar-
beitseinstellungen auch im öffentlichen In-
teresse gelegen sei.
Im übrigen sind die Bestimmungen des
Strafgesetzbuches vom Jahre 1852, welche
Verabredungen zur Aussperrung von Ar-
beitern oder zur HerabdrQckmig der Lage
derselben einerseits sowie Verabredungen
zu Strikes andererseits schlechtweg unter
Strafe stellten, schon durch das oben in § 8
erwähnte Gesetz über das Koaütionsrecht
V. 7. April 1870 (R.G.B1. Nr. 43) ausser
Wirksanikeit gesetzt worden. Derzeit ver-
fügt das Gesetz nur noch die civilrecht-
liche Unwirksamkeit solcher Verabredungen
und aller damit in Zusanunenhang stehenden
Vereinbarungen, ferner die Strafbarkeit jener
Eälle, in welchen ein Abgehen von solchen
Verabredungen durch Mittel der Einschüchte-
rung oder Gewalt zu dem Zwecke gehindert
oder zu hindern versucht wird, um das
Zustandekommen, die Verbreitung oder die
zwangsweise Durchführung der Verabredung
zu bewirken.
d) Krankenversorgung. Die Ver-
pflichtimg, unter Beitragsleistung der Ar-
beiter für den Fall der Erkrankung der-
selben Vorsorge zu treffen, lag nach § 85
der Gew^erbeordnung vom Jahre 1859 nur
jenen Gewerbeinhabern ob, bei welchen eine
besondere Vorsorge mit Rücksicht auf die
f rosse Zahl der Arbeiter oder die Natur der
Beschäftigung notwendig erschien. Durch
die Novelle vom Jahre 1883 (§ 121) war
diese Verpflichtung den in eine Genossen-
schaft einbezogenen Gewerbetreibenden
schlechtweg auferlegt worden und § 89 der
Novelle vom Jahre 1885 brachte denselben
Gnmdsatz auch hinsichtlich jener Gewerbe-
treibenden allgemein zur Geltung, die einer
Genossenschaft nicht angehören, insbesondere
also der fabrikmässig betriebeneu Gewerbe-
uuternehmungen. Derzeit sind aiich diese
Bestimmungen durch das G. v. 30. März 1888
Hsndwörterbach der Staatswissenschaften. Zweite
(RG.B1. Nr. 33), betreffend die Krankenver-
sicherung der Arbeiter, teilweise überholt
e) Streitigkeiten aus dem Arbeits-
yerhältniase. Gewerbliche Rechtsstreitig-
keiten zwischen Gewerbeinhabem und ihren
Hilfsarbeitern, femer zwischen Hüfsarbeitem
desselben Betriebes unter einander sind
durch das Gewerbegerichtsgesetz vom 25.
November 1896 den Bezirksgerichten und,
wenn für den betreffenden Betrieb ein
Gewerbegericht besteht, diesem zur Ent-
scheidung überwiesen. Gewerbegerichte
gelangten bisher in Wien, Brunn, Reichen-
berg und Bielitz, dann in Lemberg, Erakau,
Mährisch - Ostrau und Mährisch - Schön-
berg zur Errichtung. Sie bestehen aus
einem vom Justizminister aus der Zahl
der Richter ernannten Vorsitzenden und
aus Beisitzern, die je zur Hälfte von den
Unternehmern und den Arbeitern, unter
Umständen nach gewissen Betrieb^ruppen,
aus ihrer Mitte gewählt werden. Die Ver-
handlung und Entscheidung erfolgt im all-
gemeinen nach den für das bezii*£Sfiericht-
liche Verfahren in Bagatellsachen geltenden
Vorschriften der C.P.O in Senaten, die aus
dem Vorsitzenden und je einem Beisitzer
aus dem Unternehmer- und dem Arbeiter-
stande bestehen. In Streitigkeiten bis zu
100 Kronen ist die Entscheidung endgiltigund
nur wegen Nichtigkeitsgründen bei dem
Gerichtshofe erster Instanz anfechtbar. Han-
delt es sich um einen höheren Betrag, so
kann die Entscheidung mittelst Berufung
angefochten werden, über die der Gerichts-
hof erster Instanz, gleichfalls unter Beiziehung
je eines Beisitzers aus dem Stande der
Unternehmer imd der Arbeiter, endgiltig zu
entscheiden hat.
Durch das Gewerbegerichtsgesetz wurde
die Kompetenz der schiedsgerichtlichen Aus-
schüsse der Genossenschaften (§§ 122 — 124
der Novelle zur G.G. v. J. 1883) zur Ent-
scheidung gewerblicher Streitigkeiten zwi-
schen Genossenschaftsmitgliedern und ihren
Hilfsarbeitern nicht berimrt. Diese Kom-
petenz ist jedoch auf den Fall eines schrift-
lichen oder durch Streiteinlassung begrün-
deten Kompromisses beschränkt. Die Ent-
scheidungen des schiedsgerichtlichen Aus-
schusses können vor . denl ordentlichen
Richter und, wo ein Gewerbegericht besteht,
vor diesem aus den in § 595 der C.P.O.
angeführten Gründen mittelst Klage als
wirkungslos angefochten werden. Die schieds-
gerichtlichen Ausschüsse sind vollkommen
paritätisch aus beiden Interessentengruppen
m der Weise zu bUden, dass beide Gruppen
eine gleiche Zahl von Schiedsrichtern, diese
aber ihrerseits den Obmann wählen. Ist
bei der Obmannwahl eine absolute Stimmen-
mehrheit nicht zu erzielen, so haben die
Schiedsrichter der einen Gruppe den Ob-
Auflage IV. 29
450
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
mann und den Obmannstellyertreter aus den
Angehörigen der anderen Gruppe zu wählen,
bei der nächsten Wahlperiode devolviert
dann das Eecht der Obmannwahl auf die
Mitglieder der anderen Gruppe. In den
einzelnen Fällen hat dann der schieds-
gerichtliche Ausschuss in Anwesenheit des
Obmanns imd, je nachdem es sich um einen
Yergleichsabschluss oder um eine Entschei-
dung handelt, von je einem oder je zwei
Beisitzern aus jeder Gruppe zu fungieren.
Innerhalb dieser Bestimmungen hat das
Statut des schiedsgerichtlichen Ausschusses
die genaueren Festsetzungen zu treffen.
Q Iiehrlingswesen. Betreffs des Lehr-
lingswesens ist auf den Art. Arbeiter-
schutzgesetzgebung oben Bd. I,S. 515
zu verweisen. Personen, die wegen eines aus
Gewinnsucht entspringenden oder gegen die
öffentliche Sittlichkeit verstossenden Deliktes
bestraft sind, dürfen minderjährige Lehr-
linge nicht halten ^§ 98). Wird eiu be-
stehendes Leürverhältnis ohne Verschulden
des Lehrlings vorzeitig aufgelöst, so liegt
der Genossenschaft ob, für die weitere Unter-
bringung des Lehrlings bei einem anderen
Lehrherrn thunlichst vorzusorgen (§ 103 a).
12« Gewerbliche Genossenscliafteii. a)
Obligatorischer Charakter und organi-
satorische Bestimmungen. Mit grösserem
Nachdrucke, als es durch die auf diesem Ge-
biete vieh'ach nicht einmal formell zur Durch-
führung gelangte G.O. v. J. 1859 geschehen
war, betont die Novelle v. J. 1883 den Zwangs-
charakter der Genossenschaften. Sie verfügt,
dass unter denjenigen, welche gleiche oder ver-
wandte Gewerbe in einer oder in nachbarlichen
Gemeinden betreiben, mit InbegriflF der Hilfs-
arbeiter derselben, der bestehende gemeinschaft-
liche Verband aufrecht zu erhalten und, inso-
fern er noch nicht besteht und es die örtlichen
Verhältnisse nicht unmöglich machen, nach Ein-
vernehmung der Handels- und Gewerbekammer,
welche diesfalls die Beteiligten za hören hat,
durch die Gewerbebehörde herzustellen sei.
Die Gewerbeinhaber (Pächter) sind Mit-
glieder, die Hilfsarbeiter der zu einer Genossen-
schaft vereinigten Gewerbeinhaber, mit Ausnahme
der Lehrlinge, Angehörige der Genossenschaft.
Eine Genossenschaft kann nach Umständen
auch die Gewerbetreibenden und Hilfsarbeiter
mehrerer Gemeinden oder Bezirke und ver-
schiedenartiger Gewerbe umfassen (§ 106).
Schon durch den Antritt des Ge-
werbes wird die Mitgliedschaft und
die Verpflichtung zur üebernahme
der damit verbünde nen Laste nbegrtin-
d e t. Die etwa festgesetzte InkorporationsgebUhr
ist hierbei im voraus zu erlegen. Der Betrieb
mehrerer Gewerbe verpflichtet zur Mitgliedschaft
bei allen dafür bestehenden Genossenschaften
(8 107). Von der Verpflichtung: zur
Teil nähme an der Genossenschaft sind
die Inhaber fabrikmässlg betriebener
Gewerbe unternehmungenbefreit(§ 108).
Der territoriale Umfang der einzelnen Genossen-
schaften wird von der politischen Landesstelle
nach £invemehmunja[ der Handels- und Gewerbe-
kammer, welche diesfalls die Beteiligten zu
hören hat, bestimmt. Ebenso können bestehende
Genossenschaften vereinigt oder, namentlich
unter Ausscheidung einzelner Gewerbskate-
gorieen, getrennt werden (§§ 109 — 112).
Zweifel über die Einreibung einzelner Ge-
werbe in eine Genossenschaft sind in gleicher
Weise zu lösen (§ 112).
Durch die Errichtung von Genossenschaften
darf für niemanden der Antritt oder der Betrieb
eines Gewerbes weiter beschränkt werden, als
durch das Gesetz bestimmt ist (§ 113).
Die Genossenschaften sind oerechtici;, sich
zur Wahrung ihrer Interessen in Vert)ände
zusammenzuschliessen , ohne dass jedoch ein
Beitrittszwang geübt werden kann (§ 114 Abs. 5).
b) Wirkungskreis. Die Genossenschaf-
ten sollen ihre Fürsorge nicht nur den Mit-
gliedern, sondern auch den Angehöric^en und
den Lehrlingen zuwenden. Die Zwecke der
Genossenschaften (§ 114) sind ideale
(Pflege des Gemeingeistes, Erhaltung und
Hebung der Standeseb^e), humanitäre (Grün-
dung von Kranken- und Unterstützungskassen
oder -Fonds) und wirtschaftliche (Förde-
rung der gemeinsamen gewerblichen Interessen
durch Errichtung von Vorschusskassen, Roh-
stofiflagern, Verkaufshallen, durch Einführung
des gemeinschaftlichen Maschinenbetriebes und
anderer Erzeugun^smethoden etc.).
Insbesondere fiegt den Genossenschaften ob :
a) die Sorge für die Erhaltung: g^eregelter Zu-
stände zwischen den Gewerbeinhabem und
ihren Gehilfen, besonders in Bezug auf den
Arbeitsverband, sowie die Errichtung und
Erhaltung von Genossenschaftsherbergen und
die Arbeitsvermittelung;
b) die Vorsorge für ein geordnetes Lehrlings-
wesen durch Erlassung von (der behördlichen
Genehmigung unterliegenden)Bestimmun^en :
über die fachliche und religiös-sittliche
Ansbildunp: der Lehrlinge;
über die Lehrzeit, die Lehrlingfsprü-
fungen und derffl. , sowie die Üeoer-
wachung der Einhaltung dieser Bestim-
mungen, dann die Bestätigung der Lehr-
zeu^nisse und die Ausstellung der Lehr-
briefe ;
über die Bedingungen für das Halten
von Lehrlingen überhaupt, sowie über das
Verhältnis der letzteren zur Zahl der Ge-
hilfen im Gewerbe;
c) die Bildung eines schiedsgerichtlichen Aus-
schusses (s. oben § 11 lit. e), dann die För-
derung der schiedsgerichtlichen Institution
zur Austragung von Streitigkeiten zwischen
den GenossenschaftsmitgUedem, zu welchem
Zwecke sich auch mehrere Genossenschaften
vereinigen können;
d) die Gründung oder Förderung von gewerb-
lichen Fachlehranstalten (Fachschulen, Lehr-
werkstätten und dergl.), und die Beaufsich-
tigung derselben;
e) die Vorsorge für die erkrankten Gehilfen
durch Gründung von Krankenkassen, oder
den Beitritt zu bereits bestehenden Kranken-
kassen ;
f) die Fürsorge für erkrankte Lehrlinge.
Die Genossenschaften haben das Recht und
die Pflicht, über die ihren Zweck berührenden
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
451
Verhältnisse Berichte und Gutachten zn er-
statten und zn diesem Behufe anch die öffent-
lichen Orji^ne in Anspruch zu nehmen. Insbe-
sondere hegt ihnen die Mitwirkung bei der Ge-
werbestatistik und die Begutachtung von Be-
föhi^^gsnachweisen in zweifelhaften Fällen ob.
Wo ein Verband aus allen Genossenschaften
eines politischen Bezirkes besteht, bildet sein
Ausschuss einen gewerblichen Beirat der poli-
tischen BezirksbehOrde (§ 114 Abs. 6). Die
Kompetenz dieses Beirates wurde durch Min.-
Verordnuny v. 20. März 1897 (R.G.B1. Nr. 83)
näher bestimmt.
c) Pflichten der Mitglieder. Ueber die
materielle Fundierung der Genossen-
schaften bestimmt § 115, dass behördlich ge-
nehmigte und in ihrer Verwendung teilweise
gesetzlich gebundene Aufnahme- (Inkorporations-)
«bühren den Mitgliedern, Aufnahme- (Aufding-)
und Freisprechgebtthren den Lehrlingen aufer-
legt werden können. Im übrigen ist das Er-
fordernis, mit Ausnahme der Beiträge für die
Gehilfenkrankenkasse, soweit nicht Yermögens-
erträgnisse zur Verfücfung stehen, durch Um-
lagen zu decken, die den Mitgliedern nach dem
durch das Statut bestimmten Schlüssel aufzu-
erlegen und nötigenfalls im Verwaltungswege
einzutreiben sind.
Zur Gehilfenkrankenkasse sind die Gewerbe-
inhaber und die Gehilfen, erstere mit keines-
falls mehr als der Hälfte der Gehilfenbeiträge
beitragspflichtig (§ 121 Abs. 3).
Zur Teilnahme an den von einer Genossen-
schaft errichteten Geschäftsuntemehmune^en
kann — Fälle der Errichtung aus öffentlichen
Rücksichten ausgenommen — niemand wider
seinen Willen herangezogen werden.
Dagegen kann bei genossenschaftlichen
Meisterunterstützungs- oder Meisterkranken-
kassen der Beitrittszwang mit Bewillig^ung der
Gewerbebehörde für alle Genossenschaftsmit-
fi^lieder ausgesprochen werden. Zur Beschluss-
mssung der Genossenschaft über die Errichtung
solcher Geschäftsuntemehmungen und Kassen,
die auf Grund der hierfür geltenden allgemeinen
Gesetze (Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen-
schaf tsgesetz, Hiifskassengesetz) zu erfolgen hat,
sowie über die Teilnahme der Genossenschaft
daran oder die Subventionierung durch die Ge-
nossenschaft ist seit der Novelle v. J. 1897 nur
noch eine Majorität von '/^ der Abstimmenden
erforderlich (§ 115 a).
d) Verwaltungsorgane. Der Verwaltungs-
apparat ist einigermassen umständlich. Organe
der Genossenschaft sind:
1. die Genossenschaftsversammlung (§§
119 — 119 b). Sie besteht aus allen stimm-
berechtigten MitgUedem und aus zwei bis
sechs Delegierten der Gehilfenversammlung,
letztere mit beratender Stimme. Sie ist
mindestens einmal jährlich abzuhalten. Ihr
liegt die Beschlussfassung in allen wichtigen
Angelegenheiten und die Vornahme verschie-
dener Wahlen ob.
2. Die Genossenschaf tsvorstehung , be-
stehend ans dem Vorsteher und dem Aus-
schusse (§§ 119 c— 119 f) Durch Statut kann
auch den Gehilfen eine Vertretung im Aus-
schusse eingeräumt werden. Die Vorstehung
hat {§ 125] Über die Mitglieder und die Ange-
hörigen bei Verletzung der Genossenschaftsvor-
schriften ein Disciplinarrecht (Verweis oder
Geldstrafe bis 20 K.).
3. Die speciellen Organe der Gehilfen-
krankenkasse (§§ 121— 121h) (eine eventuell
aus Delegierten zn bildende Generalver-
sammlung, ein Vorstand und ein Ueber-
wachungsaussschuss, die zu \ von den Gehilfen
und zu ^la von den Gewerbeinhabem zu wählen
sind.
4. Der oben in § 11 lit. e erwähnte schieds-
gerichtliche Ausschuss (§§ 122—124), der auch
über Unterstützungsansprüche von Gehilfen
gegen die Krankenkasse zu entscheiden aus-
schliesslich und ohne dass Klagen oder Rechts-
mittel dagei^en zulässig wären, kompetent ist.
5. Kein eigentliches Organ der Genossenschaft,
aber doch kraft gesetzlicher Vorschrift bei jeder
Genossenschaft zu konstituieren, sind schliesslich
die Gehilfenversammlung und die Gehilfenvor-
stehung, die aus dem Obmanne und dem Ge-
hilf enausschusse besteht (§§ 120 und 120 a).
Die Gehilfenversammlunfi^ ist jeweils auf Ver-
langen des Genossenschaftävorstehers einzu-
berufen. Sie besteht aus allen stimmberechtigten
Gehilfen der in der Genossenschaft vereinigten
Betriebe und aus zwei bis sechs Delegierten
der Gewerbeinhaber, letztere mit beratender
Stimme. Die Gehilfenversammlung hat die
Interessen der zur Genossenschaft gehörigen
Gehilfen wahrzunehmen und zu erörtern und
als Wahlkörper für verschiedene Wahlen zu
dienen. Sie ist aber zur Förderung der Inte-
ressen der Gehilfen nur soweit berechtigt, als
diese Förderung den Zwecken der Genossenschaft
nicht widerstreitet, und zur Vertretung der Ge-
hilfeninteressen und zur Vornahme von Wahlen
nur insofern, als Gesetz oder Statut sie hierzu
ermächtigen.
Wenn sich unter den Angehörigen einer
Genossenschaft in grösserer Zahl zu unterge-
ordneten Hilfsdiensten verwendete Personen be-
finden, können für sie abgesonderte genossen-
schaftliche Institutionen (schiedsgerichtliche
Ausschüsse , Hilf sarbeiterversamm hingen und
Krankenkassen) gebildet werden (§ 106 Abs. 5).
Andere Organe können durch das Statut ge-
schaffen werden.
e) Statute. Innerhalb dieser principiellen
Bestimmungen des Gesetzes sind für jede Ge-
nossenschaft specielle Statuten zn entwerfen
(§ 126). Das Genossenschaftsstatut unterliegt
der Schlussfassung der Genossenschaftsversamm-
lung (§ 119 b) und der behördlichen Genehmigung
(§ 126). Diesem Statut sind das Statut für den
schiedsgerichtlichen Ausschuss, das der Beschluss-
fassung der Gehilfenversammlung unterliegende
Statut der Gehilfenversammlung, endlich das
von der Generalversammlung der Krankenkasse
zu beschliessende Statut der Krankenkasse als
integrierende Bestandteile anzureihen (§ 126).
Auch diese unterliegen der staatlichen Geneh-
migung.
f) Staatsaufsicht. Die Genossenschaften
stehen unter der Aufsicht der Behörde, die
über Beschwerden gegen Beschlüsse der Ver-
sammlung oder der vorstehung nach Einver-
nehmung beider Teile entscheidet, und zur
Ueberwachung eines gesetzmässigen Vorgfanges
bei den Genossenschaften eigene Kommissäre
bestellt. Ordnuugsmäs^i^ und innerhalb des
gesetzlich obliegenden Wirkungskreises gefasste
29*
452
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich)
Beschlüsse der Genossenschaftsversainmlnng sind
im Verwaltungswege vollstreckbar (§ 127).
Ein Bericht über die Jahresversammlung
und die ordnungsmässig belegte Schlossrechnnng
über die Einnahmen und Ausgaben der Ge-
nossenschaft sind der Gewerbebehörde alljähr-
lich vorzulegen (§ 115 b).
Durch Min.-Verordnung vom 31. Mai 1899
(R G.B1. Nr. 98) wurden zur Förderung des Ge-
nossenschaftswesens eigene, vom Handelsminister
zu ernennende Genossenschaftsinstruktoren ge-
schaffen, die den Genossenschaften aufklärend
und hilfreich, der Gewerbehörde aber bei der
Uebung ihrer Aufsichtsthätigkeit, namentlich
durch Vornahme specieller, das Genossenschafts-
wesen betreffender Erhebungen, und in wich-
tigeren organisatorischen Angelegenheiten be-
ratend und unterstützend zur Seite stehen
sollen. Insbesondere liegt ihnen ob, die Schaffung
genossenschaftlicher Einrichtungen für die wirt-
schaftlichen, humanitären und BUdungsinteressen
der Mitglieder und Anffehörigen der Genossen-
schaft zu fördern und auf die zweckentsprechende
Or&fanisierun^ der Genossenschaften und ihrer
Nebeninstitutionen und Verbände hinzuwirken.
13. Strafbestimmnngen. Die üeber-
tretungen der Vorschriften der Gewerbeord-
nung werden mit Verweisen, mit Geldbussen
bis zu 800 Kronen, mit Arrest bis zu 3 Mo-
naten und mit Entziehung der Gewerbe-
berechtigung für immer oder auf bestimmte
Zeit bestraft (§ 131), Unabhängig davon
kann Gewerbetreibenden, die sich grober
Pflichtverletzungen gegen ihre Lehrlinge
und jugendlichen Hilfsarbeiter, namentlich
bezüglich des den Lehrlingen obliegenden
Schiubesuches schuldig machen oder sittlich
bedenklicb erscheinen, das Recht Lehrlinge
oder jugendliche Hilfsarbeiter zu halten, zeit-
lich oder dauernd nach Anhören der Ge-
nossenschaft entzogen werden (§ 137). In
der Regel sind gegen selbständige Gewerbe-
treibende Geldbussen, gegen Gehilfen und
Lehrlinge Arreststrafen zu verhängen. Gegen
erstere haben Arreststrafen nur dann einzu-
treten, wenn eine üebertretung mit beson-
ders erschwerenden Umständen verbunden
ist, oder supplelorisch bei Zahlungsunver-
mögen (§ 135). Wird ein Gewerbe durch
einen Stellvertreter oder Pächter betrieben,
so sind die Geldstrafen gegen ihn unter
Haftung des Gewerbeinhabers zu verhängen
(§ 139). Die eingebrachten Geldstrafen
üiessen in die Genossenschaftskrankenkasse,
zu welcher der Vermi^ilte beitragspflichtig
ist, und in Ermangelung dieser Voraus-
setzung in den Armenfonds (§ 151).
14. Behörden und Verfahren. Die poli-
tischen Verwaltimgsbehörden erster Instanz
sind auch die erste Instanz in Gewerbean-
gelegenheiten. Ihnen kommt insbesondere
bei konzessionierten Gewerben die Erteilung
der Konzession zu, sofern nicht hinsichtlich
einzelner Gewerbe diese Befugnis den poli-
tischen Landesstellen oder dem Ministerium
des Innern vorbehalten ist (§ 141). Sie
führen das Gewerbsregister (§ 145) und
haben von jeder Ausfertigung eines Ge-
werbescheines und Erteilung einer Konzes-
sion die Genossenschaft, welche es betrifft,
in Kenntnis zu setzen (§ 144). — In Ge-
werbestraffällen ist das Verfahren in der
Regel mündlich (§ 147). Der Oberbehörde
steht das Strafmüdenmgs- und Strafnach-
sichtsrecht zu (§ 149).
16. Rückblicke. Die Gewerberefonn
der Jahre 1883 und 1885, die — von den
Bestimmungen auf dem Gebiete des Arbeiter-
schutzes abgesehen — durch den Befähi-
gungsnachweis für die handwerksmässigen
Gewerbe und die Zwangsgenossenschaften
ihre Signatur erhielt, war in der Haupt-
sache der Initiative des Abgeordnetenhauses
entsprungen, in dem die konservativen Par-
teien kurz vorher die Fülirung erlangt hatten.
Sie bezweckte, die in der Gewerbeordnung
vom Jahre 1859 übermässig verfolgte indi-
vidualistische Richtung zurückzudrängen und
dem Staate und den autonomen Korpora-
tionen unter Neubelebung des genossensdiäft-
liehen Geistes eine entsprechende MnflusB-
nahme auf das G^werbewesen zu sichern.
Auf diese Weise hoffte man, einerseits den
Handwerkerstand gegen Schleuderkonkurrenz
zu schützen, andererseits ihm eine Stütze
in dem Kampfe mit der Grossindustrie zu
bieten. Gleichzeitig sollte durch eine kräf-
tige Arbeiterschutzpolitik die wirtschaftliche
und soziale Lage der gewerblichen Hilfsar-
beiter, namentlich im Grossbetriebe, gehoben
und das Lehrverhältnis, das beinabe auf
das Niveau eines reinen Arbeitsverhältnisses
herabgesunken war, seinem eigentlichen
Zwecke entsprechender gestaltet werden.
Dass die Ziele der neueren Gewerbege-
setzgebung bisher auch nur annähernd er-
reicht worden seien, lässt sich nicht be-
haupten. Alan darf aber nicht übersehen,
dass die Reform auch da, wo sie, wie bei
den Zwangsgenossenschaften, formell an be-
reits Bestehendes anknüpfte, zu ihrer Durch-
führung thatsächlich eine vollständige Neu-
organisierung erforderte. Von vereinzelten
Ausnahmen abgesehen, war das eigentliche
genossenschaftliche Leben sogar an den
Hauptsitzen des alten Innungswesens im
Jahre 1883 bereits vollständig erloschen.
Auch stand die ziu- Diu-chfühnmg des Ge-
setzes berufene Bureaukratie den neuen Auf-
gaben ziemlich fremd gegenüber. Selbst in
den beteiligten Kreisen war die Apathie und
die Antipathie gegen die Reform gross. Die
Anschauung, dass der Bestand von Zwangs-
genossenschaften eine unerträgliche Krän-
kimg des Princips der wirtschaftlichen Frei-
heit bedeute, war noch die herrschende.
Da auch die Gewerbeordnung vom Jalire
1859 Zwangsgeuossenschaften normiert hatte,
Gewerbegesetzgebung (öesterreich)
453
ohne dass diese Bestimmungen je ziu* wirk-
lichen Anwendung gekommen waren, so
hatte man überdies mit der bereits einge-
wurzelten Gewohnheit, ein unbequemes Ge-
setz imausgeführt zu lassen, zu rechnen.
Die formellen Er^bnisse der Genossen-
schaftsstatistik sind in Anbetracht der eben
besprochenen Momente, die der Dürchfilh-
rung des Gesetzes im Wege standen, zum
grösseren Teile nicht unbefriedigend.
Yon sämtlichen zu Beginn 1896
bestehenden Genossenschaften wur-
den errichtet:
vor 1860
zwischen
1860
und 1883
seit 1883
im
ganzen
in den Grossstädten (Wien, Prag, Lem-
berff, Triest, Graz, Brunn) ....
in anderen Orten mit mehr als 20000
Ginwohnem
88
33
26
59
i66
79
23
33
57
217
156
285
458
755
2910
323
^41
in Orten über 10 000—20 000 Ein w. .
„ „ „ 4000-10000 „
„ „ bis zu 4000 „
517
871
3293
Zusammen
372
409
4564
5 345
Territorial sind die unterschiede in der
Verbreitung der Genossenschaf ten erheblich.
Die Genossenschaften sind entwickelter in
Niederösterreich , Oberösterreich, Salzburg,
Steiermark, Böhmen und Mähren, dagegen
nur ungenügend in Krain, Küstenland, Tirol
und in Galizien und der Bukowina, gar
nicht zur Errichtung gelangt in Dalmatien
und in Wälschtirol.
Von grosser Bedeutung für die Erfüllung
der den Genossenschaften zugewiesenen Auf-
gaben ist die Art der Zusammen-
setzung der Genossenschaften, und
zw^ar hinsichtlich der darin vereinigten
Gewerbe wie hinsichtlich ihres terri-
torialen Umfanges.
Es bestanden Ende 1894:
Genossenschaften
Anzahl
in%
mit
Mitgliedern
Anzahl
in»/«
mit GehUfen und
Lehrlingen
Anzahl in ^o
für einzelne Gewerbe (reine Fach-
genossenschaften]
für verwandte Gewerbe ....
für nicht verwandte Gewerbe . .
Kollektivgenossenschaften (für alle
oder die tiberwiegende Anzahl
aller im Sprengel bestehenden
Genossenschaften)
552
440
2493
1832
10,4
8,3
46,9
53 959
61 784
196 219
9,7
11,2
35,4
34,4
242 373
43,7
94460
169 803
264 150
164430
13,5
24,5
38,3
23,7
Zusammen | 5317 | 100
554 335 I 100
692 753 I 100
wobei die Gesamtzahl der Gehilfen sich mit
518348, die der Lehrlinge mit 174405 be-
zifferte.
Andererseits bestanden 1894 mit dem
Umfange :
einer Ortsgemeinde . . .
einer Ortsgemeinde , die
g[leichzeiti^ der poli-
tische Bezirk ist (Städte
mit eigenem Statut)
mehrerer Ortsgemeinden
327
485
6,2
9,1
Genossenschaften
in Vc
desselben politischen Be-
zirkes
des ganzen politischen Be-
zirkes
mehrerer Ortsgemeinden
verschiedener politischer
Bezirke
Zusammen
78,3
2,1
4,3
100
wobei vereinzelt sogar ganze Kronlands-
genossenschaften (10) vorkommen.
Gehilfenversammlungen waren
Ende 1894 konstituiert im ganzen 3196, für
454
Gewerbegesetzgebuag (Oesterreich)
3229 (Genossenschaften, und da von den
damals bestehenden 5317 Genossenschaften
522 überhaupt keine Gehilfen umfassten,
stellt sich die Zahl der bis dahin der ge-
setzlichen Vorschrift ungeachtet nicht kon-
stituiei-ten Gehilfen Versammlungen auf 1566.
Schiedsgerichtliche Ausschüs-
se, deren Bildung gleichfalls obligatorisch
ist, weist die Statistik für Ende 1894 in der
Zahl von 3049 für 3197 Genossenschaften
aus. Die Zahl der dieser Institution über-
haupt entbelu-enden Genossenschaften be-
ziffert sich also mit 1598.
Nach dem Krankenversichenmgsgesetze
eingerichtete G en ossen Schafts kr an -
kenkassen bestanden im Jahre 1896 im
ganzen 844 mit einem Mitgliederstande von
357 179 Personen, nach dem G. v. 29. April
1889 (R.G.B1. Nr. 39) gebildete Lehrlings-
krankenkassen 317 mit 55302 Yer-
sicherten, Meisterkrankenkassen 42,
andere ünterstützungskassen 23.
Für die Arbeitsvermittelung be-
dienten sich Anfang 1896 von 5345 Ge-
nossenschaften
Genossenschaften
ausschliesslich ihres eigenen
Arbeitsnachweises .... 177
ihres eigenen Arbeitsnach-
weises und einer ander-
weitigenArbeitsvermittelung
nur einer anderweitigen Ar-
beitsvermittelnn^ (private
Vermittler, Vereine, Anstal-
ten, Zeitungsannoncen etc.)
keiner nachweisbaren Arbeits-
vermittelong irgend welcher
Art
Genossenschaften
216
I 716
3236
Für die Lehrlingsvermittelung
liatten zu eben dieser Zeit eine eigene Stelle
167 Genossenschaften, und es bedienten sich
einer anderweitigen, nicht genossenschaft-
lichen VermittelungssteUe neben ihrer eige-
nen 39 und beim Mangel einer eigenen
LehrlingsvermittelungssteUe 208 Genossen-
schaften.
Genossenschaftliche Arbeitsvermittelungs-
stellen sind entstanden:
für für
Gehilfen Lehrlinge
vor dem Jahre 1860
zwischen 1860 und 1883
seit 1883 bis 1896
71
67
255
51
20
96
Zusammen 393
167
Es haben den Sitz :
Genossenschaftliche
Arbeitsvermittelungss teilen
für GehUfen
für Lehrlinge
in den Grossstädten
in anderen Orten mit mehr als 20000 Einwohnern
in Orten über 10000 bis 20000 Einwohnern ....
in Orten über 4000 bis 10000 Einwohnern
in Orten bis zu 4000 Einwohnern
Zusammen
Besondere Beachtung verdient das im
Jalire 1895 in Innsbruck errichtete Ver-
mittelungsbureau des tirolischen Gewerbe-
genossenschaftsverbandes, das die Arbeits-
und Ijehrlingsvermittelung für alle Verbands-
genossenschaften Deutschtirols besorgt, die
nicht in der Lage sind, eigene Arbeits-
vennittler oder Herbergen zu halten.
Eine Thätigkeit auf dem Gebiete der
Unterstützung Arbeitsloser weisen
nur 1 19 (Jenossenschaf ten aus, genossen-
schaftliche Fach- und Gewerbe-
fortbildungsschulen, die gegenüber
den staatlichen Anstalten für das gewerb-
liche Bildungswesen an Zahl weit zurück-
stehen, bestanden 1894 nur 122 und eigene
genossenschaftliche Unterneh-
mungen wirtschaftlicher Natur,
(leren Bildung erst durch die Novelle vom
Jahre 1897 einigermassen erleichtert worden
ist, nur 31.
Die vorstehenden Daten über den Be-
stand genossenschaftlicher Organe und Li-
stitutionen gestatten jedoch noch keinen
Rückschluss auf deren Gebarung und
die Erfolge ihrer Bethätigung. Dies
gilt namentlich von der Zahl der Genossen-
schaften und der konstituierten Gehüfen-
versammlungen , die vielfach nur formell
gebildet worden, über den von der Behörde
erzwungenen Konstituierungsakt aber nicht
hinausgekommen sind. Es wurde offiziell
zugestanden und winl in noch höherem
Masse durch die Berichte der Handels-
kammern dargethan, dass viele Genossen-
schaften keine oder nur eine sehr geringe,
auf die Einhebung der Beiträge und Um-
lagen der Mitglieder beschränkte Thätigkeit
Gtewerbegesetzgebung (Oesterreich)
455
entfallen. Allgemein ist die Klage über die
Interessenlosigkeit der Mitglieder, ja nicht
selten selbst über die Unzulänglichkeit der
an die Spitze der Genossenschaften gestell-
ten Personen. Aehnliche Verhältnisse herr-
schen bei den schiedsgerichtlichen Aus-
schüssen. Dagegen hat das Krankenkassen-
wesen durch die den Versicheningszwang
normierenden Gesetze einen mächtigen Im-
puls erfahren. Hinsichtlich der Arbeits-
vermittelung durch die Genossenschaften ist
zu beachten, dass aiif diesem Gebiete eine
Reihe anderer Institutionen gleichwertiger
Natur (städtische Arbeitsnachweise, Natural-
verpflegstationen , Yereine,' namentlich die
Gewerkvereine) besteht, wenngleich nicht
zu leugnen ist, dass auch dadurch dem vor-
handenen Bedürfnisse nicht annähernd ge-
nügt wird und dass die Uebelstände des
privaten Vermittelimgswesens mitunter recht
bedeutend sind.
16. Ausblicke. Die verschiedenen No-
vellen zur Gewerbeordnung haben die Be-
strebungen nach weiteren, zum Teil grund-
legenden Aendenmgen nicht zur Ruhe kom-
men lassen, ja mitimter erst geweckt. Jedes-
mal beim Sessionsbeginne fand das Ab-
geordnetenhaus eine Reihe von Initiativ-
anträgen verschiedener Abgeordneter auf
seinem Tische vor. Alle diese An-
träge haben von der fortdauernden Not-
lage des Kleingewerbestandes ihren Aus-
gangspunkt genommen, zum Teil wohl auch
in der Enttäuschung dieser Kreise, die an
die Reform der achtziger Jahre übermässige
Hoffnungen geknüpft hatten, iliren Ursprung.
Sie gehen dahin, den Einfluss der Genossen-
sch^ten auf die Verwaltung des Gewerbe-
wesens zu erweitern, die Zahl der konzessio-
nierten und der handwerksmässigen Gewerbe
zu vermehren und deren Antritt zu er-
schweren, die Fabriksunternehmungen, falls
sie Gegenstände handwerksmässiger Gewerbe
erzeugen, dem Befähigungsnachweise, dem
Genossenschaftszwange und anderen, weit-
gehenden Beschränkungen zu unterwerfen,
den Befähigungsnachweis ferner auch auf
die Mehrz£Üü der Handelsgewerbe auszu-
dehnen und der gewerblichen Thätigkeit der
einzelnen auch durch Einschränkung des
Umfanges der einzelnen Handels- und Ge-
werbebefugnisse engere Grenzen zu ziehen.
Femer werden eine Verlängerung der Lehr-
zeit und Einschränkung des Agentenwesens,
dann behufs besserer Wahnmg der Standes-
interessen die obligatorische Schaffung von
Verbänden zwischen den Genossenschaften
eines Bezirkes, mit der Fakultät, den Ver-
band auch auf mehrere Bezirke auszudehnen,
verlangt.
Airf der anderen Seite aber dauert die
Gegnerschaft gegen den Befähigungsnach-
weis und die Zwangsgenossenschaften unter
Hinweis auf die. geringen damit erzielten
Erfolge, die ausser Verhältnis zti den Nach-
teilen dieser Institutionen ständen, noch un-
geschwächt fort.
Weder die eine noch die andere Rich-
tung dürfte in wesentlichen Punkten in
der Gesetzgebung zum Durchbruche gelan-
gen, wie denn auch die Regierung, is sie
zum letzten Male (im Dezember 1895) dem
Abgeordnetenhause eine neue, das ganze
Gebiet der Gewerbeordnung umspannende
Vorlage machte (die niu* in einzelnen Teilen
zum Gesetze [vom 23. Febniai* 1897J ge-
worden ist), an den Grundlagen des gelten-
den Rechtes festgehalten hat. Immerhin
dürften einzelne Vorschläge auch in der
neuestens — im März 1900 — von der Re-
gierung angekündigten umfassenden Novelle
zur Gewerbeordnung Beachtung finden und
auf diese Weise ihre Verwirklichung durch
die Gesetzgebung erhalten. Dies gilt na-
mentlich von gewissen Anregungen, die auf
die Beseitigung einzelner zu Tage getrete-
ner Härten des geltenden Gesetzes abzielen,
aber auch an einer anderen Gruppe von
Anträgen, die durch massvoUe Fortbildung
der seit dem Jahre 1883 in die Gesetz-
gebung eingeführten Principien, diesen auch
dort Geltung verschaffen wollen, wo deren
Unanwendbarkeit sich als ein entschiedener
und mit erheblichen Uebelständen verbunde-
ner Mangel fühlbar gemacht hat
Im allgemeinen wäre es aber kaum ^recht-
fertigt, die an sich gewiss recht unbefriedigen-
den Daten über die Wirkungen der Novelle vom
Jahre 1883 und namenöich der Zwangs-
genoseen Schäften als entscheidendes Argu-
ment gegen die Priudpien der geltenden
Gewerbeordnung zu verwerten.
Auf eine Reihe von Momenten, die der
Durchführung der Novelle vom Jahre 1883
hinderlich entgegenstanden, wurde schon
in einem anderen Zusammenhange hinge-
wiesen. Namentlich bei Gesetzen, die auch
einen erziehlichen Inhalt haben, und über-
dies den Kreisen, an die sie sich wenden,
zunächst gewisse Opfer auferlegen, wird es
immer ziemlich lange währen, bis sie that-
sächhch Eingang in die Bevölkerung finden
und unter der unumgänglich notwendigen
Mitwirkung dieser praktisch Geltung er-
langen. Hierzu kommt, dass die Novellen
zur Gewerbeordnung, die keinem einheitlichen
Plane entsprungen und das Ergebnis mannig-
facher Kompromisse und langwieriger Be-
ratungen verhältnismässig grosser Körper-
schaften sind« an zahlreichen Unklarheiten lei-
den,die dieAnw^endung des Gesetzes notwendi-
gerweise sehr erschweren. Auch lässt sich
nicht verkennen, dass die organisatorischen
Bestimmungen über die Genossenschaften
übermässig verwickelt sind und einen Ver-
waltungsapparat erheischen, der bei vielen
456
öewerbegesetzgebung (Oesterreich)
Genossenschaften ganz angser Verhältnis zu
ihren speciellen Aufgaben steht. Zahlreich
sind deshalb die Genossenschaften, deren
Thätigkeit sich in reinen Formalitäten er-
schöpft und die dadurch das ganze Institut
diskreditieren. Bei Genossenschaften mit
einem übermässig grossen Sprengel oder
mit einer allzugrossen Disparität der darin
vereinigten Gewerbe wird der Gemeingeist,
der stets die erste Voraussetzung einer
wirklich gedeihlichen Wirksamkeit der Ge-
nossenschaft bilden wird, kaum je zu einer
nennenswerten Entwickelung gelangen kön-
nen. Andererseits aber sind, dort wo die
Verhältnisse in dieser Hinsicht günstiger
lagen, immerhin beachtenswerte Erfolge
durch die Genossenschaften erzielt worden.
An Stelle der von der Sozialdemokratie
angestrebten Organisienmg der gesamten
Albeiterschaft in einer einheitlichen, dem
Unternehmertum geschlossen und naturge-
mäss mehr oder weniger feindlich gegen-
überstehenden Klasse hat die Gewerbeord-
nung seit dem Jahre 1883 eine berufsge-
nossenschaftliche Gliederung des Kleinge-
werbes sich zur Aufgabe gesetzt. In den
kleinen Gruppen der einzelnen Genossen-
schaften sucht sie die sachlich oder örtlich
sich nahestehenden Betriebe und mit diesen
gleicherweise die Unternehmer wie die Hilfs-
arbeiter, die darin thätig sind, zu Einheiten zu-
sammenzufassen. Nach aussen soll an
Stelle des Klassengegensatzes thun-
lichst der Berufsunterschied treten,
nach innen soll die Reibung zwischen
Untemehraem und Hilfsarbeitern dadurch
vermindert und die Ausgleichung vorhande-
ner Interessenkonflikte dadurch erleichtert
werden, dass sich jeweils nur kleine
Gruppen unmittelbar Beteiligter mit
ganz bestimmten sachlichen Postu-
laten gegenüberstehen.
Die Entwickelung des Genossenschafts-
wesens wird also in einer Fördenmg der
eigentlichen Fachgenossenschaften und der
Genossenschaften mit einem nicht allzu
grossen Sprengel, unter Zusammenfassung
der einzelnen Genossenschaften in grössere
Verbände, ferner darin zu suchen sein, dass
den Genossenschaften in höherem Masse als
bisher eine Bethätigung auf dem eigentlidi
wirtschaftlichen Gebiete ermöglicht wird.
Solche aus der Gemeinsamkeit der mate-
riellen Interessen sich ergebende Impulse,
deren bisher fast alle Genossenschaften ent-
raten mussten, wären sicherlich geeignet,
das genossenschaftliche Leben auch in an-
deren Beziehungen zu heben. Die Thätigkeit
der Genoswsenschaften zu wecken und in die
richtigen Bahnen zu lenken, wird die vor-
nehmste Aufgabe der kürzlich geschaffenen
Genossenschaftsinstruktoren sein. Sie finden
das Feld in einzelnen Orten bereits vorbe-
reitet, da die Regierung in den letzten Jahren
eine beachtenswerte Aktion zxir Förderung
des Kleingewerbes durch Einfühnmg be-
währter Arbeitsbehelfe oder -methoden, von
Meisterkursen, Entsendung von Wander-
lehrern, Abhaltung von Ausstellungen u, s. w.
eingeleitet hat.
Die Gesetzgebung, namentlich aber
die Verwaltung werden die grossen Auf-
gaben, die ihrer auf dem Gebiete der
Gewerbeordnung noch harren, nur dann be-
friedigend zu lösen im stände sein, wenn
sie, induktiv vorgehend, stets die thatsäch-
lichen Verhältnisse zu erfassen sich bemühen.
Die zu diesem Zwecke letzter Zeit wieder-
holt abgehaltenen Enqueten waren viel zu
sehr von den allgemeinen Schlagworten der
politischen Parteien beherrscht, als dass
hierbei ein wirklich verwertbares Material
hätte gewonnen werden können. Es ist
deshalb als eine Errungenschaft zu begrOssen,
dass das arbeitsstatistische Amt im
Handelsministerium, dessen beabsichtigte
Errichtung im Artikel Arbeitsbureaus
und arbeitsstatistische Aemter
oben Bd. I, S. 977 angekündigt worden ist,
nachdem der betreffende Gesetzentwurf im
Parlamente unerledigt geblieben war, durch
Ministerialverordnung (Kundmachung des
Handelsministeriiuns vom 25. Juli 1898,R.G.BL
Nr. 132) mit 1. Oktober 1898 aktiviert wor-
den ist. Das Statut des arbeitsstatistischen
Amtes unter Matajas Leitimg entspricht den
in dem bezogenen Artikel angeführten Grund-
zügen. Nur wurden die Land- und Forst-
wirtschaft und der Bergbau in das Thätig-
keitsgebiet des Amtes einbezogen. Von der
Statuierung einer Auskunftpflicht unter
Strafandrohung musste dagegen, der geän-
derten Rechtsbasis des Amtes entsprechend^
in der Verordnung abgesehen werden. Doch
steht die Erlassung eines diesen Mangel
behebenden Gesetzes bevor. Gleichzeitig
mit dem arbeitsstatistischen Amte wurde
zur Unterstützung dieses Amtes und
der Betriebe, für die es wirksam ist, sowie
zur Beförderung des gedeihlichen Zusammen-
wirkens derselben ein Arbeitsbeirat ge-
schaffen, der aus Ministerialdelegierten und
aus 30 vom Handelsminister ernannten Mit-
gliedern besteht, die je zu einem Drittel
aus Unternehmern, aus Arbeitern und ' aus
Fachmännern zu wählen sind. Wichtige
Fragen, wie die der Dienst- und Stellenver-
mittelung, der Statistik der Arbeitseinstel-
lungen und Aussperrungen und der Erhebung
der Verhältnisse der Heimarbeiter und der
Bergarbeiter haben das ai'beitsstatistische
Amt und der Arbeitsbeirat bereits in viel-
versprechender Weise zum Gegenstande
ihrer Verhandlungen gemacht
Grewerbegesetzgebung (Oesterreich)
457
Litteratnr: Für die ältere Zeit: W, <?. Kapetz,
Allgemeine österreichische Gewerbsgesetzkunde,
Wien 1829^ 2. Bde. — J". X. E, Graf vtm
Barth" Bavthenheltn, Oesterreichs Gewerbe
und Handel in 'politisch-administrativer Be-
ziehung systematisch dargestellt, Wien 1845 und
1846, 2 Bde. — Derselbe, Das Ganze der
österreichischen politischen Administration, XIV.
Abhandlung, — Von dem Gewerbs- und Handels-
rcesen, Wien 1846. — Derselbe, Oesterreichische
Gewerbe- und Ifandelsgesetzkunde mit vorzüg-
licher Rücksicht auf das Erzherzogtum Oester-
reich unter der Enns, Wien 1819 und 1820, 8
Bde., samt Ergänzungsband, Wien 1824- —
M^fyi*itz von Stubenraiich , Handbuch der
österreichischen Verwaltungsgesetzkunde, 2 Bde.,
S. Auß., Wien 1860, 1861. — Adalb, Zaleisky,
Handbuch der Gesetze und Verordnungen, wel-
che für die Polizeiverwaltung im österreichischen
Kaiserstaate erschienen sind, S Bde., Wien 1854 ;
/. Nachtrag, Wien 1856; IL Nachtrag, Wien
1858. — Heinrich Astl, Alphabetische Samm-
lung aller politischen Gesetze des Kaisertums
Oesterreich, 2. Aufl., Prag 1864—1869. — Die
hervorragendsten Gesetzessammlungen mit ein-
schlägigen Verordnungen und Entscheidungen
9ind: Bela Freiherr v. Weigelsperg, Kom-
pendium der auf' das Gewerbeieesen bezugnehmen-
den Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vor-
schriften, 3. Aufl. (mit 9 Nachtragsheften), Wien
1892 — 1899. — Manzsche Taschenausgabe der
österreichischen Gesetze, Bd. I, Abt. I, Geicerbe-
ordnung (herausgegeben von Dr. Franz Müller),
7. Aufl., Wien 1899, — Siehe femer: E,
Mayerhofer, Handbuch für den politischen
Verwaltungsdienst im Kaisertum Oesterreich,
5. Auflage, 6 Bände, Wien 1895—1899 und
Joseph Vlbrich, Handbuch der österreichischen
politischen Verwaltung, 2 Bde. und Nachtrag
1888 — 1892. — Dann Mischler und Vlbrich,
Oesterr eichisches St<uits\cörterbuch, Wien 1895.
Artikel nGewerbea und die daselbst cilierten
Artikel. — An Kommentaren sind zu nennen:
Victor Mat€tja, Grundriss des Gewerbe-
rechtes und der Arbeiterversicherung, Leipzig
1899 (eine knappe, aber erschöpfende und äusserst
übersichtliche Darstellung des geltenden Rechtes).
— Seltsam und Posselt, Die österreichische
Gewerbeordnung, 2. Aufl., Wieri 1885. —
Alois Heilinger, Oesterreichisches Gewerbe-
recht, S Bde., Wien 1894—1895, Nachtrag 1897.
— (htte rechtsgeschichtliche Darstellungen ent-
halten : H, Reschauer, Geschichte des Kampfes
der Handwerkerzünfte und der Kaufmannsgremien
mit der österreichischen Bureaukratie , Wien
1882, und — bis in die neueste Zeit fortgeführt.
— Heinrich W€ientig , Gewerbliche Mitlel-
standspolitik. Eine rechtshistorisch-wirtschafts-
politische Studie auf Grund österreichischer
Quellen, Leipzig 1898. — Im Uebrigen sind zu
nennen: Emanuel Adler, Ueber die Lage
des Handwerkes in Oesterreich (1. Heft der
Wiener sozialpolitischen Studien), Freiburg i. B.
— Stephan Bauer, Die Heimarbeit und
ihre geplante Regelung in Oesterreich, Braun-
sehes Archiv Bd. X, S. 239 ff. — O. Lecher,
Die österreichische Gewerbenovelle, Handelmuseum,
Bd. 11, Nr. 6 und 6. Wien 1896. — O. JUch-
ter, Die amtliche Arbeiterstatistik in Oesterreich,
S. Vierteljahrsheft zur Statistik des Deutschen
Reiches, 1896. — Ferdinand Schmidt, Statis-
tische Studien über die Entwickelung der öster-
reichischen Gewerbegenossenschaften, Statistische
Monatsschrift der k. k. statistischen Central-
kommission, 14. Jahrgang, Wien 1888. —
Richard Schneller, Die österreichische Hand-
werkergesetzgebung, Braun-sches Archiv, Bd. XI,
S. S81ff. — Schultet*, Die Regelung der Heim-
arbeit in Oesterreich, * Handelsmuseum, Bd. 11,
Nr. 27, Wien 189$. — Eitlen Schwiedland,
Kleingewerbe und Hausindustrie in Oesterreich,
Leipzig 1894. — Derselbe, Vorbericht und
zweiter Vorbericht über eine gesetzliche Regelung
der Heimarbeit, erstattet an die niederöster-
reichische Handelskammer, Wien 1896 u. 1897.
— Dei^selbCf Ziele und Wege einer Heimar-
beitsgesetzgebung, Wien 1899. — Verein für
Sozialpolitik Bd. LXXl, Untersuchungen
über die Lage des Handwerkes in Oester-
reich, Leipzig 1896. — Leo Verkauf, Sozial-
reform in Oesterreich, Wien 1896. — Weitere
Litteraturangaben bei Schönberg Bd. 2, S. 598.
— Statistische Daten enthalten verschiedene Publi-
kationen des statistischen Departements
des k. k. Handelsministeriums, worunter
zu nennen sind: Die gewerblichen Genos-
senschaften in Oesterreich, 'B Bde., Wien
1895. — Die Arbeitsvermittelung in Oester-
reich, Wien 1898. — Die Arbeitseinstel-
lungen und Aussperrungen im Gewerbebetriebe
in Oesterreich. Der letzte Bericht darüber er-
schien für das Jahr 1897, Wien 1899. — Ueber
die Förderung des Kleingewerbes im Jahre 1898
liegt ein Bericht des Ha ndelsministeriums
( Wien 1899), anschliessend an frühere für die Jahre
189g— 1897, vor.— Seit Beginn des Jahres 1900 giebt
das arbeitsstatistische Amt im Handels-
ministerium die MonxUsschrift nSoziale Rund'
schau«, mit einer Beilage : » Gewerbegerichtliche
Entscheidungen heraus. Wien, Holder. Das
derzeit vorliegende 1. und 2. Heft enthält wert-
volle Beiträge, die aber für den vorliegenden
Artikel nicht mehr benutzt werden konnten.
Hervorzuheben sind Artikel über Arbeitsvei'-
mittelung, Arbeitseinstellungen und Aussperrun-
gen und Arbeitsstreitigkeiten, mit bis zum Schlüsse
des Jahres 1899 reichenden Daten, dann die neuen
Arbeitsordnungen für die k. k. Tabakfabriken
etc. tmd die Instruktion für die Amtsxcirksam-
keit der Genossenschaf tsinstruktoren. — Siehe
ferner: Stenographisches Protokoll der im k. k.
arbeitsstatistischen Amte durchgeführten Verneh-
mung von Auskunftspersojien über die Verhältnisse
in der Kleider- undWäschekonfektion. Wien, Holder
1899. — Gesetzesmaterialien enthalten
die stenographischen Pi'otokolle des Abgeordneten-
hauses, IX. Session, insbesondere Protokolle der
244. — 256. und der 269. SiUung, dann Beilagen
hierzu Nr. 258, 580, 664. — Stenographische
Protokolle des Herrenhauses, IX. Sessian, ins-
besondere Protokolle der 71. und 72. Sitzung,
dann Beilage hierzu Nr. 277. — Femer für
die Novelle vom Jahre 1897 die stenographischen
Protokolle des Abgeordnetenhauses, XI. Session,
über die 528.— 531, und die 569. Sitzung und
Beilagen dazu Nr. 1S55, 1567 wid 1678, dann
Beilagen Nr. 659 zti den stenographischen Proto-
kollen des Herrenhauses, XL Session, femer
Zusammenstellung der gutachtlichen Aeusserungen
über in Antrag gebrachte Abänderungen der
Gewerbeordnung , hera-usgegebcn vom Handels-
ministerium, Wien 1893, 4 Hefte, und gutacht-
458
Gewerbegesetzgebung (Oesterreich — Ungarn)
liehe Aeasserung etc. der Handels- und Gewerbe-
kammer in Wien, Wien 1S9S.
JPrhr, Friedrich von Call.
m. Die Oewerbegesetzgebung In
Ungarn.
1. Greschichtliches. 2. Gewerbebetrieb. 3.
Hilfspersonal. 4. Gewerbeorganisation. 6. Ue-
bertretungen und Strafen. 6. Gewerbebeh6rden.
7. Besnltate.
1. Geschichtliches. Wie überall in den
älteren Knlturstaaten , so war auch in Un-
garn bis tief ins 19. Jahrhundert hinein das
Gewerberecht auf das Zunftwesen basiert.
Die älteste bis jetzt bekannte ungarische
Zunftrolle datiert aus dem Jahre 1307. Auch
in Ungarn hatte die Zunft neben den streng
gewerblichen auch soziale, politische, reli-
giöse Aufgaben. Die Zünfte wurden teils
nach deutschen, teils nach italienischen Vor-
bildern organisiert, erhielten aber diu'ch An-
passung an die lokalen und nationalen Ver-
hältnisse ein selbständiges Gepräge. Nach
den Regeln der Zunft hatte jeder Hand-
werker die Pflicht, einer Zunft anzugehören
und deren Satzungen sich zu unterwerfen:
nur Zunftmitglieder durften auf dem Markt
ihre Waren feilbieten, Gesellen und Lehr-
linge halten ; mehr als ein Handwerk diu^te
niemand betreiben; schlechte Arbeit konnte
der Zunftmeister zu Gunsten der Zunft oder
der Kirche konfiszieren. An der Spitze standen
ein, oftmals auch zwei, selbst vier Zunft-
meister: der Zunftmeister hatte die Pflicht,
die Zunftgenossen wenigstens viermal jähr-
lich zusammenzunifen ; er entschied in erster
Instanz die Prozesse der Zunftmitglieder, er
wachte darüber, dass nicht Pfuscher arbeite-
ten, vor ihm geschah die Aufnahme und
Freisprechung der Lehrlinge etc. Zunft-
meister konnte nur ein verheirateter Mann
sein, Lehrlinge durften nur im Alter von
10 — 12 Jahren aufgenommen werden, auf
3 — 4, aber auch 7 — 8 Jahre. Niu: eheliche
Kinder wurden aufgenommen. Der Freige-
sprochene nahm teü an den Sitzungen und
Rechten der Gesellen. Die meisten Zünfte
forderten vom Gesellen 3 Jahre Wanderns.
Manche schrieben auch das Terrain des
Wanderns vor. So forderten die Pressbur-
ger Zünfte in der Regel, dass der Geselle
wenigstens ein Jahr in den österreichischen
Ländern wandern sollte. Die Siebenbürger
Sachsen gaben Deutschland den Vorzug.
Nach den Wanderjahren konnte der Geselle
das Meisterrecht fordern: zu diesem Behufe
musste er ein Meisterstück arbeiten und
zwei Meisteressen geben. Interessant sind
die Bestimmungen über das Meisterwerden.
Wo die Kirchenbehörde die Zunftstatuten
bestätigte, dort verlangte man in der Regel
Gegenstände für den kirchlichen Gebrauch.
In manchen Zunftrollen wird festgesetzt,
dass der Kandidat bei einem der Zunit-
richter wohnen und Zins zahlen muss. Wer
seine Richter gut traktierte, konnte auf
Nachsicht rechnen; \dele Hessen sich auch
von anderen das Meisterstück anfertigen.
Von besonderen Bestimmungen sei noch er-
wähnt, dass die meisten Zunftstatuten auch
festsetzten, welcher Religion die Zunftmit-
glieder anzugehören hätten. Die Zunftrait-
glieder waren auch zum fleissigen Besuche
der Kirche verpflichtet.. An den Begräb-
nissen eines Zunftmitgliedes mussten sich
alle beteiligen. Es war verboten, für solche
Arbeitgeber zu arbeiten, die einem anderen
Handwerker schuldig waren. In einzelnen
Zunftverordnungen finden wir die Bestim-
mung, dass die Gesellen an dem Gewinn
nicht beteiligt werden dürfen. Die Bussen
wimien zumeist in Wachs festgesetzt. Viele
Bestimmungen sorgten für das Interesse der
Konsumenten, um Betrug hintanzuhalten.
So sollten die Handwerker bei Tage und im
Angesicht des Publikums arbeiten; der
Schneider sollte beim Fenster sitzen; auf
ein Messer mit beinernem Griff durfte kein
Silberbeschlag kommen, damit man es nicht
für elfenbeinern halt« etc.
Sehr früh machte sich die Notwendigkeit
einer Reform des Zunftwesens geltend; es
tauchten mancherlei Missstände auf, und na-
mentlich die monopolistische Tendenz der
Zünfte kam früh zum Diuxjhbruch. Schon
im 14. Jahrhundert finden wir Spuren die-
ser Bewegimg. Gegen die Missbräuche
trafen die Landt^e häufig Bestimmungen,
so namentlich in den Jahren 1715, 1723,
1729. Seit dem Anfang des 19. Jahrhun-
derts büdet die Heilimg der Missstände fast
ununterbrochen die Aufgabe der Statthalte-
rei. Die letzte allgemeine Regelung des
alten Zunftwesens ^schah im Jahre 1813
mittelst der allgemeinen Zunftordnung. Im
Jahre 1840 folgte eine Lockerung des Zunft-
zwangs durch die Bestimmungen über das
Fabrikwesen und im Jahre 1848 eine vor-
läufige Abänderung der Zunftstatuten in
freiheitlichem Sinne. Nach dem Unabhän-
gigkeitskampf bis zur Wiederherstellimg der
ungarischen Verfassung (1850 — 1867) ist
Ungarn denselben Bestimmungen unterworfen
wie Oesterreich (siehe die vorigen Artikel
Gewerbegesetzgebung in Oester-
reich). Nach Wiederherstellung der Ver-
fassung macht sich auch in Ungarn bald der
Drang nach einer unbedingt freiheitlichen
Gestaltung des Gewerbewesens geltend, und
dies geschieht denn auch mittelst Gesetz-
artikel VIII 1872, welcher die unbedingte
Gewerbefreiheit ausspricht, die Zünfte ab-
schafft und an deren Stelle Gewerbegenos-
senschaften kreiert. Die ungünstigen Ver-
Gewerbegesetzgebung (Ungarn)
459
hältnisse der 70 er Jahre rufen aber bald
eine energische Opposition gegen dieses Ge-
setz hervor, Namentlich macht sich das
Bedürfnis nach einer festeren Organisation
der Gewerbe geltend, auch der Ruf nach
Einschränkiuig der unbedingten Gewerbe-
freiheit durch Forderung der Qualifikation
wird immer stärker vernelimbar; diese
Strömung kommt zum Ausdruck in einem
gewerblichen Landeskongress , ebenso in
einer im Jahre 1881 abgehaltenen Gewerbe-
enoiiete etc. Nichtsdestoweniger zeigte sich
in Kegierungßkreisen wenig Neigung, diesen
Fonleningen nachzukommen, und es ist vor
allem der Rücksicht auf die Wahlen, welche
bevorstanden, zuzuschreiben, dass die Re-
gierung den Mut verlor, den Forderungen
der Gewerbetreibenden entgegenzutreten. So
entsteht das Gewerbegesetz XVII vom Jahre
1884, welches noch gegenwärtig in Kraft
ist Die wichtigsten, in den Hauptzügen
dem österreichischen G. v. Jahre 1883
analogen Bestimmungen des Gesetzes sind
folgende :
2. Grewerbebetrieb. Derjenige, welcher
ein an eine Konzession nicht gebundenes
Gewerbe zu betreiben beabsichtigt, ist ge-
halten, seine diesbezügliche Absieht bei der
kompetenten Gewerbebehörde schriftlich an-
zumelden und bei dieser Gelegenheit nach-
zuweisen, dass er den behufs selbständiger
Ausübung des Gewerbes gewünschten Er-
fordernissen entspricht; ausserdem für den
Fall, dass der Gewerbezweig, welchen er zu
betreiben beabsichtigt, ein solches Handwerk
ist, welches seiner handwerksmässigen Natur
nach in der Regel nur nach längerer Uebung
angeeignet werden kann, sein Lehrlings-
zeugnis vorzulegen und nachzuweisen, dass
er nach Beendigung der Lehrzeit mit einer
Facharbeit in einer Fachwerkstätte oder
Fabrik mindestens 2 Jahre sich beschäftigt
hat Der Minister bestimmt im Verord-
nungswege jene Handwerke , zu deren Be-
trieb diese Befäliigung nötig ist, sowie jene
Lehranstalten, deren erfolgreicher Besuch
von dem Nachweise der Befähigung enthebt.
Der Betrieb dieser Handwerke wird auch
jenem gestattet, der wohl kein Lehrlings-
zeugnis vorlegen, aber nachweisen kann,
dass er wenigstens 3 Jahre hindurch in
einer Fabrik oder Werkstätte mit einer
Facharbeit sich beschäftigt hat. Derjenige,
der ein an Befähigungsnachweis gebundenes
Gewerbe selbständig betrieben hat, kann ein
jedes andere an Befähigimgsnachweis ge-
bundene Handwerk ohne besonderen Nach-
weis der Befähigung beginnen. Wer die
Befähigung überhaupt nicht nachzuweisen
vermag, k^n ein an Befähigung gebundenes
Gewerbe dann betreiben, wenn er in seinem
Geschäfte ein solches Individuum verwendet,
welches den gesetzlichen Anforderungen
entspricht. Eine Reihe von Gewerben öffent-
lichen Charakters sind an Konzession, des-
gleichen andere hinsichtlich des Ortes der
Anlage gleichsam an eine gewerbebehörd-
hche Konzession gebunden. Der Beginn
des Gewerbebetriebes ist der Gewerbebe-
hörde anzumelden, imd es ist füi* gewerb-
liche, eventuell kommerzielle ünterrichts-
zwecke in Budapest 10, in Städten imd Ge-
meinden mit über 10000 Einwohnern 5,
sonst 1 fl. zu zahlen (§§ 1—58).
3. Hilfspersonal. Lehrlinge zu halten,
ist jedem selbständigen Gewerbetreibenden
gestattet; ausgenommen hiervon sind nur
Gewerbetreibende in solchen Gewerben, wo-
für sie die Befähigung nicht nachgewiesen,
und im StraffaUe. Die Aufnahme des Lehr-
lings geschieht bei der Gewerbebehörde
erster Instanz mittelst schriftlichen Vertrags.
Bei der Aufnahme ist zwischen dem Ge-
werbetreibenden und den Eltern oder dem
Vormunde des Lehrlings die Dauer der
Lehrzeit, der Unterhalt und die Verpflegung
des Lehrüngs festzustellen. Die Dauer der
Lehrzeit erstreckt sich mindestens bis zum
vollendeten 15. Lebensjahre. Der Gewerbe-
treibende ist verpfüchtet: a) den Lehrling
in dem Gewerbe, welches er betreibt, aus-
zubilden, ihn an gute Sitten, Ordnung und
Arbeitsamkeit zu gewöhnen; b) darüber zu
wachen, dass er an Feiertagen seiner Kon-
fession dem Gottesdienste beiwohne; c) ihn
zum Besuch der Schule resp. Lehrlings-
schule anzuhalten; d) ihn, wenn er zu den
Hausgenossen gehört, zu pflegen; e) die
Eltern resp. den Vormund bei Krankheit
oder anderen wichtigen Fällen zu verstän-
digen. Der Gewerbetreibende darf den.
Lehrling nur bei den zum Gewerbe ge-
hörenden Arbeiten verwenden und kann
denselben zti Dienstbotenarbeiten nicht ver-
pflichten, auch soll er ihn gegen Unbill vor
den Hausleuten und Gehilfen schützen. Nach
Beendigung des Lehrverhältnisses fertigt die
Gewerbebehörde dem Lehrling ein Zeugnis
aus, in welchem der Fortschritt in seinem
Gewerbezweige bestätigt und Name, Be-
schäftigung und Wohnung des Gewerbe-
treibenden, bei dem er die Lehrzeit beendet,
angeführt wird. Das Aufhören des Lehr-
verhältnisses ist der Gewerbebehörde anzu-
zeigen. Die Gewerbebehörde führt über die
auf ihrem Gebiete bestellten Lehrlinge ein
Register. Die Gewerbebehörde sorgt dafür,
dass sie mindestens monatlich einmal von
dem Betragen der Lehrlinge verständigt
werde. In Gemeinden, wo wenigstens 50
Lehrlinge sind und für dieselben keine be-
sondere Schide besteht, ist die Gemeinde
verpflichtet, für den Unterricht der Lehr-
linge einen besonderen Lehrkursus einzu-
richten. — Das Verhältnis zwischen dem
Gewerbetreibenden und seinen Gehilfen ist
460
Gewerbegesetzgebung (Ungarn)
Gegenstand freier Yereinbarung ; der Ver-
trag hat nach Ablauf einer einwöchentlichen
Probezeit bindende Kraft. Der Gewerbe-
treibende kann von seinen Gehilfen nur die
zum Gewerbe gehörenden Arbeiten verlan-
gen und ist verpflichtet, dem Gehilfen an
Feiertagen den Besuch des Gottesdienstes
zu gestatten. Der Gewerbetreibende kann
einen solchen Gehilfen nicht aufnehmen, der
das gesetzliche Erlöschen des mit dem frü-
heren Arbeitgeber geschlossenen Vertrages
nicht nachweisen kann. Das Verhältnis
zwischen Arbeitgeber und Gehilfen kann
mittelst lötägiger Kündigung gelöst werden.
Selbst bei rechtzeitig erfolgter Kündigung
kann aber ein Gehilfe, welcher nach Stücken
bezahlt wird, nicht eher austreten, bis er
die übernommene Arbeit dem Vertrage ent-
sprechend beendigt. Jeder Gehilfe rauss ein
Arbeitsbuch besitzen. Jede Verändenmg im
Dienstverhältnisse ist von der Gewerbebe-
hörde im Arbeitsbuch zu verzeichnen. Die
Gewerbel>ehörde führt über die auf ihrem
Gebiete in Verwendung stehenden Geliilfen
ein Register (§§ 59—110).
4. Gewerbeorganisation, a) Gewer-
bekorporationen. In Städten mit Mu-
nizipalrec^ht oder geordnetem Magistrat,
femer überall, wo die Zahl der an Befähi-
gung gebundenen Gewerbebetreibenden min-
destens 100 beträgt, sind auf Wunsch
von zwei Drittteilen der in einem an Be-
fähigung gebundenen Gewerbe Beschäftigten
Ge.werl)ekorporationen zu errichten, denen
alle an Befähigung gebundene Geworbetrei-
bende beizuti-eten und Mitgliedstaxen zu
leisten haben. Mit Ausnahme von Budapest,
wo die Gewerbekorporationen nach Gewerbe-
zweigen errichtet werden können, ist die
Gewerbekorporation eine allgemeine, alle
Gewerbezweige umfassende. Die Gewerbe-
korporation hat den Zweck, Ordnung und
Eintracht unter den Gewerbetreibenden auf-
recht zu halten, die Bestrebungen der Ge-
werl>ebehörde zu untei-stützen etc. Die Ge-
werbekorporation versieht zum Teil auch die
Funktionen der GewerlKjbehörde erster In-
stanz. Die Gewerbebehörde entsendet zu
jeder (Tewerl)ekori)oration cünen ständigen
behördlichen Kommissar. Bei jeder Koi-po-
ration ist behufs Erledigung der zwischen
den (^ewerl)etreil>enden und den Ijchrlingen
oder Gehilfen auftauchenden streitigen Fragen
ein aus Gewerl)etreiben(len und Gehilfen
zusammengesetztes Scliiedsgericht zu bilden.
Bei der Funktion des Schiedsgerichtes haben
unter Vorsitz des l)ehör(llichen Kommissai^s
in gleicher Zahl (Jewerbetreilx^nde und Ge-
hilfen anwesend zu sein. — b)Gewerbe-
genossensc haften. Ein und dasselbe
oder verscihiedene Gewerl>e können zur
Förderung gemeinsamer Interessen Gewerbe-
genossenschaften bilden (§§ 122 — 154).
5. (Jebertretongen und Strafen. Es
sei hier nur kurz der Strikebestimmungen
gedacht. Das Gesetz verweigert jede recht-
liche Wirkung solcher Verabredungen, durch
welche von Seiten der Gewerbetreibenden,
den Arbeitern härtere Arbeitsbedingnisse
und Lohnherabsetzungen auferlegt werden
sollen, sowie solcher, durch welche die Ar-
beiter günstigere Bedingnisse und Lohner-
höhungen erzwingen wollen, endlich aller
Vereinbarungen zur Unterstützung von
Strikenden oder zur Benachteiligimg der
am Strike nicht Teilnehmenden. Sobald
derlei Verabredungen zur Kenntnis der Ge-
werbebehörde gelangen, hat dieselbe ein
Schiedsgericht einzTisetzen. Wer gegen diese
Bestimmungen straffällig wird, kann, sofern
nach den Strafgesetzen keine schwerere
Strafe eintritt, mit einer Geldbusse bis zu
300 fl. und mit Arrest bis zu 30 Tagen be-
straft werden.
6. Gewerbebehörden. Das Gesetz or-
ganisiert die Gewerbebehörden I. und II.
Instanz ; die HI. Instanz bildet das Ministe-
rium für Industrie imd Handel. Die Ge-
werbebehörde I. Instanz wird durch ge-
wählte Bevollmächtigte unterstützt, deren
Zahl bef jeder Gewerbebehönle 20 beträgt.
Die Bevollmächtigten werden von den Ge-
werbetreibenden des betreffenden Gebietes
jährlich gewählt. Die Wahl kann in der
Kegel nicht ziu-ückge^wiesen werden. Die
Bevollmächtigten haben Gutachten in ver-
schiedenen Fragen abzugeben, kontrollieren
die Führung der verschiedenen Register, be-
suchen Fabriken, Werkstätten, Lehrlings-
schulen etc. Jedes Municipium errichtet
ferner einen Gewerberat, welcher die Ge-
werbebehörde II. Instanz in ihrer Thätig-
keit unterstützt.
7. Resultate, üeber die Wirkungen des
Gesetzes lässt sich namentlich konstatieren,
dass die gewerbliche Bewegung zum Stillstand
gekommen ist. Die Büdung von Gewerbege-
nossenschaften ist hinterdenErwartimgen zu-
rückgeblieben und überhaupt ist die Orga-
nisation der gewerblichen Selbstverwaltung
nm* teilweise ^ehmgen. Auch das Princip
der Qualifikation hat die Verhältnisse
gegen früher nicht wesentlich gebessert.
Ebenso ging die Organisation von Lehrlings-
schTilen nur langsam und unvollkommen
vorwärts. Dagegen w4rd konstatiert, dass
die Thätigkeil der Schiedsgerichte günstigere
Ergebnisse aufzuweisen hat. Die Notwen-
digkeit eitler Reform der Gewerbegesetz-
gebung macht sich dringend fülilbar und
scheint auch demnächst ernstlich in Angriff
genommen zu werden.
Földe».
Grewerbegesetzgebung (Frankreich)
461
IV. Die Gewerbegesetzgebung in
Frankreich.
I. Allgemeine Uebersicht. 1. Die
HerstelluDg der Gewerbefreiheit zur Zeit der
f rossen Revolution. 2. Beaktion. Das erste
aiserreich. 3. Die Zeit bis zur Gründung der
dritten Republik. 4. Die Gewerbegesetzeeoung
in der Gegenwart. 5. Die Frage der Wieder-
herstellung der Korporationen. IL Besonde-
rer Teil. 6. Das Bäckergewerbe. 7. Das
Fleiscber- und das Selchergewerbe. 8. Wirts-
und Schankgewerbe. 9. Die Stellenvermittelung.
10. Sicherheits- und Sanitätspolizei hinsichtlich
der Betriebsstätten.
I. Allgemeine Uebersicht.
1. Die Herstellung der Gewerbefrei-
heit znr Zeit der grossen Revolution.
In der berühmten Nacht des 4. August 1789
hatte die Nationalversammlung auch die
Reform der Meisterrechte beschlossen. Dem
Programme folgte bald die Ausführung
durch das G. v. 2./ 17. März 1791. Die alte
gewerbliche Verfassung wurde durch das-
selbe aufgehoben, es fielen die Zünfte, die
Aufseherposten, die Reglements. Die Frei-
heit der Arbeit wurde nur durch wenige
Ausnahmen ohne Belang beschränkt: so
sollten die Apotheker einer Aiifnahme nach
den Regeln ihres Berufes bedürfen und die
Goldschmiede einer polizeilichen Kontrolle
unterliegen. Das G. y. 2./ 17. März 1791
hatte übrigens mit diesen Bestimmungen
nur einen thatsächlich bereits eingetretenen
Zustand besiegelt, denn schon waren unter
dem das Land erwärmenden Sonnenstrahl
der Freiheit die alten gewerblichen Einrich-
timgen und Vorrechte in voUe Auflösung
imd Zersetzung übergegangen, man beach-
tete sie zum guten Teile gar nicht mehr,
und die ausdrückliche Beseitigung ging da-
her auch klanglos und ohne nennenswerten
Widerstand vor sich. Gleichzeitig hielt die
Patentsteuer ihren Einzug. Jeder Indus-
trielle, jeder Kaufmann hatte dieselbe jähr-
lich zu leisten; sie war eine Abgabe, die
umgelegt werden sollte nicht nach dem
Reinectrage der Unternehmungen, da, wie
man eifersüchtig auf die neu errungene
Freiheit annahm, sich die hierzu erforder-
lichen Nachforschungen nicht vertrügen mit
den Grundsätzen bürgerlicher Freiheit, son-
dern nach bestimmten Proportionalsätzen
auf den Mietwert der Räumlichkeiten für
den Geschäftsbetrieb. Durch die Abschaf-
fung der alten Provinzialeinteilimg mit den
Sonderrechten der verschiedenen Landes-
teile sowie mancher sonstigen mit der
früheren Verfassung in Verbindung stehen-
den EinrichtuDgen war Frankreich zu einem
einheitlichen Handelsgebiet umgestaltet wor-
den, in welchem selbst die städtischen Thor-
steuern fielen und der Innenhandel sich
somit frei bewegen konnte. Auch der 1791
geschaffene neue Zolltarif war sehr mass-
voU, was die Eingangsabgaben betrifft; die
Ausfuhr war im wesentlichen ganz frei.
Kurz gesagt, vergleichsweise sehr wenige
Beschränkungen abgerechnet, fand sich der
Gewerbebetrieb dem vollen Walten der
Freiheit ausgesetzt. Nui* ein Gesetz jener
Zeit verletzte gröblich die Freiheit, sonder-
barerweise unter Berufung auf dieselbe:
das G. V. 14./ 17. Juni 1791, welches die
Wiederhei-stellung der korporativen Ver-
bände unter was immer für einer Form
verbot und den Angehörigen eines Standes
oder Gewerbes, seien es Unternehmer oder
Arbeiter, untersagte, bei etwaigen Zusammen-
künften Vorsitzende oder Säiriftführer zu
wählen, Verzeichnisse zu führen, Beschlüsse
zu fassen oder über »ihre angeblichen ge-
meinsamen Interessen« Bestimmimgen zu
treffen. Dieses Gesetz entsprang teils der
Sorge vor einem Wiederaufleben der frühe-
ren Verbände, teils dem Wunsche, die sich
geltend machende Arbeiterbewegung nieder-
zuhalten. Thatsächlich wurde damit das
Koalitions- und Gewerkvereinswesen der
Arbeiter sowie auf seite der Unternehmer
die Gründung von fachlichen Verbänden
gesetzlich unmöglich gemacht.
2. Reaktion. Das erste Kaiserreich.
Der Zustand fast ungehemmter Gewerbe-
freiheit sollte jedoch nicht lange währen.
Wir denken hierbei nicht an die vom Kon-
vent getroffenen Massnahmen des Maximums
und Vorschriften gegen die Accapareurs ;
diese Massregeln waren ein vorübergehen-
der, durch die Not erzwungener Versuch
und bildeten keinen organischen Bestandteil
des französischen Gewerberechts. Aber all-
mählich schlichen sich mehr oder weniger
bedeutsame Beschränkungen der Gewerbe-
freiheit ein, die nicht bloss Abhilfe für eine
augenblickliche Verlegenheit bieten sollten.
Schon das G. v. 19./22. Juü 1791 über die
Gemeindepolizei etc. gestattete provisorisch
Brot und Fleisch einer Preistaxe zu unter-
stellen; in der Folge erschien dann eine
noch weit einschneidendere Regelung der
beiden sich mit diesen Artikeln befassenden
Gewerbe, indem 1801 das Bäckergewerbe,
1802 das Fleischhauergewerbe in Paris ge^
radezu konzessionspflichtig wurden; 1793
sah sich das Selchergewerbe in Paris von
Beschränkungen ergriffen. Unter dem Di-
rektorium wurde das Pfandleihgewerbe unter
Aufsicht gestellt, es war dies ein schwacher
und offenbar unzuläugücher Versuch, dem
häufig in jenem Gewerbe betriebenen
wucherischen Gebai'en entgegenzuwirken.
Allmählich erschienen auch wiederum die
indirekten Abgaben (1804 die Getränke-
steuer, 1810 Wiederherstellung des Tabak-
monopols etc.), so dass auch von dieser
462
GewerbegesetzgebuDg (Frankreich)
Seite her Handel und Wandel an der frühe-
ren Freiheit einbüssten. Unter dem Napo-
leonischen Regime zeigte sich ferner eine
Reihe von Bestrebungen zur Wiedereinfüh-
rung der alten gewerberechtlichen Einrich-
tungen, welche, wie es scheint, dem grossen
für feste Ordnung und einheitliche Zusam-
menfassung eingenommenen Herrscher nicht
gänzlich widerstrebten, wenngleich Napoleon,
wo er in diesem Sinne eingriff, dies nicht
aus liebe zum alten System that, sondern
wo Interessen der Staatsgewalt, sei es
wegen politisch -polizeilicher, sei es wegen
finanzieller Gründe, ins Spiel kamen. Eine
solche Regelung erfuhren daher insbesondere
die Medizinalgewerbe (die der Aerzte, Apo-
theker, Hebammen, Kräuterhändler), indem
ihre Ausübung von der Ablegung gewisser
Prüfungen abhängig gemacht wurde; die
Wirts- und Schankgewerbe unterlagen nach
dem G. v. 5. Mai 1806 und dem Dekret v.
15. Dezember 1813 der Xonzessionspflicht,
an die sich verschiedene Beschränkimgen
anknüpften; auch die Waffenerzeugung
wurde von allerlei Vorschriften ergriffen.
Ganz besonders beengt sahen sich jedoch
Buchdruckerei und Buchhandel (Dekret v.
5. Februar 1810); ihre Ausübimg war von
der Erlangung eines Befähigungscertifikates
abhängig, wobei auch die Angemessenheit
des Verhaltens in politischer Hinsicht zur
Berücksichtigimg kam, und es wiu*de die Zahl
der Buchdnickereien überdies noch auf eine
feste Ziffer beschränkt. Minder bedenklich
war das Verfahren gegenüber dem Hausier-
gewerbe; die Hausierer mussten in Paris
von der Polizeipräfektur eine Medaille er-
werben, die natürlich auch versagt werden
konnte. Endlich wunle auch in der Napo-
leonischen Zeit der Grund ziu* Gesetzgebung
über die Beaufsichtigung der im Interesse
der Sicherheit oder der Hygiene einer
solchen bedürftigen gewerblichen Anlagen
durch das Dekret v. 15. Oktober 1810 (s.
unten) gelegt.
Was die Regelung der Verhältnisse zwi-
schen Unternehmern und ihren gewerblichen
Hilfsarbeitern anbelangt, so ist ftir jene
Zeit namentlich das G. v. 22 germinal XI
(12. Aprü 1803) betreffend die Manufak-
turen, Fabriken und Werkstätten, zu nennen.
Dieses Gesetz stand rücksichtlich der Be-
ziehungen zwischen Arbeitgebern und Ar-
beitnehmern im wesentlichen auf dem Boden
voller Vertragsfreiheit; es bildet jedoch aber
auch durch die Bestimmung, Lelirlinge oder
Arbeiter dürften nicht ohne Entlassungs-
urkunde seitens ihres früheren Arbeitgebers
bezw. eine entsprechende Bestätigimg des-
selben in einem Buche aufgenommen wer-
den, den Ausgangspunkt für die Wiederein-
führung des Arbeitsbuches (s. d. Art. oben Bd. I,
S. 729). Ausserdem wurden für einzelne Ge-
werbe im Verordnungswege besondere Vor-
schriften erlassen, so namentlich für die Bau-
gewerbe in Paris die Arbeitszeit geregelt. Ein
wichtiger und erfreulicher Schritt war das G. v.
18. März 1806, welches die Gewerbegerichte,
die Conseils de pnid'hommes, wenn auch
zunächst niu* für die Lyoner Seidenindustrie
ins Leben rief.
3. Die Zeit bis zur Gründung der
dritten Republik. Auch unter der Restau-
ration sowie Louis Philippes Regienmgszeit
setzten sich die Bestrebungen zur Wieder-
einführung des Korporationssystems fort,
aber ohne Erfolg. Hingegen wurden in an-
derer Richtung bedeutsame Reformen am
Gewerberechte vorgenommen. Das G. v. 5.
Juli 1844 ordnete die Erfindungspatente,
die Gewerbegerichte wurden ausgebreitet,
die Gewerbesteuer neu geregelt, die Inte-
ressenvertretung von Handel und Gewerbe
umgestaltet, indem ein neuer Wahlmodus
für die Handels- und Gewerbekammern ein-
geführt und die Umbildung des obersten
Handels- und Industrierates zur Durchfüh-
ning gelangte» Nach der königlichen Or-
donnanz V. 29. April 1831 bestanden drei
Räte — für den Handel, die Industrie, die
Landwirtschaft — zur Aeusserung von
Wünschen und Abgabe von Gutachten ; über
ihnen stand noch ein oberer Handelsrat, in
dem die genannten drei Räte durch ihre
Vorsitzenden vertreten waren und welcher
sich namentlich über Fragen der Handels-
und Zollgesetzgebung zu äussern hatte.
Endhch regelte das G. v. 22. März 1841
die Kinderarbeit in den Fabriken ; inhaltlich
war es wohl äusserst mangelhaft und unzii-
länglich, wichtig ist es jedoch als erster
Schritt auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes
(s. darüber d. Art. Arbeiterschutz-
gesetzgebung in Frankreich oben
Bd. I, S. 540).
Die zweite Republik wird namentlich
bedeutsam durch das Maximalarbeitstagsde-
kret V. 9, September 1848 und das Lehr-
lings-G. V. 22. Febniar 1851 (s. oben Bd. I, S.
540, 541); beide Gesetze stehen noch heute
in Kraft. Die Regierungszeit Napoleons 111.
wiederum ist insbesondere bemerkenswert
durch die in dieselbe fallende endliche Frei-
gebung der Bäcker- und Metzgergewerbe
(s. unten) sowie die Gewährung der Koa-
litionsfreiheit im Jahre 1864, die freilich
noch begi-enzt bleibt durch die Beibehaltung
von Strafen ffir die Beeinträchtigung der
Freiheit der Arbeit durch Auferlegung von
Bussen, Proskriptionen und Vemifserklä-
ningen nach einem gemeinschaftlichen Plane.
4. Die Gewerbegesetzgebung in der
Ciregenwapt. Die dritte Republik führt eine
Reihe liberaler Reformen durch. Eine ihrer
ersten Massnahmen ist die Freigebung der
Gründung von Buchhandlungen und von
Grewerbegeselzgebung (Frankreich)
463
Buchdruckereien fDekret v. 10. September
1870), die in Hinkunft nur gewissen Kon-
trollebestimmungen unterstehen sollen (Hin-
terlegung von Pflichtexemplaren etc.); das
G. V. 14. August 1885 bringt auch der
Waffenindustrie und dem Waffenhandel Frei-
heit u. a. m.
Bestehen bleiben hingegen ausser den
schon zur Erwähnimg gelangten Beschrän-
kungen des freien Gewerbebetriebes nament-
lich Bestimmungen über Wirts- und Schank-
gewerbe (s. unten), über den Betrieb von
ötellenvermittelungsgeschäften (s. unten),
über den Hausierhandel (Beschränkungen
des Verkehrs mit Staatsmonopolgegenständen
sowie diverse polizeiliche Verfügungen, so
für Paris die Verdg. v. 28. Dezember 1859
u. a.), über die Medizinalgewerbe (Erforder-
nis des Besitzes bestimmter Diplome für die
Ausübung des ärztlichen Berufes etc.), dann
die sich aus dem Finanzrecht (Tabak-, Zünd-
hölzchen- etc. Monopol) ergebenden Be-
schränkungen. Jedenfalls ist eine selir
weitgehende Gewerbefreiheit, was den An-
tritt von Gewerben betrifft, verwirklicht.
Vermehrt werden dagegen die gesetz-
lichen Bestimmungen, die gegen die Fäl-
schung von Lebensmitteln gerichtet sind,
namentlich ist es der Weinhandel, welcher
die Gesetzgebung beschäftigt (G. v. 14. Au-
gust 1889 u. a.).
Ueber die Beaufsichtigung der Betriebsan-
lagen s. unten sublO, über die Arbeiterschutz-
gesetzgebung s. d. Art. oben Bd. I, S. 541 ff.,
über die Conseils de prud'hommes s. d. Art.
Gewerbegerichte oben Bd. IV, S. 406 ff.
Unter den liberalen Reformen der drit-
ten Republik namentlich bemerkenswert ist
das G. V. 21. März 1884 über die fachge-
werblichen Verbände : es vollendet die Koa-
ütionsfreiheit und giebt die Bildung der
bezeichneten Verbände (Syndikate) frei,
welche bis dahin gesetzlich verboten, wenn-
gleich thatsächlich geduldet waren. Die
Syndikate erhielten damit eine unanfecht-
bare Rechtsgrundlage, sie können sich im
Unterschiede von den übrigen Assoziationen,
welche, wenn sie mehr als 20 Mitglieder
zählen, einer behördlichen Autorisation be-
dürfen, stets frei von einer solchen bilden und
müssen nur gewisse Förmlichkeiten erfüllen.
Bestehen blieben jedoch die Bestimmun-
gen des Strafgesetzbuches (Art. 419 und
420), welche die unter den hauptsächlichen
Inhabern einer Ware gebildete Vereinigung
mit Strafe bedrohen, wenn diese die Fälschung
der Preisbildung der Ware bezweckt und
thatsächlich erzielt (sogenan ntes accapare-
ment), gleichwie auch Abmachungen civil-
rechtlich als nichtig erklärt werden können
(Art. 1131 und 1133 Code civil), welche
gegen die Freiheit des Handels Verstössen,
wovon z. B. 1890 in dem Prozesse mehrerer
Bergbaugesellschaften gegen die Metallge-
sellschaft und das Escomptecomptoir aus
Anlass des Kupferringes Gebrauch gemacht
wurde. Vgl. hierzu Schriften des Vereins
f. Sozialpol., Bd. 60.
5. Die Fra^e der Wiederherstelluiig
der Korporationen. Wie schon zu er-
wähnen Gelegenheit war, zeigten sich vne-
derholt Bestrebungen zur Wiedereinfüh-
rung der alten Korporationen, wenngleich
selbstverständlich dabei regelmässig mehr
oder minder wesentliche Aenderungen an
ihrer Verfassung und ihren Aufgaben gegen
früher in Aussicht genommen waren.
Man kann sagen, dass dieser Hang für
die alte korporative Gewerbeverfassung in
Frankreich niemals ganz ausgestorben ist.
Die modernen Syndikate, welcihe in rascher
Entwickelung begriffen sind, haben manches
gebracht, was man sich früher von der
Wiederherstellung der Korporationen ver-
sprach ; aber auch damit ist der Korporations-
gedanke nicht verschwunden. Mne neue
Pflege hat er durch die katholisch-konserva-
tive Partei gefunden, welche insbesondere
die Gründung von sogenannten syndicats
mixtes empfiehlt, das ist von fachlichen
Verbänden, in denen, entsprechend den
früheren Einrichtungen, sowohl Unternehmer
als auch Arbeiter vertreten sind. Insbeson-
dere von Bedeutung hierfür ist das Oeuvre
des Cerdes ouvriers geworden, welches 1871
durch Albert von Mun im Vereine mit Ge-
sinnungsgenossen gegründet wurde und eine
rege Propaganda entfaltete. Allerdings geht
die katholische Partei selbst weit auseinander
in betreff der Aufgaben der neuen Kor-
porationen und Ausstattung derselben mit
Rechten. Die Spaltung der Partei in solche,
die für eine sehr weitgehend freiheitliche
Gestaltung der Volkswirtschaft sind, und
solche, welche einer stärkeren Beschränkung
des Individualismus zuneigen, zeigt sich
auch hier. Einzelne Stimmen sind schon
bis zur Verleihung von allgemeinen, also
auch gegenüber den Nichtmitgliedern gfütigeu
Befugnissen bei Regehmg der Arbeitsver-
hältnisse etc. oder unmittelbaren Herstellung
von Zwangsverbänden und anderem gegangen.
Vergl. hierzu namentlich verschiedene Auf-
sätze in der Association catholiqne, dann
Boissard, Le syndicat mixte (Paris 1897)
und das unten genannte Werk von Martiu-
Saint-Leon.
IL Besonderer Teil.
6. Das Bäckergewerbe. Zu den Ge-
werben, welche der fi^anzösischen Gewerbe-
gesetzgebung am meisten zu schaffen ge-
macht haben, gehört das Bäckergewerbe.
1791 frei gegeben, hatte es nur noch mit
der Beschränkung zu reclmen, dass das
G. V. 19./22. Jidi 1791 im Art. 30 die Er-
464
Grewerbegesetzgebung (Frankreich)
lassung von Preistaxen für das Brot vor-
gesehen hatte. Bald aber schlug die Stunde
nir eine neuerliche eingehende Regehing
des Bäckereibetriebes. Zunächst Anlass
hierzu gab die nach der Ernte von 1801
eintretende Teuerung, welche bei der Re-
gierung die Idee einer Abhilfe auf dem
Wege der Regelung des Bäckergewerbes
wachrief. Dies geschah durch die Verfügung
der Consuln vom 11. Oktober 1801. Im
Widerspruch mit dem Minister des Innern
Chaptal erlassen, ordnete dieselbe unter
gleichzeitiger Schaffung einer korporativen
Vertretung an : 1. Die Ausübimg des Bäcker-
fewerbes in Paris ist an eine Erlaubnis des
'olizeipräfekten gebunden. 2. Diese wird
nur gegen Uebernahme der Verpflichtung
erteilt, 15 Sack Mehl als Garantie zu hinter-
legen und im eigenen Magazin einen Vor-
rat von 15—60 Sack — je nach dem Um-
fange des Betriebes — zu halten. Das zur
Garantie hinterlegte Mehl wird durch unter
behördlicher Einflussnahme aus der Mitte
der Bäcker Bestellte verwaltet. 3. Befrei-
ung der Bäcker von der Patentabgabe.
4. Kein Bäcker darf ohne Erlaubnis die Zahl
der Ausbackungen verringern oder sein Ge-
werbe ohne vorhergehende sechsmonatliche
Ankündigung aufgeben. — Die Beobachtung
dieser Anordnungen war durch allerlei Straf-
androhungen gesichert.
Die behördliche Einflussnahme bleibt
dabei nicht stehen, sie wird vielmehr noch
einschneidender. Seit 1811 übt die Behörde
die Preisbestimmung aus, es folgt ferner
eine Reihe von neuen Dekreten und Ver-
fügungen. Eine königliche Ordonnanz er-
kennt 1815 ausdrilcklich das ausschliess-
liche Recht der Bäcker an, in Paris und
seiner Bannmeile Brot zu verkaufen; nie-
mand darf bei Strafe der Konfiskation Brot
im kleinen verschleissen oder Vorräte daran
ansammeln, und Wirte, Kaffesieder etc.
dürfen nur das Brot bei sich halten, welches
für sie selbst und ihre Gäste notwendig
ist. 1818 wird die Grösse des Depots und
des Vorrates bei den Bäckern erhöht. 1824
folgt die weitere Massnahme, dass die
Bäcker das von ihnen ausgebackene Brot
mit einer ihnen zugewiesenen Nummer zu
versehen haben, damit Gewichtsabgänge
hintangehalten werden.
Anlässlich der schlechten Ernte von 1853
machte die Pariser Gemeindeverwaltung den
Versuch einer Einrichtung, welche gestatten
sollte, zu Zeiten einer Teuerung den Kon-
sumenten Brot zu einem ermässigten Preis
zu vei-schaff en , ohne damit die Gfemeinde-
finanzen zu belasten. Zu diesem Zwecke
wurde eine Kasse gogi'ündet, welche für
Rechnung der Bäcker die Mehleinkäufe der-
selben zu begleichen hatte; sie schoss den
Bäckern den Beti-ag voi-, der sieh aus dem
Zurückbleiben der amtlichen Brottaxe gegen-
über den Mehlpreisen ergab, und zog um-
gekehrt einen etwaigeh üeberschuss ein.
Auf diese Weise glaubte man im wesent-
lichen eine Best^digkeit der Brotpreise
erzielen zu können, indem für das Deficit
in teueren Jahren der üeberschuss aus wohl-
feilen aufkomme. Dieses System liatte aber
eine Unterbindung des Brotverkehi-s des
Seinedepartements mit den ausserhalb ge-
legenen Ortschaften zur Voraussetzung,
welche auch durch die Polizeiverordnung
vom 20. Mai 1858 erfüllt wurde.
Weitere Fortschritte machte die Regle-
mentierung durch das kaiserliche Dekret
vom 1. November 1854, dessen Bestimmungea
sodann durch das Dekret vom 16. November
1858 von Paris auf 165 andere Städte aus-
gedehnt wurden. Betriebspflicht, das ob-
ligatorische Halten von Mehl verraten , Zahl
der Bäcker (für Paris 601) etc. werden
neuerlich geregelt.
Ungefähr zehn Jahre dauerte dieses
System, um sodann durch ein anderes —
das der Freigebung des Bäckergewerbes —
ersetzt zu werden. Dies geschah durch das
kaiserliche Dekret vom 22. Juni 1863. Es
hob die Beschränkungen hinsichtlich der
Zahl der Bäcker, die Notwendigkeit einer
behördlichen Erlaubnis für den Betrieb
dieses Gewerbes, die Verpflichtung zur
Haltung von Vorräten etc. auf; auch die
Bäckerkasse des Seinedepartements hätte
eine entsprechende Umgestedtung zu erfahren.
Ueber die bisherige Wirksamkeit derselben
bemerkte der Bericht von Rouher an den
Kaiser unter anderem: »Man muss aner-
kennen, dass während der Krise, die 1853
begonnen und sich in den folgenden Jahren
fortgesetzt hat die Kasse des Seinedeparte-
ments, Dank sei es dem mächtigen ihr von
der Stadt Paris erwiesenen Schutze, schwere
Aufgaben bewältigen und für die Bevölke-
rung die Last einer schwierigen Lage er-
leichtem konnte. Aber hätte dieses Resul-
tat nicht durch einfachere und minder kost-
spielige Mittel als die angewendeten er-
reicht werden können? Das Bäckergewerbe
jeder Freiheit in der Bewegung beraubt, in
die engste Abhängigkeit von der Verwaltung
der Kasse gestellt, zahlreichen und lästigen
Förmlichkeiten und einem strengen Systeme
unterworfen, gegen welches es oft sehr
lebhafte Klagen und bisweüen bei^echtigte
Reklamationen erhoben hat; eine Gesamt-
ausgabe von 70 Millionen Francs, von denen
nur 53^/2 Millionen zur Herabsetzung der
Brotpreise verwendet worden sind, die Not-
wendigkeit, den Brotverkehr an den Grenzen
der der Seine benachbarten Departements
und oft in Gemeinden zu untersagen, deren
Einwohner sich untereinander mengen —
heisst dais nicht die Vorteüe sehr teuer
Gewerbegesetzgebung (Frankreich)
i466
erkauft zu haben, welche die Bevölkerung
genossen hat?«
Die iii Rede stehende Kasse des Seine-
departements wurde jedoch nicht aufgehoben,
sie wurde nur, wie schon bemerkt, ent-
sprechend umgestaltet. Man erhob bei der
Enfuhr nach Paris eine Abgabe auf Ge-
treide, Mehl und Brot. Der Erlös davon
floss in die Kasse, welche dagegen die Auf-
gabe hatte, wenn der Preis des Brotes
erster QualitÄt 50 Centimes das Kilo über-
steige, den üeberschuss zu tragen.
E5n Dekret der Regiening der nationalen
Verteidigung hob 1870 diese Abgabe auf.
Die Bäckerkasse übernahm die wichtigen
Funktionen bei der Austeilimg des MeMes
bezw. Brotes unter die Bäcker und die Be-
völkerung.
Gegenwärtig steht noch der oben er-
wähnte Art. 30 des Gemeindegesetzes vom
19.— 22. Juli 1791 in Kraft; Art. 479 des
Strafgesetzbuches bedroht mit Geldbussen
die fiiäcker, welche die gesetzmässig erlassene
Preistaxe übersclireiten. Bestrebungen, in
Paris die Erlassung einer Taxe herbeizuführen,
blieben ohne Erfolg, dagegen machten (nach
einer Angabe Donnats aus dem Jahre 1891)
ungefähr 900 Gemeinden von der Befugnis
zur Aufstellung einer Brottaxe Gebrauch. —
Vergl. hierzu d. Art. Bäckereigewerbe
oben Bd. H, S. 127, 128.
7. Das Fleischer- und das Selcher-
^ewerbe. Der Verlauf ist beim Fleisch-
hauergewerbe ein ganz ähnlicher wie
beim Bäckergewerbe: freigegeben durch die
Gesetzgebung der Revolutionszeit bleibt es
nur nach dem G. v. 19.— 22. Juli 1791 der
Erlassung einer Preistaxe diuxsh die Gemein-
den ausgesetzt. Namentlich sind es Rück-
sichten auf die Approvisionienmg der zu
Unruhen geneigten Hauptstadt, welche zu
einem Verlassen dieses Systems Anlass
bieten ; die Misslichkeiten, welche sich hier-
bei ereeben, nötigen aber endlich wiederum
zum Mnlenken in die alte Bahn. ^
Schon durch die Verfügimg der Consu-
latsre^erung vom 30. September 1802 war
für die Fleischerei in Paris die Gewerbe-
freiheit aufgegeben worden. Jeder Metzger
benötigte danach für seinen Gewerbebetrieb
eine Erlaubnis der Polizeipräfektur und
hatte eine Kaution zu erlegen; ausserdem
wurde ein Syndikat mit bestimmten Rechten
und Aufgaben gebildet. Unter dem Kaiser-
reieh machte man einen Schritt weiter.
Ein kaiserliches Dekret beschränkte 1811
<lie Zahl der Fleischbänke in Paris auf 300
und rief die 1789 eingegangene Kasse von
Poissy wieder ins Leben, die 1733 mit Hilfe
vt>n Kaulionen der Fleischhauer gegründet
worden war und, um die Viehzüchter vor
Verlusten zu schützen und damit die Zu-
fuhr ^f die Yiehmärkte von Sceaux und
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite
Poissy zu erleichtern, füt das gekaufte Vieh
haftete. Jeder Metzger sollte jetzt in diese
Kasse 1500 Francs einzahlen und nach
Massgabe seiner Einkäufe weitere Zuschüsse
leisten, so dass die Viehverkäufer voll ge-
deckt waren, die mm ihrerseits eine Abgabe
von 3V2^/o des Verkaufserlöses zu leisten
hatten. 1821 wurden diese Abgaben ersetzt
durch solche, welche die Fleischhauer zu
tragen hatten. 1822 wurde die Zahl der
Metzgergewerbe auf 370 vermehrt.
Immer noch befriedigte der Zustand
nicht. Die Viehzüchter beklagten sich über
die niedrigen Preise, welche sie erzielten,
das Publikum über die Höhe der Fleisch-
preise, und die Staatsverwaltung stellte
weitere Massnahmen in Aussicht. Diese
erfolgten in der That durch die königliche
Ordonnanz vom 12. Januar 1825. Sie hob
die Beschränkung der Zahl auf, liess jedoch
das üebrige fortbestehen, so das Erforder-
nis der Konzession, d^n Kautionserlag, die
Kasse von Poissy. Der Zustand war eben-
sowenig befriedigend wie früher, besonders
waren es die Fleischer selbst^ die sich
jetzt rührten. Ein neues Expenment liess
daher nicht lange auf sich warten. Die
königliche Ordonnanz beschränkte 1829
wiederum die Zahl der Fleischbänke auf
400, stellte als Bedingung fflr den Gewerbe-
betrieb den Nachweis der entsprechenden
Kenntnisse auf, liess die Kasse von Poissy
fortbestehen unter Verpflichtung der Fleisch-
hauer, auf den Märkten von Poissy und
Sceaux einzukaufen, und erhöhte die Kaution
bei der Kasse auf 3000 Francs. Das Mono-
pol der Fleischhauer wurde dadurch be-
schränkt, dass in gewissen Hallen und
Märkten der Verkauf auch durch auswärtige
Marktfahrer erlaubt war sowie dass auch
ein beschränktes Verkaufsrecht der Tripiers
(Eingeweide, Füsse etc.) bestand. Durch die
Polizeiverordnung vom 25. März 1830 wur-
den dann noch nähere Anordnimgen ge-
troffen, insbesondere auch das Syndikat
reorganisiert, die nötigen Aufsichtsorgane
für die oft sehr minutiösen Vorschriften (ent-
halten in mehreren hundert Artikeln) ge^
schaffen etc.
Der Kampf zwischen den Landwirten
und den Fleischhauern dauerte indessen fort.
Erstere sprachen sich gegen das Verkaufs-
monopol der Fleischhauer und gegen die
Besciiränkung der Zahl aus, da sie von der
Aufhebung diesei* Einrichtungen günstigere
Konkurrenzverhältnisse für den Absatz ihrer
Erzeugnisse erhofften; die Fleischhauer
hingegen kämpften energisch für die Be-
schränkung.
Die Frage kam nicht ziu: Ruhe, auch als
in den Jahren 1848 — 1849 kleine Milderun-
gen des Monopolsystems, so dim^h Erwei-
terung der Verkauf sbefugnisse der auswar-
Auflage. IV. 30
466
Gewerbegesetzgebung (Frankreich)
ti^n Markthändler, zu stände kamen. Die
Diskussion war lebhaft, gewichtige Stimmen
erhoben sich für die Freigebung, die zuneh-
mende Fleischteuerung drängte zu einem
Schritte. Er erfolgte — aber nicht in libe-
ralem Sinne, sondern in der Richtung
weiterer Reglementierung. Durch die Poli-
zeiverordnung vom 1. Oktober 1855 wurde
für Paris die Fleischtaxe ins Leben gerufen :
der Preis jeder Fleischgattung soUte von
vierzehn zu vierzehn Tagen festgestellt
werden nach den bei der Kasse von Poissy
erhobenen Preisen. Aber auch dieses Sys-
tem blieb nicht frei von Reklamationen, und
es ergaben sich obendrein ^nug technische
imd praktische Schwierigkeiten; namentlich
klagte man, dass die Fleischer jetzt gar
kein Interesse mehr daran hätten, wohlfeil
einzukaufen. Nachträgliche Erhebungen
lassen auch die Annahme zu, dass die Taxe
Anlass gab zum Auftrieb von minder
schwerem Vieh, indem der Preis sich nicht
genau der Qualität anpassen konnte und
daher minderwertiges Fleisch beim Einkauf
bevorzugt war.
1858 fiel endlich auch dieses System,
die Taxe verschwand und ebenso die Be-
schränkung der Zahl der Gewerbe; auch
die Kasse von Poissy wurde aufgehoben.
— In den Departements hatte man nur von
Fleischtaxen Gebrauch gemacht, aber keine
monopolistischen Korporationen errichtet. —
Yergl. hierzu und namentlich über die Wir-
kungen der Freigebung des Fleischerge-
werbes d. Art. Fleischergewerbe oben
Bd. III, S. 1089 ff.
Anhangsweise sei hier noch bemerkt,
dass auch das S el eher ge werbe (Char-
cutiers) in Paris den Gegenstand von Be-
schränkungen hinsichtlich der Zahl gebildet
hatte, die aber bereits 1823 fielen.
8. Wirt9- und Schankgewerbe. Auch
diese Gewerbe vermochten die in der Revo-
lutionszeit erlangte Freiheit nicht auf die
Dauer zu behaupten. Abgesehen von aller-
lei schon früher zu stände gekommenen,
namentlich der Aufwandbesteuening der
geistigen Getränke sowie der Gesundheits-
polizei dieneuden Vorschriften ist vor allem
wichtig das Dekret vom 29. Dezember 1851,
welches bestimmte, dass in Hinkunft kein
Cafe, Wirtsliaus oder Ausschank an Gäste
ohne Konzession eröffnet werden dürfe ; die
zugelassenen Betriebe dieser Ai't können
nach Verurteilung des Inhabers wegen
Uebertretung der das Gewerbe betreffenden
Gesetze und Vorschriften oder aus Gründen
der öffentlichen Sicherheit durch Verfügung
des Präfekten gesclilossen werden. Dem
sind sodann die GG. v. 27. März 1851 und
V. 5. Mai 1855 anzureihen, welchen, obzwar
sie äusserüch nur die Hintaahaltung von
fraudulosen Vorgängen beim Verkauf von
Waren, insbesondere von Lebensmitteln zum
Gegenstande haben, doch eine politische,
gegen die Schankgewerbetreibenden gerich-
tete Tendenz zugeschrieben wird. Die
Schankwirte haben nämlich in Frankreich
eine anerkannt politisch einflussreiche Stel-
lung, sie galten jedoch als den Bestrebun-
gen Napoleons nicht günstig gesinnt, wes-
halb unter dem Titel d.er Gesundheitspolizei
strenge, die administrative Willkür nicht
ausschliessende Bestimmungen gegen sie
erlassen wurden. Sie sind gegen die Fäl-
schung von Lebensmitteln und Getränken
oder den Verkauf von solchen geJQLlschten
Waren gerichtet und bedrohen die Schul-
digen mit Geld und Gefängnisstrafen sowie
der Veröffentlichung und Anschlag des
ürteüs an geeigneten Orten. Weiter wurde
Art. 423 des Str.GJi., der die Täuschung
der Käufer über die Beschaffenheit der
Ware mit Geld- und Arreststrafen bedrqht,
dahin verschärft, dass das Gericht gleich-
falls die Veröffentlichung des Urteils und
AMchierung desselben an bestimmten Orten
anordnen könne. Nach dem G. v. 2. Fe-
bruar 1852 endlich zog die Verurteilung zu
irgend einer Freiheitsstrafe im Sinne des
G. V. 27. März 1851 die Streichung aus der
Wählerliste nach sich. Alle diese Bestim-
mungen konnten zu grossen Härten führen^
war es doch möglich, dass eine kleine, bei
diesem Ggwerbe an sich ziemlich n^Jielie-
gende unä keineswegs schwer wiegende
Uebertretung geradezu zum Verluste der
Existenz führte, z. B. durch die Auferlegung
der Verpflichtung, das verurteilende Erkennt-
nis im eigenen Geschäftslokal anzuschlagen,
was vielleicht die ganze Kundschaft mit
einem Schlage abschreckte.
Eine Aenderung tritt erst zur Zeit der
dritten Republik ein. Das G. v. 17. Juli
1880 hebt das vom 29. Dezember 1851 auf
und bestimmt, dass jedermann, welcher ein
Kaffeehaus, eine Gastwirtschaft oder einen
Ausschank eröffnen woUe, vorher Anzeige
zu erstatten habe, gleichwie auch eine
Aenderung in der Person des Eigentümers
oder im Geschäftslokal bekannt zu geben
ist ; Minderjährige sowie wegen Verbrechen
oder gewisser Vergehen Verurteilte sind
(teils dauernd, teils zeitlich) vom Betriebe
solcher Unternehmungen ausgeschlossen,
gleichwie eine derartige Verurteilung auch
Verlust einer bereits erworbeneü Gewerbe-
befugnis nach sich zieht Hatte schon seit
Mitte der 70 er Jahre die Zahl der Schank-
gewerbe infolge der minder strengen Hand-
habung der bestehenden Vorschriften zuge-
nommen, so schwoll jetzt die Ziffer in einer
geradezu Besorgnis erregenden Weise an;
von 1879 auf 1888 betrug die Steigerung
ca. 65000 Betriebe, indem im ersteren Jahre
356 833, im letzteren 422 300 Schankgewerbe
Gtewerbegesetzgebiing (Frankreich)
467
gezählt wurden. In Paris allein betrag die
Zunahme 37 «/o. 1895 zählte man 424575
Schankbetriebe.
Auch an dem G. v. 27. März 1851 wur-
den durch das Gh. v. 24. Januar 1889 Aen-
derungen vorgenommen, um eine zu weit
gehende Härte zu beseitigen, Verlust de«
Wahlrechtes tritt danach niu- bei längeren
Freiheitsstrafen ein.
9. Die Stellenyermitteliuig. Die ge-
werbemässige Stellenvermittelung, deren
Anfönge sich in Frankreich bis ins 13. Jahr-
hundert verfolgen lassen, erfuhr im 19. Jahr-
hundert zunächst eine Regelung durch die
V. V. 1. Dezember 1803, welche, im An-
schlüsse an die Bestimmungen über die
Arbeitsbücher, auch die Errichtung von
Arbeitsnachweisbureaus in Paris in Aussicht
nahm. Diese Bureaus umlassten je einen
bestimmten Gewerbezweig und hatten Mo-
nopolcharakter. Die Staatsverwaltung er-
richtete auch in anderen Städten derartige
Bureaus. Daneben ^langten aber auch rein
private Stellenvermitteiimgsgeschäfte zur
Entstehung, die bloss der Patentabgabe un-
terlagen. Yom Jahre 1848 abgesehen, in
dem vorübergehend und ohne nachhaltigen
Erfolg Massnahmen gegen die gewerbe-
mässigen Stellen vermittler in Paris ergriffen
wurden, erfolgte die Regelung des privaten
Stellenvermittelungs wesens durch das Dekret
vom 25. März 1852 (Konzessionspflicht,
ortspolizeiliche Regehmg etc.), welches in
Pans zu einer eingehenden Ausfühnmgs-
verordnung Anlass gab. S. d. Art. Ar-
beitsnachweis und Arbeitsbörsen
oben Bd. I, S. 952. ->- Die Bestrebungen,
eine neue gesetzliche Regelung des Gtegen-
standes herbeizuführen, haben bisher noch
keinen Erfolg erzielt. — Vgl, hierzu die
Schrift des franzöeisehfiii Arbeitsamtes über
den Arbeitsnachweis (1893) und Darmiusey,
Lo placement (Paris 1895), Honnorat, Du
placement (Paris 1896) und andere.
10. Sicherheits- nnd Saaitatspolizei
hinsichtlich der BeMebsstätten. Eine
eingehende Regelung hat in Frankreich der
Schutz der Nadibarn gegen Belästigimg oder
Gefährdung d\irch Betriebsanlagen gefunden,
welche j^eeignet sind, die Liät zu verun-
reinigen, Lirm zu erzeugen oder sonstige
Unbequemlichkeiten oder Nachteile zu ver-
ursachen.
Die gegenwärtig in Kraft stehende Re-
gelung knüpft an das Dekret vom 15. Ok-
tober 1810 an, welches die früheren Vor-
schriften dieser Art aufhob, deren Hand-
habung den Gemeindebehörden zugestanden
hatte und sehr ungleichmässig ausgefallen
war, so dass man nach einem vergeblichen
Beformversuch Abhilfe auf dem Wege einer
vollständigen Neuordnung des Gegenstandes
fsuchte*
Die Regierung hatte diesbezüglich das
Gutachten des Institutes von Frankreich
eingeholt und ging von der Ansicht aus, es
dürfe nicht zum Vorteil eines einzelnen
einem ganzen Viertel die Luft verdorben
oder einem anderen ein Schaden in seinem
Besitz zugefügt werden. Das Dekret giebt
nun eine Tabelle der hier in Betracht kom-
menden Betriebsanlagen, die wiederum in
drei Klassen geteilt erscheinen. Allen
Klassen gemeinsam ist, dass die betreffen*
den Anlagen nur mit behördlicher Bewilli-
gung errichtet werden dürfen. Die erste
Klasse umfasst solche, welche von den
Wohnplätzen entfernt sein müssen, die
zweite jene, bei denen eine solche Entfer-
nung nicht schlechtweg notwendig ist, die
aber gleichwohl nur gestattet werden können,
wenn zuvor nut Sicherheit festgestellt ist,
dass die Nachbarn durch sie weder belästigt
noch geschädigt werden; die dritte Kku^se
begreift jene Etablissements in sich, welche
ohne Nachteil in der Nähe von Wohnungen
bleiben können, aber gleichwohl einer poli-
zeilichen Aufsicht bedürfen.
Das Dekret ordnet ferner das Verfahren,
durch welches die Möglichkeit der Vorbrin-»
gung von Einwendungen gegen die Errich-
tung von Anlagen der in Frage kommenden
Art gewahrt werden soll, bestimmt die zur
Entscheidung berufenen Stelleti u. s. w. In
der Folge wurden aUerdiugs einige Aende-
ruugen an diesen Verfügungen vorgenommen,
namentlich erfuhr, entsprechend den sich
entwickelnden industriellen Verhältnissen,
die Liste und Einteilung der genehmigimgs-
pflichtigen Anlagen wiederholt Modifikationen
und Erweiterungen (Dekret vom 3. Mai 1886
und Nachträge). 1852 wurde die Erteilung
der Erlaubnis für Etablissements der ersten
Klasse den Präfekten übertragen, welche
bis dahin dieses Recht nur rücksichtlich der
zweiten Klasse besessen hatten; die Ent-
scheidungen hinsichtlich der dritten Klasse
stehen den ünterpräfekten zu (für Paris der
Polizeipräfektur). Einige weitere gegen-
wärtig in Kraft befindliche Vorschriften sind
die folgenden.
Jede Eingabe um Bewilligung zm* Er-
richtung eines unter die Anwendung der
bezeichneten Dekrete fallenden Betriebes
muss (im Sinne einer 1862 erlassenen Ver-
ordnimg des Ministeriums der öffentlichen
Arbeiten) genau die Betriebsstätte, die Be-
schaffenheit der beabsichtigten Verrichtungen
und der ziu- Verarbeitung gelangenden
Stoffe angeben, sie muss ferner mit den
entsprechenden , fachmännisch verfassten
Plänen versehen sein. Handelt es sich um
ein Etablissement erater Klasse, so wird in
der Gemeinde des Standortes sowie in allen
Gemeinden im Umkreise von fünf Kilome-
tern die beabsichtigte Anlage durch öffent-
30*
j
468
Gewerbegesetzgebung (Frankreich — Grossbritannien)
liehen Anschlag bekannt gegeben: binnen
Einern Monat kann dann jedermann seine
Einwendungen vorbringen und wird über-
dies in der Gemeinde des Standortes eine
mündliche Enquete abgehalten, bei welcher
etwaige Einwendungen protokollarisch fest-
gestellt werden. Eventuell werden auch
Sachverständige und der Präfekturrat (Con-
«eil de prefecture) einvernommen. Steht
hingegen- die Errichtung eines Etablissements
z"weiter oder dritter Klasse in Frage, so ver-
einfacht sich das Yerfahren entsprechend.
Etwas kontrovers ist die Frage, ob sich die
Einwendungen bloss stützen können auf die
im Tableau bei den einzelnen Industrie-
zweigen ausdrücklich namhaft gemachten
Gefahren (z. B. Spiritusraffinerie — Feuers-
gefahr) oder andere; sicher ist jedoch, dass
sie nur aus den mit dem Betrieb selbst
direkt verbundenen nachteiligen Einwirkun-
gen hergeholt werden können. Die Be-
willigung kann übrigens auch diu'ch Bedin-
gungen beschränkt sein, denen der Industrielle
bei sonstiger Schliessung des Etablissements
nachkommen muss. Aber auch dann, wenn
die Anlage genehmigt ist und vollkommen
den aufgestellten Bedingungen entspricht,
gilt nach der vorherrschenden Anschauung
die Annahme, dass der Betriebsinhaber
dritten Personen gegentlber für den durch
die BetriebsfÜhnmg zugefügten Schaden er-
satzpfhchtig ist. —
. Die im vorstehenden geschilderte Gesetz-
gebung ist darauf gerichtet, die benachbarten
Bewohner gegen gesundheitsschädliche oder
gefährliche Einflüsse des Industriebetriebes
oder gegen Unbequemlichkeiten durch den-
selben zu sichern, daneben giebt es aber
noch eine Reihe gesetzlicher Bestimmungen,
welche Gesundheit und Sicherheit des
Arbeitspersonales betreffen (GG. v.
2. November 1892 und 12. Juni 1893);
siehe über diese in den Kreis des Atbeiter-
öchutzes fallenden Vorschriften den Art.
Arbeiterschutzgesetzgebung in
Frankreich oben Bd. I., bes. S. 546.
Neben den allgemeinen Regeln für mit
Gefährdimgen der Sicherheit oder Gesund-
heit verbundenen Betriebsanlagen giebt es
dann noch für bestimmte Betriebe bösondere
Vorschriften im Interesse der Hintanhaltimg
von Gefahren für Beschäftigte und dritte
Personen, so z. B. für alle Betriebe mit
einem Dampfmotor (Dekret vom 30. April
1880), für Fabriken imd Niederlagen von
Explosivstoffen imd andere.
Lltteratur: Ausser den Darstellungen des Ver-
waltungsrecJUes siehe: Block, IMctionnaire de
Vadministrationfranqaise. — Emile Cohendry,
Recueü des lois industrielles, 2« edition, Paris
1898. — Georges Paulet, Code annote du
• eommerce et de IHndustrie, Paris 1891. — Paul
' Pic, Traue Mementaire de legislation industrielle.
I, Paris 1894. — Schönberg in seinein Hand-
buch der pol. Oek., IL Bd., /, 8. 385 ff. — Vgl,
femer J, Barberet, Monographies professio-
nelles, Paris 1886 ff. — Hippolyte Blanc, Les
corporations de vihiers, 2^ S.dü., Paris. — P.
Hubert- Vallerotix, Les corporaiions d*arts M
metiers, Paris 1885. — L. Donnat, Nouveau
dictionnaire d'^conomie politique, Art. Commerce
de Valimentation. ■ — JE, Levasseurf Hisloire
des classes ouvrieres en Franäe depuis 1789 jusqu*ä
nos jours, Paris 1867. — W, LexiSy Gewerk-
vereine und Untemehmerverbände in Frankreich,
Leipzig 1879. — Etienne Martin -Saint"
L/^on, Histoire des corporations de nUtiers,
Paris 1897. -— Litteratur über die Gesetzgebung
betreffend gefährliche elc. Betnebe s. bei Pic
p. 2S1. Victor Mat4JiJa,
y. Die Gfewerbegesetzgebung in
Orossbritannien*
I. Geschichtliche Entwickelung der
Gewerbeverfassung. II. Allgemeine
gesetzliche Bestimmungen. 1. Ge-
schichtliche Entwickelung. 2. Geltendes Recht.
3. Verfahren in Lohnstreitigkeiten. Ordentliches
Verfahren. 4. Schiedsverfahren. Illt Beson«-
dere Beschränkungen des freien Ge-
werbebetriebes. 5. Einleitung. 6. Vor-
schriften ge^en Waren- und Gewichtsfälschung.
7. Gesundheits- und sicherheitspolizeiliche Be-
stimmungen. 8. Schatz gegen Betrug. 9. Be-
schränkungen einzelner Fabrikationszweige.
10. Beschränkungen des Gewerbebetriebes am
Sonntag.
. L Geschichtliche Entwickelung der
Gewerbeverfassung.
Die G^werbeverfassung und das Gewerbe-
recht Englands charakterisiert, vielfach im
Gegensatze zur festländischen Entwickelung,
die Tendenz zur Gewerbefreiheit. Diese hat
nur durch das Interesse des Gemeinwohles
gebotene Einschränkungen sowohl auf demi
Wege der Gesetzgebung als vermöge der
Einflussuahme beruflicher Verbände er-
fahren.
Der Ursprung der englischen Gilden,
und zwar sowohl der älteren Verbände mit
dem ausschliesslichen Rechte des Detail^
handeis (»Merchant Gilds«, zuerst 1093 für
Ganterbiuy nachweisbar) als der gewerblichen
Korporationen (»Graft Gilds«, zueret 1130
für London, Oxford und Lincoln erwähnt),
ist auch nach den neuesten Forschungen
nicht aufgehellt. Die Kämpfe der Hand^
werker gegen die Altbürgergüde, welche auf
dem Festlande zur Zunftentwickelung führen,
sind in England nicht allgemein nachweis-
bar; es muss bis auf weiteres dahingestellt
bleiben, ob die gewerblichen Gilden durch
Specialisienmg aus den Kaufgilden oder
durch üebertragung kontinentaler Arbeiter-
organisationen nach der normannischen Er-
oberung nach England oder endlich aus der
Privilegierung von Arbeitern, welche der
Gewerbegesetzgebung (Grossbritannien)
4^9
Hofhaltung eines Grossen oder des Königs
angehört hatten, entstanden sind.
Die Privilegierung der Zünfte erfolgt
regelmässig durch königlichen Freibrief;
Zünfte, welche um diesen nicht ansuchen,
werden als »falsche Gilden« mit Busse be-
legt (1180). Den Inhalt des Privilegs bildet
die Befugnis des ausschliesslichen lokalen
Handels- oder Gewerbebetriebes, das Vor-
kaufsrecht für eingeführte Waren mit Aus-
nahme von Yiktualien, die Freiheit von könig-
lichen Zöllen innerhalb des städtischen Ge-
bietes und — in verschiedenem Ausmasse —
die Ausübung der Gewerbepolizei. Soweit
diese letztere nicht, wie ursprünglich, von
königlichen Beamten (Sheriffs) oder von den
Stadtbehörden ausgeübt wird , steht der
Güde bald das blosse Anzeigerecht an den
Mayor der Stadt, bald (wie den Webern in
London) die ausschliessliche Gerichtsbarkeit
über ihre Mitglieder zu, deren Auslieferung
durch die Sheriffgerichte von ihnen verlangt
werden kann. Die Zunftvorsteher (Bailiffs)
und die Zunftstatuten werden vom Mayor be-
stätigt; er fungiert auch in den meisten
Fällen als Berufungsinstanz gegen Entschei-
dungen der Gildengerichte.
Die Zünfte übten ihre Korjwrations-
rechte durch die Beaufsichtigung der Güte
der Waren, der Einhaltung bestimmter
Masse, die Fernhaltung von Eindringlingen
imd die Bestrafung widersetzlicher Mit-
glieder mit Bussen und selbst mit der Aus-
schliessung aus. Sie bestimmen ferner Um-
la^n zu Gunsten verarmter, erkrankter
Mitglieder, zur Bestreitung ihrer Begräbnis-
kosten , zur Unterstützung ihrer Witwen
oder zu religiösen Zwecken. Die Zunft-
artikel verbieten die unkontrollierbare Nacht-
arbeit, die Arbeit an Sonntagen und nach
sechs Uhr nachmittags an Sonnabenden,
endlich die Verwendung von Frauen ausser
von Gattin und Töchtern im Gewerbebe-
triebe. Lehrlings- und Gesellenwesen wird
zu Beginn des 14. Jahrhunderts die regel-
mässige Vorbedingung z^u* Erlangung der
Meisterschaft. Statutarisch ist die Voi-schrift
einer bestimmten Lehrzeit und Lehrlings-
zahl nicht nachgewiesen : in London bildete
sich die Gewohnheit der siebenjährigen
Lehrzeit aus.
In ihrer Eigenschaft als gewerbliche
Aufsichtsorgane wurden die Zünfte, in
steter Unterordnung unter die städtischen
Kontrollorgane, von den Königen im 13. und
14. Jahrhundert begünstigt. Rücksichten
der Fiskal- und Teuerungspolitik hatten das
Statut 37 Edw. IH. c. 5 (1363) zur Folge,
welchem gemäss bis Lichtmess alle Hand-
werker und Gewerbsleute einer Zunft an-
gehören sollten. Huu folgt eine Reihe von
Verordnungen, welche den Wirkungskreis
der einzelnen Gewerbe von einander ab-
grenzen. Aber ausdrücklich wird 1504 zut
Verhütung von Preissteigerungen und an-»
deren Zunftmissbräuchen verordnet, es sei
jeder Beschluss der Zünfte der Regierung
oder den Justices of Assizes ziu* Prüfung
und Genehmigimg vorzidegen (19 Hen. c. 7)<
Die Lohnpolizei wird ihnen durcli das Lehr-
lingsstatut 5 Eliz. 4 abgenommen. Der Miss-
brauch des Sucherechtes, dessen sich die
Zünfte in der Folgezeit vielfach als Vor-
wand zur Unterdrückung aufstrebender In-
dustrieen bedienten, hatte die Wandenmg
dieser letzteren nach dem flachen Lande
und nichtinkorporierten Plätzen zur Folge*
Frei von städtischem Zunftzwange ent-
wickelte sich dort das durch den Handel
organisierte Verlagssystem. Die Gewerbe-,
polizei der Zünfte wird mit Anbruch des
19. Jahrhunderts zur blossen Form ; der ge*
ringe Rest ihrer Von^echte wurde mit wenigen
Ausnahmen durch das Munizipalitätsgesetz
von 1835 (5 & 6 Will. IV. c. 76, s. 14) aus-
drücklich aufgehoben.
Die grössere Einflussnahme der könig-:
liehen Contralgewalt auf die Entstehung der
Zünfte, ihre lediglich kontrollierende, nur
in wenigen Fällen gerichtliche Gewalt, die
geringere Verbreitung des Zunftwesens auf
dem Lande, die grössere Bedeutung der
Kaufgilde, und andererseits das Fehlen eines
Kampfes zwischen Patriciat und Zünften,
eines Imperium in imperio, der Ratsent-
wickelung — das sind die wesentlichen
Unterschiede der englischen von der fest-
ländischen Gewerbeverfassungsgeschichte.
Durch die Aufhebung der Gewerbe Vor-
rechte ist der Gewerbebetrieb in England
im allgemeinen von der Zugehörigkeit zu
einer Innung unabhängig. Eine Ausnahme
bilden die Apotheker, welche in London
eine geschlossene Zunft bilden. Wirksame
gewerbepolizeiliche Kontrolle besitzen ausser-«
dem noch die Goldschmiede, die Büchsen-
macher und einige wenige andere Innungen,
II. AUgemeiue gesetzliche Bestim-
mungen.
1. Geschichtliche Entwickelnng. Ne-*
ben der staatlichen Regehmg und Beauf-
sichtigung des zünftigen Gewerbebetriebes
führten seit Ende des 12. Jahrhunderts die
Veränderungen des gewerblichen Lebens
zu einer selbständigen staatlichen Gewerbe-
polizei. Dahin gehören a) die Gesetze, wel-
che Mass und Gewicht (1197 Assize of
Measiu-es) mit Unterstützung der Lokalbehördo
regeln, b) (legen Ankauf mid Teuerung wur-
den besondere Verordnungen erlassen und eine
Lebensmittelpolizei durchgef ülirt,
welche Preistaxen für das Brot je nach den
Getreidepreisen (Assize of Bread., 1202).
dann auch für Ale (Assize of Bread ana
470
Gewerbegesetzgebung (Grrossbritannien)
Ale und Judicium Pifloriae, 1266) und Wein
(1199) vorschrieb, dagegen die Preisregelung
von Fischen und Fleisch den Lokalbehörden
tiberliess. Die Feststellung der Pi'eise fiel
urspiiinglich einer Anzahl beeideter ortsan-
sässiger Personen, seit 1390 den Friedens-
richtern zu,
c) Lohnpolizei. Die Regelung des
Lohnes von freien, nichtzünftigen Arbeitern
war bis Mitte des 14. Jahrhunderts Auf-
gabe der städtischen Behörden. Die nach
dem Auftreten des schwarzen Todes ein-
tretende Lohnsteigerung hatte die Yerord-
nungen und Gesetze von 1349, 1350 (Statute
of Laborers) zur Folge, welche Maximal-
lohnsätze für die ländlichen und die Bau-
arbeiter sowie die Beibehaltung der im
Jahi-e 1347 gezahlten Löhne für alle ande-
ren Arbeiterkategorieen vorschreiben. Nach
diesen und den nächstfolgenden Gesetzen
von 1351, 1360 und 1368 sollen wider-
strebende Arbeiter durch die Seigneiu^ des
viDes mit 15tägiger Haft bestraft werden;
alle Konventikel der Maurer und Tischler
werden für nuU und nichtig erklärt. Aus-
reissern ist ein F(ugitivus) auf die Stime
zu brennen; die Verwendung ländlicher
Arbeiter im Gewerbe wird vierboten (1388).
Die Feststellung der Löhne wiu^e 1389
den Friedensrichtern übertragen. Erst 1512
wurden die Strafklauseln gegen Meister auf-
gehoben, welche einen höheren als den amt-
Ech festgestellten Lohn zahlten.
Die nächstfolgende Gesetzgebung nimmt
die zünftigen gegen die ländlichen, stark
mit jugendlichen Arbeitern besetzten Ge-
werbe m Schutz. Ein Gesetz vom Jahre
1549 beschränkt die Zahl der Webstühle
und der Lehrlinge eines nichtzünftigen
Tuchers auf zwei; andere Gesetze (lo30,
1536) setzen die Gebühren für den Antritt
der Lehrzeit imd die Freisprechung, welche
die Zünfte unmässig emporgeschraubt hatten,
fest Die gesamte Lohnpolizei wurde end-
lich durch das Statute of Apprentice-
ship 5 Eliz. c. 4 im Jahre 1562 kodifiziert.
Dieses Gesetz führte das Institut der sieben-
jährigen Zwangslehrlingsschaft »nach dem
Gewohnheitsrechte von London« als Vorbe-
dingung des Gewerbebetriebes als Meister
oder Geselle ein und macht dasselbe zum
Gegenstande der staatlichen Polizeijurisdik-
tion. Mit Ausnahme der Lehrlinge in ge-
wissen Baugewerben, Schmieden u. a. wurde
eine Vermögensqualifikation der Eltern der
Lehrlinge verlangt und die Altersgrenze
der letzteren auf 21 Jahre festgesetzt. Das
Recht der Lehrlingsaufnahme liat jeder
Haushalter, der in einer Stadt, in einem
Orte mit Korporationsrechten oder einem
Marktflecken wohnt. Wer drei Lehrlinge
beschäftigt, muss bei 10 £ Strafe einen und
für jeden weiteren Lehrling einen weiteren
Gesellen halten. Gesellen sollen (in 31 auf-
gezählten Gewerben) mindestens auf ein
Jahr mit vierteljähriger Kündigungsfrist ge-
dungen werden. Die Arbeitszeit sollte im
Sommer von 5 ühr morgens bis 6 oder 8
Uhr abends, im Winter von Tagesanbruch
bis Sonnenuntergang mit 2^/2 stündiger Mahl-
zeitpause dauern. Die Festsetzung der Ar-
beitslöhne wurde den Friedensrichtern und
Stadtmagistraten übertragen, welche die Ab-
weichung von den auf den Ostersessionen
aufgestellten Löhne mit Geldbussen und
Gefängnis zu bestrafen hatten. Analoge
Gesetze erflossen in Schottiand 1617 und
1661.
Die Gesetzgebung der Folgezeit erweitert
die Bestimmungen des Lehrlingsstatutes in
Bezug auf Beschränkung der Lehrlingszahl
(1 Jac. L c. 17, 21 Jac. L c. 1, 13 & 14
Gar. n. c. 5) und Lohnfixierung durch die
Friedensrichter (1 Jac. c. 6) auf Gewerbe,
welche das Gesetz der Elisabeth nicht be-
rührt liatte. Die Vorschrift dieses letzteren,
diejenigen, welche die Vermögensqualifika-
tion eines Lehrlings nicht erbringen Itonnten,
zwangsweise dem Dienste in der Landwirt-
schaft zuzuweisen, hatte iin Zusammenhange
mit der späteren Armengesetzgebung die
Wirkung, durch künstliche Reduktion des
Arbeitslohnes sowohl die ländliche als die
gewerbliche Produktion den Interessen des
Exporthandels dienstbar zu machen. In-
dessen begann bereits Ende des 17. Jahr-
hunderts eine laxere Handhabung des Lelir-
lingsstatuts Platz zu greifen; eine der Ge-
werbefreiheit günstige Strömung und die
Beteiligung der Lehrlinge an politischen
Bewegungen bewog die Richter, die Geltung
des Lehrlingsstatuts auf Gewerbe zu be-
schränken, welche bereits zur Zeit der Elisa-
beth in üebung waren. Es galt also nicht
in den späteren Centren der Grossindustrie,
wie Manenester, Leeds, Birmingham. Das Auf-
hören der Lohnfixierung in vielen Gewerben
um 1720 führte zu lämpfen, in welchen
zuerst die Londoner Schneidermeister gegen
die Gehilfen im Jahre 1721 (7 Geo. I. St I.
c. 13), dann umgekehrt die Wollweber von
Gloucestershire 1756 die Einhaltung der
Lohntarife durch die Prindpale erzwangen.
(»Woolen Cloth Weavers Act«, 22 Geo. 11.
c. 33). Aber schon bald darauf wider-
rief das Parlament das Gesetz. Ganz aus-
nahmsweise vermochten noch die Seiden-
weber von Spitalsfield die Beobachtung der
Lohnregulierung zu erzwingen (1773, 1792,
1811). Aber schliesslich setzten die Arbeit-
E3ber durch die formelle Aufhebung des
ehrlingsstatutes im Jahre 1813 (53 Geo.
ni. c. 40) die Freiheit des Arbeitsvertrages
dimjh (vgl. Held S. 444—463, Webb S.
35:-49).
2. Geltendes Recht Rechtlich besteht
Geverbegesetzgebiing (Gfrossbritannien)
471
in England kein Lehrlingszwang und keine
Beschränkung der Zahl der von einem Ar-
beitgeber aufzunehmenden Lehrlinge. Fak-
tisch wird dagegen durch die Gewerkver-
eine eine solche Regelung nach Kräften
diu-chgeführt.
3. Verfahren in Lohnstreitigkeiten.
Ordentliches Verfahren, a) Historische
Entwickelung. Nach dem Statut von
1562 hatte der Ijehrling dem Arbeitgeber
gegenüber ein Beschwerderecht vor dem
Friedensrichter oder vor dem Bürgermeister
und zwei Gremeinderäten, bei Widerspruch
des Arbeitgebers in der Quartalsitzung vor
vier Friedensrichtern. Das urteil lautet
auf Entbindung vom Lehrkontrakt, bei Klage
des Meisters wegen üebelverhaltens auf
Korrektionshaus oder Züchtigung. Das Ge-
setz von 1746 (20 Geo. IL c. 19) giebt das
beiderseitige Klagerecht vor zwei Friedens-
richtern, wenn das Lehrgeld nicht 10 £ im
Falle ländlicher, 5 £ im Falle gewerblicher
Arbeiter übersteigt; über den geklagten
Arbeiter können Lohnabzüge und bis ein-
monatliche Korrektionsstrafe verhängt wer-
den. 1823 erweiterte das Statut 4 Geo. IV.
c. 34 die Kompetenz des Friedensrichters
auf die Entscheidung aller Art von Lohn-
streitigkeiten, schaffte die Züchtigung ab,
erhöhte aber die mögliche Dauer der Ge-
fängnisstrafe auf drei Monate. Dieser re-
formbedürftige Stand der Gesetzgebung
hatte Lord Mcho's Master and Servant Act
1867 (30 & 31 Vict. c. 241) zur Folge,
welche die Gefängnisstrafe bis 3 Monate
nur im Falle der Nichtleistung von Schaden-
ersatz oder von Geldstrafen (bis 20 £) auf-
recht hält und in vielen Fällen ihre Ver-
schärfung durch harte Arbeit beseitigt. End-
lich wurden 1875 die herrschenden Rechts-
bestimmungen erlassen. .
b) Geltendes Recht. Dolose Ver-
mögensbeschädigun^n durch Arbeitskon-
traktbruch regelt die »Conspiracy and Pro-
tection of Property Act 1875« (38 & 39
Vict. c. 86), auf dem Civil rechtswege ver-
folgbare Schadenersatzansprüche aus Lohn-
kontrakten die »Employers and Workmen
Act 1875« (38 & Vict. c. 90). Die erstere
Akte belegt die charakterisierten Vergehen
mit bis zu 20 £ oder bis 3 monatlicher Strafe,
die lebensgefährliche Vernachlässigung des
Lehrlings durch den Meister mit der gleichen
Geld- oder bis 6 monatlicher Gefängnisstrafe.
Nach der »Employers and Worfemen Act
187 o« sind, falls der Streitgegenstand den
Betrag von 10 £ nicht überschreitet, die
Summargerichte kompetent, als Civilgerichte
über Auflösung, Erfüllung des Kontrakts,
Sidierstellung oder Schadenersatz zu er-
kennen und über den ungehorsamen Lehr-
ling bis 14tägige Gefängnisstrafe zu ver-
hängen.
4. Schiedsverfahren, a) Historische
Entwickelung. . Der Niedergang des
Systems der LohnfLxienmg durch den Frie-
densrichter hatte zur Folge, dass diesem
die Entscheidung in gewerblichen Streitig-
keiten gesetzlich auch dann überwiesen
wurde, »wenn keine Lohnsätze durch ihn
in diesem Jahre bestimmt worden wären« ;
sein Schiedsspruch sollte nur für die (ein-
jährige) Kontraktdauer zulässig sein. Vgl.
1 Anne St. IL c. 22, 20 Geo. IL c. 19, 31 Geo. II.
c. 11, 43 Geo. m. c. 151 (1803.) Der Wider-
ruf der Koalitionsgesetze hatte eine Reform
dieser Gesetzgebung zur Folge: 1. Die bald
darauf (1824) erlassene Master and Workmen
Arbitration Act (5 Geo. IV. c. 96) bestimmte,
dass die Friedensrichter künftig keinen
Lohnsatz ohne Zustimmung der Arbeiter wie
der Arbeitgeber festsetzen, aber als Schieds-
richter in Lohnstreitigkeiten fungieren dür-
fen ; sie haben femer, falls ihre Intervention
keinen Erfolg hat, eine gleiche Zahl von
Arbeitern und Arbeitgebern zu bestimmen,
aus welchen die Streitteile je einen Refe-
renten, und falls diese zu keiner Einigung
gelangen, neue Referenten zu wählen haben ;
m letzter Instanz hat der Friedensrichter,
der kein Fabrikant sein darf, die Entschei-
dung zu fällen. 2. Lord St. Leonard's
Councils of Conciliation Act 1867 (30 & 31
Vict. c. 105) führte nach dem Muster der
Conseils de Prud'hommes Einigungskom-
missionen ein, zu deren Errichtung eine
vom Ministerium des Innern zu erwirkende
Konzession erforderlich war; einen Monat
vor Einreichung des Gesuches um dieselbe
muss die Absicht der Errichtimg des Eini-
gungsamtes in der London Gazette ange-
kündigt werden. Das Council besteht aus
je zwei bis höchstens zehn Mitgliedern.
Die Petenten, haben bei Errichtung des
Einigungsamtes sowie alljährlich am 1. No-
vember die Mitglieder desselben zu wählen ;
diese beauftragen einen aus ihrer Mitte ge-
wählten, aus einem Arbeitgeber und einem
Arbeiter bestehenden Einigun^usschuss
mit der Schlichtung von Streitigkeiten in
erster Instanz. In letzter Instanz entschei-
det das Council, dessen Vorsitzender diri-
mierende Stimme besitzt Ausser mit Zu-
stimmung beider Parteien ist die Mitwir-
kung von Rechtsanwälten ausgeschlossen.
Der Schiedsspruch kann , wie nach der
früheren Gesetzgebung, durch Exekution,
Zwangsverateigerung oder Gefängnis durch-
geführt werden. 3. Mr. Mundelia's Arbitra-
tion [Masters and Workmen] Act 1872 (35
& 36 Vict. c. 46). Die Regulative privater
Schieds- und Einigungsämter erhielten da-
diu'ch unter der Voraussetzung ihrer Aner-
kennung durch die Arbeiter bindende Kraft ;
diese Aemter besitzen in diesem Falle innerhalb
21 Tagen nach Entstehung der Lohnstreitig-
472
Grewerbegesetzgebung (Grossbritannien)
keit die ausschliessliche Kompetenz und' das
Recht der Büchervorlage und Zeugnisab-
nahme. 4. Die Employers and Workmen
Act 1875 (38 & 39 Vict c. 90) erteilte den
Summargerichten civilgeriditliche Gewalt
für Lohnstreitigkeiten, deren Streitgegen-
stand den Wert von 10 £ nicht überschrei-
tet; über die Regelung des Verfahrens, die
Höhe der Kaution und der Kosten hatte
der Lordkanzler Verordnungen zu erlassen.
b)GeltendesRecht. Die Conciliation
Act 1896 (59 & 60 Vict. eh. 30) hebt die
obgenannten Gesetze auf und setzt auch
die die allgemeine Schiedsgerichtsbarkeit, re-
gelnde Arbitration Act 1889 (52 & 53 Vict.
c. 49) dann ausser Kraft, wenn bestehende
Einiginigs- oder Schiedsämter ihre Statuten
im Handelsamte registriereü lassen. Das
Handelsamt, das die Führung, Eintragung
oder Löschung. solcher Institutionen besorgt,
hat das Recht, von ihnen Berichte und Do-
kumente zu verlangen. Das Handelsamt
liat ferner beim Ausbniche von Differenzen
zwischen Arbeitern und Unternehmern das
Recht, über die Ursachen derselben Unter-
suchung zu führen, eine gütliche Einigung
zu vei^suchen, auf Ansuchen einer der Par-
teien für die Ernennung eines Schiedsrich-
ters oder eines Einigungs- oder Schieds-
amtes Sorge zu tragen und sich zu diesem
Behufe eventuell mit den Lokalbeliörden
ins Einvernehmen zu setzen. Ueber das
Ergebnis ist ein von den Parteien und der
vermittelnden Instanz unterfertigtes Proto-
koll dem Handelsamte zu übermitteln; das
letztere hat über die gesamten Ergebnisse
dieser Thätigkeit dem Parlamente Bericht
zu erstatten. Die Kosten der Einigungs-
oder Schiedsthätigkeit des Handelsamtes
trägt der Staat.
III. Besondere Beschränkungen des
freien Gewerbebetriebes.
6. Einleitung. Neben vemlteton Ueber-
bleibseln der ältei-en Bestimmungen über
Verfertigung und Qualität der Wai-en be-
steht das geltende Gewerberecht aus Vor-
schriften, welche den sonst freien Gewerbe-
betrieb aus Rücksichten der öffentlichen
Sicherheit von der Beobachtimg gewisser
Kauteleh abhängig machen; der Gegensatz
cjes modernen zum älteren Gewerberecht
tritt besondere hervor in der Verschäi'fung
mancher das Gebiet der Schank- und Sitten-
polizei berührender Bestimmungen, in der
stärkeren Rücksichtnahme auf die der Ge-
nieinschaft durch Privatunterneliraungen
mögliclierweise zustosöondön Schäden, und
— dem Geiste dos modernen Arbeiter-
schutzes und der gesteigerten Gesundheits-
pflege, dei-en Wiege ja in England steht,
ents{)recliend — in einer Reihe von Anfor-
derungen, welche die Gefälirdung der un-
mittelbar im Gewerbebetriebe Beschäftigten
hintanhalten sollen. Die meisten dieser
letzteren Restriktionen verdanken in neuerer
Zeit der Initiative der Gewerkvereine ihre
Entstehung (vgl. Ho well, Gonflicts of Ca-
pital and Labour, 1891, p. 427—429).
Abgesehen von der Regelung des Ver-
kehrs, des Bergwesens, des Patent- und
Autorrechts, der Gesetzgebung über Arbeiter-
schutz und Arbeiterverbände sowie von rein
fiskalischen, sitten-, schank- und gesund-
heitspolizeilichen Massregeln (vgl. . darüber
die Artt Arbeiterschutzgesetzge-
bung in Grossbritannien oben Bd. I
S. 523ff., Eisenbahnpolitik oben Bd. III
5. 526ff., Gewerkvereine in Gross-
britannien, Schankgewerbe, Sitten-
polizei, Urheberrecht, Haftpflicht,
Marken- und Musterschutz, Zölle)»
besteht die Beschränkung des freien Ge-
werbebetriebes in:
<l. Torschriften gegen Waren- und 6e-
wichtsfälschun^. Hierher gehören: 1. Die
Adulteration Acts. Geschichtliches,
Die ältesten Bestimmungen über Nahrunffsmittel-
polizei verbieten Auf- und Vorkauf und bestra-
fen ihre Verfälschung ursprünglich mit Gefäng-
nis, seit 12 Car. IL c 2ö mit Geldstrafen. Die
älteren Gesetze über Fleisch-, Butter- und Bier-
verfalschung ersetzte die erste Adulteration Act.
Geltendes Recht, a) Lebensmittel
und Medikamente. Die Bestimmungen der
Statuten 23 & 24 Vict. ch, 84, 31 & 32 Vict.
eh. 121, s. 24, 33 & 34 Vict. ch. 26, s. 3 und
3ö & 36 Vict. ch. 74 sind aufgehooen durch
„The Säle of Food and Drugs Act 1875" (38
6, 39 Vict. ch. 63). Sie verbietet das wissent-
liche Mischen, Färben, Präparieren von Lebens-
mitteln und Medikamenten mit gesundheits-
schädlichen oder ihre Qualität verschlechternden
Ingredienzen in der Absicht ihrer Weiterver-
äusserung (Strafe bis 50 JK, im Wiederholun^-
falle bis 6 Monate Gefängnis mit harter Arbeit).
In dem Falle der nichtgesundheitsschädlichen
Mischung wird dem Verkäufer die Bekanntgabe
dieses Ümstandes durch einen pfeschriebenen
oder gedruckten Zettel vorgeschrieben, ebenso
die Mitteilung einer die Qualität, Substanz oder
Natur eines Nahrungsmittels empfindlich schä-
digenden Veränderung (Strafe bis 20 i); die-
selbe Strafe ist auf den Verkauf von Lebens-
mitteln und Medizinen gresetzt, welche die von
dem Käufer verlangte Zusammensetzung nicht
besitzen. Die Lokalpolizeibehörden haben einen
oder mehrere Chemiker aus den Lokalumlagen
zu bestellen, welche Privaten gegen höchstens
10 s. 6 d. sowie gewissen Amtspersonen ver-
dächtige Waren auf Verlangen zu analysieren^
über das Ergebnis ein .Certifikat auszustellen
haben und zu vierteljähriger Berichterstattung
verpflichtet sind. Das Verfahren findet vor den
Friedensrichtern in petty sessions, die Berufung
an die Qnartalsessionen statt. Beide haben das
Recht, neuerliche Analyse zu verordnen, b)
Thee (dasselbe Gesetz s. 30, 31). Eing^hrter
Thee wird von den Chemikern des OeneralzoU-
amts analysiert, und, wenn mit ausgekochtem
Thee vermischt, nur unter bestimmten Bedin-»
gnngen ausgefolgt, wenn zur menschlichen
Gewerbegasetzgebung (Grossbritännien)
473
Nahrang ungeeignet, vernichtet, c) Milch:
„Amendment Act 1879", 42 & 43 Vict. c. 30.
Auf die Weigerung, Milch zum Zwecke amt-
licher Analyse zu üherlassen, wird bis 10 £
Strafe verhängt, d) Spirituosen. Dieselben
Gesetze: in der Principal Act s. 6, in der
Amendment Act s. 6. Die Verdünnung des
Branntweingehaltes ist bei Brandy, Whisky
und Kum nur bis zu 25^, bei Gin nur bis zu
35^ gestattet, e) Bier: The Licensing Act
1874 (37 & 38 Vict. c. 49, s. 14) und The Cus-
toms and Inland Kevenue Act 1885 (48 & 49
Vict. c. 51, 3. 8). Wegen Verfälschung wird
über Brauer oder Detaillisten bis 50 £ Geld-
busse und Eintragung der Verurteilung in das
Konzessionsregister verhängt, f) Kaffee:
The Customs and Inland Bevenue Act 1882 (45
& 46 Vict. c. 41, 8. 6) Vermischter Kaffee ist
als solcher nebst Angabe der verwendeten Sub-
stanzen zu verkaufen, g) Margarine: „The
Margarine Act 1887" (50 & 5t Vict. c. 29) ver-
ordnet: Bezeichnung aller Packete mit „Mar-
garin", Registrierung der Marffarinfabriken und
Ueberlassung von Proben behufs amtlicher
Analyse. Strafen : 20 £, im Wiederholungsfalle
(50 und 100 £. Verfahren wie unter a). Ueber
die Wirkungen dieses Gesetzes vgl. A. L a v al 1 e ,
Die Margarine^esetzgebung, 1896 S. 141 — 151.
h) Pferdefleisch. „The Säle of Horseflesh
Regulation Act 1889" (52 & 53 Vict. c. 11)
gestattet den Verkauf von Pferde-, (Esel-,
5faulesel- etc.) Fleisch nur in Läden und
schreibt die Bezeichnung desselben als sol-
chen vor. i) Hopfen: The Hop (Pre-
vention of Frauds) Act 1866 (29 & 30 Vict. c.
37, an Stelle von 4,8 Geo. III. c. 134 und 54
Geo. III. c. 123) schreibt die Markierung aller
Säcke mit dem Namen des Erzeugers, der An-
gabe der Quantität und des Jahres der Ernte
vor und verbietet die Vermischung mit probe-
mdrigen Substanzen, k) Sämereien: The
Adulteration of Seeds Acts 1869 und 1878 (32
& 33 Vict. c. 112 und 41 Vict. c. 17) verbieten
den Verkauf abgestorbener oder gefärbter
Sämerei in betrügerischer Absicht bei 5 — 10 £
Strafe. Die Klage findet vor zwei Friedens-
richtern statt. 1) Kunstdünger und Vieh-
futter: The Fertilisers and Feeding Stuffs Act
1893 (56 & 57 Vict. c. 56) : Bei jedemVerkauf e von
Kunstdünger im Gewichte von über 25,4 kg ist
dessen Name Und die Quote von Stickstoff, löslichen,
unlöslichen Phosphaten und Potasche und beim
Verkaufe von Viehfutter die Zusammensetzung
aus einem oder mehreren Bestandteilen oder
Sämereien auf einem Zettel zu bescheinigen und
zu garantieren. Die Garantie des Futterverkäufers
erstreckt sich ferner auf die Dienlichkeit zu
Futterzwecken, und falls er bestimmte Nährstoff-
prozente ankündigt, auch auf diese. Die Busse
beträgt nach Summarverfahren bis 50 £ ; Berufung
an Quartalsessionen. Binnen 10 Tagen nach
erfolgtem Kaufe kann der Käufer dieser Artikel
dem von der Lokalbehörde bestellten, vom
Ackerbauminister bestätigten Distriktsagrar-
chemiker Proben zur Analyse einsenden; bei
ungünstigem Ergebnis trägt der Verkäufer,
sonst der Käufer die Kosten. Gegen diese
Analyse kann an den vom Ackerbauamte be-
stellten Chefagrarchemiker appelliert werden.
Vor der Verfolgung, die auch die Lokalbehörde
einleiten kann, ist ein Zeugnis ihrer Triftigkeit
vom Ackerbauamte einzuholen. Der Verurteilte
kann an seinem Lieferanten Regress nehmen.
2. Bäckerei. Geschichtliches. Di»
Assisa Panis von 1266 wurde erst 1758 durch
31 Geo. IL c. 29 aufeehoben, welche gesetz-
liche Preislisten nach Grösse, Gewicht und Zu-
sammensetzung des Brotes enthält. Wo solche
Assisen nicht bestehen, galt 3 Geo. IIL c. 11,
welche bereits die Grundzüge der späteren Ge-
setzgebung enthält.
Geltendes Recht: 3 Geo, IV. eh. 108
für die Metropolis, erweitert durch 6 & 7 Gu-
lielmi IV. eh. 33 (1836) auf das Reich, mit
Ausnahme Irlands. Brot darf nur aus Weizen-,
Gersten-, Roggen-, Hafer-, Buchweizen-, Welsch-
kom-, Erbsen-, Bohnen-, Reis- oder Kartoffel-
mehl gebacken und mit Salz, Wasser, Eiern,
Milch, Hefe, Sauerteig, Kartoffel- oder anderer
Hefe vermischt werden; Grösse und Gewicht
sind freigegeben, aber der Verkauf nur nach
Gewicht bei Strafe von höchstens 40 sh. ge-
stattet; jeder Brotverkäufer und Austräger
muss mit Wage und Gewicht versehen sein
(Strafe bis zu 5 £). Von diesen Bestimmungen
sind nur „Fancybread" and „Rolls" ausgenom-
men. Auf Brotvermischung mit anderen al»
den gesetzlich gestatteten Substanzen ist 5—10 £
Strafe bezw. bis sechsmonatliches Gefängnis
und Veröffentlichung des Urteils in den Lokal-
blättern gesetzt; 5—20 £ auf Mehl Verfälschung,
Jedes nicht aus Weizenmehl verfertigte Brot
ist mit einem M(ixed) zu versehen; für jedes
Pfund nichtmarkierten Brotes ist bis 10 s.
Strafe angesetzt. Analogen Strafen unterliegt
die Verhinderung der Hausdurchsuchung nach
derlei Substanzen durch den Friedensrichter (bis
10 £) und Auffindung von zur Fälschung
bestimmten Stoffen (2—10 £ und Veröffent-
lichung). Das Backen am Sonntage, der Brot-
verkauf und das Austragen des Brotes nach
IVä Uhr Sonntag nachmittags wird in England
und Wales mit 10, im Wiederholungsfalle mit
20 und 40 sh. und Verurteilung zu den Kosten
der Verfolgung (höchstens 3 sh. täglich bezw.
7—14—30 Tage Gefän^is) bestraft. Kein
Müller oder Bäcker darf m solcher Rechtssache
als Friedensrichter fungieren; Busse: 100 £ an
den Denunzianten und Prozesskosten, einzu-
klagen vor den Reichsgerichten. In den übri-
gen Fällen genügt ein Friedensrichter; die
Busse wird zwischen dem Denunzianten und
der Armen- bezw. Ortskasse geteilt, und nach
fruchtloser Pfändung bis einmonatliche Haft
verhängt. Berufung ist nur an die Quartal-
sessionen desselben Ortes gestattet; in Schott-
land haben der Sheriff oder 2 Friedensrichter
und als Appellationsinstanz die Commissioners
of Justiciary der nächsten Reisefferichtssitzung
oder das Obergericht in Edinburgh zu fungieren.
Die Klaffe muss in der Regel längstens binnen
48 Stunden nach geschehener Rechtsverletzung
eingebracht werden.
S.Kohlenhandel. Geltendes Recht.
In London und 25 Meilen um das General-
postamt: 1 & 2 Gulielm. IV. c. 76; 1 & 2
Vict. c. 101; 14 & 15 Vict. c. 146; für das
Reich: The Weights and Measures Act 1889
(52 & 53 Vict. eh. 21, part. II, §§ 20-31). Vor-
geschrieben ist: Verkauf nach Gewicht, in
Waggonladungen nur bei schriftlicher Zustim-
mung des Käufers, üebergabe einer gesetzlich
474
Q-ewerbegesetzgebung (Grossbritannien)
formulierten Deklaration bei Verkauf von über
650 Pfd. per Wagen, Verpackung der Kohlen-
säcke zu 112 bezw. 224 Pfd., Vorwiegen der-
selben auf Verlai^en des Käufers auf geeichten
Apparaten ; jede Polizeistation soll einen solchen
besitzen. Verfahren vor einem Friedensrichter,
Strafen 5 bis 26 £. Durch königliche Verordnung
können lokale Exemptionen gewährt werden.
4. Müllerei. Geltendes Recht:
3 Geo. III. c. 86. Die Müller sollen Wa^en
mit geeichten Gewichten halten, die periodischer
Revision unterliegen. Strafen: für die Weige-
rung, das Korn und das Mehl auf Verlangen
des Mahlgastes zu wiegen: 40 sh.; für jeden
Gewichtsabgan^ : 1 sh. perBushel; für das Un-
terlassen des sichtbaren Aushanges des Mahl-
geldtarifs: 20 sh.
7. Gesundheits- nnd sicherheitspoli-
zeiliche Bestimmungen. 1. Abdeckerei
lind Pferdeschlächterei (Sloughter-
houses). 26 Geo. III. c. 71, 5 & 6 Gulielm.
IV. c. 59; 7 & 8 Vict. c. 87, hauptsächlich:
10 & 11 Vict. eh. 34, 8. 125—131, 135; 12
& 13 Vict. c. 92 und für London the Sloughter-
hoiises (Metropolis) Act 1874 (37 & 38 Vict. c.
67) sind aufgehoben durch die Public Health
Act Amendment Act 1890, 53 & 54 Vict.
c. 59, 8. 29 — 31 und, soweit sie London be-
treffen, durch die Public Health (London)
Act 1891, 54 & 55 Vict eh. 76. Diese
schreibt Konzessionierung der Schlachthäuser
durch den Grafschaflsrat und sanitätspoli-
zeiliche Inspektion derselben vor und er-
teilt den Inspektoren das Recht der Kon-
fiskation kranken Fleisches sowie der Be-
strafung und Konzessionsentziehung der
Schlachthausbesitzer. Ausserhalb Londons
ist ferner Buchführung über das ge-
schlachtete Vieh und die Person des Ver-
kä\ifers und F(Üirung eines Kontrollbuches
durch den Inspektor vorgesclirieben.
2. Apotheker (apothecaries). 55 G,
in. c. 194, für pharmaceutical chemists
»The Pharmacy Act« 1852, 15 & 16 Vict. c.
56 und die Amendment Acts 1868, (31&32
Vict. c. 121, 32 & 33 Vict. c. 117), regeln
den Geschäftsbetrieb, die Konzessionierung,
Visitation, feiner das Prüfungswesen durch
die Pharmqceutical Society in London bezw.
das Obermedizinalkollegium. Klagen (Stra-
fen über 5 £) bei den ordentlichen Gerich-
ten. Unkonzessionierte Apotheker besitzen
kein Klagerecht. Die Pharmacy Act Amend-
ment Act 1899 (61 & 62 Vict. eh. 25) regelt
die Zulassungsbedingungen als Student-As-
sociate oder als Mitglied der Pharmaceutical
Society und die Vorstandswahl derselben.
3. Arsenikhandelim Einzel verschleiss
ist nach 14 & 15 Vict c. 13 nur bei be-
stimmtem Mischungsverhältnis des Arseniks
mit Russ oder Indigo (ausser nach Rezept)
sowie nur an bekannte oder durch Zeugen
eruierbare Personen gestattet ; jeder Verkauf
ist mit Angabe des Datimis, Zweckes, Quan-
tums, der Unterschrift des Käufers, eventuell
auch des Zeugen bezw. eines zweiten ünter-
schriftszeugen zu registrieren, bei bis zu 20 £
Strafe. Verfahren vor 2 Friedensrichtern.
4. Chemische Fabriken. Durch die
geltende »Alkali etc. Works Regulation Act
1881«, 44 & 45 Vict. eh. 37 werden die
Alkaü Acts, 26 & 27 Vict. c 124, 31 & 32
Vict. c. 36 und 37 & 38 Vict. c. 43 aufge-
hoben; sie bezieht sich auf Schwefelsäure-,
Kunstdünger-, (jas-, Salpetersäure-, Ammo-
niak- und Ohlorwasserbereitung und reguliert
für jeden dieser Betriebe die Quantität der
in den Fabrikationsräumen entweichenden
Gase (Strafen 20, 50 und 100 £). Hiezu
kommt nach der Alkali Works Regulatiou
Act 1892, 55 & 56 Vict c. 30 die Er-
zeugung von Sodarückständen, Schwefel-
barium, -Strontium, -antimon, -kohlenstoff,
Venetianischrot, Bleikammerabfällen, Arsen-
säure, Eisenchlorid und -nitrat, Salzsäure,
Carbonisieranstalten, Theerfabriken und Zink-
scheidewerke. Die Fabriken müssen regis-
triert imd eine Gebühr von 3 bezw. 5 £ für
die Ausstellung des Certifikats entrichtet
werden (Strafe bis 5 £). Für die Bestim-
mungen der Inspektoren (Abzugskanäle,
Rauchfänge und dergleichen) kann Entschä-
digung verlangt werden. Der Cfhefinspek-
tor eretattet jälirlich Bericht, und w^eitere
Inspektoren können auf Verlangen der Sani-
tätsbehörde ernannt werden. Behördlich
sanktionierte Verhaltungsmassregeln sollen
von dem Gewerbeinhaber seinen Angestell-
ten gegeben werden. Die Klage des Chef-
inspektors findet statt vor dem Grafschafts-
gericht, Beruf img an High Court of Justice ;
Vorstellungen über den gesetzwidrigen Zu-
stand einer Fabrik durch Sanitätsbeamte
oder 10 Ortsinsassen sind an die Ortssani-
tätsbehörde und von dieser dem Ministeri-
um des Innern zu übermitteln. (Vergl.
W. Ciinningham, Politics and Economics
1885 p. 216—219.)
5. Elektrische Anlagen. Die »Elec-
tric Lighting Act 1882« , 45 & 46 Vict. c.
56 und die Amendment Act 1888, 51 & 52
Vict. c. 12 macht die Errichtung elektrischer
Anlagen von einem Beschlüsse bezw. Kon-
sens der Ortsbehörde und von der auf das
Gesuch hin vom Handelsamte für längstens
7 Jahre zu erteilenden Konzession abhängig.
Das Handelsamt hat die Befugnis, die Kon-
zession bei unmotivierter Verweigerung
durch die Lokalbehörde zu erteilen. Regula-
tive über die Ausdehnung, Inspektion, die
Preise und Sicherheitsvorkehrungen zu er-
lassen. Der Generalpostmeister kann ver-
langen, dass Privattelegraphen, deren Linien
die der öffentlichen Telegraphen stören, die
Vorschriften für den telegraphischen Dienst
befolgen. Die Unternehmer sind zu jähr-
licher Rechnungslegung an das Handelsamt
Gewerbegesetzgebung (Grrossbritannien)
475
und Ausfolgung derselben an jedermann
(Preis höchstens 1 sh.) bei Strafe von 40 sh.
rar jeden Tag der Verletzung dieser Vor-
schrift verpflichtet. Die üebertragung der
Versorgung niit Elektricität ist nur mit Zu-
stimmung des Handelsamtes gestattet Die
Oewährung von Vorzugspreisen ist unter-
sagt. Jede Lokalbehörde kann binnen sechs
Monaten nach Ablauf der Eonzessionsdauer,
längstens nach Ablauf von 42 Jahren und
binnen sechs Monaten nach Ablauf weiterer
10 Jahre die ünternelimer schriftlich zum
Verkauf der elektrischen Anlagen auffordern ;
dieser hat auf Grund des dann geltenden
Verkaufspreises, der eventuell durch Schieds-
spruch festzustellen ist, ohne ZuschW des
erwarteten Ertrages zu erfolgen. (Vergl.
Cnnningham a. a. 0. S. 199.)
6. Gesundheitsschädliche Be-
triebe (Nuisances and offensive trades)
werden durch die Public Health Amendment
Act 1890 (53 & 54 Vict. c. 59) und P. H.
(London) Act 1891, 54 & 55 Vict. c. 76 ent-
weder nur gegen lokalbehördlichen Konsens
gestattet und selbst bestehende können ver-
boten werden (so Knochenbrennereien, Talg-
siedereien), oder sie sind besonderen Regu-
lativen unterworfen (Gasfabriken). Unter
diese Rubrik gehören auch die Vorschriften
in Bezug auf die zu beobachtende Tempe-
ratur in Fabriken: Cotton Cloth Factories
Act 1889 (52 & 53 Vict. c. 62), Amendment
1897 (60 & 61 Vict. c. 58, vgl. Karpeles
S. 438), die Factory and Workshop Act 1895
58 & 59 Vict c. 37 s. 32 und die der Ein-
friedung von Steinbrüchen, QuaiTy (Fendng)
Act 1887, 50 & 51 Vict c. 19.
7. Kamin fegerei. Geltendes Recht:
4 & 5 Will. IV. c. 35 (hebt die 28 Geo. HL
c 48 (1788) auf), The Ghimney Sweepers
and Ghimney Regulation Acts, 1840 and
1864, und The Ghimney Sweepers Act 1875
(3 k 4 Vict eh. 85, 27 (fe 28 Vict. c. 37,
38 & 39 Vict c. 70). Die Lösung eines für
die Dauer eines Jahres giltigen Certifikates
und Registrierung ist für jeden Kaminfeger
und j^en Gehilfen, der Lehrlinge verwen-
det, bei Strafe von 10 — 20 sh. vorgeschrie-
ben. Bei Strafe von 10 — 50 £ sind beim
Neubau von Rauchfängen gesetzlich vorge-
schriebene Dimensionen zu beobachten und
solides Material zu verwenden.
8. Petroleum. Aufgehoben sind: 25
ä 26 Vict. G. 69, 31 & 32 Vict c. 56 durch
die »Petroleum Acts 1871 and 1879« (34 &
55 Vict c. 105 und 42 & 43 Vict. c. 47).
Der Kreis der Produkte, airf welche das
Gesetz sich bezieht, kann durch königliche
Verordnung erweitert werden; »Petroleum«
im Sinne des Gesetzes ist von der Beschaf-
fenheit, dass es bei der gesetzlich beschrie-
benen Prüfung bei weniger als 74® Fahren-
heit sich entzündet (vergl. die Beschreibung
des im Handelsamte befindlichen Prüfungs-
apparates: Petroleum Act 1879, Ist Sche-
dule). Die Hafenbehörde, eventuell das
Handelsamt, erlässt Regulative über Laden
und Löschen von Petroleumschiffen (Strafe
ihrer Uebertretung : Konfiskation, bis 50 £
per Tag). Es besteht Anzeigepflicht für die
Besitzer der letzteren über ihre Fracht an
die Hafenbehöi-de (Strafe : bis 500 £•). Die
Bezeichnung der Ware als »höchst entzünd-
lich« sowie des Besitzers bezw. Adressaten
oder Verkäufers ist bei Strafe der Konfistov-
tion imd bis 5 £ vorgeschrieben, ausser bei
Verkauf von höchstens 3 Gallonen in Ge-
fassen, welche nur eine Pint enthalten. Li-
zenzen erteilt die Lokal- und Hafenbehörde ;
•bei Verweigerung derselb»en ist die Be-
schwerde an das Ministeriimi des Innern zu
richten, eventuell durch dieses die Konzes-
sion zu erteilen. Die Verweigerung des
Verkaufs von Proben an inspizierende Be-
amte imterliegt bis 20 £ Strafe. Das Ver-
fahren ist ein summarisches wie bei Ver-
letzung der Exposives Act, Nichtigkeit wegen
Formfehler oaer Berufung ausgeschlossen.
9. Schiesspulver- und Spreng-
stofffabrikation. Die geltende »Explo-
sives Act 1875«, 38 Vict c. 17, hebt auf:
23 & 24 Vict c. 139 und c. 130, 25 & 26
Vict. c. 98, 26 & 27 Vict c. 65 § 26
29 & 30 Vict c. 69 und 32 & 33 Vict c.
113 (Nitroglycerine Act). Sie bezieht sich
auf die Bereitung von Schiesspulver, Nitro-
glycerin, Dynamit, Schiessbaumwolle, Patro-
nen, Raketen und kann durch königliche
Verordnung auf alle Art von Sprengstoffen
ausgedehnt werden. Vorgeschrieben sind:
Konzessionierung diu'ch Ministerium des
Innern und Ortsbehörde nach genauer Be-
schreibung der beabsichtigten Fabrikation
und Anlagen, Registrierung, Inspektion der
Fabriken und Verkaufsstellen von Scliiess-
pulver, Vorsichtsmassregeln bei seiner Be-
reitung, Verpackung, Ladung und Versen-
dung; Bezeicnnung als »Schiesspulver« bezw.
»Sprengstoff«, Anzeige von Explosionen an
das Ministeriiun des Innern. Die Löschung
von mit Sprengstoffen geladenen Schiffen
hat die Konzessionierung der Importeure
durch das Ministerium des Innern zur Vor-
aussetzung. Der Verkauf an Kinder unter
13 Jahren auf offener Strasse ist verboten.
Gegen gewisse Anordnungen der vom Minis-
terium des Innern ernannten Inspektoren
kann nach erfolgter Beschwerde beim Minis-
terium des Innern ein Schiedsgericht ver-
langt werden. Die Verfolgung strafbarer
Gewerbeinliaber, Bediensteter, Schiffsführer
oder Empfänger findet bei Strafen unter
100 £ und 1 Monat Gefängnis vor den Frie-
densrichtern, bei höherer Strafbarkeit vor
den Reichsgerichten statt, Berufung vor den
Quarter-Sessions.
476
Gewerbegesetzgebung (Grrossbritannien)
8. Schutz gegen Betrug, a) Handel
mit altem Metall. »The old Metal Dea-
lers Act 1861«, 24 & 25 Yict e. 110, be-
straft den Ankauf gestohlener Ware mit
1 — 20 £, eventuell 3 Monaten Gefängnis so-
wie mit Registrierung auf 3 Jahre, infolge
welcher der davon Betroffene Käufer und
Verkäufer zu verzeichnen, jeden Lokal-
wechsel der Behörde anzuzeigen, gekauftes
Gut erst nach 48 Stunden einzuschmelzen
hat und der Haussuchung unterliegt. Zum
Ankauf sind bestimmte Stunden (9 Uhr
früh — 6 Uhr abends) vorgeschrieben, Ver-
kauf durch und Ankauf von unter 16 jähri-
gen Personen bei 20 sh. — 5 £ Strafe
untersagt. Das Verfahren ist ein summa-
risches vor zwei Friedensrichtern ; Berufung
gegen höhere Bussen als 5 £ vor den Quar-
talsessionen.
b) Hausierer und Trödler. Der
Hausierhandel unterliegt der Konzessionie-
rung gemäss der Hawkers Act 1888, 51 & 52
A'^ict. c. 33, welche die frühere Gesetzgebung
(29 Geo. m. e. 26, femer 50 Geo. III. c.
41, 55 Geo. HI. c. 71, 27 <fe 28 Vict. c. 18,
und 52 Vict. c. 8 s. 9) konsolidiert. Der
Gewerbeschein wird niu* gegen Attest über
gute Führung (vom Geistüchon, 2 Einwoh-
nern, Polizei- oder Steuerbehörde) ausgestellt.
Bezeichnung aUer Packete, Kisten, Gefässe,
Wagen etc. mit »Licensed Hawker« und
Namen und Nummer des Gewerbescheines
ist vorgeschrieben (10 £ Strafe). Versteige-
iningen sind ihnen ausser im Falle der Orts-
ansässigkeit untersagt ; das Hausieren mit
Spirituosen ist verboten. Hausierer, welche
ohne Lizenz Handel treiben, werden als
Landstreicher bestraft, 5 Geo. IV. c. 83.
Bis zu 20 Gallonen Petroleum zu führen ist
ihnen gestattet (Petroleum jHawkers] Act
1881, 44 & 45 Vict. c. 67). Die Pedlars Act
1871 (34 & 35 Vict. c. 96 hebt jene von
1870, 33 & 34 Vict c. 72 auf) und die P. A.
1881 (44 & 45 Vict. c. 45) schreiben polizei-
liches Zeugnis vor; die letzte Akte er-
weitert tlie Giltigkeit des Certifikats auf das
ganze Reich.
c) Pfandleiher unterliegen *The Pawn-
brokers Act 1872«, 35 k 36 Vict. c. 93
(hebt 11 ältere Gesetze von 1 Jac. L c. 21
bis 23 & 24 Vict. c. 21 und 27 & 28 Vict.
c. 56 s. 6 auf) bei allen Darlehen bis 40 sh. ;
von 40 sh. bis 10 £ nur dann, wenn kein
specieller Kontrakt über die zu erfüllenden
Bedingungen eingegangen worden ist. Der
Pfandleiher muss einen Gewerbesteuer-
schein lösen (7 £ 10 sh.) und eine Gewerbe-
konzession bei bis zu 50 £ Strafe gegen Vor-
weisung eines polizeilichen Führungsattestes
ei'yÄ'irken; 28 Tage vor dem Gesuch um
dasselbe liat er an 2 Sonntagen seine Ab-
sicht durch Anschlag an der Kirchenthür
und 21 Tage vorher durch Briefe an den
Armenaufseher und Polizeiinspektor bekannt
zu geben. Fälschung des Attestes unterliegt bis
20 £ oder bis 6 monatlicher Gefängnisstrafe.
Die Aufschrift des Vor- und Zunamens und die
Bezeichnung »Pfandleiher« auf der Rrmen-
tafel, Aushang der Leihformulare in dem.
Laden, Ausfolgung eines Leihzettelß u,nd
Registrierung der geliehenen Summen , . des
Namens des Verpfänders und des Datums
der Verpfändung sind bei bis zu 10 £ Strafe
vorgeschrieben. Verboten ist bei bis zu 5 £
Strafe eventuell Ersatz des Wertes: die
Pfandnahme von unter 12 jährigen, von Be-
tpunkenen, von anderen Pfendleihem, durch
unter 16jährige Gehilfen, an Sonn- oder
öffentlichen Feiertagen, die Auslösung mit
der Absicht des Rückkaufs etc., ferner voa
ziu- Verarbeitung übergebener Leinwand
und Stoffen bei Verwirkung des doppelten
Darlehnsbetrages zu Gunsten der Ortsarmen-
kasse. Besondere Vorschriften gelten über
Vorlegung des Registers, Verhaftung ver-
dächtiger Personen, Bestrafimg bei unge-
rechtfertigter Denunziation. Verfahren vor
dem Kreisgerichte; Berufung an Quarter-
sessions und Certiorari ist ausgeschlossen,
9. Beschränkungen einzelner Fabri-
kationszweige, a) Historisches. Die
Mehrzalü der Vorschriften über die Qualität
der bei der Produktion zu verwendenden
Stoffe und der für den Verkauf einzuhalten-
den Dimensionen, imd die Markierimg der
Waiden ist aufgehoben. So die Lederge-
setze (2 (fe 3 Edw. IV. c. 9, 1 Jac. L c.
22) durch 19 & 20 Vict. c. 64; durch die-
selbe Akte wurden auch die Beschränkim-
gen der Woll- und Ziegelfabrikatiou
ausser Kraft gesetzt. Die Statute Law Re-
vision Act von 1867 (30 & 31 Vict c. 59)
und die Master and Servant Act 1889 (.52
& 58 Vict. c 24) heben die Strumpf-
wirkerordnung (6 Geo. III. c. 29) sowie
die Gesetze über Stempelung der Tuche
(5 Geo. lU. c. 51 , 6 Geo. lU. c. 23) auf.
lieber die zwischen Messzwang und Frei-
gebimg schwankende Gesetzgebung in Be-
zug auf diese letzteren, welche 1197 be-
ginnt, vergl. G. Schanz, Englische Han-
delspoütik Bd. I, S. 607 fg., A.Held, Zwei
Bücher soziale Geschichte Englands S. 468 fg.,
Burn, Justice of Peace 1793 v. WooUeii
Manufacture. A. Sm ith , Wealth of Nations,
Bd. I. eh. X. pt. 2. John Smith, Memoirs
of Wool, Ed. 17.57;
b) Geltendes Recht. Derzeit sind
noch die folgenden Beschränkungen in Kraft :
1. Butter in Cork. Nach den Pri-
vilegien der Innung von Cork sind die
Butterfässer zu markieren und der Kontrolle
eines von ihr aufgestellten Inspektors unter-
worfen. Ueber die Wirkung dieses System»
vergl. Farrer, The State in its Relation to
Trade 1883, p. 149.
Gevrerbegesetzgebung (Grossbritannien)
477
2. Gewehr laufe müssen nach »The
Giin Barrel Proof Act« 31 & 32 Vict. cb.
113 (1868) im Londoner oder Birminghamer
Probeliause vorgelegt und punziert werden.
Strafen : bis 20 £, Das Verfahi*en ist sum-
marisch vor zwei Friedensrichtern. Die Probe-
meister haben fremde Marken zu registrie-
ren. Die Aufsicht liegt ob den Wardeinen
des Probehauses, den Nachfolgern der Lon-
doner Büchsenmacherinnung (inkoi^riert am
14. MÄrz 1637).
3. Goldschmiede. Historische
Ent Wickelung. Die Stempelung von
Gold- imd Silber^räten bei gesetzlichem
Feinheitsgrade mit dem Leopardenkopfe
durch die Wardeine der Londoner Goid-
schniiedeinnung datiert von 1300 (stat. 28
Edw. I st. 3, c. 20, erst 1856 aufgehoben);
ausserdem soU jeder Goldschmied seine
eigene Marke haben (37 Edw. III. c. 7). 18
Ehz. c. 15 setzt den Feinheitsgrad von Gold
auf mindestens 22 Karat, von Siber auf 11
oz. 2 dw. fest (»old Standard«), 8 Will. IlL
c. 8 (1696) zur Verhütimg der Einschmel-
zung von Silbergeld erhöht ihn für Silber
auf 11 oz. 10 dw. per Pfu|id Troy (»new
Standard«); 6 Geo. 1. c. 11 (1719) stellt den
»old Standard« wieder her und führt eine
Auflag von 6 d. per oz. auf alle Silberge-
räte ein. Doch soll die Feinheit von 11 oz.
10 dw. von der gesetzlichen durch andere
Markierung unterschieden werden. Der
Goldschmiedeinnung hatte Heinrich VH. 1504
ein ausgedehntes Verhaftungs- , Suche- und
Busserecht erteilt.
Geltende Bestimmungen. 12 Geo.
n. c. 26 (1739) erneuert die Bestimmungen
des Feinheitsgrades von . 18 Eliz. a 15, straft
Verfertiger minderwertiger Ware mit 10 £,
die KQschung der Marke mit 500 £. 24
Geo. lU. c. 53 fügt zu den früheren Marken
die des Eönigskopfes hinzu, setzt auf ihi'e
Fälschung Todesstrafe wegen Felonie (des-
gleichen Geo. ni. c. 185) ; erst 7 & 8 V ict.
c. 22 (1844 und ähnlich schon 38 Geo. m.
o. 69) verwandelte sie in Deportation (7 — 14
Jahre) oder bis 3 jähriges Gefängnis. Der
Feinheitsgrad wird (unter verschiedener Mar-
kierung) durch 38 Geo. HI. c. 69 (1798) auf
18 Karat reduziert, durch königl. V. v. 11.
Dezember 1854 auf 15, 12 und 9 Karat. In
Goldwaren soll nicht weniger als ein Drittel
feines Gold sein (17 & 18 Vict. c 96). Frem-
des Edelmetallgerät soll vor dem Verkaufe
geprüft und markiert (5 & 6 Vict. c. 47)
und mit einem F versehen werden (Customs
Tariff Act, 1876, 39 & 40 Vict. c. 35). Klei-
nere Schmuckwaren ausser Ehe- und Trauer-
ringen sind dem Markierungszwang nicht
unterworfen (7 & 8 Vict. c. 22, s. 11). Stra-
fen von 2 — 20 £ werden auf zuwiderhan-
delnde Händler und Beamte verhängt; die
letzteren sind zu entlassen, üeber diese
ungemein verwickelte Gesetzgebung vergl»
die Reports from the Select Committee on
Gold and Silver (HaU Marking) 1878, App.
3, p. 176.
4. Heringspökelung. Die Markie-
nmg aller Gefässe mit dem Namen des He-
ringspOklers bei Strafe der Konfiskation
schrieb Geo. III. c. 81 von Das fragliche
Recht des schottischen Fischereiamtes ist
bestätigt und auf Northumberland erweitert
durch »The Branding of HeningB (Nort-
humberland) Act 1891«, 54 & 55 Vict. c. 28.
Doch ist das System gegenwärtig rein fa-
kultativ.
5. Knöpfe. Zum Schutze der Seiden-
knopffabrikation schreiben 10 Will. in. c, 2,
8 Anne c. 11, 4 Geo. I. c. 7, 7 Geo. I. st.
I. c. 12, 36 Geo. HI. c. 6 und 6 Geo. IV,
c. 107 die Anfertigung und Bezeichnung der
Knöpfe vor und verhängen 20 sh. Strafe
über das Tragen, 20 £ gegen Anfertigung
oder Verkauf gesetzwidriger Holz- oder
Tuchknöpfe. 21 & 22 Vict. c. 64 hebt die
vier ersteren Gesetze auf, die übrigen sind
obsolet.
6. Messerschmiede. 59 Geo. HI. c.
7 veroixinet die Markierung geschmiedeter
Waren mit dem Zeichen des Hammers
(^Konfiskation und per Dutzend 5 £ Strafe,
lO £ wenn als »London made« bezeichnet)
und verbietet diese Markierung auf gegos-
sener Ware.
7. Schiffsketten und Anker müs-
sen nach der »Anchors and Chain Cables
Act 1899« (62 & 63 Vict. eh. 23, hebt die
früheren Gesetze auf : 27 & 28 Vict. eh. 27 ;
34 & 35 Vict. eh. 101 j 37 & 38. Vict.
eh. 51), sobald sie das Gewicht von 168 Pfund
überschreiten, durch Apparate geprüft wer-
den, die durch Lizenz des Handelsamtea
bestimmt und inspiziert werden ; Ankerund
Ketten sind zu markieren. Das Handelsami
ist berechtigt, eine besondere Untersuchung
der Anker und Schiffsketten solcher Han-
delsschiffe einzuleiten, die als unsicher
nach der Merchant Shipping Act 1894 (54
& 58 Vict. c. 60, pt. V.) beanstandet wor-
den sind.
8. Tuche. Formell sind noch obsolete
Regulierungen für Yorkshire in Kraft.
10. Beschränkungen des Gewerbebe-
triebes am Sonntag. Schon im Mittel-
alter wird die Abhaltung von Sonntags-
märkten mit der Konfiskation der Waren,
bestraft (27 Hen. VI. c. 5). Abgesehen von
indirekten Geboten der Sonntagsruhe (Vor-
schrift des Kirchenbesuches bei 1 sh.
Strafe 1 Eliz. c. 2, 3 Jac. I. c. 4 und Ver-
bot lärmender Vergnügungen 1618) er-
flossen zuerst Vorschriften gegen das Sonn-
tagsgeschäft der Schuhmacher im Jahre 1603
(1 Jac. I. c. 22), der Frachtfuhrleute und
Fleischer 1628 (3 Car. I. c. 1) bei Verwir-
478
Gewerb^gesetzgebung (Orossbritanaien)
kung von Geldstrafen von 5—20 sh. End-
lich verordnet 1678 Karl n. (29 Car. n. c.
7): »Kein Händler, Handwerker, Arbeiter
oder Taglöhner oder irgend eine andere
Person soU eine weltliche Arbeit ihres ge-
wöhnlichen Berufes am Tage des Herrn
ausüben«; ausgenommen sind Werke der
Notwendigkeit und Barmherzigkeit, der
Milch- und der Yiktualienverkauf in Gast-
häusern. Strafe: 5 sh., Konfiskation der
Waren zu Gunsten der Armenkasse, eventuell
von Vs des Erlöses an den Anzeiger, nach
Summarverfahren vor einem Friedensrichter.
Diese strenge Regel wird in der Folge von
immer zahlreicheren Ausnahmen zu Gunsten
bonafide-Reisender, des Yiktualienverkaufes,
des Kutschergewerbes (1 & 2 Will. IV. c.
22 und für London 9 Anne c. 23), der Fisch-
fuhrleute (2 Geo. ni. c. 15) durchbrochen;
die neueren Gesetze regeln vorzugsweise die
Sonntagssperrstuuden der Bierhauser und
Yergnügungslokale, so 3 & 4 Yict, c. 15.
Die Akte 11 & 12 Yict c. 49; 17 & 18
Yict. c. 79; 18 & 19 Yict. c. 118 sind g&nz-
lich, 23 & 24 Yict. c. 27 teilweise aufge-
hoben durch die licensing Acts 1872 und
1874, 35 & 36 Yict. c. 94, s. 25 imd 37 & 38
Yict. c. 49, s. 3. Für Wales gut The Sun-
day Closing (Wales) Act 1881, 44 & 45 Yict.
c. 61. In den Kolonieen herrschen teils die
alten Gesetze Karls I., teils neuere Polizei-
gesetze, und zwar: in Canada: The Canada
Temperance Act, 1886, 49 Yict. c. 106, des-
gleichen Amendment, 1888, c. 35; in Neu-
seeland: The Licensing Act, 1881, The
Triennial Licensing Comraittees Act, 1889,
The Alcoholic Liquoi-s Säle Control Act,
1893, desgleichen Amendment, 1895; in
Queensland: An Act to consolidate and
amend the Laws relating to the Säle of
Intoxicating Liquors by Retail, 1885; in
Neu-Süd- Wales : Au Act to consolidate the
Laws relating to Publicans and other Per-
sons engaged in the Säle of Liquors. Nr. 8,
1898.
lilttonttar: Attsser den im Texte angeführten
vergleiche manl) zu I und IL 1: W, J* Ashley,
An Introduction to Engliah Economic Hi9tory
and Theory, 1S88, eh. II, III, Fürt II, 189S,
eh. IL — J}et*selb€f Early History oj the Englisfi
WooUen Industry, 1887. — L'ujo Brentano, Die
Arbeitergilden der Gegenwart, Bd. 1, 187 L — Der-'
selbe, Die Gewerbefreiheit im Mittelalter (Zeitschr,
f. Staatsw. SS. Bd., 1877, S. 267 ff.). — Derselbe,
yoch ein Wort über die wirtschaßliche Freiheit
im MiUelnlter, ebenda, S4. B., 1878, S. 2S8ff. —
Gustav Cohn, Die aumcärtigen Anleihen an
der Londoner Börse, Zeilschr. /. Staatsw., SS. Bd.,
1877, S. 100 ff. — Derselbe, Die wirtschaft-
liche Freiheit und die ältere englische Gesetz-
gebung, ebenda, JS. 541 ff. — William Cunning^
ham, Groiclh of English Industry and Commerce.
Early and Middle Ages, 1890. — Derselbe,
Die Regelung des Lehrlingswesens durch das
Gewohnheitsrecht von London, Zeitschr, f. Sozial-
und Wirtsehaftsgesch. I, S. 61 — 77. — Derselbe,
Die Auswanderung von Ausländem nach Eng-
land im 12. Jahrhundert, in derselben ZeiUchr,
III, S. 177— SOS. — F. W. GalUm, Select
Documenta iUustrating the Hisiory of Trade
ühionisml. The Tailoring Trade 1896. — Charles
Gross, Gilda Mereatoria, GötUngen 188S und
derselbe, The Gild Merehant, Oxford 1891. —
Aar» Held, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte
Englands, 188L — W,A,8. Hewins, English
Trade and Finance chiefly in the 17^ Century
1892 eh. IV. — Derselbe, The Origin of Trade-
ühionism. Economic Eeview V (1895) p, 200 bis
280. — i. Jtf. Jjambert, Two Thousand Years
of Gm Life, HuU 189L — W, v. Ochen-
kowski, Englands wirtschaftliche Entwiekdung
im, Ausgange des MiüelaUers, 1879. — cT. E, Th,
Rogers, JSix Centuries of Work und Wages,
1886. — Derselbe, The Economic Interpretation
of History, 1888. —- G. B. Salvioni, Le Gilde
inglesi; studio storico, Firenze 188S, — G.
Schanz, Englische Sandeispolitik gegen Ende
des MitUlaUers, 1881. — E. R. A. Seligman,
The Mediaeval Guiids of England, 1887, — A,
Toynbee, Lectures on the Induslrial Revolution,
1884. — S. und B, Wehb, Die Geschichte des
Britischen Trade Uniemismus, 1895, L Kap. und
Bibliographie in der englischen Originalausgabe,
2) zu IL 2, 4: V, Bqfanowski, Unter-
nehmer und Arbeiter nach englischem Hecht,
1877. — jL. Brentano, Das Arbeitsverhältnis
gemäss dem heutigen Hecht, 1877, S. 272, S58ff.
— JT. €}rompton, Indtistrial Ooncüiatioti, 1876.
— R, Gneist, Englisches Verwaltungsrecht,
1884, Bd. II, Ä'. 770 ff, — George Howell,
The Confiicts of Capital and Latour, 1891, eh.
XI, pt. IL — W. Stanley Jevons, The State
in Eelation to Labour, 1882, eh. VII. — Schön^
berg, in Schönbergs Handbuch der pol. Gek. II, 1,
S. 619. — A, Marshall, Eeonomics of In-
ditstry, b. HL eh. VIIJ. — L, L. Price, In»
dustrial Peace, 1887, eh. III. Equitable Councils
of Coneiliation : Report jrom the Seleet Committee
1856, — Report ofthe Select Committee on the best
means of setüing dispuies betaosen Masters and
Operatines, 1860,
S) zu III. 1 — 9: ausser den im Texte ujid
unter 2) angeführten Atkinson, The Magistrates
Annual Pructice, London 1898. — R, Bum, The
Justice of Peace, 1790. — J, F, Davis, Labour and
Labour Laws, Encyclopa^dia BrUanniea, 1882,
vol. XIV, — T, H, Farrer, The State in iu
Relation to Trade, 188S. — & Gn^etst, Ge-
schichte und heutige Gestalt der englischen
Eommunalverfajfsung oder . des Selfgovernment,
1868. — Derselbe, Selfgovernment, Kommunal-
Verfassung und Verwaltungsgerichte in England,
3. Aufl., 1871. — B, Karpeles, Die englischen
Fdbrikgesetze, 1900. — C. Th. Klelnaehrodt,
Grossbritanniens Gesetzgebung über Gewerbe und
Handel, 18S6. — J. Ä Mac CuUoch, Dictionary
of Commerce, ed, I844, — A. Hedgrat^e"
Scrivener, The Factory and Workshops Act,
London, ö<A ed. 1895. — Albert Sti^skney, State
Control of Trade and Commerce, Xeic-York 1897.
4) zu III. 10 : vgl. Report of the Select Com-
mittee on the prevalcnce of Sujiday Trading in
the Metropolis; with Evidenee, 1847. — Reports
of Select Committees of both Hauses on the Bill
to prevent unnecessary Trading on Sunday in
Qewerbegesetzgebung (Grossbritannien — Italien)
479
the Metropolis; vnlh Evidence, S pts., 1850, —
«f« Paterson, The Intoxtcntiiig Liquor Licensing
Acts 1891, — SnowdeUf PoUce officer*» Guide,
1875. — Corre8po7idence on the Suhject of Sunday
Labour in the Colonies, London 1891. — Minulee
of Evidence taken before the Royal Commiesion
on Liquor Liceneinq Laws, S Bde., 1897.
Stephan Bauer,
yi. Die Gewerbegesetzgebung in
Italien.
1. Einleitung. 2. Gesetze über die ö£fent-
liehe Sicherheit. 3. Gesetz Über das Öffentliche
Gesnndheitswesen. 4. Gesetz über die Aus-
wanderung. 5. Strafgesetzbuch. 6. Gesetz über
das Pulver und die anderen explodierenden
Produkte. 7. Bergwerke, Steinbrücme und Torf-
gräbereien. 8. Gesetz über die Transmission von
elektrischen Leitungen auf Entfernung. 9. Ge-
setz über Herstellung und Verkauf von künst-
licher Butter. 10. Ilnanzgesetz v. 8. August
1895. 11. Gesetz über Spiritus. 12. UnfaUver-
sicherungsgesetz. 13. Gemeinde- und Provinzial-
gesetz.
1. Einleitung. Eine vollständige und
kodifizierte Gewerbegesetzgebung im engeren
Sinne des Wortes fehlt in Italien. Die Aus-
übung eines Gewerbes ist meistens nur an
privatrechtiiche Bedingungen geknüpft, d. h.
von den allgemeinen Vorschriften des bürger-
lichen und des Handelsgesetzbuches geregelt
Erst in der jüngsten Zeit hat die Gesetz-
gebung Beschränkungen der Gewerbefreiheit
mehr vom polizeilichen, finanzieUen oder
sanitären als vom gewerblichen Standpunkte
eingeführt.
Eine systematische Darstellung ist daher
wegen der Dfurftigkeit des Materials nicht
möglich, und ich werde im folgenden ganz
ein^h den gewerberechtlichen Inhalt der
spedeUen Gtesetze anführen; für die Ar-
beiterschutzgesetz^bung, die Gewerbege-
richte, die Arbeiterversicheruug und die
Patent- und Markenschutzgesetzgebung sei
auf die betreffenden Artikel verwiesen.
2. Gesetze über die öffentliche Sicher-
heit v. 30. Juni 1889, Nr. 6144 und v. 8.
Juli 1897, Nr. 266.
a) Für die Anlage einer Fabrik von
Pulver und anderen explodieren-
den Gegenständen ist die Erlaubnis
(licenza) des Präfekten der Provinz erforder-
lich. Für den Transport derselben Produkte
in einer Menge von über 5 Kilo ist die Er-
laubnis der Polizeibehönle des Kreises vor-
geschrieben (s. unten sub G). Für die Fa-
brikation von Waffen genügt die Anzeige
bei demselben.
b) Ein neuer oder wiederhergestellter
Dampfkessel muss, um in Betrieb ge-
nommen zu werden, von seite eines von der
Obrigkeit delegierten Sachkundigen unter-
sucht und geprüft und wenigstens jedes
vierte Jahr einmal revidiert und nötigen-
falls wieder geprüft werden. Nach dem
Befinden wird ein Certifikat erteilt, aber der
Betrieb kann nur unter der fortwährenden
Ueberwachung eines autorisierten Maschi-
nisten stattfinden. (Auf Grund dieser Be-
stimmungen wurde das Reglement vom 3.
April 1890 No. 6793 erlassen.)
c) Oeffentliche Vorstellungen
sind von der Genehmigung der Ortspolizei-
behörde abhängig, imd ein zur öif^nt-
lichen Unterhaltung bestimmtes
Gewerbe muss in derselben Weise geneh-
migt werden.
d) Gastwirtschaft und Schank-
•wirtschaft können nur mit Erlaubnis
der Polizeibehörde des Kreises betrieben
werden. Für neue Schankstätten kann der
Gemeindeausschuss derselben Behörde vor-
schlagen, ihre Eröffnung zu verbieten, wenn
die Zahl der in der Gemeinde bestehenden
schon genügend erscheint
Jedenfalls soll die Erlaubnis jenen Per-
sonen verweigert werden, welche keine
Yertragsfähigkeit nach dem bürgerlichen
und dem Handelsgesetzbuche besitzen, und
kann jenen Personen verweigert werden,
welche zu dreijähriger Freiheitsstrafe oder
zur Ueberwachung durch die Polizei verur-
teilt wurden. Auch jenen, welche zu einer,
obgleich kürzeren, Strafe wegen üugehor-
sams, Spiels, Yerbrechens gegen die
Sitten oder die öffentliche Gesundheit ver-
urteilt wurden, kann die Erlaubnis für
eine der Dauer der Strafe entsprechende
Periode vorenthalten werden. Die Erlaub-
nis ist persönlich und erlischt am Ende jedes
Jahres.
Bei Messen, Märkten und öffenthchen
Feierhchkeiten kann die Ortspolizeibehörde
die zeitweilige Eröffnung von neuen öffent-
lidien* Gast- und Schankstätten gestatten.
e) Die Befugnis zum Betriebe von
Druckereien, Lithographieen etc.
ist an eine Anzeige bei der Ortspolizeibe-
hörde geknüpft.
f) Pfandleihhäuser können nur mit
Erlaubnis der Ortspolizeibehörde eröffnet
werden. Für die öffentlichen Ge-
schäfte von Agenturen genügt die An-
meldung; doch kann die OrtspoHzeibehörde
sie verbieten.
g) Wer ein Gewerbe im Umher-
ziehen betreiben will, muss sich in ein
Register bei der Ortspolizeibehörde eintragen
lassen und eine Legitimationskarte von der-
selben erhalten.
h) Den Arbeitern und Hausdie-
nern wird auf ihren Wunsch oder auf
Wunsch des Unternehmers und Hausherrn
ein Arbeitsbuch von der Ortspolizeibehörde
erteilt, in welches jene auf Wunsch des
480
Gewerbegesetzgebung (Italien)
Arbeiters oder Hausdienera am Ende des
Jahres oder bei Gelegenheit der Entlassung
die Art und Dauer des geleisteten Dienstes
und das persönliche Betr^en einzutragen
haben.
3. Gesetz über das öffentliche Ge-^
sundheitswesen vom 22. Dezember 1888,
No. 5849. a) Zum Gewerbebetriebe als
Aerzte, Wundärzte, Tierärzte,
Apotheker, Zahnärzte, Geburts-
helfer sind die Grossjährigkeit und der
Doktorgrad (laurea), resp. die Approbation
(diploma di abilitazione) bei einer Universität,
höherer ünterrichtsanstalt oder zur Erlassung
derselben befähigten Schule notwendig. Wer
zwei oder mehr Approbationsurkunden erlaugt
hat, kann gleichzeitig die entsprechenden.
Berufe ausüben, mit Ausnahme des Apo-
thekergewerbes, welches immer vereinzelt
zu betreiben ist: jede Apotheke soll einen
approbierten Apotheker als Direktor haben,
welcher sich dem Präfekten der Provinz 15
Tage vor der Ausübung des Berufes an-
melden soll.
Wer eine Apotheke oder eine Fabrik
von als Arzneimittel gebrauchten chemischen
Produkten eröffnen will, soU darüber dem
Präfekten 15 Tage vor der Eröffnung An-
zeige machen. Was die Fabrik betrifft,
muss man sogleich beweisen, dass die Di-
rektion einem Apotheker oder einem Doktor
der Chemie anvertraut wurde.
Wer Heil- oder Badeanstalten eröffnen
will, muss die Bewilligung des Präfekten
erhalten.
Aus gesundheitspolizeilichen Rücksichten
sind einer besonderen Ueberwachimg auch
die Spezerei-, Schrainkmittel-, Farbenhändler,
die Liqueur- und Kuchenverkäufer etc.
imter werfen.
b) Die ungesunden oder gefähr-
lichen Fabriken oder Hausindus-
trieen werden in zwei Klassen geteilt:
die erste umfasst die Anlagen, welche auf
dem Lande isoliert imd von den Wohnun-
gen entfernt bleiben soUen, die zweite jene
Anlagen, welche mit besonderen Vorsichts-
massregeln auch in der Mitte von bewohnten
Häusern betrieben werden können. Um eine
solche Fabrik oder Hausindustrie zu be-
treiben, ist eine Anmeldung bei dem Prä-
fekten erforderlich.
e) auf Gnmd des genannten Gesetzes
sind ausführliche Reglements (9. Oktober
1888, No. 6442, 3. August 1890, No. 7045,
7. Dezember 1890, No. 7313, 7. Februar
1892, No. 55, 4. August 1895, No. 551 etc.)
erlassen worden, insbesondere um die Ver-
fälschung der Nahrungsmittel und der Ge-
tränke, den Gebrauch von gesundheitsschäd-
lichen Farben bei Wai'en etc. zu verhindern.
(S. unten sub 9.)
Aussei-dem dm-ch besondere Reglements
(5. Mai 1892, No. 238, 9. August 1892, No.
446) wurde das Verzeichnis der gestatte-
ten Arzneimittel und ihre Preise festgesetzt
Diese Preise sind nicht obligatorisch: sie
dienen nur als Regel für die Entscheidung
der Streitigkeiten und für die Gemeinden,
welche, mangels einer Apotheke, dem
Arzte eine kleine Sammlung der nötigsten
Arzneimittel anvertrauen.
4. Gesetz über die Auswanderung
vom 30. Dezember 1888, No. 5866, um als
Aus Wanderungsagent aufzutreten, muss
man italienischer, nicht minderjähriger
Bürger, im vollen Besitz der Civilrechte sein
und nicht speciell angeführte Verbrechen
begangen haben. Dazu kommt die Kon*
Zession (patente) von seite der Regierung
nach Erleg'ung einer Bürgschaft (cauzione)
von 3000 bis 5000 Lire jährlicher Rente in
Schuldtiteln des Staates (60 000 bis 100000
Lire nominellen Wertes), welche immer auf
derselben Höhe gehalten werden muss.
Dieselbe Pflicht ist den Reedern und
Schiffahrtsgesellschaften, die auch Aus-
wanderungsunternehmer sind, auferlegt. Die
Konzession kann wegen Verletzung des Ge-
setzes zurückgezogen werden. Der Aus-
wanderungsunternehmer kann mit Erlaubnis
des Präfekten unter seiner Verantwortlich-
keit Unteragenten bestellen.
Das Reglement vom 21. Januar 1892,
No. 39 hat vorgeschrieben, dass die Bürg-
schaft 3000 Lire jährlicher Rente betragen
soll, wenn der Agent seine Thäügkeit auf
einen Landesteil mit sieben Millionen Ein-
wohner beschränkt: 4000 Lire, wenn der
Landesteil zehn Millionen Einwohner ent*
hält: 5000 Lire, wenn die Konzession für
das ganze Königreich gelten soll.-
6. Strafgesetzbuch. Das im ganzen
Königreich geltende Str.G.B. v. 30. Juni
1889 liat über die Verbrechen gegen
die Freiheit der Arbeit folgende Be-
stimmungen :
Art 165. Wer, mit Gewalt oder Drohung,
in irgend einer Weise die Freiheit der In-
dustrie oder des Handels beschränkt oder
verhindert, wird mit Verhaftung (detenzione)
bis zu 20 Monaten und einer Geldbusse von
100 bis 3000 Lire bestraft.
Art. 166. Wer, mit Gewalt oder Drohung,
eine Aufhebung oder eine Unterbrechung der
Arbeit venirsacht oder fortsetzen lässt, um
entweder den Arbeitern oder den Arbeit-
gebern eine Verminderung oder eine Er-
höhung der Arbeitslöhne oder von den
vorher angenommenen abweicliende Verträge
aufzuerlegen, wird mit Verhaftung bis zd
20 Monaten verurteilt.
Art. 167. Die Haupturheber (capi) oder
Hauptbeförderer (promotori) der in den
vorigen Artikeln betrachteten Handlimgen
werden mit einer Verhaftung von 3 Monaten
Gewerbegesetzgebung (Italien)
481
bis zu 3 Jahren und einer Geldbusse von
oOO bis 5000 Lire bestraft.
6. Gesetz über das Pulver und die
anderen explodierenden Produkte vom
14. Juli 1891, No. 682. Dieses Gesetz hat
die Bestimmungen der oben (sub 2) be-
sprochenen Gesetze über die öffentliche
Sicherheit bestätigt und weitergeführt. Um
eine Fabrik jener Produkte anzulegen, ist
es nötig, eine Erklärung dem Bürgermeister
des Ortes vorzulegen, welcher, nach dem
Gutachten des Gemeindeausschusses, die-
selbe mit motiviertem Bericht dem Prä-
fekten der Provinz sendet. Der Präfekt
giebt oder verweigert die Erlaubnis zur
Anlage. Vor der Eröffnung der Fabrik soll
man auch die Lizenz der Finanzbehörde
des Ortes erlangen. Die Arbeit in der Fa-
brik ist einer beständigen Aufsicht dersel-
ben Behörde zu fiskalischen Zwecken \mter-
stellt. Auch der Verkauf von jeder Quan-
tität und der Transport einer Quantität von
über 5 Kilo von Pulver und anderen explo-
dierenden Produkten können nur mit Er-
laubnis der Polizeibehörde des Kreises statt-
finden.
7. Bergwerke, Steinbrüche nnd Torf-
grabereien. a) Gesetz über die Poli-
zei derselben v. 30. März 1893 Nr. 184
(mit Ausführungsreglements v. 14. Januar
1894 Nr. 19 und 3. Oktober 1894 Nr. 465).
Um Bergwerke, Steinbrüche und Tori-
gräbereien betreiben zu können, soll der
Unternehmer den eigenen Namen, Vornamen
undAufenthalt sowie den jenerPersonen, denen
er die Leitung und die Aufsicht des Be-
triebes anvertraut hat, mit schriftlichem
Aktenstücke der Municipalität des Ortes,
wo der Betrieb sich findet, mitteilen: das
Aktenstück wird in Anwesenheit des Orts-
bürgermeisters verfasst, und der Unterneh-
mer soU von jeder Veränderung binnen 10
Tagen den Bürgermeister in Kenntnis setzen.
b) Gesetz über die Verbände für
dieselben v. 2. Juü 1896 Nr. 302. Wenn
für naheliegende Bergwerke, Steinbrüche
und Torfgräbereien gemeinsame Vorkehrun-
gen zum Abfluss des Wassers, zur Ventilat
tion, zur Herausziehung des Minerals, zur
Anlegung von Wegen, zur Sicherheit und
Gesundheit der Arbeiten nötig erscheinen,
können die Eigentümer und Besitzer emen
Verband (consorzio) bilden. Der Verband
kann entweder freiwillig oder obligatorisch
sein. Im ersten Falle genügt ein schrift-
licher Vertrag mit Erfüllung der im bürger-
lichen Gesetzbuche enthaltenen Vorschriften.
Wenn die freiwillige Vereinbarung nicht zu
Stande kommt, kaim die Mehrheit der Eigen-
tümer und Besitzer die Bildung eines obli-
gatorischen Verbandes verlangen: diese ge-
schieht durch Dekret des Ministers für
Ackerbau, Gewerbe und Handel nach einer
administrativen, mit Anhörung der Parteien
stattfindenden Enquete und nach Anhörung
des Bergwerksbeirates. Das Statut des ob-
ligatorischen Verbandes wird von der Mehr-
heit der Parteien beraten und beschlossen,
und vom obengenannten Minister, nach An-
hörung des Bergwerksbeirates und des
Staatsrates, bestätigt. Die Mehrheit wird
nicht nach der Zahl der Parteien, sondern
nach der Grösse der respektiven Interessen
berechnet. Die Eigentthner und Besitzer,
welche die Teilnahme am Verband ver-
weigern, können dem Verbände ihre Berg-
werke, Steinbrüche und Torfgräbereien ab-
treten. Die Entschädigung wird nach den
Vorschriften des Gesetzes über die Enteig-
nung im öffentlichen Interesse bestimmt,
doch ohne Rücksicht auf die Wlertzunahme,
welche der Betrieb durch die vom Verbände
auszuführenden Arbeiten erhalten kann. Die
Beiträge der Mitglieder des Verbandes zu
den Ausgaben desselben werden am Anfang
jedes zweiten Jahres nach dem Nettogewinn,
welchen jedes Mitglied vom Betriebe in den
vorhergehenden zwei Jahren gezogen hat,
berechnet.
8. Gesetz über die Transmission von
elektrischen Leitnngen auf Entfernung
v. 7. Juni 1894 Nr. 232, mit Reglement v.
25. Oktober 1895 Nr. 642.
Die Errichtung von elektrischen Leitun-
gen, welche öffentliche Wege, Eisenbahnen,
Flüsse, Bäche, Kanäle, öffentliche telegra-
phische und telephonische Linien durch-
kreuzen oder über öffentliche Monumente
sich ausdehnen oder an dieselben sich an-
lehnen, bedürfen der Genehmigung (consenso)
des Piifekten der Provinz, bezw. wenn die
Leitung zwei oder mehrere Provinzen be-
rilhrt, des Ministeriums für Ackerbau, Ge-
werbe und Handel. Für die übrigen Lei-
tungen genügt eine Anzeige (notificazione)
an dieselben Behörden. Der Unternehmer hat
dann das Recht (mit Erfüllung der übrigens
sehr lästigen Vorschriften des Gesetzes und
des Reglements über die Wahl der Plätze,
die Entschädigungen, die technischen Ver-
sicherungen u. s. w.), seine Leitungen durch
fremde Grundstücke unterirdisch und über-
irdisch zu ftlhren.
9. Gesetz über Herstellung nnd Ver-
kauf von künstlicher Butter v. 19. Juli
1894 Nr. 356.
Jedes Stück soll mit der Bezeichnung
künstliche Butter oder Margarine
gestempelt werden ; ebenso die Behälter und
die zum Einschlagen gebrauchten Leinen
und Papiere. Die Art der Mischung soll
auf den Handelsbüchem, Expeditionsbriefen
u. s. w. notiert werden. In den Läden soll
eine Anzeige mit dei-selben Bezeichnung
ebenso äusserlich (Thür, Schaufenster) als
innerlich (auf der Ware) angebracht werden.
HandwörterbQch der Staatawissenschaften. Zweite Auflage. IV.
31
482
Gewerbegesetzgebimg (Italien — Schweiz)
Die Uebertretiing des Gesetzes wird mit Geld-
buBse bestraft. Das Ausführungsregleinent
ist V. 23. Oktober 1895 Nr. 625.
10. FiDanzgesetz t. 8. Au^st 1895
Nr. 486, Anhänge C, E, F.
Nach diesem Gesetz bedürfen einer Er-
laubnis (licenza) seitens der Finanzbehörde
jene Bemebe, welche errichtet werden:
a) um mineralische Oele herzustellen oder
zu bearbeiten;
b) um.Zündhölzchen und Streichkerzchen
herzustellen ;
c) um Gas und elektrische Kraft zur
Beleuchtung und Erwärmung zu erschaffen.
IL Gesetz über Spiritus v. 30. Januar
1896 Nr. 26.
Auf Grund dieses Gesetzes wurde das
Reglement v. 5. Juli 1896 Nr. 289 erlassen,
welches einige gewerberechtliche Bestim-
mungen enthält
Wer die Produktion oder die Rektifika-
tion von steuerpflichtigem Spiritus betreiben
will, soll dem technischen Finanzamt eine
Anzeige erstatten. Dieselbe soll enthalten:
a) den Yomamen und Namen des Fabrik-
besitzers und seines eventuellen Vertreters •
b) die Bezeichnung der Gemeinde und
des genauen Ortes, wo der Betrieb einge-
richtet wird;
c) den Typus des Gebäudes und die An-
gaben über seine Teile und die Bestimmung
derselben ;
d) das Verzeichnis der Apparate fiir die
Destillation und Rektifikation des Spiritus;
e) ausführliche Angaben über die Art
der bearbeiteten Stoffe, den Produktionspro-
zess, die Behälter etc.
Das Gebäude muss ausserhalb, an den
Eingangsthüren, in grossen Buchstaben eine
Inschrift tragen, welche anzeigt, dass sich
hier eine Fabrik zur Rektifikation oder Trans-
formation von Spiritus befindet.
12. Unfallversicheniiigsgesetz v. 17.
März 1898 Nr. 80.
So wie diejenigen, welche die zur Un-
fallversicherung ihi'er Arbeiter verpflichteten
Unternehmungen, Gewerbe oder Bauarbeiten
betrieben, binnen einem Monat nach dem
Inkrafttreten des Gesetzes (welches am 1.
Oktober 1898 erfolgte), dem Präfekten der
Provinz ihre Unternehmung oder ihr Ge-
werbe und die Zahl ihrer Arbeiter, Lelir-
linge imd Aufseher anmelden sollten, so
sollen bei den neu errichteten, vom Gesetz
betroffenen Unternehmungen, Gewerben oder
Bauarbeiten die Unternehmer zehn Tage
vom Beginn ihrer Thätigkeit die obenge-
nannte Anmeldung abgeben.
Nach den Bestimmungen des Reglements
v. 25. Septeml)er 1898 Nr. 411 soll die
Anmeldung ergeben:
a) den Vornamen und Namen des Unter-
nehmers oder den Handelsnamen der Gesell-
schaft;
b) die Art des Betriebes;
c) tien Sitz des Hauptbetriebes, den
Wohnsitz des Unternehmers oder den Haupt-
sitz der UntemehmergeseUschaft sowie die
Nebenbetriebe und deren Sitze;
d) den Zeitpunkt des Beginns der Ar-
beiten ;
e) die Anzahl der beschäftigten Perso-
nen in den drei Kategorieen, Arbeiter, Lehr-
linge und Aufseher;
f) die Art der verwendeten Motoren und
Maschinen.
Auf Grund des Gesetzes hat man aus-
führliche Unfallverhütungsvorschriften mit
den Reglements v. 18. Juni 1899 Nr. 230,
231, 232 und 233 erlassen.
13. Gemeinde- und ProvinziaJgesetz
V. 4. Mai 1898 Nr. 164.
Dieses Gesetz hat die Einrichtung und
Regelung der Messen, Jahr- und Wochen-
märkte der Gemeindevertretung (Consiglio
communale) anvertraut; so wuraen#die Be-
stimmungen eines älteren Gesetzes v. 17.
Mai 1866, Nr. 2933, zum Teil bestätigt, zum
Teil verändert.
Ausserdem ist der Gemeindeausschuss
(Giunta municipale, eine von der Gemeinde-
vertretung gewählte kollegialische Exekutiv-
behörde) befugt, für Lohnbediente und an-
dere Personen, welche auf öffentlichen
Plätzen und Strassen ihre Dienste anbieten,
sowie für die Benutzung von Wagen, Pfer-
den, Barken, Gondeln und anderen Trans-
portmitteln, welche öffentlich zum Gebrauch
in den Grenzen des Gemeindegebietes auf-
gestellt sind, Taxen festzusetzen.
Nebenbei sei bemerkt, dass die Preis-
taxen über Nalirungsgegenstände , welche
von der Gemeindebehörde festgestellt imd
veröffentlicht werden, als Regel nicht obli-
gatorisch sind ; doch können die Gemeinden
Sach dem Reglement v. 19. September 1899
r. 394 zur Ausführung des Gesetzes)
in ihren Polizeiverordnungen die Regeln
bestimmen, nach welchen, wegen be-
sonderer Ortszustände und Gewohnheiten,
jene Preistaxen zwangsweise vorübergehend
in Kraft treten können.
Carlo jP. Ferraris.
TU. Die Oewerbegesetzgebung in
der Schweiz.
A. Das Bundesrecht. 1. Die Grund-
rechte. 2. Die Specialartikel der Bundesver-
fassung und die Bundesgesetzgebung. B. Die
Kantonsrechte. C. Die einzelnen Ge-
werbebetriebe. 1. Die regalen G«werbe.
2. Wandergewerbe. 3. Trödler, Pfandleiher,
Gelddarleiher. 4. Wirtschaften. 5. Geld- und
Gewerbegesetzgebung (Schweiz)
483
KreditiiiBtitiite. 6. Fremdenindnstrie. 7. Ar-
beiterschntzgesetzgebung.
Das schweizerische Gewerberecht scheidet
sich formell, dem Ursprung nach, in bundes-
staatliches (Bundesrecht) und kantonales
(Recht der Einzelstaaten), die sich beide
meistens ergänzen. Materiell ist zu unter-
scheiden nach den einzelnen Gewerbebe-
trieben.
A. Das Bnndesrecht
Eine einheitliche Gewerbeordnung für
die Schweiz giebt es nicht. Der Bund be-
sitzt dazu das vei-fassungsmässige Recht
noch nicht ; ein bezüglicher Verfassungsvor-
schlag war 1894 in der Volksabstimmung
verworfen worden. Dagegen enthält die
Bundesverfassung betreffend das Gewerbe-
wesen im allgemeinen gruudrechtliche Be-
stimmungen und mit Bezug auf eine Reihe
von Gewerbebetrieben Specialartikel, an die
sich bezügliche Landesgesetze schliessen.
1. Die Grundrechte. Danach wird
unterschieden zwischen Handel und Ge-
werbe im gewöhnlichen Sinn (Bundesverf.
Art. 31) und den wissenschaftlichen
Berufsarten (Art. 33). Betreffend die
letzteren, die im übrigen nicht hierher ge-
hören, ist bestimmt, dass ihre Ausübung von
einem Ausweise der Befähigung abhängig
gemacht werden könne; für Mediziner ist
durch Bundesgesetz ein eidgenössisches
Diplom eingeführt, im übrigen steht die
Ausführung des Artikels noch bei den
Kantonen und ist die Freizügigkeit der
Geistiichen imd Geometer für einen Teil
der Schweiz durch kantonale Veiträge
(Konkordate) geordnet.
Art. 31 gewährleistet die Freiheit des
Handels und der Gewerbe im ganzen
Umfange der Eidgenossenschaft, immerhin
unter Vorbehalten, von denen als die haupt-
sächlichsten folgende hervorzuheben sind:
1. Betreffend Kegalien bezw. Mono-
pole. Die Regalrechte an Grund und Boden
(Berg-, Jagd-, Wasserregal) werden diu'ch
das Bundesrecht nicht alteriert und ver-
bleiben • den Kantonen. Die GewerberegaHen
oder Monopole dagegen sind nur noch ge-
stattet, soweit durch die Bundesverfassung
eben vorbehalten. Danach stehen zu: den
Kantonen, soweit sie davon Gebrauch machen,
das Salzregal (betreffend Salzhandel, in allen
Kantonen eingeführt) und das Feuerver-
sicherungsmonopol (betreffend Gebäude in
den meisten Kantonen, betreffend Mobiliar
nur in Waadt eingeführt) ; dem Bund : Post-,
Telegraphen- und Telephonregal, Münzregal,
Pulverregal, Alkoholmonopol (seit 1885) und
(zwar gesetzlich noch nicht eingeführt)
das Banknotenmonopol (das Zündhölzchen-
monopol ist 1895 durch die Volksabstimmung
verworfen worden; die Einführung des
Tabaksmonopols steht auf dem Piket). Der
Ertrag der Bundesmonopole fäUt sonst in
die Bundeskasse, beim Alkoholmonopol da-
gegen (ca. 6 Millionen jährlich) an die
Kantone mit der Bestimmung, dass sie Vio
davon (»Alkoholzehntel«) zur Bekämpfung
des Alkoholismus zu verwenden haben. —
2. Betreffend polizeiliche Beschrän-
kungen. Als Grund der Beschränkung ist
nur ein öffentliches Interesse, aber jedes
öffentliche Interesse anerkannt (Sicherheit,
Gesundheit, Sittlichkeit, NichtÜbervorteilung);
für das Wirtschaftswesen und den Klein-
handel mit geistigen Getränken ausnahms-
weise auch (seit 1885) das öffentliche Be-
dürfnis, in der Memung, dass weitere Ge-
schäfte als für welche ein Bedürfnis vor-
handen scheint, nicht zugelassen zu werden
brauchen. Die Mittel der Beschränkung
können bestehen in Betriebsvorschriften,
Konzessionierung (unter persönlichen, lokalen
Betriebsbedingungen) und selbst im Verbot
des betreffenden Gewerbes selbst. — 3. Be-
treffend Gewerbesteuern, die aber
nicht erdrückend sein dürfen.
2. Die Specialartikel der Bundesver-
fassung und die Bnndesgesetzgebung.
Die Specialartikel in Sachen betreffen:
Fischerei und Jagd (Art. 25), Eisenbahnen
(26), gebrannte Wasser (32 bis); Fabriken,
Auswanderungsagenturen , Versicherungs-
wesen (34) ; Spielbanken und Lotterieen (35),
Post- und Telegraphenwesen (36), Münzen
(38), Banknoten (39), Mass- und Gewicht
(40), Schiesspulver (41). Durch dieselben
wird in den einen Fällen die Sache als An-
gelegenheit der Bundesverwaltung selbst
erkläi't (Post und Telegraph, Münzen, Pul-
ver, gebrannte Wasser), in den anderen dem
Bund wenigstens das G^setzgebungsrecht
verliehen.
Die Bundesgesetzgebung ihrerseits macht
sich entweder ausschliesslich geltend, wie
vor allem in den Bundesverwaltungssachen
und auch sonst noch (Eisenbahnen, Fabriken,
Auswandenmgsagenturen), oder lässt der
kantonalen Gesetzgebung mehr oder weniger
Raum zur Mitwirkung (Fischerei und Jagd,
Mass und Gewicht etc.).
B. Die Kantonsrechte.
Allgemeine Gewerbeordnungen besitzen
nur die Kantone Bern, Schaffhausen, Basel-
Land und Wallis; dieselben sind aber alt
und teils durch das seither erweiterte Bun-
desrecht, teils durch Specialgesetze der be-
treffenden Kantone selbst so sehr zersetzt,
dass sie sich als Ganzes nicht darstellen
lassen. Ein neues Gewerbegesetz für den
Kanton Zürich ist in der Volksabstimmung
vom 17. Dezember 1899 verworfen woixien.
Im übrigen giebt es nur Specialgesetze
über die einzelnen Gewerbebetriebe.
31*
484
öewerbegesetzgebung (Schweiz)
Unter strafrechtlichen Schutz sind
die Handels- und Gewerbefreiheit und die
Arbeitsfreiheit der Arbeitgeber und
der Arbeiter gestellt durch die Strafgesetz-
bücher von &enf (Art. 106) und Tessin
(Art. 234).
C. Die einzelnen Gewerbebetriebe.
Unter »Gewerbe« wird hier alles be-
griffen, was nicht Urproduktion im eigent-
lichen Sinne (Land- und Forstwirtschaft)
ist; einerseits also auch Bergbau, Jagd und
Fischerei, und andererseits auch der Handel.
Es wird aber nur dasjenige Gewerbe be-
rücksichtigt, das als solches durch die Ge-
setzgebung geregelt, nicht auch was von
Gewerben sonstwie unter gesetzliche Be-
stimmungen (betreffend Gesundheitspolizei,
Bauwesen, Mass- und Gewicht eta) fällt.
Immerhin verdient die Arbeiterschutzgesetz-
gebung als eine besondere Seite des Ge-
werberechtes im allgemeinen angeschlossen
zu werden. Im übrigen folgen sich die
einzelnen Betriebe ohne weitere Gruppierung.
Die nach der schweizerischen Gesetzgebung
wichtigsten sind:
1. Die regalen Gewerbe (Bergbau,
Jagd und Fischerei) als die der Urproduk-
tion nächsten.
Der Bergbau, ausser den Salz werken
ohne Bedeutung, ist nichtsdestoweniger in
einer Reihe von Kantonen gesetzlich ge-
regelt. Auf die Mineralien ist überall ein
Regal in Anspruch genommen, das zur Aus-
beutung vergeben wind. Das am meisten
bekannte wie bedeutende Schieferbergwerk
»Plattenberg« \sird vom Kanton Glarus in
Regie betrieben ; auch ist die Eisgewinnung
aus dem Klönthalersee, die industriemässig
betrieben wird, an diesen Kanton abgabe-
pflichtig. Die Heilquellen dagegen, ein so
grosses Nationalvermögen der Schweiz sie
repräsentieren, sind nirgends regalisiert. —
Salzwerke speciell ^ebt es in Waadt
(Bex), Basel-Land (Schweizerhalle) und Aargau
(Aeugst. Rheinfelden und Ryburg), alle an
dritte UeseUschaften vergeben. Diejenige
von Bex genügt nicht einmal ganz für den
Kanton Waadt; von den anderen aber ist
Schweizerhalle auf »ewige« Zeiten zu Eigen-
tum vergeben und die aai^uischen bis 1907
verpachtet, imd es können in beiden Kantonen
bis zu diesem Zeitpunkt keine neuen Salinen
bewilligt werden.
Jagd und Fischerei. Der Betrieb
ist in der Hauptsache durch Bimdesgesetze
geregelt ; die Bewilligimg dagegen geht von
den Kantonen aus, die sie teils diu-ch Pacht
(Reviersystem), teils durch Konzession (Pa-
tentsystem) erteilen. Das Reviersystem,
höchst unvolkstümlich bei der Jagd, ist für
dieselbe nur in Aargau eingeführt.
2. Wandergewerbe. Das Gewerbe der
Handelsreisenden d. h. die blosse Auf-
nahme von Bestellungen ist bundesgesetzlich
geregelt. Danach sind Grosreisende (welche
nur bei Gewerbegenossen umreisen) inlän-
discher Häuser und solcher von auswärtigen
Staaten, mit denen bezügliche Staatsverträge
bestehen , taxfrei, während die Detailreisen-
den (die auch Private besuchen) und übri-
gen Grosreisenden Taxe zu bezahlen haben,
deren Ertrag unter die Kantone verteilt
wird.
Markt- und Hausierverkehr. In
denselben hat teilweise auch die Bundesge-
setzgebung eingegriffen (Bewilligung für
Viehmärkte; Verbot des hausiermässigen
Handels mit gebrannten Wassern, Vieh \md
Gold- und Süberabfällen). Im übrigen ist
die Regelung kantonale Sache. Danach
unterliegt der Verkehr ausser polizeilichen
Bestimmungen der Patentpflicht, soweit er
nicht einerseits freigegeben (namentlich für
F]rzeugnisse des Land- und Gartenbaues),
andererseits ganz ausgeschlossen ist (für aui
diesem Wege schwer kontrollierbare oder
gefährliche Artikel: Fleisch-, Gold- und
Silberwaren , Gifte , Explosivstoffe). Der
Hausierhandel wird im allgemeinen hoch,
besteuert zum Zweck der Prohibition, imd
als solcher werden behandelt auch die Wan-
derlager zum Schutze der ansässigen Ge-
schäfte und sogar die Ausverkäufe zum
Schutze der Detail- vor der Konkurrenz der
Grosgeschäfte.
3. Trödler, Pfandleiher, Gelddarleiher.
Diese Geschäftsbetriebe sind in der Minder-
zahl von Kantonen polizeilich geregelt, und
in den wenigsten alle zugleich. Oeftentliche
Leihhäuser bestehen, wo überhaupt, zumeist
in Verbindung mit den kantonalen Staats-
banken. Strafrechtliche Wucherbestim mim-
gen giebt es fast in aUen Kantonen.
Auch gegen Abzahlungsgeschäfte
und unlauteren Wettbewerb (oon-
currence illoyale) werden von der Öffent-
lichen Meinung Vorschriften verlangt
4. Wirtschaften. Die Alkoholgesetz-
gebung des Bundes hat das Wirtschafts-
gewerbe und im weiteren den Handel mit
geistigen Getränken überhaupt im Sinne des
AntiaJÜkoholismus stark beeinflusst. Vor
allem und hauptsäclilich betreffend die ge-
brannten Getränke: wie diuxjh die Mono-
polisierung von Einfuhr und Fabrikation der
Stoff verbessert und zugleich verteuert wor-
den, so ist der Kleinhandel mit solchen von
Bundeswegen durch die Kantone der Kon-
zession und Besteuening zu unterwerfen,
und zwar ist Kleinhandel der Verkauf bis
zu 40 Liter aufwärts. Der Handel mit
anderen Getränken dagegen ist bis auf
2 Liter hinunter unbedingt frei. Anderer-
seits kann das Wirtschaftsgewerbe überhaupt
nicht nur wie andere nach Massgabe per-
sönlicher und lokaler Bedingimgen, sondern
Gewerbegesetzgebung (Schweiz)
485
auch nach dem öffentlichen Bedürfnis (vgl.
oben) beschränkt werden.
Die Wirtschaften speciell sind kantonaler-
seits fast durchweg konzessions- und abgabe-
pflichtig, und ihre Zahl wird in der Mehr-
heit der Kantone bereits auch nach dem
öffentlichen Bedürfnis normiert (»Normal-
zahl«, sofern im Verhältnis zur Zahl der
Einwohner fest bestimmt; z. B. nicht mehr
als eine Wirtschaft auf 150 oder 200 Ein-
wohner in einer Gemeinde). Unter die Be-
triebsvorschriften sind in den neuesten Ge-
setzen auch solche zum Schutze des Wirt-
schaftspersonals aufgenommen, die sich in-
sofern mit der Arbeiterschutzgesetzgebung
berühren.
6. Geld- und Kreditinstitute. Banken.
Der Bund hat nur in die Notenemission ein-
gegriffen, indem er dieselbe beschränkt und
unter Deckung gestellt, seither aber als
Monopol des Bundes erklärt hat, das frei-
lich noch der gesetzlichen Durchführung
harrt. Zugleich ist bis dahin die Erhebung
einer Banknotensteuer bis zu 6%o der
Emission seitens der Kantone gestattet, wo-
von die Mehrzahl auch Gebrauch gemacht
hat. Im übrigen haben die Kantone sich
nicht veranlasst gesehen, den Verkehr der
Privatbanken zu regeln, ausser dass speciell
für Sparkassen, zur Sicherheit der Einlagen,
wenigstens von zwei Kantonen (Freiburg
und St. Gallen) staatliche Kontrolle und
bezw. die Bedingimg der Deckung des Ein-
lagekapitals eingeftöirt worden ist. Hin-
gegen haben fast aUe, in Konkurrenz mit
den privaten, die auszuschliessen von Bundes-
verfassungswegen unstatthaft ist, staatliche
Anstalten (»Kantonalbanken«) errichtet, zum
ausgesprochenen Zwecke, der Landwirt-
schaft, dem Handel und Gewerbe im Kanton,
namentlich den kleineren Leuten, die Be-
friedigimg der Kredit- und GeldbedOrfnisse
zu erleichtem. (Vgl. auch den Art Banken
in der Schweiz oben Bd. II S. 305 ff.)
Börsen. Bezügliche Gesetze besitzen
nur Genf, Schaffhausen, Zürich und Basel-
Stadt Es handelt sich hauptsächlich um
Regelung des gewerbsmässigen Verkehrs mit
Wertpapieren bezw. Beschränkung desselben
an der Börse auf die Börsenmitglieder und
um Ordnung des Mäklerwesens: für die
Kontrolle sind besondere staatlicne Organe
(Börsenkommissäre) aufgestellt. Andererseits
wird eine Steuer von den betreffenden Ge-
schäften (Stempelgebühr) und bezw. von den
Mäklern als solchen (Patentgebühr) erhoben.
SpielbankenundLotterieen. Nach
der Bundesverfassung (Art. 35) ist die Er-
richtung bezw. Haltung von Spielbanken in
der ganzen Schweiz untersagt und kann
der Bund auch in Beziehung auf die Lotte-
rieen geeignete Massnahmen treffen. So
lange letzteres nicht geschehen, können die
Lotterieen, ausser den Lotterieanleihen, von
Kantons wegen verboten werden und sind
es auch überall, immerhin meist unter Vor-
behalt der Unternehmen zu wohlthätigen
Zwecken oder zur Förderung von Kunst
und Gewerbe.
6. Fremdenindustrie. Von den hier-
unter fallenden, polizeilich besonders ge-
regelten Gewerben ist noch das der öffent-
lichen Lohndiener (Dienstmänner, Kutscher,
Schiffleute, Bergführer und Träger) zu er-
wähnen. Das Dienstmänner-, Kutscher- und
Schiffergewerbe ist, soweit überhaupt, sei-
nem örtlichen Bereich entsprechend meist
durch Lokalstatute geordnet. Die Berg-
fühi'er und Träger .unterliegen in Bern,
Wallis und Tessin einer kantonalen Kon-
zessiop, die nur auf Prüfung hin erteilt
wird.
7. Arbeitergehutzgesetzgebung. Durch
die Bundesgesetzgebung ist die Arbeit in
Fabriken geregelt worden, und zwar zum
Schutz der Arbeiter im allgemeinen (he-
treffend Arbeitsräume, Kündigung, Lonn-
zahlung, Arbeitszeit 11 Stunden) und der
Frauen und Kinder im besonderen (Arbeits-
zeit und bezw. eintrittsfähiges Alter — 14
Altersjahr) und ist eine besondere Haft-
pflicht des Fabrikanten aus dem Fabrikbe-
trieb, für Tötung undVerletzung von Arbeitern,
statuiert worden, die in der Folge auch auf
andere, besonders gefährliche oder im
grösseren betriebene Gewerbe und Arbeiten
ausgedehnt wurde.
An diese Bundesgesetzgebung schliesst
sich eine weitere Schutzgesetzgebung der
Kantone, und zwar: einesteils mehr nur
nach Seiten der Haftpflicht und seither
durch die bundesmässige Ausdehnung dieser
insofern ersetzt (beide ünt^rwalden: für
Strassen-, Brücken- imd andere Freiarbeiten) ;
zum anderen und grösseren Teil aber zur
Regelung der Arbeit auch in anderen Be-
trieben ausser den Fabriken und mit Bezug
auf die gleichen Verhältnisse (Arbeitszeit,
Lohnzahlung etc.). In dieser Richtung haben
legiferiert Basel-Stadt, Zürich und Solothum
fspecieU zu Gunsten der Arbeiterinnen);
lemer St Gallen und Glarus. Die französi-
schen Kantone Neuenbiu^, Genf, Freiburg
imd Waadt ihrerseits haben specieU das
Lehrverhältnis (die Ausbildung der Lehr-
linge) unter gesetzlichen Schutz gestellt.
Das Institut der Gewerbegerichte
endlich, um dessen in diesem Zusammen-
hang noch zu gedenken, ist eingeführt wor-
den: voraus in den französischen Kantonen
Genf, Neuenburg imd Waadt (zuerst in Genf
1883); dann auch in Basel-Stadt, Luzern,
Solothum, Bern, Zürich und St. Gallen;
aber, ausser in Genf und Basel-Stadt, niu:
fakultativ, in der Meinung, dass es den Ge-
meinden überlassen ist, solche einzusetzen.
^
486
öewerbegesetzgebung (Schweiz — Skandinavien)
Vgl. auch den Art. Arbeit ersehnt zge-
setzgebung in der Schweiz oben Bd. I
S. 588 ff.
Qaellen und Litteratnr : Die Sammlung der
Bundeageaetxe und des BundesblaUes, und die
kantonalen Gesetzessammlungen. — J". SchoUen-
berger, Grvndriss des Staats- und Verwaltungs-
rechts der Schweiz. KanUme, II. Bd. (innere
Verwaltung) und von früher die Schweiz. Handels-
und Gewerbeordnungen, 1. Hälfte. — Furrer,
Volksvnrtschaftslexikon der Schweiz, Artikel
»Gewerben. J, Schollenberg er.
Till. Die Öewerbegesetzgebung in
Skandinayien
(im 19. Jahrhundert).
1. Die schwedische ' Gesetzgebung. 2. Die
norwegische Gesetzgebung. 2. Die dänische
Gesetzgebung. 4. Das Princip der Gewerbe-
freiheit und seine Beschränkung. 5. Der Ge-
werbebetrieb im Umherziehen. 6. Die Behörden
und das Verfahren in Gewerbesachen.
1. Die schwedische Gesetzgebung.
Der Grundgedanke des älteren schwedischen
Gewerbewesens war, einerseits den Gewerbe-
betrieb im wesentlichen auf die Städte zu
koncentrieren , andererseits die städtischen
Gewerbe in Zünfte zu organisieren. In
dieser Richtung gingen die allgemeinen
Landeszunftgesetzgebungen der JaJire 1669
und 1720. Für einen Teil der Gewerbe-
thätigkeit, für den Betrieb von Älanufakturen
und Fabriken, zu welchen besonders die
Textilgewerbe und die feineren Eisenge-
werbe gerechnet wurden, galten nach der
Gesetzgebiuig — den Hallordnungen vom
21. Mai 1739 und vom 2. April 1770, den
Manufaktiuprivüegien vom 29. Mai 1739 —
andere Grundsätze, nach welchen diejenigen,
welche Manufekturen und Fabriken betrieben,
nicht der Zunftordnung unterstellt waren.
Das frühere Privilegiensystem wurde schon
durch die Regierungsform Schwedens vom
9. Juni 1809 § 60 principiell aufgehoben,
indem dieser Gesetzartikel dem Könige ver-
bot, zu seinem Vorteile, zu dem der Krone
oder zum Vorteile von Privatpersonen oder
Korporationen ein Monopol zu errichten.
Dieses Verbot hindert jedoch nicht, dass
eigentliche Monopole zum allgemeinen
Besten, z. B. Apothekerprivilegien, errichtet
wenlen, und bindet nur den König, nicht
aber die von ihm und dem Reichstage ge-
meinschaftlich ausgeübte Gesetzgebung.
Die V. V. 6. November 1S21 milderte
die Bedeutung der Zünfte, indem sie das
Gebiet der Manufakturprivilegien beträcht-
lich ausdehnte. Die sehr wichtige Eisen-
industrio war jedoch besonders reguliert;
für die Eisenhämmer und Eisenmanufaktur-
werke waivn nicht nur besondere Privilegien
nötig, sondern es galten auch in mehreren
Beziehungen einschränkende Bestimmungen.
Jetzt ist jedoch — nach den VY. v. 27. April
1846 und 20. September 1859 — die An-
legung und der Betrieb von Eisenwerken
im wesentlichen denselben Normen unter-
stellt wie die Anlegung und der Betrieb
anderer Fabriken.
Das Zunftwesen wurde beibehalten bis
zur V. V. 22. Dezember 1846, welche die
Zünfte aufhob und die Gewerbefreiheit, wenn
auch mit erheblichen Beschränkungen, ein-
führte. An die Stelle der Zünfte setzte die
citierte Verordnung Handwerksvereine zur
Fördenmg der Interessen der Handwerker.
Als Bedingung des selbständigen Gewerbe-
betriebs mit dem Rechte, Lehrlinge und
Gesellen zu halten, wurde für die meisten
Handwerke die Meisterprüfung noch bei-
behalten, wenn auch der frühere Lehrzwang
aufgehoben wurde. Um ein Handwerk in
einer Stadt oder deren Gemarkung mit Bei-
hilfe von anderen als von Frau und Kindern
zu betreiben, war das Büi^rrecht( »Burskap«)
erforderlich. Die principielle Gewerbe-
freiheit, welche die genannte Verordnung
gründete, wurde erst durch die noch geltende
V. V. 18. Juni 1864 vollständig durchgeführt
und ist auch von den Gesetzänderungen,
welche die VV. v. 20. Jiuii 1879, 23. Sep-
tember 1887 und v. 30. Juni 1893 mit sich
führten, unberührt geblieben.
2. Die norwegische Gesetzgebung.
Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts folgte
die Gewerbegesetzgebung Norwegens den
Maximen und Normen der dänischen Ge-
setzgebung; doch wurde der Handwerks-
betrieb in Norwegen niemals so vollständig
wie in Dänemark auf die Städte beschränkt.
Schon das Grundgesetz von 1814 (§ 101)
verbot indessen im allgemeinen neue imd
beständige Beschränkimgen der Gewerbe-
freiheit. Und durch, das Gesetz über den
Handwerksbetrieb vom 15. Juli 1839 wurde
auch die norwegische Gesetzgebung unter
Anerkennung der Grundsätze der Gewerbe-
freiheit reformiert. Dieses Gesetz und die
V. V. 19. August 1845 geben den Hand-
werksbetrieb auf dem Lande überhaupt frei ;
nur einige, nicht wesentliche Beschräntungen
wurden beibehalten. Die alten Zünfte 'wur-
den freilich nicht gesetzlich aufgehoben ; sie
konnten aber durch den einstimmigen Be-
schluss sämtüchei Meister oder durch Tod
oder Austritt der Mitglieder aufgelöst weixien.
Der Zunftzwang wiutie für die noch be-
stehenden Zünfte beibehalten, hörte aber
mit ihnen nach und nach auf. Das Büi^r-
recht war dagegen als Bedingimg für den
selbständigen städtischen Gewerbebetrieb
als Meister allgemein vorgescluieben. Die
Meister- und Gesellenprüfungen wiuxien für
die zimftmässig organisierten Handwerke
beibehalten; aber nicht die früheren Vor-
schriften tiber eine bestimmte Lehr- und
Gesellenzeit. Die volle Gewerbeh^eiheit
Gewerbegesetzgebung (Skaadinavien)
487
wimle durch das noch geltende G. v.
14. April 1866 eingeführt, und das spätere
G. V. 25. April 1874, welches die noch be-
stehenden Beschränkungen des Gewerbe-
betriebs auf dem Ijande im allgemeinen auf-
hob, sowie diejenigen v. 15. Juni 1881 und
V. 12. Mai 1888 gehen in derselben Richtung.
3. Die dänische Gesetzgebung. In
Dänemark ist das Gildenweseu von weit
grosserer Bedeutung gewesen als in den
anderen skandinavischen Ländern. Schon
fnih wurde der Gewerbebetrieb durch Zunft-
ordnungen auf die Städte beschränkt imd
diufhgehend zunftmässig organisiert. Das
dänische Gesetzbuch von 1683 gab im all-
gemeinen den Städten das ausschliessliche
Kecht auf den Betrieb von Gewerben; nur
der Betrieb einzelner Handwerke war auch
auf dem Lande gestattet. Diejenigen, welche
dasselbe Handwerk betrieben, bildeten eine
Zunft (»Laug«), die sich selbst ihre Statuten
gab, wenn auch königliche Bestätigung
diesen Statuten nötig war. Der Betrieb von
städtischen Gewerben war überhaupt den
Zünften ausschliesslich vorbehalten; nur
ausnahmsweise wurde auch nichtzünftigen
Personen, welche das Bürgerrecht erworben
hatten, durch königliche Dispensationen ge-
stattet, ein Handwerk zu betreiben. Auch
geschlossene Zünfte, welche in Schweden
schon im Jahre 1669 verboten wurden,
kamen in Dänemark vor, es waren ihrer
jedoch stets nur wenige. Das dänische
Zunftwesen war mit sehr sorgfältig regu-
lierten Gesellen- und Meisterprüfungen ver-
bunden ; bestimmte Lehriahre waren jedoch
nicht vorgeschrieben. Nach diesen Grund-
sätzen war das dänische (norwegische) Zunft-
wesen durch die allgemeinen YV. v. 23. De-
zember 1681 und V. 6. Mai 1682 eingerichtet.
Die strenge zunftmässige Organisation des
Handwerksbetriebes wurde schon d\u*ch die
V. V. 21. März 1800 ein wenig moderiert,
indem der Lehrzwang aufgehoben und denen,
welche vier Jahre als Gesellen gearbeitet
hatten, das Recht erteilt wurde, als Frei-
meister ihr Handwerk zu betreiben. Die
Preimeister konnten auch ihre Gew^erbe aus-
üben, ohne in eine Zunft aufgenommen zu
werden. Nachdem das dänische Grundgesetz
von 1849 (§ 83) den Grundsatz festgestellt
hatte, dass adle Beschränkungen derGewerbe-
freibeit, die das Gemeinwohl nicht forderte,
gesetzlich aufgehoben werden sollten, hob
das G. V. 29. Dezember 1857 das alte Zimft-
recht auf und setzte eine neue Gewerbe-
ordnung fest, die nach den Grundsätzen der
Gewerbefreiheit ausgearbeitet worden war.
Dieses Gesetz ist noch heute geltend, wenn
auch in einigen Beziehungen durch die GG.
V. 23. Mai 1873 und 30. März 1889 ergänzt.
4. Das Prineip der Gewerbefreiheit
und seine Beschränkung. Die heutigen
skandinavischen Gewerbeordnungen beruhen
auf dem Grundsatze der Gewerbefreiheit;
diese ist jedoch durch mehrere specieUe Be-
stimmungen mehr oder weniger beschränkt.
Die geltenden Gesetzgebungen haben, wie
schon angedeutet worden ist, die älteren
Beschränkungen des Gewerbebetriebs be-
seitigt. Die Zünfte sind überhaupt auf-
gehoben worden — nur in Dänemark be-
stehen noch einige Zünfte als freie Innun-
gen — es giebt keinen Zunftzwang mehr
und die Meisterprüfungen sind nicht mehr
erforderlich. Das frühere Vorzugsrecht der
Städte ist aufgehoben. In Dänemark dürfen
jedoch Goldschmiede und Buchdnicker nicht
ohne vorgängige Genehmigung des Mi-
nisteriums sich auf dem Lande niederlassen,
und mehrere Handwerksgewerbe dürfen nur
in einer gewissen Entfernung von den
Städten betrieben werden. In Schweden war
die Anlegung einer Buchdruckerei in grösserer
Entfernung von einer Stadt als 5 Kilometer
bis zum Jahre 1900 verboten ; nunmehr kann
man Druckereien auch in den Marktflecken
(Köpingarne) anlegen. In mehreren Be-
ziehungen gelten übrigens noch etwas ver-
schiedene Regeln über den Gewerbebetrieb
in den Städten und auf dem Lande.
Gegenwärtig steht es in den skandina-
vischen Ländern jeder physischen Person
vollständig frei: 1. Gewerbe waren für den
Hausbedarf zu verfertigen und 2. Gewerbe
nur mit Beihilfe der Frau imd der im Hause
wohnenden Kinder zu betreiben. Den
schwedischen Landleuten ist auch die Ver-
fertigung von Gewerbewaren mit Beihilfe
vom Gesinde ohne weiteres erlaubt.
Um ein stehendes Gewerbe mit anderen
Hilfspersonen als den oben genannten in
Schweden zu betreiben, werden von den
Schweden und den im Lande ansässigen
Norwegern (G. v. 4. Juni 1868) nur Besitz
der bürgerlichen Ehrenrechte (Unbescholten-
heit), Dispositionsfähigkeit und Meldung bei
den zuständigen Behörden erfordert. Unter
denselben Bedingungen steht der Betrieb
auch Frauen offen; wenn sie verheiratet
sind, muss der Ehemann ausserdem Erlaub-
nis zum Gewerbebetrieb geben und für die
Verbindlichkeiten, welche die Frau eingeht,
sich verbürgen. Mit der gleichen Erlaub-
nis und Verbürgung des Vormundes kann
auch ein Minderjähriger Gewerbe betreiben.
Besondere Kenntnisse werden von dem Ge-
werbetreibenden gefordert, wenn das Ge-
werbe feuergefährlich ist oder eine Gefahr
für Leben und Gesundheit mit sich führt.
— Ausländer (Mann oder Frau) sind, wenn
ihr Gewerbebetrieb nicht durch Konventionen
besonders reguliert worden, nur dann be-
rechtigt, Gewerbe zu betreiben, wenn sie
dispositionsfähig und unbescholten sind,
sichere Bürgen für die Erlegung der an
488
Gewerbegesetzgebung (Skandinavien)
Staat und Gemeinde zu entrichtenden Ab-
gaben jedesmal für drei Jahre stellen und
besondere Erlaubnis zum Gewerbebetrieb von
dem König erhalten (G. v. 18. Juni 1864,
§§ 26—31, G. V. 20. Juni 1879).
In Norwegen und in Dänemark muss
man in Beziehung auf die Befugnis zum
Gewerbebetriebe zwischen freien und ge-
bundenen Gewerben unterscheiden. Für den
Betrieb der erstgenannten ist keine be-
sondere Erlaubnis erforderlich. Der Betrieb
der gebundenen Gewerbe hängt aber von
einer öffentlichen Anerkennung der Befug-
nis ab* diese Anerkennung wird entweder
durdi Bürgerrecht oder durch einen Nah-
rungsschein (»naeringsbrev«) gegeben. In
Dänemark wird durch Gesetz oder specielle
Yerordnungen (*Vedtaegter«) bestimmt,
welche Gewerbe zu den fi'eien oder ge-
bundenen zu rechnen sind. In Norwegen
sind sowohl die Fabrikbetriebe in den
Städten wie auch alle Gewerbe auf dem
Lande frei. In den norwegischen Städten
sind dagegen im allgemeinen die Hand-
werke gebundene Gewerbe und der Betrieb
derselben ist von dem Erwerb des Bürger-
rechts abhängig. Das Bürgerrecht kann nur
Männern erteilt werden ; es kann aber nicht
verweigert werden, wenn der Ansucher
1. norwegischer Staatsbürger, 2. mündig,
3. unbescholten und 4. in der Stadt, wo er
das Bürgerrecht erwerben will, wohnhaft
ist. Das Bürgerrecht kann jedoch nicht
Staatsbeamten oder Polizei- und ZoUoffi-
zianten erteilt werden. Der ^Minderjährige
kann auch Bürgerrecht erwerben, wenn er
die Einwilligung des Vormundes erhalten
hat. Der Bürgerrechtsbrief verliert seine
Giltigkeit durch längere Unterbrechung der
Ausübung des Gewerbes (G. v. 4. Juli 1884).
Witwen und geschiedenen Frauen wie auch
unverheirateten Frauen, die 21 Jahre alt
sind, steht in den Städten das gleiche Ge-
werberecht wie Männern zu, wenn sie un-
bescholten und in der Stadt ansässig sind.
Sie werden durch Nahnmgsscheine zum Ge-
werbebetriebe berechtigt.
In den dänischen Städten ist gleichfalls
eine besondere Befugnis nötig, um gebundene
Gewerbe ausüben zu dürfen. Diese Be-
fugnis wird Männern durch Bürgerrecht und
Frauen (Witwen, geschiedenen Frauen oder
unverheirateten Frauen, die das Alter von
25 Jahren erreicht) durch Nahrungsscheine
erteilt. Zum Gewerbebetriebe auf dem
Lande erhält man die Berechtigung durch
einen Nahrungsschein. Die Bedingungen,
unter denen man Bürgerrecht oder einen
Nahrungsschein sich verschaffen kann, sind
folgende: Der Ansucher muss 1. dänisches
Indigenatsrecht besitzen oder wälirend einer
Zeit von fünf Jahren im Lande gewohnt
und in dieser Zeit seinen Unterhalt ehrlich
erworben haben (G. v. 23. Mai 1873, § 1),
2. volljährig sein, 3. seine Masse dem Kon-
kursgericht nicht überlassen haben.
Nach der obigen Darstellung unterliegt
in jedem skandinavischen Lande der stehende
Gewerbebetrieb meistens einer, wenn auch
sehr verschiedenartigen Anzeigepflicht. An-
dere rechtliche Beschränkungen der Befug-
nis zum Gewerbebetriebe kommen wohl
auch vor; diese beziehen sich aber nur auf
einige besondere Gewerbszweige und wer-
den von Gesichtspunkten der öffentlichen
Sicherheit, Sittlichkeit und Wohlfaihrt be-
herrscht. Die Regelung hat teils die Be-
fugnis zum Gewerbebetriebe, teils die Aus-
übung desselben zum Gegenstande.
Im allgemeinen ist die Zulassung der-
jenigen gewerblichen Anlagen, welche ge-
sundheitsgefährlich sind oder durch Lage
und Beschaffenheit erhebliche Nachteile, Ge-
fahren und Belästigungen für die Nachbarn
oder das Publikum mit sich bringen, z. B.
Schiesspulverfabriken, Anlagen zur Her-
stellung von explosiven und feuergefähr-
lichen Stoffen (schw. G. v. 19. November
1897, norweg. G. v. 10. und 19. Dezember
1898, dän. G. V. 1. April 1894), Düngpulver-
fabriken , Knochenmühlen , Leimsiedereien,
Gerbereien etc von einer vorgängigen be-
hördlichen Prüfung und Genehmigimg ab-
hängig. Die Anlage und Benutzung von
Schlächtereien sind auch aus ähnlichen
Gründen rechtlichen Beschränkungen unter-
worfen. In neuester Zeit sucht die Gesetz-
gebung aller dreier Länder das genannte
Ziel zu erreichen, indem die Gesetze die
Errichtimg öffentlicher Schlachthäuser be-
fördern und den einzelnen Gemeinden die
Einführung einer obligatorischen Fleischbe-
schau überlassen (schw. G. v. 22. Dezember
1897, norweg. G. v. 27. Juni 1892 und 26.
Jimi 1893, dän. G. v. 12. Januar 1858, 28.
März 1868).
Für den Betrieb einzelner Gewerbe sind
ausserdem besondere Einschränkungen und
Bedingungen gesetzlich vorgeschrieben. Hier
können nur die wichtigsten angefülirt werden.
Die Branntweinfabrikation ist in
mehreren Beziehungen streng reguliert
(schw. G. V. 13. Juli 1887, norw. G. v. 28.
Juni 1887, dän. G. v. 1. April 1887). Brannt-
weinbrennerei für den Hausbedarf ist in
allen skandinavischen Ländern verboten ; sie
kann in Schweden und in Norwegen nur
in grösserem Umfange betrieben werden. In
Norwegen ist die Branntweinfabrikation von
einer vorgängigen Meldung über die An-
legimg und den Beginn des Betriebes ab-
hängig. In Dänemark ist für die Anlegung
von Branntweinbrennereien Erwerb des
Bürgerrechts (in den Städten) oder eines
Nahrungsscheins (auf dem Lande) erforder-
lich; nur wenn jemand eine Brennerei in
Gewerbegesetzgebimg (Skandinavien)
489
geringerer Entfernung von einer Stadt als
7,5 Kilometer treiben will, ist eine besondere
königliche Genehmigung (»bevilling«) vorge-
schrieben. In Schweden steht die Brannt-
weinbrennerei denen, welche die QuaUfika-
tionen für den Fabrikbetrieb haben, imd auf
dem Lande mit wenigen Ausnahmen eben-
so jedem unbescholtenen Grundbesitzer und
Landwirte zu. In Schweden wie auch in
Norwegen sind jedoch gewisse Beamte vom
Betriebe der Branntweinfabrikation ausge-
schlossen. So oft bei einer schwedischen
Brennerei die Fabrikation begonnen wird,
ist vorgängige Meldung und behördliche Er-
laubnis nötig. Die Ausübung der Brannte
Weinfabrikation ist übrigens aus fiskalischen
Gründen einer sehr scharfen Kontrolle unter-
worfen. — Aus denselben Motiven sind die
Fabrikation von Zucker aus Run-
kelrüben in Schweden und in Dänemark
und die Malzbereitung in Norwegen
gewissen Beschränkungen und Kontrollen
unterstellt. Die Fabrikation von künst-
licher Butter (Margarine) ist sowohl in
Schweden (G. v. 1. Juli 1898) wie in Däne-
mark (G. V. 5. April 1880, v. 1. April 1890,
V. 22. März 1897) konzessionspflichtig. Die
Anlegung von Eisenwerken ist- im all-
gemeinen frei, in Norwegen wird jedoch
für die Anlegimg grösserer Eisenwerke
königliche Genehmigung erfordert (Bergges.
V. 14. Juli 1842 § 28). Der Betrieb einer
Buchdruckerei ist nicht nur von Mel-
dungen bei den Behörden abhängig, sondern
auch durch mehrere specieUe Vorschriften
reguliert. Der Betrieb des Apotheker-
gewerbes ist an zweierlei Bedingungen
geknüpft. Keine Apotheke kann angelegt
werden, ohne von dem Könige privilegiert
zu sein; die Privilegien sind jedoch nun-
mehr nur persönlich. Andererseits ist es
nur denjenigen, welche nach Prüfung ein
Zeugnis der Befähigung erhalten haben, er-
laubt, mit diesem Gewerbe sich zu be-
schäftigen. Einer solchen Approbation be-
dürfen auchAerzte, Hebammen, Seeschiffer,
Seesteuerleute, Maschinisten auf Seedampf-
schiffen etc. Die sogenannten Strassen-
gewerbe wie auch die Schornsteinfeger- und
Pfandleihergewerbe unterliegen in Bezug
auf Zulassung zum Gewerbebetrieb und der
Ausübung desselben einer mehr oder we-
niger strengen Regelung durch die Orts-
pohzeibehöiäe. Für eine öffentliche Yer-
anstaitung von Singspielen, theatralischen
Vorstellungen, Schaustellungen etc. ist eine
Sjrsönliche Konzession oder wenigstens eine
eldung nötig etc.
5. Der Gewerbebetrieb im Umher-
ziehen. In Norwegen ist es im allgemeinen
jedem norwegischen ünterthan erlaubt, die
Waren, welche er selbst produziert, auch im
umherziehen ausserhalb seines Wohnortes
feilzubieten und zu verkaufen. In Däne-
mark und in Schweden ist die Ausübung
des Hausierbetriebs weitgehenden Beschrän-
kungen unterworfen. Nm* der Verkehr mit
den Erzeugnissen der Landwirtschaft
uud der Hausarbeit steht auch im umher-
ziehen frei, üebrigens ist in Dänemark das
Feilbieten von Waren im umherziehen
(»bissekramhandel«) mit wenigen Ausnah-
men verboten (Reskr. v. 14. Februar 1741).
In Schweden kann nur ein schwedischer
Staatsbürger zum Gewerbebetriebe im Um-
heraiehen (»gärdfarihandel«) bereditigt wer-
den; einen Ausländer kann man nicht ein-
mal bei solchem Betriebe als Hilfsperson
verwenden. Wer ausserhalb seines Wohn-
ortes Gewerbebetrieb im Umherziehen aus-
üben will, bedarf dazu eines auf die Person
ausgestellten und für bestimmte Zeit,-
höchstens das Kalenderjahr, giltigen Legiti-
mationsscheines, welcher nur nach vor-
herigem Nachweis nicht nur der önbe-
scholtenheit und der Dispositionsfähigkeit,
sondern auch der Redlichkeit und Zuver-
lässigkeit des Ansuchers und seiner Ge-
hilfen ausgestellt werden kann und den
die Behörden, wenn genügende Gründe
dazu vorhanden sind, widerrufen kann. Für
den Marktverkehr bestehen besondere Be-
stimmungen.
6. Die Behörden und das Verfahren
in Gewerbesachen. Die vorgeschriebenen
Meldungen eines gewöhnlichen Gewerbes
sollen in den schwedischen Städten bei dem
Magistrate — in Stockholm bei dem Ober-
statthalteramte — auf dem Lande bei dem
Landeshauptmanne ( — »Konungens BefaU-
ningshafvande« — ) gemacht werden. Für
den Betrieb einiger Gewerbe sind jedoch
auch gemeindebehördhehe Genehmigungen
erforderlich. Und für die Anlegung und
den Betrieb einiger anderen Gewerbe hat
das Gesetz Meldung bei oder Ei-laubnis von
einer höheren Behörde vorgeschrieben. So
muss man die Anlegung und den Betrieb
eines Eisenwerkes bei dem Kommerzkolle-
gium, die Anlegung oder den Betrieb einer
Buchdruckerei, Branntweinbrennerei, Mar-
garinefabrik etc. bei dem Landeshauptmanne
melden. Der Ausländer bedarf stets einer
Erlaubnis des Königs zum Gewerbebetriebe.
In Norwegen und in Dänemark werden
das Bürgerrecht und die Nahrungsscheine
in den Städten von den Magistraten, auf
dem Lande von den Vögten (in Norwegen)
und den Polizeimeistern (in Dänemark) er-
teilt. In den nicht wenigen Fällen, wo eine
besondere Meldung oder Genehmigung zum
Gewerbebetriebe nötig ist, kann auch eine
andere Behörde als che erwähnte gesetzlich
berechtigt sein, die Meldungen anzunehmen
oder die Genehmigungen zu erteilen. Solche
Berechtigung steht nicht selten den Polizei-
490
Gewerbegesetzgebung (Skandinavien — Russland)
behörden zu, sie ist auch bisweilen höheren
Behörden, dem Amtmanne, dem Minister
oder dem Könige vorbehalten worden.
Gegen die Entscheidungen über die Be-
rechtigimg zum Gewerbebetriebe, die in
erster Instanz erteilt worden sind, ist zwai*
in allen drei Ländern Rekurs an die nächst-
vorgesetzte Behörde und in höchster Instanz
an die Regierung zulässig. Nur in Schweden
ist jedoch fftr solche administrativen Fragen
ein geordnetes Instanzsystem und eine
bestimmte Beschwerdeordnung vollständig
durchgefülirt.
Litteratnr: Für alle drei Länder: H,
BUnnhet^gf Den nordiska fÖrvallningsräUen
(Das nord. Verwaüungsrecht), S» 299 ff., £j0ben-
havn 18S7 — 89. — LundeU, Om handtverke-
skr an, näringsfrihet och arheteU Organisation
- (Von Zünften, Gewerhefreiheit und der Organi-
sation der Arbeit), Land 1846. — ^ür Schwe-
den: Th, RabenitiSf Handbok i Sveriges
gällande ßirvaltningsrätt (Handbuch des geltenden
schwed. Verwaltungsrechts), IIS. 208 ff., Upsala
1871. — Für Norwegen: D. SchniUerf
Fremstilling af den Norske Politilovgivning (Die
Darstellung der norweg. Polizeigesetzgebung),
Kristiania 1870, S. 292 ff., SS6ff., 488 ff. — Für
Dänemark: A, W» Scheel ^ Personretten
(Personenrecht), 2. A%isg., Kj0benhavn 1876, S.
583 ff. — «7. H, DeuntzeVy Kort Fremstilling
af den danske Näringsret (Kurze Darstellung
des dän. Gew erber echis) 2. Ausg., Kj0benhavn
1890. — Falbe~ Hansen und Will, Schar-
ling, Danmarks Statistik (Di£ Statistik Däne-
marks), JI S. U^ff.
Upsala. Hugo Bloniberg,
IX. Die Oewerbegesetzgebung in
Rnssland.
1. Begriflf. 2. Gewerbefreiheit. 3. Aus-
nahmen: Juden und Aktiengesellschaften. 4.
Gewerbliche Anlagen. 5. Persönliche Beschrän-
kungen der Befugnis zum Gewerbebetrieb. 6.
Beschränkungen der Ausübung der Gewerbe.
7. Der Branntweinhandel. 8. Märkte und Bör-
sen. 9. Zünfte. 10. Behörden für Handel und
Gewerbe.
1. Begriff. Die russischen Gesetze be-
dienen sich des russischen Wortes für Ge-
werbe, um die Fabrikinduslrie und das
Handwerk zusammenzufassen ; soll auch von
Handel und Schiffahrt die Rede sein, so
werden die russischen Worte für Handel
und Gewerbe nebeneinander gestellt.
Im Anschluss an den Sprachgebrauch der
deutschen Rechtswissenschaft ist hier in-
dessen der Ausdruck Gewerbe weiter ge-
fasst und wird hier unter russischem Ge-
werberecht derjenige Teil des russi-
schen Verwaltungsrechts vorstanden,
der den Betrieb von Handel und Ge-
werbe betrifft.
Nicht erstreckt sich das Gewerberecht
auf die Land^virtschaft und ihre Neben-
zweige, nicht auf den Bergbau, auf die
Eisenbahnen, auf die Ausübimg der Ktuiste
und die Pflege der Wissenschaften. In der
folgenden Darstellung werden ferner über-
gangen die Rechtsnormen über die Staats-
gewerbe und das Spielkartenmonopol, denn
sie gehören ins Finanzrecht; über das Me-
dizinalwesen und die Apotheken, denn sie
gehören in das Recht der Gesundheitspflege ;
über die Rechtsverhältnisse der gewerb-
lichen Arbeiter, denn diese sind bereits im
Art. Arbeiterschutzgesetzgebung
in Russland dargestellt (ä. oben Bd. I
S. 571 ff.); und über die Pressgewerbe und
den Gewerbebetrieb derjenigen Personen,
die aus politischen Gründen unter Polizei-
aufsicht gestellt worden sind, denn diese
Rechtssätze fallen in das Gebiet der Sicher-
heitspolizei.
2. Gewerbefreiheit In Russland be-
steht nicht niu* heute Gewerbefreiheit,
sondern hat auch immer Gewerbefreiheit
bestanden. Das Zunftwesen des Mittelalters
ist Russland fremd geblieben, und die Hand-
werkerzünfte und Kaufmannsgilden, welche
von Peter dem Grossen und Katharina II.
ins Leben gerufen wurdeu, haben eine Be-
deutung für Handel und Gewerbe nie be-
sessen und sich nur als ständische Selbst-
verwaltungskörper der Armenpflege erhalten.
Nicht übersehen darf man freilich, dass die
grosse Masse des russischen Volkes bis zum
19. Februar 1861 leibeigen war; der Leib-
eigene bedurfte natürlich zum Gewerbebe-
trieb der Erlaubnis seines Herrn. Aber er-
hielt er diese Erlaubnis, so konnte er so
gut wie jeder Freie den Beruf des Hand-
werkers, des Fabrikanten, des Kaufmanns
ergreifen, und wenn er als Unfreier auch
die öffentlichrechtlichen Privilegien des
Kaufmanns nicht genoss, also z. B. nicht
von der Körperstrafe oder von der Wehr-
pflicht eximiert war, — das Recht des Ge-
werbebetriebes war ihm nicht verkümmert.
Und ebenso un verwehrt war der Gewerbe-
betrieb auch Ausländern. — In der Reform-
ära Kaiser Alexanders II. ward unter
anderem auch die Gewerbesteuer umge-
staltet. Das neue Steuergesetz vom 1. Januar
1863 enthielt im Art. 21 die Regel, dass
die Handels- und Gewerbescheine Personen
beiderlei Geschlechts und zwar sowohl nissi-
schon Unterthanen jeden Standes als auch.
Ausländern gegeben werden. Diese Regel
war aber nicht ausnahmefrei, den Juden
z. B. blieb die Gewerbefreiheit nach wie vor
vei-sagt; und vor allem, sie war nicht neu,
die Gewerbefreiheit bestand schon vor 1863.
Anders in den baltischen Provinzen. Als
Livland noch zum deutschen Reich gehörte,
thaten sich in seinen Städten die deutschen
Genossen in Handwerk und Handel nach
der Weise ihrer Landsleute zu Gilden und
Gewerbegesetzgebung (Russland)
491
Zünften zusammen, und erst unter russischer
Herrschaft büssten diese Korporationen ihre
wirtschaftlichen Privilegien ein, allmählich,
Schritt ftlr Schritt, bis endlich das G. v. 4.
Juli 1866 den schon vielfach durchlöcherten
Zunftzwang völlig beiseite warf.
3. Ausnahmen : Juden nnd Aktienge-
sellschalten. Die Begel ist, dass jeder-
mann die Befugnis hat, Handel und Ge-
werbe zu treiben.
Yon dieser Regel giebt es zwei wichtige
Ausnahmen ; die erste derselben betrifft die
Juden, die zweite die Aktiengesellschaften.
1. Juden gemessen in Russland weder
IVeizügigkeit noch Gewerbefreiheit. Ein
Jude ist nach russischem Recht ein Bekenner
des jüdischen Glaubens ; tritt ein Jude zum
Christentum über, so ist er rechtlich kein
Jude mehr; der Religionswechsel befreit
also von den Beschränkungen der Juden-
gesetze, aber auch nur der Religionswechsel.
Die Rechtssätze über die Befugnis der
Juden zum Gewerbebetriebe sind verschieden,
je nachdem es sich um Ausländer oder um
nissische ünterthanen handelt und je nach-
dem die letzleren im Judengebiet wohnen
oder ausserhalb desselben.
a) Juden, welche russische ünterthanen
sind, geniessen Gewerbefreiheit und Frei-
ziigigkeit innerhalb eines bestimmten Teils
des nissischen Staatsgebietes; es sind die
Gouvernements Witebsk, Wilna, Kowno,
Grodno, Minsk, Wolhynien, Podolien, Bessara-
bien, Mohilew, Poltawa, ischemigow, Jeka-
terinoslaw, Cherson, Taurien und Kiew, mit
Ausnahme der Stadt Kiew.
b) Ausserhalb dieses Judengebietes dürfen
Juden in der Regel Handel und Gewerbe
nicht treiben.
Indessen erstreckt sich diese Regel nicht
auf Juden, die bereits fünf Jahre innerhalb
des Judengebietes einen Grosshandel be-
trieben haben, diese geniessen Gewerbefrei-
heit auch ausserhalb des Judengebietes.
Und eine zweite Ausnahme ist diese, dass
alle Juden auch ausserhalb des Judenge-
bietes ein Handwerk treiben dürfen, wenn
sie dasselbe in einer Zunft erlernt oder ihre
Befähigung auf andere Weise dargethan
haben.
Von dieser zweiten Ausnahme ist neuer-
dings, durch G. v. 28. März 1891, wieder
eine Ausnahme gemacht worden; in das
Gouvernement Moskau dürfen auch jüdische
Handwerker nicht mehr übersiedeln, und
selbst diejenigen jüdischen Handwerker, die
auf Grund des früheren Rechts im Gouver-
nement Moskau ansässig geworden sind und
hier ihr Gewerbe treiben, sind zwangsweise
in das Judengebiet zurückzubefördern.
c) Juden, die nicht russische ünterthanen
sind, dürfen in Russland nur dann Handel
und Gewerbe treiben, wenn sie bereits in
ihrer Heimat eine angesehene gesellschaft-
liche Stellung errungen und einen bedeuten-
den Umsatz erzielt haben, und auch dann
nur mit der Erlaubnis dreier Minister: des
Finanzministers, des Ministers des Innern
und des Ministers des Auswärtigen.
2. Aktiengesellschaften sind eben-
falls nicht ohne weiteres befugt, in Russland
Handel und Gewerbe zu treiben. Russische
Aktiengesellschaften haben diese Befugnis
nur dann, wenn sie ihnen in ihrem Statut
gegeben ist, und nur in dem Masse, als
dies im Statut geschehen ist; das Statut
aber muss vom Kaiser bestätigt sein. Das-
selbe gut nun auch für ausländische Aktien-
gesellschaften, auch diese können, nach dem
G. V. 9. November 1887, auf russischem
Staatsgebiet in der Regel nur dann Handel
und Gewerbe treiben, wenn und soweit
ihnen die Befugnis durch fein Statut einge-
räumt ist, das der Kaiser von Russland be-
stätigt hat. und dies soll selbst für die
Aktiengesellschaften derjenigen Staaten
gelten, denen Russland versprochen hat,
ihren Aktiengesellschaften dieselben Rechte
zu gewähren, welche diese den russischen
Aktiengesellschaften zugestehen i). — Nur
diese Ausnahme giebt es: wenn eine aus-
ländische Aktiengesellschaft ihre Thätigkeit
in Russland darauf beschränkt, dass sie Er-
zeugnisse verkauft, welche im Auslande
hergestellt worden sind, oder wenn sie
Reederei treibt, so bedarf sie nach dem G.
V. 8. Juli 1888 eines russischen Statuts und
einer Erlaubnis des russischen Kaisers
nicht. —
4. Gewerbliche Anlagen. 1. Das
russische Recht unterscheidet gewerbliche
Anlagen, die unschädlich sind, und Fabriken,
die der Reinheit der Luft und des Wassers
schädlich sind, a) Gewerbliche Anlagen,
welche unschädlich sind, können überall
errichtet werden. In Städten ist vorher die
Erlaubnis des Gemeindevorstandes einzu-
holen; diese Erlaubnis fäUt in der Regel
mit dem Baukonsens zusammen, der eben-
falls von dem Gemeindevorstand als der
Baupolizeibehörde erteilt wird, b) Fabriken,
die der Reinheit der Luft und des Wassers
schädlich sind, dürfen in Städten und an
Flüssen oberhalb der Städte gar nicht
errichtet werden.
2. Man sollte meinen, dass die Gross-
industrie liierdurch auf das flache Land ge-
drängt werde ; dem ist aber nicht so ; jenes
Verbot der schädlichen Fabriken wird that-
*) Russisches G. v. 8. November 1865 über
die belgischen Aktiengesellschaften; russische
Deklaration vom 16./28. Januar 1867 zu Gunsten
der österreichischen Aktiengesellschaften ; Rund-
schreiben des russischen Finanzministers vom
13. November 1887, Nr. 10409.
492
Gewerbegesetzgebung (Russland)
sächlich dadurch beseitigt, dass der Qt)uver-
neur die Kompetenz besitzt, die Errichtung
gewerblicher Anlagen, welche nicht un-
schädlich sind, in einer Stadt und in der
Umgebung einer Stadt zu erlauben, a) Was
für gewerbliche Anlagen als nicht unschäd-
lich gelten sollen, wird alljährlich durch
eine Verordnung des Ministers des Innern
festgestellt, b) Für das Verfahren giebt es
eine Rechtsordnung nicht. Nur dies ist dem
Gouverneur vorgeschrieben, dass er ein Gut-
achten des Stadtgemeindevorstandes einholen
muss, aber auch diese Pflicht beruht nicht
auf Gesetz, sondern nur auf einer Ver-
ordnung des Ministers des Innern. Nicht
verpflichtet ist der Gouverneur, das geplante
Unternehmen öffentlich bekannt zu machen
und Einwände interessierter Personen ent-
gegenzunehmen, doch könnte er beides thun,
während ein Streitverfahren über solche
Einwände oder gar eine Beweisaufnahme
durch die GeschÖtsoi-dnung der Gouverne-
mentsbehörden ausgeschlossen ist. c) Die
russische Gewerbeordnung enthält allerdings
den Rechtssatz, dass der Gouverneur (Üe
Erlaubnis ziu: Errichtung einer gewerblichen
Anlage geben solle, wenn die Anlage den
hierüber erlassenen Regeln entspreche. In-
dessen giebt es nur sehr wenig Regeln über
die Errichtung gewerblicher Anlagen, so
dass der Gouverneur fast jede Anlage ge-
nehmigen müsste, wenn ihm nicht das
generelle Verbot schädlicher Fabriken die
Handhabe geben würde, jede Fabrikkon-
zession so lange zu verweigern, als er die
Anlage für schädlich hält, d) Verweigert
der Gouverneur die Erlaubnis, so steht dem
Abgewiesenen die Beschwerde beim 1. De-
partement des Senats zu Gebote, für die
mdesseu ein mündliches oder öffentliches
Streitverfahren ebenfalls nicht Rechtens ist.
e) Durch die Erlaubnis des Gouverneurs
wird der Baukonsens nicht ersetzt und
werden die Nachbarrechte weder aufge-
hoben noch auch nur abgeschwächt.
3. Besondere Rechtsnormen regeln die
Aufstellung von Dampfkesseln und for-
dern, dass dieselben vor Beginn des Ge-
brauchs amtlich geprüft werden sowie dass
diese Prüfungen während des Betriebes
wiederholt werden.
6. Persönliche Beschränknngeii der
Befugnis zuni Gewerbebetrieb. 1.
Schiffer. Wer ein Schiff führen oder
steuern will, muss seine Befähigung in einer
Prüfung nachweisen.
Das Lotsengewerbe ist dagegen in der
Regel frei, und nur dort, wo eine Lotsen-
innung durch ihr Statut ein Lotsenmonopol
erhalten hat, darf sonst niemand im Lotsen-
wasser lotsen.
2. Pfandleiher. Wer gewerbsmässig
Darlehen auf Pfänder erteilen wül, bedarf
dazu der Erlaubnis des Gouverneurs, und
der Gouverneur soU die Erlaubnis nur dem-
jenigen erteilen, den er für sittlich zuver-
lässig hält. Pfandleiher haben ausserdem
ein Unterpfand bei der Staatskasse zu hinter-
legen, als Sicherheit für die Vollstreckung
von Geldstrafen ; ihre Geschäfts- und Buch-
führung ist eingehend geregelt und wird
amtlich revidiert.
3. Vermittler. Wer die Vermittelung
von Kaufverträgen, von Darlehen und von
Miet- und Dienstverträgen gewerbsmässig
betreibt, bedarf der Erlaubnis des Ministers
des Innern. Wer bloss Dienstverträge ge-
werbsmässig vermitteln will, bedarf der Er-
laubnis des Gouverneurs. In beiden Fällen
muss der Unternehmer als Sicherheit für
seine Gläubiger ein Unterpfand bei der
Staatskasse hinterlegen.
4. Dienstmanninstitute. Wer ein
Dienstmanninstitut halten wUl, bedarf dazu
der Erlaubnis des Ministers des Innern und
muss als Sicherheit für seine Gläubiger eia
Unterpfand bei der Staatskasse hinterlegen.
5. Branntweinhändler, siehe unten
sub 7.
6. Beschränknngen der Ausübung
der Gewerbe. 1. Beschränkungen
im Abschlüsse von Rechtsgeschäf-
ten, a) Lotterieen dürfen nur zur Unter-
stützung von Armen und auch dann nur
mit Erlaubnis des Ministers des Innern ver-
anstaltet werden, b) Bestimmte Bankge-
schäfte darf der Finanzminister nachdem
G. V. 26. Juni 1889 einzelnen Bankiers ver-
bieten und zwar die Abrede, dass der Kauf-
preis füi* BiDete der inneren Prämienanleihe
in Raten gezahlt werde, die Weiterver-
pfändung von Wertpapieren für eine For-
derung, die höher ist als die eigene, dm'ch
das Faustpfand gesicherte Forderung, sogar
den Empfang von Depositen und Anlagen,
c) Sachen, die aus Gold oder Silber be-
stehen, dürfen in Russland nur verkauft
werden, nachdem ihr Feingehalt amtlich er-
mittelt und durch einen Stempel angegebeu
worden ; gleichgiltig ist dabei, ob die Sachen
im Inlande oder im Auslande hergestellt
worden sind. Auch darf der Feingehalt
nicht unter ein gesetzliches Minimum sinken.
2. Beschränkungen in der Tech-
nik des Gewerbebetriebes. In den
Städten kann die Gemeindevertretimg, nac^i
Verständigung mit der Polizei und mit Ge-
nehmigung der Aufsichtsbehörde, Verord-
nungen, also Gebote und Verbote erlassen,
um Krankheiten vorzubeugen, das Wasser
gegen Verunreinigung zu schützen, um die
Feuersgefahr abzuwehren und zu solcheu
Zwecken mehr. Die gleiche Befugnis be-
sitzt für das flache Land der Kommunal-
verband des Gouvernements mit Zustimmung
der Aufsichtsbehörde; ja dieser kann sogar
Gewerbegesetzgebung (Russland)
493
verordnen, was bei der Errichtung und dem
Betriebe gewerblicher Anlagen in sanitärer
Hinsicht zu beobachten sei. Dieses Ver-
ordnungsrecht wäre nicht ungeeignet zur
Abwehr der Gefahren, die der Betrieb
mancher Gewerbe den Arbeitern wie den
Umwohnern bringt, wenn nur die Strafe
filr die üebertretung der Gebote eine höhere
wäre; die Strafe ist nämlich in einem
Strafrahmen von 1 — 50 Rubeln zu bestimmen.
7. Der Branntweinhandel. Als in
Russland im Jahre 1863 das Branntwein-
monopol aufgehoben ward, wurden die
Branntweinfabrikation und der Branntwein-
handel nicht nur im Interesse der Staats-
finanzen (vergl. d. Art. Branntweinbe-
steuerung oben Bd. 11, S. 1084) mit hohen
Steuern belegt, sondern auch vielen Be-
schränkungen unterworfen, um die Trunk-
sucht zu bekämpfen. Insbesondere hatte
das G. V. 14. Mai 1886 für den Kleinhandel
mit Branntwein sehr einengende Bestim-
mungen getroffen. Er war von obrigkeit-
licher Erlaubnis abhängig, die den Personen,
welche wegen eines Verbrechens oder Ver-
gehens oder wegen bestimmter Uebertretim-
gen verurteilt waren, versagt werden musste,
anderen Personen nach Erachten der Be-
hörde versagt werden konnte. Die Behörde
konnte die Zahl der Branntweinschenken
festsetzen, die Landgemeinde den Klein-
handel mit Branntwein im Bezirk des Bauer-
landes durch Gemeindebeschluss gänzlich
verbieten. Doch hat dieses Gesetz, insoweit
das Monopol des Verkaufs alkoholischer Ge-
tränke (s. obenBd.11, S.1084) eingeführt worden
ist, seine Geltung verloren. Das G. v. 6. Juni
1894, das gegenwärtig (Februar 1900) in 35
Gouvernements in Geltung getreten ist, hat
ein Staatsmonopol des Verkaufs alkoholischer
Getränke begründet, und der Staat übt dies
Monopol aus, indem er selbst öffentliche
Verkaufsstellen errichtet oder auch indem
er -die Ausübung des Monopols an Privat-
personen äbertr%t, die entweder auf Rech-
nung des Staats als dessen Kommissionäre
den Branntweinhandel zu betreiben haben
oder die gegen eine hohe Abgabe eine Kon-
zession zum Branntweinhandel erhalten.
Alle Privathändler sind verpflichtet, die
alkoholischen Getränke an den staatlichen
Verkaufsstellen zu kaufen.
um die Einführung des Handelsmonopols
in den ehemals zu Polen gehörigen Gou-
vernements zu ermöglichen, ist durch das
G. V. 11. März 1896 Kap. 8 das dort noch
bestehende Propinationsrecht (vergl. oben
Bd. n, S. 1077) gegen Entschädigung für
ablösbar erklärt worden.
8. Märkte und Börsen. 1. Die Er-
öffnung neuer Märkte (Wochen- und Jahr-
märkte), die Schliessung und die Verlegung von
Märkten wird verfügt in den Städten von der
Gemeindevertretung und auf dem Lande von
der Kommunal Vertretung des Gouvernements.
Marktordnungen werden in den Städten
erlassen von der Gemeindevertretung in
üebereinstimmung mit der Polizei und mit
Genehmigimg der Aufsichtsbehörde.
Für den berühmten Jahrmarkt von Nishni-
Nowgorod besteht eine besondere Behörde,
das Jahrmarktskomitee, und gelten besondere
Gesetze.
2. Börse heisst auch im Russischen der
Ort, an dem sich Kaufleute regelmässig ver-
sammeln, um Handelsgeschäfte zu schliessen
dann heisst auch die Versammlung selbst
Börse. Nach russischem Rechte bilden nun
die die Börse besuchenden Kaufleute den
Börsenverein, eine Korporation mit Rechts-
fähigkeit, die eines vom Kaiser bestätigten
Statutes bedarf, die die Angelegenheiten der
Börse verwaltet und die zuweilen Abgaben
von Waren und Schiffen erheben darf, um
den Ertrag zur Förderung von Handel und
Schiffahrt zu verwenden.
9. Zünfte. 1. Es besteht die Regel, dass
in den grösseren Städten jeder Handwerker
zu einer Zunft gehören soll. Diese Regel
erstreckt sich indessen auf die baltischen
Provinzen nicht. Sie gilt ferner nur für
die grösseren Städte, wälirend gerade in
den Dörfern Mittehnisslands Handwerk und
Hausgewerbe aufs regste betrieben werden.
Aber auch dort, wo sie gilt, ist die Regel
nicht mehr ein Rechtssatz, sondern nur noch
ein Wunsch, denn ihi* folgt sogleich die
Vorschrift, dass trotzdem niemand verhindert
sei, sich seinen Lebensunterhalt durch ein
Handwerk zu verdienen.
2. Die Zünfte sind Korporationen der
engeren Berufsgenossen unter den Hand-
werkern, ausgestattet mit Rechtsfähigkeit
auf dem Gebiete des Vermögensrechtes, ja
selbst befugt, ihre Mitglieder zu besteuern,
und vornehmlich berufen zur Armenpflege,
zur Fürsorge für hilfsbedürftige Zunftgenossen
und deren Familien.
3. Die zünftigen Handwerker einer Stadt
bilden ausserdem alle zusammen eine Kor-
poration, die ebenfalls juristische Person ist,
ebenfalls das Besteuenmgsrecht hat und
ebenfalls vornehmlich der Armenpflege dient.
Das Hauptorgan dieser Korporation, das
allgemeine Handwerkeramt, hat auch eine
geringfügige Gerichtsbarkeit für Uebertre-
tungen von Normen der Gewerbepolizei und
für Streitigkeiten aus Verdingungsverträgen
der Handwerker.
4. Gewerberechtlich ist die Zunft dadurch
bevorzugt, dass nur in der Zunft Meister,
Gesellen und Lehrlinge unterschieden wer-
den, dass die Zunft die Würde eines Meisters
und eines Gesellen erteilt und dass nur ein
zünftiger Meister Gesellen und Lehrlinge
lialten darf, — wodurch indessen andere
494
Gewerbegesetzgebung (Russland) — Gewerbeinspektion
Unternehmer nicht verhindert werden, gross-
jährige und minderjährige Arbeiter in Dienst
zu nehmen.
10. Behörden für Handel und Ge-
werbe. 1. Die CentraJbehörde für die För-
derung von Handel und Gewerbe ist das
Finanzministerium; bearbeitet werden diese
Sachen im Departement für Handel und
Manufakturen. Als besondere Abteilung
dieses Departements ist durch G. v. 7. Juni
1899 eine Sektion für Fabrikwesen und
Montanindustrie gebildet worden. Dem Fi-
nanzminister stehen als beratende Behörden
zur Seite ein Handels- und Manufakturrat
in Petersburg und eine Abteilung desselben
in Moskau, beide gebüdet aus Technikern,
Kaufleuten und Industriellen, die der Kaiser
auf Vorschlag des Finanzministers ernennt
2. Die Funktionen von Handelskammern
werden teils von Börsenkomitees ^eübt, teüs
von Handel- und Manufakturkomitees.
a) In den grösseren Handelsstädten haben
die Organe der Börsen vereine, die Börsen-
komitees, dem Finanzminister über die Lage
des Handels Bericht zu erstatten ; sie müssen
ihm Gutachten geben imd dürfen ihm Vor-
schläge machen. Auch haben sie die Han-
delsusancen zu sammeln.
b) Aehnlich ist die Aufgabe der Handels-
und Manufakturkomitees, die in Handels-
und Industriestädten von der Gemeindever-
tretimg oder auch von der Kaufmannschaft
gebüdet werden können.
3. Ueber die Fabrikinspektoren und die
Behörden für Fabrikangelegenheiten s. im
Art. Arbeiterschutzgesetzgebung
oben Bd. I S. 580 ff.
Quellen* Die rusHtche Gewerbeordnung enthält
nur den kleineren Teil des oben dargestellten
Rechts ; der grössere ßndet sich in anderen Ge-
setzen. Berücksichtigt sind namentlich folgende
Stellen: Geicerbeordnung, Cod. 1887, Art. 2, 10,
11, 12, 14—27, 68—70, 75, 280, 285, 288, 300,
322—324, 332, 345, 359, 387, 392. — Handels-
Ordnung, Cod. 1887, Art. 53, Anm. Beilage, Art.
195, 318, 591—604, 638—650. — Handels- und
Geteerbesteuergesetz, Cod. 1886, Art. 20. —
Cirilgesetzbuch , Cod. 1887, Art. 214O, 2196. —
Gesetz über Präventivpolizei, Cod. 1887, Art. 251,
253, 258, 268, 271, 272. — Slädtcordnung, Cod.
V. 1886, Art. 2, 103, II4, 115. — Probierge^etz,
Cod. V. 1887, Art. 489 u. 503. — Passgesetz,
Cod. V. 1887, AH. 11, 12, 157 Anm. 3. — G. v.
14' V' 1885 über den Branntireinhandel , II,
VII, 3, 4, 6, AH. 4, 30, 31, 33, 53, 58—62. —
(r. V. 12. VI. 1890 über die Landschaftsinsti-
tutionen Art. 63, Ziffer 5, AH. 108. — G. v.
6. V. 1894 U7id 11. III. 1896. - Eine Sammlung
der gesetzlichen Bestimmungen enthält die Fabrik-
gesetzgebung des russischen Staates, übersetzt und
erläutert nach der Ausgabe der Gewerbeordnung,
Bd. XI, Th. II des Codex der Reichsgesetze,
2. Aufl., Riga 1895.
Otto Muelier.
Gewerbeinspektion.
1. Yor£^eschichte. 2. Die Entwickelnng
eines besonderen Fabrikinspektorates in Gross-
britannien. 3. Die allgemeine Entwickelang in
den übrifi^en Ländern. 4. Die deutschen Bundes-
staaten bis zum Jahre 1891. 5. Die Eeformen
in Deutschland seit 1891.
1. Vorgeschichte. Die heutige Ge-
werbeinspektion ist aus der Fabrik-
inspektion erwachsen. Ihre ersten An-
fänge reichen bis zu dem Beginn des Jalir-
hunderts zurück. Schon das erste englische
Schutzgesetz zu Gunsten der »Fabnklehr-
linge« (Fabrikkinder) von 1802 sah eine
besondere Ausführungskontrolle durch »W-
sitors« vor, Ehrenbeamte, welche die Frie-
densrichter auf ihren Mittsommersitzungen
ernennen sollten, je 2 (1 Friedensrichter und
1 Geistlichen) für das ganze Gebiet, in fa-
brikreichen Gegenden für kleinere Bezirke.
Die Einrichtimg bewährte sich aber nicht.
Die Aufgaben und Befugnisse der »visitors«
waren nur beschränkt; sie erschöpften sich
nahezu in gelegentlichen Besuchen der Fa-
briken und Berichten an die Vierteljahi's-
sitzungen; eine eigentliche Initiative und
Exekutive fehlte den »visitors«; auch galt
die Kontrolle ihrer Freunde und Nach-
barn ihnen bald als »eine recht ge-
hässige Aufgabe« ^), die sie nur wider-
willig und unzureichend wahrnahmen. Schon
nach 2 Jahren unterblieb deshalb üire Er-
nennung überhaupt. Die Hoffnung, durch
Erhöhung der Sti-afen und Gewährung hoher
Denunziantenanteüe den üebertretungen
dos Gesetzes mit Erfolg entgegenzuwirken,
blieb gleichfalls unerfüllt. Auch anderswo
misslangen Versuche einer ehrenamtlichen
Einrichtung des Aufsichtsdienstes; so in
Preussen in den 40 er Jahren durch verein-
zelte »Ix)kalkommissionen«, in denen unter
anderen auch medizinische Sachverständige
mitzuwirken hatten, und durch die kolle-
gialen, nach der V. v. 9. Febniar 1849 zu
bildenden, bekanntlich überliaupt ziemlich
unwirksam gebliebenen Gewerberäte.
Die Aufsicht durch die gewöhnlichen
Polizeibehörden aber mnsste auch soweit,
als diese aus Berufs- und nicht aus Ehren-
beamten bestanden, um so unziüänglicher
werden, je mehr die Fabrikthäti^keit sich
ausbreitete und je mehr allgemeines tech-
nisches wie soziales Verständnis ihi'e Be-
obachtung erforderte. So hat sich all-
raählich fast in allen Industriestaaten eine
besondere Klasse besoldeter Staatsbeamten
gebildet, die urspninglich lediglich Fabrik-
insi)ektoren waren, aber mit der grosseren
oder geringeren Ausdehnung der Arbeiter-
schutzgesetzgobung auf Werkstätten und
Hausindustrie und dem immer weiteren
Ausbau ihrer Befugnisse» in vielen Ländern
») S. Weyer a. a. 0. S. 7.
Gewerbeinspektioii
495
mehr oder weniger zu Aufsichtsbeamten für
die soziale Seite der gesamten Gewerbe-
thätigkeit geworden sind.
2. Die Entwickelnng eines besonde-
ren Fabrikinspektorates in G'rossbri-
tannien. Sir Bobert Peel hatte schon 1815
die Ernennung geeigneter, besoldeter Fabrik-
inspektoren an Stelle der früheren »visitors«
vorgeschlagen. Der Widerstand der In-
teressenten gegen eine wirksame Fabrik-
gesetzgebung verhinderte jedoch, die Be-
stellung solcher Beamten noch lange Zeit.
Erst nach dem »Althorpschen« Fabrikgesetz
vom Jahre 1833 wurden (zunächst 4) Fa-
brikinspektoren, je einer für einen bestimm-
ten Teil des gesamtbritischen Gebietes, von
Staats wegen berufen und (mit je 1000 £)
besoldet. Zu ihrer Unterstützung konnten
sie Hilfsbeamte (millwardens, superiutendents)
erhalten. Sie durften die Fabriken zu jeder
Betriebszeit, ebenso die etwa vorhandene
Fabrikschule, betreten, die darin beschäftigten
Personen untersuclien, sich nach deren Be-
finden, Beschäftigung und Erziehung erkun-
digen imd einschlägige Informationen von den
Besitzern erfordern. Ihre eigene polizeiliche
und richterliche Zuständigkeit beschränkte
sich anfangs ziemlich ausschliesslich auf die
Ausführung der Fabrikgesetze zum Schutze
der Fabrikkinder und später auch der Fa-
brikai'beiterinnen ; sie waren in dieser Hin-
sicht den Friedensrichtern gleichgeordnet.
Weitgehende Befugnisse auf dem Gebiete
der allgemeinen Hygieine und Unfallver-
hütung haben sich erst später, namentlich
durch die Gesetzgebung der 90 er Jahre
herausgebildet. (Ygl. darüber d. Art. Ar-
beit er Schutzgesetzgebung in Gross-
britannien oben Bd. I S. 528ff.) In-
dessen haben die englischen Fabrikinspek-
toren auch auf diesem Gebiete im Wege
gütlicher Yorstellungen von jeher mit Eifer
und Erfolg gewirkt. Von Anbeginn waren
sie femer ein Organ, welches der Gentral-
behörde teils periodisch, teils von Fall zu
FaU über die sozialen Zustände im Fabrik-
wesen zu berichten und dadurch entspre-
chende Massregeln der Gesetzgebung und
Verwaltung vorzubereiten, zugleich aber auch
die öffentliche Meinung auf diesem Gebiete
zu interessieren imd aufzuklären hatte. —
Trotz ihrer geringen Anzahl, ihrer in einem
parlamentarisch regierten Lande doppelt
fühlbaren Abhängigkeit von der Centralbe-
hörde und damit von der jeweiligen Parla-
mentsmehrheit, anfänglich auch gegenüber
einem grossen Uebelwollen weiter Unter-
nehmerkreise und häufigen, teilweise raffi-
nierten Versuchen zur Umgehung der Schutz-
gesetze ^) gelang es den Inspektoren allmäh-
*) Vgl. darüber namentlich die Darstellung
bei Weyer a. a. 0. S. 44 ff.
lieh, ihre Aufgabe in befriedigender Weise zu
erfüllen und damit auch den Nachwuchs der
englischen Industriearbeiter vor übermässiger
Ausbeutung und körperlicher wie sittlicher
Entartung zu bewahren. So konnte das
ganze Institut in seinen Grundzügen für
die meisten anderen Industriestaaten vor-
bildlich werden. Seine Aufgaben dehnten
sich in England mit dem Kreise der ge-
schützten Personen und der »regulierten«
Betriebszweige immer weiter aus, bis mit
der allmählichen Hineinziehung der nicht
fabrikartigen Werkstätten in die Schutzge-
setze thatsäehlich aus »Fabrikinspektoren«
»Gewerbeinspektoren« wurden, im Jahre
1878 erfolgte eine Neugestaltung. Seitdem
steht imter dem Staatssekretär des Innern
zunächst ein »Erster Inspektor der Fabriken
und Werkstätten«, in dessen Händen die
Oberleitung des ganzen Dienstes liegt;
unter diesem arbeiten Oberinspektoren zur
Kontrollierung der »inspectors«, »junior in-
spectors« und »inspectors assistants«. Der
letzte Bericht des »Chief Inspector« (für
1898) weist unter diesem selbst 7 »superin-
tending inspectors« (einschliesslich 1 medi-
cal inspector), 46 »inspectors«, 26 »junior
inspectors«, 3 »examiners of particulars«
für gewisse Textilgewerbe und 25 »inspectors
assistants«, ausserdem 6 weibliche Inspek-
toren, zusammen 114 Beamte nach.
3. Die allgemeine Entwickelnng in
den übrigen Ländern. Im allgemeinen
hat man das englische Yorbild insofern fest-
gehalten, als überall zu Fabrik- oder Ge-
werbeinspektoren nicht Ehrenbeamte, son-
dern staatlich besoldete, von den Beteiligten
unabhängige Berufsbeamte bestellt werden
und zwar in den leitenden Stellungen nur
gebildete, kenntnisreiche, nach ihrer ganzen
Persönlichkeit zur Gewinnung einer Ver-
trauensstellung zwischen Arbeitgebern und
Arbeitern befähigte Personen. Im übrigen
ist die Ausgestaltung in den einzelnen
Ländern sehr verschieden. Internationale
Vergleichungen hinsichtlich der Zahl der
Gewerbeinspektoren und dergleichen sind
daher misslich, da es — abgesehen von der
gewerblichen Entwickelnng der einzelnen
Länder — dabei auf die grössere oder ge-
ringere Intensität der Schutzgesetzgebung,
ihren Bereich (Fabriken oder auch Werk-
stätten, Hausindustrie und Handel), endlich
auch darauf ankommt, ob die Inspektoren
die Aufsicht für alle oder nur einen Teil
der gewerblichen Anlagen (Fabriken imd der-
gleichen) wahrzunehmen haben oder noch
durch andere Organe (ordentlichen Polizei-
behörden, Gesundheitskommissionen u. s. w.)
unterstützt werden und ob sie umgekehrt
noch mit anderen Aufgaben als der Aufsicht
über die Ausführung der Arbeiterschutzge-
setze (Genehmigung und Kevision lästiger
496
Gewerbeinspektioa
oder gefährlicher Anlagen, Darapfkesselprü-
fung und dergleichen) belastet sind. Auch
die Grundsätze über die Auswahl der Be-
amten sind in den einzelaen Ländern sehr
verschieden. Ein idealer Gewerbeinspektor
müsste — von seinen persönlichen Eigen-
schaften abgesehen — Techniker, Sozial-
ökonom und Arzt zugleich sein, ausserdem
über eine gründliche Kenntnis des Gewerbe-
nnd Arbeiterrechts vei-fügen. Ohne Zweifel
ist aber die technische Befähigimg die Haupt-
sache und zwar auch dort, wo der Gewerbe-
inspektor nicht zugleich technische Neben-
aufgaben wahrzunehmen hat ; denn sie ist für
die Erkenntnis der Gesundheits- und Unfall-
gefahr, überhaupt der ganzen Eigenart einer
bestimmten gewerblichen Arbeitsthätigkeit,
vor allem aber füi* die Schaffimg geeigneter
technischer Vorkehrungen zur Vorbeugung
und Abhilfe in allen Einzelfällen unent-
behrlich, während die Heranziehung anderer
Sachverständiger sehr wohl auf allgemeine
Anordnimgen oder besondere Fälle beschränkt
werden kann. Zur Zeit sind daher in den
meisten Industrieländern vorzugsweise Tech-
niker (Maschinen-, Hütten-, Bau-, Berg-
ingenieure und Chemiker), die sich nach
ihrer Persönlichkeit und allgemeinen Bil-
dung zur Wahrnehmung des Amtes eignen,
mit den Geschäften der Fabrik- oder Ge-
werbeinspektion betraut. Die Einführung
einer solchen datiert unter anderen seit: in
Oesterreich 1883, der Schweiz 1877 (In-
struktion von 1883), Frankreich 1874 (Re-
formen 1883, 1892 bezw. 1893), Belgien
1895, den Niederlanden 1889, Dänemark 1873,
Schweden 1890, Norwegen 1890, Russland
1882 (Reform 1894). — Für die Bergaufsicht
sind in der Regel besondere Fachbeamte
angestellt, in einzelnen Ländern (England,
Frankreich, Belgien) auch Arbeitervertreter
dabei beteiligt. Auch bei der Gewerbeauf-
sicht im engeren Sinne sind Pei-sonen, die
nach Herkunft und Bildung dem Arbeiter-
stande angehöi-en, nicht ausgeschlossen; in
England z .B. sind sie unter den »Assistenten«
zahlreich vertreten. — Weibliche Inspektoren
sind bisher nur vereinzelt angestellt. Vgl.
im einzelnen zu diesem Abschnitt den Art.
Arbeiterschutzgesetzgebung oben
Bd. I S. 470 ff.
4. Die dentschen Bundesstaaten bis
zum Jahre 1891. In Preussen war die
Einlialtun^ der Bestimmungen des ersten
Sehutzgoselzos (Regulativ vom 9. März 1839)
anfänglich vorzugsweise niu* von den ge-
wöhnlichen Polizeibehörden kontrolliert wor-
den, neben welchen nur in einzelnen Be-
zirken besondere Lokalkommissionen, sodann
die Kirchen- und Schulbehörden eine ge-
wisse Aufsichtsthätigkeit entwickelten. Erst
das G. V. 16. Mai 1^53, diux^h welches auch
die sachlichen BeMiinmungen des erwähnten
Regidativs eine erhebliche Erweiterung er-
fuhren, schrieb vor, dass deren Ausführung,
wo sich dazu ein Bedürfnis ergebe, durch
Fabrikinspektoren als Organe der
Staatsbehörden beaufsichtigt werden solle,
denen, soweit es sich um Ausführung die-
ses Gesetzes und des Regulativs vom 9.
März 1839 handle, alle amtlichen Befugnisse
der Ortspolizeibehörden zuständen und denen
die Besitzer gewerblicher Anstalten die amt-
lichen Revisionen jederzeit zu gestatten hät-
ten. Thatsächlich kam es jedoch zunächst
nur zur Bestellung von Inspektoren für die
Bezirke Düsseldorf, Oppeln und Arnsberg,
und die Stelle des letzteren blieb zeitweilig
noch ohne Besetzung, weil von den Provin-
zialbehörden das Bedürfnis dazu bestritten
wurde. Auch war der Wirkungskreis jener
ersten preussischen Fabrikinspektoren ver-
hältnismässig bescheiden, er betraf nur die
Eontrolle der (damals allein beschränkten]
Kinderarbeit in Fabriken, Berg-, Hütten- und
Pochwerken sowie die Aufsicht über die
Fühnmg der durch das Gesetz von 1853
für die Arbeiter unter 16 Jahren in jenen
Anstalten eingeführten Arbeitsbücher. Nach
den Ausführungsinstruktionen hatten freilich
die Inspektoren auch den hygieinischen Zu-
ständen in den Fabriken, ferner den Fabrik-
schulen und überhaupt den Erziehungs- und
Sittlichkeitsverhältnissen der heranwachsen-
den Fabrikjugend beider Geschlechter ihre
Aufmerksamkeit zuzuwenden ; eine unmittel-
bare Thätigkeit zu Gunsten der erwachsenen
Arbeiter aber war ihnen nicht zugewiesen.
Die Reichsgewerbeordnung vom 21. Juni
1869 verzichtete ebenfalls noch auf die ob-
ligatorische Einführung des Fabrikinspekto-
rates und beschränkte sich (§ 132) auf die
Bestimmung, dass überall, wo die Fabrik-
aufsicht eigenen Beamten übeitragen sei,
diesen alle amtlichen Befugnisse der Orts-
polizeibehörden zuständen. Immerhin ver-
melirte sich schon in den 70 er Jahren die
Zahl der Fabrikinspektoren; im Jahre 1875
waren deren 10 in Preussen und 4 in Sach-
sen vorhanden, wo das Inspektorat durch V.
vom 4. September 1872 eingeführt worden
Das Reiclisgesetz vom 17. Juli 1878
war.
endlich schrieb (§ 139 b) die Anstellung be-
sonderer Fabrikinspektoren zwar vor, liess
jedoch noch eine Dispensation für fabrik-
arme Bezirke durch den Bundesrat zu, welche
tliatsächlich beiden Lippe, Mecklenburg-
Strelitz und Lübeck erteilt, von letzterem.
Staate allerdings nur vorübergehend benutzt
worden ist. In Bayern trat das Fabrikin-
spektorat ins Leben diuxjh V. vom 17. Fe-
bruar 1879, in Württemberg durch V. vom
2. Oktober 1879, in Baden durch V. vom
30. Januar 1879 u. s. w. Den Fabrikinspek-
toren (in Preussen jetzt »Gewerberäten«)
lag aber fernerhin die Aufsicht nicht nur
Grewerbeinspektion
497
■Qber die Ausführung der Besümmungea
zum Schutze der jugendiichen Arbeiter und
der (noch sehr dürftigen) zum Schutze der
Frauen, sondern auch über die Bestimmun-
gen zum Schutze des Lebens und der Ge-
sundheit aller Arbeiter in Fabriken ob,
^'elche dmrch das neue Gesetz zugleich
etwas schärfer als in der Gewerbeordnung
von 1869 umschrieben wurden. Die sons-
tigen Instruktionen an die Fabrikinspektoren
entsprechen in allen deutschen Bundes-
staaten im wesentlichen dem englischen
Vorbilde; vor allem wurde auf die Gewin-
nung eines Yertrauensverhftltnisses zwischen
Arbeitgebern und Arbeitern Wert gelegt.
Die Beamten hatten Jahresberidite zu er-
statten; diese oder Auszüge daraus waren
dem Bundesrat und dem Reichstage vorzu-
legen. Im Jahre 1889 waren im ganzen
Reiche bereits 80 Aufsichtsbeamte vorhan-
den, davon in Preussen 17 Inspektoren und
10 Assistenten, in Sachsen 8 und 18, in
Bayern 4, Württemberg 2 Inspektoren, in
den übrigen Bundesstaaten 18 Inspektoren
und 3 Assistenten.
5. Die Reformen in Deutschland seit
1891. Im Anschlüsse an die internationale
Arbeiterschutzkonferenz von 1890 schritt
bekanntlich gerade Deutschland zu einem
lunfangreichen Ausbau der Arbeiterschutz-
gesetzgebung. Hiermit wurde zugleich der
Anstoss zu einer kräftigen Fortentwickelung
des Inspektionswesens gegeben. Das Schutz-
gesetz vom 1. Juni 1891 verbot mit Vorbe-
halt gewisser Ausnahmen die gewerbliche
Sonntagsarbeit, verbot ferner die Arbeit von
schulpflichtigen oder noch nicht 13 (statt
bisher 12) Jahre alten Kindern in Fabriken
und gleichgestellten Anlagen und führte
ebenda auch den elfstündigen Maximal-
arbeitstag für weibliche Arbeiter über 16
Jahren unter Ausschluss der Nachtarbeit ein.
Dazu kam die Einfühnmg von Arbeitsord-
nungen in grösseren Betrieben und eine
Beihe weiterer oder genauerer Vorschriften
zum Schutze der Arbeiter, z. B. hinsichtlich
des Schutzes für Leben und Gesundheit,
Lohnzahlung, der Arbeitsbücher, der Kün-
digungsfristen und dergleichen. Zugleich
wurde die Ausdehnimg der bisherigen »Fa-
brikgesetzgebung« auch auf die Werkstätten,
welche bisher nur für Anlagen mit Dampf-
betrieb erfolgt war, allgemein vorgesehen,
allerdings von Kaiserlichen Verordnungen
mit Zustimmung des Bundesrates abhängig
^macht, die bisher nur für die Konfektions-
mdustrie erfolgt ist In ähnlichem Um-
fange wie der »Arbeiterschutz« erweiterte
sich die Zuständigkeit der bisherigen Auf-
sichtsbeamten, deren Anstellung nunmehr
für alle Bundesstaaten obligatorisch wurde.
Reichsgesetzlich, d. h. nach der Gewerbe-
ordnung (§ 139 b) steht ihnen seitdem die
Handwörterbuch der Staatswiaeeiifichaften. Zweite Auflage. lY.
Aufsicht über die Bestimmungen für Sonn-
tagsruhe (mit Ausnahme derjenigen im
Handelsgewerbe, welche ausschliesslich den
ordentlichen Polizeibehörden übertragen ist),
femer die Arbeitsordnungen und den Schutz
der Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeiter,
endlich für den an Leben und Gesundheit
der Ai'beiter nicht bloss wie bisher in den
Fabriken, sondern auch in den nicht fabiik-
mässigen Gewerbebetrieben zu. Es ist da-
bei nicht ausgeschlossen, dass die Einzel-
staaten, denen die Anstellung der Aufsichts-
beamten obliegt, ihnen noch andere Befug-
nisse zuweisen. Dies that ausser Sachsen
^rade der grösste Bundesstaat Preussen,
insofern als er den Gewerbeinspektoren als
Organen der Landespolizei neben der Auf-
sicht über die Ausführung der Vorschriften
über Arbeitsbücher und über die lästigen
und gefährlichen, einem besonderen gewerbe-
polizeilichen Genehmigungsverfahren unter-
liegenden Anlagen durch die Dienstanwei-
sung vom 23. März 1892 auch noch die
amthche Prüfimg der Dampfkessel überwies.
Die letztere Aufgabe hat längere Zeit einen
sehr grossen Teil der Kräfte des Aufsichts-
dienstes in Anspruch genommen, und wenn
auch ohne Zweifel mancherlei Gründe der
Zweckmässigkeit und des Kostenpunktes für
eine Vereinigung der Gewerbeinspektion mit
der Kesselrevision sprechen, so hat man
in neuerer Zeit sich für die Trennung bei-
der Funktionen entschieden. Schon seit
1897 ist die Prüfung der landwirtschaft-
lichen und Schiffsdampfkessel den Inge-
nieuren der Dampfkesselüberwachungsver-
eine übertragen worden i), und in nächster
Zeit wird auch der Rest der Revisions-
thätigkeit mehr und mehr den Gewerbe-
aufsichtsbeamten abgenommen werden. —
Die Art und Weise, in welcher diese Be-
amten neben den sonstigen Verwaltungs-
organen im einzelnen Falle ihre Befugnisse
auszuüben haben, ist in den Ausführungs-
anweisungen zu dem Gesetz und in den
Dienstvorschriften für die Gewerbeaufsichts-
beamten eingehend geregelt, so zwar, dass
ihnen überall eine ausreichende Mitwirkung
gesichert p zugleich aber einseiligen und
übermässigen Anforderungen, wie sie nament-
lich auf dem Gebiete der Hygieine und Un-
fallverhütung von zu eifrigen Beamten er-
hoben werden können, vorgebeugt werden
kann. Im allgemeinen haben sie (nach der
*) Im Etatsjahre 1898 wurden in Preusseu
von 92 917 Dampfkess^n und Dampffassem
überwacht: von den Ingenieuren der lieber-
wachungsvereine 54578 = 58,74 °/p, von Ge-
werbeinspektionen 26 997 = 29,05%, Bergbe-
hörden 7308 = 7,86%. Der Rest von Privat-
unternehmern, Eisenbahn- oder Baubehörden,
Eiseubahngesellschaften und Berufsgenossen-
schaften.
32
498
Gewerbeiospektion
preussiflchen Dienstanweisung, der wir hier
im allgemeinen fol^n, zumal die anderen im
wesentlichen mit ihr übepsinstinimen) >ihre
Aufgabe vornehmlich darin zu suchen«, ge-
stützt auf ihre »Vertrautheit mit den g^tz-
lichen Bestimmungen, ihre technischen
Kenntnisse und amtlichen Erfahrungen,
durdi sachverständige Beratung und wohl-
wollende Vermittelung eine Regelung der
Betriebs- und Arbeitsverhältnisse herbeizu-
führen, welche, ohne dem Gewerbeunter-
nehmer unnötige Opfer und zwecklose Be-
schränkungen aufzuerlegen, den Arbeitern
den vollen, durch das Gesetz ihnen zuge-
dachten Schutz gewährt imd das Publikum
gegen gefährdende und belästigende Ein-
wirkungen sicherstellt. Arbeitgebern und
Arbeitern sollen die Gewerbeaufsichtsbe-
amten die gleiche Bereitwilligkeit zur
Vertretung ihrer berechtigten Interessen
entgegenbringen und dadurch wie durch
die ganze Art ihrer amtlichen Thätigkeit
eine Vertrauensstellung zu gewinnen suchen,
welche sie zur Erhaltung und Förderung
guter Beziehungen zwischen beiden mit-
zuwirken in den Stand setzt.«
Nach der Gewerbeordnung selbst (§ 139 b)
haben die Gewerbeaufsichtsbeamten bei Aus-
übung ihrer Thätigkeit alle Befugnisse der
Ortspolizeibehörden. Im Interesse ihrer
Vertrauensstellung ist aber der selbständige
Gebraudi polizeilicher Zwangsmittel den
Aufsichtsbeamten durch die Dienstanwei-
sungen in der Regel untersagt Sie sollen
einzelne Gesetzwidrigkeiten und üebelstände
zunächst durch gütUdie Vorstellungen und
geeignete Ratschläge zu beseitigen suchen;
nötigenfalls haben sie sich an die ordentlichen
Polizeibehörden zu wenden, damit diese
durch polizeiliche Straffestsetzung oder An-
zeige an die Staatsanwaltschaft zur Ahndung
von Gesetzwidrigkeiten schreiten oder, wenn
es sich um Herstellung von Einrichtungen
zum Schutze des Lebens und der Gesund-
heit handelt, die erforderlichen polizeilichen
Verfügungen treffen. Dagegen sollen die
Gewerbeaufsichtsbeamten selbst von dem
Rechte zu polizeilicher Straffestsetzung gar
nicht und von dem Rechte, polizeiliche,
nötigenfalls im Wege des Verwaltungs-
zwangsverfahrens durchzuführende Verfü-
gimgen zu erlassen, nur bei Gefahr im Ver-
zuge Gebrauch machen. Im übrigen haben
die Ortspolizeibehörden den Auf sichtsbeamten
dieerforderlicheünterstützung zu lei8ten,unter
andern ihnen die für die Ausübung der Ge-
werbeaufsicht wichtigen Schriftstücke vor-
zulegen, Besichtigungen und Nachbesichti-
gungen bestimmter gewerblicher Anlagen
vorzunehmen u. s. w. Was insbesondere die
Thätigkeit auf dem Gebiete der Hygieine
und Unfallverhütung betrifft, so hat bei
dringender Gefahr für Leben oder Gesund-
heit die Ortspolizeibehörde sogleich einzu-
schreiten, sonst aber im Einvernehmen mit
dem Auf Sichtsbeamten zu handeln;, bei
Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden,
in der Initiative sonst gleichberechtigten
Organen entscheidet die höhere Verwaltungs-
behörde. Daneben ist auch noch ein Zu-
sammenwirken mit den Organen der Be-
ru&genossenschaften , den »Beauftragten«,
vorgesehen; diese haben insbesondere von
dem Ergebnisse ihrer nach dem Cnfallver-
sicherungsgesetz ausgeübten Thätigkeit zur
üeberwachung der Un&Uverhütungsvor-
schriften der Genossenschaften den Gtewerbe-
aufeichtebeamten Mitteilung zu machen.
Die erweiterten und vertieften Aufgaben
des Aufsichtsdienstes haben mehr und mehr
auch zu einer Veränderung der äusseren
Organisation und zur Vermehrung des Per-
sonals geführt Während noch 1890 ein-
schliesslich der Hilfsbeamten nur 93 Auf-
sichtspersonen vorhanden gewesen waren,
stieg deren Zahl 1891 auf 115, 1892
schon auf 176, 1897 auf 284 und Ende
1899 über 300. Allein in Preussen waren
im Jahre 1898 200 Aufsichtsbeamte vor-
handen. Hand in Hand mit der bedeu-
tenden Vergrösserung des Beamtenapparates
ist dessen anderweitige Eingliederung in
den allgemeinen Verwaltuuf^oi^anismus ge-
gangen. Während z. B. m Preussen bis
zum Jahre 1892 die »G^werberäte« lediglich
technische Hilfsarbeiter der Regierungen
waren, bestellte der Allerhöchste ErLass vom
27. April 1891 in Verbindung mit der Dienst-
anweisung vom 23. März 1892 besondere
gewerbetechnische Räte (Regierungs- und
und Gewerberäte) mit den Rechten der
technischen Mitgheder der Regierungen, zu
deren Unterstützung und Vertretimg aber Ge-
werbeinspektoren mit der amtUchen Stellung
der Regierungsassessoren, desgleichen Ge-
werbeinspektoren, nötigenfalls mit Unter-
stützung durch Gewerbeinspektionsassisten-
ten zur Wahrnehmung der Gewerbeaufsicht
in den einzelnen Gewerbeinspektionsbezirken,
deren Ausdehnimg sich nach der Entwicke-
lung der Gewerbethätigkeit richtet Bei der
Stellenbesetzung haben die Centralbehörden
in den ersten Jahren nach der Reform von
1891 ziemlich freie Hand gehabt; im allge-
meinen ist die Auswahl auf Techniker und
nach Massgabe des Bedürfnisses auch Che-
miker besäräokt geblieben. An sich aber
ist die Bestellung von Personen ohne aka-
demische Vorbildung nicht ausgeschlossen,
auch wenn sie nach Herkunft und Bildung
dem Arbeiterstande angehören. In einigen
Bimdesstaaten (Bayern, Baden) ist man auch
bereits zur Anstellung solcher Beamten ge-
langt, auch ist man hier und da probeweise
zur Verwendung einzelner weiblicher Be-
amten überg^angen. Preussen hat aller-
öewerbeinspektion — (jewerbekammer n
499
dings einen anderen Weg beschritten; nach
der Vorbildungs- und Prüfungsordnung vom
7. September 1897 ist hier (unter dem Vorbehalt
eines Ueber^ngsstadiums bis zum 1. April
1901 für Personen mit wissenschaftlich
technischer Vorbildung) zur Erlangung der
Beföhigung für den Gewerbeaufsichtsdienst
ein dreijähriges technisches und ein 1 Vi jäh-
riges Studium der Rechts- und Staatswissen-
sch^en sowie die Ablegung einer allge-
meinen auf verschiedenen Ausbildungswegen
zugänglichen und einer besonderen nach
lV2JäJmgem Vorbereitungsdienst bei den
Gewerbeauf Sichtsbehörden vor einer eigenen
Kommission stattfindenden Piüfung erfor-
derlich. Zu dem praktischen Vorbereitungs-
dienst werden Personen, die nicht Bauführer
oder Beargreferendare sind, niu» beim Nach-
weise einer 1 — 2 jährigen Thätigkeit in der
Praxis zugelassen; das IV2 jährige juristisch-
kameralistische Studium schliesst sich an
den praktischen Vorbereitimgsdienst an.
Es ist hier also ein eigenartiger, mit ver-
hältnismässig hohen Anforderungen, ver-
bundener Ausbildungsgang vorgesehen wor-
den.
Die bisherigen Erfedirungen mit der Ge-
werbeinspektion sind im ganzen bereits be-
friedigend und berechtigen zu noch besseren
Hoffnungen. Freilich hat es an Klagen über
unrichtige Amts- und Gesetzesauffassungen,
Neigung zu übermässigen Anforderungen an
die ün1»rnehmer auf der einen, geringe Zu-
gänglichkeit für Arbeiterwünsche auf der
anderen Seite nicht gefehlt. Im allgemeinen
sind aber die Leistungen des ganzen Insti-
tutes und das ihm gewidmete Zutrauen in
stetiger Zunahme bemffen. Besonders wert-
voll für Wissenschart, Verwaltung und Ge-
setzgebung sind auch die Jahresberichte der
Beamten, welche stets die allgemeinen, nach
Bestimmung des CentralbehÖrde aber oft
auch besonderen Fragen des Arbeiterschutzes
eingehend behandeln.
Litteratar: JFV. Sch&ler, Die Fahrikinspektion
(Archiv ßir soziale Gesetzgebung und Statistik,
IL Bd., S. 537 ff.). — F. AdUr, Die FabHk-
inspektion, insbesondere in England und der
Schweiz, Jahrb. ßir NatioTUÜÖkonomie , neue
Folge, VIII, 193. — Weyet*, Die englische
Fabrikinspektion, Tübingen 1888. — Thau, Die
Fabrikinspekioren in Deutschland^ Jahrbuch für
Gesetzgebung u, s. w., V, 65. — Paiil Dehtty
Die deutsche Fabrikinspektion, Zeitschr. ßir
StaaUwissenschaft, Bd. XXXVIII, S. mff. —
M» Quareh, Zur äusseren Geschichte der Fa-
brikinspektion in Deutschland, Frankfurt 1889.
— K, A, fHi/nther, Geschichte der preuss-ischen
Fabrikgesetzgebung, Leipzig 1891. — Kloss,
Der Bergarbeiterschutz, Wien und Leipzig 1897.
— E, Plotke, Die Gewerbeinspektion in Deutsch-
land, Berlin 1899. — Zahlreiche Einzelmit-
teilungen insbesondere in der n Sozialen Praaisu,
den nJahrbüchem für yationalökonomic und
Statistik^, dem n Jahrbuch ßir Gesetzgebung, Ver-
waltung und VolksvnrtscfMßii und in den amt-
liehen Jahresberichten der Äufsichtsbeamten für
das Reich wie ßir die einzelnen Bundesstaaten,
6, Evert
Gewerbekammern.
I. Allgemeines. IL Die Gewerbe-
kammern im Deutschen Reiche. 1. Die
G. in Preussen. 2. Die hanseatischen G.
a) Geschichte, b) Organisation, c) Aufgaben
und Befugnisse. 3. Die G. im übrigen Deutsch-
land, a) Sachsen, b) Bayern, c) Sachsen- Wei-
mar-Eisenach, d) Württemberg, e) Sachsen-
Meiningen, ni. Die Gewerbekammern
in Frankreich, a) Geschichte, b) Organi-
sation, c) Aufgaben und Befugnisse. IV. Das
Verlangen nach Errichtunjg^ von Ge-
werbekammern in Oesterreich.
I. Allgemeines.
Korporative Vereinigungen von Handel
und Gewerbe entstanden schon im Mittel-
alter in den germanischen Staaten, in den
Zünften oder Innungen der Handwerker und
den Gremien und Gilden der Handelsleute.
Ihre Blüte erreichten sie im 14. Jahrhundert,
wo ihr Einfluss auf die Förderung der
technischen und administrativen Angelegen-
heiten ihrer Berufsgenossen massgebend war.
Als das Innungs- imd Zunftwesen dem
Verfalle und der Entartung sich zuneigte,
immer breitere Schichten des Volkes am
Handel imd Gewerbe thätig Anteil nahmen
und bei der fortschreitenden Entwickelung
des Staates das Bürgertum der ständischen
Gliederung gegenübergestellt wurde, fiel
den Regierungen immer mehr die Aufgabe
zu, auf die Förderung des materiellen Woh-
les der Bürger selbst immittelbar Einfluss
zu üben. Die Regierung bedurfte zur Er-
füllung dieser Aufgaben der Mithilfe der.
Bevölkerungski'eise und musste sich daher
des Beirates auch der Gewerbetreibenden
(im weitesten Sinne Grossindustrie imd.
Kleingewerbe) versichern. Die Gewerbe-
kammern sind daher eine korporative Ver-
tretung des Gewerbestandes. So entwickel-
ten sich daher, nachdem die Innungen imd
Aemter ihren Einfluss verloren hatten, auf
breiterer Basis atifgebaute Körperechaften,
die die Interessen des Gewerbestandes ge-
genüber den Regierungen zu wahren hatten
und die einen grösseren oder geringeren
Einfluss auf die Massnahmen der Regierun-
gen ausübten. Die Gewerbekammern müs-
sen aus der freien Wahl aller selbständigen
Gewerbetreibenden hervorgehen, obligatorisch
und für bestimmte Bezirke bestellt werden
und in ihrer Zusammensetzung den gewerb-
lichen Verhältnissen ihres Berufes ent-
sprechen. Die Wahlordnung hat zu ermög-
32*
500
Gewerbekaraniera
li^^hen, dass jede Grruppe von Gewerbetrei-
benden, welche gleiche oder ähnliche
Interessen verfolgen, ihre Vertretung mög-
lichst in der Gewerbekammer finden. Es
ist wünschenswert, dass auch die Minori-
täten in der Kammer die Möglichkeit haben,
ihre Ansichten zum Ausdruck zu bringen.
Wahlberechtigt und wahlfähig sollen nuf
dem gewerblichen Berufe als selbständig
Angehörige sein. Die G^werbekammem
können entweder als selbständige Vertre-
timgskörper (z. B. in den Hansestädten,
Leipzig imd Weimai*) oder als Abteilungen
einer Gesamtverti'etung von Handel und
Gewerbe mit grösserer oder geringerer
Selbständigkeit wie in den Handels- und
Gewerbekammern (z. B. in Sachsen, Bayern,
Oesterreich, Ungarn etc.) oder endlich als
Teile einer allgemeinen Vertretung sämt-
licher wirtschaftlicher Berufskreise, ein-
schliesslich der Landwirtschaft (wie früher
in Preussen) und auch der Arbeitnehmer
ins Leben gerufen weinlen.
Die Aufgabe der Gewerbekammern be-
steht vor allem darin, -der Regienmg sach-
verständige Gutachten über alle gewerblichen
Verhältnisse zu erstatten, die Wünsche und
Bedürfnisse des Gewerbestandes zu erfor-
schen, sie massgebenden Orts vorzulegen
und aJle Massnahmen zu fördern, welche
der Hebung des Gewerbes dienen, schliess-
lich auch darin, zur Verwirklichung der
unter ihrer Mitwirkung zu stände gekom-
menen Aenderungen der öffentlichen Ver-
waltung in den durch sie vertretenen Krei-
sen thunlichst beizutragen. Erhalten sie
besondere administrative Befugnisse (wie in
den Hansestädten) so stärkt dies ihre Auto-
rität. Je grösser der Kreis der in der Ge-
werbekammer vereinigten Gruppen gewerb-
licher Interessenten ist, desto einflussreicher
wird die Wirksamkeit dieser Kammern sein.
JedenfaUs ist es vorteilhafter für das Ge-
werbe, wenn die verschiedenen oft wider-
streitenden Interessen einzelner Gruppen in
der Gewerbekammer selbst zum Ausgleich
gelangen, es also nicht der Verwaltungsbe-
hörde anheim gestellt bleibt, unter einer
Reihe gesonderter Gutachten, oft nur von
politischen Gesichtspunkten geleitet die
Wahl zu treffen. Auch ist es bei imifas-
senderen wirtschaftlichen Vertretungskörpern
leichter, diesen alle wichtigeren wirtschaft-
lichen Gesetze und Verordnungen im Ent-
würfe ziu* Begutachtunjj zu übermitteln und
sich dadurch des kundigen Beirates der be-
treffenden Kreise rechtzeitig zu versichern.
Vielfach wird unter Gewerbekammern le-
diglich eine Vertretung der Handwerker-
ki*eise verstanden oder dos Kleingewerbes
im Verein mit dem Kleinhandel. Derartige
Gewerbekammern sind jedoch sehr einsei- 1
tige und für die gesamte Wirtschaftspolitik!
wenig bedeutungsvolle Vertretungskörper,
ganz abgesehen davon, dass die Grenze
nicht leicht zu ziehen ist zwischen Gross-
industrie und Handwerk und viele Fragen
für den gesamten Gewerbestand gleich
wichtig sind.
IL Die Gewerbekammem im Dentschen
Reiche.
1. Die G. in Preussen» Barch die V.
V. 9. Februar 1849 wurden in Preussen neben
den schon früher begründeten Handelskammern
(s. d.) zur Ueberwachung des Innnngswesens
und als Beratungsorgan für alle Ang^elegen-
beiten des Handwerks and Fabrikbetrieoes Qe-
werberäte ins Leben gerufen, welche za glei-
chen Teilen aus Wahlen der Handwerker,
Industriellen und Kaafleute hervorgehen und
in deren Handwerks- and Fabriksabteilungen
die Vertreter aus den Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern gewählt werden sollten. Diese Ge-
werberäte bewährten sich nicht, and von den
96 ursprünglich errichteten Gewerberäten löste
sich der letzte 1864 in Berlin auf. Die Er-
richtung der Gewerberäte war eine fakultative.
Nor der Stand der Handwerksmeister hatte ein
direktes Interesse an der Errichtung von Ge-
werberäten, die anderen Stände besassen es
mehr oder weniger nicht. Es musste ihnen so-
gar daran liegen, die Errichtung von Gewerbe-
räten zu hindern, um die Durchführung der in
der V. V. 9. Februar 1849 eingeführten ge-
werblichen Beschränkungen zu hindern. Es
musste also die Errichtunff der Gewerberäte an
der Interessenlosigkeit scneitem, die die In-
dustriellen und Kaufleute den Gewerberäten
entgegenbrachten, sodann aber auch an der
mangelhaften Kompetenz, die den Gewerberäten
eingeräumt wurde. Die Befu^is, die Befolgnng
der Vorschriften über das Innungswesen und
die gewerblichen Verhältnisse zu überwachen,
bestand eigentlich nur in Anzeigen, oder rich-
tiger gesagt, in Denunziationen an die Behör-
den und in Erstattung von Gutachten, wenn
diese wirklich verlangt wurden. So gingen die
Gewerberäte, ohne irgend welche erfolgreiche
Thätigkeit entwickelt zu haben, zu Grunde.
Bei der Beratung der Reichsgewerbeord-
nnng 1869 wurde das Verlangen nach Errich-
tung von Gewerbekammern für die Handwerker
erfolglos erhoben und bei der Beratung über
das Innungsgesetz (1881) wieder angeregt, zu-
mal die durch das G. v. 24. Februar 1870 re-
formierten Handelskammern das Wahlrecht nur
im Firmenregister eingetragenen Industriellen
einräumten, so dass der ganze Handwerker-
stand und Kleingewerbestand überhaupt keine
Vertretung hatte. Auf dem ersten Delegierten-
tag hanseatischer Gewerbekammem, der am 7.
September 1873 zu Lübeck stattfand, warde die
Organisation von Gewerbekammem in allen
deutschen Staaten gefordert. Alle hanseatischen
Gewerbekammer-Delegiertenkonferenzen wie die
Konferenzen von Delegierten deutscher Gewerbe
resp. Handels- und Gewerbekammem, seit 1886
deutscher Gewerbe kam mertag genannt, vertra-
ten die Forderung: der Errichtung von Gewerbe-
kammem in allen deutschen Staaten. Der
deutsche Reichstag ersuchte dann auch, haupt-
Gewerbekammem
501
sächlich mit infolge dieser Agitation, am 9. Juni
1881 den Beichskanzler um Vorlage eines Ge-
setzes ttber die Errichtung von Gewerhekam-
mem unter Beteiligung sowohl der Innungen
als der ausserhalb derselben stehenden Grewerbe-
treibenden. Eine Delee^iertenkonferenz deutscher
Gewerbe- und Handels- und Gewerbekammern
(26. September 1881) arbeitete auch eine Denk-
schrift über die Errichtung yon Gewerbekam-
mem aus. In einer Versammlung vom 28. Sep-
tember 1882 nahm auch der „Central verband
deutscher Industrieller" zu dieser Frage Stel-
lung im Sinne der einheitlichen obligatorischen
Errichtung von Handels- und Gewerbekammem
unter Ausschluss der Landwirtschaft und bei
ausnahmsweiser Gestattung der Bildung ge-
sonderter Gewerbekammem, wobei eine Minori-
tät für die Gründung von Wirtschaftskammem
unter Einschluss der Landwirtschaft eintrat.
Fürst Bismarck teilte als Handelsminister diese
letztere Auffassung der Minorität, und so wur-
den mit Reskript der vier beteiligten preussi-
schen Minister am 24. Juli 1884 an die Begie-
rune^spräsidenten und Landdroste den Provin-
ziaUandtagen „Bestimmungen über die Bildung
von Gewerbekammem" zur Behandlung und
Durchfühmng übermittelt. Die Provinzialland-
tage von Posen, Westfalen, der ßheinprovinz
und Hessen-Nassau lehnten die Vorlage pure
ab. Diejenigen der Provinzen Westpreussen,
Ostpreussen, Brandenburg, Schleswig-Holstein
und Pommern änderten sie insofern ab, als sie
nicht für jeden £«gierungsbezirk, sondem für
die ^anze Provinz nur je eine Gewerbekammer
erricnteten. Im ganzen sind in 8 Provinzen
17 solcher Gewerbekammem entstanden, die
alle bereits, ohne irgend welche Wirksamkeit
entwickelt zu haben, wieder aufgelöst sind.
Am längsten hat sich die GewerbcKammer für
die Provinz Brandenburg gehalten, die erst im
Jahre 1897 aufgelöst worden ist. Die letzte
Sitzung dieser Kammer hat am 25. und 26. No-
vember 1896 stattgefunden. Die Kammern
lösten sich meist dadurch auf, dass die Provin-
ziallandtage für diese unglücklichen Institu-
tionen die Bewilligung der Kosten versagen.
Die Organisation und die Aufgaben dieser
Kammem, die nur noch historisches Interesse
haben, waren folgende. Die neuen preussischen
Gewerbekammem bestanden aus Vertretem von
4 Abteilungen (Landwirtschaft, Handwerk, In-
dustrie und Handel); Standort der Kammer,
Zahl der Mitglieder und ihre Verteilung auf
die Abteilungen bestimmten die Ressortminister,
die Mitglieder wurden nicht von den Inte-
ressenten selbst, sondem von den Provinzial-
landtagen aus den mindestens 30 jährigen seit
einem Jahre selbständigen Genossen jedes Zwei-
ges, den sie zu vertreten hatten, auf 6 Jahre
^wählt; alle 3 Jahre wurde die Hälfte der
Mitglieder neugewählt und war Wiederwahl
zulässig. Die Gewerbekammem hatten nach
Aufforderung der Reichs- und Staatsbehörden
über wirtschaftliche Verhältnisse ihres Bezirkes
Erhebungen anzustellen und Gutachten abzu-
geben und waren berechtigt, in wirtschaftlichen
Angelegenheiten Anträge an die zuständigen
Behörden zu richten so\(ie mit Zustimmung
des Regierungspräsidenten von den Gewerbe-
räten (Fabrikinspektoren) Auskunft zu verlan-
gen. Der Geldbedarf der Kammem wurde von
den Provinzialverbänden aufgebracht. Die Ge-
werbekammem scheiterten hauptsächlich daran,
dass ihre Mitglieder durch die Provinzialland-
tage gewählt wurden, so dass die Mitglieder
nicht vom Vertrauen der Interessenten getragen
wurden. Da die Provinziallandtage nur sehr
geringe Summen bewiUigten, so fehlte es den
Kammemmeist an Mitteln, ein Sekretariat einr
zurichten und tüchtige Beamte zu besolden.
Die Hauptsnmmen wurden für Diäten an die
Mitglieder ausgegeben, die, wenn sie zur Sit-
zung kommen wollten, die ganze Provinz
durchreisen mussten. Die Bezirke waren viel
zu ^ross. Es fehlte der Kammer gänzlich an
Initiative. Da keine Periodicität der Sitzungen
vorgesehen war, so traten die Kammem nur
zusammen, wenn die Re^iemng irgend welche
Fragen an die Kammer nchtete und daher eine
Sitzung unbedingt nötig schien.
Handel und Industrie sahen nach wie vor
in den Handelskammern ihre Interessenvertre-
tung, die Landwirtschaft dagegen in den neuen
Landwirtschaftskammem. Das Handwerk, wel-
ches ausser in den Gewerbekammern keine
Interessenvertretung hatte, stand denselben
ebenfalls nicht sympathisch gegenüber, vde dies
auf den Handwerkertagen mehrfach hervortrat
und wie auch die Handwerkerpresse deutlich
zeigte. Man war der Ansicht, dass diese Ge-
werbekammem dem Handwerkerinteresse des-
halb schädlich seien, weil dadurch die Hand<-
werkerkammem in weite Feme gerückt würden,
welche allein den berechtigten Forderungen die-
ses Berufes entsprächen.
Da Handel und Industrie schon seit langer
Zeit Vertretung in den Handelskammem fanden^
da ferner durch das preussische G. v. 30. Juni
1894 für die Landwirtschaft eine Vertretung
in den Landwirtschaftskammem geschaffen war,
so ermangelte nur noch das Handwerk einer
eigenen gesetzlichen Interessenvertretung, die
durch das G. v. 26. Juli 1897 in Form von
Handwerkerkammem geschaffen wurde.
Für die Frage der Erhaltung der Gewerber
kammem ist § 103 q des neuen G. v. 26. Juli
1897 besonders wichtig, welcher bestimmt:
§ 103 q. Die Landes-Centralbehörden der-
jenigen Bundesstaaten, in welchen andere ge-
setzliche Einrichtungen (Handels- und Gewerbe-
kammem, Gewerbekammem) zur Vertretung der
Interessen des Handwerkes vorhanden sind,können
diesen Körperschaften die Wahrnehmung der
Rechte und Pflichten der Handwerkskammer über-
tragen, wenn ihre Mitglieder, soweit sie mit der
Vertretung der Interessen des Handwerks be-
traut sind, aus Wahlen von Handwerkern des
Kammerbezirkes hervorgehen und eine geson-
derte Abstimmung der dem Handwerk angehö-
renden Mitglieder gesichert ist.
Es können also auch unter der Geltung
des Handwerks - Organisationsgesetzes sowohl
die Handels- und Gewerbekammem^ wie die Ge-
werbekammem erhalten bleiben, wenn sie den
im § 103q vorgesehenen Bedingungen entsprechen.
2« Die nanseatisehen G. a) Oeschichte.
Die Gewerbekammer in Bremen beruht auf
§ 86 und §§ 102—111 der Verfassung. Sie
wurde 1849 zugleich mit der Handelskammer
ins Leben gerufen und durch das G. v. 6. Ok-
tober 1875 und v. 20. November 1879 refor-
miert. Durch Gesetz, betreffend Zusatz zum
502
Qewerbekanimem
Gewerbekammergesetz v. 31. März 1898 wurde
schliesslich noch eine Abänderung der oben ge-
nannten Gesetze vorgenommen. In Lübeck
wurde eine Gewerbekaramer schon bei Einfüh-
rung der Gewerbefreiheit im Jahre 1867, aber
mit ungenügender Organisation errichtet und
durch G. v. 21. November 1877 umgestaltet.
Neuerdings ist diese Gewerbekammer durch G.
für die Lübecksche Gewerbekammer vom 18 Juli
1898 vollständig reformiert.
Die Hamburgische Gewerbekammer beruht
auf Art. 93 der Verfassung. Dieselbe besteht
auf Grund des G. v. 18. Dezember 1872.
b) Organisation. Die hanseatischen Ge-
werbekammern sind von den Handelskammern
vollständig getrennt und haben ihr eigenes
Präsidium und Sekretariat. In Bremen kann
bei Gegenständen, welche zugleich die Gewerbe
und den Handel berühren, die Gewer bekammer
in ihrer Gesamtheit oder mittelst eines Aus-
schusses mit der Handelskammer oder einem
Ausschusse derselben zur Beratung zusammen-
treten, jedoch bedarf es dazu eines übereinstim-
menden Beschlusses beider Kammern. Auch in
Lübeck und Hamburg kommen gemeinsame
Eommissionsverhandlungen beider Kammern für
bestimmte Zwecke vor.
Wahlberechtigt und wählbar sind nicht nur
Kleingewerbetreibende, sondern auch Gross-
industrielle und Fabrikanten, die allerdings
auch gleichzeitig in der Handelskammer das
Wahlrecht haben können. Die Ressorts beider
Kammern sind daher nach wissenschaftlichen
Gesichtspunkten geschieden. Die Gewerbekam-
mem vertreten das ganze technische Gewerbe,
mit Ausnahme der im Tit. II, §§ 29 und 30
sowie 31 bis 37 der R.G.O. genannten Gewerbe,
d. h. also alle Fragen, die sich auf die Pro-
duktion beziehen. Die Handelskammern ver-
treten dagegen alle Interessen des Handels im
grossen, däer auch die kommerziellen In-
teressen des Gewerbes, d. h. also die In-
teressen, welche sich auf den Absatz der Pro-
dukte beziehen. Ausgeschlossen von allen Kam-
mern sind die kleineren Kaufleute, d. h. die
Kleinhändler oder Krämer.
Die Wähler müssen selbständige Gewerbe-
treibende sein und das Bürgerrecht (in Lübeck
nicht mehr) besitzen, nur in Hamburg sind
auch unselbständige gewerbetreibende Gesellen,
welche das Bürgerrecnt haben, wahlberechtigt,
aber nicht wählbar.
In Bremen und Hamburg ist die gesamte
Wählerschaft in Gewerbsgruppen (Bremen:
10 Gruppen mit 60 Gewerbszweigen, Hamburg :
15 Gruppen mit 174 Gewerbszweigen) geteilt
nach der technischen Verwandtschaft, aber ohne
Unterscheidung zwischen Industrie und Hand-
werk und mit Ausschluss des Handels. Diese
Urwähler wählen in Bremen in dem neben der
Gewerbekammer bestehenden Gewerbekonvent,
der nach Berufung der Gewerbekammer zwei-
mal jährlich zusammentritt zur Beratung über
f ewerbliche Angelegenheiten, für je 10 Mitglie-
er einer Gruppe einen Vertreter. Jedoch sind
diejenijjen Abteilungen, welche nur aus Mitglie-
dern eines und desselben Gewerbes bestehen,
für nicht mehr als 20 Vertreter wahlberechtigt.
Keine Abteilung darf mehr als 20 einem und
-demselben Gewerbe angehörende Vertreter wäh-
len. Für Abteilung 9, welche sämtliche Ge-
werbetreibende in Vegesack umfasst, ist die
Zahl der zu wählenden Vertreter auf 12, und
für die Abteilung: 10, welche sämtiiche Ge-
werbetreibenden im Bremerhaven umfasst, auf
18 festgesetzt.
Der Gewerbekonvent wählt aus seiner Mitte
auf Grund einer Vorschlagslist« die 21 Mitglie-
der der Gewerbekammer.
Alle zwei Jahre wird der dritte Teil des
Konvents neugewählt. Das Ausscheiden aus
demselben hat auch den Austritt aus der Ge-
werbekammer zur Folge.
In Hamburg wählt jede der 15 Gruppen
einen Vertreter in die Gewerbekammer, von
denen jährlich 3 ausscheiden.
In Lübeck ist im Jahre 1898 eine völlig
neue Organisation geschaffen worden, damit die
Lübecker Gewerbekammer den im § 103 q der
E.G.O. geforderten Bedingungen entspricht und
ihr daher die Wahrnehmung der Bechte und
Pflichten der Handwerkerkammer übertragen
werden kann.
Die Lübecker Gewerbekammer besteht aus
18 Mitgliedern, und zwar aus 12 Vertretern des
Handwerks und 6 Vertretern der Industrie.
Dieselben werden auf 6 Jahre gewählt.
Alle 2 Jahre treten 6 Mitglieder aus, und zwar
4 Vertreter des fiandwerks und 2 Vertreter der
Industrie.
Von den 18 Mitgliedern der Gewerbekam-
mer werden 12 als Vertreter des Handwerks
a) von den Handwerker -Innungen, welche
im Lübeckischen Staate ihren Sitz haben,
und
h) Von denjenigen Vereinigungen, welche
die Förderung der gewerblichen In-
teressen des Handwerks verfolgen, min-
destens zur Hälfte aus Handwerkern be-
stehen und im Lübeckschen Staat ihren
Sitz haben,
aus der Zahl ihrer Mitglieder gewählt.
Diese Wahl ist also genau der im § 103 a
der R.G.O. vorgeschriebenen Wahl zur Hand-
werkskammer nachgebildet. 6 Mitglieder wer-
den als Vertreter der Industrie von und am
der Zahl derjenigen Gewerbetreibenden gewählt,
welche im Lübeckschen Staate einem industri-
ellen Betrieb selbständig oder als Betriebsleiter
vorstehen.
Wählbar sind nur solche Personen, welche :
1. das Lübecksche Bürgerrecht haben,
2. zum Amte eines Schöffen fähig sind,
3. das dreisslgste Lebensjahr zurückgelegt
haben,
4. im Lübeckschen Staat ein Gewerbe (mit
Ausnahme der in Tit. II, §§ 29 und 30
sowie 31—37 der R.G.O. aufgeführten)
mindestens drei Jahre betrieben oder be-
trieben haben, und
5. soweit es sich um Handwerker handelt,
die Befugnis zur Ausbildung von Lehr-
lingen besitzen.
Die Wahl erfolgt auf Grund von Wahl-
listen in 2 Wahlhandlungen, getrennt für die
Vertreter des Handwerks und für die Vertreter
der Industrie.
Die Wahl der Vertreter des Handwerks
erfolgt durch Wahlmänner, welche von den
Handwerker -Innungen und wahlberechtigften
Vereinigungen aus der Zahl ihrer Mitglieder er-
nannt werden.
Gewerbekammern
503
Die Zahl der Ton ihnen zu ernennenden
Wahlmänner richtet sich nach der Mitglieder-
jsahl, und zwar ernennt jede derselben mindestens
einen Wahlmann nnd für je 10 Mitglieder, wel-
che sie mehr als 10 zählt, nnd für je 20 Mit-
glieder, welche sie mehr als 50 Mitglieder
zählt, je einen Wahlmann mehr, im ganzen aber
nicht mehr als 8 Wahlmänner. Die Wahl der
Vertreter des Handwerks ist also eine indirekte.
Die Wahl der Vertreter der Industrie ist
dagegen eine direkte. Diese Wahl erfolgt durch
Stimmzettel. Es entscheidet bei der Wahl die
einfache Stimmenmehrheit der abgegebenen
giltigen Stimmen und im Falle der Stimmen-
gleichheit das Los. Von beiden Vorsitzenden
moss einer dem Handwerk und einer der In-
dustrie angehören.
Die Kosten aller drei Gewerbekammem
werden aus Staatsmitteln bestritten. In Lübeck
und Hamburg wird die Höhe dieser Kosten
jährlich im Staatsbudget festgestellt, während
m Bremen, ausser der Besoldung der Beamten
und der Kosten für die Räumlichkeiten, zur
Bestreitung der Kosten der Versammlungen und
zur Förderung der Interessen des Gewerbestan-
des, namentlich durch Anschaffung von Büchern,
Karten, Modellen u. dergl., sowie zur Bewir-
kung und Unterstützung von Gewerbeausstel-
lungen oder sonstigen zur Hebung der Gewerbe
dienenden Einrichtungen und zu ähnlichen Ver-
wendungen der Gewerbekammer jährlich ein
Fonds von 3600 Mark noch zur Verfügung ge-
stellt wird. In Hamburg betrug das Budget für
das Jahr 1899 20220 Mark, in Lübeck 7500 Mark.
In Hamburg sind die Beamten der Kammer Staats-
beamte. Der erste Beamte der Kammer gehört auf
Grund des revidierten Gesetzes über die Organi-
sation der Verwaltung zu den juristischen Be-
amten des höheren Verwaltungsdienstes und
führt die Amtsbezeichnung Rat. Der Rat bei
der Gewerbekammer wird wie alle Beamte des
höheren Verwaltungsdienstes vom Senate auf
Vorschlag der Gewerbekammer erwählt und von
dem Senate beeidigt.
In Lübeck ernennt die Kammer einen Kon-
sulenten, welcher nicht Mitglied der Kammer
sein darf. In Bremen ist die Gewerbekammer
befugt, einen Rechtsgelehrten als Konsulenten
und Protokollführer, jedoch jedesmal nur auf
längstens 6 Jahre anzunehmen. Auch in Bre-
men wird das Gehalt des juristischen Konsu-
lenten durch Senat und Bürgerschaft festgestellt,
so dass der Beamte der Kammer fast den Cha-
rakter eines Staatsbeamten hat. Die Grewerbe-
kammer in Bremen besitzt ausser dem juristi-
schen Konsulenten noch einen vom Senate er-
nannten technischen Konsulenten, der Staats-
beamter ist und im Auftrage der Gewerbekammer
Rei.sen zum Zwecke der Berichterstattung über
auswärtige gewerbliche, technische oder künst-
lerische Leistungen und Einrichtungen zu über-
nehmen hat. Der technische Konsäent der Ge-
werbekammer ist gleichzeitig Direktor des Ge-
werbemuseums.
o) Aufgaben und Befugnisse. Die han-
seatischen Gewerbekammem haben die Bestim-
mung, als Organ des Gewerbestandes die In-
teressen des Gewerbe Wesens d. h. also die des
Handwerks und Fabrikwesens auf gewerblichem
und technischem Gebiet wahrzunehmen und zu
-fördern. Insbesondere sind sie verpflichtet, auf
alles, was für das Gewerbewesen dienlich sein
kann, ihr Augenmerk zu richten, in dieser
Richtung liegende Wünsche und Beschwerden
der Gewerbetreibenden mitzuteilen, über die
Mittel zur Hebung der Gewerbe sowie über
die Beseitigung von Hindernissen zu beraten
und darüber demSenate und deuBehörden auf deren
Aufforderung oder auch unaufgefordert, eintre-
tendenfalls unter Hinzufügung der erforderlichen
Anträge gutachtlich zu oenchten. In Bremen
wird über alle in Gewerbeangelegenheiten zn
erlassende Gesetze vorab die Gewerbekammer
zu einer Begutachtung veranlasst. In Lübeck
soll die Kammer in allen wichtigen die Gesamt-
interessen der Handwerker oder die Interessen
einzelner Zweige derselben berührenden Ange-
legenheiten gehört werden. In Hamburg ist
diese obligatorische Anhörung zwar nicht im
Ghesetz ausdrücklich ausgesprochen, jedoch wird
auch dort die Gewerbekammer bei allen wichti-
gen Angelegenheiten gehört.
Die Gewerbekammer in Bremen hat über-
dies für Gewerbestatistik zu sorgen. Dann ent-
sendet sie S— 5 Mitglieder in die Behörde für
Grew^erbeangelegenheiten, welche gebildet wird
aus der Gewerbekommission des Senats und
dann 3—5 Mitjpfliedern der Gewerbekammer.
Diese Behörde für Gewerbeangelegenheiten ist
zur Erleichterung des geschäfUichen Verkehres
zwischen dem Senat und der Gewerbekammer
zur gemeinsamen Beratung über gewerbliche
Angelegenheiten geschaffen. Femer entsendet
die Bremische Gewerbekammer 3 — 5 Mitglieder
in die Behörde für das Gewerbemuseum, welche
ausserdem ebenfalls noch die Gewerbekommission
des Senats umfasst. Die Bremer Gewerbekam-
mer besitzt ein eigenes Gewerbehaus.
Die Gewerbekammer zu Hamburg wählt 4
Mitglieder der Verwaltung des Gewerbeschul-
wesens, 2 Mitglieder der Beratungsbehörde für
das Zollwesen, schliesslich delegiert sie 2 ihrer
Mitglieder in die Aufsichtsbehörde für die In-
nungen. Die G«werbekammer Lübeck entsendet
in die Behörde für die Gewerbeschule und Bau-
fewerksschule zwei Mitglieder. Die Gewerbe-
ammer von Hamburg ernennt alljährlich be-
eidigte gewerbliche Sachverständige. Die Lü-
becker Gewerbekammer übt das Vorschlags-
recht für solche aus. Dieselben haben in vor-
kommenden Fällen auf Requisition der Gerichte
oder auf Antrag von Privatpersonen über Güte
und Preis der in ihr Fach einschlägigen Arbei-
ten Gutachten abzugeben. Diese Sachverstän-
digen werden in Hamburg von dem Kommissar
für die Gewerbekammer, nämlich einem Mit-
gliede des Senats, in Lübeck vom Stadt- und
Landamt in Eid genommen. Es werden die
Gutachten der Sachverständigen von der Ge-
werbekammer beglaubigt und nach Liquidierang
der Kosten und Erhebung einer Beglaubigungs-
gebühr aus den bei ihr geleisteten Einzahlungen
honoriert. Ausserdem oenennt die Kammer den
Gerichten im Einzelfalle Sachverständige.
Durch G. V. 22. Januar 1879 erhielt die Ge-
werbekammer in Hamburg die Befugnis, die von
den gewerblichen Korporationen ausgestellten
Lehrbriefe zu beglaubigen, und so weit erstere feh-
len, diese selbst auszustellen, ferner genehmigte
der Senat, dass die Gewerbekammer die ihr
eingereichten Lehrverträge auf ihre Gesetzlich-
keit sowie daraufhin zu prüfen habe, ob sie
504
Grewerbekammeni
zur Begründung eines soliden Lehrverhältnisses
geeignet seien ; da ein Zwang znm schriftlichen
Ahscnlnsse von Lehrverträgen und zum Ein-
reichen derselben an die Gewerbekammer bisher
fehlte, so hat dieselbe auf diesem Gebiete eine
nur geringe Thätigkeit zu entwickeln ver-
mocht. Ebenso kommt die Beglaubigung von
Lehrbriefen oder die Ausstellung derselben nur
noch selten vor, da mit der Entwickelung der
Innungen und der Einführung der Innungs-
lehrbnefe eine derartige Thätigkeit fast über-
flüssig geworden ist.
Das G. V. 2. Juni 1882, abgeändert durch
die Bekanntmachung, betreffend die Zuständig-
keit für das gewerbliche Innungswesen, vom
28. März 1898 bestimmt endlich, dass die Auf-
sichtsbehörde für die Innungen aus einem Se-
nator als Vorsitzenden und zwei von der Ge-
werbekammer zu entsendenden Mitgliedern be-
stehen soll und diese Behörde zugleich auch
als höhere Verwaltungsbehörde zu fungieren habe.
Die hanseatischen Gewerbekammem sind
also nicht nur reine Interessenvertretungen,
sondern sie haben behördlichen Charakter und
mannigfache Aufgaben der staatlichen Verwal-
tung mit zu erfüllen.
Die hanseatischen Gewerbekammern werden
voraussichtlich auch nach dem Inkrafttreten der
§§ 103— 103 q der R.G.O., betreffend die Hand-
werkskammern, erhalten bleiben.
In Lübeck ist durch das G. v. 18. Juli 1898
die Gewerbekammer den Bedingungen des
§ 103 q entsprechend organisiert worden. Es
^ehen die Mitglieder, soweit sie mit der Ver-
tretung der Interessen des Handwerks betraut
sind, aus Wahlen von Handwerkern hervor,
denn die W^ahlen sind in solche von Handwer-
kern und Industriellen getrennt, femer ist
nach Art. 21 des neuen Lübeckschen Gesetzes
bestimmt, dass die auf Grund der Bestimmungen
der §§ 129—133 der G.O. zu fassenden Be-
fidilüsse in gesonderter Abstimmung der Ver-
treter der Handwerker erfolgen, mt Inkraft-
treten der Handwerkskammervorschriften wer-
den von der Kammer auch die Hechte und
Pflichten der Handwerkskammer ausgeübt
werden.
Bremen hat ebenfalls durch Gesetz, betref-
fend Znsatz zum Gewerbekammergesetz, v.
31. März 1898 sich den Bestimmungen des § 103 q
anzupassen gesucht, indem es dem § 29 folgen-
•den Absatz angefügt hat.
„Bei Angelegenheiten, die nur das Hand-
werk betreffen, dürfen die dem Handwerk
nicht angehörenden Mitglieder an der Ab-
stimmung nicht teilnehmen. Ob ein solcher
Fall vorflegt, entscheidet im Zweifel die Ge-
werbekammer nach Stimmenmehrheit der an-
wesenden Mitglieder."
Es unterliegt daher wohl keinem Zweifel,
dass die Landes-Centralbehörde Bremen, d. h.
der Senat beim Inkrafttreten der Haudwerker-
kammern die Wahrnehmreng der Eechte und
Pflichten dieser Kammern ihrer bewährten Ge-
werbekammer übertragen wird.
In Hamburg ist eine Keorganisation der
Gewerbekammer zur Zeit noch nicht erfolgt.
Die Verhandlungen über diese Frage sind noch
nicht zum Abschluss gelangt. Es dürfte aber
auch in Hamburg die Erhaltung der seit 25
Jahren bestehenden Gewerbekammer aller Vor-
aussicht nach das Resultat der zur Zeit noch
schwebenden Frage sein.
3* Die 6. im übrigen DentBchluid«
a) Sachsen. Im Königreich Sachsen wur-
den durch das Gewerbegesetz v. 15. Oktober
1861 fünf Handels- und Gewerbekammern
in Dresden, Leipzig, Chemnitz, Plauen und
Zittau errichtet. Durch das G. v. 23. Juni 1868
wurden die Bestimmungen über diese Kammern
reformiert und in der V. v. 16. Juli 1868 aus-
drücklich bestimmt, dass in Leipzig die Han-
dels- und Gewerbekammer vollständig getrennte
Kollegien bleiben sollten, während die vier übri-
gen vereint thäti^ sind. Der Bezirk der ein-
zelnen Kammern ist ebenfalls durch die V. v.
16. Juli 1868 bestimmt.
In die Gtewerbekammer sind wahlberechtigt
nach diesem Gesetz alle dem Bezirk angehörigen
Gewerbetreibenden, welche
a) als Kauflente oder Fabrikanten mit we-
niger als 10 Thalem, aber mindestens
mit 1 Thaler besteuert oder
b) ohne zu ersteren zu gehören, im Ge-
werbekataster mit mindestens 1 Thaler
angesetzt,
c) 25 Jahre alt und
d) nicht vom Gemeindestimmrecht oder den
staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen
sind.
Diese Bestimmungen wurden beim Fortfall
der Gewerbesteuer in ^Sachsen geändert. Das
darauf bezügliche G. v. 2. August 1878 sagt:
„Hinsichtlich des geordneten Census für die
Wahlen zu den Handels- und Gewerbekammem
tritt an die Stelle der ordentlichen Gewerbe-
steuer das im Ortskataster eingetragene, nach
§ 17 a und § 21 des Einkommensteuergesetzes
V. 2. Juli 1878 abgeschätzte Einkommen, und
zwar nach Höhe
a) von über 600 Mark für die Stimmberech-
tigung und Wählbarkeit zu den Ge-
werbeKammern ;
b) von über 1900 Mark für die Stimmbe-
rechtiguug und Wählbarkeit zu den
Handelskammern.
Es sind also alle Gewerbetreibenden, seien
es Kaufleute, Fabrikanten oder Handwerker
zur Gewerbekammer stimmberechtigt und wähl-
bar, welche weniger als 1900, aber mindestens
600 Mark gewerbliches Einkommen besitzen.
Zu den sächsischen Gewerbekammem ist
also, ganz im Gegensatz zu den hanseatischen
Gewerbekammern auch der kleinere Kaufmann
stimmberechtigt und wählbar, jedoch befindet
sich meist nur ein, selten mehrere Mitglieder
des Kaufmannstandes in der Gewerbekammer.
Die sächsischen Gewerbekammem sind Or-
ganisationen, in denen nur der Klein^ewerbe-
stand vertreten ist, es finden sich in ihnen je-
doch stets auch kleine Fabrikanten und Perso-
nen, die zwischen Fabrik und Handwerk stehen.
Die Grossindnstrie ist von den Gewerbekammem
fänzlich ausgeschlossen, da ein Optionsrecht für
lese nicht besteht.
Die Wahlen sind in Sachsen indirekt. Die
Urwahlen erfolgen nach räumlichen Wahlabtei-
lungen. Die ^ahl der Wahlmänner ist durch
die Einsetzungsordnung bei den Handelakam-
mem mindestens auf das Doppelte, bei den Ge-
werbekammem mindestens auf das Dreifache
der Mitglieder festgesetzt. Die Wahlen erfol-
Gewerbekammeni
505
fen anf 6 Jahre, alle 3 Jahre wird die Hälfte
er Mitglieder erneuert. Yakaozen, welche in
der Zwischenzeit eintreten, werden durch die
Wahl der Kammer ersetzt. Jede Kammer
wählt ihren Vorsitzenden und dessen Vertreter.
Die Mitglieder fungieren unent^ltlich, sie haben
1'edoch Anspruch auf Entschädigung der Reise-
kosten. Die Kosten werden von den Gewerbe-
treibenden aufgebracht.
Im übrigen ist die Organisation der Ge-
werbekammer die gleiche wie bei den Handels-
kammern (siehe diese) und haben sie ähnliche
Aufgaben und Befugnisse.
Die sächsischen Handels- und Gewerbe-
kammem sind ebenfalls konsultative Organe.
„Sie haben dem Ministerium des Innern
tmd der Regierungsbehörde als sachverständige
Organe in Fragen zu dienen, welche Handel
und Gewerbe des ganzen Landes oder des Be-
zirkes angehen. Soweit es die Verhältnisse
Irgend gestatten, sollen dieselben, beziehentlich
die Handels- oder die Gewerbekammer bei jeder
wichtigen Angelegenheit dieser Art gehört
werden. Die Kammern sind ferner, eine jede
in ihrem Bereiche, die Vertreter der gemein-
schaftlichen Handels- und Gewerbeinteressen
und befugt, selbständig Anträge und Wünsche
an das Ministerium des Innern oder die Re-
gierungsbehörde des Bezirks zu richten. Schliess-
uch haben die Kammern noch jährlich einen
Bericht an das Ministerium des Innern zu er-
statten."
In Sachsen sind die Handels- und die Ge-
w^erbekammern daher nicht nach wirtschaft-
lichen Gesichtspunkten wie bei den hanseatischen
Kammern geschieden, sondern nach rein äusser-
Uchen formalen Momenten, nämlich nach dem
Einkommen der in Frage kommenden Personen
bestimmt. In der Hauptsache werden die
•Sitzungen der Handels- und der Gewerbekammer
in Sac^hsen gemeinsam abgehalten. Sonder-
sitzungen der Gewerbekammer finden im allge-
meinen nur für rein kleingewerbliche und Hand-
werksangelegenheiten selten statt.
Die Frage der Erhaltung der sächsischen
Gewerbekammem ist ebenfalls noch nicht ent-
schieden. In einer Verordnung des königlichen
Ministeriums des Innern v. 12. Dezember 1897,
•betreffend die Organisation der sächsischen
Handels- und Gewerbekammem unter dem Ein-
flüsse des Reichsgesetzes v. 26. Juli 1897 spricht
sich das genannte sächsische Ministerium dahin
aus, den Handels- und Gewerbekammem auf
Grund des im § 103 q der R.G.O. in der Fas-
sung der Novelle v. 26. Juli 1897 die Wahr-
nehmung der Rechte und Pflichten der Hand-
werkskammer innerhalb ihrer Bezirke und zwar
zunächst für die Dauer einer nicht zu kurz
bemessenen üebergangsperiode zu übertragen.
In einer ausserordentlichen Zusammenkunft
der Vorsitzenden und Sekretäre der sächsischen
Handels- und Gewerbekammem v. 15. Januar
1898 zu Dresden, an der auch Vertreter des
Ministeriums teilnahmen, wurde diese Anschau-
ung des Ministeriums einmütig gebilligt. Eine
Entscheidung ist zur Zeit noch nicht getrofi'en.
Es unterliefi^t jedoch wohl nach den Vorver-
■handlungen keinem Zweifel, dass die sächsischen
Gewerbekammem mit der Wahrnehmung der
Rechte und Pflichten der Handwerkskammern
betraut werden dürften, jedenfalls solange bis
sich die Erfolge der Handwerkskammem über-
sehen lassen. Man will also auch in Sachsen
alte Einrichtungen nicht Preis geben, bevor
man weiss, ob sich denn die Handwerkskammern
wirklich bewähren werden.
b) Bayern. In Bayern liegt die Förderung
und Vertretung der Interessen des Handels,
der Industrie und der Gewerbe den Handels-
und Gewerbekammem und den Bezirksgremien
für Handel und Gewerbe ob. Für jeden Regie-
rungsbezirk hat eine' Handels- und Gewerbe-
kammer zu bestehen. Hier sind also schon durch
Gesetz die Bezirke festgesetzt.
Bezirksgremien für Handel und Gewerbe
werden nur für Orte oder Bezirke, wo ein Be-
dürfnis hierfür obwaltet, auf Rechnung der
Beteiligten mit Genehmigung des Staats-
nunisteriums des Innem, Abteilung für Land-
wirtschaft, Gewerbe und Handel gebildet. Die
Sitze dieser Organe sowie deren Bezirke wer-
den ebenfalls vom Staatsministerium des Innem
bestimmt.
Die Handels- und Gewerbekammem be-
sitzen in Bayem folgende Kompetenzen: „Die-
selben haben den Staatsbehörden als begut-
achtende sachverständige Organe in Fragen zu
dienen, welche Handel, Industrie und Gewerbe
betreffen. Dieselben sind, soweit thunlich, bei
jeder wichtigen Angelegenheit dieser Art zu
hören. Sie sind femer zur Wahrnehmung der
Interessen von Handel, Industrie und Gewerbe
des betreffenden Regierungsbezirkes berufen und
daher befugt, die zur Fördemng derselben ge-
eigneten Einrichtungen zu beraten und bei der
zuständigen Behörde anzuregen.
Dieselben üben die ihnen durch besondere
Gesetze, Verordnungen und Ministerialvorschrif-
ten übertragenen Funktionen ans. Ihnen kann
sodann mit ihrer Zustimmung die Verwaltung
oder die Aufsicht über die Verwaltung von An-
stalten und Einrichtungen, welche zur Förde-
rung des Handels, der Industrie und der Ge-
werbe bestehen, übertragen werden.
Dieselben haben alljährlich, und zwar
längstens bis Ende Mai, an das Staatsministerium
des Innem, Abteilung für Landwirtschaft, Ge-
werbe und Handel, einen Bericht über die Lage,
die Verhältnisse und die Bedürfnisse des Han-
dels, der Industrie und der Gewerbe ihres Be-
zirks zu erstatten und können hierbei bezüg-
liche Wünsche und Anträge vorbringen und
begründen.
Schliesslich haben sie mit den im Regie-
rungsbezirke bestehenden Handels- und Gewerbe-
gremien den erforderlichen Verkehr zu unter-
halten und in allen wichtigeren Fragen sowie
bei Erstattung des Jahresberichtes sich ihrer
Mitwirkung zu versichern."
Die bayerischen Handels- und Gewerbe-
kammem bestehen aus zwei Abteilungen:
1. der Handelskammer für Handel und In-
dustrie,
2. der Gewerbekammer für die übrigen Ge-
werbe.
Wahlberechtigt sind zur Handelskammer
alle Personen, welche am Sitz der Kammer
selbständig ein zur Gewerbesteuer veranlagtes
Gewerbe betreiben und als Inhaber oder persön-
lich haftende Teilhaber der betreffenden Han-
delsfirma im Handelsregister eingetragen sind
(ausgenommen Apotheker), femer die am
506
öewerbekanimem
Sitze der Kammer wohnenden Yorstandsmit-
flieder derjenigen Handelsgeschäfte betreiben-
en Aktiengesellschaften und eingetragenen
Genossenschaften, welche ebendaselbst ihren
Sitz haben.
Zur Gewerbekammer sind wahlberechtigt
alle übrigen Personen, welche am Sitze der
Kammer selbständig ein zur Gewerbesteuer
veranlagtes stehendes Gewerbe betreiben und
in Orten mit einer Beyölkerung von mehr als
20000 Einwohnern mindestens ö Mark, mehr als
4000-20000 Einwohnern mindestens 4 Mark,
4000 und weniger Einwohnern mindestens 3 Mark
Gewerbesteuer entrichten.
Die Eintragung einer Firma in das Han-
delsregister ist hier also das Hauptscheidungs*
merkmal zwischen Handels- und Gewerbekam-
mer. Es können sich daher auch in der bayeri-
schen Gewerbekammer Kaufleute, d. h. kleine
Krämer, die keine eingetragene Firma haben,
befinden, und dies ist vielfach in denselben
der Fall.
Ferner gehören zu den- Kammern, ausser
den am Sitz der Kammer wohnhaften, auch
noch auswärtige Mitglieder. Als solche fungieren
die Abteilung^vorsitzenden der Handels- und
Gewerbegremien des Kegierungsbezirks bezw.
deren Stellvertreter; dieselben schliessen sich
den entsprechenden Abteilungen der Kammer an.
Die Wahl zur Handels- und Gewerbekam-
mer ist eine direkte. Jedoch sind nur diejeni-
gen zur Teilnahme an der Wahl berechtigt,
welche in die Wählerlisten eingetragen sind.
Zu diesem Zwecke erlässt die Distriktspolizei-
behörde mindestens 6 Wochen vor dem Wahl-
tage unter Anberaumung einer Frist von 14
Tagen eine Öffentliche Aufforderung zur An-
meldung des Anspruchs zur Aufnahme in die
Wählerlisten.
Die Wahlen erfolgen auf 6 Jahre. Alle 3
Jahre scheidet die Hälfte aus.
Jede Abteilung wählt aus ihrer Mitte einen
Vorsitzenden und einen Stellvertreter des-
selben. Der Vorsitzende der Handelsabteilung
ist zugleich Vorstand der Handels- und Gewerbe-
kammer.
Die Mitglieder versehen ihre Stellen un-
entgeltlich, jedoch haben die auswärtigen Mit-
glieder Anspruch auf Ersatz der Barausla^en
für die Reise (Eisenbahnbillets und sonstige
Fahrkosten).
Die Kosten der Handels- und Gewerbe-
kammern werden durch Zuschüsse aus Kreis-
und Central fonds für Industrie und durch Bei-
träge der Wahlberechtigten gedeckt.
Für jede Kammer wird von der Königlichen
Regierung, Kammer des Innern, ein Königlicher
Kommissar ernannt. Derselbe hat den Sitzun-
gen in der Regel beizuwohnen. Er kann jeder-
zeit das Wort verlangen, ein Stimmrecht steht
ihm jedoch nicht zu.
Den Bezirk.sgreraien für Handel und Ge-
werbe liegt die Förderung und Vertretung der
Interessen des Handels, der Industrie und der
Gewerbe ihres Bezirks in gleicher Weise wie
den Handels- und GewerbeKammem ob. Sie
haben bei der Ernennung der Handelsmäkler
und Handelsrichter nach Massgabe der be-
stehenden Vorschriften mitzuwirken. Sie lie-
fern den Handels- und Gewerbekammem Ma-
terialien zur Erstattung des Jahresberichtes
und haben ausserdem die sonstigen, ihnen von
den Handels- und Gewerbekammem oder den
Distriktsverwaltungsbehörden ihres Bezirks zu-
fehenden, auf ihren Wirkungskreis bezüglichen
nsinnen zu erledigen.
Die Bezirksgremien bestehen in der Regel
aus zwei Abteilungen. Es kann jedoch für einen
Ort auch nur ein Handels- oder nur ein Gewerbe-
gremium gebildet werden.
Die Bezirksgremien haben sich jedoch we-
nig bewährt und nur geringe Lebensfähigkeit
erlangt.
In Bayern ist eine Entscheidung über das
Schicksal der Gewerbekammem beim Inkraft-
treten der Handwerkskammem zur Zeit ge-
troffen. Seitens des königlichen Staatsministe-
riums des Innem erging unterm 15. Oktober 1897
an die bayerischen Kammern der Auftrag zur
gutachtlichen Aeusserung darüber, ob es sich
empfiehlt, unter Belassung der seitherigen Han-
dels- und Gewerbekammem eigene Handwerks-
kammern zu errichten oder unter entsprechender
Umbildung der Gewerbekammem diese mit
Wahrnehmung der Rechte und Pflichten des
Handwerks zu betrauen. In Anbetracht der
hohen Wichtigkeit der Frage berief die ober-
bayerische Gewerbekammer einen bayerischen
Gewerbekammertag auf den 29. November nach
München ein. Auf diesem Gewerbekammertag
wurde der Beschluss gefasst, in Bayem eigene
Handwerkskammem zu errichten. Um jedoch
den von den Handwerkskammern ausgeschlos-
senen Gewerben (Kleinhandel) eine Vertretung
zu sichern, ferner dem gesamten Gewerbe Ge-
legenheit zu geben, an den für Handel, Industrie
und Gewerbe gemeinsamen Beratungsgegen-
ständen teilzunehmen, soll ausserdem vorläufig
die seitherige Organisation der Handels- und
Gewerbekammem heibehalten werden.
Inzwischen ist in Bayem entschieden wor-
den, dass die Handels- und Gewerbekammem
erhalten werden und neben diesen 8 Handwerks-
kammem ins Leben treten sollen. Es werden
also zunächst die Gewerbekammem erhalten
bleiben.
c) Baohaen-Weimar-Eisenaoh. Die Ge-
werbekammer für das Grossherzogtum Sachsen-
Weimar-Eisenach hat die Interessen nicht nur
der Grossiudustrie , sondern auch des Klein-
gewerbes zu vertreten. Jedoch befinden sich
auch Vertreter des Handelsstandes mit in der
Kammer.
Die Gewerbekammer zu Weimar besteht
kraft V. V. 5. Mai 1877 und besitzt 22 Mit-
glieder.
Dieselben setzen sich zusammen aus drei
von der Regierang, sechs von ie einem Bezirks-
ausschuss und zwölf von den als wahlberechtigt
anerkannten Gewerbe vereinen des Landes ge-
wählten Personen.
Zu diesen tritt noch ein Grossherzoglicher
Regierungskommissar, welchem zugleich die
Funktionen eines geschäftsführenden Mitgliedes
der Gewerbekammer übertragen sind. Wählbar
sind alle im Grossherzogtum domizilierten Per-
sonen, welche 25 Jahre alt und nicht von den
staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen sind.
Zuerst haben die Gewerbevereine, dann die Be-
zirksausschüsse und zuletzt hat die Regierang
zu wählen. Zur Teilnahme an den Wahlen
sind nur die wirklichen Mitg^lieder der behörd-
Gewerbekammern
507
lieh als wahlberechtigt anerkannten Gewerbe-
vereine, nach Massc^abe der von dem Staats-
ministeriam bezüglich der Gewerbekammer
genehmigten Statuten dieser Vereine, berechtigt.
Die Dauer der Wahlperiode ist eine vier-
jährige, alle zwei Jahre scheidet die HäJf te aus.
Wiederwahl ist zulässig. Die Gewerbekammer
geniesst eine staatliche Unterstützung. Ihre
Aufgaben sind insbesondere:
^^alljährlich dem Grossherzoglichen Staats-
ministerium, Depai*tement des Innern, über
den Znstand der Industrie des Grossherzog-
tums, über wünschenswerte Verbesserungen
und die Mittel zur Ausführung derselben Be-
richt zu erstatten:
demselben auf Verlangen über Gegen-
stände des Gewerbelebens sowie des öffent-
lichen Verkehrs Gutachten abzugeben;
statistische Notizen über Gegenstände der
Gewerbeindnstrie zu sammeln und zu diesem
Zwecke von den Gewerbetreibenden die er-
forderliche Auskunft zu erwirken;
als Vertreterin der Gewerbsinteressen ihr
ans den Kreisen der Gewerbetreibenden zu-
fehende sowie selbständig von ihr gefasste
nträge an das Grossherzogliche Staats-
ministerium zu richten."
Die Gewerbekammer soll sich sodann zur
Schaffung der nötigen Unterlagen für ihre Be-
ratungen, soweit thunlich, der Gewerbevereine
bedienen. Sie soll diese* zu beleben suchen und
auf eine organische Verbindung derselben unter-
einander hinwirken.
Die Kompetenzen sind also wesentlich be-
schränkter als bei den hanseatischen Gewerbe-
kammem. Die Weimarer Kammer hat das Be-
sondere, dass sie in enge Verbindung zu den
Gewerbevereinen gebracht ist, auf die sie för-
dernd einwirken soll. Zur Erledigung der lau-
fenden Arbeiten sowie zur Behandlung aller
derjenigen Geschäfte, welche ihm von der
Kammer überwiesen werden, besteht ein stän-
diger Ausschuss, welcher aus dem Eegierun^-
kommissar, den beiden Vorsitzenden und vier
weiteren Mitgliedern der Kammer gebildet
wird. Derselbe soll in der Regel viermal im
Jahre zusammentreten. Die Gewerbekammer
selbst tritt nur auf Berufung der Regierung
zusammen.
Diese Gewerbekammer für das Grossherzog-
tum Sachsen-Weimar-Eisenach, welche bisher
auch gleichsam die Funktionen einer Handels-
kammer mit zu versehen hatte, wird nicht er-
halten bleiben. Es ist bereits dem Landtag
der Entwurf, betreffend die Gründung einer
Handelskammer nach preussischem Muster zu-
fegangeu. Neben dieser Handelskammer soll
ann auf Grund des Reichsgesetzes eine Hand-
werkskammer geschaffen werden.
d) Württemberg. In Württemberg be-
stehen bereits seit der V. v. 19. September 18ö4
Handels- und Gewerbekammem, diese wurden
umgestaltet durch V. v. 17. Februar 1858 und
reorganisiert durch G. v. 4. Juli 1874, nach
Massgabe dessen sie jetzt existieren. Diese
acht württembergischen Handels- und Gewerbe-
kammem sollen zwar nach Art. 1 des Gesetzes
als Organe des Handels- und Gewerbestandes
dienen und die Gesamtinteressen der Handels-
und Gewerbetreibenden ihres Bezirkes wahr-
nehmen, sie sind je loch in Wirklichkeit reine
Handelskammern, in denen der Ellein^werbe-
stand keine gesonderte Vertretung findet.
Es sind zur Wahl nach dem Gesetz die-
jenigen Handels- und Gewerbetreibenden und
Handelsgesellschaften berechtigt, welche
1. als Inhaber einer mit Gewerbesteuer be-
legten Firma in das für den Bezirk der
Handels- und Grewerbekammer geführte
Handelsregister eingetragen sind oder,
sofern dies nicht der Fall ist,
2 in dem Kammerbezirk zur Gewerbesteuer
veranlagt sind und ihre Aufnahme in die
Wählerliste vor der Wahl rechtzeitig an-
gemeldet haben und infolge dieser An-
meldung in die Wählerlisten aufgenommen
worden sind.
Die württembergischen Kammern sind also,
obgleich sie Handels- und Gewerbekammer
heissen, doch nur reine Handelskammern, in
denen von einer Vertretung des Handwerks
nicht die Rede sein kann. Aus diesem Grunde
würde Württemberg auch von der Bestimmung
des § 103 q überhaupt nicht Gebrauch machen
können. In Württemberg werden daher neben
der Handelskammer vier reine Handwerker-
kammem in Stuttgart, Reutlingen, Heilbronn
und Ulm entstehen.
e^ Sachsen-MeinisgeD. Aehnlich ist auch
das Verhältnis bei den vier sachsen-meiningi-
schen Handels- und Gewerbekammern zu Hild-
burghausen, Meiningen, Saalfeld und Sonne-
berg. Dieselben bilden ebenfalls nur ein Kol-
legium.
Nach einer Verfugung v. 22. Dezember 1888,
betreffend die Handels- und Gewerbekammern
im Kreise Meiningen, müssen von den 21 Mit-
gliedern dieser Kammern nach § 2 ein Drittel
aus den Vertretern des Kleingewerbes und Hand-
werksstandes entnommen werden.
Bei Zweifel über die Zugehörigkeit zu dem
Kleingewerbe oder Handwerkerstand entscheidet
bei Prüfung der Wahl die Kammer selbständig.
Durch eine weitere Verfügung v. 3. Juli 181^
ist die Wahlberechtigung und Mitgliedschaft zu
dieser Kammer in folgender Weise festgesetzt.
Für die Handels- und Gewerbekammer sind
wahlberechtigt und wählbar:
„Wer im Kammerbezirk Handel, Gewerbe
oder Bergbau betreibt und Einkommensteuer
oder mindestens 3 Mark terminlich Klassen-
steuer bezahlt, und zwar wenn er
a^ 25 Jahre alt ist,
b) seit mindestens einem Jahr im Bezirk ein
Geschäft besitzt und
c) sich im Genuss der bürgerlichen Ehren-
rechte befindet.
Desgleichen sind, unter den aufgeführten
Voraussetzungen wahlberechtigt und wählbar
die Vertreter der im obigen Bezirk befindlichen
Gewerbeanlagen, Geld- und Kreditinstitute oder
Handelsniederlassungen von Privatpersonen, des
Fiskus, der Gemeinden und Aktiengesellschaften,
welche Einkommensteuer von mindestens 3 Mark
terminlich Klassensteuer entrichten oder doch,
anlangend die fiskalischen Anlagen, falls sie
Privatpersonen gehörten, zu entrichten haben
würden, ebenso die Vertreter der* in dem er-
wähnten Bezirke befindlichen Sparkassen, Spar-
und Vorschussvereine und sonsftiger Genossen-
schaften im Sinne der Reichsgesetzgebung,
welche zur Einkommensteuer oder zur Klassen-
508
Grewerbekammera
stener mit mindesteiis 3 Mark terminlich heran-
gezogen sind oder, wenn dies nicht der Fall
ist, deren jährlicher Reingewinn einen der ge-
dachten Besteuerung entsprechenden Betrag
erreicht.
Die Wahlstimme einer Aktiengesellschaft,
Genossenschaft oder einer anderen vorbezeich-
ueten Vereinigung darf nur durch ein in das
Handels- bezw. Genossenschaftsregister einge-
tragenes Vorstandsmitglied, die einer Person
weiblichen Geschlechts oder einer unter Vor-
mundschaft stehenden Person durch einen min-
destens 26 Jahre alten und im Genuss der
bürgerlichen Ehrenrechte befindlichen Bevoll-
mäcntigten bezw. durch den Vormund vertreten
werden.
Das Stimmrecht des Fiskus wird durch die-
jenigen Beamten ausgeübt, welchen von dem
Herzoglichen Staatsministerium, Abteilung der
Finanzen, die Leitun/^ der betreffenden Unter-
nehmung Übertragen ist.
Wer nach vorstehenden Bestimmungen in
dem Handelskammerbezirke mehrfach stimm-
berechtigt ist, darf gleichwohl nur eine Wahl-
stimme abgeben."
Es ist hier ausdrücklich ausgesprochen,
das» mindestens ein Drittel der Mitglieder dem
Kleingewerbe angehören muss. In den Be-
stimmungen, die für die anderen Kammern in
Kraft stäen, ist dies nicht der Fall, doch ist
auch bei ihnen die Wahlberechtigung nicht auf
die Eintragung in das Handelsregister be-
schränkt, so dass in ihnen Kleingewerbe-
treibende, soweit sie nur 3 Mark terminliche
Klassensteuer bezahlen, wahlberechtigt sind.
Diese Kammern haben als begutachtendes
und sachverständiges Organ in Fragen zu dienen,
welche Handel, Gewerbe und Industrie betreffen,
sie sind zugleich Vertreterin der Interessen der-
selben und deshalb befugt, selbständig bei der
Landes- wie Reichsregierung Anträge zu stellen.
Auch diese Kammern sind, obgleich sie
Handels- und Gewerbekammer heissen, eigent-
lich als reine Handelskammern anzusehen. Seit
dem 1. Januar dieses Jahres sind nun die Hand-
werker, welche sich noch in der Kammer be-
fanden, ausgeschieden. Es soll für das ganze
Herzogtum neben diesen vier Handelskammern
in Zukunft eine Handwerkerkammer, die voraus-
fiichtlich ihren Sitz in Meiningen hat, geschaffen
werden.
In den übrigen deutschen Staaten findet
das Gewerbe wenigstens teilweise seine Berück-
sichti^ng in den Handelskammern, entbehrt
aber im wesentlichen abgesonderter eigener Ver-
tretungskörper.
III. Die Gewerbokamiiiern in FraDkreich.
a) Geschichte. Das G. v. 22. Germinal
XI (12. April 1803) ordnete die Errichtung von
Gewerbekammem (Chambres consultatives des
arts et manufactures) neben den schon seit 1650
bestehenden Handelskammern (s. d.) an. Ihre
Organisation wurde durch Dekret v. 10. Ther-
midor XI (29. Juli 1803) bestimmt. Sie sollten
ursprünglich als offizielle Organe der Industrie
dienen in den Orten, wo keine Handelskammern
bestanden und eine grössere Zahl industrieller
Unternehmungen vorhanden war. In der ersten
Zeit lediglich aus Industriellen gebildet, wur»
den später die Handeltreibenden in gleicher
Weise zugelassen, wie in den Handelskammern
auch die Industrie ihre Vertretung erhielt.
Gegenüber letzteren unterscheiden sich die Ge-
Werbekammern durch einen geringen Umfang
ihres Bezirkes und eine minder mannigfache
Vertretung wirtschaftlicher Interessen sowie
dadurch, dass ihre Kosten nicht, wie bei den
Handelskammern, durch alle der Gewerbesteuer
Unterworfenen auf^bracht, sondern von der
Gemeinde des Standortes gedeckt werden und
sie im Conseil sup6rieur du commerce nicht
vertreten sind. Die ursprüngliche Organisation
der Gewerbekammem eifuhr im Laufe der Zeit
Abänderungen durch die Ordonnanz v. 16. Juni
1832, die Regierungsverordnung v. 19. Juni 1848,
das G. V. .30. August 1862, das Dekret v. 24.
Oktober 1863, endlich in umfassender Weise
durch ein Dekret v. 17. Januar 1872.
b) Organisation. Die Gewerbekammem
werden auf Antrag der Gemeindevertretung
und Zustimmung des Generalrates und des
Präfekten des Departements durch ein Dekret
der Kegiemng errichtet, welches zugleich den
Kammerbezirk festsetzt. Dieser bestät je nach
den Verhältnissen aus der Gemeinde des Stand-
ortes oder aus mehreren Gemeinden, aus dem
Arrondissement oder gar dem ganzen Departe-
ment. Die Zahl der Mitglieder der Gewerbe-
kammer beträgt 12, und ausser diesen hat der
oberste Verwaltungsbeamte des Standortes (Prä-
fekt, Unterpräfekt oder Maire) eine Virilstimme
und das Ehrenpräsidium in der Kammer. Fällt
der Bezirk in den Bereich eines Handelstribu-
uals, so werden die Mitglieder der Gewerbekammer
durch die Wähler für das Handelstribunal ge-
wählt, sonst wird nach gleichen Grundsätzen
eine besondere Wählerliste aufgestellt. Diese
Listen werden durch eine Kommission gebildet,
welche aus der Gesamtzahl der Kaufleute und
Gewerbetreibenden, die im Bezirke in der Pa-
tentrolle eingetragen sind (d. h. eine Gewerbe-
steuer entrichten), eine Anzahl von V'k, aus-
wählt. Diese Wahlmänner wählen die Mit-
glieder der Gewerbekammer durch Listenwahl
unter Vorsitz des Maire bei g^eheimer Abstim-
mung mit absoluter Mehrheit im ersten, mit
relativer Mehrheit im eventuellen zweiten Wahl-
gange (G. V. 21. Juli 1871 anwendbar für
Gewerbekammern nach dem Dekret v. 22. Ja-
nuar 1872). Wählbar ist jeder in der Patent-
rolle eingetragene Handel- oder Gewerbetrei-
bende, welcher seit mindestens 5 Jahren sein
Gewerbe im Bezirke betreibt oder ein solches
durch ö Jahre persönlich betrieben hat (aus
diesen darf nicht mehr als ein Dritteil der
Kammermit^lieder gewählt werden), 30 Jahre
alt ist und im Bezirke wohnt. Die Amtsdauer
der Mitglieder beträgt 6 Jahre, und jedes zweite
Jahr findet die Neuwahl von \'^ der Mitglieder
statt; Wiederwahlen sind zulässig. Die Ge-
werbekammer wählt ans ihrer Mitte einen
Präsidenten und einen Sekretär. Die Kosten
der Wahlen und der Verwaltung der Gewerbe-
kammer bestreitet die Gemeinde des Standortes,
welche auch geeignete Sitzungsränme beizu-
stellen hat. Die Zahl der Gewerbekammem
beträgt mehr als 100 ; sie sind dem Ministerium
für Ackerbau und Handel untergeordnet und
haben das Recht, mit demselben unmittelbar zu
verkehren.
Grewerbekammerii
509
c) Aufgaben und BeAigniBse. DieGewerbe-
kammem haben im allgemeinen auf Auffordemng
der Staats verwaltang Gutachten und Berichte zu
erstatten über thatsächliche Verhältnisse und
Interessen der Handel- und Gewerbetreibenden
und ihre Wünsche und Ansichten über den Zustand
von Industrie und Handel und die Mittel zu deren
Hebung Yorzubringen ; im besonderen haben sie
ihr Gutachten über die Errichtung von Gewerbe-
gerichten oder die Abänderung der Jurisdiktion
solcher abzugeben.
lY. Das Verlangen nach Errichtung von
Gewerbekammem in Oesterreich.
Die österreichischen Handels- und Gewerbe-
kammern (s. den Art. Handelskammern)
haben schon seit ihrer Begründung (1848 bezw.
1850) eine obligatorische Vertretung des ge-
samten Gewerbes im weitesten Sinne (Gross-
industrie, Kleingewerbe und Handel) dargestellt,
zu der das Wälrecht nur durch ein Mindest-
ausmass aus Gewerbesteuer begrenzt ist (G. v.
29. Juni 1868). Die einzelnen vom Handels-
ministerium genehmigten Wahlordnungen sollen
dafür 8orgen,dass die Vertretung der verschiedenen
Literessengruppen eine ihrer wirtschaftlichen
Bedeutung entsprechende sei, weshalb die beiden
Sektionen dieser Kammern (Handels- und Ge-
werbeseküon) noch nach der Steuerleistung eine
Unterleitung in Kategorieen, die Wahlkörper für
sich bilden, erhalten. Obwohl hierdurch auch
den Kleingewerbetreibenden eine aktive Anteil-
nahme an den Beratungen gesichert war, wurde
doch aus diesen Kreisen das Verlangen nach
Bildung selbständiger Gewerbekammem (meist
als Handwerkskammern gedacht) oder Teilung
der Handels- und Gewerbekammern, insbesondere
auf dem zweiten österreichischen Gewerbetage
(November 1882) erhoben und im Österreichischen
Abgeordnetenhause ein diesbezüglicher Antrag
am 30. Januar 1883 verhandelt und einer
Kommission zugewiesen. Dieser Antrag hatte
nur die Folge, dass die Regierung eine neue
Wahlordnung für die Handels- und Gewerbe-
kammem ausarbeitete und aktivierte, welche
den kleingewerblichen Kreisen eine grössere
Berücksichtigung bei Aufstellung der Wahl-
körper und Verteilung der Mandate verschafi'te.
Enae 1884 erfolgte sodann die Auflösung aller
Handels- und Gewerbekammern und ihre Neu-
konstituierung auf Grund der neuen Wahlord-
nungen. In den Jahren 1891 und 1897 wurde
neuerlich der Antrag auf Trennung der Kam-
mern gestellt und zuletzt am 13. Mai 1891 ver-
handelt. Die Gründe für die Beibehaltung der
bestehenden Organisation haben die Abgeord-
neten Gomperts und von Plener (1883) sowie
Mauthner (1891) ausführlich auseinandergesetzt ;
sie gipfeln darin, dass gerade die österreichi-
schen Handels- und Gewerbekammem die in der
Einleitung (s. oben) gekennzeichneten Aufgaben
von Gewerbekammem fast durchweg erfüllen,
die Trennung mithin mehr Nachteile brächte
als Vorteile. IJebrigens bilden die Kammern
in Oesterreich politische Wahlkörper, ein Um-
stand, der ihre Teilung noch erschweren würde
und das Verlangen nach ihr zugleich als ein
Schlagwort politischer Parteien erkennen lässt.
Das Schlagwort nach Teilung der Handels-
und Gewerbekammem hat im Laufe der letzten
Jahre seinen Reiz immer mehr verloren. Die
Gewerbetage der letzten Jahre haben zwar die
Forderung nach Teilung der Handels- und Ge*
Werbekammern' theoretisch noch immer iau%e^
stellt, ohne sie aber intensiv zu verfolgen. Es
besteht eben keine Einigkeit darüber, welche
Kreise in diesen neuen Kammern vereinigt
werden sollen; es kommt zumeist nur der Ge-
danke zum Ausdruck, dass ein Teil aus den
bestehenden Handels- und Gewerbekammem
ausscheiden soll.
Die einen sind der Meinung, dass zwischen
Handel und Gewerbe ein so tief gehender
Unterschied bestehe, dass eine gemeinsame Be-
ratung nicht zum Ziele führen könnte. Da-
nach hätte die Handelskammer den Handel und
die Verkehrsgewerbe ohne Unterschied in ihrem
Umfange zu vereinigen, während in der Ge-
werbekammer die Vertreter von Grossindustrie
und Kleingewerbe sitzen sollten. Andere sind
wieder der Ansicht, dass Kleinhandel und Klein-
gew^erbe sehr viele gemeinsame Interessen be-
sitzen, die sie in den bestehenden Kammern
nicht verfolgen könnten, da sie von Grosshandel
und Grossindustrie Überstimmt würden. Dem-
nach sollten nach ihrer Anschauung die Ge-
werbekammem nur Kleinhandel und Handwerk
umfassen. Von dritter Seite wird endlich unter
Gewerbekammem eine blosse Vertretung des
Kleingewerbes verlangt.
Handel und Gewerbe zu trennen, wäre aber
keineswegs so einfach, da die blosse Benennung
im Gewerbeschein doch nur ein formelles Unter-
scheidungsmerkmal angiebt, das keineswegs
immer das Wesen des Betriebes kennzeichnet.
Viele Kleingewerbetreibende sind längst nicht
mehr Produzenten, sondern Händler, z. B. viele
Goldarbeiter und Uhrmacher, die zwar noch
immer einen Steuerschein als Handwerker be-
sitzen, aber oft ^ar nichts produzieren, sondern
sich lediglich mit dem Handel und mit Repara-
turen befassen. Wohin sollen auch die Kon-
fektionäre gereiht werden? Ueberhaupt ist ja
jeder Gewerbetreibende nicht nur zum Verkaufe
seiner Erzeugnisse berechtigt, sondern auch
zum Handel mit gleichartigen Artikeln fremder
Erzeugung. Dies trifft beim Fabrikanten ge-
rade so zu wie beim Kleingewerbetreibenden.
Wenn aber nicht eine einheitliche Vertretung
besteht, müsste auch eine Trennung zwischen
Handel- und Gewerbetreibenden nach richtigeren
Principien als nach dem Gewerbeschein ein-
treten.
Nicht minder schwierig ist die Trennung
zwischen Kleingewerbe und Fabrikindustrie.
AUe Ministerialerlässe waren bis jetzt noch
nicht im stände, die Grenzlinie zweifellos zu
bezeichnen. Es giebt Betriebe, welche mit sehr
kleiner Arbeiterzahl und bei geringer Ertrags-
fähigkeit und demgemäss niedriger Besteuerung
schon völlig fabrilunässigen Charakter besitzen,
während höher besteuerte, umfangreichere
Unternehmungen mit grösserer Arbeiterzahl
doch ganz band wer ksmässig produzieren.
Es ist leicht, einen Unterschied zwischen
den äussersten Proben zu finden, zwischen dem
Bankier und dem Greissler, dem Baum Woll-
spinner und dem Flickschneider, aber schwie-
riger zu sagen, wo der Verschleisser aufhört
und der Kaufmann beginnt,, wo der Schuhmacher
in den Schuhfabrikanten übergeht. Ist es daher
510
Gewerbekammem — Gewerbestatistik
nicht leicht, für die Trennung der bestehenden
Kammern in dieser oder jener Richtung ent-
sprechende Kennzeichen zu finden, so wäre eine
derartige Auflösung der bestehenden Kammern
weder praktisch vom Standpunkte der diesen
Institutionen zukommenden mlher besprochenen
Aufgaben noch von Vorteil für die einzelnen
in den Kammern sitzenden Interessengruppen.
Die grossen wirtschaftlichen Fragen der
Zoll- und Handelspolitik, der Gewerbereformen
etc. ber&hren gentde so den Handel wie das
Gewerbe, die Fabrik wie den Handwerker, wenn
auch oft in verschiedenen Richtungen.
Litteratur : M, Bloch, Chambres eonsultatives des
artt et manufaetures. Dictionnaire de VadminU-
tration fran^aue, Paris 1888, S, 378. — Denk-
schrift der DelegiertenkoTkferenz deutscher Ge-
werbe- bezw. Handels- und Gewerbekammem, be-
treffend die Errichtung von Gewerbekammem
(s. a, m. Jahresbericht der Hamburger Gewerbe-
kammer für 1882 und 1883, S. 65 ff.). — Die
neuen Gewerbekammem in Preussen, Zeilschr,
nExportn, 1885 Nr. 38 und 39. — Ü. Gräteer,
Die Organisation der Berufsinteressen, Berlin
1890, — Gutachten über die Teilung der Han-
dels- und Gewerbekammem (Protokoll der Han-
dels- und Gewerbekammem in Wien, 1883, S.
^'^ ff')' — ^^ Handels- und Gewerbekammem ete.
des deutsehen Reiches, zusammengestellt vom
Bureau des deutschen Handelstages, Berlin 1890.
— «7. J'aeobi, Die Bremische Gewerbekammer in
den Jahren 1849 — 1884, Bremen. — K. v.
Kaufmann, Die Vertretung der wirtschaftlichen
Interessen in den Staaten Europas, Berlin 1879.
— Derselbe y Die Reform der Handels- und
Gewerbekammem, Berlin 1883. — i. Munk,
Selbständige Gewerbekammem, Volksw. Wochen-
schrift 1887, Heft 194 u. 195, Wien. — L, Nagel,
Di^ Hanseatischen Gewerbekammem, ihre Organi-
sation und Wirksamkeit, Jahrb. f. Ges. u. Vene.
VIT, S. 661 ff. — O, Schmoller, Ueber die
Reform der G.O., Verhandl. d. V. f. Sozialp., 5,
S. 173 ff., Leipzig 1878. Schönberg, JI, 3. Aufl.,
S. 627 ff. — A, Steinniann~Bucher , Die
Nährstände und ihre zukünftige Stellung im
Staate, Berlin 1886. — Rudolf Marewh,
Handels- und Gewerbekammem (Separatabdrurk
aus dem Österreichischen St<iat8wörterbucheJ,
herausgegeben von Dr. E. Mise hl er und
Dr. J. Ulbrich, Wien 1895. — Rudolf
Maresch, Ueber Gewerbekammem, Wien 1894.
Im Selbstverlage des Verfassers. — Die Handels-
und Gewerbekammer für Oesterrei^h unter d.
Enns, 1849—1899, Wien 1899. — Kurze Ueber-
sicht über die SSjährige Thätigkeit der Ham-
burgischen Gewerbe kammer f Hamburg 1898.
— Vosberg » Rekow , Die wirtschaftliche
Interessenvertretung und die Reform der preus-
sischen Handelskammern. Sonderabdruck aus
Xr. 576 der Chemischen Industrie, Berlin 1896.
Thilo Hanipke.
(Gewerbeaufnahme.)
I. Aufgabe und Behandlung der
Gewerbeaufnahmen im allgemeinen.
1. "Wesen der Gewerbeaufnahme. 2. Erforder-
nisse einer Gewerbeaufnahme. II. Die &^e-
werbestatistischen Leistungen der
verschiedenen Staaten. 3. Deutschland.
4. Ausserdeutsche Staaten. IIL Die Ergeb-
nisse der Gewerbeaufnahme des Deut-
scheil Reiches von 1895. 6. Die Gewerbe-
betriebe. 6. Die Grösse des Gewerbebetriebes.
7. Die Gewerbetreibenden. 8. Die Betriebsdauer.
9. Die Motorenverwendung. 10. Der Gesamt-
umfang der gewerblichen Unternehmungen.
11. Die Hausindustrie, die Gefängnisarbeit und
die Hausierer. 12. Das Besitzverhältnis.
I. Anteabe nnd Behandlung der Ge-
werbeanfnahmen im allgemeinen.
1. Wesen der Gewerbeanf nähme. Unter
den mannigfachen statistischen Yeranstal-
tungen ziir Ergründung des gewerblichen
Lebens nehmen unbedingt nach Ausdehnung
und Wichtigkeit die eigentlichen sogenannten
Gewerbeaufnahmen den hervorragendsten
Ran^ ein. Während es sich bei den übrigen
Ermittelungsweisen lediglich um die fort-
laufende oder aUjährlich wiederkehrende Er-
fassung einzelner, meist eng begrenzter Ge-
biete, z. B. einzelner Herstellungszweige
oder gewisser bemerkenswerter Vorgänge
in der Industrie, so um Unfälle durch
Maschinen, um das beschäftigte Personal
handelt, haben es die eigentlichen Gewerbe-
aufnahmen mit einer allgemeinen Erhebung
der gewerblichen Entfaltung oder doch ihrer
hauptsächlichsten und bezeichnendsten Er-
scheinungen zu thun. Sie stellen sich deshalb .
gleich den Volks- und anderen wirklichen
grossen Zählungen im engeren Sinne als
allgemeine Umlagen dar, die den ganzen
Kreis der für sie in Betracht kommenden
Gewerbe nach den verschiedenen erhebens-
weilen Richtungen hin ins Auge fassen.
Allerdings erstreckt sich dieser Kreis nicht
auf die Gesamtheit der Gewerbe und noch
weniger auf sämtliche überhaupt au der
Erwerbstliätigkeit teilnehmende Kräfte. Viel-
mehr sind von ihm nicht nur alle jene den
sogenannten freien Benifsarten zugehören-
den gewerblichen Zweige ausgeschlossen, es
stehen auch ausserhalb desselben die Mehr-
zahl der stofferzeugendeu Gewerbe, zumal
die weit verbreitete Landwirtschaft. Im
wesentlichen hat es die Gewerbestatistik
bezw. die Gewerbeaufnahme mit den stoff-
veredelnden oder industriellen, den fabrik-
wie handwerksmässigen Gewerben und in
der Regel zugleich mit denen des Umsatzes,
der Verteilung und der Befördenmg, d. h.
mit denen des Handels und Verkehrs zu
thun. Ein Bild von der Zusammensetzung
der gesamten Bevölkenmg, nach der All
und Weise, wie sie ihren Lnterhalt gewinnt,
lässt sich demnach aus einer Gewerbe-
aufnahme nicht entnehmen. Das ist
Sache der Berufsstatistik (vergl. diesen Art.
oben Bd. II S. 592 ff.), von der sich nicht
Gewerbestatistik
511
allein in diesem, sondern auch in dem
belangreichen Punkte dieGewerbez&hlung vor-
zugsweise darin unterscheidet, dass jene ledig-
lich auf die Personen, je nach dem Ver-
hältnis, in welchem sie zu einem Berufe
stehen, diese aber zunächst auf die gewerb-
lichen Unternehmungen und auf die
ganze Gestaltung des Beüiebes ihr Absehen
haben. Und zwar kommt es bei dieser Auf-
gabe für die Gewerbezählung auf eine der-
artige Veranlagung an, dass die Erscheinungen
der gewerblichen Lebensäusserungen im
ganzen wie im einzelneu in Bezug auf ihre
wirtschaftliche, soziale und auch technische
Entwickelunff zur Erkenntnis gebracht wer-
den. Wenngleich im Hinblick auf den be-
teiligten BevOlkerungskreis beengter als die
Berufsermittelung, hat demgemäss die ge-
werbliche Zählung, was Art und Anzahl der
Zählungsge§[enstände anlangt, doch die an-
sehnlich weiter und tiefer greifenden, ver-
wic^elteren und darum schwierigeren Er-
hebungen anzustellen. Die gewerblichen
Aufnahmen werden hiemach durch solche
über den Beruf keineswegs ersetzt, obschon
bei entsprechender Einrichtung des Er-
hebungsverfahrens die letzteren den ersteren
zu gute kommen. Allerdings hat man es
vielfadi zur Erforschung gewisser gewerb-
lidier Verhältnisse bei einer Berufsermitte-
Inn^ bewenden lassen, so dass ordentliche
und imifassendere Gewerbeaufnahmen ihrer
Umständlidikeit und Kostspieligkeit wegen
bisher immer erst vereinzelt und in Img-^
jährigen Abschnitten, von einer Reihe von
Ländern indessen noch gamicht* veranstaltet
sind.
2. Erfordernisse einer Grewerbeanf-
nahme. Für eine Gewerbeaufnahme, welche
der erwähnten Aufgabe gerecht werden und
ein zuverlässiges wie ausgiebiges Gesamt-
bild der gewerblichen Entwickelung eines
Landes darbieten soll, sind drei Momente in
Betracht zu ziehen: die Beschaffenheit und
die Ausdehnimg der Erhebungsgegenstände,
die Art der Einteilung der in die Erhebung
einbezogenen Gewerbe und das Erhebungs-
verfahren.
WsiA zuförderst die Gegenstände an-
langt, die von den einzelnen Gewerbebe-
trieben zu erheben sein würden, so erscheint
es uaheKogend, dass sie die bei jeder volks-
wirtscliaftlichen Produktion mitwirkenden
Natur-, Arbeits- und Eapitalkräfte auch für
jeden gewerblichen Betrieb entsprechend
zum Ausdruck brächten. Indessen fehlt es
teils an den nötigen Merkmalen für die
statistische Ermittelung, teils an der Mög-
lichkeit oder Geneigtheit, Angaben über eine
Reihe der erforderüchen, meist nicht offen
zu Tage liegenden oder sogar sorglich geheim
gehaltenen Thatsachen zu erlangen bezw. zu
gewS^en. Die Naturkräfte zumal, soweit
sie nicht aus der geographischen Beschaffen-
heit der Gegend oder aus der angewandten
Kraftmaschine hergeleitet werden können,
entziehen sicli der Aufnahme. Das in den
Betrieben wirkende Kapital ist schon eher
festzustellen und auch in mehreren Fällen
sogar ziemlich eingehend festzustellen ver-
sucht worden. So haben z. B. die ameri-
kanischen Censusaufnahmen für die gesamte
Industrie das in den Betrieben enthaltene
Kapital (invested capital), den Wert des zur
Produktion verwendeten Materials und der
gefertigten Erzeugnisse und das nach den
einzelnen verarbeiteten und beigestellten
Gegenständen erhoben. Noch viel weiter ist
das frsuizösische d^nombrement de Tindustrie
manufactiere von 1860 gegangen, welches
auch die Menge der gebrauchten Rohstoffe
nach ihren Bezugländem auseinandergehalten,
die Durchschnittsmenge der jährlidien Er-
zeugnisse, die Art und Menge des Brenn-
materials und den Aufwand dafür erfragte.
Derartige tiefgehende Ermittelungen, so
wünschenswert für eine gründliche Beur-
teilung der Verhältnisse sie auch sein mögen,
rufen indessen immer die Besorgnis wach,
dass sie keineswegs durchweg verständnis-
volle imd gutwillige Beantwortimg finden
werden und daher die Zuverlässigkeit der
Ergebnisse stark zu beeinträchtigen an-
gethan sind. Ja die genannte, eine möglichst
genaue Feststellung der Betriebsmittel be-
zweckende französische Gewerbezählung ist
zum guten Teil infolge solcher allzu ge-
wagten Ausgestaltung ziemlich wertlos aus-
gefallen. Selbst die dem grossen rec^nsement
von 1866 angehörige Aufnahme in Belgien
ist dort selbst als völlig missglückt bezeich-
net und nicht ziu- Veröffentlichung gelangt,
obschon die Fragen längst nicht so weit aJs
die in Frankreich gingen. Immerhin ist
aber die thätige Kraft des Kapitals doch
nach einer Richtung mit Verlässlichkeit zu
erkennen: soweit e& in den maschinellen
und Arbeitsvorrichtungen angelegt ist Wie
die Zahl und die Stärke der Kraft- oder
Umtriebsmaschinen auf der einen, so sind
die für die einzelnen Gewerbe chaiukte-
ristischen Arbeitsmaschinen und sonstigen
Vorrichtungen auf der anderen Seite ge-
eignet, einen gewissen Einblick sowohl in
die Grösse des angelegten Kapitals und zu-
gleich in die der Geschäftsausdehnung als
auch in die tedinische Ausbildung des Be-
triebes zuzulassen. Vollständig aber vermag
man schliesslich die zur Zeit oder durch-
schnittlich thätige menschliche Arbeitskraft
zur Ziffer zu bringen.
Hält sich nun eine Gewerbezählung an
die von den sämtlichen in Betracht kom-
menden Gewerben füglich gleichmässig zu
erhebenden Menschen- und Maschinenkräfte,
bieten sich ihr noch genügende Aufnalmie-
512
Gewerbestatistik
gegenstände dar, um zulänglichen Anhalt
zur Beiulseiliing der gewerblichen La^e zu
gewinnen. Fünf Punkte sind es hierbei
mindestens, über welche die Aufnahme Auf-
schluss erteilen und demgemäss erfragen
muss. Zuvörderst ist für jedes Gewerbe
selbstverständlich die Anzahl der Betriebe
und zwar der von ihren Inhabern als Haupt-
wie als Nebenbetriebe geleiteten Unter-
nehmungen zu ermitteln. Gleichzeitig kommt
es sodann darauf an, den Umfang jedes ein-
zelnen Betriebes, d. h. bestimmen zu können,
ob das Geschäft mehr im kleinen oder
grossen betrieben wird, ob es mehr einen
Handwerks- oder fabrikmässigen Charakter
hat. Allerdings ist dies insofern kaum ohne
eine gewisse Willkür festzustellen, als es an
festen Merkmalen für die Abgrenzung von
Gross- und Kleinbetrieben gebricht, zudem
die Grenze bei den verschiedenen Gewerben
an verschiedener Stelle zu liegen hätte. Da
üun die hergestellten Erzeugnisse oder das
angelegte Kapital, als nicht wohl der Auf-
nahme zugänglich, ausser Ansatz gelassen
werden müssen, bleibt nur die Anwendung
oder Nichtanwendung von Maschinen bezw.
auch der Maschinenstärke wie die Anzahl
des gehaltenen Personals als Massstab oder
Merkmal des Gross- und Kleinbetriebes und
etwaiger Zwischenstufen übrig. Bei welcher
Personalgrösse hierbei die Scheidungslinie
zu ziehen ist, kann selbstverständlicih nicht
allgemeinhin bestimmt werden, hängt viel-
mehr nach der jeweiligen Lage der gesamten
Verhältnisse von der Einsicht der Beteiligten
ab und ist auch thatsächlich verschieden
gezogen worden. Mag nun hierbei gleich-
wohl immer bald mehr bald minder glücklich
gegriffen werden, immerhin ist es angesichts
des gegenwärtig stets kräfti^r hervortreten-
den Zuges der Zeit nach einer im grossen
betriebenen Produktion von weitp^ifendster
Bedeutung, den Betriebsumfang in den ein-
zelnen Zweigen, insbesondere die Thatsache,
in welcher Ausdehnung das Handwerk, die
Kleinindustrie sich gegenüber dem Gross-
gewerbe, der Fabrik noch zu behaupten ver-
mag, für den dermaligen gewerblichen Ent-
wicfeelim^tand zu ermessen. Als eine
Eigenart industrieller Unternehmungen, wel-
che zwitterartig von der einen Seite als
ausgeprägtestes Kleingewerbe, von der an-
deren als im grossen betrieben ei*scheint
bedarf bei der Aufnahme des Betriebsumfanges
einer besonderen Berücksichtigung die Haus-
industrie, also diejenige für den gix)ssen
Markt, aber nicht in den Fabrikräuraen,
sondern in der eigenen Wohnung ilirer In-
haber betriebenen Gewerbe. An dritter
Stelle hat die Erh(»bung das rechtliche Be-
sitzverhältnis am Betriol^ dahin klarzustellen,
ob der Beh-ieb einer oder mehreren einzelnen
physischen Pei-sonen, einer bezw. welcher
Art von juristischen Personen — Aktien-
gesellscharten, Erwerbsgenossenschaften, Ge-
meinde, Staat — gehört. Weil leicht zu er-
fassen und zugleich nach verschiedenen Seiten
bedeutungsvoll, erheischen viertens die Ge-
werbetreibenden eine nähere Ergründunff.
Einmal sind sie, wie nahe lie^, naca
ihrem Arbeitsverhältnisse, ob Arbeitgeber
oder Arbeitnehmer, auseinander zu halten.
Dabei sind die /letzteren zum mindesten
wieder in die höher gebildeten, kauf-
männischen und technischen, wie in die
niederen Hilfspersonen zu zerlegen, da beide
Gruppen in sozialer Beziehung eine sicht-
lich anders geartete Stellung einnehmen.
Von Belang wäre es, auch die niederen
Kräfte darnach trennen zu können, ob sie
im eigentlichen Sinne gelernte Gehilfen sind,
die regelrecht die Befähigung zur Ausübung
ihres Gewerbes in einem Lehr^nge sich
erworben haben, oder die bloss die CTöberen
oder doch gewisse einzelne techniscne Leis-
tungen im Fabrikbetriebe verrichtenden Ar-
beiter sind. Indessen dürfte das vielleicht
vielfach auf Schwierigkeiten stossen. Jeden-
falls würde aber durch eine besondere Frage
nach den Lehrlingen unter den Hilfspersonen
schon manches erreicht werden. Ebenso ist
es belangreich, zu erfahren, inwieweitFamilien-
glieder des Geschäftsleitera in dessen Betriebe
mitwirken. Neben der Arbeitsstellung würden
aber ferner auch die persönlichen Eigen-
schaften der Gewerbetreibenden jeder dieser
Gattungen zu erforschen sein : das Geschlecht,
der Familienstand, das Alter, Momente, die
namentlich für die Beleuchtung einer Reihe
sozialer Erscheinungen nicht übergangen
werden dürfen: z. B. für die gewerbliche
Beteiligung von Kindern und Greisen, von
jungen Mädchen, Ehefrauen und Witwen,
für die Aussicht auf eheliche Niederlassung
der Männer, wie auf den Uebergang der-
selben von einer unselbständigen in eine
selbständige Stellung je nach dem Lebens-
alter. Eingehender dürften diese Gegen-
stände aber wohl noch bei den Volks-
zählungen in Verbindung mit den Benifs-
thatsachen sich erheben lassen. Als Ergän-
zung der Ermittehmgen über die Gewerbe-
treibenden kann man, wie es beispielsweise
in Belgien, Frankreich und Nordamerika
geschehen und wie es auch für Deutschland
einmal beabsichtigt war, Angaben über liOhn-
verhältnisse sammeln, so über die Zahlungs-
einrichtungen, die mittleren Lohnsätze und
die im ganzen im Jahre gezahlten Löhne.
Doch dürften diesoThatsachen sich wohl zuver-
lässiger auf geeigneterem Wege als dem einer
allgemeinem Gewerbezählung feststellen
lassen. An letzter Stelle bleiben als uner-
lässliche Aufnahmegegenstände die Zahl,
Art und bezw, aucli die Kraft der im Ge-
werbebetriebe verwandtenÜmtriebsmaschinea
Gewerbestatistik
513
und Motoren, wie der genutzten, füi* die ein-
zelneu Zweige charakteristischen Arbeits-
maschinen, Werkzeuge, Apparate, Oefen und
dergleichen. Als höchst wünschenswert muss
es bezeichnet werden, wenn die Qewerbe-
aufnahmen auch gleichzeitig weitere die
Arbeiter betreffende Vorgänge, wie die Ax-
beitsdauer, Sparkassen der Unternehmungen
und sonstige getroffene Wohlfahrtseinrich-
tungen, zu erfassen suchen.
Ueber das hinaus, was sich von allen
Gewerben und Betrieben oder doch von
allen grösseren Betrieben durch die Zählung
ermitteln lässt, eignen sich manche Gewerbe
allerdings für aus^ebigere Befragung. Das
trifft namentlich beim Bergbau, beim Hütten-
und Salinenwesen zu, für welche denn auch
vielfach bezüglich der gewonnenen und ver-
arbeiteten Mengen Aufnahmen veranstaltet
worden sind, —
Nächst den Aufnahmegegenständen hat
sich das Augenmerk bei einer Gewerbe-
zälilung auf eine Einteilung der Ge-
werbe zu richten, wie solche ebenfalls für
die Herstellung einer Berufsstatistik uner-
lässlich ist. Ohne selbige würde bei der
ausserordentlich grossen Anzahl von ein-
zelnen Gewerbezweigen aller Ueberblick ver-
loren gehen. Es kommt daher darauf an,
nach gewissen Gesichtspunkten die einzelnen
Gewerbe zu grösseren Gruppen, Ordnungen
etc. zusammenzufassen. Die gewählten Ge-
sichtspunkte sind bisher sehr verschieden-
artig gewesen, bald bestinunte die Produktion,
bald die Konsumtion, bald die Stoffe, die
Werkzeuge, die Arbeitsmethoden den Ein-
teilungsgrund, ja, um den erheblichen
Schwierigkeiten zu entgehen, verfuhr man
auch wohl, wie in Amerika, bloss alpha-
betisch. —
Zum dritten ist noch des Aufnahme-
yerfahrens kurz zu gedenken. Vorwiegend
ist hier neuerlich die unmittelbare Umfrage
von Betrieb zu Betrieb gewählt worden.
Dabei wiude die Zählung entweder für sich
allein oder in Verbindung mit der Volks-
zählung vorgenommen. iSe letztere Art ist
die einfachere und hat den Vorzug, dass
nicht bloss voraufgehende Erhebungen zur
Feststellung der zu befragenden Geschäfte
und deren Adressen überflüssig werden, dass
auch manche Thatsachen bereits durch die
Volkszählung zu ^winnen, dass insbesondere
die bloss aus emem einzigen Inhaber be-
stehenden, sich also mit dem Personal
deckendeft Betriebe lediglich auf diesem
Wege zu erlangen sind und dass sie ihrer
einfachen Verhältnisse wegen weitere Be-
fragung überflüssig machen.
II. Die gewerbestatistischen Leistungen
der verschiedenen Staaten.
3. Deutschland. Unter den deutschen
Handwörterbuch der SUatgwiBsenBchafteii. Zweite
Einzelstaaten ist es Preussen, welches der
Gewerbestatistik durch regelmässige Auf-
nahmen über die Gewerbeoetriebe bei Ge-
legenheit der Volkszählungen schon seit 1819
eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet
hat. Die übrigen Staaten kommen hingegen,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur als
Glieder des Zollvereins und bei den von
diesen veranstalteten Aufnahmen in Betracht.
Solcher gab es indessen bloss zwei, 1846 und
1861, beide im Anschluss an die damaligen
Volkszählungen. Während jene lediglich die
Erhebung der für den Grosshandel arbeiten-
den Betriebe, allerdings mit mancherlei Ab-
weichungen in den einzelnen Ländern, be-
wirkte, hatte diese eine schon weitere und
gleichzeitig mehr einheitliche Anlage. Drei
Gebiete galt es hierbei zu ermitteln: die
Fabriken und die besonders filr den Gross-
handel thätigen Anstalten, die Handwerker
und die vorherrschend für den örtlichen Be-
darf arbeitenden Gewerbetreibenden im
engeren Sinne und Künstler, endlich die
Handels- und Transportsgewerbe, die Gast-
und Schankwirtschaften und die Anstalten
und Unternehmungen zum litterarischen
Verkehr. Dabei zielten die Aufnahmen auf
die in den einzelnen Zweigen wirkenden
Personen mit Unterscheidung ihres Arbeits-
und Dienstverhältnisses; aussei'dem waren
für die Fabriken die darin thätigen Dampf-
und Arbeitsmaschinen, für die Handwerker
die für eigene und fremde Rechnung arbei-
tenden Meister sowie endlich gewisse An-
Siben über Transportmittel festzustellen,
ie Ergebnisse dieser Aufnahme, welche in
Viehbahns grossem Werke über den ZoU-
verein wie in Schmollers trefflichen Un-
tersuchungen über das Kleingewerbe eine
so fleissige und einsichtige Bearbeitung er-
fahren haben, konnten bei der wenig aus-
gebildeten Zählungseiurichtung , wie sie in
Hinblick auf die schwerfälligen Verhand-
lungen des Zollvereins nicht besser zu er-
reichen war, indessen zu keinem recht be-
friedigenden Ergebnisse führen; schon die
bedenkliche Trennung der Betriebe in Fabrik
und Handwerk bot den Keim erheblicher
Unrichtigkeiten.
Ein gedeihlicherer Boden für eine voll-
kommener ausgestaltete Gewerbeaufnahme
fand sich auch erst, nachdem die Umbil-
dungen des Jahres 1866 eine straffere ein-
heitliche Leitung der Bundesangelegenheiten
geschaffen hatten. Bereits für 1872 war eine
Erhebung geplant, welche für die einzelnen
Gewerbebetriebe den Betriebsumfang und
die in ilmen thätigen persönlichen und
Maschinenkräfte, zudem insbesondere die
Hausindustrie ermitteln sollte unter aus-
giebigerer Behandlung der Grossbetriebe.
Auch wünschte man eine wahlfreie Er-
hebung von Lohnverhältnissen und der zu
Auflage. IV. 33
514
Gewerbestatifitik
Gunsten der Arbeiter beßtehenden Wohl-
falirtseinrichtun^n. Beabsichtigt war eine
völlig selbständige Aufnahme, fttr die jedoch
der im vorangehenden Jahre abzuhaltenden
Volkszählung die Beschaffung der Adressen
der einzdnen Betriebe zugedacht war. Zu
beröcksiehtigen waren 445 gewerbliche Ord-
nungen. Da indessen die Anlage der Er-
hebung, was die Aufnahmegegenstände als
die Untersdieidung der Gewerbezweige an-
langt, zu umfangreich erschien, kam letztere
nicht zu Stande, vielmehr ward in Verbin-
dung mit der Volkszählung von 1875 eine
verein&chte Aufnahme abgehalten. Diese
war auf alle selbständigen Betriebe der
Kunst- und Handelsgärtnerei, der Fischerei,
des Bergbaues, Hütten- nnd Salinenwesens,
der Industrie mit Einschluss des Bauwesens,
des Handels und Verkehrs wie der Gast-
und Schankwirtschaft gerichtet, dergestalt,
dass von verschiedenen Gewerbebe-
trieben desselben Inhabers, gleichviel ob
räimilich vereint oder getrennt, und von
gleichartigen Betrieoen desselben In-
habers, die räumlich von einander getrennt
bestanden, jeder besonders, ein mehreren
Inhabern gehöriger Betrieb aber nur ein-
mal zur Erhebung gelangte. Ausgeschlossen
blieben das Versicherungswesen, die Heil-
anstalten, das Medizinalgewerbe, dasMusik-
und Theatergewerbe, der Gewerbebetrieb im
Umherziehen, die zur Beschäftigung der In-
sassen von Straf- und Besserungsanstalten
von diesen betriebenen Arbeitszweige, sowie
der Betrieb der Militär- und Marineverwal-
tung in gewerblicher Hinsicht wie der der
Post-, Eisenbahn- und Telegraphenverwal-
tung. Wohl aber waren die den drei letz-
teren unterstellten Werkstätten einbezogen
worden. Ganz allgemein war die Aufnahme
eine getrennte für die Gewerbebetriebe von
mehr als 5 Hilfspersonen und die übrigen,
von denen die ersteren durch eine eigene
Pragekarte erhoben wurden. Die kleineren
Betnebe waren dagegen dem gewöhnlichen
Volkszählungsformular, soweit es sich auf
die Art des Berufes, die Stellung in dem-
selben und den Nebenberuf bezog, zu ent-
nehmen. Ausserdem befanden sich in jenem
Formular zwei Extrafragen, von denen die
eine von den Gewerbetreibenden, welche 5
oder weniger Hilfspersonen beschäftigten,
die Angabe der Anzahl ihrer Gehilfen und
Lehrlinge wie über einige benutzte Arbeits-
maschinen verlangten. In der Fragekarte
für die ^össercn Betriebe war anzugeben:
ausser Sitz imd Firma der Gegenstand des
Betriebes, die Zahl der Geschäftsleiter und
Hilfspersonen wie das Alter und Geschlecht
der letzteren, die Motoren nach Zahl, Art
und Stärke sowie gewisse charakteristische
Arbeitsmaschinen. Die Kenntnis von dem
Vorhandensein dieser grösseren Betriebe
wurde erlangt durch die andere Extrafrage
des Volkszl^ungsformulares , welche eine
Erklärung über die Beschäftigung von min-
destens 6 Hilfepersonen forderte. Die Auf-
nahme erstreckte sich auf 304 Geweibe-
»Ordnungen«, die weiter in 94 Klassen und
19 Gruppen zusammengefesst waren.
Obschon im Vergleich mit der anfänglichen
Anlage wensentlich eingeschränkt, bildete die
Aufnahme von 1875 doch bereits einen gewal-
tigen Fortechritt gegen die des Zollvereins
so zwar, dass die auf ihr bekundete Be-
arbeitung der Eiigebnisse, wie sie ausser
vom Reiche namentlich von Preussen und
Oldenburg in eingehender Weise bewirkt
ist, eine wichtige und befriedigende Quelle
für die Erkenntnis der gewerblichen Zu-
stände Deutschlands geschaffen hat Aller-
dings war auch sie noch von gewissen
Mängeln behaftet, die bei einer Wieder-
holung auf Abstellung drängten. Lagen
diese einesteils in der zu hoch hinau^e-
schobenen Grenze der allein näher befragten
Grossbetriebe, so emiben sich anderenteils
aus der gewählten Fragstellung mancherlei
Zweifei, Lücken und Doppelzählungen: so
z. B. was die vollständige Er&ssung der.
Nebenbetriebe wie der HauptbetrielnB , so
was die Irrungen bei Verschiedenheit des
Geschäftsortes und des Wohnsitzes des In-
habers anlangt. Manche solcher Uebelstände
waren schon durch die Erhebungs weise
einer Beihe Einzelstaaten beseitigt In ein-
heitlicher Gestalt für das ganze Reich ge-
schah das erst bei der mit der allgemeinen
Berufsermittelung vom 5. Juni 1882 bereits
von neuem abgehaltenen Gewerbezählung.
Auch diese zerfiel in zwei Teüe mid er-
fragte die allgemeine Beziehung des Ge-
werbes mit Hilfe der über den Beruf zu
machenden Angabe in der eigentlichen Volks-
zählungsliste, dem sogenannten »Berufszähl-
bogenc, imd sodann die näheren Umstände
des Betriebes durch eine besondere »Ge-
werbekarte« und zwar diesmal für sdle Be-
triebe, welche menschliche wie motorische
Hilfskräfte nützten oder mehrere Inhaber
zählten. Auf die einfachere Erhebung blie-
ben also lediglich die sogenannten Allein-
betriebe beschränkt. Sie hatten bloss den
»Zählbogen« auszufüllen, der ausser ge-
nauester Bezeichntmg der gewerblichen
und hausgewerbKchen Thätigkeit und Stel-
lung von den selbständigen Gewerbetreiben-
den Auskunft verlangte, ob sie Mitinhaber
hätten oder Gehilfen und Maschlhen ver-
wendeten. Bei Bejahung dieser letzteren
lYagen kam dann die »Gewerbekarte« zur
Anwendung, welche die Stellung des ein-
zelnen selbständigen Geschäftsleiters (In-
habers, Pächters, Leiters) jedes Betriebes, das
Besitzverhältnis, den Personalbestand für
beide Geschlechter, die benutzten Motoren
Gewerbestatistik
515
sowie die vom BetrieT)e aus in der Haus-
indtustrie und in Straf- und Besserungsan-
stalten beschäftigten Arbeiter feststellen
sollte. Abgest^en wurde dagegen von der
Art und Pferdestfirke der Motoren. Die zu
befragenden Gewerbe blieben mit Ausnahme
des Hinzutritts der gewerbsmässi^n, nicht
landwirtschaftlichen Tierzucht tmd des Yer-
sic^erungswesens dieselben von 1875, wie
denn auch im übrigen die massgebenden
Aufuahmebestimmun^en sich den früheren
anschlössen. Die Einteilung der Gewerbe
war jedodi etwas erweitert und zerfiel in
20 Gruppen, 93 Klassen und 200 Ordnun-
gen mit im ganzen 248 einzelnen Unter-
scheidungen.
Das auf diese Weise erhobene Material
ist, soweit es das Reich betrifft, wieder zu
umfänglichen Zusammenstellungen und zu
einer gründlichen wie einsichtsvollen Bear-
beitung durch das kaiserliche statistische Amt
verwendet worden. Hierbei sind die Ergeb-
nisse nach folgenden fünf Richtungen hin
nachgewiesen: einmal die Gewerbebetriebe
als Haupt- und als Nebenbetriebe wie das
gewerbliche Personal im ganzen und mit
Rücksicht darauf, ob der Betrieb lediglich
von dessen Inhaber und ohne Anwendung
motorischer Kräfte oder in anderer Gestalt
geführt wird. In Ansehung der mehreren
Inhabern gehörigen oder durch Motoren
und durch Gehüßen unterstützten Geschäfte
wird dann weiter der Betriebsumfang nach
der Anzahl der thäti^n Personen des Nä-
heren dargethan. Drittens wird die Ver-
wendung der verschiedenen Motoren in Ver-
bindung mit der Grösse des Personalbestan-
des, viertens die Hausindustrie und endlich
das Besitzverhältnis am Betriebe nachge-
wiesen.
Auf der gleichen Grundlage wie 1882 be-
ruhte auch die jüngste, am 14. Juni 1895 im
Deutschen Reicne abgehaltene Gewerbezäh-
lung. Auch sie lehnt sich an eine allgemeine
Berufsermittelung an ; demgemäss kam wie-
derum die :i>Haushaltung8liste« zur Erfragung
der gesamten Bevölkerung wie insbesondere
zur Feststellung der »Alleinbetriebe« und der
»Gewerbebogen« zur Ermittelung der übrigen
(Jewerbebetriebe zur Anwendung. Doch hat
die neueste Zählung gegenüber der vorauf-
gehenden hinsichtlich der Erfragungsgegen-
stände bemerkenswerte Erweiterungen er-
feüiren. Diese betrafen vornehmlich einmal
das beteiligte Personal, wobei das innerhalb
und ausserhalb der Betriebsstätten verwendete
auseinandergehalten wurde. In ersterer
Beziehung wurden die Arbeitnehmer in
Verwadtungs-, Kontor- und Rechnungsper-
sonal (darunter Lehrlinge), in das technische
Aufsichtspersonal und höhere Techniker und
in das sonstige Personal, alles getrennt nach
dem Geschlecht, unterschieden. Bei dem
letzteren, dem niederen Hilfspersonal, blieb
weiter anzugeben, wieviele darunter: über
oder unter 16 Jahre, mitthätige Familien-
glieder nach derselben Altersgrenze, Lehr-
linge und solche, welche im Hause des Be-
triebsunternehmers wohnten, endlich wieviel
verheiratete Frauen, üeberdies bestand eine
wichtige Neuerung darin, dass die niederen
Hilfspersonen in einer eigenen Nachweisung
nach ihrer thatsächlichen Beschäftigung
(z.B. als Heizer, Schlossergehilfe, Verkäufe-
rin) zu beziffemwaren. In betreff der ausser-
halb der Betriebsstätten arbeitenden Personen
wurden erhoben die selbständigen und die
unselbständigen Hausindustiiellen aller Art,
die Hausierer und die in Straf- und Besse-
rungsanstalten verwandten Kräfte. Hinzu-
gekommen ist endlich die Erfragung der
Pferdestärken der Umtriebsmaschinen sowie
der Anzahl und mitunter auf die Leistungs-
fähigkeit hinweisende Angaben der bedeut-
samsten (100) Arbeitsmaschinen, Apparate,
Oefen.
Entsprechend diesen eingehenderen Er-
hebungen sind denn auch die aus ihnen
zusammengestellten Nachweisungen in einem
wesentlich breiteren Rahmen erfolgt. Sie
machen einmal die Gewerbebetriebe, als
Haupt-, Neben-, Allein- und Gehilfenbetriebe
im ganzen und die letzteren nach der Kopf-
zahl der darin thätigen Personen ersichtlich;
Ebenso wird das Personal, je nach der
Betriebsgrösse, mit Unterscheidung der
BerufssteMung und das Arbeiterpersonal
nach den übrigen erhobenen Unterscheidun-
gen (Alter, Lehrlinge, verheiratete Frauen
etc.), insbesondere auch nach seiner beson-
deren BeschäftigUDg dai^ethan. Weitere
üebersichten belegen die Setriebe nach der
Dauer des Betriebes, die hausindustriellen
Betriebe und ihr Personal nach den Angaben
der Hausindustriellen selbst wie die ausser-
halb der Betriebsstätten beschäftigten Per-
sonen verschiedener Gattung nach den An-
fiben der Unternehmer. Eine eingehende
ehandlung ist weiter der Verwendung der
Motoren und Arbeitsmaschinen zu teil ge-
worden unter Berücksichtigung des — an
der Kopfzahl gemessenen — Betriebsum-
fanges. Endlich sind die Gehilfen, Betriebe :
nach der Unternehmungsform (Einzelinhaber,
mehrere Gesellschafter, Genossenschaften etc.)
veranschaulicht worden. Bei dieser Nach-
weisung sind als Betriebseinheiten die so-
genannten »Gesamtbetriebe« angesehen wor-
den. Während nämlich im übrigen jeder:
einzelne Gewerbezweig desselben Unter-
nehmens für sich behandelt ist^ kommen
hier die unter gemeinsamer Leitung und
Buchung stehenden Betriebe vereint in Be-'
tracht. Zu dem Ende ist auch die Zahl und
Grösse der Betriebe mit ihrem Personal und
Pferdestärken unter Zählung der Gesamt-
33*
516
Gewerbestatistik
betriebe als Betriebseinheiten besonders er-
sichtlich gemacht Die Einteilung der Ge-
werbe umtasst bei diesen Nachweisimgen in
21 Gruppen 318 Gewerbearten, ist demnach
ebenfalls gegen 1882 sichtlich erweitert
worden. Auch die Ergebnisse der vorliegen-
den Zählung sind der Gegenstand gründ-
licher analytischer Darstellung gewesen.
Durch diese seine grossen, trefflich an-
gelegten und zugleich weislich masshalten-
den, damit aber den Erfolg der Ausführung
sichernden Aufnahmen und deren muster-
hafte reichsseitige Bearbeitung durch F. Z a h n
hat Deutschland in neuerer Zeit wohl die her-
vorragendsten Leistungen auf dem Gebiete der
Gewerbestatistik dargeboten. Dennoch hat
trotz der reichen Ausbeute der Privatfleiss
diese Quelle doch immer erst spärlich für
die tiefere wissenschaftliche Erforschung
verwertet. Auch die Statistik der Einzel-
staaten, soweit sie die Ergebnisse der Ge-
werbezählung veröffentlicht hat, ist über
den Rahmen der Reichsdarstellungen nicht
oder doch nicht wesentlich hinausgegangen,
hat auch fast allein auf blosse tabellarische
Behandlung sich beschränkt.
4. Ausserdentsche Staaten. Der
fremden Staaten wird hier nur in Kürze
gedacht werden können, da bloss wenige
m den letzten Jahrzehnten wirkliche Ge-
werbezählungen voi*genommen haben, zudem
auch nicht für alle die erforderlichen Unter-
lagen hier beschafft werden konnten.
Allerdings veranstaltet eine grosse Reihe
von ihnen kleinere und vielfich jährlich
wiederkehrende Ermittelungen über einzelne
Gattungen von Gewerben. Namentlich er-
streckt sich das Erhobene und Veröffent-
lichte auf die Montan- und metallurgische
Industrie und auf solche Fabrikationszweige,
welche wie die des Zuckers, des Alkohols
in näherer Beziehung zur Steuerverwaltiuig
stehen. So finden sich für Oesterreich
in dem vom statistischen Departement
des Handelsministeriums herausgegebenen
»Nachrichten über Industrie, Handel und
Verkehr« gewisse durch die Handelskammern
zusammengetragene Nachweise über eine
Reihe von Industrieen, so giebt Ungarn in
seinem »Statistischen Jahrbuch« solche
ziemlich ausführlich über Bergbau und
Hüttenwesen, so gewährt Belgien in dem
Annuaire statistique de la Belgique Aus-
kunft über die Bergwerke und die me-
tallurgische Industrie. Das gleiche thut in
ziendich eingehender Weise Frankreich
in der statistique de la France und im An-
nuaire statistioue de la France. Zudem
wird hier Auskunft erteilt über die kera-
mische, die Textil-, die Beleuchtuugs-, die
Papierindustrie, über die Zucker-, Tabak-
und Alkoholfabrikation. Auch England
veröffentlicht alljährlich, früher in den Mis-
cellaneous statistics, jetzt in den Statistical
abstracts gewerbliche Nachweise über die
Textilindustrie. Diese erstrecken sich auf
die von den Fabriken bearbeiteten ver-
schiedenen Arten von Stoffen und a«if die
Bearbeitimgsweise, auf die Pferdestärke der
Maschinen, auf die Arbeitsmaschinen und
Vorrichtimgen , auf die erwachsenen und
jugendlichen Arbeiter wie auf die Unglücks-
fälle in den Fabriken. Nicht minder werden
in den Financial and commerdal statistics
für Britisch -In dien hinsichtiich der
grösseren Industrieen die Zahl der Unter-
nehmungen und beschäftigten Personen, das
angelegte Kapital und der Wert der Pro-
duktion, für einzelne Zweige auch noch
weitergehende Daten beigebracht. Selbst
Russland hat wiederholt in seinem An-
nuaire statistique über gewisse, wahrschein-
lich der Steuerkontrolle unterworfene Ge-*
werbe und namentlich nach der Richtung
der produzierten Mengen hin Angaben mit-
geteilt Dazu treten dann für das Jahr 1890
die Ergebnisse einer allgemeinen gewerb-
lichen Ermittelung aus dem Jahre 1887,
welche in Ansehung des ganzen, grossen
europäischen wie asiatischen Reiches über
63 Gewerbszweige ausgedehnt ist. Aller-
dings befasst sie nur die Anzahl der
Fabriken, den Produktionswert, die jugend-
lichen und erwachsenen Arbeiter beiderlei
Geschlechts, die letzteren mit der Unter-
scheidung, ob sie als Russen oder Ausländer
irgendwelche technische Studien gemacht
haben oder nicht üeber die Art der Er-
mittelung lässt sich nichts ersehen, so wenig
wie für die übrigen erwähnten Länder der
Weg, wie die Ergebnisse zusammengetragen
sind, bezeichnet ist
Das ganze Gebiet gewerblicher Thätig-
keit wird regelmässig in Schweden zur
Aufstellung gebracht und in den Jahres-
berichten des Kommerz-KoUegiums mit^
teilt Dem Anschein nach handelt es sich
gleich den zuvor genannten Ländern auch
hier nicht um Zählungen im engeren Sinne,
vielmehr bloss um im Verwaltungswege
imter Leitung der obersten Behörde für
Handel und Gewerbe bewirkte Erhebungen.
Nichtsdestoweniger sind sie einigermassen
umfangreich, ^e begreifen einmal im all-
gemeinen für 203 Gewerbearten die Anzahl
der Fabriken, der verschiedenen Triebkräfte
und der Arbeitsmaschinen, der Inhaber und
der über wie unter 18 jährigen Arbeiter für
jedes Geschlecht sowie die Menge und den
Wert der Erzeugnisse und den Reinertrag
nach den Annahmen der öffentlichen
Schätzungsorgane ; endlich die in den Fabriken
vorgekommenen Unfälle. Bezüglich der
Mehrzahl der Gewerbearten ist zudem noch
die erzeugte Masse angegeben. Sodann sind
bezüghch der handwerksmässig betriebenen
Gewerbestatistik '
517
Unternehmungen für 57 Gewerbearten die
Anzahl der Meister iind Hilfspersonen nach
dem Gesehledit dargethan. Unter etwas
genauerer Bezifferung der Produktionsver-
hältnisse und der Maschinen- wie Arbeits-
kräfte werden in den Berichten derselben
Behörde insbesondere noch die .Montange-
werbe behandelt.
Auf Grund aUgemeiner Aufnahme haben
nun weiter während der letzten Jahrzehnte
namentlich Ungarn, Oesterreich, Prankreich,
England, Nordamenka, Belgien den gewerb-
lichen Zustand ihrer Länder statistisch zu
erheben und darzustellen gesucht. Von
Ungarn kann im Hinblick darauf, dass die
Veröffentlichung des Zählungswerkes le-
diglich in der Landessprache erfolgt ist, nur
gesagt werden, dass die Aufnahme 1885
statt hatte imd nach zwei Erhebungsformu-
laren voi^nommen wurde, von denen das
«ine vorzugsweise die Arbeits-, das andere
die Maschinenkräfte betroffen zu haben
scheint, üeberdies wurde in Ungarn ge-
legentiich der Volkszählimg »am Anfang«
des Jahres 1891 die Frage nach »der Unter-
nehmung oder dem Meister der in in-
dustriellen Betrieben beschäftigten Hilfs-
personen gestellt Bezweckt wurde hiermit
einmal, mittelbar Auskunft über die Anzahl
der zu dem nämlichen »Betriebe« gehörenden
Hilfspersonen und damit — in Verbindung
mit der Zahl der Betriebsinhaber — solche
über die Anzahl und den Umfang der in-
dustriellen Betriebe zu erlangen, sodann einen
Anhalt über die zur 2iählungszeit in Arbeit
stehenden und beschäftigimgslosen Hilfs-
personen zu gewinnen sowie endlich die
Hilfspersonen nicht allein nach ihrer Be-
rufeart, sondern auch in Verbindung mit
dieser nach den Betrieben, in welchen sie
thätig waren, zusammenzustellen. Es war
also darauf alsgesehen, nicht bloss z. B. die
Zahl der vorhandenen Tischler-, Schlosser-,
Malei^ehilfen überhaupt, als auch diejenigen
in Erfahrung zu bringen, welche in Ma-
schinenfabriken , Bauunternehmungen etc.
beschäftigt werden; es sollte demnach die
Zusammensetzung der verschiedenen in-
dustriellen Betriebe nach der Art der Ar-
beitszweige festgestellt werden. Trotz der
grossen Umständlichkeit dieses, neuerlich in
Frankreich nachgebildeten Verfahrens , aus
den Angaben der Hilfspersonen ihre Zuge-
hörigkeit zu den einzelnen Betrieben zu er-
mitteln, ist man dennoch zu dem gewollten
Ziele gelangt. — Auch sind in Ungarn etliche
Erhebungen über einzelne Industriezweige
zur Ausführung gebracht, von welchen die
bemerkenswerteste die der Mühlenindustrie
im Jahre 1897 war.
In 0 esterreich sind neuerlich vier
Ermittelungen der gesamten Industrie nach
dem Stande von 1880, 1885, 1890 und 1897
veranstaltet, die sich teils auf alle, teüs
nur auf die — nach einem Erwerbssteuer-
satz bemessenen — Grossbetriebe bezogen.
Die Fragebogen der drei ersten Er-
mittelungen, w^elche nur die wichtigsten,
zur Erkenntnis der Gewerbezweige dienenden
Momente enthielten, waren durch die Han-
dels- und Gewerbekammem für die in ihrem
Bezirke bestehenden Industrieen und Handels-
gewerbe summarisch zu beantworten —
jedoch in der Hauptsache nicht auf Grund
einer wirklichen Zählung der Beteiligten,
als vielmehr auf Gnmd der von den Kammern
geführten Erwerbssteuerregister. Insofern
aber diese nicht immer vollständigen Re-
gister nicht zulangten, hatte eine »schätzungs-
weise Ergänzung auf sicherer Grundlage«
einzutreten. Die Zusammenstellungen be-
greifen einmal für alle berücksichtigten Ge-
werbsarten bloss die Anzahl der Betriebe,
sodann für die 134 wichtigeren »Industrial-
gewerbe« die Arbeiter (Männer, Weiber,
Ainder), die verscldedenen Motoren nach
Zahl und Pferdekräften und den Wert und
die Menge der Produktion nach den ver-
schiedenen Arten der letzteren. Die letzte
zwar als »Zählung« bezeichnete Ermittelung
von 1897 ist ebenfalls nicht auf einer all-
gemeinen Umfrage, sondern auf den neuer-
lich von den Handelskammern geführten
Gewerbekatastern begründet, hat indessen den
1. Juni zum Stichtage. Da indessen die
Kataster noch nicht überall vollständig ab-
geschlossen waren, auch keine genügende
Handhabe boten, die verschiedenen Gewerbs-
zweige eines Unternehmers gehörig ausein-
anderzuhalten, so konnte das Ergebnis
nicht durchweg befriedigend ausfallen. Die
einzeln nachzuweisenden Gewerbe sind
mittelst Zahlblättchen im ai'beitsstatistischen
Amte des Handelsministeriums nach 25
Klassen und 363 Gewerbearten aufbereitet
worden. Doch hat die Aufbereitung bezw.
die Ermittelung bloss die »Gewerbe« d. h.
Betriebe, nicht aber das Personal, die moto-
rischen Kräfte, den Umfang der Betriebe in
Betracht gezogen.
Sind die österreicliischen ' Gewerbeauf-
nahmen insofern unvollständig, als sie die
kleineren Betriebe ausser Ansatz lassen, so
ist das ebenfalls in betreff der Schweiz
der Fall. Die Erhebungen erstrecken sich
nur auf diejenigen »industriellen Anstalten«,
welche dem Bundesgesetze über »die Arbeit
in den Fabriken« vom 23. März 1877 unter-
stellt sind. Es handelt sich hierbei ledig-
lich um Fabriken, also immer bloss um
grössere Betriebe, so dass, wie auch ausdrück-
lich anerkannt wird, die Thatsachen keines-
wegs ein vollständiges Bild der gewerblichen
Entfaltung gewähren. Solche vom eidge-
nössischen Handels- und Landwirtschafis-
departenient bewirkten Ermittelungen sind
.518
• Gewerbestatistik
nach dem Stande vom 1. März 1882, 31.
•Dezember 1888 und 5. Juni 1895 ausgeführt
.worden. Die erstere bezieht sich auf den
1. März 1882. Sie ist denkbarst beschränkt
und hat nur die Gesamtzahl der Betriebe
und der Arbeiter zum (Gegenstand gehabt,
welche für 64 einzelne Gewerbszweige dar-
getlian sind. Die beiden folgenden, welche
aUe am Zählungstage »auf der Liste der
schweizerischen Fabriken befindlichen Etab-
lissements« lunfassten, gleichviel ob dieselben
augenblicklich im Betrieb standen oder nicht,
geschahen mittelst Zählkarten. Ermittelt
und nachgewiesen sind: die Zahl der Be-
triebe, darunter die mit Motoren, die Pferde-
stärken der verwandten Elektricitäts-, Dampf-,
Gas- und Wasserkraftmaschinen, sowie die
Zahl der Arbeiter jedes Geschlechtes über
und unter 18 Jahren. Die beschäftigten
Arbeiter wurden nach der höchsten und
niedrigsten Belegschaft des Z^ungsjahres
erfragt, aus welchen beiden Grössen für die
Zusammenstellung .Mittelzahlen berechnet
sind. Das Schema für die Einteilung der
Gewerbe enthält 140 Zweige.
Auch England, dieser erste Industrie-
staat der Welt, hat es bisher bloss zu einer
teilweisen gewerblichen Aufnahme gebracht
imd auch solche nur einmal gehabt, deren
Ergebnisse in einem Blaubuch des Jahres
1873 mitgeteilt sind. Sie beziehen sich
nämlich auf alle gewerblichen Anlagen,
welche in Gemässheit der Fabrikgesetze von
1833 bis 1867 unter der Aufsicht der Fabrik-
inspektoren stehen imd welche nach der ge-
wählten Einteilung in 109 Gewerbeklassen
ersichtlich gemacht sind. Es findet hier
also ein ähnliches Verhältnis wie für die
Schweiz statt, niu* dass der Kreis der be-
teifigten Gewerbe in England erheblich
weiter gezogen und namentlich auch die
Anzahl der erhobenen Thatsachen eine an-
sehnlich grössere ist. Nachgewiesen ist
und zwar für jedes der drei Königreiche
hinsichtlich jedes einzelnen Gewerbes: die
Zahl der jugendlichen und erwachsenen Ar-
beiter beiderlei Geschlechtes, die Zahl und
Stärke der Wasser- und Dampfmotoren wie
die Zahl und Art der Arbeitsmaschinen und
Vorrichtungen. Die erhobenen Thatsachen
beruhen auf den Angaben der Gewerbe-
treibenden selbst.
Grössere Anstren^mgen auf dem Ge-
biete der Gewerbestatistik hat Frankreich
gemacht, wenngleich diu*chaus nicht immer
mit glücklichem Erfolge. Umfassende Auf-
nahmen gehen ziemlich weit zurück. Um
bloss der drei letzten Erwähnung zu thun,
so waltete über ihnen der Unstern, dass poli-
tische Wirren ihre Fertigstellung lange
hinauszögerten. Die eine, welche 1839
unter Morcau de Jounes statt hatte, fand
durch die Drucklegiuig erst in den Jahren
1847 bis 1852 ihren Abschluss^ die andere,
1860 begonnen und bis 1865 hingeschleppt,
ward in ihren Ergebnissen nicht vor 1873
veröffentlicht. Die letztere Aufnahme, bei
der die Gewerbe in 16 Hauplgruppen ^-
teilt waren, begriff indessen nur die Fabnk-
industrie, nicht auch das Handwerk. Sie
erfragte die Zahl der gewerblichen Etab-
lissements oder Betriebe, den Verkaufswert
derselben, die Zahl der beschäftigten Männer,
Frauen imd Kinder und deren Tagelöhne,
Art, Menge und Wert der verwendeten Roh-
stoffe, Menge und Wert des verbrauchten
Brennmaterials, die Motoren, die Feinspindeln
in den Spinnereien, die Zahl der Hochöfen
und die Dauer der stillen Geschäftszeit.
Was so erhoben, wie umfangreich es er-
scheint, enthält doch einerseits manche, für
eine gehörige Charakterisienmg bedauerliche
Auslassungen, so z. B. über Haupt- und
Nebenbetrieb, über Arbeitsmaschinen ; an-
dererseits sind Fragen aufgenommen, welche,
weil nicht leicht oder nur mit Widerstreben
zu beantworten, keine zuverlässige Aus-
kunftserteüung vermuten lassen. Die origi-
nellen, höchst interessanten Untersuchungen,
welche auf Gnmd der gewonnenen Angaben
über das Verhältnis des Aufwandes für Ver-
zinsung des Anlagekapitals, für Arbeitslohn,
Rohstoff, Brennmaterial und Generalspesen
angestellt sind, haben daher, zumal sie auch
von keinem technologischen Sachverständigen
bearbeitet zu sein scheinen, wenig Wert.
Dazu kommt, dass die aufgestellten Fragen
bogen nicht für die Einzelnen Betriebe,
sondern' je für die Arrondissements insge-
samt zu beantworten waren. Man hat denn
auch allem Anschein nach in Prankreich
selbst den Ergebnissen wenig Bedeutung
beigemessen und schon im Jahre ihrer Ver-
öffentlichimg, also 1873, eine neue Erhebung
folgen lassen. Allerdings geschah sie nur
in allgemeinen Umrissen, wenigstens was
die Unterscheidung der Gewerbe angeht,
die in bloss 10 Gruppen und 28 Klassen zu-
sammengefasst sind. Für jede dieser Unter-
scheidungen sind departementsweise nach-
gewiesen worden: die Zahl der Gewerbe-
betriebe, der Arbeiter (Männer, Frauen,
Kinder), der Pferdekräfte, der Dampf- und
Wassermotoren, die Menge, der Einheitspreis
und Gesamtwert der Erzeugnisse. Für
einige wenige Zweige sind noch geringe
Erweiterungen vorgenommen worden, üeber
das Erhebungsverfahren ist nichts bekannt
gegeben; nur wird aus den ermittelten
Ziffern ersichtlich, dass sie auch in diesem
Falle sich lediglich auf die Fabrikindustrie
beziehen können. Dass die Ergebnisse keine
tiefere Behandlung erfahren haben, geht
schon daraus hervor, dass die Veröffent-
lichung bloss 126 Seiten füllt.
Man ist deshalb schliesslich in Frank-
Gewerbestatistik
519
reich dahin gelangt, mit dem bisherigen
Verfahren zu brechen. Dem 1891 errichteten
Office du travail ist auch die Aufgabe ftbr
^luftige, aussichtsreichere Gewerbezählungen
zugef^en. Nach einem aufgestellten Plane
wird beabsichtigt, die besondere gewerbliche
Aufnahme mit einer die ganze Bevölkerung
umfassenden zu verbinden und zu dem Ende
teüs durch Individualkarten die Anwesenden,
teils durch Gewerbebögen die Gewerbebe-
triebe festzustellen. Auf den ersteren ist
der profession wie condition eine eingehende
Berücksichtigimg zugedacht Die letzteren
beschränken sich auf die Art des Betriebes
und der Herstellungsgegenstände, auf die
Zahl der zur Zählungszeit wie im Mittel
verwendeten Personen, auf die ausser der
Betriebsstätte beschäftigten, auf die Stellung
der Arbeitnehmer wie auf die Benutzung
motorischer Kräfte. Mit Kücksicht auf die
Umfänglichkeit der Anlage hat einstweilen
nach dem Stande vom 29. März 1896 eine
Zählung in vereinfachter Form stattgefunden.
Es ist in erster Linie eine die Berufsver-
hältnisse vornehmlich ins Auge fassende
Zählung, doch ist nach ungarischem Vorbilde
auch der Ermittelung der Gewerbebetriebe
auf künstlichem Wege Rechnung getragen
worden. Ausser der genauen Angabe des
Berufes und der Berufsstellung wurde näm-
lich verlangt vom Arbeitgeber: Firma und
nähere Bezeichnung der Belegen heit des ge-
leiteten Unternehmens, Zahl der beschäftigten
Arbeitnehmer wie die Erklärung, ob er
Hausarbeiter (ouvrier ä fapon travaillant
chez lui) sei; vom Arbeitnehmer: Adresse
und Bele^nheit des Unternehmens, in der
er thätig ist, Beschaffenheit des industrieUen
oder kommerzieUen Unternehmens und im
Falle der Arbeitslosigkeit, ob diese wegen
Krankheit oder Invalidität, wegen regel-
mässiger toter Saison oder w^en zu-
fälligen Mangels an Beschäftigung statt
habe. Um die nicht imraittelbar erhobenen
Betriebe und ihren Personalumfang festzu-
stellen, sind also die Arbeitgeber um die
Zahl der Arbeitnehmer, diese um Bei-ufs-
zweig und Adresse jener befragt worden.
Aus der mühseligen Vergleichung und Zu-
sammenfassimg beider Angaben bei der Be-
arbeitung ist erst die Betriebsgrösse gefunden
worden. Die Ergebnisse der Zählung liegen
erst teilweise und audi bloss für 15 Departe-
ments vor. Sie belegen für jedes Geschlecht :
die gesamte beruf sthätige Bevölkerung, die
Personen mit unermittelter Stellung, die
Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Betriebe,
die beschäftigungslosen Arbeitnehmer, die
Inhaber von Alleinbetrieben nebst Haus-
arbeitem und Arbeitern ohne feste SteDung.
Ausserdem sind die Betriebe nach der Zahl
der darin beschäftigten Arbeitnehmer ersicht-
lich gemacht Alles dieses ist für berufliche
und gewerbliche Gruppen, Klassen und
Arten dargethan. Die Nachweisung der
einzelnen Arten ist sehr eingehend und er^
streckt sich auf über 8000 solcher einzelner
Unterscheidungen. Ausgeschlossen von der
Zählung sind geblieben: Heer und Kriegs-
flotte, Straf- und Besserungsanstalten, Armen-,
Irren-, Krankenhäuser, höhere Lehranstalten
der Gemeinden, Schülerpensionate, Spedal-
und geistliche Schulen, Klöster sowie Ge-
meindefremde, welche vorübergehend auf
öffentlichen Bauplätzen arbeiten.
Weit höher als die zuerst genannten
wenig glücklichen und ausgiebigen fran-
zösischen Unternehmungen zur Aufklärung
der gewerblichen Lage stehen indessen die
Leistungen der Pariser Handelskammer in
ihren beiden Enqueten von 1847/48 und
1860, welche Engel, wohl der beste Kenner
des Gegenstandes, im Jahre 1871 als den
»Glanzpunkt der gesamten gewerbestatisti-
schen Litteratiu*«, ems »der grössten Meister-
werke jeglicher Statistik« bezeichnete. Ueber
diese beiden grossen, sorgfältig angestellten
und trefflich beai^beiteten ^mittelungen,
welche durch besondere Zählbogen bei jedem
allein oder mit Grehilfen arbeitenden Ge-
werbetreibenden angestellt wurden, gewähren
die Zusammenstellungen für 429 Zweige in
10 Gruppen: die Anzahl der Betriebe nach
der Grösse des Umsatzes wie nach der der
Gehilfen, die Lokalmiete, den Absatz, die
Zahl, Art und Beschäftigungsweise der Ar-
beiter (ob in der Betriebsstätte oder zu
Hause), Lohnweise und Tagelohn derselben,
Wohnungsweise und Bildungsstand der Ar-
beiter, endlich die Dauer der verdienstlosen
Zeit Freilich lassen sich auch bei diesen
Ermittelungen die Zweifel an der zuver-
lässigen Beantwortung einiger zu sehr die
G^schäftsdetails erforschenden Fragen nicht
unterdrücken.
Zu den Staaten, welche die Gewerbe-
statistik durch öftere Veranstaltung von
Aufnahmen nun schon seit Jahrzehnten am
eifrigsten gepflegt haben, gehört Nor-
wegen, das, von der früheren Zeit abge-
sehen, seit 1870 in diesem selbigen Jahre, dann
1875, 1879 und 1885, und zwar neuerlich
meistam31.Dezember gewerbliche Zählungen,
indessen beschränkt auf die Fabrikindustrie,
abgehalten hat. Die auf Grund dieser Zäh-
lungen herausgegebenen Bearbeitungen der
Ergebnisse weißen in ziemlicher Ueberein-
stimmung für 12 Gruppen und 118 Abtei-
lungen nach: die Anzalil der Fabriken,
unterschieden nach der jährlichen Arbeits-
dauer, nach der Grösse des gehaltenen Per-
sonals wie nach der Zeit ihrer Begründung,
die Zahl der verschiedenen Motoren und
deren Pferdekräfte im ganzen, die Zahl der
gesamten Arbeitstage, endlich das Personal
in Ansehung seiner Dienststellung und ge-
520
Gewerbestatistik
■wisser Alters- und Geschlechtsverhältnisse,
sowie die Inhaber insbesondere, ob sie phy-
sische oder juristische Personen, ob sie In-
oder Ausländer sind. Diese masshaltenden,
eine vollständige Ermittelung verbürgenden
Aufnahmen sind, wenigstens in neuester
Zeit, durch Fragekarten, welche von den
einzelnen Fabrikbetrieben — mit Ausschluss
allerdings der handwerksmässigen und haus-
industriellen Betriebe — auszufüllen waren,
bewerkstelligt worden. Angereiht ist ihnen
ein Nachweis des Wertes der Ein- und Aus-
fuhr der Erzeugnisse.
Beachtenswert sind auch noch die Leis-
tungen Belgiens. Ja, hier ist der gewerb-
liche Zustand des Landes zum ersten Male
in moderner, vervollkommneter Weise zur
Aufnahme gelangt. Denn jenes grosse Zäh-
lungswerk von 1846, bei welchem Männer
wie Quetelet und Heuschling dem Erhe-
bungswesen eine höhere Ausbildung hatten
zu teil werden lassen, umfasst zugleich
eine Gewerbeermittelung. Die Bearbeitung,
von Engel »eine der kostbarsten Perlen der
statistischen Litteratur« genannt, enthält
Angaben über die Anzahl der Betriebe, der
Arbeiter nach Anzahl und Geschlecht, der
Feuer (Hochöfen etc.), gewisser Arbeitsma-
schinen, der Motoren mit samt ihrer
Pferdekraft und über die nach ihrer Höhe
abgestuften Tagelöhne je für Erwachsene
und Kinder beiderlei Geschlechtes. Was
aber so 1846 glückte, scheiterte bei einer
Wiederholung von 1866 derartig, dass man
wegen überwiegend unvollständiger oder
irriger Beantwortimgen auf eine Dnickle-
gimg der zusammengetragenen Thatsachen
verzichtete. Ausserdem beeinflussten diese
Erfahrungen die nächste Aufnahme nicht
eben günstig.
Erst im Jahre 1880 wurde und zwai*
nach dem Stande v. 31. Dezember in gewisser
Verbindung mit einer allgemeinen Volks-
zählung zu einer erneuten Ermittelung der
Gewerbe geschritten. Indessen wagte mau
es nicht, solche wieder auf die gesamte In-
dustrie auszudehnen, da man alsdann einen
ähnlichen bedenklichen Ausgang wie 1866
befürchtete. Aus den 111 Arten der belgi-
schen Gewerbeeinteilung wiu-den darum
bloss die 61 wichtigsten Industriezweige
ausgesondert, auf die dann aber ohne Rück-
sicht auf den Betriebsumfang die Erhebung
ausgedehnt wurde. Letztere geschah mit-
telst 4 Fragebogen : je für das Personal,
die Motoren, die Arbeitsmaschinen und
Vorrichtungen und für die Produktionsver-
hältnisse. Als Zähler waren hierfür eigene
saclikundige Personen bestellt. Die Ergeb-
nisse dieser mit Umsicht geplanten und be-
arbeiteten Aufnahme sind nach vier Ge-
sichtspimkten hin zur Darstellung gebracht.
Einmal wenlen die Betriebe, je nachdem
sie Privaten, Aktiengesellschaften oder
öffentlichen Korporationen gehören, das
Personal nach seinen Hauptbestandteilen
und in seiner mittleren Stärke, die mecha-
nischen Motoren und ihre Pferdestärke so-
wie die Art, die Menge und der Wert des
Produktes beziffert. An zweiter Stelle
werden das Personal im Hinblick auf seine
specielle Stellung (Inhaber, Direktoren, In-
genieure, Werkmeister, Kontorbeamte, Ar-
beiter, Lehrlinge), die Arbeiter nach Alter
und Geschlecht sowie die Betriebe nach
der Anzahl des thätigen Personals ein-
gehend unterschieden. Weiter wird die
mittlere Arbeitszeit bei Tag und Nacht und
die Arbeiterzahl nach der Zahl der Arbeits-
stunden und ebenso der durchschnittliche
Arbeitslohn, sowie die Arbeiterzahl je nach
der Lohnhöhe und zwar getrennt für Kin-
der und Erwachsene nachgewiesen. End-
lich erfolgen nähere Angaben über die Ar-
ten und Stärke der Motoren wie Jie Unter-
scheidimg der Kessel nach der Spannung
und Konstruktion. Sieht man von der
fragwürdigen Ermittelung der Produktions-
verhältnisse ab, so hat diese jüngste bel-
gische Aufnahme eine gesunde Anlage er-
faliren und einen guten Erfolg geliabt.
Freilich giebt sie immer niu* über einen
begrenzten Teil der belgischen Industrie
Auskunft, üebrigens ist es auch auf die-
sem engen Gebiet nicht gelungen, die Er-
hebung der Arbeitsmaschinen in genügen-
der Vollständigkeit durchzuführen, weshalb
sie dann von der Bearbeitung der Tliat-
sachen ausgeschlossen geblieben sind.
Schliesslich haben in Belgien am 31.
Oktober 1896 ausser Verbindung mit einer
Volks- bezw. Berufszählung Ermittelungen
der gewerblichen Verliältnisse in vollständig
getrennter Weise und je diu'ch besondere
Ausführungsorgane stattgefunden und zwar
eine Zählimg der gewerblichen Unterneh-
mungen (industries et metiers) und eine
solche der gewerblichen Arbeiter und ihrer
Familie, aie wohl als ein eigenarti-
ges Verfahren interessant sind, aber als
glückliche Lösung der Aufgabe nicht
angesehen werden können. War es bei
dieser Einrichtung schwierig, aus Adress-
büchern die zu befragenden Betriebe kennen
zu lernen, standen für die Arbeiter die 1890
neu aufgestellten und auf dem Laufenden
erlialtenen Bevölkerungsregister zur Ver-
fügung, die sich jedoch als unvollständig
erwiesen. Erst durch die überaus mühsame
Arbeit bei der statistischen Prüfung und
Aufbereitung des Materials soll es gelungea
sein, die Vollständigkeit und IJeberein-
Stimmung der Thatsachen für Betrieb imcl
Personal herbeizuführen. Näheres lässt sich,
einstweilen nicht sagen, da die Ergebnisse
noch nicht veröffentlicht sind. Die Be-
Gewerbestatistik
521
fi-agungsgegenstände hatten eine weite Aus-
dehnung erhalten. Bei der Zählung der
Arbeiter kam es allerdings an erster Stelle
bloss darauf an, zu ermitteln, in welchem Be-
triebe bezw. bei welchem Unternehmer sie
beschäftigt oder ob sie als Hausindustrielle
thätig waren, wobei dann die nicht erfolgte
Angabe der Thätigkeit als vorliegende
Arbeitelosigkeit zu gelten hatte. Im übrigen
waren die Arbeiter und ihre Familienglieder
nur nach der Anzahl zu erheben, die auf
sie sonst bezüglichen Punkte den Bevöl-
kerungsrepstern zu entnehmen. Lediglich
wenn in diesen die Angaben fehlten, mussten
sie bei der Zälüung ergänzt werden. Von
den Betrieben wurde die Beantwortung eines
sehr umfangreichen Questionaire verlangt,
das aus einem Heft von 28 Seiten bestand
und für jede besondere Gewerbeart eines
Betriebes zur Anwendung kam. Es bezog
sich ausser auf genaue Bezeichnung des
Betriebes und Gewerbes, der Unternehmer,
etwaige Nebenbeschäftigung desselben ein-
mal auf die gewöhnliche Betriebsdauer, auf
eine zur Zeit bestehende Unterbrechung des
Betriebes und ihre Ursache, dann auf die
Ai-beiter beiden Geschlechtes nach ihrer
Stellung unter Ausscheidung der jugend-
lichen- die Stunde des Anfangs und Endes
der Arbeit und die Länge der Pausen.
Dabei waren die Angaben zu unterscheiden
für Tag- und Nachtai-beiter wie für wech-
selnde Tag- und Nachtschichten. Insbeson-
dere ist für jede Arbeitsstellung, für Ge-
schlecht und Alter die Lohnform, die in der
letzten Lohnperiode gezahlten gesamten
Löhne mit Angabe der Arbeitstage und
Empfänger erfragt worden. Weiter sind
erhoben die Motore nach Art und Pferde-
stärken wie die Dampfkessel insbesondere
nach System, gewöhnlichem und höchstem
Druck und nach der Heizfläche. Endlich
erstreckten sich die Angaben auf die her-
gestellten Waren. Es bleibt abzuwarten, in-
wieweit die zusammengetragenen Thatsachen
den gehegten Annahmen entsprechen werden.
Jedenfalls ist bekannt geworden, dass die
immerhin misslichen Ermittelungen über
die Löhne bei der Prüfung nicht genügt
haben und dass infolge dessen nachträgliche
Erhebungen, bei denen auch die Lohnstufen
Berücksichtigung fanden, vorgenommen
wenlen mussten.
Was Italien anlangt, so ist es bisher
zu einer die ganze Industrie umspannenden
Aufnahme nicht gediehen, es sind indessen
zweimal Erhebungen der Fabrikindustrie
vorgenommen. Die erste vom Jahre 1876
betraf lediglich die verschiedenen Zweige
der Textil-, der Papier-, Leder-, Oelberei-
tungs-, Seifen- und Stearinlichter-Industrie
wie die gewerblichen Staatsbetriebe und er-
fasste hier auch bloss die Zahl der Fabriken,
der erwachsenen imd unerwachsenen Ar-
beiter und die der Maschinen nebst
Pferdekräften. Breiter angelegt waren die
Ermittelungen von 1883 schon darum, weil
sie über die gesamte Fabrikindustrie ausge-
delmt worden sind. Doch auch die Frage-
punkte haben eine Erweiterung erfahren.
Zu der Zahl der Fabriken, der Arbeiter, der
Motoren sind die Dampfkessel nach Art und
Stärke, das Minimalalter der beschäftigten
Kinder und die durchschnittliche jährliche
Zahl der Arbeitstage gekommen. Dann
aber sind von jedem Industrie:«weigö seinen
Eigentümlichkeiten gemäss einige besondere
Angaben verlangt und zu dem Ende auch
für jeden besondere Fragebogen verwendet.
Die Erhebungen sind jedoch nicht als völ-
lig gelungen anzusehen und jedenfalls nicht
gleichzeitig zu erlangen gewesen. Es hat
deshalb auch bisher keine einheitliche Dar-
stellung der Ergebnisse erfolgen können,
sondern sie ist je für eine Provinz gesche-
hen dergestalt, dass die erhobenen That-
sachen nicht durchweg dem gleichen Zeit-
punkte angehören. Bis jetzt sind auf diese
Weise Nachweisungen für 62 (der 70) Pro-
vinzen erschienen, bei denen jedoch die
ziffernmässige Schilderung von beschreiben-
den Mitteilungen überwogen wird.
Endlich bleibt noch zu gedenken, was
die Vereinigten Staaten von Nord-
amerika bei ihrem grossen zehnjährigen
Census über den Stand der Gewerbe im
allgemeinen erheben. Bei diesen Census-
aufnahmen werden für die verschiedenarti-
gen Gebiete, auf welche sie sich erstrecken,
besondere Aufnahmeformulare verwandt.
Während aber die letzteren früher ledig-
lich durch einen und denselben Zähler aus-
gefüllt bezw. kontrolliert wurden, ist es seit
1880 für zulässig erklärt, die Industrieermitte-
lung durch eigene sachverständige Agenten
vornehmen zu lassen. Der gegen die vor-
aufgehende Zählung etwas erweiterte ge-
werbliche Fragebogen des Jahres 1890 war
für alle, auch die kleinsten Gewerbebetriebe
auszufüllen und zwar für die Zeit vom
1. Juni 1889 bis 31. Mai 1890. Zu beant-
worten war darauf bezüglich jedes besondere
betriebenen Gewerbszweiges: die Firma
oder der Name des Unternehmern, das
Datum der Begründung, die Art des Ge-
werbes, das im Betriebe angelegte Kapital
nach seinen verschiedenen Bestandteilen,
die Jahresaufwendungen namentlich für die
Betriebsstätte, Abgaben, Versicherung, Un-
terhaltung der Maschinen und Gebäude,
Kommissionsgebühren, Zinsen und Löhne, das
erwachsene \md unerwachsene Personal
nach seiner Arbeitsstellung sowie mit Un-
terscheidung der Arbeiter nach der Höhe
des Wochenlohnes, die Menge des ver-
wandten Materials, die Menge und der
522
Gewerbestatistik
Wert der Erzeugnisse, die Dauer der Be-
triebszeit im Jahre, die Zahl der sommer-
-liohen und -mnterlichen täglichen Arbeits-
stunden, die Art und Pferdekräfte der Mo-
toren und endlich die Zahl der Farbigen
und die Höhe des Kapitals, welches sie im
Betriebe angelegt haoen. So reichhaltig
diese Ermittelungen sind und so sehr sie
danach angethan erscheinen, die gewerb-
liche Entfaltung gründlich zu beleuchten,
lässt sich doch das Bedenken nicht unter-
drücken, ob solche in das innere Geschäfts-
leben eindringende oder erst auf Grund
umständlicher Ausmittelung aus den Ge-
schäftsbüchern zu beantwortende Fragen
durchweg oder auch nur überwiegend zu
gewisseiüiaften Angaben geführt haben.
Allerdings darf nicht übersehen werden,
dass die Amerikaner mehr an die öffent-
liche Behandlung auch privater geschäft-
licher Dinge und insbesondere diu'ch lange
eingebürgerten Brauch an weitgehende
Zahlungsansprüche gewöhnt und daher
weniger zurückhaltend sind. Die erhobenen
Thatsachen sind nach 369 Gewerbezweigen
mit Ausschluss jedoch der besonderer Er-
mittelung unterworfenen mineral Industries
nachgewiesen worden ; ebenso sind alle Un-
ternehmungen , deren Erzeugungswert nicht
mindestens 500 Dollars erreichte, beiseite
gelassen worden. In dieser Beschränkung
ist für die Gesamtheit der Industrie dar-
gethan worden: die Anzahl der Betriebe,
die Grösse des Kapitalwertes nach einzeben
Bestandteilen, die durchschnittliche Anzahl
der ngiännlichen und weiblichen, erwachse-
nen und unerwachsenen, in festem Lohne
stehenden Arbeitnehmer und ebenso die
Stückarbeiter sowie die je für sie gezahlten
Gesamtlöhne im Jahre, die Kosten des zur
Produktion verwandten Materials und der
Wert der erzeugten Gegenstände, schliess-
lich die Kraftmaschinen nach Art und
Stärke. Dagegen ist von einer weiteren
Ausmittelung der Thatsachen wie der Un-
terscheidung der Betriebe nach der Anzahl
des Personals, der Grosse des Erzeugimgs-
wertes. Abstand genonmien worden. Das
ist teilweise jedoch für eine Reihe vorzugs-
weise wichtiger Gewerbszweige geschehen,
hinsichtlich dörer die Arbeiter nach der
Höhe der Löhne auseinandergehalten, zu-
dem noch — entsprechend der erfragten
Gegenstände — nähere Angaben über die
Betriebsarten, über die verwendeten Mate-
rialien und die Erzeugungsgegenstände bei-
gebracht sind. Ausserdem hat die Minen-
industrie für sich aUein eine besonders
eingehende Behandlung erfahren.
Aus allen diesen Ausführungen geht nun
wohl her\^or, dass die statistische Erforschung
der gesamten gewerblichen Entwickelung
mittelst allgemeiner Aufnahmen, trotz ein-
zelner weniger schätzenswerter Leistungen,
im grossen und ganzen noch wenig ausge-
bildet und in üebung ist« dass aber unter
dem, was die letzten Jahrzehnte gezeigt
haben, die Zählungswerke des Deutschen
Reiches hinsichtlich der Sorgfalt der An-
lage und AusfühiTing einen hervorragenden,
wenn nicht den hervorragendsten Platz
einnehmen. Bei der durchaus abweichen-
den Behandlungsweise der Gewerbestatistik
der einzelnen Staaten wie bei der hier
vorliegenden hauptsächlichen Bedeutung der
deutschen Ergebnisse wird es sich denn
auch empfehlen, die erhobenen Thatsachen
selbst lediglich hinsichtlich Deutschlands
im folgenden in Betracht zu ziehen. Frei-
lich kann das nur nach den wesentlichsten
Richtungen hin geschehen, wobei jedoch
in einzelnen Punkten neben der neuesten
auch die Zählung von 1882 heranzu-
ziehen ist."
III. Die Ergebnisse der Gewerbeauf-
nähme des Deutschen Reiches
von 1896.
5. Die Gewerbebetriebe. Die Anzahl
der ermittelten gewerblichen Unternehmun-
gen erreichte am Zählungstage des Jahres
1895 3685088, was 711,8 auf je
10000 Einwohner ausmacht. Dahingegen
belief sie sich 1882 auf 3609801. Dem-
nach hat diese Anzahl sich wohl um 2,1 ^/o
vermehrt, das Verhältnis zur Bevölkerung
ist indessen nicht unerheblich zurückge-
gangen, da es 1882 doch 782,2 ausmachte.
Der Grund ist — wie noch näher zu be-
legen sein wird — darin zu suchen, dass
die Betriebe sich mehr auszudehnen trach-
ten, d. h. eine grössere Personenzahl be-
schäftigen, dass also die gewerbliche Thä-
tigkeit der einzelnen Unternehmungen durch-
schnittlich erweitert worden ist. Die Gesarat-
zahl der Gewerbebetriebe verteilt sich auf die
unterschiedenen 21 grösseren Gewerb^prup-
pen derart, wie aus der Tabelle auf S. 523
zu ersehen ist
Will man die Bedeutung der Gewerbe
nach dem Verhältnis abschätzen, in welchem
ihre Betriebe zur Bevölkenmg stehen, nimmt
ohne Frage den ersten Rang diejenige in-
dustrielle Thätigkeit ein, weiche sidh mit
der Herstellung, Ausschmückung, Ausbesse-
rung und Reinigung der Bekleidungsg^en-
stände befasst Ihr gehören, obschon hier
die häusliche aussergewerbliche Thätigkeit
der Frauen in hohem Masse in Mitbewer-
bung tritt, bereits mehr als ein Viertel aller
vorhandenen Betriebe an. Namentlich treten
darin die Näherei, Schuhmacherei und
Schneiderei je mit zwischen 200000 und
300000 sowie die Wäscherei und Plätterei
mit reichlich 80000 Betrieben hervor. Die
Notwendigkeit einer weiten Zerstreuung über
Oewerbestatistik
523
Auf
Zäh-
lungs-
jähr
Betriebe überhaupt
Anzahl
auf
10000
Einw.
darunter Nebenbotriebe
Anzahl
% der
Gesamt-
heiten
Kunst- und Handelsgärtnerei . . . . j
Tierzucht und Fischerei l
Bergbau, Hütten- und Salinenwesen . <
Industrie der Steine und Erden . . . j
Metallverarbeitung |
Industrie der Maschinen, Instrumente . |
Chemische Industrie \
Industiie der Leuchtstoffe, Seifen, Fette, j
Oele 1
Textilindustrie
Papierindustrie
Lederindustrie
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe .
Industrie der Nahrungs- u. Genussmittel
Bekleidungs- und Beinigungsgewerbe .
Baugewerbe
Polygraphische Gewerbe
Künstlerische Gewerbe
Handelsgewerbe
Versicherungsgew^erbe
Verkehrsgewerbe
Beherbergungs- u. Erquickungsgewerbe
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
1895
1882
27 944
17699
25603
25395
6446
8144
53047
59772
174069
177347
102 559
94807
11541
10438
8124
10314
248617
406574
18709
16665
51567
49642
262 252
284 502
314473
288771
920955
949704
230 837
184698
15090
10395
10 187
8669
777 495
616836
19238
32463
100646
99321
278 689
257 645
5,4
3,9
4,9
5,6
1,2
1,8
10,3
13,2
33,6
39,2
19,8
21,0
2,2
2,3
1,6
2,3
48,0
89,9
3,6
3.7
10,0
11,0
50,7
62,9
60,7
63,9
177,9
210,0
44,6
40,8
2,9
2,3
2,0
1,9
150,2
136,4
3,7
7,2
19,4
21,9
53,8
57,0
3176
I 722
8050
9486
2282
2855
4818
6778
15612
13 112
14680
11933
1 156
1247
1933
3152
43325
62092
1078
851
4242
4917
42338
45 533
44502
43485
72 HO
70565
31852
22 163
897
783
676
637
142286
164 III
II 896
27908
21 950
23213
44252
87801
11,4
9,7
31,4
37,4
35,4
53,2
9,1
11,3
9,0
13,4
14,3
12,6
10,0
11,9
23,8
30,6
17,4
15,3
5,8
8,2
9,9
16,1
16,0
14,2
15,1
7,8
7,4
13,8
12,0
5,9
7,5
6,6
7,3
18,3
26,6
61,8
86,0
21,8
33,8
15,9
34,1
das Land und infolgedessen einer mehr
extensiven Betriebsweise wie auch die
Leichtigkeit der Errichtung dieser Betriebe
tragen nicht wenig zu der erheblichen Aus-
dehnung bei. Die zweite Stelle wird durch
die Handelsgewerbe ausgefüllt, unter denen
sich, wie nahe liegt, der Handel mit Lebens-
mitteln hervorthut, der ja naturgemäss eine
weite Verbreitung erheischt. Er stellt über
180000, der mit landwirtschaftlichen Pro-
dukten über 110000 Betriebe. Es kommen
dann auch noch die Handelsvermittelung
mit 47 000, der Handel mit Brennmaterialien
mit 24000, der Hausierhandel mit 39000,
der mit Tieren mit 34000, der mit Kiu^-
waren mit 20000 Betrieben in Betracht.
Demnflchst macht sich die Textilindustrie
geltend, die den am häufigsten vertretenen
Bekleidungsgewerben die hauptsächlichsten
Stoffe zur Verbreitung liefert. Indessen hat
sie kaum halb so viel Betriebe als die Be-
kleidungsindustrie. Dafür liegen bei ihr
auch die Betriebsverhältnisse anders. Die
Textilindustrie, welche unmittelbar örtliche
Beziehungen zum Konsumenten (entgegen
jener wegen des Massnehmens, Anpassens)
nicht voraussetzt, kann danim auch in weit
höherem Masse intensiv geführt werden;
zudem kommt hier in höherem Grade die
Mitwirkung des Auslandes in Betracht Nach
einem abermals nicht unmerklichen Abstände
reihen sich die fast gleich starken Industrieen
der Holz- und Schnitzstoffe mit dem Haupt-
zweige der Tischlerei und der Nahrungs-
und Genussmittel an. Hier treten besonders
die Bäckereien (96000) und Fleischereien
524
Gewerbestatistik
(93CMX)) hervor, deren Zahl eine ansehnlich
höhere sein würde, wenn nicht vielfach
noch auf dem Lande die hauswirtschaftliche
Beschaffung der fraglichen Lebensmittel in
Kechnung fiele. Nicht unansehnlich ist auch
.die Zahl der Getreidemühlen (52000). Wird
übrigens w^ohl im allgemeinen durch das
Nahnmgsbedürfnis eine geringere Zahl von
Betrieben als durch das der Bekleidung er-
fordert, da bei ihnen der einzelne Betrieb
einem grösseren Konsumentenkreise zu
dienen vermag, so ist es doch verständlich,
wenn gerade die Yeraorgung mit Brot und
Fleisch, welche jeder gerne frisch und in
der N^e zu erhalten hebt, die meisten Be-
triebe dieser Gruppe bescliäftigt. Es folgen
unter den Gruppen die Gast- und Schank-
wirtschaft, die Baugewerbe und die Industrie
der Eisenverarbeitung, in der sich besonders
das Schmiedegewerbe (81000) hervorthut.
Unter den Baugewerben machen sich am
meisten die Maurerbetriebe (72000), die der
Zimmerer (47 000) wie der Stubenmaler und
Tüncher (42000) bemerkbar. Eine schon
merklich geringere Ausdehnung hat die
Gruppe, welche sich mit der Herstellung
von Maschinen, Instrumenten und Apparaten
befasst und zu der als wichtigster Zweig
die Stellmacherei und Wagnerei (54000)
zählt, dann die Yerkehrsgewerbe , doch
ohne den beiseite gelassenen Eisenbahn-
verkelir, femer die Industrie der Steine
imd Erden wie der Herstellung von Leder,
Wachstuch und Gummiwaren : lauter Grup-
pen, bei denen immer noch 10 oder mehr
Betriebe 10 000 Einw^olmern gegenüber-
stehen.
Gegen die Zählung von 1882 sind die
Veränderungen in den einzelnen Gruppen
durchaus nicht unerheblich, -wenn auch die
Gesamtzahl der Betiiebe nicht eben stark
geschwankt hat. Besondere ansehnhch fand
eine Yermehining in der Kunst- imd Han-
debgärtnerei statt, die über die Hälfte be-
trug, und in den polj'graphischen Gewerben,
bei denen sie über zwei Fünftel hinaus-
ig. Auch die künstlerischen und die
mgewerbe nehmen mit einem Viertel be-
trächtlich zu. Ihnen stehen aber zumal die
Handels- und die Textilgewerbe gegenüber,
die eine Verminderung von zwei Fünftel,
Bergbau und Hüttenwesen sowie die In-
dustrie der Leuchtstoffe, welche eine solche
von einem Fünftel erfahren haben. In Be-
zug auf die Gewerbe arten zeichnen sich
unter den stärker besetzten namentlich die
Stuckatem« und Ofensetzer, die Betriebe
für Gas- und Wasseranlagen, die Cement-
fabriken und die Verleihungsgeschäfte durch
<lie höchste Zunahme (von über 100%), die
Flachs-, Hanf-, Baumwollen- und Wollen-
spinnerei, die Seiden- und Leinweberei diuxih
die höchste Abnahme aus.
Bei diesem üeberblick über den Ver-
breitungsgrad der verschiedenen gewerb-
lichen Gruppen ist solcher nach der Zahl
der Betriebe im ganzen, also sowohl der
Haupt- wie der Nebenbetriebe gemessen
worden. Nun begründet es allerdings für
Leistungen der gewerblichen Thätigkeit
keinen wesentHchen Unterschied, ob der
Betrieb des Gewerbes die eigentliche und
hauptsächliche oder eine mehr nebensäch-
liche Nahrungsquelle ihres Unternehmers
bildet ; wrohl aber hat sie aus dem Gesichts-
punkte dieses letzteren eine hervorragende
Bedeutung. Um daher die Stellung der Ge-
werbe im nationalen Haushalt gebührend
würdigen zu können, wird man auch jene
beiden Formen des Betriebes nicht über-
sehen dürfen. Eine derartige Scheidung er-
giebt fürs Reich 3 144 977 Haupte und 513 111
Nebenbetriebe, so dass jene etwa sechsmal
so zahlreich sind als diese. In Bezug auf
die einzelnen Gruppen wechselt aber das
Verhältnis ansehnlich. In einer von ihnen,
in den Versicherungsgewerben, und hier
mit 62®/o ganz auffällig, ist der Nebenbe-
trieb der vorherrschende. Sonst findet sich
eine nennensw^erte Ausdehnung in der Tier-
zucht und zwar in der von Hunden und
Vögeln wie in der Imkerei, innerhalb des
Bergbaus in der Torfgräberei, in der Industrie
der Leuchtstoffe bei der Köhlerei imd Oel-
müllerei und in den Verkehrsgewerben, von
denen vorzugsweise Fuhrwerksbesitzer, Lohn-
diener, Botengänger, Leichenfrauen neben-
gewerblich thätig sind. Umgekehrt hat der
Nebenbetrieb nur in ganz untergeordnetem
Masse in den polygraphischen Gewerben
und der Papierindustrie statt. Die Neben-
betriebe sind seit 1882, wo ihrer
604344 gezählt wairden, um 15,1 ®.o zu-
rückgegangen. Die Hauptbetriebe, deren
es damals 3005457 gab, haben sich um
4,6 ^/o vermehrt. Das trifft vorzugsweise
und mit 61 ^/o bei den Versicherungsge-
werben zu, wde ferner mit zwischen 40 und
50 ®/o bei den polygraphischen und Handels-
gewerben. Die ebenzuvor erwähnte Ab-
nahme der Versichenmgsgewerbe überhaupt
ist demnach wesentlich durch die Neben-
betriebe herbeigeführt worden.
Der Haupt- oder der nebensächliche Ge-
werbebetrieb steht übrigens in enger Be-
ziehimg zur Ausdehnung des Unternelmiens.
Wenigstens ist es von unverkennbarem Ein-
flüsse, ob überall keine andere menschliche
oder motorische Kraft als die seines allei-
nigen Inhabers im Betriebe thätig ist oder
ob weitere Kräfte, seien es Motoren, mehrere
Inhaber oder Hilfspersonen, vorhanden sind.
Verteilt man demgemäss die Betriebe, je
nachdem sie Allein- oder Gehilfenbe-
triebe sind, d. h. entweder bloss aus einem
Inhaber und ohne Motoren oder aus Mitin-
Oewerbestatistik
525
habern bezw. Gehilfen und Motoren bestehen,
so erhält man:
Betriebe Haupt- Neben-
überhanpt betriebe betriebe
— Anzahl —
Alleinbetr. .
Dayon nicht
hansindustr.
Gehilfenbetr.
Davon nicht
hansindustr.
Alleinbetr. .
Dayon nicht
hansindustr.
Gehilfenbetr.
Davon nicht
hansindustr.
ri895 2172197 1714351 457486
\1882 2 423 049 I 877 872 545 177
(1895 1899669 1482788 416 881
\1882 2 105 577 I 593 139 512438
(1895 I 485 891 I 430 626 55 265
\1882 I 186 752 I 127 585 59 167
/189Ö 1 415 862 I 361 288 54 574
\1882 I 117 808 1 060239 57 569
Betriebe Haupt- Neben-
überhaupt betriebe betriebe
— unter 100 —
59,4 54,5 89,2
67,1 62,5
/1895
\1882
/1895
\1882
/189Ö
\1882
(1895
\1882
52,0
«
40,6
32,9
38,7
47,1
•
45,8
37,5
43,3
81.2
10.8
10,6
Demgemäss pflegt die nebensächliche
Gewerbsthätigkeit vorzugsweise dort ausge*
Obt zu werden, wo der Erwerbstliätige ganz
auf sich selbst gestellt ist.
6. Die Grosse des Gewerbebetriebes.
Wie bereits dargethan wiu^ie, ist als Massstab
für die Sonderung der Gewerbebetriebe nach
ihi'er geschäftlichen Ausdehnung die Anzahl
der verwandten menschlichen Kräfte, da-
neben auch die Anwendung irgend welcher
Motoren gewählt worden und zwar die letz-
teren nur in dem Falle, wo es sich bloss
um einen einzigen, allein schaffenden In-
haber handelt Um nun zu einer Einteilung
nach diesen Merkmalen zu gelangen, kann
man unter Anlehnung an den Vorgang der
Reichsstatistik die drei Hauptstufen der
Klein-, Mittel- imd Grossbetriebe derart
unterscheiden, dass man zu den ersterßn die
eigentlichen Alleiübetriebe, welche also von
dem alleinigen Inhaber ohne Gehilfen und
Motoren geftüirt werden, dann die sonstigen
gehilfenlosen Betriebe, d. h. in denen mehrere
Inhaber oder doch ein Motor vorhanden ist,
sowie die Betriebe bis zu höchstens 5 Hilfs-
Sersonen rechnet. Als Mittelbetriebe wer-
en dann die mit einem Personalbestande
von 6 bis 50 und als Grossbetriebe die mit
mehr als 50 Köpfen aufgefasst. Auf diese
"Weise erhält man:
Kleinbetriebe :
AUeinbetriebe /189Ö
ohne Motoren \1882
Sonst, gehilf en- ^896
lose Betriebe \1882
Betriebe mit 2 bis /189Ö
5 Personen \1882
/189Ö
^882
Mittelbetriebe :
mit 6-10 Pers. /J^
Zusammen
r>
11—50
Znsammen
Grossbetriebe :
mit 51— 200Pers.
/1895
\1882
ri895
\1882
ri895
\1882
„ 201^1000 „ gll
fl895
\1882
/1896
\1882
„ über 1000 „
Zusammen
I 714351 oder 54,5*^/0
1 877 872
166480
107 836
1 053 892
897 060
2 934 723
2 882 768
113 549
68763
77752
43952
191 301
112715
15622
8095
3076
1752
255
127
18953
9 974
n
n
»
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
»
n
n
n
n
62,5
5,3
3,6
33,5
29,8
933
95,9
3,6
2,3
2,5
1,5
6,1
3,8
0,5
0,3
0,1
0,0
0,0
0,0
0,6
0,3
r
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
Bei dieser Verteilung hat mu* diejenige
Gehilfen- bezw, Personenzahl Berücksichti-
gung gefimden, welche innerhalb der
dem Inhaber gehörenden Betriebsstätten
thätig war, während die in der Hausindustrie
und in Strafanstalten beschäftigten Arbeiter
nicht in Anrechnung gebracht sind. Ferner
bedarf der Erwähnung, dass es sich hier
wie im weiteren Verlaufe nur um Haupt-
betiiebe handelt. — Wie nun aus den That-
sachen hervorgeht, ist die Ueberlegenheit
der kleineren Unternehmungen eine derartig
entschiedene, dass auf die mittleren und
grösseren noch kein Zwanzigstel entfällt.
Das trifft für beide Zählungsjahre zu. In-
dessen hat sich in der Zusammensetzung
der Betriebe doch von 1882 auf 1895 eine
fühlbare Wandlung ergeben: die Kleinbe-
triebe sind zurückgegangen, die übrigen
haben und zwar höchst ansehnlich zuge-
nommen, die Mittelbetriebe um 70, die Gross-
betriebe gar um 90®/o. Die Neigung zu
einer grösseren Betriebsweise liegt also offen
zu Tage. Allerdings war die Abnahme der
Kleinbetriebe überhaupt nicht eben belang-
reich, kaum 2 % : bemerkenswert ist jedoch,
dass die einfachste Betriebsform, die der
motorlosen Alleinbetriebe, eine Einbusse von
fast 9^/0 erlitten hat. Mag hierauf auch
die neuere genauere Ausmittelung der Zäh-
lungsergebnisse namentlich in der Richtung
Einfluss geübt haben, dass die im Gewerbe-
betriebe des Inhabers mitbeteiligten Familien-
glieder vollständiger zur Ei-scheinung ge-
Siugt sind, so bekundet sich in der beträcht-
lichen Abnahme dieser ganz kleinen Betriebe
doch wesentiich der der Gegenwart anliaf-
tende, in der Erzielung eines him-eichenden
526
Gewerbestatistik
Ertrages begründete Zug zur ausgedehnteren
gewerblichen Kraftentfaitimg. Vielfach wer-
den die Inhaber der Alleinbetriebe, sofern
er ihnen kein zulängliches Auskommen
bot und sie die Mittel dazu besassen,
dessen Umgestaltung in einen Gehilfenbetrieb
vorgenommen haben oder, wie das die Zu-
nahme der letzteren und die dadurch not-
wendig gewordene Erweiterung des Perso-
nals vermuten lässt, in erhebhchem Masse
in eine Gehilfenstellung eingetreten sein.
Das gleidie Verhältnis in der Grössen-
verteilung der Gewerbebetriebe, wie es für
den Diurchschnitt erscheint, kehrt auch fast
bei allen grösseren Gewerbegruppen wieder.
Eine entschiedene Ausnahme machen jedoch
die Montangewerbe, in welchen auf die
Kleinbetriebe kaum die Hälfte kommt. Auch
sind es hier mehr die eigentlichen Gross-
als die Mittelbetriebe, welche hervorragen.
Von den übrigen Gruppen thun sich mit
einer grösseren Beteiligung der stärker be-
setzten und zwar namentlich der mittleren
Betriebe die Industrie der Steine und Erden
(35®/o), die der Leuchtstoffe^ Fette imd Oele
(31^/o) und die polygraphischen Gewerbe
g3^/o) hervor. Das war 1882 noch anders.
am£ds gab es ausser der Montanindustrie
keine Gruppe, in der auf die Betriebe über
5 Personen auch nur 25, in der auf die
über 50 Personen insbesondere auch nur
3% kamen. Als die Gruppen, in welchen
vorzugsweise der Kleinbetrieb zum Ausdruck
gelangt, sind zu bezeichnen: die Tierzucht
und Fischerei, die Bekleidungs- und Reini-
gungsgewerbe und die Verkehrsgewerbe;
die Kleinbetriebe machen hier mindestens
95®/o aus.
Sieht man sich diese wichtige Gliederung
der Gewerbe nach ihrer Betriebsausdehnung
noch etwas näher an, so sind namentlich
die Alleinbetriebe, diese ganz kleineu
Geschäfte, in welchen sich Deutschlands
Gewerbefleiss überwiegend bethätigt, be-
merkenswert. Zu ihnen gehören an erster
Stelle und mit mehr als neun Zehntel aller
Hauptbetriebe die Spinnerei (ohne Stoffan-
gabe), die Näherei, Stellenvermittelung, der
Hausierhandel, die Kleiderreinigung, der
Hafen- und Lotsendienst, nicht näher aus-
gewiesene künstlerische Gewerbe, Dienste
männer, Leichenbestattung, Wäscherei und
Spitzenwäscherei. Dahingegen nehmen eben-
falls bis zu 90 ^/o im Kleinbetrieb überhaupt
(bis zu 5 Personen) den obei*sten Rang ein:
der Hausierhandel, die Barbiere und Friseure,
die Näherei, die Puppenbekleidung, die Grob-
schmiede, die Binnenfischerei und die Stell-
macherei. In den Mittelbetrieben (6
bis 50 Personen) ragen über 50 und bis zu
64®/o hervor: die Stuckateure, die Talg-
und Seifensiederei, die Spoditions- und Kom-
missionsgeschäfte, der Handel mit Baumate-
rialien, die Zimmerer, Sägemühlen, Stein-
metzen, die Holzzurichtung, Zi^elei, Karton-
nagenfabrikation, Konfektion, Buchdruckerei
und Steinsetzerei Der Grossbetrieb (51
und mehr Personen) endlich steigt zu mehr
als 90 % an : in den Steinkohlenwerken und
den Rübenzuckerfabriken (bis nahezu 100®/o),
in der Eisen- und Stahl^brikation, in den
Erzbergwerken, in der Fayencefabrikation,
in den En^ütten, den Glashütten, in der
Fabrikation von Dampfmaschinen, der Baum-
wollenspinnerei, der Cementfabnkation und
im Strassenbahnbetrieb. Aus den Grossbe-
trieben heben sich die 225 Riesenbe-
triebe mit über ICKX) Personen ab. Diese
wenigen Unternehmungen mit ihrer gewal-
tigen Maschinenverwendung beschäftigen
bereits zwischen 4 und 5()0000 Menschen
d. h. nahezu ein Drittel des gesamten ge-
werbethätigen Personals und im Mittel an-
nähernd 2000 Köpfe in einem Betriebe l
Von ihnen thun sich mit 86 Betrieben am
meisten die Steinkohlenbergwerke, danach
29 Eisen- und 15 andere Erzwerke hervor.
Abgesehen von den Alleinbetrieben, sind bei
allen hier hervorgehobenen Gewerbearten nur
solche berücksichtigt, die mindestens aus
10000 Personen bestehen.
7 . Die Gewerbetreibenden. Die wesent-
lichsten in Betracht kommenden Thatsachen
ergeben sich aus nachfolgender üebersicht.
Die Verteilung dieser im ganzen 10 269 269
im Jahre 1895 gezählten Personen, welche
in den in das Gebiet der Aufnahme einbe-
zogenen Gewerben thätig sind, über die ge-
werblichen Ghnippen weicht im grossen und
ganzen nur unbedeutend von der ab, welche
sich für die Betriebe ergab. So stenen hier
wie dort die Bekleidungsgewerbe obenan,
doch kommt ihnen das handeltreibende Per-
sonal nahezu gleich. Es zählen zu den
hervorragenden die Textilindustrie, die Bau-
gewerbe, die Nahrungsmittelindustrie und
finden sich umgekehrt nur ganz schwach
vertreten die künstlerischen Gewerbe, die
Versicherungsgewerbe, die Industrie der
Leuchtstoffe und Felle, die Tierzucht nebst
Fischerei wie die Kunst- und Handelsgärt-
nerei. Dennoch sind auch bemerkenswerte
Abweichungen vorhanden. Solche be-
treffen in erster Linie den Borgbau, dessen
geringfügige Verbreitung in Bezug auf die
Unternehmungen, dessen ansehnliche Bedeu-
tung rücksichtlich der Gewerbetreibenden
mit dem zusammenstimmt, was über den
vorwaltenden, grosse Arbeitskräfte bedingen-
den Betriebsumfang gesagt ist. Wenn auch
nicht in gleichem Masse, so doch immer
noch auffallend ist der Ausschlag zu Guns-
ten der Gewerbetreibenden namentlich bei
det Industrie der Steine und Erden, sodann
bei der chemischen, der Textilindustrie und
den Baugewerben. Umgekehrt verhält es
Eb wurdeo ermittelt:
Gewerbestatistik
Knnst^ n. Hondels^rtn
„i|
1896
1682
74 Wi
41 560
0,7
0,6
3,0
2,6
4,6
4,"
13297
7711
50852
25807
79,3
77,0
Tieraucbt nnd Fueherei ,
1695
1882
28137
»5858
0,3
0,3
1,6
1,6
'4
5542
6415
1097s
9903
66,4
60,7
Bergbaa, Hütten- und Sa-
1895
540388
S,»
129,8
'43.4
2307
537 683
99,6
linenwesen
1882
430 134
5,8
8' .3
88,7
2938
436871
Industrie der Steineii.Erden
1893
1882
558 »gä
349196
5,4
4,7
■ 1^
6,6
'n
26236
27927
521 477
307 057
95^2
91,7-
MetaUverarbeitong . . .
1896
635656
582 672
6,2
6,3
'i
5,7
4,0
95 735
94351
482 433
298 130
?4
Industrie derMaschineo, In-
1895
5.7
6,6
i7fi
40868
496727
92,4
1882
356089
4,8
4,3
8,2
36863
274 278
88,1
Cbemuche Indnstrie . .
1895
1882
115331
71777
1,0
15,4
7249
6110
104897
62653
93,S
91,1
Indostne der Leachtatoffe,
1896
57909
0,6
9,4
"b
4234
52501
92,5
Seifen, Fette, Oele . .
1882
4*705
0,6
6,0
8,0
4 437
36216
89,1
Teitilindnatrie ....
L69fi
993*57
910089
9,7
ii
'4,9
8,0
51910
74805
79a 814
57' 679
z
Papierindnetrie ....
1896
153909
100156
1,5
1.4
8,7
6,3
13,3
10,0
10130
895a
136068
84729
93.0
90,4
liCderindTutrie .....
1895
1882
160343
121532
1,6
•,7
3,4
2,7
5.4
4.2
25359
23721
113416
76984
81,3
s
Industrie der Hok- nnd
1896
598496
5,8
2,7
4,6
92884
390403
8chnitut«ffe ....
1882
469695
2,0
3,4
87009
238531
73,3
Industrie der NahrungB-
1895
I 021 490
.00
3,8
4.6
173631
788786
82,0
nnd Gennsgmittel . . .
1882
743881
io!i
3,7
3,8
155113
521 677
77.1
Bekleidung^ tmd Beini-
1895
1390604
»3,9
1.7
3,7
190741
548 266
74,2
grungsffewerbe ....
1882
1 259 791
'7,2
1.4
3,1
177082
385 527
68,5
Bangewerbe {
1895
1045516
5.3
ia,o
90285
849902
90,4
1882
533 511
7!3
3,3
6,2
70778
372137
84,0
1895
1862
127 861
70006
1,3
0,9
9,0
7.3
'2,1
10,1
loooS
6430
113947
60635
9',9
90.4
KünatleriBche Gewerbe. .{
1895
1882
19879
15388
2,9
',9
6,5
4,3
'939
226S
1031S
7320
84,2
76,4
1895
1882
1 331 993
838 292
'1,4
%
3,5
3,4
240418
153827
742003
391 166
75,5
71,8
Verricheningsgewerbe
1895
1882
22256
11824
0,2
s
1:1
1887
1262
1487.
7 37'
88,8
85,4
1896
23043'
174 '46
2,4
2,9
2,3
4,9
4.2
32140
26358
103884
??;8
BeherbergQugB- und
Er-
1895
579 958
5,6
2,5
3,0
117670
404058
77,4
1882
314246
4,3
1,9
2,8
57 457
168 558
74,6
Sämtliche Gewerbe .
TT59ö"
1882
10 369 269
7 340 789
100,0
100,0
s
'S
1 234470
1031804
7 320 u8
4431 "3
r.
sich mit den zahlreiche Allein- und Klein-
betriebe entiialteaden Bekleidungs- uod Eei-
nigungsge werben. Wenn sie auch nach der
Anzahl der Betriebe wie Personen den i
ersten Rang einnehmen, erreichen sie doch
in Bezug auf diese kaum 14'/o, hingegen'
in Bezug auf jene über ein Viertel. Aehn-
lich ist es bei den Handelsgewerben. Im
"Vei^leiche mit 1882 hat die -verhältnis-
niäBsige Zusammensetzung darin eine Aen-
derung erfahren, dass sieli der Anteil
namentlich der Bau- und der Handelsgcwerbe
und der Maschinen! ndustrie und der Gast-
»md Schankwirtschaft gehoben hat, der der
Textilindustrie und der Bekleidungs- und
Heini gungBge werbe jedoch gesunken ist,
DerAnzaM nach haben sichaberdie Gewerbe-
treibenden BänitUcher Gruppen vermehrt.
Am wenigsten, d. h. mit kaum oder eben
einem Zohnlel hatte das noch bei der Tier-
zucht und Fischerei, der Textilindustrie und
bei den Bekleidungs- imd Reinigungsge-
werben statt. Dahängegeu hat sich das
Persona! der Baugewerbe nahezu verdoppelt
(96 "loi, das der Kunst- und Handelsgärliierei,
der polygraphischen Gewerbe, der Haudcls-
gewerbe, der Gast- und Schankwirtschaft
zwischen 80 und 90 "/o gehoben, FQr die
528
Grewerbestatistik
Gesamtheit der Gewerbetreibenden erreicht
die Zunahme 39,9 %.
Auch hinsichtlich des gewerblichen Per-
sonals ist die Beachtung der Betriebsgrösse
von Belang. Es gehören nämlich an:
dem
Gewerbe- 0/
/o
treibende
Alleinbetriebe (ohne Motoren){J^| \ ^ J^ |5^ ^J»^
Sonstig, gehüfenlos. Betriebe{J|§| J^^ g j^»J
Betriebe mit 2-6 Personen{S f f g ^3^^^
Betriebe mit über 5 Personen
und zwar
mit
6—10 Personen
n
11-50
öl— 200
201—1000
über 1000
n
/1895 833
\1882 500
/1895 I 620
\1882 891
/1895 I 439
\1882 742
/1895I IS5
U882 657
fl895 448
11882 213
418
097
8,1
6,8
915
623
15,8
12,2
700
688
14,0
10,1
836
11,2
399
9rO
731
160
4,4
2,9
Ebenfalls hieraus spricht augenfäUig das
entschiedene Vorwalten des Kleingewerbes.
Indessen gestaltet sich doch diese Abstufung
des Personals durchaus abweichend von der
der Geschäfte, da hier eben die wachsende
Personenzahl des einzelnen Betriebes die
oberen Stufen füllen, die unteren ent-
sprechend entlasten muss. Auch die Be-
wegung seit 1882 bekundet sich darin, dass
vornehmlich die grösseren Betriebe an Per-
sonal gewonnen haben. Bei den Riesenbe-
trieben von über 1000 Köpfen ist das sogar
über das Doppelte hinaus (110%) und bei
denen, welche aus 21 bis 50 Personen be-
stehen, reichlich um neun Zehntel der Fall ge-
wesen. Dass dawider die allein arbeitenden
Gewerbetreibenden eingebüsst haben, ist be-
reits hervorgehoben.
Sucht man die mittlere Besetzung der
Betriebe mit Personal, die mittlere Be-
triebsgrösse auf, so erhält man für je
einen Hauptbetrieb bloss eine solche von
3.2 Köpfen, ein Mass, das sich jedoch auf
6,0 verdoppelt, wenn man die Alleinbetriebe
absetzt. Nicht anders war es 1882, nur
dass damals im Durchschnitt bloss 2,4 bezw.
4.3 Köpfe auf einen Betrieb entfielen. Wie
sich das für die einzehien Gruppen gestaltet,
besagt die vorstehende Uebersicht. Dass
hierbei die Gruppe des Bei-gbaues weit,
weit über die übrigen hervorragt und ihre
Ziffer reichlieh zehnmal so gross ist als die
nächstfolgende der chemischen Industrie,
kann nach dem, was schon über den Be-
triebdumfang dargethan, nicht überraschen.
Von den 130 (bezw. 143) Köpfen eines Berg-
baubetriebes bis zu der schwächsten Be-
setzung, den 1,7 (bezw. 3,7) Köpfen in den
Bekleidungs- und Reinigungsgew^rben ist
denn auch ein gewaltiger Sprung. Der
letzteren (Jruppe ziemlich ähnhch verhalten
sich unter Einrechnung der Alleinbetriebe
mit höchstens 3 Personen im Mittel die
Tierzucht und Fischerei, die Gast- und
Schankwirtschaft, die künstlerischen, Ver-
sicherungs-, Handels- und Verkehrsgewerbe,
die Kunst- und Handelsgärtnerei und die
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe. Diese
Gruppen kennzeichnen sich meistens zu-
gleich als solche, in denen die Alleinbetriebe
erheblich verbreitet sind und zwar insofern,
als nach Ausscheidung der letzteren die
mittlere Kopfzahl auf etwa das Doppelte
steigt. Ebenfalls nicht unerheblich ist der
unterschied der mittleren Besetzimg, je
nachdem die sämtlichen oder bloss die Ge-
hilfenbetriebe herangezogen werden, bei
den Versicherungsgewerben, bei der Her-
stellung von Maschinen und Apparaten und
namentlich bei der Textilindustrie. Die
letztere macht sich als eine industrielle
Gruppe bemerkbar, in der auf der einen
Seite viele Hände in kleinen und ganz
kleinen, aber au^ der anderen auch zahl-
reiche in grossen , hingegen weniger in
mittleren Betrieben thätig sind. Da, wo die
mittlere Kopfstärke eine höhere ist, wie in
der Papierindustrie, in den polygraphischen
Gewerben, in der chemischen Industrie
und vollends im Bergbau macht sich der
Abstand mit oder ohne Beachtung der
Alleinbetriebe längst nicht so bemerkbar.
Hier sind nicht nur besonders, die Allein-,
sondern auch die übrigen Kleinbetriebe
schwächer vertreten, während die Mehrzahl
aller Personen auf die grösseren und ins-
besondere auf die mittleren entfällt.
Wird fiir die durchschnittliche Besetzung
auch die Grössenklasse der Betriebe in Rech-
nung gezogen, so kommen auf je 1 Betrieb
Personen :
1895
1882
n
. . 1,6
1,5
• • ^'5
M
12,8
12,3
. . 92,2
91,7
• . 375,8
375,2
. . 1759,7
1678,4
In Betrieben von
bis zu 5 Personen
mit AUeinbetrieb . .
ohne Alleinbetrieb
6 — 50 Personen .
61—200
201—1000
über 1000
Für alle Grössoustufen, namentlich aber
für die der Riesenbetriebe ist demnach die
durchschnittliche Besetzungsziffer ge-
wachsen.
Was die Arbeitsstellung der Ge-
werbetreibenden betrifft, so erhält man
neben 2948821 (1882 2909676) Selbstän-
digen 7 320448 (1882 4431118), also
doppelt soviel Hilfspersonen. Setzt man
indessen die keine Hilfspersonen beschäfti-
genden Inliaber von AUeinbetrioben ab, so
Gewerbestatistik
529
verteilte sich das gewerbthätige Personal
der Grehilfenbetriebe auf:
0/
Unternehmer
Angestellte .
Arbeiter . .
Anzahl
1896 1882 1895 1882
1234470 1031804 14,4 18,9
448944 205061 5,3 3,7
6871504 4226052 80,3 77,4
Die Angestellten, welche als höheres
technisches Betriebspersonal namentlich in
der chemischen, der Leuchtstoff- und
Maschinenindustrie, als Yerwaltungs- und
Kontorpersonal in den Versichenmgs- und
Handelsgewerben hervorragen, stellen im
allgemeinen bloss einen schwachen Bruch-
teil der Hilfspersonen. Indessen hat sich
ihre Verwendung gegen 1892 immerhin an-
sehnlich ^hoben. In Bezug auf das Yer-
hältnis beider Arten Hilfspersonen zusammen
zu den Unternehmern in den Gehilfenbe-
trieben kehrt nach Massgabe der vorauf-
gehenden Uebersicht die Erscheinimg einer
überlegenen Anzahl Hilfspersonen zwar in
allen Gruppen wieder, unterliegt ledoch
sichtbaren Schwankungen. Während auf
die Hilfspersonen im Bergbau über 99, in
der Industrie der Steine und Erden 95%
kommen, erreichen sie in den Bekleidungs-
und den Hamdelsgewerben doch bloss 25,
in der Tierzucht und Fischerei nur 66%.
Die Zusammensetzung des gewerbethäti-
gen Personals lässt sich für 1895 nach wirt-
schaftlich und sozial bedeutsamen Gesichts-
punkten noch etwas weiter verfolgen. Da-
nach gab es Personen: Inhaber von Allein-
betrieben und Gehilfenbetrieben 1714351,
Unternehmer 1234470, Yerwaltungs- und
Kontorpersonal 329147, technisches Auf-
sichtspersonal 119797, andere Gehilfen und
Arbeiter 6474727, mitarbeitende Familien-
glieder 396777.
Unter den einzelnen Bestandteilen des
gewerbthäti^en Personals nehmen besonders
die Lehrlinge die Aufmerksamkeit in
Anspruch. Soweit sie Lehrlinge des Arbeits-
personals sind, kommen von ihnen auf die
Betriebe bis zu 5 Köpfen 401982, auf die
von 6 bis 20 Köpfen 171769 und auf die
übrigen Betriebe 127 282. Hält man diese
Zahlen mit den vorstehenden der Gehilfen
und Arbeiter zusammen, so machen die
Lehrlinge von letzteren Überhaupt 10,8, in-
dessen auf der unteren Stufe 24,7, auf der
mittleren 14,5 und auf der oberen bloss 3,5 %
aus. Man ersieht also, dass die Lehiiings-
haltnng mit dem Betriebsumfang abnimmt,
die bedenkliche Lehrlingszüchtung vorzugs-
weise den Kleinunternehmem eigen ist.
Unter den erwähnten Lehrlingen sind 395 554
oder 56,4 ®/o, die im Haushalte ihres Lehr-
herm wohnen und damit vollständig seiner
Zucht unterstehen. Auch hierfür spricht
die Betriebsgrösse entscheidend mit. Denn
Handwörterbach der Staatswissenschaften. Zweite
bei Betrieben mit über 20 Köpfen sind es
nur 6,0 ®/o (7698), hingegen bei solchen von
6 bis 20 Köpfen bereits 46,1% (79132).
Aber wirklich ausgebreitet ist es bei den
Kleinbetrieben mit 76,8^/0 (308724) der FaU.
An Lehrlingen des Yerwaltungspersonals,
die sich vorzugsweise im Handefegewerbe
finden, sind 52 694 gezählt worden d. h. 16«/o
jenes Personals.
In Bezug endlich auf das Geschlecht
der Gewerbetreibenden giebt darüber fol-
gende Nachweisung Auskunft Es sind:
Anzahl
Inhab.v. Alleinbetrieben
Inhab. v. Gehilfenbetrieb,
jbis zu 5 Köpfen . . .
von 6—20 Köpfen . .
von über 20 Köpfen
unter
100
mämd. weibl. ^^j^i.
I 225 125 589226 34,4
I 112 528 108942 8,8
910850 96817 9,6
156729 10742 6,4
57 949 1 383 2,3
Unternehmer zusammen 2 250 653 698 198 23,7
Yerwaltnngspersonal . 314 331 14816 4,5
Techn. Anfsichtspersonal 117063 2734 2,3
Angestellte zusammen 431 394 17 550 3,9
Glehilfen und Arbeiter
Jugendliche . . .
Erwachsene . . .
Mithelf. Famüienglieder
Jugendliche . . .
Erwachsene . . .
5 205 760
459003
4 746 757
42137
5421
36716
1 268967 19,6
127 79821,8
1 141 169 19,4
354 640 89,4
10 928 66,8
34371290,0
Arbeiter zusammen 5 247 897
Ueberhaupt 7 929 944
1 623 607 23,6
2 339 325 22,8
Erhebt sich die Mitwirkung der Frau im
gewerblichen Leben kaum zu einem Viertel,
so ist das doch recht verschieden nach der
Stellung, welche sie darin einnimmt. Gleich
stark wie im Mittel ist ihre Beteiligung als
Unternehmer, indessen hat darauf wieder die
Betriebsgrösse einen sichtlichen Einfluss der-
gestalt, dass jene um so geringer wird, je
mehr diese sich erweitert Erheblich treten
Frauen nur in den Alleinbetiieben auf und
das namentlich in der Näherei, Putzmacherei,
Wäscherei , Strickerei , Eravattenmacherei,
Spitzenmacherei, Golddrahtzieherei, Spinne-
rei, in der Anfertigung von Korsetts und
der von künstlichen Blumen, in der sie es
auf über 90®/o bringen, unter den Ge-
hilfenbetrieben sind es in der Hauptsache
ebenfalls die genannten Betriebe, zu denen
sie einen namthaft-eren Beitrag stellen, doch
nur die Näheroi, Putzmacherei und Wäsche-
rei, in welchen sie die grossere Hälfte inne
haben. Als Angestellte treten wegen der
für diese Stellungen gebotenen umfassenden
fachlichen Vorbildung weibliche Personen
nur in schwachem Masse auf. Dahingegen
machen sie ein Fünftel der eigentlichen
Gehilfen und Arbeiter aus. Selir erheblich,
neun Zehntel, ist ihre gewerbliche Beschäf-
tigung aber als mitlielfende Familienglieder.
Auflage. IV. 34
530
Gewerbestatistik
unter den wirklichen berufsmassigen Arbei-
terinnen (ohne die ndthelfenden Familien-
glieder) knüpft sich an die ein besonderes
soziales Interesse, welche Ehefrauen sind,
welche also ihrer nftchstliegenden Auteibe
der Besorgung des Hausstandes in erheb-
lichem UiTL&uige entzogen werden. Solcher
Ehefrauen wurden 160 498, d. h. 14,1 ^/o der
erwachsenen Arbeiterinnen dieser Gattung
ermittelt Yornehnolich hat das in der Gärt-
nerei, der Tierzucht und Fischerei, der In-
dustrie der Steine und Erden, der Industrie
der Leuchtstoffe, den Yerkehrsgewerben und
zumal in den Versicherungsgewerben statt
8. Die Betriebsdauer. Bekanntlich sind
nicht alle Gewerbe während des ganzen
Jahres im vollen Betriebe. . Bas trifft nur
zu bei 1274647 Betrieben und 7 227 744
Personen. Dagegen befinden sich 155979*
Betriebe mit 1 327 174 Personen bloss einen
Teil des Jahres in vollem Gange. Das er-
giebt 12,1 ^/o jüler gewerbetreibenden Per-v
sonen, welche in teilweise aussetzenden Be-
trieben beschäftigt sind. Als solche Ge-
werbe, welche nicht durchweg im vollen
Gange stehen, sind besonders zu nennen:
die Steinmetzen, Steinbrüche, Rüben Zucker-
fabriken, die Binnenschiffahrt,, die Ver-
leihungsgeschäfte und die meisten und ver-
breitetsten Baugewerbe.
9. Die MotoreHverwendimg. unter
den 3144977 Haupt- und 513111 Neben-
betrieben der Zählung von 1895 waren
151695 bezw. 12788, zusammen 140812,
welche sich motorischer Hilfskräfte bedien-
ten. Das macht erst 4,8 bezw. 2,5 ^/o der
ersteren und insgesamt 4,5 ^/o sämtlicher
Betriebe aus, wenn man aber bloss dieGehilf en-
betriebe in Anschlag bringt, 11.1 ®/o. Da-
gegen betrugen die Betriebe mit Motoren
1882 nur 113560, so dass sie sich um
24.0 ®/o vermehrten. Das Verhältnis inner-
halb der Gewerbegruppen wechselt be-
trächtlich. Am höchsten d. h. bis zu 44 ^/o
der Gehilfenbetriebe steigt es in der In-
dustrie der Leuchtstoffe an, der sich mit
mehr als 30 % der Bergbau und das Salinen-
wesen wie die Verkehrsgewerbe, die Fischer,
die polygraphischen Gewerbe, die Industrie
der Steine und Erden wie die der Nahrungs-
mittel nähern. Umgekehrt erhebt sich der
Anteil in den Bekleidungs-, den Bau-, den
Handels-, den Versicherungsgewerben und
in der Gast- und Schankwirtschaft nicht
über 2% hinaus.
Die Gesamtzahl der verwendeten Pferde-
stärken (PS.) der Motoren erhebt sich auf
3427 325, demnach für 100 Betriebe über-
haupt auf deren 93,7. Bleibt diese Grösse in
den nichtindustrielien Gewerben, aber auch
in den Bekleidungsgewerben fast diu'chweg
unter 5 und in den Handelsgewerben i. e. S.
unter 7 zimick, so steigt sie in der Papier-
industrie über 1000, ja im Bergbau und
Salinenwesen fast auf 16000 an. Von den
einzelnen Gewerbearten zeichnen sich diux^h
gewaltige Benutzung von Umtriebskräften
an oberster Stelle die Steinkohlenbergwerke
aus, in welchen sogar fast 129000 PS. 100
Betrieben gegeniiber stehen. Immer noch
höchst ansehnlich mit beinahe 100000 PS.
ist das Verhältnis in der Eisenfabrikation,
mit 83000 in den Salzbergwerken, mit
57000 in den Geschützgiessereien , auf
welche mit zwischen 50000 und 20000 PS.
die Blechfabrikation, die Jntespinnerei, die
Anilinfabrikation, die Elektridtätserzeugung
und die Rübenzuckerfabrikation folgen. In
welchem Masse durch solche Motorenkraft
die Menschenkraft imterstützt wird, kann
man daraus ermessen, dass durchschnittlich
auf einen Betrieb 2,8 Personen und 0,9 PS.
und in der eigentlichen Industrie 3,5 Per-
sonen und 1,4 PS. kommen. Von den zu
der letzteren gehörigen Gruppen weisen den
tiefsten Stand die Metallverarbeitung, die
Lederindustrie, die der Holz- und Schnitz-
stoffe, die der Nahrungsmittel, die Beklei-
dungs-, Bau- und künstlerischen Gewerbe
mit noch nicht l PS. und einer weit über-
legenen Personenzahl auf. Dahingegen
stehen sich in der Papierindustrie 8 Köpfe
und 11 PS., im Bergbau 86 Köpfe und
159 PS. gegenüber.
Wie begreiflich richtet sich die Motoren-
verwendung wesentlich nach der Betriebs-
grösse. So betragen:
deren anf 100 anf 1
v^i TTaiiT^^ Motoren- Haupt- Haupt-
wi ^^ \«i* haupt- Pferde- betriebe betneb
betneben mit^^^^^^^^j^ stärken Motoren- P.S.
betriebe
bis zn 5 Pers. 95 5^8 438 801 3,3 0,1
6—20 „ 29235 375645 18,1 2,3
über 20 „ 26 902 2 562 881 55,0 52,4
Mithin nimmt sowohl die Verwendung
wie die Kraftleistung der Motoren mit der
fortschreitenden Betriebsgrösse in starkem
Schritte zu.
In Ansehung der Art der verwendeten
elementaren Kräfte sind gezählt Betriebe
mit stehendem Triebwerk: mit Wind 18326,
mit Wasser 54259, mit Dampf 58530 und
mit Gas 14760, Petroleum 2083, Benzin,
Aether 1254, Heissluft 639, Druckluft 312,
Elektricität 2259, solche mit Dampfkessel
ohne Kraftübertragung 6984, dazu Dampf-,
und Segelschiffe 18272. Nocli 1882 nahm
die Wasserkraft in dieser Beziehung den
obersten Rang ein. Bei der neueren Zäiilung
ist sie durch die Dampfkraft überholt wor-
den. Neben Dampf und Wasser kommen
alle anderen Kraftarten nicht auf und auch
Wind und Gas stehen merklich dahinter
zunick. Jene beiden bekunden auch ihre lieber-
Gewerbestatistik
531
legenheit durch den üm&ng der Eraftleis-
tung. Und hier überragt wieder die
Dampfkraft mit ihren 2721218 PS. alle
anderen Arten, denn im übrigen entfallen
auf Wasser 629065, Gas 53909, Petroleum
7249, Benzin, Aether 3501, Heissluft 1298
und Dnickluft 11 085 PS.
10. Der 6esamtainfang der gewerb-
lichen Unternehmungen. In den bishe-
rigen Nachweisungen wurden die verschie-
denen Gewerbszweige, welche unter ge-
meinsamer Leitung stehen, als gesonderte
Betriebe gezählt. Einen vollständigen Ein-
blick in den Umfang der gewerblichen
Unternehmungen und Eraftentfaltung erhält
man aber erst, wenn man die Einzelbetriebe
eines Unternehmens zu Gesamtbetrieben ver-
einigt. Wie sich alsdann die Zahl und der
Ummng der Betriebe gestalten, lehren fol-
gende Uebersichten. Man erhält dann bei
den Hauptbetrieben:
bei
Betriebe Personen
Pferde-
stärke
I 714 351 I 714 351 —
141 451
161 888
38997
8248
296
Alleinbetrieben
Gehilfen-
betrieben
m. bis 5 Pers.
n 6-20 ,
n 21-100 ,
„ 101— 1000 „
„ über 1000^
im ganzen 3065231 10269269 3397 188
darunter
Gesamtbetriebe 89 201 i 696 120 i 209 280
Damach kommen:
von je 100 auf 1 Hanptbetr.
auf Haupt- gewerbth. Per- Pferde-
betneb Person, sonen stärken
2 947 430
I 513446
I 621 702
I 909712
562 628
391 924
355 558
655231
329210
665 265
Alleinbetriebe
Gehilfenbetriebe
m. bis 5 Pers.
n ß--20 -
, 21-100 „
„ 101— 1000 „
„ über 1000 „
55,9 16,7 1,0 —
37,3
5,3
0,3
0,0
28,7
14,7
15,8
18,6
5,5
2,6
9,3
41,6
231,5
0,3
2,2
16,8
161.2
1900,8 2247,5
Nach dieser Aufstellung vermindert sich
gegen die früheren Angaben die Zahl der
Beüiebe um 79746, die der PS. um 19861.
Vornehmlich wird durch die Gesamtbetriebe
begreiflicherweise eine Yerschiebung der
Grössen Verteilung zu Gunsten derGressunter-
nehmungen bewirkt. Wie sich die Ge-
samt betriebe selbst und gegenüber der
Gesamtzahl der Hauptbetiiebe erhalten, geht
aus folgenden Thatsachen hervor. Es
kommen nämlich im Durchschnitt auf je
1 Gesamtbetrieb 1,9 Teilbetriebe, 19,0 Per-
sonen und 13,6 PS. und auf 100 der be-
teiligten Personen 71,3 PS. Dahingegen
entfallen auf 1 Hauptbetrieb im allgemeinen
nur 3,4 Köpfe und 1,1 PS. und auf 100
jener 33,1 dieser. Die gewerbliche Ueber-
legenheit der Gesamtbetriebe gelangt hieraus
deutlich zur Erscheinung. Hauptsächlich
begebet man den Gesamtbetrieben dort,
wo sich, wie in der Nahningsmittolindustrie,
dem Handel, der Gast- und Schankwirt-
schaft, den Biftugewerben und der Industrie
der Holz- und Schnitzstoffe, zahlreiche Klein-
betriebe mit imvollkommener Ausgestaltung
vorfinden.
11. Die Hausindustrie, die 6efäii|^is-
arbeit und die Hausierer. Die bei der
Aufnahme von 1882 zum ersten Male aus-
geschiedene Hausindustrie, diese für
den weiteren Absatz und das Grossunter-
nehmen sowie auf dessen Rechnung arbeitende
kleingewerbliche Thätigkeit hatten die Zäh-
lungsvorschriften durch die Frage gekenn-
zeichnet, ob die Gewerbthätigen in ihrer
eigenen Wohnung für ein fremdes
Geschäft ihren Beruf ausübten. Auf diese
Weise wurden (nach den Angaben der
Hausindustriellen selbst) ermittelt:
•
Hanpt- Neben- im
betriebe betriebe ganzen
Allein- /189ö 231563 40965 272528
betriebe 11882 284733
Gehüfen- jl896 69 338
betriebe {1882 67346
Zns«n«.e„ {ffi l'^^'.
32739
691
1598
41556
34 337
317472
70029
68944
342557
386 416
Die hausindustriellen Veranstaltungen
sind demnach gegen 1882 zurückgegangen
und zwar im ganzen um 11,3 %. Von diesem
Verluste sind jedoch nur die Hauptbetriebe
mit 14,5% betroffen worden, während die
Nebenbetriebe sich um 21,0 vermehrt haben.
Anders ist es, wenn man den Betriebsum-
fang in Anschlag bringt. Die Abni^mie der
Hauptbetriebe fällt bloss auf die ganz kleinen,
die der Nebenbetriebe lediglich auf die Ge-
hilfen verwendenden Gescdiäfte. Die Ab*
nähme, welche für die Hausarbeit im ganzen
eingetreten ist, drückt sich auch im Ver-
hältnis dieser Betriebe zu der Gesamtheit
der Gewerbebetriebe aus: denn es belief
sich 1895 auf 9,4, 1882 aber noch auf
10,7 0/0.
Das Personal der Hausindustrie bestand
aus Köpfen:
in den
Allein- /1895
betrieben \1882
Gehilfen- fl895
betrieben 11882
. ■ (1Ö9Ö
im ganzen jigoo
Das um 4,5 % gefallene hausgewerbliche
Personal machte 1882 6,5, 1895 4,5 0/0
sämtlicher Gewerbetreibenden aus. Beach-
tung verdient hierbei die starke Beteiligung
des weiblichen Geschlechtes, die mit 44,1 ^/o
34*
männ-
weib-
zu-
liche
liche
sammen
1 10 340
121 223
231 563
133 051
151 682
284733
145 791
80630
226 421
136 792
58009
194 801
256 131
201 853
457 984
269 843
209691
479 534
Gewerbestatistik
im Jahr 1895 und 43,7 im Jahre 1882 weit
über den allgemeinen Durchschnitt der ge-
werbethätigen Bevölkerung hinaus^ht.
Namentlich suchen Frauen in den AUein-
betrieben hausindustriello Beschäftigung imd
hier dergestalt, dass sie sogar die Mehrheit
ausmachen.
Wie sich aus dem üebergewicht der
Alleinbetriebe in der Hausindustrie schon
ergiebt, sind die einzelnen Geschäfte nur
von bescheidenem Umfange. Im Gtesamt-
durchschnitt besteht ein Hauptbetrieb dann
auch bloss aus 1,5 Köpfen. In den Gehilfen-
betrieben insbesondere erhöht sich der Be-
trag auf 3,2 Personen, In ihnen waren
1895 64205 Geschäftsleiter, 139063 Ge-
hilfen sowie 20486 erwachsene imd 2667
jugendliche mitarbeitende Famiüengüeder
thätig. Es macht aber den Eindruck, als
wenn die mithelfenden Familienglieder nur
unvollständig erhoben worden seien. Denn
es entfallen auf 1 Betriebsleiter bloss 0,32
erwachsene und gar bloss 0,04 unerwachsene
Angehörige, während es doch bekannt ist,
dass in der Hausindustrie die Mitwirkimg
der Famüie und zumal der Kinder eine grosse
Rolle spielt Yereinzelt wirkt in den Hausbe-
trieben auch motorische Kraft mit Das
war 1895 in 3017 Haupt- und 25 Neben-
betrieben der Fall, wobei es sich um 10156
PS. handelte. Meist (in 1407 Betrieben)
war es Dampf, daneben (692) Wasser- und
(683) Gaskraft.
Der hausindustrielle Betrieb ist übrigens
nur wenigen Gewerben in einigem umfange
eigen. Namentlich hat er statt bei der
Textilindustrie, auf die 1895 162 435 Be-
triebe und 195 780 Gewerbetreibende kom-
men d. h. dort 65,3, hier 19,7 ®/o; innerhalb
der Gruppe machen sich mit 33 200 Köpfen
wieder die BaumwoUweberei, mit 25 000 bis
30 (XX) die WoU- und die Leinenweberei wie
die Herstellung von Strumpfwaren bemerkbar.
Neben der Textilindustrie kann nur von Be-
lang die der Bekleidung imd Reinigung
mit 120 298 Betrieben und 159 360 Per-
sonen oder mit 13,0 bezw. 11,5 genannt
werden. Ausserdem weist allein noch die
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe über
20 000 Betriebe (23356) und Hausgewerbe-
treibende (37140) auf. —
Um ferner in Erfahrung zu bringen, inwie-
weit Hausgewerbetreibende und ebenso Ge-
fangene und Hausierer von Unternehmern
beschäftigt werden, sind auch diese danach
befi-agt worden. Danach standen 490 711
Hausarbeiter, darunter 430 482 unmittelbar
Beschäftigte, in Arbeit bei 22307 Betrieben.
Yon diesen letzteren setzten 15240 unter
10, 5196 11 bis 50 und 1865 über 50 Haus-
arbeiter in Thätigkeit Weiter sandten 2449
Betriebe 4268 Hausierer aus und 653 be-
Bcliäftigten 205576 Gefangene.
12. Das Besitzverhältnis. Von den
ermittelten Gehilfen-(E^upt-)Betrieben (unter
Zählung der Gesamtbetriebe als Behiebs-
einheiten) gehörten an bezw. waren be-
setzt :
Grehilfen-
betriebe
absolut %
Einzelinhabem . . i 280 830 94,8
mehreren Gesell-
schaftern ... 55 239 4,1
Vereinen .... 1311 0,1
Kommanditgesell-
schaften .... I 117 0,1
Aktienge Seilschaf-
ten 4 749 0,3
Kommanditgesell-
schaften a. Aktien 334 0^02
Eingetragene Ge-
nossenschaften 2212 0,2
Gesellschaften m. be-
schr. Haftpflicht . 1 028 0,1
Innungen .... 41 0,00
Gewerkschaften . . 440 0,03
anderen wirtschaftl.
Korporationen 336 0,02
Gemeinden n. ande-
ren kommunalen
Korporationen . 2 184 0,2
Staat und Reich . 1 059 0^1
1 Gehilfen-
betrieb
m. Pers.
4,5
26,7
80,7
168,7
128,6
64,3
300,2
16,7
11,6
154,1
Das üebergewicht der von einzelnen
Personen betriebenen Unternehmen ist hier-
nach ein so entschiedenes, dass auf die
übrigen Formen nicht mehr als ein Zwan-
zi^tel kommen. Und davon machen dann
wieder die Kompagniegeschäfte den weitaus
umfassendsten Teü aus, während die von
w^irtschaftliclien Genossenschaften und
vollends die öffentlichen Charakters zurück-
treten. Auch in Ansehung der verschiedenen
Gewerbe bildet der Einzelbesitz die Mehr-
heit und fast stets die erhebliche Mehrheit
In einer auffälligen Ausnahmestellung be-
findet sich nur der Bergbau, dieses Ge-
werbe des Grossbetriebes, das eben vielfach
die Kräfte der einzelnen übersteigt und die
Vereinigung mehrerer zu seiner Führung
voraussetzt. Staatliche Betriebe insbesondere
sind zwar, die künstlerischen Gewerbe und
die Tierzucht und Fischerei ausgenommen,
in allen Gruppen vertreten , doch immer
nur in schwachem Masse. Bloss der Berg-
bau tritt ebenfalls hier wieder aus dem
Bahmeu hervor.
WeU die GeseUschaftsbetriebe aller Art
gemeinhin auf eine grossere Geschäftsanlage
schliessen lassen, ist es auch einleuchtend,
dass die mittlere Kopfzahl der beschäftigten
Gewerbetreibenden bei ihnen eine erheb-
lichere sein muss als bei den einzelnen In-
habern gehörigen Geschäften. In allen
Gruj)pen weisen dann auch die KoUektiv-
und Verbandsbetriebe nicht allein die
dichtere, sondern die ganz erheblich dichtere
Gewerbestatistik
533
Besetzung auf. Unter den Gesellschaftsbe-
trieben überragen durch ihre durchschnitt-
liche Personalstarke die Gewerkschaften und
sodann Staats- oder Reichsunternehmungen
sichtlich die anderen Arten. Ausser acht
bleiben darf hierbei nicht, dass die so zahl-
reiche Kräfte beanspruchenden Eisenbahn-,
Post- und Telegraphenbetriebe nicht in die
Aufnalune einbezogen waren und daher
hier nicht in Rechnung gekommen sind.
Lltteratur. Deutschland, G. v, Viebahm,
Statistik des zollvereinte7i und nördlichen Deutsch-
lands, T. S, Berlin 1860. — O. SchmolleTf Zur
Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 10. Jahr-
hundert, Halle 1870. — Tabellen der Handwerker,
der Fabriken, sowie der Handels- und Transport-
gewerbe im Zollverein nach den Aufnahmen von
1861, vom CenlraUwreau des Zollvereins, Berlin
1864 , — Tabellen und amtliche Nachrichten über
den preussisehen Staat für die Jahre 1849 und
1852, herausgegeben von dem statistischen Bureau
in Berlin : T. V Gewerbetabelle, T. VII Fabri-
kationsanstalten, Berlin 1854155. — Zeitschrift des
königlich-preussischen statistischen Bureaus, Jahr-
gang X, S. 14s — 2S2 und Jahrg. XI, Berlin
IS70 — 71. — E* Engel, Die Reform der Ge-
werbestatistik nebst Bericht der Kommission für
die weitere Ausbildung der Statistik des Zoll-
vereins betr. die Geiverbestatistik. — E^Misehier,
Gewerbestatistik in L. Elster, Wörterbuch der
Volkswirtschafi, Bd. I, Jena 1898, S. 897—903. —
Vierteljahrsheft zur Statistik des Deutschen Reiches
für da,s Jahr 1876, herausgegeben vom kaiser-
lichen statistischen Amt, Berlin 1876, S. I, 2 bis
115: Protokolle, Beschlüsse, Bericht betr. die
Revision der Vorschläge über die Ausführung
der Gewerbestatistik im Deutschen Reich. Statis-
tik des Deutschen Reiches, herausgegeben vom
kaiserlichen statistischen Amt, Bd. XXXIV- und
XXXV, Berlin 1879 : die Ergebnisse der deutschen
Gcwerbczählung vom l.XII. 1876; Bd.XXXXVIII,
1881, Heft 1—S, 5 — 6: Zur Gewerbestatistik des
Deutschen Reiches. — P. Kollmann, die
Deutsche Gewerbeaufnahme vom 1. XII. 1875 in
ihren Hauptergebnissen in Schmollers Jahrb. für
Verwaltung etc., 1882, Bd. VI. — JB. Engel,
die deutsche Industrie 1875 und 1861, Berlin
1880. — Preu^si-sche Statistik, herausgeg. vom
konigl. statistischen Bureau in Berlin, Heft
XXXX, 1878 undXXXXI, 1880: Die Gewerbe-
betriebe und die Sitze der InduJitrie in den ein-
zelnen Verwaltungsbezirken etc. — Beiträge zur
Statistik des Königreichs Bayern, herausgegeben
vom konigl. statistischen. Bureau, Heft XXXIXj
XXXXI, XXXXIV, München 1879—81: Die
persönlichen Verhältnisse der Gewerbebetriebe;
die Umtriebsmaschinen , sowie die wichtigsten
Arbeitsmaschinen und Vorrichtungen der Ge-
werbebetriebe; Getoerbebetriebe, deren Personal
und Umtriebsmaschinen in den Verwaltungs-
distrikten. — Zeitschrift des k. bayr. statistischen
Bureaus, München 1875, 7. Jahrg.: G, Mayr,
Statistik der in bayerischen Fabriken und grösseren
Gewerbebetrieben zum Besten der Arbeiter ge-
troffenen Einrichtungen. — Württembergische Jahr-
bücher für Statistik und Landeskunde, heraus-
gegeben vom konigl. statistisch-topographischen
Bureau, Stuttgart, Jahrg. 1876 und 1880: in den
Abschnitten 7 und 8 nlnditstrieu und insbe-
sondere y^die Industrie des Königreichs Württemr
berg nach dem Stande vom 1. XII. 1875.« — Zeit"
Schrift des königlich sächsischen statistischen
Bureaus, Dresden 1878, Jahrg. XXIII: F.
Böhfnert, Ergebnisse dtr sächsischen Gewerbe'
Zählung vom 1. XII. 1875; die Motoren und
Umtriebsmaschinen im Königreich Sachsen vom
1. XIL 1878; Jahrg. XXIV t A. v. Studnitx,
die Gewerbethätigkeit des Köni^greichs Sachsen
nach Rangstufen; Beitrage zur Statistik der
inneren Verwaltung des Grossherzogtums Baden,
herausgegeben vom Handeleministerium, Heft 4I,
Karlsruhe 1880: Gewerbestatistik des Grossherzog-
tums Baden nach der Aufnahme vom 1. XIL 1875.
— Beiträge zur Statistik des Grossherzogtums
Hessen, herausgegeben von der grossh, Central-
stelU für Landesstatistik, Bd. 18, Darmstadt 1878:
Ewaldf die Aufnahme der Gewerbestatistik im
Grossherzogtum Hessen vom 1. XII. 1878. —
Statistische Nachrichten über das Grossherzogtum
Oldenburg, herausgegeben vom grossh. statistischen
Bureau. — Heft XVII, Oldenburg 1877: Die
Gewerbe nach den Ergebnissen der Aufnahme
vom 1. XIL 1875. — Statistische Mitteilungen
aus dem Herzogtum Sachsen- Altenburg, Nr. 7:
C. Hase, Die Hauptergebnisse der Volks- und
Gewerbezählung vom 1. XII. 1875. — Mitteilungen
des herzoglich anhaltischen statistischen Bureatis,
Dessau 1877: A, Lange, Die Gewerbezählung.
— Statistische Mitteilungen über Elsass- Lothringen,
herausgegeben vom statiMischen Bureau des kaiser-
lichen Ministeriums, Heft XV, Strassburg 1881:
C, Hack, die Gewerbe in Elsass-Lothringen
nach der Zählung vom 1. XII. 1875. — Statistik
des LUbeckischen Staates, bearbeitet vom statis-
tischen Bureau des Stadt- und Landamts, Heft IV,
Lübeck 1878: Ergebnisse der Gewerbeaufnahmen
vom 1. XII. 1875. — Jahrbuch für Bremische
Statistik, Jahrg. 1876, Heft II in der Abteilung :
die Industrie. — Statistik des hamburgischen
Staats, bearbeitet vom statistischen Bureau der
Deputation für direkte Steuern, Heft IX, Ham-
burg 1878, S. 88 ff.: JP. Nesmnann Jr,, Die
endgültigen Ergebnisse der Gewerbeaufnähme vom
1. XIL 1875. — Statistik des Deutschen Reiches
a. a. O. N. F. Bd. VI, 1 und 2, VII, 1 und 2,
Berlin 1885 — 86: Geirerbestatistik des Deutsehen
Reiches und der Grossstädte nach der allgemeinen
Berufszählung vom 5. VI. 1882. — P. KoU-
mann, Die gewerbliche Entfaltung im Deittschen
Reiche nach der Aufnahme vom 5. VI. 1882 in
Schmollers Jahrbuch für Verwaltung, Jahrg. 11
und 12, 1887J88. — Freuseische Statistik a. a. O.
LXXXIII, 2. T. 1885186: Die Gewerbebetriebe
im preussisehen Staate nach der Aufnahme vom
5. VI. 1882. — Die Ergebnisse der Berufszählung
im Königreich Bayern vom 5. VI. 1882, heraus^
gegeben vom konigl. statistischen Bureau, T. 3,
3Iünchen 1882: C. Raap, die Intyerische Be-
völkerung nach ihrer gewerblichen Thäti^keit. —
Württembergische Jahrbücher für Statistik a. a. O.
Jahrg. 1885 — 87 unter: Gewerbe und Handel.
— Zeitschr. des konigl. sächsischen statistischen
Bureaus a. a. O. 2. Supplem. zum XXXIL
Jahrg. 1886: V, Böhtnevt, Die Ergebnisse der
sächsischen Gewerbezählfing vom 5. VI. 1882. —
Beiträge zur Statistik der inneren Verwaltung
des Grossherzogtums Baden a. a. O. Heft 4^,
1885: Ergebnisse der berufsstatistischen Er-
hebungen vom 5. VI. 1882, T. II, Gewerbe-
statistik. — Beiträge zur Statistik des Herzog-
534
Gewerbestatistik
tufM Braunsehweig, herausgegeben vom staMs-
tischen Bureau des herzogl. Staatsministeriutns,
Heß VI, 1886: Die Gewerbe im Herzogtum
Braunschweig nach den Ergebnissen der Berufs-
Zählung vom 5. VI, 1882. — Statistik des Harn-
burgischen Staates a. a. O. Heft XIV, 1887 : die
Gewerbebetriebe im Hamburgischen Staate im
Jahre 1882. — Statistik des Deutschen Reiches,
herausgegeben vom kaiserlichen statistischen Amt,
iV: F. Bd. 118—119, Berlin 1898199: Berufs-
und Gewerbexählung vom 14» VI. 1895 (Gewerbe-
statistik, insbesondere Bd. 119 vortreffliche
analytische Darstellung von F, Zahn). — Sta-
tistisches Jahrbuch für das Königreich Bayern,
herausgegeben vom königl. statistischen Bureau, 10.
Jahrg., München 1898, S. 87 ff. — Zeitschrift des
königl, bayerischen statistischen Bureaus, Mün-
chen, 29. Jahrg., 1897: Die Hauptergebnisse der
Berufszählung vom 14' VI. 1896 (die gewerblichen
Betriebe), SO. Jahrg., 1898: Die Bewegung der
Gewerbe in Bayern im Jahre 1897. — Württem-
bergische Jahrbücher für Statistik und Landes-
kunde, herausgegeben vom königl. statistischen
Landesamt, Jahrg. 1898, T. II, 1899. — Zeit-
schrift des königl. sächsischen statistischen Bureaus,
44. und 45. Jahrg., Dresden 1898199: Die Be-
rufs- und Crewerbezählung t^om 14' VI. 1895
(G. Wächter, Die Gewerbezählung); Bei-
lage zum 45, Jahrg., Dresden 1899 : Die Dampf-
kessel und Dampfnuischiiien im Königreich
Sachsen, — Statistisches Jahrbuch für das Gross-
herzogtum Baden, 29. und SO. Jahrg., Karlsruhe
1898 j 99. — Beiträge zur Statistik Mecklenburgs
vom grossherzogl. statistischen Amt, Bd. XIII,
Heft 8, Schwerin 1899 : Die Hauptergebnisse der
Gewerbezählung vom I4. VI. 1895. — Jahrbuch
fdr Bremische Statistik, herausgegeben vom Bureau
für Bremische Statistik, Jahr 1898, Heß II,
Bremen 1899. — Statistik des Hambiirgischen
Staates, bearbeitet und herausgegeben vom sta-
tistischen Bureau der Steuerdeputation, Heft
VIII und IX, Hamburg 1897 j98 (Ergebnisse der
Gewerbezählung vom I4. VI. 1895). — P. Koll-
inann, Die gewerbliche Entfaltung im Deutschen
Reiche nach der Gewerbezählung vom I4. VI.
1895 in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung,
Verwaltung und Volkswirtschaft, ii4- Jahrg., Berlin
1900. — H, Rauchberg, Die Berufs- und Ge-
werbezählung im Deutschen Reich vom 14. VI.
1895 in Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung
und Statistik, Bd. I4 u. 15, Berlin 1899 u. 1900, —
Oesterr eich- Ungarn. Nachrichten über In-
dustrie, Handel und Verkehr aus dem statistischen
Departement im k. k. Handelsministerium, Bd.
XXVIII, XXXVIII und LIV, Wien I884, 1889
und 1894 • Statistik der österreichischen Industrie
nach dem Stande vom Jahre 1880 bezw. 1885. —
Ergebnisse der in Oesterreich vorgenommenen
Geicerbezählung nach dem Stande vom 1. VI.
1897, vom arbeitsstatistischen Amt im k. k. Han-
delsministerium, Wien 1899. — Oesterreich isches
statistisches Handbuch für die im Reicfisrath
vertretenen Königreiche und IMnder, von der
k. k. statistischen Centrcd-Kommission (zuletzt),
17. Jahrg., Wien 1899, S. 168— 190. — Hivatalos
statisztikai közlemenijek. Ktadja az orszdgos M.
Kir. Statisztikai Hivatal : Magyarorszag ipar-
statiszttkaja 1885. Ben. osszeallitotta Dr, J^ekel^
falussy Josef. Budapest 1886. (Amtliche sta-
tistische Mitteilungen, herausgegeben vom k.
Ungar, statistischen Amt: Ungarische Gewerbe-
statistik.) — Ungarische statistische Mitteilungen,
im Auftrage des königl. ungar, Handelsministers
verfasst und herausgegeben durch das königl,
Ungar, statistische Bureau, Btidapest, N, F.
Bd, II. — Ergebnisse der in den Ländern der
ungarischen Krone am Anfang des Jahres 1891
durchgeführten Volkszählung, i. T., Berufsstatistik
der Bevölkerung, 1894, N. F. Bd, XIII. —
Ungarns Mühlenindustrie im Jahre 1894, IS95
(ungarisch und deutsch), — Ungarisches statis-
tisches Jahrbuch, 'N. F., verfasst und herausge-
geben durch das königl. ungar, statistische Central-
amt (zuletzt) V, Budapest 1899, unter VII, Berg-
bau und Hüttenwesen und VIII, Industrie und
Handel. — Italien. V, EHena, La StatisUca
di alcune industrie italiane Annali di Statistica,
2 a, vol. 18, Roma 1880. — Statistica industriale
bis jetzt fascicolo 1 — 62 in den ebengenannteti
Annali, 1885 — 97, — Statistica industriale,
PiemmUe, Roma 1892. — Schweiz, Zeitschrift
für schweizerische Statistik, XVIII, Jahrg., Bern
1882: Schweizerische Faltrikstatistik auf 1, III,
1882 vom eidgen. Handels- und Landwirtschafts-
departement. — Schweizerische Fabrikstatistik,
umfassend die dem Bundesgesetze, betr. die Arbeit
in den Fabriken vom 28. III, 1877, unterstellten
Etablissements, Auf Gfrundlage der mit Bezuy
auf das Jahr 1888 vom eidgen. Fabrikinspektorat
vorgenofnmenen Erhebungen, herausgegeben vom
Schweiz. Industrie- und Landwirtschaftsdeparte-
ment, Bern 1889. — Schweizerische Fabrikstatis-
tik nach d^n Erhebungen des eidgen, Fabrik-
inspektorats, herausgegeben vom schweizerischen
Jndustriedepartement, Bern 1896. — Frank-
reich. Statistique de la France: Industrie.
— Resultats generaux de Venquete eßectuee dans
les annees 1861 — 65, Nancy 1873. — Statistique
de la France: Statistique sommairc des indus-
tries principales en 1878, Paris 187 4- — Statis-
tique de l* industrie de Paris faite par la chambre
de commerce pour les annees 1847,48 bezw, 1860,
Paris 1851 bezw. 1864' — Statistique generale de
la France, zuletzt Annees 1886 et 1887, Paris et
Nancy 1890: unter der Abteilung Statistique
sommaire des industries principales. — Annuaire
statistique de la France, zuletzt 18«^ annee,
Paris 1890: unier der Abteilung Industrie. —
Portugal. Ministerio das obras publicas,
commerda e industria. Reparticao de estatistica,
Resumo do inquerito industrial de 1881, Lisboa
1888. — Belgien. Statistique de la Belgique,
Industrie. Recensement general (15. X. I846),
publie par le Ministre de VinthHer, BmxeUes
1851, — Statistique de la Belgique. Industrie,
Recensement de 1880 public par le Ministre de
Vinterieur et de l* instruction publique. Tome
I — III, Brujcelles 1887. — Vom neuesten Recense-
ment des industries et des metiers en 1896 sind
bisher erst die auf die Landwirtschaft bezüglichen
Ergebnisse veröffentlicht. — H, Rauchberg,
Die Berufs- und Betriebszählungen des Jahres
1896 in IVankreich und Belgien in Statistische
Monatsschrift, herausgegeben von der k. k.
Statistischen Central- Kommission, .X. F, IV, Jahr-
gang, Heft 5, Wien 1899. — Annuaire statistique
de la Belgique, zuletzt tome XXVIII, Annee 1897,
BmxeUes 1898. — Grossbritannien. Fac-
tories and Workshops. Retum of the Jiumber
of manufacturing establishments in xchich the
bours of trork are regnlated by any act of Par^
liament, London 187^. — MiscelUineous Statistics
Gewerbestatistik — Gewerbesteuer
535
of the United Kingdom, ztUetzt pari XI, Londmi
18SS und StatUiical aÖBtract Jor the United
Kingdom, zuletzt 46 1^ number, London 1899:
unter nFactorieea, — Britisch - In dien.
Financial and eommercial statistice for British
India, compiled in the Statistical Bureau of the
gouvemement of India. Caleutta (zuletzt) 1899.
— Schweden. Bidrag tili Sveriget officieüa
Statistik. Kommerse KoUegiiunderdanigaheHiUeUe
(zuletzt) ßr ar 1897. Stockholm 1899: Fabriker
och manufakturer, später handiverk. — Berg-
shandteringen. — No rwegen. Borges officielle
Statistik, udgivne af Departementet for det indre
bezw: det statistiske Centralbureau, Christiania:
Statistiske opgaver tu helysning af Norges indus-
trielU Forholde i Aarene 1870—1874 (1876). —
Statistik over Norges Fahrikanlaeg ved Udgangen
af Aaret 1875 (1879). — Statistik over Norges
Fahrikanlaeg den 1. XI. 1879 (1881). — StatisHk
over Norges Fahrikanlaeg ved Udgangen af Aaret
1885 und 1896 (1888 und 1898). — Tabeller ved-
ktymmende Norges Bergvaerksdrift (zuletzt) i
Aarene 1894 og 1895 (1898). — Statistik Aarbog
for Kongeriget Norge, zuletzt 1898, Tab. 34 und
^5. — Russland. Annuaire statistique de la
Bussie, St. PHersbourg (zuletzt) 1890: insbes.
unter: Usines et fabriques, 1887. — Ver-
einigte Staaten von Amerika. Departe-
ment of inferior, Census offiee. Report on manu-
facturing industries in the United States at the
eleventh census (June 1, 1890), PaH I—III,
Washington 1895. — Report on mineral industries
in the United States at the eleventh census, 1890.
Washington 1892.
Paul Kollmann,
Gewerbesteuer.
I.Allgemeines. 1. Begriff, Umfanfl: und
Veranlagung. 2. Verhältnis zu den übrigen
direkten Steuern. 3. Historische Entwickelung der
G. im allgemeinen bis zu Anfang dieses Jahrhun-
derts, n. Heutiges Recht. A. Deutsch-
land. 4. Preussen. 5. Bayern. 6. Württem-
berg. 7. Baden. 8. Hessen. 9. Sachsen. 10.
Elaess-Lothringen. B. Oesterreich-Üngarn.
11. Oesterreichische Monarchie. 12. Ungarn.
C. Uebrige Staaten Europas. 13. Eng-
land. 14. Frankreich. 15. Italien. 16. Russ-
land. 17. Andere europäische Staaten. D.
Amerika. 18. Vereinigte Staaten von Amerika,
m. Steuerstatistik. 19. Ertrag und Ver-
fleich zwischen den einzelnen Staaten. IV.
chluss.
I. Allgemeines.
1. Begriff. Umfang nnd Veranlagung.
Unter den direkten Steuern aller Systeme
lind aller Länder nehmen die Ertrags-
steuern eine hervorragende Stelle ein.
(Ygl. d. Art. Ertragssteuern oben Bd. III
S. 728ff.) Unter den Ertragssteuern sind
wohl jene Steuern zu verstehen, bei denen
das Steuersubjekt (Eigentümer, Wirtschafter,
Beinertrags- oder Einkommensbesitzer) vom
Steuerobjekt (der vom Kapital als selbstän-
diges Produkt abgelöste JSrtrag) losgescliält
ist, deren Steuerquelle aber das Produkt
von Arbeit und Kapital, die Elrtragsfäliig-
keit, bildet; wenn nämlich der Reinertrag
eines Kapitals auf der Verbindung mit der
persönlichen Erwerbsfähigkeit beruht und
die letztere in dem Masse des ersteren eine
wahrscheinliche Grösse darstellt. Betrachtet
man den Ertrag nur aus Vermögen und
Kapital als Steuerquelle, so vdrd die auf
denselben gelegte Steuer Vermögenssteuer
heissen, wozu die Grund-, Gebäude- und
Kapitalrentensteuem gehören; tritt aber zu
dem einen Faktor des Erwerbes, dem kapi-
talistischen, noch der pei-sönliche, so heisst
die Steuer auf dieses Produkt der erwerben-
den Kraft mit Kapital Erwerbs- oder Ge-
werbesteuer. Trifft aber die Steuer nur
den rein persönlichen Erwerb aus Arbeit
ohne alle Rücksicht auf Kapitalsverwendung,
so hat sich daraus meist die partielle
Einkommensteuer auf Lohn imd Gehalt,
auf Handarbeit, privates oder öffentliches
Dienstverhältnis, auf die sogenannten freien
Berufsarten entwickelt.
Gewöhnlich — die Systeme in den ver-
schiedenen Staaten differieren hier ja ganz
bedeutend — hat die besondere Gewerbe-
steuer als Glied der Erti-agsbesteuerung
die Aufgabe, die Gewerbe im engeren Sinne
mit einer direkten Steuer zu belegen, damit
alle* Unternehmungen zu treffen, welche
selbständig und gewerblich im Unterschied
von der sogenannten Rohstoffproduktion
Stoffe umarbeiten und veredeln (Handwerk,
Fabriken, Mauufaktiu*en), dann die Handels-
unternelimungen (Handels-, Kommissions-,
Bank-, Agentur-, Yersicherungsgeschäfte,
Transportgewerbe, Schankwirtschaften und
Dienstgewerbe). Principiell gehören hierher
auch der landwirtschaftliche Erwerb und
die Bergwerke sowie Eisenbahnen. Der
Begriff des Gewerbes gehört ja einem an-
deren Rechtßgebiete als dem der Finanz-
wissenschaft an ; es kann deshalb eine prin-
cipielle Begrenzug der Gewerbesteuer schwer
konstruiert wenlen. Nirgends weichen die
Gesetzgebungen beti-effs des Umfanges der
Steuer in zahlreichen Einzelheiten so von
einander ab als in der Gewerbesteuer. Die
Grenze zwischen der Gewerbe- und Ein-
kommensteuer ist vielfech verwischt, ja
manchmal besteht ein ganz enger Zusammen-
hang zwischen beiden Steuern. In Oester-
reich z. B. ist die Erwerbssteuer eine allge-
mein auf Handel, Fabriken, Handwerker,
Gast- und Schankgewerbe, Transportgewerbe,
bestimmte liberale Berufsarten (Advokaten,
Notare, Privatlehrer, Börseninhaber etc.) sich
ausdehnende Gewerbesteuer, während in
Preussen dieselbe einen engeren Umfang
durch Ausschluss der kleinen Handwerker,
des landwirtschaftlichen Erwerbes und der
sogenannten liberalen Berufsarten hatte. Prin-
536
Gewerbesteuer
cipiell soll die Gewerbesteuer den mutmass-
lichen, nach bestimmten Merkmalen berech-
neten Ertrag belasten; Schuldenabzug ist
eigentlich nach dem Begriff der Ertrags-
steuer ausgeschlossen. Sie wird veranlagt
nach bestimmten Merkmalen, nicht nach
dem wirklichen Ertrag. Das Streben, diesen
vermutlichen Ertrag mit dem wirklichen in
möghchst« Uebereinstimmimg zu bringen,
hat zu den verschiedensten Aidagesystemen
geführt. Einesteils hat man die Gewerbe
in Gruppen, Klassen, Tarife zusammenge-
fasst und bestimmt die einzelnen Steuern
der Klassen oder des Tarifes nach der
Grösse des Betriebsortes oder der Grösse
des Betriebes, anderenteils hat man die
Grösse des Betriebskapitals aDein ins Auge
gefasst oder den Ertrag des Kapitals mit
jenem der Arbeit vermengt und Iflsst die
Zahl der Hilfsarbeiter, Grösse und Arbeits-
kraft der Maschinen, Werkzeuge, Grösse
des Absatzgebietes massgebend werden.
Jedes System hat seine unverkennbaren
Uebelstände, und doch wird die Gewerbe-
steuer als Glied der Ertragsbesleuerung un-
entbehrlich sein, solange nicht die ganze
Objekts- und Ertragsbesteuerung in die Sub-
jekts- und Einkommenbesteuerung hinüber-
geführt ist, dann erst kann die reine Ein-
nahme aus dem Gewerbe die einzige Steuer-
quelle für die damit Betroffenen bilden.
2. Verhältnis zu den übrigen direkten
Stenern. Das Verhältnis der Gewerbe-
steuer zu den übrigen direkten Steuern ist
teils schon angedeutet, anderenteils muss
auf die Besprechimg der Steuer in den ein-
zelnen Staaten verwiesen weinlen, da die
Abgrenzung nach den verschiedenen Steuer-
gesetzen eine ganz verschiedene ist. Besteht
eine allgemeine oder doch alles Einkommen
umfassende partielle Einkommensteuer, so
erscheint die Gewerbesteuer als Zusatzsteuer,
welcher die Gewerbe, bei denen das Erträg-
nis lediglich als das Resultat der persön-
lichen Arbeit erscheint, nicht getroffen
werden dürfen, sondern welche niu* jene
Gewerbe mit der Zusatzstener belegen kann,
bei welchen das vorhandene Betriebskapital
für den geschäftlichen Ertrag ausschlag-
gebend ist ; andrerseits müsste für Gewerbe,
bei denen ausschlie^sslich das Kapital arbeitet
(Aktiengesellschaften etc.), eine besondere
Besteuonmg mit Rücksicht auf die von den
übrigen Gewerben abweichende Ai-t die Ver-
teilung und Versteuenmg der Geschäftser-
gebnisse in der Person der einzelnen Aktien-
und Kapitaleinlagen-Inhaber eingeführt wer-
den. In einem aus Real- und Personal-
Steuern zusammengefassten System soll die
(rewerbesteuer nur eine Rohertragssteuer
sein. Sie soll keinen anderen Zweck haben
als die Besteuenmg dos fundierten Einkom-
mens aus dem (Jewerbehetriebe, d. h. des
in dem Unternehmen steckenden Kapitals.
Wo aber die Einkommensteuer in Zusammen-
hang mit den alten Rohertragssteuem ge-
bracht wurde oder wird, kann auch eine
Verbindung der Besteuerung nach den ob-
jektiven Merkmalen der Ertra^fgÜiigkeit
(Kapital, Betriebsmerkmale, Gehilfen, Ma-
schinen etc.) mit jenen des wirklichen Rein-
ertrages hergestellt und damit eine wirk-
same Ergänzung des einen Steuersystems
durch das andere erreicht werden. So' unter-
lagen nach dem österreichischen Patente
V. 31. Dezember 1812 alle gewerblichen
Unternehmungen den patentmässigen &-
werbssteuersätzen und nach dem Einkommen-
steuerpatent jedenfalls einem die Einkommen-
steuer vertretenden Drittelzuschlage. Da-
neben wird der von jedem Gewerbe erzielte
Reinertrag ermittelt und davon die Einkom-
mensteuer mit 5 ^lo im Ordinarium bemessen.
Diese Erwerbseinkommensteuer kann grösser
und kleiner sein als das Erwerbssteuerordi-
narium und der Drittelzuschlag zusammen.
Im ersten Falle ist auch der Mehi'betrag zu
bezahlen, im zweiten Falle neben dem ge-
setzlichen Erwerbssteuersatze jedenfaUs noch
der die Einkommensteuer vertretende Drittel-
zuschlag. Nur bei Einführung einer allge-
meinen Einkommensteuer wird eine Doppel-
besteuerung des Rohertrages vermieden wer-
den können. Wo eine solche nicht besteht,
hat die Gewerbe- oder Erwerbssteuer als
Ertragssteuer, imd dann mit dem mut-
masslichen Ertrag ohne Berücksichtigimg
der Korreal schulden des Steuerpflichtigen,
volle Berechtigung. Erst beim üebergang
zur allgemeinen Einkommensteuer kann sich
die Gewerbesteuer als Gewerbsvermögens-
steuer unter Abzug der Schulden neben dem
Einkommen entwickeln.
3« Historische Entwickelnng der G. im
allgemeinen bis zum Anfang dieses Jahr-
hunderts« Schon in Hellas nnd Rom bestand
die Gewerbebesteuerung. Aus der Zehentgesetz-
gebuDg entwickelte Solon den atheniensischen
Census nach vier Klassen. Zur Deckung des
aussergewöhnlichen Bedarfes wurde eine Ver-
mögenssteuer eingeführt, welche anfangs nur
den Grund und Boden, später aber das ganze
bewegliche Vermögen und den städtischen Er-
werb traf nnd auf Katastrierunc: beruhte. Da-
neben trafen Marktabgaben, Thorsteuem den
Verkehr mit ländlichen Produkten und Gewerbs-
erzengnissen in der Stadt.
Im Jahre 578 v. Chr. -führte Serdus Tul-
lius als ausserordentliche Steuer ebenfalls den
Census in Rom ein mit dem Bügertribut (tribu-
tum civile) für ausserordentliche Ausgaben. Da-
neben bestanden Zölle, Hafenzölle, indu-ekte Ver-
brauchsabgaben, Thoraccise. Auch das tributum
war anfangs wesentlich auf einen WertanscUaff*
des (rrund Vermögens beschränkt, allmählicn
wurde aber das bewegliche Vermögen, auch ge-
werbliche Unternehmun&ren mit Berücksichtigung
der Zahl und Art der Sklaven zur Besteuerung
herangezogen. Im Jahre 167 v. Chr. wurde das
Grewerbesteuer
537
tribntum zeitweise aufgehoben und damit die
Eaufleute und Fabrikanten steuerfrei. Aber
schon unter Diokletian wurde das tributum und
zwar sowohl als Grundsteuer nach amtlichem
Kataster als auch als Gewerbesteuer, welche
von den Gewerbetreibenden bezahlt werden
mussten, wieder eingeführt. Es wurden die
negotiatores neben den in Städten w^ohnenden
possessores agrorum, d. h. alle, welche Handel,
Geldgeschäfte, Industrie trieben, auch einzelne
Handwerker, ja specifizierte Arbeiter mit der
Gewerbesteuer bele^.
In der altgermanischen Zeit erschienen die
Steuern als freiwillige Ehrengaben, daneben
bürgerten sich die ai2 römischen Ursprung zu-
rückzuführenden Passierzölle ein. Erst die ka-
rolingische Gesetzgebung führt direkte Leistun-
gen (servitium, obsequium) ein und schafft wirk-
liche Einfuhrzölle auf den ganzen Handel, wo-
bei sich die Höhe des Zolles nach Stand, Na-
tionalität, Geschäftsart bemisst. Fremde wur-
den höher als Einheimische belastet. Der Zoll
nimmt das Gepräge der Gewerbesteuer an. Pri-
TÜegierte Stände, Adel und Geistlichkeit wissen
sich von den Zöllen zu befreien. Bis ins Mit-
telalter entwickelte sich eigentlich nur das
Grundsteuersystem. Erst mit Entwickelung
der Städte und des Zunftwesens wurde der
Charakter der Steuern als öffentlichrechtlicher
Abgaben von den steuerpflichtigen Bürgern an
die Eechtspersönlichkeit der Städte mit und
ohne Beichsgenehmigung anerkannt und ausge-
bildet. Die Gewerbesteuer erscheint aber zu-
meist als indirekte Steuer im Anschluss an die
alten Zoll- und Marktabgaben mit Ausdehnung
auf alle Genussmittel und Verzehrungsgegen-
stände und wurde an denThoren (Thorsteuern,
Octroi) oder auf dem Markte, in den Lager-
häusern bei dem Wägen und Messen der Waren
oder beim Verkäufer erhoben. Sie führen den
Namen Umgeld, Cise, Accise (accisia) und sind
eigentliche Steuern. Verschiedene Städte haben
für die Kaufhäuser eigene Warentarife und einen
„Pfundzoll" vom Werte der zum Verkauf ge-
brachten Waren, z. B. Nürnberg, Tarif von 1£®6,
Basel 1454.
In einigen Städten und Ländern sind aber
schon wirkliche Gewerbesteuern zu finden, wel-
che speciell von den Gewerbetreibenden als sol-
chen als besondere direkte Steuern oder als ein
eigener Teil eines allgemeinen direkten Steuer-
systems zu entrichten waren. Die Steuer ist
meistens in der Vermögenssteuer inbegriffen, so
in Strassbur^, Augsburg, Frankfurt a. M., Mainz,
Nürnberg („Losung"), München, Kursachsen, der
persönliche Erwerb blieb dabei unmittelbar ganz
ausser Berücksichtigung und kam nur mittelbar
insofern in Betracht, als sich die wirtschaftliche
Lage des Steuerpflichtigen in dem Werte des
beweglichen Vermögens ausdrückte. Für Leute,
welche ohne alles Vermögen nur von der Hände
Arbeit lebten, wie Tagelöhner, Gesellen, Ge-
sinde, hatte man nur Steuern persönlicher Na-
tur, so z. B. Herstallgelder, Lohnsteuern u.
dergl. Für diejenigen, die Gewerbe oder Han-
delschaft trieben , gab es jene Vermögens-
steuer, und die Grösse des Erwerbsvermögens
war der Massstab des Erwerbes. Die kleinsten
Vermögen, z. B. ö Pfund, nach einer Steueraus-
schreibung vom Jahre 1214 in München waren
steuerfrei.
Auf dem Lande entwickelte sich der Ge-
werbebetrieb teils unter dem Drucke der grund-
herrlichen Verhältnisse, teils bei der UnvoU-
kommenheit der Verkehrsmittel und W^ege, teils
wegen der Vorrechte der Städte fast gar nicht,
in den Städten dagegen war jeder Bürger Ge-
werbetreibender, es ist deshalb in den Steuer-
listen meist nur von den Bürgern die Rede,
nur hier und da werden einzelne Gewerbe,
Schneider, Bader, Messner, Furkünstler, Wirte,
Hakler, Maler, Bildhauer besonders erwähnt.
In einzelnen Städten besteht neben der Ver-
mögenssteuer eine besondere Gewerbesteuer mit
Tarif, so in München seit 1606, Hamburg seit
1633, Kulmbach seit Ende des lö. Jahrhunderts.
Neben diesen Vermögens- und Gewerbe-
steuern hielten sich die „Umgelder" und sons-
tigen Verkaufssteuem , welche ebenfalls das
Gewerbe trafen, sowie die „Lizenz- oder Re-
kognitionsgelder" für die Bewilligungen des
Landesherrn zur Ausübung eines Gewerbes. Mit
der Ausbildung der Zünfte ging die Auflage
der Lizenzgebühren Hand in Hand. So wurde
in Böhmen 1595 neben der Haussteuer eine
zweite direkte Steuer mit Klassen und hohen
Steuersätzen von Gewerbtreibenden eingeführt,
dazu kam 1596 eine Kamin-, eine Laden-, eine
Mühl- und eine Getreidesteuer. In Schlesien
bestand seit lö27 eine Verbrauchssteuer von
Bier, Getreide, Wolle, Wein, Salz und Fischen.
In den preussischen Landen traf die allge-
meine Vermögenssteuer „ältere Landbede, petitio
exatoria, Landschoss, Grossenschatz" alle volks-
klassen mit beweglichem und unbeweglichem
Vermögen. Später wird „Kontribution" die
eigentliche alleinige Staatsbesteuerung des plat-
ten Landes, während die indirekte Besteuerung,
die Accise, die Staatssteuer der Städte wurde.
Die eigentliche Gewerbesteuer war in der
allgemeinen Kopfsteuer (Kopfschoss), nach eng-
lischem und französischem Muster abgestuft und
in Klassen eingeteilt, inbegriffen. Dazu wird
die Biersteuer die territoriale Hauptsteuer der
Städte, und die Zölle werden nicht bloss als
Einfuhr-, sondern auch als Ausfuhrzölle ausge-
bildet, erhöht und vermehrt.
In Frankreich treffen wir seit dem 11.
Jahrhundert zwei direkte, dem System der Feu-
dalabgaben entstammende Steuern: die aides
und die exactions. Die aides ^uxilia) sind aus-
serordentliche Subsidien aller Unterthanen und
Vasallen an den Herrn im Verhältnisse zu deren
Einkünften. Die exactions (exactiones) sind
willkürlich nach Bedarf auferlegte Abgaben.
Zu diesen gehört insbesondere die taille (talia,
tolta), eine direkte Steuer, welche gewöhnlich
nach feux (Hauch- und Feuerstellen) auferlegt
wird. Daneben bestehen indirekte Verkehrs-
und Verbrauchssteuern, Wegeabgaben und Zölle.
Dazu entwickeln sich die städtischen Thor-
steuern (octrois), die Getränke- und Weinsteuem
(aides im engeren Sinne) und die Salzsteuer
(gabelle). Der Hauptpf euer des direkten Steuer-
systems bleibt aber bis zur Revolution die taille,
sie traf vorzugsweise die ländliche bäuerliche
Bevölkerung neben der taille reelle (eigentliche
Grundsteuer) als taille personelle (Vermögens-,
Erwerbs-, Personalsteuer). Erst im 18. Jahr-
hundert gesellten sich zwei neue direkte Steuern
dazu. Die capitation. eine klassifizierte Stan-
des-, Berufs-, Personalsteuer und die allgemeine
538
Gewerbesteuer
Quotenstener mit wechselnder Quote, am läng-
sten mit Veo« daher unter dem Namen „Zwan-
zigster*' bekannt. Sie war eine allgemeine Ein-
kommensteuer. Für die Städte blieben aber die
Verbrauchssteuern, Getränkesteuem (droit de
fros) mit Verkaufssteuem (droit de quatri^me) und
esonderen Eich-, Mess- und Maklergebühren
(droit de jauge et de Courtage) Haupteinnahme-
quellen neben den oben angeführten anderen
städtischen indirekten Abgaben (octrois, Salz-
steuer, Tabaksteuer, Stempel). Im 16. und 17.
Jahrhundert entwickelte sich besonders nach
englischem Muster das Accisesystem , indem
Steuern auf alle wichtigeren Produkte z. B.
Tuch, Wollwaren (1582), Papier ri653), Lichter
(1693), Puder (1715), Bücher (1772), Oele (17.
Jahrhundert), Gold und Silber (1680) u. s. f.
gelegt wurden. Zu Ende des Ancien Regime
waren die Einnahmen schon überwiegend steuer-
artig, zur kleineren Hälfte direkt, zur grösseren
Hälfte indirekte Verbrauchs- und Verkehrs-
steuem.
In England gelang dem normanischen
Königtum die Einbnngung einer direkten Ver-
mögensbesteuerung viel früher als in Frankreich
und Deutschland. Schon im 12. — 14. Jahrhun-
dert umfasste diese Besteuerung den sämt-
lichen Grundbesitz und bald auch das beweg-
liche Vermögen, zu welchem beim Grundbesitze
Vieh, Betriebskapital und die Erzeugnisse selbst
gerechnet wurden, mit nach Bedarf wachsenden
Quoten (Vio, Via, Vir, Vsot V4o)- I>iese Besteue-
rung hiess „der Fünfzehnte oder Zehnte*. Schon
im Jahre 1334 gelang den Steuerpflichtigen,
eine Repartierung nach einem festgesetzten Ge-
samtbetrag durchzusetzen. Sonstige Kopf-,
klassifizierte Staats- und Einkommensteuern
waren nur vorübergehend. Erst allmählich, seit
dem Cromwellschen Regiment, trat an die
Stelle der „Ftinfzehntel" Monatsanlagen (month-
ly assessements) eine direkte Vermögens-
und Einkommensteuer sowie indirekte Ver-
brauchssteuern auf eine Anzahl Artikel, so
Fleisch, Salz, Wolle, Hüte, Seidenwaren u. s. f.
(1644), auch eine Getränkesteuer (1646) auf Ale,
Bier, Wein, Branntwein. 1660 trat eineBrannt-
weinbesteuening dazu, und in derselben Zeit
wurde das Accisesystem weiter ausgebildet (erb-
liche und temporäre Accise). Im Jahre 1692
erfuhr das englische Besteuerungswesen eine
durchgreifende Umwälzung. An Stelle der
Klassen-, Kopf-, Standes-, Geburts-, Heirats-,
Junggesellensteuer trat die als Qualitäts-, Ver-
mögens- und Einkommensteuer gedachte Land-
steuer (landtax^. Sie umfasste principiell den
Ertrag beweglichen Vermögens und gewisser
persönlicher Einkünfte (Besoldungen), wurde
aber allmählich fast gänzlich zur Ertragsgrund-
steuer. Dazu kam noch (1696) die Haussteuer
in Form der Fenstersteuer und (1778) insbeson-
dere Ertragssteuem von Wohnhäusern.
Daneben bestanden aber eine Reihe von
indirekten Steuern, welche sich als Specialge-
werbesteuern (Anhängsel zur indirekten Kon-
sumsteuer) darstellen. So schon seit 1691 die
Steuer auf Verkehrsgewerbe (Stadtdroschken)
und 1694 Landkutscher, 1694 und 1775 Miet-
pferde, 1779 Mietwagen^ femer Lizenzabgaben
von Gewerben, welche sich mit accisepflichtigen
Gegenständen beschäftigen^ Verkauf und Aus-
schank von Branntwein, Bier etc., endlich auf
Beschäftigungen der Rechtsanwälte, Notare,
Bankhäuser, Auktionatoren, Ladensteuer sowie
Besteuerung der Hausierer und ähnlicher Per-
sonen (1697). Eine Hauptrolle spielen die
Luxussteuem (assessed taxes), wozu die Karos-
sen-, Rennpferd-, Lizenz-, Uhren- und sonstige
Steuern auf GegenstHnde des persönlichen Ge-
brauches und der Lebensweise der höheren
Stände gehören. Die Produkte des Gewerbe-
fleisses werden aber auch hier meist mit der
Accise betroffen, welche eben nicht eine allge-
meine war, wie z. B. die preussische, sondern
nur eine ziemlich grosse Zahl (28) einzelner
wichtiger Artikel traf, welche im Produktions-
oder ersten Absatzstadium damit belegt waren.
Im 18. Jahrhundert sind so zahlreiche Ge-
werbe accisepflichtiger Artikel dem Lizenzsystem
unterworfen worden, dass, trotzdem im Jahre
1834 die ursprünglichen 28 Acciseartikel anf 12
reduziert wurden, doch noch 588000 Gewerbe-
treibende davon betroffen waren.
Infolge der Veränderlichkeit der Einschät-
zung und Repartition sowie des Steuersatzes
trat in England bei der landtax eine völlige
Stabilität ein , so dass sie im Wesen eine real-
lastartige, feste Grundabgabe an den Staat
wurde, weshalb Pitt sie (1798) für ablösbar er-
klärte. Die Finanznot drängte aber zu einer
neuen direkten Steuer, welche in Einführung
der allgemeinen Einkommensteuer (1 798j erfolgte.
Nach dem revidierten Gesetze von 1803 wurde
sodann die Einführung nach zwei Methoden be-
stimmt und veranlasst: diejenigen aus Immo-
bilienbesitz, Pachtungen, öffentlichen Besoldun-
gen nach dem System der Ertragssteuern, die-
ienip^en aus gewerblichem Einkommen und Geld-
kapital in I^orm einer wirklichen Einkommen-
steuer nach Deklaration. Die Steuer wurde
bald w^ieder aufgehoben, um alsbald von Robert
Peel im Jahre 1842 wieder eingeführt zu werden.
Nebenbei wurden aber die Accise und Zoll-
sätze während der Kriegszeit Ende des vorigen
und Anfang des jetzigen Jahrhunderts mehr-
fach exorbitant erhöht, ebenso die direkten
Luxussteuem. —
Aus (lieser gedrängten Darstellung der
Steuer^eschichte bis zum Ancien Regime
zeigt sich eine grosse üebereinstimmiuig in
drei- bis viergliedrige Steuei'stufen. Ueber-
all eine Kombination einer direkten berufs-
mässigen Erwerbsbesteuerung mit indirekter
Yerbrauchsbesteuerung, beide erzeugt durch
Verkehrsbesteuerung einzelner Erwerbsakte
und Rechtsgeschäfte (Regal) und des Anfall-
erw^erbs (Erbschaftsbesteuening), daneben
überall Einbürgerung der indirekten Yer-
brauchsbesteuerung (Accise) in vei-schiedenen
Formen als allgemeine, specielle Accise,
Thorsteuer etc. Die Grenzen der Gewerbe-
steuer sind ausserordentlich verschiedene.
Sie ist teilweise in der Vermögenssteuer
enthalten, teilweise in Verbrauchs- und Ver-
kehrssteuern aufgegangen, teilweise in einer
indirekten Besteuerung versteckt. Eigent-
liche direkte Gewerbesteuern nach heutigem
Begriffe hat es Ende des vorigen Jahrhun-
derts am Kontinente keine gegeben.
Gewerbesteuer
539
11. Heutiges Recht
A. Deutsohland.
4« Prenssen. a) E i n 1 e i t n n g. In Preus-
sen entwickelte sich das Stenerwesen im grossen
und ganzen in der oben für Deutschland be-
schriebenen Weise. Ursprünglich war die
„Bede" — contributio, Landschoss — nur als
ausserordentliche Vermögenssteuer eingeführt.
Grundbesitzer steuerten nach der Hufenzahl,
jedoch hatten Bitter und Knappen eine Anzahl
Hufen frei. In der Mitte des 15. Jahrhunderts
wurde die Bede ständige direkte Vermögens-
steuer, jedoch nur für die Hintersassen; die
Oberstände blieben frei. Die Verteilung ge-
schah dann allmählich so, dass die Städter %,
die Oberstände V3 des Schosses zu tragen hat-
ten. Im 16. Jahrhundert wurde der Schoss
nach den verschiedenen Quellen geteilt; für die
Landbesitzer als Hufenschoss, für die Leute
ohne Grundeigentum und städtischen Grewerbe-
treibenden als Personalsteuer, der ritterschaft-
liche Besitz blieb steuerfrei. Ge^en Ende des
30jährigen Krieges verwandelte sich der Schoss
in eine „Kontribution^^ blieb aber eigentlich
nur Steuer für das Land, für die Städter ent-
wickelte sich neben der Personalsteuer für
einige nicht Handel treibende Personen — Hand-
werker, Künstler, Taglöhner — das indirekte
Accisewesen. Adel, Geistlichkeit und kurfürst-
liche Beamte blieben steuerfrei. Im Jahre 1741
wurde unter heftigem Widerstände der Ober-
stände der Genera] hufenschoss durchgeführt;
für die nicht mit Grundeigentum angesessene
Landbevölkerung bestand die Personaibesteue-
rnng — Hom-, Kopf-, Klauenschosse — fort.
Im Jahre 1810 erfolgte sodann eine gründ-
liche Reform der direkten Steuerpolitik. Als
Grundlaj^e diente das Ed. v. 27. Oktober 1810,
worin die Grundztige des künftigen Steuersys-
tems verkündet wurden. Danach sollte in zu-
kimft eine gleiche und verhältnismässige Ver-
teilung der Grundsteuer unter Aufhebuujp: sämt-
licher Befreiungen stattfinden, die Vereinrachung
des Abgabewesens auf dem Grundsatze der
gleichmässigen Verteilung der Staatslasten auf
alle Staatsbürger beruhen, endlich Qewerbe-
freiheit unter Einführung einer mas-
sigen Gewerbesteuer gelten. In der
Ausführung dieser Gedanken ^rging das Ed. v.
28. Oktober 1810, welches allgemeine Verzeh-
rungssteuem für Stadt und Land einführte.
Das Ed. V. 7. September 1811 schied dann die
grösseren Städte vom platten Lande wieder
aus, Hess dort die Verbrauchsabgaben bestehen,
hob sie vom Lande wieder auf und ermässigte
sowohl Mahl- als Fleisch- und Branntweinsteuer,
führte dagegen eine Kopfsteuer mit 12 Groschen
pro Kopf jfiirlich ein.
Für die Gewerbetreibenden bestand die
Lizeuzsteuer für neue Konzessionen, ein Kanon
für einzelne Gewerbe und ein Paragraphen geld
für solche Gewerbetreibende, welche Bücher
führten. An Stelle dieser Abgaben führte das
Ed. V. 2. November 1810 nach französischem
Muster zur Durchführung der Gewerbefreiheit
eine allgemeine Gewerbesteuer ein. Sie
war gegen Erteilung eines Gewerbescheines
nach einem alle Gewerbetreibenden in sechs
Klassen einteilenden Tarife zu entrichten.
Steuerfrei war der Landwirt, Beamte, Tag-
löhner und gemeines Gesinde.
Zur Bestreitung der fortwährenden Kriege
wurde daneben mit Ed. v. 22. Mai 1812 eine
neue Personalsteuer als Vermögenssteuer vom
Kapital, Grundvermögen und Einkommen ein-
feführt. So stand die Sache bis zum Wiener
^ongress.
Als die preussische Monarchie durch den
Wiener Konffress fast um das Doppelte ver-
grössert wurde, war auch die Frage der Steuer-
reform bei der Verschiedenartigkeit der in den
neuen Gebietsteilen herrschenden Systeme bren-
nend geworden. Das Ed. v. 30. Mai 1820 hob
denn auch alle in den Etats der direkten
Steuern bisher aufgeführten Abgaben auf und
bestimmte, dass fortan nur noch Grundsteuern,
Gewerbesteuern, Klassensteuem, diese aber nur
auf dem platten Lande und in denienigen
Städten, in welchen nicht eine Mahl- und
Schlachtsteuer eingeführt wurde, bestehen soll-
ten, lieber die Gewerbesteuer selbst erging
ein G v. 30. Mai 1820 (GBl. S. 147), welches
an Stelle sämtlicher Gewerbe-, Patent- und
Wohnungssteuern unter Aufhebung der bisher
bestandenen allgemeinen Gewerbesteuerpflicht
eine neue Steuer für gewisse Klassen von
Gewerben setzte. Die Grundlagen dieses Ge-
setzes mit den Abänderungen aus den Jahren
1824, 1826, 1861 und 1872, dann 1874 und
1880 waren bis 1893/94 noch massfi^ebend.
Bisher war die Steuer eine Vorbedingung
zum Gewerbebetriebe, jetzt ist sie eine Folge
davon. Bis jetzt war die Berechtigung zum
Gewerbebetriebe von Lösung eines steuerpflich-
tigen Gewerbescheines abhängig ; niemand hatte
ein Widerspruchsrecht. Befreit waren nur die
schon im Gesetze vom Jahre 1810 bezeichneten
Personen. In Zukunft ist nicht die gesamte
gewerbliche Thätigkeit, sondern nur eine ganze
Keihe von Gewerben steuerpflichtig. Die Ge-
werbescheine sind nur (nach dem Regulativ v.
28. April 1824) zu dem Gewerbe nachzusuchen,
das im Umherziehen betrieben wird, wogegen
das übrige Gewerbe „stehendes" Gewerbe heisst.
Eine Reihe von Thätigkeiten, selbst wenn die
auf Privaterwerb gerichtete Ausübung von
Künsten und Wissenschaften ausser Betracht
bleiben, sind von der Grewerbesteuer nicht be-
troffen.
Für steuerpflichtig wurden erklärt: Klasse
A und B. Handel aller Art, einschliesslich Fa-
brikbetrieb, C. Gast-, Speise- und Schankwirt-
schaften, Verfertigung von Waren auf Kauf,
D. das Gewerbe der Bäcker, E. Fleischer, F.
Brauer, G. Brenner, H. Handwerker unter ge-
wissen Umständen, J. Betrieb von Mühlwerken,
K. Schilfer, Fracht-, Lohnfuhrwerker und Pfand-
verleiher, L. das Gewerbe im Umherziehen.
Branntweinbrennerei wurde 1824 , Bergbau,
Hütten- und Hammerwerkbetrieb 1823—1834
steuerfrei erklärt, der Hüttenwerksbetrieb aber
1865 wieder steuerpflichtig. 1858 wurden alle
Aktiengesellschaften mit Handels- oder Ge-
werbebetrieb sowie alle zum gewerblichen
Zwecke gebildeten sonstigen Gesellschaften mit
Kapitalseinlagen der Gewerbesteuer unterwor-
fen. Seit dem G. v. 29. Juli 1861 wurde letz-
teres Gesetz wieder aufgehoben, aber in der
Klasse A behufs höherer Besteuerung eine erste
Klasse (A. I) gebildet, welche umfassen soll
540
Gewerbesteuer
alle Fabrik- und Eandelsnntemehmnngen, mit
Einschluss der Kommissions-, Speditions-, Agen-
tur-, Bank-, Geld-, Wecbsel-, Versicherungs-
und Beedereigeschäfte sowie die auf Vermitte-
lung von Handels- und Geldgeschäften gerich-
teten Gewerbe, bei welchen nach der Höhe des
Anlage- und Betriebskapitals sowie nach der
Erheblichkeit des jährlichen Umsatzes auf „be-
deutenden"^ Betrieb zu schliessen ist. 1824
wurde der Brennereibetrieb für steuerfrei, 1826
die Apotheker, 1826 auch die Pfand Verleiher,
nicht bei der Kaufmannschaft angestellte Mäkler,
Agenten und Kommissionäre, 1828 Privatver-
sicherungsanstalten für steuerpflichtig erklärt.
1872 wurde die besondere Klasse für das
Müllergewerbe und 1874 die besonderen drei
Klassen für Bäcker, Fleischer und Brauer auf-
gehoben und dieselben in die Klasse von Han-
del bezw. Handwerksklasse eingereiht, um den
Mangel an Einheit zu benehmen.
Mit G. V. 3. Juli 1876 wurde unter dem
Einflüsse der Reichsgesetzp^ebung die Besteue-
rung des Gewerbebetriebs im Umherziehen dem
Zeitbedürfnisse entsprechend neu geregelt und
durch G. v. 27. Februar 1880 auf Wanderlager
ausgedehnt, durch die GG. v. 3. November 1©8,
30. Mai 1853 und 16. März 1867 wurde die
Abgabe für Eisenbahnen und Aktiengesellschaf-
ten sowie Privatunternehmungen zum Betriebe
von Eisenbahnen eingeführt (vgl. d. Art.
Eisenbahnsteuer oben Bd. III S. 597ff.),
endlich durch die GG. v. 12. Mai 1852, 22. Mai
1861, 20. Oktober 1862 die Bergwerksabgaben
(vgl. d. Art. Berg Werksabgaben oben Bd. II
S. ö84if.) an Stelle der Zehnten, Quatember-
feld und Kezessgeld sowie Abgaben vom
wanzigsten und neben diesem eine Aufsichts-
abgabe von 17o des Wertes der Produkte ge-
regelt, schliesslich aber nur noch die Aufsichts-
summe und 1 \ des Wertes der Produkte iür
das rechtsrheinische Preussen gelassen. Für
die linksrheinischen Landesteüe war durch die
französische Gesetzgebung eine feste Bergwerk-
steuer mit Zuschlagszehntel und Hebegebühr
eingeführt, an deren Stelle das G. v. 20. Oktober
1862 eine Steuer von 2% setzte.
Die Steuerpflicht der Gewerbetreibenden
wird nach dem Umfange und Ertrag des Ge-
schäftes bemessen, die Veranlagungsmethode
ist jedoch sehr verschieden normiert. Jeder
Gewerbetreibende muss aber in einer Klasse
eingereiht sein; die Veranlagung der drei
Hauptklassen in die Ortsklassen geschieht nur
zum Teil nach Bevölkerungsgrössen, indem die
in die 1. und 2. Abteilung fallenden Orte aus-
drücklich genannt sind. Eine 3. Abteilung
bilden die Städte über 1500 Einwohner, die 4.
die übrigen Orte. Das Steuersoll der einzelnen
Klassen besteht ferner aus dem Produkte des
Mittelsatzes und der Zahl der in jeder Klasse
vorhandenen Geschäfte. Unter Annahme eines
Minimalsteuersatzes wird das Steuersoll von
Vertretern der zu der Klasse gehörigen Ge-
werbetreibenden oder von den Behörden unter
Zuziehung von Vertrauensmännern auf die Ge-
schäfte der Klassen verteilt Diese Grundsätze
gelten für die drei Handelsklassen, die Gast-
wirte und den Handwerksbetrieb, dann Bäcker
und Fleischer der Städte der 3. Abteilung; für
Bäcker und Fleischer der Städte 1. und 2. Ab-
teilung ist nach dem Durehschnittsverbrauch
eines einzelnen Einwohners und dem sich da-
nach berechnenden Durchschnittsverdienst ein
Steuersatz von 10 bezw. 7 % Pfennig vom Kopf
der Bevölkerung festgesetzt. Das Produkt
dieses Steuersatzes und der nach der letzten
Zählung vorhandenen Einwohnerzahl des Be-
zirkes bildet das Steuersoll der betreflfenden
Gewerbetreibenden, welches wieder auf die ein-
zelnen Mitglieder verteilt wird. In den übrigen
Klassen wird das Einzelgeschäft direkt nach
deren Materialverbrauch, der Zahl und Grösse
der Beförderungsmittel oder der nötigen me-
chanischen Kraft so veranlagt, dass einer be-
stimmten Menge, Anzahl und Grösse ein be-
stimmter Steuereinheitssatz gegenübersteht. Der
Einheitssatz bezieht sich bei dem Braugewerbe
auf eine bestimmte Menge des Braumalzes, bei
den Schiffern auf die Tragfähigkeit oder Dampf-
kraft der Schiffe, bei den Fuhrleuten auf die
Zahl der Pferde etc.
Die Steuerfreiheit ist ebenfalls kasuistisch
ausgesprochen. Der Steuersatz ist in den meis-
ten Fällen nicht auf das einzelne Gewerbe
fixiert, sondern zunächst zur Bildung von ört-
lichen Gewerbssteuersummen verwendet (Kon-
tingentierung), welche Summe innerhalb der
Gewerbetreibenden verteilt wurde. Für alle
Ortsklassen ist ein mittlerer Satz fixiert.
b) Geltendes Recht. Seit geraumer
Zeit wurde mit wachsender Schärfe gegen
das Gewerbesteuergesetz der Vorw^iirf er-
hoben, dass es die Betriebe durchweg im-
gleich belaste und insbesondere die schwachen,
wenig leistungsfähigen Betriebe zu hart ti^ffe,
dagegen die grossen gewinureichen Betiiebe
zu gering besteuere.
Öloichzeitig mit der Reform der Ein-
kommensteuer (vgl. d. Art. oben Bd. III
S. 394) erfolgte deshalb im Jahre 1891 auch
eine durchgreifende Reform der Gewerbe-
steuer, w^elche vor allem eine bedeutende
Entlastung der kleineren Gewerl>ebetriebe,
insbesondere des Handwerks \md des Klein-
handels bezweckte.
mt G. V. 24. Juni 1891 (G.S. 1891, Nr.
20, S. 205) fand die Reform ihren Abschluss.
Die Gewerbesteuer ertrug im Jahre 1890 91
für 865940 Gewerbetreibende 18515783 M
Die Steuerreform beabsichtigt keine Er-
höhung, sondern lediglich gerechtere Yer-
teilung der Lasten. Das neue Gesetz kommt
zunächst bei der Veranlagung filr das Jahr
1893 94 zur Anwendung.
Die Grund Züge des neuen Gesetzes
sind, nachdem ausurücklich konstatiert ist,
dass es hinsichtlich der Besteuerung des
Gewerbebetriebes im Umherziehen und des
Wanderlagerbetriebes bei den bestehenden
Vorschriften (v. 27. Februar 1880 s. oben)
zu verbleiben habe : Alle Betriebe, bei denen
weder der jährliclie Ertrag l'i/ÖO M. noch
das Anhige- und Betriebskapital 3000 M. er-
reicht, sind von der Gewerbesteuer frei, wo-
durch ungefähr 30 000 Gewerbetreibende
befreit werden sollen. Die bisherigen Ge-
werbesteuerklassen imd Ortsstufen wuixlen
Gewerbesteuer
541
vollständig aufgehoben und die Betriebe in
4 Klassen geteilt.
Klasse I: Betriebe, deren jährlicher Er-
trag 50000 M. oder bei denen das Anlage-
iind Betriebskapital 1 Mill. M. übersteigt;
Klasse 11 : Ertrag 20000—50000 M. oder
Betriebskapital 150000-1 Mill. M.; Klasse
IH: Ertrag 4000—20000 M. oder Betriebs-
kapital 30000—150000 M.; Klasse IV: Er-
trag 1500—4000 M., Betriebskapital 3000
bis 30000 M.
Veranlagungsbezirke bilden für Klasse in
und rV die Kreise, für Klasse II die Regie-
rungsbezirke, für Klasse I die einzelnen Pro-
vinzen und die Stadt Berlin. In den letzten
drei Klassen erfolgt die Besteuerung nach
Mittelsätzen : Klasse 11 : 300 M., Klasse m :
80 M., Klasse IV: 16 M.; die der betreffen-
den Klasse angehörenden und in dem Ver-
anlagungsbezirke liegenden Gewerbebetriebe
bilden eine Steuergemeinschaft; ihre Abge-
ordneten haben das nach den Mittelsätzen
berechnete Steuerkontingent zu verteilen.
Die zulässigen geringsten und höchsten
Steuersätze betragen : Klasse II von 156 bis
480 M., Klasse IE von 32—192 M., Klasse IV
von 4—36 M. Die Steuersätze sollen bis
zu 40 M. um je 4, von da an bis 96 M.
um je 8, weiter bis 192 um je 12 und
weiter bis 480 M. um je 30 M. steigend
abgestuft werden. Die Steuer der 1. Kksse
wird für jeden einzelnen Betrieb mit 1
vom Hundert festgesetzt. Für jeden Ver-
anlagungsbezirk wird ein Steuerausschuss
febildet, von dem zwei Drittel durch den
*rovinzialausschuss , ein Drittel und der
Vorsitzende durch den Finanzminister be-
rufen werden. Die in Klasse I zulässigen
Steuersätze sind nach Intervallen von 48 M.
(Ertragsstufe von 4800 M.) abgestuft. Der
Ertrag wurde pro 1893/94 unter Annahme
der in dem letzten Jalu'e eingetretenen
Steigerung von 2,28^/0 auf 19369729 M. ge-
schätzt.
Steuerfrei sind erklärt ausser dem Belebe,
dem preussischen Staate und der Reichsbank
die landwirtschaftlichen Kreditverbände so-
wie öffentliche Versichenmgsanstalten, Kom-
munalverbände wegen Unternehmungen zu
gemeinnützigen Zwecken : KanaHsations- und
Wasserwerke, Schlachthäuser und Viehhöfe,
Markthallen, Volksbäder, Leihaustalten, ferner
Betriebe der Land- und Forstwirtschaft,
Viehzucht-, Obst-, Wein- und Gartenbau
mit Einschränkung , landwirtschaftliche
Branntweinbrennereien , Bergbau, Torf-
stiche u. dergl., Eisenbahnen, welche der Ab-
gabe nach den GG. v. 30. Mai 1853 und
16. März 1867 unterliegen, Ausübung eines
amtlichen Berufes und der freien Künste,
Genossenschaften, welche ihren Verkelir auf
Mitglieder beschränken und nur die eigenen
Bedürfnisse der Mitglieder zu beschaffen
bezwecken; Konsumvereine mit offenem
Laden sind steuerpflichtig. Ausserpreussische
Unternehmungen mit Niederlassungen in
Preussen sind nach Massgabe des in Preussen
ausgeübten stehenden Betriebes zu besteuern ;
frei ist der Handel auf Messen und Jahr-
märkten und hinsichtlich der Lebensmittel
auf Wochenmärkten. Für den Betrieb einer
Gastwirtschaft, Kleinhandel mit Branntwein
und Spiritus ist eine besondere Betriebs-
steuer (Klasse 1 : 100, Klasse 11 : 50, Klasse
IE: 25, Klasse IV: 15 M. und bei steuer-
freiem Ertrag 10 M.) zu entrichten.
Der Gewerbebetrieb jiuistischer Personen
wird wie jener physischer Personen be-
steuert. Inländische Gewerbe, welche ausser-
halb Preussens einen stehenden Betrieb
(Zweigniederlassungen) haben, bleiben für
diesen Betrieb steuerfrei nach Abzug des
auf die in Preussen befindliche Geschäfts-
leitung zu rechnenden Anteiles von */io des
Ertrages.
Bei Ausmittelung des Ertrages kommen
alle Betriebskosten und die Abschreibungen
in Abzug. Nicht abzugsfähig sind Zinsen
für das Anlage- und Betriebskapital und
Schulden, welche behufe Anlage und Er-
weiterung des Geschäftes, Verbesserung und
Verstärkung des Betriebskapitals gemacht
sind. Die Gewerbesteuer soll Objektsteuer
sein. Der Ertrag, welcher durch die Ge-
werbesteuer getroffen werden soll, unter-
scheidet sich von dem Einkommen aus Ge-
werbebetrieb, welches nach dem am gleichen
Tage (24. Juni 1891) publizierten Einkom-
mensteuergesetz (§ 2b, 7, 14 — 17) der
Einkommensteuer unterliegt, wesentlich da-
durch, dass einerseits bei Gewerbebetrieben,
an denen mehrere Personen (Societäten) be-
teiligt sind, das gew^erbliche Einkommen zu
einer Einheit zusammenzusetzen ist, andrer-
seits hier ein Schuldzinsenabzug nicht ge-
stattet ist, selbst wenn das Betriebskapital
dritten Personen gehört. Die Veranlagung
erfolg auf ein Jahr.
Eme allgemeine DeklarationspfUcht be-
steht nicht, doch ist dem Vorsitzenden des
Steuerausschusses gestattet, die Steuerpflich-
tigen zur Erklärungsabgabe über Höhe des
Ertrages, Merkmale des Betriebs zu hören
und zu den Verhandlungen beizuziehen, Be-
sichtigung der gewerbhchen Anlagen, Be-
triebsstätten und Vorräte vorzunehmen oder
durch Staatsbeamte zu veranlassen. Alle
Staats- und Kommunalverbände müssen Auf-
schlüsse geben und Wareneinsicht gestatten ;
Sachverständige können eidlich vernommen
Averden ; eine Vorlegung der Geschäftsbücher
des Gewerbetreibenden findet nur statt,
wenn dieser selbst dazu bereit ist; Aktien-
und ähnliche Gesellschaften haben alljährlich
Geschäftsberichte und Bilanzen sowie die
Generalversammlungsbeschlüsse vorzulegen.
542
Gewerbesteuer
Gegen die Veranlagungsbeschlüsse des
Steuerausschusses steht dem Vorsitzenden
Beschwerde zur Bezirksregierung, und gegen
den Beschluss dieser dem Steueraus-
schusse Beschwerde zum Finanzminister zu.
Itie aus den monatlichen Steuerlisten der
einzelnen Steuerklassen zusammenzustellen-
den Gewerbesteuerrollen für die Erhebungs-
bezirke werden von der Bezirksregierung
festgestellt und öffentlich ausgelee:t Das
Ergebnis der Veranlagung hat der Vor-
sitzende des Steuerausschusses jedem Steuer-
pflichtigen bekannt zu geben. Dagegen
steht diesem binnen 4 Wochen Einspruch
an den Steuerausschuss und gegen dessen
Beschluss sowohl dem Steuerpflichtigen als
dem Vorsitzenden des Ausscnusses wieder
binnen 4 Wochen Berufung zur Bezirks-
regierung zu. Gegen den Entscheid der
Bezirksregierung hat der Steuerpflichtige
noch wegen Nicht- oder unrichtiger Anwen-
dung des Gesetzes und wegen erheblicher
Mängel im Verfahren Beschwerde zum Ober-
verwaJtungsgericht. Erstreckt sich ein Be-
trieb auf mehrere Gemeinden, so erfolgt
die Ausscheidung durch den Steueraus-
schuss.
Jeder neue Betrieb ist anzumelden; die
Gemeinde hat die Anmeldungsliste der Re-
gierung vorzulegen. Die Gemeindevorstände
und bezw. Landräte haben ein Verzeichnis
der Gewerbebetriebe, welche nicht schon in
der letzten SteuerroÜe enthalten sind, der
Bezirksregierung einzureichen. Das Auf-
hören eines Gewerbes ist der Hebestelle
schriftlich anzuzeigen. Die Nichtanmeldung
eines neuen Betriebes, die unrichtige Ab-
gabe der verlangten Erklärungen oder
deren Verweigerung zieht Geldstrafen nach
sich.
Die Gemeinden erhalten für die Mithilfe
bei der Veranlagung und bei der Steuerer-
hebung je 2®/o der Steuer.
Die Schätzung des Ertrages wai* sehr
schwer. Das Gesetz hat deshalb die Be-
stimmung, dass, wenn das Veraiüagungssoll
pro 1893/94 •den Betrag von 19811359 M.
um mehr als 5 ^lo übersteigt, durch Verord-
nung im Verhältnis des ganzen Mehrbetrages
ziu* genannten Summe eine Herabsetzung
sowohl des Prozentsatzes der I. Klasse als
auch der Mittelsätze der Klassen U — IV so-
wie der höchsten und (mit Ausschluss der
TV. Klasse) der niedrigsten Steuersätze statt-
zufinden hat. Diese letztere Feststellung
ist dann für die Folge massgebend. Ebenso
soll eine entsprechende Erhöhung des Pro-
zent- bezw. Mittelsatzes solange stattfinden,
bis das Steuersoll das eben geschätzte Er-
trägnis erreicht.
Die Steuererhebung erfolgt vierteljährlich.
Wie schon bemerkt, bildet die Gewerbe-
steuer liier ein Glied des Ertragssteuersys-
tems, das aus finanziellen Gründen in
Preussen nicht erlassen werden konnte
(Drucksachen d. H. d. A. 1891 [17. Legis-
laturperiode] Nr. 5 u. 13), wozu noch Grund-
imd Gebäudesteuern gehören. Daneben Avird
alles Einkommen, auch jenes aus Gewerbe-
betrieb (Gewinn) der prozentualen Einkom-
mensteuer nach degressiven Tarifeätzen
unterworfen. Diese Einkommensteuer ist
aber keine Ergänzimgssteuer zu den Ertrags-
steuem, sondern die Hauptsteuer neben den
Ertragssteuem, durch welche, da sie die
Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen im
ganzen ins Auge fasst, die Härten und Un-
gerechtigkeiten der Objektsteuem gemildert,
wenn nicht vollkommen ausgeliehen werden.
Durch § 6 des sogenannten Ergänzungs-
steuergesetzes V. 14- Juli 1893 wurde —
nachdem durch § 1 des Gesetzes über Auf-
hebung der direkten Steuer vom gleichen
Tage behufs Erleichterung der öffentlichen
Lasten der Gemeinden die Gewerbe- und
Betriebssteuer »ausser Erhebung gesetzt«
und durch § 28 des Kommunalabgabenge-
setzes von dem gleichen Tage den Gemeinden
zur Erhebung überwiesen wiutlen — das
dem Betriebe der Land- und Forstwirtschaft,
des Bergbaues oder eines stehenden Ge-
werbes dienende Anlage- und Betriebs^
kapital der besonderen Vermögenssteuer
unterworfen (s. d. Art. Einkommen-
steuer in Deutschland oben Bd. UI
S. 383 ff.).
5. Bajern« a) Einleitung. In Bayern
hatte man in ältester Zeit ebenfalls nur eine
allgemeine Vermögenssteuer für Grundbesitzer,
Adel und Geistliche und für die Städte. Für
Leute ohne Vermögen, die von der Hände
Arbeit lebten, gab es verschiedene Personal-
stenem, Herbststallgelder, Lohnsteuern etc.
Der Handel war in der Vermögenssteuer mit
belegt. Eine eigentliche Gewerbesteuer findet
sich nachweislich erst seit dem Jahre 1606, in
welchem Jahre einzelne Gewerbe Münchens mit
besonderen Steuern neben der Vermögenssteuer
belegt waren, so Wirte, Methschänker, Brauer,
Tncnmacher, Salzstössler, die zugleich Eiseu-
krämer waren, 1 Gulden, Branntweinschänker,-
Krämer 20 Silberpf etinige , Eisenkrämer und
Salzstössler unveremigt 3 Schilling 16 Pfennige,
Melber, Käskäufler 8 Pfennige, Kornkäufler,
Obstler 1 Pfennig. Daneben blüht die Lizenz-
oder Rekog^nitiousfifebübr für Erteilung der Ge-
werbsbewiiligung durch den Landesherm, welche
sich allmählich in der „Greheimkanzleitaxe'^
(z. B. für Wirte. 150— öOO Gulden) entwickelte.
Dass daneben die indirekte Besteuerung auf
notwendige Lebensmittel (Bieraufschlag, Ge-
tränkesteuer , mannigfache Umgelder) bestand,
ist selbstverständlich. Im Jahre 1746 wnrde
der Versuch einer allgemeinen klassifizierten
Personal- und Erwerbssteuer gemacht, welche
in Stnfensätzen die verschiedensten Berufe
(Schreiber, Prokuratoren, Oberjäger, Schulhalter,
Förster etc.) mit den Gewerbetreibenden zu-
sammenwarf und bestimmte Steuerfixen, z. B.
Gewerbesteuer
543
Wirte ' 2-4 Gulden , Brauer 60—300 Gulden,
Schreiber 5—40 Gulden, Maurermeister 3 Gulden
u. 8. f. festsetzten. Die Reihe der Steuerpflich-
tigen sollte nach dem Edikt nicht abgeschlossen
sein, die nicht aufgeführten Personen sollten
jene Steuern zahlen, die ihrer Stellung und
ihren Geschäften am besten entsprächen.
Erst im Jahre 1808^ also ebenfalls während
der napoleonisdien Kne|2fszeit und nach Er-
weiterung des Länder^ehietes des Königreiches,
wuide eine durchgreifende Steuerreform ver-
sucht. Am 13. März 1808 erschien eine Ver-
ordnung, welche ein „allgemeines Steuerproyi-
sorium^ schaffen sollte. Die Gewerbesteuer
wurde als Teil des neuen Steuersystems erklärt,
alle älteren Abgaben aufgehoben. Gejrenstana
dieser Gewerbesteuer waren alle Fabriken,
Manufakturen ; Gewerbe und Gewerbegerechtig-
keiten — soweit sie nicht Grundsteuerpflichtige
waren — welche in 8 Steuerklassen mit Sätzen
von 2—30 Gulden eingeteilt wurden. Grund-
lage war die Selbstangabe der Gewerbetreiben-
den mit allgemeiner Bezeichnung des Gewerbes
und der bis dahin bezahlten Bekognitionsgelder;
die Einreihung geschah in Städten und Märkten
durch Bürgerausschüise nach Gutachten der
y erwaltunpfsbehörde , im Lande dnrdi die
Steuerrektifikationskommission.
Eine Verordnung vom Jahre 1814 vervoll-
kommnete die Zahl der Steuerstufen von 8 auf
25, so dass 5 Hauptklassen mit je 5 Unter-
klassen bestanden, welche von ^9 Gulden bis
300 Gulden aufstiegen. Der Tarif zählte 125
konzessionierte Gewerbe auf, für welche abge-
stuft nach 5 Bevölkerungsklassen je die Haupt-
steuerstufe bezeichnet wurde. Die Einreibung
hatte die Steuerbehörde vorzunehmen nach Gut-
achten der Stenerausschüsse (fünf Gewerbe-
treibende mit der Verwaltungsbehörde) in den
verschiedenen Steuerbezirken. Die Klassifika-
tion war in einem Kataster angelegt, das öffent-
lich aufffele^ war. Die Innungen in den
Städten durften ihre Mitglieder selbst veran-
lagen. Für Brauereien bestand ein eigener
Tarif, nach dem Malzverbrauche aufgestellt.
Nichtkonzessionierte Gewerbe waren mit der
Familiensteuer nach 12 Klassen veranlagt.
Für die Pfalz wurde durch die V V. vom
Jahre 1814 und 1820 an Stelle der französischen
Patentsteuer eine neue der Gewerbesteuer im
rechtsrheinischen Lande nachgebildete Steuer
eingeführt, aber nicht bloss für konzessionierte,
sondern für alle Gewerbe mit dem Beisatze,
dass bei manchen Gewerben die Tarifsätze mit
der Zahl der im Betriebe befindlichen Vorrich-
tungen multipliziert und bei den meisten für
jeden Gehilfen um V* erhöht wurde.
Im Jahre 1828 sollte der Versuch gemacht
werden, ein neues Steuersystem mit einer Er-
werbssteuer, innerhalb weldier die Gewerbe-
steuer ein Glied bilden sollte, einzuführen, aber
nur die Grund- und Haussteuem wurden ange-
nommen, die Erwerbs- und Gewerbesteuern jjedoch
von dem Landtage verworfen, so dass die alte
Gewerbesteuer von 1814 bezw. 1820 fortbestehen
blieb. Erst im Jahre 1856 wurde das Gewerbe-
steuerwesen neu reguliert, welches Gesetz mit
der Revision vom 19. Mai 1881 heute die Grund-
lage der Gewerbebesteuerung in Bayern bildete,
bis die Gesetzgebung des Jahres 1899 eine
gründliche Revision der ganzen Personalbe-
steuerung und insbesondere der Gewerbesteuer
herbeiführte.
b) Geltendes Recht. Die GG. v. 1.
Juli 1856 und 19. Mai 1881 wollten alle
Gewerbe, sie mögen auf Grund einer Kon-
zession oder als freie Erwerbsarten betrieben
werden, mit Ausnahme des Betriebes der
Land- und Forstwirtschaft und der Berg-
werke treffen. Das Gesetz vom Jahre 1856
klassifizierte die sämtlichen stehenden Ge-
werbe in 32 Klassen mit 672 Nummern.
Für jedes Gewerbe wurde eine Norm al-
anlag e, d. h. für den normalen Ertrag,
welcher bei den verschiedenen Gewerben ]e
nach Grösse und dem zum einfachsten Be-
triebe notwendigen Betriebsvermögen ver-
schieden ißt, aber den Ertrag des Gewerbes
mit den einfachsten Mitteln, ohne Verwen-
dung von Hilfskräften und besonderen Vor-
richtungen treffen soll (droit fixe nach fran-
zösischem Rechte), und eine Betriebsan-
lage, d. h. die für höheren Betrieb be-
stimmte Zulage (dreit proportional), festge-
setzt. Die Steuerklassen waren nach ver-
schiedenen Ortsklassen wieder abgeteilt, so
dass die Steuerskala 128 feste Steuersätze
enthielt Der Steuertarif gab zugleich an,
auf welche Weise für jedes Gewerbe die
Betriebsanlage festgesetzt werden sollte. Für
diese Berechnung galt teils die Zahl der
Gehilfen (namentlich bei den Handwerkern),
Zahl md Art der Betriebsvorrichtungen
(Pferde bei den Fuhrleuten u. s. f.), teils
die Menge und Art des verarbeiteten Roh-
stoffes (Malz bei den Brauereien, Getreide-
mengen bei den Mühlen, Vieh bei den
Metzgern), teils die Mengen des Erzeug-
nisses (Ziegel bei den Ziegeleien, Bier bei
den Wirten, Branntwein bei den Branntwein-
brennern u. 6. f.). Bei Handelsgeschäften
und sonstigen Gewerben, bei denen äussere
Betriebsmerkmale schwer erkennbar sind,
wurde die Betriebsanlage nach dem vermut-
lichen Ertrag festgesetzt Die Einschätzung
erfolgte alle drei Jahre auf Grund der Fas-
sionen durch Steuerausschüsse, bestehend
aus 5 Mitgüedem und einem Verwaltungs-
lieamten als Vorsitzenden. Der Steuerbeamta
ist Staatsbeamter und setzt nur die Berech-
nung der Steuer selbst fest.
Das Revisionsgesetz v. 19. Mai 1881
suchte die Gewerbesteuer als eine Art von
Vermögenssteuer zu ergänzen. Der Tarif
wurde umgearbeitet und enthielt jetzt 1813
Gewerbs- und Betriebsarten. Handwerker
ohne Gehilfen und Betriebskapital sollen
nach der Einkommensteuer veranlagt wer-
den. Die Betriebsanlage soll sich bei jenen
Gewerben, bei denen äussere Betriebsmerk-
raale fehlen, zwischen ^U — lVi% mit Er-
höhung bis zu 2^/2% vom »Ertragsanschlage c
bemessen. Der Steuerausschuss soU auch
Steuerermässigungen bis zur Hälfte be-
544
Gewerbesteuer
echliessen können. Am meisten Schwierig-
keit machte die Feststellung des BegiiÖs
^^Ertragsansclilag«. Derselbe ist nicht zu
verwechseln mit »Reinertrag«, sondern soll
nach Absicht des Gesetzes das eingeschätzte
Jahreserträgnis aus dem Betriebe des Ge-
werbes nach Abzug der Gewinnungskosten
bilden. Zu Gewinnungskosten sollen aber
nur jene Auslagen zählen, welche unmittel-
bar auf die Erzielung des Ertrages gemacht
wurden ; nicht das, was der Gewerbetreibende
am Jahresschlüsse erübrigt, sondern was
das Gewerbe dem Unternehmer trägt, bildet
den Ertragsanschlag. Gegen die Feststellung
der Steuerausschüsse soll Berufung an eine
Berufungskommission zustehen, welche aus
fünf bürgerlichen,zwei vom Finanzministerium
ernannten Beisitzern, dem Vorstande (Präsi-
denten) der Kreisregierung als Vorsitzenden
und einem Vertreter des Aerares zu bestehen
hat. — Dem Finanzministerium ist vorbe-
halten, im Falle unrichtiger Gesetzesanwen-
dung zum Nachteile der Steuerpflichtigen
von Einholung der Steuer Umgang nehmen
zu lassen. Die Steuerzugänge innerhalb der
zweijährigen Steuerperiode werden proviso-
risch vom Rentamte (Steuerbehörde) regu-
liert und von dem Steuerausschusse gesetz-
lich sanktioniert.
Die GG. V. 20. November 1885 und 28.
September 1889 brachten einzelne Tarifab-
änaenmgen. Für die Besteuerung des Ge-
werbebetriebes im Umherziehen
stellte das G. v. 10. März 1879 mit einer
Menge voi\ Vollzugsbestimmungen die Sätze
und Abgaben für die Legitimationsscheine
und die eigentliche Steuer fest. Dieses Ge-
setz wurde durch ein neues G. v. 20. De-
zember 1897 einer Revision mit neuem Tarif
untersteDt, was wieder durch die Revision
des Steuergesetzes dahin abgeändert wurde,
dass die Bergwerke der Gewerbesteuer
unterworfen wurden.
Die Revision der direkten Steuern in Bayern
durch die GG. v. 9. Juni 1899 hat auch das Ge-
werbesteuergesetz betroffen. Wenn auch vor-
läufig noch an der Ertragsbesteuerung festge-
halten wurde, so wurde doch ein Uebergang zur
seinerzeitigen Einführung einer allgemeinen
Einkommensteuer gesucht. Die grundsätz-
lichste Aenderimg ist, dass die Betriebsan-
lage in Zukunft in der Regel nach dem
j^rüchen Ertrage des Gewerbes bemessen
werden kann. Die persönlichen Verhältnisse
der Steuerzahler sollen möglichst berück-
sichtigt werden können, weitgehende Steuer-
ermässigungen und Steuerbefreiungen wur-
den zugelassen, Schuldenabzug und Ab-
schreibungen in erweitertem Masse gestattet
und dabei die Begriffe von Ertrag, Abzugs-
posten und Betriebsausgaben genau fixiert,
die Abstufung nach Ortsklassen beseitigt
und ein neuer Tarif sowie neue Klassen-
sätze mit progressiver Tendenz für die Be-
rechnung der Betriebsanlagen nach dem Ein-
trage aufgestellt ; hierbei wurden die kleinen
Handwerker (ungefähr 80— 90®/o aller Ge-
werbesteuerpflichtigen) diurch Steuerermässi-
gung besonders berücksichtigt, ein Existenz-
minimimi von 500 M. freigelassen und sonst
die Betriebsanlage progressiv von 0,50 M.
von über 800 M. bis zu 6965 M. bei einem
Ertrage von 190000—200000 M., darüber
aber Erhöhung der Klassen um 10000 M.
und Berechnung einer Betriebsanlage von
jeweils 3V2 vom Hundert des Betrages, mit
welchen die vorhergehende Klasse endet,
festgesetzt. Die Ertragsbesteuerung ist so-
hiu zwischen ^U und 2^9% des Ertragsan-
schlages zu bemessen. Den Steuererleichte-
rungen wurden — nicht bloss vom fiskalischen
sondern auch vom sozialpolitischen Stand-
punkte aus — wieder Steuererhöhungen
durch Mehrbelastung der gi^össeren gewerb-
lichen Anstalten, Grossindustrieen, Fabriken,
Banken, Filialen, Warenhäusern, Flaschenbier-
handlungen gegenübergestellt. Bei der Wein-
besteueruDg wurde eine schärfere Kellerkon-
trolle eingeführt, eine Umsatzsteuer von kapi-
talistischen Unternehmungen geschaffen, die
Befugnisse der Steuerausschüsse zur &he-
bung der Steuergrundlagen erweitert und die
Strafbestimmungen verschärft Die schwie-
rige Frage der Steuerausscheidung bei Betrieb
eines Gewerbes oder verschiedener von einer
Person betriebenen Gewerbe und danach auch
die Gemeindeumlagenveranlagung wurde da-
hin zu regeln versucht, dass die Bemessung
der Betriebsanlage für das Gesamtgewerbe in
derjenigen Gemeinde vorzunehmen ist, in
welcher die Geschäftsleitung iliren Sitz oder
der Stellvertreter seinen Wohnsitz hat. So-
fern nicht Vereinbanmgen der betreffenden.
Gemeinden und Steuerpflichtigen erfolgen,
hat die Ausscheidung nach dem Umfange
des Betriebes in den einzelnen Gemeinden
und den Ertragsanteilen oder, soweit diese
nicht möglich ist, nach den Verhältnissen
der in jeder einzelnen Gemeinde in dem Ge-
werbe beschäftigten Gehilfen und Arbeiter
zu erfolgen. Ein Hauptvorzug der neuen
Gesetzgebung besteht aber in der Befugnis
des Rentamtes, bis 15 M. Steuer ohne Aus-
schuss einzusteuem, sowie darin, dass in
dem Steuerausschusse der ersten Instanz
den Vorsitz in Zukunft ein bürgerliches Mit-
glied, nicht mehr der Verwaltungsbeamte
führt, endlich in der Schaffung einer dritten
Instanz, indem gegen die Feststellungen der
Berufimgskommission eine Beschwerde an
die beim Staatsministerium der Finanzen
gebildeten Oberberufungskommission offen
gelassen wird. Diese Oberberufungskom-
mission setzt sich zusammen aus einem vom
Finanzministerium zu ernennenden Vor-
sitzenden, vier ständigen Mitgliedern, von
Gewerbesteuer
545
welchen zwei durch das Ministerium des
Innern, darunter ein Mitglied des Verwal-
tungsgerichtshofes, imd zwei vom Finanz-
ministerium ernannt werden, und zwei nicht-
ständigen durch die Landräte in jedem Re-
glerungsbezirke zu wählenden bürgerlichen
eisitzem. Diese dritte Instanz ist keine
Berufimgs-, sondern Revisiousinstanz zur Ent-
scheidung von Rechtsfragen. üeber die
finanzielle Wirkung der Gesetzesrevision
liegen keinerlei bestimmte Anhaltspunkte
vor, doch darf angenommen werden, dass
der Steuerertrag keine Abminderung erfahren
wird.
Für die Bergwerke war nach dem G.
V. 6. April 1869 nicht das Gewerbesteuer-,
sondern das Einkommensteuergesetz mass-
gebend ; nach den revidierten Steuergesetzen
sind sie der Gewerbesteuer unterworfen.
6. Württemberg. Württemberg hatte
frülier ebenfalls direkte Steuern aus dem
Vermögensbesitze und Ei-werb (alte Bede,
Landschaden, Schatzvmgen, Umgelder). Im
Jahre 1713 wiude die Vermögenssteuer auf
neue Kataster gegründet, Kopfsteuern damit
verbunden, ümgeld und Acdsen bedeutend
gesteigert. Erst in den Jahren 1808, 1817,
1820 und 1821 trat auch hier eine Reform
der direkten Steuern ein. Das G. v. 15.
Juli 1821 führte ein zweigruppiges Ertrags-
steuersystem ein. Einerseits die Realsteuern :
Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuern, mit
Kontingentierung und Quotenverteilung auf
diese drei Steuern noch ^^/äo, '^/w, ^/w; an-
dererseits Zusatzsteuern zur Deckung des
Staatsbedarfes: Besteuerung der Kapitalien,
GrundgefäJle, Renten, Besoldungen, Apa-
nagen. Letztere Gruppe wurde durch die
GG. V. 19. September 1852 und 13. Juni
18S3 in eine Kapitalrenten- und partielle
Einkommensteuer umgewandelt , worunter
auch der Erwerb von liberalen und einigen
Berufen (Arbeiter) fällt, die unter keiner
anderen Steuer stehen. Die erste Gruppe,
die Real- oder Ertragssteuer, wurde durch
das Q. V. 28. April 1873 neu reguliert.
Die Gewerbesteuer wird nach diesen Ge-
setzen nach zwei objektiven Merkmalen be-
messen: nach dem persönlichen Arbeitsver-
dienste und nach dem Ertrage. Unterworfen
sind ihr »alle im Lande betriebenen Ge-
werbe« einschliesslich Bergwerke und Mine-
ralbrunnen. Der persönliche Arbeitsverdienst
wird eingeschätzt nach einer Klassentafel,
wobei die Betriebsweise, die Anzahl der
Gehüfen und Höhe des Betriebskapitales
massgebend ist. Als steuerbarer Betrag
kommt in Ansatz bis zu 850 M. des ge-
scliätzten Betrages Vio, von 850 — 1700 M.
2/10, 1700—2550 Vio, 2550—3400 M. »/lo,
erst über 3400 M. wird der volle Betrag
des Ertrages angesetzt. Betriebsvennögen
unter 700 M. ist steuerfrei, Schulden dürfen
Handwörterbuch der Staatswifisenschaften. Zweite
nicht in Abzug gebracht werden. Zur Be-
rechnung des Arbeitsverdienstes sind detail-
lierte Vorschriften gegeben. Auch die
Grösse der Betriebsorte übt Einfluss nach
den Ortsklassen. Für die mit Vermögen
über 700 M. betriebenen Gewerbe steigt der
Arbeitsverdienst nach Massgabe der GeMlfen-
zahl und des Betriebsvermögens. Ebenso
bei Handelsgeschäften. Das Betriebsvermögen
selbst ist im Reinertrage einzuschätzen, wo-
für wieder 66 Klassen mit 700 M. beginnend
und mit 200000 M. endigend bestehen.
Auch die Umsatzgeschwindigkeit ist zu be-
rücksichtigen. Der Steuerfuss, nach welchem
die Steuer aus dem eingeschätzten Arbeits-
verdienste und Vermögensertrage berechnet
werden soU, wird durch das jeweilige Finanz-
gesetz festgesetzt. Der Gewerbetreibende
hat die Bemessungsmerkmale zu fatieren.
Die Einschätzung wird durch Bezirkssteuer-
kommissionen vorgenommen, zu denen die
Amtsversammlung zwölf sachverständige
Männer vorschlägt, die Katasterkommission
drei Bezirksschätzer ernennt, wozu noch ein
vom Gemeinderate gewählter Ortsschätzer
kommt Geschäftsbücher werden nicht zur
Einsicht verlangt. Gegen die Festsetzung
der Einsteuerkommission steht Berufung zur
Katasterkommission zu, von da zum Finanz-
ministerium. Es kann eine neue Schätzung
angeordnet werden, welche die Steuerkom-
mission wieder vorzunehmen hat. In dem
Falle wird sie um zwei Mitglieder verstärkt,
deren eines der Steuerkommissär, das andere
der Beschwerdeführer wählt.
Die Gewerbesteuer Württembergs ist eine
sehr komplizierte Katastralertragssteuer,
welche mit den beiden anderen Ertrags-
steuern periodisch kontingiert wird. Von
dem ausgeworfenen Gesamterträge muss die
Grundsteuer ^-^24 und die Gebäude- und
Gewerbesteuer zusanmien ^V48 Quote ab-
werfen.
Die Besteuerung des Hausierhandels, der
Wanderlager und Musterreisenden ist durch
die GG. v. 1. und 30. Juli 1877 besonders
geordnet. Eine allgemeine Personaleinkom-
mensteuer besteht hier neben der Gewerbe-
steuer nicht
Seit dem Jahre 1895 steht auch in Würt-
temberg die Einfühnmg einer aDgemeinen
Einkommensteuer und Reform aller direkten
Steuern in gesetzgeberischer Erwägung.
Vgl. den Artikel Einkommensteuer
oben Bd. III S. 414 ff.
7. Baden. In Baden begann eine syste-
matische Steuerreform mit Bildung des
jetzigen Grossherzogtums. Seit dem Jahre
1815 entwickelte sich ein Ertragssteuer-
system mit Grundsteuer, Häuseräteuer, Kapi-
talrentenstouer, Gewerbesteuer (Ordn. v. 6.
April 1815, revidiert v. 23. März 1854) und
eine Klassensteuer (G. v. 1820 und 10. Juli
Auflage. IV. 35
546
Gewerbesteuer
1837), welche im wesentlichen eine spedelle
Einkommensteuer von Besoldungen, Pen-
sionen, Erwerb anderer nicht im Dienstver-
hältnisse ausgeübter liberaler Berufe war,
dann noch eine Bergsteuer (G. v. 14. Mai
1828). — Im Jahre 1876 (G. v. 25. August
1876) wurden die Gewerbs- und Klassen-
steuem in eine einzige »Erwerbssteuer« ver-
einigt. Diese Steuer beruhte auf dem Ge-
dfmken, dass der Gewerbsertrag sich in
den persönlichen Verdienst für die zum
Geschäft verwendete Zeit und Kraft imd in
den Ertrag des Geschäftskapitales zerlegen
lasse. Sie stellt sich als Komplikation einer
Gewerbssteuer von landwirtschaftlichem und
sonstigem Geschäftsgewinn mit der Besteue-
rung des Lohn-, Dienst- und Bedarfsein-
kommens dar. Dienstboten unter 300 M.
bleiben frei; Die Einschätzung geschah auf
Grund von Fassionen im Zusammenwirken
des Steuerfiskales, der Ortssteuerkommission,
des Schätzungsrates und der Steuerbehörde
(Steuerdirektion).
Im Jahre 1884 wurde hier eine allge-
meine progressive Einkommensteuer einge-
führt (G. V. 20. Juni 1884 s. oben Bd. HI
S. 403 ff.) und damit eine völlige Umwälzung
des Steuersystems vorgenommen.
Die Gewerbesteuer — welche speciell
durch G. v. 26. April 1886 neu geordnet
wurde — bildet nunmehr eine Ergänzungs-
steuer zur Einkommensteuer. Die Gewerbe-
steuer sollte nur noch das fundierte, die
Einkommensteuer das unfundierte Vermögen
treffen. Den .Massstab für die Gewerbe-
steuer bildet nicht der Ertrag des Gewerbes,
sondern der des Betriebsvermögens, und weil
sich dieser Ertrag in der Trennung vom Ar-
beitsertrage schwer ermitteln lässt, nur das
Betriebsvermögen selbst. Die Bestimmungen
über Ermittelung dieses Betriebsvermögens
sind wörtHch jenen in Württemberg nach-
gebildet, nur dass am Betrage des Geldes,
der Wertpapiere imd Forderungen die Ge-
achäftsschulden in Abzug gebracht werden
dürfen. Die ermittelte Grösse des Betriebs-
kapitales bildet das Steuerkapital selbst.
Kleine Vermögen imter 700 M. bleiben
stenei-frei. Die Erträge der Aktienunter-
nehmungen unterliegen der zwei- bezw. vier-
fachen Besteuerung, nämlich bei der Gesell-
schaft der Einkommen- und Gewerbesteuer
und beim Aktionär der Einkommen- und
Kapitalrentensteuer.
Die Veranlagung geschieht ähnlich wie
in Württemberg. Der Steuerpflichtige hat
zu fatieren; der St<?uerperäquator prüft die
Selbstfassion und legt sie dem Schätzungs-
rate vor. Dieser besteht aus dem Bürger-
meister und 3 — 7 auf Vernehmung des
Peräquators und dos (temeinderates vom
Bezii'ksamte gewählten Gewerbetreibenden
der Gemeinde, (iegen die Schätzung stellt
dem Pflichtijgen und dem Peräquator Bern*
fung zur Finanzdirektion und von da zum
Verwaltungsgerichtshofe zu. Der Schätzungs-
rat kann Sachverständig vernehmen, Ge-
werbseinrichtimgen inspizieren, aber keine
Geschäftsbücher einsehen. Das Finanzminis-
terium ist jederzeit befugt, den Schätzungs-
rat aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen.
Periodische Neueinrichtungen finden nicht
statt, der Schätzungsrat hat aber die älteren
EinSteuerungen jährlich zu revidieren.
Auch die Besteuerimg der Wander-
lager und des Gewerbebetriebes im um»
herziehen ist durch das G. v. 26. April
1886 ^sondert geregelt. Dem Hausieren
ist gleichgestellt das (Jewerbsuntemehmen,
das den Betrieb einer ausserhalb des Reichs-
gebietes begründeten Erwerbsuntemeh-
mung auf das badische Gebiet ausdehnt.
Zur Zeit ist die Verwandlung der Ge-
werbesteuer zu einem Faktor der allgemeinen
Vermögenssteuer im Gange.
8. Hessen. Gleichzeitig mit Baden,
nämlich durch G. v. 8. Juli 1884, wm^le
auch in Hessen eine gründliche Beform der
Steuern vorgenommen. Während biBher die
direkten Steuern in Grund-, Gebäude-, Ge-
werbe-, Kapitalrenten- xmd Einkommen-
steuern allein bestanden (im vorigen Jahr*
hundert waren auch in Hessen sämtliche
Steuern in den alten Vermögens- imd Ein-
kommensteuern aufgegangen), sollte in Zu-
kunft die Gewerbesteuer mehr eine Ergän-
zungssteuer zur Einkommensteuer vom so-
genannten fundierten Einkommen bilden.
Den Massstab der Steuern büdete aber
nicht wie in Baden der Ertrag des Betriebs-
vermögens, sondern ein Gewerbesteuerkapital,
das aus einem fixen Steuerkapital imd einem
Zusatz nach Massgabe vom Kennzeichen des
Betriebsiunsatzes besteht. Das fixe Steuer-
kapital bemass sich wieder nach der Be-
deutendheit des Gewerbes mit Rücksicht
auf die Grösse des Betriebsortes und ist in
einer Klassentafel in 7 Kapitalklassen abge-
teilt.. Der Steuerfiiss war im Finanzgesetze
festgesetzt. Jeder Steuerpflichtige musstesich
jährlich ein Patent lösen, wofür 40 Pf. Stempel-
gebühr festgesetzt sind, auf welchem die
Art des Gewerbes angegeben sein muss.
Das Steuerkapital setzte eine Steuerkom-
mission fest, welche aus dem Bezirks-
steuerkommissär und drei vom Gemeinderat
gewählten Mitgliedern bestand. Gegen den
Beschluss der Steuerkommission stand Be-
rufung zur Einkommensteuerkommission und
von da zur Ministerialabteilung für Stouer-
wesen, gegen deren Entscheidung Reklama-
tion zum Finanzministerium gegeben war.
Die Steuer muss für das ganze Jahr ent-
richtet werden, nur im Todesfall kann das
Finanzministerium Nachlass gewähren. Schul-
den werden hier nicht berücksichtigt, Aktieur
Grewerbesteuer
547
isellschaften werden auch hier wie in
iden zwei- bezw. vierfach besteuert.
Eine Ergänzungssteuer bildet die Ein-
kommensteuer infolge des G. v/25. Juni 1895,
wonach auch das l^nkommen aus Handel
und Gewerbe von 2600 M. Ertrag an
progressiv der Mnkommensteuer unterworfen
ist. Die Gewerbe-, Kapitalrenten- imd Grund-
steuer djurf bei der Deklaration abgezogen
werden. Einsicht der Urkunden und Handels-
bücher und sogar Auflegen zur Erklärung
an Eidesstatt ist vorgesehen. Die Entschei-
dung steht in letzter Instanz dem obersten
Verwaltungsgericht zu.
Das Einkommensteuergesetz vom Jahre
1895 wurde sodann durch das Gesetz vom
12. August 1899 verschiedenen Abänderungen
unterworfen.
Durch ein Gesetz vom gleichen Tage
(12. August 1899), »die Vermögenssteuer
betr.«, wurden die Grund-, Gewerbe- und
KapitaLrentensteuer als Staatssteuern aufge-
hoben, dagegen eine Vermögenssteuer
als Ergänzungssteuer zur allgemeinen Ein-
kommensteuer eingeführt. Die Veranlagung
des gewerblichen Kapitals erfolgt in Zukunft
im Wege der Schätzung durch die Veran-
lagungskommission, doch haben die Betriebs-
unternehmer zum ersten Male schriftliche
Erkläning abzugeben. Als gemeiner Wert
gilt der Verkaufswert des Unternehmens,
dem Betriebskapitale werden Wasserkräfte,
Maschinen, Warenvorräte, Fahrnis, Geld, Be-
rechtigimgen u. s. w. zugerechnet. Jeder Ge-
werbetreibende mußs sich einen Gewerbe-
schein lösen und jedes Jahr erneuem lassen.
Die Steuer ist nach Steuerklassen und festen
Steuersätzen (etwas über 1/2 Mark vom Tau-
send) geregelt, jedoch bestimmt, dass im
Finanzgesetz auszusprechen ist, ob diese
Sätze erhoben, erhöht oder ermässigt werden
sollen. Das Veranlagungsverfahren richtet
sich nach den Bestimmungen des Gesetzes
über die allgemeine Einkommensteuer mit
drei Instanzen : Veranlagungskoinmission,
Landeskommission und Verwaltungsgerichts-
hof.
9. Sachsen. In den sächsischen Landen
lassen sich ausserordentliche Beden bis ins
12. Jahrhundert nachweisen. Das Land be-
zahlte diese »Landbede« hauptsächlich vom
Grundbesitz, die Städte übernahmen jähr-
liche »Jahrrenten«. Im Jahre 1438 bewil-
ligte die allgemeine Landesversammlung zu
Leipzig zur Bezahlung der landesherrlichen
Schulden eine allgemeine Verkaufsabgabe
»Zise«, nach welcher die Verkäufer bei
jedem Kairfgeschlrfte von gewissen benannten
Waren den Betrag von 1/30, wenn sie Inländer,
und V20, wenn sie fremde Kaufleute waren,
bezahlen mussten. Steuerpflichtig waren
Getränke, Getreide, Feld- und Gartenfrüchte,
alle Erzeugnisse und Arbeitsstoffe der Hand-
werker, Geldgeschäfte etc. Adel, Geistlich-
keit und das von Bürgern im Weichbild ge-
wonnene Getreide war steuerfrei. Hieraus
entwickelten sich später eigentliche Ver-
brauchssteuern , Umgelder, Tränkesteuem
(1470, 1480, 1502); woraus wieder im Jahre
1707 ein allgemeines Accisesystem zur Aus-
bildung gelangte. Nebenbei wurden ftir
ausserordentliche Bedürfnisse allgemein Ver-
mögenssteuern von allen nutzbaren Ver-
mögen z. B. mit 1% von der Ritterschaft^
1^/2^/0 von Städten, Prälaten, bäuerlichen
Unterthanen (1592), später eine allgemeine
Vermögens- und Einkommensteuer, unter
dem Namen »Schocksteuer« (bestimmte
Pfennigquote vom Schock Groschen) einge-
führt, welche als allgemeine Landsteuer
dann neben der Tränkesteuer bestehen blieb.
Im laufenden Jahrhundert waren die
älteren direkten Steuern in eine Grundsteuer
(GG. vom Jahre 1834 und 1843) mit um-
fassender Ertragskatastrienmg, zugleich Ge-
bäudesteuer für Wohn- und Industriegebäude,
und eine Gewerbs- und Personalsteuer (GG.
v. 1834 und 1845) geteilt Die Gewerbs-
steuer war eine Ertiagssteuer, die Personal-
steuer Einkommensteuer mit Deklarations-
pfiicht und begrenzt progressivem Steuer-
fiiss. Bald begann aber hier in erster Linie
der Interessenkampf zwischen Stadt imd
Land, Industrie und Landwirtschaft Kapital
und Arbeit.
Mit G. V. 22. Dezember 1874 ward die
allgemeine Einkommensteuer eingeführt. (S.
oben Bd. III S. 402). Behufs Erzielung
einer Einkommensteuerstatistik und Ein-
schätzung wurde das Land in 978 Bezirke
geteilt 9876 Personen wirkten teils unter
Vorsitz der 17 Steuerinspektoren, teils als
freiwillige Stellvertreter bei der Einschätzung
mit. Hauptsächhch der geringe Ertrag ver-
anlasste im Jahre 1877 eine neue Ein-
schätzung.
Am 2. Juli 1878 wurde ein neues Ein-
kommensteuergesetz, am 3. Juli ein Gesetz
über die direkten Steuern überhaupt einge-
führt und die bisherigen Gewerbe- und
Personalsteuem aufgehoben, die Gnmd-
steuer sehr ermässigt (von 9 auf 4^/o Nor-
malsatz).
Als Steuerobjekte sind nach dem allge-
meinen Einkommensteuergesetz zu betrachten:
A. Verpachtungen von Gmndstücken; Ver-
mietung von Gebäuden, Betrieb der Forst-
und Ijandwirtschaft auf eigenen Grund-
stücken; B. Kapitalzinsen, Renten, Aktien-
oder Kuxdividenden, Naturalgefälle, C. Lohn
und Gehalt, Pension und Wartegeld, D. Handel,
Gewerbe, einschliesslich des Betriebes der
Landwirtschaft auf fremden Grundstücken
und jede andere Gewerbsthätigkeit. Die
Zinsen der in Handel und Gewerbe ange-
legten Kapitalien sind zu den Einkünften
35*
548
Gewerbesteuer
aus dem Handel und Gfewerbebetriebe zu
i'echnen. Die Deklaration hat nach diesen
Merkmalen zu erfolgen. Einkommen unter
300 M. sind steuerfrei, die Einkommen über
300 M. unterliegen einer Steuer, welche in
mehr als 200 verschiedenen Klassen pro-
gressiv steigt. Der Steuerfuss beginnt mit
1/4 o/o und erreicht bei 1400 M: l^/o, bei
3700 M. 2, bei 7200 M. 2V2O/0 und von da
ab 30/0, als Maximalsatz. Einkommen der
Ehefrauen und Kinder über 300 M. werden
zur Besteuerung herangezogen. Der Rein-
gewinn für Handel und Gewerbebetrieb ist
nach den Grundsätzen zu berechnen, wie
solche für Inventur und Bilanz vom Han-
delsgesetzbuch für den Kaufmann vorge-
schrieben sind. Insbesondere gilt dies vom
Zuwachsen, der Abnutzung des Anlagekapi-
tals, Forderungen, Schulden und Zinsen.
Das G. V. 2. Juli 1878 ist durch das G.
V. 13. Mäi-z 1895 in einigen Punkten ver-
schiedenen Aendenmgen unterworfen wor-
den.
Der Gewerbebetrieb im Umherziehen
und die Wanderlager sind mit den GG. v.
1. Juli 1878 und 1. Dezember 1878 mit
einer weiteren direkten Steuer belegt.
10. Elsass-Lothringen. In Elsass-
Lothringen gelten die französischen GG. v.
25. Apnl 1844, die Patentsteuer betr., mit
den Revisionen v. 18. Mai 1850, 4. Juli 1854,
13. Mai 1863 und 2. August 1868. Letztere
Revisionsgesetze enthalten Veränderungen
der die Patente treffenden Tarife und Ta-
bellen. Der Patentsteuer sind alle Gewerbe-
betriebe, Aerzte, Architekten, Advokaten und
sonstig freie Berufsarten unterworfen, so-
fern sie nicht ausgenommen sind, was wie-
der kasuistisch geschieht. Dann weiter sind
befreit Fischer, Verkäufer von Esswaren und
Blumen, kleine Handwerker ohne Gehilfen.
Die Veranlagung geschieht mit einer festen
Anlage nach Ortsklassen und innerhalb der-
selben wieder nach einem Tarif und einer
SroportioneUen (Betriebs-) Anlage nach dem
[ietwert der Wohnungen und industriellen
Etablissements. Die Einsteuerung wird von
den Kontrolleuren unter Mitwirkung der
Bürgermeisterei vorgenommen.
Durch G. V. 6. März 1893 wiurde die
Gewerbesteuereinschätzung einer Revision
unterzogen, der Steuerertrag in 20 Klassen ein-
geteilt und das Verfahren geregelt. Einsteuer-
organe sind: Kreis- und Bezirkskommis-
sionen, Revisionskommissionen und Kommis-
sion der Landeseinschätzer. Die Reform er-
hielt ihren Abschluss durch das G. v. 8.
Juni 1896, welches in 22 Steuerstufen die
Ertragsfähigkeit des Gewerbes der Steuer
zu Grunde legt.
B. Oesterreich-Ungam.
11 • Oesterreiehisclie Monarchie« a) £ i n •
leitnn^. In den österreichischen Landen ha-
ben sich ebenfalls Umgelder, Tranksteuern.
Schanksteuern , Zapfeninasse als laudesfQrst-
liche Steuern schon seit dem 14. Jahrhundert
eingebürgert. Die Türkensteuern waren klassi-
fizierte Emkommen-, Personal- und Vermögfens-
steuern, so wurden nach der ausserordentlichen
Türkensteuer vom Jahre lö23 Zehnten, Bürger-
rechte, Waren, Güter, liegendes Geld, Besol-
dungen von lOO fl. mit ^i^ fl., 50 fl. 2 Schill
und 25 fl. 1 Schill. Steuer belegt, die Stände
(Adel, Geistliche, Doktoren) zahlten je nach
dem Einkommen von 25—1000 fl. V« Schill, bis
1 fl. , Bauern in denselben Wertklassen vom
Besitze die Hälfte, Handwerker und nicht ge-
sessene Knechte 12 Kr. per Kopf u. s. w. In
Böhmen bestand seit 1525 eine allgemeine
Vermögenssteuer, daneben als weitere direkte
Steuer die „Sammlung" (zbirka) mit festen
Steuersätzen für einzelne Klassen Gewerbetrei-
bender, dann Laden-, Mühl- nnd Getreidesteuer
(1595). In Schlesien bestanden neben den
direkten Steuern die Schätzung, die Zölle, die
Biersteuer und die Verbrauchssteuern.
Im 17. Jahrhundert bilden die Grenzsteine
der Steuerreform: die Grundsteuerreform unter
Karl VI. im Mailändischen (centesimo milanese
— Ursprung der Katastralgrundsteuer — ), die
Stenerrektinkationen unter Maria Theresia und
die Josefinische Steuerreform in deutschen Län-
dern. Die in den Jahren 1748 - 1756 vorge-
nommenen theresianischen Steuerrektifikationen
wollten den gesamten Grund und Boden, die
Nutzungen, Gefälle, Gewerbe und Industrie-
zweige mit dem Ertrag; des Vorrates und Ge-
winnes nach zehnjähngem Durchschnitte in
einem geordneten KJassensysteme mit fester
Steuer belegen. Auch die josefinische Reform
drehte sich hauptsächlich um die Grundsteuer
(contributionj als die Hauptsteuer, welche je-
doch nicht bloss Grundsteuer war, daneben
wurde aber das System der Vermögenssteuern,
nach Kopf-, Standes-, Klassen- und Einkommen-
besteuerung, als ausserordentlicher Steuern sehr
ausgebildet. So trafen die Kopf- und Standes-
steuem vom Jahre 1690, 1746, 1758, 1769 die
Wechsler in den Städten mit 75 fl., Taglöhner
12 fl., Beamte 15 fl., Banuntemehmer 4 fl ; die
Klassensteuem von 1763, 1799, 1801 u. s. f.
belegten Gewerbsleute, Dienstboten, Taglöhner,
nach Berufs-, Betriebsumfangs- und Ortsklassen
mit verschiedenen Sätzen. Erst im Jahre 1812
trat in der Erwerbssteuer (Patent v. 31. De-
zember 1812) eine selbständige direkte Steuer
vom Gewerbebetriebe auf.
Als indirekte Steuern erscheinen Zölle,
Mauthen, Aufschläge, Monopole (Salz, Pulver,
Salpeter, Tabak, Lotto).
b) Geltendes Recht. Nach den Pa-
tenten v. 31. Dezember 1812 — der Grund-
lage der heutigen Gewerbebesteuerung —
sollte der Erwerb aus dem Gewerbe. Handel
und der Personalbeschäftigimg nach objek-
tiven, nicht subjektiven Merkmalen der &-
tragsfähigkeit, nicht des wirklichen persön-
lichen Einkommens, getroffen werden. In
dem Tarif sind die Merkmale der Gattung
der Beschäftigung und der Bevölkerungszahl
des Betriebsortes aufgenommen und danach
Gewerbesteuer
549
sind Beschäftigungsabteiliiiigen und Orts-
stufen gebildet. Die Berufsarten sind in
vier Klassen geteilt In die erste J^lasse
gehören die Fabrikanten und Grosshändler,
in die zweite die Handelsleute, Unternehmer
mit landwirtschaftliehen oder rohen Pro-
dukten, in die dritte die Käufer und Ge-
werbsleute, in die vierte Klasse die Per-
sonen, deren Erwerb sich auf eine Dienst-
leistimg gründet: Notare, Advokaten, Con-
suln, Geschäftsvermittler, ferner die Fuhr-
leute, Lohnkutscher. Die Zahl der Be-
freiungen ist ziemlich gross; sie wurden
durch spätere Dekrete v. 28. Mai 1813, 11.
Mai 1834 noch ei'weitert, hauptsächlich mit
Rücksicht auf das Existenzminimum und
auf die durch Einfühnmg der Einkommen-
steuer bedingte Doppelbesteuenmg, so land-
wirtschaftliche Industrie, Knechte, Gesellen,
welche nur soviel verdienen, dass sie leben
können, Tagelöhner, Arbeiter, Beamte im
Dienste des Staates oder einer vom Staate
anerkannten öffentlichen Korpomtion, Schrift-
steller, Künstler, Aerzte, Professoren, Lehrer,
Tabakverschleisser, Bergwerke, Lotteriekol-
lekteure, Bieressigerzeugimg, wenn sie von
den Brauern selbst vorgenommen wird, u. a.
Bei Bemessung des Steuersatzes sollte ein
3prozentiger Satz vom Ertrag angenommen
werden, da aber bezüglich der Fassionen
und Kontrolle sich imüberwindliche Schwie-
rigkeiten darboten, so wurde füi- die ver-
schiedenen Arten der Beschäftigung ein
wahrscheinliches mittleres Minimum und
Maximum des reinen Einkoramens ange-
nommen und danach die Steuer bemessen.
Die vier Hauptklassen wurden nach der
Skala wieder in verschiedene Klassen einge-
teilt und zwar die 1. Hauptklasse in 8
bezw. 5 Klassen nach dem Ertrage ohne
Rücksicht auf Einwohnerzahl oder Betriebs-
art, n. Klasse in 4 Unterabteilungen (A — D)
nach den verechiedenen Städten und Orten,
jede Unterabteilung wurde in verschiedene
Klassen zerlegt, nach dem Betriebsumfange,
die ni. Abteilung zerfiel seit 1823 ebenfalls
in 4 Ortskiassen mit 4 — 8 Unterklassen,
In der IV. Abteilung ei-schienen nicht bloss
wieder die 4 Ortsklassen, sondern die Dienst-
leistungen sind geteilt in solche a) zum
Unterrichten, b) zur Geschäftsvermittelung,
c) zur Beförderung von Personen, und jede
dieser Abteilungen zerfällt wieder nach den
4 Ortsklassen in Unterklassen mit festen
Sätzen. Die Einrichtung der einzelnen
steuerpflichtigen Unternehmungen richtet
sich nach Merkmalen, welche das Gesetz
zwar bezeichnet, aber der Tarif nicht aufge-
nommen hat, vielmehr der Wahl und Wür-
digung der Steuerbehörden überlässt, deren
Hauptaufgabe darin besteht, eine möglichste
Uebereinstimmung zwischen den Unterneh-
mungen mit gleichartigen Betriebsverhält-
nissen herbeizuführen (Dekret v. 14. Januar
1813).
Zu den festen Steuersätzen derKlassen-
unterabteüungen kommt seit 1859 (V. v. 13.
Mai 1859) ein im jährlichen Finanzgesetze
festgesteUier ausserordentlicher Zuschlag in
Form von Prozenten, der gegenwärtig die
Höhe des Ordinariums beträgt, so dass die
Steuer doppelt so hoch ist, als sie in dem
Steuergesetze festgestellt war. Mit Einfüh-
rung der Erwerbssteuer wurde eine genaue
Katastrierung angeordnet. Sie erfolgte und
erfolgt auf Gnmd des Deklarationszwanges,
der genaue Angaben in den vorgeschriebenen
Rubriken sogar unter eidlicher Versicherung
verlangt. Die Yeranlagimg selbst ist bureau-
kratisch, d. h. sie geschieht durch die Steuer-
behörden unter gutachtlicher Mitwirkung
der Gemeindebehörden (Steuerbemessungs-
behörde I. Instanz — Bezirkshauptmann-
schaft, denen ein Steuerinspektor als Refe-
rent zugeteilt ist, Steuerlokalkommissionen
in verschiedenen Provinzialstädten, Steuer-
administration unter Leitung eines höheren
Finanzbeamten in Wien, Prag, Lemberg,
Brunn, Graz, Triest — ). Nach erfolgter
Bemessung erhält jeder Pflichtige einen Er-
werbssteuerschein. Da dieses Patent nur
auf 3 Jahre ausgestellt wurde, musste der
Erwerbssteuerkataster alle 3 Jahre einer
Revision unterstellt werden. Im Jahre 1832
wurde die Triannalbemessung aufgehoben,
und seitdem wird die Schuldigkeit durch
Zuwachs- und Abfallstabelle in Evidenz ge-
halten. Gegen die Festsetzung der Steuer-
bemessungsbehörde steht Rekurs zur Finanz-
landesbehörde (Finanzlandesdirektionen in
den einzelnen Kronländern) zu. Die Er-
höhungen werden dem Pflichtigen seit 1832
durch besonderes Dekret mitgeteilt, wogegen
ebenfalls ein Rekurs zur Finanzlandesbehörde
wie bei Steuerbemessungen zusteht.
Die österreichische Erw^erbssteuer wurde
mit Patent v. 31. Dezember 1812 in Oester-
reich, Steiermark, Klagenfurt, Böhmen,
Mähren, Schlesien, Galizien und Bukowina,
im Jahre 1815 in Krain, Villach und den
Küstenländern, 1817 in Tirol und Vorarl-
berg, 1815 in Salzburg und Innkreis und
1852 in Krakau und Dalmatien eingeführt.
Neben der Erwerbssteuer bestanden noch
als Ertragssteuer: die (rrundsteuer und die
Gebäudesteuer, dazu bis 1829 eine Personal-
steuer und in einzelnen Pi-ovinzen eine
Judensteuer.
Im Jahre 1849 erfolgte eine durchgrei-
fende Reform aller direkten Steuern mit
Einführung der sixjciellen Einkommensteuer
(G. V. 29. Oktober 1849). Seitdem werden
die konzessionierten Beschäftigungen und
Unternehmungen in Oesterroich nach zwei
Systemen besteuert: 1) mit der Erwerbs-
steuer nach der Ertragsfähigkeit bis zu
550
Gewerbesteuer
einem MAximalsteuersatz, 2) mit der Ein-
kommensteuer nach dem wirklichen Ertrage
ohne Maximalsatz. Die untersten Erwerbs-
steueiklassen sind von der Einkommensteuer
frei; sonst wird von der Steuer des wirk-
liehen Ertrages die Erwerbssteuer abge-
rechnet und nur der restige Teil als Ein-
kommensteuer vorgeschrieben- Die Erwerbs-
gattungen, welche der Erwerbssteuer unter-
liegen, fallen einschliesslich des Einkommens
aus Berg- imd Hüttenbetrieb imd Pachtungs-
gewinn in die 1. Klasse des Einkommen-
steuergebietes. Das Mass der Einkommen-
steuer bildet für diese Klasse 5 ®/o des Ein-
kommens ordentliche Grebühr, wozu noch
das Extraordinarium mit ^/s der oMentlichen
Gebühr kommt. Seit dem Jahre 1869 be-
trägt die Gesamtgebühr lO^/o des Einkom-
mens. Die Handel- und Gewerbetreibenden
sind berechtigt, bei Auszahlung der Zinsen
ihrer Geschäftsschulden im ganzen diese
10*^/0 ihren Gläubigern in Abzug zu bringen.
Der Hausierhandel ist nach § 16 des
Erwerbssteuerpatentes insofern besonders be-
steuert, dass Hausierer nicht nach der all-
gemeinen Regel die Erwerbssteuern in zwei
Semestralraten , sondern den ganzjährigen
Betrag auf einmal im voraus zu bezahlen
haben und dass sie nach den Bestimmungen
für Provinzialliauptstädte zu klavssifizieren
sind. Die Erteilung der Hausierpatente ist
in den Entscliliessungen v. 4. September
1852 und 23. Dezember 1881 geregelt.
Durch das G. v. 25. Oktober 1896, »die
direkten Personalsteuern betreffend«, wiu:den
<lie direkten Steuern, mit Ausnahme der
Grund- und Gebäudesteuern, einer vollstän-
digen Umwälzung unterworfen, insbesondere
wurde die Gewerbesteuer durch eine »allge-
meine Erwerbssteiier« (§§ 1 — 123) neu regu-
liert. Sie wurde als Repartitionssteuer mit
einem vorläufigen Ertrag von 17 732000 fl.
festgelegt. Die Einsteuerung erfolgt nach
4 Steuerklassen, die Angehörigen jeder
Steuerklasse bilden eine Steuergesellschaft.
Die Veranlagung geschieht durch die imtere
Steuerbehönle auf dem Wege der Reparti-
tion auf Grund von Erwerbssteuererklärungen
in der Regel auf zwei Jahre. Die Vornahme
von Aenderungen im Verhältnisse der von
den einzelnen Steuergesellschaften aufzu-
bringenden Gesellschaftskontingente erfolgt
durch eine Kontingentkonimission unter dem
Voreitze des. Finanzministers mit 26 Mit-
gliedern, welche zur Hälfte vom Finanz-
minister ernannt, zur anderen Hälfte von
den Erwerbssteuerlandeskommissionen unter
Verteilung auf die verschiedenen Kronländer
gewählt wei-den. Die Steuer selbst wird nach
einem Schema, enthaltend die bei der Ver-
anlagimg anzuwendenden Steuei-sätze von 1 f 1.
50 kr. bis 1300 fi., von den Steuerkommis-
sionon festgesetzt, wogegen Beschweixle an
die Finanzlandesbehörde offen steht — Hiei-zu
sind umfangreiche Vollzugs Vorschrif-
ten — auch für die Klassifikation der Unter-
nehmungen und Beschäftigungen — durch
den Finanzminister am 28. Juni 1897 er-
lassen und im Reichsgesetzbiatt 1897 S. 139
bis 321 publiziert worden.
Besondere Vorschriften bestehen noch
(§ 78 des allgemeinen Gesetzes) für die
Hausierer und Wandergewerbe,
welche auch die Handlungsreisenden, welche
nicht im Dienst- und Lohnverhältnisse stehen,
umfasst. Allgemeiner Grundsatz dabei ist,
dass derartige Unternehmungen an jedem
Betriebsorte besonders einzusteuern sind.
12. Ungarn. In Ungarn bestand früher
die sogenannte Dikalsteuer, eine allgemeine
Vermögenssteuer, eigentlich eine Realsteuer.
Die Kontribution, Grundsteuer mit Ver-
mögenssteuer verbunden, wiuxie nach den
Ergebnissen der Konskriptionen auf Grund
der sogenannten Dika verteilt An Stelle
dieser Steuer trat eine Personalerwerbssteuer,
nach welcher alle über 16 Jahre alten Ein-
wohner des Königreichs ohne Unterschied
des Geschlechts je nach der Beschäfti-
gungsart mit einer Steuer von 21 kr. bis
10 fl. belegt winden. Dazu kam gemäss
Einkommensteuerpatents v. 25. April 1850
die in Oesterreich eingeführte specielle Ein-
kommensteuer, welche auf die Länder der
ungarischen Krone ausgedehnt wurde.
Im Jahre 1875 wurde eine durchgreifende
Reform vorgenommen. Es wurde eine all-
gemeine Personalerwerbssteuer (29. Gesetz)
eingeführt. Dieselbe umfasst sämtliche Ein-
kommen in vier Klassen : 1. Klasse : die land-
wirtschaftlichen imd sonstigen Dienstleute
mit einem 40 fl. leicht übersteigenden Monats-
lohn, dann Handwerker und Hausierer.
Befreit sind die Tagelöhner. Die Steuer
beträgt 60 kr. bis 5fl., für Familienoberhäupter
nach Ortschaftsklassen 1 — 12 fl. — 2. Klasse :
für die bereits besteuerten Grund- und
Hausbesitzer, die Oberhäupter der Haus-
kommunionen und die von der Rentensteuer
betroffenen Pei*sonen. Die Steuer beti^ägt
2 — 4 fl., je nachdem die sonstige direkte
Steuer 50 fl. übersteigt. — 3. Klasse : für die
Pächter, Fabrikanten und Gewerbetreibenden,
Handelsleute und Apotheker und die intel-
lektuellen Beschäftigungen (Aerzte, Advo-
katen, Künstler, Lehrer). Die Steuer beträgt
auf Grund des fatierten dreijährigen Durch-
schnittseinkommens nach äusseren Merk-
malen unter Einhaltung von Minimalgrenzen
nach Gewerbe und Miete lO^/o des Ein-
kommens. — 4. Klasse: Besoldungen, Pen-
sionen, Privatgehälter über 40 fl., mit l^/o
bei 500 fl., l>is lO^/o über 6000 fl. Einkom-
men. Bei Trennung des Sitzes des Unter-
nehmei*s vom Standorte des Etablissements
sind 20^/0 am Sitze und 80^/o am Standorte
Gewerbesteuer
551
vorzuschreiben; 70% der Erwerbssteuer
sind als Staatssteuern, 30% als Grundent-
lastungsbeitrag einzuheben.
Ton der Erwerbssteuer sind ausgeschie-
den a) die zu öffentlicher Rechnungslegung
yerpfliditeten Unternehmungen, welche eine
Gesellsdjaftssteuer (1875) mit 10% bikn-
ziertem Reingewinn imd 3V2% des Gnmd-
eigentums der Steuersumme bezahlen. Als
Abzugsposten gelten hier die Passivazinsen
und die dem Reservefonds zur Ergänzung
des abgenutzten Materiales zugewiesenen
Betr%o, b) die Bergwerke (1875), welche
eine ßergwerkssteuer von 7"/o Ordinarium
und 7,98 % Zuschlag, c) Kohlenwerke, welche
5^/o Uixlinarium und 5,60% Zuschlag be-
zahlen, d) das Zinsen- und Rentenein-
kommen, e) geraeinsame österreichisch-unga-
rische rnternehmungen (1870), welche der
Östen*eichischen Steuer unterworfen sind.
Neben der Erwerbssteuer besteht seit
1875 auch der allgemeine Stenerzusclilag,
der für Grundbesitzer den fünffachen, für
Gebäudebesitzer den zehnfachen, für Berg-
bau und zur öffentlichen Rechnungslegung
verpflichtete Unternehmungen den fünf-
fachen, Gewerbe (3. Klasse) den achtfachen,
für Zinsen und Renten den sechsfachen und
bei stehenden Bezügen den zehnfachen Be-
trag der von demselben im Vorjahi-e be-
zahlten Steuer ausmacht.
C. Uebrige Staaten Europas.
13. England. Wie wir oben (S. 538)
gesehen, besitzt England die älteste Perso-
naleinkommenstener, welche von Pitt im
Jahre 1798 eingeführt, nach dem Frieden
von Amiens aufgehoben, schon im Jalu^
1803 wieder eingeführt, 1816 abermals auf-
gehoben und im Jalire 1842 von Robert Peel
abermals eingeführt wui-de, wie sie heute
noch besteht. Es ist dies die »property and
income tax« — Eigentums- und Einkommen-
steuer, wie sie durch Hauptgesetz 5 und 6
Viet. c. 35 des Jalires 1842 (23. Juni) ge-
setzlich festgestellt und im Jahre 1853 auf
Irland ausgedehnt wurde. (Vgl. d. Art. Ein-
kommensteuer in Grossbritannien
und Irland oben Bd. IH S. 429ff.)
Dieses Sj-steni fasst unter Schedula D.
alle Erwerbsformen durch Selbstbekenntnis.
Daneben besteht noch aus dem vorigen Jahr-
himdert die Besteuerung einzelner Gewerbe
unter der Form von Licenses — Kommis-
sionsgebühren — , ohne irgend welche ratio-
nelle Oitlnung, ohne Kataster, ohne Kon-
troUe.
Betrachtet man zuvor die »income tax«^,
60 fallen unter Schedula D. alle Erträgnisse
und Beschäftigungen, die nicht unter die
anderen Schedula fallen, so zwar a) gewerb-
liche und Handelsunternehmungen (trade)
nach dem vollen Durchschnittsertrage der
letzten drei Jahre; neuere Geschäfte von
dem Beginne an. Bleibt der Ertrag des
Steuerjahres unter dem Durchschnitte, so
kann Einsteuenmg nach diesem Müidei*er-
trage oder Rückvergütimg verlangt weinien.
Eine Steuererhöhung im umgekehrten Falle
können die Beamten nicht fordern. Abge-
zogen darf nur werden, was in der Durch-
schnittsperiode (3 Jahre) für Reparaturen
der Gewerbsgebäude, Anschaffimg von Werk-
zeugen, Verluste von uneinbringlichen Posten
ausgegeben wurde. Nicht abgezogen dürfen
werden sonstige Verluste, zurückgezogene
und verwendete Kapitalien, Zinsen, Meliora-
tionen, Ausstände; b) künstlerische imd
wissenschaftliche Berufsarten nach Massgabe
des vorjährigen Ertrages; c) Grunderträg-
nisse von ungewissem jährlichen Ertrage,
die nicht nach Schedula A. besteuert sind,
ebenso Zinsen, die nicht unter Schedula C.
fallen (unter 5 £ jährlich) ; auch Viehhändler,
Milchverkäufer, deren Grund und Boden
zum Halten des Viehes nicht ausi^eicht.
Das Mass der Steuer wird jährlich fest-
gesetzt (3—6 d. per 1 £ oder IVi— 21/20/0).
Die Steuer beruht auf Deklarationspflicht
unter Androhimg von Strafen (50 £) und
unter Gewährung vieler Kontrollmittel für
die Steuerbehörde. Bei dennoch unter-
bliebener Deklaration wird häufig höher ein-
geschätzt und dem Pflichtigen überlassen,
seine Reklamation zu begründen. Rück-
sichten auf die Geheimhaltung der Einkom-
mensverhältnisse haben die Einfühnmg von
Specialkommissären des GenenUsteueiumtes
veranlasst, um nicht die Geschäftstreibenden
von Lokalorganen und Konkurrenten ab-
schätzen zu lassen. Mit diesen können auch
von gi'össeren Häusern »Abfindungen« ver-
abredet werden. Als fiskalische Vertreter
erscheinen die Steueraufseher und Steuer-
inspektoren. Steuerfrei sind nur Stiftung-en,
Gesellschaften und Anstalten für wohlthätige
Zwecke sowie Einkommen unter 150 £*.
Anhaltspunkte für Bemessung des Ertrages
giebt das Gesetz nicht, es muss dies die
Praxis ausgleichen.
Die Steuerfestsetzung geschieht in der
Sitzung des Steuerausschusses — der Beige-
ordneten (additional-commissioners) — welche
für jeden Steuerdistrikt in der Zahl von
2 — 7 Personen gewählt werden. Dieser
Steuerfestsetzung geht aber ein umständ-
liches Verfalu^n voraus. Das Steueramt
schickt jedes Jahr die Fassionslagen aus,
der Einsteuerer bringt die Fassionen in eine
Liste, mit Bezeichnung derjenigen, welche
fatiert haben und welche im besonderen
Verfahi'cn von der Specialkommission ein-
gesteuert sein wollen. Diese Liste geht
zum Steueraufseher (Inspektor), welcher sie
prüft und den Beigeordneten vorlegt.
Die Besclilüsse der Beigeordneten werden
552
Gewerbesteuer
den Generalkommissären vorgelegt, welche
jede BesteueruDg beanstanden und nach
Vernehmung der Beteiligten entscheiden
können. Auch der Steuerinspektor kann an
den GeneraJkommissär appellieren, ebenso
die Pflichtigen. Die Generalkommissäre
können wiederholt Fassionen, Bücherausztige,
Abschlüsse fordern und die Pflichtigen ein-
vernehmen, sogar auf Eid. Doch darf Ein-
sicht fremder Geschäftsbücher selbst nicht
verlangt werden. Die Bescheide der Gene-
ralkommissäre sind inappellabel. Statt an
die Generalkommissäre kann auch an die
beiden für jeden Bezii*k ernannten Special-
kommissäre appelliert werden, welche ent-
weder selbständig und endgültig entscheiden
wie die Generalkommissäre oder unbeschadet
späterer Benifimg den Fall zur Entschei-
dung an das Steueramt ziu*ückgeben.
Neben der Einkommensteuer bestehen
aber, wie bemerkt, als Specialgewerbesteuern
die Lizenzabgaben des Stempelamtes. Sie
betreffen den Beruf der Rechtsanwälte, No-
tare und die verschiedensten Gewerbe. Ihre
Geschichte ist alt, wie oben gezeigt wurde.
Zur Zeit bestehen noch Lizenzabgaben für
Stadtkutscher, Landkutscher, Wirtsteuer,
Eisenbahnen , Branntweinschenken und
Branntweinbrennereien , Apotheker imd
Gärtner, Bierbrauer, Mälzer, Bierhändler,
Malzhändler, Bierwirte, Obstweinschenken,
Speisewirte, Verabreichung von Getränken
auf Passagierschiffen, Wein- und Metschenken,
Essig-, Papier- und Tabakfabriken, Seifen-
sieder, KaÖee-, Thee-, Kakao- und Choko-
ladehändlor, Tabakhändler, Rechtsanwälte,
Notare und Conveyancer, Bankhäuser, Kar-
tenfabrikanten , Würfelmacher , Patentver-
käufer, Gold- und Silberarbeiter imd Händler,
Taxatoren, Auktionatoren, Mäkler, Wildpret-
händler,Leihhausunternehmer,Hausierhandel,
Wagen und Pferde zu gewerblichem Zwecke
(landwirtschaftliche Pferde sind steuerfi*ei)
und Gewerbegehilfen. Ausserdem gehört
noch hierher die eigentliche Accise von
Kohlen, Bier und Branntwein, wozu schliess-
lich die Getreide-, Fleisch- und Holzzölle
kommen, welche ebenfalls Einfluss auf die
gewerblichen und Handelsunternehmungen
äussern. Die eigentliche Lizenzbesteuenmg
— welche deslialb als wirkliche Gewerbe-
steuer erscheint, weil die Steuern das Mass
einer Gebühr für den Lizenzschein weit
übersteigen — , ist systemlos und deshalb
insbesondere mit Rücksicht darauf von der
Wissenschaft und Politik auf das heftigste
befehdet worden, weil das Gewerbe durch
die höhere Vermögensbesteuerung heute
eben durch die Einkommensteuer (Sched. D.)
als Ertrags! [uelle ohnehin vollkommen mit
einer Staatssteuer betroffen ist.
14. Frankreich, a) Einleitung. In
Frankreich hat sich die Besteuerung, wie sie
in der Zeit der ersten Revolution und unter
Napoleon I. gefipeben war, im wesenüichen un-
verändert erhalten. Als direkte Steuern be-
stehen: 1. die Grundsteuer (GG. v. 23. Novem-
ber, 1. Dezember 1790 mit der Kodifikation v.
23. November 1798 — 3. Primaire VH — Ka-
taster-G. v. 26. September 1807 und G. v. 29.
Juli 1881 über Teilung der Grundsteuer in die
von proprietes bftties und non bäties), 2. Mo-
bilien- und Personalsteuer, eine Art Einkom-
mensteuer (GG. V. 13. Juni, 18. Februar 1791,
23. Dezember 1798 — 3. Nivöse VH - und
G. V. 21. August 1832); 3. Thür- und Fenster-
steuer (G. V. 24. November 1798 — 4. Primaire
VII — 20. April 1832); 4. die Patentgewerbe-
steuer.
Letztere Steuer — contribution des paten-
tes — wurde mit G. v. 2./17. März 1791 im
Princip festgesetzt, aber erst mit G. v. 22. Ok-
tober 1798 — 1. Primaire VII — eingeführt.
Frankreich besitzt weder eine allgemeine Per-
sonaleinkommensteuer nach Verhältnis des Ein-
kommens noch eine allgemeine Zinsrenten-
steuer, dagegen eine Personalabgabe (Zifi^. 2
oben), welche ohne Rücksicht auf die Grösse
des Einkommens erhoben wird, sich halb na^h
Arbeitslohn, halb nach Wohnungsmiete bemisst
und nach dem Werte des dreitägigen Arbeits-
lohnes und der Miete berechnet wird. Diese
Steuer wird von jedermann entrichtet — frei
sind nur Ehefrauen und Diener — und umfasst
ca. Vb der Geamtbe Völker ung. Sie ist Reparti-
tionssteuer wie die Grund- und Fenstersteuer,
d. h. sie ist auf die Arrondissements repartiert,
welche die Steuer in der Weise erheben, dass
zuerst der fixe dreitägige Arbeitsverdienst (17«
bis 47» Francs) summiert und der Rest nach
dem Mietwert repartiert wird. Einige Gemein-
den decken diese Steuer ganz aus den städti-
schen Verzehrungssteuem.
Die Patentsteuer ist dagegen eine quotierte
Steuer vom Erwerb in Handel, Industrie und
Gewerbe.
Gleichzeitig mit dem G. v. 2. März 1791
war die Gewerbefreiheit proklamiert worden.
Dagegen verlangte man Anmeldung der ge-
werblichen Unternehmunpfen und Entnahme
eines „Patentes", wofür die Zahlung einer Ab-
gabe festgesetzt wurde, daher der Name. Hier-
mit war der erste Grundsatz: Anmeldung des
Gewerbebetriebes zur Steuerveranlagung ange-
nommen. Aus der anfänglich geplanten 5e-
steuerung der gewerblichen Einkünfte mit den
Mobiliarsteuern entnahm man den zweiten
Grundsatz: Besteuerung nach einem Proportio-
nalsatz vom Mietwerte der Räume in Sätzen,
von 10, 12 Va und 15 °o des Mietbetrages, zu-
nächst noch ohne festen Satz. Am 21. März
1793 wurde diese Steuer wieder aufgehoben
und die gewerblichen Einkünfte der Mobiliar-
steuer unterstellt, am 22. Juli 1795 wurde aber
die Patentsteuer wieder eingeführt (G. 4. Ther-
mid. lil). Dieses Gesetz enthielt den festen
Satz (droit fixe) nach 6 Klassen von Gewerben
und 4 Ortsverwaltungsklassen. Während der
Zeit der Republik wurde die Steuer dahin ent-
wickelt, dass zu deren Anmelde- und Patent-
nahmezwauge dann dem droit fixe noch Pro-
portionssätze nach dem Mietwerte (droit pro-
portionel) hinzutreten (GG. v. 6. Fruct. IV, 9.
Prim. V, 1. Prim. VII). Die Fortbildung be-
Gewerbesteuer
553
stand in einer weiteren Ausbildung des Klassen-
systems; die Grundzüge, blieben bis heute die-
selben. Hierbei gelangte man bei der Industrie
und den grösseren Handels- und Gewerbege-
schäften zur Einfügung von veränderlichen
Steuersätzen (droit variable) nach Merkmalen
des Betriebsumfanges und damit zur Klassifi-
kation der Gewen)e nach dessen Merkmalen,
und zwar sowohl ohne Eücksicht auf die Orts-
bevölkerungsklassen als auch mit Bücksicht
auf dieselbe. Mit dem Haupt-G. v. 25. April
1844 kam die Reform zum vorläufigen Ab-
schluss. Indessen hat man immer freiere Ka-
suistik, immer grössere Specialisierung der
Klassifikation und der Steuersätze versucht,
dabei Erleichterungen , Beschränkungen und
Ausnahmen bezüglich des Kleingewerbes sowie
Ausdehnungen der Patentsteuerpflichtigkeit auf
die sogenannten liberalen Professionen erstrebt,
so dass nach verschiedenen Zwischengesetzen
am 15. Juli 1880 eine neue — die heute gel-
tende — Kodifikation des Gesetzes erfolgte.
b) Geltendes Recht. Nach diesem
Gesetze umfasst die Patentsteuor vier
Grupi)en: A. Gewöhnliche Kaufleute und
Handwerker (^:ö der Patentsteuerpflichtigen).
Diese bezahlen die fixe Gebühr (64 feste
Steuersätze) von 2—300 Frcs., die in 8 mal
8 Abstufungen mit S Ünterabteilimgen mit
wieder 8 Ortsklassen abgeteilt sind. Die
proportionale Abgabe ist bei der 1. üm-
fangsklasse Vis, bei der 2. — 6. 1/20, bei der
7. und 8. ^/4o. ß. GiossunternehmuDgen
des Handelstransportes, Bankiers etc. mit
höheren als den allgemeinen festen Sätzen.
Diese haben fixe Sätze nach der Bevölke-
nmgszahl in 5 Klassen unveränderliche Ge-
bühr Vio des Geschäftsmietwertes zu be-
zahlen. C. Alle grösseren industriellen und
gewerblichen Unternehmungen, soweit sie
nicht in Klasse A fallen, Hüttenwerke,
Fabriken, Aktien- und ähnliche Gesell-
schaften, Hausiergewerbe, ohne Abstufung
in 5 Specialgattungsklassen mit zahlreichen
einzelnen Rubriken ; diese Klasse ist in fixer
Gebühr nicht nach Ortsbevölkerung, sondern
nach grösseren Merkmalen (Arbeiter, Ma-
scliinen, Aktienkapital etc.), wobei jedoch
ein Maximum von variablen fixen Sätzen
bestimmt ist. Die proporlioneUe Abgabe
legt sieh zwischen ^/is — ^/öo. D. Eine Ta-
belle jener Geschäfte, welchen die Gebühr
anders als mit dem gewöhnlichen Satze von
^/äo auferlegt ist, trifft die sogenannten libe-
ralen Berufsarten mit einer Gebühr von ^/is
des Mietwertes ohne fixe Gebühr. Steuer-
frei sind Beamte, Lehrer, Flickgewerbe,
Höcker, gemeine Hausierer. Die Veranla-
gung und Katastrierung ist eine bureaukra-
tische, sie erfolgt durch die Kontrolleure
der direkten Steuern unter Mitwirkung des
Maire, Unterpräfekten und Direktors der
dii'ekten Steuern. Die Steuer setzt der
Präfekt fest. Dagegen Reklamation zum
Direktor der direkten Steuern. Der Kataster
wurde innerhalb 5 Jahren einer Haupt- und
alle Jahre einer Specialre\ision unterzogen.
Die Gemeinden sind durch Zuteilung eine&
Sprozentigen Anteils am Erträgnisse inte-
ressiert.
Der Ertrag der kodifizierten Patentsteuer
war im Budget pro 1898 mit 127 433 000 Frcs.
eingesetzt.
lieben dieser Gewerbesteuer belasten die
gewerblichen und kommerziellen Unterneh-
mungen noch mehrere andere direkte und
indirekte Steuern. Getränkesteuer, Monopole
auf Tabak, Zündhölzchen, Pulver, direkte
Genuss- und Verbrauchssteuern auf Wagen,
Pferde, Billards, ausserdem aber die Lizenz-
steuer, welch letzterer eine Reihe von Ge-
werben im Gebiete der verbrauchssteuer-
pflichtigen Getränke, Fabrikanten und
Händler mit Gel, Spielkarten, Salpeter,
Rtiben- und Stückzucker, Kapern, Essig,
Papier, Seife, Cichorie, öffentliches Fuhr-
werk und Eisenbahnen unterworfen sind.
Die Grundlage bildet das G. v. 28. April
1816 mit dem G. v. 21. April 1831.
Der Steuersatz besteht in der Regel im
Fixum für das Quartal; bei einzelnen Ge-
werben ist der Satz nach Ortsklassen ver-
einbart. Seit G. v. 1. September 1871 wur-
den die Principalsätze verdoppelt und ein
Zusatz von 5% festgesetzt.
16. Italien. Italien besteuert den ge-
samten Erwerb durch die seit dem 24
August 1877 eingeführte »Einkommen-
steuer« (s. d. Art. oben Bd. III S. 436 ff.).
Dieselbe ist der englischen income tax
nachgebildet, sie nähert sich mehr der
deutschen Einkommensteuer; sie bezog so-
wohl den persönlichen als den gewerb-
lichen Erwerb wie auch den Unterneh-
mungsertrag in diese Steuer ein, verband
damit zugleich die Kapitabentcnsteuer und
setzte für alle diese Steuerquellen einen
Steuerfuss fest Die imposta sulla richezza
mobile beruht auf der Klassifikation aller
Erw^erbsformen in 29 Gruppen und 888
Unterabteilungen. Objekt der Steuer ist
das »Einkommen (reddito) aus Handel, In-
dustrie, Gewerbe, freien Benifsarten, Ge-
hälter und Pensionen, femer Dividenden,
Zinsen und Renten.« Als Abzugsposten für
Berechnung der Einkünfte (des Einkommens)
gelten bei industriellen Unternehmungen
der Verbrauch von Rohstoffen, Werkzeugen,
Arbeitslöhne, Lokalmiete, Verluste und
sonstige Spesen. Nicht abgezogen düi'fen
werden die Zinsen der im Gewerbe ange-
legten Kapitalien, der Anschlag der Arbeits-
leistung des Beitragspflichtigen selbst, seiner
Frau und seiner Söhne. Steuerfrei sind Ein-
kommen unter 400 Lire, von 4 —800 Lire u. s.w.
ist Progression eingeführt. Der Ertrag selbst
bildet die Steuereinheit ; hierfür ist die jähr-
liche Steuerquote im Finanzgesetz festge-
654
Gewerbesteuer
stellt. Diese Steuereinheit wird aber nur
bei allen reinen Kapitalsanlagen ganz in An-
schlag gebracht; bei der Klasse b: bei den
gewerbHdien Betrieben, bei denen Yerbin-
dung von Kapital und Arbeit besteht, wer-
den nur ^/s des Ertrags und bei Klasse c:
den Einkünften aus der Arbeit allein (Ge-
hälter, Löhne) °/8 des Ertrags als Steuer-
grundlage genommen. So ist zwischen fun-
diertem und nicht fimdiertem Einkommen
unterschieden. Der Steuersatz selbst be-
tragt seit 1870 13,20 ^/o. Die Grundlage der
Einsteuenmg bildet die Katastrienmg, jene
der Erhebung der Eintrag in die Heberolle
nach einem sorgfältig entwickelten Anlage-
verfahren. Die Steuerperioden umfassen 2
Jahre, Zu- und Abzüge müssen aber sofort
mit dem Tage des Eintrittes in Beiilcksich-
tigung gezogen werden. Neben dieser Ein-
kommensteuer kommen in Betracht die Ge-
bühren für Rechtsgeschäfte, — tasse sugli
affari — welche als Gebühren bezeichnet
w^erden, in der That aber eine Verkehrs-
und Stempelsteuer sind.
16. Russland. In Russland bestand bis
zum Jahre 1882 die seit 1718 eingeführte
Kopfsteuer, welche neben der Grundsteuer
den Bauern mit 80 Kopeken, den Bürger
mit 1 Rubel 20 Kopeken besteuerte. Der
Adel wai" steuerfrei. Erst mit Aufhebnug
des Gutsverbandes und Gutsentlastung be-
gann eine Steuerreform. Nach dem ükas
V. 18. Mai 1882 sollte die Kopfsteuer durch
andere Steuern allmählich ersetzt werden.
]Vüt Erlass v. 13. Mai 1883 wurde die Kopf-
steuer bedeutend ermässigt. Eine eigent-
liche Gewerbesteuer — Handelssteuer —
bestand seit dem Jahre 1865 (G. v. 9. Fe-
bruar 1865). Sie zerfällt ebenfalls in eine
fixe und eine Betriebssteuer. Die ei-ste war
wieder in zwei Klassen eingeteilt: a) Bank-
geschäfte, Aktiengesellschaften, Geschäfte
für auswärtigen Seehandel mit einer fixen
Steuer von 600 Thlm.; h) Kleinhandel mit
niederen Sätzen. Daneben bestand die Be-
triebssteuer von wirklichen Betrieben der
patentierten Geschäfte, die durch den indi-
viduellen (Gewerbeschein (BiUet) erhoben
wiu-de. Der Steuerfuss ist verschieden nach
den verschiedenen Städten, das Bület galt
nur für j e d e Betriel>sanstalt, Bude, Magazin,
Nie<lerlassung.
Mit dem Jahre 1883 begann eine Reform
dieser imausgebUdeten Steuer, welche mit
dem G. v. 5.17. Juni 1884 zum Abschlüsse
kam. Danach sind Handelsscheine zu lösen
für Kaufleute erster und zweiter Gilde,
Scheine für Kleinhandel in 5 Ortschafts-
klassen, Gewerbescheine nacih Kategorieen
mit je 5 Ortscliaftsklasseu, ferner BiUets iixr
Handels- und Gewerbeetablissements und
Kommisseheine. Alle Kleingewerbe ohne
Gehilfen sind fi-ei. Die grösseren Gewerbe
zahlen einmal eine fixe Kafasti'alsteuer, da-
neben noch eine Zuschlagssteuer nach der
Schätzung jeden Erwerbes nach dem Steuer-
einkommen. Die Gew^erbe müssen selbst
fatieren ; Erwerbsgesellschaften jährliche
Rechenschaftsberichte veröffentlichen (G. v,
15./27. April 1885). Letztere Steuer soU
8^/o vom Steuereinkommen ergeben. Da-
neben wbxl der Handel auf Jahrmärkten
besonders besteuert (G. v. 26. Aprü 1883).
Eine persönliche Enverbs- oder Einkommen-
steuer besteht daneben seit Aufhebung der
Kopfsteuer nicht mehr. Dagegen müssen
alle Gesuche mn Konzessionserteilung auf
Stempelpapier geschrieben sein.
17. Anaere europäische Staaten. Von
anderen europäischen Staaten sind noch zu
erwähnen: die Niederlande, welche so-
gar mit Schaffimg einer systematischen Ge-
werbesteuer energisch vorgingen und mit
G. V. 29, IVIai 1819 und 6. Aprü 1824 die
Gewerbesteuer (droit de patente) mit aus-
führlicher umfassender Tarifierung und Be-
rücksichtigung des Betriebes nach äusseren
Merkmalen imd Anlagekapital einführten.
Im Jahi*e 1870 wurden alle bisherigen Ge-
setze kodifiziert imd bei den Aktiengesell^
Schäften der Ertrag nach der Jahresbilanz
zu Grunde gelegt. Daneben besteht eine
allgemeine Personalsteuer, welche nach dem
Mietwerte der Wohnungen, der Zahl der
Fenster und Thüren, der Feuerstätten, des
Wertes des Mobiliars, der Zahl dßr Dienst-
boten, der Pferde angelegt ist.
Dieselben gewerblichen Steuern bestehen
in Belgien, welches Land ebenfetüs die
droit des patentes und cote personelle hat;
Spanien hat nur eine Einkommensteuer,
Serbien eine Steuer von Arbeitsverdienst
und eine Personalsteuer, Bosnien eine
Einkommen- und Kleinvielisleuer, Bulga-^
rien ein revidiertes Gewerbesteuergesetz
vom 21. Juni 1895, Schweden und Nor-
wegen haben keine Gewerbesteuer; ersterea
nur eine Einkommensteuer, letzteres aucli
keine Einkommensteuer.
B. Amerika.
18. Vereinigte Staaten von Amerika«
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika
besteht die Steuer der Bundesregierung
lediglich in der Grundsteuer und einer per-
sönlichen Vermögenssteuer. Die inländische
Steuer beschränkt sich auf destillierte Spiri-
tuosen, Biere, fabrizierte Cigarren und Taoak,
sowie Banksteuern. Die Steuer von fabri-
ziertem Tabak beträgt 8 Cents per Pfund
(Rohtaliak oder Blätter sind frei), Schnupf-
tabak 8 Cts. per Pfund. Cigarren 3 und 6
Dollar per Pfund, destillierte Spirituosen
90 Cts. per Gallone, Bier 1 DoU. per BaiTel
von 35 Gallonen, die Nationalbank IVx^/o,
die Staatsbauken lO^/o der Banknotencii'kur
Gewerbesteuer
555
lation. Ausserdem noch massige Special-
steuern filr Handel mit obigen Verbrauchs-
artikeln.
Die Steuern der einzelnen Staaten be-
stehen bei gewerblichen Unternehmungen
meist ausser einer hohen Steuer von Gesell-
schaften und Banken (V2 — 3 pro Mille des
KapitaJstoc^es), Kohlengesellschaften, Ver-
sicherungsgesellschaften (einheimische **/io^/o,
fi-emde 3®/o aller Prämien von Geschäften,
die in Renten abgeschlossen werden) in
Gebühren fi\r Verkäufe und Lizenzabgaben
für Verkauf von Spirituosen in 5 Klassen,
Kleinhändler in 20 Klassen abgeteilt (Vio
bis 1/50 ®/o), für Inhaber von Speisehäusern,
Bi-auer, Billard- und Kegelbahnen, Makler,
Hausierer, Apotheker^ Theater- und Mena-
geriebositzer, Notare. Ausserdem kommen
m Beti-acht die Genossenschafts- und Ge-
meindesteuern, bei denen in der dritten
Grujipe die Erwerbssteuern figurieren. Diese
eigentliche Erwerbssteuer ist nur den Graf-
und Ortschaften vorbehalten. Der Steueiv
fuss schwankt nach Bedarf.
Seit 24. August 1894 ist in den Ver-
einigten Staaten zum ersten Male für die
ganze Union eine Einkommensteuer von 2®/o
von jedem Eigentümer über 4000 $ — also
vom Besitztum, Renten, Zinsen, Dividenden,
Gehälter, Gewerbe, Unternehmungen, Amt
und Beruf — erhoben. Mit dieser Steuer
ist je<loch nur das Reineinkommen über
4000 Änach Abzug der Produktionskosten
und cler von der Familie vorbrauchten Ein-
nahmen belegt, dagegen wird jedes porsön-
licho A^^mögen, sei es dun'h Geschenke
oder Erbschsät erlangt, als Einkommen l)e-
trachtet.
III. Steneratatistjk.
19. Ertrag nnd Vergleich zwischen den
einzelnen Staaten. Jede Statistik der Ge-
werbesteuererträgnisse ist mit grösster Vor-
sicht aufzunehmen ; einmal deshalb, weil der Be-
griff und Umfang der „Gewerbe- oder Erwerbs-
stener^ selbst zu verschieden ist, dann, weil in
vielen Staaten die Gewerbesteuer überhaupt
verschwunden und in der Einkommensteuer auf-
fegangen ist, endlich, weil die Grenze zwischen
irekter und indirekter Besteuenmg gerade bei
den handelsgewerblichen und industriellen Pro-
dukten und Geschäften sehr häufig verwischt
ist und zu der Gewerbesteuer seihst oft Teile
der Kapitalrentensteuer, die Steuer auf mobile
Werte, Verbrauchssteuern und sonstige in-
direkte Abgaben zugerechnet werden müssen.
Im Nachstehenden werden einige Ziffern nach
den Budgets der betreffenden Staaten aus dem
Jahre 1«U gegeben, wobei aber die gesamten
direkten und indirekten Steuern eben wegen
der erwähnten Umstände in Betracht gezogen
werden:-
Preussen: a) Gewerbesteuer 19 Mill. M.
oder 0,68 M. auf den Kopf; b) Gewerbesteuer
und Einkommen aus mobilen Werten zusammen
72 Mill. oder 2,60 M. auf den Kopf; c) gesamte
direkte Steuern 140 Mill., hiervon also 13 ^/^
Gewerliesteuer , 5.1 M. auf den Kopf; d) in-
direkte Steuern oO Mill. oder 3,1 M. auf den
Kopf. Bayern: a]5 Mill. oder 1 M. auf den
Kopf; b) 5,8 Mill. oder 1,80 M. auf den Kopf:
c) 25 Mill., hiervon 19,78% Gewerbesteuer, 4,6
M. auf den Kopf; d) 55,50 Mill. oder 10,5 M.
auf den Kopf. Württemberg: a) Hier ist
die Gewerbesteuer mit der Grund- und Ge-
bäudesteuer zusammen mit 9 Mill. M. aufge-
führt ; b) — ; c) 12,9 MUl. oder 16,3 M. auf den
Kopf; d) 13,7 Mill. oder 6,8 M. auf den Kopf.
Baden: a) — ; b) — ; c) 10,6 Mill. oder 6,6 M.
auf den Kopf; d) 14 Mill. oder 9 M. auf den
Kopf. Hessen: a) — ; b) — ; c) 7,7 Mill. oder
8 M. auf den Kopf; d) 2,4 Mill. oder 2,4 M.
auf den Kopf. Sachsen: a) — ; b) — ; c) 18
MUl. oder 6,1 M. auf den Kopf; d) 4,8 Mill.
oder 1,6 M. auf den Kopf. Oesterreich:
a) 18 Mill. oder 0,8 M. auf den Kopf; b) 62
Mill. oder 2,8 M. auf den Kopf; c) 185 MüL,
hiervon 10,16% Gewerbesteuer, 8,1 M. auf den
Kopf; d) 524 Mill. oder 23 M. auf den Kopf.
Ungarn: a) 40 Mill. oder 2,6 M. auf den Kopf:
b) &,2 Mill. oder 3 M. aut den Kopf; c) 161
Mill., hiervon . 24,03 % auf die Gewerbesteuer,
9,9 M. auf den K^pf ; d) 242 Mül. oder 15,4 M.
auf den Kopf. England: a) 83 MiU. oder
2,6 M. auf den Kopf; b) 204 MUl. oder 5,8 M.
auf den Kopf; c) 360 MUl., hiervon 35,9% Ge-
werbesteuer oder 8,1 M. auf den Kopf; d) 1245
Mill. oder 35 M. auf den Kopf . Frankreich:
a) 64 MUl. oder 1,9 M. auf^den Kopf; b) 198
MiU. oder 5,2 M. auf den Kopf; c) 358 Mill.,
hiervon 20,9% Gewerbesteuer oder 9,2 M. auf
den Kopf; d) 1848 MiU. oder 48 M. auf den
Kopf. Italien: a) — ; b) 153 Mill. oder 5,3
M. auf den Kopf; c) 304 MUl. oder 10,5 M. auf
den Kopf ; d) 5^ MUl. oder 18,2 M. auf den
Kopf. Knssland: a) (Handelspatent) 39 MUl.
oder 0,4 M. auf den Kopf; b) — ; c) 278 MUl.
oder 2,4 M. auf den Konf ; d) 786 MiU. oder 9,5
M. auf den Kopf. Niederlande: a) 6,2 Mill.
oder 1,6 M. auf den Kopf; b] 23,5 MiU. oder
5,5 M. auf den Kopf; c) 42 MUL, hiervon 15,8*^0
Gewerbesteuer oder 10,1 M. auf den Kopf; d)
115,5 MUl. oder 28 M. auf den Kopf. In Nord-
amerika beträgt die Einnahme aus den in-
ländischen Steuern 125 Mill. DoU. ; auf den Kopf
eines jeden Einwohners 2,23 Doli. ; die Gesamt-
einnahmen der jährlichen Staats-, Countrj- und
Townssteuem 312 750 000 Doli., mithin 6 'U üoll.
auf den nordamerikanischen Staatsbürger.
Schliesslich lassen wir eine Zusammen-
steUung aus den Budgetansätzen der grösseren
deutschen und europäischen Staaten, in tau-
send abgerundet, aus dem Jahre 1897 folgen,
wobei wir aber auf obige Bemerkungen Bezug
nehmen müssen.
556
Gewerbesteuer
Ein-
Gesamt-
direkte
Steuern
zusammen
% des
Ge-
Gewerbe-
Kapital-
Einkommen-
wohner
bedarf
samt-
be-
darfes
steuer
Steuer
steuer
Mark
Mark
Preussen
31850
1
2046000
161 600
7,88
23400
an die Städte
überwiesen
bei 237 000 000
GeBamtbedarf
der Städte
123500
Bayern
5800
345000
inkl. Ver-
waUnngs-
aosgaben
31560
9,10
7000
4500
2500
•
Sachsen
3400
77000
30000
39
26 500
Württemberg
2080
75000
16500
22,23
3600
5 000
I 800
Baden
I 700
70000
13197
18,70
10200 i
I 400
7 000
Hessen
I 040
37000
10 000
27
I 050
450
5500
fl. = 1,70 M.
Oesterreich
Ungarn
Eussland (euro-
päisch)
England
Frankreich
41 000
15000
690000
475000
114000
95000
16,50
20
12500
20000
4000
32000
16200
Bubel = 2,16 M.
94000
I 400000
97000
6,93
44000
15000
£ = 20,43 M.
Italien
39000
826500
17000
13,6
9400
1300
16600
in all. 1 Klassen
'
Francs — 0,81 M.
38000
3314000
477 000
14,4
127 000
Tabak-
Steuer
170000 Siegel-,
9000 Börsen-,
92000 Personal-, Mo-
biliar-,
65000 Eink.-Steuer a.
bew.Vermög.,
58000 Thür- und
1
1
Fenstersteuer
Lire — 0,80 M.
31 000
I 645 000
482000
29
65 00b
aus Konzess.
10500
a. Banken
287 700
IV. Schli
1188.
!iic
34^cr»llör»
Ro'«»-nfm n tr
\m ß-OMTOT
'Ko rliö frrki-
So sehr auch die Gewerbebesteuerung
in den einzelnen Staaten in Europa, sowohl
was Umfang, Objekt, Subjekt und Veran-
lagung anbelangt, von einander abweicht,
so haben doch fast alle Länder, mit Aus-
nahme der wenigen Staaten, in denen eine
wirkliche allgemeine Einkommensteuer aus-
gebildet und durchgeführt ist, die Gewerbe-
steuer als Ertragssteuer beibehalten. Fast
nirgends ist sie als Reinertra^steuer aus-
gebildet, sie bewegt sich zwischen einer
Kohertragssteuer und einer Steuer von mitt-
lerem oder mutmasslichem Ertrag bis zur
Reinerti-agssteuer, je nachdem der Ertrag
der persönlichen Arbeit und die persön-
lichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen
selbst mehr oder minder scharf in Berech-
nung gezogen sind. Mit der Veränderlich-
keit der Technik, mit der Ausgestaltung
eines Gewerberechtes, das der individua-
este Hand lässt, erhöhten sich die Be-
mühungen der Gesetzgeber, die Betriebsab-
gaben eines Gewerbes, d. h. die Merkmale,
nach denen der Ertrag zu bemessen ist,
möglichst auszubilden, zu vervielfältigen,
zu specialisieren. Selbstverständlich gelaug
es nircends, alle die Härten und Unge-
i*echti^Keiten des Ertragssteuersystems selbst
zu mmdern. Eng damit hängt aber das
Steuei*system überhaupt im betreffenden
Staate zusammen, insbesondere ob und in-
wieweit eine Einkommensteuer neben der
Gewerbesteuer besteht, ob und inwieweit
die Gewerbe durch Lösung eines Patentes,
einer Lizenz noch dazu besteuert sind. Die
heute noch überall vorherrschende Absicht,
das fundierte Einkommen stärker zu be-
lasten als das unfundierte, darf nicUt über-
trieben werden. Keine der beiden grossen
Kategorieen des Besteuerungswesens : die
Grewerbesteiier
557
Katastralbesteiierung und die Einkommen-
besteueninff kann vollständig genügen; es
haben deshalb auch die meisten Staaten
Euit)pas beide Systeme mit einander verbun-
den, um einerseits die feste Grundlage ftir
Ertra^bemessung , andererseits die not-
^'endige Beweglichkeit der Steuerauelle zu
erhalten. Je nach der Ausbildung aes einen
oder anderen Systems bezw. der aufge-
nommenen Grundsätze ist auch die Frage
nach Beibehaltung einer Ersalzeinkommen-
steuer oder Aufgehen der Erwerbssteuer in
eine allgemeine Einkommensteuer zu beant-
worten. Will man, was in der Steuerge-
setzgebung als allgemeiner Grundsatz gilt,
auf historischer Giiindlage fortbauen, so ist
eine möglichst gute Ausbildung der Ge-
werbesteuer als Ertragssteuer neben einer
allgemeinen Einkommensteuer wohl das
Richtigste. Besteht aber eine Einkommen-
steuer neben der Gewerbesteuer, so kann
jene nur als Gewerbe Vermögenssteuer vom
Aktienvermögen (Betriebskapital) nach Ab-
zug der Schulden fortgebildet werden, so-
fern nämlich die Einkommensteuer das Ein-
kommen aus den gewerblichen Anlagen als
Steuerobjekt ins Auge fasst. —
()nelleB und Lltteratnr Z Quellen. Preu^sen:
ö. V. so. V. 1S20, die Entrichtung der Ge-werbe-
Steuer betr. Regulativ v. $4. IV. I824. — G. v.
19. VII. 1861, Abänderungen des Gesetzes wegen
Entrichtung der Gewerbesteuer. — Weitere Ab-
änderungen erfolgten in den GG. v. 20. HL 1872
und 5. VI. 1874. — G. v. 24. VI. 1891, Ein-
kommensteuer betr. — G. v. 24. VI. 1891, Ge-
werbesteuergesetz betr. und I4. VII. 1893 Er-
gänzungssteuergesetz. — GG. V. S. III. 1876
und 27. II. 1880, die Besteuerung des Geicerbe-
betriebes im Umherziehen und die Wanderlager.
— G. V. 16. III. 1867, Abgaben für Eisenbahnen,
r. 20. X. 1862, Bergwerksabgaben betr. —
Bayern: G. v. 19. V. 1881 und 9. VI. 1899,
dann GG. v. 10. IIL 1879, 6. IV. 1869 und
20. XII. 1897 Besteuerung des Gewerbebetriebes
im Umherziehen und der Bergiterke betr.
— Württemberg: G. v. 28. IV. 1873, die
Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer betr., mit
dem Voüz.-G. v. I4. I. 1879. -- GG. v. SO. VI.
1877 und 1. VII. 1877 über Geteerbebetriebe im
Umherziehen und Wanderlager. — Baden:
GG. V. 25. VIII. 1876, Erfverbsteuer, und 20. VI.
1884, Einkommensteuer betr., 26. IV. 1886, die
Gewerbesteuer betr. — GG. vom 17. III. 1854
und 16. III. 1880, den Kataster der direkten
Steuern betr. — Me s sen: G. v. 8. III. I884,
die Gewerbesteuer betr., 25. VI. 1895 und 12.
VIII. 1899. — Sachsen: G. v. 2. III. 1878, die
aügemeine Einkommensteuer betr. und 13. III. 1895.
— GG. V. 1. VII. 1878 und 1. XII. 1878, Wander-
Uiger und Gewerbe im Umherziehen betr. —
Elsass-Lothringen: G. v. 25. IV. I844,
die Patentsteuer betr., mit den Abänderungsgg. v.
18. V. 1850, 4. VI. 1858, 13. V. 1863, 2. VIII.
1868, 6. III. 1893 und 8. VI. 1896. — Oester-
reich: Patent v. 31. XII. 1812, Dekret v. I4.
I. 1813, 13. V. 1859, G. v. 29. X. 1849, die
Einkommensteuer betr., 25. X. 1896 die direkten
Personalsteuem betr. — G. v. 4. IX. 1852
und 23. XII. 1881, über den Hausierhandel.
— Ungarn: G. v. 1885 (29.), Personal-
erwerbsteuer. — England: G. r. 22. VI.
I842, Einkommensteuergesetz. — Fr ankreich:
G. V. 22. X. 1798, 25. IV. I844 und 18. V.
1850, Coniribution des patentes. — GG. r.
28. IV. 1816, 21. IV. 1831 und 1. XL 1871,
Lizenzsteuer betr. — G. v. 15. VII. 1880. —
Italien: G. v. 24. VIII. 1877, Imposta suUa
richezza mobile. — Russland: Erlasse v. 18.
V. 1882, 13. V. 1883 und G. v. 5.(17. VI. 188 4,
die Handels- und Gewerbesteuer betr.
Litteratur: Ausser den allgemeinen finanz-
xcissensehafüichen Werken von Rau~ Wagner,
Stein, Bergtus, SctUhiberg, Vmpfenbfush,
V, Hock, Held, Neutnann, Eheberg, Schaf ße
und den StaatsrechtsbÜchem von Zaehariae,
Rönne, Seydel, Gneist, Marquardsen,
Laband, Meyer, Zorn und dem reichen in
Schanz Finanzarchive aufgestapelten McUerial
kommt im besonderen in Betracht: Ueber das
alte Rom: Vocke, Die direkten Steuern der
Römer, Tab. Zeitschr. 1859. — Marquardt,
Römische Staatsverwaltung, Bd. IL — Für
Griechenland: Böckh , Staatshaushaltung
der Athener. — Für das Mittelalter: Waitx,
Deutsche Verfassungsgeschichte, Kapitel Finanzen,
— Eiehhom, Deutsche Staats- und Rechts-
geschichte. — Preussen: Kautz, Dcu System
der direkten Steuern, Berlin 1889. — Neukamp,
Kommentare zum Gewerbesteuerg. v. 24. VI. 1891,
Essen 1891. — Bayern: L. Hof mann, Ge-
schichte der direkten Steuern in Bayern, 1883.
— Vocke, Beiträge zur Geschichte dei' Ein-
kommensteuerin Bayern, in der Tübinger Zeitschr.
I864. — Hock, Handbuch der fKnanzvertcarltung.
— Vocke, Seisser und Klemm, Das baye-
rische Gewerbesteuergesetz. — Württemberg:
Riecke, Der württemb. StcMtshaushcUt, in Jahrb.
f. Ges. u. Verw. 1883. — Demelbe, Die neuen
württembergischen Kataster, im Fin.-Arch. 1888,
S. 230.— Sachsen: Opitz, Staatsrecht, I884,
— Hessen: Schanz, Archiv IL — Oester-
reich- Ungarn: Freyherger, Die direkten
Steuern, Wien 1887. — WestphtU^Conn, Die
Steuersysteme und Staatseinnahmen der sämmt-
liehen europäischen Staaten und die Reformge-
setze in Oesterreich, Wien I884. — England:
Vocke, Geschichte der britischen Steuern, Leip-
zig 1866. — Gneiat, Engl. Verwaltungsrecht. —
fTaköhsen, Die geschichtliche Entwickelung der
englischen Einkommensteuer, in dem Fin.- Archiv
1896, S. 253; Finance a>ccou7Us und Statistique
Abstract. — Fr ankreich: Stowna, Lesfinances
de Vancien rigime, Paris 1885. — d''Audlffret,
Systeme financier de la France, Paris 1863 — 1870.
— V, Hock, FinanzverwaUung Frankreichs,
Stuttgart 1857. — 17. K€mfmann, Finanzen
Frankreichs, Leipzig 1882. — Italien: Sachs,
L'Italie, ses ßnances, Paris 1885. — C Burkart
in Schanz Archiv VI. — v. Kaufmann, ebenda
Jahrg. III. — Russland: Hoffmann, Die
Finanzen Russlands, in d. Viert, f. Volksw. XXII,
1. Heft. — AUessandro, Die russiscJte Gesetz-
gebung über die direkten Steuern, Petersburg 1879.
— V. Kreussler, Die neuesten russischen Ge-
setze über Grund-, Handels- und Gewerbesteuer,
im Fin.-Arch. 1885, S. 217. — BuUetin Russie
de Statistique ßnancih'e 1894 — 1897. — Nieder-
lande: Trenk, Onivnkkeling en verband van
558
Gewerbesteuer — Gewerbevereine
de RijUa-, ProvinzictU- en GemeentbelaBtingen in
y., Leiden 1885. — Nordamerika: RÖser,
Finanzwesen in den Vereinigieti Staaten, in
Schanz Arch. 1885, I. — Ed, fTanies, PiMic
Economy of Pennsylvania, Philadelphia 1885, —
Seligniann, Die amerikanische Einkammenstetier,
in der Zeüschr. f. Nationalökonomie u. Statistik
III. Folge, Bd. 9 (1895), S. 71 u. 907. — JAon
Say, Dictionnaire des Finances 1894; BuHetin
de Statistique 1826-^1898.
Wilhelm Burkhard,
OeiverbeTerelne.
•
1. Begriff und Bedeutung. 2. Die G. in
Batfen. 3. Bayern. 4. Elsasa^Lothringen. 5.
Hannover. 6. Hessen. 7. Mecklenburg. 8.
Nassau. 9. Pfalz. 10. Preussen (Köln, Aachen-
Burtscheid, Cassel, Erfurt, Dortmund, Potsdam,
Ost- und Westpreussen. Die G. HohenzoUems,
Schlesischer Central-G.). 11. Königreich Sachsen.
12. Thüringen. 13. Württemberg. 14. Ver-
band deutsdier G.
1. Beg[riff und Bedeutung. Die Ge-
werbevereine sind freie gewerbliche Ver-
einigungen. Die Mehrheit ihrer Mitglieder
wird gebildet aus Vertretern des gewerb-
lichen Mittelstandes: ausserdem zählen zu
ihren Mitgliedern viele Fachmänner auf dem
Gebiete des gewerblichen Cnterrichtswesens,
ferner Ingenieure, Baumeister und Leiter
industrieller Betriebe als Freunde und För-
derer des Handwerks und Gewerbes. Die
Gewerbevereine bezwecken 1. Förderung
der Gewerbe und Hebung des Handwerkes,
auch in Bezug auf Ansehen und Einfluss
im öffentlichen Leben, 2. Verbreitung ge-
meinnütziger Kenntnisse, 3. Belehrung der
Mitglieder über die in Betracht kommende
Gesetzgebung und die Fortschritte der Tech-
nik, 4. Förderung des Arbeitsnachweises, 5.
Vertretung in der Handwerkskammer (po-
litische und religiöse Fra^n sind ausge-
schlossen).. Sie suchen diese Zwecke zu
erreichen durch : 1 . Pflege der Beziehungen
der Mitglieder untereinander und zu ver-
wandten Vereinen, 2. Förderung des gewerb-
lichen Unterrichtes, 3. Bücherei und Lese-
zimmer, 4. Preisausschreiben und Preiser-
teüungen, 5. Erteilung von Auskünften, Gut-
achten und Ratsclüägen an die Mitglieder,
ö. Vorträge, 7. Veranlassung und Förderung
von Ausstellungen, insbesondere auch von
Lehrlingsarbeiten, 8. Vorstandssitzimgen und
Vereinsversammlungen, in diesen Erörterung
der das Gewerbe und Handwerk berühren-
den Fragen und Gedankenaustausch über
dieselben, 9. Ausflüge zum Besuche gewerb-
licher Anlagen u, s. w.
Die Entwickelnng der Gewerbevereine reicht
im allgemeinen bis in die Anfänge der Gewerbe-
freiheit zurück. Sie haben stets eine rege
Thätigkeit zur Erfüllung ihrer Zwecke ent-
faltet und bildeten den Stützpunkt eines grossen
Teiles des vaterländischen Handwerker- und
Gtewerbestandes. Auf dem Boden einer freien
Entwickelnng stehend, haben sie ihre Ziele stets
ans eigener Kraft zu erreichen gesucht und
teilweise den Boden für die kommende Zeit
vorbereitet. In Süddeutschland fanden sie das
günstigste Feld für ihre Thätigkeit vor und
erhielten hier zuerst eine festere Organisation.
Ihre grundlegende Bedeutung für die Ent-
wickelnng und Förderung des Handwerker- und
Gewerbestandes ist in den Vordenrrund getreten
mit dem Zeitpunkt, wo das Handwerk und
Kleingewerbe im Kampf mit der Grossindustrie
schwersten Stand hatte nnd die Erhaltung des-
selben allein durch eine in sich abgeschlossene
und vervollkommnete gewerbliche Bildung ge-
sichert erschien. Auf diesem Gebiete des ge-
werblichen Unterrichtswesens beruhte fortgesetzt
der Schwerpunkt der Thätigkeit der Gewerbe-
vereine. Die vielseitige Mitarbeit — dass neben
dem Handwerker Männer aller Berufsstände und
Rangordnungen zuMitgliedem und wUlkomraenen
und erfolgreichen Mitarbeitern der Gewerbe-
vereine zäalen — hat man diesen ebenso gerne
wie unbedacht und unverständig zum Vorwurf
gemacht, obwohl diese Znsammensetzung als
ßsonderer Vorzug gelten kann und sich auch
trefflich bewährt hat. Die Bestrebungen der
Gewerbevereine fanden meist überall auch be-
hördlicherseits Anerkennung und Unterstützung,
in besonderem Masse in Süddeutschland. Der
befruchtende Einfluss ihrer Thätigkeit auf den
Handwerkerstand ist hier zur allgemeinen und
weit über die Grenzen Süddeutschlands sich er-
streckenden Geltnng gelangt. — Die nach-
stehende Darstellung wird sich nur auf die Art
von Gewerbevereinen beschränken, deren Begriff
und Bedeutung hier hervorgehoben ist; es ist
dies ein alter festgegliederter Bestand in sicherer
Verfassung, an den sich infolge des Handwerks-
organisations-G. v. 26. Juli lSJ7, durch weiches
auch die Gewerbevereine als Unterbau für die
Handwerkskammern anerkannt wurden, zahl-
reiche neue Organisationen angeschlossen haben.
Den Bestimmungen dieses Gesetzes haben sich
die Gewerbevereine als freie Körperschaften in
weiterer Ausgestaltung- ihrer Organisation mög-
lichst angepasst durch Bildung von Fachgruppen,
welche im Kahmen des Vereins die verschiedenen
Fachhandwerke zur Selbstverwaltung ihrer An-
gelegenheiten vereinigen, um so auch dem Hand-
werker im Gewerbeverein die Vertretung seiner
besonderen Fachinteressen zu sichern. Nach dem
Ergebnis der bisherigen Organisation werden
die Gewerbevereine in Süddeutschland nnd
Elsass-Lothringen mit etwa '/s ihrer Stimmen
in den am 1. Aprü 1900 in Wirksamkeit treten-
den Handwerkskammern vertreten sein, während
im übrigen Deutschland, besonders in Nord- und
Ostdeutschland, die Innungen noch das Ueber-
gewicht haben. Nach den Erfahrungen über
den Erfolg der Thätigkeit der Gewerbevereine
auf die Hebung des Handwerks in Süddeutsch-
laud kann man nur wünschen, dass ihr Geist
sich auch mehr und mehr über den übrigen
Teil Deutschlands mit demselben Erfolge aus-
breiten möge. —
Die Kuustgewerbevereine, welche
ganz besonderen Zwecken dienen, sind hier
nicht berücksichtigt worden.
2. Die G. in Baden. Obgleich schon
Gtewerbevereine
658
früher wohl mit Becht behauptet werden
konnte, es sei bezüglich der Organisation
in Baden vielleicht am besten in ganz
Deutschland bestellt, so waren die Grewerbe-
vereine damit noch nicht zufrieden, sondern
strebten die Schaffung von gesetzlichen
Gewerbe kammern an. Ein Gesetz, welches
die Errichtung von Gewerbekammern be-
zweckte, wiuKle denn auch am 22. Juni 1892
erlassen, hatte aber keine greifbaren Folgen,
weil darin die Errichtung solcher Kammern
von der Zustimmung der Mehrzahl der be-
teiligten Gewerbetreibenden abhängig ge-
macht wurde ; es unterblieb sogar der Ver-
such, auf Grund dieses Gesetzes solche zu
schaffen.
Die Reichsgesetzentwürfe für die Or^
nisation des Handwerks, wie sie nachem-
ander 1893. 1895 und 1896 folgten, Hessen
die badiscnen Gewerbevereine von einer
Weiterverfolgung der Gewerbekammerange-
legenheit abstehen, und sie haben sich dann,
nach Erscheinen des G. v. 26. Jiüi 1897, ganz
auf den Boden desselben gestellt. Die neuen
Normalsatzungen sind diesem Gesetz (Organi-
sation des Handwerks) angepasst worden.
Um die Wahlfähi^keit zur Handwerks-
kammer zu haben, wird darauf gesehen, dass
mindestens die Hälfte der Mitglieder Hand-
werksmeister sind, wenn auch nach wie vor es
als wünschenswert bezeichnet wird, wenn Männer
ans allen Berafskreisen am Vereinsleben teil-
nehmen, weil es nur von günstigem Einfliiss
auf die Vereine selbst ist und gar oft aus
diesen Kreisen ffeeigniete Personen zur Leitung
und Beratung der Vereine sich bereit finden.
Nach diesen Normalsatzungen müssen künftig
% der Vorstandsmitglieder ausübende Hand-
werksmeister sein ; femer errichten die Gewerbe-
vereine Gesellenausscbttsse , wie sie für die
Innungen gesetzlich vorgeschrieben sind. In-
nungen una Fachvereinigungen, die ausserhalb
der vereine sich bilden, können sich dem Ge-
werbeverein anschliessen und bekommen Sitz
und Stimme im Vorstand. Die Einteilung der
„Gauverbände", deren es jetzt 9 sind, wird so
getroffen, dass ein Gauverband ganz innerhalb
des betreffenden Handwerkskammerbezirks liegt,
um die gemeinsamen Interessen dort vertreten
zu können und um den nötigen Einfluss auf
die Gestaltung und Thätigkeit der Handwerks-
kammer zu haben.
Die Zahl der Gewerbevereine, die im
ganzen Lande gleichmässig verteilt sind, ist
seit dem Erscheinen des neuen Gesetzes, dank
der regen Thätigkeit des Landosausschusses,
der Gauvororte und der Einzel vereine ganz
erheblich gewachsen, wobei das gross-
herzogliche Ministerium des Innern der
Sache seine Mithilfe insofern angedeihen
liess, als auf Antrag kostenlos Redner zur
Abhaltung von Vorträgen gesandt wurden.
Während noch im Jahre 1897 es 80 Vereine
iftiit 7700 Mitgliedern waren, stieg die Zalü
im Jahre 1898 auf 135 mit 11400 Mitglie-
dern und sind es. Ende 1899 im ganzen
172 Vereine mit 13300 Mitgliedern, wo-
runter 10700 Handwerksmeister. Diese 172
Vereine sind in 9 Gauverbände gegliedert
und bilden zusammen den Landesverband
badischer Gewerbevereine, dessen Vorort
für die nächsten Jahre wieder wie seit 1886
der Gewerbeverein Karlsruhe ist. Der Lan-
desverband hat sich dem seit 1891 bestehen-
den Verband deutscher Gtewerbevereine an-
geschlossen. Die Orts- und Bezirksvereine
wahren natürlich im allgemeinen die örtlichen
Interessen, und die Gauverbände sind be-
stimmt, mehr die Interessen kleinerer Kreise
zu wahren, während der Landesverband als
solcher die allgemein wirtschaftlichen Fragen,
welche das Kleingewerbe und Handwerk
des Landes berühren, zum Gegenstand sei-
ner Erwägungen macht und die wirksame
Förderung von Gewerbe und Handwerk
im ganzen Land bezweckt, wobei dann der
Landesausschuss den Gauverbänden und
Einzelvereinen diu'ch Rundschi'eiben, Vor-
träge u. s. w. Anregungen aller Art zur Be-
lebung der Vereine giebt und die Weckung der
allgemeinen Anregung bezüglich der Vorgänge
im Berufs- und Vereinsleben anstrebt. Es
finden alijährlich in den Gauverbänden Gau-
ausschusssitzimgen und Gautage sowie für
den Verband Landesausschusssitzungen und
Versammlungen statt. Seit Jahrzehnten
haben die Gewerbevereine den Schwer-
punkt ihrer Wirksamkeit in die Hei-anbildung
eines tüchtigen Nachwuchses im Handwerk
gelegt Die Mehrzahl der bestehenden (45)
Gewerbeschulen und (72) gewerblichen Fort-
bildungsschulen ist der Anregimg der Ge-
werbevereine zu verdanken, und ebenso
liaben sie sich mit der Einführung von Aus-
stellungen von Lehrlingsarbeiten und Ab-
nahme von Gesellenprüfungen befasst. Die
von den Einzelvereinen mit Preisen ausge-
zeichneten Lehrlingsarbeiten werden zu der
vom Staat veranstalteten Landesausstellung
eingesandt, woselbst sie noch Staatspreise
erhalten. Im Jahre 1898 haben sich z. B.
947 Lehrlinge mit etwa 3000 Arbeiten an der
Landesausstellung beteiligt, während 1881
niu* 70 Lehrlinge beteiligt waren. Lehrver-
träge — nach dem Wortlaut des vom deut-
schen Verband aufgestellten Musters und
solchen für staatliche Lehrlingswerkstätten
— beziehen die Vereine vom Landesverband
und stellen sie ihren Mitgliedern meist
kostenlos zur Verfügung.
Seit 1889 sind neben den 45 Gewerbe-
schulen eine Eeibe gewerblicher Fort-
bildungsschulen an kleineren Orten ent-
standen. Sie haben Pflichtnnterricht in gewerb-
lichem Eecbnen und Geschäftsaufsatz mit Buch-
führung und Kostenberechnen sowie Freihand-,
Geometrisch-, Projektions- und Fachzeichnen.
Der Lehrstoff verteilt sich bei wöchentlich 6>-8
Unterrichtsstunden auf 2 Jtfhre. Die Untei^
richtszeit ist hauptsächlich bei Tag. 1889 warea
560
Grewerbevei-eine
es 16 solcher Schalen. Die Zahl stieg 1892 auf
40 und die folgenden Jahre auf 43, 48, 50, 60
und 63, und 1899 waren es 72 gewerbliche Fort-
bildungsschulen. Es sind Gemeindeanstalten
mit Staatsunterstütznng. Der Staatszuschuss
im Jahre beträgt für eine solche Schule 240
bis 400 Mark, je nach den wirtschaftlichen
Verhältnissen der Gemeinden.
Der Gesamtaufwand für das gesamte ge-
werbliche Unterrichtswesen in Baden aus Staats-
mitteln betrug für 1898 im ordentlichen Staats-
haushalt rund 509000 Mark und im ausser-
ordentlichen für 1898/99 rund 240000 Mark.
Um strebsamen und tüchtigen angehenden
Handwerkern eine bessere Fachausbildung zu
ermöglichen, bewilligen viele Vereine nicht un-
•erhebliche Unterstützungen an solche Jnng6
Handwerker, um ihnen den Besuch der Fach-
schulen im Lande oder, soweit solche nicht in Baden
Yorhanden sind, in anderen Staaten zu ermög-
lichen, und vermitteln auch die staatliche Zu-
schussbewilligung. Die Gewerbe vereine suchen
auch die Werkstattlehre zu heben, indem sie
bemüht sind, bei tüchtigen Meistern die jungen
Leute unterzubringen und für diese um das vom
Staat bewilligte Lehrgeld nachzusuchen. Die
üeberwachung dieser Lehrwerkstätten, welche
besonders vorgeschriebene Lehrgänge haben, be-
sorgen in der Eegel die Gewerbevereine. Es
bestehen etwa 113 derartige Lehrwerkstätten
mit 130 Lehrlingen für 21 Gewerbe in 28 Orten
und beläuft sich der Staatszuschuss auf 12000
Mark. Auch die wirtschaftliche und berufliche
Weiterbildung der Meister lassen sich die Ge-
werbevereine angelegen sein. Büchereien in
ganz erheblichem Umfang treffen wir in der
[ehrzahl der Vereine, und diese vermitteln auch
•den Bezug von Büchern aus der Bücherei der
Landesgewerbehalle. Kurse in Buchführung
und Kostenberechnen werden — oft wieder-
holt — in den Wintermonaten von nahezu allen
Vereinen veranstaltet. Ebenso haben sie An-
regung gegeben zu den alljährlich bei der
Grossherzoglichen Landesgewerbehalle abge-
haltenen Meisterkursen, zu denen der Staat
4urch Bewilligung von Tagegeldern und Reise-
kosten die Beteiligung auch ärmeren Meistern
ermöglicht. Seit 1884 sind diese eingeführt
und fanden solche statt für Schuhmacher,
Schneider, Schreiner, Färber, Sattler und Tape-
zierer, Gerber, Seifensieder, Uhrmacher, Maler^
Elektrotechniker u. s. w. und zwar oft zwei
und drei nach einander. Mehrere Gewerbevereine
sind die Begründer der in den betreffenden
Orten bestehenden Vorschussvereine ; femer haben
eine Reihe Gewerbevereine eigene Verkaufs-
hallen mit bestem Erfolg eingerichtet und
kleinere Ausstellungen aus Ausstellungsgegen-
ständen der Landesgewerbehalle oder den Er-
werbserzeugnissen kleinerer Bezirke (Gaue) und
grössere Fachausstellungen mit bestem Ergeb-
nis für die beteiligten Aussteller und sich
selbst durchgeführt. Bei Verdingungen ist bei
Staatsbauten das prozentuale Angebot auf An-
regung der Gewerbevereine durch das Angebot
der Einzelpreise ersetzt und hier das Bestreben
zur Durchführung der Mittelpreise im Fluss.
Bei Regelung des Arbeitsnachweises sind die
Gewerbevereine auch beteiligt. Aus der Landes-
fe Werbehalle werden den Gewerbe vereinen in
en Versammlungen die Neuheiten in Werk-
zeugen, Maschinen und dergleichen vorgezeigt
und bei Beschaffung von Maschinen und Ein-
richtungen der sachverständige Rat des zweiten
Beamten der grossherzoglichen Landesgewerbe-
halle durch die Gewerbevereine eingeholt. Die
Gewerbe vereine errichteten teilweise auch Kran-
ken- und Sterbekassen für ihre Mitglieder.
Ueber volkswirtschaftliche, technische sowie
sozialpolitische Fragen, auch über Gesetzgebung
werden Vorträge gehalten, wozu Redner vom
Orte oder auswärts gewonnen oder solche vom
grossherzoglichen Ministerium des Innern er-
beten werden. — Um die Bildung von gewerb-
lichen Vereinen mehr und mehr anzuregen, hat
die Regierung seit einer Reihe von Jahren ver-
schiedene Einrichtungen zur Förderung des Ge-
werbewesens geschaffen und deren Benutzung
den Gewerbevereinen in jeder Weise recht leicht
gemacht. Vor allen Dingen ist es die Landes-
gewerbehalle, als Mittelpunkt für gewerbliche
Anliegen, die schon 18ö5 eröffnet wurde und
deren Organisation vorbildlich wirkte. Im
„Bureau" können die Landesangehörigen ge-
schäftliche Auskunft aller Art haben, die
Bücherei mit etwa 17000 Bänden und die
Vorbildersammlung mit 4600 Blättern ist leicht
zugänglich, und in der „Ausstellung" bringen
namentlich die Gewerbevereinsmitglieder nicht
nur ihre Erzeugnisse zur Ausstellung und Be-
gutachtung, sondern dort ist auch immer das
neueste und beste an Werkzeugen und der-
gleichen für nahezu alle Berufe zu treffen. Die
oadische Gewerbezeitung, das Organ der Landes-
gewerbehalle und der Gewerbevereine, geleitet
vom Vorstand der Anstalt, bringt nicht nur
belehrende Aufsätze aller Art und Berichte der
Vereine, sondern enthält auch die staatlichen
Arbeitsvergebungen des Landes und wird von
vielen Gewerbevereinen für alle Mitglieder ge-
boten. Von den weitgehenden Vergünstigungen,
welche die Regierung den Gewerbevereinen
macht, wird von ihnen noch nicht in dem Masse
Gebrauch gemacht, wie es in der Absicht der
Regierung liegt, wenn auch zugegeben werden
muss, dass durch die ausserordentliche Ver-
mehrung der Vereine in den letzten Jahren
alle diese Einrichtungen jetzt erst im ganzen
Lande besser bekannt werden.
Seitens der Regierung haben sich die Ge-
werbevereine einer grossen Wertschätzung zu
erfreuen, denn immer wurde in allen das Ge-
werbe berührenden Fragen ihr Gutachten ein-
geholt. Statt des früheren „ständigen Aus-
schusses" der Landesgewerbehalle, der sich an
der Mitberatung allgemein gewerblicher und
Handelsfragen des Landes und besonders auch an
der Beratung des gewerblichen Staatshaushalts
alljährlich beteiligte, ist seit 1893 der „Landes-
gewerberat" errichtet, dem auch wieder je ein
Vertreter der 9 Gauverbände mit Vertretern
der Handelskammern und von grossherzoglicher
Regierung ernannte Mitglieder angehören.
Im Eisenbahnrat ist der Landesverband durch
zwei Herren vertreten. Bemerkenswert sind
noch folgende gemeinnützige Einrichtungen:
a) Arbeitsnachweisanstalten. Solche
bestehen in Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe,
Konstanz, Lahr, Lörrach, Mannheim, Offenburg,
Pforzheim, Schopfheira und Müllheim.
b) Lehrlingsheime, zum Zweck, den
jungen Leuten in ihrer freien Zeit an Werk-
Grewerbevereine
561
tagen und Sonntagen an einem — im Winter
geheizten — Orte Gelegenheit zur Erholung
und zum Spiel, Lesen, Zeichnen u. s. w. zu
feben, bestehen in Baden, Karlsruhe, Mannheim,
'reiburg u. s w. Sie sind von den Gewerbe-
vereinen ins Leben geiufen und werden von
ihnen und der Gemeinde unterstützt.
In Baden werden 4 Handwerks-
kammern errichtet, und zwar in Konstanz,
Freiburg, Karlsruhe und Mannheim. Wenn die
Zahl der selbständigen Handwerksmeister im
Grossherzo^tum Baden auf etwa 45000 geschätzt
wird, so sind Ende Dezember 1899 in den 40
Innungen und Genossenschaften, Fachvereinen,
Gewerhevereinen und Handwerkervereinen zu-
sammen etwa 20000 Handwerksmeister korpo-
riert, also kaum die Hälfte.
3. Bayern. Auf Veranlassung des
Bayerischen Gewerbemuseums in Nürnberg,
dessen Zweck es ist, den Fortschritt auf
allen Gebieten der gewerblichen und in-
dustriellen Arbeitsthätigkeit des Landes in
technischer, künstlerischer und geschäftlicher
Beziehung zu fördern, wurde am 26. Sep-
tember 1875 unter Zustimmung von 39 Ge-
werbevereinen in der in Nürnberg veran-
stalteten Versammlung der Verband Baye-
rischer Gewerbevereine gegründet und die
Leitung desselben vom Direktor des Baye-
rischen Gewerbemuseums übernommen.
Massgebend für den Zusammenschluss
wai- in erster Linie der Gedanke, Beziehungen
zwischen den einzelnen Vereinen herzu-
stellen, einen gegenseitigen Austausch der
femachten Erfahrungen zu ermöglichen, eine
Landhabe zu gewinnen zur Verfolgung der
gemeinsamen gewerblichen und wirtschaft-
Bchen Aufgaben, zugleich aber um dadurch
die einzelnen Vereine in möglichst enge
Fühlung mit dem Bayerischen Gewerbe-
museum zu bringen.
Bei der Bedeutung des Verbandes mn
die Entwickelung des gewerblichen Lebens
vermehrte sich mit der Zeit die Zahl der
ihm angehörenden Vereine. Dieselbe be-
trägt heute 62. Die Zahl der Mitglieder
macht ungefähr 10 000 aus.
Seit der Gründung des Verbandes wurden
alljährlich Verbandstage abgehalten — der erste
am lt. Juni 1876 — , bei welchen alle die gewerb-
lichen Verhältnisse betreffenden Fragen zur
Beratung gebracht wurden. Ganz besonders
erwähnenswert nach dieser Bichtung sind die
Ausfährungen über Hausierhandel und Wander-
lager, Zuchthausarbeit und Yerdingungswesen,
die Aufstellung eines einheitlichen Lehrvertrags
imter Berücksichtigung der einschlägigen Para-
firaphen der Gewerbeordnung, dann dasProgramm
rar die Abhaltung von Lehrlingsprüfnngen und
Lehrlingsarbeiten- Ausstellungen sowie die Ein-
ft\hrung der Bayerischen Landesausstellung
Sreisgekronter Lehrlingsarbeiten. In den letzten
ahren beschäftigte den Verband naturgemäss
ganz besonders das neue Handwerksgesetz v.
zß. Juni 1897 sowie die Stellungnahme gegen
die Auswüchse der Grossbazare und Waren-
hänser mit ihren Zweiggeschäften und sonstige
einschneidende für die gewerblichen Verhält-
nisse wichtige Fragen.
Ausser den alljährlich stattfindenden Ver-
bandstagen, welche als die ordentlichen Haupt-
versammlungen des Verbandes anzusehen sind,
veranstaltete der Verband auch Wanderver-
sammlungen, verbunden mit Ortsgewerbe- und
Lehrlingsarbeiten-Ausstellungen sowie mit Wan-
derausstellungen des Bayerischen Gewerbe-
museums, bei denen Werke aus dessen Muster-
sammlung, Vorbildersammlung, Bücherei und
der chemisch-technischen und mechanisch-tech-
nischen Abteilung zur Ausstellung kamen.
Solche Wanderversammlungen fanden bisher in
Straubing, Augsburg, Würzburg, Freising,
Amberg, Bamberg, Ingolstadt und Begens-
bürg statt.
Als ein Hauptfördernngsmittel für die Be-
lebung der Interessen innerhalb der einzelnen
Vereine wurde schon von vornherein die Ab-
haltung von belehrenden Vorträgen durch Be-
amte des Bayerischen Gewerbemuseums be-
trachtet.
Im Jahre 1889 wurden, dank dem vom
königlich bayerischen Staatsministerium be-
willigten Zuschüsse für das Bayerische Ge-
werbemuseum, Wandervorträge in allen dem
Verbände angehörigen Gewerbevereinen einge-
führt, so dass jeder Verein in jedem Jahre un-
entgeltlich einen Vortrag erhielt.
Das vom Bayerischen Gewerbemuseum auf
Grund des Beschlusses der Hauptversammlung
des XIV. Verbandstages Bayerischer Gewerb?-
vereine im Jahre 1889 herausgegebene Programm
für die Abhaltung von Lehrlingsprüfangen und
Lehrlingsarbeiten -Ausstellungen im Königreich
Bayern wurde von allen Vereinen bei den
jeweils veranstalteten örtlichen Unternehmungen
zu Grunde gelegt, so dass im grossen und
ganzen ein einheitiiches Verfahren in dieser
Kichtnng erzielt wurde.
Schon von der Gründung des Verbandes an
richtete die Verbandsleitung ihr Augenmerk
auf die Abfassung schriftlicher Lehrverträge,
und es gelang ihren Bemühungen, das im Ja&e
1888 herausgegebene, im Jahre 1891 verbesserte
Lehrlingsbuch in mehr als 21600 Ausgaben
zur Einführung zu bringen. Das Buch enthält
die Zeugnisse über bestandene Lehrzeit, über
den Besuch von Fach- und Fortbildungsschulen,
über Beteiligung an der örtlichen Lehrlings-
arbeitenausstellung u. s. w. sowie das Muster
für den Lehrvertrag und einen Auszug aus
der Gewerbeordnung in betreff des Haltens und
Anleitens der Lehrlinge.
Im Jahre 1890 wurden die bayerischen
Landesausstellungen preisgekrönter Lehrlings-
arbeiten von der Verbanasleitung ins Leben
gerufen. Das Bayerische Gewerbemuseum
leiteten hierbei folgende Gesichtspunkte: Die
Landesausstellung von preisgekrönten Lehrlings-
arbeiten hat den Zweck, m erster Linie auf
die schon länger bestehende Einrichtung örtlicher
Lehrlingsarbeitenausstellungen fördernd einzu-
wirken. Dieses Ziel soll dadurch erreicht wer-
den, dass dem Lehrlinge Gelegenheit geboten
wird, im Vereine mit einer grösseren Zahl seiner
Alters- und Berufsgenossen aus dem ganzen
engeren Vaterlande wettbewerbend vor eine
grössere Oeffentlichkeit zu treten. Von ganz
besonderer Wichtigkeit aber wird die Landes-
Handwörterbuch der StaatswiBseiiBchaften. Zweite Auflage. IV.
B6
562
Oewerbevereine
ausstellung für die Entwickelnng des Lehrlings-
wesens dadurch, dass sie Gelegenheit bietet, zn
Ta^ tretende Mängel eingehend zn prüfen und
geeignete Abhilfe anzubahnen. An der Aus-
stellung können sich nur solche Lehrlinge be-
teiligen, deren Arbeiten bei der Örtlichen Lehr-
lingsarbeitenausstellung mit dem ersten Preise
ausgezeichnet wurden.
Mit diesen AussteUungen wurden erfreuliche
Ergebnisse erzielt. Es beteiligte sich durch-
schnittlich daran die Hälfte der Yerbandsvereine,
und die Zahl der beteiligten Lehrlinge belief
sich im Durchschnitt in jedem Jahr auf 150 — 160.
Derartiger Landesausstellungen fanden bis jetzt
acht statt.
Die in verschiedenen Jahren, das erste Mal
im Jahre 1886, erhobene Statistik über die
Thätigkeit der Vereine nach den einzelnen Ver-
anstaltungen zu Gunsten ihrer Mitglieder brachte
sehr erfreuliche Ergebnisse, namentlich auf dem
Gebiete der Errichtung und Weiterftthrung von
Fach- und Fortbildungsschulen, Unterstützung
von tüchtigen Gresellen bei Besuch von höheren
Lehranstalten, Landesgewerbe- und Weltaus-
stellungen, Einführung von Vorschuss- und Dar-
lehenskassen, Verkauishallen und dergleichen.
Die von der Verbandsleitung bei dem
Witteisbacher Landesstiftun^rate gegebene
Anregung, Meistern, welche sich um die Heran-
bildung tüchtiger Lehrlinge besonders verdient
gemacht haben', eine Auszeichnung in Form
eines vom königlich bayerischen Staatsministe-
rium ausgefertigten Diploms zu verleihen, fand
bereitwillige Zustimmung.
Mit dem Jahre 1896 erfolgte der Anschluss
des Verbandes an den Verband deutscher Ge-
werbevereine, was die Vertretung der gemein-
samen Interessen beim Bundesrate und Keichs-
tag wesentlich erleichterte und förderte.
In den letzten Jahren bildeten natnrgemäss
die Beratungen und Erläuteruniepen über das
neue Handwerks^esetz den \^dchtigsten Gegen-
stand in den einzelnen Hauptversammlungen
und Ausschusssitzungen.
Da mit dem Inkrafttreten der Hand-
werkskammern diese den Mittelpunkt des
gewerblichen Lebens fiSr die Folge bilden
werden, so hat sich der seitherige Leiter
des Verbandes, der Direktor des Bayerischen
Gewerbemuseums, veranlasst gesehen, bei
dem XXIV. Verbandstage am 8. Oktober 1899
die Leitung des Verbandes niederzulegen.
Vorher war- die Verbandsleitung jedoch be-
müht, die einzelnen Vereine iu den je-
weiligen Regierungskreisen zu Kreisver-
bänden zusammenzuschliessen, damit sie bei
der betreffenden Handwerkskammer als ge-
schlossenes Ganzes auftreten und ihre
Wünsche und Anträge vorbringen könnten.
Zu diesem Zwecke hal)en sich, der An-
regung folgend, in den Kreisen Mittelfranken,
Oberfranken, Unterfranken, Schwaben und
Neuburg Kreisverbände gekündet, und es
ist zu erwarten, dass die bis jetzt noch aus-
stehenden Kreise sich ebenfalls noch korpo-
rieren werden.
Wenn nun auch das Bayerische Ge- i
werbemuseum beziehungsweise dessen Direk-
tor von der Leitung des Verbandes zurück-
getreten und dieselbe in andere Hände über-
gegangen ist 80 wird doch nach wie vor
m den Kreisen des Verbandes sowohl wie
unter den Gewerbetreibenden des Landes
im allgemeinen das Bayerische Gewerbe-
museum den Mittelpunkt bilden, wenn sie
Rat und Auskunft in den yerschiedenen
Zweigen des gewerblichen Lebens bedürfen.
Das Gewerbemuseum hat die Aufgabe, die
Gewerbetreibenden des Landes in tech-
nischer und künstlerischer Hin-
sicht zu fördern.
Erwähnt seien hier noch die beiden im
Jahre 1882 und 1896 vom Bayierischen Ge-
werbemuseum mit grossem ärfolge durch-
geführten Bayerischen Landes - Lidustrie-,
Gewerbe- und Kimstausstellungen, welche
überaus nutzbringend und segensreich für
den Aufschwung des vaterländischen Ge-
werbes und der Industrie waren.
4. Elsass-Lothringen. Die elsass-
lothringischen Gewerbevereine haben sich
aus dem Mittelstande und namentlich aus
dem Handwerkerstande gebildet; sie ent-
standen im Laufe der achtziger Jahre.
Der Organisationsgedanke in diesem Lande
ist erst in jüngster Zeit geweckt woixlen.
Bis zum Jahre 1897 waren in Elsass-Loth-
ringen unter 38 000 Handwerkern etwa 1000
organisiert; von diesen 1000 gehörten etwa
2/3 den damals vorhandenen Gewerbever-
einen an. Seit Erlass des G. v. 26. Juli
1897 trat eine planmässige rührige Organi-
sation ein ; besonders eingeleitet wurde die-
selbe durch den Vorstand des Verbandes
elsass-lothringischer Gewerbevereine , der
1898 den Namen »Verband elsass-lothringi-
scher Gewerbe- und Handwerkervereine «
annahm. Gegenwärtig giebt es in Elsass-
Lotliringen: im Ober-Elsass 24, im ünter-
Elsass 29 und in Lothringen 16, im ganzen
69 Gewerbe- und Handwerkervereine: da-
von gehören 33 Vereine dem genannten
Verbände an mit etwa 2800 Mitglie<lem*
von diesen sind 85 ^/o Handwerker. Auf
dem Gebiete der Förderung des gewerb-
lichen Bildungswesens ist Elsass-Lothringen
leider erheblich hinter anderen Staaten zu-
rückgeblieben, was auch nicht zu verwim-
dern ist, w^enn man bedenkt, dass z. B. der
Badische Staat bei einer noch etwas kleineren
industriollen Bevölkerung in Baden als in El-
sass-Lothringen für gewerbliches ünten-ichts-
wesen und sonstige Zwecke des Gewerbes
etwa 800 000 Mark jährlich ausgiebt, wo-
gegen in Elsass-Lothringen der Gesamtauf-
wand des Staates für Handel und Gewerbe
gegenwärtig für ein Jahr nui* 176 000 Mark
beträgt. Im übrigen steht die Regienmg
dem Gewerbe Vereins Wesen fi*eundlich gegen-
über. Für Elsass-Lothringen wird eine
Grewerbevereiue
563
Haadwerkskammer mit dem Sitz in Strass-
burg errichtet, und im Bezirk derselben
weisen 4 Abteilungen in Mülhausen, Colmar,
Metz und Strassburg gebildet.
6. Hannover. Der Gewerbeverein für
Hannover mit dem Sitze in der Stadt
Hannover wurde im Jahre 1834 gegründet
und bezweckt Belebung und Förderung des
vaterländischen Gewerbefleisses in der Stadt
imd Provinz Hannover. Seine Mitglieder-
zahl beträgt 744. Ausserdem sind diesem
Vereine 29 Handwerker- und Qewerbever-
eine, welche in den verschiedenen Städten
der Provinz Hannover ihren Sitz haben,
angeschlossen. Die Mitgliederzahl dieser
Vereine beträgt 2953, so dass die 30 Hand-
werker- und Gewerbevereine der Stadt und
Provinz Hannover demnach eine Gesamtmit-
gliederzahl von 3697 erreichen. Davon ge-
hören dem Verbände deutscher Gewerbe-
vereine als Landesverband Hannover 18
Vereine mit 2 316 Mitgliedern an.
Die Ortsgewerbevereine der Provinz
Hannover stehen in unmittelbarer Beziehung
zu dem Hauptverein. Die Mitglieder der-
selben beschränken ihre Thätigkeit im
wesentlichen auf die Wahlen der Direktions-
mitglieder des Hauptvereins in den jähr-
lichen Hauptversammlungen. Wollten die
Mitglieder eine selbständige Thätigkeit üben,
so mussten sie sich schon m engeren Kreisen
vereinigen. Hier konnten sie die in dem
Hauptvereine mehr zurücktretende eigene
Thätigkeit zur Geltung bringen, um die
nötigen Aufschlüsse über die örtlichen Zu-
stände der Gewerbe, ihre Mängel und die
Mittel zu deren Beseitigung, zu erhalten,
oder um durch gegenseitige Mitteilung zur
Belehrung der Mitglieder beizutragen.
Die Vorstände der Ortsgewerbevereine
haben das Recht, an den Sitzungen der
Direktion in der Stadt Hannover durch je
einen von ihnen selbst zu wählenden Ab-
gesandten teil zu nehmen. Jeder Ortsge-
werbeverein hat in der Direktionssitzung, in
welcher er vertreten ist, in allen denjenigen
Angelegenheiten, welche nicht etwa Geld-
bewilligungen aus der Kasse der Direktion
betreffen, eine Stimme abzugeben. Die An-
zahl aller Stimmen der vertretenen Orts-
gewerbevereine darf jedoch die Zahl der in
der Sitzung anwesenden Direktionsmitglieder
nicht übersteigen, und es muss erforderlichen-
falls eine Vermindenmg der von den ein-
zelnen Ortsgewerbe vereinen abzugebenden
Stimmen auf einen Stimmenbruchteil ein-
treten.
In der Hauptversammlung hat jeder
der vertretenen Ortsgewerbevereine eine
Stimme zu führen, deren Träger vorher der
Direktion namhaft zu machen ist.
Die gegenwärtige Thätigkeit des Ge-
werbevereins für Hannover ist der
Hauptsache nach auf Belehrung und Weiter-
bildung der Gewerbetreibenden gerichtet;
zu diesem Zwecke dienen: eine Vereins-
bücherei, welche Werke gewerblichen
und kunstgewerblichen Inhalts, daneben
auch solche für dlgemeine Bildung enthält ;
eine Vorbildersammlnng, deren Be-
nutzung durch den Konservator des Vereins
erleichtert und unterstützt wird; derselbe
riebt auch Berichtigungen an den von den
Gewerbetreibenden im Zeichensaale des Ver-
eins ausgeführten Skizzen und Zeichnungen ;
ein - Auskunftsstelle, durch welche die
Gewerbetreibenden aUe gewünschten auf
ihre fachliche Thätigkeit Bezug nehmenden
Auskünfte erhalten; eine Vereinszeit-
schrift, » Hannoversches Gewerbeblatt« ,
welche Artikel gewerblichen und kunst-
gewerblichen Inhalts, Ausstellungs- und
Vereinsberichte, eine Patentliste und litte-
raturnach weise bringt; ein Lesezimmer
in den Vereinsräumen, in welchem aUe
hervorragenden gewerblichen und kunst-
gewerblichen Zeitschriften aufliegen; eine
Muster- und Stoffsammlung; eine
Wechselausstellung von Werkzeugen
und Maschinen insbesondei'e für das Klein-
gewerbe in einer neuerbauten Halle, wobei
die Maschinen den Besuchern im Betrieb
vorgeführt werden, ferner eine Wechsel-
ausstellung von gewerblichen und kunst-
gewerblichen Gegenständen. Der Besuch
der Ausstellungen und Sammlungen w^ird
den Mitgliedern der Arbeiter-, Handwerker-
und Gewerbevereine, den Schülern der Ge-
w^erbe- imd Fortbildungsschulen unter Füh-
rung des Konservators des Vereins unent-
geltlich gestattet; Unterricht in ver-
schiedenen gewerblichen Zweigen, wie für
Dampfkesselheizer und Maschinenwärter, für
Installateure für Gras- und Wasserleitungen,
für Elektrotechniker; der kunstgewerbliche
Unterricht für Frauen; der Unterricht wird
nach den Bedürfnissen der Gewerbetreiben-
den eingerichtet imd erweitert. Ausserdem
fördert der Gewerbeverein die Ortsge-
werbevereine der Provinz, er veranstaltet
Vorträge in seinen Hauptversammlungen
und in den Ortsgewerbevereinen, er erteilt
Rat in allen gewerblichen Fragen
und imterstützt gewerbliche Aus-
stellungen und Fortbildungs-
schulen.
6. Hessen« Im Grossherzogtum Hessen
ist das Gewerbevereinswesen vorzüglich or-
ganisiert ; der Landesgewerbeverein sieht auf
eine lange Dauer zurück; 1836 gegründet,
konnte am 21. Juli 1887 das 5()jährige
Jubiläum seiner Thätigkeit gefeiert werden.
Die Entstehung des Vereins fällt also
zurück in eine Zeit, in welcher Frank-
reich und England auf den Gebieten der
Industrie und Technik Deutschland gegen-
36*
5Ö4
Gewerbe vereine
über einen weiten Vorspnmg errungen hat-
ten, in die Zeit, in welcher der Grundsatz
der ökonomischen Freiheit allmählich auch
in Deutschland zur Geltung kam. Der Ge-
werbeverein für das Grossherzogtum Hessen
(Landesgewerbeverein) bildet eine freie Ver-
einigung örtlicher Gewerbevereine nach ein-
heitlicher Satzung und unter staatlicher
Centralleitung der Grossherzoglichen Cen-
tralstelle für die Gewerbe in Darmstadt,
deren Vorsitzender zugleich Vorsitzender
des Landesgew^erbevereins ist.
Dieser Verein bezweckt die berufliche
und wirtschaftliche Fördenmg seiner Mit-
glieder und des einheimischen Gewerbe-
standes ; er büdet ein Organ, durch welches
der Staatsregierung Berichte und Gutachten
über gewerbliche Angelegenheiten erstattet
werden. Seine gescliäftsführende Stelle ist
die Grossherzogliche Centralstelle für die
Gewerbe, deren Beamte vom Staate ernannt
und besoldet werden und dem Grossherzog-
lichen Ministerium des Innern miterstellt
sind.
Das Kassenwesen ist einem Rechner über-
tragen.
Zur Erreichung des oben angegebenen
Zwecks dienen hauptsächlich folgende
Mittel :
1. Pflege der Beziehungen der Mitglieder
und der Ortsgewerbevereine untereinander
und zu sonstigen Vereinen und Verbänden,
behufs Ermittelung des Zustandes und der
Bedürfnisse der Gewerbe; 2. Beförderung
der Ausbildung imd Anleitung der Gewerbe-
treibenden, Haiidwerker und zwar von Meis-
tern, Gesellen und Lehrlingen ; 3. Anregung
zum genossenschaftlichen Zusammenschluss,
Unterstützung des Arbeitsnachweises ; 4. Un-
terstützungen, öffentliche Preisausschreibun-
gen und Äeiserteilungen zur Förderung des
inländischen Gewerbewesens ; 5. Anschaffung
guter Zeitschriften und sonstiger Werke,
weldie gewerbliche und technische Gegen-
stände behandeln; 6. Erteilung von Aus-
kunft, Gutachten und Ratschlägen; 7. Ver-
anstaltung belehrender Vorträge technischen
und wirtschaftlichen Inhalts ; 8. Veranlassung
und Befördenmg aUgemeiner Ausstellungen
von Gegenständen des heimischen Gewerb-
fleisses sowie von Sonderausstellungen;
9. Unterhaltung einer technischen Muster-
sammlung; 10. Erstattung von Gutachten
und Anträgen an die staatlichen Behörden
und das Grossherzogliche Ministerium des
Innern; 11. Herausgabe einer Zeitschrift
unter dem Titel »Gewerbeblatt für das
Grossherzogtum Hessen«; 12. Berücksich-
tigung neuer Erfindungen des In- und Aus-
landes und geeignete Mitteilung derselben;
13. Beratung sonstiger gewerblicher Gegen-
stände in Vei*sanimlungen , Ausschusssit-
zungen und besonderen Kommissionen. 14.
Die Grossherzogliche chemische Prüfungs-
und Auskunftsstation für die Gewerbe.
Aufgabe des Landesgewerbevereins ist
es, möglichst dahin zu wirken, dass die
Vereinsmitglieder der gewerbreicheren
Orte des Landes und deren näheren Um-
gebung zur Bildung von Ortsgewerbe-
vereinen zusammentreten.
Solche in dieser Art gebildete und von
der Centralstelle anerkannte Ortsvereine,
welche mit wenigstens 20 dem Landes^-
werbeverein angehörenden Mitgliedern ms
Leben treten, regelmässige Versammlungen
der Mitglieder halten und nur die ihrer ge-
werblichen Bestimmung entsprechenden
Zwecke verfolgen, haben eine Unterstützung
aus der Gewerbevereinskasse zu erwarten,
welche der Hälfte der satzungsgemässen
Beiträge (d. i. 2 Mk.) der Mitglieder gleich-
kommt und über deren Verwendung zu
Vereinszwecken dieselben selbständig ver-
fügen können.
Die Ortsgewerbevereine bilden unter sich
Bezirksverbände ; die Geschäfte eines solchen
Verbandes werden durch den Bezirksaus-
schuss geleitet, welcher aus den Vertretern
der dem Verband angehörigen Ortsvereine
besteht.
Handwerker- oder Meistervereinigungen
können bei dem Landesgew^erbeverein die
Mitgliedschaft erwerben.
Der Zweck der Ortsvereine besteht zu-
nächst darin, die Bedürfnisse des dem be-
treffenden Orte oder Bezirk angehörenden
Gewerbestandes zu erforschen, Vorschläge
zur Verbesserung gewerblicher Zustände
und zur Vennehrung der Erwerbsquellen zu
machen, um dieselben durch Vermittelung
der Centralstelle und nach Begutachtung
durch den Ausschuss des Landesgewerbe-
vereins an das Grossherzogliche Ministerium
des Innern gelangen zu lassen. Insbeson-
dere liegt ihnen die örtliche Pflege
des gewerblichen Schulwesens und
die Förderung des Gedeihens und
der Wirksamkeit der ihrer Auf-
sicht unterstellten Handwerker-
schulen ob, deren obere Leitung von der
Centralstelle für die Gewerbe ausgeübt wird.
Zur Unterstützung der Grossherzoglichen
CentralsteUe in der Leitung der mit dem
Landesgewerbevereine in Verbindung stehen-
den gewerblichen Schulen besteht eine
Hand werker Schulkommission, deren
Vorsitzender der Gewerbeschulinspektor ist.
Aufgabe derselben ist es, fortlaufend durch
ihre Mitglieder den Zustand und die Wirk-
samkeit der Schulen zu überwachen.
Zur Bearbeitung der dem Landesge-
wTrbevereine obliegenden Aufgaben und zur
Beratung derselben in besonderen Sitzungen
besteht ein Landesausschuss. Demselben
gehören ausser dem Vorsitzenden und
Gewerbevereine
565
Sekretär der Grossherzoglichen Central-
stelle an:
1. Drei von der Regierung zu ernennende
Mitglieder ;
2. Je ein von jedem Bezirksausschuss der
Ortsgewerbevereine gewählter Vertreter ;
3. Je ein Vertreter derjenigen Ortsge-
werbevereine, deren Mitgliederzahl 300
übersteigt ;
4. Vertreter der dem Verein als Mit-
glieder angehörigen Handwerker- oder-
Seistervereinigungen .
Abgesehen von den laufenden Geschäften
kann ohne Zuziehung des Ausschusses kein
wichtigerer Gegenstand von der Central-
stello allein erledigt werden.
Unter Leitung der Centralstelle für die
Gewerbe haben im Schuljahr 1898/99 nach-
stehend verzeichnete Lehranstalten ge-
standen :
Die Landesbaugewerkschule , eine Fach-
schule für Elfenbeinschnitzerei und ver-
wandte Gewerbe, eine Webschule, zwei
Kunstgewerbeschiüen . 11 (lewerbeschulen,
100 Sonntagszeichenscnulen an 99 Orten, teil-
weise verbunden mit Wochenunterricht, und
42 gewerbliche Fortbildungsschulen für die
nicht zeichnerischen Fächer. Ausserdem
finden bei der Centralstelle kunstgewerb-
liche Unterrichts- und besondere Meister-
kurse für Handwerker statt. An den von
den Ortsgewerbevereinen veranstalteten Ge-
sellenprüfungen haben sich im Jahre 1899
mit Erfolg 215 Lehrlinge beteiligt.
Ueber die finanzieUen Verhältnisse im
Jahre 1899 ist folgendes zu berichten:
Staatfiznschuss für
die Grossh. Central-
stelle für die Gewerbe
imd den Landesge-
werbeverein ....
Mitgliederbeiträge .
Beiträge der Orts-
gewerbevereine , Ge-
meinden, Sparkassen
zu den Kosten der
Handwerker - Sonn-
ta^szeichenschalen .
Die kostenlose Stel-
lang der Scbulräume,
Heizung nnd Beleuch-
tung dnrch die Ge-
meinden ist zu ver-
anschlagen zu . . .
Schulgeld ....
Ausserdem wurden
noch vereinnahmt . .
81213,— M.
3 1 336 — M.
24440,— »
7000,— „
14280,— „
1 880.—
Zusammen .
Staatszuschuss für
die Grossh. chemische
Prüfungs- und Aus-
kanfts-Station . . .
An Gebühren wur-
den vereinnahmt . .
8 1 2 1 3,— M. 78 936,— M.
7353,-M.
Staatszuschuss für
die Grossh. Landes-
baufi^ewerkschnle, die
Fachschulen , Kunst-
gewerbe- sowie Ge-
werbeschulen . . . 136280, — M.
Beiträge der Ge-
meinden u. Sparkassen
An Schulgeld . .
Aufwand der Orts-
gewerbevereine und
emeinden durch Stel-
lung der Schnlräume,
der Heizung und Be-
leuchtung . . . .
62750,— M.
51730,— „
34940,— „
3 509, - M.
Zusammen
7353— M. 3509,-M,
Zusammen . 136280,— M. 149420,— M.
Insgesamt standen hiernach für Vereins-
und Schulzwecke 456711 Mark zur Ver-
fügung, danmter 224846 Mark oder 49 «/o
an Staatsmitteln.
Ziu* Zeit der Berichterstattung bestand
der Landesverein aus 104 Ortsgewerbever-
einen mit nuid 9600 Mitgliedern, wovon
83 ®/o Fabrikanten und Gewerbetreibende und
64*^/0 ausschliesslich Handwerker sind.
T.Mecklenburg. Der Verband mecklen-
burgischer Gewerbevereine wurde am 28.
September 1878 begründet. Die Veran-
lassung hierzu ging von Wismar aus.
Dem Verbände traten sofort 10 Vereine
mit insgesamt 1651 Mitgliedern bei; von
ihnen blicken eine Reihe, so Wismar, Ro-
stock, Schwerin, Güstrow, Bützow, Parchim
bereits auf eine mehr als 50 jährige Thätig-
keit zurück. Am 5. April 1879 geruhte der
damalige Erbgrossherzog, nachmalige Gross-
herzog Friedrich Franz III. , das Protektorat
über den Verband zu übernehmen. Noch
im gleichen Jahre wurde ihm eine Unter-
stützung seitens der Regierung dadurch zu
teil, dass diese eine Reisebeihüfe für solche
Gewerbetreibende bewilligte, welche die da-
malige Berliner Ausstellung zu besuchen
wünschten. Eine dauernde Unterstützung er-
hält der Verband von der Regierung seit
dem 7. Januar 1885, wo durch Ministerial-
reskript verfügt ward, dass ihm ein gleicher
Betrag wie derjenige, welchen er aus eige-
nen Mitteln aufbringen werde, jährlich aus
dem Landesindustriefonds gewährt werde.
Gegenstand der Verhandlungen des Ver-
bandes bUdeten in den ersten Jahren seines
Bestehens die Innungsfrage, das Lehrlinga-
wesen, die Fürsorge für notleidende Reisende,
die Abhaltung einer Landes^ewerbeausstellung
(1883) sowie die Gewerbeschulfrage, um die
sich besonders der Gewerbeverein Rostock ver-
dient machte. In die Folgezeit fällt die Be-
gründung eines Stipendienfonds, aus dessen
Mitteln jungen Handwerkern eine Beihilfe zum
Besuch eines Technikums gewährt wird, der
Verbandssterbekasse sowie die Bildung von
Gewerbevereinskrankenkassen (neuerdings eines
Verbandes dieser Krankenkassen); femer be-
schäftigte den Verband die gewerbliche Buch-
566
Gewerbevereine
führung, das Genossenschaftswesen, die Er-
richtung einer gewerblichen Hauptstelle u. a. m. ;
in neuester Zeit kamen hinzu: Haftpflichtver-
sicherung, Alters- und Invaliditätsversicherung.
Selbstverständlich war die neue Handwerker-
organisation gleichfalls des öfteren Gegenstand
der Verhandlungen. Die Gewerbeschulen im
Lande sind städtische Einrichtungen, die von
der Regierung und nur ausnahmsweise und
unbedeutend von den Gewerbevereinen mit Geld
unterstützt werden (mit Ausnahme Rostocks).
Der Verband umfasst zur Zeit 34 Vereine
mit zusammen 3733 Mitgliedern, darunter 2456
Handwerker. Von diesen 34 Vereinen zählen
12 wenig:er als 50 Mitglieder, der kleinste nur
5, die beiden nächstkleinsten je 20, zusammen
356 Mitglieder; 11 Vereine 50 — 100, zusammen
761 Mitglieder; - 5 Vereine 100-200, zu-
sammen 684 Mitglieder ; — 3 Vereine 200—300,
zusammen 692 Mitglieder; — 1 Verein zwischen
300 und 400, nämlich 356 Mitglieder ; 2 Vereine
400 — 500, zusammen 884 Mitglieder. Ueber die
Hälfte aus Handwerkern bestehen 28 Vereine,
während in 6 Vereinen die Nichthandwerker
überwiegen. — Im Jahre 1897 umfasste der
Verband 25 Vereine mit 2518 Mitgliedern, im
Jahre 1898 27 Vereine mit 3232 Mitgliedern,
mithin ist gegen 1897 ein Zuwachs von 9 Ver-
einen und 1215 Mitgliedern, gegen 1898 ein
solcher von 7 Vereinen und 501 Mitgliedern zu
verzeichnen. — Ausserhalb des Verbandes stehen
ausserdem noch 2 Gewerbe vereine, so dass die
Gesamtzahl der mecklenburgischen Gewerbe-
vereine 36 beträgt.
8. XassaiL Der im Jahre 1845 in
Wiesbaden gegriindete Gewerbeverein für
Nassau umfiisste ursprünglich das Gebiet
des Herzogtums Nassau; nach 1866 haben
sich die hessischen Landesteile des Kreises
Biedenkopf und später noch Homburg v. d. H.
angeschlossen, so dass er sich jetzt über den
Regierungsbezirk Wiesbaden, ausschliesslich
der Stadt Frankfurt a. M. und deren nähere
ümgebimg, erstreckt, ein Gebiet mit 650000
Einwohnern. Der Verein gliedert sich zur
Zeit in 92 Ortsvereine. Jeder Ortsverein
hat wieder seinen besonderen Vorstand und
seine eigene Verwaltung, steht aber unter
der Oberleitung des Centralvorstandes in
Wiesbaden, weicher seine Thätigkeit und
seine Vermögensverwaltung zu überwachen
hat. Der Centralvorstaiid setzt sich zusam-
men aus einem Dii'ektor, einem stellver-
tretenden Direktor, 3 Sekretären und 17
Beisitzern (Referenten für die verschiedenen
Berufszweigo). Der Verein besieht aus
ordentlichen, korrespondierenden und Ehren-
mitgliedern. Nach der Feststellung am 15.
März 1899 betrug die Zahl der Mitglieder
8288 (darunter 52rKS Handwerker); auf 1000
Einwohner kommen mithin 13 Mitglieder.
Die onlentlicheu Mitglieder zahlen einen
Beitrag von jähi'lich 4 Mark.
Die Wirksamkeit des Vereins war während
seines ööjährijfen Bestehens eine sehr vielseitige
und umfangreiche. Bis zum Jahre 1865 bildete
der Gewerbeverein die alleinige Vertretung
nicht nur des Handwerker- und Gewerbestandes,
sondern auch der Grossindustrie. Später ging
ein Teil der Arbeit auf die Handeiskammern
über, deren Gründung von dem Gewerbeverein
selbst beantragt und veranlasst worden war.
Auch nach der Einverleibung Nassaus in Preussen
ist der Verein mit der königlichen Staatsregie-
rung stets in engster Fühlung geblieben. In
fast allen das Handwerk und Gewerbe be-
treffenden Fragen von einschneidender Be-
deutung hat die Regierung sich der Mitwir-
kung des Gewerbevereins bedient, und die von
dem Centralvorstand in seinen gutachtlichen
Aeusserungen der Eegierung unteroreiteten be-
rechtigten Wünsche seiner Mitglieder haben
grossen teils Berücksichtigung geninden.
Zur Förderung der gewerblichen Bildung
hat der Gewerbeverein für Nassau von Anfang
an die Bildung und VervoUständ^ng einer
Bücherei gewerblich - technischer Werke und
Vorlageblätter mit Eifer betrieben. Die Bücher.
Zeitschriften u. s. w. werden an die Mitglieder
kostenlos ausgeliehen. Es ist daher denselben
reichlich Gelegenheit geboten, sich sowohl nach
der wissenschaftlichen als künstlerischen Seite
hin auf ihrem Gebiete weiter zu bilden und
mit den neueren Einrichtungen vertraut zu
machen. Die Bücherei enthält zur Zeit un-
gefähr 9000 Bände,
Die Patentschriften über die im Deutschen
Reiche erteilten Patente sind in den Geschäfts-
räumen des Centralvorstandes zu jedermanns
Einsicht ausgelegt.
Auch unterhält der Verein ein Musterlager
von Werkzeugen, technischen Hilfsmitteln, Ma-
schinen u. s. w. für das Kleingewerbe, die teil-
weise von den Fabrikanten dann vorübergehend
ausgestellt, teilweise von dem Verein käuflich
erworben werden. Ferner ist auch in dem
Musterlager die sehr reichhaltige Sammlung
von Lehrmitteln für den Zeichenunterricht unter-
gebracht.
Zur Vermittelung des Verkehrs zwischen
dem Centralvorstand und den Ortsvereinen,
deren Vorständen und Mitgliedern ^iebt der
Verein eine Zeitschrift heraus, die sich „Mit-
teilungen für den Gewerbeverein für Nassau"
betitelt und von dem ersten Vereinssekretär ge-
leitet wird. Die Zeitschrift behandelt ausser-
dem die für Handwerk und Gewerbe wichtigen
Gegenstände, insbesondere auch die Fortschritte
der gewerblichen Technik.
Die Hauptthätigkeit des Vereins ist von
jeher auf die Bildung, Unterhaltung und
Förderung der gewerblichen Fortbildungs-
schulen gerichtet gewesen. Dank der Un-
tei-stützuDg der Staatsregienmg, der Ge-
meinden, des Bezirksverbandes und der
Kreisbehörden war es möglich, die Schulen
auf eine Höhe zu bringen, die bis jetzt
wohl in keinem anderen Bezirke des preussi-
schen Staat<?s tibertroffen worden sein
dtlrfte. An allen Orten, wo Gewerbe vereine
bestehen, befinden sich auch gewerbliche
Fortbildungsschulen, mit Ausnahme eines
Ortes, wo man noch mit der Einrichtimg
der Schule beschäftigt ist. Nach der ini
Dezember 18i)8 aufgenommenen Statistik
Gtewerbevereine
567
betrug die Zahl der Schüler in 91 Schulen
(jeder nur einmal gezählt) 9898, die der
Lehrer 337 (auf 1000 Einwohner entfallen
15 Schüler).
Für die Entwickelung der Schulen ist die
Teilnahme von Fabrikanten, Geistlichen, Lehrern,
Beamten und anderen Freunden des Gewerbe-
standes von nicht zu verkennender Bedeutung
gewesen. Dieses selbstlose Mitwirken und
Aufopfern von Geld, Zeit und Arbeitskraft auch
derer, die nicht Handwerker sind, hat im Verein
mit der Thätigkeit des verständigen Teiles der
Gewerbetreibenden die Schulen geschaffen und
erhalten ; die Leitung oder Mitleitung durch die
Handwerker selbst bewahrt ihnen die praktische
Richtung. Die Oberleitung liegt in den Händen
des Central Vorstandes, der dem Ganzen nicht
nur ein einheitliches äepräge gegeben, sondern
auch stets ang:ere^ und nachgeholfen hat, wo
es fehlte, Lehrmittel beschaffte, Lehrer aus-
bilden liess u. 8. w. Einem der drei Vereins-
sekretäre ist besonders die Leitung des gewerb-
lichen Schulwesens anvertraut. Für diese
Stellung ist bisher stets ein praktischer Schul-
mann gewählt worden. Der Unterricht im
Deutschen und Bechnen ist in den meisten
Schulen obligatorisch, der Besuch der Zeichen-
schulen grossenteils noch ein freiwilliger; das
Bestreben geht aber neuerdings dahin, auch
diesen Unterricht obligatorisch zu machen. Im
Frühjahre finden durch vom Centralvorstand
bestellte Inspektoren die öffentlichen Schluss-
prüfungen statt unter Teilnahme der Orts-
vorstände und der beteiligten Handwerker. Die
im Laufe des Schuljahres angefertigten Zeich-
nungen werden nach Schluss desselben an den
Centralvorstand zur Beurteilung durch einen be-
sonders hierzu gewählten Ansschuss eingesandt.
Auf Anregung des Herrn Ministers für
Handel und Gewerbe sind im Jahre 1897 in
Ems und Limburg auch Mädchenfortbildungs-
schulen eingerichtet worden, die sich einer regen
Beteiligung erfreuen und recht gute Erfolge
erzielt haben.
Die Fortbildungskurse für Zeichenlehrer
finden neuerdings in erweitertem Umfange an
der Wiesbadener Gewerbeschule im Auftrage
des Herrn Ministers für Handel und Gewerbe
statt. Sämtliche Kosten trä^t die Staatskasse,
während die jzeschäftliche Leitung dem Central-
vorstand überlassen worden ist.
Alljährlich im Frühjahre werden auf Ver-
anlassung des Centralvorstandes des Gewerbe-
vereins freiwillige Lehrlingsprüfungen abge-
halten, dem Prüfling ein Zeugnis ausgestellt.
Zur Anregung einer grösseren Beteiligung an
den Prüfungen werden denjenigen Lehrlingen,
welche die Prüfung gut bestehen, kleine Preise
gegeben, wozu der Bezirksverband des Regie-
rungsbezirks Wiesbaden in dankenswerter Weise
jähnich einen Betrag von 300 Mark zur Ver-
fügung stellt.
Femer findet im Auftrage des Gewerbe-
vereins in jedem Jahre in Wiesbaden ein acht-
wöchiger Kursus zur Ausbildung von Hand-
arbeitslehrerinnen an Volksmädchenschulen und
ein sechswöchiger Haushaltungskursus für solche
"weibliche Personen statt, welche bereit sind,
entweder für eigene Rechnung oder im Auf-
trage der Kreisverwaltungen des Regienmgs-
bezirks weitere Kurse auf dem Lande abzu-
halten. Zu den Kosten leistet der Bezirksver-
band einen jährlichen Zuschuss von 3000 Mark.
Die jährlichen Gesamtausgaben des Gewerbe-
vereius für Nassau belaufen sich auf rund 150000
Mark. Dieselben werden gedeckt durch
Zuschnss des Staates aö 400 Mark
Desgleichen des Bezirks Verbandes 11 000 „
Beitrag der Gemeinden (einschl.
Stellung der Unterrichtsstätte
u. 8. w.) 35000 „
Beitrag der Kreise 4 500 „
Beitrag der Ortsgewerbevereine . 33000 „
Schulgeld 7 400 „
Sonstige Einnahmen . . . . . 3 700 „_
Zusammen 150 UOO Mark
Die auf den jährlichen Hauptversammlungen
gefassten und von dem Centralvorstand aus-
geführten Beschlüsse waren zum Teil von weit-
tragender Bedeutung für Handwerk und Ge-
werbe. Neben den vielen Beschlüssen über die
Schaffung von Verkehrserleichterungen u. s. w.
nennen wir hier nur die Begründung und An-
sammlung eines Stipendieufonds zur Ausbildung
armer begabter junger Handwerker, die Ein-
richtung des Arbeitsnachweises in Wiesbaden;
die keramische Fachschule in Höhr verdankt
ihre Gründung dem Gewerbeverein für Nassau.
Die auf Grund eines Hauptversammlungs-
beschlusses eingeleiteten Verhandlungen wegen
Errichtung einer Werkmeisterschule im Ke-
gierungsbezirk Wiesbaden sind noch nicht zum
Abschluss gekommen.
Mit der Hauptversammlung, die jedes
Jahr an einem anderen Orte stattfindet, ist in
der Regel eine örtliche Ausstellung von ge-
werblichen Erzeugnissen sowie eine Ausstellung
der im voranc^egangenen Jahr in den Gewerbe-
schulen des Vereins angefertigten Zeichnungen
verbunden. Die von einer grossen Anzahl von
Handwerkern und Gewerbetreibenden sowie von
vielen Lehrern und Schülern besuchten Aus-
stellungen sind von wesentlichem Einfluss auf
die Förderung des Handwerks sowohl wie auch
auf die Entwickelung der Schulen gewesen.
9. Pfalz. Der Verband Pfälzi-
scher Gewerbevereine. Vorort: Ge-
werbeverein Kaiserslautern zählt zur Zeit
23 Vereine mit rund 4400 Mitgliedern. Es
bestehen ausser den dem Verbände ange-
schlossenen Vereinen in der Pfalz 4 weitere
Vereine mit etwa 250 Mitgliedern, die ihren
Beitritt in Aussicht gestellt haben. Ausser-
dem sind mehrfach Gewerbevereine in der
Bildung begriffen. Nach der Statistik des
Verbandes für 1898/99 besitzen die Einzel-
vereine ein Gesamtbarvermögen von rund
30000 Mark, ein Inventarvermögen, aus
Büchereien, Vorlagen- und Modellsamm-
lungen u. s. w. sich zusammensetzend, im
Werte von mnd 18000 Mark. Der Verband
veranstaltete in den Einzelvereinen 1898/99
rund 100 allgemeine Vereinsvei-sammlungen,
in welchen etwa 60 Vorträge über volkswirt-
schaftliche und gewerbliche Fragen ge-
halten imd die gewerblichen Tagesfragen
568
Gewerbevereine
allgememer, provinzialer und örtlicher Art
behandelt und auf deren Gestaltung Ein-
fluss zu gewinnen versucht wurde. — Die
Vereine widmen dem fachgewerblichen
Büdimgswesen die grösste Aufmerksamkeit.
"Wo die Heranbildung des gewerblichen
Nachwuchses nicht durch örtliche gewerb-
liche Fortbildungs- und Fachschulen endgiltig
auf Anregung und unter Mitwii^kung der
Ortsvereine geregelt ist, liaben die Vereine
eigene Fortbildungs- und Fachzeichenschulen
gegründet, die sie mit Unterstützung aus
öffentlichen Mitteln unterhalten, leiten, be-
aufsichtigen. In den alljährlich von den
Vereinen veranstalteten Lelirlingsarbeiten-
ausstellungen werden a.ich die Ergebnisse
der Schularbeiten regelmässig weiteren
Kreisen vorgeführt. — Freie Innungen
bestehen an allen grösseren Plätzen für
das Bäckerei- und das Fleischergewerbe.
Zwangsinnungen nur an wenig Orten für
das Schneidergewerbe und das Gewerbe
der Barbiere, Bader, Friseure und Peiücken-
macher. — Zur Vertretimg der Interessen
der Einzelgewerbe bestehen zahlreiche
Meistervereinigungen, die entweder in den
Gewerbevereinen gebildet wurden oder sich
denselben angeschlossen haben. Auch die
freien Innungen sind vielfach den Gewerbe-
vereinen korporativ beigetreten.
10. Prenssen. Noch unvollständige
Unterlagen liegen in betreff der preussischen
Gewerbevereine vor. Es bestehen auch hier
zahlreiche tüchtige Gewerbevereine mit be-
deutender örtlicher Wirksamkeit, die ebenfeJls
grossen Einfluss auf die Hebung des Hand-
werker- und Gewerbestandes besonders auf
dem Gebiet des gewerblichen Bildungs-
wesens ausgeübt haben. Die Litteratiu* in
dieser Beziehung ist noch vollständig unzu-
reichend ; auch die Berichte der preussischen
Handelskammern, die sonst über alle volks-
wirtschaftlich bedeutungsvollen Gestaltungen
ihres Bezirks getreulich berichten, haben
hier anscheinend eine Lücke gelassen. Es
können daher nur die Vereine hier Erwäh-
nung finden, über deren Wirksamkeit zuver-
lässige Unterlagen zu erlangen waren. Einer
der ältesten Gewerbevereine ist der im Jahre
1829 gegründete Gewerbeverein für
Köln und Umgegend, der seit seinem
Bestehen eine bedeutende gemeinnützige
Thätigkeit entfaltet hat. Hervorzuheben ist
die 1878 durch Mitwirkung des Vereins er-
folgte Begründung der gewerblichen Fach-
und Fortbildungsschulen der Stadt Köln,
die sich unter ihrer vorzüglichen Leitung
zu vorbildlichen Anstalten entwickelt
haben ; ferner ist auf Betreiben des Vereins
das K^unstgewerbemuseum entstanden und
1894 unter Mitwirkung der Stadt eine Ar-
. beitsnachw^eisanstalt verbunden mit dem
Nachweis von Wohnungen für Arbeiter und
kleine Angestellte; durch von Zeit zu Zeit
veranstaltete Vorträge, gewerbliche Ausstel-
lungen und Ausstellungen von Lehrlings-
arbeiten sowie eine umfassende reiche
Bücherei hat der Verein fortgesetzt zur
Hebung des heimatlichen Handwerker- und
Gewerbestandes beigetragen. — Ein anderer
bemerkenswerter Verein der Rheinprovinz
ist der Gewerbeverein für Aaohen-
Burtscheid und Umgegend. Derselbe
ist 1879 begründet, hat während dieser Zeit
zwei Gewerbeausstellungen und zwei Aus-
stellungen von Lehrlingsarbeiten veranstaltet,
hat die gewerblichen Schulen der Stadt be-
gründet und mit dem Dampfkesselrevisions-
verein den Kursus für Dampfkesselheizer
und Maschinenwärter mit Prüfungen einge-
richtet. Das zur Beschaffung eines Vereins-
hauses bestimmte bis jetzt angesammelte
Vermögen beträgt rund 50000 Mark.
Der Handels- und Gewerbevereiu zu
Cassel wurde im Jahre 1855 gegründet,
um Handel und Gewerbe zu hebSön imd zu
fördern. In Verbindung mit den anderen
gleichai-tigen Vereinen, die in einzelnen
Städten Kurhessens entstanden, wm-den die
verschiedenen wirtschaftlichen Fragen er-
örtert und deren Ergebnis der Regiening
unterbmtet. Nach der Einverleibung
Kurhessens in Preussen war das
Bestreben des Vereins zunächst
darauf gerichtet, die schon in
früheren Jahren geplante Errich-
tung einer Gewerbehalle, in wel-
cher durch Vorführung und Aus-
leihung von Roh- und Hilfsstoffen,
Maschinen, Werkzeugen, Modellen,
Fabrikaten, Zeichnungen und sons-
tigen praktischen Lehr- und Bil-
dungsmitteln die gewerbliche Thätig-
keit angeregt werden sollte, ins Leben zu
rufen. Nach jahrelangen Unterhandlungen
hatten die Bemühungen den Erfolg, dass
im Jahre 1872 mit Hilfe der Re-
gierung diese Anstalt endlich eröffnet
werden konnte. Nach Errichtung der Han-
delskammer wiuxlen die bisher durch den
Verein wahrgenommenen Interessen des
Handelsstandes durch diese in erster Linie
vertreten, so dass sich die Thätigkeit des
Handels- und Gewerbevereins nun mehr auf
die Hebung des Handwerks und die Pflege
aller auf gewerblichem Gebiet liegenden
Bestrebimgen beschränkte. Da die Gewerl>e-
halle vornehmlich zur Förd^nrng und Stär-
kung des Gewerbestaudes bestimmt wai\ so
ist die zeitgemässe Ausgestaltung und Ver-
waltung derselben die Hauptaufgabe des
Vereins geblieben ; selbstverständlich werden
aber alle das Gewerbe berührenden Fragen
eingehend innerhalb des Vereins behandelt.
Der jährliche Zuschuss des Vereins ziu- Er-
haltung der Gewerbehalle beträgt 2000 Mark,
Gewerbevereine
569
der Zuschuss der Stadt bar 800 Mark, da-
neben noch Heizung und Beleuchtung, des
Bezirksverbandes 800 Mark, des Landkreises
Cassel 100 Mark und der Staatszuschuss
40(X) Mark und Hergabe der Räume, zu-
sammen bar 7700 Mark.
Der Gewerbeverein zu Erfurt, welcher
zur Zeit etwas über 1000 Mitglieder besitzt
wiuxüe am 2. Februar 1828 gegründet imd
erhielt am 30. Januar 1892 die Rechte einer
juristischen Person. Der Verein sieht seine
Ziele hauptsächlich in der Unterstützung
technischer und gewerblicher Ausbildung
seiner 3ütglieder und in Verbesserung von
Verkehrseinrichtungen .
Es werden im Winterhalbjahr jeden
Montag Abend Vorträge gehalten und werden
zu diesem Zweck im Halbjahr etwa 1500
Mark aufgewandt. Ausserdem werden im
Jahre me&ere Ausflüge nach grösseren ge-
werblichen Etablissements gemacht.
Der Verein besitzt eine umfangreiche
Bücherei von etwa 4000 Bänden gewerb-
lichen und technischen Inhalts ; diese Bücher-
sammlung ist sämtlichen Vereinsmitgliedern
unentgeltlich zugänglich. Weiter hatder Verein
die Verwaltung einer Patentschriftenauslege-
stelle von über 100 000 Patentschriften. Das
Vermögen des Vereins beläuft sich auf etwa
15000 Mark. Weiter hat der Verein eine
Kommission zur Bekämpfung des unlauteren
Wettbewerbs sowie eine chemische ünter-
suchungsstation ins Leben gerufen und auch
im Jahre 1894 eine Thüringer Gewerbe-
und Industrieausstellung unternommen ; auch
an der hier ins Leben getretenen Kunst-
und Handwerkerschule hat der Verein nicht
geringen Anteil gehabt. Die Gewerbevereine
Aachen, Köln, Cassel und Erfurt gehören
dem Verbände deutscher Gewerbevereine an,
ausserdem der Gewerbeverein Trier mit
200 Mitgliedern imd die Vereine Minden in
Westfalen, Eupen, Querfurt und Viersen.
Der 1840 gegründete Gewerbeverein in
Dortmund hat eine langjährige gemein-
ntltzige Thätigkeit entwickelt. Derselbe
zählt jetzt etwa 1000 Mitglieder, besass
1884 bereits ein Vereinsvermögen von
54863 Mark, seine Bücherei umfasste 1890
6375 Bände. Der Verein fiir Handel und
Gewerbe zu Potsdam wiu:de im Jahre
1843 aus der Bedrängnis heraus begründet,
welche die nahe Grossstadt Berlin ausübte,
deren Wettbewerb sich dadurch schmerzlich
fühlbar machte, dass die kaufkräftigen Bürger
Potsdams dorthin sich wandten. Dieser
Verein hat den Zusammenschluss zu ge-
nossenschaftlichen Verbänden, Innungen u.s. w.
kräftig gefördert, eine Kreditanstalt begründen
helfen und frühzeitig den Lehrlings- luid
Fortbüdungsunterricht eingeführt , fleissig
durch Ausstellungen gewirkt und ist neuer-
dings bestrebt, sich den Bestimmungen des
Handwerksgesetzes v. 26. Juli 1897 m
praktischer Form anzupassen; der Verein
zählt 340 Mitglieder. — Die Entwickelung
der Gewerbevereine in Ost- und West-
preussen ist teilweise auch schon alt ; so ist
der älteste Gewerbeverein E 1 b i n g 1828 be-
gründet. Der aus dem Kunst- und Gewerbe-
verein hei-vorgegangene Gew^erbeverein zu
Königsberg in Pr. bildete sich 1845;
ebenso ist der Danziger Gewerbeverein
schon ein alter Verein, und es nehmen diese
drei Gewerbevereine die bedeutendste Stelle
ein. Im Jahre 1874 vereinigten sich alle
Gewerbevereine von Ost- und Westpreussen
zu eijiem gewerblichen Gentralverein , der
sich aus 14 Vereinen mit 3678 Mitgliedern
zusammensetzte, aus den Regierungsbezirken
Königsberg, Gimibinnen, Danzig und Maiien-
werder. Vom Handelsministeriimi wurde
der Direktion dieses Centralvereins wohl
auf Eintreten des Oberpräsidenten sogleich
auf 3 Jahre eine Staatsunterstützung von
3600 Mark jährüch bewiUigt. 1875 fand
bereits eine glänzende Provinzial-Gewerbe-
ausstellung statt. Dem Lehrlings- und Fort-
bildungsschulwesen wurde erhöhte Auf-
merksamkeit geschenkt — alljährliche Preis-
ausschreibungen für Lehrlingsarbeiten —
Verleihung einer silbernen oder goldbronzenen
Medaille unter schriftlicher Anerkennung
ihrer Vordienste an besonders tüchtige I^ehr-
meister — 1878 Begründung einer Industrie-
und Handelsschule für Frauen und Töchter
— Einrichtiuig gewerblicher Mustersamm-
lungen 1877 in Königsberg, 1878 in Danzig,
wozu eine Staatsbeihilfe von je 6000, also
12000 Mark gewährt wurde. In Königs-
berg wurde durch reichliche Vermehrung
der Sammlungen schon 1880 ein Kimstge-
werbemuseum hieraus. 1877 übernahm der
als Fabrikinspektor für die Provinz Preussen
nach Königsberg versetzte und als General-
sekretär des Centralvereins gewählte Ober-
regienmgsrat Sack die Leitung desselben
und ist dessen hervorragender Wirksamkeit
bis gegenw^ärtig für denselben viel zu
danken. 1877/78 wurden in Königsberg und
Elbing zuerst Schulen für Dampfkesselheizer
nach Hannoverschem Muster mit gutem Er-
folg eingerichtet, denen bald gleiche Schulen
in Danzig, Tilsit, Memel und Allenstein
folgten. 1879/80 entstand in Königsberg
auch eine Maschinistenschule , in Memel
1883/84 eine gleiche Schule. 1892 woirde in
Königsberg eine elektrotechnische Monteur-
und Betriebswärterschule ins Leben gerufen,
— 1881 als eine Fachschule besonderer Art
ebenfalls in Königsberg eine Handfertigkeits-
schule — . Nach der Trennung der Provinz in
Ost- und Westpreussen wurde auch der ge-
werbliche Gentralverein getrennt. Die Ver-
eine Ostpreussens führten den alten Verein
fort und es bildete sich 1882 für Westpreussen
570
Gewerbevereine
ein besonderer Centralverein, zu dem damals
gehörten Elbing, Danzig, Pr. Stargard, Ma-
xienburg, Grandenz, Konitz. Dieser Verein
gedieh ebenfalls sehr gut. Derselbe förderte
das gewerbliche Fortbildungsschulwesen so
lange, bis es 1887 verstaatlicht und obliga-
torisch gemacht wurde. — Der Centralverein
der Provinz Ostpreussen zälüt jetzt 25
Vereine mit etwa 4500 Mitgliedern. Der
Beitrag an den Centralverein beträgt für
Vereine mit vorherrschend gewerblichen
Zielen 40 Pfennig und für Vereine, welche
vorwiegend Bildungszwecke verfolgen, 10
Pfennig für das Mitglied.
Die G. Hohenzollerns. Bis zum
Erscheinen der Handwerkernovelle v. 26.
Juli 1897 waren die Handwerker Hohen-
zollerns in ihrer überwiegenden Mehr-
heit nicht organisiert. Gewerbevereine be-
standen nur in den Oberamtsstädten Sig-
maringen und Hechingen. Diese beiden
Vereine nahmen im Jahre 1898 die Organi-
sation aller Gewerbeti-eibenden, insonderheit
aber diejenige der Handwerker mit demErfolge
in die Hand, dass heute von den 3687 selb-
ständigen Handwerkern Hohenzollerns 2550
in Korporationen vereinigt sind, also etwa
70 ®/o. Hierzu kommen noch etwa 520 Nicht-
handwerker, so dass die Gesamtmitglieder-
zahl der Hohenzollerisehen Gewerbevereine
auf 3070 sich beläuft. Die Zahl der vor-
handenen Vereinigungen beträgt 62 ; es ent-
fallen demnach durchschnittlich auf einen
Verein 50 Mitglieder. Die kleinste Ver-
einigung hat 11, die gi'össte 210 Mitglieder.
Normalsatzungeu für alle diese Vereine sind
ausgearbeitet und von den meisten mit wenigen
Veränderungen angenommen worden. An der
Vereinigung der einzelnen Vereine zu vier Gau-
verbänden und dem Zusammenschluss der letz-
teren zu einem Landesverbände wird gegen-
wärtig gearbeitet. Gauverbandssatzungen liegen
ebenfalls im Entwürfe vor.
Von einer Wirksamkeit der hohenzollerisehen
Gewerbe vereine kann in Anbetracht der kurzen
Zeit ihres Bestehens nicht wohl die Rede sein.
Erwähnenswert wäre hier nur, dass die beiden
älteren Vereine Sigmar in gen und Hechingen in
den Jahren 1898 und 18y9 Landesgewerbeaus-
stellnngen veranstaltet haben, die in Berück-
sichtigung der Grösse des Landes als sehr ge-
lungen bezeichnet werden dürfen. Diese beiden
Vereine haben es sich auch angelegen sein
lassen, ihren MitgUedern neue Anregung zu
geben durch Halten von illustrierten Fachzeit-
schriften sowie durch Veranstaltung von Vor-
trägen; auch wurde zu allen >Wchtigen, die
Interessen des Gewerbestandes berührenden
Fragen Stellung genommen.
Sohlesiaoher Central-O. Der Schlesi-
sche Centralgewerbeverein besteht seit dem
Jahi-e 18()2. Er war der ei'ste Verein
in Schlesien, welcher sich die Vereini-
gung der seh lesischen Gewerbetreibenden j
und der schlesischen gmverbliclien Ver- '
einigimgen und Körperschaften zu gegen-
seitiger Belehrung und zur Fördening ge-
meinsamer gewerblicher Bestrebungen zm*
Aufgabe machte. Behufs Erreichung dieses
Zweckes wird aUiährlich an einem geeig-
neten Orte der Frovinz eine Wanderver-
sammlung abgehalten, welche den Namen
»Der Schlesische Gewerbetag« führt.
Auf diesen Gewerbetagen werden Ver-
handlungen gepflogen über das Erwerbs-
und Wirtschaftsleben betreffende Fragen,
über Schiffahrt- und Eisenbahnverkehrswesen,
über die sozialpolitische und gewerbliche
Gesetzgebung, über Patent-, Muster- und
Markenschutzeiündungen u. s. w. In den
37 Jaliren seines Bestehens hat der Schle-
sische Centralgewerbeverein sich unablässig
um die Förderung des Fach- und Fortbil-
dungsschulwesens der Provinz bemüht.
Wiederholt veranstaltete der Verein Aus-
stellungen von auf den gewerblichen Fort-
bildungsschulen der Provinz gefertigten
Zeichnungen. Mit Untei*stützung seitens
der Staatsregierung hielt er mehrere Zeichen-
unterrichtskurse zur Ausbildung von Lehrern
fiir den Freihand- und Fachzeichenunterricht
ab. Um Leitern und Lehrern der gewerb-
lichen Fortbildungsschulen Gelegenheit zu
geben, neuere Lehrmittel für diese Anstalten
kennen zu lernen, veranstaltete der Verein
im Jahre 1896 eine Lehrmittelausstellung in
Breslau.
Den gewerblichen Fach- und Fortbil-
dungsschulen der Pro^inz wurden alljähr-
lich Vorlagen werke und ÜnterrichtsmodeUe
kostenlos überwiesen.
Im Jahre 1897 unterbreitete der Verein
dem Herrn Minister für Handel und Ge-
werbe Vorschläge zur Organisation des ge-
werblichen Fortbildungsschulwesens der Pro-
vinz, w^elche die Beachtung der Königlichen
Staatsregienmg gefunden haben.
Er legte dem Hen*n Handelsminister
einen vollständigen Organisationsplan für die
Errichtiuig einer kunstgewerblichen Fach-
sohide für Holzindustiüe in Breslau vor;
er ersuchte um Errichtung einer Sclinitz-
schule in Warmbrunn zur Hebung der Holz-
industrie des Riesengebirges, ferner um die
Einrichtung einer Schnitzschule in Freiburg
zur Hebung der Herstellung von Regulator-
gehäusen, er gab die Anregung zur Gründung
der jetzt bestehenden keramischen Fach-
schule in Buuzlau. Dem Centralgewerbe-
verein ist die Einfülirung des Handfertig-
keitsunterrichts in der Provinz Schlesien zu
danken; auch unterstützte er diesen Unter-
rieht durch alljährliche üeberweisung von
(reldmitteln.
Das im November vorigen Jahres er-
öffnete Kunstgewerbemuseum verdankt seine
Entstehung zum grossen Teile der Ani-egimg
und den unablässigen Bemühungen des
Gewerbevereine
571
ßchJesischen Centralgewerbevereiüs, welcher
zur Ausstattung desselben einen Beitrag von
100000 Mark gab.
Lebhaftes Interesse hat der Verein stets
dem Ausstellungswesen entgegengebracht.
Er veranstaltete im Jahre 1881 eine grosse
Schlesisclie Gewerbeausstellung, deren Ueber-
schuss es ihm gestattete, den vorerwähnten
hohen Betrag' für die Ansstattimg des neuen
Kunstgewerbemuseums geben zu können.
Wiederholt veranstaltete der Veiein auf die
Förderung des Kunstgewerbes abzielende
kunstgewerbliche Ausstellungen. Um sich
über die Fortschritte auf gewerblichen imd
industriellen Gebieten zu unterrichten, be-
schickte er die grösseren Ausstellungen
durch Delegierte. Von der königlichen
Staatsregierung wurde der Vorstand wieder-
holt zur Vorberatung von Gesetzen zuge-
zogen. Der Verein ist durch einen Dele-
gierten im Breslauer ßezirkseisenbahnrat ver-
treten.
Zur Förderang seiner gemeinnützigen
Zwecke erhält er von dem Provinziallandtag
alljährlich eine Beihilfe von 1500 Mark, die
Übrigen Mittel werden durch Beiträge der Ver-
eine und persönlichen Mitglieder aufgebracht.
Der Schlesische Centralgewerbeverein nm-
fasst gegenwärtig 33 Gewerbevereine, 9 wirt-
schaftliche Vereine, 2 Handelskammern und 22
persönliche Mitglieder. Die Leitung erfolgt
durch einen Ausschuss von 15 Mitgliedern, von
denen 8 in Breslau ihren Wohnsitz haben müssen.
Der Ausschuss wählt aus seiner Mitte den Vor-
stand, welchem gegenwärtig Geheimer Kom-
merzienrat Dr. Websky als Vorsitzender, Ober-
bürgermeister Dr. Bender als stellvertretender
Vorsitzender, Kommissionsrat Benno Miloh als
Schatzmeister und Professor Ingenieur Höffer
als Schriftführer, sämtlich in Breslau, angehören.
Dem Vorstande lieget die Geschäftsrtihning des
Vereins ob, er vertritt den Verein in allen seinen
Angelegenheiten.
11. Königlich SachseD. Nach der
letzten Statistik der dem Verbände sächsi-
scher Gewerbevereine angehörigen Gewerbe-
und Handwerkervereine vom Jahre 1898/99
wurden 142 Gewerbe- und Handwerkerver-
eine gezählt mit über 30 000 Vereinsmit-
gliedern und zwar acht grössere Vereine,
nämlich
Dresdener Gewerbeverein mit . . 2043 Mitgl.
Chemnitzer Handwerkerverein mit 1646 „
Dresdener „ „ 1120 „
Leipziger Gewerbeverein „ 625 „
Sebnitzer „ „ 720 „
Meeraner • „ „ 620
Kamenzer „ „ 520
Zittauer „ „510
1 7 Gewerbevereine zählten 300 — 500 Mitglieder
78 „ „ 200—300
200 „ „ 50—200
Die Gewerbe- und Handwerkervei-eine
im Königreich Sachsen wurden mit Aus-
nahme des Gewerbevereins zu Leipzig (zu-
n
n
n
n
»
»
n
»
»
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
r
n
n
n
n
gleich Polj'technische Gesellschaft), welcher
1825, und des Handwerkervereins zu Chem-
nitz, welcher 1829 entstand, nach Einführung
der konstitutionellen Landesverfassung ge-
gründet imd zwar der Gewerbevereiu
Grossenhein 1832, Bautzen 1833, Dresden
1834, Rosswein 1834, Zittau 1834/35,
Zschopau 1835, Waldheim 1837, Colditz ia37,
Lössmtz i. Erzgeb. 1838, Pirna 1839, Schellen-
berg, Wilsdruff und Hartau 1840.
In den Jahren 1841—50 wurden 23 Gew.vereine
51—60 „ 18
61—70 „ 29
71-80 „ 35
81—90 „ 12
91—98 - 12
gegründet.
Landesverbände bestehen im Königreich
Sachsen schon seit 1838 und zwar bis 1870
unter dem Vorort Handwerkerverein Chem-
nitz, von 1870 — 78 unter dem Vorort Ge-
werbeverein Dresden und seit 1878 — 1899
unter dem Vorort Gewerbeverein Zittau.
Ausser dem Landesverbände haben sich
aus örtlichem Bedürfnis in den verschiedenen
Provinzen auch Gauverbände (z. B. im
sächsischen Erzgebirge allein 3) gebildet
mit reger Thätigkeit Dem Verbandsvor-
orte stehen zwölf Vereine des Landes,
darunter die grössten und meist die Gau-
verbandsvororte, als ein Verbandsausschuss
zur Seite, welcher die Vorlagen für die
Hauptversammlung zu beschaffen hat, so-
weit solche nicht von einzelnen Vereinen
nach Massgabe der Verbandssatzungen be-
antragt werden. Der Verband hat die Ver-
waltung zweier Stiftungen: der » Wettin «-
und »Freusker«-Stiftung auf seine Kosten
übernommen ziu: Ausbildung junger Hand-
werker auf sächsischen Fachschulen und
ein Verbandsorgan, die sächsische Ge-
werbezeitung »Gewerbeschau«, welche staat-
liche Unterstützung erhält und amtliches
Organ der Gewerbe- und Handelsschulen des
Königreichs Sachsen ist.
Die meisten Gewerbe vereine Sachsens
unterhalten oder unterstützen wenigstens
Handwerker - Fortbüdungs- und Zeichen-
schulen.
Die reinen Handwerker-Innungsangelegen-
heiten werden ausser in den oben erwähnten
Gewerbe- und Handwerkervereinen auch in
dem Verbände der sächsischen Innungen,
welcher ein besonderes Innungsorgan heraus-
giebt, eingehend behandelt, und zur Zeit ist
der Pi-äsident der sächsischen Gewerbe-
kammer zu Dresden Herr Buchdruckerei-
besitzer Schröer Vorsitzender des sächsischen
Innungsverbandes.
Die Arbeiten des Verbandes sächsischer
Gewerbevereine, ebenso die der Gauver-
bände werden vielfach von den Gewerbe-
kammern des Ijandes, die mit Vorteü schon
572
Gewerbevereine
lange in Sachsen bestehen, unterstützt und
von den Kammern bei ihren Beratungen als
Unterlagen benutzt.
Ob und welche Vereine Wahlrecht zu
den neuen Handwerkskammern erhalten,
ist noch nicht entschieden.
12. Thüringen. In Thüringen ist das
Gewerbevereinsleben schon seit einigen Jalir-
zehnten erfreulicherweise ein reges und ist
seit dem 1879 erfolgten Zusammenschluss
der Gewerbevereine zu dem Thüringer Ver-
bände noch mehr gehoben und gefördert
worden. Diesem Verbände gehören jetzt 52
Vereine an aus 9 verschiedenen Staaten mit
etwa 9500 Mitgliedern, während noch etwa
12 Vereine namentlich aus grösseren Städten
bedauerlicherweise demselben fern stehen.
Der Verband ist Mitglied des Verbandes
deutscher Gewerbevereine. Von den Vereinen
selbst bestehen die ältesten bereits 75 Jahre
und darüber, der grösste Teü ist vor 40 bis
50 Jahren gegründet, und einige erst vor
wenig Jahren. Das Grossherzogtum Weimar
umfasst 20 Gewerbevereine. Hierv^on ge-
hören 19 dem Thüringer Verbände an. Die
Mitgliederbeiträge betragen in Weimar, Eise-
nach, Jena 4 Mai*k, in den meisten anderen
Städten 2—3 Mark jährlich. Von selten der
Regierung erfreuen sich die Gewerbe vereine
des grössten Wohlwollens; sie erhalten von
derselben einen jährlichen Zuschuss von
100 — 360 Mark, einige sogar 450 Mark.
Die Vereine haben das Wahlrecht zu der
bis jetzt bestandenen Grossherzoglichen Gewerbe-
kammer besessen und sind anch alle wahl-
berechtigt zur Handwerkskammer, da Überall
die Handwerker in der Mehrheit sind. Zu
ihrer Hauptaufgabe haben die Vereine sich
gestellt : die Heranziehung eines tüchtigen Nach-
wuchses in guten Lehrwerkstätten, Ausstellung
von Lehrlingsarbeiten, Gründung und Förderung
guter Gewerbe- und Fachschulen, BeschaflFung
von Mustervorlagen u. s. w. Durch den Ver-
band haben die Gewerbe vereine einen engen
Anschluss unter einander, der nur ß-eeignet ist,
ihre gemeinsamen Interessen zu fördern und
zu heben.
18. Württemberg. ImKönigreichWürt-
temberg geht die Entstehung der Gewerbe-
veieine bis in das erste Drittel dieses Jalir-
hunderts zurilck. Bereits 1830 entstand
eine »Gesollschaft zur Beförderung der Ge-
werbe in Württemberg«^, die bald den An-
stoss zur Bildung von örtlichen Vereinen gab.
1831 wurde der erste Gewerbeverein (Hall)
gegründet, dem andere nachfolgten. Grössere
Bewegungen in die Entwickelung brachten
die politischen Ereignisse des Jahres 1848,
der Eintritt gesetzlicher Gewerbefreiheit in
den ßO er Jahren und neuerdings wieder die
Hand Werksgesetzgebung, welche so tief in
das gewerbliche Einzelleben hineingegriffen
und die Geworbevereine vor neue und nutz-
bringende Aufgaben gestellt hat.
Aus der ziffermässigen Gestaltung ist noch
hervorzuheben: es betrugen
;«, T«i»,A die Gewerbe vereine
im janre ^^^ Mitgüedem)
1857 33
1863 47
1866 6o
1877 8i (10853)
1882 90 (11 092)
1893 95 (13024)
1896 105 (14000)
1899 129 (20 163)
darunter reine Handwerker 12 949 = 64,2^/0,
sonstige Kleingewerbetreibende 2580 (12,8%),
Industrielle 1666 (8,3%), Beamte, Lehrer und
sonstige Freunde des Handwerks 2968 (14,7 %).
Das gesamte Vermögen der Gewerbe vereine,
welches in seinen Ertragnissen dauernd allge-
meinen gewerblichen Zwecken dienstbar ist,
betruff (1899) 165607 Mark.
Was die Thätigkeit der Gewerbevereine
anbelangt, so kann sie als eine sehr \iel-
seitige bezeichnet werden: Ausbildung
der gewerblichen Jugend (Beiü'äge
an gewerblichen Fortbildungsschulen [der
Gewerbeverein Stuttgart hat seit seiner
Gründung im Jalire 1848 hierfür über löi'OO
Mark, der Verein Göppingen etwa 5000 Mark
verausgabt], Lehrlingsprüfungen mit Aus-
steDungen von Lehrlingsarbeiten, Preise
an die begabtesten Lehrlinge, Reisegeldbei-
träge zum Besuch von Ausstellungen, Bei-
träge zum Besuch von Fachschulen, Grfm-
dung von Fachschulen [auch Frauenarbeits-
schulen], Lehrlingsabende ziun Zweck an-
regender Unterhaltung und Vorlesungen an
Abenden und Sonntagnachmittagen) ; För-
derung der geistigen und mate-
riellen Interessen des Gewerbe-
standes (Vereinsbüchereien in 94, Lese-
zirkel in 76 Vereinen [die einzelnen Vereine
verfügen ziun Teil über eine beträchtliche
Bücherzahl : Hall über 2500 Bände, Hen*en-
berg 1127, Crailsheim 1000, Heilbronn 950,
Tübingen 900, Göppingen 890; der Stutt-
garter Gewerbeverein schiesst seinem Lese-
zirkel im Durchschnitt jährlich 1000 Mark
zu, seit Bestehen des Zirkels über 30000
Mark], belehrende Vorträge und Ei'örte-
rungsabende, häufig mit Vorführung neuer
Werkzeuge und Apparate, Reisen zur Be-
sichtigimg grosserer industrieller Etablisse-
ments, ßuchführungs- und Kalkulations-
kurse für erwachsene Gewerbeti^ibende,
auch Töchter imd Frauen von Mitgliedern).
Veranstaltung von Orts- und
Specialausstellungen, Gewerbe-
museen; Anregung zur Einführung
sonstiger den gewerblichen Stand
berührender und fördernder Ein-
richtungen (Gewerbebanken, Handwerker-
banken, genossenschaftliche Unternehmungen,
gemeinschaftliche Verkaufshallen, Beschaf-
fung von Atrheits- und Kraftmaschinen,Ai*beit8-
Gewerbevereine
573
vermittelungsstellen , gewerbliche Schieds-
gerichte); Vertretung und Unter-
stützung von das Gemeindewohl
überhaupt betreffenden Fragen,
insbesondere auf dem Gebiete des Verkehrs-
imd Steuerwesens.
Sämtliche Gewerbevereine haben in dem
„Verband der wtirttembergischen Gewerbever-
eine" ein gemeinsames Organ des württem-
berffischen Gewerbestandes. In neuester Zeit
sind in Angliederung an die Handwerkskammern
(s. u.) noch 12 Gauverbände errichtet worden,
welche zur Unterstützung des Gesamtverbandes
dienend die eneere FüUung unter den Orts-
vereinen aufrecht erhalten sollen.
Während so aus der Mitte des Gewerbe-
standes heraus durch rührige Entfaltung aller
Kräfte und Ausnutzung der jeweiligen Er-
rungenschaften alles aufgeboten worden ist, das
gewerbliche Leben in jeder Hinsicht zu fördern,
ist auch die Regierung nicht müde geworden,
alle Bestrebungen der Gewerbevereine zu unter-
stützen. Die auf Antrag mehrerer Gewerbe-
vereine im Jahre 1848 errichtete königliche
Centralstelle für Gewerbe und Handel hatte an-
fangs sogar zu ihren satzungsgemässen Aufgaben
die Einwirkung auf eine zweckmässige Ein-
richtung der Gewerbevereine und Anregung zur
Gründung solcher Vereine in Bezirken und
Städten, in welchen es noch an solchen fehlte,
fezählt. Erst mit dem allmählichen Erstarken
er Vereine und ihrem naturnotwendigen Zu-
sammenschluss in einen Verband, welcher eine
vielseitij:ere und umsichtigere Vertretung der
gewerblichenSonderinteressen gestattete, ist diese
Art der Fürsorge in den Hintergrund getreten.
Mit der in Gemässheit der §S 103— 103 g der
Gewerbeordnung erfolgten Errichtung von vier
Handwerkskammern (Stuttgart, Ulm, Heil-
bronn, Reutlingen) sind diese an die Stelle der
seitherigen Handels- und Gewerbekammern, so-
weit gewerbliche Handwerkerinteressen dabei
in Betracht kommen, getreten.
Ein eigenes Verbandsorgan ist seit einiger
Zeit geplant, aber mangels genügender Geld-
grnnSagen noch nicht zur Einführung ge-
langt. An dessen Stelle wirkt schon lange
das von der königlichen Centralstelle heraus-
fegebene Gewerbeblatt, welches die Fortschritte
er Industrie des In- und Auslandes in tech-
nischer und wirtschaftlicher Hinsicht soweit als
möglich mitteilt und von der Regierung zu
allen das Gewerbewesen betreffenden Veröffent-
lichungen von den einzelnen Gewerbevereinen
zur Bekanntgabe ihrer Thätigkeit benutzt wird.
14. Verband deutscher G. — Vor-
ort Köln. Die Begründimg des Ver-
bandes der Gewerbevereine erfolgte im
Jahre 1891 auf Anregiuig eines der
ältesten dieser Vereine, des jetzt etwa 70
Jahre bestehenden Gewerbevereins für Köln
und Umgegend, unter besonderer Mitwirkung
der Vorstandsmitglieder Herren B. Berg-
hausen und Direktor F. Romberg.
Der zu diesem Zwecke an etwa 600 Ge-
werbevereine Deutschlands erlassene Aufruf ging
von den Erwägungen aus, dass die Gewerbe-
vereine die ältesten Körperschaften in unserem
Vaterlande seien, welche es sich zur Aufgabe
gestellt, die allgemeinen Interessen des Hand-
werker- und Gewerbestandes zu pflegen und
dass viele sich grosse Verdienste hierin er-
worben. Wenn dieses anerkannt werden müsse,
so hätten die Gewerbevereine doch nicht die
Bedeutung, welche ihnen in der Reihe anderer
grosser gemeinnütziger Vereine gebühre, und
seien nicht in der Lage, ein massgebendes Wort
bei Erörterung einschneidender gewerblicher
Fragen zu sprechen, wohl nur, weil sie es
unterlassen, einen Anschluss an einander zu
suchen. Es könne keinem Zweifel unterließen,
dass gerade die Gewerbevereine, welche nicht
im Dienste von Sonderbestrebungen ständen und
daher ohne Voreingenommenheit an die Lösung
einer grossen Zahl wirtschaftlicher Fragen gehen
könnten, dazu berufen seien, an den grossen
Aufgaben mitzuwirken, welche dahin zielen,
den Wohlstand im Lande zu heben und die
Zufriedenheit und Bildung der arbeitenden Be-
völkerung zu fördern. — Dieser Aufruf fand
ein allgemeines Echo und die zahlreiche Ent-
sendung von Vertretern zur Begründung des
Verbandes bewies, dass hiermit einem schon
lange empfundenen Bedürfnis entsprochen wurde.
Einen hervorragenden Stützpunkt fand der junge
Verband an den schon längere Zeit besonders
in Süd- und Mitteldeutschland bestehenden zu
Landesverbänden zusammengeschlossenen Ver-
einen. Bei der Gründung beteiligten sich ausser
einer ganzen Reihe einzelner Gewerbevereine
die Landesverbände Baden, Hannover, Hessen,
Mecklenburg, Nassau, Pfalz, Thüringen. 1893
traten im Verbände hinzu Elsass-Lothringen
und Württemberg, 1896 Bayern.
Die Satzungen des in Köln gegründeten Ver-
bandes deutscher Gewerbevereine ent-
halten folgende grundsätzlichen Bestimmungen:
Der Verband bezweckt festes Zusammenwirken
der deutschen Gewerbevereine zur gegenseitigen
Förderung ihrer Aufgaben und zur Vertretung
gemeinsamer Interessen. Mittel zur Erreichung
dieses Zweckes : Versammlungen des Verbandes
und der ihm angehörenden vereine und Ver-
bände, gemeinsame Stellungnahme zu wich-
tigen wirtschaftlichen Fragen, welche den
Gewerbestand berühren, Stellung von Preis-
aufgaben, sonstige Massnahmen. Mitglieder
können werden alle deutschen Gewerbevereine
und einzelne Personen an Orten, wo keine Ge-
werbevereine sich befinden, aber auch Verbände
von Gewerbevereinen. Die Geschäfte besorgt
der Vorstand, ein Vorstandsrat, die Hauptver-
sammlung. Die Mitgliederbeiträge richten sich
nach der Grösse der Vereine bezw. nach der
Grösse der Städte, welchen die Vereine ange-
hören. — Je 300 Mitglieder haben eine Stimme,
und ein Verein oder Verband hat nie über
15 Stimmen. Mehrere kleine Vereine haben das
Recht, sich zu vereinigen, um eine Stimm-
berechtigung zu erwerben.
Auf der ersten Hauptversammlung des
deutschen Verbandes 1892 in Köln zählte der
Verband schon 304 Vereine mit 32000 Mit-
gliedern und umfasst jetzt — 1899 — 705
Vereine mit 83522 Mitgliedern, gegen 1897
allein ein Zuwachs von 23000. Die weiteren
Hauptversammlungen des Verbandes fanden
statt: 1893 in Wiesbaden, 1894 in Karlsruhe,
1895 in Cassel, 1896 in Stuttgart, 1897 in Nürn-
berg, 1898 in Erfurt und 1899 in Köln.
574
Gewerbevei-eine — Gewerbliche Anlagen
Der Verband wird weiterbin berufen sein,
in steter Ftthlung mit dem dentscben Hand-
werk nnd Grewerbe die dasselbe berührenden
grossen Entwickelnngsfra^n zn erläutern nnd
zn klären nnd für berechtigte Interessen seiner
Mitgli^er jederzeit kraftvoU einzutreten. — Der
Vorort des Verbandes verblieb bisher stets am
Orte seiner Begründung, in Köln.
Berghatisen,
Gewerbliche Anlagen.
1. Einleitung. 2. Verzeichnis der konzes-
sionspflichti^en Anlagen. 3. Verfahren. 4.
Privatrecbtiiche Einreden und privatrechtliche
Wirkungen der Eonzession. 5. Dauer der Kon-
zession. 6. Landesrechtliche Einschränkung
der Errichtung konzessionspflichtiger Anlagen.
7. Geräuschvolle Anlagen. 8. Auswärtige Ge-
setzgebung.
1. Einleitoiig. Die Einwirkungen, welche
von gewerblichen Anlagen auf ihre Umge-
bung geübt werden, sind mannigfaltiger Art.
Es handelt sich teils um Explosions- nnd
Feuersgefahr, teils nm Lärm und Er-
schütterungen, teils endlich um Verunreini-
gimg des Erdreiches, der Luft und der
fliessenden Gewässer durch schädliche Sub-
stanzen in fester, flüssiger und gasförmiger
Gestalt, die sich über die Grenzen der Be-
triebsstätte verbreiten. Der Schutz gegen
solche Einwirkungen liegt teils auf dem Ge-
biete des Privatrechts, teils auf dem des
öffentlichen Rechts.
Privatrecht. Dem Rechte des Grund-
stückseigentümers, über sein Grundstück
nach Willkilr und mit Ausschliessung an-
derer zu verfügen, steht das gleiche Recht
des Eigentümers eines Nachbargrundstückes
gegenüber. Jede Verfügung über ein Grund-
stück, welche ziu* Folge hat, dass von die-
sem Grundstücke köri)erliche Substanzen
auf das Nachbargnmdstück gebracht werden,
enthält daher, mag diese Folge beabsichtigt
sein oder nicht, einen Eingriff in das Eigen-
tum an dem Nachbargrundstücke und kann
mit der zum Schutze des Eigentums
gegen partielle Verletzungen dienenden
Negatorienklage abgewehrt wei*den. Doch
versteht sich dies mit der Einschränkung,
dass geringere Mengen von Rauch, Staub
und dergleichen von dem Nachbar ertragen
werden müssen, weil ohne ein gewisses
Mass von nachbarlicher Duldung das mensch-
liche Zusammenleben unmöglich sein wünle.
Das römische Recht, das diese Grundsätze
aufsteUt und an einigen Beispielen erläutert
— der Nachbar braucht nicht zu dulden,
dass aus einer Käsebereitungsanstalt der
(zum Kolorieren der Käse dienende) Rauch
in sein Gebäude einzieht oder dass Teile
der auf einem Nachbargnmdstück geliauenen
Steine auf sein Gnuidstück hinül)erf liegen,
dagegen muss er sich das Eindringen des
von dem Feuerherde des NachbfiffhaiLses
aufsteigenden Rauches gefallen lassen —
hat damit der Rechtswissenschaft und Praxis
für die Beurteilung der Frage, inwieweit
der Nachbar die über die Betriebsstätte
industrieller Anlagen hinausgehenden Wir-
kimgen des Betriebes zu dulden verpflichtet
sei, Grundlage und Ausgangspunkt gegeben.
In den späteren PartikulaiTechten, na-
mentlich den mittelalterlichen Stadtrechten
finden sich unter den das Rechtsverhältnis
der Grundstücksnachbam durch Konstitu-
ierung sogenannter gesetzlicher Servituten
regelnden Bestimmungen auch solche, welche
die Verhütung schädlicher Immissionen auf
das Nachbargrundstück bezwecken, und diese
Bestimmungen sind zum Teil in die Gesetz-
bücher der neueren Zeit übergegangen.
Dahin gehört z. B. die Vorschrift des
preussischen allgemeinen Landrechts T. I,
Tit. 8, §§ 125, 126, dass Schweineställe,
Kloaken, Dünger- und Lohgruben und
andere den Gebäuden schädliche Anlagen
wenigstens 3 Fuss von benachbarten Ge-
bäuden, Mauern imd Scheunen entfernt blei-
ben und solche Gruben oder Behältnisse vou
Grund aus aufgemauert werden müssen,
ferner der gleichfalls die Errichtung schäd-
licher Anlagen an der Mauer des Nachbar-
gnmdstückes behandelnde Art. 674 des Code
civil. Neben diesen Specialbestiramungen,
welche nicht ausschliesslich und nicht ein-
mal vorzugsweise gewerbliche Anlagen zum
Gegenstande haben, nimmt der Art. 12, Tit.
12, T. III des Lübischen Rechtes:
Niemand soll von neuem Brau-, Sdimidt-,
Töpfer-, Sehm- (d. i. Gerber) Häuser mit
seiner Zugehöning einrichten, davor keine
gewesen, ohne seiner Nachbarn Willen.
Item Fischweicher, Talgschmelzer.Gold und
Kupferschläger, Grapengiesser, Kuochen-
hauer, Bötticher, Seifensieder, Brannt-
weinbrenner, Krüger und dergleichen ge-
fährliche imleidliche Handwerke, mögen
in den Häusern nicht eingerichtet nocli
geübet werden, da sie zuvor nicht gewesen,
ohne der Nachbarn Willen, und wenn-
gleich die Häuser zuvor aUe diese Gerech-
tigkeit gehabt hätten, wenn sie aber in
zwanzig Jahren nicht gebraucht, so ist
dieselbige verloschen,
ein hervorragendes, wenn auch jetzt nur
noch historisches Interesse in Anspnich, da
hier der Gesetzgeber unternommen hat, im
Woge der privatrechtlichen Eigentumsbe-
schränkung den gesamten Betrieb der die
Nachbarscliaft diu*ch üble Gerüche, Rauch
mid Ijärm belä^^^tigenden Gewerbe von der
Zustimmung der Nachbarn abhängig zu
machen. Durch das R.G. v. 4. November 1874
ist dieser Art. 1 2, der in Lübeck selbst seit
geraumer Zeit ausser Kraft getreten war, für
Gewerbliche Anlagen
575
den ganzen Geltungsbereich des Lübischen
Rechts aufgehoben worden.
In neuerer Zeit hat sich bis zum Erlasse
desBürgerlichenGesetzbuches für das de utsche
Beich nicht sowohl die Gesetzgebung als die
Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft
mit der Abgrenzung der im Eigentum lie-
genden Befugnisse beschäftigt und diesen
Teil des Privatrechts durch Erörterung der
Fragen, welche Momente fflr die Zulässig-
keit oder Unzulässigkeit von Immissionen
auf Nachbargrundstücke in Betracht kommen,
ob Erschütterungen und Lärm der Im-
mission gleichzustellen sind, und anderer
mehr gefördert. Das B.G.B. bestimmt in
§ 906:
Der Eigentümer eines Qnmdstücks
kann die Zuführung von Gasen, Dämpfen,
Gerüchen, Rauch, Russ, Wärme, Geräusch,
Erschütterungen und ähnliche von einem
anderen Grundstück ausgehende Einwir-
kungen insoweit nicht verbieten, als die
Einwirkung die Benutzung seines Grund-
stücks nicht oder nur unwesentlich be-
einträchtigt oder durch eine Benutzung
des anderen Grundstücks herbeigeführt
wird, die nach den örtlichen Verhältnissen
bei Grundstücken dieser Lage gewöhnlich
ist. Die ZufiÜirung durch eine besondere
Leitung ist unzulässig.
Oeffentliches Recht. Es liegt in
der Aufgabe der Polizeigewalt, wie sie sich
in den modernen Staaten entwickelt hat,
g^en Gefahren und erhebliche Belästigungen
Schutz zu gewähren. Ihr kommt es daher
zu, gegen gewerbliche Anlagen, von denen
solche Wirkungen ausgehen, einzuschreiten.
Bei der Grösse der Gefehren und Belästi-
gungen aber, welche mit dem Beü'iebe
mancher Arten von gewerblichen Anlagen
verbunden sind, erscheint ein bloss repres-
sives, sich gegen bereits vorhandene Anlagen
richtendes Vorgehen der Polizei ungenügend,
es muss Fürsorge getroffen werden, dass
dergleichen Anlagen nur unter solchen
örthchen Verhältnissen und in solcher Be-
schaffenheit errichtet werden, dass die Nach-
Imrschaft ausreichend geschützt ist. Es liegt
dies zugleich im Interesse des Unternehmers,
der auf diese Weise davor bewahrt bleibt,
dass die häufig sehr erheblichen Kosten der
Anlage infolge der polizeilichen Einstellung
des Betriebes verloren gehen. Diese Erwä-
gungen haben dazu gerührt, im Wege der
Gesetzgebung einen grossen Teil der ge-
werblichen Anlagen der Konzessionspflicht
zu unterstellen und dem Konzessionsver-
fahren einen solchen Inhalt und solche For-
men zu geben, dass der doppelte Zweck der
Sicherung der Nachbarschaft gegen Gefahren
und Belästigungen und der Sichening des
Unternehmers gegen spätere Angriffe er-
reicht wird.
Es ist das Verdienst der französischen
Gesetzgebung, diesen Weg zuerst beschritten
zu haben. Wie in Deutschland so bestand
auch in Frankreich zu Anfang dieses Jahr-
hunderts die Konzessionspflicht nur für einige
wenige gewerbliche Anlagen auf Grund von
Specialgesetzen einzelner Landesteile, im
allgemeinen herrschte das Princip der Re-
pression, das von den Ortspolizeibehörden in
sehr ungleichartiger Weise gehandhabt wurde.
Diesem Zustande machte das Döcret relatif
aux manufactures et ateliers qui r^pandent
une odeur insalubre ou incommode vom 15.
Oktober 1810 ein Ende. Das Dekret dessen
Ueberschrift eine zu enge Fassung erhalten
hat, erklärt die in dem beigegebenen Ver-
zeichnis aufgeführten gewerblichen Anlagen
für konzessionspflichtig und teilt sie in drei
Klassen. Zur ersten Klasse gehören die
Anlagen, die von meoschliclien Wohnungen
entfernt sein müssen, zur zweiten Klasse
diejenigen, bei denen die Abgelegenheit von
menschlichen Wohnungen nicht durchaus
notwendig ist, bei denen es aber darauf an-
kommt, sich zu vergewissem, dass der Be-
trieb weder die Eigentümer der Nachbar-
schaft belästigt noch ihnen Schaden zufügt,
zur dritten Klasse endlich diejenigen, (He
ohne Nachteil in der Nähe von Wohnungen
bleiben können, aber doch ein polizeiliches
Interesse darbieten. Zuständig zur Erteüung
der Konzession ist für Anlagen erster
Klasse das Staatsoberhaupt (jetzt nach dem
Decentralisaüonsdekret vom 25. März 1852
der Präfekt), für Anlagen zweiter Xlasse
der Präfekt, für Anlagen dritter Klasse der
Unterpräfekt. Auch das Mass der zu er-
füllenden Förmlichkeiten : Aushang des An-
trages des Unternehmers in allen Gemeinden
des fünfkilometrigen Umkreises der Betriebs-
stätte während eines Monats, enquöte de
commodo et incommodo durch den Bürger-
meister des Errichtungsortes, Anhörung einer
technischen Behörde, ist für jede der drei
Klassen verschieden. Allen Klassen gemein-
sam aber ist, dass zwischen dem Unter-
nehmer und den Einsprechenden in einem
verwaltungsgerichtlichen Verfahren entschie-
den wird.
Das Dekret vom 15. Oktober 1810 hat
als Vorbild für die Gesetzgebung anderer
Staaten, namentlich auch für die preussische
Gew.-O. V. 17. Januar 1845 gedient. Diese
letztere nebst dem sie teilweise abändernden
G. V. 1. Juli 1861, betreffend die Errich-
tung gewerblicher Anlagen, bildet wiederum
die Grundlage für die §§ 16—28, 49—52
der deutschen Gew.-O. v. 21. Juni 1869.
Die Regelung, welche der Gegenstand in
diesem Gesetz gefunden hat, ist folgende:
2. VenEeichnis der konzessions-
pilichtigen Anlagen. Die Gewerbeordnung
spricht zwar zu Eingang des betreffenden
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Gewerbliche Anlagen
Abschnitte f§ 16) den allgemeinen Grund-
satz aus, dass zur Errichtung von Anlagen,
welche dm-ch die örtliche Lage oder durch
die Beschaffenheit der Betriebsstätte für die
Besitzer oder Bewohner der benachbarten
Grundstücke oder für das Publikum über-
liaupt erhebliche Nachteile, Gefahren oder
Belästigungen herbeiführen können, die Ge-
nehmigung der nach den Landesgesetzen
zuständigen Behörde erforderlich ist, sie
giebt aber dann nicht etwa Beispiele,
sondern ein erschöpfendes Yerzeichnis der
konzessionspflichtigen Anlagen, das eine
analoge Anwendung auf andere Anlagen
nicht gestattet. Das Yerzeichnis ist wan-
delbarer Natur, es kann je nach Eintritt
oder Wegfall der im Eingang gedachten
Voraussetzung durch Beschluss des Bundes-
rate, vorbehaltlich der Genehmigung des
nächstfolgenden Reichstages, abgeändert wer-
den.
Die Gewerbeordnung in ihrer ursprüng-
lichen Fassung bezeichnete als konzessions-
pflichtige Anlagen : Schiesspulverfabriken,
Anlagen zur Feuerwerkerei und zur Berei-
tung von Zündstoffen aller Art, Gasberei-
tungs- und Gasbewahrungsanstalten, Anstal-
ten zur Destillation von Erdöl, Anlagen ziu-
Bereitung von Braunkohlenteer, Steinkohlen-
teer und Koaks, sofern sie ausserhalb der
Gewinnungsorte des Materials errichtet
werden, Glas- und Russhütten, Kalk-, Ziegel-
und Gipsöfen, Anlagen zur Gewinnung
roher Metalle, Röstöfen, Metallgiessereien,
sofern sie nicht blosse Tiegelgiessereien
sind, Hammerwerke, chemische Fabriken
aller Art, Schnellbleichen, Firnisssiedereien,
Stärkefabriken mit Ausnahme der Fabriken
zur Bereitung von Kartoffelstärke, Stärke-
syrupfabriken , Wachstuch- , Darmsaiten-,
Dachpappen- und Dachfilzfabriken, Leim-,
Teer- und Seifensiedereien, Knochenbren-
nereien, Knochendarren, Knochenkochereien
und Knochenbleichen, Zubereitungsanstalten
für Tierhaare, Talgachmelzen, Schlächtereien,
Gerbereien, Abdeckereien, Poudretten- und
Düngpulverfabriken, Stauanlagen und Wasser-
triebwerke.
Bis zu der den Reichskanzler zur Be-
kanntmachung .eines neuen Textes der Ge-
werbeordnung ermächtigenden Novelle vom
1. Juli 1883 waren hinzugetreten und wur-
den demgemäss in den Text der Gewerbe-
ordnung aufgenommen : Hopfen schwefel-
dörren, Asphaltkochereien und Pechsiedereien,
soweit sie ausserhalb der Gewinnungsorte
des Materials errichtet werden, Sti'ohpapier-
stofffabriken, Darmzubereitungsanstalten, Fa-
briken, in welchen Dampfkessel oder
andere BlechgeEävSse durch Yernieten herge-
stellt werden, Kalifabriken und Anstalten
zum Imprägnieren von Holz mit erhitzten
Teerölen, KimstwoUefabriken , Anlagen zur
Herstellung von Celliüoid imd Degras-
fabriken.
Bis zum Schlüsse des Jahres 1898 sind
ferner hinzugetreten: Fabriken, in welchen
Röhren aus Blech durch Yeniieten herge-
stellt werden, sowie die Anlagen zur Er-
bauung eiserner Schiffe, eiserner Brücken
oder sonstiger eiserner Baukonstniktionen,
die Anlagen zur Destillation oder zur Yer-
arbeitung von Teer oder von Teerwasser,
die Anlagen, in welchen aus Hol? oder
ähnlichem Fasermaterial auf chemischem
Wege Papierstoff hergestellt wird (Cellulose-
fabrik), die Anlagen, in welchen Albumin-
papier hergestellt wird, die Anstalten zum
Trocknen und Einsalzen ungegerbter Tier-
felle, die Yerbleiungs-, Yerzinnungs- und
Yerzinkimgsanstalten, endlich die Anlagen
zur Herstellung von Gussstahlkugeln mittelst
Kugelschrotmühlen (Kugelfräsmaschinen).
Eine Yerminderung durch Beseitigung
der Konzessionspflicht einzelner Anlagen hat
das Yerzeichnis bis jetzt nicht erfahren.
Bei Aufstellung des Yerzeichnisses ging
man von dem Gnmdsatze aus, dass der
Konzessionspflicht nicht zu unterwerfen seien :
1. Anlagen, welche, wie Papierfabriken
und Zuckerfabriken, durch üire Effluvien
eine Yerunreinigung der fliessenden Ge-
wässer bewirken, sonst^e Nachteile für
ihre Umgebung aber nicht herbeiführen.
Man glaubte, diesen Anlagen gegenüber mit
den gewöhnlichen polizeilichen Mitteln aus-
konmien zu können. Diese Auffassung wurde
bei Beratimg der Gewerbeordnung im
Reichstage lebhaft, aber ohne Erfolg, be-
kämpft, ein Amendement, Walkereien, Bei-
zereien und Papierfabriken für konzessions-
pflichtig zu erklären, wurde auf den Wider-
spruch des Präsidenten des Bundeskanzler-
amte zurückgezogen. Später ist der Grund-
satz, wie das Beispiel der KaHfabriken
zeigt, nicht mit völliger Strenge festgehalten
worden.
2. Anlagen, welche lediglich durch Lärm
belästigen. Für diese wurden in § 27 be-
sondere, später zu erwähnende Yorschriften
gegeben. Ausnahmsweise sind die Dampf-
kesselfabriken und ähnliche Anlagen, welche
lediglich durch Lärm belästigen, in das Yer-
zeichnis aufgenommen worden.
3. Niederlagen aller Art, so namentlich
Pulvermagazine, Häute-, Knochen- und
Lumpenlager. Dergleichen Niederlagen gel-
ten nicht als gewerbliche Anlagen, da zu
diesen nur Produktionsstätten gerechnet
werden. Freilich ist auch dieser Grundsatz
nicht ganz konsequent durchgeführt worden,
wie sich aus der Erwähnung der Gasbe-
wahrungsanstalten neben den Gasbereitungs-
anstalten in § 16 ergiebt. Uebrigens hat
der Grundsatz, dass die Niederlagen über-
haupt nicht als gewerbliche Anlagen an zu-
Gewerbliche Anlagen
0^7
sehen sind, die wichtige Folge, dass sie
durch landesrechtliche Sormen für konzes-
sionspflichtig erklärt wei-den können.
Neben den in dem Verzeichnis des § 16
aufgeführten Anlagen unterliegen auch
Dampfkessel der Konzessionspflicht § 24
a, a. 0. Sie sind besonders behandelt, weil
das Konzessionsverfahren abweichend ge-
regelt ist
Anlagen, welche bei Einführung der
Konzessionspflicht bereits bestanden haben,
können fortbetrieben werden, nur Verände-
rungen der Betriebsstätte oder wesentliche
Veränderungen des Betriebs bedürfen der
Genehmigung.
3. Verfahren. Eine Einteilung der kon-
zessionspflichtigen Anlagen in Klassen kennt
die Gewerbeordnung nicht, das vorgeschrie-
bene Verfahren ist daher für sämtliche An-
lagen dasselbe. Da jedoch den Landesge-
setzen die Bestimmung der für die Erteilung
der Konzession zuständigen Behörden über-
lassen ist, so ist ihnen damit die Möglichkeit
eröffnet, den Instanzenzug für die verschie-
denen Anlagen verschieden zu regeln. In
Preussen ist von dieser Befugnis Gebrauch
gemacht worden. Nach dem Zuständigkeits-
gesetz zerfallen die konzessionspflichtigen
Anlagen in zwei Klassen, von denen die
eine, bei weitem zahlreichere, durch den
Kreisausschuss, die andere durch den Be-
zirksausschuss konzessioniert wird; die Re-
kursinstanz für sämtliche Anlagen bildet der
Minister für Handel und Gewerbe.
Das Verfahren beginnt mit der Bekannt-
machung des von dem Unternehmer durch
Zeichnung und Beschreibung zu erläuternden
Projekts und der Aufforderung, etwaige
Einwendungen gegen die neue Anlage binnen
14 Tagen anzubringen. Werden solche Ein-
wendungen erhoben, so sind sie mit den
Parteien vollständig zu erörtern (enqu^te de
commodo et incommodo des französischen
ßechts). Nach dem Abschluss dieser Erörte-
rung erfolgt die Entscheidung erster Instanz,
gegen diese Entscheidung steht beiden Teilen
das binnen 14 Tagen einzulegende Rechts-
mittel des Rekurses zu.
Die näheren Bestimmimgen über das
Verfahren sowohl in der ersten als in der
Rekursinstanz sind den Landesgesetzen vor-
behalten, doch muss eine der beiden
Instanzen den folgenden Bedingungen
entsprechen: Die Behörde muss eine kolle-
gialische sein und in öffentlicher Sitzung
nach mündlicher Verhandlung mit den Par-
teien entscheiden : nur für die erste Instanz
ist nachgelassen, dass, wenn eine Gegenpartei
des Unternehmers nicht vorhanden ist, an
den Unternehmer zunächst ein schriftlicher
Bescheid ergeht, gegen den binnen 14 Tagen
auf mündliche Verhandlung angetragen wer-
den kann.
Die der Entscheidung vorausgehende
Priifuug hat sich nicht bloss darauf, ob die
Anlagen erhebliche Gefahren, Nachteile oder
Belästigungen herbeiführen können, sondern
zugleich auf die Beobachtung der bestehen-
den bau-, feuer- und gesundheitspolizeilichen
Vorschriften zu erstrecken, die erteilte Ge-
nehmigung schliesst daher einen nach sol-
chen polizeilichen Vorschriften etwa erfor-
derlichen Konsens, insbesondere den Bau-
konsens, in sich.
Die Entscheidung kann auf Versagung
der Genehmigung, auf bedingungslose Ge-
nehmigung und endlich auf Genehmigung
unter Bedinffungen lauten. Einer nachta'äg-
lichen Abänaerung und Ergänzung der durch
die Konzession auferlegten Bedingun^n ge-
denkt das Gesetz nicht Da es aber in nicht
seltenen Fällen auch bei der sorgfältigsten
technischen Prüfung nicht mögUch ist, mit
Sicherheit vorauszusehen, ob die für zweck-
mässig erachteten Bedingungen ihren Zweck
ausreichend erfüllen werden, so ist man
dazu übergegangen, in die Konzession den
Vorbehalt einer späteren Abänderung oder
Ergänzung der Konzessionsbedingungen auf-
zunehmen. Solche Vorbehalte werden selbst
zu Gunsten der (von der konzessionierenden
Behörde verschiedenen) Polizeibehörde ge-
macht. Ein Beispiel bietet die preussische
Praxis dar, nach welcher bei Fabriken mit
grösseren Feuerungsanlagen vorgeschrieben
zu werden pflegt, »dass der Unternehmer
verpflichtet sei, durch Einrichtung der
Feuerungsanlage, sowie durch Anwendung
geeigneten Brennmaterials und sorgsame
Bewartung auf eine möglichst vollständige
Verbrennung des Rauches hinzuwirken, auch,
falls sich ergeben sollte, dass die getroffenen
Einrichtungen nicht genügen, um Gefahren,
Nachteile oder Belästigungen durch Rauch,
Russ etc. zu verhüten, auf Anordnung der
Polizeibehörde solche Abänderungen in der
Feuerungsanlage, im Betriebe sowie in der
Wahl des Brennmaterials vorzunehmen,
welche zur Beseitigung der hervorgetretenen
Uebelstände besser geeignet sind.« Ist die
Konzession vorbehaltlos erteilt, so dürfen
dem Unternehmer später nicht- neue Auf-
lagen gemacht werden, es sei denn, dass es
sich um Einrichtungen" zur Sicherheit der
Arbeiter 'handelt, die nach § 120 a a. a. 0.
jederzeit von der Behörde angeordnet wer-
den können.
Die Konzessionierung von Dampfkesseln
hat die Eigentümlichkeit, dass eine Bekannt-
machung des Prcjekts und demgemäss auch
ein kontradiktorisches Verfahren zwischen
dem .Unternehmer und Einsprechenden nicht
stattfindet. Eine Abweichung von dem die
Regel bildenden Verfahren besteht ferner
darin, dass, bevor der Kessel in Betrieb ge-
nommen werden darf, untersucht werden
Handwörterbuch der Stastewlssenschaften. Zweite Auflage. lY.
37
578
Gewerbliche Anlagen
muss, ob die Ausführung den Bestimmungen
der Konzession entspricht.
4. PrivatrechtUche Einreden und
privatrechtliche Wirkungen der Kon-
zession. Der dem Beichstage vorgelegte
Entwurf der Gewerbeordnung bestimmte in
§ 18 (jetzt § 17), dass die Frist ziu* An-
bringung von Einwendungen für alle Ein-
wendungen nicht privati'echtlicher Natur
präMusivisch sei, und in § 20 (jetzt § 19),
dass Einwendungen privatrechtlicher Natur
ziur richterlichen Entscheidung zu verweisen
seien, ohne dass von ihrer Erledigung die
polizeiliche Genehmigung der Anlage ab-
hängig gemacht werde. Beide Bestimmun-
gen waren wörtlich dem preussischen G.
V. 1. Juli 1861 entnommen, in welches
sie aus der preussischen Gew.-O. v. 17. Ja-
nuar 1845 über^gangen waren, üeber ihren
Inhalt spricht sich ein den sämtlichen Regie-
rungen zur Nachachtung mitgeteiltes Mi-
nisterialreskript vom 16. Februar 1847
(Rönne, Gewerbepolizei, II, S. 32) in folgen-
der Weise aus:
Einwendungen privatrechtlicher Natur
sind solche, die auf einem Rechtstitel
beruhen, welcher die Verfolgung des An-
spruchs im Wege Rechtens zulässt
oder sich auf ein nach der bestehenden
Gesetzgebung durch den Richter zu
schützendes Recht gninden, Einwendun-
gen, die auf Privatinteressen beruhen, da-
gegen solche, wo ein solcher Rechtstitel
nicht besteht, eine Verfolgung im Wege
Rechtens also nicht stattfinden kann, wo
aber derjenige, der sie geltend macht,
doch dabei beteiligt ist, dass ein Dritter
eine gewisse Handlung entweder gar
nicht oder doch nicht in bestimmter Weise
vornehme. Wenn jemand ein ganz isoliert
belegenes Gebäude besitzt und weder für
seine Person noch als Besitzer des Grund-
stücks ein Recht erworben hat, der Be-
bauung des dasselbe begrenzenden Grund-
stücks zu widersprechen, so wird nicht
in Abrede gestellt werden können, dass
der Besitzer eine Klage bei Gericht gegen
den Nachbar, welcher — unter Beobach-
tung der gesetzlich bestimmten Entfer-
nung von der Grenze (§§ 125 ff., § 185
A.L.R., T. I, Tit. 8) — unmittelbar neben
ilim eine ekelhafte Gerüche vorbreitende
gewerbliche Anlage errichten will, auf
Unterlassung der Ausführung der letzteren
nicht begründen kann; dessen ungeachtet
ist es ebenso unzweifelhaft, diiss der Be-
sitzer ein wesentliches Interesse dabei
hat, dass die Ausführung unterbleibe.
W^enn nun die gewerbliche Anlage eine
solche wäre, zu deren Errichtung es nach
§ 27 a. a. 0. der polizeilichen Geuehmi-
gung bedürfte, und der Besitzer erhöbe
in dem einzuleitenden Verfahren den Ein-
wand zu grosser Belästigung durch Übeln
Geruch etc., so wäre dies ein auf Pri-
vatinteressen beruhender Einwand, aber
durchaus kein Einwand privatrechtlicher
Natur.
Diese und die weiteren Ausführungen
des Reskripts lassen klar erkennen, dass
zwar die Absicht dahin ging, alle privat-
rechtlichen Widerspinichsrechte von der Er-
örterung im Konzessionsverfahren auszu-
schliessen und der richterlichen Entscheidung
zu überlassen, dass man aber die Frage, bis
zu welchem Grade sich der Nachbar die
Immission von Rauch, Gerüchen etc. ge-
fallen lassen müsse, als der Erörterung im
Konzessionsverfahren anheimfallend ansah,
weil man annahm, dass sie nicht den Gegen-
stand richterlicher Entscheidung bilden
könne. Es mag hierbei daran erinnert wer-
den, dass in Preussen erst durch den Ple-
narbeschluss des Obertribunals vom 7. Juni
1852 (Entsch., Bd. 23 S. 252) der Grimd-
satz zur Geltung gelangt ist, dass der Eigen-
tümer einer Fabnk vermöge seines Eigen-
tumsrechtes nicht unbedingt befugt sei, die
durch den Betrieb einer solchen Anstalt ent-
wickelten Dämpfe auf benachbarte (hnmd-
stücke zu verbreiten und den Ersatz eines
hierdurch veranlassten Schadens nicht schon
durch die Behauptung abwenden könne,
dass er sich nur eines aus dem Eigentum
folgenden Rechts bedient habe. Noch bei
Beratung des G. v. 1. Juli 1861 wurde in
der Kommission des Abgeordnetenhauses
hervorgehoben, dass der Plenarbeschluss des
Obertribunals nur von einer Schadensersatz-
pflicht spreche und dass vor Gericht nur
von Vergütung für materielle Verluste, nie-
mals aber von der üntersagung einer Fa-
brikanlage die Rede sei.
Bei Beratung der Gewerbeordnung im
Reichstage wurde von gemeinrechtlichen
Juristen, namentlich dem Abgeordneten
Weigel, darauf hingewiesen, dass nach ge-
meinem Recht dem Nachbar ein privat-
rechtlicher, mit der Negatorienklage zu ver-
folgender Anspnich auf Unterlassung der
Immission übermässigen Rauches etc. zu-
stehe, der nach dem Zwecke des Konzessions-
verfahrens in diesem Verfahren mit zur Er-
örterung gezogen und über den durch den
Konzessionsbescheid mit der Wirkung ent-
schieilen werden müsse, dass die Anstellung
der Negatorienklage ausgeschlossen sei.
Dem entsprechend wurde beantragt, nur die
sonstigen privatrechtlichen Einwendungen
— sie wurden als Einwendungen, welche
auf besonderen privatrechtlichen Titeln be-
ruhen, bezeichnet — in § 18 von der Prä-
klusion auszunehmen und in § 20 der
richterlichen Entscheidung vorzubehalten,
ferner durch ausdrückliche Bestimmung
(§ 2;3, jetzt 26) die Negatorienklage »wegen
Gewerbliche Anlagen
579
Belästigung oder beeinträchtigter Nutzbar-
keit fremden Eigentums« den konzessionier-
ten Anlagen gegenüber für unzulässig zu
erklären. Diese Anträge wiu^en in zweiter
Lesung angenommen.
Bei der dritten Lesung wurde der Aus-
druck »Einwendungen, welche auf besonderen
privatrechtlichen Titeln benihen« als zu eng
und zu unbestimmt bemängelt, es wurde be-
antragt, diesen Ausdruck sowohl bei § 18
als bei § 20, der Regierungsvorlage ent^
sprechend, durch die Worte »Einwendungen
privatrechtlicher Natur« oder durch die
Worte »Einwendimgen , welche auf privat-
rechtlichen Titeln beruhen« zu ersetzen. Der
Abgeordnete Weigel äusserte sich zu diesem
Amendement dahin, dass es, was den § 18
anlange, keine besonderen Gefeihren enthalte.
Dieser Äeusserung lag offenbar die Einwä-
gung zu Grunde, dass nach dem in zweiter
Lesung angenommenen und in dritter Lesung
nicht angefochtenen § 23 die Negatorienklage
wegen übermässiger Immissionen ausdrück-
lich ausgeschlossen sei und daher wenig da-
rauf ankomme, ob die Einwendungen, welche
auf diesem Gninde basierten, nach dem
Wortlaut des § 18 von der Präklusion be-
troffen würden oder nicht. Um so entschie-
deneren Widerspruch erhob derselbe Abge-
ordnete gegen die zu § 20 vorgeschlagene
Aenderung, indem er ausführte, dass, wenn
nicht bloss die auf besonderen privatrecht-
lichen Titeln beruhenden Einwendungen,
sondern die privatrechtlichen Einwendungen
überhaupt von der Erörtenuig im Konzes-
sionsveriahren ausgeschlossen und zur rich-
terlichen Entscheidimg verwiesen würden,
die Einwendungen wegen übermässiger Im-
missionen im Eon zessionsverfahren nicht zur
Erörterung zu ziehen seien, was zur Folge
habe, dass der Nachbar, dem nach § 23 die
Negatorienklage abgeschnitten sei, seinen
Einwand gegen Errichtung der Anlage weder
im Konzessionsverfahren noch vor Gericht
zur Geltung bringen könne. Der Reichstag
entschied sich infolgedessen bei dem ersteren
Paragraphen für Wiederherstellung der Re-
gierungsvorlage, bei dem letzteren Para-
graphen aber für Beibehaltung des Beschlusses
zweiter Lesung, zugleich wurde die Fassung
des § 23 einer Aenderung unterzogen. Die
Gewerbeordnung bestimmt nunmehr in § 17 :
dass die Frist zur Yorbringimg von Ein-
wendungen, welche nicht auf privatrecht-
lichen Titeln benihen, pi-äklusivisch ist, in
§ 19 : dass Einwendungen, welche auf be-
sonderen privatrechtlichen Titeln
beruhen, von der Erörterung auszuschliessen
imd zur richterlichen Entscheidung zu ver-
weisen sind, in § 26: dass, soweit die be-
stehenden Rechte zur Abwehr benachteili-
gender Einwirkungen, welche von einem
Grundstücke aus auf ein benachbartes Grund-
stück geübt werden, dem Eigentümer oder
Besitzer des letzteren eine Privatklage ge-
währen, diese Klage einer mit obrigkeitlicher
Genehmigung errichteten gewerblichen An-
lage gegenüber niemals auf Einstellung des
Gewerbebetriebes, sondern nur auf Herstel-
lung von Einrichtungen, welche die benach-
teiligende Einwirkung ausschliessen , oder,
wo solche Einrichtungen unthunlich oder
mit einem gehörigen Betriebe des Gewerbes
unvereinbar sind, auf Schadloshaltung ge-
richtet werden können.
Berücksichtigt man diesen Verlauf der
Verhandlungen und namentlich den Um-
stand, dass sich die im Reichstage angestreb-
ten Abänderungen des Gesetzentwurfes aus-
schliesslich auf die Behandlung der Immis-
sionen von Rauch, Gerüchen etc. beziehen,
so ist der Rechtszustand, wie er durch die
Gewerbeordnung geschaffen ist, dahin auf-
zufessen; Sämtliche privatrechtliche Einwen-
dungen, mögen sie auf Vertrag und sonstigen
speciellen Titeln oder auf gesetzlichen Eigen-
tumsbeschränkungen, z. B. dem Verbote des
Bauens an der Grenze beruhen, sind von
der Erörterung im Konzessionsverfahren
auszuschliessen und können der konzessio-
nierten Anlage gegenüber im Rechtswege
geltend gemacht weixien, ausgenommen sind
nur die aus dem Inhalte des Eigentums-
rechts hergeleiteten Einwendungen wegen
übermässiger Immissionen; diese sind mit
zm* Ei-örterung zu ziehen, und eine auf Ein-
stellung des Betriebes gerichtete Negatorien-
klage aus diesem Grunde ist der konzessio-
nierten Anlage gegenüber unzulässig. Im
Endresultate stimmt das Gesetz fast völlig
mit dem Entwürfe überein, nur dass der
Entwurf die Negatorienklage an sich für un-
statthaft erachtete, das Gesetz aber sie aus-
drücklich ausschliesst oder wenigstens we-
sentlich beschränkt. Noch mag bemerkt
werden, dass der § 26 insofern zu Zweifeln
Anlass giebt, als er eine Klage auf Herstel-
lung von Einrichtungen, welche die benach-
teiligende Einwirkung ausschliessen, sta-
tuiert, eine solche Herstellung aber, da sie
eine Abweichung von den Konzessionsbe-
dingungen involviert, nur mit Zustimmung
der Konzessionsbehörde vorgenommen wer-
den kann.
5. Daner der Konzession. Die Kon-
zession ist dinglicher Natur und bedarf da-
her, wenn die Anlage an einen neuen Er-
werber übergeht, der Erneuerung nicht.
Ebensowenig ist eine solche Erneuerung er-
forderlich, wenn eine durch Feuersbrunst
oder auf andere Weise zu Gnmde gegangene
Anlage unverändert "v^iederhergestellt wer-
den soll. Dagegen ist zu jeder Veränderung
der Betriebsstätte und zu jeder wesentlichen
Verändenmg in dem Betriebe eine Geneli-
migung erforderlich, bei deren Erteüung
37*
580
Gewerbliche Anlagen
ausnahmsweise von dem Aiifgebotsverfahren
Abstand genommen werden kann.
Die Konzession erlischt durch Nichtge-
brauch, wenn der Unternehmer die in der
Konzession angegebene Frist oder in Er-
mangelung einer solchen Frist . ein ganzes
Jahr verstreichen iSsst, ohne die Anlage
auszuführen und in Betrieb zu setzen, oder
wenn er den Betrieb der Anlage während
eines Zeiti-aumes von drei Jahren einstellt.
In beiden Fällen kann von der Behörde die
Frist erstreckt werden.
Eine Entziehung der Konzession fin.let
nicht statt, selbst in dem FaUe nicht, wenn
der Unternehmer gegen die Konzessions-
bedingimgen verstösst. Es kann dann zwar
von der rolizeibehörde gegen den konzes-
sionswidrigen Betrieb eingeschritten werden,
ein Verlust der Konzession tritt aber da-
durch nicht ein, und der Unternehmer bleibt
befugt, den Betrieb in der durch (Jie Kon-
zession gestatteten Weise wieder aufzuneh-
men. Da sich aber ein Verbot, die Kon-
zession auf Zeit oder unter einer Resolutiv-
bedingung zu erteilen, in der Gewerbeord-
nung nicht vorfindet, so hat, hierauf fussend,
die preussische Ministerialanweisung vom
19. tfuli 1884 den Behörden anempfohlen,
die Konzessionen nur auf solange zu erteilen,
als nicht gegen den Inhaber der Anlage ein
rechtskräftiges gerichtliches Urteil wegen
Verletzimg der Konzessionsbedingungen er-
gangen sei, und sich für diesen Fall die
weitere Beschlussfassung über den Fortbe-
stand der Konzession vorzubehalten.
Die vorbehaltlos erteilte Konzession be-
stimmt unabänderlich das Mass der an eine
gewerbliche Anlage zu stellenden polizei-
lichen Anforderungen. Da demnach gegen
eine sich in den Schranken der Konzession
haltende Anlage, auch wenn sie überwiegende
Nachteile und Gefahren für das Gemeinwohl
mit sich bringt, mit polizeilichen Mitteln
nichts ausgerichtet weraeu kann, so bleibt
in solchen Fällen nur die Expropriation
übrig. Die Gewerbeordnung erkennt die
Zulässigkeit einer solchen, gegen Entschädi-
gung stattfindenden Betriebsuntersagung
ausdrücklich an und lässt darüber die
höhere Verwaltungsbehörde in einem dem
Verfahren bei Konzessioniening der gewerb-
lichen Anlagen analogen Verfeihren ent-
scheiden.
6. LandesreGhtUche Einschränkiuig
der EiTichtnng konzessionspfUchtiger
Anlagen. Durch die Landesgesetzgebung
kann die Anlegung von Privatschlächtereien
an Orten, wo ein öffentliches Schlachthaus
l)esteht, untei-sagt und ferner den Gemein-
den die Befugnis beigelegt werden, durch
Ortsstatuten einzelne Ortsteile ausschliesslich
oder vorzugsweise für die Errichtung kon-
zessionspfUchtiger Anlagen zu bestimmen.
Von diesem letzteren Vorbehalte ist in
Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen,
Braunschweig und Anhalt, nicht aber in
Preussen, Bayern und den anderen Bundes-
staaten Gebrauch gemacht worden.
7. Geranschvolle Anlagen. Die Er-
richtung aller nicht konzessionspflichtigen
Anlagen, deren Betrieb mit ungewöhnlichem
Geräusch verbunden ist, muss der Ortspoli-
zeibehörde angezeigt werden, die, wenn in
der Nähe der Betriebsstätte Kirchen, Schulen,
oder andere öffentliche Gebäude, Kranken-
häuser oder Heilanstalten vorhanden sind,
deren bestimmimgsmässige Benutzung durch
den Gewerbebetrieb eine erhebliche Stönmg
erleiden könnte, die Entscheidung der höhe-
ren Verwaltungsbehörde darüber einzuholen
hat, ob die Ausübung des Gewerbes an der
gewählten Stelle zu untersagen oder nur
unter Bedingungen zu gestatten sei.
Für das Verfahren sind bestimmte For-
men nicht vorgeschrieben. Die Negatorien-
klage wegen Immission übermässigen Lärms
wird durch die behördliche Zulassung der
Anlage nicht berührt.
8. Auswärtige Gesetzgebung. Frank-
reich. Das Dekret vom 15. Oktober 1810,
ergänzt durch die königliche Ordonnanz
vom 14. Januar 1815 und hinsichtlich der
für die Konzessionienmg der Anlagen erster
Klasse zuständigen Stelle modifiziert durch
das Decentralisationsdekret vom 5. März
1852, steht noch jetzt in Kraft. Durch zahl-
reiche Einzelerlasse ist das Verzeichnis der
Anlagen und ihre Klassifikation abgeändert
worden. Nachdem durch Dekret vom 31.
Dezember 1866 ein neues Verzeichnis auf-
gestellt worden war, ist dieses wiedenim
durch das alle seither erfolgten Abänderun-
gen zusammenfassende und neue Abändenm-
gen hinzufügende Dekret vom 3. Mai 1886
ersetzt worden.
Belgien. Die Vorschriften des Dekrets
vom 15. Oktober 1810 sind durch königliche
Erlasse weiter entwickelt worden. Der an
Stelle aller früheren Bestimmungen getretene
Erlass vom 29. Januar 1863 teüt die kon-
zessionspfhchtigen Anlagen in zwei Klassen,
üeber aie Erteilung der Konzession entr
scheiden Selbstverwaltungskollegien höherer
und niederer Ordnung. Besondere Beach-
tung verdient, dass die Konzessionen für An-
lagen der ersten Klasse nicht für einen
längeren Zeitraum als 30 Jahre erteilt wer-
den dürfen, dass die Konzession zurückge-
nommen werden kann, wenn der Unter-
nehmer gegen die Bedingungen der Konzes-
sion handelt, und dass jederzeit neue Be-
dingungen auferlegt werden können, wenn
sich ein Bedürfnis hierzu ergiebt. Einem
auch in der deutschen Praxis empfundeneu
Uebelstande hilft ferner die Vorschrift ab,
dass die vor Einführung der Konzessions-
Gewerbliche Anlagen — Gewerblicher Unterricht
581
pflicht errichteten Anlagen (erster Klasse)
nur unter der Bedingung von der Nach-
suchung der Konzession befreit sind, dass
binnen Jahresfrist eine genaue Beschreibung
der Anlage der Behörde eingereicht und
ihre Richtigkeit durch die Behörde konsta-
tiert wird.
Durch zwei königliche Erlasse vom 31.
Mai 1887 ist das Yerfahren für einen Teil
der Anlagen erster Klasse durch den Schutz
der Arbeiter bezweckende Vorschriften ver-
schärft, das Yerfahren für einen Teü der
Anlagen zweiter Klasse aber vereinfacht und
ein neues Vei-zeichnis der konzessionspflich-
tigen Anlagen aufgestellt worden, das seit-
dem zahlreiche Ergänzungen durch Einzel-
erlasse erfahren hat.
Oesterreich. Die Vorschriften der
Gew.-O. vom 20. Dezember 1859 und der
Novelle vom 15. März 1883 beruhen gleich-
falls auf den Grundsätzen des Dekrets vom
15. Oktober 1810. Sie kommen in der
Hauptsache mit denen des deutschen Ge-
setzes überein.
England. Hier haben diese Grund-
sätze erst spät und in der Beschränkung auf
Fabriken und Niederlagen von Schiesspulver
und anderen explosiven Stoffen Anwendung
gefunden. Die am 14. Juni 1875 erlassene
Explosives Act führt für diese Anlagen ein
Konzessionsverfahren mit öffentlicher Be-
kanntmachung, Anhörung von Einsprechen-
den und geregeltem Rechtsmittelzug ein.
Was sonstige gewerbliche Anlagen betrifft,
so bedürfen zwar nach der Public Health
Act 1875 Knochen- und Blutkochereien,
Talgschmelzen, Seifensiedereien und ähnliche
offensive trades der ortspolizeüichen Geneh-
migung, ein bestimmtes Verfahren ist aber
hierfür nicht vorgeschrieben.
Einen mit den Zwecken der Konzessions-
gesetzgebung verwandten Zweck verfolgt
die Aleali Act 1863/1874. Sie schreibt füi-
Sodafabriken und gleichartige Anlagen vor,
dass jeder Kubikfuss Luft, Rauch, oder son-
stiges in die Atmosphäre entweichendes Gas
nicht über ein Fünftel Gramm Salzsäuregas
enthalten darf.
1V^. Honimel.
Oewerblicber ünterricbt.
I.Allgemeines. I.Entstehung. 2. Ein-
teilang. 3. Znsammenhang der gewerblichen
Schalen unter einander. 4. Zusammenhang der
gewerblichen Schulen mit dem gewerblichen
Leben. Oberaufsichtsbehörden. 5. Häufigste
Mängel gewerblicher Schulen. 6. Schulzwang.
7. Aufbringung der Kosten gewerblicher Schulen.
8. Lehrer. 9. Lehrmittel. 10. Durchführung
der Schulaufsicht. 11. Schulausstellungen. 12.
Zeitschriften für gewerbliche Schulen, Statistik
und Geschichte derselben. 13. Verbände und
Verbandstage. IL Die Hauptgruppen ge-
werblicher Schulen. A. 14. Gewerbliche
Fortbildungsschulen. 15. Offene Zeichensäle. B.
16. Oesterreich. Handwerkerschulen. C. 17.
Gewerbliche Schulen für das weibliche Geschlecht.
D. 18. Niedere gewerbliche Fachschulen. 19.
Lehrwerkstätten. 20. Baugewerkschulen. 21.
Werkmeisterschulen. E . 22. Gewerbliche Mittel-
schulen. 23. Handelsschulen. F. Kunstgewerbe-
schulen, -vereine und -museen. 24. Kunstge-
werbeschulen und -vereine. 25. Kunstgewerbe-
museen. G. 26. Technische Hochschulen.
I. Allgemeines.
1. Entstehung. Die Erfindungen des
letzten Jahrhunderts liaben die Spinnerei,
Weberei sowie ändere Industrieen sehr ver-
vollkommnet und neue Gewerbszweige, ins-
besondere den Bau von Dampfmaschinen,
Arbeitsmaschineu , Lokomotiven , Dampf-
schiffen, die chemische Industrie und andere
veranlasst. Die Gewerbefreilieit stellte er-
höhte Anforderungen an die Fähigkeiten der
gewerblichen Unternehmer und Arbeiter.
Diese Fähigkeiten auszubilden, ist der Zweck
der gewerblichen Schiden, welche der jüngste
Zweig des neueren Schulwesens sind. Frank-
reich ging hierin am frilhesten, schon unter
Colbert, voran. Bei der Jugend des gewerb-
lichen Schulwesens sind die Fragen nach
der Einrichtung dieser Schulen, nach den Zie-
len, Lehrweiseu und dem Aufbau des Lehr-
stoffes, viel weniger geklärt als bei den
Yolks- und den Gelehrten-Schiden.
2. Einteilung, a) Nach den Aufnahme-
bedingungen und Lehrzielen unterscheidet
man niedere, mittlere gewerbliche Schulen
und technische Hochschiüen; b) nach der
Inanspruchnahme der Zeit des Schülers
Abend- bezw. Sonntagsschulen und Tages-
schulen (Vollschulen); c) je nachdem der
Lehrstoff weniger oder mehr dem gewerb-
lichen Leben angehört, gewerbliche Fort-
bildungs- und Fachschulen; ausserdem d)
Schulen für männliche und weibliche Schü-
ler und e) öffentliche (vom Staate, von Ge-
meinden, Innungen oder Vereinen errichtete)
und Piivatschuien. Bei Vergleichung ge-
werblicher Schulen wird auf b oft zu wenig
geachtet. Der 3 jährige Unterricht einer
gewerblichen Fortbildungsschule , welche
wöchentlich 4 Stunden bietet (etwa 480
Stunden), kommt der Zeit nach etwa dem
14 wöchigen Unterrichte einer gewerblichen
Vollschule mit wöchentlich 35 Stunden
gleich, f) nach Zweck und Umfang der ver-
mittelten Bildimg : Schulen für die Vorbildung
zu einem gewerblichen Berufe, Schulen für
die Ausbildung in einem solchen und für
die Fortbildung der in der Benifspraxis
Stehenden, g) einfache und zusammengesetzte
Schulen (letztere enthalten in denselben
Käumen, unter derselben Leitung, vielfach
auch unter denselben Lehrern selbständige
Abteilungen mit verschiedenen Aufnahme
M
582
Gewerblicher Unterricht
bedinguDgen, Zielen und Unterrichtsdauer.
Beispiele : Die Verbindung von höherer Ge-
werbe-, Werkmeister- und Baugew erken-
schule in Chemnitz, die Industrieschule zu
Plauen i.Y. mit Musterzeichner-. Fabrikanten-,
Frauenarbeits- und Abendschule, Oester-
reichische Staatsgewerbeschulen, s. unter 22,
Handelsschulen mit höherer Abteilung und
Lehrlingsschule, einjährigem Kui'se etc. Ver-
einigung von vollem Tages- und beschränk-
tem Abendunterricht in vielen Schulen).
3. Zusammenhang der gewerblichen
Schulen untereinander. Bei gewerblichen
Schulen erscheint der praktische Wert der
einen Schulart für die anderen gering, wes-
halb (L. von Stein) das gewerbliche Schul-
wesen bei der Sondening begann und die
gegenseitige Verbindung bisher nur wenig
erreichte. Im Gelehrten Schulwesen ent-
wickelte sich dagegen die Sonderung der
Fächer niu* allmählich aus der wissenschaft-
lichen Einheit, der universitas litterarum.
Die Grenzen zwischen allgemeinen und ge-
werblichen Fortbildungsschulen , zwischen
gewerblichen Fortbildungs- und Fachschulen,
zwischen niederen und mittleren gewerb-
lichen Schulen und zwischen gewerblichen
Mittel- und Hochschulen sind bis jetzt noch
nicht überall scharf gezogen. Dies erschwert
eine bestimmte Festsetzung der Schulziele
und die gegenseitige Wünligung der ver-
schiedenen gewerblichen Schulen.
4. Zusammenhang der gewerblichen
Schulen mit dem gewerblichen Leben.
Oberaufsichtsbehörden. Dieser Zusammen-
hang ist, da die Schulen dem Leben dienen
sollen, sehr wichtig. Ihn fördern folgende
Mittel: a) Wahl des Schulorts. Fach-
schulen, die stete Fühlung mit Werkstatt
und Fabrik brauchen, gehören an Mittel-
punkte gewerblicher Thätigkeit und der
Gewerbszweige, denen sie dienen ; b) Schu 1 -
Unternehmer sind vielfach Gemeinden,
Innungen und gewerbliche Vereine (insbe-
sondere in Sachsen, Hessen - Darmstadt,
Nassau, der Schweiz). Wo die Kräfte der
Beteiligten hierzu auf die Dauer nicht hin-
i-eichen oder ein Landesbedürfnis vorliegt
(Baugewerkenschule , Werkmeisterschule,
Kunstgewerbeschule , gewerbliche Mittel-
schule, technische Hochschule), sind Staats-
schulen angezeigt. Von den 251 gewerb-
lichen Schulen, (üe an der Schulausstellung
in Dresden 1898 teilnahmen, waren 88 von
Vereinen, 48 vom Staate, 47 von Innungen,
45 von Gemeinden, 23 von Privaten errichtet.
Die Badischen Gewerbe- und gewerblichen
Fortbildungsschulen sind ausnahmslos Ge-
meindeanstalten mit Staatsunterstützung.
Niedere gewerbliche Schulen werden nur
ausnahmsweise vom Staate zu errichten oder
zu übernehmen sein (s. aber unten sub 7 b
Gesterreich) ; andernfalls wird zwar Arbeit,
Sorge und Verantwortung den Nächst-
beteiligten vom Staate abgenommen, es pflegt
aber auch die belebende und anspornende
W^irkung einer thätigen Anteilnahme der
Gewerbtreibenden und Gemeinden solchen
Anstalten, die weniger von ihrem natürlichen
Boden als vom Staatsmittelpunkte aus ge-
nährt werden, zu fehlen ; c) S c h ü 1 e r. Vor-
gängige praktische Thätigkeit ist bei Fach-
schulen meist Aufnahmebedingung. Prak-
tische Thätigkeit der Schüler neben dem
üntemchte. Sondenmg der Schüler nach
Gewerben in gewerblichen Fortbildungs-
schulen, d) Lehrstoff und Lehrweise.
Der Zusammenhang des Unterrichts mit
dem Gewerbe muss nicht bloss vorhanden
sein, sondern auch den Schülern zum Be-
wusstsein kommen. Je mehr die gewerb-
lichen Schulen die Lehrfächer in den Vorder-
grund stellen, die unmittelbar in der Werk-
statt verwertet werden können und die
technische Leistungsfähigkeit der Schüler
fördern, insbesondere das Zeichnen, desto
mehr werden sie von Meistern und Lehr-
lingen hochgehalten. Im Rechnen ist Sicher-
heit und Gewandtheit das Wesentlichste,
Beschränkung auf die einfachste Lösungsart
geboten. In Geometrie weniger Beweise
als Anwendung aufs praktische Leben. Im
Zeichnen weniger Ornament- als Fachzeich-
nen. Die Lehrer sollten darauf lialten, dass
die Schüler beim Unterrichte im Rechneu,
im Fachzeichnen u. s. w. Beispiele aus ihren
Werkstätten brächten. Neben der technischen
ist auch die w^iiischaftliche Seite des Gewerbe-
betriebes, insbesondere die Berechnung der
allgemeinen Geschäftsunkosten, zu berück-
sichtigen, also namentlich die Buchführung,
die Feststellung wirtschaftlicher Erfolge und
Misserfolge.
Vielfach üblich, aber ganz verkehrt ist
es, von gewerblichen Schulen zu verlangen,
dass sie fertige Techniker oder Künstler
liefern sollen, statt solcher, die befähigt sind,
einmal Meister ihres Faches zu werden,
e) Lehrer müssen Praktiker des Gewerbes
sein (hierbei ist aber die Gefahr zu berück-
sichtigen, dass von solchen nicht lehrgemäss
vorgegangen und vieles als selbstverständJich
behandelt wird, was erst gelehrt werden
muss) oder mit Praktikern in engem Ver-
kehre stehen. Auch für fachwissenschaft-
liche Lehrer technischer Hochschulen ist die
Praxis, die eine verantwortliche Leitung
technischer und wirtschaftlicher Arbeit lehrt,
eine unentbehrliclie Schule. Reisebeihilfen
zum Besuche anderer Gewerbegegenden. Dass
Lehrer an Baugewerk- und Kunstgewerbe- so-
wie Fachschulen Privataufträge für die Praxis
ihres Berufes annehmen und ausführen, ist
nur ei'^'ttnscht (s. auch unten sub 8). f) L e h r -
mittel, womöglich dem gewerbüchen
Leben entnommen, mindestens füi* dasselbe
Gewerblicher Unterricht
583
geeignet. Ausleihung praktischer Vorbilder
aus Werkstätten und Gewerbemuseen. Bei
der Wahl der Lehrmittel sind Praktiker zu
Rate zu ziehen, g) Aufsicht. Nächste
Aufsicht nicht ohne tüchtige Gewerbtrei-
bende, welche auf enge Fühlung zwischen
Schule und Gewerbe hinwirken, die Be-
deutimg des Unterrichts in den Augen aller
Beteiligen heben und die Regelmässigkeit
des Schulbesuchs imd sonstige Schulzucht
günstig beeinflussen. Häufiger Besuch des
Unterrichts durch sie ist nötig. Ober-
aufsicht am zweckmässigsten durch das
Ministerium, dem die Fördenmg von Ge-
werbe und Handel obliegt (Min. d. Innern
oder für Gewerbe und Handel). Sonst wird
eine der wichtigsten Seiten der Gewerbe-
pflege von dieser losgelöst. Der Endzweck
der gewerblichen Schulen, Fördenmg des
Wohlstandes, überwiegt das Mittel, Förde-
rung der Ausbildung der Bevölkenmg. Eine
Ausnahme machen meist die technischen
Hochschulen, welche mit den Universitäten
dem Unterrichtsministerium unterstellt sind.
In Preussen mehrfacher Wechsel. Die
Mehrzahl der gewerblichen Schulen ging dort
1879 an das Unterrichtsministerium über, 188d
nach misslichen Erfahrungen an das Ministerium
für Handel und Gewerbe zurück. In Preussen
wurde auf Wunsch des Abgeordnetenhauses von
1879 eine „ständige Kommission für das tech-
nische Unterrichtswesen", bestehend aus Mit-
gliedern des Herren- und Abgeordnetenhauses,
Industriellen, Handwerkern, Direktoren gewerb-
licher Schulen und Beamten, eingesetzt. Sie
trat aber bis 1900 nur 5 mal (IfcSO, 1881, 1883,
1891 und 1896) zusammen, wenn die Regierung
Aenderungen im gewerblichen Schulwesen plante.
In Bavern ist das gesamte Unterrichtswesen
seit 1872 dem Ministerium für Kirchen und
Schulangelegenheiten unterstellt. In Sachsen
stehen die gewerblichen, Handels- und Land-
wirtschjrftsschulen von jeher unter dem Ministe-
rium des Innern. In Württemberg besteht
seit 1853 die dem Unterrichtsministerium unter-
geordnete königliche Kommission für die ge-
werblichen Fortbildungsschulen, gebildet aus
Mitgliedern der Centralstelle für öewerbe und
Handel, deren Vorstand den Vorsitz führt, und
der 3 Oberschulbehörden, sowie dem Vorstande
der Kunstgewerbeschule. Die Web- und ande-
ren Fachschulen unterstehen in Württemberg
dem Ministerium des Innern unter unmittel-
barer Aufsicht der genannten Centralstelle, die
Bautfewerkschule, ßins^ewerbeschule, höheren
Handelsschulen dem Kultusministerium. In
Baden besteht seit I.Juli 1892 ein Grossherzogl.
Gewerbeschnlrat (4 ordentliche, 6 ausserordent-
liche Mitglieder), dem Unterrichtsministerium
unmittelbar unterstellt, unter dem Vorsitze eines
Mitgliedes des Ministeriums des Innern, Central-
MittelbehÖrde für alle gewerblichen und kauf-
männischen Schulen. Vorher unterstand ein Teil
der gewerblichen Schiüen dem Unterrichtsminis-
terium, ein anderer dem Ministerium des Innern.
Straffe, einheitliche Organisation des badischen
gewerblichen Unterrichts. Für sämtliche ge-
werbliche Schulen ist der Lehrplan yorgeschrie-
ben. Die Lehrmittel steUt grösstenteils der
Gewerbeschul rat. Für die von den Schulvor-
ständen auf Gemeindekosten anzuschaffenden
Bücher, Vorlagen und Modelle ist die Geneh-
migung der vorgesetzten Behörde einzuholen.
In Hessen-Darmstadt unterstehen die ge-
werblichen und kunstgewerblichen Schulen der
Grossherzoglichen Centralstelle für die Gewerbe,
die von der Handwerkerschul-Kommission des
Landesgewerbe Vereins (98 Gewerbevereine) unter*
stützt wird. In Oesterreich seit 1882 Ver-
eini^ng aller dem gewerblichen Bildungswesen
gewidmeten Etatkredite beim Unterrichtsminis-
terium, welches sie unter Mitwirkung des
Handelsministeriums verwaltet Die Mitglieder
der „Centralkommission für den gewerblichen
Unterricht" werden zur Hälft« vom Handels-
ministerium vorgeschlagen, überhaupt alle vom
Unterrichtsmluister im Einvernehmen mit dem
Handelsminister berufen. Ein besonderer Ver-
treter des Handelsministers in der Central-
kommission hat das Kecht aufschiebenden Ein-
spruchs. Die Inspektoren der gewerblichen
Schulen werden dort im Einvernehmen beider
Ministerien ernannt. In Ungarn stehen die
Lehrlingsschulen, der kunsteewerbliche Unter-
richt und die technische Hochschule unter dem
Unterrichtsministerium, die Handwerkerschulen
und die gewerblichen Fachschulen unter dem
Handelsministerium. Beiden Ministerien ist der
„Landes-Gewerbeschulrat" (32 Mitglieder) unter-
stellt.
h) Unmittelbare Befruchtung des
gewerblichen Lebens durch gewerbliche
Schulen: Erteilung von Ratschlägen und
Gutachten, Angabe von Bezugsquellen und
Konstniktionsweiseu , Zuwendung von Be-
stellungen, unentgeltliche Ueberlassung von
Modellen, Büchern, Vorlagewerken, Zeich-
nungen an Gewerbtreibende. Material-
prüfungs- und Versuchsanstalten sowie La-
boratorien mancher Fachschulen stehen Ge-
werbtreibenden unentgeltlich oder gegen
Entgelt zur Verfügung. In OesteiTcich, wo
diese Wirksamkeit besonders gepflegt wird,
haben die Fachschulen auch das Genossen-
schaftswesen sehr gefördert. Bis 1899
wurden 13 solche Vereinigungen, meist
Werkgenossenschaften mit Maschinenbetrieb,
Produktiv- und Rohstoffgenossenschaften,
unter dem Patronat von Fachschulen be-
gründet. Einigen stellte die Schule sogai'
den Werkmeister.
i) Werkstätten sind insbesondere mit
vielen Fachschulen verbimden (s.unten sub 19).
k) Oft wird übersehen, dass »der gewerb-
liche Unterricht nicht eine Wurzel, sondern
eine Blüte der Industrie ist. Es kann
keinen grösseren Irrtum geben, als eine
Industrie auf dem Wege des Schulunterrichts
zu Stande bringen zu wollen« (v. Steinbeis).
Fachschulen, die neue Industrieen schaffen
sollten, blieben meist erfolglos.
5. Hänfigäte Mängel gewerblicher
Schulen, a) Organisation. Zu hohe
Ziele, z. B. Anfertigimg kunstgewerblicher
584
Gewerblicher Unterricht
Arbeiten statt handwerksmässiger in gewerb-
lichen Fortbildungsschulen. Zeichnen ganzer
Lokomotiven oder Dampfmaschinen, statt
anschaulicher Einzelteile von Maschinen, von
ungenügeod vorbereiteten Schülern. Die
Schüler erlangen dann meist weder das zu
hohe noch das eireichbare bescheidenere
Ziel. Hiergegen schützt klare Erkenntnis
der Forderungen des praktischen Lebens,
stete Rücksichtnahme auf den Bildungsstand
der Schüler, verständige AVürdigimg des
Wertes, den jede ihren Aufgaben genügende
Persönlichkeit auch im bescheidensten Wir-
kungskreise hat, und weise Selbstbeschrän-
kung des Lehrers. Sie fehlt oft, wenn er
höher gebildet ist. b) Unterrichtszeit.
Der gewerbliche Unterricht muss sich seine
Stellung anfänglich mühsam erringen und
zum Nachteile der Schüler mit der Er-
holungszeit (Abenden und Sonntagen) vorlieb
nehmen. Die ältesten gewerblichen Schulen
waren und hiessen meist Sonntagsschulen.
Aber die Yerkümmerung der Erholungs-
\md Erbauungszeit erzeugt oft Ueberan-
strengung, Lassheit, Widerwillen gegen die
Schule und Vernachlässigung der Religion
bei den Schülern. Mit der zunehmenden
Würdigimg des gewerblichen Unterrichts
werden demselben mehr und mehr geeignete
Tagesstunden der Woche überlassen. Am
günstigsten stehen hierin die Handelsschulen.
Bei 47 sächsischen Handelsschulen 1899
unter 3321 wöchentlichen Unterrichtsstunden
nur 8 Sonntags. Bei den gewerblichen
Fortbildungsschulen Sachsens fallen noch
35®/o der wöchentlichen Unterrichtsstunden
auf den Sonntag, 53®/o auf Wochentags-
abende ; in der Schweiz (1890) 17 % auf den
Sonntag, 49®/o auf Abende. Die Badische
V. V. 16. Juli 1868 bestimmte, dass in den
Gewerbeschulen von den in jeder Klasse
geforderten 6 wöchentlichen Unterrichtsstun-
den nur 2 auf den Sonntag fallen dürften.
In Baden kamen 1899 von den obligato-
rischen Unterrichtsstunden der Gewerbe-
schulen nur 1,6 ^/o auf den Sonntag, 5,9 ^/o
auf Abende, im Sommer sogai* 98*^/0 auf
Tagesstunden. Dagegen hatten 1898 von
186 kaufmännischen Fortbildungsschulen
Preussons noch 46 (^—- 24 "/o) Sonntags-
unteiTicht, danmter viele nachmittags zwi-
schen 3 und 7 Uhr. Württembergs 177
gewerbliche Fortbildungs- und Frauenarbeits-
schulen mit 215,')7 Schiilern hatten 1890
nur noch lb% der Unterrichtsstunden, fast
nur zeichnerische, am Sonntag. In Ham-
burg wurde 1893 der ganze Zeichenunter-
richt der gewerblichen Lehrlinge auf einen
Wocheutags-Nachmittag von 1 — 4 Uhr ver-
legt. Die Ueberanstrengung der Schüler
gewerblicher Schiden durch Sonntags- und
Abonduntemcht wird leider wenigerangefoch-
teu als die behauptete TTeberbürdung der Ge-
lehrtenschüler. Dass die Schüler beim
Tagesimterrichte %4el leistunpfähiger sind
und viel regelmässiger erschemen als beim
Abendunterrichte, bestätigt vielfältige Er-
fahrung. Höhere Vergütung des Sonntags-
und Abendunterrichts an die Lehrer ist in
manchen Gegenden üblich. Das Wider-
streben eigennütziger Meister gegen den
Tagesunterricht ist hierbei weniger zu be-
achten als die Schwierigkeit, in den Tages-
stunden Räume und Lehrkräfte zu be-
kommen, ohne die Kosten der gewerblichen
Schule zu sehr zu steigern. Da die Be-
nutzung gottesdienstfreier Sonntagsstunden
zum Fortbildungsunterricht Jahrzehnte lang
gesetzlich zulässig war, so ist es richtig,
wenn der Sonntagsunterricht nicht als Un-
recht bekämpft, sondern nur die mit zu-
nehmender Würdigung der gewerblichen
Schiüe von selbst fortschreitende Beseitigung
dieses Uebelstandes unterstützt wird, c) U n -
terrichtsräume. Die Geringfügigkeit
des Schulgelds und der Beihilfen aus öffent-
lichen und Vereinsmitteln ist vielfach der
Grund ungenügender Räume. Benutzung
ungeeigneter Subsellien und Zeichentische
in Volksschi üräumen. In Baden haben
sämtliche Gewerbeschiüen eigene Schul-
räume, 13 Schiüen eigene Gebäude. Von
den gewerblichen Fortbildungsschulen Badens
müssen nur noch 15% mit einer Volks-
schule die Unterrichtsräume teilen, 85%
haben bereits eigene Schulräume, d) L e h r -
weise. Ungenügende Berücksichtigung
der ungleichmässigen und mangelhaften Vor-
bildung der Schüler. Mangelnde Fühlung
der Lehrer mit dem praktischen Gewerbs-
leben. Berücksichtigung entbehrlicher Theo-
rie, also falsche Wissenschaftlichkeit ; liierzu
veranlasst der volle Tagesunterricht mancher
gewerblichen Schulen.
„In Frankreich lehrt man meist die nächsten
Mittel, bei uns oft die letzten Gründe von allem.
Wir lehren mehr aus dem Kopfe in die Hand,
Franzosen und Engländer mehr aus der Hand
in den Kopf. Deshalb bezahlen wir unser theo-
retisches Wissen oft mit verringerter praktischer
Leistungsfähigkeit" (Felisch). „Die theoretische
Richtung überwiegt im deutschen Volke jetzt
schon dergestalt die praktisch-produktive, dass
man selbst in unseren Werkstätten einen der
Arbeitslust und dem Arbeitsgeschick nicht eben
förderlichen Schulgeruch wahrnehmen kann, den
man in den Werkstätten der bereits zu höherer
industrieller Ausbildung gelangten Länder nicht
findet" (v. Steinbeis).
Nichtbeachtung des Grundsatzes: »We-
niges, aber das Wenige recht!« Zersplitte-
rung des Stoffes bei wenigen Unterrichts-
stunden in zu %iele Untemchtsfächer. Statt
den Schüler durch Fragen zu selbständiger
Beobachtung und Beurteilung seines Thätig-
keitsgebietes anziut*gon und anzideiten und
ihn dadurch zu selbständiger Fragestellung
Gewerblicher üntemcht
585
lind ScWussfolgerung heranzubilden, wird
ihm zu viel Fertiges, von ihm nicht denkend
Gefundenes, dargeboten.
Sprunge in der Vermittelung des Lehi'-
stoffes, z. B. Fehlen der Projektionslehre
vor dem konstruktiven Fachzeichnen und
des Linearzeichnens vor der Projektions-
lehre. Mangelnde Berücksichtigung des
Geschmacks neben der Technik oder der
Technik neben dem Geschmacke. Nicht-
benutzung des einfachsten, zeitsparenden
Yerfahrens, z. B. zu \del ausgeführte Male-
reien und umständliche Zeichnungen statt
einfacher Skizzen mit Blei- oder Farbstift.
Statt zeichnender Handwerker werden Hand-
werkszeichner ausgebildet, e) Aufsicht.
Zu geringe Teilnahme der Aufsichtspersonen
am Unterrichte; Zulassung impünktlichen
und unregelmässigen (mitunter von eigen-
nützigen Lehrherren gehinderten) Schul-
besuchs, f) Mangelnde oder ungeeignete
Lehrmittel, z. B. bei der Projektion sichre
keine Anschauungsmittel, beim Fachzeichnen
keine Modelle, Gipszeichnen mit Licht und
Schatten für Schlosser, Tischler etc. g) Fehlen
von Stipendien und Freistellen, mit
denen die Gymnasien und anderen älteren
Schulen weit reicher bedacht sind als die
gewerblichen Schulen. Vorbildlich ist die
»Schlosserstiftung für das Herzogtum Bi-aun-
schweig«, 1899 begründet durch cUe Staats-
regierung , Schlosserinnungen , Masehinen-
fabrikanten und Eisenkaufleute, welche jähr-
lich 2300 Mark zur Ausbildung Braun-
schweigischer Schlosser auf der Deutschen
Schlosserschule Rosswein verfügbar hat. h)
Wo Staat und Gemeinden sich des gewerb-
lichen Schulwesens zu wenig annehmen, da
gedeihen Privatschulen, oft übermässig
auf Geld verdienen gerichtet, mit lässiger
Schulzucht, kärglich besoldeten, häufig wech-
selnden Jjehrern, starker Reklame, Nötigimg
der Schüler zum Ankaufe tem^r, unvollkom-
mener Unterrichtswerke (s. insbesondere unten
sub 22 bei den gewerblichen Mittelschulen).
6. Schnlzwang. Derselbe hat sich bei
allgemeinen Fortbildungsschulen (in Gotha
seit 1872, Sachsen seit 1873, Baden, Hessen-
Darmstadt, Weimar, Coburg seit 1874,
Meiningen, Schwarzburg-Rudolstadt seit 1875,
Schwarzburg-Sondershausen seit 1876) wohl
bewährt. Dagegen wird der Schulzwang
für gewerbliche Fortbildungsschulen meist
nur da empfohlen, wo diese Schulen noch
nicht genügend entwickelt sind und natür-
liche Anziehungskraft nicht besitzen oder
wo, wie in Preussen, der fehlende allgemeine
Fortbüdungszwang durch ortsstatutarischen
Schiüzwang (R.G.O. § 120) ersetzt werden
muss. Die Verordnung des Preussischen
Handelsministers vom 31. August 1899
empfiehlt für gewerbliche Fortbildungs-
schulen letzteren Zwang. Die Frei^voUigkeit
des Besuchs der gewerblichen Fortbildungs-
schulen »scheidet die Spreu vom Weizen,
verhütet, dass beim Unterrichte leeres Stroh
gedroschen und die Zeit des Lehrers wie
der Schüler nutzlos vergeudet wird« (v. Stein-
beis). Zucht und Fortschritte besserten sich
bei Schulen, welche Schulzwang hatten, mit
dem Aufhören des Zwanges. In Württem-
berg erzielten die Fortbildungsschulen, wel-
che aus wohlmeinendem, aber wenig über-
legtem Eifer der Gemeindebehörden oder
infolge des Drängens unfähiger Lehrer den
Schulzwang festhielten, die mindestgünstigen
Erfolge. Belehrung, Aufmunterung, gute
Erfolge der gewerblichen Fortbildungs-
schulen, vor allem das bei tüchtigen, streb-
samen Menschen hervortretende Bedürfnis
nach Weiterbildung machen dort \md in
anderen höher entwickelten Ländern den
Zwang immer mehr entbehrlich. Während
des Fehlens der Möglichkeit, Kaufmanns-
lehrlinge durch ortsstatutarischen Zwang
zum Besuche kaufmännischer Fortbildungs-
schulen anzuhalten, (R.G.O.-Nov. v. 17. Jimi
1878 § 154, 1881—90) wurden im Deutschen
Reiche 79, dagegen in der Zeit dieser Mög-
lichkeit (1871 — 80) nur 35 kaufmännische
Fortbildungsschulen begründet. Die R.G.O.-
Nov. V. 1. Juni 1891 § 120 fülirte die Mög-
lichkeit einer Verpflichtung männlicher
Ai'beiter unter 18 Janren zum Besuche einer
Fortbildungsschule wieder ein. Diese Mög-
lichkeit hat wesentliche Bedeutung nur füi*
Preussen, wo ein allgemeiner Fortbildungs-
zwang nicht besteht. In Baden ist der
Schulzwang durch Ortsstatut für alle be-
teiligten Gewerbe bei 96 ^/o der Gewerbe-
schulen und allen gewerblichen Fortbildungs-
schulen durchgeführt.
Sehr förderlich ist jedenfalls der gesetz-
liche Zwang zum Besuche der allgemeinen
Fortbildungsschule für das Entstehen und
die Wirksamkeit gewerblicher Fortbildungs-
und Fachschulen. Deren Zöglinge sind vom
Besuche der allgemeinen Fortbildungsschule
meist befreit. Die jungen Gewerbetreiben-
den suchen, wenn sie wissen, dass sie doch
bis zum 17. Jahre Unterricht nehmen müs-
sen, gern eine gewerbliche Schule auf, deren
Nützlichkeit für ihren Beruf ihnen einleuch-
tet. Von den 308 im Jahre 1898 bestehen-
den gewerblichen Schiüen Sachsens ent-
standen 208 erst nach 1873, dem Jahre der
Einführung des allgemeinen Fortbildungs-
schulzwanges. Wo ein solcher Zwang
herrscht, nehmen die gewerblichen Schulen
vorwiegend die Tüchtigeren und Streb-
sameren des gewerblichen Nachwuchses auf.
In Oesterreich verpflichtet das G. v.
21. Februar 1897 die Lehrlinge bei Strafe
der Verlängerung der Lehrzeit bis zu einem
Jahre, die bestehenden allgemein -gewerb-
lichen und fachlichen Fortbildungsschulen
586
Gewerblicher Unterricht
regelmässig zu besuchen. Verlängerung der
Lehrzeit auch bei Nichtbestehen der von
der Genossenschaft vorgeschriebenen Lehr-
lingspnifung. — Mittelbarer Schulzwang für
junge Baugewerken in Oesterreich durch
das Baugewerbegesetz v. 26. Dezember 1893, |
da die für die Prüfung der Bau-, Maiut^r-,
Steinmetz-, Zimmer-, Brunnenbaumeister er-
forderlichen Kenntnisse niu* in einer ge-
werblichen Lehranstalt erworben werden
können.
7. Aufbrin^nng der Kosten gewerb-
licher Schalen, a) Schulgeld. Die Er-
hebung eines solchen wirkt günstig , indem '
es die Schüler und deren Angehörige den |
Wert des Unterrichts schätzen lässt , die .
Regelmässigkeit des Schulbesuchs und den !
Fleiss der Schüler fördert, zum Sparen ver-
anlasst und bei Aermeren das Selbstvertrauen
\md Ehrgefühl kräftigt Ein bezahlter
Unterricht wird nach Erfahrungen in Wür1>
temberg, wo ein Schulgeld in den gewerb-
lichen Fortbildungsschulen erst 1858 einge-
fülirt wurde, nicht nur besser benutzt, son-
dern manchmal sogar mehr gesucht als ein
unentgeltlicher. Yorher sahen Schüler es
nicht selten als eine Gefälligkeit gegen
Lehi^r und Schide an, wenn sie kamen.
Aermeren kann durch Schulgeld -Erlass undj
Beihilfen der Schulbesuch ermöglicht werden, j
Das Schulgeld ist bisweilen abgestuft fiu'i
Angehörige des eigenen Ortes oder Landes,
für Angehörige anderer deutschen Länder
und für Ausländer. Reichsausländer sollten
nur gegen ein Schulgeld zugelassen werden,
das die durchschnittlich auf einen Schüler ent-
fallende Gesamtausgabe der Schule einiger-
massen deckt. In Baden wird der gewerbliche
Unterricht teils unentgeltlich, teils gegen ein
Schulgeld erteilt, das bei Gewerbe- und ge-
werbhchen Fortbildungsschulen 7.20 Mark,
bei kaufmännischen 20 Mark jährlich nicht
übersteigen darf.
b) Staats-, Gemeinde- und
sonstige Beihilfen. Teilnahme der
nächstbeteiligten Gewerbtreibenden an den
gewerblichen Schulen ist (s. oben sub 4 g)
für diese sehr wünschenswert, aber ohne
Geldbeihilfen aus diesen Kreisen schwer zu
erlangen. Die Forderung von Geldbei-
hilfen der Nächstbeteiligten regt die Innun-
gen zu vermehrter Wirksamkeit und die
nicht in Innungen Vereinten zu selbständiger
Vereinsbildung an. Wo gewerbliche Schulen
ohne angemessene Opfer der Gewerbtrei-
benden errichtet und erhalten werden, da
zeigt sich bei den Gewerbtreibenden leicht
Mangel an Teilnahme, ja Misstrauen gegen
die ihnen von oben herab gewährten Ein-
richtungen.
Jetzt wird inPreussen in der Regel ver-
langt, dass die Gemeinden oder sonstigen Be-
teihgten die Unterrichtsräume und das Inven-
tar stellen und unterhalten. Bei den gewerb-
lichen Fortbildungsschnlen müssen sie ausserdem
Heizung und Beleuchtung bezahlen. Bei der
ersten Einrichtung der Fachschulen werden die
Lehrmittel gewönnlich auf Staatskosten be-
schafft. Die Höhe des Staatsznschusses richtet
sich insbesondere nach der Leistungsfähigkeit
der Gemeinden. Sie ist bei Zwangsbesuch
höher als bei freiwilligem. Nach der Denk-
schrift des Handelsministeriums von 1896 erhiel-
ten 1896,97 60 gewerbliche Fachschulen Preus-
sens vom Staate 1428784 Mark, von den Ge-
meinden 744797 Mark bar. Auch bei Staats-
anstalten (Baugewerk-, Kunstgewerbe-, Ma-
schinenbau- u. s. w. Schulen) stellt und
unterhält meist die Gemeinde das Schnlgebäude
und zahlt ausserdem einen festen Beitrag zu
den übrigen Ausgaben oder einen Teil (meist
%) der durch den Staatszaschuss und die
eigenen Einnahmen der Schule nicht gedeckten
Kosten. Zu den Kosten der gewerblichen
Schulen Berlins mit 19120 Schülern zahlten
1896/97 der Staat 86089 Mark, die Stadt
329363 Mark, die Innungen 9115 Mark, Vereine
etc. 12520 Mark, zusammen 437087 Mark.
Nach Reg.-R. Frz. Richter-Reichenberg erreichte
1890 in Berlin und Wien der Aufwand für ge-
werbliche Fortbildung die gleiche Höhe.
In Bayern sind die gewerblichen Fort-
bildungsschulen Gemeindeanstalten mit be-
trächtlichen Zuschüssen der Kreise und des
Staates. Die Fachschulen sind teils reine
Staatsanstalten, teils Gemeinde- oder Kreis-
anstalten mit Staatszuschüssen. In Sachsen
wird kein schematischer Grundsatz zur Richt-
schnur genommen, sondern dann, wenn Ge-
meinde und die (in Preussen zu wenig heran-
gezogenen) Nächstbeteiligten angemessene Bei-
träge leisten, für jede dessen bedürftige Schule
Staatsbeihilfe gewährt. Sachsen hat den Grund-
satz reger Beteiligung der Nächstint^ressierten
am gewerblichen Schulwesen wohl am meisten
zur Geltung gebracht. Sachsen zeigte 1899
folgendes Verhältnis der Deckung des Aufwan-
des (G. Fo. = gewerbl. Fortbsch., W. = Web-,
Wirk- uud Posamentiersch., A. Fa. = andere
Fachsch., H. = Handelssch., L. = landwirtsch.
Schulen).
Königreich Sachsen
Schulen
Schüler Tsd.
Gesamtaufwand Tsd. M.
Schulgeld „ „
Geraeindebeiträge „ „
Beiträge der Nächstbeteiligten .... i, ^
Staatsbeiträge „ „
G. Fo. W. A. Fa. H. L. , Zus.
36
27
So
47
II
9,o
2,2
5,7
5o
0,6
140
187
387
567
135
56
40
204
461
32
26
40
27
26
5
II
23
36
16
9
26
64
89
23
73 '
201
22,8
I4I6
793
124
95
275
Gewerblicher rntemeht
587
Verhältnismässig am leichtesten sind hier-
nach Handelsschulen vom Schulgelde zu unter-
halten. Bei den Handelsschulen Sachsens deckt
das Schul|?eld 81 ^L der Gesamtausgaben. Freilich
beträgt das jährliche Schulgeld an den sächsi-
schen Handelslehrlings - Schulen durchschnitt-
lich 6,64 Mark, an den Sachs. Realschulen nur
3,12 Mark für jede wöchentliche Unterrichts-
stunde. So auch anderwärts. Die Wiener Han-
delsakademie bildete von 1858—1898 27 000 Stu-
dierende aus. Die Kosten (3,2 Millionen Gulden)
wurden fast ganz durch das Schulgeld gedeckt.
Von Sachsen hebt der Schweizer Experte Pro-
fessor Bendel hervor, dass es sein mannigfaltig
gestaltetes und leistungsfähiges {gewerbliches und
industrielles Schulwesen 18U4 mit nur 89 Francs
jährlichen Gesamtaufwandes der Schulen für
den einzelnen Schüler unterhielt, gegen 126
Francs bei den Schweizer Schulen. In Würt-
temberg muss von den gewerblichen Fort-
bildungsschulen wenigstens ein kleines Schul-
geld erhoben werden. Die Gemeinde muss die
Sohulräume beschaffen. Doch gewährt der Staat
bei Neubauten meist einen ausserordentlichen
Beitrag. Was dann noch fehlt, muss die Ge-
meinde zur Hälfte decken. (Stiftungsbeiträffe
werden also nicht zu Gunsten der Gemeinde
eingerechnet.) Die andere Hälfte schiesst der
Staat zu. In Baden seit 1872 Teilung des
Aufwandes zwischen Staat, Gemeinde und Stif-
tungen. Bei allen Gewerbe- und gewerblichen
Fortbildungsschulen stellt die Gemeinde die
Schulräume, deren Heizung, Beleuchtung, die
Lehrmittel und einen Teil der Lehrergehälter.
Den Rest der Lehrergehälter und die Reisekosten
der Lehrer deckt der Staat. Die nicht etat-
mä.ss^igen Lehrer bezahlt die Gemeinde allein.
Für die Gewerbeschulen zahlten 1899 die Ge-
meinden 247000 Mark, der Staat 143000 Mark,
Stiftungen 20000 Mark. Ausserdem zahlte der
Staat zu den an grösseren Gewerbeschulen ein-
ferichteten, über deren allgemeinen Lehrplan
inausgehenden praktischen Kursen etw^a 16 000
Mark. Zu den Kosten der gewerblichen Fort-
bildungsschulen zahlte der badische Staat jeder
beteiligten Gemeinde jährlich mindestens 400
Mark (zusammen etwa 40000 Mark) und ge-
währte ausserdem die vom Gewerbeschulrat her-
zustellenden Lehrmittel. In Mecklenburg-
Schwerin verordnete 1836 der Grossherzog,
dass in allen (40) Städten gewerbliche Fortbil-
dungsschulen errichtet werden- sollten. Die
Staatsbeihilfe für diese Gemeindeanstalten be-
trug je nach der Einwohnerzahl jährlich 150,100
oder 50 Thaler. Die gewerbliche Fortbildungs-
schule zu Schwerin ging behufs ihrer Umge-
staltung zu einer Mustcranstalt 1898 in die
Verwaltung des Ministeriums des Innern über.
In Braunschweig wurden 1896 3 bestehende
kaufmännische Fortbildungsschulen in Unter-
nehmungen der Handelskammer umgewandelt
und 7 solche Schulen von der Handelskammer
neu begründet. Jahreskosten der 10 Schulen
(1899) 41800, Zuschuss von 11900 Mark zu je
^'a von Staat, Gemeinde und Handelskammer
geleistet. Nach dem noch giltigen Gothaischen
Gesetze vom 28. Juni 1851 bestimmt die
Staatsregierung, wo Gewerbeschulen zu errich-
ten sind, welches Schulgeld zu erheben ist,
welche Beiträge die Gemeinden (für Schulräume,
Heizung, Beleuchtung und Einrichtung] zu
leisten haben. Den Rest deckt der Staat. In
Oesterreich hat man die Opferwilligkeit der
Nächstbeteiligten zu wenig beansprucht und
nach einem kurzen Versuche schon seit 1881
die wesentlichen Kosten auch der niederen
gewerblichen Tagesschulen auf die Staatskasse
übernommen, ja die meisten zu Staatsanstalt«n
gemacht. Die 27 sächsischen Textilschulen
sind alle Gemeinde-, Vereins- oder Innungs-
unternehmen, von den 40 österreichischen Web-
und Wirkschulen sind 31 Staatsanstalten. In
Oesterreich müssen im allgemeinen die Ge-
meinden für Staatsgewerbeschulen und Fach-
schulen die Räume, Heizung, Beleuchtung, Be-
dienung und Reinigung stellen (Ausnahmen
sind zulässig), während der Staat den übrigen
Aufwand bestreitet. Bei den gewerblichen
Fortbildungsschulen trägt der österreichische
Staat in der Regel Vs des Gesamterfordernisses,
% bringen die örtlichen Organe auf. Aus-
nahmen namentlich bei „Handwerkerschulen'^.
Der Schweizer Bund gewährt seit Bundes-
beschluss vom 27. Juni 1884 Beihilfen an
gewerbliche Schulen und Museen, und zwar bis
zur Hälfte der Summe, welche von Kantonen,
Gemeinden, Vereinen und Privaten aufgebracht
wird. Die Bundesbeiträge dürfen keine Ver-
minderung der Beiträge der Näherbeteiligten
zur Folge haben und dürfen in der Regel nicht
verwendet werden für die Schulräume, Beleuch-
tung und Heizung, für das Mobiliar und für
die gewöhnlichen Schul bedürfnisse. Dagegen
dienten sie vielfach zur Vermehrung der Unter»
richtsfächer und -stunden sowie der Lehimittel
und veranlassten die Gemeinden und Vereine
zu vermehrter Geldunterstützung und sonstiger
Fürsorge für die Schulen. Allgemeine Fortbil-
dungsschulen wurden vermittelst der Bundes-
beihilfe zu gewerblichen Fortbildungsschulen
umgestaltet. Die unterstützten gewerblichen
und industriellen Bildnngsanstalten hatten von
1884—1897 21,8 Millionen Francs Gesamtaus-
gaben, 12.6 Millionen Francs Beiträge von
Kantonen, Gemeinden, Korporationen und Pri-
vaten und 5,1 Millionen Francs Bundesbeiträge.
Der R€st (4,1) wurde durch Schulgelder etc. ge-
deckt. Ein Bundesbeschluss vom 15. April 1891,
der die Förderung kaufmännischer Berufsbildung
durch Schulen und Vereine bezweckte und
Bundesbeihilfen in Aussicht stellt«, hat auf die
Ausgestaltung der kaufmännischen Ausbildung
in der Schweiz sehr günstig eingewirkt. In
England wirkten die Gesetze von 1889 und
1891, die den Selbst Verwaltungsbehörden ein
beschränktes Besteuerungsrecht zu Gunsten ge-
werblicher Ausbildung verliehen, weniger, als
das Finanzgesetz von 1890, das Ueberschüsse
der Getränkesteuer den Selbstverwaltungsbe-
hörden für gewerblichen Unterricht überwies.
1894 wurden vou etwa 15,3 Millionen Mark Ueber-
schuss wohl mindestens ^/j (ll,5Millionen} auf diese
Weise dem gewerblichen Unterricht gewidmet. In
Frankreich trugen 1894 95 zu den Kosten
der gewerblichen Schulen (1931 Tausend Francs)
bei: der Staat 286, die Departements 66, Ge-
meinden 264, Handelskammern und Vereine
155 Tausend Francs. Der Belgische Staat
gewährt Schulen ohne Werkstätten Va» Fach-
schulen mit Werkstätten dagegen '/5 der nach
Abzug von Raummiete und Schulgeld übrig-
bleibenden Gesamtkosten, letzteren Schulen
588
Gewerblicher Unterricht
auch ^.s der Einrichtnngskosten. 6rossartig:e
Förderunflf der gewerblichen und landwirtschaft-
lichen Schulen durch die Nordamerikani-
sche „College Land Grant Bill'^ vom 2. Juli
1862. die jeden Staat der Union verpflichtete, Land
für solche Schulen zu opfern. Die amerikanischen
Ingenieurschulen erhalten (nach Riedler) viel
mehr Zuwendungen von Privaten und Maschinen-
fabrikanten als die englischen . Der Staat Massa-
chusetts unterstützt die Webschulen mit 25 000
Dollars, wenn die Städte das Doppelte beitragen.
— Einige deutsche Staaten gewähren Inländern
Beihilfen zumBesuche auswärtiger Schulen. — Die
grosse Steigerung des Staatsauf w^andes für das ge-
werbliche Onternchtswesen in den letzten Jahr-
zehnten zeigt folgende üebersicht: Preussen
1874, 1885, 1899: 142, 475, 4672 Tausend Mark,
Sachsen 1873, 1885, 1898: 253, 570, 1138
Tausend Mark, Württemberg 1869, 1879,
1889, 1897 (für gewerbliche Fortbildungsschulen) :
58, 129, 164, 208 Tausend Mark, Oesterreich
1874, 1884, 1897: 694, 2237, 5173 Tausend
Mark, Ungarn 1873, 1897: 10, 952 Tausend
Mark, Schweizer Bund 1884, 1898: 35, 748
Tausend Mark. Auf den Kopf der Bevölkerung
entfielen von diesem Staatsaufwande in Preussen
(1899) 15 Pfennige, in Sachsen (1898) 29 Pfennige,
in Hessen (1898) 22 Pfennige, in Oesterreich
(1897) 20 Pfennige, in der Schweiz (1894) 13
Pfennige. Auf je 1000 Mark der gesamten Staata-
ausgaben entfallen hiervon in Preussen (1899)
2,27 Mark, in Sachsen (1898) 5,88 Mark, in
Oesterreich (1897) 4,50 Mark, in der Schweiz
(1894) 5,70 Mark.
8. Lehrer. Die beste Organisation und
die reichsten Lehrmittel gewerblicher Schulen
iiützeu nichts, wenn die rechten Lehrer
fehlen. Enge und dauernde Fülilung der
Lehrer mit dem gewerblichen Loben ist die
Hauptsache. Geschickte und erfahrene
Praktiker werden leichter tüchtige Lehrer
an gewerblichen Schulen als Theoi-etiker
(auch Künstler und Zeichner), die sich hin-
terher etwas Praxis anzueignen suchten.
In Württemberg wurde früher von
jedem technischen oder artistischen Lehramts-
kandidaten, der an einer gewerblichen Fortbil-
dungsschule angestellt sein wollte, verlangt,
dass er längere Zeit in einer Werkstatt« um
Lohn (nicht bloss als Volontär) gearbeitet habe.
Besonders wichtig sind die Lehrer des Fach-
zeichnens, die nur praktisch Ausführbares
zeichnen lassen sollen. Volksschullehrern fehlen
meist die gewerblichen Kenntnisse sowie die
Fertigkeit im Linearzeichnen und in darstellen-
der Geometrie, Handwerkern die Kenntnis der
Konstruktionen in anderen Gewerben. Bau-
techniker eignen sich dazu am meisten (Fink).
In Württemberg suchte man für den Unterricht
im Fachzeichnen und in kunstgewerblichen
Fächern soweit mOglich ausübende Architekten,
Werkmeister, Maschineningenieure etc. zu ge-
winnen, die behufs weiterer Ausbildung auch
in ansländischen Unternehmungen vom Staate j
eine Unterstützung erhielten. Durch schmale i
Bemessung der Unterstützung wurden die :
Unterstützten genötigt, einen Teil ihrer Zeit '
neben dem Studium dem Broterwerbe zu wid-
men. Man erhielt dadurch in ihnen die Rich-
tung auf das Praktisch-Mögliche. Allzu reich-
liche Bemessung der Beihilfe ergab jedesmal
Misserfolge.
Dagegen empfiehlt es sich, tüchtige
Lehrer an gewerblichen Schulen gut zu
besolden und ihre sowie ihrer Angehöri-
gen Zukunft thunlichst sicher zu stellen,
weD sonst praktisch tüchtige Lehrer leicht
aus dem Lehrberufe in die besser lohnende
Praxis treten, eine Gefahr, die bei Gelehr-
tenschulen nicht besteht. Da die Lehrerbe-
soldungen bei Handels- und gewerblichen
Fortbildungsschulen 65—75% der Gesamt-
ausgaben ausmachen, so liegt die Versuchung
nahe, an dieser Hauptausgabe zum Nachteile
der Schule zu sparen. In Oesterreich ein-
heitliche Regelung der Bezüge der Ijchi-er
staatlicher gewerblicher Schulen durch G.
V. 19. September 1898 und der Lelirerruhe-
genüsse , Witwen- und Waiseupensionen
durch G. v. 14. Mai 1896. (S^/o des Aktivi-
tätsgehalts jährlich vom Lehrer zu zahlen.)
In Saclisen förderte man 1886 die nicht
ausschliesslich aus Staatsmitteln erhaltenen
gewerblichen und landwirtschaftlichen Schu-
len dadurch, dass man eine Pensionskasse
für sie emchtete, welche gleiche Leistungen
bietet wie sie sächsische Staatsdiener fiir
sich, ihre Witwen und Waisen geniessen. (1899
waren daran 166 Lehrer beteiligt. Jäluiiche
Staatsbeilülfe seit 1896 8500 Mark, vorher
10000 Mark, Vermögensbestand 575200
Mark). Auch die Zusicherung von Altei-s-
zulagcn, von Unkündbarkeit nach einigen
Jahren sowie die Gewährung bestimmter
Titel an bew^ährte Lehrer kann den gewerb-
lichen Schiden nützen. Der Staat hat be-
sonderen Anlass, die berechtigten Wünsche
der Lehrer zu unterstützen, da in den Vor-
ständen gewerblicher Vereinsschulen nicht
selten Männer sitzen, deren Bildung die
ihrer Lehrer nicht erreicht. Der Vorteü
der festen Besoldung und der Ferien wird
in diesen Kreisen oft sehr übei-schätzt. Be-
sondere Prüfungen für Lehrer gewerb-
licher Schulen bestehen nur in wenigen
Ijändern (in Bayern, V v. 26. Mai 1873
und V. 21. Januar 1895 für Lehrer der
Sprachen, der Mathematik und Physik, der
Chemie und Naturbeschreibung, des Zeich-
nens, der Maschinenkunde und Baukunde,
der Handelswisseuschaften und der Land-
wirtschaft. Jedoch wird meist Thätigkeit
im gewerblichen Leben gefordert und zu
Gunsten der gewerblichen Pmxis auch wolü
von Ablegung der Prüfung abgesehen. An
der IIandelsho(!hschiile zu Leipzig seit 19i>0
Handelsichrer -Prüfungen. In Oesterreich
Prüfungen für Handelsschullehrer). Der an
technischen Hochschulen wohl auftauchende
Wunsch, dass füi* gewisse Lehrfäc;her an
gewerblichen Mittelschulen die Ablegung
einer der Fachprüfungen an einer technischen
Gewerblicher Unterricht
589
Hochschule gefordert werden möge, berilck-
sichtigt nicht, dass für gewerbliche Mittel-
schulen auch weniger gelehrte, aber klare
und praktisch bewanderte Lehrer geeignet
sind, dass Männer des höheren technischen
Lehramtes an gewerblichen Mittelschulen
leicht auf Stellen sitzen bleiben würden, die
hinsichtlich der Besoldung äusserlich und
hinsichtlich der Weiterentwickelung der
geistigen Kräfte innerlich nicht befriedigen.
In Baden werden seit 1892 Gewerbelehrer
nicht mehr in der technischen Hochschiüe,
sondern in der Gewerbelehrer- Abteilung der
Baugewerkeschule (durchschnittlich 30 Schü-
ler) ausgebildet. In den Herbstferien min-
destens 8 Wochen praktischer Thätigkeit
in Werkstätten, Fabriken oder auf Bauplätzen,
Nach 7 Halbjahren theoretischen Unter-
richts und Nachweis praktischer Thätigkeit
in mindestens 3 Gewerben: Zulassung zur
Gewerbelehrerprüfung. (1889—96 bestanden
jährlich etwa 6 Kandidaten die Prüfung).
Die badischen Gewerbelehrer sind Staats-
beamte mit geregeltem Diensteinkommen
und Hinterbliebenen- Versorgung. Sie haben
berufsmässig auch den gewerblichen Ver-
einen zu dienen. Der Lehrerfortbildung
dienen namentlich Studienreisen (oft
mit Staatsbeihilfe, Einzelreisen oder ge-
meinsame Reisen einer beschränkten An-
zahl gewerblicher Lehrer unter Führung
eiaes Fachmannes) und Fortbildungs-
kurse.
Beides besonders inOesterreich seit 1880
umfangreich und gut eingerichtet. 1896 — 1898
wurden 180 Lehrkräfte mit 93000 Gulden auf
Reisen gesandt. 1896 Vertreter baugewerblicher,
1897 mechanisch-technischer, 1898 kunstgewerb-
licher Fächer. Gemeinsame Reisen, z. B. nach
Rom, in die Schweiz unter staatlich bestellten,
fach- und ortskundigen Führern. Zur Pariser
Weltausstellung 1900 über 100 Lehrkräfte ent-
sandt, die ein Jahr vorher sprachliche und
sachliche Vorbereitangskurse in Wien- und
anderen grösseren Orten erhielten. Zur Aus-
und Fortbildung gewerblicher Lehrer hatte
Oesterreich 1897 22 000 Gulden bestimmt. Staat-
lich angeordnete Fachkonferenzen von Direktoren
und Lehrern dort seit 1^5 im Unterrichtsminis-
terium. — Das ungarische Handelsministerium
gab 1897 an 22 t]lewerbeschullehrer Reisestipen-
dien von 16000 (durchschnittlich 727) Gulden.
In Preussen werden Lehrer für gewerbliche
Fortbildungsschulen in 4- und 6 wöchigen
Kursen einstweilen im Zeichnen und in kauf-
männischen Fächern ausgebildet, Lehrer für
gewerbliche Fachschulen in diesen. Die Aus-
oildungskosten, mit Ausnahme der für die Ver-
tretung der Lehrer im Hauptamte, träfi:t in
der Regel der Staat. Instmktionskurse für je
7—24 Lehrer an gewerblichen Fortbildungs-
schulen in der Schweiz am kantonalen Techni-
kum zu Winterthur seit 1885. Deren Kosten
deckt zu '/ü der Bund. In B a d e n Studienreisen
und praktische Uebungskurse der Lehrer mit
Staatsunterstütznng und Verpflichtung zu
schriftlicher Berichterstattung. Seit 1892 hier-
für jährlich 1200 Mark. In Baden erfolgt seit
1891 die technische Ausbildung der Volksschul-
lehrer, die den Unterricht an gewerblichen Fort-
bildungsschulen erteilen, m 4 — 6 wöchigen
Uebungskursen auf Staatskosten (jährlich 3ö00
Mark Aufwand}. Hauptgegenstand der Kurse:
Fachzeichnen, daneben Korrespondenz, Kalku-
lation und Buchführung. In üessen-Darni-
stadt werden jährlich Lehrer gewerblicher
Schnlen an der Centralstelle für Gewerbe zu
Darmstadt in frei gewählten Kursen (2 — ^H Mo-
nate) unentgeltlich und mit Beihilfe des Landes-
ffewerbevereins ausgebildet, Volksschullehrer in
den Ferien, Bauhandwerker im geschäftsstilleu
Winter.
Gewerbliche Wanderlehrer na-
mentlich in Württemberg (seit 1849) und
Oesterreich. In Preussen Wanderlehrer
für Weberei seit 1892 in Schlesien, veran-
lasst durch die Not der Hausweber im
Glatzer und Eulengebirge, dazu Staatsbei-
hilfen zur Verbesserung der Handwebstühle
(Anbringung von Regiüatoren und Wechsei-
laden) 1892 und 1894 je 45000 Mark, seit
1895 im Kreise Landeshut, seit 1896 im
Bezirke Sorau und in der Provinz Hannover.
In Württemberg namentlich behufs Ueber-
leitung der bedrängten Handweberei zur
Herstellung gemusterter, schwieriger anzu-
fertigender, aber auch besser lohnender Web-
stoffe. Meist 2 monatige Kurse. Erfolge durch
Verbesserung der Technik zeigten sich nur
da, wo der Absatz der Ware durch Verbin-
dung mit Fabrikanten und Kaufleuten ge-
sichert wurde. Lehrer waren hier meist
tüchtige W'ebermeister , die auch in auslän-
dischen Fabriken gearbeitet hatten. Von
1849—82 Wanderlehrkurse für Hand Webe-
rei, gewerbliche Buchführung, Kleiderschnitt,
Weissstickerei, Strohflechterei imd Weis&-
nähen (auf der Maschine) in 28 Orten
Württembergs. 1899 Wanderlehrer in Stutt-
gart für technische und wirtschaftliche
Gegenstände , gewerbliche Gesetzgebung,
Anregung und Beratung von Innungen, Ver-
einen und Fachgenossenschaften und Ueber-
wachung der staatlich unterstützten Lehr-
lingswerkstätten. W^anderlehrer in Bayern
vornehmlich für Korbflechterei.
9. Lehrmittel. Wie viele gewerbliche
Schulen sich ihre Lehrer selbst heranziehen
mussten, so schufen sie notgedrungen auch
einen Teü ihrer Lehrmittel selbst. Bei den
Lehrmitteln des Zeichenunterrichts waren
bis etwa 1860 die Bedürfnisse der Kunst-
akademieen viel mehr berücksichtigt als die
des Gewerbes imd Kunstgewerbes. Die
Ueberwachung der Auswahl, Herstellung
und Anwendung geeigneter Lehrmittel in
gewerblichen Schulen ist eine wichtige Auf-
gabe der Regierungen.
Einfache, aber wirksame Verwendung von
Lehrmitteln im „Korridornnterrichte", Belehrung
ohne Lehrer, durch öfteres Anschauen der in
590
Gewerblicher ünten-icht
hellen Korridoren anfgehän^n oder aufgestell-
ten Lehrmittel (Gipse, Modelle, Lehrgänge, Ab-
bildungen). Anrefi;un£; träger oder minder be-
fähigter Schüler durch regere oder begabtere.
Lehrmittelwerkstatt fUr die preussischen Fach-
schulen der Textilindustrie m der städtischen
Webschule zu Berlin (seit 1896). Gewerbschul-
museum in Frankfurt a. M. (seit 1900). Lehr-
mittelmusenm von A. Müller, FrÖbelhaus Dres-
den. Ein Verzeichnis von Lehrmitteln (Vorlagen
Modellen) für gewerbliche Fortbildungsschulen,
Handwerkerschulen und gewerbliche Zeichen-
schulen gab 1888 das Industriedepartement des
Schweizer Bundes heraus, das auch die
^Schweizerische permanente Schulausstellune"
m Zürich unterstützt. Weiter gehen die
Staaten, welche selbst Lehrmittel anfertigen
Hessen, namentlich seit 1864 Württemberg und
seit 1874 Oesterreich. Vorlagenwerke werden
von der Württemberger Centralstelle nur gut-
geheissen, Modelle für den Zeichenunterricht in
der Modellierwerkstätte der Centralstelle selbst
hergestellt. Vorlagenwerke des hessen-darm-
städtischen Laudesgewerbevereins seit 1843.
In Baden dürfen Lehrmittel nur mit Genehmi-
Smg des Gewerbeschulrats verwendet werden,
ie Lehrmittel für die gewerblichen Fortbil-
dungsschulen fertigt seit 1892 der Gewerbe-
scbulrat und stallt sie unentgeltlich zur Ver-
fügung. Bayern giebt regelmässifife Verzeich-
nisse der für gewerbliche Fortbildungsschulen
geeiffneten Werke und Lehrmittel und der
Zeichenvorlagen für Realschulen heraus und
gewährt auf Staatskosten Vorlagen und Modelle
nach Auswahl durch Sachverständige. Das
österreichische Unterrichtsministerium hat lir
seine gewerblichen und Handelsschulen seit
1874 nach gross angelegtem Plane Lehrmittel
geschaffen, Lehrtexte für Schüler, Vorlagen-
werke, Modelle, Lehrgänge für Werkstätten-
unterricht in Tischlerei, Holzschnitzerei, Drechs-
lerei, Schmiede-, andere Metallarbeiten, Baufach,
Stickerei u. s. w. Verwendet werden dürfen
nur die nach fachmännischer Prüfung geneh-
migten Lehrmittel, die im „Central blatte für
das gewerbliche Unterrichts wesen in Oesterreich"
verönentlicht und von Zeit zu Zeit mit Bezeich-
nung der Schulgruppen, für die sie sich eignen,
zusammengestellt werden.
10. Durchfühniii^ der Schnlanlsicht
(s.oben sub 4 g und 5e). Die Bedeutung sach-
kundiger, über die gewerblichen Schul Verhält-
nisse grösserer in- und ausländischer Gebiete
unterrichteterG ewerbeschul-Inspektoren w ird
noch von vielen Regierungen unterschätzt.
Die Unterstützung durch solche Lispektoren,
die anregend, beratend, warnend und hel-
fend den Lehrern und Voretänden gewerb-
licher Schulen zur Seite treten, ist oft wich-
tiger und wirksamer als staatliche (leldbei-
hilfen. Solche Inspektoren sorgen dafür,
dass j(Kle gewerbliche Schule die günstigen
und ungünstigen Erfalirungen gleichartiger
Schulen verwerte, dass nicht jede neue ge-
werbliche Schule die von anderen gewerb-
lichen Schulen verlassenen liTwege ein-
schlage. DieGewerbeschul-Inspektoren haben
den Schulen nicht Vorschriften zu machen,
sondern Ratscliläge zu erteilen, nicht die
gewerblichen Schulen zu uniformieren, son-
dern die zweckmässigste Anpassung jeder
gewerblichen Schule an die örtlichen* imd
fachlichen Verhältnisse zu fördern. An die
Oberbehörde ist über jede revidierte Schule
ein kurzer Revisionsbericht mit Angabe des
wesentlichen Inhalts der erteilten Ratschläge
einziu^ichen. Gewerbeschulen, welche die
erteilten Ratschläge fortgesetzt gnmdlos
unbeachtet lassen, verlieren die Staatsbei-
hilfe. Möglichste Einheitlichkeit der Revi-
sion ist nötig. Formulare für die Revisionen,
wegen der Einheitlichkeit und Vollständig-
keit der Revisionen, in der Schweiz und in
Württemberg. Es ist zweckmässig, gewerb-
liche Fachschulen überdies im technischen
Unterrichte von Lehrern höherer Grewerbe-
schulen, in ihrer Geschmacksrichtung von
Lehrern kunstgewerblicher Schulen beauf-
sichtigen und beraten zu lassen.
In Preussen wurden die gewerblichen
Fortbildungsschulen in den meisten Regie-
rungsbezirken früher gar nicht oder höchst
unzulänglich und unregelmässig beaufsich-
tigt. Jetzt hat man in einzelnen Provinzen
begonnen, besondere Inspektions- und Revi-
sionsbezirke zu bilden, und plant, damit auch
in anderen Provinzen fortzufahren. Einigen
Regienmgspräsidenten sollen ^1899) tech-
nische Beiräte für das gewerbliche Schul-
wesen beigegeben werden. Die Notwendig-
keit der Fachaufsicht über die Webschulen
erkennt die Denkschrift von 1896 an. Die
Stadt Breslau liat seit 1899 einen eigenen
Leiter und Beaufsichtiger des Fach- und
Fortbildungsschulwesens.
Einen berufsmässigen Gewerbeschul-Inspektor
hat bereits seit 18^4 Sachsen. Er besucht
jährlich etwa 100 gewerbliche Schulen. Für
die 28 Klöppel schulen Sachsens ist schon seit
1858 ein besonderer Klöppelschul-Inspektor ange-
stellt. Kosten der Aufsicht über die gewerb-
lichen Schulen in Sachsen 1899: 18000 Mark.
Mit der Aufsicht über die Baugewerbeschulen
ist seit 1894 ein höherer Baubeamter betraut.
DieThätigkeit des Gewerbeschul-Inspektors wird
seit 1894 bezüglich des Fachunterrichts an
Webschulen duich Lehrer grösserer Webschulen
ergänzt, an anderen Fachschulen durch einige
Professoren der technischen Staatslehranstalten.
In Baden seit 1892 ein eigener Gewerbeschul-
Inspektor. Vorher, bei Prüfung durch Professoren
der technischen Hochschule und der Bauge-
werkenschule, Mangel an Einheitlichkeit der äe-
urteilnng. Dem Gewerbeschul-Inspektor unter-
standen 1899 45 Gewerbe- und 73 gewerbliche
Fortbildungsschulen. Seine Prüfungsberichte
gelangen an den grossherzoglichen Gewerbe-
schulrat, und dieser giebt Prüfungsbescheide mit
den nötigen Anordnungen an die örtliche Auf-
sichtsbehörde. Der Gewerbeschul-Inspektor be-
suchte 1898 35 Gewerbe- und 61 gewerbliche
Fortbildungsschulen. In Hessen-Darm-
Stadt und Mecklenburg - Schwerin
neuerdings auch ein Gewerbeschul-Inspektor.
Gewerblicher Unterricht
591
Bayerns gewerbliche Fortbüdangsschulen
unterstehen einheitlich organisierter Auf-
sicht der Kreisre&fiemngen. (Allgemeine
Fächer werden durch Realschulrektoren und
Ereis-Schulinspektoren , zeichnerische Fächer
durch Zeichenlehrer von Kealschulen und Knnst-
gewerbeschulen revidiert.) Zur Revision der
Fachschulen in technischer Hinsicht verwendet
das Kultusministerium Lehrer der technischen
Hochschule, der Kunstgewerbeschulen u. s. w.
In Württemberg erfolgt, die Revision des
Mrissenschaftiichen Unterrichts der gewerblichen
Fortbildungsschulen durch hervorragende Vor-
stände oder Lehrer solcher Schulen. Der 1899
angestellte Wanderlehrer soll diese Schulen auch
besuchen und die Kommission betreffs der
Schulen beraten. Die Revision des Zeichen-
unterrichts liegt in anderen Händen, bei er-
probten Zeichenlehrern. Die Handelsschulen
sind in Württemberg als Vereins- oder Privat-
schulen staatlicher Aufsicht nicht unterworfen.
In Hessen -Darmstadt werden die Hand-
werkerschuleu von der 8 Mitglieder zählenden
Handwerkerschul - Kommission des Landesffe-
werbevereins revidiert. InOesterreich werden
die Staatsgewerbeschulen und die Fachschulen
nach fachlichen, nicht nach örtlichen Gebieten
von der Centralstelle aus durch 12 Inspektoren
(Professoren technischer Hochschulen, der Hoch-
schule für Bodenkultur, der Kunstgewerbe-
schulen Wien und Prag, Beamte des öster-
reichischen Museums für Kunst und Industrie
und des Ministeriums) beaufsichtigt. Die In-
spektoren ernennt der ünterrichtsminister im
Einvernehmen mit dem Handelsminister. Die
allgemeinen Handwerkerschulen werden von
Direktoren der Staatsgewerbeschulen, die ge-
werblichen Fortbildungsschulen von Direktoren,
Fachvorst&nden und Lehrern an Staatsgewerbe-
schulen, allgemeinen Handwerkerschulen und
Fachschulen beaufsichtigt. Gesamtzahl: 55 In-
spektoren. Die 1888 im Österreichischen Unter-
nchtsministerium geschaffene Centralinspektion
stellte bei den 2- und 3 klassigen Handelsschulen
chaotische Zustände fest. Wegen der Zerfahren-
heit der Lehrpläne konnte eine Lehrhücher-
Litteratur für Handelsschulen nicht gedeihen.
Teure, für grosse Anstalten geschriebene
Bücher wurden auch an niederen Handelsschulen
verwendet. Die Aufstellung von Normallehr-
plänen für höhere 3 klassige Handelsschulen,
niedere 2 klassige Handels-Tasfesschulen und
Fortbildungsschulen für Handelslehrlinge ver-
anlasste und ermöglichte von 1890 ab das Ent-
stehen einer geschlossenen Litteratur für Han-
delsschulen. Kosten der Inspektion der Fach-,
Fortbildungsschulen und des Zeichenunterrichts
(1897) 32600 Mark. In der Schweiz revidie-
ren die 12 Mitglieder des vom Bunde auf je
3 Jahre, früher 1 Jahr eingesetzten „Experten-
kollegiums" (darunter 1889 4 Architekten) die
gewerblichen Schulen. Sie halten an jährlich
wechselnden Orten eine Expertenberatung ab
und lernen so nach und nach alle bedeutenden
gewerblichen Schulen der Schweiz kennen.
Die Anstalten für weibliche Berufsbildung wer-
den seit 1896 auch von einer „Expertin" beauf-
sichtigt. In Belgien wird die Aufsicht durch
2 Ingenieure und bei den Hanshaltungsschulen
durch 3 Frauen ausgeübt Jahreskosten 1896:
37800 Francs.
11. Schnlansstellimgeii haben für ge-
werbliche Schulen, bei denen das Zeichnen
besonders wichtig und umfangreich ist, viel
grössere Bedeutung als für Gelehrtenschulen.
Führen sie die Wirksamkeit der gewerblichen
Schulen treu, vollständig und übersichtlich vor,
so werden durch sie zweckmässige Einrich-
tungen befestigt, weiter entwickelt und ver-
allgemeinert, unzweckmässige aber als solche
erkannt und beseitigt. Die Hauptmängel
der früheren Ausstellungen gewerblicher
Schulen waren a) der, dass man auch solche
Gesamtausstellungen vieler gewerblicher
Schulen, welche die Arbeit der Schulen
vornehmlich den Aufsichtsbehörden, Vor-
ständen und Lehi-ern vorführen sollen, so
einrichtete wie die regelmässigen Jahresaus-
stellungen der einzelnen gewerblichen Schu-
len, welche die Arbeiten der Schüler deren
Angehörigen und der breiteren Oeffentlich-
keit vorführen . Bei Landes-Schulausstelhingen
Prämien an hervorragende Schüler von Lan-
des wegen zu erteilen, ist zwecklos, zeit-
raubend und kostspielig, b) Meist führte
man vor, was ausnahmsweise gemacht wer-
den kann, nicht was vom Durchschnitte für
gewöhnlich gemacht wird. Jenes ist aber
viel weniger w^ichtig als dieses, c) Statt
lehrplanmässiger Anordnung der Zeichnun-
gen bewirkte man meist dekorative Anord-
nung. Es soUen aber nicht bloss die Er-
folge, sondern auch die Wege gezeigt wer-
den, auf denen man zu diesen Ei-folgen ge-
langte, d) Ausstellungen gewerblicher Schu-
len wurden mit Ausstellungen gelehrter
Schulen oder Industrieausstellungen verbun-
den, fanden da weniger Beachtung, konnten
nicht nach ihren besonderen Bedürfnissen
eingerichtet werden und dauerten unnötig
lange. Eine 8—10 Tage, während der
Ferienzeit, geöffnete Ausstellung gewerb-
licher Schulen pflegt die Vorstände und
Lehrer dieser Schulen zu fruchtbai*en Stu-
dien und Besprechungen zu vereinigen,
e) Die schriftlichen Arbeiten einer Schule
dürfen von der Ausstellung nicht ausge-
schlossen und von den zeichnerischen nicht
getrennt sein, damit der Zusammenhang
beider erkennbar wird, f) Die Ausstellun-
gen wurden anfänglich aUzu rasch wieder-
holt. Daraus folgte geringe Beteiligung und
mangelnde Teilnahme. Auch w^erden die
Schulen durch allzu häufige Ausstellungen
in der ruhigen Verfolgung ihres Lehrzieles
behindert. Wetteifer vor der Oeffentlichkeit
hat manches Versuchliche. (In Württemberg
1850—66 alle 2 Jahre, 1867—89 alle 7 Jahre
eine Ausstellung.) g) Von Vereinen unter-
nommene Ausstellungen finden meist keine
allseilige Beteiligung, die doch im Hinblick
auf den Zweck solcher Ausstellungen sehr
zu wünschen ist. Die kleinen gewerblichen
Schulen, die am liebsten wegbleiben, he-
592
Gewerblicher Unterricht
dürfen einer Vergleichung ihrer Leistungen
mit denen vorgeschrittener Schulen am meis-
ten. Deshalb werden solche Ausstellungen
am besten von der Stelle unternommen,
welche Beihilfen zu den Kosten gewerb-
licher Schulen zu bewilligen hat, also von
der Regierung oder dem Landesgewerbe-
vereine. Für unterstützte Schulen pflegt
die Beteiligung vorgeschrieben zu werden,
h) Ausstellungen ohne planmässige sachver-
ständige Beurteilung erfüllen ihren Zweck
nicht genügend und bleiben meist blosse
Schaustellungen, i) Früher wurde oft Nicht-
vergleichbares zusammen vorgeführt. Wo
die Zahl der gewerbüchen Schulen eine grös-
sere ist, werden gewerbliche Fortbildungs-
schulen zweckmässig für sich vorgeführt,
gewerbliche Fachschulen in einem anderen
Jahre (so in der Schweiz). Anordnung nach
politisch-geographischen Bezirken, wie 1896
m Nürnberg und Grenf, erschwert die Ver-
gleichung verwandter Schulen. Empfehlens-
wert ist es, wenn bei Zusammenkünften
von Fachmännern aus Deutschland die
Schulen des Faches ausstellen und von
Fachmännern und Lehrern gemeinsam be-
urteilt werden, so 1893 beim Baumeister-
tage in Hannover die Baugewerkenschulen,
1899 beim deutschen Grastwirtstage in Dres-
den die Gastwirts-Fachschulen, oder wenn
eine Grossstadt, wie 1892 Berlin, alle ihre
Fortbüdungs- und Fachschulen gemeinsam
vorführt.
In Württemberg von 18ö3 bis 1899 9
Landes-SchulausstelluDgen ; 1889 wurden auch
Lehrlingsarbeiten, Lehrmittel und Lehrerarbeiten
ausgestellt und einzelnen Schülern Diplome er-
teilt. 1899 (beteiligt 618 Schulen mit 40105
Schülern) auch obligatorische Vorführung der
wissenschaftlichen Arbeiten der gewerblichen
Fortbildungsschulen. Diplome nur an Schu-
len. Die Erteilung von Diplomen an hervor-
ra^nde Schulen verleitet aber die Schulen
leicht zu ungesundem Wettbewerbe. Verliehen
wurden in Stuttgart Diplome an 42 von 618
Schulen, aber nur an 10 Schulen für sämtliche
Fächer. In England steigert man diese un-
günstigen Wirkungen durch alljährliche Aus-
stellungen und Bemessung der Staatsunter-
stützung nach der Güte der Gesamtleistungen
der ausstellenden Schulen. Sachsen vereinigte
1883 die 82 gewerblichen Schulen des Regie-
rnn^bezirkes Zwickau zu einer Ausstellung,
1888 160 gewerbliche Schulen des Landes mit
793 Lehrern und 16030 Schülern, 1898 259
Schulen mit 1647 Lehrkräften und 29807 Schü-
lern. Staatszuschuss 1889 6820 Mark, 1898
19 762 Mark. Der 1889 hier zum ersten Male streng
durchgeführte Grundsatz: die Lehrgänge jedes
Faches vollständig und übersichtlich vorzufüh-
ren und zwar durch Arbeiten ie eines der besten,
eines mittleren und eines schwachen, aber das
Unterrichtsziel gerade noch erreichenden Schü-
lers, wurde seitdem mehrfach, unter anderem
1890 bei der ersten schweizerischen Aus-
stellung der gewerblichen Fortbüdungs-, Hand-
werker- und Zeichenschulen in Zürich ange-
wendet. (Kosten 15700 Francs.) In Baden
1900 erste Ausstellung gewerblicher Schulen.
Der Landesgewerbeverein von Hessen-Darm-
stadt hält seit 1840 alljährlich Ausstellungen
der von ihm unterstützten Handwerkerschmen
ab, seit 1869 grundsätzlich ohne Prämiener-
teilung. In den Satzungen der Handwerker-
schulen findet sich deren Verpflichtung zur Be-
schickung dieser Ausstellungen. Der Central-
vorstand des Gewerbevereins von Nassau
lässt sich alljährlich die Zeichnungen seiner 60
Schulen nach Wiesbaden senden und dort von
einem Ausschusse be&'utachten. Bayerns
Fachschulen waren insbesondere in der Landes-
ausstellung zu Nürnberg 1896 vertreten. In
Oesterreich nehmen die gewerblichen Schulen
meist an den Landes-Ausstellungen teil. Eine
Ausstellung von Lehrwerkstätten-Arbeiten aller
Fachschulen wurde bis 1899 nur einmal abge-
halten. Die 1892 in Basel abgehaltene Aus-
stellung der gewerblichen Fachschulen der
Schweiz veranlasste 42652 Francs Bundeszu-
schuss, die Vorführung der gewerblichen und
industriellen Bildungsanstalten auf der Landes-
aussteUung in Genf 1896 (190 Schulen mit
18043 Schülern) 64590 Francs. Nachdem man
dort in 7 Jahren 3 Ausstellungen abgehalten,
empfindet man in der Schweiz das Bedürfnis
nach einer Zeit ruhiger Schul-Entwickelung.
12. Zeitschriften für gewerbliche
Schulen, Statistik nnd Geschichte der-
selben, a) Zeitschriften, welche über
die Organisation, Lehrweise und Wirksam-
keit gewerblicher Schulen unterrichten, sind
für Lehrer und Vorstände dieser Schulen
sehr wichtig, da sie einen Austausch der
Ansichten und Erfahrungen erleichtem.
Wird eine solche Zeitschrift von der Ober-
behörde selbst herausgegeben, wie seit 1883
das treffliche »Centralblatt für das gewerb-
liche ünterrichtswesen in Oesterreich«,
welches im amtlichen Teile die Beratungen
der Centralkommission für den gewerblichen
Unterricht, die einschlagenden Gesetze, Ver-
ordnungen und Regulative, Schulnachrichten
sowie die Schulstatistik enthält und in
seinem nicht amtlichen Teile Aufsätze über
Verwaltungs- und fachliche Gegenstände,
Schulnachrichten, Beurteilungen von Büchern
u. s. w. bringt, auch die ausländischen
Schulen eingehend berücksichtigt, so be-
gründet es eine geistige Gemeinschaft, die
vom Mittelpunkte aus bis in die entlegen-
sten Fachschulen sich erstreckt , erleichtert
sehr das Wirken der Regierung und stellt
deren Thätig;keit unter das urteil der
Oeffentlichkeit In der Schweiz imter-
stützt der Bund eine Zeitschrift für den ge-
werblichen Unterricht, die dafür unentgelt-
lich an die vom Bunde imterstützten ge-
werblichen Schulen abgegeben werden muss.
Die seit 1886 erscheinende »Zeitschrift für
den gewerblichen Unterricht« , Organ des
1887 begnlndeten »Verbandes deutscher
Gewerbeschul männer« , ist mit Erfolg be-
Gewerblicher Unterricht
593
müht, zu leisten, was ein Privatunternehmen
auf diesem Gebiete leisten kann. Die
sächsischen gewerblichen Schulen haben
ihr Organ in der »Gewerbeschau« , die
württembergischen in dem »Gewerbe-
blatt aus Württemberg«, die badischen
in der »Badischen Gew^erbezeitung« und dem
(nicht amtlichen) »Vereinsblatte des Ver-
bandes badischer Gewerbelehrer«, Die hes-
sischen im »Gewerbeblatt für das Grossher-
zogtum Hessen«. — b) Die Statistik der
gewerblichen Schulen, namentlich der zahl-
reichen Privatanstalten, ist noch sehr unent-
wickelt. Selbst Staaten mit ausführlicher
Statistik berücksichtigen nur Staats- und
Btaatlicli unterstützte Anstalten. Am ein-
gehendsten ist dieselbe in Sachsen darge-
stellt. Dort erscheint seit 1884 aller 5 Jahre
ein »Bericht über die gesamten Unterrichts-
und Erziehungsanstalten«, welcher nicht
bloss (wie sonst meistens) Schüler- und
Lehrerzahl, sondern auch die Schulunter-
nehmer, Unterrichtszeit, wöchentliche Stun-
denzahl, Lehrerbenif, Schulgeld, die Haupt-
zahlen des Schulhaushaltes etc. für jede
öffentliche und private gewerbliche Schule
angiebt. Dieser Bericht wird ergänzt durch
ein etwa aller 4 Jahre erscheinendes »Ver-
zeichnis der Gewerbe-, Landwirtschafts- und
Handelsschiden Sachsens«, welches für jede
dieser Schulen Unternehmer, Vorstand,
Zweck, Aufnahmebedingimgen , Unterrichts-
dauer, Lehrplan, Lehrer-, Schülerzahl und
Schulgeld angiebt und allen gewerblichen
Schulen zugestellt wird. Die Möglichkeit
einer Vergleichung der dort ausführlich an-
gegebenen Lehrpläne hat schon viele Schu-
len zu Verbesserungen angeregt. Von
Preussen fehlt leider noch jede vollständi-
gere Statistik der gewerblichen Schulen.
In Bayern jährliche Unterrichtsstatistik, her-
ausgegeben mit Angaben über die gewerb-
lichen Fortbildungs und Fachschiden (Zahl
und Kurse der Schüler, Zahl und Bezüge
der Lehrer, Schulgeld und sonstige Ein-
nahmen und Ausgaben). Li Württemberg
erscheint alljährlich in besonderem Hefte
eine sehr kurzgefasste Uebersicht des ge-
samten Schulwesens. Baden ^ebt jährlich
kurze Tabellen seiner gewerblichen Schulen
in der statistischen Zeitschrift. In der
badischen Gewerbezeitung erscheint alljähr-
lich ein »Bericht über die Organisation zur
Förderung des Ge werbe wesens«. Desgleichen
im Gewerbeblatt für Hessen. Sehr zweck-
mässig ist das bei der königlich württem-
bergischen Kommission für die gewerblichen
Fortbildungsschulen geführte und auf dem
Laufenden erhaltene, aber nicht veröffent-
lichte »Gnindbuch« , w^elchos folgende Ab-
teilungen hat : Geschichtliche Notizen, Orts-
behörden, Organisation, wirtschaftliche Ver-
hältnisse, Statistik, Pläne der Schulräume.
Handwörterbuch der Staatswissenscbaften. Zweite
Die Veröffentlichung einer Geschichte
der gewerblichen Schulen, sei es auch eines
kleineren Gebietes, würde sehr nützlich sein,
wenn sie darlegte : den Anlass zur Errich-
tung der Schulen sowie neuer Abteilungen,
welche Hindernisse zu überwinden waren,
welche Mittel zum Erfolge halfen, welche
Irrwege und Misserfolge die Schule zu ver-
zeichnen hatte, welches die erste Organisa-
tion und dereu spätere Aenderungen waren
etc. Ein solches Werk würde anregen, be-
lehren, warnen, ermutigen und sonst ver-
loren gehende Erfahrungen erhalten.
13. Verbände und Verbandsta^e. Von
wachsender Bedeutung sind für den gewerb-
lichen Unterricht die Verb an de und Ver-
bandstage. Internationale Kongresse für
gewerblichen, kaufmännischen und industri-
ellen Unterricht wurden abgehalten 1886 in
Bordeaux, 1889 in Paris (förderlich für das
Handelsschulwesen), 1895 in Bordeaux (be-
schäftigte sich fast nur mit Handelsschulen),
1897 in London. 1895 wurde in Braun-
schweig der »Deutsche Verband für das
kaufmännische Unterrichtswesen« begründet.
1897 dessen erster Verbandstag in Leipzig.
Der Verband hat das kaufmännische Unter-
richtswesen durch seine Schriften und Ver-
handlungen sehr gefördert. Der Nutzen gut
vorbereiteter, besuchter und geleiteter Ver-
bandstage besteht darin, dass auf ihnen die
in engeren Kreisen entstandenen Erfahrun-
gen, Ansichten und Wünsche von einem
weiten Kreise Sachkundiger geprüft, ver-
glichen, ergänzt und berichtigt werden.
1900 beschlossen die 3 Verbände deutscher
Gewerbschulmänner (Romberg), für das
kaufmännische Unterrichtswesen (Stegemann)
und für das Fortbildungsschulwesen (Pache)
einen »Central verband für gewerbliches und
kaufmännisches Unterrichtswesen in Deutsch-
land« zu begründen.
II. Die Hanptgruppen gewerblicher
Schulen.
A. Gewerbliche Fortbildungsschulen.
14. Wenn auch der allgemeine Fort-
bildungsunterricht, welchen ausser Preussen
die meisten deutschen Staaten (für die 15 — 18-
jährige männliche Jugend mit wöchentlich
2 — 6 Stunden) vorschreiben, nach der zweck-
mässigen und von den meisten anderen
Staaten auch angenommenen Bestimmung
des württembergischen G. von 1836 die
Unterrichtsgegenstände üben soll, »die für
das bürgerliclie lieben vorzugsweise von
Nutzen sind«, so kann doch dieser Unter-
richt den besonderen Bedürfnissen der Ge-
werbtreiben den , insbesondere hinsichtlich
des Zeichnens, nicht völlig genügen. Immer-
hin ist zu beachten, dass z. B. in Sachsen,
wo 1894 1945 allgemeine Fortbildimgsschiüen
Auflage. IV. 38
594
Gewerblicher UnterricUt
mit 79289 Zöglingen bestanden, an nicht
wenigen dieser Schulen besondere Zeichen-
klassen für Schuhmacher, Schneider, Bau-
handwerker etc. eingerichtet sind. Ebenso
in Bayern. Die gewerbliche Fortbildungs-
schule hat die doppelte Aufgabe, die allge-
meinen Kenntni6se(Öeut8ch, Rechnen,Formen-
lehre) zu befestigen und zu erweitern imd
cewerbliche Kenntnisse und Fertigkeiten,
die den Angehörigen verschiedener Gewerb-
zweige (Bauhandwerkern, Schlossern, Tisch-
lern, Schuhmachern, Schneidern etc.) not-
wendig sind (Zeichnen, dies in grösseren
Anstalten regelmässig nach beruflichen Fach-
klassen gesondert, gewerbliche Buchführung,
Geschäftskunde etc.), zu lehren. Die viel-
fach vorkommende Zersplitterung des Unter-
richts in zu viele Fächer bei geringer Unter-
richtszeit ist um so mehr zu tadeln, wenn
darüber das Zeichnen verkürzt wird. In
den badischen Gemeindeschulen bestehen,
wo die Schülerzahl es gestattet, Fachklassen
für Bauhandwerker, Metallarbeiter, Holz-
arbeiter, Ausstattungswerbe und Kaufleute.
In Hessen-Darmstadt schafften viele ge-
werbliche Fortbildungsschulen (Handwerker-
schulen) nach Einführung der dreijährigen
Fortbildungsschulpflicht (1874) den Unter-
richt in Rechnen, Formenlehre und Stil ab,
führten ihn aber bald wieder ein, weil die
allgemeinen FortbDdungsschiüen die beson-
deren gewerblichen Bedürfnisse in diesen
Fächern nicht genügend berücksichtigen
konnten. Versuche, gewerbliche Fortbildungs-
schulen mit landwirtschaftlichen zu verbin-
den, die man dort in kleinen Orten mit ge-
ringer Schülerzahl und wenig Mitteln machte,
misslangen, da derselbe Lehrer nicht beide
Gruppen fördern konnte. Den gewerblichen
Fortbildungsschulen vorwerfen, class sie von
den verschiedensten Gewerbtreibenden be-
sucht würden und deshalb nicht genügten,
heisst das erreichbare Gute herabsetzen,
weil es hinter dem unerreichbai*en Besseren
zurückbleibt.
InPrenssen 1899 : etwa 1000 gewerbliche
Fortbüdungsschulen mit 125000 Schülern (688
obligatorische, 312 freiwillige), 201 kaufmänni-
sche Fortbildungsschulen mit 16500 Schülern
(83 oblie^atorische, 118 freiwillige). Ausserdem
unterhalten 328 Innungen und Fachvereine für
ihre Gewerbzweige Fortbildungsschulen mit
15000 Schülern. „Vorschriften des Handels-
ministeriums für Lebrpläne und Lehr verfahren
an gewerblichen Fortbildungsschulen" vom 5. Juli
1897 und 19. März 1898. Die freiwilligen ge-
werblichen Fortbildungsschulen überwiegen be-
zeichnender Weise in den Regierungsbezirken
Aachen, Koblenz, Köln, Düsseldorf, Potsdam,
Schleswig, Stettin, Stralsund, Wiesbaden, Berlin.
In Bayern 263 gewerbliche Fortbildungs-
schulen mit 1722 Lehrkräften, davon 215 selb-
ständige. 48 mit Realschulen verbunden. 31 669
Schüler, 1,85% im Tageskurs, 98,15^0 imAbend-
nnd Sonntagskurs. Von den Schülern der
letzteren werden 66 7o ^^ den Elementar-»
34 % in den Fachabteilungen unterrichtet.
Sachsen: 1899 36 gewerbliche Fortbildungs-
schulen (5 seit 70 — 80 Jahren bestehend, 24 von
Vereinen, 10 von Gemeinden unterhalten), 8 mit
Schulzwang, 9019 Schüler. Ausserdem 12 ge-
werbliche Zeichenschulen mit 833 Schülern, und
gewerblicher Zeichenunterricht an 18 Volks-
schulen der Spielwarenbezirke mit 784 Zeichen-
schülern. In W ürttemberg (1899)231 gewerb-
liche Fortbildungsschulen mit 19095 Schülern
(2400 über 17 Jahre alt), 506 Lehrern für Zeichnen
und 661 Lehrern für wissenschaftlichen Unter-
richt. Gemeindeanstalten, deren Fehlbetrag der
Staat in der Regel zur Hälfte übernimmt. Von
den Schülern besuchen den Unterricht im Frei-
handzeichnen 52%, im gewerblichen Rechnen
41, in deutscher Sprache 39, im geometrischen
Zeichnen 27, im Fachzeichnen 24, in Buch-
führung 22%. Baden (1899) 4ö Gewerbe-
schulen mit 6954 Schülern und 1095 Gästen,
73 gewerbliche Fortbildungsschulen mit 1525
Schülern und 195 Gästen. Wöchentlich min-
destens 8 Stunden, darunter 5 für Zeichnen.
H e s s e n - D a r m s t a d t (1899) 11 Gewerbeschulen
(früher „erweiterte Handwerkerschulen"genannt),
42 gewerbliche Fortbildungsschulen für die
nicht zeichnerischen Fächer mit 86 Klassen und
2067 Schülern (33 mit Winter-, 9 m^t ganz-
jährigem Unterricht), 99 Sonntagszeichenschulen
^teilweise auch mit Werktaffsunterricht) mit
6725 Schülern, davon 70% den Baugewerben
angehörig und 504 noch schulpflichtigen Vor-
schülern. Sachsen- Weimar: 5 staatliche
Gewerbeschulen (3 jähriger Kurs, wöchentlich
12 Stunden), 13 gewerbliche Fortbildnngsschulen.
Mecklenburg-Schwerin: 1836 40, 1899 46
gewerbliche Fortbildungsschulen, alle städtische,
auf Veranlassung der Staatsregierun^ errichtete
Anstalten. Mecklenburg-Strelitz: 10 ge-
werbliche Fortbilduuffsschmen. Oldenburg:
14 gewerbliche Fortbildungsschulen mit 770
Schülern, Gemeindeanstalten. Braunschweig:
14 gewerbliche Fortbildungsschulen mit 2300
Schülern (älteste 1877 begründet), 67500 Mark
Gesamtkosten, 22100 Mark Staatsznschuss.
Sachsen -Altenburg: 5 gewerbliche Fort-
bildungsschulen. Anhalt: 16 gewerbliche Fort-
bildungsschulen mit 1373 Schülern. Schwarz-
bnrg-Rudolstadt: 4 Zeichenschulen. Ham-
burg: Hauptgewerbeschule (begründet 1865)
2001 Schüler, 9 Gewerbeschulen mit 2069 Schü-
lern. Elsass-Lothringen: 22 gewerbliche
Fortbildungsschulen. In Oesterreich sind
mit den 18 Staatsgewerbeschulen, den 11 allge-
meinen Handwerkerschulen und 45 Fachschulen
teils allgemein-gewerbliche, teils fachliche Fort-
bildungsschulen verbunden, mit zusammen 8426
Schülern, einschliesslich der Special kurse. Ausser-
dem bestehen dort noch 558 allgemein-gewerb-
liche, 43 fachliche und 3 Schifferschulen mit
rund 1(X)0Ü0 Schülern. Von letzteren 604
Schulen kommen 297 auf Böhmen. In Ungarn,
ohne Kroatien, bestanden 1897 368 Gewerbe-
Lehrlingsschulen mit 75122 Schülern und 3 jäh-
rigem Unterricht. Ihr Besuch ist nach dem
Gewerbe^esetz von 1884 für jeden Lehrling
obligatorisch. Jede Gemeinde, in der sich Lehr-
linge befinden, muss eine solche Schule unter-
halten. In der Schweiz (1895) 160 gewerb-
liche Fortbildimgs-, Zeichen- und Handwerker-
Gewerblicher Unterricht
595
schulen, damnter 18 Zeichenschnleu in dem
kunstbegabten Kanton Tessin.
15. Offene Zeichensale. Für gewerb-
liche Schulen ist das Zeichnen der wich-
tigste Gegenstand. Schon Diderot bemerkte :
une nation, oü l'on apprendrait ä dessiner,
comme on apprend ä öcrire, Temporterait
bientöt sur les autres dans tous les arts du
goüt. Der Zeichenunterricht, welcher Augen-
mass, Formensinn, Geschmack und Hand-
fertigkeit bildet, ist eine Ergänzung des
durch Lesen, erhöhte Schulbildung und
vermehrten Wechsel äusserer Eindrücke be-
einträchtigten Sinnes für scharfe Beobach-
tung und deshalb in deutschen Volksschulen
mit Recht vorgeschrieben. Offene Zeichen-
säle mit einem ständig angestellten Zeichen-
lehrer, der sein Zimmer gewöhnlich gleich
neben dem Zeichensale hat, pflegen auch
in den Tagesstunden der Woche zugänglich
zu sein, fördern viele, insbesondere erwach-
sene Gewerbtreibende , im Zeichnen, ver-
mitteln gute Vorbilder und tragen dazu bei,
die Fühlung zwischen Schule und Gewerbe
zu stärken und zu erweitern.
In Prenssen 1899 noch nicht vorhanden.
Sachsen. Offener Zeichensaal der Industrie-
schule zu Plauen i. V. 1899 von 9500 Personen
besucht. In B a y e r n namentlich mit den Fach-
abteilangen der gewerblichenFortbildungsschnlen
Münchens verbunden. In Württemberg
28, verbunden mit gewerblichen Fortbildungs-
schulen. Der erste, 18öS durch Fabrikant
Bruckmann begründet, ist jetzt noch der be-
suchteste. Abnahme des Besuchs in kleineren
Orten. In Baden besitzen alle grösseren Ge-
werbeschulen besondere offene Zeichensäle mit
geregeltem Zeichenunterrichte für Gäste. In
Hessen-Darmstadt 4 (Bingen, Büdingen,
Darmstadt, Worms). In Oesterreich sind
offene Zeichensäle mit 4 Staatsgewerbeschnlen,
mit allen 11 Handwerkerschulen und vielen ge-
werblichen Fachschulen verbunden. Sie bestehen
seit 1878.
B. Oesterreich. HandwerkerschuLen.
16. Die »Oesterreichischen Hand-
werkerschulen« (ftir 12 — 15 jährige Kna-
ben), die für das Gewerbe im allgemeinen,
insbesondere für Handwerke, vorbüden
sollen. (6 Staats-, 5 GemeindeanstaJten mit
879 Schülern, wurden 1885—94 errichtet;
dienen als Ersatz für die 1867 als niedere
gewerbliche Schulen aufgehobenen Real-
schulen und sind für Orte bestimmt, die
wegen des Fehlens eines besonderen ge-
werblichen oder industriellen Charakters die
Erriehtimg einer Fachschule nicht recht-
fertigen würden. Sie sind Vorschulen für
die Meisterlehre. Besondere Pflege des
Zeichenunterrichts und der praktischen Aus-
bildung in Modelliersälen und Werkstätten
für Holz- xmd Metallbearbeitung. In dem
3. Jahrgange der 8 dreiklassigen Hand-
werkerschulen wird auf besondere Gewerbe
Rücksicht genommen. Das dritte Jahr nur für
die, welche eine eingehendere gewerbliche
Vorbildung wünschen. Schulwerkstätten der
Handwerkerschulen nur für solche Schüler,
welche keine Privatwerkstätte besuchen
können. Mit jeder Handwerkerschule steht
eine gewerbliche Fortbildungsschule und ein
offener Zeichensaal in Verbindung.
In Ungarn 5 Handwerkerschulen mit
104 Schülern für die Hausindustrie der
Landbevölkerung.
C. Gfrewerbliohe Lehranstalten für das
weibliche Gesohlecht.
17. Von weiblichen Fortbildungsschulen
unterscheiden sie sich dadurch, dass sie
nicht bloss allgemein bildende Fächer
und Zeichnen sowie gewerbliches Rechnen,
Buchführung und Geschäftsaufsätze, sondern
auch Handelsfächer, weibliche Handarbeiten
und kunstgewerbliche Arbeiten lehren. Die
Bedeutung der Ausbildung von Mädchen in
den Handelsfächem liegt weniger in der
Möglichkeit, besoldete Stellen bei Fremden
zu übernehmen, als in der Möglichkeit,
im Geschäfte der Eltern oder des Gatten
Kontorarbeiten zu besorgen. Dr. Zehden
erklärt dadurch den Umstand, dass in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika und in
Frankreich, den beiden Ländern, in denen
der kleine Mann am besten gedeiht, be-
sonders viele Frauen und Mädchen flan-
delsausbildung haben. Während in anderen
Ländern, insbesondere in England und Nord-
amerika, die Frauenbewegung vornehmlich
politische Rechte für Frauen erstrebt, rich-
tet sie sich in Deutschland mehr auf die
Erweiterung der Benifs- und Erwerbszweige
für Frauen. Je mehr das berechtigte Streben
unversorgter Mädchen nach Ausbildung in
geeigneten Berufen (feinere Handarbeiten,
Musikunterricht , Kunstgewerbe , Handel,
Maschinenschrift u. dgl.) erleichtert wird,
desto weniger wird das umiatürliche Drängen
von Mädchen nach ungeeigneten Berufen
Platz greifen. Dem berechtigten und ge-
sunden Streben, dienten anfänglich nur ge-
meinnützige Frauenvereine , allmählich
fingen jedoch auch Gemeinden imd Staaten
an, Frauenarbeitsschulen zu errichten oder
wenigstens zu unteretützen. Die ältesten
Schulen dieser Art sind in Deutschland die
1861 errichtete Mädchenabteilung der ge-
werblichen Fortbildimgsschule in Stuttgai-t
und die 1862 begründete Riemerschmidt'sche
Handelsschule für Mädchen in München.
Nachdem am 18. Oktober 1865 in Leipzig
der »Allgemeine Deutsche Frauenverein« ge-
gründet war und die Frauenerwerbsfrage
betont hatte, entstanden 1866 in Berlin der
Lette- Verein, in Wien der Fmuenerwerbs-
verein, in Breslau der Fraueubildungs verein,
1867 in Hamburg die Gewerbeschule für
38*
596
Gewerblicher Uatenicht
Mädchen, 1868 in Reutlingen die Frauen-
arbeitsscAule, 1869 in Prag der Deutsche
Frauenerwerbsverein, in Darmstadt der Alice-
verein, 1870 und 71 in Dresden der Frauen-
bildiuigs verein und der Frauenerwerbs verein,
si)äter noch andere ähnliche Vereine.
Der im Mai 1894 in Paris von der Union
centrale des arts decoratifs abgehaltene kunst-
gewerbliche Kongress befürwortete die Zu-
lassung der Frauen zu den Kunstgewerbe-
schulen, die an den Kunstgewerbeschiden
zu Berlin, München und Wien schon vorher
galt. In den Vereinigten Staaten von Nord-
amerika, in Norwegen, teilweise auch in
Russland und in der Schweiz sind die Han-
delsschulen beiden Geschlechtern gleich-
massig zugänglich. Nach Dr. SUbermanu
bestanden 1898 in 30 deutschen Städten
43 kaufmännische Schulen für Frauen,
darunter nur 5 vor 1881 begiilndete. 8235
im Jahre 1893 befragte deutsche Ladenge-
schäfte liatten (nach dem Kaiserlichen Statis-
tischen Amte) 8211 männliche mid 8634
weibliche Handlimgsgehilfen. (S. auch den
Art. Frauenarbeit und Frauenfrage
oben Bd. m, S. 1195 ff.)
In Preussen unterstützt der Staat ein-
zelne Fortbildungs- und Fachschulen für
die weibliche Jugend. In Posen seit 1897 eine
königliche „Gewerbe- und Haushaltnngsschule
für Mädchen" mit Pensionat (1898 220 Schüle-
rinnen). In Schlesien 7 Stickschnlen, 2 Hand-
schuhnähschulen in den Provinzen Sachsen und
Schlesien. In B a y e r n 39 Frauenarbeitsschulen
mit 3462 Schülerinnen, 5 Seminare für Arbeits-
lehrerinnen mit 73 Schülerinnen. In Sachsen
14 gewerbliche Schulen für Frauen und Mädchen,
(8 von Privaten, 5 von Vereinen, 1 vom Staate
unternommen) mit 1800 Schülerinnen. Staatsbei-
hUfe 12 700 Mark, Gemeindebeihilfe leider nur 4000
Mark, Schulgeld 86800 Mark. In Württem-
berg 18 weibliche Fortbildungsschulen mit
1027 Schülerinnen; 22 staatlich unterstützte
Frauenarbeitsschulen mit 1561 Schülerinnen,
darunter 19 von Stadtgemeinden unterhalten.
Slaatsbeihilfe 1898,99 für Frauenarbeitsschulen
und weibliche Fortbildungsschulen 32000 Mark,
für höhere Mädchenschulen 47 000 Mark. Baden
(1899) 25 Frauenarbeitsschulen mit 1720 Schüle-
rinnen und 8 Lehranstalten des badischen
Frauenvereins mit 540 Schülerinnen. In
Hessen: Darmstadt Aliceschule (Ausbildung
von Handarbeits-Lehrerinnen , Industrieschule,
Handelskurs) Alicekochschnle und Alicebazar
(Verkauf weibl icher Handarbeiten ). InOester-
reich wird die Errichtung von gewerblichen
Schulen für das weibliche Geschlecht noch Ver-
einen und einzelnen überlassen. 27 Schulen
wurden 18i>9 mit 27000 Gulden unterstützt.
28 Handelsschulen für Mädchen hatten 1896
2700 Schülerinnen. Für '4 derselben genügen
einjährige Kurse mit wöchentlich 18 Stunden
und Beschränkung auf Handelsfächer. In Un-
garn (1896) 16 Handelslehrkurse für 3Iädchen
(.092 Schülerinnen), meist mit Mädchen-Bürger-
schulen verbunden. Ausserdem 11 Fraueng-e-
werbeschulen mit 677 Schülerinnen. In der
Schweiz werden infolge Bundesbeschlusses
vom 20. Dezember 1895 ausser den schon früher
unterstützten Frauenarbeitsschulen und gewerb-
lichen Töchter-Fortbildungsschulen auch frei-
willige Koch-, Haushai tungs- , Dienstboten-
Handarbeitsschulen und -kurse für Mädchen und
Frauen aus Bundesmitteln (1898 124 Anstalten
mit 108770 Francs) unterstützt. In Belgien
wurde 1865 von der „Association pour l'ensei^-
nement professionel des femmes"* zu Brüssel die
erste Fachschule für Mädchen errichtet 1896
23 Schulen mit 100300 Francs Staats beihilf e.
Daneben 1896 225 Haushaltuugsschulen und
-kurse mit 92100 Francs Staatsbeihilfe.
D. Niedere gewerbliche Fachsohulen.
18. Fachschulen sind im unterschiede
von gewerblichen Fortbildungsschulen, die
Angehörige verschiedener Gewerbe gleich-
zeitig aufnehmen, nur fiir Angehörige eines
einzelnen Gewerbes (Hängewerken, Weber,
Schuhmacher, Blecharbeiter oder Drechsler
etc.) bestimmt, verbinden theoretischen mit
praktischem Unterricht und bedürfen steter
und engster Fühlung mit Werkstatt imd
Fabrik. Ihre geeignetsten Sitze sind die
Mittelpunkte der Gewerbszweige, denen sie
dienen. Zur Aufnahme in eine Fachschule
ist in der Regel erforderlich, dass der
Schüler die Handhabung der Werkzeuge,
die einfachen Arbeiten semes Gewerbes er-
lernt habe und die wesentlichsten Material-
kenntnisse besitze. Nach dem Beschlüsse
der österreichischen Centralkommission für
gewerblichen Unterricht vom 31. Mai 1882
erscheint die Errichtung gewerblicher Fach-
schulen nur da rätlich, »wo das Vorhanden-
sein eines gewerblichen Lebens nachgewiesen
ist, dessen Umfang so bedeutend, dessen
Entwickelungsfähigkeit so unzweifelhaft und
dessen fachlicher Charakter so klar ausge-
sprochen ist, dass auch die besondere Rich-
tung deutlich zu Tage liegt, in der ein Be-
dürfnis nach Unterricht besteht.« Die zahl-
reichsten und ältesten (in Sachsen seit 1830,
in Bayern seit 1854, in Württemberg seit
1855) sind die Fachschulen für WebereL
Sie haben, wenn die wechselnde Mode bis-
her beliebte Webarten fallen liess und neue,
anders herzustellende Gewebe verlangte,
wenn die Handstühle unter dem Wettbe-
werbe der Kraftstühle zu kunstvolleren, auf
Kraftstühlen nicht herzustellenden oder dort
nicht lohnenden Geweben verwendet werden
mussten, dem Gewerbe sehr nützliche Dienste
geleistet. Bekannt ist auch die Förderung
(1er Schweizer Uhrenindustrie durch die
dortigen 9 Uhrmachersehulen , welche der
steten Verbesserung der Ulirenherstellung
dienen. Man hat wohl den gewerblichen
Fachschulen vorgeworfen, sie beschränkten
den fi-eien Blick der Schüler und leiteten
sie mehr dem Grossbotriebe als dem Klein-
gewerbe zu. Aus diesen Gründen hat mau
Gewerblicher Unterricht
597
z. B. in Hessen-Darmstadt statt der gewerb-
lichen Tages-Fachschulen, denen die Schüler
für 1 — 3 Jahre ganz überwiesen werden,
gewerbliche Ergänzungs-Fachschulen em-
pfohlen, welche die SchiUer den Einzel-
werkstätten nicht entziehen. Das ungilns-
tige Urteil in Hessen, welchem die günstigen
Erfahrungen in Sachsen,Württemberg, Baden,
Oesterreich und der Schweiz gegenüber-
stehen, scheint daher zu kommen, dass man
von den Aufzunehmenden dort eine längere
praJitische Bescliäftigung in Einzel Werkstätten
nicht, dagegen von den Schülern neben dem
Lernen auch ein Verdienen in der Lehr-
werkstatt forderte.
Mit Fachschulen werden zweckmässig
fachliche Versuchsanstalten verbu n den ,
so mit der deutschen Gerberschiüo zu
Freiberg i. S. Die deutsche Versuchsanstalt
fib Lederindustrie in Freiberg wird von
Kriegsministerien unterstützt und benutzt.
Die galizischen Fachschulen für Thonin-
dustrie gediehen erst, nachdem 1886 an der
technischen Hochschule zu Lemberg eine
keramische Versuchsanstalt (zur Untersuchung
von Rohstoffen, Anleitung zu deren techni-
scher Behandlung und Heranbildung von
Lehrern und Werkmeistern) errichtet worden
wai\
Seit 1884 veranstaltet das grossherzoglich
badische Ministerium des Innern nacjh
dem Wiener Vorgänge auch 6 — 14tägigo
Uebungskurse für Handwerksmeis-
ter in Karlsruhe, um neuere gewerbliche
Fortschritte zu verbreiten; so für Maler,
Schneider, Tapezierer, Gerber, Schuhmacher,
Bijoutiers u. s. w., neuerdings auch für Sattler
(Kummetmacher), Elektrotechniker, Holz- und
Marmormaler. 1884 — 98 55 Kurse mit
durchschnittlich 16 (zusammen über SOG) Teil-
nehmern. Die Kosten deckten zur grösseren
Hälfte die Teilnehmer selbst.
In Preussen wird die Einf ühnmg sol-
cher Kurse mit Staatsunterstützung geplant,
in Hannover für Schlosser, Tischler, Schuh-
macher, Schneider, in Köln für Schulimacher
und in Posen.
In Stuttgart stellten auf der Landes-
Schiüausstellung 1899 17 (3—5 Monate
dauernde) gewerbliche Faehkurse, namentlich
für Schuhmacher, Schneider, TapOziei-er und
Flaschner, aus. In Darmstadt 1899 zum
ersten Male Meisterkurse (für Maler und
Schuhmacher). In Basel seit 1895 Fach-
kurse an der allgemeinen Gewerbeschule (40
bis 151 Stunden umfassend).
InPreuasen werden unterschieden 7„ Höhere
Webschulen**, Kurs IVa Jahr (in Aachen, Bar-
men, Berlin, Kottbas, Krefeld, Mülheim a. Rh.
und Sorau, M. -Gladbach IHiH) im Bau), 8
„Webescbulen** (Werkmeisterschulen), Kurs Vä
Jahr (in Einbeck, Falkenbnrg i. Pomin., Forst,
Mühlhausen i. Thür. , Nowawes, Ronsdorf,
Sommerfeld und Spremberg) und 20 „ Weberei-
Lehrwerkstätten*' (hauptsächlich in Schlesien und
Hannover). Die Anstalten in Bramsche und
Eupen bilden eine Mittelstufe zwischen Weberei-
Lehrwerkstätten und Webeschulen. In verschie-
denen höheren Webeschulen und Webeschulen
wird auch in der Spinnerei, Färberei, Appretur,
im Must^rzeichnen, in der Posamentiererei,
Stickerei und Wirkerei unterrichtet. Schttler-
zahl im Winter 1898/99 1300. Lehrpläne und
Prüfungsordnung für die preussischen Webe-
schulen seit 1. April 1896 in Geltunff. —
Keramische Fachschulen in Bunzlau und Höhr-
Grenzhausen, eine Zieglerschnle in Lauban,
Korbflechtschulen im Taunus, Schlesien und
Ostpreussen, eine Seedampfschiff-Maschinisten-
schule in Flensburg und demnächst in Stettin,
20 Scbifferschulen für Binnenschiffahrt (seit 1887)
und 20 Navigationsschulen für Seeschiffahrt.
In Bayern 44 Fachschulen (3 Webschulen,
6 Holzschnitzschnlen, 7 Hufbeschlagschulen, 1
Geigenbauschule, 1 Töpferschule, 1 Steinhauer-
schule, 1 Korbflechtschnle, 14 Musikschulen,
Fachschulen von Innungen und Vereinen für
Maler und Lackierer, Bader und Friseure,
Schuhmacher, Schneider, Bildhauer, Glaser etc.).
Sachsen: il Fachschulen für Weberei, Wir-
kerei und Posameutiere mit 253 Hand- und 119
Kraftstühlen, 172 Wirkstübleu, 32 Posamentier-
handstühlen etc. und 2201 Schülern. Unter den
Webschulen sindö, unter den Wirkschulen ITages-
schule. Die anderen erteilen nur Abendunter-
richt. 7 Elbschifferschulen, seit 1855 vom Staate
unterhalten, 28 Klöppel-, 1 Stick-, 4 Strohflecht-
schulen, 3 Bergschulen und 18,J0 39. 1899 80
andere Fachschulen, meist von Innungen oder
Vereinen unterhalten. Dass Sachsens Fach-
schulen auch auswärts Vertrauen gemessen,
zeigt sich darin, dass mehrere derselben von
grossen deutschen Verbänden (Uhrmacher,
•rechsler und Bildschnitzer, Blecharbeiter,
Müller, Gerber) unterhalten werden. — Würt-
temberg: 6 Webschulen. (Besonders bedeut-
sam Reutlingen, 1855 begründet: I. für künf-
tige Fabrikanten, Kaufleute, Musterzeichner
und Webmeister; II. für künftige Werkführer
und Fabrikaufseher; III. für mechanische
Weberei ; IV. Wirkschule, seit 189 1 : V. für Spinne-
rei.) In Schwenningen Fachschule für Fein-
mechanik, auch Uhrraacherei und Elektromecha-
nik, 1900 errichtet. In Württemberg sind mehr
die gewerblichen Fortbildungsschulen entwickelt.
— Baden (1899): 1 Uhrmacherschule (Furt-
wangen), 1 Schnitzerei- und Schreinerschule. 4
Musik-, 6 Stroh- und Korbflecht-, 5 Huf-
beschlagschulen. — Hessen - Darmstadt:
Grossherzogliche Fachschule für Elfenbein-
schnitzerei und verwandte Gewerbe in Erbach
i. 0. Grossherzogliche Webschule in Lauter-
bach. — Sachsen-Weimar: Seit 1894 Fach-
schule für Glasinst rumentenmacher und Fein-
mechaniker Ilmenau, seit 1890 Wirkerlehrlings-
schule Apolda, Schnitzschule Empfertshausen
(RhöBgebirge). — Mecklenburg - Strelitz:
1 HufDeschlagschule. — Oldenburg: (Staats-)
Navigationsschule zu Elsflöth. — Braun-
schweig: 9 Fachschulen, darunter Schule für
Zuckerindustrie in Braunschweig seit 1872. —
Sachsen-Meiniugen: Industrieschule Sonue-
berg für die Spiel warenindustrie (seit 1883).
— Sachsen- Coburg: Industrieschule Neu-
stadt bei Coburg, vor 1850 begründet, für die
598
Gewerblicher Unterricht
Spiel warenindnstrie. — Anhalt: Berg- und
Hüttenschale Silberhütte, 2 Schiiferschmen. —
Schwarzbur&f - Rudols tadt: 1 Schuh-
macherfachschme. — Reussä. L.: 1 Webschule
in Greiz. — Reuss j. L.: 1 Webschule in
Gera. — Lübeck: Navigationsschule. — Ham-
burg: Schiflfbauschule , Wageubauschule. —
Elsass - Lothringen: Cheroieschule Mül-
hausen, Spinn- und Webschule Mülhausen, 2
Bergbauvorschulen. — Oesterreich: gross
angelegter und sorgfältig durchgeführter Plan,
aber (s. oben sub 7 b) bei allzu geringer Inan-
spruchnahme der Nächstbeteiligten. 142 Fach-
schulen, darunter 96 staatliche (1898/99 mit
3663 ordentlichen Tagesschülem, 427 Hospitan-
ten der Tagesschule, 3237 Fortbildungsschülern
und 2092 sonstigen Besuchern, zusammen 9419
Besuchern) und 46 staatlich unterstützte.
80 ^/o aller österreichischen Fachschulen liegen
im Bezirke der Handels- und Gewerbekammer
Reichenberg i. B. Von den 142 Fachschulen
dienen 40 der Weberei und Wirkerei, 32 der
Holz- und Steinbearbeitung, 20 der Spitzen- und
Stickarbeit, 20 dem Korbflechten, 10 der Me-
tallbearbeitung, 9 der Thon- und Glasindustrie,
4 der Musikinstrumenten-Fabrikation , 3 der
Schuhmacherei , 4 anderen Gewerben. Alle
pflegen das Zeichnen und die gewerblichen
Fertigkeiten. Unterrichtsdauer meist 3 Jahre.
Mit dem technologischen Gewerbemuseum in
Wien (staatlich unterstütztes Unternehmen des
niederösterreichischen Gewerbevereins) sind Fach-
schulen mit vollem Tagesunterricht und Sonder-
kurse mit Abend- und Sonntagsunterricht (für
Holzindustrie, chemische Gewerbe, Metallindustrie
und Elektrotechnik) verbunden (957 Besucher).
Lehr- und Versuchsanstalt für Lederindustrie
Wien, 9 Schüler, Fachschule für Kunststickerei
Wien 56, Oencralspitzenkurs Wien 16 Schüle-
rinnen. Gemeinsamer Lehrplan tür die öster-
reichischen Webschulen seit 1889. — In
Ungarn 16 gewerbliche Fachschulen, fast
nur aus Staatsmitteln erhalten , meist
4 jähriger Lehrgang, 789 Schüler. Am
technologischen (iewerbemuseum zu Budapest
fachliche Lehrkurse (682 Besucher). — Schweiz
aa^ö) 9 Uhrmacher-, 2 Web-, 3 Mechaniker-,
1 Schnitz-, 1 Eisenbahnschule, 7 Lehrwerk-
stätten. — Belgien 1884 nur 1, 18^)6 12 Fach-
schulen für Knaben. 1884 45, 1896 53 Lehr-
werkstätten, insbesondere für Textilindustrie
und Steinbearbeitung. — In Massachusetts,
dem grössten Textilindustriestaate von Nord-
amerika, wurden erst 18% nach dem Muster
der englischen Webschulen von Blackbum und
Leeds 4 Webschulen mit 3 jährigem Kurse ein-
gerichtet.
19. Lehrwerkstätten. Lehrwerkstätten
sind mit vielen gewerblichen Fachschulen
(namentlich mit Webschnlen) verbunden
oder auch selbständig errichtet. Sie schliessen
sich an die frühere Werkstattlehre an,
suchen dieselbe al)er vielseitiger und plan-
mässiger zn gestalten. Warm empfohlen,
z. B. von BfScher und Scheven. wenlen sie
von anderen, z. B. von Steinbens, als Stätten
der Ausbildung von Dilettanten und öko-
nomisch gefährlich verworfen. Wander-
stipendien, sagt man, würden sie besser und
billiger ersetzen. Nur die Lehrwerkstätten
der Weberei und Wirkerei werden aUgemein
als nützlich anerkannt. Schlecht bezalilte
Lehrmeister werden die weniger lehrreiche
Herstellung einträglicher (jegenstände mehr
pflegen als die lehrreichere, aber weniger
einträgliche Herstellung vielseitiger Arbeiten.
Damit ruft man Klagen der Lehrlinge über
einseitige Ausbildung und der Gewerbe-
treibenden über ungerechtfertigten Wett-
bewerb der Lehrwerkstätten (Gehalt des
Lehrmeisters, freie Räume, unbezahlte Ar-
beitskräfte, zu niedrige Verkaufspreise) wach.
Es erscheint zweckmässig, die Verwertung,
der Arbeiten der Lehrwerkstätten nicht als
«
ein wesentliches Mittel zur Deckung der
Kosten zu behandeln. Auch ist die Gefahr
zu berücksichtigen, dass in Lehrwerkstätten
Zeit und Rohstoffe nicht sparsam verwendet,
die Lehrlinge also nicht haushälterisch er-
zogen werden. Mit der technischen Leitimg
muss daher die kaufmännische Hand in
Hand gehen. Lehrwerkstätten finden sich
insbesondere bei Staatseisenbahnen. In
Oesterreich sind Lehrwerkstätten in Verbin-
dung mit gewerblichen Schiden besonders
zahlreich. In Bayern Lehrwerkschiden
in neuester Zeit auch bei mechanischen
Fachschulen.
In Baden seit 1889 nicht staatlich betrie-
bene, aber staatlich unterstützte Lehrlings-
werkstätten. Tüchtige Handwerksmeister neh-
men Lehriinge in bestimmter Zahl in Wohnung
und Kost und erhalten gegen Uebernahme von
Verpflichtungen und Kontrolle durch Gewerbe-
verein und einen Beamten der Laudeogewerbe-
halle eine Staatsbeihilfe fdurchschuittlich 232
Mark für einen Lehriing) 1889 5000, 1896
12000 Mark Beihüfen. Ende 1896 104 Lehr-
lingswerkstätten mit 128 Lehrlingen in 28 Orten.
Diese Lehrlinge haben die jährlichen Ausstel-
lungen von Lehrlingsarbeiten mit staatlicher
Preis verteüung (1896 von 1006 Lehrlingen 920
prämiiert) zu beschicken.
20. Baugewerkschulen. Die grosse Zalil
der Bauhandwerker (im Deutschen Bleiche 1895
427 000 Maim^r und 164000 Zimmerer, s. d.
Art. Baugewerbe oben Bd. II, S. 483) recht-
fertigt besondei-e Fachschulen für sie. Diese
Fachschulen haben aber nicht Architekten
oder Ingenieui-e niederer Oixinung, sondern
Bauhanil werker auszubilden. Die ersten Bau-
gewerkschulen in Paris 1740, in München
1823, in Holzmiuden (Braun schweig) als
Privatanstalt 1830, in Sachsen 1837 als
Staatsanstalten errichtet. Unterricht bei den
sächsischen Baugewerkschulen nur im Winter
(4 Halbjalire); bei anderen trotz ermässig-
ten Sommei-schulgeldes im Sommer sehr
schwacher Besuch. (In Preus.sen im Sommer
1S93 772, Winter 1893.94 2737 Schüler.)
In Sachsen Beschränkung der Schulen auf
das Mainer- und Zimmererge werbe, ander-
wärts viel fach Verbindung mit der Maschinen-
Gewerblicher Untenicht
599
technik. Halbjährliches Schulgeld in Sach-
sen 30 Mark (deckt nur 8— 14^/0 der Ge-
samtausgaben), in Baden 30 Mark, ander-
M'ärts vielfach wegen zu geringer Staats-
unterstützung 100 und 120 Mark. Mit vielen
Baugewerkenschulen sind in neuester Zeit
auch Tief bauabteilungen (für Elemente
des Erdbaues, Wasser-, Wege-, Eisenbahn-,
Brücken baues,derKanalisation und des Wasser-
leitungsbaues) verbunden worden. Ein grosser
Uebelstand der meisten deutschen Bauge-
werkschulen ist es, dass sie einer Gnmd-
bedingimg erfolgreichen Unterrichts, einer
gleichmässig vorgebildeten Schülerschaft
entbehren und mittlere Bautechniker mit
niederen (Offiziere und Unteroffiziere) zu-
sammen ausbilden. Trennung bautechnischer
Mittelschulen und Werkmeisterachulen nach
österreichischem Vorbilde (s. unten) ist zu
empfehlen. Zu wtlnschen ist auch, dass
die Schüler vor ihrer Aufnahme in die
Schule mindestens 2 Bausommer praktisch
auf einer Baustelle thätig gewesen seien.
In Preussen 1890 nur 9 Bange werk-
schulen mit 1825 Schülern, (1893 2050 wegen
Platzmangels abgewiesen), 1899 18 mit 3800
Schülern. Die zu Berlin, Köln und Magdeburg
sind städtisch, die zu Breslau, Buxtehude.
D.-Krone, Eckernförde, Frankfurt a. 0., Görlitz,
Höxter, Idstein, Cassel, Kattowitz, Königsberg
i. Pr. (mit Wiesenbauschule), Münster i. W.,
Nienburg, Posen tind Stettin (z. Teil erst neuer-
dings) ^taatsanstalten. Die Eröffnung wei-
terer preussischer Baugewerkschulen steht
bevor. In Preussens Baugewerkschulen wurde
1896 von den Aufzunehmenden nur einen Bau-
soramer dauernde praktische Arbeit gefordert.
— Bayern: 7 Baußfewerkschulen (3 königlich,
4 städtisch, mit 4 Winterkursen) mit über 2000
Schülern. Staatlich geleitete Abschlussprüfung
nach einheitlicher Prüfungsordnung. Mit den
Schulen zu München ist eine mechanische, mit
der zu Kaiserslautern eine kunstgewerbliche
Abteilung verbunden. — Sachsen: 1899 5
königliche Baugewerkschulen mit 1874 331,
1899 791 Schülern. Tiefbauschule Zittau, 1898
errichtet, mit Unterricht im Winter und Sommer.
Unter 160 Lehrstunden der 4 Kurse 74 zeich-
nerische. Jährliche Kosten von 4 Schulen
153 000 Mark. Ausserdem Istädtische und 2 private
Bauschulen. — Württemberg: Königliche
Baugewerkschule in Stuttgart (seit 1845) mit
737 Schülern im Winter 1897/98 und 635 imSommer
1898 (auch für Geometer, landwirtschaftliche
Techniker und Maschinentechniker). — Baden:
Karlsruhe 470 Schüler, mit Abteilungen für Ma-
schinen-, Hochbau-, Tiefbau-, Bahnbautechniker,
staatliche Werkmeister und Gewerbelehrer.
Abteilung für Elektrotechniker 18J)9 vorbereitet.
Hier auch praktische Uebungen- in Lehrwerk-
stätten für Maurer und Zimmerer, deren Wert
angezweifelt wird. — Hessen - Darmstadt:
Darmstadt seit 1876 Sommer- und Winterunter-
richt 1899 126 Schüler. — Sachsen -Wei-
mar: Staatliche Baugewerkschule Weimar (be-
f rundet 18ö9), nur Winterunterricht, 106
chüler. (Private) Bauschule Stadt-Sulza. —
Mecklenburg-Schwerin: Städtische Bau-
gewerk- und Bahnmeisterschulen zu Neustadt
und Stemberg. — Mecklenburg-Strelitz:
Baugewerkschule Strelitz. — Oldemburg:
Baugewerk- und Maschinenbauschule Varel
(Privatanstalt, vom Staate unterstützt). —
Braunschweig: Bange werkschule Holzmin-
den 1830, erst Privat-, jetzt Gemeindeanstalt,
Sommer 187, Winter 949 Schüler. — Sachsen-
Coburg-Gotha: Bange werkschule zu Co-
burg (begründet 1852), nur Winterunterricht,
106 Schüler (auch Tiefbauunterricht) und Gotha,
Sommer 1898 13, Winter 1898.99 116 Schüler,
verbunden mit einer, im Sommer auch stärker be-
suchten, Handwerkerschnle. — Anhalt: Bau-
schule (Privatschule) Zerbst, Winter 1898/99
183 Schüler (auch für Wasser-, Tiefbautechniker,
Steinmetzen, Bautischler und Ziegeleitechniker),
darunter 126 Preussen, Sommer 1898 36 Schüler.
— Schwarzburg - Sondershausen: Bau-
technische Fachschule Arnstadt (Privatanstalt),
Sommer- und Winterunterricht (auch für Eisen-
bahntechniker, Bahnmeister, Strassen- und Tief-
bau). -- Reuss j. L. : Baugewerkschule Gera
(Privatanstalt), Wioter- und Sommerunterricht.
— Lübeck: Staatliche Baugewerkschule Lü-
beck. — Hamburg: Staatliche Baugewerk-
schule seit 1865. Sommer 1898 45, Winter
1898/99 256 Schüler. — In Oesterreich
1898/99 baugewerbliche Abteilungen an 7
höheren Gewerbeschulen mit 607 Schülern,
an 12 Werkmeisterschulen mit 1854 (zusammen
2461) Schülern. Das oben sub 6 erwähnte öster-
reichische G. V. 26. Dezember 1893 steigerte
den Besuch der österreichischen Bauschulen
sehr, veranlasste Neugründung solcher und
förderte das Bauwesen.
21. Werkmeisterschulen. Die meisten
gewerblichen Fortbildung-sschulen , welche
nur Sonntags- und Abendunterricht erteilen,
(wöchentlich höchstens 10 — 16 Stunden)
können Werkmeister des Maschinenbaues,
der Spinnerei, Weberei, des Brunnenbaues
etc. nicht ausbilden, weil sie jahrelangen
Besuch erfordern würden und facliliche
Ausbildung nicht bieten könnten. Die säch-
sische Regierung errichtete daher 1855 eine
Werkmeisterschule, die ei*ste ihrer Art und
ihres Namens, für die strebsamsten Mit-
glieder des Handwerker- und Arbeitei*8tan-
des. Aufnahme-Erfordernis: Alter von min-
destens 16 Jahren und 2 jährige Berufs-
übung. Unterrichtsdauer 1^/2 Jahre; wöchent-
lich 35 — 40 Stunden. Die Werkmeister-
schulen sollen grundsätzlich nicht mehr
lehren, als Werkmeister wirklich brauchen,
damit die Schüler ihre Befähigung nicht
überschätzen und sich nicht von Werkstätten
und Fabriken ab und den Zeichenbureaus
zuwenden. Sie sind industrielle ünteroffiziers-
schulen.
In Preussen (niedere) Maschinenbauschu-
len zur Ausbildung von unteren Betriebsbe-
amten (Werkmeistern, ^laschinenmeistem u. s. w.)
in Altona, Cöln, Dortmund, Elberfeld-Barmen,
Duisburg, Gleiwitz, Görlitz, Hannover und
Magdeburg. In Duisburg und Gleiwitz be-
sondere Abteilungen (Hütt^nschnlen) zur Aus-
J
600
Gewerblicher Untemcht
bildnng von niederen Beamten für den Hütten-
betrieb. Fachschulen für die bergische Klein-
eisen- und Stahl warenindnstrie in Remscheid
und für Metall-(Bronze-)lndustrie in Iserlohn
— In Bayern 4 Werkmeisterschulen, mecha-
nische Fachschulen genannt, eine fünfte geplant.
— Sachsen: Königliche Werkmeisterschule zu
Chemnitz 211 Schüler, mit Abteilungen für me-
chanische Technik, Seifensieder, Färber und
Elektrotechniker (hat seit ihrer Errichtung
etwa 4700 Schüler aufgenommen). Mittweida
Privatanstalt 204 Schüler. Leipzig, seit 1896
Werkmeisterabteilung an der städtischen Ge-
werbeschule, 59 Schüler. — Baden: siehe ßau-
gewerkschule. In Mannheim seit 1897 Ge-
meindeschule für Werkführer und Monteure. —
In Dessau Gasmeisterschule, von der deutschen
Eontinental-Gasgesellschaft 1898 im Anschlüsse
an die dortige Handwerkerschule errichtet.
— Oesterreich: Mit 16 Staatsgewerbeschulen
sind Werkmeisterschulen verbunden. 2 weitere
werden 1900 eröffnet, 1898/99 3130 Schüler,
davon in den 12 Abteilungen für Baugewerbe
1854, in 8 Abteilungen für mechanische Technik
Ö4Ö, in 2 Abteilungen für chemische Technik 48,
in 6 Abteilungen für Kunstgewerbe 330, in
2 Handelsabteilungen 308, in 1 Abteilung für
Elektrotechnik 45 Schüler.
E. Gewerbliche Mittelschulen.
22. Das Studium aa einer technischen
Hochschule setzt Ablegung der Reifeprüfung
eines Realgymnasiums oder Gymnasiums
voraus und kann erst im Alter von etwa
24 Jahi^n beendigt werden. Die dort ge-
botene höchste technische Ausbildung über-
schreitot für viele Industrielle das vorhan-
dene Bedürfnis, lässt die rechte Zeit zur
Erlangung der nötigen praktischen Geschick-
liclikeit leicht versäumen, erfordert viel Zeit
und Geld imd setzt die jungen Besucher
den Gefahren der >akadeimschen Freiheit«
aus. Deshalb sind gewerbliche Mittelschulen,
welche mehr als die niederen gewerblichen
Schulen und weniger als die technischen
Hochschulen beanspruchen und bieten und
straffe Zucht üben, ein Bedürfnis des Ge-
werbes und der Industrie. Dem abgestuften
gewerblichen Bildimgsbedürfnisse müssen
auch abgestufte gewerbliche Bildung-sanstalten
entsprechen. E. Engel berechnet den Kosten-
w^ert eines Gewerbetreibenden mit niederer
Bildung nach 15 Lebensjahren auf 3700 Mark,
mit mittlerer Bildung nach 20 Jaliren auf
12100 Mark, mit Hoclischulbildung nach
25 Jaliren auf 27 500 Mark. Das Fehlen von
Gelegenheiten zur Erlangiuig einer mittleren
gewerblichen Bildung muss mithin sehr
nachteilig wirken, indem es die auf solche
Bildung Angewiesenen entweder auf höhere
Bildung verzichten oder in niedere gew^erb-
licho Schulen oder in technische Hochschulen
eintreten lässt. Niedere gewerbliche Schulen
wenlen durch solche Schüler leicht dazu
veranlasst, ihr Lehrziel zu übei-schieiten,
technische Hochschulen dazu, hinter ilirem
Lelirziele zurückzubleiben. Die gew^erblichen
Mittelschiden sind ein Mittel, um die niederen
gewerblichen Schulen von anspruchsvollen
Schülern, die technischen Hochschulen von
ungenügend vorgebildeten Studierenden und
die Volkswirtschaft von dem gelehrten Tech-
nikerproletariat einigermassen frei zu halten.
Während von Hochschul-Ingenieuren vielfach
Ueberangebot vorhanden ist, fehlen der In-
dustrie oft Kräfte, wie sie die gewerblichen
Mittelschulen liefern (Maschinenkonstruk-
teim3, Ingenieure, Chemiker, Leiter kleinerer
Fabriken und Privatbautechniker in mittleren
Lebensstellungen). 1898 waren (nach Direk-
tor Peters, vom Vereine deutscher Ingenieure)
bei 105 der angesehensten deutschen In-
dustriefirmen 3281 Ingenieure angestellt,
von denen nur 1124 (34 ^/o) eine technische
Hochschule, dagegen ^157 (66 ^/o) technische
Mittelschiden besucht hatten. Gegenüber
England und Nordamerika ist die Ausbildung
vieler unserer jungen Ingenieure an Hoch-
schulen zu langwierig und teuer.
Auffallenderweise ist bisweilen, z. B. 1882
vom Central verbände deutscher Industrieller,
beliauptet worden, gewerbliche Mittelschiden
seien kein wirtschaftliches Bedürfnis. R.
Baumeister stimmt dem bei, »umsomehi*, da
die technischen Hochschulen in ihren zurück-
gebliebenen Zöglingen schon genug Techniker
zweiten Ranges lieferten«. Aber ungeeignete
industrielle Stabsoffiziere sind deshalb noch
keine geeigneten Subalternoffiziere, unge-
eignete Lehrer höherer Schulen noch keine
geeigneten Volksschullehrer. Dem Irrtimie,
dass die gewerblichen Mittelschulen »eine
überflüssige Konkiuu-enz der technischen
Hochschiüen« seien, während sie von diesen
doch nur die Besucher an sich ziehen, die
in die Hochschiden weder verlangen noch
gehören, hatte das österreiclüsche Unter-
richtsministerium schon 1880 entgegenzu-
treten.
Der jetzt etwa 14000 Mitglieder um-
fassende »Verein deutscher Ingenieure« er-
kläi'te 1889 gewerbliche Mittelschulen für
ein vom Staate zu befriedigendes Bedürfnis.
Die Industrieen, füi* welche sie vorbilden,
sind über das ganze Ijand verbreitet. Sollen
die gewerblichen Mittelschulen gedeihen, so
müssen sie selbständige Anstalten, nicht
Anhängsel allgemein bildender Anstalten
sein. Uuterlässt der Staat, gewerbliche
Mittelschulen zu errichten, so werden solche
selbst von grossen Städten selten errichtet
werden. In der Hauptsache werden dann
Privatanstalten »mit glänzenden Programmen
und unerfüllbaren Versprechungen, mit
geringen Aufnalmie-Anfordenmgen, täglichem
Eintritt, mit studentischem Anstrich, über-
füllten Klassen, schlecht besoldeten, häufig
wechselnden, nicht selten auf Tantieme ge-
stellten, überanstrengten Lehrern, und
Gewerblicher Unterricht
601
grossen Abgangsdiplomen« entstehen, bei
denen der Geldertrag massgebend ist. Der
»Deutsche Techniker-Verband«, dessen 8000
Mitglieder ihre Ausbildung fast ausschliess-
lich auf tec^hnischen Mittelschulen erhielten,
und der nach Zusammensetzung und
Leistungen wohl als eine Vertretung des
mittleren Technikerstandes gelten kann, er-
klärte 1899 deutschen Eegieningen, »die
allmälüiche Beseitigung der technischen
P r i V a t schulen und die Errichtung einer
ausreichenden Anzahl staatlicher tech-
nischer Mittelschulen sei anzustreben.« Da
Schülerzahlen von 700 und 1400, wie solche
PriViitschulen sie aufweisen, starken Anreiz
ausüben, so findet neuerdings ein Wettbe-
werb kleiner Städte um Erlangung solcher
Privatanstalten statt. Viele Einwohner
haben als Quartiergeber Gewinn. Die Stadt
gewährt meist eine Unterstützung (freie
Cnterrichtsräume , Barzuschüsse) an den
Unternehmer, erhält aber bei Erreichung
einer Mindestzahl von Schülern für jeden
Schüler eine Abgabe vom Unternehmer.
Das gewerbliche Unteiiichtswesen gerät
aber auf Abwege, wenn es auf Erlangung
möglichst hoher Ueberschüsse hinzielt.
Die älteste gewerbliche Mittelschule in
Deutschland ist die 1836 errichtete k. säch-
sische höhere Gewerbeschule zu Chem-
nitz, welche schon 54(X) Schüler aufgenom-
men hat und für andere Schulen gleicher Art,
insbesondere auch füi* die blühenden öster-
reichischen Staatsgewerbeschulen als Vor-
bild diente. Die Eintretenden haben meist
schon die Einjahrig-Freiwilligen-Berechtigung
(dies ist weniger aus didaktischen als aus
sozialen Rücksichten wünschenswert), xiele
auch praktische Arbeit hinter sich. Die
Unterrichtsdauer beträgt in Chemnitz für
die mechanisch-technische imd die chemisch-
technische Abteilung je 7, für die Bauab-
teilung (seit 1878) 7, für die elektrotechnische
Abteilung (seit 1892) 8 Halbjahre. Ein viel-
beklagter üebelstand ist der Mangel an ge-
werblichen Mittelschulen in Preussen.
Dieser Mangel ist zwai* etwas vermindert.
Man erkennt das u. a. daraus, dass die Zahl
der nicht hochschulmässig vorgebildeten,
das Reifezeugnis eines Gymnasiums oder
Realgymnasiums nicht besitzenden, ausser-
ordentlichen Studierenden an den 3 tech-
nischen Hochschulen Preussen s von 29®/o
(1890.91) auf 210/0 (1898/99) sank. Da-
gegen betrugen die ausserordentlichen
Studierenden 1898/99 an den technischen
Hochschulen Sachsens und Süddeutschlands
nur 12%, an denen OesteiTcichs, wo das
gewerbliche Mittelschulwesen besonders
ausgebildet ist, nur 7 % aller Studierenden.
An den 4 technischen Hochschulen Preussens
und Braunschweigs war 1898; 99 die Zahl
der ausserordentlichen Studierenden in den
Abteilungen für Architektur 39*^/0, für all-
gemeine AVissenschaften 33 %, fürMaschinen-
und Elektro-Ingenieure 22%, für Chemie
und Hüttenkunde 17%, für Schiff- und
Schiffsraaschinenbau 13%, für Bauingenieiu^
8 %. Hiernach sind mittlere, zwischen Bau-
gewerken- und technischen Hochschulen
stehende Bauschulen für Norddeutschland
ein besonderes Bedürfnis ; aber auch Mittel-
schulen für mechanische und chemische
Technik fehlen noch sehr.
Die technischen Hochschulen werden
durch eine grössere Zahl solcher ausser-
ordentlichen Studierenden veranlasst, auch die
Aufgaben gewerblicher Mittelschulen zu er-
füllen, wozu sie sich ohne Preisgebung ihrer.
Hochschuleigenschaft nicht eignen. Daneben
zeigte sich, dass bisher zahlreiche Preussen
in fremden gewerblichen Mittelschiden eine
Bildung suchten, die ihnen das eigene Land
nicht in genügender Weise gewährte. So
waren 1890.91 in Chemnitz und Mittweida
193 und- 591 Preussen neben 670 und 106
Sachsen, am Technikum Hildburghausen 247
Preussen neben 143 Thüringern, 1888 am
Technikum in Buxtehude 445 Preussen
neben 116 anderen Schülern.
In Preussen gab es 1888 noch keine
staÄtlichen Maschinenbauschulen, 1898 dagegen
5 höhere Maschinenbauschulen zur AusbUdung
von mittleren Technikern in Breslau, Cöln,
Dortmund, Elberfeld - Barmen und Ha^en
mit 1400 Schülern. Ausserdem an der Aache-
ner Oberrealschnle 2 Jahres-Fachklasseu zur
Ausbildung von mittleren Technikern. Errich-
tung weiterer Maschinenbauschulen 1899 in
naher Aussicht. Verhandlungen über die Or-
ganisation der preussischen Maschinenbanschulen
(im Handelsnunisterium) vom Mai 1898. —
Bayern: Seit lb68 4 Industrieschulen in Mün-
chen, Nürnberg, Augsburg tuid Kaiserslautern
mit 700 Schülern. Sie schliessen sich an die
6 klassige Realschule an, waren bisher 2 kursig
und werden mit einem wesentlich auf Laboratori-
ums- und Werkstättenbetrieb benihenden 3. Kurse
ausgestattet. Die Schulen enthalten mechani-
sche, Hoch- und Tiefbau-, und chemische Ab-
teilungen. Besondere Pflege der Elektrotechnik.
Bei der Errichtung der bayerischen Industrie-
schulen hoffte man, dass die meisten Absolventen
unmittelbar in die Praxis übergehen würden;
statt dessen gingen die meisten auf die
technische Hochschule. Die Doppelaufgabe ist
nachteilig. Die Schulen geben den Schülern,
welche sie als Vorbereitung zur Hochschule be-
nutzen, zu viel, denen, welche gleich in die
Praxis übergehen wollen, zu wenig Special-
wissenschaft. Eine im bayerischen Unterrichts-
ministerium im September 1898 abgehaltene
Sachverständigenbesprechung hielt jedoch an der
Doppelaufgabe fest, empfahl für mittlere Tech-
niker ein drittes Jahr, für künftige technische
Hochschulstudierende Beschränkung auf 2 Jahre
Industrieschule und wünschte für Maschinen-
bauer technische Mittelschulen mit 2jährigem
Unterrichte. In Würzburg höhere Fachschule
für Maschinenbau und Elektrotechnik, 100
602
Gewerblicher Unterricht
Schüler. — Sachsen: Höhere Gewerheschule
zu Chemnitz 1884 171, 1899 330 Schüler. Tech-
nikum Mittweida (Privatanstalt, 1867 begründet)
1430 Schüler, darunter mehr als V? rreussen
und 1^0 Russen, Inffenieurschule Zwickau (Pri-
vatanstalt, 1897 begründet) 196 Schüler. Tech-
nikum Limbach (1898 begründet) 145 Schüler.
Technikum Hainichen (1900 begründet, Privat-
unternehmen des Direktor Jentzen, dem auch
die Technika in Ilmenau und Endolstadt ge-
hören). — Anhalt: Köthen, höheres tech-
nisches Institut, 1891 begründet, 1899 441 Schüler.
Sachsen -W e i m a r : Ilmenau, Privatanstalt
1894 begründet, 1899 72ßSchüler. — Altenburg:
Technikum 1895 begründet, Privatanstalt, 198
Schüler. — Bingen: Technikum, Privatanstalt,
1897 begründet, 487 Schüler. — Mannheim:
Ingenieurschule, Privatanstalt, 1895 in Zwei-
brücken gegründet, 1898 verlegt. — Baden:
siehe Baugewerkschule. — Mecklenburg:
städtischeMaschineningenieur-Schule zu Neustadt,
1882 errichtet. — Strelitz: Technikum, Privat-
anstalt, begründet 1890. 1899 599 Schüler —
Meiningen: Technikum Hildburghausen 1876
begründet, 1897 856 Schüler (65 «/o Preussen).
In Oesterreich dienten die 1851 ge-
schaffenen Realschiden bis 1867 auch als
Gewerbeschulen, indem sie für die gewerb-
liche und kaufmännische Praxis und für
höherc technische Studien vorbereiteten.
1867 liess man ihnen nur noch letztere Be-
stimmung. Aber bald erkannte man den
Fehler und schuf 1876 an wenigen Haupt-
orien grosse, musterhaft ausgestattete Staats-
gewerbeschulen, anfänglich 9, jetzt 18 (in
Wien 2, Brunn 2, Salzburg, Graz, Innsbruck,
Triest, Prag, Pilsen 2, Bielitz, Krakau und
Czernowitz, Ijemberg, Smichow, Pardubitz,
letztere beide 1899 eröffnet, grosste in Reichen-
berg). Diese Schulen sind nicht unter sich
gleich organisiert, wie Gymnasien oder Real-
gymnasien, sondern in demselben Gebäude,
unter derselben Verwaltung und Leitung und
teilweise unter denselben Lehrern vereinigte
Fachschulen. Der Name Staatsgewerbe-
schule bezeichnet daher keinen didaktischen,
sondern einen administrativen Begriff: die
Vereinigung von höheren Gewerbeschulen,
Werkmeisterschulen, offenen Zeichenschulen,
ßpecialkursen , gewerblichen Fortbildungs-
schiüen und einigen sonstigen Lehrabteilungen
(s. oben sub 2, g). Von den Staatsgewerbe-
schulen enthalten 8 höhere Gewerbeschulen
(1. Jahi'gang 542 Schiller, baugewerbl. Abt. 607,
mech.-techn. Abt. 734, chem.-techn. Abt. 239
zus. 2122 Schiller), 16 Werkmeisterschulen
(3130 Schüler), 18 gewerbliche Fortbildungs-
schulen (3316 Schüler), 10 Specialkurse
(2437 Schüler), 4 offene Zeichensäle (182
Besucher), 6 sonstige Ijehrabteilungen (336
männlicihe imd weibliche Schüler), Gesamt-
zahl der Besucher der Staatsgewerbeschulen
1898 99: 11523. Die Staatsg-ewerbcschiden
bilden die Mittelpunkte für die Organisation
der kleineren gewerblichen Bildungsanstalten
in den umliegenden Gebieten. Selten ist
im gewerblichen Schulwesen ein Plan so
gross, zweckmässig und klar angelegt und
so folgerichtig durchgeführt worden wie
dieser. In ü n g a r n 2 Staatägewerbeschiden
mit 392 Schülern. — Schweiz: Technikum
Winterthur, 1874 errichtet, 712 Schüler.
Biel Technikum, 1890 begründet. 418
Schüler, Burgdorf, 1892 errichtet, 287
Schüler.
23. Handelsschulen. Die Handels-
schulen, welche zumeist von kaufmännischen
Vereinen und Korporationen, vielfach von
Einzelnen, seltener von Gemeinden emchtet
worden sind, legen ein rühmliches Zeugnis
von dem Bildungsbedürfnisse des Handels-
standes ab. Sie sind eines der wirksamsten
Sichenmgsmittel gegen das Heranwachsen
eines sozial und wirtschaftlich sehr nach-
teiligen kaufmännischen Proletariats, das bei
der leichten Zugänglichkeit des kaufmän-
nischen Berufes zahlreich ist, und fördern
den Weitblick der jungen Kaufleute ebenso
wie ihren Sinn für Berufspflicht und Be-
rufsehre. Die Handelsschulen zerfallen in
Fortbildungs- oder Lehrlingsschulen mit er-
gänzendem Unterrichte, der neben der prak-
tischen Lehre hergeht, und Tagesschulen,
welche die Zeit ihrer Schüler auf 2—3 Jahre
vollständig in Anspruch nehmen. Erstere
führen vorwiegend dem Grosshandel, letztere
dem mittleren und Kleinhandel Hilfskräfte
zu. — Ein schweres Hemmnis der kauf-
männischen Fortbildungsschulen ist die
mangelhafte Vorbildung vieler ihrer Zöglinge.
Gute Plandelsschulen vermitteln die für
jimge Kaufleute erforderlichen Kenntnisse
vollständiger, planmässiger und raelir in
ihrem gegenseitigen, wissenschaftlichen Zu-
sammenhange, als es die praktische Lehre
in einem kaufmännischen Geschäfte, selbst
beim besten Wollen und Können eines
tüchtigen Lehrherrn, vermag. Der Verein
von Direktoren Sächsischer Handelsschulen
stellte 1881 den »Entwurf eines Lehrplans
für den Fachunterricht der Sächsischen
Handelslehrlings-Schulen« auf. Danach sind
die notwendigsten Lelu'fächer: kaufmänni-
sches Rechnen, Buchhaltung, Korrespondenz
mit Kontorarbeiten und Handels Wissen-
schaft, d. h. die planmässige Darstellung des
Handelsgetriebes und der dasselbe regeln-
den staatlichen und wirtschaftlichen Gesetze.
Das Schulgeld ist bei den meisten Handels-
schulen sehr viel höher als bei gewerblichen
Schulen, bis zu 360 Alark jährlich (s. oben sub
7 b). Die Gründe dessen sind wohl hauptsäch-
lich die, dass die in Handelsschulen erworbenen
Kenntnisse zum grössten Teile (Handels-
wissenschaft , Buchhaltung , Kontorarbeiteo,
kaufmännisches Rechnen, Korrespondenz,
Sprachen, Warenkunde, Wechselrecht. Schön-
schreiben) im kaufmäimischen Leben un-
Gewerblicher Unterricht
603
mittelbar angewendet werden können, und
dass der Kaufmannsstand nicht, wie die In-
dustriellen, unter einem Widerstreite der
Intei-essen im Stande selbst leidet. Dieser
Umstand erleichtert die Begründung von
Handelsschulen sehr. Besondere Droguisten-
schiden in Dresden, Leipzig, Braunschweig
und anderwärts. Aeltestc deutsche Handels-
schule: Gotha 1817 von Arnoldi, dem Be-
gründer der Gothaer Vei-sicherungsanstalten,
enichtet. Leipzig 1831, noch vor Entstehen
der sächsischen Realschulen, von der Kramer-
Innung begründet. Nach der R.G.O.-Nov.
V. 17. Juni 1891 § 154 können auch Handels-
lehrlinge und Gehilfen unter 18 Jahren
statutarisch zum Besuche einer Fortbildungs-
schule verpflichtet werden (s. oben sub 6).
Ton grosser Bedeutung für die Anregung
und Förderung der Handelsschulen ist der
1895 begründete »Deutsche Verband für
das kaufmännische Unterrichtswesen« , der
auch die Errichtung deutscher Handels-
hochschulen vorbereitete. Die erste
deutsche Handelshochschule wim:le im April
189S im Ansclüusse an die Universität
Ijcipzig, die zweite im Oktober 1898 im
Ansclüusse an die Technische Hochschule
Aachen errichtet. Zahl der Studierenden
im Dezember 1899 in Leipzig 248, in Aachen
20. Verwandt sind die geplante »Akademie
für Social- und Handels Wissenschaften« zu
Frankfiul a. M., die eine Lerngelegenheit
für Beamte und Kaufleute und eine geistige
Brücke zwischen diesen werden soll, und
die aus v. Mevissens Vermächtnis zu er-
richtende Handelsakademie zu Köln. Von
den Handelshochschulen ist auch die Aus-
bildung tüchtiger Handelslehi'er zu erhoffen.
An der technischen Hochschule zu Riga be-
steht schon lange eine Handelsabteilung
(1895 199 Studierende).
Harry Schmitt führte (1892) 166 kauf-
männische Fortbildungsschulen in Deutsch-
land an, von denen ß vor 1871, 114 seit 1871
begründet wurden; bei 3 Gründungsjahr un-
bekannt. Nach ihm entfiel damals je eine kauf-
männische Fortbildungsschule in Sachsen auf
100000, in Baden auf 150000, in Hessen-Darm-
stadt auf 166000, in Württemberg auf 286000,
in Preussen auf 368000, in Bayern auf 500000
Einwohner. In Preussen (Dezember 1897)
186 kaufmännische Fortbildungsschulen (8 — 12
Stunden wöchentlich in jeder Klasse, leider
noch meist Abendunterricht) mit 14 93ö Schülern
und 591 Schülerinnen, 4 Handelsschulen (Berlin,
Erfurt, Osnabrück, Köln) mit 738 Schülern, und
3 höhere Handelsschnlen (Frankfurt a. M., Aachen,
Köln) mit 37 Schülern. Der ScKnlbesuch ist in
107 Schulen freiwillig, in 73 obligatorisch, in 6
entbindet er vom Besuche der obligatorischen
gewerblichen Fortbildungsschule. 111 preussi-
sche Städte mit mehr als 10000 Einwohnern,
darunter 14 mit mehr als 30000 Einwohnern,
haben noch keine kaufmännische Fortbildungs-
schule. In Sachsen haben 22 Städte unter
10000 Einwohnern Handelslehrlings -Schulen.
In Bayern (1899) 1 höhere Handelsschule
(Abteilung der Industrieschule zu München),
11 Handelsschulen (4 Öffentliche, 7 private), 16
HandelsabteÜnngen an 6klassi^en Kealschulen,
11 Handelsabt^ilungen gewerblicher, mit Real-
schulen verbundener Fortbildungsschulen, zahl-
reiche kaufmännische Abteilungen selbständiger
fewerblicher Fortbildungsschulen. Sachsen:
höhere Handelsschulen mit 569, 47 Handels-
lehrlingsschnlen mit 4744, alle zusammen mit
5313 Schülern und 3321 wöchentlichen Unter-
richtsstunden. Württemberg: In 18 Städten
kaufmännische Fortbildungsschulen, doch (ausser
in Stuttgart und Heilbronn) nur als besondere
Abteilungen der gewerblichen Fortbildungs-
schulen. Baden (1899) 14 Handelsschulen.
Handelskurse für Frauen und Mädchen an der
Gewerbeschule zu Karlsruhe und zeitweilig
durch den Badischen Frauenverein. In den
thürinfi^ischen Staaten (1897) 4 höhere
Handelsschulen und 17 kaufmännische Fort-
bildungsschulen. In Braunschweig 10 kauf-
männische Fortbildungsschulen r880 Schüler),
mit Ausnahme von 3 älteren. 1896 von der
Handelskammer errichtet. Zuschüsse leisten in
gleicher Höhe Staat, Gemeinden und Handels-
kammer. Jahreskost^n 41800 Mark, Zuschüsse
1 1 900 Mark. S. -W e i m a r : 4 Handelsschulen. —
Die Zahl der wöchentlich erteilten Lehrstunden
ist nach Schmitt am grössten in Dresden 456,
Leipzig 437, Chemnitz 274, Beriin 1 138, München
132, Stuttgart 125, Nürnberg 118, Plauen i. V.
106, Bautzen 102; am geringsten in Sagan 3'/»,
Bur^ IV'o. m Oesterreich (1899) 20 höhere
dreiklassige Handelsschulen (3800 Schüler), 52
sonstige kaufmännische Tagesschulen (7600
Schüler) und 58 kaufmännische Fortbildungs-
schulen (7000 Schüler), zusammen 130 Schulen
mit 18400 Schülern. In Ungarn (1897) 35
höhere Handelsschulen (4983 Schüler), 74Handels-
lehrlings-Schulen (4699 Schüler). In ungarischen
Städten, die wenigfer als 50 Handlungslehrlinge
zählen, müssen diese die gewerblichen Lehr-
lingsschulen besuchen, die hierfür einen eigenen
Lchrplau haben. Eine orientalische Handels-
schule in Budapest. Eine verderbliche Wirkung
des Einjährig-Freiwilligen-Kechts auf
die Entwickelung des Handelsschulwesens be-
obachtete man (Dr. Zehden) in Oesterreich. Wegen
dieser Militärbegünstigung wurden viele zwei-
klassige Handelsschulen in dreiklassige höhere
Handelsschulen umgewandelt. Man befürchtet
davon ein Ueberaü gebot der höheren kauf-
männischen Beamten und einen Mangel der viel
begehrten Hilfskräfte des mittleren Handels und
sucht dem abzuhelfen durch die Förderung vier-
jähriger Kurse an höheren und zweijähriger
Kurse mit einer Vorbereitungsklasse an den
anderen Handels-Tagesschulen. In der Schweiz
(1898) 14 Handelsschulen mit 1130 Schülern,
meist Kantons - Unternehmungen. Bei den 4
grössten deckt das Schulgeld nahezu Vi? bei den
10 kleineren nur \'ig der Gesamtausgaben. Von
den Gesamtausgaben 514000 Francs wurden nur
78000 durch das sehr niedrige Schulgeld auf-
gebracht, 306000 durch die Kantone oder Ge-
meinden, 130000 Francs durch den Bund.
Ausserdem kaufmännische Fortbildungsschulen
mit 4613 Schülern und 281000 Francs Aus-
gaben. Belebend wirkte der Bundesbeschluss
604
Gewerblicher Unterricht
betrefif^d Förderung der kommerziellen Bildung
vom 15. AprU 1891.
F. Kunstgewerbeschulen, -vereine und
-museen.
24. Kunstgewerbeschulen und -ver-
eine. Gelegentlich der Weltausstellungen
von 1851, 55 und 62 erkannte man (zuerst
in England, dann in Oesterreich, dann in
Deutschland), dass das heimische Kunstge-
werbe bei aller technischen Tüchtigkeit doch
im Geschmacke dem französiscjhen sehr
nachstehe, dass Frankreichs Vorsprung nicht
auf angeborener, sondern auf Jahrhundei-te
lang (seit Colbert) anerzogener Geschmacks-
bildung beruhe und dass niu' durch Unter-
richt und Vorbilder jener Mangel ausge-
glichen werden könne. Das vom Prinzen-
Gemahl Albert 1857 begründete South-Ken-
sington-Museum (Museum, Schule und Lehrer-
bildungsanstalt), mit welchem zahlreiche
Kunstschulen und Kunstgewerbemuseen in
kleineren Städten in Verbindung stellen,
äusserte schon bei der Londoner Weltaus-
stellung 1862 sehr günstige Wirkungen. Es
erhielt 1861—63 jährlich 680 000 Mark. Bei
der Organisation des englischen Volksschul-
wesens von 1870 wurde das Zeichnen neben
dem Lesen, Schreiben und Rechnen einer
der vier Gnmdpfeiler des Lehrplanes. Frank-
i-eich bewilligte 1862 dem Conservatoire des
arts et m^tiers 4000000 Mark und 120000
Mark zu Ankäufen auf der Londoner Aus-
stellung. Auf des verdienstvollen v. Eitel-
bergers Antrag gründete Oesterreich 1868 sein
Museum für Kunst und Industrie, 1868 die
damit verbundene Kunstg-ewerbeschule. Si)ä-
ter folgten deutsche Staaten nach. 1865 die
Gewerbehalle zu Karlsruhe; 1867, zuerst
als Privaümternehmen , das Kunstgewerbe-
museum zu Berlin und das Nationalmuseum
zu München.
Von den deutschen, österreichischen und
schweizerischen Kunstgewerbeschulen stanv-
men 6 aus den Jahren 1868 — 71 (Wien,
München, Berlin, Genf, Chaux de Fonds
und Leipzig), 24 aus den Jahren 1875—90,
4 aus der Zeit von 1894—97. Vor dem
Eintritt in die »Fachklassen« meist eine
»allgemeine Abteilung« oder »Vorschule«.
Für die Schüler, welche den Vollunterricht
wegen Mangel an Zeit und Geld nicht be-
nutzen können und den Tag über erwerbs-
thätig sein müssen, besteht an vielen Kunst-
gewerbeschulen Abenduntenicht.
Zweck der Kunstgewerbeschulen ist die
Belobung des Kunstsinnes unter den Ge-
werbetreibenden und des Verständnisses
für die Forderungen des Kunstgewerbes
unter den Künstlern. Die Ausbildung des
Gewerbetreibenden zum Künstler seines
Faches ist anzustreben, nic.ht die Aufpfrop-
fung der Kunst auf die Gewerbe (Steck-
bauer). Es ist daran festzuhalten, nur solche
Schüler aufzunehmen, welche eine längere
praktische Lehrzeit hinter sich haben. Da
die gewerbliche Kunst in der Anwendung
der Gesetze der Architektm*, Plastik und
Malerei auf Gewerbserzeugnisse besteht, so
hat die Kunstgewerbeschule diese drei Ge-
biete zu pflegen. Die Kunstgewerbeschulen
müssen enge und dauernde Fühlung mit der
hohen Kunst haben (nur eine mächtige
Hauptader kann viele kleine Kanäle speisen ;
andernfalls wird erst Vollblut, dann Halb-
bhit, dann Viei-telblut etc. erzeugt), aber sie
müssen, um gedeihlich wirken zu können,
sowohl von Kunstakademieen als von tech-
nischen Anstalten, mit denen sie anfänglich
verbunden w^aren, unabhängig sein. Auch
müssen sie sich davor hüten, den geschicht-
lich auf einander folgenden Stüarten allzu-
sehr nachzugehen, da sie ihren Schülern
sonst Unbefangenheit und Freiheit des
Schaffens rauben. Deswegen empfiehlt
neuerdings insbesondere M. Meurer, dass
die in Stiltraditionen gealterte Kunstrich-
tung zui' Quelle der Natur zurückkehre, um
verjüngt zu weixlen. Der beständige Stil-
weohsel des neueren Kunstgewerbes, das
Herumprobieren mit den künstlerischen
Ausdrucksmitteln aller Zeiten und Völker
sind zumeist durch Vernachlässigung des
Natm^tudiums verschuldet. Museen wühlen
(M. V. Schwind) mit ihrer überwältigen-
den Fülle den Gnmd um die keimende
Kraft auf und wirken wie 50 Klimas auf
eine Pflanze, die meist nur in einem KUma
gedeihen kann. Die zahlreichen neuei-en
Sammelwerke sind zum kleinsten Teile Lehr-
w^erke, meist Eselsbrücken zur Beschaffung
des Tagesbedai'fes. Statt der Stallfütterung
mit Vorlagen empfiehlt danmi Meurer die
Weidenahrung der Natur. Von den Schu-
len soll man auch hier nicht zu viel erhof-
fen. Denn die %'ielbe wunderten kunstge-
werblichen Arbeiten minder gebildeter nrien-
tahscher Völker zeigen, dass eine nie abge-
brochene Kunst Überlieferung wesentliche
Bedingung kunstgewerblicher Tüchtigkeit ist.
Die hauptsächlichsten E i n w ü r f e gegen
das auf gedankenloser Nachahmimg be-
ruhende Kunstgewerbe wenlen von Neiiei-en
zusammengefasst in folgende Tadel werte:
»Wiederkäuen früherer Stilformen; Kreislauf
der Stile; Ueberladung mit Zierat: Gute-
Stuben - Kunstgewerl)e ; Restauraut-JRenais-
sanc^ ; Architektur - Möbelstil ; Stoff widrige
Nachahmungen; Nippsachen, diegefälu'lichen
Bazillen des Kunstgew^erbes ; TjTannei
des Tapeziers ; Mangel an künstlerischer Ein-
heit räumlich vereinigter Gegenstände: Ver-
wendung geringwertiger Ei-satzstoffe zur
Erzielung unwaliren Pnuikes; Bürgerwoh-
nungen als Zerrbilder füi-stlicher Woh-
nungen ; Mängel an Selbstbewusstsein, Schön-
Gewerblicher Unterricht
605
heitssina und künstlerischer Wahrheitsliebe.«
Das Kunstgewerbe beginnt neuerdings von
der blossen Nachahmung der Erzeugnisse
früherer Zeiten sich zu selbständigem Erfin-
den und Schaffen neuer Konstruktionen zu
erheben. Damit steht in Verbindung das Ein-
dringen des Kunstgewerbes in die neueren
Kunstausstellungen, aber auch eine unge-
rechte und unnatürliche Untei*schätzung der
üeberlieferungen und eine gefährliche
Ueberschätzung einzelner Künstler. Die
eigenartige Entwickelung der einzelnen
Schüler -Persönlichkeiten, das höchste Ziel
jeder Kunstgewerbeschule, wurde früher
durch eine übertriebene Pflege der geschicht-
lichen Stile, neuerdings bisweilen dadurch
gefährdet, dass einzelne hervorragende
Lehrer seitens der Schüler nachgeahmt
werden. Von hoher Bedeutung für die
Schulung zur Selbständigkeit sind die an
Kunstgewerbeschulen üblichen Schüler-
w^ettbewerbe mit gleicher Aufgabe so wie
späterer Ausstellung und Besprechung der
Wettbewerbs- Arbeiten in der Klasse, mitunter
als Schnellentwerfen imter Clausur behandelt.
PreuBsen: 16 „Handwerker- und Kunst-
gewerbeschuleu" mit (1898) 11700 Schülern.
Aachen 1886, Barmen 1894, Berlin 1868, Bres-
lau 1876, Düsseldorf 1883, Elberfeld 1896, Frank-
furt a. M. 1879, Hanau 1889, Hannover 1890,
Iserlohn 1881, Cassel 1882, Köln 1879, Königs-
berg i. Pr. 1886, Magdeburg 1887 errichtet.
Bayern: München 1B2 männliche, 118 weib-
liche Schüler, seit 1868, und Nürnberg (1662
als Privatakademie begründet, 1716 durch eine
Zeichenschnle für Handwerker ergänzt, 1819
vom Staate übernommen, 1876 unter Gnauth in
eine Kunsteewerbeschule umgewandelt), 175
Schüler. Kunstgewerbliche Facbschule zu
Kaiserslautem, verbunden mit der Baogewerk-
schul e, 85 Schüler. Sachsen: Leipzig, 187 1 U m-
Wandlung der kleinen Kunstakademie in eine
blühende Kunstgewerbeschule, vorzugsweise für
die Buchgewerbe, auph für die photomechanischen
Vervielfältigungs-Verfabren, 276, Dresden. 1875
errichtet, 278, Vorschule Dresden 99 Schüler.
Planen i. V. (1877 als kunstgewerbliche Fach-
zeichenschule begründet, seit 1890 Knnstge-
werbeschule für das Erzj^ebirge und Vogtland)
165 Schüler. (Plauens Abteilungen s. oben sub 2, g.)
Von 2887 im Jahre 1895 im Deutschen Reiche
thätigen Musterzeichnern entfielen 1390 auf
Sachsen, 783 auf Preussen. Sachsen das wich-
tigste Land der deutschen Textilindustrie!
Württemberg: Stuttgart 121 Schüler. In
Württemberg sind die gewerblichen Fortbil-
dnn^schulen da, wo ein besonderes Kunst-
handwerk vorherrscht, auch mit Lehrstätten für
Modellieren, Ciselieren, Gravieren und Holz-
schnitzen verbunden. Baden: Karlsruhe (mit
Kunstgewerbemuseum), seit 1878 selbständige
Anstalt, 269, Pforzheim, 1877 errichtet, 235
Schüler (1899). Hessen-Darmstadt: Mainz
256 S.hüler, 1879, Offenbach, 185 Schüler, 1877
errichtet. Anhalt: Dessau, Handwerker-
und Kunst^ewerbeschule , 1897 errichtet, 185
Schüler. Hamburg: 1895 errichtet, 64
Schüler. Elsass-Lothringen: Strassburg
1890 errichtet, 127 männliche, 56 weibliche
Schüler, Mülhausen, 1881 errichtet. Oest er-
reich: Wien, 1868 errichtet, 254, Prag 281,
Graphische Lehr- und Versuchsanstalt (für rhoto-
graphie, Reprodnktions verfahren, Buch- und
Illnstrationsgewerbe) in Wien 151 Schüler.
Ausserdem an 6 Staatsgewerbe-( Werkmeister-)
Schulen 330 Schüler. Ungarn: Budapest 59
Schüler. Schweiz: Basel, Bern, Genf 2, Luzern,
Zürich, la Chaux-de-Fonds. In Italien (1898)
87 Schulen für dekorative Kunst und Kunst-
gewerbe mit 12000 Schülern, fast alle nach 1870
begründet, insbesondere in Venezien, in der
Lombardei und Piemont. Ausserdem 215 Zeichen-
schulen, auch für Modellieren, mit 18 500 Schülern.
Deutsche Kunstgewerbevereine,
seit 1883 zu einem Verbände zusammenge-
treten. Grösste Vereine in München, Pforz-
heim, Frankfurt a. M., Karlsruhe, Stuttgart,
Berlin, Oldenburg, Dresden.
25. Kunstgewerbemuseen (deren Be-
gründung 8. im Art. Ausstellungen
oben Bd. II, S. 59) in Verbindung mit
Kunstgewerbe-Bibliotheken tmd Ornament-
stichsammlungen, sind notwendige Ergän-
zungen der Kunstgewerbeschulen, die sonst
blosse Zeichen- und Modellierschulen blei-
ben. Ohne Kunstgewerbeschule büssen
die Museen einen grossen Teil ihrer Wir-
kung ein. Kunstgewerbemuseen sollen
kunstgewerbliche Schätze erhalten, ordnen
und verwerten. Das Publikum (Käufer und
Besteller kunstgewerblicher Arbeiten!) zu
Verständnis und Geschmack zu erziehen
(durch vergleichende Vorfühnmgen, Einzel-
vorträge imd Vortragsreihen), wird selten
versucht und erreicht. Vielfach gewann bei
Anlegung und Vervollständigung der Museen
das Sammlerinteresse, welches sich auf
Vollständigkeit und Seltenheit richtet, und
das wissenschaftlich-gescldchtliche Interesse,
welches ein möglichst zusammenhängendes
und treues Bild des Vergangenen und seiner
Entwickelung geben möchte, die Oberhand
über die praktische Förderung des heutigen
Kunstgewerbes. Keinesfalls sind rauster-
giltige Erzeugnisse der Gegenwart grund-
sätzlich auszuschliessen. (Beschluss des
Verbandes der deutschen Kunstgewerbever-
eine 1893 in Weimar.) Sonst bieten die
Schaufenster grossstädtischer Verkaufsläden
dem Praktiker mehr erreichbare Anregun-
gen als die Kunstgewerbemuseen. Gedruckte
Führer und Erläuterungen an den Gegen-
ständen der Museen selbst sind rasch ver-
altenden Katalogen vorzuziehen. Historische,
antiquarische und ethnograpliische Gesichts-
punkte sind in den Führern nur nebensäch-
lich zu beliandeln; Förderung des Kunst-
gewerbes muss auch hier die Hauptsache
sein. Deshalb sind Hinweise auf die Tech-
nik und den Zusammenhang zwischen Stoff
und Zierform, Gebrauchszweck und Zierform
kunstgewerblicher Gegenstände viel wich-
606
Gewerblicher Unterricht
tiger als die unsichere Bestimmung von
Entstehungszeit und -ort. Hinweise auf
Vorlagen werke, Zeitschriften und sonstige
Druckschriften der mit dem Museum ver-
bundenen Bibliothek sind dem Führer anzu-
fügen. Die Verwalter vieler Kunstgewerbe-
museen in Deutschland und der Schweiz
sind ermächtifft, Kunsthandwerkern und
sonstigen Bestellern Skizzen, Entwürfe und
Detailzeichnungen kunstgewerblicher Arbei-
ten anzufertigen oder zu begutachten. — Die
älteren Kunstgewerbemuseen ordnen nach
dem Londoner Vorbilde zmn Vorteile der
Praktiker ihren Inhalt nach Stoffen und
Techniken (Keramik, Eisenarbeiten, Edel-
metallarbeiten, Textilindustrie, Möbel, Buch-
gewerbe u. s. w.). Hier findet der Gewerb-
treibende die Arbeiten seines Faches bequem
und übersichtlich beisammen. Neuerdings
wird die malerische Anordnung nach kul-
turgeschichtlichen Gruppen, Stil-
pericM3en (romanische , gotische, Kenaissance-,
Kokoko- u. s. w. Zimmer) empfohlen und
angewendet. Letzteres erfordert mehr Räume
und vollständigere Anschaffungen von Stücken'
desselben Stiles, verleitet auch beim Fehlen
echter alter Stücke zu selbstgefertigten Er-
gänzungen von zweifelhaftem Werte, ist aber
füi' das grossere Publikum anziehender und
lehrreicher. Eine Verbindung beider Ver-
fahren, Vorherrschen der Vorftihrung in
Schränken und Vitrinen, aber mit Unter-
brechung durch malerisch angeordnete Stil-
zimmer, erscheint am zweckmässigsten. Ver-
suche, die Gegenstände nach Gebrauchs-
zwecken, z. B. Sitzmöbel, Beleuchtungs-
gegenstände , u. s. w. zusammenzustellen,
können nicht als nachahmenswert gelten.
Die beachtlichsten Mängel von Kunstge-
w^erbemuseen sind nach W. Bode : es wird zu
viel und zu planlos (in allen Gattungen und
Richtungen) gesammelt; zu viele Gelegen-
heitskäufe. Kleine Museen streben ver-
kehrterweise und erfolglos den vielseitigen
alten Sammlungen, Berlin, München, Nürn-
berg nach, statt die besonderen Bedürfnisse
örtlicher Handwerke und Industrieen zu be-
rücksichtigen. Statt Pi-achtarbeiten aus
fürstlichen Schlössern sollten mehr einfache
Arbeiten von feinen Fonnen und vorzüg-
licher Arbeit, Gegenstände des täglichen,
häuslichen Gebrauchs, vorgeführt werden.
Neben der Förderung der Verfertiger sollte
die Förderimg dos \ erständniases und des
Geschmackes des grösseren Publikvuns mehr
angestrebt werden.
Am meisten entwickelt ist die planmässige
Deeentralisierung der Kunstgewerbe-
museen und deren Aiipassung an die ört-
lichen Bedürfnisse in England (Förderung der
66 kleineren MuvSeen des I^andes durch Aus-
leihungen des South Kensington -Museums)
und in Sachsen. Hier bestehen neben den
3 grösseren Museen in Dresden, Leipzig
und Plauen i. V. 10 kleinere, mit Vorbilder-
sammluugen und Bibliotheken verbundene
Kunstgewerbemuseen in Annaberg, Auer-
bach, Chemnitz, Eibenstock, Faikensteiu,
Franken berg, Glauchau, Meerane, Reichen-
bach und Zittau, die vorwiegend aer Textil-
industrie dienen und meist von dem, 1888
begründeten vogtländisch- erzgebirgischen
Industrievereine zu Plauen i. V. befruchtet
werden. Dieser Verein hält alljährlich
kunstgewerbliche Wanderausstellungen in
Sächsischen Industrieorten ab.
G. Teohnische Hoohschulen.
26. Im Deutschen Reiche bestehen 9
technische Hochschulen, denen sich 6 öster-
reichische, 1 schweizerische und 1 deutsch-
russische anreihen. Keine dieser Anstalten
reicht über das 19. Jahrhundert zurück. Die
1716 errichtete 6cole des ponts et chaussees
und die 1794 errichtete ecole polytechnique zu
Paris, eine Vorbereitungsanstalt für eine kleine
Anzahl von Ingenieuren des Militär- und
Civilstaatsdienstes, welche ihre weitere Aus-
bildung in Artillerie-, Generalstabs-, Berg-,
Brückenbau- und Strassenbauschulen erhal-
ten, schritten nicht bloss zeitlich voran. Dem
Alter nach folgten Prag 1806, Graz 1811,
Wien 1815, Berlin 1821, Karlsruhe 1825,
Darmstadt 1826, München 1827, Dresden
1828, Stuttgart 1829, Hannover 1831, Brunn
1850, Zürich 1855, Braunschweig 1862, Riga
1862, Aachen 1870.
Mit Ausnahme von Aachen sind die
deutschen technischen Hochschulen sämtlich
aus niederen und mittleren gewerblichen
Schulen hervorgegangen. An mehreren der-
selben (Berlin, Dresden, Hannover) wollte
man ursprünglich Handwerker und Leiter
grosser Bauten und Fabriken gleichzeitig
ausbilden. Es war ein schwerer Uebelstand,
dass die Schiüen, welche -für die Polytech-
niken hauptsächlich vorbereiten, die Real-
anstalten, erst später ins Leben traten. Das
Königreich Saclisen z. B. hatte bis 1834
keine, bis 1843 niu* eine Realschule. Die
erste preussische Realschide entstand 1832
in Berlin. Infolgedessen mussten die Poly-
techniken ihre Aufnahme-Bedingimgen und
Ziele lange Zeit unzweckmässig niedrig fest-
setzen. Die Entwickeluug der Pclj^techniken
zu höheren Zielen wmxlc insbesondere durch
die Eisenbahnen vemnlasst. Sie stellten
der Technik grosse Aufgaben im Bau von
Brücken, Lokomotiven und Maschinen etc.
Hierzu kamen die Grossstädte, welche mit
ihren Bauten und Leitungen füi* Gas, Was-
ser und Elektricität die Technik mächtig
anregten. Bahnbrechend wirkten in der
Uebergangszeit die ecole polytechnicme zu
Paris diu-ch streng wissenschaftliche Pflege
der Mathematik und Naturwissenschaften,
Gewerblicher Üntenicht
607
auf welchen die gesamten technischen
Wissenschaften beruhen, Wien diu'ch die
Vereinigung der technischen Wissen-
schaften zu einer in verschiedene Gebiete
organisch gegliederten Einheit, Karlsruhe
und Zürich durch Pflege der allgemeinen
Bildung, wissenschaftlichen Geist, Steigerung
der Aufnahme-Anforderungen und freie Ver-
fassung mit Lehr- und Lemfreiheit. Aus
den anfänglich errichteten »technischen Lehr-
anstalten« wurden nach und nach »Poly-
technische Schulen« und später (Graz 1864,
Zürich 1866, München 1868, Aachen 1870,
Dresden 1871, Darmstadt 1877, Hannover
1879) »Technische Hoclischiden«. 1877—80
fanden, auch von Oesterreich und der
Schweiz beschickte, Beratungen sämtlicher
technischen Hochsduüen statt, welche die
einheitliche Gestaltung derselben förderten.
Die technischen Hochschulen sollen die
höchste Ausbildung für den technischen
Beruf gewähren, welche im Staats- und Ge-
meindedienste und in der Industrie erfor-
derlich ist, und die technischen Wissen-
schaften und Künste pflegen und fördern.
Sie gliedern sich gewöhnhch in die 4 Ab-
teilungen für Hochbau (Architektur), Bau-
ingenieiuwesen (Strassen-, Eisenbahn-, Was-
ser-, Brückenbau), mechanische Technik und
chemische Technik. (Ueber das Verhältnis
der technischen Hochschulen zu den tech-
nischen Mittelschulen s. oben sub 22). •
Wie Sachkundige (z. B. v. Steinbeis) be-
merken, ist es ein verhängnisvoller üebel-
stand, dass sehr vielen Studierenden deut-
scher technischer Hochschulen die der theo-
retischen Ausbildung voraus oder neben ihr
her gehende Erwerbung praktischer Fähig-
keiten sowie die Ausbildung im gewerb-
lichen Haushalte fehlt. Demgemäss sind
viele wohl für den Konstruktionstisch gut,
für den praktischen Betrieb und die Vei^
waltung aber nur wenig vorgebildet. Ge-
nauck führt hierauf die Beobachtung zurück,
dass auf technischen Hochschulen ausge-
bildete Maschineningenieure selten eme
Fabrik oder Werkstatt auf eigene Rechnung
betrieben, während praktisch erfahrene
Techniker von viel geringerer theoretischer
Vorbildung einträglichere Stellungen ein-
nähmen. Hochgebildete Architekten stehen
ebenfalls wegen Mangels an praktischer
Erfahrung und Uebung nicht selten im
Dienste minder gebildeler Baugewerks-
meister. In der »Zeitschrift des Vereins
deutscher Ingenieure« (1888 u. f.) ist auf
die Gefahren, welche die Benutzung der
technischen BLochschulen an Stelle der tech-
nischen Mittelschulen für die mittlere In-
dustrie hervornift, mehrfach hingewiesen
worden.
Winter 1898/99
Aachen
Berlin
Brannschweig
Darmstadt
Dresden
Hannover
Karlsruhe
München
Stuttgart
Ordentl. Ausserord.
Studierende
341
2425
279
I 307
683
856
894
1 694
514
105
647
114
102
136
223
85
257
zas.
446
3072
393
1409
819
1079
979
1845
771
Deutsches Reich
8993
I 820
10 813
Brunn
286
57
343
Graz
330
14
344
Lemberg
496
18
514
Prag deutsch
424
45
469
„ böhmisch
1027
74
I lOI
Wien
1583
98
1681
Oesterreich
Zürich
Riga (1895)
4146
871
I 081
306
5
4452
1086
Die Vergleichbarkeit der Besuchszahlen
ist deshalb eng begrenzt, weil die Auf-
nahme-Anforderungen verschieden sind, und
einige Hochschulen Abteilungen besitzen
(Aachen und Berlin für Hüttenwesen,
Braunschweig und Darmstadt für Pharmazie,
Karlsruhe für Forstwesen, München für
LÄnd Wirtschaft, Riga für Handel), die an
anderen Hochschulen fehlen.
Die 9 technischen Hochschulen Deutsch-
lands hatten 1882/aS 2826, 1897/98 10000
Studierende und Hospitanten. Davon ent-
fielen auf die Abteilungen für Maschinenbau,
Schiffbau und Elektrotechnik 1882/83 781,
1897/98 5090. Die üeberfüllung der ge-
nannten Abteilungen wird an einigen Hoch-
schulen (Berlin, München, Darmstadt, Han-
nover) sehr fühlbar durch die ünterrichts-
weise (Konstniktions- und Laboratoriums-
üebungen). Der Verein deutscher Ingenieure
empfahl (25. Juni 1898) zur Abhilfe: Er-
richtung neuer technischer Hoch-
schulen, etwa in Danzig und Breslau.
(Bayern, Sachsen, Württembei-g , Baden,
llessen und Braunschweig haben 15 Mil-
lionen Einwohner und 6 technische Hoch-
schulen, also eine auf 2,5 Millionen Ein-
wohner; die westlichen Provinzen Preussens
mit Brandenburg und Berlin und den übri-
gen deutschen Staaten ohne technische
Hochschulen auf 21 Millionen Einwohner
nur 3 technische Hochschulen, also eine auf
7 Millionen , die 5 östlichen Provinzen
Preussens auf 11 Millionen Einwohner keine
technische Hochschule). Aber keine Bruch-
stücke technischer Hochschulen, die blosse
Fachschulen sein würden, auch keine An-
gliedenmg technischer Fakultäten an ein-
zelne Universitäten, die den praktischen Be-
dürfnissen nicht genügen würden, sondern
volle technische Hochschulen, deren einzelne
Fachabteilungen befi-uchtend auf einander
€08
Grewerblicher Unterricht
wirken. Ferner empfahl der Yerein eine
Verschärfung der Auf nähme- und Prü-
fungsbedingungen (für Maschinenin-
genieure mindestens einjährige, vor Beginn
der Fachstudien beendete praktische Werk-
stattthätigkeit, wie sie von den meisten
deutschen technischen Hochschulen bisher
nicht gefordert, sondern nur empfohlen
wird) und , als eine besonders wichtige
Massregel, Errichtung technischer
Mittelschulen in Berlin und anderen
Stätten stark entwickelter Grossindustrie.
Deutsche Faclüeute, die anlässiich der
Weltausstellung von Chicago 1893 nord-
amerikanische Ingenieurschulen prüften, ins-
besondere Riedler, wiesen auf die reichere Aus-
stattung dieser Schulen mit Laboratorien,
auf die bessere Ausbildung des Beobachtungs-
sinnes und die freiere Entwickelung der
natürlichen Fähigkeiten bei ihnen hin und
warnten unsere technischen Hochschulen
vor der übertriebenen Einbildung auf wissen-
schaftliche Methoden und vor der künstlich
anerzogenen Aengstlichkeit beim praktischen
Schaffen, zwei Folgen der einseitig intellek-
tuellen Ausbildung, der Yiellernerei ohne
Rücksicht auf die Forderungen der Wirk-
lichkeit. Die praktischen üebungeu, die an
amerikanischen Ingenieurschulen sehr um-
fänglich gepflegt werden, kamen 1893 an
Deutschlands technischen Hochschulen fast
gar nicht vor. Während vorher nur Stutt-
gart (seit 1864) ein kleines Maschinen-Labora-
torium, München (seit 1868/73) ein mecha-
nisch-technisches Laboratorium hatten, wur-
den seit 1896 kleine Maschinen-Laboratorien
in Hannover und Aachen, grosse Neubauten
für diese Zwecke aber in Dresden, Stuttgai't,
Karlsnihe, Darmstadt und Berlin errichtet
oder vorbereitet. Diese Laboratorien sollen
nicht die praktische Ausbildung der In-
genieure in Werkstätten ersetzen, sondern
die Studierenden in Messung und Beobach-
tung, in Durchführung und wissenschaft-
licher Verarbeitung von Versuchen etc. üben.
Weiter forderten Riedler und mit ihm andere
Fachleute, dass bei der Vorbildung zur
technischen Hochschule an Stelle abstrakter
Schulung und blosser mündlicher Belehrung
in Wissensstoffen , einseitiger Verstandes-
übung und vorzeitiger, oberflächlicher Urteils-
bildung eine Erziehung der künftigen In-
genieure zu frühzeitiger, gründlicher, selb-
ständiger Arbeit und Beobachtung, zur Aus-
bildung aller Sinne und zu fruchtbringender
Thätigkeit trete. Im Unterrichte der vorbe-
reitenden Mittelschulen müsse die Anschau-
img, die räumliche Vorstellung, das Er-
kennen und Begreifen der Wirklichkeit in
den Vorderginind gestellt werden. Hierzu
sei es u. a. erforderlich, dass die Lehrer
<ler Mathematik, Physik und Chemie an
Mittelschulen einen Teil ihrer Studienzeit
auch auf einer technischen Hochschule zu-
bringen könnten, was in Sachsen und den
süddeutschen Staaten schon galt, in Preussen
aber erst diu-ch die Prüfungs-O. v. 12. Sep-
tember 1898 anerkannt wuixie. Die Eleven-
oder Volontärzeit in der Werkstätte
dürfe nicht als lästige Zugabe zur theoreti-
schen Schulbildung, sondern müsse als deren
notwendige Ergänzung betrachtet werden.
Die deutschen technischen Hochschulen
müssten jetzt trotz 8 — 9 jähriger Vorbildung
zu viel Zeit (im ersten Jahre 23—41 %) auf
die Wiederholung der theoretischen Vor-
bildungsgegenstände verwenden, die eigent-
lich schon von der vorbereitenden Mittel-
schule mitgebracht werden sollten. Auch
seien die Prüfungen der Ingenieure in
Deutschland zu einseitig auf den Staats-
dienst zugeschnitten, der mit seiner not-
wendig bureaukratischen Verwaltung auf
völlig anderem Grunde ruhe als die schaf-
fende Thätigkeit der an Wettbewerb, Ver-
zinsung und andere Erschwerungen gebun-
denen Privatindustrie. Dass seit der Schaf-
fung der Titel eines »Diplom-Ingenieurs« und
»Doktor-Ingenieurs« (1899, zuerst anlässlich,
der Hundeiljahrfeier der technischen Hoch-
schule zu Berlin) der Beamtentitel nicht
mehr der einzige Nachweis technischer
Hochschulstudien ist, wurde als wichtiger
Fortschritt begrüsst. Für beide Titel ver-
langt, soweit es sich um Maschinen-Ingeniem^e
handelt, der Verein deutscher Ingenieure
mindestens einjährige Werkstattthätigkeit
als Vorbedingung.
Die Verschmelzung der technischen Hoch-
schiden mit den Universitäten wird nicht
bloss mit Rücksicht auf die Einsparung von
Lehrkräften und Lehrmitteln (Bibliotheken,
botanischen Gärten, chemischen und physi-
kalischen Laboratorien, mineralogischen, geo-
logischen, kunstgeschichtlichen Sammlungen
etc.), sondern (W. Röscher) insbesondere auch
»im Interesse einheitlicher Volksbildung
empfohlen, damit unter den geistigen Spitzen
der bisher überwiegenden Volkskreise (Theo-
logen, Juristen, Mediciner etc.) und den
geistig neu heranwachsenden (Landwirten,
Technikern, Kaufleuten) keine Kluft gegen-
seitiger Unkenntnis und darum Gering-
schätzung entstehe«. Doch ist dieser Wunsch
bisher noch nirgends verwirklicht worden.
Gegen das an der Universität Göttingen
durch Klein 1896 errichtete »Laboratorium
für technische Physik« ist, insoweit es
nicht nur der Ausbildung von Lehrern dienen
will, geltend gemacht worden, dass die
blosse Möglichkeit, Forschungsergebnisse an-
zuwenden, der Praxis nicht gentige; die
Wirtschaftlichkeit ihrer Anwendung könne
aber nur von Ingenieuren beurteilt werden,
die in der Industrie Erfalirungen gesammelt
hätten. In Nordamerika besteht nach
Gewerblicher Unterricht
609
Riedler eine starke Reformbeweguug, die
alle Ingenieurschulen, aber mit organisch
angegliedertem Werkstätten- und Laboi-a-
toriumsunterricht, mit den Universitäten ver-
einigen möchte.
Von 922 im Dezember 1894 in der
deutschen chemischen Industrie beschäftigten
Chemikern hatten (nach Hempel-Witt) ihre
Vorbildung erhalten : 390 (42 %) auf Uni-
vei-sitäten, 338 (37 ®/o) auf technischen Hoch-
schulen, 194 (21 ®/o) auf anderen technischen
Lehranstalten.
Litteratnr: /. Allgemeine Schriften: K,
Preusker, Bausteine, 2. Aufl., Leipzig 18S5
(Anführung älterer Schriften über Gewerbeschulen
seit 1781), — K, Kamtarsch, Ueber techn.
Lehranstalten, in seiner Geschichte der Techno-
logie, München 1872. — Lorenz v. Stein,
Ueber Beruf sbihdungswesen, in seiner Verwal-
tungslehre, 5, Teil. — W, Roseher, System III,
7. Aufl. von Stieda, § 161 ff. — Schönberg,
Ueber geteerbliche Ausbildung, in seinem Hand-
buche, 2. Bd. — Sehtnids Encyklopädie des
Ertiehungs- und Unterrichtswesens, Gotha. Bd. IL
Art.: Gewerbeschulen (1. Aufl. von A. Lange,
2. Aufl. von GaUenkamp) und Gewerbl. Fort-
bildungsschulen (von Gugler). — Central-
blatt für dcLS gewerbl. Unterrichtswesen «i
Oesterreich, Wien 1883 ff. (Amtlich.) — Zeit-
schrift für den gewerbl. Unterricht, 1886 ff.
(Organ des Verbandes deutscher Gewerbschul-
männer). — tla hrbuch des höheren Unterrichts-
wesens in Oesterreich, mit Einschluss der ge-
werblichen Fachschulen, Wien seit 1887. —
Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure,
Berlin (bes. Jahrge. I864, 1865, 1876, 1887 f.,
viele Aufsätze und Beratungen über techn.
Hochschiden und Mittelschulen). — nlXe ge-
werbliche Fortbildungsschulen, Zürich (von Prof.
Humiker). — Compte rendu du Congrls
internat. pour Venseignement technique, eommer-
cial et industriel, 20. — 25. Sept. 1886, Paris 1887.
— C. F, Nebenius, Ueber technische Lehr-
anstalten, Karlsruhe 1833. — F, v. Stelnbels,
Die Elemente der Gewerbebeförderung, Stuttgart
1853. — A, Sachse, n Gewerbliches Unterrichts-
wesen^ t?i v. Stengels Wörterbuch des deutschen
Verwaltungsrechts, Freiburg i. B. 1890. — H.
Lohr, Gewerblicher Unterricht, 1898. — Der
Zeichenunterricht in der Gegenwart (Abdr. aus
Beins Encykl. Handb. der Pädagogik), Langen-
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V. 1891 — 95 mit Verhandlungen der ständigen
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Juni 1891. — Verhandlungen dieser Kommission
vom Januar 1896. — Uebcrsicht über die kauf-
männischen Unterrichtsanstalten in Preussen
nach dem Stande vom Dezember 1897. — Ver-
a
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610
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Gewerkschaft
s. Bergbau oben Bd. II S. 547 ff. und die
folgenden Artt. Gewerkvereine.
Gewerkvereine.
I. Die G. im allgemeinen (dogmatisch, that-
sächlich und kritisch) (S. 611). IL Die G. in
den einzelnen Staaten (S. 623).
L
Die Oewerkvereine im allgemeinen
(dogmatisch, thatsächlich und
kritisch).
1. Begriifliches. 2. Die rechtliche und wirt-
schaftliche Auffassang vom freien Arbeitsvertrag
seitens der Gesetzgebung. 3. Die Auffassung der
Gesetzgebung und die Wirklichkeit. A. Die Gleich-
berechtigung. B. Der nicht organisierte Arbeiter
als Verkäufer. (Der nicht organisierte Arbeiter
und die Herrschaft des Arbeitgebers über
sein nersönliches Leben. Die Anpassung des
Angebots der Arbeit an die Nachfrage. Das
Aufsuchen des besten Marktes. Regelung des
Arbeitsangebots durch Beschränkung der Nach-
kommenschaf t. Der Arbeitsverkäufer bei sinken-
der Nachfrage. Bei steigender Nachfrage.) C.
Die Gemeinsamkeit der Arbeitsbedingungen. D.
Die Sicherheit des Arbeitsvertrags. 4. Die Or-
ganisation der G. 5. Die Bedeutung dieser Or-
ganisation für den Arbeiter als Verkäufer. 6.
Der Schutz der Arbeitswilligen und der Gilde-
charakter der G. 7. Die Organisationen der
Arbeitgeber., 8. Nachteile und Vorteile der
Arbeitskämpfe. 9. Die Stellung der G. im
Schieds- und Eini^ngsverfahren. 10. Die G.
und der freie Arbeitsvertrag.
39*
612
Gewerkvereine (Allgemeines)
1. Behilfliches. Die Gewerkvereine
(Gewerkschaften, Fachvereine) sind der Ver-
such der lohnerhaltenden Arbeiterklasse, von
Gewerbe zu Gewerbe sich korporativ zu
gestalten. Indem sie ihre Mitglieder, falls
sie arbeitslos weitlen, unterstützen, geben
sie dem Lohnai'beiter bei Wahrnehmung
seiner Interessen den Rückhalt, welchen
andere Interessenten im Besitze eines Ver-
mögens finden. An einigen Orten hat man
neuerdings kommunale Versicherungen für
den Fall der Arbeitslosigkeit ins Leben ge-
rufen. Der Zweck dieser Versicherungen
ist mit dem der Gewerkvereine nicht iden-
tisch und macht sie nicht überflüssig. Sie
beschränken ilire Fürsorge auf das, was man
wenig treffend unverschuldete Arbeitslosig-
keit nennt, d. h. eine Arbeitslosigkeit, welche
in anderem als der fehlenden üeberein-
stinmiung von Arbeitgebern und Arbeitern
über die Arbeitsbedingungen ihren Grund
hat. Der Begriff der unverechuldeten Ar-
beitslosigkeit setzt somit die Existenz von
anerkannten normalen Arbeitsbedingungen
voraus, zu denen Arbeit nicht erhältlich ist,
einerlei ob diese Arbeitsbedingungen auf
staatlicher Festsetzung beruhen oder ob,
wie in England, die sogenannten Gewerk-
vereinslöhne und die übrigen Arbeitsbe-
dingungen, auf denen die Gewerkvereine
bestehen, als die normalen Arbeitsbedingun-
gen gelten; ohne Voraussetzung von nor-
malen Arbeitsbedingungen ist eine Feststel-
lung des Begriffs der unverschuldeten Ar-
beitslosigkeit nicht denkbar: denn Arbeit,
bei welcher von einer entsprechenden Gegen-
leistung abgesehen \s'ird, ist allzeit zu finden.
Wo der Staat die Arbeitsbedingungen, ein-
schliesslich des Lohnes, nicht regelt, setzt die
Versicherung für den Fall der Arbeitslosig-
keit also die Existenz von Gewerkvereinen
voraus. W^o eine solche Versicheining be-
steht, nimmt sie dann dem Gewerkverein
einen Teil der ihm zustehenden Aufgabe
ab, nämlich die Fürsorge für diejenigen, welche
nicht zu den anerkannt normalen Arbeits-
bedingungen Arbeit finden ; den Gewerkver-
einen bleibt alsdann nur die Gewährung
von Zuschüssen zu der von ioner Arbeits-
losenversichorimg gewährten Unterstützung
und vor allem die Unterstützung derjenigen,
die aus Anlass der Feststellung jener nor-
malen Arbeitsbedingungen beschäftigungslos
werden. Wo es dagegen an jener Arbeits-
losenversicherung fehlt, ist es Aufgabe der
Ge werk vereine, die Arbeitslosen zu unter-
stützen, gleichviel ob die Ui-sache ihrer Ar-
beit**losigkeit in der allgenieinen Ijage des
ArbeitsmiU'ktos oder in felilender Ueberein-
stimmung zwischen Ai'beitgebor und Arbei-
ter liegou mag. Somit v^n-steht man unter
Ge werk vereinen Interessentenverbände, be-
stehend aus Ijohnarbeitern eines und des-
selben Gewerbes, die durch Fürsorge füi'
ihre Mitglieder bei Arbeitslosigkeit deren
geraeinsame Interessen, namentlich beim
Abschluss des Arbeitsvertrages, wahren.
Die Entstehung und Ent^ackelung der
Gewerkvereine wird bei der Erörterung der
Gewerkvereine der einzelnen Länder darge-
legt werden. Die Rechtfertigung ihres Be-
stehens liegt darin, dass nur diu-ch sie die
Voraussetzimgen verwirklicht werden, von
denen die moderne Gesetzgebung über den
Arbeitsvertrag ausgeht.
2. Die rechtliche und wirtschaftliche
Anffassang vom freien Arbeitsvertrag
seitens der Gesetzgebung. Die Geschichte
kennt nur zwei Arten von Arbeitsverhält-
nissen. Bei der einen beruht die Arbeit auf
einer Pflicht des Arbeitenden, bei der an-
deren auf Freiwilligkeit. Die erstere ist
das Arbeitsverhältnis der Unfreiheit; die
zweite beruht auf dem freien Vertrage
zwischen dem Verkäufer der Arbeit und
deren Käufer.
Schon die römischen Juristen der
Kaiserzeit haben hervorgehoben, dass die-
selben Regeln wie für den Kaufvertrag
für den Ai'beitsvertrag des Freien oder die
Dienstmiete massgebend seien (vgl. Princ.
I. ni 24 de locatione et conductione, 1. 2,
D. locati conducti 19, 2, Gaius Inst lll 142),
und ausdrücklich erklärt, wie es beim Kauf
und Verkauf naturgemäss erlaubt sei, billiger
zu kaufen imd etwas, was weniger wert sei,
tem*er zu verkaufen, so auch beim Arbeits-
verti-ag (1. 22, § 3 D. loc. 19, 2). Hierauf
kam eine Periode, in welcher das Arbeits-
verhältnis nicht auf einem Vertrag zwischen
Verkäufer und Käufer der Arbeit beruhte,
sondern auf Herrschaft und Pflicht. Die
deutsche Rechtsentwickelung hat wieder
mit der Unfreiheit des Arbeitsverhältnisses
begonnen. Anfänglich gab es bei den
Germanen keinen Arbeitsvertrag. Der Ar-
beiter war Sklave. Verträge wurden nicht
mit ihm, sondern über ihn abgeschlossen.
Das was verkauft wurde, war nicht die Ar-
beit, sondern die Arbeitskraft. Der Käufer
der letzteren erlangte mit dem Kaufe eine
Herrschaft tlber den Arbeiter in seiner
zweifachen RoUe als Produktionsmittel und
als Mensch ; in beiden Beziehungen war der
Ai'beiter ihm unterworfen wie eine Sache.
Dafür genoss der Arbeiter je nach seinem
Werte alle die Sorgfalt, welche der Eigen-
tümer einem nnihr oder minder kostbai-en Ver-
mögensstück zu teil werden lässt. Allein
bald drängte die meusclüiche Seite des Gutes,
in dem hier gehandelt wird, sich in den
Vordergrund. Sachen krmnen sich nicht
selbst verwenden, sondern bedürfen eines
Geistes, der sie verwendet ; der Sklave kann
sicih selbst verwenden, wenn er nur wiD.
Die Frage ist, wie diesen AVillen am zweck-
Gewerkvereine (Allgemeines)
613
massigsten erzeugen. Sie fand zunächst
ihre Lösung, indem an die Steile der Trieb-
feder des physischen Zwanges ein gewisses
eigenes Interesse an der Arbeit gesetzt
wurde ; der Kolone, der Hörige erhielt eine
Wirtschaft für sich, für die er Dienste und
Abgaben zu entrichten hatte. Allein obwohl
der Herr nunmehr nur einen Teil des Er-
trags der Arbeit seines Arbeiters erhielt, war
dieser Teil grösser als der ganze Ertrag, den
er vordem von ihm bezog ; denn das Selbst-
interesse ist ein mächtigerer Sporn zur Arbeit
als der physische Zwang. So wurde dann im
Sklaven der Mensch anerkannt An Stelle
des Sklaven trat der Hörige. Das Arbeitsver-
hältnis blieb noch das reine Herrschafts-
verhältnis. Allein der Hörige war nicht mehr
Sache; er hatte einen Stand und damit ein
Recht. Dieses zog der Herrschaft, die
das Arbeitsverhältnis über ihn verhängt,
die Grenzen, sowohl der Herrschaft über
ihn als Produktionsmittel als auch der
Herrschaft über ihn als Mensch. Dabei be-
stand noch ein Interesse des Herrn, für ihn
als Produktionsinstniment, und eine Pflicht
desselben, für ihn als einen rechtlich Ab-
hängigen zu sorgen. Die weitere Entwicke-
iimg von der Unfreiheit wiu-de dann in allen
ihren Einzelheiten von demselben Interesse
ah (quantitativ und qualitativ gesteigerten
Arbeitsleistungen beherrscht. In dem Masse,
in dem mit der Entwickelung der Volks-
wirtschaft das Bedürfnis nach grösserer
und besserer Arbeit eintrat, wurde daß Selbst-
interesse an der Arbeit mehr und mehr an
die Stelle äusserer Zwangsmittel gesetzt,
oder mit anderen Worten die Hörigkeit
wurde gemildert und der Mensch mehr und
mehr frei. Schliesslich erschien es als ein
Vorteil, statt missmutiger Fröner freie Tag-
löhner zu besitzen, die für iliren täglichen
Unterhalt davon abhängig waren, ob sie ge-
mietet wurden. Dabei liatte man den weiteren
Vorteil, dass man den Fröner, der in Not
geraten war, unterhalten musste, gegenüber
dem freien Taglöhner aber die Unter-
stützungspflicht in Notfällen für denjenigen,
der ihn beschäftigte, wegfiel. Das führte
zur Veränderung des rechtlichen Charakters
des Arbeitsverhältnisses. An Stelle des
Vertrags über den Arbeiter trat der mit
dem Arbeiter, an Stelle des Verkaufes der
Arbeitskraft der Verkauf der Arbeit; aus
einem Herrschaftsverhältnis wurde das Ar-
beitsverhältnis rechtlich ein blosses Miets-
verhältnis : es entstanden der Arbeitsvertrag
und die Selbstverantwortlichkeit des Arbei-
ters, für den Fall der Nol für sich selbst
zu sorgen.
Diese Entwickelung ist in der Landwirt-
schaft erst im 19. Jahrhundert zum Ab-
schluss gelangt. Im Gewerbe begann sie,
als die Städter ihrp Freiheit erkämpften und
damit auch aus den hörigen Handwerkern
der in den Städten gelegenen Fronhöfe
freie Gewerbetreibende wurden. Allein hier
trat an Stelle des rechtlichen Herrschafts-
verhältnisses nicht sofort der »freie«
Arbeitsvertrag. Das Arbeitsverhältnis blieb
zunächst auch rechtlich noch ein Herrschafts-
verhältnis; der Arbeitgeber war der Herr,
der Arbeiter der Knecht ; der einzige Unter-
schied war, dass das Arbeitsverhältnis nicht
auf Geburt beruhte, sondern vertragsmässig
eingegangen wurde. Da die öffentliche
Ordnung es aber als ein Hen-schaftsverhält-
nis ansah, zog sie der Herrschaft, die hier
über einen Freien geübt wurde, auch recht-
lich Schranken. Wir haben, vielfach bis in
das 19. Jahi'hundert, ein oft bis ins Minu-
tiöseste geregeltes Recht über den Ai-beits-
verti'ag der gewerblichen Arbeiter. Nicht
bloss die Zunftartikel und die Innungsord-
nungen enthalten ein Gesellenrecht. Auch
das preussische Landrecht enthält bis tins
einzelne gehende Vorschriften über An-
nahme und Entlassung von Lehrlingen und
Gesellen, über das Recht derselben auf die
vorhandene Arbeit, über Lohn und Kost der
Gesellen, über Verpflegung der erkrankten
Gesellen, über Sonntagsarbeit und der-
gleichen. Die Entwickelung dieses Arbeiter-
rechts im Gewerbe stand unter einem
doppelten Einflüsse; unter dem der Be-
dürfnisse der immer intensiver werdenden
Volkswirtschaft und imter dem der Ideeen
der in den Städten sich entwickelnden
Civilisation. Beide vereinigten sich seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts in denselben
Forderungen. Die Civilisation verlangte die
Beseitigung des Herrschaftsverhältnisses des
Arbeitgebers über den Arbeiter im Namen
von dessen Recht und sittlicher Pflicht,
seine Arbeitskraft aufs beste auszunutzen
und seine Fähigkeiten zur grösstmöglichen
Entfaltung zu bringen. Der entstehende
Grossbetneb verlangte das gleiche, um durch
die von der alten rechtlichen Ordnung seiner
Herrschaft gezogenen Schranken und aufer-
legten Lasten nicht beliindert zu w^erden.
Da kam die Gesetzgebung des 19. Jahr-
hunderts, proklamierte die Gleichberechtigung
von Arbeitgeber und Arbeiter beim Ab-
schluss des Arbeitsvertrags und beseitigte
die ganze alte rechtliche Oixlnung des
Arbeitsverhältnisses. Nun wurde aus der
Herrschaft, dem Herrn, dem Meister der
Arbeitgeber, aus dem Knecht und Gesellen
der Arbeiter. Nun fielen alle Rechte und
Pflichten auf beiden Seiten ausser denen,
die im Kontiukt zwischen beiden willkürlich
vereinbart werden. Nun wurde aus dem
Herrschaftsverhältnis rechtlich das reine
Mietsverhältnis. Damit erhielten an Stelle des
alten bestimmungsreichen Arbeitsrechts die
Regeln des römischen Rechts über den Ar-
614
Gewerkvereine (Allgemeines)
beitsvertrag des Freien wieder praktische
Oiltigkeit Es war dies naturgeraäss. Schon
Gaius hebt hervor, dass sie bei allen Völkern
dieselben seien. Daher gelangten sie auch
bei Völkern zur Geltung, welche, wie die
Engländer, das römische Recht nie recipiert
hatten. Diese Aenderung wurde gestützt von
der Auffassung der modernen Nationalöko-
nomie seit Adam Smith, wonach die Arbeit als
ein verkäufliches Gut wie jedes andere, der
Arbeiter als ein Verkäufer, der Arbeitgeber
als der Käufer der Arbeit erschien. In
Deutschland war es namentlich Hermann,
der in seinen berühmten staatswirtschaft-
lichen Untersuchungen die Auffassung des
Arbeitsvertrags als Kaufvertrag, des Arbeiters
als eines Verkäufers, des Arbeitgebers als
eines Käufers scharf zur Durcliführung ge-
bracht hat. Entsprechend dieser Auffassung
sagte der § 105 der deutschen Gewerbe-
ordnung vom 21. Juli 1869 : »die Festsetzung
der Verhältnisse zwischen den selbständigen
Gewerbetreibenden und ihren Gesellen, Ge-
hülfen und Lehrlingen ist Gegenstand freier
Uebereinkunft«.
Somit ist der Arbeiter heute nicht mehr
zur Arbeit verpflichtet, ausser soweit er
durch Vertrag solche Verpflichtung auf sich
nimmt. Es steht daher in schreiendem
Widerspruch zur bestehenden Rechts- und
Wirtschaftsordnung, wenn man in neuester
Zeit (G. von Mayr, Die Pflicht im Wirt-
schaftsieben, Tübingen 1900) zu bestreiten
sucht, dass das heutige Arbeitsverhältnis das
Verhältnis zwischen einem Verkäufer und
einem Käufer sei, und den Arbeitsvertrag
als auf Grund einer Pflicht des Arbeiters,
zu arbeiten, beruhend hinstellt. Eine
solche A\iffassung erscheint nur verständlich,
wenn man mit Rodbertus statt von der Be-
trachtung des Seienden auszugehen ein Ideal
des Seinsollenden zum Ausgangspunkt
nimmt. In der bestehenden Ordnung er-
scheint die Volkswirtschaft als die Summe
der auf Eigentum und Freiheit beruhenden
Einzelwirtschaften von Volksgenossen, welche
durch Arbeitsteilung und Tausch zu einem
Ganzen verbunden sind; indem jeder ein-
zelne unter Achtung des gleichen Rechts der
übrigen ausschhesslich seine Interessen ver-
folgt, arbeitet er an der gemeinsamen Be-
friedigimg der Bedürfnisse der ganzen
Nation. Nach Rodbertus erseheint die Volks-
wirtschaft als die Wirtschaft des Volks als
Ganzes gedacht, bei welcher einem jeden
Stand und jedem einzelnen innerhalb eines
solchen von der Gesamtheit gewisse wirt-
scliaftliche Funktionen zur Erfüllung zuge-
wiesen sind. Eine solche Auffassung steht
ebenso mit den Rechtsgrundlagen der l>e-
stehenden Gesellschaftsordnung wie mit der
Wirklichkeit des heutigen Wirtschaftslebens
in Widerspnicli. Niemand hat die Auffas-
sung von der Volkswirtschaft als von einer
in einem bestimmten Subjekte konC/entiierten
Thätigkeit schärfer abgewiesen als Hermann
in der von G. von MajT selbst herausge-
gebenen zweiten Auflage seiner Staatswissen-
schaftlichen Untersuchungen (S. 33 ff.). Etwas
ähnliches wie die geforderte, auf Pflicht be-
ruhende Wirtschafts- und Gesellschaftsord-
nung hat im Mittelalter bestanden ; sie hatte
die Unfreiheit zur Voraussetzung. Damit
zeigt sich, was ihre Einführung in der Zu-
kunft bedeuten würde. Es wibde dies den
Umsturz der Rechtsgrundlagen der bestehen-
den Ordnimg bedeuten und die Einführung
einer Unfreiheit der Arbeiter, ja aller ein-
zelnen gegenüber der Gesamtheit Nach
dem geltenden Recht hat der Arbeiter keine
andere Pflicht zur Arbeit als die in freiem
Vertrage übernommene und ist er rechtlich
vöUig frei und un verpflichtet, einen solchen
Vertrag abzuschliessen.
3. Die Auffassung der Gesetzgebung
und die Wirklichkeit Die Ersetzung des
alten Arbeitsrechts durch das Mietsrecht
und des alten Hen-schaftsverhältnisses durch
das Verliältnis zwischen einem Käufer und
einem Verkäufer bedeutete für die Arbeiter
nach der formalrechtlichen Seite einen enor-
men Fortschritt. Damit war die Gleichbe-
rechtigung des Arbeiters mit dem Arbeitgeber
durch die Gesetzgebung principiell anerkannt
Wie es zwischen dem Vermieter und Mieter
und dem Verkäufer und Käufer kein Ver-
hältnis der Unter- und Ueberordnung giebt,
so war damit die i-echtliche Gleichheit von
Arbeiter und Arbeitgeber beim Abscliluss
des Arbeitsvertrags offiziell proklamiert.
Allein im Gegensatz zu diesem formalen
Fortschritt bedeutete die Aendenmg eine
grosse materielle Verschlechterung. Die
Voraussetzungen, von denen die Gesetz-
gebung ausging, als sie mit der Proklamie-
rung der Freiheit des Arbeitsvertrags alle
Bedingungen gegeben glaubte, die notwendig
seien, um die Kräfte und den Wohlstand
eines jeden zur grösstmöglichen Entfaltung
zu bringen, fanden in der Wirklichkeit nicht
ihre Bestütigung.
A. Die Gleichberechtigung. Auf der
einen Seite steht der Arbeitgeber, gewohnt,
die Arbeitsbedingungen einseitig festzustellen.
Freilich, in dem ihm nunmehr zustehenden
Rechte, bei überfüUtem Arbeitsmarkte den
Lohn der Marktlage entsprechend herabzu-
setzen, ist er niu' zu bereit, lediglich die
Anerkennung un^\^de^stehlich wirkender
Naturgesetze seitens der Gesetzgebung zu
erblicken; dagegen sieht er, erfüllt von Er-
innerungen an seine fi-ühei^ Stellung als
Herr, in dem Verlangen der Arbeiter, dass
der Lohn bei steigender Nachfrage der
Marktlage entsprechend erhöht werde, eine
unberechtigte Anmassur\g und in ihrem
öewerkvereine (Allgemeines)
615
Anspruch, bei Feststellung der Arbeitsbe-
dingungen mitzureden, eine unerträgliche
ünbotmässigkeit Er verweigert dem Ar-
beiter die praktische Anerkennung der ihm
von der Gesetzgebung zugewiesenen Stellung.
Ganz ebenso verhalten sich vielfach auch
noch Behörden imd öffentliche Meinung.
Sie sind noch weit entfernt , ausnahmslos
dem Arbeiter das Recht zuzuerkennen, gleich
jedem anderen Verkäufer bei steigender
Kachfrage bessere Bedingungen zu fordern ;
und noch häufiger gaben sie Denunziationen
Gehör, wenn Arbeiter der unberechtigten
Einmischung in die Betriebsleitung be-
schuldigt werden, wo sie über Arbeitsbe-
dingungen, welche ihre Existenz ebenso
ernstlich wie die Dauer der Arbeitszeit oder
die Lohnhöhe beeinflussen, mitzureden be-
anspruchen.
B. Der nicht organisierte Arbeiter
als Verkäufer. Auf der anderen Seite
unterscheidet sich der Arbeiter als Ver-
käufer durch zwei Besonderheiteo. Das
Gut, welches der Arbeiter verkauft, seine
Arbeit, ist untrennbar von seiner Per-
son. Dabei hat der Arbeiter regelmässig
nichts, wovon er leben kann, als den Ver-
kauf seiner Arbeit. Somit ist der Arbeiter
für das Gut, das er verkauft, nicht verant^
wortlich. Ohne sein Zuthun kommt er zur
Welt ; indem er heranwächst, entwickelt sich
mit ihm seine Arbeitskraft, während seine
Armut ihn nötigt, die Nutzung derselben,
seine Arbeit, fortwährend zu Markt zu
bringen, um nur leben zu können. Es war
also wie Hohn, wenn man den Arbeiter
gleich jedem anderen Verkäufer für die
Verkaufsbedingungen, die er erzielte, in-
dividuell verantwortlich machte.
Dieser Fehler in den Voraussetzungen
der Gesetzgebung machte in doppelter Weise
sich fühlbar. Einmal bringt die untrenn-
bare Verbindung der Arbeit mit der Person
ihres Verkäufers es mit sich, dass deijenige,
der die Arbeit kauft, damit, und zwar not-
wendig, auch eine Herrschaft über die Per-
son des Arbeiters erlangt. Der Ort, an dem
die Arbeit geleistet wird, ist notwendig
auch der Aufenthaltsort der Person des Ar-
beiters; seine Beschaffenheit ist grundbe-
dingend für Leib und Leben derselben. Die
Arbeitszeit bestimmt nicht nur die Dauer,
füi* welche die Arbeit geleistet wird, son-
dern auch das Mass der Erschöpfung der
Person des Arbeiters, das Mass der Zeit,
welche ihm zur Erneuerung seiner Kräfte,
zur Erholung, Erheiterung und Bildung, zur
Erfüllung seiner Pflichten gegen seine Fa-
milie, gegen Gemeinde und Staat bleibt.
Die Umgebung des Arbeiters bei seiner Ar-
beit, seine Arbeitsgenossen, bedeuten nicht
mvr Förderung oder Beeinträchtigung seiner
Leistung, sondern auch das Mass, in dem
ihm Leib xmd Leben, Denken und Sittüch-
keit während der Arbeitsleistung durch die,
welchß mit üim arbeiten, gefährtlet werden.
Wer die Arbeitsbedingungen bestimmt, be-
stimmt also nicht bloss Mass und Preis der
Arbeit, sondern gleichzeitig über das ganze
physische, geistige, moralische und büi'ger-
liche Dasein des Arbeitei-s. Bald zeigten
sich die Nachteile der einseitigen Bestim-
mung dieser Arbeitsbedingungen durch den
Arbeitgeber so gross, dass der Staat sich
genötigt sah, gesetzliche Bestinunungen
zum Schutze der Person des Arbeiters zu
erlassen. Es ist der Zweck der Arbeiter-
schutzgesetzgebung, der Herrschaft des Ar-
beitgebers über die Person des Arbeitere
gesetzliche Grenzen zu ziehen. Daher denn
der § 105 der deutschen Gewerbeordnung
in neuer Fassung dahin geändert wurde:
»Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen
den selbständigen Gewerbetreibenden und
den gewerblichen Arbeitern ist, vorbelialtlich
der durch Reichsgesetz begründeten Be-
schränkungen, Gegenstand freier Ueberein-
kunft«. Die meisten dieser gesetzlichen Be-
schränkungen beziehen sich indes nur auf
Frauen und Kinder; es bleibt sonach noch
in weitem Masse den Arbeitern selbst über-
lassen, sich der Hen^schaft des Arbeitgebers
über ihr persönliches Leben zu erwehren.
Sodann, da die Arbeitskraft untrennbar
ist von der Person ihres Verkäufers und
mit diesem ziu* Welt kommt, sich entwickelt
und wä(;hst und die regelmässige Armut
des Arbeiters ihn zwingt, die Nutzung seiner
Arbeitskraft fortwährend zum Verkauf auf den
Markt zu bringen, um sein Leben zu fristen,
fehlt, wo er sich selbst überlassen ist, die
Voraussetzung, von der die Nationalökonomie
und die Gesetzgebung ausgingen, dass
nämlich der Arbeiter gleich anderen Ver-
käufern im Stande sei, das Angebot des von
ihm verkauftenGuts der Nachfrage anzupassen.
Dies hat da,wonichtmehr das Herkommen
den Lohnsatz bestimmt und noch nicht
die Organisation der Arbeiter den Druck der
Beschäftigungslosen abhält, für den mit Durch-
schnittseigenschaften begabten Arbeiter fol-
gende Wirkungen : Wo und in welchem Ge-
werbe der Arbeiter die Nutzung seiner Ar-
beitskraft zum Verkaufe zu Markte bringt,
hängt nicht ab von der Marktlage des Ge-
werbes, denn seine Armut ermöglicht ihm
weder diese zu kennen noch auszunutzen. Er
bietet seine Arbeit in einem Gewerbe und
an einem Orte entsprechend den Verhält-
nissen an, in die er hineingeboren wird.
Hat er einmal ein Gewerbe erlernt, so ist
es ihm schwer, oft unmöglich, zu einem
anderen überzugehen; ja häufig giebt es
auf einander folgende Generationen, die trotz
dironischea Sinkens ihres Gewerbes immer
in demßelben ausharren. Desgleichen setzt
616
Gewerkvereine (Allgemeines)
ihn seine Annut meist ausser stand, einen
anderen Markt für das Gut, das er verkauft,
aufzusuchen. Das UtopistiscliBte aber ist, dass
er im stände wäre, durch Beschränkung in
der Nachkommenschaft auf den Arbeits-
markt einzuwirken; denn würde auch der
einzelne auf die Ehe völlig verzichten, so
schüfe das nur um so mehr Raum für die
Nachkommenschaft anderer, und das Selbste
interesse des einzelnen veranlasst diese
anderen gerade, zu heiraten; denn einmal
wird damit ilir Einkommen um das der
Arbeiterin vermehrt, während fürs erste die
Ausgaben in vei'einter Wirtschaft geringer
werden, und sodann kennen sie bei ihrer
grossen Armut ausser den geschlechtlichen
keine Genüsse. Aber selbst, wenn alle Ar-
beiter eines Landes sich des Kinderzeugens
enthielten, würde ilir Verhalten nur erfolg-
reich sein, wenn man nicht fremde Arbeiter
in dem Masse heranzöge, als eine Minde-
rung der Arbeiterzahl eintreten würde. Der
geschlechtliche Strike müsste also ein inter-
nationaler seiij, und selbst dann würde dies
bestenfalls erst das Arbeitsangebot einer zu-
künftigen Generation mindern. Sinkt die
Nachfrage nach Arbeit, so ist der vereinzelte
Arbeiter ferner völlig ausser stand, sein
Angebot zu mindern; im Gegenteü, nimmt
die Nachfrage ab, so nimmt sein Angebot
notwendig zu, denn um zu der geringeren
Zahl zu gehören, die nun Beschäftigung
findet, m\iss er mehr Arbeit für einen ge-
ringeren Preis als andere bieten. Dies führt
zu einer Verlängerung der Arbeitszeit, d. h.
zu einer Mehrung des Angebotes von Arbeit,
infolge deren noch mehr Arbeiter iKJSchäf-
tigungslos bleiben und der Lohn noch tiefer
sinkt. So führt denn, einerlei was die Ur-
sache des Sinkens sein mag, ob ein Ausfall
in der Nachfrage nach dem Produkt oder die
Einführung von Maschinen, ein jedes Sinken
in der Nachfrage nach Arbeit ziu: Entstehung
einer Reservearmee von Unbeschäftigten,
die von der Armenpflege, durch Laster imd
Verbrechen erhalten werden und deren Vor-
handensein den Lohn der Beschäftigten
drückt. Steigt aber die Nachfrage nach Ar-
beit, so sind die vereinzelt auftretenden
Arbeiter nicht wie die Verkäufer anderer
Waren im stand, sobald die Nachfi-age steigt,
eine Erhöhung der Preise zu erzielen. Denn
nun erhält zunächst nur die Zahl der Un-
beschäftigten, welche beim vorhergehenden
Sinken der Nachfrage ihre Arbeit verlor,
wieder Beschäftigung. Es rückt jene Re-
servearmee zunächst wieder ein. Erst wenn
die Nachfrage in so beträchtlichem Masse
steigt, dass diese Reservearmee zu ihrer
Befriedigimg nicht ausreicht, also nicht bei
jedem Steigen der Nachfrage, vergleichs-
weise spät und viel unerheblicher wie der
Preis anderer Waren, steigt auch der Preis
der Arbeit. Ist die Lohnerhöhung von
Dauer, so kann nun die Lebenshaltung er-
höht und die Grenze, unter die der Lohn
nicht mehr sinkt, hinausgerückt werden.
Währt die Lohnerhöhung aber nur kurz —
und durch die Verspätung ihres Eintretens
wird ihre Dauer verkürzt — so hat dies
nur die Wirkung, dass die neuen Arbeiter,
welche bei steigendem Lohne aus anderen
Beschäftigungen in das Gewerbe, in dem
die Lohnerhöhung stattfand, und aus frem-
den Ländern herangezogen woi*den sind,
nun beim Wiedersinken der Nachfrage die
Zahl der Beschäftigimgslosen vermehren.
Durch den Wettbewerb einer grösseren
Zahl von Arbeitern, die, um Beschäftigung
zu finden, sich auf dem Markte gegenseitig
unterbieten, sinkt dann der Lohn um so
rascher auf das Mass des nach der Lebens-
haltung, d. h. des zur Fristung des Lebens
und zur Fortpflanzung der Arbeiterbevölke-
rung gewohnheitsmässig Unentbehrlichen
herab. Dass da, wo der Arbeitgeber mit
Leichtigkeit Arbeitswillige findet, die selbst
einer plötzlichen Vermehrung in den Be-
stellungen genügen, der Lohn sogar unter
das Minimum dessen sinken kann, was zu
einem ehrbaren Leben nötig ist, zeigen die
Zustände, wie sie z. B. in der Konfektions-
industrie herrschen.
C. Die Ghemeinsamkeit der Arbeits-
bedingungen. Als Turgot und A. Smith
im Interesse des Arbeiters die Ersetzung
der gesetzhchen Regehmg der Arbeitsbe-
dingungen durch die Freiheit der Arbeit
und den freien Arbeitsvertrag verlaugten,
hatten sie kleingewerblicho Verhältnisse vor
Augen. Die tiberwiegende Mehrzahl der
selbständigen Gewerbetreibenden bestand aus
AUeinmeistern ; die übrigen hatten als Regel
nur 1 bis 2 Arbeiter. Selbst in der Manu-
faktur und Hausindustrie Englands kamen
noch 1806 auf einen Meister regelmässig
nur bis zu 10 Arbeitern und Lehrlingen.
Da es weit weniger Ai-beiter als Meister
gab und jeder Meister, wenn er überhaupt
Arbeiter beschäftigte, nur eine geringfügige
Anzahl beschäftigte, war der Vertrag zwischen
Arbeitgeber imd Arbeiter ein individueller.
Die Arbeitsbedingungen, die in ihm festge-
setzt wurden, konnten für jeden Arbeiter
besondere sein. Es konnte also der Ge-
danke entstehen, dass es genüge, die bis-
herigen Eingriffe der Behörden in die Ar-
beitsbedingungen zu beseitigen, um die Frei-
heit der Arbeit zur Wahrheit zu machen.
Bei der geringfügigen Zahl der Arbeiter im-
Verhältnis zur Zahl der Meister erschien
dies ausreichend, um jeden in stand zu
setzen, sein Interesse zu wahren. Waren
die Lohnbedingungen zu schlecht, so blieb,
sobald die gesetzlichen Schranken selbstän-
diger gewerblicher Niederlassung beseitigt
Gewerkvereiae (Allgemeines)
617
waren, ja jedem Arbeiter die Möglichkeit,
sich als Alleinmeister in seinem Gewerbe
niederzulassen.
Allein nun trat an Stelle des gewerb-
lichen Kleinbetriebes der Grossbetrieb; an
Stelle von Älleinmeistem oder Meistern, die
nur eine geringfügige Zahl von Gesellen
beschäftigten, traten gewerblicheünternehraer
mit Hunderten, ja mitunter Tausenden von
Arbeitern; an die SteUe von individuellen
Arbeitsbedingungen traten solche, welche
für diese Hunderte und Tausende gemein-
sam waren. Denn im modernen Gewerbe-
betriebe können die Arbeitsbedingungen nur
noch ausnahmsweise individuelle sein. Ist
doch die gesamte Produktion eine gemein-
same und erheischt eine gleichmässige Be-
handlung der darin beschäftigten Arbeiter
zugleich. Es gilt dies sowohl für Lohner-
höhungen und Lohnherabsetzungen als auch
für die übrigen Ai'beitsbedingimgen. Daher
denn auch durch das thatsächliche Verhalten
der Arbeitgeber wie der Gesetzgebung an-
erkannt ist, dass es, von gewissen Aus-
nahmefällen abgesehen, im gewerblichen
Grossbetrieb individuelle Arbeitsbedingimgen
gar nicht mehr giebt. Sie sind in den
meisten FäUen heute weder technisch noch
ökonomisch mehr möglich. Dabei ist jeder
einzelne unter den Hunderten und Tausen-
den, welche unter gemeinsamen Bedingungen
arbeiten, durch andere beliebig ersetzhch.
Die Folge einer Festsetzung der einer Ge-
samtheit von Arbeitern gemeinsamen Ar-
beitsbedingungen mit jedem einzelnen dieser
Gesamtheit ist daher, dass die Bedingungen,
auf welche die Schwächsten dieser Gesamt-
heit sich einzulassen sich genötigt sehen, für
alle massgebend werden.
D. Die Sicherheit des Arbeitsvertrags.
A. Smith hatte,, um dem Arbeiter gleiche
Berechtigung und Einfluss bei Festsetzung
des Arbeitsvertrags zu verschaffen, nichts
anderes als Freiheit des einzelnen verlangt.
AUein weit entfernt, dass der Arbeiter im
Stande wäre, das Ajigebot des Gutes^ das er ver-
kauft, der Nachfrage anzupassen, ist der ver-
einzelte Arbeiter gezwungen, seine Arbeit vor-
behaltlos anzubieten, und vermöge der Gemein-
samkeit der heutigen Produktionsbedingungen
werden die mit dem Schwächsten unter den
vereinzelten Arbeitern vereinbarten Arbeits-
bedingungen massgebend für alle. So ist
an die Stelle des »heiligsten und unver-
letzlichsten Hechts« eines jeden, seine Ar-
beitskraft möglichst gut zu verwerten, die
Unfähigkeit der vereinzelten Arbeiter, auf
diese Verwertung überhaupt Einfluss zu
üben, getreten, an die Stelle der Freiheit
der Arbeit die Freiheit ihres Käufers, des
Arbeitgebers, der Arbeit die Bedingungen
einseitig zu diktieren. Es ist dann lediglich
Sache des Charakters des in Frage kommen-
den Arbeitgebers, ob die Arbeiter auf das
Minimum der Lebensnotdurft herabgedrückt
werden. Davon hat aber nicht nur der Ar-
beiter schweren Nachteil, sondern unter
Umständen auch der Arbeitgeber; denn der
Arbeiter ist wenig geneigt, die ihm so ein-
seitig auferlegten, ungenügenden Arbeitsbe-
dingungen als gerechte und ihn sittlich
bindende anzuerkennen. Er bricht diesen
Arbeitsvertrag, sobald ihm dies aus dem
einen oder anderen Gnmd als vorteilhaft
erscheint; und während das Recht den Ar-
beitgeber für die Sicherung des Arbeitsver-
trags darauf verweist, dass er vom Vertrags-
brüchigen Arbeiter Schadenersatz erlangt,
ist da, wo der Arbeiter sich selbst über-
lassen ist, keinerlei Sicherheit vorhanden,
dass der Arbeiter den ihm einseitig aufer-
legten Arbeitsvertrag beachte.
4. Die Organisatioii der 6. Alle diese
Missstände werden durch die Organisation
der Arbeiter in Gewerkvereine behoben.
Nimmt man die am vollkommensten organi-
sierten Gewerkvereine zum Muster, so lässt
sich die Organisation und Thätigkeit der
Gewerkvereine als die folgende bezeichnen :
Der Gewerkverein umfasst nur die in
dem Gewerbe thätigen Arbeiter, deren ge-
werbliche Interessen völlig identisch sind,
hat dagegen die Tendenz, alle diese Arbeiter
an allen Orten eines Landes zu umfassen.
An jedem Orte des Landes, an dem das
beti'effende Gewerbe betrieben wird und an
dem Mitglieder wohnen, werden Zweig-
vereine gegründet. Für je eine bestimmte
Zahl von Mitgliedern an einem Orte besteht
ein besonderer Zweigverein. Die Leitung
jedes Zweigvereins ruht bei der Zweigver-
sammlung und dem Zweigsekretär.
Der Ort des Landes, an dem ein Ge-
werbe seinen Wohnsitz hat, ist der Sitz des
Exekutivausschusses des Gewerkvereins. Die
Mitglieder und der Präsident desselben wer-
den von den verschiedenen Zweigvereinen
des Hauptortes aus ihrer Mitte für gewisse
kurze Perioden gewählt. Der Generalsekre-
tär wird durch allgemeine Abstimmung der
Mitglieder des ganzen Gewerkvereins für
Penoden von 10 Jahren gewählt und be-
soldet. Er korrespondiert mit den Zweig-
vereinen und referiert dem Exekutivaus-
schuss. Dieser hat die Entscheidung. Doch
ist das Votum des Generalsekretärs als des ver-
möge seiner dauernden Stellung an der Spitze
grössten Sachverständigen regelmässig von
massgebendem Einfluss. Mitunter steht dem
Generalsekretär ein Stab von weiteren Sach-
verständigen für einzelne Distrikte und von
ihm untei-geordneten Organisatoren zur Seite.
Die Mitglieder der Gewerkvereine zahlen
Eintrittsgelder und wöchentliche Beiträge.
Ausserdem bestimmen die Statuten, dass, im
Falle die Unterstützung der Arbeitslosen
618
Gewerkvereine (Allgemeines)
einmal vorilbergehend mehr Gelder bean-
spruchen sollte, als deren Quellen ergeben,
der Exekutivausschuss, nachdem die Mehr-
heit der Mitglieder in allgemeiner Abstim-
mimg zugestimmt hat, eine ausserordentliche
Umlage von allen Mitgliedern ausschreiben
soU. Die Zweigvereine haben alle eingehen-
den Gelder einzunehmen und zu verwalten.
Doch gehören dieselben nicht den Zweig-
vereinen, sondern dem Gewerkvereine ; der
Exekutivausschuss kann jeden AugenbUck
über die Gelder jedes Zweiges verfügen;
früher fand alle halbe Jahre oder alle Jahre
die Ausgleichung der Gelder statt, d. h. das
vorhandene Vermögen wurde an die einzel-
nen Zweige im Verhältnis zu ihrer Mit-
gliederzahl verteilt; heute wird es, wo die
Gewerkvereine Rechtsfähigkeit erlangt haben,
auf ihren Namen bei Banken angelegt.
Nicht jeder Arbeiter wird als Mitglied
aufgenommen, sondern mu* derjenige, der
seine Tüchtigkeit als Arbeiter nachweisen
kann: durch die Bürgschaft zweier Mit-
glieder, dass der Aufzunehmende ein tüch-
tiger Arbeiter ist, und durch den Nachweis,
dass er den in diesem Distrikte herrschen-
den allgemeinen Lohnsatz verdienen kann.
Stellt sich nach der Aufnahme heraus, dass
der Aufgenommene wegen üntüchtigkeit
hierzu nicht im stände ist, so wird er aus-
geschlossen. Die Gewerkvereine fordern
also ein Lohnminimum, sie fordern es aber
nicht von den Arbeitgebern, sondern von
den Arbeitern, und zwar weil die Erfahrung
gelehrt hat, dass das Angebot von Arbeit
zu niedrigerem Lohne seitens untüchtiger
Arbeiter von Arbeitgebern mit Erfolg dazu
benutzt werden kann, den Lohn der Tüch-
tigen herabzudnicken. In den Gewerben,
in denen eine Lehrzeit vorkommt, kommt
zu diesen Erfordernissen der Aufnahme
noch der Nachweis der zurückgelegten Lehr-
zeit. Für die ungelernten Arbeiter dagegen
ist der Bescliiuss des Exekutivausschusses
des Londoner Dockarbeitervereins vom
August 1890 charakteristisch : »In Anbetracht,
dass die Zahl der Mitglieder des Ijondoner
Dockarbeitervereins der Nachfrage nach
Dockarbeit in London völlig entspi^echend
ist, sind die Zweig vei-einssekretäre ange-
wiesen, nach dem 13. August 1890 keine
Kandidaten für die Mitgliedschaft mehr an-
zrmehmen ausser auf Grund specieller Ge-
nehmigung seitens der Distriktausschüsse,
imd die Distriktausschüsse zu belehren, dass
Männer, die als physisch schwach oder aus
anderen Gründen untüchtig bekannt sind,
unter keinen Umständen zuzulassen sind«L ;
mit anderen Worten zu der Sorge, die Un-
tüchtigen vom Gewerbe fernzuhalten, gesellt
sich die Tendenz, einer Ueberfülluug des-
selben durch Schliessen der MitgUederzahl
des Gewerkvereins vorzubeugen und für die
so Ausgeschlossenen andei-weitige Beschäf-
tigimg zu bescliaffen.
Glaubt ein Mitglied, welches ein tüch-
tiger Arbeiter ist, den seiner Arbeit ent-
sprechenden Lohn nicht zu erhalten, so kann
es dem Zweige des Gewerkvereins, dem es
angehört seine Beschwerde vortragen. Findet
dör Zweig dieselbe gerecht und wird der
einzelne hierauf mit einer Bitte um Lohn-
erhöhung zurückgewiesen, so erhält er Unter-
stützung, wenn er die Arbeit verJässt, bis
er wieder Arbeit findet — das sogenannte
Geschenk (donation). Findet der Zweig je-
doch, dass er nach Verdienst gelolmt wird,
so yvii'd seine Beschwerde zurückgewiesen
und er erhält nichts, wenn er die Arbeit
einstellt Ganz ebenso ist der Hergang,
wenn andere Arbeitsbedinij'ungen als der
Lohn ein Mitglied zur Niederlegung der
Arbeit veranlassen. Und wenn es wegen
mangelnder Nachfrage nach Arbeit zu den
vom Gewerkvereine festgelialtenen Bedin-
gungen Arbeit nicht findet, erhält es, so-
lange es arbeitslos ist, gleichfalls das Ge-
schenk.
Um die Ausgaben, welche diese Unter-
stützung verursacht, zu mindern, muss an
jedem Orte, an dem ein Zweig eines Ge-
werkvereins besteht der Zweigsekretär über
die Mitglieder, die ausser Arbeit sind. Buch
führen, und sobald in ii'gend einer Werk-
stätte des Ortes eine Arbeitsstelle erledigt
ist, wird ein Arbeiter hinbeordert, um nach
Arbeit zu fi-agen. Von grösserer Bedeutung
ist, dass die Zweigsekretäre jeden Monat
die Zahl der arbeitslosen Mitglieder ihres
Zweiges und der unbesetzten ArbeitssteUeu
am Orte anzeigen, die Qualität der unl)e-
schi^tigten Arbeiter und der erledigten Ar-
beitsstellen genau bezeichnen und mit kurzen
Worten über den Stand des Gewerbes ly-
nchten müssen. Sobald der Generalsekretär
diese Berichte erhält, sendet er die be-
schäftigungslosen Mitglieder auf Kosten des
Vereins von einem Oii«, wo das Gewerbe
schlecht steht, an einen anderen, wo Ar-
iKjiter begehrt weixlen.
Ist al)er ein Zweig der Meinung, die
allgemeine Lage des Gewerbes rechtfertige
es, wenn die in demselben bescliäftigten
Arl)eiter eine allgemeine Lohnerhöhung um
bestimmte Prozentsätze oder die Besserung
anderer Arbeitsbedingimgen verlangten oder
einer aUgeraeinen Lohnherabsetzung oder
der Verschlechterung anderer Arbeitsbedin-
gungen sich zu fügen verweigerten, so muss
der Zweig an den Exekutivausschuss des
Vereins berichten. Billigt dieser das Vor-
haben der Zweigmitglieder nicht, so erhalten
dieselben keine Unterstützung, faUs es zu
einer Arl)eitseinstellung oder Ausspemmg
kommt Stimmt der Exekutivausschuss da-
gegen dem Vorliaben zu, so entsenden die
Gewerkvereine (Allgemeines)
619
Arbeiter an dem Orte des betreffenden
Zweiges eine Deputation an den oder die
in Frage stehenden Arbeitgeber, um ihre
Beschwerde vorzutragen. Die Sache wird
dann hin- und herbesprochen, und oft er-
halten die Arbeiter, was sie begehren, oder
€s kommt ein Ausgleich zu stände. Ist dies
aber nicht der Fall oder weigern sich die
Arbeitgeber, die Deputation zu empfangen,
so legen die Arbeiter die Arbeit nieder und
erlialten für die Dauer der Arbeitseinstellung
vom Exekutivausschuss das Geschenk. Um
Zuzug abzuhalten, wird die Thatsac^he des
Ai-beitsstülstandes in den von den Arbeitern
des Gewerbes gelesenen Blättern bekannt
gemacht, imd Schild wachen w^erden aus-
gestellt, um Zuwandernde über den Streit-
fall zu unterrichten. Die grossen Mittel,
welche die das Gewerbe des ganzen Landes
umfassende Organisation dem Exekutivaus-
schuss an die Hand giebt, füliren dann
häufig zum Siege der Arbeiter oder machen
"wenigstens den Arbeitgebern ihren Triumph
so teuer, dass sie nicht so leic^ht den Kampf
mit den Arl)eitern wieder aufnehmen und
deren Vorstellungen ein geneigtes Ohr leihen.
Dabei bilden die Gewerkvereine, auch
wenn sie nicht alle Fachgenossen um-
schliessen, thatsächlich die organisierten
Stäbe, deren Vorgehen bei Arbeitsstreitig-
keiten für alle massgebend ist und an welche
:alle sich anschliessen.
5. Die Bedeutung dieser Organisation
für den Arbeiter als Verkäufer. Durch
diese Organisation werden die beiden
HauptnachteUe, unter welchen der Arbeiter
als Verkäufer leidet, beseitigt, nämlich
einmal die Vorbehaltlosigkeit seines An-
gel »ots: Die Gewerkvereine geben den Ar-
beitern die Möglichkeit, gleich anderen Waren-
verkäufern selbständig ihre Verkaufsbedin-
gtmgen geltend zu machen, eintretende Ver-
l:)esserungen des Marktes sofort zu benutzen
und bei zu niedrigem Kauf geböte mit dem
Verkauf ihrer Wai*e zurückzuhalten.
Ebenso aber wird durch die Gewerk vereine
die Unfähigkeit der Arbeiter, das Angebot des
Gutes, das sie vierkaufen, der gegenwärtigen
Nachfrage anzupassen und auf das 2ukünftige
Angebot derselben Einfluss zu üben, beseitigt.
Das erste geschieht, indem die Gewerk-
vereine, wie dargelegt, die Arbeit von Orten,
wo sie nicht begehrt wird, zurückziehen,
um sie an Orten, wo Nachfrage besteht,
auszubieten, imd indem sie bei sinkender
Nachfrage nach Arbeit die Arbeiter, die in-
folge des Rückganges beschäftigungslos sind,
aus ihren Mitteln erhalten oder eine Ver-
kürzung der Arbeitszeit aller Bescliäftigteu
herbeiführen, bei steigender Nachfrage in
umgekehrter Weise das Angebot steigern.
Das zukünftige Angebot von Arbeit wird
durch sie beeinflusst, indem ihre Mitglieder
sich weigern, die Lehrlinge zu unterrichten
und überhaupt in einer Werkstätte zu ar-
beiten, wenn die Zahl der Lehrlinge in
einem grösseren als in einem bestimmten
Verhältnisse zur Zahl der in der Werkstätte
beschäftigten Arbeiter steht, oder, in den
ungelernten Gewerben, die Mitgliederzahl
des Gewerkvereins schliessen und für die
Ausgeschlossenen anderweitige Beschäftigung
beanspruchen ; bei beiden Arten von Arbeiten,
indem sie die Auswanderung beschäftigungs-
loser Mitglieder fördern, wenn ein zu grosses
Angebot von Arbeit ohne Aussicht auf
Steigen der Nachfrage vorhanden ist.
Die Gewerkvereine also versetzen die
Mitglieder beim Abschluss des Arbeitsver-
trags in dieselbe Lage, bei der sich die Ver-
käufer anderer Waren beim Verkaufe der-
selben befinden. Durch sie werden die nach-
teiligen Wirkungen der Eigentümlichkeiten
der Arbeit als Gut, welches verkauft wird,
und des Arbeiters als Verkäufer beseitigt,
und erst damit wird einerseits die Arbeit
ein Verkaufsgut wie andere, andererseits
der Arbeiter Mensch.
Ausserdem wird die Gewerkvereins-
organisation der Thatsache gerecht, dass in
den modernen Produktionsverhältnissen die
Arbeitsbedingungen der grossen Masse der
mit Durchschnittseigenschaften begabten
Arbeiter nicht mehr individuelle, sondern
gemeinsame sind und die meisten Arbeits-
bedingungen andere als gemeinsame gar
nicht mehr sein können. Sie zieht die
logische Folgerung aus dieser Thatsache,
indem sie die kollektive Behandlung aller
Fragen zwischen Arbeiter und Arbeitgeber
an Stelle des Einzelvertrags zu setzen be-
strebt ist. Keine Neuordnung des Arbeits-
verhältnisses kann Befriedigimg schaffen,
die nicht auf dem Princip der Feststellung
der Arbeitsbedingungen mit der Gesamtheit
der Arbeiter, die sie angeht, beruht.
6. Der Schutz der Arbeitswilligen
und der Gildecharakter der Gewerk-
vereine. Schon zu Zunftzeiten haben die
Gesellen zur Wahnmg ihrer besonderen Ge-
seUeuinteressen sich in Gesellenladen zu-
sammengeschlossen und, wenn nötig, durch
Arbeitseinstellungen ihren Forderungen Nach-
druck zu geben versucht. So lange die Ar-
beitsbedingungen durch die Behörden oder
durch die Zünfte kraft delegierter staatlicher
Autorität festgesetzt wurden, war eine Ar-
beitseinstellung eine Auflehnung gegen eine
Anordnung der öffentlichen Autorität. Sie
waren in allen Ländern mit strengen Stra-
fen bedroht, die sich dann auch gegen die
besonderen Gesellenorganisationen , von
denen sie ausgingen, richteten. Mit der
Proklamierung der Fi-eiheit des Arbeitsver-
trags hätten diese Verbote und Stralbe-
stimmungen gleichfeUs beseitigt werden
J
620
Gewerkvereine (Allgemeines)
müssen. Allein die physiokratische Doktrin
hatte gelelirt, dass der volkswirtschaftliche
Prozess mir auf der isolierten Aktion der
Individuen beruhe und jedwede Yereinigung
von Yerkäufem oder Käufern, Arbeitern und
Arbeitgebera, als Störung desselben zu ver-
bieten sei. Da brachte die französische Re-
volution sie zur Herrschaft, und nun besei-
tigte das Gesetz nicht nur die allen Korpo-
rationen, sondern verbot auch jede weitere
Association von Arbeitern, Arbeitgebern und
Wareninhabern sowie jedwede Koalition
von Genossen desselben Gewerbes. Aehn-
lich die von analogem Geiste erfüllte Gesetz-
gebung der übrigen emx)päischen Staaten.
Ueberall beseitigte man die Zünfte, behielt
aber die Koalitionsyerbote bei. In einzel-
nen Ländern, in denen man die Gleichbe-
rechtigung von Arbeitsverkäufer und Ar-
beitskäufer noch nicht einmal formal wenig-
stens anerkannte, ging man noch weiter; so
entliält die bayerische Gesetzsammlung eine
Bekanntmachung vom 13. August 1822, in
der die Arbeitgeber zur Bildung von Ver-
einen zur Herabdrückung des ^Lohnes auf-
gefordert, während Verabredungen der Ar-
beiter zur Erzielung höherer Löhne mit
Strafe bedroht werden. Allein auch da, wo
die Koalitionsverbote sich formal gleich-
massig gegen Arbeitgeber wie Arbeiter
richteten, war es thatsächlich niclit anders,
denn diese Verbote gelangten stets nur
gegen die letzteren zur Anwendimg. Nichts-
destoweniger haben die Arbeiter der Ijchre,
dass die freie Konkurrenz isoliei'ter Indivi-
duen ihrem eigenen Interesse wie dem der
Gesamtheit am meisten dienlich sei, allzeit
die Anerkennung versagt Wie die drako-
nischen Koalitionsverbote des 18. Jahrb., so
vermochten die des 19. ihr Zusammenhalten
nicht zu erechüttem, und gegenüber allen
nationalökonomischen Predigten über die
Vorzüge des Konkun-enzprincips blieb ihr
Wahlspruch stets: Einer für Alle, Alle für
Einen. In einigen Fällen hat ihre Gewerk-
vereinsorganisation sich unmittelbar aus jenen
alten Gesellen Verbindungen entwickelt, wie
sie zur Zunftzeit, sei es geduldet, sei es
verboten, existierten; in anderen Fällen hat
der alte Geist der Solidarität völlig neue
Vereinsbildungen geschaffen. Unter oft
furchtbaren Entbehrungen, trotz Gefängnis,
ja selbst trotz Androhung von Todesstrafe
sind sie ihnen treu geblieben. Hier ist es
nicht nötig gewesen, xünstüch Innungen ins
Leben zu nifen mit der besonderen Auf-
gabe, das Gemeingefühl zu wecken und
Standesinteressen und Standesehre gegen-
über den abweichenden Interessen einzelner
zu wahren. Die Gilden sind hier spontan
aus dem Bedürfnisse der Arbeiter erwach-
sen. Schliesslich sah sich die Gesetzgebung
allenthalben genötigt, den Arbeitern das
Koalitionsrecht , dessen die Arbeitgeber sich
stets bedienten, ebenso wie diesen formal
zuzugestehen. Aber nun zeigte der Gesetz-
geber die unliebenswürdige Miene des durch
die Thatsachen zwar überwundenen, aber
innerlich nicht bekelirten Doktrinärs. Konnte
er sich der ünentbehrlichkeit der Koalitionen
nicht verschliessen, so wollteer doch nicht,
dass Koalitionen stattfänden. Er gestattete
daher zwar Preis- und Lohnverabredungen,
erklärte sie aber gleichzeitig für unverbind-
lich. So in allen Ländern. Ja er ging noch
weiter. Es giebt in allen Klassen Personen,
welche es vorziehen, zu den Opfern nicht
beizutragen, welche mit der Emngung von
Vorteilen, an denen sie selbst teilnehmen,
verbunden sind ; desgleichen giebt es in allen
Klassen Personen, welche den Verpflichtun-
gen untreu werden, welche sie zur Wahrung
gemeinsamer Interessen übernommen liaben.
Gegen solche Personen richteten sich bereits
zu Zunftzeiten die Massnahmen der Korpo-
rationen. Heute gelten in allen Kreisen die-
jenigen als verächtlich, die aus egoistischen
Motiven die Interessen ihrer Kameraden
opfern. AUein während in allen anderen
Kreisen solche Personen straflos getadelt
werden können, ist dies Arbeitern bei stren-
gen Sti'afen verboten. Der Gesetzgeber liat
den Preis- und Lohnverabredungen der Ar-
beiter also nicht nur die Klagbarkeit ver-
sagt und sie somit lediglich auf die Ehi-e der
Kontrahenten gestellt, sondern ihnen auch
die Mittel verboten, deren die übrigen Ge-
sellschaftsklassen gegenüber Verti-agsbrüchi-
gen sich straflos bedienen. Ferner, während
wirkliche Verbrechen und Vergehen, wenn
von anderen gelegentlich der Walirnehmuug
berechtigter Interessen begangen, milder be-
urteilt werden, hat er bestimmt, dass es als
ein erechwerender Umstand gelten soU,
wenn sie von Arbeitern im Kampf um l»es-
sere Arbeitsbedingungen verübt wei*den.
Während er ferner den Arbeitskäufern ge-
stattet, einander die Namen von Arbeitern
mitzuteilen, um deren Beschäftigimg zu
verhindern, wii-d vielfach jede Mitteilung
der Arbeiter in der Presse, um bei Aus-
ständen Zuzug abzuhalten, und das Strike-
poslenstehen , auch dann wenn die Posten-
stehenden sich jedweder Drehungen, Ehr-
verletzungen und Thätlichkeiten entlialten,
bestraft. Man nennt dies den Schutz der
Arbeitswilligen. Da aber tretz dieser Straf-
massregeln das, was verhindert werden soll,
nicht unterbleibt, sucht man diese Straf-
massregeln zu steigern. Während man sonst
nicht genug über das Verderbliche des In-
dividualismus zu klagen vermag und, wo es
sich um Handwerksmeister handelt, das
Innungsprincip eventuell sogar durch stiuvt-
lichen Zwang zur Geltung zu bringen ver-
sucht, scheut man also vor einer Verletzung
Gewerkvereine (ÄJlgemeiaes)
621
der Rechtsgleichheit nicht zurück, sobald es
Arbeiter sind, welche zum Innungsprincip
sich bekennen. Die ganze Schwierigkeit
aber ist beseitigt, sobald man das sonst so
verherrlichte Gildeprincip auch da anerkennt,
wo es ganz von selbst gedeiht, bei den Ar-
beiteni, und den Verabredungen der Arbeiter
über ihre Arbeitsbedingungen denselben
Rechtsschutz zu teil werden lässt, der allen
anderen nicht gegen die guten Sitten ver-
stossenden Vertr^en zu teil wii'd. Dann
fällt die Notwendigkeit besonderer Strafbe-
stimmung wegen Ehrverletzung und Ver-
rufeerklärung von selbst weg, und gegen
wirkliche Vergehen und Verbrechen, be-
gangen in Verbindung mit Koalitionen, ge-
nügen die Bestimmungen des gemeinen
Stiafi-echts.
Allein nicht nur in dem Geist, der sie
beseelt, zeigt sich der Qildecliarakter der
Gewerkvereine, sondern nicht minder in den
Zielen, die sie umfassen. Ihre Wirksam-
keit beschränkt sich nicht bloss auf Steige-
nmg der Löhne und Küi'zung der Arbeits-
zeit, auf die Regelung der Lohnsysteme,
der Kündigung des Arbeitsvertrags und der
Methode des Arbeitens. Sie worden zum
Organe zur Wahrung aller Arbeiterinteressen,
die der Unterstützung von selten einer Or-
ganisation der Arbeiter bedürfen. So ist es
vielfach nur ihrer Mitwirkung zu verdanken,
wo es gelungen ist, die Truckverbote zur
Anerkennung zu bringen. So bilden sie in
zahlreichen Fällen eine ganz unentbehrliche
Hilfsorganisation ziu* Durchführung der
Fabrikgesetze dim^h die Fabrikinspektoren.
Nicht minder sind sie in England die Organe,
mittelst deren die Arbeiter ihren Wünschen
Ausdruck verleihen, wo immer es sich um
politische Massnahmen im Interesse der
Arbeiter handelt. Auch haben dort die Ge-
werkvereine die Fürsorge für diejenigen all-
gemeinen menschlichen Bedürfnisse der Ar-
beiter, welche wie Krankheit, Unfall, Alter
besondere Organisationen notwendig machen,
übernommen. Sie haben somit die Tendenz,
ähnlich den alten Güden, den ganzen Men-
schen zu ergreifen.
7. Die Organisationen der Arbeit-
geber. Allein gegenüber den Gewerkver-
einen der Arbeiter erheben sich Vereine zur
Wahrung der Interessen der Arbeitgeber,
sei es, dass sie neu entstehen, sei es, dass
zu anderen Zwecken bestehende Vereine
ihren Zweck auf die Wahrung dieser In-
teressen gegenüber den Arbeitern ausdehnen.
Diese Arbeitgeber vereine setzten sich die
Aufgabe, Lohnerhöhungen und jeder Ver-
besserung der Arbeitsbedingungen, welche
zu einer Verteuerung der Produktionskosten
ffihi-en könnte, zu widerstehen, Lohnherab-
setzungen und Ausdehnung der Arbeitszeit
diu:chzusetzen imd insbesondere, wo mög-
lich, die Gewerkvereine der Arbeiter zu
unterdrücken. Zu letzterem Zwecke ver-
suchen sie, die Arbeitsvermittelung aus-
schliesslich in die Hand zu bekommen, das
Lehrlingswesen einseitig zu regeln, Arbeits-
bücher, in denen geheime Zeichen über die
Stellung des Inhabers zu den Gewerk-
vereinen Auskunft einteilen, einzuführen so-
wie die Wiedereinführung der kriminellen
Bestrafung des Arbeitsvertragsbruchs, von
der sie die Unterdrückung der Arbeitsein-
stellungen erwarten, vor allem aber den im
vorstehenden erörterten »Schutz der Ar-
beitswilligen« zu veranlassen. Der Lohn
und die übrigen Arbeitsbedingungen werden
im Vereine vereinbart. Wer melir gewährt,
verfällt in Strafe. Jedes Mitglied, dessen
Arbeiter eine Lohnerhöhung oder irgend
eine andere Konzession, deren Bewilligung
zu einer allgemeinen Lohnerhöhung führen
könnte, verlangen oder dessen Arbeiter sich
einer beschlossenen Lohnherabsetzung zu fü-
gen sich weigern, muss die Angelegenheit dem
Verein unterbreiten. Empfiehlt der Aus-
schuss desselben Widerstand und kommt
es zum Arbeitsstillstande, so erhält das
Mitglied auf zweifache Weise Unterstützung
von seinem Vereine. Entweder es erhält
entsprechend der Grösse seiner Fabrik eine
Entschädigung, zu deren Bestreitung jedes
Mitglied beim Bankier des Vereins einen
trockenen Wechsel hinterlegen muss. Oder
häufiger, es kommt zur Aussperiimg, d. h.
um die Hilfsmittel der Arbeitenden rascher
zu erschöpfen und diese zur Unterwerfung
zu zwingen, sperren sämtliche Mitglieder
des Vereins ihre Werkstätten so lange, bis
die Arbeiter jener Fabrik, in der die Ar-
beitseinstellung stattfand, äie Arbeit wieder
aufnehmen. Aehnlich wie die Gewerk-
vereine durch Strikeposten Arbeitsuchende
vor einer Fabrik, in der die Arbeit nieder-
gelegt worden ist, warnen, erlassen die
Vereine der Arbeitgeber telephonische Mit-
teilungen oder schriftliche Cirkulare, in
denen sie von der Beschäftigung der einzeln
namhaft gemachten Arbeiter abzustehen
bitten. Es tritt das völlige Gegenstück ymv
Taktik der Arbeiter hervor.
8. Nachteile und Vorteile der Ar-
beitskämpfe. Allein die Kämpfe zwischen
Gewerkvereinen und Vereinen der Arbeit-
geber sind nicht ohne schwerwiegende Nach-
teile. Gewiss sind die Arbeitseinstellungen
oft unentbehrlich, um das Interesse der Ar-
beiter l)ei Abschluss des Arbeitsvertrags zu
wahren, und nicht minder notwendig sind
oft die Aussperrungen, um zu hindern, dass
die Gewerkvereine ebenso tyrannisch wie
umgekehrt viele Arbeitgeber werden : trotz-
dem sind Arbeitsstillstände selbst für die
Partei, die als Sieger aus dem Kampfe
hervorgeht, eine Waffe, deren Benutzung
622
Grewerk vereine (Allgemeines)
meist schwere Entbehrungen und Verluste
auferlegt, während sie für die unterliegende
Partei oft den Ruin und selbst für das
draussen stehende Publikum eine Störung
bedeuten. Daher es keinen Menschen giebt,
der in Arbeitseinstellungen und Aussper-
rungen etwas an sich Gutes erblickte.
Niemand, der sie nicht durch Besseres er-
setzt zu sehen wünschte. Alle, auch die
energischsten Verteidiger der Koalitions-
freiheit, treten für diese nur ein, weil es
die grösste Ungerechtigkeit ist, wenn den
Arbeitern, bis dieses Bessere da ist, die
Koalitionsfreiheit versagt wird, weil jede
bessere Neuordnung, welche Arbeitsein-
stellungen und Aussperrungen unnötig zu
machen vermag, die Koalitionsfreiheit zur
notwendigen Voraussetzimg hat und Ar-
beitskämpfe eine durch nichts zu ersetzende
Wirkung auf beide Parteien ausüben, welche
den Eintritt dieser besseren Ordnung be-
schleunigt. Die Arbeitgeber werden durch
die Logik der Thatsachen zur praktischen
An(Tkennung jener Gleichberechtigimg der
Arbeiter beim Abschluss des Arbeitsvertrags
erzogen, welche diesen die Gesetzgebung
schon lange zuerkannt hat. Die Arbeiter
werden zur Erkenntnis der Grenzen erzogen,
welche die Natur der Dinge der Erfüllung
ihrer Forderungen und Wünsche entgegen-
stellt. Das Ergebnis dieser beiderseitigen
Einziehung ist die Geneigtheit, welche die
Arbeitskämpfe bei beiden Parteien hervor-
rufen, den Kampf durch ein besseres Mittel
zur Feststellung der Arbeitsbedingungen zu
ersetzen : durch das Schieds- und Einigungs-
verfahren.
9. Die Stellung der 6. im Schieds-
nnd Eini^ngsverfahren. Der Zweck
dieses Verfahrens ist, auf dem Wege der
Feststellung der wirtschaftlichen Machtver-
hältnisse, von denen der Ausgang eines
Arbeitsstillstandes bedingt wird, — gleich-
viel ob diese in der Marktlage (der Kon-
junktui-, dem Stande des Arbeitsmarkts und
der Stärke der Parteioi^anisation) wiu-zeln
oder in der Sympathie, deren sich die
Sache der einen oder anderen Partei seitens
der öffentlichen Meinung erfreut, — das-
selbe Ergebnis herbeizuführen, das sich
ohnedies erst als das Resultat eines oft
langen und empfindlichen Arbeitsstillstandes
herausstellen würde. Seit seiner modernen
Begründung durch Mundella und Kettle hat
dasselbe verschiedene Formen entwickelt, die
je nach den konkreten Verhältnissen vei-schie-
den anwendbar sind (vgl. den Art. Eini-
gungsämter oben Bd. III S. 336 ff.). Für
alle diese Formen aber ist die unentbehrliche
Voraussetzungeines gedeDüicheu Wirkens das
Bestehen von Organisationen der Arbeiter und
der Arbeitgeber. Denn einmal würde ohne
Gewerkvereine, auf die sie eventuell zurück-
fallen können, das Wort der Arbeiter im
Scliieds- und Einigungsverfahren bedeutungs-
los sein; der Gewerkverein liefeit erst den
wii-tschaftlichen Machtfaktor, der bei Fest-
stellung der Marktlage und der daraus sich
ergebenden Arbeitsbedingungen zu Gunsten
der Arbeiter in die Wagschale fällt. So-
dann zeigt die Erfahrung in England wie
im deutschen Buchdruckergewerbe, dass
ohne Organisationen von Arbeitern und Ar-
beitgebern, welche gegenüber ihi-en eigenen
Mitgliedern durch Geldstrafen und An-
drohung von Ausschluss auf der strengen
Beachtung der im Schieds- und Einigungs-
verfahren vereinbarten Arbeitsbedingimgen
bestehen, an deren Diuxihführung nicht zu
denken ist.
Dabei ist es nicht erforderlich, dass die
Gewerkvrereine nnd die Arbeitgebervereine
die Arbeiter resp. Arbeitgeber formell im
Schieds- imd Einigungsverfahren vertreten.
Die Vertreter beider Parteien mögen immer-
hin, wie dies in England die Regel ist, in
allgemeinen Versammlungen der Arbeiter
resp. Arbeitgeber des betreffenden Ge-
werbes oder wie nach einem österreichi-
schen Entwürfe durch Genossenschaften,
welche sämtliche Arbeiter resp. Arbeitgeber
umfassen, gewählt werden. Wo Gewerk-
vereine und Vereine von Arbeitgebern be-
stehen, werden stets deren Vertrauensper-
sonen zu solchen Vertretern gewählt werden,
und nur wo dies der Fall ist, besteht eine
Sicherheit für die Durchfühnmg der im
Schieds- und Einigimgsverfahren getroffenen
Bestimmungen. Dieselbe würde allerdings
noch in erhöhtem Masse vorhanden sein,
wenn man die Gewerkvereine und die Ver-
eine der Arbeitgeber als die offiziellen Ver-
treter der Arbeiter und Arbeitgeber im
Schieds- und Einigungsverfahren anerkennte
und ihnen Korporationsrechte verliehe unter
der Bedingung, dass sie mit ihrem Vermögen
für die Erfüllung der von ihnen vereinbai-ton
Ai'beitsbedingungen seitens ihrer Mitglieder
hafteten.
10. Die G. und der freie Arbeits-
vertrag. So gelangt der Arbeitsvertrag
dureh die Gewerkvereine zu der Entwicke-
lung, zu der er nach der ökonomischen
Natur des Vertragsobjektes naturgemäss ge-
langen muss. Er wird nicht mehr von dem
einzelnen Ai'beitgeber dem einzelnen Ar-
beiter diktiert, sondern in dem auf Gewerk-
vereine und Organisationen der Arbeitgeber
sich stützenden Schieds- und Einigungsver-
fahron für alle Mitglieder dieser Organi-
sationen vereinbart. Damit erst wird jene
Gleichberechtigung der Parteien beim Ab-
scliluss des Arbeitsvertrags zur Wahrheit,
von der die Gesetzgebung ausging, als sie
die Freiheit des Arbeitsvertrags proklamierte.
Damit erst wird die ihr zu Gnmde liegende
Gewerkvereine (Allgemeines — England)
623
nationalökonomische Vorstellung von dem
Arbeiter als einem Verkäufer imd dem Ar-
beitgeber als einem Käufer verwirklicht. Da-
mit erst erhält der Arbeitgeber die ihm
heute fehlende Sicherheit für die Innehaltung
des Arbeitsvertrags seitens des Arbeiters.
Damit also wird erst die Dissonanz zwischen
Recht und Wirklichkeit, die unsere heutigen
sozialen Verhältnisse zerrüttet, soweit der
Arbeitsvertrag ein Kaufvertrag ist, behoben,
und gleichzeitig sind erst damit die Be-
dingungen gegeben, an die sich die Er-
füllung jener Hoffnung knüpfen kann, von
der die Gesetzgebung ausging, als sie den
5>freien Arbeitsvertrag« proklamierte, dass
dei-selbe dazu fühi-en werde, die Kräfte und
den Wohlstand eines jeden zur grösstmög-
lichen Entfaltung zu bringen.
Litteratar: T. J, Ihinningf Trade»' Union»
and Strikes: their philosophy and inteniicn,
London 1860. — H, C VVeeming Jenkitit
Trade Unions: How far legitimate. The North
£rilüh Review voL XLVIII, Edinburgh 1868.
— Graphic Represent4ition of the laws of Snpply
and Dunaud f in A. Grant, Recess Studies,
Edinburgh 1870. Beide Aufsätze auch in seinen
hinterla^senen Schriften nPapera«, herausgegeben
ron Sidney Colvin und J. A. Euoijig, London
1887. — Tfiomtony Die Arbeit, ihre unbe-
rechtigten Ansprüche und ihre berechtigten
Forderungen, ihre wirkliche Gegenwart und ihre
mögliche Zukunft. Deutsch von Schramm, Leip-
zig 1870. — Brentafto, Die Arbeitergilden
der Gegenwart, 'i. Bd., Leipzig 1872. — Der-
selhCf Das Arbeitsverhältnis gemäss dem heutigen
Recht, Leipzig 1877, S. 182 ff. und Die Sicherung
des Arbeitt' ertrage», im 7. Bande der Schrift, d.
Ver. f. Sozialpolitik. — George Howell, The
Conflicts of Capital and Labour, 2. ed., London
1890, Chapt. in. — nerMlbCf Trade Unionism
new and old, Londcm 1891, S. 70 ff. — Bren^
tano, Der Schutz der Arbeitswilligen, Berlin
1899. — Derselbe, Reaktion oder Reform f
Gegen die Zuchthausvorla^je, Berlin- Schöneberg
1899. — Th, Löwenfeiilf Kontraktbruch und
Koalitionjf recht, Brauns Archiv f. soziale Gesetz-
gebung und Statistik III, S. 883 ff. — Derselbe,
Koalitionsrecht und Strafrecht, in demselben
Archiv, XIV, S. 471 ff. — Brentano, Arbeits-
einstellungen und Fortbildung des Arbeitsver-
trages, 46. Bd. der Schrift, d. Ver. f. Sozialpol.,
Leipzig 1890, und Verhandlungen der
G e neralv er Sammlung des Vereins für
Sozialpolitik, 47- Bd. der Schriften, I^eip-
zig 1890, 76. Bd. der Schriften, Leipzig 1898.
— Ein Komplott gegen die deutsche
Arbeiterklasse. Aktenstücke über eine Koa-
lition deutscher Metalluntemehmerverbände mit
königl. preuss. Behörden, London 1891. — Sidney
and Beatrice Webb, hidustrial Democracy
2. vols., London 1897; deutsch unter dem Titel
Theorie und Praxis der englischen Gewerkver-
eine. Darin eine hinsichtlich der englischen
Litteraiur erschöpfende Bibliographie. — W.
Kuiemann, Die Gewerkschaftsbewegung, Jena
1890. — Weitere Litteralurangaben siehe am
Schlüsse des Artikels über die Gewerkvereine in
England. Lujo Brentano.
IL
Die Gewerkvereine in den
einzelnen Staaten.
I. Die G. in England (S. 623). II. Die G.
in Deutschland (S. 644). III. Die G. in Oester-
reich (S. 677). IV. Die G. in Frankreich
(S. 687). V. Die G. in Belgien (S. 694). VI.
Die G. in der Schweiz (S. 699). VII. Die G. in
anderen europäischen Ländern und in Australien
(S. 705). VIII. Die G. in den Vereinigten
Staaten (711).
I. Die 6ewerkTei*eine in England»
1. Gesellenverbindungen in England. 2. Auf-
kommen der Hausindustrie. Ihre gewerbliche
Ordnung. 3. Aenderun^ in den Absatzverhält-
nissen und der Technik und Auflösung der
alten gewerblichen Ordnung. 4. Arbeitsein-
stellungen und Koalitionsverbote im 18. Jahr-
hundert. Das Koalitions verbot von 1800. 5.
Die ersten G. und die Abschaffung der alten
gewerblichen Ordnung. 6. Verfassung der
ersten G. 7. Abschaffung der Koalitionsverbote.
8. Das Gesetz von 1825 über Koalitionen der Ar-
beiter und Arbeitgeber. 9. Die Periode der
fehlgeschlagenen Arbeiterbewegungen. 10. Die
Entwickelung der Verfassung der G. von 1825
bis 1850. 11. Wandlung im Geiste der G.
12. Die G. und die öffentliche Meinung von
1825—1868. 13. Die gesetzliche Anerkennung
der G. 14. Die Anerkennung der G. in der
„Gesellschaft". 15. Die G. und die gewerbliche
Depression 1873—1888. 16. Lokale, nationale
und internationale Verbindungen unter den G.
17. G. der weiblichen Arbeiter. 18. G. der un-
gelernten Arbeiter. Ihre Rückwirkung auf die
alten G. 19. Wirkungen der Neuerungen. 20.
Synchronistische Uebersicht zur Entwickelung
der englischen G. 21. Statistik der G.
1. Gesellenverbindungen in England.
Vor dem 18. Jahrhundert finden wir in
Englaud zwei Arten von gewerblichen Be-
triebsformen : das Handwerk und die Haus-
industrie. Die ältere wai* das Handwerk.
Es hatte seinen Sitz in den Städten und
war zünftig organisiert Wir finden in Eng-
land die üblichen Entwickelungsstufen des
Handwerkers: den Lehrling, den Knecht
oder Gesellen, den Meister. Um dieselbe
Zeit wie auf dem Kontinent, d. h. im Laufe
des 14. Jahrhunderts, gelangten die eng-
lischen Handwerker zu massgebendem Ein-
fluss auf das städtische Leben. Zu der-
selben Zeit ferner, da auf dem Kontinent
die Hörigen nach den Städten flüchteten,
fand das gleiche in England statt, und
ebenso wie auf dem Kontinent niissbrauch-
ten in England die Zünfte die erlangte Ge-
werbeautonomie, um ihr Gewerbe gegen die
Konkurrenz neuer Genossen zu schützen.
Damit entstand eine Klasse lebenslänglicher
liohnarbeiter mit Sonderinteressen ; der
Stand des Knechts oder Gesellen hörte auf^
nur eine Durchgangsstufe zur Meisterschaft
zu sein: er wurde ein Lebensberuf. Wie
624
Gewerkvereine (England)
auf dem Kontinent entstanden in England
nun besondere Organisationen dieser Knechte
oder Gesellen, wie die zahlreichen Verbote
derselben beweisen, und zwar entstanden
sie zuerst zu geselligen Zwecken, dann zur
Wahrnehmung jener Sonderinteressen. Des-
gleichen finden sich Belege, dass in Eng-
land wie auf dem Kontinent diese besonde-
ren Briiderschaften der Knechte sclüiesslich
als solche anerkannt und in die Zünfte ein-
gegliedert wurden und unter der Oberauf-
sicht der Zünfte der Wahrung der besonde-
ren Klasseninteressen der Knechte oder Ge-
sellen dienten : auf das Verbot »unerlaubter
Versaramhmgen, Brüderschaften, Ansamm-
lungen und Aufläufe« folgte nach Jahrhun-
derten auch hier die Bestimmung: »die
Zunftvorsteher und ihre Beisitzer soUen den
Vorsteher der Gesellenschaft erwählen; sie
sollen die Gesellenscliaft auf solche Weise
regieren, wie dies in früheren Zeiten üblich
gewesen«. Endlich finden wir bei einer An-
zahl englischer Gewerkvereine, namentlich
des Baugewerbes, dieselben Ceremonien, die
der Reichsschluss von 1731 den deutschen
QeseUenladen zum Vorwurf macht und die
auch der Kompagnonnage in Frankreich
aufweist ; ihre Organisation ist ganz ähnlich
wie die der deutschen Gesellenladen: und
noch heute heisst, wie bei diesen, bei allen
englischen Gewerkvereinen die Unterstützung
bei Arbeitslosigkeit »das Geschenk« (dona-
üon). Da die englischen Gesellenverbindun-
gen im 18. Jahrhundert aufs neue verboten
wurden und verbotene Gesellenschaften im
damaligen England das Princip hatten,
nichts zu Papier zu bringen, ist es nicht
möglich, eine Geschichte derselben zu
schreiben. Alle angeführten Thatsachen
deuten indes darauf hin, dass die ei^sten
Gewerkvereine die Gesellenladen waren,
die bei Beginn der Differenzierung der In-
teressen von Meistern und Knechten ins
Leben traten, zunächst um die besonderen
Standesansprüche der Arbeiter zu wahren;
als dann die alte gewerbliche Oidnung fiel,
war das Vorbild für den modernen Gewerk-
verein da. Es trat nur an die Stelle des
Kampfes um das Standesrecht der um die
Lebenshaltung und Gleichberechtigung. Aber
nur den Rahmen, das Muster, den Geist
haben die Gesellenladen der Zunftzeit den
entstehenden Gewerkvereinen geliefert. Da-
gegen ist es nur in wenigen Gewerben, wie
bei den Buchdruckern, vielleicht auch bei
den Hiitmachern und Schneidern wahr-
scheinlich, dass ihre ersten modernen Oe-
werkvereine direkt aus alten Gesollenladen
hervorgegangen sind.
2. Aufkommen der Hausindustrie.
Ihre gewerbliche Ordnunj^. Wie der mo-
derne Industriebetrieb sich zuerst nicht aus
dem Handwerk, sondern aus der Hausin-
dustrie hei-aus entwickelte oder in ganz
neuen Industrieen seinen ürspnmg nahm,
so sind der klassische Boden der Entstehung
der modernen Gewerkvereine nicht die Ge-
werbe, die bis dahin handwerksmässig, son-
dern diejenigen, die hausindustriell betrieben
worden waren. Woher kamen diese Gewerbe ?
Aus der Verändenmg in den Absatzverhält-
nissen. Die englischen Gewerbeprodukte
des Mittelalters waren nicht oder doch nur
in sehr unerheblichem Masse ins Ausland
gegangen; die englische Ausfuhr bestand
im Mittelalter aus Rohprodukten, namentlich
Wolle; das Gewerbe arbeitete für einen lo-
kalen Markt. Es war zünftig geregelt ;
Preise, Löhne, Arbeitszeit, Lehrlingswesen,
Vei-dingungs- und Kündigungstermine —
alles war behördlich geregelt. Die Preise,
welche auf dem lokal beschränkten Markte
erzielt wurden, ermöglichten auch die Ar-
beitsbedingungen in einer Weise zu regeln,
bei der der Geselle sein Auskommen fand.
Eine Aendenmg trat ein, als infolge der seit
Eduard TV. ergriffenen Schutzmassregeln
die englische Tuchmanufaktur aufzublüiien
begann. Damit entstand ein Absatz ins
Ausland. Kaufleute statt des Konsiunenten
beschäftigten nunmehr den Handwerker.
Sie erwarben Landgüter, verwandelten Acker-
in Weideland und liessen ihre Wolle im
hausindustriellen Betriebe auf dem Lande
verarbeiten. Sie unterlagen da nicht den
Vorschriften der Zünfte. Da wurde der
5 Eliz. c. 4 (1562), das sogenannte Lehr-
lingsgesetz, erlassen, welches für alle damals
vorhandenen, nicht zünftig geregelten Ge-
werbe folgende Bestimmungen traf: Niemand
sollte als Meistor oder Arbeiter irgend ein
Handwerk oder Gewerbe betreiben, der
nicht sieben Jahre als Lehrling dazu heran-
gebildet worden. Jeder Haushalter durfte
Lehrlinge annehmen; wer indes drei Lehr-
linge hatte, musste einen Gesellen halten
mid für jeden Lelu-ling über di*ei wieder
einen. Niemand sollte einen Gesellen für
weniger als ein ganzes Jahr dingen, mit
beiderseitiger vierteljähriger Kündigung.
Die Arbeitszeit wiu'de festgesetzt auf zwölf
Stunden im Sommer und auf von Tagesan-
bruch bis Nacht im Winter. Der Lohn
sollte jährlicii von den Friedensrichtern und
Stadtmagistraten testgesetzt werden. Diese
Behörden sollten auch alle Sti-eitigkeiten
zwischen Meü^tern imd Lehrlingen schlich-
ten und die letztei*en beschützen. Arbeit-
geber, welche mehr als den festgesetzten
Lohn zahlten , sollten mit 10 . Arbeiter,
welclie einen höheren Lohn nahmen, mit
21 Tagen Gefängnis bestraft werden. Durch
ein Gesetz von 1()Ü3— 1604 (1 Jac. 1. c. 6)
wurde die !Macht der Friedensrichter und
Stadtmagistrate, den Lohn festzustellen, noch
einmal ausdrücklich auf den Lohnsatz aller
Gewerkvereine (England)
625
nnd jeglicher, ungelernter und gelernter
Arbeiter ausgedehnt und weiter bestimmt,
dass kein Tuchfabrikaut als Friedensrichter
den Lohn irgend eines in der Tuchfabrika-
tion beschäftigten Arbeiters feststellen dürfe.
3. Aenderang in den Absatzverhält-
nissen nnd der Technik nnd Anflösnng
der alten gewerblichen Ordnung. War
die Arbeit in den handwerksraässig betrie-
benen Gewerben durch die zünftigen Ord-
nungen geregelt, so lassen sich diese Ge-
setze Elisabeths und Jakobs I. als die Oi^d-
nung der Arbeitsverhältnisse in Hausindus-
trie und Landwirtschaft bezeichnen. Gewiss
bestätigte die Einseitigkeit, mit der nur das
Bezahlen höherer, nicht aber niedrigerer
als der festgesetzten Löhne mit Strafe be-
droht war, A. Smiths Bemerkung, dass »so
oft die Gesetzgebung die Zwistigkeiten
zwischen Arbeitgeber und Arbeiter zu
regeln unternahm, die Ratgeber Arbeitgeber
waren«. Indes, was immer die Absicht des
Gesetzgebers beim ersten Erlass des Ge-
setzes gewesen sein mag, die Bestimmung
desselben, dass der Lohn so festgesetzt
werden solle, dass »der gedungenen Person
sowohl in Zeiten des Mangels wie des
üeberflusses ein hinlänglicher Lohn zu teil
werde«, sowie die über Lehrlinge, Arbeits-
zeit und lange Yerdingimgstermine ver-
änderten die Bedeutung des Gesetzes, als
der Dnick der Konkurrenz auf dem Welt-
markte und das Auftreten von Absatz-
stockungen die Tuchfabrikanten veranlassten,
die Arbeitsbedingungen zu drücken und die
Arbeiter in Massen zu entlassen. Nunmehr
betrachteten die Arbeiter das Gesetz als
eine Massregel zur Wahning ihrer Interessen,
die Arbeitgeber betrachteten es als ein
Hemmnis. Zuerst setzten die hausindus-
triellen Meister sich über die Bestimmungen
hinweg, welche die Zahl der Lehrlinge im
Verhältnis zur Zahl der erwachsenen männ-
lichen Arbeiter regelten. Dies fand statt
namentlich mit dem Aufkommen der Manu-
&ktur — der auf Arbeitsteilung beruhenden
grossen Werkstätte — an Stelle der alten
Hausindustrie. Dann kam die Regelung der
Löhne durch die Behörden ausser Gebra\ich,
und seit Beginn des 18. Jahrhunderts sehen
wir die Arbeiter, namentlich die der Stapel-
industrie Englands, der Tuchfabrikation, im
Kampfe mit den Arbeitgebern , um die
Durchführung der Bestimmungen des Lehr-
lingsgesetzes zu erzwingen. Die Friedens-
richter verweigern es häufig, diesem Ver-
langen der Arbeiter Folge zu geben. Darauf
Arbeitseinstellungen und Tumulte seitens
der Arbeiter. Hierauf Koalitionsverbote
seitens der Gesetzgebung und neue Anwei-
sungen an die Friedensrichter, den Lohn-
satz festzustellen, und abermaliges Versagen
der letzteren. Von einer Durchführung des
Handwörterbuch der StaatswisseiiBchafteii. Zweite
Lehrlingsgesetzes ist um so weniger die
Rede, als nunmehi- die Manufaktur sich zum
Fabriksystera mit Maschinenbetrieb zu ent-
entwickeln und das hausindustrielle System
mehr und mehr zu verdrängen beginnt.
In dem Masse aber, in dem die durch das
Lehrlingsgesetz getroffene gewerbliche Ord-
nung in den einzelnen Gewerben ausser
Gebrauch kommt, finden sich nun Arbeits-
einstellungen in denselben, um deren Be-
stimmimgen aufrecht zu erhalten. Schlagen
sie fehl, so treibt die Not wieder zu neuen
Petitionen an die Friedensrichter und dann
ans Parlament, und, wie Sheridan in diesem
sagte, »vom Augenblick, dass die Arbeiter
fanden, dass ihre Petitionen berücksichtigt
wurden, und irgend Ursache zur Hoffnung
fühlten, dass ihre Beschwerden ehrlich in
Betracht gezogen wurden, hörten alle Koa-
litionen auf, und ihre Zuversicht auf Ab-
hilfe stützte sich gänzlich auf die Gerech-
tigkeit und Liberalität des Parlaments«.
Zeigte sich aber auch diese Hoffnung wieder-
holt als eitiBl, so trieb das aussichtslose Elend
die erbitterten Arbeiter auch mitunter zu Ge-
waltthätigkeiten, Revolten, ja Brandstiftungen.
4. Arbeitsei nstellangen und Koali-
tionsverbote im 18. Jahrhandert Das
Koalitionsverbot von 1800. Als Träger
des Vorgehens der Arbeiter finden wir in
einer Reihe von Gewerben in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts Vereinsorgani-
sationen, sei es, dass, wie dies in einigen
Gewerben, wie z. B. bei den Hutmachem,
wahrscheinlich ist, alte Gesellenladen sich
umgestalteten, sei es, dass, wie namentlich
bei den Tuchmachern der Hausindustrie-
gegenden, neue Vereine entstanden. Da
machten sich die Arbeitgeber die durch die
Revolution in Frankreich bei den herrschen-
den Klassen Englands entstandene Furcht
zu nutze. Nachdem 1720 für die Schnei-
der, 1725 für die Tuchmacher, 1749 für die
Färber, Walker und alle in der Hut-, Wol-
len-, Leinen-, BaumwoUe-, Eisen- und Leder-,
Pelz-, Hanf-, Flachs-, Mohair- und Seiden-
fabrikation beschäftigte Personen, 1766 aber-
mals für die Tuchmacher, 1768 abermals
für die Schneider, 1773 für die Seidenar-
beiter, 1777 abermals für die Hutmacher,
1792 abermals für die Seidenarbeiter, 1796
für die in der Papierfabrikation Beschäftig-
ten besondere Koalitionsverbote erlassen
worden waren, setzten sie 1799 ein Gesetz
durch, wonach die ersten Gewerkvereins-
bildungen unterdrückt und auf ihr Vermögen
gefahndet werden sollte. Das letztere Ge-
setz wurde dann 1800 durch ein weiteres,
noch drakonischeres Koalitionsverbot ersetzt,
das alle Verabredungen , Versammlungen
und Vereine von Lohnarbeitern zum Zwecke,
eine Lohnaufbesserung herbeizuführen, mit
Zuchthausstrafe bedrohte; Koalitionen der
Annage. IV. 40
626
Gewerkvereine (England)
Arbeitgeber dagegen waren nur mit Greld-
strafen bedroht. Als trotz alledem die Koa-
litionen und Koalitionsvereine der Arbeiter
nicht aufhörten, wurden sogar die Bestim-
mungen des gegen die jakobinischen Ver-
bindungen erlassenen Verbotes geheimer
GreseUschaften auf Arbeiter, die zu Koalitions-
zwecken Briefe wechselten, angewandt.
5. Die ersten 6. und die Abschal-
fong der sJten gewerblichen Ordnung.
Immer aber standen noch die gesetzlichen
Bestimmungen über das Lehrlingswesen und
die Lohnregelungen durch die Behörden in
Kraft. Es bildeten sich nun neue Vereine
unter dem Scheine von Kranken- und Be-
gräbniskassen, um die üebertreter dieser
Bestimmungen gerichtlich zu verfolgen.
Auch wurden mehrere Tuchfabrikanten ver-
urteilt Da wandten sich die Arbeitgeber
der Wollenindustrie an das Parlament, um
die Aufhebung dieser Gesetze herbeizufüh-
ren. Auf Grund ihrer Petitionen wurden
die das Wollengewerbe regelnden Gesetze
1803, 1804, 1805 u. s. f. zunächst je auf
ein Jahr suspendiert, bis sie 1809 gänzlich
abgeschafft wurden. Im Jahre 1814 wurde
entgegen den Petitionen der Arbeiter das
Lelurhngsgesetz der Elisabeth und damit die
alte gesetzliche Ordnimg für alle Gewerbe
beseitigt. Nunmehr entstanden Koalitionen
und Gewerkvereine in allen Gewerben.
6. Verfassung der ersten G. Ent-
standen die ersten Koalitionen somit im
18. imd zu Anfang des 19. Jahrhun-
derts, sobald Versuche zur Beseitigung der
überkommenen gewerblichen Ordnung ge-
macht wurden, so war ihr erster Zweck
die Aufrechterhaltung des bestehenden
Rechtszustandes auf gesetzlichem Wege,
als diese verweigert wurde, die Einstellung
der Arbeit. Diese Koalitionen waren an-
fänglich ephemer. Die Feiernden wurden
von den Gewerbsgenossen, die in Arbeit
waren, unterstützt. War der Zweck er-
reicht oder war die Arbeitseinstellung miss-
glückt^ so verschwand die Koalition wieder
mit dem Anlass, der sie hervorgerufen hatte.
Allein die auf diese Weise erhobenen Unter-
stützungen reichten bei langdauernden
Arbeitseinstellungen nicht aus. Auch waren
die Summen, welche die Petitionen ans
Parlament verschlangen, zu gross, um durch
einmalige Beisteuern seitens armer Arbeiter
gedeckt werden zu können. Endlich er-
forderte auch die Wiederkehr der Älissstände
eine dauernde Organisation zu ihrer Bekäm-
pfung. Statt der anfänglichen ephemeren Koa-
litionen entstanden doshalb bleibende Vereine.
Diese Vereine umfassten anfänglich alle
Arbeiter eines Gewerbes an einem Orte.
Auch waren die Beiträge anfangs lediglich
freiwillige. In Friedenszeiten erschlaffte
dann das Gemeingefühl der Lässigeren,
während die Eifrigen oft verhältnismässig
hohe Beiträge gaben: so entstanden engere,
geschlossene Genossenschaften mit bestimm-
ten, festen Beiträgen unter den Eifrigeren.
Im Falle von Zwistigkeiten mit Arbeit-
gebern schlössen sich aber die Arbeiter, die
nicht Mitglieder waren, regelmässig an die
Genossenschaft an. Abgesehen von dem
Petitionieren an das Parlament, der gericht-
lichen Verfolgung von Arbeitgebern, die das
Gesetz verletzten, und der Unterstützung
der Feiernden bei Ausständen war ihr Zweck
die Unterstützung von Genossen, die Arbeit
suchend sich an andere Orte begaben, fernier
die Unterstützung der kranken und die Be-
streitung der Begräbniskosten der gestorbenen
Mitglieder.
Als nun die drakonische Gesetzgebung
von 1800 gegen die Arbeiter zur Anwendung
gebracht wurde, änderte sich der Charakter
der Koalitionsvereine. Sie hörten nicht auf ;
vielmehr wurden sie, zumal nachdem das
Lehrlin^^sgesetz 1814 beseitigt worden war,
allgemem ; aber was früher offen war, wurde
nunmehr geheim. Noch vor 30 Jahren er-
zählten Arbeiter, wie sie in ihrer Jugend
die Bücher und Protokolle ihres Gewerk-
vereins in dem Moorland von Bolton in
Lancashire zu vergraben hatten, wie bei der
Aufnahme in den Verein furchtbare Eide
geschworen wurden und wie Arbeiter ins
Zuchthaus geschickt wurden, bloss weil sie
einen Brief, der um Unterstützung bat, an
die in einer anderen Stadt wohnenden
Arbeiter getragen hatten. Die Arbeitgeber
dagegen, die der Koalition ziu» Herab-
drückung der Löhne überführt, waren,
wuixien von den Friedensrichtern, die über
ihre Standesgenossen zu urteilen hatten, stets
freigesprochen. »Es ist uns«, so heisst es
im Ünterhausbericht von 1824, »eine Reihe
von Fällen vorgeführt worden, in denen
Arbeitgeber wegen Koalierens ziu* Herab-
drückung der Löhne und Verlängerung der
Arbeitszeit angeklagt wiuxlen; aber kein
Fall konnte beigebracht weixlen, in dem
irgend ein Arbeitgeber für diese Gesetzüber-
tretung bestraft worden wäre«. So wurde
das ungerechte Gesetz, das die Arbeiter, die
sich der Selbsthilfe, auf die sie seit 1814
verwiesen waren, bedienten, wie Verbi-echer
behandelte, auch noch ungerecht angewandt.
Begreiflicherweise war seine einzige Wirkung,
die Gefühle der Ai'beiter gegen die übrigen
Gesellschaftsklassen zu verbittern, den Geist
des Misstrauens, des Hasses imd der Ver-
zweiflung unter ihnen zu säen, den Sinn
für Recht und Unrecht in ihnen zu ertöten.
Wurden sie doch bestraft, gleich\del ob sie
eine einfache Koalition eingingen oder Ge-
waltthaten begingen. Was Wunder, dass
die im Kampfe ums Dasein aufs äusserste
Bedrängten rücksichtslos die Mittel wählten,
Gtewerkvereine (England)
627
von denen ihre Kiirzsichtigkeit die kräftigste
Hilfe erwartete.
Im übrigen trug die gewerbliche Politik
der Arbeiterorganisationen noch ein rein
zünftlerisches Gepräge. Auch ist dies nicht
zu verwundern. Es war die Zeit, da die
alten gewerblichen Betriebsformen, das
Handwerk und die Hausindustrie, in dem
letzten Stadium ihres Todeskampfes mit dem
aufkommenden Fabrikbetrieb sich befanden.
Was war natürlicher, als dass die darunter
leidenden Arbeiter zunächst an den Mitteln
festhielten, in denen die vorausgegangenen
Jahrhunderte das Heil erblickt und gefimden
hatten: an der Beschränkung der Lehrlings-
zahl, am Ausschluss nicht richtig ausge-
lemter Arbeiter, am gesetzlichen Lohn-
minimum, an Verboten von arbeitssparenden
Maschinen! Als der Protest gegen letztere
im Zerschlagen derselben sich äusserte, kam
»das grosse Specificum, das nie fehlbare
Universalrezept aller Staatsquacksalber von
den Tagen Dracos bis auf unsere Tage«, es
wurde ein besonderes Gesetz erlassen, das
die Zerstörung der Maschinen mit dem Tode
bestrafte. Die Arbeiter aber hatten damals
keinen Freund ausser Bj^ron, der in seiner
grossherzigen, Indignation und Talent
sprühenden Jungfernrede im Oberhaus, wenn
auch vergeblich, dagegen protestierte.
7. Abschaffung der Koalitionsyerbote.
Aber balcl sollten die Arbeiterkoalitionen
einen wirksameren Freund erhalten : Francis
Place, seinem bürgerlichen Berufe nach
Schneidermeister, im politischen Leben
orthodoxer Oekonomist und Radikaler, der
Freund Benthams, James Mills, Joseph
Humes, Ricardos und Mac Cullochs, einer cfer
thatkräftigsten und geschicktesten politischen
Organisatoren des 19. Jahrhunderts. Zehn
JaJ&e widmete Place der sorgfältigen V^or-
bereitung der Aufhebung der Koalitionsver-
bote. Bei seinem Bestreben erfreute er sich
keinerlei Unterstützung seitens der Arbeiter.
Diese waren zu verwildert, als dass sie die
Tragweite einer Beseitigung der Koalitions-
verbote so weit hätten begreifen können, um
sich dafür zu begeistern und Opfer zu
bringen. Und vielleicht war diese ihre
Teilnahmlosigkeit etwas, was die Auf-
hebung der Koalitionsverbote gerade er-
leichterte. Der Geist der Demagogenver-
folgung, der seit den Kriegen mit Frankreich
England kaum minder ^s die Länder der
heiligen Allianz geschändet hatte, war im
Aussterben. Gerade die Teilnahmlosigkeit
der Arbeiter verhinderte, dass dieser Geist
neue Nahrung erhielt, indem die Aufmerk-
samkeit der aussterbenden Demoki-atenhetzer
der Frage sich zuwandte. So gelang es
Hume, die Aufhebung zusammen mit der
Aufhebung der Verbote der Auswanderung
gelernter Arbeiter und der Maschinenausfuhr
durchs Parlament durchzuschmuggeln. Durch
den 5. Geo. IV. c. 95 wiuxie bestimmt, dass
Arbeiter, die eine Koalition betreffend irgend
eine ihrer Arbeitsbedingungen eingingen, von
nun an keinerlei Bestrafung wegen Ver-
schwörung oder irgend welcher anderer
krimineller Untersuchung oder Bestrafung
ausgesetzt sein sollten. Nur die Anwendung
von Gewalt gegen Personen oder Eigentum,
von Drohungen oder Einschüchterungen, sei
es, um andere zur Teilnahme an der Koali-
tion, sei es, um den oder die Arbeitgeber
oder deren Beauftragten ziu* Bewilligung
der Wünsche der Arbeiter zu zwingen,
wurde mit Gefängnis, eventuell mit Ge-
fängnis verbunden mit Zwangsarbeit nicht
über 2 Monate bedroht.
8. Das Gesetz von 1825 über Koali-
tionen der Arbeiter und Arbeitgeber.
Die Zeit, da die Koalitionsverbote beseitigt
wiuxien, war eine Zeit des wirtschaftlichen
Aufschwungs und des gleichzeiti^n Steigens
der Lebensmittelpreise. Von emem Ende
des Landes zum anderen fanden Arbeitsein-
stellungen statt, um Lohnerhöhimgen zu er-
zielen. Die Arbeitgeber wurden mit Schrecken
erfüllt, als sie fanden, dass kein Ghesetz mehr
bestehe, das solche Arbeitseinstellungen ver-
bot. Sie verlangten dringend nach Wieder-
einführung der Koalitionsverbote. Da be-
antragte Huskisson 1825 die Niedersetzimg
eines neuen Parlamentsausschusses zur Unter-
suchung der Koalitionen, und einen Augen-
blick schien es, als ob die Koalitionsfreiheit
wieder beseitigt werden sollte. Aber waren
die Arbeiter gleichgiltig, als es sich um die
Beseitigung der Koalitionsverbote handelte,
so waren sie das Gegenteil gegenüber diesen
reaktionären Bestrebungen. Sie bestürmten
das Parlament mit Petitionen, und so unter-
stützt gelang es Hume, die Gesetzentwürfe
der Arbeitgeber zum Scheitern zu bringen;
die Koalitionsfreiheit wurde aufrecht er-
halten, allein der Act von 1824. allerdings
dui-ch den 6 Geo. IV. c. 129 von 1825 er-
setzt, der in wichtigen Punkten das gemeine
Recht über Verachwörungen für Koalitionen
wieder in Kraft setzte. In der That er-
scheinen danach von Strafen nur befi'eit
Personen, welche zusammenkommen, um die
Löhne imd die Arbeitszeit festzustellen,
welche die bei der Zusammenkunft persön-
lich Gegenwärtigen verlangen oder gewähren
sollen und die eine Vereinbarung zu diesem
Zwecke unter sich selbst treffen. Alle
anderen Koalitionen oder Vereinbarungen
zum Nachteil dritter Personen wurden
wieder als Verschwörungen und für straf-
bar erklärt. Somit sollten als Verschwörungen
behandelt w^erden aUe Versanunhmgen oder
Vereinbarungen über die Arbeitsbedingungen
nicht anwesender Personen, femer über* die
Personen, die ein Arbeitgeber beschäftigen
40*
628
Gewerkvereine (England)
oder nicht beschäftigen, über die Maschinen,
die er verwenden solle, ferner alle Verein-
barungen, mit einer bestimmten Pei'son nicht
zusammen zu arbeiten, sowie andere Personen
zur Einstellung der Arbeit oder zur Nicht-
annahme von Arbeit zu bewegen. Kurz es
gab kaum eine Handlung, welche zur wirk-
samen Thätigkeit der Gewerkvereine not-
wendig ist, die nicht als Verschwörung be-
handelt werden sollte. Dazu kam, dass die
Strafe für üebertretung des Gesetzes von 2
auf 3 Monate ausgedehnt und bestimmt
wurde, dass eine Verurteilung auf Gnmd
des Eides einer einzigen Person und ebenso
auf Gnmd des Nachweises, dass Gefahr sei,
dass der Angeklagte sich durch Flucht ent-
zieht, sollte stattfinden können. Die Kon-
zession, dass der Veriu'teilte an das Schwur-
gericht sollte appellieren können, wurde
wenig geschätzt, weil die Geschworenen als
Eegel derselben Gesellschaftsklasse wie die
Friedensrichter angehörten.
9. Die Periode der fehlgeschlagenen
Arbeiterbewegungen. Nunmehr beginnt die
Periode der tiefsten Entmutigimg der eng-
lischen Arbeiterklasse. Ende des Jahres 1825
folgte auf den vorausgegangenen wirtschaft-
lichen Aufschwung der Niedergang und da-
mit das Fehlschlagen der Arbeitseinstellungen.
Damit brach nicht nur die damalige Ge-
werk Vereinsbewegung zusammen, es schien
der praktische Beweis erbracht, dass es un-
möglich sei, auf Grundlage der von Place
vertretenen klassischen Nationalökonomie die
Lage der Arbeiter zu bessern, und so wandten
diese sich revolutionären Bestrebungen zu.
Da war zunächst Cobbett mit seiner
Agitation für Parlamentsreform. Mit In-
bnmst schloss man sich der Bewegimg an,
von der man das allgemeine Wahlrecht
erhoffte. Allein das Reform^esetz von 1832
brachte nicht das aUgememe Wahlrecht,
und nun folgten eine Keihe teüs sozialer,
teils politischer revolutionärer Bestrebungen,
die die ihr Ziel nicht erreichen konnten,
aber durch die erziehliche Wirkung, welche
sie ausübten, von nachhaltigem Einfluss
wurden.
Zunächst entstand eine neue Gewerkver-
einßbewegung, die von 1829 — 1834 in einem
Anlauf den Himmel zu stünnen hoffte.
Man erstrebte eine nationale Organisation
der Lohnarbeiter aller Gewerbe. So etwas
konnte als Resultat einer Entwickelung,
welche die Arbeiter der einzelnen Gewerbe
vorerst in Sonderorganisationen erzogen
hatte, sich einmal ergeben. Einstweilen
-war das Projekt verfrüht. Trotz der Hun-
derttausende, die in kürzester Zeit dem
grossen Nationalverein der konsolidierten
Gewerbe beitraten, ging er alsbald an seinen
inneren Schwächen, an dem Mangel an
Mitteln, Disciplin, Opferwilligkeit und an
Sektionsstreitigkeiten zu Grunde. Das ein-
zige, was er zur Folge hatte, war, dass er
den herrschenden Klassen einen heiUosen
Schrecken einjagte imd — da das Whig-
ministerium den Mut nicht hatte, ein Aus-
nahmegesetz einzubringen — ziu* sj'stemati-
schen Ausbildung jener Verfolgiing der
Gewerkvereine als Verschwörungen auf
Grundlage des gemeinen Hechts den Anstoss
gab, unter der die Gewerkvereine für De-
cennien leiden sollten.
Als dann die hinunelströmende Strike-
bewegung des grossen Nationalgewerkver-
eins zusammengebrochen, erhielten Robert
Owens Anschauungen in ihm die Oberhand.
Zwar gab es in den vierziger Jahren einen
neuen Versuch, einen Verband aller Ge-
werkvereine in der »Nationalen Association der
Vereinigten Gewerkvereine« zu schaffen.
Er erhielt indes nie rechte Bedeutung.
Im Gegensatz zu seinen Methoden wurde
vielmehr der Strike als Emanzipationsmittel
nunmehr perhorresziert ; der genossenschaft-
liche Kommunismus Owens mit seiner Kul-
mination in den Arbeitsbörsen, an denen
die Produkte nach der Menge gesellschaft-
licher Arbeitszeit, die ihre Herstellimg
gekostet, gegeneinander umgesetzt werden
sollten, wurde das Ideal. Owen setzte seine
Hoffnung auf die Verwirklichung seiner
Projekte durch die Gewerkvereine, imd diese
ergingen sich, voll Siegesgewissheit, bereits
in den übermütigsten Reden. Da erfolgte
auch hier das Felüsclüagen aUer Experi-
mente, — nicht ohne dass Owen fruchtbare
Keime für eine neue Politik der Gewerk-
vereine zurücklassen sollte.
Dann kam aufs neue ein Augenblick
der Bedrohung der Gewerkvereine dureh
die Gesetzgebung. Von der Erneuerung
einzelner drakonischer Bestimmungen gegen
die freie Ausgestaltung der Gewerkvereine,
welche das Gesetz von 1825 gebracht hatte,
wurde in der Praxis reichlich Gebrauch ge-
macht Die Prezesse und kriminellen Ver-
urteilungen von Arbeitern wegen üebertre-
tung des Koalitionsgesetzes und der Ver-
schwörungsgesetze hssen nicht ab, und die
Verbitterung, die sie erzeugten, rief wie vor
1824 Heimlichkeit, verbotene Eide und die
scheusslichsten Greuelthaten auf seite der
Arbeiter hervor, die sich in den 30 er Jahren
bis zum Begiessen Abtrünniger mit Vitriol
seitens der BaumwoUspinner Glasgows stei-
gerten. O'Connell, der mit den irischen
Gewerkvereinen unzufrieden zu sein Veran-
lassung hatte, benutzte dies zu einem hefti-
gen Angriff auf die Gewerkvereine im
Unterhaus. Ein üntersuchungsausschuss
wurde niedergesetzt Aber abgesehen von
2 Bänden Zeugenaussagen hat dieser Aus-
schuss nichts zur Folge gehabt.
Da kam der gresse wirtschaftliche Nie-
Gewerkvereine (England)
629
dergang zu Ende der 30 er Jahre. Damit
gingen auch die Gewerkvereine zurück, und
wenn sie auch als solche keinen Anteil
iiahmen an der Chartistenbewegung, so
wandten ihre Mitglieder doch angesichts
des Fehlschlagens aller übrigen Bestrebun-
gen des letzten Decenniums der Bewegung
sich zu, welche von der Eroberung der
politischen Gewalt durch die ArbeiterKlasse
die wii-tschaftliche und soziale Emanci-
pation derselben erwartete. Aber auch diese
Bewegung — die erste eigentlich sozialdemo-
kratische Bewegimg der Neuzeit — musste
fehlschlagen. (Vgl. den Art. Cliartismus
oben Bd. ni S. 14 ff.) Trotzdem hat sie
wichtige Resiütate auch für die Entwickelung
der Gewerkvereine gebracht. Einmal hat sie
die Wirkung gehabt, die englische Arbeiter-
klasse bis in die entlegensten Winkel desLaudes
aus den überkommenen Anschauungen der
Unterwürfigkeit aufzurütt-eln und zum Be-
wusstsein ihrer besonderen Klasseninteressen
zu bringen, sodann machten einzelne unter
den Chartistenführern, wie Bronterre O'Brien,
selbst den zurückgebliebensten englischen
Arbeitern klar, dass es sich bei der sozialen
Bewegung nicht um ein Zurücklenken in
die Geleise veralteter Wirtscliaftspolitik,
sondern um eine neue gesellschaftliche Or-
ganisation handle.
10. Die Entwickelung der Verfassung
der G. von 1825—1850. Trotz aller die-
ser Irrungen ist die Zeit von 1825 — 1850
die der allmählichen zweckdienlichen Aus-
bildung derGewerkvemnsorganisation. Noch
in den Jahren 1824 — 1830 gehörten zu
einem Gewerkvereine nur die Arbeiter, die
an demselben Orte dei'selben Beschäftigung
oblagen: die Gewerkvereine waren nur lo-
kale Gesellschaften. Sie gewährten noch
niclit alle Unterstützungen, welche sie heute
gewähren. Ihre Hauptaufgabe war die
Unterstützung ihrer Mitglieder, die, sei es
infolge der Lage des Marktes, sei es infolge
von ArbeitseinsteUung brotlos waren.
Ausserdem unterstützten sie nur noch die
Mitglieder, die ohne eigene Schuld von ei-
nem Unglücke, das sie arbeitsunfähig machte,
betroffen worden waren, und zahlten beim
Tode eines Mitgliedes oder der Frau eines
solchen eine Summe zur Bestreitung der
Begräbniskosten. Die hierzu nötigen Gelder
wimien teils durch Eintrittsgelder, teils
durch geringe wöchentliche Beiträge, teÜs
dimjh ausserordentliche Umlagen im Be-
dürfnisfalle aufgebracht. Die Leitung des
Vereins lag in der Versammlung aller Ge-
nossen.
In Gewerben, die über das ganze Land
verbreitet imd die häufigen Schwankungen
ausgesetzt waren, konnten diese Vereine die
Bedürfnisse der Arbeiter indes nur unge-
nügend befriedigen. Solche Gewerbe brach-
ten notwendig das Wandern der in ihnen
Bescliäftigten nach anderen Orten mit sich,
und begab sich der Arbeiter an einen ande-
ren Ort, so musste er, um sich im Falle
der Not eine Unterstützung zu sichern,
einem neuen Vereine beitreten. Trat ferner
aus irgend einem Grunde ein Arbeitsstill-
stand an einem Orte ein, so waren die zur
Unterstützung der Feiernden verfügbaren
Mittel eines auf den Ort beschränkten Ver-
eins bald erschöpft. Bereits zu Ende der
20 er Jahre versuchte man deshalb in eini-
gen Gewerben, durch eine Art Konföderation
der an verschiedenen Orten bestehenden
selbständigen Gesellschaften diesen Missstän-
den zu begegnen. Doch hatten diese Kon-
föderationen keinen Bestand. Eine Ausbrei-
tnng der Gewerkvereine auf mehrere Orte
wurde vielmehr erst zu Anfang der 80 er
Jahre dadurch bewerkstelligt, dass die Mit-
glieder eines Vereins, die sich an einen
anderen Ort begaben, daselbst einen Zweig-
verein desselben begründeten. Hierdimih
verbreiteten sich die Ge werk vereine all-
mählich an allen Orten des Landes, an
denen das betreffende Gewerbe betrieben
wurde.
Die Vorteile dieser Ausbreitung der Ge-
werkvereine für den Arbeiter waren ausser-
oi-dentlich. Nun erst wurden die Gewerk-
vereine für den Arbeiter wirklich eine
Stütze ; denn nun erst wurde die Freizügig-
keit zur Walirheit. Nicht nur, dass er seine
Anrechte auf Unterstützung nicht verlor,
wenn er an einen anderen Ort sich begab,
um dort Arbeit zu suchen, er erhielt noch
Unterstützung, um dahin wandern zu können,
und fand dort sofort Genossen, die ihm ziu*
Seite standen. Die Unterstützungen, welche
die Vereine gewährten, wurden nun grösser
und nachhaltiger, denn die Lasten derselben
verteilten sich auf eine weit grössere An-
zahl von Schidtem. Stellten z. B. die Ar-
beiter an einem Orte die Arbeit ein, so wur-
den sie nun von den Arbeitern aller Orte,
an denen Zweige bestanden, unterstützt,
konnten deshalb viel länger ausharren und
hatten grössere Aussicht zu siegen. Auch
wurde es nun möglich, den Mitgliedern
ausser den bisherigen Unterstützimgen
Kranken- und Invalidenunterstützungen zu
gewähren. Alle von den einzelnen Zweigen
verausgabten Unterstützungen werden seit-
dem durch die Gesamtheit derselben ge-
tragen, nnd alle halbe Jahre wird das ge-
samte Vereinsvermögen auf die einzelnen
Zweige nach Verhältnis ihrer Mitgliedei'zahl
gleichmässig aufs neue verteilt.
Mit der Ausbreitung der Gewerkvereine
auf mehrere Orte wurden aber auch Aende-
nmgen in der Leitung derselben notwendig.
Bisher lag diese Leitung in den Händen der
Vei*sammlung aller Mitglieder. Die Ver-
630
Gewerkvereine (England)
Sammlung der Mitglieder an einem Orte
behielt nunmehr nur die Ordnung der Orts-
angelegenheiten; die der Vereinsangelegen-
heiten erhielt die Versammlung von Dele-
gierten sämtlicher Zweige, welche alle zwei
Jahi*e zusammentrat. In ihrer Abwesenheit
sollte zuerst der leitende Zweig die oberste
Behörde sein, und dieser sollte diu'ch die
Delegiertenversammlung alle zwei Jahre aufs
neue gewählt werden. Dann wurde der
Zweigverein am Hauptorte des Gewerbes
dauernd zum leitenden Zweige ernannt. Zu-
letzt aber, bei noch gi'össerer Ausbreitung
des Vereins, behielten auch die Zweige an
den Hauptorten der verschiedenen Indus-
trieen nur die Ordnung der eigenen Ange-
legenheiten; für die Vereinsangelegenheiten
wurden besondere ständige Behörden er-
nannt, ein Generalsekretär und ein Exekutiv-
ausRchuss, welche durch die Gesamtheit der
Mitglieder gewählt wurden.
Diese Entwickelung brachte es indes mit
sich, dass allmählich in jedem Gewerbe eine
Mehrheit von Qewerkvereinen entstand, in-
dem von verschiedenen Orten aus Gewerk-
vereine desselben Gewerbes über das ganze
Land sich verbreiteten. Ferner hatten die
Arbeiter der verscliiedenen Bescliäftigungen
in ein und derselben Industrie ihre beson-
deren Gewerkvereine gebildet; so hatten
z. B. in der Masclünenindustrie die Schmiede,
die Maschinenarbeiter, die Metalldreher, die
Modelltischler etc. alle ihre besonderen
Vereine, und die Eifersüchteleien und Zwis-
tigkeiten unter diesen ^delen Vereinen der
Arbeiter desselben Gewerbes brachten den-
selben den mannigfachsten Schaden. In der
Maschineuindustrie hatten einzelne Gewerk-
vereine deshalb schon zu Beginn der vier-
ziger Jahre eine Vereinigung mit anderen
Vereinen ihres Gewerbes erstrebt. Erst
eine langwierige Arbeitseinstellung im Jahre
1844 aber brachte die Notwendigkeit einer
solchen Vereinigung zum Bewusstsein der
Mehrheit der in der Maschinenindustrie Be-
schäftigten, und nach langen Verhandhnigen
wurde endlich 1850 die Verschmelzung aller
Gewerkvereine der zur Maschinenindustrie
gehörigen Arbeiter in einen einzigen Verein
beschlossen. Die am 1. Januar 1851 ins
Leben getretene Vereinigte Gesellschaft der
Maschinenbauer umfasst nicht niu* die grosse
Mehrheit aller Maschinenbauer von (}toss-
britannien und Irland, sondern auch auf
Canada, die Vereinigten Staaten von Amerika,
Australien, den Norden Frankreiclis und den
Orient ei-strecken sich ihre Zweige. Wohin
immer englische Maschinenbauer kommen, da-
hin nehmen sie ihren Gewerkverein mit.
Nach diesem Vorgange der Maschinenbauer
liaben sich seitdem in den meisten Gewerben
Englands die Gewerkvereine zu einer ein-
zigen, die grosso Melu'zahl der Arbeiter des
Gewerbes umfassenden Gesellschaft vereinigt,
üeber das Wirken der Gewerkvereine auf
Gnind dieser Verfassung vgl. den Art. Ge-
werkvereine im allgemeinen sub 4.
oben S. 617 ff.
11. Wandlung im Geiste der G.
Nach dem Fehlschlagen der sozialen und
politischen Bestrebungen der 30 er und
40 er Jahre trat ein Umschwung im Geiste,
der die Gewerkvereine beseelte, hervor. Das
Ehepaar Webb schildert ihn mit folgenden
Worten: »Die Gewerkvereine liessen aDe
Projekte sozialer Revolution bei Seite,
setzten resolut ihre ganze Kraft ein, den
schlimmsten gesetzlichen und wirtschaft-
lichen Bedrückungen, unter denen sie litten,
Widerstand zu leisten, und bauten langsam
die Organisationen aus, die ein integrieren-
der Teil der modernen Wirtschaftsorganisa-
tion geworden sind. Wir sehen die Haupt-
ursache dieses Erfolges in der Ausbreitimg
von Bildung unter der Masse und in den
praktischen Gesichtspunkten, die seit 1892
m der Gewerkvereinswelt die Oberhand er-
lüelten. Indes dürfen wir die Wirkungen
der eintretenden wirtschaftlichen Verände-
rung nicht übersehen. Die Periode 1825
bis 1848 ist durch die Häufigkeit imd Hef-
tigkeit der wirtschaftlichen Krisen bemerkens-
wert. Seit 1850 (d. h. seit Begrinn der
Aera des Freihandels) war der wirtschaft-
liche Aufschwung für viele Jahre grösser
und stetiger als in jeder vorausgegangenen
Periode. Es ist kein blosser Zufall, dass
diese Jahre des Wohlstandes die Annahme
eines »neuen Musters« der Organisation
seitens der GewerkN-ereinswelt sehen, einer
Organisation, unter der die Gewerkvereine
eine finanzielle Stärke, einen gelernten Stab
besoldeter Beamter und einen bleibenden
Bestand von Mitgliedern erhielten, wie sie
bisher unbekannt waren«. »Es entstanden
die grösseren »Vereinigten Gesellschaften«
aller gelernter Arbeiter zusammengehöriger
Gewerbe, welche Hilfskassenzwecke mit Ge-
werkvereinszweckeu verbanden und, wo
immer möglich, »eine industrielle Diplo-
matie« an die Stelle der rauheren Methode
des Klassenkriegs setzten«.
Dabei darf man aber nicht glauben^ dass
sich mit dieser Wandlung zum Praktischen
auch die Ideale dorGewerkvereinler geändert
hätten. Von Wichtigkeit ist dabei insbe-
sondere, zu bemerken, dass Owens Agitation
gegen die auf der Konkurrenz beruhende
Wirtschaftsorganisation in den englischen
Arbeitern ein nachhaltiges Verlangen nach
planmässigor Regelung der Produktion her-
vorgerufen hat. So verlangte 1844 der Ver-
ein der Grubenarbeiter in einer an die
Grubenbesitzer gerichteten Adresse ein
Lohnminimum; dazu sollen die Grubenbe-
sitzer so viel drauf schlagen, als sie als ge-
Gewerkvereine (England)
631
hörigen und vernünftigen Gewinn ihres
Kapitals ansehen , und um die Kohlenpreise
auf einem Satze zu halten, der sie in stand
setzt, diese Löhne zu zahlen und diesen
Gewinn zu realisieren, sollen sie sich, statt
mit einander zu konkurrieren, kartellieren.
Diese Auflassimg haben wichtige Bnichteile
der englischen Gewerkvereine seitdem unun-
terbrochen festgehalten. Desgleichen ist zu
betonen, dass gerade die leitenden Geister,
welche das »neue Muster« ausgebildet und
mit unübertrefflicher Geschicklichkeit ge-
leitet haben, überzeugte Oweniten waren
und blieben. Aber der Unterschied gegen
die 30 er Jahre war der, dass die 0 wenschen
Ideeeu den Charakter von Idealen, von
»Sonnta^ideeen« annahmen, denen man wie
süssen Träumen an ein besseres Jenseits
sich hingab, während man an Werktagen
äusserst opportunistisch seine Politik den
gegebenen Verhältnissen des Augenblickes
anpasste. In den praktischen Fragen des täg-
lichen Lebens stellte man sich resolut auf die
Basis der herrschenden ökonomischen Doktrin,
dass der Lohn durch Angebot und Nach-
frage bestimmt werde. Dagegen anzu-
kämpfen fiel niemand mehr ein. Allein man
verlangte nur, ebenso wie andere Warenver-
käufer das Angebot ihrer Ware, so das der
Arbeit der Nachfrage anpassen zu können,
und zu diesem Zweck hielt man teils an
Einrichtungen, die aus der alten gewerb-
lichen Ordnung überkommen wai^en — wie
an der Regelung der Lehrlingszahl und
an dem Ausscliluss nicht gelernter Arbeiter
— fest, teils suchte man durch moderne
Massnahmen — wie Regelung der Arbeits-
zeit, insbesondere des üeberzeitarbeitens,
und dm'ch Organisation der Auswanderung
— auf das Angebot einen Einfluss zu ge-
winnen. So hoffte man, in stand gesetzt
zu werden, eventuell wie andere Warenver-
käufer bei ungenügendem Preise seine Ware
vom Markte zurückhalten zu können, bis
deren Preis wieder stieg. Man bildete den
Gewerkverein aus zur natürlichen und not-
wendigen Ergänzung der Nationalökonomie
auf Grundlage vollkommener Freiheit. Da-
bei waren es nunmehr gerade die Gewerk-
vereine, welche den Arbeitgebern vorzu-
führen suchten, dass die Interessen von Ar-
beitgebern und Arbeitern identisch seien.
Man suchte die alte gesetzliche Lohnrege-
lung, wie sie sich am längsten bei den Sei-
denwebem erhalten hatte, zeitgemäss umzu-
gestalten, indem man nach Lohnregelung
in Schieds- und Einigungsämtern durch eine
gleiche Anzahl von Arbeitgebern und Arbei-
tern verlangte. Auf Seiten der Gewerkver-
eine entstand ein allgemeines Verlangen,
die ftVr die Lage der Arbeiter massgebenden
wirtschaftlichen und sozialen Thatsachen
kennen zu lernen. Wie alle Arbeitsbedin-
gimgen, so sollten die Schieds- imd Eini-
gungsämter insbesondere die Lohnsätze auf
Grund dieser Thatsachen den Principien der
Nationalökonomie gemäss festsetzen.
Nicht minder opportunistisch verfulir
man in politischen Dingen. Es ist fast
selbstverständlich, dass die enorme Mehrzahl
der Ge werk verein 1er allezeit für das allge-
meine Wahlrecht und sonstige weitgehende
politische Forderungen war. Aber dies
waren sie nur individuell — als private
Bürger. Dagegen hielt man streng auf die
Fernhaltung aller Politik und aUer Religion
von den Gewerkvereinen als solchen. Die
Erfahrung hatte gelehrt, dass nur bei sol-
chem Verhalten innerhalb der Gewerkver-
eine die nötige Eintracht zu erhalten und
von den herrschenden Parteien die im In-
teresse der Gewerkvereind unentbehrlichen
gesetzlichen Reformen zu erreichen seien.
So gelang es, den Gewerkverein zu dem zu
machen, was er wirklich geworden ist, zur
Organisation der Arbeiterklasse.
12. Die G. nnd die öffentliche Meinung
von 1826—1868. In den 30er und 40er Jahren
des 19. Jalirhunderts litten die Gewerkvereino
unter der äussersten Ungunst seitens der
öffentlichen Meinung und der Gesetzgebung.
Wenige Tage nachdem Lord Melbourne, der
Whigminister, 1830 sein Amt angetreten,
that er Schritte, um womöglich die Gewerk-
vereine imterdrücken zu können. 1838
wurde ein Parlamentsausschuss in gleicher
Hoffnung niedergesetzt, desgleichen 1856.
Die Tagespresse wie die Monats- und Vier-
teljahrsschriften waren voll von überschäu-
menden Denunziationen der Gewerkvereine.
Nachdem die christlichen Sozialisten 1851
den ersten Versuch gemacht hatten, das
Publikum zu einer gerechteren Beurteilung
zu veranlassen, setzte im Gefolge des Ar-
beitsstillstandes im Londoner Baugewerbe
1859 die Gesellschaft zur Fördenmg der
Sozialwissenschaften einen Ausschuss zur
Untersuchung der Gewerkvereine ein. Ihm
gehörten neben den clu-istiichen Sozialisten
Maurice, Hughes und Ludlow, die National-
ökonomen Fawcett und Jevons, 12 spätere
Parlamentsmitglieder, 4 spätere Minister,
5 spätere Kronbeamte, 12 Männer der
Wissenschaft und Litteratur an. Sein Be-
richt, der 1860 veröffentlicht wurde, war
7 »
der erste systematische Versuch, die Ge-
werkvereine gerecht zu beurteilen, und wurde
der Ausgangspunkt alles ehrlichen Studiums
der Arbeitemage. Allein die den Arbeit-
gebern so genehme Beurteilungsweise Hess
sich aus der öffentlichen Meinung nicht so
leicht verdrängen. Da traten Ereignisse ein,
welche den Arbeitgebern noch einmal —
es war dies das letzte Mal — Gelegenheit
geben sollten, die öffentiiche Entrüstung
gegen die Gewerkvereine als kriminelle Ver-
632
Gewerkvereine (England)
schwörungen zu entfesseln. Die zurück-
gebliebenen Organisationen der Ziegel-
sti'eicher zu ^lanchester und der Sägen-
ßchleifer zu Sheffield hatten eine Anzahl
nichtswürdiger Verbrechen gegen Nicht-
gewerkvereinler begehen lassen und die
Vollzieher ihrer Befehle aus Vereinsmitteln
dafür bezahlt. Abermals ging ein Schrei
des Entsetzens durch das Land, und die
Arbeitgeber verlangten ungestüm nach Unter-
drückung aller Gewerkvereine durch Gesetz.
Eine üntersuchungskommission wvuxle nieder-
gesetzt, um das dazu nötige Material zu
beschaffen, und nur mit Mühe gelang es,
dem christlichen Sozialisten Thomas Hughes
luid dem Positivisten Froderic Harrison als
Verteidigern der Gewerkvereine Sitz und
Stinmie in dicvser Kommission zu verschaffen.
Gleichzeitig erklä^ten die Gerichte, dass die
Gewerkvereine kein Recht hätten, ihre Be-
amten, wenn sie Ge werk Vereinsgelder unter-
schliigen, gerichtlich zu verfolgen. Indes
die Einleitung der Untersuchung, welche
die Schande der G^werkvereine enthüllen
sollte, endete zu deren Ruhm. Die Unter-
suchungakommission musste konstatieren,
dass Gesetzesverletzungen wie die von Man-
chester und Sheffield früher allgemein, jetzt
aber bei den Arbeitern keines anderen Ge-
werbes und keines anderen Ortes melir vor-
kämen. Die gegen die Gewerkvereine ge-
richteten Anklagen brachen angesichts der
Ergebnisse der Untersuchung zusammen, und
umgekehrt verlangten die Angeklagten nun-
mehr Gerechtigkeit. Statt eines scharf-
sinnig erfundenen und kräftig diu'chgeführten
Systems der Unterdrückung der Arbeiter-
koalitionen, wonach viele verlangt hatten,
traten Aenderungen in der entgegengesetzten
Richümg ein.
18. Die gesetzliche Anerkennniig der
G. Die erste Folge der stattgefundenen
üntereuchung war ein provisorisches Gesetz
von 1869 zum Schutze des Gewerkvereins-
vermogens gegen Diebstahl und Unter-
schlagung. Es ist ein Ruhmesblatt in der
Geschichte der englischen Arbeiterbewegimg,
dass, wie soeben bemerkt, die Gelder der
Ge werk vereine bis dahin jedweden gesetz-
lichen Schutzes entbehrt hatten; allein, ob-
wohl ihre Gelder somit vogelfrei waren,
erecheint die Zahl der Diebstähle und Unter-
schlagimgen, die stattgefunden hatten, mini-
mal, auch ohne dass man sie mit den zahl-
reichen Fällen von Diebstahl imd Unter-
schlagimg bei den so sorgfältig geschützten
Versichenmgs- oder Aktiengesellschaften
vergleicht. Allein der Triumph der Gewerk-
vei-eine erfolgte erst in dem Trade Union
Act von 1871, zu dem 1876 eine Novelle
89 und 40 Vict. c. 22 erlassen wurde.
Durch ihn wurden die Gewerkvereine aus-
<lrücklich für nicht kriminell erklärt. Ferner
wurde bestimmt: >^Die Zwecke eines Ge-
werkvereins sollen nicht deshalb, weil sie
eine Beschränkung der Gewerbefreiheit be--
deuten, als ungesetzlich erachtet werden, so
dass sie irgend eine Vereinbarung oder
Geldanlage derselben ungültig machen.«
Dagegen wurden die von den Mitgliedern
der Gewerkvereine getroffenen Vereinba-
rungen über die Arbeitsbedingungen für
nach wie vor unklagbar erklärt. Diejenigen
Grewerkvereine, welche ihre Statuten regis-
trieren lassen würden, erhielten ausserdem
Korporationsrechte ; sie erhielten den Schutz
ihrer Gelder, das Recht, Land zu erwerben,
und das jus standi in judicio.
Diesem Gesetze trat ein anderes gleich-
zeitig erlassenes ergänzend zur Seite, um
die strafrechtlichen Bestimmungen über Ge-
walt, Drohungen und Belästigungen zu ver-
bessern. Allein da dieses Gesetz von 1871
in der Hand gewerkvereinsfeindlicher Advo-
katen und Richter noch zu Missdeutungen
Anlass gegeben, wurde es durch das Ver-
schwörungsgesetz von 1375 beseitigt. Im
III. Abschnitte desselben werden alle auf
Förderung der Koalitionszwecke gerichteten
Handlungen legalisiert, welche nicht durch
das Gesetz ausdrücklich für strafbar erklärt
sind. Für strafbar erklärt wu*d nämlich
nur der Zwang, wenn die zu seiner Ver-
wirklichung angewendeten Mittel bestehen
1. in Gewalt, Bedrohung der Person und
Vermögensbeschädigung, oder 2. in unlieb-
samen, als Belästigung zu charakterisierenden.
Massnahmen gegen die Person oder deren
Erwerbsthätigkeit. Massnahmen der letzt-
gedachten Art sind im näheren bezeichnet
als a) unablässiges Nachgehen von Ort zu
Ort; b) Versteck von Werkzeug, Kleidungs-
oder sonstigen Vermögensstücken l)ezw.
deren Fortnahme (in nicht diebischer Absicht)
oder Verhinderung an dem Gebrauche der-
selben; c) Ueberwachung oder Umstellung
des Wohnhauses bezw. des Arbeits- und
Geschäftsraumes oder der Zugänge zu der-
artigen Räumen (Ausstellen von Schild-
wachen), wohin jedoch das Ausstellen von
Schild wachen in der Nähe des Hauses oder
ein Warten bei demselben lediglich in der
Absicht der Erlangung oder Vermittelung
von Nachrichten nicht zu rechnen ist; d)
Verfolgimg in Begleitung zweier oder
mehrerer Personen auf ungehörige Art durch
die Strassen. Der Bruch des Arbeitsver-
trages wird nur noch für strafbar für den
Fall erklärt, dass die Handlung in vorbe-
dachter und böslicher Weise geschieht oder
der Handelnde, gleichviel ob er allein oder
in Gemeinschaft mit anderen verfährt, davon
Kenntnis oder doch zu der Annahme hin-
reichenden Grimd hat, dass die wahrschein-
liche Folge seines Vertragsbruches sein
wei-de, Menschenleben zu gefährden oder
Gewerkvereine (England)
633
Menschen ernstliclien Körpersohaden zuzu-
fügen oder wertvolle Vernaögensstücke,
gleichviel ob beweglicher oder unbeweglicher
Art, der Zerstöning oder ernstlichem Schaden
auszusetzen. Die gleiche Strafe soll bei
Arbeitsvertragsbruch Personen treffen, wel-
che im Dienste städtischer Gas- oder Wasser-
leitimgsuntemehraungen angestellt, Kenntnis
oder doch zu der Annahme hinreichenden
Grund haben, dass die wahrscheinliche Folge
ihres Vertragsbruches die sein wtirde, den
Bewohnern der Ortschaft die Gas- oder
Wasserzufuhr gänzlich oder in erheblicher
Weise abzuschneiden.
14. Die Anerkennung der 6. in der
„Gesellschaft". Eine weitere Folge der
Untei*suchung durch die königliche Kom-
mission war, dass die Gewerkvereine von
den herrschenden Klassen als regelmässiges
Glied der bestehenden Gesellscliaftsorgani-
sation recipiert wurden. Einer der Gewerk-
verein ssekretäre wurde zum Unterstaats-
sekretär gemacht, ein anderer zum Vor-
stande der Abteilung filr Arbeit im Handels-
ministerium, wieder andere zu Friedens-
richtern, zu Fabrikinspektoren; um es kurz
zu sagen, wie die übrigen als »respectable«
angesehenen Gesellschaftsklassen erhielten
sie einen Anteil an der Regierung und
Verwaltung des Landes, — der zahlreichen
Gewerkschaftssekretäre, die ins Parlament
eintraten, ganz zu geschweigen. In allen
die Arbeiter eines Gewerbes betreffenden
Angelegenheiten gelten ferner die Gewerk-
vereine als die Organisationen des betreffen-
den Gewerbes und ihre Führer als die
legitimen Vertreter derselben. Damit hängt
zusammen, dass die Behörden die Arbeits-
bedingungen in Bezug auf Arbeitslohn und
Arbeitszeit, auf welchen die Gewerkvereine
als auf den Arbeitsbedingungen ihres Ge-
werbes bestehen, den von ihnen abge-
schlossenen Kontrakten zu Grunde zu
legen beginnen.
15. Die G. nnd die gewerbliche De-
pression 1873 — 1888. Eine kritische Zeit
bildete für die Gewerkvereine die Periode
der Depression, die nach 1873 eintrat und
1878 — 79 ihren Höhepunkt erreichte. Die
Zahl der arbeitslosen Mitglieder stieg in
einzelnen Gewerkvereinen bis auf 22^/o der
Mitgliederzahl, der Betrag der den Arbeits-
losen gewährten Unterstützung belief sich
in einigen Gewerkvereinen bis auf 4 £ 13 sh
8^/4 d pro Kopf der Mit^üederzahl, und der
Gesamtbetrag der an die Arbeitslosen ge-
währten Unterstützungen war während des
Jahwes 1879 selbst in den bestorganisierten
Gewerkvereinen grösser als die Jalu'esein-
nahme. Die Feinde der Gewerkvereine, die
von der rechten wie die von der linken
Seite, jubelten laut auf; der Bankerott der
Gewerkvereine schien vor der Thüre zu
stehen, und in der That gingen eine Anzahl
schlecht organisierter Gewerkvereine zu
Grunde. Allein die auf der oben geschil-
derten Grundlage organisierten Vereine be-
standen die Prüfung, und als der indus-
trielle Aufschwung von 1888 — 90 einsetzte,
wurde durch die statutenmässig vorgesehenen
Umlagen der Reservefonds soweit wieder
gefüllt, um einer abermals herannahenden
Periode der Depression begegnen zu können.
16. Lokale, national^ nnd internationale
Verbindungen unter den G. In die Zeit
nach 1870 fällt gleichfalls die grössere Ver-
breitung von lokalen Gewerkvereins-
verbänden (Trades* Councils) und die Ent-
wickelung der Gewerkverein skongresse. Die
ersteren sind lokale Verbände der an einem
Orte vertretenen Gewerkvereine, welche den-
selben beitreten wollen. Sie haben kein
Recht, in die inneren Angelegenheiten der
einzelnen Gewerkvereine einzureden. Auch
die Beschlüsse, die sie innerhalb ihrer
Sphäre fassen, haben für die ihnen zuge-
hörigen Gewerkvereine keine bindende Kraft.
Sie dienen besonders dazu, die Berechtigung
der Arbeitsstreitigkeiten solcher Gewerkver-
eine zu prüfen, welche von anderen Ver-
einen Unterstützung begehren, sowie eine
solche Unterstützung eventuell zu vermitteln.
Auch dienen sie der Beilegung von Streitig-
keiten der verschiedenen Gewerkvereine
untereinander. — Der erste Gewerk-
verein skongress trat 1868 in Manches-
ter zusammen, um das Verhalten der Ge-
werkvereine gegenüber der oben erwähnten,
1867 niedergesetzten königlichen Kommission
zur Untersuchung der Gewerkvereine zu
beraten. Seitdem tagt er alljährlich in einer
anderen Stadt. Der Zweck dieser Kongresse
ist in erster Linie, der Stellung Ausdruck
zu geben, welche die Gewerkvereine zu den
die Arbeiterinteressen berührenden Vorlagen
im Parlamente nehmen, und Gesetzesvor-
lagen im Arbeiterinteresse anzm^gen. Auf
jedem Kongresse wird zu diesem Zwecke
ein bleibender Ausschuss mit einem be-
zahlten Sekretär an der Spitze gewählt, der
die vom Kongresse gefassten Beschlüsse
auszuführen und die laufenden Arbeiter-
interessen im Parlamente wahrzunehmen
hat. — Weitergehende Verbindungen der
Gewerkvereine unter einander sind seit 1846
wiederholt versucht, aber bis jetzt stets
alsbald wieder aufgegeben worden. — Die
Gewerkvereine haben seit 1883 wiederholt
verschiedene aUgeraeine oder fachmässige
internationale Arbeiterkongresse beschickt
und bilden auf denselben regelmässig das
sachverständige und konservative Element.
Ihr Zweck dabei ist, den internationalen
Kartellen der Arbeitgeber mit internationalen
Verbänden zur Wahrung der Arbeiterinte-
ressen entgegenzutreten. Auch pflegen sie
634
Gewerkvereine (England)
sti'ikende Fachgenossen auf dem Kontinente
in Fragen, die ihre Intei'essen berühren,
mit Geldsendungen zu unterstützen; so
sandten sie über 3000 £ an die deutschen
Buchdrackergehillen während des Ausstan-
des von 1891; umgekehrt erliielten die
englischen Maschinenbauer während der
Aussperrung von 1897/98 von auswärts
Unterstützungen im Betrage von 28399 £,
darunter 14575 £ aus Deutschland.
17. G. der weiblichen Arbeiter. Die
gesellschaftliche Anerkennung, deren sich
die Gewerkvereine seit Beginn der 70 er
Jahre erfreuten, kam auch einer Klasse von
Ai'beitern zu gute, welche bis dahin von der
Gewerkvereinsbewegung völlig vernach-
lässigt worden war. Bis dahin waren die
Gewerkvereine den weiblichen Arbeitern
feindlich gegenübergestanden. Es war bis
dahin das Bestreben der englisclien Arbeiter
gewesen, die Frauen von der Erwerbsarbeit
auszuschliessen, weil die Frau ins Haus
gehöre. Wenn ihre Konkurrenz gegen die
männliche Arbeit aufhöre, werde der Lohn
der Männer auch so hoch steigen, dass die
Mitarbeit der Frau zur Ernähnmg der
Familie nicht mehr notwendig sei. Allein
nur in der Bergwerksarbeit wurde dies Ziel
insofern erreicht, als der Staat die Beschäf-
tigung von Frauen zuerst unter Tag und
dann auch an der Grubenmündung verbot;
dafür giebt es freilich besonders viel Frauen
von Grubenarbeitern als Arbeiterinnen in
der Textilindustrie. Da kam eine ehemalige
Arbeiterin, Miss Smith, die später einen
Drucker Paterson heiratete, auf den Ge-
danken, Gewerkvereine unter den weib-
lichen Arbeitern zu gnlnden. Der Gedanke
war der, die Löhne der Frauen mittelst der
Gewerkvereine auf die Höhe derjenigen der
Männer zu heben. Und nichts kann den
Fortschritt, den die Gewerkvereinsbewegung
in der öffentlichen Meinung gemacht hatte,
besser zeigen, als dass nunmehr Damen der
vornehmsten Kreise ihre bisherigen kost-
spieligen Lieblingsversuche zur Besserung
des Lohnes der weiblichen Arbeiter, die
bestenfalls darin endeten, die bisherigen
Betriebe mit weiblichen Arbeitern auf dem
Markte zu unterbieten und dadurch den
Lohn der nicht patronisierten Arbeiterinnen
noch mehr herabzudrücken, verliessen und
sich an die Spitze einer Bewegung zur
Organisation der weiblichen Arbeiter in Ge-
workvereine stellten. So entstand die
Women's Trades Union Provident League,
an deren Spitze liady Dilke, die Gräfin
Buchan, die Gräfin Portsmouth, Mrs. BcvSant,
Miss Abraham, Miss Black, Gräfin Aberdeen,
Miss Simeon u. a. stehen. Unter den Nähe-
rinnen, Wäscherinnen, Ladnerinnen, Ci-
gan-en- und Zündholzarbeiterinnen u. a.
wurden besondere Gewerkvereine ins Leben
gerufen, während die Weberinnen in York-
shire dem dortigen Gewerkvereine der Weber
beitraten. Nun fingen auch die Gewerk-
vereine der Männer an, zu erkennen, dass
die Organisation der weiblichen Arbeiter
ebenso in ihrem eigenen wie in deren In-
teresse gelegen sei, indem dadurch die
Herabdrückung der Arbeitsbedingungen der
Männer diu*ch die Konkurrenz der Frauen
verhindert werde. Daher beschloss der Ge-
werkvereinskongress zu Dundee (1889) " die
Organisation der weiblichen Arbeit und ihre
Unterstützung durch die bestehenden Ge-
werkvereine. Aber bis jetzt sind die Er-
folge der Gewerkvereinsbewegung unter den
englischen Arbeiterinnen noch nicht gross.
Vgl. unten sub 21 die Statistik.
18. 6. der nni^eleniteii Arbeiter. Ihre
Riickwirkiui^ anf die alten G. Bedeu-
tungsvoller als die Gewerkvereinsbewegung
unter den weiblichen war die seit 1887/88
beginnende Organisation der ungelernten
Arbeiter in Gewerkvereine. Bis dahin war
es der Vorwurf gewesen, den alle Gegner
der Gewerkvereine gegen diese erhoben,
dass sie unfähig seien, zur Hebung der Un-
gelernten zu dienen ; und in der That, wäh-
rend die Ansprüche, welche an die er-
worbene Geschicklichkeit der Gelernten ge-
stellt werden, die unbegrenzte Konkurrenz
anderer Arbeiter naturgemäss ausschliessen,
wird den Ungelernten die Abschliessung
nach unten, die ftlr eine starke Gewerk-
vereinsorganisation unentbehrlich ist, un-
gemein schwer. Auch waren die Erfolge
der Güwerkvereine der ländlichen Arbeiter
in den 70 er Jahren keine bleibenden ge-
wesen. Da gründete Ben Tillet 1887 The
Tea Operatives and General Ijabourers Union.
Aber erst nachdem mit Hilfe der ausser-
ordentlichsten Sympathie des Publikums 1889
die Dockarbeiter den grossen Strike ge-
wonnen hatten, kam die Gewerkvereins-
bewegung der Ungelernten in Fluss. In-
folge dieses Sieges schössen allenthalben
Gewerkvereine der Ungelernten wie Pilze
über Nacht hervor und erreichten wie im
Handumdrehen bis dahin unerhörte Mit-
gliederzahlen. Diese Gewerkvereine der
Ungelernten, die sogenannten »neuen Ge-
werkvereine«, unterscheiden sich von den
Gelernten durch verschiedene Merkmale,
von denen einzelne allerdings nur histori-
scher Natur sein, andere dagegen einen
inneren Grund haben dürften.
Es Miirde oben (sub 10) erzählt, dass
die Ge werk vereine der Gelernten ursprüng-
lich nur Strikeunterstützung, später nur
Strike- und Arbeitslosigkeits- und Begräbnis-
unterstützung gewährten und erst nach
langer Erfahrung dazu kamen, mit diesen
Unterstützungen au(*h die für den Fall von
Krankheit, Unfall und Alter zu verbinden.
Gewerkvereine (England)
635
Dies hatte die Wirkung, die Mitglieder der
Gewerkvereine auch in ruhigen Zeiten bei
der Fahne zu halten, sie damit f(ir den
Kriegsfall zu stärken, andererseits aber hat
es die alten Gewerkvereine äusserst konser-
vativ und vorsichtig gemacht, nicht durch
mutwillige Arbeitseinstellungen ihre Solvenz
zu gefährden. Dabei übersah man, dass
gerade das resolute Eintreten für Besserung
(ler Arbeitsbedingungen geeignet sei, den
alten Gewerkvereinen den wechselnden Zu-
tritt Jüngerer zu schaffen, die bereit waren,
durch ausserordentliche Umlagen die Mittel
zu liefeiTi, die der Verein benötigte, um
den an ihn gestellten Ansprüchen jederzeit
genügen zu können. Diese vorsichtige
Politik rief die lebhafte Opposition gei'ade
der Jüngeren hervor. Als nun neue Ge-
werkvereine aufkamen unter Arbeiterklassen,
die fürs erste noch nicht im stände sind,
die für so vielfache Versichenuig nötigen
höheren Beiträge zu leisten, suchten sie aus
der Not eine Tugend zu machen und wiesen
die Verbindung anderer Unterstützungen mit
der Strikeuntei-stützung principiell ziu'ück,
indem sie geltend machten, diese Verbindung
raaclie die Gewerkvereine zu bedächtig, eine
Arbeitseinstellung zu beginnen. Sie be-
fanden sich also thatsäclüich in dem Stadium
wie die alten Gewerkvereine vor etwa 60
Jahren, waren möglichst aggressiv, wie diese
es damals waren, und verlangten, dass der
Staat für jene übrigen UnterstützungszwecKe
fürsorge. Die Erfahrungen mit dem Dock-
arbeitervereine während des Wintei-s 1890/91
haben dann denen recht gegeben, welche
von dem Rückgange der Industrie er-
waiieten, dass er den aggressiven Cliarakter
der Ungelernten erheblich dämpfen werde,
und die Notwendigkeit die Leute bei der
Fahne zu halten, hat auch bei den »Neuen«
vielfach den Wunsch zum Ausdruck gebracht,
sobald die verbesserte Lage der Arbeiter es
erlaubt, noch andere Unterstützungen mit
der Strike- und Begräbnisunterstützung zu
verbinden. Daher denn auch die Gewerk-
vereine der Ungelernten anfangen ,Hilfskassen-
zwecke mit ihren Organisationen zu ver-
binden.
Dagegen bildet der ungelernte Chai-akter
der Arbeit der Mitglieder der »neuen Ge-
werkvereine« eine bleibende Schwäche ihrer
Organisationen, und es muss zweifelhaft
bleiben, ob es möglich sein wird, derselben
durch Schliessung der Mitgliederzahl der
Gewerkvereine dauernd vorzubeugen. Das
Gefühl dieser Schwäche bewirkt eine ver-
schiedene Haltung der neuen Gewerkvereine
sowohl rücksichtlich des Schieds- und
Einigimgsverfahrens als , auch der Staats-
intervention zu Gunsten der Arbeiter. Die
Ungelernten sind sich bewusst, im Dock-
strike von 1889 ebenso wie im Omnibus-
strike von 1891 niu* mit Hilfe der Sympathie
des Publikums den Sieg erfochten zu haben ;
sie glauben sich sicher, diese Sympathie
stets bei einem ausserhalb der Parteien
Stehenden zu finden, während gleichzeitig
die Beschäftigimgen , in denen sie thätig
sind, von selten des Schiedsrichters nicht
so sehr sorgfältige Abschätzungen der Markt-
lagen als vielmelir Erwägungen dessen, was
die öffentliche Meinung als zu einer ge-
sitteten Lebenshaltung unentbehrlich er-
achtet, erheischen. Die neuen Gewerkver-
eine glauben also gut zu fahren, wenn der
Schiedsspruch eines draussen Stehenden in
Arbeitsstreitigkeiten entscheidet, und sind
daher für staatliche oder kommunale Schieds-
und Einigungskammem mit gewerbsfremden
Unparteiischen. In den gelernten Gewerben
dagegen, in denen technische Kenntnisse
und Kenntnisse der Marktlage zur Fälhmg
des richtigen Entscheides unentbehrlich sind,
sind die Gewerkvereine heute aufs heftigste
gegen die. Schlichtung von Arbeitsstreitig-
keiten durch Gewerbsfremde; sie glauben
Differenzen in direkter Verhandlung zwischen
den beiderseitigen Organisationen der Ar-
beiter und Arbeitgeber allseitig befriedigen-
der beseitigen zu können.
Sodann nahm die Agitation für eine ge-
setzliche Begrenzung des Arbeitstags mehi*
und mehr zu. Nach heftigem Widerstand
der alten Gewerkvereinler erzielte dieselbe
auf den Gewerkvereinskongressen stets
wachsende Majoritäten. Aber andererseits
erkannte man, dass die Frage, ob die von
allen gleichmässig gewünschte Herabsetzung
des Arbeitstags durch Gesetz oder Gewerk-
vereinsmittel stattfinden solle, weniger eine
Principien- als eine Zweckmässigkeitsfrage
sei; man ist übereingekommen, dass diese
Frage der Entscheidung eines jeden Ge-
werbes zu überlassen sei, und der Streit
dreht sich nunmehr darum, ob gesetzlich
bestimmt werden solle, dass es von der
Mehrheit eines Gewerbes abhänge, ob der
Achtstundentag in ihm zur Anwendung
kommen solle, oder ob das Gesetz den
Achtstundentag einführen und bestimmen
solle, dass es von der Mehrheit eines Ge-
werbes abhänge, ob er in ihm nicht ziu*
Anwendung kommen solle.
Noch wichtiger ist die Entwickelung der
Frage des Lohuminimums. Als die Kon-
junktur zu Beginn der 90 er Jahre wieder
zmückging, zeigte sich, dass die Gruben-
besitzer mit Rücksicht auf den erwarteten
Rückgang lange Kontrakte abgeschlossen
hatten und zwar zu exorbitant niedrigen
Preisen, um sich auch bei rückgängiger
Konjunktur einen steten Absatz zu sichern.
Da die in der englischen Bergwerksindustrie
vielfach zur Anwendung kommenden Lohn-
skalen es mit sich brachten, dass die Löhne
636
Gewerkvereine (England)
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638
Gewerkvereine (England)
entsprechend den sinkenden Preisen herab-
gingen, waren die Gnibenbesitzer im stände,
sich für die niedrigen Kontraktpreise schad-
los zu halten, und wälzten so das Risiko
der niedergehenden Konjunktur vom Unter-
nehmer auf den Arbeiter ab. Da trat die
Bedeutung eines Lohnminimums, unter
welches die Lohnskala niemals herabgehen
dürfe, wieder hervor. Als bedeutungsvolles
Symptom zeigte sich ferner das Wiederauf-
tauchen des Projektes einer planmässigen
Regelung der Produktion durch Kartelle,
welche die Grubenarbeiter bereits 1844 ge-
fordert hatten. Aber diesmal waren es
nicht die Grubenarbeiter, welche sie for-
derten, sondern Sir George EUiot, einer der
grössten Grubenbesitzer Englands.
Als letztes sei endlich genannt das
Schwinden des exklusiven Geistes in den
alten Gewerkvereinen und ihr Streben, an
Stelle der minimalen Arbeitsbedingungen,
was Lohn imd Arbeitszeit angeht, auf denen
sie bisher zu Gunsten ihrer Mitglieder be-
standen, die Forderung zu setzen, dass Staat
und Gemeinden keine Arbeiter zu anderen
als diesen Bedingungen beschäftigen imd
dass sie Arbeiten nur an solche Arbeitgeber
begeben, die diese Minimalbedingungen be-
willi^n. Vermöge des Einflusses, den die
Arbeiter mit dem geschilderten Siege ihrer
Gewerkvereine seit Beginn der 70 er Jahre
in Staat und Gemeinde erlangt haben, sahen
sie diese ihre Forderung in steigendem
Masse erfüllt.
19. Wirknni^eii der Neaernngen. Im
Juni 1891 wurde, wesentlich veranlasst
durch das Auftreten der neuen Gewerk-
vereine, abermals eine königliche Kommission
niedergesetzt, um die Arbeiterverhältnisse
imd Arbeiterorganisationen einer erneuten
Untereuchung zu unterziehen. Es ist be-
merkenswert, dass zu der Zahl der Kom-
missare nicht bloss hervorragende Paila-
mentarier, Professoren, Beamte und Arbeit-
geber, sondern auch hervorragende Führer
der alten wie der neuen Ge werk vereine ge-
hörten. Die Untersuchung hat keine andere
Folge gehabt als die Veröffentlichung
äusserst umfangreichen und wertvollen
Materials über Organisationen von Arbeitern
und Arbeitgebern in aller Herren Ländern,
namentlich aber in England.
Ferner haben die Triumphe, welche die
Gewerkvereine im Parlament und bei ihren
Bestrebungen, die Lage der Arbeiter zu
bessern, feierten, viele Arbeitgeber mit Ent-
setzen erfüllt. Bereits Ende 1873 war ein
>Nationaler Bund vereinigter Arbeitgeber«
gegründet worden, da die »freiwilligen und
intermittierenden Anstrengungen einzelner
Arbeitgeber«, ja selbst die von Arbeitgeber-
vereinen, wenn sie sich nur auf ein Ge-
werbe 0(ler einen Ort beschränkten, lülflos
seien gegenüber »der ausserordentlichen Ent-
wickelung, den weitgehenden, eingestandenen
Absichten und der durchgearbeiteten Organi-
sation der Gewerkvereine«. Dieser Bund
hat nie andere Bedeutung erlangt als die,
durch seine üebertreibimgen für die Ge-
werkvereine Propaganda unter den eng-
lischen Ai'beitem zu machen. Als dann die
deutsche Industrie seit den 70 er Jahren
Riesenfortschritte machte, blickten viele
englische Arbeitgeber mit Neid nach Deutsch-
land und sahen statt in den enormen tech-
nischen Fortschritten vielfach in dem that-
sächlichen Fehlen der Koalitions- und Or-
ganisationsfreiheit der deutschen Arbeiter
die Ursache des deutschen Aufschwungs.
Die Folge war eine atomistische Reaktion:
an die Stelle des kollektiven Abschlusses
des Arbeitsvertrags sollte wieder die Ver-
handlung mit isolierten Arbeitern treten.
Das Bestreben, die Gewerkvereine zu »zer-
schmettern«, kam wieder auf. Die Folge
war die Aussperrung der Maschinenbauer
im Jahre 1897/98. Endete diese auch mit
einer Niederlage der Arbeiter in Einzel-
heiten, so wurde in dem Friedensschluss
die Politik des »Zerschmetterns der Gewerk-
vereine« doch aufgegeben. Es wurde in
diesem 1. das Pnncip des gemeinsamen
Verhandeins der Arbeiter ausdrücklich an-
erkannt: 2. desgleichen das Recht des Ge-
werkvereins, in jedem Streite oder bei einem
angeblichen Missstand zu intervenieren;
3. es wiu'de ausgesprochen, dass die Ar-
beitgeber keine besonders bevorzugte Klasse
von Arbeitern (Nichtgewerkvereinlern) ins
Leben rufen würden, und 4. Gewicht darauf
gelegt, dass die alten Beziehungen, wie sie
vor der Aussperrung bestanden, forterhalten
würden. Damit ist der alte Ruf der eng-
lischen Arbeitgeber, dass sie keine roman-
tische Politik der Wiedereinführung unter-
gegangener Herrschaftsverhältnisse ver-
folgten, wiederhergestellt.
21. Statistik der G. Es ist nicht mög-
lich, eine vollständige Statistik der Mitglieder-
zahl der Gewerkvereine in den verschiedenen
Perioden zusammenzustellen. Die Eisen-
giesser allein besitzen zuverlässige Ziffern
fiir die Zeit seit ihrer Gründung im Jahre
1809; einige andere noch besitzen ein paar
Ziffern aus älterer Zeit. Aber es giebt
keine Ziffern, die sich auf die Gesamtheit
der Gewerkvereine in früherer Zeit be-
ziehen und die mit denen der Gegenwart
verglichen werden könnten. Im Jahre 1887
hat das engüsche Handelsamt die erste
Statistik der Gewerkvereine veröffentlicht.
Seit der Zeit wird für jedes Jahr ein Bt^
rieht veröffentlicht.
In dem ersten Berichte waren niu' 18
der grössten Gewerkvereine behandelt; der
Bericht für 1898 behandelt nicht weniger
Gewerkvereiae (England)
639
als 1267. Zu Beginn des Jahres 1898 waren
dem Handelsamt 1307 Gewerkvereine be-
kannt; Ende 1898 nur noch 1267. Die Ab-
nahme von 40 erklärt sich daraus, dass die
Zahl der im Laufe des Jahres aufgelösten
Vereine (56) zusammen mit der Zäiil der-
jenigen, die sich mit anderen verschmolzen
haben (19) um 40 die Zahl (35) der im
Jahre neugebildeten Vereine übertroffeu hat.
In derselben Zeit ist aber die Zahl der
Zweigvereine von 13335 auf 13738, die Zahl
der Mitglieder von 1611384 auf 1644591
gestiegen. Von der Gesamtzahl der Ende
1898 existierenden Gewerkvereine waren 594
mit 1234635 Mitgliedern registriert, die
übrigen nicht registriert.
140 Gewerkvereine hatten auch weibliche
Mitglieder und zwar 116016. Die ^sse
Zahl dieser gehört der Textilindustrie an,
nämlich 106470, und hiervon gehören 87%
zur Baumwollindustrie. Die Melirzahl der
weiblichen Gewerkvereine gehörten zu Ver-
einen, welche sowohl Männer wie Frauen
umfassten. Nur 29 Vereine mit 7785 Mit-
gliedern bestanden ausschliesslich aus Ar-
beitern weiblichen Geschlechts.
Was das Verhältnis der Zahl der Ge-
werkvereine zur Gesamtzahl der Arbeiter
der betreffenden Gewerbe angeht, so ist es
nicht möglich, exakte Angaben zu machen;
die Schwierigkeit wurzelt in der Bestim-
mung der Zahl der Ai^beiter, mit der die
der Gewerkvereinler zu vergleichen ist.
Die Zahl der Arbeiter eines Gewerbes,
welche Mitglieder der Gewerkvereine wer-
den könnten, kann nicht genau angegeben
werden. Nach einer Schätzung des Han-
delsamts gehört ein Fünftel der Arbeiter-
schaft den Gewerkvereinen an; sieht man
vom Ackerbau ab: ein Viertel. Von den
in Fabriken und Werkstätten beschäftigten
Frauen gehört ein Zehntel zu den Gewerk-
vereinen.
Die folgende Tabelle giebt die Zahl der
Mitglieder sämtlicher Gewerkvereine, wie
sie sich auf die verschiedenen gewerblichen
Gruppen am Ende eines jeden der Jahre
1892—1898 verteilten:
Gewerbliche Gruppe
Baugewerbe ....
Bergwerksindnstrie . .
Metallg^ewerbe ....
Textilindustrie . . .
Bekleidimgsge werbe
Verkehrsgewerbe
a) Eisenbahnen . .
b) anderer Verkehr .
Druckerei
Holzarbeiter ....
Arbeiter im allgemeinen
Verschiedene Gewerbe .
Summe
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
160388
175379
181 648
181 901
196 274
219 401
235 862
315098
318 142
307 772
279 559
279429
282 432
352 826
278 159
265 256
263 027
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302471
318 180
307 902
204 039
205431
215289
218709
218233
217 7j6
213776
83 114
80580
81 591
78361
76708
75619
70344
46453
47765
53893
51 220
58852
loi 880
67944
107 484
94074
69883
69 132
75 974
81993
79 354
45291
46725
47886
49060
50956
52570
53970
31 811
. 31890
30696
31839
36618
38564
37841
100909
84880
75420
66 192
74169
92862
97080
128337
128 814
III 561
112 691
123691
130 167
127 692
1 501 083
I 478 936
I 438 666
I 406 647
I 493 375
I 611 384
1644591
Von den Arbeitern in Staats- und
Kommunalbetrieben waren im Jahre 1898
41038 in 32 Gewerkvereinen organisiert,
wovon 10 registriert, 22 nicht registriert
waren. 15 dieser Gewerkveieine kamen
auf die Betriebe der Admiralität, 1 auf die
Artillerie Werkstätten, 6 auf den Postbetrieb,
3 auf Betriebe des Kriegsministeriums, 1 auf
Jahr
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
Einnahmen
I 459214
I 619798
I 632 243
I 559914
I 675 535
I 981 251
1915455
Prozentuale Zunahme (+) ^ ^«q« / v
resp. Abnahme {—) von } -,2qo > 1 < ^7,
1898 verglichen mit j ^^^ (+^ ^1,3
die Zollamtsbediensteten, 8 auf englische,
1 auf ' schottische, 4 auf irische Kommunal-
betriebe.
Die folgende Tabelle giebt eine Ueber-
sicht über die finanzielle Lage von 100 der
gnSssten Gewerkvereine während der 7 Jahre
1892—1898.
Ausgaben
£
1 421 169
I 854 999
I 435 804
I 391 908
I 235 720
I 898 095
I 489 67 1
(-) 21,5
(+) 4,8
Vermögens-
beptand am
Ende des
Jahres
£
1 616800
I 381 599
I 578 038
1 746 044
2 185 859
2269015
2 694 799
(+) 18,8
(+) 66,7
Mitglieder-
zahl am Ende
des Jahres
909648
914311
928 105
917950
964809
I 065910
1 043 476
(-) 2,1
(+) 14,7
640
Gewerkvereine (Englaad)
Von den hier verzeichneten Ausgaben ! 2 473 036 £' oder 23**/o, auf die von Arbeits-
fielen auf die Unterstützung in Streitigkeiten j losen und andere Unterstützungen 6358609 £
Uebersicht über die Ausgaben des Gewerkvereins der "Vereinigten Maschinen-
Zahl
Geschenk
Kranken -
Alters-
1
ünfaU-
der
Unterstützung
unterstützong
Unterstütznng
Jahr
Mit-
glie-
der
Jährl.
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Jährl.
Bp-
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Dez.
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I 802
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0 6
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10757
2622
0
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4047
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12278
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t 8 07,
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13405
12803
0
19 1V4
5292
7 10« 4
714
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450
0 8
1857
14299
14 160
0
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8 474
898
I 3
I 150
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1868
15 194
35390
2
6 7
6778
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1449
I II
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I 10
1869
17790
15863
0
17 10
8094
9 1
2 109
2 4V.
600
0 8V4
1860
20935
7841
0
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2370
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17777
10 7V4
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34 711
32707
0
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18 195
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Gesamtbetrag der Ausgaben in 48 Jahren 5 319300 £, pro Mitglied 114 £ 13 s 674 d.
Gewerkvereine (England)
641
oder 59 ®/o, auf Verwaltnngskosten 1 895721 1
(Hier 18 »/o.
Die Höhe der Mitgliederbeiträge ist in
den einzelnen Gewerkvereinen selir ver-
hauer während 48 Jahre und der Teberschüsse am Ende jedes Jahres.
Begräbnis-
WohlthStigkeits-
Unterstützung
Betrag
Unterstützung
kasse
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94
77.
Handwö]
rterbnch der Sti
lAtBWiBSeilBCh
•ften. Zweite
Auflage.
IV.
41
642
Gewerkvereine (England)
n. Monatsdurchschnittszahl der Mitglieder der Gewerkvereine der Vereinigten Maschineo-
bauer, welche von 1851 — 1898 das Geschenk, die Kranken- und die Altersunterstütziing
erhielten, Verhältnis derselben zur Gesamtzahl der Mitglieder, Betrag der verschiedenen
Einnahmequellen und der Ausgaben.
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Durchschnittszahl
1
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1
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der Mitglieder,
welche erhielten:
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79039
2
5,6
1871
37790
510
740
416
91 271
84609
4255
1738
57412
I
10,3
1872
41075
397
698
414
105 377
97 147
4871
2567
63390
I
10,8
1873
42382
465
711
437
109 809
101 983
3605
3851
65875
I
II, I
1874
43150
674
785
449
118556
108 752
3143
5005
80489
I
17,3
1875
44032
1077
862
487
120024
1 10 665
3019
5512
94157
2
2,8
1876
44578
1627
906
541
120206
HO 724
2715
5 977
109208
2
9,0
1877
45071
2 118
934
604
121 215
HO 779
2 508
5996
120805
2
13,6
1878
45408
2974
987
696
123 881
113485
2653
6294
146967
3
4,7
1879
44078
5879
I 098
799
135267
126056
2084
5626
245 598
5
11,4
1880
44692
2646
I 005
928
128 047
120 414
2 712
4032
138629
3
2,0
1881
46 lOI
I 630
I 042
I029
132506
124 109
3378
3641
116 293
2
10,5
1882
48388
889
I 069
I 162
124408
115 176
4 437
3 497
loi 971
2
2,3
1883
50418
I 177
I 117
1235
134649
124504
4297
4 181
123 215
2
9,1
1884
50681
2591
I 168
1338
157484
147 818
2898
4103
172200
3
7,9
1885
51689
3240
1275
1405
144 639
136513
3088
3696
187312
3
12,4
1886
52019
3859
I 291
I 480
173937
166 638
2 720
2842
180964
3
9,4
1887
51869
3292
1287
1553
188805
181 864
2578
2473
175364
3
7,6
1888
53740
2239
1345
1641
189 732
181 683
3709
2685
156083
2
18,1
1889
60728
I 208
1352
1755
183 651
170869
7792
3309
132642
2
3,7
1890
67928
I 126
1551
I 871
183469
168350
9103
4 359
153 739
2
5,3
1891
71 221
2 156
1783
1967
189 773
175 220
6023
5204
192031
2
13,11
1892
70909
4879
1732
2 100
245 667
234 420
3938
5485
268 576
3
15,9
1893
73526
5924
1798
2312
265 214
253901
4633
4845
282 10 (
3
16,9
1894
75510
6454
1800
2430
268371
258 954
3458
4481
281 524
3
14,7
1895
79135
4969
2049
2604
296 959
285 446
4238
4 III
278 696
3
10,5
1896
87313
2708
1893
2774
347 867
330916
7632
4356
248 100
2
16,10
1897
91944
13 612
2 160
3006
559 368
441940
5 754
6270
690399
7
10,2
1898
83564
6851
1845
3193
450 727
378 872
3 394
3398
417457
5
0,0
Gewerkvereine (England)
643
schieden. Der höchste Diirchschnittsbetrag,
der in einem der 100 Vereine entrichtet
'wnirde, bezifferte sich auf 4 £ 10 sh pro
Kopf, der niedrigste auf weniger als 5 sh.
Der Durchschnitt der Mitgliederbeiträge in
den 100 Vereinen betnig im Jahre 1898 1 £
13 sh 2 d gegen 1 £ 12 sh 9^/2 d im Vor-
jahre und 1 £ 8 sh 7»/4 d im Jahre 1892.
Die Zahl der lokalen Ge werk Vereins ver-
bände (trades Councils) stieg im Jahre 1898
von 155 auf 156, die Zahl ihrer Mitglieder
von 701289 auf 701717. Die Zahl der
Föderationen unter Gewerkvereinen, welche
dem Handelsamt bekannt wai-en, betnig
im Jahre 1898 112 mit 1009690 Mitgliedern,
eine Abnahme gegen das Vorjalir mit 120
Föderationen, denen 1 089 583 Mitglieder an-
gehörten.
um dem Leser ein ziffernmässiges Bild
von der Entwickelimg eines Gewerkvereins
zu geben, folge hier zum Scliluss die Sta-
tistik desjenigen Gewerkvereins, dessen
Verfassung das Muster der übrigen Gewerk-
vereine geworden ist, seit der Einführung
dieser Verfassung im Jahre 1851. (S. die
Tabellen auf den SS. 640—642.) DaV>ei
bemerke ich, dass die im folgenden ange-
gebenen Unterstützungen bestritten werden
aus dem Ergebnisse von Eintrittsgeldern,
die bei den Vereinigten Maschinenbauern
zwischen 15 sh. für Personen unter 25
Jahren und 50 sh. für Personen im 40. Le-
bensjahr je nach dem Alter des Eintretenden
verschieden sind, und aus wöchentlichen
Beiträgen von 1 sh. pro Mitglied. Dazu
kommen ausserordentliche Umlagen, sobald
der Kassenbestand und die Bedürfnisse
solche erheischen. Dafür erhalten die Mit-
glieder das »Geschenk« bei Arbeitslosigkeit
und zwar während 14 Wochen je lU sh.,
während der folgenden 30 Wochen je 7 sh.
und für jede Woche dariiber je 6 sh. ; ferner
bei Krankheit während 26 Wochen je 10 sh.,
und 5 sh. für jede Woche, welche die Krank-
heit länger dauert; ferner bei Unfall, der
dauernde Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat,
100 £; femer erhält jedes Mitglied, das
18 Jahre der Gesellschaft angehört, das 50.
Lebensjahr erreicht und unfähig ist, »den
gewöhnlichen Lohnsatz« des Gewerbes zu
verdienen, 7 sh. die Woche ; hat es der Ge-
sellschaft länger als 25 Jahre angehört, so
erhält es 8 sh., wenn 30 Jahre 9 sh. die
"Woche. Beim Tode eines Mitgliedes erhal-
ten die Hinterbliebenen 15 £; beim Tode
der Frau erhält das Mitglied 5 £; doch
werden bei seinem Tode seinen Hinterblie-
benen dann nur noch 7 £ ausbezahlt. Be-
ziffert sich das Vermögen des Gewerkver-
eins auf mehr als 3 £ pro Mitglied, so
erhalten Mitglieder, welche auswandern
wollen, eine Unterstützung von 6 £. Auch
werden gelegentlich Unterstützungen an
andere Gewerkvereine bewilligt.
Lltteratnr: Report of the CommiUee on Trades'
Societies appointed hy the National Association
for the promotion of social science 1860, London
1860, — L,e Camte de Paris, Les OMociations
ouvrieres en Angleterre (Trades- Union s), Paris
1869. — Brentatio, Die Arbeitergilden der
Gegenwart, 1. Bd., Leipzig 1871. — Howell,
The Conßicts of Capital and Lahour, 8. ed.,
Lond<yn 1890. Bei Hoiccll S. 582 auch ein Ver-
zeichnis der auf Gewerki^ereine bezüglichen
Blaubücher von 1824 - 1875. — Viktor von
Bojanowski, Unternehmer und Arbeiter nach
englischem Recht, Stuttgart 1877. — A, Heid,
Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands,
Leipzig 1881. — Toynbee, Lectures on the
industricU revolution, London 1884- — Qerhart
von Schulze^ Qävernttjgf Zum sozialen Frieden,
2. Bd., S. 224ff., Leipzig 1890. — Brentano,
Arbeüseinstelluiigen und Fortbildung des Arbeits-
Vertrags, Sehr. d. V. f. Sozialp. 45. Bd., Leipzig
1890. — Sidney and Beatrice Wehh, The
Hktory of Trade Unionism, London 1894, über-
setzt von E. Bernstein, Stuttgart 1895. Da-
selbst eine erschöpfende Bibliogra-
phie. Vgl. zu diesem Werke Brentano, Ent-
wickelung und Geist der englischen Arbeiter-
organisationen, Brauns Arch. f. soz. Ges. u. Stat.
VIII, 7 5 ff. — Wallas, Francis Place, London
1898. — Vgl. femer Dyhrenfurthf Ein Blick
in die geicerkschaftliche Bewegung der englischen
Arbeiter und Arbeiterinnen, Schmollers Jahrb.
f. Gesetzg., Verwaltung u. Volkswirtschaft 1895,
S. 917 — 941, und Dieselbe, die gewcrkschaftl.
Bewegung unter den englischen Arbeiterinnen,
Brauns Archiv, 1895. — Olivier, The Miners
Baitle and öfter, Contemporary Beview, Nov.
1898. — Nash, The Lock-out in the Cool Trade,
FortnighÜy Review, November 1893. — Amal-
gamated Society of Engineers, Notes on
the Engineering Lock-out 1897/98, London, 89
Stamford Street. — Soziale Praxis, Jahrg.
1897\98. — Hoget* von Boch, Geschichte
der Töpferarbeiter von Staffordshire im 19. Jahrh.,
Stuttgart 1899. — KiUemann, Die Gewerk-
schaftsbetoegung, Jena 1900, S. 1 — 68. — Ueber
den Aufsehen erregenden sogenannten Mymouth
intimidation case vgl. Judgment delivered in
the. high court of justice by the Lord Chief
Justice of England in the casss of Connor v.
Kent, Gibson v. Lawso7i, Curran v. Treleaven,
wüh preface by George Shipton, London 1891.
— Ueber den Fall Flood and Taylor versus
Allan, vgt. The Law Times Bd. 77, S. 717 ff.
— Für Statistik vgl. folgende Publikationen des
Board of Trade (Ldbour Department): Vor
aüem den seil 1887 erscheinenden Report by the
Chief Labour Correspondent of the Board of
Trade on Trade Unions, bis jetzt 11 Berichte,
sowie die nLabour Gazetten; sodann die Ab-
stracts of Lahour Statistics of the United King-
dom (seit 189S 94), die zwei Reports on the
Conciliation (Trade Disputes) Act, 1896, die 11
seit 1888 erschienenen Reports on Strikes andLock-
outs. Die stenographischen Protokolle der im
Juni 1891 eingesetzten Lahour Commission, unter
dem Titel: Minutes of Evidence taken before the
Royal Commission on Labour, London bei Eyre
et Spottiswoode, umfassen 23 Bde. in Folio.
Einen kurzen Auszug daraus giebt Spyers,
The Labour Question, London 1894. — Eine
umfassendere Bearbeitung enthält das vom Sekre-
tär der Kommission Qeoffrey Droge verfasste
41*
644
Grewerkverfeine (England-^Deutschland)
Buch The Labour Problem, Zondon 1896. —
Alljährlich ertcheinen gedruckle Jahreshenchte
der meisten Gewerkvereine sowie Berichte Über
die Verhandlungen der Gewer kv er einskongresse,
ZiVjo Brentano,
U. Die GewerkTereine in Deutschland.
1. Einleitung. 2. Die Hirsch-Dunckerschen
G. 3. Die sozialistischen Gewerkschaften,
a) Die Entwickelung- bis 1890. b) Die Ent-
wickelang nach 1890. c) Statistik, d) Die
Lokalorganisationen. 4. Der Buchdruckerver-
band. 6. Die christlichen G. 6. Sonstige gewerk-
schaftliche Organisationen. 7. Abschluss.
1. Einleitong. Die Gewerkvereinsbe-
wegung in Deutschland ist ein Erzeugnis
der sosdalen Entwickelung der Neuzeit und
insbesondere ihres verschärften Gegensatzes
zwischen Unternehmer und Arbeiter; ein
Zusammenhang mit älmlichen Erscheinungen
früherer Jahrhunderte, insbesondere den
Gesellen-Innungen imd -Brüderschaften, ist
nicht nachzuweisen. Aber sie ist ferner
nicht eigentlich auf deutschem Boden er-
wachsen, sondern im wesentlichen nach
dem englischen Vorbilde geschaffen. Aller-
dings trifft dies nicht zu für die beiden
ältesten Vereinigungen dieser Art, nämlich
den 1865 von Fritzsche begründeten Tabak-
arbeiterverein und den 1866 ins Leben
gerufenen Verband der deutschen Buch-
drucker, von denen gerade der letztere
eine besondere Bedeutung erlangt hat. Für
beide ist ein Zusammenhang mit englischen
Verhältnissen nicht ersichtlich. Im übrigen aber
ist die Gewerkvereinsbewegung in Deutsch-
land entstanden in unmittelbarem Anschlüsse
an eine Studienreise, die Dr. Max Hirsch
im Frühjahr 1868 nach England unternahm.
Dieselbe war gar nicht hierauf gerichtet,
sondern verfolgte den Zweck, die englischen
Genossenschaften näher kennen zu lernen ;
aber bei dieser Gelegenheit fand Dr. Hirsch
nach seiner eigenen Angabe etwas, was ihm
wichtiger als diese erschien, nämlich die
englischen trade unions, von deren Bestehen
man damals in Deutschland noch .kaum
etwas wusste. Es war deshalb begreiflich,
dass die Reisebriefe, die Dr. Hirsch über
seine Entdeckung in der Berliner Volks-
zeitung veröffenllichte, ein allgemeines Inte-
resse fanden und zu ähnlichen Versuchen
anregten. Aber diesen Ei'folg hatten sie
nicht allein unter den politischen Gesinnungs-
genossen des Briefschreibers, nämlich in
den Kreisen der Fortschrittsi)artei, sondern
ebenso innerhalb der jungen Sozialdemokratie,
insbesondere bei Herrn v. Schweitzer,
dem Nachfolger Lassalles im Präsidium des
»Allgemeinen deutschon Arbeitervereins«.
In Gemeinschaft mit Fritzsche beantragte
er bei der am 23. August 1868 in Hamburg
tagenden Generalversammlung seines Vereins,
mit der Gründimg von Gewerkschaften vor-
zugehen. Allerdings fand er hier den ent-
schiedensten Widerspruch, indem man ihm
entgegenhielt, dass nach dem sozialdemo-
kratischen Grundgedanken eine Besserung
der Lage der Arbeiter auf dem Boden der
bestehenden Gesellschaftsordnung, wie die
Gewerkvereine sie anstrebten, nidit möglich
und deshalb ein solcher Versuch princip-
widrig sei. Aber obgleich aus diesem Grunde
der Verein als solcher es ablehnte, sich
mit der Sache zu befassen, beriefen dennoch
V. Schweitzer und Fritzsche einen deutschen
Arbeiterkongress »zur Begründung allge-
meiner, nach den verschiedenen Berufsaiten
gegliederter Gewerkschaften«, der am 26.
September 1868 in Berlin stattfand. Auf
demselben erschien auch Max Hirsch, um
seinen Standpunkt zu vertreten, aber obgleich
er insbesondere an den Maschinenbau-
und Metallarbeitern eine starke Stütze besass,
so befand er sich doch mit seinen Anhängern
in ausgesprochener Minderzahl imd war
schliesslich gezwungen, die Versammlung
zu verlassen. Er berief darauf seinerseits
auf den 28. desselben Monats einen Kon-
gress, der unter dem Vorsitze des Abge-
ordneten Franz Duncker tagte und die von
Hirsch entworfenen »Grundzüge für die
Konstituienmg der deutschen Gewerkvereine«
mit grosser Mehrheit annahm.
So waren also gleichzeitig zwei ver-
sclüedene Bewegungen ins Leben getreten,
die beide eine Interessenvertretung der Ar-
beiter bezweckten. Aber wie sie sich schon
in ihren Namen unterschieden, indem die
von Hirsch begründeten und ^'wohnlich
nach ihm und ihrem zweiten geistigen Vater
als Hirsch-Dunckersche bezeichneten Ver-
eine sich »Geworkvereine« nannten,
während die Schweitzerschen sich den
Namen »Arbeiterschaften« oder »Ge-
werkschaften« beilegten, so waren beide
Organisationen auch in ihrem Charakter
wesentlich verschieden. Insbesondere gilt
dies hinsichtlich der beiderseitigen Stellung
zum Strike. Schweitzer bezeichnete in
seiner öffentlichen Aufforderung zur Be-
schickung des einbenifenen Kongresses als
dessen Ziel »die umfassende festbegründete
Organisation der gesamten Arbeiterschaft
Deutschlands durch und in sich selbst ziun
Zwecke gemeinsamenFortschreitens mittelst*
der Arbeitseinstellungen«. Während also
die Aufgabe der »Gewerkschaften« geradezu
als Organisation des Strikes bezeichnet wer-
den kann, gehen umgekehrt die »Gewerk-
vereine« davon aus, dass zwischen den In-
teressen der Arbeiter und der Arbeitgeber
•3ine natürliche Harmonie bestehe, weslialb
sie von ihren Gegnern höhnisch als »Har-
monieapostel« bezeichnet werden, und ver-
Gewerkvereine (Deutschland)
645
treten deshalb den Standpunkt, dass eine
Yerbesserung der Lage der Arbeiter thun-
lichst in friedlicher Entwickelung erfolgen
und ein Ausgleich etwa entstehender Streitig-
keiten durch Schiedsgerichte oder Einigungs-
ämter geschehen müsse.
Andererseits haben beide Organisationen
das Gemeinsame, dass, wie ihre Begi'ünder
ausgesprochene politischeParteimänner waren,
so auch bei den Vereinen selbst eine be-
stimmte politische Richtung mehr oder
weniger scharf hervortritt. Am zweifel-
losesten ist dies hinsichtlich der »Ge-
werkschaften«, die deshalb aucli meist
als sozialistische oder gar sozialdemokratische
bezeichnet werden, obgleich das Verhältnis
zur Sozialdemokratie sich in den letzten
Jahren wesentlich gelockert hat. Aber auch
die »Ge werk vereine« , obgleich auf den
Verbandstagen wiederholt der Ausschluss
aller Parteipolitik betont ist, liaben ihren
politischen Charakter und damit zugleich
ihren Gegensatz zu den »Gewerkschaften«
schon dadurch zum Ausdruck gebrac^ht, dass
sie von ihren Mitgliedern bei der Aufnahme
die Unterzeichmmg eines Reverses fordern,
dass der Betreffende weder Mitglied noch
Anliänger der Sozialdemokratie sei. Ver-
suche, eine Aufhebung dieser statutarischen
Voi'schrift herbeizuführen, wie sie wieder-
holt und noch auf dem letzten am 30. Mai
1898 in Magdebiu'g abgehaltenen Verbands-
tage gemacht sind, haben bisher keinen Er-
folg gehabt, indem man sich darauf berief,
dass die Sozialdemokraten, wenn man sie
zuliesse, sich bemühen würden, die Vereine
in das sozialdemokratische Lager überzu-
führen.
Die Folge dieser politischen Abhängigkeit
beider Gnippen ist es gewesen, dass m den
letzten Jahren noch eine dritte Art von
Organisationen ins Leben genifen ist, die sich
entweder ausdrücklich als »christlich-
soziale« oder kurz »christliche Ge-
werkvereine« bezeichnen oder wenigstens
in ihren Statuten diesen Gedanken und
ihren Gegensatz insbesondere gegen die
Sozialdemokratie zum Ausdruck bringen.
Mit dem gewerkschaftlichen Grundgedanken
einer Vertretung der gemeinsamen Berufs-
interessen auf dem Boden der bestehenden
Verhältnisse hat zweifellos der religiöse
Standpimkt der Mitglieder eben so wenig
etwas zu thun wie der politische. Es trifft
deshalb die christlichen Gewerkvereine der-
selbe Vorwurf wie die beiden anderen
Gruppen, dass sie dem Wesen der Ver-
einigung ein fremdes Element beimischen,
und dieser Vorwurf ist nicht bloss theo-
retischer Natur, sondern hat eine ungemeine
praktische Bedeutung, denn die wirksame
Vertretung der Arbeiterinteressen wird durch
jede Zersplitterung beeinträchtigt. Immerhin
kann man zu Gunsten der christlichen Vereine
geltend machen, dass sie diesen fehlerhaften
Zustand vorfanden und nur gegen die Ein-
seitigkeit ihrer Gegner durch eine andere
Einseitigkeit reagieren. In der That, so
lange die »Gewerkschaften« sich von dem
sozialdemokratischen Einflüsse noch nicht
völlig frei gemacht haben, kann man Ar-
beitern, die auf einem anderen Standpunkte
stehen, nicht empfehlen, ihnen beizutreten,
da sie naturgemäss sich zunächst in der
Minderzahl befinden und Einflüssen ausge-
setzt sein würden, denen sie sich zu ent-
ziehen wünschen. Deshalb kann es zur Zeit
noch je nach den Verhältnissen, die in den
einzelnen Orten und Berufen vei'schieden
sind, als das Richtigste erscheinen, dass
die nicht sozialistischen Arbeiter sich selb-
ständig organisieren und dass nur für die
praktische Vertretung der gemeinsamen In-
teressen eine möglichst enge Fühlung aller
Arten von Organisationen angestrebt wird.
Das Ziel dagegen ist zweifellos
der reine Berufsverein unter Aus-
schluss aller politischen und reli-
giösen Beimischungen. Diesem Ziele
wird man in dem Masse näher kommen, in
w^elchem die »Gewerkschaften« sich von dem
Einflüsse der Sozialdemokratie nicht bloss
statutenmässig, sondern auch thatsächlich
frei machen, denn damit verliert auch der
Gegensatz der übrigen Gruppen zu ihnen
ihre Unterlage.
Auf Seiten der Arbeitgeber haben die
gewerkschaftlichen Organisationen der Ar-
beiter von jeher kein Entgegenkommen,
sondern eine Gegnerschaft gefunden, die
gegen die Hirsch-Uunckerschen und christ-
lich-sozialen Vereine kaum weniger schroff
ist als gegen die sozialistischen. In Wahr-
heit ist dies auf den einseitigen Unternehmer-
Standpunkt zurückzuführen, der kein anderes
als das eigene egoistische Interesse als be-
rechtigt anerkennt Theoretisch freüich
sucht man die Ablehnung durch die Be-
liauptung der Interessenidentität
zwischen Arbeiter und Arbeitgeber zu
begründen, aus der sich ergebe, dass
die ereteren keiner Organisation bedürften,
vielmehr ihre Interessen am besten von den
Arbeitgebern wahrgenommen würden. Um-
gekehrt stehen die »Gewerkschaften» auf
dem Standpunkte des »Klassenkampfes«,
d. h. sie behaupten einen absoluten und
unversöhnlichen Gegensatz der beiderseitigen
Interessen. Das eine Extrem ist so unrich-
tig wie das andere. Einerseits haben Ar-
beiter und Unternehmer gleiche Interessen^
indem sie beide gemeinsam als Faktoren
der Produktion der Konsumtion als natür-
liche Gegner gegenüber stehen' und hohe
Preise der Erzeugnisse wünschen müssen;
andererseits sind aber ihre Interessen zu-
646
Gewerkvereine (Deutschlaad)
gleich gegensätzliche, insoweit es sich
darum handelt, die durch hohe Preise er-
zielte Vergütung der gemeinsamen Produk-
tionsarbeit unter die beiden Faktoren der-
selben zu verteilen, denn dabei bleibt natilr-
lich für den einen um so weniger übrig, je
mehr er dem anderen abgeben muss. Da
der Grundgedanke aller Organisation die
Vertretung von Interessen ist imd deshalb
nur diejenige Art der Organisation gesund
ist, die dem natürlichen Verhältnisse der
Interessen entspricht, so ergiebt sich von
selbst als Ideal eine doppelte Form,
nämlich einerseits eine gesonderte Organi-
sation beider Klassen zur Vertretung der
gegensätzlichen und andererseits eine ge-
meinsame Organisation zur Vertretung
der gemeinsamen Interessen.
Diesem Ideal kommen am nächsten die Ver-
hältnisse im Buchdruckergewerbe , nnd schon
deshalb rechtfertigt es sich, dem ,,Verbande
der deutschen Buchdrucker'', der ausser-
dem der weitaus bestorganisierte unter allen
Arbeiterberufsvereinen ist, einen besonderen Ab-
schnitt zu widmen, wodurch es ermöglicht wird,
zugleich auch über die gemeinsame Org^anisation
zwischen Gehilfen und Prinzipalen das Wich-
tijgste mitzuteilen. Im übrigen entfallen sowohl
die Unternehmervereinigungen wie die
fi^emeinsamen Organisationen von Ar-
beitern und ArbeitgeSern ans dem Bahmen der
vorliegenden DarsteUung.
Das gleiche gilt von den untrer den Ar-
beiterveremen der verschiedenen Länder be-
stehenden internationalen Beziehungen.
Solche sind in einer ganzen Reihe von Berufs-
zweigen angeknüpft und finden zum Teil ihren
Ausdruck in internationalen Kongressen, die
J 'ährlich oder in Zwischenräumen von mehreren
ahren abgehalten werden. Im ganzen haben
aber auch auf diesem Gebiete allein die Buch-
drucker Erfolge von einiger Bedeutung erzielt,
während es sich in den übrigen Berufen vor-
läufig noch um schüchterne versuche handelt,
die so lange keinen erheblichen Fortschritt auf-
weisen werden, wie nicht die nationale Organi-
sation in den einzelnen Ländern besser als bis-
her ausgebaut ist.
Kommen, wie bemerkt, die Buchdrucker
dem gewerkschaftlichen Ideal und dem Vor-
bilde der grossen englischen Gewerkvereine am
nächsten, so besteht auch unter den übrigen
Organisationen eine sehr weitgehende Abstufnng
hinsichtlich des Grades, in welchem sie ihrem
natürlichen Ziele sich nähern. Ja diese Ab-
stufnng von den unvollkommensten zu den voll-
kommeneren Formen ist eine so allmähliche,
dass es völlig unmöglich ist, die Organisationen,
die bereits ausgesprochen den gewerkschaftlichen
Charakter tragen, scharf und sicher zu unter-
scheiden von denjenigen, die sich gewissermassen
noch im Embryonalzustande bennden. Da es
über den g^ezogenen Bahmen hinausgehen würde,
auch die letzteren hier zu behandeln, so blieb
nichts übrig, als mit einer gewissen Willkürlich-
keit eine von der Natur nicht gegebene Grenze
zu ziehen und im wesentlichen nur diejenigen
Organisationen zu erwähnen, die selbst, insbe-
sondere durch ihre Bezeichnung, den Anspruch
erheben, als Gewerkvereine zu gelten, andere
dagegen, obgleich sie vielleicht kein gerinpperes
Anrecht hierauf hätten, aus der Darstellung
auszuschliessen. Dies sfilt insbesondere von den
kaufmännischen Vereinen, von denen es
eine grosse Zahl giebt und unter denen einzelne
entschieden gewerkschaftlichen Charakter tragen,
während andere mehr der Bildung oder der Ge-
selligkeit dienen. Ebenso sind im wesentlichen
unberücksichtigt geblieben die vielfachen Ver-
einignngen von Beamten höherer oder niederer
Art im privaten oder im öffentlichen Dienste,
da sie nach dem Sprachgebrauche nicht zn den
Arbeitern gezählt werden, obgleich volkswirt-
schaftlich ein Unterschied nicht besteht. Um
wenigstens auf diese Organisationen aufioierksam
zu machen, sind am Schlüsse die wichtigsten
derselben kurz erwähnt
2. Die Hirsch-Dnnckerschen G. Nach
den auf dem Kongress v. 28. September
1868 angenommenen Grundsätzen sollte
eine Organisation der gesamten deutschen
Arbeiterschaft mit beruflicher Gliederung
angestrebt werden. Die Einheit bildet
deshalb der nationale Gewerkver-
ein eines bestimmten, in sich abge-
schlossenen Gewerbes. Er stützt sich auf
Orts vereine, und zwar sind mindestens
5 solche zur Bildung eines Gew^erkvereins
erforderlich. Es ^ebt übrigens auch »selb^
ständige« d. h. nicht zu einem Gewerkver-
ein vereinigte Ortsvereine. Eine Mittel-
stufe, die Bezirksvereine, sind später
fallen gelassen. Dagegen giebt es noch
Ol tsver bände d. h. Vereinigungen der an
einem Orte oder in einem Bezirke vorhandenen
Ortsvereine, ziu- Vertretung der gemeinsamen
örtlichen Interessen, denen insbesondere das
Bildungswesen, die Erteilung von Rechtsbei-
stand, die Stellungnahme gegenüber Angriffen
von aussen, dasHerbergswesen undderArbeits-
nachweis übertragen ist. Der frühere Zwang
zum Beitritt ist 1892 aufgehoben. Ausser-
dem hat man noch sogenannte »Ausbrei-
tungsverbände« für Provinzen und
grössere Bezirke, denen hauptsächlich die
Agitation obliegt, doch leiden sie unter der
Konkurrenz der von einzelnen grosseren Ge-
werkvereinen seit 1893 eingeführten »Be-
zirksleiter«. Es bestehen z. Z. 190 Orts-
und 6 Ausbreitungsverbände. An der Spitze
jedes Gewerk Vereins steht der Generalrat,
welcher auf der alle 3 — 5 Jahre zusammen-
tretenden Generalversammlung ge-
wählt wird. Eine Gesamtvertretung aÜer
Gewerkvereine war von Anfang an beab-
sichtigt und wurde schon Pfingsten 1869
durch Gründung des »Verbandes der
deutschen Gewerkvereine« geschaf-
fen. Die Spitze desselben ist der Cen-
tralrat, dem derVerbandsanwalt mit
beratender Stimme zur Seite steht. Diesen
Posten bekleidet seit der Gründung Dr. Max
Hirsch, der auch zugleich Herausgeber des
Gewerkvereine (Deutschland)
647
Yerbandsorganes »Der Gewerkverein«
ist. Die regelmässige Versammlung des
Verbandes ist der Verbandstag. Auf
ihm wird jedesmal der von den einzelnen
Gewerkvereinen an die Verbandskasse zu
zahlende Beitrag festgestellt; derselbe darf
aber den Satz von 5 Pfennig vierteljährlich
auf den Kopf des Mitgliedes nicht über-
steigen. Die Verbandstage finden jetzt alle
3 Jahre statt und nehmen regelmässig eine
ganze Woche in Anspruch. Ausser der
konstituierenden Versammlung, die am 18.
Mai 1869 in Berlin stattfand, sind bis jetzt
12 ordentliche Verbandstage abgehalten.
Der Grundgedanke der Organisation ist
möglichste Selbständigkeit der Ortsvereine;
nur das Kassenwesen ist centralisiert.
Der Zweck der Gewerkvereine ist nach
den Normalstat Uten »der Schutz und die
Förderung der Rechte und Interessen seiner
Mitglieder auf gesetzlichem Wege.« Aus
den »leitenden Grundsätzen« ist folgendes
hervorzuheben :
Es soll ein Arbeitslohn angestrebt
werden, der zum Unterhalte des Arbeiters
und seiner Familie ausreicht mit Einschluss
der Versicherung gegen jede Art von Ar-
beitsunfähigkeit sowie der nötigen Erholung
und humanen Bildimg. Die Arbeitszeit
ist auf 10 Stunden zu beschränken ; Sonn-
tags- und Nachtarbeit ist möglichst zu
beseitigen. Weiblichen und uner-
wachsenen Arbeitern ist der erforder-
liche Schutz zu gewähren. Zuchthaus-
arbeit soll der freien Arbeit keine Kon-
kurrenz bereiten. Fabrik- und Arbeits-
ordnungen sind mit den Arbeitern zu
vereinbaren. Ziu: Erledigung von Streitig-
keiten ist ein von beiden Teilen zu besetzen-
des stehendes Schiedsgericht unter
einem unparteiischen Obmann zu bilden.
Die Vereine haben von Anfang an der
Ausbildung des Kassenwesens ihrePür-
sorge gewidmet, und hierauf ist es in erster
Linie zurückzuführen, dass ihr Mitglieder-
bestand viel weniger Schwankungen unter-
worfen ist als der der sozialistischen Ge-
werkschaften. Das G. V. 7. Aprü 1876 über
die eingeschriebenen HiLfskassen ist wesent-
lich auif den Einfluss der Gewerkvereine
zurückzuführen. Dagegen fand die staat-
liche Zwangsversicherung den entschieden-
sten Widerspruch, bis man in neuerer Zeit
begonnen hat, sich mit derselben auszusöh-
nen. Hinsichtlich der Frage der Arbeits-
losenversicherung wird noch jetzt der ab-
lehnende Standpunkt aufrecht erhalten und
deren staatliche Regelung um so mehr be-
kämpft, als man diesen Zweig der Thätig-
keit als ein Hauptanziehungsmittel der Ver-
eine ansieht und fürchtet, dass diese letzte-
ren bei der Uebertragimg auf andere Fak-
toren gewissermassen das Rückgrat ihrer
Bedeutung verlieren würden. Man hat des-
halb schon früh die Einführung der Ar-
beitslosenunterstützung bei den Ge-
werkvereinen beschlossen, allein obgleich
SLvd dem Verbandstage in Nürnberg 1879
das von einer Kommission ausgearbeitete
Statut einer »Verbandskasse für Reisende
imd Arbeitslose« zur Annahme gelangte, so
ist letztere doch mangels ausreichender Be-
teiligung nicht ins Leben getreten. Dagegen
haben seit 1881, wo die Tischler damit be-
gannen, die einzelnen Gewerkvereine eine
Ai'beitslosenunterstützung eingerichtet, und
auf dem Verbandstage in Danzig 1895
konnte der Verbandsanwalt feststellen, dass
sie nunmehr bei allen Vereinen durchge-
führt sei. Dieselbe beläuft sich meist auf
wöchentlich 7,50 Mark imd wird bis zur
Dauer von 13 Wochen gewährt. Mit ihr
verbunden ist eine Reiseunterstützung
bei Ortswechsel und eine üebersiede-
lungsbeihilfe für die Angehörigen.
Kranken- und Sterbekassen bestehen
bei jedem Gewerkverein. Eine Invaliden-
kasse hatte am 1. Juli 1869 sowohl der
Gewerkverein der Maschinenbau- und
Metallarbeiter als auch gleichzeitig der
Verband ins Leben genifen, allein nach
Einführung der staatlichen Invaliditätsver-
sicherung beschloss zunächst am 8. Sep-
tember 1889 der Verband und später im
November 1893 auch der bezeichnete Ge-
werkverein die Li(juidation der Kasse, bei
der übrigens die Mitglieder 76 % bezw. alle
gezahlten Beiträge zurück erhielten. End-
lich giebt es noch eine Unterstützung
in besonderen Notfällen. Hinsicht-
lich der Krankenunterstützung unterscheiden
sich die Einrichtungen der einzelnen Ge-
werkvereine sehr wesentlich von einander,
und zwar zerfallen sie danach in 3 Gruppen :
die erste (z. B. Fabrik- und Handarbeiter,
Stuhlarbeiter, Schneider, Graphische Berufe)
haben »Vollkassen« d. h. solche eingeschrie-
bene Hilfskassen, die dem § 75 des Kranken-
versicherungsgesetzes genügen. Die zweite
(z. B, die Maschinenbau- und Metallarbeiter,
Tischler, Schuhmacher) haben sogenannte
Zuschusskassen, die dem § 75 nicht
genügen. Die dritte (z.B. Klempner imd
Metallarbeiter, Bildhauer, Bergarbeitei*) haben
überhaupt keine selbständige Hil/skasse.
sondern gewähren Kranken- und Sterbegela
aus einem mit dem Gewerkvereine organisch
verbundenen »Beihilfefonds« gegen besondere
Beiträge. Die Kellner haben gar keine
Kranken- und Sterbeunterstützung. Die von
den Gewerkvereinen geschaffenen Hilfskassen
haben, um gemeinsam ihre Interessen zu
vertreten und insbesondere auch die Gesetz-
gebmig zu beeinflussen, zunächst ein Kattell
und seit 1892 den »Verband der Deutschen
Gewerkvereins-Hilfskassen« begi-ündet.
648
Grewerkvereiue (Deutschland)
Die Gewerkvereine stehen grundsätzlich
auf dem Boden der Selbsthilfe und lehnen
die Staatshilfe ab. Trat dies schon bei
dem Kassen wesen insofern zu Tage, als
man liier die staatliche Zwangsversicherung
bekämpfte, so gilt es in noch höherem
Grade bei der Frage des Maximalar-
beitstages, nur hat sich hier noch z wei-
feDüser im Laufe de» Zeit ein Umschwung
der Ansichten vollzogen, der zu einem
Gegensatze sowohl innerhalb der Vereine
als auch zwischen der Mehrheit des Central-
rates und dem Verbandsanwalt geftihrt hat.
War man auch von jeher für ener^schen
Arbeiterschutz eingetreten, soweit es sich um
Schutz für Leben und Gesundheit, um Truck-
verbot und dergleichen handelt, ja hatte man
sich allmählich überzeugt, dass selbst der
Sonntags- und Nachtarbeit nur durch staat-
liches Verbot wirksam entgegengetreten werden
könne, so hielt man doch Tange daran fest, dass
eine gesetzliche Regelung der Arbeitsdauer nur
für un erwachsene und weibliche Personen zu-
lässig sei, für erwachsene Männer dagegen dem
Grundsatze der Selbsthilfe zuwiderlaufe. Aber
obgleich der Verbandsanwalt mit grosser Ent-
schiedenheit diesen Standpunkt vertritt und ihm
eine eigene Broschüre gewidmet hat, so fand
doch innerhalb der Vereine die entgegengesetzte
Auffassung immer mehr Vertreter, und es kam
zu langwierigen, zum Teil sogur erregten Ver-
handlungen im Centralrate. Diese haben dann
einen vorläufigen Abschluss gefunden in einer
auch dem Reichstage eingereichten Resolu-
tion, nach welcher die Re^^elung der Arbeits-
zeit erwachsener Männer bei vollem Koalitions-
rechte in erster Linie Sache der Berufsvereine
ist, wobei möglichst die Hilfe von Einig^ungs-
ämtem nachzusuchen ist; daneben wird aber
ein beruflich-sanitärer Maximalar-
beitstag mittelst staatlicher Anordnung für
solche Gewerbe gefordert, in welchen durch
übermässige Dauer der täglichen Arbeitszeit die
Gesundheit der Arbeiter gefährdet wir/i. Auf
diesem Standpunkte steht bekanntlich auch das
Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1890. Bei
den Streitigkeiten, zu welchen die durch dieses
Gesetz dem Bundesrate eingeräumten Befug-
hisse geftihrt haben, und insbesondere bei den
Verhandlungen über die berühmte Bäckereiver-
ordnung, sind die Gewerkvereine nachdrücklich
für die staatliche Regelung eingetreten.
Hatte hier der Verbandsanwalt sich durch
einen Eompromiss abgefunden, so erlitt er da-
gegen in der mit dem Maximalarbeitstage eng
zusammenhängenden Frage des Acht-Uhr-
Ladenschlusses für Kau%eschäfte, wie ihn
die Kommission für Arbeiterstatistik vorge-
schlagen hatte, eine Niederlage, indem in der
Sitzung des Centralrats vom 21. Mai 1896 mit
15 gegen 12 Stimmen dieser von dem General-
rate der Kaufleute vertretene Standpunkt An-
nahme fand, während der Anwalt freilich dem
Grundsatze der gesetzlichen Feststellung der
Ladenschlusszeit zustimmen, aber die Tageszeit
der „Bestimmung auf dem Wege der örtlichen
Selbstverwaltung unter Mitwirkung der betei-
ligten Prinzipale und Gehilfen" vorbehalten wollte.
Mit Nachdruck sind die Gewerkvereine stets
für die gesetzliche Einführung von Schieds-
gerichten nnd Einigungsämtern einge-
treten, insbesondere fordern sie deren obliga-
torische Einrichtung und die Befugnis, bei aus-
brechenden Arbeitsstreitigkeiten auch ohne An-
rufen der Beteiligten Einigungsversnche zu
unternehmen.
Mit derFragederArbeitse in Stellungen
hat sich insbesondere der Verbandstag in Magde-
burg 1898 eingehend beschäftigt. Es wurde
den Ge werk vereinen empfohlen, stets den Weg
der V^erständignng und Einigung zu beschreiten
und erst bei Erfolglosigkeit aller friedlichen
Versuche und beim Vorhandensein günstiger
Aussichten und genügender Mittel in den Aus-
stand zu treten. Dem Gteneralrate ist sofort
bei jeder auftauchenden Streitigkeit Mitteilung
zu machen; dessen Rat oder Anweisungen sind
stets einzuholen und streng zu befolgen. Die
Unterstützung von Strikes anderer Organisa-
tionen ist davon abhängig zu machen, dass die
beteiligten Ortsvereine bei den V^erhandlungen
zur Mitwirkung zugezogen sind.
Hinsichtlich der gewerblichen Frauen-
arbeit vertreten die Gewerkvereine den Stand-
punkt, dass der Beruf der Frau ihre Thätigkeit
innerhalb der Familie sei, dass auch die wirk-
samste Lösung der Frage in der Hebung der
wirtschaftlichen Lage des Mannes gesehen wer-
den müsse. Solanjge die sozialen Verhältnisse
einen bedeutenden Teil der weiblichen Bevölke-
rimg zur Lohnarbeit nötigen, ist für sie ein
wirksamer Schutz anzustreben, insbesondere ist
die Arbeitszeit auf höchstens 8 Stunden festzu-
setzen. Weibliche Fabrikinspektoren sind neben
Durchführunfi: der Berufsorganisation der Ar-
beiterinnen das wichtigste Mittel zur Hebung
ihrer Lage. Die Entlohnung der weiblichen
Arbeiter muss bei gleichen Leistungen der der
männlichen gleichkommen.
Die Gewerkvereine haben sich eifrig des
Genossenschaftswesens angenommen.
Allerdings haben von Produktivgenossenschaften
nur die in Burg begründeten Vereinigungen der
Tuchmacher, der Cigarrenarbeiter und der Gold-
leistenverfertiger Erfolge erzielt, dagegen hat
man mehrfach Kredit-, Rohstoff- und Magazin-
verei^e, Konsumvereine und Baugenossenschaften
ins Leben gerufen.
Auch dem Volksbildungswesen hat
man grosse Aufmerksamkeit zugewendet; die
Geweävereine stehen in engster Fühlung
mit der „Gesellschaft für Verbreitung von Volks-
bildung".
Als sehr nützlich haben sich die Einrich-
tungen zur Gewährung von Rechtsschutz
erwiesen. Die Ortsvereine oder noch häufiger
die Orts- und Bezirksverbände bestellen einen
geeigneten Rech tsvers tändigen, bei dem die
Mitglieder unentgeltlich Rechtsrat erhalten;
auch übernehmen die Verbände unter Umständen
selbst die Durchführung der Prozesse.
Die Arbeitsvermittelnng nehmen die
Gewerkvereine grundsätzlich nicht für sich allein
in Anspruch, sondern fordern für dieselbe eine
gemeinsame Thätigkeit von Arbeitgeber- und
Arbeitnehmervereinen ; bei staatlichen und kom-
munalen Einrichtungen dieser Art soll beiden
Parteien ein ausreichendes Mitbestimmungsrecht
eiugeränmt werden. Vorläufig hat man bei
allen Ortsvereinen den Arbeitsnachweis den
Gewerkvereioe (Deutschland)
649
Sekretären übertrag-en, doch sind ausserdem 90
besondere Nachweisestellen geschaiFen, Auch
eine Ausdehnung über den örtlichen Rahmen
hinaus mit Hilfe der Generalsekretäre wird an-
gestrebt, doch haben bisher nur die Kaufleute
und Kellner ernsthafte Versuche in dieser Rich-
tung unternommen.
Die Ge werk vereine sind vor allem bestrebt,
sich selbst eine gesicherte rechtliche Grundlage
zu verschaffen, indem sie den Erlass eines Ge-
setzes über die Zulassung von „Berufsver-
einen" fordern, dessen Grundg^edanke darin be-
steht, dass Vereine, welche die beruflichen In-
teressen ihrer Mitglieder vertreten, unter den
durch Gesetz festzustellenden Voraussetzungen
ihre Eintragung in ein öffentliches Register
nachsuchen können und durch dieselbe) ihre
Rechtsfähigkeit erlangen. Durch die Vorschriften
des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist diesem Ver-
langen nur in beschränktem Masse Rechnung
getragen, weil der Gesetzgeber geglaubt hat,
den Schutz gegen staatsgefährliche Bestrebungen
nicht auf das öffentliche Recht beschränken,
sondern auch auf das Privatrecht ausdehnen zu
müssen. Die Gewerkvereine halten deshalb ibre
Forderungen auch jetzt noch aufrecht.
Die Sicherung und Erweiterung des Koa-
litionsrechts ist stets eine der wichtigsten
Aufgaben der Gew^erkvereine gewesen ; dieselben
haben deshalb gegen dessen Verkümmerung
durch die preussische Vereinsgesetznovelle und
das Gesetz zum Schutze der Arbeitswilligen
energisch Front gemacht. Der Verband ist dem
Verein für Sozialpolitik beigetreten; einzelne
Gewerkvereine sind auch Mitglieder der inter-
nationalen Friedensgesellschaft. Dagegen hat
man sich von den internationalen Arbeiter-
kongressen bisher fem gehalten, weil man dort
ein Uebergewicht der Sozialdemokratie be-
fürchtete, wie denn das Verhältnis zu dieser
noch nichts von seiner ursprünglichen Schroff-
heit verloren hat.
Sehr wertvoll ist die von dem Verbands-
anwalt ausgearbeitete und in regelmässigen
Zwischenräumen veröffentlichte Arbeits-
statistik, insbesondere die Erhebungen über
den Umfang der Arbeitslosigkeit.
Der äussere Umfang des Verbandes ist
mehrfachen Schwankungen unterworfen gewesen.
Gewaltig war bei dem ersten Auftauchen des
Gedankens der Zulauf und die Begeisterung,
80 dass Ende 1869, also nach etwa einjährigem
Bestehen, die Leitung auf 258 Ortsvereine mit
rund 30000 Mitgliedern, gegliedert in 13 Ge-
werkvereine und 9 selbständige Ortsvereine,
herabblicken konnte. Aber die Bewegung wurde
in ihrer Blüte gebrochen durch den unglück-
lichen Waldenburger Strike, der am 1. Dezember
1869 von 7000 Bergarbeitern infolge des von
den Grubenbesitzern an sie gestellten Verlangens,
aus dem Gewerkverein auszutreten, begonnen
wurde, aber nach acht Wochen mit einer völligen
Niederlage endigte. Der Centralrat hatte es
an Bemühungen, zunächst durch Vermitt^lung;
bei den Bergwerksbesitzem und nachher durch
Mahnungen bei den Arbeitern, den von An-
fang an aussichtslosen Strike zu vermeiden,
nicht fehlen lassen, auch nach Ausbruch des-
selben nach Kräften Gelder für die Ausständigen
gesammelt, aber er konnte es nicht hindern,
dass man den unglücklichen Ausgang den Ge-
werkvereinen zur I^ast legte, dass man von
Seiten der Arbeiter das Zutrauen zu ihnen ver-
lor und von selten der Unternehmer sie als Be-
förderer von Strikes anklagte. Auch der fran-
zösische Krieg wirkte ungünstig ein, und so
war denn am Ende desselben die Mitgliederzahl
von 30000 auf etwa 6000 zurückgegangen.
Ende 1872 war man jedoch schon wieder zu
279 Orts vereinen mit 19000 Mitgliedern und
Ende 1874 zu 357 Ortsvereinen mit 22000 Mit-
gliedern emporgestiegen. Aber mit dem wirt-
schaftlichen Rückgange der folgenden Jahre
trat auch für die Gewerkvereine wieder eine
Abwärtsbewegung ein, so dass Ende 1878 frei-
lich die Ortsvereine auf 365 gestiegen, die Mit-
gliederzahl aber auf 16500 herabgegangen war.
Ein Aufschwung wurde dann erst wieder durch
die KrankenversicheruDgsgesetzgebung begrün-
det, indem durch dieselbe der Zulauf zu den
Hilfskassen der Gewerkvereine und dadurch
auch zu diesen selbst wesentlich gesteigert
wurde, so dass Ende 1885 953 Ortsvereine mit
51000 Mitgliedern bestanden, die sich Ende
1891 auf 1350 Ortsvereine mit 63 000 Mitgliedern
vermehrt hatten. Der Austritt des Gewerk-
vereins der Porzellanarbeiter, der am 1. Januar
1893 in das sozialdemokratische Lager ab-
schwenkte, brachte dann einen Verlust von
4000 Mitgliedern, so dass Ende 1891 nur 1315
Ortsvereine mit 58000 Mitgliedern vorhanden
waren. Seitdem hat eine regelmässige und
wachsende Ausdehnung stattgefunden. Aller-
dings ist 1895 der 554 Mitglieder zählende Ge-
werkverein der Berg- und Grubenarbeiter wegen
statutenwidrigen Verhaltens aus dem ver-
bände ausgeschlossen, doch ist dafür der 1894
gegründete Ge werk verein der deutschen Berg-
arbeiter beigetreten. Ende 1894 hatte der Ver-
band 1436 Ortsvereine mit 67000 Mitgliedern,
Ende 1897 1633 Ortsvereine mit 80000 Mit-
gliedern und am 30. März 1898 1673 Ortsvereine
mit 81150 Mitgliedern. Am 31. Dezember 1898
betrug die Mitgliederzahl 82755; am 31. De-
zember 1899 war sie auf 86 777 gestiegen. Der
Kassenabschluss für den 1. April 19()0 ergiebt
einen Mftgliederbestand von 8ö279.
Die Verteilung auf die einzelnen
Gewerbe ergiebt sich aus der auf S. 651
folgenden Tabelle.
Ueber die Leistungen der Vereine giebt
für die sechs Jahre 1892—1897 die Tabelle auf
S. 650 eine üebersicht.
Die Gesamteinnahme für die Jahre 1869
bis 1899 belief sich auf 27000000 Mark, die
Gesamtausgabe (einschliesslich zurückgezahlte
Invalidenkassenbeiträge auf 24 150000 Mark, so
dass ein Vermögen von 2850000 Mark verblieb.
Von den Ausgaben entfielen 14250000 Mark
auf Kranken- und Begräbnisgelder, 1750000
Mark auf Invalidenunterstützung, 3750000 Mark
auf Rechtsschutz, Bildungszwecke, Reise-, Not-
stands- und Arbeitslosenunterstützung.
Das Verbandsvermögen belief sich am 1.
April 1899 auf 54977 Mark 4 Pfennig neben
einem Bestände der Organkasse von 8322 Mark
76 Pfennig. Das Gesamtvermögen der Vereine
mit Ausschluss der Kranken- und Begräbnis-
kassen betrug Ende 1898 999639,83 Mark, d. h.
mehr als 12 Mark auf den Kopf.
Neben dem Verbandsorgan, dem „Gewerk-
verein", der 1899 im 31. Jahrgange erschien,
öewerkvereioe (DeutscUand)
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Gewerkvereine (Deutschland)
651
Ende
1872
Anf^
187i
31./12.
1892
31./12.
1893
31./12.
1894
31,/12.
1895
31./12.
1896
31./12.
1897
31./12.
1898
31./12.
1899
Maschinenban- u. Me-
tallarbeiter . . . .
Fabrik- u. Handarbeiter
Tischler u. verw. Berufe
Schnhmacher n. Leder-
arbeiter
Textilarbeiter u. ver-
wandte Berufe . .
Schneider u. verwandte
Berufe
Baubandwerker . . .
GraphischeBerufe^Maler
u. verwandte Berufe
Cigarren- u. Tabakarb.
Töpfer
Berg- u. Grubenarbeiter
Schiffszimmerer u. verw.
Berufe
Klempner u. Metallarb.
Bildhauer u. verw. Ber.
Kaufleute
Konditoren und verw.
Berufe
Selbständ. Ortsvereine*)
4468
3 543
2019
306
1571
438
2521
2S9
102
266
633
3 749
2423
2879
666
I 129
457
I 642
1058
125
43
239
240
x8o
28
13
41
12 129
9908
4 795
3845
3403
2415
1709
i486
I 212
890
727
170
2508
234
183«
484
54
24 163 27 836
10 080 ' 1 1 339
4 393 4 733
3 6.70 3 900
3 002 2 788
2595
2090
I 612
I 121
843
554
173
2346
194
3951
313
54
3060
2226
1655
I 145
916
455
163
2472
221
3820
263
66
27000
11833
4880
4200
2899
3000
I 629
1918
I 230
I 021
173
2667
243
3620
305
114
28 127
13284
5423
4620
3022
3010
I 624
1944
1344
1 139
182
181
3 103
299
4085
256
124
30837
15006
6010
5300
3330
3350
2300
1 900
X 408
1324
21,0
193
3134
387
4298
254
312
32938
15415
6152
5690
3 434
3360
1985
1951
1 462
1487
257
190
3225
376
4382
247
204
34025
16758
6431
6000
3623
3 660
1958
1941
1576
1588
301
159
3 455
371
4600
260
171
*) Dazu gehören die Bureauarbeiter, Reepschläger, Vergolder und Kellner. Die letzteren
bilden seit Anfang 1898 einen Grewerkverein.
Den Vermögensbestand am 31. Dezember 1898 zeigt die folgende Tabelle:
Gewerkvereine
Gewerk-
vereinskasse
Mk. i Pf.
Kranken- u.
Begräbnis-
kasse
Mk. I Pf.
Begräbnis-
kasse
Mk. I Pf.
Gesamt-
vermögen
Mk. I Pt
Maschinenbau- und Metallarbeiter
Fabrik- und Handarbeiter ....
Tischler
Schuhmacher und Lederarbeiter . .
Kaufiente
Stuhl-(Textil-)Arbeiter
Schneider
Klempner und Metallarbeiter . . .
Bauhandwerker
Cigarren- und Tabakarbeiter . . .
Graphische Berufe
Töpfer
Bildbauer .
Konditoren
Schiffszimmerer
Bergarbeiter
Verband der Deutschen Gewerkvereine
417457
37
384 697
191 157
29
252 586
91 091
98
82489
28676
78
91 380
73828
58
75 494
35321
63
46605
45580
41
95514
43340
99
—
19289
90
16837
16474
99
29484
11265
12
33919
14991
34
24071
5274
23
5970
1464
81
1 501
2559
51
371
1864
90
64375
94
— •
I 064015
77
1 140925
39
20
57
32
74
17
90
49
10
21
78
59
77
77
343 356
38903
44017
3331
7 696
18771
708
48454
56
89
42
51
65
34
66
77
145
482
217
120
149
81
141
43
39
45
52
57
II
2
3
I
112
511
647
598
057
323
926
095
340
458
959
880
834
244
966
639
864
830
32
38
97
10
32
80
31
99
90
09
98
46
82
58
94
90
71
haben noch sechs Gewerkvereine ihre besonderen
Fachblätter. Die Gesamtauflage beträgt 74 800.
Ausserdem besteht noch eine zur Benutzung
durch die Tagespresse bestimmte „Gewerkvereins-
korre^pondenz", die nach Bedarf ausgegeben und
allen sich dafür interessierenden Blättern un-
entgeltlich zugesandt wird.
505240 80 2 710 181 57
3. Die sozialistischen Gewerkschal-
ten.
a) Die Entwickelung bis 1890. Auf
dem oben erwähaten am 26. September
1868 in Berlin abgehaltenen Kongresse, auf
dem 142008 Arbeiter in 110 Orten durcli
652
Gewerkvereine (Deutschland)
206 Abgeordnete vertreten waren, ^\'^l^de
nach Entfernung der Hirschschen Anhänger
der von v. Schweitzer ausgearbeitete Plan
ohne erheblichen Widerspruch angenommen.
Nach demselben sollten für jedes Gewerbe
ganz Deutschland umfassende Berufs-
gruppen, und zwar 82 an der Zahl, gebildet
werden, die als »Arbeiterschaften« bezeichnet
waren. Ihre Zusammenfassimg erhielten sie
in dem »Deutschen Gewerkschafts-
bunde«. Auf dem Kongresse wiu*den so-
gleich 10 Arbeiterschafteu gegründet. Aber
der fernere Verlauf entsprach nicht diesem
günstigen Anfange, und obgleich in der Ende
1869 m Cassel abgehaltenen ersten Dele-
giertenversamnüuug immerhin 35232 Mit-
glieder vertreten waren, so wurde auf An-
trag V. Schweitzers die Auflösung aller be-
stehenden Gewerkschaften und zugleich die
Gründung eines »Allgemeinen deut-
schen A rbeiter unters ttttzungsve r-
bandes« beschlossen, der mit dem »All-
gemeinen deutschen Arbeiterverein« durch
Personalunion der Präsidenten verbunden sein
und auch sonst mit ihm in engster Fühlung
stehen sollte. Aber auch diese Schöpfung
hatte keinen Bestand, und während auf der
1870 in Berlin abgehaltenen ersten General-
versammlung immerhin noch 20657 Mit-
glieder gezählt wui-den, war diese Zalü am
25. Mai 1871 bereits auf 4257 herabgegangen.
Schliesslich löste Hasenclever, der Nach-
folger V. Schweitzers im Präsidium, am
8. September 1874 den Verein formell auf.
Auch die Marxisten hatten früh die
grosse praktische Bedeutung des Gewerk-
schaftswesens erkannt, aber auch für sie
bot sich die grosse Schwierigkeit, dasselbe
mit ihrem theoretischen Grundgedanken von
der Unmöglichkeit einer Besserung des Ar-
beiterloses auf dem Boden der bestehenden
Wirtschaftsordnung in Einklang zu bringen.
Schliesslich fand man einen Ausweg in der
Foraiulierung, dass die Gewerkschaften
freilich keine Besserung herbeizuführen,
aber doch einer weiteren Verschlechterung
vorzubeugen im stände seien, dass sie aber
vor allem Schulen bildeten, um die Arbeiter
zum Verständnisse ihrer Lage zu bringen
und für die politischen Aufgaben vorzube-
reiten. Eine andere Richtung freilich be-
stritt einen positiven Nutzen der Gewerk-
schaften und sah ihren Wert nur darin, dass
sie den Arbeitern die Unmöglichkeit, inner-
halb der bestehenden Ordnung Abliilfe für
ihre Beschwerden zu erlangen, gewisser-
masson experimentell bewiesen.
Eine wesentliche Verschiedenheit der
Marxistischen Gewerkschaften gegenüber
denjenigen der Lassalleaner beruhte insbe-
sondere darin, dass die letzteren sich auf
den nationalen Rahmen beschränkten,
während die ersteren die Internationalität
nicht allein als Ziel ins Auge fassten, son-
dern sogar die internationale Organi-
sation zum Ausgangspunkte nahmen. So be-
schloss man auf den Kongressen der »Inter-
nationalen Arbeiterassociation« in Genf 1866
und Brüssel 1868 die Gründung von »In-
ternationalen Gewerbsgenossen-
schaften«. Auch der am 5. September
1868 in Nürnberg abgehaltene Vereinstag
der deutschen Arbeitervereine, auf dem sich
der Uebergang dieser früher unter dem
Einflüsse der Fortschrittspartei stehenden
Vereine in das Lager der Sozialdemokratie
vollzog, und der konstituierende Kongress
der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in
Eisenach (7.-9. August 1869) stellten sich
auf diesen Standpunkt.
Aber abgesehen davon, dass der inter-
nationale Zusammenschluss nicht der Aus-
gangspunkt, sondern erst der Abschluss der
gewerkschaftlichen Organisation sein kann,
machte man noch den weiteren verhängnis-
vollen Fehler, dass man nicht berufsmässig
abgegrenzte Vereinigungen erstrebte, von
denen man annahm, dass sie als auf fal-
schem »Kastengeist« beruhend den Grund-
sätzen der aUgemeinen Solidarität der Ar-
beiterklasse zuwiderliefen, sondern allgemeine
Arbeiterverbände, die sich von den politischen
nur durch ihr zunächst in Angriff genom-
menes Arbeitsgebiet unterschieden.
Eine abweichende Richtung verfolgte der
Tischler York in Harburg, der freilich selbst
eifriges Mitglied der ^larxistischen Sozial-
demokratie war, aber trotzdem einsah, dass
die Gewerkscliaftsbewegung nur dann Er-
folg haben könne, wenn sie sich auf das
rein wirtschaftliche Gebiet bescliränke und
von politischen Einflüssen jeder Art dm'ch-
aus frei halte. Er erstrebte deslialb die
Verbindung der bestehenden Fachverbände
zu einer »G e w e r k s c ha f t s u n i o n« , deren
Aufgabe vor allem in der einheitlichen
Regelung der Lohnkämpfe, planmässigen
Agitation, gemeinsamen statistischen Er-
hebungen und einer einheitlichen Wander-
imterstützung bestehen sollte. Dabei sollten
auf dem Boden einer neuti:alen Gewerk-
scliaftsorganisation alle Parteigegensätze aus-
geschlossen und alle Arbeiter, ob konser-
vativ, liberal oder sozialdemokratisch, zuge-
lassen sein. Die Union sollte unter einem
leitenden Ausschusse stehen, jährliche Kon-
gresse abhalten und ein gemeinsames Press-
organ »Die Union« haben. Es gelang York,
einen Gewerkschaftskongress zur
Beratung seines Pi-ogrammes zusammenzu-
berufen, der vom 15. — 17. Juni 1872 in
Erfurt tagte und von 51 Abgeordneten mit
65 Mandaten als Vertretern von 11 358' Ar-
beitern besucht war. Es wiirde in der That
die Gründung der Union als eines Central-
verbandes aller Gewerkschaften mit dem
Gre werkvereine (Deutschland)
653
Sitze in Leipzig sowie die Erhebung einer
Unionssteuer von wöchentlich 8 Pfennig be-
schlossen und zur Beratung des Statutes
eine Kommission eingesetzt, aber diese hat
ihre Aufgabe niemals beendigt, und obgleich
es York gelang, noch einen zweiten Kon-
gress zu berufen, der Pfingsten 1874 in
Magdeburg tagte, setzte sein am 1. Januar
1875 erfolgter Tod allen seinen Bestrebungen
ein Ziel.
Nachdem die politischen Parteien der
Lassalleaner und Marxisten auf dem Kon-
gress in Gotha ihre Einigung vollzogen
hatten, versuchte man auch (üe beiderseitigen
Gewerkschaften zu verschmelzen, und eine
im Anschluss an den Kongress am 29. Mai
1875 in Gotha abgehaltene Gewerk-
schaftskonferenz erklärte diese "Ver-
schmelzung fiir Pflicht aUer Organisationen.
Man forderte allerdings Ausschluss der
Politik aus den Gewerkschaften, empfahl
aber den Anschluss der Mitglieder an die
Sozialdemokratie. Eine eingesetzte Kom-
mission sollte einen allgemeinen Gewerk-
schaftskongress vorbereiten.
Alle diese Bestrebungen fielen aber dem
am 21. Oktober 1878 erlassenen Sozia-
listengesetze zum Opfer. Bekanntlich
soUte dasselbe nicht einmal die sozialdemo-
kratischen Bestrebungen als solche treffen,
sondern nur soweit, wie sie »auf den Um-
sturz der bestehenden Staats- und Gesell-
schaftsordnung gerichtet« waren, und noch
weniger konnte das Gesetz nach seinem
Wortlaute und seiner Begriindung Anwen-
dung finden auf Vereinigungen, die gnmd-
sätzhch auf dem Boden der heutigen Wirt-
schaftsordnung standen, selbst wenn mau
den statutenmässigen Ausschluss der Politik
nicht als ernstlich gemeint gelten lassen
wollte. Aber obgleich bei der Beratung des
Gesetzes in dieser Richtung seitens der Re-
gierungsvertreter die bündigsten Ver-
sprechungen gegeben waren, so wurde doch
das Gesetz, sobald es erlassen war, wie ein
eiserner Besen behandelt, mit dem man
nicht allein alles ausfegte, was zu der So-
zialdemokratie nur in der allerentferntesten
Beziehung stand, sondern sogar Bestrebungen
traf, die sich zu ihr in dem zweifellosesten
Gegensatze befanden, sobald sie nur die
Förderung der Arbeiterinteressen bezweck-
ten. Als Beispiele braucht nui* an das Ver-
bot von Schäifles »Quintessenz des Sozialis-
mus« imd die unten noch zu erwähnende
Auflösung des Buchdruckerverbandes er-
innert zu werden. So wurden auch von
den bestehenden gewerkschaftlichen Organi-
sationen die meisten polizeilich unterdrückt^
und die übrigen lösten sich grösstenteils
freiwillig auf, weil sie bei der eingerissenen
Verfolgungswut doch keine weitere Thätig-
keit für möglich hielten.
Schien so jede Organisation der Arbeiter
zerstört, so lernten diese doch bald, sich selbst
einem solchen ünterdrückungssystem anzu-
passen. Zunächst hatten sich immerhin
einige gewerkschaftliche Fachblätter aus der
hereingebrochenen Sintflut gerettet, indem
sie ängstlich jede Erörterung nicht rein
fachlicher Fragen vermieden. Aehnlich
ging es mit einer Anzahl örtlicher Fach-
vereine, die schon seit längerer Zeit bestan-
den und neben den oben erwähnten Gentra-
lisationsbestrebungen keine rechte Beachtung
gefunden hatten, jetzt aber die günstigste
Form boten, die gegenseitige Fühlung unter
den Arbeitern aufrecht zu erhalten, weil sie
durch das Verbindungsverbot der Vereins-
gesetze nicht berührt wurden. Man rief
deshalb solche örtliche Vereine jetzt vielfach
ins Leben, und obgleich auch sie häufig genug
unterdrückt wurden, so bildeten sie doch
einen wertvollen Krystallisationspunkt für
die Arbeiterorganisation auf gewerkschaft-
lichem wie selbst auf politischem Gebiete.
Ein gewisser Umschwung wurde ange-
bahnt durch die 1880 von Stock er und
Henrici ins Leben gerufene »Berliner
Bewegung« und die Gründung der
»christlich-sozialen Partei«, der man
anfangs in Regierungskreisen nicht unsym-
pathisch gegenüberstand, so dass man die
Handhabung der Versammlungspolizei etwas
lockerte. In Verbindung hiermit steht das
Auftreten des Vergolders Ewald, der An-
fang 1882 mit dem Vorschlage hervortrat,
die Berliner Arbeiter möchten an den Fürsten
Bismarck und den Reichstag eine Petition
senden, in der sie ihre Wünsche und
Beschwerden in loyaler Weise zum Aus-
druck brächten. In der That wurde in einer
am 31. März 1882 abgehaltenen Versamm-
lung, an der sich von den bestehenden 28
Fachvereinen 9 beteiligten, zur Ausarbeitung
des Petition sent wurf es ein »General-
komitee der Berliner Gewerkschaf-
ten« eingesetzt, in welches neben 7 Mit-
gliedern der Fachvereine auch 2 christlich-
soziale Vertreter gewählt wurden. Bald
freilich ging man seitens der Polizei auch
gegen Ewald und das Generalkomitee mit
Strafen und Auflösung vor, aber immerhin
hat die Bewegung zu einer lebhaften An-
regung des Interesses gefülirt und ein An-
wachsen der Fachvereine bis Ende 1882 von
18 auf 50 zur Folge geliabt.
Auch mit Abhaltung von Fachkongressen
wagte man sich allmählich wieder hervor.
Den Anfang machten solche Organisationen,
die zu der Sozialdemokratie in ausgesproche-
nem Gegensatze standen, wie die Buch-
drucker; dann kamen andere, die sich
einigermassen neutral gehalten hatten, wie
die Hutmacher und Bildhauer. Endlich
folgte mit dem Tischlerkongresse Weihnach-
654
Gewerkvereine (Deutschland)
ten 1883 unter dem Vorsitze von Kloss eine
Arbeiterschaft, in der unzweifelhaft sozial-
demokratische Anschauungen vertreten
waren ; 1884 thaten dann die Zimmerer, . die
Manufaktiutirbeiter, die Schneider, die Stein-
metzen, die Schuhmacher und die Tabak-
arbeiter den gleichen Schritt. Selbstver-
ständlich beschränkte man sich streng auf
die Erörtenmg von Schlichen Interessen:
Arbeitslosenunterstützung, Reisegeld, Eiechts-
schutz, Stellenvermittelung u. s. w. Am
schwierigsten war die Behandlung der
Strikefrs^e. Ganz sicher hat sie mit der
Politik oder gar mit Umsturzbestrebungen
nichts zu thun, aber da der Strike ftir die
Arbeitgeber eine besonders unangenehme
Sache ist und das damalige Regierungssystera
deren Interessen mit denen des Staates
identifizierte, so brachte der berühmte
Puttkamersche Strikeerlass vom 11.
April 1886 das Kunststück fertig, auch den
Strike unter die revolutionären Bestrebungen
zu stellen, die nach dem Sozialistengesetze
zu behandeln seien.
Um sich, so gut es gehen wollte, gegen
iesö Praxis zu schützen, ging man seitens
der Arbeiterschaft dazu über, die Beratung
don Strikes aus der Thätigkeit der organi-
vierten Vereine ganz auszuscliliessen und
sie in allgemeine Versammlungen zu ver-
segen, zu denen alle Mitglieder des betref-
lenden Gewerl)es eingeladen wurden. In
diesen wurden die massgebenden Beschlüsse
gefasstund Strike- oder Kontrollkom-
missionen gewählt; obgleich deren Auf-
gabe eigentlich auf den einzelnen Strike be-
schränkt war, so behielten sie doch ihre
Funktionen in der Form einer allgemeinen
Leitung häufig auch nach dessen Erledigimg
bei, indem sie von Zeit zu Zeit Vei^amm-
lungen einberiefen und mittelst »Sammel-
listen« und »Quittungsmarken« die Auf-
bringung der Geldmittel besorgten. Eine
ähnliche Einrichtung waren die Vertrau-
ensmänner, die el>enfalls in allgemeinen
Versammlungen gewählt wurden und zu-
weilen nur einen begrenzten Auftrag, öfters
aber auch die Stellung einer allgemeinen
Leitung erhielten.
b) Die Entwiokelung nach 1890. Als
mit dem 1. Oktober 1890 die Herrschaft
des Sozialistengesetzes aufhörte, glaubte
man endlich die Ausgestaltung der Organi-
sation in die Hand nehmen zu können.
Eine am 16. und 17. November 1890 in
Berlin tagende Gewerkschaftskonfe-
renz setzte als Centralinstanz die »Gene-
ralkommission derGewerkschaf ten
Deutschlands« in Hamburg ein mit
dem Auftrage, ein Organisationsstatut aus-
zuarbeiten und einem demnächst einzube-
rufenden Kongresse zur Beratung vorzulegen.
Dieser erste Gewerkschaftskon-
gress hat dann imter Beteiligung von 208
Abgeordneten als Vertretern von 305 519 Mit-
gliedern vom 14.— 18. März 1892 in Hal-
ber Stadt stattgefunden und ist als Beginn
einer neuen Entwickelungsperiode in der
deutschen Gewerkscliaftsbewegung zu be-
trachten.
Aus dem von der Generalkommission für die
Zeit vom 17. November 1890 bis 1. März 1892
erstatteten Berichte ist folgendes zn erwähnen.
Die Kommission, deren Vorsitzender der Keichs-
tagsab^eordnete Legien ist, hat ihre erste Auf-
gabe in der Anbahnung einer umfassenden
Statistik gesehen, deren Ergebnisse unten zu
erwähnen sein werden. Eine Strikestatistik ist
an dem mangelnden Entgegenkommen der
Vereine gescheitert. Die Kommission bat die
ausgebrochenen Abwehrstrikes unterstützt und
für 31 solcher Stiikes 184 396 Mark ausgegeben.
Nach dem Beschlüsse der Konferenz sollten
diese Ausgaben von sämtlichen Gewerkschaften
nach dem Verhältnisse der Mitgliederzahl auf-
gebracht werden, aber da die ausgeschriebenen
Seiträge nicht in ausreichendem Masse ein-
gingen, so hat sich die Kommission genötigt
gesehen, ein Anlehen von 106 950 Mark aufzu-
nehmen. Da sich die Ansicht geltend machte,
dass die Kommission bei Unterstützung von
Strikes zu freigebig sei, so sind auf einer am
7. 8. September 1891 in Halberstadt abgehaltenen
Zusammenkunft von Gewerkschafts-
vertretern hierfür bestimmte einschränkende
Grundsätze aufgestellt. Andere Mittel hat man
durch die Sammlungen zu dem „Maifonds''
zu gewinnen gesucht, indem man für die Feier
des von dem internationalen Arbeiterkongress
in Paris 1889 beschlossenen und auf den 1 . Mai
festgesetzten Weltfeiertages gewisse Abzeichen
verkaufte, doch ist auch hier der Erfolg nicht
befriedigend gewesen und hat nicht einmal aus-
gereicht, um das erwähnte Anlehen zurückzu-
zahlen. In dem „Correspondenzblatte
der Generalkommission der Gewerk-
schaften Deutschland s"* hat sich die
Kommission ein eigenes Organ ereschaffen, das
wöchentlich ausgegeben und an die Vertrauens-
leute der Gewerkschaften und die Redaktionen
der Arbeiterzeitungen unentgeltlich geliefert
wird. Die Auflage hat sich von 400 auf 7600
gehoben.
Bei den Verhandlungen des Gewerkschafts-
kongresses lag naturgemäss der Schwerpunkt
in der Frage der Organisation. Diese war
scheinbar eine Angelegenheit von rein prak-
tischer Bedeutung, in Wahrheit dagegen be-
rührte sie die principielle Grundlage der ganzen
Arbeiterbewegung. Nach der bekannten, erst
mit dem 1. Januar 1900 in Wegfall gekommenen
Bestimmung der meisten deutschen Vereinsffe-
setze war es Vereinen, die sich mit Politik be-
schäftigen, verboten, mit einander in Verbindung
zn treten. Es liegt auf der Hand, dass der
gewerkschaftliche Zweck, die Verteidi^^ung der
Arbeiterinteressen gegenüber den Arbeitgeoem,
sich von örtlich begrenzten Vereinen nur sehr
unvollkommen erreichen lässt, vielmehr eine
möglichst umfassende Centralisation erfordert.
Sah man also wirklich diesen Zweck als den
wesentlichen an, so musste man ihm zu Liebe
auf die politische Bethätigung verzichten. Hielt
Gewerkvereine (Deutschland)
655
man dagegen umgekehrt die letztere für das
Wichtigere, so musste man sich mit lokalen
Organisationen begnügen. Offenbar berührt
diese Entscheidung auf das engste die prin-
cipielle Stellung gegenüber der bestehenden
Wirtschaftsordnung. Wer der Ansicht ist, dass
unter deren Herrschaft keine wesentliche
Besserung der Lage der Arbeiterklasse zu er-
zielen ist, muss ihre Beseitigung für die Haupt-
sache halten und, da diese nur auf politischem
Wege zu erzielen ist, auf die Centralorganisa-
tion verzichten. Wer dies nicht will, sondern
im Gegenteil die politische Beschäftigung preis-
giebt, kann vernünftigerweise den bezeichneten
Ausgangspunkt nicht anerkennen. Hiemach ist
es onne weiteres einleuchtend, dass der Kampf
zwischen centraler und lokaler Organi-
sation, wie er sich auf dem Kongresse ab-
spielte, in Wahrheit den Gegensatz m den
Grundanschauungen darstellt. Dem entspricht
es denn auch, dass nicht allein die Vertreter
der Lokalorganisation ihren Gegnern in erster
Linie den Vorwurf machten, dass sie das sozial-
demokratische Princip verleugneten, sondern
dass auch die politische Sozialdemokratie den
Bestrebungen der die Mehrheit bildenden An-
hänger der Centralisation mit offen ausge-
sprochenem Misstrauen gegenüberstand. Als
der Kongress sich mit bedeutender Mehrheit
für die Centralisation entschied, verliessen die
Vertreter der Lokalorganisation unter Protest
die Versammlung.
Aber auch unter den Vertretern der
Centralisation gab es noch einen Gegensatz, der
neben seiner praktischen zugleich eine prin-
cipielle Bedeutung hatte, nämlich zwischen dem
System der Branchenorganisation und
dem der Industrieverbände. Bei den
letzteren bilden nicht die Einzelberufe, z. B.
Tischler, Zimmerer, Drechsler, Stellmacher, ge-
sonderte Organisationen, sondern sie werden zu
gemeinsamen Verbänden z. B. der Holzarbeiter
zusammengefasst. Die Generalkommission hatte
sich für die ßranchenorganisation entschieden
und einen entsprechenden Entwurf ausgearbeitet.
Als Gründe wurden neben dem Umstände, dass
die damit verknüpfte Verminderung der Fach-
blätter von 58 auf etwa 12—15 eine erhebliche
Kostenersparnis bedeuten würde, besonders
fettend gemacht, dass das Zusammengehörig-
eitsgefühl in den Einzelberufen viel stärker
entwickelt sei, ja dass zwischen diesen, selbst
wenn sie demselben Industriezweige angehörten,
gar nicht selten erhebliche Gegensätze beständen,
ie Anhänger der gegnerischen Anschauung
konnten diese Thatsache als solche nicht be-
streiten, bezeichneten sie aber als „Kastengeist"
und „Berufsdünkel", den man aus principiellen
Gründen bekämpfen müsse.
Die Generalkommission wollte übrigens die
Berufsverbände derselben Industrie ebenfalls zu
einer höheren Einheit zusammenfassen, nämlich
zu den sogenannten „Unionen", aber diese
unterscheiden sich dadurch von den Industrie-
verbänden, dass bei ihnen die einzelnen zu-
nächst zu selbständigen Berufsgruppen ver-
einigt werden und erst diese zu der Union zu-
sammentreten, während der Industrieverband
jene Zwischenstufe ganz fallen lässt. Bei ihnen
sind Mitglieder die einzelnen Personen, bei den
Unionen dagegen die Berufsgruppen. Offenbar
bedeutet der Industrieverband eine straffere
Zusammenfassung und deshalb eine grössere
Kräftekoncentration , setzt aber zugleich eine
höhere Stufe des SolidaritätsgefühlB voraus und
tritt dem „Kastengeist und Beruf sdtinkel"
noch entschiedener entgegen als die Branchen-
organisation.
Endlich wurde eine noch losere Form der
Verbindung der Berufsgriippen vorgeschlagen,
bei welcher diese nicht zu festen Verbänden zu-
sammengefasst, sondern nur durch gegenseitige
Kartellverträge mit einander in Beziehung
gesetzt wurden.
Der Kongress entschied sich mit 148 ^egen
37 Stimmen für das System der Industnever-
bände, erkannte dasselbe aber nur als das an-
zustrebende Ziel an, dessen Verwirklichung
überall da zu versuchen ist, wo die Verhältnisse
es zulassen, beschränkt« sich aber im übrigen
auf die Empfehlung der blossen Kartellverträge,
indem er die Fra^e, ob die spätere Vereinigung
der Berufsorganisationen zu Unionen oder
Industrieverbänden stattzufinden habe, der
weiteren Entwickelung vorbehielt. Wo der
Bildung von Centralverbänden gesetzliche
Hindernisse entgegenstehen, soll die Centrali-
sation auf dem Wege des Vertrauensmänner-
systems stattfinden.
Die Generalkommission wurde als
ständige Einrichtung beibehalten, aber erst
nach hartnäckigen Kämpfen und unter mehr-
facher Einschräuknng ihrer Befugnisse, insbe-
sondere wurde ihr die Unterstützung von Strikes
entzogen und diese vielmehr den einzelnen
Centralverbänden übertragen. Aufgaben der
Kommission, die aus 7 Mitgliedern besteht, sind :
1. die Betreibung der Agitation, 2. die Führung
einer einheitlichen Gewerkschaftsstatistik, 3. die
Anbahnung einer Strikestatistik, 4. die Heraus-
gabe eines Blattes, welches insbesondere die
Beziehungen der Gewerkschaften unter ein-
ander unterhalten soll, 5. die Bekämpfung und
Unterhaltung internationaler Beziehungen. Die
Centralverbände haben für jedes Mitglied viertel-
jährlich 5 Pfennig an die Kommission abzu-
fahren. Diese hat unter Zustimmung der
Mehrheit der Centralverbände die Gewerkschafts-
kongresse zu berufen.
Als Gegenstand der Kartellver-
träge wurde empfohlen: 1. die Unterstützung
bei Ausständen und Aussperrungen, 2. die
Unterstützung reisender Mitglieder, 3. die Be-
treibung der Agitation, 4. die Veranstaltung
statistischer Erhebungen, 5. die Centralisierung
von Herberten und Arbeitsnachweisen, 6. die
Schaffung eines gemeinsamen Organes, 7. die
Erleichterung des Uebertrittes von einer Or-
ganisation in die andere.
Die bisher schon übliche Einrichtung der
Kontrollmarken d. h. eines an den Fabri-
katen angebrachten Zeichens dafür, dass der
Fabrikant in seinem Betriebe die von den Ge-
werkschaften geforderten Arbeitsbedingungen
eingeftUirt hat, ohne welches die Arbeiter die
Waren nicht kaufen sollen, wurde allgemein
empfohlen. Die Beseitigung der Akkord-
arbeit wurde einstimmig j^efordert.
Hinsichtlich der weiblichen Arbeiter,
von denen eine Vertreterin in die General-
kommission aufgenommen wurde, empfahl man,
von Bildung besonderer Organisationen abzu-
656
Gewerkvereiae (Deutschland)
sehen und die Franen als gleichherechtigfte
Mitglieder in die bestehenden Gewerkschaften
aufzunehmen. —
Hatte schon auf dem Kongresse der Gegen-
satz der Grundanschauungen insofern die Haupt-
rolle gespielt, als es sich darum handelte, ob
man den Schwerpunkt in die gewerkschaftlichen
oder in die politischen Ziele zu legen habe, so
verschärfte sich dies in den nächsten Jahren
noch ganz erheblich und führte zu sehr ge-
reizten Auseinandersetzungen zwischen der
Generalkonimission und dem Parteivorstande,
die in einem Briefwechsel zwischen Legien und
Auer ihren Ausdruck fanden. Seitens des
ParteivoTstandes beschuldigte man die General-
kommission, dass sie die Gewerkschaften in
eine Rivalitätsstellung zu der Partei drängen
und dadurch eine Spaltung der Arbeiterschaft
herbeiführen wolle. Man sprach von „dunkeln
Plänen", die in Hamburg verfolgt würden, und
brachte in der That eine solche Aufregung zu-
stande, dass unter dem Drucke des erregten
Argwohns die Anfrage der Generalkommission
wegen eines 1895 abzuhaltenden Kongresses von
der Mehrzal der Centralverbände ablehnend be-
antwortet wurde, obgleich man doch eine solche
Wiederholung in Halberstadt ausdrücklich be-
schlossen hatte. Auch auf dem 1895 in Köln
abgehaltenen sozialdemokratischen Parteitage
wurde über Legien und seine Mitschuldigen,
die es wagten, auch ausserhalb des allein selig
machenden Parteidogmas Heil zu erhoffen, ein
strenges Gericht gehalten.
Im folgenden Jahre hatten sich dann die
Gemüter soweit beruhigt, dass vom 4. — 8. Mai
1606 der zweite Gewerkschaf tskongress
in Berlin abgehalten werden konnte. Auf
demselben waren 48 Centralverbände und 6
Lokalorganisationen, sowie 11 Zweigvereine der
Tabakaroeiter mit insgesamt 271 141 Mitgliedern
durch 139 Abgeordnete vertreten. Naturgemäss
machte sich hier der Wellenschlag des voran-
gegangenen Sturmes noch lebhaft bemerkbar,
und wenn der Schwerpunkt des ersten Kongresses
in der Organisationsirage gelegen hatte, so lag
er bei dem zweiten in der Erörterung des Ver-
hältnisses zwischen Gewerkschaft und Partei,
die zu scharfen Auseinandersetzungen führte.
Während die Opposition, die hauptsächlich von
den Metallarbeitern geführt wurde, der Gene-
ralkommission den Vorwurf machte, dass sie ein
Gegengewicht gegen den Parteivorstand bilden
wolle, und einfach ihre Aufhebung und die
Ersetzung durch einen blossen Generalsekretär
oder einen aus den Vorsitzenden der einzelnen
Centralverbände bestehenden Gewerkschaftsbund
forderte, traten umgekehrt die Maler, die Gold-
arbeiter und insbesondere die Buchdnicker nicht
allein warm für die Generalkommission ein,
sondern wehrten sich in scharfen Ausdrücken
dagegen, dass „die Gewerkschaften zum politi-
schen Hausknecht degradiert" würden und er-
klärten: „Wir Gewerkschaften dürfen* nicht
unter die Botmässigkeit der Partei kommen;
\^ir sind ein souveränes Volk und brauchen
keinen Rat und keine Bevormundung von anderen
Seiten." Das Ergebnis des zweitägigen
Kampfes war, dass, nachdem zunächst die Not-
wendigkeit einer Gesamtvertretung der Ge-
werkschaften mit 133 gegen 5 Stimmen aner-
kannt war, der Antrag, dieselbe einem Gewerk-
schaftsausschusse zu übertrafen, mit Stimmen-
gleichheit abgelehnt und endlich die Beibehal-
tung der Generalkommission beschlossen wurde,
dagegen wurde deren Mitgliederzahl von 7 auf
ö herabgesetzt und ihr ein Ausschuss aus
Vertretern der Centralverbände zur Seite ^-
stellt. Der Beitrag wurde von 6 auf 3 Pfennige
ermässi^t. Der Autrag der Generalkommission
auf Errichtung eines gemeinsamen Strikefonds
wurde mit 104 gegen 18 Stimmen abgelehnt.
Die Gewerkschaftskongresse sollen alle 3 Jahre
stattfinden; zu ihnen haben die einzelnen Ge-
werkschatten auf je 3000 Mitglieder einen Ver-
treter zu wählen.
Auch die Frage der Arbeitslosenunter-
stützung führte zu lebhaften Auseinander-
setzungen, indem man sie als eine kapitalistische,
dem Klassencharakter der modernen Arbeiterbe-
wegung zuwiderlaufende Einrichtung bekämpfte
und behauptete, dass sie die Arbeiter von dem ziele
der endgiitigen Befreiung der Arbeiterklasse
ablenke. Trotzdem wurde aber mit grosser
Mehrheit eine Resolution angenommen, die den
Gewerkschaften die Einführung überall da
empfiehlt, wo sich keine Schwierigkeiten er-
geben.
Hinsichtlich der Arbeits vermittelung
wurde die Uebertragnng auf die Gemeinden
gegen wenige Stimmen abgelehnt und der
Arbeitsnachweis ausschliesslich für die Gewerk-
schaften in Anspruch genommen, wobei der
Staat oder die Gemeinden die erforderlichen
Geldmittel zur Verfügung zu stellen haben.
Aus den Mitteilungen der Generalkom mission
ist noch zu erwähnen, dass dieselbe auch die
internationalen Beziehungen gepflegt
und mit der Gewerkschaftskommission in Oester-
reich, dem Schweizerischen Gewerkschaftsbunde,
der Fed^ration des bourses du travail in Paris
und den Syndicats et groupes corporatifs de
France in Troyes, mit dem Board of trade und
dem Trade unions con^ress parliamentary
committee in England sowie mit der American
federation of labor Verbindungen angeknüpft
und Nachrichten ausgetauscht hat. —
Auch der vom 8.— 13. Mai 1899 in Frank-
furt a. M. abgehaltene dritte Gewerk-
schaf tskongress. auf dem 130 Abgeordnete
495 138 Mitglieder vertraten, hatte es vorwiegend
mit Fragen von principieUer Bedeutung zu Üiun.
Dies war schon dadurch gegeben, dass der
Kongress Stellung zu nehmen hatte zu den
unten noch näher zu erörternden, innerhalb des
Buchdruckerverbandes ausgebrocheuen
Streitigkeiten, bei denen es sich im wesentlichen
um den Gegensatz der gewerkschaftlichen und
der sozialdemokratischen Richtung handelte, der
in dem persönlichen Gegensatze zwischen Gasch
bezw. der von ihm begründeten Buchdrucker-
gewerkschaft und dem Verbände zum Ausdruck
kam. Um Wiederholungen zu vermeiden, muss
hier auf die spätere Darstellung verwiesen
werden. Der Kongress stellte sich mit grosser
Mehrheit auf die Seite des Verbandes, indem er
mit 96 gegen 26 Stimmen ihn als die allein be-
rechtigte Vertretung der Buchdrucker aner-
kannte und das Mandat PoUenders, des Abge-
sandten der Buchdruckergewerkschaft, für un-
giltig erklärte.
Aber hatte man bei diesem Beschlüsse
immerhin den eigentlichen Kernpunkt des
Gewerkvereine (Deutschland)
657
Streites, nämlich die ^undsätzliche Auffassung
des Verhältnisses zwischen Arbeiter und Ar-
beitgeber dadurch umgehen können, dass man
sich auf den mehr formalen Gesichtspunkt
stützte, jede Organisation habe nach eigenem
Ermessen ihre Angelegenheiten zu bestimmen,
wobei die Mehrheit sich der Minderheit zu
fügen habe, so war dies bei dem folgenden
und wichtigsten Punkte der Tagesordnung:
„Tarife und Tarif gemeinschafteh"
nicht möglich, denn hier blieb keine Wahl, als
entweder das alte sozialdemokratische Dogma
von dem unversöhnlichen Gegensatze der Inte-
ressen beider Klassen aufrecht zu erhalten —
dann musste man Tarif gemeinschaften als einen
inneren Widerspruch verwerfen, oder sie zu
billigen — dann Hess man jenen Standpunkt
stillschweigend in der Versenkung verschwinden.
Es ist bezeichnend für die Fortschritte der ge-
sunden Entwickeln ng , dass selbst Pollender,
den man ids Diskussionsredner zugelassen hatte,
nicht die Tarifgemeinschaft als solche, sondern
nur die näheren Bedingungen, unter denen die
Buchdrucker sie abgeschlossen hatten, bekämpfte
und dass der Beschluss, welcher tarifliche Ver-
einbarungen zwischen Arbeitern und Arbeil-
ffebem als Anerkennung der Gleichberechtigung
ror alle Berufe für erstrebenswert erklärt, in
denen starke Organisationen beider Teile vor-
handen sind und die Gewähr für Aufrechterhal-
tung und Durchführung des Vereinbarten bieten,
mit allen gegen vier Stimmen Annahme fand.
Auch bei der Frage der Arbeitsver-
mittelung trat der Fortschritt gegen den
Berliner Kongress insofern offen zu Tage, als
der Beferent Leipart (Holzarbeiter) ausdrücklich
den dort gefassten Beschluss als einen „über-
triebenen Radikalismus" bezeichnete und die
angenommene Besolution freilich formell an
dem principiellen Standpunkte, dass der Arbeits-
nachweis den Arbeiterorganisationen gebühre,
festhält, aber thatsächlich diese Forderung in-
sofern fallen lasst, als er nicht allein kommunale,
sondern auch gemeinschaftliche (paritätische)
Arbeitsnachweise zulässt und nur gewisse durch-
aus berechtigte Bedingungen stellt, die im
wesentlichen nichts weiteres als die Sicherung
der Gleichberechtigung beider Teile verlangen.
Nicht einmal die berühmte Strikeklausel ist
unter dieselben aufgenommen.
W^eniger Erfolg erzielte die gemässigte
Richtung bei den Verhandlungen über die
Schaffung einer Centralstelle für Ar-
beiterversicherun^ und Arbeiter-
schatz. Die Frage, ob die Beschäftigung mit
dieser Angelegenheit den Gewerkschaften oder
der Partei gebühre, hatte schon früher in An-
lass eines von Dr. Quarck gemachten Vor-
schlages, durch ihre Behandlung in den Gewerk-
schaftoversammlungen das Interesse an diesen
zu beleben , eine lebhafte Auseinandersetzung
hervorgerufen. Jetzt hatte eine von den Re-
dakteuren der Gewerkschaftspresse am 17. August
1898 in Gotha abgehaltene Konferenz sich auf
einen ähnlichen Standpunkt gestellt, indem be-
schlossen war, bei dem Kongresse zu beantragen,
dass in Verbindung mit der Generalkommission
eine Centralstelle errichtet werde, welche die
Arbeiterschutz- und Versicherun^sgesetze in
gemeinverständlicher Weise bearbeiten und da-
durch eine nutzbringende Beeinflussung dieser
Gesetze und ihrer Handhabung herbeiführet so-
wie die Wahlen zu den Vertretungskörper-
schaften organisieren sollte. Aber wie man dem
Quarckschen Vorschlage entgegengehalten hatte,
dass er in die Sphäre der politischen Partei
eingreife, so wurde der gleiche Einwand auch
jetzt erhoben und in dem Antrage ein Miss-
trauensvotum gegen die Reichstagsfraktion ge-
funden. Obgleich auch hier von der anderen
Seite, insbesondere von den Buchdruckern be-
tont wurde, dass die Gewerkschaften „nicht ein
Anhängsel irgend einer politischen Partei, son-
dern vollkommen selbständige Institutionen''
seien, so drang doch der Antrag nicht durch,
sondern man beschränkte sich darauf, die Auf-
klärung der Arbeiter über die bezeichneten An-
gelegenheiten und die Beeinflussung der be-
zügkchen Wahlen unter die Aufgaben der Gene-
ralKommission aufzunehmen.
Dagegen ist es als ein Erfolg der ge-
mässigten Richtung anzusehen, dass der Kon-
gress die von den Gewerkschaftskartellen
erhobenen Ansprüche entschieden zurückwies.
Es sind dies örtliche Organisationen, in welche
alle am Orte vertretenen Gewerkschaften je
nach ihrer Stärke Vertreter entsenden. Diese
Kartelle hatten allmählich eine erhebliche Macht
und insbesondere einen grossen Einfluss auf die
Behandlung der Strikes erlangt, indem sie die
Strikegelder sammelten und verteilten. Diese
Machtstellung zei^e sich darin, dass sie auf
dem Kongresse eine besondere Vertretung^ ge-
fordert und, als diese von der General kommission
abgelehnt war, sogar mit Einberufung eines
Gegenkongresses gedroht hatten. Nun handelte
es sich freilich bei diesem Streite in erster Linie
um die Rivalität zwischen den Kartellen und
den Central verbänden, denn die wachsende Macht
der ersteren wurde von den letzteren als Ein-
friff in ihre Rechte empfunden. Aber zugleich
am dabei die Behandlung der Strikes in Frage,
denn die Kartelle hatten schon häufig Strikes
beschlossen oder fortgesetzt, die von den be-
teiligten Central verbänden als aussichtslos wider-
raten waren: es entspricht das der Erfahrung,
dass Zwistigkeiten zwischen Arbeitern und Ar-
beitgebern leichter beizulegen sind, wenn sie
auf die unmittelbar Beteiligten beschränkt wer-
den, als wenn Gewerbsfremde sich einmischen.
Der Referent Päplow (Maurer) forderte durch-
aus, dass nicht innerlich verlorene Strikes
noch künstlich aufrecht erhalten würden und
dass nicht stets der Klingelbeutel umher gehe,
wollte vielmehr einen Stnke nur dann als be-
rechtigt anerkennen, wenn die beteiligte Or-
ganisation selbst die Mittel zur Durchführung
besitze ; deshalb sollte den Kartellen jeder Ein-
fluss auf die Strikes entzogen werden. In der
That wurde diese Auffassung vom Kongresse
gebilligt, die Beschlussfassung über Strikes aus-
schliesslich den Centralverbänden übertragen
und dagegen als Aufgaben der Kartelle die
Regelung des Arbeitsnachweises und des Her-
bergswesens, die Pflege der Statistik^ die Er-
richtung von Bibliotheken und Arbeitersekre-
tariaten sowie die Vertretung der Arbeiter-
interessen gegenüber den Behörden und bei den
Wahlen zu aen Versicherungsorganen bezeichnet.
Während die englischen trade unions ihre
grossartige Entwickelung zum grossen Teile
ihren ständig angestellten und gut bezahlten
Handworterbnch der StaatswiBsenechaften. Zweite Auflage. IV.
42
658
Qewerkvereine (Deutschland)
Beaftiten verdanken, hatte man bei den deutschen
Gewerkschaften bisher nicht nur sehr geringe
Besoldungen gewährt, sondern auch die Posten
ohne Hücksicht auf persönliche Befähigung als
Versorgung für gemassregelte Parteigenossen
behandelt. Obgleich gegen das englische System
geltend gemacht wurde, eine derartige Stellung
der Beamten führe dahin, dass ihnen „ das prole-
tarische Gefühl verloren gehe", indem sie ver-
leitet würden, sich in bürgerlich-bureaukratischer
Weise Über den Arbeiterstand zu erheben, wurde
doch mit allen gegen vier Stimmen beschlossen,
den Gewerkschaften das englische Vorbild zu
empfehlen.
Die bereits in Berlin beschlossene Befür-
wortung der Arbeitslosenunterstützung wurde
wiederholt; ebenso wurden die Arbeitersekre-
tariate als eine nützliche Einrichtung anerkannt.
Die Stellung der Generalkommission
hatte sich inzwischen soweit befestigt, dass
Angriffe ^e^en sie kaum mehr erhoben wurden ;
die Mitgliederzahl wurde wieder von 5 auf 7
erhöht. Ebenso wurde neben den bisherigen
beiden noch ein dritter bezahlter Beamter an-
gestellt. Das „Correspondenzblatt" wurde er-
weitert zu einem Organe, welches über alle die
Arbeiterbewegung des In- und Auslandes be-
rührenden Angelegenheiten r^elmässige Be-
richte bringen soll. Ausserdem hat die Generai-
kommission Jahresberichte herauszugeben mit
statistischen Angaben über Zahl und Stärke der
Organisationen und die stattgehabten Strikes.
Die principielle Bedeutung des Kongresses
tritt recht deutlich zu Tage in dem Schluss-
worte des Vorsitzenden Bömelburg. Er betonte
den ungemeinen Fortschritt, den die Gewerk-
schaftsbewegung seit den ersten beiden Kon-
fressen gemacht habe; ihre Macht und ebenso
le Notwendigkeit einer einheitlichen Spitze
würde von keiner Seite mehr beanstandet, ja
die „dunkeln Pläne '^j die damals der General-
kommission so heftige Angriffe zugezogen hätten,
seien auf diesem Kongresse verwirklicht. Die
Gewerkschaften wollten hinsichtlich der poli-
tischen und religiösen Ueberzeugnngen keinerlei
Zwang ausüben und hiessen konservative, frei-
sinnige, ultramontane, protestantische und
atheistische Mitglieder in ihren Keihen will-
kommen. Bisher sei allerdings in den gewerk-
schaftlichen Kreisen die Sozialdemokratie als
die beste Vertreterin der arbeitenden Bevölke-
rung betrachtet, und dies werde wohl auch für
die Folgezeit so bleiben ; deshalb seien die Mit-
glieder der Gewerkschaften zum grössten Teile
Sozialdemokraten. —
Es kann keinem Zweifel unterliegen,
dass die deutsche Gewerkscihaftsbewegung
seit 1890 ausserordentliche Fortschritte ge-
macht hat. Man hat sich von vielen Vor-
urteilen der früheren Zeit losgesagt und
insbesondere von der Macht der revolutionäi-en
Phrase fi-ei gemacht, indem man sich offen
auf den allein m()glichen Boden aller ge-
werkschaftlichen Thätigkeit stellt, nämlich
im Kahmen der bestehenden Verhältnisse
und ohne Rücksicht auf doren principielle
Borechtigung oder Xichtberechtigmig durch
Zusammenfassung der Kräfte eine möglichst
weitgehende Besserung in der wirtscliaft-
lichen Lage der Arbeiterklasse herbeizu-
führen. Man ist sich dabei des natürlichen
Gegensatzes gegen das Unternehmertum
voll bewusst geblieben, hat aber anerkannt,
das daneben auch gemeinsame Interessen
bestehen, zu deren Förderung das Zusammen-
wirken mit den Arbeitgebern das innerlich
berechtigte Mittel ist Zählen sich auch die
Mitglieder der Gewerkschaften überwiegend
zur sozialdemokratischen Partei, was ihnen
solange nicht zu verargen ist, als es keine
andere Arbeiterpartei giebt, so ist doch die
Grenze zwischen der gewerkschaftlichen \md
der politischen Organisation scharf gezogen.
Ein weiteres Auseinandergehen der beider-
seitigen Wege ist solange nicht wahrschein-
lich, >Äde auch die Sozialdemokratie ihre
Zukunftspläne »in den Silberschrank der
guten Stube« stellt, das »Endziel« nichts
weiter sein lässt als einen schönen Traum
und den Schwerpunkt in die praktische
Arbeiterpolitik verlegt, insbesondere aber so
lange, wie die herrschende Sozialpolitik und
die besitzenden Klassen auch ihrerseits einen
Unterschied zwischen gewerkschaftlichen
und sozialdemokratischen Bestrebungen nicht
anerkennen und beide mit dem Fanatismus
des engherzigen Klassenegoismus verfolgen.
Dagegen bildet das Bestehen einer starken
Gewerkschaftsbewegung die sicherste Ge-
währ dafür, dass die Sozialdemokratie die
bezeichnete praktische Richtung dauernd
verfolgen und allmählich sich zu einer Par-
tei entwickeln wird, die freilich formell
ihren Protest gegen die bestehende Staats-
und Gesellschaftsordnung aufrecht erhält,
aber thatsäcldich sich mit ihr abfindet und
immer weniger daran denkt, ernsthaft ihre Be*
seitigung anzustreben.
o) Statistik. Die Statistik ist, wie oben
mitgeteilt, eine der der Generalkommission
überwiesenen Aufgaben, aber erst in den
letzten Jahren ist es ihr gelungen, dieselbe
einigennassen den berechtigten Ansprüchen
entsprechend zu gestalten. Dagegen fehlt
es vor dieser Zeit selir an einigermassen
brauchbarem Material.
Für die Zeit vor Erhiss des Sozialisten-
gesetzes ist die wertvollste Quelle eine von
dem Hamburger Buchhändler A. Geib im Jalir©
1 879 auf privatem Wege veranstaltete und in
Nr. 4 des »Pionier« vom 2G. Januar 1878
veröffentlichte, neuerdin^ in dem Gonxjspon-
denzblatte der Generalkomraission Nr. 30
von 1893 wieder abgedruckten Statistik.
Nacth ihr gab es damals 27) Gewerkschaften
und 5 Lokalorganisationen , die zusamme4i
49055 Mitglieder in 1206 Ortsgruppen um-
fassten; 18 derselben mit 22145 Mitgliedern
halten einen Monatsbeitrag bis zu 40 Pfeiniig,
luu" 8 erhoben GO Pfennig oder darüber.
Die Monatseinnahme betrug 33551 Mark,
der monatliche Ueberschuss rund 8000 Mai-k,
Gewerkvereine (Deutschland)
659
wovon aber 3538 Mark allein auf die Bucli-
dnicker entfielen. Es erschienen 15 Ge-
werkschaftsblätter mit 37 025 Auflage. Die
Anzahl der damals in den betreffenden Be-
nifen beschäftigten Arbeiter wird auf
20000(K) angegeben, so dass etwa 2^/2 ®/o
organisiert waren. Nur die Buchdrucker
und die Schiffszimmerer eiTeichten eine
Beteiligung von etwa 50®/o. Die absolut
genommen stärkste Organisation war die der
Tabakarbeiter mit 81Ü0 Mitgliedern in 170
Orten.
Nach einer anderen Quelle ^) zählten die
Gewerkschaften damals 58000 Mitglieder
in 29 Verbänden und 1300 Zweigvereinen
mit 15 Fachblättern.
Ueber die lokalen Fachvereine fehlen
alle Angaben, doch geht ihre nicht geringe
Bedeutung daraus hervor, dass auf dem von
York einberufenen Erfurter Gewerkschafts-
kongress 1872 von den insgesamt ver-
tretenen 11358 Mitgliedern der Marxschen
Organisation 6152 den internationalen Ge-
werksgenossenschaften, dagegen 3768 lokalen
Fachvereinen und 1438 freien Yereinigimgen
angehörten.
Nach Zacher^) soll die Anzahl der unter
sozialdemokratischem Einflüsse organisierten
Arbeiter 1886 81 200 1888 89 700 und 1889
121647 betragen haben.
' Oldenberg hat in seinem Ai*t. Gewerk-
' vereine im L Ergänzungs-Band der I. Auf-
I läge dieses Werkes aus den Berichten der
Polizeibehörden Ziffern mitgeteilt, die zum
■ Teil von den Angaben der Generalkommission
\ abweichen, und zwar meist höher sind, da
I sie auch die lokalorganisierten Arbeiter um-
fassen. Er berechnet nach diesen beiden
I Quellen folgende Durchschnittszahlen , die
I der üebersicht wegen hier w'iedergegeben
werden mögen:
1885/86
1887/88
Frühjahr 1889
1890
Ende 1890
Frühjahr, 1891
Ende 1891
100356
103 330
135353
277098
320213
277 474
269 988
Frühjahr 1892
März 1892
Ende 1892
Frühjahr 1893
Ende 18^)3
Frühjahr 1894
Letztes Datum
300815
279 594
236516
242 555
249 985
255 622
273451
Die Angaben der Generalkommission sind,
wie bereits erwähnt, in den ersten Jahren noch
sehr nnsicher, da die Verbände in Beantwortnng
der Anfragen sehr nachlässig waren, und werden
erst später genauer. Sie sind am einfachsten
zn ersehen aus den folp^enden beiden Tabellen
der Organisation und ihrer Mitglieder einer-
seits und der Einnahmen sowie der hauptsäch-
lichsten Ansgabeposten andererseits.
Zu diesen Ziffern ist zu bemerken, dass
in den ersten Jahren nicht alle Organisationen
Angaben gemacht hatten, nämlich 1891 nur
Ö5, 1892 nur 52, 1893 nur 50, 1894 nur 46,
Jahr
Centralorga-
nisationen
Zweigvereine
Mitglieder
Darunter
weibliche
In Lokal-
vereinen
Zusammen
1891
62
277 659
1 ,
lOOOO
287 659
1892
56
3 959
237094
4 355
7640
244 734
1893
51
4133
223 530
5384
6280
229810
1894
54
4350
246 494
5251
5550
252044
1895
53
4819
259175
6697
10 781
269 956
1896
51
5430
329230
15265
5858
335088
1897
56
6151
412359
14644
6803
419 162
1898
59
6756
491 955
13009
15792
507 747
1895 nur 49. Die Mitgliederzahlen sind für die
fehlenden Organisationen durch Schätzungen er-
fänzt, dagegen beziehen sich die Ziffern für
iinnahroen und Ausgaben nur auf diejenigen
Verbände, von denen Angaben gemacht sind.
Der Rückgang in der Mitgliederzahl von 1891
auf 1892 um mehr als 40000 entfällt über-
wiegend auf .den Bergarbeiterverband in West-
falen, dessen Mitgliederbestand sich von 45000
auf 15 300 vermindert hatte. Die Verminderung
der Gentralverbände beruht auf der Ver-
schmelzung verwandter Organisationen. Das-
selbe ^It für 1893, indem sieh auf dem am
4. Apnl 1893 in Cassel abgehaltenen Kongresse
die Bürstenmacher, Drechsler, Stellmacher und
Tischler zu dem deutschen Holzarbeiterverbande
vereinigt hatten. Die Verbände der Gasarbeiter
^) Vgl. Schmöle: die sozialdemokratischen
Gewerkschaften. Einleitung S. XVI.
^) Die rote Internationale. S. 85,
und der Posamentierer hatten sich aufgelöst.
Der Centralverein der Frauen und Mädchen ist,
als lediglich Bildungszwecken dienend, nicht
mehr mitgezählt, die Bergarbeiter in Westfalen
waren noch weiter auf 11174 zurückgegangen,
der Rechtsschutzverein der Bergleute im Saar-
gebiete mit 22 400 Mitgliedern hatte sich auf-
gelöst. Im Jahre 1894 war auch der sächsische
Bergarbeiterverband mit 8821 Mitgliedern auf-
gelöst, dagegen hatten sich die Verbände der
Schlachter, der süddeutschen Mühlenarbeiter,
der Flösser und Binnenschiffer und der Burean-
angestellten neu gebildet. Die Steinarbeiter
sind, da sie keine Zweigvereine, sondern nur
Vertrauensmänner in einzelnen Orten besitzen,
nicht mehr mitgezählt. Im Jahre 1895 hatten
sich die Verbände der Kürschner und Plätte-
rinnen infolge geringer Beteiligung aufgelöst:
der Verband der Schlachter ist als eingegangen
betrachtet. Die Formenstecher hatten sich den
Lithographen, die Korbmacher den Holzarbeitern,
42*
660
Gewerkvereine (Deuiscliland)
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die süddeutschen Müller dem allgemeinen
Müllerverbande angeschlossen. 1896 sind die
Verbände der Werftarbeiter nnd der Gasarbeiter
neu gegründet. Die Seiler hatten sich dem
TextiTarbeiterverbande angeschlossen. 1897 sind
die Verbände der Gastwirtsgehilfen, der Graveure,
der Handlungsgehilfen, der Handelshilfsarbeiter
und der Seeleute durch Zusaramenschluss von
Lokalvereiuen begründet. 1898 hat sich der
Verband der Mösser wieder aufgelöst. Die
Xylographen haben sich lokal organisiert und
sind deshalb aus dem Verzeichnisse fortgelassen,
dagegen sind die BuchdruckereiMlfsarbeiter, die
Formenstecher, die ihre Verbindung mit den
Lithographen gelöst haben, und die Maschinisten
und Heizer neu aufgenommen. Die Zunahme
in der Zahl der Lokalorganisierten von 1887
auf 1898 ist nur scheinbar, denn sie beruht nur
darauf dass Vereine mit insgesamt 10 070 Mit-
gliedern, die früher nicht berücksichtigt waren,
jetzt mitgezählt sind.
Die Mitgliederzablen, sowie die Einnahme
und Ausgabe der einzelnen Gewerkschaften er-
giebt die folgende Tabelle I, während in Ta-
belle II die Verteilung der einzelnen Ausgabe-
posten sowie die Kassenbestände zusammenge-
stellt siMd.
Aus diesen Zahlen ergiebt sich, dass es
durchaus unberechtigt ist, die Gewerkschaften
als reine Strikevereine darzustellen. Allerdings
haben 1898 die Centralverbände 1073290 Mark
für Strikes ausgegeben, aber diese Summe ist
nur ziemlich genau */4 der Gesamtausgaben,
insbesondere stehen ihr an Unterstützungen
gegenüber
Rechtsschutz
Gemassregeltenunterstütznng
Reiseun terstützung
Arbeitslosenunterstützung
Krankenunterstützung
Invalidenunterstützung
Umzugskosten etc.
Verbände
M.
39
43378
30
39978
36
283 267
17
275 404
12
491634
3
795S7
54
78419
1 291 667
Noch günstiger stellt sich die Rechnung,
wenn man den Unterstützungen die Kosten
für die Verbandsorgane hinzurechnet ; es stehen
dann den 1073290 M. für Strikes 1810616 M.
auf der anderen Seite gegenüber. In den acht
Jahren 1891 — 1898 haben die Gewerkschaften
für Strikes 4490077 M., dagegen für Unter-
stützungen 7981976 M. und für die Verbands-
organe 2592918 M., zusammen also 10574894 M.
verausgabt.
Die Beiträge schwanken zwischen 6,9 Pf.
und 1 M. 10 Pf. wöchentlich. Sie betragen bei
den Buchdruckern 1 M. 10 Pf., den Bildhauern
50 Pf., den Hafenarbeitern 9,2 Pf., den Kupfer-
schmieden 25 — 30 Pf., den Handschuhmachern
35 Pf., den Lithographen 20 Pf., den PorzeUan-
arbeitern 10—35 Pf., den Steinsetzern 10,11 Pf.,
den Hutmachem 25—45 Pf , den Seeleuten 19 Pf.,
den Tabakarbeitem 10—20 Pf., den Cigarren-
sortierern 25—75 Pf., den SchiflFszimmerem 15 Pf.,
den Werftarbeitern 10 Pf., den Buchbindern
35 Pf., den Böttchern 11,5 Pf., den Töpfern
15 -20 Pf., den Maurern 15— 20 Pf., den Brauern
20 Pf., den Zimmerern 10—30 Pf., den Stucka^
teuren 10-20 Pf., den Holzarbeitern (Verband)
Gewerkvereine (Deutschland)
661
Tabelle I. Zahl der Mitglieder, Jahreseinnahme und Ausgabe im Jahre 1898.
'S
Name der Organisation
* Zahl der Mitglieder
der Organisation
männl.
weibl.
zns.
TS
'■TS
, d
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0)
I CO
I ^
►2 ig
1, »H »H 5U
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M.
Pf.
Jahresaus-
gabe der
Organisation
M.
Pf.
1
2
3
4
o
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
00
56
57
Bäcker
Barbiere
Bauarbeiter
Bergarbeiter
Bildhauer
Böttcher
Brauer
Buchbinder
Buchdrucker
Buchdruckereihilfsarbeiter
Bureauangestelite . . .
Cigarrensortierer . . . .
Dachdecker ......
Fabrikarbeiter
Former
Fonnenstecher
Gärtner
Gastwirtsgehilfen . . .
Gemeindebetriebsarbeiter .
Glasarbeiter
Glaser
Gold- und Silberarbeiter .
Graveure und Ciseleure .
Hafenarbeiter
Handelshilfsarbeiter . . .
Handlungsgehilfen . . .
Handschuhmacher . . .
Holzarbeiter (Verband)
Holzarbeiter (Hilfsarbeiter)
2 533
I ooo
7866
27300
3572
4168
7645
5270
24020
750
278I
8501
I 800
15 101'
6I55I
243
300
1328
I 611
3566
I 630
1 244
849
I0037I
5087,
255.'
2998I
48589
974
Hutmacher I 2403
Konditoren I 432
Kupferschmiede . . . .1 3287
Lagerhalter 312
Lederarbeiter 4826
Lithographen 4224
Maler 8291
Maschinisten und Heizer . 3 700
Maurer ' 60 175
Metallarbeiter | 74 160
Müller i 1048
Porzellanarbeiter .... 8 442'
Sattler und Tapezierer .| 2 275 j
SchifFszimmerer . . . .1 i 400-
Schmiede (2 500I
Schneider I 9057
Schuhmacher I 13 727
Seeleute \ i 921
Steinarbeiter j 10000
Steinsetzer I 2 943
Stukkateure ! 2 000
Tabakarbeiter ; 15 613
Tapezierer ! 2 249
Textilarbeiter
Töpfer . .
Vergolder
Werftarbeiter
Zimmerer
27 679
4891
984
2599
22 104
1328
583
2
62
3071
34
147
45
149
399
4
85
8
I 271
415
10
438
1083
3000
1328
16
')
2533
I 000
7866
27 300
3572
4168
7645
6598
24020
1333
280
912
I 800
18 172
6155
243
300
1328
I 611
3 600
I 630
1391
849
10037
5087
300
3 147
49
116
?
93
99
96
66
960
II
4
25
90
176
108
15
9
13
14
65
67
17
24
40
33
15
42
48988 496
978
2488
440
3287
315
4826
4224
8291
3700
60 175
75431
I 048
8857
2285
1 400
2 500
9 495
7
45
12
62
14
94
91
182
73
725
454
44
136
60
16
35
210
14810' 219
6
170
96
39
385
58
212
128
18
14
408
I 921'
10 000
2943
2000
18613
2249
29007
4891'
1 000'
2599
22 104
140
9
120
650
25
500
300
30
I 200
3164
28264
2015
76749
») 57840
92855
50632
76308
95 118
1 350 242
*) 2 672
2 180
19262
II 178
104 989
54706
2433
I 822
27 605
7736
30630
13 041
7419
15244
17 154
46063
4312
56411
483 225
6 120
t 84287
4832
48708
2092
60918
58 325
75589
12206
621 061
594 983
9 143
t 157 260
18097
13 626
19 331
62 212
95863
17033
') 107 164
— 18 190
? I 12775
— t 198972
80 ' 6 669
000 158858
200 36 859
— 6138
150 16 418
100 246 804
50
3291
9
9
?
1 500
I480261I 13481 I493742I6756 I 1750
5 508 667
76
60
54
56
74
51
54
05
65
15
35
99
Ol
21
95
44
44
37
82
86
24
23
41
61
75
81
32
45
35
42
77
04
72
70
63
98
45
47
27
79
12
94
97
59
76
95
74
31
85
55
6«;
II
02
72
12
22
07
')
*)
')
26379 17
I 647 46
68 049 82
48 078 —
87894 45
40 167 66
76913 33
60 153 04
842 744 48
I 494 82
I 688 54
14840 65
9 081 42
73 445 18
50 343 72
1 140 67
I 876 56
19 209 77
6 340 60
29 797 56
12635 32
9 208 I 78
8 032 ' 2 1
16408 I 24
37 340 I 73
4 378 92
33 050 I 92
409 882 I 03
4 057 ! 59
75 618 I 47
36251 78
38935 16
1 438 I -41
44 025 45
46531 45
69319' 77
12 206 I 45
554 135 ' 67
3799131 86
9 161
118 147
14442
11798
13210
97
17
19
97
70
46 072 I 33
97 375
13 123
99304
20003
II 899
187 199
5910
131414
32 195
8321
10674
227 439
29
16
14
28
60
71
II
15
66
67
22
76
64 I 4 279 726 I 19
*) Es ist die Mitgliederzahl im Jahresdurchschnitt und nicht am Ende des Jahres ange-
geben. ^) Die Einnahmen für eine getrennt gehaltene Kasse zur Krankenunterstützung sind
hier mit einbezogen, weil die Ausgaben für diese Unterstützung in Tabelle II und in der Ge-
samtausgabe angeführt sind. •) Für 11 Monate. *) Für 6 Monate. *) Nach Schätzung, f) Nur
Einnahme der Centralkasse.
662
Gewerkvereine (Deutschland)
Tabelle H.
Ausgaben und Kassenbestand der Greverkschafts-
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
•20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
62
53
54
55
56
57
Strike-
unterstützung
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M. I M.
Bäcker
Barbiere
Bauarbeiter
Bergarbeiter
Bild)iauer
Böttcher
Brauer
Buchbinder
Buchdrucker
Buehd ruckerei hilf sarheiter
Bureauangestellte . . .
Cigarrensortierer ....
Dachdecker
Fabrikarbeiter
Former
Formenstecher
Gärtner
Gastwirtsgehilfen . . .
Gemeindebetriebsarbeiter .
Glasarbeiter
Glaser
Gold- und Silberarheit^r .
Graveure und Oiseleure
Hafen arbeit-er
Handelshilfsarbeiter . . .
Handlungsgehilfen . . .
Handschuhmacher . . .
Holzarbeiter fV^erband). .
Holzarbeiter (Hilfsarbeiter)
Hutmacher
Konditoren
Kupferschmiede ....
Lagerhalter
Lederarbeiter
Lithographen
Maler
Maschinisten u. Heizer
Maurer
Metallarbeiter
Müller
Porzellanarbeiter ....
Sattler u. Tapezierer . .
Schiffszimmerer . . . .
Schmiede
Schneider
Schuhmacher
Seeleute
Steinarheiter
Steinsetzer
Stukkateure
Tabakarbeiter
Tapezierer
Textilarbeiter
Töpfer
Vergolder
Werftarbeiter
Zimmerer
4050
I2 309|
20499
6999'
74841
1 1 220;
12 161I
371
816
240I
2 3141
86081
10076
569'
1 i53i
4 020|
1323
8493
4205
3900
2153
913
3816
2094,
4569,
46 125
42
5368
952,
4079;
338|
3951'
7 747
I2 437i
3 3431
59728
73 654'
2 396'
8013
30141
2090
5586;
10942,
17 651
900.
8464,
5 122
2961I
30537
2899
27 4"3-
5372,
1081,
") 76'
32442'
')
1694
8658
1 346
2377
4822
27551
3 i"i
342'
1031
42;
397!
2 294 1
33021
62:
')
45465
7470
17042
9 737
*) 4i;399
2374
10 189
8744
161
2 165
150I
619,
58,
400;
767'
I 195'
4406
926
193;
9662
123!
149I
334
19
468.
1717
521'
3675
580;
21324I
'2371'
447'
I 135
1445
365'
442'
3647
532'
6048
I 719
416,
82II>
143
7823
I 165
139,
251
7 267!
')
68
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1052
73
124
4»5
665
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100 I
3300
900 '
35001
12 150 I
30
184
3 130
I 032
670
59
797
3051 836
34651
2785,
7 445
5051
I 418
115 177
140
300 j
330'
50 I.
53
575
956
lOOi
7771
648,
968
63
34U
7342
50
80
50
20
372
130
8x77
142 068 '
408
') 2 774
477 I
I442|
15 132 I
II 017 ;
19478'
320 776
68708
20339
I 040
6373
400
I 256
31 297
161
68905
1 265
4968
20961
I 086
28392
6505
1439
1 186
87574
25
2582.
100
2825 1
200
I
100
2000 .
I 700 '
2600 1
200 1
350
100
1 000
1 029
705
17
72
6685
24
434
45
96
452
433
278
162
7 997
6049
281
1539
695
209
170
1077
114
644
33518
7158
*)I4 833
141 688
4188
214
206 2 059
2 986 19 q02
61; -1
— I 3 041
— ( 59
116, 7648
— 12089
600; 8 417
294 876
3173' 2285
4 5^7' 27340
281 —
1370
4053
632
I 116
I 408
7810
13157
524
8942
1519
1237
8237
4024
372 138
4 349
67949
1468
3588
18723
362
3465
*)33 407 30513
— ' 819 —
65! 926
47 6308
5677
161
549
100
I 400
100
300
1337
200
100
332
123
79
90
210
I 220
787
3988:
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4". 454
— I 419
80091 29745
50 383
2 408 6 274
66I1
200
405
950
3196
182
935
316
44451
11013
625
1518 949 136 329; 1 034 1 14 |39 176 I 43 378 39 978,283 267 275 404I491 634I 79 587
I 073 290
*) Einschliesslich GemassregeltenunterstUtzung. ') Einschliesslich Anschaffung neuer Maschinen für
zahltes Darlehen, ^j Darunter 2 50() M. für internationale Agitation. ') Für 6 Monate. '*) Inklusive Gra*
des vierteljährlich erscheinenden Blattes.
Gewerkvereine (Deutschland)
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903
1396
630
2771
656
1857
32 7451 33
22745 33
820
9917
871
430
4406
5927
25
7270
25598, 18
22 061 1 83
79
663
3730
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17802
97 744' 55
966651 62
37360
—
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2817
2738
86
9765
18754
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35479
2143505 5'
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47
fe Drockerei. *) Inklusive Beitrag an die Generalkommission. *) Und Reixenut^rsttltzung. ^; ZurOckge-
- iökation fUr den Vorstand fUr 189t>/97. ■) Für ein Quartal. '"J Für zwei Quartale. ") FUr eine Nummer
664
Gewerkvereine (Deutschland)
20 Pf., den Glasern 15 Pf., den Lederarbeitern
25 Pf., den Metallarbeitern 20 Pf., den Stein-
arbeitern 10 — 50 Pf., den Schuhmachern 15 Pf.,
den Glasarbeitern 30 Pf., den Dachdeckern 10,4 Pf.,
den Graveuren 30 Pf., den Gasarbeitem 15 Pf.,
den Fabrikarbeitern 10 Pf., den Malern 10 bis
20 Pf., den Formern 20 Pf., den Tapezierern
15 Pf., den Vergoldem 20 Pf., den Sattlern
15 Pf., den Gold- und Silberarbeitern 20 Pf.,
den Bergarbeitern 6,9 Pf., den Textilarbeitern
10 Pf., den Schneidern 15 Pf., den Konditoren
30 Pf., den Barbieren 20 Pf., den Schmieden
20 Pf., den Müllern 13,8 Pf., den Handelshilfs-
arbeitem 20 Pf., den Holzarbeitern (Hilfsarbeiter)
15 Pf., den Bäckern 18,11 Pf., den Bauarbeitern
15 Pf., den Gärtnern 15—20 Pf., den Gastwirts-
gehilfen 30 Pf., den Handlungsgehilfen 23 Pf.
und den Lägerhaltern 11,5 Pf.
d) Die Lokalorganiaationen. Seit
ihrer Trennung auf dem Halberstädter Ge-
werkschaftskongress besteht zwischen den
Lokalorganisationen und den Centralverbän-
den eine bittere Feindschaft, die soweit
geht, dass das Berliner Gewerkschaftskartell,
in welchem die ersteren die Mehrheit haben.
4
es ablehnte, die Vorbereitungen für den
Berliner Gewerkschaftskongress in die Hand
zu nehmen, so dass ein besonderes Komitee
gebildet werden musste. Der Grund des
Gegensatzes beider Richtungen ist oben be-
reits bezeichnet. Die Lokalorganisierten
haben bisher 3 Kongresse abgehalten;
in Halle a. S. vom 17.— 19. :M:ai 1897,
in Berlin vom 12.— 14. April 1898 und
in Braunschweig vom 4. — 6. April 1899.
Auf dem ersten waren 88 Abgeoi'dnete aus
13 Orten, auf dem zweiten 28 Abgeordnete
aus 16 Orten, auf dem dritten 29 Abgeord-
nete aus 18 Orten anwesend. Ueber die
Zahl der vertretenen Mitglieder wurden auf
den Kongressen keine Angaben gemacht,
offenbar, weil man sich scheute, deren Ge-
ringfügigkeit einzugestehen. Nach den oben
mitgeteilten Angaben der Generalkommission
winl die Gesamtzahl der Lokalorganisierten
für 1891 auf 10000, für 1892 auf 7640, für
1893 auf 6280, für 1894 auf 5550, für 1895
auf 10 787, für 1896 auf 5858, für 1897 auf
6S03 und für 1898 auf 15792 geschätzt,
doch werden diese Ziffern ausdrticklich als
^höchst unzuverlässig« bezeichnet. Die An-
fiben der Vertreter auf dem Halberstädter
ongress, dass die Zahl der Mitglieder
32 805 betrage, ist zweifellos viel zu hoch
gegriffen. Früher bildete den Hauptstamm
der Berliner Lokalverband der Maurer mit
9000 üflitgliedem, doch hat derselbe auf der
Generalversammlung in Braunschweig vom
20. — 24. April 1896 seinen Anschhiss an den
Central verband vollzogen. Der Haupt Wort-
führer ist der Regierungsbaumeistor a. D.
Kessler. Das Organ der Gruppe ist die
»Einigkeit«, die nach den auf dem dritten
Kongresse gemachten Angaben in einer Auf-
lage von 5140 erscheint. Der Pressfonds
hatte eine Einnahme von 11 129 Mark und
eine Ausgabe von 10200 Mark gehabt. Die
übrigen Einnahmen sollen 7345 Mark, die
Ausgaben 6876 Mark betragen haben. Die
Leitung liegt in den Händen einer »Ge-
schäftskommission«, die in Berlin ihren Sitz
hat und an die jede Organisation viertel-
jährlich 5 Pfennig für jedes Mitgliefl abzu-
führen hat.
In den Verhandlimgen der Kongresse
trat die bereits bezeichnete Grundauffassung
deutlich zu Tage, insbesondere erklärte man,
der gewerkschaftliche Kampf sei von dem
politischen nicht zu trennen, da er als
Klassenkampf der Arbeiter gegen ihre Aus-
beuter anzusehen sei, deshalb sei er nur
im engsten Anschlüsse an die sozialdemo-
kratische Partei mit Aussicht auf Erfolg zu
führen. Den Schwerpimkt bildeten stets die
denkbai' schäi'fsten Angriffe gegen die Cen-
tralorganisationen, hinsichtlich deren man in
Braunschweig erklärte, für die Zukunft jede
Rücksicht auf ein friedliches Zusammen-
gehen fallen lassen zu wollen. Auch inner-
halb der Vereine hat bisher dieser Kampf
den Hauptteil der Thätigkeit gebildet; ausser
ihm ist nur die Einführung der Reiseunter-
stützung zu erwähnen. Die Arbeitslosen-
untei-stützung hat man als »Vereumpfung«
abgelehnt. Bei Strikes wül man sich
gegenseitig unterstützen, doch hat über Auf-
bringimg und Verteilung der Greldmittel
jeder Ort und jeder Beruf selbständig zu
bestimmen.
4. Der Buchdrackerverband^ Das Buch-
druckergewerbe hat stets insofern eine bevor-
zugte Stellung eingenommen, als seine Mit-
glieder auf einer den Durchschnitt überragen-
den Stufe der Intelligenz stehen. Dies gilt ins-
besondere auch von den Gehilfen, die in den
meisten Ländern und jedenfaUs in Deutsch-
land als Elite der Arbeiterschaft betrachtet
werden müssen. Es ist wohl die Folge
hiervon, dass auch das Verhältnis zwischen
Prinzipalen und Gehilfen sich hier günstiger
gestaltet hat als in anderen Gewerben.
Jedenfeills verdienen die Buchdrucker in
sozialpolitischer Hinsicht ein hervorragendes
Interesse, da sie nicht allein dem Vorbüde
der grossen englischen trade unions, sondern
überhaupt dem Ideale der gewerkschaftlichen
Entwickelung unter allen Berufen in Deutsch-
land bei weitem am nächsten gekommen
sind. Insbesondere hat man hier schon
lange das erkannt und berücksichtigt, was
oben (s. S. 646) als Gnmdlage für die Organi-
sation bezeichnet wurde, dass Arbeiter imd
Arbeitgeber sowohl gemeinsame wie wider-
streitende Interessen haben und dass deshalb
einerseits jede von beiden Gruppen für
sich organisiert sein muss, dass aber
andei-ersoits auch eine gemeinsame Organi-
sation erforderlich ist, die freilich auf der-
(Jewerkvereine (Deutschland)
665
jenigen der beiden Gnipi)en beniht, aber
formell von ihr unabliängig ist. Dass die
Notwendigkeit einer solchen Gestaltung im
Laufe der geschichtlichen Entwickeluug sich
immer wieder ganz von selbst aufgedrängt
und allen Hindernissen zumTrotz sich schliess-
lich durchgesetzt hat, darin liegt der unge-
meine Wert dieses Beispieles. Eng damit
verbunden ist die fernere Beobachtimg,
dass der Einfluss der Sozialdemokratie auf
die Gehilfenschaft steigt oder fällt, je nach-
dem jene natürliche Interessenorganisation
zurückgedrängt oder wieder in ihr Recht
eingesetzt wird. Aus diesen Gründen recht-
fertigt es sich, den Verhältnissen im Buch-
druckgewerbe eine gesonderte Darstellung
zu widmen. —
Die älteste Form der Organisation war
das »Postulat<v, so genannt nach dem
Aufnahmeakte der Gesellen. Durch ihn
wurde der Lehrling zugleich >Iitglied der
Gesellenbrüderschaft, die unter der Aufsicht
der Innung stand und in FäUen der Krank-
heit, des Alters und der Arbeitsunfähigkeit,
insbesondere bei Reisen und bei Arbeitslosig-
keit Unterstützungen gewährte. Die Buch-
dnickerordnungen enthielten genaue Vor-
schriften über Arbeitslohn und Arbeitszeit.
Nachdem die Gesetzgebung unseres Jahr-
hunderts diese alten Formen zerstört hatte,
wurde der erste Vei'Such einer gemeinsamen
Organisation unternommen durch die von
den Mainzer Gehilfen einberufene, am 11.
Juni 1848 in Mainz abgehaltene und von
44 Abgeordneten als Vertretern von 10 000
Gehilfen besuchte Versammlung, in welcher
man den »Deutschen Nationalbuchdrucker-
verein« ins Leben rief. Dereelbe war für
Gehilfen und Prinzipale bestimmt, aber die
letzteren verhielten sich überwiegend ab-
lehnend, und obgleich es auf einer von beiden
Teilen beschickten Versammlung, die am
27. August 1848 in Frankfurt, a. M. tagte,
gelang, einen Teil der Prinzipale für den
Gedanken zu gewinnen, so scheiterte doch
der ganze Plan daran, dass schon im folgen-
den Monate eine neue Versammlung in
Berlin von der Polizei aufgelöst wurde.
Die jetzige Organisation verdankt ihre
Existenz dem Vorgehen des Anfang 1862 in
Leipzig gegründeten „Fortbildungs Vereins für
Buchdrucker", der seit 1. Januar 1863 unter
dem Namen „Correspondent" ein regelmässiges
Organ herausgab. Er berief 1866 einen all-
femeinen deutschen Buchdruckertag,
er vom 20. — 22. Mai in Leipzig unter Be-
teiligung von B4 Abgeordneten als Vertretern
von 3187 Gehilfen in 18ö Städten tagte und
die Gründung des deutschen Buchdrucker-
verbandes bescbloss, der mit dem 1. Januar
1867 ins Leben trat. Nach dem Statut will der
Verband die materielle Besserung und geistige
Hebung der Mitpflieder erreichen durch Ver-
einigung der Gehilfen eventuell mit den Prinzi-
palen. Als besondere Aufgaben werden be-
zeichnet: Feststellung entsprechender Arbeits-
löhne, Sicherung gegen masslose Konkurrenz,
Abschaffung der regelmässigen Sonntagsarbeit,
Regelung des Lehrlingswesens, Einrichtung von
Unterstützungskassen, Bibliotheken, Unternchts-
kursen und Produktivgenossenschaften. Organ
ist der „Correspondent für Deutschlands Buch-
drucker und Schriftgiesser". Der Verband hat
diesem Programm gemäss seit 1868 eine In-
validenkasse und seit 1. Oktober 1875 eine
Reisekasse errichtet. Da die Invalidenkasse
in Bayern verboten wurde, so gründete man
dort eine besondere Invalidenkasse. Später hat
man noch eine Centralkrankenkasse
(1. Juli 1881) und eine Stelle für Gewährung
von Rechtsschutz (1. Juli 1885) geschaffen.
Das Vorbild der Gehilfen regte auch die
Prinzipale zu gleichem Vorgehen an, und so wurde
auf einer am 15. August 1869 in Mainz tagen-
den, von 8ö Prinzipalen besuchten Versamm-
lung der „Deutsche Buchdruckerverein"
begründet. Derselbe hat seinen Sitz in Leipzig.
Organ waren zunächst die „Annalen der Typo-
graphie", dann von 1876 — 1888 die „Mitteilungen
des deutschen Buchdruckervereins" und seit 1889
die „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker".
Der Verein stellt sich zur Aufgabe eine „ge-
ordnete Organisation" sowie „thunlichste Förde-
rung der materiellen und geistigen Interessen
der Gehilfen", aber die zu diesen Zwecken
zu begründenden Unterstntzungskassen sollen
allen Gehilfen zu statten kommen. Dieser
Punkt hat von Anfang an den Hauptgegen-
stand für Streitigkeiten gebildet, insbesondere
handelte es sich dabei um das sogenannte
„Viatikum", d. h. die Reiseunterstützung.
Der Prinzipalverein nahm nicht allein diese für
sich in Anspruch, sondern wollte vor allem den
Gehilfen verband nicht als Vertretung der Ge-
hilfen anerkennen, obgleich er selbst doch für
sich die Vertretung der Prinzipale beanspruchte,
während er niemals einen so hohen Prozentsatz
der Beteiligten in sich vereinigte wie jener.
Den ersten Anlass zum Streite bildete die
Frage der Lohnregulierung. Man bezahlte den
Lohn teils in dem „gewissen Gelde", d. h. einem
festen Wochensatz, teils mittelst „Berechnen",
d. h. als Akkordlohn. Die Gehilfen forderten
nun für das letztere die Ersetzung des „1000 n-
Tarifes", bei dem der Raum mit dem Normal-
masse des n gemessen wird, durch den „ Alpha-
bettarif ^, bei dem die Gesamtheit der Alphabet-
buchstaben die Einheit bildet. Der Prinzipal-
verein wollte nur mit Vertretern der gesamten
Gehilfenschaft verhandeln, aber nachdem die
Mehrzahl der Leipziger Gehilfen am 1. Februar
1873 gekündigt hatte, erwies sich die Macht
des Prinzipal Vereins als unzureichend, um die
statutengemäss vorgeschriebene allgemeine Aus-
sperrung durchzuführen, und so musste er nach-
geben. Der neue Tarif trat am 9. Mai 1873 in
Kraft und sollte nur durch vierteljährliche
Kündigung aufgehoben werden kOnnen. Zur
Entscheidung von Streitigkeiten wurde für jeden
der 12 Kreise, in welche beide Organisationen
das Deutsche Reich eingeteilt hatten, ein
Schiedsamt gegründet, gegen dessen Urteile
ein Rekurs an das Einigungsamt in Leipzig
stattfand. Das letztere hatte, falls eine A^
änderung des Tarifs verlangt wird, zugleich als
Tarifrevisionskommission einzutreten
666
Öewerkvereine (Deutschland)
doch sind deren Beschlüsse der Urabstimmung
unterworfen. In allen diesen Organen waren
Prinzipale und Gehilfen in gleicher Zahl ver-
treten.
Aber diese wohldurchdachte Organisation
scheiterte daran, dass der Prinzipalverein nicht
genügende Macht über seine Mitglieder besass,
um die gefassten Beschlüsse durchzuführen, und
80 Hess man 1878 die Schiedsämter und
das Einigungsamt wieder fallen und
schuf eine besondere Tarifrevisionskommission
aus 24 Mitgliedern.
Eine schwere Zeit für den Gehilfen verband
brachte das Sozialistengesetz, das, vne
bereits oben (S. 6ö3) erwähnt, in unverständiger
Verfolgungssucht gegen alle Arbeiterorgani-
sationen ohne Unterschied angewandt wurde.
Um dem zu entgehen, beschloss der Verband
am 21. November 1878 seine Auflösung, indem
man gleichzeitig den „Unterstützungs-
verein deutscher Buchdrucker" be-
gründete, der sich lediglich auf Unterstützungs-
zwecke beschränken sollte. Aber man hatte
nicht bedacht, dass gerade die sächsischen Be-
hörden in jener Verfolgungssucht alle anderen
weit übertrafen, und hatte deshalb den Fehler
gemacht, den Sitz des neuen Vereins ebenfalls
nach Leipzig zu verlegen. So wurde der letztere
am 5. März 1879 polizeilich aufgelöst. Mau
verlegte deshalb den Sitz des Vereins nach
Stuttgart und 1885 nach Berlin.
Aber die Unentbebrlichkeit der 1878 auf-
gehobenen schiedsgerichtlichen Einrichtung
macht« sich doch je länger um so zwingender
geltend, und so wurde 1886 die Wied erb er-
st ellungder örtliche nSchiedsge richte
und des Einigungsamtes beschlossen.
Dabei wurde aber zugleich eine wesentliche
Aenderung getroffen, indem bei den Wahlen
nicht, wie früher, alle Prinzipale und Gehilfen,
sondern nur diejenigen stimmberechtigt sein
sollten, die den Tarif anerkannten. Auf diese
Weise war eine ganz neue, von den beider-
seitigen Verbänden zu unterscheidende und von
ihnen mehr oder weniger unabhängige Organi-
sation geschaffen, nämlich die Tarifgemein-
schaft, die demnächst eine immer grössere
Bedeutung erlangen sollte. Zugleich traf man
eine wichtige Verbesserung in der Festsetzung
einer Lehrlingsskala.
Die in der Mitte der 80 er Jahre einsetzende
soziale Versicherun^sgesetzgebung
hatte zunächst für die beiderseitigen Organi-
sationen eine erhebliche Steigerung der Mit-
fliederzahl zur Folge, wobei auf selten der Ge-
ilfen als Hauptgrund wirkte, dass man sich
dadurch den unbeliebten Zwangskassen entzog.
Aber der Prinzipal verein that bei dieser Ge-
legenheit einen verhängnisvollen Schritt, indem
er seine frühere mit der in der Berufsge-
nossenschaft geschaffenen neuen Organisation in
engste Beziehung setzte, die soweit giug, dass
er nicht allein im Anschluss an die für die Be-
rufsgenossenschaft eingerichteten neun Sektionen
auch neun Kreise des Vereins bildete, sondern
sogar die Vorstände der Sektionen zugleich zu
solchen der Kreise machte. Nun befanden sich
aber naturgemäss unter den durch den gesetz-
lichen Zwang zugeführten Prinzipalen sehr
viele, die eine von der bisherigen sozialpoliti-
schen Haltung des Vereins sehr abweichende
Auffassung hatten und insbesondere nicht die
Verständigung mit den Gehilfen auf dem Boden
der Gleichberechtigung wollten, sondern den
engherzigen ünternehmerstandpunkt vertraten.
Diese Elemente haben von jeher in allen Be-
rufen vorzugsweise in Rheinland -Westfalen
ihren Sitz gehabt, und so dauerte es denn nicht
lange, dass auch in dem deutschen Buchdrucker-
verein die Sektion II (Rheinland- Westfalen) sich
zur Wortführerin dieses Standpunktes machte
und dadurch nicht allein die Gesamthaltung des
Vereins ungünstig beeinflusste, sondern sogar,
als dessen Mehrheit trotzdem im wesentlichen
an den alten Traditionen festhielt, die Fahne
der offenen Opposition entfaltete, bis es endlich
1896 gelang, die Führer der letzteren zum
Austritte aus dem Verein zu zwingen.
Von grosser Bedeutung für das Verhältnis
zwischen Prinzipalen und Gehilfen waren die
nach Kündigung des Tarifs seitens der Ge-
hilfen vom 11.— 14. September 1889 in Stettin
geführten beiderseitigen Verhandlungen, die zu
dem wichtigen Beschlüsse führten, dass die
tariftreuen Prinzipale nur solche Gehilfen be-
schäftigen dürften, die nachweislich zu tarif-
mässigen Bedingungen gearbeitet hätten und
in tariftreuen Geschäften ausgebildet wären,
wie umgekehrt die Gehilfen nur bei tarif treuen
Prinzipalen arbeiten dürften. Der weitergehende
Antrag der Gehilfen, es sollten künftig Tarif-
verhandlungen nicht mehr seitens der Gesamt-
heiten der Prinzipale und Gehilfen geführt
werden, sondern äie beiderseitigen Organisa-
tionen als Vertragsschliessende Teile an deren
Stelle treten, wurde seitens der Prinzipale ab-
gelehnt. Dagegen wurde in den Tarif die Be-
stimmung autgenommen, dass der Prinzipal ver-
pflichtet ist, die von ihm angenommenen Ge-
hilfen voll zu beschäftigen und bei unzureichen-
der Arbeit für Zeitverlust zu entschädigen.
Die bisherige günstige Ent Wickelung im
Buchdruckgewerbe wurde nun leider durch den
grossen Strike in bedauerlicher Weise unter-
brochen, bis es nach vier Jahren schliess-
lich gelang, an die alten Traditionen wieder
anzulmüpfen. Die Gehilfen hatten auf ihrer
vom 23. — 25. Juni 1891 in Berlin abgehaltenen
Generalversammlung mit Rücksicht auf die
steigende ArbeiUlosigkeit beschlossen, die Herab-
setzung der Arbeitszeit von 10 auf 9 Stunden
zu fordern. Die zur Beratung der Angelegen-
heit zusammengetretene Tarifkommission konnte
bei ihren vom 6.-8. Oktober 1891 in Leipzig
abgehaltenen Verhandlungen nicht zur gütlichen
Erledigung gelangen, indem die Prinzipale wohl
eine Lohnerhöhung von 7Va%, nicht aber die
Verkürzung der Arbeitszeit zugestehen wollten,
obgleich die Gehilfen bereit waren, sich mit
einer Ermässigung auf d^lq Stunden neben einer
Lohnerhöhung von 5% zu begnügen. Darauf-
hin wurde der Tarif am 24. Oktober 1891 von
12000 Gehilfen gekündigt, während 3000 ihre
Forderungen bewilligt erhielten. Aber die Ge-
hilfen hatten zu sehr auf ihre gefüllten Kassen
vertraut und deshalb eine zu hohe Strikeunter-
stützung von 2 Mark täglich bezahlt. Ausser-
dem griffen überall, und insbesondere nachdem
im „Correspondent^ immer mehr eine Anlehnung
an die Sozialdemokratie zu Tage getreten war,
die Behörden zu Ungunsten der Gehilfen ein,
insbesondere verbot das Berliner Polizeipräsidium
Grewerkvereine (Deutschland)
667
«m 30. Dezember 1891 die weitere Gewährung
von Unterstützungen aus Vereinsmitteln sowie
die Erhebung von Extrasteuem. Oberleich später
diese Massregel durch die Urteile des Bezirks-
ausschusses und des Oberverwaltungsgerichts
für rechtswidrig erklärt wurde, bedeutete es
doch für die Gehilfen einen vernichtenden Schlag,
und nachdem mehrfach von dritter Seite unter-
nommenene Vermittelungs versuche an der Ab-
lehnung seitens der Prinzipale gescheitert waren,
mussten sie sich zum Nachgeben entschliessen
und am 18. Januar 1892 die Arbeit wieder
aufnehmen.
Der Strike hatte nieht allein ausserordent-
liche Opfer — der „Correspondent" berechnet
sie auf 2741 119 Mark — gekostet, sondern vor
allem das frühere gute Verhältnis gründlich zer-
stört. Da die Gehilfen zu den früheren Aemtern
dieselben Personen wiederwählten, so erklärte
der Prinzipalverein die Tarifkommission für auf-
felüst. Ausserdem gründete man eine Invaliden-
asse und eine Unterstützungskasse für Arbeits-
lose, zu deren Eintritt man die Gehilfen zu
zwingen versuchte, ohne ihnen eine Mitwirkung
an den Beschlüssen einzuräumen. So war es
denn erklärlich, dass die Gehilfen, um sich
künftig polizeilichen Eingriffen in ihre Kassen-
verwaitung zu entziehen, auf ihrer vom 28. Juni
bis 2. Juli 1892 in Stuttgart abgehaltenen
Generalversammlung den später in Urabstim-
mung mit 13085 von insgesamt 13722 Stimmen
genehmigten Beschluss fassten , den Unter-
stützungsverein deutscher Buch-
drucker aufzulösen und unter Anlehnung
an den Zustand vor 1878 den „Verband
deutscher Buchdrucker" zu gründen.
Zugleich löste man auch die bestehenden Kassen
auf, übernahm alle ihre Leistungen auf die Ver-
bandskasse und beseitigte das bisherige klag-
bare Recht auf Unterstützung, stellte diese
vielmehr in das freie Ermessen des Vorstandes.
Da man das Bedürfnis empfand, sich mit den
ttbrigenArbeiterorganisationeu in engereFühlung
zu setzen, so hat der Verband sich den unter
der Generalkommission zusammengefassten Ge-
werkschaften angeschlossen.
Aber bald machte sich doch bei den Ge-
hilfen wie bei den Prinzipalen der Eindruck
geltend, dass man bei dem gegenseitigen Kampfe
zu immer schlimmeren Zuständen gelangen
müsse. Der Gehilfenverband berechnete, dass
allein 5000 Lehrlinge über die früher vereinbarte
Skala hinaus gehaften würden, und die Prinzi-
Sale sahen, dass die sozialdemokratischen Ein-
üsse unter den Gehilfen immer mehr um sich
friffen. So dräng^ter die Entwickelung dfer Ver-
ältnisse zur Wiederanknüpfung des früheren
Verhältnisses. Freilich scheiterte zunächst die
im Herbst 1894 versuchte Verständi^ng daran,
dass der Prinzipalverein nur mit einem Tarif-
ausschusse verhandeln wollte, zu dem der Ver-
band 5 Mitglieder stellt, während die übrigen 4
aus allgemeinen Wahlen der Gehilfen hervor-
gehen sollten. Aber nachdem Anfang März 1896
mehrere grosse Gehilfenversammlungen sich da-
hin schlüssig gemacht hatten, auf Grundlage
näher bezeichneter Forderungen, insbesondere
Verkürzung der Arbeitszeit, mit dem Prinzipal-
verein in Unterhandlungen zu treten, ging der
letztere auf diese Anregung ein, und so traten
am 11. März 1896 zum ersten Male seit vier
Jahren wieder Vertreter der Gehilfen mit solchen
der Prinzipale zu einer gemeinsamen Beratung
zusammen. Das Ergebnis war, dass das städtische
Einigungsamt in Leipzig gebeten wurde, die
Wahl von Vertretern der gesamten Gehilfen-
schaft auszuschi'eiben. Diese sollten mit dem
Tarifausschusse des Prinzipalvereins unter Zu-
lassung von je zwei Vertretern des letzteren
sowie des Gehilfenverbandes und der Nichtver-
bandsgehilfen, dieser sechs jedoch nur mit be-
ratender Stimme, zil gemeinsamer Verhand-
lung zusammentreten. Die ausgeschriebenen
Wahlen ergaben ausnahmslos Verbandsmit-
glieder; der von den Prinzipalen begünstigte
„Gutenbergbund" erwies sich als machtlos.
Obgleich bei den Wahlen unter den Ge-
hilfen die einer Verständigung geneigte Richtung
gesiegt hatte, ergaben sich doch bei den vom
15.-17. April 1896 in Leipzig geführten Ver-
handlungen grosse Schwierigkeiten, bis es
schliesslich gelang, sich über die Grundfragen
zu einigen. Hierzu gehörte insbesondere die
Herabsetzung der Arbeitszeit auf neun Stunden
sowie eine massige Lohnerhöhung. Der Tarif
sollte auf fünf Jahre gelten; nur wenn nach
dreijähriger Dauer sich ergeben sollte^ dass die
Zahl der den Tarif befolgenden Prinzipale und
Gehilfen nicht fortgesetzt grösser geworden sei,
sollte schon eine Kündigung auf den 1. Oktober
1899 stattfinden können. Nach fünf Jahren gilt
der Tarif stets auf ein ferneres Jahr mit drei-
monatlicher Kündigung. Als Or^an zur Fest-
setzung des Tarifs wird der aus je neun Prinzi-
palen und Gehilfen bestehende „Tarifaus-
schuss" gewählt, der seinerseits zur Ausfüh-
rung der gefassten Beschlüsse das „Tarifamt"
aus je drei Prinzipalen und Gehilfen einsetzt.
Zur Schlichtung von Streitigkeiten in Bezug
auf Auslegung des Tarifs sind mindestens an
allen Kreisorten Schiedsgerichte zu be-
stellen, gegen deren Entscheidung Berufung an
das Tarifamt stattfindet. Die bestehenden Ar-
beitsnachweise müssen sich verpflichten,
nur tariftreue Gehilfen in tariftreuen Dnicke-
reien unterzubringen und stets in erster Linie
diejenigen Gehilfen zu berücksichtigen, die durch
ihr Eintreten für den Tarif arbeitslos geworden
sind. Der neue Tarif ist mit dem 1. Juli 1896
in Kraft getreten.
Ein Nachspiel hatte diese Einigung noch
in den Verhandlungen der vom 13. — 18. Juli
1896 in Halle a. S. abgehaltenen ausser-
ordentlichen Generalversammlung des
Gehilfenverbandes. In dem letzteren bestand
eine Gegenströmung gegen den Vorstand, die
besonders von Gasch, dem bisherigen Redak-
teur des „Correspondent", geführt wurde und
nicht allein das Abkommen mit den Prinzipalen
missbilligte, sondern gegen den Vorstand den
Vorwurf erhob, dass er „nicht auf dem Boden
der modernen Arbeiterbewegung stehe'*; der
Vorsitzende Döblin habe offen ausgesprochen,
dass er von der Sozialdemokratie nichts wissen
wolle. Demgegenüber forderte Gasch, dass man
sich auf die letztere stützen müsse. Aber in
der Greneralversammlung wurde nicht allein die
Tarif^emeinschaft mit 45 gegen 22 Stimmen
gebilligt, sondern auch Gasen seines Amtes ent-
hoben und durch Rexhäuser ersetzt. Gasch
setzte dann seine Angriffe in der Presse und
insbesondere in der von ihm seit 15. August
668
Gewerkvereine (Deutschland)
1896 herausgegebenen „Buchdruckerwacht" fort,
veranstaltete auch am 7. Juni 1897 in Leipzig
einen eigenen Kongress der Opposition, so dass
dem Verbandsvorstande nichts übrig blieb, als
gegen ihn und seine Anhänger den Ausschluss
aus dem Verbände zu beantragen, der auch bei
der Ende September veranstäteten Urabstim-
mung mit 132Ö1 gegen 5164 Stimmen be-
schlossen wurde. Die Opposition begründete
dann am 30. Oktober 1897 eine Gegenorgani-
sation, die „Gewerkschaft der Buch-
drucker, Schrif tgiesser und ver-
wandter Berufsgenossen" mit dem Sitze
in Leipzig, welche die „Buchdruckerwacht" zu
ihrem Organ erklärte. Als im Anschluss an
diese Verhandlungen ein Teil der sozialdemo-
kratischen Blätter, insbesondere der „Vorwärts",
auf die Seite von Gasch traten, wurde im
„Correspondent" jede Einmischung der Partei
mit scharfen Worten zurückgewiesen, ja in den
Nummern vom November 1898 wird geradezu
erklärt, wenn die Mehrzahl der sozialdemokra-
tischen Blätter von ihrer Bekämpfung des Ver-
bandes und seiner Leitung nicht ablasse, werde
dieser aufhören müssen, in der sozialdemokra-
tischen Partei die Vertreterin seiner Interessen
zu erblicken.
Die Buchdruckergewerkschaft hat am 10.
April 1898 in Halle a. S. ihre erste General-
versammlung abgehalten, auf der aber nur 220
Mitglieder durch neun Abgeordnete vertreten
waren ; bei der am 6. August 1899 in Hannover
abgehaltenen zweiten Generalversammlung
wurde die Mitgliederzafal auf 226, der Kassen-
bestand auf 8^8 Mark angegeben. Irgend eine
Bedeutung wird die neue Organisation kaum
erlangen. —
Das allmähliche Wachstum des Verbandes
und seine Leistungen ergeben sich aus der
folgenden Tabelle:
Unter-
Kranken-
Jahr
Mitglieder-
zahl im
Jahresmittel
Stützung zur
Aufrecht-
Arbeits-
losenunter-
Reise-
unter-
Invaliden-
Unter-
unter-
stützung
erhai tung
des Tarifs
stützung
stützung
stützung
einschl.
Sterbegeld
■
M.
M.
M.
M.
M.
1867
3192
1
1
1
1
_
1868
5000
8751
1
1869
6589
2529
—
—
1870
•
7952
—
1871
6227
1 042
—
1872
7471
21 946
—
—
1873
7030
1 24 746
—
1874
7325
43090
—
1875
7276
45082
28737
1876
6386
5617
120250
—
1877
5511
66711
44017
—
1878
5696
6963 1
—
47871
—
1879
5724
1038
62005
—
1880
6278
9 590
16806
52500
102
1881
8762
1 605
14 156
64974
829
13 351
1882
9021
9035
24 619
114651
2314
147 932
1883
10 116
22024
28532
132 191
8882
226 947
1884
10648
34252
34832
125 584
15404
239 145 .
1885
11423
18355 1
35763
107081
22231
271 813
1886
12824
21 824
56448
92237
50670
320 942
1887
II 856
266 344 1
130861
147 418
75 349
329 396
1888
u 643 1
26282
76687
83496
68954
305 399
1889
1 2 792 ;
17664
56512
62421
78648
300377
1890
15377
39 5M^^ '
56 394
86 190
83661
347 424
1891
16921
835 679')
. 51333
90482
97285
377 574
1892
15 188
218042^)
235 528«)
121 164
116 330
455 303')
i»m
15749
9143
92906
100712
124 232
316820^)
1894
17354
16920
101 562
• 114914
131 123
318484
1895
IQ 188
22 782
97702
110843
127 260
326447
1896
21437
74689
127 342«)
138491*) 1
129529
327918
1897
22854
63044
132 779
137388 1
138942
365 152
, 1898
24 942 ')
49154
141 688
115177
67949
391 336*)
1899
26344
33 834
159206
114 882
82632
455 299*)
*) Die Höhe der Ziffern erklärt sich durch den grossen Strike und die nach demselben
verbliebenen Opfer.
*) Die Erhöhung gegen das Jahr 1895 hat ihren Grund fast ausschliesslich darin, dass
nach den Beschlüssen der Breslaner Generalversammlung die Karenzzeit von 150 auf 100 Wochen
herabgesetzt und die Reiseunterstützung um täglich 5 Pf. erhöht ist.
•^) Die auffällige Abnahme erklärt sich daraus, dass vom 1. Januar 1893 ab das Kranken-
geld von 2 M. auf 1 M. ö() Pf. herabgesetzt wurde.
*) In den hier aufgeführten Beträgen sind auch die Leistungen der in Liquidation be-
findlichen Centralinvalidenkasse enthalten.
*) Die Mit^liederzahl am 31. Dezember 1899 betnig 27 187 in 963 Druckorten.
Geworkvereine (Deutschland)
669
Da nach der Berufszählang von 189Ö in
6303 Buchdruckereien 43183 männliche und
10249 weihliche Gehilfen sowie 14512 Lehrlinge
beschäftigt waren, so entspricht die Mitglieder-
zahl von 27187 einem Satze von 62%. Die
Gehilfen haben ihrerseits mehrfach Erhebungen
veranstaltet. Die neueste vom Dezember 1898
erstreckte sich auf 3826 Druckereien und ergab :
1589 Faktoren, 902 Korrektoren, 26481 Setzer,
5393 Drucker, lOtK) Schweizerdegen, 277 Stereo-
typeure und 168 Maschinensetzer. Von der Ge-
samtziffer zu 35870 waren 21217 Mitglieder
des Verbandes, während 14653 ihm nicht an-
gehörten. Ausserdem gab es 8189 Setzerlehr-
Imge und 2371 Druckerlehrlinge.
Obgleich der grosse Strike die Mittel des
Verbandes sehr geschwächt hatt«, so dass der
Vermögensbestand der Allgemeinen Kasse, der
am 31. März 1891 412411,92 M. betragen hatte,
am 31. März 1892 auf 3025,25 M. gesunken
war, ist derselbe doch rasch wieder gestiegen,
indem er betrug: am 31. März 1893 20769,^5 M.,
am 31. März 1894 56567.53 M., am 31. März 1895
578197,13 M., am 31. März 1896 931082,18 M.,
am 31. März 1897 1204141,28 M., am 3l. März
1898 1594201,26 M., am 31. März 18JJ9
2106822,89 M. und am 31. März 1900
2688251,14 M. Allerdings sind die zuletzt
genannten Zahlen mit den früheren nicht un-
mittelbar vergleichbar; wie erwähnt, sind die
beiden früher selbständigen Kassen, die Ver-
bands-Kranken- und Begräbniskasse und die
Centralinvalidenkasse sowie die Invalidenkasse
des Gaues Bayern 1892 und 1893 aufgelöst;
dabei ist das Vermögen der ersteren infolge
Verzichts der Berechtigten im Betrage von
276923,51 M. ohne Gegenleistung auf die Ver-
bandskasse übergegangen. Im Jahre 1899 ist
die Liquidation der bayerischen Invalidenkasse
beendigt und auch deren Vermögen mit
123 60u M. in die Verbandskasse j^eflossen. Die
Verbands- Invalidenkasse wird freilich zunächst
noch fortgeführt, aber nur zu dem Zwecke,
die bestehenden Verpflichtungen abzuwickeln.
Der Vermögensbestand derselben betrug am
31. März 1896 947835,75 M., am 31. März
1897 883423,94 M., am 31. März 1898
8253aS.27 M., am 31. März 1899 769365,16 M.
und am 31. März 1900 712ö05,aS M. Die Ge-
samtausgabe hatte im Jahre 1895/96 111 573,35 M.,
im Jahre 1896/97 97 978,01 M., im Jahre 1897/98
88742,81 M., 1898/99 82660^ M. und 1899/1900
82027,19 M. betragen. Die Gesamtzahl der
Invaliden war Ende Dezember 1895 auf 262,
Ende Dezember 1896 auf 239, Ende Dezember
1897 auf 220, Ende Dezember 1898 auf 199 und
Ende Dezember 1899 auf 186 herab^egangen.
Seit Auflösung: der Invalidenkasse fliessen die
Invaliditätsbeiträge in die Verbandskasse.
Der Verband hat in den fünf Jahren seines
Bestehens (1895 — 1899) an B^iseuntersttttzung
616781 M., für Arbeitslosenunterstützung 658376
M., für Umzugskosten and Gemassregelten-
Hnterstützung 254741 M., für Kranken- und
Sterbegeld 1866152 M., an Invalidenunter-
stütznng 546312 M. ausgegeben. Trotzdem
war lw8 ein Ueberschuss von 500000 M.
erzielt, den man auf der vom 19. — 24. Juni 1899
in Mainz abgehaltenen Generalversammlung zur
Erhöhung der Unterstützungsgelder benutzte,
weil man glaubte, dadurch am besten die Mit-
glieder an den Verband zu fesseln, während
man fürchtete, dass die alizugrosse Anhäufung
von Geldern insofern eine Gefahr bedeute, als
dadurch die Versuchung erhöht werde, sich bei
Strikelust allzu sehr auf die gefüllte Verbands-
kasse zu verlassen.
Der „Correspondent" erscheint in einer Auf-
lage von 18000.
5. Die christlichen G. Von katho-
lischer wie von evangelischer Seite hat
mau seit Ende der GOer bezw. Anfang
der 80er Jahi*e begonnen, Arbeitervereine
zu gründen, die aber den Schwerpunkt in
religiöse Beeinf hissung legen und deshalb
als Gewerkvereine nicht anzusehen sind.
In neuester Zeit hat man aber angefangen,
innerhalb dieser Vereine Fachsektionen
zu bilden, die den Zweck haben, neben
Fördening der Fachbildung auch die Inte-
ressen ihrer Mitglieder gegenüber Behörden
und Arbeitgebern nötigenfalls mittelst Arbeits-
einstellung zu wählten. Leitsätze, in denen
die Ziele eingehend bezeichnet sind, wurden
übereinstimmend sowohl auf der General-
versammlung der Präsides der katholischen
Gesellen vereine in Würzburg am 21. Sep-
tember 1894 als von dem Gesamtverbande
der evangelischen Ai'beitervereine in der
Sitzung am 11. Oktober 1894 in Köln als
gemeinsames Programm angenommen.
Sind schon diese Faclisektionen als ge-
werkschaftliche Bildungen zu betrachten, so
hat man aber auch bereits eigentliche Ge-
werkvereine, die sich selbst als solche
bezeichnen, begründet. Sie stehen nach
ihren Statuten auf interkonfessionell christ-
lichem Boden, verfolgen aber im übrigen
lediglich gewerkschaftliche Zwecke, insbe-
sondere sind religiöse und politische Er-
örterungen ausgeschlossen. Hiernach ist die
Bezeichnung »christlich« nicht sowohl in
dem Sinne zu verstehen, als ob die Vereine
einen religiös erbaulichen Charakter trügen,
sondern der Ausdruck ist nur gewählt, um
den Gegensatz gegen die Sozialdemokratie
zu bezeichnen, wie denn in den Statuten
meist deren Anhänger ausdrücklich ausge-
schlossen sind. Standen deshalb diese Ver-
eine zu den sozialistischen Gewerkschaften
anfan^ in dem schärfsten Gegensatze, so
hat sich dieser doch in den letzten Jahren
erheblich abgeschwächt, und zwar ist an
der Verbindungsbrücke von beiden Seiten
gebaut. Einerseits haben die »Gewerkschaf-
ten«, wie oben nachgewiesen, ihr Verhältnis
zur Sozialdemokratie stark gelockert, und
andererseits haben die Arbeit^ber, die den
christlichen Gewerkvereinen nicht irgendwie
weniger schroff entgegentraten als den
sozialistischen, bei den ersteren die Üeber-
zeugung zur Geltung gebracht, dass ihr In-
teresse sie darauf anweise, bei der Durch-
führung praktischer Forderungen mit ihren
principiellen Gegnern Hand in Hand zu
670
Grewerkvei^ine (Deutschland)
g^^ien. So hat Hian denn beiderseits be-
gonnen, die gegenseitige Bekämpfung auf-
zugeben, und handelt nach dem Grundsatze :
Getrennt rnarschieren und Tereint schlagen.
Der Raum gestattet nicht, uns mit den
einzelnen Vereinen zu beschäftigen ; es seien
deshalb nur hinsichtlich der grossesten
einige Thatsachen anzuführen, während bei
den kleineren die einfache Erwähnung ge-
ntigen rauss.
Der älteste und bedeutendste ist der
»Gewerkverein christlicher Berg-
arbeiter für den Oberbergamtsbe-
zirk Dortmund«. Er wurde am 28. Ok-
tober 1894 in Essen gegründet imd bezweckt
die Hebung der moralischen und sozialen
Lage der Bergarbeiter auf christlicher und
gesetzlicher Grundlage sowie Anbahmmg
mid Erhaltung einer friedlichen Ueberein-
kunft zwischen Arbeitgebern imd Arbeitern.
Insbesondere wird erstrebt: die Herbeifüh-
rung eines gerechten Lohnes, Einschränkung
der Schichtdauer, Mitbestimmungsrecht bei
der Verwaltung und Reform des Knapp-
schaftswesens. Der Verein steht treu zu
Kaiser und Reich. Im übrigen ist die Er-
örterung konfessioneller und politischer Par-
teiangelegenheiten ausgeschlossen. Durch
den Eintritt bekennen die Mitglieder sich
als Gegner der sozialdemokratischen Grund-
sätze. Organe sind die Generalversammlung,
der Centralvorstand und der Ehrenrat; in
den letzteren können auch Nichtarl)eiter ge-
wählt werden. Für die Besetzung sämt-
licher Organe gilt Parität der beiden Be-
kenntnisse. Der Vorsitzende , Bergmann
August Brust in Altenessen, ist zugleich
Redakteur des vom Vereine herausgegebenen,
wöchentlich erscheinenden Blattes »Der
Bergknappe«. Der Verein besitzt eine
Krankengeldzuscliusskasse und eine Spar-
nnd Sterbekasse. Obgleich der Verein mit
grosser Mässigung \md Vorsicht auftrat,
insbesondere die gelegentlich auftauchenden
Strikeneigimgen energisch bekämpfte, sind
ihm doch die Grubenbesitzer von Anfang
an schroff entgegengetreten. Dies hat zur
Folge gehabt, dass allmählich die Haltung
des Vereins oppositioneller wurde, während
umgekehrt das Verhältnis zu dem sozialis-
tischen Verbände der Berg- imd Hütten-
arbeiter (dem sogenannten »Alten Verbände«),
mit dem man sich anfangs imaufh(">rlich in
den Haaren lag, sich wesentlich besserte.
Bei den letzten Knapj)schaftswahlen ist man
sogar gemeinschaftlich vorgegangen. Ob-
gleich der Verein selbst noch keine Arbeits-
einstellung eingeleitet hat, so hat er doch
in den am 12. April iJSOH ausgebi-oclienen
Strike am Piesbergc habhaft ein,i::egriffen,
was zur Folge hatte, djiss Pfarrer Weber in
München-! tladbach ans dem Ehren rate aus-
trat und einen eigenen evangelisclien Berg-
arbeiterverein zu gründen suchte, jedoch ist
das Unternehmen gescheitert. Die Bergbe-
hörde stellte sich anfangs freundlich zu dem
Vereine, doch ist dieses Verhältnis mit der
veränderten Sozialpolitik der Regierung küh-
ler geworden.
Der Verein hat auch versucht, eine
christliche Organisation der Bergarbeiter für
ganz Deutschland herbeizuführen durch
den am 31. Januar 1897 in Bochum abge-
haltenen Delegiertentag christlicher
BergarbeitervereineDeutschlands,
doch scheiterte der Plan zunächst, und es
wurde nur eine engere FiUilungnahme an-
gebahnt. Immerhin hat der Verein liier
den Namen Gewerkverein christ-
licher Bergarbeiter Deutschlands
angenommen. Der Umfang des Vereins ist
anfangs langsam, dann aber ziemlich rasch
gewachsen. Während am 31. März 1895,
also ein halbes Jahr nach der Gründung.
4000 und am 16. Dezember 1895 54Ö0 Mit-
glieder gezälüt wurden, hatte sich diese
Zahl am 1. Febniar 1897 bereits auf 8270,
am 26. Juni 1897 auf 15000, am l. Januar
1898 auf 21439 und am 27. November 1898
auf 27 983 gehoben. Hierbei sollen jedoch
Ungenauigkeiten untergelaufen sein, und so
winl der Mitgliederbestand Ende 1899 auf
22 000 und am 1. Apiil 1900 auf 23 000 an-
gegeben. Der Kassenbestand belief sich am
1. Januar 1899 auf 16771 Mark.
Das Beispiel des Ruhrprebietes hat zur
Folge gehabt, dass sich auch im Siegerlande
eine ähnliche Organisation bildete, indem am
1. Mai 1897 der „Verein christlicher Beiy-,
Eisen-, und Metallarbeiter im Sieg-Haller In-
dustriebezirke" begründet wurde, der am
1. Januar 1898 den Namen: „Gewerkver-
ein der christlichen Berg-, Eisen-
und Metallarbeiter für den Oberberg-
amtsbezirk Bonn** annahm. Der Verein
hatte bei seiner Gründung 400, am 17. Juli 1898
4000, am 9. Juli 1899 7000, Ende 1899 8000
und am 1. April 1900 10450 Mitglieder. Ein-
nahmen und Ausgaben für 1898 betrugen
4010 Mark bezw. 2220 Mark, Kassenbestand
1790 Mark.
Erheblichen Erfolg hat die christliche Ge-
werkschaftsbewegung unter den Eisenbahn-
arbeitern gehabt. Kann man freilich den schon
am 1. Mai 1884 gegründeten „Verband
deutscher Eisenbahnhandwerker und
Arbeiter**, der in Trier seinen Sitz hat, und
heute 2Ö638 Mitgflieder zählt, nicht eigfentlich
hierher rechnen, da »seineZiele nur in der Förderung
treuer vaterländischer (lesinnung und des Ein-
vernehmens mit den Behörden sowie in der
Pfleo^e des Unterst ützungfswesens bestehen, so
beabsichtiget dat^ ejjfen der I^ayerischeEisen-
bahner verband, der Weihnachten 1896 ge-
S:ründet wurde, neben der Schaffung von Unt er-
st ützunj^skassen luid der Hebung des Standes-
bewusstseins auch „Erzielung- möjrhchst günstiger
Lohn- und Arbeitsbedingunffen**. Der Verein
steht treu zu Kaiser und Keich. Durch den
Eintritt bekennen die Mitglieder sich als Gegner
Gewerkvereiae (Deutschland)
671
der sozialdemokratischen BestrebuDgfen. Er-
örterung konfessioneller und religiöser Partei-
angelegenheiten ist ausgeschlossen. Der Ver-
band zählte Ende 1897 9500, im September
1898 11 000 am 31. Dezember 1898 15 919, Ende
1899 17 500 und am 1. April 15KX) 25 0Ü0 Mit-
glieder. Einnahme und Ausgabe für 1898 be-
trugen 11 081 Mark bezw. 8982 Mark, das Bar-
vermögen 2098 Mark. Der Verband besitzt eine
am 1. Oktober 1897 ins Leben getretene Kranken-,
Invaliden- und Sterbeunterstützungskasse, der
9001) Mitglieder angehören, und hat 10 Bau-
und Sparvereiue begründet. Verbandsorgan ist
„Der Eisenbahner" mit einer Auflage von 12500;
das Blatt bezeichnet sich ausdrücklich als ein
„gewerkschaftliches Organ".
Nach dem Vorbilde des Bayerischen hat
sich auch ein „Verband Badischer Eisen-
bahnbedieusteter" gebildet, der am 25. Sep-
tember 1898 in Karlsruhe gegründet wurde, am
17. November 1898 1300, am 20. Juli 1899
3124, Ende 1899 4239 und am 1. April 1900
6000 Mitglieder zählte. Organ des Verbandes
ist ebenfalls „Der Eisenbahner".
Ebenso ist am 18. Februar 1900 in Stutt-
gart ein „Verband Württembergischer
Eisenbahnbediensteter" jfegründet, der
am 1. April 1900 schon 5300 Mitglieder zählte.
Günstigen Boden haben die christlichen
Gewerkvereine auch unter den Textilarbeitern
gefunden. Der bedeutendste derselben ist der
am 24. April 1898 gegründete „Nieder-
rheinische Verband christlicher Tex-
tilarbeiter" in Krefeld. Derselbe hat den
Zweck, „auf dem Boden der christlichen Sozial-
politik und der gegenwärtigen Gesellschafts-
ordnung[ auf gesetzlichem Wege die sozialen
und wirtschaMichen Interessen seiner Mit-
glieder zu fördern." Die Erörterung kon-
fessioneller und parteipolitischer Fragen ist aus-
feschlossen. Die Mitglieder bekennen sich
urch ihren Eintritt als Gegner der sozial-
demokratischen Bestrebungen. Es soll ein ge-
rechter und angemessener Lohn und die Be-
seitigung begründeter Beschwerden in allen
Arbeitsverhältnissen angestrebt werden. Der
Verband hat sich bei dem am 16. Januar 1899
ausgebrochenen grossen Strike der Sammetweber
beteiligt, der Ende April 1899 mit einem teil-
weisen Erfolge endete; dabei wurde übrigens
ein unmittelbares Zusammengehen mit den
übrigen Gruppen, insbesondere dem sozialistischen
„Deutschen Textilarbeiter verbände" abgelehnt.
Der Verband zählte im April 1899 6400,
Ende 1899 8500 und am 1. Aprü 1900 8600
Mitglieder^ besitzt auch in dem „Christlichen
Textilarbeiter" ein eigenes Organ.
Am 20. November 1^98 ist der „Christ-
lich-soziale Textilarbeiterverein in
München-Gladbach" gegründet. Zweck ist
„die Hebung der wirtschaftlichen Lage der
Textilarbeiter auf christlicher und gesetzlicher
Grundlage" möglichst durch Erhaltung des
friedlichen Einvernehmens mit den Arbeit-
gebern und gemeinsame Verhandlung über
Wünsche und Beschwerden. Der Verband zählte
im April 1899 3000 und Ende 1899 5000 Mit-
glieder. Organ ist „Der Christliche Textil-
arbeiter" in Krefeld.
Auch in Bayern hat man die Organisation
in die Hand genommen und im Jahre 1897 den
„Verband der Textil - Arbeiter und
-Arbeiterinnenin Bayern" mit dem Sitze
in Augsburg gegründet'. Der Verband bezweckt
„die geistige Ausbildung und die Verbesserung
der materiellen Lage der Mitglieder auf christ-
licher und gesetzlicher Grundlage" durch Ver-
handlungen jnit den Arbeitgebern in Lohn-
fragen sowie bei berechtigten Wünschen und
Beschwerden. Er hat eine Krankenunter-
stützungskasse und eine Gemassregeltenunter-
stützung ins Leben gerufen. Organ ist „Der
Arbeiter". Die Mitgliederzahl betrug im April
1899 etwa 4000, Ende 1899 2000 und am
1. April 1900 2500.
Noch etwas älter ist der „Chris tl ich -
soziale Textilarbeiterverband für
Aachen-Burtscheid", der am 27. Dezember
1897 gegründet wurde. Auch er bezweckt Er-
haltung friedlicher Verhältnisse zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Ein-
setzung einer Vermittelungsinstanz, auskömm-
lichen Lohn, Begrenzung der Arbeitszeit und
Besserung der Arbeitsverhältnisse. Jedes Mit-
glied muss sich „feierlich und öffentlich als
Gegner der ümsturzparteien aller Art bekennen."
Eine Strikekommission soll über Berechtigung
etwa beabsichtigter Strikes entscheiden, bisher
sind durch dieselbe 2 Strikes beigelegt. Die
Mitgliederzahl wird für April 18£& auf etwa
4000, Ende 1899 auf 2500 und am 1. April 1900
auf 2700 angegeben.
Zu den christlichen Gewerkvereinen ist
jetzt auch der im Anschluss an den grossen
oberschlesischen Bergarbeit erstrike im Mai 1889
gegründete „Oberschlesische christliche
Arbeiterverein zu gegenseitiger
Hilfe" in Beuthen zu zählen, der freilich nach
seinem Statut vom 21. April 189Ö nur Unter-
stützungszwecke verfolgt, aber in seiner General-
versammlung vom 27. August 1899 seine
Haltung wesentlich verändert hat und nach diesen
Beschlüssen einen ausgesprochen gewerkschaft-
lichen Charakter trägt, insbesondere die Erzielung
angemessener Löhne und die Einführung der
achtstündigen Arbeitsschicht erstrebt. Der
Verein ist auch auf dem am 31. Januar 1897 in
Bochum abgehaltenen Delegiertentage christ-
licher Bergarbeitervereine Deutsch^nds ver-
treten gewesen. Die Mitgliederzahl betrug am
1. April 1900 etwa 15000, das Vermögen
70 000 Mark.
Bei den bisher genannten Vereinen ist die
Initiative der Gründung von katholischer Seite
ausgegangen, und obgleich meist in den Statuten
ausdrücklich die Parität der beiden Bekennt-
nisse für die Besetzung des Vorstandes ausge-
sprochen ist, so sind doch die meisten Mit-
glieder katholisch und überwiegt deshalb der
katholische Einiluss. Entgegengesetzt liefen
die Verhältnisse in dem „Gewerkvereine
der Ziegler in Lippe", dem umgekehrt fast
nur evangelische Mitglieder angehören. Er ist
in mehrfacher Hinsicht von besonderem Interesse,
insbesondere deshalb, weil er eine gemeinsame
Organisation von Ziegelmeistem und Zieglern
darstellt, die ihre Interessen gegenüber den
Ziegeleibesitzern zu wahren suchen. Zwischen
Meistern und Zieglem besteht, soweit es sich
nicht um Maschinen-, sondern um Handziegeleien
handelt, ein eigentümliches Vertragsverhältnis,
indem der Lebensunterhalt — alle müssen sich^
672
Gewerkvereine (Deutschland)
ja während der Campagne ausserhalb ihres
Wohnortes aufhalten — gemeinsam bestritten
wird (die sog. Kommunie), während von dem
erzielten Gewinn zunächst der „Meistervorzug"
sowie die übrigen „Vorzüge" abgezogen, der
Rest dagegen gleichmässig verteilt wird. Dies
alles gilt allerdings nur für die sogenannten
„Annehmer" d. h. den festen Stamm der Arbeiter,
etwa Va der Gesamtzahl, neben denen es noch
reine Lohnarbeiter giebt. > Obgleich die Inte-
ressen zwischen Meistern und Zieglem nicht die-
selben sind, ist doch bisher ein Gegensatz nicht
hervorgetreten, vielmehr hat sich die höchst
patriarchalische Einrichtung bewährt.
Der Gewerk verein wurde am 11. Dezember
1895 in Lage gegründet. Zweck desselben ist
„die Hebung der wirtschaftlichen Lage des
Zieglerstandes und Beseitigung der sozialen
Schäden im Zieglergewerbe auf christlich-patrio-
tischer und gesetzlicher Grundlage", insbeson-
dere Sicherung eines angemessenen Verdienstes
und Eegelung der Arbeitszeit sowie Erhaltung
eines guten Verhältnisses zwischen Meistern
und Zieglern. Eine Hauptschwierigkeit bietet
für den Verein der eigentümliche Umstand, dass
die Ziegler überwiegend sich einer weitgehen-
den Besserung ihrer Verhältnisse aus dem
Grunde abgeneigt zeigen, weil sie gerade in
den vorhandenen Mängeln, insbesondere in der
übertrieben langen Arbeitszeit ein Schutzmittel
geffen Konkurrenz sehen und bei deren Ab-
stellung Ueberflutung aus anderen Gegenden
und Berufen fürchten. So wurde im Statut
unter Ablehnung weitergehender Anträge nur
eine Arbeitszeit von 14 Stunden als Ziel aufge-
nommen. Die Lippesche Regierung steht dem
Vereine sehr günstig gegenüber und ist
in allen Vereins Versammlungen vertreten. Der
Verein hat durch ein Uebereinkommen mit den
Ziegeleibesitzern in der That für das Gebiet der
Unterelbe eine Herabsetzung der Arbeitszeit von
16 auf 14 und für 1898 sogar auf 18 '/«Stunden unter
gleichzeitiger Erhöhung der Akkordsätze um
18% erreicht. Auch ist ein Arbeitsnachweis
und Erteilung von Rechtsrat eingerichtet. Zur
Regelung des Kommunieverhältnisses ist be-
schlossen, die Meister zur Führung eines
Kommnniebuches zu verpflichten; ein weiter-
gehender Antrag, den Einkauf der Lebensmittel
einer gemeinschaftlichen Kommission zu über-
tragnen, wurde als geeignet, die Autorität des
Meisters zu untergraben, abgelehnt. In Lemgo
ist mit staatlicher Hilfe eine Zieglerschule er-
richtet.
Die Organisation der Ziegeleibesitzer, der
Verband der Thonindustriellen, hat sich ge^en
den Verein in schroffen Gegensatz gestellt, ins-
besondere die Errichtung eines gemeinschaft-
lichen Arbeitsnachweises abgelehnt. Ernstere
Streitigkeiten sind bisher nur deshalb unter-
blieben, weil die Regierung zu Gunsten des
Vereins ihren Einflnss geltend gemacht hat.
Der Verein hat seinen Sitz in Lage.
Er zählte am 10. März 1896 2500, am 18.
Februar 1897 3500 Mitglieder, doch hat sich
diese'^Zahl vermindert, seitdem nur die ihre
Beiträge zahlenden gezählt werden. Solche
gab es am 1. Januar 1898 2623, am 17. Januar
1899 3112 und am 1. Januar 1900 3180.
Organe des Vereins sind die „Lippesche
Zieglerzeitung" und „Gut Brand". Der Verein
hat sich in neuester Zeit auch über das Fürsten-
tum Lippe hinaus auf die Provinzen Hessen,
Westfalen und Hannover ausjjedehnt und einen
Landesverein für Hessen-Thüringen gebildet mit
^iner eigenen Kranken- und Sterbekasse. —
Die übrigen Vereine sind aus dem folgenden
Verzeichnisse zu ersehen, welches alle am 1.
April 1900 bestehenden christlichen Gewerkver-
eine nebst den derzeitigen Mitgliedziffem ent-
halt. Neben jedem Vereine ist das Jahr der
Gründung angegeben.
Mitglieder
Gewerkverein christlicher Bergarbeiter
Deutschlands, Sitz Altenessen (1894) . 25 200
Verband deutscher Eisen bahnhand werker
u. -arbeiter, Sitz Trier (1894) ... 25 638
Bayerischer Eisenbahn verband, Sitz Mün-
chen (1896) 25 000
Verband badischer Eisenbahnbediensteter,
Sitz Karisruhe (1898) 6000
Württembergischer Eisenbahner verband,
Sitz Stuttgart (1900) s 300
Christlicher Gewerkverein der Ziegler
in Lippe, Sitz Lage in Lippe (1895) . 3 180
Niederrheinischer Verband christlicher
Textilarbeiter, Sitz Krefeld (1898) . . 8 600
Christlich-sozialer Textilarbeiterverband
für M.-Gladbach und Umgegend (1898) 5 806
Verein der Textilarbeiter und -arbeite-
rinnen in Bayern, Sitz München (1896) 2 500
Christlich-sozialer Textilarbeiterverband
für Aachen, Burtscheid u. Umgegend
(1897) 2700
Christlich-sozialer Textilarbeiterinnen-
verband für Aachen, Burtscheid und
Umgegend (1898) 300
Christlich-sozialer Textilarbeiterverband
für Düren und Umgehend (1898) . . 800
Christlich-sozialer Textilarbeiterverband
für Eupeu und Umgegend (1897) . . 750
Christlich-sozialer Textilarbeiterinnen-
verband für Eupen u. Umgegend (1898) 130
Christlich-sozialer Textilarbeiterverbana
für Wipperfürth und Umgegend (1898) 100
Christlich-sozialer Textilarbeiterverband
für Bocholt und Umgegend (Ende 1899) i 500
Gewerkverein christlicher Berg-, Eisen-
und Metallarbeiter im Oberbergamts-
bezirk Bonn, Sitz Eiserfeld a. d. Sieg
(1897) 10650
Sauerländischer Gewerkverein der Metall-
arbeiter (1899) 2 100
Christlich-sozialer Verband der Metall-
arbeiter Deutschlands, Sitz Duisburg
(Ende 1899) . ^ 4 100
Christlich-sozialer Fach verein der Former
in Duisburg (1888) 83
Berufsverband d. christlich-sozialen Blei-,
Zink- und chemischen Fabrikarbeiter
für Stolberg (Rheinland) (1899) . . 700
Christlicher Holzarbeiterverband in
Deutschland, Sitz München (Ende 1899) 2 100
Christi. Uhrenindus triearbeiterverband
Schwarzwald, Sitz Villingen (1899) . 520
Verband christlicher Maurer Deutsch-
lands, SiU Beriin (1899) 2 900
Gewerkverein christlicher Maurer und
verwandter Berufe, Centrale Köln (1898) 600
Gewerkverein christlicher Metallarbeiter,
Sitz Köln (1898) 100
Gewerkvereine (Deutschland)
673
Mitglieder
Berufsverein christlicher Schuhmacher in
Dortmund, Düsseldorf, Sitz Köln (1899)
zusammen ca. 200
Gewerk verein christlicher Arbeiter der
Schuh- und liederindustrie (Gau ver-
band Pfalz) (1899) 500
Christlicher Verein der Gerbereiarbeiter
und verwandter Berufe für Siegen u.
Umgegend 283
Christlich-sozialer Verband der Tabak-
und Cigarrenarbeiter Deutschlands, Be-
zirksverband Niederrhein, Sitz Geldern
(Ende 1899) . . . .* 740
Bayerischer Verband der Post- und Tele-
graphenbediensteten, Sitz München
(1900) ?
Gewerk verein christlicher Steinarbeiter,
Sitz Honnef (1900) 450
Oberschlesischer christlicher Arbeiterver-
ein, Sitz Beuthen (1889) . . .. 15000
Christi. Gewerkschaft in Frankfurt a. M.
(1899) 400
Ausserdem bestehen:
Verein Arbeiterschutz mit Sektionen der
Schneider, Schneiderinnen und Kon-
fektionsarbeiter, der Bauhandwerker,
Metallarbeiter, Hafner, Schuhmacher,
städtischen Arbeiter etc. in München
(1896) zusammen 2 503
Verein Arbeiterschutz mit Sektionen der
Bauhandwerker, Metallarbeiter, Holz-
arbeiter, Textilarbeiter in Stuttgart
zusammen ca. 300
Verein Arbeiterschutz mit Fachsektionen
der Metallarbeiter , Holzarbeiter,
Schneider, Schlächtergesellen und ge-
mischte Gruppe in Berlin 610
Berufsverein christlicher Gastwirtsge-
hilfen, Köln; Verband der in kauf-
männischen Gewerben etc. beschäftig-
ten Arbeiter; Berufsverein der graphi-
schen Gewerbe ca. 150
Dazu kommen noch die Arbeiterschutz-
vereine in Regensburg mit 300, Stuttgart
mit 400, Freiburg mit 400, Amberg mit
200, Würzburg, Augsburg und Nürnberg
mit zusammen 500 Mitgliedern. In aller-
neuester Zeit haben sich in Württemberg
christliche Vereine gebildet, von denen die
Holzarbeiter 260, die Bauhandwerker 408,
die Metallarbeiter 338, die Textilarbeiter 218
Mitglieder zählen.
Hiernach ist die Gesamtzahl der am
1. Apiil 1900 in christlichen (Jewerkvereinen
zusammengefassten Arbeiter auf 161517 zu
berechnen. Soweit die Vereine nicht ihre
eigenen Organe besitzen, bedienen sie sich
als solcher der oben genannten Blätter:
»Der Arbeiter* und »Der Eisenbahner«,
sowie des in Köln erscheinenden »Christ-
lichen Arbeiterfreundes«. —
So jung die Bewegung bis jetzt noch ist,
so hat man doch bereits nach dem Muster
der sozialistischen Gewerkschaften und der
Hirsch-Dunckerschen Vereine die Bildung
eines Gesamtverbandes der christ-
lichen Gewerkvereine ins Auge ge-
ilst. Nachdem man sich auf den beiden
am 8. Dezember 1898 in Köln und am 12.
desselben Monats in Ulm stattgefimdenen
Vorkonferenzen über die Grundfragen ver-
ständigt hatte, wurde dann am 21. und 22,
IVIai 1899 der erste Kongress christ-
licher Gewerkvereine Deutsch-
lands abgehalten unter Beteiligung von 30
norddeutschen und 18 süddeutschen Abge-
ordneten als Vertretern von 37 Gewerk-
vereinen bezw. Fachabteilungen, wovon 19
mit 55661 Mitgliedern auf Norddeutschland
entfielen.^)
Man einigte sich über folgende Leitsätze:
1. „Die Gewerkvereine sind interkonfessionell
und politisch unparteiisch.
2. Es ist die Vereinigung gleichartiger
Gewerkvereine in Centralverbänden anzustrefcn.
3. Die Aufgabe der christlichen Gewerk-
vereine besteht in der wirtschaftlichen, geistigen
und sittlichen Hebung des Arbeiterstandes.
Dieselbe ist zu erstreben durch
a) Durchführung der bestehenden gesetz-
lichen Bestimmungen und Förderung des
weiteren Ausbaues der Arbeiterschutzge-
setzgebung,
b) genossenschaftliche Selbsthilfe (Unter-
stützungsergänzungskassen),
c) Sicherung der Redite und Freiheit des
Arbeiters bei Abschluss des Arbeitsver-
trages.
4. Die p^esamte Thätigkeit der christlichen
Gewerkvereme ist getragen von der Aner-
kennung gleicher beiderseitiger Rechte und
Pflichten von Arbeitern und Arbeitgebern.
Arbeit und Kapital sind die aufeinander an-
gewiesenen Faktoren der Produktion."
Es wurde ein Centralausschuss aus 7 nord-
deutschen und 6 süddeutschen Mitgliedern ge-
wählt, um die weitere Förderung der Sache in
die Hand zu nehmen.
Am 18. März 1900 hat dann in HOnchen
der erste Kongress der christlichen
Gewerkvereine Bayerns stattgefunden,
auf dem beschlossen wurde, ein bayerisches Ge-
werkschaftskartell mit dem Sitze in München
zu begründen, das aus einem besoldeten Sekretäj*
und 7 Ausschussmitgliedem bestehen soll.
6. Sonstige gewerkschaftliche Organi-
sationen. Ausser den bisher unter 1 — 5
behandelten Vereinigungen giebt es noch
einige, die sich keiner dieser Gruppen zu-
zählen lassen und die deshalb hier kurz er-
wähnt werden sollen.
Die erste derselben ist der bereits im
Zusammenhange mit dem deutschen Buch-
druckerverbande berührte Gutenberg-
bund. Gelegentlich des grossen Strikes
traten manche Mitglieder aus dem Verbände
aus, die mit dessen Haltimg nicht zufrieden
waren. Ausserdem gab es schon vorher
eine »Freie Vereinigung« und mehrere Orts-
verbände. Für diese Nichtmitglieder be-
^) Die Ziffer für Süddeutschland ist in dem
Berichte nicht angegeben.
Handwörterbnch der Staatswiasenschaften. Zweite Aallage. lY.
4S
674
Gewerkvereine (Deutschland)
stand auch ein Organ, der »Typograph«. End-
lich gründete man am 3. September 1893
in Erfurt den »Gntenbergbund« zu dem
Zwecke, einen Zusammenschluss für alle
diejenigen Buchdruckergehilfen herzustellen,
die dem Verbände und der Gewerkschaft
nicht angehören. Der Bund will Kranken-,
Invaliden- und Arbeitslosenunterstützung
gewählten und Arbeitsnachweise einrichten.
Sitz des Bundes ist Berlin. Zum Organ
wurde der »Typograph« bestimmt.
Die bisherige Entwickelung zeigt folgende
Tabelle :
Es ergaben sich am Schlüsse des
Jahres
Orts-
vereiue
Mitglieder
Einnahmen
aus
Beiträgen
M.
Geleistete
Unter-
stützungen
M.
1
Vermögens-
bestand
M.
1894
1896
1896
1897
1898
27
34
40
57
69
I 200
I 420
1570
1925
2800
9222
15 176
36899
46283
64000
2314
14033
24 109
28000
7400
17495
29919
40909
63000
Der Umstand, dass der oben (S. 670)
erwähnte »bayerische Eisenbahnerverband«,
obgleich er nach seinen Statuten unpolitisch
und ohne religiöse Färbung sein will, doch
thatsächlich der Centrumspartei nahe steht,
hat eine Anzahl von Eisenbahnarbeitern
vom Beitritte femgehalten und zur Bildung
einer Gegenorganisation in dem »Verband
baverischerEisenbahn Werkstätten-
und Betriebsarbeiter« geführt. Der-
selbe ist am 23. Oktober 1898 in Nürnberg
gegründet und bezweckt die Verfolgimg rein
gewerkschaftlicherziele, unabhängig von jeder
politischen und religiösen Richtung. Der
Verband ist bestrebt, möglichst günstige
Lohn- und Arbeitsbedingiuigen zu erlangen,
will aber das gute Einvernehmen mit allen
Behörden aufrecht erhalten. Er besitzt eine
Sterbekasse und ein eigenes Organ, die
»Verbandszeitung bayerischer Eisenbahn-
werkstätten- und Betriebsarbeiter«. Die Mit-
gUederzahl betrug Ende Juli 1899 1600 =
40^/0 der in Frage kommenden Arbeiter.
Der Jahresbericht der Goneralkommission
der Gewerkschaften für 1898 versucht eine
Uebersicht aller bestehenden gewerkschaft-
lichen Organisationen zu geben und stellt
deshalb ausser den eigenen Zahlen noch die-
jenigen der Hirseh-Dunckerschen und der
christlichen Gewerkvereine zusammen. End-
lich werden noch nach Angaben der Central-
verbände folgende > nicht auf dem Boden
der modernen Arbeiterbewegung stehende <v
Arbeiterorganisationen aufgeführt.
bei den Vereine Mitglieder
Brauern 28 3 200
Buchdruckern 2 2 000
Gärtnern 1 800
Hafenarbeitern 1 140
Konditoren 2 700
Porzellanarbeitem .... 21 518
Steinsetzern 3 300
zusammen 58 7 658
Unter den beiden Buchdruckervereinen
sind wahrscheinlich der Gutenbergbund imd
der Senefelder Bund (Lithographen) verstan-
den; über die übrigen Vereme ist nichts
Näheres bekannt.^)
Eine wichtige Gruppe für die gewerk-
schaftliche Bewegung bilden die Hand-
lungsgehilfen. Betrachten sie sich auch
als sozial höher stehend als die Arbeiter
imd haben sie sich deshalb bisher der Ar-
beiterbewegung fern gehalten, so ist doch
volkswirtschaftlich ein Unterschied nicht
anzuerkennen. Demgemäss tritt auch in
neuerer Zeit ein merkbarer Umschwung in
der Auffassung ein, denn während früher
die kaufmännischen Vereinigungen aus-
schliesslich gesellige Büdungs- und Unter-
stützungszwecke verfolgten, macht sich jetzt
die Neigung zu sozialpolitischen Bestrebungen
geltend, die durchaus einen gewerkschaft-
lichen Charakter tragen. Man muss deshalb
2 Gruppen von Vereinen unterecheiden, eine
ältere Richtung, die noch den früheren
Standpunkt vertritt, obgleich auch bei ihnen
schon der moderne Geist anfängt, sich gel-
tend zu machen, und eine jüngere, die
von den eigentlichen Gewerkvereinen kaum
verschieden ist. Vertreter der letzteren Rich-
tung ist ausser dem zu dem Hirseh-Duncker-
schen Verbände gehörigen »Vereine deutscher
Kaufleute<' mit 4G00 Mitgliedern und dem
der Generalkommission angeschlossenen
'Central verbände der Handlungsgehilfen und
Geliilf innen Deutschlands« mit 1000 Mit-
gliedern sowie endlich dem '> Verein für
kaufmännische Angestellte <. in Frankfurt a.M,
mit 319 Mitgliedern hauptsächlich der
> d e u t s c h - n a t i 0 n a 1 e H a n d 1 u n g s g e -
hilfen verbände, der in 5 Jahren sich
') Bezüglich der Brauer, Gärtner und
Konditoren vgl. Oldenberg im L Erg. -Band
der I. Aufl. dieses Werkes S. 395.
Ge werkvei*eine (Den tschlan d)
6
iO
^
bis zu einer Mitglieclerzalil von 34559 (1.
April 19(»0) axifgesch\^ningen hat, offenbar die
thtitkräftigsten Elemente des Handlungs-
gehilfenstandes in sich schliesst und aller
Wahrscheinliclikeit nach bald alle übrigen
Vereine dieser Art überflügeln wird.
Es liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit,
die kaufmännischen Vereine näher zu ver-
folgen; sie bedürfen nur der Erwähnung, um
einen Ueberblick über den gegenwärtigen Stand
der gewerkschaftlichen Bewegung in Deutsch-
land zu geben; deshalb sollen wenigstens
die zeitigen Mitgliederzahlen auch für die
Vereine der älteren Richtung hier angegeben
werden. Die meisten derselben, und unter
ihnen der grosseste, nämlich der „Verein für
Handlungskommis von 1858'^ in Hamburg, der
allein 58 000 Mit-glieder besitzt, sind zusammen-
geschlossen in dem „Deutschen Verbände kauf-
männischer Vereine" in Frankfurt a. M., der
im Mai 1899 98 Vereine (darunter 2 öster-
reichische) mit 24832 Prinzipalen, 95528 Ge-
hilfen, 4893 Lehrlingen und 1862 Nichtkaufleuten,
insgesamt also 127115 Mitgliedern umfasste.
Unabhängig von ihm sind der „Verband
deutscher Handlungsgehilfen" in Leipzig mit
49 406 Mitgliedern (darunter 356 stiftenden und
ausserordentlichen sowie 689 Lehrlingen), femer
der „Verband reisender Kaufleute" in Leipzig
mit 8337 Mitgliedern (darunter 28 stiftenden)
und der „Kaufmännische Hilfsverein" in Berlin
mit 8467 ordentlichen Mitgliedern (Gehilfen).
Hiernach giebt es in Deutschland 362 935
organisierte Handlungsgehilfen, von denen
man mindestens 40860 als im eigentlichen
Sinne gewerkschaftlich organisiert ansehen mnss.
Der üebergang von den Organisation s-
formeu, die bereits ansgesprochen gewerk-
schaftlichen Charakter haben, zu denjenigen,
die nur den Keim zu solcher Entwickelnng
in sich tragen und deshalb als Vorstufen
anzusehen sind, ist sehr allmählich, wie es
auch schwer zu bestimmen ist, ob eine Ver-
einigung ein ausreichendes Mass von ge-
werkschaftlichen Elementen zeigt, um sie
auch nur als solche Vorstufe anzusehen.
Die Abgrenzung ist deshalb mehr oder
minder willkürlich. Um wenigstens einen
Anhalt für die Beiu-teilung zu geben,
in "welcher Entwickelungsphase sich die
Gewerkschaftsbildung zur Zeit in Deutsch-
land befindet, mögen hier die Zahlen einiger
Organisationen mitgeteilt w^erden, die man
zu den ge\verkschaftlichen Vorstufen wird
rechnen dürfen. Es sind dies:
Mitgl.
1. der Verband reichstreuer Berg-
arbeitervereine im Bezirke des
niederschlesischen Bergreviers . . i 138
2. der Verband deutscher Post- und
Teleß:raphenas8istenten .... 14000
3. der Bayerische Verkehrsbeamten-
verein 5 772
4. der Verband deutscher Post- und
Telegraphenunterbeamten . . . 6000
5. der deutsche Eisenbahnbeamten-
verein 9000
6. Verein deutscher LokomotiA-führer
7. Eisenbahnverein in Cassel, Arns-
berg, Göttingen, i*aderborn und
Soest
8. der deutsche Privatbeamtenverein
9. der deutsche Werkmeisterverband
10. Evangelische Arbeitervereine (359)
11. Katholische Arbeitervereine (790)
i.-;
640
4600
15234
34962
76998
152969
330313
Die Knappschafts vereine, die Ende 1894
477 186 Mitglieder umfassten , sind reine
Unterstützungsvereine, die hier nicht in
Betracht kommen.
7. Abschlass. So unsicher die oben
im einzelnen mitgeteilten Ziffern sind, so
hat es doch Interesse, sie zu dem Zwecke
zusammenzustellen, um einen Ueberblick
über den gegenwärtigen Stand der Gewerk-
schaftsbewegung zu erhalten, insbesondere
aber das Verhältnis der organisierten zu
den nicht organisierten Arbeitern zu er-
mitteln.
Beschränken wir uns zunächst auf die-
jenigen Organisationen, denen wir einen
ausgesprochen gewerkschaftlichen Charakter
glaubten beimessen zu düifen, so erhalten
wir folgendes Ergebnis:
Mitglieder
1. Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine 88279
2. Sozialistische Gewerkschaften:
a) Centralorganisationen . . . 493 742
b) Lokalorganisationen . . . 17500
3. Christliche Gewerkvereine . . . 161 517
4. Gutenbergbund 2 800
5. Verband bayerischer Eisenbahn-
werkstättenarbeiter 1 600
6. die übrigen oben (S. 674) aufge-
führten Organisationen (nach Ab-
zug von rund 1800 Mitgliedern
für den Gutenbergbund) .... 5 858
7. gewerkschaftl. organisierte Hand-
lungsgehilfen 35 260
8Ö6"556~
Diese Zahlen sind aber aus dem Grunde
zu niedrig, weil es in sehr vielen Orten
kleine Vereinigimgen von Arbeitern der ver-
schiedensten Berufe giebt, die sich bisher
der öffentlichen Kenntnis entzogen haben.
Oldenbcrg in seinem Artikel a. a. 0. S. 397
legt die Angaben des Polizeipräsidenten in
Berlin zu Grunde und erhält danach noch
120000 Mitglieder solcher lokaler Vereine,
die er mit Rücksicht auf wahrscheinliche
Doppelzählungen auf 40—80000 ermässigt.
Setzen wir sie unseren eigenen Ziffern liin-
zu, so ergiebt sich eine Gesamtzahl von.
etwa 850 000. Berücksichtigen wir da-
gegen auch noch die oben erwähnten Ver-
einigungen, die wir als Vorstufen der ge-
werkschaftlichen Organisation bezeichneten,
und bringen von der dort ermittelten Ziffer
zu 330313 mit Rücksicht darauf, dass ins-
besondere von den Angehörigen der katho-
43*
676
Gewerkvereine (Deutschland)
lischen und evangelischen Arbeitervereine
eine Anzahl zugleich Mitglieder der christ-
lichen Gewerkvereiue sein werden und dass
die dort aufgeführten Beamtenvereine zum
Teil Personen enthalten, die auch nicht im
weiteren Sinne zum Arbeiterstande zu rech-
nen sind, etwa 30000 in Abzug, so erhalten
\vir noch ferner rund 300000 organisierte
Arbeiter. Fügen wir endlich von den
362935 Handlungsgehilfen die nach Abzug
der bereits benicksichtigten 40860 noch
verbleibenden 322075 hinzu, so erhöht sich
diese Ziffer auf rund 620000 halb Organi-
sierte gegenüber nmd 850000 voll Organi-
sierten.
Da es nach der Benifszählung vom
14. Juni 1895 in Deutschland 12808452
»niedere Hilfspersonen« giebt, die also für
die Vergleichung in Betracht kommen, so
entsprechen die 850 000 bezw. 1 470 000 ge-
werkschaftlich organisierten Arbeiter einem
Verhältnis von 6,64 bezw. ll,46®/o. Bringen wir
dagegen die in den obigen Ziffern enthaltenen
weiblichen Personen in Abzug und stellen
die sich danach ergebende Ziffer von 830000
bezw. 1450000 in Vergleich zu den männ-
lichen niederen Hilfspersonen, die 1895
9071038 betrugen, so steigt das Anteils-
verhältnis auf 9,1 bezw. 15,77 ^/o.
Endlich ist aber zu berücksichtigen, dass
die gewerkschaftliche Organisation sich bis-
her so gut wie ausschliesslich auf Industrie
und Handel beschränkt, während sie für
die Landwirtschaft noch kaum existiert, —
besitzen doch in den meisten Staaten die
landwirtschaftlichen Arbeiter noch nicht das
Koalitionsrecht — , so ergiebt sich ein we-
sentlich höherer Satz, denn da 1895 in In-
dustrie und Handel zusammen 5831392
männliche »niedere Hilfspersonen« beschäftigt
wurden, so erhalten wir ein Verhältnis von
14,24 bezw\ 24,41 %.
Ist auch selbst diese Ziffer noch nicht
sehr gross, so ist doch zu berücksichtigen,
dass die Führung in der gewerkschaftlichen
Bewegung naturgemäss den grösseren Städten
zufällt und die dort erzielten Errungen-
schaften allmählich auch den übrigen Ar-
beitern zu gute kommen. Um deshalb die
eigentlich entscheidenden Zahlen zu ge-
winnen, müsste man die Berechnung auf die
grösseren Städte beschränken. Das Material
hierfür würde kaum zu beschaffen sein,
aber zweifellos ist der Einfluss der organi-
sierten Arbeiterschaft auf die Gestaltung
der wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich
grösser, als es nach den ermittelten Ziffern
scheinen könnte, und ebenso sicher bewegt
sich die gewerkschaftliche Entwickelung
in Deutschland zur Zeit in stark aufsteigender
Richtung.
Litter atnr : l. An einer 2U8a m m e nfa säenden
Bearbeitung des deutschen Gewerksehafts-
wesens fehlte es bisher. I>ieselbe ist ver-
sucht in dem Buche des Unterzeichneten: nDie
Gewerkschaftsbewegung. Darstellung der ge^cerk-
schaftlichen Organisalion der Arbeiter und der
Arbeitgeber aller Ländern (Jena 1900, Fischer),
wo auch die in der obigen Darstellung als U7i-
enttpickelte Gewerkvereine bezeichneten Organi-
sationen behandelt sind; zugleich ist ein lieber-
blick über die bisherigen internationalen Be-
ziehungen gegeben. Die wertvollste Materialien-
Sammlung für alle Arten der Organisationen
enthält das von H.' Braun begründete n Sozial-
politische CentralblcUtn, das seit 1. April 1895
unter dem Titel n Soziale Praxis» erscheint xind
jetzt von E. Francke herausgegeben icird; leider
sind meist die Originalquellen, aus denen ge-
schöpft ist, nicht angegeben.
2. Hirsch-Dunckersche Gew erkver-
eine: Police, Die deutschen Geiperkvereine,
StuttgaH 1879. — Karl Walcker, Die Arbeiter-
frage mit besonderer Berücksichtigung der deut-
schen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker), Fisenaeh
1887. — Jfoop Hirsch f Die hauptsächlichsten
Streitfragen der Arbeiterbewegung, Berlin 1886. —
Derselbe, Was bezwecken die Gewerkvereine f
10. Aufl., Berlin 1887. — Derselbe, Die Ar-
beiterfrage und die deutschen Gewerkvereine,
Leipzig 189S (Festschrift), — Fortlaufende Be-
richte bringt das Verbandsorgan: nDer Gewerk-
vereinn. — Eine Vergleichung mit den englischen
trade unions enthält die Schrift von Max
Hirsch, Die Entwickelung der Arbeiterberufs-
vereine in GrossbrUannien und Deutschland,
Berlin 1896.
8. Die sozialistischen Gewerkschaf-
ten. Das umfassendste Werk ist das Buch von
Schmöle, Die sozialdemokratischen Gewerk-
schaften in Deutschland seit dem ErUisse de»
Sozialistengesetzes (Jena 1896, Fischer), von
dem bis jetzt der erste vorbereitende Teil, der
übrigens auch wertvolles Material aus der 2kit
vor 1878 enthält, und der zweite, den Zimmerer-
verband behandelnde Band erschienen ist. — Seit
1891 erscheint das nCorrespondenzblatt der
Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch-
landsii, Redaktion und Verlag von E. Legten,
Hamburg, als offizielles Organ der CentrcU-
organisaiio7ien. lieber die S Gewerkschaftskon-
gresse 1892, 1896 und 1899 sind im Verlage von
E. Legien die offiziellen Verhandlungsberichte
erschienen. Bezüglich des Erfurter Gewerkschafts-
kongresses 1872 liegt ein im Verlage von W.
Bracke in Braunschweig erschienener Bericht
vor. Daneben kommen die Parteiblätter, insbe-
sondere » Vorwärts n und nEchou in Betracht,
Die Arbeiterinnenbeiregung behandeln AdeUne
Berger, Die 20jährige Ari>eiterinnenbetvegung
Berlins, 1889, Selbstverlag, und Em/ma Ihrer,
Die Organisation der Arbeiterinnen Deutschlands,
Berlin 1898, Selbstverlag.
4. Buchdruckerverband. Als Material-
sammlung ist wertvoll die von dem Verbands-
vorstande herausgegebene Schrift: Zur Arbeiter-
versicherung. Geschichte und Wirken eines deut-
schen Gewerkvereins von 1866 — 1891. Dan^fen
kommen in Betracht das Verbandsorgan, der
M Correspondentfür Deutschlands Buchdrucker und
Schriftgiesseru, insbesondere die zur Feier des
25 jährigen Bestehens herausgegebenen Fest^
nummer vom 20. Mai 1891, und das Organ des
Prinzipalvereins, nämlich bis 1888 die »Mit-
Gewerkvereine (Deutschland — Oesterreich)
677
teilungen des deutschen Buchdruckervereinsn und
seitdem die ^a Zeitschrift für Deutschlands Buch-
drucker li. Litterarische Bearbeitungen bieten:
1. Zahn, yiDie Organisation der Prinzipale
und Gehilfen im deutschen Bucftdruckgewerben,
in Band 46 der Schriften des Vereins f. Sozial-
politik, Leipzig, Duncker u, HumbloL 2. A,
Qerstenberg, »Die neuere Entwickelung des
deutschen Buchdruckgeicerbes in statistischer
und sozialer Beziehung«, Jena 189£, Fischer.
3. Eine eingehende Ikirstellung des grossen
Strikes von 1891 und der dabei in Betracht
kommenden Verhältnisse giebt Tiedemann in
der Zeiisehr, f. d. ges. SU- W. Jahrg. öS, S. 209
—286.
6. Für die christlichen Gewerkver-
eine besteht ausser dem eingangs erwähnten
Buche des Unterzeichneten keine litterarisehe
Darstellung, das Material muss deshalb aus den
im Texte angegebenen Organen der einzelnen
Vereine n Bergknappen, m Eisenbahnern ^ vt Arbeiter m,
nDer christliehe Arbeitern, yt Christlicher Arbeiter-
freundn, n Westdeutsche Arbeiterzeitung n, n Lippe-
sehe Zieglerzeitung n , » GiU Brandn u. a. ent-
nommen werden. Auch einige katholische Tages-
blätter, z. B. die yi Kolnische Volkszeitung n, die
n Westfälische Volkszeitung n u. a. sowie die von
Hit^e herausgegebene Zeitschrift nArbeiterwoMn
bringen häufig einschlägige Mitteilungen. Eine
im Verlage der »Westdeutschen Arbeiterzeitung n
erschienene kleine Schrift: n Christliche Gewerk-
vereinen, S. Aufl., 1900 (Arbeiterbibliothek 1. u.
2. Heft) und eine Broschüre unter gleichem Titel
von F. Weinhausenf Berlin 1900, Verlag der
itffilfen, bieten neben den neuesten Mitglieder-
zahlen auch geschichtliche Notizen und principielle
Erörterungen.
6. Sonstige gewerkschaftliche Or-
ganisationen. Auch hier fehlt es ausser dem
Buche des Unterzeichneten an einer litterarischen
Behandlung. Materied liefern die Organe der
im Texte erwähnten Vereine.
W, Kutemann,
lU. Die Gewerkvereine in Oesterreich.
1. Nationale, wirtschaftliche nnd rechtliche
Voraussetzungen. 2. Vorgeschichte und äussere
Entwickelung. 3. Organisation und Ziele. 4.
Die Organisation in den einzelnen Berufen.
1* Kationale^ wlrtschafiliclie nnd recht-
liche Toranssetrangen* Die Verschiedenheit
der Nationalitäten macht sich hegreiflicherweise
vielfach als Hindernis für die Fortschritte der
Osterreichischen Gewerkschaftsorganisationen
geltend. Trotz der unleugbaren £rfolge der
internationalen sozialdemokratischen Bewegung
' sind doch bei der Vertiefung der nationalen
Kämpfe in den letzten Jahren die Reibungen
nationaler Art selbst unter den sozialistischen
Arbeitern immer häufiger geworden und haben
zu einer Sezession der czecho-sl avischen Arbeiter
auf politischem wie gewerkschaftlichem Gebiete
geführt. Und selbst dort., wo das proletarische
Bewusstsein vor dem nationalen sich behauptet
und der beste Wille zu gegenseitiger Verstän-
digung vorhanden ist, erschwert eben doch die
Verschiedenheit der Sprache ein gemeinsames
Vorgehen in hohem Grade. Auch die Ent-
wickelung der Fachpresse leidet darunter. So
mag in manchen Berufen die Zahl der organi-
sierten Arbeiter beträchtlich genug sein, um die
Herausgabe eines Fachblattes zu gestatten.
Allein ein nur in deutscher Sprache ei scheinen-
des Organ kann den slavischen Arbeitern des-
selben Berufes nicht genügen. So werden denn
für die Arbeiter eines einzigen Berufes z. B.
bei den Buchdruckern, selbst vier Organe (deutsch,
czechisch, polnisch, italienisch] notwendig. In
der Regel bestehen aber wenigstens für jeden
Beruf deutsche und czechische Blätter. Mag
auch der Inhalt oft derselbe sein, so verursachen
doch Uebersetzung, Satz und Druck besondere
Kosten. Es ist deshalb verständlich, wenn viele
Gewerkschaftsblätter nur schwer einen ihren
Bestand vollkommen sichernden Leserkreis ge-
winnen.
In der Regel bedeutet der Gegensatz der
Nationalität auch einen Unterschied der Lebens-
haltung und Bildung. Der deutsche Arbeiter
fühlt sich möglicherweise bei Arbeitsbedingungen
schon schwer gedrückt, welche für manche seiner
polnischen, slovenischen oder italienischen Ka-
meraden eine erfreuliche Verbesserung darstellen
würden. So können Bestrebungen der deutschen
Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, durch das
reichliche Angebot genügsamerer Arbeiter an-
derer Nationaütät durchkreuzt werden. Solche
Vorgänge müssen naturgemäss die vorhandenen
nationalen Gegensätze vertiefen und ein gemein-
sames Vorgehen in Bezug auf den Arbeitsver-
trag fast ausschliessen.
Mag auch iu den letzten Jahrzehnten die
Industrie Oesterreichs Fortschritte zu verzeichnen
haben (in der Zeit von 1869 bis 1892 stieg die
Eisenerzproduktion von 6,8 auf 9,B, die Braun-
kohlenförderung von 31,2 auf 161, die Stein-
kohlenförderung von 34,7 auf 92,4, die Produktion
von Frisch-Roheisen von 2,4 auf 5,3 und diejenige
von Gussroheisen von 0,3 auf 1 Millionen Meter-
centner; die Zahl der Baumwollspindeln wuchs
von 1876 bis 1895 von 1,057000 auf 3,108000,
diejenige der Feinspindeln der Kammgarnin-
dustrie innerhalb 1870—1892 von 77410 auf
288318; in der Baum Wollweberei zählte man
1876 ca. 20000. im Jahre 1895 65402 mecha-
nische Webstühle, in der Kammgarn weberei
1870 4424, 1892 15300 mechanische Webstühle),
so bilden doch auch nach der letzten Berufs-
statistik des Jahres 1890 die in der Landwirt-
schaft thätigen Personen noch 62,4%, während
auf Industrie nur 21,2, auf Handel und Ver-
kehr 6,27o. entfallen. Tritt also die gewerb-
liche Thätigkeit an und für sich schon gegen-
über der landwirtschaftlichen Produktion in den
Hintergrund, so ist noch zu beachten, dass inner-
halb des Gewerbes handwerksmässi^e und haus-
industrielle Betriebsformen überwiegen. Der
fabrikmässige Betrieb ist, abgesehen von den
grösseren Städten, der Hauptsache nach auf
Nordböhmen, Vorarlberg, einzelne Gebiete Mäh-
rens, Nieder-Oesterreicns , Schlesiens und der
Steiermark beschränkt. Mögen nun auch im
Kleingewerbe durchaus nicht so gute Zustände
herrschen, dass die Arbeiter auf eine besondere
Vertretung ihrer Klasseninteressen verzichten
könnten, so verhindert doch gerade hier die oft
allerdings recht trügerische Hoffnung, noch ein-
mal Meister zu werden, so manchen Arbeiter
678
Gewerkvereine (Oesterreicli)
daran, sich hingebungsvoll an der Gewerkver-
einssache za beteiligen. In der Hausindustrie
lässt wieder das Uebermass wirtschaftlichen und
geistigen Elends eine zielbewusste und kraft-
volle Organisation nur selten emporkommen.
Die unbestimmte Fassung des österreichi-
schen Vereinsgesetzes stellt die gewerkschaft-
liche Organisation thatsächlich ganz in das Be-
lieben der Behörden. Wenn der § 6 des Ver-
einsgesetzes (15. November 1867 R. 134) auch
nur Vereine, welche nach ihrem Zweck oder
ihrer Einrichtung gesetz- oder rechtswidrig oder
staatsgetährlich sind, verbietet, so haben die
Behörden diesen Begriffen doch oft eine so weit-
gehende Auslegung gegeben, dass der Gewerk-
schaftsbewegung die rechtlichen Grundlagen
entzogen wurden. Nicht ohne Bedeutung ist
auch der § 20 des Vereinsgesetzes. Derselbe
verbietet Vereinen, Beschlüsse zu fassen, durch
welche nach Form oder Inhalt der Verein in
einem Zweige der Gesetzgebungs- oder der
Exekutivgewalt sich eine Autorität anmasse.
Unter Berufung auf diese Bestimmung ver-
mochte die Wiener Behörde den Fachverein der
Bäcker polizeilich zu sistieren, weil derselbe
eine statistische Erhebung über die Lage der
in Bäckereien beschäftigten Arbeiter unternom-
men hatte!
In den letzten Jahren haben die Behörden
allerdings ein grösseres Verständnis für die Be-
deutung der Gewerkschaften an den Tag ge-
legt und zu wiederholten Malen auch amtliche
Beziehungen zu Gewerkschaftsvertretungen an-
feknüpft. So hat das statistische Departement
es k. k. Handelsministeriums die Gewerkschafts-
kommission um eine Erhebung über die von
den Arbeitervereinen betriebene Arbeits vermitte-
lung ersucht. In den Beirat des arbeitsstatis-
tischen Amtes sind zwei Vertreter der Gewerk-
schaftskommission ben>fen worden, und es kommt
vor, dass das Handelsministerium die Gewerk-
schaf tskommission zu gutachtlichen Aeusse-
rungen auffordert.
Immerhin bleiben den Gewerkschaften die
besonderen Bestimmungen gefährlich, welche
für politische Vereine gelten. Nach § 33 des
Vereinsgesetzes ist es diesen untersagt, Zweig-
vereine (Filialen) zu gründen. Verbände unter
sich zu bilden oder selbst mit anderen Vereinen,
sei es durch schriftlichen Verkehr, sei es durch
Abgeordnete, in Verbindung zu treten. Ob
aber ein Verein als politischer anzusehen ist,
das bleibt dem Ermessen der Behörde überlassen.
Streben nun die Arbeiter, wie es ihre Inter-
essen erfordern, nach einer die lokalen Fach-
vereine zusammenfassenden Organisation, so
müssen sie auf das sorgfältigste alles vermeiden,
was ihre Thätigkeit in den Augen der Behörden
irgendwie zu einer . politischen stempeln
könnte.
Zwar ist durch G. v. 7. April 1870 das
früher bestandene Koalitionsverbot aufgehoben
und nach dieser Hinsicht ein dem reichsdeut-
schen ähnlicher Kechtszustand herbeigeführt
worden. Dennoch dürfte der österreichische
Arbeiter auch in diesem Falle ungünstiger ge-
stellt sein als der deutsche. Es steht nämlich
den Behörden gegen ausweis- und bestimmungs-
lose Personen ohne erlaubten Erwerb und ohne
Einkommen das Recht der Abschiebung in die
Heimatsgemeinde zu. Nicht selten wird von
dieser Befugnis gegen strikende Arbeiter Ge-
brauch gemacht.
Eine wichtige Veränderung^ haben die recht-
lichen Grundlagen der österreichischen Gewerk-
schaftsbewegung erfahren durch das Gesetz be-
treffend die Abänderung und Ergänzung der
Gew.-O. V. 15. März 1883. Durch dasselbe werden
für die Angehörigen des Kleingewerbes die Ge-
nossenschaften obligatorisch gemacht. Inner-
halb der Genossenschaft haben sich die selb-
ständigen Gewerbetreibenden als Genossen-
schaftsversammlung, die Gehilfen als Gehilfen-
versammlung zu konstituieren. Die Gehilfen-
versammlung wählt einen Gehilf enaus.schuss
und ist zur Wahrnehmung und Erörterung der
Interessen der zur Genossenschaft gehörigen Ge-
hilfen, „soweit die Förderung dieser Interessen
den Zwecken der Genossenschaft nicht wider-
streitet", befugt. Die genannte Einschränkung
unterwirft die Thätigkeit der gesetzlich orga-
nisierten Arbeiter freilich wieder dem Ermessen
der Behörden, üeberdies besitzen noch die
Arbeitgeber in der Entlassung eine Handhabe,
um sich derjenigen Arbeiter, die ihnen etwa
im Gehilfenausschuss oder in der Gehilfenver-
sammlung unbequem werden, leicht zu entle-
digen. Gehilfen, welche sechs Wochen hindurch
ausser Arbeit stehen, dürfen nämlich an der
Gehilfenversammlung nicht teilnehmen und
gehen auch der ihnen etwa anvertrauten Funk-
tionen als Ausschussmitglieder verlustig.
Unter diesen Verhältnissen haben sich die
Arbeiter, denen die staatlich oktroyierte Form
der gewerkschaftlichen Organisation ohnehin
unsympathisch war, ursprünglich von jeder
Thätigkeit innerhalb der Genossenschaft fern
gehalten.
Später ist aber ein Umschwung eingetreten.
Bei dem geringen Spielraum, welchen die Ver-
einsgesetze den Arbeitern gewähren, hat man
einsehen gelernt, dass der wenn auch sehr be-
schränkte gesetzliche Boden, den die Gewerbe-
ordnung für die Gehilfenorganisation einräumt,
keineswegs ganz wertlos ist. Vielfach haben
nunmehr die Gehilfeuausschüsse eine rege Thätig-
keit zur Verbesserung der Lage der Gehilfen
unternommen, und die Behörden haben im all-
gemeinen eine neutrale Haltung bewahrt. So
wird folgende Resolution verständlich, welche
ziemlich übereinstimmend mehrere im Jahre
1890 abgehaltene Gewerkschaftstage gefasst
haben :
„Die Zwangsgenossenschaften sind überall
aucü zur Organisation zu benützen. Wo eine
kräftige Gewerkschaft möglich ist oder schon
besteht, darf die Genossenschaft schon darum
nicht vernachlässigt werden, ' weil damit den
Gegnern ein möglicherweise sehr gefährlicher
Machtposten ausgeliefert würde. Wo die Ge-
werkschaft aus irgend welchen Gründen noch
nicht vorhanden ist, muss die Zwang^genossen-
schaft benützt werden, um sie teilweise zu er-
setzen. Innerhalb der Genossenschaft sind mög-
lichst dieselben Ziele zu verfolgen, welche die
Gewerkschaft hat. Insbesondere sind folgende
Vorteile der Genossenschaft kräftig auszu-
nutzen.
1. Der Umstand, dass in ihr von Gesetzes-
wegeji sämtliche Arbeiter vereinigt sind, nicht
wie meist nur in den Gewerkschaften nur die
klarer Denkenden und Energischeren. Es wird
L
Gewerkvereine (Oesterreicli)
679
also dort schon eine Wirkung in die Breite
möglich.
2. Ist der Gehilfenausschuss eine ofüziell
anerkannte Behörde, welcher eine Reihe von
Verhandlungen und Verfügungen ohne weiteres
anvertraut werden.
Auf die Zusammensetzung des Gehilfenaus-
schusses aus zielbewussten Genossen ist darum
in erster Linie und überall hinzuwirken. Der-
«elbe wird dann die ihm von der Gewerbeord-
nung eingeräumten Befugnisse im Sinne der
wahren Interessen der Arbeiterschaft ausnutzen.
Vor allem wird er überall die Arbeitsvermitte-
lung, die Regelung des Lehrlingswesens und
die Herstellung einer Statistik in die Hand
nehmen."*
Zwei von der Regierung am 17. Juni 1891
eingebrachte Vorlagen („Gesetz betr. die Ein-
führung von Einrichtungen zur Förderung des
Einvernehmens zwischen den Gewerhsunter-
nehmern und ihren Arbeitern", Beilage 191 z.
d. stenogr. Protok. d. öst. Abgeordnetenh. XL
Session, 1891 und „Gesetz betr. die Errichtung
von Genossenschaften beim Bergbau", Beil. 190)
heabsichtigten die bei der staatlichen Organi-
sation des Kleingewerbes zum Ausdrucke ge-
langten Grundgedanken auf Grossindustrie und
Bergbau zu erstrecken.
Es ist indes nur der Gesetzentwurf hin-
sichtlich des Bergbaues am 14. August 1896
zum Gesetz erhoben worden. Auch hier hat
sich die Arbeiterschaft ursprünglich ablehnend
verhalten, beginnt aber neuerdings den passiven
Widerstand fallen zu lassen. So nahm eine am
25. Juni 1899 in Kladno ahgehaltene Konferenz
der Bergarbeiter des Kladnoer, Smichover und
Schlauer Steinkohlenrevieres folgende Resolution
an: „Die Konferenz verwirft die Institution
der Bergbaugenossenschaften als eine reaktionäre
Massregel und perhorresciert deren Errichtung.
Da jedoch diese Institution zwangsweise und
fegen den Willen der Arbeiter errichtet und
ie Wahlen von der Behörde durchgeführt wer-
den könnten, geben die Bergarbeiter der ge-
nannten Reviere ihre bisherige passive Haltung
gegenüber den Bergbaugenossenschaften auf und
werden sich an den Wahlen beteiligen, um eine
Handhabung des Gesetzes zum Nachteile der
Arbeiter zu verhindern."
2. Yorgesehiclite und äussere Entwicke-
lung. Die äussere Entwickelung des Gewerk-
Bchafts Wesens läuft in Oesterreich so ziemlich
mit der allgemeinen politischen Arbeiterbewe-
gung parallel. Die Anfänge beider Bewegungen
fallen in die 60 er Jahre, in welchen die reichs-
deutsche Arbeiterbewegung in Oesterreich einen
starken Wiederhall fand. Die berühmte grosse
Demonstration der Wiener Arbeiter vor dem
Parlamente im Jahre 1869 verschaifte der öster-
reichischen Arbeiterschaft das Koalitionsrecht,
und der wirtschaftliche Aufschwung jener Zeit
gewährte zur erfolgreichen Ausnutzung des-
selben bald auch den nötigen wirtschaftlichen
Rückhalt Nach einer Uebersicht, welche aus
dem Jahre 1874 stammt, gab es in Wien eine
grössere Zahl von Gewerkvereinen. Organisiert
erscheinen die Anstreicher , Gold- und Metall-
schläger, Lackierer, Maler und Vergolderge-
hilfen, die Buchbinder, die Buchdnicker und
Schriftgiesser , die Geschäftsdiener, die Glaser,
die Gold- und Silberarbeiter, die Handschuh-
macher, die Manufakturarbeiter, die Metallar-
beiter, die Musikinstrumentenmacher, die Sattier,
die Schuhmacher etc. Auch in den Provinzial-
hauptstädten bestanden Fachvereine. Noch war
aber das Verständnis für den Wert dauernder
Organisationen unter den Arbeitern wenig ent-
wickelt. Viele traten einem Gewerkverein nur
hei, um dessen Unterstützung bei irgend einer
Forderung zu erlangen. War diese erfüllt, so
Hessen sie sich nicht mehr im Vereine sehen.
Der bleibende Erfolg dieser ersten Gewerkver-
einsbewegung war immerhin der, dass fast über-
all eine würdigere und anständigere Behand-
lung der Arbeiter durchgesetzt und die Arbeits-
zeit reduziert wurde. Die etwa errungenen
Lohnerhöhungen verschwanden allerdings gröss-
tenteils wieder nach dem Eintreten der wirtschaft-
lichen Krise.
Die langandauemde Krise entzog den Ar-
beitern indes nicht nur die bereits gewonnenen
Positionen, sie rief auch eine Spaltung in der
Arbeiterbewegung selbst hervor. Der Anarchis-
mus gewann in ihr schliesslich das Ueberge-
wicht, und die anarchistischen Verbrechen führ-
ten zur Verhängung eines Ausnahmezustandes.
So wurden viele Vereine teils von den Be-
hörden aufgelöst, teils verloren sie so viele Mit-
glieder, dass, wenn überhaupt noch von einer
Existenz, jedenfalls nur von einer Scheinexistenz
gesprochen werden konnte.
Erst Ende der 80 er Jahre nahm die öster-
reichische Arbeiterbewegung mit dem Eintritte
Dr. V. Adlers in dieselbe einen neuen Auf-
schwung. Die anarchistischen Elemente wurden
zurückgedrängt oder wieder als fügsame Glieder
in die sozialdemokratische Organisation einge-
ordnet.
Auf dem Parteitage zu Hainfeld im Jahre
1888 gelang es, diese Reorganisation der Partei
zum Abschlüsse zu bringen. Für die Förde-
rung gewerkschaftlicher Verbände gewann in-
des erst das Jahr 1890 eine grössere Bedeutung.
Die zahlreichen Arbeitseinstellungen, welche
1889 auch von selten der österreichischen Ar-
beiter unternommen worden waren, wegen un-
genügender Organisation aber nur selten zu
Erfolgen geführt hatten, einerseits, die glänzend
ausgefallene Maidemonstration des JalLres 1890
andererseits scheinen der Parteileitung die
Ueberzeugung verschafft zu haben, dass der
Zeitpunkt gekommen, um neben der politischen
Organisation auch wieder eine fachgewerbliche
zu begründen. Am 7. und 8. September 1890
„tagten" in Wien bereit« die Bäcker, die Tischler,
die Drechsler, die Schuhmacher und die Hut-
macher. Alle diese Versammlungen, die aus
allen Teilen der Monarchie gut beschickt waren,
berieten über eine das .ganze Reich umfassende
Gewerkschaftsorganisation der betreffenden Ar-
beiter. In Kuttenberg tagten die Töpfer. Am
1. und 2. November mnd in Brunn eine Öster-
reichische Textilarbeiterversammlung statt ; am
7. und 8. Dezember in Wien ein Bergarbeiter- ,
kongress, während der Weihnachtsfeiertage in
Brunn ein Metall- und Hüttenarbeitertag und
ein solcher der Porzellan- und Glasmaler. Am
8. und 9. März 1891 endlich berieten in W^ien
die Bürsten- und Pinselmacher über ihre Or-
ganisation. Auch während des Jahres 1891
hatte die Bewegung erhebliche Fortschritte
aufzuweisen. In Wien tagten : Töpfer, Schmiede,
680
Gewerkvereine (Oesterreicli)
Feilenhauer und Bauarbeiter; in Prag: Müller,
Tischler, Berg- und Hüttenarbeiter; in Stein-
schönau die Arbeiter der Glas- und Keramik-
warenbranche.
Unter diesen Umständen wurde vom
zweiten österreichischen sozialdemokratischen
Parteitage (Wien 28. bis 30. Juni 1891) die
Besprechung der Gewerkschaftsfrage auf
die Tagesordnung gesetzt. Auf ein Referat
des Buchdruckers Höger hin gelangte eine
ausfühi'liche Resolution ziu: Annahme, in
welcher den Parteigenossen der AnschJuss
an die bestehenden gewerkschaftlichen Or-
ganisationen und, wo solche noch nicht be-
standen, deren Gründung empfohlen wm'de.
Man ging dabei von der Erwägung aus,
»dass die gewerkschaftliche Organisation
einerseits erzieherisch und materiell bessernd
zu wirken vermag, dass dieselbe, wenn sie
im sozialdemokratischen Sinne gehandhabt
wird, auf das politische Leben vorzubereiten
imstande ist. Doch erklärt der Parteitag
ausdrücklich, dass durch die Gewerk-
schaflsorganisation die sozialde-
mokratische Bewegung in keiner
Weise hintangesetzt werden darf.«
Eine massgebende Stellung ftir die wei-
tere Entwickelung der Dinge gewann die in
Wien zu stände gekommene Gewerkschafts-
kommission. Als nämlich der Kongress der
englischen Gewerkvereine in Glasgow be-
schlossen hatte, gleichzeitig mit dem Inter-
nationalen Sozialisten -Kongress in Zürich
1892 einen internationalen Gewerkschafts-
kongress nach London einzubenifen, glaubten
die österreichischen sozialdemokratischen Ge-
werkschaften dagegen eine Protestkund-
gebung grossen Stiles inscenieren zu müssen.
Es wurde zu diesem Zwecke aus den Wiener
Gewerkschaften heraus ein Komitee gebildet,
dass sich indes mit der bezeichneten Aufgabe
nicht begnügte, sondern Fragen der gewerk-
schaftlichen Organisation überhaupt besprach.
Man erachtete eine Centralstelle für die ge-
werkschaftliche Bewegung als notwendig,
und so fungierte schliesslich dieses Komitee
als provisorische Gewerkschaftskom-
mission bis zum ersten österreichi-
schen Gewerkschaftskongresse,
der in Wien vom 24 bis 26. Dezember
1893 stattfand. Dieser Kongress ent-
warf, entsprechend den Anträgen der Kom-
mission, einen allgemeinen Plan für die
gewerkschaftliche Organisation der öster-
reicliischen Arbeiterschaft und boschloss,
eine Gewerkschaftskommission zu bilden, in
welche aus jeder Industriegruppe mindestens
ein Vertreter entsendet werden sollte. That-
sächlich wurde die Kommission, da in einigen
Industriegruppen noch gar keine nennens-
werte Organisation vorhanden war, nur aus
11 Mitgliedern gebildet, welche die Metall-
arbeiter, Holzarbeiter, Bekleidungsindustrie,
Textilarbeiter, Glas- und keramische Branche,
Lebensmittelbranche, Bauarbeiter, Polygra-
phische Gewerbe, Chemische Industrie, Eisen-
bahner und Handelsangestellte vertraten. Als
Exekutivorgane in der Provinz bestimmte die
Kommission in Oberösterreich, Niederöster-
reich, Salzburg, Steiermark, Kärnthen und Bu-
kowina je 1, in Tirol mit Vorarlberg, Schlesien
und Galizien je 2, in Mähren 5 und in Böh-
men 6 Landesveilrauensmänner. Diese pro-
vinziale Exekutivorganisation hat in den
letzten Jahren eine Umgestaltung in dem
Sinne erfahi-en, dass in Aussig a. d. Elbe,
Reichenberg, Brunn, Krakau, Graz imd
Trient Landessekretäre angestellt worden
sind, neben denen noch 17 Distriktsver-
trauensmänner wirken. Die Kommission
errichtete ferner nicht nur ein Sekretariat,
aus einem Sekretär (Anton Hueber), einem
Kanzleibeamten für die czechische Organi-
sation und Korrespondenz imd einem Hilfs-
beamten bestehend, sondern schuf sich auch in
der »Gewerkschaft« ein eigenes Organ,
Die Einnahmen der Gewerkschaftskommission
bestanden in den Beiträgen derjenigen Or-
ganisationen, aus denen sie hervorgegangen
war. Für jedes einzelne Mitglied war pro
Monat 1 kr. zu entrichten. Zufolge dieser
Bestimmung nahm sie 1894 4499 fl.,
1895 7818 fl., 1896 bis 31. Oktober
bereits 9293 fl. ein. Ausserdem fungierte
die Kommission noch als Sammelstelle
für Strikeunterstützungen. Innerhalb der
Zeit vom l. Januar 1894 bis 31. Oktober
1896 gingen bei ihr ein 45371 fl. Beson-
derer Beachtung sind die Erhebungen wert,
welche die Kommission über die Arbeits-
vermittelung der Ai'beitervereine, über Stärke
und Leistimgsfähigkeit der Gewerkschaften
und Arbeiterbild ungs vereine und die vor-
gefallenen Strikes unternommen hat.
Ende 1895 ergab sich bei sämtlichen Ge-
werkschaften eine Mitgliederzahl von 8881.8
Personen, ein halbes Jahr später bereits
99434. Neben den Gewerkschaften wirken,
zum Teile mit verwandten Aufgaben befasst,
zahlreiche Büdungsvei*eine mit ungefähr
31900 Mitgliedern. Die Gesamteinnahmen
der statistisch erfassten Gewerkschaften
betrugen vom 1. Januar bis 30. Juni 1896
492 585,88 fl., die Ausgaben 300760,76 fL
Von den Einnahmen wurden verausgabt
9,0^/0 für die Fachblätter, 3,6^/0 für Agitation,
0,7^/0 für Rechtsschutz, 2,8 »/o für Reise-
unterstützung, 10,1 ^'o für Arbeitslosenunter-
stützung, 14,3 ^/o für Kranken- und Inva-
lidenunterstützung, 1,4 ^/o für Umzugskosten
in Sterbe- und Notfällen, 3,5^/0 für Gehälter,
0,2^/0 für Arbeitsvermittelung, 0,9 «/o für
Konferenzen und Generalversammlungen,
12,0 «/o für Kanzleierfordernisse, 12,5 ^/o fi\r
sonstige Ausgaben; 39,0% bildeten den
Kassestand.
Gewerkvereine (Oesterreich)
681
Auf dem vom 25. bis 29. Dezember J896
in Wien tagenden IL österreichischen
Gewerkschaftskongress brachen we-
gen Anstellung eines besondei*en czechischen
Gewerkschaftssekretärs Zwistigkeiten unter
den deutschen und czecliischen Delegierten
aus. Der von dem Kongresse angenommene
Kompromiss Vorschlag : »Die Kommission
wählt einen Sekretär und einen Stellvertreter.
Einer von beiden Sekretären muss der
czechischen Sprache in Wort und Schrift
vollkommen mächtig sein« und »die czechi-
schen Genossen sollen als solche durch
zwei Delegierte in der Kommission ver-
treten sein« befriedigte die Czechen nicht.
Sie beklagten sicli überhaupt über Ver-
nachlässigung durch die Kommission, welche
unter ihren 6 Vertrauensmännern in Böhmen
nur einen Czechen habe, während die Kom-
mission den Czechen wieder mangelhafte
Beantwortung der ausgesendeten statistischen
Fragebogen vorwarf. Von den czechischen
Arbeiterbildungsvereinen hatten nur 28®/o,
von den deutschen aber 70% die Frage-
bogen beantwortet. In weiterer Folge haben
die Czechen, wohl infolge der 1896 in Wien
mit grosser Schärfe hervorgehobenen centra-
listischen Tendenzen, einen besonderen »Kon-
gress der czecho-slavischen Gewerkschafts-
und Bildungs vereine« abgehalten und eine
czechische Gewerkschaftskommission ins Le-
ben gerufen. Für 1900 weixien sowohl von
der Wiener wie von der Prager (czechischen)
Gewerkschaftskommission Gewerkschaftskon-
gresse in Aussicht genommen.
3. Organisation und Ziele. Bis auf
die Gegenwart herab hat die seit Ende der
80 er Jahre in Fluss gekommene Gewerk-
schaftsbewegimg immer und immer wieder
das Organisationsproblem erörtern müssen,
und allem Anscheine nach wird es noch
lange die Geister beschäftigen. Fragt man,
welche Ideeen über Organisation und Auf-
gaben der Gewerkschaften von den ver-
schiedenen Anfang der 90 er Jahre stattge-
fundenen Berufstagen vertreten worden sind,
so lässt sich folgendes sagen:
Allgemein war man durchdmugen von der
Notwendigkeit einer Centralisation. Für die
einzelnen Kronländer oder die grösseren Pro-
duktionsgebiete sollten Gewerkschaften errichtet
werden mit lokalen Filialen, Sektionen oder
Ortsgruppen. Die verschiedenen Landesver-
bände hätten aber in Verbindung zu treten
und in Wien eine Centralstelle zu errichten.
Selbstverständlich konnten diese Pl^e nur
zur Ausführung gelangen, wenn die Behörde
diese Organisation nicht als politische ansah.
Abgesehen von den rechtlichen Hindernissen
waren auch diejenigen nicht zu unterschätzen,
welche die nationalen Verschiedenheiten be-
dingen. Bekanntlich sind die Kronländer keines-
wegs national geschlossene Gebiete.
Als Ziele der Fachorganisation wurden
folgende genannt:
1. Die Erweckung und Hebung des Klassen-
bewusstseins bei der gesamten Arbeiterschaft
des Gewerbes.
2. Die Vermittelung von Wissen, Aufklä-
rung und BUdung.
3. Die Zusammenfassung der Kräfte aller
einzelnen zu einer Macht, welche die wirkliche
Durchführung des gesetzlichen Arbeiterschutzes
und darüber hinaus den stetigen Fortschritt
in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, insbe-
sondere Abkürzung der Arbeitszeit und Erhöhung
des Lohnes erzwingt imd so die gesamte Lebens-
haltung erhöht.
Als näheres Ziel wurde die zehnstündige,
als weiteres die achtstündige Arbeitszeit be-
zeichnet. Sodann sollte auf die Festsetzung
von Minimallöhnen, verschieden bemessen nach
lokalen Verhältnissen, und auf die Beseitigung
der Akkordarbeit hingewirkt werden.
Die Gewerkschaft sollte die Gesamtheit der
im Fache thätigen Arbeiter umfassen, also auch
die Frauen und die ungelernten Hilfsarbeiter.
Um in die Verhältnisse des Arbeitsmarktes die
erforderliche Einsicht zu gewinnen, wurde die
Einführung einer Lohnstatistik und eine Sta-
tistik der Arbeitslosen geplant. Im Zusammen-
hange damit strebte die Gewerkschaft auch da-
nach, die Arbeitsvermittelung ausschliesslich in
ihre Hand zu bekommen. Ferner sollte ein
Fonds zur Unters tütznn^ der Arbeitslosen, eine
Widerstandskasse und eine centralistisch orga-
nisierte Reiseunterstützung geschaffen werden.
Eine weitere Thätigkeit auf dem Gebiete
des Unterstützungsweseus zu entfalten, lag nicht
im Sinne der sozialdemokratischen Leiter der
Bewegung. Man wollte keine „Kassensimpelei^
erziehen. Vereine, welche eine solche treiben,
machten konservativ. ,,Der ihnen Angehörige
fühlt sich gegen alle Lebenslagen geschützt,
er denkt kaum daran, dass der Staat, die Ge-
sellschaft dazu verpflichtet wäre, er wird be-
geisterter Apostel der ominösen „Selbsthüfe"
und Gegner des Sozialismus ; statt des Klassen-
bewusstseins wird der Kastengeist in ihm er-
weckt." (Kralik, Nutzen und Bedeutung der
Gewerkschaften, Wien 1891, S. 15 und 16.)
Durch tüchtige Organisationen hofft man
den Strike in sehr vielen Fällen von vornherein
überflüssig zu machen, weil die Arbeitgeber
einer geschlossenen Organisation gegenüber in
sehr vielen Fällen eher zur Verhandlung und
Nachgiebigkeit geneigt sein würden. Wo der
Strike aher unvermeidlich, sollte er nicht ohne
vorhergehendes Einvernehmen und Einverständ-
nis der Centralstelle der Organisation unter-
nommen werden. Arbeitseinstellungen, die ohne
solche Zustimmung unternommen würden, sei
die Unterstützung zu verweigern.
Manche Gewerkschaften beabsichtigten auch
Rechtsschutz zu gewähren. Der Fachpresse
wurde allgemein grosse Aufmerksamkeit ge-
schenkt.
In Bezug auf all diese Punkte hatten die
verschiedenen Arbeitertage eine vollkommene
Uebereinstimmung ergeben.
Die gleichen Gedanken kamen in der
vom IL österreichischen sozialdemokratischen
Parteitage angenommenen Gewerkschafts-
resolution zum Ausdrucke.
Man darf diese Pläne vielleicht als ge-
682
Gewerkvereine (Oesteireich)
mässigt centralistische bezeichnen. Wo sie
verwirklicht wonlen sind, wie z. B. bei den
Buchdruckern, Buchbindern und Hutmachern,
haben sie sich bewährt.
Mit der Grilndung der Gewerkschafts-
konimission kam aber eine extrem centra-
lisierende Richtung zm* HeiTschaft. Man
begnügte sich nicht mehr damit, dass die
Arbeiter des gleichen Berufes in ganz Oester-
reich in irgend einer Weise zusammenge-
fasst würden, sondern stellte die Einordnung
sämtlicher Arbeiter in XVII Industriever-
bände oder Gruppen als Ziel auf. (I. Bau-
arbeiter, IL Bekleidungsindustrie, III. Berg-
arbeiter, IV. Chemische Industrie, V. Eisen-
und Metallindustrie, VI. Gas- und Wasserarbeiter,
VII. Glas-, Porzellan- und Thonwareniudustrie,
VIII. Graphische Fächer und Papierindustrie,
IX. Handelsgewerbe und Angestellte, X. Holz-
arbeiter, XI.Horn-, Bein- und Schüdkrot-Industrie,
XII. Laudwirtschaftliche Gruppe, XIII. Ijebens-
mittelbranche, XV. Textilindustrie, XVI. Ver-
kehrs- und Transportwesen, XVII. Weibliche
Hand- und Maschinenindustrie.^ Alle verwandten
Berufsorganisationen sollten sich unter einander
verbinden und Verbände bilden, welche sich
über das ganze Reich erstreckten. Die Gründung
von kleinen Organisationen für einzelne Berufe
sei nur aus taktischen Gründen zu befürworten.
Statistik , Arbeitsvennittelung, Reisennterstüt-
zung und Errichtung von Herbergen sollten an
solche Industrieverbände übergehen.
Da der Kongrcss von 1893 diese Vor-
schläge annahm, glaubte die Gewerkschafts-
koramission 1896 noch weiter gehen zu
dürfen imd brachte die vollständige Ver-
schmelzung aller in einem Industriever-
bande befindlichen' Benife in Unionen in
Vorschlag. So sollten z. B. Porzellan maier,
Glasschleifer und Ziegelarbeiter; Kellner,
Bäcker, Müller, Metzger und Brauer; Buch-
drucker, Buchbinder und Arbeiter der Papier-
fabriken, Zimmermaler und Maurer auf jede
besondere Berufsorganisation verzichten und
sich lediglich in der Union der kemmischen
Branche, oder der graphischen Fächer und
Papierindustrie, der Lebensmittelbranche oder
der Baugewerbe zusammenfinden. Die über
das ganze Reich gespannten Unionen hätten
als untere Instanzen nur die Ortsgruppen
zu entwickeln. Dieser Plan wairde als der
»fortgeschritten ste<' bezeichnet. Man müsse
die V engherzigen Berufsorganisationen« auf-
geben, den Kock der Branchen abwerfen
und den Menschen hervorkehren, an Stelle
des > Schuster- und Schneiderstandpunktes
müsse der denkende Mensch treten.« Das
war denn nun selbst centralistisch gesinnten
Sozialdemokraten zu viel zugemutet. Die
Unionen wnu*den vom Konp^sse mit 37 163
Stimmen gegen 36555 Stimmen bei 11221
nicht abgegebenen Stimmen verworfen.
Ebenso wenig Erfolg hatte die Gewerk-
sciiaftskommissiou mit dem Antrage, die
Beitragsleistungen zu iliren Gunsten um
die Hälfte zu erhöhen.
Auch die Versuche, auf dem Gebiete der
Arbeitskämpfe zu einer massgebenderen
Stellung zu gelangen, hatten nur teilweise
Erfolg.
Schon der I. Gewerkschaftskougress von
1893 war genötigt gewesen, gegen das gras-
sierende Strikefieber Stellung zu nehmen. Man
beschloss, dass beabsichtigte Strikes bei den
Kronlandscentralleitungen d. h. den Kronlands-
Vertrauensmännern der Gewerkschaftskomnüs-
sion oder bei dieser selbst angemeldet werden
müssten. AngriflFsstrikes sollten nur unter-
nommen werden, wenn sie von der Kommission
gutgeheissen würden. Hielte man diese Ver-
pflichtungen nicht ein, so ginge man des Rech-
tes, durch die Kommission unterstützt zu werden,
verlustig. Diese Bestimmungen erreichten
keineswegs ihren Zweck. Auch in den Jahren
1894 und 1895 wurde auf die unüberlegteste
und planloseste Weise weiter gestriket. So
kam es, dass von der Gesamtzahl der Striken-
den nur 10,82 ^o einen vollen, 45,10 °'o einen
teil weisen und 44,08 *>'o gar keinen Erfolg er-
zielten. Die Kommission schlug deshalb dem
II. Gewerkschaftstage ein Strikereglement vor,
weUbes bestimmte: 1. Jede Organisation hat,
wenn sie einen Strike beabsichtigt, hiervon die
Gewerkschaftskommission zu verständigen. Jeder
beabsichtigte, insbesondere jeder Angriifsstrike,
welcher von der Kommission unterstützt werden
soll, ist spätestens 6Wochen vorseinem
Beginne bei der Kronlandscentralleitung (Lan-
desvertrauensmännern) und bei der Kommission
anzumelden sowie die Zustimmung der letzteren
zum Strike einzuholen.
2. Die Kronlandscentralleitungen haben
über jeden ihnen zur Anmeldung gebrachten
Fall umgehend genaue Erhebungen zu pflegen,
und zwar über a) die veranlassende Ursache
zum Strike, b) die Löhne, c) die Arbeitszeit,
d) die Zahl der eventuell am Strike Teü-
nehmenden, e) die Zahl der Verheirateten und
der Kinder, f) die für den Strike besonders
günstigen oder ungünstigen Geschäfts- sowie
lokalen Verhältnisse und nach gepflogener Er-
hebung sofort an die Gewerkschaftskommission
Bericht zu erstatten und ihr Gutachten beizu-
fügen.
3. Strikes, welche nicht rechtzeitig an-
gemeldet oder ohne Zustimmung der Gewerk-
schaftskommission begonnen werden, haben
keinen Anspruch auf materielle Unterstützunff.
Die Drohung konnte ihren Zweck freilich
nur dann vollkommen erreichen, wenn die Kom-
mission über reiche Mittel verfügte. Sie be-
antragte deshalb auch die Gründung eines
ihrer Verfügung unterstehenden Reichscentral-
strikefonds. Dieser sollte durch Beiträge der
einzeluen Mitglieder in der Höhe von 1 Kr.
pro Monat angesammelt werden.
Die gekennzeichneten Pläne fanden die
Billigung des Kongresses keineswegs in aUen
Punkten. So wui3en die 6 wöchentliche An-
meldefrist und der Reichscentralstrikefonds ge-
strichen, in Bezug auf die Abwehrstrikes aber
schärfere Bestimmungen angenommen, als die
Kommission vorgeschlagen hatte. Während
man diese Abwehrstrikes und solche Strikes, für
Gewerkvereine (Oesterreich)
683
welche die Unterstützung durch die Kommission
nicht in Anspruch genommen würde, von der
Anmeldepflicht entbinden wollte, entschied der
Konerress, dass auch in Abwehrstrikes erst dann
eingetreten werden dürfe, wenn eine vorherige
gütliche Beilegung des Konfliktes nicht mög-
lich war und der Verband der betreffenden
Branche sich von der Unmöglichkeit einer
solchen Beilegung überzeugt hat.
Diese Darlegungen lassen erkennen, wie
wenig auch in der österreichischen Gewerk-
schaftsbewegung noch die Einsicht Wurzel
gefasst hat, dass eine zweckentsprechende
Senifsorganisation nicht von oben herab de-
kretiert und reglementiert werden, sondern
von unten auf organisch erwachsen muss.
Es soll alles möglichst schnell gehen und
sich durcliaus in den Formen, welche einige
an der Spitze der Bewegung stehende Per-
sönliclikeiten für die besten halten, vollziehen.
So kommt man schliesslich dazu, den unge-
heuerlichen Gedanken der »Union« zu ver-
treten. Weil z. B. noch wenig Bäcker,
Metzger, Müller und Brauer der gewerk-
scliaftlichen Organisation geneigt sind, dem-
nach leistungsfähige Müller-, Brauer- u. s. w.
Organisationen in ziemlicher Ferne stehen,
so soll eine imponierende Ziffer dadurch
gewonnen werden, dass alle diese innerlich
sehr wenig verwandten Berufsarten unter
der Flagge der »Lebensmittelbranche« ver-
einigt werden. Innerhalb einer so bunt
zusammengewürfelten Gesellschaft kann ein
richtiges Gewerkschaftsleben natürlich gar
nicht aufkommen. Die Organe einer Union
sind bei ausbrechenden Streitigkeiten keines-
wegs unbedingte Sachverständige. Es hat
also auch wenig zu sagen, wenn schliess-
lich nicht die Ünionsorgane, sondern die
allgemeinen Gewerkschaftsorgane (Gewerk-
schaftskommission und ihre Sekretäre) die
Fülirung übernehmen. Ein Erfolg kann ja
doch nur durch die Opferwilligkeit aller
sozialdemokratischen Arbeiter überhaupt er-
reicht werden. Dieses proletarische Soli-
daritätsgefühl anzufeuern ist aber einem
allgemeinen Organe leichter möglich als
einem Fach- oder Unionsorgane. Mit
dieser Taktik kann gewiss hier und da ein
Erfolg errungen werden. Der einzelne
Unternehmer mag auch einer noch unvoll-
kommen organisierten Arbeiterschaft nach-
geben, wenn er fürchten muss, dass die
ganze sozialistische Arbeiterwelt überhaupt
für sie eintreten wird. Aber diese Nach-
giebigkeit wird rasch ihr Eiide linden,
wenn die Solidarität gleichzeitig auch noch
von sehr vielen anderen Arbeitern in An-
spruch genommen wird und die Unter-
nehmerkreise ebenfalls mehr und mehr
jeden einzelnen Strike als gegen das Unter-
nehmertum überhau))t gerichtet ansehen
und dementsprechend vorgehen. Es sind
also im besten Falle gefährliche Augen-
blickserfolge, die auf solchen Wegen erzielt
werden können, gefährlich, weil sie die
Gegenseite schliesslich zu der gleichen So-
lidarität zwingen und im eigenen Lager
den rationellen, . soliden Ausbau der beruf-
lichen Organisation zurückdrängen. Es ist
auch gar nicht abzusehen, wie so roh orga-
nisierte Verbände, wie die Unionen, zu dem
Ideale jeder echt gewerkschaftliclien Be-
wegung, zu einem körperschaftlichen Ab-
schluss des Ai'beitsvertrages kommen sollen.
Eine Vereinigung von Ziegeleibesitzern kann
doch nicht mit einer Union, in welcher viel-
leicht Porzellanmaler und Glasschleifer das
grosse Wort fülu-en, über das Arbeitsver-
hältnis in den Ziegeleien Verträge ab-
schliessen, Einigungsämter einsetzen u.s.w.
Ja es ist überhaupt von den Anhängern des
Unionsgedankens unlogisch, selbst nur In-
dustrieunionen zuzugestehen. Was man
gegen die engeren ßranchenorganisationen
geltend macht, das lässt sich schliesslich ja
auch gegen die Unionen ins Feld führen.
Warum soU es nicht gestattet sein, einen
Buchdrucker-, Buchbinder- oder Papierar-
beiterstandpunkt einzunehmen, wolü aber
einen solchen der »Gxaphischen Fächer und
Papierindustrie«? Vereinigt man einmal
Berufe miteinander, die innerlich gar keine
Verwandtschaft besitzen, so hat es gar kei-
nen Sinn, noch Grenzen zu ziehen. Die
Vorteile der »Centralisation« würden ja bei
allgemeinen Gewerkschaftsvereinen jedenfalls
noch grösser sein.
Es ist nun freilich nicht zu fürchten,
dass die östen^eichisciie Gewerkschaftsbe-
wegung dauernd auf solche Abwege gerät.
Die Irrtümer der Führer finden an der un-
erbittlichen Logik der Thatsacheu eine
schneidige Kritik. Schon jetzt sind dort,
wo man die Unionen durchzusetzen
versucht hat (bei den Metaliarbeitern
und den Angehörigen der keramischen
Branche) die Erfahnmgen recht ungünstig.
So stehen der „Union" in der keramischen
Branche mit 6600 Mitgliedern ungefähr 3(X)0
lokalorganisierte Berufe derselben Industrie
fegenüber. Femer sind die Ziegelarbeiter aus
er Union ausgetreten und haben eine eigene
Organisation gegründet. Aelmlich steht es bei
den Metallarbeitern. Auch hier haben z. B.
Maschinisten, Maschinenwärter und Heizer, ferner
Giesser und Metalldrucker besondere Vereini-
gungen ausserhalb der Union ins Leben gerufen.
In den graphischen Gewerben haben die Buch-
drucker die von den Buchbindern in Aussicht
genommene Union vereitelt, und alles Geschimpfe
der „vorgeschrittenen" Elemente über Reaktion,
,,Zünftlertum", „Berufsdünkel" kann an dieser
Abneigung der Arbeiter gegen Unionen nichts
ändern. £s scheint mir , nebenbei bemerkt,
auch nicht sehr menschlich zu sein, wenn man
den Arbeitern, deren Befriedigung über ihre
Arbeitsverrichtungen durch die überhand neh-
mende Arbeitsteilung und die maschinelle Pro-
684
Gewerkvereine (Oesterreich)
dnktion ohnehin schon stark beeinträchtig
werden muss, noch das bischen Berufsstolz, die
dürftigen Beste der alten „Handwerksehre^^
austreiben will. Ohne Corps^eist kommt über-
haupt keine tüchtige Organisation zu stände.
Neuerdings jagen auch die Führer der Textil-
arbeiter dem Phantome der „Union" nach, wie
die Beschlüsse des am 28. Dezember 1899 in
Wien abgehaltenen Textilarbeiterkongresses
zeigen.
Eine bedenkliche Folge der übertriebenen
Centralisations- und Schablonisierungsbestre-
bungen ist auch in dem Umstände zu er-
blicken, dass die Centralorgane der Unionen,
ohne Rücksicht auf die geographische Ver-
breitung der vertretenen Industrieen, ihren
Sitz in Wien nehmen. Es kann der Ent-
wickelung der Dinge aber wenig frommen,
wenn die gewerkschaftliche Bewegung einer
Industrie, die, wie z. B. die Glasindustrie,
in Nordböhmen koncentriert ist, ihre beste
Kraft nach Wien abgeben muss, wo diese
den persönlichen Kontakt mit den Arbeitern
des Berufes verliert.
Endlich ist es unter den geschilderten
Verhältnissen auch nicht möglich, das plan-
lose Striken zu verhindern. Freilich giebt
es merkwürdigerweise auch Gewerkschafts-
führer, welche dieses Ziel gar nicht an-
streben. So erklärte auf dem zweiten Gewerk-
schaftskongresse der Buchdrucker Spitzkopf :
„Was das Strikewesen selbst anlangt, ge-
stehen wir, dass wir gegen die ceiitralisierte
Strikemethode Überhaupt sind. Wir sehen näm-
lich nicht ein, warum wir nur allgemeine Strikes
führen sollen. Warum sollen wir dem Unter-
nehmertume nicht mit der gleichen Brutalität
entgegentreten: durch überraschende Arbeits-
einstellungen? Wir müssen sagen: Heute ge-
fällt es uns da, morgen dort zu striken, selbst
auf die Gefahr hin, dass wir den Strike ver-
lieren. Wir müssen die Unternehmer be-
unruhigen, sie nicht organisieren lassen, und
kein Unternehmer soll wissen, ob nicht morgen
oder Übermorgen ein Strike bei ihm ausbricht."
Mögen so unbesonnene Elemente auch die
Minderheit bilden, so lange es üblich ist,
der Hauptsache nach nicht aus eigenen
Kassen, sondern auf Kosten der Gesamt-
arbeiterschaft die Arbeitskämpfe zu führen,
wird ein ewiges Drängen zum Strike be-
stehen. Die einzelnen sagen sich, dass sie
nun schon so und so oft andere Arbeiter
bei Strikes unterstützt haben, nun soll die
Solidai'ität auch ihnen selbst einmal zu
statten kommen. Und wenn die Gewerk-
schaftskommission auch durch die Kronlands-
centralleitungen alle möglichen Erhebungen
pflegen lassen imd erst auf Grund der ein-
gelieferten Akten die Strike-Erlaubnis erteilen
will, so ist es ja klar, dass all diese Pläne
im • Ernste gar nicht durchgeführt werden
können. Das könnte nicht einmal innerhalb
der ursprünglich von der Kommission ver-
langten sechswöchentlichen Anmeldefrist ge-
leistet werden. Man muss sich nur die
Unbehilflichkeit selbst tüchtiger Handarbei-
ter im schriftlichen Verkehre vorstellen, be-
denken, dass in der Regel die »Kronlands-
oentralleituDg« mit den speciellen Verhält-
nissen der Industrie, über die sie nun in
aller Eile zuverlässiges Material beschaffen
soll, gar nicht vertraut ist und dass inner-
halb der 7 — 8 Persönlichkeiten, welche in
der Gewerkschaftskommission auf Grund
der schriftlichen Berichte den entscheiden^
den Beschluss fassen sollen, auch nur aus-
nahmsweise jemand gerade mit dem frag-
lichen Gewerbe intimer bekannt sein wird.
Man ist also in den meisten Fällen gar
nicht imstande, auf Grund vollendeter
Sachkenntnis ein Urteil zu fällen, und wird
im Zweifel umso eher geneigt sein, die Zu-
stimmung zu erteilen, als man durch sie
ja nur zur Ausschreibung von Sammlungen
verpflichtet wird. In der That zeigen auch
die Ergebnisse der neuesten österreichischen
Strikestatistik, dass von den 66251 im Laufe
des Jahres 1898 in Strike getretenen Arbeitern
nur 4,6**/o einen vollen, 62,8 ^/o einen teil-
weisen und 32,6 ^/o gar keinen Erfolg er-
zielt haben. Diese Ziffern deuten nicht da-
rauf hin, dass es der Gewerkschaftskom-
mission bereits gelungen ist, den Ausbruch
aussichtsloser Strikes zu verhüten.
Wenn somit die gegenwärtige Organisa-
tion der österreichischen Gewerkschafts-
bewegiing, von einem rein gewerk-
schaftlichen Standpunkte aus beurteilt,
noch grosse Mängel aufweist, so soll
nicht verkannt werden, dass sie vom
sozialdemokratischen Parteistandpunkte eine
ungleich bessere Censur erhalten muss.
Der Gedanke, welcher auf dem II. österreichi-
schen sozialdemokratischen Parteitage ausge-
sprochen worden ist, nämlich, dass die Gewerk-
schaftsbewegung im sozialdemokratischen Sinne
gehandhabt werden solle und dnrch sie die
sozialdemokratische Bewegung in keiner Weise
hintangesetzt werden dtirfe^ er ist in Oesterreich
gewiss vollkommener realisiert worden als in
irgend einem anderen Lande. Die straffe Cen-
tralisation , die Vereinigung der für das Ge-
werkschafteleben massgebenden Persönlichkeiten
in Wien, dem Sitze der politischen Parteileitung,
die Unterstützung der Strikes vorzugsweise
durch Sammlungen, für deren Resultat natürlich
auch die Haltung der politischen Parteiprease
von entscheidendem Einflüsse ist, die Bekämpfunsf
selbständiger auf wirklicher Berufs^meinschaft
aufgebauter Organisationen, all das hat das
Aun^ommen politisch neutraler oder von anderen
Parteien, etwa der christlich-sozialen Richtung
beeinflusster Gewerkschaften wenigstens unter
den von Wien aus regierten deutschen Arbeitern
aufs wirksamste verhindert. Einen gewissen
Einfluss haben die Christlich-Sozialen bis jetzt
nur in der Eisenbahner- und der Brünner Weber-
bewegung gewonnen. Die Befestigung, welche
die politische Arbeiterpartei erfährt, wenn die
Gewerkschaftsbewegung, wie in Oesterreich,
Gewerkvereine (Oesterreich)
685
ganz in ihren Dienst gestellt wird^ kann ja in
einem politisch leistungsfähigen Staatswesen
nicht zu unterschätzende Vorteile zeitigen. In
einem Staate aher. der durch eine seinen that-
sächlichen Bedürfnissen so wenig angepasste
Verfassung seit Jahren bereits zur Sterilität
verurteilt wird, läge der Ausbau von leistungs-
fähigen Gewerkschaften, die unberührt von den
Ereignissen des politischen, konfessionellen und
nationalen Lebens ausschliesslich, aber mit Nach-
druck, die Verbesserung der konkreten Arbeits-
bedingungen betreiben würden, wohl weit mehr
im Interesse der Arbeiterklasse.
Immerhin darf eines nicht verkannt wer-
den: hinsichtlich der Pflege des Unter-
slützungswesens durch die Gewerkschaften
ist gegenüber der früher in sozialdemokra-
tischen Kreisen üblichen Anfeindung der
»Kassensimpelei« ein beträchtlicher Fort-
scliritt gemacht worden. Organisationen
wie diejenigen der Buchdnicker und der
Hutmacher, welche sich in dieser Beziehung
schon lange des rechten Weges bewusst
sind, werden jetzt nicht mehr verspottet,
sondern auch offiziell als nachahmungswür-
dige Muster hingestellt. Da diese Muster
aber nicht von Unionen, sondern nur von
wirklichen Fachvereinigungen befolgt wer-
den können, besteht die Hoffnung, dass es
schliesslich auch der österreichischen Ge-
werkschaftsbewegung gelingen wird, Irrwege
zu vermeiden, von welchen die deutsche
und namentlich die schweizerische Gewerk-
schaftsbewegung, die ursprünglich ähnliche
Gebrechen wie die österreichische aufzu-
weisen hatten, sich bereits abzuwenden be-
ginnen.
4* Die Organisation in den einzelnen
Berufen« Nachdem die Bäcker 1890 und
1893 Kongresse veranstaltet hatten, wurde unter
ihrer Führung 1896 ein Kongress der Arbeiter
in den Lehensmittelbranchen einberufen. Nach-
dem es aber nicht gelang, entsprechend den Be-
schlüssen dieses Kongresses, die Angehörigen der
anderen Berufe dieser Industriegruppe derartig
zu organisieren, dass sie einen gewichtigen TeU
der G^amtorganisation ausgemacht hätten, be-
gnügte man sich damit, 1898 wieder einen
blossen Bäckertag einzuberufen. Der Kongress
wurde von den Czechen nicht beschickt, da sie
1897 in Prag einen eigenen Kongress der Lebens-
mittelarbeiter Böhmens und Mährens veranstaltet
hatten. In Prag soll es sich gezeigt haben, dass
die Kellner, Brauer, Fleischselcher u. s. w. noch
auf einem „rückständigen" Standpunkte ver-
harrten und national gesinnt seien. Immerhin
hat auch der deutsche Verband der Lebens-
mittelindustrie nur in Wien einen Fachverein
der Fleischselchergehüfen und in Niederösterreich
eine GewerkschsSt der Mühlenarbeiter zum
Beitritte zu bewegen vermocht und besteht so-
mit ganz überwiegend aus Bäckern. Die Ge-
werkschaft der Bäckerarbeiter in Niederöster-
reich hat in Verbindung mit den Schwester-
oreanisationen eine gute statistische Zusammen-
stellnng über die Arbeits- und Lohnverhältnisse
im Bä(äergewerbe, Wien 1898, herausgegeben.
Der Verein ist aber so schwach, dass er 1899
nahe daran war, die Arbeitslosenunterstützung
wieder fallen zu lassen.
Die Berg- und Hüttenarbeiter haben
seit 1890 zu wiederholten Malen allgemeine
Kongresse abgehalten, wo sie in der üblichen
Weise einen ganz Oesterreich umfassenden Cen-
tral verband ' beschlossen , aber infolge meist
unglücklich verlaufener Strikebewegungen bis
jetzt noch wenig Positives erreicht. An Zwis-
tigkeiten zwischen Deutschen iind Czechen hat
es namentlich auf dem Wiener Kongress 1895
nicht gefehlt.
Im Januar 1900 ist ein Generalstrike der
Kohlenarbeiter ausgebrochen, der Äur Zeit (Mitte
März) noch anhält. Auch in diesem Falle sind
es nicht die Organisationen, sondern die reich-
lichen Unterstützungen aus Arbeiter- und Bürger-
kreisen, welche ein so langes Ausharren der ca.
60000 Strikenden möglich machen. Ob der
St;rike wesentliche Verbesserungen erringen
wird, ist zweifelhaft. Das Abgeordnetenhaus
ist einer Sozialgesetzgebung zu Gunsten der
Bergarbeiter geneigt, desgleichen die Regierung.
Es ist aber noch fraglich, ob das Herrenhaus
zustimmt.
Günstigere Ergebnisse haben die Buch-
binder erzielt. Nachdem 1896 in Wien ein
Kongress der Vereine der Buchbinder und ver-
wandten Berufe Oesterreich-Ungarns stattge-
funden hatte, ist ein Verband der Vereine der
Buchbinder und verwandten Berufe Oesterreichs
zu Stande gekommen, welcher Ende 1898 9
Landesvereiue mit 14 Zahlstellen und 1081 Mit-
gliedern zählte. Der Verband gewährt Reise-
Unterstützung im Betrage von 40 Kreuzer ])ro
Ta^ an diejenigen Mitglieder, welche beim
Reiseantritte mindestens ö2 W^ochen der Orga-
nisation angehören. Die Centraiisation der
Konditionslosenunterstützung wird geplant. Die
beabsichtigte Union mit dem Verbände der
Buchdrucker wurde von letzterem abgelehnt.
Wie im Deutschen Reiche und in der
Schweiz, so haben auch in Oesterreich die Buch-
drucker den ältesten und leistungsfähigsten,
voll entwickelten Gewerkverein geschaflfen. Der
niederösterreichische Verein geht auf das Jahr
1842 zurück. Da er 1891 Mitglieder, welche
wegen der Maifeier gemassregelt worden waren,
unterstützte, wurde er von der Behörde aufge-
löst, aber am 28. November 1891 neu begründet.
Ein Gesamtverband der österreichischen Buch-
druckervereine war schon 1881 angeregt wor-
den. Die 1883 ausgearbeiteten Statuten wur-
den aber ebensowenig wie die eine Centralisie-
rung der Reiseunterstützung bezweckenden Be-
schlüsse von 1890 von der Behörde fi^nehmi^.
Erst 1894 gelang es, den „Verband der Vereine
der Buchdrucker und Schriftgiesser und ver-
wandter Berufe Oesterreichs" durchzusetzen. Er
besteht aus 13 Kronlandsvereinen und beschränkt
sich thatsächlich auf Buchdrucker und Schrift-
giesser. Vom 1. Januar 1896 ab wurde mit
dem Prinzipalvereine für ganz Oesterreich ein
Normallohntarif, die 9 stündige Arbeitszeit, ein
Lehrlingsregulativ und ein Tarifeinigungsamt
vereinbart. Für Ende 1899 ist der Vertrag
von den Gehilfen gekündigt worden, und unter
Hinweis auf die durch die Einführung der Setz-
maschinen gesteigerte Arbeitslosigkeit werden
Lohnaufbesserungen (von 20%) und Herab-
setzungen der Arbeitszeit (auf 8^/« Stunden) ge-
686
Ge werk vereine (OesteiTeicli)
fordert. Der Prozentsatz der nichtorg:ani8ierteii
Buchdrucker hat sich seit 189'2 ständig ver-
mindert: 1892 28,8 «0, 1893 21,56 °o, 1894
19,570/0, 1895 18,86 0/0, 1896 16,97%, 1897
15%. Die grössten Vereine sind diejenigen in
Niederösterreich und Böhmen. Die Einnahmen
des ersteren betrugen 1898 152055,97 Gulden,
die Gesamtausgaben 115831,93 Gulden, und
zwar a) für Unterstützungen 84656,50 Gulden
(Sterbegelder: 6575 Gulden, Krankengelder
37277 Gulden, Invalidengelder 17242 Gulden,
Waisengelder 3828 Gulden, Arbeitslosenunter-
stützung am Orte 17028 Gulden, Reiseunter-
stützung 2122 Gulden); b) für Bildungs- und
Organisationszwecke 15477,96 Gulden; c) für
Verwaltung 7000,68 Gulden; d) für ausseror-
dentliche Ausgaben 8696,79 Gulden. Der Ver-
mögensstand betrug am 31. Dezember 1898
263955,57 Gulden. Der böhmische Verein ver-
ausgabte 1898 an Krankengeldern 23 347 Gulden,
Invalidengeldern 8479 Gulden, Witwen- und
Waisengeldern 9768 Gulden, Arbeitslosenunter-
stützung 9974 Gulden. Die Arbeitsvermittelung
funktioniert befriedigend, der Mitgliedsbeitrag
beläuft sich pro Woche nahezu auf 1 Gulden.
Die Eisenbahnbediensteten hielten
1896 in Wien einen Kongress ab, auf welchem
20000 organisierte Eisenbahner vertreten waren.
Im Jahre 1897 wurden sämtliche Organisationen
mit der Begründung aufgelöst, dass sie „Ten-
denzen verfolgen, welche mit den Staatsinteressen
unvereinbar sind". Es erfolgte aber eine Neu-
gründung, der ,, Allgemeine Rechtsschutz- und
Gewerkschafts verein für Oesterreich". In der
Eisenbahnerbewegung kämpfen sozialdemokra-
tische und Chris tlich-sozialeEmilüsse mit einander.
Die Arbeiter der Glas-, keramischen
und verwandten Industrieen haben
unter dem Einflüsse der Wiener Porzellan- und
Glasindustriemaler sich zu einer Union bestimmen
lassen, die indes „mit dem Misätrauen und
Widerwillen der Provinzgenossen" zu kämpfen
hatte. Wie wenig gefestigt die Verhältnisse
sind, zeigt die Thatsache, dass bei einem Mit-
gliederstande von 66U0 im Jahre 1898 4176
ausgetreten und 3570 eingetreten sind. Den
grossen Verschiedenheiten in den Lohnbezügen
der Mitglieder sucht die Union durch Aufstel-
lung von 5 Klassen gerecht zu werden, nach
denen Beiträge und Rechte verschieden be-
messen sind. Das Maximum des W^ochenbei-
trags beträgt 20 Kreuzer, das Minimum 7 Kreuzer.
Nach 52 wöchentlicher Mitgliedschaft bezieht der
Arbeitslose 6 Gulden bezw. 1 Gulden 20 Kreuzer.
Die Arbeitseinstellungen in der nordwestböhmi-
schen Porzellanindustrie sind unglücklich ver-
lauf t'n. Dagegen haben die Glasarbeiter des
Isergebirges Erfolge erzielt, vielleicht weil die
leitende Persönlichkeit der Union aus den Glas-
arbeitern dieser Gegend hervorgegangen ist.
Vereine, deren Leistungsfähigkeit den Buch-
druckern sehr nahe kommt, besitzen die Hand-
schuhmacher und die Hutni acher. Der
,, Verein für alle in der Hut- und Filzwaren In-
dustrie beschäftigten Arbeiter Niederösterreichs''
blickt bereits auf einen 25 jährigen Bestand zu-
rück. Innerhalb dieser Zeit hat er verausgabt
628552 (dulden, und zwar für Reiseunterstützung
102397 (lulden, für Krankenunterstützung und
St»*rbesrelder 171(597 (xulden, für Invaliden seit
1885 23979 Gulden, für Arbeitslose am Orte
seit 1882 251293 Gulden." Der Jahresbeitrag
eines Mitgliedes' betrug 1875 21,76, 1884 35,56,
1899 40 Gulden.
Die gewerkschaftlichen Bestrebungen der
Metallarbeiter gehen auf das Jahr 1890 zu-
rück, in welchem ein Metallarbeiterkongress in
Brunn stattfand. Nachdem Anfang 1892 die
Gründung eines Verbandes der Metallarbeiter-
vereine beschlossen worden, fand Ende Oktober
desselben Jahres der erste konstituierende Ver-
bandstag in Wien statt, auf dem 18 Vereine
mit 8500 Mitgliedern vertreten waren. Nach-
dem schon 1895 die Umgestaltung der bestehen-
den Landes- und sonstigen Vereine in eine
Union angestrebt worden war, gelang es erst
1897 auf dem III. Verbandstage in Wien, diesem
Gedanken allgemeine Zustimmung zu verschaifen.
Die Ausführung ist indes sehr unvoUkommen
zu Stande gebracht worden. Teils ist es der
Widerwille gegen die Union an und für sich,
teils die Abneigung der für die Metallindustrie
sehr wichtigen czechischen Arbeiterschaft, sich
von Wien aus regieren zu lassen, welche die
Wirksamkeit der Union auf W'ien. die Alpen-
länder und einige deutsch-böhmische Gebiete
beschränkt hat. So besitzt die Organisation
der Metallarbeiter, im Gegensatze zu den reichs-
deutschen, schweizerischen und englischen Ver-
hältnissen, in Oesterreich nur geringe Bedeutung.
Auch unter den Schneidern haben die
nationalen Gegensätze den Fortschritten der
Organisation sehr gescliadet. Es besteht ein
1891 in Wien beschlossener Reichsverband.
Derselbe scheint es aber ebensowenig wie die
böhmischen und mährischen Landesorganisationen
zu einer erheblichen Thätigkeit gebracht zu
haben. Das gleiche trifft für die so überaus
zahlreichen Arbeiter der Textilindustrie
zu. Der glückliche Verlauf der 10-Stundenbe-
wegung in der Brtinner Weberei ist nicht einer
ausgebildeten Organisation, sondern einer p^üns-
tigen Konjunktur, sehr entschiedener Unter-
stützung durch die sozialdemokratische und
christlich-soziale Partei und endlich einer wohl-
wollenden Haltung der Regierung zuzuschreiben.
Die Holzarbeiter bezw. Tischler haben
1899 in Wien ihren IV. Verbandstag abgehalten
und rüsten zur Erkämpfung des 9-Stundentages.
Centralisationsbestrebungen haben auch in dieser
Gruppe wenig Anklang gefunden. Die Arbeits-
losenunterstützung und Arbeitsvermittelung soll
in Zukunft überall innerhalb des Verbandes ge-
pflegt werden.
Die gewerkschaftliche Bewegung verfügt
über die folgende Presse: Arbeiterpresse (Organ
der Textilarbeiter), Reichenberg; Bauarbeiter,
Wien; Bekleidungsindustrie, Wien; Dekorateur,
Wien; Einigkeit (Organ der Buchbinder), Wien;
Eisenbahner, Wien ; Fachzeitung der Gerber,
Wien ; Die Gewerkschaft : Organ der gewerblichen
Arbeitervereine Oesterreichs, Wien, 1893 ge-
gründet und seit 7. April 1899 als Revue für
Sozialpolitik, Organ der (lewerkschaft^^kommis-
sion Oesterreichs und der Vereine der (iewerbe-
richter, redigiert von Dr. B. Karpeles, erschei-
nend ; (ilück auf. (Organ derBergarl)eiter), Falke-
nau; Handlungsgehilfe, Wien; Metallarbeiter,
Wien; Neue Graphische Nachrichten, Wien;
Oesterreich-Ungarische Musikerzeitung, W^ien;
Papierarbeiter, Wien; Peitsche (Organ der
Kut*?cherj, Wien ; Solidarität (Organ aller Glas-
Gewerkvereine (OesteiTeich — Frankreich)
687
und keramischen Branchen), Wien; Verbands-
organ (Holzindustrie), Wien; Vorwärts (Organ
der Buchdrucker), Wien; Wahrheit (Organ der
Drechsler), Wien; Zeitgeist (Organ der Lebens-
mittelindustrie).
In czechischer Sprache : Brevodelnik (Holz-
arbeiter), Prag; Kovodelnik (Metallarbeiter),
Prag; Nov^ Kovodelnik (Neuer Metallarbeiter);
List zelezniönich zrizencü (Eisenbahner), Prag;
Koiedelnik (Lederarbeiter), Prag ; Odborov^ zdru-
ieni (Die Gewerkschaft), Prag ; Knihaf sky Obzor
(Buchbinder-Kevue). Prag; Obuvnik ^(Schuh-
macher) ; Odevnik (l^leiderraacher), Prag ; Organ
obchodnlho pomocnictva (Orgfan der Handlungs-
gehilfen), Prag; Potravodefnik (Lebensmittel-
arbeiter), Prag; Stavebnik (Bauarbeiter), Prag;
Veleslavin (Buchdruckerzeitung), Prag; Nazdar!
(Glück auf!), Mährisch-Ostrau ; Textilnik (Textil-
arbeiter), Brunn.
In polnischer Sprache: Ognisko (Buch-
druckerorgan), Lemberg; Pomocnik handlowy,
Lemberg.
In slovenischer Sprache: Delavec, Triest;
Svoboda, Triest.
In italienischer Sprache: Kisveglio (Buch-
dmckerorgan), Triest.
Lltteratnr: Ausser der genannten Fachpresse
bieten das hesU Material zum Studium der
österreichischen Gewerkschaftsbewegung die zum
Teil im Buchhandel erschienenen Protokolle der
Gewerkschaftstage, insbesondeie aber der t\Thätig-
keilsbericht der Gewerkschaßskommission Ocster-
reichs für 1894-1896 und Protokoll des IL
österreichischen Gewerkschaftskongresses abgehal-
ten vom 25. — 29. Dezember 1896 in Wieim. Wien
1897 und nDie Gewerkschaft^. — Aus den Be-
arbeitungen seien hervorgehoben: Meyer, Der
Emanzipationskampf den vierten i^ndes II,
Berlin 1875. S. 87—100. — Obet*windev, Die
Arbeiterbewegung in Oesterreich, Wien 1875, ins-
besondere S. 35—37, S. 69. — Kautzky, Die
Arbeiterbewegung in Oesterreich, Neue Zeit VIII,
SiuUgart 1890. S, 49ff., S. 97 ff., S. Iö4ff. —
Brdff Studien über nordböhmische Arbeiterver-
häUnisse, Prag 1881, S. 147 ff. — Kralik, Nutzen
und Bedeutung der Gewerkschaften, Wien 1891.
— Höger K,, Aus eigener Kraft. Geschichte
eines Österreich. Arbeitervereins (Buchdrucker)
seit 50 Jahren, Wien 1892. — Ingwer*, Der II.
Oesterreichische Gewerkschaftskongress, Neue Zeit
XV, 1, S. 539 ff. — Kulemann, Die Gewerk-
schaftsbewegung, Jena 1900, S. 85 — 111. Vgl.
auch die im Art. Arbeitseinstellungen in
Oesterreich oben Bd. I. S. 78)i genannte
Litteratur.
H. Herkner,
IV. Die Gewcrkvereine in
Frankreich.
1. Die altere Gesetzgebung. 2. Duldung
der Fachvereine der Arbeitgeber. 3. Bis zur
Duldung der Fachvereine der Arbeiter. 4. Die
Fachvereine unter der dritten Republik. 5. Das
Gesetz von 1884. 6. Die Wirkungen des Gesetzes.
7. Entwickelung der ge werk vereinlichen Arbeiter-
partei. 8. Neuere Gesetzentwürfe. 9. Statistik.
1. Die altere Gesetzgebung. Die Ver-
eine hatten ihren Todesstoss in der berilhm-
I ten Nacht des 4. August 1789 erhalten.
I Eudgiltig abgeschafft wunleu sie durch das
G. V. 2. — 17. März 1791, das zum ersten
Mal den Grundsatz der Freiheit der Arbeit
zur Geltung brachte, der eine der Grund-
lagen unseres moderneu Staats\nrtschafts-
systems geworden ist. Vereinigungen von
Maui-ern und Zimmerleuten, die seit den
ersten Monaten des Jahres 1791 die Yer-
mittelung der öffentlichen Gewalt in An-
spruch nahmen, liessen befürchten, dass
unter dem Schutze der Versammlungsfrei-
heit die Vereine wieder hergestellt würden.
In diesem Sinne nahm die Nationalversamm-
lung am 14. Juni 1791 das unter dem Na-
men seines Crhebei-s Chapelier bekannte
Gesetz an, das die fachgenossenschaftlichen
Vereinigungen der Staatsbürger zur Vertre-
timg ihrer angeblichen gemeinsamen
Berufsinteressen untersagte.
Dies ganz gelegentliche Gesetz verhin-
derte in Frankreich lange Jahre hindurch
die Entwickelung der Arbeitergenossenschaf-
ten. Während die anderen Staatsbürger sich
bis zu zwanzig Personen und mit polizei-
licher Genehmigung zu mehr als zwanzig
Personen ungehindert vereinigen konnten,
war es also den Fachgenossen entschieden
verboten sich zusammenzuthun.
Die behördliche Genehmigung selbst
würde sie von dieser Beschränkung nicht
haben entbinden können. Wenn indes die
Berufsvereinigungen von der Polizei gediddet
oder unbeachtet gelassen wurden und wenn
sie über Lohn oder Arbeit in Streitigkeiten
gerieten, so machten sie sich der Ueber-
tretung des Koalitionsverbots schuldig, das
im Gewerbogesetz des Jahres XI und dann
in den Artikeln 414—416 des Code Penal
ausgesprochen w^ar und in seiner, Arbeit-
geber und Arbeiter wenigstens gleich be-
handelnden Fassung von 1849 jede Koalition
der Arbeitgeber zur Herabdrückung des Ar-
beitslohnes wie jede Koalition der Arbeiter
zu gleichzeitiger Niederlegung der Arbeit,
Beeinflussung der Ai*beitszeit oder überhaupt
zur Verhinderung oder Verteuerung der
Arbeit sowie — Artikel 416 — das Aus-
sprechen von Bussen, Verrufserklärungen
oder Sperren gegen Arbeitgeber oder Ar-
beiter unter Strafe stellte.
2. Duldung der Fachvereine der Ar-
beitgeber. Thatsäcldich wunle das Gesetz
Chapelier niemals unumschränkt ziu' An-
wendung gebracht. Einerseits erlaubte die
Regierung direkt oder indirekt die Vereini-
gung von Fachgenossen, wenn es sich um
Arbeitgeber handelte, andererseits bestanden
immer unter dem Namen gegenseitiger
Hilfsgenossenscliaften Arbeitervereinigungen,
die mehr oder weniger die Roüe von Ver-
einen siüelten.
Das Consulat und das Kaiserreich unter-
688
Gewerkvereine (Frankreich)
warf zum Zweck der allgemeinen Ordnung
und Sicherheit eine gewisse Anzahl von
Gewerben einer gesetzlichen Regelung, unter
anderen die Bäcker und Sclüächter von
Paris, die Staatskörper bildeten im Besitz
eines Monopols. Dann setzten die Zinmier-
meister (1808), die Maurermeister (1809) und
die Steinsetzer (1810) mit Genehmigung des
Polizeipräfekten »Syndikatskammern« ein,
die, ohne wirkliche Korporationen zu bilden,
der Verwaltung bekannt waren und von
ihr geduldet wurden. Nach vergeblichen
Versuchen, eine gesicherte gesetzliche Stel-
lung zu erlangen, begnügten sie sich mit
der einfachen Duldung, und mit anderen
Gruppen von Arbeitgebern der Bauindustrie
bildeten sie eine Vereinigung, die von
Sainte Chapelle, mit der seit dem
Jahre 1840 die Behörden in regelmässiger
Beziehung standen, vornehmlich die Stadt
in Bezug auf die Preisliste für die
öffentlichen Arbeiten. Diesem Beispiel
folgte man in vielen anderen einzelnen Ge-
werben. Im Jahre 1859 erhielt die Vereins-
bewegung der Arbeitgeber einen neuen An-
stoss durch die Gründung der Union
nationale du Commerce et de Tln-
dustrie, die unter der Form einer Han-
delsagentur zur Erlangung von Patenten
und Musterschutz, zur Auskunft über Kitj-
ditverhältnisse , zum Abschluss von Ver-
sicherungen und zur Vertretung kaufmänni-
scher Interessen an auswärtigen Plätzen
üire Klienten in Fach vereine einzuteilen
begann. 1867 wurde zur Vereiuigimg der
Kräfte aller, auch der isolierten Syndikate
das Centralkomitee der Arbeitgeberverbände
gegründet. Das Beispiel von Paris fand in
der Provinz Nachahmung, und die Syndi-
kaie, die bei jeder Gelegenheit und insbe-
sondere im öffentlichen Leben als die zu-
ständigen Vertreter der Berufsinteressen
auftreten, werden schliesslich vori der öffent-
lichen Meinung und den Behörden als
solche anerkannt, sie beginnen das Unter-
nehmertum bei den Wahlen zu den offizi-
ellen Organen für Handel imd Gewerbe,
der Handelskammer und dem Handelsge-
richt mit Erfolg zu vertreten, von welch
letzterem sie zu regelmässiger Hilfsleistung
durch sachverständige und schiedsrichter-
liche Gutachten in erheblichem Umfang
herangezogen werden: sie erlangen vom
Standpunkt ihrer »Facninteressen aus Ein-
fluss auf alle Zoll- und Steuerfragen.
8. Bis zur Duldung der Fachvereine
der Arbeiter. Dieser ungesetzlichen Dul-
dung der Arbeitgeberverbände von seiten
der Behörde muss man die Härte gegen-
überstellen, mit der die Arbeiter belmndelt
wurden. Wenn es wahr ist, dass die Ar-
beitervereinigung, deren Ursprünge
in die alte Regierungsform ziu*ückreichen,
in gewissen Gewerken, n^jnentlich in den
Hängewerken, noch fortdauerte, so geschah
dies unter dem Schutze des vollkommensten
Geheimnisses und unter der Bedingung, da-
rauf zu verzichten, auf die Löhne und die
Arbeitsbedingungen einzuwirken. Verfol-
gungen wurden ihr übrigens nicht erspart
In Bezug auf die Arbeiter, die durch Ar-
beitseinstellung oder durch Berufsverbände
ihr Los zu verbessern suchten , wandte
man mit Strenge das Koalitionsverbot an:
von 1825 bis 1848 wurden 1 251 Fälle dieser
Art durch die Gerichte entschieden, in die
7148 Angeklagte verwickelt waren. Von
diesen wurden nur 1987 freigesprochen und
4460 zu Gefängnisstrafe verurteilt Die
zweite Republik selbst und das Kaiserreich
bis zum Jahre 1864 blieben nicht zurück:
von 1848 bis 1864 wurden 1144 Koalitions-
fälle entschieden mit 6812 Angeklagten, von
denen 1034 freigesprochen und 4845 zu Ge-
fängnisstrafe veriurteilt wurden.
Das einzige Mittel, das den Arbeitern
blieb, war die Bildung von gegenseitigen
Hilfsgenossenschaften, gegen die sich die
verschiedenen politischen Regierungsformen
wohlwollender zeigten. Einigen von ihnen
gelang es, eine berufsmässige Form anzu-
nehmen und als Verteidigungsorgane einen
gewissen Einfluss zu erlangen. Solche sind
unter anderen die beiden Genossenschaften,
denen später die mächtigsten Syndikate
ihre Entstehung verdankten: die Soci6t6
typographique de Paris (gegründet
1841) und die Sociöte gön^rale de la
Chapelle rie (gegründet 1848).
Die Bestimmungen der Regienmg änder-
ten sich gegen 1860, bei Gelegenheit des
grossen Ausstandes der Typographen und
der Londoner allgemeinen Weltausstellimg,
zu der man den Arbeitern eine freigewählte
Deputation von 200 Mitgliedern zu entsen-
den gestattete. Das auf die ausdrückliche
Vermittelung des Kaisers, der anfing, sich
auf die Arbeiterklasse stützen zu wollen,
beschlossene G. v. 25. Mai 1864 war der
erste wichtige Fortschritt: es modifizierte
die Artikel 414—416 des Code Pönal dahin,
dass nur noch solche Koalitionen, die durch
betrügerische oder gewaltthätige Massnahmen
unterhalten werden, und — 416 — solche
vereinbarte Sperren, Bussen und Verrufser-
klärungen, die die Freiheit der Arbeit be-
einträchtigen, mit Strafe bedroht bleiben,
die Koalition zur Vertretung gemeinsamer
Interessen aber nicht mehr an sich schon
strafbar war. Und als diesem Gesetz eine
Zeit wilder Ausstandsbewe^ung, regelloser
Strikes folgt, als die zui- Panser Ausstellung
in förmlichem Parlament versammelten Ar-
beiterdelegierten erklären, dass nur geord-
nete Organisation Mass und Ziel in diese
Bewegung * bringen könne, erfolgt 1868 die
Gewerkvereine (Frankreich)
689
amtliche Erkläning, dass Faclivereine der
Arbeiter, sofern sie sich vom politischen
Gebiet fernhalten und die Freiheit der Ar-
beit nicht beeinträchtigen, ebenso geduldet
werden sollen wie bisher schon die Faeh-
vereine der Unternehmer.
4. Die Fachvereine unter der dritten
Republik. Die dritte Eepublik wuKle mit
einer Reaktionsperiode eröffnet, in der die
Zahl der Arbeitervereine sich nicht eben
vermehrte. Im Jahre 1873 versteigerte die
Kammer einer Arbeiterdeputation für die
Wiener Ausstellung ihre Untersttitzung.
Das Gesetz gegen die Internationale (1872)
bedrohte ausserdem jeden Versuch eines
Einvernehmens zwischen den französischen
und den fremden Arbeitern. Dies Gesetz
rief man an, um einen internationalen Kon-
gress aufzulösen, der im Jahre 1878 von
den Vereinen organisiert war. Die Vereine
wuchsen indessen an Zahl; im Jahre 1876
begann in Paris die Aera der Arbeiterkon-
gresse, die zugleich zur Entwickelung der
Vereine und des Sozialismus führen musste.
In Paris im Jahre 1876, in Lyon im Jahre
1878 haben die Vereine noch den wichtigsten
Platz unter den Arbeiterfordenmgen. Aber
in Marseille im Jahre 1879 wird die Auf-
hebung des Lohn Verhältnisses und die Na-
tionalisierung der Produktionsmittel offen
als die Ziele der Arbeiterbewegung erklärt.
Die meisten Vereine hatten gegen diesen
Beschluss gestimmt: auf dem Kongress zu
Havre im Jahi-e 1880, wo M. Jules Guesde
die Annahme eines politischen Programms
durchsetzte, das das Werk von Karl Marx
und Benoit Malon war, vollzog sich eine
völlige Spaltung zwischen den KoUektivisten
imd den »Syndikaien«, von denen jede einen
KonCTess besonders abhielten.
Während die ersteren die Federation du
parti Bocialiste rövolutionnaire fran9ais grün-
deten, scharten sich die Gemässigten um die
Union des chambres syndicales ouvri^res de
France, der es gelang, an 200 Vereine zu
vereinigen. Auf diese Gruppe gemässigter
Arbeiter stützten sich alle Parlamentarier,
die entschlossen waren, die gesetzliche Stel-
lung der Vereine zu regeln, um sie, wenn
möglich^ in eine andere ßalm als die der
Revolution zu leiten.
5. Das Gesetz von 1884. Die ersten
Entwürfe, die darauf zielten, die Gesetz-
gebimg abzuändern, datieren vom Jahre 1876
(Entwurf Lokroy). Im Jahre 1880 legte das
Ministerium Tirard der Kammer eins vor,
das, nach und nach von der Kammer und
dem Senat abgeändert, unter dem Ministerium
Ferry und dank der geschickten und er-
folgreichen Vermittelung Waldeck-Rousseaus,
des damaligen Ministers des Innern, zum
G. V. 21. März 1884 wurde.
Unter Aufhebung des G. v. 17. Juni 1791
Handwörterbuch der StaatswiBsenscbaften. Zweite
und des Artikels 416 des Code p6nal, die
die Beeinträchtigung der Freiheit der Arbeit
durch vereinbarte Sperren, Bussen oder Ver-
rufserklärungen unter Strafe stellten, be-
stimmt das Gesetz, dass Fachvereine zm*
ausschliesslichen Verfolgung wirtschaftlicher,
gewerblicher, kaufmännischer oder land-
wirtschaftlicher Interessen von Fachgenossen
eines und desselben oder ähnlicher, oder
zur Herstellung bestimmter Fabrikate zu-
sammenwirkender Gewerbe ohne polizeiliche
Genehmigung sich bilden dürfen. Nur ist
Anmeldung des Vereins bei der Ortspolizei-
behörde unter Üeberreichung eines Statuten-
exemplars und Angabe der geschäftsleiten-
den Mitglieder, die Franzosen und im Besitz
der bürgerlichen Ehrenrechte sein müssen,
erforderlich. Die Fachvereine dürfen zu
Verbänden zusammentreten , die sich in
gleicher Weise anzumelden und die ange-
hörigen Vereine zu nennen haben. Die Ver-
eine — nicht die Verbände von Vereinen
— haben Prozess- und Vermögensfähigkeit,
die indes hinsichtlich der Immobilien auf
den Besitz der für Versammlungen, Fach-
schulen und Bibliotheken erforderlichen
Grundstücke beschränkt ist. Sie dürfen
ohne besondere Erlaubnis Arbeitsnachweis-
bureaus und unter Berücksichtigung der
diesbezüglichen Gesetze Hilfskassen gründen,
und können über alle Streitigkeiten und
Angelegenheiten, die ihr Gewerbe betreffen,
gutachtlich gehört werden. Jederzeit steht
den Mitgliedern der Austritt frei, ohne dass
dadurch die Befugnis der fortgesetzten Teil-
nahme an den etwa eingerichteten Hilfs-
kassen verloren ginge, und es kann dies
durch entgegenstehende Abreden nicht aus-
geschlossen werden. Doch besteht die Ver-
pflichtung zur Zahlung des laufenden Jahres-
beitrags, und durch die erwähnte Aufhebung
des Artikels 416 des Code penal ist die
Möglichkeit gegeben, durch Sperren, Kon-
ventionalstrafen und ähnliche Massnahmen
einen Druck auf die Befolgung gefasster
Beschlüsse auszuüben, sofern nur nicht die
allgemeinen Strafgesetze oder die Artikel
414 — 415 des Code p^nal dadurch verletzt
werden. Gegen üeberlretung der Vor-
schriften des Gesetzes sind Geldstrafen vor-
gesehen ; auch kann durch gerichtliches Ur-
teil die Auflösung der Vereine ausgesprochen
werden.
Die Bildung von Fachvereinen der Ar-
beitgeber wie der Arbeiter war sonach ge-
setzlich gestattetj eine Festigung der Ver-
bände in mannigfachster Hinsicht durch
Verleihung der juristischen Persönlichkeit
ermöglicht, und der Entwickelung neuer
sozialer Formen war die öffentlichrecht-
liche Grundlage gegeben. Freilich geschah
dies nicht ohne heftigen und namenüich im
Senat hervortretenden Widerstand, der aus
Aaflage. lY. 44
690
Öewerkvereine (Frankreich)
individualistischen Anschauungen und dem
Bedenken hervorging, es möchte das Gesetz
die revolutionäre Arbeiterbewegung fördern,
ein Widerstand, der nur durch das sehr
energische • Auftreten der Regierung , die
auch die üntemehraerverbände zu schhessen
drohte, durch die kluge Mässiguug der
Union der Fachvereine und die feste Hal-
tung der Kammer überwunden werden
konnte, in der sowohl die Linke wie die
Parteien der Rechten lebhaft für das Gesetz
eintraten, von dem letztere eine weitere
Entwicklung der gemischten, Arbeitgeber
und Arbeiter umfassenden Fachvereine und
katholischen Gesellenverbände erhofften, die
im Interesse des sozialen Friedens von
kirchlicher Seite eifrigst gefördert worden
waren.
6. Die Wirkungen des Gesetzes. Die
wichtigsten Wirkungen machten sich in
einer Richtung fühlbar, wo man am wenig-
sten daran dachte. Mit den Industrie- und
Handelsvereinen, für die man hauptsächlich
die gesetzlichen Wohlthaten bestimmte, hatte
man die landwirtschaftlichen Vereine ver-
bunden, lediglich nur um die Landwirtschaft
nicht zu vergessen zu scheinen. Vor dem
Gesetze gab es unter Bauern, Pächtern oder
Grundbesitzern keinen Verein.. Schon in
den ersten Jahren der Anwendung des Ge-
setzes ergriff man geschickt die Gelegenheit,
die Landwirte zu gruppieren; die Thätig-
keit dieser Vereine zeigte sich in fühlbaren
Wohltha,ten, die für das Gesetz von 1884
wahrhaft Reklame machten: bald wurde
Frankreich mit landwirtschaftlichen Vereinen
bedeckt, die Düngemittel, Sämereien und
Mascliinen ankauften, um sie ohne Nutzen
wieder an ihre Mitglieder zu verkaufen,
und einen mächtigen Verband bildeten.
Mau kann sagen, dass der wichtigste und
Haupterfolg des Gesetzes die Gruppierung
der Landwirte war. Es ist hier nicht der
Ort, die Tragweite dieses Erfolges zu zeigen,
aber es ist nützlich, ihn jenem anderen
gegenüber zu stellen, den man von selten
der Arbeitgeber und der Arbeiter der In-
dustrie und des Handels erlangt hatte. Des-
halb findet sich in der Tabelle auf Seite
692 die Zahl der landwirtschaftlichen Ver-
eine und ihrer Mitglieder neben den an-
deren eingetragen.
Nach den Landwirten fand das Gesetz
die lebhafteste Aufnahme bei den Arbeit-
gebern. Wie die Tabelle auf Seite 692 zeigt,
verdreifachte sich die Anzahl der Arbeit-
gebervereine im ersten Jahre und brauchte
nicht sechs Jahre, um sich zu verzehnfachen.
Man hat zwai* die Ziffer der Mitglieder dieser
Vereine vor 1890 nicht, doch schätzt man
sie auf 20 000 im Augenblick der Diskussion
über das Gesetz. Sie würde sich also in
derselben Zeit fast verfünffacht haben.
Bei den Arbeitern dagegen blieb wäh-
rend der beiden ersten Jahre die Anzalü
der Vereine fast auf demselben Punkte ;
das Gesetz war von den Revolutionären als
ein reaktionäres Gesetz, als ein »Polizeige-
setz« erklärt, und nur mit Misstrauen be-
quemten sich die Arbeiter ihm an. Anfangs
maten es allein die gemässigten Vereine
(Union nationale) und wurden beschuldigt,
von einem Bureau des Ministeriums des
Innern unterstützt zu werden, dessen Chef
M. Barberet war. »Barberettiste« wurde
gleichbedeutend mit »Spion«.
7. Entwickelung der gewerkverein-
lichen Arbeiterpartei. Sie beriefen im
Jahre 1886 nach Lyon einen Kongress, der
in die Gewalt ihrer Gegner, der Koüekti-
visten, fiel, denen es gelang, sie zu ver-
treiben. Unter dem Einfluss innerer Strei-
tigkeiten, wobei persönliche Fra^n herr-
schend sind, nahmen die in Vereme gnip-
pierten Arbeiter sehr verschiedene Rich-
tungen an, die in den verschiedenen Arbeiter-
kongressen zu Tage traten. Der National-
verband der Vereine und korporativen
Gruppen fand sich dabei oft als die Gegnerin
der Guesdisten, die vollständige Erfolge auf
den Kongressen zu Montlu9on (1887), Bor-
deaux (1888) und Calais (1890) davontrugen.
Allmählich wiu'de er von der Partei J.
Guesdes abhängig. Er befand sich bald
einer neuen Organisation gegenüber: der
Vereinigung der Arbeitsbörsen. Diese Börsen,
die geschaffen waren, einfache Stellenver-
mittelungsbureaus zu sein, sind der Mittel-
punkt der gesamten Vereinsthätigkeit der
grossen Städte geworden. Im Anfang des
Jahres 1892 gab es 14 Arbeitsbörsen, von denen
die ältesten, die von Paris und von Nimes,
aus dem Jahre 1886 datierten. Die Idee hatte
zwischen diesen Organisationen ein Band
geschaffen, und der Kongress von Saint
Etienne (1892) schuf die Föderation des
Bourses, die noch heute die stärkste fran-
zösische Arbeitereinrichtung ist. Nach zwei
vereinzelten Kongressen im Jahre 1893 fand
1894 in Paris ein »Congres d'Union« statt,
kurze Zeit nach der Scliliessung der Arbeits-
börse durch das Kabinett Dupuy. Damals
dankte Jules Guesde Herrn Dupuy, »poli-
zeilich die vereinliche und korporative Sack-
gasse gespeni; zu haben, in die sich eine
zu grosse Anzahl Arbeiter zu veriiTcn
drohten«.
Man darf indes nicht glauben, dass die
»Syndikaleu« der Kongi^esse »gemässigte«
geblieben seien. Sie haben eine andere
Politik als J. Guesde und die Parlamentarier,
aber sie schloss nicht Gewaltthätigkeit aus.
So wurde auf dem Kongress zu Nantes, wo
1662 Vereine vertreten waren , die Ent-
scheidimgsschlacht zwischen Guesdisten und
Syndikaien geliefert: diese stimmten für
Gewerkvereine (Frankreich)
691
den allgemeinen Ausstand, gegen den sich
J. Guesde erklärt hatte. Diese Frage des
allgemeinen Ausatandes kehi-t seitdem perio-
disch in den Vereinskongressen wieder. Man
will besonders auf die Bergwerksarbeiter,
die Gasarbeiter und die Eisenbahnarbeiter
einwirken, sie zu einem Ausstand zu be-
wegen, der plötzlich das wirtschaftLche
Leben von ganz Frankreich hemmen würde.
Der letzte im Jahre 1898 von dem Eisen-
bahnverein gemachte Versuch ist kläglich
gescheitert.
Seit dem Kongress von Nantes hat die
Föderation des Boiu^es du travail einen
festen Sitz in Paris und einen ständigen,
honorierten Schriftführer, der bis jetzt jedes
Jahr wiedergewählt ist.
Es braucht nicht bemerkt zu werden,
dass die Tendenzen, die im allgemeinen die
französischen Vereine kimdgeben, keines-
w^e^ den Hoffnungen der gemässigten und
radikalen Republikaner entsprechen, die
ihnen im Jahre 1884 mit der Existenz ge-
setzliche Vorrechte bewilligt haben. In
ihrer Gesamtheit ähneln die französischen
Vereine in nichts den trade unions, die man
ihnen so gern als Muster aufstellte. Daher
ist es auch nicht zu verwundern, dass sie im
allgemeinen keinen Einfluss auf die Löhne
und die Arbeitsbedingungen haben. Es ist
selten, dass es an ein und derselben Oert-
lichkeit für ein und dasselbe Gewerbe nicht
mehrere Vereine giebt, die sich bekriegen.
Daher ist es nur ausnahmsweise, z. B. bei
den Typographen und den Hutmachem von
Paris, dass man Vereinen begegnet, die von
den Arbeitgebern vorteilhafte und dauernde
Arbeitsbedingungen erhalten haben. Der
beharrlichen Thätigkeit gewerblicher Ver-
einigung, die aus j>ersönlichen Anstrengun-
gen und Opfern resultiert, zieht der fran-
zösische Arbeiter den Aufruf an die öffent-
liche Macht vor, die Aufsehen erregenden
Ausstände, wobei man den Schiedsspruch
eines Ministers hervorrufen kann.
8. Neuere Gesetzentwürfe. Seit 1886
war die Rede davon, das G. v. 21. März
1884 abzuändern. Während im Senat Marcel
Barthe vorschlug, den Artikel 416 des Code
penal wiederherzustellen — ohne die ge-
ringste Aussicht auf Erfolg bei der Kammer
— , schlug Bovier-Lapierre vor, Strafbestim-
mungen gegen die festzusetzen, die einen
anderen hindern würden, die von dem Ge-
setz anerkannten Rechte zu geniessen.
Dieser Entwurf zielte auf die Arbeitgeber,
die ihren Arbeitern untersagen, an Vereinen
sich zu beteiligen; mehrere Male von der
Xammer angenommen, ist er immer wieder
vom Senat verworfen. Er erhielt jedoch die
Unterstützung des radikalen Ministeriums
Bourgeois. Vor kurzem hatWaldeck-Rousseau
ihn zum Teü wieder aufgenommen, indem
er einen bedeutungsvollen Antrag hinzu-
fügte : den nämlich, den Vereinen den Cha-
rakter einer juristischen Person ohne irgend
welche Einschränkung zu verleihen und
ihnen zu erlauben, für ihre Rechnung Han-
delsgeschäfte zu treiben. Diese kühne
Neuerung ist offenbar versucht, um die
Vereine von der revolutionären Politik ab-
zuwenden und sie auf die Bahn praktischer
Reformen zu lenken.
9. Statistik. Seit 1889 veröffentlicht
das Arbeitsbureau von Frankreich (Minis-
terium für Handel und Industrie) ein Jahr-
buch der gemäss dem G. v. 21. März
1884 in Frankreich und den Kolo-
nieen gegründeten gewerblichen,
industriellen, Handels- und land-
wirtschaftlichen Vereine.
Da die Angaben, die es ei^thält, alle auf
den Erklärungen der Vereine beruhen, so
ist seine Statistik nicht streng genau:
1. umfasst sie nur die Vereine, die sich
nach dem Gesetz gerichtet haben; die An-
zahl der freien Arbeitervereine namentlich
zwischen 1884 und 1890 musste ziemlich
beträchtlich sein. Sie ist heute viel ge-
ringer als in den ersten Jahren der An-
wendung des Gesetzes von 1884, da den
meisten sozialistischen Vereinen selbst daran
gelegen ist, sich anerkennen zu lassen, um
an den Arbeitsbörsen teilzunehmen.
2. kann eine gewisse Anzahl von Ver-
einen aufgehört haben zu existieren und
doch noch weiter geführt werden. Solches
Aufhören muss oft vorgekommen sein, na-
mentlich unter den Arbeitervereinen, da für
das Jahr 1897 allein 163 Auflösungen der
Verwaltung bekannt waren.
3. kann die Mitgliederzahl nur eine an-
nähernde sein, da sie — und auch nicht
regelmässig — ohne Kontrolle von den Ver-
einen geliefert wird.
Jedoch, diese Statistik ist die einzige.
Die Gesamtzahl der einem Verein ange-
hörigen Arbeiter beläuft sich im Jahre 1897
auf 431 794 und beträgt ungefähr 10 % der
Arbeiterbevölkerung. Die amtlichen Doku-
mente geben nicht das Verhältnis der Ver-
einsangehörigen nach ihrem Gewerbe. Die
allgemeine Angabe genügt, um zu zeigen, dass
nur ausnahmsweise die Vereinsangehörigen
die Majorität bilden.
Die Industrieen, in denen die Vereine
am mächtigsten sind, sind die, in denen
es ihnen gelungen ist , einen nationalen Ver-
band zu bilden: die Streichholzarbeiter, die
Holzhauer, die Hutmacher, die Möbel- und
Bauarbeiter, die Bäcker, die Schuhwerkzu-
schneider, die Schuhmacher, die Leder- und
Pelzarbeiter, die Köche, die Kupferarbeiter,
die Handelsgehilfen, die Klempner, die
Handschuhmacher, die Gasarbeiter, die
Schneider, die Lithographen, die Marmor-
44*
Ge werk vereine (Fraukreich)
llflli
'S?
I I I - I I I I I I M I I
IS
g-S-
11
Grewerkvereine (Frankreich)
693
arbeiter, die Weissgerber, die Metallarbeiter,
die Gelbgiesser, die Gemeindearbeiter, die
Tabaksarbeiter, die Glasarbeiter und die
Wagenarbeiter.
Was die Arbeitgebervereine betrifft, so
sind sie besonders in den Manufakturindus-
trieen verbreitet. Die Grossindwstrie bedarf
dieses Organismus, um sich zu verteidigen,
nicht.
Die folgende Tabelle bietet eine ziffer-
mässige Zusammenstellung von der Thätig-
keit der verschiedenen Vei'eine, indem sie
die Anzahl ihrer Sohöpfimgen und Institu-
tionen angiebt.
Verschiedene Institutionen und Schöpfungen der gewerblichen Vereine (ausser den
landwirtschaftlichen) in Frankreich am 1. Juli 1897.
Gründer
Vereine
Verbände von Vereinen
Art der Institutionen
.t^S3
s
0
•tia
u
^
^ $
.^4
92
O) 0)
•^H
0}
0?
03
i
<5 bD
<
0
^ tß
<
Reiseunterstützung (viaticum)
100
I
Gegenseitige Hilfsvereine oder Kassen. . . .
67
330
52
4
2
Sparkassen
8
45
I
2
Strikekassen
I
128
2
—
2
___
Gegenseitige Kredit- oder Vorschuss- Vereine oder
•
Kassen
I
8
8
32
8
4
I
Pensions- und Alterskassen
Wohlthätigkeitskassen
14
2
I
Gegenseitige Versicherungs- Vereine oder Kassen
für Arbeitsunfälle
13
7
I
-^
Gegenseitige Versicherungs- Vereine oder Kassen
gegen Brandschäden
4
Genossenschaftliche Konsumvereine
6
47
8
2
I
Genossenschaftliche Vereine für Produktion . .
21
I
1
Gewerbeschulen
i8
8
I
—
Gewerbliche Vorlesungen und Vorträge . . .
39
142
10
I
6
Verteidig^ung vor Gericht
Gewerbhcher Wettbewerb für Lehrlinge; ge-
I
—
werbliche Prüfungen
17
I
4
-^
Lehrlingsschulen und Vorträge t\ir Lehrlinge
5
I
I
—
—
—
Waisenhäuser
I
I
1
1
Handels- und Industrie-Museen und Muster-
i
sammlun&ren
4
2
I
I
2
Vereinsausstellunfi^en
Vereinswerkstätten
1
I
4
I
__
Bibliotheken
74
> 418
12
4
II
2
Stellen vermittelungsbureaus
105
' 380
24
2
9
I
Kommerzielle Auskunftsbureaus
9
5
—
I
■-^
Laboratorien für Analysen und Untersuchungen
durch Sachverständige
19
—
2
1
—
Beistand in Streitsachen
22
4
2
I
Schiedsgerichte; Kommissionen für Sühnever-
suche
1
1
17
5
5
—
Medizinische, klinische etc. Dienstleistungen
7
5
2
I
Verschiedene Publikationen (Bulletins, Journale,
1
Jahrbücher)
136
42
12
3
6
1
an notleidende Kinder
3
I
. —
—
I
—
—
Volkssekretariat
I
— .
Verschiedene
18
—
8
Litt€ratlir8 Der vorstehende Artikel ist nach dem
Aufsatz von von der Osten in der ersten
Außage des JTandirörterhuchs frei bearbeitet. —
W, Ltea^iSy Geirerkr ereine und Uyiternehmerrer-
bände in Frankreich, Leipzig 1879 (Schriften
de* Vereins ß'tr Sozialpolitik, XVII.) Mit aus-
filhrlicher Litteraturangabe. — van iler Osten^
Die Fachvereine und die soziale Bewegung in
Frankreich (SchmoU^s Jahrbiichei' 1891, S. 10.il ff.)
und die daselbst aufgeführten Werke. — Etnuest
Mahaiftif Etudes surVassociation professuynneüe,
Lihje 1891. — Etienne Martln^Saint^L^any
Ilistoire des Corporation« et tn^tiers depuis leurs
origines Jtisqu'ä leur suppression en 1701, »uivie
694
Gewerkvereine (Frankreich — Belgien)
d'une Stude sur VSvolution de Videe corporative
au XIX e Hede et sur les syndicat^ professionnela,
Paris 1897, 1. Bd. — Rnoul Jay, THe Syndi-
kate der Arbeiter und Unternehmer in JbVank-
reich (Brauns Archiv für soziale Gesetzgebung
1891, S. ^OSff.). — Jaäon de SeUhac, Les
Congres ouvriers en France (1876 — 1897). Paris
(Bibliotheque du Musee social) 1899, 1. Bd. —
JDevselbe, Devolution du parti syndical en
France (Le Correspondant , Juület 1899). —
Ministere du Commerce et de L* In-
dustrie (Office du travail) , Annuaire des
Syndicats professionnels , industriels, commer-
ciaux et agricolcs constitues conformement d la
loi du 21. Mars 1884 en France et en Algerie,
Paris. — Dasselbe, Les associations pro/es-
»ionnelles ouvrieres. T. 1. Agriculture. —
Mines. — Alimentations. — Produils chimi-
quejf. — Industries polygraphiques, Paris 1899.
Lattich. Emest Mahahn,
y. Die Gewerkvereine in Belgien.
1. Geschichtliches. 2. Gesetzgebung. 3.
Statistik. 4. Allgemeine Charaktenstik. 5. G.
von Arbeitgebern.
1. Geschichtliches. In Belgien, aber
ausschliesslich in dem. flamländischen Ge-
biet, bestehen noch einige Vereine, deren
ürspnmge in das Mittelalter zurückreichen.
In Brügge, in Teuren, in Lier, in Mecheln,
in Gent, in Antwerpen findet man Spuren
alter Aemter, deren Monopol nicht mehr
rechtlich besteht, manchmal aber thatsächüch
nocli fortdauert: fast alle sind aus Bürgern
zusammengesetzt und der Beitrittspreis ist
sehr hoch. Die wichtigsten sind die Natien
von Antwerpen, die, ungefähr 50 an Zahl,
wirkliche Speditionsgeschäfte sind, in denen
das Recht der Mitgliedschaft mit 30—40000
Francs bezahlt wird.
Ausserdem giebt es in Brügge einen
Verein von Bäckern (Gemeenzaamheid van
het Bakkers Ambacht), der bis ins 13. Jahr-
hundert hinaufreicht und etwas mehr als
die Hälfte der Bäcker der Stadt umfasst.
Fischer in den kleinen Kiistenstädten
bewahren auch noch Reste ihrer mittel-
alterlichen Einrichtungen.
Kein eigentlicher Gewerkverein leitet sich
direkt aus den Korporationen her. Die ältesten
Syndikate, die heute existieren, datieren aus
den vierziger Jahi-en. In dieser Zeit bildeten
sich einige Hilfsvereine (oder Krankenkassen)
auf berufsmässiger Grundlage, woraus infolge
von Arbeitseinstellungen wirkliche Strike-
kassen hervorgingen.
Solche sind die Union philanthro-
pique des chapeliers und die Asso-
ciation des compositeiu^-typographes von
Brüssel. Die BrüderlicheVereinigung
der Weber von Gent datiert vom Jahre
1857 und steht im Zusammenliang mit der
Agitation, die sich auf die Einführung des
Freihandels bezieht.
Von 1865 an machte sich der Einfluss
der Internationale in der ganzen Ar-
beiterbevölkerung bemerkbar. Es wurde
eine grosse Anzalil von Arbeitervereinen
gegründet, aber sehr wenige unter ihnen
unter berufsmässiger Form. Diese Vereine
sind übrigens, nachdem sie 4 oder 5 Jahre
lang Sclirecken unter der Bürgerschaft ver-
breitet hatten, verschwunden, ohne lebens-
fähige Spuren im Gewerkvereinswesen zu
hinterlassen.
Erst seit der Schöpfung der Arbeiter-
partei (1885) hat sich die Arbeiterbewegung
aen Vereinen zugewendet. Auch ist zu be-
merken, dass sich die Arbeiterpartei nicht
in berufliche Gruppen geordnet hat: von
Anfang an liat sie Genossenschaften ge-
gründet, namentlich der Bäckereien, deren
finanzieller Erfolg wesentlich dazu beige-
tragen hat, den politischen Erfolg der Par-
tei zu sichern. Bekanntlich ist dies einer
der charakteristischen Züge der Organisation
des Soziahsmus in Belgien, der sie nament-
lich von der deutschen Sozialdemokratie
und dem französischen Sozialismus unter-
scheidet.
Nichtsdestoweniger bot die Gruppierung
nach Berufen, selbst vom Gesichtspunkt der
politischen Propaganda aus, zu viel Vorteile,
um unbeachtet gelassen zu werden. Auch
sehen wir neben den Arbeiterverbinduugen,
die die Sozialisten eines und desselben Ortes
oder einer und derselben Gegend ohne
Unterschied des Berufes vereinigten, seit
1885 eine Anzahl wirklicher Vereine hervor-
treten. Bald vermehrten sie sich, um so
mehr als das Gesetz von 1884 in Frankreich
ebenfalls die französischen Arbeiter dahin
brachte, Vereine zu gründen.
Die katholische Partei begriff sofort, dass
der Erfolg der sozialistischen Bewegung
ihre politische Macht furchtbar bedrohte,
mehr vielleicht als die frühere liberale Par-
tei, die dui'ch die industrielle Bürgerschaft
untei*stützt wurde. Auch suchte sie von
1888 bis 1890 mit den Volksmassen in Be-
rtlhrung zu treten, indem sie von den So-
zialisten die Mittel entlehnte. Gegen die
Genossenschaft des Vooruit (Gent) gründete'
und unterstützte sie eine katholische Ge-
nossenschaft; neben den »patronages« oder
Arbeiterklubs, die von Geistlichen und Po-
litikern geleitet wurden, schuf sie auch Ver-
eine. Alle diese vereinigten Gruppen bil-
deten die ligue democratique chr6-
tienne (1891), deren demokratische Ten-
denzen der konservativen Regierung eine
oft schwierige Stellung bereiteten. Man
kann jedoch sagen, dass im ganzen diese
Liga die allgemeine Politik der Regierung
eher unterstützte: aber ein Teü, besonders
Gewerkvereiae (Belgien)
695
der landwirtschaftlichen Arbeiter, der Zie-
geleiarbeiter und der flamländischen Arbeiter,
unter der Führung des Abbe Daens von
Alost, ven'iet jedoch eine fast sozialistische,
den Konservativen, die am Ruder waren,
oft feindselige Bewegung.
Die liberale Partei hat sich dieser Be-
wegung nicht entziehen können: seit 1893
bildete sich in Gent die defense ouvriere
liberale,, in der die Arbeiter nach Ge-
werben gruppiert wurden, und etwas später
eine liberale Arbeiterpartei, die auch einige
Vereine umfasste und die anfängt. Genossen-
schaften zu haben.
Alles in allem also kann man behaupten,
dass ausser einigen Handwerkervereinen
(Typographen, Handschuhmacher, Juweliere,
Hutmacher etc.), die seit lange in Brüssel
bestehen, die meisten belgischen Vereine
dem Zusammenwirken der politischen Par-
teien ihren Ursprung verdanken.
Man darf indes nicht glauben, dass alle
diese Vereine nur politische Klubs wären.
Es kommt oft vor, besonders in Gent, dass
aus politischen Gegnern zusammen-
gesetzte Vereine einmütig gegen die Arbeit-
geber vorgehen, um gemeinsame wirt-
schaftliche Interessen zu verteidigen.
Wenn es wahr ist, dass theoretisch die
Teilung der Arbeiter desselben Fachs in
verschiedene Vereine eine Ursache der
Schwäche ist, so ist es auch wahr, dass sie
die verschiedenen konservativen Parteien
zwingt, öftei' die Verteidigung der Arbeiter
ihren Arbeitgebern gegenüber zu übernehmen.
2. Gesetzgebung. Das unter dem Na-
men Gesetz Chapelier bekannte französische
Gesetz {14.--17. Juni 1791), das die Ver-
einigungen und Genossenschaften von Leuten
desselben Gewerbes untersagte, wai* in
Belgien gütig seit der Vereinigung mit
Frankreich (1794) bis zur Revolution von
1880. Es wurde aufgehoben durch die
Konstitution von 1831, deren Artikel 20 das
Vereinsrecht auf das entschiedenste guthiess.
»Die Belgier haben das Recht sich zu ver-
einigen ; dies Recht kann keiner Präventiv-
massregel unterworfen werden.«
Es ist bemerkenswert, dass die belgischen
Arbeiter aus dieser Freiheit, die damals in
England, Frankreich und Deutschland un-
bekannt war, nicht den Nutzen zog, Vereine
zu bilden.
Allerdings fuhr der französische Code
p^nal bis 1867 fort, Belgien zu regieren und
die Verbindungen zu bestrafen, die zimi
Zwecke hatten, von den Arbeitslöhnen eine
Abgabe zu erheben. Der Artikel 310
des belgischen Code penal bezeichnete
einen wesentlichen Fortschritt, indem er
nur Gewalttätigkeiten, Geldbussen imd
Sperren gegen solche, die arbeiten und ar-
beiten lassen, bestraft.
Unter diesem System des allgemeinen
Rechts lebten und leben noch die stärksten
neutralen Strikeverbände und die allmählich
durch die politischen Parteien gebildeten
Vereine.
Seit 1886 aber, bei der grossen Arbeits-
kommission, die infolge der revolutionären
Strikes ernannt wurde, empfand man das
Bedürfnis, die gesetzliche Stellung der Ver-
eine zu sichern, indem man ihnen die Rechte
einer juristischen Person bewilligte. Ein
Antrag in diesem Sinne, den man Pro-
fessor Prins zu verdanken hat find der die
meisten seiner Bestimmungen dem fran-
zösischen G. V. 21. März 1884 entlehnt, er-
hielt die Zustimmung aller Parteien.
Im Jahre 1889 legte der Justizminister
Jules Lejeune der Kammer einen Gesetz-
entwurf vor, der in demselben Sinne ab-
gefasst war. Von der Centralabteilung der
Kammer geprüft, erfuhr er nur wenige Ab-
änderungen, und zwar vielmehr in einem
den Vereinen günstigen Sinne. So beantragte
man, ihnen zu erlauben, die wirtschaft-
lichen Interessen ihrer Mitglieder neben
den rein gewerblichen zu vertreten.
Im Jahre 1894 wurde dieser Entwurf
durch einen anderen ersetzt, der von dem
Justizminister Begerem, Lejeunes Nachfolger,
vorgelegt wurde. Dieser Entwurf ging noch
viel weiter als die vorigen: er verlieh
den Charakter einer juristischen Person
nicht nur den Industrie-, Handels- und land-
wirtschaftlichen Vereinen, sondern auch den
Gewerkvereinen jeder Art. Er gestattete
ihnen, Handelsgeschäfte zu treiben und hob
im Artikel 310 des Code pönal die Straf-
bestimmungen gegen die auf, die Geld-
bussen, Verbote, Interdikte oder Achts-
erklänmgen irgend einer Art aussprechen.
Mit Hilfe dieses Entwurfs wollte man,
wie es scheint, den freien Universitäten und
den Klöstern den Charakter einer juristischen
Person verleihen. Er wiuxle lebhaft be-
kämpft von den Liberalen und den
Industriellen und von einem Teü der
Rechten.
Die Centralabteilung der Kammer änderte
ihn im Jahre 1896 im Sinne der Reaktion
gründlich um. Das Gesetz, das nach vier-
monatlicher Diskussion im Jahre 1898 an-
genommen wurde und das Datum des
31. März 1898 trägt, ist das Resultat eines
Kompromisses zwischen der Regierung und
einem Teü der Rechten, nach demokratischen
Tendenzen.
Nach diesem Gesetz haben die Vereine
die Rechte einer juristischen Person in den
Grenzen und unter den Bedingimgen, die
durch das Gesetz auferlegt werden. Ge-
werbliche Vereinigung nennt man »eine Ver-
einigung, die ausschliesslich zum Be-
triebe, ziun Schutz und zur Entwickelung ihrer
696
Gowerkvereiae (Belgien)
Benifsiüteressen zwischen Pei'sonen gebildet
ist, die in der Industrie, im Handel, in der
Landwirtschaft oder in den fi-eien Berufen
mit einem Erwerbszweck entweder den-
selben oder ähnliche Berufe, entweder das-
selbe Gewerbe oder solche ausüben, die auf
die Herstellung derselben Produkte abzielen.«
Durch das Wort »ausschliesslich« sind
also die Vereine, die einen politischen Cha-
i*akter tragen, von der Wohlthat des Gesetzes
ausgeschlossen. Diese Bestimmung nimmt
dem Gesetz also fast jede praktische Wir-
kung, da die grosse Mehrzahl der Vereine
sich an eine politische Partei anschliesst.
Freilich hat man in der Kammer diesen
Artikel sehr parteiisch interpretiert: Sobald
ein Teil des Vereinsvermögens in die Kasse
einer politischen Partei wandere, sobald ein
Verein Kandidaten für eine Gemeinde-,
Provinzial-, Kammerwahl empfelile, treibe
er aktive Politik und sei nicht mehr »aus-
schliesslich« Berufsverein. Es heisse in-
dessen nicht Politik treiben, wenn gefordert
werde, dass die Mitglieder eines Vereins
unter aUen Umständen das Privateigentum,
die Familie, die Religion verteidigen. Dies
seien lediglich Bürgscliaften, die begreiflicher-
weise für den Eintritt in den Verein ver-
langt würtlen.
Der streng berufliche Charakter ist da-
durch betont worden, dass die Kammer ab-
gelehnt hat, dass die Vereine neben den
Berufsinteressen ihrer Mitglieder auch deren
wirtschaftliche Interessen wahrnehmen,
wie dies der ursprüngliche Plan zuliess und
das französische Gesetz gestattet. Die Unter-
scheidung ist sehr subtil. Das belgische
Gesetz erlaubt den Personen, die freie Be-
rufe mit der Absicht des Gewinns
betreiben, einen Berufsverein zu begründen.
Dies können also Joiu'nalisten, Schriftsteller,
Erfinder. Was das Lehrfach betrifft, so
muss man unterscheiden: Lehrer und Fvo-
fessoren an öffentlichen Anstalten dürfen es
nicht, ebensowenig Pei-sone'n, die gratis, aus
reiner Hingabe an die Sache, Unterricht er-
teilen ; wohl aber dürfen es die Professoren
der freien Anstalten, sobald sie Gehalt
beziehen. i
So ist also des gesetzlichen Von^echts
würdig nur diejenige V^ereinigung, die zimi
Zweck das Studium, den Schutz und die
Fördenmg der Berufsinteressen im engsten
Sinne des Wortes hat. Dies Princip be-
herrscht das ganze Gesetz und hat die Mehr-
zalil der Bestimmungen bedingt^ dergestalt,
dass der dem Gesetz entsprechende Berufs-
verein nichts weiter ist als eine Kasse für
Wid (erstand und Arbeitslosigkeit.
So können die Vereine auch nicht sich
als Gesellschaften zu gegenseitiger Hilfe
(Krankenkassen) konstituieren noch Kassen
zur Versichenmg gegen Unfälle und für
Altersversorgung bilden. Der Grund, warum
dies ausgeschlossen ist, liegt in der Sorge
der Regieiiuig für die Berufsvereine, in der
Angst, dass deren Kassen durch kostspielige
Sti-ikes ruiniert werden könnten.
Ein anderes Verbot aber steht im Art. 2:
„Die Vereine dürfen selbst weder einen Beruf
noch ein Gewerbe ausüben." Dies wird im Aus-
lande nicht befremden, wo es den Vereinen (ab-
gesehen von einer Anzahl landwirtschaftlicher
Vereine in Frankreich) nicht in den Sinn kommt,
Handel oder Gewerbe zu treiben. Diese Be-
stimmung verdankt ihre Entstehung der schar-
fen Opposition, die die Mehrheit der Rechten
den Anträgen der Minderheit, den Christiich-
Demokraten unter der Führung der Abgeord-
neten Helleputte. Carton de Wiart und Renkin
machte. Diese Männer betrachten den Berufs-
verein als ein Werkzeug der Emancipation für
die Arbeiter, die Handwerker und die Bauern.
Sie wollen ihn gleichermassen zu einer Unter-
stUtzungsgesellschaft und zur Produktivge-
nossenschäft machen — eine Auffassung, die,
von den Sozialisten unterstützt, ganz ofi'en re-
volutionär auftrat. So verbietet man grund-
sätzlich den gesetzlich anerkannten Vereinen,
Handelsgeschälte zu treiben, und in der Be-
sorgnis, dass sie sich in Handelsoperationen ein-
lassen, die für ihr Vermögen gefährlich werden
können, untersagt man ihnen, Anteilscheine
oder Aktien in Handelsuuternehmungen, ano-
nymen Gesellschaften, Kommanditen und selbst
Genossenschaften zu erwerben. Alles, was sie
thun dürfen, ist, dass sie Anlehen zu festem
Zinsfuss machen können, z. B. Obligationen oder
Staatspapiere aufnehmen.
Natürlich dürfen dieselben Personen, die
einen Berufsverein bilden, daneben eine Ge-
nossenschaft gründen, aber dann ist dies eben
eine neue Vereinigung, die den Forderungen
des Gesetzes von lb73 genügen muss. Indessen
hat doch das Präcedens der landwirtschaftlichen
Vereine in Frankreich und der Bauembünde in
Flandern die Regierung bewogen, eine Aus-
nahme zu machen. Die Berufsvereine dürfen
zum Wiederverkauf an ihre Mitglieder Roh-
stoffe, Sämereien, Düngemittel, Haustiere, Ma-
schinen und andere Werkzeuge ankaufen ; ebenso
dürfen sie Erzeugnisse des eigenen Berufes
kaufen und an das Publikum verkaufen, sie
können Lehrwerkstätten unterhalten — alles
aber unter der ausdrücklichen Bedingung, da-
raus keinen Gewinn zu ziehen. Für diese Ope-
rationen muss der Verein eine besondere Rech-
nung fähren. Die Furcht, dass die Vereine ein
Gewerbe ausüben könnten, ist so gross gewesen,
dass mau ihnen die Möglichkeit genommen hat,
Arbeitsstätten für Arbeitslose zu errichten, weil
daraus ständige Produktionsstätt-en werden
könnten.
Junge Leute von 16 Jahren an und Ehe-
frauen sind nur dann zugelassen, wenn der
Vater oder der Gatte nicht Einspruch erhebt.
Der Minderjährige hat keine beschliessendtt
Stimme. Der Verein kann Ehrenmitglieder er-
nennen, selbst wenn sie nicht dem Berufe an-
gehören, doch darf ihre Zahl nicht ein Viertel
der Zahl der wirklichen Mitglieder überschreiten.
Schankwirte können nicht Ehrenmitglieder
werden, wenn sie nicht mindestens während
Gewerkvereine (Belgien)
697
vier Jahre den betreffenden Beruf ausgeübt
haben.
Was die Form der „Anerkennung** betrifft,
so muss der Berufsverein als gemäss dem Ge-
setz gebildet durch den Bergwerksrat (Conseil
des Mines) erklärt werden^ der in Belgien die
Aufgaben des Ke^strars in England und des
Bureaus der Syndikate im französischen Minis-
terium ausübt. Seine Aufgabe besteht einfach
darin, sich zu vergewissem, ob die gesetzlichen
Bestimmungen erfüllt worden sind. Zu diesem
Zweck müssen die Berufs vereine bei ihm ihre
Satzungen, eine Liste aller ihrer Mitglieder und
eine Erklärung einreichen, dass alle Mitglieder
eines Vereins auch wirklich demselben Berufe
angehören. Um giltig zu sein, müssen die
Statuten eine Reihe von Vorschriften erfüllen,
die hauptsächlich in Art. 4 aufgezählt sind,
nämlich: Name, Domizil, Zweck des Vereins,
Bedingungen des Ein- und Austritts der Mit-
glieder, Organisation der Vorstandschaft, Modus
ihrer Ernennung, Dauer ihres Amtes, Art der
Vermögensanlage, Rechnungslegung, Geschäfts-
ordnung *für Statutenänderungen, die vom Ver-
ein gebilligten Bestimmungen für die Beobach-
tung seiner Geschäftsordnung, endlich „die Ver-
pfliciitung, gemeinsam mit der Gegenpartei die
Mittel und Wege zu suchen, um jede Streitig-
keit, die den Verein angeht und die Arbeitsbe-
dingungen betrifft, sei es durch Einigung,
sei es durch Schiedsgericht beizulegen."
Die Veröffentlichung der Vereinsstatuten
erfolgt im „Staatsanzeiger". Alljährlich muss
der Verein dem Bergwerksrat eine Abrechnung
über die Einnahmen und Ausgaben sowie die
Liste seiner Vorstandsmitglieder einreichen.
Diese letzteren müssen Belgier oder, wenn sie
Ausländer sind, zum Wohnsitz in Belgien be-
fugt sein. Schankwirte, gewisse Kategorieen
von Verurteilten, Bankrotteure dürfen nicht im
Vorstand eines Berufsvereins sitzen. Nach dem
Eommissionsentwurf sollte auch eine vollstän-
dige Namensliste sämtlicher Mitglieder vorge-
legt werden. Diese Bestimmung stiess auf den
lebhaftesten Widerstand bei den Sozialisten.
Schliesslich entschloss man sich nur zu dem
Verlangen, dass im Vereinslokal eine auf dem
Laufenden gehaltene Mitgliederliste angelegt
werden müsse, die den Mitgliedern zur Einsicht
offen stehen soll.
Die Artt. 10, 11 und 12 bestimmen die
Rechte der Berufsvereine als juristischer Person.
„Der Verein darf als Kläger oder Verteidiger
zum Schutz der individuellen Rechte, die seine
Mitglieder in ihrer Eigenschaft als Mitglieder
besitzen, vor Gericht zugelassen werden. Das
trifft im besonderen zu für die gerichtlichen
Schritte zur Ausführung der vom Verein für
seine Mitglieder abgeschlossenen Verträge und
für die Schadenersatzklagen, die durch Nicht-
erfüllung dieser Vorlage verursacht werden."
Die schwierige Frage nach den Rechten und
der Verantwortlichkeit der Berufsvereine hat
man der Würdigung der Gerichte zu entschei-
den überlassen.
Der Verein darf, „als Eigentum oder sonst-
wie" (z. B. in Miete) keine anderen Immobilien
besitzen als solche, die erforderlich sind „zur
Enichtung seiner Versammlungslokale, Bureaus,
gewerblichen Schulen, Bibliotheken, Sammlun-
gen, Laboratorien, Versuchsfelder, Unterkunft
für Haustiere, Maschinen und Werkzeuge,
Stellennachweise,Arbeit8börsen,Lehrwerkstätten,
Herbergen und Krankenhäuser."
Der Verein darf Geschenke und Legate
annehmen, aber er muss dazu in jedem einzel-
nen Falle durch königliche Verordnung ermäch-
tigt werden. Der Geschenkgeber oder Erblasser
kann zu seinem oder seiner Erben Nutzen sich
das Recht vorbehalten, im Fall einer Auflösung
des Vereins eine dem Wert des vermachten
Gutes entsprechende Summe zu verlangen. Als
Entschädigung der Besitzveränderungsgebühr
erhebt der Staat eine Jahrestaxe von 4% des
katasteimässigen Einkommens von den dem
Verein gehörigen Grundstücken.
Die Artt. 14, 15, 16 behandeln die Auf-
lösung des Vereins, die von den Gerichten ver-
fügt werden kann, wenn der Verein sich nicht
den Vorschriften des Gesetzes fügt, wenn sein
Vermögen zu einem anderen Zwecke, als für
die der Verein gegründet worden ist, verwendet
wird, wenn die Leitung sich nicht im Rahmen
des Gesetzes hält. Was die Liquidation be-
trifft, so ist zu bemerken, dass der Aktivrest,
nach Abzug der Schulden, einem ähnlichen oder
verwandten Institute zugeführt wird, das ent-
weder die Statuten oder die Generalversamm-
lung bestimmt. Mangels einer solchen Bestim-
mung nimmt der Staat das Vereinsvermögen
an sich, um es Zwecken des gewerblichen Un-
terrichts zuzuwenden.
Den ersteren Entwürfen entgegen, hat die
Regierung, aus Besorgnis vor Missbräuchen,
den Art. 310 des Strafgesetzes unverändert bei-
behalten lassen. Die Vereine können demnach
Strafbestimmungen gegen ihre Mitglieder er-
lassen, aber „sie dürfen sich nicht auf Ab-
machungen oder Thatsachen berufen, die ge-
eignet sein würden, die Rechte von Personen
ausserhalb der Vereine zu schädigen." Es wird
interessant sein, zu verfolgen, welchen Gebrauch
die Gerichte von diesem Zwiespalt zwischen
dem Strafgesetz und dem neuen Gesetz machen.
Von ihrer Auffassung wird es abhängen, ob die
ohnehin auf die R^lle von Strikekassen be-
schränkten Vereine nicht einmal im stände
sind, wirksam Widerstand zu leisten.
Es ist nicht zu verwundern, dass dies
Gesetz von den bestehenden Vereinen nicht
günstig aufgenommen worden ist, da es
leichter ist, zu wissen, was ihnen verboten,
als was ilinen erlaubt ist. Die Sozialisten
liaben erklärt, sie würden, keinen Nutzen
daraus ziehen: die Vorteile der juristischen
Person sind zu gering den Uebelständen
der gesetzlichen Anerkennung gegenüber.
Bis jetzt sind die einzigen anerkannten
Genossenschaften landwirtschaftliche Vereine,
Vereine von Arbeitgebern, von Beamten,
von Pharmazeuten u. s. w. Einige Arbeiter-
vereine, die der demokratisch-christlichen
Verbindung angehören, haben schliesslich,
ihre Statuten mit dem Gesetz in Einklang
gesetzt, sie sind aber wenig zahlreich.
3. Statistik. Es ist unmöglich, sich
eine ganz genaue Vorstellung von der An-
zahl der Vereine und ilirer Starke zu
698
Gewerkvereine (Belgien)
machen. In Belgien, wie überall, sind sie
äusserst veränderlich und wechselnd.
Im Jahre 1891 schätzte Emile Yander-
velde die Zahl der Vereinsangehörigen Ar-
beiter auf 70000 im ganzen. Seitdem hat
die Yereinsbewegimg eine ge\nsse Zaiü von
Industrieen gewonnen, andere aber verloren.
So sind die meisten Bergwerksarbeitervereine
infolge der unglücklichen Stnkes umge-
schlagen.
Ich glaube, wenn man die Gesamtzahl
der Vereinsangehörigen Arbeiter jedes Be-
rufs auf 90—100000 schätzt, befindet man
sich vielmehr über als unter der Wahrheit.
Diese Zahl ergiebt 10 bis 11% der Zalü
der Arbeiter.
Die Arbeiterpartei gruppiert ungefälir
60000 Leute in 120 Vereinen; die katho-
lische Partei 25000 in 30 Vereinen; die
Daensisten mit etwa 10 Vereinen betragen
nicht mehr als 5 — 6000; etwa 40 neutrale
Vei-eine umfassen höchstens 10 — 15 000 Ar-
beiter.
In geographischer Hinsicht sind die
Mittelpunkte der Organisation Brüssel und
Gent. Im Wallonischen, namentlich im Ge-
biet von Lüttich, sind die Vereine weniger
zahlreich, weniger stark und weniger gut
geleitet als in dem flamländischen Gebiet.
Indes findet für den Augenblick ein Wachs-
tum der Vereinsbewegung bei den wallo-
nischen Berg Werksarbeitern statt. In Ant-
werpen mehrt sich die Zahl der Vereins-
angehörigen, besondere der Dockarbeiter, be-
trächtlich.
Die Industrieen, in denen die Vereine
am mächtigsten sind, sind die Luxusindus-
trieen, namentlich in Brüssel, wo es den
Vereinen der Handschuhmacher, Juweliere,
Erzgiesser (Sozialisten 700 Mitglieder) ge-
lungen ist, fast die Gesamtheit der Berufs-
angehörigen aufzunehmen. Die Brüsseler
.Typographen umfassen ungefälir 90®/o der
beschäftigten Arbeiter und haben schon
lange einen von den Arbeitgebern bewilligten
Lohntarif. In der Textilindustrie und be-
sonders in Gent steigert sich die Propor-
tionalzalü der Vereinsangehörigen (50%).
Die Steinbrecher und seit kurzem die Dock-
arbeiter (Antwerpen und Gent) sind auch
verhältnismässig zahlreich. Ueberall sonst,
kann man sagen, erreicht die Zahl der
Vereinsangehörigen nicht 10% der Berufs-
genossen.
Eine gewisse Anzahl von Berufen haben
Vei-einsverbände : der älteste ist der Ver-
band der Typographen; ausserdem giebt es
einen Glasarbeiterverband (2000 Mitglieder),
den Verband der Bergwerksarbeiter, der
fast nur noch dem Namen nach besteht, und
die der Arbeiterpartei angeschlossenen Ver-
bände: der Steinarbeiter, der Tabakarbeiter,
der Ledei-arbeiter, der Holzarbeiter, der
Maurer und Metallarbeiter.
4. Allgemeine Charakteristik. Alles
in allem halten die belgischen Vereine die
Mitte zwischen den franz^>sischen Vereinen
und den trade unions. Eine gute Zahl sind
nur politische Klubs und haben keinen Ein-
fluss auf die Lohnfrage; einige nur üben
mit Erfolg den »collective bargaining« aus
und haben zahlreiche, mannigfaltige und
ziemlich reiche Hilfskassen; eine kleinere
Anzahl hat, obwohl sie Parteipolitik betreibt
auch eine wirksame Wirtschaftspolitik und
ziemlich blüliende Kassen. Es scheint, dass
sich eine sehr deutliche Bewegung in dieser
Richtung bemerkbar macht: die Summen,
die zur Unterstützung für Arbeitslosigkeit
ausserhalb der Strikes verteilt werden, wer-
den beträchtlicher; sehr viele sozialistische
Vereine haben besclilossen, ihre Beisteuer
zu erhöhen und ständige honorierte
Sekretäre zu ernennen; ihrem Beispiel sind
katholische Vereine gefolgt. Es ist viel-
leicht der Anfang einer neuen Aera, wo die
Wirksamkeit der Vereine auf die Ijöhne
und die Arbeitsbedingimgen nachdrücklicher
werden wird.
6. G. von Arbeitgebern. In Belgien
giebt es eine grosse Anzahl von Arbeitgeber-
verbänden, die mehr oder weniger einen ge-
werkschaftlichen Charakter haben. Leider
giobt es darüber keine Statistik. Ihre Thätig-
keit, verbunden mit der der Handelskammern,
richtet sich viel mehr auf die Erlangung von
Von'echten und Vorteilen von selten der
öffentlichen Macht als auf den Widerstand
gegen die Arbeiter. Im Fall einer Gefahr,
z. B. im Fall eines Strikes, bilden die Ar-
beitgeber eine natürliche Vereinigung, ohne
dass sie nötig hätten, einen eigentlichen
Verein zu büden.
Seit 1894 besteht ein industrielles Central-
arboitskomitee, das ein monatliches Bulletin
veröffentlicht und das bei jeder Gelegenheit
thatkräftig eingreift, um die Arbeitgeber im
allgemeinen und besonders die der Gross-
industrie zu verteidigen.
Litteratar: Emil^ Vandervelde, Let Associa-
tions professwnnelles d'artisans et d'ouvriera en
Belgigiie, Brturelles 1891, 2 Bde. (mit vollstän-
diger Lüteraturangabe). — £Hmest Mahniuif
Etudes sur Vassociation professionnellef Liege
1891. (Besonders Chap. Vf., Les Uniojis pro-
festtioneUe» en Belgique). — Soeiete d* etudes
sociales et politiques, Proch-verbaux des s^nccs.
Projet de toi srtr les Unions pro/essionnelles «»
1895, Bnixelles 1896. — Comit^ central du
travail tndiistriel: Unions professiomielles,
Bnixelles 1896. — E. Baudaux et H. Lam^
bertf les syndicats professionnels et Vfvolntion
corporative, Bntxelles 1896. — Dieselben^ les
syndicats pro/essionriels et le rSgime general des
assodations modernem Bnixelles 1897. — -EL
Vandervelde n le projet de loi sur les unions
Gre werk vereine (Belgien — Schweiz)
699
profesHonnelles devant le parlement beUje. (Le
Dcvenir social, Octobre 1897.) Auch deutsch :
Der Gesetzentwurf über die Berufsvereine vor
dem belgischen Parlament (Brauns Archiv für
soziale Gesetzgebung 1897). — E, Mahaim, Die
Berufsvereine in Belgien (Soziale Praxis. VII.
Jahrg. Nr. 9, Dez. 1897). — Ver seihe, Das
belgische (resetz über die Berufsvereine (ebenda.
VII. Jahrg. iV>. S, Okt. 1898). — Annales
parlcmentaires, Chambre des Representants.
Doctiments: Sessions 1888 — 1889, Nr. 287; ses-
sions 1890 — 1891, Nr. 127 ; sessions 1894—1895,
No. 4. — Discussions, sess^ions 1896 — 1897 pp.
2259 f. und 1897^1898 ab init. — Senat 1897
— 1898 pp. 137 f. — Th. ThäatCf les unions
professionnelles (Revue pratiqv^ des SociStes ci-
viles 1898 und 1899), Bruxelles. — L, Varlez,
le plan social de Gand. S. partic: Syndicais
d'ouvriers et d'employes. ResumS »uccinct.
Gand 1897. — Die seit Januar 1896 vom Office
du travail de Belgique (Ministere de F Industrie
et du travail) herausgegebene Revue du travail
veröffentlicht manaUich einen Bericht über die
geicerkvereinliche Bewegung, — Parti ouvrier
Beige. Comptcs-rendus des Congrhs annuels.
Bruxelles. — Ligue democratigue Beige.
Annuaires et Almanachs, Gand, Het Volk. —
Co mite centr al du travail indu^triel. Bulle-
tin merutuel, Bruxelles 1894ff'.
Lattich. Emesi Mahaitn,
Tl. Die Gewerkrereine in der Schweiz.
1. Allgemeine Vorbedingungen. 2. Beruf-
liche Centralverbände. 3. Der allgemeine üe-
werkschaftsbund und die allgemeine Arbeiter-
reservekasse. 4. Bestrebungen zur weiteren
Entwickelung des Gewerkachaftswesens.
1. AllgemeineTorbedlngungen. In r e c h t -
lieber Hinsicht bietet die Schweiz jedenfalls die
yorteilhaf testen Bedingungen zur Entwickelung
des Gewerkschaftswesens dar. Nach Art. 5B
der Bundesverfassung besteht weitgehende Ver-
einsfreiheit. Ge werk vereine können sich überall
ohne jede obrigkeitliche Genehmigung bilden.
Die juristische Persönlichkeit wird durch Ein-
tragung in das Handelsregister aufs einfachste
erworben. Da das Straf recht zur Zeit noch
eine kantonale Angelegenheit bildet, unterliegen
die bei Arbeitseinstellungen etwa vorkommenden
Ausschreitungen von Kanton zu Kanton einer
yerschiedenen Beurteilung. Die Allgemeine
Polizeiverordnung der Stadt Zürich vom 5. April
1894 trifft beispielsweise folgende Bestimmungen
zum Schutze der Arbeitswilligen : „Art. 27. Es
Ist untersagt, fremde Wohnungen und Werk-
stätten, Geschäftslokale, Bauplätze, Lagerplätze
oder andere Lokale zu betreten oder zu um-
stellen, um Arbeiter oder Arbeitgeber in der
Ausübung ihres Berufes zu hindern oder zu
stören. Art. 28. Ebenso ist verboten, gegen-
über Arbeitern irgend welchen Zwang anzuwen-
den, um sie von der Arbeit abzumahnen oder
abzuhalten, denselben zu diesem Zwecke abzu-
passen, sie zu verfolgen, sie gegen ihren Willen
zu begleiten oder sonst zu belästigen. Art. 29.
Uebertretungen dieser Vorschriften unterliegen,
vorbehaltlich der strafrechtlichen Verfolgung,
den Bestimmungen über den Vollzug der allge-
meinen Polizeiverordnung. Ausländer sollen im
Wiederholungsfalle der kantonalen Polizeibe-
hörde mit dem Antrage auf sofortige Wegwei-
sung zugeführt werden."
Da Uebertretungen dieser Polizei Verordnung
mit einer Busse von nur 2 bis 15 Francs bestraft
werden und überdies in „leichteren Fällen" die
Polizei bei Verhängung der Busse eine Ver-
warnung vorausgehen lassen kann, so wird von
einer Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit
nicht gesprochen werden dürfen. Etwas schär-
fer ist eine Berner Polizeiverordnung gefasst.
Immerhin hört man auch in der Arbeiterpresse
nur selten über behördliches Einschreiten bei
Arbeitseinstellungen Klage führen. Der Ver-
such eines Baseler Polizeigerichtspräsidenten,
die im eidgenössischen Fabrikgesetze Art. 19
vorgesehenen Bussen auch dann zu verhängen,
wenn Arbeiter die im Art. 9 desselben Gesetzes
vorgesehene 14tägige Kündigungsfrist nicht
einhalten, ist durch die eidgenössische Behörde
zurückgewiesen worden.
Wenn also das bestehende Recht und
dessen Handhabung den Gewerkschaften und
ihren Kampfmitteln keine nennenswerten Schwie-
rigkeiten in den Weg legen, so haben immer-
hin manche Unternehmer danach gestrebt, durch
Aechtung derjenigen Arbeiter, welche an Ge-
werkschaften teilnahmen, die Entwickelung der
Berufsorganisationen aufzuhalten. Es ist des-
halb von Seite der Arbeiterpartei die Forderung
aufgestellt worden, „dass in dem Entwürfe des
eidgenössischen Strafrechtes eine Bestimmung
aufgenommen werde, wonach derjenige Arbeits-
herr, der seinen Arbeitern den Beitritt zu einem
politischen oder gewerkschaftlichen Vereine ver-
bietet oder die Gründung eines solchen Vereines
verhindert, indem er jenen mit Entzug der Ar-
beit droht oder wirklich Kündigungen vor-
nimmt, bestraft werden kann". In der Kom-
missionsberatung des Strafgesetzentwurfes hat
Professor Zürcher dieses Begehren unterstützt,
aber bei der Mehrheit kein Entgegenkommen
gefunden. Auf der anderen Seite, in den Ünter-
nehmerkreisen und der ihnen nahestehenden
Presse, wird wohl hie und da ein grösserer
„Schutz der Arbeitswilligen" gewünscht.
Weniger günstig liegen die Verhältnisse
nach der wirtschaftlichen Seite hin. Noch
kommt dem Verlagssysteme, namentlich in der
Seiden-, Uhren- und Stickereiindustrie, eine
nicht unbeträchtliche Ausdehnung zu. Die mit
dieser Betriebsform gegebene Decentralisation
der Arbeitskräfte und der Umstand, dass letztere
in den genannten Exportindustrieen von dem
häufigen Wechsel der Marktkonjunkturen be-
sonders hart getroffen werden, stellen sich der
Ausbildung: leistungsfähiger Ar heiter verbände
vielfach hindernd entgegen. Mag auch die Fa-
brik dem Verlagssysteme immer mehr Boden
abringen, so bilden sich doch keine grossen
Fabrikstädte aus. Die Industrie muss bei der
schwierigen Beschaffung der Kohlen die vor-
handenen Wasserkräfte möglichst ausnutzen
und demzufolge die koncentrische Anhäufung
grosser Anlagen vermeiden. Das städtische
Handwerk beschäftigte nach der Zählung von
1888 mindestens 51,6% der gewerblichen Ar-
beiter. Hier hofft noch ein guter Teil der Ar-
beiter im Laufe der Zeit selbständig zu wer-
700
Gewerkvereine (Schweiz)
den und beknndet deshalb fUr die Förderung
der gewerkschaftlichen Aufgaben nur ein mas-
siges Interesse.
Dazu kommt, dass viele schweizerische Ar-
beiter, namentlich wenn sie, was auf dem Lande
nicht selten der Fall ist, einen kleinen Grund-
und Hausbesitz oder Allmendgennss innehaben,
sich weit mehr als schweizerische
Bürger denn als Arbeiter fühlen
und den allgemeinen Fragen der eidgenös-
sischen, kantonalen und kommunalen Politik
frössere Aufmerksamkeit als ihren besonderen
lasseninteressen widmen. Sodann sind viele
Schweizer auch dadurch von den Gewerk-
schaften abgehalten worden, dass diese stets
sozialistische Politik getrieben haben. Ver-
gegenwärtigt man sich endlich, dass die aus
dem Auslande (Deutschland, Oesterreich, Italien)
stammenden Arbeiter, denen gegenüber der
autochthone Schweizer gern eine gewisse Zu-
rückhaltung bewahrt, besonders in den grösseren
Städten einen erheblichen Bruchteil der Arbeiter-
bevölkerung ^) ausmachen und dass auch die
Arbeiter schweizerischen Ursprunges durch
Unterschiede der Nationalität und Konfession
sowie durch' allerlei kantonale Eivalitäten und
Gegensätze auf den Gebieten der eidgl^nössi sehen
und kantonalen Politik gespalten werden, so
wird man nicht darüber erstaunen, dass die
Ge werk vereine in der Schweiz nicht weiter
gekommen sind, sondern darüber, dass sie es so
weit gebracht haben.
2. Bemfliche Centralverbände. Wie
im Deutschen Reiche und in OesteiTeich,
so haben die Buchdrucker auch in der
Schweiz als die ersten unter allen Arbeitern,
nämlich schon seit 1858, eine tüchtige Be-
rufsorganisation, den Schweizerischen Typo-
gi*aphenbund, zu stände gebracht. Die vom
Berufe geforderte und geförderte höhere
geistige Entwickelung sowie der Umstand,
dass die Arbeit in hohem Masse eine ge-
lernte ist, lassen diese Erscheinung leicht
verstehen. Der Typographenbund strebt vor
allem danach, eine auskömmliche Höhe des
*) Nach der Volkszählung von 1888 waren
von den nachstehenden in Basel -Stadt gezählten
Arbeiterklassen im Deutschen Reiche geboren:
Bäcker- und Metzgerburschen 57,9 %; andere
Arbeiter im Kleingewerbe 46,8 ^Z^,; männliche
Fabrikarbeiter in der Textilindustrie 20,8%,
weibliche Fabrikarbeiter in der Textilindustrie
19,6 <^/o; andere Fabrikarbeiter 40,4%, andere
Fabrikarbeiterinnen 41,8%; männliche Arbeiter
überhaupt 37,2 %. Vergl. K. Bücher, Die Be-
völkerung des Kt. Basel-Stadt am 1. Dezember
1888, Basel 1890, S. 72. Noch stärker ist der
Anteil der Ausländer innerhalb gewisser Berufe
in Zürich nach den Ergebnissen der Volkszählung
vom 1. Juni 1894. Von den nachstehenden
Arbeiterklassen waren im Auslande geboren:
tnännliche Arbeiter der Bekleidungse:e werbe
61,4%; der Holzbearbeitung 46,4%; der Bau-
gewerbe 65,1%. Von den Angehörigen der
industriellen Berufe bilden die Ausländer in
Zürich 37,9%. Vergl. Ergebnisse der Volks-
zählung in der Stadt Zürich vom 1. Juni 1894,
I. Teil S. 154, 155, II. Teil S. 68, Zürich 1897 98.
Lohnes zu sichern. Als Grundlage dient
ein Normaltarif, nach welchem jeder Zweig-
verein entsprechend den besonderen lokalen
Verliältnissen den Lohn i-egelt. In dem
lokalen Lohntarife werden auch noch andere
Arbeitsbedingimgen, namentlich die Arbeits-
zeit, festgesetzt Die Beseitigung der Sonn-
tagsarbeit hat, dank der Organisation, bereits
1866 stattgefunden. Um die günstigeren
Arbeitsbedingungen dauernd zu behaupten,
nimmt der Verein nur solche Buchdnicker
auf, welche den Minimallohn verdienen
können und die Lehrlingspriifung bestanden
haben. In der gleichen Absicht ist ein Ein-
fluss auf die Lehrlingsverhältnisse erstrebt
worden. Im Jalire 1887 ist im Vereine mit
den gleichfalls- organisierten Prinzipalen ein
Ijeliriingsregulativ festgesetzt worden, nach
welchem die Lehrzeit vier Jahre dauert.
Nach Ablauf derselben hat der Lelirling
eine Prüfung vor einer aus Prinzipalen und
Gehilfen zusammengesetzten Kommission ab-
zulegen. Auf je fünf Setzer soll höchstens
ein Setzerlehrling, auf zwei Maschinenmeister
ein Druckerlehrling entfallen. Keine Dnickerei
darf aljer im ganzen mehr als fünf Setzer-
und zwei Druckerlehrlinge beschäftigen.
Nach einer vom Schweizerischen Gewerbe-
vereine aufgenommenen, freilich nicht ganz voll-
ständigen Statistik zählte man 1898 auf 2599
Setzer 491 Lehrlinge, auf 424 Maschinenmeister
179 Lehrlinge. Es scheinen also die Bestim-
muugen des Lehrlingsregulatives in der R^gel
beachtet zu werden. Lohnbewegungen im Jahre
1889 haben zu Lohnaufbesserungen um 20 —
«^«">**'o geführt. Die Arbeitszeit wurde 1892
vielerorts von 10 auf 9 Stunden herabgesetzt,
und die „berechnenden" Setzer erzielten eine
prozentuale Lohnerhöhung. Nach Mitteilungen
des Schweizerischen Gewerbevereines beziehen
die Buchdrucker in den Städten 30 - 37 Francs,
auf dem Lande 27—32 Francs Wochenlohn.
Die Dauer der Arbeitszeit beträgt nach der
gleichen Quelle bei 2 Firmen 48 Stunden ; bei 7
48»/.>— 51; bei 169 5172—54; bei 85 54^'o-57;
bei 129 57%— 60; bei 4 60»;2-63; bei 6 6372—
66 und bei einer Firma über QiD Stunden in der
Woche. Auf dem Lande wird in der Kegel
länger als in der Stadt gearbeitet.
Nach der Lohnbewegung von 1889 hat der
Prinzipal verein eine Unterstützungskasse für
diejenigen Arbeiter, welche dem Typographen-
bunde nicht angehören oder angehören können,
begründet. A\'enn dabei die Erwartung ob-
gewaltet haben sollte, auf diesem Wege der
Gehilfenorganisation eine gefährliche Konkur-
renz zu schaffen, so hat die thatsächliche Ent-
wickelung einen anderen Gang genommen. Der
Bruchteil der nicht dem Typographenbunde an-
gehörenden Arbeiter hat von Jahr zu Jahr ab-
genommen. Im Jahre 181K) waren 1034 organi-
siert und 524 ausserhalb der Organisation, 1897
1563 gegenüber 519. Ein ständiges Eini&:ungs-
amt, bestehend aus Vertretern beider Verbände,
wurde 18iK) und 1891 in Aussicht genommen,
ist aber noch nicht ins Leben getreten. Die
Ordnung des Ünterstützungswesens stimmt in
Gewerkvereine (Schweiz)
701
der Hauptsache mit den Einrichtungen der
deutschen Buchdrucker überein. Der Wochen -
beitrat für alle Zwecke (Unterstützung bei
Krankheit und im Sterbefalle^ bei Ai'beitslosig"-
keit und auf der Beise sowie bei Invalidität)
beträgt 2 Francs. Die Typographen besitzen
eine Vereinsdruckerei in Basel und wiesen am
81. Dezember 1897 ein Vermögen von 37000
Francs aus neben 100654 Francs der Kranken-,
Invaliden- und Sterbekassen, die seit 1896 zu
einer einzigen Kasse vereinigt worden sind.
An den Bestrebungen zur Begründung einer
intern atienalen Buchdrucker Organisation haben
die Schweizer lebhaften Anteil genommen. Der
zweite internationale Buchdruckerkongress fand
in Bern am 25. August 1892 statt, unci Bern
ist auch zum Sitze des am 10. Dezember 1893
errichteten internationalen Buchdruckersekre-
tariats erkoren worden. Mit dem sozialdemo-
kratischen Allgemeinen Gewerkschaftsbunde
haben die Buchdrucker nur während der Jahre
1892 — 1895 in Verbindung gestanden, nachdem
sie schon 1889 der Allgemeinen Arbeiterreserve-
kasse beigetreten waren. Neuere Versuche, mit
dem Gewerkschaftsbunde ein Kartell Verhältnis
anzubahnen, sind bis letzt ohne Ergebnis ge-
blieben. Das Organ des Vereines ist die in
Basel erscheinende und jetzt (1899) im 42. Jahr-
gange stehende „Helvetische Typographia".
Die romanische Schwesterorganisation des
Typographenbundes bildet die Soci6t6 fedörative
des Typographes de la Suisse Romande mit
ungefähr 580 Mitgliedern, denen 150 nicht
organisierte Buchdrucker gegenüberstehen. Die-
ser Verband ist 1873 begründet worden und
giebt als Fachblatt „Le Gutenberg", jetzt (1899)
im 27. Jahrgange st-ehend, heraus. In der
italienischen Schweiz bestehen zwei Vereine
von „Bucharbeitem", in denen Buchdrucker,
Lithographen und Buchbinder organisiert sind.
In der ührenindustrie, welche 31500
Arbeitskräfte beschäftigt, haben die Graveure
und Guillocheure schon 1868 eine Vereinigung
geschaffen. Die zunehmende Verdrängung der
Hausindustrie durch die Fabrik und die üble
Lage der ganzen Industrie überhaupt haben in
den 80 er Jahren den Gedanken der beruflichen
Organisation gefördert und zwar bei Arbeitern
wie Arbeitgebern. Die Schalenmacher (monteurs
de boites), die Bemonteure und Repasseure, die
Hemmungsarbeiter (faiseurs d'echappements) und
die Zifferblattarbeiter (faiseurs de cadrans) grün-
deten interlokale Vereine , und im Jahre 1886
kam schliesslich eine F6d6ration horlog^re zu
Stande, welche alle in der Uhrenindustrie thä-
tigen Elemente in ähnlicher Weise und mit
amtlichen Zwecken, wie sie der Stickereiverband
in der Ostschweiz verfolgte, zusammenzufassen
versuchte. Allein schon 1888 gründeten die
Arbeiter innerhalb der F^d^ration horlog^re
mixte einen besonderen Arbeiterbund, die
FM^ration ouvri^re.
All diesen Gründungen war nur ein
ephemäres Dasein beschieden. Es gelang dem
Gentralausschusse nicht, sich zu einer autorita-
tiven Stellung emporzuarbeiten. Weder die
Arbeiter noch die Unternehmer stellten ein ge-
nügendes Kontingent zum Verbände. Im An-
schüsse an die grosse Erregung, die ein Strike
in Grenchen 1892 unter den ührenarbeitem
bewirkt hatte, wurde nochmals die Gründung
einer Federation ouvri^re horlog^re unternommen.
Indessen brach auch diese in heftigen Kämpfen
mit den Unternehmern zusammen. Besser als
die Gesamt-Uhrenarbeiterverbände entwickelten
sich Vereine derjenigen Uhrenarbeiter, welche
die nämlichen Uhrenbestandteile herstellen.
Einige dieser Verbände (Föderation des ouvriers
graveurs et guülocheurs, 11 Sektionen und 941
Mitglieder, Federation des ouvriers remonteurs,
demonteurs etc., 10 Sektionen und 627; Föde-
ration des ouvriers ömailleurs, 4 Sektionen und
108 Mitglieder, sämtlich mit dem Sitze in Biel)
gehören dem Allgemeinen Gewerkschaftsbunde
an. Andere, wie die Föderation des ouvriers
monteurs de boites mit dem Sitze in Chauxdefonds,
11 Sektionen und 1466 Mit^gliedem, und die
Föderation des ouvriers faiseurs de pendants
in Biel mit 4 Sektionen und 180 Mitgliedern
sind selbständig verblieben. In der Presse ver-
tritt die gut geleitete „Solidarite horlogöre" die
Interessen der Uhrenarbeiter. Wie aus vor-
stehenden Angaben ersichtlich ist, lassen die
Uhrmacherorganisationen in Bezug auf Voll-
ständigkeit und Leistungsfähigkeit noch viel
zu wünschen übrig.
Eine an und für sich äusserst interessante,
freilich nicht durchaus unter den Begriff eines
Gewerkvereines zu subsumierende Organisation
hatte sich innerhalb der ostschweizerischen
Stick ereiindustrie ausgebildet, nämlich der
Centralverband der Stickereiindustrie der Ost-
schweiz und des Vorarlberg. Die Stickerei
wird teils fabrikmässig , teils hausindustriell
betrieben. Eine ständige Ueberproduktion hatte
das ganze Gewerbe 1884 in die grösste Gefahr
gebracht. Kaufleute, Maschinenbesitzer und
Fabrikanten vereinigten sich daher zu einem
Verbände, um die Produktion einzuschränken,
die Arbeitszeit abzukürzen und einen Minimal-
lohn zu sichern. Insofern trägt der Verband
die Züge eines hausindustriellen Kartells und
kommt an dieser Stelle nicht weiter in Betracht.
Eine Bedeutung für das eigentliche Gewerk-
schaftswesen erlangte der Verband aber dadurch,
dass die in den fabrikmässig betriebenen
Stickereien beschäftigten Arbeiter, die nicht
selbst Mitglieder des Verbandes waren, durch
die Begründung eines Gewerkvereines, des
„Gewerkvereines der Fabriksticker**, versuchten,
an den Verbesserungen, welche ihre Arbeitgeber
durch den Verband erzielt hatten, einen Anteil
zu gewinnen. Dieser Verein, welcher 1887
20 Sektionen mit 700 Mitgliedern aufwies, ver-
lor indessen bald wieder an Bedeutung. Im
Jahre 1892 trat Vorarlberg aus dem Verbände
aus, und da bald auch viele Schweizer diesem
Beispiele folgten, konnte der Stickerei verband
die Bestimmungen Über den Minimallohn nicht
mehr durchführen. In den letzten Jahren sind
von verschiedenen Seiten Versuche zu neuen
Organisationen unternommen worden. Es scheint
aber nur den Schifflistickem in St. Gallen ge-
lungen zu sein, einen mehrere Sektionen um-
fassenden Centralverband ins Leben zu rufen.
Ausser den eingehender besprochenen Cen-
tralverbänden sind noch folgende zu nennen:
702
Gewerkvereine (Schweiz)
Name Sit
Buchbinder- Verband
Schuhmacher- Verband
Steinarbeiter- Verband
Coiffeurgehilfen- Verband *)
Schweiz. Heizer- und Maschinisten- Verein -)
Schweiz. Bäckergehilfen- Verband
Schweiz. Konditoren- Verband')
Schweiz. Küfer- Verband
Schweiz. Gärtner- Verband
Föderation romande des ouvriers menuisiers
*) Pressorgan : Der CoifFeurgehilfe.
*) Der Verein hat eine Sterbekasse und ein Verbandsorgan „Dampf", das im 11. Jahr-
gange steht.
') Pressorgan: Der Konditorgehilfe.
des Verbandes
Zahl der
Sektionen
Mitglied
St Gallen
lO
437
Zürich
15
617
Zürich
II
885
Zürich
18
413
Zürich
23
1313
Zürich
19
9
•
?
3
100
?
7
150
?
9
150
9
•
9
630
Grosse Fortschritte hat die berufliche Or-
fanisation während der 90 er Jahre unter dem
ersonale der Eisenbahnen^) aufzuweisen
gehabt. Nachdem die Lokomotivführer schon
seit 1876 einen Verein mit Unterstützungskasse
gegründet, ist 1885 ein Verband des Schweize-
rischen Zugpersonals gefolgft. Die Lokomotiv-
führer zahlen pro Quartal vom angetretenen
25. bis zum vollendeten 30. Jahre 6 Francs,
vom 31.— 40. Jahre 7, vom 41. Jahre und darüber
8 Francs in die Unterstützungskasse. Dagegen
bezahlt diese an Mit&^lieder, die durch Unfall
gänzlich erwerbsunfäni^ geworden sind, oder
im Todesfalle eines Mit^edes an dessen Witwe,
Kinder oder beglaubigte Eltern oder Geschwister
1000 Francs. Eine Versicherung gegen Arbeits-
losigkeit scheint bei den stabileren Arbeits-
verhältnissen dieses Berufes kein Bedürfnis zu
sein. Der Verein des Zugpersonales gewährt
Kranken-, Sterbe- und unter Umständen auch
Invalidengelder. Die Sterbegelder steigen mit
der Dauer der Mitgliedschaft und erreichen im
9. .Tahre 1001) Francs. Der Monatsbeitrag be-
trägt 2 Francs. Im Jahre 1889 wurde der
Name
Verein Schweiz. Eisenbahn-Angestellter
Schweiz. Zugpersonal- Verein
Verein Schweiz. Lokomotivführer
Verein Schweiz. Lokomotivheizer
Verein Schweiz. Weichen- und Bahnwärter
Schweiz. K angierpersonal- Verein
Die Stärke dieser Vereinigungen beruht nicht
auf specifisch gewerkschaftlichen Veraicherungs-
und Unterstützungseinrichtungen, sondern mehr
darauf, dass die Organisation beinahe alle Be-
rufsangehörigen umfasst und in der Person des
Generalsekretärs Dr. Sourbeck einen geschickten
und rührigen Anwalt besitzt. Der glänzende
Erfolg, welchen die Eisenbahner gegenüber der
Nordostbahn davongetragen (vgl. d.- Art. Ar-
beitseinstellungen in der Schweiz oben
Bd. I. S. 842 ff.), hat das Ansehen der Organi-
sationen des Bahnpersonales überaus gehoben.
Von den Mitgliedern der Verbandsvereine
Verband schweizerischer Lokomotivheizer und
der Verein schweizerischer Eisenbahn- und
Dampfschiffangestellter gegründet; 1896 kamen
die Arbeiterunion schweizerischer Transport-
anstalten, 1897 der Verband schweizerischer
Wagfenvisiteure, 1899 der Verein schweizerischer
Weichen- und Bahnwärter und der Schweizerische
Rangierpersonalverein zu stände. Die jüngeren
Vereine besitzen zur Zeit noch keine Unter-
stützungseinrichtungen. Von grosser Bedeutung
für die Interessen des Eisenbahnpersonales ist
die 189Ö erfolgte Zusammenfassung der ver-
schiedenen Organisationen in einen Verband
des Personales schweizerischer Transportanstal-
ten. Der Verband hat ein Generalsekretariat
geschaffen und lässt die „Schweizerische Eisen-
bahnzeitung" und das „Journal suisse des
chemins de fer" als Fachblätter des Personales
herausgeben. Nachdem die „Arbeiterunion
schweizerischer Transportanstalten'^ aus dem
Verbände wieder ausgetreten ist, da sie das
Obligatorium des Verbandsorganes nicht an-
erkennen wollte, besteht der Verband Ende 1899
aus folgenden Vereinigungen:
Sitz
Zahl der
Zahl der
Sektionen
Mitglieder
8526
Bern
68
Luzem
32
1678
Zürich
24
893
Zürich
19
742
Winterthur
14
1262
Basel
14
441
I ist 1897 eine Genossenschaft „Erholungsstation
I schweizerischer Eisenbahner auf Grubisalm am
' Eigiberge" mit dem Sitze in Luzem gegründet
i worden.
Nachdem wegen des bevorstehenden Ueber-
ganges der meisten schweizerischen Bahnen an
die Eidgenossenschaft der Bundesrat bereits
mittelst Botschaft vom 1. Dezember 1899 ein
„Gesetz betreffend die Besoldungen der Beamten
und Angestellten der schweizerischen Bundes-
' bahnen" vorgelegt hat und auch die Arbeitszeit
I beim Betriebe der Transportanstalten gesetz-
I lieber Regelung unterliegt *), werden die Eisen-
*) Für die gütige Uebersendung diverser *) Das Bundesgesetz betreffend die Arbeits-
Drucksachen, welche in die Organisationen des zeit beim Betriebe der Eisenbahnen und anderen
Eisenbahnpersonales Einsicht gewähren, bin ich Verkehrsanstalten, welches die Revision des
dem Generalsekretär Herrn Dr. Sourbeck in , G. v. 27. Juni 1890 in einer, wie das Organ
Bern verpflichtet. 1 der Eisenbahner anerkennt , „dem Personale
Üewerkvereine (Schweiz)
10^
bahner, ähnlich wie andere Angestellte des
Bundes, sich vermutlich damit begnügen dürfen,
bei der Bnndesbehörde und dem Publikum das
Interesse für ihre besonderen Angelegenheiten
stets wachzuhalten. Der Vollständigkeit wegen
sei noch erwähnt, dass die eidgenössischen Be-
amten und Angestellten ebenfalls einen General-
verband gebildet haben, dessen Sitz Basel ist
und der bei 59 Sektionen 4309 Mitglieder zählt.
Ueber die in dem Generalverbande zusammen-
gefassten Vereine bezw. Verbände giebt nach-
stehende Uebersicht Aufschluss:
Name
Verein seh w. Post-, Telegr.- u. Zoll-Angestellter')
Verband Schweiz. Zollbeamter
Schweiz, Telegraphisten- Verein
Verband eidgen. Arbeiter
Verband eidgen. Telephonarbeiter
Verband eidgen. Beamter u. Angestellter in Wallis
Sitz des Verbandes
Basel
Basel
Bern
Bern
Bern
Sitten
Zahl der
Sektionen
iu itgiiec
36
3286
2
186
7
192
4
291
9
238
I
99
*) Als Verbandsorgan erscheint das „Posthorn" in Zürich und „Le cor du pöstillon" in
Lausanne.
Ausserdem besteht noch ein Verband schwei-
zerischer Postbeamter mit Sitz in Zürich, 19
Sektionen und 1316 Mitgliedern.
Die genannten Berufsorganisationen ver-
halten sich religiös und politisch neutral, d. h.
sie haben in ihren S.tatuten keine Bestimmungen
religiösen oder politischen Inhaltes. Dagegen
werden einige der Verbandsorgane, z. B. die
Helvetische Typographia und die Solidarit^
horlog^re in gemässigt sozialdemokratischem
Sinne redigiert.
3. Der allgemeine Gewerkschaftsbund
und die allgemeine Arbeiterreserve-
kasse. Neben den eben genannten be-
ruflichen Centralverbänden hatten sich be-
sonders seit Beginn der 70er Jahre auch an
vielen Orten lediglich lokale Fachvereine
entwickelt. Nachdem der »Schweizerische
Arbeiterbund« der Aufgabe, diesen verein-
zelten Vereinen einen gemeinsamen Mittel-
punkt zu bieten, nicht entsprochen hatte,
wurde nach Auflösung des Bundes 1880
unter sozialdemoki-atischem Einflüsse ein
allgemeiner Gewerkschaftsbund errichtet, der
die Öewerkscliaftsbewegimg unter den sozia-
listisch gesinnten Arbeitern fördern sollte.
Ueber Organisation und Thätigkeit dieses
Oewerkschaftsbundes \md seine Beziehungen
zur Arbeiten*escrvekasse unterrichtet ein-
gehend der Ai-t. Arbeitseinstellungen
in der Schweiz von Prof. Bücher (oben
Bd. L S. 844, 845). Seit 1. Januar 1897 besteht
ein ständiges, besoldetes Sekretariat. Der
Beitrag der Mitglieder beträgt 60 Rappen
pro Quartal. Davon wurden nach den Be-
stimmungen von 1890 50 Rappen filr die
Reservekasse, 10 Rappen für die Bundes-
verwaltung bestimmt. Seit 1896 erhält die
Reservekasse nur 48, die Bundesverwaltung
aber 12 Rappen. Ausser den Bundesbeiträgen
haben die Mitglieder noch Zahlungen an
ihre Berufs verbände zu entrichten. Fiir
Arbeit.«?losenunterstützung w^enlen von man-
chen Gewerkschaften in der Woche 10 — 20
Rappen bezogen. Unterstützung wird erst
nach 52 Wochenbeiträgen imd nur für 5 bis
10 Wochen ausbezahlt. Als Pressor^n des
Allgemeinen Gewerkschaftsbundes wirkt die
»Arbeiterstimme« in Zürich. Die äussere
Entwickelung des Allgemeinen Gewerk-
schaftsbundes wird durch folgende Ziffern
gekennzeichnet :
Jahr
1887
1888
1889
1890
1891
1892/93
1894 9ö
1896/97
1898
1899
Diese 22000 Mitglieder verteilen sich folgen-
dermassen :
Mit- Sitz des
glieder- Central-
zahl Komitees
Zahl der
Zahl der
Sektionen
Mitglieder
56
1958
84
2315
102
4400
125
?
196
6950
197
9 495*)
266
9 293^)
269
12900
330
16470
350
22000
wohlgesinnter Weise" eriedigt, ist am 26. De-
zember 1899 im Natiunalrate einstimmig an-
genommen worden.
Metallarbeiter- Verband
Holzarbeiter- Verband
Schneider- Verband
Brauer-Verband
Remonteur-Verband
Graveur- u. Guillocheur-
Verband
Müll er- Verband
Lithographen-Bund
Glaser-Verband
Korbmacher- Verband
Steinhauer- Verband
Tabakarbei ter- Verband
Email leur- Verband
Textilarbeiter- Verband
Granitsteinhauer-Verein
Hafner-Verband
Andere Vereine
4500
2500
600
500
600
600
350
250
150
150
I 000
300
150
500
I 200
250
6000
•Bern
Basel
Zürich
Bern
Biel
Biel
Bern
Zürich
St. Gallen
Basel
Zürich
Meuziken
Biel
Zürich
Osogna
Bern
*) einschliesslich des ührenarbeiter- Ver-
bandes.
*) nach Austritt des Typographenbundes.
704
Gewerkvereine (Schweiz)
So stellt sich die Stärke nach den Mit-
teilungen des Grütlianerkalenders für 1900 dar.
Die Statistik des Arbeitersekretariats zählt nnr
17028 männliche und 423 weibliche Mitglieder
in 327 Sektionen, bemerkt aber, dass diese An-
gaben unvollständig seien und mindestens um
5000 zu wenig enthielten. Da die Bundesbeiträge
nach der Mitgliederzahl der Verbände zu ent-
richten sind, pflegen diese einen möglichst nie-
drigen Mitgliederstand mitzuteilen. In der
französischen Schweiz besteht seit 1891 noch
eine besondere Föderation romande des syndicats
Srofessionnels , die 1897 20 Sektionen mit 1700
[itgliedem zählte.
4. Bestrebungen zur weiteren Ent-
wickelang des Gewerkschaftswesens.
Ijassen die vorgeführten Thatsachea eine
aufsteigende Entwickelung des schweize-
rischen Gewerkschaftswesens schon unter
den bestehenden Verhältnissen deutlich
w^ahmehmen, so dürfte noch eine wesent-
liche Befestigung zu erwarten sein, wenn
die auf dem schweizerischen Arbeitertage ^)
in Luzern (3. April 1899) beschlossenen
Gnmdsätze verwirklicht weraen sollten. Nach
eingehenden Referaten des Arbeitereekretärs
H. Greulich und des katholischen Professors
Dr. Beck wurde mit allen gegen 7 Stimmen
beschlossen :
^Es ist Pflicht des Schweizerischen Ar-
beiterbimdes, seiner Behörden und Organe
sowie seiner Verbände und Vereine, mit
allen Kräften für eine einheitliche und um-
fassende gewerkschaftliche Organisation der
Arbeiter aller Berufe in der Schweiz zu
wii'ken.
Sobald der Schweizerische Ge-
werkschaftsbund und seine Berufs-
verbände und Vereine sich auf
parteipolitisch und religiös neu-
tralen Boden stellen, sollen alle
bestehenden wie alle neu zu
bildenden Berufsverbände und
Vereine zum Anschlüsse an den
Gewerkschaftsbund bewogen wer-
den.
Der Bundesvorstand wird beauftragt,
unverzüglich eine Kommission zu bestellen
zur Unterhandlung mit den Vorständen des
Gewerkschaftsbundes und der anderen Be-
rufsverbände sowie zur Anhandnahme einer
planmässigen Propaganda für Bildung neuer
ßerufsverbände und Vereine«.
Entsprechend diesen Beschlüssen ist
vom Arbeitersekretariate ein neuer Statuten-
entwurf für den Gewerkschaftsbund ausge-
') Es handelt sich um die Tagnng des
Schweizerischen Arbeiterhnndes. der aus Kran-
kenkassen, Gewerkschaften, GrüÜi- und aJl-
gemeinen Arbeitervereinen und den katholischen
Arbeitervereinen besteht. Dieser Verband von
Verbänden hat die Basis für das vom Bunde
subventionierte eidgenössische Arbeitersekreta-
riat abzugeben.
arbeitet worden, der ziu* Zeit (Ende 1899)
noch der Diskussion unterliegt. Es kommt
dabei, abgesehen von der politischen und
konfessionellen Neutralisierung, auch noch
darauf an, den Berufsverbänden im Bunde
eine selbständigere Stellung zu verschaffen.
Sie sollen ihr Kassen- und Unterstützungs-
wesen besser ausbilden und die Lohnbe-
wegungen in erster Linie aus eigenen Mitteln
bestreiten. Für leistungsfähige Verbände ist
eine Minderung der Beiträge an den Bund
in Aussicht genommen. Während die letzt-
genannten Veränderungen geringen Wider-
stand zu finden scheinen, erregt die Neu-
tralisierung in den Kreisen der sozialisti-
schen Gewerkscliaften noch viele Bedenken.
Namentlich sträubt man sich dagegen, dass
die Verbandsorgane »parteipolitisch und
religiös die strengste Neutralität« wahren
sollen, wie es Artikel 3 des neuen Ent-
wurfes vorschreibt, und dass Mitglieder,
welche sich »durch das Vorgehen oder die
Einrichtungen der Organisationen in ihrer
politischen oder religiösen üeberzeugung
verletzt fühlen«, ein Beschwerderecht in
erster Instanz an den Verbandsvorstand mit
Weiterzug an das Bundeskomitee imd in
letzter Instanz an den Bundesausschuss er-
halten. Es ist somit noch keineswegs sicher,
ob die angestrebte Sammlung aller schwei-
zerischen Arbeiter in ein politisch und
konfessionell durchaus neutrales, lediglich
gewerkschaftliche Ziele verfolgendes Lager
thatsächlich gelingen wird.
Eine erhebliche Bedeutung für die För-
denmg der gewerkschaftlichen Bestrebungen
gewinnt die 1897 gegründete »Arbeits-
kammer der Stadt Zürich«, eine Ver-
einigung von (Ende 1898) 65 Gewerkschaften
mit 6240 Mitgliedern, welche die Interessen
der Stadtzüricherischen Arbeiterschaft nach
verschiedenen Richtimgen (Arbeitsvermitte-
lung, Auskunftserteilung, Handhabung der
kantonalen und eidgenössischen Arbeiter-
schutzgesetze, Vorbereitimg der Wahlen der
gewerblichen Schiedsrichter u. s. w.) wahr-
nimmt. Mehrere Gewerkschaften haben der
Kanmier die Auszahlung der Reise- und
Arbeitslosenunterstützung übertragen. Die
Kammer steht religiös und parteipolitisch
auf neutralem Boden.
In dem vorliegenden Artikel konnten
nur die zu Centralverbänden zusammenge-
fassten Gewerkschaften berücksichtigt wer-
den. Es giebt auch zahlreiche rein lokale
Vereine, über deren Verhältnisse aber selbst
die mitten in der Arbeiterbewegung stehen-
den Persönlichkeiten keine Auskunft zu
geben bezw. zu erhalten vermögen.
Litteratnr* Jahresberi^jhte des Ausacftustet det
schweizerischen Arbeiterbundes und des Sehweite-
riechen ArbeüersekretariaAs I — XIL ZUrich
1888 — 1889, — Der schweizerische Arbeiiertag in
Gewerkvereine (Schweiz—andere europäische Länder und Australien)
705
Luxem» Zürich 1899. — Ergebnuse einer Enquete
über wirtschaftliche und materielle Leistungen der
J^eservekcutse des Schweiz, Geircrkschaftsbundes
soicie seiner Verbände und Sektionen. Zürich
1896. — Bericht des Bundeskomitees an die Sektio-
nen erstattet an den in Solnthum am 10. und 11.
April 1898 stattfindenden Gewerkschaftskongress.
Zürich 1898. — Monatsbl^itt^r des Schweiz. Arbeiter-
Sekretariats, L Jahrg. 1899, insltesondere Xo. 8,
welche eine Statistik der GewerkscJiaften enthalten.
— Ztceiter Jahresbericht der Arbeitskammer der
Stadt Zürich 1899. — Zu berücksichtigen sind ferner
die im Texte genannten FacJtbUiticr. — Aus den
Bearbeitungen des Gegenstandes sind herrorzn-
hcben: BechUe, I>ie Gewerkvereine in der
Schweiz (Staatsw. Studien II, 1), Jena 1888. —
Berg hoff' Tsingf Die sozialistische Arbeiter-
bewegung in der Schweiz, Leipzig 1895. — K,
Bücher^ Die Schweiz. Arbeiterorganisationen,
Zeitschrift für die gesamte Staatsicissenschaft,
44. Bd. 1888, S. 609—674. — GreuUch, Die
Arbeilskammcr der Stadt Zürich, Zürich 1899.
— W, Kulentanfif Die Gexterkschaftsbewe-
gung, Jena 1900, S. 111—185, 64S—651, 652
— 654. — ^* Platter, Der allgem. Schweiz. Ge-
werkschaftsbund. Das Hrmdelsmiiseum Bd. II,
No. iSl und S2. — M. Steck, Die heutige Ge-
werkschaftsbewegung in der Schweiz. Archiv f.
soz. Gesetzgebung und Statistik, X. Bd., Berlin
1897, S. 886—986. — Derselbe, Etwas über
die Schweiz. Gewerkschaftsorganisation. Der
Grütlianerkalendcr für 1899, Zürich 1898, S.
19 — ^4. — A. Sivaine, Die Arbeits- unl Wirt-
schaf tsrerhältnisse der Einzelsticker in der Nord-
ostschweiz und Vorarlberg, Strassburg 1895.
H, Hericner,
Vn. Die Gewerkvereine
in anderen europäischen Ländern
und in Australien.
1. Italien. 2. Holland. 3. Die skandinavischen
Länder 4. Die G. in Anstralien.
1. Italien. Die seit alter Zeit bestehen-
den fasci, denen Arbeiter und Arbeitgeber
angehören, verfolgen im wesentlichen Bil-
duugs- und Unterstützungszwecke und sind
deshalb als Gewerkvereine nicht anzusehen,
jedoch mit Ausnahme der fasci deila-
voratori inSiciüen, die sich die Eningimg
besserer Arbeitsbedingungen zum Ziele ge-
setzt haben, obgleich sie daneben auch ünter-
stützungseinrichtungen besitzen. Sie haben
einen gemeinsamen Ausschuss, unter der
Leitung von Garibaldi Bosco.
Aehnlich steht es mit den zahlreichenHilfs-
und ünterstützungsvereinen (societä di
mutuo soccorso), obgleich sie zuweilen
Unterstützung auch in Stnkef allen gewähren,
aber da ihnen überwiegend Handwerker
und Kleingewerbtreibende, auch Bauern an-
gehören, so haben sie im ganzen einen klein-
bürgerlichen Charakter, obgleich viele sich
der Arbeiterpartei angeschlossen haben.
Wirkliche Gewerkvereine, die eine allge-
meine Hebung des Arbeiterstandes und die
Erringung günstiger Arbeitsbecüngungen ver-
folgen, sind die societä di resistenza,
die schon diux;h den Namen ihren Kampf-
zweck bezeichnen und sich in erster Linie
die Durchführung von Strikes zur Aufgabe
stellen. Der älteste Verein dieser Art ist
der Hutmacherverband (federazione dei
capellai), der 1891 85 Zweig vereine mit
5000 Mitgliedern (== 29 ^/o) besass. An der
Spitze der Bewegung stehen die Buch-
dnicker. Die einzelnen Vereine entrichten
an ein Centralkomitee nach der Mitglieder-
zahl bemessene Beiträge, aus denen Strikes
unterstützt werden. Der Mitgliederbestand
betrug 1878 2238, 1881 2958, 1885 3752
(26 ^/o). Infolge des grossen Ausstandos im
Jahre 1896 wurde der Gewerkverein der
Metallarbeiter in Mailand (federazione di
resistenza agil operai metallurgici di Milano)
begründet. Bei den Eisenbahnarbeitem ist
recht deutlich die allgemeine Richtung der
Entwickelung zu verfolgen. Der alte fascio
ferroviero war wesentlich Büdungsverein,
Die später gegründete unione dei ferrovieri
stand auf rein gewerkschaftlichem Boden, bis
sie im Lanfe der Zeit auch politische Be-
strebungen aufnahm. Endlich ist auf dem
am 27. April 1894 in Mailand abgehaltenen
Kongresse ein Verband sämtlicher italienischer
Eisenbahnarbeitervereine (Lega dei ferrovieri)
gebildet.
Einen gewerkschaftlichen Chai-akter
trugen auch die seit 1891 in vielen Städten
(Mailand, Bologna, Brescia, Ci-emona, Florenz,
Monza, Parma, Pavia, Piacenza, Rom, Turin,
Venedig, Neapel, Padua und San Pier
d'Arena) gegründeten Arbeiterkammem
(camere di lavoro), die 1893 einen Ge-
samtverband (federazione italianadelle camere
di lavoro) schufen, ein Arbeitersekretariat
(segrctario dei lavoro) einrichteten, jährliche
Delegiertenkonferenzen abhielten und eine
eigene Zeitschrift (giornale deUe camere
di lavoro) herausgaben. Als Aufgaben
wurde in den Statuten bezeichnet : 1. Samm-
lung von Nachrichten über die Lage des
Arbeitsmarktes, 2. Errichtung von Arbeits-
nachweisen, 3. Beeinflussung der sozialen
Gesetzgebung, 4. Verhandlungen mit den
Unternehmern, 5. Thätigkeit als Schiedsge-
richte und Einigimgsämter, 6. Fördenmg
des Genossenschaftswesens. 7. Pflege der
geistigen Interessen. Politische und religiöse
Fragen sind ausgeschlossen. Im Jahre 1895
betrug die Mitgliederzahl in Bologna 9628,
in Cremona 4494, in Florenz 4000, in Mai-
land 12000, in Neapel 2600, in Parma 1800,
in Pavia 1134, in Rom 10782, in Turin
4806, in Venedig 9163. Die Unterstützungs-
vereine, die Kampfvereine und die Genossen-
schaften standen zu den Kammern meist im
Verhältnis als »societä äderen ti«. Obgleich
vielfach ausgesprochene Sozialdemokraten
die Führung hatten, so standen die Kammern
Hand Wörterbuch der StaatswiaseiiBchaften. Zweite Auflage. lY.
45
j
706
Gewerkvereine (andere europäische Länder und Australien)
zu den Gemeindebehörden, die jenen meist
jährliche Zuschüsse gewährten, in durchaus
freundlichen Beziehungen. Trotzdem hat
unter dem Einflüsse der neuerdings in Italien
hervorgetretenen reaktionären Regierungs-
politik der Minister des Innern durch Erlass
vom 28. November 1896 die Arbeiterkammern
aufgehoben.
Sowohl die von Mazzini begründete Patto
di fratellanza als auch die aus der Anregung
der Lega socialista hervorgegangene und auf
dem Kongress in Genua am 15. August 1892
ins Leben gerufene italienische Arbeiter-
partei (partito dei lavoratori italiani) die
nach ihrer durch Beschluss der Regierung
vom 22. Oktober 1894 erfolgten Auflösung
den Namen partito socialista italiano ange-
nommen hat, haben die Schaffung von 6e-
werkvereiuen in ihr Programm aufgenommen.
Die Arbeiterpartei will dabei die gewerk-
schaftliche imd die politische Thätigkeit
streng getrennt halten und hat die erstere
besonderen Organisationen zugewiesen.
2. Holland. In Holland ist die Gewerk-
schaftsbewegimg noch wenig entwickelt, was
sich daraus erklärt, dass die Bevölkenmg
vorzugsweise aus Landarbeitern, Klein-
bürgern, Handels- und Seeleuten besteht,
während die Industrie nur schwach ver-
treten ist. Infolge hiervon war es bis noch
vor einigen Jahren schwer, Nachrichten
über die holländischen Verhältnisse zu er-
halten, bis 1892 durch Königliche Verfügung
die »Centralkommission für Statistik« ein-
gesetzt wurde, die seitdem wertvolle Er-
hebungen veranstaltet hat. Nach ihren 1894
und 1896 erstatteten beiden Berichten be-
standen vor 1811 in Holland keine Arbeiter-
vereine. Von 1811 — 1855, wo das Koalitions-
verbot aufgehoben wurde, sind 13, von
1855—1865 7, von 1865—1875 37, von
1875—1885 23 und von 1885—1896 245
gegründet. Daneben gab es 343 Vereine,
über die keine Angaben zu erlangen ge-
wesen waren.
Die Mitgliederzahl betnig, soweit genaue
Angaben gemacht wiu-den, im Jalire 1894:
bei 265 allgemeinen Vereinen . . . 42712
„ 133 Gewerkschaften 10 106
„ 181 Hilfskassen 63 201
„ 103 Geselligkeitsvereinen ... 5 601
„ 29 anderen Vereinen 5049
insgesamt bei 711 Vereinen .... 126669
Die angegebenen Mitgliederzahlen sind
infolge von Doppelzählungen wesentlich zu
hoch. Die Gesamtzahl der Gewerkschaften
wurde 1894 auf 226 ermittelt. Der Bericht
von 1896 erwähnt 266 Gewerkschaften mit
16494 IVlitgliedem.
Es bestehen 4 grosse Arbeiterverbände:
1. Het algeraeen nederlandsch werklieden-
verbond mit 23 Zweigvereinen und 2500 Mit-
gliedern. 2. De nederlandsche roomsch-katho-
lieke volksbönd mit 12 Zweigvereinen und
11000 Mitgliedern. 3. Ilet nederlandsch
werkliedenverbond »Patrimoniimi« mit 160
Zweigvereinen und 12000 Mitgliedern.
4. De sociaaldemokratische bond mit 99 Zweig-
vereinen, die aber ihre Mitgliederzahl geheim
halten.
In einer am 27. August 1893 abgehaltenen
Konferenz, zu welcher alle Arbeiterorgani-
sationen ohne Unterschied der Parteistellung
eingeladen waren, wurde das »Nationale
Arbeitersekretariat« gegründet, dessen
Zweck darin besteht eine Verbindung der
verschiedenen Organisationen unter einander
herzustellen, statistische Erhebungen zu ver-
anstalten und mit den Arbeitersekretariaten
anderer Ijänder in Austausch zu treten, auch
nach Ermessen Versammlungen der Central-
vorstände der Verbände einzuberufen. Dem
Sekretariate waren nach dem Berichte vom
Februar 1893 22 Verbände mit 330 Zweig-
vereinen und 15728 Mitgliedern ange-
schlossen. Ende 1895 betrug die Zalü 31
Verbände mit 18 700 Mitgliedern ; am 28. Fe-
bruar 1897 wird sie auf 44 Verbände mit
17 553 Mitgliedern angegeben mit dem Be-
merken, dass die früheren Ziffern infolge
von Doppelzählungen zu hoch gegriffen ge-
wesen seien. 1898 waren es dagegen nur
40 Verbände mit 12950 Älitgliedern.
Unter den einzelnen Organisationen
stehen weitaus im Vordergründe die Dia-
mantarbeiter, die Anfang 1898 7500 Mit-
glieder zählten. Der Typographenbund hatte
1716, der Zimmererverband 2500, der änti-
sozialdemokratische Eisenbahnarbeiterver-
band 1260, der Möbelarbeiterverband 600,
der Bäckerverband 931 Mitglieder.
Diuxih Gesetz vom 2. Mai 1897 ist die
Errichtung von Arbeiterkammern an-
geordnet, die aus Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern in gleicher Zahl zusammengesetzt
sind und neben der Erstattung von Be-
richten an die Behörden auch die Verhütung
und Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten
zur Aufgabe haben. Ende 1899 bestanden
62 derartige Kammern, wovon 8 auf Amster-
dam, 6 aiS Rotterdam, 5 auf Haarlem und
je 4 auf Dortrecht, Leiden, Utrecht und
Haag entfielen.
3. Die skandinavischen Länder. In
Dänemark ist der Anstoss ziu* gewerk-
schaftlichen Organisation von der Inter-
nationale ausgegangen, indem 1871 der
»Internationale Arbeiterverein für Dänemark«
gebildet wurde, der, in eine Reihe von
Sektionen für die verschiedenen Gewerbe
eingeteilt, die Befördenmg von Arbeits-
einstellungen und die Gründimg von Pro-
duktivassociationen als seine Aufgabe ansah.
Als 1873 die Internationale polizeilich auf-
gelöst wurde, bildeten die einzelneu Sek-
tionen selbständige Gewerkvereine, deren es
Qewerkvereine (andere europäische Länder und Australien)
707
damals 27 gab, von denen aber die Mehrzahl
sich später wieder zu einem ^sozialdemo-
kratiscnen Bunde« zusammensclüosseu. Seit
1880 ist die Gewerkschaftsbewegimg stärker
gewonlen und es liaben sich in den meisten
Gewerben Gewerkvereine gebildet. Auf dem
sozialdemokratischen Kongi'ess in Kopenhagen
Ende 1892 w^urden die Zahl der Paitei-
angehörigen auf 15000, die der gewerk-
schaftlich organisierten Arbeiter auf 32000
angegeben. Die Fortsehritte in den letzten
Jahren ergaben folgende .Zahlen:
1894 1896
Die Mitgliederzahl der
Gewerkvereine betmg 27841 63377
Davon waren in
Centralverbänden . 25576 54 757
in einzelstehenden Lo-
kalvereinen . . . 2265 8620
Centralisierte Vereine
gab es 426 802
die sich zu Ver-
bänden zusammen-
geschlossen hatten .23 40
Loktuvereine gab es . 45 53
die Jahreseinnahme be-
trug in Kronen ... 3^7 372,14 7" 063,61
die Jahresausgahe be-
trug in Kronen . . .261 862,97 586669.83
Ausserdem bestanden noch Centralver-
bände der Weissgerber, der Lithographen
und der Dienstboten mit 12 Vereinen imd
etwa 1000 Mitgliedern. Vom 3. — 5. Januar
1898 ist in Kopenhagen der erste reine Ge-
werkschaftskongress abgehalten, auf dem
943 gewerkscliaftliche Organisationen mit
69720 Mitgliedern durch 403 Abgeordnete
veiixeten waren. Hier wurde der Zusammen-
sclüuss zu einem einheitlichen Verbände
unter dem Namen »Vereinigte Fachvereine
Dänemarks« erreicht. Ausserhalb des Ver-
bandes stehen noch 52 lokale Vereine in
Kopenhagen mit etwa 20 000 Mitgliedern. —
In Norwegen hatten bis 1886 nur die
Buchdrucker eine schon 1871 begründete
gewerkschaftliche Organisation. Seitdem
haben sich eine Anzahl Lokalvereine gebildet,
die seit 1890 sich auch meist zu Central-
verbänden zusammengeschlossen haben. Sol-
che gab es 1898 für die
Vereine Mitglieder
Buchdrucker .... 20 i 400
Metallarbeiter ... 13 1 200
Tischler 12 1 000
Schneider 12 1 000
Schuhmacher .... 12 1 000
Maler 6 900
Eisenbahnarbeiter , . 16 rooo
Bäcker 24 900
Steinhaner 10 800
Former 4 500
Klempner 3 400
Buchbinder .... 3 400
Hafenarbeiter .... 7 1 600
Zusammen 142 12 icx)
Daneben giebt es noch in Christiania
einen Verband unter dem Namen >De
samwirkende Fagforeninger i Kristiania« mit
50 Vereinen und 6000 Mitgliedern, die aber
zum Teil zugleich den oben aufgeführten
Vereinen, soweit sie in Christiania ilu*en Sitz
haben, angehören. Endlich besteht noch
der »Norsk Fagforbund« mit 30 Vereinen
und etwa 2000 Mitglietlern, die weder den
Centralverbänden noch den »Samwirkende
Fagforeninger« angehören. Insgesamt giebt
es in Norwegen etwa 270 Fachvereine mit
ungefähr 24000 Mitgliedern. Auf dem am
2. April 1899 in Christiania abgehaltenen
Oewerkscliaftskongrosse, auf dem 73 Vereine
mit rund 20000 Mitgliedern durch 113 Ab-
geordnete vertreten waren, wurde unter dem
Namen »Laudesorganisation der norwegischen
Fachvereine« ein Gesamtverband für das
ganze Land gebildet.
Bei den meisten der oben genannten
Centralverbände , mit Ausnahme dei" Buch-
drucker, und ebenso in den »Sam>\arkende
Fagforeninger« überwiegt der sozialdemo-
kratische Einfluss, w^rend der »Norsk
Fagforbund« mehr auf dem Boden der liberalen
Partei steht. —
In Schweden hat sowohl die politische
wie die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung
erst seit 1883 begonnen. Gewerkschaftliche
Centi-al verbände gab es 1895 für die Metall-
arbeiter, die Giesser, die Klempner und
Blecharbeiter, die Holzarbeiter, die Schuh-
macher, die Schneider, die Sattler und
Tapezierer, die Erd- und Hafenarbeiter, die
Maurer, die Maler, die Töpfer, die Böttcher,
die Bäcker, die Buchdrucker, die Buchbinder
und die Kellner. Die Tabakarbeiter besitzen
einen Verband für die 3 skandinavischen
Länder.
Ueber die Mitgliederzahlen liegen nur
Angaben vor von den in Stockholm bestehen-
den Ortsvereinen. Von diesen hatten die
Metallarbeiter 9 Vereine mit 843 Mitgliedern,
die Giesser 240 Mitglieder, die Klempner
und Blecliarbeiter 2 Vereine mit 101 Mit-
gliedern, die Holzarbeiter 7 Vereine mit 385
Mitgliedern, die Schuhmacher 2 Vereine mit
2G6 Mitgliedern, die Schneider 461 Mitglieder,
die Sattler und Tapezierer 2 Vereine mit
72 Mitgliedern, die Erd- und Hafenarbeiter
2 Vereine mit 350 Mitgliedern, die Maurer
240 Mitglieder, die Maler 508 Mitglieder,
die Bötticher 44 Mitglieder, die Tabakarbeiter
125 Mitglieder. Ausserdem gab es noch
36 Vereine, die keinem Verbände angehöiten,
mit etwa 1000 Mitgliedern. Die meisten
Mitglieder gehören zugleich der sozialdemo-
kratischen Partei an.
Auf dem vom 5. — 8. August 1898 in
Stockholm abgehaltenen Gewerkschaftskon-
gresse, auf dem 23 Centiulverbände , 13
l^kalvereine und 19 »Arbeitergemeinden«
45*
708
Gewerkvereine (andere europäische Länder und Australien)
(lokale Gesamtverbände, entsprechend den
deutschen Gewerkschaftskartellen) mit insge-
samt über 50000 Mitgliedern durch 269 Ab-
geordnete vertreten waren, ist eine einheit-
heitliche Landesorganisation mit einem
Sekretariat begründet. Mit 173 gegen 83
Stimmen wurde beschlossen, den Vereinen
die Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen
Pai'tei zur Pflicht zu machen. —
Seit einigen Jahren hat man den Plan
gefasst,eine gemeinsame Organisation
der drei skandinavischen Länder
zu begründen, die man zimächst durch ge-
meinsame Kongresse vorzubereiten sucht.
So wurde auf dem am 18. August 1892 in
Malmö abgehaltenen skandinavischen Sozia-
listenkongresse der Zusammensclüuss der
Fachvereine aller drei Länder namentlich
zum Zwecke gemeinsamen A^orgehens in
Lolinfragen beschlossen und dieser Beschluss
auf dem skandinavischen Arbeiterkongi-esse
am 19.— 22. Juni 1867 in Stockholm wieder-
holt.
4. Die G. in Anstralien. Die Zustände
in Australien verdienen das lebhafteste In-
teresse, weil dort infolge des Fehlens einer
geschichtlichen Tradition die sozialen Ver-
hältnisse sich ge Wissermassen auf jungfräu-
lichem Boden entwickelt haben. Das Er-
gebnis ist ein durchaus günstiges gewesen.
Nicht allein sind dort manche Arbeiter-
forderungen verwirklicht die man in Europa
als undurcihführbar anzusehen pflegt, sondern,
obgleich es ohne Kämpfe zwischen Arbeitern
und Arbeitgebern nicht abging, sind doch
mit dem Geschaffenen heute beide Teile
zufrieden. Dies gilt insbesondere von der
Durchfühnmg des Achtstundentages. Die
ersten, die diese Forderung erhoben und
schon 1856 ohne nennenswerten Widerstand
durchsetzten, waren die Bauhandwerker, auf
sie folgten die Maschinenbauer, die Eisen-
giesser und die Schiffbauer. Nach einem
Rückschläge, der Anfang der 60er Jahre
durch das massenhafte Zurückströmen der
Arbeiter von den erschöpften Goldfeldern
des Innern herbeigeführt wurde, beginnt
seit 1869 die Ausdehnung auf alle Arbeiter-
klassen. Heute sind von wichtigen Ge-
werben nur noch die Textilarbeiter zurück-
geblieben. Der Besitz des Achtstundentages
ist die Vorbedingung für die Anerkennung
der betreffenden Organisation als Gewerk-
verein und Aufnahme in den Centi-alaus-
schuss , in welchem über 60 Vereine ver-
treten sind. Der Tag, an welchem im Jahre
1856 die Bauhandwerker den Achtstundentag
errangen, der 23. April, wird als sogenannter
demonstration day jährlich als allgemeiner
Festtag der gesamten Arbeiterschaft Austra-
liens mit grossem Pomp gefeiert, wobei
nicht nur die höchsten Spitzen der Behörden
imd der Statthalter, sondern auch die Ge-
werkvereine der Arbeitgeber sich durch Ver-
treter beteiligen.
Auch die Löhne haben in Australien
eine Höhe, die selbst die englischen und
amerikanischen übersteigt. Interessant ist,
dass man in Neu-Seeland mit Erfolg den
Versuch gemacht hat, dieselben durch
Richterspruch festzusetzen. Nach
einem 1891 erlassenen Gesetze hat bei aus-
brechenden Streitigkeiten sowohl der Unter-
nehmer wie der Gewerkverein der Arbeiter
das Recht, eine Verhandlung vor dem Be-
zirksamte (district board) zu fordern. Aller-
dings kann dessen Spruch nicht zwangs-
weise durchgefülirt werden, aber wenn er
nicht befolgt wird, so kann die Entscheidung
des court of arbitration angerufen werden,
welches aus einem Richter des obersten
Gerichtshofes als Vorsitzendem und je einem
von den organisierten Unternehmern und
dem Verbände der Gewerkvereine gewählten
Beisitzer besteht und die Befugnis liat, falls
er die Sache für dazu angethan erachtet,
die Befolgung seines Spruches durch Geld-
strafen bis zu 500 Pfund Sterling zu er-
zwingen. Die Befugnis des Gerichtshofes
ist übrigens nicht auf die Höhe des Lohnes
beschränkt, sondern bezieht sich auch auf
die Entscheidung über Akkordlohn sowie
über die Arbeitszeit, die Feiertage, die Zahl
der Lehrlinge, die Verpflichtung des Ar-
beiters, Unterstützungskassen beizutreten, und
das Recht des Unternehmers, organisierte
Arbeiter auszuschliessen oder nicht organi-
sierte zu beschäftigen. Die mit einer so
wichtigen Entscheidung betrauten Richter
haben bisher viel Takt und Umsicht be-
wiesen, und so sind die bisherigen Erfah-
ningen über die Einrichtung in Neu-Seeland
durchaus günstig, w^ährend sie sich in Neu-
Süd- Wales nicht bewährt hat
In Victoria hat man seit 1897 in ver-
schiedenen Gewerbszweigen* gesetzliche
Mindestlöhne eingeführt, und nach dem
Berichte des Fabrikinspektors für 1898 waren
solche für 11000 von den insgesamt be-
schäftigten 45000 Arbeitern in Kraft. In
Neu-Seeland hat ein G. v. 21. Oktober 1899
sich diesem Vorbilde zunächst für die Ar-
beiter \md Arbeiterinnen unter 18 Jahren
angeschlossen.
Eine natürhche Folge dieser Verhältnisse
ist, dass einerseits die Arbeiterschaft sich
auf einer selbst in England unbekannten
hohen Stufe des Wolüstandes und der Bil-
dung befindet, und dass anderei*seits die
sozialistischen Ideeen in Austra-
lien so gut wie gar keinen Boden
gefunden haben, ja dass sogar Mass-
regeln des Arbeiterschutzes, die in Deutsch-
land seitens der Gesetzgebung getroffen sind,
dort von den Arbeitern nicht gewünscht
werden, indem man vorzieht, das Erforder-
Gewerkvereine (andere europäische Länder und Australien)
09
liehe durch Verhandlungen mit den Arbeit-
gebern zu erreichen. Strikes sind allerdings
auch in Australien nicht unbekannt^ ja der-
jenige der WoDscherer im Jahre 1890 er-
langte sogar einen grossen Umfang, indem
allmählich auch andere Gewerbe mit hinein-
gezogen wurden, bis er infolge der üeber-
spannung der Arbeiterforderun^n und des
dadurch bewirkten Umschlages m der öffent-
lichen Meinung schliesslich mit einem Miss-
erfolge der Arbeiter endigte. Aber immer-
hin sind Streitigkeiten dieser Art wesentlich
seltener als in Europa, und selbst solche
Kämpfe haben bisher nicht vermocht, dem
sozialistischen Gedanken Boden zu ver-
schaffen. Die Statuten aller Gewerkverehie
bezeichnen ausdrücklich als ihren Zweck
die Aufrechterhaltung des Achtstundentages
und die Erringung günstiger Arbeitsbe-
«lingungen durch Beförderung des guten
Einvernehmens mit den Arbeitgebern unter
möglichster Vermeidung von Strikes.
Die oberste Leitung liegt in den Händen
der für jede Provinz bestehenden Central-
ausschüsse, denen eine fast unbeschränkte
Macht über die Mitglieder eingeräumt ist.
Das Recht der juristischen Persönlichkeit
ist den Gewerkvereinen schon längst ein-
geräumt: man ist jetzt bestrebt, ihnen auch
das Besteuenmgsrecht gegenüber den Mit-
gliedern zu gewähren und sie dadurch zu
staatlichen Faktoren zu erheben. Dagegen
hat man das Kasse nwesen wenig ausge-
bildet, indem die Mitglieder der Gewerk-
vereine meistens gleichzeitig Versicherungs-
gesellschaften (frieudly societies) angehören.
In derselben Weise wie die Arbeiter sind
aucli die Arbeitgeber durchgängig in Ge-
werkvereinen organisiert.
In Australien ist, wie in anderen Ländern,
die Gewerkschaftsbewegung von den ge-
lernten Arbeitern ausgegangen, doch haben
sich insbesondere seit 1890 auch die un-
gelernten der Organisation zugewandt,
und es besteht jetzt ein Central verband
derselben, die General labor union. Auch
die landwirtschaftlichen Arbeiter (bush la-
bourers) und insbesondere die schon ge-
nannten WoUscherer haben seit Ende der
80 er Jahre Gewerkvereine gebildet. End-
lich ist man in neuester Zeit bestrebt, an
Stelle der kolonialen Ausschüsse eine ein-
heitliche Centralinstanz aller
australischen Gew erk vereine
zu setzen, aber der 1890 mit der Gründung
der Australian labor federation gemachte
Versuch hatte keinen befriedigenden Erfolg,
weil die entwoi-fenen Statuten eine ausge-
sprochen sozialistische Tendenz hatten und
deshidb wenig Beifall fanden. Im September
1895 haben sich auf einer Konferenz in
Sidney die CentraJausschusse von Queens-
land und Neu-Süd- Wales sowie zwei lokale
Gewerkvereine Südaustraliens zu einem festen
Bunde zusammeogeschlossen, der beabsich-*
tigt , die Gesamtvereinigungsbestrebungeii
energisch in die Hand zu nehmen.
Auch der Vorschlag einer gemein-
schaftlichen Organisation von Ar-
beitern und Arbeitgebern ist bereits
gemacht durch ein Gesetz der Kolonie
Victoria v. 28. Juli 1896, welches den Gouver-
neur ermächtigt, für eine Reihe von Ge-
werben eine je zur Hälfte aus beiden Teilen
gebildete Behörde einzusetzen, die das Recht
hat, die Mindestsätze von Zeit- und Akkord-
lohn zu bestimmen. Uebertretungen werden
mit Geldstiufe bis zu 100 Pfund Sterling
bedroht. Nach dem Berichte des Fabrik-
inspektors vom 1. Juli 1898 ist von dieser
Befugnis u. a. für die Bäcker, Schuhmacher,
Tischler und die Wäsche- und Bekleidungs-
industrie mit befriedigendem Erfolge Ge-
brauch gemacht.
Statistische Angaben liegen nur
hinsichtlich einzelner Vercine vor. So be-
sass nach dem erwähnten Berichte der Ge-
samtverband der Bergleute im Febniar 1891
94 Zweigvereine mit etwa 25000 Mitgliedern,
die sich über alle Kolonieen verteilten. Nach
dem auf dem Delegiertentage am 24. Februar
1891 erstatteten Bericht hatte der Verband
seit seinem damals 18 jährigen Bestehen
insgesamt 71293 £ für Unfallentschädigung,
13929 £ für Sterbegeld, 15329 £ für andere
ünterstützungszwecke und nur 6614 £ für
Strikes ausgegeben. Die WoUscherer be-
sassen einen Verband für Südaustralien,
Victoria und Neu-Süd-Wales mit 25000 und
einen solchen für Queensland und Neu-
seeland mit 10000 Mitgliedern. Insgesamt
schätzt man die Zahl der organisierten auf
75 ^/o aller Arbeiter.
Litteratur : i. It alien. Dieselbe ist äusserst dürftig
(vergl. Biermer im II. Erg. Bande zur I. Aufl. d.
Werkes S. 4'^7). Die beste deutsche Quelle bilden
die Aufsätze von Sombart in der ^Sozialen P-f*ajrisa
soivie in Brauns Archiv für sozUüe Gesetz-
gebung, insbesondere VI 209, 215, 549, 557
VIII 52L Ausserdem Virglli daselbst XX
7iä6. — W* Kulentann, Die Gewerkschafts-
bewegung. Darstellung der gewerkscfiaftlichen
Organisationen der Arbeiter und der Arbeit-
geber aller Länder, Jena 1900, Fischer. —
Mitteilungen über die italienischen Gewerkverein6
finden sich in C, F. Ferraris, Saggi dt eco-
nomia statistica, übersetzt von Eheberg in
SchmoUers Jahrb. V S47, sowie in der JStatistica
delle societu di mutuo soccorso, Rom 1888, S, XV
und in Colnaghi: Italy , the condition of
labour 1891. — Einen reberblick über die Ent-
Wickelung der italienischen sozialistischen Partei,
bei der auch die gewerkschaftlichen Verhältnisse
Berücksichtigung finden, giebt der für den inter-
nationalen Arbeiterkongress in Ijondon 1896 er-
stattete Bericht vom 27. Juli 1896, Mailand,
Druckerei des Vorstandes der sozi^ilist ischen
Partei.
710 Gewerkvereine (and. eur. Länder u. Australien — Ver. Staaten von Amerika)
2. Ho Hand. Diewwhtigste Quelle süid die im
* Texte erwähnten Benekte der nCe^itralkommünon
für Statütti'ku, die für 1894 und 1896 unter dem
Titel nBijdragen tot de Statistiek van Nederland«
im Verlage von v. Wedden en Mhufelen in
*8 Gravenhage erschienen sind. Vergl. ausserdem
H, Polak in der nXeuen Zeitn 1894(95 Nr. 2
S. 54. — Falkenberg und Mayer in Brauns
Archiv f. soz. Ges. XI 750. — W. Ktilemann,
Die Getcerkschaftsbewegung. — Das n Nationaal
Arbeid8-tk'cretariaa4, in Nederlanda (Sekretär
<r, van E r k e l • Amsterdam) veröffentlicht seit
189J regelmässige Berichte.
3. Die skandinavischen Länder.
W. KulentanUf Die Gewerkschaftsbewegung.
4. Australien. £ine vorzügliche Dar-
stellung der australischen Arbeiterverhältnisse,
insbesondere hinsichtlich der geir er ksc haftliehen
Entwickelung giebt O. Ruhi<äid in seinem
Aufsätze: Achtstundentag und Fabrikgesetz-
gebung in Australien, Zeitschrift für das
gcs. JStaatsir., Jahrg. 47, S. 279 ff. Vergl. ausser-
dem Charles JDilke in der Bevue sociale et
poUtique, Bnlssel 1891, H. 2; H. H. Clmmpiorif
The crushing defect of trade unionism in Aus-
tralia, Ninetcenth Century Februar 1891 ; W. P.
Steves in Brauns Archiv f. soz. Ges. XI 635.
— W. Kulem-ann, Die Getcerkschaftsbewegung.
W, KuLemann.
VIII. Die Gewerkvereine in den Ver-
einigten Staaten Ton Amerika.
1. Geschichte. 2. Die American Federation
of Labor. 3. Allgemeine Charakteristik.
1. Geschichte. Bis in die Mitte des
19. Jahrhunderts ist in den Vereinigten
Staaten von Amerika das Gewerkvereins-
wesen entsprechend den Thatsacheu, dass
die Grossindustrie nur imvoUkommeo aus-
gebildet war und dass das Handwerk in den
östlichen Grossstädten infolge des liäufigen
Fortzuges seiner Angehörigen nac;li dem
"Westen und des zwar gleichzeitigen, aber
doch zunächst stets ungenügenden Ersatzes
durch landesunkundige Einwanderer nur
wenig soziale Festigkeit hatte, kaum über
ein durch lokale Zersplitterung und gedank-
liche Unreife gekennzeichnetes Anfangs-
stadium hinausgekommen.
Wenn auch schon am Ende des achtzehnten
Jalu'himderts in den Arbeiterunterstützungs-
vereinen von Schuhmachern, Schneidern,
Küfern, Maurern imd Hutmachern das
Interesse ihrer Mitglieder den Arbeitgebern
gegenüber wahrgenommen und die Gewerk-
schaft der Schiffszimmerleute von New- York
schon 1803, in Boston 1822 durch das Ge-
setz anerkannt wurde, wenn ferner von
zahlreichen Strikes zur Abkürzung der Ar-
beitszeit und zur Erhöhung der Löhne in den
ersten vier Jahrzehnten des neunzehnten Jahr-
hunderts berichtet wird und selbst schon
1S33 und 1834 in New-York, Boston, Balti-
more und Philadelphia »General Trades
Unions«, d. h. städtische Verbände verschie-
dener lokaler Gtewerkvereine bestanden, so
entbehrten doch alle diese Erscheinungen
der Nachhaltigkeit und vermochten allge-
meine wirtschaftliche Stockungen wie die
Freihandelsperiode von 1816 — 1824 und die
Handelskrisis von 1837 nicht zu überstehen.
In den fünfziger Jahren verzeichnet die
Geschichte der amerikanischen Industrie zu-
gleich mit der Ausbildung des Eisenbahn-
wesens einen grossartigen Aufschwung der
Pmduktion und damit auch eine lokale Zu-
sammenziehung von Arbeitermassen, welche
die Gefahr der individuellen Konkurrenz bei
der Nachfrage nach Arbeit empfinden und
nach dem Princip »in unity strength« sich
Koalitionen schaffen. 1860 waren schon
mehrere nationale und internationale (d. h.
besonders auch Canada umfassende) Gewerk-
vereine gegründet worden, von denen der
der Buchdrucker (1850), der Hutmacher
(1854), der Nagelschmiede (1854), der Eisen-,
Stahl- und Zinnarbeiter (1858), der Former
(1859) an erster Stelle zu nennen sind.
Der Secessionskrieg drängte zwar durch
die Unterbrechung der industriellen Thätig-
keit und durch Absorbierung des sozialen
Kleinkampfes die Gewerkvereinsbestrebungen
auf einige Jahre zurück, seine Folgen wirk-
ten aber nicht bloss auf die Verstärkung des
Koalitions Wesens ein, sondern erzeugten auch
in demselben eine allgemeine politische Ar-
beiterbewegimg. Die Befreiung der Neger-
sklaven hatte einen solchen Enthusiasmus
für Humanität und Freiheit hervorgebracht,
dass auch für diejenigen Lohnarbeiter, wel-
che sich in abhängiger Lage befanden, eine
Verbesserung der Lebensweise von Politikern
und von den Betroffenen selbst gefordert
wurde. Der Sieg des industriellen Nordens
bedeutete femer die dauernde Einführung
des Schutzzollsystems für seine Fabrikate,
damit eine Verstärkung der industriellen
Kräfte, ein Wachsen des Grossbetriebes, ein
Anschwellen der städtischen Bevölkerung
und damit eine Vermehiimg der zusammen-
lebenden, gleich interessierten Fabrikarbeiter.
Schliesslich hatte die Papiergeldausgabe
während der Kriegsjahre die Preise der
Lebensmittel, nicht aber in entsprechender
Weise die Löhne erhöht, so dass ein Miss-
verhältnis bei den Einnahmen imd Ausgaben
der Arbeiter vorhanden war, w^elches zu
fortgesetzten Differenzen zwischen ihnen und
ihren Arbeitgebern führte.
Es erfolgte jetzt eine Verstärkung der
alten und die Gründung ^'ieler neuer ünions.
Man veranschlagte 1868 die Summe aller
lokaler Arbeiterkoalitionen auf 3000, von
denen viele nationalen und internationalen
Verbänden angehörten. Zu denselben waren
als die wichtigsten die Brüderschaft der
Gewerkvereine (Vereinigte Staaten von Amerika)
711
Lokomotivfülu'er und der Cigarrenmacher-
verein (1864), der Verband der Zimmerleute
und Maurer (1865), der der Eisenbahn-
kondukteure (1868), der Wollhutmacher, der
Möbelarbeiter, der Schuhmacher (1869), der
Böttcher (1870) hinzugekommen. 1873 waren
als nationale Vereine ferner vorhanden die-
jenigen der Lokomotivheizer, Stukkateure,
Zimmerleute, Kesselmacher, Stubenmaler,
Maroquinarbeiter , Bergleute , Grlasbläser,
Holzschneider, Wagenbauer, Koffermacher,
Sattler und Spinner.
Die politische Arbeiterbewegung begann
im Jahre 1864. Nachdem im Hinblick auf
eine solche, auf Anregung der Maschinen-
bauer-Gewerkschaft die nur kiu-ze Zeit be-
stehende »Labor Reform Association« ge-
scliaffen worden war, wiu'de 1866 auf einem
von dem Präsidenten der Wagenmacher ein-
berufenen Arbeiterkongress die »National
Labor Union« gegründet, welche als Haupt-
zweck verfolgte, für die Abkürzung der Arbeits-
zeit zu agitieren, daneben aber auch die
Bildung von Konsumvereinen, die Errichtung
staatlicher arbeitsstatistischer Bureaus, eine
Aenderung der Systeme der Gefängnisarbeit,
das Reservieren des öffentlichen Landes für
-wirkliche Ansiedler befürwortete. Beson-
ders durch die unermüdliche Thätigkeit des
Präsidenten des Formervereins, William U.
Sylvis, des hervorragendsten amerikanischen
Arbeiterführers in den 60 er Jahren, wurde
die National Labor Union zum selbständigen
S^litischen Handeln gedrängt und schiiess-
ch auch mit der europäischen Internatio-
nalen in Berührung gebracht. Gleichzeitig
waren die Leiter des Verbandes bemüht,
das Gewerkvereinswesen zu vervollkommnen
und durch Schiedsgerichte, eventuell durch
Strikes die Arbeitsbedingungen günstiger zu
gestalten. Nach dem Tode von Sylvis (1869)
bestand zwar die in der National Labor
Union geschaffene Centralisation der Gewerk-
vereine, w^elche damals 178 571 Mitglieder
umfasste, noch einige Jahre fort, ihre Einig-
keit wurde aber bald bei dem Mangel an
geeigneten Führern durch das Eindringen
sogenannter Geschäftspolitiker, die im Dienste
der demokratischen und republikanischen
Partei standen, durchbrochen. Dann kam
die wirtschaftliche Hausse von 1871 — 1873,
die zwar die Gewerkvereine numerisch und
finanziell kräftigte, aber auch viele der bei
den hohen Löhnen sozial zufriedengestellten
Arbeiter der von der National Labor Union
begründeten politischen Pai-tei entfremdete,
überhaupt gegen ,die Arbeiterpolitik gleich-
giltig machte. Der letzte Kongi^ess im Zu-
sammenhang mit der gescheiterten Arbeiter-
bewegimg war 1874 zu Rochester (N. Y.),
stützte sich nur noch auf wenige Ijohnar-
beiter und gedachte deren Interessen in
w^enig geeigneter Weise.
Wälu^nd der grossen Geschäftsstockung
von 1874 — 1879 lösten sich nach verlorenen
Ausständen und bei der Erschöpfimg des
Kassenwesens zahlreiche Gewerkvereine auf,
z. B. von der nationalen diejenigen der
Maschinenbauer, Böttcher, Steinhauer, Berg-
leute, Schuhmacher, Wagenmacher. Fast
alle übrigen verloren au Mitgliedern, mehrere
schlössen sich in der Not zusammen. Nur
ganz wenige Vereine wurden \mter der Vor-
aussetzung lokaler und gewerblicher Be-
sonderheiten in dieser Periode gegründet.
Gewaltthätige Arbeiterausstände und Ge-
heimbünde (die MoUy Maguii^es in den
Kohlenrevieren Pennsylvaniens) kennzeichnen
den durch die Arbeitslosigkeit erzeugten
Druck. Den Höhepunkt der sozialen Unzu-
friedenheit bilden die grossen Strikes im
Sommer 1877, welche von Eisenbahnarbeitern
des Ostens ausgingen, sich dann über die
ganze Union erstreckten und viele andei^e
Gewerbe in Mitleidenschaft zogen. Die
Brüderschaft der Lokomotivführer war stark
bei den Ausständen beteiligt, war aber nicht,
wie öfters behauptet worden ist, der An-
stifter und fortgesetzte Schürer derselben,
sondern zeichnete sich während des Strikes
durch Ruhe und Besonnenheit aus.
Der nordamerikanische Census von 1880
kennt nur 12 nationale resp. internationale
Gewerkvereine. Von nun an schreitet aber
die Bewegung von neuem rasch vorwärts.
Zwar war 1884 und 1885 wiederum eine
aDgemeinere Produktionsstörung eingetreten,
sie wirkte aber einerseits nicht so intensiv
und extensiv wie die vorhergehende,
andererseits hatten die Arbeiterverbände in
der V^oraussicht derselben die Widerstands-
kassen gefüllt und das Gefühl der Solidari-
tät unter den Mitgliedern gepflegt, so dass
die Krisis ihnen nur wenig Schaden zufüg^.
Die American Review vom 1. Januar
1884 giebt in einer Statistik über die Ge-
werkvereine die Zahl der nationalen auf 26,
der internationalen auf 15 an mit einer
Gesamtmitgliedschaft von 434 500 Personen.
Dazu kamen noch die zahlreichen ausschliess-
lich lokalen Vereine, welche meist zu loka-
len Centralisationen verbunden waren.
Die Entwickelung der amerikanischen
Gewerkschaften in den 80 er Jahi-en wird
abgesehen von der Gründung neuer und von
der Wiederbelebung und Verstärkung alter
Verbände, dadurch besondere als fortschrei-
tend gekennzeichnet, dass sie nach mancher-
lei ephemeren Versuchen in den vorher-
gehenden Jahren, unter einander dauernde
Verbindungen anknüpfen und damit sich in
weitei-e gewerbliche, lokale, staatliche und
nationale Organisationen eingliedern. Die
Gründe dazu sind sowohl in dem erwünsch-
ten Ausschluss der Konkurrenz verschieden
Bescliäftigter zu suchen, welche bei der
712
Gewerkvereine (Vereinigte Staaten von Amerika)
fortschreitenden Arbeitsteilung und der da-
mit vielfach verbundenen Vereinfachung
der Arbeit immer schärfer hervortrat, als
auch in dem Besti^eben, politischen Einfliiss
zu gewinnen. So haben z. B. die verschie-
denen Kategorieen der Eisen- und Stalil-
arbeiter oder der Hafenarbeiter oder der
Eisenbahnleute Verbände geschaffen; so
finden wir in vielen Grossstädten die kon-
servativen Trades Assemblies, die den eng-
lischen Trades Councils entsprechen, und
die umfassenderen Central Labor ünions,
welche alle Arten Koalitionen — nicht bloss
Gewerkvereine wie die ersteren — gelernter
und ungelernter Arbeiter, feste Vereine mit
geordnetem Kassenwesen und lose Strike-
vereine, solche mit gemässigten mid solche
mit sozialistischen Tendenzen enthalten;
ferner die State Trades Assemblies, Gewerk-
schaftscentralisationen in den Einzelstaaten
zur Ausübung einzel staatlicher Politik (z. B.
in New- York, New- Jersey, Pennsylvanien,
Ohio, Illinois), endlich die American Fede-
ration of Labor für das ganze Gebiet der
Union.
Dazu kommen die Ritter der Arbeit,
deren Organisation zwar im Princip auf
dem lokalen Zusammenleben der Lohnarbei-
ter beruht, die aber auch Gewerkvereine an
sich angegliedert haben (vgl. d. Art. K n i g h t s
of Labor).
Die New - Yorker Volkszeitimg (vgl.
Wochenblatt vom 27. August 1892) hat eine
Enquete darüber veranstaltet, wie gross die
Zahl der in Gewerkvereinen imd ähnlichen
Verbänden organisierten Lohnarbeiter in den
Vereinigten Staaten und Canada im Jahre
1892 gewesen ist, imd ist dann nach kriti-
scher Pnifung der eingegangenen Berichte
und mit ergänzender Schätzung derjenigen
Vereine, welche keine Antwort gegeben
hatten, zu folgenden Resultaten im einzelnen
gekommen :
1. Die American Federation of Labor
umfasst 350000 Mitglieder, von denen 306000
nationalen und internationalen Gewerkver-
einen und der Rest 800 nur lokalen Ver-
bänden angehören. Die bedeutendsten der
ersteren Art sind die Brotherhood of Cai*-
penters and Joiners mit 51313, die Amal-
ganiated Association of Iron and Steel
Workers mit 30 000, die International Typo-
graphical Union mit 29 000, die Cigarmakers
International Union mit 24000, die United
Mine Workera mit 20000, die Journevmen
Taüors of America mit 16000, die Brother-
hood of Painters and Decorators mit 16694,
die Lasters Protective Union mit 10000, die
Boüermakers International Union mit 10 000
Mitgliedern.
2. Die Knights of Labor haben 205000
Mitglieder.
3. Eine Anzahl von internationalen und
nationalen Vereinen, welche den beiden ge-
nannten Centralvereinen nicht angehören,
umfasst 266871 Personen. Darunter sind die
International Bricklayers and Stonemasons
Union mit 35000, die Brotherhood of Loco-
motive Engiueers mit 31000, die Brother-
hood of Locomotive Firemen mit 25071, die
Brotherhood of Railroad Trainmen mit
23500. der Order of Railway Telegraphers
mit 22506, die Granite Cutters National
Union mit 20000, die Operative Plasters
International Union mit 14000, die Musicians
National League mit 11000, der Omder of
Railroad Conductors mit 10000, die National
Association of Machinists mit 10000, die
Brotherhood of Railroad Carmen mit 10000
Mitgliedern.
4. 14 Vereine, von denen nicht ermittelt
wurde, ob sie der Föderation angehören oder
nicht, lunfassen 55900 Teilnehmer.
5. Vereine, deren Namen nicht aUgemeia
bekannt sind, Geheimorden etc. sind auf
50000 Mitglieder abgeschätzt.
Diese 5 Posten zusanunen machen 926900
aus, jedoch sind in ihnen 25000 Personen
zweimal gezählt worden, weü sie sich zwei
Organisationen zugleich angeschlossen haben,
z. B. den Arbeitsrittem und der Föderation.
Demnach gelangen wir zu der Summe von
rund 900 000. Dieselbe ist vermutlich etwas
zu hoch gegriffen, da einige der Vereine,
um ihr Ansehen zu erhöhen, wohl zu hohe
Angaben gemacht haben.
Die Volkszeitung kommt zu dem approxi-
mativen Resultate von 825000 und glaubt,
dass ca. lO^/o der Lohnarbeiter des Landes
einer Organisation zuzm'echnen seieo.
Nach der Geschäftskrisis von 1893 nahm
die Zahl der Gewerkvereinsmitglieder
wiedenim erheblich ab. Im Sommer 1896
wurde sie ohne Arbeitsritter auf 452000
veranschlagt. Der Verlust betrug demnach
ungefähr ein Drittel, während er in der
Geschäftsdepression der 70 er Jahre auf 65 ®/o
berechnet worden ist. An Stelle der acht
nationalen Unions von 1878 gab es jetzt 72,
von denen 56 der amerikanischen Föderation
angehörten. Nicht bloss die Zunahme der
Zalil, sondern auch der Festigkeit der Ai'-
beiterverbände ergiebt sich hieraus. Seit
1896 sind sie von neuem in einem starken
Wachstum begriffen. Das arbeitsstatistische
Bureau des Staates New- York berichtet für
September 1897 nur in diesem Staate allein
von 1009 Organisationen mit 168454 und
für ein Jahr später von 1087 Organisationen
mit 171067 3^Iitgüedern. Im Herbst 1899
wurden sogai- 1320 Verbände mit 209 120
Gewerkschaftsgenossen gezählt. Nach der-
selben Quelle waren dies 15 "/o der organi-
sierten Arbeiterschaft der Vereinigten Staa-
ten, die also mit der Jahrhimdertwende auf
etwa 14(X)000 zu veranschlagen ist Im
Gewerkvereine (Vereinigte Staaten von Amerika)
713
Sommer 1899 betrug die Zahl der nationalen
imd internationalen Gewerkvereine 84.
2. Die American Federation of Labor.
Nach dem Untergang der nationalen Arbei-
ter-Union besassen die Gewerkvereine keine
umfassende Gesamtorganisation bis zum
Jahre 1881, in welchem auf der Zusammen-
kunft in Pittsburg, besonders unter dem
Konkiurenzdruck der Arbeitsritter, deren
Erfolge, die Arbeiterscharen zu sammeln, ge-
rade damals sehr hervortraten und ein Auf-
saugen der beruflichen Vereine fürchten
Hessen, die Federation of organised Trades
and Labor Unions of the United States and
Cauada geschaffen wurde. Die Arbeitsritter
nahmen an der Konvention teil, hielten sich
aber in den nächsten Jaltren mehr und
*melir von den Jahresversammlungen des
Verbandes fern, je mehr derselbe die Hege-
monie über die Arbeiterschaft des Landes
zu gewinnen anstrebte. Ihr hauptsäch-
lichstes Ziel sah die Föderation in der
Gründung von Vereinen gelernter und un-
gelernter Arbeiter, von städtischen Verbän-
den der Arbeitervereine und von nationalen
oder internationalen Gewerkschaften, die sich
natürlich alle ihr anschliessen sollten.
Aussei-dem sollte auf die Gesetzgebung der
nord amerikanischen Union und der einzelnen
Staaten ein fortgesetzter Druck vermittelst
Stimmenabgabe bei den Walüen ausgeübt
werden, um den Lohnarbeitern nützliche Be-
stinmiungen zu erwirken. Es wurden ver-
schiedene Forderungen aufgestellt, wie z. B.
gesetzliche Inkorporierung von Gewerk- \md
Arbeitervereineh, Verbot der Arbeit von Kin-
dern unter vierzehn Jahren, Durchfühi'ung des
nationalen Achtstundengesetzes, Aufhebung
aller Verschwörungsgesetzc. Die Föderation
hatte ein ständiges Bureau, das legislative
Komitee, besondei-e, wenn auch geringe Ein-
nahmen, die zu einer Strikeunterstützung
angeschlossener Mitgliedschaften durchaus
nicht ausreichten. In den bis 1886 folgenden
Jahreskongresseu wurden zwar Einzelheiten
des Prograrames und der Statuten abge-
ändert, aber der Charakter der Einrichtimg
im allgemeinen streng gewahrt. Der Ver-
such, aus dem ökonomisch sozialen Verbände
eine politische Partei zu machen imd das
Programm mehr sozialistisch zu fassen,
schlug fehl. Boykott und Label (Schutz-
marke für die von Unionsleuten angefertig-
ten Waren) w^urden wiederholt und eifrig
unterstützt; vor allem aber wurde für die
Erkämpfung der Achtstundenai-beit agitiert,
und es war insbesondere der grosse Acht-
stimdenkampf vom 1. Mai 1886 ein Werk
der Föderation.
In demselben Jahre schuf sie sich, als
die Arbeitsritter angefangen hatten, Gewerk-
vereine in sich aufzunehmen, eine festere
Form und trug seitdem den Namen The
American Federation of Labor. Um
theoretische Sti'oitigkeiten über die Zweck-
mässigkeit einzelner Arbeiterfordenmgen
auszuschliessen, wurde die bisherige dahin-
bezügliche, umfangreiche Liste durch die
Worte »Gesetzgebung zu Gunsten der or-
ganisierten Arbeiter auf friedliche und ge-
setzliche Weise« ersetzt; es wurden ferner
die Beiträge erhöht, besoldete Beamte,
darunter ein Präsident mit relativ weit-
gehenden Mac^itbefugnissen eingesetzt. Die
Neugründung von Arbeitervereinen bleibt
nach wie vor das nächste \md wichtigste
Ziel, insbesondere sollen auch die lokalen
Gewerkvereine möglichst zu nationalen zu-
sammengeschmolzen werden, denen zu-
gleich vollständige Autonomie für ihre Be-
rufsangelegenheiten zugesichert wird. Für
den Fall, dass Mitglieder der Födci-ation in
einen Ausstand verwickelt werden, welchen
die Exekutive gutheisst, sollen alle ange-
schlossenen Verbände zur Unterstützung
aufgefordert werden.
Von dieser Befugnis hat der Präsident
nur einige Male von 1886 — 1899, insbesondere
zur Erkämpfung des Achtstundentages Ge-
brauch gemacht, und auch in diesen wenigen
Fällen kamen die Beiträge nur un regel-
mässig ein. Bessere Erfolge wnirden im
ganzen durch die den Lohnarbeitern nichts
kostende Boykottierung solcher Geschäfte
erzielt, welche sich den Anforderungen
ihrer Angestellten entgegensetzten. Mit dem
Wachsen der Föderation an Mitgliedern wird
diese Aechtung für die Unternehmer bedenk-
licher, mit ihrer Abnahme schwindet die
Gefahr. In wirtschaftlich guten Jahren,
während welcher die Arbeitslosigkeit nur
gering ist, nehmen die Arbeiterverbände an
Zalil und Umfang zu und gleichzeitig ge-
winnt der Boykott an Bedeutung. Dabei
wei-den immer am meisten diejenigen Fir-
men betroffen, deren Absatz überwiegend
ein lokaler ist, während solche, die weithin
versenden und für das Ausland produzieren,
nur wenig davon berührt werden. Aus
letzterem Grunde hat in England der Boy-
kott niemals solche Verbreitung angenommen
als in den Vereinigten Staaten, deren
industrielle Produkte bis vor kurzem nur
ausnahmsweise für den Weltmarkt herge-
stellt wurden.
Nach den offiziellen, jedenfalls reichlich
hoch bemessenen Angaben der Föderation
musterte sie bei ihrer Reorganisation unge-
fähr 600000 Mitglieder, dann tritt bis 1896
ein ziemlich erhebücher Rückgang ein, der
zeitweise den Verband bis auf 240000
herunterbrachte. Nun folgt von netiem ein
Aufschwung, welcher die früheren Ziffern
wieder erreichen liess. Im Dezember 1898
wurde auf dem Jahreskongress zu Kansas
City von dem Präsidenten berichtet, dass
714
Gewerkvereine (Vereinigte Staaten von Amerika)
zur Zeit 67 nationale und internationale Ge-
werkvereinc mit 10500 Ortsvereinen ange-
schlossen seien, ausserdem 10 staatliclie
und 82 städtische Centralisationen von Ge-
werk- und Arbeitervereinen, 315 Ortsver-
bände, die ohne nationale Gliederung sind,
109 gemischte Vereine, in denen sich Ar-
beiter verschiedener Beschäftigung befinden.
Die Zusammensetzung zeigt, dass zwar das
eigentlich gewerkvereinliche — berufsge-
nossenschaftliche — Element die Grundlage
der Föderation bildet, dass aber das Orts-
princip daneben eine grosse Anerkennung
erlangt hat, mithin von ihr der Grundge-
danke der einst so mächtigen Arbeitsritter,
deren Bedeutung heutzutage ganz dahinge-
schmolzen ist, aufgenommen worden ist. Auf
dem Kongress zu Detroit vom Dezember
1899 wurde mitgeteilt, dass im laufenden
Jahre 73 nationale und internationale Ge-
werkvereine, 11 State Federations of Labor,
118 Central Labor ünions und Trades
Assemblies, 595 Local Unions ohne Verbin-
dung mit nationalen Verbänden \md 202
Federal Labor ünions (gemischte Vereine)
bestanden haben.
Seit 1886 ist Sara. Gompeis mit Aus-
nahme des Jahres 1895 Präsident gewesen,
ein Mann von unbestrittenem Organisations-
talente, grosser Mässigimg und ginindlicher
Kenntnis der amerikanischen politischen
Zustände. Seiner fortgesetzten Wachsamkeit
ist es bisher stets gelungen, die direkte
Verbindung der Föderation mit politischen
Parteien zu verhindern, welchem Gedanken
ein im Sommer 1896 veröffentlichtes Cirku-
lar darin Ausdruck gab : »Beschlossen, dass
Parteipolitik, ob solche demokratisch, repu-
blikanisch, sozialistisch, populistisch, pro-
hibitionistisch oder irgend welcher anderen
Art ist, in den Konventionen der American
Federation of Labor keinen Platz haben soll.«
Indessen muss man nicht glauben, dass
deshalb nun alle allgemeinen politischen
Fragen aus ihren Verhandlungen ausge-
schlossen wären, vielmehr sind z. B.
SchutzzoD, Freisilberprägung, Verstaatlichung
von Verkehrsmitteln. Imperialismus der
Diskussion in der Exekutive und den Jahres-
kougressen oft unterworfen worden, und an
Beschlüssen für und gegen hat es nicht ge-
fehlt. Die Föderation tritt nicht für »trade
unionism pure and simple« ein, wie die
amerikanischen Sozialisten es von ihr be-
haupten, sondern sie ist eine soziale Cen-
tralisation von Arbeitern, deren Führer sehr
wohl wissen, dass durch den Stimmzettel
im Wege der Pressionspolitik manc^hes zu
erreichen ist, dass aber die beiden grossen
politischen Parteien des Landes gewaltige
Maschinerieen sind, in deren läderwerk
einzugreifen für sie durchaus nutzlos ist.
Eine unabhängige politische Arbeiterpartei
zu begründen traut sich die American
Federation nicht zu, als Ziel für die Zukunft
ist eine solche jedoch in Anspruch ge-
nommen.
Erfolge des Verbandes zu Gunsten der
ihm angeschlossenen Arbeiter sind unver-
kennbar teils auf dem Gebiete der Schutz-
gesetzgebung in den Einzelstaaten, teils in
dem Kampf um die Abkürzung der Arbeits-
zeit und um Lohnerhöhung. Auch hat er
die Gewerk- und Arbeitervereinsbildung in
Gegenden und Gewerbe verpflanzt, in denen
sie bis dahin ganz unbekannt war.
8. Allgemeine Charakteristik. Wenn
man bedenkt, dass in den Vereinigten Staaten,
wo mit der öffentlichen Agitation und Re-
klame ein jeder von Jugend auf vertraut ist,
seitens der Gewerkvereinsleute öffentlich für*
ihre Sache vielleicht mehr gethan ist als in
den anderen Ländern, — haben doch ^t
alle hervorragenden Vereine ihre eigenen
Wochen- oder Monatsblätter — und wenn
man ferner nicht bloss die leidenschaftliche,
durch Freiheitsgedanken genährte Selbstver-
teidigung ihret Rechte gegen die Ansprüche
ihrer Arbeitgeber, sondern auch iliren Sinn
für die Ausbildung des Associationswesens,
der dem ganzen Volke eigen ist, berücksich-
tigt, so wird man die Resultate einer fast
vierzigjährigen Agitation nicht sehr bedeu-
tend finden. Hindernd hat der Gewerk-
vereinsbewegung zunächst entgegengestanden
die bunte Zusammensetzung der Lohnar-
beiterbevölkerung aus verschiedenen Rassen
und Nationalitäten. Teils war es die Rassen-
antipathie, teils die Verschiedenheit der
Sprache, welche der Gründung und Erhal-
tung der Koalitionen Schwierigkeiten be-
reiteten. Ferner haben die schnellen Fort-
schritte der Produktionstechnik, insbesondere
der gewerblichen Arbeitsteilung und das
damit fortdauernde, oft sprunghaft eintre-
tende Ersetzen der gelernten durch unge-
lernte Handarbeiter den auf Berufsgemein-
schaft begründeten Gewerkvereinen insofern
geschadet, als sie immer wieder unerwar-
teten Konkurrenten gegenüberstanden. Die
Verschiedenartigkeit der Gesetzgebung in
den vielen Einzelstaaten wirkte auch er-
schwerend auf die Bildung der nationalen
Gewerkvereine.
Schliesslich hat die ünfertigkeit der ame-
rikanischen Kultur, insbesondere die un-
gleichmässige Ausbildung der Volkswirt-
schaft dazu beigetragen, den Gewerkvereinen
den Charakter des Veränderlichen und bis-
weilen des Veränderungssüchtigen zu geben.
Der im Vergleich zu Europa häufige Berufe-
wechsel des einzelnen und der Uebergang
von der Stellung eines Lohnarbeiters zu der
des kleinen Unternehmers oder der des
Politikers, der Fortzug der Familien aus
dem industriellen Osten in die Kolonialge-
Gewerkvereine (Yereinigte Staaten von Amerika)
715
biete des Westens entziehen den Gewerk-
schaften oft dann die Mitglieder, wenn sie
deren am meisten bedürfea, und zugleich
haben aus den gleichen Gründen diejenigen,
welche zurückbleiben, wenig Neigung, Mittel
für Einrichtungen aufzuwenden, aus denen
sie vielleicht bald keinen Nutzen mehr ziehen
können. Daher sind die ziu* Sparsamkeit
und Vorsorglichkeit erziehenden Unter-
stützungskassen besondere für Invalide und
Altersschwache im Vergleich zu England
wenig von den Koalitionen ausgebildet. Wer
Mitglied der letzteren ist, hat wohl die
Kosten der allgemeinen VenÄ^altung zu tragen
und dem Strikefonds seine Beiträge zu ent-
richten, kann sich aber in der Regel ganz
nach seinem Ermessen den etwa sonst be-
stehenden Versicherungskassen anschliessen
oder davon fernbleiben. Die meisten ]^Iit-
glieder ziehen es vor, ihre Kräfte denjenigen
Vereinszielen zuzuwenden, deren Erreichung
ihnen unter allen Umständen zweckmässig
ei-scheint: der Erhöhung resp. der Erhal-
tung des Lohnes imd der Verkürzung der
Arbeitszeit.
Strike und Boykott sind häufige Vor-
kommnisse des transatlantischen Lebens, sie
sind oft von gewaltiger Ausdehnung. Die
Gewerkvereine empfehlen in ihren Statuten
fast durchweg den friedlichen Ausgleich bei
Streitigkeiten mit den Arbeitgebern, aber
Schiedsgerichte und Einiglingskammern haben
infolge der bisherigen Unstetigkeit der ame-
rikanischen Volkswirtschaft noch keine rechte
Bedeutimg gewinnen können.
Eine besondere Erscheinung der nord-
amerikanischen G^werkvereine ist ihre oben
sub 2 geschilderte Föderation. Dieselbe ist
ganz etwas anderes als der Gewerkvereinskon-
gress in England. Beide haben freilich ge-
raeinsam, dass sie zu der Arbeitergesetz-
febung des Landes Stellung nehmen und zu
brtschritten derselben immer von neuem
anregen, aber während in England damit
der Zweck des gemeinsamen Vorgehens er-
schöpft ist, gehen die amerikanischen Vereine
viel weiter, indem sie einerseits zu Gunsten
der Centralisation ihre sozialen Ziele und
Handlungen einer Beschränkung unterwerfen,
also ein Stück ihrer Autonomie aufgeben,
andererseits die besondere Aufgabe der Ar-
beitervereinsbildung ihrem Gesamtverbande
erteilt haben. Derselbe überwacht die so-
ziale Thätigkeit seiner Mitgliedschaften und
greift in deren Interesse, wie bei der Acht-
stundenbewegung und den Boykotts, positiv
ein. Das Bestreben, die Macht der Lohn-
arbeiter möglichst zu koncentrieren, war
bei den Arbeitsrittem ebenfalls hervorge-
treten, und an anderen Versuchen in gleicher
Richtimg hat es keineswegs gefehlt. Es sei
nur an die American Railwav Union von
1893 und 1894 erinnert, und seit 1896
machte eine Socialist Trade and Labor Alli-
ance von sich reden, in welcher aussclüiess-
lich Gewerkschaften mit sozialistischen Mhr
gliedern vereinigt werden soDten. Dieser Ver-
band hat es aber zu keiner rechten Bedeu-
tung bringen können, da eigentlich nur unter
den deutsch sprechenden Arbeitern zahl-
reiche Sozialisten und diese nur in einzelnen
grossen Städten politisch regsam sind. A^er-
schiedene Programme des Sozialismus wer-
den zwar auch von Zeit zu Zeit von ame-
rikanischen Arbeiterführern entworfen und
für einige Monate fehlt es nicht an Enthu-
siasmus bei der Propaganda, aber die Ge-
werkvereine als solche stehen alledem sehr
kühl gegenüber und denken nicht damn,
ihre mühsam geschaffene Organisation zu
Gunsten irgend einer noch so verlockenden
sozialistischen Idee preiszugeben.
Litteratur: A, v, Studnitz, Nordamerikanüche
ÄrheitcrverhältnUse, Leipzig 1877. — H, W»
Famant, Die amerikanischen Gewerkvereine,
Leipzig 1879, — A» Sartorius von Walters-'
hausetif Die nordamerikanischen Gewerkschaften
unter dem Einfluss der fortschreitenden Pro-
duktionstechnik, Berlin 1886. (Mit Angabe der
Speciaüitteratur.J — Derselbe, Der moderne
Sozialismus in den Vereinigten Stauen von
Ametnka, Berlin 1890. — Ricliard T. Ely,
The Lfibor Movement in America, yew-Vork
1896, — John Mar T'irar, The Origin and
Progress of the Typographical Union 1891. —
Geo. Mar NeUl, The Labor Movement 1897.
— W» T, Steadf Der Krieg zwischen Arbeit
und Kapital in den Vereinigten Staaten, deutsch
von M. Pannwitz, 1894. — Caroll D» Wrlght,
fron and Steel Workers im Quaterly Journal of
Economics, 1892. — Derselbe, Die grosse Ar-
beitseinsteUung in Chicago in nDie Zeita, Wien
1894, yo. 1. North American Review, 1892:
Buffalo Strike; Homestead ; Organised Labor;
Ethics of the girat Strikes; 1893: Populist
Party; Ann Arbor Strike; Labor Problem;
Labor Organisations ; 1894: The causes of the
receut Strike. — F, A, Sorge, eine Anzahl von
Aufsätzen in der Neuen Zeit, 1892—1897, be-
sonders : Homestead und Coeur d^Alene ; Buffalo
und Tencssee; Aus den Vereinigten Staaten. —
Handworterb^ich der Staatswissenschaften, L Aufl.,
die Artt. Gewerkvereine in den Vereinigten
Staaten von A, Sartorius v. W alter %hau»en(t
und M, Biemier, — T. A, Carroll, Gmcilia-
tio7i and Arbritration in the boot and shoe
industry, Bulletin of the Department of Labor
2807, — j. o, Brooks, The Trade Union
Label, Bulletin 1898. — E» R. Johnson,
Brotherhood relief and insurance of railway em-
ployers, Bulletin 1898. — E, If. Bemis,
Benefit Features of American Trade Unions,
Bulletin 1899. — Louis Vigourotuc, La Con-
ceniration des forces ourrieres dans l'Amerique
du Nord, Paris 1899. — Vielerlei Details finden
sich auch in den Berichten der einzelstaatlichen
arbeitsstatistischen Bureaus,
A, Sartarius v, Waltershausen,
716
Gewinnbeteiligung
Gewinnbeteiligung.
1. Begriflf und Wesen der G. 2. Zweck
und Aufgaben der G. 3. Die bisherigen prak-
tischen Versuche mit der G. 4. Schwierigkeiten,
Vorzüge und Nachteile der G. im allgemeinen.
5. Schlussergebnis.
1. Begriff und Wesen der G. Die
Beteiligung am Gewinn eines wirtschaftlichen
Unternehmens seitens anderer als der eigent-
lichen Unternehmer kann unter den ver-
schiedensten wirtschaftlichen Voraussetzun-
gen und i-echtlichen Formen vorkommen.
Vielfach gründet sieh die Gewinnbeteiligimg
auf eine Beteiligung mit Kapital. Aber auch
der Arbeit kann eine Gewinnbeteiligung zu-
gestanden werden ; imd zwar handelt es sich
in solchen Fällen um eine eigenartige Me-
thode der Entlohnung der Angestellten.
Unter Gewinnbeteiligung ist darnach diejenige
Einrichtung zu verstehen, nach welcher
Angestellte (Beamte, Gehilfen, Arbeiter) eines
wirtschaftlichen Unternehmens neben ihrem
ausbedungenen Lohne und als Zusatz zu
demselben einen Anteil am Geschäftsge\^4nne
erhalten, und zwar mit der Massgabe, dass
nicht nur die Grösse dieses Anteils als
Quote des jeweiligen gesamten Geschäfts-
gewinnes fest normiert ist, sondern auch
(iie Verteilung unter die einzelnen An-
gestellten nach gauz bestimmten rech-
nerischen Gnmdsätzen erfolgt.
Die eigentümliche Verbindung von be-
dungenem und freiem Arbeitseinkommen
geh()rt zum Wesen unserer Gewinnbeteili-
gung. Mit der völligen Beseitigung des
feston Lohnsatzes würde das seine An-
gestellten am Gewinn beteiligende Geschäft
den Charakter einer Produktivgenossenschaft
erlialten. Zwischen dieser und dem reinen
Lohnsystem nimmt die Gewinnbeteiligung
sowohl begrifflich wie hinsichtlich des
Zweckes eine vermittelnde Stellung ein.
Nicht zu empfehlen ist die Bezeichnung der
Gewinnbeteiligimg als einer eigentümlichen
Unternehmungsform neben den Kommandit-,
Aktiengesellschaften, Genossenschaften etc.,
da die am Gewinn beteiligten Lohnai'beiter
keinerlei Unternehmerfunktionen ausüben,
die gleichzeitige Kapitalbeteiligung dereelben
(s. unten) aber unwesentlich ist. Auch fehlt
es für die Gewinnbeteiligung, im Gegensatz
zu jenen und ähnlichen Untemehmungs-
formen, an besonderen i'echtlichen Normen.
Für die weitere Betrachtung war es geboten,
die Forderung eines vertragsmässig festgelegten
Beteiligungs- und Verteilungsmassstabes in die
BegrifFsbestimmung aufzunehmen. Gratifika-
tionen gelegentlich der Feststellung der Jahres-
bilanz und sonstige nach dem jeweiligen Gut-
dünken des Unternehmers unter die Angestellten
verteilte ausserordentliche Lohnzuschüsse ge-
hören auch dann nicht hierher, wenn die Quote
des Gesamtgewinns oder aber der Verteilungs-
modus genau feststehen sollten. So sehr man
auch mit Rücksicht auf den Sprachgehrauch
darüber streiten mag, ob in diesen Fällen gleich-
falls das Vorhandensein einer Gewinnbeteiligung[
anzunehmen ist, so geht thatsächlich doch bei
willkürlicher Festsetzung des Gewinnanteils der
direkte Zusammenhang mit der schwankenden
Höhe des Geschäftsertrages verloren ; unser An-
teilsystem wird hierdurch seiner wesentlichsten
Eigentümlichkeiten beraubt.
Unzweifelhaft gehört zum Begriff der Ge-
winnbeteiligung, dass eine Verteilung der Ge-
winnquote auf die einzelnen Angestellten vor-
gesehen ist. Allgemeine Wohlfahrtseinrich-
tungen jeder Art, Dotierung von Versor^ungs-
kassen etc. im Interesse der Gesamtheit der
Angestellten sind von völlig anderen Gesichts-
punkten aus zu betrachten. Dagegen ist kei-
neswegs erforderlich, dass der dem einzelnen
Angestellten zufallende Anteil diesem jedesmal
bar ausgezahlt wird. Vielmehr begründet es
gerade die Mannigfaltigkeit der auftretenden
Gewinn beteiligungsfomien, dass statt dessen der
Bonus ganz oder zum Teil, sei es einer selbst-
ständigen oder mit dem Unternehmen verbun-
denen Spar-, Kranken-, Alters- oder ähnlichen
Kasse zugewandt, sei es im Geschäft selbst
zinstragend (nach dem landesüblichen Zinsfuss
oder entsprechend dem Geschäftsgewinn) ange-
legt und dann, wie es mitunter geschieht, zum
Ankauf von Geschäftsanteilen verwandt wird.
Die oben definierte Gewinnbeteiligung
nimmt als eine seit lange bewährte Einrich-
tung in der Praxis des heutigen Wirtschafts-
lebens einen breiten Raum ein. Freilich
beschränkt sich ihre Anwendung in der
Regel auf höhere, insbesondere kaufmännische
Angestellte (Beamte) des Geschäfts, die nicht
nur hinsichtlich ihrer sozialen Lage dem
Unternelmior nälier stehen und vielfach
Vertrauensposten bekleiden, sondern auch
ähnlich jenem eine den Gang und das Ge-
deihen d(^s Unternehmens mehr oder minder
stark beeinflussende Thätigkeit ausüben.
Der Gewinnanteil heisst dann gewöhnlich
»Tantieme« ; das bekannteste Beispiel liefern
die Direktoren von Aktiengesellschaften. Nicht
von diesen Gewinnbeteiligungsfällen indessen
soll im folgenden die Rede sein. Sie ver-
danken ihre Entstehung und V^erbreitimg
dem durchaus gerechtfertigten und wohl
kaum angefochtenen Bestreben, mit der
Qualität der bis zu einem gewissen Grade
durch höhere soziale Pflichten gebotenen
Leistungen die materielle Entschädjgung für
dieselben in Einklang zu bringen. Ein noch,
nicht befriedigend gelöstes Problem ist da-
gegen die Beteiligung der Lohnarbeiter am
Unternehmergewinn. Da zu diesen hier
auch das technisch besser vorbereitete und
geschulte Personal gerechnet werden muss,
so ^\^rd in der Praxis eine scharfe Trennung
zwischen dieser Art von Fällen und den
obigen insofern allerdings nicht durchfülir-
bar sein, als je nach der wii-tschaftlichea
Thätigkeit und Lage der Angestellten ein
allmählic?her Uebergang stattfindet. In-
Gewin iibeteiligimg
717
dessen ist doch diese Crewinnbeteili-
gung der Arbeiter, um welche es sich
weiterhin ausschliesslich handeln wird, hin-
sichtlich sowohl ihrer sozialpolitischen Auf-
gaben als ihrer praktischen Durchführbarkeit
von eigenartiger Bedeutung und hat dem-
entsprechend zu lebhaften Erörterungen auf
Gnmd vielfacher praktischer Versuche
Anlass gegeben.
2. Zweck nnd Aufgaben der G. Es
gehört bekanntlich zum Wesen der Organi-
sation unserer Volkswirtschaft, dass der
Unternehmer die in seinem Betriebe thätigen
fremden Arbeitskräfte (und Kapitalien) nicht
entsprechend dem jedesmaligen Avirtschaft-
lichen Werte der hergestellten Produkte
bezw. der von ihm übernommeneu Leistungen
entlohnt, vielmehr, ohne das Endergebnis
seiner Produktion abzuwarten, die Arbeiter
für ihre Dienste vorweg entschädigt. Diese
gesonderte Befi'iedigung der Arbeiter erweist
sich nun nicht allein als technisch notwendig
wegen des Fehlens eines allgemein giltigen
Massstabes für die gerechte Verteilung des
Ertrages auf die Produktionsfaktoren sow^ie
angesichts der Unmöglichkeit, die ent-
sprechende Teilung desselben, selbst wenn
theoretische Schwierigkeiten nicht im Wege
stünden, im einzelnen Falle praktisch durch-
zuführen; sie hat vielmelir auch aus wirt-
schaftlichen Oriinden ihre volle Berechtigimg.
Zunächst kommt hierbei in Betracht, dass
der finanzielle Ertrag eines Unternehmens, wie
er durch die Bilanzen am Ende der Geschäfts-
periode festgestellt zu werden pflegt, nicht nur
mehr oder weniger erheblichen Schwankungen
unterliegt, sondern auch in Verluste umschlägt.
Der die Produktton bestimmende und leitende
Unternehmer hat die günstigen wie ungünstigen
Folgen dieser zum Teil auch dem Wechsel der
Konjunkturen zuzuschreibenden Schwankungen
allein zu tragen, sofern nicht Arbeiterent-
lassungen und Lohnreduktionen notwendig^ wer-
den. Und dies mit vollem Eecht. (In Bezug
auf die Stellung des Unternehmers innerhalb
der Volkswirtschaft und die daraus abzuleitende
ökonomische Berechtigung seines Gewinnes s.
d. Art. Unternehmer, Unternehmer-
fewinn.) Ihm gegenüber sind nämlich die Ar-
eiter, ihren Fähigkeiten und Leistungen ent-
sprechend, auf jene Verschiedenheiten des Er-
trages im allgemeinen ohne Einfluss. Ein sol-
cher wäre insofern möglich, als sie die ihnen
obliegenden Verrichtungen quantitativ und quali-
tativ nach ihrem Beheben erheblich steigern
oder vermindern könnten. Dies ist jedoch in
der Regel nicht der Fall, da es vielmehr Sache
deB Unternehmers ist, durch gut bemessene
Löhne und zweckmässige Lohnmethoden sowie
durch passende Auswahl des Personals und ge-
eignete Beaufsichtigung desselben dafür Sorge
zu tragen, dass Normales geleistet wird. Unter-
lässt er dies, scheidet er insbesondere die un-
tüchtigen und pflichtvergessenen Arbeiter nicht
aus, so ist es seine Schuld, wenn die Produktion
darunter leidet und der Gewinn zurückgeht,
nicht aber die der Arbeiterschaft. Angesichts
eines ungünstigeren Geschäftsergebnisses können
in der Kegel die Arbeiter mit Recht darauf
hinweisen, dass sie nach wie vor ihre Pflicht
gethau haben und somit für eingetretene Miss-
erfolge nicht verantwortlich zu machen sind.
Von diesen, für die grosse Masse der Unter-
nehmungen massgebenden Gesichtspunkten aus
erscheint es also durchaus sachgemäss, den
Arbeiter mit einem festen Lohnsatz abzu-
finden.
Dieses System vermeidet überdies die schwer-
wiegenden Nachteile, welche mit einem starken
Schwankungen unterliegenden Einkommen für
die ökonomische Lage des Arbeiters verbunden
sein würden. Dasselbe müsste eine geordnete
Hauswirtschaft zur Unmöglichkeit machen, da
selbst bei Bethätigung eines idealen Sparsinns
die notwendige Regelmässigkeit in der Lebens-
haltung undurchführbar wäre. Zu den Gefahren
der Arbeitslosigkeit käme für den Arbeiter ein
neues Moment der Unsicherheit hinzu. — .
Trotz dieser durchschlaffenden Vorzüge des
Lohnsysteras haften demselben indessen auch
unverkennbare Mängel an. Nicht nur dass der
Arbeiter, welcher mit der Lohnzahlung endgiltig
von dem Werke seiner Hände getrennt wird,
dem Gedeihen des Unternehmens gleichgiltig
gegenübersteht. Vor allem wird dadurch, dass
Arbeitslohn bezw. Unternehmergewinn ein jeder
auf Kosten des anderen erhöht werden kann,
ein schroifer Widerstreit der Interessen zwischen
den beiden wirtschaftlichen Parteien statuiert,
welcher die durch sonstige Gegensätze (Eigen-
tum, Bildung) bedingte Kluft noch erweitert. Der
Lohnarbeiter ist bestrebt, bei möff liebst kurzer
Arbeitszeit einen möglichst hohen Lohn und zwar
geeigneten Falls auf dem Wege der gemeinsamen
Arbeitseinstellung etc. zu erringen ; das Gedeihen
des einzelnen Unternehmens kümmert ihn wenig.
So sehr man auch die Berechtigung jener auf
die Erkämpfung günstigerer Arbeitsbedingungen
gerichteten Bestrebungen grundsätzlich anzu-
erkennen hat, so zeigen sich in ihnen doch die
in sozialer Hinsicht gefahrdrohenden Schatten-
seiten des Lohnsystems. Dasselbe wird ferner
denjenigen Ausnahmefällen nicht gerecht, in
welchen der einzelne Arbeiter einen Einfluss auf
die Höhe des Geschäftsgewinnes ausübt bezw.
ausüben kann. Ein solcher Einflnss ist dann
entweder ein direkter, d. h. durch besonders
qualifizierte Leistungen bei verhältnismässigem
Zurücktreten der Wirkung von Konjunkturen
hervorgerufener, oder ein indirekter. In letzterer
Beziehung wird es sich namentlich um solche
Fälle handeln, in denen es nicht möglich ist,
durch geeignete Lohnmethoden und Beauf-
sichtigung des Personals dasselbe zu Fieiss,
Sorgfalt und Ehrlichkeit wirksam anzuhalten,
oder jene Mittel sich nicht als ausreichend er-
wiesen haben.
Die Beseitigung oder doch Milderung dieser
Schattenseiten des Lohnsystems auf rein öko-
nomischem Wege bildet das eigenartige Ziel
der Gewinnbeteiligung. Ohne den bewährten
Boden jenes Systems zu verlassen, sucht sie in
der oben angegebenen Weise zwischen den In-
teressen der Arbeitgeber und -nehmer zu ver-
mitteln und damit eine hervorragende sozial-
politische Mission zu erfüllen. Freilich hat sie
im Vergleich zu der unendlich grossen Zahl der
vorhandenen Unternehmungen bisher nur einen
718
Gewinnbeteüigimg
sehr bescheidenen Wirkungskreis zu gewinnen
vermocht.
3. Die bisherigen praktischen Ver-
suche mit der G. Obgleich schon in den
dreissiger Jahren die Frage der Gewinn-
beteiligung der Arbeiter auf Grund einzelner
Versuche in England erörtert worden war
und diese Einrichtung sowohl dort wie auch
in Deutschland (R. von Mohl) damals be-
reits Fürsprecher gefimden hatte, dauerte
es doch noch längere Zeit, ehe das neue
Lohnsystem allgemeine Beachtung fand.
Erst gegen Ende der sechziger und Anfang
der siebziger Jahre erfolgte ein Anstoss zur
öffentlichen Besprechung der GewinnbeteiK-
gungsfrage, und zwar durch das Bekannt-
werden weiterer praktischer Versuche, wel-
che allem Anscheine nach solch giinstige
Erfolge aufzuweisen hatten, dass diese Mo-
difizienmg des Lohnsystems bald vielfach
(unter anderem von Engel, Böhmer!, J. St. Mill,
Jevons, Leroy-Beaidieu, Charles Robert) als
ein durchgreifendes Mittel zur Anbahnung
bezw. Befestigung guter Beziehimgen zwi-
schen Arbeitgebern und -nehmem gepriesen
wurde. Vereinzelt ging man sogar soweit,
von diesem Verfahren die »Lösung der so-
zialen Frage« zu erhoffen. In Deutschland
trat unter anderem der Verein für Sozial-
politik der Fi-age durch Einziehung von Gut-
achten näher. Professor Victor Böhmert
kam 1878 der an ihn ergangenen Auf-
forderung nach durch Veranstaltung einer
privaten Enquete, welche die auf die Ge-
winnbeteiligung und verwandte Lohnme-
thoden bezüglichen praktischen Erfahrungen
zum ersten Male der Oeffentlichkeit zugäng-
lich machte. Sie beruht auf der schrift-
liclien Beantwortung eines an zaliireiche
Privatleute , Aktiengesellschaften , Vereine
und Zeitungen versandten Fragebogens.
Diesen überaus verdienstlichen Untersuch-
ungen trat 1883 die vom französischen
Ministerium des Innern veranlasste, übrigens
auf Frankreich beschränkte Enc|uete zur
Seite, die zum -weitaus grössten Teile aus
mündlicher Befragung der Arbeitgeber her-
vorgegangen ist Seitdem ist unter dem
Einfluss der fortgesetzten Diskussion von
amtlicher wie von privater Seite in zahl-
reichen Einzelwerken und Zeitschriften
weiteres Material über die praktischen Er-
fahrungen auf dem Gebiete der Gewinn-
beteiligung gesammelt worden (s. Litteratur).
In Paris besteht seit 1879 in der *Societe
formee pour faciliter Tetude pratiquc des
divei-ses methodes de partici|)aiion du
personnel dans les benefices de l'entreprise«
eine Vereinigung von Geschäftsleuten, wel-
che ihre Bestrebungen unter anderem auch
durch Herausgabo eines eigenen Organes
(Bulletin de la participation aux benefices)
zu fördern sucht. Auch die Pariser »Societö
du Mus6e social« ist zu Gunsten der wei-
teren Verbreitung der Gewinnbeteiligungs-
idee thätig. Nach französischem Vorgange
sind dann 1892 in den Vereinigten Staaten
von Amerika die dortigen Anhänger des
Systems zu einem Verein, der »Association
for the promotion of profit-sharing« zu-
sammengetreten. Die zu Agitationszwecken
von Gilman, dem Schriftführer jenes Vereins
herausgegebeneVierteljahrsschrift»Employer
and Employed« ist bereits 1896 wieder ein-
gegangen. In Deutschland bringt namentlich
der von Victor Böhmert herausgegebene
»Arbeiterfreund« regelmässige Berichte über
den Stand der Gewinnbeteiligungsfrage und
darf als Organ der deutschen Förderer
dieses Systems betrachtet werden.
Nachdem in Frankreich zu Anfang der
vierziger Jahre die ersten erfolgreichen Ver-
suche mit der Gewinnbeteiligung gemacht
waren, fand das System nicht nur in diesem
Lande, sondern bald auch in Deutschland,
England und später in den Vereinigten
Staaten von Amerika sowie in einzelnen
andern Ländern Eingang. Nicht wenige
Versuche wurden allerdings nach kürzerer
oder längerer Zeit wieder aufgegeben, teils
weil man fand, dass die Einrichtung für
den betreffenden Betrieb sich nicht eigne,
teils aus anderen Gründen sachlicher oder
pei-sönlicher Art (infolge von Arbeitsein-
stellung der Angestellten, von ungünstigen
Gescliäftsverhältnissen u. s. w.). Es ist
hierbei zu berücksichtigen, dass in manchen
Fällen die Einführung der Gewinnbeteiligung
weniger rein praktischen Erwägungen als
vielmehr bestimmten sozialökonomischen An-
schauungen der betreffenden Unternehmer
zu danken ist, welcher Umstand den dau-
ernden Fortbestand der Einrichtung natür-
lich nicht begünstigt. Was nun die Zahl
der Unternehmungen anbetrifft, welche die
Gewinnbeteiligung eingeführt haben, so lässt
sich dieselbe mit Genauigkeit nicht bestim-
men. In manchen Sammelwerken sind
nämlich einerseits Fälle mit aufgeführt, deren
nähere Beschreibung erkennen lässt, dass
keine Gewinnbeteiligung, sondern ein ver-
wandtes Lohnsystera vorliegt, und wo es
sich namentlich um jährliche Zuwendungen
eines mehr oder weniger bestimmtx^n Teiles
des Reingewinnes an Kranken-, Alterever-
sorgungskassen oder ähnliche Wohlthätig-
keitsanstalten handelt; andererseits sind die
Nachrichten über manclic Versuche so
dürftig, dass ein Urteil über die Art des
Verfahrens nicht möglich ist. Nach der
günstigsten Schätzung beträgt die Gesamt-
zahl aller Gewdnnbeteiligungsfirmen über-
haupt nmd 400; von denen etwa 130 auf
Frankreich, 110 auf England, 45 auf die
Vereinigten Staaten, 35 auf Deutschland
und der Rest auf die Schweiz und einige
Ge wi nnbeteiligiing
719
andere Lander entfallen. Selbst bei Annahme
dieser vielleicht zu hohen Ziffern ist die
Zahl der Gewin nbeteüigim^sfirmen , wie
man sieht, eine verhältnismässig sehr ge-
ringe; namentlich hat die Einrichtimg in
Deutschland im Laufe der Jahrzehnte nur
massige Fortschritte gemacht, wenn auch
neuerdings von einzelnen jüngeren Versuchen
viel die Rede ist. V. Böhmert glaubt diese
geringen Erfolge in Deutschland auf die
gegnerische SteDungnahme der einfluss-
reichen sozialdemokratischen Partei und da-
neben auf die starke Belastung der Unter-
nehmer mit den Kosten der staatlichen
Arbeiterversicherung zurückführen zu sollen,
welche beiden Umstände allerdings nicht
geeignet sein mögen, die Arbeitgeber zu
weitergehenden Opfern im Sinne einer Ge-
winnbeteiligimg der Arbeiter geneigt zu
machen.
Die bisherigen Gewinnbeteiligungsfälle
verteilen sich auf die verschiedensten Pro-
duktionszweige in bunter Reihe; Landwirt-
schaft, Fischerei, Industiie, Handwerk imd
Handel, und zwar sowohl Kleinbetriebe wie
Grossbetriebe haben das System aufgenom-
men. YieUfew^h erscheint die Gewinnbe-
teiligung in Verbindung mit sonstigen um-
fangreichen "Wohlfahrtseinrichtungen im In-
teresse der Arbeiter. In einzelnen, besonders
in älteren Fällen sind die Arbeiter auch
noch dadurch am Geschäftsgewinne be-
teiligt, dass sie Kapitaleinlagen machen
können; es wird diese Kapitalbeteiligung
auch wohl zur Vorbedingung für den Bezug
des Lohnzuschlags gemacht.
Schon seit lai^er Zeit ist die Gewinnbe-
teiligung in der Fischerei und zwar ins-
besondere in der Seefischerei, beim Walfisch-
fang u. s. w. üblich; hier hat sie fast in allen
Ländern ausgedehnte Anwendung gefunden.
Kapitäne und Mannschaften der grösseren
Fischereiunternehmungen, welche letztere ihre
Angestellten auf hoher See nicht beaufsichtigen
können, werden durch die Aussicht auf Gewmn
neben ihrem festen Lohn zu erhöhtem Fleiss,
grösserer Sorgfalt und strengerer Disciplin an-
gehalten, Eigenschaften, welche auf das Ergebnis
eines Fischereiunternehmens von sehr wesent-
lichem Einfluss sind.
Auch in der Landwirtschaft hat das
System zu mehrfachen Versuchen geführt, welche
teilweise von bestem Erfolge begleitet waren.
Als erster war es Johann Heinrich von Thünen,
der berühmte Verfasser des „Isolierten Staates",
welcher auf seiner Gutswirtschaft zu Tellow in
Mecklenburg-Schwerin, und zwar bereits im
Jahre 1847 die Anteilswirtschaft im Interesse
der auf seinem Gute arbeitenden Dorfbewohner
einführte. Nach seinen Anordnungen erhält
jeder der etwa 20-30 Arbeiter, falls die reinen
Einnahmen des Gutes einen bestimmten Betrag
Hetzt 18000 Mark) tiberschreiten, \'o% des
Üeberschusses. Während dieser Anteil selbst
einer Sparkasse zufiiesst, werden die Zinsen bar
ausbezahlt. Den Berechtigten steht mit dem
sechzigsten Lebensjahre die ersparte Summe zur
Verfügung. Thünen wollte die Dorfbewohner
au dem Wohl und Wehe des Gutsherrn teU-
nehraen lassen und ihnen neben höherem Ver-
dienste zugleich ein sorgenfreies Alter sichern.
In diesem äinne hat sich das System noch heute
bewährt; dasselbe erzeugt, wie berichtet wird,
Freude zur Arbeit und hält Ausschreitungen
und Widersetzlichkeiten fern.
Sehr mannigfaltig sind die Zweige der In-
dustrie und des Handels, in denen die Ge-
winnbeteiligung versucht worden ist. Die che-
mische, die Maschinen-, die Textil-, die Be-
kleidungsindustrie, das Buchdruckergewerbe und
manche andere Gewerbsgruppen sind hierbei
vertreten. Wirklich durchschlagende Erfolge
sind aber nur bei einzelnen Unternehmungen
eingetreten, wo die Natur des Geschäfts und
sonstige Umstände dem System besonders
günstig waren. In dieser Beziehung ist vor
allem als ältestes und berühmtestes, noch jetzt
bestehendes Gemnnbeteiligungsuntemehmen die
Gebäudemalerei von Kedouly & Co., vormals
Leclaire in Paris zu nennen, welches Geschäft
schon im Jahre 1843 für seine Angestellten
(Maler, Anstreicher, Tapezierer, Glaser, Dekora-
teure u. 8. w.) die Gewinnbeteiligung einführte
und zwar zu dem Zwecke, um diese Arbeiter,
welche fast stets ausserhalb des Geschäftshauses
und vielfach in anderen Städten arbeiten, also
schwierig zu beaufsichtigen sind, zu grösserem
Fleisse anzuhalten. Mit dieser Gewinnbeteiligung
ist auch eine beträchtliche Kapitalbeteiligung
der besseren, erprobten Angestellten verbunden,
denen überhaupt sehr weitgehende Befugnisse
eingeräumt sind. Es wird dem Anteilsystem in
Verbindung mit den sonstigen Unterstützungs-
einrichtungen der Firma zugeschrieben, dass
die Arbeiter zu regelmässiger, sorgfältiger
Thätigkeit erzogen werden, indem sie sich
scharf überwachen und jede Stöning der Ord-
nung zur Anzeige bringen. — W^ährend in dem
hier bezeichneten Falle ein handwerksmässiges
Unternehmen vorliegt, gehört die Gewinnbe-
teiligung der Firma Dequenne & Co , Fabrik
für Heizvorrichtungen, Haus- und Küchengeräte,
zu Guise (Dep. Aisne) in Frankreich der Gross-
industrie an. Diese von J. B. A. Godin 1840
in kleinem Massstabe begründete Fabrik ent-
wickelte sich allmählich zu einem grossen Unter-
nehmen, welches bei Godins Tode (1888) etwa
1600 Personen beschäftigte. Die im Jahre 1876
eingeführte Gewinnbeteiligung bildet einen
wesentlichen Bestandteil der von Godin im
Laufe der Jahi*e geschaffenen grossartigen Wohl-
fahrtseinrichtungen. Durch Fouriers Ideeen an-
geregt, war Godin von Anfang an bestrebt,
sein Unternehmen nach genossenschaftlichen
Principien umzugestalten. 1860 gründete er
ein Arbeiter Wohnhaus („Familistere"), ausge-
dehnte Konsumeinrichtungen, Versicherun^s-
kassen, Schulen, Kinderbewahranstalten, Biblio-
theken, Theater u. s. w. Godin hat durch sein
Gewinnbeteiligungssystem dafür gesorgt, dass
das Unternehmen durch Erwerb von immer
weiteren Kapitalanteilen seitens der Arbeiter •
vor und nach in deren Hände übergegangen ist,
welche an der Leitung desselben je nach ihrer
ßangstellung in verschiedener Weise beteiligt
sind. — Von den französischen Gewinnbe-
teiligungsunternehmungen verdient hier weiter-
720
Gewinnbeteiligua
hin auch noch das bekannte grosse Manufaktur-
Warenhaus „Au hon marche" in Paris Erwähnung,
welches seit 1876 dem Verkaufspersonal nach
dem Erlös der verkauften Artikel eine Tantieme
zugesteht und das Verwaltung«- und Aufsichts-
personal an dem Gewinn in jedem Warenlager
teilnehmen lässt.
Von den in England mit der Gewinnbe-
teiligung unternommenen Versuchen sei hier
nur auf den vielbesprochenen Fall der Stein-
kohlenbergwerke von Henry Briggs Son & Co.
in Westyorkshire hingewiesen, wo nach viel-
fachen Arbeiterstreitigkeiten im Jahre 1865 die
Gewinnbeteiligung eingeführt wurde, um ein
besseres Verhältnis zwischen den Prinzipalen
und den Arbeitern anzubahnen und die letzteren
von den Gewerkvereinsbestrebungen abwendig
zu machen. Hierbei wurde das unternehmen
in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, derart,
dass die Herren Briggs zwei Drittel der Aktien
för sich behielten, und den Rest unter die An-
gestellten und die Kunden des Geschäftes sowie
an das Publikum abgaben. Der Versuch schlug
anfänglich in jeder Hinsicht zur allseitigen
Zufriedenheit aus und fand allgemeine Be-
achtung. Zu Beginn der siebziger «fahre kam es
iedoch schon zu Streitigkeiten zwischen den Ar-
beitern, wegen deren Beteiligung an den Ge-
werkvereinsbestrebungen, was 187o zur Aufgabe
der Gewinnbeteiligung führte.
Um dieselbe Zeit wurde auch in Deutsch-
land ein viel beachteter Versuch mit der Ge-
winnbeteiligung in einem industriellen unter-
nehmen gemacht. Durch das obi^e englische
Beispiel angeregt, führten die Messinff«verke
von W. Borchert junior in Berlin 1867 die Ge-
winnbeteiligung der Arbeiter ein in der Absicht,
den Interessengegensatz zwischen Arbeit-
geber und Arbeithehraem thunlichst auszu-
gleichen. Der nach Abzug von 6*'/« Kapital-
zinsen verbleibende Reingewinn fiel darnach
zur Hälfte an die Unterbeamten und Arbeiter
nach dem Verhältnis ihrer Gehälter und Löhne.
Auch konnten die Arbeiter Kapitaleinlagen
machen. Doch schon nach fünfjährigem Be-
stehen wurden diese Einrichtungen wieder be-
seitigt, da die Erfahrungen das Unbefriedigende
derselben dargethan hatten. Einerseits wurde
nämlich die Verteilung des Bonus am Jahres-
schluss von vielen Arbeitern als etwas in so
ferner Zukunft liegendes und so unbestimmtes
betrachtet, dass sie ihnen kein hinlänglicher
Antrieb zur Entfaltung eines Maximums von
Fleiss und Sorgfalt während eines ganzen
Jahres war; andererseits erschien es dem Fir-
meninhaber ungerechtfertigt, dass die Extrabe-
lohnung der Arbeiter an Umstände geknüpft
war, auf welche sie keinen Einfluss hatten
(Ein- und Verkauf der Waren u. s. w.). -— Aus
neuerer Zeit verdient sodann die seit 1890 be-
stehende Gewinnbeteiligungseinrichtung der
Halleschen Maschinenfabrik und Eiseogiesserei
in Halle a. S. Erwähnung, welche nach dem
Urteil des Direktors hauptsächlich den Vorteil
gebracht hat, dass seitens der Arbeiter bessere
Leistungen erzielt werden und eine grössere
Stabilität in der Arbeiterschaft herbeigeführt
wird. — Auch die Jalousiefabrik von H. Freese
in Berlin hat nach dem Zeugnisse des Inhabers
mit der seit mehr als 10 Jahren bestehenden
"Gewinnbeteiligung gute Erfahrungen gemacht.
Freese erblickt in der Gewinnbeteiligung „das
wirksamste Mittel zur Versöhnung zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmern und eines der
wirksamsten zur Hebung der Lage der arbeitenden
Klassen". — Nach einer neueren Mitteilung im
„Arbeiterfreund" hat die bekannte grossindus-
trielle Firma Siemens & Halske in Berlin schon
seit 1872 die Gewinnbeteiligung eingeführt.
' Die vorstehenden kurzen Angaben über
einzelne, teils erfolgreiche, teils missglückt«
Versuche mit der Gewinnbeteiligung haben nur
den Zweck, auf diejenigen Fälle hinzuweisen,
welche als charakteristische oder neuere Bei-
spiele mit Vorliebe angeführt werden. Als Be-
weismittel für oder gegen das System als sol-
ches genügen sie selbstverständlich nicht; viel-
mehr ist, um ein abschliessendes Urteil zu
gewinnen, eine nähere Prüfung aller bisherigen
Erfahrungen, nicht minder aber auch ein Ein-
gehen auf die für die Betrachtung massgeben-
den allgemeinen Gesichtspunkte ' erforderlich.
Wenn nun auch jede Einzeluntersuchung hier
unterbleiben muss, umsomehr als die unten be-
zeichneten Sammelwerke ein reiches, wohlge-
ordnetes Material enthalten, so soll doch in
folgendem auf die für die Beurteilung des Ge-
winnbeteiligungssystems in Betracht zu ziehen-
den allgemeinen Fragen noch näher eingegangen
werden. Eine völlig objektive Behandlung
dieser Materie ist aber um so mehr geboten, a£
die Bestrebungen der ausgesprochenen Gewinn-
beteiligungsfreunde immer mehr einen agita-
torischen Charakter annehmen. Bei den „Parti-
zipationskämpen" ist das Eintreten für die
Gewinnbeteiligung vor allem Glaubens- und
Herzenssache, und die verhältnismässig geringe
Zahl der Gesinnungsgenossen erleichtert £e
persönliche und litterarische Verbindung unter-
einander. In den von diesen ausgehenden
zahlreichen Schriften (s. unten) spiegeln sich
jene propagandistischen Bestrebungen unver-
kennbar wieder. Die mannigfachen Bedenken,
welche gegen eine allgemeine Einführung der
Gewinnbeteiligung sprechen, werden bestenfalls
wohlwollend aufgenommen, aber auch gern
wieder vergessen. Immer von neuem klingt
die Auffassung durch, dass die Gregner des
Systems entweder aus Unkenntnis der Verhält-
nisse oder aus Mangel an gutem Willeu, jeden-
falls aber nicht aus rein sachlichen Gründen an
den Segnungen der gepriesenen Lohnmethode
zweifeln. Mit der Einführung der Gewinnbe-
teiligung erfülle man nur einen Akt der Ge-
rechtigkeit, und Ch. Robert erklärt den eng-
lischen Genossenschaften, dass sie bei Ablehnung
der Gewinnbeteiligung nicht mehr seien als
ausbeuterische Kapitalisten. Solche einseitige
Auffassungen bei anerkannt massgebenden
Freunden der Gewinnbeteiligung können nicht
dazu dienen, dem System viele neue Anhänger
zu erwerben, und sind nur geeignet, innerhalb
der Untemehmerwelt Misstrauen und Voreinge-
nommenheit gegenüber den Bestrebungen der
Gewinnbeteiligungsfreunde zu erwecken. Im
Interesse einer besonnenen Fortsetzung der Ver-
suche wäre dies nur zu beklagen.
4. Schwierigkeiten^Vorzüge und Nach-
teile der G. im allgemeinen. Es wurde
bereits hervorgehoben, dass die Gewinn-
beteiligimgsidee in der Praxis trotz der zu
Ge^vinIlbeteiligUQg
72t
ihren Gunsten unterhaltenen lebhaften Agi-
tation zum Teil einflussreicher Theoretiker
und Praktiker bisher nur geringe Verbrei-
tung gefunden hat. Geht man auf die Grfinde
dieser Erscheinimg zurück, so zeigt sich
zunächst, dass es fast unüberwindliche
Schwierigkeiten sind, welche der Einfühlung
der Gewinnbeteiligung überall da im Wege
stehen, wo nicht der einzelne Arbeiter einen
mitbeherrschenden Einfluss auf das Gedeihen
des Unternehmens ausübt bezw. ausüben
kann, und zwar derart, dass die durch den
Gewinnanteil herbeigeführte Erhöhung des
Einkommens des Ai'beiters durch tüchtige
Leistungen und besseres Verhalten ökono-
misch gerechtfertigt ist, was indessen, wie
oben näher begründet, nur ausnahmsweise
zutrifft. Im allgemeinen verbietet dem ein-
zelnen Unternehmer schon die zwingende
Rücksichtnahme auf die Konkurrenz, dem
Arbeiter im Gewinnanteil einen erheb-
lichen Zuschlag zum üblichen Lohn zu be-
willigen, von solchen gut situierten Unter-
nehmern, welche sich diese Mehrkosten
ohne Bedenken gestatten können, selbstver-
ständlich abgesehen. Der Einwand, dass
mit der Einführung der Gewinnbeteüigung
eine Hebung der körperlichen und geistigen
Kräfte sowie der sittlichen Eigenschaften
des einzelnen Arbeiters naturgemäss verbun-
den sei, ist um so weniger zutreffend, als
selbst die ständige Erhöhung des Arbeits-
lohns erfahrungsgemäss nur unter ganz be-
stimmten, hier nicht zu erörternden Voraus-
setzungen entsprechende Mehrleistungen des
Arbeiters zur Folge hat. Andererseits liegt
auf der Hand, dass die Aussicht auf eine
im Verhältnis zum Lohne unerhebliche Ge-
winnquote, und mehr würden — wenn
überhaupt etwas — die meisten Unter-
nehmungen, insbesondere auf dem Gebiete
der Grossindustrie nicht zu bieten vermögen,
kein hinreichendes Anreizungsmittel bildet
und deshalb wirkungslos bleiben müsste.
Ein Ausweg aus diesen Schwierigkeiten
könnte in einer entsprechenden Herabsetzung
des festen Lohnsatzes gefunden werden,
durch welche der berechtigte Einwand, dass
die am Gewinn beteiligten Arbeiter nicht
-auch am Verlust des Unternehmens parti-
zipieren, allerdings beseitigt sein würde.
Diese Lösung der Frage dürfte jedoch nicht
allein der entschiedensten Opposition der
Arbeiter selbst begegnen, sondern müsste
auch als eine Gefährdung ihrer mtihsam
errungenen Lebenshaltung vom volkswirt-
schaftlichen Standpunkte aus verurteilt
werden.
Andererseits lehren die praktischen Ver-
suche, dass sich die Gewinnbeteiligung, auf
die verschiedenartigsten Unternehmungen
angewandt, nachhaltig bewährt hat. Freilich
handelt es sich in der Hauptsache um sol-
Handwörterbnch der StaAtswiwenschaften. Zweite
che Fälle, in denen die bisher in Uebung
gewesene Lohnmethode der Beschäftigungs-
weise und den Leistungen der Arbeiter
nicht entsprach ; faßt übereinstimmend wer-
den befriedigende, zum Teil überrascheöde
Erfolge nach dieser Seite hin berichtet.
Ueberhaupt sind jene Versuche wohl geeig-
net, der, wenn auch beschränkten sozial-
politischen Bedeutubg des Systemes zur
Anerkennung zu verhelfen. In denjenigen
Fällen nun, wo die Umstände eine. Gewinn-
beteiligung der Arbeiter für die Zukunft
wünschenswert und durchführbar erscheinen
lassen, wird die Beachtung namentlich fol-
gender, mit Hilfe der bisherigen Erfahrungen
gewonnener Gesichtspunkte das praktische
Vorgehen begleiten müssen.
a) Vorzüge der G. Abgesehen von
der unter Umständen zu erwartenden güns^
tigen Einwirkung auf die Leistungen der
Angestellten erscheint die Gewinnbeteiligung
zweckmässig, um beim Arbeiter das Interesse
für das Gedeihen des Geschäftes und somit
auch sein Pflichtgefühl zu wecken und zu
heben. Er wird namentlich dann, wenn
ihm ein Einblick in» den Verlauf des Ge-
schäftsjahres seiner Firma ermogheht ist,
mehr als bisher ein Verständnis dafür zu
gewinnen vermögen, dass die schwierige
und verantwortungsvolle Thätigkeit des
Unternehmers ihren angemessenen Lolin
und ebenso die Unsicherheit des Produktiona-
erfolges ihre Kompeusation erhalten muss.
Wenn schon diese Einsicht beide Parteien
einander innerlich näher bringt und dadurch
das gegenseitige Verhältnis befriedigender
gestalten hilft, so sorgt die Gewinnbeteiligung
weiterhin dafür, dass anstatt der oft unter
heftigen Störungen vor sich gehenden Ver-
schiebungen der festen Lohnsätze die Regu-
lierung ähnlich ^ie bei der beweglichen
Lohnskala (s. d. Art.) ohne irgend ein Ein-
greifen gewissermassen von selbst sich voll-
zieht. — Verschieden zu beurteilen sind die
hinsichtlich der Verwendung des Gewinn-
anteils möglichen Verfahrungsweisen. Ohne
Zweifel werden die erwähnten Vorteile um
so sicherer erreicht, je unmittelbarer den
Arbeitern der Mehrverdienst zu gute kommt.
Wird derselbe dagegen nicht bar ausbezahlt,
sondern einer Kasse überwiesen, so zwingt
man damit den Arbeiter unter Vermeidung
jeden Eingriffs in seine bisherige Haushalts-
führung zur Ansammlung eines kleinen
Kapitals, was in Anbetracht des in Arbeiter-
kreisen vielfach noch sehr wenig entwickel-
ten Sparsinnes nicht hoch genug anzuschlar
gen ist. Zugleich sichert sich der Unter-
nehmer dadurch, dass er seine Leute an
das Geschäft fesselt, vor häufigem, den Be-
trieb störendem Arbeiterwechsel. In noch
gesteigertem Masse machen sich manche
Vorteile des Anteilsystems dann geltend,
Auflage. IV. 46
722
Gewinnbeteiligung
wenn der Arbeiter durch eigene Kapitalein-
lagen in die engste Beziehung zum Unter-
nehmen tritt, von dessen Gedeihen in die-
sem Falle unter umständen das Schicksal
seiner Ersparnisse abhängt.
b) Nachteile der G. Die Bedenken,
welche im einzelnen gegen die Gewinnbetei-
lung geltend zu machen sind, entspringen in
der Hauptsache denselben Eigentümlichkeiten
des Systems, welche auch seine Vorzüge be-
gründen . Bei unmittelbarer Verabfolgung des
Gewinnanteils entsteht leicht ein^ erhebliche
Schwankung in dem jährlichen Budget des
Arbeiters, welche namentlich dann bedenklich
wird, wenn dieser sich mit seinen Ausgaben
auf einen bestimmten Einkommenszuschuss
einrichtet und unzufrieden wird, falls der
erhoffte Mehrverdienst ausbleibt. Dem
etwaigen Misstrauen in die Leitung durch
Mitkontrolle seitens des Arbeiters zu begeg-
nen, hat wegen der hiermit verbundenen
Gefährdung des Geschäftsgeheimnisses und
der unerlässlichen Selbständigkeit und Auto-
rität des Unternehmers seine grossen Be-
denken, ganz abgesehen davon, dass der Ar-
beiter vielfach gar nicht befähigt ist, ein
verständiges Ürteü über den Stand der
Dinge und die einwirkenden Ursachen sich
zu bilden. Schon der Umstand, dass diese
Forderung einer Kontrolle begreiflicherweise
ganz besonders von den mit Geschäftsan-
teilen ausgestatteten Arbeitern erhoben wer-
den wird, spricht gegen eine solche Kapital-
beteiligung. Es tritt hinzu, dass einem
schwankenden und niemals zweifellos siche-
ren gewerblichen Unternehmen die Erspar-
nisse der Ai'beiter anvertraut werden, die
eben hierdurch einen wesentlichen Rückhalt
gegenüber den Gefahren der Arbeitslosigkeit
verlieren, gegen welche auch die Gewinn-
beteiligung keinerlei Schutz zu bieten ver-
mag. Gleichzeitig hindern diese Einlagen
den Arbeiter (welcher günstigere Arbeits-
bedingungen erstrebt) sowohl wie den Un-
ternehmer (bei notwendig werdenden Ent-
lassungen) in empfindlicher Weise an freier
Bewegung. Letzteres ist besonders auch
dann der Fall, wena bei Ueberführung des
Gewinnes in eine Sparkasse mit dem vor-
zeitigen Austritt der Verlust des Guthabens
verbunden ist. Die organisierten Arbeiter-
verbände sind deshalb auch fast durchweg
Gegner der Gewinnbeteiligungsidee. End-
lich wäre zu beachten, dass es ja ein abso-
lut gerechtes Mass für die Höhe der Ge-
winnbeteiligung überhaupt nicht giebt, wie
denn auch gerade in diesem Punkte die
bisherigen Versuche die grössten Verschie-
denheiten zeigen. Es bleibt deshalb ein
Aulass ziu" Unzufriedenheit der Arbeiter,
wenn auch nicht mit dem System selbst,
so doch mit der Grösse ihres Anteils be-
stehen.
5. Schlnssergebnis. Bei aller Aner-
kennung der Vorzüge im allgemeinen und
der erfreulichen praktischen Resultate der
Gewinnbeteiligung in manchen für ihre
Diu'chfuhrung besonders günstig liegenden
Einzelfällen, darf nicht übersehen werden,
dass die ihr entgegenstehenden Schwierig-
keiten und Bedenken eine Ausdehnimg und
Popularisierung des Systems weit über den
jetzigen Anwendungsbereich hinaus fast un-
möglich erscheinen lassen. In der Land-
wirtschaft legen die Schwierigkeiten der
Reinertragsermittelung, vielfach auch der
starke Wechsel der freien Arbeiter besondere
Hindernisse in den Weg. In den übrigen
Gewerbszweigen bieten sich dort die meis-
ten Aussichten, wo die Leistungen der ein-
zelnen Arbeiter besonders qualifizierte sind,
also gewöhnlich im Handwerk mehr als in
der Industrie. Indessen wird auch hier die
Einfühnmg des Anteilsystems in Erwägung
zu ziehen sein, wenn es sich darum liandelt,
einen Stamm von Arbeitern dauernd an das
Unternehmen zu fesseln, welcher als Ver-
mittelungs- und Bindeglied zwischen dem
Unternehmer und dem Gros der Arbeitö*
gute Dienste leisten kann.
So hoch man auch die erzieherische
Wirkung der Gewinnbeteiligung schätzen
mag, ein gewisses Mass von Einsicht imd
Verständnis seitens der Arbeiter ist schon
die notwendige Vorbedingung für ihr Ge-
lingen. Hier können nun verfeinerte Lohn-
methoden, Prämien etc., welche auch in Ver-
bindung mit der Gewinnbeteiligung sich be-
währt haben, dieser unter Umständen den
Boden ebnen.
Andererseits werden aber auch von
Seiten vieler Arbeitgeber die Vorzüge der
Gewinnbeteiligung noch nicht genügend ge-
würdigt und berücksichtigt. Die Bemühun-
gen der Freunde des Systems, demselben in
diesen massgebenden Kreisen grössere Ver-
breitung zu sichern, verdienen daher alle An-
erkennung. Freilich dürfte bei der jetzigen
sozialdemokratischen Strömung innerhalb der
Arbeiterwelt die Geneigtheit der Unterneh-
mer zu einem Versuche mit diesem System
um so geringer sein, als sie nicht ohne Ur-
sache befürchten müssen, dass der Gewinn-
anteil von vielen Arbeitern doch nur als
eine dürftige Abschlagszahlung auf den un-
gerechterweise vorenthaltenen »Mehrwert«
angesehen ^ärd.
Litteratur: Ueber BeleiUg^mg der Arbeiter am
Untern ehmergewinn, Chitachten auf Veranlassung
des V. f. Sozialp., abgegeben von E. von Plener,
M. Weigert , J. Neumann, J. Wertheim,
Sehr. d. V. /. Sozialp. VI, Leipzig 1874.. —
Victor Böhmertf Die GewinnbetetUgung.
Untersuchungen über Arbeitslohn und Unter-
nehmergeicinn, 3 Teile, Leipzig 1878. — Her-
8eib€f Enquete aber Gewinnbeteiligung der Ar-
Gewinnbeteiligung
723
beitnehmer und andere neue Lohnzahlungs-
meihoden mit besonderer Bückgicht auf die schwei-
zerischen Vertmche, Zürich 187$. — JS. Engel,
Der Arbeitsvertrag und die ArbeitsgeseU^chaft,
Vortrag, erschienen im Arbeiterfreund, V. Jahrg.,
HaUe 1867, S. 129-154. — W, Runge, f>6e?-
die Beteiligung der Arbeiter am Beingevnnn in-
dustrieller Unternehmungen, Breslau 1869. —
A, Schulz, Ueber die Beteiligung der länd-
lichen Arbeitnehmer an dem Gvtsertrage, Leip-
zig 1871. — Freiherr Th. t?on der Goltz,
Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Lösung,
S. Aufl., Danzig 1874. — ■**. Worthniann,
Die Beteiligung der Arbeiter am Gewinn, Jena
1878. — Paul Schiff, Zur Gewinnbeteüigungs-
frage. Eine Untersuchung, Berlin 1883. — J^'.
Frommer, Die Gewinnheteiligung, ihre prak-
tische Anwendung und theoretische Berechtigung
auf Grund der bisher gemachten Erfahrungen
untersucht, Leipzig 1886. — A. Wirminghaus,
Das Unternehmen, der Untemehmergewinn und
die Beteiligung der Arbeiter am Untemehmer-
gewinn, Jena 1886. — O, Sehmoller, Zur
Sozial- und Gewerbepolitik der GegenwarL Beden
und Aufsätze, Leipzig 1890, S. 44I—46I: Ueber
Gewinnbeteiligung (1890). — A'. P. Qilmun,
Die Teilung des Geschäflsgeioinnes zwischen
Unternehmer und Angestellten. Ein praktischer
Beitrag zur Arbeiter- und Lohnfrage. MU Er-
laubnis des Verfassers umgearbeitet und auf den
neuesten Stand ergänzt von Leopold Kat-
scher, Leipzig 1891 (vgl. das unten angegebene
Originalwerk) . — Heinr, Freese, Fabrikanten-
sorgen, Eieenc^h 1896. — Derselbe, Fabrikanten-
glück, Eisenaeh 1899. — Rud, Einhauser,
Die Gewinnbeteiligung, ihr Einfluss auf den
Untemehmergewinn und auf die Beziehungen
zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, Tübingen
1898 (auch in der Zeitschr. f. d. ges. Staatsw.,
54. Jahrg.). — E. A, Fuhr, Ueber Gewinn-
beteiligung in der deutschen Grossindustrie, in
der Zeitschr. f. d. ges. Staalswissenschaft , 66.
Jahrg., S. 694 ß.). — »Der Arbeite rfr eun du,
Organ der Ceniralv. f. d, Wohl d. arbeitenden
Klassen, herausgeg. von Victor Böhmert;
jetzt in S8. Jahrg., Berlin 1900. — Charles
Hobert, La suppression des greves par l'asso-
datUm aux bSneßces, Paris 1870. — Derselbe,
Le partage des fruits du travail. Etüde sur la
participatUm des mnployes et ouvriers dans les
bSnefices, prisentSe ä l'AssembUe gSnSrale de Ui
Societe prottstante du travail, le 4 o-vril 1878,
Paris. — Derselbe, Le contrat de participation
aux bhiefices, Paris 1890. — A, de Courey,
La vraie question sociale, Paris 1871. — Der^
selbe, L'institiution des caisses de pr^voyance,
Paris 1876. — Leclaire, tk>ciet6 de secours
mutuels interessee dans une entreprise industrielle.
Association de Vouvrier aux beneßces du pairon,
S. edit., Paris 1877. — J. Billon, Participation
des ouvriers aux benSfices des patrons, Geneve
1877. — •/. B, Godin, Mutualiti sociale et
association du capital et du travail . . . ., Paris
1880. — A. Fougerou»se, Patrons et ouvriers
de Paris, Paris 1880. — J, C, van Marken,
La question ouvriere. Essai de Solution pratique,
Paris 1881. — Le Rousseau, L'association de
l'ouvrier aux benefices du patron. Edit. nou-
velle, Paris 1886. — M. Block, Les facteurs
de la production et la participation de l'ouvrier
aux binefices de l'entrepreneur, Paris 1886 (in
der Hauptsache identisch mit einem Aufsatze
desselben Verfassers im 88. Bd. der Viert, für
Volksw.). — Victor Böhmert, La participation
aux benefices. Traduit et mis ä jour par A.
Trombert. Avcc une preface de Charles
Robert, Paris 1888 (vgl. das oben angegebene
Originalwerk). — Enquete de la commiesion
extraparlementaire des nssociations ourrikres,
2 vol., Paris, Imprimerie nationale 188S. — •
Modes de remuneration du travail des ouvHers
et employes de Sod^tes coopercUives de con-
sommaUon, Paris 189£. — Albert Trombert,
Guide pratique pour l'applicatüm de la parti-
cipation aux beneßces, Paris 189fi. — Derselbe,
Les applications de la participation aux bene-
fices, Paris 1896. — A, Cazeneuve, Les entre-
prises agricoles et la partieipalion du personnel
aux betUßces, Paris 1889. — L6on Sahler,
La participation aux beneßces et ses resultcUs
pratiques, Paris 1891. — Charles Robert,
La participation aux benifices de Vindustrie, du
commerce et de l'agriculture, Paris 1892. —
A. Poindron, Determination de la formule
minimum de la partieipalion aux benefices, Paris
1893. — M, Masearel, Etüde sur la participation
aux beneßces, Angers 1894. — Em^ile WaX"
weiter, La participation aux benißces, con-
tribution ä Vetude des modes de remuneration
du travail, Paris 1898. — Maurice Vanltter,
La participation aux binSfices, Paris 1898. —
Paul Bureau, L'associaiion de l'ouvrier aux
proßts du patron, Paris 1898. — Bjoger MsT"
lin, Le mftayage et la participation aux beneßces,
Parisl898. — Bulletin de la participation
aux bSn Sfi ces, Jahrg. I bis XXI, Paris 1879 —
1899 (wird fortgesetzt). — W, Stanley Jevons,
On Industrial partnerships, London 1870. —
Sedley Taylor, PtofU-sharing between capital
and labour, six essays, to which is added a
memorandum on the industrial pärtnership at the
Whitwood ooUieries (1865 -1874) ^ ^- Briggs
and the' late H. C. Briggs, together with
remarks on the memorandum by Sedley Taylor,
London I884. — T. W. Bushill, Description
of profU-sharing scheme introduced by Th. BushiU
& Sons Manufacturing stationers, Coventry, on
october ISth, 1888. — With lists of profit-sharing
ßrms, 2d edition, London 1889. — Report to
the Board of Trade on proßl-sharing,
Presented to Parliament, London 1891. — N,
O. Nelson, ProfU sharing, St. Louis, Mo, 1887.
— Hi Story of Cooperation in the United
States. Publication Agency of John Hopkins
University, Baltimore 1888. — N, JP. Oilm^an,
Proßt sharing between employer and employed,
a study in the evolution of the wages System,
Boston and New-York 1889. — Henry Raw^
son, Proßt sharing Precedents with Notes, 1891.
— David F, Schloss, Methodes of Industrial
remuneration, London, 8. Aufl., 1898. — Der~
seihe, Report on I'rofU-sharing. Presentet to
Parliament, London I894. — Derselbe, Report
on gain-sharing and ceriain other Systems of
bonux on production. Presented to Parliament,
London I894. — T, W, Bushill, Proßt-sharing
and the labour question, London 189S. — T, B.
Shuttleworth , Proßt-shat ing, London 1893. —
Employ er and Employed, Boston 1892 —
1896 (eingegaiMjeyi), — P. Manfredi, Della
partecipazione del operajo al proßtto delV im-
presa, Padova 1876, — C. Morpurgo, La
46*
724
Ge^Äinnbeteiligung — Gilbait
parteciptLzione al proßtlo, Genova 1888. — A,
Avogadro, Far la pace fra capüale e lavoro.
ExperimeiUi e rimUati, Como 1893. — Vitt"
censo Caniannif La partecipaztone dei la-
voranti cd proßtio deW impresa, Roma 1897. —
«/. Xto van Marhetif Durch die Arbeit ßir die
Arbeit. Ein Versuch praktischer Durchföhrung
der Gewinnbeteiligung der Arbeiter (deutsche
Uebersetzung atis dem Holländischen), Dessau.
— «7. €, Eringaard, Holländische Muster-
Stätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern
für ihre Angehörigen, Delft 1896. — Bericht an
den Bundesrat Emil Frey über die Frage der
Betätigung der Arbeiter und Angestellten in den
Regiewerkstätten des Müitärdepartements an dem
Betriebsergebnisse, erstattet von A, tTegher,
Zürich 1892.
A. Wivminghaus,
Gide, Charles,
geb. am 29. VI. 1847 zu Uzes (Departement
üard). Von 1874—1880 Professor an der
Becbtsfakultät zu Bordeaux; seit 1880 Professor
der politiscben Oekonomie an der Kecbtsfakaltät
.in Montpellier, seit dem 2, Semester 1898 Pro-
fessor der Sozialökonomie an der Universität zu
.Paris.
Gide veröffentlichte von staatswissenschaft-
licben Schriften in Buchform:
Le Droit d association en matiere reli^euse.
Paris 1874. — Principes d'economie pohtiqae.
Paris 1884; dass. 2. ed. 1889; dasselbe, S. ed.
.1890; dass. 4. ed. 1893: dass. 5. ed 1896; dass.
.6. ed. 1898; dass. in engl. Uebers. von £.
Percy Jacobsen, Boston 1891; dass. in holländ.
Uebers. der 6. Aufl. von C. R. C. Herckenrath,
Groningen 1899. — Etüde sur l'Act Torrens,
Paris 1886. — Les Propheties de Fourier,
Nimes 1886. — L'avenir de la Cooperation,
Nimes 1888. — Discours d'inauguratlon du
Congr^s International des soci^t^s cooperatives
de 1889. Nimes 1889. (Die drei letztgenannten
Veröffentlichungen erschienen in der „Biblio-
th^que coop6rative de l'Emancipation ") — „La
nouvelle ^cole", abgedruckt in „Qnatre ecoles
d'economie sociale**, Genöve 1890. Femer gab
Gide heraus : Oeuvres choisies de Fourier. Paris
1889.
Gide veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Artikeln in folgenden Zeitschriften:
a) Economic Journal, Vol. V, 1895; Agricul-
tural syndicates and cooperative societies in
France. — b) Handelsmuseum^ Bd. XII, 1897,
Mai ; Die Arbeitsvermittelung in Frankreich —
c) Jahrb. f. Ges. u. Verw., Jahrg. XIX, 1895:
Die neuere volkswirtschaftliche Litteratur
Frankreichs. — d) Journ. d' Econ.: 1883, Mai;
De quelques doctrines nouvelles sur la propri6t6
fonci^re. — e) Political Science Quarterly,
Vol. V, no 4, December 1890: Political economy
in France. — f ) Quarterly Journal of Economics,
1889, November: Productive co-operation in
France. — g) Revue d'economie politique (zu
deren Gründern Gide gehörte) 3« annee, 1889,
no. 5: De la Cooperation et des transforma-
tions quelle est appelee ä realiser dans Tordre
economique. — 5« annee^ 1891, no. 910: Alfred
Jourdan. — La protection sans droits protec-
teurs. — 7e ann^e, 1893, no. 1; Le mouvement
cooperatif en France dans les dix demieres
annees. — Le Congres socialiste de Berlin, etc.
(gemeinsam mit Maur. Lambert.) — 8e annee,
1894, no. 5: Le n^o-coUectivisme. — 8e annee, no.
9/10 : La premidre statistique des societes coope-
ratives de consommation en France. — 10© annee,
1896, no. 7/8 : L'impöt sur la rente. — 10« aimee,
no. 11: Henri Saint-Marc. — 11« annee, 1897,
no. 12 : Necrologie : Ugo Rabbeno. — 12« annee,
1898, no. 8/9: Maurice Lambert. — h) Revue
de Geographie, janvier et fevrier 1886: A quoi
servent des colonies? — i) Revue intemat. de
sociolo^ie, Ire annee, 1893, no. 5: L'idee de
solidant« en tant que programme economique. —
Die 1. u. 2, Aufl. dieses H.W.B. der Staats-
wissenschaften, Bd. II, S. 204 ff. bezw. Bd. II,
S. 380 ff. (Jena 1891 u. 1900) verdankt Gide den
gemeinschaftlich mit Cauwes verfassten Artikel:
„Bauernbefreiung in Frankreich**.
Red,
Gifte s. Gewerbegesetzgebung oben
Bd. IV S. 410 ff.
Gilbart, James William,
geboren am 31. III. 1791 und gestorben am 8.
VIII. 1863 in London. 1813 trat er als Klerk
in eine Londoner Bank ein, war 1825. Kassierer
eines Bankhauses in Birmingham, wurde 1827
Direktor der irischen Provinzialbank zu Kil-
kenny und übernahm 10. III. 1834 die Ober-
leitung der Oktober 1833 gegründeten London
und Westminster-Bank in London, die sich
unter seiner Direktion zu einer der bedeutend-
sten Aktienbanken des Vereinigten K.öni^ichs
entwickelte Juni 1837 beteiligte er sich als
Sachverständiger an der parlamentarischen
Enquete über Aktienbanken; 1854 gelang es
seinen langjährigen Bemühungen, die Zulassung
der englischen Aktienbanken zu dem Checkver-
kehr des Londoner Clearinghouse herbeizuführen.
1860 wurde Gilbart, in Anerkennung seiner
grossen Verdienste um die Stellung der eng-
lischen Aktienbanken auf dem Geldmarkte, mit
einer lebenslänglichen Pension von jährlich
1500 Pfd. Sterling pensioniert.
Gilbart veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften a) in Buchform:
A practical treatise on banking ; o^ntaining
an account of the London and country banks.
a view of the joint-stock banks of Scotland ana
Ireland, with a summary of the evidence deli-
vered before the Parliamentary Committees, re-
lative to the suppression of notes nnder five
pounds in those countries, London 1827; 6.
Aufl. in 2 Bdn., 1859 ; dasselbe, Neubearbeitung,
bezw. 7. Aufl. unter dem Titel: Principles and
practice of banking, 1871. — The history and
principles of banking, laws of the currency, etc.
London 1834; 3. Aufl. 1837. — History of ban-
king in Ireland, London 1836. The history of
banking in America; with an inquiry how for
the banking institutions of America aie adapted
to this country; and a review of the canses of
the recent pressure on the money market,
London 1837. — Lectures on the history and
principles of ancient commerce, London 1847.
Gübart— Güden
725
— Logic of banking; exposition of the prin-
ciples of reasoning, and their application to the
art and science of banking, London 1859. —
Logic for the million, with an appendix on the
philosophy of language, London 1865. — Lec-
tures and essays, London 1865 (Inhalt: Lectures
on the history and principles of ancient commerce ;
the social enects of reformation ; the philosophy
of history. — etc.). — Complete works, 6 Bde.,
London 1865. — 20 Jahre nach seinem Tode
erschien eine zn einem Werk kombinierte Nen-
bearbeitnn^ seiner beiden Hauptwerke : History
and principles of banking und Treatise on
banking u. d. T. : The history, principles, and
practice of bankinfif, by A. S. Michie (Direktor
der „Royal Bank of Scotland" in London) 2 Bde.,
London 1882.
Giibart veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Artikeln b) in Zeitschriften und
zwar ausschliesslich im „Journal of the Statisti-
cal Society": On the laws of the currency in
Ireland, as exemplified in the changes in the
amount of bank notes in circulation in Ireland
since the Act of 1845, Bd. XV, 1852, S. 307 ff.
— The laws of the currency in Ireland, as
exemplified in the circulation of country bank
notes in England, since the passing of the Act
of 1844, Bd. XVII, 1854, S. 289 ff. — A ten
years' retrospect of London banking, Bd. XVIII,
1855, S. 133 ff. — The laws of the currency in
Scotland, Bd. XIX, 1856, S. 144 ff.
Vgl. über Gilbart: Mac Culloch. the litera-
ture of political economy, London 1845, S. 180 f.
— Sandelin, Repertoire gen6ral d 'economic poli-
tique, Bd. IV, Haag 1847, S. 144. — Palgrave,
Dictionary of polit. econ., vol. II, London 1896,
p. 208.
lAppert,
Gilden.
1. Entstehung und Frühzeit der G. 2. Arten
und Bedeutung der mittelalterlichen G.
1. Entstehung nnd Frühzeit der G.
Als Gilden (convivia) bezeichnete man in
der heidnischen Zeit des nordischen Alter-
tums feierliche, regelmässig mit gottesdienst-
lichen Handlungen — man trank den Göttern
»Mnne« — verbundene Gelage, wie sie
bei Eheschliessungen, Totenfeiern und ähn-
lichen Anlässen, namentlich auch bei den
Opferversammlungen auf den grossen Ge-
richts- und Markttagen stattfanden. Das
Wort »Gilde« pflegt man entweder abzuleiten
von der Verpflichtung der Gelagsgenossen
zur Zahlung eines Beitrags (geldan, gyldan,
gelten = zahlen) oder von der Verbindimg
des Trinkgelages mit dem heidnischen
Opfer (gield, ^Idi, kelt = Vergeltung, Opfer).
Bis jetzt ist keine Spur einer mit diesen
uralten Öelagen verbundenen genossenschaft-
lichen Organisation gefunden worden, wes-
halb die meisten Forscher einen unmittel-
baren Zusammenhang derselben mit den
späteren, als Gilden bezeichneten Körper-
schaften in Abrede stellen ; indes bildete das
Gelage auch späterhin stets einen so vrich-
tigeu Bestandteil der Gilde, dass schon des-
halb ein Zusammenhang mit jenen heid-
nischen Trinkgilden wahrscheinlich ist
Die ältesten eigentlichen Gilden entstan-
den in einer Zeit, als den einzelnen der
Geschlechtsverband nicht mehr, das ünter-
thans- bezw. Vasallenverhältnis und der
städtische Verband noch nicht ausreichenden
Schutz gewährten; doch behielten sie das
ganze Mittelalter hindurch eine weitum-
fassende Bedeutung, weil die Form der
Gilde sich nach einander für die verschie-
densten Zwecke nutzbar machen Hess. Die
Gilden waren die ersten imd wichtigsten
»Einungen«, welche an die Stelle der uralten
Geschlechts-Genossenschaften traten. Sie er-
griffen den ganzen Menschen imd erstreckten
sich auf alle Seiten des Lebens. »Jede
germanische^ Gilde hatte zugleich religiöse,
sittliche, privatrechtliche und politische
Zwecke. Auch als später sich besondere
Klassen absonderten, religiöse und weltliche,
und imter den letzteren Schutz- und Ge-
w^erbsgilden schärfer getrennt wurden, war
es nur der Hauptzweck, welcher verschie-
denen Gebieten angehörte, während daneben
noch lange die Verbindung sich in allen
anderen Beziehungen wirksam zeigte.« Mit
einigen Einschränkungen wird man diese
Ansicht Gierkes ftlr die Frühzeit der Gilden
als zutreffend anerkennen können, wenn-
gleich bei den meisten Gilden auch in der
ältesten Zeit ein einzelner Zweck im Vorder-
grunde gestanden zu haben scheint. In
solcher Gestalt ist die Gilde vermutlich
eine rein germanische Erscheinung. In-
des bedarf es noch vergleichender Einzel-
untersuchungen der zum Teil älteren ähn-
lichen Gemeinschaften, w^elche auch in
den romanischen und slawischen Ländern
aUer Orten bestanden haben, zum Teil noch
bestehen. Für Nordfrankreich hat Hegel
neuerdings den Beweis erbracht, dass die
dortigen Kommunen nicht eigentliche Gilden,
sondern Friedensverbindungen der Stadt-
gemeinden waren.
Das religiöse Element ist wesentlich
für jede echte Gilde, einesteils in Gestalt
gottesdienstlicher Handlungen, die vielleicht
unmittelbar aus den altheidnischen Ge-
bräuchen hervorgegangen sind, andernteils
in Gestalt guter Werke. Auch das Trink-
gelage blieb als geselliges Element in
jeder Gilde übrig. Aber die wichtigste
Triebkraft war vermutlich das Schutzbedürf-
nis: Die Gilden waren Schwurgenossen-
schaften zu gegenseitigem Schutze.
Sie wurden im fränkischen Reiche schon
von den Karolingern mehrfach als »eonspira-
tiones« oder »conjurationes« und auch später
in Frankreich und Deutschland von weit-
726
Qüden
liehen wie von geistlichen Gewalten wieder-
holt untersagt, während sie in England —
hier vielleicht abgesehen von der Regierung
Wilhelms des Eroberers — und in den
skandinavischen Eeichen anerkannt oder so-
gar begünstigt wurden.
• In England müssen schon sehr früh
eigentliche Gilden vorhanden gewesen sein,
wenn man die »gegildan« (congildones =:
consocii) in den Gesetzen der Könige Ine
und Aelfred auf sie beziehen darf. Auch
die »judicia civitatis Lundonia«, welche in der
Zeit König Aethelstans (925—940) nieder-
geschrieben sind, weisen auf das Vorhanden-
sein einer Gilde hin, deren Mitglieder sich
zu einer Art w^echselseitiger Assekuranz
gegen Eaub verpflichten. Aus dem 10. Jahr-
hundert sind uns noch mancherlei ähnliche
Nachrichten erhalten geblieben, und aus dem
Anfange des 11. besitzen wir schon die
vollständigen Statuten von vier englischen
Gilden: in Abbotsbury, Exeter, Cambridge
und Woodbury.
Auf deutschem Boden sind sichere
Spuren von Gilden erst aus dem 12. Jahr-
hundert nach'weisbar, und zwar werden hier
zuerst Gew^erbsgilden erwähnt (Magdeburg,
Köln , Braunschweig und andere). Für N o r -
wiegen reichen die Nachrichten von Gilden
(Schutzgilden) bis ins 11., für Dänemark
bis ins 12., für Schweden nur bis ins
14 Jahrhundert zurück.
Alle diese späteren Gilden sind in
Städten entstanden. Dagegen ist die von
"Wilda aufgestellte, von Gierke, Nitzsch und
andere aus- und umgebildete sogenannte
»Gildetheorie« für die Entstehung der
Stadtgemeinden, -wonach letztere aus Gilden
hervorgegangen sein sollen, durch die
neuesten Forschungen von Hegel, Gross und
von Below beseitigt worden,
2. Arten und Bedeutnng der mittel-
alterlichen G. Die überwiegend religiösen
GDden, vorzugsweise »Brüderschaften« ge-
nannt«, waren im Mittelalter ungemein zahl-
i-eich; so soll es deren in Köln an 80, in
Lübeck 70, in Hamburg gar über 100 ge-
geben haben. »Jede solche Gilde hatte einen
Heiligen als Schutzpatron, der ihr meist
den Namen gab, und bei dem man schwur,
und einen besonderen Altar, den sie unter-
hielt (oft auch eine eigene Kapelle. E.). Die
Stiftung von Wohlthätigkeits-lnstituten oder
Vikaiien, ewigen Messen und ähnlichem,
Schenkungen und Oblationen an die Kirche,
Almosengeben imd Unterstützung von Wall-
fahrten, die Beschaffung der gehörigen Ker-
zen für den Gottesdienst und andere fromme
Handlungen waren Vereinssache und Vereins-
zweck. Sorge für das Begräbnis und nach
diesem für das Seolenheü eines verstorbenen
Genossen war eine der Hauptpflichten, wel-
che der Gesamtheit oblag. Endlich aber
waren bei jeder Gilde regelmässige Zu-
sammenkünfte üblich, welche teils in Er-
innerung heidnischer Opfer- und Totenmalüe,
teils als christliche Liebesmahle einen reli-
giösen Charakter wahrten« (Qierke).
Weit weniger zahlreich, aber um so be-
deutsamer waren die vorwiegend welt-
lichen Gilden. Sie sind einzuteilen in
eigentliche Schutzgilden, in politische
und in Gewerbsgilden; doch ist auch
hier die Zuteilung im einzelnen oft schwierig.
Als eigentliche Schutzgilden sind die
vorhin erwähnten ältesten Gilden der Franken
und Angelsachsen, sowie von den späteren
wohl die meisten der uns bekannten skan-
dinavischen Gilden zu kennzeichnen . Sie
bezweckten den Schutz der Genossen gegen
Dritte, ihre ünterstützimg bei Vermögens-
not und die Wahrung des Rechts in ihrem
Verhältnisse zu einander, woneben dann
noch religiöse Pflichten zur gegenseitigen
Unterstützung der Gildebrüder auferlegt
w^urden. Eine der ältesten englischen
Gilden, die von Cambridge^ bezweckte, die
dem Geschleehte früher obliegende Wergeid-
pflicht zu übernehmen, falls ein Gildebruder
erschlagen worden war oder einen anderen
im Rechte erschlagen hatte. Die ungefähr
ebenso alte Gilde von Exeter leistete schon
Hilfe bei Feuersbrunst ; doch sind die eigent-
lichen Brandgilden oder Brandkassen
weit jüngeren Ursprungs; ihre Entstehung
fällt in das 16. und 17., vereinzelt auch
schon in das 15. Jahrhundert. Hier wäre
auch unserer Schützengilden zu ge-
denken, welche aus alten zur Waffenübung
gebildeten Schutzgilden der Bürger hervor-
gegangen sind.
Zu den politischen Gilden gehören
die sehr alten herrschenden Gilden (summa
convivia) in Schleswig und Canterbury und
die patricischen Altbürgergilden in manchen
deutschen Städten, wie die kölner Richer-
zeche, die süddeutschen Herrenstuben, die
Constoffeln in Strassburg und Zürich etc.
Sie scheinen ausser geselligen Zwecken
hauptsächlich die Aufrechterhaltung der
herrschenden politischen und sozialen Rang-
stellung ihrer Mitglieder im Auge gehabt
zu haben. Dagegen sind die nordostdeutschen
Artushöfe und Junkerkompagnieen zum Teil
wohl mehr zu den kaufmännischen Gilden
zu zählen.
Die Gewerbsgilden zer^dllen wieder
in Handels- oder Kaufmanns- und in
Hand werksgilden, über welche letztere
der Art. Zunftwesen zu vergleichen ist.
Hier haben wir es nur noch mit den Handels-
gilden zu thun, die nebst den Zünften wohl
die wichtigsten aller Gilden gewesen sind.
Die allgemeinen Handelsgilden
fanden namentlich in England nach der
Eroberung ungemein starke Verbreitimg.
Gilden — Gioja
727
Ihre wirtschaftliche Bedeutung bestand haupt-
sächlich darin, dass nur die Angehörigen
der Gilde das Recht zum Kleinverkauf der
wiclitigsten Waren hatten und dass sie auch
im Grosshandel oft Vorrechte besassen : Zoll-
privilegien, das ausschliessliche Recht, mit
Fremden Handel zu treiben, und anderes
mehr. Der Inbegriff dieser Rechte wird
vielfach als Hanse bezeichnet, welches
Wort indes noch andere Bedeutungen an-
nahm (vgl. den Art. Hanse). Einen Gilde-
charakter hatten auch die im 13. und
14. Jahrhundert entstandenen grossen Com-
panies der Merchants of the Staple und der
Mercliant Adventiu^rs, nach deren Vorbild
namentlich seit dem 16. Jahrhundert zahl-
reiche solche »regulated companies« sich
bildeten ; diese bezw^eckten, durch Regulierung
von Angebot und Nachfrage, durch Bestim-
mung der Zahl der auszusendenden Schiffe
etc. den Markt zu leiten, insbesondere die aus-
ländischen Märkte für die grossen englischen
Stapelartikel Wolle und Tuch vor Ueber-
fülirung und Preisdruck zu bewahren (vgl.
den Art. Handelsgesellschaften II).
In Deutschland gab es im Mittel-
alter nur wenige allgemeine Handels-
gilden. Dagegen finden sich sehr häufig
Gilden der Detailhändler, besonders der
Tuclihändler (Gewandschneider) und Kramer.
Später traten in den niederdeutschen See-
städten die Kaufleute und Reeder, welche
mit einem und demselben Lande verkehrten,
zu Gilden zusammen als FJanderfahrer, Eng-
landsfahrer, Schonenfahrer, Bergen falirer etc.
Sie bezweckten wohl hauptsächlich den
gegenseitigen Schutz auf der See, gehören
also insofern mehr zu den Schutzgilden;
indes werden auch andere kommerzielle
Aufgaben erwähnt, woneben dann noch die
geselligen Pflichten stark in den Vorder-
grund traten. Letztere scheinen nebst
politischen Zwecken bei den süddeutschen
»Kaufleutestuben« die Hauptrolle gespielt
zu haben.
So waren die Gilden während ihrer
Blütezeit beschaffen. Sie füllten überall die
CTossen Lücken der obrigkeitlichen
Fürsorge aus und leisteten dabei viel mehr,
als diese jemals hätten leisten können. Sie
umfassten und durchdrangen einen grossen
Teil des öffentlichen und privaten Lebens
mit einer genossenschaftlichen Organisation,
wie sie niemals sonst erreicht worden ist.
Als ihre Aufgaben am Ende des Mittelalters
mehr und mehr von modernen Verbänden
und Behörden übernommen wiutlen, blieben
viele Gilden als blosse Geselligkeitsvereine
oder Versorgungsanstalten bestehen, teil-
weise bis zum heutigen Tage.
Litteratnr: Wilda, Das Güdeivweaen im Mittel-
aller, Halle 18S1. — Waitz, Deutsche Ver/aa-
sangsijeschichte, V. 365 ff,, VII. 401ff. — Gierke,
Deutsclies Genossenschaflsrechi I, 2S0ff,, SSI ff.
S44ff. — Toulvtin Sniith, English gilds.
The original ordinances of more than one Awn-
dred early etiglish gilds, with a prelim. essay
by IaiJo BrentanOf London 1870. — €Jh, Gross,
Gilda mcrcaioria, GöUingen 188S. — Derselbe,
The Gild Merchani, 2 Bde., Oxford 1890.
(Hauptwerk für England). — Nitzsch, Uebei'
die niederdeutschen Genossenschaften d. li. u.
13. Jahrh. (Monatsberichte d. BerU Äkad. d.'
Wiss. 1879, S. 5 ff.). — Derselbe, Ueber
niederdeutsche Kaufgüden (l. c. 1880, S. 370 ff.).
— Derselbe, Die niederdeutsche Kaufgilde
(Zeitschr. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch.,
German. Abt. 13, Iff.). — Pappenheim, Dis
altdänischen Schutzgilden, Breslau 1880. —
Derselbe, Ein altmorwegisches Schutzgildestatvl,
BresUtu 1888. — G, von Below, Die Bedeu-
tung der Gilden für die Entstehung der deutschen
Stadtverfassur.g (Jahrb. f. iVa^ u. Stat., 3. F.,
3. Bd., 1892, S. 56 ff.). — A, Doren, Unter'
suchungen z. Geschichte d. Kaufmaniisgilden d.
Mittelalters (Staats- u. soz.-wiss. Zeitschr. von
SchmoUer XII 2), 1893. — Neuestes Hauptwerk
für die ganze Materie : Karl Hegel, Städte u.
Gilden der germanischen Völker im Mittelalter,
2 Bde., Leipzig 1891. — Vgl. jetzt auch Röscher,
NÖ. d. Handels- u. Geicerbeßeisses , 7. Aufl.,
herausgegeben von Stieda, 1899, S. 16 ff., 25,
173 ff., 795 ff.
Riehard Ehrenberg,
Gioja, Melchiorre,
geb. 20. IX. 1767 zu Piacenza, studierte in
Pavia Theologie, Mathematik und Physik, er-
hielt 1796 die priesterlichen Weihen, verzichtete
noch in dem nämlichen Jahre, nach Errichtung
der Cisalpiüischen Republik durch Bonaparte,
auf das geistliche Gewand und ging nach Mai-
land, wo er sich staatswirtschaftlichen Studien
hingab. Im Jahre IHOl wurde er mit der Er-
richtung eines statistischen Bureaus für den
italienischen Freistaat beauftracft, das aber erst
1803 ins Leben trat, zunächst für die cisalpini-
sche Republik und Mai 1805 für das Königreich
Italien. Er war Direktor dieses Bureaus bis
zum Jahre 1809, wo Dissonanzen mit dem
Minister des Innern, Arborio de Breme, seine
Enthebung von dieser Stellung herbeiführten.
Gioja rächte sich an dem Minister durch das
Pasquill : „II povero diavolo", was ihn in einen
peinlichen Prozess verwickelte, dessen Kon-
sequenzen er sich Anfang 1811 durch die Flucht
entzog. 1813 amnestiert und durch den Nach-
folger ArborioB de Breme, Minister Vaccari,
nach Italien zurückberufen, nahm er hier seine
publizistische Thätigkeit wieder auf und ver-
öffentlichte das nationalökonomische Hauptwerk
seines Lebens: Nuovo prospetto delle science
economiche (s. u.). 1818 wurde er Mitarbeiter
an dem im nämlichen Jahre von Silvio Pellico
gegründeten, mit dem Karbonarismus sympa-
thisierenden Tageblatt: „il Conciliatore", wo-
durch er in die Revolution von 1820 verwickelt
und zu einer mehrmonatlichen Einsperrung im
„Spielberg" verurteilt wurde. Er starb 2. I.
1829 in MaUand.
Gioja war ein Gegner der Einseitigkeit des
J
728
Gioja — Giroverkehr
Indnstriesystems, dessen Gründer er ebenso be-
kämpfte wie Smiths Dolmetsch für Frankreich:
J. B. Say. Die Superiorität der Absatzquellen-
theorie Say^s wird u. a. von Gioja zu Gunsten
Bandinis angefochten. Pecchio (s. u.) sagt von
Gioja, dass er zuerst von den Nationalökonomen
Italiens für die wirtschaftliche Prävalenz der
Industrie vor der Landwirtschaft und für die
Bedeutung der wirtschaftlichen Association als
Hauptfaktor der Produktion mit Entschiedenheit
eingetreten sei.
Als Statistiker leg^ er, wie Achenwall,
das Hauptgewicht der Statistik auf das Staats-
wohl, im Gegensatze zu der von deutschen und
französischen Autoren vertretenen Auffassung,
dass in erster Reihe statistische Untersuchungen
den Grnndkräften, d h. der Grösse und Macht
der Staaten zu gelten hätten, weshalb er denn
auch einen grossen Apparat topographischer, geo-
graphischer, wirtschaftlicher und ethischer Zu-
standsschilderung und deren Wechselwirkung
(vgl. seine Filosofia della statistica [s. u.]) zur
Beweisführung heranzieht und daraus das Recht
und die Pflicht des Staates deduziert, die
Wohlfahrt der Unterthanen durch die Staats-
kräfte zu fördern und zu erhalten.
Gioja veröffentlichte auf Staatswissenschaft
bezügliche Schriften in Buchform:
Quadro politico de 1798, Mailand 1797. —
I Russi, i Tedeschi ed i Francesi, ebenda 1801.
— Sul commercio de' commestibile e sul caro
prezzo del vitto, 2 Bde., Mail. 1801—2. — Dis-
cnssione economica sul dipaitimento deir Olona,
Mail. 1803. — Discussione economica sul di-
partimento del Lario, Mail. 1804. — Teoria civile
e penale de divorzio, ossia necessitä, cause,
nuova maniera di organizzarlo seguita dair
analisi della legge francese, del anno XI, Mail.
1803. — n Rappresentante Pozzi all govemo,
aila nazione, sulla dimissione dei commissarj
del tesoro nazionale, Mail. 1804. — Cenni
morali e politici sulP Inghilterra, estratti dagli
scrittori inglesi, Mail. 1805. — Dissertazione
sul problema dell' amministrazione generale
della Lombardia, Mail. 1808. — Tavole statistiche
ossia norme per descrivere, calcolare, classificare
tutti gli oggetti d'amministrazione privata e
pubblica, Mail. 1808; 2. Aufl. 1827. — Lo^ca
statistica, Mail. 1808. — Esame d'un' opinione
intomo all' indole, estensione e vantaggi delle
statistiche, Mail. 1809; Neudruck 1826 ; Wieder-
abdruck in Articoli varj di statistica ed eco-
nomia, Bd. 11 (s. u.). (Letztere Schrift enthält
eine Widerlegung der ersten, den Nutzen der
Statistik herabsetzenden Streitschrift Tamassia's.
Die bezügliche Schrift Tamassia^s : Del fine delle
statistiche, Mailand 1808, sowie dessen Dnplik
auf die Gioja'sche Erwiderung: Esame della
confutazione del fine delle statistiche, Mail.
1809 finden sich abgedruckt ebenfalls in Articoli
varj etc., Bd. II [s. u.]) — Problema: Quali
sono i mezzi piü spedid piit efficaci, piü econo-
mici per alleviare Tattuale miseria del popolo
in Europa, Mail. 1817. — Nuovo prospetto delle
science economiche ossia somma totale delle
idee teoriche e pratiche in ogni ramo d'ammi-
nistrazioue privata e pubblica, divise in altret-
tante classi, unite in sistema ragionato e gene-
rale, 6 Bde., Mail, 1815—17. — Sulle manifatture
nazionali e tariffe daziarie, Mail. 1819. — DeP
ingiuria, dei danni del sottisfacimento e relative
basi di stima avanti ai tribunali civil!, 2 Bde.
Mail. 1821. — Filosofia deUa statistica, 2 Bde.
Mail. 1826; 2. Aufl. 1829; 3. Aufl. 1831; 4. Aufl.
1837 ; 5. Aufl. 1839 ; 6. Aufl. 1852. (Gioja kon-
struiert ans dem Eausalitätsverhältnisse den
Grundsatz, dass die Philosophie der Statistik
aus 2 Teilen, einem symptomatischen (zustand-
schildemden) und einem den ersteren begründen-
den besteht.) — Trattato delP amministrazione
rurale, Mail. 1829 (aus seinem Nachlass ver-
öffentlicht). — Memoria sulla crescente popola-
zione, Mail. 1830 (aus seinem Nachlass ver-
öffentlichte, Malthus bekämpfende Bevölkerungs-
studie). — Opere minori, 17 Bde., Lauis (Lugano)
1832—37. — Opere complete (2. Sammlung) 16
Bde., ebd. 1838 bis 1849. — Articoli varj di
statistica ed economia, estratti da varj giomali
ed aggiuntevi le tavole statistiche, 2 Bde., ebd.
1834. — Dettati politici, filosofici, statistici,
tratti dalle opere minori, 2 Bde., ebd. 1850.
Gioja veröffentlichte zahlreiche staatswissen-
schaftiiche Artikel in den Zeitschriften : „Monitore
Italiano," „Annali di statistica", „Biblioteca
Italiana", „Giornale di statistica."
Vergl. über Gioja: Mone, Historia
statisticae adumbrata, Brüssel 1828, S. 194. —
Pecchio, Storia della economia pubblica in
Italia, Lauis 1829. — Sacchi, Cenni sulla
vita e sulle opere de Melchiorre Gioja, Mailand
1829. — Rosniini, Opuscoli filosofici, Bd. III,
Mailand 1814 (darin Bekämpfung des Gioia'schen
Sensualismus). — Blanqni, Histoire ae l'eco-
nomie politique en Europe, Bd. II, 3. Aufl.,
Paris 1848, S. 305. — Ersch und Gruber,
Encyklopädie, I. Sektion, Teil 67, Leipzig 1858,
S. 375 ff. — V. Mohl, Geschichte und Littera-
tur der Staatswissenschaften, Bd. III, Erlangen
1858, S. 661 ff. — Lampertico. Sulla statistica
teorica in generale e in Melcniorre Gioja in
particolare, Venedig 1870. — Morpurgo, Die
Statistik und die Sozialwissenschaft, Jena 1877,
S. 35 ff. — John, Geschichte der Statistik,
Bd. I, Stuttgart 1884, S. 139 ff. — Salpace,
Uso ed abuso della statistica, Rom 1885, S. 14.
— Mayr, G. und Salvioni, La statistica e
la vita sociale, 2. Aufl., Turin 1886. — Ga-
baglia, Teoria generale della statistica, 2.
Aufl., Bd. I, Maüand 1888, S. 96 ff. und 104 ff.
— Calatabiano, Teoria della statistica, Rom
1889, S. 35 ff. — Graziani, A, Le idee econo-
miche etc. Modena 1893 (darin das Kapitel:
Melchiorre Gioja, G. D. Romagnosi e P. Rnffini).
Lippert,
OiroTerkehr.
1. Begriff; Geschichtliches; Wirkungen des
Systems. 2. G. der Prenssischen Bank. 3. G.
der deutschen Reichsbank. 4. G. anderer deut-
scher Banken. 5. Postcheckverkehr. 6. G. in
Oesterreich-Ungam. 7. G. in Italien. 8. G. in
Frankreich. 9. G. in Belgien. 10. G. in Eng-
land. 11. Vereinigte Staaten von Amerika.
1. Betriff; Geschichtliches; Wir-
kungen des Systems. Det Giroverkehr
ist einer der wichtigsten Geschäftszweige
der heutigen Banken. Der Kern desselben
besteht in der Vermittelung von Zahlungen
Giroverkehr
729
(in weiterem Sinne) unter den Kunden der
Bank (Conteinhabern) durch Ab- und Zu-
schi-eibung in den ßankbüchern auf der
Grundlage von Depositen (früher ausschliess-
lich in Edelmetall, oft in BaiTonform, heut-
zutage in barem Gelde überhaupt). Man
nennt dies technisch »Girozahlung«. An
dieselbe knüpft sich in der Regel auch die
Annahme bezw. das Incasso und die Gut-
schrift von Zahlungen Dritter sowie von
sonstigen Aktivposten für Rechnung des
Girokunden. Ueber sein Guthaben kann
letzterer im heutigen Giroverkehr nicht bloss
durch Giroanweisung (behufs Girozalilung),
sondern auch durch bare Abhebung gegen
Checks (s. d. Art. oben Bd. m S. 20 ff.)
oder mittelst Zahlbarstellung von Wechseln
und anderen Papieren, aus welchen er zu
einer Zahlung verpflichtet ist, bei der sein
Conto führenden Bank verfügen.
Der Giroverkehr findet sich bereits im
Altertum. Dass in Rom die argentarii, bei
welchen der grösste Teil des baren Geldes
hinterlegt war, die Zahlungen unter ihren
Geschäftsfreunden im Wege der Umschrei-
bung in ihren Büchern zu vermitteln pfleg-
ten, ergiebt sich aus Plautus, Terenz, Cicero
und anderen Schriftstellern. Am Ende des
Mittelalters tiitt als treibender Grund die
zunehmende Münzverschlechterung und all-
gemeine Unsicherheit hinzu. Aus den De-
positen bildet sich ein eigenes »Bankgeld«
(nach dem Feingehalt). Die Girozahlung
wird in den Statuten italienischer Städte
als der Barzahlung gleich wirksam anerkannt.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts entsteht
die erste öffentliche Girobank in Venedig
(banco di Rialto, dem 1619 der banco Giro
folgt). Weiter ausgebildet ist die reine
Girobank in der Amsterdamer Wechselbank
(1609), der Hamburger Girobank (1619), auch
der Nürnberger Girobank (1621). Mit der
fortschreitenden Münzverbesserung fiel später
zwar das Bedürfnis besonderer Giro-
banken hinweg. Nur die Hambui-ger Giro-
bank hat bis ziu* Verschmelzung mit der
Reichsbank (1875) fortgedauert. Aber das
Girowesen hat nichtsdestoweniger eine gross-
artige Ausdehnung iu folge der Umbildung
der Geldbanken in Kreditbanken sowie in-
folge der Verbindung erfahren, welche es
mit dem modernen Depositen- und Zettel-
bankwesen eingegangen ist. In der Aus-
bildung des damit eng zusammenhängenden
Checkverkehrs vorangegangen ist nament-
lich England, besonders seit der Be-
schränkung der dortigen Notenausgabe durch
die Peels Akte (1844). Der Check, welcher
immerhin noch auf einer gewissen Kredit-
gewährimg beruht, ist dort selbst in den
Kleinverkehr eingedrungen und ersetzt seit
langen Jahren vielfach die Banknote als
ümlaufsmittel. Hauptträger der Entwicke-
lung nach dem eigentlichen Girosystem hin
ist Deutschland mit dem von Jahr zu
Jahr mächtig fortschreitenden Giroverkehr
der Reichsbank, welche vermöge ihrer
zahlreichen, über das ganze Reichsgebiet
verbreiteten Zweiganstalten (Ende 1899 : 311)
Uebertragungen von Platz zu Platz kosten-
frei vermittelt und dadurch nach einem oft
angeführten Wort Deutschland zu einem ein-
zigen Giroplatze gemacht hat. In der Ver-
einigimg mehrerer Girobanken zu den von der
Reichsbank geleiteten und bei ihr sich schliess-
lich alle Tage ausgleichenden Abrechnungs-
stellen (s. d. Art. oben Bd. I S. 7 ff.) findet
die Methode ihre Krönung. (Vgl. unten sub 3.)
Die Wirkungen dieses sich mehr und
mehr ausbreitenden Systems in volkswirt-
schaftlicher Hinsicht sind die segensreichsten.
Ein sehr grosser Teil aUer Zahlungen über-
haupt vollzieht sich im Wege der Giro-
zahlimg. Dadurch wird das Metallgeld zum
grossen Teil entbehrlich gemacht und dessen
Abnutzung verhindert. Ebenso mindert sich
der Banknotenumlauf und die Gefahr über-
mässiger Ausdehnung desselben. Zeit, Kosten
und Gefahl* der Aufbewahnmg, der Prüfung
und Beförderung des Geldes verschwinden
oder werden wesentlich gemindert. Die
Zahlungen werden in den Büchern der Bank,
welche die Buchung erst nach Prüfimg des
Guthabens vornimmt, sicher beurkundet.
Schlechte Geschäftsgewohnheiten und Miss-
bräuche bei der Regulierung eingegangener
Verpflichtungen werden abgestellt. Der
Geschäftsmann gewöhnt sich daran, grössere
Kasse zu halten und per Kasse zu kaufen.
Der gesamte Geldverkehr im Lande wird
auf eine solidere Grundlage gestellt. End-
lich dient das Girogeld in den Händen der
Banken produktiven Zwecken und erleichtert
die Ermässigung des Zinsfusses.
2. G. der Prenssisehen Baak. In
Preussen liatte zwar Friedrich der Grosse
zur Hebung des Handels im Jahre 1765 die •
»Königliche Giro- und Lehnbank in Berlin«
und im Jahre nachher eine solche in Breslau
(mit einer gewissen Abhängigkeit von der
ersteren) errichtet. Der Giroverkehr blieb
indessen bei dem herrschenden Mangel an
Vertrauen hinter den gehegten Erwartungen
zurück und erlosch ganz nach 2 Jahren.
Erst nachdem das Bedürfnis einer Giroan-
stalt in Berlin zur Gründung des »Berliner
Kassenvereins« geführt hatte (1824), wurde
infolge des gesteigerten Geschäftsverkehrs
auf Wunsch des Handelsstandes der Giro-
verkehr in Berlin und Breslau wiederum
eröffnet (1834), später (1837) auch bei den
Königlichen Bankkontoren in Danzig, Königs-
berg, Stettin und Magdeburg.
Im ersten Jahre betrug der Umsatz 38
Millionen Thaler bei einem durchschnitt-
lichen Bestände von 44 600 Thalem. Im
730
Giroverkehr
Jahre 1837 wurden alle Gebühren im Giro-
verkehr aufgehoben. Um dem durch Ein-
ziehung der Bankkassenscheine eingetretenen
Mangel an Zahlmitteln abzuhelfen, wurden
seit 1838 »Giroquittungen« mit längerer
ümlaufszeit (bis zu 6 Monaten) ausgegeben.
Im Jahre 1841 erhielt die Königliche Bank
die Befugnis, die von Girot^ünehmern auf
ihr Guthaben gezogenen, an jeden Inhaber
zahlbaren ^Giroanweisungen« zu acceptieren.
Im Jahre 1853 liefen davon 5V2 Millionen
Thaler um — bei einem Giroumsatz von
110 Millionen Thaler. Die Bankordnung
von 1846 hatte es im wesentlichen bei den
hinsichtlich des Giroverkehrs bestehenden
Bestimmungen belassen. Der letztere be-
schränkte sich hauptsächlich auf Berlin (seit
1870 bestanden ausserdem nur noch die
schwach benutzten Giroanstalten in Danzig
und — von 1871 ab — Mtllhausen i. E.),
umfasste nur einen kleinen Kreis von Be-
teiligten und gelangte zu keiner wirklichen
Bedeutung :
TT„,o«+^ Durchschnitts-
im Jahre Umsatz guthaben
M. M.
1867 188711012,65 1485000
1868 190729751,90 833700
1869 220 764 165,75 774 300
1870 416516110,60 4637700
In den Jahren 1871—1875 stiegen die
Zahlen zwar infolge vorübergehender Ver-
hältnisse, namentlich der durch die Kriegs-
entschädigungsgelder bewirkten Anschwel-
limg der Regierungsgelder. Im Jahre 1875
aber zeigt sich bereits wieder ein bedeuten-
der Rückgang.
3. 6. der dentschen Reichsbank. Den
Ausgangspunkt einer neuen Entwickelung
bildet erst die mit dem 1. Januar 1876 voll-
zogene ümwandelung der Preussischen Bank
in die Reichsbank. Das Bankgesetz v. 14.
März 1875 hob nicht bloss den Giroverkehr
als einen Geschäftszweig der Reichsbank
hervor (§ 13 *Die Reichsbank ist befugt,
folgende Geschäfte zu betreiben : 1 bis 6, 7,
»verzinsliche und unverzinsliche Gelder im
Depositengeschäft und im Giroverkehr an-
zunehmen«), sondern bezeichnet es als ihre
Aufgabe, »die Zahlungsausgleichungen zu
erleichtem und für die Nutzbarmachung
verfügbaren Kapitals zu sorgen«. Einen
beinahe zwingenden Anlass zur Erweiterung
ihres Giroverkehrs, zumal nach dem Weg-
fall der gerichtlichen Depositengelder, welche
einen sehr erheblichen Teü des Betriebs-
kapitals der Preussischen Bank gebildet
hatten, bot die in dem Bankgesetz enthaltene
indirekte ^ Kontingentierung der Notenaus-
gabe. Mit dem ihr danach zugewiesenen
Böchstbetrage metallisch ungedeckter Noten
(250 Millionen, infolge Zuwachsens des An-
teils anderer Banken 293,4 Millionen, gemäss
Art. 5 des G. v. 7. Juni 1899 vom 1. Januar
1901 ab 450 Millionen Mark) konnte die
Reichsbank den wachsenden Anforderungen
des Verkehrs nicht genügen. In den Giro-
guthaben iiat sie — bei steter vorsorglicher
Deckung — ein Mittel gefunden, die ge-
setzliche Schranke in gewissem Grade un-
schädlich zu machen. Hierzu bedurfte es
aber solcher Einrichtungen, welche imstande
waren, fort und fort entsprechende Summen
heranzuziehen. Eine blosse Nachbildung
der englischen Einrichtungen hätte dazu
nicht lüngereicht. Der Giroverkehr der
Reichsbank bietet vielmehr in mancher Be-
ziehung Neues und Eigentümliches. Wäh-
rend in England der Verkehr mittelst Checks
überwiegt, spielen bei uns die Buchüber-
tragimgen die weitaus bedeutendere Rolle.
Hervorgehoben ist bereits (sub 1) die kosten-
freie Ueberweisung von Platz zu Platz, wo-
durch die Leichtigkeit des Geldverkehrs in
Deutschland in geradezu einziger Weise ge-
wonnen hat. Aber auch die übrigen Be-
stimmungen, welche im Jahre 1883 in Ver-
bindimg mit der Errichtung von Abrechnungs-
stellen (s. d. Art. a. a. 0.) eine erhebliche Er-
gänzung und Fortbildung erfahren haben,
verfolgen in konsequenter Weise das Ziel,
die Reichsbank zur Verwalterin der Bar-
reserve ihrer Kunden zu machen, derge-
stalt, dass die Giroconten ein thunlichst
vollständiges Bild des gesamten Geschäfts-
verkehrs der Gontoinhaber mit der Reichs-
bank gewähren. Von den Girokunden der
Reichsbank sind viele selbst Giroanstalten
mit zalüreichen Klienten, so dass die
Buchungen bei der Reichsbank vielfach nur
die Resultate eines vielgegliederten Zahlungs-
verkehrs darstellen imd die Reichsbank
selbst als ein grosses Clearingliaus erscheint.
In den grossen Städten gipfelt das System
in den Abrechnungsstellen, deren Saldi
täglich gleichfalls auf Reichsbankgiroconto
zur Ausgleichung gelangen.
»Die grossartige Entfaltung, wozu die
Reichsbank ihren Giroverkehr zu bringen
verstanden hat, ist ein in der Bankge-
schichte einzig dastehendes Beispiel von
einer planmässig und konsequent durchge-
fülirten Organisation des Zahlungsprozesses
eines gewaltigen Wirtschaftsgebiets« (Rauch-
berg).
Die Formen, in welchen sich der Giro-
verkehr der Reichsbank bewegt, sind ziem-
lich einfach. Die Grundlage bildet die zum
Zeichen des Vertragssclüusses erforderliche
Vollziehung der gedruckten »Bestimmungen
für den Giroverkehr der Reichsbank« mit
dem Zusatz »Kenntnis genommen«, durch
den Contoinhaber. Daran knüpft sich die
Niederlegung der Unterschriften bezw. Voll-
machten der zur Vertretung desselben be-
rechtigten Personen. Der Kunde erhält zwei
Giroverkehr
731
Checkbücher, das eine 7ai Uebertragungea
bestimmt,, mit i-oten Blättern, das andere
mit weissen Blättern zu baren Abhebungen.
(Die noch vorkommenden blauen, grünen
und gelben Checks dienen nur dem Giro-
verkehr mit Reichs- und Staatskassen.) Die
Blätter sind an der zum Abreissen be-
stimmten. Stelle durchlöchert. Auf dem
zurückbleibenden »Stamme« pflegt man beim
Abreissen Summe und Datum sowie die
Person des Empfängers zu vermerken.
Ausserdem erhält der Kunde ein »Gonto-
gegenbuch«, in welches alle für ihn ein-
fehenden Gelder auf der Kreditseite, alle
alilungen oder üebertragungen auf der
Debetseite einzutragen sind.
Als Guthaben ist zunächst — dies ist
wesentlich für das Zustandekommen des
Contoeröffnungsvertrags — ein Barbetrag
einzulegen. Zur Gutschrift, gelangen aber
ausser diesem und den späteren (von dem
Kunden oder für dessen Rechnung von
Dritten eingehenden) baren Einzahlungen
alle von dem Contoinhaber beiderReichs-
bank auf Wechsel, Lombarddarlehen oder
Checks zu erhebenden Beträge sowie nach
Eingang die Beträge der von ihm eingelie-
ferten Incassopapiere (Checks, Wechsel,
Anweisungen, Rechnungen etc.).
Die Verfügungen des Contoinhabers
können in beliebigen Beträgen innerhalb des
Guthabens erfolgen:
1. entweder mittelst weissen Checks
— einer Anweisung eigentümlicher Art (an
eine bestimmte Person »oder üeberbringer«
lautend). [Der Inhalt ist ein Zahlungs-
auftrag; der weisse Check kann aber auch
zur Gutschrift auf ein anderes Platzconto
benutzt werden. Enthält er den Zusatz »nur
zur Yerrechnung« quer über dem Text auf
der Vorderseite, so ist Zahlung verboten und
der Checkbetrag darf nur — nach Bestim-
mung des Contoinhabers — verrechnet
werden],
2. oder dadurch, dass der Contoinhaber
Wechsel, welche er als Wechsel ver-
bundener oder Domiziliat zu bezahlen hat,
mit einem Zahlbarkeitsvermerke (bei
der Reichsbank) versieht und dieser avisiert.
[In dieser Beziehung erwartet die Reichs-
bank, dass der Contoinhaber sich entweder
ihrer oder eines mit ihr im täglichen Ab-
rechnungsverkehr stebenden Bankhauses zur
Bezahlung seiner Wechsel bedient],
3. oder endlich mittelst rotenChecks
— einer auf den Namen lautenden unüber-
tragbaren Giroanweisung in eigentlichem
Sinne; sei es: a) behufs üeberweisung auf
ein Giroconto am Platze, sofern hierzu nicht
ein weisser Check benutzt wird (s. oben
zu 1), b) oder zur üebertragung auf das
Conto eines Girokunden bei einer aus-
wärtigen Reichsbankanstalt. Die Einliefenmg
erfolgt — gleichviel durch wen — bei der
Bankanstalt, welche das Conto des Aus-
stellers führt. Diese veranlasst dann das
Nötige wegen der Gutschrift. (Weisse
Checks auf eine auswärtige Anstalt zieht
die Reichsbank gegen Provision ein ; auch
für die Einlösung von ausserhalb ein-
gehender weisser Checks erhebt sie eine
Provision. Beide Formen stellen keine
regelmässige Leistung im Giroverkehr dar.)
Das Entgelt für die mannigfaltigen
Leistungen der Reichsbank besteht in der
zinsfreien Benutzung der Girogelder. Die
Kunden sind gehalten, einen angemessenen
Betrag stehen zu lassen, ohne dass stets
eine Vereinbarung wegen eines Mindest-
guthabens besteht. Je besser die K unden
die Bedeutung des Giroverkehrs und die
Aufgabe der Reichsbank als Kasseführerin
verstehen, desto weniger erweisen sie sich
schwierig in Erfüllung dieser Erwartung.
In dieser Gestalt hat sich der Girover-
kehr der Reichsbank fort und fort neue
Freunde gewonnen und ist zu einem unent-
behrlichen Teil der fiir den Handelsverkehr
im weitesten Sinne getroffenen Einrichtungen
geworden. Damit möglichst viele Plätze
der Wohlthaten des Giroverkehrs teilhaftig
werden, hat die Reichsbankverwaltung ihn
auf die mit eigenen Kassen versehenen Neben-
stellen mit gewissen durch deren Ver-
fassung gebotenen Beschränkungen ausge-
dehnt und, um auch an diesen (212)
Nebenplätzen die Verfügung über die Gut-
haben nicht zu verzögern, seit längerer Zeit
die direkte Avisierung von üeberweisungen
nach ausserhalb anstatt, wie bisher, durch
Vermittelung der vorgesetzten Bankanstalt
in gewissen Grenzen gestattet. Die Zahl
der Girokunden ist infolgedessen in stetem
Wachsen. Ausser Kaufleuten und Privat-
personen, Berufsgenossenschaften, Versiche-
rungsanstalten etc. machten bald auch Be-
hörden, wie die Reichspostverwaltung, die
preussischen Eisenbahnbehörden, Militärver-
waltungen und Truppenteile von der Giro-
einrichtung Gebrauch. Der Verkehr mit
den staatlichen Kassen entwickelte sich aber
langsam. Zum Anschluss des ganzen
Systems der Kassen des Reichs, Preussens,
Badens und der Reichspostverwaltung an
den allgemeinen Giroverkehr der Reichs-
bank ist es erst in den letzten Jahren ge-
kommen.
Auf Wimsch der Girointeressenten ist
es überdies an manchen Plätzen schon seit
1887 mit der Postverwaltung vereinbart, dass
Postanweisimgsbeträge von der Post auf
das Conto der Empfänger eingezahlt werden,
wie diese den Betrag der bei den Post-
ämtern eingelieferten Postanweisungen in
Checks auf die Reichsbank entrichten dürfen.
Im Jahre 1896/97 haben die Gutschriften
732
Giroverkehr
von auszuzahlenden Postanweisungsbeträgen
auf den Conten der Empfänger 655 Mimo-
nen Mark, die mittelst Checks eingezahlten
Postanweisungsbeträge nur 8 Millionen Mark
betragen.
Die Auszahlung der Schiddbuclizinsen
seitens der preussischen Staatsschuldenver-
waltung und der Reichsschuldenverwaltung
erfolgt zum Teil ebenfalls je nach Wunsch
der Empfänger auf dem Wege des Girover-
kehrs.
Die folgenden Uebersichten geben Zahlen,
welche für die Entwickelung des Girover-
kehrs bei der Reichsbank von besonderem
Interesse sind.
Tabelle I. Gesamtgiroverkehr der Reicbsbank, die Öffentlichen Kassen mit inbegri£fen.
Anf Giroconto sind vereinnahmt
(in Tausenden der Stückzahl und des Betrages):
Jahr
durch
Barzahlungen
durch Ver-
rechnungen ^)
durch ein- dnrch üebpr-
Wechflel u. tragungen a. Platz
d. Uebertrag.
von anderen
Plätzen
Zu-
sammen
St.
M.
St. M.
St.
M. St.
M.
St.
M.
M.
1876
3 285 139
3 079 775
2 027 364
8 392 278
1880
353
6 047 004
445
5 453 67 1
644
6 117 733ii7 618408
1883
473
7737313
482
7 243 488
895
6922329.21 903 130
1886
399
5 849 979
216
2798419
739932641
543
10690307 1131
835420528625551
1889
790
7520813
335
3 937 578
335 882 708
731
14434374
1609
1 1 079 562
37 855 035
1890
894
8 125 404
378
4 749 388
4i2'923 993
781
15033986^
1757
11044257
39877028
1891
939
8 369 267
405
4 704 343
428912466
868
15359993
1860
II 162948
40509017
1892 9S6
7 849 808
6370261')
426
4 165 360
461:958855
861
866
14567727
10427308*)
2012
2159
1 1 550 440
II 710881
39092 190
1893i 770
St. 1087
M. 12684440
41 192890
1894
797
6 638 553
1124
II 942 166
903
1 1 032 928
2317
12 623 714
42237361
1895
830
6 785 505
1217
13428913
1022
12597654
2648
14050639
46862 711
1896 859
7 557 955
1328
1 5 801 780
1027
13794360
2859
15673 114
52 827 209
1897 915
8 211 625
1307
16689233
IIOI
1 5 234 438
3082
17507667
57 642 963
1898 1021
8 827 360
1355
20 149 783
1281
19094879
3431
20 829 886
68901 908
1899
985
10216 726
1049
21 7
17733
2170
22481 239
3837
23 594 335
78010033
Fortsetzung.
Auf Giroconto sind verausgabt
(in Tausenden der Stückzahl und des Betrages):
' durch
durch Ver-
durch üebertra-
Be-
d. Uebertrag. \ Zu- ! stand*)
TS TS
Jahr Barzahlungen
rechnungen*)
gnngen am Platz
a. and. Plätze ' sammen
am Ende
d. Jahres
2S
, St.
1
M.
St.
M.
St. , M.
St. ! M. ' M.
M.
1876
3317912
3079776
1
I 921 279 8318967, 92302
•
1880
432
7 063 964
1
487
5453671
367' 509821217615847,131153
5251
1883
619
8 853 096
1
434
7 243 488
518' 5793895,21890479,144166
5646
1886
489
9 330 233
240 . I 167 799
318
10 690 307
750' 7415952 28604291 215 776
6689
1889
670
11 941 330
262
I 407 936
459
14434374
1107I10037644J37821 284248 149
7983
1890
752
13 141 971
292
1 787 348
500
15033986
121 ii 9909168139872473252704
8583
1891
803
13 178 776
308
I 988 128
526
15 359 993
1293' 9976863140503760257961
9509
1892
815
12 341 831
319
I 861 193
531
14 567 727
i437'io352 145'39 122896,227255
10037
1893
706
9592219»)
528
10775499')
559
10427 308*)
i546jio375 354|4i 170380249765
I044I
1894
737
9 486 450
595
10403750
587
1 1 032 928
] 700; 1 1 289 069142 212 197 274 929
10794
1895
770
10237646
565
11 328175
669
12597654
1976,12 672083I46 835 558 302 o82j
II 498
1896
842 1 1 974 460
628
12908477
666
13794360
2164 14 098 167 52 775 464
353 827
12292
18971 88312704319
655
13826376 '
747
15234438
236615 899 552 57 664685
332 105
13205
1898, 954 14 Ol 7 481
726
16767410
914
19094 880
2695I19002 158 68 881 929
352084
13967
1899'
1012
15 145625
763
18411 718
1544
22 481 239
3022 21 938 178 77 976 760
1
385 357
14987
*) Bis mit 1892 nur diskontierte Wechsel.
') Bis mit 1892 nur eingelöste Domizile.
^) Aenderung in der Art und Weise der Verbuchung der Barzahlungen, Verrechnungen
und Uebertragungen Am Platz.
*) Ausschliesslich der „schwebenden", noch nicht zur Gutschrift gelangten Giroüber-
tragnngen.
Giroverkehr
733
Tabelle la. Gliederung der Giroumsätze in Prozenten.
Auf Giro-Conto vereinnahmt
Auf Giro-Conto verausgabt
Im
durch
durch
i >: c
durch
durch
1
ber-
n a.
itze
Bar-
Ver-
durch Pli
Über-
tragung
zu-
Bar-
Ver-
Sfti
zu-
Jahre
zah-
rech-
sammen
zah-
rech-
^l&
^iS
sammen
lungen
nungen
durc
trag
audi
lungen
nungen
durc
tra
in Prozenten
1876.
9,2
36,7
24,1
100,0
39,9
37,0
23,1
ICX),0
1880
34,4
30,9
34,7
100,0
4C
S2
30,9
28,9
100,0
1883
35,3
33,1
37,3
31,6
29,2
100,0
100,0
40,4
33,1
37,4
26,5
25,9
100,0
1886
20,4 13,1
32,6
4,1
100,0
1889
19,9 12,7
38,1
29,3
100,0
31,6
3,7
38,2
26,5
100,0
1890
20,4 14,2
37,7
27,7
100,0
32,9
4,5
37,7
24,9
100,0
1891
2o,6 13,9
37,9
27,6
100,0
32,5
4,9
38,0
24,6
100,0
1892
20,i 13,1
37,3
29,5
100,0
31,5
4,8
37,3
26,4
100,0
1893
15,5 30,8
25,3
28,4
100,0
23,3
26,2
25,3
25,2
100,0
1894
15,7
28,2
26,1
30,0
100,0
22,5
24,7
26,1
26,7
1CX),0
' 1895
14,5
28,7
26,9
29,9
100,0
21,8
24,2
26,9
27,1
100,0
1896
U-3 ; 29,9
26,1
29,7
100,0
22,7
24,5
26,1
26,7
100,0
1897
14,2
29,0
26,4
30.4
100,0
22,0
24,0
26,4
27,6
icx>,o
1898
12,8
29,2
27,7
30,3
100,0
20,3
24,3
27,7
27,7
100,0
1899
13,1
27,8
28,8
30,3
100,0
1
19,4
23,6
28,8
1
28,2
100,0
Die Tabellen la und Ib enthalten eine
Darstellung jener Eutwickelung von der
Einführung des Giroverkehrs im Jahre 1876
bis zum Jahre 1899.
Während der Umsatz im Jahre 1876
Mark 16 711000 000 betrug, stellte er sich
1899 auf Mark 155 987 000 000, also neun-
mal so hoch.
Der Girobestand war am 31. Dezem-
ber 1876 Mark 92 000 000 und am 31.
Dezember 1899 Mark 385 000000.
Die Anzahl der Girokunden belief
sich Anfang 1877 auf 3245 und Ende
Dezember 1899 auf 14987.
- Die erheblich wachsenden Um satzzahlen
nach 1883 erklären sich zum Teil durch die
• seit dem genannten Jahre ^Itenden Bestim-
mungen. Gegen 36 Milliarden im Jahre
1882 stieg der Umsatz schon im Jahre 1884
auf 52 Milliarden.
Nach den neuen Girobestimmungen wird
nämlich die Valuta diskontierter Wechsel
und erteilter Lombarddarlehen nicht mehr
bar ausgezahlt, sondern dem Giroconto gut-
geschrieben. Der Contoinhaber muss nun-
mehr in den Formen des Giroverkehrs
darüber verfügen. Accepte der Girokunden
waren fortan bei der Reichsbank (oder bei
den Mitgliedern der neu eingerichteten
Abrechnungsstellen) zahlbar zu stellen (s.
oben).
Dazu kam in demselben Jahre die Ein-
fühlung des beschränkten Giroverkelirs bei
den Nebenstellen. Dieser ist vom Jalire 1895
ab, dem Jahre beginnenden wirtschaftlichen
Aufschwunges, bei einer von Jahr zu Jahr
steigenden Anzahl von Nebenstellen (mit
mehreren Beamten) in den erweiterten Giro-
verkehr umgewandelt worden, welcher mit
dem Giroverkehr der selbständigen Anstalten
im wesentlichen übereinstimmt.
Die Steigerung des Giroumsatzes hat
übrigens nicht ein gleich grosses Steigen
des Girobestandes zur Folge, wie sich aus
Tabelle Ib ergebt.
Bei Vergleichung des Giroverkehrs bei
der Beichsbankhauptstelle in Hamburg
mit dem bei den übrigen Bankanstalten er-
geben sich interessante Resiütate.
Bekanntlich wurde die alte Hamburger
Girobank von der Reichsbank übernommen.
Die Gliederung der Umsätze auf dem Ham-
burger Giroconto kann bei der Jahrhun-
derte alten Gewöhnung des dortigen Han-
delsstandes als Vorbild füi* die anderen
Bankstellen dienen. Während im Jalire 1876
in Hamburg die Barzahlungen in Ein-
nahme und Ausgabe 11 ^/o und 12% des
Umsatzes betragen, betragen sie bei den
übrigen Bankstellen noch 54 %. Die U e b e r -
tragungen am Platz dagegen machen
in Hamburg 81 % der Gesamteinnahme und
84% der (Gesamtausgabe, bei den übrigen
Bankstellen nur 13% aus. Aber auch die
Uebertragungen von ausserhalb
und auf andere Plätze haben sich in
Hamburg steigenden Beifalls erfreut. Der
Prozentsatz wächst bis zum Jahre 1881 von
8% auf 18% der Einnahme und von 4%
auf 17% der Ausgabe.
Dementsprechend sinkt das Verhältnis
der Uebertragungen am Platze, die in der
734
Giroverkehr
Tabelle Ib. Beichsbank.
Giroverkehr mit Ausschluss der öffentlichen
Kassen.
Durch-
Zu 100 000 M.
Gesamt-
schnittl. Be-
Umsatz
Jahr
umsatz
stand der
genügt ein
Guthaben 1)
Guthaben
in Tausend Mark
von M.
1876
16711 245
70594
430
1877
27 022 029
99070
360
1878
27291 913
109 999
400
1879
30410203
128 796
420
1880
35234255
124993
350
1881
37 458 776
126 962
340
1882
36 190 142
III 960
310
1883
43 793 609
129809
300
1884
52 637 790
155 213
290
1885
53 847 522
162 469
300
1886
57 229 843
206 557
360
1887
58843133
229 121
390
1888
63 824 977
235 088
370
1889
75676319
239 998
310
1890
79749501
208 767
260
1891
81 012 777
237 853
290
1892
78215087
264 397
340
1893
82 363 270
248 935
300
1894
84 449 559
262 488
310
1895
93 698 269
289 970
310
1896
98249 164
239 027
240
1897
103 902 571
235 443
230
1898
120828029
248 114
200
1899
131 501 117
253981
190
Summe sich ziemlich gleich bleiben, von
81% und 840/0 im Jahre 1876 auf 71%
und 71 % im Jalire 1881, wogegen die Bar-
zahlungen auch jetzt noch 11% und 12%
betragen. Letztere ermässigen sich bei den
übrigen Bankstellen von 54% auf 41% in
Einnahme und von 54% auf 48% in Aus-
gabe; es steigen dafür die Uebertragimgen
am Platze von 13% auf 19%.
Nach zehnjährigem Bestehen des Giro-
verkehrs im Jalire 1886 bildet der Umsatz
von Hamburg nur noch 12% des Gesamt-
umsatzes in Deutschland gegen 35% im
Jahre 1876 und jetzt, nach 24 Jahren, nur
noch 9,6 %. Mehr und mehr nähert sich der
Giroverkehr der übrigen Reichsbankanstalten
den Hamburger Normalzahlen. Besonders
tritt dies hervor bei den Bankplätzen mit
Abrechnungsstellen, wie sich aus Tabelle II
ergiebt.
Im ganzen verhalten sich die Barzah-
lungen in ihren Prozentsätzen bei den
Bankanstalten mit Abrechnungsstelle, deren
Zahl sich im Jahre 1893 von 9 auf 10 er-
höht hat, zu denen bei Bankanstalten ohne
Abrcchnungsstelle in Einnahme und Aus-
gabe wie 1 : 2.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied
besteht bei den Uebertnignngen am Platze
*) Ausschliesslich der jeweils „schwebenden",
noch nicht zur Gutschrift gelangten Giroüber-
tragungen.
und bei den Uebertragungen von mid nach
ausserhalb :
Die Uebertragungen am Platze
betmgen :
1899 bei den 10 Abrechnunfirsstellen 34 % der
Einnahme (gegen 4ö,67o in 1890j ; bei
den übrigen 60 Bankstellen 17 ^/^ (gegen
9,50/0 in 1890).
DieUebertragungen von und nach
ausserhalb betrugen:
1899 bei den 10 Abrechnungsstellen 25% und
240/0 der Einnahme und Ausgabe (gegen
230/0 und 22% in 1890); bei den üb-
rigen 60 Bankstellen 41% und 38%
(gegen 41,5 und 35 «/o in 1890).
Der Zweck der Abrechnungsstellen, die
Kompensation von Platzzahlungen zu be-
wirken, ist somit in erheblichem Umfange
erreicht. Freilich überwiegt an den 10 Orten
mit Abrechnungsstellen der eigentliche Han-
del, und dieselben sind zugleich Punkte, an
denen sich der Bankverkehr der einzelnen
Bundesstaaten und Provinzen koncentriert,
so dass mehr Material zu Komj)ensierungs-
zwecken vorhanden ist als in reinen Indus-
triestädten.
Der Unterschied zwischen dem Girover-
kehr der Bankanstalten mit Abrechnungs-
stelle und den übrigen Bankstellen ver-
wischt sich indes mehr und mehr. Die
Entwickelung seit 1890 zeigt dies mit über-
raschender Deutlichkeit. Der prozentuale
Anteil der Platzübertragungen an der Ge-
samtbewegung tritt an den Bankanstalton
mit Abrechnungsstelle mehr und mehr zu-
rück, während er sich bei den übrigen
Bankanstalten beträchtlich steigert. Dagegen
steigt der prozentuale Anteil der Ueber-
tragungen von und nach ausserhalb fast all-
gemein, an den Plätzen mit einer Abrech-
nungsstelle aber relativ stärker als an den
übrigen Bankplätzen, an deren Giroverkelu:
die Uebertragungen von und nach ausser-
halb einen ungewöhnlich breiten Raum ein-
nehmen. Es findet also mehr imd mehr
eine Annäherung statt.
Diese Verschiebungen sind zum Teil durch
das Anschwellen der Verrechnungen mit
der Reichsbank, welches an Orten mit einer
Abrechnungsstelle in weit rascherem Tempo
vor sich gin^ als an den übrigen Bankan-
stalten, herl)eigeführt. worden.
Der prozentuale Anteil der Platzüber-
tragungen an den Gesamtumsätzen ist hier-
durch in den verkehrsreichsten Orten stär-
ker herabgedrückt worden als in den kleinen
Provinzialstädten, an welchen der Platzüber-
tragungsverkehr sich relativ auch noch viel
lebhafter entwickelt hat als an jenen Plätzen
mit einem stark ausgebildeten Bankwesen,
wo er bereits bald nach Eröffnung des Ver-
kehi-s eine hohe Stufe der Vollkommenheit
erreicht hatte.
Während in Hamburg beispielsweise die
Giroverkehr
735
Tabelle IE. Gesamtgiroverkehr der Reichsbank, die öfFentlichen Kassen mit inbegriffen.
Auf Giroconto sind vereinnahmt (in 1000 M.)
I durch
1899
Bar-
zahlungen
Verrechnungen
der Bank mit
den Conto-ln-
habem
Platztiber-
tragungen
üebertrag. v.
and. Bank-
anstalten
•
Zusammen
A. Bei den Abrechnungs-
stellen
Berlin
2 668 598
10 713 792
8 139726
6 158 158
27 680 274
Bremen
163 153
367 525
449618
434 376
1 414672
Breslau
267 072
868 846
550312
551565
2 237 795
Köln
233 664
• 617543
756 201
887804
2495 212
Dresden
342298
214371
817872
456 262
1 830 803
Elberfeld
108 404
233 160
278 147
601 217
1 220 928
Frankfurt a. M.
787 555
902993
I 819 461
1476716
4 986 725
Leipzig
255 959
967 205
213337
743 829
2 180330
Stuttgart
199995
349 133
130740
339271
I 019 139
5 026 698
15234568
13 155 414
11 649 198
45 065 878
Hamburg
395 654
785 622
4 869 664
1 416 768
7 467 708
5 422 352
16020 190
18 025 078
13065966
52 533 586
B. Bei den übrigen Bank-
anstalten
4 794 374
5 697 543
4456 161
10 528 369
25 476 447
10 216 726
21 717 733
22481 239
23 594 335
78010033
A. Abrechnungsstellen
10%
31%
34%
25%
loo^o
B. Die übr. Bankanstalten
19%
23%
>7%
41%
100%
Fortsetzung
Auf Giroconto sind verausgabt (in 1000 M.)
durch
1899
Bar-
zahlungen
Verrechnungen
der Bank mit
den Conto-In-
babem
Platzüber-
tragongen
Üebertrag. a.
and. Bank-
anstalten
Zusammen
A. Bei den Abrechnungs-
stellen
Berlin
4 506 834
9082019
8 139726
5 940 854
27 669 433
Bremen
149026
374 288
449619
441287
I 414220
Breslau
460 358
713314
550312
513062
2 237 046
Köln
386 702
651093
756 201
701 273
2 495 269
Dresden
254 258
404 752
817872
353 143
1 830 025
Elberfeld
254291
262215
278 147
426 325
I 220 978
Frankfurt a. M.
796 722
902990
I 819461
1 463 684
4 982 857
Leipzig
404 379
971 419
213336
591 437
2 180571
Stuttgart
269 138
313927
130 740
301 909
1015714
7 481 708
13676017
13 155 414
10 732 974
45046113
Hamburg
437 333
645 260
4 869 664
1517235
7 469 492
7919041
14321 277
18025078
12250209
52515605
B. Bei den übrigen Bank-
anstalten
7 226 584
4090441
4456 161
9 687 969
25461 155
15 145625
18411 718
22 48 1 239
21938178
77 976 760
A. Abrechnungsstellen •
i5%
27%
34%
24%
100%
B. Die übr. Bankanstalten
28%
16%
18%
38%
100%
Uebertragungen am Platze auch jetzt noch
wie im Jahre 1890 etwa das Vierfache der
Uebertragungen nach auswärts ausmachen,
sind letztere in Industriestädten wie Chem-
nitz und Dortmund nur noch 4 bezw. 3 mal
grosser als die Uebertragungen am Platze,
736
Giroverkelir
gegen das Siebenfache im Jahre 1890. An
zahlreichen anderen Plätzen ist das üeber-
gewicht der interlokalen Ueberweisungen
über die Platzübertragungen in weit stärke-
rem Grade verringert worden. Der Schwer-
punkt des Giroverkehrs liegt an vielen die-
ser Orte, namentlich aber im Osten Deutsch-
lands, indes immer noch in den Uebertra-
gungen von und nach ausserhalb, welche
die Vorteile des Giroverkehrs der Reichsbank
am klai-sten hervortreten lassen. An dem-
selben können eben auch die Girokunden
der kleinen Provinzialstädte mit Nutzen teil-
nelunen, an welchen die Vorbedingungen
eines selbständigen lokalen Giroverkehrs,
hinlängliches Material zu Kompensations-
zwecken, fehlen.
Die in den Clearing-Häusern von London
und New- York umgesetzten Summen über-
ragen ja bei weitem die Umsätze der deut-
schen Abrechnungsstellen; es ist aber hier-
bei zu berücksichtigen, dass bei uns die im
Uebertragimgsverkehr nach auswärts umge-
setzten Summen (pro 1899 ca. 47,3 Milliarden)
genau genommen hinzugerechnet werden
müssen dem Umsätze von 30,2 Milliarden
im lokalen Abrechnungsverkehr. Denn der
rote Check dient in Deutscliland als Ersatz
des in England und Amerika gebräuchlichen
Distanzchecks.
Bei der Reichsbank lautet der weisse
Check, der meistens zur Auszahlung prä-
sentiert wird, immer noch wie im Jahre 1876
durchschnittlich über eine Summe von Mark
15000. Der durchschnittliche Betrag des
roten Checks ist dagegen gesunken, von
Mark 12500 im Jahre 1876 auf Mark 7200
im Jahre 1899. Die diutjhschnittliche Grösse
der Bareinzahlungen wie der Ueberti-agun-
gen am Platze weist ähnhche Rückgänge auf.
Während der Check nur langsam in die
kleinen Geschäftski'eise eindringt, wächst
das Verständnis der Conteninhaber für eine
sinngemässe Benutzung der Giroeinrichtun-
gen um so rascher. Die geldersparende
Wirkung des Giroverkehrs steigert sich in-
folgedessen, während die Bewegungen der
Giroguthaben an Stetigkeit gewinnen und
die Girogelder für die Bank als Faktor der
Diskontpolitik immer wertvoller werden.
Diese Entwickelung hat durch den Beitritt
der Kassen des Reichs, Preussens imd
Badens zum vollen Giroverkehr der Reichs-
bank, wodurch die Zusammenfassung der
wichtigsten, nicht im unmittelbaren Verkehr
stehenden Zahlungsmittel in den Händen
der Bank bewirkt worden ist, eine kräftige
Stütze erfaliren.
Der Ueberblick über die Verschiebungen
in der Gliedenmg des Giroverkehrs der
Bank ist diurch die wiederholten Aenderun-
gen in der Art und Weise der Verbuchun-
gen der Barzahlungen wie der Verrechnun-
gen stark getrübt Durch denAnschluss der
staatlichen Kassen ist der Ueberblick weiter
beeinträchtigt worden. Gleichwohl treten
die charakteristischen Grundzüge der Ent-
wickelung ziemlich klar hervor. Die eine
Geldersparnis bewirkenden Girovorgänge,
die Uebertragungen von einem Conto auf
das andere, insbesondere aber die Verrech-
nungen wachsen, die Bareinzahlungen gehen
in Einnahme und Ausgabe kontinuierlich zu-
rück, letztere insbesondere an Orten, welche
sich durch eine hohe wirtschaftliche und
kommerzielle Thätigkeit auszeichnen. All-
gemein aber geht der Zug der Entwicke-
lung dahin, dass die Beziehungen der Bank
zu ihren Klienten immer inniger werden
und der Giroverkehr selbst immer mehr mit
den übrigen Geschäften zu einer organischen
Einheit verwächst.
Eine Ersparnis und Schonung der Zah-
lungsmittel ist in grösstem Umfange einge-
treten. Zugleich ist das andere Ziel welches
die Reichsbank mit der Einführung ihres
Giroverkehrs anstrebte, die weite Hinaus-
schiebung der Grenze steuerfreier Notenaus-
gabe, eiTcicht worden. Die durchschnittliche
Höhe des Gesamtgirobestandes nimmt infolge
der wachsenden Zahl der Conten und der
zunehmenden Koncentration des Zahlungs-
verkehrs bei der Bank stetig zu, während
die Grenzen, in welchen sich die Schwan-
kungen der Guthaben vollziehen, aus dem
gleichen Grund enger werden.
Die Natur der Giroguthaben, bestehend
in der Zusammenfassung der bedeutendsten
für den unmittelbaren Zahlungsdienst be-
stimmten Gelder der Girointeressenten, bringt
es mit sich, dass diese um die Zeit der
grossen Zahltermine Deutschlands, der Quar-
talswechsel, zu welchen die Kreditansprüche
und damit die Schwächung der Bankmittel
ihren Höhepimkt erreichen, in der Regel
anschwellen.
Die Girogelder werden nicht, wie die
vielfach den Charakter der Spargelder an
sich tragenden verzinslichen Depositen, der
Bank gerade zu der Zeit untreu, in welcher
diese von ihnen den nutzbringendstenG^ebrauch
machen könnte. Zu Zalüungszwecken wer-
den vielmehr um die Zeit der Quartals-
wechsel die höchsten -Guthaben auf den
Conten vereinigt, der Zahlungsausgleich
geht gerade dann am intensivsten vor sich,
die interlokalen Ueberweisungen erreichen
die grössten Beträge. Die von dem über-
weisenden Conto abgeschriebenen, dem
empfangenden Conto wegen des Postenlaufes
noch nicht gut gebrachten und deshalb
der Verfügung des Empfängers entzogenen
Ueberweisungen erreichen daher jetzt gleich-
falls das Maximum. Diese »schwebenden«
Ueberweisungen müssen den Guthaben zu-
gezählt werden, welche unter diesen Um-
Giroverkehr
737
ständen einen Hochstand erreichen in der
Zeit, in welcher die Notenreserve ilirem
tiefsten Stande zustrebt und die staatlichen
Kassen die aufgesammelten öffentlichen
Gelder der Bank entziehen. Notenreserve
und Guthaben bewegen sich in entgegenge-
setzter Richtung. Die Girodepositen bei
der Heichsbank ändern sich nach anderen
Gesetzen als ihr Banknotenumlauf. »Es
wäre daher widersinnig, sie nach den glei-
chen Gesichtspunkten zu reglementieren«
(Rauchber^). Der heftige Rückgang der
Reserve wird durch die steigenden Girogut-
haben teilweise aufgehoben. Das Herab-
sinken der Girogelder auf das normale
Niveau oder danmter tritt erst ein, wenn
der heftige Geldbedarf am Quartalswechsel
oder in erregten Zeiten befriedigt ist und
der beginnende Rückfluss aus den Anlagen
den steuerpflichtigen Notenumlauf ver-
schwinden oezw. die Reserve wieder an-
schwellen lässt.
Das Zusammenwirken der GLrobestände
und Notenreserve ist deswegen nicht unzu-
treffend mit den Wirkungen eines Korapen-
sationspendels verglichen und als eine
Garantie ftlr die ruhige und ungestörte Ab-
wickelung des Zahlungsverkehrs betrachtet
worden.
Die Giroumsätze betrugen im Jahre 1899
87®/o des gesamten Kassenumsatzes, gegen
46^/0 in 1876. Der Verkehr der Bank voll-
zieht sich immer mehr in den elastischen
Formen des Giroverkehrs. Gegenüber der
steigenden Bedeutung der Giroguthaben und
des Checks treten die Banknoten, wenngleich
der absolute Umlauf derselben, in den letz-
ten Jahren auch der ungedeckten Noten im
Wachsen begriffen ist, mehr in den Hinter-
grund. Wie weit der Umlauf derselben seit
Einführung des Giroverkehrs der Reichs-
bank im Verhältnis zu dem gesamten Kassen-
umsatz gesunken ist, ergiebt die Tabelle III.
Auch seit Errichtung der Abrechnungsstellen
zeiget sich eine nicht unerhebliche Abnahme.
4. 6. anderer deutscher Banken.
Neben der Reichsbank pflegen in Deutsch-
land noch zahlreiche andere Bankinstitute
den Giroverkehr. Zu diesen gehört, wie
schon erwähnt, die im Jahre 1824 in Berlin
errichtete, gerade durch das Bedürfnis des
Giroverkehrs hervorgerufene Bank des
Berliner Kassenvereins. Ihr Zweck
sollte nach den Statuten sein: »Das Zah-
lungsgeschäft in Handel und Wandel da-
durch zu erleichtern, dass die Zahlungen in
barem Gelde aus einer Hand in die andere
entbehrlich gemacht werden, die dazu
dienenden Fonds aber mit der erforderlichen
Sicherheit und Vorsicht benutzt werden. <:
Der Kassenverein, welcher auch der Ber-
liner Abrechmmgsstelle angehört und Cheek-
formulare nach Art der Reichsbank ausgiebt,
Jahr
Tabelle III. Beichsbank.
Gesamt- Ti„,«Va/.ii«u+i Zu lOOüOO M.
Kassen- Ä 'Ä5 Umsatz genü-
Umsatz Notenumlauf gen an Noten
in Millionen Mark Mark
18&4
9645
348
3600
1869
13 121
435
3300
1870
16396
490
3000
1871
19098
607
3200
1872»)
27852
760
2700
1875
29228
754
2500
1876«)
36685
685
I 800
1877
47542
695
1 400
1880
52194
735
I 400
1881
56336
740
i 300
1882
56006
747
I 300
1883»)
62620
737
I 200
1884
71 591
733
I 000
1885
73199
727
900
1886
76565
802
I 000
1887
79839
861
X 100
1888
84338
933
I 100
1889
99709
987
I 000
1890
108595
984
900
1891
109933
972
880
1892
104489
985
940
1893
HO 942
985
890
1894
HO 784
I 000
900
1895
121 313
I 096
900
1896
131499
1083
830
1897
142 III
1086
770
1898
163 396
I 125
690
1899
179633
I 142
640
dient, nachdem im Jahre 1876 bei der
Reichsbank der Giroverkelir auf veräiiderter
Grundlage eingeführt worden, besonders dem
Börsenverkehr. Seine Giroumsätze schwan-
ken daher mit der Lage des Börsengeschäf-
tes auf und ab. Auch bei den Einlieferun-
gen von Wechseln, Effekten etc., die übri-
gens nicht über Gii'oconto gehen , tritt dies
hervor. Die Bai-mittelersparnis ist hierbei
nicht unbedeutend. Wie nachstehende Ta-
belle lY ergiebt, sind 1872 nur 76,9 % durch
Abrechnung geordnet; im Jahre 1899 ist
der Pit)zentsatz auf 9^,70 ®/o gestiegen. Bei
den Giroumsätzen zeigt sich eiue ähnliche
Erscheinung wie bei der Reichsbank, dass
mit den steigeoden Umsätzen die Bestände
sich nicht notwendig gleichfalls vermeliren.
1872 bildet der Bestand noch 0,44% vom
Umsätze, 1899 nur 0,13%.
Die gleiche Wahrnehmung macht man
bei der Frankfurter Bank, die am
frühesten dem Girogeschäft ihre Aufmerk-
samkeit geschenkt hat und für Frankfurt
ungefähr dasselbe bedeutet wie der Kassen-
verein für Berlin. Die grössten Privatnoten-
banken haben sich verliältnismässig spät zur
Einführung des Giroverkehrs — am Haupt-
sitz und bei den Filialen — entschlossen
(obwohl wenigstens bei der Bayerischen
^) Einführung der Goldwährung.
*) Einführung des Giroverkehrs.
') Einfuhrung der Abrechnungsstellen.
Handwörterbuch der StastewiBgenschaften. Zweite Auflage. lY. 47
738
Giroverkelir
Notenbank schon seit 1876 verwandte Ein-
richtungen vorhanden wai*en), die Baye-
rische Bank 1883 und die Sächsische
Bank zu Dresden erst 1888. Es sind dies
die beiden einzigen deutschen Privat-
notenbanken, welche vermöge ihres aus-
gedehnten Netzes von Zweiganstalten einen
Giroverkehr nach dem Vorbilde der Reichs-
bank zu organisieren vermochten. Soweit
das Verhältnis des Umsatzes zum Girobe-
stande in Betracht kommt, sind die Resul-
tate nicht sehr befriedigend, obwohl beide
Banken ihren Giroteilnehmern Zinsen für
das Guthaben vergüten. (Näheres ergiebt
Tabelle IV). Dieses Verh^tnis ist ungüns-
tiger als bei dem Berliner Kassenverein und
der Frankfurter Bank. Während bei diesen
beiden Instituten der Girobestand in einem
Jahre 400 — 7 00 mal umgesetzt wird, ge-
schieht dies bei der Sächsischen und Baye-
rischen Bank nur 70 — 90 mal. Es rührt
dies wohl daher, dass die beiden erstge-
nannten Banken dem grossstädtischen Börsen-
verkehr dienen, letztere dagegen mehr dem
Warenhandel und der Industrie ihrer Länder.
Demgegenüber erreicht die Verwendung
nicht fiduziaren, sondern auf dem Wege des
Giroverkehrs erlangten Geldes — neben den
Depositen auf Kündigimg — für die Kredit-
gewährung bei der Sächsischen Bank von
Jahr zu Jahr grössere Bedeutung. Die
Bayerische Notenbank ist in dieser Hinsicht
zurückgeblieben.
Von den übrigen Privatnotenbanken hat
die Bank für Süddeutschland die
Heranziehung von Depositen auf dem Wege
des Giroverkehrs bis jetzt ganz vernachläs-
sigt. Die Braunschweigische Bank,
bekanntlich die einzige noch jetzt fortbe-
stehende Privatnotenbank, welche das Nor-
malstatut des Bankgesetzes (§ 44) nicht an-
genommen hat, pflegte diesen Geschäfts-
zweig von Anfang an. Die Württem-
bergische Notenbank hat den Girover-
kehr bereits im Jahre 1873 bei sich einge-
führt. Eine Verzinsung der Guthaben fand
nicht statt. Mit der Organisation des Giro-
verkehre der Reichsbank, insbesondere der
Stuttgarter Abrechnungsstelle, hat sich die
Bedeutung dieses Verkehrs, der nie sonder-
lich gross war, rasch verringert. Im Jahre
1883 eröffnete die Bank sodann den Gheck-
verkelu* auf Grund verzinslicher Depositen,
mit welchem sie in den letzten Jahren be-
trächtliche Forts(;hritte erzielt hat. Auch
der verzinsliche Checkverkehr der Badi-
schen Bank, welcher im gleichen Jahre
begründet worden ist, hat vseitdem zuneh-
mende* Bedeutung erlangt.
5. Postcheckverkehr. Ein neuer
Abschnitt in der Entwickelung des
Giroverkehi-s in Deutschland in der
Richtung der Einbürgerung des Checks in
Tabelle IV. 1. Bank des Berliner Kassen verein«.
s
o
bn. Bestand
roguthaben
ncasso ein-
te Wechsel,
tten etc.
ervon sind
ch Abrech-
g geordnet
Durchsc
der Gi
Nä
Tausende von Mark
872 12
876
880
884
888
892
896
897
898
899
4
7
8
lo
8
II
13
15
17
397 975
756 624
467 132
395542
577420
575 640
308210
140476
495 643
264 325
55030
20927
17450
14666
28063
28 411
21 064
21695
22407
22833
13 433 402 10 335
4045793 2795
7 354 595! 5628
7918425' 6 172
IG 165 171] 8762
8081676 7039
II 652552 10560
13556672112421
15 176733114084
18210520I16881
966
862
856
030
972
647
224
421
175
283
76,9
69,1
76,5
78
86
87,10
90,62
91,63
92,5a
92,70
2. Frankfurter Bank.
Jahr
Giroumsatz
Durchschnittlicher
Bestand der
Giroguthaben
Tausende von Mark
1876
3 460 984
9409
1880
3776919
4988
1884
2 764 726
4632
1888
3 278 511
5867
1892
2 133462
5 773
1896
2 286 374
5848
1897
2 454 650
4820
1898
2 474 883
5721
1899
2 566 797
3865
3. l
Sächsische Bank
zu Dresden.
Jahr
I (h od
t I
Tausende von Mark
1888
1892
1896
1897
1898
1899
I 113
4452
12 760
7051
6174
6 762
24 1521 8219
73 261 I 20223
107 225 I 26 844
116 209 I 31 188
123283 33 411
166 596 ' 45 885
247 046
668 736
I 012 848
952373
I 103298
I « 55 056
5426
7 106
14813
13675
15 155
17088
4. Bayerische Notenbank in München.
Jahr
' Gesamt-
Gutbabenbestand
Giroumsatz
1
im
Durchschnitt
Tausende von
Mark
1875/76
234075
I 204
1880
160 201
662
1884
41 1 072
9401
1888
445 181
7587
1892
536731
7740
1896
723 142
qo2q
1897
739 873
8657
1898
792 668
8531
1899 1
757 531
7 793
Giroverkehr
739
die breitesten Schichten der Bevölkerung
dürfte mit der Einrichtung!; eines Post-
checkverkehrs im Gebiet der Reichspost
sowie in Bayern und Württemberc: beginnen.
Die Organisation soll in den Grimdzilgen
folgende sein: Zur Vermittelung des Ver-
kehrs wird an neun der grossen Verkehrs-
Centren des Reichspostgebiets je ein Post-
checkamt errichtet Für jeden Inhaber eines
Checkcontos wird die Möglichkeit geboten,
dass alle bei den Postanstalten für ihn ge-
machten Einzahlungen bei dem Postcheck-
amte durch Gutschrift auf sein Conto zu
einem Guthaben angesammelt werden, über
das er mittelst Checks jederzeit in beliebigen
Teilbeträgen verfügen kann, sei es durch
bare Abhebung oder durch Ueberweisung
auf ein anderes Conto oder durch Auszah-
lung an einen dritten, den der Contoinhaber
im Check benennen kann, bei irgend einem
Postamte.
Es handelt sich demnach um einen Ver-
kehr, welcher mit dem Giroverkehr, insbe-
sondere dem üebertragungsverkehr^ der
Reichsbank grosse Aehnlichkeit haben würde.
Bayern und Württemberg werden eigene
Postcheckämter errichten, im übrigen aber
den Verkehr in enger Anlehnung an den
Postcheck verkehr der Reichspost organisieren,
damit die drei Verwaltungsgebiete in Aus-
gleichsverkehr treten können.
6. G. in Oesterreich-Ungam. Wie die
frühere OesterreicJiische Nationalbank, so liat
auch deren Nachfolgerin, die Oester-
reichisch - ungarische Bank einen
Giroverkehr eingerichtet. Bis zum Jahre
1888 war derselbe jedoch thatsächlich niu-
auf Wien beschränkt, wo 16 Firmen daran
teilnahmen. Die Umsätze waren daher nur
massig und eine Fortentwickelung nicht er-
kennbar. Der Gesamtumsatz auf Giroconto
belief sich nur auf ca. 700—900 Millionen
Gulden, also ca. IV'4 — l^/t Milliarden Mark.
Erst mit dem Inkrafttreten des Bank-G.
V. 21. Mai 1887, welches nach Art des
deutschen Bankgesetzes eine üeberschreitung
des Noten kontingents gefi^en. eine fünfpro-
zentige Steuer gestattet und dadurch auch
dem Giroverkehr einen gewissen Rückhalt
schuf, wurde am 2. Januar 1888 der Giro-
verkehr bei sämtlichen selbständigen Bank-
anstalten der Oesterreichisch - ungarischen
Bank eröffnet, -wobei man die technische
Einrichtung der deutschen Reichsbank als
Muster nahm.
Schon im ersten Jahre stiegen die Um-
sätze auf 3 Milliarden, das Vierfache des
Jahres 1887, im Jahre 1899 auf fast 11^/2
Milliaixien Gulden.
Eine starke Vermehning der Zahl der
Giroconten wie der Umsätze vollzog sich im
Jahre 1893, in welchem die Bank die
Wechselkredit in Anspruch nehmenden Per-
sonen und Firmen nachdrucklich zum An-
schluss an den Giroverkehr aufforderte.
Der Besitz eines Girocontos bei der zu-
ständigen Bankanstalt ist seitdem, wie bei
der deutschen Reichsbank, eine Bedingimg,
w^elche in der Regel jeder zu erfüllen hat,
der mit der Bank in Diskontverkehr treten
wül.
Im Jahre 1898 trat die k. k. österreichi-
sche Finanzverwaltung dem Gü'overband der
Bank bei. Auch der Anschluss der ungari-
schen Finanz Verwaltung ist inzwischen er-
folgt. Die versuchsweise Ausdehnung des
Giroverkehrs auf die Nebenstellen nach dem
Vorbilde der deutschen Reichsbank ist im
Jahre 1896 angekündigt, bis jetzt aber nicht
durchgeführt worden.
In der Zusammensetzung der Barzahlun-
gen und sonstigen Verrechnungen , der
üebertragungen am Platz und nach aus-
wärts hatten in den ersten Jahren nach der
Reorganisation des Giroverkehrs Aenderungen
von einiger Bedeutung nicht stattgefunden.
Seit Einführung des Girozwanges im Jahre
1893 sind indes bemerkenswerte Verschie-
bungen zu bemerken. Die Barzahlungen,
welche im Jahre 1892 in der Einnahme
31 ^/o und in der Ausgabe 41,9 °/o der Um-
sätze ausmachten, sind bis zum Jahre 1899
auf 27 bezw. 40 % zurückgegangen. Sie
zeigten bis zum Jahre 1897 fallende Tendenz,
wie in Deutschland, sind seitdem aber im
Steigen begriffen, während die Giroübertra-
gungen der Bankanstalten unter sich ent-
sprechend an Bedeutung verlieren. Die
Verringerung des prozentualen Anteils der-
Bareinzahlungen an den Gesamteinnahmen
ist bis dahin stetig vor sich gegangen,
während der prozentuale Anteil der Baraus-
zahlungen an der Gesamtausgabe bis zum
Jahre 1894 noch beträchtlich gestiegen ist.
Der Eintritt sämtlicher mit der Bank
im Diskontverkehr stehenden Personen
und Firmen, welche bisher mit dem
Wesen des Gu'O Verkehrs wohl zum
Teil wenig vertraut waren, in den Giro-
verkehr des Institutes im Jahre 1893 hatte
durch die rasche Steigerung der Gutschrif-
ten der Valuten, von diskontierten Wechseln
etc. zunächst zu einer Vermehrung der
baren Abhebungen mittelst weissen Checks
geführt. Eine Ursache der langsamen Ent-
w^ickelung liegt wohl darin, dass der Ver-
kehr infolge der ausgedehnten Papiergeld-
cirkulation sich an dieses bequeme Zahl-
mittel gewöhnt hat und daher schwerer zu
dem Gebrauch des Checks als Zahlungs-
mittel übergeht, und auf der anderen Seite
darin, dass der Check mit einer Stempel-
steuer von 2 Ki'euzern belegt worden ist, ehe
er sich wirklich eingebürgert hatte. Folge-
weise dient der weisse Check nicht als
Zahl mittel, sondern fast nur als Mittel zur
47*
740
Giroverkehr
Abhebung baren Geldes, während der eben- I Platzübertragiingen an den Provinzialbank-
falls ßtempelpflichtige rote Check nicht zu stellen auf J,9 ^/o des Umsatzes, nur in Wien
Uebertragungen am Platz, sondeni aus-
schliesslich zu Uebertragungen nach aus-
wärts benutzt 'v^'i^d. So belaufen sich die
Dank der Thäügkeit des Saldierungsvereins
auf 16,4 o/o.
Tabelle Y. Oesterrelchisch-ungarische Bank.
(In 1000 Gulden.)
Auf Giroconto sind vereinnahmt
Be-
stand
Durch-
schnitt-
1
An-
zahl
der
Giro-
kun-
den
Bar-
Verrech-
üeber- Ueber- j
am
licher
Jahr
zahlungen
nungen
Tagungen tragungen
1
Summe
Ende
des
Bestand
der
' aus
0/ Diver- 0;
'0 sen '^
am
Platze
in
/o
von andr.
Plätzen
in
/o
Jahres
Giro-
guthaben
1886
175 451
43
136 586
33,6
95261
23,4
•
•
407 298
62
1744
•
1889
617827
32
536067
27,7
169504
8,8
611 082
31,5
I 934 480
10060
7150
1643
1892
815 188
31
738 187
28
210553
8
867225,33
2631 153
6249
8369
2724
1893
970 399
28.4
I 029 171
30,1
293 570
8,6
I 122207,32,9
3415348
8128
II 126
4 018
1896
I 021 951
25,7
I 459 586
36,8
353 401
8,9
I 134 545
28,6
3 969 483
6186
II 120
4875
1897 I 123 197
25,6
I 586 025
36,2
389 757
8.9
I 286 422
29,3
4 385 401
6949
II 928
4 945
1898 1 296 055
26,3
I 891 737
38,3
363 240
7,4
I 382 297
c8
4 933 329
6489
12486
4987
1899 1 1427 379
1
27,0
I 983 922j37,5
429 737
8,1
I 448 626
27,4
5 289 664
13065
17994
4992
in
Wien
1
1
1899
660872
29,1
914497
40,2
372515
i6,4
' 325369
H,3
2 273 253
5 479
•
•
Auf Giroconto sind verausgabt
Bar-
Eingelöste
Ver- i
Ueber
^
Ueber-
zahlungen
Domizile
rechnungen
tragungen
tragungen
Jahr
1
1
Summe
in
m
aus Di- in
am
in
auf andre in
'0
0/
'0
versen %
Platze
0
Plätze 1 '»/o
1886
314 643 1 76,8
•
1
i .
95 261
23,2
•
•
409904
1889
766945 39,8
55172
2,8
322 827 ■ 16,7 1
169 504
8,8
612663
31,8
I 927 1 1 1
1892
I 101903 41,9
1 13 338
4,3
336 597 12,8 1
210553
8
867 998
33
2 630 389
1893
1456 177 42,7
155596
4,6
384771 11,2
293 570
8,6
I 123355
32,9
3413469
1896
1635 136 41,2
219626
5,5
629012 ii;,8
353400
8,9
I 134 731
28,6
3971905
1897
I 717 881 39,2
233642
5,3
757408 17,3
389 7S7
8,9
I 285 95I
29,3
4 384 639
1898
1960619 39,7
252 445
5,1
974 636 1 19,8 1
363 240
7,4
I 382 849
28
4 933 789
1899
2 1 1 1 582
40,0
272 432
5,2
I 016 482 19,2
429 737
8,1
I 452 855
27,5
5 283 088
in
Wien
1899
602423
26,5
•
•
609693
26,9
372515
16,4
685312
30,2
2 269 943
^) Mit Ausschluss der wegen Postenlanfes noch nicht zur Gutschrift gelangten Ueber-
tragungen.
Der Giroverkehr der Oesterreichisch-
iingarischen Bank hat, soweit die Zahl der
Conten, die Umsätze und in den letzten
Jahren auch die Guthaben in Betracht kom-
men, stetige Fortschritte gemacht, gleichwohl
befindet er sich immer noch in einem ziem-
lich unfertigen Zustande. Am 31. Dezember
1896 kam auf 92 von 4875 Gii-oconten der
Bank ein Bestand von insgesamt 3906234
(dulden — 63,1 ^.'0 des Gesamtbestandes.
Auf die übrigen 4783 Conten kamen nur
2279 700 Giüden Guthaben. Eine durch-
greifende Aendening ist seitdem nicht ein-
getreten. An dem Girobestand der Bank
sind die grossen Guthaben auf einigen
wenigen Conten übermässig stark beteiligt,
auf welchen sich die für die Höhe der Ge-
samtguthaben ausschlaggebenden Bewegun-
gen vollziehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass
gleichzeitig ausgleichende Schwankungen
L
Grii-overkehr
741
Dach der entgegengesetzten Seite hin statt-
finden, durch welche eine gewisse Bestän-
digkeit in der Höhe der GKithaben herbei-
geführt wird, ist daher im Giroverkehr der
Oesterreichisch- ungarischen Bank gering.
Die Höhe des Girobestandes der Bank hat
denn auch stets ausserordentlich stark ge-
schwankt Aus diesen Gründen sowie wegen
der relativen Geringfügigkeit der Girogut-
haben haben letztere die Bankpoiitik bisher
nicht wesentlich zu beeinflussen vermocht.
Seit dem Anschluss der Finanzverwal-
tungen • beider Keichshälften an den Giro-
verkehr der Bank gewinnt dieser indessen
eine grössere Ausdehnung und Stetigkeit
imd damit auch eine wachsende Bedeutung
als Faktor für die Diskontpolitik der Bank.
Weitere Fortscliritte im Sinne eines sinn-
gemässen Gebrauches der Giroeinrichtungen
der Bank dürften erst durch den zunehmen-
den Hartgddiunlauf, sobald die Währungs-
reform durchgeführt sein wird, hervortreten.
Zwischen dem Giroverkehr der Oester-
mchisch-uugarischen Bank und dem im
Jahre 1887 begründeten Checkvorkehr des
k. k. österreichischen Postspar-
kassenamtes mid der im Jahre 1889
errichteten ungarischen Postspar-
kasse besteht ein wechselseitiger Giro-
überweisungsverkehr, insofern es jedem
Teilnehmer einer der drei Organisationen
gestattet ist, von seinem Conto auf. das
Conto des Teilnehmer einer der beiden
anderen Organisationen Giroübertragungen
zu bewerkstelligen.
Eine nichtige Giroanstalt bestellt schon
seit 1872 in dem Wiener Giro- und
Kassen verein, welcher insbesondere als
Centralstelle für das Incasso von Wechseln
und Anweisungen grosse Bedeutimg für den
Wiener Platzverkehr erlangt hat. Nach dem
Muster desselben ist im Jahi^e 1894 auch
in Budapest eine gleiche Anstalt unter
der Firma >Budapester Giro- und
Kassen -Verein, Aktiengesell-
schaft^, errichtet. Im folgenden Jahre
erfolgte auf Ani-egung der Bank nach dem
gleichen Vorbilde die Errichtung der Sal-
dierungsvereine in Brunn und Prag, wo-
mit ein weiterer Furtschritt des Girover-
kehrs in Verbindung mit dem Abrechnungs-
verkehi' eingetreten ist.
7. G. in Italien. Die Entwickelung des
Giroverkehre und des Clearingwesens ist in
Italien durch eine Uebersättigung des Ver-
kehrs mit papiernen Geldzeichen gehemmt
woitlen. Die aus der Abrechnung der Ab-
rechnungsstellen (Stanze di Compensazione)
sich ergebenden Salden werden zum Teil
über das Kontokorrent der Notenbanken aus-
geglichen. Für die Abrechnimgsstellen kommt
zur Zeit nur die Bank von Italien in Be-
tracht. Dieses Institut errichtet wie seine
Vorgängerin, die Nationalbank, zinsbringende
Conten (Conti correnti ad Interesse) und
zinslose Conten (Conti con-enti disponibili).
Die Abhebung von Guthaben auf den
ersteren Conten ist im aUgemeinen an eine
Kündigimgsfrist gebunden. Die Bank ge-
währte im Jahre 1898 eine Verainsung von
^/4®/o. Im gleichen Jahre betrug der Ge-
samtumsatz, Einnahme und Ausgabe,
1815203000 Lire. Am Ende des Jahres
verblieb ein Bestand von 122178000 Lii-e.
Dem deutschen Giroverkehr zu vergleichen
sind die Umsätze auf den zinslosen Conten.
Einnahmen und Ausgaben zusammen be-
trugen auf diesen Conten im Jahre 1898 '
die Summe von 3995691(X)0 Lire, wobei
sich am Ende des Jahres ein Bestand von
nur 6598000 Lire ergab. Den Hauptein-
nahmeposten bilden hierbei die von der
Bank diskontierten Wechsel.
Unter diesen Umständen haben die Ein-
schränkungen, welchen sich die Bank infolge
umfangreiclier Festlegung ihrer Kapitalien
in Immobilien und uneinbringbaren Forde-
rungen im Diskontverkehr unterziehen muss,
in den letzten Jahren zu einer erheblichen
Verringenmg des Umsatzes gefülirt.
Ein starker Verkehr besteht in den auf
den Namen des Deponenten oder einer
dritten Person lautenden vaglia cambiari,
Bankanweisungen, durch welche die Ein-
zahlung von Geldern im Giroverkehr be-
urkun(let wird. Sie bilden nächst den um-
laufenden Noten den bedeutendsten Posten
unter den täglich fälügen Verbindlichkeiten
des Bankstatus. Sie werden frei von Ge-
bühren ausgegeben, sind indossabel und
werden bei der Centrale, den Succursalen
(z. Z. 81) und bei den Korrespondenten der
Bank bezahlt.
Der Umsatz in diesen Urkunden betrug
im Jahre 1898 3423701000 Lire in Ein-
nahme, 3408283000 Lire in Ausgabe. Am
Ende des Jahres waren 96 601 000 Lire aus-
stehend.
Die Umsätze im Giroverkehr waren in
der letzten Zeit starken Schwankungen unter-
worfen. Im Jahre 1898 hat auf beiden
Arten von Conten eine gewaltige Erhöhung
der Umsätze von * insgesamt 4387 Millionen
auf 5810 Millionen Lire stattgefunden.
8. G. in Frankreich. Die Bank von
Frankreich, deren Gireverkehr wie der-
jenige der Reichsbank ungefähr die Aufgabe
eines nationalen Clearing-house erfüllt, eröffnet
den Personen und Firmen, welche ihren Sitz
an einem Bankplatz haben, comptes courants
simples, comptes coiu^nts avec faculte d'es-
compte und comptes com^nts d'avances. Den
nicht am Sitze einer Bankanstalt wohnenden
Personen werden, jedoch nur bei den Succ^ur-
salen, sogenannte comptes coiu^nts exteri-
eurs eröffnet, welche dem Inhaber alle
742
Giroverkehr
Tabelle VI, Bank von Italien.
Umsätze auf beiden Conten zusammen.
1892
1893
1895
Tausend Lire
Guthaben beiBe-
1
ginn d. Jahres
108919 106020' 139 117
Kinnahme :
^
1. Diskontierte
Wechsel
I 631 279 1938108 999 443
2. Einzahlungen
und Verrech-
i
rechnung. etc.
856521 971 816 1 178424
1
2596719
3015944
2316984
Ausgabe :
2 490 699
2 904 732
2 175 128
Bestand a. Ende
_
des Jahres
106020
111 212
141 856
Rechte der Besitzer der gewöhnlichen
comptes courants verleihen. Auf den
comptes courants d'avances sind die Debet-
salden zum Bankdiskont zu verzinsen. Das
Guthaben wird nicht verzinst. Der Conto-
inhaber kann darüber ohne Einschränkung
verfügen ; er ist nicht gehalten, einen Minimal-
saldo stellen zu lassen. Die Leistungen der
Bank für die Teilnehmer sind dement-
sprechend auch geringer. Dem Conto wer-
den bare Einzalüungen zugeschrieben, ferner
Ueberweisungen von anderen Conten am
Platze oder von auswärtigen Plätzen, der
Beti-ag von Lombarddarlehen etc. Die Bank
übernimmt femer die Eiuziehimg von Wech-
seln auf denselben Platz ; die Grutschrift er-
folgt sofort, doch dai-f darüber erst am
zweiten Tage nach Verfall disponiert werden.
Seit dem Jahre 1879 wird hierfüi' eine
Provision von Vi^/oo, für Wechsel unter
400 Francs eine solche von 10 Cts. er-
hoben. Der Betrag der eingezogenen Wechsel,
der im Jalire 1878 noch auf 1400 Millionen
Francs sich belief, fiel infolge dieser Mass-
regel im Jahre 1881 auf 444 Millionen und
liat sich über 700 Millionen nicht mehr er-
hoben. In dem nämlichen Jalu^e 1879 er-
hielten die Inhaber von comptes coiu-ants
die Befugnis der freien üeberweisung auf
auswärtige Conten bis zum Betrage der ziu*
Diskontierung oder Einziehung eingelieferten
Wechsel innerhalb der nächsten 5 Tage.
Im Jahre 1897 ist diese Frist auf 10 Tage
erweitert worden. In allen anderen FäUen
muss eine Gebühr von Vi^'/oo, mindestens
von 25 Cts. entrichtet werden. Aus diesem
Grunde sowie bei der Geringfügigkeil des
Giroverkehrs der Zweiganstalten stehen die
interlokalen üebertragungen hinter den Platz-
übertragungen weit zurück. Erstere betru-
gen im Jahre 1899 — die Uebertragimgen
für Nichtconteninhaber mit einbegiiffen —
nur 3588 Millionen Francs.
Im Jahre 1894 hat die Bank noch
comptes de depöts, einfache Checkconteu,
eingerichtet, w^elche jedem, der eine ei-ste
Einzahlung von 500 Francs macht, ohne die
Förmlichkeiten eröffnet werden, an deren
Erfüllung die Errichtung eines compte
croui-ant geknüpft ist. Der Besitz eines
compte de depöts verleüit die Rechte eines
compte courant nicht.
Einen vollkommenen Einblick in die Ent-
wickelung dieses Yerkehrs kann man aus
den Jahresberichten der Bank nicht ge-
winnen. Es werden nur die \'iremeifts (d. s.
die üebertragungen von einem Conto auf
ein anderes, sei es am Platz oder nach
ausserhalb), die üebertragungen auf aus-
wärtige Plätze, die eingezogenen Wechsel,
die Minimal- und Maximalsaldi der comptes
courants, seit 1893 auch die Gesamtumsätze
und die durchschnittlichen Guthaben nach-
gewiesen. Letztere betrugen in diesem
Jahre 405 Millionen Francs, sind bis 1896
auf 566 Millionen Francs angestiegen und
bis 1899 auf 478 Millionen Jrancs zurück-
gegangen.
Tabelle VIT.
Bank von
Frankreich.
Einkas-
VirementsM
sierte
Guthaben der
Jahr
1000 Frcs.
Wechsel
Kunden
Paris und
1000 Frcs.
Mül
Frcs.
Succursalen
Paris und
Succursalen
Min.
Max.
1858
19934587*
I 257000
111,1
175,7
1865
1 5 934 596 *
I 736 860
130,8
221,4
1870
19037 215*
I 792241
322,1
625,2«)
1871
18976726
505 112*)
255,9
735.6
1877
22239259
1 400 563
345,9
695,6
1879
29 426 909
957020
334,1
536,2
1881
47 577 140
444 430')
366,6
765,6
1886
35552055
603097
^97,6
I 461,6'^)
1889
41 291 403
597 007
343,1
645,3
1891
48 745 Ol I
606 702
252,5
I 442,6»j
1898
38 090 500
614154
329,8
501,5
1894
46 170042
599617
35», 9
I 083,5*)
1895
52 472 659
576923
395,4
I 688,1»)
1896
42629 145
553253
418,0
976,7')
1897
43 137 997
570344
432,9
611,4
1898
93 594 205*)
557314
400,0
641,4
1899
102 620961
593 452
417,9
608.2
Welche Anteile Paris einei'seits und die
Succursalen andererseits an den Yirements
und Wechseliucassos liaben, zeigt die fol-
gende Uebei-sicht.
*) Nur Paris.
^) Das sind üebertragungen von einem
Conto auf das andere.
^) Vom 24. März bis 5. Juli unterbrochen.
•*) Seit dem 10. September 1879 wird eine
Incassogebühr von V4%p erhoben.
*) Virements in Einnahme un<
bis 1897 nur Einnahme.
'') Die abnorm hohen Maxima der Guthaben
d Ausgabe,
Giroverkehr
743
Jahr
Virements 0 Einkassierte Wechsel
Succur-
saleii
Paris
Paris
Succur-
salen
Jahr
1881
1886
1889
1891
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
in 1000 Francs
985 Ol I
725 936
1 014728
2 125 254
854472
854 233
890225
750 171
1 019 899
861 299
875 843
983 099^
2 063 840*)
2 320 102
Anzahl der Conto- Uehertragungen •)
inhaber auf andere
Succur- Zu- Bankplätze
salen sammen in 1000 Fres.
1871
17991 715
1877
21513323
1879
28412 181
1881
45451887
1886
34 697 584
18^<9
40437 170
1891
47 854 786
1893
37340329
1894
45 «50 143
1895
51 611 360
1896
41753302
1897
4215489:5
1898
91530365*)
1899
100300859
555818
47279
563 026
33981
575 116
31586
562 366
51788
555 730
43887
530 161
46 762
514230
39023
540612
29732
528 555
28759
559 045
34407
Paris
2193
3806
4157
4992
5254
5404
6633
7444
8092
5061
6481
8077
9229
10260
10568
13 716
16674
19212
7254
10287
12234
14 221
15514
15960
20349
24 118
27304
31486
37290
I 569 013
1 903 998
2255 181
2 601 085
2476955
2684215
2 928 823
2813087
2 832 970
3269 110
3 588 004
In der Form ihrer Checks hat die Bank
in neuester Zeit Aendenmgen eintreten
lassen. Früher gab sie ilu-en Klienten nur
mandats rouges zur üeberweisung und
mandats blancs ziu: baren Abhebung; gegen-
wärtig giebt sie jedoch drei Sorten von
Checkformidaren aus, und zwar solche auf
rotem Papiere (bons de virement), aus-
schliesslich zui' Uebertragimg am Platz, auf
den Namen gestellt; zweitens auf violettem
Pajüer ziu* bai*en Abhebung am Platz seitens
des Inhabers des Checks (innerhalb der ge-
setzlichen Präsentationsfrist von 5 Tagen).
Die dritte Art, auf n)sa Papier, lautet auf
Order und ist nur bei einer anderen Bank-
anstalt zahlbai-. Diese letzteren Checks
werden bei der das Conto führenden Bank-
anstalt präsentiert, um erst abgestempelt
und dann in Umlauf gesetzt zu werden. Es
ist dies eine Art Beglaubigimg des Checks,
der dadurch der Bankjiote ähnlich wird.
Dergleichen Checks, sogenannte cheques
indirects, wurden im Jahre 1881 bei der
Bank von Frankreich eingeführt und er-
freuen sich steigender Beliebtheit. Dieselben
können auf die Centralbank oder eine der 126
sind durch die Ausgabe grosser Anleihen her-
beigeführt worden.
•*) Billets ä ordre, virements et cheques
indirects (d^plac^s) zusammen.
Succursalen der Bank gezogen werden und
bilden so in umgekehrter Richtung gewisser-
massen das Korrelat zu den Einzalüungen von
Nichtcontoinhabern behufs Üeberweisung an
auswärtige Klienten der deutschen Reichs-
bank, indem sie Zahlungen von Contoinhabeni
an auswärtige Nichtcontoinhaber vennitteln.
Die Bank besorgt die üeberweisung nicht
selbst, sondern begnügt sich mit der Ab-
stempelung und überlÄsst das Weitere dem
Aussteller. Ein anderer Vorteil dieses Checks
besteht darin, dass er an Oi*dre gestellt
wii'd; er hat somit Aehnlichkeit mit dem
in England gebräuchlichen Distanzcheck,
hat aber vor diesem voraus, dass er von der
Bank verifiziert wird, ehe er in Umlauf
kommt.
9. G. In Belgien. In Belgien hat das
Giroweson eine grosse Bedeutung erlangt,
während das Clearingwesen wie in Frank-
reich nicht recht Wurzeln zu fassen vermag.
Der Giroverkehr vollzieht sich auf den
Comptes courants, welche die Bank an allen
ihren Sitzen (zur Zeit 41) eröffnet. Die
Guthaben werden nicht verzinst, aber un-
entgeltlich verwaltet. Gebührenfrei erfolgen
ferner die Uebei-tragungen am Platz und
nach ausserhalb, die Einzahlungen von Nicht-
contoinhabern, auch wenn der Giro-
interossent seinen Sitz an einem anderen
Bankplatz hat, die Einziehung von Platz-
wechseln in Brüssel, während auf die Ein-
ziehung von Platzwechseln an anderen Orten
sowie von Wechseln, welche versandt werden
müssen, eine Gebühr zu entrichten ist. üeber
das Guthaben kann nur mittelst Checks,
welche auf den Inhaber oder an Ordre
lauten, verfügt werden. Uebertragimgen
nach ausserhalb erfolgen gegen Abgabe eines
Checks nebst einem recepissö de transfert,
welches der Einmcher visiert zurückerhält.
Nationalhank von Belgien.
Giroverkehr (mit Aus-
nahme des compte
courant des Staates)
ei
Jahr
:o8'2 S
00 0 ca
0 0; oc
I
s a
fl o
S *^
« S
"— o
p ö
es
OD ci
1^ «^^
es
- 00
'S «
Accreditive
wurden
ausgestellt
Stück
Millionen Francs
MUlio-
nen
Francs
1895
1896
1897
1898
1899
10938
10421
10812
12773
14 495
916
932
963
II 72
1246
37,6
38,8
324 346
341808
' 42,9
48,5
41,2
355 940
371 929
390796
1023
1086
1170
1278
1400
Mit dem Giroverkehr der Bank eng ver-
744
Gii-overkehr
knüpft und mit diesem dem gleichen
Zwecke dienend, ist das Geschäft in
Accreditiven , welche die Bank bei allen
ihren Niederlassungen jedermann unent^
geltlich ausstellt Die Accreditive sind
durch Indossament übertragbar. Ueber
kleinere Beträge als 100 Francs werden sie
nicht erteilt.
10. 6. in England. In der Ausbildung
des Systems, die Kassenfülirung von Privat-
peraonen den Banken zu übertragen, ist
England dem Kontinent weit voraus. Wäli-
rend in Deutschland diese Aufgabe zum
grössten Teü der Reichsbank, also der Cen-
tralnotenbank dos Landes zuge&dlen ist, sind
es in England eine grosse Anzahl von Baif-
ken, die sich diesem Geschäftszweige unter-
ziehen. Die meisten von ihnen haben ihren
Hauptsitz in London und ausserdem Filialen
im Lande; umgekelirt nötigte die vorherr-
schende Stellung Londons auf dem Welt-
mai*kt auch die Provinzialbanken , Filialen
oder mindestens Agenten in London zu
halten, die ftlr sie die dortigen Geschäfte
besorgen und bei denen sie für ihre Dis-
positionen stets ein Guthaben halten. Von
den Londoner Banken hat mm jede ein Conto
bei der Bank von England, der sie ihre
entbehrlichen Kassenvorräte und somit ilire
eigene Reserve überweisen. Infolge dieser
Entwickelung hat sich in England haupt^
sächlich das System der Zahlung durch
Bankanweisung (Check) ausgebildet. Das
System der blossen Umschreibung (Giro-
zahlung) besteht in grösserem Massstabe
hauptsächlich nur l)ei der Bank von England
an ihrem Hauptsitze und bei den wenigen
Filialen, an deren Sitze sich ein Clearing-
liouse befindet. Alle Personen, die laufende
Rechnung (current account) bei einer Bank
haben, pflegen untereinander in Checks zu
zahlen, w^elche der Nohmer seiner Bank zur
Einziehimg übergiebt.
Beide Systeme haben ihre Vorteile und
ihre Nachteile. Ein Vorteil des Systems
der Umschreibiuig gegen das der Zahlungs-
anweisung liegt darin, dass bei jenem der
Zahlungsleistende von dem Augenblick an,
wo der Betrag dem Conto seines Gläubigers
gutgeschrieben ist, seiner Verpflichtung
gegen diesen ledig ist. Es ist also wesent-
lich in die Hand dos Schuldners gelegt, den
Zeitpunkt der Zahlung zu bestimmen. Bei
der Zahlung durch Checks liegt es dagegen,
wenigstens in Ländern, in denen es ein
Checkgesetz und deshalb auch eine Präsen-
tation sfrist noch nicht giebt, fast ganz in dem
Belieben des Empfängers, wann er durch
Präsentation des in seinen Händen befind-
lichen Checks den Zalilenden definitiv be-
freien will. Soweit schon die Uebergabe
des Checks als Zahlimg gut, kreditiert frei-
lich der Empfänger bis zur Einlösung so-
wohl dem Schuldner wie der Checkbank
im Vertrauen auf genügende Deckung.
Auf der anderen Seite kann der Auftrag-
geber die üeberweisung wieder rückgängig
machen, solange die Buchung auf dem
Conto des Empfängers noch nicht erfolgt
ist, ein Umstand, der besonders bei Ueber-
Weisungen nach auswärts von Wichtigkeit
ist. Diese Möglichkeit wird ihm bei Stäh-
lung mittelst Checks konsequenterweise be-
nommen, obschon in England (einstweilen
auch in Deutschland) auch hier ein Wider-
ruf (countermand) gestattet ist. Von prak-
tischem Interesse ist dies, abgesehen von
dem Abhandenkommen eines Checks, in
Fällen, wo der Schuldner oder die bezogene
Bank oder derjenige, für den die Zahlung
bezw. Üeberweisung bestimmt ist, in der
Zwischenzeit in Konkurs geraten.
Ein Nachteil des AnweLsungssystems be-
steht darin, -dass die Checks, die auf den
Inhaber oder an Order gestellt sind, ver-
loren gehen und von einem Unberechtigten
zur Zahlung präsentiert werden können, dass
das Guthaben zurückgezogen w^erden, die
Bank in Konkurs vertäuen kann. Vorteil-
haft ist die Zahlungsanweisung (Check)
wiederum dadurch, dass man nicht auf den
Kundenkreis seiner Bank beschränkt ist,
sondern auch an beliebige andere Personen
Zalilung durch Checks leisten kann.
Für England mit seinen vielen Banken
empfiehlt sich der Checkverkehr mehi' als
der Ueberweisungs verkehr, der nur bei dem
Einbanksj'stem überwiegende Vorteile hat.
Den erforderlichen Mittelpunkt, wo die
in Zahlung genommenen und den Banken
zur Einziehung übergebenen Checks aus-
getauscht werden, bildet das Clearing-house
in London (s. den Art. oben Bd. III S. 55 ff.).
Allen voran sind es von jeher die Joiut-
Stock-Banks gewesen, die den Depositen-
und Checkverkehr pflegten; diesell>en ver-
güten ebensowenig wie die Bank von Eng-
land Zinsen für die Einlagen, beanspnichen
vielmehr für die vielfachen Dienste, die sie
ihren Kunden leisten, ein entsprechendes
Guthaben (a good balance). Von der Höhe
desselben hängen wiederum die Vorteile ab,
welche die Bank den customers im Diskont-
und Ijombardverkehr gewährt. In den Land-
städten ist es noch gebräuclüich , dass der
Bankier Zinsen auf den Saldo vergütet, da-
für berechnet er aber ^'4 — Va^.'o Provision
von der Debetseite des Contos. Die Summe
der Depositen bei den Joint-Stock-Banks in
England, Wales und der Insel Man betrug nach
dem »Economist« am 21. Oktober 1899 627,2
Millionen £, bei den Banken in Schottland
99,2 Millionen £', bei den Banken in Irland
46,9 Millionen £, in Summa also 773,3 Mil-
lionen £', demnach ungefähr 13 mal so viel
Giroverkehr — Griasversicherung
745
-wie in Deutschland. Unter den erstgenann-
ten Banken steht obenan die Bank von Eng-
land mit 53,7 Millionen £'; es folgen die
National-Provinzialbank 51,3 Millionen £, die
London- und Countybank 45,4 Millionen £,
Lloyds Bank 40,9 Mmionen £, Summa 191,3
Millionen £. Auf diese vier Banken kommt
also nahezu der dritte Teü sämtlicher bei
den 87 Joint-Stock-Banks von England und
Wales mit der Insel Man stehenden Depositen.
11. Auch in den Vereinigen Staaten
von Amerika wächst für £e Gestaltung
des Zahlungswesens immer mehr die Be-
deutung der Buchdepositen und Checks.
Guten Aufschluss geben darüber die Ver-
öffentlichungen des Comptroller of the
Currency seit 1892. Der kreditwirtschaft-
liche Verkehr umfasst dort bereits alle
Schichten des Volkes fast noch in grösserem
Umfange als in England. — Vgl. auch die
statistisclien Angaben in den Art. tlber das
Bankwesen der wichtigsten Länder
(oben Bd. II S. 132 ff.), insbesondere über
die BarvoiTäte der Banken. Schätzungen
des gesamten Goldvorrates findet man in
dem Art. Gold und Goldwährung unten
S. 748 ff., Angaben über den Süberumlauf in
dem Art. Silber.
Litteratur: J^. d. Lüteralur zu den Artt. Ab-
rechnung 88 teilen, oben Bd,Ij S. UjlS, Ch eck,
Bd. HI iS. S8ff., Clearing- Ho use dcuselb8t S,
61l62. — G, Cohn in Endemann, Handbuch III,
S. 1041—1056. — Ä. Koch, Veber Giroverkehr u. d.
Gebrauch von Check/i als Zahlungsmittel (Berlin
1878). — Derselbe, «. r. Giroverkehr in von
HoUzendorff, ReclUalexikon, S. Ausg. — I>er-
»elbe, Vorträge und AufsäUe (Berlin 1892), S.
140— 398. — Härtung, Der Check- und Giro-
verkehr der deutschen Beichsbunk. — Derselbe,
in Jahrb. f. Nat. u. Stat., S. Folge, Bd. I, Ä'.
ITOß'. — Glauert, Die Bedeutung des Check-
verkehrs für Deutschland, daselbst II, S. 269 ff.
— Rauchbevg, Der Clearing- und Giroverkehr
(Wien 1886). — Derselbe, Die Entwickelung
des Clearing- und Giroverkehrs in den Jahren
1887 und 1888 (Wien 1890). — Derselbe, Der
ClcaHng- und Giroverkehr in Oestcrreich- Ungarn
und im Auslande (Wien 1897). — F. Bubenik,
Die Technik des Giroverkehrs bei der Oester-
reichisch-ungarischen Bank, Wien 1888. — »1.
Kanitz, Die BedetUung des Giroverkehrs. Vortrag
(Wien 1894). — Derselbe, Die Technik
des Giroverkehrs. Vortrag (Wien 1896). —
Blum, Stat. leiten, über die Erweiterung und
Ausbreitnug des Giroverkehrs der deutschen Beichs-
bank in Annale n des Deutschen Reichs 1896, S.
16.5 ff. — M. Schinckel, Beichsbank und Giro-
verkehr, Hamburg 1898. — A. Wagner in
Sch&nberg, 3. Aufl., I (1890), S. 425—428. —
Röscher, I, 22. Aufl. (1897), ^ 128, S. 855. —
Derselbe, III, 7. Aufl. (1899)', ^ 62, S. 873 ff.
R. Koch.
Glasversicherang
(auch Spiegelglas Versicherung).
Die bedeutenden Fortschritte, welche die
Glasindustrie und besonders die Bereitung
von Tafelglas, demzufolge aber auch die
Verblendung von Glas, namentlich in der
Baukunst, in diesem Jahrhundert gemacht
liat, ferner aber der umstand, dass dieses
immerhin doch ziemlich teure Fabrikat leicht
zerbrechlich ist, leiteten in einer Zeit, wo
das Versicherungsprincip immer vielseitigere
praktische Anwendung fand, die Gedanken
auch auf die VenÄ^ertung dieses Princips
zur Ausgleichung von Vermögensverlusten,
welche fort und fort aus der Zerstoning von
Glas, namentlich Tafel- und Spiegelglas,
durch Elementarereignisse und Fahrlässig-
keit erwuchsen. Fast gleichzeitig zu Anfang
der zweiten Hälfte unseres Jalu'hunderts ent-
standen zuerst in England und Frankreich
Glasversicherungsgesellsc^haften ; bald aber
wai-d auch in Deutschland, der Schweiz und
in den übrigen Kulturländern der Erde die
Glasversicherung heimisch.
Der Zweck der Glasversicherung leuchtet
ohne weiteres ein ; es handelt sich dabei um
Ersatz von Vermögensverlusten, die untei*
gewissen Umständen durch gewisse Formen
der Zerstörung des dermaligen Gebrauchs-
wertes von Glaserzeugnissen entstehen, und
zwar um Einsatz aus Fonds, zu denen viele,
welche solchen Verhisten ausgesetzt sind,
beigesteuert haben — gleichviel, ob lediglich
als Kunden einer Versicherungsanstalt oder
ob als Kunden — Versicherungsnehmer —
und Vei*sicherer zugleich.
Das Risiko bei der Glasversichenmg
pflegt nicht jede Zerstönmg des dermaligen
Gebrauchswertes vei-sicherter Glasfabrikate
schlechthin, sondern die Zerstörung durch
Zerbrechen — also nicht die Vernichtung
der Spiegelkraft von Spiegelglas, der Durch-
sichtigkeit anderen Tafelglases — zu sein,
und auch nur das Zerbrechen durch elemen-
tare Gewalt, durch Fahrlässigkeit oder
Bös^^'illigkeit Dritter, durch nicht schuldbare
Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers.
Auch pflegt der Versicherer nicht aufzu-
kommen fiu' Schäden, welche während eines
Krieges durch kriegerische Massregeln, in-
folge von Aufrulir, Landfriedensbruch, Erd-
beben, Vulkanausbruch oder Zusammensturz
der Versicherungslokalitäten, sowie für solche,
welche durch Translokation der Gläser oder
durch Handwerksarbeiten an den versicherten
Gegenständen verursacht werden. Man
sieht: das Versicheningsrisiko ist hier zur
Zeit noch ziemlich eng begrenzt und doch
ist der Versicherer noch in sehr hohem
Grade abhängig von der Ehrlichkeit des
Vei-sichorungsnehmers , durch dessen Bös-
willigkeit leicht namhafte Schäden herbei-
746
Glasversicherung
geführt werden können, ohne dass dem
Versicherer, wenn diesem die Beweislast
obliegt, der Beweis gelingt. Sein Schutz
liegt darin, dass der unrechtmässige Ge-
winn, den der Versicherungsnehmer beab-
sichtigen könnte, hier meist nicht im Ver-
hältnis steht zu der Gefahr der Entdeckung
des Betruges.
Manche Versicheningsanstalten überneh-
men nur Deckung von Schäden, die ah
Tafel-, andere auch solche, die an Hohlglas
entstehen.
Die Art des Risikos bestimmt die Ent-
schädigung. Da Zerbrechen Bedingung
der Entschädigung ist und Glasfabrikate
diu'ch jedes Zerbrechen in ihi*em dermalgen
Gebrauchswerte vernichtet werden, so ist
hier jeder Schaden ein Totalschaden und
also für die Entschädigung die Versicherungs-
summe massgebend, sofern dieselbe den
"Wert nicht übersteigt, welchen der ver-
sicherte Gegenstand vor Eintiitt des Schadens
hatte. Dem Vereicherer gehören aber die
beschädigten Gegenstände; zugleich stellt
ihm das Rückgriffsrecht gegen schuldige
Dritte zu.
Zur BemCvSsung zutreffender Prämien-
tarife fehlt in der Glasversichenmg noch
jeder exakte Massstab. Statistische Hilfs-
mittel bieten hier nur die eigenen Erfahrungen
der Versicherer. Und auch die bestver-
werteten solchen Erfahrungen gewähren
doch nur einen notdürftigen Anhalt zu em-
pirischen Schlüssen. Dass im allgemeinen
gutgeleitete Glasversicherungsgesellscliaften
mit leidlichem Gewinn arbeiten, lässt einiger-
massen darauf schliessen, dass die empirisch
gebildeten Prämientarife das Risiko über-
schätzen. Freilich erfordert die Notwendig-
keit grosser Risiken Verteilung, also der Auf-
nahme des Geschäfts in geographisch aus-
gedehnten Gebieten, verhältnismässig grosvso
Verwaltungsaufwände. Auch um deswillen
pflegt, wenn nicht die Risikoprämie, so doch
die Gesamtprämie, reic^hlich bemessen zu
werden. Es bedarf dann besonders sach-
kundiger Kritik, um zu beurteilen, ob im
einzelnen Falle der Gewinn aus der Risiko-
prämie oder aus hohen Verwaltungskosten-
zuschlägen stammt. Als Schade nreserve
pflegen die Glasversichenmgsgesellschaften
die Versichenmgssumme für die bis zum
Rech nun gssehlusse erwachsenen, aber noch
nicht bezalilten Schäden zurückzustellen, als
Prämienreserve die Summe derjenigen
Teile der im Laufe des Rechnungsjahres im
voraus gezahlten Jahresprämien, welche für
den über den Rechnungsschluss hinaus-
reichenden Teil des Versicherungsjahros
validieren. Die Kapitalreserve wird
ebenso wie bei allen andei-en Zweigen der
Schadensversicherung gebildet.
Mit grossen technischen Schwierigkeiten
hat bei der Glasversicherung weder die
Risikenabscliätzung und -verteihmg noch die
Schadenermittelung zu kämpfen. Die ent-
stehenden Rechtsstreitigkeiten über die Ent-
schädigungspflicht können erhebliche sach-
liche, nicht aber erhebliche juristische
Schwierigkeiten bieten.
In der Brämerschen üebereicht der Er-
gebnisse der deutschen Vei*sicherungsan-
stalten im Jahre 1888 (Zeitschr. des Kön.
Preuss. Statist. Bureaus 1890, HI) sind für
jenes Jalir 14 deutsche Glasversicherungs-
anstalten namhaft gemacht, und zwar 3
Gegenseitigkeits-und 11 Aktiengesellschaften,
von denen aber ihrer sechs nicht niu* die
Glasversicherung, sondern auch andere Ele-
mentarversicherungszweige , namentlich die
Feuerversicherung, betreiben. (Die Glas Ver-
sicherung, um dies gleich hier mit zu be-
merken, eignet sich vollkommen für den
Betrieb auf Gegenseitigkeit und würde, im
gif)ssten Umfange so betrieben, am ersten
zu angemessener Prämienbestimmung ge-
langen. Bei der im ganxen doch nicht
sonderlich ins Gewicht fallenden wirtschaft-
lichen Bedeutung dieses Versicherungs-
zweiges verdient jedoch die Frage nac»h der
grösseren Berechtigung der einen oder
anderen Betriebsform kaum eingehende Er-
örterung.) ' Für die Mehrzahl jener 14 An-
stalten ist die Versicherungssumme nicht
angegeben. Ihre Einnahmen betrugen ins-
gesamt 887 754 Mark, darunter 827 256 Mark
Prämien. Die Ausgaben betrugen 831 387
Mark, darunter 518 335 Mark für Scliäden.
Drei der aufgeführten Anstalten arbeiteten
im Jahre 1888 mit kleinen Verlusten.
F(\r das Jahr 1898 führt B. Iranyi (die
deutschen PrivatversicherungsgeseDscliaften
i. J. 1898. Wien. Selbstverlag d. Verf.
1899) 16 Glasvei-sicherungsgesellschaften auf.
davon 4 Gegenseitigkeits-, 12 Aktiengesell-
schaften. Sie hatten in jenem Jalire zu-
sammen eine Prämieneinnahme von 2,67
Millionen Mark und zahlten 1,47 Millionen
Mark an Schäden. Die Ueberschüsse be-
zifferten sich auf 228 546 Mark. Die An-
gabe der Vei'sicherungssumme feWt. Wahr-
scheinlich vei'pflichten sich einige Gesell-
scliaften znm Schadensersatz in natura, so
dass Versichenmgssummen teilweise gar
nicht in Frage kommen.
Das eidgenössische Vei^icherungsamt
giebt in seinem Jahresbericht für 1897 (Bern.
Kommiss- v. Schmid & Franke 1899.) Nach-
richt über die Geschäftsgebahrung von einer
schweizerischen und von sieben deutschen
Gesellschaften. Alle diese Gesellschaften
erzielten im Berichtsjahre Ueberschüsse und
zwar in Höhe von 12,5 ®/o der Prämie : 33 *^/o
betrugen die Verwaltungskosten: freilich
erhob sich auch die durchschnittliche Ver-
sicherungssumme auf die Police nicht über
G-lasversicheruTjg — Godwin
747
sehr kleine Beträge. Im ganzen betnig der
Yersicherungsbestand jener 8 Gesellschaften
in der Schweiz nur etwa 6 Millionen Franken.
Fiir Grossbritannien maclit Bournes Handv
Assm^ance Manual ohne jede nähere Angabe
18 Glasvereicherungsgesellschaften (»Plate
glass Offices«) naraliaft, die älteste 1861, die
jüngste 18S8 gegründet. Eingehendere
statistische Nachrichten über die englische
Glasversichening haben auch neuerdings nicht
ermittelt werden können.
Die Glasversicherung ist noch kaum
Gegenstand litterarischer Bearbeitung ge-
worden und eignet sich dazu auch höchstens
hingesehen auf ilire thatsächliclien Ergeb-
nisse. Nach dieser Seite ist sie ausser von
Brämer in der Ztsclu*. d. Preuss. Stat. B.
und vom eidgen. Versichenmgsamte in
dessen Jahresberichten auch noch von Ehren-
zweig in dessen Assekuranzjahrbuch, über-
all jedoch unvoUstündig, behandelt.
.1. Emniinffhaua.
Glücksspiel
s. Spiel und Wette.
Godin, Jean Baptiste Aiidr^,
geboren zu Esquehiries, französisches Departe-
ment Aisne, 1817, begann seine Laufbahn als
einfacher Arbeiter und kämpfte sich zum grossen
Fabrikanten, zum Besitzer von Hüttenwerken
in Frankreich und Belgien empor. Er gründete,
als Anhänger Fouriers, in Nachahmung von
dessen ^Phalansterium", 1862 zu Guise, Departe-
ment Aisne, Arrondissement Vervins, den Fa-
milist^re, eine auf das Princip von Bonus und
Dividende und gegenseitiger kommunaler Ver-
sicherung sich stützende Genossenschaftskolonie
von einigen tausend Arbeitern mit einem Jahres-
umsatz von 12 bis 15 Millionen Frcs. Godin
starb als Generalrat am 15. I. 1888 zu
Guise, mit Hinterlassung einer Witwe, Marie,
^eb. Moret, welche die Verwaltung des Fami-
listere im Sinne des Verstorbenen fortführt.
Er veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Schriften in Buchform:
Reforme generale des impots, comprenant
l'abolition de Timpöt du sei, des octrois et des
cotisatious personnelles dans los campagnes,
Ltittich 1849. — Du credit public et des valeurs
mobilieres, du travail materiel, du luxe et du
respect de la propriete dans leurs rapports avec
la paix et la civilisation etc., Paris 1858. —
Associations ouvriöres. Enqu§te de la Com-
mission extra-parlementaire au Minist^re de
rint^rieur, Paris (187.). — Le familistere de
Guise. Solution de la question ouvriöre, Paris
(187.). — L heredite de l'Etat ou la reforme de
Timpöt, Paris (187.). — La reforme electorale
et la r6 Vision constitutionnelle, Paris (187.). —
Solutions sociales, Paris 1871. ' — Les socialistes
et les droits du travail, Paris 1874. — La
politique du travail et la politique des Privi-
leges, Paris 1875. — La richesse du peuple, le
familistere, Paris 1876. — Mutualite sociale et
association du capital et du travail, ou extinction
du paup^risme par la consecration du droit
naturel des faibles an necessaire et du droit des
travailleurs ä participer aux benefices de la
production, Paris 1880; dasselbe 2. Aufl., Guise
1891. — Le gouvernement, ce qu'il a 6t6, ce
qi^'il doit ^tre, et le vrai socialisme en action,
Paris 188B. — Mutualite nationale contre la
misfere, Paris ISK-i. — La republique du travail
et la reforme parleraentaire, raris 1889. (Dieses
aus Godins Nachlasse von seiner Witwe heraus-
gegebene Werk bildet gleichsam sein social-
politisches Testament; es besteht aus 5 Kapiteln,
deren zweites von der gerechten Einrichtung
der Hilfsquellen des Staates und der Organi-
sation des Rechts zu leben handelt. Die Durch-
führung der Lösung dieser beiden Probleme
erreicht Godin durch eine auf das staatliche
Erbrecht begründete Expropriation des grossen
und mittleren Grundeigentums, indem er für
die grossen Veimögen von 100 (XX) Frcs. auf-
wärts bis zu 5 Millionen eine progressions-
mässige Erbschaftssteuer von 30 bis ansteigend
50 °o, für die kleinen Hinterlassenschaften aber
nur eine ganz geringe Stenerquote in Aussicht
nimmt Der Staat, der als alleiniger Nutzniesser
des Eisenbahn-, Post- und Telegraphenregals
sowie als Regulator der Bodenrente gedacht
wird, fruktifiziert den von ihm monopolisierten
und durch die Erbschaftssteuer okkupierten
Milliardensegen zur Wohlfahrt der Besitzlosen
bezw. zur Herstellung des Gleichgewichts
zwischen Produktion und Konsumtion etc. Mit
anderen Worten fordert Godin vom Staate die
Expropriation des Reichtums, wie H. George
die entschädigungslose Expropriation des Grund-
eigentums.) _
Vergl. über Godin: Reybaud, Etudes
sur le regime des manufactures, Bd. IV, Paris
1874. (Darin die Abhandlung: Le familistere
de Guise.) — Stöpel, Die soziale Frage, Berlin
1888, S. 138. — Bernardot, Le familistfere
de Guise, association du capital et du travail,
et son fondateur J. B. A. Godin. Etüde faite
au nom de la Societe du familistere de Guise,
Dequenne & Cie., Paris 1889. — Förster,
Die Vereinigung von Kapital und Arbeit im
Farailisljcrium zu Guise, in Arbeiterfreund,
Jahrgang XXVIII, Berlin 1890. — Nouveau
dictionnaire d'economie politique, Bd. I, Paris
1891, S. 1104. Uppert
Oodwin, William,
geboren am 3. III. 1756 zu Wisbeacb, in der
englischen Grafschaft Cambridge, wurde 1778
Prediger einer Dissentergemeinde zu Suffolk,
gab das Prediger am t auf und ging 1782 nach
London, wo er unter dem Ministerium Grey
eine Subalternbeamtenstelle erhielt. 1796 ver-
heiratete er sich mit Mary Wolstoncraft, be-
kannt als Vorkämpferin der Frauenemancipation
in der Schrift: Vindication of the rights of
women with strictures on political and inoral
subjects, I. (einziger) Teil, London 1792. 1798
gründete er zu London eine Verlagsbuchhand-
748
Godwin^ — Gold und Goldwähiiing
lung und wurde hier der Selbstverlecer einer
unter dem Pseudonym Edward Baldwin er-
schienenen Anzahl Jugendschriften. Auf seine
alten Tage erhielt er noch eine Sinekure im
Schatzamt und starb am 7. lY. 1836 in London.
Godwin, Anhänger der sozialen Spekulationen
Condorcets und Wallaces, zeichnete sich auf
dreierlei litterarischen Gebieten: dem sozialis-
tischen, dem historischen und dem schönwissen-
schaftlichen (darunter sein berühmter Bomän
Caleb Williams) aus.
£r veröfTentlichte von staatswissenschaft-
lichen Schriften in Buchform :
Enquiry concemin^ political iustice, and
its influence on general virtue and happiness,
2 Bde., London 1?92— 93 (Hauptkapitel : Rights
of man; Forms of government; Doctrine of
necessity; Of property; Of population), 2. Aufl.,
die folgende Titelveränderung statt on general
virtue : „on morals" aufweist, 1794 ; 3. Aufl. 1797 ;
4. Aufl. 1798; dasselbe, deutsche Uebersetzung
mit Anmerkungen und Zusätzen von G. M.
Weber, Bd. I (einziger), Würzburjj 1803. (An
eine aus der Gegenwirkung der \ermehrungs-
fesetze und sozialen Lage der Bevölkerung
onstruierte pessimistische Darstellung der
menschlichen Gesellschaft knüpft Godwin in
dieser Schrift die Grundprincipien seines kom-
munistischen Systems, das zunächst das Recht
auf Existenz, sodann das Recht auf den vollen
Arbeitsertrag und drittens Teilunp^ des Eigen-
tums nach Massgabe der Bedürfnisse der ein-
zelnen Individuen von einer von jeder staat-
lichen und wirtschaftlichen Eigentumsverfassung
abstrahierenden Gesellschaftsorgauisation ver-
langt, das ferner für Förderung der freien Liebe
mit ihren günstigen Konsequenzen für die
Volksvermehrung eintritt. Inkonsequenzen zeigt
das Godwinsche kommunistisch-anarchistische
System der Art, dass z. B. das ganze Gebäude
seiner kommunistischen Gesellschaft dadurch
auf den Kopf gestellt wird, dass er im Gefüge
derselben die Individual Wirtschaft und das
Privateigentum unter den Genossen fortbestehen
lassen will, dass er den Umsturz gutheisst, aber
vor Gewältthätigkeiten zurückschreckt, dass er
den Ehezwang verdammt und trotzdem in sei-
nem sittenlosen Komraunistenstaate die ethischen
und kulturellen Ueberlieferungen konservieren
will. Godwin bestritt die Möglichkeit des Ein-
tretens einer Uebervölkerung wegen unzu-
reichender Unterhaltsmittel in seinem geplanten
Kommunistenstaate, und hierauf antwortete
Malthus (s. d.) durch das Werk: ,,An essay on
the principle of population **.) — The enquirer:
reflexions on education, manners and literature,
London 1797 und Fortsetzung 1823. — On
population. An enquiry concerning the power
of increase in the numbers of mankind, being
a answer of Malthus's essay on that subject,
London 1820; dasselbe in französischer Ueber-
setzung unter dem Titel: Recherches sur la
population et sur la faculte d'accroissement de
l'esp^ce humaine; contenant une refutation des
doctrines de Malthus sur cette matiere; traduit
de l'anglais par F. C. Constancio, 2 Bde., Paris
1821 (Replik auf das Malthussche Bevölkerungs-
gesetz). — Thoughts on man, his nature, pro-
ductions, and drscoveries, interspersed with some
particulars respecting the author, London 1831.
VergL über Godwin: Everett: New
ideas on population with remarks on thß theories
of Malthus and Godwin, London 1823. — The
annual Register, Jahrg. 1836, Appendix zur
Chronik, 1837, S. 197. — Blanqui, Histoire
de Teconomie polit. en Enrope, Bd. 11, Paris
184Ö. — W. Godwin, his friends and contem-
poraries, 2 Bde., London 1876. — Held, Zwei
bücher zur sozialen Geschichte Englands, Leipzifi^
1881, S. 890^. — Ingram, History of politicsu
economy, Edinburg 1888, S. 112 f. — Menger,
Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, 2. Aufl.,
Stuttgart 1891, S. 41 ff.
Lippert
Gold nnd Goldwährnng.
1. Die Goldproduktion im Altertum und im
Mittelalter. 2. Von 1500 bis 1848. 3. Die Gold-
produktion seit 1848. 4. Goldprägung und Gold-
währung. 5. Industrieller Verbrauch des Goldes.
6. Gold Vorrat. 7. Barrenhandel. Ein- ,und Aus-
fuhr.
1. Die Goldprodnktion im Altertum
nnd im Mittelalter. Das (rold ist ohne
Zweifel das erste Metall gewesen, das die
Aufmerksamkeit des Menschen auf sich ge-
zogen und das er, wenn auch nur in rohestor
Weise, zu vei'arbeiten gelernt hat. Es
kommt, abgesehen von der seltenen Telliir-
verbindung, nur im gediegenen Zustande,
allerdings meistens mit mehr oder weniger
Silber legiert, in der Natur vor, nnd zwar
zu einem grossen Teil und ursprünglich
noch weit mehr als gegenw^ai-tig in leicht
zugänglichen Fundstätten, im Sand und
Kies der Flüsse und in dem oberflächlichen
Schwemmlande. Als edles Metall behält es
trotz des Einwirken s von Luft und Wasser
seinen Glanz und seine Farbe, und so konnte
es, wo es durch den von der Natur voll-
zogeneu Schlemmungsprozess sich in grosserer
Menge in Alluvialbildungen angesammelt
hatte, dem Auge des primitiven Menschen
nicht entgehen. Einer metallurgischen Be-
handlung, wie sie für Silbererze erforderlich
ist, bedurfte es nicht, seine leichte Formbar-
keil durch Hämmern war von vomhei'ein
augenfällig und auch seine Schmelzbarkeit
musste bald entdeckt werden. Das Gold
kam freilich in zu geringer Menge vor, als
dass es für praktische Zwecke des wirt-
schaftlichen Lebens hätte dienen können;
al)er es fand von Anfang an Verwendung
zur Befriedigung des bei dem i*ohen Natur-
menschen sehr lebhaften Schmuckbedürf-
nisses. So fanden die Si)anier bei den Ein-
geborenen Westindiens, die im übrigen noch
als Wilde zu bezeichnen waren, schon Gold-
Vdättchen als Schmuckgegenstände vor. Auf
einer höheren Kultiu^tufe wird das Gold als
Luxusstoff in >veiterem Umfange verwendet,
nämlich nicht nur zum persönlichen Schmucke,
Gold und Goldwährung
■49
sondern auch zu Gefässen, Geräten und
Kunstwerken der verschiedensten Art. Diese
Phase zeigt sich uns in einer späteren Zeit
noch in Peru, wo sogar die Wände einiger
Tempel mit Goldplatten belegt wai-en, aas
Gold jedoch nicht als Tauschmittel diente.
Die hervorragende Tauglichkeit des Goldes
zur Befriedigimg von Luxusbedürfnissen
einerseits und seine natfirliche Seltenheit
andererseits erzeugten schon in der Zeit der
ersten Kultiu^nfänge für dieses Metall ein
Verhältnis von Nachfrage und Angebot, das
ihm einen ausserordentlich hohen Verkehrs-
wert verschaffte, wie dies aus denselben
Gründen ja auch bei Edelsteinen und Perlen
der Fall war und noch ist. So wurde das
Gold zu einem der am höchsten geschätzten
Träger des Reichtums und als solcher sam-
melte es sich, sowohl künstlich geformt wie
in einfachen Barren, Ringen, Körnern etc.
schon viele Jahrhunderte vor Christi Geburt
in den Schatzkammern der Fflrsten und
TempelVorderasiens, Egyptens und Griechen-
lands in beträchtlicher Menge an. Die
Legenden von der goldenen Riesenstatue der
Semiramis und ähnliche phantastische Er-
zählungen aus den ältesten Zeiten haben
natürlich keinen statistischen Wert. Die
älteste zuverlässige Nachricht über einen
Goldtribut dürfte die aus dem 16. Jahr-
hundert V. Chr. stammende Inschrift des
Tempels von Karnak über die Siegp Tuth-
mosis III. in Asien enthalten, und in dieser
kommen niu: sehr massige Zahlen vor. Wenn
Posten von 4 — 5 kg Güld im Gesamtwerte
von kaum 66 000 Mark so feierlich verzeich-
net werden, so darf man daraus für jene
Zeit auf eine sehr grosse Seltenheit des-
selben in Vorderasien wie in Aegypten
schliessen. Das Gold diente aber schon in
dieser Periode als Wertübertragungsmittel,
wenn auch noch nicht als allgemein ge-
brauchtes Tauschmittel. Es wurde zu diesem
Zwecke hauptsächlich in die Form von
»Ziegeln« oder Ringen gebracht, die an-
nähernd bestimmte runde Gewichte dar-
stellten. Das zu Grunde liegende Gewichts-
system war das babylonische, jedoch wurde
für Gold ein anderes Talent angenommen
als für Silber, und das gew^öhiüiche Ge-
wichtstalent war wieder von diesen beiden
verschieden. Das leichte Goldtalent (die
Hälfte des schweren), eingeteilt in 60
Minen zu 50 Sekel, wog nach Brandis
25,246 kg, nach Bnigsch 24,559 kg, würde
also bei völliger Reinheit des Metalls einen
Wert von etwa 70 000 Mark darstellen. Wenn
Sanherib.dem jüdischen König Hiskiah eine
Kontribution von 80 Talenten Gold, also
etwa 21 Millionen Mark auferlegt hat —
eine Angabe, die durch eine Keilinschrift
bestätigt sein soll — so muss die Ansamm-
lung dieses Metalls in Vorderasien im 8. Jahr-
hundert V. Chr. schon ziemlich bedeutend
gewesen sein. Die Goldschätze der lydischen
Könige sind ohne Zweifel schon sehr be-
trächtlich gewesen, da im 7. und 6. Jalu*-
hundert Avahrscheinlich reiche, aber rasch
erschöpfte Alluvialgoldlager am Tmolus aus-
gebeutet worden sind. Ob aber die An-
giben Herodots über die von Krösus nach
elphi wie an andere Tempel gesandten Ge-
schenke wirklich genau sind, muss dahin-
gestellt bleiben, üebrigens war das lydische
Gold grösstenteils Weissgold oder Elektron
mit einer natürlichen Silberbeimischung von
20 und mehr Prozent Im 7. Jahrhundert
V. Chr. wimie die Funktion des Goldes als
Tauschmittel wesentlich erleichtert und er-
weitert durch Ausprägung von Münzen aus
diesem Metall, mag dies nun zuerst bei den
kleinasiatischen Griechen (in Phokäa) oder
in Lydien geschehen sein. Während in der
älteren Zeit in Babylonien und Assyrien
eine Art von Doppelwähning (s. d. Art. oben
Bd. III S. 237) m ungeprägten Barren und
Ringen bestanden hatte, war im persischen
Reiche, das die Münzprägung von Lydien
übernahm, das Gold als Münzmetall vor-
herrschend. Man kann in gewissem Sinne
von einer persischen Goldwährung sprechen,
da der Grosskönig sich die Prägung dieses
Metalls ausschliesslich vorbehalten hatte,
wälirend Silbermünzen auch von den Satrapen
geprägt wurden. Auffallend erscheint, dass
nach Herodot von den 20 Satrapieen des
Reiches 19 ihren Tribut in Silbertalenten
entrichteten und nur die indische Provinz
Gold geliefert haben soll. Daraus könnte
man schliessen, dass damals die Goldpro-
duktion Lydiens imd Aegyptens schon keine
Bedeutimg mehr hatte. Das phantastische
Beiwerk zu dem Bericht Herodots über das
indische Gold erweckt kein günstiges Vor-
urteil für die Angabe, dass jährlich 360
Talente (dem Gewichte nach, also etwa 24
Millionen Mark) aus dieser Provinz ein^-
gangen seien. Wenn die Notiz richtig ist,
so hat es sich wahrscheinlich um Goldstaub
(denn von solchem ist ausdrücklich die Rede)
gehandelt, der grösstenteils nicht in der
östlichen Grenzmark selbst gewonnen wurde,
sondern aus Tybet, Ostturkestan, vielleicht
sogar vom Altai stammte. — Wenn Pythios
von Kelänä wirklich, w^ie Herodot berichtet,
3993000 Golddareiken (etw^a 90 Millionen
Mark) in seinem Schatze hatte, so müssen
diese Münzen in ausserordentlich grosser
Menge geprägt worden sein. '— Von dem
mittelst der Arbeit von Sklaven oder Ver-
brochern betriebenen Goldbergbau in Ober-
ägypten giebt Diodor eine furchtbare Schilde-
rung, die sich aber wahrscheinlich auf eine
weit zurückliegende Zeit bezieht Es handelt
sich hier nicht um Goldwäscherei, sondern
um den Abbau von goldhaltigen Quarzgängen.
■50
Gold und Groldwährung
Die Uebcrreste eines solchen alten Berg-
baues sind in der neueren Zeit in Nubien
mit Sicherheit nachgewiesen worden. Strabo
und Diodor führen nacli Agatharchides —
der seinerseits wahrscheinlich ältere Berichte
abgeschrieben hat — auch Arabien als Gold-
produktionsland an. Namentlich sollen die
Aliläer und Kasandrer an der Westküste
ungewöhnlich grosse Goldkörner in geringer
Tiefe im Schwemmlande gefunden haben.
Agathai'chides spricht auch von einem Gold
in reichlicher Menge führenden Flusse in
dieser Gegend. Soetbeer glaubt in diesen
Fundstätten, von denen sich übrigens heute
keine Spuren mehr auffinden lassen, das
biblische Ophir erkennen zu dürfen. Andere
verlegen dieses Goldland nach Indien, K. E.
V. Baer sogar nach der Halbinsel Malacca,
die man für die fabelhafte Insel Chryse
hält ; andere endlich nach Südafrika, wo der
Name Sofala an Sopara, wie die Septuaginta
Ophir nennt, erinnert Positivere Nachrichten
finden wir bei Herodot über die Goldgruben
auf Thasos und die den Thasiern gehörenden
auf dem benachbarten Festlande. Letztere
sollen zu Herodots Zeit jährlich 80 Talente
(wahrscheinlich dem Silber werte nach)
eingebracht haben, die auf Thasos selbst
aber, die schon in alter Zeit von den
Phöniziern in Angriff genommen waren,
halten einen geringeren Ertrag. In Thracien
führte der Hebrus Gold. Wichtiger aber
w^aren die Bergwerke am E^angaeon. Sie
waren ebenfalls schon von den Phöniziern
abgebaut worden, ergaben aber erst unter
Philipp IL einen reichlichen Ertrag, nach
Diodor jährlich 1000 Talente (4700000 Mark).
Auch imter Philipp IIL (221—179 v. Chr.)
waren die macedonischen Goldminen noch
ergiebig und unter der römischen Herrschaft
wurden noch neue eröffnet. — Ein reiches
Alluvialgoldlager wurde zur Zeit des Polybius
in der Gegend von Ac^uileja entdeckt, walir-
scheinlich aber schon in wenigen Jahren
erschöpft. — Von besonderer Wichtigkeit
war im Altertum die Goldpreduktion in
Spanien. Nach den Beschreibungen bei
Strabo und Plinius wimle das Gold teils
durch Waschen des Sandes vieler Flüsse,
teils durch einen an das heutige hydraulische
Verfahren in Amerika erinnernden Prozess
gewonnen, teils aber auch dm-ch einen
höchst schwierigen Bergbau auf Quarzgängen.
Nach Plinius wurden in Asturien, Galicien
und Lusitanien jährlich 20000 Pfund Gold
(18 Millionen Mark) gewonnen. Jedoch ent-
nimmt er diese Angabe älteren Schriftstellern
und sie galt sicherlich nicht mehr für seine
Zeit. — in Gallien führton mehrere Flüsse
Gold, aber es ist nicht wahrscheinlich, dass
Caesar so grosse Goldschätze aus diesem
I^ande mitgebracht habe, wie erzählt wird.
Beim Beginn der römischen Kaiserzeit war-
jedenfalls die Goldproduktion in allen be-
kannten Fundstätten schon stark zurück-
gegangen. Nehmen wir an, was nach den
obigen Notizen wohl glaubhaft erscheint,
dass die jährliche Produktion im ganzen
Gebiete der alten Welt vom Jahre 600 bis
zu Christi Gebm-t diu'chschnittlicii 20 Mil-
lionen Mark beti-agen habe, so findet man,
wenn man den unten für die neuere Zeit
annähernd geschätzten Abgangskoeffizienten
füi* das Altertum um ^.4, also auf 25 ^;o für
ein Jahrhundert erhöht, dass der gesamte
Vorrat an gemünztem und verarbeitetem
Golde im römischen Reiche im Anfang der
Kaiserzeit annähernd 5750 Mülioneü Mark
betragen habe, d. h. ungefähr 100 Mark auf
den Kopf der Bevölkerung, soviel wie gegen-
wärtig diese Quote (in Münzen und Gold-
waren) etwa in Deutschland beträgt und
mehr als doppelt soviel, als sie im Jahre
1800 für die Bevölkerung Europas betnig.
Die obige Schätzung erscheint aaher trotz
der Anekdoten über den Reichtum und die
Verschwendung einzelner römischer Grossen
weit eher zu hoch als zu niedrig. — Der
römische Goldbergbau in den norischen
Alpen, d. h. im Salzburgischen und in
Kärnthen, fällt wahrscheinlich hauptsächlich
in das 1. Jahrhundert n. Chr., für welches
man vielleicht noch eine Produktion von
15 Millionen Mark jährlich annehmen darf.
Im 2. Jahrhundert wunlen die dacischen
Bergwerke bearbeitet. Die in den römischen
Gruben bei Vöröspatak gefundenen Holz-
und Waclistäfelchen datieren aus den Jahren
131 bis 167, und nach dieser Zeit ist wahr-
scheinlich dieser Bergbau infolge des Mai'ko-
manneukrieges gänzlich ins Stocken geraten.
Im südlichen Dacien und überhaupt auf der
Balkanhalbinsel dauerte jedoch der Gold-
bergbau oder wenigstens die Goldwäscherei
noch im 4. und 5. Jahrhundert fort.
Wenn für das zweite Jahrhundert viel-
leicht auch dieselbe Durchschnittsproduktion
angenommen werden kann wie für das ei-ste,
so wird man für die folgenden Jahrhunderte,
in denen wahrscheinlich die wenig ergiebige
Goldwäscherei an den gallischen und spani-
schen Flüssen und eine gewisse Einfuhr aus
dem östlichen und inneren Afrika die Haupt-
quellen der Goldgewinnung bildeten, zu
einer bedeutend niedrigeren Scliätzung greifen
und bis zu der Ertragsziffer von 5 Millionen
Mark jährlich, schliesslich vielleicht noch
tiefer, hinabgehen müssen. Der Abgang
wurde nun bei weitem nicht mehr durch
die Zufuhr gedeckt Leberdies bewirkte
die Gründung von Konstantinopel eine
wesentliche Aenderung der Verteilung des
vorhandenen Goldes zum Nachteile der
westlichen Länder. Hier wurde es immer
seltener, das Silbergeld verdrängte in Frank-
reich den Goldsolidus, den die Merovinger
Gold und Goldwähning
751
noch beizubehalten suchten, imd die von
Karl dem Grossen eingeführte Rechnung
nach Pfund Silber zu 20 Schillingen und
240 Pfennigen bürgerte sich auch in Italien
ein, was beweist, dass auch hier das Gold
um diese Zeit weit zurückgetreten war.
Eine bedeutende neue Zufuhr kam zunächst
aus Böhmen, wo nach unbeglaubigten Sagen
schon im 8. Jahrhundert reiche Funde bei
Pisek gemacht worden sein sollen, seit dem
11. Jahrhundert die Goldwlkschereien bei
Eule einen reichlichen Erti-ag lieferten und
der Höhepunkt der Produktion im 14. Jahr-
hundert erreicht worden sein dürfte. Auch
in Ungarn und Siebenbürgen soll der Gold-
bergbau schon im 8. Jahrhundert wieder
aufgenommen worden sein; seine grösste
Bedeutung erlangte er jedoch erst im 15.
Jahrhundert. In demselben Jahrhundert
nahmen auch die Salzburgischen Bei-gwerke
einen grösseren Aufschwung; ihre Blütezeit
fällt in die Jahre 1460 bis 1560. Die Gold-
wäscherei in mehreren deutschen und franzö-
sischen Flüssen scheint bis zum Ende des
15. Jahrhunderts einen wesentlich höheren
Ertrag geliefert zu haben als in der neueren
Zeit. — In Macedonien wiuxle am Ausgange
des Mittelalters ebenfalls Gold in erheb-
licher Menge gewonnen. Ein nicht unbe-
trächtliches Quantiun kam ferner aus Sofala
nach Aegypten und aus den Nigerländem
nach den w^estlichen Küstenländern Afrikas,
und der Handel brachte w'enigstens einen
Teil dieses Goldes nach Europa. Nach dem
einigermassen bekannten Staude der Pro-
duktion am Anfange des 16. Jahrhundert«
und mit Rücksicht auf den Umfang der
Goldausmünzungen im 14. und 15. Jahr-
hundert, über die unten einige Angaben
folgen, wird man die jährliche Goldgewinnung
Europas nebst der Einfuhr aus Afrika in
diesen beiden Jahrhunderten auf durch-
schnittlich mindestens 10 Millionen Mark zu
schätzen geneigt sein. Unter dieser Voraus-
setzung aber w^ürde sich bei Benutzung des
oben angegebenen Abgangskoeffizienten allein
aus dieser Periode eine Goldansaramlung
von 1530 Milhonen Mark für das Jahr 150Ö
bereclmeu. Wenn im 13. Jahrhundert der
jährliche Zugang auch nur 5 Millionen Mark
und der ganze Vorrat Euroj)as an gemünztem
und verarbeitetem Golde am Anfang dieses
Jahrhunderts nur 200 Millionen Mark be-
tragen hätte, so würden zu der obigen Zahl
noch 360 Millionen Mark hinzukommen und
demnach der europäische Goldbestand am
Anfang des 16. Jahrhunderts sicli auf 1900
Millionen Mark stellen, allerdings bedeutend
höher als nach der gewöhnlichen Annahme.
M. Chevalier und andere schätzen diesen
Bestand nur auf 300 3Iillionen Francs, was
unzweifelhaft ein zu niedriger Anschlag ist.
2. Von 1500 bis 1848. Mit der Ent-
deckung Amerikas beginnt für die Gold-
gewinnung eine neue Periode, wenn die-
selbe auch im 16. und 17. Jahrhundert neben
der ungeheueren Entwickelung der Silber-
produktion in der neuen Welt nur eine
untergeordnet-e Rolle spielte. In den ersten
Jahrzehnten nach der Fahrt des Columbus
diente allerdings ausschliesslich das Gold
als Lockmittel für die spanischen Eroberer,
die immer wieder ein Dorado zu finden
hofften, so oft auch ihre Erwartungen ge-
täuscht wurden. Die Fundstätten von Wasch-
gold, zu deren Ausbeutung sie mit rück-
sichtsloser Grausamkeit die Zwangsarbeit
der Eingeborenen benutzten, waren im ganzen
wenig ergiebig und rasch erschöpft. Am
wichtigsten war in dieser Periode die Gold-
produktion auf Hispaniola (in Cibao), die
1499 in grösserem Massstabe begann, 1516
ihren Höhepunkt erreichte und dann rasch
abnahm. Indes ist ihr Durchschnittsergebnis
nicht höher als auf jährlich etwa 250—300 000
Pesos (zu 1/50 Mark (Gew.) Gold von 21 — 22
Karat, etwa 11,50 Mark) zu veranschlagen.
Auf den übrigen westindischen Inseln war
die Ausbeute unbedeutend, und auch in
Mittelamerika, selbst in dem hoffnungsvoll
so genannten Castilla del oro musste mau
sich mit einzelnen Funden und Erpressungen
begnügen. Im ganzen ist es sicherlich eher
zu hoch als zu niedrig gerechnet, wenn wir
den ganzen Goldertrag Amerikas von 1500
bis 1521 auf 100 Millionen Mark schätzen.
— Auch in Mexico war sowohl die von
den Eroberern erbeutete als die später aus
den Minen jährlich gewonnene Goldquantität
von sehr mfissigom Betrage. Nimmt man
an, dass bis zur Eröffnung der Silbergruben
von Zacatecas (1548) der königliche Quinto
ganz überwiegend aus Gold bestanden hat,
so wird man nach der Liste der Sendungen
an die königliche Kasse den Wert des in
Mexico erbeuteten und gewonnenen Goldes
von 1522 bis 1547 höchstens auf 80 Millionen
Mark schätzen dürfen. Von 1548 bis 1700
darf man den durchschnittlichen jährlichen
Goldertrag Mexicos nach dem für das vorige
Jahrhundert geltenden ziemlich stetigen Ver-
hältnis der Gold- und Silberproduktion auf
höchstens 1 Million Mark ansetzen, im Laufe
des 18. Jahrhunderts aber stieg er allmählich
bis auf 4 Millionen Mark. — Gi-osse Ueber-
treibungen finden sich in den Berichten
mancher Schriftsteller, namentlich Garcilassos
de la Vega, über deu Goldreichtura Perus
und die von den Spaniern erbeuteten Schätze.
In Wirklichkeit betrug das Lösegeld Atahual-
pas ausser 51G10 Mark (Gew.) Silber nur
1326539 Goldpesos, im W^erte von etwa
16 Millionen Mark. Die vielgerühmte Beute
von Cuzco enthielt nach Soetbeer an Gold
nur 242 160 Goldpesos im Werte von höchstens
2 8(X) 000 Mark. Die gesamte Goldbeute der
752
Gold und Goldwährung
Spanier in Peru dürfte 20 Millionen Mark
nicht erheblich überstiegen haben. Nach
der Eroberung war die Goldproduktion in
dem das heutige Bolivia und Ecuador mit
umfassenden Gebiet des Viceköni^ichs Peru
im 16. Jahrhundert zeitweilig infolge der
Ausbeutung reicher Waschgoldlager nicht
unbeträchtlich, und man darf sie von 1534
bis 1600 mit Einschluss der Kriegsbeute im
Anschluss an Soetbeer auf 230 Millionen
Mark schätzen. Für das 17. Jahrhundert
nehmen wir sie zu etwa 450 Millionen, für
das 18. Jahrhundert zu 370 Millionen Mark
an. Sehr gerühmt wurde schon im 16. Jahr-
hundert der Goldreichtum Neugranadas, in-
des betrug hier die Gesamtproduktion nach
einer neueren Schätzung in einer amtlichen
Quelle von 1537 bis 1600 nur 200 Millionen
Mark, während sie im 17. Jahrhundert 680
Millionen und im 18. Jahrhundert etwa 780
Millionen Mark erreichte. Soetbeer nimmt
nicht unerheblich höhere Zahlen an. — Die
Goldproduktion in Cliile, die in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts einige Bedeutung
erlangte, mag nach Soetbeers Schätzung bis
1600 etwa 130 MilUonen Mark, im 17. Jahr-
hundert im ganzen 100 Millionen und im
18. Jahrhundert 240 Millionen Mark betragen
haben.
Eine vorher gänzlich unerhörte Entwicke-
lung nahm die Goldproduktion im vorigen
Jahrhundert durch die Ausbeutung der
reichen Lagerstätten Brasiliens. Die An-
fänge derselben reichen bis 1691 zurück,
doch belief sich der Goldertrag von 1691
bis 1700 im ganzen nur auf etwa 40 Mil-
lionen Mark. Filr das 18. Jahrhundert folgen
nachstehend mit einfachen Abrundungen die
von Soetbeer gegebenen Zahlen.
Goldproduktion von Brasilien:
von 1701—1720 im ganzen 150 Mül. M.
1741—1760 « « 816
1761—1780
1781—1800
n
n
71
580
n
n
n
n
n
300
n
n
In Europa lieferte in der Periode von
1500 bis 1800 hauptsäclüich Siebenbürgen
einen einigermassen erheblichen Goldertrag.
Nur in der ersten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts kommt daneben auch noch die
Produktion im Salzburgischen in Betracht.
Soetbeer schätzt die gesamte Goldgewinnung
in denJjändern der österreichisch-ungarischen
Monarchie in den Jahren 15(M) bis 1520 auf
durchschnittlich jälu'lich 2000 kg, von 1521
bis 1544 auf jährlich 1500 kg, von da bis
1780 auf 1000 kg und von 1781 bis 1800
auf 1280 kg. Das Waschgold, das in Deutsch-
land, Frankreich und anderen europäischen
Ländern gefunden wurde, sowie das aus
Silbererzen abgescliiedene Gold machte jähr-
lich nur einige hunderttausend Älark aus.
Die russische Goldproduktion im Ural be-
gann erst 1751 und ergab im ersten Jahr-
zehnt durchschnittlich jährlich etwa 200000
Mark, später aber 1 bis IV3 Million Mark.
Die gesamte Goldproduktion Amerikas und
Europas mit Einschluss der spanischen
Kriegsbeute dürfte für die angegebene
Periode durch die folgenden Zahlen an-
nähernd dargestellt werden.
1501—1520 210 Mill. M.
1521-1550 330
1551—1600 670
1601—1700 K20
1701—1720 480
1721—1740 930
1741-1760 1160
1761—1780 loio
1781—1800 825
n
r
n
n
n
n
n
n
n
n
n
Die Goldzufuhr aus Afrika nach Europa
war in diesen drei Jahrhunderten jedenfalls
nicht ganz unerheblich, wenn sie sich auch
nur in sehr unsicherer Weise schätzen lässt.
Die Portugiesen sollen im 16. Jahrhundert
aus dem südöstlichen Afrika beträchtliche
Smnmen bezogen haben, und ein grosser
Teil des in der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts in England geprägten Goldes
stammt ohne Zweifel aus Oberguiuea. Im
16. Jahrhundert kam auch noch immer
Gold in erheblicher Quantität über Tim-
buktu nach der Mittelmeerküste. Wir blei-
ben bei der Schätzung Soetbeers stellen,
nach welcher die Einfuhr an afrikanischem
Gold nach Europa im 16. Jahrhundert etwa
690 Millionen, im 17. Jahrhundert ungefähr
560 Millionen und im 18. Jahrhundert etwa
480 Millionen Mark betrug. — Del Mar hat
auch auf den Goldzufluss aus Japan hin-
gewiesen, der im 16. und 17. Jahrhundert
in der That nicht unbedeutend war. Zwar
ist es eine offenbare üebertreibung, wenn
Kämpfer behauptet, die Portugiesen hätten
in der ersten Periode ihres Handels mit
Japan aus diesem I^ande jährlich 300 Tonneu
Goldes (zu 100000 Gulden, die aber auch
in Silber dargestellt sein können) gezogen.
Dagegen erscheint die Angabe von Martin
(China, political etc., London 1847) annehm-
bai'er, nach welcher die Goldausfuhr aus
Nagasaki von 1611 bis 1706 sich auf
6192800 Koban (bis 1696 zu rund 45
Mark) und 112268700 Kronen (taels) in
Silber belaufen habe. Nach einem engli-
schen Gesandtschaftsbericht von Plumkett
sollen im 16. und 17. Jahrhundert die Hol-
länder für 15482250 £ Gold und für
28000000 £ Silber, die Portugiesen aber
für 59 500000 £ Gold und Silber ausge-
führt haben.
Nach Rathgen (Japans Volkswirtschaft
und Staatshaushalt), der die obigen An-
gaben über die portugiesische und hollän-
dische Edelmetallausfuhr bezweifelt, sind
Grold und Goldwährung
753
nach den japanischen Münzberichten von
1601 bis 1695 14727000 Koban, ungefähr
634 Millionen Mark, geprägt worden. Der
grösste Teil dieser Summe ist jedenfalls
ausgeführt worden, zumal da die Ausfuhr
von Silber seit 1671 verboten wai% die von
Gold aber bei einem für die Holländer vor-
teilhaften Wertverhältnisse gestattet blieb.
Immerhin erscheint es nach den vorstehen-
den und anderen älmlichen Daten nicht un-
glaublich, dass in der zweiten Hälfte des
16. Jahrhunderts etwa 300 Millionen und
im 17. Jahrhundert etwa 400 Millionen
Mark aus Japan nach Europa gekommen
seien. Im 18. Jahrhundert war diese Zu-
fuhr unbedeutend, da die Yerringenmg des
Feingehalts des Koban im Jahre 1696 ein
die Goldausfuhr erschwerendes Wertverhält-
nis der Edelmetalle herstellte und die
eigene Goldproduktion Japans immer ge-
ringer wurde. Diese halte im Jahre 736
n. Chr. ihren Anfang genommen und muss
zeitweise, besonders auf der Insel Sado,
eine ansehnliche Höhe erreicht haben.
In den ersten Jahrzehnten des gegen-
wärtigen Jahrhunderts ging die Goldpro-
duktion infolge der politischen Bewegungen
im spanischen Amerika und der fortschrei-
tenden Erschöpfung der Lagerstätten Bra-
siliens mehr und mehr zurück. Erst in
den zwanziger Jahren trat eine neue Wen-
dung ein, indem im russischen Reich ziem-
lich ergiebige Waschgoldlager, zuerst am
Ural und dann auch in Sibirien, zunächst
am Altai, in Angiiff genommen wurden.
Von 1801 bis 1820 hatte die russische Gold-
produktion mit Einschluss des aus Silber-
erzen geschiedenen Goldes nur 37 Milüouen
Mark ergeben; dann ti-at eine rasche Zu-
nahme ein, aber erst in den dreissiger und
vierziger Jahren gelangte die sibirische
Wäscherei zu einer solchen Entwickekmg,
dass das russische Reich in die ei-ste Reihe
der Goldproduktionsländer trat. Die jähr-
liche Gewinnung von Legaturgold betrug in
Pud (zu 16,38 kg):
1816—1820
I 384 Kilogramm
1821 1825
10327 w
1826-1830
24 182
1831-1835
33 297 „
1836—1^40
37 602
1841—1845
88 193
1846-1850 132 592 „
Die gesamte Goldproduktion Amerikas,
Europas und Sibiriens nebst einem Zuschlag
wegen Afrikas betrug nach Soetbeer in der
Periode :
1801-1810 496 MiU. M.
1811-1820 319 „ „
1821-1830 397 „ n
1831-1840 566 ^ „
1841-1847 721 „ „
1821
28
1830
360
1839
496
1822
54
1831
368
1840
568
1823
106
1832
386
1841
646
1824
207
1833
379
1842
909
1825
238
1834
375
1843
1241
1826
232
1835
386
1844
1280
1827
284
1836
399
1845
1307
1828
291
1837
443
1846
1612
1829
290
1838
493
1847
1757
Die Feinheit des sibirischen Legaturgol-
des ist in der neueren Zeit durchschnittlich
etwa 11/12 und der Wert des Puds stellt
sich auf rund 42800 Mark. Nach der
neuesten russischen amtlichen Quelle, die
von den obigen Angaben nicht wesentlich
abweicht, betrug die Produktion in Kilo-
gramm zu 11/12 Feinheit im ganzen:
Was das nichtrussische Asien betrifft, so
kann China, wo stets eine gewisse Gold-
produktion stattgefunden hat, in diesem
Zeiträume noch ganz ausser acht bleiben,
da damals wohl kein chinesisches Gold der
europäischen Kulturwelt zugeflossen ist.
Dasselbe gilt von der geringfügigen Pro-
duktion Japans und auch von dem zeitweise
in grösserer Menge gewonnenen Golde
Borneos und Sumatras. Nach Crawford
wurden in den Jahren 1801 — 1814 aus Su-
matra 34130 und aus Borneo 112165 Unzen
Gold in Kalkutta eingeführt, also durch-
schnittlich jähriich ungefähr für 800000
Mark. Ausserdem sollen nach demselben
Schriftsteller jährlich über 70000 Unzen
aus Borneo nach China geschickt worden
sein. Diese letztere Angabe beniht jedoch
el»enso wie die Schätzung der gesamten
jährlichen Goldproduktiou der Sundainseln
(658000 £) auf sehr unsicheren Grundlagen
und war wahrscheinlich auch schon für die
ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts zu
hoch, wie sie es unzweifelhaft für die
Gegenwart ist. Aber auch wenn sie richtig
wäre, würde jenes Gold, weil es in Asien
blieb, für uns hier weiter nicht in Betracht
kommen.
3. Die Goldproduktion seit 1848.
Abermals beginnt eine neue, und zwar die
bedeutendste Phase der Goldproduktion mit
der Entdeckung der kalifornischen Schätze,
denen bald die Erschliessung ebenso reicher
Fundstätten in Australien folgte. Auch
andere Gebiete und Staaten des pacifischen
Nordamerikas erhielten seit 1860 erheb-
lichen Anteil an der Goldgewinnung; so
besonders Colorado, Dakota, Montana, Ne-
vada, letzterer Staat namentlich zeitweise
vermöge der dem Werte nach etwa ein
Drittel Gold haltenden Silbererze des reichen
Comstockganges.
Die gesamte Gold Produktion der Ver-
einigten Staaten betrug nach den amtlichen
Angaben, die übrigens für die ersten Jahre
ziemlich unsicher sind, in Millionen Dollars :
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Aaflaj^. IV.
48
754
Grold und GoldAvährang
1848
■io,o
1866
53,5
1884
30,8
1849
40,0
1867
51,7
1885
31,8
1850
50,0
1868
48,0
1886
35,0
1851
55,0
1869
49,5
1887
33,0
1852
60,0
1870
50,0
1888
33,2
ia)3
65,0
1871
43,5
1889
32,8
1854
60,0
1872
36,0
1890
32,8
1855
55,0
1873
16,7^)
1891
33,2
1856
55,0
1874
33,5
1892
33,0
1857
55,0
1875
39,9
1893
36,0
1858
50,0
1876
46,9
1894
39,5
1859
50,0
1877
51,2
1895
46,6
1860
46.0
1878
38,9
1896
53,1
1861
43,0
1879
36,0
1897
57,4
1862
39,2
1880
18,0')
1898
64,5
1863
40,0
1881
34,7
1899
(70,0)
1864
46,1
1882
32,5
1865
53,2
1883
30,0
In den letzten Jahren ist Colorado in
der Goldprodiiktion der Vereinigten Staaten
an die erste Stelle genickt. Dieser Staat
lieferte z. B. 1897 für 19,1 Millionen Dollar,
Kalifornien dagegen, das ursprunglich obenan
stand, nur für 14,6 Millionen, üebrigens
hat sich die Produktion Kaliforniens merk-
lich gehoben, nachdem auf Grund eines im
März 1893 vom Kongress angenommenen
Gesetzes die Anwendung des hydraulischen
Verfahrens unter gewissen Beschränkungen
und Vorsichtsmassregeln auch in den Be-
zirken, in denen es seit 1882 verboten war,
wieder gestattet worden ist. Der Schwer-
punkt des gegenwärtigen und künftigen
(joldbergbaues in Kalifornien liegt jedoch,
wie auch in den wichtigsten andei'en Pro-
duktionsgebieten, im Quarzbergbau.
Die australische Goldproduktion begann
1851 in Victoria und Neusüdwales und
stieg in der ersteron Kolonie von 1852 auf
2 286 535 Unzen (die Unze kann rund zu 80
Mark gerechnet werden). Ihren Höhepunkt
erreichte sie in Victoria 1857 mit 2830213
Unzen. Seitdem aber nahm die dortige
Produktion immer mehr ab, 1890 war sie
auf 588 560 Unzen gesunken, dann aber
stieg sie für 1898 wieder auf 837 298 Unzen,
Neusüdwales liefei-te 1852 818751 Unzen,
1890 nur noch 127 460 Unzen, 1898 jedoch
wieder 340494 Unzen. Die Produktion in
Neuseeland begann 1857, erreichte 1866 die
Ziffer von 735376 Unzen, stand 1890 auf
193193 und 1898 auf 2S0175 Unzen. Der
Ertrag von Queensland wurde erst seit dem
Ende der sechziger Jahre erheblich, wett-
eiferte dann aber mit Victoi'ia und stieg
1898 sogar auf 920048 Unzen. In West-
australien wurde die Goldproduktion erst
1890 nennenswert, dann aber nahm sie
einen ausserordentlichen Aufschwung, er-
^) 6 Monate ; die folgenden Zahlen beziehen
sich auf Fiskaljahre, die am 30. Juni enden.
*) 6 Monate; die folgenden Zahlen beziehen
sich wieder auf Kalenderjahre.
langte schon 1898 den ersten Rang unter
den australischen Kolonieen mit einer Pro-
duktion von 1 050 184 Unzen, die sich 1899
auf 1643875 Unzen steigerte. Die Gold-
produktion Südaustraliens und Tasmaniens
ist von geringem Belange. Die Gesarat-
menge des in Australien gewonnenen Gol-
des betrug nach den amtlichen Angaben (in
1000 Unzen):
1443
1390
1437
1502
1739
1588
1651
1796
1877
2239
2356
2376
2930
3547
(4350)
1851
357
1868
2579
1885
1852
3105
1869
2411
1886
1853
3292
1870
2091
1887
1854
2456
1871
2429
1888
1855
2991
1872
221 1
1889
1856
3238
1873
2042
1890
1857
3017
1874
1758
1891
1858
2897
1875
1671
1892
1859
2685
1876
1474
1893
1860
2613
1877
1323
1894
1861
2695
1878
1534
1895
1862
2782
1879
1519
1896
1863
2'r89
1880
1586
1897
1864
2443
1881
1598
1898
1865
2506
1882
1546
1899
1866
2573
1883
1428
1867
2462
1884
1487
Auch in Australien sind die oberfläch-
lichen Ablagerungen fast gänzlich erschöpft
Das gewonnene Gold stammt zum Teil aus
DüuviaJschichten (old leads), in der neueren
Zeit aber mehr und mehr aus Quarzgängen.
So liefert Queensland (insbesondere die
reiche Mount-Morgan-Mine) so gut wie aus-
schliesslich Quarzgold, ebenso Westaustralien,
und in Victoria macht dasselbe schon etwa
zwei Drittel des Gesamtertrage« aus.
Das Gold Sibiriens wird fast aus-
schliesslich aus dem Schwemmlande ge-
wonnen, jedoch aus Diluvialschichten, die
20 und mehr Fuss unter der Oberfläche
liegen. Die Produktion des russischen
Reiches betrug in Pud:
1848
1685
1865
1576
1882
2207
1849
1588
1866
1659
1883
2182
1850
1454
1867
1650
1884
2178
1851
1474
1868
1711
1885
2016
1852
1367
1869
2029
1886
2042
1853
1463
1870
2163
1887
2128
1854
1596
1871
2401
1888
2147
1855
1649
1872
2331
1889
2274
ia56
1655
1873
2025
1890
2404
1857
1734
1874
2028
1891
2386
ia58
1688
1875
1996
1892
2625
1859
1542
1876
2054
1893
2739*
1860
1491
1877
2515
1894
2622
1861
1456
1878
2572
1895
2510
1862
1461
1879
2632
1896
2272
1863
1459
1880
2642
1897
2326
1864
1398
1881
2244
1898
2346
Die obigen Zahlen beziehen sich bis
18G0 auf Legaturgold von etwa 11 12 Fein-
heit und dem oben angegebenen Werte, für
die folgenden Jalire aber auf Schlickgold
Gold lind Goldwäliruiig
lüO
n
n
n
von ungefälir 8/9 Feinheit im Worte von
rund 41600 Mark das Pud. Die gesamte
Produktion von Feingold in den Jaliren 1861
bis 1898 belief sich auf 1185281 kg.
Als wichtiges neues Produktionsgebiet
hat sich in den neunziger Jahren Transvaal
entwickelt, wo fast nur Quarzbergbau be-
trieben wird. Der Golderti^ wurde erst im
Jahre 1886 nennenswert; 1887 erreichte er
nur 60000 Unzen, dagegen belief er sich
allein für den Witwatei-srandbezirk 1888
schon auf 230640, 1889 auf 383544, 1890
auf 581992 Unzen und für 1891 auf 729238
Unzen. Dazu kamen 1891 noch etwa 104000
Unzen aus dem de Kaap und dem Lyden-
burger und anderen Bezirken.
Die weitere Entwickelung der Produk-
tion von AVitwatersrand war folgende:
1892 1 210867 Unzen
1893 1 478 473 „
1894 2024159
1895 2 238 430
18U6 2 282 533
1897 3 034 674
1898 4 295 602
1899 (6 Monate) 2 585 861 „
Die für 1898 angegebene Zahl entspriclit
133605 kg im Werte von 313 Millionen
Mark. Man rechnet gewöhnlich die Unze
Transvaalsches Rohgold zu 3^/2 £. Die
Produktion in den übrigen Bezirken belief
sich 1898 auf ungefähr 22 Millionen Mark.
Durch den Krieg ist die Goldgewinnung
in Transvaal im letzten Quartal des Jahres
1899 ins Stocken geraten, doch wird sie in
dem ganzen Jahre noch immer auf etwa
300 Millionen gekommen sein.
Seit 1871 gelangte auch die Goldpro-
duktion Venezuelas zeitweilig zu einer
grosseren Bedeutung, hauptsächlich durch
die reichen Erträge der Grube El Callao.
Ihren Höhepunkt erreichte diese Produktion
(hauptsächlich Quarzbei-gbau) im Jahre 1884
mit 7033 kg im Werte von beinahe 20
Millionen Mark. Dann aber nahm die Er-
giebigkeit der Callaomine immer mehr ab,
imd in den letzten Jahren hat Venezuela
nur noch für 4 Millionen Mark Gold ge-
liefert.
Seit 1888 haben auch die lange vergeb-
lich gebliebenen Versuche, Gold in Indien
zu gewinnen, einen allmählich steigenden
Erfolg gehabt. Die Ertrag bringenden
Gniben liegen fast alle im Staate Mysore,
nach dem die bedeutendste derselben auch
genannt ist. Die Produktion belief sich 1888
nur auf 2780000 Mark, 1890 aber war sie
schon auf 8120000 Mail', 1895 auf 21,3
Millionen und 1898 auf 35,5 Millionen Mark
gestiegen.
Aus China, wo seit 1884 auch neu ent-
deckte Waschgoldlager im Amurgebiet aus-
gebeutet werden, sind in den letzten Jahr-
zehnten erhebliche Summen in Gold nach
Eiu'opa eingeführt worden, unter denen sich
aber wahrscheinlich auch australisches so-
wie japanisches Gold befand, das in den
siebziger Jahren infolge der Währungsver-
hältnisse stark ausgeführt wurde. Die
cliinesische Goldprodiiktion wird vom ameri-
kanischen Münzdirektor in den letzten
Jahren auf 2,2 bis 3,5 Millionen Dollar ge-
schätzt, und die Goldeinfuhr von China und
Hongkong nach England betrug im Jahre
1885 2060000 £ und in den folgenden
Jahren 700000 bis 1 100000 £. Ausserdem
wurde in manchen Jahren für mehr als 1
Million £ chinesisches Gold nach Indien
eingeführt.
Als neues bedeutendes Produktionsgebiet
ist seit einigen Jahren das Revier von
Klondike in Canada hinzugekommen, dem
sich auch weitere Fundstätten am Yukon in
dem amerikanischen Territorium Alaska an-
schliessen. In den Jahren 1897 und 1898
wurden nach der amtlichen Statistik Canadas
in der ganzen Dominion 6190000 Dollar
und 13700000 Dollar Gold gewonnen, und
von diesen Beträgen kamen auf Klondike
ungefähr 2,5 bezw. 10 Millionen Dollar.
Die letztere Zahl beruht nur auf einer vor-
läufigen Schätzung. Nach neueren Angaben
stellte sich diese Produktion 1898 bereits
auf 55 Millionen Mark. Es handelt sich
übrigens zunächst nur um die Ausbeutung
obertlächlicher AlluviaUager , die durch die
klimatischen Verhältnisse sehr erschwert
wird und sich auch wahrscheinlich nicht
als sehr nachhaltig erweisen wird.
Die gesamte Goldproduktion, die für das
Gebiet der europäischen Kultur in Betracht
kommt, ist im folgenden der Hauptsache
nach im Ansclüuss an Soetbeer für die
neueste Zeit zusammengestellt. Die chine-
sische und koreanische Produktion ist gänz-
lich bei Seite gelassen. In Millionen Mark :
1848 150 1876-80 481 1890 464
1849 265 1881 419 1891 521
1850 300 1882 404 1892 581
durch- 1883 393 1893 632
schnittlich: 1884 406 1894 720
1851—55 557 1885 410 1895 817
1856-60 564 1886 426 1896 836
1861-65 516 1887 420 1897 9»5
1866—70 544 1888 440 18ü8 1140
1871—75 485 1889 474 1899 (1225)
Demnach ergiebt sich die gesamte in
Betracht kommende Goldproduktion in den
verschiedenen Perioden, wenn wir auch die
ältere Einfuhr aus Afrika und Japan mit
berücksichtigen :
1501—1550 85p Mill. M
1551—1600 1250 „ „
IGOl— 1700 2480 „ „
1701-1800 4900 „ ,
1801—1847 2500 „ „
1848-1890 20710 „ „
1891-1899 7 457 „ n
48*
Gold und Goldwährung
Im ganzen also 40147 Millionen Mark,
von welcher Summe sieben Zehntel allein
auf die beiden letzten, kürzesten Perioden
kommen.
Die Zimalime der Goldproduktion in den
letzten Jahren ist keineswegs allein den
neuen Entdeckungen in Transvaal, Australien
u. s. w. zu verdanken, sondern es hat sich
auch die Ergiebigkeit der älteren Produk-
tionsgebiete zum Teil sehr erheblich ge-
steigert, wozu auch die Fortschritte der
metallurgischen Methoden beigetragen haben.
Es ergiebt sich daher, dass Suess »die Zu-
kunft des Goldes« zu imgünstig beurteilt
hat. Er wies namentlich darauf hin, dass
der weitaus grösste Teil desselben aus den
Alluviallagern gewonnen sei, in denen sich
hier und da das Edelmetall in ungewöhn-
lich reichen Ansammhmgen vorgefunden
habe, die dann aber mit verhältnismässig
leichter Arbeit in kiu^er Zeit erschöpft
worden seien. Es werde nun aber, je
weiter die Durchforschung aller Erdteile
gediehen sei, um so unwahrscheinlicher,
dass man so ausgedehnte und reiche Wasch-
goldlager wie die kalifornischen und austra-
lischen nochmals irgendwo entdecken werde,
und daher müsse man sich auf eine fort-
wälirende allmähliche Abnahme der Gold-
produktion gefasst machen. Seit dem Er-
scheinen des Suessschen Werkes hat sich
indes das Verhältnis der Goldgewinnung
aus dem Schwemmlande zu der aus den
Quarzgängen wesentlich geändert, wie ich
schon 1886 (in einer Abhandlung in Schraol-
lers Jalirbuch) hervorgehoben habe. Wenn
früher nach Suess neun Zehntel alles Goldes
aus den Wäschereien stammte, so werden
gegenwärtig vier Fünftel des ausserhalb
Sibiriens gewonnenen Goldes durch den
Quarzbergbau geliefert, und da man jetzt
im Staude ist, Quarz mit Vorteil zu ver-
arbeiten, das nur \i Unze Gold auf die
Tonne enthält, und auch das in Schwefel-
kiesen enthaltene, dem gewöhnlichen Amal-
gamationsverfahren nicht erreichbai-e Gold
durch neue Methoden immer vollständiger
extrahiert wiixl, so ist eine bedeutende und
nachhaltige Goldproduktion noch auf viele
Jahrzehnte, vielleicht auf Jahrhunderte ge-
sichert. Neuere Nachweisimgen über diesen
Punkt hat Ruhland in der Tübinger Zeit-
schrift gegeben. Auch haben sich die
früher herrschenden Ansichten über die
Verarmung der Gänge in der Tiefe weder
in Transvaal noch in Kalifornien bestätigt,
vielmehr wird, wenn der Gehalt auch oft
Schwankungen unterliegt, der Abbau mit
Erfolg soweit betrieben werden können, als
sich die Gänge überhaupt in die Tiefe ver-
folgen lassen. Die gegenwärtige Zunahme
der Produktion kann natürlich nicht lange
fortdauern, auch wird die Entdeckung neuer
reicher Fundstätten in der Zukunft immer
seltener werden, wähi-end sich die alten
allmählich erschöpfen müssen. Aber eine
wirkliehe Goldknappheit liegt in so weiter
Ferne, dass sie für die wirtschaftlichen
Fragen der Gegenwart ebensowenig in Be-
tracht kommt wie etwa die Erschöpfung
der Kohlenlager der Erde.
4. Goldprägung und Goldwährung.
Die wirtschaftlich wichtigste Verwendung
des Goldes ist ohne Zweifel die Benutzung
desselben als Geldstoff, insbesondere die
Münzprägung. Es ist zwar unrichtig, was viele
glauben, dass mu'ein kleiner Bruchteil des vor-
handenen und neu gewonnenen Goldes nicht
dem Geldverkehre diene, aber das in der
Form von Geld vorhandene Gold bestimmt
bei entwickelter Geldwirtschaft fast aus-
schliesslich den Verkehrswert dieses Metalls
überhaupt, also auch des als Rohstoff für
Luxus waren dienenden Teiles. In den
Kulturländern Vorderasiens wurden ursprüng-
lich beide Edelmetalle als Geldstoffe, wenn
auch ohne Prägimg verwendet (s. d. Art
Doppelwährung oben Bd. III. S. 237).
In Lydien und den griechischen Küsten-
staaten begann das Münzwesen mit der Gold-
wähnmg. Im persischen Reiche nahm jeden-
falls seit Darius die Goldmünze, wie schon
erwähnt, die erste Stelle ein. In Griechenland
herrschte die Silberwährung, jedoch wurden
in Athen auch zeitweise in beschränkter
Menge Goldmünzen geprägt, und allmählich
drangen auch Dareiken, Kyzikener und
macedonische Goldstatere, mit deren Prä-
gung schon Philipp II. begann, mehr und
mehr in den Verkehr ein.
Dass die Römer im Jahre 189 v. Chr.
den Aetolern als eine Erleichterung ge-
statteten, den dritten Teil der Kontribution
statt in Silber nach dem Wertverhältnisse
von 10 : 1 in Gold zu entrichten, lässt
schliessen, dass damals in Griechenland
noch verhältnismässig viel Gold vorhanden
war. In Rom bildeten ' Goldbari-en schon
in älterer Zeit einen wertvollen Bestandteil
des Staatsschatzes. Die Prägung von Gold-
münzen jedoch reicht nicht weiter als bis
zum Jahre 217 v. Chr. zurück und sie feind
bis in die letzte Zeit der Republik nur
ausnahmsweise und in gering-em Umfange
statt. Cäsar liess Goldmünzen reichlich
sohlten, und sein Aureus wiu'de mit einiger
Verringening (von Vio auf ^/is Pfund) der
Typus für die Hauptmünze der Kaiserzeit.
In dieser entstand namentlich seit Nero
eine faktische Goldwährung, indem im
Gross verkehr das Gold zum alleinigen Wert-
massstab wurde, während die immer mehi*
sich verachlechternden Silbermünzen den
Cliarakter von Kreditgeld erhielten und
thatsächlich zu Sciheidemünzen wurden,
wenn auch keine gesetzliche Beschränkung
Gold und Goldwährung
757
ihrer Zahhmgskraft stattfand. Seit Cara-
calla wurde auch der Aureus immer mehr
verringert und das Münzwesen geriet in
solchen Verfall, dass man im Verkehre
wieder zur Wage griff.
Eine durchgreifende Reform fand erst
unter Konstantin statt, der den Solidus (V72
Pfund = 4,55 g Gold) als Haupti-eichs-
münze einführte. Es wurde damit w^ieder
die Goldwährung hergestellt, w^enn auch
nicht in strengem Sinne, da die Silber-
münzen — namentlich seit Julian — zwar
überwertetes Kreditgeld, aber doch nicht
im heutigen gesetzlichen Sinne Scheide-
münzen waren. Im oströmischen Reiche
hat sich der Goldsolidus viele Jahrhunderte
hindurch behauptet und er verbreitete sich
von dort aus unter dem Namen Besant oder
Bisanter auch über die westlichen Länder,
bis er durch den leichteren Florentiner
Goldgulden verdrängt wurde. Auch im
Frankenreiche war unter den Merowingern
der goldene Solidus (der hier im 6. Jahr-
hundert auf h'si Pfund herabgesetzt wurde)
die Hauptmünze. Unter den Karolingern
aber kam infolge des immer fühlbarer wer-
denden Mangels an Gold die Silberwährung
zur Herrschaft.
Seit der Periode der Kreuzzüge führte
der lebhafte Verkehr mit dem Orient wieder
grossere Mengen Gold nach dem Abendlande,
zunächst nach Italien und Frankreich, und
auch die eigene Produktion Europas nahm
zu und erreichte im 14. Jahrhundert eine
ansehnliche Höhe. Der seit 1252 geprägte
Florentiner Goldgulden (Münzen mit dem
Namen Floreni kommen in Frankreich schon
im 12. Jahrhundert vor), von einer Feinheit
von mindestens 23^/i Karat und im Werte
von nmd 10 Mark wurde ein besonders
beliebter T\t)us, von welchem der Dukat
und der Zecchin nur Varietäten bilden. Die
Einbürgerung der Goldmünzen wurde be-
sonders durch die fortwälireude Vei-schlechte-
nmg des Silbergeldes begünstigt, und so
bildete sich im grossen Verkehr im 14. und
15. Jalu'hundert in allen eiu-opäischen Län-
dern die faktische Goldwährung aus. Man
rechnete teils nach wirkliehen Goldmünzen,
teils auch nach einem Rechnungsgeld, das nur
durch bestimmte Goldmünzen dargestellt
werden durfte. Vergebens versuchte man
in Fi-ankreich das Livre von 20 Sols und
240 Deniers in Silber als allein gesetzliche
Rechnungsmünze aufrecht zu erhalten und
die Goldmünzen danach zu tarifieren. Man
konnte nicht verhindern, dass diese bei jeder
Verschlechterung des Kurantgeldes ein ent-
sprechendes Agio erzielten. Allerdings fan-
den auch Verschlechterungen der Gold-
münzen statt, aber selbst in Frankreich in
der schlimmsten Zeit der Münzwirren nur
in verhältnismässig geringem Masse. Die
Goldmünzen solcher Staaten, deren Prägung
als besondei-s zuverlässig galt, bildeten da-
her ein in allen Ländern verbreitetes imd
beliebtes Zahlungsmittel.
Der umfang der Goldprägung war im
14. und 15. Jahrhundert verhältnismässig
bedeutend. Die bei Sanudo dem Dogen
Mocenigo in den Mund gelegte Angabe, dass
man in Venedig jedes Jalir eine Million.
Dukaten geschlagen habe, klingt stark wie
rhetorische üebertreibung, wenn sie auch
vielleicht für einzelne Jahre zutreffen mag.
Wenn ViUani erwähnt, dass in Florenz jähr-
lich 350—400000 Goldgidden geprägt wür-
den, so geht dies ebenfalls über die be-
kannten positiven Daten in betreff der
Thätigkeit der Florentiner Münze weit
hinaus: nach diesen wurden nämlich in 46
Halbjahren im ganzen nur 649281 Gold-
gidden, also durchschnittlich jährlich nur
28230 ausgemünzt. Sehr beträchtlich er-
scheint die Goldprägung Frankreichs, wenn
man das von De Saulcy angegebene Ver-
hältnis der Zahl der Stücke in den Probe-
büchsen zu der Zahl der geprägten als in
allen Fällen geltend annehmen darf. Es
ergiebt sich dann z. B., dass allein in Paris
in den Jahren 1311 bis 1319 ausschliesslich
2378000 Aignels (zu ungefähr 11 Mark)
geprägt wurden. Dazu kamen in den Jaliren
1316 bis 1318 noch nachweislich 356000
Stück aus den Münzstätten von Tournay
und Montpellier, und somit hätte also die
Prägung zeitweise jährlich beinahe 480000
Aignels ergeben. Vom November 1338 bis
Juni 1339 wurden in neun Münzstätten so-
gar 1348000 Lions (zu ungefähr 13 Mark)
geprägt. AUerdings handelte es sich hier
um eine neue Münzsorte, die hauptsächlich
durch Uraprägung anderer Münzen herge-
stellt wurde. Auf diese in Fi-ankreich be-
sonders häufig vorkommenden Umprägungen
ist natürlich immer Rücksicht zu nehmen,
wenn man aus den Prägimgszahlen auf
den Münzvorrat schliessen will. Ebenso ist
bei der Schätzung des ganzen Münzbestan-
des in Europa zu beachten, dass in jedem
Lande die fremden Münzen in grosser Menge
eingeschmolzen werden. Die mittlere Um-
lauf sdauer einer Goldmünze darf daher nicht
hoch veranschlagt wenlen. — In Deutsch-
land wurden von 1429 bis 1443 in ungefähr
12^/2 Jahren auf der Reichsmünzstätte zu
Frankfurt 5365 Mark Münzgold (zu 19 Karat),
also jährlich ungefähr 429 Mark und auf
der Reichsmünzstätte zu Basel 4039 ^lark
Feingold (zu 652 Mark) also jährlich 517
Mark vermünzt. Dazu kam dann noch die
Goldprägung der Fürsten, namentlich der
rheinischen Kui*fürsten und des Erzbischofs
von Salzburg. Von 1503 bis 1513 Hessen
die rheinischen Fürsten 7996 Mark Münz-
gold prägen, jährlich durchschnittlich ülier
758
Gold und Goldwährung
800 Mark (da die Nachweise für drei Pro-
bationsta^re fehlen), und von jener Quantität
kamen 4813 Mark allein auf Kurköln. —
Ziemlich gering ist die Beteiligung Eng-
lands an der mittelalterlichen Goldprägung:
dieselbe belief sich z. B. in 32 Jahren inner-
halb des Zeitraums von 1345 bis 1425 nach
Eudings nicht ganz klaren Tabellen nur auf
ungefälir 223000 £ nach heutigem Gelde.
Uebrigens wuixle von 1419 bis 1448 eine
ziemlich bedeutende Summe an Goldmünzen
(nachweislich über 900000 Saluts zu nicht
ganz 10 Mark) im Namen Heinrichs V. und
Heinrichs VI. in Frankreich geprägt, von
denen auch viele nach England kamen. Im
16. Jalu-hundert wurde das Gold in Deutsch-
land und Italien ans seiner vorherrschenden
vStellung zurückgedrängt, was zunächst
durch den bedeutenden Aufschwung der
deutschen Silberproduktion in den letzten
Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts bedingt
war. In F r a n k r e i c h dauerten die Goldprä-
gungen in ziemlich l:)eträchtlichem Massstabe
(jährlich 12 — 1500 Gewichtsmark) fort, und
unter Heinrich III. wurde hier sogar ein
Versuch mit einer fast vollständigen Gold-
wälirmig gemacht, indem man (1577) den
goldenen Ecu au soleil zur gesetzlichen
\Verteinheit erklärte, nach welcher alle
Rechmmgen und Bücher geführt werden
mussten. Alleitlings konnte dieser Ecu bei
allen Zalilungen imbeschränkt durch grobe
Silber münzen ersetzt werden. Im Jahre
1602 wurde dieses System wieder aufge-
geben ujid die Rechnung mit Livres und
Sols wieder hergestellt, jedoch fuhr man
fort, verhältnismässig viel Gold zu prägen.
Ueber die französischen Ausmünzungen im
18. und 19. Jahrhundert s. d. Art. Dop-
pelwährung (oben Bd. lU, S. 241 ff.),
t^ter Napoleon III. wui'den von 1851 bis
1870 6 151 961 600 Francs, unter der Repu-
blik bis zum 1. Juli 1899 1794 693850
Francs in Gold geprägt. In den Jahren
1872, 1873, 18S0, 1883 und 1884 fanden
überhaupt keine Goldprägungen statt. In
den übrigen Jahren betrugen sie in Millionen
Francs :
1871
1874
1875
1876
1877
1878
1879
1881
50,17
24,32
234,91
176,49
255,18
185,32
24,61
2,17
1882
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
3,74
0,29
23,59
24,67
0,55
17,48
20,60
17,42
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
4,51
50,94
9,83
108,01
112,54
221,38
177,33
1899 (6 Mon.) 38,64
und dieselbe belief sich von dessen Regie-
rungsantritt (1603) bis zum Tode Wilhelms
III. (1701) auf 15764357 £. GesetzUch
war jedoch das Silber noch immer das
Hauptwälirungsmetall, und 1695 wurde noch
ein Versuch gemacht, durch Umpräguug
der meistens abgenutzten und beschnittenen
Silbermünzen das Geldwesen zu reformieren,
wobei die Goldprägung sogar zeitweise —
mit einer Ausnahme zu Gunsten der afri-
kanischen Gesellschaft — verboten wurde.
Das vollwichtige neue Silbergeld wurde je-
doch bald wieder ausgefülirt, und die 1717
nach dem Vorsclilage Newtons vorgenommene
Herabsetzung des Kurewertes der Guinee
(s. d. Art. Doppelwährung oben Bd. III.
S. 238) genügte nicht, um den Abfhiss des
Silbers aufzuhalten. Im Jahre 1774 gelangte
die Goldwährung schon zu einem beinahe
vollständigen Siege durch den Act 14 Georg
III. eap. 42, nach welchem die nicht voll-
wichtigen Silbennünzen (und andere waren
im Verkehr nicht vorhanden) bei Zahlungen
von mehr als 25 £ nur nach dem Gewichte
(die Unze Münzsilber zu 62 Penoe) ange-
nommen zu werden brauchten. Diese 1^-
stimmung wurde mehrere Male erneuert und
1798 dauernd in Kraft gesetzt. Schon 1797
aber war (38 George III. cap. 59) die Süber-
prägung gesetzlich suspendiert und damit
princij)iell die Goldwälirung eingeführt wor-
den. Die normale Wirksamkeit derselben
wurde allerdings zunächst dm*ch die Papier-
geld wii-tschaft verhindert. Das G. v. 22.
Juni 1S16 (56 Georg III. cap. 68), welches
das gegenwäi'tig bestehende englische Münz-
system herstellte, hielt an der Goldwährung
fest und fühlte sie zum ersten Male in
der Geschichte in aller Strenge durch, in-
dem es Silbermünzen nur als Scheidemün-
zen mit (auf 40 Schilling) bescliränkter
Zahlungskraft zidiess.
Von 1701 bis 1816 beliefen sich die Gold-
prägungen in England auf 90 003 318 i;.
Es wmxlen dann nach dem neuen Typus
geprägt :
Unter Georg III. (1817—1820) 8 083 794 £
Unter Georg IV. (1821—1830) 36395 iio „
Unter Wilhelm IV. (1830—1837) 12266000 „
Unter Victoria 1838—1847 33 488 500
Seit dem Beginn der neuen Goldent-
deckungen betrugen die Prägmigen in Eng-
land (in 1000 £•)':
Die Prägungen liaben also, abgesehen
von den Jalu-en 1875 bis 1878, nur in der
neuesten Zeit wieder die Summe von 100
Millionen übei-schritten.
In England begann die Goldprägung
im grossen Massstabe eret unter Jakob I.,
1848
1849
1850
1851
1852
1853
1854
1855
1856
2453
2178
1492
4400
8742
1 1 952
4152
9009
6002
1857
1858
1859
1860
18(ü
1862
1863
1864
1865
4860
I 231
2650
3 122
8 190
7836
6997
9536
2368
1866
1867
1868
1869
1870
1871
1872
1873
1874
5075
496
^653
7372
2213
9920
15 261
3384
I 462
Gold und Goldwälinmc:
759
1875
243
1883
1404
1891
6723
1872
21 813
1881
96851
1890
20467
1876
4697
1884
2324
1892
13908
1873
57023
1882
65888
1891
29222
1877
981
1885
2973
1893
9266
1874
35 255
1883
29242
1892
34787
1878
2265
1886
0
1894
5678
1875
32952
1884
23992
1893
56997
1879
35
1887
1909
1895
3811
1876
46579
I8a5
27773
mn
79546
1880
4 150
1888
2033
1896
4809
1877
44000
1886
28946
1895
59616
lasi
0
1889
7501
1897
1778
1878
49786
1887
23972
1896
47 053
1882
0
1890
7680
1898
5781
1879
39080
1888
31 381
1897
76028
-r
r 1 1
1 r^f\.-\ _
-1
. .1 ^
TWT
1880
62308
1889
21 414
1898
77986
pr%ungen 3248437 £' in älteren abgenutz-
ten Münzen umgei)rägt. Die UmpnSgungen
beJiefen sich in den Jahi-en 1887, 1888 und
18S9 auf 2301000, 1677 000 und 603000 i'.
Fiir die frilheren Jaiu-e sind sie in den oben
angeführten Zahlen mit inbegiiffen, und
zwai- machen sie den weitaus grössteu Teil
der unter 1884 und 1885 angefülu-ten Sura-
men aus.
El>enso sind in den obigen Zahlen die
ümprägimgen mit entlialten, die auf Grund
des Gesetzes von 1891 (nach welchem die
abgenutzten Goldmünzen, sofern ihr Ge-
wichtsverlust nicht auf unerlaubtem Wege
verursacht ist, zu ihrem Nominalwert zur
ümprägimg angenommen werden) stattge-
funden haben. Diese Zurückziehungen be-
liefen sich von 1892 bis 1898 im ganzen
auf 37 002 812 £, während 45030 570 £ von
der Londoner Münze ausgegeben wurden.
Die Vermehrung des Goldunüaufs betrug
hiernach in diesen 7 Jahren nur 7 967 758 f.
Ausser in London werden aber auch
grosse SiuTimen in den beiden australischen
Münzstatten Sydney (seit 1855) und Mel-
bourne (seit 1872) gei)rägt, von denen stets
ein grosser Teil nach England eingeführt
wird. Diese australischen Ausprägungen
betrugen (in 1000 £):
ia55— 1860 6716
1861—1865 10 602
und
1876
1877
1878
1879
1880
1881
1882
1883
in den
3767
3117
3493
4153
4552
3737
3843
3268
folgenden
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1866—1870 10 130
1871—1875 15276
Jahren :
4561
4458
4624
4953
5013
6002
5277
5423
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
6326
6688
7234
6924
7110
7663
8107
Li den Vereinigten Staaten be-
stand die GoldwähiTing gesetzlich in den
Jahren 1873 bis 1878, aber nur nomineU,
da thatsäclüich das Papiergeld mit Zwangs-
kurs die Herrschaft hatte. Ueber die
früheren Goldprägimgen der Union s. d. Art.
Doppelwährung (oben Bd. III, S. 230 ff.).
Es wiuxlen femer gei)rägt (lOOO Dollar) :
1854 25916 1860 23474 1866 31439
1861 83396
1862 20 876
1863 2244s
1864 20 081
1865 28295
1855 29388
1856 36858
1857 32214
1858 22 938
1859 14781
1867 23821
1868 19 376
1869 17583
1870 23 199
1871 21033
Von 1848 bis 1898 wurden im ganzen
1 878 411 000 Dollar geprägt. Das Gesetz vom
14. März 1900 erkennt den Golddollar als
die eigentliche Währungseinheit an.
Der Umstand, dass auch IVankreich und
die Vereinigten Stiuiten infolge des gestie-
genen Silberwertes in den fünfziger und
sechziger Jahren übenviegend Goldcirkiüa-
tion erhielten imd alles darauf hindeutete,
dass diese Ijänder auch gesetzlich die Gold-
w^ährung annehmen und sich somit dem
englischen System ansclüiessen würden, bil-
dete den Hauptgrund, weshalb auch in
Deutschland die öffentliche Meinung sich
mehr und melu* zu Gunsten der Goldwäli-
rung entschied. Auch wurde für dieselde
die grössere Bequemlichkeit geltend ge-
macht, die bei dem heutigen Massstabe der
Umsätze dm-ch den höheren specifischen
Wert des Goldes im Vergleich mit dem
schwerfälligen Silber dargeboten werde.
Dazu kam noch bei manchen die Erwägung,
dass die nach den kalifornischen und austra-
lischen Entdeckungen ziemlich allgemein
befürchtete Wertverminderung des Goldes
am besten durch möglichst allgemeine Aus-
dehnung der Verwendung desselben als
Geld Stoff verhindert werden könne. Im vo-
rigen Jahrhundert waren im nördlichen
Deutschland die Goldmünzen im grösseren
Verkehr entschieden tiberwiegend. In
Preussen wurden von 1764—1798 42018000
Tlialer Gold (ein Friedrichd'or zu 5 Thalern)
mid von 1799—1806 noch 13 306 000 Thaler
Gold geprägt. In Hannover dauerten die
Goldprägungen (in Pistolen zu 5 Thalem
Gold) auch in diesem Jahrhundert in bedeu-
tendem Umfange fort und beliefcn sich von
1817—1848 auf 38352724 Thaler. Die
nach dem Münzvertrag von 1857 geprägten
deutschen Goldkrenen (im ganzen bis 1871
im Werte von 28885817 Mark) galten nur
als Handelsmünzen, in Bremen jedoch, wo
eine allerdings nicht ganz streng durchge-
führte Goldwährung bestand, wai'en sie als
gesetzliches Zalüungsmittel anerkannt. Die
neuen deutschen Goldprägimgen begannen
auf Grund des G. v. 4. Dezember 1871, und
die Reichsgoldwährung wunle principiell
dureh das G. v. 3. Juli 1873 eingeführt, ist
aber bisher noch nicht vollständig durchge-
setzt, da die noch im Verkehr gebliebenen
Tlialer (etwa 360 Millionen Mark) noch un-
760
Gold und Goldwährung
beschränkte Zahlungskraft besitzen. Die
Prägungen betnigen (in 1000 Mark):
1872
421 474
1881
15 521
1890
99 349
1873
594 363
1882
13307
1891
59988
1874
93507
1883
88288
1892
37243
1876
166 421
1884
57 662
1893
110 421
1876
159424
1885
8149
1894
152 819
1877
112540
1886
35740
1895
114 780
1878
125 131
1887
118215
1896
89854
1879
46387
1888
144289
1897
139617
1880
27 992
188^3
202 379
1898
188983
Die Gesamtsumme der Goldprägungen
bis Ende März 1899 belief sich auf 3 467 559 400
Mark, von denen 30150000 Mark (haupt-
sächlich 5-Markstücke) mittlerweile >\ieder
eingezogen worden sind.
Ausser Deutschland nahmen auch die
drei skandinavischen Staaten 1872
und 1873 die Goldwähning an, die bis
Ende 1898 123 242 930 Kronen (zu 1,125 M.)
geprägt haben. Auch die Niederlande
bereiteten 1875 den Uebergang zur Gold-
währung vor, indem sie die Ausmünzung
von Goldmünzen mit gesetzlicher Zahlungs-
kraft begannen (bis Ende 1885 74984 860
Gulden imd dann bis 1898 noch 4 364 220
Gulden) und die Silberprägungen einstellten.
Ein Abschhiss der Münzreform ist bisher
noch nicht erfolgt. Rumänien hat 1890 die
Goldwähning cYurch Verkauf seines über-
schüssigen bilbei-s durchgesetzt. In der
Türkei bildet Gold im grossen Verkehr das
Hauptzalüungsmittel ; die Silberprägungen
sind seit mehreren Jahren eingestellt. Por-
tugal hat seit 1854 Goldwährung, ist aber
gegenwärtig der Papiergeldwirtschaft ver-
ifallen. Dasselbe gilt von Brasilien, wo die
Goldwährung gesetzlich schon seit 1849
besteht.
Russland ist nunmehr durch das Ge-
setz vom 7./ 19. Juni 1899 förmlich zur Gold-
währung tibergegangen, nachdem wschon
durch den Ukas vom 3./ 15. Januar 1897
eine neue, der bereits vorher bCvStehenden
Tarifierung des Kreditrubels gof^on Gold
entsprechende Münzeinheit, nämlich ein
Goldrubel im Werte von 2,16 Mark einge-
führt worden war. Es werden Goldmünzen
geprägt im Werte von 15, 7^,2 (die alten
Imperialen und Halbhnperialen), 10 und 5
neuen Rubeln. An Silberraünzcn soll nicht
mehr als 3 Rubel auf den Kopf der Be-
völkerung ausgegeben werden, und die bis-
herigen Silbereourantmünzen haben nur noch
bis zum Betrage von 25 Rubel, die kleineren
bis zu 3 Rubel Privaten gegenüber gesetz-
liche Zahlungski'aft.
Russland hat stets einen grossen Beitrag
zu der jährlichen Gesamtsumme der Gold-
ausmünzungen geliefert, da fast die ganze
Masse seiner eigenen Goldproduktion zu
Münzen geprägt wird. So betnigen die
Prägiuigen (in 1(X)0 alten Rubel Gold
zu 3,24 Mark — ):
1880
31 300
1886
19 126
1892
720
1881
27 144
1887
26055
1893
3000
188^
19835
1888
26 510
1894
3091
1883
30407
1889
24430
1896
50000
1884
23 126
1890
28 150
1896
I
1885
26802
1891
2735
i.
In neuen Goldrubeln zu 2,16 Mark wurden
1897 331577 500 und 1898 263 890000
Rubel geprägt.
Bis zum Ende der achtziger Jalire hatten
die russischen Goldmünzen thatsächlich nur
die Bedeutimg von Barrenmetall, da sie fast
sämtlidi ausgeführt und eingeschmolzen
werden. Dann aber begann die Ansammlung
eines grossartigen Goldvorrats.
Oesterreich-Ungarn hat durch G.
V. 2. August 1892 ebenfalls im Princip die
Goldwähnmg angenommen, imd vom 1. Januar
1900 ist auch die obligatorische Rechnung
nach der neuen Münzeinheit der Krone
(sehr nahe 85 Pfennig) eingeführt worden.
Von den neuen Goldmünzen wurden von
1892—1898 im ganzen 1004991740 Kronen
geprägt, sie befinden sich jedoch noch wenig
im Verkehr, weil die österreichisch-unga-
rische Bank ihre Barzahlungen noch nicht
wieder aufgenommen hat.
Chili hat durch das G. v. 11. Februar
1805 den Versuch gemacht, zur Goldwäh-
rung überzugehen, der aber als gescheitert
zu betrachten ist, da das Land wieiler in
die Papierwirtschaft zurückgefallen ist. Der
Pari wert des neuen Gold peso ist 18 Pence,
der Wechselkurs auf London konnte aber
diesen Stand nie beliaupten und er ist schon
1898 bis 12^/^ Pence gesunken. Von 1895
—1898 wurden im ganzen 42 699 520 Pesos
in neuen Goldmünzen geprägt.
Auch Japan hat sich durch das G. v.
8. !März 1897 für die Goldwährung entschie-
den. Der neue Yen entliält 750 Milligramm
Fcnngold mid hat demnach einen ^Vert von
2,080 Mark. Geprägt wurden nach diesem
Tyi)us in den Jahren 1897 und 1898
70 544600 Yen. Es bleibt abzuwarten, ob
sich das Gold effektiv im Umlauf wii-d er-
halten können.
Sehr wichtig ist die Anbalmung der
Goldwährung in Britisch- Indien durch
Einführung der hinkenden Wähnmg. Die
Kommission zur Prüfung der indischen
Währungsfrage hat sic^h in ihrem im Juli
1 899 erstatteten Bericht dahin ausgesprochen,
dass die indischen Münzstätten für die freie
Prägung von Sovereigns z\i öffnen seien.
Die Rupie behält den 1893 festgesetzten
Kurs von 10 Pence als gesetzliches Zalüungs-
mittel, und man kann auch Rupien zu die-
sem Kurse gegen Gold eintauschen. Die
Gold und Goldwährung
761
britische sowohl wie die indische Regierung
;ind mit diesem Systeme einverstanden.
Die (gesamte Goldprägung in allen Län-
dern tlor Erde betrug nach den Tabellen des
amerikanischen Münzdirektors (in Millionen
Mark):
1882
4io,7
i8sr>
397,5
1890
625,8
leSB
440,2
.H87
525,0
1895
970,6
1884
417,6
1888
556,3
1896
822,8
1885
402,2
1889
709,4
1897
1838,3
Mit Rücksicht auf die gleichzeitige Grosse
der Produktion und die anderweitige Gold-
verwendung muss man schliessen, dass die
Hälfte bis zwei Drittel dieser Summen durch
ümprägung schon vorhandener Münzen
oder überhaupt aus älterem Golde entstan-
den sind.
5. Industrieller Verbranch des Goldes.
Was den Verbrauch von Gold zu industriellen
Zwecken betrifft, so sind lüi mittelbare Er-
hebungen über diese Yni^j^e zuei-st in den
Vereinigten Staaten von Zeit zu Zeit ver-
anstaltet worden, und es hat sich hier seit
1878 längere Zeit eine stetige Vermehnmg
des industriellen Goldbedarfs ergeben. Im
Jahre 1891 wunle derselbe zu 19686916
Dollar veranschlagt. Dann aber trat ein
Rückgang ein, und 1897 ging die Schätzung
nur bis 11870231 Dollar mit Einschluss
von 2r)71428 Dollar an altem Material.
Für die meisten übrigen Länder hat Soet-
beer 1885 Schätzungen gegeben. Hiernach
hatte die Industrie im Jahre 1888 im ganzen
110(XJ0 kg Gold verwendet, von denen etwa
20000 kg von alten Goldwaren herrührten.
Den Anteil Deutschlands schätzte Soetbeer
zu 15000 kg. Diese Schätzung stimmt be-
friedigend mit einer in den Jahren 1896 und
1897 veranstalteten Erhebung, nacth welcher
der industrielle Gold verbrauch Deutschlands
16000 kg im Werte von 45 Millionen Mark
betrug. Jedoch war ungefähr ein Drittel
dieses Goldes altes Material, das also von
grösserer Bedeutung ist, als Soetbeer ange-
nommen hat. Andererseits kamen ungefähr
4800 kg im Werte von 13,5 Millionen Mark
auf solche Verwendungen, wie Fabrikation
von Blattgold, Vergoldung u. s. w., durch
welche das Gold gänzlich verloren geht.
In Oest erreich - Ungarn war der nachge-
wiesene industrielle Gold verbrauch 1897
3743 kg, für die Schweiz wird er auf
10900 kg geschätzt. Nimmt man für die
übrigen Staaten die Schätzungen des ameri-
kanischen Münzdirektors an (für England
15500 kg, für Frankreich 16000 kg, für
Italien 5000 kg u. s. w.), so ergiebt sich für
1897 im ganzen ein industrieller Verbrauch
von 98,6 Millionen kg im Werte von 267
Millionen Mark. Ein Viertel dieser Quanti-
tät wird jedoch auf altes Material zu rech-
nen sein, imd der Verbrauch von Goldmünze
und neuem Barrengolde würde also etwa
200 Millionen Mark betragen. Wahrschein-
lich ist er jedoch erheblich grösser, da z. ß.
der Bedarf Indiens und überhaupt der
asiatischen Länder nicht mit in Anschlag
gebracht ist. Man wird also immerhin die
Soetbeersche Schätzung — etwa 250 Milli-
onen Mark — nach Abzug des alten Ma-
terials, wenn sie auch uraprünglich vielleicht
zu hoch war, für die Gegenwart festhalten
dürfen. Es ist dies ungefähr ein Viertel
der Jahresproduktion von 1897 ; wahrschein-
lich aber ist von der früheren geringeren
Produktion ein erheblich grösserer Bruchteil
für die Industrie verwendet worden.
Die jährliche Vermehrung des Welt-
vorrates an gemünztem Golde aber ist
annähernd gleich der Differenz zwischen der
jährlichen Produktion und dem industriellen
Verbrauche: denn soweit für diesen letzte-
ren Münzen eingeschmolzen wei-den, muss
der Geldvorrat durch die Neuprägungen zu-
erst wieder auf seinen imsprünglichen
Standpunkt gebracht werden, und die Ver-
münzung älterer Barreu wird annähernd
ausgeglichen dinch die Zurücklegimg von
neu produzierten Bairen. Unberiicksichtigt
bleibt nur die Münzprägung aus einge-
schmolzenen alten Goldwaren, die aber nicht
bedeutend ist.
Was nun die Abnutzung der Goldmünzen
betrifft, so haben in England die neuosteu
Einziehungen der vor der Hegierun;; «"Ir*^
Königin Victoria geprägten Münzen bei Sd-
vereigns einen Verlust von 1,8 und bei dcii
lialben Sovereigns einen solchen von 4,9 -Vo
ergeben, und da die diu'chschnittliche üm-
laufszeit 62 Jahre beträgt, so findet man bei
den ersteren eine durchschnittliche jährliche
Abnützung von nahezu ^/loooo und bei den
letzteren eine solche von nahezu ®/ioooo. In
Frankreich und in der Schweiz hat man bei
den 20-Francsstücken die jähi'liche Abnutzung
gleich *^/ 10 000 gefunden. Da in der älteren
Zeit die sich stärker abnutzenden Goldstücke
von etwa der Grösse des lialben Sovereign
überwogen, so wird man im allgemeinen
wohl einen Verlust von jährlich ^/ 10 000 an-
nehmen düi-fen, zumal wenn man auch den
frülier stärkeren Abgang durch Umschmel-
zung einrechnet. Bei stets getiBgenen Rin-
gen, Uhren, Ketten etc. ist der Verlust noch
grösser als bei den Münzen, bei anderen
Schmucksachen und Geräten aber kleiner,
und man wird daher auch für das verar-
beitete Gold den eben angegebenen Ab-
nutzungskoeffizienten gelten lassen dürfen.
Der grösste Teil des Goldverlustes aber in
der Gegenwart wie in der Vergangenheit
entsteht durch die Vergoldung.
Nach den amerikanischen Erhebungen
kommen ungefähr 7^/2^/0 des industriell ver-
wendeten Goldes auf die Blattgoldfabrikation.
762
Gold und Goldwährung
Dazu kommt der Verbrauch für die galva-
nische und andere Arten der Vergoldung.
Nach den oben erwähnten Erhebungen wird
in Deutschland die Gesamtmenge des soge-
nannten Verlustgoldes sogar auf 30 ^/o des
jährlichen industriellen Verbrauchs geschätzt.
Nimmt man sie durchschnittlich auch nur
zu 20% an, so macht dies filr die ganze
Kulturwelt jährlich eine endgiltige Kon-
sumtion von 50 Millionen Mark. Es ist dies
etwa Vtoo des wahrscheinlichen gesamten
Goldvon'ates (in Münzen und Schmuck-
sachen etc.) der heutigen Kulturwelt, und
man wird dieses Verhältnis auch auf die
Vei'gangenheit anwenden dürfen. Die
sonstigen Verluste an Gold, etwa durch
Schiffbrüche, Vergrabungen etc. betragen
gegenwärtig jedenfalls niu* wenige MiDionen
Mark jährlich, sind also im Verhältnis zum
ganzen Bestände sehr klein, wähi^end früher
die letzterwähnten Ursachen vielleicht etwas
grössere Bedeutung hatten. Sowolü das zu
Vergoldungen dienende als das übrige ver-
loren gehende (lold dürfte in stärkerem
Verhält nis.se dem Münz vorrate als dem Be-
stände an verarbeitetem Golde entnouimen
werden, doch ist es nicht nötig, diesen
Untei-schied hier weiter zu berücksichtigen.
6. Goldvorrat. Wir dürfen nach dem
obigen mit genügender Sicherheit sagen,
dass der gesamte Verlust gegenwäi'tig un-
zweifelhaft und wahrscheinlicli auch in der
Vergangenheit mit durchschnittlich jährlich
2 KHK) des Gesamtvorrates an gemünztem und
verarbeitetem Golde nicht zu hoch ver-
anschlagt ist. Für den Zeitraum eines
Jahrhundei-ts kann man ohne erheblichen
Fehler den Verlust nach diesem Ver-
hältnisse (mit Eücksicht auf die Art, wie
es gefunden worden) in arithmetischer
Progression berechnen, also in KMi Jahren
einen Abgang von ^.5 des Anfangsbestandes
annehmen. Setzt man dann den Vorrat
Europas an gemünztem und verarbeitetem
(xolde im Jahre 1500 gleich 1000 Millionen
Mark und nimmt innerhalb der folgenden
Perioden von 50 oder 100 Jahren annähernd
gleichmässige Produktion an, so berechnet
sich nach jenem Abnutzuugsverhältnisse und
den oben angeführten Produktionszahlen der
gesiimte Goldvorrat von der abendländischen
Kultur aufgenommen wie folgt:
1550 1710 Mill.
1600 2720
17(X) 4410
M.
w
n
1800 7 940 Mill. M
J848 9 s6o
1890 28 560
r>
n
n
Für 1900 sind etwa 35 500 Millionen an-
zunehmen.
Zur Pmbe auf dicvse Rechnung wollen
wir. auch den gegenwärtigen Goldbestand
der Kulturwelt unmittelbar zu schätzen ver-
suchen. Nach den Untersuchungen von Pal-
grave und ^lartin ist der BarvoiTat Eng-
lands an Gold noch kleiner, als man bis-
her anzunehmen pflegte, und man Avird ihn
mit Einschluss der Barren und fremden
Münzen in der Bank auch für das Jahr 1900
nicht höher als zu 2000 Millionen Mark an-
setzen dürfen. Den Vorrat Frankreichs
an Goldmünzen hat Foville 1891 (Econo-
miste fran^ais, 19. September 1891) nur zu
4<X)0 Millionen Francs und in einem amt-
lichen Bericht für 1897 auf 4200 Francs
geschätzt; jedenfalls wird der monetäre
Goldbestand in den Ländern des lateinischen
Münzbuudes zusammen nicht mehr als 4(KK)
Millionen Mark betragen. In den Verei-
nigten Staaten stellte der Vorrat an
Goldmünzen nebst den im Schatzamte la-
gernden Barren nach der Scliätzung des
Münzdirektors im Jahi-e 1898 die Summe
von 925 Millionen DoUar dar. Diese Schät-
zung dürfte aber in ihren älteren Grund-
lagen ungenau und um 50 — 00 Millionen
Dollar zu hoch sein, so dass sich der wirk-
liche Goldbestand der Union auf etwa 3GCK)
Millionen Mark belaufen würde. Der Gold-
vorrat Deutschlands am Ende des Jahr-
hunderts ist mit Einschluss des Besitzes der
Reichsbahk an Barren und fremden Münzen
auf etwa 3100 Millionen Mark zu veran-
schlagen. Die nachgewiesenen Einschmel-
zungen von deutschen Goldmünzen an
fremden Münzstätten belaufen sich nach
einer amtlichen Ermittelung bis Ende 1898
auf 3S6 Millionen Mark. Der Goldvorrat
Geste rreich- U n garn s (hauptsächlich
niu* in den Kassen der Bank und des Staats)
wird auf 900 Millionen Mark gescliätzt.^
Die gross te jemals dagewesene GolUau-
sammlung hat in Russland stattgefunden,
wo die Keichsbank mit Einschluss des ihr
zur Aufbewahnmg übergebenen Goldes der
Reichsrentei im September 1897 einen Gold-
vorrat von 1131,7 Millionen Rubel (zu 2,1 ü
Mark) besass. Seitdem hat infolge der Wieder-
aufnahme der Barzalüungen tler VoiTat bei
der Reichsbank abgenommen, dagegen be-
findet sich jetzt eine bedeutende Summe in
Gold im Umlauf. Für Ende 1899 w^urde
diese in dem Bericht des Finanzministere
a\if 639 Millionen Rubel geschätzt; dazu
kamen 927 Millionen in Münzen und BaiTon
l)ei der Reichsbank und den Staatskassen,
so dass sich ein Gesamtbestand von 1560
Millionen Rubel oder rund 3380 Millionen
ergiebt.
Auf die übrigen em'opäischen Ijänder
kommen etwa 800 Millionen und auf die
britischen Kolonieen mit Ausschluss von
Indien und die übrigen amerikanischen
Länder imgefähr 1201» Millionen Mai*k. So
ergiebt sich ein Gesamtbestand an Gold-
münzen und Baukbarren von 16980 Milli-
onen Mark. Da nun aber auch mindestens
Gold imd Goldwälirung
763
IV 2 Milliarden Mai-k aus dem Gebiet der
europäischen Kultur nach Ostasien abge-
flossen sind, so würde sich ans dieser
Schätzung in Yerbindung mit der obigen
ergeben, dass der Wert der in diesem Ge-
biet vorliandenen, zum Teil seit Jahrhun-
derten angesimimelten Gold waren aller Art
ungefähr dem Werte des zu monetären
Zwecken dienenden Bestandes gleich sei,
was auch aus anderen Gnmden annehmbar
scheint. Dass bei den gegenwärtigen und
den wahi'scheinlichen künftigen Verhältnissen
der Goldpi-oduktion von einer Goldknappheit
nicht die Rede sein kann, ist jetzt wohl
selbstverständlich. Die zeitweilige Knapp-
heit an flüssigem Kapital, die sich in hohen
Diskontsätzen äussert, hängt mit einer an-
geblichen »aj)preciation« des Goldes ganz
und gar nicht zusammen und sie ist übri-
gens gleichzeitig mit einer allgemeinen
Erhöhung des Niveaus der Warenpreise
aufgetreten. Die Gold an Sammlungen zur
Wiederherstellung der A'aluta in Kussland
und Oesterreich sind ohne Schwierigkeit
von statten gegangen. Selbst ein verstärk-
ter Abfluss von Gold nach Indien, wie er
bei der oben erwähnten Währungsreform
in Aussicht steht, ei-scheint irnter den heu-
tigen Umständen nicht mehr bedenklich.
Indien hat in den Jahren 1881—1898
diu'chschnittlich jährlich für ungefähr 42
Millionen Mark melu* Gold eingeführt als
ausgeführi ; bei einer PiTjduktion von mehr
als 1 MiUtarde Mark würde aber auch ein
doppelt so grosser Abfluss nach Indien für
die euroj)äischen Geldverliältnisse nicht
störend sein.
7. ßarrenhandel. Ein- und Ausfuhr.
Was die Technik des (loldban-enhandels be-
trifft, so werden dieselben in London nach
der Unze Standard (22 Karat oder 0,9167
fein) notiert. Da aus einer solchen Unze
3 £• 17 sh. 10^/2 d. ge])rägt werden, so
kann der Preis derselben nie über diesen
Betrag hinausgehen, solange vollwichtige
Goldmünzen das allgemeine Zahlungsmittel
bilden, da man dann ja beliebig viele Barren
durch Einschmelzung solcher Münzen er-
halten kann. Die untere Grenze des Preises
der Barren aber ist 3 £ 17 sh. 9 d., da
(abgesehen von der unentgeltlichen, aber
mit einem kleinen Zinsverlust verbundenen
Prägung) die Bank von England verpflich-
tet ist, jedes ihr angebotene Quantum zu
diesem Preise mit ihren stets einlöslichen
Xoten anzukaufen. Das Gewicht der in
den grossen Verkehr kommenden Banken
betnigt gewöhnlicli 200 Unzen, ungefähr
6 Kilo. Die fremden Goldmünzen wenlen
nach Unzen brutto notiert.
In Paris wird das Barrengold nach
Kilo von 1000/ lOuo Feinheit notiert, dabei
aber nicht die ^unme zu Gnmde gelegt,
die aus einem Kilo Feingold geprägt wird
(3444,44 Francs), sondern es wird davon die
Prägungsgebühr, 0,70 Francs, für ein Kilo
Münzgold oder 7,44 Francs für ein Kilo
Feingold abgezogen. So ergiebt sich als
Münzpreis eines Kilo fein 3437 Francs, und
die Börsennotiz giebt nun an, lun wieviel
pro Mille Prämie das Feingold höher steht
als diese. Grundzahl. Bis 1841 wurde nach
dem ältei-en Prägungstarif ein Grundpreis
von 3434,44 angenommen, obwohl in M'irk-
lichkeit der Müiizpieis des Feingoldes seit
1835 auf 3437,77 Francs stand. Bei dem
jetzigen Münzpreis kann die notierte Prä-
mie nicht bis 3 pro MiUe steigen, solange
die franztisisclien Alünzen in gutem Stande
sind. Da aber die Bank von Frankreich ilux)
Noten oft überwiegend mit einigerraassen
abgenutzten Zehnfrancsstücken einlöst, so
stand z. B. im September 1891 die Prämie
auf ö — () pro Mille. Die Probierkosten be-
tragen in Paris für Gold 1,65 Francs, die
Schmelzkosten 1 Franc für das Kilo, die
Affiuierungskosten 6 Francs für das Kilo.
In Deutschland ist die Beichsbank ver-
pflichtet, alles ihr angebotene Gold zu dem
Pi-eise von 1392 Mark für ein halbes Kilo
(das frühere Zoll- und Münzpfund) von
1000/ lOOU anzukaufen, während der Aus-*
münzungswerl dieses Goldquantums 1395
Mark beträgt. In der ei-sten Zeit nach der
Münzreform, als die wirklichen Zahlungs-
mittel noch überwiegend Silber- und Papier-
geld waren, stieg der Goldpreis auf 1400 —
1405 Mark, doch war dies nur eine vorüber-
gehende Erscheinung. — In Bezug auf die
Versendungskosten des Goldes sei bi^uerkt,
dass sie nicht viel weniger als die des Sil-
bers betragen, weil sie sich im wesentlichen
nach dem Werte und nicht nach dem Ge-
wichte richten. Sie beti'agen z. B. von
Amsterdam nach Berlin 1 pro Mille (für
Silber 1^/4 pro ^liUe), von Paris nach Ber-
lin V;4—V!2 pro Mülo (für Silber 2V'2 pi-o
Mille), von London nach Berlin V.'-i pro
Mille (bei Silber 2^2 pro Mille), von 2sew-
Tork nach Hamburg 6 pro Mille (für Silber
7 pro Mille).
Der Centralpunkt des internationalen
Verkehrs in Goldban-en und -münzen ist
die Bank von England, üeberhaupt ist
England dasjenige Liand, wohin der grösste
Teil des neu gewonnenen Goldes aus den
Produktionsländern zuei*st zusammenfliesst
und von wo aus die übrigen euroi)äischen
Länder hauptsäclilich ihren Anteil an diesem
Metall beziehen. Die Statistik der Goldein-
fuhr und -ausfuhr ist indes auch in England
noch unsicher genug, wenn sie auch im
ganzen dort einen höheren Grad von Ge-
nauigkeit besitzen dürfte als in den Staaten
des Kontinents. Wir begnügen uns hier,
die Gesamtsummen der britischen Ein- und
u
764
Gold lind Goldwälming— Groschen
Ausfuhr von Gold in 1000 £ für eine Reihe
von Jahren zusammenzustelleu.
Jahr Emfuhr Ausfuhr Jahr Einfuhr Ausfuhr
1877 15442,0 20361,4 1888 15788,0 14944,1
187820871,4 14968,5 1889 17914,014455,3
1879 13368,7 17578,8 1890 23568,0 14306,7
1880 9 454,9 11828,8 1891 30275,624167,9
1881 9963,0 15498,8 1892 21583,2 14832,1
1882 14373,6 12023,8 1893 24834,7 19502,3
1883 7 755,8 7091,4 1894 27572,3 15647,6
1884 10744,4 12012,8 1895 36009,3 21369,3
1885 13376,6 11 930,8
1886 13392,3 13783,7
1887 9955,3 9323,7
1896 24468.6 30123,9
1897 30808,9 30808,6
1898 43 723,0 36 590,1
Die Goldeinfuhr und -ausfuhr der Vereinigten
Staaten betrug in 1000 Dollars:
Jahr Einfuhr Ausfuhr Jahr Einfuhr Ausfuhr
1881
1882
1883
1884
1885
188H
1887
1888
1889
100 031
34 377
17734
22831
26692
20743
42911
43 934
10284
2565
32588
II 600
41 082
8478
42952
9701
18376
59952
1890
1891
1892
1893
1894
189Ö
1896
1897
1898
17274
86363
50 195
108 686
76978
66468
112 410
40362
15406
Die Zukunft des Goldes, Zeitschr, f. d. ges.
Staatsw. 1891, Heft IIL — J. G. Hoffmann,
Die Zeichen der Zeit im deutschen Müruicesen,
Berlin 1891. — Der Uebergang zur Goldwährung
(PreisschHßen von Grotte, Miüauer, Weibezahn
und Bach), Berlin 1868. — Bamberg er,
Reichsgold, Leipzig 1876. — Jevons, On the
condition of the metallic eoinage of the United
Kingdom. Joum. of the Stat. Soc. (1868) XXXI,
part IV. — Haupt, Arbitrages et paritis. 6,
ed., Paris 1883. — Heifferieh, Die Reform des
deutschen Geldwesens. I. Geschichte der de^Ur
sehen Geldreform, Leipzig 1898. II. Beiträge
zur Geschichte der deutschen Geldreform, Leip-
zig 1898. — Biedermann, Die Statistik der
Edelmetalle als Materialien zur Beurteilung der
Währungsfrage, Berlin 1898. — Amüiche Denk-
schriften über die Attsßihrung des Gesetzes über
die deutsche Münzreform I — IX, abgedruckt in
Hirths Ann. 1871^188£. — Deutsches Handels-
archiv, Berlin. — Verhandlungen der deutschen
SUberkommüsion, Berlin 1894 . — Raffalovich,
Le marche ßnancier en 1898—1899, Paris 1899,
— Annual Report of the Deputy Master of the
Mint, London. — Annual Report of the Director
of the Mint, Washington. — Report of the Direc-
tor of the Mint upon the Prodnction ofthc precious
metnU in the United States, Washington (jähr-
lich seit 1880). — Bulletin de staiistique et de
legishtion comparee, Paris. ■— AdministratiMi des
monnaies et medailles. Rapport au ministre
lies ßnances. IV. Annce, Paris 1899. — Bulle-
tin russe de staiistique financihre. VI. Annee,
Pt'tersbourg 1899. — The Russian Journal of
Financial Statistics, St. Petersburg 1900.
Lencis.
12943
18233
49699
21 174
72449
36385
33525
85015
120392
Litteratnr: Ausser den bei den ArU. Doppel-
w ä h rung und Edelmetalle angegebenen
Schriften (siehe oben Bd. III, Seite j^öljöi U7id
^65) rergl. Jacob, Histor. Inquiry into the
production and ccnismnption of the precious me-
tals, London 18S1. — A, \\ Humboldt, Ueber
die Schwankungen der Goldproduktion, Deutsche
Viertcljahrsschrift 1888. — HeifetHch, Von den
periodischen Schwanhmgen im Werte der edlen
Metalle, yUrnberg I84S. — J et L, Sabatier,
Productum de Vor, de Vargent et du cuivre chez
les anciens, St. Peter sbonrg 1850. — Levassear,
La question de Vor, Paris 1858. — M. Cheva-
lier, De la baisse probable de Vor, Paris 1890.
— LauVf De la production des metaux pr^ci-
fuj- en Californie Pari^ 1862. — LandtHn,
Traitc de Vor, Paris 18ÜS. — Jloswag , Lcs
nirtaux precieux, Paris 1865. — Soetbeer, Das
Gold (in der Brockhausschen nGegenwartu 1856).
— Derselbe, Die Goldfrage etc. Zeitschr. f.
Stduf^.r. h<:i,J. — Der selbe, Denkschrift betr.
deutsche Miinzeinigung , 181,9 (im Namen des
Aif^.^<nusses des deutschen Ilandchtages , auch /^ u /^ t i.»
in Ilirths Auy.. :. '-> abgedruckt). — Derselbe, IjOSClieil, IxBOrg JoaCümi,
^:nr Stat. dn- Eiii.w-i.Jir^ Jahrb. f Not. u. Stat. \irQ\)orm am 10. VIII. 1831 ZU London, aber
isri, ^. F. IL und jiJ. Bd. — />er»elbc, I deutscher Abstammung und Enkel des Leipziger
KdelmvtaUijewinnung uuo Vrnrrndung ebenda Buchhändlers Georg Joachim Göschen, studierte
X. !>. I. Bd. ~ Derselbe, Jms <;oUUand Ojir, in Oxford, widmete sich dem Bankfache und
Vierteljahrsschrift f Volk^w. :::n^ .A'/..v . AT//. 1 ward durch seine Schrift über den Nutzen der
— Derselbe, Materialien iur [:nnuterHu<j And\i\,\\<^\s'ixn\gQri Wechselkurse (s. u.) schnell be-
s.
Goldpräniienpolitik
Diskonto und Diskontopolitik
sub II, 8 oben Bd. III S. 179 ff.
Gold und Silberwaren
s. Feingehalt der Edelmetalle
oben Bd. III S. 825 ff.
Beurteilung der EdebaelaUverhr':yJ,^ac, 2. Ausg.,
Berlin 18S6. — Derselbe, LittduturnachuHis
über Geld- und Münztresen, Berlin :>'oj. —
Xeller, Die Frage der internationalen JJinn-
kannt. 18<>5 wurde er Vizepräsident des Han-
delsamts, 1H68 unter Gladstone Präsident des
Armenamts, 1871 bis zum Sturze Gladstones (1874)
erster Lord der Admiralität, 1877 Präsident der
einigung, Stutt^jart 1869. — Die *«^e;'n«/io««/r vom Unterhause einsresetztenSilber-Enquetekom-
Münzkonferenz zu Paris 1807. Vebcrsetzung ron
Geschwender, Erlangen 1869. — Sucss, Die
Zukunft des Goldes, Wien 1877. — Del Mar,
Histnry of precious Mct(d.s, Londmi 188(K —
Lexts, Die Edeimetnlle im auswärtigen Handel
Russlands, Jahrb. f. Xat. u. Stat. 1877, Bd.
XXIX. — Derselbe, Beiträge zitr Stat. der
Edelmetalle, ebenda Bd. A'A'AVT. — Ruhland, ' schaftlichen Schriften:
mission, Mai 11^80 ao. Botschafter in Koustanti-
nopel und Ende Dezember 1886 Schatzkanzler. Am
2iK VI. 18^5 trat er, nach seiner abermaligen
Ernennung: zum ersten Lord der Admiralität,
als Kabinettsminister in das III. Ministerium
Lord Salisburj's ein.
Goschen veröffentlichte von Staats wissen-
Goschen — Gothenbiirger Ausschanksystem
765
a) in Buchform: The theory of foreign
exchanges. 1. und 2. Aufl. London 1863; 3. und
4. Aufl. 1864; 5. Aufl. 1865; 6. Aufl. 1866; 8.
Aufl. 1875; 9. Aufl. 1876; 10. Aufl. 1879; 11.
Aufl. 1883; 12. Aufl. 1886; 13. Aufl. 1888; 14.
Aufl. 1890; 15. Aufl. 1892; 16. Aufl. 1894; das-
selbe in französischer Uebersetzun^ : „avec in-
troduction par L. 8ay." Paris (1863); dieselbe
Üebersetzung mit dem Titelzusatze : suivie du
rapport sur le payement de Tindemnite de
guerre et sur les Operations de change qui en
ont ete la consequence, par L. Say, Paris 1875;
dasselbe in holländischer Uebersetzung von N.
G. Pierson: De wisselkoersen , Haarlem 1864;
dasselbe deutsch: Theorie der auswärtigen
Wechselkurse, von F. Stöpel, Frankfurt a. M.
1875; dasselbe in einer 2. deutschen Ueber-
setzung von J. Herz, Wien 1876. — Speech
on the bankruptcy Sequestration, London 1868.
— On the progressive increase of local taxa-
tion, with especial reference to the propor-
tion of local and imperial burdens borne by the
diiferent classes of real property in the United
Kingdom, London 1870. — Reports and speeches
on local taxation, London 1873. — Cultivation
and use of the Imagination, London 1878 ; 2. Aufl.
1893. — Probable results of an increase in
pnrchasing power of gold, London 1883. —
Addresses on educationai and economical sub-
jects, London 1885. — Condition and prospects
of trade : an address, London 1885. — Political
Speeches delivered during general election, Lon-
don 1886.
b) in Zeitschriften 1. (Institute of Bankers):
On the probable result of an increase of the
pnrchasing power of gold, Jahrg. 1883, April,
London. — On currency, bank reserves and £ 1
notes, Jahrg. 1891, Februar. — On the metallic
reserve. Letter to the govemor of the Bank
of England, Jahrg. 1891, Dezember. - 2. (Jour-
nal of the Royal Statistical Society) : The incre-
ase of moderate incomes, vol. 50, 1887, S. 589 fr.
— 3. (Journal des Economistes) : Le regime
monetaire de la Banque d'Angleterre , Jahrg.
1891, März.
Vergl. über Goschen: Stourm, Le bud-
get, 2. Aufl. , Paris 1891 , Vorrede S. III, Text
SS. 54, 87, 158, 209, 353. — - A. E. Hake, M.
Goschen's mission, in National Review, January
1892, London. —- Gairdner, Mr. Goschen s
scheme for reform of the Bank Acts, 2nd edition,
Glasgow 1892. — Pownal, Bank reserves, the
central stock of gold, and one pound notes,
London 1892. — (Die letzten drei Schriften be-
ziehen sich auf folgende, durch die Erisis des
Geldmarktes von 1890 veranlasste gesetzgebe-
rischen Reformprojekte Goschens: 1. Erhönung
des Reservekapitals, 2. Verstärkung des Gold-
vorrates. 3) interimistische Emission von Noten
a ein Pfd. Sterling der Bank von England). --
G M. Boissevain, Goschens voorsteT to wijzi-
_ der Engeische bankwet in „Üe Economist",
[aag 1892, Januar, S. 22. Lippert
gpg
Haas
seit 1885 Professor an der technischen Hoch-
schule in Karlsnihe. Im Jahre 1890 folgte Got-
hein einem Rufe als Professor der Staatswissen-
schaften an die Universität Bonn.
Von seinen Staats wissenschaftlichen und
kulturgeschichtlichen Veröffentlichungen seien
hier genannt :
Der gemeine Pfennig auf dem Reichstage
zu Worms, Breslau 1877. — Politische und
religiöse Volksbewegungen vor der Reformation,
Breslau 1878. — Der christlich-soziale Staat der
Jesuiten in Paraguay. (Staats- und sozialwis-
senschaftliche Forschungen, hrsg. von Schmoller,
IV. Bd., Heft 4), Leipzig 1883. — Bilder aus
der Geschichte des Handwerks in Baden, Karls-
ruhe 1884. — Ignatius von Loyola. (Schriften
des Vereins für Reformationsgeschichtfs , 14.
Heft.) Halle 1886. — Die Kultnrentwickelung
Süd-Italiens in Einzeldarstellungen, Breslau
1886. — Die Aufgaben der Kulturgeschichte,
Leipzig 1889. — Pforzheims Vergangenheit.
Ein Beitrags zur deutschen Städte- und Ge-
werbe^eschichte. (Staats- und sozial wissen-
schaftliche Forschungen, hrsg. von Schmoller,
IX. Bd., 3. Heft), Leipzig 1889. — Wirtschafts-
geschichte des Schwarzwaldes und der angren-
zenden Landschaften, 1. Bd., Strassburg 1891/92.
— Ein Neu: Nutzlich vnd Lustiges Colloquium,
Von etlichen Reichstags-Puncten. Hrsg. von
E. Gothein, Leipzig 1893 (Brentano u. Leser,
Sammlung älterer und neuerer Staats wissen-
schaftlicher Schriften des In- und Auslandes,
Nr. 3.) — Ignatius von Loyola und die Gegfen-
reformation, Halle 1895. —
Ausserdem finden sich mehrere Abhand-
lung^en Gotheins in der „Zeitschrift für Ge-
schichte des Oberrheins", in der „Westdeutschen
Zeitschrift", den „Preussischen Jahrbüchern"
und in der „Zeitschrift für Kulturgeschichte"
Neue (4.) Folge Bd. I (1893/94) Heft 1 : Thomas
Campanella. Ein Dichterphilosoph der italieni-
schen Renaissance.
Bed.
Gothein, Eberhard,
geb. 185B zu Neumarkt in Schlesien. Seit 1878
war er Privatdozent in Breslau und Strassburg,
Gothenburger Ausschanksystem.
1. Was wird unter dem Gothenburffer Sys-
tem verstanden? 2. Entstehung und Verbrei-
tung des Systems. 3. Die Ordnung im einzelnen.
4. Die Resultate der Ausschankgesellschafren.
5. Die wichtigsten Angriffspunkte gegenüber
dem Gothenburger System und der „Saralags"-
ordnung. 6. Abschliessende Kritik.
1. Was wird nnter dem Gothenburger
System verstanden? Obwohl die unten
zu behandelnde Onlnung des Ausscluuik-
wesens schon früher in einzelneu kleineren
Städten Schwedens (so z. B. schon 1850
in Falun) versucht worden war, erweckte
sie doch erst nach ihrer Einfühning in
Gothenburg im Jahre 1865 eine allgemeiuere
Aufmerksamkeit, welche veranlasst hat, dass
man nachher diese Ordnung durch den
Namen jener Stadt gekennzeichnet hat. In
Norwegen kommt jedoch der Ausdruck
»Gothenburger System« seltener in
766
G otlieiibiu'ger Ausschanks^'stem
der öffentlichen Diskussion über die bezüg-
lichen Fragen vor; hier spricht man ge-
wöhnlich von der »Samlagsordnnng«
(^>Samlag« ist — Gosellschaft) , was damit
zusammenhängt, dass diese Einrichtiing
unter der in Norwegen zur Anwendung ge-
bi'achten Form in melu'ereu BozieJiungen
sich von derjenigen Gestaltung des Systems,
welches in Schweden zum Voi^schein kommt,
imterscheidet.
Wie aus diesem Thatbestande hervorgeht,
ist das Gothenburger System auch da, wo
es in seinen Grundzflgen angenommen ist,
nicht überall auf genau dieselbe Weise durch-
geführt. Das System ruht auf einem Kom-
plex von Regeln, der in den verschiedenen
Orten nicht unbedeutend variiert weixien
kann. Und dies macht nicht allein Schwie-
rigkeiten bei der theoretischen Begriffs-
bestimmung, sondern dieser Umstand muss
stets im Auge behalten werden bei den
Angriffen, die von verschiedenen Seiten
gegen das System gerichtet worden sind.
Untersucht man nämlich diese Angriffe
näher, so wird man oftmals ersehen, dass
dieselben nicht sowohl dem Kern des Svs-
tems gelten als derjenigen Art und Weise,
in welcher die Ordnung hier oder da durch-
geführt worden ist.
Das konstitutive Element des Systems
besteht darin, dass j e d w e d e r A u s s c h a n k
— teilweise auch der Detail verkauf -^ v o n
Branntwein oder überhaupt Spi-
rituosen Getränken in einer Stadt
oder innerhalb ein erLand komm uue
(»hered«) an eine Aktiengesellschaft
(schwedisch »Bolag«, norwegisch »Sam-
lag<^) übertragen wird, deren Mitglieder
von dem eingesetzten Kapital nur begrenzte
Zinsen (5"/o) bekommen, wälirend der er-
übrigte Nettogewinn zum Besten allgemeiner
oder wohlthätiger Zwec^ke verwendet wird,
— sowie ferner, dass die Vorsteher der
Ausschankstellen fest besoldete Personen
sind, die von dem Ausschank gar keinen
direkten oder indirekten Vorteil ziehen
können. Wo diese Regeln eingeführt sind,
ist man berechtigt, die Ordnung als Gothen-
burger System zu bezeichnen. Damit aber
dasselbe in seiner Reinheit und mit
dem Gedanken der ursprünglichen Stifter
in voller Uebereinstimmung durchgeführt
charakterisiert werden soll, muss noch fol-
gendes hinzugefügt werden : Die Direktion
der Gesellschaft muss über die Verwendung
des T>berschusses zu besdiliessen haben.
Diese Nutzbarmachung des Ueberschusses
muss vorzüglich darauf ausgehen, teils die
!Mässigkeits- und Enthaltsamkeitsljestrebun-
geu zu untei*stützen, teils in anderer Weise
den ärmei'en Klassen zu frommen. Es muss
Sorge dafür getragen werden , dass die
Schanklokale rein, luftig und ordentlich
seien, dass auf Kredit nicht verkauft wenle,
— dass berauschten oder minderjährigen
Pei'sonen nichts verabreicht werde. Pls
wird dahin zu streben sein, dass sowohl die
Zahl der Ausschankstellen als die Zeit in
welcher sie offen sind, eingeschränkt wenle.
Stellt man indessen dergestalt strenge
Forderungen an ein reines und durchge-
führtes Gothenburger System, so möchte,
wie es aus dem folgenden liervorgehen
\drd, zu behaupten sein, dass dasselbe
überall oder beinahe überall, wo es auf-
genommen worden ist, zur Zeit nur in
einer mehr oder weniger modifizierten Form
besteht.
2. Entstehung und Verbreitung des
Systems. Wie oben angedeutet, kann das
System, von einigen älteren, wenig um-
fassenden und wenig bemerkbaren Ver-
suchen abgesehen, von seiner Einführung
in Gothenburg im Jahre 1865 datiert
werden.
Vorgeschlagen wurde eine derartige Ord-
nung von Seiten eines Komitees, das im
vorausgehenden Jahre, um die Ursachen des
Pauperismus in dieser Stadt zu untersuchen,
ernannt war. Das Komitee bezeichnete die
Trunksucht der Bevölkerung als Hauptur-
sache und sah ein geeignetes Mittel zur
Ablülfe des Elends in einem neuen Aus-
schanksystem, infolgedessen der Ausschank
einer Aktiengesellschaft übergeben wenlen
sollte, »welche das Geschäft nicht des Ge-
winnes wegen treibe, sondern aus Wohl-
wollen den arbeitenden Klassen gegenüber <^.
Indem die Konkurrenz unter den privaten
Schankwirten wegfiele, würde die Anzahl
der Schenken verringert, die Pi-eise erhöht
und dadurch der ßranntweinkonsum ein-
geschränkt werden können. Danel)en setzte
man sich auch als Ziel, mehr als bisher die
Schenken, die nach gesunden, hellen und
geräumigen Lokalen verlegt weixien sollten,
zu Speisehäusern der arbeitenden Klassen
zu machen. Ferner wurde beabsichtigt, dass
der Ueberschuss des Geschäftes, anstatt dem
einzelnen zu gute zu kommen und dadurch
eine Klasse den Mässigkeitsbestrebungen
gefährlicher Schankwirte zu schaffen, zum
Besten derjenigen Klassen selbst angewendet
werden sollte, die das grösste Kontingent
der Branntweinkonsumenten abgab. Und
schliesslich wunle das Augenmerk darauf
gerichtet, dass durch den Uebergang des
Ausschanks an eine derartige Gesellschaft
ein grosserer Gehorsam gegenüber den ver-
schiedenen restriktiven Gesetzesbestimmun-
gen hervorgerufen werden möchte (Verbot
des Ausschankes an Minderjährige oder Be-
trunkene, zu gewissen Tageszeiten, auf
Kredit oder gegen Pfand), — Bestimmungen,
deren vollständige Befolgung zu kontrollieren
immer unmöglich sein wirtl gegenüber dem
Gotlienburger Ausschanksystem
767
Zusammenhalten von gewinnsüchtigen Ver-
käufern und Käufern.
Nachdem diese Ordnung in Gothen-
burg eingefülirt wai*, hat dieselbe sich bald
nicht allein über ganz Schweden, sondern
auch in den Nachbarländern Norwegen
und Finland eingebürgert. Im Jahre
1877 wiu'den in Stockholm alle nicht
privilegierten Schankgerechtigkeiten von
einer nach dem Gothenbm-ger System ge-
bildeten Aktiengesellschaft übernommen, und
im Jalu-e 1886 waren von 987 Detailhand-
lungs- und Schankgerechtigkeiten 902 im
Besitze solcher »Belage«, deren auch in
den Landdistrikten einzelne gebildet waren.
Mit wenigen Ausnahmen sind jetzt in allen
schwedischen Städten Brauntweinsbolage
errichtet worden.
Das erste norwegische »Brände-
vins-Samlag« wurde in Kristiansand
eingerichtet, kurz nachdem die gesetzlichen
Hindernisse gegen Errichtung solcher Ge-
sellschaften entfernt worden waren durch
ein Gesetz von 1871, beschlossen auf der
Grundlage eines privaten Vorschlags, der
übrigens weder auf das Gothenburger Sys-
tem hinw^eist noch auf Kenntnis der 6 Jahre
vorher in Gothenburg eingeführten Ordmmg
zu ruhen scheint. Dagegen wird auf die-
selbe Bezug genommen in dem Gutachten
des betreffenden Stortingskomitees. Die
Anzahl der Samlage stieg schnell, und der-
gleichen w^aren im Jahre 1889 in sämtlichen
Städten errichtet, nm* mit Ausnahme we-
niger ganz kleiner sowie einiger Städte, wo
der Branntweinsverkauf verboten war.
Die Rechte und die Wirksamkeit der
»Belage« und der »Samlage« in Schweden
und Norwegen äfbd jetzt durch die GG.
bezw. V. 24. Mai 1895 und v. 24. Juli 1894
geregelt. Dem letztgenannten norwegischen
Gesetze zufolge soll es diu-ch Abstimmung
aller 25 Jahre alten Männer und Weiber
einer Stadtgemeinde fm 5 und 5 Jahre be-
stimmt werden, ob ein Samlag errichtet
oder fortgesetzt werden oder jeder Aus-
schank und jeder Detailverkauf von Brannt-
wein verboten werden soll. Die Stimmen
der Abstinenten zählen für statu« quo.
Auf der Grundlage dieser Vorschriften
wurde von der Seite der Totalisten und der
Anliüuger der Verbotsgesetze in den Jahren
1896 — 99 ein Stiu'm gegen die Samlage
erhoben, von denen 1896 6 niedervotiert
wurden. Schon im nächsten Jahre hatte
sich doch das Blatt gewendet, und in 10
von 12 Abstimmungen im Jahre 1897 und
in 8 von 12 Abstimmungen im Jahre 1898
sieg-ten die Samlagsfreunde. Dieses war
auch der Fall bei der Abstimmung in
Christiania i. J. 1899, wo niu* V 5 der Stimm-
berechtigten für die Abschaffung des Sam-
lags votierten.
Auch in Finland sind Ausschank-
gesellschaften dieser Art allmählich in den
meisten Städten ins Leben gerufen.
Dagegen ist meines Wissens diese Ord-
nung bis jetzt in keinem Lande ausser den
3 genannten eingeführt worden, obgleich
sie an vielen Orten (besonders in England
und Amerika) warme Fürsprecher ge-
funden hat.
3« Die Ordnung im einzelnen« a) Der
Umfang der Gerechtsame derSamlage.
In der Regel sind in der betreflfenden Kommune
die sämtlichen Gerechtigkeiten in Bezug auf
Ausschank und Detailhandloug (in beiden Län-
dern bis zur Grenze von 250 Liter) von Brannt-
wein dem äamlag überlassen. In einigen Städten
(z. B. in Christiania) bestehen jedoch noch
einzelne ältere Schankgerechtsame, welche den
Inhabern auf Lebenszeit verliehen sind und von
den Samlagen noch nicht haben abgelöst wer-
den können. Dass dieser ausserhalb der Sam-
lage aufrech tgehalteue Betrieb des Branntwein-
verkaufs mehrfach auf die Thätigkeit der Sam-
lage hemmend einwirken muss, ist leicht zu er-
sehen. In beiden Ländern wird doch über die
Hälfte — in Norwegen im Jahre 1897 etwa 60 % —
von dem im Lande verbrauchten Branntwein
durch die Bolage und Samlage verkauft. Es
ist den Bolageu und Samlagen ermöglicht, be-
dingungsweise eine gewisse Anzahl der Aus-
schauks- und Kleinverkaufsgerechtsamen gegen
eine Abgabe anderen zu überlassen, ein fiecht,
das doch streng kontrolliert wird und kaum
irgendwo in einer gegen die Gedanken der In-
stitution streitenden Weise missbraucbt wor-
den ist.
Das Gothenburger System und die Samlags-
ordnung waren von Anfang an ausdrücklich
nur gegen Missbrauch von Branntwein ge-
richtet. In Schweden haben die Bolage in dem
Kampfe gegen den Branntwein sogar den B i e r -
kons um dadurch zu begünstigen gesucht,
dass den Schankvorstehern die Einnahme beim
Bierausschank überlassen wurde. Nach und
nach hat man aber sowohl in Schweden als in
Norwegen und Finland die Erfahrung ge-
macht, dass das Biertrinken in beunruhigendem
Grade zunimmt, wenn dem Branntweinkonsum
Schranken gesetzt werden (so ist in Schweden
der Bierkonsura von ll.l Liter pro Kopf im
Jahre 1870 bis 42,4 Liter pro Kopf in 1897 ge-
stiegen), und es haben sich demgemäss Bestre-
bungen geltend gemacht, um den Bierkonsum
in den Wirkungskreis der Samlag'e hineinzu-
ziehen. Somit hat man es in Norwegen durch
die Bier- und Weingesetze aus den Janren 1876
bis 1884 den kommunalen Behörden sowohl in
den Städten als auf dem Lande überlassen, den
Ausschank von Bier (samt Wein, Met und
Gider) solchen Samlagen zu genehmigen, deren
üeberschuss für gemeinnützige Zwecke ver-
wendet wird. Die meisten Branntweinssamlagen
der Städte haben jetzt auch solche Schankrechte
erlangt. Bedeutend kann aber die Wirkung
hiervon nicht sein, da eine grosse Zahl älterer
Biergereclitsame besteht und weil Verkauf
von Bier (das nicht an Ort und Stelle verzehrt
wird) ganz frei ist.
b) Die innere Ordnung der Gesell-
768
Grothenburger Ausschanksystem
Schäften. In ihren Hauptzügen ist die innere
Organisation der „ßolage^ und „Samlage" über-
all die nämliche. In den Statuten („Vedtägter")
der Gesellschaft, welche von der betreifenden
Gemeindebehörde oder von einer Verwaltungs-
behörde festzustellen oder zu approbieren sind,
pflegt bestimmt zu sein, dass nur gegen Bar-
geld verkauft wird, nur an erwachsene Personen
(in Schweden setzen die Gesellschaften die Alters-
grenze 3 Jahre höher hinauf, als die Gesetz-
gebung erfordert) und nur an nüchterne Per-
sonen etc. Von der Bedeutung dieser Mass-
regel wird man einen Begriff' bekommen, wenn
bemerkt wird, dass man in einer kleineren Stadt
wie Bergen in einem einzelnen Jahre bis
36000 Individuen wegfgewiesen hat (in Chris-
tian ia 1898 über 62000) Wie schon früher
angedeutet, wird dafür Sorge getragen, dass
die Lokale rein, hell und luftig sind. Da Karten-
spiel nicht erlaubt wird und Zeitungen nicht
zu hahen sind, werden die Gäste sich nicht zu
längerem Aufenthalte versucht fühlen. Viel-
mehr sind die Verkaufsstellen nach der alten
. Regel eingerichtet, wonach „die Gäste bezahlen,
trinken und gehen sollen". In einzelnen Städten,
z. B. Gothenburg und Bergen, haben die
Gesellschaften ausser den Schanklokalen Warte-
und Lesezimmer für die Arbeiter eingerichtet,
wo Zeitungen gehalten werden und wo teil-
weise auch Speisen und alkoholfreie Getränke
verkauft werden. Die Schank Vorsteher werden
von der Direktion ernannt, bekommen ein festes
Gehalt und müssen einen Kontrakt unterschreiben,
in welchem es z. B. für den Saralag Christi-
anias heisst, dass es „die Pflicht des Vor-
stehers sei, zum Trinken nicht zu ermuntern,
sondern sein Möglichstes zu thun, um Betrunken-
heit zu hindern". Es wird namentlich in den
nor welschen Samlagen dafür Sorge getragen,
dass die Vorsteher weder direkt noch indirekt
irgend einen Vorteil aus dem Branntwein ver-
kauf ziehen können. In mehreren schwedischen
Bolägen soll aber diese Massregel nicht so streng
durchgeführt sein. Sowohl in norwegischen als
in schwedischen Gesellschaften hat der Vorsteher
den Verdienst beim Verkaufe von Kaifee, Thee,
Milch, Essen etc. dergestalt, dass der Vorsteher
ein Interesse daran hat, dass die Kunden diese
Waren dem Branntwein vorziehen. Die für die
schwedischen Bolage vielfach bestrittene Frage,
ob man dahin wirken solle, die Schanklokale zu
Speisestellen für Arbeiter ohne eigenes Heim
zu machen, spielt dagegen in Norwegen keine
Rolle, weil daselbst kein besonderes Bedürfnis
vorhanden ist, durch die Samlage der ärmeren
Bevölkerung gutes und billiges Essen zu ver-
schaflen. Seitens vieler Gesellschaften zeigen
sich Bestrebungen, um die Ausschank zeit über
die gesetzlichen Bestimmungen einzuschränken.
Nicht nur ist der Verkauf an Sonn- und
Feiertagen wie an den vorausgehenden Nach-
mittagen verboten, sondern es kann beispiels-
weise erwähnt werden, dass das Bolag zu
Gothenburg den Verkauf im Winter um 6
Uhr, im Sommer um 7 Uhr abends schliesst, —
dass es in Norwegen ganz gewöhnlich ist,
dass die Schankstellen abends um 7 oder 8 Uhr
geschlossen und morgens um 8 oder 9 Uhr ge-
öffnet werden, — und dass die Samlagen in den
meisten norwegischen Städten die Schenken an
Tagen geschlossen halten, an welchen grössere
Menschen massen in der Stadt sich versammeln
(an Markt- und Wahltagen etc.).
c) Die Disposition und Verteilung
des Ueberschusses. Nachdem die gewöhn-
lichen Konsumtionssteuem an die Kommunal-
kasse bezahlt und den Aktionären die oben ge-
nannten 5 % ^^^ Aktienkapitals ausbezahlt sind,
soll der ganze Rest des Ueberschusses zu Öffent-
lichen oder wohlthätigen Zwecken verwendet
werden. Betreffs dieser Verwendung gelten in
Schweden und Norwegen verschiedene Be-
stimmungen. Schon drei Jahre nach seiner
Gründung musste das Gothenhurger Bolag sein
freies Dispositionsrecht üher den Ueberschuss
zu Gunsten der Kommunalrepräsentation auf-
geben. Und der späteren schwedischen Ge-
setzgebung gemäss wird der Ueberschuss mit
bestimmten Bruchteilen durch die Stadt^ und
Landgemeinden, den „Landsting" (Kreistag) und
die Landwirtschaft«vereine der Provinz dispo-
niert. Nach dem geltenden norwegischen
Gesetze werden von dem Reingewinne 20 "/o
durch die Samlage zur Verteilung unter Mässig-
keits- und anderen gemeinnützigen Vereinen
und Institutionen. 15% durch die Kommunal-
behörden und 65% durch den Staat disponiert.
Die letztgenannten 65 ^/^ sollen vorläufig auf-
gesammelt und die Verwendung derselben später
durch ein Gesetz bestimmt werden. Der von den
Samlagen disponierte Bruchteil des Gewinnes
darf Ar solche Unternehmen nicht verwendet
werden, deren Verwirklichung die Pflicht der
Kommune ist. Dieselbe Bestimmung gilt in
Finiand.
4. Die Resultate der Aasscbankgesell-
schafteii« Bevor wir in den zwei folgenden
Abschnitten zu einer Betrachtung der gegen
das Gothenburger System und die Samlagsord-
nung gerichteten Angriffe und zu einer Beur-
teilung der Vorzüge und Mängel des Systems
übergehen, müssen wir durch faktische Angaben,
welche die Resultate der Wirksamkeit der Ge-
sellschaften beleuchten können, das Material
einer solchen Beurteilung Ifcizubringen suchen.
a) Die Wirkung des Systems in Be-
zug auf den Branntweinkonsum. Exakte
Angaben hierüber beizubringen ist, wie leicht
verständlich, unmöglich. Der Einfluss der Ge-
sellschaften auf den Konsum bietet jedenfalls
nur eines von den vielen denselben beeinflussen-
den Momenten. Es lässt sich nicht sagen, wie
gross der Branntweinkonsum gewesen sein
würde, falls die Samlagsordnun^ nicht einge-
führt worden wäre. Man muss sich demgemäss
mit Vermutungen begnügen.
Indessen kann auf einzelne positive Resul-
tate hingewiesen werden, deren Zusammenhang
mit dem Konsum schwer verneint werden kann.
Wenn, wie früher erwähnt, die Zeit, in welcher
der Verkauf von Branntwein vorgeht, durch die
von den Gesellschaften angenommenen Bestim-
mungen über die in der Gesetzgebung vorge-
schriebenen Grenzen hinaus beschränkt wird
und diese Beschränkung eben an solchen Tagen
und Tageszeiten eintritt, wo am häufigsten
Missbrauch stattfindet, so darf angenommen
werden, dass der Einschränkung in der Zeit
eine ähnliche, wenn auch vielleicht nicht pro-
portioneile des Konsums entsprechen müsse. In
gleicher Weise wird man die Berechtigung
eines Wahrscheinlichkeitsschlusses aus der
Gothenbiirger Ausschanksystem
769
Zahl der Schankstellen auf den Konsnm
zugeben müssen. In dieser Hinsicht können
beispielsweise folgende Daten erwähnt werden:
In Gothenbnrg war 1865 die Anzahl der Aas-
schankgerechtsame 60, von denen 40 dem Belage
überlassen waren, welcher jedoch nur 28 be-
nutzte, so dass die Zahl der Ausschankstellen
bis auf 43 verringert wurde. Von 1897 bis
1898 wurden von 61 dem Bolage zur Verfügung
gestellten Gerechtsamen 19 unbenutzt. Während
in Schweden in den zehn Jahren 1878 bis 1888
im ganzen 103 private Ausschankgerechtsame
eingezogen wurden, wurden diejenigen der Ge-
sellschaften nur um 29 vermehrt. Und wie für
Gothenburg, gilt es auch für die übrigen Städte,
dass die Bolage ihre Gerechtsame nicht vollauf
ausnützen. Ueberhaupt kam in Schweden im
Jahre 1878—79 eine Gerechtsame auf 12626
Köpfe der Landbevölkerung und auf 662 der
Stfiwitbevölkerung, im Jahre 1895 — 96 dagegen
eine Gerechtsame auf 25307 Köpfe der Landbe-
völkerung und auf 1144 der Stadtbevölkerung.
In den norwegischen Städten sind, wenn
ein Branntweinsamlag gegründet worden ist,
die Zahl der Schenken in der Regel bis auf die
Hälfte verringert. Im Jahre 1870 — dem Jahre,
bevor das Samlagsgesetz in Wirksamkeit trat
— waren in den Städten 501 Lokale für Aus-
schank und Kleinverkauf, oder eins auf je 591
Stadteinwohner; im Jahre 1890 war dagegen
die Zahl solcher Lokale bis auf 227 oder eins
auf 1413 Einwohner heruntergegangen. In
Bergen ist die Zahl der Ausschanklokale von
12 (eins auf 3400 Einwohner) im Jahre 1877
bis auf 8 (eins auf 8200 Einwohner) im Jahre
1898 gesunken.
Ferner hat die Samlagsordnung eine be-
deutende Erhöhung des Branntwein-
preises hervorgerufen (in Norwegen durch-
schnittlich bis auf das Doppelt e^ wozu jedoch
auch die Erhöhung der Produktionssteuer bei-
getragen hat).
Während die Zahl der wegen Betrunken-
heit Bestraften nicht in allen Städten seit der
Einführung des Systems vermindert ist, gilt
dies dagegen — wo, wie z. B. in Gothen-
burg, solche Untersuchungen gemacht worden
sind — für die Zahl derjenigen wegen Be-
trunkenheit Bestraften, die ihren Rausch in
Schanklokalen der Gesellschaften geholt haben.
Gleichzeitig ist es in betreff Gotheuburgs
erwiesen, dass die Zahl derer, die sich in pri-
vaten Bierhäusem berauscht haben, erheblich
gestiegen ist.
Der Gesamtkonsum des Brannt-
weins hat in Schweden seit der Einführung
des Gothenburger Systems mehrere Fluktua-
tionen durchgemacht. In den Jahren 1865 bis
1868 war der Konsum im Sinken begriffen, stie^
aber dann in der Periode 1868 bis 1874, seit
welchem letzteren Jahre er wieder im Sinken
ist (11,8 Liter k 50% Tralles pro Kopf der Be-
völkerung in den Jahren 1871 bis 1875; 7,2
Liter im Jahre 1896). Und insofern der Um-
satz der Gesellschaften in den grössten
Städten gleichmässig und bedeutend gesunken
ist (in Stockholm von 26,56 Liter pro Kopf
im Jahre 1877—78 auf 15,59 Liter pro
Kopf im Jahre 1896—97, in Gothenburg
von 24,80 im Jahre 1878 auf 14,59 im 1898),
deutet dies jedenfalls darauf hin, dass die Ge-
Handwörterbach der StaatswiBsenschaften. Zweite
Seilschaften in der Ausdehnung, in welcher die-
selben den Branntweinhandel beherrschen, die
Mässigkeitsbestrebungen zu befördern gesucht
haben. In Norwegen ist seit der Einführung
der Samlagsordnung ein sehr beträchtliches
Sinken des gesamten Branntweinkonsums er-
weisbar, nämlich von 5 Liter k öO*^/o Tralles
pro Kopf der Bevölkerung im Jahre 1870 auf
2,6 Liter im Jahre 1898 (das kleinste Konsum
aller europäischen Länder). Zu gleicher Zeit
ist der Umsatz für eine Mehrzahl der Samlage
verringert worden. Beispielsweise hatten 15
vor 1876 gegründete Samlage in demselben
Jahre einen Ihnsatz von 880 0(X) Liter, im Jahre
1889 dagegen von nur 560000 Liter; 7 Samlage
von 1876 natten im Jahre 1877 einen Umsatz
von 707000 Litern und im Jahre 1889 von
510000 Litern u. s. w. Für die neueren Sam-
lage stellt sich die Statistik in dieser Beziehung
nicht so günstig.
b) Dass die Samlagsordnung dazu geführt
hat, dass in den Branntweinschenken mehr Ord-
nung und Anstand herrschen als früher, wird
kaum von jemandem verneint werden können.
Hierzu hat in gleichem Grade beigetragen, dass
der Betrieb unter die strengen Ordnungsree^eln
der Samlage gestellt ist, — dass fest besoldete
Vorsteher und subordinierte Beamte an die
Stelle der Schankwirte getreten silid, — und
dass die hellen, luftigen und reinen Lokale die
Branntweinspelunken abgelöst haben, in deren
Dunkelheit und verpesteter Luft so manche
Verbrechen und so viel Demoralisation Nahrung
gefunden.
Hier darf auch angeführt werden, dass die
Besteuerung des vollen umgesetzten Quantums
gesichert wird, wogegen es sowohl in Norwegen
als in Schweden erweisbar ist, dass eine bedeu-
tende Quote des durch die privaten Schenk-
wirte verkauften Quantums trotz aller Kontrolle
sich der Besteuerung entzieht.
c) Der Ueberschuss und dessenVer-
weudung. In den 18 Jahren 1878 bis 1896
haben die schwedischen Branntweinsbolage
als Ueberschuss ca. 74 Millionen Kronen (1 ifr.
= 1,125 Reichsmark) und die Stenerabgaben
mit berechnet ca. 110 Millionen Kronen an
öffentliche Kassen abgegeben, und diese Summe
ist, wie oben erklärt, zum wesentlichen Teile
für kommunale Zwecke angewendet worden.
Der Nettogewinn der norwegischen Sam-
lage betrug in den Jahren 1872 bis 1897 etwas
über 20 Millionen Kronen und im Jahre 1898
über 2 Millionen Kronen. Bis zum Gesetze von
1894 hatten die Samlage selbst das Dispositions-
recht über den ganzen Ueberschuss und dispo-
nieren noch einen Bruchteil derselben. So wur-
den die Ueberschüsse in den Jahren 1872 bis
1897 namentlich zu folgenden Zwecken ver-
wandt: 1. Zur direkten Beförderung der Mässig-
keitssache 360000 ICronen. 2. Zu kirchlichen
und religiösen Zwecken 685 000 Kronen. 3. Zu
Arbeitervereinen, Kranken- und Unterstützungs-
vereinen. Kinderasylen und anderen Anstalten
zum besten der Interessen derjenigen Klassen,
die am meisten unter den Folgen der Trunk-
sucht leiden, 5002000 Kronen. 4. Für Institu-
tionen und Veranstaltungen zur Hebung des
Kultumiveaus der Bevölkerung, wie z. B. Biblio-
theken, Lesezimmer, öffentliche Parkanlagen,
für Theater, Museen, Gesang- und Musikvereine,
Auflage. IV. 49
770
Gothenbui-ger Ausschaüksystem
Badeanstalten etc. 3314000 Kronen. 5. Für
Schulen und Unterrichtswesen, darunter einbe-
griffen Hausfleiss-, Haushaltungs- und Zeiehen-
schuleu, 3559000 Kronen. 6. Für Gesundheits-
wesen (Diakonissenanstalten , Krankenhäuser,
Gymnastiklokal und dergleichen) 1209000
Kronen. 7. Für Strassen und Strassenbeleuch-
tung, Wasserwerke, Feuerwehr etc. 4834000
Kronen. Wenn mitunter angeführt wird, dass
beinahe die Hälfte oder ^ar noch mehr des
Ueberschusses der norwegischen Samlage für
rein kommunale Zwecke benutzt werde, so ist
dies nur richtig, wenn man hier auch solche
Zwecke heranzieht, zu deren Förderung aller-
dings wohlhabende Kommunen öfters beizutragen
pflegen, zu denen aber ohne Beihilfe der Sam-
lage in der betreffenden Ausdehnung kaum Bei-
träge gegeben worden wären.
5. Die wiebtigsten Angriffspunkte gegen-
über dem Gotbenborger System ond der
y^Samlags^^ordnung« Hinsichtlich dieser Klagen
müssen zwei generelle Bemerkungen gemacht
werden: 1. dass dieselben im wesentlichen von
den Totalisten und den Anhängern der Verbots-
gesetze herrühren ; — 2. dass sie mehr die Durch-
führung des Systems in dem einzelnen Lande
oder der einzelnen Stadt betreffen als das System
selbst, insoweit es in seiner Reinheit nach dem
Plane der Begründer durchgeführt gedacht
wird. Wir werden also hier punktweise die
wichtigsten Gründe anführen, die öffentlich in
Schrift oder Vorträgen gegen die hier behandelte
Ordnung lautgeworden sind.
a) Durch die direkte und indirekte Ver-
knüpfung der kommunalen Interessen mit dem
Branntwein verkauf habe man nur die egoistische
Gewinnsucht von einer kollektiven ablösen
lassen. Durch das Interesse der Gemeinden an
einem möglichst grossen Ueberschuss würden
sowohl die auf Einschränkung des Branntwein-
konsums gerichteten Bestrebungen der Gesell-
schafteu gehemmt als auch die Mässigkeitsbe-
wegung iiberhaupt und speciell der Kampf für
Einführung von Verbotsgesetzen . gehindert.
Femer rufe dieses Verhältnis bei den mit den
Stadtvertretungen gewöhnlich nahe verbundenen
Gesellschaftsdirektionen einen demoralisierenden
Streit hervor zwischen Pflicht und Interesse:
zwischen der Pflicht, die Trunksucht zu be-
schränken, und dem Interesse der Kommune,
den grösstmöglichsten Umsatz zu erreichen.
b) Mit jenem Einwurfe gegen das System
in nahem Zusammenhange steht derjenige, dass
durch die Bestreitung ordinärer kommunaler
Ausgaben mittelst des bei dem Branntwein-
handel gewonnenen Ertrages die gewöhnlich
am meisten trinkenden unteren Klassen unver-
hältnismässig besteuert werden zu Gunsten der
besser situierten.
c) Dadurch, dass angesehene Männer an
der Spitze des Verkaufs von Spirituosen ge-
stellt seien, die Lokale verbessert, Ordnung
durchgeführt werde und der Ueberschuss nütz-
lichen Zielen zu gute komme, dass überhaupt
der Branntweinverkauf in dieser Weise organi-
siert werde, dadurch würde dem Branntwein-
handel ein falscher Nimbus der Moralität ge-
geben, welcher die Mässigkeitsbestrebungen
hindere.
d) Da die Einnahmen der Gesellschaften so
bedeutend seien und die Vorstände an Sparsam-
keit kein Interesse hätten, so werde man hier-
durch zu unökonomischera Betriebe verleitet.
e) Wenn der Ausschank, wie in Schweden,
mit Speisewirtschaft verbunden sei, so würde
auch der nüchterne Arbeiter in das Ausschank-
lokal hingezogen und zum Trinken verleitet;
das Schamgefühl beim Besuchen solcher Stellen
falle fort und die strengeren Regeln bezüglich
der Schliessung der Lokale etc., welche einem
mit Speisewarenverkaufe nicht verbundenen
Schanklokale gegenüber zur Anwendung ge-
bracht werden könnten, könnten hier nicht auf-
recht erhalten werden. Dazu komme, dass die
wohlbesoldeten Vorsteher der Bolagslokale in
ungeziemender Weise mit den privaten Speise-
wirten konkurrierten, bei denen starke Getränke
nicht serviert würden, wodurch teilweise ver-
ursacht werde, dass sowohl von Schank Vor-
stehern als von Speisewirten schlechtes Essen
geliefert werde.
Es ist zu bemerken, dass mehrere der obigen
Angriffe, soweit uns bekannt, nur erhoben wor-
den sind in der Schrift: Die schwedische
Arbeiterbewegung von 1883 und das
Gothenburger Ansschanksystem, einer
Inauguraldissertation der Tübinger Universität
von einem sonst unbekannten Schweden Dr.
Otto Smith. Es ist diese Arbeit eine ein-
seitige Parteischrift im Streite zwischen dem
bekannten Spritfabrikanten L. 0. Smith in
Stockholm und den schwedischen Branntweins-
bolagen.
6. Abscbliessende ELritik. Es wird
kaum über die Richtigkeit des Grundgedan-
kens in dem hier erörterten Systeme Zweifel
herrschen können. Will man den Vertrieb
einer Ware organisieren, von welcher man
möglichst wenig zu verkaufen wünscht, dann
lege man den Verkauf in die Hände solcher
Personen, die von demselben keinen Ver-
dienst haben können, von denen es im Ge-
genteil vorauszusetzen ist, dass sie nach,
einer Bescdiränkung des Umsatzes hinstreben.
Grössere Zweifel hat es erweckt, ob dieser
Grundgedanke unter der UnvoUkommenheit
aller menschlichen Einrichtungen sich in
der That durchfüliren lässt, ob nicht das
an den grösstmöglichen Umsatz geknüpfte
Interesse, das man zur Hauptthür hinaus-
jagt, im Laufe der Zeit sich durch die
Hinterthüre hineinschleichen werde. Wo
der ganze Ueberechnss oder der grösste
Teil desselben in öffentliche Kassen fliosst,
darf es nicht geleugnet werden, dass die
an einen bedeutenden Umsatz geknüpften
fiskalischen Interessen zu gross sind, um
nicht Bedenken wach zu rufen. Denn, wie
es von Seiten der noi^vegischen Regierung
1883 anerkannt ward: »Das Gedeihen und
Aufkommen der ganzen auf privater Initia-
tive und oftmals bedeutender Aufopferung
von Zeit und Arbeit beruhenden Samlage-
ordnnng hängt für einen überwiegenden
Teil davon ab, dass die Samlage organisiert
und betrieben werden als freie und unab-
hängige GeseUsfhaf ten , die ohne fiskale
öothenburger Aussclianksystem
71
Rücksichten für ihr philanthropisches Ziel,
die Bekämpf ung des Bran ntweinübels, arbeiten
können.« Glücklicherweise gehen die bis
jetzt gemachten Erfahningen nicht in der
Kichtung, dass die fiskalischen Interessen
den Kampf der Gesellschaften gegen die
Tinmksncht gelähmt haben. Es muss ja
auch festgehalten werden, dass das JRecht
der Kommnne oder des Staates, über den
X^eberschuss zu disponieren, keineswegs
damit gleichbedeutend ist, dass das Gescliäft
selbst in die Hände der kommunalen Be-
hörden gelegt werde. Denn selbst bei der
jetzigen Ordnung behält man den Vorteil,
dass diejenigen Belage, deivn Vorstände
vom rechten Geiste beseelt sind, auf gi'össt-
mögliche Einschränkung des Trinkens hin-
zuwirken sich aufgefonlert fühlen werden,
ohne Rücksicht auf das Interesse der Kom-
mune an dem grösstmöglichen Ueberschuss.
Wenn überhaupt die Totalisten gegen
das Gk)thenbm:ger System so ungünstig ge-
stimmt sind, so beruht dies wesentlich auf
einer Verkennung des Zwecks desselben.
Hält man an Verbotsgesetzen fest, so ist es
ja klar, dass man überhaupt gar keine Or-
ganisation des Vertriebs desjenigen Getränkas
billigen kann, dessen Genuss man am lieb-
sten ganz abgeschafft sähe. Allein das
Gothenburger System hat sich nie dafür
ausgegeben, ein System zu sein für die Ab-
schaffung des Gebrauchs von Bi'anntwein ;
dasselbe will nur, soweit möglich, den Miss-
brauch vermindern und dessen demorali-
sierenden Wirkungen entgegenarbeiten. Für
die Anschauung mancher Totalisten aber
steht die Sache so, dass man, wenn man
die Missbräuche florieren Hesse, vielleicht
leichteren Weges bis zur Abschaffimg alles
Branntweinhandels gelangte als dnrch dessen
Organisierung in den am wenigsten an-
stüssigen und demoraJisierenden Formen.
Die Frage stellt sich für viele so, wie sie
auf dem internationalen Antialkoholkongress
in Christiania 1890 von einem Redner for-
muliert wurde: vSoUen wir wünschen, die
bestehenden Verhältnisse ein wenig zu ver-
bessern oder sollen wir lieber wünschen,
dass die üebelstände dauern sollen, um eine
vollständige Reaktion herbeizuführen?«
Und dass das System wenigstens in
einigem Gi-ade den Zustand verbessert liat,
w^ird auch von vielen eifrigen Mässigkeits-
freunden anerkannt. Namentlich wird es
in betreff Norwegens nicht bestritten,
dass die Samlagsordnnng Anteil hat an der
erheblichen Vormindenmg des Bran nt wein -
konsums, obgleich es streitig ist, ein wie
grosser Teil dieser Ehre den Samiagen zu-
zuschreiben sei und ein wie gi'osser den
direkten Mäßsigkeitsl)estrebungen und der
dadurch hervorgerufenen grösseren Nüchtern-
heit der Bevölkerung. Auch für S c h w e d e n
wii-d eine imparfeiische Beobachtimg zu dem
Residtato führen , dass der Konsum noch
grösser, als er jetzt ist, sein würde, wenn
(las System nicht eingefülirt worden
w^äi*e. Hieran reihen sich dann die oben
sub 4, b hervorgehobeneu, unstreitig nfitz-
lichen Wirkungen in Bezug auf die grössere
Ortin ung und Scliicklichkeit , mit welcher
das Trinken vorgeht, und dessen weniger
demoralisierenden Einfluss. Es liesse sich
allerdings sagen, dass man mittelst strenger
restriktiver imd Ordnungsregeln im Verein
mit scharfer Kontrolle ähnliche Resultate
liätte erreichen können, ohne das System
im ganzen aufzunehmen. So lange man
aber nicht einen solchen Versuch glück-
lich diuxjhgeführt hat, liegen Gründe genug
vor, um zu bezweifeln, dass man derjenigen
Stütze zur Aufrechlhaltimg solcher Satzungen
entbehren könne, die darin liegt, dass die
Vorsteher des Ausschanks selbst es sich
zur Aufgabe machen, jene Regeln durch-
zuführen.
Was schliesslich den Ertrag des Brannt-
weinhandels betrifft, so muss es schon als
ein wesentlicher Vorteil angesehen werden,
dass derselbe nicht einer Reihe von
reichen Grosskrügern zufällt, deren
blosse Existenz demoralisierend
wirken und deren Macht immer
denMässigkeitsbestrebungen wirk-
sam entgegentreten wird, und die
Erspriesslichkeit der Einrichtung wird ja
im wesentlichen gerade dadiu'ch gesteigert,
dass, wie beim Gothenburger System, der
Gewinn zu gemeinnützigen Zwecken ge-
braucht wird. Und am meisten befriedigend
wird ja diese Seite der Wirkungen des
Systems, wenn der Ueberschuss in der Ab-
sicht angewendet wird, um teils direkt oder
indirekt die Trunksucht zu bekämpfen, teils
die von derselben geschlagenen Wunden zu
heilen durch Aufhelfen der geistigen und
materiellen Wohlfalirt der Arbeiter.
Dass diese Ordnung, trotz aller Vorteile,
wie alles Menschliche an Un Vollkommen-
heiten leiden kann, soll nicht in Abrede
gestellt werden, und besonders möchte es
wohl der Fall sein, dass stärkere Gründe
gegen als für die in Schweden bestehende
Kombination von Schenken und Speise-
lokalen für die Arbeiterklasse sprechen.
Ueberhaupt liegt ein reiches Feld offen,
teils um durch Reformen das System dem
originären Gedanken näher zu bringen, teils
um die nach dessen Einführung gemachton
Erfalu'ungen auszunützen. Es darf gesagt
werden, dass in Ländern, wo das System
einmal angenommen ist und woselbst die-
jenige Decentralisation der Ver-
w^altung, der Gemeingeist und die
wirksame Arbeit zum Frommen der
Mässigkeitssache rege sind, was
49*
772
Grotlienburger Ausschanksystem — Graslin
unerlässliche Bedingungen seiner Wirksam-
keit sind, kaum davon die Rede wird sein
können, dasselbe aufzugeben, wenn man
nicht zu einem vollständigen Verbot über-
gehen will. Die Auffassung der Samlags-
ordnuug in Norwegen wird in einem
Gutachten der Regienmg von 1883 resü-
miert, wo es heisst, dass zu hoffen ist, dass
die Institution der Samlage »zur Einschrän-
kung des Trinkübels ein wesentlicher Faktor
sein und bleiben werde«. Ein norwegischer
Verfasser, H. E. Bern er, der kürzlich die
bezüglichen Fragen behandelt hat, schliesst
seine Darstellung mit folgenden Worten,
welche auch der Verfasser dieses Aufsatzes
unterschreiben kann: »Wenc einmal die
Geschichte der Mässigkeitsarbeit zu schreiben
sein wird, wird es gewiss auch nicht ver-
gessen werden, dass jene »Bestrebungen der
Mässigkeitsfreunde in der Samlagsordnung
ein vorzügliches, imserer Selbstverwaltung
und unseren Zeitverhältnissen besonders an-
gemessenes Organ gehabt haben, durch wel-
ches in Wahrheit Grosses ziu* Beförderung
des Glücks unseres Volkes geleistet wonlen
ist.« — Zum Schlüsse sei noch eines Gut-
achtens eines Ausländers aus der letzten
Zeit gedacht, nämlich des Generaldirektors
des schweizerischen Alkohol monopols, Herrn
Milliets Aeusserung auf dem Antialkohol-
kongress in Christiania 1890, nach welcher
der Redner »das Gothenburger System für
die beste bis jetzt bekannt gewordene Lö-
sung dieser Fragen hielt. — Die Ausstel-
lungen, welche an diesem System vom
Standpunkt der Wirtschaftspolizei heute ge-
macht wurden, sind von untergeordneter
Beileutung und vermögen bei keinem billig
Denkenden den Eindruck zu verwischen,
dass das Svstem im Rahmen seines natür-
liehen Geltungsgebietes Grosses geleistet
hat und noch leistet«.
Litteratnr: SigfHed Wieselgren, Göieborgs-
systemet, des nppkomsf, soften och rerkningar
(Das Gothenburger System, dessen Ursprung,
Ziele und Wirkungen), Gothenburg 1881. —
IßeTselbCf trän stridenia om svenska brän-
vinslagstiftningen ISSo — 1885 (Aus den Kämpfen
über die schwedische Branntweingesetzgebung
1836—1885), Gothenburg 1885. — Derselbe,
Resxdtats du Systh.me de Gothenbourg ; rapport
presente au III ^ congres international contre
Vabtis des boissons alcooliques d Christiania en
1890; avec statistiques j^isqu'en 1897 (Stockholm
1898). Die Diskussion über dieses Thema auj
genanntem Kongress siehe in dessen gedruckten
Verhandlungen S. 64 — 67 und lO.i—116. —
Otto Stnithf Die schwedische Arbeiterbeiregung
von 1888 und das Gothenburger Ausschank»ys-
tem, Tübingen 1886. — I'orhajidlingeme paa
det nordiske nationalökonomiskc Mödc i Kjöben-
havn 1888 (Die Verhandlungen auf der nordi-
schen natio7ialÖkonomische7i Versammlung zu
Kopenhagen 1888), S. £14 — ^50 — H. E. JBer-
ner, Bränderinsbolagene i Sorge (Die Brannt-
weinsamlage in Nonpegen) in nXordisk tidskriß
für retenskap, konst och iiidustrin Jahrg. 1891,
S. S04ff. — P. Rygh, Samlags-Ordningen og
dens Betydning for Aedrueligheds-Arbeidcti vort
Land og särlig i Kristiania (Die Samlags-Ord-
nujig und die Bedeutung derselben für die
Mässigkeitsbe^trebungen in unserem Lande und
besonders in Christiania), Christiania 1899. —
Gute und ziemlich vollständige LittercUurüber'
sieht in : J". Rowntree und A, Sherivell, The
Temperance problem and social reform. (Third
edition London 1899), S. 694—597.
Christiania. Bredo MargensHeme,
Gonge, William M.,
geboren am 10. XI. 1796 in Philadelphia (Penn-
sylvanien), erhielt schon als junger Mann eine
Anstellung in der Goldprüf ungsabteilung des
Schatzmeisteramtes zu Washington, entsagte im
30. Jahre der Beamtenkarriere und btudierte
praktisch und theoretisch den Geld- und Noten-
verkehr der Vereinigten Staaten sowie die Ge-
schichte der amerikanischen Banken. Gonge
starb 1886 in Philadelphia.
Er veröffentlichte an Staats wissenschaftlichen
Werken in Buchform:
A Short history of paper-money and banking
in the United States, including an account of
proviucial and Continental paper money, Phila-
delphia 1838; 2. Aufl 1842; 3. Aufl. 1853; Aus-
gabe für England unter dem Titel: The curse
of paper money and banking, or a short history
of banking in America, London 1833; 2. Aus-
gabe für England, besorgt von Cobbett, 1845.
(Der geschieh tlicbe Teil urafasst die Jahre
1680 1832.) An inquiry into the expediency
of dispensing with bank agency and bank paper
in the fisciU concems of the United States,
Philadelphia 1837. — History of tbe System of
banking in the United States, Philadelphia 1839.
— The fiscal history of Texas. Embraciug an
account of its revenucs, debts and currency,
from the comraencement of the Revolution in
1834 to 1851 - 52, PhUadelphia 1862.
Vergl. über Gonge: Walker, Political
economy, London 1833, S. 180. — Nouveau dic-
tionnaire d'economie polit., Bd. I, Paris 1891,
S. 1105.
lApperU
Oraslin, Jean Joseph Louis,
geboren zu Tours 1727, wurde Parlamentsadvo-
kat in Paris und starb 1790 als königlicher
Generalpächter in Nantes.
Seine durch das Studium der Vorläufer
Adam Smiths angeregten Forschnngen bestimm-
ten ihn, sich von den Lehren der physiokrati-
schen Schule abzuwenden und seine wirtschaft-
lichen Anschauungen im Geiste des späteren
Industriesystems auszubilden.
Seine Theorie von der Bildung des National-
reichtums besteht, im Gegensatze zu der Quesnays
und seiner Schule, in dem Postulat, dass Industrie
einschliesslich Landwirtschaft, Handel und Ver-
Graslin — Graumana
773
kehr in ihrem ZosaiDmenwirken die Faktoren
zur Bildung des Nationalreichtnms ausmachen.
Die produzierende Arbeit ist ihm also, wie Adam
Smith, die Mutter des Reichtums, und es gilt
als erwiesen, dass Graslin mit dieser Theorie
nicht ein Nachbeter des grossen Schotten, der
erst 1776 seinen „Wealth of nations" veröffent-
lichte, sondern dessen Vorgänger gewesen ist.
Er veröffentlichte an staatswissenscfaaf tlichen
Schriften in Buchform:
Essay analytique sur la richesse et sur
Fimpot, oü l'ou refute la nouvelle doctrine eco-
nomique, qui a fourni ä la Societe royale d^agri-
culture de Limoges; les principes d'un pro-
^amme quelle a publie sur Tenet des impöts
mdirects, Londres (recte Paris) 1767 (erschien
anonym). [Preisbewerbungsschrift, die unge-
krönt blieb, weil sie nicht der physiokratischen
Doktrin huldigte.] — Correspondance cöntradic-
toire avec l'abb^ Baudeau sur un des principes
fondamentaux des ccouomistes, Paris 1779 (Ab-
fertigung seines wirtschaftlichen Gegners, des
Oekonomisten Baudeau.
Vergl. über Graslin: Ephemerides du
citoyen, Teil X, hrsg. von Abt N. Baudeau,
Pans 1768. — Er seh und Gruber, Encyklo-
pädie, I. Sektion, Teil 88, Leipzig 1868, S. 53.
— Nouveau dictionnaire d'economie polit., vol.
I, Paris 1891, S. 1108.
JLippert.
Graswinckel, Dirk Janszoon,
als Spross einer Patricierfamilie geboren 1600
zu Delft, studierte in Leiden, wurde Fiskalan-
walt der holländischen Staatsdomänen, dann
Sekretär der zur Schlichtung der Zwistigkeiten
zwischen den spanischen Niederlanden und den
Generalstaaten eingesetzten Kammer und starb
am 12. X. (nach Bayle, s. u., am 16. X.) 1666
zu Mecheln.
Graswinckel war in wirtschaftlichen Fragen
erklärter Freihändler und als solcher ein Geg-
ner des Merkantilsystems. Die freie Bewegung
im Komhandel durfte nach ihm nur in Zeiten
des Misswachses, in Teuerungs- und Hunger-
jahren durch Aufhebung der Getreideausfuhr
beschränkt werden; er war ein Gegner des
Komwuchers, verteidigte sonst aber die freie
Entwickelung des Zinsfusses und trat mit Ent-
schiedenheit für die Freiheit des Meeres und
der holländischen Hochseefischerei ein; in
staatspolitischen Fragen war er eingefleischter,
die majestas principis schrankenlos anerkennen-
der Absolutist.
Graswinckel veröffentlichte von Staats wis-
senschaftlichen Schriften in Buchform:
Liberias veneta, sive Venetorum in se ac
suos imperandi jus assertum, Leiden 1634. —
Dissertatiü de jure majestatis, Haag 1642. —
Dissertatio de jure praecedentiae iater rempub-
iicam Venetam et ducem Sabaudiae, Leiden 1644.
— Placcaten, ordonnantien ende reglementen
op't stuck van de lijf-tocht, sulcx (zulks) als de
selve van outs tot herwaerts toe op alle voor-
vallen van hongers-noot en dierentijdt beraerat
zijn ende ghedaen publiceeren, ebenda 1651,
2 Teile (Sammlung sämtlicher in den Jahren
1501—1634 zu Teuerungszeiten erlassenen Korn-
gesetze und Getreideansfuhrverbote Hollands.
Holländischer Text mit lateinischer Ueber-
setzung. Teil II führt den Titel: Aen-
merckinghen ende betractinghen op de placcaten,
ordonnantien ende reglementen etc. over't stuck
van kooren ende greynen. (In diesen Anmer-
kungen begründet Graswinckel die Steigerung
der Getreidepreise durch die Geldentwertung,
deren Ursache er in dem damaligen starken
westindischen Edelmetallimport erblickt, welcher
die steigende Tendenz des Warenwertes im
Gegensatz zu der sinkenden des Geldwertes her-
vorgerufen habe.) — Maris liberi vindiciae ad-
yersus P. B. Burgum, Haag 1652. — Maris
liberi vindiciae adversus G. Welwodum, Haag
1653. — Stricturae adversus Seldenum, Amster-
dam 1653. (Vorstehende drei Streitschriften,
welche die Freiheit des Meeres gegen die Ver-
treter des durch Zölle gebundenen Meeres (mare
clausum) verteidigen, richteten sich hauptsäch-
lich gegen den Genueser Burgus und den Eng-
länder Welwod. Graswinckel verwarf principiell
jedes maritime Hoheitsrecht und heischte sowohl
ünbehelligung des holländischen Heringsfanges
in den britischen Gewässern als freie Bewegung
des niederländischen Handelsverkehrs mit In-
dien.) — Stricturae ad censuram Joannis ä Fel-
den ad libros Hugonis Grotii de jure belli ac
pacis, Amsterdam 1654. — Princeps pacis, Haag
1655. (Zwei Streitschriften, welche die völker-
rechtlichen Theorieen von Hugo Grotius gegen
die Angriffe des Helmstädter Professors Job.
V. Felden verteidigen.) — Nasporinge van het
recht van de opperste macht, toekomende de
staten van Holland en West-Vriesland , 2 Bde.,
Rotterdam 1667.
Graswinckel war ferner durch kleine Bei-
träge beteiligt an den Schriften : Boxhoru, Dis-
sertatio de trapezitis, vulgo Longobardis, Leiden
1637, und J. Maresii, ad Suerium dissertatio
epistolica de trapezitis, ebenda 1641.
Vergl. über Graswinckel: van Loon,
Beschrijving der Nederlandsche historiepennin-
gen, 1581-1713, Bd. II, Haag 17^5, S. 234 ff. —
von Schlözer, Staatsgelehrsamkeit , Bd. I,
Göttingen 1793, S. 86. — von Mohl, Ge-
schichte und Litteratur der Staatswissenschaf-
ten, Bd. I, Erlangen 1855, S. 234. — Laspey-
res, Geschichte der volkswirtschaftlichen An-
schauungen der Niederländer, Leipzig 1863,
S. 12 und 201 ff. — Ersch und Gruber, Ency-
klopädie, I. Sektion, Teil 88. ebenda 1868,
S. 84 ff. — F. S. Müller, Mare clausum. Bij-
drage tof de geschiedenis der rivaliteit van
Engeland en Nederland in de XVII e eeuw,
Amsterdam 1872. — Eoscher. Geschichte der
Nat., S. 223.
LlpperL
Graumann, Johann Philipp,
geboren 1689 zu Braunschweig, wurde Kaufmann
und erwarb sich als solcher erst in Deutschland,
dann in Holland, wo er ein Handelsgeschäft
betrieb, gründliche Kenntnisse von dem Geld-
und Arbitragewesen, welcher er seine Verwen-
dung im Staatsdienste verdankte. Als braun-
774
Grraiiinaiin — Graiuit
schweig-lüneburgischer Kommerzkommissar ar-
beitete er ein neues für ganz Deutschland mit
Berücksichtigung von dessen Nachbarstaaten
bestimmtes Münzsystem aus, was er 1749 unter
dem Titel: Abdruck von einem Schreiben etc.
(s. u.) veröffentlichte. 1750, ein Jahr nach Ein-
führung seines neuen Münzsystems in Braun-
schweig, berief ihn Friedrich II. als Finanz-
und Domänenrat und Generaldirektor des Münz-
wesens nach Berlin. An dieser Stelle leitete er
die Einführung des von ihm berechneten und
als preussisch Kourant in den Verkehr treten-
den neuen preussischen Münzfusses, wonach an-
statt zu 12 Thaler oder 18 Gulden, wie nach dem
Leipziger Fusse gerechnet wurde, zu 14 Thaler
oder 21 Gulden die Mark feines Silber auszu-
prägen war. Die wichtigste Folge dieser Neue-
rung bestand in der Schaffung einer Münzpari-
tät mit der Valuta des Auslandes, welche zu-
nächst die Einschränkung desjenigen Arbitrage-
verkehrs herbeiführte, der aus der vorteilhaften
Bezugsweise des bisherigen wohlfeilen deutschen
Silbers sich herausgebildet hatte. Graumann
starb 1762, als Vater des „Graumannschen Münz-
fusses", in Berlin.
Graumann veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften in Buchform:
Niederel bischer Arbitragetraktat oder der
Stadt Hamburg in- und ausländischer neu
blühender Wechsel, Hamburg 1730. — Ausführ-
liche Geldtabellen zum Nutzen der Kaufleute,
2 Teile, Hamburg 1734. — Abdruck von einem
Schreiben, die deutsche und anderer Völker
Münzverfassung und insonderheit die hochfürst-
lich braunseh weigische Münze betreftend, ohne
Ort (Braunschweig) 1749 (erschien anonym);
dasselbe, in französischer Uebersetzung , Berlin
1752. — Vernünftige Verteidigung des Schrei-
bens, die teutsclie Münz Verfassung betreffend.
Nebst Anhang, Berlin 1752 (Widerlegung der
1751 gegen seinen „Abdruck von einem Schrei-
ben'* etc. unter dem Titel : „Gründliche Prüfung
des .... Schreibens" etc. veröflfentlichten Streit-
schrift.) — Tabellen zur Ausrechnung des Sil-
bers und Goldes nach dem Gehalte, Berlin 1761.
— Gesammel^^ Briefe von dem Gelde, von dem
Wechsel und dessen Kurs, von der Proportion
zwischen Gold und Silber, von dem Pari des
Geldes und den Münzgesetzen verschiedener
Völker etc. 2 Teile, Berlin 1762; dasselbe in
französischer Uebersetzung Paris 1788. — Licht
des Kaufmanns, bestehend in Wechsel arbitrage-
tabellen, einer ausführlichen Nachricht von den
Münzen- und Wechselgeldern der vornehmsten
Handelsstädte von Europa etc., Berlin 1782.
Vergl. über Graumann: Mensel, Lexi-
kon der vom Jahr 1750 bis 18(X) verstorbenen
deutschen Schriftsteller, Bd. IV, Berlin 1808,
S. 333. — Biographie universelle. Nouvelle
edition, Teil XVlI., Paris 1857, S. 338. —
Er seh und Gruber, Encvklopädie . I. Sek-
tion. Teil 88, Leipzig 1868, S. 220. — Ro-
scher. Geschichte der Nat., S. 420. — Allge-
meine deutsehe Biographie, Bd. IX, Leipzig
1879. S. 605.
JLIppert,
Oraunt, John,
geb. am 25. IV. 1620 zu London, anfänglich
Tuchkleinhändler, seit 16o0 Musiklehrer am
Gresham College, seit 1666 Kommissar für die
Wasserversorgung Londons, gest. als Mitglied
der Royal Society am 18. IV. 1674 in London.
Durch die von ihm angestellten Beobach-
tungen über die Bewegungsverhältnisse der Be-
völkerung Londons und dessen Umgebung hat
Graunt den Weg zur Ermittelung der Gesetz-
mässigkeit einer Anzahl populationistischer Vor-
fänge gezeigt, und dieser der Methodik und
ystematik allerdings entbehrenden Pionierar-
beit wegen gebührt ihm das Prädikat des
Vaters der politischen Arithmetik. Das Mate-
rial zu seinen Forschungen boten ihm die Ge-
burts- und Totenlisten, die Tauf- und Trauungs-
registep Londons, die fast durchgängig sich in
einem Zustande der beklagenswertesten Unzu-
verlässigkeit befanden. Vorzugsweise schöpfte
Graunt seine Erhebungen aus den Geburts- und
Totenlisten , welche letzteren seit 1629 von
Totenbeschauerinnen geführt wurden, welche
auch Alter und Todesursache der Gestorbenen
nach Gutdünken registrierten. Diese Quellen
benutzte er für die Jahre 1603 bis 1628 lücken-
weise, für 1629 bis 1661 in regelmässig^er Auf-
einanderfolge. Nach seiner Mortalitätstafel
starben von 100 Neugeborenen vor Ablauf der
ersten sechs Jahre 36, in den darauf folgenden
5 Jahrzehnten 24, 15, 9, 6, 5 etc., so dass im
56sten Altersjahre nur noch 6 sich am Leben
befinden werden. Diese abnorme Sterbenswahr-
scheinlichkeit für London im 17. Jahrhundert
übertrifft diejenige aus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts um das Sechsfache. Die un-
gesunden Wohnungsverhältnisse der Graunt-
schen Zeit können allein die Erklärung für
diese gewaltige Differenz zwischen der Mortali-
tät des 17. und der des 19. Jahrhunderts nicht
abgeben, und da nach Graunts eigenen Berech-
nungen kein Rückgang, sondern ein fortwähren-
des starkes Anwachsen der Bevölkerung Lon-
dons, und zwar nicht nur durch Reproduktion,
sondern auch durch Einwanderung stattfand,
offenbart sich als arithmetische Fehlerquelle der
Grauntschen Zahlen der dem damaligen primi-
tiven Statistiker noch nicht zum Bewusstsein
gekommene erhebliche Unterschied zwischen
Operationen mit einer fluktuierenden und einer
konsttanten Bevölkerung. Hätten seine Berech-
nungen nur auf der letzteren gefusst, würde er
aus den Totenlisten, trotz ihrer Fehlerhaftigkeit,
viel niedrigere mittlere Mortolitätszüfern ge-
wonnen hÄben. Von seinen sonstigen Erhe-
bungen ist das Verhältnis der Knaben- zu den
Mädchengeburten = 14 : 13 für London und
15 : 14 für die Landgemeinden in der Nähe
Londons als zutreffend anzunehmen, während
die Folgerungen, welche er aus den Todesur-
sachen zieht, da diese nicht einmal von Medi-
zinern festgestellt waren, selbstredend als ima-
ginär bezeichnet werden müssen.
Graunts vorstehend besprochenes Werk
führt folgenden Titel: Natural and political
observations upon the bills of mortality ; chiefly
with reference to the goverument, religion,
trade, growth, air, diseases, etc of the city of
London, London 1662 ; dasselbe 2. Aufl., London
1664; dasselbe, Abdruck der I. Aufl., London
Graunt — Grenzniitzen
775
1665. (Mit diesem Abdruck hat es folgende
Bewandnis: Graant hatte die erste Auflage
seiner Schrift 1662 der Royal Society zur Prü-
fung eingereicht, worauf in seiner Sitzung vom
30. VI. 1665 „the Council of the Royal Society
ordered, that the book should be printed for
the use of its members"), und infolge dieses
Beschlusses fiel das Erscheinungsjahr besagten
Abdruckes der I. Aufl. mit dem der 8. Aufl.
(London 1665) und der 4. Aufl. (Oxford 1665)
zusammen. Nach Graunts Tode erschien teil-
weise umgearbeitet und herausgegeben von
William Petty die 5. Aufl. London 1676. Ein
Neudruck der „London bills of mortality" aus
den ,.Observations" befindet sich in dem von*
Heberden veranstalteten Sammelwerk : Collection
of the yearly bills of mortality from 1657 to
1758, London 1759. — Eine deutsche Ueber-
setzung der „Observations** führt folgenden
Titel: Natürliche und politische Anmerkungen
über die Totenlisten der Stadt London, ftirnehm-
lich ihre Regierung, Religion, Gewerbe, Luft,
Krankheiten und besondere Veränderungen be-
trefi'end; anfangs in englischer Sprache von
John Graunt, nun aber ins Deutsche übersetzt
um des grossen Nutzen willens, der dem ge-
meinen Wesen Deutschlands insgemein und
jedes Ortes insonderheit aus solchen Totenre-
gistem erwachsen kann, Leipzig 1702.
Vgl. über Graunt: Halley, An estimate of
the degrees of the mortalit^^ of mankind, etc.
(in „Philosophical Transactions of the Royal
Society'S Vol. XVII), London 1693, S. 596 [An-
fechtung der Autorschaft Graunts an den „Ob-
servations" zu Gunsten Pettys]. — W. Maitland,
The history of London, etc., London 1781), S.
291. — Süssmilch, Die göttliche Ordnung etc.,
L Aufl., Berlin 1741, Teil I. S. 57, — W. Petty,
Another essay in politicÄl arithmetic, conceming
the growth of the city of London, London 1759.
— Schlözer, Theorie der Statistik, Teil I (einz.),
Göttingen 1804, § 15. — Pepys, Memoirs, Bd.
II, London 1825. — Evelyn, Memoirs, Bd. I,
London 1827. [Ebenfalls Anfechtung der Autor-
schaft Graunts an den „Observatious" zu Guns-
ten Pettys.] — Ersch und Gruber, Encvklopädie,
Sektion I, Teil 88, Leipzig 1868, S.*^227if. -
Knapp , Theorie des Bevölkerungswechsels,
Braunschweig 1874, S. 57 u. 121. — Martin,
Births, deaths, and marriages etc. (in „Journal
of the Statistical- Society", Bd. XL), London
1877, S. 594. (Graunt wird darin als „founder
of registration" gefeiert.) — John. Geschichte
der Statistik, Bd. I, Stuttgart 1884, S. 161 ff.
u. 226 ff. — Dictionary of national biography,
Bd. XXII, London 1890, S. 427 ff. — Wester-
gaard, Theorie der Statistik, Jena 1890, S. 252 ff.
~ H. d. St., 1. Aufl., Bd. IV, 1892, S. 105 f.
— Palgrave, Dictionary of politic. economy, Bd.
II, London 1896, S. 257. — Ch. H. HuU, Graunt
or Petty? (Political Science Quarterly, vol. XI,
Nr. 1), Boston 1896.
Lippert,
Grenznutzen.
1. Die höchste Ausnützunj^ der wirtschaft-
lichen Güter als Ziel der Wirtschaft. 2. Die
elementare Erscheinung des Grenznutzens. 3.
Die elementare Erscheinung des wirtschaftlichen
Wertes. 4. Nutzen und Arbeitsunlust. 5. Die
Zurechnung des Nntzertrages. 6. Ertragszu-
rechnung für Land, Kapital und Arbeit. 7. Die
Kosten als Erscheinung des Grenznutzens. 8.
Das Preisproblem. 9. Tauschwert und Grenz-
nutzen. 10. Gesellschaftlicher Greuznutzen,
Aufgaben der Verwaltung und Steuergerechtig-
keit.
Im folgenden sollen die Regeln ent-
wickelt werden, nach denen man den wirt-
schaftlichen Nutzen ordnet und rechnet. Auf
(iiesen Regeln beruht eine moderne, haupt-
sächlich an Jevons und Menger anknüpfende
Theorie des Wertes und Preises, die von
dem gemeinsamen Ausgangspunkte des Grenz-
nutzens, allerdings von einzelnen Autoren
verschieden w^eit geführt, die klassische
Theorie vom Grund aus umzugestalten sucht.
Die Probleme des Wertes und Preises fin-
den im Handwörterbuch ihre ausführliche
Bearbeitung an anderer Stelle. Hier wird auf
dieselben nur so weit eingegangen, als es
gilt, die Grundlagen ihi*er Lösung in der
Ordnung und Rechnung des Nutzens nach-
zuweisen.
1. Die höchste Ausnutzung der wirt-
schaftlichen Güter als Ziel der Wirt-
schaft, Dem Verlangen der Menschen nach
leiblicher und geistiger Wohlfahrt tritt nur
zu häufig ein eigentümliches Hindernis darin
entgegen, dass sie die erforderten äusseren
Hilfsmittel in der Natur überlis^upt nicht
oder nicht in genügender Menge oder doch
nicht gesichert vorfinden. Hierdurch wird
die Sorge angeregt, den dürftigen Besitz
gegen Verderb und Verlust zu sichern und
zugleich thunlichst sparsam zu verwenden,
d. h. mit möglichster Verwertung seines
Nutzgehaltes und mit allseitig kluger Ein-
schränkung der Bedürfnisbefriedigungen auf
das Mass der gegebenen Mittel. Nament-
lich aber eröffnet die Erfahrung zunehmend
den Weg, den Nutzen dadm:ch zu erhöhen,
dass man die Güterbestände durch produk-
tives Eingreifen mehrt, wobei man zugleich
neue wirksamere Güterformen zu schaffen
lernt. Nach und nach greift die wirtschaft-
liche Yorsorge immer weiter aus, die Pro-
duktion wächst zuletzt bis ins Ungeheure,
indem sie die natürlichen Bedingungen der
Gilterhervorbringmig in immer entferntere
Ordnungen zurück erkennt und dui-ch Kul-
turmittel sichert und ergänzt Indem die
Menschenzahl zunimmt imd die ersten ein-
fachen Formen des Zusammenlebens ge-
sprengt werden, wird bei den wirtschaft-
lichen Gütern die Frage des Eigentums auf-
geworfen, neben der fruchtbaren Arbeit
wird der Kampf um den Besitz angeregt.
776
Grenznutzeii
Dazu tritt der Kampf um die i)ei'söiiliche
Freiheit. Die Person als Trägerin der wich-
tigsten wirtschaftlichen Krait ist in die
Kreise der Wirtschaft vom Anfang an hin-
eingezogen; gewaltthätige Zeitalter unter-
werfen den Besiegten wie eine Sache als
Sklaven seinem Besieger. Später, nachdem
die personliche Freiheit selber imantastbar
geworden ist, bleibt doch der Kampf um
die Freiheit des Erwerbes, indem man die
eigene Arbeit thiinlichst zu verwerten,
fremde dagegen auszubeuten oder zurückzu-
drängen bemüht ist. Das Streben nach wissen-
schaiftlicher Erweiterung der wirtschaftlichen
Kenntnisse, nach Verbesserung von Wirt-
schaftsrecht und Sitte schafft andere und gross-
artige Aufgaben. Dabei wird die Thätigkeit
des einzelnen mehr imd mehr durch die
Kraft der Vereinigung und die Politik der
Gemeinwesen unterstützt, und neben der
wirtschaftlichen Einzelthätigkeit entwickeln
sich gesellschaftliche Organisationen und
volkswirtschaftliche Verwaltung.
So sehr sich hiermit die Kräfte und
Wege der Wirtschaft ausdehnen und so
heftig sich auch die Einzel Interessen kreuzen
und bekämpfen mögen, so bleibt doch das
Ziel jeder Einzelwu-tschaft oder gesclilossenen
Wiilschaftsgruppe unbcrfihrt dasselbe: die
Wohlfahrt derer, für die sie zu sorgen
haben, dadurch zu befördern, dass man
ihren Besitz an wirtschaftlichen Gütern
sichert, spart und mehi't. Aus jenen Gütern,
die die Natur nicht im gesicherten Ueber-
fluss zur Verfügung stellt und die man da-
her nicht ganz frei und voll geniessen kann,
wenigstens möglichst hohen Nutzen zu ge-
winnen, ist die Aufgabe der Wirtschaft. Je
nach ihrer Kraft und Kenntnis werden ihr
die einzelnen in vei*schiedener Weise ge-
recht; je nach ihrer sittlichen Anlage schrän-
ken sie sich darauf ein, Nutzen für sich
imd ihre nächsten Angehörigen zu gewinnen
oder stellen ihre wirtscliaftlichen Bemühun-
gen in den Dienst fremder Bedürftigkeit und
gemeinen Wohles in Staat oder Gesellschaft.
2. Die elementare ErHcheinung de»
Grenznutzens. Ein verbrauchliches Gut ist
schon nach einem einzigen Nutzakte aufge-
zehrt und erlaubt somit immer nur eine
einzige der oft mannigfachen Verwendungen,
zu denen es durch seine Nützlichkeit geeignet
wäre. Hat man nur ein einzelnes Gut solcher
Art, so soll man mit demselben ohne
Zweifel den wichtigsten Nutzakt, zu dem es
geeignet ist, luid keinen anderen vollziehen.
Jeder weitere Zuwachs an derartigen Gütern
erlaubt einen weiteren Nutzakt: es soll
dieses immer der nächst wichtige sein. Die
Nützliclikeit zeigt alle die möglichen Wege
der Verwendung — welcher davon wirklich
beschritten wertlen soll, hängt von den Um-
ständen des einzebien Falles ab, ohne deren
genaueste Abwägung die Absicht, höchsten
Güternutzen zu gewinnen, nur sehr unvoll-
kommen erreicht werden könnte.
Wo ein Vorrat den an ihn gewiesenen
Bedarf nicht deckt, muss wirtschaftlicher-
weise der Bedarf vor der Bedürfnisbefriedi-
gung gesichtet, die Ansprüche minderer
Wichtigkeit müssen ausgeschieden und vor-
erst, nach Mass des Vorrates, nur die wich-
tigsten Befriedigimgen gedeckt werden.
Bei Gütern mannigfacher Verwendbarkeit
ist diese Aufgabe ziemlich schwierig; alle
Gebiete der Verwendung müssen überblickt
und gegen einander abgew^ogen werden, so
dass nirgends diu-ch einen entbehrlicheren
Genuss eine empfindlichere Entbehrung
anderswo notwendig gemacht werde. Bei
der Verteilung von VoiTäten auf die Be-
dürfnisse eines längeren Zeitraumes, so
namentlich bei der Verteilung des Einkom-
mens auf die betreffende Einkommensperiode
entsteht die gleiche Pflicht sorgfältiger Ab-
wägung der Bedarfe, so dass Ausgaben für
minder dringende Zwecke im Wirtschafts-
plane immer erst zugelassen werden dürfen,
bis die dringenderen Ausgaben durchaus für
den ganzen Zeitraum gedeckt sind.
In jeder Wirtscliaft soll man sich der
Grenze bewusst sein, bis zu welcher man
mit der Verwendung wirtschaftlicher Güter
jeweils noch gehen darf. Der geringste
Nutzen, der jeweils noch erlaubt ist, hat
in der eingangs erwähnten Richtung der
Theorie besondere Beachtung gefimden.
Er wii-d im Englischen final Utility, auch
terminal oder marginal Utility genannt, im
Deutschen ist für ihn der Name Grenz-
nutzen üblich geworden.
Steigt der Vorrat, so muss der Grenz-
nutzen sinken, weil es nun wirtschaftlicher-
weise erlaubt wird, die Nutzakte der nächst-
folgenden Grade, die mau sich bisher ver-
sagen musste, zu geniessen; winl das Ein-
kommen beträchtlich vermehrt, so kann man
z. B. auf der ganzen Linie der Ausgaben
von der Deckung der Existenzanforderungen
bis zu den Stufen der Behaglichkeit oder
gai' eines leicht entbelirüchen Luxus herab-
gehen. Nimmt dagegen der Vorrat ab, so
steigt der Grenznutzen. Mit den Verände-
rungen im Bedarf steht er »im. geraden Ver-
hältnisse«^. So nimmt nicht erst der Güter-
wert, sondern schon der Grenznutzen die
Wirkungen von Bedarf und Vorrat in
sich auf.
Es ist nun eine Thatsache von grösster
Bedeutung, dass fortgesetzte oder angehäuft-e
Befriedigung als solche, indem sie das Be-
düi-fnis sättigt, die Bedeutung der Akte des
Genusses oder des Güternutzens mindert;
ein Gesetz, das zuerst von Gossen in seinem
vollen Inhalt entwickelt und als entschei-
dende Grundlage der W^erttheorie verwendet
Greuznutzen
777
wurde und das daher mit Recht das Gos-
sensche Gesetz der Bedürfnissättigung ge-
nannt werden darf. Die »Sättigungsskala«
der Bedürfnisse ist sehr ungleich, nament-
lich bei physischen Bedürfnissen anders
als bei geistigen, periodische Bedürfnisse
verhalten sich gegenüber konstanten eigen-
tümlich verschieden, aber das Gesetz der
Bedüi'fnissättigung ist allgemein, und über-
all kann es bis zur üebersättigung kommen,
wobei sich das Begehren in sein Gegenteil,
Widerwillen und Ekel, verwandelt.
Die Vermehnmg des Vorrates bewirkt
daher auch bei Gütern, die mir einer
Richtung des Bedürfens dienen, Minderung
des Grenznutzens, weil das Bedürfnis nun
stärker gesättigt werden kann und auf nie-
dere Grade des Begehrens herabgedi-ückt
wird. Und bei Gütern vielfacher Verwen-
dung wird durch die Vermehrung des Vor-
rates der Greuznutzen nicht nur deshalb ge-
mindert werden müssen, weil neue bisher
ausgesclüossene mindere Arten der Verwen-
dung zugelassen werden dürfen, sondern
auch deshalb, weil allenthalben diu'ch reich-
licheren Genuss der Aussclüag der Nut-
zungsakte für das Begehren 'geringer ge-
worden ist.
3. Die elementare Erseheinun:; des
wirtschaftlichen Wertes. Für die Men-
schen haben zunächst nur ihre Befriedigun-
gen, aber nicht auch die äusseren Hilfs-
mittel dei-selben, die Güter, Bedeutung,
Wichtigkeit, Wert. Die Menschen vorhalten
sich den Gütern gegenüber als Egoisten,
die den Freimd nui* in der Not scliätzen,
wenn sie ihn gerade brauchen. In ihren
Augen empfangen daher überhaupt nur wirt-
schaftliche Güter Wert, von deren Besitz
sie ihre Bedürfnisbefriedigtmgen thatsäch-
lich abhängig fühlen; freie, im gesicherten
Ueberfluss vorhandene Güter werden ge-
nossen, ohne dass man um ihren Besitz be-
soi-gt wäre und ihn in Wert hielte.
Für die W^ertschätzung der wirtschaft-
lichen Güter selber kann nur jener Nutzen
in Betracht kommen, den sie nach den ge-
gebenen Verhältnissen von Bedarf und Vor-
rat schaffen sollen; solche Nützlichkeiten,
die bei der Knappheit der vorhandenen Vor-
räte nicht verNdrklicht werden können,
bleiben überhaupt ausser Anschlag. Aber
auch der Nutzen, den sie wirklich schaffen
sollen, geht in der Regel nicht ganz in ihren
Wert ein. Angenommen, ich hätte einen
Vorrat von 10 unter einander gleichen
Stücken und das Bedürfnis i-ege 100 Mög-
lichkeiten der Verwendung an, der Vorrat
gestatte aber eben nur 10 derselben zu ver-
wirklichen: hier muss ich mich dazu ent-
schliessen, die 90 minderen auszuscheiden
und nur die 10 wichtigsten zu vollziehen. Un-
möglich könnte sonach der Vorrat den Wei*t
aller 100 Befriedigungen haben, er kann
höchstens den Wert der 10 wichtigsten an
ihn gewiesenen Befriedigungen erhalten.
Beziffern wir die höchste derselben mit 100,
die folgende mit 99 und so fort, und die
10. mit 91, so kann der Gesamtwert des
Vorrates nicht höher als mit der Summe
100 + 99 + ... 91 angeschlagen werden.
Aber selbst mit dieser Summe würde er
nur unter einer bestimmten, selten zutref-
fenden Voraussetzung angeschlagen werden,
dass nämlich der Vorrat als ein untrenn-
bares Ganzes auf einmal praktisch in Frage
käme. Wenn ich ohne irgend eine Mög-
lichkeit der Teilung schlechthin vor die
Wahl gestellt werde, den Vorrat ganz zu
erwerben oder diese Güter ganz zu ent-
beliren, dann setze ich diesen vollen
Wert ein.
In der Regel aber leiten uns die Um-
stände der Wirtschaft dazu, über die wirt-
schaftlichen Güter nach Stücken oder sons-
tigen Eiuheiten und nach frei bestimmten
Summen von Stücken oder sonstigen
Einheiten zu verfügen. Wie wir sie nach
und nach verzeliren, so haben wir es
in unsei*er Gewalt, mehr oder weniger von
ihnen zu erzeugen oder in der Produktion
zu verwenden, einzukaufen oder zu ver-
kaufen. Die Gütereinheit ist in aller Regel
die i)raktische Einheit des Wirtscliaftens
und daher auch der Wertschätzung, die man
immer durchaus nur als einen Akt prakti-
scher Wirtschaft d. h. mit Rücksicht auf die
praktischen Aufgaben der Wirtschaft voll-
zieht und die eine Theorie, welche wirklich
auf Erfahrung gegründet sein will, denn auch
nur im realen Gefüge der praktischen Wirt-
schaft zu erklären hat.
Wenn ich von jenen 10 Stücken eines
verliere, so büsse ich nach den gegebenen
Verhältnissen die Aussicht ein, die letzte
unter den ausgelesenen 10 wichtigsten Be-
friedigimgen, jene, welche den Wert 91 hat,
zu vollziehen; gewinne ich zu den 10
Stücken ein weiteres hinzu, so eröffnet sich
mir die Aussicht, die Befriedigung des Wer-
tes 90 zu sichern: mit dei Gütereinheit
kommt praktisch immer nur der Grenznut-
zen in Frage, und der Grenznutzen ist es
denn, der den Wert der Gütereinheit, dort
wo sie die Einheit des Wirtschaftens ist,
entscheidet.
Da angenommenermassen die 10 Güter
unter einander gleich sind, so kann keines
grösseren Wert haben als die anderen. Damit
entsteht das uns allen praktisch wohlver-
traute, theoretisch aber zunächst über-
raschende Ei'gebnis, dass — solange der
Vorrat eben aus 10 Stücken besteht — jedes
Stück nur den Wert 91, oder allgemein ge-
fasst, dass jede Einheit den Wert des Grenz-
nutzens hat. Die voUe Aufkläi-ung dieses
1
778
Grenzmitzen
Satzes kann nur durch eine ausführliche
Darlegung der Wei'ttheorie erfolgen, wo-
für in dieser Abhandlung kein Raum ist,
die nur die wirtschaftliche Rechnung des
Nutzens entwickeln soD, welche die Grund-
lage der "Wertrechnung wird. Hier möge
nur kurz folgendes hervorgehoben werden.
Der Theoretiker hat, wenn er den Sinn der
praktischen Wertschätzung verstehen will,
notwendigerweise die Anwendungen zu be-
rücksichtigen, in Rücksicht auf welche die
Wertschätzung praktisch voDzogen wird;
der Wert ist dann richtig bemessen, wenn er
die Wirtschaftszwecke richtig erreichen lässt.
Indem ich nun alle Einheiten eines Vorrates
von Gebrauchsgütern nach ihrem Grenznutzen
anschlage, kontrolliere ich den wirtscliaft-
lich klugen Gebrauch derselben auf das ge-
naueste, da von den auftauchenden Regungen
des Begehrnis immer nur jene zur Befrie-
digung zugelassen werden, die mindestens
den AVert des Grenznutzens haben — alle
minderen sind durch den Güterwert ver-
boten. In ganz gleicher Weise reguliere
ich auch die Verwendungen eines Vorrates
wirtschaftlicher Produktivgüter, und ebenso
^ebt die dm-chgängigo Beziehung auf den
Grenznutzen das zutreffende Mass, wenn ich
einen Vorrat irgendwelcher Güter zw er-
werben, sei es zu erzeugen sei es zu er-
kaufen habe mid aus ihrem Werte die
Höhe der aufzuwendenden Erwerbungskosten
ableiten will. Indem ich jede zu erwer-
bende Einheit bloss mit dem Grenznutzen
anschlage, schliesse ich es aus, auch nur
für die geringste praktisch noch in Betracht
kommende Menge mehr auszugeben, als sie
mir an Nutzen einbringt. Sollte sie mich
mehr kosten, als sie mir zu dem anderwei-
tig gesicherten oder in Aussicht stehenden
Nutzen noch hin zubringt, so thäte ich ja
besser, auf ihre Erwerbung überhaupt zu
verzichten.
4. Nutzen und Arbeitsnnlust Eine
gewisse Richtung der klassischen National-
ökonomie (der sich hierin die sozialistische
Theorie anschliesst) leitet den Güterwert
aus dem Interesse ab, das die Menschen
haben, die Unlust der Arbeit zu sparen.
Die Arbeit, einerseits Quelle höchster sitt-
licher, geistiger und leiblicher Wohlfahrt,
kann gewiss durch ein Uebermass von Plage
oder Gefahr berechtigterweise Unlustgefühle
veranlassen. Ohne Zweifel ist es ein prak-
tisch überaus bedeutsames Interesse, solche
Anlässe möglichst zu meiden oder zu ver-
mindern, ohne Zweifel lassen sich ferner
Fälle, nicht nur erdenken, sondern vsie kom-
men praktisch vor, wo von diesem Inte-
resse aus Gütei- Wert erhalten. Einen Be-
sitz zu verlieren, der erst durch Arb(»its-
plage wieder erneuert werden müsste, wäre
empfindlich; der Besitz müsste gerade so
viel Wert erhalten, als er Arbeitsunlust er-
spart.
Untersucht man alle Voraussetzungen
genau, so muss man zu dem Schlüsse kommen,
dass dasselbe Gut niemals zugleich wegen
des von ihm abhängigen Nutzens und wegen
der durch seinen Besitz erspailen Arbeits-
unlust Wert erlialten kann. Seines Nutzens
wegen wird es nur unter der Voraussetzung
geschätzt, dass mit seinem Besitze eben
auch sein Nutzen verloren ginge d. h. dass
es nicht wieder einsetzt werden könnte.
Wenn es dagegen wegen der Arbeitsunlust
geschätzt wird, die sein Besitz erspart, so
geschieht dieses in der Erwägung, dass man
im Falle seines Verlustes sich den Nutzen
zwar durch erneute Arb(ut wieder sichern
könnte, aber dann eben Plage oder Gefalir
wieder auf sich nehmen muss ; man schätzt
es unter der Voraussetzung seiner Wieder-
ersetzbarkeit. Wenn jemand z. B. ein
Manuski'ipt besitzt, das sich im Falle des
Verlustes nicht wieder heretellen liesse, so
hätte dasselbe für ihn nach Mass seines
»Nutzens« Wert — wenn er dagegen in
der Lage und entsclüossen ist, es in diesem
Falle noch einmal zu schreiben, so hätte die
unverselirte Aufl^ewahrung für ihn so viel
AVei-t, als er Gewicht darauf legt, die Plage
der Arbeit nicht noch einmal auf sich nehmen
zu müssen.
Wären die Menschen in der Lage und
entschlossen, die wirtschaftlichen Güter
durch Arbeit — und durch blosse Arbeit!
— stets in solcher FüUe zu erzeugen, dass
ihnen vom Standpunkte des Beclüi*rnisses
nichts zu wünschen übrig bliebe, so würden
sie die Güter ausschlit^sslich nach der
Arbeitsunlust bewerten, die der einmal ge-
wonnene Besitz für tlie Zukunft erspart
Wo sie aber walu-nehmen, dass sie die
wirtschaftlichen Güter diu-ch blosse, nicht
selbst wieder durch wirtschaftlichen Besitz
unterstützte Arbeit überhaupt nicht oder
nicht in genügender Menge wieder ei'setzen
oder schaffen können, da bewerten sie sie
ausscliliesslich auf Grundlage des Nutzens
bezw. Grenznutzens, den sie ihnen nach
Mass der Vorräte zuzurechnen hal:)en.
Ohne Zweifel kann die grosse Masse der
wirtscliaftlichen Güter durch blosse Arbeit
nicht in freier Fülle geschaffen werden.
Könnte sie das, so würde ja jedermann
ausreichendes Vermögen zu gewinnen im
Stande sein, sofern er sich entschliesst, die
notwendige Arbeitsj)lage auf sich zu nehmen.
Die grosse Masse der wirtschaftlichen Güter
wird daher nicht nacih »Arl)eits werte, son-
dern nach Nutzwert geschätzt. Damit hängt
es zusammen, dass auch die Arbeit selbst
in aller Regel nicht nach der mit ihr ver-
bundenen Plage und Gefahr, sondern nach
Grenznutzen
779
dem von ihr abhängigen Nutzen geschätzt
wird (vgl. unten sub 6).
5. Die Zurechnung des Nutzertrages.
Der Nutzen, der unmittelbar den zur Be-
dürfnisbefriedigung bestimmten Produkten
zugerechnet wird, wird durch ihre Yer-
mittelung auch den wirtschaftlichen Pro-
duktivfaktoren zugerechnet, durch deren
Hilfe sie gewonnen werden. Das Problem
der Zurechnung des Nutzertrages kompliziert
sich jedoch in eigentümlicher Art dadurch,
dass bei einer Produktion zumeist mehrere,
oft sogar sehr viele wirtschaftliche Produktiv-
faktoren zusammenwirken, deren gemeinsame
Frucht der Ertrag ist. Wirtschaftliche Pro-
dukt ivfaktoren sind nach Mengers Ausdruck
komplementär, sie bedingen sich in ihrer
Nutzwirkung wechselseitig. Damit entsteht
jene Aufgabe, welche man als das Problem
der produktiven Zurechnung oder der Zu-
rechnung des Nutzertrages im eigentlichen
Sinne bezeichnen kann, nämlich das Problem,
den gemeinsam erzeugten Ertrag auf die
einzelnen mitwirkenden Faktoren aufzu-
teilen.
Man liat die Frage theoretisch mitunter
dahin missverstanden, als ob es sich darum
handelte, am gemeinsamen Produkt plij'sisch
die AVirkung der einzelnen Stoffe und Kräfte
auseinanderzuhalten; damit wäre die Frage
nicht nur praktisch unlösbar, sondern in
sich unlogisch gestellt. Die richtige Art
der Fragestellung ist am leichtesten durch
die Verweisung auf die strafrechtliche Zu-
rechnung verständlich zu machen. Der
Verbrecher bedurfte, um seine Handlung zu
vollziehen, der Werkzeuge, des Objektes
selW, der umgebenden Umstände u. s. f.
Wenn ihm nun der ganze Erfolg, den er doch
nicht allein vollbringen konnte, zur Schuld
angerechnet wird, so ist dieses doch weder
unlogisch noch unbillig. Die Aufgabe des
Richters ist es, zu strafen, und wenn er
dabei den verbrecherischen Thäter allein
herausgreift, so erklärt er damit nur, dass
dieser allein es sei, den zu bestrafen das
Interesse der Gesellschaft fonlere. Er führt
die That nicht allein auf ihn zurück, aber
ihm allein rechnet er sie zur Schuld an.
Um die Analogie auf die wirtscliaftliche
Zurechnung zu ziehen, möge es genügen,
einen einfachen, wenn auch vom Kerne
des Problemes etwas entfernteren Fall zu
besprechen. Es ist derjenige Fall, an dem
die Schule die Grundrententheorie ent-
wickelt hat, die solchergestalt nichts anderes
ist als der erste Versuch einer Theorie
der produktiven Zurechmmg an einem
praktisch sehi* hervortretenden, aber theo-
retisch minder bedeutsamem Einzelthema.
Dem Acker grösserer Fruchtbarkeit, welcher
mit demselben Kostenaufwand grösseren
Ertrag giebt als der anstossende mindere
Acker, wird der Mehreiirag praktisch ohne
weiteres zugerechnet. In Wahrheit ist auch
dieser Mehrertrag nicht vom besseren Acker
allein hervorgebracht, sondern ist, wie die
ganze Ernte, der Mitwirkung aller ver-
bundenen Faktoren zu danken. Thatsäch-
lich aber findet man sich unter den ge-
gebenen Umständen nur vom Besitze des
besseren Ackers abhängig, wenn man mehr
Ertrag gewinnen wiU, und das praktische
Interesse ist wohl beraten, wenn es ihm
denselben ausschliesslich zurechnet. Man
führt damit diesen Teil der Fnlchte keines-
wegs allein auf ilm zurück, aber man rechnet
sie ihm allein zu Wert an.
Die einzelnen Regeln der produktiven
Zurechnung können hier nicht entwickelt
werden, nur die Hauptregel, deren Kennt-
nis für das folgende notwendig ist, sei kurz
hervorgehoben. Jedem zum Ertrage mit-
wirkenden wirtschaftlichen Produktivfaktor
muss irgend ein Anteil des Produktes zu-
gerechnet werden, keiner darf ganz leer
ausgehen. »Wirtschaftliche Prodiiktivfak-
toren« sind jene, die nicht im freien Ueber-
fluss vorhanden sind und von deren A^oiTat
daher kein merklicher Teil wegfallen dürfte,
ohne dass die Versorgung des Bedarfes
Abbruch erlitte. Freien Produktivfaktoren,
die im gesicherten üeberfluss vorhanden
sind, wird dagegen niemals irgend ein An-
teil des Produktes zugerechnet, weil man
sich von ihnen, die man immer wieder zur
Verfügung haben kann, mit der Grösse des
Produktes in gar keiner Weise abhängig
findet.
6. Ertragsznrechnnni^ für Land, Ka-
pital und Arbeit. W^enn Land, Kapital
und Arbeit produktiv zusammenwirken, muss
folgerichtig jedem von ihnen ein Anteil am
Ertrage zugerechnet werden, vorausgesetzt,
dass sie im »wirtscliaftlichen Quant itäts Ver-
hältnisse« stehen, eine Voraussetzung, die
beim Lande geschichtlicli nicht immer ge-
geben ist. Bei der Arbeit würde das In-
teresse, Arbeitsunlust zu sparen, selbst dann
zur Zurechnung führen, falls sie nicht
im wirtschaftlichen Quantitätsverhältnisse
stünde. Es ist aber wolü kein Zweifel, dass
sie für die Masse des volkswirtschaftlichen
Bedarfes nicht in üeberfülle zur Verfügung
steht und daher (vgl. oben sub 4) volkswirt-
schaftlich nicht mit ihrer Plage oder Ge-
fahr für die produktive Zurechnung in Be-
tracht kommt. Es ist ihre schaffende Kraft,
die — freilich stets unter dem Masse des
Grenzgesetzes — die Anteile bestimmt, welche
vom ganzen volkswirtschaftlichen Ertrage
auf ihre Rechnung zu stellen sind.
In einem gewissen Sinne ist die Arbeit
die einzige scliaffende Kraft in der W^irt-
schaft. Der Satz, dass die Arbeit allein
allen Ertrag scliaffe, ist insoweit richtig, als
780
Gi'cnznutzen
es der Mensch ist, der die Wirtschaft leitet
\ind dabei Land und Kapital als tote Werk-
zeuge seinem Willen unterwirft und als
blosse Hilfsmittel seiner Arbeit gebraucht.
Man giebt aber diesem Satze einen über
seinen richtigen Sinn weit liinausreichenden
Inhalt, wenn man meint, dass der Arh>eit
allein das ganze Produkt praktisch zuge-
rechnet werden müsse, und daher Grund-
rente und Kapitalzins schlechthin als Raub
an den Früchten der Arbeit bezeichnet
Die durchgreifenden wirtschaftlichen Lite-
ressen, welche unter allen Umständen dazu
Äwingen, auch dem (im wirtschaftlichen
Quantitätsverhältuisse stehenden) Lande und
dem Kapitale Ertragsanteile zuzurechnen,
werden von den bloss persönlichen Interessen
der Besitzer wie der Besitzlosen für das
Verständnis am besten dadurch geschieden,
dass man eine sozialistische Oi^anisation
der Gesellschaft verwirklicht denkt und so-
dann die Frage der produktiven Zurechnung
stellt. Auch eine sozialistisch geordnete
Gesellschaft wird Land (unter der eben ge-
gebenen Voraussetzung) und Kapital nicht
gJs wertlos erklären dürfen. Man wird sie
im Gegenteil als Besitztümer grösster ge-
sellschaftlicher Wichtigkeit erkennen, von
denen kein merklicher Teil ohne Abbruch
am Erti*age verloren gehen könnte ; man wird
ihnen also Ertragswert zumessen d. h. ent-
sprechende Anteile des Ertrages zurechnen.
Den besseren Maschinen z. B. wird man
>ihren« Mehrertrag zurechnen müssen, sonst
wüsste man ja nicht, welche Kosten man
auf ihre Herstellung wenden dürfte. Ohne
produktive Zurechnung käme der Plan der
gesellschaftlichen Produktion in ratlose Ver-
wirrung.
Für die drei Produktivfaktoren Land,
Kapital und Arbeit gelten die gleichen all-
gemeinen Regeln der Zurechnung. Ausser-
dem gelten füi' jeden derselben, mit Rücksicht
auf die Verschiedenheit der Bedingungen ihrer
Entstehung und Wirksamkeit, noch beson-
dere Regeln, die in jeder Wirtschaftsform Be-
achtung finden müssen und neben denen
allerdings in jeder Wirtschaftsform noch
weitere Besonderheiten gelten werden, je
nach den Verhältnissen der rechtlichen und
thatsäclüichen Verfügung über Güter und
Arbeiten, die diese Wirtschaftsform gerade
schafft; die Zurechnung fällt z. B. anders
für freie Arbeit und für Sklavenarbeit aus.
Beim Lande wii-d stets zur Geltung kommen
müssen, dass es vom Anfang her in seinem
natüi'lichen Umfang und in gewissen Ab-
stufungen der Fruchtbarkeit und Lage ge-
geben und davSS es in seinem Bestände
dauerhaft ist. Beim Kapitale kommt zur
Geltung, dass es geschichtlich durch die
Kidturarbeit der Wirtschaft gebildet wird,
sich bei seiner Verwendmig mehr oder
weniger rasch verzehrt und doch zumeist
immer wieder ersetzt werden kann. Bei
der Arbeit kommt zur Geltung, dass sie ein
persönlicher Akt ist und dass die Grösse
ihres »Vorrates«, die Menge, in der sie zur
Verfügung steht, vor allem diu-ch die
Menschenzahl gegeben ist.
Unsere Theorie beschäftigt sich mit
diesen Fragen in der sogenannten »Lehre
vom Einkoramen« vorwiegend in der Weise,
dass sie die Besonderheiten voranstellt,
während sie die verbindenden allgemeinen
Gedanken, die diese ganze Lehre durch-
ziehen und mit der vom Wert in den
Grundlagen verschmelzen, nur wenig her-
vorhebt oder auch ganz übersieht. Dieser
Haltung der Theorie dürfte es vor allem
zuzuschreiben sein, wenn die Lehren von
der Grundrente, dem Kapitalzinse und
Arbeitslohne noch so sehr im Streit liegen.
Alle diese Lehren dürften ilu-e feste Grund-
lage erst dann erhalten, wenn einmal die
produktive Zurechnung theoretisch ganz
aufgehellt sein wird. Die Lehre vom
Kapitalzins insbesondere dürfte erst dann
theoretisch fundiert sein, bis man darüber
klar geworden ist, in welchem Sinne aus
der allgemeinen Ertragszurechnung eine
eigentliche Reinerii'agszurechnung hervor-
geht.
7. Die Kosten als ErHcheinnng des
Grenznntzens. Es genügt nicht, dass die
Theorie des Grenznutzens die Wirkung von
Bedarf und Vorrat erklärt, sie muss auch
noch die Probe darauf bestehen, der in die
Wirtschaftsrechnung tief eingreifenden That-
sache der Kosten gei-echt zu werden. ^ In
meinen imten angeführten Arbeiten habe*ich
den Versuch hierauf gemacht und zu zeigen
unternommen, dass in den Kosten der den
Produktivfaktoren zugerechnete Grenznutzen
ilirer Produkte ausgleichend auf diese zuriick-
gerechnet wird. Welche Zusammenhänge
liier bestehen, ergiebt sich aus folgenden
einfachen Erwägimgen.
Um >\drtschaft liehe Produktivfaktoren,
die zur Herstellung verschiedenartiger Pro-
dukte geeignet sind, zu höchstem Nutzen zu
verwenden, muss man die Grade des Grenz-
nutzens feststellen und gegen einander al)-
wägen, die alle die verechiedenartigen Pro-
dukte, je nach dem voraussichthchen Bedarf
und dem gei)lanten Umfang der Erzeugimg,
erwarten lassen. Das Interesse bucht den
Wert solcher produktiver Elemente mit dem
Grenznutzen, der sich aus der Gesamtheit
ihrer zulässigen produktiven Verwendungen
ergiebt. Jede besondere »Verwendung^ für
dieses oder jenes bestimmte Produkt ver-
mindert immer die Mittel, die für die
Hervorbringung der anderen noch gewünsch-
ten Produkte übrig bleibcm, und bedeutet
nach dieser Richtung hin ein Opfer, einen
Grenznutzen
781
Aufwand, dessen Grösse sich bestimmt, in-
dem man die in Anspruch genommene Menge
nach Mass des gegebenen produktiven Grenz-
nutzens anschlägt ; das ist der Grundgedanke
der Kosteurechnung, der sich dann in der
Geldwirtschaft etwas komplizierter gestaltet.
Als »Verwendung« gilt mit Recht aber
nicht nur der eigentliche Verbrauch von
Arbeit oder Kapital, sondern auch schon
jede Verfügung, die die Nutzung von Land
oder Kapital für einen gewissen Zeitraum
bindet; daher sind nicht rnu* Arbeit und
Kapitalverbrauch, sondern auch Land- und
Kapital »nutzungen« Elemente der Kosten-
rechnung. Uebrigens ist der Anlass zur
Kostenrechnung ebenso wie innerhalb der
eigentlichen Produktion auch überall dort
fegeben, wo man um einer herzustellenden
icistung willen derartige Aufwendungen zu
machen hat, wie z. B. bei den Gestehungs-
kosten einer Transportleistung.
Produkte oder Leistungen nach ihren
Kosten rechnen heisst also sie gegen einander
als Zusammensetzungen ihrer wirtschaft-
lichen Bildungselemente vergleichen, wobei
als Bildungselemente sowohl die genutzten
Stoffe als die genutzten Kräfte — bezw.
deren »Nutzungen« — in Betracht kommen
und wobei alle Bildiyigselemente nach ihrem
allgemeinen produktiven Grenznutzen ange-
schlagen werden. Alle »produktions ver-
wandten« Produkte sind gleichsam allo-
tropische'Modifikationen ihrer produktiven
Bildungselemente; Produkte z. B., die mit
Hilfe von menschlicher Arbeit und Kohle
aus Holz und Eisen erzeugt werden, gelten
uns in Rtlcksicht auf ihre Kosten so viel als
uns die erforderten Mengen dieser Elemente
nach Mass der allgemeinen Grenze ihrer
produktiven Nutzbarkeit gelten.
Niemals soll daher eine Leistung her-
gestellt werden, deren Wert unter ihren
Kosten , bleibt , d. h. deren unmittelbarer
Grenznutzen geringer ist als der- Grenz-
nutzen, den dieselben produktiven Aufwen-
dungen anderwärts zu erreichen gestatten
würden. Man würde hierbei auf grösseren
Nutzen verzichten, lun geringeren zu ge-
winnen, also an Nutzen verlieren.
Findet man dagegen, dass der Wert eines
geplanten Produktes dessen Kosten über-
steigt, so giebt die in Aussieht stehende
höhere Ausnützung der Kostenelemente zu-
nächst einen Antrieb, die betreffende Pro-
duktion noch weiter auszudehnen, und zwar
so lange, bis der unmittelbare Grenznutzen
sich mit den Kosten deckt, d. h. sich auf
die Marke des allgemeinen produktiven
Grenznutzens einstellt.
Es könnte unter Umständen aber auch
sein, dass die weitere Ausdehnung der Pro-
duktion sofort ein solches Sinken des Grenz-
DUtzens zur Folge hätte, bei dem die Kosten
nicht mehr gedeckt wären. Es könnte z. B.
sein, dass der Nutzen einer Brücke oder
einer Strasse oder einer Eisenbahn sich
zwar weit über die Kosten stellt, dagegen
derNutzen einer zweiten Verbindung zwischen
denselben Orten die Kosten nicht mehr ver-
gilt. In solchen Fällen werden wirtschaft-
licherweise Produkte hergestellt werden
müssen, deren unmittelbarer Nutzen bezw.
Grenznutzen sich über die Kosten erhebt.
Da man sich unter den gegebenen Umständen
im Falle ihres Verlustes oder ihrer Zerstörung
sofort entschliessen würde, die Kosten ilurer
Wiederherstellung aufzuwenden, so wäre
man nicht dauernd um ilu^n Nutzen ge-
bracht, sondern der Schaden bestände nur
darin (von Störungen in der Zwischenzeit
abgesehen), dass man die Kosten noc^h einmal
tragen, d. h. auf anderweitige Ausnutzung
der betreffenden produktiven Elemente ver-
zichten müsste. Nicht ihr unmittelbarer
Nutzen, sondern der produktive Grenznutzen
der Kostenelemente ist durch ihren Verlust
in Frage gestellt bezw. durch ihren Besitz
gesichert, und insoweit sind es die Kosten,
die ihrem Werte das Mass geben müssen.
Ist der produktive Zusammenhang gestört
oder dauernd unterbrochen, dann ist auch
die Kette der Folgerungen gestört oder dauernd
unterbrochen, die zur Ausgleichung von Wert
und Kosten fühlet
Immer wird in den Kosten der produktive
Grenznutzon im ganzen, wie er durch die
Umstände als gegeben gelten kann, im
»Nutzen« dagegen der unmittelbare Nutzen
oder Grenznutzen des Produktes gerechnet
und gewahrt, das gerade in Frage steht.
Es ist ebenso notwendig, dass man in der
praktischen Wirtschaft, wo man immer be-
müht sein muss, das einzelne dem gegebenen
Gesamtzustand der Wirtschaft anzupassen,
Kosten und Nutzen auseinanderhält, als der
Wirtschaftstheoretiker, der die umfassende
Erklärung sucht, das Wesen der Kosten
dahin bestimmen muss, dass er sie auf den
Nutzen zurückführt. Mit geringsten Kosten
erzeugen heisst schliesslich so viel, als
auf höchsten produktiven Gesamtnutzen wirt-
schaften.
8. Das Preisproblem. Der Preis geht
aus den persönlichen Werturteilen aller
einzelnen Marktparteien hervor, diese aber
werden im letzten Gnmde nach den Regeln
der Nutzrechnung gebildet.
Untersuchen wir zuerst jene Gruppe der
Nachfrage, die auf dem Markte Gebrauchs-
güter zur Deckung ihres persönlichen Be-
darfes sucht. Wer zu diesem Zwecke eine
Ware einkaufen will, soll sich vorher be-
rechnet haben, was ihm die Ware in Geld
wert ist; dieses persönliche Geldäquivalent
der Ware ist die oberete Grenze, das Maxi-
mum seiner Preisanerbietuugen, Er findet
782
Grrenznutzen
dasselbe, indem er einerseits den Grebraiichs-
wert anschlägt, den die zu erwerbende Ware
für ihn hat, und andererseits den Tausch-
wert, den die hinzugebende Geldsumme für
ihn hat (vgl. unten sub 10). Der Gebrauchs-
wert, der hierbei in Frage kommt, ist nicht eUva
blosse Nützlichkeit noch empfängt er von
dieser sein Mass, sondern ist echter wirt-
schaftlicher Wert, der je nach dem Verhält-
nisse von Vorrat und Bedarf sein Mass vom
abhängigen Nutzen empfängt. Wo der Käufer
freie Wahl hat — wie dies auf dem Markte
in aller Regel der Fall ist — seinen Bedarf
»stückweise« einzukaufen (vgl. oben sub 3),
d. h. die einzukaufende Menge nach seinem
Belieben, unter keinen Schranken als denen
seiner Kaufkraft und Kauflust zu bestimmen,
wird er den Wert jeder Einheit nach dem
Grenznutzen anschlagen, wobei er die Grenze
nach jenem Umfange des Vorrates zieht,
von dem er nach seiner Markterfahnmg an-
nimmt, dass er ihn werde zur Verfügimg
erhalten können. Er wüi-de die Zumutung,
irgend ein Stück oder einen Teil des Vor-
rates über dem Grenznutzen zu bezahlen,
zurückweisen und lieber aiü die betreffende
Erwerbung verzichten, die ihm nur Schaden
brächte. Darin, dass der Grenznutzen die
Wirkung von Bedarf und Vorrat in sich
aufnimmt und dass er für alle Einheiten
gleich angesetzt wird, ist somit die letzte Er-
klärung dafür zu finden, dass die Preise
sich an Angebot und Nachfrage anpassen
und auf demselben Markte für die gleichen
Mengen gleicher Ware gleich bedungen
werden.
Für jene Gruppe der Nachfraf^e, welche
von Erwerbtreibenden gebildet wird, ist der
Preis, den man als Erlös für das zu er-
zeugende Produkt oder die herzustellende
Leistung erwartet, die Unterlage, von der
aus man das Geldäquivalent oder das Preis-
maximimi berechnet, welches man für Roh-
stoffe, Hilfsstoffe, Maschinen, Arbeit, Kapital-
nutzung, liandpacht bieten dürfte. Aus dem
Gesamterlöse des Produktes muss man den
Anteil herauszurechnen vermögen, den man
jedem einzelnen produktiven Faktor zuzu-
rechnen hat. Somit ist ohne die Kenntnis
der Regeln der produktiven Zurechnung
dieser Teil der Motive der Preisbildung
ganz unverständlich und keine brauchbare
Preistheorie möglich.
Endlich muss jeder, der eino Leistung
für den Absatz erzeugt, deren Kosten ge-
rechnet haben. Er rec^hnet sie zunächst in
Geld, die Unterlage der Geldrechnung ist
jedocli die Rechnung der Gestehungskosten
in natura. Es ist ein altbekannter Lc^hrsatz,
dass bei freier Konkm-renz der Preis sich
auf die Kosten sterilen muss, weil die Kon-
kuiTenz es dem einzelnen Verkäufer un-
möglich macht, über den Kosten zu ver-
kaufen, während auf die Dauer niemand
unter den Kosten verkaufen will. Hier ist
das Gewicht darauf gelegt, dass die Kosten-
rechnung, die der Produzent für sich selber
macht, zuletzt auch dem Käufer im Preise
zu gute kommen muss. Warum aber die
Produzenten mit den Kosten rechnen, was
es überhaupt heisst, mit den Kosten rechnen,
ist damit noch nicht erklärt. Eine Preis-
theorie, die das Wesen der Kosten nicht
erklärt, würde aber ihre Aufgalje auf keinen
Fall gelöst haben.
Der Anschhig der Geldäquivalente nach.
Grenznutzen und Kaufkraft bezw. auf Gnmd
der produktiven Zurechnung und der Kosten-
rechnung setzt für alle Marktparteien die
Maxima und Minima der Preisbildung fest,
bis zu denen sie gehen dürften. Keines-
wegs will man aber gleich von Anfang so weit
gehen; die Nachfrageparteien wünschen
möglichst billig zu erwerben, die Angebot-
parteien möglichst teuer abzusetzen. Nur
soweit die Notwendigkeiten des Marktes
hierzu zwingen, soweit das Angebot sich
der Zahlkraft nnd Intensität der Nachfrage,
soweit die Nachfrage sich den Bedingungen
nachhaltigen Angebotes fügen muss, und
soweit auf jeder der beiden Seiten des
Marktes der Wetteifer der Konkuirenten
befürchten lässt, dass äiese den Markt für
sich allein in Anspruch nehmen könnten,
entschliesst man sich dazu, sich jenen
Grenzen mehr oder weniger anzunähern.
Wie unter der Wirkung aller dieser
Motive der Preis endlich ausfällt, das zu
entwickeln, ist nicht Aufgabe dieser Dar-
stellung. Es müssen nur gewisse Haupt-
ergebnisse kurz hervorgehoben werden, um
die Rückwirkungen zeigen zu köimen, die
die Preisbildung auf die Erscheinung des
Grenz nutzens ausübt.
Wird eine bestimmte Menge von Waren
in der Absicht auf den Markt gebracht, sie
ganz abzusetzen, so muss sich der Preis der
Aufnahmsfähigkeit des Marktes anpassen.
Die Geldäquivalente, die die einzelnen
Käufer oder Käuferklassen bei-echnen. fallen
je nach Kauflust und Kaufkraft verschieden
hoch aus. Auf die höchsten Kombinationen
von Kauflust imd Kaufkraft folgen stufen-
weise niedrigere. Je mehr Ware abgesetzt
werden soll, desto mehr Erwerber und Er-
werbungen mit um so tieferen Aequivalenten
müssen zugelassen werden. Der Preis stellt
sich zwischen die Ae<iuivalente für die letzten
oder schlechtesten in den Kauf noch einzu-
schliessenden Erwerber und Erwerbungen
einerseits und für die besten schon ausge-
] schlossenen andererseits. Während jeder
j Käufer für sich bereits den Gebrauchswert der
Ware wie den Tauschwert des Geldes nach
seinem Grenznutzen berechnet, führt der ge-
1 sellschafiliche Preiskampf in weiterer Folge
Grenznulzeu
78a
noch zu einer zweiten Anwendung des
Gi^enzgesetzes, indem unter allen vei-schie-
denen individuellen Wertschätzungen jene
ausschlaggebend hervortreten, die die unterste
Grenze bezeichnen, bis zu der das Angebot
den Schätzungen der Nachfrage folgen rauss.
Der Preis solcher Seltenheitsgüter, die all-
gemein und eifrig begehrt werden — ob
sie nun wirklich kostbare Lebensgiiter oder
entbehrliche Luxusartikel sein mögen —
wird daher sehr hoch getrieben werden,
weil die Reichen und Reichsten ihre ganze
Kaufkraft aufbieten müssen, um die Mit-
bewerber auszuschliessen. Für den Preis
von Massengütern dagegen entscheidet die
Kaufkraft der Aermsten, sobald der Markt
reichlich genug für alle versehen ist. Ist
aber etwa die Ernte schlechter ausgefallen,
so zieht der Preis sofort an, da sich die
Besitzenden die gewohnte Versorgung sichern
woUen, wobei die Versorgung der anderen
Klassen stufenweise eingeschränkt werden
muss; im Falle einer Weltmissernte expor-
tiert das ärmere Jjand sein Getreide, um es
auf Kosten der Volksernährung dem zalilungs-
ki-äftigeren Auslande zuzuführen. So stellt
sich der Preis immer auf einen bestimmten
Ausschnitt der Werturteile des Marktes, er
passt sich jeweils der Schätzung der aus-
schlaggebenden Klasse von Erwerbern für
die ausschlaggebende Reihe von Erwer-
bungen an.
Wie auf dem Grenznutzen der Produkte
durch die produktive Zurechnung der Wert
der Produktivfaktoren, bauen sich auf diesen
Grenzausschnitten der Geldäquivalente für
die Produkte die Preise der Produktiv-
faktoren auf; und ebenso wirken die Preise
der Kosteneinheiten nach Mjiss der er-
forderten Kostenmengen ausgleichend auf
das Angebot der Produkte und durch das-
selbe, ja unter Umständen über dasselbe hinaus
(vgl. oben sub 7) auf die Preise der Pro-
dukte zurück ; insow^eit wiederholen sich für
die Preisbildung die Gedanken der indivi-
duellen Nutzrechuuug. Aber wälirend einer-
seits die tauschgesellschaftliche Organisation
der Arbeit und Verwertimg der Produktiv-
faktoren Kräfte entbindet, die, verglichen
mit den Einzelbemühungen, ungeheuer sind,
und daher Nutzw^irkimgen in Rechnung
stellt, wie sie in der isolierten Einzelwirt-
schaft niemals in Anschlag kommen könnten,
ist durch den riesigen Umfang aller Ver-
hältnisse und die Vielheit, ja den Gegen-
satz der Interessen anderereeits der Verlauf
des Prozesses gar oft gestört, ja derselbe
ist auf eine andei-e Grundlage gestellt. An-
statt des einfachen Schlusses vom Nutzen
auf den Wert, den das persönliche Interesse
zieht, haben w^ir viele Personen, deren jede
nur von den ihr nahen Interessen bewegt
wird, in einem wechselseitigen Ringen vor
! uns, in welchem es den einzelnen bald da,
bald dort gelingt, ihr persönliches Interesse
bestmöglich durchzusetzen. Nur unter dem
Einfluss einer wirklich fi^eien, ausgeglichenen,
verständigen Konkurronz kommen gesunde
Proise zu stände. Eine ungünstige Ver-
teilung des Volksvermögens schafft extreme
Preise der Luxusartikel, die in weiterer
Folge die Produktion allzu sehr auf diese
hinlenkt und übermässige Kosten aus den
Produktivsehätzen der Volkswirtschaft an
sie verschwendet. Jedes Monopol gi*eift
störend ein; das Monopol des Angebotes
vermag den Preis dauernd über den Kosten
hoch zu halten, bei mangelhafter Versorgung
des Publikums, das Monopol der Arbeits-
nachfrage vermag den Lohn vom Satze des
wirkhchen produktiven Ertrages der Arbeit
bis auf das Minimum der Lebensnotdurft
herabzudrücken. Nach mannigfachen Rich-
tungen vermag auch sonst die wirtschaft-
liche Macht, die die Parteien einzeln füi'
sich oder durch ihro Marktorganisation be-
sitzen, die Preisbildung zu beeinflussen und
Wirkungen hervorzubringen, die in der
Spliäre der einzel wirtschaftlichen Wert-
schätzung keine Analogie haben. Insoweit
sind der Proistheorie Aufgaben gestellt,
welche über die der elementaren Werttheorie
weit hinausgehen.
9. Tauschwert und Grenznutzen. Die
Einzelwirtschaft muss auch für ihre internen
Beziehungen mit den durch den Markt ge-
gebenen Preisen rechnen. In dieser Absicht
wird aus den Preisen der Dinge ihr Tausch-
wert abgeleitet. Jedoch bringt man luerbei
den Tauschwert nicht einfach mit der ab-
soluten Proishöhe in Ansc-hlag, sondern
rechnet ihn stets auf die pei-sönliche Gleichimg
jeder Wirtschaft um. Wie das gleiche ab-
solute Gewicht für verschiedene Personen
je nach ihrer Rüstigkeit verschiedene Be-
lastiuig bedeutet, so hat der gleiche Geld-
preis oder die gleiche Geldsumme für sie
je nach ihrer wirtschaftlichen Stärke ver-
schieden hohen Wert. In jeder Wirtschaft
empfängt das Geld subjektiven Tauschwert,
einerseits nach Mass seiner objektiven Tausch-
kraft d. h. der auf dem Markte gegebenen
Geldpreise der Dinge, und andererseits nach
Mass der in dieser Wirtschaft zu deckenden
Bediu'fnisse bezw. der durch Geldausgabe
zu deckenden Bedürfnisse sowie des Geld-
vorrates, nämlich nicht nur des BarvoiTates,
sondern auch des Geldeinkommens, der
diuxjh Kredit zu beschaffenden Summen und
des in Geld zu realisierenden Vermögens.
Mit Rücksicht auf alle diese Umstände be-
stimmt sich in jeder Wirtscliaft der Grcnz-
nutzen, zu dessen Sicherung die (leldeinheit
wirtschaftlicherweise noch ausgegeben wer-
den darf. Indem man sich /nach seinen
Mitteln einsduiinkt« , zieht man eben diese
784
Grenznutzen
Schranke des Grenznutzens des Geldes
durch alle Ausgabewege der Wirtschaft
durch. Auf dem subjektiven Tauschwert
des Geldes beruht der subjektive Tausch-
wert aller in den Einzelwirtschaften jeweils
in Geld geschätzten Dinge. So hat aller
subjektive Tauschwert sein letztes Mass in
einem abhängigen Nutzen und ist dadurch
unmittelbar mit den Gebrauchswertschätzun-
^en jeder Wirtschaft vergleichbar. Damit
ist die einheitliche Führung jeder Wirtschaft
ermöglicht, in ihrem ganzen Umfange, so-
wohl in ihren Beziehungen zum Markte als
in ihrem abgeschlossenen Innern, mit dem
einen Ziele, durchaus den höchstmöglichen
Nutzen zu erreichen und das wechselseitige
Gleichgewicht aller Akte des Erwerbes und
der Haushaltung aufrecht zu erhalten.
Die Mikrokosmen der Einzelwirtscliaften
stehen durch den Makrokosmus der Yolks-
und Weltwirtschaft in beständiger Cirkula-
tion , sich , wenn auch zu vei-schiedenem
Stande des Gedeihens, wechselseitig ernäh-
rend. Indem im Zusammenflusse der Märkte
alle Einzelwirtschaften in den Geldäquiva-
lenten ihre Bedüi-fnisse und zugleich ihre
Kräfte messen, bauen sich die Preise auf.
Dem gegebenen Preisstande muss sich jede
Einzelwirtschaft fügen und rückgreifend ihre
persönliche Wertschätzung nach demselben
regulieren. Damit tritt die Schätzung nach
Tauschwert zu den elementaren Formen der
Wertschätzung hinzu, aber nicht nur äussser-
iich, sondern innerlich mit demselben ver-
bunden. Auf erweiterter und teilweise ver-
änderter Grundlage wirkt nach wie vor in
den Einzelwirtschaften das Bestreben, nach
dem Masse des Grenznutzens die Nutzungen
der Wirtschaft so abzugrenzen, dass alle
höchsten erreichbaren Nutzungen einge-
schlossen werden.
10. Gesellschaftlicher Grenznutzen,
Aufgaben der Verwaltung und Steuer-
gerechtigkeit Zum Abschluss muss noch
auf einige entferntere Anwendungen der
entwickelten Grundgedanken hingewiesen
werden.
Wenn das Ziel der Wirtschaft die höchste
Ausnutzung der wirtscliaftlichen Güter ist
imd wenn die Verfolgung dieses Zieles zu
der Forderung führt, das Niveau der Lebens-
haltung nach allen Richtungen der Wirt-
schaft hin thunlichst auszugleichen, so
scheint es auch gefordert zu sein, dass die
wirtschaftliche Lebenshaltung der Individuen,
die die Gesellschaft bilden, ausgeglichen
und in diesem Sinne gleicher »gesellschaft-
licher Grenznutzen« für alle durchgesetzt
wenle. Streitet es nicht wider die natür-
liche Zweckbestimmung der Güter, wenn
ein Krösus leichtfertig verprasst, was dem
Bettler zur Deckung der Lebensnotdurft
unentbelirlich ist? Ideeen dieser Art drän-
gen sich jeder feineren Empfindung unwill-
kürlich auf und haben seit jeher die religi-
ösen, utopischen und auch die wissenschaft-
lichen Ausbildungen des KommimismuR ge-
nährt. Sie sind schon so oft und mit solcher
Kraft ausgesprochen worden, dass die mo-
derne Theorie des Bedürfnisses und des
Grenznutzens ihnen zwar exaktere wissen-
schaftliche Fassung, aber keineswegs wirk-
sameren Ausdruck zu verleihen vermöchte.
Es bedarf aber wohl keiner weiteren Aus-
führung, um zu erkennen, dass derartige
Forderungen weit mehr verlangen, als ver-
langt \Wrd, wenn man bloss innerhalb der
Einzelwirtschaft die thunlichste Aus-
gleichung der Lebenshaltung foi'dert. Es
wird damit verlangt, dass die geschichtlich
und persönlich so verschieden gestalteten
Bedingungen, unter denen die Volksklassen
und die Individuen den Erwerb vollziehen,
ausgeglichen werden; es wird weiter ver-
langt, dass die Individuen sich weitgehende
Beschränkungen der Freiheit des Erwerbes
gefallen lassen müssen; es wird endlich
verlangt, dass die Gesellschaft ihren Mit-
gliedern gegenüber eine Art Bürgschaft für
das Mass ihres Genusses übernehme, gleich-
giltig wie sie den Erwerb geführt haben:
mag man über diese weitergehenden Forde-
rungen im ganzen oder im einzelnen sich
wie immer entscheiden, so ist es doch klar,
dass sie neue Probleme stellen, die inner-
halb der Einzelwirtschaft für sich nicht ge-
stellt sein können.
üebrigens hat die öffentliche Verwaltung
seit jeher, wenn auch in wechselndem Um-
fange das Princip anerkannt, dass sie die
Deckung gewisser dringendster Bedtlrfnisse,
ja sogar auch gewisse Grundlagen des Er-
werbes allen ohne Ausnahme gleichmässig
zu sichern habe. Zahlreiche Einrichtungen
des Schulwesens, der Wohlfahrtspflege, des
Verkehrswesens sind von dem rrincip ge-
leitet, gleichmässig d. h. ohne Rücksicht
auf die Verschiedenheiten der Kaufkraft
oder Zahlkraft, bloss dem Bedürfnisse zu
dienen.
In diesem Zusammenhange ist noch da-
rauf hinzuweisen, dass der Staatsverwaltung
mitunter die Aufgabe zugemutet wird, durch
ihre Steuergewalt (namentlich durch ent^
sprechende Gestaltung der Erbsteuer) auf
die thunlichste Ausgleichung von Vermögen
und Einkommen und damit schliesslich der
Lebenshaltungen hinzuwirken. In der
Sprache der modernen Theorie von Bedürf-
nis und Grenznutzen wäre dies so zu be-
gründen, dass die durch die Steuern den
Privatwirtschaften entzogenen Gütervorräte
beim ärmeren Bürger zu ungleich wich-
tigeren Bedürfnisbefriedigungen dienen soll-
ten als beim reicheren und dass es daher
durch die Hegel des G^renznutzens geboten
Grenznutzen
785
wäre, die Steuerlast vorerst dem letzteren
aufzubürden. Damit wäre aber der Staats-
verwallung zugemutet, dass sie sich in
KQcksicht auf jene Probleme, von denen
eben die Rede war, im Gegensatz zxu* herr-
schenden Rechtsordnung entscheide. Der
Geist der Staatsverwaltimg kann auf die
Dauer nicht im Widerspruch zur allgemeinen
Rechtsordnung stehen, imd so lange diese
das Privateigentum anerkennt, ist es aus-
geschlossen, dass der Staat seine Steuer
als Waffe gegen das Privateigentum ge-
brauche.
Niditsdestoweniger lässt die Theorie vom
Grenznutzen bezw. die auf sie aufgebaute
Lehre vom subjektiven Wert sehr wichtige
Anwendungen auf die Steuerlehre zu, und
es ist der Versuch gemacht worden, den
Forderungen der Steuergerechtigkeit von
hier aus eine neue theoretische Grundlegung
zu geben.
Denkt man alle öffentlichen und Privat-
ausgaben nach der Ordnung ihrer Wichtig-
keit in eine Reihe gebracht, so erhält man
zunächst ein allgemeines Mass für die
Grenze, bis zu welcher die öffentlichen
Körper durch die Steuer den Privatwirt-
schaften Güter für ihre Zwecke entnehmen
dürfen ; die Ausgaben der öffentlichen Körper
sollen gegen die der Privatwirtschaften so ab-
gewogen sein, dass durch keine der beiderlei
Ausgaben minder wichtige Interessen auf
Kosten wichtigerer befriedigt werden. Ist
damit die Grösse der Steuerforderung im
ganzen abgegrenzt, so lässt sich aucli ein
Princip ableiten, welches die Aufteilung
der Steuerlast auf die einzelnen Steuer-
pflichtigen betrifft. Dieses Princip ist, dass
bei der Steuerveranlagung stets der auf den
Grenznutzen gegründete subjektive Wert der
Steuersumme für die einzelnen Verpflichteten
l)erücksichtigt w^erde. Hierdiu-ch erhält man
eine neue theoretische Unterlage für alle jene
Forderungen, die die Theorie vorher diu^h
Berufung auf die Grösse des »Steueropfers»
oder der »Steuerkraft« oder der »Leistungs-
fähigkeit« zu begründen versucht hat. Da der
allgemeine Wertstand in jeder Einzelwirt-
schaft auf Bedarf, Einkoramen und Ver-
mögen beruht, so wäre immer der gesamte
Bedürfnisstand — mit seinen regelmässigen
und seinen ausserordentlichen An fordenmgen
— sowie der Einkommens- und Vermögens-
stand in Rücksicht zu ziehen ; hierbei müsste
aber ausserdem der individuelle Bedürfnis-
stand immer auf seine Dringlichkeit hin
gegen die Bedarfsforderungen der Gemein-
wesen abgewogen werden. Hieraus lässt
sich folgern, dass nicht nur eine Kopfsteuer,
sondern auch noch eine bloss nach Mass
des Einkommens verteilte Steuer imgerecht
ist \md dass die Steuer in entsprechender
Weise, wie namentlich durch Freigebung
der individuellen Existenzbedürfnisse und
durch progressiven Steuerfuss, durch Berück-
sichtigung von Kinderzahl oder ausserordent-
lichen Zufällen der Wirtschaft, dem Ver-
hältnisse von Bedarf und Einkommen sowie
durch Vorbelastung des fundierten Einkom-
mens auch dem Vermögensstande anzu-
passen sei.
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Griechische Finanzen
s. Finanzen, griechische oben
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Grossbetrieb and Kleinbetrieb.
1. Unterscheidungsmerkmale. Vorteile des
Grossbetriebs. 2. Existeuzßlhigkeit des Klein-
betriebs. 3. Die Motoren im Kleinbetrieb. 4. Sta-
tistik der Gross- und Kleinbetriebe. 5. Gross-
und Kleinbetrieb in sozialer Beziehung.
L Unterscheidnngsmerkmale. Vor-
teile des Grosshetriebs. Die allge-
meinste Unterscheidung des Grossbetriebs
vom Kleinbetrieb beruht auf der Grösse des
in einem Unternehmen angelegten Kapi-
tals, wenn wir auch den Grundbesitz zum
Kapitalvermögen im privatwirtschaftlichen
Sinne rechnen. Wir beschäftigen uns im
folgenden jedoch nur mit den gewerb-
lichen Betrieben in der Abgrenzung, wie
sie in der Reichsstatistik angenommen ist.
Es ist also keineswegs ein notwendiges
Merkmal für den gewerblichen Grossbetrieb,
dass in demselben eine gi-osse Anzahl von
Arbeitern beschäftigt werde, denn es giebt
Handels- und Bankgeschäfte mit verhältnis-
mässig kleinem Peraonal, die aber wegen
ihres nach Millionen zählenden Kapitals un-
zweifelhaft zu den Grossbetrieben gehören.
Ebenso wird der Detailhandel zum Gross-
betrieb, wenn er in seiner modernen Ge-
staltung mit einem grossen Kapital unter-
nommen wird. Auch die Verwendung be-
deutender Mascliinenkräfte ist fQr den
Grossbetrieb nicht wesentlich charakteristisch,
denn in vielen Gewerben bleibt die Hand-
arbeit vorherrschend, auch wenn sie in
grossen Unternehmungen betrieben werden.
So insbesondere in vielen hausindustriell
betriebenen Produktionszweigen, in denen
die grösseren Unternehmer eine mehr kauf-
männische Stellung einnehmen und oft gar
keine eigenen Fabrik- oder Werkstattein-
richtungen besitzen. Aber in der Zeit, in
die sich der Uebergang von der älteren zu
der modernen Gestaltung der gewerblichen
Produktion voDzog, erschien vor aUem das
Maschinenwesen als das dem Grossbetrieb
eigentümliche Hilfs- und Kampfmittel, das
ihm überall, wo es ziu: Anwendung ge-
bracht werden konnte, den Sieg über den
Kleinbetrieb verschaffte. In diesen Fällen
hing die Entscheidung zwischen Grossbetrieb
und Kleinbetrieb von einer rein tech-
nischen Frage ab. Sobald die Technik
der Industrie die Möglichkeit verschaffte,
mit grossen und teueren Kraft- und Werk-
zeugmaschinen trotz der notwendigen Ver-
zinsung dieses stehenden Kapitals die
Mengeneinheit ihrer Erzeugnisse für einen
weit niedrigeren Preis als nach der hand-
werksmässigen Produktionsweise zu liefern
und dabei ztigleich die erzeugte Menge in
früher unerhörter Weise zu vermehren, war
in einem solchen Gewerbezweige die Ver-
drängung des Kleingewerbes endgiltig ent-
schieden. Wo eine auf der Höhe der Tech-
nik stehende Produktion nur mit solchen
Maschinen möglich ist, sind nur Unter-
nehmungen mit gix)ssem Kapital, d. h. also
Grossbetriebe existenzfähig. Neben der
Maschinenspinnerei z. B. kann sich der kleine
Handbetrieb ebensowenig noch behaupten
wie das Frachtfuhrwerk neben der Eisen-
bah'n, und wenn von der gewöhnlichen
Handweberei noch einige Reste ein kläg-
liches Dasein fristen, so ist dieser doch jede
Zukunftsaussicht abgeschnitten.
Wenn aber aiif vielen Gebieten die Tech-
nik unmittelbar das entscheidende Wort
zu Gunsten des Grossbetriebs ausgesprochen
hat so giebt es doch andere, auf denen der
Grossbetrieb nicht durch die unumgänglichen
Bedingungen der Technik, sondern durch
die Einwirkung besonderer wirtschaft-
licher Umstände verbreitet und befördert
worden ist. Die Werkzeuge und kleinen
Maschinen, die in der Kleineisenindustriej
in der Kleider- und Modewarenkonfektion,
in der Tischlerei und anderen überwiegend
auf Handarbeit beruhenden Gewerben ver-
Örossbetrieb und Kleinbetrieb
787
wendet werden, sind auch dem kleinen Be-
trieb erreichbar, bei dem natürlich ebenfalls
ein gewisses, seinem Umfange angemessenes
Kapital vorj^usgesetzt werden muss. Auf
diesem Gebiete sind also beide Betriebs-
forraen mit rationellen technischen Hilfs-
mitteln möglich, und hier spielt sich daher
fast ausschliesslich der Wettkampf zwischen
beiden ab. Im ganzen hat aucn hier der
Grossbetrieb immer mehr Boden gewonnen,
weil er sich infolge seines grossen Kapital-
besitzes auch gewisser rein ökonomischer
Vorteile erfreut. Diese Vorteile, die dem
Grossbetrieb auch abgesehen von dem Ma-
schinenwesen zu gute kommen, sind haupt-
sächlich folgende: Er kann bei der grossen
Zahl seiner Arbeitskräfte eine rationelle
Arbeitsteilung durchführen und dadurch
zugleich seine Arbeitskräfte gleichmässiger
und mit vollerer Anspannung beschäftigen,
als es dem Kleinbetrieb möglich ist. Auch
die fruchtbare Ausnutzung der an sich auch
für den letzteren geeigneten Maschinen ist
in vielen Fällen von einer angemessenen
Arbeitsteilung abhängig. Denn eine solche
Maschine, z. B. eine Kreiss^e, verrichtet
nur eine bestimmte einfache Teilarbeit; zu
ihrer voDen Ausnutzung aber muss sie
während der ganzen Arbeitszeit in Thätig-
keit gehalten werden, imd das setzt voraus,
dass auch alle übrigen Teilarbeiten des be-
treffenden Gewerbebetriebes im gleichen
Schritt gefördert werden, und dieses bedingt
häufig eine Massenhaftigkeit der Produktion,
die mit der geringen Kapitalkraft des Klein-
betriebs nicht vereinbar ist. Für den Klein-
betrieb sind ferner, wenn er nicht die noch
zu erwähnenden individualisierten Erzeug-
nisse liefert, die Absatzbedingungen
weit ungünstiger als für den Ghx)ssbetrieb.
Arbeitet er für den lokalen Markt (also
nicht auf Bestellung), so findet er die Kon-
kurrenz der im grossen he^estellten »Fa-
brikwaren«. Sind aber seine Erzeugnisse für
den Weltmarkt oder überhaupt für den Ab-
satz in der Feme bestimmt, so stehen die
ihn unternehmenden Gewerbetreibenden zu
den Kauf leuten, die jenen Absatz auf eigene
Rechnung und Gefahr übernehmen, in einem
ganz ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis wie
die Lohnarb»eiter zu den Arbeitgebern, und
es bleibt ihnen auf Grund ihres ohnehin
nur kleinen Kapitals nur ein sehr geringer
ünternehmergewinn übrig. Dem Grossbetrieb
dagegen steht der ganze Apparat des mo-
dernen Handelsmechanismus zur Verfügung,
er kann JReisende nach allen Weltteilen ent-
senden, Agenturen unterhalten, Ausstellungen
beschicken u. s. w. Ferner wird es den
kleinen, handwerksmäßsigen Unternehmern
meistens schwerer, tüchtige und ge-
schickte Arbeiter zu erhalten, als den
Grossbetrieben. Ihre allgemeinen Kos-
ten sind in der Regel verhältnismässig
höher, da z. B. eine grosse Dampfmaschine
nicht fünfzig oder hundert mal mehr kostet
als fünfzig oder hundert Kleinmotoren, die
zusammen denselben Krafteffekt haben.
Ebenso stehen die Betriebskosten für die
Stunde und Pferdekraft im umgekehrten
Verhältnis . zur Leistungsfälligkeit und Be-
nutzimgsdauer der Maschine. Auch die
Roh- und Hilfsstoffe können im grossen
Betriebe billiger bezogen werden als im
kleinen, da der erstere im stände ist, sie in
grossen Mengen und aus erster Hand anzu-
kaufen. Dazu kommt noch der leichte
und billige Kredit, dessen sich der
Grossbetrieb vermöge seines bedeutenden
Kapitals erfreut. Durch genossenschaftliche
Organisationen, namentlich diurch Rohstoff-,
Magazin- und Kreditgenossenschaften lassen
sieh diese wirtschaftlichen Nachteile des
Kleinbetriebs allerdings vermindern, aber
keineswegs völlig ausgleichen.
Die rein wirtschaftlichen Vorteile des
Grossbetriebs zeigen sich mit besonderer Deut-
lichkeit in den in der neuesten Zeit zu immer
grösserer Bedeutung gelangten Grossunter-
nehmungen für den Detaühandel, in denen
Maschinen und technische Hilfsmittel keine
oder keine nennenswerte Rolle spielen. Die
grossen Warenhäuser üben überdies durch
diese ganze Einrichtung eine besondere An-
ziehungskraft auf das Publikum aus, dem
sie Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten
darbieten, die in kleinen Läden nicht zu
finden sind. Namentlich aber sind sie in-
folge der erwälmten Vorteile im stände,
dieselben Warencjualitäten billiger zu liefern
als die Kleinbetriebe, imd wegen der Not-
wendigkeit, einen ihrem Kapital entsprechen-
den grossen Umsatz zu erzielen, sind sie
auch gezwungen, dies wirklich zu thun, imd
somit bildet ihr Emporkommen in den
grossen Städten einen Gewinn für die
grosse Masse der Konsumenten und einen
volkswirtschaftlichen Fortschritt. Dagegen
findet auf dem Gebiet des Kleinbetriebs,
des Detailhandels eine unwirtschaftliche
Verwendung von Kapital und Arbeit statt,
wie sie auf keinem anderen vorkommt. In
den Städten werden fortwährend neue Läden
eröffnet^ deren Inhaber den grössten Teil
ihrer Zeit mit vergeblichem Warten auf
Kunden zubringen, und viele von ihnen sind
bald wieder genötigt, mit Verlust ihres
kleinen Kapitals imd mit Schädigung der-
jenigen, die ihnen Waren auf Kredit ge-
liefert haben, den verfehlten Versuch wieder
aufzugeben. Auf die Grösse des volkswirt-
schaftlichen Bedürfnisses an Leistungen des
Detailhandels wird bei diesen Versuchen
keinerlei Rücksicht genommen. Während
sich die Bevölkerung von 1882 bis 1895 nur
um 15 ^/o vermehrte, ist die Zahl der
50*
788
Grossbetrieb und Kleinbetrieb
Betriebe mit 1 — 5 Hilfspersonen in dieser
Periode z. B. bei den Manufakturwaren-
geschäften um 43®/o, bei den Kurzwaren-
geschäften um 70*^/o gestiegen. Anderer-
seits hat die Zahl der mittieren Betriebe
mit 6 bis 50 Gehilfen, die dem eigentlichen
Mittelstande angehören, noch mehr, näm-
lich bei den ersterwähnten Geschäften
um 80, bei den zweiten um 100 ®/o zuge-
nommen, woraus folgt, dass auch nach Er-
drosselung der Grossbetriebe die Kleinbetriebe
unter demselben Druck einer überlegenen
Konkurrenz bleiben würden, da sich die
kapitalkräftigeren und leistungsfähigeren
Mittelbetriebe noch stärker vermehren und
bis zu der Grenze entwickeln würden, an der
ihnen der weitere Fortschritt durch die
projektierte Steuerstrafe abgeschnitten würde.
Im übrigen s. d. Art. Warenhäuser.
2. Existenzfähigkeit des Kleinbe-
triebs. Gesicherte Lebensbedingungen findet
der Kleinbetrieb von Gewerbe und Handel
in erster Linie noch in den kleineren Städten
und den grösseren Dörfern, die Landbezirke
mit gewerblichen Erzeugnissen versorgen.
Viele von den früher handwerksmässig her-
gestellten Gegenständen werden allerdings
jetzt auch in diesen Orten als Fabrikwaren
bezogen; aber der Handel mit denselben
wird in der Regel nur im kleinen und in
Verbindung mit dem nächstverwandten
Handwerk betrieben, da wegen der Be-
schränktheit des örtlichen Absatzes grosse
Magazine und reichhaltige Lager nicht unter-
halten werden können. Aber auch in
grösseren Städten behalten gewisse Gewerbe
eine überwiegend lokale Bedeutung und
lassen daher einen erfolgreichen Betrieb in
kleinerem Umfange zu; so. die Nahrungs-
gewerbe, die raschem Verderben ausgesetzte
Lebensmittel liefern; ferner Schuhmacherei
und Sclineiderei und die übrigen Beklei-
dungsgewerbe, bis zu einem gewissen Grade
auch Schlosserei, Klempnerei, Tischlerei und
die Bauhandwerke, auch Dnickerei, Buch-
binderei etc. Namentlich erweist sich der
Kleinbetrieb in den meisten Fällen als kon-
kurrenzfähig, in denen es sich um genaue
Anpassung an das individuelle Bedürfnis,
also um Gebrauchsgegenstände handelt, die
nach Mass oder besonderer Voi^schrift an-
gefertigt werden. Daher wird trotz der zu-
nehmenden Konkiurenz der Konfektions-
waren der handwerksmässige Kleinbetrieb
sich auch in den Bekleidungsgewerben in
erheblichem Umfange behaupten können.
Es kommt bei diesen individualisierten
Leistimgen besondere auf die Gesclücklich-
keit und Gewissenhaftigkeit des Verfertigers
an, und ein selbstarbeitonder Handwerks-
mei.ster, der diese Eigenschaften besitzt, ist
häufig den grossen Uifternehmern, die sich
auf ihre Lohnarbeiter verlassen müssen, ent-
schieden überlegen. Die eigene Sachkunde
des Meisters giebt zugleich eine Garantie
für bessere Arbeit der Gesellen. Aehnlich
ist das Verhältnis bei der Herstellung aJler
Erzeugnisse, die nicht nach allgemeinen
Schablonen, sondern in besonderen, mehr
künstlerischen Formen erscheinen oder in
allen ihren Enzelheiten mit besonderer Ge-
nauigkeit und Präcision angefertigt werden
müssen. Der wirkliche Künstler kann ja
überhaupt nur als einzelner arbeiten, und
ein »Grossbetrieb«, z. B. in der Boman-
schrif tstellerei nach der Methode des älteren
Dumas, oder wie man ihn gewissen Malern
nachsagt, fällt ausserhalb des Gebietes der
Kunst. — Auch die nicht für individuellen
Bedarf, sondern für den durch den Handel
vermittelten Absatz arbeitenden Klein-
betriebe sind bei den Gegenständen im
Vorsprunge, deren Anfertigung besonderen
Geschmack oder besondere GeschicMichkeit
oder Sorgfalt erfordert, wenn zugleich dabei
vorzugsweise Handarbeit verwendet wird
und der Rohstoff billig ist oder wenigstens
keine bedeutende Kapitalanlage bedingt. Bei-
spielsweise gilt dies von vielen Kurz- imd Ga-
lanteriewaren nach Art der sogenannten »Pa-
riser Artikel«, üeberdies ist in Paris selbst
so^de auch in anderen grossen Städten der
Detaühandel in diesen Artikeln in solchem
Umfange entwickelt, dass die kleinen Fa-
brikanten einen grossen Teil ihrer Erzeug-
nisse unmittelbar an die mit den letzten
Abnehmern verkehrenden Ladeninhaber ab-
setzen können. Dass im hausindustriellen
Kleinbetrieb oft alle Familienmitglieder vom
frühen Kindesalter mit beschäftigt werden,
kommt ihnen zwar in mancher Beziehung
zu statten, giebt aber auch Anlass zu starker
Herabdrückung der Preise der Arbeit und
zu vorzeitiger und übermässiger Anstrengung
der Kinder.
Li der neuesten Zeit erwartet man viel-
fach gix)sse Förderung des Kleinbetriebes
von der ihm mehr und mehr zugänglich
gemachten Anwendung mechanischer Mo-
toren. Frühere Vorschläge und Versuche
betrafen gemeinschaftliche Maschinenanlagen,
nämlich Centralstellen, wo die beteiligten
kleinen Unternehmer durch Dampf oder
Wasser getriebene Werkzeugmaschinen für
ihren Bedarf mieten konnten. Jeder wird
indes vorziehen, diese Hilfsmittel in seiner
eigenen Werkstätte zu benutzen, und dazu
bieten die gegenwärtig in so zahlreichen
Arten zur Verfügiuig stehenden Kleinmo-
toren die Möglichkeit. Der Dampfmaschine,
die sich bei billigem Betrieb auf sehr koim-
pendiöse Formen bringen lässt, ist in dieser
Eigenschaft der Vorzug durch andere Mo-
toren streitig gemacht worden, die keine
Kessolanlage erfordern imd fast gänzlich ge-
falu'los sind. Die Heissluftmaschine, zuerst
Grossbetrieb und Kleinbetrieb
789
von Erikson erfunden, hat allmählich solche
Verbesserungen erfahren, dass sie jetzt prak-
tisch verwendbar ist. Beliebter jedoch ist
die durch Explosion eines Gasgemenges ge-
triebene Gaskraftmaschine, von der melirere
Systeme, namentlich aber das Ottö-Langen-
sche im Gebrauche sind. Auch die Elektri-
cität hat als bewegende Kraft schon Ein-
gang in den Kleinbetrieb gefunden, mid
zwar in der Art, dass der Strom von einer
CentralsteDe aus den Einzelmaschinen zu-
geführt wird. Solche Centralstellen zur Ver-
teilung mechanischer Kraft finden wir auch
bei dem in Paris mit Erfolg angewandten
Poppschen Druckluftsystem sowie auch bei
dem ebenfalls in Paris schon erprobten
System der Verdünnung der liuft in einer
Röhrenleitung. Diese • Kraftzuftihrung aus
Centralstellen hat selbst den grossen Dampf-
maschinen gegenüber den Vorteil, dass die
Benutzung des Motors nur für die Zeit be-
zahlt zu werden braucht, während welcher
er wirklich gebraucht worden ist. Auch
Wasserdruckmaschinen stehen dem Klein-
gewerbe nach verschiedenen Systemen ziu*
Verfügung. In der Regel werden dieselben
jedoch nicht durch in der Nähe der Betriebs-
stelle vorhandene Wasserkräfte, sondern
durch das Wasser der städtischen Leitungen
getrieben, imd der Preis einer Pferdekraft
stellt sich daher durchschnittlich erheblich
höher, als bei der Anwendung von kleinen
Dampf-, Gas-, Luft- und elektrischen Ma-
schinen, welche alle hinsichtlich der Be-
triebskosten nicht weit von einander ab-
stehen. In Gebirgsgegenden und anderen
geeigneten Oertüchkeiten spielt auch die
immittelbare Verwendung der nattlrlichen
Wasserkraft mit Hilfe der alten Vorrichtungen
im Kleinbetriebe noch eine bedeutende RoUe.
Namentlich gut dies in betreff der MüUerei,
die überdies in den Ebenen auch noch den
Wind in kleinen Anlagen verwerten kann.
Nach Petersilie kamen 1882 in Preussen
von den kleingewerblichen Motorenbetrieben
(mit höchstens fünf Gehilfen) allein 30651
auf die Getreidemüllerei, während alle übri-
gen Kleingewerbe nach Ausschluss- der
Getreide- und Oelmüllerei nur 8594 Motoren,
0,8 % der Zahl der kleingewerblichen Haupt-
betriebe, verwendeten. Im Vergleich mit
der entsprechenden Zahl nach der Gewerbe-
statistik von 1875 war allerdings eine Ver-
mehrung der letzteren um 3056 eingetreten,
aber gleichwohl wii-d man zugestehen
müssen, dass die Motoren in den nicht
schon von alters her mit solchen ausge-
statteten Kleingewerben bis 1882 in Preussen
noch sehr geringe Verbreitung gefunden
hatten. Seitdem sind jedoch bedeutende
Fortschritte gemacht worden.
3. Die Motoren im Kleinbetrieb. Nach
den Angaben der fünf grossten deutschen
Motorenfabriken schätzte Albrecht 1889 die
Zahl der im Reiche in Betrieb stehenden
QtBS' und Heissluftmotoren auf 30000, von
denen ungefälu* 21000 den Kleinbetrieben
angehören dürften, wenn man für diese vier
Pfeixlekräfte als obere Grenze der Leistungs-
fähigkeit annimmt, was allerdings nicht aJl-
gemein zutreffend sein wird. Nach der Ge-
w^erbezählung vom 14. Juni 1895 betrug die
Zahl der Motoren benutzenden Hauptbetriebe
mit höchstens fünf beschäftigten Pereonen
im Deutschen Reiche 95558 und die Zahl
der verwendeten Pferdekräfte 438801. Diese
letztere Zahl stellt 13 % der Gesamtsiunme
der in den Gewerben durch Motoren ge-
lieferten Pferdekräfte dar. Der Prozentsatz
der Kleinbetriebe (in der angegebenen Ab-
grenzimg), die überhaupt Motoren benutzten,
war 3,3, oder wenn man die Alleinbetriebe
(ohne jede Hilfspei'son) ausscheidet, 7,8.
Von den Betriel)en mit 6 — 20 Personen
hatten 29235 (18,1 o/o) Motoren mit 375645
Pferdekräften, und für die Betriebe mit 21
imd mehr Pereonen waren die entsprechen-
den Zahlen 26902 (55,0 o/o) und 2562881.
unter den Kleinbetrieben wiesen auch jetzt
wieder die Geti'eidemühlen die meisten Mo-
torenbetriebe auf, nämlich 41 258 mit 220 773
Pferdeki-äften, verliältnismässig aber hat
dieses üebergewicht seit 1882 bedeutend
abgenommen. Ferner betrug u. a. die Zahl
der Kleinbetriebe mit Motoren in der Säge-
müllerei 6904, in der OelmüUei-ei 683, in
der Branntweinbi'ennerei 4S02, bei den Ma-
schinenverleihungsgeschäften 2380, in der
Butter- und Käsefabrikation 2036, in der
Schleiferei 3294, .in der Tischlerei und
Parkettfabrikation 1156, in der Brauerei 1121,
im Zeug- und Messerschmiedegewerbe 958,
in der Drechslerei 713, in der Schlosserei
529, in der Gerberei 523, in der Buch-
druckerei 511.
Manche Kleinbetriebe erludten dxvrch die
ihnen angepassten Masclünen ohne Zweifel
eine wertvolle Unteretützung in ihrem Wett-
bewerb mit den Grossbetrieben. Aber es
werden dadurch weder die (h^nzen des
dem Grossbetrieb aus technischen Gründen
ausschliesslich zufallenden Gebietes wesent-
lich eingeengt noch die oben angeführten
specifisch wirtschaftlichen, durch die Absatz-,
Einkaufs-, Kredit-, Arbeiterverhältnisse be-
dingten Nachteile des Kleingewerbes aufge-
hoben. Einige von denjenigen Kleingewerbe-
treibenden, die zuerst im stände sind, sich
eine nenerfundene Maschine anzuschaffen,
werden sich wahrecheinlich zu einer mitt-
leren Betriebsstufe eiuporarbeiten, also aus
der gewerblichen Klasse, der sie bisher an-
gehörten, ausscheiden; durch die verschärfte
Konkurrenz aber werden immer mehr kleine
Unternehmer genötigt, sich ebenfalls mit
solchen Maschinen zu versehen, und wer
790
Grossbetrieb uod Kleinbetrieb
nicht dazu im stände ist, wird vielleicht
überhaupt nicht mehr bestehen können.
Wenn durch diese Verdrängung der wenigst
bemittelten Mitbewerber vielleicht auch eine
Zeit lang die Verwendung der Maschinen für
die übrigen einen ungewöhnlich hohen Ka-
pitalgewinn, eine Art von Vorzugsrente ab-
werfen mag, so w^ird dies jedoch aufhören,
wenn die Benutzung dieser Hilfsmittel sich
verallgemeinert hat und gewissermassen eine
selbstverständliche Lebensbedingung für den
betreffenden Betrieb geworden ist. Es ist
nicht abzusehen, weshalb dann das angelegte
kleine Kapital sich hoher als zu dem nor-
malen Gewinnsatze, der auch bei der früheren
Betriebsform erreicht wurde, verzinsen sollte.
Es wird sich, wenn auch in anderen Grössen-
verhältnissen, im wiesen tlichen immer wieder-
holen, was man hinsichtlich der Nähmaschine
beobachten kann. Hat diese etwa die Lage
der selbständigen Näherinnen dauenid ver-
bessert? Keineswegs, sie hat nur bewirkt,
dass eine Näherin ohne Maschine überhaupt
nicht mehr existieren kann, sie muss sich
die Maschine nötigenfalls zu sehr ungünstigen
Bedingungen, etwa in einem Abzahlungsge-
schäft anschaffen ; die Konkurrenz ist daher
bald wieder so gross geworden, dass trotz
der Auslage für die Maschine keine nach-
haltige &höhung des Verdienstes der
Näherinnen merkbar bleibt, üeberhaupt
kann die wirtschaftliche Wirkung der Ma-
schinenverwendung in kleinem Betriebe auf
die Dauer keine andere sein als im grossen :
die Maschine bewirkt eine Steigerung der
objektiven Produktivität der menschlichen
Arbeit, die schliesslich den Konsumenten
zu gute kommt, nicht aber eine dauernde
Erhöhung der Rate des Kapitalgewinnes
venu-sacht, da die Konkurrenz den Preis
der nimmehr in grösserer Menge produ-
zierten Erzeugnisse entsprechend herab-
drückt. Nur in der Uebergangszeit erlangen
diejenigen, die zuerst die neuen technischen
Hilfsmittel anwenden, einen oft bedeutenden
Extragewinn. Eine nachhaltige Vorzugs-
rente dagegen kann niu* derjenige kleine
Gewerbtreibende erwerben, der sicli diuxjh
eigene Arbeitsgeschicklichkeit und Geschäfts-
tüchtigkeit vor den übrigen auszeichnet.
4. Statistik der Gross- und Kleinbe-
triebe. Wenn wir nach der thatsächlichen
Ausdehnung des Gross- und des Kleinbe-
triebs fragen, so kann die Antwort nur auf
Grund einer willkürlichen Abgrenzung der
beiden Betriebsformen erfolgen. Wir haben
oben die Grösse des benutzten Kapitals als
das unterscheidende Merkmal für dieselben
angenommen; aber wo soU die Grenze
zwischen grossem und kleinem Kapital ge-
zogen werden? Immerhin könnte man sich
über eine solche einigen, aber die statistische
Erhebung des Kapitals der einzelnen Ge-
werbebetriebe würde, abgesehen von dem
der Aktiengesellschaften, auf grosse Schwie-
rigkeiten stossen. Es bleibt also nichts
übrig, als sich zunächst an das reiu äusser-
liche Merkmal der Zahl der Gehilfen zu
lialten, obwohl diese Zahlen je nach der
Art des Unternehmens sehr verschiedene
Bedeutungen haben, wie sich namentlich in
dem Unterschiede zwischen einem Gross-
handels- oder Bankgeschäft und einem
Handwerksbetrieb mit derselben Gehilfen-
zahl zeigt. Es empfiehlt sich daher, noch
eine weitere Unterscheidung der Betriebe
nach der Zahl der Angestellten durch-
zuführen, wenn unter diesen,- wie in der
deutschen Gewerbestatistik, das Verwaltungs-
und Kontorpersonal sowie das technische
Aufsichtspersonal und die höheren Techniker
zu verstehen sind. Die Ladengehilfen jedoch
wären auszuschliessen. Die Reichsstatistik
unterscheidet zunächst Alleinbetriebe
und Gehilfenbetriebe, wobei aber zu
den letzteren auch die Betriebe, in denen
Mitinhaber beschäftigt sind, sowie aUe
Motorenbetriebe gerechnet werden. Es giebt
daher auch Gehilfenbetriebe, in denen nur
eine Person beschäftigt ist, ein Fall, der
auch dadurch. eintreten kann, dass der Ge-
schäftsinhaber das Gewerbe selbst gar nicht
oder nicht im Hauptberuf betreibt.
Unter den Hauptbetrieben waren im
Jahre 1895 (mit Einschluss der hausindus-
triellen Betriebe) 1714351 Alleinbctriebe
und 1430626 G^hilfenbetriebe , also bezw.
54,5 und 45,5 % der Gesamtzahl. Im Jahre
1882 waren die entsprechenden Zahlen
1 877 872 und 1 127 585 und die Prozentver-
hältnisse 62,5 und 37,5. Die Alleinbetriebe
und somit die kleinsten Betriebe hatten also
auch 1895 noch das Uebergewicht ihrer
Zahl nach, jedoch waren sie seit 1882 ver-
hältnismässig zurückgegangen. Von den in
den Hauptbetrieben überliaupt beschäftigten
Personen aber kamen 1895 niu* 16,7 ^/o auf
die Alleinbetriebe, gegen 25,6 ®/o im Jahre
1882. Zu den Kleinbetrieben rechnet
die Reichsstatistik ausser den AUeinbetrie-
ben noch die Gehilfenbetriebe mit höchstens
5 beschäftigten Personen, als Mittelbetriebe
betrachtet sie die mit 6 bis 50 bescliäftig-
ten Personen, als Grossbetriobe die mit 51
und mehr Personen, wobei die Betriebe mit
mehr als 1000 Personen auch als Riesen-
betriebe bezeichnet werden. Es betrug hier-
nach die Zahl der Hauptbetriebe und der
beschäftigten Personen:
Grossbetrieb und Kleiabetrieb
791
Kiembetriebe
Mittelbetriebe
Grossbetriebe
Kleinbetriebe
Mittelbetriebe
Grossbetriebe
Die Kleinbetriebe haben also seit 1882
sowohl in ihrer Zahl wie in ihrem Personal
absolut noch einigermassen zugenommen,
wenn sie auch im Verhältnis zu den anderen
Betriebsgrössen zurückgegangen sind. Die
Mittelbetriebe aber sind in der Zahl um
09 ^/o, im Personal um 76 % und die Gross-
betriebe in der Zahl um 98 ^/o, im Pei'sonal um
89 ^/o gewachsen.
5. Gross- und Kleinbetrieb in so-
zialer Beziehung. So weit der Gross-
betrieb im Vergleich mit dem Kleinbetrieb
die Produktivität der Arbeit steigert, also
soweit er bewirkt, dass mit demselben Auf-
wand von Kapital oder Arbeit eine grössere
Menge objektiver Güter geschaffen und den
Konsumenten zur Verfügung gestellt werden
kann, bildet er unzweifelhaft einen volks-
wirtschaftlichen Fortscliritt, und wenn diese
Entwickelung in der üebergangsperiode
auch oft viele privatwirtschaftliche Interessen
schädigt, so ist doch jeder Versuch, sie zu
unterdrücken, durchaus ebenso zu beurteilen
wie die Fordening, dass im Interesse der
Fi-achtfuhrleute m\i Lohnkutscher auf den
Eisenbahnbau zu verzichten sei. Auf diesem
Niveau stehen z. B. die gegenwärtig lebhaft
hervortretenden und durch das Vorgehen
gegen die Warenhäuser ermutigten Be-
strebung-en, den Kleinbetrieb der Müllerei
durch eine Umsatzsteuer gegen den dem
modernen Standpunkt der Technik ent-
sprechenden Grossbetrieb zu schützen.
Dass die möglichst hohe Steigerung der
Produktivität vor allem auch im Interesse
der Arbeiterklasse liegt und dass eine Hem-
mung dieses Fortschrittes gleichbedeutend ist
mit der Begünstigung einer relativ besitzen-
den Klasse auf Kosten der besitzlosen, ist
einleuchtend. Denn wenn der Anteil der
Arbeiter an den produzierten Gütern ver-
mehrt werden soll, so ist die erste zu er-
füllende Bedingung, dass die Masse der von
einer gegebenen Summe von Arbeitskräften
erzeu^n Güter vergrössert w^erde. üebri-
gens ist auch thatsächlich die durchschnitt-
liche Lage der Arbeiter in dem fabrikmäs-
sigen Grossbetrieb besser als die in den
Kleinbetrieben beschäftigten sowohl hin-
sichtlich der Löhne als auch der Einrich-
tung der Arbeitslokale und häufig auch der
Länge der Arbeitszeit. Dazu kommen die
mannigfaltigen Wohlfahrtseinrichtnngen, die
überhaupt nur von grosskapitalistischen
Betriebe
Personen
1895 1892
1895
1892
934 723 2 882 768
4 770 669
4 335 822
191 301 112 715
2 454 333
I 391 720
18 953 9 974
3 044 276
I 613247
oder in Prozenten
93,3 95,9
46,5
59,0
6,1 3,8
23,9
19,0
ofi 0,3
29,6
22,0
Unternehmungen geschaffen werden können.
In einer Anzahl von Gewerbezweigen ist
der Sieg des Grossbetriebs völlig entschie-
den und der Widerstand gegen diese natur-
gemässe Entwickelung verschwunden. Diese
Thatsache zeigt sich weniger deutlich in
den Prozentteilen der bestehenden kleinen
und grösseren Betriebe als in der Verteilung
der beschäftigten Personen. So kamen 1895
auf 1000 Personen solche, die in Grossbe-
trieben (im obigen Sinne) beschäftigt waren :
im Steinkohlenbergbau 998, in der Rüben-
zuckerfabrikation 994, in der Stahl- und
Eisenfabrikation 978, und diese Verhältnis-
zahlen hatten sich seit 1882 nicht erheblich
erhöht. In anderen Produktionszweigen da-
gegen war die Verschiebung merklicher: so
betrug die Belativzahl für die Dampf-
maschinenfabrikation 956 im Jahre 1895
gegen 916 im Jahre 1882, in der Baumwoll-
spinnerei 928 gegen 840, in der Porzellan-
fabrikation 889 gegen 814, in der Woll-
spinnerei 780 gegen 606, im Wagenbau und
der Fahrradfabrikation 777 gegen 711, in
der Blechwarenfabrikation 720 gegen 528,
in der Baumwollweberei 672 gegen 455, in
der Wollenweberei 638 gegen 475, in der
Seidenweberei 573 gegen 178. Die Weberei
befindet sich also noch in einem üeber-
gangszustande, in dem namentlich die früher
noch ziemlich zahlreichen (zum Teil haus-
industriellen) Kleinbetriebe beseitigt werden,
deren Verhältniszahl z. B. in der Seiden-
weberei 1895 auf 365 gegen 758 im Jahre
1882 zurückgegangen war. Der üegergang
vollzieht sich indes in diesen Gewerbe-
zweigen ohne Kämpfe, während er in ande-
ren auf lebhaften Widerstand stösst; so in
der bereits erwähnten Getreidemüllerei, in
der von 1882 bis 1895 die Relativzahlen der
Kleinbetriebe von 820 auf 715 gesunken,
dagegen die der Grossbetriebe von 26 auf
55, die der Mittelbetriebe aber von 154 auf
230 gestiegen ist. Trotz dieses relativ
starken Fortschritts gerade der Mittelbe-
triebe sucht man in diesem wie in anderen
Fällen eine technisch und volkswirtschaftlich
begründete Entwickelung zu hemmen, indem
man sich auf die Interessen des Mittelstan-
des beruft. Es besteht in der That ein so-
zialpolitisches .Interesse an der Erlialtung
eines zahlreichen, lebensfähigen Mittelstan-
des; unter den heutigen Produktions- und
Verkehrsverhältnissen aber können die
792
Grossbetrieb und Kleinbetrieb
untersten Schichten der Kleinunternehmer
in vielen Gewerbzweigen kaum noch zum
Mittelstande gerechnet werden. Ihre Exi-
stenz ist häufig unsicherer als die der ge-
wöhnlichen Arbeiter, und wenn sie wirk-
lich ruiniert werden, so bilden diese De-
klassierten ein noch bedenklicheres Element
als das unzufriedene Arbeiterproletariat.
Dagegen entsteht innerlialb des Grossbe-
triebs ein mehr und mehr wachsender Zweig
des Mittelstandes in dem leitenden und auf-
sichtführenden kaufmännischen und tech-
nischen Personal. Die Zahl der Ange-
stellten (in dem oben bezeichneten Sinne)
betrug 1895 mit Einschluss von 17 350 weib-
lichen 448944 gegen 205061 (mit 4948
weiblichen) im Jäire 1882, hat sich also in
dieser Zeit mehr als verdoppelt. Dass diese
Angestellten nicht die Eigenschaft selbstän-
diger Unternehmer besitzen, kann nicht als
ein gesellschaftlicher Nachteil angesehen
werden, wenn im übrigen ihi*e Stellung
besser und gesicherter ist als die eines
kleinen von übermächtiger Konkurrenz be-
drängten und vom Bankerott bedrohten
selbständigen Gewerbetreibenden. Es ist
dafür zu sorgen, dass der üebergang zu der
der modernen Produktionstechnik entspre-
chenden gesellschaftlichen Gruppienmg mög-
lichst schonend für die betroffenen Inte-
ressen erfolge, und aus diesem Gesichts-
punkte ist auch gegen eine stärkere Be-
steuerung der (jTOSsbetriebe in den noch in
der üebergangsperiode stehenden Gewerbe-
zweigeu nichts einzuwenden, wenn diese
keinen prohibitiven Charakter hat und sich
nach der wesentlich im Ertrag und der
Grösse des Kapitals zum Ausdruck kom-
menden Leistungsfähigkeit, nicht aber nach
der ümsatzziffer bemisst. Dagegen ist zu
verhindern, dass unhaltbar gewordene Formen
sich weiter fortpflanzen und ausbreiten und
auch die Zukunft belasten. Jedenfalls müs-
sen im Interesse des Gesamtwohls immer
ausschliesslicher die vollkommensten und
wirksamsten Hilfsmittel der Produktion zur
Anwendung gebracht werden. Ein Land,
das die Produktivität seiner Arbeit auf einer
niedrigeren Stufe erhält, wird von England
und namentlich von Amerika immer weiter
in der wirtscliaftlichen Kulturentwickelung
überholt werden und allmählich in Chine-
sentum versinken.
Was die weitere Entwickelung der
Grossbetriebe betrifft, so ist zunächst auf
die zunehmende Tendenz zur Bildung soge-
nannter Gesamtbetriebe hinzuweisen. Man
findet es in vielen Fällen vorteilhaft, dem
xu^prünglichen Stammbetiiebe mehr und
mehi- andere Betriebe anzugliedern, die für
jenen gewisse Bedarfsgegenstände, die sonst
gekauft werden müssten, selbst herstellen.
So betreiben Eisenhüttenwerke zugleich
Steinkohlen- oder Erzbergwerke, Maschinen-
fabriken und Schiffsbauanstalten stellen
selbst Eisen und Stahl her, Spinnerei,
Weberei und Färberei werden vereinigt be-
trieben u. 8. w.
Bezeichnet man alle Unternehmungen, in
denen sich mehrere gewerbliche Betriebe
unterscheiden lassen, als Gesamtbetriebe, so
betrug deren Zahl 1895 89201, also nur
2,9 ®/o der Hauptbetriebe; aber es waren in
ihnen nicht weniger als 1696120 Pei-sonea
und 1209280 Pferdekräfte verein i^4. Diese
Art der Koncentrierung mehrerer Gewerbe-
betriebe in einem Unternehmen iäs>t sich
noch bedeutend weiter treiben; dagegen
lässt sich füi* jeden einzelnenProduktionszweig
die Grenze angeben, bei welcher alle Vor-
teile, die in technischer und konkur-
renz wirtschaftlicher Beziehung durch
möglichst wirksame Maschinen, möglichst
vollkommene Arbeitsteilung, möglichbt vor-
teilhaften Vertrieb etc. überhaupt erreicht
werden können, auch wirklich erzielt wer-
den, so dass also eine weitere Ausdehnung
des Betriebs dann in dieser Hinsicht keine
Erhöhung des Gewinnsatzes bringt. Daher
richtet sich jetzt das Bestreben des grossen
Unternehmerkapitals immer mehr darauf,
zu einer Organisation höherer Ordnung zu
gelangen, deren Zweck die Ueberwindung
der bisherigen Konkurrenzw^irtschaft
sein soll, die ja in der That vielfach die
Erscheinungen einer gemeinschädlichen Ver-
kehrsanarchie zu Tage fördert. Andererseits
aber besteht die Gefahr, dass die fort-
schreitende Centralisierung zu einer für die
allgemeinen Interessen ebenfalls nachteiligen
Monopolwirtschaft führt. Es giebt freilich
nur wenig Produktionszweige von so be-
schränkter Ausdehnung , ^ dass es möglich
wird, dass für sie einzelne Unternehmer
durch die Grösse ihrer Kapitalmacht die
Hcn'schaft über den ganzen Markt erlangen.
Weit häufiger aber ist eine verhältnismässig
kleine Zahl von Unternehmungen, die sich
untereinander vereinbaren, im stände, in
betreff ihrer Erzeugnisse die volle Herr-
schaft, wenn auch nicht auf dem ganzen
Weltmarkt, so doch in einem einzelneu
Lande auszuüben, namentlich wenn ihnen
dies durch Schutzzölle und andere handels-
politische Begünstigungen erleiclitert wird.
Am weitesten aber ist die Centraiisation in
dem amerikanischen Trustsyötem gediehen,
in dem die beteiligten Einzelunternehmungen
ihre geschäftliche Selbständigkeit tliatsächlich
verlieren und innerhalb einer Riesenorgini-
sation nur finanziell unterschiedene Teil-
nehmer bleiben. So lauge diese monopolis-
tischen Bildungen um* gegen die Jahre
lang dauernde übermässige Herabdnlckung
der Preise gerichtet waren, hatten sie auch
volkswirtschaftlich eine gewisse Berechli-
Grosßbetrieb und Kleinbetrieb — Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
793
gung, und als Verkehrsorganisationen bilden
sie rationelle Erzeugnisse der bestehenden
technischen und wirtschaftlichen Produk-
tionsweise, in denen vielleicht künftige
wirtschaftliche Formen ihre Schatten vor-
auswerfen. Fürs erste werden diese Kon-
centrierungen wahrscheinlich in vielen
Fällen dazu dienen, die weitere Ausdehnung
der grossartigsten Form des modernen
Grossbetriebs, des Staatsbetriebs, voraube-
reiten. S. die Artt. Kartelle, Trusts.
Litteratnr: Schmollerf Zur Geschichte der
deuUchen Kleinigeicerhe im 19. Jahrhundert,
Halle 1870. — Derselbe, Die geschichtliche
Enlwickelung der {'Unternehmung, Jahrb. f. Ges.
und Verw., Jahrg. 1890 — 9S. — KoseheTy An-
wehten der Volkswirtschaft vom geschichtliehen
Standpunkt, S. Aufl., Bd. 2, S. 101 ff. ^ Engel,
£ku Zeitalter des Dampfes, Berlin 1880. — H,
Qrothe, Ueber die Bedeutung der Kleinmotoren
für das Kleingewerbe, in Jahrb. f. Ges. u. Vene.
VIII, 1884, 8. 899. — Retileatix, Die Ma-
schine in der Arbeiterfrage, Minden 1885. —
SHeda, Gewerbliche Zustände in der Gegemrart,
Preuss. Jahrb., Bd. 57, 1888, S. 180 ff. —
Petersilie, Zur Statistik des Kleingeicerbes in
Pteussen, Zeitschr. des Preuss. Stal. Bureaus
1887, S. 257 ff. — Knoke, Die Kraftmaschinen
des Kleingewerbes, Berlin 1887. — Albrecht,
Die volkswirtschaftliehe BedeuMing der Klein-
krafimaschinen, in Jahrb. f. Ges. u. Vene. XIII,
1889, S. 478 ff. ^ Loach, Nationale Produktion
und nationale Berufsgliederung, Leipzig 1892. —
V. Schulze- Gdvemitg, Der Grossbetrieb, ein
wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt (Baum-
Wollindustrie), Leipzig 1892. — Sinzheitner,
Ueber die Grundlagen der Weiterbildung desfabrik-
mässigen Grossbetriebs in Deutschland, Stuttgart
1898. — Untersuckun/gen über die Lage des
Handwerks in Deutschland mit besonderer Bück-
sicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber
der Grossindustrie. Sehr, des Ver. f. Sozialj).
LXII—LXXI (Oesterreich), Leipzig 1895-96.
— Mohv, Die Entwickelung des Grossbetriebs
in der Getreidemilllerei Deutschlands, Berlin
1899. — Gewerbe und Handel im Deutschen
Reich nach der gewerblichen Betriebszählung
vom 14' Juni 1895, bearbeitet im Kaiserl. Stat.
Amte, Berlin 1899.
Lexis,
Grundbesitz.
$
I. Bodenrechtsordnung. (Die Volkswirt*
scbaftliche Principienfrage der Kechtsordnung.)
S. 793). II. Die Geschichte des G. (S. 823).
'n. Die Statistik des G. (S. 849).
L
Bodenrechtsordnung.
(Die volkswirtschaftliche Principien-
frage der Rechtsordnung.)
1. Die Bodenrechtsordnung als volkswirt-
schaftliches und sozialpolitisches Problem. 2.
Der historische Charakter der Bodenrechts-
ordnimg. 3. Bodenrechtsordnung und Or-
ganiiiation der Volkswirtschaft. 4. Die üblichen
allgemeinen Erklärungs- und Bechtfertigungs-
^ründe des Privateigentums in ihrer Anwen-
dung auf privates Grundeigentum. 5. Die
Unterscheidung des Bodens nach typischen Ver-
wendungszwecken in ihrer Bedeutung für die
Fragen der Bodenrechtsordnung. 6. Erste Boden-
kategorie: Standorts- oder Wohnungsboden. 7.
Baustellen. 8. Reformen für den Wohnun^-
boden und sein Recht. 9. Zweite Bodenkategone :
Bergwerksboden. 10. Dritte Bodenkategorie:
Der natürliche (wilde) Weide-, Wald-, Jagd-
und ähnlicher Boden. 1 1. Vierte Bodenkategorie :
Der landwirtschaftlich und (kultur-) forstlich
benutzte Boden. 12. Die Principienfrage der
Rechtsordnung für den agrarischen Boden:
Gemeineigentum oder Privateigentum. 13. Die
Privat- und Gemeineigentumsfrage gjegenüber
der geschichtlich überkommenen Verteilung des
agrarischen Grundbesitzes. 14. Der Forstboden.
16. Fünfte Bodenkategorie: Der Wegeboden.
16. Sechste Bodenkategorie : Gewässer. 17. Er-
gebnis.
1. Die Bodenrechtsordnung als volks-
wirtschaftliches nnd sozialpolitisches
Problem. Unter dem Ausdruck »Boden-
rechtsordnung« kann man alle Normen des
Privat- wie des öffentlichen und Verwailungs-
rechtes hinsichtlich des Bodens eines Volks-
wirtschafts-, daher regelmässig eines Staats-
gebietes zusammenfassen. Diese Normen
sind, w^ie alles Recht, ein Produkt der ge-
schichtlichen Entwickelung, bedingt, venir-
sacht, bestimmt durch technische, ökono-
mische, soziale, politische Umstände und
Veriiältnisse und mit diesen sich ändernd.
Aber auch umgekehrt, nach dem hier regel-
mässig bestehenden Verhältnis der Wechsel-
wirkung, wirken diese Normen auch ihrer'
seits wieder auf diese Verhältnisse und Um-
stände ein. Für die ims hier allein näher
beschäftigende volkswirtschaftliche und so-
zialpolitische Betrachtung der Bodenrechts-
ordnung und jeder bestimmten historisclien
Form derselben^ filr den Boden im allgemeinen
wie für die emzelnen nach Verwendungs-
zwecken unterschiedenen Bodenkategorieen (s.
unten sub 5), so auch für die Beurteilung
der Privateigentumsordnung, welche
bei den Kidturvölkern meistens, insbesondere
für den ländlich-agrarischen und den Boden
in den Wohnplätzen (Dörfern, Städten), zur
Herrschaft gekommen ist, handelt es sich
immer um die Beziehung dieser Rechts-
ordnung zu den beiden grossen volkswirt-
schaftlichen Grundproblemen , demjenigen
der Produktion auf (an, in) dem Boden
und demjenigen der Verteilung der Boden-
produktionserträge. Diese Verteüung ist die
soziale Seite der Frage, weil von ihr die
soziale Stellung der Teilnehmer wesentlich
bedingt ist. Die Aufgabe der Wissenschaft
der Nationalökonomie ist die kritische Wür-
digung des Wechselwirkungsverhältnisses
zwischen der Bodenrechtsordnung und ihren
794
Onindbesitz (Bodenreclitsordnung)
historischen Formen und dieser Produktion
und Verteilung.
Wo verschiedene Menschen und Menschen-
gruppen (Völkerschaften mit ihren Unter-
abteilungen, wie Hundertschaften, Sippen,
Familien der alten Deutschen, überhaupt
Stämme, Geschlechter, Hausgenossenschaften,
Familien u. s. w.) auf demselben Boden-
gebiete leben und ihre wirtschaftlichen
Zwecke verfolgen, ist irgend eine ßoden-
rechtsordnung schlechterdings unvermeidlich,
um die Benutzung des Bodens zu er-
möglichen und zu sichern und um etwaige
Kollisionen der Interessen, der Willen und
der Handlungen der Gruppen und einzelnen
zu verhüten oder auszugleichen. Die Boden-
rechtsordnung hat die Aufgabe, dm*ch ihre
Normen Bestimmungen über das menschliche
Herrschaftsverhältnis in Bezug auf Be-
nutzung und Besitz des Bodens, seiner
verschiedenen Verwendungszwecken dienen-
den Kategorieen und einzelnen Teile, der
Grundstücke, daher über die Bedingmigen,
die Formen, den Umfang, den Inhalt jenes
Herrschaftsverhältnisses zu treffen. Für die
volkswirtschaftliche Beurteilung ist dabei
massgebend, ob und wie diese Normen über-
haupt und jeweilig dem volkswirtschaftlichen
Interesse ökonomisch und technisch richtiger,
zw^eckmässiger Benutzbarkeit des Bodens
entsprechen, damit der Boden im Produk-
tionsprozess diejenige Stellung erreiche, der-
jenigen Verwendung, Benutzung und Be-
arbeitung unterzogen werde, welche nach
Zeit und Ort und Umständen volkswirt-
schaftlich möglich und geboten sind, damit
die für Art und Erfolg der menschlichen
Arbeit wirksamen Motive richtig zur Geltung
zu gelangen vermögen, damit auch die
Technik des Bodenbaues sich richtig ent-
wickeln könne. Da die Ausübung wirt-
schaftiicher Arbeit am Boden, ja des Lebens,
des Aufenthalts des Menschen auf dem
Boden von den Rechtsnormen für den Be-
sitz und die Benutzung des Bodens abhängen,
ergiebt sich die grosse Bedeutung der Boden-
rechtsordnung für das gesamte Volksleben
und für alle Verhältnisse der wirtschaftlichen
Produktion auf und an dem Boden, auch,
soweit notwendig, in ihm (Bergbau). Die
Rechtsnormen müssen sich hier den natür-
lichen Verhältnissen des Bodens, den sozialen
und volkswirtschaftlichen Bedürfnissen und
dem menschliehen psychischen Wesen, den
Verhältnissen des trieblebens und der
Motive, anpassen, damit der Boden dem
durch seine Natur und durch jene Bedürf-
nisse bedingten Verwendungszweck und der
davon abhängigen Benutzungsweise unter-
zogen werden kann und damit die mensch-
liche Arbeit nach den für sie massgebenden
inneren seelischen Motiven in möglichst
zweckentsprechender Weise, möglichst ge-
mäss der vom Verwendungszweck des
Bodens bestimmten Oekonomik und Technik
und möglichst gemäss dem jeweilig erreich-
ten und erreichbaren besten Stande dieser
Oekonomik und Technik ausgeübt werden
könne und werde. Die konkrete Gestaltimg
der Bodenrechtsordnung im allgjemeinen wie
für die einzelnen Bodenkategorieen , so na-
mentlich auch die Privateigentumsordnung,
ist danach zu beurteilen, ob und wie weit
sie dies thut Ihre Ordnung, Fortbildung
und bezügliche »Reformen« sind nach diesem
Gesichtspunkte zu erstreben, soweit die
volkswirtbchaftliche Frage des Produktions-
interesses dafür entscheidet.
Nicht minder ist aber auch die Beziehung
zwischen der Bodenrechtsordnung, der Be-
sitzregehmg, deshalb namentlich wieder auch
bei Privateigentum am Boden, und der
Verteilung der Produktionserträge wichtig.
Aus natürlichen Gründen, wegen der B^
schränktheit des Bodens überhaupt und ins-
besondere wegen der lokalen Beschränktheit
von Boden in günstiger örtlicher Lage,
wegen der beschränkten Ergiebigkeit spe-
cieller Böden (agrarischen und montanisti-
schen, Jagd-, Weide-, Waldbodens, Walten
des »Gesetzes der Produktion auf Land«)
ergeben sich bei der Benutzung des Bodens
eigentümliche Folgen. Dieselben treten für
diejenigen, welche rechtlich über den Boden,
namentlich als Eigentümer, verfügen, in ge-
wissen faktischen Monopolverhältnissen und
in gewissen Einflüssen auf die Gewinn-
bildung, daher auch auf die Wertbildung
bei den Gnmdstücken hervor: ökonomische
Probleme, welche unter dem Namen Grund-
r e n t e (s. den Art. unten S. 870 ff.) zusammen-
gefasst werden. Es bilden sich Lage- und
Qualitäts- (Fruchtbarkeits-) Differential-
renten (v. Thünen, Ricardo), in verschiedener
Weise bei den einzelnen Bodenkategorieen und
in verschiedenem Masse nach allgemeinen Be-
darfs- und Bedarfsdeckungsverhältnissen, da-
her nach ümständeji der historischen und ört-
lichen Entwickelung der Bevölkerungsdichte
und Wohnungskoncentration , in der Volks-
wirtschaft und an verschiedenen Orten, aber
doch nach demselben Princip. Diese Renten
kommen durch Kapitalisierung auch für den
Wert des Bodens, der Grundstücke zur
Gültimg. Die Boclenbesitzer (Eigentümer)
beziehen daher hier unter Umständen Ein-
kommen und erlangen Vermögen ganz ohne
oder ohne wesentliche Mitwirkung ihrer
individuellen persönlichen wirtschaftlichen
Leistung, ihrer Arbeit, ihrer Eapitalbildungs-
thätigkeit, nur oder doch wesentlich nur in
der Konsequenz ihrer ausschliesslichen recht-
lichen Herrschaft über Boden, d. h. über
Naturfaktoren, welche nur in beschränkter
Menge und Ergiebigkeit überhaupt oder an
bestimmtem Ort (örtlicher Lage) vorhanden
Gnindbesitz (Bodenreclitsordnung)
795
sind. Besteht Privateigentum am Boden,
so kommt dieser Vorteil, der in fortschrei-
tenden Volkswirtscliaften mit zunehmender
Bevölkerungsdichtigkeit und Wohnungs-
koncentration , trotz gelegentlicher zeit-
weiliger und lokaler Rückschläge, gewöhn-
lich mehr oder weniger wächst, den Privat-
eigentümern alssolchenzu gute. M. a.W. :
die letzteren beziehen in Konsequenz
des Privateigentumspriucips Ein-
koramen und Vermögen auf Kosten
Dritter, ohne oder ohne angemessene
persönliche Gegenleistung an diese Dritten :
einer der Hauptgründe der sozialistischen
und sonstigen Polemik gegen das private
Grundeigentum. Deshalb noch kein aus-
schlaggebender Grund dagegen, da mancher-
lei anderes mit in Betracht kommt und vor
allem sich fragt, ob bei einer anderen
Rechtsordnung am Boden, so bei dem statt
des Privateigentums von den Sozialisten be-
fürworteten »gesellscliaftlichen Gemeineigen-
tum«, das schliesslich immer in erster Linie
stehende Produktionsinteresse genügend ge-
sichert werden, die vom Verwendungszweck
bedingte Regelung der Benutzung und Be-
arbeitung des Bodens ordentlich erfolgen
kann, aber immerhin ein für die Entschei-
dung stark mit ins Gewicht fallender Gnmd.
Es wird sich ergeben, dass die Entscheidung
von den gegebenen historischen und örtlichen
Verhältnissen, der ganzen allgemeinen und
lokalen Entwickelung des Wirtschaftslebens
und ferner namentlich von den verschiedenen
typischen Vorwendungszwecken des Bodens
abhängt und danach verschieden, im einen
Fall zu Gunsten mehr des Privat-, im an-
deren mehr des gesellschaftlichen Gemein-
eigentums, ausfällt. Die einseitigen Anhänger
beider Rechtsprincipien begehen denselben
Fehler, ökonomische Individualisten >\'ie
Sozialiston, sie -generalisieren zu sehr, sie
unterscheiden nicht genug, mitunter gar nicht
nach den angedeuteten Gesichtspunkten.
2. Der historische Charakter der
Bodenreehtsordnnng. Die Vergleichung
in der Zeit, die Geschichte des Bodeni-echts,
insbesondere des Grimdeigentums(s.Abteihmg
n des Art. Grundbesitz unten S. 823ff.),
und im Raum, die geographische Vergleichung.
zeigt mancherlei Verschiedenheiten der Nor-
men und selbst der leitenden Principien der
Bodenrechtsordnung und einen historischen
Wechsel in der Zeit, einen örtlichen im
Raum. Auch die Privateigentumsordnung
der Kultiu'völker für den grössten Teil des
nationalen Bodens, d. h. das physischen und
nichtphysischen privatrechthchen Personen
zustenende Privateigentum, besonders am
ländlichen und Wohnplatzboden, ist erst in
einem längeren histonschen Prozess an die
Stelle andei-er Rechtsprincipien und Normen
getreten und zu ihrer gegenwärtigen Ge-
staltung gekommen. Man liat es daher in-
sofern hier mit historischen und ört-
lichen Kategorieen zu thun, mit Verhält-
nissen, welche der Veränderung unterliegen,
demnach voraussetzungsweise a priori der-
selben weiter fähig und eventuell bedüi'ftig
sind.
Diese Auffassung ist als richtig anzu-
erkennen und festzuhalten, nur darf man
aus ihr nicht zu weitgehende Schlüsse
ziehen, wie das namentlich wieder der
neuere Sozialismus und ihm nahe stehende
Richtungen in ihrer Stellung zur Gnmd-
eigentiimsfrage zu thun geneigt sind. Ge-
wiss haben die unbedingten Anhänger, so
diejenigen aus der Schule des ökonomischen
Individualismus und Liberalismus, hier, wie
sonst oft, den Fehler begangen, unser© mo-
derne Rechtsbasis, das private Grundeigen-
tum, als etwas zu absolut Notwendiges und
Segensreiches für Volkswirtschaft und Ge-
sellschaft anzusehen, die Zweckmässigkeit,
Nützlichkeit, selbst die Möglichkeit einer
Entwickelmig darüber hinaus ohne weiteres
abzulehnen, die älteren Rechtsordnungen
oder die anderswo etwa noch bestehenden,
von der Privateigentumsordnung abweichen-
den zu ungünstig zu beiurteüen, oft ohne
weiteres zu verurteilen. Die historische,
geographische, ethnographische Vergleichung
lehren die Einseitigkeit und Unhaltbarkeit
dieser Auffassung. Sie zeigen auch, dass
man vorsichtig sein muss, eine selbst we-
sentlich andere, principiell verschiedene
Rechtsordnung als die vorhandene, an die
man eben einmal gewöhnt ist, »unmöglich«:
nach der Natur des Bodens und der Men-
schen, die ilm benutzen und bearbeiten, zu
nennen, und ebenso vorsichtig, die eine
oder andere Bodenrechtsordnimg ohne wei-
teres als die unbedingt zweckmässigere zu
bezeichnen. Der Mensch kann sich eben
auch hier in die Verhältnisse schicken,
mancherlei Verschiedenheiten der Rechts-
ordnung sich anpassen. Die in der neueren
organischen imd historischen Rechts- und
Wirtschaftslehre gewonnene Auffassung vom
Wirtschaftsleben und seiner Rechtsordnung,
als eines geschichtlichen Entwickelungs-
prozesses, eine Auffassung, welcher auch
der wissenschaftliche Sozialismus durchaus
huldigt, vermeidet diesen Fehler, verfällt
aber, besonders in der Evolutionsdogmatik
des Sozialismus, leicht dem entgegengesetzten.
Sie beachtet nicht immer genügend, dass
schliesslich die äussere Natur — trotz aller
Fortschritte der Naturwissenschaften und
der Technik — und die physisch-psychisch-
Natur des Menschen, mindestens in dene
jenigen historischen Zeiträumen, mit denen
man in geschichtlichen Fragen allein zu
rechnen hat, zwar nichts Unabänderliches,
aber doch etwas in ihrer Wesensart Ver-
796
Grnindbesitz (Bodeürechtsordnung)
bleibendes sind: die äussere Natiu*, sagen
wir hier der Boden unter wesentlich, gleich
bleibenden Grundbedingungen seine Benut-
zung nur gestattet, seine Produkte nur her-
giebt, der Mensch aber als Arbeitsfaktor ein
im wesentlichen gegebenes Triebleben und
inneres psj-chisches Leben hat, zwar nicht
mit durchaus unveränderlichen Motiven und
Stärkegraden und Kombinationen von Motiven,
aber doch mit im ganzen wenig und jeden-
falls um" sehr langsam und nicht im Wesen
sich verändernden.
Diese Erwägung erklärt es, dass auch in
der Bodenrechtsordnung gewisse Grundztige
mit Rücksicht auf die doch in der Haupt-
sache konstante äussere Natur und die ebenso
im ganzen konstante physische 'v^depsycliische
Natur des Menschen selbst in aUem Wechsel
der Rechtsnormen und Formen thatsächlich
verbleiben und verbleiben müssen. Und
diese Erwägung mahnt wieder zur Vorsicht
in betreff der Forderung principieller
Reformen der historisch überkonmienen, ein-
mal eingelebten Rechtsordnimg und warnt
vor der Annahme, man könne hier leicht
beliebig Veränderungen durchführen, weil
die Geschichte Veränderungen zeigt. Unter
anderem muss schon der grosse Einfluss
der Beschäftigung gerade m der Boden-
bearbeitung, besonders des ländlichen Bodens,
auf die hier lebenden imd wirkenden Men-
schen, auf ihre physische, geistige, sittliche
Art, es klar machen, dass in dieser Be-
völkerung ein stark konservativer Zug
lebt, wie auch alle Erfahrung zeigt, welcher
sich Aenderungen, auch den best begründeten
Reformen, mächtig und doch auch wieder
aus manchen guten Gründen entgegenstemmt.
Auch der neuere wissenschaftliche Sozialis-
mus ergeht sich hier in reinen utopischen
Illusionen.
Aus dem allen folgt wieder die grosse,
die wichtigste Wahrheit der »historischen
Nationalökonomie«, dass die Kritik auch der
Bodenrechtsordnungen, der Principien und
einzelnen Normen dei-selben, Grund hat, sich
in besonderem Masse vor apodiktischen,
absoluten Urteilen für und gegen frühere
wie bestehende Gestaltungen und vor der
Neigung zum »Absolutismus der Lö-
sungen« zu hüten. »Relativität« der
Ansichten, des Lobes und Tadels, in Wissen-
schaft und Praxis ist auch hier das allem
Richtige. Daher in der principiellen Haupt-
frage: privates Grundeigentum oder nicht,
in der weiteren Frage: freies oder be-
schränktes Privateigentum, kein unbedingtes
Aburteilen, sondern eine Entscheidung nach
Erwägimg aller Umstände, auch hier immer
mit der der Theorie stets notwendigen i
Bescheidenheit des >salvo errore« und miti
der notwendigen Selbstbescheidimg des Re-
formen befürwortenden Theoretikers luid
sie versuchenden Praktikers betreffs einer
möglichen und wahrecheinlichen Verbesse-
rung der Dinge bei noch so gut überlegten
Reformen, gegenüber einem unerreichbaren
Vollkommenen, das einmal die Sprödigkeit
der Natur und die Eigenart des Menschen,
der nicht Wachs in den Händen des Gesetz-
gebers ist, ausschliessen. Eine solche Auf-
fassung aller Reformfragen braucht deshalb
im gegebenen Falle wahrlich weder scharfe
Kritik des Bestehenden noch energische
Veiiretung von Reformen zu hindern, nicht
zu bequemem Quietismus zu führen. Wohl
aber wird sie die Ünterschätzung des Guten,
im geschichtlich Gewordenen, Bestehenden,
das sich eben als solches allein schon er-
proben konnte, und die üebei*schätzung des
Neuen, wenn auch vielleicht Erreichbaren
und Erstrebenswerten verhüten, das eben
immer erst seine Probe zu bestehen hat
Bei der »Abschaffung« oder schärferen
Modifikation des privaten Grundeigentums,
auch in denjenigen Fällen, wo sie über-
wiegende Gründe haben mag, sollte diese
Warnung am wenigsten vergessen werden :
um relative, nicht um nach der Natur
der Dinge und Menschen ausgeschlossene
absolute Verbesserungen kann es sich immer
nur handeln. Damit reduziert sich aber das
Mass für die Wertschätzung auch der be-
deutendsten Reformen von vorherein erheb-
lich, was gegenwärtig sozialistische Hyper-
ideologen, zum Teil selbst manche sogenannte
Bodenreform er, die sonst nicht Sozialisten
sind, auch in der »Bodenfrage«, besonders
übersehen.
3. Bodenrechtsordnnng nnd Organi-
sation der Volkswirtschaft. Bei der
durchschlagenden Bedeutung der Boden-
rechtsordnung für die Besitz- und Be-
nutzungsverhältnisse des Grund und Bodens
ist es begreiflich, dass diese Rechtsordnung
bedingend und verursaijhend und wieder
bedingt und verursacht mit der ganzen
Volkswirtschaft eng zusammenhängt, wie
wiederum die geschichtliche Betrachtung
unmittelbar zeigt, aber auch aus den Ver-
hältnissen abzuleiten ist. Namentlich steht
die vorherrschend privat wirtschaft-
liche Organisation mit dem Vorwiegen des
privaten Grundeigenturas , besonders am
ländlichen agrarischen und am städtischen
Boden, in deutlicher Wechselwirkung. Die
Verdrängung und Ersetzung dieser Organi-
sation durch die gemein wirtschaftliche,
welche letztere ihr zum Teil vorangegangen
mid von ihr erst verdrängt worden ist, ist
mit dem Uebergang von Privatginmdeigen-
tum physischer Personen, Erwerbsgesell-
schaften etc. in Staats-, Gemeinde- und
dergleichen, »öffenthches Gemeineigentum«
verbunden. Principielle Umänderungen im
Bodenrecht, wie sie der Sozialismus fordert,
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
797
werden demnach auch wieder wegen dieser
Zusammenhänffe mit der volkswirtschaftlichen
Organisation als schwierig, weil mancherlei
weitere Konsequenzen in sich schliessend,
zu bezeichnen und mit Vorsicht zu beur-
teilen und auszuführen sein.
Immerhin ist indessen für die grosse
principielle Hauptfi-age: ob Privat-, ob ge-
sellschaftliches Gemeineigentum an allen
oder an gewissen Kategorieen des Bodens
eines zuzugeben: selbst die vollständige
»Abschaffung« alles Privatgnmdeigentums,
auch sogar an allem läncUich-agi'arischen
Boden, ist gewiss schwierig, bedenklich,
vielerlei völlig umgestaltend und aus man-
cherlei psychologischen und praktischen
Gründen sehr schwer ausführbar. Sie würde
aber immerhin noch eher ausführbar und
weniger bedenklich sein, freilich aber auch
nicht 80 teils gefürehtete, teils erhoffte Wir-
kungen haben als die Erfüllung der analogen
Fordenmg des Sozialismus, die Beseitigung
des privaten Kapitaleigentums und dessen
Ersetzung durch geseDschaftliches Gemein-
eigentum und die Beseitigung aller Privat-
imternehmuugen : der vom Sozialismus ge-
träumte, in seinen Programmen in Aussicht
gestellte üebergang aus der »kapitalistischen
Warenproduktion« in die »gesellschaftliche
Produktionsweise.« Denn, wenn auch ge-
wiss privates Grundeigentum und privat-
wirtschaftliche Organisation der Volkswirt-
schaft, entwickelungsgeschichtlich wie that-
sächlich in unserer Gegenwart, in Zusammen-
hang und Wechselwirkung stehen: die
privatwirtschaftliche Organisation steht und
fällt deswegen noch nicht mit dem privaten
Gnmdeigentum, auch selbst nicht mit dem
agrarischen und urbanen, wie vollends nicht
mit dem übrigen. Sie wird dmvh eine teil-
weise Beseitigung desselben wohl mehr oder
weniger modifiziert, aber sogar durch eine
völlige noch nicht aufgehoben. Schlüsse aus
analogen Verliältnissen — Trennung von
Eigentum und Wirtschaft, Pachtbetrieb in
der Landwirtschaft, Bodenleihe (^liete) und
Hausbau durch den Bodenmieter (England) —
gestatten dies zu behaupten, und weiteres
Nachdenken bestätigt es. Die Rückwirkimg
auf die privatwirtschaftliche Organisation
würde sich unter anderem im Kreditwesen
und in Bezug auf das ganze bewegliche
Kapital zeigen, wenn letzteres nicht mehr
zur Anlage in Grundeigentum, zu Darlehen
auf Grundbesitz verwendet werden könnte:
weitgreifende, aber kaum durchaus nach-
teilige Wirkungen, auch Beeinflussimgen des
Kapitalzinses, wenn auch nicht völliger Weg-
fall desselben, wie wohl gemeint woixlen
ist, würden die Folge sein. .
Jedenfalls muss man zur objektiven
W'ürdigung der sozialistischen und ver- .
wandter Forderungen, auch von Theoretikern !
und Agitatoren (z. B. H. George, Flürscheim)
und neuerer sozialpolitischer Parteien (für
* Nationalisierung« des Landes in England,
für »Bodenbesitzreform« in Deutschland)
das Gesagte beachten. Die Erfüllung des
Postulats würde zwar ungemein gix)sse, aber
doch solche radikale Umgestaltungen des
Wirtschaftslebens und der gesamten sozialen
Verhältnisse weder zur Voraussetzung noch
zur Folge haben wie die Erfüllung des
ganzen sozialistischen Programms in be-
treff der wirtschaftlichen Rechtsordnung.
Je nach dem theoretischen und politischen
Standpunkte des ürteilers wird das Postulat
dann als schon viel zu weitgehend oder als
noch lange nicht weit genug gehend be-
zeichnet werden. Bedenken und Angriffs-
punkte böte es immerhin noch genug, aber
ohne Zweifel weniger als die anderen sozia-
listischen Forderungen.
4. Die üblichen allgemeinen Erklä-
rungs- und Rechtfertigangspnnkte des
Privateigentums in ihrer Anwendung auf
privates Grundeigentum. Diese Gründe (s.
den Art. Eigentum oben Bd. III S. 294 ff.),
wie sie namentlich die Rechtspliilosophie
der verschiedenen Richtungen gegeben hat,
erweisen sich bei genauerer Betrachtung
schon bei Privateigentum überhaupt nicht
ausreichend, wenn sie auch einzelne Mo-
mente enthalten, welche von der Rechts-
bilduug mit mehr oder weniger Notwendig-
keit aus psychologischen und praktischen
Gründen berücksichtigt werden müssen ^).
Beim Grundeigentum verlieren sie aber ihre
Bedeutung noch mehr, werden noch unzu-
reichender, zum Teil völlig. Obgleich auch
liier bei dieser Frage die Unterscheidung
nach Verwendungszwecken des Bodens
passend, ja notwendig ist (s. unten sub 5),
so lässt sich doch auch für das gesamte
Grundeigentum einiges Allgemeine hervor-
heben.
Unmöglich kann man das private Grund-
eigentum, auch nicht das agrarische, als
eine notwendige Konsequenz der mensch-
lichen Natur überhaupt ansehen, gegenüber
verbreiteten wichtigen abweichenden ge-
schichtlichen Thatsachen der Bodenrechts-
ordnung. Aus demselben Grunde kann man
es auch nicht ohne weiteres aus der so-
genannten wirtscliaftlichen Natur des Men-
schen, dem Trieb des Selbstinteresses imd den
mit diesem in Verbindung stehenden Mo-
tiven, ableiten, wo Eigentum und Benutzung,
Bewu'tschaftung des Bodens, auch des
agrarischen, so vielfach zwischen verschie-
denen Personen getrennt sind (Sklaven-,
Leibeigenen-, Fronbetriel), Pachtverhältnisse
vereclüedeuer Art etc.). -Wohl aber muss
*) S. meine „Grundlegung*' 3. Aufl. II
S. 210—262.
798
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
man schon zugeben, dass die Schwierigkeiten
und Mängel, welche man in solchen Ver-
hältnissen walirnimmt, mit wichtigen psy-
chologischen Momenten und mit eigentüm-
lichen, durch die Natur des Bodens und
der Bodenarbeit — namentlich beim agra-
rischen Boden (s. unten sub 11 bis 18) —
bedingten Umständen zusammenhängen, wel-
che eine nähere Verbindung zwischen Eigen-
tümern und Bebauem, wie sie die Privat-
eigentumsordnung ergiebt, psychologisch und
praktisch, ökonomisch-technisch zweckmässig
erscheinen lassen.
Die Begründung auch des privaten Gnmd-
eigentums auf die menschlicne Arbeit (oder
weiter: auf die wirtschaftliche Thätigkeit,
einschliesslich der auf Kapitalbildung und
Verwendung sich beziehenden), noch abge-
sehen von dem Umstände, dass hier nicht
immer, oft gar nicht, die Arbeit des Eigen-
tümers selbst in Frage steht, erscheint dagegen
wieder nicht allgemein zutreffend, da es
sich hier um einen, noch dazu nur in be-
schränkter Menge vorhandenen Naturfaktor
handelt, welchen der Mensch mit seiner
Arbeit nicht schafft, auch keineswegs immer
erst produktiv, sondern nur etwa produk-
tiver macht, als er von Natur ist. Freilich
tritt auch hier wieder ein Punkt hervor,
der doch für die Frage seine Bedeutung hat :
die notwendige Mitwirkung der menschlichen
Arbeit und Kapitalvenvendung am Boden,
um ihn zu benutzen, namentlich auch, um
ihm im Ackerbau Erträge abzugewinnen,
wol>ei dann wieder das Privateigentum we-
nigstens unter den Gesichtspunkt der psycho-
logischen und praktischen Zweckmässigkeit
rückt (s. wieder- unten sub 11 — 18). An-
dererseits ist freilich gerade der Umstand,
dass die Erträge der einzelnen Grundstücke
von Lage und Beschaffenheit, also von
Naturthatsachen , dann von allgemeinen so-
zialen Verhältnissen so wesentlich mit ab-
hängen, oder ist mit anderen Worten wieder
das »Grundrentenproblem« misslich und der
private Grundrentenbezug zur principieUen
Begründung des Privateigentums wenig ge-
eignet.
Der erste Besitztitel, mittelst Occupatiou,
trifft beim Boden als Rechtfertigungsgrund
des Privateigentums schon deswegen meist
nicht zu, weil regelmässig nicht der ein-
zelne, sondern Gemeinschaften (Volk, Stamm,
Geschlecht etc.) diese Occupation vorge-
nommen, wenn auch dann den Boden zur
Nutzung oder selbst zum dauernden Besitz
den einzelnen (Völkerschaftsabteilungen,
Hundertschaften, Sippen, Familienverbänden,
wie in der altdeutschen Welt, allgemein
Dorfgemeinden, Geschlechtern, Hauskommu-
nionen, Familien) überlassen nahen: womit
man dann aber eher Gemeinschaftsrechte,
auch Gemeineigentum, teils des grösseren
Ganzen, teils seiner Abteilungen, als aus-
schliessliche Individuali-echte , wie Privat-
eigentum, begründen könnte.
Gegen alle diese »Begnmdungsversuche«
des Privateigentums wird ferner auch wolil,
und nicht mit Unrecht, geltend gemacht, sie
setzten doch, wenn sie für die Eigentums-
verhältnisse späterer Geschlechter Bedeuttmg
haben sollten, schon eine umfassende Er-
werbs- und Erbrechtsordnung voraus, auf
Grund deren die Rechtsnachfolger ihr »Pri-
vateigentum« mittelst abgeleiteten i*echts-
giltigen Erwerbs und Erbrechts zu Recht
besässen. Dabei habe aber der WDle der
»Gemeinschaft« als der eigentliche Rechts-
bildner vollends mit zu bestimmen.
Die unbedingten Gegner des heutigen
Privateigentums am Boden ai-gumentieren
dann auch wohl weiter so, dass sie hervor-
heben, der Boden stehe »heute« gar nicht
im Eigentum der rechtmässigen Rechtsnach-
folger der ersten Occupanten, Beurbarer,
Bearbeiter, sondern gehöre ganz anderen
Personen, bezw. den Rechtsnachfolgern
anderer, nämlich solcher, welche ihn privat-
rechtswidrig, mit allen Mitteln der Gewalt
oder bloss nach falscher formalistischer Aus-
legimg des Rechts den ursprünglichen Be-
sitzern und deren rechtmässigen Rechts-
nachfolgern entrissen, enteignet hätten.
Durch Hinweis auf die Geschichte des
Grundbesitzes, besonders die Entstehung
des Grossgrundbesitzes einzelner Länder
(britische Inseln, besonders Schottland, Ir-
land, keltische Verhältnisse, deutsches
Bauernlegen) wird das dann »historisch« zu
beweisen gesucht. Und unter dem weiteren
Hinweis auf neuere und noch beständig sich
ereignende Vorgänge, auf die Folgen der
Verschuldung des bäuerlichen Besitzes, des
freilich viel zu allgemein behaupteten, gros-
senteils ganz unrichtig behaupteten Sieges
des Grossbetriebes auch in der Landwirt-
schaft, der üebermacht des Privatkapitals,
das den Bauern und Kleinbesitzer übeiuU
auskaufe, wird dann wohl behauptet, wenn
auch in den legalen Formen des Privat-
rechtes, des Prozess- und Konkursrechtes,
gehe dieser »Enterbungs- und Enteignungs-
prozess« der Kleinen zu Gunsten der Grossen
weiter vor sich, ja gerade wohl erst recht
heute unter dem Einflüsse des freien Ver-
kehrs und seines Rechtes (System der freien
Konkurrenz).
Dieser fälschlich sogenannten" »realisti-
schen« , »historischen« Beweisführung ist
indessen mit Recht der Vorwurf zu machen,
dass sie teilweise wahre Thatsachen viel zu
sehr veraUgemeinert ; die nicht rechtswid-
rige und gewaltthätige, sondern rechtmäs-
sige und organische, mit der Entwiekelung
des Bodenanbaues, besonders des Anbaues
des Wohnungs- und agrarischen Bodens in tier
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
799
Beziehung von Wirkung und Ursache — und
dann auch wieder Wechsel Wirkung — stehende
Entwickehmg des privaten Gi'undeigen-
tums ignoriert; dass sie die ganze frimere
Geschichte immer nur vom Standpunkt der
Gegenw^art beurteilt, dabei übersieht, dass
die Gewährung von genügendem Rechts-
schutz für die Kleinen eben, wohl oder übel,
selbst erst das Ergebnis einer langen, müh-
samen geschichtlichen Entwickehmg ist;
dass man aber deswegen, weil da und dort
imd dann und wann und weil mitunter
selbst allgemeiner bei der Bildung des
Grundbesitzes Gewaltthätiges, Rechts-w-idri-
fes, falsche Auslegung des Rechts vorge-
ommen ist, doch nicht immer wieder die
ganze geschichtliche Entwickelung sozusagen
von rückwärts aufrollen und das Bestehende
so ohne weiteres wegen seines bisweilen
zweifelhaft rechtmässigen Urspnmgs besei-
tigen kann und darf. Weiter ist einzuwen-
den, dass bei der Annahme einer der Ueber-
macht des Privatkapitals und des Grossbe-
triebes zur Last zu legenden Fortdauer eines
formal rechtmässigen Euteignungs- und Ent-
erbungsprozesses des (namentlich ländlichen)
kleineren und mittleren Besitzes wiederum
viel zu viel generalisiert wird. So ist z. B.
die von gegebenen anderen historischen und
RechtsverhältnissenabhängigebritischeAgrar-
geschichte keineswegs tyjjisch für allge-
meine Entwickelungen. Ferner hat auch der
Grossbetrieb, zumaJ in der Landwirtschaft,
nicht so aDgemeine noch so schwerwiegende
ökonomisch -technische Vorzüge als in der
Industrie, wie jetzt wohl wieder allgemein
anerkannt, von Conrad, Sering imd anderen
bewiesen worden ist. Andererseits hat der
agrarische Mittel- und Kleinbetrieb mehr als
in analogem FaU in der Industrie wieder
seine sjpecifischen Vorzüge, so namentlich
in gewissen intensiven , auf höherer Ent-
wickelungsstufe der Volkswirtschaft immer
wichtiger werdenden Specialkulturen, auch
in Zweigen der Viehwirtschaft.
Endlich aber, soweit die sozialistische
und sonstige Polemik in ihren einzelnen
Argmnenten historischer, 'rechtlicher, ökono-
misch-technischer Art im Rechte ist, wie es
gewiss teilweise nicht bestritten werden
kann und darf, beweist sie für ihre eigent-
liche These, die »Abschafhmg« des Privat-
eigentums noch nicht viel, sondern trifft nur
Missstände der privaten Grundbesitzvertei-
lung und der positiven Rechtsordnung in
Bezug auf das Grundeigentumsrecht. In
dieser Beziehung müssten dann, und müs-
sen in der That, Reformen des Grundeigen-
tumsrechts, aber unter Festhaltung desPri-
vateigentumsprincips, wenigstens indem im
ganzen doch wichtigsten Falle, beim länd-
lich-agrarischen Boden, verlangt werden.
Selbst wenn aber, wie voraussichtlich, solche
Reformen schwierig und nur teilweise von
Erfolg sind, ergiebt sich auch daraus noch
nicht, dass jene These der Abscliaffung des
privaten Grundeigentums und die Fordenmg
seiner Ersetzung durch allgemeines ge-
sellschaftliches Gemeineigentum, auch an
allem ländlichen Boden, richtig sei. Viel-
mehr müsste man dann den Schluss ziehen,
einmal dass man doch vielleicht das private
Grundeigentum trotz verbleibender vieler
Mängel beibehalten muss, weil hier, wie so
oft, üebles und Gutes untrennbar verbunden
sind ; sodann aber dass die Regelung des ge-
sellschaftlichen Gemeineigentums am Boden,
neben Vorteilen, wieder andere und grössere
Bedenken und Schwierigkeiten, mindestens
in vielen FäDen und zumal bei der Haupt-
kategorie, dem ländlichen Boden, bietet und
gerade an letzterem aus psychologischen und
praktischen, mit eminentesten Produktion s-
mteressen in Verbindung stehenden Gründen
überaus schwierig, wenn überhaupt aus-
führbar erscheint. Der Sozialismus ignoriert
das alles.
5. Die Unterscheidung des Bodens
nach typischen Verwendungszwecken
in ihrer Bedentang für die Fragen der
Bodenrechtsordnnng. Das uns hier be-
schäftigende Problem dieser Rechtsordnung
ist ein einheitliches, den gesamten
Boden umfassendes. Jede Darstellung und
Kritik hat das zu beachten, was bei der
früher meist allein üblichen Beschränkung
der Untersuchung auf den ländlich-agrari-
schen Boden nicht genügend geschehen ist.
Gewisse gleiche Verhältnisse und Einzel-
fragen kehren auch bei allem Boden wieder
und zeigen die Einheitlichkeit des ganzen
Problems.
Aber andererseits sind die natürlichen
ökonomisch-technischen Verwendungszwecke
des Bodens und damit in Verbindung stehend
die Benutzungsweisen und Bearbeitungs-
arten so verschieden, dass das auch in der
Elechtsordnung unmöglich unbeachtet bleiben
kann, auch im positiven älteren wie neueren
Recht nicht geblieben ist. Auch in den
Principien fragen. Privat- und Gemeineigen-
tum, freies und beschränktes Privateigentum,
liegen die Verhältnisse je nach den Ver-
wendungszwecken des Bodens wesentlich
verschieden, muss daher auch Urteil und
Schluss verschieden ausfallen. Mehrfach
treten Vorteile des Privateigentiuns wie des
Gemeineigentums je nach der Bodenkate-
gorie weniger, Nachteile beider mehr her-
vor. Namentlich aber stellen sich die
Schwierigkeiten der Durchführung des Ge-
meineigentiuns darnach sehr verschieden
heraus. Während sie im einen Falle, beim
agrarischen Boden, wohl sehr gross bleiben,
selbst unüberwindlich erscheinen, vermin-
dern sie sich und verschwinden wohl selbst
800
Grrundbesitz (Bodenrechtsordmmg)
in anderen Fällen, wenn man dem Gemein-
eigentum die richtige Ausgestaltung giebt,
wie es thatsächlieh möglich, wenn auch
keineswegs immer so einfach ist.
Allerdings wird der Boden oder werden
einzelne Gnmdstücke mehrfach gewöhnlich
erst in einem gewissen Stadium der Ent-
wickelung des Volks- und Wirtschaftslebens
im wesentlichen dauernd einer bestimm-
ten Verwendung gewidmet, nämlich wenn
feste Ansiedelung an bestimmten Oertlich-
keiten erfolgt ist, das Volk in diesem Sinne
sesshaft geworden. Dies gilt namentlich
vom agrarischen und Wohnungsboden, zum
Teil auch von Wald- imd Wegeboden, da-
her in der Stufe des Ackerbaues mit festen
Wohnsitzen und dem Betrieb der Landwirt-
schaft, auch der Weide- und der Forstwirt-
schaft — soweit von letzterer schon zu
reden — von diesen Sitzen aus. Insofern
hat man es auch hier mit historischen
Erscheinungen und Kategorieen des Wirt-
schaftslebens zu fhim. In längeren Zeit-
räumen gehen auch nach der ganzen Lebens-
geschichte eines Volkes immer wieder grös-
sere Verändenmgen mit dem Boden, den
einzelnen Grundstücken und ihrer Benutzung
zu dem und dem Zweck vor sich, wird
selbst uralter Wohnungs-, Garten-, Wege-
boden wieder einmal Ackerland, Weide,
Wald. Auch hat bei nicht durchaus still
stehenden Völkern die Entwickelung der
A^olkszahl, der örtlichen Verteilung und
Koncentration der Bevölkerung, der Fort-
schritt der Technik im kleineren IMasse
immer auch Verändenmgen in der Verwen-
dung bestimmter Grundstücke, namentlich
solcher von specifischer Lage (Wegewesen,
Wohnungsboden) oder Beschaffenheit zur
Folge^ volkswirtschaftlich tritt dabei ge-
rade der Konflikt des »öffentlichen Inte-
resses« mit wohl erworbenen (Privat)-
Rechten, wie denjenigen des Privatgrund-
eigentümers, in der Weise eigentümlich her-
vor, dass es sich darum handelt, eine alte
bestehende Verwendung durch eine neue zu
ersetzen, welche für das Gesamtinte-
resse wichtiger als die bisherige ist: die
gerade für die volkswirtschaftliche
Betrachtung des Enteignungsrechts
wichtigste Seite des letzteren i).
Allein von dieser immer im Fluss be-
findlichen Entwickelung der Dinge auch auf
diesem Gebiete abgesehen, darf man doch
sagen: es giebt gewisse typische natür-
liche und ökonomisch-technische Verwen-
dungszwecke des Bodens, der einzelnen
Grundstficke, welche wenigstens für lange
') S. d. Art. Enteignung (oben Bd. III S.
621 if.) und zur Ergänzung nach obiger Seite
meine Grundlegung in dem Abschnitt tlber Ent-
eignung, 3. Aufl. II, S. 527 fl.).
Zeiträume die Bedeutung von absoluten
Kategorieen gewinnen und gerade als solche
für die Fragen der Bodenrechtsordnung so
wichtig werden. Denn man hat es hier
doch mit dauernden Thatsachen zu thun,
welche durch die Natiu- selbst (Lage, Be-
schaffenheit. Inhalt des Bodens) oder durch
im wesentlichen, wenigstens für lange
Zeitendauer und unter normalen Verhält-
nissen, abgeschlossene historische Ent-
wickelungen bedingt sind, wie es die defi-
nitive An- und Besiedelung des Landes,
die Wahl der Wohnplätze (Dörfer, Höfe,
Städte), die Anlage der letzteren (Strassen-
züge etc.) sind.
Solcher typischer Verwendungszwecke
sind fünf, mit Einbeziehung der Gewässer
s e c h s zu unterscheiden. Dabei können aber
mitunter dieselben Gnmdstücke gleichzeitig
oder im Laufe des Jahres nacheinander ver-
schiedener Verwendung, wenn auch gewöhn-
lich einer in besonderem Masse dienen, zu-
mal in primitiveren, teilweise aber selbst
noch in späteren höher entwickelten Ver-
hältnissen (Ackerland, auch ziu* Weide
dienend, Wald desgleichen, Jagd auf agrari-
schem Boden etc.). Bei einigen Kategorieen
kommen ferner ausser den rein natürlichen
und den ökonomisch-technischen auch noch
andere Verschiedenheiten für die allgemeine
rechtliche Principienfrage in Betracht, so
nach den Besitzverhältnissen (Grösse) beim
agrarischen, auch beim Forst-, dem monta-
nistischen Boden, nach den Grössenverhält-
nissen der Wohnortsbevölkeruug beim Woh-
nungsboden.
Die einzelnen sechs typischen Kategorieen
sind: der Standorts- oder Wohnungs -
boden, der Bergwerksboden, der na-
türliche (»w^lde«) Weide-, Wald-,
Forst- und äluüicher Boden, der land-
wirtschaftlich und (kultiu--) forstlich
beimtzte Boden, der Wegeboden, der von
Gewässern eingenommene Boden.
Auch für die Fragen der Rechtsordnung
sind nun die natürlichen imd die ökono-
misch-technischen Verschiedenheiten dieser
Bodenkategorieen und der auf ihnen und an
ihnen sich vollziehenden menschlichen Be-
nutzungsweise und Bebauungsart von mehr
oder weniger entscheidender Bedeutung.
Der Wohnungs- und Wegeboden erscheint
unmittelbar nur als Träger der Menschen
selbst, ihrer Einrichtungen und Thätigkeiten.
Das bedingt die grosse Bedeutung der ört-
lichen Lage der betreffenden Gnmdstücke und
eigentümliche davon abhängige Renten- und
Wert Verhältnisse , während für diesen Ver-
wendungszweck die Beschaffenheit des
Bodens zwai* nicht unwichtig ist, aber docli
au Bedeutung im ganzen zurücktritt. Eine
im wesentlichen nur einmalige Arbeit (und
Kapitalverwendung) am Boden macht ihn zu
Gnindbesitz (Bodenrechtsördming)
801
seiner Verwendung für lange Zeit geeignet,
€8 bedarf hinterher nur einer geringeren
Erhalt\ings- und Reparatui-arbeit, um ihm
diese Geeignetheit zu belassen. Zur ersten
Herstellung der Geeignetheit ist überwiegend
stehendes, im geringeren Masse umlaufendes
Kapital erforderlich, was wichtige weitere
ökonomisch-technische Folgen hat;, umge-
kehrt geht es bei der Reparaturarbeit,
Der Bergwerksboden fungiert als Be-
hälter von Stoffen, welche schon in ihrer
natürlichen FoiTn einen gewissen Gebrauchs-
wert haben, wenn auch weitere Verarbeitung
der Stoffe diesen Gebrauchswert erst völlig
entwickelt. Aber der Boden enthält diese
Stoffe nur in gegebenen Mengen, wenigstens
für unsere geologische Periode, also durch
die Wegnahme ei-schöpft er. Dieser Boden
bedingt aber neben der ersten Arbeit und
Kapitalanlage zur Ersclüiessung seiner Gaben
eine fortdauernde, technisch meistens be-
sonders eigentümliche Aneignungsarbeit und
Kapital verwend ung.
Der natürliche Weide-, Wald-, Jagdbo-
den etc. wie der agraiische und (kultur-)
forstliche haben die doppelte Funktion als
Behältei* von Stoffen und zugleich als
Vermittler der Umbildung von Stoffen
noch nicht oder nicht mehr gebrauchs-
•wertiger Form aus Boden und Luft in ge-
braueliswertige Form, zunächst in pflanz-
liche, eventuell dann weiter in tierische,
zu dienen. Aber bei der ersten Kategorie
(Nr. 3 der Reihe) erfolgt die Umbildung
spontan durch die Kräfte der Natur un-
mittelbar. Für den Menschen handelt es
sich hier daher nur, wie bei dem Berg-
werksboden, um Aneignung fertiger
Natiu-produkte mittelst specifischer , nach
den Objekten sich richtender Arbeit (Pflan-
zensammeln , Holzfällen , Jagd , Fischfang
u. s. w\) sowie um gewisse Schonungs-
rücksichten, um die spontane Natur-
thätigkeit nicht zu hindern oder gar zum
Stillstand zu bringen. Bei dem agrarischen
etc. Boden muss dagegen die menschliche
Thätigkeit die beabsichtigte Formumbildung
mid Formverbindung erst selbst künstlich
herbeiführen, indem sie die Bedingungen
<lafür erfüllt, dass der Boden und die Natur-
kiitfte so und so wii'ken können. Dazu be-
darf es ausser der ersten Vorbereitung des
Bodens hierfür einer fortdauernden, sich
immer wiederholenden menschlichen Arbeit,
ausser der ersten Kapitalanlage einer immer
erneuten Zuführung von Kapital, stehendem
wie insbesondere umlaufendem, bis dann
schliesslich noch die Aneignungsarbeit
(»Ernten«) auch hier hinzukommt. Alles
das bedingt ein wesentlich anderes ökono-
misch-teclmisches Verhältnis der mensch-
lichen Arbeit imd Kapitalverwendung zum
Boden wie in den anderen besprochenen
Handwörterbach der Staatswigsenschafteo. Zweite
Fällen; ein Verhältnis, welches dann für
die Gestaltung der Rechtsordnung aus psy-
chologischen und praktischen Gründen seine
Beachtung verlangt.
Aus dem Vorhergehenden ergeben sich
die Aehnlichkeiten und die Verschieden-
heiten, \velche die Bodenkategorieen beim
Vei^leich mit einander zeigen. Daraus sind
audi für die Fragen der Rechtsordnung imd
für die kritische Beiu^eilung der Haupt-
principieu wichtige Schlüsse abzuleiten.
Der diesem Artikel zugemessene Raum
gestattet es nicht, die Verhältnisse jeder
einzelnen Bodenkategorie liier eingehender
zu behandeln. Bei einigen muss es an
w^enigen weiteren Bemerkungen genügen.
Nur der Wohnungsboden wird etwas ge-
nauer betrachtet, für den agrarischen wenig-
stens das Wichtigste hervorgehoben werden,
obwohl freilich bei dieser Hauptkategori'e
des Bodens erst die Erörtenmg des einzel-
nen eine ausreichende Begründung der An-
sichten bezüghch der Rechtsordnung ermög-
licht. Für alles weitere und insbesondere
auch für die historische, statistische, legis-
lative Seite der betreffenden Fragen ist auf
die folgende Abteilung des Artikels Gnmdbe-
sitz (Geschichte) und auf die zahlreichen ein-
schlägigen Specialartikel dieses Werkes zu
verweisen, namentlich auf die über den
agrarischen Boden, seine Rechtsordnung
und dei-en Geschichte, seine Benutzung und
die dabei in Betracht kommenden techni-
schen, ökonomischen und i-echtlichen Fragen,
über Landwirtschaft u. s. w., daher auf
alle agrar-, forst-, bergwerks-, wege-, wasser-
technischen, -rechtlichen und -politischen
Artikel, auf die über Wohnungswesen, Städte.
Dörfer u. s. w.
6. £r8te Bodenkategorie: Standorts-
oder Wohnungsboden. Diese erste Kate-
gorie imifasst die Gnmdstücke, welche als
Standort für den Menschen, daher als regel-
mässiger Aufenthaltsoll;, demgemäss insbe-
sondere als Platz für die Wohnungen
oder Wohngebäude, ferner als Standort
für die Gewerbe aller Art und für die
diesen gewidmeten Gebäude etc. dienen. An
diesen Platz für die Gebäude selbst (Tenne,
Area) schliesst sich der Boden für solche
Zwecke an, welche mit dem Wohn- oder ge-
werblichen Zwecke in unmittelbarer örtlicher
Verbindung stehen, Hausgärten, Höfe, Lager-
plätze und dergleichen. In der Hauptsache
gehört demnach hierher der Hofstattboden
(Hofraite) in den Dörfern und auf den Ein-
zelhöfen, auch auf den grösseren (Land-)
Gutshöfen , vor allem aber der städtische
Wohnungsboden.
Die bleibende Zweckbestimmung dieses
Bodens nach einmal erfolgter fester Anle-
gimg der Wohnplätze. Bestimmung der
Strassenzüge etc. für Gebäudeanlagen, die
Aunage. IV. 51
802
Grundbesitz (Bodenrechtsordimng)
Notwendigkeit eines ei-sten einmaligen grös-
seren Kapitalaufwands für letztere und da-
bei die Verwandlung umlaufenden in ste-
hendes Kapital, die ünentbehrlichkeit dieses
Bodens für die lokalen Wohn- und gewerb-
lichen Zwecke giebt diesem Boden und den
einzelnen dazu gehörigen Grundstücken eine
eigentümliche ökonomisch -technische Stel-
lung und Funktion, welche regelmässig auch
zu einer besonderen Stellung und Behand-
lung desselben in der Rechtsordnung ge-
führt hat.
Gerade an diesem Boden hat sich auch
da, wo der gesamte Boden ursprünglich im
Gemeineigentum örtlicher oder weiterer Ge-
meinschaften stand, am ersten und vollstän-
digsten eine festere Beziehung zum Inhaber
und seiner Familie, ein Ausschluss aus dem
sonstigen Gemeineigentum und aus der
etwaigen periodischen Teilung des sonstigen
Bodens bloss zur Nutzung und am frühesten
Privateigentum entwickelt.
Andererseits haben die Verhältnisse der
räumlichen Nähe, die daraus hervorgehen-
den Lebensbedingungen gewisse »lokale Ge-
meinbedürfnisse« hier ebenfalls am frühes-
ten entwickelt, gewisse gegenseitige Be-
ziehungen und Rücksichtnahmen bedingt.
Das hat beides zu entsprechenden, die Ver-
fügungsgewalt des Inhabers oder Eigen-
tümers einscliränkenden Normen in der
Rechtsordnung, im Privatrecht wie im
dörflichen , städtischen Verwaltungsrecht
(Polizeimassregeln) gefühi-t (Reinlichkeits-,
Sanitäts-, Feuer-, Bau-, Wasser-, stras-
senrechtliche [zum Teil auch privatrecht-
liche, Nachbarrechte etc.] und polizeiliche
Bestimmungen imd dergleichen melir). Das
betreffende (»städtische«) Privateigentum am
Boden ist daher doch naturgemäss immer
ein durch die Rücksichten des gesellschaft-
lichen Zusammenlebens mehr oder weniger
beschränktes gewesen und im Laufe der
Entwickelung dies selbst immer mehr ge-
worden. Die enge lokale Anhäufung der
Menschen und ihrer Berufsstätten, Gewerbe- j
betriebe, die daraus hervorgehenden Ge-
fahren und Uebelstände, die neuere natur-
wissenschaftliche Erkenntnis der Einflüsse
von Boden, Luft, Wasser, Licht etc. auf
die Gesundheit bedingen eine wachsende
Einflussnahme der öffentlichen Gewalt und
demgemäss der Rechtsordnung auf die Ver-
hältnisse dieses Bodens und der darauf
stehenden Gebäude. Wo, wie bei unserer
Bauweise — im Unterschied zu anderen
Ländern , z. B. Japan — die Gebäude im
wesentlichen fest mit dem Boden verbunden
und insofern im ökonomisch -technischen
Sinne w a h r e Immobilien sind , ist bei
einmal bebauten (rrundstücken aucli in der
Reclitsordnun^ dieser Umstand zu beachten,
weshalb die Fragen vom städtisciien Grund-
eigentum und Gebäudeeigentum eng zusam-
menhängen und zum Teil zu einer einheit-
lichen Frage der Rechtsordnung werden.
Die Gesamtheit der Wiitschafts- und
Lebensverhältnisse in den Wohnorten, vom
kleinen Dorf bis zur AVeltstadt, bringt es
mit sich, dass für die wirtschaftliche Be-
deutung, daher für den Wert des »Woh-
nungsbodens« ein Faktor eine ganz besondere^
zum Teil ausschlaggebende Wichtigkeit er-
langt, zwar nicht allein, aber mehr und
stärker als so ziemlich bei allem übrigen
Boden: die örtliche Lage des eiuzelneu
Grundstücks. Der andere sonst massgebende
Faktor, die (nati'irliche) Beschaffenheit des
Bodens, verliert zwar auch beim Wohnungs-
boden seine Bedeutung nicht ganz (Trag-
fähigkeit, Erfordernis betreffs der Fiui-
damentierungsarbeiten imd dergleichen), aber
tritt doch hier in seinem Einfluss auf die
Benutzbarkeit und daher den Ertrag und
Wert wesentlich zurück. Es spielt deshalb
beim Wohnungsboden die »Grundrente
der Lage« eine besonders hervorragende,
zum Teil selbst specifisch eigentümliche Rolle
(s. d. Art. Grundrente a. a. 0.). Die Lage
äussert ihren Einfluss doppelt, einmal nach
der ganzen Art der Ortschaft (Dorf — Stadt,
Klein-, Mittel-, Gross-, Weltstadt), dann nach
der lokalen Lage innerhalb der Ortschaft
(städtische Verhältnisse!). In beiderlei Be-
ziehung bedingt die Lage die Benutzbarkeit
für gewisse Wirtschafts- und persönliche
Zwecke in oft so gut wie entsciheidendeni
Masse. Li Verbindung mit diesem Moment
der Lage hat daher auch die Institution des
Privateigentums am Boden wirtschaftliche
und rechtliche Konseciuenzen , wie sie bei
anderem Boden die Lage (z. B. bei >»Aus-
sichtsgrundstücken«, Bergpunkten, Wasser-
fällen und dergleichen) und die Beschaffen-
heit (z. B. Kohlen-, Metalb-eichtum , Wein-
bergsboden) nur ausnahmsweise ähnlich
zeigen. Im städtischen, vollends gross- und
weit städtischen Boden tritt so der >> Mono-
polcharakter« des Grund und Bodf^i^
m ganz besonderem Grade hervor: ein für
die Würdigung der Fragen der Rechtsoixl-
nung, si)eciell des Privateigentums, wiederum
besonders wichtiger Punkt. Die ȟrtli(:he
I>age« ist eine reine Natuithatsache, und die
wirtschaftliche Bedeutung dieser Lage hängt
ganz überwiegend, öfters ausschliesslich
von allgemeinen Entwickelungen des Wirt-
schaftslebens, der j»olitischen Geschichte
(Hauptstädte), der Bevölkerungsbewegung,
der Verkehrsmittel etc., nicht oder fast nicht
von wirtschaftlichen Leistungen des ein-
zehuMi Eigentümei*s al). Daraus ergiebt sich
bei diesem Boden vollends, dass dai? Privat-
eigentum an demselben dem Eigentümer
ganz ohne seine oder ohne wesentliche
Thätiefkoit sciinciseits wirtschaftliche Ge-
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
803
winne zuführen kann und oft zuffihrt, wel-
che demselben rein als Konsequenz des
Privateigentumsprincips und speciell des
Privateigentumsrechts an einem, noch dazu
beschninkt vorhandenen, eben deshalb zum
Monopol werdenden Naturfaktor zufallen,
also Ökonomisch insofern von ihm, dem
Eigentümer, nicht oder fast nicht »verdient«
Find. Kolossale Werte, so dass selbst ein
auf solchem Grundstück stehendes grosses
Prachtgebäude weniger zu bauen kosten
kann, als der Preis der bevorzugt gelegenen
Baustelle beträgt, auf der es sich erhebt (30 bis
40000 Mark für die Quadratrute in Berlin
schon vor Jahren) i), riesige Wertsteigerungen
auch binnen kurzer Zeit unter günstigen Um-
ständen kommen daher hier gelegentlich, in
den Mittelpunkten und selbst an der Peri-
pherie rasch wachsender Grossstädte in
häufigeren Fällen zum Vorschein. Um-
gekehrt tiifft ein allgemeiner Rückgang der
Verhältnisse eines Orts, einer Gegend darum
freilich den Privatgnmdeigentümer auch mit
ähnlichen ökonomisch und persönlich »unver-
schuldeten« Verlusten.
Lauter Verhältnisse, welche das private
städtische Gnmdeigentum, zirnial in Gross-
städten, allerdings misslich erscheinen lassen.
Denn natürlich werden jene steigenden
Werte nicht a\is dem Nichts geschaffen,
sondern sind in letzter Linie anticipativ
kapitalisierte Zaldungen, welche die Be-
n Ti t z e r der Häuser, die M i e t e r , in hohen,
steigenden, ihnen durch die Z w a n g s 1 a g e ,
i:i welcher sie eich dem Boden- und Haus-
nionopol gegenüber befinden, abgerungenen
Mieten entrichten müssen. Durch Weiter-
wülzung dieser I^asten auf die Käufer ihrer
Arbeitsprodukte und Leistungen können und
werden diese Mieter zwar ihre Abnehmer
mitbelasten , aber volkswirtschaftlich und
sozialpolitisch aufgefasst wird die Sache
dadurch sogar eher noch bedenklicher. Denn
schliesslich wird so direkt und indirekt die
halbe oder ganze Bevölkerung den relativ
wenig zahlreichen städtischen Grund- und
Gebäudeeigentümern tributpflichtig, — und
zwar nicht für eine wirtschaftliche Leistung
derselben an sie, sondern für die Ueber-
lassung eines direkten oder indirekten An-
teils an der Benutzung desjenigen Bodens,
we^lchen die Rechtsordnung den Eigentümern
privateigentümlich ziu* Ausübung ihrer Uerr-
Rchaft und damit zur Erhebung jenes Tri-
buts, einer wahren Privatsteuer ohne Gegen-
leistung, überlassen hat.
M Icli verweise auf demnächst erscheinende
Untersuchuntren von Dr. P. Voigt über die
Entwickelnug der Bodenwertverhältnisse in den
westlichen Teilen und Vororten Berlins mit
Thtitsachen, die einen frappanten Beleg zu
obigen Ausführungen bilden (Kurfürstendanim,
Grunewald I).
Bei dem Umstände, dass staatliche und
kommunale »öffentliche« Verwendungen für
mancherlei der Avichtigsten Zwecke direkt
und indirekt wiederum vornehmlich dem
örtlichen Gnmdeigentum in Renten- und
Wertsteigerungen zu gute kommen, während
die Steuern, mittelst deren diese Verwen-
dungen erfolgen, wenn nicht ganz, so doch
grossenteils von der Gesamtheit aufgebracht
werden, treten die angedeuteten Wirkungen
nur noch drastischer hervor. Zwar mildert,
sich das aus diesen Verhältnissen hervor-
gehende Bedenken, wenn demgemäss wenig-
stens die Steuern solchen Sondervorteilen
des Grundeigentums entsprechend in beson-
derem Masse auf die Eigentümer des letz-
teren gelegt werden. Das wird denn auch,
und principiell ganz mit Recht, verlangt
und m unserem neueren Koramunalsteuer-
recht vorgeschrieben (Verwendung von Real-
steuem hierfür). Aber nicht nur ist diese
Forderung in der Regel thatsächlich bisher
nur in geringem Masse, öfters gar nicht
erfüllt: sie kann auch aus steuertechnischen
und anderen Gründen nur in beschränktem
Grade und unvollkommen erfüllt werden.
Das Bedenken bleibt also in der Hauptsache
bestehen.
In moderner, namentlich der neuesten
Zeit, sind alle diese Verhältnisse noch miss-
licher geworden. Einmal, weil der Ueber-
gang von der vorwaltend agrarischen und
klein^ewerblichen ^handwerklichen) zur in-
dustriellen Stufe aer Volkswirtschaft und
weil die dadurch und durch das moderne
(Dampf-) Kommunikation swesen und die
diesen Faktoren sich anpassende Rechts-
ordn\mg des freien persönlichen Verkehrs
bedingte örtliche Bevölkerungsbewegung
(Freizügigkeit, interlokale und internationale
Bevölkerungsbewegung) das starke und
rasche Anschwellen der lokalen Bevölkerung
an begünstigten Orten (Gross- und Welt-
städte, Industriesitze) in ganz ausserordent-
lichem Masse gesteigert haben. Sodann,
w^eil die Entwickolung des Kreditwesens und
seiner Organisation, der wirtschaftlichen Ver-
kehrsfreiheit, auch der bezüglichen Ein-
richtimgen und Normen des Rechts, selbst
des Privati-echts , die städtischen »Immo-
bilien« mehr und mehr »mobil« gemacht,
zu häufigem und leichtem Besitzwechsel,
bequemer Verpfändbarkeit deivselben gefülirt
haben, so dass mitunter, der bisherigen
wirtschaftlichen Natur des Handels und den
Normen des Handelsrechts zuwider, diese
Immobilien selbst förmlich Gegenstand des
Handels geworden sind. Zu den natur-
gemtlssen Faktoren, welche die Renten- und
die Wertsteigerung dieser Objekte bedingen,
tritt infolgedessen noch der S p e k u 1 a t i o u s -
faktor. Die Mieten, die Renten, die Werte
werden dadurch noch weiter und rascher.
804
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
wenigstens in Zeiten günstiger Konjunkturen,
^villföl^igen Kredits und in Orten aussichts-
reicher Entwickelun^ emporgetrieben. Die
»Gnindstückspekuiation« nimmt wohl selbst
einen gewerbsmässigen Charakter an.
Alles das hat dann natürlich vollends
nachteilige Wirkungen für die Mieter, d. h.
für die grosse Masse der städtischen Be-
völkenmg, nicht einmal bloss in betreff der
Yerteuerimg der Befriedigimg des Wohn-
bedürfnisses, sondern auch in Hinsicht der
Abhängigkeit vom Grund- und Hauseigen-
tümer, der Unsicherheit des Innehabens der
Wohnung u. v. a. m. (grossstädtische chikanöse
Miets vertrage, mitunter wahre Löwenverträge
zu Gunsten des Vermieters). Schon aus
den allgemeinen Yerhältnissen des städtischen
Bau- und Wohnungswesens folgt, dass in
Städten, zumal in den grösseren, die Mehr-
zahl der Bevölkerung zur Miete wohnt, also
dies zweit- oder drittwiehtigste materielle
Bedürfnis nicht, wie fast in allen anderen
Fällen, mittelst des Kaufvertrags, sondern
mittelst des Mietvei-trags zur Befriedigung
bringt. Die geschilderte Entwickelung der
Dinge macht das Miet Wohnungswesen im
Gegensatz zum Eigenwohnen im eigenen
Hause, wenigstens in Grossstädten i aber
vollends zur fast allgemeinen Notwendigkeit.
Denn die ungeheuere Höhe der Grundrente
bezw. des Bodenwerts verteuert das AUeiu-
bewohnen eines Hauses zu selir und nötigt
wieder zur möglichsten Ausnutzung des
Raumes durch verwertbare Gebäude, daher
zur »Mietkaserne«, mit engsten, klein-
sten Höfen — »Lichthöfen «, lucus a non
luceudo — , möglichst grosser Zahl der
Stockwerke übereinander etc. Diese Bau-
art steigert dann ihrerseits wieder die Stei-
gerungsfähigkeit des Bodenwertes noch, so
dass man tuer auf eine immer verhängnis-
vollere Bahn kommt. Die Mietkaserne be-
dingt aber wieder eine Menge sozialer,
ethischer, sanitärer und sonstiger llebclstände.
Sie ist jedoch ein notwendiges Produkt der
weitgehenden »Freiheit des städtischen pri-
vaten Gnmdeigentums« , eine Freiheit, die
die Interessenten in beschränkenden Bau-
ordnungen aber dann wie durch einen »rechts-
widrigen Eingriff« in das »Privateigentum«
gefährdet sehen.
7. Banstellen. Die eigentümlichsten
imd wieder noch besonders nachteiligen
Folgen treten in solchen Verhältnissen bei
uo('h unbebauten Grundstücken ein.
Regelmässig liegt sonst beim Grundeigentum
<ler wirtschaftliche Vorteil nicht im blossen
Haben oder Besitzen, sondern in der Be-
nutzung zu einem solchen Zweck, welcher
oiuen laufendenErtrag giebt, also auch
in beständiger Arbeitszuwendung. Bei der
raschen und bedeutenden Wertsteigerung des
städtischen Bodens unter günstigen Verhält-
nissen lohnt es dagegen, selbst unter völligem
Verzicht auf laufende Erträge, Grundstücke
nur zu besitzen und zu erwerben und sie ganz
— oder im wesentlichen — unbenutzt, daher
ohne laufenden Ertrag zu lassen, in der Er-
wartung, dass die Entwickelung der städ-
tischen Grundstückwerte bald oder wenig-
stens über kurz oder lang eine gewinnreiche
Veräusserung gestatten werde, aus der weit
mehr als aus den üblichen, doch meist nur
geringen laufenden Erträgen erzielt wird.
So entwickelt sich eine förmlich spekulative
und gewerbsmässige Kapitalanlage in »Bau-
stellen«, natürlich vornehmlich in solchen
örtlichen Lagen einer sich gut entwickeln-
den Stadt, wo noch billig zu kaufen, nach
einiger Zeit aber wegen des Bedarfs der
wachsenden Bevölkerung nach Boden für
neue Gebäudeanlagen gut zu verkaufen ist.
Einstweilen winl der betreffende Boden
»aus dem Markte gehalten«, was dann auch
wieder dem Monopol der übrigen Gnmd-
stück- und Gebäudebesitzer zu gute kommt.
Bauordnungen, welche eine übermässige
Ausnutzung des Bodens für Gebäude ge-
statten, Steuerverfassungen, wie die meist
bei uns bestehenden (Grundsteuer), welche
solche Baustellen nach den niedrigen Sätzen
des agrarischen Bodens, vielleicht noch da-
zu geringer Qualität ^Berlin) belegen, be-
günstigen direkt und inairekt diese ungesunde
Entwickelung, namentlich die spekulative
Kapitalanlage in Baustellen. Verkehrs-
verbesserungen und Verwohlfeilerungen (bil-
liger Lokaltarif der Pferde- und Dampf-
bahnen), welche das Entfern t^^ohnen von
Berufs- und Arbeitsstätte, vielleicht sehr
erwünscht, ermöglichen und die »interne«
Bodenrente etwas drücken, begünstigen
wieder die Baustellenspekidation an der
städtischen Peripherie und helfen so selbst
ihren eigentlichen Zweck zu vereiteln. Ein
förmlicher Handel in solchen Grundstücken
(»Terrains<v) bildet sich und hat seine
Hausse- und Baissekonjunkturen, seine
»Ringe«^ u. s. w. !
In und bei grossen, ontwickelungsfähigen
Städten, unter besonders günstigen Um-
ständen (Berlin !), werden dann wohl grosse
Bodenflächen von kleinen und grossen Kapi-
talisten, Banken etc. als Baustellen erworben,
einstweilen gar nicht oder nur zum Schein
oder zu Nebenzwecken (Niederlagsplätze füi-
Brennstoffe, Baumaterialien u. dgl.) benutzt,
nicht einmal n^gel massig agrarisch oder
gärtnerisch, und schliesslich mit öfters
enormem Gewinn veräussert, der natürlicli
endlose Mietergenerationen belastet.
Das private Gnmdeigentum, zumal das
durch Bauordnungen wenig beschränkte,
diu'ch Steuern wenig belastete und dem
Eigentfimer möglichst frei zu seiner Ver-
fügung stehende, hat hier unleugbai* hoch
Gmndbesitz (Bodenrechtsordnung)
805
bedenkliche volkswirtschaftliche und soziale
Konsequenzen. Es gewährt ohne oder ohne
wesentliche Leistungen seinem Herrn grosse
Gewinne, führt zu Einkommen- und Yer-
mögensbildungen auf Kosten Dritter und
lässt sich kaum irgendwie mit einem der-
jenigen Gründe, welche für die sonstigen mo-
dernen Arten privaten Grundeigentums doch
mehr oder weniger zutreffen, rechtfertigen.
8. Reformen für den Wohnnngsboden
nnd sein Recht Es ist begreiflich, dass,
je mehr die Einsicht in diese Zusammen-
hänge jedem halbwegs vonuteilsfreien
ruhigen Beobachter durch den Augenschein
und handgreifliche Thatsachen Mar wird,
desto mehr Keformbestrebungen auf-
tauchen. Darauf kann an dieser Stelle nicht
näher eingegangen werden. (S. u. a. die Artt.
Baupolizei (oben Bd. II S. 515ff.), Ent-
eignung (oben Bd. m S. 621 ff.), Woh-
nungsfrage.) Es muss hier an einigen Be-
merkungen darüber genügen.
Die einen, die Gemässigteren,
wollen das private städtische Gnmdeigentum
beibehalten, aber teils durch wirtschafts-
politische Massregeln, besonders durch die
Entwickelung guten und biUigen lokalen
Verkehrswesens, die faktischen Monopole
bevorzugter Ijagen brechen, — was leider
nicht in genügendem Grade möglich ist,
ohne durch das Mittel selbst anderswo und
noch ausgedehntere neue, wenn auch in ge-
ringerem Masse bevorzugte Lagen zu
schaffen und so die alten üebel noch zu
verbreiten, wenn auch sie allgemein, nament-
lich im Innern der Städte, etwas zu vei'-
mindem. Teils gehen auch diese Reformer
bereits weiter- und verlangen auch ihrer-
seits schon rechtliche Reformen auf Ge-
bieten, welche mit den städtischen Boden-
verhältnissen in Verbindung stehen : bessere,
die Raumausnutzung beschränkende, die ge-
sundheitlichen Bedingungen mehr verbür-
gende, den sozialen,' den sittlichen Lebens-
verhältnissen mehr Rechnung tragende Bau-
ordnungen, Aendenmgen der Steuer-
verfassung, wodurch die »Konjunkturen-
werte« imd »Spekulationswerte« aer Grund-
stücke mehr erfasst, die blossen Baustellen
nach dem wirklichen Wert besteuert, die
Gewinne aus Grundstückgeschäften zur Ein-
kommensteuer herangezogen werden (preus-
sische Einkommensteuer von 1891, Ver-
mögenssteuer von 1893, Kommunalsteuer
von 1893, die sich mit in dieser Richtung
bewegen; sonst überhaupt als Mittel zum
besagten Zweck Grundsteuer-, Gebäude-
eteuer-, Einkommensteuerreformen, Bau-
stellensteuern, Besitz wechselsteuer, Kon-
junktmrgewinnsteuern u. dgl. m.): an sich
beides principiell und praktisch zweck-
mässige, aber technisch schwierige und
immerhin nicht ausreichende Mittel.
Die Interessen der besonders durch die
geschilderten Verhältnisse bedrückten imteren
Volksklassen sollen daneben durch Leis-
tungen Wühlwollender Arbeitgeber — Bau
von Arbeiterwohnungen — , durch »gemein-
nützige Baugesellschaften« durch Massregeln
des ^>Vohmtarismus<s durch Baugenossen-
schaften, durch Realsteuerfreiheiten u. dgl. m.
besser wahrgenommen werden. Dadurch
will man indirekt dem faktischen Mono-
pol des privaten Grundbesitzes entgegen-
wirken, richtet aber regelmässig den durch
die dargelegten Verliältnisse geschaffenen
übermässigen Bodenwerten gegenüber nichts
Genügendes aus, ja scheitert wohl fönnlich :
besten Falles ein Tropfen auf den heissen
Stein. Endlich, aber seltener und zaghafter,
fasst man auch hier schon direkte Leis-
tungen des Staates, der Gemeinde
im eigenen Bau von Wohnimgen ins Auge,
wozu es aber, wenigstens bisher, an Bereit-
willigkeit, praktischer Fähigkeit, genügenden
Mitteln in den beteiligten massgebenden
Kreisen der Staats- und Kommunalverwal-
tungen und Vertretimgen meistens noch
fehlt. Die einflussreiche Stellung, welche
die Grundbesitzer nach unseren Gemeinde-
ordnungen zu haben pflegen, erweist sdch
hier öfters schädlich. Zum Teil wird denn
gerade i)rincipiell auch eine gegnerische
Stellung zu derartigen Massnahmen in diesen
Kreisen eingenommen, weil man darin be-
reits eine zu weitgehende Hinneigung zum
»Sozialismus«, mindestens einen Sehritt auf
einer schiefen Bahn, auf der man sich vom
privatwirtschaftlichen System schon zu weit
entferne, erblickt. Fehlt es an entsprechend
gelegenem Staats- und Gemeindeland, wie
so oft, so kommt man freilich ohnehin auch
mit diesem Mittel wieder mit den Folgen
des privaten städtischen Grundeigentums,
den übermässigen Boden werten, welche den
Ankauf von Grundstücken zu sehr verteuern,
in Konflikt und scheitert an dieser Schwie-
rigkeit.
Die anderen, die Weitergehen-
den, einsehend, dass man auf den eben
angedeuteten Wegen doch keine durchgrei-
fende Besserungen erreicht, nui' an den
Symptomen kuriert, nur Palliativmassregeln
unternimmt, greifen principiell das
Privateigentum am städtischen, zumal gross-
städtischen Wohnungsboden, an den Bau-
stellen etc. selbst an, weil sie darin den
Kern des Uebels sehen. Nennt man eine
derartige Auffassung und Stellung eine
»sozialistische«, so ist nicht zu leugnen,
dass dieselbe von zahlreicher werdenden
Theoretikern und Praktikern und Personen
des Publikums im allgemeinen geteilt w^ird,
welche sonst nicht für das bekannte, die
Eigeutumsordnung betreffende Progi-amm
des Avissenschaftlichen und politischen Sozia-
806
Grrnndbesitz (Bodenrec^htsordnung)
lismus eintreten, also keineswegs, weder
theoretische noch politische, »Sozialisten« sind,
und darunter auch von vielen solchen Per-
sonen, welche ffir andere Bodenkategorieen,
besonders für den ländlichen oder agrarischen
Boden, am Pri\'ateigentura festhalten. Schon
diese Sachlage zeigt, dass die Frage des
städtischen Wohnungsbodens jeden-
falls anders liegt als namentlich diejenige
des ländlichen.
Das besonders Beachtenswerte ist dabei,
dass hier nicht sowohl, Avenn auch mit aus
Bedenken hinsichtlich der üblen Verhältnisse
des Wohnungswesens, denen man durch
sanitäts-, baupob'zeiliche und dergleichen Mass-
regeln doch auch mehr oder weniger begegnen
kann — s. d. Artt. Baupolizei (a. a. 0.),
Wohnungsfrage — ^ sondern eben prin-
cipiell wegen der sozial nachteiligen
Funktion des Privateigentums für die Be-
friedigung des Wohn Bedürfnisses und für
die Verteilung des Volkseinkommens und
Volksvermögens gegen dies Privateigentum
auf diesem Gebiete die gegnerische, die
sogenannte »sozialistische« Stellung einge-
nommen wird. Auch die Frage der (Zwangs-)
Enteignung, die alsdann hier auftaucht,
liegt aus diesem Grunde hier eigentümlich,
wenngleich auch hier so und gerade recht
so, dass das »öffentliche Interesso<' den
massgebenden Gesichtspunkt bildet (s. Art.
Enteignung a. a. 0.). In der deutschen
Bewegung der Bodenbesitzreform ist gerade
diese städtische Grundeigentumsfrage zum
Gegenstand der Bescliäftigung und derAngriffe
gemacht worden. In England ist der eigen-
tümliche Umstand, dass grosse Teile städ-
tischen Bodens (London) alten Grundaristo-
kraten auch jetzt noch gehören und nur auf
längere Perioden (oft auf 99 Jahre) zur Be-
bauung mit Gebäuden an Dritte vermietet
werden (Bodenleihe), freilich der Anlass,
dass nun vollends norriblo Konse<iuenzen
zu Gunsten jener Magnaten hervortreten.
Aber anderei'seits liegen die Dinge dort
gerade wegen dieses Verhältnisses der Boden-
mieie anders als bei uns und zeigt es sich
dabei jedenfalls als ausführbar, was bei uns
A^elfach als unlösbares Problem gilt und
allerdings auch ein ökonomisch-technisch und
rechtlich schwieriges Problem ist, Boden-
oi gen tum und Hauseigentum bezw.
Hausbau zu trennen.^)
Denn gerade durch die unvermeidliche
Verbindung der Frage vom Hausbau und
') Das „uneamert increment" bei Boden
findet übrigens gerade auch in England (s. die
Schrift von Dawson) und Amerika (George)
eine ähnliche Auffassung und Angriffe in der
Wissenschaft und Praxis wie bei uns. Die Be-
wegung der ^nationalisation" des Bodens, der
„Single tax" findet darin namentlich mit ihre
Begründung.
Hauseigentum mit der Frage vom Eigentum
am städtischen Wohnungsboden kompliziert
sich letztere Frage freilich noch erhebhch.
Wie so oft zeigt sich dann, dass die scharfe
Kiitik der auf der Privateigentumsoixinung
beruhenden Verhältnisse und der aus dieser
Ordnung hervorgehenden Konsequenzen ganz
richtig sein kann, ohne dass man daraus
gleich den Schluss ziehen darf, man müsse
deshalb diese Rechtsordnung verlassen und
zu einer anderen, derjenigen des Gemein-
eigentums, hier etwa des kommunalen,
übergehen. Das setzt doch immer voraus,
dass man letztere Rechtsordnung ordentlich
durchführen und praktisch zur Lösung der
vorliegenden Aufgaben geeignet machen
kann. Hierin liegt in der Regel die Schwierig-
keit, über welche sich der wesentlich auf
Kritik des Bestehenden sich beschränkende
Sozialismus gewöhnlich viel zu leicht hin-
wegsetzt. Jedes Princip der Rechtsordnung
hat notwendig wieder seine besonderen
Konsequenzen, so dasjenige öffentlichen
(staatlichen, kommunalen) Gemeineigentums
am Boden weitgehende und eigentümliche
für die Regelung des Hausbaus, der Boden-
leih- (Bodenmiet-), der Haus- und Wohnungs-
mietverhältnisse. Erst die Wüi*digung aller
dieser Konsequenzen, die Auseinandersetzung
mit ihnen, die Erwägung der vei'schiedenen
Möglichkeiten und Zweckmässigkeitsfragen
bei der Regelung des Bau- und Mietswesens
lässt es zur Genüge erkennen, welche
grossen Schwierigkeiten die Aimahnie des
Gemeineigentums- statt des Privateigentums-
princips hätte. Der wissenschaftliche wie
agitatorische Sozialismus berücksichtigen
dies niemals.
Wir können das hier, unter Berufung
auf Ausfühnuigen über diese Punkte und
Fragen an anderer Stelle^), nicht genauer
ins einzelne verfolgen. Es sei hier niu* be-
merkt, dass namentlich zwei Eventualitäten
bei Annahme des Gemeineigentiunsprincips
für städtischen Wohnungsboden vorliegen
w^ürden. Beide böten verschiedene, es ist
nicht ohne weiteix^s einfach zu sagen, wel-
che davon die geringeren Sch\s-ierigkeiten,
beide jedenfalls sehr erhebliche.
Im einen Falle würde es sich, imter
gleichzeitiger Einführung genauer, alle ali-
gemeineren Interessen wahrnehmender Be-
bauungs- und BauorduTingen, darum handeln,
für den Häuserbau seihst die privatwirt-
schaftliche Thätigkeit der Privaten (also auch
der Kapitalisten) festzuhalten. Daher wären
») S. meine „Grundlegung" 2. Aufl. S. 745
—772 und besonders 3. Aufl. II S. 470-512, wo
neben und nach der Kritik des Bestehenden die
Schwierigkeiten imd Bedenken eines Verlassens
des Privatgrundeigentums vom Wohnungsboden
und des L'ebergauges zu Gemeineigentum noch
schärfer hervorgehoben werden.
Grundbesitz (BodenrechtsordnuDg)
80:
diesen unter näheren Bedingungen über den
Preis, die Zeitdauer, die etwaige Entschä-
digung beim Heimfall, die Verhältnisse der
Vermietiuig der Wohnungen etc., Grund-
stücke auf Zeit zu vermieten (»Boden-
leihe«), mit der Verpflichtung, die Grund-
stücke bis da und da in der und der Art
mit Gebäuden zu besetzen. An diese Even-
tualität denken die sonst nicht auf sozialis-
tischem Boden stehenden Anhänger öffent-
lichen städtischen Grundeigentums, z. B.
der Verein für Bodenbesitzreform, zum Teil
unter Hinweis auf englische und ameri-
kanische Verhältnisse (leases). Erhebliche
Schwierigkeiten und Bedenken würden hier
entfallen, welche bei der zweiten Eventuali-
tät auftauchen. Für das Bauwesen und die
Verwaltung der Gebäude verbliebe die —
geregelte — Privatwirtschaft in Funktion,
was bekannte Vorzüge, freilich auch wieder
einige der bisherigen Nachteile hätte. Die
Hauptschwierigkeit wäre die richtige Rege-
lung des Preises für die Boden benutzun^,
der Zeitdauer der letzteren, der Amorti-
sationen und Entschädigmigen in betreff des
Baukapitals. Ohne eine gewisse Sicherung
des Besitzes, daher seiner Dauer und aus-
reichende Entschädigung bei Heimfall w^ürde
der HäusorbckU gefährdet. Bei langer Be-
sitzdauer käme aber wieder die etw^aige
Grundrenten st eigening, wie bei langen land-
wirtschaftlichen Pachten, dem Bodenmieter
zu gute. Man könnte indessen hier an perio-
dische Revisionen des Bodenzinses denken,
was zu verwirklichen freilich auch nicht so
leicht und einfach ist. Auch die genügende
Wahrnehmung der Interessen der Haus- und
Wohnungsmieter gegenüber deuBodenmietern
und Hausbesitzern wäre keine leichte und
einfache Sache. Ein Monopol der letzteren
wäre von demjenigen der jetzigen Haus- und
Gnmdeigentümer wenig verschieden und
müsste natürlich möglichst vermieden werden.
• ^ Die zweite Eventualität müsste der »volle
Sozialismus« ins Augo fassen : Uebertragimg
auch des Bauwesens, des Gebäudeeigentums
mit dem Bodeneigentum an die öffentliche
Gemein Wirtschaft, z. B. die Gemeinde. Die
strengere Konse<iuenz des angenommenen
Princips wäre das wohl. Einige der eben
angedeuteten Schwierigkeiten und Bedenken
fielen hier fort oder verminderten sich. An-
dere tauchten aber auf oder würden noch
grosser. Die ökonomisch-technischen Auf-
gaben, welche Bau und Verwaltung der
Gebäude bedingen, sind zwar, weil es sich
bei einem Bau wesentlich um eine einmalige
grössere technische Aufgabe mit Verwand-
lung von umlaufendem in stehendes Ka-
j)itai, hinterher niu* um Erhaltungs-, Re-
paraturarbeiten etc. handelt, gerade für eine
Behörde eher lösbar als z. B. die Leitung
des Ackerbaues, und um eine »Behörde«
oder etwas Aehnliches handelte es sich doch.
Aber Schwierigkeiten, und mehr als bei
privatem Hauseigentum, verblieben gleich-
wohl. Auch die Regelung der Mietverhält-
nisse böte melir Schwierigkeiten, als die An-
hänger dieses Systems sich vorstellen oder
zugeben wollen.
Nebenbei bemerkt, würde z. B. rein
kommunales Gemeineigentum statt staat-
lichen auch wieder zu misslichen Konse-
quenzen zwischen den verschiedenen Ge-
meinden führen, indem die zum Teil direkt
und indirekt auf Staatsthätigkeiten ziuiick-
zuführenden oder aus ganz allgemeinen
Verhältnissen herrührenden Vorteile ein-
zelner bevorzugter Orte dann doch diesen
als selbständigen Gemeinschaften allein zu-
fielen (Hauptstädte , Verkehrsmittelpunkte,
l)esonders günstig gelegene Städte). Es
taucht daher immer auch noch die Special-
frage auf: ob Staats- oder ob Kommunal-
eigentum am Boden, oder wenigstens ob
eine Mitbeteiligun^ des Staates am Kommu-
nalboden, was die allgemeine Frage vom
Gemeineigentum -^deder mehr verwickelt.
Immerhin glauben wir, dürften auch
Anhänger der JPriyateigentumsordnung ein-
räumen, dass alle diese Schwierigkeiten
und Bedenken, auch diejenigen betreffs der
Wahl zwischen den erwähnten beiden Even-
tualitäten sich schliesslich überwinden lassen
würden und dass man nicht*) ohne weiteres
wird behaupten dürfen, der gegenwärtige
Rechtszustand des städtischen, zumal gross-
städtischen Grund- und Gebäudeeigentums
verdiene nach allen seinen dargelegten nach-
teiligen Folgen den Vorzug vor jedwedem
Gemeineigentumssystem. In dieses Star
dium der Beurteilimg möchte die Frage vom
Standorts- und Wohnimgshoden bereits ein-
getreten sein.
Wenn man aber am Privateigentum fest-
liält, so muss um so mehr gerade bei dieser
Bodenkategorie die Anwendung des üblichen
»absoluten Eigentumsbegriffes« abgewiesen
werden. Vollends hier ist es unhaltbar,
von der Idee einer souveränen Herrschafts-
befugnis des Eigentümers in Bezug auf sein
Eigentumsobjekt, wonach mit letzterem ganz
nach Belieben geschaltet und gew^altet wer-
den könne, auszugehen. Das ist auch nie
und nirgends positives Recht gewesen. Ge-
rade dies Privateigentum stand und steht
in den »Banden der Gesellschaft«. Scharfe,
einschneidende, nicht bloss sanitäre, feuer-
polizeiliche, baupolizeiliche etc. Interessen,
sondern die mitspielenden sozialen und
volkswirtschaftlichen Interessen sichernde
») In der I. Aufl. Bd. IV S. 125 Sp. 2
stand hier infolge eines Druckfehlers „auch"
statt „nicht", wodurch der Sinn des Satzes iu
sein Gegenteil verkehrt war.
808
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
Bebauuugs-, Bauordnungen, Be-
steuerungen, Beschränkungs- und
Entei^nungsrechte sind gerade diesem
Gbnindeigentum gegenüber dringend geboten,
auch, um die Grrundwerte nicht so steigen
und die Objekte nicht so zum Spekulations-
gegenstand werden zu lassen. Und diese
Normen und Massregeln sollten nicht nach
den Interessen, Wünschen. Prätensionen und
der puren Gewinnsucht des aus seinem
Eigentumsrecht falsche, viel zu weit gehende
Rechte ableitenden Grund- und Gebäude-
eigentümers unterbleiben oder danach zu
sehr gemildert werden. Die berechtigten
gesellschaftlichen Interessen müssten vollends
hier voran stehen.
9. Zweite Bodenkategorie: Berg-
werksbbden. Der Bergwerksboden und
seine Bearbeitung sind oben schon in Kürze
charakterisiert worden. Hinzuzufügen ist
noch, weil auch von Bedeutung für die
Bechtsfragen , dass neben dem Umstand
»gegebener« Mengen irreproducibler (un-
organischer) Naturstoffe in bereits natur-
fertiger, einigermassen gebrauchswertiger
Form die Art der Zugänglichkeit und die
Qualität der Stoffe, die doppelartige Arbeit
der Auffindung (Aufsuchung) am Fundort
und der Gewinnung daselbst und der Um-
stand in Betracht kommen, dass die betreffen-
den Stoffe meistens sogenannte natürliche
Erwerbs-(Produktions-)mittel sind, nur aus-
nahmsweise, wie Salz, Steinöl, ein Teil der
Mineralstoffe, bereits natürliche Genuss-
mittel der Konsumenten.
Auch für die allein hier zu unserer Be-
trachtung gehörigen allgemeinsten volks-
wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen
der Rechtsordnung dieses Bodens sind die
natürlichen Lagerungs-, Verteilungs- und
dadurch bedingten Zugänglichkeitsverhält-
nisse jener Stoffe im Boden, in horizontaler
wie vertikaler Richtung, die — wenigstens
für unsere geologische Periode, mit der wir
hier natürlich allein zu rechnen haben —
gegebenen Arten, Mengen und Qualitäten
dieser Stoffe und die ökonomisch-tech-
nischen Gewinnungsverhältnisse derselben
von entscheidender Bedeutung.
Die Lagerungs- und Verteilungsverhält-
nisse, insbesondere zunächst schon in geo-
graphischer, horizontaler Beziehung, sind
einigermassen für alle diese Stoffe, insbe-
sondere gerade für einige und darunter
die wichtigsten (fossile Kohlen, metall-
haltige Erze) bekanntlich derartige, dass sich
die Stoffe überhaupt oder in entsprechender
Zugänglichkeit, Menge und Beschaffenheit
nur an bestimmten Stellen des Bodens
in einem Volkswirtschaftsgebieto finden.
Werden sie hier niclit gewonnen, so über-
haupt im Lande nicht. Die Natur selbst
hat also hier bestimmt, was > Bergwerks-
boden« sei, ohne jedoch das nach der hori-
zontalen und vertikalen Verteilung und
Lagerung der Stoffe im Boden immer gleich,
sichtbar oder auch nur leicht bestimmbar
zu machen. Darin liegt der wesentRche
Unterschied von diesem und dem meisten
sonstigen Boden, besonders dem Wohnungs-
und dem agrarischen Boden. Demgemäss
liegt hier ein gesellschaftliches und volks-
wirtschaftliches Bedürfnis, ein allgemeines
Produktionsinteresse vor, die Rechtsonlnung
in Bezug auf den Bergwerksboden so ge-
staltet zu sehen, dass die Auffindung und
Gewinnung der betreffenden Stoffe auf ihren
natürlichen Lagerstätten möglichst gesichert
sei und da, wo es zweckmässig ist, wirklich
erfolge. Das ist ein wesentlich audorer
Sachverhalt als bei dem meisten sonstigen,
namentlich wieder dem agrarischen Boden.
In diesem Sachverhalt liegt der letzte und
entscheidende Grund dafür, dass die Rechts-
ordnung für Bergwerksboden vielfacli seit
Uralters imd sehr allgemein, wenn auch
weder überall noch immer, abweichend von
derjenigen für sonstigen, insbesondei-e
agrarischen Boden nach der geschichtlichen
Ent Wickelung gestaltet woixlen ist Namentlich
enthält sie Handhaben, um eventuell auch
gegen den Willen des privaten Grundeigen-
tümers, d. h. des Oberflächeneigentümers,
eine Auffindung und Gewinnung von Mineral-
stoffen zu ermöglichen und die eine, die
Benutzung zum Bergbau, dann an die Stelle
einer anderen, der bisherigen, der dem
Eigentümer genehmen, z. B. der agrarischen,
zu setzen. Der Wille, die ökonomische und
technische Fähigkeit des Grundeigentümers
soUen also hier nicht entscheidend für den
wirklichen Verwendungszweck und die
wirkliche Benutzung des Bodens sein.
In der Einrichtung des Bergregals
und der Freierklärung des Bergbaues
und in der betreffenden Gestaltung des
Schürf-, Beleih.ungs- und Enteig-
nungsrechts tritt diejenige Rechtsordnung
des Bergwerksbodens in der Rechtsgeschichte
und im positiven Rechte hervor, welche die
Konsequenz der angedeuteten Gesichtsi)unkte
ist und als die naturgemäss angemessenste
und praktisch gut erprobte bezeichnet werden
kann. Sie ist zugleich ein wichtiges und
allgemein interessantes Beispiel für die An-
passung der Rechtsordnung an »die Zwecke
im Recht«. Dass sie nicht die einzig mög-
liche ist, beweist der Umstand, dass wir sie
nicht immer und überall finden und gleicli-
wohl der Bergbau sich auch auf der Grund-
lage anderer Rechtsordnungen entwickeln
konnte, wenn auch wolü meistens mit
grösseren Schwierigkeiten und Hemmnissen.
Auf weitere Einzelheiten, auch auf die
hier besonders naheliegende Frage des
unbedingten Vorbehalts des Bergwerksbo-
Grundbesitz (Bodenrechfsordnung)
809.
dens bezw. der GewiQming von Mineral-
stoffen für die (staatliche) Gemeinschaft und
schon demgemäss weiter einer allgemeinen
»Verstaatlichung« des gesamten Bergbaues
gehen wir hier unter Hinweis auf den Art.
Bergbau (oben Bd. II S. 547 ff.), mit dessen
bezüglichen Ausführungen wir vielfach, aber
nicht durchweg, einverstanden sind, nicht ein.
Nur davon ist hier noch besonders Akt zu
nehmen, dass die erwähnte, uralt historische
Rechtsordnung des Bergbaues (Regal, Berg-
baufreiheit) ein Beleg dafür ist, dass auf
diesem wichtigen Gebiete bereits seit Altere
nicht das »private (Oberflächen-) Grund-
eigentum« herrscht, oder in der üblichen,
aber nicht ganz korrekten Terminologie, dass
dieses letztere weitgehenden Beschränkungen
unterliegt, indem es sich ausdrücklich, .gegen
den sonst üblichen Eigentumsbegriff, nicht
mit auf die im Boden befindlichen iVIineral-
stoffe (aUe oder wenigstens bestimmte wich-
tigste Arten) bezieht.
Eigentümliche Konsequenzen für die Fra-
gen der Rechtsordnung des Bergwerksbodens
folgen aber auch noch aus dem oben ge-
nannten zweiten charakteristischenMoment,
den gegebenen Mengen der betreffen-
den Stoffe in einer Lokalität, in Verbindung
mit der gegebenen specielleren Verteilung,
Lagerung, der davon wieder bedingten Mög-
lichkeit und Schwierigkeit, daher Kost-
spieligkeit der Gewinnung (Zugänglichkeit,
Mächtigkeit, Streichungsrichtung, vertikale
Ausdehnung, Tiefe unter der Oberfläche etc.
der Flötze, der Erzadern). Dazu kommt
auch noch, dass es sich um ungemein wich-
tige, zum Teil unentbehrliche Stoffe (Kohlen,
Eisen, andere Metalle) handelt, deren öko-
nomisch-technische Bedeutung besonders in
unserer Zeit eine ungeahnte geworden ist
(Maschinenwesen, Dampf-, Elektricitätsver-
wendung etc.). Derjenige, welcher tiber den
Bergwerksboden rechtlich verfügt, hat also
beschränkt vorhandene, sich nicht
erneuernde reine Naturgaben, die mit jeder
Fortnahme von der Fundstätte geringer
werden, mithin erschöpf! iche Vorräte
von Stoffen grösster und mit der Entwicke-
lung der Produktionstechnik wachsender
Bedeutung zur Ausbeutung in seiner Hand.
Die Frage der Gewinne und Renten, welche
der Bergwerksboden seinem Besitzer ab-
wirft, tritt durch diesen Sachverhalt wieder
in ein besonderes Stadium, anders als
namentlich beim agrarischen Boden. Für
die Rentenfrage, specieU die Frage der Höhe
der Renten, wird dabei auch der Einfluss
der Zugänglichkeit und der technischen
Gewinnimgsbedingungen der Stoffe auf die
Kosten der Gewinnung besonders wichtig.
Bei gegebenem Bedarfe treten nach der
Verschiedenheit dieser Verhältnisse hier
besonders scharfe FäUe der »Differential-
gnmdrente« hervor, derjenigen, welche aus
der Verschiedenheit der lokalen Gewinnungs-
kosten, wie auch derjenigen, welche aus
der verschiedenen Örtlichen Lage der Berg-
werke zum Absatzorte hervorgehen. Auch
der Einfluss allgemeiner Verhältnisse der
volkswirtschaftlichen Entwickelung, beson-
ders der Kommunikations- und Transport-
mittel, macht sich bei der Schwere, Vo-
luminosität und der Niedrigkeit des speci-
fischen Wertes der meisten Bergwerkspro-
dukte für die Gewinne und Renten des
Bergbaues eigentümlich geltend. Aus dem
allen, vollends in Verbindung mit der
ökonomisch-technischen Unentbehrlichkeit
mancher dieser Produkte (Kohlen) folgt, dass
beim Bergwerksboden leicht wieder in be-
sonderem Grade, nicht immer ganz unähn-
lich wie beim Wohnungsboden, monopo-
listische Verhältnisse zum Vorschein
kommen. Es ist nicht zu leugnen, dass
unter Erwägung aller dieser Umstände der
Bergwerksboden nicht eben als ein geeig-
netes Objekt reinen und voUen Privateigen-
tums einzelner physischer und nichtphysi-
scher privatreohtlicher Personen (Ber^e-
werkschaften, Aktiengesellschaften) erscheint.
Die Mobilisierung des Bergwerkseigentums
mittelst der neueren Gesellschaftsformen,
besonders der Aktie, auch des Cuxes, hat
dies Objekt zum Gegenstande der Spekula-
tion, des Börsenspiels gemacht, wodurch die
Rechtfertigungsgründe privaten Grund-
eigentums hier jedenfalls nicht verstärkt
worden sind.
Die ökonomisch-technischen Gewinnungs-
verhältnisse der Mineralstoffe im Bergwerks-
boden endlich sind so beschaffen, dass schon
im Interesse der möglichst gesicherten Fort-
dauer des Betriebes, der Verhütung un-
nötigen Raubbaues, des Schutzes der oft
besonders gefährdeten Arbeiter etc. eine
gewisse obrigkeitliche Regelung und Beauf-
sichtigimg des Betriebes geboten erscheint,
welche in Verbindung mit Staatseigentum
und staatlichem Eigenbetrieb am besten und
ohne sonst schwer ganz zu vermeidende
Störungen eingerichtet werden können.
Auch ist die ganze naturgemässe Oekonomik
und Technik des Bergbaues und sind die
Bedingungen dafür, der Kapitalaufwand, die
Festlegimg eines grossen Teils des Kapitals
in stehenden Anlagen, das öftere Warten-
müssen auf Rente bei kostspieligen Voraus-
lagen, gewisse gemeinsame grössere An-
lagen für einen ganzen Bergwerksdistrikt
(Wasserwerke) u. dgl. m. derart, dass die
sonstigen wirtschaftlichen und technischen
Vorzüge des Privateigentums und der ge-
wöhnlichen Privatwirtschaft vor dem öffent-
lichen, dem Staatseigentume und dem Staats-
betriebe hier zurücktreten und eher umge-
kehrt specifische Vorzüge der letzteren sich
810
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
zeigen. Der grosse, oft massgebende Ein-
fluss der Konjunkturen für den Wert (Preis)
der Bergwerksprodukte, zumal unter unseren
heutigen Verhältnissen, fuhrt bei privatwirt-
schaftlicher Organisation des Bergbaues
wegen seines Einflusses auf die den Be-
sitzern zufallenden, ökonomisch uiiveixlienten
Gewinne auch hier wiederum, ähnlich, wenn
auch selten so stark wie beim Wohnimgs-
boden, zu misslichen Konse<[uenzen des
Privateigentumsprincips.
Wo, wie bei Kohlen und im wesentlichen
bei Salz, sofort oder nach einfachen Verar-
beitungsprozessen fertige, unmittelbar für
den Verbrauch geeignete Produkte gewonnen
werden, wo es sich, wie bei den genannten
Produkten, um Gegenstände allgemeinster
volkswirtschaftlicher Bedeutung handelt,
deren privatwirtschaftliche faktische Mono-
polisierung durch private Grossbetriebe mit
ihren Kartellen etc. besonders bedenkliche
Folgen hat, wo, wie vielfach bei Salz, eine
Verbrauchssteuer in Monopol- oder sonstiger
Form sich anschiiesst, wo die Grossbetriebs-
koncentration aus ökonomischen und tech-
nischen Gründen besonders erwünscht ist,
ergeben sich wiederum ebenso viele Gründe
für Staatseigentum und meistens auch für
Staatsbetrieb. Die Frage liegt insofern wohl
im ganzen zu Gunsten dieser beiden bei
Kohlen und Salz, mehr als bei Erzen.
Denn diese bedürfen vielfach an Ort und
Stelle gleich einer Verhüttimg und die
daraus gewonnenen Produkte, die Metalle,
imterliegen, zumal bei unseren heutigen
Kommunikations- und Handelsverhältnissen,
mehr dem Spekulationseinflusse beim Ab-
satz, in welchen Fällen immer der Betrieb
durch öffentliche Wirtschaften , Behörden
des Staates etc. besondere Schwierigkeiten
bietet
Wo der Bergwerksboden indessen im
Privateigentum der physischen Personen
und privatrechtlicher nicht-physischer wie
der Erwerbsgesellschaften bleibt, da ist
vollends wenigstens, wie aus dem Gesagten
impHcite folgt, eine Beschränkung der
A^erfügmigsbefugnisse, insbesondere auch bei
der Benutzung, beim Bergwerksbetrieb, eine
demgemässe staatliche Aufsicht nach
den natürlichen ökonomisch -technischen
Eigenschaften dieses Privateigentumsobjekts
dringend geboten. Zu verhüten wird
namentlich auch sein — ein den Verhält-
nissen der Baustellen des Wohnungsbodens
analoger Fall — , dass die Verleihung von
Bergrechten (Grubenfeldern), dem ganzen
Zweck der eigentümlichen Gestaltung des
Bergrechts zuwider, nicht zu eigennützigen
Manipulationen , spekulativem ünbebaut-
Liegenlassen, übertriebener Besitzanhäufimg
in einer Hand, Ausnutzimg des verliehenen
Rechts nicht zum Betriebe, sondern zur
teueren, gewinnbringenden Weiterbegebung
an Dritte, insofern wieder zum Bezug von
Einkommen und Vermögen ohne wirtschaft-
liche Leistungen bloss in der Konsecjuenz
des Piivateigentumsrechts, führe (s. die im
Art. Bergbau (a. a. 0.) geschilderten miss-
lichen Verhältnisse in betreff dieses Punktes).
10. Dritte Bodenkateg^orie : Der na-
türliche (wilde) Weide-, Wald-, Ja^d-
nnd ähnlicher Boden. Diese dritte der
oben unterschiedenen Bodenkategorieen und
die darauf stattfindende Arbeit ist ebenfalls
oben schon kurz charakterisiert worden.
Als auch für die Rechtsfragen beachtens-
wert ist noch hinzuzufügen, dass die be-
treffenden organischen Stoffe, wilde Pflan-
zen und Tiere, zum Teil gleich unmittel-
bar »fertige« natürliche Genussmiltel,
namentlich Nahrungsmittel, und für
gewisse Völker Hauptnahrungsmittel sind.
Sie gelangen dann durch die Arbeit des
Auffindens, Aufsuchens am Standort imd
der Aneignung, in der specieDen, vornelim-
lich nach den Objekten, aber auch mit nach
den Bodenverhältnissen sich richtenden Form,
des Sammeins, Ijesens, Jagens, Fällens, der
Aufzehrung durch das weidende, beauf-
sichtigte Vieh etc. in die Verfügung des
Menschen. Natürliche Fischerei-
gründe in den heimischen Gewässern
schliessen sich an diese Bodenkategorie zu-
nächst an.
Auch hier sind bezüglich der Gestaltung
der Rechtsordnung für den betreffenden
Boden und für seine Benutzung regelmässig
von entscheidender Bedeutung die natür-
lichen Verhältnisse der Bildung und Er-
neuerung der bezüglichen Stoffe, der Pflanzen
und Tiere, der Verteilung dieser Objekte
nach Stand- oder Aufenthaltsorten sowie die
durch die Bodenverhältnisse, namentlich auch
iie horizontale und vertikale Bodenkonfigii-
ration und durch die Natur der einzelnen
Objekte bedingten ökonomisch-technischen
Auffindungs- und Aneignungsarten und die
dabei aufzuwendende Arbeit. Die volks-
wirtschaftliche Beurteilung einer konkreten
Rechtsordnung muss. sich wesentlich nach
dem Masse der Anpassung an die ange-
deuteten Verhältnisse und Umstände richten.
Da dieselben Gnindstücke gleichzeitig
mehreren hierher gehörigen Verwendungen
dienen können, z. B. der (nomadischen) Vieh-
wirtschaft und Jagd, der Holzge'winnung,
Viehweide, dem Pflanzen- und Beerensam-
meln und der Jagd, oder auch Boden, welcher
vornehmlich anderen Zwecken dient, mit
für einzelne der eben genannten Zwecke in
Betracht kommt, z. B. der landwirtschaft-
lich benutzte Boden zu Zeiten für die Vieh-
weide (Brachweide, Stoppelweide) und für
die Jagd, ebenso der Kulturwaldboden, so
entstehen aber leicht Kollisionen zwischen
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
811
den verschiedenen Benutzungen. Mit deren
Ausgleichung und deingemäss rait der ent-
sprechenden Regelung der Benutzung hat
es daher die Rechtsonlnung für diesen I3oden
ebenfalls zu thun. Die schwierige Aufgabe
in dieser Hinsicht wird dadurch erleichtert,
dass nach verschiedenen historischen
Phasen der gesamten volkswirtschaftlichen
Entwickelung allgemein imd wieder specieU
an den und den in Betracht kommenden
Oertlichkeiten der privat- und volks-
wirtschaftliche Wert der verschiedenen
Benutzungsarten wechselt, z. B. derjenige
der Benutzung des Bodens zur Jagd, zum
Viehtrieb hinter dem der Benutzung zur
Landwirtscliaft, zur Forstwirtschaft mit
höherer Entwickelung zurilcktritt. Aber teils
die jeweils gegebene Gestaltung der Eigen-
tums- und Nutzungsrechte, teils nicht- wirt-
schaftliche Rücksichten, wie bei der Jagd,
stellen sich einer Regelung nach Massgabe
des volkswirtschaftlichen Interessengesiclits-
punktes häufig scharf hemmend entgegen,
wie die Konflikte zwischen fremden Jagd-
rechten und Eigenturasrechten, zwischen
letzteren und Viehweiderechten zeigen.
Unter Verweisung auf die einzelnen be-
züglichen Artikel dieses Werkes für die
hierhergehörigen Specialfragen der Rechts-
ordnung (u. a. Jagd, Fischerei, Forsten etc. etc.),
werden hier nur einige, dieser ganzen Boden-
kategorie mehr oder weniger gemeinsamen
natürliclien imd von der darauf stattfindenden
menschlichen Gewinnungsarbeit abhängigen
gemeinsamen ökonomisc»h-technischen Eigen-
tümliclikeiten hervorgehoben, welche für die
allgemeinen Prineipionpimkte der Rechts-
ordnung dieses Bodens wichtig sind.
Da wir es hier mit spontaner Re-
produktions thätigkeit und demgemäss
-kraft der Natur zu thun haben, so sind für
die menschliche Aneignung der betreffenden
Stoffe und für die Gestaltung der Rechts-
ordnung bezüglich des Bodens und seiner
Benutzung die Beding^mgen, unter denen
die Natur diese Thätigkeit überhaupt und
fortdauernd ausübt, von besonderer Bedeu-
tung. Klima, Beschaiffenheit, Fnichtbarkeit des
Bodens, Fortpflanzungsverhältnisse, Lebens-,
Nahrungs- und Entwickelungsbedingimgen
der Pflanzen imd Tiere, Zeitdauer der Ent-
wickeln ngsstadien u. dgl. m. sind daher hier
von Wichtigkeit. In verschiedenem Grade
nach allen diesen Verhältnissen und wieder
verschieden nach den einzelnen Objekten,
um die es sich für die menschliche Aneig-
nung handelt, gestatten doch alle diese Stoffe
(Pflanzen und Tiere) eine regelmässige und
dauernde Ausnutzung durch den Menschen
nur bis zu einem gewissen Grade. Geht
die Ausnutzung weiter, so stockt die natür-
liche Reproduktion, schliesslich erfolgt dabei
eine dauernde Verminderung der Bestände,
ein Aussterben der Pflanzen und Tiei-e.
eventuell auch ein Auswandern der letzteren.
Die steigende Ausnutzung auf demselben
Gebiete ist regelmässig schon mit grösseren
Kosten verbunden — das Hervoilreten des
sogenannten ^ Grund- und Bodengesetzes«,
des »Gesetzes der Produktion auf Land<
auch hier. Die Interessengegensätze der
auf demselben Gebiete (Jagd-, Fischerei-
reviere, Weideland) der Aueignimg der
Naturstoffe nachgehenden Menschen oder
Menschengruppen (Stämme, Geschlechter)
verschärfen sich um so mehr, da die be-
treffenden Stoffe vornehmlich zur Ernäh-
rung dienen und \ieUeicht die Hauptnah-
rung bilden. Uebervölkerung droht leicht,
selbst bei sehr dünner Volksdichtigkeit, bei
einiger lokaler Vermehnmg oder Zusammen-
strömung von Menschen, und zumal bei
geringer Reproduktionskraft der Natiu* in
Bezug auf jene Stoffe und bei lokal oder
temporär ungünstigen äusseren Verhältnissen,
so der Witterung. Wie diese Umstände
dann zur Sesshaftigkeit und zum Ackerbau
drängen, wenn eine Weiterentwickelung
möglich werden soll, um die spontane, nicht
hinlänglich ergiebige Natur zur Reproduk-
tion der Pflanzen etc. anzuleiten, so be-
dingen sie, solange dieser Schritt nicht ge-
than ist oder Auswanderung, Fortzug der
Menschen nicht abhilft, aber auch wo es
sich auch hinterher, wie bei Viehweiden,
W^ald, Jagd, Fischerei, noch um Erhaltung
der rein spontanen Natiulhätigkeit handelt,
eine Rechtsordnung, welche den erwähnten
Verhältnissen gemäss die Fortdauer dieser
spontanen Naturthätigkeit verbürgt und die
Ausnutzung der Naturstoffe regelt.
Daher findet sich hier zu diesem Zweck
teils statt des Privateigentums am betreffen-
den Boilen Gemeineigenfhm von grösseren
und kleineren lokalen Gemeinschaften, Völ-
kern, Stämmen, Geschlechtern, Ortschaften
für die Wald-, Weide- und die Jagdreviere
der Nomaden- und Jägervölker, auch noch
bei den Völkern primitiverer fester Ansiede-
lungen und Ackerbaus für dieselben Boden-
stücke rait genauer Regelung der Nutzungs-
rechte der Familien und einzelnen im Ge-
meinwald, auf der Gemeinweide, bei den
Feldersystemen mit ewiger Weide. Und
auch wo der betreffende Boden als Acker-
land, Wiese, Fönst etwa bereits zu melu*
oder weniger vollständigem Privateigentum
wenigstens für seine Hauptbenutzungsail;
geworden ist, verbleiben wolil für die ört-
lichen Gemeinschaften und die ihnen Ange-
hörigen auch auf diesen Grundstücken genau
geregelte gemeinsarae Nutzungsrechte der
Viehweide, des Holzlesens, des Pflanzen-
sammelns, der Jagd, Fischerei. Durch ge-
setzliche Schonzeiten für Wald, Weide,
Jagd, Fischfang, durch bezügliche obrigkeit-
812
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
liehe Aufsicht, Strafbestiuunungen ^^i^d den
Verhältnissen und Bedingungen der spon-
tanen Reproduktionsthätigkeit und der dauern-
den Reproduktionskraft der Natur Rechnung
getragen. Das Privateigentum bleibt daher
hier oder wird selbst wieder melir ein be-
schränktes, gemäss dem gesellschaft-
lichen und volkswirtschaftlichen Interesse
an der Gewinnung jener Stoffe und an der
Erhaltung der natürüchen Bedingmigen da-
für. Denn auch die Bestimmungen über
Schonzeiten erscheinen in einer Hinsicht als
solche Beschränkungen des Privateigentums
an dem bezüglichen Boden, soweit sie den
Eigentümer selbst treffen, so auch bei der
Jagd auf eigenem Boden, wo das Jagdrecht
Pertinenz des Grundeigentums ist.
Natürlich verliert aber diese ganze diitte
Bodenkategorie in älteren, allgemein besie-
delten Ländern, wie den- unsrigen in heu-
tiger Zeit, ihre selbständige Bedeutung fast
ganz. Der Weideboden wird ein TeÜ des
im weiteren Sinne landwirtschaftlichen, der
wilde Wald (Urwald) wird Kulturwald, die
Jagd wird wesentlich Yei'gnügungssache und
tritt auch als Faktor für die Ernährung etc.
hinter wichtigeren Verwendungen des Bo-
dens, auf der sie stattfindet, zurück.
11. Vierte Bodenkateg^orie : Der land-
wirtschaftlich nnd (kultnr-) forstlich
benntzte Boden. Diese vierte Boden-
kategorie und die auf ihr stattfindende Ar-
beit und Kapitalverwendung ist ebenfalls
oben bereits kurz chai-akterisiert worden.
Aus dem dort Gesagten, das hier noch etwas
weiter auszuführen ist, folgt, dass aus natür-
lichen und ökonomisch-technischen Gründen
die Fragen der Rechtsordnung hier wesent-
lich anders als bei den drei ersten und
auch als bei der fünften Kategorie liegen,
insbesondere auch als bei der dritten, wenn
es sich auch um dieselben zu gewinnenden
Stoffe und um die principiell gleiche Mit-
wirkung des Bodens und der Naturkräfte
wie bei dieser dritten handelt.
Principiell ist die Stellung der mensch-
lichen Arbeit zum landwirtschaftlichen und
zum forstwirtschaftlichen Boden dieselbe.
Aber dem Grade nach verbleiben definitiv
zwischen beiden hier erhebliche Verschieden-
heiten. Die spontane Naturthätigkeit spielt
auch im Kulturwald wie in der mit dem
landwirtschaftlichen Boden etwa verbundenen
Naturweide dauernd eine grössere Rolle,
Menge und Quahtät der menschlichen Ar-
beit, Kapitalaufwand treten zurück, ver-
glichen mit den Verhältnissen der Land-
wirtschaft.
Unter den natürlichen und ökonomisch-
technischen Verhältnissen des landwirtschfift-
lichen Bodens und seiner Bearbeitung sind
nach definitiver Ansiedelung und im wesent-
lichen endgiltiger Bestimmung derselben
Grundstücke zum Ackerbau folgende Punkte
auch für die allgemeinen Fragen der Rechts-
ordnung dieser Bodenkategorie von beson-
derer Bedeutung.
Die agrarische Arbeit teilt sich notwen-
dig in vier Stadien, von denen mindestens
die zwei letzten eine sich immer regelmässig
wiederholende Arbeit und damit verbunden
eine sich erneuernde Kapitalverwendung) er-
heischen, während im ersten, zum Teil auch
im zweiten, im ganzen mehr eine einmalige
Arbeit imd Kapitalver wen düng stattfindet:
1. Urbarung; 2. Erhaltung und even-
tuell weitere künstliche Verbesserung der
Bodenkraft und ihi'er Wirksamkeit, d. h.
der Fähigkeit des Bodens, Pflanzen zu
tragen und zu ernähren durch dauernd wir-
kende, meist grössere Meliorationen (z. B.
Ent- und Bewässerung); 3. regelmässige
periodische (meist jährliche) Bearbeitung
des Bodens, um ihm die jeweils verlangten
Produkte abzugewinnen (Feldbestellung,
Düngung, Pflügen, Besämung,Bepflanzung etc.
des Bodens und Pflege während der Vege-
tationszeit) ; endlich 4. Einbringung und Auf-
bewahrung der Ernten. Von der Vornahme
und richtigen Ausführung dieser vier Stadien
der Arbeit und Kapitalverwendung, w^elche
zeitlich auf einander folgen, liängt es ab, ob
und wie weit der agrarische Boden seine
land- und volkswirtschaftliche Fimktion
richtig erfüllt Besonders wichtig ist dabei
die Thatsache, dass, von Einfuhren von
Agrarprodukten aus anderen Ländern ab-
gesehen, in entwickelten Verhältnissen vor-
nehmlich nur der agrarische Boden die er-
forderlichen mensclilichen und tierischen
Hauptnahrungsmittel und wesentliche Teile
der Gewerksstoffe liefert, also von der Er-
füllung jener Funktion die Lebens- und Be-
schäftigungsweise so\vie die Vfermehrbarkeit
der Bevölkerung abhängt. An die Rechts-
ordnung ist daher die Anforderung zu
stellen, dass sie die gute Erfüllung dieser.
Funktion des agrarischen Bodens möglichst
sichert.
Solange das der neuesten Naturwissen-
schaft und Technik allerdings wohl bis-
weilen schon — nicht einmad bloss mein-
in ihren Pliautasieen, sondern selbst in theo-
retischen Erörterungen auf wissenschaft-
licher Grundlage — vorschwebende Problem
nicht gelöst ist, die agrarischen pÜanzhchen
Nahrungsmittel und Gewerksstoffe unmittel-
bar aus den Ur- und Grundstoffen der
Natur, ohne andere Mitwirkung des Bodens
denn als Standort und eventuell Mit Lieferant
der Grundstoffe, aber ohne Vermittelung
der niu: landwirtschaftlich gewonnenen
Pflanzen, also w^ie in der Industrie, herzu-
stellen, — und bis dahin hat es ja wohl
noch gute WeUe! — ist die Menschheit
darauf angewiesen, in den erwähnten vier
Grundbesitz (Bodeurechtsordnung)
813
Stadion der landwirtschaftlichen Arbeit den
agrarischen Boden zu benutzen, um Pflanzen
zu gewinnen. Wir haben es dabei also im
wesentlichen mit absoluten ökonomisch-
technischen Kategorieen zu thun. Daraus
folgt auch für die Rechtsordnung des agra-
rischen Bodens eine weitgehende »Natur-
gebundenheit<.y nicht nur mehr als in
Industrie und Handel, sondern auch als in
"Wohnungs-, Bei-g-, Wegebau. An diesem
Sachverhalt ändert es auch nichts, dass
auch auf dem agi'arischen Boden natur-
wissenschaftliche und technische Fortschritte
die menschliche Arbeit produktiver in Be-
zug auf Menge, Art, Güte und (natürliche)
Produktionskosten der Produkte macheu
können. Nach der naturgegebenen Art der
Mitwirkung des agrarischen Bodens an der
Hinüberführnng der ürstoffe in die ge-
brauchswertige pflanzliche Form sind die
praktischen Erfolge solcher Fortschritte
auch beschränkter. Mit einzelnen ohnehin
nur si)ärlich anwendbaren Prozeduren der
künstlichen Lufterwärmung, des Treib- und
Gewächshausbetriebs, womit wohl Sozialisten
(Bebel) argumentieren, ist hier wenig zu be-
weisen. Das gerade in der Landwirtschaft
bei der Benutzung dei-selben Grundstücke
so deutlich hervortretende > Gesetz der Pro-
duktion auf Land«, wonach die Produktions-
kosten, der Arbeits- und Kapitalaufwand
regelmässig stärker wachsen als die Erträge,
lässt sich nicht aufheben. Wenn auch wohl
seine Wirksamkeit durch solche Fortschritte,
ohnehin übrigens gewöhnlich nur mit wach-
senden Schwierigkeiten, hinausschieben. (8.
den All. Landwirtschaft.)
Mit diesen Verhältnissen, sodann mit den
Bedürfnissen nach verschiedenen Arten und
Qualitäten der Bodenprodukte, welche auch
meistens nicht nach einander innerhalb der
vom Klima etc. bedingten pflanzlichen Vege-
tationsperiode auf denselben Grundstücken
in demselben Jahre, wenigstens in unseren
KJimaten, gewonnen w^ei-den können, hängt
aber auch noch ein anderer, für die Rechts-
fragen wichtiger Umstand zusammen: die
räumlich weite und grosse Ausdeh-
nung der agrarischen Bodenflächen und
die zerstreu teLage der Land wii-tschaf ts-
betriebe, der Gehöfte, Wohnplätze etc., von
denen aus jene Fläc;hen bewirtschaftet wer-
den. Allerdings sind hierauf die konkreten
An- und Besiedelungsverhältnisse, so das
Dorf- und Ei nzelhof System, die geschicht-
liche Grundbesitzverteilung, die Wahl und
Anlageart der Wohnplätze, auch die ört-
liche Lage der Absatzorte städtischer, in-
dustrieller etc. Art, wohin die Agrarprodukte
zu bringen sind, von grossem Einfluss. Eine
Aendenmg aller dieser Momente kann auch
eine andere Gestaltung der agrarischen Bo-
denflächen und der Landwirtschaftsbetriebe
herbeiführen und zweckmässig, selbst not-
wendig machen. Der Sozialismus denkt —
und muss folgerichtig denken — bei seineu
Ideeen einer Beseitigung des ländlichen pi*i-
vaten Gnindeigentuniis an eine tiefgehende
Aendenmg dieser Dinge. Aber auch er kommt
über die nicht durchaus absolut, jedoch in
weitem Masse vorhandene >Xaturgebunden-
heit'< aller dieser Verhältnisse nicht hinaus.
Ist die geschichtliche An- und Besiedelungs-
weise und Gnmdbesitzverteilung entscheidend
für die Auswahl, die Ausdehnung der agra-
rischen Bodenflächen und für die Gestaltimg
der Betriebe, die Lage der W^irtschaftshöfe,
von denen aus der einzelne Landwirtschafts-
betrieb erfolgt, so ist auch umgekehrt ge-
rade das alles massgebend vom Vorlianden-
sein geeigneten agrarischen Bodens, »der
ganzen horizontalen und vertikalen Boden-
konfiguration, der örtlichen Lage und Be-
schaffenheit der Grundstücke (Fruchtbarkeit,
Wassernälie, Bodenart und Zusammensetzung,
Geeignetheit für die und die Produkte, Wie-
senbau etc.), der Lage zu den Absatzorten
(Städten) abhängig und in der konkreten
geschichtlichen Entwickelung davon immer
abhängig gewesen. An den so überkom-
menen, im einzelnen ja gewiss mannigfach
zufälligen Verhältnissen, — auf die dann
auch die Entwickelung des privaten länd-
lichen Grundbesitzes mit eingewirkt hat und
keineswegs immer landwirtschaftlich-tech-
nisch und volkswirtschaftlich günstig (über-
mässige Bodenzersplitterung, zeretreute Lage
der Parzellen, ungünstige Lage zum Wii-t-
schaftshof, wie in der deutschen dörflichen
Agi'arverfassung [Hufen mit Gewannen und
Feldstreifen, umgekehrt, w^ie zum Teil im
deutschen Osten, wieder zu starke Koncen-
tration zu zu grossen, auch wohl schlecht arron-
dieii;en Besitz- und Betriebseinheiten etc.)|
— , kann und darf mitunter sicherlich nach
ökonomisch-technischen Rücksichten, die frei-
lich hier nicht allein in Betracht kommen
dürfen und nicht einmal können, manches
verbessert werden. Aber selbst wenn bei
einer Beseitigung des agrarischen privaten
Grundeigentums nm- solche Rücksichten für
die ne'ue Einrichhmg der Landwirtschafts-
betriebe genommen werden könnten, — was
unter anderem ein teilweises Verlassen der
bisherigen Gehöfte, Dörfer einen entsprechen-
den Verlust an Nationalkapital und neuen
Kapitalaufwand für Neuanlage der Woh-
nungen, Wirtschaftsgebäude etc. erheischte,
wie im agrarischen System des soge-
I nannten Ausbaues (der ^>Vereinödung«) der
Höfe auf die Feldflur, aus dem bisherigen
Dorfe fort, wo es sich schon schwierig genug
gezeigt hat — : im wesentlichen müsste
man doch an der weiten Ausdehnung der
Acker- und Wiesenflächen, an der zerstreuten
örtlichen Lage der Betriebe, Wohnorie und
814
Grundbesitz (Bodenrechtsordnung)
Wohnungen der ländlichen Bevölkerung fest-
halten. Denn das ist eben »naturgebunden«,
wird bedingt dui*ch die Natur des agrarischen
Bodens, die notwendig von Lage und Be-
schaffenheit mit und massgebend mit be-
stimmte Walil der ländwirtschaftlich be-
nutzten Grundstücke sowie durch die Un-
möglichkeit, auch bei höchst intensiver Wirt-
schaft den Betrieb auf wesentlich kleihei^e
Bodenflächen als bisher zu koncentrieren,
was eben durch die Wirksamkeit des ^Gmnd-
und Bodengesetzes« gehemmt wird.
Mit allen diesen Yei-hältnissen und mit
den sonstigen Bedingimgen der agrarischen
Bodenarbeit hängen alsdann aber wieder als
Wirkung — und freilich darauf auch wie-
der als Ursache, also in Wechselwirkung
stehend — gewisse Verhältnisse und Eigen-
tümlichkeiten der ländlichen Bevölke-
rung zusammen, welche von grosser Be-
deutimg für die Bodenrechtsfrage sind.
Diese Bevölkerung ist unvermeidlich
als Leiter, Mitleiter, Arbeiter aller Art im
Landwirtschaftsbetriebe und demgemäss auch
als Famüienangehörige dieser Perjonen mehr
oder weniger weit zerstreut über das ganze
Bodengebiet und kann wegen der entschei-
denden Bedeutung der Lage für die zu be-
bauenden Grundstücke, der Entfernungen
der Wohnplätze und Gehöfte von diesen,
nur massig lokal koncentriert leben, auch
bei intensiver, mit kleineren Betriebsfläehen
arbeitender Kultur. Die naturgegebene Nach-
einanderfolge der agrarischen Arbeit hemmt,
neben anderen Umständen, wie wiederum
namentlich der gebotenen räumlichen Aus-
dehnung der Feldarbeiten, die Arbeitsteilung
imter den Hilfskräften weit mehr iils in der
Industrie mit ihrem Nebeneinander der
Arbeiten. Aber eine Verminderung der
Arbeiter geht daraus bei der räumlichen
Ausdehnung und VeTteilung der Oi>erationen,
der im Vergleich mit der Industrie nur be-
gi^enzteren Ersetzbarkeit der menschlichen
Arbeit durch Naturkräfte imd Maschinen in
der Landwirtschaft wieder nicht in dem
Masse wie unter gleichen Verhältnissen in
der Industrie hervor. Das Arbeiterpersonal
muss auch an die eigentümliche agnuische
Arbeit gewöhnt, muss .•>wetterliart<'. sein otc.
Städter, Industriearbeiter sind wenig brauch-
bar dafür. Daher doch ein naturgcbun-
d e n e r grosser Bedarf an höheren und nie-
deren Arbeitskräften aller Art für den Acker-
bau, von Mensclien, die dauernd auf dem
Lande leben müssen, und damit wieder die
Notwendigkeit, dass von der Gesamtbevölke-
rung eines Landes, wenigstens solange der
inländische Boden der Hauptlieferant der
agrarischen Nahruogs- und Gewerksstoffe
ist und sein und l)leiben muss, ein erheb-
licher Teil , auch im lieutigen industriellen
West- und Mitteleuro{)a n(jeh öfters die
Hälfte und mehr, auf dem Lande oder iu
kleinen Land- und Ackerstädten lebt und
leben muss. Je nach Bodenart, Kultur, Be-
triebssystem, auch nach Besitz- und Be-
triebsgrössen und -Verhältnissen ergel>en
sich z warVerschiedenheiten in betreff der länd-
lichen Bevölkerung, ihrer Zahl, Art, Bildung,
Fachfähigkeit, Arbeitslust, mitspielenden psy-
chischen Motive. Bei intensivei-er Whlschaf t
steigt der Bedarf an Zahl und der Anspruch
an Leistungsfähigkeit und Tüchtigkeit der
Arbeitskräfte aller Art. Ein relativ stärkei'er
Ersatz von Arbeitern durch Maschinen und
dergleichen ist aber gerade bei vielen Special-
kulturen intensiverer Wirtschaft nur in ge-
ringem Grade, meist weniger als bei den
grossen allgemeinen Kulturen (Körnerbau)
möglich. Auch in der Viehwrtschaft kann
die Mascliine vornehmlich nur bei der Ver-
arbeitimg des Futters, der Herstellung ein-
zelner Viehprodukte (Butter, Käse, Fleisch-
hackerei und dergleicnen mehr) Verwendung
finden. So wird wiederum eine starke Be-
völkerung durch die ländliche Arbeit und
auf dem Lande gebunden.
Die örtliche Zerstreuung der ländlichen
Arbeiten und Arbeiter über grössere Bodeii-
f lachen erschwert dann die Leitung und Be-
aufsichtigung und bedingt die Wirksam-
machung anderer psychis(;her Motive bei
den Bodenbearbeitern als in der Industrie
und als zum Teil auch bei anderen Boden-
kategorieen. Auch das ist wichtig für die
Regelung der Rechtsordnung des agTarischen
Bodens und des ländlichen Arbeiterrechts.
Die geringere Möglichkeit der Betriebskou-
centration, die zwar auch hier vorhandenen,
aber geringeren Vorteile des Grossbetriebes,
welche hier auch durch specifische Nach-
teile desselben und specifische Vorteile des
Kleinbetriebes mehr oder weniger, bei ge-
wissen Kulturen völlig aufgewogen werden,
sind wiederum Punkte von Bedeutung für
die Fragen der Rechtsordnung. Die Auf-
saugung, Verdrängung der Mittel- und Klein-
betri(»be auch bei Jändlichem Privateigentum
droht nicht in gleichem blasse wie in aude-
i-en Fällen, und diese Betriebe stehen an
Leistungsfähigkeit nicht so allgemein zurück,
wie sonst wohl in dov Industrie etc., mehr-
fach selbst voran.
Die naturgebundene Lebens- und Be-
schäftigungsweise der ländlichen Bevölke-
rung übt nun wieder einen cntseheidendeu
S2)ec-ifi sehen Einfluss auf die physischt^ und
])sy einsehe Art, auf Charakter, Denken,
bYdden , Wollen, sittliclie und religiöse An-
schauungen, kurz auf das ganze Wesen
dieser Bevölkerung aus. Die körj)orlieh
härtere und nu'ihsaniere Arbeit ist doch viel-
faeh i)hysiseh und sittlich gesunder als die
städtiseh-industriello. Die ländliche Bevöl-
kerung bekommt ihren bckminten au sge-
Grundbesitz (Bodenrechtsordnuiig)
815
prägten Typus, der sich zwar nach der
sozifiden und Arbeitsstellung, nach Besitz
und Bildung der einzelnen, der Familien,
Sippen, Geschlechter, daher in letzter Linie
vornehmlich nach den Grundbesitzverhält-
nissen, etwas auch nach den Bodenkulturen
imd Betriebssystemen differenziert und
ändert, aber doch als ein allen gemeinsamer
Gnindtypus verbleibt und im ganzen sich
wenig und nur sehr langsam ändert.
Dank diesen Verhältnissen wird aber
auch die ländliche Bevölkerung so wichtig
für die ganze Bevölkerung und ffir den
Staat, sie bildet die grosse Reserve mensch-
licher Kraft, physischer wie psychischer, auch
geschonter Nerven, den Jungbrunnen zur
Rekrutierung und Erneuerung der städtisch-
industriellen Bevölkenmg, sie liefert für so
vielerlei Zwecke das geeignetste Menschen-
material, auch in der höhereii wie niederen
Kriegs- und Friedensarbeit der Nation, in
der Leitung der Staatsgeschäfte etc., wie in
der Kriegsführung, vom »Junker« bis zum
letzten Ackerknecht. Daher die Wichtig-
keit, die Bodeurechtsordnung so zu gestal-
ten, um diese Landbevölkeriuig möglichst
tüchtig luid leistungsfähig für die landwirt-
schaftliche Arbeit zu machen und zu erhal-
ten, aber ihr auch zu ermöglichen, eine
solche weitere Funktion für das ganze
Volksleben auszuüben. Die Bodenrechts-
ordnung, die Agrarverfassungen bei Privat-
eigentum, die Normen des Besitz-, Erb-,
Schuld-, Produktenabsatz-, Markt-, Zoll-
rechts etc. erlangen eben deshalb hier eine
gleichmässig gix)sse Bedeutung für das land-
und volkswirtscliaftliche Produktionsinteresse
wie für die höchsten Interessen des ganzen
Volks- und Staatslebens,
Und nf\ch diesen Gesichtspunkten sind
die betroffenden Fragen in erster Linie zu
beurteilen und eventuell zu entscheiden.
Die »Vorteüungsinteressen«, die Grundren-
tenverhältnisse und Verwandtes fallen ge-
wiss auch hier ins Gewicht, aber doch erst
in zweiter I^nie. Bedenken, welche aus
ihnen etwa abgeleitet werden, können auch
für Fragen der Rocht»ordnung, der Agrar-
verfassung ei'st entscheidender mit in Be-
tracht kommen, wenn andei*s das Produk-
tionsinteresse und jene allgemeinen Inte-
ressen gesichert oder wenigstens nicht
gefährdet erscheinen. Ein (lesichtsj)unkt,
welcher namentlich in der Frage: Privat-
eigentum oder Gemeineigentum am Boden,
wichtig wird und trotz der aus den
Grundrenten Verhältnissen i^twa entnomme-
nen Bedenken im ganzen für ländliches, zu-
mal mittleres und kleineres , bäuerliches,
aber doch aucli in gewissem Umfang und
unter gewissen besonderen Bedingungen für
grossgr und besitzliches, in beiden
Fällen, zumal im etzteren freilich dann auch j
ftir selbstbewirtschaftetes Privat-
eigentum spricht.
Das Grundrentenproblem tritt in
seiner Bedeutung für den Verteilungsprozess
aucli beim agrarischen Boden hervor, aber
meistens dem Grade nach nicht so stark
als beim Wohnungsboden. Roh- und Rein-
erträge, Produktionskosten, Werte hängen
auch hier bei den einzelnen Grundstücken
in erheblichem Masse von der Boden be-
schaffenheit und der dadurch bedingten
Fruchtbarkeit, ferner von der örtlichen Lage
— zum Wirtschaftshofe, von dem aus die
Felder bewirtschaftet werden, zum Bezugs-
orte der Verarbeitungs- , Düngstoffe etc.,
zum Absatzorte der Produkte — ab. Die
aus diesen Verhältnissen sich ergebenden
»Fruchtbarkeits«- und »Lagedifferentialren-
ten« sind daher doch auch hier wieder die
Folgen von Naturthatsachen oder von allge-
meinen gesellschaftiichen , volkswirtschjvft-
lichen, politischen etc. Thatsachen in betreff
der Bevölkerungsdichtigkeit, örtlichen Kon-
centration, des Aommunikations- und Trans-
portwesens etc. Diese Folgen führen bei
Privateigentum am Boden dem Eigentümer
auch hier von ilim persönlich ökonomisch
nicht verdiente Gewinne, wie andererseits
freilich auch, bei absteigender Konjunktur,
ökonomisch von ihm nicht verechuldete Ver-
luste an Einkommen und Vermögen zu:
beides immer missliche Konsequenzen des
Privateigentumsprincips.
Indessen, wenn auch im Princip dieselben,
wie bei allem im Privateigentum stehenden
Boden, sind diese Konsequenzen doch ge-
wöhnlich bei den sich hier langsamer und
schwächer vollziehenden Entwickelungen
dem Grade nacjh Ider weniger schroff. Je
nach der Grund besitz Verteilung ergeben sich
ferner beachtenswerte Unterschiede, bei
Gi-oss-, Mittel-, Kleinbesitz, bäuerlichem Be-
sitz. Bei dem ersteren koncentriert und
steigert sich dadurch die Wirkung der
Grundrente auf Einkommen und Vermögen
(Grund Stücks wert), bei den anderen zerstreut,
verteilt und vermindert sie sich. Danach
erscheint vom Standpunkt des Grundrenten-
Problems betrachtet das Privateigentum bei
diesem Besitze weniger, bei jenem im
höheren Grade misslich. Besondere Be-
denken auch betreffs des Privateigentums-
princips treten hervor, wenn die von allge-
meinen Verhältnissen abhängigen Renten-
steigerungen und — besonders unter Mit-
wirkung von Zinsfuss Verminderungen — die
entsprechenden Grundwertsteigerungen auch
hier zum spekulativen Besitzwuchsel führen,
das Immobil zum Mobil werden lassen und
bei entgegengc^setzten Bewegungen von
Rente und Zinsfuss notgedruugene Ver-
äusserungen und Verluste dabei eintreten
(Rodbeitus' Lehi'en). Auch die ersteren,
816
Grundbesitz (Bodenrechtsordiiiing)
die aufstei^nden Entwickelungen pflegen
meistens nicht so rasch und so stark als
bei städtischem Bodeu zu sein, aber im
Princip sind sie doch die gleichen. Der-
artige Verhältnisse dienen, wenn die Privat-
eigentumsfrage mit Rücksicht auf sie be-
urteilt wird, nicht zur Stützung des Prin-
cips. Namentlich wenn der ländliche Gross-
^•undbesitz so zum Objekt des spekulativen
Besitzwechsels wird, treten erhebliche Be-
denken gegen ihn hervor.
12. Die Principienfirage der Rechts-
ordnnng für den agrarischen Boden:
Gemeineigentum oder Privateigentnm.
Unter Hinweis auf die einschlagenden Special-
artikel dieses Werks über alle anderen Seiten
der Agrarverfassung, welche freilich mit dieser
Principienfrage eng zusammenhängen imd
in Verbindung mit welchen behandelt diese
Frage erst erschöpfend erörtei-t werden
kann (s. u. a. Agrarverfassung, Agrarpolitik
[hier auch Hinweis auf die weiteren Special-
artikel], Ansiedelung, Bauern, Bauernbefrei-
ung, Bauerngut, Landwirtschaft u. v. a. m.)
eröi-tem wir hier nur in aller Kürze die
Eigentumsfrage im Zusammenhange mit den
geschilderten natürlichen und ökonomisch-
technischen Verhältnissen des agrarischen
Bodens und seiner Bearbeitung. Daran
werden dann noch einige Bemerkungen über
die verschiedene Lage der Eigentiunsfrage
je nach der historischen Entwickelung und
dem daraus hervorgegangenen Stande der
privaten Grund besitzverteilung geknüpft
(unter sub 13).
Die konkrete geschichtliche Entwickelung
lind jeweilige Gestaltung der agrarischen
Gnindeigentumsverhältnisse, der Entstehung
und Entwickelung des Privateigentums und
der speciellen Rechtsnormen dafür sowie
der Verteilung des privaten Gnmdbesitzes
ist das Produkt mannigfacher, teils in der-
selben Richtung wirkender, teils sich kreu-
zender Faktoren, der ganzen An- und Be-
siedelungsweise , politischer Momente etc.
Aber die natürlichen und die ökonomisch-
technischen Verhältnisse des agrarischen
Bodens und seiner Bearbeitung haben dabei
doch regelmässig einen starken Einfluss mit
ausgeübt und mehr oder weniger, nament-
lich lange Perioden der Entwickelung be-
trachtet, die letztere beherrscht.
Das wird auch begreiflich, wenn man
die Beziehungen zwischen den leitenden
Hauptprincipien der Rechtsordnung für den
Bodeu und seine Bearbeitung — Gemein-
eigentum örtlicher Gemeinschaften imd be-
ycliränkteres wie unbeschränkteres Privat-
eigentum einzelner physischer Personen,
Familien, andererseits persönliche Unfreiheit
der Arbeiter in verschiedenen Stufen, per-
srmliche Freiheit in verschiedenem Masse —
und jenen natürlichen und ökonomisch-
technischen Verhältnissen beachtet und
die massgebende Bedeutung der
menschlichen Triebe und Motive
im wirtschaftlichen Leben verfolgt.^)
Von der Wirksamkeit dieser Triebe und
Motive, welche bei verschiedenen Rechts-
ordnungen für den Boden und seine Bear-
beitung eine verschiedene ist, liängt der Elr-
folg dieser Bearbeitung schliesslich doch
immer wesentlich mit ab. Denn selbst der
Einfluss der Bodenbeschaffenheit wirkt doch
bei Agrarboden, welcher seinem Wesen nach
immer eine menschliche Bethätigung dazu
voraussetzt, dass die Boden- und Natur-
kräfte in Funktion treten, nur nach Mass-
fibe jener Wii'ksamkeit der menschlichen
riebe und Motive, welche bei der Boden-
bearbeitung, und liier eben häufig durch
das Medium der Besitzrechte am Boden be-
stimmt, zur Geltung kommen. Auch wenn
sich nun der Mensch den aus der Rechts-
ordnung für Boden und Bodenbearbeitung
hervorgehenden Verhältnissen anpassen kann,
so hat diese Anpassungsfähigkeit doch gerade
in den mensclüichen Trieben und Motiven
ihre Begrenzung. Eben deshalb muss sich
diesen Verhältnissen auch im volkswirtschaft-
lichen wie geseUschaftlichen Interesse wieder
jene Rechtsordnung anpassen, und die ge-
schichtliche Entwickelung der letzteren zeigt,
dass sie das im grossen und ganzen auch
zu thun strebt und gethan hat.
Das Gemeineigentum örtlicher Gemein-
schaften am agrarischen Boden (Aeckero,
Wiesen, ausser den Weiden), welches viel-
fach in primitiveren Verhältnissen bei ver-
schiedenen Völkern gefunden wird und sich
auch hier und da bis in späte Zeiten er-
halten hat, ist öfters in der Weise vorge-
kommen, dass auch die Bearbeitung selbst
eine gemeinsame war und dann etwa nur
die Ernteerträge nach bestimmten Mass-
stäben (Bedürfnis u. a.) verteilt worden sind :
/-Gemeingut, Gemeinbenutzung und
Gemeingenuss«, welcher letztere aber
doch unvermeidlich mehr oder weniger voll-
ständig Privatgenuss ^vird. Die Voraus-
setzung hierfür ist einmal eine einfache,
gleichmässige Gestaltung des Betriebes,
wenig Kapitalaufwand, sodann und vor allem
starke Autorität und Gewalt wie in patiiar-
^) Auf den Zusammenhang des hier be-
handelten, aber überhaupt aller in diesem Ar-
tikel erörterten Probleme mit dem menschlichen
Triebleben und der Motivation bei den wirt-
Hchaftlichen Handlungen [yde bei gewissen
Unterlassungen) lege ich ganz besonderes Ge-
wicht, auch für alle erforderlichen Auseinander-
setzungen mit dem Sozialismus. Zur Stützung
dieser Ansicht beziehe ich mich auf die
Ausführungen über „ökonomische Psychologie"
und Motivationstheorie in der dritten Auflage
meiner „Grundlegung" I, S. 70— 1B7.
Grundbesitz (Bodenrechtsordnuug)
817
chalen Yerbältnissen, verbunden mit wirk-
lielier oder von den Abhängigen ange-
nommener »geglaubter« überlegener Intelli-
genz imd Macht bei den Leitern des Ganzen,
dem Herrscher und seinen Beamten, dem
Stammes- oder Geschlechtshaupt, dem Haupte
der grossen Hauskommunionen, bei den et-
waigen aus der Gemeinschaft selbst hervor-
gehenden, vielleicht sogar frei gewählten
Vorstehern gegenüber den ausführenden
Arbeitskräften und gegenüber allen denen,
welche nach einem bestimmten Massstab
an der Verteilung des Produkts beteiligt
sind. Fehlen diese Voraussetzungen, so
versagt das System teilweise oder ganz den
Dienst. Für Fortschritte, auch in der
agrarischen Oekonomik und Technik, bereitet
es grosse Schwierigkeiten und wohl mit
deswegen weicht es einem anderen, wie
etwa zunächst dem gleich zu besprechenden
zweiten. Beachtenswert ist, dass bei pri-
vatem Grossgrundbesitz und Bearbeitung
desselben durch persönlich unfreie und
Abhängige verschi^enen Gh»des (Sklaven,
Kolonen, Leibeigene, Erbunterthänige, Fröner)
etwa dieselben Voraussetzungen und Schwie-
rigkeiten vorliegen. Nicht minder beachtens-
wert, dass etwa dasselbe von dem vom
Sozialismus .erstrebten und geplanten agra-
rischen Gemeineigentum gelten müsste, nur
dass hier etwa noch, mehr erschwerend als
erleichternd, eine vom Gesamtinteresse ge-
forderte und der soziaUstischen Idee der
»geregelten« Produktion entsprechende cen-
trale Oberleitung des ganzen Bodenanbaues
im Lande hinzutreten würde. Man braucht
das Problem nur so zu stellen, um an seiner
psychologischen und Ökonomisch-technischen
Ausführkeit zweifeln zu müssen, zumal unter
unseren »modernen« europäiscnen Bevölke-
rungen und deren Abkömmlingen in anderen
Weltteilen in der Gegenwart.
Die zweite Form des Gemeineigentums
zeigt sich verbunden mit periodischen
Teilungen des Acker- und eventuell auch
des Wiesenlandes — bei welchem die erste
Form eher verbleiben kann — zur zeit-
weiligen Benutzung, daher auch Bearbei-
tung unter den der Gemeinschaft angehöri-
gen Geschlechtern, Familien, einzelnen:
»Gemeingut, Privatnutzung und
Privatgenuss«. Auch hier sind die öko-
nomisch-technischen und die psychologischen
Voraussetzungen doch noch ähnliche wie
bei der ersten Form: auch noch einfacher,
gleichmässiger, extensiver, schablonenhafter
Anbau und Betrieb, wenig Kapitalaufwand,
zumal für grössere, länger wirkende Melio-
i:ationen mit nur geringer und allmählicher
Eitragssteigerung dadurch; dann, vor-
nehmlich wieder für die Anleitung, dieAn-
eiferung zur Arbeit und für die Ausführung
der periodischen BodenteÜungen zm* Nutzung
starke Macht von Gewohnheit, Sitte, Tradi-
tion, von religiösen und sittlichen Anschau-
ungen, grosse Achtung vor den leitenden
Autoritäten, vor deren Verständnis, Unpar-
teilichkeit, Furcht vor deren Macht, Zwang
und Strafen, selbst blinder »Glaube« an
diese Eigenschaften dieser Autoritäten, keine
»Kritik« derselben. Nur imter solchen Vor-
aussetzungen, wie sie etwa auch in Ver-
bindung mit persönlicher Unfreiheit und mit
Abhängigkeit von privaten Grossgrundbe-
sitzern vorliegen können (Russland bis 1861),
wird ein solches System sich land- und
volkswirtschaftlich bewähren, aber dem
ökonomisch-technischen Fortschritt wird es
auch kaum gerecht werden können. Ver-
ändern sich und fehlen allmählich mehr
oder weniger diese Voraussetzimgen , so
versagt auch dies System den Dienst, wie-
derum psychologisch und praktisch ganz
begreiflich. Die Schwierigkeiten, wdche
sich bei der Festhaltung dieses Systems seit
Aufhebung der Leibeigenschaft und der da-
bei dem Öutsherrn gegebenen Gewalt über
die Bauemgemeinde in den (gross-) russi-
schen Dorfgemeinden zeigen, sind ein neues
Beispiel füi* eine alte Erfahrung und eine
Bestätigung deduktiver Schlüsse. Die ört-
liche Eigentums- oder Besitzgemeinschaft so
zu organisieren, dass sie das System für
sich allein ordentlich einrichtet, diu-chführt
und die Bodenbearbeitung und Kapitalan-
wendimg ihrer periodischen Nutzniesser be-
aufsichtigt, erscneint ja zwar nicht unmög-
lich, aber wiederum höchst schwierig, vol-
lends in einer Gemeinschaft von Familien
und Individuen, in welchen sich individua-
listischer Sinn, privat wirtschaftlicher Er-
werbsgeistj Emancipation von Glauben, Sitte,
Gewohnheit, kritische Neigung, Unbotmässig-
keit gegen Autoritäten, zumaä gegen selbst-
E-jwählte, schon verbreitet. Daran wiixi die
ösung des Problems scheitern oder bei
solchen Verhältnissen unbefriedigend bleiben,
das Produktionsinteresse nicht erfüllt, die
Vermehrung, Verbesserung, Verwohlfeilerung
der Produktion nicht, und mutmasslich
jedenfalls weniger als bei eigentlichem Pacht-
wesen und bei Privateigentum erreicht wer-
den. — Wiederum ist es beachtenswert, dass
der Sozialismus eventuell, obgleich kaum
nach seinen Principien ganz folgerichtig,
auch ein derartiges System nach seiner Ab-
schaffung des ländlichen Privateigentums
wählen könnte. Die Schwierigkeiten psy-
chologischer und praktischer Art würden
dann wohl etwas verringert werden, schwer-
lich indessen entfernt soweit, um erwarten
zu können, dass dem land- und volkswirt-
schaftlichen Produktionsinteresse und dem
landwirtschaftlichen Fortschiitt dabei besser
als unter unseren bestehenden Verhältnissen
gedient würde, vermutlich ganz im Gegenteil.
Handwcrterbach der Staatsv^isseiischafteii. Zweite Auflage. IV.
52
818
Grnmdbesitz (Bodenrechtsordnuugj
In beiden besprochenen Fällen, bei Ge-
meineigentum und Gemeinbenutzung wie bei
•Gemeineigentum und Privatbenutzung, lassen
sich ja einige Vorteile erreichen: bessere
Feldeinteilung, intelligentere Leitung, mehr
Kapital Zuführung — wenn die »leitenden
Instanzen« über die Fähigkeit und die Mittel
genügend verfügen! — mehr Anpassung
der Kulturen und der Betriebe an die Be-
darfs Verhältnisse — wenn diese zuvor
richtig ermittelt sind ! — und an die Boden-
beschaffenheit, richtigere Betriebsgrössen
und anderes mehr. Die betreffenden Auf-
gaben müsste der Sozialismus bei seinen
Plänen agrarischen Gemeineigentums jeden-
falls allem zuvor lösen. Schwierig genug,
wenn auch für sehr intelligente, objektiv
urteilende, unparteiische Ki*äfte nicht un-
lösbar, wäre ihre Erfüllung immerhin. Aber
nun die unendlich viel schwierigere Aufgabe :
die Herstelhmg unvermeidlicher Autoritäts-
verhältnisse bei der Bodenzuteilung, der
Ernteverteilung (wenigstens beim ereten
System), ferner solcher Verhältnisse und der
erforderlichen Disciphn bei der Bodenbear-
beitung selbst, und das alles unter möglich-
stem Ausschluss einer Bethätigung des Trie-
bes des Selbstinteresses, des Motivs des
eigenen wirtschaftlichen Vorteils und unter
einer schliesslich doch trotz — und wegen !
— alles Sozialismus durchaus individualistisch
gesinnten modernen Bevölkerung, w^elcher
man möglichst die Geringschätzung aller
Autoritäten, die Verachtimg von Glauben,
Religion, Gewohnheit, Sitte gelehrt, welche
man immer nur auf »Kritik nach oben«, an
den Leitern hingewiesen, dazu förmlich ge-
schult hat und welche ihi^e »zeitweiligen
Autoritäten« immer möglichst direkt selbst
wählen soll. Es gehört eine eigentümliche
Logik, eine merkwürdige Unkenntnis mensch-
lichen Wesens, Trieblebens, menschlicher
Motivationen dazu, um an einen Erfolg zu
flauben. Andere Motive, wie Pflichtgefühl,
Ihrgefühl, Thätigkeitsdrang, Gemeinsinn
müssten eine unerhörte Stärke gewinnen,
wenn man soU annehmen dürfen, ländliches
Gemeineigentum in der einen oder anderen
dieser beiden Weisen liesse sich bei mis in
heutiger Zeit durchführen und könnte sich
bewähren und besser bewähren als das
heutige »Landsystem«. Versagen solche
andere Motive, so ist es psychologisch gar
nicht anders möglich, als dass auf das Motiv
der — Furcht, auf Zwang und Strafe,
und zwar in schärfster Form, zurückgegriffen
wird. Darin haben die principiellen Gegner
des Sozialismus hier Recht und zwar nach
der Natur des agrarischen Bodens und der
für ihn erforderlichen Arbeit und Kapital-
zufühnmg, nach der unvermeidlichen, natur-
bedingten Verteilung und Zerstreuung zahl-
reicher Landwirtschaftsbetriebe und damit
verbundener Wohnplätze über das ganze
Gebiet bei jedwedem agrarischen »Land-
systera« mehr Recht als bei den anderen
Benutzungsarten des Bodens und als in der
Industrie, wo sich Technik, Oekonomik, Be-
triebskoncentration, Arbeitsaufsicht etc. den
notwendigen Bedingimgen sozialistischer
Produktionsweise immer noch schwierig ge-
nug, aber leichter als in der Landwirtschaft
und unter ländlicher Bevölkerung anpassen
würden.
Aus dieser Beweisführung gegen länd-
liches Gemeineigentum folgen implicite die
ausschlaggebenden Gründe für ländliches
Privateigentum am Böden und für privat-
wirtschaftliche statt gemeinwirtschaftiicher
Organisation der ländlichen Betriebe und
Arbeiten, vollends in der Gegenwart für
unsere modernen (west- und mitteleuropä-
ischen, nordamerikanischen) Verhältnisse der
Bevölkerung, der psycliischen Seiten der-
selben, und imter den Anforderungen, wel-
che vom Standpunkte des Produktions-
interesses hier an die Erträge des Bodens
zu stellen sind. Nur eine Form des länd-
lichen Gemeineigentums und einer damit
verbundenen Benutzungsweise des Bodens
könnte eine Ausnahme von diesem Verdikt
bilden: nicht die vom »neuesten« Sozialis-
mus ja auch nicht mehr geplante allgemeine
üebertragung der Benutzung des Bodens
an agrarische Produktivgenossenschaften, —
denn dabei verblieben für die Einrichtung,
Organisation, Funktion, für die Regelung
der Konkurrenzverhältnisse ebenfalls fast
unüberwindliche Schwierigkeiten, — wohl
aber die Verzeitpachtung des »ein-
gezogenen« und etwa dann besser zu zweck-
mässigen Betriebseinheiten eingeteilten länd-
lichen Bodens an Private, unter denen
hie und da auch wohl einmal eine gewöhn-
liche Produktivgenossenschaft jetziger Art
sein könnte. Allein hier verbliebe eben doch
in der Hauptsache die privatwirtschaftliche
Organisation mit allen ihren Eigentümlich-
keiten. Schon die Feststellung der Pacht-
summe würde kaum anders als mittelst
Versteigerung oder eines ähnlichen Ver-
fahrens erfolgen können. Die praktische
Durchführung bei einer Unzahl von Betrieben
böte aber enorme Schwierigkeiten, ganz
andere als jetzt bei den Domänen. Aller-
dings würde der Zuwachs der Grundrente
und der Boden wertstei^erung, erwünschter-
massen, der Gesamtheit auf die Dauer in
der Hauptsache zufallen. Aber wie bei
allen Zeitpachten müsste doch eine gewisse,
nicht zu kleine Besitzdauer gewährt werden,
auch im volkswirt«*chaftlichen und im Inte-
resse des Bodens selbst (Meliorationen, Ver-
hütung zu starker Ausnutzung), und wäh-
rend dieser Dauer würde der Pächter die
etwa steigende Rente geniessen. Ein solches
Grundbesitz (Bodeurechtsordnung)
819
allgemeines Zeitpachtsystem verlangte dann
aber auch wieder unvermeidliche schwierige
Kontrollen. Es würde gerade wegen des
fehlenden Eigenttimerinteresses die bekannten
mehr oder weniger unvermeidlichen Nach-
teile des Pachtbetriebs haben. Mögen diese
durch specifische land- und volkswii-tschaft-
liche Vorteile, wie bei Grossgütern (Do-
mänen), etwa aufgewogen werden: bei der
Masse unvermeidlicher Mittel- und Klein-
betriebe jedenfalls nicht. Wollte man letztere
deshalb vermeiden und allen agrarischen
»Gemeinboden« mur in Grossbetrieben an
Private verpachten, so entspräche «las ein-
mal durchaus nicht überall den land- und
volkswirtschaftlichen Interessen und Be-
dürfnissen ; ferner würden dabei ja vollends
grosse Mengen von Leuten, die heute Eigen-
tümer oder Pächter sind, verdrängt oder zu
abhängigen Arbeitern gemacht, nicht gehoben,
sondern herabgedrückt. Und bliebe man
eben deswegen beim Klein- und Mittelbetrieb
durch Zeitpächter auch bei agrarischem
Gemeineigentum, so würde ein deixirtiger
Massenstand von Pächtern, auch wenn er
mehr als Pächter von Privateigentümern
geschützt würde, eben aus psychologischen
und praktischen Gründen der Produktion
nicht so gut dienen können als ein ent-
sprechender Stand von Eigentümern, Bauern.
Vor allem aber würde er ein unendlich
weniger wertvolles, weil viel abhängigeres,
weniger sesshaftes und mit dem Boden ver-
wachsenes, der Konkurrenz beim Ablauf
der Pachtzeiten viel mehr unterliegendes
soziales Element als ein solcher Eigentümer-
stand sein. Die Wahrnehmung des Gesamt-
interesses verlangte aber eine Stellung der
Pächter und der Pachtpreise unter den Ein-
fluss der Konkurrenz.
So kommt man zum Ergebnis, gerade
, vollends für unsere heutigen Verhältnisse:
I Privateigentum, Privatbenutzung,
Privatgen u SS verdient am agrarischen
Boden im allgemeinen den Vorzug vor jenen
anderen Bechtssystemen und damit auch vor
jedem wie immer eingerichteten und durch-
geführten »sozialistischen« Geraeineigentum
und »sozialistischer« Bewirtschaftungs weise.
Die übrig"en Fragen der ländlichen Boden-
rechtsordnung betreffen dann eine dem Pro-
duktions- wie dem sozialpolitischen und Ver-
teilungsinteresse möglichst entsprechende
Agrarverfassung und passende Rechtsnormen
für alle einzelnen Punkte derselben auf der
Grundlage des Privateigentumsprincips, be-
sonders in betreff der Grundbesitzverteilung,
des Erb-, Schuld-, Pachtrechts, der Arbeiter-
verhältnisse etc. Dafür ist hier ganz auf
die agrarpolitischen Specialartikel dieses
Werkes zu verweisen. Hier muss nur noch
ein Punkt in Bezug auf die principielle
Eigentumsfrage berührt werden, der folgende.
13. Die Privat- nnd Gemeineigentnnis-
frage gegenüber der geschichtlich über-
kommenen Verteilung des agrarischen
Grandbesitzes. Wir beschränken uns hier
auf die beiden Hauptkategorieeu des privaten
Grundbesitzes, den kleinen und mittleren,
bäuerlichen einer- und den Grossgrundbesitz
andererseits, der zum Teil der ehedem pri-
vilegierte war, obwohl bei einer eingehen-
deren Behandlimg des Problems noch weiter,
unter anderem auch zwischen mittlerem und
kleinerem Besitze zu unterscheiden wäre.
Das Ergebnis, das hier voraugesteDt wird,
ist, dass die Entscheidung für Privateigen-
tum statt Gemeineigentums mit gewich-
tigeren Gründen bei bäuerlichen als bei
Grossgnmdbesitzverhältnissen zu stützen ist.
Denn bei ersterem lässt sich das land-
und volks'^'irtschaf tliche Produktionsinteresse
nicht so gut als bei letzterem auch mittelst
Pachtbetnebs statt Eigenhetriebs wahr-
nehmen; femer zersplittert sich der Bezug
der Grundrente und der damit und mit dem
Privateigentumsprincip in Verbindung ste-
hende Gewinn bei Besitzwechsel dort unter
viele Pei-soncn, hier, was bedenklicher ist,
koncentriert er sich auf wenige; und end-
lich ist die soziale Funktion des Bauern-
standes doch wichtiger als selbst die gut
erfüllte des Grossgrundbesitzerstandes —
damit die letztere noch durchaus nicht un-
wichtig — für das gesamte Volksleben.
Im Produktionsinteresse kann, wie schon
oben betont ward, dem Mittel- und Klein-
oder dem Grossbetriebe kein unbedingter
allgemeiner Vorzug vor dem anderen ge-
geben werden. Im ganzen hat nur je nach
den Kulturen der eine oder der andere mehr
für sich, der Kleinbetrieb namentlich bei
gewissen intensiven Specialkulturen einer
höheren wirtschaftlichen Entwickelung. Ver-
besserungen der bäuerlichen allgemeinen,
ökonomischen und technischen Bildung, Zu-
führung von Kapital für Meliorationen dm-cli
den bäuerlichen Besitz nicht gefährdende
Kreditorganisationen sind die im allgemeinen
Produktionsinteresse hegenden und nicht
unlösbaren Aufgaben, bei deren Erfüllung
aber dann gerade ein Eigentümerstand das
Beste leisten kann. Kommen hierzu richtige
Bestimmungen des Erb-, Schuld-, Zusammen-
legungs-, Teüungsrechts, genügender Schutz,
eventuell auch durch ZöUe, gegen über-
mässige Konkurrenz von Ländern extensiven
Bodenanbaues hinzu, so liegt auch keine
allgemeine Gefalu: vor, den mittleren und
kleineren Besitzerstand vom Grossgnm<l-
besitz und beweglichen Kapital aufgesogen
und ausgekauft oder ausgewuchert zu sehen,
— womit einer der praktischen sozial-
politischen Gesichtspunkte in der Eigen-
tumsstreitfrage, der für Gemeineigentum
sprechen soll, entfällt. Zeitpacht an Private
52*
820
GruQdbesitz (Bodenrechtsoi-dnung)
bei letzterem würde freilich die Grund-
rente etc. der Gesamtheit vorbehalten, aber,
wie bemerkt, nur mit den grössten Schwierig-
keiten und Bedenken einzurichten sein, ganz
anders als bei Grosspachten , und mittlere
und kleinere Zeitpächter eines solchen Sys-
tems würden für die Produktion im ganzen
weniger, für die sozialen Interessen des
Volkes unvergleichlich weniger Wert haben.
Erhaltung eines leistimgsMhigen Bauern-
standes mittleren und kleineren Besitzes ist
so im Gesamtinteresse einem agrarischen
Gemeineigentum mit Mittel- imd Klein-
betrieben irgend einer anderen Art , auch
zeitpächterlichem, gewiss vorzuziehen. Ge-
nossenschaftliche Einrichtungen, soweit sie
leistungsfähig und wünschenswert, lassen
sich auch mit einem System bäuerlichen
Besitzes verbinden, verbreiten sich neuer-
dings bei uns stark und haben gute Erfolge
(Mdkereigenossenschaften und anderes mehr).
Nicht so günstig stellt sich die Entschei-
dung für Privateigentum beim Grossgrund-
besitz. Für das Produktionsinteresse ist er
eher entbehrlich, weil dasselbe, was er, hier
der Grosspachtbetrieb leisten kann, und
dieser zum Teil noch besser als er, aus ver-
schiedenen, zum Teil rein privatökonomischen
Gründen , die hier nicht weiter verfolgt
werden können (England, deutsche Domänen-
pachten). Die allgemeine Verpachtung des
agrarischen Bodens zu privaten Grossbe-
trieben auch bei Gemeineigentum am Boden,
würde nach Analogie der Domänenpachten
vor sich gehen können und weder die tech-
nischen Schwierigkeiten noch die sozial-
politischen Bedenken wie die Massen Mittel-
und Kleinpachten bieten, während sie der
Gesamtheit den Bezug der Grundrente etc.
verschaffte. Die Koncentration dieses Be-
zugs auf verhältnismässig wenige Besitzer
ist aber hier gerade ein Bedenken gegen
Privateigentum. Wo vollends der private
Grossgrundbesitz allgemeiner verpachtet ist,
da wird dadurch schon die Möglichkeit der
genügenden Förderung des land- und
volkswirtschaftlichen Interesses bei Verpach-
tung erwiesen, während bei solcher fehlen-
der Selbstwirtschaft manche andere Gründe
fiir privaten Grossgrundbositz entfallen oder
doch an Bedeutmig verlieren. Bei allge-
raeiner Verbreitung des Zeitpachtwesens im
privaten, zumal Grossgrundbesitz würde
eine Ersetzung des Privateigentums durch
gesellschaftliches Gemeineigentum und Bei-
behaltung der Zeitpacht überhaupt wenig
andere als die doch günstigen Folgen haben,
den Bezug der Grundrente den Privatbe-
.sitzern zu entziehen und der Allgemeinheit
zuzuführen (britische Inseln, Italien).
Kommt liinzu ungenügende Selbstbewirt-
schaftung, Tuipassende Grosse und schlechte
Arrondierung der Gi-ossgtlter, zu starke An-
häufung und Vinkulierung in Fideikommis-
sen, übles proletarisches Kleinpachtwesen,
Nichtaufentbialt der Besitzer auf den Gütern,
spekulativer Besitzwechsel bei günstigen
Konjunktiiren, Anlegung neuer, etwa an der
Börse und dergleichen erworbener beweg-
licher Vermögen in Grundbesitz, Benutzung
desselben wesentlich nur zu Jagdgründen,
Parks, Vergnügungszwecken, Mangel an
Boden für die bäuerliches Eigentum oder
Pacht erstrebende Bevölkerung, um so
stärkerer Abzug der Landbevölkenmg iu die
Städte, Industoiesitze, über See infolge zu
starken Vorwaltens des Grossgrundbesitzes,
so sinkt die Wagschale zu Gunsten länd-
lichen Gemein-(Staats-,Kommunal-)Eigentums
gegenüber solchen Verhältnissen des privaten
Grossgrundbesitzes allerdings erhebUch. Es
müssten dann schon sehr gewichtige soziale
und politische, auch für das Gesamtinteresse
stark mitspielende Faktoren sein, welche
hier noch dem Grossgnmdbesitze und seinem
Eigencümerstand den Vorzug erteilen könn-
ten. Aber eine Gefahr für den Grossgrund-
besitz ist nicht zu verkennen, wenn Symp-
tome wie die genannten allgemeiner her-
vortreten.
Immerhin kann die Sache auch hier noch
so liegen, dass die Entscheidung im Urteil
für den Grossgnmdbeailz ausfäUt Ein
Grossgrundbesitzerstand, der tüchtige Pioniere
landwirtschaftlichen Fortschritts, Vorbilder
ftir die Bauern, liefert, tüchtige Elemente
demMilitär-und Staatsdienste stellt. Au^ben
und Pflichten, nicht nur persönliche An-
sprüche, einer guten Aristokratie vertritt,
an der politischen Arbeit und den Ehren-
ämtern der Selbstregierung, an den Leistun-
gen der Caritas und der Geisteskultur des
Volkes teilnimmt, seine Güter überwiegend
selbst bewirtschaftet, das Erbe seiner Väter
möglichst in der Familie erhält und nicht
als Müssiggänger bloss seine Pachtrenten
aufzehrt, — ein solcher Grossgrundbesitzer-
stand zeigt aber auch wieder specifische
Vorteile der Institution des privaten Grund-
eigentums im Gesamtinteresse des Volkes,
die wohl in der Principienfrage der Rechts-
ordnung des agrarischen Bodens zu Gunsten
dieser Institution ins Gewicht fallen.
14. Der Forstboden (s. alles Nähere in
den Specialartikeln). Bei dieser vierten
Bodenkategorie liegt die Frage weit mehr
als bei Agrarbodcn günstig für öffentliches
gesellschaftliches Gemeineigentum in der
form von Staats-, daneben auch von Kom-
munaleigentum, mit staatlicher und kommu-
naler Eigenverwaltung. Die geschichtliche
Entwickelung hat das schon mit bewiesen,
indem sie auch in unsern Ländern, wo der
Agrarboden grösstenteils Privateigentum
einzelner physischer Personen gewoitlen ist,
grosse und wichtige Waldmassen im Staats-
Grundbesitz (Bodenreclitsordnung)
821
und Komniunaleigentum erhalten hat, auch
noch heute in grossen Teilen Europas, in
''Deutschland annähernd die Hälfte aller Wal-
dungen. Die in unsern Ländern im ganzen
bestehende Notwendigkeit und Zweckmässig-
keit, den noch vorhandenen Waldbestand
zu erhalten, wofür klimatologische und all-
gemein volkswirtschaftliche, die Fimktion des
Waldes als Schutzwald im weitesten Sinne
betreffende Gründe sprechen, geben hier den
Ausschlag für »öffentlichen Waldbesitz«,
welcher diese Aufgabe der Erhaltung der
Wälder am besten löst. Eijie Reihe privat-
ökonomischer und technischer Gründe der
Forstwirtschaft tritt für diese Entscheidung
unterstützend hinzu. So kann das forst-
und volkswirtschaftliche Produktionsinteresse
bei Staatseigentum am Walde und bei der
hier wiedenun aus ähnlichen Gründen der
Privatwirtschaft überlegenen , Ökonomisch-
technisch nicht nur möglichen, sondern be-
sonders leistungsfähigen, auch allgemein
üblichen Eigenbewirtschaftung durch Staats-
organe sogar in bevorzugtem Masse befrie-
digt werden. Da die EntwickeluDg der
reinen Waldrente ferner vornehmlich wieder,
so auch nach der Natur der schweren,
voluminösen, relativ geringwei-tigen Wald-
produkte, von allgemeinen Entwickelungen
der Volkswirtschart (Kommunikationswesen,
gesamte Verhältnisse der technischen Holz-
verwenduug, Volkszunahme und Volksdichtig-
keit etc.) und von Verwendung öffentlicher
Mittel für Einrichtungen, welche der Ver-
wertung der Waldpredukte zu gute kommen
(Kommunikationswesen), abhängt, so spre-
chen auch diese Umstände für Staatswald
etc. und gegen Privatwald ^).
15. Füjofte ßodenkategorie: Der
Wegeboden (s. auch darüber vornehmlich
die Specialartikel, Wege, Eisenbahnen und
andere mehr), die fünfte Bodenkategorie.
Auch bei diesem Boden, soweit es sich um
Wege für den »öffentlichen Verkelir« han-
delt, liegt die Frage diu'chaus und beinahe
ausschliesslich zu Gunsten öffentlichen, ge-
sellschaftlichen Gemeineigentums, in Form
von Staats-, Kommunal-, Komniunalverbands-
eigentum, und die gesclüchtliche Entwicke-
lung hat regelmässig auch so entschieden.
Wo Ausnahmen bestehen, wie bei Eisen-
bahnen, Kanälen, hier und da Chausseeen,
liaben diese sich im ganzen nicht bewährt
und bestätigen so die Richtigkeit der Regel.
Oekonomisch-technisch sind Staat, Gemeinde
etc. durchaus, und zum Teil in besonderem
Grade befähigt, durch ihi-e Organe alle Arten
Wege, vom gewöhnlichen Landweg und der
^) Eingehendere Erörterung der Eigeutums-
frage nach diesen Gesichtspunkteu betreffs des
Waldes in meiner Finauzwisseuschaft 1, 3. Aufl.,
S. 671—585.
Ortßstrasse bis zur Eisenbahn, zu bauen, zu
erhalten, zu verwalten. Nur bei öffentlichem
Eigentum .können die Verkehrsinteressen
allseitig richtig wahrgenommen, das Stras-
sen- und Bahnnetz richtig systematisch aus-
gestaltet, die Kapitalverwendung dafür zeit-
lich regelmässig, nicht nur abhängig von Spe-
kulationsmoraenten geregelt werden. Die
etwaigen Einnahmen, Renten aus Wegen
(Eisenbahnen) hängen wieder ganz vorzugs-
weise von gegebenen Naturverhältnissen der
Lage, der Bodenbeschaffenheit — die die
Baukosten etc. wesentlich bestimmt — und
von allgemeinen Entwickelungen der gesam-
ten Volkswirtschaft, des ganzen Volkslebens
ab, kommen daher, wie in solchen Fällen
immer, durch Vermittelung des Rechtgprin-
cips des Staatseigentums der Gesamtheit am
richtigsten zu gute, so jetzt bei der ȟeber-
schusswirtschaft« der Staatseisenbahnen
(Preussen!). Da ein grösseres Wegenetz
(Eisenbahnnetz) unvermeidlich gflnstige imd
ungünstige, in Bau und Betrieb wohlfeile
und teure, verkehrsreiche und -arme, ren-
table und unrentable, aktive und passive
Lduien etc. vereinigt, so führt auch die Kon-
centration in einer Hand, des Staats, zur
Ausgleichung dieser günstigen und ungüns-
tigen Fälle und ermöglicht so die grössere
Ausdehnung des Netzes, nützt alßo dem
Produktionsinteresse j während die ähnliche
Koncentration in Pnvathänden d. h. dann
regelmässig bei Aktiengesellschaften, fak-
tische Monopole schafft, welche hier für die
Gesamtheit nachteilig sind. Wo, wie bei
den Eisenbahnen, Weg und Verkehrsanstalt
darauf aus betriebstechnischen Gründen in
einer Hand sein müssen, verstärken sich die
Gründe für Staatseigentum — und folge-
richtig, wie auch noch aus specieUen Grün-
den für hier recht wohl leistungsfähigen
Staatsbetrieb — nur noch mehr^).
16. Sechste Bodenkategorie : Gewäs-
ser. Hinsichtlich des Bodens der Gewässer,
der sechsten Kategorie, der dabei in Be-
tracht ' kommenden wasserrechtlichen Ver-
hältnisse, welche die Benutzung des
Wassers zu den verechiedenen ökonomisch-
technischen Zwecken betreffen, sowie auch
bezüglich der Fischerei (für welche zum
Teil ähnliche Gesichtspunkte wie für die
Jagd gelten) muss hier ganz auf die Special-
artikel verwiesen werden. Es sei nur be-
merkt, wie die beginnende Benutzung der
natürlichen Gewässer und ihrer natüi'Hchen
und künstlichen GefäUe, Fluktuationen (Ebbe
und Flut!) als Kraftquelle der Elektrici-
*) Auch über die hier wichtigste Frage:
Staats- oder Privat- (d. h. Aktiengesellschafte-)
Bahnen umfassende allseitige Erörterung nach
obigen Gesichtspunkten im gen. Bd. 1 meiner
Finanzwissenschaft, S. 661 — 705.
822
Grrundbesitz (Bodenrechtsordnutig)
tat hier vermutlich sehr wichtige neue
Rechtsfragen wird hervortreten lassen. Da
liegt dann die Frage eines Staats regals
(Monopols) bezw. einer »Verstaatlichung«
der Wasserkräfte für diesen Zweck nahe,
um zu verhüten, dass diese neu in den
Dienst des Menschen tretende Naturkraft
einseitig zu sehr, wie die Dampf kraft zum
Teil, zu privatwirtschaftlichen Vorteilen der
Privatbesitzer des beweglichen Kapitals aus-
gebeutet werde. Bezugliche Gedanken und
Bestrebungen einer solchen, das Gesamt-
interesse vertretenden Rechtsordnung für die
Wasserbenutzung als Quelle der Elektricität
sind bereits aufgetaucht.
17. Ergebnis. Das Ergebnis der Er-
örterungen in diesem Artikel ist, dass die
Boden rechtsordnung speciell bei der Wahl
zwischen den zwei grossen Rechtsprincipien
des Gemein- und des Privateigentums wie
historisch und örtlich, so vor allem nach
Bodenkategorieen unterscheiden muss, worauf
auch regelmässig die geschichtliche Rechts-
onlnung des Bodens hindrängt. Eine ein-
zige Antwort, wesentlich ganz für Privat-
eigentum, wie der ökonomische Individualis-
mus, ganz für Gemeineigentum, wie der
ökonomische Sozialismus will, ist nicht zu
geben. Die nat(irlichen und die ökonomisch-
technischen Verhältnisse der Bodenkategorieen
und der Bearbeitung einer jeden, die allge-
meinen wirtschaftlichen Entwickelungsver-
hältnisse müssen entscheiden. Ueberall
sollte möglichst der Leitstern bei der Ent-
scheidung das wahre allgemeine Produk-
tionsinteresse und das mit der Verteilung
des Bodenertrages enge zusammenhängende
Interesse der ganzen Gesellschaft sein. Und
halb instinktiv früher, bewusst heute, wo
'\^^r die Zusammenhänge erkennen, drängt
die Entwickelung auch darauf liinaus. Ein
richtiges Enteigmmgsrecht muss zu Hilfe
kommen, um wohlerworbenen Privatrechten
gegenüber den Boden der jeweilig für die
Gesamtheit nützlichsten Verwendung zu-
führen zu können, wenn das vertragsmässig
nicht zu erreichen ist. In allen Fällen aber
wird immer zu bedenken sein, dass der
Boden stets erst durch das Medium mensch-
licher Arbeit seine Dienste leistet und dass
daher, um ein Maximum in Quantum und
Quäle dieser Dienste und ihres ökonomischen
Erfolges zu erreichen, die Bodenrechtsord-
nung notwendig dem menschlichen
Triebleben und den für die Aus-
übung menschlicher Arbeit wirk-
samen Motiven an gepasst sein muss.
Das darf auch bei der sozialistischen Forde-
rung des »gesellscliaftlichen Gemeineigen-
tums« am Boden niemals vergessen werden,
wie es der Sozialismus selbst immer thut.
Litteratur : *S'. auch daßlr vornehmlich die hier
nicht zu wiederholenden grösstenteils aber mit
hierher gehörigen Angaben bei den Special-
artikeln, besonders bei dem über die Gtschiekte
des Grundbesitzes unten S. 849, über Ansiedelung
oben Bd, I S. S75 ; femer über Sozialismus.
Hier sind nur etwa aus der grossen agrar-
geschichtlichen, rechtshistorischen,
auch ethnologischen, kultur- und wirt-
schaftsgeschichtlichen Litteratur, her-
vorzuheben für das Allgemeine: JE, de
Lav^leyCf de la propi^StS et de ses formes pri-
mitives, 1. ed., Paris 1874 (4. Sd. Paris 1891),
besonders in der deutschen Bearbeitung von K.
BUeheTf Das Ureigentum, Leipzig 1879. — Die
Schriften v, Maurers , G, Hanssens, G.
WaitzSf V. Inanta-Sterneggs (Deutsche Wirt-
schaftsgeschichte), M. Webers (römische Agrar-
geschichte) , die deutsche Rechtsgeschichte von
Brunner, Sehröder, — Lewis Morgan,
(ancient society). — Fr. Engels, Ursprung
der Familie etc. — (Crosse, Formen der Familie
und der Wirtschaft, 1896. — E, Hahn, Haus-
tiere und ihre Beziehungen zur WirtscJuift, 1896.
— K. BücJier, Entstehung der Volksicirtschaft,
S. A., 1898, bes. Kap. 1 u. 2. — Felix, Eni-
wickelungsgeschichte des Eigentums. — Arnold,
Zur Geschichte des Eigentums in den deutschen
Städten 1861. — Lipperts Kulturgeschiehle. —
Effertx, Boden ujid Arbeit. — Das grosse Werk
von A. Meitzen, Siedehtng und Agrarwesen
der West- und Ostgermanen, S Bde., 1895. —
La/mprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 1. — B.
Hildebrand, Reclit und Sitte auf den ver-
schiedenen wirtschaftlichen Kulturstufen, 1. Bd.,
1896. — Mueke, Horde und Familie, 1895. —
Derselbe, Urgeschichte des Ackerbaues und der
Viehzucht. — Revision der Lehre von . der Ge-
schichte des Grundeigentums in dem Aufs, von
Rachfahl in Jahrb. f. Nal. u. Stat., S. Jbolge,
Bd. 19, 1900. — Ueber die allgemein wiehtigen
und lehrreichen Verhältnisse des russischen
l ändlichen Gemeindebesitzes, nament-
lich J, V. Keussler, Zur Geschichte und Kritik
des bätierlichen Gemeindebesitzes in Bussland,
S Bde., Riga, Petersburg 1876—1887. — Sim-
khawitsch, Fcldgemeinschaß in Russland, 1895.
— V, Schulze ^Qävemitz , VolkstcirtschafÜiche
Studi-en aus Russland, 1899, Kap. 5. — Aus der
sozialistischen LittenUur passim Aus-
führungen in den Hauptwerken von Marx, Rod^
bertus, auch Engels, Bebel, Die Frau, JLieb^
hnechi, Zur Grund- und Bodenfrage, 2. Auß.,
Leipzig 1876. — Die neuere agrarpolUische
Litteratur des Sozialismus, daraus bes. ICautsky,
Agrarfrage, 1899, Bernstein u. a., darüber
Serings Kritik in dem- Aufs, in Jahrb. f. Gesetsg. u.
Venralt. 1899. — Verhandlungen auf sozialdemo-
kratischen Kongressen, so 1869 in BaseL — Aus
der Litteratur anderer principieller Gegner
des Grundeigentums: H. George, Progressand
poverty, deutsch von Gütschow, FortschriU u.
Armut, Berlin 1881, f. Aufl. I884. — Flur"
sheims Schriften, bes. nDer einzige Rettungi-
wegu, Dresden und Leipzig 1890. Zeüschrijt
yiFreilandu des Vereins ßir Bodenbesitzreform.
— Hertzha, Freiland, Haupt- und kleine Aus-
gabe, 1890. Ebei}falls Zeitschrift nFreilandn (Wieik).
— Ueber die ganze Litteratur : Conrad, JHeM,
in den Jahrb. f. Not. u. StaL, Bd. 50 und
Bd. 58. — Ueber städtische Grtindstückpreise
und Notstände (Berlin) G. Freese eb. 1898, II
F., Bd. 61. — Schneider, Wohnungsmietrecht
Grundbesitz (Boden rechtsordniing — Geschichte)
823
n. 80Z. Reform, 18 9S. — Eberstadt in Pr^u^fts.
Jahrb. 1892, Bd. 70. — Derselbe, Städti-
sche Bodenfrage, 1894. — Preuss, Boden-
heiUzrefomi, 1890. — Adickes , ZeiUchr. f.
StaaUwüs., Bd. 50 n. Brauns Archiv, B. VI.
— Wallacei land nazionalisation (öjtern). —
Dawsorif Uneamed ineremenl etc., 1S90. —
JDanuisehhef Gemeindesozialismus 1899. —
^Deutsche Volksstimmen, Zeitschrift, Organ
des Bundes deutscher Bodenreformer. — Siehe
jetzt bes. den Art. von JHeM, Bodenbes^ilzreform,
i« diesem Jfandwörterbuch, oben Bd. II S. 950,
auch für weitere LiUeraiurnachiceise S. 961. — Ein-
gehende principielle Erörterung der ganzen Boden-
rechtsfi'age in meiner n Grundlegung << der allge-
meinen und theoretischen Volkswirtschaftslehre,
2. Anfi., Ijeipzig 1879, S. 64S—821, S. Aufl.,
II, 1894, S. S47 — 568, woselbst zahlreiche weitere
LiUeraturangaben (übrigens auch Modifikationen
der zu einseitigen Auffassungen in meiner gegen
den Sozialismus polemischen Schrift »Die Ab-
schaffung des privaten Grundeigentums^, Leipzig
1870). Obiger Artikel im wesentlichen eine
Quintessenz der Ausführungen in der nGrund-
legung«.
Adolph Wagner,
n.
Oescliichte des Grundbesitzes.
1. Erstmalige Bildung von Grundbesitz auf
kommunistischer Grundlage; bis zum ö. Jahrh.
n. Chr. 2. Verschiebung der Eigentumsrechte
am Grund und Boden ; Entwickelung einer aus-
gedehnten agrarischen Arbeitsteilung; Bildung
von Klein- und Grossbesitz; 5.-9. Jahrh. 3.
Kolonisation und Ausbau des Mutterlandes vom
9. zum 12. Jahrh. ; ihre Wirkungen auf die ße-
sitzverhältnisse. 4. Aus- und Umgestaltung
des grundherrschaftlichen Grossbesitzes, Auf-
kommen freierer Verhältnisse der Grundholden,
freie Pachten im Mutterland; 11.— 14. Jahrb.
5. Kolonisation des Ostens, anfängliche Aus-
gestaltung der Grundbesitz Verhältnisse im Osten ;
12.— 14. Jahrh. 6. Verfall der bäuerlichen Be-
sitzverhältnisse im Mutterlande ; 14. — 16. Jahrh.
7. Verschlechterung^ der bäuerlichen Besitzver-
hältnisse auf kolonialem Boden , Entstehung der
ländlichen Grosswirtschaften ; 15.— 17. Jahrh. 8.
Eingreifen des aufgeklärten Absolutismus, An-
fänge der Bauernbefreiung; 17. und 18. Jahrb.
1. Erstmalige Bildung von Grund-
besitz auf Icommunistiseher Grundlage:
bis zum 5. Jahrh. n. Chr. Die älteste Ge-
schichte des deutschen Gnindbesitzes führt
noch in die Zeit der Besitzergreifung. Mass-
gebend für diese waren die schon bestehen-
den natürlich-genealogischen , militärischen
und politischen Institutionen der Urzeit.
Der Staat der Urzeit war die Völker-
schaft, ein etwa 30 — 40000 Seelen um-
fassender, der Regel nach völlig ftir sich
bestehender Teil der Nation. Seine waffen-
fähigen Angehörigen bildeten insgr^samt das
Heer; da nur Waffenfähigkeit volle Staats-
bürgerschaft gab, so fielen Heer und Volk
als politischer Begriff zusammen. Die Völker-
schaft zerfiel in Hundertschaften, in der
Zeit unserer frühesten geschichtlichen Zeug-
nisse militärische Unterabteilungen des Ge-
samtheeres von bestimmter Stärke, nach
Ausweis völkerkundlich interpretierter Reste
vorgeschichtlicher Verfassungserscheinungen
einst zugleich Geschlechter der Völkerschaft.
Die Himdertschaften ihrerseits zerfielen dann
w'ieder in einzelne Familien bezw. kleinere
jüngere Gesclilechter.
Die Verteilung des Grundbesitzes er-
folgte nach Einnahme eines bestimmten
Landes auf Grund militärischer Rücksichten:
wie der Herzog, der Oberanführer des völker-
schaftlichen Heeres, mit Hilfe der Häupt-
linge (principes) der einzehien Hundert-
schaften die Beute überhaupt verteilte, so
verteilte er auch das Land.
Die Folgen der militärisch-kameradschaft-
lichen Aufteilung waren, dass jeder Krieger
gleichviel Rechte am Grund und Boden er-
hielt mit Ausnahme der besser dotierten
Führer und dass ferner die Aufteilung des
ganzen * Landes zunächst nach Hundert-
scliaften, innerhalb dieser nach Familien
(deren Angehörige auch im Heere neben
einander standen) undEinzelkriegern stattfand.
Es wurde mithin das völkerschaftliche,
neu gewonnene Gebiet zunächst in Hundert-
scliaftsbezirke geteilt. In ihnen Hessen sich
nach den Angaben Caesars die einzelnen
Hundertschaften noch nicht dauernd nieder,
vielmehr fand ein jährlicher Sitzwechsel der
Hundertscliaften statt: noch beruhte das
Eigentum am Staatsgebiet ausschliesslich bei
der Völkerschaft; diese wies durch ihre
Organe den einzelnen Hundertschaften nur
Jahresnutzungen zu, anscheinend nach be-
stimmtem Turnus.
In der Zeit, über welche Tacitus be-
richtet (1. Jahrh. n. Chr.), ist die Lage schon
andere geworden. Jetzt sitzen die einzelnen
Hundeilschaften fest auf bestimmten Ge-
bieten des staatlichen Bezirks; die Völker-
schaft besitzt bloss noch ein völkerrecht-
liches Eigentum und ein privatrechtliches
Obereigen (Ursprung des Bodenregals!) am
Staatsgebiete; dessen einzelne Teile sind in
das Untereigentum der Hundertschaften über-
gegangen: Die Hundertschaften sind nun
nicht bloss militärische Abteilungen, sondern
zugleich — imd bald vorwiegend — agra-
rische Abteilungen, Markgenossenschaften:
der lokale wirtschaftliche Verband beginnt
den peraönlichen, militärischen zu verdrängen.
In weicher Art die Hundertschaften ihr
Gebiet anfangs nutzten, ist bestritten. Die
wahrscheinlichste Deutung der einschlägigen
Nachrichten ergiebt, dass dies zunächst sehr
extensiv und kommunistisch geschah; die
gesamten Hundertschaftsgenossen scheinen
einen besonders fruchtbaren Teil des Ge-
824
Grundbesitz (Geschichte)
bietes gemeinsam urbar ^macht, bebaut
und abgeerntet zu haben bis zu dessen Er-
schöpfung; dann suchten sie eine andere
Stelle zu gleichem Zwecke auf. Es ist
dabei zu bedenken, dass die Wirtschaft der
Germanen in dieser Zeit wenigstens viel-
fach noch überwiegend nomadisch war ; da-
mit war ein ümherzielien innerhalb der
Hundertschaftsmark gewiss häufig noch not-
wendig.
Indes allmählich ward man sesshafter.
Nun Hess sich manchmal wohl die ganze
Himdertschaft an einem Orte, in den meisten
Fällen indes wohl jedes Geschlecht der-
selben für sich an verschiedenen Orten in
Hundertschjrftsgebiete nieder: im allgemeinen
begannen sich aus der alten Hundertschafts-
mark besondere Dorfmarken auszusondern.
Gleichzeitig erfolgte eine festere Abgrenzung
zwischen Feldflur und Weide- und Wald-
gebiet: Weide und Wald bleiben der ge-
samten Hundertschaftsbevölkerung noch lange
— in einzelnen Fällen reichen Keste noch
bis zur Gegenwart — gemeinsam, die Feld-
flur ging in den Sonderbesitz der einzelnen
Ansiedelungen über.
Die Feldflur ward nunmehr ziu* hervor-
ragendsten Entwickelimgsstätte des eigent-
lidien, individualen Gnmdbesitzes. Sie
wurde ursprünglich wohl noch von allen
Bewohnern derselben Ansiedelung gemein-
sam bebaut. Doch bald begann man die
einzelnen Gewanne je nach der Zahl voll-
berechtigter Siedler zu teilen: jedem sollte
in jeder Gewanne ein gleich grosser Anteil
zufallen. Um völlig gerecht zu verfahren,
hat man sogar in analogen Verhältnissen
auf deutschem Boden die einzelnen Anteile
noch lange Zeit unter die Berechtigten ver-
lost. Indes noch vor der Aufzeichnung
unserer ältesten Volksrechte ist dieses Ver-
fahren, wenn es bestand, jedenfalls veraltet
gewesen ; das salische Redit aus dem Ende
des 5. Jahrhunderts weist anscheinend nur
noch archaische Erwähnungen der Losung
und des Gemeineigens an den Feldern auf.
Statt dessen legte man neue Gewanne jetzt
von vornherein so an, dass jedem Berech-
tigten an der Weglage ein gleich breites
Stück zur Urbarmig zugemessen ward (Ent-
stehung des Morgens).
Die Folge war, dass nun ein wii'kliches
Individualeigen jedes Berechtigten an Feld-
besitz hergestellt war; es war naturgemäss
so gross, dass er wohl von ihm leben
konnte — eben hierzu genügend hatte man
ja von jeher gerodet — , und es verknüpfte
sich mit der Aussicht auf anständigen Ge-
nuss der noch ungeteilten Weide und des
Waldes. Einen solchen Komplex von Rechten,
gegn\ndot auf einen Hof im Dorfe, auf Feld
in der Flur, auf Nutzung in Wald und
Weide, nannte man Hufe.
Die Hufe ist der ursprüngliche reguläre
Grundbesitz jedes waffenfähigen Deutschen ;
sie reichte zur Ernährung einer Familie aus
und umfasste später gewöhnlich 30 — 40
Morgen. Grösseren Grundbesitz hatten in
der Urzeit wohl nur die Häuptlinge und
deren Geschlechter.
2. Verschiebung der Eigentumsrechte
am Gnmd und Boden; Entwickelang
einer ausgedehnten agrarischen Ar-
beitsteilung; Bildung von Klein- und
Grossbesitz: 5. — 9. Jahrh. Der fränkisch-
merowingische Staat begann mit dem Rechts-
gnmdsatz des Bodenr^als, in dessen Kon-
struktion altgermanische Vorstellungen vom
Obereigen der Völkerschaften bezw. ihrer
Oberhäupter an den Völkerschaftsbezirk zu-
sammengefallen waren mit der römischen
Auffassung, welche die Provinzen als Eigen-
tum des Imperiums, der herrschenden
Centralgewalt betrachtete.
So wurde noch aller Boden als im Gnmde
staatlich oder königlich angesehen; und an
die Gerechtigkeit des Herrschers erhob sich
der ideale Anspruch, dass dieser Boden in
völlig gleicher Weise an alle gleichbei\?ch-
tigten Staatsbürger, alle IVeien zu verteilen
sei. Obereigentum des Königs an Grund
und Boden, kollektivistische, ja kommunis-
tische Ausnutzung der Landeskräfte diu'ch
die Unterthanen : das war, wenn auch keines-
wegs die Wirklichkeit, so doch das Ziel noch
des frühesten fränkischen Staatslebens.
Wie ganz anders sah die Welt in den
Verfallzeiten des fränkischen Universalstaates
gegen Ende des 9. Jahrhunderts aus! Im
beginnenden Lehnsstaate dieser Zeit war der
Gedanke eines königlichen Bodenregals zu
leerem Anspruch verblasst und im wesent-
lichen mu* noch in mageren Resten ver-
zettelter Grundsteuern (Dema, Septima
agrorum u. s. w.) wirksam ; die Staatsgewalt
hatte nicht bloss das Obereigentum am
Grund und Boden, sondern auch grosse
Teile ihres ihr unmittelbar unterstehenden
Gnmdeigens verloren.
Statt dessen war der Grund und Boden
in Eigentum mid Nutzung höchst ungleich
auf die Angehörigen des Staates verteilt;
und seit Generationen war seine Ueberfüile
in den Händen der Grossen zur Zerstörung
der Staatsgewalt erfolgreich missbraueht
worden.
Kaum grössere Gegensätze lassen sich
denken ; noch gegen Ende des 5. Jahrhimderts
ein weithin reichendes Obereigentum des
Königs, eine weitgehende Nutzungsgleich-
heit aller Unterthanen am Grund und Boden ;
vier Jahrhunderte darauf eine schon höchst
bedenkliche Depossedierung der Centi-al-
gewalt aus dem direkt fiskalischen Boden,
ein Ueberwuchern des Grossgrundeigens
Grundbesitz (Geschichte)
825
über die Staatsgewalt und den Gnmdbesitz
der einfachen freien Staatseingesessenen.
Diese Gegensätze werden geschichtlich
vennittelt durch eine enorme Verschiebung
der Eigentumsrechte an Grund und Boden
und dui'ch die Ent Wickelung einer immer
leistungsfähigeren agrarischen Organisation
des Grossgrundbesitzes. Dem kollektivisti-
schen Zeitalter der Natmul Wirtschaft, wie
es durch die Blüte der hundertschaftlichen
Älarkgenossenschaft vertreten gewesen war,
fol^ ein individualistisches oder organisa-
torisches Zeitalter der Naturalwirtschaft, als
dessen eigenartigster Ausdruck die Gross-
gnmdherrschaft erscheint.
In der merowingischen imd karolingischen
Zeit sind noch nicht alle Erinnerungen an
die früheren Wirtschaftsalter der N'ation
verschwunden; Weide bedeutet noch soviel
als Jagd und Fischfang, d. h. Gelegenheit,
menscnliche Nahrung zu gewinnen j das
friesische Recht scheidet noch zwischen
Baub und Diebstahl imd findet eigentlich
nur den letzteren ehrenrührig, die bessere
W^ürdigung des Raubes erinnert noch an das
heldenhaft räuberische Nomadenzeitalter.
Auch kennen die Lex salica und der
ursprüngliche Bestandteil der Lex Ribuario-
rum noch nicht den Immobiliarprozess ; erst
seit dem 7. Jahrhundert scheint er bei ver-
schiedenen Stämmen gleichmässig ausge-
bildet worden zu sein. Aber auch dann
fehlt noch überall nach Volksrecht die Mög-
lichkeit einer Zwangsvollstreckung in Im-
mobilien; erst langsam wird sie im König-
reiche der Merowinger aufgenommen, in
dem der Karolinger vollendet.
Gleichwohl kann man sagen, dass seit
etwa dem 6. Jahrhundert unser Volk an-
fängt, überwiegend ein Ackerbauvolk zu
werden; Ackerbau w^inl die vornehmste
Arbeit, Grund und Boden der vornehmste
Besitz der Nation. Mit diesem Zeitpunkte
setzen darum sofort merkbar die grössten
Veränderungen im Eigentum an Grund und
Boden ein; sobald dieser zum hauptsäch-
lichsten sozialen und politischen Machtmittel
innerhalb der Nation wird, ist es begreiflich,
dass sich auf ihn sofort alle soziäen und
politischen Aspirationen stürzen.
Die eigenartigsten und in ihren Konse-
(juenzen auch wichtigsten Verändeningen
gehen zunächst im Besitz der grossen Masse
der Freien vor sich. Das Hufeneigentum
derselben (im Gegensatz zu dem im Walde
Gewonnenen im Anbeginn freieren Eigentum
IRottlandJ) wird zunächst seit dem 6. Jahr-
lundert immer mehr verselbständigt, aus
seinen Gebundenlieiten befreit.
Galt für dasselbe ursprüngHch nur das
Erbrecht der Söhne, nicht einmal der Enkel,
trat bei Mangel an Söhnen vielmehr Rück-
fall an die Markgemeinde ein, so wurde
i'etzt das Erbrecht der Enkel imd auch der
Brüder des Erblassers durchgesetzt; der
Anspruch der Markgemeinde trat allmählich
zurück und wurde schliesslich vergessen.
Das gleiche galt für den Rechtsanteil des
Geschlechtes und der Familie; auch hier
begannen die Einspruchsrechte, welche ge-
legentlich der Veräusserung oder anderer
Rechtsgeschäfte am Grundeigentum erhoben
werden konnten, in gewissen Fällen, na-
mentlich zu Gunsten der Kirche, zu schwinden.
Der tiefste Grund für alle diese Vor-
gänge war, dass der merowingische Staat
nicht mehr das alte Recht kommunistischer
Konstruktion des Genusses an Grund und
Boden aufrecht erhalten konnte ; ihre Folge,
dass der Freie, wie auch immer noch in
Bewirtschaftung und rechtlicher Disposition
des Grundeigentums gebunden, dennoch im
Vergleiche gegen früher wirtschaftlich etwas
freier ward. Und schon war diese Freiheit
so grcss, dass sie eine merkliche Verschie-
bung in der bisherigen Gleichheit des Grund-
besitzes herbeiführte: Hufen wurden ver-
kleinert und zersplittert, arrondiert und ver-
grössert ; bald gab es auch im altgermanischen
Dorfe mehr und minder reiche Hüfner.
Dieser langsamen, aber schliesslich grund-
stürzenden Wandlung der Rechtsordnung
von rein komöiunistischen zu schon ein
wenig individualistischen Principien des
Rechtsgenusses lief ein wirtschaftlicher Vor-
gang parallel, der die Ungleichheit des Grund-
eigentums wohl noch stärker förderte.
Dem freien Markgenossen war es in den
ältesten Zeiten nach Gründung seines heimat-
lichen Dorfes unbenommen, in den noch un-
bebauten Teüen der Mark, welche der ge-
meinsamen Wald- und Weidenutzung unter-
lagen, für seine Rechnung zu roden, zu
pflanzen, zu ernten. Noch herrschte die
Anschauung vor, dass Grund und Boden
eigentlich virtuelles Eigentum aUer sei und
dass jeder dadurch, dass er auf einen Teil
desselben persönliche Mühe und Arbeit ver-
wende, dessen rechtlich vöDig gesicherte
Nutzimg, ja bei längerer Mühewaltung dessen
thatsächliches Eigentum erwerbe.
Indem besonders thatkräftige Wirte unter
den freien Markgenossen sich diese An-
schauung zu nutze machten, rodeten sie in
ihren heimatlichen Marken gewaltige Striche
Landes ausser dem engbegrenzten Flursystem
der ursprünglichen Hufenäcker: neben dem
Hufenland wuchs immer gewaltiger das
Rottland empor, und mit seinem Wachstum
wuchsen die Besitz- und Eigentumsimter-
schiede der freien Bauern,
Es waren Vorgänge, welche bis zum
Beginn der Karolingerzeit schon zur völligen
wirtschaftlichen Differenzierung der altfreien,
urgermanisch-kommunistischen Bauernschaf-
ten geführt haben.
826
Grundbesitz (Geschichte)
Während aber diese Entwickelung in der
Stille reifte, unheilschwanger für ein König-
tum, das seinen ünterthanen noch gleich-
massig dieselben urgermanischen Pflichten
abforderte und Rechte zuzuerkennen gehalten
war, liatten über sie hinaus Vorgänge poli-
tischer und wirtschaftlicher Art eingesetzt,
welche die Aufmerksamkeit der spätmero-
wingischen und frühkarolingischen Zeitge-
nossen viel stärker gefimden haben.
üeber die wirtschaftlich differenzierten
Freien erhob sich immer drohender ein
wahrhafter Grrossgnmdbesitz. Es war eine
Entwickelung, die zunächst auf romanischem
Boden einsetzte. Hier erwarben Franken
und Burgunder mit Recht und Unrecht aus-
gedehnte Latifundien römischer Anlage ; hier
brachte die Kirche aus ihrer römischen Ver-
gangenheit ein reiches Erbgut an Grund
und Boden, an Kolonaten und sonstigen
Freigütern mit.
Aber bald verbreitete sich die neue Ent-
wickelung auch in die eigentlich germani-
schen LandesteUe. Der Kirche fielen auch
hier reiche Schenkungen zu; Fulda, das
Kloster des heiligen Bonifatius, besass nicht
lange nach der Gründung schon 15000 Hufen.
War die Kirche in ihrem Grundbesitz vielfach
Rechtsnachfolgerin von nur mittelbegüterten
Freien, welche durch Schenkungen ilir Seelen-
heil gefördert wissen wollten, lagen ihre
Besitzungen weit zerstreut und gemengt mit
den Hufen der Freien, wie sie der Zufall
des Erwerbes und der Schenkung ihr in
den Schoss geworfen, so stand neben ihrem
Grossgrundbesitz das geschlossenere Grund-
eigen des Laienadels.
Der König hatte kraft des Bodenregals
von jeher ein Eigentum vornehmlich über
alles von anderen noch nicht eingehender
ausgenutzte Land behauptet und, sobald es
ihm beliebte, daniber thatsächlich verfügt.
Auch abgesehen von der ungeheueren Masse
von Ländereien, welche ihm auf diese Weise
zu Gebote stand, besass er den weitgehendsten
Grundbesitz als Rechtsnachfolger des römi-
schen Fiskus, aus Konfiskationen und auf
Gnmd anderer Rechtstitel. Ein schier un-
erschöpflicher Schatz von Land schien den
Königen des Merowingerreiches zur Ver-
fügung zu stehen, zumal sie noch von allem
ihnen nicht speciell gehörendem Baulande
die umfassende Naturalsteuer von V? des
Ertrages bezogen.
Aus dem Gefühl dieser Unerschöpflich-
keit ihrer Mittel heraus pflegten sie zu
handeln. Sie verschenkten ganze Quadrat-
meilen Landes an Grosse, deren Sympathieen
ihnen wertvoll erschienen, und sie glaubten
sich zu solchen Handlungen augenblicklicher
Zweckmässigkeit um so eher berechtigt, als
die Schenkung des frühgermanischen Rechtes
den Charakter der Widerruflichkeit bei Un-
dankbarkeit des Beschenkten wie in manchen
anderen FäUen zuzulassen schien. Allein in
Wahrheit erwarben die Grossen nach dem-
selben frühgermanischen Rechte doch zu-
meist rasch unverbrüchliches Eigentumsrecht
an den geschenkten Ländereien. Sie brachen
die wilde Kraft des Urwaldes, sie ent-
wässerten Sümpfe imd Bäche, sie führten
den Bergöden eine sorgende Bevölkerung
zu; sie machten das I^and des Köni^ erst
zum wirklichen, fruchtbringenden, politisch
wägenden Lande. So wani es ihr wohl-
gewonnenes Gut, ihre Emmgenschaft ;
nimmermehr konnte es der König ihnen
entreissen.
Schon in der ei'sten Hälfte des 7. Jahi--
hunderts stand das Ergebnis der immer
noch andauernden Bewegung fest; nicht
bloss auf dem alten Boden des Imperiums
in Gallien, auch am Rhein und darüber
hinaus im Osten war ein neuer, gesicherter
Grossgrundbesitz entstanden. Und dieser
neue Gnmdbesitz war wesentlich in die
Hände des Adels, die an sich durch Amt
und Geburt führende Erlasse gelangt. Wohl
haben die Könige auch kleinen Freien viel-
fach Rodeprivilegien für Wald und Gebirge
erteilt; gegen geringe Abgaben stand den
überschüssigen Söhnen der Markbauern der
Zutritt in fiskalisches Rottland offen: allein
ti'otzdem überwogen doch im ganzen Besitz-
überweisungen und Schenkungen an Grosse ;
erst in der Karolingerzeit ist die Königs-
hufe, die besondere Rottform der kleinen
Freien auf Königsland, recht eigentlich ent-
wickelt worden.
Der adlige Grossgrundbesitz aber schritt
nun vornehmlich seit den Zeiten der Karo-
linger zur thatkräftigsten Ausbeutung seines
neuen Besitzes. Er legte planmässig grosse
Rodungen im Urwald an, die als sogenannte
Bifänge mit festen Zäunen gegen die Unbill
äsenden W^ildes geschützt wurden ; er grün-
dete Kolonialkirchen mitten im Dunkel des
dichtesten Tannes und stattete sie mit gott-
seligen Einsiedlern aus, deren Ruf manchen
Ansiedler herbeizog, er baute ganze Dörfer
aus: bis endlich seit dem 9. und 10. Jahr-
hundert das Land weithin besiedelt war
und die Könige dem weiteren Vordringen
in die ungelichteten Teile der Berg^'älder
durch Einforstung ein Ziel setzten.
Und für diesen neuen Besitz entwickelte
nun der Adel eine neue Organisation des
Betriebes.
Die alte Ackerwirtschaft des Gennanen
hatte einer grösseren Organisation nicht be-
durft. Wie sie sich selbst genügte, wie sie
keiner Verbindung mit Handel und Verkehr
bedurfte, um ihren Angehörigen des Lebens
Notdm^ und Nahrung zu liefeim, so war
sie auch in sich abgeschlossen.
Grundbesitz (Geschichte)
82-
"Wie änderte sich das mit dem Aufkom-
men des Gn>ssgmndbesitzes.
Die Grundlage des neuen Grosseigens
waren in den ehemals römischen Provinzen
mehr oder minder gleichmässig die alten
Latifimdien der kaiserlichen Zeit: geschlos-
sene grosse Landbezirke mit einem gelegent-
lich ins Grosse gehenden Plauhetrieb oder
aber mit einer Zerstückelung in einzelne
Kolonate, die doch streng als ein Ganzes,
im Sinne einer einzigen Wirtscliaftseinheit
organisiert wai-en.
Konnten die Germanen einen solchen
Betrieb fortsetzen? Ihre wirtschaftliche
Bildung befähigte sie nirgends dazu; in
Spanien und Italien, wolü auch im centi'alen
südlichen Gallien haben sie diese Latifun-
dien des Besitzes und Betriebes zugleich
zumeist durch Verpachtung an routinierte
Provinzialen genutzt. Anders in Deutsch-
land, am Rhein und in dessen westlichen
Nachbargebieten. Hier hielten sich relativ
nur Vf'enige Latifundien in der Hand des
Königs und vielleicht der Bischöfe; die
meisten wurden l)ald' zerschlagen und dem
germanischen Wirtscliaftssystem eingeoixlnet.
Die Germanen hatten schon in Taciteischer
Zeit einen Anbau grösseren Landbesitzes
durch Unfreie gekannt. Das System war
freilich einfach genug gewesen. Das Ijand
war in Hafen ausgeteilt oder ward in sie
zerschlagen ; auf Hofgut , meist wohl von
der halben Grösse des freien Hofgutes, sass
der Unfreie, baute es wie ein Freier und
war seinem Herrn nur zu geringen Ab-
gaben und Diensten verpflichtet. Er lebte
wirtschaftlich betrachtet wie ein Pächter;
sein Pachtzins bestand in Naturalien seines
Anbaues und in dienstlichen Leistungen
seiner Hand, seiner Familie, seines Viehes.
Dies einfache Svstcm wanl nunmehr für
den gallischen Besitz wie für den sich
mehrenden Grossgrundbesitz in deutschem
Lande nicht aufgegeben, sondern nur um
eine Stufe erweitert. Auch im Grossgrund-
besitz, dessen einzelne Hufen und Anbau-
flächen oft über viele Quadratmeilen imd
Hunderte von Dörfern zei-strout lagen, liess
sich eine Nutzung nur in Paehtform denken :
die Hufen wurtlen an einzelne Bebauer in
den Formen rechtlicli mannigfach vei^schie-
dener Leihe ausgethan.
Nur war es nun nicht melu% wie im ur-
zeitlichen Betrieb, möglich, dass der Grund-
herr alle Ijcistungen und Naturalpächte per-
sönlich in Empfang nahm: das verboten
Zahl und Entfernung der beliehenen Hüfner.
So stellte er füi* jede Gnippe benachbarter
Leihbauern eine Empfangsstelle her: eine
Hufe ward einem seiner Diener, der meist
den Namen Meier fühi-te, übergeben: er
nahm die Naturalabgaben ein \md ven-ech-
nete sie dem Herrn, er l)eaufsichtigte die
Leistung der Pflug- und Erntefix)nden auf
den herrschaftlichen Rottfeldern seiner oder
benachbarter Marken.
So breitete sich unter der gnmdhen*-
lichen Centralstelle ein Netz von Meiei-eien
aus: es ist der Anfang der mittelalterlichen
Organisation der Grossgrundherrschaft. Bald
kamen zu den Meiern andere Unterstellte
verwandter Gattung: Fischer, Jäger; Ross-
hirten, Schäfer; Weinbauern, Gärtner; ihro
Betriebe stellten sich als freiere Sonderbe-
triebe neben die Meiereien mit ihrem bäuer-
lichen Hufenzubehör.
So staffelte sich die Organisation des
•Grossgrundbesitzes nicht bloss, sie differen-
zierte sich auch.
Und mehr noch. Innerhalb des Josen,
im Verhältnis der einzelnen Genossenschaft
zur anderen völlig selbständigen und ein-
spännigen Getriebes der Markgenossenschaf-
ten bildete der gi^Dssgrundherrschaftliche
Betrieb die einzige wahrhaft grosse, und
zugleich überhaupt die erstmalige weiter-
greifende Organisation wirtschaftlicher Inter-
essen. Von diesem Gesichtspunkte aus
bildeten die Gi-undherrschaften mächtige
Gebüde nicht nur innerhalb der sonst iso-
lierten wirtschaftlichen Literessen der Nation,
sie waren auch dem Staate selbst an Inten-
sität der Verwaltung und Straffheit der
Gliederung weit überlegen.
Es war eine Lage, welche sich um so
mehr zu Gunsten der Grundherrschaften
geltend machen musste, je mehr der frän-
kische Staat verfiel. In der 2. Hälfte des
7. Jahrhunderts war man so weit gelangt,
dass die Gnmdherrschaften in der allge-
meinen Auflösung staatlichen Ijobens schon
wie embrj'onale Bildungsgrundlagen künf-
tiger Kleinstaaten erschienen. Doch wir
haben hier die politische und soziale Bedeu-
tung der neuen Bildung nicht zu verfolgen :
genug, da^s sie auf Jahrhunderte eines der
beherrschenden Momente unserer Entwicke-
lung blieb.
Inzwischen aber begann sich in letzl-
uiaJiger grosser Kolonisation und Urbarung
des Landes ein neuer Grundbesitz zu bilden.
3. Kolonisation und Ausbau des Mut-
terlandes vom 9. zum 12. Jahrhundert:
ihre Wirkungen auf die Besitzverhält-
nisse. Die Besiedelung des deutschen
Landes durch die Germanen war im. wesent-
lichen zunächst so erfolgt, dass die einzie-
henden Völkergnippen sich womöglich schon
geurbartes Land angeeignet hatten. Weder
links noch rechts des Rheines bis ziu* Elbe
fehlte es an solchem; wie auf einst römi-
schem Boden noch die heutigen deutschen
Ansiedelungen vielfach in der Lage der
Häuser und Höfe wie der Fluren ungerma-
nische Bedürfnisse wiederspiegeln, so weist
das Hofsvstem Westfalens und manche
828
Grundbesitz (Geschichte)
Eigenheit mitteldeutscher Ansiedelungen
noch auf die Kelten zurück.
Freilich spielte daneben der Wildbruch
im Walde bereits eine immer grössere Rolle ;
in den Vordergrund aber trat er erst nach
voller Sesshaftmachung des Volkes, seit etwa
dem 5. — 6. Jahrhundert Seitdem ziehen
Generationen auf Generationen nachgebore-
ner Söhne in den Urwald und sengen und
roden. Das 7. — 9. Jahrhimdert sieht einen
ersten grossen Ausbau des Landes hinein
in die unerschöpflichen Bestände der Berg-
wälder.
Allein auch mit Ausgang der Karolinger-
zeit war die Urkraft des Waldes noch längst
nicht gebrochen. Noch immer galt der Wald
als unabsehbar reiche Vorratskammer der
Nation :
Dem riehen walt es lützel schadet
Ob sich ein man mit holze ladet,
heisst es noch in Vridanks Bescheidenheit
aus dem Zeitalter Kaiser Friedrichs II. Nir-
gends fehlte noch bis auf diese Zeit immer
wieder aufsprossende Wildnis; noch viel
später denkt sich der Deutsche die Mächte
der Unkultur im Walde hausend; erst um
die Mitte des 14. Jahrhunderts wird ge-
legentliche Klage über Waldmangel laut.
Und noch heute ist Deutschland von aUen
Kulturländern wie das an Gebirgsschön-
heiten mannigfachste, so das an Wäldern
weitaus reichste, und noch heute weiss unser
Volk von den Schrecken und Lockungen
der Waldeinsamkeit zu erzählen, die sich
fnlheren Generationen zu tausend Gestalten
heimischer Sage verkörperten.
So konnte noch in der deutschen Kaiser-
zeit, und vornehmlich im Zeitalter der Salier
und Staufer eine neue grosse Periode des
Waldausbaues einsetzen, ehe den deutschen
Urwäldern das Wirtschaftsgut einer wirklich
vollendeten Wohnlichkeit des Landes abge-
stritten war.
Freilich war diese zweite und letzte
grosse Ausbauperiode imserer Wälder von
der ersten mannigfach verschieden. Im
6. — 8. Jahrhundert war vor allem der Ge-
meinfreie Träger der Waldsiedelung ge-
wesen; in genossenschaftlichem Verband
hatten die jungen Männer des Volkes ein
neues Heim in den Tiefen der Waldesthäler
gesucht. Diese Art des Ausbaues hörte
auch jetzt noch nicht völlig auf ; namentlich
im Osten der Mittelgebirge wie der Alpen
erlebte sie noch eine Nachblüte.
Im allgemeinen aber ging der freie
Mann anders vor, soweit er sich am Wald-
ausbau dieser Periode noch beteiligte. Wie
lange schon waren die alten mai'kgenossen-
öchaftlichen Gliederungen der döiilichen
Nachbarn im Zerfall begriffen! Wie indi-
ndualistisch war bereits, im Vergleich gegen
früher, die Wirtschaft des einzelnen Bauern
geworden ! Wie der Freie selbständiger ge-
worden war im heimatlichen Dorf, so ging
er auch, nur von eigenen Kräften getragen,
nach persönlichem Plan im Neubruch vor.
Dem amerikanischen Squatter gleich brach
er in das natürliche Gehege des Urwaldes,
allein erbaute er sich den Hof auf einsamem
Rottfeld.
Es war eine Bewegung, die vornehmlich
die Anfangszeiten der zweiten grossen Be-
siedelungsperiode , das 9. — 11. Jahrhundert,
nodi füllte. Sie war naturgemäss sehr un-
regelmässig, sie hatte etwas urwüchsig Ge-
waltsames, sie ward darum schliesslich sei-
tens der herrschenden staatlichen und halb-
staatlichen Mächte imterbunden.
Die Könige, die kraft alten Bodenregals
noch immer ein grundsätzliches Eigentum
an allem unbebauten Lande behaupteten,
erklärten jetzt dies Eigentumsrecht formell
über alle noch vorhandenen Urwälder, vor-
nehmlich der Gebirgsgegenden. So wurden
Spessart und Franken wald, Ardennen und
Soonwald, Hagenauer Wald und Dreieich zu
Reichsforsten: nur mit besonderer könig-
licher Erlaubnis soUte in ihnen noch gerodet
werden.
Die damit gegebene Bewegung setzte
sich von der Centralgewalt auf die Landes-
mächte, Herzöge und Markgrafen, Graien
und Bischöfe mit gräflichen Rechten fort;
und wie auf anderen Gebieten, so über-
flügelte auch hier die Thätigkeit dieser
intermediären Mächte bald das Ansehen des
Königs. Schon mit der ersten Hälfte des
11. Jahrhunderts hören die Einforstungen
zu Gunsten des Reiches auf, königliche
Wildbannprivilegien für die Grossen in
immer abgeschwächterer Form reichen noch
bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Seit-
dem gut das Einforstimgsrecht grosser
Wälder wesentlich als Recht der Grossen;
die Initiative des Königs ist lahm gelegt.
Natürlich ging damit der Ausbau des
Waldes in der Blütezeit der zweiten Periode,
unter Saliern imd Staufern, fast ausschliess-
lich an die Grossen, d. h. die Grundherr-
schaften über.
Es war eine gewaltige expansive Thätig-
keit, die binnen etwa dre^i Jahrhunderten
das Dunkel unserer Wälder auch in unzu-
gänglichen Gebirgsgegenden lichtete. Und
schon ging man am Schluss der Periode,
unter den späteren Staufern, über das Mass
des natürlich Zulässigen hinaus. Eine
Menge der damals begi-ündeten Ortschaften
sind, weil auf unfruchtbarem Boden unwirt-
schaftlich angelegt, wieder zu Grunde ge-
gangen; manch abgewirtschaftetes Oedland
unsei-er Hochmoore und Haiden fülirt seinen
Ursprung auf eine verfehlte Anlage dieser
Zeit zurück.
Indes erschöpften sich die Fortscluitte
Grundbesitz (Geschichte)
829
der landwirtschaftlichen Thätigkeit im 10.
bis 13. Jahrhundert keineswegs in der Be-
siedelung von ürwaldstrecken. Der Koloni-
sation jungfräulicher Gegenden ging der
nicht, minder eifrig betriebene, wenn auch
minder auffällige Ausbau der alten Dorf-
roarken zur Seite.
Schon längst war die alte strenge Rege-
lung des genossenschaftlichen Ausbaues
aller Hüfner dahin. Zwar herrschte immer
noch der Flurzwang, alle Hofbesitzer waren
genötigt, in demselben Teile der Flur die
gleiche Frucht zu bauen : es war eine Kon-
sequenz der ursprünglichen Fluranlage, die
bis ans Ende des 18. Jahrhunderts vielfach
nicht hat beseitigt werden können.
Allein diese feste wirtschaftliche Bin-
dung an eine genossenschaftlich geregelte,
allen gemeinsame Thätigkeit war doch nicht
mehr so stark und allseitig, dass sie nicht
besonders tüchtigen Wirten eine persönlich
w^eiter gehende Fördenmg ihres Anbaues
gestattet hätte. Wer wollte einem solchen
Wirt verwehren, sich in den verhältnis-
mässig friedlichen Zeiten des 10. bis 12.
Jahrhunderts aus dem Dorfe auszubauen auf
die gemeinen Teile der Dorfmark, die noch
immer zur Verfügung jedes Genossen aus
dem Dorfe standen? Errichtete er aber
hier seinen Hof, schuf er sich wenigstens
hier ein gesondertes Feld des Anbaus, so
vermochte er weit freier und weit kräftiger
zu produzieren als die gemeinen Genossen
des Dorfes.
Solche Erwägun^n wurden von kräfti-
gen Wirten der Kaiserzeit^ vornehmlich in
den fortgeschritteneren Gegenden der grossen
Flussthäler und der reichen Fruchtebeuen,
häufig angestellt. So entstanden grössere
Bauerngüter auf freier Mark, so begannen
sich Specialkulturen in Hanf und W^aid und
Viehhöfe innerhalb wohlgepflegter Wiesen
zu erheben ; vor allem aber erblühte so der
Weinbau im tiefgründigen Boden der Pfalz
und auf den steilen Felsterrassen des Rheins
und der Mosel.
Und die wirtschaftliche Energie, die sich
der Dorfallmenden bemächtigte, flutete
rückwärts und befruchtete auch die Thätig-
keit auf dem Boden der alten Dorfflur.
Zusehends nahm die Intensität der Bestel-
lung zu, immer häufiger im Jahre durch-
furchte die Pflugschar die klarere Krume
des Ackers, immer mehr war man darauf
bedacht, die Bodenkräfte durch angemesse-
nes Düngen zu erhalten und zu steigern.
Schon galt überall das Wirtschaftssystem
einer wohl ausgebildeten Dreifelderwirt-
schaft. Die alte, extensive Feldgraswirt-
schaft, die dem Boden nur in Perioden von
G — 12 und melir Jahren spärliche Frucht
abnötigte, die keinen anderen Dung kannte
als die Asche des abgesengten Grases, sie
war jetzt nur noch auf den Höhen der
Mittelgebirge zu finden sowie in den Alpen
und in der Moorkultur des friesischen Nord-
westens.
Regstes Leben herrschte in den alten
Centren des Anbaus, und in den geseg-
netsten Gegenden des Reiches begann die
alte Flurverfassung bereits zu verblassen.
Am Rhein lassen sich die alten Hufen mit
ihrem ursprünglichen Feldbehör seit dem
12. Jahrhundert kaum noch feststellen, so
stark hatte die immer wachsende rechtliche
Mobilisierung des Grundes und Bodens ihre
Bestandteile zerspellt und durcheinander
gerfittelt; schon wurde auch der einst so
reich bemessene Boden der Dorfallmenden
für die Bedürfnisse der Dorfgenossen zu
knapp.
Hier und da schlössen die Gemeinden
des Oberrheinthals, der Mosel und des
Niederrheins bereits ihre Allmenden vor
der individuellen Besitznahme einzelner
Landstücke durch die Hand eines Genossen
oder sie gestatteten sie nur kärglich noch,
auf die Weite eines von kräftiger Hand ge-
thanen Hammerwurfs. Und wie bei dieser
Gelegenheit eine uralte, symbolische Mass-
bestimmimg des deutschen Rechts wieder
auflebte, so trat seit dieser Zeit an Stelle
des persönlichen Rechtes der Bodenaneig-
nung auf der Allmende auch gern wieder
das uralte koDektive. Gemeinsam vrieder,
wie in der Fiilhzeit des Dorfbaues, schuf
man AUmendeland um zu Wechselacker
und Wechselwiese: war es einst der ge-
meinsame Kampf gegen die Urgewalt einer
wilden Natur gewesen, der zu genossen-
schaftlichem Anschluss zwang und gemein-
samer Nutzung, so war es jetzt das stark
entwickelte und individuelle Interesse aller
an der gründlichen Ausbeutung der letzten
gemeinsamen Nutzungen, das uralte Formen
in neuer Bedeutung wieder aufleben
Hess.
Kaum vier bis fünf Generationen später
aber sprengte der individuelle Wettbewerb
völlig die alten Fesseln. Schon in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhimderts begin-
nen in fortgeschrittenen Gegenden die alten
Allmenden geteilt zu werden ; Streitigkeiten
erheben sich über deren Recht und Besitz
zwischen (Gemeinden und Genossen. Der
Zerfall der alten markgenossenschaftlichen
Betriebsgemeinschaft, die Entwickelimg ganz
anderer Wirtschaftsmächte tritt zu Tage.
In der That hatte Kolonisation und Aus-
bau während des 10. bis 13. Jalirhunderts
die wirtscliaftliche Lage der Bewohner des
platten Landes völlig geändert. Hatte man
noch in der KaroUngerzeit Wald und Land
als unerechöpfliches Gut der Nation be-
trachtet, wie Sonne, Luft und Wasser, so
zeigte sich jetzt immer deutlicher die Be-
830
Grundbesitz' (Geschichte)
grenztheit der geographischen Grundlage |
des nationalen Lebens.
Der agrarische Nahrungsspielraum, einst
unermesslich, verengte sich, zumeist und
zuerat am Rhein, in Schwaben und Franken,
später in Sachsen, endlich auch in Bayern,
Tirol und Steiermark; es galt, sich auf be-
grenztem Baume einzurichten.
Noch mehr als bisher erschien der Bo-
den als wirtschaftlicher Wert; unabhängig
steigerte sich deshalb sein Preis; vom 9.
bis zum 12. Jahrhundert scheint er in reich
entwickelten Gegenden um das Zwölffache
gestiegen zu sein, und noch später bis zur
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lässt
sich ein Emporschnellen um etwa 40 ®/o
wahrnehmen.
Erwägt man, dass gleichzeitig der Boden
noch immer als einzige Grundlage sozialen
und politischen Einflusses in der Meinung
namentlich der führenden Schichten des
Yolkes galt, während freilich schon langsam
andere Quellen grosser wirtschaftlicher Ein-
kommen emporbrachen, so begreift sich,
wie lebhaft in dieser Periode der Kampf
um den Besitz des Bodens entbrennen
musste.
Verlief die wirtschaftliche Entwickeluug
gleichwohl nihig, so hängt das mit der
Schwäche der Centralgewalt, der über-
wiegenden Bedeutung der Grossgrundherr-
schaft schon in kaix)lingischer Zeit sowie
der anfangs sehr gedrückten Stellung der
landbauenden Bevölkerung zusammen.
Nur bis zum Ausgang der Karolinger
beherrschten oder beeinflussten die Könige
das Problem der Verteilung des Gnuides
und Bodens unter die Volksgenossen wesent-.
lieh durch Behandlung ihrer Bannwälder,
durch die soziale Gesetzgebung über die
Grossgrundherrschaften und diu*ch den
Versuch von Massregeln zum Schutze der
freien Bestandteile der Nation. Seitdem
schwand der Einfluss des Königtiuns mehr
und mehr; und der fiskalische Grundbesitz,
der im 10. Jahrhundert ausschliesslich der
Bannwälder noch mindestens ein Viertel
aJlen Grundes und Bodens betragen haben
mag, ging stark zurück.
Statt dessen trat mit der eigentlichen
deutschen Kaiserzeit die Grossgrundhen*-
schaft die Herrschaft an. üebersdilägt man,
dass in der Blütezeit der Grossgnmdherr-
schaft ein Gnmdbesitz von 9 — 18000 Mor-
gen in geistlichen Händen die Regel, ein
solcher von 30—60000 Morgen keine allzu
seltene Ausnahme war, berechnet man den
Umfang kleiner Laiengruudherrschaften auf
mindestens 3000 Morgen, während fürstliche
Grundherrschaften noch über die Norm
geistlichen Besitzes hinausragten, so mag
die Behauptung, dass im 11. und 12. Jahr-
hundert weit über die Hälfte alles deutschen
Landes gi*undheiTlieh gewesen sei, noch
weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben.
Doch nur von dieser Seite her betrach-
tet, war die gi-ossgrundherrliche Entwicke-
lung eine walirhafte Gefahr für die Natioa.
Im übrig-en trug sie in ihrer Organisation
und in den Wandlungen üirer Verfassung
nicht bloss das Korrektiv ihrer ungemesse-
uen Ausdehnung in sich; ihr Schicksal ura-
schloss zugleich die Emancipation der höri-
gen Klassen und die Möglichkeit der Bil-
dung eines neuen, freien Grundbesitzes auf
dem platten Laude.
4. Aus- und Uiiigestaltaiig des grnnd-
herrschaftlichen Grossbesitzes ; Auf-
liommen freierer Verhältnisse der Grund-
holden, freie Pachten im Mutterlande;
11. bis 14. Jahrhundert. Mit dem Emi)or-
kommen des Deutschen Reiches der Ottoneii
war die Grundherrschaft auf die Höhe ilirer
Entwickeluug gelangt. Die energische Or-
ganisation der kaiserlichen Fiskalverwaltung
durch Karl den Grossen, der gesetzliche
Zwang zu gei'egelter Verwaltung, den die
karolingischen Kapitularien gegenüber den
Grundhenschaften der Grossen entwickelten,
beides liatte seine Früchte getragen.
Eine eigenartige Verwaltung * war über
dem weitzerstreuten und sehr mannigfachen
Besitz der Gnindherren entstanden. Wo
nur immer ein Grundherr in einem Orte,
einer Dorfmark mehrere Hufen besass, da
hatte er eine von ihnen mit einem iluu be-
sondei^ verpflichteten Grundhörigen besetzt
und ihn als Meier mit der Beaufsichtigimg
des übrigen Hufeubesitzes beauftragt. Meist
waren zugleich zei*streute Hufen der näch-
sten Dörfer, die dem Grundherren gehörten,
der Aufsicht des Meiers mit unterstellt
worden.
Auf diese Weise zerfiel jede Grundherr-
schaft in eine Anzahl hufenmässig, nicht
räumlich geschlossener Meiereibezirke; die
Meiereien bildeten den durchgehenden
Kalimen der unteren Verwaltung; niu* ge-
legentlich waren Verwaltimgen grosser
Forsten oder ausgedehnter Weinberge, Be-
triebe von mehi-eren Handwerken oder von
Bergbau und Salinen sowie verwandter Ein-
richtungen ihnen nebengeordnet.
Der Meier, zumeist ein Grundholder wie
die anderen Bauern, erhob in seinem Be-
zirk die Zinse; er war der Richter in dem
Ding der Zinsgenossen; auf den Acker
seines Hofes, des Fronhofes, wurden die
persönlichen und die Pflugdienste der un-
tergeordneten Bauernhöfe geleistet. So war
er auf der einen Seite der natural wirt-
schaftliche Einnelmier gleiclisam der Gnuid-
heri-schaft, sein Fronhof eine heiTSchaftliche
Receptur.
Hinausgehoben über diesen Cliarakter
w^urde der Fronhof andererseits durch die
Grimdbeöitz (Geschichte)
831
ihm erfallenden Dienste der Hofbanern : um
sie nutzbar zu machen, bedurfte es alsbald
eines ausgedehnteren Landes, als es die
übrigen Höfe besassen. So wuchs der kleine
Hof hinaus über das gemeine Mass der
Hufe; schon im regelmässigen Hufschlag
der Flur, in dem eigentlichen Felderbezirk
der Mark, pflegte er die Nachbarhufen an
Grt>sse zu überragen.
Allein auch bei solcher Ausdehnung ver-
mochte das Land des Fronhofs in den
meisten Fällen nicht die Ackerdienste der
Zinsbauern in sich aufzunehmen; hierzu
musste weiteres Land verfügbar gemacht
werden. So begann der Grundherr in allen
Marken, welche Fronhöfe seiner HeiTSchaft
aufwiesen, gleich manchen andren Mark-
genossen in der gemeinen Mark im Walde
des Dorfes zu roden. Schon Ende des
9. Jahrhunderts ist diese Thätigkeit in
fortgeschrittenen Teilen des Landes im
Gange.
Natürlich hielten sich diese Rodun^n,
mit gewaltigen Kräften unternommen, nicht
in dem bescheidenen Hahmen bäuerlichen
Anbaus ; weite Waldflächen fielen ihnen zum
Opfer: grosse rainlose Felder gleich den
Breiten unserer Rittergüter entstanden, sie
wurden Beunden genannt. Auf sie ergossen
sich nunmehr die Dienste grundhöriger Ar-
beit, von ihnen aus füllten sich Keller und
Scheuer des grundherrlichen Fronhofs, und
die Verfügung über ihren Anbau gab dem
Meier das höhere Ansehen eines, wenn auch
abhängigen Grossbauern.
Die Meierei bildete die einzige regel-
mässige Betriebsverwaltung der Grundherr-
schaft. Zwar kamen über ihr und über den
früher genannten Specialverwaltungen in sehr
grossen und sehr zerstreuten Grundherr-
schaften noch zusammenfe,ssende Zwischen-
ämter, meist Propsteien genannt, vor; im
allgemeinen aber standen über den ünter-
verwaltungen sofort der Grundherr und die
dienenden Kräfte seines Hauses, der Mar-
schall, der Känmierer oder Truchsess, als
oberste Stelle. Sie bildeten den gnmdherr-
lichen Hof; schon im 9. und 10. Jahr'.iundert
befand er sich mit Vorliebe auf einer festen
Burg inmitten der dichtesten Schichtung
des grundherrlichen Besitzes.
Nach dem Hofe strömten die üeber-
schüsse der grundherrlichen Verwaltimg,
ziuneist in der Form von Naturalabgaben,
zusammen; vom Hofe aus erfolgten die
Weisungen an die einzelnen Meier zur Wah-
rung der ^mdherrlichen Gerechtsame wie
zur periodischen Versorgung des Hofes mit
den Erträgen des Ackerbaues, der Viehzucht
und des grund hörigen Handwerks.
So bedurfte jede Grundherrschaft eines
eigenen Nachrichtendienstes und eines be-
sonderen Transportsystems. Beides ent-
wickelte sie langsam seit dem 9. Jahrhun-
dert. Eine Anzahl Grundholder wurde ver-
pflichtet, Pferde zum Botenreiten, Schnell-
kähne zur Beförderung von Nachi'ichten zu
unterhalten: es sind die Scharmannen, bald
auf Grund ihres vornehmlichen Dienstes zu
Boss reissige Mannen und Krieger der
immer mehr rittermässig gestalteten Heere.
Der Transportdienst aber wird allen
grundhurigen Bauern auferlegt: zu bestimm-
ten Zeiten fahren sie Holz aus dem Walde,
Getreide und andere Feldfrucht von ihrem
Meierhofe zum Burgsitz des Grundherren;
im Winter thun sie oft weite Fahrten zur
nächsten Saline, um das entbehrliche Ge-
würz zu holen, oder in die nächste Gross-
stadt zum Verkauf von Landeserzeugnissen,
zum Einkauf der Schätze des Handels und
Handwerks.
So erscheinen die Gnindherrschaften des
10. Jahrhunderts festgefügt in ihrer Ver-
waltung und in lebendiger Bewegung je
nach den wechselnden Aufgaben der Jahres-
zeit: sie erfüllen das wirtschaftliche Dasein
der Nation. Denn räumlich eng durch ein-
ander verflochten erscheint Besitz und Ver-
waltung der einzelnen Grundherren; in be-
lebten und höher kultivierten Gegenden be-
finden sich nicht selten ein halbes Dutzend
und mehr Fronhöfe verschiedener Grund-
herren im selben Dorfe.
Doch sclion das 11. Jahrhundert sah
den beginnenden wirtschaftlichen Verfall
der grossen Grundherrschaften, wenngleich
einzelne geistliche Orden, vor allem die
Gislercienser , dem Institut sogar noch im
12. Jahrhundert zu einer kurzen wirtschaft-
lichen Nachblüte, doch in veränderten For-
men, verholfen haben.
Es zeigte sich, dass die Grossgrundherr-
schaften ihrem innersten Wesen nach immer-
hin nicht eigentlich wirtschaftliche Institu-
tionen waren. Nicht um den Ackerbau zu
organisieren, hatte der hohe Adel des 7.
und y. Jahrhunderts nach umfassendem
Landbesitz gestrebt, vielmehr hatte er nur
Grund und Boden klar als den einzigen
Machtbesitz der Zeit erkannt und deshalb
versucht, sich seiner zu bemächtigen.
Nun war ihm das in weitreichendem
Masse gelungen; und was dem Adel an
Landübermacht etwa noch fehlte, das er-
warb er in den gewaltigen Kolonisationen
des 11. bis 13. Jahrhunderts. Damit war
das Ziel seines Strebens erreicht: er gebot
über das Land und seine Bebauer; eine
ökonomische Ausbreitung seiner Herrschaft
über das Mass notwendigen Lebensunter-
halts hinaus lag ihm fem: er strebte nach,
der Stellung des Hofherren, des Kriegers,
des Trägers höherer Bildung ; speciell wirt-
schaftliche Interessen, die über die Her-
stellung einer materiellen Grundlage für
832
Grundbesitz (Geschichte)
diese Zwecke hinausgegangea wären, besass
er nicht.
So ging er wesentlich in extensiver
Wirtschaft auf und so war seine volkswirt-
schaftliche Eolle erfüllt, als der Höhepimkt
agrarischer Ausdehnung mit dem 12. Jahr-
hundert erreicht war. Seitdem verwandelt
sich die Grundherrschaft in ein blosses
Renteninstitut Und schon ein Jahrhundert
vorher hatte sie begonnen^ in der Verfassung
ihrer Grundholden, wie im Charakter ihrer
Verwaltung eine dahingehende Richtung
einzuschlagen.
Mit dem Beginn des 10. Jahrhunderts
etwa war aus den Klassen der unfreien
Ldten und freien Hintersassen, die sich in
der Grossgrundherrschaft getroffen hatten,
der eine, weitausgedehnte Stand der grund-
holden Bauern hervorgegangen. Ursprüng-
lich in seinen Rechten noch stark begrenzt,
begann er sich seit der 2. Hälfte des
10. Jahrhunderts allmählich zu heben.
Die naturgemässe Gnmdlage seiner wei-
teren Entwickelung wurde durch die Or-
ganisation der Grundherrschaft selbst ge-
boten. Wie die Zinse und Dienste der
Grundholden nach Meiereien erhoben wurden,
so fand jeder Grundholde zunächst in dem
Meierbezirke, welchem er angehörte, den
natürlichen Rahmen gemeinsamen Lebens
mit seinen Genossen : jeder Meierei entsprach
eine grundholde Genossenschaft der Ein-
gesessenen, jeder Fronhof ward zum Mittel-
punkt einer grundholden Gerichtsbildung,
jeder Meier zum Vorsitzenden eines Fron-
hofsdinges.
Diese genossenschaftliche Konsolidation
führte bald über sich hinaus zu starkem
gesellschaftlichen Fortschritt. Noch in der
ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts waren
die grundherrschaftlichen Hintersassen kei-
neswegs sicher gewesen vor Veräusserungen
ihrer Person ohne das von ihnen bewirt-
schaftete Gut; me späterhin nur noch sla-
wische Herrscher, so verfügte König Hein-
rich I. frei über Dienst und Aufenthalt sogar
seiner hörigen bäuerlichen Krieger.
Demgegenüber gab jetzt die Entwickelung
der Fronhofsgenossenschaft jedem ihrer Mit-
glieder eine ganz andere Sicherheit; die
Bindung an den Boden wurde durchgesetzt,
nur mit seinem Gute zusammen durfte der
Hörige dem Verband der Meierei entzogen
und veräussert -werden: so wuKle mit Be-
ginn des 11. Jahrhunderts das Grundholdcn-
tum im vollsten Sinn erst begründet.
Es war ein ausserordentlicher Fortschritt.
Nun wurde die rechtliche Persönliclikeit
des Gnmdholden erst grundsätzlich und bald
auch immer mehr thatsächlich anerkannt.
Nun sj)rach man ihm, sprach er sich selbst
in seinem Fronhofsding das Erbrecht an
seiner Zinshufe zu, nun behauptete er ein
weitgehendes Eigentum an seiner Errungen-
schaft und beschränkte die Forderungen, die
der Gnmdherr bisher darauf geltend ge-
macht hatte, auf geringe Leistungen, vor-
nehmlich auf die Abgabe des besten Stückes
der Hinterlassenschaft, das Besthaupt oder
die Kurmede.
Aus all diesen Wandlungen heraus bil-
dete sich die Vorstellung, dass der Grund-
herr nicht anders als der Freie in einem
wohl umschriebenen Kreise von Rechten lebe,
den er selbst, im Gericht seiner Genossen,
abzugrenzen befugt sei: und seine Stellung
zum Grrundherrn beschränkte sich somit
immer mehr auf die blossen Beziehungen
der agrarischen Arbeitsleistungen und Lasten
sowie auf eine genüge persönliche Abhän^g-
keit, die, finanziell genau umgrenzt, ihm
rechtlich vornehmlich die Freizügigkeit ver-
sagte.
Waren nun Grundholde auf dieser Stufe
der Entwickelung noch nützliche Mitglieder
und Unterthanen der Grundherrschaft? Sie
waren wirtschaftlich fast volle Herren des
Gutes und trotz aller Fronden wenigstens
zur Hälfte Herren ihrer' wirtschafflichen
Zeit und Arbeitskraft. Sie waren weiter
mit Zinsen nur gering belastet. Ursprüng-
lich einmal, im 9. oder auch 10. Jahrhundert,
hatten freilich ihre Zinsen der Höhe nach
etwa die Bedeutung einer Pachtsumme für
das bewirtschaftete Gut gehabt. Jetzt war
das die Auffassung verMingener Zeiten.
Ausserordentlich war die Bodenrente über-
all vom 9. bis 11. und 12. Jahrhundert
stiegen, die Abgaben der Grundholden
gegen waren die alten geblieben : sie waren
jetzt Bestandteil ihres besonderen Fronhof-
rechtes geworden, und sie wurden in ihrer
alten Niedrigkeit energisch verteidigt gegen
jeden Versuch der Grundherren, sie zu er-
höhen. Die Folge war, dass schon seit Be-
ginn des 12. Jahrhunderts die Grundherren
sich keineswegs noch im Besitze der Grund-
rente ihres Bodeneigens befanden : sie waren
Avirtschaftlich enterbt, während der grund-
holde Bauer in Fülle lebte.
Lag es nun gleichwohl im sozialen Inter-
esse des Grundherrn, die Grundholden zwar
wirtschaftlich nahezu frei, doch persönlidi
von sich abhängig zu erhalten? Wir sahen,
dass auch die soziale und rechtliche Lage
der Grundholden sich von Tag zu Tage hob,
dass sie zum Losreissen aus den grund-
herrschaftlichen Banden drängte.
In diesem Moment haben, seit Mitte des
11. Jahrhunderts vornehmlich, Gr-undholde
und GrundheiTon der fortgeschrittensten
Landesteile sich zu neuer, freier Verein-
banmg zusammengefunden. Das Gnmd-
holdontum ward bald völlig, bald teilweise
imd bis auf einige Formalitäten aufgegeben,
freier Zug gewährt, und der ehemalige
Grundbesitz (Geschichte)
833
Grundholde blieb als fi-eier Pächter auf
seinem bisherigen Gute. So gelangte der
Grundherr auf dem Wege der Zeitpacht
und bis zum gewissen Grade auch auf dem
der Lehns- und Erbpacht wieder in den
VoUgenuss der Rente seines Grundeigens,
und es blieb ihm, bei der Zeitpacht vor-
nehmlich, die Möglichkeit offen, nach jedes-
maligera Ablauf der Pachtfrist die Pacht-
summe im Ausmass der mittlerweile ge-
stiegenen Grundrente zu erhöhen. Der
Grundholde aber gewann das Gut einer
neuen bäuerlichen Freiheit.
Es versteht sich, dass diese Vorgänge
da, wo sie häufiger vorkamen, zum voJlen
Verfalle der alten grossgnmdherrlichen Or-
ganisationen führen mussten, soweit diese
rein wirtschaftlicher Natur waren. Wurden
die Grundholden auch nur zum Teil freie
Pächter: wer sollte dann noch die Felder
des Fronhofes, wer gar die alten Beunden
bebauen? Selbst die noch verbleibenden
Gnindholden waren dazu nicht im stände,
denn auch sie lösten jetzt ihre Lasten und
noch vielmehr ihre persönlichen Dienste mit
Vorliebe in Geld ab.
So wiu-den die Grundherren zwar kapi-
talreicher in ihren Einnahmen: aber in
einer Zeit noch vorwiegend naturalwirt-
schaftlichen Daseins vermochten solche
Einnahmen nicht den Mangel der einst so
zahlreichen unfreien Arbeitskräfte zu er-
setzen. Es blieb nichts übrig, als den
Eigenbetrieb der Beunden aufzugeben. Man
verpachtete oder verkaufte sie, teilweise an
kleine Leute des Dorfes, die auf den zer-
splitterten Feldern des Grossgrundbesitzes
rege Häuslerwirtschaften errichteten, teil-
weise an die ehemalige Hofgenossenschaft,
die sie gemeinsam weiter zu bebauen pflegte,
(s. d. Art. Gehöferschaften oben Bd. IV
S. 59/60), teilweise an die Meier.
Indem man aber die Beunden an den
Meier verkaufte, indem man ihn somit selb-
ständig machte: zerstörte man damit nicht
die gesamte Verwaltung-sorganisation der
Grundherrschaft ?
Man brauchte davor nicht mehr ziuiick-
znscheuen: schon längst war diese Organi-
sation im Verfall, schon längst thateti die
Scharmänner keine Botendienste, die Bauern
keine Transportdienste mehr: was hätten
sie melden, was verfrachten sollen? In
der Wurzel zernagt war schon im Laufe
des 11. Jahrhunderts grundherrlicher Meier-
dienst und grund herrliche Verwaltung.
Sieht man von der persönlichen Thätig-
keit der Grundherren selbst ab, so war die
gnmdherrliche Verwaltung seit dem 10.
Jahrhundert getragen gewesen durch grund-
hörige Kräfte. Hatte der Herr früher mili-
tärischen Schutz für seine Hintersassen ge-
braucht, hatte er Aufsichtsbeamte für seine
Einnahmen gesucht, so hatten ihm zunächst
wohl die Vasallen zu Gebote gestanden, so-
lange sie noch sein persönliches, am Hofe
lebendes Gefolge büoeten. Allein das war
höchstens bis zum Ausgang des 9. Jahr-
hunderts der Fall. Seitdem hatten die Vair
saDen sich von den Höfen zurückgezogen
und lebten über das Land zerstreut der
Eigenwirtschaft ihrer Güter.
Die dadurch in der grundherrlichen Ver-
waltung entstehende Ijücke wimle durch
die höheren Ministerialen ausgefüllt. Von
jeher hatte der Herr gewisse niedere Dienste
am Hofe, gewisse Handwerksarbeiten von
Unfreien besorgen lassen; es war eine an-
dere Art ihrer Verwendung gewesen neben
ihrer Ansetzung auf Ackei-gütem. Jetzt
fielen der grunahörigen Klasse des 10. Jahr-
hunderts, der Nachfolgerin der alten Un-
freiheit, auch die höheren Verwaltungs-
stellen zu, tüchtige Kräfte aus ihr erhielten
die Botenhufen und die Meiereien , auch
eine grundholde Reiterei wurde aus ross-
häbigen Hintersassen gebildet.
Unter diesem Wechsel der Verwaltungs-
kräfte blülite die grundherrliche Verwal-
tung im 10. Jahrhundert empor zu höchster
Vollendung. Allein es begreift sich, dass
die neue Beamtenklasse grundholder Dienst-
mannen eben in der gewählteren Beschäfti-
gung die Auffordenmg sah, noch höhere
Ziele, womöglich die volle gesellschaftliche
Emancipation aus dem gnmdhörigen Ver-
hältnis zu erstreben. War sie doch schon
durch die blosse Thatsache des Waffen-
dienstes, der bald für aUe ihi* Angehörigen
durchdrang, weit über die gewöhnliche
grundholde Menge gehoben ; hatte sich doch
schon im 10. Jahrhundert imter den geist-
lichen Gnmdherrschaften über sie das Wort
verbreitet: servi, si non timent, tument
(Gas. S, Galli c. 48).
So kam es zur langsamen Emancipation
dieser Klasse. Schon im 11. Jahrhundert
beansprucht sie dauernd eine feststehende
Entschädigung für ihre Dienstleistungen in
den sogenannten Dienstlehen, und die Be-
gründung dieser Lehen reisst eine neue
Lücke in den Zusammenhang der grund-
herrlichen Verwaltung. Seit Mitte des 12.
Jahrhunderts aber erscheint die Dienstmann-
schaft mit Lehen gesättigt ; sie bildet einen
ersten Krystallisationspunkt für die neue
gesellschaftliche Bildung der Ritter, sie
wird, erblich auf ihren Lehnsgütem, sie
tritt im Laufe der Stauferzeit in den ge-
wöhnlichen Lehnsverband ein. Schon um
das Jahr 1200 ist sie damit der Verwal-
tungspraxis der Grundherrscliaften ent-
wachsen.
Ein Vorgang von ausserordentlicher Be-
deutung. Die Organisation des grossgnmd-
herrlichen Besitzes hat die gnmdholde
Handwörterbacb der Staatswissenschaften. Zweite Aafla,?e. IV.
53
834
Grundbesitz (Geschichte)
Klasse differenziei-t : durch höhere Tliätig-
keit wie näheren Zusammenhang mit der
Person des Grundherrn aus der gleichartigen
Macht der GrimdhÖrigen hervorgehoben er-
scheinen die Dienstmannen als neue soziale
Schicht. Aber indem die Grundherrschaft
gesell schaftsbüdend wirkt, verblutet sie sich
zugleich an dieser Aufgabe. Indem sie die
eigentlich staatliche Pf licht sozialer Schöpfun-
gen auf sich nimmt, verliert sie ihr Yer-
waltungspersonal und damit den Rahmen
ihrer wirtschaftlichen Bethätigung.
Nirgends erscheint dieser Zusammen-
hang deutlicher wie im Verfall der Meier-
ämter.
Die grundholden Meier waren ursprüng-
lich absolut abhängige Diener ihres Grimd-
herrn; sie lieferten, was dessen Hof zu
liefern ihnen jeweils aufgab. Allein bald
wurden diese Lieferungen fixiert: Die Be-
quemliclikeit imd Lotterie jeder naturalwirt-
Bchaftlichen Budgetierung, die zum Stiftungs-
charakter der Einnahme hindrängt, wie die
Selbständigkeitsgelüste der Meier führten
gleichmässig zu diesem Ergebnis.
So l)etrachtete sich denn der einzelne
Meier bald als der eigentlich selbständige
Vei'walter des Fronhofs ; er schien nm- noch
durch die regelmässigen Leistungen an den
Herrn gebunden, diese Leistungen selbst er-
schienen im Sinne einer Rente oder Pacht;
nicht minder \ne für die Bauerngüter trat
für den Fronhof der Gesichtspunkt blosser
Rentberechtigung der Grundherren in den
Yordergnmd.
Diese wirtschaftliche Emancipation er-
hielt dann durch die oben geschilderte so-
ziale Loslösung volleren Inhalt und weitere
Bedeutung. Als Lehnsmann des Grund-
herrn erscliien der Meier mit dem Fronhof
nunmehr erblieh bewidraet, ja wusste sich
schliesslich oft, zumeist im Laufe des 13.
Jahrhunderts, auch noch vom Lehnsnexus
zu befreien.
Aber auch wo das nicht geschah, sahen
kräftige Meier sich gleichwohl als Herren
ihres Fronhofs an; sie erweiterten dessen
Hufenumfang aufs Doppelte und Dreifache;
sie brachten die alt gerodeten grimdherrlichen
Beunden sowohl diu'ch gesetzliche Mittel
als durch Gewalt an sich, sie erblickten in
den Zinsbauern ihre Gnuidholdon.
So erweiterten sich die alten Meierhöfe
zu den Rittergütern des westlichen Deutsch-
land, wie sie seit dem 14. Jahrhundert
vielfach, gleichsam aus der Erde gestampft,
sich finden, und um das Rittergut legte
sich die Fronhofsgenossenschaft der Zins-
leute als gnindholdes Zubehör des neuen
Betriebes ; nicht selten erschienen die alten
Grundheii-schaften , namentlich diejenigen
kirchlichen Charakters, nunmehr zum Ent-
setzen ihrer Inhaber vCiDig in kleine ritter-
schaftliche Grundherrschaften fremden Eigen-
tums zersprengt.
Aber auch wo sich die alten Grossgrund-
herrschaften mehr oder minder gut erhielten,
waren sie doch diu'ch den Verlust des alten
Beamten Personals wie infolge der allmäh-
lichen Befreiung der grundhörigen Höfe in
ihrem wirtschaftlichen Wesen gänzlich ver-
ändert.
War die Grossgrundherrschaft urspriing-
lich eine Institution, in welcher der Gnuid-
hen- selbst noch als wirtscliaftlicher Unter-
nehmer erscheint, so wurde sie nunmelir
zum blossen Renteninstitut. Noch im 1().
Jahrhundert hatten die Fortschritte der
Landwirtschaft von Einsicht und Thatkraft
der Grossgrundherren abgehangen; auch
die Besiedelung und der Ausbau der Hei-
mat im 11. und 12. Jalu^hundert war noch
zum grossen Teil eine glänzende wirtschaft-
liche That der Grossgrundherrschaft ge-
wesen. Es war die .letzte. Schon seit tler
zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts be-
gannen die Grundherren sich von der wiit-
schaftlichen Bethätigung an Wolü und Wehe
ihres Gnmdbesitzes ziu'ückzuziehen : immer
mehr begnügten sie sich mit den fixierten
Leistungen der Meier, den Zinsen der
bäuerlichen Klassen ; Bauern und Meier er-
schienen nun als Unternehmer, ihnen fiel
darum auch der ünternehmergewimi zu,
während dem Grundherrn nur noch der
Genuss der Bodenrente verblieb.
Mit dieser Teilung des wii-tschaftlichen
Gewinnes aus dem Ackerbau setzte eine
ausseiest folgenreiche Entwickelung ein : der
Unterschied zwischen Bodenrente und länd-
lichem Unternehmergewinn begann etwa
zur selben Zeit zu wirken, wo neben die
bisherige rein ländliche Kultur die städtische
Landwirtschaft trat.
Der Umschwung machte sich auf dem
Lande schon seit Mitte des 11. Jahrhunderts
bemerklich in der steigenden Decentralisa-
tion der alten GrundheiTschaft ; auf ihrem
Boden begannen sich Ministerialien und
Grundholde, Häusler und Tfigelöhner, Vögte
und Freie immer selbständiger wh'tschaft-
lich zu entwickeln. Dementsprechend l)e-
gann die Grundherrschaft ihre Verwaltungs-
zusaramenhänge aufzugeben; im 12. Jahr-
hundert verfielen Transportsystem und Nach-
richtendienst. Ihnen nach stürzte die bis-
herige grundheniiche Eigenwirtschaft; nur
in den Y)esonderen Betrieben der Viehzucht
und des Wiesenbaues schienen vereinzelt
noch Fortscluitte gemacht zu werden.
Endlich steht die Eigenverwaltung slill ;
der grundherrliche Boden ist für den
Grundherrn nur noch eine Unterlage von
Renten; die Meiereien sind blosse Renten-
recepturen und im günstigsten Falle neben-
her Pachtungen geworden. Dementsprechend
Grundbesitz (Geschichte)
835
bildet sich seit Mitte des 12. Jahrhunderts
ein konstanter Zinsfuss für ländliche Renten
aus, bep^innen die Grnndherrschaften unter
den Staufern Rentengeschäfte der mannig-
fachsten Art zu betreiben.
Einige Generationen weiter, spätestens
etwa um das Jahr 1300, ist der Prozess
völlig abgelaufen. Nun sind die Grund-
herrschaften reine Rentherrschaften , nun
begründet man umfassende Systeme von
Rentanweisungen ohne Rücksicht auf den
wirtscliaftliclien Charakter, den Zusammen-
hang der Rentensubstrate; von einem öko-
nomischen Grossbetrieb im Rahmen der
alten Entwickelung ist keine Rede mehr.
Doch in demselben Masse, in dem auch
die grössten GrundheiTschaften ihre wirt-
schaftliche Wichtigkeit verloren hatten, liat-
ten doch gerade diese auch andererseits ihre
politische und mittelbar ihre soziale Bedeu-
tung gestäi'kt, waren sie zu immer festeren
GruncUagen halbstaatlicher Territorialent-
wickeluugen des frühereu Mittelalters ge-
worden.
5. Kolonisation des Ostens, anfängliche
Ausgestaltung der Grundbesitzverliält-
nisse im Osten; 12. — 14. Jahrhundert
Die Ent Wickelungen auf mutterländischem
Boden, welche sub 3 und 4 geschildert sind,
hatten die beiden grossen Listitute der ur-
zeitlicheu und der frühmittelalterlichen Ver-
fassung, die alte Markgenossenschaft und
die Grundherrschaft, in ihrem Charakter
wesentlich verändert und in ihrem Wesen
gespL*engt. An die Stelle des alten durch
sie gebundenen Wirtschaftslebens war eine
neue, freie Art im Grundbesitz getreten.
Ihren Ausdruck fand sie wirtschaftlich
im Einzelansbau bezw. in der Begründung
von Ortschaften, deren Hufen thimlichst
oder ganz der Gemengelage entzogen wur-
den, rechtlich in freieren Formen der Land-
leihe. Beide Momente hatten sich nirgends
früher und nirgends energischer geltend
gemacht als im Ausbau des Mutterlandes.
Sie waren hier in der specifischen Form
des Königshufenbaues und der Landsiedel-
leihe zu Tage getreten.
Die Königshufe kommt schon im 8. imd
9. Jahrhundert vor; sie besteht in einem
meist zusammenhängend ausgeworfenen
LandkompJex von nicht über 50 ha, der,
mit der virga regalis vermessen, zumeist
und anfangs stets ans königlichem Forst
zum Anbau ausgesondert wird und als
extensiv anzubauende Kolonialhufe die ge-
meine, schon längst intensiv bewirtschaftete
Volkshufe um mindestens das Doppelte an
Umfang überragt.
Die Landsiedelleihe ist eine Leiheform,
die namentlich am Rhein und im Hessischen
früh ausgebildet wird und die dem ur-
barenden Kolonisten einer Hufe auf frem-
dem Grund und Boden die erbliche Nut-
zimg dieser Hufe gegen verhältnismässig
geringen Zins und ohne Verlust der per-
sönlichen Standesrechte, nach einer Reihe
von Freijahren ziu* ersten Einrichtung, ge-
stattet.
In der Königshufe und der Landsiedel-
leihe hatte das 8. — 12. Jahrhundert ausser-
ordentlich \vdrksame Mittel agrarischer
Kolonisation entwickelt.
Höchst eigenartige und besonders frei-
heitliche Formen aber hatten beide Institute
in Flandern und Holland angenommen.
Flandern ward im Laufe des 11. und 12.
Jahrhunderts zum ersten Industriestaat der
nordeuropäischen Kultur. Reich an Sumpf
und Moor und ausser diesen ursprünglich
bedeckt mit fast unabsehbaren Wäldern,
hatte das Land die wachsende Bevölkerung
in agrarischer, hier nur mit grossen Mitteln
an Kapital zu ermöglichender Kultur nicht
zu ernähren vermocht. Schon früh war
deshalb aus diesem besonderen Grunde ein
städtisches Leben erwacht; zu glänzender
Blüte erhob es sich unter dem Einfluss
internationaler Handelsbeziehungen im 12.
Jahrhundert. Damit wurden neue Kapitalien
fi'ei zur kostspieligen ürbarung der heimi-
schen Moore und Wüsten (Woestinen); ener-
gisch ward diese seit dem 11. Jahrhundert
in Angriff genommen. Indem aber bürger-
liche Mittel die Kultiu* durchführten, indem
jeder Anbauer des neu eroberten Bodens in
der Verfrachtung des gewonnenen Torfes,
in der Benutzung der Kanäle, die das Moor
durchzogen, selbst halb büi^gerlichem Dasein
zuneigte, ergaben sich für die Kolonisation
von vornherein ungemein freie wirtschaft-
liche und rechtliche Formen. Was aber für
Flandern galt, das traf teilweise, wenn schon
unter veränderten wirtschaftlichen Voraus-
setzungen, auch für HoDand zu: der äus-
serste Nordwesten des deutschen Bodens
übertrumpfte die centralen Gegenden des
Westens noch in Bereitstellung äusserst
wirkungsvoller kolonisatorischer Mittel.
Gleichzeitig aber wiesen diese Gegenden
seit mindestens der Mitte des 11. Jahrhun-
derts einen steigenden üeberschuss an Be-
völkerung auf. Sie drängte in die Städte;
sie suchte über den städtischen Erwerb hin-
aus Unterschlupf in neuer ländlicher Thä-
tigkeit auf neuem Boden.
Es erschloss sich da zunächst das Ge-
biet des damals äussersten deutschen Ostens:
Oesterreich bis zu den Obstabhängen des
Wiener Waldes und Sachsen bis zur Elbe.
Vornehmlich im Norden vermochten Hol-
länder und Vlamen ilire alte Kunst der
Moorkultur zu erweisen. Schon der grosse
Erzbischof Adalbert von Bremen hatte sich
im Jahre 1064 die Moore um Bremen von
kaiserlicher Huld schenken lassen, vermut-
53*
836
Grundbesitz (Geschichte)
lieh lim Moorkolonieen anzulegen ; nicht zwei
Generationen später begann dann wirklich
die Kolonisation dieser Strecken, und bald
folgte die Kultivierung der Moore links des
Unterlaufes der Elbe. Dann zogen sich die
Leute des Westens auch tiefer in säch«i-
sches Land hinein ; bereits um die Mitte
des 12. Jahrhunderts erreichten sie Thilrin-
gen und das altgermanische Land Meissen,
den heutigen linkselbischen Teil des König-
reichs Sachsen.
Allein dieses äusserste östliche Gebiet
deutschen Namens genügte der Ausdeh-
nungskraft der westlichen Bevölkerungen
keineswegs; und die politischen Kräfte
standen bereit, ihnen eine gewaltige Ver-
breitung jenseits der Elbe, im Slawenlande
zu sichern.
Die alte karolingische Reichspolitik,
welche sich im wesentlichen mit der Elb-
und Saalgrenze gegenüber den Slawen be-
gnügt hatte, war von den Ottonen alsbald
verlassen worden. Heinrich I. und Otto der
Grosse hatten die kräftigste Initiative ergrif-
fen; das heutige Königreich Sachsen auch
rechts der Elbe sowie grosse Teile Branden-
burgs und Mecklenburgs waren erobert,
deutscher Einfluss bis zur Oder begründet
und für die Bekehrung der Eibslawen ein
episkopales System mit den Bistümern Zeitz-
Naumburg, Merseburg, Brandenburg und
Havelberg, sowie das Erzbistmn Magdeburg
geschaffen worden, das im Verein mit der
nordgermanischen Mission der bremisch-
hamburgischen Kirche seine Ein^^^rkungen
weit noch über die politische Einflusssi)hüre
des Reiches erstreckte.
Nim gingen diese Errungenscliaften frei-
lich schon unter den späteren Ottonen ver-
loren, ein Opfer der neuen kaiserlichen, nach
Italien weisenden Universalpolitik ; und auch
die fränkischen Kaiser, den Sachsen anfangs
unsympathisch, später abhold, haben die
grosse Politik der Ottonen nicht wieder auf-
genommen. Indes mit Lothar von Supplin-
burg kam im Jahre 1125 der sächsische
Herzogsstamm von neuem in den Besitz der
Krone; die alte Konstellation der Ottonen
schien für die Politik an der Ostgrenze
wieder aufzuleben. Kam es nun hierzu
nicht, da auf den sölmelosen Lothar das
süddeutsclie Geschlecht der Staufer folgte,
so begann doch mit dem kräftigen, wenn
au(ih kurzen Eingreifen Lothars für die Ost-
grenze eine neue Zeit. Lothar, auch unter
dem kaiserlichen Piu'pur allzeit ein getreuer
Herzog der Sachsen, wies die Fürsten des
Stammes den gewinn- und einflussbringen-
den Weg slawischer Eroberung ; als er starb,
ward seine Politik von den Machthalx?rn an
der Elbe aufgenommen.
Die ei-sten gn)sseren Erfolge wurden jen-
seits des Unterlaufes der Elbe eri*oicht ; hier
begründete Graf Adolf aus dem Geschlechte
der Schauenburger eine glänzende Herrschaft
in Holstein und am südöstlichen Winkel
der Ostseegestades: er hat in Lübeck die
erste deutsche Stadt an der Ostsee erstehen
lassen.
Aber bald wurden seine Erfolge über-
holt durch Albrecht von Ballerlstedt, den
Bären, den Begründer der Mark Branden-
burg. Von der Altmark und Mittelelbe her
drang er vor schon bis zur Nähe der Oder;
weniger gewaltsam im Krieg als in der
Kultivation und Organisation des erworbenen
Landes, übertrug er die besonders selbstän-
digen Rechte des deutschen Markgrafen auf
das neue Gebiet.
Zwischen ihn und den Schauenburger
keilte sich Heinrich der Löwe, als Herzog
von Sachsen, ein ; er nahm fast ganz Meck-
lenburg in Besitz, er verdrängte und unter-
drückte die scliauenburgische Herrschaft in
Holstein : ihm schien die Krone eines ersten
grossen deutschen Ostseereiches zu winken.
Und schon waren um diese Zeit, in den
siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts, deutsch-
autonome Kräfte von Lübeck her weiter
längs der Ostsoeküste vorgedrungen. Auf
dem Wege von Wisby nach Nowgorod hat-
ten deutsche Kaufleute die Mündung der
Düna angesegelt, sie begannen in Ldvland
Einfluss zu gewinnen, sie brachten den
Völkerechaften der Liven und Esthen die
Botschaft des Christentums, sie standen im
Begriff, vermöge agrarischen Nachschubs
aus der Heimat eine Ackerbaukolonie zu
begründen.
In diesem Augenblick ward Heinrich der
Löwe gestürzt (1180). Die nächste Folge
war das Stocken aller deutschen Unterneh-
mungen an der Ostsee; vergebens suchte
es Kaiser Friedrich I. durch persönliche An-
wesenheit in Lübeck und Begabung der
Stadt mit reichsstädtischer Freiheit zu ver-
hindeiTi. Denn alsbald drang der gewaltige
Dänenkönig Waldemar nach dem Rate seines
Kanzlers Absalon, des späteren Erzbischofes
von Lund hervor imd vernichtete fast über-
all dio deutschen Anfänge. Die gesamte,
bis dahin deutsche Ostseeküste wurde
dänisch, der Auswandererhafen für Livland,
Lübeck, den Deutschen gesperrt, Livland
selbst geriet in Gefahr, in dänische Hände
zu gelangen.
In dieser Xot brachten zwei Entwicke-
lungen einen den Deutschen günstigen Um-
schwung. Von 3Iecklenburg und Holstein
her wai"d Waldemar von der deutschen Ost-
seeküste verdrängt (Schlacht von Bornhöved
1227), und in Preussen trat, von den Polen
herbeigerufen, der Deutsche Orden auf, um
von der Weichselniederimg um Thorn aus
zunächst die untere Weichselgegend bis zum
Meere, daTui dc^sscn östliches Gestade bis
Grundbesitz (Geschichte)
837
zum Ende der beiden Haffe zu erobern und
von hier aus dem livischen Schwertritter-
orden hilfreiche Hand zu leisten. Die
fcriegerischen Ereignisse, die an diese Vor-
gänge in Preussen anknüpfen, füllen noch
das ganze 13. Jahrhundert, am Schlüsse des-
selben waren Livland wie Preussen dem
deutschen Einflüsse dauernd geöffnet.
Inzwischen aber war über Brandenburg
hinaus auch Pommern, nicht zum geringsten
durch den stillen civilisatorischen Einfluss
der Cistercienserklöster, den Deutschen ge-
wonnen worden : das Südgestade der Ostsee
selbst ein vorzugsweise deutsches Meer ge-
worden. Ferner waren auch im Binnenland
des Ostens grosse Eroberungen gemacht
worden. Schlesien, unter eine Anzahl herr-
schende Fürsten piastischen Stammes ge-
teilt, hatte sich immer mehr von Polen ab-
gewendet, seit etwa 1240 konnte es als der
germanischen Kultur verfallen gelten. In
Böhmen und Mähren waren die Deutschen
als Begründer städtischen Lebens wie
deutsch-ländlicher Kultur innerhalb der
grossen ehemaligen Grenzwälder der einzel-
nen Stämme, die beide Länder durchzogen,
aufgetreten, als bürgerliches Ferment wenig-
stens hatten sie auch in Südpolen (War-
schau etc.) gewirkt. In Ungarn endlich
hatten sie Platz gefunden in den inneren
Karpathenabhängen des Westens und Nor-
dens, vornehmlich in der Zips, und strömten
massenweise nach der östlichen Vorburg
des Landes, nach Siebenbürgen. *
Wie aber im Süden noch vereinzelt, so
drangen sie im Norden in das Land
zwischen Elbe und Oder, nach Preussen und
Schlesien, minder nach Pommern und Liv-
land in kompakter Masse vor. Hier vor
aUem kam es zu einer neueren Ausbildung
ländlichen Lebens und Gnmdbesitzes im
deutsch-kolonisatorischen Sinne.
Am frühesten, soweit deutsches Recht
in Betracht kommt im wesentlichen typisch
für den gesamten Osten, w^enn auch in Ein-
zelheiten wieder eigenartig, entwickeln sich
die Verhältnisse in Brandenbiu*g. Branden-
burg war das erste Territorium, wo die alte
freie Stellung des markgräfhcheu Amtes zu
einer fast völligen Exemtion der Verwal-
tung vom Einfluss des Reiches geführt
hatte. Darum gipfelte die Verfassung in
der Person des Markgrafen; der Markgraf
schuf die ßezirkseinteüimg des Landes, von
ihm hingen die Beamten ab, ihm gehörte
alles Land wohl anfangs in Obereigentum.
Der Weg zu territorialem Absolutismus
wäre möglich gewesen, hätte die Verfassung
auch die hervorragenden kriegerischen Kräfte
geliefert, deren gerade die Mark dauernd
bedurfte.
Allein liier bestand eine Lücke. Man
konnte nicht umhin, sie schon bei der Occu-
pation des Landes zu berücksichtigen.
Neben den Bauernschaften, welche unter
ihren Unternehmern, den künftigen Erb-
schulzen, ins Land zogen und Dörfer grün-
deten, wurden zahlreich an einzelne ein-
wandernde Freie wie Ministerialen, die des
Dienstes zu Ross mächtig waren, Landstücke
in der Ausdehnung von mindestens 4 oder
6 Hufen vergeben.
Fast regelmässig trat so neben die Neu-
gründung eines Dorfes aus rauher Wurzel
das gelegentlich wohl schon für sich be-
stehende, in zusammenhängender Landmasse
liegende Gut des Knappen oder Ritters.
Seine Besitzer hatten nach Bestinmiungen
der Jalire 1280 und 1283, wenn Knappen,
mit zwei bis drei Spiessjungen, wenn Kitter,
mit drei bis vier reisigen Knechten anzu-
reiten, dafür genossen sie ihres Landes und
waren für dessen normalen Umfang bedefrei
und frei von den Lasten bäuerlichen Zinses
und Kriegsdienst. Neben die bäuerliche
Bevölkerung, die dem Markgrafen unter dem
Gebote seiner Schulzen imd Landvögte zinste,
steuerte und staatlich frondete, trat damit
eine neue Gruppe l|lndlicher Siedler. Re-
krutierte sie sich vielfach aus den ungemein
zahlreichen Dienstmannengeschlechtern des
Mutterlandes und vornehmlich Sachsens,
war sie also ursprünglich meist unfreiem
Stamme entsprossen, wie sie denn auch im
Mutterlande noch lange als unfrei galt : hier
auf kolonialem Boden fragte man wenig
nach Vorgeschichte und einstiger Stellung,
nur der feste Arm, die kriegerische Bedeu-
tung, die das Bauerngut vielfadi überragende
Grösse des Besitzes galten: fast ohne wei-
teres wurden die reisigen Inhaber des Vier-
und Sechshufenlandes zur geseUschaftUch
führenden Schicht, zum Adel des platten
Landes. Freüich waren sie dabei anfangs
noch in keiner Weise persönlich bevorrech-
tet: in gleiches Gericht zogen sie mit den
Bauern, die gleich vollkommen erschienen
in ihrem Rechte. Aber doch war schon der
Anfang einer beiderseitigen Absondenmg
gegeben, auf dem Boden rechtlicher wie
politischer Beziehungen. Die Bauern sassen
auf ihren Hufen unter dem Obereigentum
des Markgrafen kraft Erbzinsrechts, so sass
auch ihr Schulze, nur sein Amt, nicht auch
sein Gut ging vom 3Iarkgrafen zu Lehen.
Der Ritter dagegen nutzte sein Gut unter
dem Obereigentum des Markgrafen kraft
Lehnsrechts: so stand er in Lehnssachen
von vornherein vor dem VasaUenhof des
Landes, vor dem Hofgericht, zu Rechte,
unter dem Markgrafen als persönlichem
Richter. Nach dieser Seite hin war, ausser
seinen besseren sozialen Beziehungen, auch
rechtlich seine Stellung dem Markgrafen
gegenüber bevorzugt neben dem Bauern.
Politisch bevorzugt erschien sie sehr leicht
838
Grrundbesitz (Geschichte)
hinsichtlich der öffentlichen Lasten. Dem
Bitter, der mit seinen Keisigen die Sorgen
der Landesverteidigimg trng, war neben
dem Ertrag seiner sechs Hufen zugleich
die Freiheit derselben von direkter Besteue-
rung zugesprochen worden. War das an-
fang-s nm* im Sinne finanzieller Erleichte-
rung gedacht gewesen, so erschien es doch
gar bald im Lichte politischer Bevorrech-
tung — die Steuerfreiheit schien ein Privi-
legium des Ritterstandes als solchen. Von
diesem Ansprüche aus begann eine Ent-
wickelung, die neben anderen Momenten den
ursprünglichen Aufbau des markgräflichen
Staats schon vor Schluss des 13. Jahrhun-
derts unterwühlt, im 14. Jalirhundert ge-
stürzt hat. Die Ritter begnügten sich mit
nichten auf lange mit der allerdings ihi'e
Dienste nur kärglich lohnenden Ausstattung
im Sechshufenland. Zu kriegsfreien Zeiten
im Besitz ausreichender Arbeitskräfte, be-
gannen sie, je friedliclier die Lage w^urde,
um so mehr über deren ursprünglichen Be-
sitz hinaus zu roden: schon in der zweiten
Hälfte des 13. Jahrhunderts sind Rittergüter
von zwanzig Hufen (600 Morgen) keine
Seltenheit; im neumärkischen Landbuche
vom Jahre 1337 finden sich solche bis zu
dreissig Hufen. Und schon früh beanspruch-
ten die Ritter die Steuerfreiheit auch dieses
neuen Erwerbes; durchgesetzt wurde sie
überall im 14. Jahrhundert. Liess sich bei
so privilegierter Stellung noch der Gerichts-
stand der Ritter vor den gemeinen Gerich-
ten halten? Immer mehr wurden die
Sachen der Ritter nur noch vor dem Hof-
gericht des Markgrafen verhandelt, schon
der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts
erschien ihr besonderer Stand vor diesem
(jericht als fast selbstverständlich ; sie wur-
den zu eximierten Gerichts- und Rechtsge-
nossen: das neue Standesbewusstsein fand
die dem sozialen Yorstellungsver mögen des
13. Jahrhunderts entsprechenden korpora-
tiven Formen. Mit alledem waren die Ritter
zu einem voUen Landesadel im mittelalter-
lichen Sinne geworden. Aber mochten sie
nun in dieser Eigenschaft die Entschlies-
sungen der Landesherren mehr oder minder
verfassungsmässig zu beeinflussen suchen :
die Verfassung als solche durchbrochen
hatten sie immerhin noch nicht. Hierzu
bedm-fte es erst der finanziellen Nöte der
Markgrafen seit den fortwährenden Landes-
teilungen in der zweiten Hälfte des 13.
Jahrhunderts. Wie den Landesherren des
Mutterlandes, so galt auch den Landesherren
der Kolonialgebietc, mit Ausnahme teilweise
dos deutschen Onlens, die landesherrliche
Gewalt nur als ein Komplex von nutzbaren
Rechten : die Idee des modernen Staates
war auch den askanisohen Herrschern fremd.
In wirtschaftlicher Verlegenheit begannen
sie daher, wie die Fürsten jenseits der Elbe,
die Liquidation dieses Komplexes staatlicher
Rechte, ohne zu bedenken, dass ein solches
Vorgehen in dem straffer organisierten
Kolonialstaate von besonders verheerender
Wirkung sein rausste. Abnehmer der landes-
fürstlichen Rechte, die sie veräusserten,
fanden sich überall im Lande selbst: es
waren zunächst die Ritter. Sie kauften die
ihnen näherliegenden Rechte. Sie erwarben
das Schulzenlehn des Dorfes; dem ihr
Rittergut nachbarlich angrenzte; sie sicher-
ten sich die staatlichen Fronden der Bauern-
schaft sie kauften den markgräflichen Erb-
zins der Hufen, sie kauften die Bede. Sie
traten in ihrem Dorfe an des Markgrafen
Statt : und sofort verkürzte sich die Perspek-
tive, von der aus die staatlichen Pflichten
der Bauern einst konstruiert waren, ins
Grundhf?rrliclie. Der Ritter ward der Grund-
herr seines Dorfes, die Bauern seine Grund-
holden. Nur war es nicht die behagliche,
korporativ unendlich reich ausgestaltete,
von unten her konstruierte, in Recht und
Pflicht vielfach ins Humoristische gezogene
Grundhörigkoit der späteren Zeiten des
Mutterlandes. Die neuen auf die Ritter
übertragenen Rechte waren an sich unge-
messen: ursprünglich staatlich gedacht,
hatten sie an dem staatlichen Interesse des
öffentlichen Wohles ihre virtuell völlig
sichere Grenze finden sollen. Diese Grenze
bestand jetzt nicht mehr. Welche Rechts-
vorstellung sollte jetzt hindern, dass ein
Ritter die privat gewordenen Kriegsfronden
zu ungemessenen Ackerdiensten umwandelte?
Warum sollte das im Erbzinsrechte aner-
kannte Oberoigontum des Markgrafen, nun
mit diesem Rechte an den Ritter überge-
gangen, l)ei der grösseren, durch die Nach-
barschaft bedingten Einwirkungsfälligkeit des
Ritters auf die Bauern nicht ungleich
strengere, l)isher ungejihnte Formen an-
nehmen? Selbstverständlich gar war es,
dass aus der Uebernalime des Erbschidzen-
amtes sich volle Patrimonialgerichtsbarkeit
entwickelte. Das waren die Aussichten, mit
denen die Periode der Askanier in Branden-
burg abscliloss. Keine Fi-age, dass sie im
vollen Gegensatz standen zu dem ursprüng-
lichen Charakter der kolonialen Kultur des
Ostens. Grnndstürzend noch einmal hatte
im Verlauf der Eutwickelung von zwei
Jahrhunderten gewirkt, dass kriegerische
Dienste im früheren Mittelalter nicht anders
als durch Landschenkungen gelohnt werden
konnten. Wie die Besiodelung des Ostens
aus einer mittelalterlichen Kultiu' her er-
folgte, so trug sie in sich Ent>\4okelungs-
keime der Naturalwirtschaft, dieselben Keime,
deren Entfaltung einst das Universalreich
der Karlinge und jüngst die kaiserliehe
Monarchie der Staufer gestürzt hatte. Es
Grundbesitz (Greschichte)
839
war das letzte Mal, dass natiiralwirtschaft-
liche Faktoren eine junge Staatsbildung auf
deutschem Boden herrschend beeinflussten :
schon begann der handeltreibende und
kriegerische Ordensstaat in Preussen, be-
gannen einige fortgeschrittene Territorien
im geldwirtschaftlich emporsteigenden Wes-
ten neue Wege staatlicher Selbständigkeit
zu suchen. Brandenburg aber war in seinem
Verfall während der ersten Hälfte des 14.
Jahrhunderts für den Osten mit Ausnahme
Preussens nur das grösste Beispiel einer
Ent Wickelung, die sich auch in den anderen
kolonisierten Territorien ähnlich vollzog:
ungelenk und in sich verzehrt erwarteten
diese Lande die weitere Verfügung über ihr
Schicksal von fremder Hand ; allerorten fand
die gix)sse kolonisatorische Bewegung der
Stauferzeit ein jähes Ende.
6. Verfall der bäuerlichen Besitzver-
hältnisse im Mntterlande; 14. — ^16. Jahr-
hundert Indes während die agrarische
Entwickelung auf kolonisatorischem Boden,
wesentlich infolge einer Verschlechterung
der Besitz Verhältnisse, doch erst den Anfängen
unglückhcher Entwickelung entgegenging,
trat im Mutterland schon der völlige Ruin
der alten Verfassung zu Tage.
Schon seit dem 13. Jahrhundert hatte
infolge starken Ausbaues im Mutterlande die
Möglichkeit aufgehört, eine wachsende länd-
liche Bevölkerung mit den Mitteln der bis-
herigen Landeskultur unterzubringen und zu
versorgen: massenhaft sind im 14. Jahrhun-
dert unproduktive, später wieder einge-
gangene Höfe und Dörfer angelegt worden,
namentlich in Süddeutschland. Und wäh-
rend die damit drohenden Verlegenheiten
im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts noch
eine Lösung gefimden hatten durch den
grossen Abzug der ländlichen Bevölkerung
in die Städte und zur Kolonisation des Os-
tens, fielen diese Auswege seit Beginn des
14. Jahrhunderts immer mehr hinweg.
Gegen die östliche Kolonisation erhob sich
immer drohender die Reaktion der slawi-
schen A^ölker; in den Städten der Heimat
aber klärte sich die stüi-mische btlrgerUche
Bewegung seit spätestens Mitte des 14.
Jalirhunderts zu einer Ruhe ab, die keines-
wegs starken Bevölkerungszuschusses be-
durfte.
So nahm denn die Bevölkerung des
platten Landes reissend zu, und baJd er-
gaben sich aus den wachsenden Ueber-
schüssen beängstigende Folgen. Schon längst
war die alte Harmonie ursprünglich einheit-
licher Bezirkseinteilung des flachen Landes
für Gerichtspflege, Heeresaufgebot und Wirt-
scliaftsproduktion zugleich zerfallen. Die
alten Hundertschaften, die dem freien Hufen-
besitzer zugleich die Ausübung seiner staats-
bürgerlichen Pflichten in Heer und Gericht
verbürgt hatten, kannte man in den meisten
Gegenden nicht mehi'; von den alten politi-
schen Pflichten des Landmanns im früheren
Zusammenliang war nicht mehr die Rede.
Aber immer hatten sich doch noch bis ins
14. Jahrhundert hinein vielfach Gix)ssmarken
erhalten, die eine Anzahl von Dorfgemeinden
umfassten: konnte man in ihnen auch nicht
mehr roden, so bildeten sie doch mit ihrem
Fonds von gemeinen Rechten noch immer
eine Sparkasse gleichsam der Bevölkerung,
deren Ausbeutung diu*ch Zeiten besonderer
Not hindurchretten konnte. Jetzt, mit
steigender Bevölkerung, wurden auch diese
alten rein wirtschaftlichen Zusammenhänge
vielfach zerstört Je grösser die einzelnen
Dörfer an Volkszahl wurden, um so mehr
erhob sich der Ruf nach Selbständigkeit:
das 14. und 15. Jahrhundert sind durch
eine unendliche Menge von Streitigkeiten
und Trennungsprozessen in gemeiner Mark
bezeichnet.
Jedoch was schlimmer war, die alte
Markgenossenschaft begann auch dann zu
zerfallen, wenn sich ihre Ausdehnung nur
auf ein Dorf beschränkte. Gegenüber den
neuen Bildungen der Einzelhöfe und des
Kolonialdorfes mit getrennter Ackerlage der
einzelnen Hufen, die eine bei weitem mehr
individualistische Wirtschaft ermöglichten,
erschien ihre Dorfanlage mit Flurzwang und
Gemengelage von vornherein veraltet. Halten
hätte sie sich nur können, wenn bei dem
allgemeinen Drängen der Zeit zu mehr
individuahstischen Wirtschaftsformen für sie
der konmiunistische Charakter der lu-spning-
lichen genossenschaftlichen Anlage erst recht
erhalten worden wäre.
Davon aber war keine Rede. Hatte noch
im 12. Jahrhundert der Bauer sich durch-
schnittlich, wenigstens in nicht allzu stark
besiedelten (regenden, des Vollgenusses einer
ganzen Hufe, des alten markgenossenschaft-
lichen Substrates, erfreut: jetzt trat mit
steigender Bevölkerung und aufhörendem
Ausbau unausweichlich die Zersplitterung
der alt^n Hufenbestände ein; im 15. Jahr-
hundert besass der Bauer kultivierterer
Gegenden der Regel nach nur noch eine
halbe oder Viertelshufe. Zugleich aber kam
eine Masse Minder- oder Nicht shäbiger
empor; es bildete sich ein ländliches Prole-
tariat, eine Abstufung auch der Besitzenden
in bis dahin nicht gekannten Formen: eine
Dorfaristokratie sonderte sich langsam aus
gegenüber einem Kreise von schlechter Be-
rechtigten.
Es war der Ruin der alten Markgenossen-
schaft. Es verstand sich, dass die kleinen
Leute ktlrzer gehalten wurden im gemeinen
Genuss der Allmende, wenn sich nicht etwa
gar die alten Hufenbesitzer der gemeinen
Nutzungen völlig bemächtigten und sich in
840
Grundbesitz (Geschichte)
ihrem Besitz als eine Reaigemeinde hinaus-
hoben über die Häusler und Büdner des
Dorfes.
Wurde durch diese inneren Entwicke-
lungen eine Fülle von Gärungsstoffen in die
kleine Welt jedes Dorfes getragen, so sorgten
die von aussen kommenden Einwirkungen
der Gnindherrschaft dafür, diese zu ver-
stärken. In der Auflösung aer alten Grund-
herrschaft mit ihrem wenigstens teilweise
rein wirtschaftlichen Charakter war der
Grundherr, soweit seine Einnahmen aus ur-
sprünglich hörigem Besitze in Betracht
kamen, zum blossen Eentenbesitzer ge-
worden. Das Wohl und Wehe der Land-
wirtschaft kümmerte ihn wenig mehr; mit
dem Erlös der Renten trieb er nicht selten
Geldgeschäfte: alle unheilvollen Folgen
machten sich geltend, die bei der Trennung
der Grundrente von dem Arbeitsgenuss des
Landmanns zu entstehen pflegen.
Sie wirkten um so stärker, als die Grund-
herren, obwohl sie sich wirtschaftlich zu-
rückzogen, ihre herrschaftlichen Rechte und
die daraus erfliessenden Einnahmen keines-
wegs aufzugeben geneigt waren. Ja sie
machten sie vielmehr gerade jetzt, gegen-
über der zunehmenden Tendenz der Stücke-
lung der alten Hufengüter, in besonders
verhängnisvoller Weise geltend. Den Hen*en
konnte an einer weitgehenden Teilung der
alten Güter nicht gelegen sein* da die
Renten auf dem Gute ruhten, so nätten sie
bei deren zu weit gehender Teilung leicht
in deren Verlust geraten können oder
wenigstens grosse Schwierigkeiten bei der
Eintreibung zu besorgen gehabt. Sie schlössen
daher bald den Umfang des Erbganges in
diese Güter; mehr wie Viertelung sollte in
der Regel nicht erlaubt sein; mit der Ein-
sammlung und Abheferung der Zinse aller
Teilbesitzer wurde der Restinhaber des alten
Hofes beauftragt. Die Folge war, dass eine
grosse Anzahl von Grundliolden, alle stark
nachgeborenen Söhne, alle entfernteren Erben,
von der Nachfolge in Landbesitz ausge-
schlossen wTU'den: ein grundhöriges imd
doch landloses Proletariat wuchs heran.
Damit nicht genug. Ln Laufe einer
über vier Jahrhunderte langen Entwicke-
lung waren die lu-sprunglich vielfach per-
sönlichen Lasten des Hörigen auf das von
ihm bewirtschaftete Gut übertragen w^orden :
es ist ein Vorgang, in dem sich eine Seite
der allmählichen Befreiung der Grund holden
zu besserem Lose darstellt. Wie wäre es
jetzt möglich gewesen, gegenüber den land-
losen Hörigen diesen Standpunkt festzu-
halten? Ihnen gegenüber niusste man zu
dem alten Standpunkte der Personalbelastung
zurückgreifen; von neuem erw^uclis somit
ein Stand rein persönlich abhängiger Leute :
zum ersten Male innerhalb der deutschen
Sozialgeschichte wii-d das Wort Leibeigen-
schaft laut.
Wurde aber so das neue ländliche Prole-
tariat zum grossen Teile, beginnend seit An-
fang des 14. Jahrhunderts, leibeigen: war
es da denkbar, dass die Herren den neuen
Standpunkt nun nicht auch gegenüber dem
wirklich noch gnmdhörigen Teile der länd-
lichen Bevölkerung Nachdruck sollten ver-
liehen haben? Auch hier hielt man wieder
mehr auf strenge Abhängigkeit, vor allem
von Seiten der jetzt stadtgesessenen Grund-
herren, die sich berufen fühlten, die schnei-
digen Grundsätze der neuen städtischen,
bald kapitalistisdi werdenden Wirtschaft auch
auf dem Lande zur Geltung zu bringen.
Zerstörten so die neueren gnindherr-
schaftlichen und markgenossenschaftlichen
Richtungen die inneren Triebe des alten
ländlichen Daseins und seine Grundbesitz-
formen, so dass eine tiefgreifende Umwand-
lung unvermeidlich bevorstand, so bewirkte
der Druck mehr äusserlicher Gewalten, dass
diese Umwandlung den Charakter offener
Revolution annahm.
Die Kirche, bis ins 12. Jalirhundert die
Trägerin der höhereu geistigen Bildung, ja
die einzige Lehrmeisterin der Nation, mit
allen materiellen Mitteln eines so hohen Be-
rufes reichlich ausgestattet, behielt diesen
Reichtum bei, als sie sich längst ihrer
früheren RoUe entkleidet sah. Ihre für die
Nation nun teilweise unproduktiven Aus-
gaben aber wai*en vornehmlich agrarischer
Natur und drückten das Land um so mehr,
als sich der Klerus vielfach unter Vernach-
lässigimg des flachen Landes den Städten
zugewandt hatte und seine neuen Organi-
sationen mit bürgerlich geborenen Geist-
lichen anfüllte.
Der Adel, im 12. imd 13. Jahrhundert,
in der Zeit der italienischen Stauferzüge und
der Minnesinger, Träger des ersten grossen
nationalen Geisteslebens, war seit Beginn
des 14. Jahrhunderts in jenem langandauern-
den Verfall begriffen, der erst mit der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von
einer Nachblüte abgelöst ward. Auch er
drückte das Land; agrarischer Herkunft,
nahm er sich gleichwohl ländlicher Into
essen nicht an; sogar in seinen Bildungs-
zielen ward er dem Bauer fremd.
Wie viel mehr musste das dann von
einem Bürgertum gelten, das ja eben im
Gegensatz zum platten Lande gross ge-
worden war : mit Erfolg bestrebte sich dieses
seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts, die
gegenseitige Durchdringung ländlicher und
städtischer Wiilschaftsinteiessen zu unter-
drücken, wie sie in der natürlichen Folge
des danials erfolgenden enormen Verkehre-
aufschwunges gelegen haben würde.
So konnte aem Bauer diuxjh die empor-
Grundbesitz (Geschichte)
841
blühende fürstliche Gewalt allein Hilfe er-
wachsen. Indes gerade von dieser Seite
sah er sich, je länger, um so herber be-
drängt Der fürstlichen Gewalt zur Seite
erwuchsen die Stände des Adels, des höheren
Klerus, der landgesessenen Städte: eben
jene Schichten, die von vornherein dem
Bauer entgegentraten, wurden unentbehrliche
Stützen der Territoiialgewalt bis tief hinein
in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts.
Diese Stände bewilligten dem Fürsten die
Mittel zur Aufstellung von Kriegsheeren und
damit zur Führung einer energischen aus-
wärtigen Politik: es war darum selbstver-
ständlich, dass der Fürst mit ihnen einver-
standen war, dass diese Mittel vornehmlich
vom Bauern aufzubringen seien. So be-
drückte eine Steuerabwälzung schlimmster
Art in immer steigendem Fortschritt den
ländlichen Grundbesitz, der sich zumeist
schon nicht mehr des Genusses der Grund-
rente erfreute; es entwickelten sich uner-
trägliche Zustände.
Zugleich aber begann eine fürstliche Ge-
setzgebung unter Mitwirkung und gemäss
den sozialen und wirtschaftlichen Bedürf-
nissen der Stände zu erfliessen, und die
fürstliche Verwaltung schickte sich zur
Unterdrückung der althergebrachten auto-
nomen Yerwaltungen an. Die erste Rich-
tung verstärkte den Gegensatz zwischen
Stadt und Land, sicherte die grundherr-
lichen Rechte, soweit sie privatrechtlicher
Natur waren, und dehnte sie ins Staats-
rechtliche aus; die zweite Richtung stellte
die markgenossenschaftliche Yerfassung unter
staatliche Aufsicht, beschnitt sie durch all-
gemeine Verordnimgen über Waldnutzung
und Weidegang, über Dorfpolizei imd Wirt-
schaftspflege überhaupt, niahm ihr, wo es
anging, langsam allen Gemeinbesitz, der sich
nicht urkundlich oder sonst authentisch als
solcher nachweisen hess, und schritt schliess-
lich dazu fort, ganz allgemein das genossen-
schaftliche Gtemeindeleben zu imterdrücken.
Es waren langsam wirkende Tötungs-
mittel für das alte ländliche Dasein um so
mehr, als der Bauer an den grossen geistigen
wie wirtschaftlichen Kräften der neuen Zeit,
die er zu Hilfe hätte rufen können, keinen Teil
mehr erhielt. Seit dem 13. Jahrhundert ent-
wickelte sieh immer mächtiger in den Städten
die Geld Wirtschaft ; der Bauer hätte ihrer
wohlthätigen Einwirkung zur Entfaltung
eines angemessenen ländlichen Kredites wohl
bedurft. Aher nur die schlimmsten agrar-
feindlichen Formen des Kredites, der Ken-
tenkauf, der nur dem Gläubiger Kündigung
sichert, und der kurzläufige Kredit auf die
Ernte im Halm und die WoUe auf dem
Schafe drangen aufs Land; schon im 14.
Jahrhundert sind sie, in Süddeutschland
namentlich, weithin verbreitet, irni den
Bauer gegen Schluss des 15. Jahrhunderts
vollends zu ruinieren.
Nicht minder versagte gegenüber dem
Bauer die neue geistige Entwickeluug des
Humanismus. War dem Bauersmann schon
die kirchliche Bildung des frühmittelalter-
lichen Klerus wie die weltliche Büdung' des
Adels in der Stauferzeit mehr oder minder
fern geblieben, so hatten sie ihm doch
wenigstens nicht unmittelbar geschadet.
Jetzt aber kam mit dem Humanismus das
römische Recht. An sich nicht bauernfeind-
lich, wirkte es doch schon durch seine ab-
strakten Formen und das Fremdländische
seines Wesens auf die ländliche Be-
völkerung verblüffend, zumal diese es von
den fürstlichen Dienern, Söhnen des Adels
und des Bürgertums, gehandhabt sah. Ausser-
dem aber besass es gerade für die ländlichen
Besitzverhältnisse, wie sie sich seit dem
13. Jahrhundert entwickelt hatten, keine
entsprechenden Begriffe, und diejenigen Be-
griffe, die aus ihm subsidiär herangezogen
werden mussten, waren meist so chf^akteri-
siert, dass sie dem Bauer eher zum Nach-
teil gereichten als zum Vorteil. Endlich
aber war den einheitlichen Anschauungen
der römischen Jiuisprudenz die bunte Viel-
heit germanisch-bäuerlicher Rechtsbüdung
ein unerträglicher Greuel ; darum nivellierte
und unifizierte man das deutsche Recht,
brachte es hübsch »auf gemeinen Fuss«
durch dem Bauer völlig unverständliche De-
duktionen untl nahm das Niveau der neuen
Gleichheit meist weit unter der durch-
schnittlichen Wohlthat rechtlichen Herkom-
mens.
So führte man den Bauer durch Druck
und Plage hinein in eine ihm fremde Welt
anderen Daseins: verarmt, verlassen, ent-
täuscht, ward er schliesslich unwirsch. Und
fehlte ihm noch der Mut der Selbsthilfe, so
-Ä-inkten ihm frohe Beispiele aus der Peri-
pherie deutschen Wesens. Hatten nicht die
Dithmarschen sich vor Generationen freies
Heim und sorgenloses Dasein gegen die
Grossen erstritten? Und jetzt standen die
Schweizer auf der Schanze, allen vorweg
das freie, echt bäuerliche Volk der Appen-
zeller; sie hatten die Habsbm-ger des Landes
vertrieben, sie waren aufgestanden gegen
den hochmütigen Burgunderfürsten; sie
sahen stolz ins deutsche Land hinein, und
geheime Kunde flog von ihnen herbei über
Kampf und Aufruhr.
So versuchten es auch die deutschen
Bauern. Aufstand auf Aufstand drängte
herbei bis zu dem tollen Jahre 1525. Und
noch einmal bewährte sich dem deutschen
Bauer in dieser Lage die alte genossen-
schaftliche Verfassung. Er redete frei unter
seinen Genossen, er nahm das alte Gewaffen
von der Wand, dessen Gebrauch ihm noch
842
Örimdbesitz (Greschicht<»)
immer zuatand ; er kam nach Landesgeschrei
zu Hanfe. Waffenrecht und Versammlungs-
recht thaten ihm ihre Dienste.
Freilich, am Ende ohne Erfolg. Wie der
Bauer wirtschaftlich und geistig der neuen
Zeit erlegen war, so unterlag er ihr auch
militärisch. Doch nicht vergebens hat er
gekämpft. Er wahrte sich durch seinen
verzweifelten Widerstand wenigstens die
Ijage der Gegenwart im wesentlichen noch
auf lange Zeiten. Erst die neuere Zeit hat
im Mutterland — aber unter ganz ver-
änderten Formen — die Ziele erreichen
sehen, die dem Andrang namentlich des
Fürstentums schon im 15. Jahi'hundert
dunkel vorechwebten, die Zerstönmg der
alten Selbstverwaltung und die Begründung
der Personalgemeinde an Stelle der alten
genossenscliaftJichon Bildung.
7. Verschlechtenmg der bäuerlichen
Beaitzverhältnisse auf kolonialemBoden ;
Entstehung der ländlichen Grosswirt-
schaften; 15. — 17. Jahrhundert Während
im Mutterlande sich vom 15. zum 16. Jahr-
hundert die unglückliche Lage der länd-
lichen Verhältnisse in langandauemden revo-
lutionären Zuckungen äusserte, nahm die
Eutwickehmg im kolonialen Osten einen ab-
'weicheuden Verlauf.
Die GnmdheiTlichkeit des Mutterlandes
war im wesentlichen autonom, von unten
her entstanden. Indem die Grundherren die
anfangs von ihnen geschaffene Organisation
ihrer Grundholden der Weiterbildung durch
Selbstverwaltung und weitreichend autonome
Rechtsfindung überüessen, stärkten sie in
den unteren ländlichen Klassen das Bewusst-
sein, ja das Recht eigener Existenz und
solbstthätigen Widerstandes. Zwar wurden
die Gnmdherren schon früh auch mit ein-
zelnen staatlichen Rechten ausgestattet, aber
DIU" langsam wandten sie diese an imd er-
weiterten sie zu einer allgemeinen Hoheit,
die dann sofort staatsrechtlich gefasst ward.
Dadurch wurden die Grundholden gerade der
grössten Grundherrschaften im Mutterland
seit Beginn des 14. Jahrhunderts »arme
Leute«, d. h. Unterthanen ihres Herren, der
meist Landeshen- geworden war, im Sinne
öffentlichen Rechtes.
Geradezu entgegengesetzt verläuft die Ent-
Wickelung im Kolonialgebiet des Ostens.
Hier sind die deutschen Siedelmannen an-
fangs persönlich frei, wirtschaftlich nur im
Sinne eines weitherzig konstruierten Erb-
zinsrechtes gebunden. Aber schon im 13.
und 14. Jahrhundert erwirken sich die Ritter
der einzelnen Dörfer, die anfangs nur einige
Hufen im gewöhnlichen Dorfgenossenrechte
besitzen, hoheitliche Rechte, ja in praxi zu-
meist das gesamte hoheitliche Recht über
das Dorf ihres Sitzes und oft noch über eine
Fülle anderer Dörfer. Indem sie dann diese
Hoheit ZTU* Ausbildung grundherrlicher
Rechte von oben her benutzen, begrilnden
sie schon im Laufe des spätei-en Mittelalters
die Anfänge einer weit enei-gischeren Grund-
herrüchkeit, als sie im Mutterlande jemals
bestanden hat.
Seit Mitte des 15. Jahrhunderts spätestens
aber tritt eine Reihe neuer Motive hinzu,
um die Ausbildung dieser neuen Gnmd-
herrlichkeit, die in sich, weil hoheitlich l)e-
dingt, kaum Grenzen kennt, wesentlich zu
verschärfen.
Vor allem wird der Adel zur wirtschaft-
lichen Ausnutzung und Vergrösserung des
ihm unmittelbar unterstehenden Besitzes ge-
drängt. Bis zu den Husiten kriegen war der
Edelmann der geborene Krieger gewesen;
eben im militärischen Dienste zu lioss war
er zum Landesadligen erwachsen. Nun
hatte aber eine FüUe von Niederlagen des
Adels in den Kämpfen von Azincourt und
Sempach ab gezeigt, dass die Zeit der
Ritterheere vorüber war; seit den Hiisiten-
kriegen war daran auch im Osten Deutsch-
lands kein Zw^eifel mehr möglich. Die
Fürsten sahen sich auf die Errichtung von
Fussheeren liingc wiesen ; der Dienst des
Ritters, bisher vielfach dauernde Beschäf-
tigung und eigentlicher Beruf, verkümmerte.
Das um so mehr, als gleichzeitig dessen
unberechtigte Ausübung im Raubrittertum
und Ste^eifritterwesen vereitelt waitl: es
ist die Periode mächtig erblühenden Ver-
kehrs und stärker betonten Reichs- und
Landesfriedens. So musste der Ritter, wie
der Germane einst der Urzeit, vom kriege-
rischen Leben sich friedlichem Landbau zu-
wenden. Indem er das aber tliat, griff er
den neuen Beruf im organisatorischen Stil
der fortschreitenden Volkswirtschaft an; so-
fort ward er Adept des Grossbetriebes;
alsbald suchte er zu seinem bisherigen Klein-
gut Land hinzuzuerwerben und aus dem Be-
sitze vieler Hufen heraus für den Markt zu
produzieren.
Das war nicht möglich ohne energische
Störung der bisherigen Besitzrechte der
Bauern. Nun standen diese zwar gewohn-
heitsrechtlich fest. Der deutsche Kolonist
besass von Anbeginn ein festes Erbrecht,
höchstens wenn em Auswärtiger, nicht dem
Dorfe Eingesessener erbte, gebühi-te der
Hen'schaft ein gr(5sserer Anteil des Erbes.
Allein diese Lage hatte die mit Ho-
heitsrechten ausgestatteten ritterlichen
Gutsherren schon des 15. Jahi-hunderts nicht
mehr gestört. Indem sie die Lehre ent-
wickelten, alle Bauern seien auf ursprüng-
lichem Ritteracker angesetzt, mithin sich
das Bodenregal im Dorfe zuschrieben,
glaubten sie sich zur Enteignung der Bauern-
güter mindestens in gewissen Fällen, z. B.
im Fall bäuerlichen Ungehorsams oder zur
Grundbesitz (Oescliichte)
843
Herstellung erweiterter ritterlicher Wohnsitze,
gegen Zahlung des Gutswertes bei'echtigt.
Ueber diese Sclu^anken ging man dajin im
16. Jahrhundert, voruehinlich in dem fried-
lichen Zeitalter nach den Religionskriegen,
noch weit hinaus : ein allgemeines Auskaufs-
(Ijegungs-) Recht gegenüber den Bauern-
gütern ward entwickelt und bei der Aus-
übung desselben »grosser Missbrauch und
ünortlnung gespuret» ^). In der That war
die durch das Legungsi-echt herbeigeführte
Veränderung der Besitzrechte in vielen Tei-
len des Ostens gross; in der Mittelmark
z. B. wuchs das gutsherrliche Areal in den
letzten zwei Generationen vor dem dreissig-
i 'ährigen Kriege um die Hälfte seines bis-
lerigen Bestandes.
Indem aber die ritterlichen Gutsherren
ihren Besitz mehrten, erhob sich sofort die
Frage nach der Möglichkeit seines agrari-
schen Betriebes. Das Land war noch dünn
l)evölkert, und spärlich verteilt war die Zahl
freier Lohnarbeiter. Von Fronden aber
standen dem Gutsherrn ursprünglich nur die
staatsrechtlichen Dienste der Bauern beim
Heeresauszug, zur Instandhaltung öffentlicher
Wege und dergleichen zu Gebote.
Nim wai'en freilich die bäuerlichen Fron-
den wohl schon durchweg im Mittelalter
über diesen Stand hinaus entwackelt worden ;
der Ritter hatte kraft allgemeinen Hoheits-
rechts schon Ackerdienste für sein Gut in
Anspruch angenommen. Indes sie direkt
zu erhöhen trug man doch zunächst Boden-
ken; erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts,
nachdem durch das römische Recht die Prä-
sumtion ungemessener Fronden allgemein
geläufig geworden war, ist man zu erlieb-
iicher Steigerung geschritten. Zunächst da-
gegen — wie auch fürderhin neben der
Steigerung der Frondienste — half man sich
von anderer Seite her.
Schon früh hatte man die Anfänge einer
allgemeinen Finanz- tmd Polizeihoheit über
die Bauern entwickelt. Trat an den Adel
die harte Notwendigkeit der Bewilligung
neuer ständischer Steuern für den Ijandes-
herrn heran, so wusste er sich des Druckes
auf den eigenen Beutel durch Abwälzung
der Steuer auf die »ITnterthanen«, d; h.
seine Bauern, zu entledigen: es war eine
Praxis, die Albrecht AchiUes ausdrücklich
gebilligt liat: sonst werde der Adel aufsäs-
sig. Was Wunder, wenn der Adel nun auch
nach anderen Seiten hin, ohne fürstliche
Bewilligung oder Duldung, die Bauern
glaubte belasten zu dürfen.
Neben dieser Anschauung bildete sich
vornehmlich seit Wende des 15. und 16. Jahr-
hunderts die weitere, dass der GutsheiT über
') Brandenburg 1606, vgl. Grossmann, S. 27,
Anm. ö.
die Dorfbauern absolute polizeiliche Autorität
l^esitze. Zunächst aus dem autoritären Geist
des römischen Rechtes entwickelt, fand sie
zunehmende Ei-mutigung im Vergleich mit
dem eben in Entfaltung begriffenen patri-
archalischen Absolutismus des Fürsten ; was
der Fürst im Temtorium zu sein erstrebte ;
Vorsehung, alles regelnde Obergewalt, das
kopierte der Gutsherr im Dorfe.
Aus diesen Motiven heraus erwuchs das
Bestreben , die Patrimonialgerichtsbarkeit
immer straffer anzuspannen, ergab sich eine
bis ins kleinste hinein ordnende Luxusgesetz-
gebung und eine Ordnung der dörflichen
Selbstverwaltung, die diese ertötete. Vor
allem aber waitl die neue Vorstellung all-
gemeiner Polizeigewalt nutzbar gemacht zur
vollsten Verfügung über die Arbeitskräfte
des Dorfes.
Schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts tritt zu diesem Zwecke das ge-
legentliche Bestreben auf, den Bauern an
die Scholle zu fesseln ; erreicht ward es in
Brandenburg z. B. in den Landtagsrezessen
der Jahre 1536, 38, 39, 72, 1602. Wurden
dadureh die bäuerlichen Fronden für immer
lückenlos festgelegt, so ging man bald
weiter. Man verbot einerseits die Aufnahme
von freien Arbeitern im Dorfe, andererseits
normierte man die Gesindelöhne auf nie-
drigste Taxen. Der Gedanke konnte dabei
nur sein, diese niedrigen Löhne der Herr-
schaft zu gute kommen zu lassen. In
diesem Falle aber bedurfte es der Ergänzung
dieser Massregel durch Einführung des
Zwanges für alle bäuerlichen, noch nicht
selbständig gewordenen Arbeitskräfte, der
Herrschaft zu dienen. Das war es, was
schon im Beginn des 16. Jahrhunderts (in
Brandenbm-g der Hauptsache nach im Jahre
1518) erreicht ward. Nun standen dem
Gutshen-n Arbeitskräfte zur Genüge zur
Verfügung: war er anfangs an die Frage
des Gesindezwanges noch vielfach gebunden
— der Zwang war auf gewisse Jahre be-
grenzt, er durfte niu» gegen den Entgelt
eines wenn auch geringen Lohnes ausgeübt
werden — , so gelang es doch in den meisten
Fällen, diese Unbequemlichkeiten über kurz
oder lang zu beseitigen. Das Schlussergebnis
w^ar im allgemeinen, dass dem Gutsherrn
die für den erweiterten Betrieb notwendigen
Arbeitskräfte im wesentlichen im eigenen
Dorfe gegen geringste Vergütung in. Bereit-
schaft standen.
Was aber war im Verlauf dieser Um-
gestaltungen aus dem Erbzinsbauer der
Kolonial zeit geworden! Er war gebunden
diu*ch ritterliche Polizei und Gerichtsbarkeit,
beschwert durch wachsende Fronden, ver-
pflichtet zur Hergabe seiner noch unselb-
ständigen Kinder in gutsherrliche. Dienste :
einst ein freier Siedler, war er zimi erb-
844
Grundbesitz (Geschichte)
iinterthänigen Hintersassen seines gnädigen
Herrn entartet.
und doch drohten seinem Dasein noch
grössere Gefahren. Noch immer war er
erbsässig, noch war er wirtschaftlich nicht
vor den Ruin gestellt, noch sind bis Schlnss
des dritten Viertels des 16. Jahrhunderts
Bauern aus dem Mutterland in die Mark
Brandenburg eingewandert in so reichem
Masse, dass trotz aller Legung von Höfen
doch die Zahl der Bauerngüter nicht in
Abnahme erschien ; und noch Kantzow konnte
die Lage der pommerschen Erbzinsbauem
mit den Worten schildern:^) »die pawren
stehen in diesem lande (so) wohl .... dass
offte ein armer edelman einem reichen
pawren siene tochter gibt und die kinder
sich darnach halbedel achten.«
Was den Bauern der deutschen Siedelung
seit Abschluss der Kolonisation immer furcht-
barer zu drohen begann, das war die Ver-
mischung mit den slawischen und sonstigen
fremdländischen Volksresten des" Landes und
mit der von ihnen teilweis in die neuen
deutschen Verhältnisse liinübergeretteten
minderwertigen Kultur.
Lange Zeit hindurch hatten die Slawen,
Preussen und Litauer auf der einen Seite,
auf der anderen die Deutschen sich unver-
mischt gegenübergestanden. Unter diesen
Verhältnissen waren fremde Siedehmgen
zwischen den neuen deutschen Anlagen wie
zwischen germanisierten Fremddörfern ruhig
bestehen geblieben, je weiter gegen Osten,
um so mehr, soweit der Eroberer den alten
Einwohnern nicht sein eigenes, besseres
Recht bewilligt hatte. Es war gleichsam
eine andere Welt, die den deutschen Siedler
nicht berührte • mit Verachtung sah er auf
sie herab, die Teilnehmer an ihr galten dem
deutschen Recht vielfach als unehrlich.
Dieser Standpunkt liess sich mm im
Laufe der nächsten Jahrhunderte nach dem
Zeitalter der Kolonisation je länger je we-
niger aufrecht erhalten. Die fremden
Sprachen starben aus oder zogen sich auf
wenige geschlossene Sprachinseln zurück,
die meisten Slawen und Preussen nahmen
deutsche Prägung an, wurden ein Teil der
Nation. Es ging nicht anders an, denn sie
als solche zu betrachten, schon das 16. Jahr-
himdert hat sich dieser Konse(_[uenz nicht
mehr entziehen können.
AUein trotz dieser Amalgamierung auf
sprachlichem und geistigem Gebiete blieb
den ehemaligen Fremden des platten Landes
doch ihr altes, minderwertiges, ursprünglich
nichtnationales Recht Sie waren \'ielfach
völlig unfrei, sie darbten erblichen Rechtes
an iliren Gütern, nur dass dieses Recht jetzt
nicht mehr als aussernational erschien. In-
M Pomnieriana II, 433.
dem seine Träger Deutsche geworden wareu,
erschienen sie nun als Bauern zweiter
Klasse eines immerhin nationalen Rechtes,
und die Frage trat auf, warum denn die
m'sprünglich deutschen Siedelleute besseren
Rechtes genössen. Die Antwort, wie sie
die Gutsherren darauf erteilten, ist im all-
gemeinen überall dieselbe, leicht begreifliche
gewesen. Sie sahen das Ideal des Bauern-
standes, dem sie als Grossgutsbesitzer zu-
strebten, in der niedrigeren Klasse der ur-
sprünglich aussernationälen Landleute er-
reicht, sie betrachteten den besseren Stand
der altdeutschen Siedelleute nicht als ein
natürliches Ergebnis der Entwickelung, son-
dern als Ausgeburt eines unerklärlichen und
unerträglichen Privilegs, und sie versuchten
ihn demgemäss auf das Niveau der minder
berechteten Fremdbauern hinabzudrücken.
Die Folgen dieser Anschauung waren für
den deutschen Erbzinsbauer einfach und
traurig; mit allen Mitteln wiu^e er unter-
drückt; eben mit Hinsicht darauf berichtet
ein vorurteilsloser Berichterstatter aus Pom-
mern von der Mitte des 16. Jahrhimderts :
»itzund deit men, wat men wilP)«.
Unter diesen Umständen ward es für die
Länder östlich der Elbe eigentlich erst jetzt
von der grössten Bedeutung, in welchem
Prozentsatz sich ursprünglich deutsche
Siedelleute in ihnen als Erbzinsbauem neben
der alteinheimischen Bevölkenmg nieder-
gelassen hatten. Denn je geringer dieser
Prozentsatz war, um so eher siegte jetzt
das fremde schlechtere Recht.
Am günstigsten war da die Lage in
Brandenburg. Hier war fast das ganze Land
der Besiedelung diu»ch Deutsche anheim-
gefallen; nur in der Neumark und Ucker-
mark, in den Herrschaften Beeskow und
Storkow, wie um Kottbus hielten sich Reste
der slawischen Bevölkerung. Darum siegte
auch hier dauernd das deutsche Siedelrecht^
wenngleich in der gutsherrlichen Beschnei-
dung des 16. Jahrhunderts ; die Schilderung,
welche oben über die Lage der Kolonial-
bauern und ihre Versclilechterung ent-
worfen ist, gilt darum in fast allen ihren
Zügen vornehmlich und zuerst für Branden-
bm-g.
Anders und um vieles schlechter ge-
stalteten sich die Dinge in Holstein und noch
melir in Mecklenburg, Pommern und Livlaiid.
Hier hatte die deutsche Kolonisation je
weiter nach Osten, um so weniger intensiv
gewirkt; schon in Pommern waren eigent-
lich nur die Hagendörfer auf vornehmlich
geistlichem Boden von deutschen Bauern
neu begründet worden. Hier drang darmn
der Mangel eines festen Besitzrechtes, w^ie
er die slawischen Verhältnisse bezeichnete,
*) Normann bei Fuchs, S. 63.
Gnmdl>esitz (Geschichte)
845
auch für die deutschen Siedler schliesslich
so gut wie allgemein durch ; zugleich wiu^en
die Fronden ungemessen, wurde die Schollen-
pflichtigkeit ausgesprochen, wiutle der Bauer
tiberhaupt als einfache Pertinenz des dörf-
lichen Kittergutes betrachtet. Es war eine
Entwickelung, deren systematischer Durch-
bildung die Reception des römischen Rechtes
vielfach -wirksam zu Hilfe kam, indem sie
das bäuerliche Besitzrecht nach der Form
der Emphyteuse konstruierte und daneben
höchstens den contractus libellarius der
langobanlisclien Lehnrechtsquellen gelten
liess. So geschah es in Mecklenburg vor-
nehmlich infolge der Schrift des ilusanus
vom Jahre 1590 imd in Pommern infolge
des Buchs des David Mevius vom Jahre 1645.
Die Praxis aber war schon längst über
die Systematik des Rechtes hinausgegangen,
indem sie für den Rechtszustand der Bauern
den Begiiff oder wenigstens die (begrifflich
nicht völlig abgeklärte) Anschauung einer
neuen, angeblich von jeher bestandenen
Leibeigenschaft schuf. Was diese im Leben
bedeuten konnte, das lässt eine Bestimmung
der pommerschen Gemeindeordnung vom
Jahre 1646 erkennen, die man im Jahre
1694 zu erneuern für gut befand; nach ihr
sollten entwichene Unterthanen und Bauem-
kinder, die sich binnen drei Monaten nicht
freiwillig ziun Zwangsdienst oder zur Füh-
rung eines Hofgutes stellten, diuxsh An-
schlagung ihres Namens am Galgen un-
ehrlich gemacht und vom Scharfrichter mit
Brandmalen in den Backen versehen werden.^)
Von weniger unglücklichen Folgen war
die Beimischung fremder Bauern in Schlesien
und Preussen.
In Schlesien gewährten die zahlreichen
urkundlichen Verträge den eingewanderten,
übrigens meist kompakt aneinandersitzenden
deutschen Siedlern vielfach Sicherheit gegen
Minderung der ursprünglichen Rechte; zu-
dem war hier ausnahmsweise die landes-
fürstliche Gewalt schon früh darauf bedacht,
den deutschen Bauern auch in stark slawisch
gebliebenen Gegenden den erblichen Besitz
ihrer Höfe zu sichern.^) So versteht es sich,
wenn sich gerade in Schlesien später, na-
mentlich auch im Norden, viele Erbpächter
und Erbzinser besseren Rechtes finden.
In Preussen endlich hat die besondere
Art der Erobenmg eigenartige Verhältnisse
geschaffen. Mehrfache Empörungen brachten
hier die alteingesessene Bevölkerung um
den Genuss der milderen, deutschem Rechte
etwa entsi)rechenden Hörigkeit, die sie an-
fangs besass: an ihrer Statt ward schon
^) Fuchs, S. 126.
*; Verordnung Kaiser Ferdinands I. vom
Jahre 1562 für Oppeln und Ratibor, v. Brünneck
in Conrads Jahrbüchern, N. F. 16, 369.
im 13. Jahrhundert die Leibeigenschaft ginmd-
sätzlich eingefülirt und späterhin, namentlich
nach dem Frieden von Thom (1466) unter
dem Einfluss der polnischen unbedingten
Knechtschaft in ihren Wirkungen noch we-
sentlich verstärkt. Damit war zwischen den
eingewanderten deutschen Siedelleuten und
der einheimischen Bevölkerung eine Kluft
fBSchaffen, die unüberbrückbar blieb. Die
olge war auf deutscher Seite die volle
Au&echterhaltung des lu^prün glichen , un-
gemein frei konstruierten Siedelrechtes, wie
es zuerst in der kulmischen Handveste vom
Jahre 1233 festgestellt war. Unter seinem
Schutze lebte die deutsch-ländliche Bevölke-
rung Preussens auch noch im 16? und
17. Jahrhundert; die Bauern bewahrten die
alte Freiheit der Person imd die Unab-
hängigkeit von jederlei dinglich fundierten
Ansprüchen irgend einer Grundherrschaft,
und selbst der Adel besass vielfach seine
weitausgedehnten Güter nur nach kulmischem
Rechte.
Ueberblicken wir die weiten Gebiete der
östlichen Kolonisation nach der sozialen und
materiellen Lage ihrer bäuerlichen Bevölke-
rung um die Mitte etwa des 17. Jahrhun-
derts, so ergiebt sich, dass auf deren Ver-
änderung seit Ausgang des Mittelalters, ab-
gesehen von der sozialen Endosmose der
deutschen und fremden Elemente, vornehm-
lich der Adel eingewirkt hat. Der ritter-
liche Gutsherr ist in dieser Periode noch
gesellschaftlich und politisch der Beherrscher
des platten Landes. Er fürchtet noch nicht
die Landesgewalt ; wo sie ihm entgegentritt,
da weiss er sie durch seine Haltung ge-
legentlich der ständischen Fragen des Ter-
ritoriums in ihrer Einwirkung unsicher
und stutzig zu machen.
Eine fürstliche Fürsorge für das platte
Land, eine wahre Bauernpolitik vornehm-
lich im Sinne einer Gegenwirkung gegen
die Gutsherren beginnt auf dem kolonialen
Boden Norddeutschlands erst im Zeitalter
des aufgeklärten Despotismus.
Ehe indes der aufgeklärte Despotismus
zu wirken begann, hatten die Verwüstungen
des 30 jährigen Krieges und ihre Folgen
eine noch schlimmere Lage schaffen helfen.
8. Einseifen des aufgeklärten Ab-
solntismus ; Anfänge der ßanembefrei-
nng; 17. und 18. Jahrhundert Die Nach-
wirkungen des 30 jährigen Krieges waren
für die Kolonialgebiete vielfach fast noch
verhängnisvoller als für das Mutterland.
üeberaU herrschte Verwüstung und Ent-
völkerung, vornehmlich auf dem flachen
Lande. Bei den Domanialämtern der Kur-
und Neumark hatten vor dem Kriege 3000
Ackerleute und 3097 Kossäten gedient, im
Jahre 1652 dienten nur noch 1550 und
1769. In der Grafschaft Ruppin galten da-
846
Grundbesitz (Geschichte)
mals nur noch vier Dörfer als besetzt, in
Eugen wurden schon im Jahre 1629 von
1900 Hufen bloss noch 300 bestellt, und
der kaiserliche Oberst Götz konnte sich
prahlend anheischig machen, die Hörner
jeder Kuh, die auf der Insel noch lebte,
mit Gold überziehen zu lassen.
Die Vorteile dieser unglaublichen Ver-
wüstung, deren Folgen noch nach zwei
Generationen kaum als ausgeglichen gelten
konnten , fielen dem Adel zu. Er zog
überall im Lande die wüsten Hufen ein;
es war eine ungeahnt günstige Gelegenheit
zur Vergrössenmg des eigenen Betriebes
und Besitzes; erst von jetzt ab wird die
ländliche Grosskultur recht eigentlich um-
fassender entwickelt.
Freilich gebrach es dazu vielfach an
Arbeitskräften. Um sie zu erlialten, ward
zunächst die Leibeigenschaft da, wo sie be-
stand, strenger betont; jeder leibeigene
Arbeiter erschien dem Adel nunmehr als
unveräusserliches Stück eines eisernen Guts-
inventares.
Land aber, das man eingezogen hatte
und noch nicht unmittelbar zu bestellen in
der Lage war, musste man freilich wiederum
vergeben. Es w^ar eine Lage in man-
cher Hinsicht ähnlich der des Zeitalters
der Kolonisation im 12. bis 14. Jahrhundert.
Wie damals, gab es auch jetzt wüstes Land
in Fiille, und selbst Rodearbeit musste viel-
fach erneut gethan werden ; denn der lange
Stillstand des Pfluges hatte Wäldern und
Haiden Zeit gelassen, sich von neuem aus-
zubreiten. Nur darin war die neue Be-
ßiedelungsperiode der alten unähnlich, dass
ihr nicht mehr eine Auswahl so wohlhaben-
der Siedelleute zu Gebote stand wie dem
12. und 18. Jahrhundeii:. Jetzt hiess es zu-
greifen und in die Güter setzen, wen man
auftrieb, alte Ijandsknechte und Herum-
treiber aller Art neben ärmlichem, einhei-
mischem Volke.
Diese Kandidaten der Landeskultur
brachten fast durchweg nicht die Mittel
mit, um die Hof Wirtschaft von sich aus in
Gang zu setzen. Wo sie ausnahmsweise
dazu imstande waren, da wurden sie gern
als freie Pächter angesetzt, so namentlich
in Hinterpommern und wohl auch in der
Uckermark. Freilich haben sie sich, dürftig,
wie auch sie waren, vielfach nicht lange in
freiem Stand zu halten gewusst und sind
der Erbunlerthänigk(nt verfallen. Doch hat
andererseits die Ueberführung von unter-
thänigen Bauern in freie Pacht noch wäh-
rend des ganzen 18. Jahrhunderts ange-
dauert, namentlich da, wo dem Gutsherrn
aus irgend einem Grunde mehr an Gutsein-
nahmen denn an Fronden und NaturaJ-
lieferuugon gelegen war.
Den meisten Siedelleuten indes, die nach
dem 30 jährigen Kriege neu angesetzt wur-
den, blülite ein sclilechteres Los. Aller
Mittel entblösst, erhielten sie ihren Hof von
dem Gutsherrn neu eingerichtet und ver-
sehen mit dem nötigsten Inventare ; es war
selbstverständlich, dass sie da keine grossen
Rechte beanspruchen konnten. Vielleicht
nach Analogie altslawischen Bauemrechtes
Sassen sie darum in ihrem Hofe nur gegen
Entgelt und Dienste auf Lebenszeit, ver-
erbensunfähig dem Rechte nach : sie diu-ften
über den Hof nicht von Todes wegen ver-
fügen, sie durften ihn aber auch nicht bei
Lebenszeit verlassen ohne Stellung eines
Nachfolgers, der zu gleichem Rechte einzu-
treten gewillt war. So entstand die weit-
verbreitete neue Klasse der sogenannten
lassitischen Bauern; soweit sie spannfähig
blieben, bildeten sie um das Jahr 1820 in
Oberschlesien etwa 54 ^/o , in Brandenburg
etwa 40 ^/o , in Pommern etwa 53 ^'o , in
Preussen etwa 30 ^Vo aller spannfähip:en
Bauern ; vor der Ablösung der preussischen
Domanialbauern im 18. Jahrhundert müssen
sie noch weitaus höhere Prozentsätze er-
geben haben ^). Dabei blieb ihr unerbliches
Verhältnis, wenn auch hei vielfach that-
sächlicher Erbfolge, so doch rechtlich als
solches für fast alle Länder des Ostens be-
stehen; nur in Brandenburg erlangten sie,
zum grossen Teil infolge der immer wieder-
holten fürstlichen Verbote des Bauernlegens,
ein schliesslich auch gesetzlich anerkanntos
Erbrecht.
Es begreift sich, dass die Bildung dieser
neuen Klasse von minder berechteten
Bauern für die grosse Menge der alten Erb-
zinsbauern deutschen Rechtes von verhäng-
nisvoller Bedeutung werden musste. ILitten
die Erbzinsbaueru schon seit spätestens
dem 16. Jahrhundert schwer an ihix»n
Rechten gehtten durch den sich aufdrängen-
den Vergleich mit den Bauern halbslawi-
schen Rechtes; waren jetzt diese fremd-
rechtlichen Bauern mit bestimmend gi^
Wesen für und mit eingegangen in die Bil-
dung der Lassiten: so musste nun das
Streben der Gutsherren ganz selbstver-
ständlich daliin gerichtet sein, Lassiten mul
Erbzinsleute zu einem Stande zu ver-
schmelzen.
Die Umstände lagen, vornehmlich in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, hierfür
günstig genug. Bei dem Mangel an länd-
lichen Arbeitskräften gelang es, den Ge-
sindedienstzwang von den bisher zumeist
geltenden drei Jahren auf die ganze Zeit
wirtschaftlicher Unselbständigkeit der erb-
zinshchen Bauernkinder zu erstrecken :
gleichzeitig erfuhren die Fi-onden, schon
längst als ungemessen betrachtet, nunmehr
^) Vgl. Knapp, Bauernbefreiung T, S. 262 ff.
Grundbesitz (Gesclüchte)
847
thatsächlich infolge der Erweiterung der
Gutswirtschaft eine immer beträchtlichere
Vermehrung. Zur selben Zeit begannen
auch die staatlichen Lasten, die vom Junker
auf den Bauer abgewälzt wiuxlen, immer
stärker zu drücken, da sie einmal an sich
fast überall Steigerung erfuhren, dann aber
nach Legung so vieler Bauernhöfe auch auf
«ine immer geringere Anzahl Belasteter
verteilt wurden.
Das waren Vorgänge zunächst und vor-
nehmlich auf wirtschaftlichem Gebiet, die
den Bauer schon veranlassen konnten, sein
Gut zu räumen. Aber eben diesen Ausweg
vei-stopfte ihm die ständische Gesetzgebung
mit derselben Konsequenz, wie ihn einst
die kaiserliche Gesetzgebung des späteren
römischen Imperiums Bauern wie Bürgern
imter verwandten Umständen verbaut hatte.
Schon die märkische Gesindeordnung vom
Jahre 1651 z. B. hatte für die erbzinsbäuer-
üchen Erben die Alternative aufgestellt, dass
sie entweder das Gut ohne Entschädigung
verlassen müssten oder gezwungen sein
sollten, die Nachfolge mit allen daran
klebenden Lasten zu übernehmen. Aber
schon im Laufe der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts ging man weiter: es wurde
einfach die Bindung an die Scholle auch
für den Erbzinsbauern ausgesprochen, und
bald folgten sich Edikte über Edikte »wider
das freventliche Entlaufen der Bauern imd
Kossäten«. Der Unterschied zwischen Lassit
und Erbzinsbauer war infolgedessen darauf
zurückgeschraubt , dass der Erbzinsbauer
Eigentum an seinem Gute hatte, der Lassit
aber meistens nicht.
Nim hat allerdings die rechtliche Dok-
trin, namentlich in Brandenburg, sich diesen
Entwickelungen noch länger mit Definitionen
entgegengestellt, wonach die Erbzinsbauern
etwa erklärt wurden als non vere liberi,
non vere servi, ratione Status pro liberis,
ratione servitioriun j^ro servis habendi ^).
Allein diese Anwaltscliaft verschlug nicht
viel. Wahre Hilfe gedieh dem Bauernstand
erst, anfangs unzureichend, später grund-
sätzlicher, von der aufgeklärten Monarchie.
Der aufgeklärte Despotismus im Nordosten
Deutschlands aber entwuchs fast ausschliess-
lich preussischer, brandenburgischer Wurzel ;
indem die Entwickelimg der bäuerlichen
Verhältnisse von der absoluten Monarchie
abhängig wurde, empfing sie darum fast für
den gesamten Osten ihr Schicksal aus der
Hand der grossen Hohenzollern des 17. und
18. Jahrhunderts.
Der Standpunkt, von dem die Reihe
dieser Fürsten ausging, war anfangs rein
fiskalisch-finanziell. Man wandte sich gegen
^) Müller in seiner Practica civilis rerum
Marchicamm, 1678.
das Legen der Bauernhöfe, um nicht das
tragende Substrat der ständischen Besteue-
rung des platten Ijandes zu verlieren. In
dieser Absicht ergingen schon unter Fried-
rich I. Edikte betreffend Herstellung und
Wiederbesetzung der wüsten und zemssenen
Bauerngüter. Zum eigentlichen Schutz der
Bauernstellen kam es dann unterFriedrichAVil-
helm L; doch trat die wirkliche Hand-
habung des Legimgsverbotes mit vollem
Erfolge doch erst unter Friedrich dem
Grossen, seit dem Jahre 1749, ein, abge-
sehen von Ostpreussen, wo die Frage in
Vergessenheit geriet^). Im Jahre 1764
wurde das Verbot dann verstärkt durch die
positive Weisimg, alle während des sieben-
jährigen Krieges wüst gewordenen Güter
binnen Jahresüdst wieder zu besetzen: eine
Massregel, von deren Durchführung ab man
den absoluten Schutz der Bauernstellen in
Preussen bis zu den Edikten der Stein-
Hardenbergischen Gesetzgebung datieren
kann.
Im Laufe dieser langandauernden Mass-
nahmen aber hatte sich der ursprüngliche
Gesichtspunkt, von dem man ausgegangen,
schon etwas verschoben. Die rein finanz-
politischen Motive traten allmählich zuiiick,
je weniger die Stände noch die Finanz-
gebaning der Krone beschränkten: in den
Vordergrund rückte die volkswirtscliaftliche
und nulitärische Absicht auf Peuplienmg
des Landes. Dieser Anschauung wurde
dann auch eine weitere Reihe positiver
Massregeln verdankt, die sehr geeignet
waren, den Bauernstand insgesamt und an
sich zu heben. Schon der grosse Kurfürst
hatte gegen Ende seiner Regierung begonnen,
neue Ansiedler in wüste Teile seines Lan-
des zu setzen 2). König Friedrich I. fuhr
damit fort; gi'ossartig aber wurde dieser
Teil der inneren Politik vornehmlich unter
Friedrich Wilhelm II. und seinem Sohne
betrieben. Im Verlaufe der damals unter-
nommenen Kolonisationen entstand weit ver-
streut durch das Land und vielfach gerade
in Gegenden schlechteren Bauenirechtes an-
sässig eine neue, wohlliäbige Bevölkenmg;
sie war fast stets persönlich frei und nur
zu gemessenen Diensten und Abgaben ge-
mäss ihren Hofbriefen verpflichtet ; sie wies
sozusagen einen wiedererstandenen Stand
freier Erbzinsleute und Erbpächter auf: sie
musste aufs günstigste auf die Lage der
schon angesessenen Bauern wirken.
Und schon hatten die preussischen Herr-
scher diese in ihren leitenden Gesichts-
punkten immerhin noch engbegrenzte agra-
rische Politik verlassen und ihren Mass-
nahmen zunächst hinsichtlich der ihnen
^) Knapp, Bauernbefreiung I, 54.
*) SchmoUer, Sehr. d. V. f. Sozialp. 31, Iff.
848
Grundbesitz (Greschichte)
unterstehenden Domanialbauem eine soziale
Wendung gegeben.
Von jeher hatten die Domänenbauem
eine Stellung etwas über dem sonstigen
Durchschnitt eingenommen, ähnlich wie die
fiskalischen Qrundholden des Mittelalters
sich einiger Vorzüge vor ihren einfach-
grundherrlichen Standesgenossen erfreuten.
Ihr Gesindezwangsdienst war auf drei Jahre
begrenzt, ihre Pflichten pflegten bei Un-
glücksfällen ermässigt zu werden: schon
im Jahre 1647 wird der Missbrauch der für
sie bestehenden gemessenen Fronden durch
Kabinettsordre verhindert. Darüber liinaus
erfolgten mit dem Beginn des 18. Jahrhun-
derts mehrmals leidenschaftliche Yorstösse
zur Verbesserung des sozialen Loses dieser
Bauern: der Plan der Vererbpachtung der
Domänen in bäuerlichen "Wirtschaftsgrossen
vom Jahre 1703 und der Freilassungsbefehl
vom Jahre 1709 : beide ohne Erfolg. Fried-
rich Wilhelm I. hat die Reform dann be-
sonnener verfolgt, wenn auch mit der gan-
zen Energie seines Wesens, die sich alles
»elende Räsonnieren« der Behörden dagegen
verbat. Er ging von der Thatsache aus,
dass die Domänenbauem in Brandenburg
zumeist Erbzinsleute, sonst dagegen Lassiten
waren, und er fand den ersten notwendigen
Schritt darin, dass auch diese sonstigen
lassitischen Domänenbauem zu Erbzinsleuten
gemacht werden sollten. Das ist es, was
er imter der immer wiederholten Absicht
versteht, alle Domänenbauem auf den mär-
kischen Fuss zu bringen. Gehmgen ist ihm
freüich diese Absicht nur für wenige Gegen-
den; er scheiterte noch an der Schwer-
fälligkeit und dem Routinetum seiner Be-
amten.
Anders Friedrich der Grosse. Unter ihm
kam es für die Domanialbauem überall zu
einer vollen Erbunterthänigkeit sehr ge-
mässigten Charakters; und sciu zweiter
Nachfolger, Friedrich Wilhelm III., ver-
mochte daraufhin in den Jahren 1799 — 1808
die Befreiung der Domanialbauem auch aus
der Erbunterthänigkeit diu-chzusetzen.
Es war ein rundes Ergebnis; der Be-
weis für die sozialpolitischen Fähigkeiten
des aufgeklärten Despotismus an dessen
eigenstem Körper gleichsam war geliefert.
Wird aber die Krone stark genug sein, die
gleiche P]mancipation auch gegenüber den
Bauern dos Adels durchzusetzen V
Schon 1726 erging von Friedrich Wil-
helm I. ein Edikt das den Gutsherren ver-
bot, die Hoflasten ^villkü^lich zu erhöhen,
und ihnen deren Nachlass befahl im Fall
von Unglücksfällen und Neubauten der
Bauern auf so lange, als dio königliche
Kreiskasse den Betroffenen Erlass ihrer
staatliehen Pflichten gewähren würde. Es
war ein verheissnngsvoller Anfang; indes
wie so manche andere blieb er im wesent-
lichen auf dem Papiere.
Die eigentliche Wendung fällt auch hier
erst in die Tage Friedrichs des Grossen.
Er hob im Jahre 1748 (8. Dezember) za-
nächst für Schlesien die SchoUenpflichtig-
keit der Gutsimteilhanen auf; den Herren
wurde nur das Recht zugestanden, von dem.
aufbrechenden Unterthan ein massiges Los-
kaufgeld zu fordern, grundsätzlich war die
Lösbarkeit des Unterthanenverhältnisses aus-
gesprochen. Dieser Grundsatz wurde dann
im Jahre 1773 auf Ostpreussen und das
1772 aus der polnischen Teilung erworbene
Westpreussen nebst dem Netzedistrikt über-
tragen — auch hier tief einschneidend in
die stark leibeigenen Verhältnisse des alten
Ordenslandes und die Knechtschaft der ehe-
mals polnischen Gebietsteile.
Es waren so starke Schritte, wie sie
dem grossen König in den östlichen Kern-
landen seines Reiches und auch in Pommern
(Yersuch vom Jahre 1763) noch nicht ge-
langen. Immerhin aber hatte Friedrich doch
den Anlass zu einer principieUen Erörterung
gegeben, deren Inhalt auf die Aufhebimg
nicht bloss der Leibeigenschaft, sondern
auch der Erbunterthänigkeit hinauslief. Da
diesen Reformen aber die Ablösung der
Reallasten notwendig folgen musste, so lag
die gesamte Reform der ländlichen Verhält-
nisse damit der Zeit vor dem Tode Fried-
richs des Grossen immerhin schon als prak-
tisches Progranmi nahe.
Ihr Ende freilich hat der aufgeklärte
Despotismus nicht mehr gesehen. Eine
Verordnung über die Abschaffimg der Erb-
unterthänigkeit in ganz Preussen, deren
Ausarbeitimg im Jahre 1798 befohlen wurde,
ist nie vollzogen worden: erst die Pforten
eines neuen Zeitalters haben im Beginn
unseres Jahrhunderts über Erbunterthänigkeit
\md Leibeigenschaft endgiltig hinausgeffihrt
(vergl. denArtikelBauernbefreiung oben
Bd. II S. 843 ff.).
Immerhin aber war in den Ländem des
aufgeklärten preuFsischen Despotismus bis
zum Schlüsse des vorigen Jahrhunderts
ganz anderes geleistet als in den Adelsre-
pubhken Holstein, Mecklenburg, Schwedisch-
Pommern \md Livland, die unter mehr oder
minder illusorischer monai-chischer Spitze
den gn>ssten Teil des sfldlichen Ostseege-
stades umsäumten. Hier waren inzwischen
die zur Leibeigenschaft drängenden Zustände
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
von der regierenden Landesaristokratie folge-
richtig zu voller Knechtschaft weiter ent-
wickelt worden. Im Jahre 1723 wird in
Pommern zum ersten Male ein landloser
I Leibeigener um 80 Reichsthaler erb- und
eigentümlich vorkauft, cediert und abge-
i treten; nicht viel später kam es in Holstein
Grundbesitz (GtescMchte — Statistik)
849
vor, dass die Junker im Kai'tenspiel gelegent-
lich statt um Geld um Menschen spielten.
Freilich auch hier erzwang schliesslich
die Logik des allgemeinen Fortschrittes,
was in Preussen der pfHchtbewusste und
aufgeklärte Sinn der Monarchen herbeige-
führt hatte. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts
wirkt die Öffentliche Meinung wie der lang-
sam erkannte eigene Vorteil vielfach günstig
ein auf die Abschwächung der Leibeigen-
schaft; in Holstein ist es unter diesen Ein-
drücken zu spontanen Reformen gekommen,
und im entlegenen Livland war die Ent-
wickelung ähnlich, wenn sie sich auch bis
tief ins 19. Jahrhundert hineinzog. In
Mecklenburg und Schwedisch-Pommern da-
gegen schloss das 18. Jahrhundert mit einem
Bauernlegen von bis dahin kaum erreichter
Ausdehnung ab — bis auch hier die neue
Zeit den völligen Bruch mit den ländlichen
Standesv^hältnissen des 18. Jahrhunderts
herbeiführte.
Litteratnr: v. Inafna-Stemegg , DeuUrhe
WirtschafUgeschichte , Bd. 1—2, 1879 ff. —
Liatnprecht, Deutßches Wirtschaftsleben, 4 Bde.,
1886. — Hanssen, Agrarhistorische Abhand-
lungen, 2 Bde., 1880. — lAimvpre^ht in Zeit-
schrift des Bergischen Gesehichtsi^ereins, Bd. 16.
— Öierhe, Erbrecht und Vicinenreeht, in Zeit-
schrift f. Rechtsgesch., 12; wie überhaupt die
LiUeratur bei Schröder, Deutsche Rechtsgesch.,
S. Aufl., S. 62. — V. Incntta-Stemegg, Aus-
bildung der grossen Grundherrschaften (SchmoUers
Staats- u. sozialioissensch. Forschungen 1, 1), sofci-e
die Lüteratur bei Schröder a. a. O., S. 199. —
OcUiein, Die Lage des Bauernstandes am Ende
des Mittelalters, vornehmlich in Südwestdeutsch-
land, in Westdeutsche Zeitschr. 4' — Lavnp"
recht, Das Schieksal des deutschen Bauern-
standes bis zu den agrarischen Unruhen des 16.
und 16. Jahrh., in Preuss. Jahrb. 56, 17 8 ff.;
Entwickelung des rheinischen Bauernstandes
während des MittekUters, in Westd. Zeitsehr. 6,
18 ff., sowie die Lüteratur bei Schröder a. a. O.,
S. 418 — 19. — Gothein, Wirtschaftsgeschichte
des Schwarzwaldes, Bd. 1, 1890 ff. — A. Va/n~
houtte, Le droit flamand et hollandais dans
les Chartes de (Kolonisation en Allemagne au
XII* et XIII* siecle (Annales de la Soc. d* Emu-
lation pour Vhude de l'hist. et des ant. de la
Flandre Bd. 49, 1899). Daselbst Anfilhrung der
neueren Litteratur zur Geschichte der Kolonisation
des deutschen Ostens. — W. WtUtch, Länd-
liche Verfassung Niedersa>chsens und Organisation
des Amtes im 18. Jahrh., Strassb. Diss. 1891, —
F. J. Haun, Bauer und Gutsherr in Kur-
sachsen. Abh. aus dem Strassb. staatsw. Seminar,
H^ 9. — Hugenbevg f Innere Kolonisation
im Nordwesten Deutschlands. Abh. aus dem
Strassb. staatsw. Seminar, Heft 8. — HauS"
mann, Die grundherrliche Verfassung Bayerns
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh., Strassb.
Diss. 1888. — G, F, Knapp, Die Bauern-
befreiung und der Ursprung der Landarbeiter
in den älteren Teilen Preussens, 2 Teile, Leipzig
1887. (Dazu Knapp, Zur Gesch. der Bauern-
befreiung in den älteren Teilen Preussens,
Forschungen zur brandenb.-preuss. Gesch. 1,
249 ff- ^'^d Die Handarbeiter in Knechtschaft
und Freiheit, Leipzig 1891, 21 ff.) Man vergl.
femer zu Knapp: Schmoller in Köln. Ztg. 1888
Nr. IS und in seinen Jahrb., Bd. 12, 645 ff.,
S(immel) in Baltische Monatssehr. S5, Heft 4;
Kahlukow in Arch. f. soz. Ges. und Stat. 1,
185 ff. ; V. Brünneck in Jahrb. f. Not. u. Stat. 50,
6S8ff.; Bomhak in Preuss, Jahrb, Bd. 61. —
van JBrünneek, Die Leibeigenschaft in Ost-
preussen, Zeitschr. der Savigny Stiftung, german.
Abt. 8; Die Leibeigenschaft in Pommern, ebenda
Bd. 9; Die Aufhebung der Leibeigenschaft durch
die Gesetzgebung Friedrichs des Gitossen und
das AUgem. preuss. Landrecht, ebenda Bd. 10
und 11; Zur Geschi4^hte des Grundeigentums in
Ost- wid Westpreussen I, Die Kölmischen Gilter,
1891. — O, Hanssen, Die Aufheb^vng der
Leibeigenschaft in Schleswig und Holstein,' 1861.
— F. V. Bil&w, Oeschichtliehe Entwickelung
der AbgabenverhäUnisse in Pommern und Bilgen,
I843. — C. «/". F%iehs, Der Untergang des
Bauernstandes und das Aufkommen der Guis-
herrschaften in Neuvorpommem und Bilgen.
Abh. a. d. Strassb. staatsw. Seminar, Heft 6. —
Kam, Geschichte der bäuerlichen Bechtsver-
häUnisse in der Mark Brandenburg, Zeitschr. f.
Rechtsgesch. Bd. U, 1873. — OrossnMinn,
Ueber die gutsherrlich-bäuerlichen Rechtsverhält-
nisse in der Mark Brandenburg vom 16. bis 18.
Jahrh., Schmollers Staats- und sozialw. For-
schungen IX, 4t 1890; dazu Fuchs in Zeitschr.
der Savigny Stiftung, german. Abt. 12, 17 ff. —
V. Tr ansehe' Roseneck, Gutsherr und Bauer
in Livland im 17. und 18. Jahrh. Abh. a. d.
Strassb. staatsw. Seminar Heft 7. Zudem vergl.
noch Schröder a. a. O. S. 779 Anm. 15.
LMtnprecht.
III.
Statistik des Grundbesitzes.
I. Allgemeines. II. Statistik des
Grundbesitzes in den einzelnen
Staaten. 1. Deutsches Eeich. a) Prenssen;
b) Bayern; c) Sachsen; d) Württemberg;
e) Baden; f) die übrigen deutschen Staaten;
f) der städtische G. 2. Oesterreich. 3. Ungarn.
. Grossbritannien und Irland. 6. Italien. 6.
Frankreich. 7. Rassland. 8. Die übrigen Staaten.
I. Allgemeines.
Die hohe Bedeutung, welche die Gestal-
tung der Grundeigentumsverhältnisse für
die sozialen, insbesondere wirtschaftlichen
Zustände eines Volkes besitzt, weist auf
eine der wichtigsten Aufgaben der statis-
tischen Forschimg überhaupt hin. Insofern
als das Gnindeigentum vor allem zum Be-
trieb der Landwirtschaft in engster Wech-
selbeziehung steht, gehört die statistische
Ermittelung und Darstellung desselben zu den
Gegenständen der Agrarstatistik (s. den Art.
oben Bd. I S. 125 ff.). Ueber diesen Rahmen
würde nun aber eine erschöpfende Erhebung
aller auf das Grundeigentum bezüglichen
Thatsachen in mehrfacher Hinsicht hioaus-
reichen und namentlich folgende Haupt-
Handwörterbach der StaatswiflsexiBchaftexi. Zweite Auflage. lY. 54
850
Grundbesitz (Statistik)
momente zu berücksichtigen haben: Zahl
und Flächengrösse der Liegenschaften und
ihrer einzelnen Parzellen, Kulturarten und
Bonitätsklassen, Ertrag und Wert der Liegen-
schaften, Zahl, Bescliaffenheit, Bestimmung
und Wert der Gebäude, die Verschiedenheit
des Grundbesitzes nach der politischen und
sozialen Qualität der Eigentümer, die Belas-
tung des Grundeigentums mit öffentlichen
Abgaben, die privatrechtlichen Belastungen
und Beschränkungen sowie die Verschul-
dung und endlich die Besitzverhältnisse
desselben (Eigenbetrieb, Pachtung).
Im einzelnen ist an dieser Stelle in Bezug
auf die statistische Ermittelung des Grund-
eigentums folgendes hervorzuheben.
Am nächsten liegt es, das Verfahren einer
unmittelbaren Befragung der beteiligten Per-
sonen einzuschlagen. Dieselben werden indessen
vielfach teils gar nicht in der Lage, teils, na-
mentlich ans steuerlichen oder kreditwirtschaft-
lichen Eücksichten, auch nicht gewillt sein,
über alle in Betracht kommenden Verhältnisse
genaue Auskunft zu geben. Es tritt hinzu,
ass selbst die Feststelluni^ der Zahl der Eigen-
tümer, wie sie durch die Volkszählung bis-
weilen erhoben zu werden pflegt, dadurch er-
schwert und in ihrem Werte beeinträchtigt
wird, dass dabei neben dem Alleineigentum
auch das Mieteigentum in Frage kommt. Eine
Geeignetere Grundlage für die Ermittelung bilden
ie Anschreibnngen der Verwaltung überall da,
wo der Stand und die Veränderung der Grund-
eigentums Verhältnisse sowie die dingliche Be-
lastung desselben in amtlich geführten Ver-
zeichnissen (Grund- und Hypotheken büchem)
evident gehalten werden. Aber auch mit Hilfe
dieser Quellen lassen sich die Aufgaben der
Grundeigentumsstatistik nur dann vollauf be-
friedigend lösen, wenn einesfenaue Katastrierung,
wie sie das moderne Grund- und Gebäudesteuer-
wesen verlangt, voraufgegangen ist und alle
wünschenswerten Einzelancfaben in Bezug auf
Grösse, Kulturart, Roh- oder Reinertrag u. s. w.
geliefert bat.
Bei Feststellung der Zahl und der Grösse
der Besitzungen eines Eigentümers entsteht
die Frage, auf welche Einheit die Ermittelungen
zurückgehen müssen. Wie einerseits das von
einem Punkte aus bewirtschaftete Gut mehreren
von einander unabhängigen Eigentümern ge-
hören kann, so zerfällt bekanntlich andererseits
der gesamte, in der Hand eines Eigentümers
befindliche Besitz vielfach in mehrere räumlich
und wirtschaftlich getrennte Grundstücke. Es
ist deshalb womöglich von jedem einzelnen,
einer Person gehörigen, durch Ländereien frem-
der Eigentümer umschlossenen Besitzstück aus-
zugehen, welches innerhalb des Ansnahmebe-
zirks, d. h. in der Regel also der Gemeinde be-
legen ist. Bei Ermittelung der Gesamtzahl der
Grundeigentümer eines Landes uud der Grösse
ihres Besitzes ist dann weiter zu berücksichti-
gen, dass der letztere nicht selten in mehreren
Gemeinden zerstreut liegt.
Die Unterscheidung des Grundbesitzes nach
der politischen und sozialen Qualität des Eigen-
tümers ist heute, wo die ehemals an den Grund-
besitz geknüpften Vorrechte, namentlich der
Gegensatz zwischen Ritter- und Bauerngut,
fast in allen Kulturländern bis auf wenige
Reste verschwunden sind, von verhältnismässig
geringer Bedeutung. Wertvoll ist indessen
auch jetzt noch eine Trennung der Angaben
nach der Person des Eigentümers in der Weise,
dass etwa unterschieden werden: Krone, Staat,
Kirche, Schule und Stiftuneren, Standesherr-
schaften, städtische und ländliche Gemeinden,
andere politische Korporationen, juristische Per-
sonen (Handelsgesellschaften. Genossenschaften
etc.) und Privatpersonen.
Zu den schwierigsten Aufgaben der Grund-
besitzstatistik gehört die Beantwortung der
wichtigen Frage nach dem Ertrage und Wert
des Bodens. Man wird zu diesem Zwecke auf
die GrundsteuereinschätzuBgen zurückzugehen
haben. Hier ist nun zu beachten, dass nicht
nur der Reinertrag der landwirtschaftlich be-
nutzten Grundstücke bekanntlich überhaupt
sehr schwer genau festzustellen ist, sondern
auch jene Einschätzungen auf einem mehr oder
weniger summarischen Verfahren t>eruhen,
welches überdies viel zu selten wiederholt oder
revidiert zu werden pflegt, als dass die im
Laufe der Zeit vor sich gehenden Ertrags- und
Wertveräuderungen des Bodens angemessene
Berücksichtigung finden köunten. Obgleich
daher die bezüglichen Angaben des Grundsteuer-
katasters von den thatsächlichen Verhältnissen
mehr oder weniger abweichen, sind sie doch
als Grundlage für die statistische Erhebung von
^össter Bedeutung, da nur sie allein die Mög-
uchkeit bieten, den „Ertragswert** des Grund-
besitzes eines fi^anzen Landes statistisch zur
Darstellung; zu bringen. Zum Zwecke der not-
wendigen Korrektur und Ergänzung jener Ka-
tasterangaben bedarf es dann, neben der Er-
mittelung des Standes der Grundeigentumsver-
hältnisse, auch der statistischen Feststellung
der Eigentumsveränderungen durch Kauf, Erb-
schaftsregulierungen , Zwangsversteigerungen
oder Expropriationen (Bewegung des Grund-
eigentums) sowie des Pachtwechsels, um auf
diese Weise über die gegenwärtigen Kauf- und
Pachtpreise des Bodens Angaben gewinnen und
ihre Entwickelunof statistisch verfolgen zu
können. Endlich lassen sich auch die seitans
der landwirtschaftlichen Kreditinstitute vorge-
nommenen Taxationen des Bodenwertes für den
vorliegenden Zweck ausnutzen, wobei freilich
zu bedenken ist, dass solche „Kredittaxen"
hinter dem wirklichen Kapital werte des Bodens
in der Regel erheblich zurückbleiben.
Was für die Ermittelung des Bodenwertes
gilt, trifft in analoger Weise auch für die Ge-
bäudestatistik zu, vor allem bezüglich der länd-
lichen Wirtschafts- und Wohngebäude. In deu
Städten sind es besonders die Mietpreise, welche
einen brauchbaren Anhalt -für die Beurteilung
des Wertes der Gebäude liefern. Eine allge-
meine, namentlich in den Grossstädten zum
Zweck der Untersuchung der Wohnungszustände
sehr eingehend gestaltete Erhebung der Zahl,
Beschaffenheit und Benutzung der Wohnge-
bäude pflegt vielfach mit den Volkszählungen
verbunden zu werden. Auch die im Interesse
der Feuerversicherung bewirkten Anschreibun-
gen können unter Umständen eine allgemeine
Bedeutung für die Gebäudestatistik gewinnen.
Grundbesitz (Statistik)
851
In enger Beziehung zur Frage der Wert-
slatislik des Grundeigentums steht die Er-
mittehmg der Verschuldung desselben (s.
liieniber den Art. Hypothekenstatistik).
"Wie sich aus voi-stehendem bereits er-
giebt, ist die Vorualime einer Statistik des
Grundeigentums durchaus abhängig von ge-
wissen staatlichen Einrichtungen (Kataster-
und Grundbuchwesen, Hypothekenordnung
etc.), welche in vielen Staaten erst neuer-
dings einigermassen befriedigend gestaltet
worden sind. Dieser Umstand sowie die
sonstigen erheblichen technischen Schwierig-
keiten dieser Statistik erklären es, weshalb
sie trotz ihrer grossen Bedeutung in den
meisten Ländern bisher nur imvoUkommen
oder gar nicht ausgebildet ist und man in
Bezug auf die Verteilung und Benutzung
des Grundeigentums vielmch lediglich auf
die landwirtschaftliche Betriebsstatistik hin-
gewiesen ist, welche jedoch nur dort als
Anhalt für die Beurteilung der ländlichen
Eigentumsverhältnisse dienen kann, wo die
Pachtungen gegenüber den Eigenbetrieben
stark zurücktreten. (Für das Deutsche
Reich kommt hier vor allem die Betriebs-
statistik vom 5. Juni 1882 und 14. Juni 1895
in Beti'acht.)
Die nachfolgende Besprechung der ein-
zelnen Länder wird von den Ergebnissen
der Statistik hauptsächlich die wichtige
Frage der Verteilung des Grundeigentums
ins Auge fassen.
II. Statistik des Grundbesitzes in den
einzelnen Staaten.
1. Deutsches Reich, a) Freussen.
Hier fanden die ereten Erhebungen über
das Grundeigentum, anschliessend an die
gleichzeitigen Bevölkenmgsaufnahmen, in
den Jahren 1849, 1852, 1855 und 1858 statt
imd bezogen sich auf die Zahl der länd-
lichen Besitzungen (mit Unterscheidung von
fünf Grössenklassen) und die Art der Be-
nutzung der Gnmdstücke. Diese Ermitte-
lungen litten indes unter wesentliclien
Mängeln sowohl der statistischen Unterlagen
als auch der Art der Erhebung und sind,
wohl deshalb, später nicht wiederholt wor-
den. Erst nachdem mit der Vollendung
des grossen Werkes der Katastrienmg des
Grundbesitzes (1851 — 18G5 in den alten, bis
1878 in den neuen Provinzen) bef riegende
Gnmdlagen geschaffen waren, konnte man
mit Aussieht auf besseren Erfolg der Vor-
nahme einer Grundbesitzstatistik nähertreten.
Unter den im Anscliluss an diese Kataster-
aufnahmen veröffentlichten älteren Er-
hebungen verdient, neben der eingehenden
amtiiclien Gebäudestatistik, das Werk A.
Meitzens über den Boden und die landwirt-
schaftlichen Verhältnisse des preussischen
Staates, in Anbetracht der reichen FüUe des
dort verarbeiteten Materials, besondere Her-
vorhebung. Eine auf die ganze Monarclüe
sich erstreckende Statistik des Grundeigen-
tums und der Gebäude wurde jedoch eret
1889, und zwar nach dem Stande vom
Jahre 1878, publiziert. Sie enthält Xach-
w^eisungen über Zahl (bezw. auch Grösse)
der nadi ihren Eigentumsverhältnissen ge-
sonderten Besitzungen und Gebäude. Ferner
werden die »ländlichen Privatbesitzungen«
nach zahlreichen Grundsteuerreinertrags-
klassen undGrössenklassen getrennt ersichtlich
gemacht und mit Rücksicht auf ihre Rein-
erträge (sowie auf sonstige Verhältnisse)
wieder in »selbständige« und »unselbstän-
dige« geschieden, je nachdem der Erti-ag
zum Unterhalte der Besitzer vöUig zureicht
oder dieselben genötigt sind, dazu noch
anderen Verdienst dmxjh Tagelohn etc.
suchen zu müssen. Die besondere Statistik
der Gebäude betrifft deren Bestimmung, die
Zahl ihrer Stockwerke und ilire Bauart
Die nämlichen Ermittelungen sind nach dem
Stande von 1893 wiederholt- bisher (1898)
aber erst liinsichtiich des Grundeigentums
(nicht auch schon der Gebäude) veröffent-
licht worden. Schon seit Anfang der sech-
ziger Jahre und teilweise bis in die neueste
Zeit hinein hat die amtliche Statistik aus
verschiedenen Quellen Nachweisungen über
die Bewegung und den Wert des Grund-
eigentums, die Regulierungen, Ablösungen,
Gemeinheitsteilungen etc. gebracht.
Die hauptsäcldichsten Thatsachen nach
den neuesten Erhebungen sind folgende.
Im Gebiete des preussischen Staates (ohne
Hohenzollern und Helgoland) sind 1893 (in
Klammern 1878) Besitzungen ermittelt
worden: im ganzen 3197 761 (2917 852),
darunter öffentliche aller Art 16944^^ oder
5,3^/0 (149605 oder 5,1 ^/o) und 3028318
oder 94,7^/0 (2768264 oder 94,9 ^/o) privater
einschliesslich 29444 (17 305) von wirt-
schaftlichen Genossenschaften. Von den
öffentlichen Besitzungen hatten 39 588 nutz-
bare Gnmdstücke von 2 256 581 (2 117 421) ha
Umfang, von den privaten 1619767
(1568 215) mit 24002032 (23984789) ha.
An Gebäuden wurden festgestellt: 8521822
(7 608228), davon 410 466 oder 4,8^/0
(343 990 oder 4,5 o/o) öffentliche und 8111 856
oder 95,2 <>/o (7 264838 oder 95,5^/0) private.
Die ländlichen Besitzungen lassen sich der-
art giuppieren, dass als Gressgnmd besitz die
Besitzungen mit eineniGrundsteueiTcinertrage
von über 500 Thalern, als mittierer Besitz die
mit einem solchen von KiO — 5(X) Thalern und
als Kleinbesitz die selbständigen Besitzungen
mit einem Reinertrage von unter 100 Thalern
zusammengefasst werden, während auf der
untersten Stufe die sogenannten unselb-
ständigen Besitzungen (s. oben) und der
54*
852
Grundbesitz (Statistik)
Parzellenbesitz erscheinen. Die ländlichen
Privatbesitzungen verteilen sich dann nach
Zahl und umfang (nutzbare Fläche) für 1893
folgendermassen :
Provinzen
OstpreuBsen
Westpreossen
Brandenburg
Pommern
Posen
Schlesien
Sachsen
Schleswig-Holstein
Hannover
Westfalen
Hessen-Nassau
Bheinland
Preussen zusammen
1893
Grossgmnd-
besitz
1878
fZahl
1 ha
)Zahl
1 ha
/Zahl
^ ha
f Zahl
\ ha
I Zahl
\ ha
)Zahl
) ha
/Zahl
{ ha
} Zahl
i ha
/Zahl
\ ha
/Zahl
\ ha
/ Zahl
\ ha
/Zahl
\ ha
/Zahl
l ha
/Zahl
\ ha
2
941
2
8oi
2
I 146
2
1338
I
1 296
4
1639
4
613
4
444
3
341
1
273
74
2
207
138
712,5
iSi
844,7
138
881,0
262
022,3
982
797,7
205
587,9
ii5
835,8
510
228,5
730
739,0
743
063,3
420
725,8
523
056,2
31947
9119494,7
32488
9073187
mittlerer
Besitz
12697
799 680,4
6839
393 307,4
16336
739 170,1
6825
362 682,3
5087
280 583,6
19740
577531,2
20528
587 923,3
18236
731 246,6
29 117
I 386 379.6
16439
601 008,8
8382
173 452,4
16016
291 888,5
176242
6924854,2
182 410
7 112 150
Klein-
besitz
29344
730 184,3
14744
389 033,5
25374
535 420,3
16751
337 188,4
24613
447871,0
40426
494 7'*9,3
23 762
268851,1
12 542
214459,1
33 779
629916,7
22322
340641,4
22725
210411,4
48347
408 399,3
314 731
5 007 125,8
266 187
4509869
nnselbst.
Besitz
63720
239 829,3
47 198
214685,2
74610
239 621,9
40340
148 382,0
55331
219483,3
182301
489 144,2
85157
141 826.7
35018
"7 »37,5
96804
312329,3
82360
229 422,7
loi 475
185 107,4
232 529
413445,4
I 096 843
29505*4,9
1 078 627
3 238 236
Dies führt zu nachstehenden Verhältnisberechnnngen.
Von 100 Besitzungen entfallen
auf den
m
Gross-
gmnd'
besitz
Ostpreussen 2,0
Westpreussen 3,1
Brandenburg 1,8
Pommern 3,4
Posen 2,3
Schlesien 1,7
Sachsen 3,1
Schleswig-Holstein ... 6,4
Hannover 2,3
Westfalen 1,4
Hessen-Nassau 0,4
Bheinland 0,9
Preussen zusammen:
1893 2,0
1878 2,1
mitt-
leren
Besitz
11,8
9,6
13,8
10,3
5,8
8,0
15,4
25,9
17,8
^3,4
6,3
5,3
10,9
",7
Klein-
besitz
27,1
20,8
21,4
25,5
28,3
16,4
17,8
17,9
20,7
18,2
17,0
16,1
19,4
17,3
un-
selbst.
Besitz
59,1
66,5
63,0
60,8
63,6
73,9
63,7
49,8
59,2
67,0
76,3
77,7
68
69
Von 100 ha nutzbarer Fläche
entfallen auf den
Gross- mitt- K;iein- ^^'
grund- leren flaffT selbst,
besitz Besitz °®^^^ Besitz
35
45
43
61
58
51
38
30
13
19
12
15
38
38
30
22
28
17
13
18
36
49
52
42
27
22
29
29
27
22
20
15
20
15
26
20
29
24
32
30
21
19
9
12
9
7
10
15
9
8
12
16
29
31
12
13
Nach den vorstehenden Angaben zeigen
die einzelnen Landesteile erhebliche Ver-
schiedenheiten, welche sich kurz dahin
charakterisieren lassen, dass im Osten der
Monarchie der grosse Grundbesitz, im Westen
und in den neuen Provinzen die kleineren
und unselbständigen Besitzungen stärker
hervortreten. Gegen 1878 macht sich eine
Zunahme des Kleinbesitzes und eine Ab-
nahme des unselbständigen Besitztums be-
I merkbar. Uebrigens ist zu bemerken, dass
! die Statistik grundsätzlich melirere im
i Eigentum einer Person befindliche selb-
! ständig bewirtschaftete Besitzungen als jede
für sich bestehend betrachtet
Auch hinsichtlich des Ertragswertes des
Bodens steht der Osten zum Westen im
Gegensatz. Es entfällt (1878) nämlich fol-
gender Grundsteuerreinertrag auf 1 ha nutz-
barer Fläche bei dem
Gnindbesitz (Statistik)
853
p Grossgnind-
y^ besitz
vinzen: v
Ostprenssen 9,3^
Westprenssen 10,20
Brandenburg 10,71
Pommern 10,33
Posen 9,11
Schlesien 13,88
Sachsen 29,48
Schlw.-Holst. 34,53
Hannover 32,30
Westfalen 22,38
Hess -Nassau 19,25
Rheinland 42,05
Preussen 15,01
mittleren
Besitz
M.
9,31
10,85
12,71
11,62
9,71
20,28
22,08
17,69
13,30
17,82
26,14
32.76
15,83
Klein-
besitz
M.
5,82
5,20
8,04
6,95
8,40
'3,73
15,07
11,58
9,71
11,24
18,25
18,68
10,01
nnselbst.
Besitz
M.
5,04
3,95
7,69
6,59
6,40
11,91
18,44
10,68
8,65
9,88
15,62
15,48
10,47
Bei Beurteüung der Ertragsverschieden-
heiten zwischen dem grösseren und kleineren
Besitz ist zu beachten, dass als Massstab
für die letztere Unterscheidung die Grund-
steuerreinerträge selbst gewählt worden sind.
b) Bayern. Die Grundbesitzstatistik ist
hier erst noch wenig ausgebDdet. Einige
Feststellungen über die Besitzverhältnisse
und die Stückeliuig des Bodens haben ge-
legentlich der grösseren landwirtschaftlichen
Erhebungen von 1853 und 1863 auf Gnind
des damals eben fertiggestellten Steuer-
katasters stattgefunden. Sie beziehen sich
auf das landwirtschaftlich benutzte Areal
und die Waldungen, unterscheiden den
Privatbesitz und den Besitz des Staates
sowie der Korporationen etc. und macheu
die Zahl der Besitzer, der Tagewerke und
der Parzellen ersichtlich. Mit den meisten
älteren Yolkszählungen sind auch besondere
Gebäudezählungen verbunden worden. Seit
jenen Jahren haben erst die Erhebungen
von 1883 bezw. 1882 über die Bodenbe-
nutzung und die Betriebe in der Landwii't-
schaft wieder zu einem beschränkten Aus-
weis des Grundbesitzes geführt, indem für
jede Gemeinde die gesarate luid die land-
wirtscliaftlich benutzte Fläche die Zahl der
der Gemeinde angehörigen und nicht ange-
hörigen Grundbesitzer sowie der Flächen-
inhalt des grössten und kleinsten Besitztums
erhoben wurden. Wir benutzen dieses
neueste Material zu nebenstehender Zu-
sammenstellung.
Hier sind nur die >der Gemeinde ange-
hörigen« Grundbesitzer berücksichtigt, die
Forensen also ausgeschlossen, so dass in den
Durchschnittszahlen der wirkliche Umfang
eines jeden Besitztums im wesentlichen zu-
ti'effend zum Ausdruck kommen wird. (In
der bezüglichen amtlichen Veröffentlichung
fehlt es leider an jeder Andeutung über die
Art der Erhebung und die Brauchbarkeit
des Materials.) Die Angaben über die
Durchschnittsgrösse eines Betriebes, und
zwar der landwirtschaftlich benutzten Fläche
desselben, sind der Betriebsstatistik ent-
nommen. Durchschnittlich sind die Betriebe
a>
Auf einen Grund-
Ö.^
besitzer entfallen
Regierungs-
bezirke
Zahl d
Grundbes
ha der
Gesamt- landw.
irchsch]
rosse e
Betriel
fläche
Fläche
ö^
Oberbayeirn
114 863
13,19
8,98
9,3
Niederbayem
96044
10,97
7,30
«,2
Pfalz
162 195
3,51
2,08
2,9
Oberpfalz
Oberiranken
76068
12,12
7,51
7,9
83301
7,59
5,19
5,7
Mittel franken
88375
7,99
5.41
6,2
Unterfranken
124872
5,92
3,99
4,7
Schwaben
106 149
9,02
6,70
6,7
Bayern
851867
8,33
5,59
6,3
umfangreicher als die Besitzungen, wie denn
auch die Gesamtzahl der ersteren (681521)
erheblich hinter der der Grundeigentümer
zurücksteht. Die weitgehende Zerstückelung
des Grundbesitzes in einigen Teilen Bayerns
und vor allem in der Pfalz tritt aus den
obigen Zahlen deutlich hervor.
o) Sachsen. Die Unterlagen, welche
in Sachsen w^ährend der Jahre 1839 — 1843
durch Aufstellung des Grundsteuerkatastei-s
geliefert wurden, sind für die Zwecke unserer
Statistik lange Zeit unbenutzt geblieben. An
vereinzelten Bemühungen, aus anderen
Quellen eine Kenntnis der bezüglichen Ver-
hältnisse zu schöpfen, liat es dagegen nicht
gefehlt. Den bedeutsamsten dieser Ver-
suclie bilden die gelegen tlicli der A'ieh-
zählung von 1853 veranstalteten Erhebungen
über die Anzalü der viehbesitzenden Land-
gniudbesitzer und Landgrundpächter mit
Rücksicht auf die Grosse ihi'es Besitzes
(22 Klassen). Indessen bietet eine solche
Betriebsstatistik doch nur einen unvoll-
kommenen Ersatz. Eret im Jahre 1877
wurde auf Grund der Katasterangaben (mit
Unterscheidung von 61 Besitzklassen) die
Zahl der Eigentümer derjenigen landwiii:-
schaftlichen Gnmdstücke festgestellt, auf
denen nach Abrechnung der die Gebäude
samt den Hofräumen treffenden Einheiten
mindestens 120 Steuereinheiten haften.
Nach dem am 1. Januar 1844 in Kraft ge-
tretenen Grundsteuergesetz sollte eine solche
Einheit dem Reinerti-age von ^3 Thaler
(— 1 M.) gleichzuachten sein. Die Zahl
der Grundeigentümer gedachter Art betrug
i877 im ganzen 52 332 mit 29 325 983
Steuereinheiten. Beide verteilen sich in
nachstehender Weise:
auf einen Grundeigen-
ttiraer
Zahl 0/0
69,16
21,73
6,30
Besitz von
Steuerein-
heiten
120—500
500—1000
1000-2000
2000— KXXX)
über 10000
Steuereinheiten
Zahl
0'
/O
36189
11373
3299
1341
130
2,56
0,25
9502819 32,40
7 794 209 26,58
4371 9H 14,91
5504562 18,77
2152482 7,34
854
Grundbesitz (Statistik)
Abgesehen davon, dass die Bevölkerungs-
vermehrung, der gewaltige Aufschwung der
Industrie sowie die YervoUkonimnung der
Verkehi-smittel seit Anfang der vierziger
Jahre den Reinertrag des Bodens beträcht-
lich gesteigert haben, leidet jene Erhebung
vor allem daran, dass der Grrundbesitz mit
weniger als 120 Mark Reinertrag und da-
mit ein erheblicher Teil der kleineren Eigen-
tümer vöDig unbeachtet gelassen ist. Aller-
dings enthält auch die erste der obigen
Gruppen noch viel Kleinbesitz und nament-
lich auch wohl die Mehrzahl der in den
Stadtfluren belegenen Güter und Grund-
stücke. In der zweiten Gruppe wird vor-
nehmlich der mittlere, in der dritten der
besonders wohlliabende Bauernstand und die
kleinen Rittergüter vertreten sein, während
in der vierten und fünften Gruppe haupt-
säcldich die mittleren bezw. selir grossen
Rittergüter zur Erscheinung gelangen. Im
ganzen zeigen die Verhältnisse eine glück-
liche Mischung von grösserem, mittlerem
und kleinerem Besitz.
d) Württemberg. Zu den Ländern
mit vorwiegend kleinem Gnmdeigentum ge-
hören Württemberg und das nachfolgende
Baden. Dort wurde im Jahre 1857 unter
Zuhilfenahme der Grundbücher eine Statistik
des Grundeigentums imd zwar in der Weise
aufgestellt, dass die Zahl der Eigentümer
in ihrer Yerteilung auf 7 Grössenklassen
des landwirtschaftlich benutzten Bodens
nachgewiesen wuwle. Diese Erhebung hatte
namentlich den grossen Misstand, dass alle
sogenannten Ausmärker, d. h. alle diejenigen,
welche Grundstücke auf melu'eren Gemar-
kiuigen besassen, melirere Male als Grund-
eigentümer gezählt wurden, die wirkliche
Zahl der letzteren also weit geringer war
als 449 594, welche die Statistik ergab ; es
ist dies auch daraus zu entnehmen, dass
Württemberg um dieselbe Zeit überhaupt
nur 359 000 Familien zählte. Ein im Jahr-
gang 1860 der Jahrbücher (s. Litteratur)
anonym ei-schienener Aufsatz Rümelins sucht
die Mängel jener Statistik zu heben. Hier-
nach reduziert sich die Zahl der Grund-
eigentümer auf etwa 329 650. Von diesen
haben 180 000 oder 54®/o ein Besitztum von
weniger als 5 Morgen (1 württemb. Morgen
= 0,315 ha), ferner ein j^olches von 5 — 10
Morgen 66 000 oder 2()<>/o, von 10—30
Morgen 55 000 oder 11%, von 30—50
Morgen 15 000 oder 5"/o, von 50—100
Morgen 10 400 oder S^/o, von 100 bis 200
Morgen 2600 oder 0.8 ^Vo und endlich von
über 200 Morgen 650 oder 0,2 »/o. Jene
IwO 000 kleinen Grundeigentümer sind haupt-
sächlich solche Gewerbetreibende und Lohn-
arbeiter, welche ihr Einkommen durch land-
wirtschaftliche Nebenbeschäftigung ergänzen.
An neueren Ermittelungen feldt es in
Württemberg. Die gelegentlich der Vieh-
zählung am 10. Januar 1873 veranstaltete
Erhebung über die Vei^teilung des landwirt*-
schaftlich benutzten Grundbesitzes erstreckte
sich auf die Zahl und die Grösse der vor-
handenen Wirtschaften, d. h. auf den Um-
fang der von einer Haushaltung aus be-
triebenen Land'wirtschaft. Es wurden also
nicht die Eigentums-, sondern die Betriebs-
verhältnisse berücksichtigt. Man zählte im
ganzen 313 519 Wirtschaften , darunter
145 085 oder 46,28 % mit einem Besitz von
IV2 und weniger ha, 141809 oder 45,23 <^/o
mit einem solchen von IV2 — 10 ha und
26 625 oder 8,49 ®/o mit einem solchen von
mehr als 10 ha. Diese Zahlen stehen mit
den obigen Angaben über die Eigentums-
verteüung im Einklang.
e) Baden. Im Grossherzogtum sind
umfassendere Erhebungen über den Grund-
besitz bisher noch nicht veranstaltet wor-
den. Insbesondere fehlt es in Bezug auf
die wichtige Frage der Eigentumsverteilung
des Bodens an direkten Ermittelungen.
Einen gewissen Ei*satz bietet indessen die
gelegentlich der Viehzählimg am 10. Januar
i873 vorgenommene Statistik der landwirt-
schaftlichen Haushaltungen sowie die land-
wirtscliaftliche Betriebsstatistik vom 5. Juni
1882 und 14. Juni 1895. Weü die Ergeb-
nisse der letzteren in den Artt. Agrar-
statistik, Bauerngut und Bodenzer-
splitterung berücksichtigt sind, beschrän-
ken wir uns auf einige Mitteilungen aus den
Veröffentlichungen über jene ältere Erhebimg.
Darnac'h gab es:
Besitzgruppen
Land wir tsch.
Landwirtsch.
nach der Grösse in
Betriebe
Fläche
Morgen ha
Zahl
0/
,0
ha %
0-10 0 3,6
160 581
72,0
227313 28,5
10 20 3,6—7,2
38900
17,5
193923 24,3
20—50 7,2 18
18346
8,3
193936 24,3
50-100 18—36
3721
1,6
90152 11,3
100—500 36—180
I 177
0,5
65671 8.4
über 500 über 180
21
0,01
5 542 0,6
Gemeindeall-
mend etc.
21 060 2,6
zusammen
222 746
100,0
797 597 100,0
Da von der gesamten landwirtscliaftlichen
Fläche 628 450 ha oder 78,8 % im Eigentum
des Bewirtschafters sich befanden, so können
die obigen Zahlen annähernd auch für die
Eigentunisverteilung als zuti'effend gelten.
In Baden heiTScht eine selu* weitgehende
Teilung des Gnmdbesitzes. Der Schwer-
punkt der Landwirtschaft liegt in den eigent-
lich bäuerlichen Betrieben von 10 bis 100
Morgen, welche wesentlich mehr als die
Hälfte des landwirtschaftlichen Areals um-
fassen. Der Grossgrundbesitz tiitt völlig
zurück. Bei den äusserst zahli'eichen Haus-
haltungen der untersten Gruppe handelt es
Grundbesitz (Statistik)
855
sich um solche kleine Grrundeigentümer,
welche ausser in der Landwirtschaft auch
noch in anderen Erwerbszweigen, als Hand-
werker, Tagelöhner etc., ihren Lebensunter-
halt suchen müssen (gemischte Betriebe).
f) Die übrigen deutschen Staaten.
Eine vortreffliche, systematisch ausgebildete
Agrarstatistik, welche auch die Grundeigen-
tumsverhältnisse eingehend berücksichtigt,
liegt für die thüringischen Staaten
vor. Daneben sind die reichhaltigen Yer-
öffentlichungen aus Braun schweig, Ol-
denburg und Bremen zu nennen. Die
über Mecklenburg-Schwerin publi-
zierten Arbeiten beschränken sich fast alle
auf das Domanhim, dessen Verliältnisse
allerdings recht umfangreiche Darstellungen
erfahi*en haben. In den bisher nicht ge-
nannten Teilen des Deutschen Reiches sind
über das Gnmdeigentum entweder gar keine
oder doch nur geringfügige statistische Er-
mittelungen veranstaltet w^orden, so dass
hier, wie teilweise auch schon in den früher
behandelten Staaten, die Betriebsstatistik
aushelfen muss. — Wa6 die Lage des
Gnindeigentums selbst betrifft, so sind im
Grossherzogtum Hessen, in Thüringen sowie
in den Reichslanden (mit Ausnahme des
Lothi'inger Bezirkes) vorwiegend kleinere
Besitzer vertreten und die Zei^splitterung
des Bodens ist dort vielfach eine sehr weit-
gehende. In schroffem Gegensatz hierzu
steht Mecklenburg, wo der Boden im Eigen-
tum verhältnismässig weniger sich befindet.
Tebrigens lebt auf dem neben den gi'ossen
Rittergütern vor allem in Betracht kommen-
den grossherzoglichen Domanium ein gut
entwickelter Stand kleinerer Bauern als
Erl:>- oder Zeitpächter. Die übrigen Staaten,
namentlich Oldenburg und Braunschweig,
haben eine vorteilhafte Mischung von
grösserem imd kleinerem Gnmdeigentum
und insbesondere einen kräftigen Bauern-
stand aufzuweisen.
g) Der städtische G. Die eigen-
tümlichen Verhältnisse des städtischen,
vorzugsweise in Gebäuden bestehenden
Lnmobiliarbesitzes und insbesondere die
engen Beziehungen desselben zur Wohnungs-
frage haben vor allem in den Grossstädten
zu eingehenden statistischen Erhebungen
geführt, namentlich seitdem in zalilreichen
Städten des In- und Auslandes besondere
statistische Aemter begründet woixlen sind,
welche die Erforschung jenes Gebietes zu
einer ihrer Hauptaufgaben gemacht haben.
So ist bereits ein überaus wertvolles
Material für die Beurteilung der sozialen
Zustände innerhalb der städtischen Gemein-
wesen zusammengetragen. Allerdings sind
die bisher von den einzelnen Städten unter-
nommenen Ermittelungen imter einander
noch sehr ungleich, so dass z. B. selbst
innerhalb des deutschen Reichsgebietes über
die Zahl der grossstädtischen Grundeigen-
tümer in befriedigendem Umfange vergleich-
bare Daten sich nicht beibringen lassen.
Ein allgemeineres Interesse bietet folgende,
der neueren Neefeschen Arbeit (s. Litteratur)
entnommene Uebersicht, welche die Ent-
wickelung der Bauthätigkeit im Vergleich
zur Bevölkerungszunahme wälirend des
Zeiti-aumes 1880 85 zur Anschauung bringt
und ziu* Genüge erkennen lässt, dass beide
keineswegs überall in befriedigender Weise
einander entsprochen haben.
Es beträgt
die:
Zunahme der
Städte:
Bevölkerung
bewohnt. Gebäude
absolut
0/
/oo
absolut
/oo
Berlin
192 957
172
923
37
Hamburg
61 300
149
I 178
45
Breslau
26 728
98
959
117
München
31958
139
384
45
Frankfurt a. M.
17694
129
892
100
Dresden
25268
114
973
115
Leipzig
21 259
143
349
92
Bremen
5942
53
181
II
2. Oesterreich. Aus älterer Zeit liegen
nur für einzelne Länder der österreicliischen
Monarclüe statistische Erhebimgen über das
Grundeigentum vor, so namentlich für Ga-
lizien (nach den beiden 1819 und 1847 — 59
vorgenommenen Katastervermessungen) und
für Böhmen (nach den A'ermessimgen aus
den sechziger Jahren). Erst nachdem zu
Beginn der achtziger Jahre das 1869 in
Angriff genommene Werk der allgemeinen
GrundsteueiTegulierung für ganz Oesterreich
zu Ende gefülirt worden, waren gleich-
massige und voDständige Unterlagen für
imsere Statistik gewonnen, welche letztere
denn auch seitdem eine sehr eingehende
Ausgestaltung, unter Berücksichtigung der
Bodenverhältnisse und Kulturarten, der
Grundsteuerreinerträge, der Eigentumsver-
teilung (leider ohne Untei-scheidung von
Grössenklassen) und der Besitzarten er-
fehren hat. Ueber die Bewegung des Grund-
eigentums, d. h. die Veränderungen im Be-
sitz- und Lastenstande der Realitäten, finden
bereits seit mehreren Jahraehnten fortlaufende
Ermittelungen statt Auch über das Ver-
hältnis der Steuerwerte zu den Verkaufs-
preisen sind wertvolle Daten gesammelt
worden. Ein ungefähres Büd von der Ver-
teilung des landwirtschafthch benutzten
Grundl)esitzes in den einzelnen Ländern
nach dem Stande des Jahres 1883 gewährt
die nachfolgende Uebersicht, bei welcher
insofern Doppelzählungen vorkommen, als
ein Grundsteuerträger nicht selten in meh-
reren Steueramtsbezirken vertreten ist.
856
Grundbesitz (Statistik)
Zahl Auf 1 GrundW
der sitzer entfallen
Länder Grund- stenerbare Eein-
t^ Flache In ertrag
.P®" Joch (zu in
Sitzer 0.58 ha) Gulden
Niederösterreich 266461 12,48 74,09
Oberösterreich 11 1657 17,33 106,35
Salzburg 24424 43,27 60,54
Tirol 194879 19,29 24,49
Vorarlberg 31 763 12,56 20,60
öteiennark 188947 19,21 56,66
Kärnten 49321 33,24 60,63
Krain 106558 15,51 26,42
Triest 9 434 1,60 10,33
Görz u. Gradiska 46015 9,74 34,09
Istrien 11 0800 7,51 11,88
Dalmatien 112814 i9,34 12,60
Böhmen 754 556 11,58 67.39
Mähren 457 728 8,18 53,41
Schlesien 77 552 11,19 46,54
Galizien 1420021 9,28 17,25
Bukowina 163286 11,47 13,77
Oesterreich 4116216 11,94 40,07
Grösser als cüe obige Zahl der Grund-
steuerträger ei-scheint infolge von Doppel-
zählungeu die Zahl der in einer Steiierge-
meinde vertretenen Gnindbesitzer. Sie be-
trug 1883: 5198 904; auf den einzelnen
entfielen an Grundfläche überhaupt 10,0, an
steuerbarer Fläche 9,5 Joch, gegen 14,0 bezw.
13,2 Joch im Jahre 1857. Die Zersplitterung
hat also im ganzen erhebliche Fortschritte
gemacht. Und auch für die Folgezeit ist
solche ersichtlich, da sich 1896 die (obige,
kleinere) Zahl der Grundsteuerträger auf
4 642 176, die der steuerpflichtigen Fläche
auf 48 706 455 Joch, mithin für einen Grund-
steuerträger auf 10,50 Joch stellte.
3. Ungarn. Die Statistik Ungarns, wel-
che sich auf die vorläufigen und endgiltigen
Katasteraufnahraen, das Grundsteuerprovi-
soriuni von 1850 und die 1869 durchgeführ-
ten Revisionen stützt, liefert eingehende
Nachweise über die Zahl der ländlichen
Grund besitzungen nach Grössen- und Rein-
ertragsklassen, die Kultiutu'ten und die
rechtliche Natur des Besitzers. Aussei-dem
werden, wie in Oesterreich, alljährlich Er-
hebungen über die Zahl un^ den Geldwert
der Veränderungen im Besitz- und Lasten-
stande veranstaltet. Für Ungarn und Sieben-
bürgen, also mit Ausschluss von Kroatien
und Slavonien, betrug nach den obigen Fest-
stellungen die (lesamtzahl der Grundbe-
sitzungen 2 186265 mit einer Gesamtfläche
von 46 597 889 Joch (hiervon 43477 475 er-
tragsfäliig und 3120414 unbenutzbar); dem
entspricht eine Durchschnittsgrcisse von
18,74 Joch. Die A^erteilung auf die einzel-
nen GWissenkalegorieen ergi(»bt folgendes :
ßesitzgruppen nach der Gruntlbesitzungen
Grösse in Joch Zahl %
bis zu 5 I 444 400 58,09
5 lo 643091 25,87
15 — 30 260619 10,48
30—50 77280 3,11
Besitzgruppen nach der Grundbesitzon^en
Grdsse in Joch Zahl ^|o
50 — 100 30336 1,22
100—500 20611 0,83
500—1000 4502 0,18
1000-10000 5 195 0,21
über 10000 231 0,01
Inwieweit hier Doppelzählungen von Be-
deutung sind, lassen die amtlichen Ausweise
nicht erkennen.
4. Grossbritannien und Irland. Hier
mangelte es bis zu Anfang der siebziger
Jahre in betreff der Gnmdeigentumsverhält-
nisse trotz ilu-er Eigenartigkeit an jeder
sicheren Kenntnis. Es liaben dann, haupt-
sächlich auf Anregung des Parlamentes, Er-
hebungen stattgefunden, welche, da eine
allgemeine Landesvermessung felilte, hin-
siclitlich der Grösse des Besitzes auf blosse
Schätzungen angewiesen waren, während
die Jahreserträge den Steuerlisten entnom-
men werden konnten. Das Material leidet
aber auch noch an sonstigen schwerwiegen-
den Mängeln. Die Zahl der Besitzer er-
scheint infolge von Doppelzählungen, der
Jahresertrag um deswillen erheblich zu
gross, weil die Einkünfte aus nichtlandwirt-
schaftlichen Quellen (Bergwerken u. s. w.)
mit eingerechnet sind. In Schottland ist die
kultivierte Fläche, welche dort nur ^4 der
Gosiimtfläche ausmacht, überhaupt nicht aus-
geschieden. Für England und Wales wiuxle
das städtische Grundeigentiun von dem
übrigen nicht gesondert. (Nur London wird
von der Statistik nicht boti-offen.) Die Erb-
pächter u. s. w. sind den Eigentümern zu-
gerechnet, ohne dass eine Trennung der ge-
rade für England so charakteristischen Arten
des Grundeigentums versucht wäi-e. Trotz
dieser und anderer Mängel erweisen sich
die Zahlen zur ungefäliren Beiui:eilung der
thatsächlichen Verhältnisse als ausreichend.
Wir geben folgende Uebersicht (1 Aciv =
0,4 ha).
Besitzpuppen Grundbesitzer ^P.^^^" Ertra-
nach der ^*""""^°*w.^» gnisse ^'.""»
Grosse in „ .. 01 in 1000 0; ilSin t
Acres ^'^^^ '0 Acres 0 ^^^ **
a) England
und Wales
bis zn 1 703289 72,3 155 0,5 28475
1-1000 264340 27,214741 44,743969
1000— lOaX) 4917 0,5 13974 42,3 2» 554
über 10000 290 0,0 4 141 12,5 5333
zusammen 972836 100,033013 100,099352
b) Schottland
bis zu 1 76732 81,1 22 0,1 2098
1—1000 16 158 17,1 1452 7,7 4533
1000—10000 1425 1,5 4355 23,0 3882
über 10000 326 0,3 13095 69,2 3002
zusammen 94641 100,0 18925 100,0 13 516
c) Irland
bis zu 1 36 144 52,6 9 0,0 1 350
1 — 1000 28822 41,9 4345 21,6 4400
10(K)— 10000 3453 5,1 9344 46,4 5000
über 10000 292 0,4 6458 32,0 2600
zu.sammen 68 711 100,0 20156 100,0 13350
Grundbesitz (Statistik)
857
Die kleinsten Besitzungen bis zu 1 Acre
bestehen fast ausschliesslich in Hauseigen-
tum. Auch bei der folgenden Gruppe han-
delt es sich vielfach nicht um landwirtschaft-
lichen Besitz, sondern um Fabriken, Land-
häuser u. s. w. Was insbesondere Schott-
land anbetrifft, so wurden hier im ganzen
132230 Eigentümer gezählt, indem 37 589
mit einem Areal von 21000 Acres und
einem Jahreserti'age von über 5 Millionen £
auf die neun Städte des Landes mit über
20000 Einwolmern entfielen. In Irland ist
zwar, wie in England, das gesamte städtische
Gnmdeigentum mit eingerechnet, lässt sich
dort aber auch getrennt nachweisen, und
zwar wiu-den in Irland (im Jahre 1870) nur
19547 ländliche Grundeigentümer (28,4 <^/o
aller) mit einem Areal von fast 20 Millionen
Acres und über 10 Millionen £ Rente ge-
zählt, darunter 5982 mit je einem Besitz
von unter 100 Acres. Von den übrigen
13565 hielten sich, soweit ermittelt, mu*
5589 mit annähernd 9 Millionen Acres ge-
wöhnlich auf ihren Besitziuigen auf (s. d.
Art. Absentismus oben Bd. I S. 13/14).
Die Zahlen lassen erkennen, dass im vereinig-
ten Königreiche der Boden grösstenteils, in
Irland sogar fast völUg in den Händen ver-
hältnismässig weniger Grossgrundbesitzer
vei-einigt ist, welche denselben bekanntlich
in der Regel von Pächtern bewirtschaften
lassen. fUeber Zahl und umfang der Be-
triebe vgl. d. Art. Boden Zersplitterung
oben Bd. II, S. 971.)
6. Italien. Obwohl bereits in den sieb-
ziger Jahren der Plan einer systematischen
Gnindeigenturasstatistik eingehend erwogen
w^urde, ist es zu einer solchen Erhebung
bisher noch nicht gekommen. Die techni-
schen Sch^vierigkeiten derselben beruhen,
wie es scheint, hauptsächlich auf dem Man-
gel eines vollständigen gleichm&ssigen und
zuverlässigen Grundkatasters für das ganze
Königreich. Nur über die hypothekarische
Belastung des Eigentums liegen, und zwar
seit einer Reihe von Jahren, sehr vollsiän-
digo statistische Nachrichten vor. Einige
Kenntnis von der Verteilung des Grundbe-
sitzes verdankt man der in den siebziger
Jahren veranstalteten grossen landwirtschaft-
lichen Enquete, welche bezüglich dieser
Frage namentlich aus den Grundsteuerrollen
und den für einige Provinzen aus älterer
Zeit vorliegenden agrarstatistischen Erhebun-
gen schöpft. Die Artikelzalü der Steuer-
listen wird für 1880 auf 5157 293 angege-
l)en, welche eine Bodeuf lache von 29 625403
ha und eine Grundsteuer von 124695028
Lire repräsentieren, so dass diu'chschnittlich
auf jeden Artikel 5,74 ha bezw. 24,17
Lire entfallen. Am geringsten ist die Grösse
des steuerpflichtigen Grundes in den Pro-
vinzen Neapel (2,19 ha) und Como (2,11 ha).
am beträchtlichsten in Grosseto (22,07 ha)
und Siena (27,99 ha). Wesentlich kleiner als
die Zahl der Artikel ist selbstverständlich
die der Steuerpflichtigen. Sie betrug 1880
im ganzen 3586560, von denen 2909584
oder 81,120/0 weniger als 20 Lire, 368776
oder 10,28^/0 20—40 Lire und 308 200 oder
8,60 o/o mehr als 40 Lire an Steuern zahlten.
Uebrigens werden auch hier noch vielfach
Doppelzählungen vorgekommen sein. Im
ganzen ist der Boden Italiens ausserordent-
lich zerstückelt, besonders in Nord- und
Süditalien sowie auf Sardinien. Der Gross-
grundbesitz macht sich fast nur im Gebiete
des früheren Kirchenstaates stärker geltend.
6. Frankreich. Die doi-tige Gnmdbe-
sitzstatistik entstammt zum Teil den fort-
laufenden Anschreibungen der Steuerver-
waltung. Ausserdem sind wiederholt sta-
tistische Specialerhebungen veranstaltet,
welche, ebenso wie die grossen landwirt-
schaftlichen Enqueten der Jahre 1866 — 1870
und 1879 — 1880, ein reiches Material zu
Tage gefördert haben. Bezüglich der Grund-
eigentumsverteilung ist man trotzdem auch
heute noch auf die Cotes foncieres, d. h. die
selbständigen Grund steuerbeträge jeder Ge-
meinde als Erhebungsobjekt angewiesen,
dei-en Gesamtzahl regelmässig veröffentlicht
zu werden pflegt. Daneben wurde in den
Jahren 1835, 1842 und 1858 eine Klassifi-
zierung der Cotes nach Wertgrössenklassen
(^in Francs) vorgenommen, wohingegen bei
einer ähnlichen neuen Ermittelung (1884)
die Flächengrösse als Massstab gedient hat.
Eine umfassende statistische Erhebung des
steuerbaren Grundeigentums nach den An-
gaben des Katasters wurde durch G. v. 9.
April 1879 angeordnet. Bei dieser Gelegen-
heit ist, nach einem Voi'gange des Jahres
1851, neben dem Reinertrag auch der Ver-
kaufswert des Bodens ermittelt worden.
Ueber die Pachtertrilge sowie über die hypo-
thekarische Belastimg haben die Enqueten
gleichfalls wertvolle Daten geliefert.
Die Erhebung des Jahres 1884, welche
sich auf ganz Frankreich mit Ausnahme von
Paris und 364 anderen, noch nicht ka-
tastriej'ten Gemeinden Korsikas und Savo-
yens erstreckt, verteilt die Cotes auf 21
Grössenklassen. Im folgenden sind dieselben
derart zusammengefasst, dass das sehr kleine,
mittlere, grosse und sehr grosse Grundeigen-
tum thun liehst zur Ei-sclieinung gelangt
Man erhält dann:
n.K«„« ;« i.«C^otes foncieres
Grösse m ha ^^^^^^^ o/^
steuerbare Fläche
ha %
0—2 10426368
74,09
5211456 10,53
2 6 2 174 188
I5;47
7 543 347 15,26
6—50 135M99
9,58
19 217 902 38,94
50-200 105070
0,74
9398057 19,04
über 200 17676
0,12
8017542 16,23
zusammen 15 074 801
100,00
49388304 100.00
858
Grnindbesitz (Statistik)
In Bezug auf die Beurteilung dieser
Zahlen vgl. die Ausführungen in Bd. 11
S. 569 ff. Der durchschnittliche Reinertrag
des unbebauten Grundeigenturas ist pro ha
von 38,04 Francs im Jahre 1851 auf 52,87
Francs im Jahre 1879, der Yerkaufswert in
der gleichen Zeit von 1282,29 auf 1830,39
Francis gestiegen. Am bedeutendsten war
die Zunahme beim Acker- und Weinlande.
Nur sehr wenige Departements zeigen einen
Rückgang des Bodenwertes. Der Pachter-
trag pro ha stieg von 63,02 Francs im Jahre
1867 auf 73,50 Francs im Jahre 1877. Nach
den neuesten Angaben des Annuaire sta-
tistique von 1898 verteilt sich die kultivierte
Fläche im Belaufe von 44241720 ha derart,
dass auf den Staat 1116708, auf die De-
partements 8243, auf die Gemeinden
2 982 657, auf die etablissements hospitaliers
208100, auf die Privaten 39758043 und
auf sonstige Eigentümerklassen 167 969 ha
entfallen.
7. Russland. Hauptsäclüich zu dem
Zwecke, den Einfluss der Aufhebung der
Leibeigenschaft auf den Besitz Wechsel kennen
zu lernen, ist im euroimschen Kussland
wälu-end- der Jahre 1877 — 1880 eine umfas-
sende Enquete veranstaltet w^orden, welche
über die Gesamtlage des Grundeigentums
die wertvollsten statistischen Aufschlüsse
erteilt. Insbesondere sind auch die einzel-
nen Kategorieen der Eigentümer nach dem
Umfange ihres Besitzes in mehi'ere Gruppen
unterschieden. Ferner finden über den
Wert und die hj-pothekarische Belastung
des Grundeigentums fortlaufend besondere
Ermittelungen statt. Uebrigens ist jene Er-
hebung insofern unvollständig gewesen, als
von der Gesamtfläche im Umfang von
417 499993 Dessätinen (1000 D. = 1093 ha)
nur 391103966 berücksichtigt wurden.
Letztere verteilen sich derart, dass entfallen
auf den Staat 150409977 oder 38,5^/0, auf
die kaiserliche Familie 7 368740 oder 1,9 ®/o
und auf die Bauerngemeinden 131372457
oder 33,6 ^/o. Von dem Rest im Betrage von
101953792 Dessätinen oder 26,0 ^/o sind
91605845 im Privateigentum einzelner und
verteilen sich auf folgende:
Gruppen
Besitzer
Zahl
Adlige 114 716
Kauflente 12 630
Stadtbürger 58 004
Bauern 273 074
nicht klassiert 22 934
zusammeu 481 358
0/
/o
23,8
2,6
12,1
56,7
4,8
lOO.O
Flächengrösse
Dessätinen ®/o
73 163 744
9 793 961
1 909603
5 005 824
I 732713
91 605 845
79,9
10,7
2,1
5,4
1,9
100,0
Die Durchschnitt sgrösse einer Besitzung
beträgt demnach bei den Adligen 638, den
Kaufleuten 775, den Stadtbürgern 33 und
den Bauern 18 Dessätinen.
8. Die übrigen Staaten. Aus der bis-
herigen Darstellung lässt sich bereits ent-
nehmen, in welcher versclüedenartigen Weise
die Grundbesitzstatistik ihre Aufgaben zu
erfüllen sucht. Sie ist keineswegs in allen
beobachteten Staaten ihren Zielen näher ge-
treten ; nur vereinzelt hat sie dieselben er-
reicht und insbesondei-e die wichtige Frage
der Grundeigen tiunsverteilung befriedigend
beantwortet. Vielfach mussten die land-
wirtschaftliche Betriebsstatistik imd die un-
verarbeiteten Angaben der Grundsteuerrollen
aushelfen. In dieser Lage befindet sich
denn auch die Mehrzahl der oben nicht auf-
geführten Staaten. Wenn mm in Belgien
gleichfalls die Grundeigentümer nach ihrer
Zahl in Verbindung mit der Grösse ihres
Besitzes noch nicht ermittelt sind, so ist
doch im übrigen unsere Statistik gerade
dort auf das sorgfältigste gepflegt worden.
Dem Kataster konnten alle wünschenswer-
ten Angaben über den Umfang und die
Kulturflächen des Bodens, die Zahl der
Parzellen und der Cotes foncieres etc. ent-
nommen werden. Daneben haben die vor-
trefflichen Agi'arstatistiken der Jahre 1846,
1866 und 1880 auch über die landwirt-
schaftlichen Betriebsverhältnisse (mit durch-
, gängiger Unterscheidung, ob Eigenbetrieb
! oder 3Pachtinig), sowie über die Verkaufs-
und Pachtpreise der Güter die eingehendsten
Nachweise geliefert. Die Zahl der Besitzer,
welche in den Rollen jeder Gemeinde und
I zwar so oft, als sie in den einzelnen Ge-
I meinden Besitz haben, eingeschrieben sind,
\yetrng 1850 953380, 1870 1118113 und
1896 1183 668. Von dem Gesamtgebiet
(2945516 ha) entfielen 1864: auf den Staat
39 289 (1,3 «;o), auf Provinzen und Gemein-
den 290 592 (9,9 ^/o), auf Armen- und Kran-
kenanstalten 77 037 (2,6 «;o), auf kirchliche
Anstalten 46 541 (0,9 0/0), auf sonstige Stif-
tungen und Anstalten 3181 (0.1 » 0), auf Pri-
vate 2419779 (82,2 0/0), auf öffentliche Wege
\md Gewässer 86502 (2,9 "/o). Auch in
den Niederlanden musste man sich auf
die Ermittelung der Betriebe (mit Unter-
scheidung der Eigenbetriebe und Pachtungen)
beschränken. Ein gleiches ist in Schwe-
den geschehen. Weit vollständiger liat
Dänemark die Aufgabe gelöst. Die bis-
her für die Jahre 1850, 1860, 1873, 1885
und 1895 vorliegende Statistik der (>rund-
eigentumsverteilung gnippiert die Eigen-
tümer eines jeden Bezirks nach der Zalü
der durch das Besitztum repräsentierten
»Tonnen Hartkorn« (ein -die Basis der
Grundsteuer bildendes Mass, welches je
nach der Lage und Güte des Bodens eine
sehr verschiedene Flächengrösse ausdrückt).
Daneben werden dann die Besitzungen nach
der Art der Bewirtschaftung (durch den
Eigentümer selbst, durch Pächter etc.) unter-
Grundbesitz (Statistik)
859
schieden. Hiernach waren in den Landge- j Besitzungen mit vollem (a) und beschränktem
meinden des Königreichs ohne Bornholm j Eigentum (b) nach Tonnen Hartkom :
Grössenklasse
blosser Haiisbesitz
bis 1 Tonne
1-2 „
2-4 „
4-8 ,
8—12 ,.
12-20 „
20—30
über 30
1895
1885
1873
n
n
a
20271
141 939
20464
22 621
21 045
3 433
I 107
344
550
12 675
17 208
720
752
2593
230
22
6
2
a
23237
129612
19 720
22 167
20956
3432
I 042
344
528
12092
20648
889
964
3264
286
31
6
a
19638
106477
18086
20750
20046
3293
978
324
503
n 615
24685
I 267
1568
5 445
504
43
6
Zusammen
231 774
64208
221 038 38 182
190095
45135
In Norwegen, wo das Kataster- und
Fortschreibungswesen aufs beste Jahrhun-
ist, werden schon seit Anfang des geordnet
derts über das Grundeigentum Ermittelun-
gen veranstaltet, welche in fünfjährigen
Perioden wiederholt zu wertlen pflegen und
alle wichtigen Fragen berücksichtigen. Ueber
die Verteilung des Grundeigentums, und
zwar nach der Grösse der Besitzungen (in
Skylddaler, der norwegischen Katasterein-
heit), liegen nur aus* den Jahren 1819, 1838,
1870 uncl 1871 Angaben vor, deren Wert
übrigens durch Doppelzählungen erheblich
beeintiächligt wird. Innerhalb der Schweiz
verfügt nur der Kanton Bern über eine Sta-
tistik des Gnmdeigentums (aus dem Jahre
18SH), welche namentlich seine Vei-teilung,
Zerstückelung, Bewertung und Yerechul-
dung, sowie die Vcrpachtungsverhältuisse
des Privatbesitzes, und zwar in tadelloser
Weise zur Darstellung bringt. Spanien
besitzt schon seit melireren Jalirzehnteu
eine bis auf die Gegenwart fortgeführte
Statistik der Gnindsteuerquoten, unter Be-
rücksichtigung der vei-schiedenen Grösse
derselben, sowie eingehende Nachweise über
die Bewegung nnd die hyix>thekari6che Be-
lastung des Grundeigentums. Die Ver-
einigten Staaten von Amerika ver-
anstalten im Rahmen des bekanntlich alle
zehn Jahre stattfindenden allgemeinen Cen-
8US regelmässig auch eine grosse landwirt-
schaftliche Enquete, welche zwar die Be-
triebe zum Ausgangspunkt für die Statistik
der Bodenverteilung nimmt, indessen auch
für die Beurteilung der Eigentumsverhält-
nisse einen genügenden Anhalt bietet. Darnach
-wunlen im Jahre 1890 von allen 4504641
Fai-men 3269728 oder 71,63 0;o von ihren
Eigentümern bewirtschaftet, 4r)4 6r)9 oder
9,96 «'0 für Geld und 840254 oder 18,41^/0
auf Anteil verpachtet. Und zwar verteilen
sich der Grösse nach die Farmen, welche
werden :
in solche
unter 10 Acres
10—20 „
20—50 „
50-100 „
100—500 „
500-1000 „
über 1000«
vom
Eigen-
tümer
bewirt-
schaftet
98990
132970
505 313
840178
i 594 641
70911
26725
für
Geld
ge^en
Anteil
verpachtet
26 181
46921
137709
100613
135748
5216
2271
25023
85659
259755
180694
278 30^
8268
2550
Uebeitiies wurde durch den Census von
1890 zum ersten Male festgestellt die Zahl
der Familien, welche inne hatten:
eigentümhch
pachtweise
zusammen
Farmen
3 142 746
I 624 433
4767 179
Hänser
2 923 67 1
4 999 302
7 922 973
Auch sind die persönlichen Yerhältnisse
dieser Besitzer Gegenstand der Erhebung
gewesen.
Schliesslich mag darauf hingewiesen
werden, dass die in mehrfacher Hinsicht
i nteressanten Grundeigentumsverhältnisse
Japans neuerdings durch verschiedene Pri-
vatarbeiten der Kenntnis des europäischen
Lesers nähergebracht worden sind.
Das wichtigste aus den Ergebnissen
der Statistik Belgiens, der ^Niederlande,
Dänemarks und der Vereinigten Staaten
wurde in den Artt. Bauerngut und
Bodenzersplitterung oben Bd. U
S. 437 ff. und S. 965 ff. mitgeteüt.
Litteratur: Zu I: RechenschaflsheHcht über die
drifte Versammlung des intemalionalen Kon-
gresses für Si^jlistik, abgehalten zu Wien vom
31. August bis 5. September 1857, verÖffentlieht
durch J>r. Adolf Ficker, Wien 1858. — Rechen-
schaftsbericht über die fünfte JSüzungsperiode des
iulei^iationalcn statistischen Kongresses zu Berlin
vom Jf.. bis lü. September 1863, veröffentlicht von
nr, Engel, 2 Bde., Berlin 1865. — Bulletin de
l'Institut international de statistique, Tome T,
860
Grundbesitz (Statistik)
1 ere et iSi^fM Uvraüons, Ann^e 1886, Borne 1886.
Tonte II, li^f* livraison. Armee 1887, Rome 1887.
Tome IV, deuxikme et demiere livraUon, Annee
1887, Rome 1889.
Zu II: Tabellen und amtliche Nachrichten
über den preitssischen Staat, Jahrgg. 1849, 185g,
1855 und 1858 (Gewerbetabellen), fferausgegeben
von dem statistUchen Bureau zu Berlin, Berlin
1854 — 1860. — Die soziale und politische * Ver-
schieden fieit des Grundeigentums im preussischen
Staate, in der Zeitschrift des königlich preussi-
schen statistischen Bureaus, I. Jahrg. 1861, Ber-
lin 1861. — Land und Leute des prcussischen
Staates und seiner Provinzen, IV. — Da^ Grund-
eigentum, ebenda, III. Jahrg. 1868, Berlin 1863.
— Veränderungen, welche die spannfähigen
bäuerlichen Nahrungen in den sechs Östlichen
Provinzen der prcussischen Monarchie und in
der Provinz Westfalen durch die Bodenbmoegung
während des Zeitraumes von 1816 bis Ende 1859
nach Ausweis der im Jahre 1860 aufgenommenen
Matrikeln erlitten haben, ebenda V. Jahrg. 1865,
Berlin 1865. — Engelf Die Grösse, Beschaffen-
heit und Besteuerung der FUiche des prcussischen
Staatsgebietes, ebenda VI. Jahrg. 1866, Berlin
1866. — Die Bewegung des Grundeigentums,
ebenda VI. Jahrg. 1871, Berlin 1871. — Das
Ergebnis der Probeerhebung einer Statistik des
Grundeigentums und der Gebäude in den Be-
gierungsbezirken Dnnzig und Aachen, ebenda
XXIII. Jahrg. 188S, Berlin 1888. — H, von
Scheel, Die bisherigen statistischen Leistungen
über Verteilung des Grundeigentums in Deutsch-
land, Jahrb. f. Nat. u. Stat. 5 (1865). — A. Meitzenj
Der Boden und die landioirtschaftlichen Verhält-
nisse des preussischen Staates nach dem Gebiets-
umfang vor 1866, 4 Bde., Berlin 1868 — 1869. —
Die Gebäude im preussischen Staate nach den
Aufnahmen der Gebäudesteuerveranlagung auf
Grund des G. v. 21. Mai 1861, in der pretissi-
schen Statistik (amtliches Quellenwerk). Ileraus-
gegcben vom königl. statistischen Bureau in Ber-
Un, Heft XVIJI, Berlin 187L — Grundeigen-
tum und Gebäude im preussischen Staate auf
Grund der Materialien der Gebäudesteuerrevision
vom Jahre 1878 und 1893, ebenda Heft WS und
146, I und II, Berlin 1889 und 1898. — Jahr-
buch für die amtliche Statistik des preussischen
Staates; herausgegebcji vom königl. statistischen
Bureau, Jahrgg. I, II f, IV und V, Berlin
180S — 1883. — StatiHisches Handbuch für den
preussischen Staat; heraxt^gegeben vom königl.
statistischen Bureau, Bd. I, Berlin 1888. —
Vgl. ausserdem «7. Conrads Die Latifundien im
preussischen Osten, Jahrb. f. Nut. u. Stat. N. F. 16
(1888). — Derselbe, Agrarxtatistisehc Unter-
suchungen, ebsnda III. F. Bde. 2, 4, (?, 10, 15. —
Derselbe, Die Fideikommisse in den östlichen
Provinzen Preussens, in der »Festgabe für (reorg
Hanssemi, THlbingen 1889. — Beiträge zur Sta-
tistik des Königreichs Bayern, heratLsgcgeben
von r. Hermann, Heft VII, München 1857
(enthält u. a. Angaben über die Besitzverhält-
nisse und Stückelung de^ Bodens). — Die Ern-
ten im Königreiche Bayern und in rinigen
anderen Ländern. Eine statistische Studie von
V. Hetnnannf ebenda Heft XV, München 1806.
— Statistische Xachweisungen über den Vollzug
der Bodenkultur gesetze in Bayern. Mit einer
Einleitung von Georg v, Mayr, ebenda Heft
XXIV, München 1871. — H, v. Scheel, a. a.
O. 4 (1865). — Statistischer Abriss für das
Königreich Bayern; herausgegeben vom königl.
statistischen Bureau, zweite Lieferung, III.
Grundeigentum, München 1876. — Die landwirt-
schaftliche Bodenbenutzung in Bayern nach der
Erhebung des Jahres 188S und die landwirt-
schaftlichen Betriebe in Bayern, Ergebnisse der
Berufszählung t^om 6. Juni 1882, IV. Teil,
herausgegeben vom königl. statistischen Bureau,
mit erläuternden Bemerkungen von dessen Vor-
stand Karl Rasp, Heft LI der Beiträge, Mün-
chen 1887, — Die Verteilung des Grundbesitzes
im Königreiche Sachsen, in der Zeiischrifi des
statistischen Bureaus des königl. sächsischen
Ministeriums des Innern, redigiert von Ernst
Engelf I. Jahrg. 1855, Leipzig 1855. — H. v,
Seheelf a. a. Ö. 4 (1865). — F. Böhmertf
Die Verteilung des sächsischen Grundbesitzen
nach Grundsteuereinheiten, in der Zeitschrift,
XXVI. Jahrg. 1880, Dresden. — Paul Sickf
Die Verteilung des landwirtschaftlich benutzten
Grundeigentums im Königreich Württemberg im
Jahre 1857, in den württsrnbergischen Jahrbüchern,
herausgegeben vom königl. statistisch-topographi-
schen Bureau, Jahrg. 1857, Stuttgart 1858. —
Untersuchungen über die Verteilung des land-
wirtschaftlich benutzten Grundeigentums in Würt'
temberg, ebenda JaJirg. 1860, Stuttgart 1861. —
Statistik des Königreichs Württemberg, ebenda
Jahrgg. 1877, 1878 und 1880, Stuttgart 1878,
1879 und 1880. — H, v, Scheelf a. a. O. 4
(1865). Das Königreich Württemberg. Eine
Beschreibung von Land, Volk und Staat, heraus-
gegeben von dem königl. statistisch-topographischen
Bureau, Stuttgart 1868. — Xeue Ausgabe, III.
Buch, Stuttgart I884. — KtUlf Die Verteilung
des landwirtschaftlich benutzten Grundbesitzes in
Württemberg iiach der Aufnahme vom 10. Ja-
nuar 1878, in den Württemb. Jahrb., Jahrg. 1881,
Stuttgart 1881, — Die landxcirtschaftlichen Haus-
haltungen im Grossherzogtum Baden nach der
Aufnahme vom 10. Januar 1878, herausgegeben
von dem Handelsministerium, in den Beiträgen
zur Statistik der inneren Verwaltung des Gross-
herzogtums Baden, XXXVII. Heft, Karlsruhe
1878. — Ergebnisse der berufsstatistischen Er-
hebung vom 5. Juni 1882 im Grossherzogtum
Baden, erster Teil, ebenda XLIV. Heft, Karls-
ruhe 1885. — Ergebnisse d^r Erhebungen über
die Lage der Landwirtschaft im Grossherzogtum
Baden 1888. — G. v. Viebahn, Statistik des
zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Teil S,
Berlin 1862. — H. V. Scheel, a. a. O. — A.
V, Miaskowskif Das Erbrecht und die Grund'
eigentumsverteiiung im Deutschen Reiche, I. Ab-
teilung, in den Sehr, d, V. f. Sozialp. 20, Leip-
zig 188S. — Bäuerliche Zustände in Deutschland.
Berichte, veröffenÜicM vom V. f. Sozialp. in
seinen Schriften 22 — 84, Leipzig 1888. — Agrar-
statistik Thüringens, erste Hälfte, in den Mit-
teilungen des statistischen Bureaus vereinigter
Thitringischer Staaten, herausgeg. von Bruno
HiUlehrandf Bd. II, Jena 187L — Statistik
des land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes
im Herzogtum Braunschweig, in den Beiträgen
zur Statistik des Herzogtums Braunschweig,
herausgegeben vom statistischen Bureau des her-
zoglichen Staatsministeriums, Heft III, 1876. —
Paul KoHmannf Die Verteilung des Bodens
und Viehstandes im Herzogtum Oldenburg, gra-
phisch dargestellt mit beigefügten Erklärungen,
Grundbesitz (Statistik)
861
Oldenburg 1874. — Derselbe, Da* Herzogtum
Oldenburg in seiner wirtschufüichen Entwicke-
hing während der letzten 25 Jahre, auf atjotUt.
Grundlctge dargestellt, Oldenburg 1878, — Da>8
bevorzugte Erbrecht am Grundeigentum im Her-
zogtum Oldenburg. Statistische Darstellung der
Reformen des Erbrechts am Grund und Boden
und ihrer Wirkungen, herausgegeben vom grossh.
oldenb. statistischen Bureau, Oldenburg 1875. —
Die Anwendung des bevorzugten Erbrechts am
Grundeigentum im Herzogtum Oldenburg zu An-
fang des Jahres 1880, Mitteilung des grossh.
oldtnb, statistischen Bureaus, bearbeitet von Paul
KoUmann, Oldenburg 1888. — Statistisches Jahr-
buch für das Herzogtum Anhalt, herausgeg. von
dem herzoglichen statistischen Bureau, Heft 2,
Dessau 1890, — Beiträge zur Statistik Meclden-
bwrgs; vom grossherzogl. statistischen Bureau zu
Schwerin, I. Bd. 8. Heft. III. Bd. 8. Heß, IV.
Bd, 1. und '2, Heft, V. Bd. 1. und 2. Heft,
Schwerin 1859 — 1867, — Statistisches Handbuch
für Elsass- Lothringen, herausgeg. vom statisti-
schen Bureau des kaiserlichen Ministeriums für
Elsass-Lothrijigen, I. Jahrg., Strassburg 1885, —
Statistisches Handbuch für den Hamburgischen
SUuii, herausgeg. i^on dem statistischen Bureau
der iSleuerdeputation, vierte Ausgabe, Hamburg
1891. — Jahrbuch für bremische Statistik, heraus-
gegeben vom Bureau für bremische Statistik,
Jahrg. 1889, II. Heft, Bremen 1890 (vgl. auch
ältere Jahrgänge). — M. Neefe, Hauptergeb-
nisse der Wohnungsstatistik deutscher Grossstädte,
in den Sehr, d, V. f. SozicUp. SO. — Derselbe,
Die Grundstücke und Gebäude, in dem von ihm
herausgegebenen Statistischen Jahrbuch deutscher
Städte, I. Jahrg., Breslau 1890. — Oesterreichi-
sches Städtebuch, statistische Berichte der grösseren
österreichischen Städte, I. und ff. Jahrgg., Wien
1887 f. — Vgl. ausserdem die Veröffentlichungen
der einzelnen städtischen statistischen Behörden.
— Mitteilungen aus dem Gebiete der Statistik,
Jahrg. 1^20, Wien 1852-^1874. — Statistisches
Jahrbuch der österreichischen Monarchie, Jahrg.
186S— 1881, Wien 1868—1882.— Oesterreichisches
statistisches Handbuch, Jahrg. 1 — 17, Wien 188S
— 1899. — Statistisches Handbuch der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie, N. F., Wien
1888. — Statistische Monatsschrift. Sämtliche
fünf Werke sind vf/n der k. k. statistischen Cen-
tralkommission in Wien herausgegeben. Von den
im der Monatsschrift veröffentlichten Arbeiten
sind namentlich hervorzuheben: v. Marass^,
Grundbesitzverhältnisse in Galizien, I, 1875;
V. Inama-Stemegg f Die definitiven Ergebe
nisse der Grundsteuerregelung in Oesterreieh, X,
1884; V, Ro8chmann-H&rtntrg, Der Boden-
wert Oesterreichs, XI, 1885; «/". Winckler,
Realitätenverkehr und RealitätenbekLstung in den
Jahren 1885—1889, XVI, 1890. — Vgl. ausser-
dem V. Scheel f a. a. O. (betreffend Statistik
Böhmens) u. Karl Foltz, Statistik der Boden-
Produktion in Oberösterreich, Wien 1878. —
Statistisches Jahrbuch für Ungarn, verfasst und
herausgegeben durch das königl. ungar. Statist.
Bureau, II. und III. Jahrg., Budapest 1874
und 1875. — Die folgenden Jahrgänge behandeln
nur die Bewegung des Grundeigentums. Sta-
tutisches Handbuch der österreichisch-ungarischen
Monarchie, N. F., Wien 1888. — Landowners
in England and Wales; Retum of the Otoners
of Land of one acre and upwards in England
and Wales; 2 vols., London 1876. — Landow-
ners in Ireland; Retum of the Owners of Land
of one acre and upwards in Scotland, Edin-
burgh 1875. — Landowners in Ireland; Retum
of the Owners of Land of one CLcre and up-
wards in Ireland, Dublin 1876. — Miscellaneous
Statistics of the United Kingdom, u. o. Part
VIII, London 1872. - J. Conrad, Die Be-
sitzverhältnisse an Grund und Boden in Schott-
land, in den Jahrb. f. Not. u. Stat. 86. — Der-
selbe, Die Grundbesitzverhältnisse im britischen
Reiche, ebenda 27. — Erwin Nasae, Agrarische
und landwirtschaftliche Zustände in England,
in den Sehr. d. V. f. Sozialp. 27. — Annali
del Ministcro di agricoltura, industria e com-
mercio. Anno 1877. Primo scmestre, Numero
88, Statistica, Roma 1877. — AUi della Com-
missüme Parlamentäre per Vinchiesta agraria
istituita con la legge del 15 marzo 1877, 15 vol.,
Roma 1881 — 1885. — Annuario statistico italiano.
Ministero di agric., ind. e comm., Roma. —
K, Th, Eheberg, Agrarische Zustände in
Italien, in den Sehr. d. V. f. Sozialp. 29. —
Annuaire statistique de la France, VII. und
VIII. Jahrg., Paris 1884 und 1885. — A,
Legoyt, Du morcellement de la propriete en
Europe im Journal de la SociSte de statistique
de Paris, Jahrgg. III und IV, Paris 1862 und
1863. — Li. de Lavergne, Economic rurale
de la France depuis 1789, 8 ed., Paris 1866. —
V. Scheel, Zur Statistik der Bodenverteilung in
Frankreich, in den Jahrb. /. Nat. u. Stat. 8. —
C Gimel, De la nouveüe evcduation du revenu
foncier des proprietes non baties, im Journal de
la Soc. de stcu., Jahrg. XXV, Paris I884. —
A, de Foville, Le morcellement, Paris 1885. —
Derselbe, La statistique de . la division de la
propriete en France et dans la Grande- Bretagne,
im Bulletin de Vinst. intern, de staL, Tome I,
Rome 1886. — Anmiaire statistique de la France
(zuletzt) Paris 1898. — L, Sbr€^av€Lcea, Sul
valore della proprietä fondiaria rustica . . . in
alcuni sUUi, ebenda. — O. Koebner, Die Me-
thode der letzten französischen Bodenbewertung
(Staatsw. Studien, III, 2.), Jena 1889. — Frhr.
van Reitzenstein , Agrarische Zustände in
Frankreich, in den Sehr. d. V. f. Sozialp. 27
(hi-er auch ein ausführlicher Hinweis auf die
amilichen Quellen). — Statistik des Grundeigen-
tums und der Wohnplätze des russischen Reiches,
herausgegeben vom kaiserl. statistischen Central-
komitee, Petersburg 1866 (in russ. Sprcuihe). —
Annuaire statistique de la Russie, PStersbourg
1895 (und früher). — W. Stieda, Der ländliche
Grundbesitz in Russland, in Jahrb. f. Ges. u.
Verw. 6. — Das Grundeigentum im europäischen
Russland, in der Zeitschr. des königl. preussi-
sehen statistischen BureoAis 1887, S. 15 und 88.
— Statistique de la Belgique. Agriculture. Re-
censement giniral (für I846, 1866 und 1880),
BruxeUes I846, 1871, 1885. — Documents sta-
tistiques, tome X, Bruxelles 1866. — Expose de
la Situation du royaume de 1861 ä 1875, tome
II, Bruxelles 1885. — Annuaire stalistique de
la Belgique, Bruxelles 1897. — Statistik Tabel-
vaerk. Ny Raekke, Femfte. Bind; Tredie Raekke,
Tjerde Bind; Tredie Raekke, To og tredivte
Bind: Tabeller over Hartkomets og Jordeien-
dommencs Fordeling . . . . i Kongeriget Dan-
viark. Xj0benhavn 185g, I864 und 1877. —
Danmarks Statistik: Danmarks jordbru^/, ord-
862
Grundbesitz (Statistik)— Grundbuch
nende eft^r storrchen af derct hartkorn den 1.
Jamtar 187S, 1885, 1895. Kj&henhavn 1875, 1888,
1896. — Borges ojßcielle statütik. Tnbell^r ved-
kommende de fa»te eiendomme i aarene 1865 —
1870, 1871—1875, 1876—1885 und 1. Januar
1891, Christiania 187S, 1880, 1888, 1896. — O.
«7. Brochf Le Royauitie de yorvcge et le peuple
norvegien, Christiania 1876. — Grundbesitzsta-
tistik des Kantons Bern nach der Aufnahme vom
Jahre 1888, in den Mitteilungen des bemischen
statistischen Bureaus, Jahrg. 1890, Lieferung II,
Bern 1890. — Rescha geografica y estadistica
de Espana, por la Direccion general del Instituto
geogräßco y estadistico, Madrid 1888. — D,
JPcLZOS Oareia, Ensayo sobre la estadistica de
los registros de la propriedad en Espana y en
cl eslranjero, Madrid 1889. — Report on the
statistics of agricuUure in the Uniled states at
the Eleventh Census (June 1, 1890). Departe-
ment of the Interior, Cenxus Office, Washington
1895. — Report on farms and homes: proprie-
torship and indebtedness in the United states at
the eleventh census: 1890, Washington 1896.
— Sartorius von Waltershausen, Die
Verteilung des landlichen Grundeigentums
in den Vereinigten Staaten von Amerika, in den
Jahrb. /. Nat. u. Stat., N. F. 6. — M. Shin-
Ictei Nagai, Die Landwirtschaft Japans, ihre
Gegentcart und ihre Zukunft, Dresden 1887. —
Inazo Ota-Nitob€f Ueber den japanischen
Grundbesitz, dessen Verteilung und landwirt-
schaftliche Verwertung, Halle 1890 (Dissertation). —
Karl Rattigen, Japans Volkswirtschaft und
Staatshaushalt, in den Staats- und sozialwissen-
schaftlichen Forschungen, herausgegeben von G.
Schmoller, Bd. X, Heft 4> Leipzig 1891.
A. Wtmilnghati>8,
ergänzt: PatU Kollniann,
Grnndbnch.
Man versteht unter Grundbuch ein von
einer öffentlichen Behörde für einen be-
stimmten Bezirk geführteö Buch, welches
zur A^eröffentlichung der dinglichen Rechts-
verhältnisse der zu dem Bezirk gehörigen
Grundstücke, also derjenigen imbeweglichen
Sachen, welche körperliche Unterabgren-
zungen des beweglichen Planeten Erde sind,
sowie der den Grundstücken gesetzlich
gleichgestellten Gegenstunde bestimmt ist.
Der Zweck dieser Veröffentlichung ist
Sichei-ung des auf Grundstücke bezüglichen
Verkehrs und des Kealkredits. Jedermann,
welcher hinsichtlich eines Grimdstücks
Rechtsverhältnisse eingeht, soll zur Einsicht
des darüber gefühilen Grundbuchs befugt
(formelle Publicität), aber auch verpflichtet
sein, sodass niemand mit Unkenntnis des
Grundbuchs sich entschuldigen kann. Auch
sollen an die Vornahme der Eintragung
gewisse Vorteile, an ihre Unterlassung ge-
wisse Nachti^ile geknüpft sein (materielle
Publicität), um möglichste Richtigki^it mid
Vollständigkeit dos Buchs zu eiTeichen. Man
hatte dabei in Deutschland verschiedene
Wege eingesclilagen. Ein Teil der Gesetze
erstrebte die Garantie der Richtigkeit durcli
Aufstellung des Princips der formalen Rechts-
kraft der Eiutragimgen, d. h. des Grundsatzes,
dass eine Eintragung durch sich selbst und
losgelöst von ihren materiellen Voraus-
setzungen dasjenige Recht wirkt, welches
sie beiu'kundet. Der grössere Teil der
Gesetze aber verwarf dieses Pnncip wegen
seiner Zweischneidigkeit und stellte dafür
den Gnmdsatz auf, dass derjenige, der ia
gutem Glauben an die Richtigkeit des Gmnd-
buchs und gegen Entgelt Rechte an einem
Grundstück erwirbt, gegen jede Anfechtung*
seines Rechts auf Grund unrichtiger Vor-
eintragungen gefeit sein soD. Diesem
letzteren Standpunkt hat sich das Bürger-
liche Gesetzbuch für das Deutsche Reich
vom 18. August 1896 — mit Gesetzeskraft
vom 1. Januar 1900 — angeschlossen, jedoeli
mit der Massgabe, dass es auf die Entgelt-
lichkeit des Erwerbs nicht mehr ankommt.
Die Garantie der Vollständigkeit des Buchs
aber sucht man zu eiTcichen entweder durch
Aufstellung des Eintragirngsprindps, d. li.
des Grundsatzes, dass Rechte an Grund-
stücken und diesen gleichgestellten Gegen-
ständen ohne Eintragung im Buch nicht ent-
stehen und ohne Löschimg nicht untergehen,
oder dadurch, dass man sie zwar ausserhalb
des Buchs entstehen und untergehen lässt,
die Wirksamkeit dieser Thatsachen aber
entweder gegen jeden Dritten von ihrem
Vermerk im Buch abhängig maclit oder
wenigstens, so lange ihre Eintragung nicht
erfolgt ist, demjenigen gegenüber ausschliesst,
welcher in gutem Glauben an die Voll-
ständigkeit des Buchs und nach früherem
Recht auch entgeltlich ein Recht an dem
Grundstück erworben hat. — Darüber, dass
alle diese Grundsätze nur mit Ziüassung
zahlreicher Ausnahmen durchführbar sind,
vergl. den Art. Hypotheken- und
G r u n d b u c h w e s e n .
Den Grundbüchern liegen meistens die
Steuerbücher zu Grunde, denn sie geben
den sichersten Aufsclduss über das ins
Grundbuch einzutragende Grundstück, seine
Bestandteile, seine Grösse, seinen Wert etc.
Die ^Einrichtung der Grimdbücher ist aber
in folgender Weise erfolgt:
Die Grundbücher werden nach geogra-
phisch abgegi^enzten Bezii-ken geführt. In
ein Grundbuch, welches mehrere ftinde
umfassen kann, werden die zu einem solchen
Bezirk gehörigen Grundstücke regelmässig
in der Weise eingetragen, dass jedes Grund-
stück sein besonderes Blatt (folium) erhält.
Das Grundbuch eines Bezirks zerfällt also
in Blätter, regelmässig in so viel Blätter, als
selbständige Grundstücke zu dem Bezirke
gehöien. Ein Grundbuchblatt aber winl
durch Linien in verschiedene Felder —
Grundbuch
863
regelmässig 3 — 4 — eingeteilt, von denen
das erste Feld in Preussen und denjenigen
Staaten, welche der preussischen Gesetz-
gebung gefolgt sind, als Titel bezeichnet
wird, während die übrige^ Felder die Be-
zeichnung Abteüiuig fühi-en. Je nach dem
Inhalt des Titels unterscheidet man nun
ßeal- und Personalfolien. Enthält der Titel
die Bezeichnung des Grundstücks mit Be-
standteilen, Grösse, Reinertrag etc., die
erste Abteilung dagegen die Bezeichnung
des Eigentümers sowie Zeit, Grund und
Preis seines Erwerbs, so liegt ein Realfolium
vor. Steht dagegen der Eigentümer auf
dem Titel, das Grundstück aber in der
ersten Abteilung eingetragen, so hat man
ein Personalfolium vor sich. Die Regel
bildet das Realfolium. Die zweite Ab-
teilung enthält in fortlaufender Reihenfolge
die dauernden Lasten und die Einschrän-
kungen des Eigentums (z. B. Lehns- oder
Fideikommissguteigenschaft), ausserdem aber
zwei Unterabteilungen, von denen die eine
zur Aufnahme der eingetretenen Ver-
änderungen, die andere zur Aufnahme der
Löschungen bestimmt ist. Die dritte Ab-
teilung ist formell ebenso eingerichtet wie
die zweite, enthält aber die Hypotheken und
Grundschulden. In OesteiTcich, dem König-
reich Sachsen, in Coburg-Gotha, Sachsen-
Altenburg, Reuss ä. L., Sondershausen und
teilweise in Mecklenburg sind die zweite
und dritte Abteilung zu einer einzigen ver-
einigt, welche alle Belastungen des Grund-
stücks in fortlaufender Reihenfolge enthält.
Nicht immer übrigens erhält jedes selb-
ständige Grundstück ein eigenes Grund-
buchblatt.. Vielmehr ist es zur Erleichterung
des Verfahrens und zur Vermeidung der
Kosten bisweilen gestattet, für die im Be-
zirk derselben Buchbehörde liegenden Grund-
stücke desselben Eigentümers auf dessen
Antiag ein gemeinschaftliches Blatt als
Realfolium anzulegen. Weiter hat man in
Preussen für sogenannte -walzende Grund-
stücke den Versuch gemacht, ein Grund-
buchblatt zu konstruieren, welches einerseits
sämtliche einem Eigentümer gehörige Grund-
stücke auf dasselbe Blatt bringt und zu-
gleich das Ausscheiden oder Hinzutreten
einzelner Parzellen leicht übersichtlich macht,
andererseits auch die Beziehung der ding-
lichen Belastungen zu jeder einzelnen Par-
zelle leicht auffinden und erkennen lässt.
Man hat zu diesem Behuf eine Vei'schmel-
zung des Personalfoliums mit dem Real-
folium bewirkt und sich dabei an die Grund-
stücksmutten-olle angelehnt. Dieselbe ist
nämlich in sogenannte Artikel eingeteilt,
und jeder Artikel weist die sämtlichen
Grundstücke nach, welche einer bestimmten
Person in dem Bezirk der Mutterrolle ge-
hören. Nach dem Fonnular für walzende
Grundstücke wird nun diese Artikelnummer
und der Name des Eigentümers auf dem
Titelblatt im Grundbuch eingetragen. Die
erste Abteilung aber enthält unter latifender
Nummer das Verzeichnis der Ländereien
des Eigentümers unter Verweisung auf das
Flurbuch und die Flurkarten sowie die Be-
sclu-eibung der Ländereien und die Kolonne
»Abschreibungen« für den Fall, dass Teile
dieser Ländei^ien an einen anderen Eigen-
tümer (durch Erbgang, Veräusserung) ge-
langen und demgemäss auf ein anderes
Grundbuchblatt übertragen werden sollten.
In der zweiten und dritten Abteilung endlich
erfolgen die Eintragungen unter Bezugnahme
auf die laufende Nummer der verhafteten
Parzelle aus der ersten Abteilung.
Da die deutsche Grundbuch-0. v. 24.
März 1897 von der einheitlichen Regelung
der Grundbücher absieht und nur gewisse
Normativbestimmungen trifft, an welche
die einzelnen Landesjustizverwaltungen bei
der Einrichtung der Grundbücher gebimden
sind, so ist eine verschiedene Gestaltung
der Grundbücher in den einzelnen deutschen
Staaten auch für die Zukunft nicht ausge-
schlossen. Denn die gemeinsamen, gnmd-
legenden Bestimmungen sind nur folgende:
a) Die Grundbücher sind für Bezirke
einzurichten (§ 2 Abs. 1 G.B.O.). Ob die-
selben wirtschaftlicher oder i^litischer Natur
sein sollen (Steuererhebungsbezirke, Gemein-
den, selbständige Gutsbezirke) ist nicht vor-
gesehen. Auch kann durch landesherrliche
Verordnung bestimmt werden, dass für ge-
wisse Gattungen von Gnindstücken beson-
dere, nicht für Bezirke eingerichtete Grund-
bücher geführt werden (§ 85 G.B.O.). So
z. B. in Mecklenburg, wo für gewisse Grund-
stücke (Rittergüter, Klostergüter) für den
ganzen Staat fortlaufende Rubriken und
Matrikeln gefuhrt werden und also in Zu-
kunft auch besondere Grundbücher für die
betreffende Gattung von Grundstücken,
welche das ganze Staatsgebiet umfassen,
geführt werden können.
b) Die Grundlage der Grundbücher soll
ein amtliches Verzeichnis bilden, in welchem
die Grundstücke unter Nummern oder Buch-
staben aufgeführt sind (§ 2 Abs. 2 G.B.O.
Flurbuch, Lagerbuch, Fundbuch, Messi'egis-
ter, Primärkataster). In Bayern entspricht
das Sachregister zu den Hypothekenbüchern
den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 G.B.O.
Justizminist erialbekanntmachungen v. 20.
August 18G3 (J.M.Bl. S. 85), v. 17. Oktober
1868 (J.M.B1. S. 243) und v. 18. Juli 1898
(J.M.Bl. S. 225).
c) Jedes Gnindstück muss im Grundbuch
eine besondere Stelle erhalten (GnuKlbuch-
blatt), § 3 G.B.O. Damit ist das sogenannte
Realfolium zur Geltung gebracht. Jedoch
gilt diese Regel nicht ausnahmslos, da nach
864
Grundbuch
§ 4 der Grundbuchordnung über mehrere
Grundstücke desselben Eigentümei-s, die im
Bezirk desselben Grundbuchamtes gelegen
sind, ein gemeinschaftliches Grundbuchblatt
geführt werden kann, solange hiervon Ver-
wirrung nicht zu besorgen ist. Wird ein
solches gemeinschaftliches Grundbuchblatt
geführt, so verzeichnet der Titel die Person
des Eigentümers, während die Giaindstücke
in der ersten Abteilung eingetragen werden
(sogenanntes Personalfolium). Auch kann
(§ 86 G.B.O.) durch landesherrliche Verord-
nung die Vorschrift des § 4 G.B.O. auf Grund-
stücke desselben Eigentümers in den Be-
zirken verschiedener Grundbuchämter aus-
gedehnt werden. Dies ist wichtig für die-
jenigen Staaten, welche, wie z. B. Bayern
es thim wird, ihre bisherigen Hypotheken-
bücher als Grundbücher weiter führen und
die Gerichtsbarkeit eines Grundbucharates
auf Grund buchobjekte ausserhalb seines Be-
zirkes erstrecken. Vgl. bayerisches H.G.
§§ 86, 121—123; § 87 G.B.Ö.; bayerisches
G. V. 18. Juni 1898, die Vorbereitung der
Anlegung des Grundbuchs in den Landes-
teilen rechts des Rheines betreffend.
Danach wird also auch in Zukunft na-
mentlich die Zahl der Abteilungen der
Grundbücher in den Einzelstaaten schwan-
ken. Doch hat sich z. B. Bayern im An-
schluss an die längst bestehende preussi-
sche Einrichtimg für vier Abteilungen ent-
schieden, weim man den Titel einrechnet.
Denn nach der J.M.-Entschliessung v. 12.
Januar 1898 (§§ 7, 12—15), in Kraft seit
1. Dezember 1898, dürfen neue Hypotheken-
buchblätter in die bereits in Gebrauch be-
findlichen Hypothekenbücher niu- nach die-
sem Formular eingefügt werden.
Gleich den Gnmdstücken können, mit
Unterschieden in den einzelnen Landesge-
setzgebungen, ein besonderes Folium erhal-
ten: selbständige Gerechtigkeiten, d. h.
solche, welche für sich veräusserlich und
verpfändbar, also nicht unti-ennbar mit einem
Grundstück verbunden sind (Schiffsmühlen-
gerechtigkeiten, Fähr- und Fischereigerech-
tigkeiten, Apothekergerechtigkeiten), die in
Bayern vorkommenden, sogenannten realen
Gewerberedite, d. h. das dingliche, vererb-
Jiche und veräusserliche, einer Person un-
vermittelt durch den Besitz eines Grund-
stückes zustehende Recht auf den Betrieb
eines bestimmten Gewerbes, femer Berg-
werkseigentum, Erbpacht-, Büdner- und Häus-
lerrechte. Nach den neuen Gesetzen müssen
von diesen Rechten die Erbpacht-, Büdner-
und Häuslerrechte, ebenso wie das Erbbau-
recht und die landesrechtlichen vererblichen
und veräusserlichen Rechte zur Gewinnung
eines den bergrechtlichen Vorschriften nicht
unterliegenden Minerals ein besonderes
Blatt im Grundbuch erhalten, entweder auf
Antrag oder im Fall ihrer Veräusserung
oder Belastung (§§ 7 und 84 G.B.O. und
§ 1017 B.G.B.). Ob dagegen die übrigen
vorher erwähnten Rechte ein besonderes
Blatt erhalten sqllen oder nicht, das richtet
sich lediglich nach der Landesgesetzgebung
(vgl. § 83 G.B.O. Art. 17 des bayerischen E.G.
zur G.B.O. und Artt. 65, 66, 69, 74 E.G.
zum B.G.B.). In Oesterreich werden auch
die vom Grundeigentum am Naphthafelde
abgetrennten Gewinnungsrechte auf Erd-
harze in besondere, öffentliche Bücher, die
sogenannten Naphthabücher, eingetragen.
Der Gnmdsatz, dass jedes Grimdstück
im Grundbuch stehen soU, ist übrigens noch
keineswegs ausnalimslos durchgeführt. Da
nämlich die Buchungspflichtigkeit der Grund-
stücke nur zur Sicherung des Privatverkehrs
mit Gnmdstücken und des Realkredits ge-
fordert wird, so haben viele Gesetzgebungen,
um Arbeit und Kosten zu ersparen, Aus-
nahmen von dem Grundsatz der Buchungs-
pflichtigkeit für diejenigen Arten von Grund-
stücken anerkannt, welche wegen der Rechts-
stellung ihres Eigentümers oder ihrer Zweck-
bestimmung regelmässig nicht Gegenstände
des Privatverkehrs sind. Dahin gehören
namentlich die fiskalischen Grundstücke,
der Grundbesitz der Landesherren und ihrer
FamÜien, soweit er zum Haus- und Familien-
vermögen gehört — so wenigstens in Olden-
burg — , die Grundstücke der Kirchen,
Klöster, Universitäten, Schulen und Gemein-
den, die immatrikulierten standesherrlichen
und .ritterschaftlichen Güter, welche ganz
steuerfrei oder unmittelbar zu der Ajmts-
körperschaft steuerpflichtig sind — so
wenigstens in Württemberg — sowie die
für Eisenbahnen oder öffentliche Landwege
bestimmten oder verwendeten Grundstücke.
Aber auch für sie bedarf es der Anlegung
eines Gnmdbuchblattes dann, wenn der,
welchem ein eintragungsfähiges Recht am
Grundstück, z. B. eine Grundgerechtigkeit
der Niessbrauqh, oder ein Anspruch auf
Konstituierung eines dinglichen Rechts am
Grundstück, z. B. ein Titel auf eine Judi-
katshypothek zusteht, sie verlangt. Auch
kann der Eigentümer des Grundstückes
selbst dieses nur dann belasten, wenn das-
selbe vorher auf seinen Namen gebucht ist ;
dies selbst dann , wenn die Verä»isserung
wieder an einen solchen erfolgen soll,
dessen Gnmdstücke der Buehungspflicht
nicht unterliegen. Dieser Zustand wird im
wesentlichen auch nach dem deutschen
Grundbuchrecht erhalten bleiben. Denn den
Einzelstaaten ist durch § 90 G.B.O. das
Recht eingeräumt, durch landesherrliche
Verordnung zu bestimmen, dass nur auf
Antrag ein Grundbuchblatt erhalten: die
Grundstücke des Reichs- oder Landesfiskus,
gewisser juristischer Personen, die öffent-
Grundbuch — Grundgerechtigkeiten
865
liehen Wege und Gewässer, solche Grund-
stücke, welche einem dem öffentliciien Ver-
kehr dienenden Bahnunternehmen gewidmet
sind, endlich die Gnmdstiicke eines Landes-
herrn und diejenigen, welche zum Hansgut
oder Familiengut einer landesherrlichen
Familie, der fürsthchen Familie HohenzoUern
oder der Familie des vormaligen hannover-
schen Königshauses, des vormaligen kur-
hessischen und des vormaligen hei-zoglich
nassauischen Fürstenhauses gehören. Ein
solches grundbuchfreies Grundstück ist,
wenn es ins Gnmdbuch eingetragen war,
auf Antrag seines Eigentümers jederzeit
wieder aus dem Gnmdbuch zu entfernen,
solange es noch nicht oder nicht mehr mit
einer Eintragung belastet ist. Dasselbe gilt
für den an einen der befi*eiten Personen
unbelastet aufgelassenen Teil eines einge-
tragenen Grundstückes. In solchem Fall
erfolgt die Ausscheidung des aufgelassenen
Teiles durch Schliessung des Blattes hin-
sichtlich des aufgelassenen Teiles. Nach
§ 1 Abs. 2 der königlich bayerischen V. v.
1. Juli 1898 sind juristische Personen im
Sinne des § 90 Abs. 1 G.B.O.: die Kreis-
und Distriktsgemeinden, die politischen und
Kirchengemeinden , die Ortschaften , die
öffentlichen Stiftungen, die Klöster und die
Vereichenrngsanstalten fiir Invaüditäts- und
Altersversidierung. Nach § 2 der preussi-
schen G.B.O. v. 5. Mai 1872 sind buchungs-
frei die Domänen und andere dem Staat
gehörigen Gnmdstücke, das Grundeigentum
der Gemeinden und anderer Kommunal-
verbände, der Kirchen, Klöster und Schulen,
die Öffentlichen Landwege und die Eisenbahn-
grundstücke. Art. 1 der Y.O. betreffend das
Grundbuchwesen v. 13. November 1899 fügt
noch die Grundstücke des Reichs hinzu. Auch
das preussische G. v. 19. August 1895, nach
welchem Privateisenbahnen und Kleinbahnen,
deren Betrieb obligatorisch ist, mit den dem
Bahnunternehmen gewidmeten Gegeüständen
eine Bahneinheit bilden, zum unbeweglichen
Vermögen gehören und der besonderen Ein-
tragung in Bahngrundbücher fähig sind,
wird durch Art. 112 des E.G. zum B.G.B.
aufrecht erhalten. Auch das österreichische
Kecht erkennt die Eisenbahnbücher an.
Da in einzelnen Teilen Deutsclilands,
z. B. in Bayern, Württemberg, Sachsen-
Weimar, das Hypothekenbuchsystem gilt, so
werden vom 1. Januar 1900, dem Tage des
Inkrafttretens des B.G.B. , keineswegs in
ganz Deutschland Grundbücher vorhanden
sein. Denn ihre Anlegung nimmt längere
Zeit in Anspruch. Immerhin kann nach
§ 87 G.B.O. durch landesherrliche Verord-
nung bestimmt werden, dass ein bisher ge-
führtes Buch oder mehi'ere bisher gefiihi-te
Bücher für sich allein oder zusammen mit
einem neuen Buch oder mehreren neuen
Büchern als Grundbuch gelten soll. Soweit
eine solche Bestimmung nicht ergeht, hat
die Anlegung der Grundbücher in einem
für jeden Bundesstaat durch landesherrliche
Verordnung zu regelnden Verfahren zu er-
folgen. Ein Grundbuch gilt erst dann als
angelegt, wenn landesherrliche Vorordnimg
dies ausspricht (Art. 186 E.G. zum B.G.B.).
Bis daliin bleiben hinsichtlich des Verkehre
mit Grundstücken und den ihnen gleichge-
stellten Gegenständen die Landesgesetze in
Kraft. Nur dürfen nach dem 1. Januar
1900 solche Rechte , welche das B.G.B.
nicht zulässt, z. B. Emphyteusen, nicht
mehr begründet werden (Art. 189 E.G. zum
B.G.B.).
Vgl. des näheren den Art. Hypothe-
ken- und Grundbuchwesen, wo auch
die Litteratur nachzusehen ist
Schollmeyer.
Grandgerechtigkeiten.
1. Begriff. 2. AUgemeine Grundsätze. 3.
Eint€ilnn£^ der G. 4. Entstehung der G. 5.
Die einzelnen Arten der G. 6. Die Aufhebung
der G. 7. Schutz der G.
I.Begriff. Grundgerechtigkeiten (Grund-
dienstbarkeiten) sind dingliche Rechte an
fremden Grundstücken, bestimmt, anderen
Grundstücken, mit welchen sie verknüpft
sind, einen Vorteil zu gewähren. Sie setzen
demnach ein herrschendes und ein dienendes
Grundstück voraus. Mit dem Eigentum an
ersterem sind sie dergestalt untrennbar ver-
bunden, dass sie einerseits mit ihm not-
w^endig auf jeden neuen Erwerber über-
gehen, andererseits ohne dasselbe nicht ver-
äussert werden können. Die gleiche Un-
trennbarkeit besteht zwischen der Grund-
gerechtigkeit und dem damit belasteten
Grundstück.
2. Allgemeine Grundsätze. 1. Das
R. R. stellte die Anforderung, dass der
Nutzen, den das herrschende Grundstück
aus dem dienenden zog, in einer dauernden
natürlichen Beschaffenheit (causa perpetua)
des letzterem beruht (1, 28 D. de serv. pr.
urb. [8, 2]). So konnten z. B. Wasser-
servatuten nicht an Teichen oder Cisternen,
die erst Menschenhand geschaffen hatte,
begründet werden. Unser heutiges Recht
sieht darüber hinweg. Es konmit nach dem
B.G.B. nicht darauf an, ob das dienende
Grundstück vermöge einer ihm beiwohnen-
den natürlichen Eigenschaft oder erst durch
eine vom Besitzer hergerichtete Anstalt in
den Stand gesetzt ist, dem herrschenden
Grundstück zu nützen. Nur darf die durch
Menschenwerk dem dienenden Grundstück
HandwÖrterbach der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. lY.
55
866
Grundgerechtigkeiten
gegebene Eigenschaft keine bloss vorüber-
gehende, sie muss eine bleibende oder doch
eine solche sein, die eine Benutzung fttr
längere Zeit sicherstellt.
2. Wie Dienstbarkeiten überhaupt, können
auch Grundgerechtigkeiten nicht ein Thun
oder Leisten des Eigentümers der dienenden
Sache zum Gegenstande haben. Dieser
römische Satz gilt auch nach dem B.G.B.
Doch hat er nicht mehr die Tragweite wie
im R. R. Während die Römer, von der
Ausnahme der serv. oneris ferendi abgesehen,
die sich allein aus der Geschichte ihres
Rechts erklären lässt (Pernice, Labeo I,
S. 474, 478—479), es für unstatthaft hielten,
den Eigentümer des belasteten Grundstücks
zu einer Mitwirkung oder imterstützenden
Thätigkeit bei der Entstehung oder Wieder-
herstellung der dienenden Sache heranzu-
ziehen, kann jetzt, wenn zur Ausübung einer
Grundgerechtigkeit eine« Anlage auf dem
belasteten Grundstück gehört, bestimmt
werden, dass der Eigentümer des letzteren
die Anlage zu unterhalten hat. Freilich ist
diese Unterhaltungspflicht keine Grund-
gerechtigkeit, sondern eine Reallast. Der
Belastung eines Grundstücks aber in der
Weise, dass mit der auf ihm ruhenden
Grundgerechtigkeit eine Reallast verbunden
wird, steht nichts im Wege (§ 1021 B.G.B.).
3. Die Grundgerechtigkeit setzt ihrem
Begriff nach die Belastung eines Grund-
stücks voraus, die für die Benutzung des
Grundstücks des Berechtigten einen Vorteil
bietet (§ 1019 S. 1 B.G.B.). In Betracht
kommt hier alles, was geeignet ist, den Er-
trag des herrschenden Grundstücks zu heben,
entweder unmittelbar, indem das dienende
Grundstück mit seinen Erzeugnissen aus-
hilft, oder nur mittelbar durch Gewährung
wirtschaftlicher Erleichterungen. Doch selbst
in blossen Annehmlichkeiten, sofern diese
allgemein geschätzt sind, kann der Nutzen
einer Grundgerechtigkeit bestehen.
4. Wie für die Grundgerechtigkeit über-
haupt, so ist für den Umfang und das Mass
ihrer Ausübung der Vorteil des herrschenden
Grundstücks bestimmend. Sein Bedürfnis
entscheidet über die Benutzung des dienen-
den Gnmdstücks dm-ch den Berechtigten.
Ueber das sich danach ergebende Mass
hinaus kann ihr Inhalt nicht erstreckt werden.
(§ 1019 S. 2 B.G.B.).
5. Der Nutzen einer Grundgerechtigkeit
für die Volkswirtschaft ist davon bedingt,
dass ihr Vorteil für das herrschende Grund-
stück den Nachteil für das dienende über-
wiegt. • Diese an sich wirtschaftliche Er-
wägimg ist nicht ohne Einfluss auf das
Recht. Wie schon das R. R. macht das
B.G.B. § 1020, I dem Berechtigten die
pflegliche Behandlung des dienenden Gnmd-
stücks zur Pflicht. Hält er zur Ausübung
der Gnindgerechtigkeit eine Anlage auf dem
belasteten Grundstück, so hat er sie in
ordnungsmässigem Zustande zu erhalten,
soweit das Interesse des Eigentümers es
erfordert und nicht diesem die ünterhaltungs-
pfücht obliegt (§ 1020, 11 B.G.B.). Nicht we-
niger gehört hierher die Bestimmung, dass
da, wo die jeweilige Ausübung einer Ginind-
gerechtigkeit sich auf einen Teil des be-
lasteten Grundstücks beschränkt, der Eigen-
tümer des letzteren die Verlegung der Aus-
übung auf eine andere, füi' den Berechtigten
ebenso geeignete Stelle verlangen darf, wenn
die Ausübung an der bisherigen Stelle für
ihn besonders beschwerlich ist (§ 1023 B.G.B.).
6. Die Grundgerechtigkeiten sind un-
teilbare Rechte. Was bedeutet dieser
Rechtssatz? Er besagt, dass Grundgerech-
tigkeiten nicht nach ideellen Teilen erworben
und aufgegeben werden können. Eine ideelle
Teilung des herrschenden oder des dienenden
Grundstücks ändert daher die Grundgerech-
tigkeit nicht. Wie verhält es sich aber im
FaUe einer natürlichen Teilung des einen
oder des anderen Grundstücks? Die Teilung
des herrschenden Grundstücks berührt
die Grundgerechtigkeit im allgemeinen nicht;
sie besteht für die einzelnen Teile fort
Gereicht sie jedoch nur einem der Teile
zum Vorteil, so erlischt sie für die übrigen
Teüe (§ 1025 B.G.B.). Wiid das belastete
Grundstück geteilt, so kommt es darauf an,
ob die Ausübung der Grundgerechtigkeit
sich auf dieses seiner ganzen Ausdehnung
nach erstreckt oder nur auf einen be-
stimmten Teil davon beschränkt. Im anderen
Falle bleibt die Gnmdgerechtigkeit an jedem
einzelnen Teilgrundstück bestehen, ebenso
wie dieses bisher als Bestandteil des Ganzen
belastet war. Beschränkt sich dagegen die
Gnmdgerechtigkeit nur auf einen bestimmten
Teil des belasteten Grundstücks, so werden
diejenigen Teile, welche ausserhalb des Be-
reiches der Ausübung liegen, von der Grund-
gerechtigkeit frei (§ 1026 B.G.B.).
8. Einteilung der G. 1. Die römischen
Juristen unterschieden nach der Beschaffen-
heit des herrschenden Gnmdstücks Feld-
dienstbarkeiten und Gebäudedienstbarkeiten.
Diese Unterscheidung hat für uns jede prak-
tische Bedeutung verloren. Kennt doch
unser bürgerliches Recht nicht mehr das
vom R. R. ftlr Felddieustbarkeiten auf-
gestellte Erfordernis, dass das dienende
Grundstück dem herrschenden benachbart
sein muss. Auch bei Felddieustbarkeiten
genügt jetzt eine Lage, bei welcher, ohne
dass das dienende Grundstück an das
herrschende unmittelbar angrenzt, es dem
Eigentümer des herrschenden Grundstücks
möglich wird, für dieses aus dem dienenden
einen Nutzen zu gewinnen.
2. Geht man von dem dienenden Grund--
Grundgerechtigkeiten
86'
stück und dem Inhalte seiner Belastung
aus, so muss mau unterscheiden: Gnmd-
gerechtigkeiten , durch welche der Eigen-
tümer des herrschenden Grundstücks in den
Stand gesetzt wird, das dienende Grund-
stück in einzelnen Beziehungen zu benutzen,
und andere, welche ihn berechtigen, dem
Eigentümer des dienenden Gnmdstücks die
Vornahme gewisser Handlungen (z. B. das
Errichten eines Bauwerks über eine gewisse
Höhe hinaus) zu verbieten. Dazu kommen
dann aber als eine dritte Art noch solche
Grundgerechtigkeiten hinzu, welche die Be-
seitigung gesetzlicher Beschränkungen be-
zwecken, denen sonst das Eigentum eines
Grundstücks im Verhältnis zu einem anderen
unterliegt (§ 1018 B.G.B., vgl. hierzu E.G.
Art. 124). Die Mögjlichkeit cler Entstehung
dieser Grundgerechtigkeiten ist da gegeben,
wo den gesetzlichen Vorschriften, worin
sich Eigentumsbeschränkungen gründen, nicht
zwingende Kraft, sondern nur dispositive
Bedeutung zukommt, so dass sie nur soweit
Anwendung finden, als der Wille der be-
teiligten Grundeigentümer nicht eine Eini-
gung entgegengesetzten Inhalts -und darauf-
hin eine Eintragung im Grundbuch herbei-
führt.
4. £iitstehiuig der 6. Grundgerechtig-
keiten wurden nach dem bisherigen Recht
durch Rechtsgeschäft (Vertrag oder letzt-
willige Verfügung), Ersitzung oder richter-
liche Verfügung bezw. durch anderweitige
obrigkeitliche Anordnung erworben. Prak-
tisch bedeutsam war besonders die Ersitzung,
weU sie den Nachweis der rechtiichen Be-
gründung, der oft wegen des Alters der
Servitut nicht zu erbringen war, ersetzte.
Durch Ersitzung wurden Gnmdgerechtig-
keiten erworben, wenn jemand während
einer vom objektiven Recht bestimmten Zeit
(Ersitzungszeit) sich in deren Besitz befun-
den hatte. Der Besitz aber bestand hier
in der Ausübung. Diese musste eine un-
unterbrochene und ungestörte gewesen sein,
sie musste femer offen, ohne Widerspruch
des Eigentümers des dienenden Grundstücks
mid nicht infolge einer blossen Vergünsti-
gung stattgefunden haben. Auch musste
nach einer dem kanon. Recht (c. 20 X. de
praescr. [2,261) entiehnten Vorschrift der
Ausübende sich in gutem Glauben über das
von ihm beanspruchte Recht befunden liaben.
Die Ersitzungszeit betrug 10 oder 20 Jahre,
je nachdem die Personen, für resp. gegen
welche die Ersitzung eintreten sollte, ihren
Wohnsitz innerhalb oder ausserhalb dessel-
ben Oberlandesgerichtsbezirks hatten.
Auf diese älteren Rechtsvorschriften ist
noch zurückzugehen, wenn es sich darum
handelt, ob eine Gnindgerechtigkeit am 1.
Januar 1900 als dem Zeitpunkt der begin-
nenden Geltung des B.G.B. bestanden hat
oder nicht. Aber auch für die Zukunft ent-
behren sie noch nicht jeder Bedeutung.
Wie nämlich das E.G. Art. 128 zum
B.G.B. bestimmt, vollzieht sich die Be-
gründung von Gnmdgerechtigkeiten in Fällen,
wo die belasteten Gnmdstücke im Grund-
buche nicht eingetragen werden müssen,,
nach dem bisherigen Recht.
Dahingegen können an Grundstücken,
welche dem Eintragungszwange unterliegen,
Grundgerechtigkeiten jetzt nicht anders
mehr denn durch Eintragung im Grund-
buche entstehen. Die Eintragung setzt einen
dinglichen Vertrag (Einigung) des Eigen-
tümers des zu belastenden Grundstücks mit
dem Eigentümer des Grundstücks, das das
herrschende werden soll, voraus (§ 873
B.G.B.). Die obligatorische Verpflichtung
zur Abgabe der Erklärung der Einigung
und Bewilligung der Eintragimg durch den
Eigentümer des zu belastenden Grundstücks
kann in einem Vertrag der beteiligten
Grundeigentümer benihen. Dieser bedarf zu
seinem Abschluss keiner besonderen Form.
Es ist aber auch denkbar und möglich, dass
ein Erblasser durch letztwillige Verfügung
den Erben oder Vermächtnisnehmer ver-
pflichtet, an seinem Grundstück zum Vor-
teil des Eigentümers eines anderen Grund-
stücks (mag dieses nun ein Miterbe oder
ein Dritter sein) eine Grundgerechtigkeit zu
bestellen.
5. Die einxelnen Arten der G« Das E.G.
Art. llö zum B.G.B. lässt die landesgesetz-
lichen Vorschriften, welche den Inhalt und das
Mass der Grundgerechtigkeiten näher bestimmen,
unberührt. Es behält so wegen der einzelnen
Arten der Grandgerechtigkeiten sein Bewenden
bei dem bisherigen Recht. 1. Unter den Gnmd-
gerechtigkeiten, die gewöhnlich Grundstöcke
belasten, welche land- oder forstwirtschaftlich
genutzt werden, sind die wichtigsten die W e g e - ,
Weide- und Holzgerechtigkeiten, a)
Wegerechte. Die Eömer kannten drei Arten
von Wegen: iter, Fnsssteig, actus, Viehtrift,
via, Fahrweg. Jeder derselben hatte seine be-
sondere Bestimmung, der entsprechend das Mass
des Wegerechts verschieden bemessen war.
Während man beim iter zum Gehen und Reiten
befugt war, begriff das Recht auf den actus
regelmässig zugleich die Befugnis ztun Gehen,
ja sogar zum Fahren in sich. Das umfassendste
Recht war das des Fahrwegs (via). Es er-
mächtigte ausser zum Fahren zum Gehen und
Vieh treiben. Auch wir unterscheiden: Fnsssteig,
Viehtrift und Fahrweg. Unser Recht weicht
aber darin vom römischen ab, dass es der Be-
nutzung dieser verschiedenen Wege engere
Grenzen steckt. Des Fnsssteiges soll man sich
nur noch zum Gehen, nicht auch zum Reiten
bedienen. Die Viehtrift ist allein nur für diesen
Zweck bestimmt. Sie kann nicht auch zum
Fahren beansprucht werden. Hinwiederum
schliesst das Recht auf den Fahrweg nicht zu-
gleich das Recht ein, darauf ungekoppeltes Vieh
zu treiben, 'b) Die Weide- oder Hütungs-
gerechtigkeiten beziehen sich entweder auf
55*
868
Grundgerechtigkeiten
land- oder auf forstwirtschaftlich benutzte
Grundstücke. Der Eigentümer des dienenden
Grundstücks darf darauf keine Eulturverände-
rung vornehmen, durch welche die Servitut un-
möglich gemacht oder erheblich verringert wird.
Wohl aber ist es zulässig, dass er dem Be-
rechtigten zur Weide andere als die seither
benutzten Ländereien anweist, falls hierin keine
Erschwerung liegt. Namentlich steht es dem
Forsteigentümer frei, einzelne Teüe des Pflich-
tigen Waldes in Schonung zu legen und davon
den Weideberechtigten auszuschliessen. — Der
tJmfang der Weidegerechtigkeiten ist ein ver-
schiedener. Selten nur geht er .so weit, dass
der Berechtigte die Weiden des dienenden Gutes
für das Bedürfnis des herrschenden Grundstücks
allein und ausschliesslich zu beanspruchen hat.
Wo solche Ausschliesslichkeit nicht begründet
ist, behält der Besitzer des Pflichtigen ßrundes
das Recht der Mithut. Vermöge desselben
ist es ihm erlaubt, das eigene Vieh gleichfalls
auf die Weide zu treiben. Immer darf das
jedoch nur so geschehen, dass dem Servitut-
berechtigten die Möglichkeit der unbeschränkten
Ausübung seines Rechts gewahrt bleibt. Tritt
daher eine Minderung der Weide ein, so muss
der Eigentümer des dienenden Grundstücks so-
weit zurückstehen, als notwendig ist, um zuvor
das Bedürfnis des herrschenden Grundstücks zu
befriedigen. Es kann femer die Zahl des auf-
zutreibenden Viehs bestimmt oder aber un-
bestimmt gelassen sein. Im letzteren Falle
ist der Weideberechtigte befugt, so viel Vieh
aufzutreiben, als er mit dem auf dem eigenen,
herrschenden Gute gewonnenen Futter zu durch-
wintern vermag. Wie für den Umfang der
Weidegerechtigkeit die Viehzahl, so ist für den
Inhalt derselben die Art des aufzutreibenden
Viehs von Einflusa. Die der Weide dienenden
Gräser werden mehr oder weniger intensiv an-
gegriffen, je nachdem sie dem Klein- oder Gross-
vieh (Schafen oder Rindern und Pferden) zur
Nahrung dienen. Manche Tiere, namentlich
Schweine und Gänse, sind der Weide geradezu
schädlich, indem sie die Wurzeln der Gräser
herausreissen und zerstören. In Fällen, wo die
Weidegerechtigkeit eine Einschränkung auf be-
stimmte Vieharten sonst nicht erfahren hat,
sollen sie überhaupt nicht aufgetrieben werden.
Ein Weideberechtigter, der die Weide auch für
sie beansprucht, muss daher nachweisen, dass
er das Recht dafür besonders erworben hat.
Bildet, wie vorhin bemerkt wurde, die Weide-
fferechtigkeit im allgemeinen kein Hindernis
&r den Eigentümer des dienenden Gutes, dieses
ebenfalls zur Weide für sein Vieh zu benutzen,
so ist es andererseits auch möglich, dass ausser
einem Servitutberechtigten noch andere Per-
sonen Weiderechte auf dem Gute desselben
Eigentümers erwerben. Man nennt ein solches
von mehreren gemeinschaftlich auf Mem Areal
eines Dritten ausgeübtes Weiderecht einK o p p e 1 -
hutrecht. Nicht damit zu verwechseln ist die
Koppelhut. Man versteht darunter die wechsel-
seitige Berechtigung mehrerer Grundbesitzer,
auf den Grundstücken der anderen die Hütung
auszuüben. Indem an der hergestellten Weide-
Gemeinschaft jeder von ihnen als Eigentümer
des herrschenden me des dienenden Grundstücks
teilnimmt, ist er als ServitutinhaÜer zugleich
berechtigt, als Grundeigentümer verpflichtet.
c) Die Holzgerechtigkeiten bilden den
Inhalt von Grundgerechtigkeiten, wenn der
Eigentümer des herrschenden Gutes bei der
Ausübung seines Nutzungsrechts in fremden
Forsten auf die eigene Thätigkeit angewiesen
ist. Dahingegen ist das Recht, von dem Forst-
eigentümer zu verlangen, dass dieser selbst dem
Berechtigten das Holz aus seinem Walde liefert,
eine Reallast, nicht eine Grundgerechtigkeit.
Andererseits wird der Begriff der Grundgerechtig-
keit nicht dadurch beeinträchtigt, dass der
Nutzende nur nach Anweisung des Forstherm
oder seiner Beamten sein Holzrecht ausüben
darf, also zunächst diese Anweisung zu fordern
hat. Wo allein das Bedürfnis des herrschenden
Gutes den Massstab giebt, kann der Berechtigte
dem fremden Walde sowohl Bau- wie Brenn-
holz entnehmen. Meist aber wird der Umfang
der Holzgerechtigkeit nach der Art und Be-
schaffenheit des Holzes und dem Zwecke be-
messen sein, zu dem es verwendet werden soll.
So kann dem einen allein das Recht auf Bau-
und Nutzholz, einem anderen nur auf Brenn-
holz zustehen. Das letztere Recht ist häufig
dahin beschränkt, dass bloss das von den
Bäumen fallende und abgestorbene Holz (Raff-
und Leseholz) oder das Holz solcher Bäume
entnommen werden darf, welche vor Alter oder
durch den Wand umgestürzt sind (Lagerholz,
Windbruch). Wie das Holz selbst, können auch
die Holzprodukte, so namentlich Laub und
Nadeln, Gegenstand einer Holzgerechtigkeit sein,
die, wenn sie sich allein hierauf erstreckt, mit
dem Namen der Streugerechtigkeit bezeichnet
wird.
2. Grandgerechtigkeiten, bei welchen das
herrschende wie das dienende Grundstück ein
Gebäude zu sein pflegt, sind entweder solche,
zu deren Ausübung das Haben einer auf dem
dienenden Grundstück befindlichen Anlage ge-
hört; oder sie bestehen in dem Rechte, aus dem
herrschenden Grundstück dem dienenden Wasser
oder andere Stoffe zuzuführen, welche aufzu-
nehmen und zu dulden sein Eigentümer sonst
nicht verpflichtet wäre; teils kommen sie mit
Verbietungsrechten überein, oder endlich sie
schliessen die Ausübung eines Rechts aus,
welches sich aus dem Eigentum an einem Ge-
bäude einem anderen Gebäude gegenüber wegen
einer bestehenden gesetzlichen Eigentunisbe-
schränkung ergiebt. Zu den Grundgerechtiff-
keiten, deren Ausübung mittelst einer Anstswt
auf dem dienenden Grundstück vor sich geht,
gehört das Recht, sich der Mauer oder eines
sonstigen Gebäudeteils (z B. eines Pfeilers) des
Nachbarhauses als Stütze für die Giebelmauer
oder die Balken des eigenen Hauses zu be-
dienen (serv. oneris ferendi). Damit ist regel-
mässig für den Eigentümer des dienenden Ge-
bäudes die Verbindlichkeit verknüpft, die
stützende Anlage in tragfähigem Zustande zu
erhalten. Unter den Grundgerechtigkeiten,
welche dem Berechtigten eine Immission in das
Nachbargrundstück ermöglichen, ist die wich-
tigste und zufi^leich häufigste die der Dach-
traufe. Sie beschränkt sich entweder auf die
Befugnis, das natürlich abfliessende Regenwasser
von dem Dache des eigenen Hauses auf das
Nachbargrundstück abtropfen zu lassen, oder
sie ermächtigt den Berechtigten, das auf dem
eigenen Grundstück gesammelte Regenwasser
Griindgereclitigkeiten
869
dem dienenden Grundstück mittelst einer Bohren-
leitung zuzuführen. Von anderen eine Immission
erlaubenden Grundgerechtigkeiten mag hier noch
das Hecht erwähnt sein, dem Nachbar mehr und
stärkeren Rauch zuzuführen, als dieser bei ge-
wöhnlicher Benutzung der Feuerungsanlagen
auf dem herrschenden Grundstück zu dulden
hätte und wegen gesetzlicher Eigentumsbe-
schränkung sich gefallen lassen müsste. — Die
Verbietungsr echte sind sehr mannigfacher Art.
Es sind dahin zu rechnen: Das ßecht, dem
Nachbar das Höherbauen zu verwehren,
entweder schlechthin oder über eine gewisse
Höhe hinaus, ferner das Licht- und das ihm
verwandte Aussichtsrecht. Ebenso mannig-
faltig sind die auf Beseitigung von gesetzlichen
Eigentumsbeschränkun^en bei Gebäuden ab-
zielenden Grundgerechtigkeiten. Es gehört dahin
z. B. das Recht, ein Gebäude unmittelbar an
der Grenze des Nachbargrundstücks zu er-
richten, statt, wie es sonst zu geschehen hätte,
einen bestimmten Abstand von der Grenze
inne zu halten (E.G. Art. 124).
6. Die Anfhebnng der G. Die Auf-
hebuDg von Gninclgerechtigkeiten vollzieht
sich anders, wenn diese im Grundbuch ein-
getragen sind, und anders, wenn solches
nicht zutrifft.
1. Die regelmässige Beendigung eingetrage-
ner Gmndgerechtigkeiten geschieht durch
Löschung im Gnindbuch. Diese setzt
eine Erklänmg des Berechtigten voraus,
dass er die Grundgerechtigkeit aufgebe. Er
hat diese dem Grundbuchamt oder demjeni-
gen gegenüber abzugeben, zu dessen Gunsten
sie erfolgt. Sie genügt, wenn das herr-
schende Grundstück lastenfrei oder zwar mit
Hypotheken oder anderen dinglichen Rech-
ten beschwert ist, diese Rechte aber durch
die Aufhebung der Grund gerechtigkeit nicht
berührt werden. Andernfalls muss zu dem
Verzicht auf die Grundgerechtigkeit und die
sie aussprechende Erklärung des Berechtig-
ten noch die Zustimmung des Hypotheken-
gläubigers oder des sonstwie dinglich be-
rechtigten Dritten hinzukommen (§§ 875,
876 B.G.B.),
Eine Ausnahme von der Regel, dass ein-
getragene Grundgercchtigkeiten nur durch
L()schung aufgehoben werden, greift Platz,
wenn auf dem dienenden Grundstück eine
Anlage enichtet wird, welche die Grundge-
rechtigkeit beeinträchtigt. Dann soll der
Anspnich auf Beseitigung der Anlage imge-
achtet der Eintragung der dadurch beein-
trächtigten Grundgerechtigkeit der Yerjäh-
niug unterliegen. Infolgedessen erlischt
die Gnmdgerechtigkeit, soweit der Bestand
der Anlage mit ihr in Widerspnich steht
(§ 1028 B.G.B.).
2. Wegen der zur Zeit der eintretenden
Gesetzeskraft des B.G.B. noch nicht im
Gnmdbuch eingetragenen Grundgercchtig-
keiten und wegen der Gnindgerechtigkeilen
an Grundstücken, die nach den Vorschriften
der Grundbuchordnung nicht eingeti'agen
Averden müssen, behalten die Vorschriften
des bisherigen Rechts ilire Geltung. Auf
diese ist jetzt noch mit einigen Worten ein-
zugehen.
Eine auf Zeit oder unter einer auflösen-
den Bedingimg bestellte Grundgerechtigkeit
erlischt mit Ablauf der Zeit oder mit dem
Eintritt der- Bedingung. Von dieser Mög-
lichkeit abgesehen, werden nach römi-
schem und gemeinem deutschen
Rechte Grundgerechtigkeiten aufgehol)en :
durch Konfusion, Verzicht, letzt-
willige Verfügung und Verjährung.
1. Durch Konfusion erlöschen Grund-
gerechtigkeiten, wenn sich das alleinige
Eigentum an dem herrschenden und dem
dienenden Gnmdstück in einer Person ver-
einigt 2. Der Verzicht bewirbt die Auf-
hebung von Grundgereclitigkeiten , wenn
der Alleineigentümer oder die mehreren
Miteigentümer des herrschenden Grundstücks
sämtlich im Einverständnis mit dem Eigen-
tümer des dienenden Grundstücks ihren
Willen ausdrücklich oder stillschweigend
durch konkludente Handlungen dahin erklä-
ren, dass sie das ihnen gegen das dienende
Grundstück zustehende Recht aufgeben.
B. Grimdgerechtigkeiten, welche zu einzelnen,
sich wiederholenden Handlungen ermächti-
gen, erlöschen durch ununterbrechene
Nichtausübung während der Verjäh-
rungszeit. Diese beträgt 10 oder 20
Jahre, je nachdem die Personen, für und
gegen welche sie läuft, demselben oder ver-
schiedenen Oberlandesgerichtsbezirken ange-
hören. Nicht die gleiche Bewandnis hat es
mit den Grundgercchtigkeiten des meist bei
Gebäuden vorkommenden Inhalts, bestehend
in dem Recht auf Erhaltung eines datiern-
den Zustandes der herrschenden oder der
dienenden Sache. Der Eigentümer des
herrschenden Gnmdstücks, welcher zum Be-
sitz einer Anstalt auf diesem oder dem die-
nenden Grundstück befugt ist, vermöge
deren er dessen Eigentümer zu einem Diü-
den nötigt, verliert seine Gnmdgerechtigkeit
durch den blossen Nichtgebrauch allein noch
nicht. Ebensowenig der, w^elcher berechtigt
ist, dem Eigentümer des dienenden Grund-
stücks die Vornahme gewisser Handlungen
zu verbieten. Die Endigimg der Grundge-
rechtigkeiten des bezeichneten Inhalts tritt
vielmehr erst ein, w^enn sich der Eigentümer
oder Besitzer des dienenden Gnmdstücks
während der Verjähnutgszeit im Besitze des
servitutfreien Zustandes befand (usucapio
libertatiö).
Ein e besondere dem Partikular recht
der einzelnen deutschen Staaten eigentüm-
liche Auf hebungsart ist die A b 1 ö s u n g der
Grimdgerechtigkeiten gegen Entschädigung
auf Grund gesetzlicher Anordnung.
870
Grundgerechtigkeiten — Grundrente
In Preussen bat die Gemeinheitsteilungs-
ordnung vom 7. Juni 1821 die einem ratio-
nellen Betrieb der Land- und Forstwirt-
schaft binderlicben Weiderecbte und mehrere
der Kultur besonders nachteilige Holzgerech-
tigkeiten (so z. B. das Recht auf Raff- und
Leseholz und auf Waldstreu) der Ablösimg
unterworfen. Der Antrag auf Ablösung
kann entweder vom Berechtigten oder vom
Belasteten ausgehen. Er ist bei der hierfür
eingesetzten Auseinaudersetzungsbehörde
(Generalkommission) anzubringen. Diese
hat die Aufhebung der betreffenden Grund-
gerechtigkeiten zu verfügen, indem sie
gleichzeitig die Entschädigrmg festsetzt,
welche vom Eigentümer des beiasteten
Gutes dem Servitutberechtigten für den
Verlust seiner Grundgerechtigkeit zu ge-
währen ist. Die Entschädigung erfolgt der
Regel nach in Land, aushilfsweise auch in
Rente. Eine nicht geringe Anzahl anderer
Berechtigungen, deren Beseitigung im In-
teresse der Landeskidtur ebenfalls wün-
schenswert erschien, hat das G. v. 2. März
1850 betr. die Ergänzung der Gemeinheits-
teihmgsordnung für ablösbar erklärt Es
gehören dahin z. B. das Recht zur Gräserei,
zum Harzscharren in Wäldern und zur Torf-
nutzung. Vgl. hierzu E.G. Art. 113 — 115.
7. Schutz der G. Wegen Störung oder,
was hier dasselbe ist, thatsächlicher Beein-
trächtigung der Grundgerechtigkeiten giebt
das B.ö.B. eine dem Vorbilde der Eigenttmis-
freiheitsklage nachgebildete Servitutenklage.
(§ 1027 vgl. mit § 1004.) Kläger ist der Eigen-
tümer des herrschenden Grundstücks, mag er
dessen Besitzer sein oder nicht. Beklagter
ist. wer die Servitut stört, einerlei ob ihn
ein Verschulden trifft oder nicht. Gegen-
stand der Klage ist die Beseitigung der
Störung, insbesondere die einer störenden
Anlage. Sind weitere Beeinträchtigungen
zu befürchten, so kann der Kläger auf
Unterlassung klagen. Soweit ferner der
Beklagte zur Unterhaltung von Anlagen auf
dem dienenden Grundstück verbunden ist,
kann die Klage auch auf Erfüllung dieser
Verpflichtung gerichtet werden. Massgebend
sind hierfür die Grundsätze der Reallasten.
Wie aber ist es, wenn der Eigentümer
des angeblich belasteten Grundstücks das
Bestehen oder Fortbestehen einer Grund-
gereclitigkeit überhaupt bestreitet, sei es in
Verbindung mit einer gleichzeitigen Störung
oder unabhängig davon? Die Servituten-
klage reicht da nicht aus. Der Eigentümer
des hen-scheuden Gnmdstücks wird nur
zum Ziel kommen, wenn er auf Grund des
§ 256 (231) C.P.O. wider den Eigentümer
des belasteten Grundstücks die Feststellungs-
klage erhebt und beantragt, diesen zur An-
erkennung der von ihm, dem Kläger, be-
haupteten Grundgerechtigkeit zu verurteilen.
Diese Klage kann mit der Servitutenklage
verbunden werden, wenn der Beklagte sich
nicht darauf beschränkt, die Existenz der
Gnmdgerechtigkeit zu bestreiten, sondern
auch deren Ausübung thatsächlich beein-
trächtigt
Neben der Servitutenklage kennt das
B.G.B. auch einen Besitzschutz der Grund-
gerechtigkeiten. Dieser gestaltet sich ver-
schieden, je nachdem, ob es sich um Gnind-
gerechtigkeiten handelt, welche im Gnmd-
buche eingetragen oder nicht eingetragen
sind. Wird der Besitzer des herrschenden
Grundstücks in der Ausübung einer einge-
tragenen Grundgerechtigkeit gestört, so
finden die für den Besitzschutz geltenden
Vorschriften Anwendung, soweit die Grund-
gerechtigkeit innerhalb eines Jahres vor der
Störung, sei es auch nur einmal ausgeübt
worden ist. (§ 1029 B.G.B.) Die Besitz-
klage hat jeder Besitzer des herrschenden
Grundstücks, der unmittelbare so gut ^ie
der mittelbare Besitzer.
Es darf mithin neben und ausser dem
Eigenbesitzer auch der Pächter oder Mieter
des herrschenden Grundstücks wegen Be-
sitzstönmg der für dieses in Anspruch ge-
nommenen Grundgerechtigkeit klagen. Nicht
eingetragene Grundgerechtigkeiten haben
gleichfalls einen dem Sachbesitz ent-
sprechenden Besitzschutz. Erforderlich ist
aber, wenn die Besitzklage deshalb mit Er-
folg angestrengt werden soll, dass es sich
entweder um eine Grundgerechtigkeit han-
delt, mit der das Halten einer dauernden
Anlage verbunden ist, oder dass die Grund-
gerechtigkeit in jedem der 3 letzten Jahre
vor der Stöning mindestens einmal ausgeübt
worden ist (E.G. Art. 191 vgl mit Art
128, 187.)
Litteratar: Elvers, Die römische Servituten'
lehre, 1856. — Sehönemann, Die Servituten,
1866. — Stobbe, Handbuch des deutseh, Privatr.
IJ (zweite Aufl.) § 98, — Demburg, Das
bürgert, R. des deutsch, Reichs und Preussens III,
§§ 162—188,
V, Brünneck,
Grundrente.
Erster Abschnitt. 1. Begriff der G.
2. Entstehung und Bemessung der Höhe der
G. 3. Arten der G. Zweiter Abschnitt.
1. Die Veränderungen der G. 2. Die Kapita-
lisierung und die privatwirtschaftliche Ans-
gleichung der G. 3. Das ^monopolistische Ele-
ment in der G. 4. XJebefsicht der Entwicke-
lung der Lehre von der G.
Erster Abschnitt
1. Begriff der G. Für die Zwecke
menschlicher Wirtschaft ist die Natur mit
Grundrente
871
ihren Stoffen und Kräften, ist insonderheit
der Grund imd Boden unumgänglich nötig.
Der Boden besitzt infolgedessen einen natür-
lichen Nutzwert, der unter bestimmten Be-
dingungen ein Einkommen gewähren kann.
Dies aus dem natürlichen Nutzwert des
Bodens entspringende Einkommen wird von
der Wissenschaft als Grundrente bezeichnet
Nach dem Sprachgebrauche des gewöhn-
lichen Lebens bedeutet Grundrente das ge-
samte Einkommen, das der Grundbesitzer
aus dem Grund und Boden bezieht; diese
Grundi^ente im weiteren Sinne fasst daher
das auf dem natürlichen Nutzwert des
Bodens beruhende und das aus dem gesam-
ten Produktionsaufwande an Arbeit und
Kapital auf dem Boden hervorgehende Ein-
kommen ungetrennt zusammen. Im folgen-
den wird unter Grundrente ausschliesslich
der engere wissenschaftliche Begriff der
Grundrente verstanden.
Der Boden, wie er von Natur darge-
boten wird, dient den Menschen vornehmlich
in dreifacher Weise. Er ist der Träger
menschlichen Lebens und wirtschaftlicher
Thätigkeit auf allen ihren Gebieten, in Acker-
bau und Industrie, in Handel und Verkehr;
er ist das Gefäss, in welchem durch die
Vegetationskräfte die Pflanzen erzeugt wer-
den ; er birgt in seinem Schosse wertvolle
Stofte, wie die mineralischen Nährstoffe der
Pflanze, Erze, Kohlen, Steine, Oele etc. Der
Boden besitzt in seiner Tragfähigkeit, seiner
Kraft der Pflanzenerzeugimg (Fruchtbarkeit)
und seinem Reichtum an Stoffen Eigen-
schaften, die ursprünglich und zum Teil
auch unvergänglich sind, die also nicht auf
menschliche Thätigkeit, nicht auf Arbeits-
und Kapitalaufwand zurückzuführen sind.
Ursprünglich und unerschöpflich ist die
Tragfähigkeit, sind die im Boden wirkenden
Vegetationskräfte, und sind die physikali-
schen Eigenschaften desselben, ursprünglich,
doch nicJ^t unerschöpflich ist aber der Ge-
halt an mineralischen Pflanzennährstoffen
und an den im Boden ruhenden Erzen,
Kohlen etc. Die Frage der ünerschöpfUch-
keit der Grundrente bildenden Nutzleistung
des Bodens ist deshalb von Bedeutung, weü
der Begriff der Grundrente von der Wissen-
schaft auf das Einkommen aus dem natür-
lichen Nutzwerte des Bodens eingeschränkt
ist, soweit derselbe auf der Unerschöpflich-
keit der Kräfte und Stoffe des Bodens be-
ruht. Ricardos Definition der Grundrente
lautet denn auch: »Die Grundrente ist der-
jenige Teü des Erzeugnisses der Erde oder
die Vergütung, welche dem Grundherrn für
die Benutzung der urspnlnglichen und un-
erschöpflichen Kräfte des Bodens bezahlt
wird.c Diese Einschränkung ist nötig, um
das Ghrundrenteneinkommen begrifflich scharf
zu sondern von dem Einkommen, das aus
der Verwendung von Kapital herrülirt Die
einzelnen Grundstücke besitzen nun aber die
angeführten Eigenschaften — und das ist
für die Bildung der Gnmdrente von ent-
scheidender Bedeutung — in sehr verschie-
denem Grade. Verschieden ist üire Frucht-
barkeit, ihr Reichtum an Stoffen und auch
ihre Tragfähigkeit insofern, als die Lage,
wo die Tragfähigkeit benutzt wird, der
»Standort« verschieden ist.
Der Grundbesitzer bezieht die Gnmd-
rente bei eigener Verwendung des Bodens
in dem Gesamtertrage desselben. Den Teil
seines Gesamteinkommens vom Boden, der
lediglich auf die natürliche Nutzleistung des-
selben zurückzuführen ist, die Grundrente,
kann er ziffernmässig aus dem Gesamtein-
kommen vom Boden ausscheiden, indem er von
demselben den üblichen Unternehmergewinn
uad den üblichen Zins und Lohn für sämt-
liche Kapital- und Arbeitsverwendungen in
Abzug bringt. »Grundrente nennen wu*
denjenigen Teü vom regelmässigen Reiner-
trage eines Grundstückes, welcher nach Ab-
zug aller darin steckenden Arbeitslöhne und
Kapitalzinsen übrig bleibt« (Röscher). Ueber-
lässt dagegen der Besitzer die Benutzung
seines Bodens einem anderen , einem Päch-
ter, so bezahlt dieser für die natürliche
Nutzleistung des Bodens, die nun ihm zu-
fällt, einen Preis, der die bedungene Grund-
rente bildet. Der Begriff der Grundrente
kann daher auch so gefasst werden : »Grund-
rente ist der für die ursprüngliche und un-
erschöpfliche Nutzleistung des Bodens inner-
halb einer gewissen Periode, in der Regel
eines Jahres gezahlte Preis.« Die bedungene
Gnmdrente ist für gewöhnlich nicht iden-
tisch mit der gezahlten Pacht, da auf dem
dem Pächter überlassenen Boden, zumal bei
dem zum Landbau benutzten und in alter
Kultur befindlichen oft in grossem Umfange
Kapital verwandt und mehr oder weniger
fest mit ihm verbunden ist. In der Pacht
steckt daher auch der Zins für solches
Kapital an Gebäuden, Umzäunungen, Drai-
nage etc. Die Gnmdrente muss dalier auch
bei der Verpachtung des Bodens erst
rechnerisch aus der Pachtsumme geschieden
werden.
2. Entstehung und Bemessung der
Höhe der 6. Die natürliche Nutzleistung
des Bodens kann nun aber nicht immer ein
Einkommen, die Grundrente, gewähren. Für
die Ueberlassung der Nutzimg des nattir-
lichen Nutzwertes des Bodens wird nur
dann eine Vergütung gezahlt werden, wenn
Boden mit höchstem nattlrlichen Nutzwerte
nicht frei zur Verfügung steht Erst wenn
nur Boden mit geringerem Nutzwert unent-
geltlich benutzt werden kann, wird für die
Ueberlassung des ersteren ein Entgelt gezahlt
werden. Und selbst für die Ueberlassung
872
Grundrente
von Boden mit niedrigstem natürlichen Nutz-
wert wird eine Vergütung gewährt werden,
wird auf ihm also die Grundrente entstehen,
wenn doch noch Begehr nach ihm ist und
er nicht frei zur verfugung steht. Die
entscheidende Ursache der Entstehung der
Grundrente ist demnach die relative Selten-
heit des natürlichen Nutzwertes des Bodens.
Für die Hervorbringung der Güter ist der
natürliche Nutzwert des Bodens, überhaupt
der Naturfaktor stets von Bedeutung, da ein
Teil des Gütererzeugnisses immer auf die
Wirkung des Naturfaktors zurückzuführen
ist, für die Verteilung der Güter gewinnt
er aber erst dann Einfluss, gewährt er also
erst ein Einkommen, wenn er relativ, d. h.
im Verhältnis zum Begehr, selten ist. Nicht
weil der natürliche Nutzwert des Bodens
für die wirtschaftlichen Zwecke des Men-
schen von Nutzen ist, erzeugt er Grund-
rente, sondern weü er nicht in beliebiger
Menge und von gleicher Wirksamkeit vor-
handen ist. »Die Arbeit der Natur wird
bezahlt, nicht weil sie viel, sondern weü sie
wenig thut. Ln nämlichen Verhältnisse, als
sie mit ihren Gaben kargen wird, erzwingt
sie auch für ihr Werk einen höheren Preis.
Wo sie grossmütig wohlthätig ist, arbeitet
sie immer umsonst« (Ricardo).
Die Höhe der bedungenen Gnmdrente
als des Preises der periodischen naturalen
Nutzleistung des Bodens hängt von dem
Verhältnis von Angebot und Nachfrage ab,
die durch die bekannten Preisbestimmungs-
gründe bestimmt werden, nur dass das An-
gebot hier nicht von den Produktionskosten,
sondern von der Schätzung des natürlichen
Nutzwertes abhängt, da dieser seinem Be-
griffe nach von Natur gegeben, nicht aber
produziert ist. Bei der Benutzung des
Bodens zur Erzeugung landwirtschaftlicher
Produkte kommt hier der natürliche Nutz-
wert, die Fruchtbarkeit und die Lage in
Betracht. Je grösser die erstere und je
günstiger die letztere, um so wirksamer er-
weist sich der auf beiden benihende natür-
liche Nutzwert des Bodens zur Erzeugung
imd zum Absatz der landwirtschaftlichen
Produkte. Daher werden bei gleicher Ge-
schicklichkeit des Bebauers und bei gleichem
Arbeits- und Kapitalaufwande von Gnind-
stücken ungleicher Fruchtbarkeit und Lage
imgleiche Mengen Bodenprodukte gleicher
Güte gewonnen oder in anderem Ausdrucke,
die gleichen Mengen Bodenprodukte werden
auf den vei-schiedenen Grundstücken mit
einem ungleichen Aufwände von Arbeit und
Kapital erzeugt. Zwingt nun die wachsende
Nachfrage nach Bodenprodukten, nicht nur
den fruchtbai-ston imd günstigst gelegenen
Boden, sondern immer unfnichtbareren und
ungünstiger gelegenen mit immer geringerem
Ertrage in Kultur zu nehmen, so entsteht
auf den bevorzugten Ländereien Grundrente,
deren Höhe auf den einzelnen Ländereien
gleich dem Unterschiede zwischen ihrenti
Ertrage imd dem des unfruchtbarsten und
ungünstigsten Bodens ist, der aber zur Be-
friedigimg des Gesamtbedarfes noch ange-
baut, werden muss. Statt bei steigender
Nachfrage nacli Bodenprodukten zum Anbau
von unfruchtbareren und imgünstiger gele-
genen Grundstücken überzugehen, kann es
vorteilhafter sein, auf dem bisher bebauten
Boden durch Steigerung des Produktions-
aufwandes an Kapital und Arbeit eine grös-
sere Produktenmenge zu erzeugen. Lieferte
jeder spätere Aufwand von Kapital und
Arbeit auf dem nämlichen Boden gleichen
oder gar einen höheren Ertrag, so würde
ebensowenig eine Gnmdrente entstehen
können, als wenn fruchtbarster und best-
gelegener Boden in unerschöpflicher Menge
vorhanden wäre. Nun giebt es aber stets
eine Grenze, von der ab jeder neue Zusatz
von Arbeit und Kapital früher oder später
einen relativ abnehmenden Ertrag liefert
Je schlechter der Boden ist, um so früher
tritt diese Grenze ein. Sie kann durch eine
verbesserte landwirtschaftliche Technik hin-
ausgerückt werden, stets muss aber ein
Zeitpunkt eintreten, bei dem sie erreicht
wird. In der abnehmenden Produktivität
der Arbeits- und Kapitalverwendimg bei
der Erzeugimg landwirtschaftlicher Produkte
ist eine üi*sache der Entstehung der Grund-
rente zu finden wie in der Nötigung, zuno.
Anbau schlechteren Bodens überzugehen.
Zwingt der steigende Bedarf an Bodener-
zeugnissen, auf dem bisher bebauten Boden
eine grössere Menge Bodenprodukte zu er-
zeugen, deren Zuwachs aber nur durch einen
relativ grösseren Produktionsaufwand ge-
wonnen werden kann, so ist auf diesem Boden
schon vorher eine Grundi-ente entstanden ;
sie geht hervor aus dem Unterschiede in
den Erträgen des bisherigen und des neuen
Produktionsaufwandes. GeAvährte der Boden
bereits früher eine Grundrente, so \\'ird
deren Botrag sich um diese Diiferenz er-
höhen.
Für die Herleitung der Entstehung der
Grundrente und ihrer Höhe ist es gleieh-
giltig, ob die Grundrente, welche bei Selbst-
bewirtschaftung in dem Gesamteinkommen
des Unternehmers steckt, oder bei der Ver-
pachtung des Bodens die in der gezahlten
Pacht enthaltene Grundrente ins Auge ge-
fasst ist. Winl auf besserem Boden bei
gleichem Arbeits- und Kapitalaufwande ein
höherer Ertrag erzielt als auf schlechterem
Boden, so kann der Pächter diese Differenz
in den Erträgen dem Besitzer des besseren
Bodens als Grundrente entrichten, da er auf
dem eigenen, aber schlechteren Boden seine
Kapitalnutzungen und Arbeitsleistungen ein-
Grundrente
873
schliesslich des üblichen ünternehmerge-
winnes nicht höher verwerten könnte. Für
die Herleitung der Entstehung und Höhe
der Grundrente ist es ferner gleichgütig,
ob der Betrachtung Produktionsmengen oder
deren Geldwert zu Grunde gelegt wird,
denn die Produktionsmenge und ihr Geld-
wert stehen genau im Verhältnis zu ein-
ander. Da nämlich auf demselben Markt-
gebiete bei freiem Wettbewerbe der Preis
fi\T die gleichen Produkte der gleiche ist,
wie verschieden auch ihre Herstellungskosten
sein mögen, so ist auch der Geldbetrag der
auf den verschiedenen Gnmdstücken erzeug-
ten ungleichen Produktenmengen ein den
verschiedenen Produktenmengen entspre-
chend verschiedener. Der auf dem Markt-
gebiete geltende Preis der Produkte wird
diu-chdie Produktionskosten bestimmt, welche
die Erzeugimg der Produkte auf den un-
günstigst gelegenen Grundstücken erfordert,
deren Anbau aber ziu- Befriedigiuig des Ge-
samtbedarfs noch nötig ist. Denn offenbar
werden die Gnmdstücke geringsten natür-
lichen Nutzwertes nur dann angebaut wer-
den, wenn der Preis der Produkte so hoch
gestiegen ist, dass der Anbau dieser Grund-
stücke die aufzuwendenden Produktions-
kosten ersetzt Hieraus fol^t der wichtige
Grundsatz, dass hohe Preise die Ursache
hoher Grundrente sind, dass aber hohe
Grundrente nicht die Ursache hoher Preise
ist. Die beiden Elemente des natürlichen
Nutzwertes des Bodens bei der landwirt-
schaftlichen Yerwendung desselben, Frucht-
barkeit und Lage, bestimmen durch ihr Zu-
sammenwirken die Bildung der Grundrente
und ihre Höhe. Die Gunst der Lage kann
mit dem Vorzuge der Fruchtbarkeit zusam-
mentreffen, und dann wirken beide Elemente
in gleicher Richtung auf die Höhe der
Grundrente, oder der Vorzug des einen
Elements kann durch die Ungunst des ande-
ren zum Teil oder ganz aufgehoben w^erden.
Immer aber wird die Höhe der Grundreute
durch den Vorzug bestimmt, den Boden in
Bezug auf Lage und Fnichtbarkeit vor dem
unfruchtbarsten und ungünstigst gelegenen
besitzt, der aber zur Befriedigung des Be-
darfs noch bebaut werden muss.
3. Arten der G. In erster Linie steht
die landwirtschaftliche Gnmdrente.
Ob der Boden zum Acker- oder Weinbau,
zu Weide- oder Waldbau benutzt wird, ist
für die Entstehung der Grundrente und die
Bemessung ihi-er Höhe ohne Belang. Immer
wird bei allen diesen Benutzungsweisen des
Bodens Grundrente entstehen, wenn Böden
ungleicher Fnichtbarkeit und Lage angebaut
werden, infolgedessen der gleiche Arbeits-
und Kapitalaufwand auf ihnen ungleiche Er-
träge liefert. Es kann aber ein bestimmtes
Grundstück für eine gewisse Kulturart be-
sonders geeignet sein und bei dieser Art
der Verwendung eine höhere Grundrente
ergeben als bei jeder anderen. — Bei der
Verwendung des natürlichen Nutzwertes des
Bodens beim Bergbau kommen die beiden
Elemente derselben, der Reichtum an mine-
ralischen Stoffen und die Lage, in Betracht.
In Bezug auf die Wirkung des ersteren
Elements zur Bildung der Grundrente und
der Bemessung ihrer Höhe, der Berg-
werksrente, ist zu beachten, dass die
Stoffe (Erze, Kohlen etc.) im Anbau dem
Boden entnommen und nicht wieder ersetzt
werden, dass daher die Unerschöpflichkeit
dieses Elements des Nutzwertes nicht vor-
ausgesetzt werden darf, wie dies bei dem
natürlichen Nutzwerte des Bodens beim
Ijandbau geschehen kann, weil durch die
Ernten freilich auch dem Boden wertvolle
Stoffe, die mineralischen Pflanzennährstoffe
entnommen, diese ihm aber im geregelten
Anbau durch die Düngung ersetzt werden.
Die dem Boden beim Bergbau entnommenen
Stoffe müssen bei der Ermittelung der
Bergwerksrente als ein Kapitalaufwand an-
gesehen werden, bei dessen Bemessung die
längere oder kürzere Zeitdauer bis ziu*
gänzlichen Erschöpfung der Stoffe und da-
mit zur Wertlosigkeit des Bergwerks zu be-
riicksichtigen ist. Im übrigen gelten die
nämlichen Regeln, die für die Bildung der
Grundrente und ihrer Höhe entwickelt
wurden, auch beim Bergbau. Auch bei
ihm gewäliren die einzelnen Bergwerke
infolge der Verschiedenheit ihres Reichs-
tums an Stoffen, ihrer Schwierigkeit der
Ausbeute und ihrer Lage bei gleichem
Produklionsaufwand verschiedene Erträge,
und die Höhe der Grundrente wird be-
messen nach der Differenz in diesen Er-
trägen.
Am reinsten und am wenigsten durch
störende Einflüsse getrübt zeigt sich die
Grundientenbildung bei dem Boden, der als
Baugrund benutzt wird. Das Element
des ursprünglichen und unerschöpflichen
Nutzwertes des Bodens, das hier im wesent-
lichen allein in Betracht kommt, ist die
Lage des Bodens, sein Standort. Er ist für
jede wirtschaftliche Tliätigkeit wichtig, da
von ihm die grössere oder geringere Leich-
tigkeit des Absatzes der Produkte und der
Zufuhr des zum Betriebe erforderlichen
Kapitals abhängt. Die auf dem Boden auf-
geführten Baulichkeiten zum Wohnen oder
zu gewerblichen Zwecken sind nicht dem
Gesetze der Grundrente unterworfen; sie
sind Kapital, können beliebig vermehrt wer-
den und sind vom Boden zu trennen. Nur
der Baugrund unterliegt der Gnindreuten-
bildung. Wie diese Baugrund- oder
Hausplatzrente entsteht und Avächst,
lässt sich bei jeder aufblühenden Stadt und
874
(Grundrente
namentlich der Grossstadt mit grosser Schärfe
"wahrnehmen. Bei der Baugnmdrente ist
auch leichter und deutliclier als bei den an-
deren Grundrentenarten zu erkennen, dass
die Bildung und das Wachstum der Grund-
rente nicht auf entsprechende Arbeits- und
Kapitalverwendung des Bodenbesitzers, nicht
auf sein Verdienst ziwöckzuführen ist. Ihr
gegenüber erweisen sich die verschiedenen
Versuche, die Ricardosche Grundrentenlehi-e
zu bekämpfen, machtlos. Da nun die Lage
ihre Grundrente bildende Kraft bei jeder
Form der wirtschaftlichen Thätigkeit zeigt,
sie neben der Fruchtbarkeit auch beim LAnd-
bau und neben dem Reichtum an Mineral-
gehalt auch beim Bergbau Grundrente er-
zeugt, so ist sie von den drei Elementen
des Gnmdrente erzeugenden lu^prünglichen
und unerschöpflichen Nutzwertes des Bodens
das wichtigste.
Da nun auch der Ertrag der meisten
gewerblichen Unternehmungen mehr oder
weniger durch ihre örtliche Lage beeinflusst
wird, 80 findet sich ein Gnmdrentenelement
auch in dem Gewinne aus solchen Geschäfts-
betrieben, die man gewöhnlich als kapita-
listische betrachtet. Ueber die weitere Aus-
dehmmg des Begriffes der Grundrente auf
alle bevorzugten Erwerbsstellungen s. d. Art.
Vorzugsrente.
Tli. Mitho/f.
Zweiter Abschnitt
1. Die Verändenuigen der G. Be-
trachtet man ein Land von gegebener Aus-
dehnung, so ist bei zunehmender Bevölke-
rung desselben — was in der Kulturwelt
den normalen Fall bildet — im allgemeinen
ein Steigen der Grundrente zu erwarten, da
der Boden als eine in diesen Grenzen un-
veränderliche Grösse im Verhältnis zu den
Bedürfnissen der wachsenden Einwohner-
zahl einen immer grösser werdenden Grad
von Seltenheit erlangt. Es schliesst dies
allerdings nicht aus, dass in einzelnen
Landesteilen die Grundrente dieser Bewegung
nicht folgt, sondern sogar abnehmen kann,
wie Abnahmen z. B. in Industriestaaten
auch in der lokalen Verteilung der Bevölke-
rung, trotz der Zunahme der Gesamtzahl
derselben, beobachtet werden können. Wenn
ein Land imstande ist, einen sehr grossen
oder sogar den grössten Teil seines Be-
darfes an Nahrungsstoffen durch Austausch
gegen seine Industrieerzeugnisse zu beziehen,
so kann längere Zeit hindurch die Be-
deutimg seines eigenen Bodens für die Ge-
winnung landwirtschaftlicher Produkte zu-
rücktreten; andererseits wird sich die Be-
völkerung dann immer mehr in den in-
dustriellen Centren und in den durch Handel
und Verkehr bedeutenden Städten zusammen-
drängen, und in diesen en^n Räumen wird
die reine Platzrente sich mit desto grösserer
Intensität entwickein, so dass dadurch die
etwaige Abnahme der ländlichen Grundrente
für das ganze Staatsgebiet in der Regel
mehr als ausgeglichen wird.
Was die besonderen Verhältnisse der
landwirtschaftlichen Grundrente be-
trifft, so wächst dieselbe in den Agrikultur-
staaten im Zusammenhange mit der Volks-
vermehrung — die aber in diesen Ländern
in der Regel langsamer fortschreitet als in
den Industriestaaten — und mit der Ent-
wickelung der Ausfuhr; in den auf grosse
Einfuhr von Nahrungsmitteln angewiesenen
Industriestaaten aber lässt sich diese Grund-
rente im grossen und ganzen nur durch das
künstliche Mittel der landwirtschaftlichea
Schutzzölle steigern, da der Freihandelspreis
des Getreides in solchen Ländern nur in ge-
ringem Masse von den inländischen Produk-
tionsbedingungen, vielmehr hauptsächlich
von den ausländischen Marktverhältnissen
abhängt. Innerhalb eines gegebenen Landes
zeigt auch die landwirtschaftliche Grund-
rente in der Umgebimg anwachsender Städte
in der Regel eine aufsteigende Bewegung,
wenigstens wenn der landwirtschaftliche
Betrieb den besonderen Bedingungen dieser
Zone entspricht, also auf die Erzeugung von
Milch, Gemüsen, Obst, Geflügel etc. be-
sonderes Gewicht legt. Mehr oder weniger
werden freilich die Vorteile der Nähe eines
grossen städtischen Marktes wieder aufge-
hoben durch die höheren Löhne, die unter
dem Einfluss der Anziehungskraft der Stadt
zu bezahlen sind. Auch ha,t sich die Zone,
aus welcher eine grosse Stadt ihren Bedarf
an frischen Erzeugnissen der Landwirtschaft
beziehen kann, bei der heutigen Ausbildung
des Transportwesens ausserordentlich er-
weitert, und wertvoUere Produkte dieser
Art können sogar aus dem Auslande \md
aus Entfernungen von Hunderten von Meilen
bezogen werden. Ueberhaupt liegt in der
Beschleunigung, Erleichterung und Ver-
biUigung des Transportes der wichtigste
Faktor für die Veränderung der landwirt-
schaftlichen Grundrente, und zwar können
dadurch die natürlichen Produktionsvorteile
der Grundstücke sowohl zu höherer Geltung
gebracht als auch — durch die Ermög-
lichimg einer Konkurrenz aus der Feme —
herabgedrückt werden. — Was die land-
wirtschaftlichen Meliorationen betrifft,
so haben diese zunächst den Charakter von
Kapitalanlagen, und die Grundrente
wird durch solche nur insoweit erhöht, als
der Mehrertrag der Wirtschaft dadurch über
den landesüblichen Kapitalgewinn (nicht den
blossen Zins) hinaus gesteigert wird. In
manchen Fällen kann dies in bedeutendem
Masse zutreffen, z. B. wenn dmxih Ent-
Grundrente
875
sumpfnng oder künstliche Entwässerung ein
ungewöhnlicli fruchtbares Neuland gewonnen
wird. Man kann aber auf einer gegebenen
Bodenfläche die Meliorationen niemals ins
Unbegrenzte mit solchem Erfolge fortsetzen ;
vielmehr wird man immer schliesslich zu
einem Punkte gelangen, jenseits dessen
höchstens noch der normale Kapitalgewinn
und demnach keine weitere Erhöhung der
Grundrente mehr zu erzielen ist. Aber
auch eine solche Melioration, die für eine
Einzelwirtschaft eine Erhöhimg der Grund-
rente hervorbringt, wird wenigstens zeit-
weise eine Verminderung selbst des anfäng-
lichen Standes der Rente verursachen, wenn
sie in einer grossen Anzahl von Wirt-
schaften oder in einem ganzen Gebiete
ausgeführt wird. Es treten dann dieselben
Folgen ein, wie wenn eine gewisse Fläche
von besserem landwirtschaftlichen Boden
dem Lande zugesetzt worden und mit in
Konkurrenz getreten wäre ; das Angebot von
Bodenerzeugnissen hätte sich mehr als die
Nachfrage vergrössert, der Preis derselben
müsste sinken. Der Ertrag der Einzelwirt-
schaften und somit auch deren Grundrente
(die als Extragewinn immer zuerst betroffen
wird) müsste also zurückgehen, und wahr-
scheinlich würde jetzt ein Teil des mit dem
Boden für immer verschmolzenen Meliora-
tionskapitals nicht einmal mehr den normalen
Gewinn bringen, vielleicht sogar nicht mehr
den einfachen Zins decken.
Die Grundrente von fruchtbarem Neu-
lande, das bei Baubbaubetrieb mit weniger
begünstigten Wirtschaften konkurriert, w^ird
gewöhnlich bald abnehmen infolge der
Bodenerschöpfung. Geht man dann zur
Düngimg über, so Äann dadurch zwar der
frühere Ertrag wieder hergestellt werden,
nicht aber — bei sonst gleich bleibenden
Umständen — die frühere Gnmdrente ; denn
die Produktionskosten haben sich nunmehr
dauernd vergrössert, bei gleichem Preise
des Produktes muss also der Reinertrag und
folglich auch die Grundrente kleiner sein
als früher. Wenn die Wii-tschaft ausschliess-
lich mit selbstgewonnenem Dünger betrieben
wüitle und so der Bodengehalt in dauerndem
Gleichgewicht bleiben könnte, so würden
die Mehrkosten nur dem Gewinn aus einem
massigen Zusclilage zu dem umlaufenden
Kapital entsprechen. Werden aber die
Bodenerzeugnisse aus dem Lande gefuhrt,
so ist ein solcher sich selbst erhaltender
Beharrungszustand nicht möglich, es muss
notwendig Dünger von aussen zugeführt
werden, und die Produktionskosten steigen
also» nicht nur um die Verzinsung des zu-
sätzlichen Betriebskapitals, sondern ausser-
dem um den vollen Wert des Düngers, der
ziu* Erzeugung des ausgeführten Teiles der
Produkte gedient hat, und diese Mehrkosten
bleiben dauernd bestehen und vermindern
um ihren Betrag die Grundrente.
Eine Erscheinung von ungewöhnlicher
Bedeutung ist der seit einigen Jahi'zehnten
eingetretene allgemeine Rückgang der land-
wirtschaftlichen Grundrente in sämtlichen
alten Kulturländern. Es ist dies eine That-
sache von konkret historischem Charakter,
die in gleicher Art sich nicht wiederholen
kann, weil ihre Ursache, nämlich die Er-
schliessung grosser überseeischer Produk-
tionsgebiete, besonders in den Vereinigten
Staaten und in Argentinien, als Bezugs-
queUen für den europäischen Getreidebedarf
eine nur einmal erscheinende, durch den
Fortschritt des modernen Transportwesens
hervoi^rufene Phase der weltwirtschaft-
lichen Entwickelung bildet Im amerika-
nischen Westen kann jungfräulicher Boden
noch füi" einen sehr niedrigen Preis, als
Heimstättenland sogar noch unentgeltlich
erworben werden, und dieses Land kann
bei guter Qualität zehn Jahre ununterbrochen
ohne Brache und vielleicht dreissig Jahre
lang ohne Düngung zum Weizenbau ver-
wendet werden. Obwohl diesen Vorteilen
auch manche ungünstige Faktoren entgegen-
wirken, so würden die Produzenten in
diesen Gebieten, wenn sie ihren Weizen in
Europa zu dem früheren durchschnittlichen
Normalpreise verkaufen könnten, einen un-
gewöhnlichen Gewinn, also eine Grundrente
erzielen können, obwohl die Kosten des
weiten Transports ihnen zur Last fallen.
Aber in Europa wirkte diese neue Kon-
kurrenz wieder wie eine Vermehrung des
Landes von besserer Qualität; der Preis
des Weizens wiuxle herabgedrückt, zumal
auch noch der Mitbewerb Ostindiens neu
hinzutrat, und so wurde nicht nur die
Grundrente in Europa vermindert und die
Bewirtschaftung der geringeren Bodenklassen
unrentabel gemacht, sondern auch der
amerikanische Rentengewinn grösstenteils
oder vollständig gleichsam schon im Keime
vernichtet. Dieser Rückschlag der Grund-
rente, den Ricardo schwerlich in solcher
Grösse und Dauer für möglich gehalten
haben würde, muss indes theoretisch als
eine vorübergehende Anomalie gelten. Auch
in den Agrikulturländern nimmt die Be-
völkerung allmählich mehr und mehr zu,
und damit vermindert sich die Ausfuhr-
fähigkeit derselben, während das Bedürfnis
der Industrieländer nach Einfuhr von Nah-
rungsmitteln immer wieder steigt. Wenn
man also den wahrscheinlichen Verlauf der
Dinge in einer längeren Reihe von Jahr-
zehnten erwägt, so wird man nur ein trotz
erheblicher Schwankungen fortschreitendes
Steigen der landwirtschaftlichen Grundrente
erwarten dürfen, es sei denn, dass die nor-
male Entwickelung der Bevölkerung der
876
Grundi'ente
Kulturwelt durch grosse Katastrophen,
Seuchen etc. zum Stillstande gebracht
werde.
Die Aenderungen der städtischen
Grundrente hängen von höchst mannigfal-
tigen lokalen Umständen ab, und es lässt
sich daher wenig Allgeraeines darüber sagen.
Zunehmende Bevölkerung ist die erste Be-
dingimg für das Steigen der städtischen
Grundrente, und zwar ist es nicht immer
nötig, dass sich unter den Zuziehenden
wohlhabende Personen befinden ; denn that-
sächlich bezahlen in vielen Städten die Ar-
men den Quadratfuss ihres Wohnraumes
mit einer höheren Miete als die Reichen.
Abnahme der Einwohnerzahl einer Stadt,
mit der auch allgemeiner wirtschaftlicher
Niedergang verbunden zu sein pflegt, zieht
natürlich Vermindenmg der Grundrente
nach sich. Dieselbe unterliegt aber auch
bei befriedigender Entwickelung der Stadt
mannigfaltiger innerer Verschiebungen. Die
Geschäftsviertel weisen im ganzen ein noch
schnelleres Fortschreiten der Gnmdrente
auf als die meistens an der Peripherie der
Stadt liegenden imd daher einer leichteren
Ausdehnung fähigen eleganten Modeviertel.
In den Geschäftsvierteln sind aber in erster
Linie die Vorteile des Absatzes, nicht
die Rücksichten auf die Produktion für die
Gunst der Lage und die dadurch bedingte
Grundrente entscheidend. Hauptsächlich
kommt es also auf die Aussichten der
offenen Ladengeschäfte an.
Die Oertlichkeiten, wo sich regelmässig
viele Kaufltistige einzufinden pflegen, bieten
die bevorzugten Verkauf stellen dar, für die
oft enorm hohe Mieten als Grundrente be-
zahlt werden; so z. B. die Marktplätze,
welche die zum Wochenmarkt kommenden
Landleute besuchen und die Hauptverkehrs-
strassen in den grossen oder auch in den
viele Vergnügungsreisende anziehenden klei-
neren Städten. Auch Wirts- und Gasthäuser
finden hier die besten Geschäftsbedingungen.
In manchen Städten hat sich von Alters
her, zum Teil aus der Zunftzeit, auch die
Eigentümlichkeit erhalten, dass in gewissen
Strassen oder Bezirken vorzugsweise be-
stimmte Arten von Geschäften, und zwar
auch Grossbetriebe angesiedelt sind, und es
bildet dann trotz der immittelbaren Nähe
der Konkurrenten für ein Unternehmen dieser
Art einen Vorteil, in dieser Gegend seinen
Sitz zu haben, weü die Käufer sich immer
zimächst hierher wenden. Auch die
städtischen hausindustriellen Produzenten
suchen möglichst in der Nähe der Läden
oder Lager zu wohnen, für welche sie ar-
beiten. Die in den gn^ssen und kleinen
Betrioben der inneren Stadtteile beschäftigten
Arbeiter suchen ebenfalls, wenn es irgend
angeht, sich ein Unterkommen in der Nähe
ihrer Arbeitsstätte zu verschaffen. Denn
das Wohnen in den Vorstädten hat für sie,
selbst bei der Benutzung von Strassen-
bahnen, oft einen bedeutenden Zeitverlust
und keineswegs unerhebliche Kosten zur
Folge. Bei den grossen Kaufleuten,
Bankiers etc. der Grossstädte dagegen zeigt
sich immer mehr die Neigung, ihre Woh-
nung von dem Geschäftslokal zu trennen
und die erstere sogar ganz ausserhalb der
Stadt zu legen, da sie die dadurch be-
dingten Opfer an Zeit und Geld ohne
Schwierigkeiten tragen können. So entsteht
die bereits erwähnte Erecheinung, dass die
in den inneren Stadtteilen zusammenge-
drängten Arbeiter und kleinen Hausgewerbe-
treibenden häufig verhältnismässig die höchste
Wohnungsmiete bezahlen.
Die Berg Werksrente zeigt in ihrer
Bewegimg noch weit w^eniger Stetigkeit, als
die landwirtschaftliche Grundrente weil sie
mit den wechselnden Konjunkturen der In-
dustrie in immittelbarem Zusammenhange
steht. Für eine gegebene Bevölkenmg ist
der jährliche Getreidebedarf in ziemlich
engen Grenzen bestimmt. Der Bedarf an
Kohlen und Eisen aber ist je nach der all-
gemeinen wirtschaftlichen Lage einer be-
deutenden Ausdehnung oder Zusammen-
ziehung fähig, und von den dadiu'ch be-
dingten Preisbewegungen hängt die Rente
der betreffenden Bergwerke ab. So finden
wir, dass bei einem westfälischen Kohlen-
bergwerk in 15 Jahren die Dividende von
IV2 bis 19 ®/o geschwankt hat. Im allge-
meinen aber hat man bei jedem einzelnen
Bergwerke mit gegebenem Felde auf die
Dauer eine Abnahme mid endlich das vöUige
Verschwinden der Rente zu erwarten. Denn
auch abgesehen davon, dass die Ab-
schi'eibungen wegen des Substanz Verlustes
häufig nur auf ungenauen Schätzungen be-
nihen und in der günstigen Periode dos
Betriebes nicht immer hoch genug ange-
setzt werden, wird der Betrieb selbst in
der Regel wegen der zvmehmenden Tiefe
der Gruben, der steigenden Schwierigkeit
der Föi*denmg und Wasserhaltung etc. all-
mählich immer teuerer, und diese Mehr-
kosten gehen von der Rente ab. Wenn
allerdings die reichen und leicht abzu-
bauenden Lager des betreffenden Minerals
überall erschöpft wären, so könnte die Rente
einzelner Gruben trotz der erhöhten Pro-
duktionskosten sich vielleicht behaupten oder
gar bis zur völligen Erschöpfung wieder
zunehmen.
Bemerkenswert ist noch in betreff der
Bergwerksi*ente, dass sie häufig mit yjelu*
oder weniger vollständigen Monopolbildungen
in Zusammenbang steht. Die landwirtschaft-
lichen Produkte werden im allgemeinen in
zu grosser Massenliaftigkeit und in zu vielen
Gnmdrente
877
Einzeliinternehmnngen erzeugt, als dass eine
planmässige gemeinschaftliche Preisstelliing,
sei es von Seiten der Produzenten oder der
Händler, mit nachhaltigem Erfolge ausführ-
bar wäre. Monopolpreise kommen daher
nur für ganz lokale Produkte dieser Klasse
(z. B. feine AVeine) vor. Der Bergwerksbe-
trieb ist aber in der neueren Zeit meistens
in der Hand einer verhältnismässig kleinen
Zahl grosser Gesellschaften und Cnternehmer
koncentriert, und es vnvd daher eine ge-
meinschaftliche Taktik zur Behauptung oder
Erhöhung des Preises des Produktes mög-
lich, wodurch für die günstig stehenden
Unternehmungen eine monopolistische Steige-
ning ihrer Rente entstehen kann. Gewisse
Mineralstoffe werden überhaupt an so
wenigen Stellen und in so massiger Menge
gefimden, dass die ganze Produktion von
einem oder wenigen mächtigen Kapitalisten
behen'scht werden kann. So besass das
Londoner Haus Rothschild längere Zeit
durch Vereinbarung mit den staatlichen
Bergwerken von Ümaden und Idria ein
förmliches Monopol für Quecksilber. Auch
das Zinn ist ein im monopolistischen Sinne
»leicht zu handhabender Artikel«, wie ein
grosser Londoner Spekulant sagte. Eine
Monopolisierung des Kupfers wunle bekannt-
lich im Jahre 1887 und 1888 mit vorüber-
gehendem Erfolge versucht, und die damalige
bedeutende Preissteigerung desselben kam
keineswegs bloss dem spekulierenden Syn-
dikat zu gute, sondern trieb auch die Rente
der guten Kupferbergwerke während einiger
Jahre bedeutend empor. Nur bei den als
allgemein anerkannte Geldstoffe dienenden
Edelmetallen, also eigentlich gegenwärtig
nur noch bei dem Golde, ist trotz der kleinen
Menge der jährlichen Gesamtpi-oduktion keine
monopolistische Beeinflussung dos Verkehrs-
wertes möglich, weil eben die Jahrespro-
duktion im Vergleich zu der als Geld im
Verkehre befindlichen Masse des Metalls
nur gering ist und daher eine Zurückhaltung
des neugewonnenen Goldes keine merkliche
Werterhöhung desselben bewirken könnte.
Im übrigen zeigt sich bei der Goldproduktion
in den nebeneinander bestehenden Betrieben
die längste und mannigfaltigste Reihe der
Abstufungen der Bergwerksrente, von den
zahlreichen mit Zubusse arbeitenden Gruben
Amerikas imd Australiens bis zu der Morgan-
Mine in Queensland und anderen Gruben,
aus denen mit geringen Kosten enorme
Schätze gehoben wurden. Freilich sind diese
reichen Erträge im allgemeinen • rasch vor-
übergehende Erecheinungen : aber auch wenn
eine solche Bonanza-Mine völlig erschöpft
ist, bleibt das kolossale üebergewicht des
Gesamtertrages über die Gesamtkosten mit
Einschluss des üblichen Gewinnes von dem
wirklich verwendeten Kapital als Mass der
hier entstandenen GKnindrente bestehen, was
freilich nicht ausschliesst, dass die letzten
Aktionäre, die ihre Anteile vielleicht zu
hohen Preisen gekauft haben, nicht nur
keinen Anteil an diesem Rentengewinn er-
halten, sondern bedeutenden Verlust er-
leiden.
2. Die Kapitalisierung und die privat-
wirtschaftliche Ausgleichnng der G.
Da der Eigentümer eines Grundstückes durch
die von diesem, sei es bei Selbstbewirt-
schaftung, sei es bei Verpac^htung, abge-
worfene Grundreute ein Einkommen erliält,
so lässt sich auch stets für diese Rente ein
Kapital wert bestimmen, mit welchem sie
in den gegenwärtigen Gesamtwert des Ver-
mögens des Besitzers eingeht Die Art
der Berechnung dieses Kapitalwertes wird
natürlich von den wahrscheinlichen Aus-
sichten auf künftige Erhöhung oder Er-
niedrigimg des jährlichen Rentenbetrags
abhängen. Nimmt man den letzteren als
dauernd konstant an, so wird der Kapitali-
sierungsfaktor mindestens dem Zinsfusse
entsprechen, der bei den allersichersten
Kapitalanlagen üblich ist, häufig sogar noch
darüber hinausgehen, wenn z. B. das mit
einem Gnind besitz verbundene Ansehen und
andere nicht wirtschaftliche, aber doch all-
gemein anerkannte Vorteile neben der in
Geld einziehbaren Gnmdrente mit in An-
schlag gebracht werden. Darf man auf ein
künftiges Steigen der Grundrente rechnen,
so wird man den Kapitalisienmgsfaktor
schätzunpweise entsprechend höher an-
setzen; ist Abnahme und schliesslich Ver-
schwinden der Rente zu erwarten, so muss
bei rationeller Wirtschaft von ihrem Betrage
jährlich soviel abgezogen und ziu^ckgelegt
werden, dass aus diesen Amortisationsciuoten
und ihren Zinsen beim Aufhören der Rente
der ursprüngliche Kapital wert derselben
wieder hergestellt wird. — Das Rente
bringende Grundstück ist also vom privat-
wirtschaftlichen Standpunkte einfach ein Teil
des Kapitalvermögens, der sich von
dem übrigen Kapital in seiner privatwirt-
schaftlichen Eigenschaft nicht wesentlich
unterscheidet, besonders wenn auch der
Verkehr mit Grundstücken von den ihn
früher vielfach hemmenden Fesseln befreit
ist. Wird das Grundstück wirklich ver-
kauft, so mag freilich der vom Eigentümer
geschätzte Kapitalwert desselben nicht imnier
realisiert werden, zuweilen aber auch eine
Ceberschreitung desselben sich ergeben. Es
kommt hier einerseits auf die Verscliieden-
heit der subjektiven Schätzung der Zu-
kunftsaussichten, andererseits aber auf das
mehr oder weniger dringende Bedürfnis der
Verkäufer nach gegenwärtig flüssigem Ka-
pital an, da sich nach diesem Bedürfnis
der Zinsfuss bemisst, nach welchem die
878
Grundrente
Zukunftswerte auf die Gegenwart diskontiert
werden. Bei Expropriationen hat der Eigen-
tümer berechtigten Anspruch auf vollen Er-
satz des gegenwärtigen Wertes der wahr-
scheinlichen künftigen Werterhöhung des
Grundstücks. Die Ausfiihrung des von
Gossen aufgestellten Plans einer allgemeinen
Verstaatlichung des Grundeigentums, nach
welchem die Amortisierung des Kaufpreises
durch die weitere Steigerung der Grund-
rente gedeckt werden soll, würde daher,
wie schon Walras bemerkt hat, keineswegs
mit einer den heutigen privatrechtlichen
Anschauungen entsprechenden vollstän-
digen Entschädigimg der Grundeigentümer
verbunden sein können.
Wenn nun der ursprüngliche Besitzer
eines Kente einbringenden Grundstückes
dieses für einen Preis verkauft hat, der
ausser dem übrigen Werte desselben (wegen
der Meliorationen, Gebäulichkeiten etc.) auch
den vollen Kapitalwert der Grundrente ein-
schiesst, so wird diese letztere in dem Ein-
kommen und Vermögea des neuen Besitzers
vollständig aufgewogen dm-ch den Zins-
verlust, den er infolge der Hingabe des
betreffenden Kapitalteiles erleidet Wenn
andererseits der Verkäufer die als kapitali-
sierte Grundrente empfangene Summe ver-
schwendet oder auf andere Art verliert, so
hat schliesslich niemand mehr in privat-
wirtschaftlichem Sinne einen erkennbaren
Vorteil von dieser Grundrente. Dennoch
besteht dieselbe im volkswirtschaftiichen
Sinne unverändert fort, sofern die objektiv
vorhandene besondere Tauglichkeit eines
Grundstücks für eine gewisse Art der Pro-
duktion oder des Verkehrs nach wie vor
ihre Wirkung ausübt. Aber auch privat-
wirtschaftlich fällt die Grundrente dem
neuen Besitzer wirklich zu, nur wird seine
Vermögenslage dadurch nicht verbessert,
weil er sie eben nach ihrem vollen Werte
bezahlt hat. Das Verhältnis ist im wesent-
lichen das gleiche, wenn der ursprüngliche
Besitzer eine Schuld aufnimmt, deren Ver-
zinsung die Gnindrente verzehrt ; die letztere
bleibt dann allerdings äusserlich erkennbai-
in der jährlichen Zinszahlung an den Gläu-
biger, doch hat aiich dieser, wenn das dar-
geliehene Kapital dem wirklichen Werte der
Kente entspricht, keine Verraögensverbesse-
nmg erlangt. Privalwirtschaftliche Kapital-
gewinne durch neue Entstehung von Grund-
renten unter den Händen eines Besitzers
kommen bei dem landwirtschaftlichen Boden
in den alten Kulturländern fast nur noch
in dem Falle vor, wenn das Land viele
Jahrzehnte hindurch sich in derselben
Familie vererbt. Beim Bergbau finden
rentenerzeugende neue Aufsclüüsse imd
Entdeckungen auch in den alten Ländern
noch immer statt: man denke z. B. an den
Stassfurter Bezirk. Gewöhnlich aber werdea
solche neuen Bergwerksanlagen als Grün-
dungsobjekte an Aktiengesellschaften zu
einem Preise übertragen, durch den die
Grundrente gänzlich ausgeglichen wird.
Weitaus am häufigsten aber findet sich die
rasche Entstehung von Glücksrenten in den
grossen Städten, wo dann die Baustellen
einen oft enormen Kapitalwert erhalten.
Aber hier findet auch meistens ein rascher
Besitzwechsel der Bauplätze und Häuser
statt, und wenn diese in feste Hände ge-
langen, so bringt die Miete dem Eigentümer
meistens nur noch den normalen Gewinn
aus dem als Kaufpreis angelegtrin Kapital
ein. üeberhaupt tritt die Grundrente unter
den heutigen Verhältnissen hauptsächlidi
als Gegenstand der Spekulation hervor.
Sie bildet für den Unternehmungsgeist ein
wirksames Anregungs- und Lockmittel, giebt
aber andererseits nicht selten Veranlassung
zu Missbräuchen und Schwindel Im ganzen
aber geht in der modernen Volkswirtschaft
die Tendenz dahin, dass die natürlichen Vor-
züge der Beschaffenheit, des Inhalts oder
der Lage der Preduktionsstätten durch einen
entsprechend grösseren Kapitalansclüag aus-
geghchen werden, so dass schliesslich die
einzelnen Unternehmer trotz der natürlichen
Verschiedenheit ihrer wirtschaftlichen Lage
doch annähernd denselben verliältnismässigen
Gewinn aus dem von ihnen angelegten
Kapital erzielen. Dabei betrachten sie
meistens den für den Boden als solchen
bezahlten Preis ebenfalls als eigentliche
Kapitalanlage, erwarten also von demselben
nicht bloss den einfachen Zins, sondern den
normalen Kapitalgewinn, was insoweit be-
rechtigt ist, als die Grundrente unter den
heutigen Verhältnissen erheblichen Schwan-
kungen und Rückschlägen unterworfen, das
für den Boden verausgabte Kapital also
einem entsprechenden Risiko ausgesetzt ist.
Daher der so häufige Fall, dass der Käufer
eines Landgutes nur einen massigen Bnich-
teü des Preises bezahlt und den Rest als
Hypothekenschuld stehen lässt, indem er
erwartete, dass ihm auch dieser Kapitalteil
einen Ueberschuss über die von ihm zu
bezalilenden Zinsen einbringen werde. Unter
den heutigen Verhältnissen, bei rückläufiger
Bewegung der landwirtschaftlichen Grund-
rente in den alten Ländern, erweist sich
diese Rechnung freilich oft als ein ver-
hängnisvoller Irrtum. Doch wenlen auch
jetzt noch Bauernstellen und Landparzellen
zu Preisen gekauft, bei denen das ani2:elegte
Kapital nicht einmal den für die sichersten
Anlagen geltenden Zinsfuss abwirft, weil
die kleinen Bauern in dem Grundbesitz
hauptsächlich ein Mittel zur Verwertung
ihrer Arbeitskraft sehen imd, wie Brentano
hervorhebt, überhaupt nicht kapitalistisch
Grundrente
879
rechnen. Auch weist Brentano darauf hin,
dass sich bei der mittelalterlichen Agrar-
verfassung und der damaligen Verschieden-
heit der Standesrechte die der Grundrente
entsprechenden Abgaben und Dienste nach
anderen Gnmdsätzen bestimmten als die
heutige kapitalistische Pachtrente, die übri-
gens ja normaler Weise immer grosser ist
als die eigentliche Grundrente. Indes
hätte man auch unter den mittelalterlichen
Verhältnissen eine von der wirklichen
Leistung des Landbebauers unabhängige,
auf der verschiedenen Beschaffenheit und
Lage der Gnmdstücke beruhende, gewisser-
massen objektive Grundrente theoretisch
aussondern können.
Die Vorstellung der Verstaatlichung des
gesamten Bodens eines Landes, obwohl
praktisch bedeutungslos, ist immerhin ge-
eignet, das Wesen der Grundrente näher zu
beleuchten. Wenn ein grosser Unternehmer
mehrere Betriebe von verschiedener Renta-
bilität unterhält, so kann er zwar buch-
mässig den Grundrentenertrag eines jeden
einzelnen besonders feststellen, aber für sein
Gesamteinkommen und seine gesamte privat-
wirtschaftliche Vermögenslage besteht ^enau
dasselbe Verhältnis, als wenn jeder Emzel-
betrieb eine gleiche Rente von einem mitt-
leren Betrage ergäbe. Beispiele dieser Art
im grössten Massstabe haben wir in den
modernen Staatsbahnsystemen, wenn wir
hier davon absehen, dass sich die Vorzugs-
renten der Eisenbahnen nicht vollständig
auf Gnmdrenten im eigentlichen Sinne zu-
rückführen lassen. Miänche Linien eines
solchen Systems würden für sich allein be-
trieben eine ungewöhnlich hohe Rente über
den normalen Eapitalgewinn hinaus ab-
werfen, während andere vielleicht nicht ein-
mal die Betriebskosten decken würden.
Nehmen wir aber an, dass auch die am
wenigsten ergiebigen Linien noch die Ver-
zinsung und Amortisation des in ihnen an-
gelegten Kapitals einbringen, so wtlrde der
Staat von seinem ganzen Betriebe noch
einen üeberschuss erzielen, der den Cha-
rakter einer Gnindrente trüge und der bei
zersplittertem Privatbetriebe sich auf die
Aktionäre der besonders vorteilhaften Linien
verteilen würde. Der Staat aber wäre, we-
nigstens theoretisch, imstande, auf diesen
Rentengewinn zu vernichten und daher durch
allgemeine Herabsetzung der Tarife der
Gesamtheit einen wirtschaftlichen Vorteil
zuzuwenden, wobei dann die §phlechten
Linien thatsächlich Zuschüsse erfordern
würden. In ähnlicher Weise könnte, wenn
wir das Phantasiebild der Bodenverstaat-
lichung gelten lassen, theoretisch diurch
Abschneidung der Grundrente eine Herab-
setzimg des Preises der landwirtschaftlichen
Prorlukte erfolgen, unter der Voraussetzung,
dass der Staat selbst die ganze Landwirt-
schaft als ein einziges Riesenunternehmen
betriebe und nicht etwa die einzelnen Güter
verpachte. Im letzteren Falle müsste der
Preis so hoch bleiben, dass auch die Päch-
ter der unter den ungünstigsten Bedingungen
stehenden Ländereien noch den normden
Gewinn aus ihrem Betriebskapital erzielen
könnten, und dadurch würde ja für die
besseren Grundstücke eine Vorzugsrente
entstehen, gleichviel, ob diese den Pächtern
bliebe oder etwa durch eine besondere.
Steuer vom Staate eingezogen würde. Bei
der ersteren Annahme aber würde der Staat
als einziger selbständiger Unternehmer die
Preise des Getreides, des Fleisches etc. so
weit herabsetzen können, dass er im ganzen
nur die Verzinsung und Amortisation seines
angelegten Kapitals erhielte; das Deficit,
das sich bei diesen Preisen aus der Bewirt-
schaftung der untersten Klassen der Län-
dereien ergeben müsste, würde durch die
bei den besseren Klassen noch bleibenden
Ueberschüsse ausgeglichen. Wenn freilich
der Staat bei der Expropriation des Grund-
besitzes den Kapitalwei*t der Grundrente
herausgezahlt hätte, so wäre sein neues
Eigentum so schwer belastet, dass er erst
nach Tilgung eines bedeutenden Teiles seiner
Schuld zu einer Erniedrigung des Preises
seiner Erzeugnisse übergehen könnte. Setzt
man aber in dieser idealen Staatswirtschaft
lediglich die bei der Behandlung der Grund-
rententheorie in den Einzelwirtschaften an-
genommenen Verhältnisse voraus, so kommt
für sie nur das Kapital im eigentlichen
Sinne (Meliorationskapital, Gebäulichkeiten,
Inventar, umlaufendes Kapital) in Rechnung,
und es erscheint also dann als theoretisch
möglich, den Gesamtpreis der Produkte um
den vollen Betrag der bei Privateigentum
bestehenden Grundrente zu vermindern. Der
Satz, dass die Grundrente keinen Bestand-
teil des Preises der Bodenprodukte bilde,
dass dieser Preis vielmehr sich unabhängig
von der Gnindrente bestimme und seiner-
seits erst die Grundrente hervorrufe, ist
also theoretisch (und zwar nur mit einer
unten noch zu erwähnenden Beschränkung)
nur für die bestehende Wirtschaftsordnung
mit privatem Gnmdeigentum richtig, wie
dies auch Röscher nach ümpfenbach nervor-
hebt, und man darf daneben den Satz auf-
stellen, dass infolge dieser Ordnung der
Gtesamtpreis der Boden produkte um den
Gesamtbetrag der Grundrente höher steht,
als er sich theoretisch in einem idealen
einheitiichen Betriebe stellen könnte, in dem
im übrigen die Verwendung von Kapital
und Arbeit imgeändert bliebe.
3. Das monopolistische Element in
der G. Dies führt zu der Frage, wie weit
die Grundrente auf einer Monopol Wirkung.
880
Grundrente
beruhe, die durch die ausschliessliche An-
eignung eines nur in beschränktem Masse
vorhandenen Produktionsfaktors entstehen
kann. Wenn gewisse von vielen begehrte
Erzeugnisse nur an einer einzigen Stelle
gewonnen werden können, wie besonders
feine Weinsorten oder besonders wirksame
Mineralwasser, so gehen die Besitzer dieser
Produktionsstellen ohne Zweifel mit ihrem
Preise so hoch, dass sie bei noch weiterer
Steigerung durch die Abnahme des Ab-
satzes mehr verlieren als gewinnen w^iirden,
d. h. sie stellen Monopolpreise und erhalten
in diesen eine mehr oder weniger bedeutende
Grundrente. Der Kapitalwert dieser Grund-
rente bildet offenbar, wenn wir von der
etwaigen Ausfuhr des Produktes absehen,
keine objektive Yermehrung des National-
reichtmns, sondern ihm entspricht eine Be-
lastung der Konsumenten, die in dem Mo-
nopolaufschlage des Preises ebensoviel ver-
lieren, als der Monopolinhaber an unge-
wöhnlichem Gewinn erhält. Dasselbe gilt
von dem Werte der aussergewöhnlich
günstig gelegenen Baustellen in grossen
Städten, da die hohe Grundrente, die der
Eigentümer der auf solchen gebauten Häu-
ser bezieht, durch eine ungewöhnlich hohe
Belastung der Mieter entsteht. Die Mieter
halten sich wieder als Geschäftsleute häufig
durch hohe Preise ihrer Waren, also eben-
falls auf Kosten des Publikums schadlos,
in vielen Fällen aber ermöglicht die güns-
tigere Lage einen rascheren Umsatz und
dadurch einen gi*üsseren Gew^inn ohne Er-
höhimg der Wai'en preise im Vergleich mit
anderen ähnlichen Geschäften. Die Vor-
zugsrente für den Grundbesitzer bleibt je-
doch auch dann ebenso bestehen wie bei
einem besonders fruchtbaren Grundstücke :
Denn wenn beliebig viele Geschäfte in
gleich günstiger Lage gegründet werden
könnten, so würde deren Konkurrenz den
Warenpreis soweit herabdrücken, dass nur
der normale Kapitalgewinn übrig bliebe.
Bei den für den gewöhnlichen Landwirt-
schaftsbetrieb benutzten Grundstücken kann
unter den heutigen Verhältnissen noch nicht
von dauernden eigentUchen Monopolen die
Rede sein, weil noch immer neue Konkur-
renz durch die Erleichterung des Transports
aus fernen Ländern hinzutreten und die von
den begünstigten Grundstücken erreichte
Kente wieder herabdrücken kann ; immerhin
aber wird bei fortwährend zunehmender
Bevölkerung die Nachfrage schliesslich
stärker wachsen als das Angebot der zu
der gegebenen Zeit bestehenden Betriebe,
deren Zahl wegen der Beschränktheit des
guten und günstig gelegenen Bodens in
jedem Ijande niu* durch solche vermehrt
w^erden kann, die unter ungünstigeren Be-
dingimgen arbeiten. Zunächst können dann
die bestehenden Unternehmungen eine Mo-
nopolstellung ausnutzen und den Preis ihrer
Erzeugnisse erhöhen; bei einem gewissen
Punkte wird jedoch dieser Bewegung Halt
geboten, indem nunmehr eine neue, weniger
günstig gestellte Konkurrenz eintritt und
das Gleichgewicht zwischen Angebot und
Nachfrage bis auf weiteres herstellt. Jene
Preissteigerung aber, die eine Erhöhung der
Grundrente für die bevorzugten Be&ebe
erzeugt hat, ist keineswegs einfach automa-
tisch, bei völlig passivem Verhalten der be-
günstigten Produzenten, sondern unter eif-
riger Mitwirkung dieser letzteren entstanden,
die den Preis so hoch wie irgend möglich
emi)orzubringen suchten.. Nicht selten ent-
steht übrigens der Kapitalvermögenswert
eines Grundstückes nicht durch Kapitali-
sierung eines bereits vorliandenen Renten-
ertrages, sondern unmittelbar durch die
Schätzung eines erst zu erwartenden
Nutzungsw^ertes mit Berücksichtigung der
Seltenheit gleichartiger oder gleichgelegener
Grundstücke, also eines relativen Monopol-
verhältnisses. Daher haben in dicht bevöl-
kerten Ländern auch die gänzlich unbe-
nutzten und für jetzt noch gänzlich un-
brauchbaren Grundstücke einen Preis,
weil sie möglicherweise in der Zukunft
einmal auf irgend eine Art nutzbar ver-
w^endet werden können. Von den möglichen
Monopolen im Bergwerksbetrieb ist schon
oben die Rede gewesen. — Ein relativ
monopolistisches Element ist also ohne
Zweifel bei der Entstehung der Grundrente
mit wirksam, und wenn, sie den Nominal-
betrag des Nationaleinkommens erhöht, so
erzeugt sie doch objektiv nm* eine Aende-
rung der Güterverteüung zu Gunsten der
Renteninhaber auf Kosten der höhere Preise
bezahlenden Konsumenten. Aber die Preis-
bildung nach den Kosten unter den un-
günstigsten Bedingungen, unter denen zur
Befriedigimg des Bedarfs noch produziert
werden muss, ist nun einmal unabänderlich,
wenn Grund und Boden im Privateigentum
stehen, und demnach lässt sich zur Recht-
fertigung der Grundrente alles das geltend
machen, was für das private Grundeigentum
spricht. In neuen, noch nicht vollständig
der Kultur unterworfenen Ländern spielt
auch die landw^irtschaftliche Gnmdjrente
noch eine bedeutende Rolle als Reizmittel
für die wirtschaftliche Energie imd Unter-
nehmungslust. Wer aber an dem monopo-
listischen Element der Grundrente Anstoss
nimmt, mag die bereits erwähnte That-
sache erwägen, dass die positiven privat-
wirtschaftlichen Monopolgewinne in der
Regel nur als vorübergehende Erscheinungen
auftreten imd die Grundstücke mehr oder
weniger rasch in die Hände von Eigen-
tümern gelangen, die wegen des bezahlten
Grundrente
881
hohen Preises privatwirtschaftlich von dem
monopolistischen Element der Grundrente
keinen Vorteil mehr haben. Nimmt die
Grundrente im Laufe der Zeit stärker zu,
als bei dem Verkauf des Grundstückes ver-
mutet worden ist, so fällt dieses Mehr
allerdings dem Erwerber als eigentlicher
Rentengewinn zu, mid erst bei der folgen-
den Veräusserung wird dem neuen Käufer
durch den höheren Preis, den er filr das
Grundstück zu bezahlen hat, dieser Mehr-
gewinn privatwirtschaftlich wieder entzogen.
Bei dieser privatwirtschaftHchen Ausglei-
chung der Grundrente bleibt aber als volks-
wirtschaftliche Wirkung derselben bestehen,
dass für die unter günstigeren Bedingungen
produzierten Güter trotz der geringeren
Erzeugungskosten derselbe Preis gezalüt
werden muss wie für die gleichartigen
Produkte, die unter den ungünstigsten Be-
dingungen und mit den höchsten Kosten
hergestellt worden sind. Ob die die Grund-
rente erhöhende Preissteigerung der Boden-
produkte und der Wohnungen eine Herab-
drückung der Lebenshaltung der Arbeiter
nach sich zieht oder ob diese durch eine
Lohnerhöhung vermieden, dafür aber der
Kapitalgewinn um diesen Lohnzuschlag ver-
mindert wird, hängt von dem jeweiligen
ökonomischen Machtverhältnis des Kapitals
und der Arbeit ab. Fassen wir Kapital
und Arbeit zusammen, so wächst der Ge-
samtanteil dieser beiden Faktoren an dem
Nationalprodukt im allgemeinen mit der
Bevölkerung und mit der Steigerung
der Produktivität der Arbeit durch Vervoll-
kommnung der Technik. W^ieweit mm trotz
dem durdi die Volksvermehrung ebenfalls
bedingten Wachsen der Grundrente sich
noch eine Zunahme dieses Gesamtanteils
von Kapital und Arbeit ergiebt, hängt von
den konkreten geschichtlichen und natür-
lichen Verhältnissen der einzelnen Länder
ab und lässt sich nicht auf einen allgemein-
giltigen Ausdruck bringen. Malthus be-
hauptet, dass die Quote des Gesamter-
trages des Bodens, die als Grundrente ab-
islle^ bei Ausdehnung des Anbaues immer
kleiner werde. Dieser Satz aber ist, selbst
mit dem beschränkenden Zusätze »wenn
nicht durch ausserordentliche Verbesserun-
gen des Anbaues im anderen Sinne gewirkt
wtlrde«, im allgemeinen falsch, wenn der
Preis der ganzen Masse des erzeugten Ge-
treides nach und nach immer mehr steigt
und zur Ernährung der Bevölkerung
schlechtere Bodenklassen in Anbau genom-
men werden müssen. Jene Quote nimmt
dann mit jeder neuen absteigenden Produk-
tionsstufe mehr oder weniger zu. Nur so-
lange der Preis nicht steigt, weil noch
immer mehr Land der jeweiligen letzten
Bodenklasse zur Befriedigimg der Nach-
Handwörterbnch der St-aatswissenschaften. Zweite
frage der wachsenden Bevölkerung benutzt
werden kann, nimmt der auf die Grund-
rente entfallende Bruchteil des Gesamter-
trages einigermassen ab, weil dann auch
die absolute Grösse der Grundrentensumme
nicht steigt.
4. Ueberaicht der Entwickelung der
Lehre von der G. Die Grundrente beniht
auf der Occupation eines in seiner gegebe-
nen Art in beschränktem Masse vorhande-
nen natürlichen Produktionsfaktora , der
Kapitalgewinu dagegen auf der Verfügung
über produzierte Produktionsmittel, die,
praktisch betrachtet, in unbeschränkter
Menge hergestellt werden können. Die
volkswirtschaftliche Theorie hat diesen
wichtigen Unterschied der beiden Einkom-
menszweige schon in ihrer ersten Ent-
wickelungsperiode instinktiv empfunden,
aber dennoch lange Zeit nicht zu einem
klaren Ausdruck bringen können. Einige
Keime des Rentenprincips finden sich, wie
Röscher bemerkt hat, schon bei Bois-
guillebert. Die Physiokraten be-
trachten die Natur, insbesondere den Boden
als den alleinigen wirklichen Produktions-
faktor; dieser allein soll einen Ueberschuss
über die Produktionskosten liefern. So
kamen sie schon zu der Anschauung, dass
die Gnmdrente keinen Bestandteil des Ge-
treidepreises bildet, wie deutlich aus einigen
von Leser angeführten Stellen hen-orgeht.
Der Landwirt hat nach physiokratischer
Anschauung den Ueberschuss, der ihm nach
Abzug der Produktionskosten bleibt, an den
Grundeigentümer für die Erlaubnis, dessen
Land zu benutzen, abzugeben. Dabei wird
zwischen der eigentlichen Grundrente und
dem Pachtzins noch kein Unterschied ge-
macht. Auch Adam Smith setzt die
Grundrente gleich dem Pachtzins und lässt
den Fall der Bewirtschaftung des Bodens
durch den Eigentümer selbst ganz ausser
Betracht. In Bezug auf das Verhältnis der
Grundrente zum Preise drückt er sich im
6. Kapitel des ersten Buches missverständ-
lich aus, später aber (Kapitel 11) sagt er,
wie schon Koscher hervorgehoben hat, mit
bestinmiten Worten, dass hohe oder niedrige
Rente die Wirkung eines hohen oder
niedrigen Preises der Produkte sei, wälirend
hoher oder niedriger Kapitalgewinn xmd
Lohn die Ursache des hohen oder niedri-
gen Preises seien. Dieser Satz ist in einem
gewissen Sinne richtig, nur verdeckt er,
wie schon oben angedeutet, zu sehr die
taktische Mitw^irkung der Besitzer des be-
günstigten Bodens bei der Preissteigerung.
Dass die Nahrungsmittel überhaupt einen
über die Produktionskosten hinausgehenden
Preis erlangen können, erklärt Smith diu-ch
die besonders starke Nachfrage, die für sie
im Vergleich mit den weniger nichtigen
Auflage. IV. 56
882
Grundrente
Waren bestehe. Auf die Verschiedenheit
der Beschaffenheit und Lage des Bodens
gegenüber dem gleichen Marktpreise des
Produkts nimmt er in betreff der landwirt-
schaftlichen Produktion keine Rücksicht,
dagegen hebt er die verschiedene Ergiebig-
keit der Bergwerke hervor und sagt bei
dieser Gelegenheit, dass die reichhaltigste
Kohlengrube den Kohlenpreis für alle an-
deren Gruben in der Nachbarschaft be-
stimme, weil diese bei solcher Konkurrenz
nicht iui stände wäre, zu einem höheren
Preise zu verkaufen. Dieser Satz wider-
spricht zwar der Ricardo'schen Theorie, ist
aber praktisch häufig durchaus zutrefiend,
weil nicht einmal für Kohlen und Eisen,
noch weniger aber für die übrigen Berg-
werkserzeugnisse ein auch nur annähernd
fest bestimmter Bedarf besteht, wie dies
für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse bei
gegebener Bevölkerung der Fall ist, imd
weil andererseits die reichen Bergwerke
weit mehr als die landwirtschaftlichen Be-
triebe imstande sind, ihre Produktion rasch
auszudehnen. Für sie kann es daher unter
Umständen lohnend sein, durch billiges An-
gebot die schwächeren Konkurrenten zu
verdrängen, um später aus einer wenigstens
zeitweihgen Monopolstellung einen desto
grösseren Gewinn zu ziehen. Durch Ver-
einigung mehrerer bedeutender Zechen
können solche Operationen in CTOssem Mass-
stabe ausgeführt werden. — Der erste, der
die Rententheorie in ihren wesentlichen
Punkten richtig erkannte, war Adam Smiths
Zeitgenosse James Anderson, der in
mehreren Schriften das Grundprincip der-
selben darlegte, dass das auf Boden von
verschiedener Fruchtbarkeit erzeugte Ge-
treide verschiedene Produktionskosten er-
fordert und doch den gleichen Marktpreis
erhält, und zwar denjenigen, bei dem die
Kultur auf dem unfruchtbarsten Boden zur
Befriedigimg des Bedarfs aufrecht erhalten
werden kann. Er sah in der Gnindrente
einen nützlichen Antrieb zu Meliorationen,
durch die sie sich erhöhen lasse, ohne dass
der Getreidepreis zu steigen brauche. Da-
bei rechnete er aber den Gewinn aus dem
Meliorationskapital mit zur Grundrente, was
dem richtigen Bcgi'iff derselben nicht ent-
spricht, und er nimmt irrtümlicherweise an,
dass der Ertrag der verschiedenen Boden-
klassen durch Meliorationen nach Verhältnis
ihres verschiedenen bereits vorhandenen Er-
trags gesteigert werde imd dass der noch
angebaute unfnichtbarste Boden überhaupt
nicht melioriert werden könne. Allerdings
winl dieser infolge der Melioration keine
Grrundrente abwerfen, aber er kann bei dem
gegebenen Preise der Einheit des Produktes
durch Vermehrung der Menge desselben
den normalen Gewinn aus dem Meliorations-
kapital liefern. Andersons theoretische An-
sichten wurden wenig beachtet, weil er sie
nur gelegentiich bei der Erörterung prak-
tischer agrarpolitischer Fragen vorbrachte.
So vergingen fast 40 Jahre, bis die richtigen
Anschauungen über die Grundrente sich
endlich Bahn brachen. Es geschah dies
zuerst diu-ch die im Jahre 1815 erschiene-
nen Schriften von Torrens, John West und
Malthus. Insbesondere ist es Malthus,
wie Leser nachgewiesen hat, der in der
Broschüre Jnquiry into the nature and pro-
gress of rent die Grundrententiieorie in
ihrer klassischen Form vollständig zum Ab-
schluss gebracht hat. Ricardo hat dies
in seiner (ebenfalls noch 1815 erschienenen)
Schrift über den Einfluss der niedrigen
Kompreise auf den Kapitalgewinn auch aus-
drücklich anerkannt und in seinen Principles
of political economy in keiner Weise be-
stritten. Wenn gleichwohl die Theorie all-
gemein nach ihm benannt worden ist, so
rührt dies wohl hauptsächlich daher, dass
er sie in eleganter Fassung an ihrem rech-
ten Platze in seine mit Recht bewunderte
abstrakte Volkswirtschaftstheorie eingefügt
hat. Ergänzt hat er sie in Bezug auf die
Bergwerksrente, da Malthus seinem Zwecke
gemäss nur die landwirtschaftliche Grund-
rente im Auge hatte. In Deutschland er-
hielt die Grundi-ententheorie eine wesent-
liche Förderung diu*ch J. fl. v. Thünen,
der im genauen Anschluss an die thatsäeh-
lichen Verh^tnisse der Landwirtschaft,
unter Berücksichtigung der Lage und der
Beschaffenheit der Grundstücke, der Be-
triebsart und des Bedarfs der Bevölkerung,
also gewissermassen auf induktivem Wege,
wenn auch auf Grund der Fiktion des
isolierten Staates, die Lehren der abstrakten
englischen Schule bestätigte. Im Gegen-
satze zu dieser nimmt er jedoch an, dass
auch die unterste noch angebaute Boden-
klasse noch Grundrente und nicht bloss
Kapitalgewinn abwerfe, eine Ansicht, die
auch Röscher und andere teilen. Wenn
man indes die bei Ricardo selbstverständ-
liche Voraussetzung annimmt, dass von dem
Boden der letzten Klasse noch üeberfluss
vorhanden sei und jedermann noch solchen
occupieren könne, so erscheint die Auf-
fassung der englischen Schule theoretisch
gerechtfertigt, da freier Boden dieser Art
vor dem Beginn seines Anbaues noch gar
keinen Vermögenswert hat. Stillschweigend
liegt freilich bei Ricardo auch die Annahme
zu Gnmde , dass die Gnmdstücke der
letzten Klasse auch in Bezug auf ihre
Marktlage völlig gleichartig sind. Wenn
indes auch diese Bedingung erfüllt wäre,
so könnte allerdings dadurch , dass der
überschüssige Boden dieser Klasse bereits
im Eigentum einzelner Personen stände,
Grundrente
883
auch für diesen eine Gnindrente erzwungen
werden, indem die Eigentümer denselben
nicht in dem Masse anbauen liessen oder
selbst anbauten, wie es der fortschreiten-
den Nachfrage der Bevölkerung entspräche.
Diese Möglichkeit ist aber eben von fiicardo
nicht vorausgesetzt.
Einen ernstlichen Angriff erfuhr die
Ricardosche Theorie von Carey, der na-
mentlich die Keihenfolge des Anbaues vom
guten zum schlechten Boden bestritt. Die
ersten Ansiedler in einem Lande hätten mit
dem Anbau des schlechtesten, nämlich des
leichten und hochgelegenen Bodens be-
gonnen und erst durch die Fortschritte
ihrer Macht über die Natur seien die Men-
schen in stand gesetzt worden, die frucht-
baren Niederungen unter den Pflug zu
nehmen, die ursprünglich mit schwer zu
rollenden Urwäldern bedeckt waren oder
schwieriger Entwässerungen oder Bewässe-
rungen bedurften. Die geschichtliche Be-
weisführung, die Carey für seinen Satz ver-
sucht, ist für die alten Länder durchaus
imzulänglich ; richtig aber ist es, dass die
Besiedlung neuer Gebiete in vielen Fällen,
aber keineswegs immer mit dem weniger
fruchtbaren, aber leichtei zu bearbeitenden
Boden begonnen hat. Aber für die richtig
aufgefasste Rententheorie kommt es auf die
historische Reihenfolge des Anbaues über-
haupt nicht an. Das wesentliche ist, dass
IVoduktionsbetriebe unter mehr oder weniger
günstigen natürlichen Bedingimgen zu einer
gegebenen Zeit nebeneinander bestehen,
wSirend ihre Produkte den gleichen Preis
haben. Tritt nachträglich etwa noch ein
gewisses Mass von Boden der meistbegüns-
tigten Gattung in Konkiurenz, so wird da-
durch nur die bis dahin bestehende Art der
Rentenbildung geändert, indem eine oder
einige der wenigst begünstigten Bodenklassen
bis auf weiteres gänzlich untauglich zum
Anbau werden und die Rente der besseren
Klassen vermindert wird. Dieselben Folgen
treten ein, wenn von gewissen schon ange-
bauten Bodenflächen infolge von Meliorationen,
neuen Düngungsmitteln etc. mit gleichem
Kapital ein grösserer Naturalertrag mit
gleichen Kosten erzielt werden kann. Wenn
dagegen die Produktivität der landwirtschaft-
lichen Arbeit in der Art stiege, dass auf
der bewirtschafteten Fläche der gleiche
Natiualertrag mit weniger Arbeits-
kräften und ohne eine die Ijohnersparnis
ausgleichende Yermehrung der sonstigen
Kapitalverwendung erlangt würde, so nähme
der Preis der Produkte ab, ohne dass die
Gnmdrente eine .Veränderung erlitte. —
Auch Rodbert US liat Ricardos Renten-
lehre angefochten und diu-ch eine andere
Theorie zu ersetzen gesucht. Um die Un-
haltbarkeit der ersteren zu beweisen, nimmt
er eine vollständig isolierte Insel mit durchaus
gleichartigem Boden an, auf welcher Güter
von gleicher Grösse in gleichem Abstände
von der das Centrum einnehmenden, allein
die Gewerbe betreibenden Stadt liegen.
Unter diesen Umständen soll aber dennoch
Grundrente abfallen. Dies ist auch in der
That möglich, aber eiufacii als Folge des in
diesem Falle monopolistisch wirkenden
Eigentumsrechts der Grundbesitzer. Wenn
der Bedarf der Bevölkerung so gross ge-
worden ist, dass zur Befriedigung derselben
alle Eigentümer ihren gesamten Boden be-
stellen milssen, so ist nicht einmal eine
Koalition nötig, um eine Monopolwirkung
des Grundbesitzes zu erzeugen. Das Bei-
spiel kann aber überhaupt nicht gegen die
Ricardosche Theorie angeführt werden, weil
es eine wesentliche Voraussetzung derselben
ausschliesst, nämlich dos Vorhandensein
von schlechterem Boden, dessen Anbau bei
einem gewissen Preisstande der Produkte
das w^eitere Fortschreiten des Monopol-
gewinnes der begünstigten Besitzer verhin-
dert. In der Wirklichkeit würde übrigens
natürlich an die Stelle des Anbaues von
neuem Boden auf der Insel bei fortwähren-
dem Zunehmen der Bevölkerung die Einfuhr
von Getreide aus vielleicht sehr grosser
Entfernung und mit grossen Kosten
treten. Die eigene Grundrententheorie Rod-
bertus' ist im wesentlichen folgende: Die
von dem Fabrikanten und dem Rohstoff-
produzenten aus dem Werte des fertigen
Produktes bezogenen Gewinnanteile verhal-
ten sich nach der Rodbertusschen Wertlehre
wie die von beiden verwendeten Arbeits-
grössen ; sind diese gleich, so berechnet der
Fabrikant prozentmässig seinen Gewinn auf
ein Kapital, welches gleich ist der von ihm
gezahlten Lohnsumme und dem Wei'te des
gelieferten Rohstoffes; der I^andwirt da-
gegen, der kein Rohmaterial anzuschaffen
braucht, berechnet eben deswegen die gleiche
absolute Gewinngrosse auf ein kleineres
Kapital, der prozentmässige Gewinnsatz
erscheint daher bei ihm grösser als der
normale Kapitalgewinn, und der so sich
herausstellende überschüssige Gewinn ist
eben die Grundrente. Bei dieser Ableitung
ist ausdrücklich vorausgesetzt, dass der
Wert der Rohprodukte sowohl wie der Fa-
brikationsleistung sich lediglich nach der in
den beiden Produktionsabschnitten aufg-e-
wendeten Arbeit bemesse. Rodbertus hat
später aber selbst zugestanden, dass eine
solche Wertbestimmung innerhalb der Pro-
duktionsstufen eines Gutes jiicht stattfindet,
und damit ist, ganz abgesehen von den
sonst noch möglichen Einwendungen, seiner
Theorie der Boden entzogen. — Was die
Erweiterung des Grundrentenbegriffs auf
afle bevorzugten Erwerbsverhältnisse be-
56*
884
Grundrente
trifft, 80 hat schon Buchanan in seiner Aus-
gabe des Werkes von Adam Smith die ersten
Schritte in dieser Richtung gethan ; genauer
ausgeführt wurde diese Anschauung in der
neueren Zeit namentlich von Schaffte. —
Zu den von den neueren Sozialisten und
Halbsozialisten ausgegangenen Angriffen
gegen das Grundeigentum hat natürlich das
monopolistische Element in der Grundrente
vielfache Handhaben geboten. Henry George
nimmt die Ricardosche Theorie ohne wei-
teres an und verlangt daraufhin nicht so-
wohl Aufhebung des privaten Grundeigen-
tums an sich, sondern Abschneidung der
Grundrente mittelst einer Steuer. Er lässt
dabei gänzlich die praktische Schwierigkeit
ausser aclit, dass die Grundrente in Wirk-
lichkeit keineswegs den regelmässigen Fort-
schritt nach dem Ricardoschen Schema auf-
weist, sondern infolge weltwirtschaftlicher
wie lokaler Konjunktiu^n grossen Schwan-
kungen und Rückschlägen unterworfen ist,
die zwar nach dem Leben eines Yolkes be-
messen nur als von kurzer Dauer erscheinen
mögen, aber doch während ganzer Menschen-
alter die Einkommensverteilung imd die
Steuerfähigkeit der Rentenbezieher wesent-
lich verändern können. In eigentümlicher
Weise glaubt Hertzka in seinem Utopien
»Freiland«, wo weder privates noch staat-
liches Grundeigentum, jedoch keineswegs
Kommunismus bestehen soll, die Ausglei-
chung der die Gnmdrente erzeugenden Ver-
schiedenheit der natürlichen Bodenbescliaffen-
heit erwarten zu dürfen. Da sich nämlich
jeder nadi seinem Gutdünken irgend einer
der freUändischen Produktivassociationen
anschliessen kann, so werden die einen be-
sonders guten Boden bewirtschaftenden Ge-
nossenschaften den meisten Zulauf haben,
also ihren Ertrag unter eine grossere An-
zahl von Mitgliedern verteilen müssen, als
es bei den weniger günstig gestellten Gruppen
der Fall ist. Wenn aber auch wirklich alle
eigennützigen Absperrungsneigimgen seitens
der bevorzugten Genossenschaften ausge-
schlossen blieben, so würde dieses System
doch in ^•ielen Fällen daliin führen, dass die
Mitglieder verschiedener Genossenschaften
denselben Ertragsanteil bei ver-
schiedener Arbeitsleisümg erhielten. Denn
schliesslich giebt es für jedes Grundstück
ein Maximum von Arbeit, das auf demselben
rationeller Weise und fnichtbringend ver-
wertet werden kann. Dabei kann aber der
Ertrag desselben noch immer ungewöhnlich
hoch sein. Werden nun noch mehr Arbeiter
auf diesen Ertrag angewiesen, so kann also
die Arbeitszeit des einzelnen vermindert
werden. Wenn aber diese Annehmlichkeit
den Zudrang zu der begünstigten Genossen-
schaft noch weiter beförderte, so würden
die Mitglieder die grössere Musvse sclüiess-
lich mit einer Verminderung ihres Ertrags-
anteils unter das bei den übrigen geltende
Mass erkaufen müssen. So würde also
wieder ein Grund zu Unzufriedenheit und
Reibungen entstehen, ganz abgesehen von
der volkswirtscliaftlich nachteiligen Brach-
legung von Arbeitskraft. — Marx imter-
scheidet zunächst zwei Differentialrenten,
die den Anschauungen der englischen Schule
entsprechen, nämlich bedingt sind durch die
Verschiedenheit der Bodenqualitäten und
durch die verschiedene Produktivität der
gleichen, aber nacheinander auf dasselbe
Grundstück verwendeten Kapital^ssen,
fenier eine absolute Gnmdrente, die allen
Gi-undbesitzern , auch den Besitzern des
schlechtesten Bodens auf Grund ihres
Eigeutiuns zufällt und endlich eine eigent-
liche Monopolrente, die aus dem Monopol-
preis des Produktes entsteht.
Litteratur: Anderson, Inquiry into the natttre
of the com laws, 1777 ; deuUch herausgegeben
mit EinMivng vnd Anmerhingen t'07i L. Bren-
tano : Drei Schrißen über Komgefetze und Grund-
rente, Leipzig 189a. — Torrena, An Essay on
the extemal com trade, 1815, — West, Essay
on the application of capital so land, 1815. —
MaHhu4t, Inqniry mto the nature and progress
of rent, 1815. — Ricardo, On the influence of
a law price oj com on the profUs on stock 1815
(Oeuvres in der Guillaumin sehen SamjnJitng S.
541 ff.); Principles of pol. er., besonders Cap, 11
und XXIV. — d, H, V, Thünen, Der isolierte
Staat, I. Aufl., 1826. — Carey, The Fast, the
Prese^ü and the Future, I848. — Rodbertus,
Zur Beleuchtung der sozialen Frage, 1875 (Ab-
druck des 1850151 erschienenen zireiten und
dritten sozialen Briefes an v. Kirchmann). —
Wolkoff, Oprtseules stir la rente fonciere, 1854-
— BoutTim, Theorie de la rente fonciere, 1867.
— Schäffle, Njtionalokonomische Theorie der
ausschliessenden AbaatzverhäUnisse, 1867. —
Trunk, Geschichte und Kritik der Lehre von
der Grundrente in Jahrb. f. Xat, u. Stat.,
Bd. 6 und 10, 1866 und 1868. — Berens,
Versuch einer kritischen Dogmengeschichte der
Grtmdrente, 1868. — Knies, Der Kredit, IL
Hfilfte, 1879, S. 307 ff. — Leser, Untersuchmtgen
zur Geschichte der Xaiional^konoMie (Malthus
als Entdecker der modernen Grundrentenlehre),
1881. — Lexis, Zur Kritik der Bodbertus' sehen
Theorieen, Jahrb. f. Not. u. Stat. N. F. Bd. IX,
S. 463 ff. — V, Schnllem'SchraUenhofen,
Untersuchungen über Begriff und Wesen der
Grundrente, 1889 (vom Standpunkt der Wert-
lehre der österreichischen Theoretiker). — Ijoria,
La rendita fondiaria e la sua elisione 'naiurale,
1879. — Derselbe, Analisi deüa proprieiä
capitalisia, 1889. (Der Verfasser betrachtet das
private Grundeigentum in Verbindung mit der
Zunahme der Bevölkerung als den entscheidenden
Faktor ßlr die Art der Gäterverteüung überhaupt
und für die ganze Gestaltung des inneren unrt-
schaftlichen Organismus.) — Hertzka, Freiland,
1890, S. 159. — Marx, Das Kapital, II L Bd.,
3. Teil, S. 152 ff. — Diehl, Die Gmndrenien-
theorie im Ökonomischen System von K. Marx,
Jahrb. für Nat. u. Stat. IIL Folge Bd. XVIL
S. ^J?.v/.
Grundsteuer
885
Grnndschnld
ß. Hypotheken- und Grundbuch-
wesen.
GrnndBtener.
I. Allgemeines. Begriff und Natur der
G. 2. Objekt der G. 3. Subjekt der G. 4.
Aufgaben der Veranlagung der G. 5. Aeltere
Methoden der Veranlagung. 6. Moderne Ver-
anlagungsmethode: Eatastrierung der Grund-
stücke. 7. Einleitende Schritte zur Herstellung
des Katasters. 8. Vermessung der Parzellen;
Herstellung von Flurkarten. 9. Berücksichtigung
der Kulturgattnngen. 10. Abechluss der Vor-
bereitungen zur Ertragsschätzung. 11. Die Er-
tragsschätzung im allgemeinen. 12. Ertrags-
kataster oder Wertkataster? 13. Die Ertrags-
schätzung: a) die Aufstellung der Bonitäts-
klassen. b) Die Einreihung der einzelnen Par-
zellen in die Bonitätsklassen. 14. Vollendung
des Katasters. 15 Einhebung der G. 16. Evi-
denzhaltung und B^vision des Katasters. 17.
Nutzen des Katasters für andere als Besteue-
rungszwecke. 18. Kritik der G. 19. Die G.
als üemeindeabgabe. II. DieGesetzgebung
der einzelnen Staaten. A.Deutschland.
20. Preussen. 21. Bayern. 22. Königreich
Sachsen. 23. Württemberg. 24. Baden. 25.
Hessen. B. Ausserdentsche Staaten. 26.
Oesterreich-Ungarn. a) Oesterreich. b) Ungarn.
27. Frankreich. 28. Italien. 29. Grossbritannien.
30. Russland. 31. Vereinige Staaten von Nord-
amerika. 32. Britisch-Indien.
I. Allgemeines.
1. Begriff und Natur der G. Da die
Gewinnung der Erzeugnisse des Bodens
einen der ui-sprünglichsten Zweige der Er-
werbsthätigkeit der Mensehen bildet, so ist
es begreiflieh, dass das Erträgnis dieses Er-
werbszweiges als eine der ältesten Quellen
des Staatsein komraens erscheint. Die Form
der Ausnützung dieser Einuahmsquelle durch
den Staat hat im Laufe der Zeit freilich
häufige und beträchtliche Wandlungen er-
fahren. Auf niedrigeren Stufen der staat-
lichen Entwickelung erfolgte diese Aus-
nützung in anderer Weise als auf höheren.
Dort begegnet uns die Uebernahme eines
Teiles des nationalen Bodens durch den
Staat zur eigenen Bewirtschaftung (Domanial-
wirt Schaft) sowie die Vorbindung der Ver-
pflichtung der Individuen zu verschiedenen
persönlichen und sachlichen Leistungen mit
dem individuellen Besitze von (rrundeigen-
tum (Ijelmswesen , Hörigkeit etc.); auch
das ganze grosse Gebiet der verschiedenen,
auf einzelne Gnmdstücke gelegten und durch
den jeweiligen Nutzniesser oder Kigentümer
derselben aufzubringenden, zur Bestreitung
von Ausgaben für öffentliche Zwecke be-
stimmten Reallasten (Giebigkeiten der ver-
schiedensten Art, Zehnten, Fronden etc.)
^hört hierher. Erst der höher ent^Ääckelte
)taat der Neuzeit mit seiner stramm or-
ganisierten RegieiTingsgewalt beginnt, ent-
sprechend seinem Streben, die Mittel zur
Bestreitung seiner Bedüi-fnisse bei seinen
Angehörigen mit Hilfe eines möglichst ra-
tionell entwickelten Steuereystems aufzu-
bringen, mit den Bemühungen, auch, der
Heranziehung eines Teiles des Bodenertrages
für seine Zwecke nach Möglichkeit die Form
einer nach bestimmten, als die richtigen
angesehenen Grundsätzen eingerichteten
Steuer zu geben. Diese die Ueberweisung
eines Teiles des Bodenertrages an den Staatr
behufs Verwendung für dessen Bedürfnisse
bezweckende Steuer heisst die Grund-
steuer.
Die Grundsteuer ist liiernach diejenige
Steuer, welche der Staat auf den Ertrag des
seinen Angehörigen zur Verfügimg stehenden
Bodens gelegt hat. Sie ist also eine Er-
tragssteuer, d. h. eine Steuer, welche ohne
Berücksichtigrimg der individuellen Einkom-
mens- und sonstigen Verhältnisse derjenigen
Personen, in deren Händen sich die das
Steuerobjekt bildende Quelle des von ihr
betroffenen Ertrages befindet, auf diesen
Ertrag gelegt wird. Sie besteht in einem
aliquoten, an den Staat oder andere mit dem Be-
steuerungsrechte ausgerüstete Gemeinschaf-
ten abzuführenden Teile des Bodenertrages.
2. Objekt der G. Objekt der Grund-
steuer ist also der Bodenerti-ag. Es fi-agt
sich nun, was eigentlich unter diesem durch
die Grundsteuer zu treffenden Bodenertrage
zu verstehen ist.
Dem Wortsinne nach sollte die Antwort
auf diese Frage eigentlich dahin lauten, dass
als Bodenertrag der Gewinn aus jeder wie
immer gearteten Nutzung des Bodens auzu-
seheu ist, wonach also der Grundsteuer so-
wolü der im Wege des Bergbaues als auch
der im Wege der Landwirtschaft oder der
Venvendung ate Baugrund flu- Wohnhäuser
erzielte Ertrag zu unterliegen hätte. Es ist
aber sowohl in der Theorie als auch in der
Praxis schon längst feststehende Uebung
gewonlen, denjenigen Teil des Bodenertrages,
welcher im Wege des Bergbaues gewonnen
wird, dem durch die Grundsteuer zu treffen-
den nicht zuzurechnen, also nicht als Ob-
jekt dei-selben zu bt^handeln.
Ebenso j)flegt neuerlich in der Regel
von der Erfassung durch die Grundsteuer
ausgeschlossen zu werden derjenige, in der
Gegenwart so schwer ins Gewicht fallende,
Teil des Bodenerti-ages, welcher diu-ch die
Baugründe resp. durch die darauf errichte-
ten Gebäude geliefert wh'd. Die Praxis
hat fi-eilich häufig — und zwar auch noch
in der neuesten Zeit — auch diesen Teil
des Bodenerti-ages als Objekt einer als
Grundsteuer bezeichneten Abgabe behandelt.
In der Theorie gilt derselbe aber — wohl
mit vollem Rechte — derzeit schon ganz
886
Grundsteuer
aUgemein als eine Steuerquelle , welche
durch die am besten einer selbständigen
Beurteilung und Regelung zu unterziehende
Besteuerung der Gebäude mit erfasst wer-
den soll. Demgemäss wird in den Erörte-
rungen über die Regelung dieses Teiles des
Ertragssteuersystems so gut wie ausnahms-
los auch auf die Heranziehung des im Er-
trägnisse der Gebäude steckenden Ertrages
der mit diesen besetzten Grundstücke Be-
dacht genommen (s. den Art. Gebäude-
steuer oben Bd. lY. S. 6 ff.). Wir brauchen
denselben daher hier ebenfalls nicht weiter
zu berücksichtigen.
Aus dem eben Gesagten ergiebt sich
von selbst, dass wii* hier niu» den vom
Boden im Wege der Landwirtschaft zu
liefernden Ertrag zu berücksichtigen haben.
Hierbei müssen aber die Worte »vom Boden«
besonders betont werden, weil es häufig
vorkommt, dass die Begriffe »Bodenertrag«
und »Ertrag der Landwirtschaft« als iden-
tisch angesehen werden, was sie doch nicht
sind. Im Ertrage der Landwirtschaft steckt
stets auch der Ertrag der in derselben auf-
gewendeten menschlichen Arbeit; dieser
Arbeitsertrag muss vom Bodenertrage ge-
trennt werden und kann nicht Objekt einer
Steuer sein, welche nur den letzteren zu
treffen hat. Also nur derjenige Teil des
im Wege der landwirtschaftlichen Nutzung
des Bodens zu gewinnenden Ertrages darf
als Objekt der Grundsteuer aufgefasst wer-
den, welchen ein Grundbesitzer aus dem
Boden ziehen kann, ohne sich selbst mit
der Bewirtschaftung desselben zu beschäf-
tigen. Dieser Teil des Erti-ages der land-
wirtschaftlichen Bodennutzung fällt aber
zusammen mit der auf diesem Wege zu
erzielenden Grundrente, und wir können
daher sagen, dass dieser Teil der im Terri-
torium eines Staates den Gnmtlbesitzeru
zufliessenden Grundrente das Objekt der
Gnmdsteuer bildet.
Wir liaben uns also hier nur mit der
vom landwirtschaftlich benutzbaren Boden
gelieferten Grundrente zu befassen. Dies-
bezüglich ist nun zunächst zu bemerken,
dass das Wort »Grundrente« hier, wo es
sich um die Erfassung des ganzen Ertrages
handelt, welchen der mit der Gnmdsteuer
belastete Boden an sich liefern kann, in
jenem weiteren Sinne zu vei-stehen ist, in
welchem es die Rente des Bodens in seiner
zur Zeit der jeweiligen Auflegung der
Gnmdsteuer bestehenden Beschaffenheit und
imter den zu dieser Zeit obwaltenden Ver-
hältnissen umfasst. Die ganze so viel er-
örterte Streitfrage über die eigentliche Na-
tur der Grundrt^nte hat also hier gar keine
Bedeutung. Vom Standpunkte der Gnmd-
steuerveranlagung aus ist es ganz gleich-
giltig, ob die jeweilig mögliche Bodenrente
ganz oder teilweise als Ausfluss der Pro-
duktionskraft des im Boden investierten
Kapitals und als Erträgnis der früher daran
gewendeten Arbeit oder aber als Ausdi'uck
der dem Boden als solchem innewohnenden
Ertragsfähigkeit anzusehen ist. Es handelt
sich hier eben nicht um die Besteuenmg
einer theoretisch zu konstnüerenden Grund-
rente im Sinne einer der diesbezüglich aus
Anlass der wissenschaftlichen Behandlung
dieses Themas aufgestellten Lehrmeinungen,
sondern danim, das den Charakter einer
Rente in der allgemeinsten Bedeutung dieses
Wortes an sich tragende Erträgnis zu be-
steuern, welches der Boden seinem jeweili-
gen Eigentümer, ohne dass dieser zum
Zwecke der Ausbeutung der Ertragsfähig-
keit desselben mit seiner eigenen Arbeits-
kraft in Thätigkeit tritt, zu liefern vermag.
Hier kann aber nicht verschwiegen wer-
den, dass die Praxis die Konsequenzen,
welche sich aus der oben entwickelten Be-
grenzung des Objektes der Grundsteuer er-
geben, niu" ausnahmsweise gezogen hat.
Von dieser wird die Gnmdsteuer meist so
aufgefasst, als ob sie eine Besteuerung des
Ertrages der ganzen Landwirtschaft wäre, d. h.
also so, als ob auch das Produkt der land-
wirtschaftlichen Thätigkeit des Grundbe-
sitzers durch sie .besteuert werden solle.
Diese Auffassung der Praxis äussert ilire
Wirkung dadurch, dass von einer besonde-
ren Besteuerung des Ertrages jener Thätig-
keit meist abgesehen wird, obwohl doch
auch die sonstigen Arten der dem Erwerbe
gewidmeten Thätigkeit der Staatsbürger
durchweg Objekte der Ertragsbesteuerung
zu bilden pflegen und dieser demgemäss in
Beriicksichtigung der Principien der Gleich-
mässigkeit und Allgemeinheit der Besteue-
nmg auch die Thätigkeit des Landwirtes
unterworfen werden sollte. Eine l)esondei"e
Besteuerung des Ertrages dieser Thätigkeit
kommt selten vor, obwohl sie doch bei
konsecjuenter Durchbildung des Ertrags-
steuersystems durch die eigentliche Natur
der Gnmdsteuer geradezu geboten wäre.
Hier und da hat die Praxis sich diesem
Gebote in der Weise gefügt, dass sie die
lanfl wirtschaftliche Thätigkeit wenigstens in
denjenigen Fällen, in welchen sich deren
Charakter als besondere, neben der Renta-
bilität des Bodens an sich noch bestehende
Ertrags(]uelle besonders deutlich zeigt, sepa-
rat besteuert. Es sind hier die Pachtungen
gemeint, welche mitunter auch dann beson-
ders besteuert werden, wenn sonst die be-
sondere Besteuerung der landwirtschaftlichen
Thätigkeit nicht gebräuchlich ist. Es er-
hellt, dass hier eine grobe Ungleichmässig-
keit vorliegt: es ist gar kein in der Natur
der Sache liegender Grund vorhanden, die
durch den Grundbesitzer selbst ausgeübte
Grundsteuer
887
landwirtschaftliche Thätigkeit anders zu
behandeln als die gleiche Thätigkeit eines
Gutspächters.
Dieses Vorgehen der Praxis ist um so
mehr zu bedauern, als dadurch unter den
selbst wirtschaftenden Landwirten selbst eine
Ungleichmässigkeit geschaffen wird, die
nicht als in der Natur der Grundsteuer
liegend anerkannt werden kann. Denn
diese Steuer mit ihrer Abstraktion von den
persönlichen Eigenschaften der Landwirte
behandelt alle Grundstücke gleichmässig
unter alleiniger Berücksichtigung der ihnen
in Gemässheit ihrer eigenen Eigenschaften
und Umgebung innewohnenden Ertrags-
fähigkeit, welche man berechtigt ist, als
eine gegebene, von den Eigenschaften des
jeweiligen Besitzers unabhängige Grösse an-
zusehen. Trotz dieser Unabhängigkeit der
eigenen Ertragsfähigkeit der Grundstücke
von den Persönlichkeiten ihrer Besitzer kann
aber doch, wie allgemein bekannt ist, von
einer gleichen Unabhängigkeit des wirklichen
Ertrages der Bewirtschaftung der Grund-
stücke von diesem Faktor keine Rede sein.
Der Ertrag der Landwirtschaft wird ebenso
wie der jeder anderen auf Erwerb im Wege
einer selbständigen Unternehmung gerichteten
Thätigkeit in erster Linie und am wesent-
lichsten durch die Persönlichkeit des wirt-
schaftenden Individuums bestimmt. Ebenso
nun, wie die anderen Arten der zur Er-
fassung der Resultate der Erwerbsihätigkeit
der Individuen bestimmten Ertragssteuern
auch auf die pereönlichen Eigenschaften der
Betreffenden Rücksicht nehmen, muss dies
auch eine Besteuerung der Landwirtschaft
thun, wenn sie nicht durch Nichtberück-
sichtigung einer einen so grossen Einfluss
ausübenden Verschiedenheit zu Resultaten
führen will, welche ihr den begründeten
Vorwurf der Ungleichmässigkeit zuziehen
müssen. Die Identifizierung der Besteue-
rung der Landwirtschaft mit der im Wege
der Grundsteuer zu bewirkenden Besteue-
rung der Grundrente beruht nun eben auf
einer solchen Nichtberücksichtigiuig jener
Verschiedenheit. Die sich hieraus ergebende
Ungleichmässigkeit ist auch oft genug er-
kannt und — weil bei der praktischen
Durchführung der Grundsteuer meistens
vorlianden — als ein dieser selbst anhängen-
der Mangel aufgefasst worden. Nach dem
Gesagten ist es aber klar, dass dieser Mangel
durchaus nicht unvermeidlich mit der
Grundsteuer verbunden ist, sondern bei
einer richtigen, sich an die Eigenschaft der-
selben als Steuer von der Bodenrente hal-
tenden Ausführung vermieden werden würde.
3. Subjekt der G. Da die Bodenrente
das Objekt der Gnmdsteuer bildet, so ist
als das ziu- Tragung derselben berufene
Subjekt selbstverständlich der zum Bezüge
der Bodenrente Berechtigte anzusehen; als
solcher erscheint in der Regel der Gnmd-
besitzer, weshalb man kurz sagen kann:
Subjekt der Grundsteuer ist in der Regel
der Grundbesitzer. Die Theorie und Praxis
haben diese Regel mit einer — gleich zu
erwähnenden — Ausnahme als allgemein
giltig behandelt: die Grundsteuer wird fast
ausnahmslos nur vom Grundbesitzer allein
gefordert. Die Ausnahme von der alleinigen
Inanspruchnahme des Grundbesitzers zur
Tragung der Grundsteuer besteht darin,
dass hie und da auf jene Trennung der
Grundrente Rücksicht genommen wird,
welche in früherer Zeit so häufig vorge-
kommen ist und darin bestanden hat, dass
der Bebauer des Bodens einen Teil des Er-
trages desselben an einen anderen, als dessen
eigentlichen Herrn angesehenen Berechtigten
abliefern musste, also zur Leistung von so-
genannten Gefällen an denselben verpflichtet
war. Es war und ist nur gerechtfertigt,
wenn der durch diese Gefälle repräsentierte
Teil der Bodenrente zum Objekte des ent-
sprechenden Teiles der Grundsteuer ge-
macht wurde resp. noch wird. Auch da-
gegen kann nichts eingewendet werden,
w^enn dieser Teil der Grundsteuer einen
besonderen Namen (den der »Gefällensteuer«)
erhält. Diese ganze Einrichtung hat übri-
gens, wie die Gefälle selbst, derzeit nicht
mehr viel anderes als historisches Interesse.
Auf sonstige Fälle der Teilung der Grund-
rente zwischen dem Grundbesitzer und einem
anderen Berechtigten wird aber bei der
Veranlagung der Grundsteuer keine Rück-
sicht genommen. Es muss bezweifelt wer-
den, ob dies Vorgehen gerechtfertigt ist.
Denn auch ein verschuldeter Grundbesitzer
muss die Bodenrente ganz oder teilweise
an andere Berechtigte — an seinen oder
seine Gläubiger — abführen. Die Aufnahme
eines Hypothekardarlehens ist ja — wirt-
schaftlich genommen — ihrem Wesen nach
nichts anderes als die Abtretung eines
Teües der Rente des betreffenden Grund-
stückes an den Darlehensgeber. Es ist ein
Ausfluss der jiuistischen Beurteilung der
einschlägigen Verliältnisse, wenn diese Tei-
lung der Grundrente bei der Veranlagung
der Grundsteuer anders beurteilt wird als
diejenige, die zwischen dem zur Leistung
von Gefällen Verpflichteten imd dem zum
Empfange derselben Berechtigten stattge-
funden hat Weil im letzteren Falle die
Juristen angenommen haben, dass das Grund-
eigentum zwischen den beiden zum Renten-
bezuge berechtigten Personen geteüt sei,
wurde auch die Steuerlast geteilt, während
dies im Falle der Verschuldung deshalb
nicht geschieht, weil hier dem Juristen das
Vorhandensein einer Teilung des Grund-
eigentiuns formalrechtlich als nicht vorhan-
888
Grundsteuer
den gilt, der verschuldete Besitzer von ihm
vielmehr geradeso als alleiniger Eigentümer
seines Grundstückes angesehen wird wie
der unverschuldete und demzufolge dieser
ihm auch als der aUein zur Tr^ung der
betreffenden Grundsteuer Berufene erscheint.
Der wirtschaftlichen Natur des zwischen
Hypothekargläubiger und -Schuldner be-
stehenden Verhältnisses würde es aber
offenbar viel besser entsprechen, wenn beide
nach den jedem von ihnen zufliessenden
Anteilen der Bodenrente als Subjekte der
Grundsteuer behandelt werden würden.
Hierdurch könnte zugleich ein weiterer
unter den Vorwürfen, welche der Grund-
steuer — wie den Ertragssteuern überhaupt
— gemacht zu werden pflegen, entkräftet
werden : der der Nichtberücksichtigung der
Verschuldung der Grundbesitzer nämlich.
Auch dieser oft hervorgehobene Mangel der
Grundsteuer ist demnach kein derselben
schon infolge ihrer Natur anliängender, son-
dern nur ein durch die herkömmliche
mangelhafte Ausführung derselben verui'sach-
ter. Allerdings darf hier nicht unbeachtet
gelassen werden, dass die Gläubiger, wie
die Erfahnmg gelehi-t hat, es fast immer
verstanden haben, Steuerlasten, die ihnen
aus Anlass ihrer Berechtigung, von ihren
Schuldnern Leistungen zu verlangen, auf-
erlegt worden sind (Steuer von Zinsen
hypothekarisch sichergestellter Kapitalien!),
auf diese zu überwälzen. Es muss daher
als eine offene Frage hingestellt werden,
ob eine etwaige Heranziehung der Gläubiger
zur Tragimg eines Teiles der Grundsteuer
besser ausfallen würde.
Nach dieser Definition des Subjekts der
Grundsteuer muss auch der Staat selbst,
insoweit er Grundbesitzer ist (und er ist
dies ja bekanntlich vielfach noch in sehr
grossem Umfange) , als zur Bezahlung der
Grundsteuer verpflichtet angesehen werden;
in noch höherem Grade gilt dies natürlich
von den untergeordneten Gemeinschaften
öffentlich-rechtlicher Natur. Da es aber
anderei^eits doch wieder als widemunig
oder doch wenigstens als eine weitgetriebene
Principienreiterei erscheint, wenn Einkünfte,
die selbst schon zur Bestreitung eben der-
selben Bedürfnisse, welchen die Steuern
dienen, beistimmt sind, besteuert werden, so
kann man der Praxis keinen besonderen
Vorwurf daraus machen , wenn sie diese
sich aus der Natur der Grundsteuer eigent-
lich ergebende Konsequenz nicht immer ge-
zogen hat. Jedenfalls hat die Besteuerung
dos Gnindeigentums des Staates nur den
Charakter einer Kassen Operation : der Steuer-
kassa wird gegeben, der Domänenkassa wird
genommen. Doch besteht ein gewichtiger
Grund für die Besteuerung des staatlichen
Grundbesitzers — wie anderer privat wirt-
schaftlicher Erwerbsquellen des Staates — -
darin, dass es als wünschenswert angesehen
werden muss, volle Klarheit darüber zu er-
langen, wie sich der Ertrag desselben im
Vero:leiche mit demjenigen des in den Händen
der einzelnen Bürger befindlichen gleicharti-
gen werbenden Vermögens stellt Dieser Ver-
gleich — der ja für die praktische Lösung
der Frage nach der Angemessenheit staat-
lichen Grundeigentums so wichtig ist —
wird durch die etwaige SteuerfreÄeit des-
selben sehr erschwert, wenn nicht ganz
unmöglich gemacht. Allerdings fällt dieses
gegen die gedachte Steuerfreiheit sprechende
Argument fort bei jenem Teile des staat-
lichen (oder sonstigen einer Gemeinschaft
öffentlich-rechtlicher Natur gehörigen) Grund-
l)esitzes, dem der Charakter einer privat-
wirtschafthchen Erwerbsquelle fehlt, beim
sogenannten öffentlichen Gute nämlich
(Strassen und sonstige öffentliche Wege,
Friedhöfe, als öffentliches Gut behandelte
Gewässer und dergleichen). Diesem Teile
des in Rede stehenden Grundbesitzes pflegt
denn auch die Befreiung von der Grund-
steuer ganz allgemein zugestanden zu werden.
Ausser der oben gemachten giebt es
übrigens noch eine Erwägung, welche die
Freilassung des staatlichen Grundbesitzes
von der (jrundsteuer häufig als unthunlich
erscheinen lässt: diejenige nämlich, welche
dadurch hervorgerufen wird, dass die inner-
halb des Staates bestehenden öffentlich-
rechtlichen Verbände niedrigerer Ordnung
(Gemeinden u. s. w.) zur Deckung ihrer Be-
dürfnisse ^^elfach auf die Einhebung von
Zuschlägen zu den Staatssteuern angewiesen
sind imd aus verschiedenen Gründen nicht
darauf verzichten k()nnen, auch den inner-
halb ihrer respektiven Gebiete befindlichen
staatlichen Grundbesitz zur Bezahlung tlieser
Zuschläge heranzuziehen (s. den Art. Ge-
meindefinanzen oben Bd. IV S. lOGff.);
die ümlegung dieser Zuschläge auf jenen Be-
sitz hat mm die Veranlagung der staatlichen
Grundsteuer auf denselben zur notwendigen
Voraussetzung; allerdings würde für diesen
Zweck die bloss ideelle Durcliführung jener
Veranlagiuig genügen, während von der fak-
tischen Einhebung der staatlichen Grund-
steuer ohne Gefährdung der Eri-eichiuig
desselben Umgang genommen werden könnte.
4. Aufgraben der Veranlagung der G.
Es ist selbstverständlich, dass bei der Gnmd-
steuer ebenso wie bei den anderen Steuer-
arten das bei der Veranlagung dersell»en
anzustrebende Ziel in der Realisierung des
Princips der Gerechtigkeit der Besteuerung
besteht. Es fi-agt sich nun, was hier unter
einer gerechten Veranlagung zu verstehen ist
Die Antwort auf diese Frage ergiebt sieh
ans der Natur der Grundsteuer von selbst.
Sie ist eine zur Erfassung der Bodenrente
Grundsteuer
.889
bestimmte Erlragssteuer ; vormöge dieser
ihrer Natur braucht bei ihr auf die Her-
stellung einer materiellen Gerechtigkeit in
der Veranlagimg, welche nur in einer der
wirklichen Leistungsfäliigkeit der Steuer-
träger entsprechenden Verteilung der Steuer-
last bestehen könnte, keine Rücksicht ge-
nommen zu werden: bei ihr ist vielmehr
mu" auf jene formelle Gerechtigkeit in der
Veranlagung zu sehen, welche sich ergiebt,
wenn für die aUgemeine und gleichmässige
Belastung aller einzelnen Teile ihres Ob-
jektes Sorge getragen wird. Die bei der
Veranlagimg der Gnmdsteuer zu lösende
Aufgabe besteht also darin, jeden einzelnen
Teil der vom Boden eines Staates geliefer-
ten Rente mit einem eine gleiche Quote
desselben repräsentierenden Steuerbetrage
zu belasten, d. h. auf jedes einzelne Grund-
stück denjenigen Gnmdsteuerbetrag zu
legen, welcher jener Quote der gesamten
Bodenrente des Staates, die durch die ge-
samte Grundsteuerforderung desselben re-
präsentiert wiixl, gleichkommt
Erst in der neueren Zeit sind in den
europäischen Staaten zum Zwecke der Er-
reichung dieses Zieles Massnahmen einge-
leitet worden, welche als ernst zu nehmende
Schritte in dieser Richtung angesehen wer-
den können. Für den jener sti-ammen Or-
ganisierung der Regierungsgew^alt, wie sie
gegenwärtig in diesen Staaten überall zu
finden ist, entbehrenden mittelalterlichen
Staat erwies sich diese Aufgabe als unlösbar,
und selbst der dem Feudalismus nachge-
folgte aufgeklärte Absolutismus brachte es
nicht weiter als zur Anbahnung des zum
Ziele führenden Weges, auf dem der mo-
derne Staat dann fortgearbeitet hat.
Diese Schwierigkeit der Durchfiihnmg
einer befiiedigenden Veranlagimg der Gnmd-
steuer hängt damit zusammen, dass die Er-
tragsfähigkeit der einzelnen Teile des wirt-
schaftlich benutzten Bodens — der Güter
oder Grundstücke — nicht gar so leicht zu
erkennen ist, als man auf den ersten Blick
meinen möchte. Wenn man der Sache nicht
auf den Gnmd sieht, so möchte man glau-
ben, dass es gar nicht möglich sei, den Er-
trag der Grundstücke in irgend einer Rich-
tung der allgemeinen Kenntnis, also auch
der Erforschung durch den Staat zu ent-
ziehen. Die Erfahmng hat nun aber schon
längst das Gegenteil gelehrt.
Der Staat in seiner Eigenschaft als die
Steuerhoheit ausübendes Gemeinwesen wird
nämlich seitens der Grundbesitzer nicht
anders behandelt als seitens aller übrigen
Biu-ger, an welche er sich mit seinen Steuer-
forderungen wendet; wenn sie auch alle
ihm mit mehr oder weniger Bereitwilligkeit
das Recht der Einhebung von Steuern
principiell zugestehen, so betrachtet es doch
jeder einzelne als sein gutes Recht — oder
doch mindestens als kein Unrecht — alles
aufzubieten, um die staatlichen Fimktionäre
zu überaeugen , dass speciell diejenigen
Steuerobjekte, an denen er interessiert ist,
ihn in besonders geringem Masse zur Steuer-
zahlung befähigen. Jeder einzelne Gnind-
besitz3r bestrebt sich also, sobald der Staat
die Absicht an den Tag legt, zum Zwecke
der Veranlagung der Grundsteuer die Er-
tragsfähigkeit der Grundstticke kennen zu
lernen, den mit der Ausführung der dies-
bezüglichen Erhebungen betrauten Funktio-
nären den Ertrag, der aus seinem Besitztum
gezogen werden kann, so gering als möglich
erscheinen zu lassen. Durch diese Be-
mühungen der Grundbesitzer werden mm
dem Staate bei der Realisierung jener Ab-
sichten Schwierigkeiten in den Weg gelegt,
die sich als gross genug erwiesen haben,
um die Frage als berechtigt erscheinen zu
lassen, ob es dem Staate überhaupt möglich
ist, den Ertrag der einzelnen Grundstücke
zum Zwecke der Grundsteuerveranlagimg
zuverlässig zu ermitteln. Nun ist es aber
selbstvei-ständlich, dass ohne eine genaue
Erkenntnis dieses Ertrags von einer zuver-
lässigen Feststellung der auf jedes einzelne
Grundstück bei gerechter Verteilung der
Last entfallenden Grundsteuer nicht die
Rede sein kann. Zu dieser Erkenntnis des
Ertrages der einzelnen Grundstücke zu ge-
langen muss also jeder Staat streben, der
die Gnmdsteuer in gerechter Weise veran-
lagen will. Mit der Lösung dieser Aufgabe
ist die Hauptsache gethan; die Bestimmung
der auf die einzelnen Grimdstücke bei
gleichmässiger Verteilung der Steuerlast
entfallenden Leistung ist, wenn einmal der
Ertrag eines jeden der ersteren bekannt ist,
nur noch eine ganz einfache Rechenaufgabe.
5. Aeltere Methoden der Veranla^unj^.
Der Feudal- und Patrimonialstaat suchte
nun, da er sich zur direkten Lösung der
hier gestellten Aufgabe ausser stände sah,
dieselbe häufig auf indirektem Wege zu
lösen. El' ging nämlich regelmässig nur
von einer Schätzung der Leistungsfälligkeit
ganzer grosser Gebietsteile — in der Regel
der einzelnen kleineren politischen Gebilde,
aus welchen er entstanden war (Kronländer,
Provinzen und dergleichen) — aus; er
glaubte eben, mit genügender Zuverlässig-
keit beurteilen zu können, wie sich die
wirtschaftliche Entwickelung jedes einzelnen
dieser Gebietsteile zu der der anderen ver-
halte; demzufolge verteilte er jene Gesamt-
summe, welche er im Wege der Grund-
steuer hereinbringen wollte , auf Grund
dieses seines Urteils über die Leistungs-
fähigkeit der Territorien auf diese, den Ver-
tretungen derselben die weitere Verteilung
auf kleinere Gebiete und schliesslich auf
890
Grundsteuer
die Individuen überlassend. Er setzte also
eine gewisse, nach seinen Bedürfnissen oder
auf Grund einer nach irgend welchen An-
haltspunkten vorgenommenen Schätzung der
Leistungsfähigkeit der Gesamtheit des Grund-
besitzes im Staate ermittelte Grundsteuer-
summe fest, schrieb einer jeden seiner Pro-
vinzen einen bestimmten Teilbetrag der-
selben zur Aufbringimg vor und kümmerte
sich weiterhin nur um das Einfliessen die-
ser einzelnen Tangenten der ganzen erwar-
teten Grundsteuersumme. Er ging hierbei
von der — an sich gewiss nicht unberech-
tigten — Voraussetzung aus, dass es den
Angehörigen der einzelnen Territorien ver-
möge ihrer besseren Kenntnis der bei der
Beurteilung der Angemessenheit der weite-
ren Verteilung der aufzubringenden Steuer-
summe in Betracht kommenden lokalen Ver-
hältnisse leichter möglich sein werde, hier-
bei das Richtige zu finden als ihm.
Die Provinzen gingen dann, wenn ihre
Grösse die sofortige Verteilung der aufzu-
bringenden Steuersumme auf die Individuen
als nicht thunlich erscheinen Hess, ihrer-
seits wieder in derselben Weise vor wie
der Staat; sie verteilten die ihnen aufer-
legte Leistung in gleicher Weise auf die
nächststehenden staatlichen Organismen
(Kreise und dergleichen), woran sich viel-
leicht' noch eine weitere Verteilung an nie-
driger stehende derlei Organismen (Bezirke,
Gemeinden) anschloss, bevor es endlich zur
individuellen Verteilung kam. Diese sollte
erst im kleinsten Kreise von den betreffen-
den beteiligten Grundbesitzern unter sich
vorgenommen werden , indem von diesen
vorausgesetzt wurde, dass sie sich hierbei
über die individuellen Leistungen auf Grund
gegenseitiger, der Wahrheit entsprechender
Schätzung der Erträge der einzelnen Güter
aufs beste einigen würden. Bei diesem
Verfahren — das als eine in geradezu typi-
scher Weise durchgeführte Kontingentierung
zu bezeichnen ist — wurde also seitens des
Staates nicht der Ertrag der einzelnen
Grundstücke , sondern der des gesamten
daselbst und in den einzelnen jenen büden-
den grösseren und kleineren Territorien
vorhandenen Grundbesitzes geschätzt. Selbst
bei der zuletzt erfolgenden, individuellen
Verteilung fand kaum jemals eine Schätzung
des Ertrages der Grundstücke statt; denn
da es zuletzt einzelnen Gruppen von Guts-
* besitzen! überlassen wui-de, die ihnen auf-
erlegte Grundsteuer unter sich zu verteilen,
so iiatten diese kein Interesse, sich bei der
Ermittelung der einen jeden von ihnen
treffenden Steuerlast auf weitere Detaüs
einzulassen, als zur Einigung hierüber nötig
war; hierzu genügte aber offenbar eine
ganz allgemein gehaltene, nur den Gesamt-
besitz jedes einzelnen — das Gut — in
Betracht ziehende Beurteilung seiner Leis-
tungsfähigkeit; eine etwaige Ertrags-
schätzung erstreckte sich also hier nur auf
die einzelnen Güter, nicht auf die ParzeUea
— vorausgesetzt, dass sie überhaupt statt-
fand und die einzelnen Gutsbesitzer sich
nicht (was vielleicht die Regel bildete) ohne
ausdrückliche Einschätzung der Erträge
ihrer Güter mit einer ganz aUgemeinen
Vergleichung der Ertragsfähigkeit derselben
begnügten.
Es bedarf nicht vieler Worte, um nach-
zuweisen, dass dieses System der Veran-
lagung der Grundsteuer auf die Dauer nicht
befriedigen konnte. Dasselbe beruhte ja
auf lauter höchst vagen Annahmen und
Schätzungen. Schon die erste Feststellung,
die des Ertrages, welcher von der Grund-
steuer im ganzen Staate erwartet wurde
(der Gnmdsteiierhauptsumme) , musste in
einer Weise erfolgen , welche vor einer
irgend ernsten Prüfung nicht standhalten
konnte und nicht anders denn als willkür-
lich zu bezeichnen war. Und diese Will-
kürlichkeit kennzeichnete das ganze System
in allen seinen einzelnen Teilen: willkür-
lich war die Schätzung der Provinzen,
ebenso willkürlich war auch die der Kreise,
Bezirke und Gemeinden. Ja selbst hinsicht-
lich der Schlussverteilung der Steuerlast
auf die Individuen bot dieses System gar
keine Garantie der Erzielung jener Gleich-
mässigkeit in der Verteilung der Steuerlast,
welche allein den Forderungen der Gerech-
tigkeit entsprechen kann; das Individuum
war ganz dem guten Willen seiner Genossen
überantwortet, welche es in der Hand
hatten, durch Einigung unter einander über
eine beliebige Annahme hinsichtlich des
Ertrages seiner Grundstücke ihm eine über-
grosse Steuerlast zuzuwälzen, die ihrige
aber ebenso ungebührlich zu verringern.
Wer aus was immer für Gründen innerhalb
jener Gemeinscliaft von Steuerzahlern, zu
der er gehörte, eine ungünstige Position
hatte, war der (Gefahr der grössten Benach-
teiligung geradezu schutzlos preisgegeben.
Es erhellt, dass die Folge einer längeren
Herrschaft dieses Systems schliesslich eine
ganz unerträgliche Ungleichmässigkeit in
der Verteilung der Steuerlast sein musste.
Uebrigens kamen auch schon im Feudal-
und Patrimonialstaate Versuche vor, die
Grundsteuer in vollkommenerer Weise umzu-
legen, als mit Hilfe des eben geschilderten
rohen Repartierungssystems möglich war.
Insbesondere wurde schon frühzeitig ver-
sucht, die Grundsteuer als Quotitätssteuer
zu veranlagen. Doch geschah auch dies
stets nur mit Hilfe einer mehr oder minder
rohen Schätzung von Gütererträgen. An
eine Steuerveranlagung im Wege der ge-
nauen Ermittelung der vom Ertrage der
Grundsteuer
891
einzelnen Grrund stücke abzuführenden Quoten
vnyrdo nicht gedacht, schon dämm nicht,
-weil der damalige Staat keine Mittel hatte,
den Ertrag der Grundstücke zu ermitteln.
Auch die als Quotitätssteuer umgelegte
Grundsteuer hatte geradeso wie die im
"Wege der Repartierung umgelegte den
Charakter einer Gütersteuer, nicht den
einer eigentlichen Grundsteuer. Sie war
also überhaupt nicht, wie die moderne
Gnmdsteuer, eine Belastung einzelner, in-
dividuell scharf gesonderter Ertragsobiekte,
sondern eine solche einzelner ganzer Wirt-
schaftsköi"per und näherte sich hiermit
schon sehr dem Charakter einer Besteuerung
der Eigentümer dieser Wirtschaftskörper
nach deren durch diese ihre Stellung be-
dingter allgemeiner Leistungsfähigkeit. Sie
war auch meist als solche gememt; wenn
sie in einer Form auftrat, die sie als Grund-
steuer erscheinen liess, so hatte dies seinen
Grund in der überragenden Bedeutung,
welche dem Grundbesitze im Wirtscliafts-
systeme jener Zeit zukam. Der Grundbe-
sitz war ja damals nicht nur eine einzelne
Art von Vermögen , sondern — • nahezu
wenigstens — das Vermögen überhaupt.
Die Besteuerung des Ei-trags aus Grundbe-
sitz war also fast identisch mit einer allge-
meinen Ertragsbesteuerung. Es lag für den
alten Staat wenig Anlass vor, jene scharfe
Scheidimg zwischen den einzelnen Ertrags-
quellen vorzunehmen, welche der moderne
glaubt vornehmen zu müssen; insbesondefe
bei den Gutsbesitzern, welche damals noch
nicht so wie heutzutage neben der Be-
bauung ihres Bodens noch allerlei gewerb-
liche Thätigkeit ausübten, war die Veran-
lassung zu einer solchen Scheidung eine so
geringe, dass der Staat, dem es damals
übei-dies auch noch an der technischen
Eignung zu einem eindringlicheren Vor-
gehen fehlte, sich füglich für berechtigt
halten konnte, ganz darüber hinwegzugehen.
So konnte er sich denn am Ende wirklich
bei der Umlegung der Grundsteuer nach
Massgabe des Ertrags der Güter beruhigen.
üebrigens wurde der alte Staat durch
die Unvollkommenheit seiner Organe auch
noch obendrein genötigt, meistenteils selbst
auf die Cmlegung der Grundsteuer nacli
Massgabe der Bodenrente zu verzichten. Er
sah sich vielmehr in der Regel veranlasst,
die Grundsteuer — resp. die sonstigen mit
derselben in Parallele zu stellenden Leistungen
der Individuen an ihn — nach Massgabe
des Bruttoertrags der Gnmdstücke umzu-
legen. Dieser ist leichter zu eruieren als
die Bodenrente und bot sich somit dem
Staate als ein leichter zu handhabender
Massstab der Veranlagung dar.
Es bedarf nicht vieler Worte, um dar-
zuthun, dass auch diese Systeme zu keinen
befriedigenden Resultaten führen konnten.
Es sei hierbei ganz abgesehen von der tech-
nischen Unvollkommenheit der Ausführung,
welche bewirkte, dass mittelst der in Rede
stehenden Methode thatsächlich nicht ein-
mal jenes Mass von Gleichmässigkeit der
Veranlagimg erzielt werden konnte, welches
durch dieselbe der Natur der Sache nach
immerhin erzielbar war. Aber auch dieses
erreichbare Mass kann als kein befriedigendes
bezeichnet werden. Eher noch bei der
Steuerveranlagung auf Grund einer Schätzung
des reinen Güterertrags. Es ist am Ende
denkbar, dass der Nettoertrag der Güter in
einer Weise gleichmässig eruiert wu'd,
welche auch eine gleichmässige Steuer-
verteiiung möglich macht ; freihch erscheint
für die Praxis die Schwierigkeit der Lösung
dieser Aufgabe als eine fast unüberwind-
liche ; ein ganzes Gut ist ja immer ein sehr
komplizierter Wirtschaftskörper, dessen Er-
tragsfähigkeit auf Grund einer blossen Be-
urteilung der Gesamtheit desselben so
schwer abzuschätzen ist, dass diese Ab-
scliätzung kaum beim bereitwilligsten Ent>-
gegenkommen aller Beteiligten mit be-
friedigender Sicherheit möglich ist ; wie die
Resultate der Beurteilung dann ausfallen
müssen, wenn dieses Entgegenkommen nicht
vorhanden ist , ja geradezu das Gegenteü
hiervon sich fühlbai- macht, ist leicht ein-
zusehen. Noch schlimmer steht die Sache
aber bei der Veranlagung auf Grund des
Bruttoertrags. Diese ist eine schon im
Principe verfehlte Massregel, Die Grund-
steuer soll ja eine Besteuerung der Grund-
rente sein. Es ist klar, dass diese auf
Grund der Veranlagung nach dem Roh-
ertrage des Grundbesitzes in befriedigender
Weise nur dann erfolgen könnte, wenn
zwischen Rohertrag und Rente bei allen
Grundstücken das gleiche Verhältnis bestände.
Davon kann aber bekanntlich nicht die
Rede sein; dieses Verhältnis ist ein sehr
verscliiedenes bei den verschiedenen Grund-
stücken, und deshalb muss auch die Steuer-
veranlagung nach dem Rohertrage mit
Natui'notwendigkeit zu den grössten Un-
gleichmässigkeiten führen.
6. Moderne Veranla^migsmethode :
Katastrienmg der Grundstücke. Die
Staaten haben denn auch schliesslich die
Unvollkommenheit der bisherigen Veran-
lagungsmethoden erkannt. Mit dem 18. Jahr-
hundert beginnen die Versuche, zu einem
besseren Systeme zu gelangen, und gegen-
wärtig ist allgemein die Ansicht zur Geltung
gekommen, dass eine befriedigende Veran-
lagung der Gnmdsteuer nicht anders mög-
lich sei als auf Grund einer möglichst ge-
nauen Ermittelung der Rente der einzelnen
Grundstücke, welche ihrerseits wieder nur
mit Hilfe einer genauen Vermessung und
892
Ginindsteuer
Ennittelung der wesentlichsten, den Ertrag
beeinflussenden Verhältnisse jedes einzelnen
derselben bewerkstelligt werden kann. Diese
eine Beschreibung der einzelnen Gnindstücke
bildenden Daten werden in eine Zusammen-
stellung (Kataster) aufgenommen, welche
eine Uebersicht derselben biJ.det und auf
Gnmd deren dann die auf jedes Grundstück
entfallende Grundsteuerziffer als Quote des
Ertrags berechnet werden kann. Die mo-
derne Grundsteuer beruht also auf der Her-
stellung eines detaillierten Grundstückka-
tasters. Diese bildet die — nicht leicht zu
lösende — Hauptaufgabe, welche der Finanz-
verwaltung hinsichtlich der Veranlagung
der Grundsteuer gegenwärtig gestellt ist.
7. Einleitende Schritte znr Her-
stellung des Katasters. Die ersten Schritte
zur Lösung dieser Aufgabe bieten freilich
keine besonderen Schwierigkeiten. Die-
selben bestehen in der Konstatienmg und
Bezeichnung der Grundstücke. In allen hier
in Betracht kommenden Staaten ist der
Grundbesitz durchaus in genau abgegrenzte
Abschnitte (Parzellen) geteilt, deren jede
ein Bewirtschaftungsobjekt für sich bildet.
Diese Parzellen ohne Ausnahme aufzunehmen
und zu verzeichnen, fällt der modernen
Staatsverwaltung nicht schwer. Es bedarf
hierzu nur der Herstellung genauer, in
einem die Ersichtlichmacliung aller Parzellen
ermöglichenden Massstabe anzufertigender
Karten (Flurkarten, Mappen). Diese Karten
haben die Form und gegenseitige Lage aller
Parzellen auszuweisen; ausserdem müssen
sie noch die Nummern derselben enthalten.
Diese haben den Zweck, die jederzeitige
leichte Auffindung jeder einzelnen Parzelle
im zweiten Hauptbestandteile des ganzen
Katasterwerkes, als welches ein genaues,
die Parzellen nach der Nummernordnung
anführendes Verzeichnis anzusehen ist, zu
ermöglichen. Die Sorge dafür, dass keine
Parzelle der Aufnahme in die Karte und
in das Verzeichnis entzogen werde, ist Sache
einer Kontrolle durch entsprechend technisch
gebildete Organe (Feldmesser, Geometer),
welchen selbstverständlich auch die Her-
stellung der Katastralkarten obüegt. Sache
dieser Funktionäre ist es, das Ten^ain zu
begehen, die Situationspläue an Ort und
Stelle aufzunehmen und dafür zu sorgen,
dass die Karte keine Lücke aufweise und
ein genaues Bild der gegenseitigen Lage
und Begrenzung aller einzelnen Parzellen
biete.
Es ist allerdings denkbar und auch schon
geschehen , dass ein Kataster ohne Karte
nur auf Grund des Parzellen Verzeichnisses
hergestellt worden ist. Es ist ja ganz gut
möglieli, auf Grund einer blossen Begehung
des Torrains zu konstatieren, dass in einer
gewissen Gegend (Flur, Ried und dergleichen)
so und so viele Parzellen, welche in dieser
oder jener Reihenfolge neben einander liegen,
vorhanden sind. Es ist aber leicht einzusehen,
dass ein solches Parzellenverzeichnis ohne
Karte niemals jene Gewähr für die Aus-
schliessung von Lücken bietet, welche durch
die Heranziehung der Karte zur Kontrolle
geboten werden kann. Auch bietet ein
ohne Karte hergestelltes Parzellenverzeichnis
keine Möglichkeit, nach Verlauf eines mir
halbwegs erheblichen Zeitraums nach seiner
HersteJiung noch etwaigen Anfechtungen
seiner Angaben entgegenzutreten. Es ist
ja selbstverständlich, dass ein jeden Zweifel
ausschliessender Beweis dafür, welche im
Terrain befindliche Parzelle mit irgend einer
im Verzeichnisse angeführten identisch ist,
nur mit Hilfe einer zu diesem Verzeich-
nisse gehörigen Karte geführt werden kann.
8. Vermessung der ParzeUen; Her-
stellung von Flurkarten. Mit der Auf-
nahme der Parzellen in die Karte geht die
Vermessung derselben Hand in Hand. Es
leuchtet ein, dass einen der Hauptfaktoren
des Ertrages der Parzellen deren Grösse
bildet. Die Ermittelung derselben muss
also seitens der mit der Veranlagung der
Gnmd Steuer betrauten Organe mit grösster
Genauigkeit erfolgen, w^elche lunsomehr ge-
fordert werden kann, als sie leicht möglich
ist. Die Feldmesskunst — die ja uralt ist
— gestattet die vollkommenste Lösung dieser
Aufgabe, welche übrigens zugleich mit der
Herstelhmg der Karte erfolgt und von dieser
gar nicht zu trennen ist, wenn die Karte
mehr sein soll als ein blosses Croquis. Denn
auch die gegenseitigen Grössen Verhältnisse
der Parzellen — durch deren genaue Ein-
haltung auf der Karte ja die richtige Dar-
stellung der Form und gegenseitigen Lage
dei-selben bedingt ist — können nm* mit
Hilfe einer genauen Vermessung der Grenzen
richtig zur bildlichen Darstellung gobi'aoht
wenlen. Die blosse Beurteilung nach dem
Augenmasse oder Messungen mit unvoll-
kommenen Hilfsmitteln — Abzählen der
Schritte und dergleichen — liefern nur un-
genaue Resultate. Dies wird gegenwärtig
auch von der Praxis anerkannt, in welcher
dermalen eine andere Vermessimg als die
diu-ch Geometer von Fach wolil kaum mehr
vorkommt. Bei den ersten Vorsuchen zur
Umlegung der Grundsteuer mit Hilfe von
Parzellen katastern glaubte man sich aller-
dings auch mit einer roheren Vermessung
der Parzellen — deren Vornahme sogjir
dem Interessenten selbst überlassen wunie
— behelfen zu können. Die Resultate einer
I solchen Vermessung sind aber längst als
j unbefriedigend anerkannt worden.
9. Berücksichtigung der Kultur-
gattungen. Neben der Grösse der ParzeUen
bildet einen weiteren Hauptfaktor des zu
Gnindsteiier
893
ermittelnden Ertrages die Art der Bewirt-
schaftung derselben, die Kulturgattung. Die
wirtschaftliche Ausnützung des Bodens er-
folgt ja in der verschiedensten Weise: als
Wäd, Wiese, Weide, Acker, Garten (W^ein-,
Obst-, Gemüse-, Blumengarten) etc. Es ist
bekannt, dass die Einträglichkeit dieser ver-
schiedenen Kulturgattungen eine sehr ver-
schiedene ist. Welche Kulturgattung immer
aber auf dieser oder jener Parzelle vorkommt,
so kann es doch keinem Zweifel unterliegen,
dass die jeweils vorkommende stets die-
jenige ist, von welcher der Eigentümer der
betreffenden Parzelle nach den ihm zu Ge-
bote stehenden Erfahnmgen den grössten
Ertrag erwartet und dass — da diese Er-
wartimg wohl nur ausnahmsweise auf einer
irrigen Beurteilung der einschlägigen Ver-
hältnisse beruht — in der Regel auch an-
genommen werden muss, dass der durch
jene Kulturgattung erzielbare Ertrag mit
dem höchsten, auf der in Betracht kommen-
den Parzelle momentan überhaupt erzielbaren
identisch ist. Eine Ausnahme hiervon machen
nur die zu Vergnügungs- und Erholungs-
zwecken dienenden und diesen entsprechend
behandelten Ländereien. Von dieser gering-
fügigen Ausnahme abgesehen, ist bei allen
Grundstücken der Scliluss gestattet, dass
eben die Rücksicht auf den darauf zu er-
zielenden Ertrag die Wahl der Kulturgattung
bestimmt hat; hieraus ergiebt sich dann
von selbst, welche wichtige EloUe bei der
Ermittelung des Ertrags der Grundstücke
der Kenntnis der darauf zur Anwendung
gelangenden Kulturgattung zukommt.
Die Eruieruug der Kulturgattungen durch
die Oi'gane der Steuer Verwaltung bietet nun
auch noch keine besonderen Schwierigkeiten.
Sie sind ja äusserlich gerade so wahrnehm-
bar wie das Grundstück an sich, seine
Lage, Form und Grosse. Hier hat die
Katastrienmg also noch immer eine leichte
Aufgabe.
Da die Kulturgattung bei der Beurteilung
des Ertrages der Grundstücke eine so wich-
tige RoUe spielt, so ist es leicht begreiflich,
dass sie ebenso wie die einer jeden Parzelle
auf der Flurkarte beigefügte Nummer und
die Grosse der ersteren zu den im Kataster
ersichtlich zu machenden Daten über die
Verhältnisse der einzelnen Parzellen zu
zählen ist. Diese Ersichtlichmachung wird
dadurch vollzogen, dass im Parzellenver-
zeichnisse bei jeder Nummer auch die Grösse
der betreffenden Parzelle und die Kultur-
gattung, in welche dieselbe gehört, einge-
tragen werden.
10. Abschlnss der Vorbereitangen
zur ErtragsschätzuDg. Das mit den bis-
her besprochenen Daten versehene Parzellen-
verzeichnis hat selbstverständlich keine an-
dere Bedeutung als die einer zweckmässigen
Handhabe zur Durchführung der den Zweck
der ganzen Katastrienmg bildenden Schätzung
des Ertrages der Parzellen. Es soll die-
jenigen auf diese bezüglichen Daten zu-
sammenstellen, welche für jene Schätzung
von Bedeutung und äusserlich leicht wahr-
nehmbar sind und überdies mit Worten
oder Ziffern leicht ausgedrückt werden
können; andererseits hat die Katastralkarte
über diejenigen Verhältnisse Aufschluss zu
geben, welche nur mit Hilfe bildlicher Dai*-
stellimg zum Ausdrucke gebracht werden
können, also über die Form und gegenseitige
Lage der Parzellen. In letzterer Beziehung
kann die Handlichkeit des ganzen Kataster-
werkes nicht unwesentlich dadm*ch gefördert
werden, dass Karte und Parzellenverzeichuis
ausser mit den in erster Linie ziu* Ermög-
lichung der Aufsuchung der Parzellen in
beiden bestimmten Nummern auch noch mit
möglichst genauen Bezeichnungen der Oert-
lichkeiten, in welchen die einzelnen Parzellen
sich befinden, ausgestattet werden. Das
Nächstliegende ist hier natürlich die Be-
zeichnung der Gemeinde. Es ist aber mit
ganz geringer Mühe verbunden und dabei
doch selu* nützlich, wenn die Bezeichnung
eine noch genauere ist und sich auch auf
die Aufnahme der Namen einzelner Gegen-
den (Riede, Fluren etc.) innerhalb der Ge-
meinden erstreckt. Jedenfalls ist eine solche
nähere Bezeichnung bei Gemeinden mit
ausgedehntem Gebiete am Platze.
Mit der Anfertigung der Karte und des
Parzellenverzeichnisses erscheinen die Vor-
bereitungen für die Ertragsermittelung ab-
geschlossen und das Katasterwerk reif zur
Verwendung als Grundlage für diesen
weiteren und wichtigsten Teil der ganzen
Veranlagungsarbeit.
11. Die Ertragsschätzung im allge-
meinen. Da die Aufgabe des Katasters
darin besteht, das Material für die Veran-
lagung der Grundsteuer nach Massgabe des
Ertrages zu liefern, so kann das Kataster
selbstverständlich erst dann als abgeschlossen
betrachtet werden, wenn es auch diesen bei
einem jeden Grundstücke ersichtlich macht.
Ja strenge genommen brauchte es ausser
der Bezeichnung der Grundstücke überhaupt
nichts weiter zu enthalten als die Angaben
über den ermittelten Ertrag. Die Aufnahme
von Angaben in betreff der Form, Lage,
Grösse und Kultm-gattung bezweckt nm* die
Herbeischaffung von Materialien zur befrie-
digenden Durchführung der Ermittelung des
Ertrages. Denn gerade bei der Lösung
dieser Hauptaufgabe der ganzen Veranlagungs-
arbeit beginnen erst die Schwierigkeiten
derselben. Eben diese sind es, welche die
bisher besprochenen Vorbereitungsarbeiten
notwendig machen. Beständen dieselben
nicht, wäre die Feststellung des Ertrages
894
Grundsteuer
der Grundstücke eben so leicht, wie die-
jenige der äusseren Kennzeichen derselben,
80 könnte unmittelbar an jene gegangen
werden.
Wodurch die Schwierigkeiten der Ertrags-
ermittelung herbeigeführt werden, wurde
schon oben auseinandergesetzt. Es handelt
sich also jetzt nur melir um das behufs
üeberwindung jener Schwierigkeiten Vorzu-
kehrende.
Es ist klar, dass die Lösung der Auf-
gabe, vor welche die Staatsgewalt hier ge-
stellt ist, eigentlich nur dann eine voll-
ständig befriedigende wäre, wenn der Ertrag
eines jeden Gnmdstückes durch eine voll-
ständig sichere ziffermässige Feststellung
ermittelt werden würde. Die Praxis hat
es aber kaum jemals versucht, eine derartige
Ertragsermittelung durchzuführen, weil sie
über die Schwierigkeiten, die eiuem der-
artigen unternehmen entgegenstehen würden,
durch die Erfahrung in genügendem Masse
belehrt worden war, um auf dasselbe von
vornherein zu verzichten.
Die auf die möglichste Yermindenmg
der eigenen Steuerlast gerichteten Bestre-
bungen aller einzelnen Steuerträger machen
nämlich dem Staate schon von vornherein
eine eigentliche »Ermittelung« des Ertrages
der Grundstücke unmöglich. Infolgedessen
ist die Staatsverwaltung darauf angewiesen,
sich mit blossen schätzungsweisen Feststel-
lungen zu begnügen. Die Ermittelung des
Grundertrages erfolgt also nur im Wege
einer Schätzung desselben.
Uebrigens wird selbst diese blosse Er-
tragsschätzung in der Praxis nicht in
jener Weise durchgeführt, welche im Hin-
blick auf das dabei verfolgte Ziel eigentlich
angewendet werden sollte. Hierzu wäre ja
im Grunde genommen die individuelle
Schätzung einer jeden einzelnen Parzelle
notwendig. Die Praxis hat aber auch diese
als undurchführbar erkannt und sich dem-
gemäss ganz allgemein für ein Schätzungs-
verfahren entschieden, bei welchem nur auf
die generellen Merkmale der Ertragsfähigkeit
Rücksicht genommen wird und die Grund-
stücke demnach nicht individuell, sondern
nur generell beurteilt werden.
12. Ertrag-skataster oder Wertka-
taster? Uebrigens hat auch die bloss
generell durchzuführende unmittelbare Schät-
zung des Ertrages der Parzellen sich in der
Praxis stets als ein so schwieriges Werk
erwiesen, dass mehrfach daran gedacht wor-
den ist, diese Lösung auf indirektem Wege
zu vereuchen. Ausgehend nämlich von der
Annahme, dass zwischen dem Ertrage und
dem Werte der Grundstücke eine derart
feste Relation besteht, dass von diesem
Werte auf jenen Erfrag geschlossen werden
könne, ist angenommen worden, dass es
zweckmässiger sei, statt des Ertrages den
Wert abzuschätzen und die Grundsteuer auf
Grund der Resultate dieser Wertermitte-
lung umzulegen, weO der Wert der Grund-
stücke leichter zu ermitteln sei als ilir Er-
trag.
In der Praxis hat diese Argumentation
freilich nicht viel Beifall gefunden. Nicht
als ob schlechthin hätte bestritten wei-den
wollen, dass die Ermittelung des Wertes
der Grundstücke leichter sei als die des
Ertrages. Für die Wertermittelung bieten
Kaufverti'äge, Erbteilungen und dergleichen
so viele verhältnismässig leicht erfassbare
Anhaltspunkte, dass jene Behauptung immer-
hin als eine mit guten Gründen verfechtbare
angesehen werden muss. Aber die An-
nahme, dass der Wert der Grundstücke
einen sicheren Anhaltspunkt für die Beiur-
teüung des Ertrages derselben biete, ist
ganz unhaltbar. Es ist ja allgemein bekannt^
dass jener Wert sich durchaus nicht nach
diesem Ertrage allein richtet, sondern noch
von verschiedenen anderen Momenten beein-
fiusst wird. Man unterscheidet ja vielfach
geradezu zwischen einem Ertrags- und
einem Verkehrswerte der Grundstücke. Da
man nun bei keiner von jenen geschäftlichen
Transaktionen, welche Gelegenheit bieten
könnten, bestimmte Auskünfte über eine
gewissen Realitäten seitens der Interessenten
zu teil gewordene Schätzung zu erlangen,
wissen kann, welche Momente dieselbe
eigentlich beeinflusst haben, so bliebe doch
in allen einzelnen Fällen behufs Erreichung
einer zweckentsprechenden Ertragssehätzung
nichts übrig, als den Ertrags wert speciell
zu ermitteln. Dies ist aber offenbar nicht
anders möglich als — durch vorherige Er-
mittelung des Ertrages.
Hierzu kommt dann noch, dass eine
Hauptgrundlage der ganzen, für den Ver-
zicht auf die direkte Ertragsschätzung zu
Gunsten einer Wertermittelung ins Feld
geführten Argumentation als eine sehr un-
sichere bezeichnet werden muss. Die An-
nahme des Bestandes einer festen Relation
zwischen dem Werte und dem Ertrage der
Grundstücke beruht nämlich auf der Vor-
aussetzung, dass die Bodenerträge, welche
den Bezugsberechtigten zufliessen, eine
diu*chwegs gleichmässige Verzinsung des
durch die Grundstücke repräsentierten Ka-
pitals darstellen. Hiervon kann aber im
Hinblick auf die grossen Verschiedenheiten^
welche der Zinsfuss unter verschiedenen
örtlichen und zeitlichen Verhältnissen auf-
weist, doch offenbar keine Rede sein.
Allerdings ist die Ermittelung des Er-
trages der Grundstücke auf Grund des
Wertes derselben durchaus keine unerläss-
liche Bedingung der Veranlagung der Grund-
steuer mit Hilfe einer Wertermittelung.
Grundsteuer
895
Es ist vielmehr ganz gut ^möglich — und
in der Praxis auch schon unternommen
worden — , die Grundsteuer direkt aut Grund
des ermittelten Wertes zu veranlagen resp.
sie als Quote desselben umzulegen. Es er-
hellt aber sofort, dass hiermit die Schwierig-
keit, welche sich aus der Ungewissheit über
die Relation zwischen Ertrag und Wert er-
giebt, nur umgangen, nicht behoben wird.
Denn auch bei einem derartigen Vorgehen
muss ia schliesslich doch der Ertrag als die
eigentliche Basis der Steuer — die doch
immer aus diesem bezahlt werden soll —
ins Auge gefasst werden. Die immittelbare
Umlegung der Steuer nach Massgabe des
Wertes kann daher nur durch die Annahme
gerechtfertigt werden, dass zwischen diesem
und dem Ertrage stets dasselbe Verhältnis
besteht; denn nur in diesem Falle kann
eine gleichmässige ümlegung nach dem
Werte zugleich auch als eine gleichmässige
Belastung des Ertrags gelten. Das hier be-
sprochene Vorgehen beruht mithin ganz
imd gar auf jener Supposition, deren Un-
richtigkeit soeben schon ein unwiderleg-
bares Argument gegen die Annahme,
dass die Veranlagung der Grundsteuer nach
dem Bodenwerte zweckmässig sei, geliefert
hat.
Hierzu kommt noch die weitere Erwä-
gimg, dass die zuverlässige Ermittelung des
Wertes der Gnmd stücke nicht einmal so
leicht ist, wie die Anhänger des Wertka-
tasters glauben machen wollen. Insbeson-
dere ist es nicht so leicht, dafür jene feste
Grundlage, welche allein der Grundsteuer-
veranlagimg auf Gnmd eines Wertkatasters
einen wesentlichen Vorzug vor derjenigen
auf Grund eines Ertragskatasters verschaffen
könnte — nämlich Daten aus thatsächlich
abgeschlossenen Kaufverträgen — in aus-
reichendem Masse zu beschaffen. An sich
ist es gewiss nicht allzuschwer, die Beträge,
um welche Grundstücke gelegentlich ver-
kauft worden sind, zu ermitteln. Aber
wenn auf dieses Hilfsmittel eine allgemeine
Wertermittelung basiert werden soll, so ist
es ja eben notwendig, im ganzen Gebiete
des betreffenden Staates eine grosse Anzahl
von Kaufverträgen, die sich auf Grundstücke
der verschiedensten Art in den verechie-
densten Gegenden beziehen, herbeizuschaffen.
Nun geht aber bekanntlich der Besitzwechsel
von Grundstucken auch in unserer Zeit
noch durchaus nicht so rasch von statten,
dass es leicht möglich wäre, dieser For-
derung zu genügen — insbesondere dann,
wenn es sich um Verträge handelt, die
sämtlich aus einem nicht gerade sehr langen
Zeitraume herrühren. Dass letzteres der
Fall sei, muss aber verlangt werden, weil
ja auch der Boden in seinem Werte
scliwankt und daher auf einen langen Zeit-
raum verteilte Daten der notwendigen
Gleichmässigkeit entbehren.
Dazu kommt dann noch, dass die Käufe
und Verkäufe von Gnindstücken in den
weitaus meisten Fällen nicht bloss Parzellen
umfassen, sondern sich auf ganze — mehr
oder weniger grosse — Güter erstrecken,
also nur für eine Schätzung von Gütern,
nicht aber von Parzellen Material liefern.
Auf dieser Grundlage könnte also die Ver-
anlagung der Grundsteuer nur in einer
Form realisiert werden, welche der moderne
Staat längst schon als ungenügend erkannt
hat.
Noch weniger als die aus Anla^s von
Käufen und Verkäufen erfolgten sind die
l>ei anderen Gelegenheiten stattgefundenen
Bewertungen von Grundstücken als Basis
der Veranlagung der Grundsteuer verwert-
bar. Es ist ja bekannt genug, dass diese
Bewertungen oft Resultate zu Tage fördern,
die vom wirklichen Werte der betreffenden
Objekte sehr weit entfernt sind.
Alle diese Erwägungen haben die Praxis
bestimmt, meistenteils die Grundsteuerver-
anlagung mit Hilfe der Ennittelung des
Wertes der Parzellen zu verwerfen und sich
für die Feststellung des Ertrages derselben
zu entscheiden.
13. Die Ertragsschätznng. a) Die
Aufstellting der Bonitätsklassen. Das
Verfahren bei der Durchführung der Er-
tragsschätzung im Wege der von der Praxis
bevorzugten generellen Beurteilung der
Gnindstücke besteht in der Aufstellung von
Klassen von solchen und in der Einreihung
jedes einzelnen in eine dieser Klassen.
Unter einer »Klasse« von Gnindstücken
ist die Gesamtheit aller derjenigen in eine
Kulturgattung gehörenden zu verstehen,
deren Ertragsfähigkeit bei gleich grosser
Fläche die gleiche ist. Eigentlich kann
kaum die Rede davon sein, dass es auch
nur zwei Grundstücke gebe, bei denen diese
Voraussetzung vollständig zutrifft. Eben
die Aufstellung der Annahme, dass es
dennoch zidässig sei, solche Klassen zu bil-
den, macht das Wesen der generellen Er-
tragsschätzung aus. Es wird hierbei ange-
nommen, dass für jede Kulturgattung ge-
wisse Abstufungen der Produktionskraft
(Bonität) bestehen, für deren jede eine ge-
wisse Ertragsziffer pro Flächeneinheit als
typisch hingestellt wird. Natürlich winl es
hierbei als zulässig angesehen, sich darüber,
dass nur wenige Grundstücke diese typische
Ertragsziffer wirklich haben, hinwegzusetzen.
Diese Ertragsziffer ist eben als Durchschnitt
der für alle Grundstücke, welche auf die
gleiche Stufe der Bonität gestellt werden
sollen, anzunehmenden aufzufassen. Wenn
diese Durchschnittsziffern nicht allzuweit
auseinanderliegen, so kann auch zweifellos
896
Grundsteuer
über die Abweichungen der wirklichen Er-
träge der einzelnen Grundstücke von den
als typisch hingestellten hinweggegangen
werden, ohne dass diese Abweichungen eine
irgend erhebliche Ungleichmässigkeit der
Veranlagung verschulden können.
um nun in dieser Beziehung ein hin-
reichendes Mass von Genauigkeit zu ver-
langen, wird das Territorium eines grösseren
Staates vorerst in kleine Abschnitte (Schät-
zungsbezirke) geteilt, deren jeder innerhalb
seiner Grenzen eine gewisse Gleichmässig-
keit der Bedingungen der Bewirtschaftung
des Bodens aufweist und allzu grelle Diffe-
renzen in dieser Beziehung ausscliliesst.
Wird bei der Bestimmimg dieser Bezirke,
deren jeder als ein in sich abgeschlossenes
Gebiet der Schätzungsthätigkeit der mit der
Yeranlagung der Grundsteuer zu betrauen-
den Organe anzusehen ist, in rationeller
Weise vorgegangen, so kann man mit ver-
hältnismässig wenig Bonitätsklassen — die
dann eben für jeden Sehätzungsbezirk be-
sonders aufgestellt werden — das Auslan-
gen finden. Die Piuxis hat sich für die
Annahme von 6 — 8 solcher Klassen ent-
schieden.
Die Skala dieser Bonitätsklassen hat also
bereits ziffermässige Angaben über die Er-
träge zu enthalten, welche auf jeder Flächen-
einheit nutzbaren Bodens bei ortsüblicher
Bewirtschaftungsart je nach der Bonität des
Bodens zu er\yarten sind. Es ist selbstver-
ständlich, dass die Feststellung der in diese
Skala (in den Klassifikationstarif) aufzu-
nehmenden Beträge bereits von entschei-
dender Bedeutung füi* das Gelingen des
ganzen Werkes ist.
Zu diesem Zwecke werden überall als
Repräsentanten der einzelnen Bonitätsklassen
geeignete Parzellen (Normal- oder Muster-
frundstücke) ausgewählt und diese als
ypen für alle anderen in dieselbe Klasse
einzureihenden behandelt. Nur die Erträge
dieser Mustergrundstücke werden effektiv
geschätzt, während die Veranlagungsarbeit
hinsichtlich aller aüderen Parzellen sich auf
die Lösung der Frage beschränkt, welchem
der Mustergrundstücke jede dei-selben gleich-
zustellen ist.
Bei dieser Ermittelung der Reinerträge
der Mustergrundstücke zeigt sich nun die
ganze Schwierigkeit der Durchführung der
Schätzung. Wohl ist es leicht, als allge-
meinen Grundsatz hierfür die selbstver-
ständliche Elegel aufzustellen, dass als Rein-
ertrag aller in eine bestimmte Bonitätsklasse
gehörenden Grundstücke jene Geldsumme
anzunehmen ist, welche bei dm^chschnitt-
Hclier Tüchtigkeit des ein solches bewirt-
schaftenden Individuums nach den ortsüb-
lichen Bewirtschaftungsmethoden vom Ver-
kaufs werte der im Jahre durchschnittlich
zu erwartenden Produkte nach Abzug der
unter gleichen Voraussetzungen auf die Er-
zielung derselben zu verwendenden Kosten
übrig bleibt. Desto schwieriger ist aber die
praktische Durchführung der Regel. Die
leichtere Hälfte dieser Aufgabe büdet noch
die Ermittelung des Wertes der zu er-
wai-tenden Produkte (des Bruttoertrages).
Die von einer bestimmten Bodenfläche all-
jährlich zu erwartende Menge von Produkten
ist doch so weit notorisch, dass ein mit den
einschlägigen Verhältnissen lialbwegs Ver-
trauter hierüber nicht leicht in allzu hohem
Masse hinters lAcht geführt werden kann,
während hinsidithch der Preise derselben
geradezu von vollständiger Notorietät ge-
sprochen werden darf.
Desto schwieriger sind aber die Pro-
duktionskosten festzustellen. Hat doch ein
grosser Teil der Landwirte hierüber selbst
kein ganz klares Urteil. Insbesondere gilt
dies von der so zahlreichen Klasse der Uiren
Boden mit eigener Hand bebauenden Land-
wirte, denen meistenteils jener Grad wirt-
schaftlicher Bildung abgeht, welcher nötig
wäre, um sie zu einem solchen Urteile zu
befähigen. Andererseits handelt es sich hier
nicht um offenkundige, sondern vielmehr um
solche Thatsachen, welche sich der allge-
meinen Kenntnis fast vollständig entziehen.
Hier bietet sich demnach den Interessenten
nur zu viel Gelegenheit, die Ertragsfähig-
keit ihrer Grundstücke viel geringer er-
scheinen zu lassen, als sie wirküch ist. Und
dass diese Gelegenheit seitens der Beteiligten
in vollstem Masse benutzt wird, liat die Er-
fahrung reichlich gelehrt. Dieselben waren
stets bestrebt, ilu-e Bewirtschaftungskosten
möglichst hoch erscheinen zu lassen — ein
Streben, das auch meist von Erfolg begleitet
war und zu Klassifikationstarifen geführt
hat^ welche hinter der Wirklichkeit oft sehr
weit zurückbleiben.
Besondere Eigentümlichkeiten bietet die
Ertragsschätzung bei den Waldungen. Die
langen Betriebsperioden der Forstwirtschaft,
die eine jährhche Aussaat imd Ernte aus-
schliessen, machen liier die Ermittelung
eines jähi'üch wiederkelirenden Reinertrags
ganz unmöglich. Kein Mensch kann vor-
aussehen, welchen Preis das Holz zur Zeit
des Abtriebes haben wird und wie sich
dann die Bringungskosten — die ja bei den
Wäldern im allgemeinen den am schwersten
ins Gewicht fallenden Teil der Preduktions-
auslagen ausmachen — stellen werden. Es
bleibt daher bei den Waldungen nichts
übrig, als jenes Holzquantmn, welches auf
jeder einzelnen Parzelle alljährlich zuwächst
(den jährlichen Holzzuwachs), festzustellen
und hieraus unter Zugrundelegung der ziu:
Zeit der Schätzimg bestehenden Preisver-
hältnisse des Holzes und mit Hilfe einer in
L
Grundsteuer
897
analoger Weise erfolgenden Berechnung der
Bringungs- und sonstigen Produktionskosten
einen fiktiven jährlichen Beinertrag zu be-
rechnen. Streng genommen sollten hierbei
die Nebennutzungen des Waldes auch noch
mit in Bechnung gezogen werden; in der
Praxis ist dies aber meistens unterlassen
worden. Es ist hienach klar, dass die Er-
mittelung des Beinertrages bei den Wäldern
noch schwerer mit Verlässlichkeit durchzu-
führen ist als bei den anderen Kultur-
gattungen. Der jährliche Holzzuwachs ist
eine so wenig greifbare Grösse, dass es
schon ganz besonderer Sachkenntnis bedarf,
lun ihn mit einiger Garantie der Bichtigkeit
abzuschätzen.
b) Die Einreihung der einzelnen
Parzellen in die Bonitätsklassen. Nach
der Feststellung der Bonitätsklassen erübrigt
noch der Abschluss des ganzen Schätzungs-
geschäftes: die Einreihung der einzelnen
Parzellen in den Tarif (die Bonitierung oder
Klassifizierung derselben). Diese Arbeit
bietet keine besonderen Schwierigkeiten
mehr. Sie findet in kleinen Sprengern und
unter unmittelbarer gegenseitiger Beauf-
sichtigung durch die einzelnen Interessenten
statt, welche um so wirksamer ist, als es
sich ja hier nur mehr um die Feststellung
des Verhältnisses handelt, in welchem die
einzelnen Gnmdstücke hinsichtlich ihrer
Güte zu einander stehen — eines Verhält-
nisses, das innerhalb der hier in Betracht
kommenden Sprengel ein ziemlich notorisches
zu sein pflegt. Bei dieser Arbeit dürften
daher die mit der Veranlagung betrauten
Organe in der Begel zu Resultaten gelangen
können, welche eine ziemliche Garantie der
Verlässlichkeit bieten.
Eine hier zu beantwortende Frage be-
trifft die Behandlung jener Gnmdstücke,
bei welchen der Eigentümer auf jeden Er-
trag absichtlich verzichtet, weil er sie
anderen als den Zwecken der Bewirtschaf-
tung (dem Vergnügen) widmet. Diese Frage
wird allgemein dahin beantwortet, dass hier
auf dieses Vorgehen des Grundbesitzers
keine Rücksicht zu nehmen ist, sondern die
Grundstücke so zu behandeln sind, als wenn
sie zu jener Kultmr, zu welcher sie sich
ihrer Beschaffenheit nach eignen, wirklich
verwendet würden.
14. Vollendiuig des Katasters. Was
nach der Bonitierung der (Grundstücke noch
zu thim übrig bleibt, um das Kataster zu
vollenden und die (Grundsteuer ins Leben
zu rufen, sind nur noch unbedeutende
Manij)ulationsarbeiten. Es handelt sich daim
lun die Ermittelung der für jedes einzelne
Grundstück nach dem Resultate seiner Ver-
messung imd Klassifizierung zu berechnen-
den Reinertrags- und der aus dieser und
dem zur Anwendung gelangenden Steuer-
fusse — welcher seinen Ausdruck in der
Normierung der Höhe der Grundsteuer- in
Prozenten des Reinertrags zu finden hat —
zu berechnenden Steuerziffer. Mit der Ein-
setzung dieser Ziffern neben die sonstigen,
in betreff jeder Paraelle anzuführenden
Daten — zu welchen auch noch der Name
des Eigentümers gerechnet zu werden
pflegt — wird das Kataster gewöhnlich als
vollendet angesehen. Doch kommt es vor,
dass ausser dieser Fertigstellung der die
Parzellen betreffenden Verzeichnisse auch
noch besondere, die Gtiter betreffende (Flu-
renbücher) angelegt werden, welche alle in
den ersteren Verzeichnissen hinsichtlich der
Parzellen ausgewiesenen Daten auch hin-
sichtlich der Güter enthalten und ausserdem
noch die ParzeUen, aus welchen diese be-
stehen, ersehen lassen.
16. Einhebung der G. Auch diese
bietet keine Schwierigkeiten mehr. Nach-
dem die Grundbesitzer einmal von der
Höhe der für jede einzelne ihrer Parzellen
ermittelten Grundsteuer verständigt worden
smd, treten die Steuereinhebungsorgane des
Staates in ihre Funktion, welche vermöge
der Sicherheit, die das Objekt der Grund-
steuer, das natürlich stets für dieselbe zu
haften hat, bietet, eine selir leichte ist.
Schwierigkeiten können sich höchstens im
FaUe des Eintrittes einer jener Katastrophen
ergeben, welche den Ertrag eines Jahres —
bei Wäldern auch vieler Jalire — gänzlich
oder grossenteUs vernichten : Ueberschwem-
mungen, Hagelschläge, Brände, Fröste, In-
sektenfrass etc. Da die meisten dieser Ka-
tastrophen innerhalb gewisser, freilich oft
sehr weit auseinanderliegender Zeiträume
wiederzukehren pflegen, so wäre es theore-
tisch eigentlich am richtigsten, schon bei
der Reinertragsermittelung hierauf Rück-
sicht zu nehmen. Da aber in derlei Fällen die
Grundbesitzer häufig in schwere Notlage
geraten imd geradezu zahlungsunfäliig
werden, so wurde es mehrfach als zweck-
mässiger angesehen, den Weg der direkten
Berücksichtigimg jedes einzelnen derartigen
Ereignisses einzuschlagen und den Be-
troffenen aus diesem Titel entsprechende
Nachlässe an der Grundsteuer (oder Ersätze
der Steuerzahlungen) zu gewähren.
16. Evidenzhaütnng und Revision des
Katasters. Die Anfertigung eines Parzellen-
katasters ist, wie sich aus der vorstehenden
Darstellung der dabei auszuführenden Ar-
beiten ergiebt, ein so schwieriges, zeit-
raubendes und mit solchem Arbeits- und
Kostenaufwande verbundenes Werk, dass es
als ganz selbstverständlich erscheint, dass
das einmal vollendete Kataster stets für
längere Zeit Geltung haben soll. Nun er-
geben sich aber in den Verhältnissen der
Grundstücke stets so viele Aenderungen,
Handwörterbnch der StaatswiasexischafteiL. Zweite Auflage. IV.
57
898
Grundsteuer
dass ein Kataster, in welchem diese nicht
berücksichtigt werden, nach kurzer Zeit
viele unrichtige Daten enthalten muss. In
mancher Beziehung liegt es in der Natur
des Katasters, dass jene Aenderungen darin
nicht berücksichtigt werden können. Es
gilt dies vor allem von den beiden Haupt-
ergebnissen der Katastrierungsarbeit : der
Ermittelung der Klassifikationstarife und der
Klassifizierung der Parzellen. Die Ertrags-
schätzimg ist bei jeder Katasterveranlagung
in betreff jeder einzelnen Parzelle im Zu-
sammenhange mit der Schätzung aller üb-
rigen erfolgt, und eine etwaige Veränderung
am Ertrage einer einzelnen Parzelle kann
daher auch nicht anders berücksichtigt
werden als eben wieder im Wege einer
Vergleichung desselben mit dem Ertrage
aller übrigen Parzellen. Es kann sich mit-
hin bei der Berücksichtigung der Verände-
rungen an den einzelnen Parzellen im Ka-
taster (bei der Evidenzhaltung desselben)
nur um Veränderungen an denjenigen in
dieses aufgenommenen Daten handeln, bei
welchen eine solche gesonderte Berück-
sichtigung möglich ist, ohne dass hierdurch
solche Teile des Katasterwerkes berührt
werden, deren Zusammenhang mit den üb-
rigen jene Berichtigimg als unthunlich er-
scheinen lässt. Die Daten, bei denen dies
zweifeDos der Fall ist, sind : die Person des
Besitzers, das etwaige gänzliche Ver-
schwinden oder die Neuentstehung einzelner
Parzellen, endlich die Abgrenzung und der
Umfang derselben. Diese Daten bilden
denn auch in der Praxis die gewöhnlichen
Objekte der Evidenzhaltungsthätigkeit. Auch
Aenderungen in den Kulturgattungen könnten
ohne sonderlichen Anstand bei derselben
Berücksichtigung finden. Die Praxis hat
sich aber vorwiegend für die Nichtberück-
sichtigung dieser Aenderungen entschieden :
hauptsächlich in der Erwägung, dass Kul-
turänderungen in unserer Zeit des Fort-
schrittes fast ausnahmslos in der Richtung
des üeberganges von einer weniger rentablen
zu einer rentableren Kulturgattung erfolgen
und dass es wünschenswert sei, die Grund-
besitzer zu solchen Aenderungen dadurch
aufzumuntern, dass ihnen die Vorteile aus
denselben eine gewisse Zeit hindurch ohne
sofortige Erhöhung ihrer Steuerlast zu-
fliessen.
Diese Beschränkung der Evidenzhaltungs-
thätigkeit bringt es mit sich, dass jedes
Kataster nach Verlauf einer gewissen Zeit
veraltet. Die Ertragsverhältnisse der ein-
zelnen Parzellen ändern sich allmählich und
zwar nicht nur absolut, sondern auch relativ.
Infolgedessen muss eine ursprünglich in
gleichmässiger Weise erfolgte Verteilung
der Gnmdsteuerlast auf die einzelnen Par-
zellen allraählich zu einer ungleichmässigen
Belastung derselben werden. Diesem Uebel-
stande kann nur eine zeitweilige Revision
der ganzen Schätzung abhelfen. Die Vor-
nahme solcher Revisionen nach Ablauf be-
stimmter Zeiträume ist denn auch hie imd
da geradezu gesetzlich angeordnet worden.
17. Nützen des Katasters für andere
als Besteuemngssswecke. Wenn das
Kataster auch in erster Linie den Zwecken
der ümlegung der G-rundsteuer zu dienen
hat, so ist sein Nutzen doch durch diese
Verwendung nicht erschöpft. Es spielt
nämlich auch eine wichtige RoUe bei der
zweckentsprechenden Einrichtung jener für
die befriedigende Gestaltung der Verhält-
nisse des Bodenkredits so wichtigen öffent-
lichen Aufzeichnungen über die beim Im-
mobilienbesitze bestehenden Eigentums- imd
Belastungsverhältnisse, welche unter dem
Namen Grundbücher (auch Flur-, Ge-
währ-, Pfand- etc. Bücher oder Landtafeln)
bekannt sind. Sollen diese Bücher ihrem
Zwecke, einem ziu- Gewähnmg von Hy-
pothekardarlehen geneigten Kapitfidisten jeder-
zeit Auskunft über die Sicherheit zu geben,
welche die als Pfand angebotene Realität
zu gewähren imstande ist, genügen, so muss
aus denselben nicht nm* der Eigentümer
und der Lastenstand, sondern auch der
Wert dieser Realität entnommen werden
können. Zur Beurteilung des letzteren
bieten nun die Daten des Katasters, so
ungenau die darin niedergelegten Ertrags-
schälzungen auch sein mögen, stets einige
Anhaltspunkte. Um diese Anhaltspunkte
den Zwecken des Hypothekarkredits dienst-
bar zu machen, ist weiter nichts notwendig
als die Publicität des Katasters und die
Herstellung eines entsprechenden Zusammen-
hanges zwischen den in diesem und in- den
Grundbüchern vorkommenden Realitäten-
bezeichnimgen. Das letztere Ziel kann, da
die Grundbücher nur über die an den
Gütern bestehenden Rechtsverhältnisse A\\&-
kimft zu geben bestimmt sind, schon da-
durch allein erreicht werden, dass darin
bei jedem Gute auch die Parzellen, aus
welchen dasselbe besteht, mit ihren Ka-
tastralbezeichnungen ersichtlich gemacht
werden ; doch kommt auch die unmittelbare
Aufnahme der Grösse und des Ertrags der
Güter in die Grundbücher vor, welche in
solchen Fällen schon auch selbst als Be-
standteil des Katasterwerkes anzusehen sind.
18. Kritik der G. Bei einer Kritik der
Grundsteuer ist in erster Linie daran zu
erinnern, dass sie eine Ertragssteuer ist.
Alles, was über diese allgemeines gesagt
werden kann, trifft auch bei jener zu und
es kann daher hier in dieser Beziehung auf
das oben im Art. Ertragssteuern Bd. LH
S. 7 28 ff. Gesagte verwiesen werden.
Besonders hervorzuheben wäi^ nm\ dass
Gnindsteuer
899
die den Ertragsstenern eigene Starrheit bei
der Ghnindsteuer in ganz hervorragendem
Masse hervortiitt. Die Unmöglichkeit einer
regelmässigen Berücksichtigung der an ihrer
Veranlagungsbasis eintretenden Aendeningen
lässt bei ihr eine der etwaigen Vergrösserung
des Staatsbedarfes sich anschmiegende Er-
höhung als ganz unthunlich erscheinen, weil
durch eine solche die aus jenen Aendeningen
entspringenden Unregelmässigkeiten nur
noch potenziert werden würden. Anderer-
seits hat aber gerade diese Unthunlichkeit
von Aendeningen an der Gnindsteuer die
Folge, dass dieselbe mehr als jede andere
Ertragssteuer der Gefahr unterworfen ist,
zu einer auf ihrem Objekte haftenden Real-
last zu werden. Diese Gefahr ist bei ihr
um so grösser, als der unmittelbare Zu-
sammenhang der Verpflichtung zur Leistung
der betreffenden Zahlungen mit einem be-
stimmten, einen Ertrag liefernden Objekte
hier in ganz besonderem Masse wahrnehm-
bar ist, ein Umstand, der es mit sich bringt,
dass jede Grundsteuer nach Ablauf einer
gewissen Zeit zu einem, den Kapitalswert
der Gnmdstücke beeinflussenden Faktor
wird, als solcher bei jedem Besitzwechsel
Berücksichtigung findet und als amortisiert
erscheinen muss, sobald ein erheblicher Teil
der Grundstücke nach der Auflegiing der
Steuer seinen Besitzer gewechselt hat. Ks
kann daher nicht wunder nehmen, dass es
vorgekommen ist, dass die Grundsteuer auch
in Staaten, welche sonst alle Ertragsstenern
aufgegeben und durch eine Einkommensteuer
ersetzt haben, beibehalten, ja geradezu als
eine Reallast wie jede andere behandelt
und infolgedessen für ablösbar erklärt
worden ist.
Aber auch abgesehen von diesem aus
der Natur der Grundsteuer als einer Ertrags-
steuer hervorgehenden und ihren Charakter
als Steuer völlig in Fftige stellenden Ge-
brechen leidet die Grundsteuer an dem
schweren Mangel, dass ihre auch nur dem
Grundgedanken des Ertragssteuersystems
entsprechende Durchführung sich in der
Praxis als ein geradezu unlösbares Problem
herausgestellt hat. Sie soU eine gleich-
massige Belastung aller einzelnen Teile des
innerhalb des betreffenden Staates erziel-
baren Grundertrags bilden. Nim hat sich
aber bereits wiederholt gezeigt, dass —
wenigstens mit Hilfe der bisher zur An-
wendung gelangten Veranlagungsmethoden
— das angestrebte Ziel nicht erreicht werden
kann. Denn der Egoismus der Interessenten
hat sich immer noch als stärker erwiesen
als alle Massregeln, welche der Staat zum
Zwecke der sicheren Ermittelung des Rein-
ertrages der Grundstücke ausfindig machen
konnte. In dieser Beziehung hat auch das
ParzeUenkataster keine besonders befriedi-
genden Resultate geliefert. Die Gelegenheit
zur Erlangung einer niedrigen Ertrags-
schätzung, welche die Aufstellung der Klassi-
fikationstarife bietet, ist von den Beteiligten
stets reichlich ausgenützt worden. Die
Bildung dieser Tarife kann der Natur der
Sache nach nur mit Hilfe von Sachverstän-
digen, die aus der Mitte der Interessenten
innerhalb der jeweils in Betracht kommen-
den Schätzungsbezirke genommen werden,
erfolgen, und jeder dieser Sachverständigen
ist naturgemäss stets bestrebt, seinem Be-
zirke hierbei möglichst niedrige Ein-
schätzungsziffem zuzuwenden. Es ist hier
der wahre Tummelplatz der rivalisierenden
lokalen Interessen, deren Ueberwuchern um
so schwerer hintanzuhalten ist, als es dabei
eigentlich keine Möglichkeit einer zuver-
lässigen Kontrolle giebt. Denn eine solche
Kontrolle könnte nur durch Unparteiische
vorgenommen werden. Solche sind aber
innerhalb der betreffenden Schätzungs-
bezirke kaum zu erlangen, da Sachver-
ständige, welche nicht zugleich Interessenten
an der Grundsteuerveranlagimg oder doch
Sachwalter von solchen sind, nur in äusserst
geringer Zahl aufgetrieben werden können.
Die Kontrollorgane müssen also ausserhalb
der zu kontrollierenden Bezirke aufgesucht
werden. Den Angehörigen anderer Bezirke
fehlt; nun aber — abgesehen von der auch
nicht zu verachtenden Rücksichtnahme auf
die Gegenseitigkeit in der Schonung der
respektiyen Interessen seitens der aus ver-
schiedenen Bezirken genommenen Kontroll-
personen — fast immer diejenige Lokal-
kenntnis, ohne welche ein Urteil über den
Gnindertrag mit genügender Sicherheit nun
einmal nicht abgegeben werden kann. So
ist denn geradezu mit Sicherheit zu er-
warten, dass die Eh'tragsschätzungen, welche
der Bildung der Klassifikationstarife zu
Grunde gelegt werden soUen, stets erheblich
hinter der Wirklichkeit zunickbleiben.
Hieran wäre nun freilich, bloss vom
Standpunkte des Strebens nach gleich-
massiger Veranlagung aus betrachtet, nicht
aUzu viel gelegen. Diesem Standpunkte
könnte ja auch bei einer hinter der Wirk-
lichkeit weit zurückbleibenden Einschätzung
vollständig Rechnung getragen werden,
wenn nur jenes Zurückbleiben ein gleich-
massiges wäre. Dies ist aber nicht zu ge-
wärtigen; es geht hier wie überall, wo aus
egoistischen Gründen von der Wahrheit ab-
gegangen wird: es hängt dann nur vom
grösseren oder geringeren Grade der Rück-
sichtslosigkeit und Findigkeit in der Ver-
tretung der Privatinteressen ab, ob dieses
Abgehen von der Walirheit in stärkerem
oder schwächerem Masse stattfindet. Auch
die Individualität der mit der Ueberwachung
und Leitung der Thätigkeit der Sachver-
57*
900
Grundsteuer
ständigen betrauten Organe des Fiskus —
dieser einzigen unparteiischen unter den
hieran beteiligten Parteien — spielt hier
eine wesentliche Rolle, weil diese durch
energisches und mit Intelligenz erfolgendes
Eingreifen in die betreffenden Verhandlungen
ganz gewiss einen wesentlichen Einfluss
auf das Auftreten der Sachverständigen aus-
üben können. Schliesslich kommt dann,
wenn es sich, wie vielfach bei den in
neuerer Zeit erfolgten Grundsteuerveran-
lagungen, eigentlich nur um eine gründliche
Katasterrevision handelt, auch noch die
Rücksicht auf die bisherige Steuerveranlagung
in Betracht; denn in allen jenen Bezirken,
deren Angehörige — mit Recht oder Un-
recht — sich für durch diese benachteiligt
erachten, wird die Neueinschätzung als eine
w^illkommene Gelegenheit zur Beseitigung
dieser — wirklichen oder vermeintlichen —
üngleichmässigkeit angesehen werden und
das Streben nach Erlangung von Vorteilen
bei der neuen Schätzung ein besonders leb-
haftes sein. So bestehen denn Faktoren
genug, welche darauf lünwirken, dass bei
der Schätzung in den verschiedenen Be-
zirken in sehr ungleichem Masse von der
Wahrheit abgewichen und hierdiu'ch auch
eine sehr ungleichmässige Veranlagungs-
basis geschaffen wird. Die Praxis hat diesen
Uebelstand auch sehr wohl erkannt und
demselben diu-ch Schaffung von Organen
abzuhelfen gesucht, bei welchen Beschwer-
den (Reklamationen) über diese Ungleich-
mässigkeiten vorgebracht werden können
und deren Aufgabe es ist, diesen abzuhelfen.
Diese Organe müssen naturgemäss ihre
Thatigkeit über weit grössere Gebiete, als
die Schätzungsbezirke sind (ganze Provinzen,
Kronländer u. dergl.), ausdehnen. Hiermit
ist aber der Uebelstand verbunden, dass den
zur Entscheidung über die Reklamationen
berufenen Organen nicht mehr jene intime
Kenntnis der einschlägigen lokalen Verhält-
nisse zukommt, -welche jedermann sich nur
in einem intimen Kreise erwerben kann, und
dass sie daher eigentlich nicht mehr im
Detail schätzen, sondern nur nach allge-
meinen Gesichtspunkten ein mehr oder
weniger gut begründetes Urteil über die
Richtigkeit der bereits in den kleinen Be-
zirken erfolgten Detailschätzungen abgeben
können. Es erheUt, dass hiermit ein Ele-
ment der Wülküi-lichkeit in den ganzen
Vorgang hineingetragen wird, welches dem-
selben nach der ihm zu Grunde hegenden
Absicht eigenthch fern bleiben sollte. Die
Einsetzung und Thatigkeit der Reklamations-
organe erscheint daher nur als ein sehr un-
vollkommenes Palliativ gegen die Gefahren
des Eindringens egoistischer Interessen in
die Thatigkeit der Schätzungsorgane. Sie
ist dies umso mehr, als schliesslich die-
selben Gründe, welche zur Bezweiflung der
Gleichmässigkeit der von diesen in den
einzelnen Bezirken erzielten Schätzungs-
resultate nötigen, auch zwischen den grosseren
Teilgebieten eines grossen Staates wirksam
sind. In einem solchen wird nun diesem
Uebelstande durch Schaffung eines Central-
organs abzuhelfen gesucht, welchem gegen-
über den Reklamationsormuien dieselben
Funktionen obliegen wie diesen gegenüber
den Schätzungsorganen und dessen Quali-
fikation zur Lösung seiner Aufgabe sich
naturgemäss zu derjenigen der Reklamations-
organe zur Lösung der ihrigen ebenso ver-
hält wie diese zur gleichen Qualifikation
der Schätzungsorgane, d. h. wieder erheblich
geringer ist. Es findet hier eben eine be-
ständige Appellation von einer weniger un-
parteiischen zu einer unparteiischeren, dafür
aber auch von einer besser unterrichteten
zu einer weniger luiterrichteten Instanz statt.
Das Resultat ist, dass die letzte Instanz
schliesshch das ganze mühsam, mit riesigen
Arbeits- imd Geidopfem hergestellte Pai--
zellenkataster nur als einen Behelf bei der
Abgabe ihres Urteils über die gesamte Ver-
anlagimgsbasis betrachtet und diese nach
aUgemeinen Erwägungen über die Leistungs-
fähigkeit der einzelnen Teile des Staates,
d. h. in ziemlich derselben, auf ganz vager
Beurteilung der Sachlage beruhenden Weise
richtig stellt, in welcher vorgegangen werden
würde, wenn überhaupt gar keine Parzellen-
schätzung stattgefunden hätte. Wie es da
mit den Garantieen der Gleichmässigkeit der
Veranlagung beschaffen ist, welche das
Parzellenkataster gewähren soll, kann mau
sich vorstellen.
Schliesslich sind auch jene Ungleich-
mässigkeiten, zu welchen die Klassifizierung
der einzelnen Grundstücke Gelegenlieit bietet,
nicht ganz gering anzuschlagen. Die grössere
oder geringere Rücksichtslosigkeit und Reg-
samkeit des Individuums büdet eben auch
hier einen Faktor, der nicht ganz ignoriert
werden darf, wenn auch der den Privat-
interessen gebotene Spielraum hier ein viel
geringerer ist als bei der Aufstellung der
Klassifikationstarife.
AUe diese Umstände berechtigen wolü
zu dem Urteüe, dass die Grundsteuer nur
als eine sehr unvoDkommene Form der Be-
steuerung angesehen werden kann. Sie ist
dies in einem Grade, dass die Frage nach
der Opportunität ihrer etwaigen Neuein-
führung in einem Lande, in welchem sie
noch nicht besteht kaum anders als ver-
neinend beantwortet werden könnte, wenn
die verhältnismässige Leichtigkeit, dem
Staate diu'ch sie eine sichere und immerhin
erhebliche Einnahme zu verschaffen, nicht
wäre. Angesichts des dringenden Bedürf-
nisses der Staaten nach solchen EinnaJmien
Gnindsteuer
901
und des Umstandes, dass diese nach dem
gegenwärtigen Stande der Erkenntnis allein
durch solche Mittel, welche vor einer strengen
Kritik als einwandfreie bestehen könnten,
überhaupt nicht beschafft wei-den können,
die praktische Finanzpolitik somit auch in
der (legenwart im Grunde genommen noch
immer darauf lünausläuft, das Geld dort zu
nehmen, wo es am leichtesten gefimden
werden kann, muss freilich das auf die
Mangelhaftigkeit der Grundsteuer begrAüdete
Bedenken gegen dieselbe zurücktreten. So
lange die Staaten, wie dies gegenwärtig
zweifellos vielfach der Fall ist, die Be-
schaffung der Mittel zm' Bestreitung ihrer
Bedürfnisse durch Ausnützung vonEinnahms-
ijuellen zuwege bringen müssen, welche
noch schlechter sind als die Grundsteuer,
wird man dieser die Existenzberechtigimg
nicht absprechen können.
Uebrigens bildet auch das Alter der
Grundsteuer ein schwerwiegendes Ai'gument
für die Existenzberechtigung derselben. Auf
sie kann der Ausspruch, dass jede alte
Steuer gut sei, vielleicht mit mehr Berech-
tigung angewendet werden als auf jede
andore Steuer. Ihre Beseitigimg oder auch
nur erhebliche Verminderung würde ver-
möge ihrer Reallastnatm' einfach oin Ge-
sclienk an die Grundbesitzer bedeuten, also
an eine Klasse von Leuten, welche in
unseren modernen an drückenden Steuern
so reichen Staaten im allgemeinen sicherlich
nicht cols die eines solchen Nachlasses am
meisten Bedürftigen bezeichnet werden
können. Die gänzliche oder teilweise Be-
seitigung der Grundsteuer kann überdies dort,
wo sie neben anderen ebenso drückenden
oder noch drückenderen Steuern besteht, schon
deshalb nicht empfohlen werden, weil sie die
Vorwegnahme eines Teils der Bodenrente
für die Bedürfnisse der Gesamtheit bedeutet
und vermöge dieser Eigenschaft ganz geeig-
net ist, als Konzession an die von sozialis-
tischer Seite ausgehenden Anfechtungen der
Berechtigung des Privateigentums an Grund
und Boden, also gewissermassen als teil-
weise Erfüllung einer der Hauptforderungen,
welche seitens der die herrschende Wirt-
schaftsordnung angreifenden Parteien erhoben
werden, zu erscheinen. Freilich wäre eine
auf solche Gesichtspunkte gestützte Gnmd-
steuer eigentlich keine Steuer melu*, sondern
eine auf sozialpolitischen Erwägungen be-
ruhende und derlei Zwecke verfolgende
Institution. In dieser Eigenschaft wird
sie vielleicht noch fortbestehen, ja sogar
noch weiter entwickelt werden, wenn sie
als Steuer im engeren Sinne längst zu be-
stehen aufgehört haben wird — eine Ent-
wickelung, mit der wieder zum ursprüng-
lichen Ausgangspunkte der althergebrachten
Belastung des Grundbesitzes eines Volkes für
Zwecke, welche der Gesamtheit desselben ge-
meinsam sind — der ja wohl auch eher in
der Auffassung des Bodens als Gemeingut
des ganzen Volkes als in der erst spät zum
Dm'chbruche gelangten Annahme eines Be-
steuerungsrechtes aes Staates im modernen
Sinne bestand — zurückgekehrt werden
wtirde.
19. Die 6. als Gemeindeabgabe. Die
Mängel, welche der Grundsteuer bei ihrer
Ausgestaltung als Staatssteuer ankleben,
einerseits und die immer grösser werden-
den Schwierigkeiten der Deckung der Ge-
meindebedürfnisse andererseits haben viel-
fach die Veranlassung dafür gebildet, dass
die Forderung erhoben worden ist, die Grund-
steuer solle ganz den Gemeinden überwiesen,
also nur als Gemeindeabgabe eingehoben
werden. Diese Foixlerung wird hauptsäch-
lich mit dem Hinweise dai-auf motiviert,
dass die Tliätigkeit der Gemeinden ihrer
ganzen Natur nacb eine solche sei, welche
in besonderem Masse dem Grundbesitze zu
gute komme. Es kann nicht geleugnet
wei-den, dass diese Behauptung in hohem
Grade begründet ist. Dieselbe führt aber
ebenfalls dahin, der Grundsteuer einen
Charakter zu geben, diu^ch dessen Annahme
sie aufhören würde, eine Steuer im engeren
Sinne zu sein. Denn auf Grund dieser
Motivienmg der Ueberweisimg der Grund-
steuer an die Gemeinden müsste dieselbe
nach dem Masse des Interesses des Be-
sitzers des einzelnen Grundstückes an den
von der Gemeinde zu treffenden Veran-
staltungen umgelegt werden. Damit aber
wiirde sie in die Reihe jener Abgaben treten,
welche man besser als »Beiträge« denn als
»Steuern« bezeichnet. Als solche beitrags-
artige Gemeindeabgabe ist die Grundsteuer
sicher vollauf berechtigt. Und hier stehen
ihrer zielgerechten Durchfühinmg auch ganz
gewiss nur sehr geringe, vielleicht überhaupt
nicht nennenswerte Schwierigkeiten ent-
gegen. Denn es handelt sich ja hierbei
doch nm* um die Bekämpfung egoistischer
Indiddualbestrebungen in. einem Kreise, der
noch kleiner ist, als Schätzungsbezirke zu
sein pflegen, in welchem also eine wirk-
same Kontrolle noch leichter durchgeführt
werden kann als bei der schon oben als
eine verhältnismässig leichte Aufgabe be-
zeichneten Diu'chführung der Einreihung
der einzelnen in einem solchen Bezirke vor-
handenen Grundstücke in die für denselben
aufgestellten Klassifikationstarife. In einem
so engen Kreise sind die Verhältnisse der
einzelnen Grundstücke allen Interessenten
viel zu gut bekannt, als dass von einer
Mögüchkeit, dieselben in halbwegs erheb-
! lichem Masse der gleichmässigen Berück-
I sichtigimg bei der Verteilung der Abgaben-
1 last zu entziehen, ernstlich die Rede sein
902
Gnindsteuer
könnte. Und auch das Mass des Interesses
der einzelnen Grundstücke an den aus dem
Gemeindesäckel zu bestreitenden Ausgaben
ist innerhalb des Kreises der betreffenden
Gemeindemitglieder in der Regel recht genau
bekannt. Die Bestrebungen wegen Aus-
nützung der Grundsteuer als Gemeindeabgabe
müssen hiernach als in jeder Beziehung be-
rechtigt anerkannt werden.
IL Die Gesetzgebmig der einzel-
nen Staaten.
A. Deutschland.
Das Deutsche Reich kennt, w4e über-
haupt keine direkten Steuern, so auch keine
Grundsteuer. Diese kommt hier nur als
einzelstaatliche EinnahmequeDe vor, spielt
aber auch als solche keine so bedeutende
Rolle mehr wie noch vor wenigen Jahren,
da sie im grössten Bundesstaate seit kurzem
als Staatssteuer nicht mehr eingehoben
wird, sondern den Gemeinden überlassen
wurde, welche sie nunmehr unter Benutzung
der diesfalls in früheren Zeiten durch den
Staat geschaffenen Einrichtungen für ihre
Zwecke ausnützen können. Das Fortbe-
stehen dieser — anderwärts vorbildlich ge-
wordenen — Einrichtungen sowie der Um-
stand, dass in mehreren anderen Bundes-
staaten an der Grundsteuer als Staatssteuer
noch festgehalten wird, machen es notwen-
dig, die auf sie bezügüchen Einrichtungen
der wichtigeren Einzelstaaten liier zu schil-
dern.
20. Preussen. Entsprechend dem erst
in einer verliältnismässig nicht weit zurück-
liegenden Zeit erfolgten Anwachsen Preus-
sens zum Grossstaate und der Art, in wel-
cher dieses, mit der Aufsaugung einer Un-
zahl kleiner, unter den verschiedensten
Souveränitäten gestandener Territorien ver-
bunden gewesene Anwachsen vor sich ge-
gangen war, hatte Preussen noch bis tief
m das laufende Jahrhundert herein eine
wahre Musterkarte der verschiedensten
Grundsteuersvsteme — teüs mit, teils ohne
Einbeziehung der Gebäude unter die Grund-
steuer — aufzuweisen. Die Folge hiervon
war natürlich die grosste Ungleichniässig-
keit der Besteuerung der einzelnen Landes-
teile. Diese wiurde allmählich in immer
höherem. Grade als ein drückender Uebel-
stand empfunden und musste schliesslich
zu Bestrebimgen, Abhüfe zu schaffen, führen.
Diesen Bestrebimgen entsprach es, dass
schon im Finanzedikte vom 27. Oktober
1810 das Versprechen der gleichmässigen
ümlegimg der Grundsteuer auf allen im
Staate vorhandenen Grundbesitz gegeben
wurde. Schon in diesem Edikte wurde
übrigens nicht nur die durch die Verschie-
denheit der GiTindsteuersysteme bedingte
Ungleichmäsjdgkeit , sondern auch noch
eine weitere, von dieser unabhängige be-
ruhig;, welche in den meisten Teilen des
Staates bestand und vielleicht noch unan-
genehmer empfunden wurde als die Folgen
jener Verschiedenheit. Es war dies die
durch die verschiedensten Ausnahmebestim-
mungen den Rittergütern zugestandene
gänzlidie oder teilweise Steuerfreiheit. Diese
liatte ursprünghch iliren Grund hauptsäch-
lich in (fer Verpflichtung der Besitzer zur
persönlichen Leistung von Kriegsdiensten
ohne besonderes Entgelt und war nach dem
durch die geänderte Wehrverfassung veran-
lassten Hinwegfallen dieses Grundes zu
einem unmotivierten Privilegium geworden.
Demgemäss wurde im angeführten Edikte
auch die Beseitigung dieser Befreiungen zu-
gesagt.
Es kam aber damals noch nicht zur
Durchführung der versprochenen Neurege-
lung. Auch spätere Anläufe zu derselben
(G. V. 30. Mai 1820 , betreffend die Ein-
richtung des Abgaben Wesens ; Vorlage an
die Nationalversammlung vom 20. Juli 1848,
betreffend die Gleichheit der Grundsteuer;
Art. 100 der Oktoberverfassung des iahres
1849; G. V. 24. Februai 1850, betreffend
die Aufhebung der Grundsteuerbefreiungen)
führten nicht zum Ziele. Dieses wurde erst
nach liarten Kämpfen durch die GG. v. 21.
Mai 1861, »betreffend die anderweite Rege-
lung der Grundsteuer« und »beti'effend die
für die Aufhebung der Grundsteuerbefrei-
ungen und Bevorzugungen zu gewährende
Entschädigimg« erreicht. Diese Gesetze
bildeten nebst einem Ergänzungsgesetze vom
8. Februar 1867 und dem die Ausdehnung
auch des ereteren Gesetzes auf die im Jahre
1866 annektierten Provinzen aussprechenden
Gesetze vom 11. Februar 1870 bis in die
neueste Zeit die Grundlage des preussischen
Grundsteuersystems.
Die wesentliche Bedeutung des G. v. 21.
Mai 1861 bestand in der endgiltigen Tren-
nung der Gebäudesteuer von der Grund-
steuer (die erstere wurde gleichzeitig einer
neuen einheitlichen Regelung zugeführt), in
der Anerkennung des Anspruches der Be-
sitzer der begünstigten Güter auf eine Ent-
schädigimg für die Aufhebung der Begün-
stigungen und in der Kontingentierung der
Grimdsteuer und Anordnung der Verteilung
des Kontingents nach Massgabe des durch
eine Parzellarkatastrienmg zu ermittelnden
Reinertrages der einzelnen Grundstücke.
Bei der Anerkennung der Pflicht des
Staates zur Leistung von Entschädigimgen
für die aufgehobenen Befreiungen — in dem
eine Zeit lang unter französischer Herrschaft
gestandenen Teile des Staates waren die-
selben übrigens schon unter dieser Herr-
schaft weggeräumt worden — war die Er-
Grundsteuer
903
yfPLgnüg massgebend, dass dieselben im
Laufe der Zeit — wenn auch missbräuch-
licherweise, aber eben thatsächlich — den
Charakter von Berechtigungen der betreffen-
den Güter angenommen hatten. Als Hegel
mit hierbei die Bezahlung des IS^/sfaclien
Betrages der diesen Gütern durch den Staat
neu auferlegten Belastung. Ganz ist übri-
gens mit den Befreiungen durch die in Rede
stehende Massregel noch nicht aufgeräumt
worden, da dieselbe sich auf die Domänen
der Standesherren nicht erstreckt hat.
Die Kontingentierung hatte zur Folge,
dass der Ertrag der Grundsteuer in Preus-
sen — von kleinen Schwankungen abge-
sehen — seither stabil geblieben ist. Uebri-
gens hat diese Steuer dort durcli die Ver-
anlagung nach Massgabe des Reinertrages
doch eigentlich den Charakter einer Q\iote
desselben angenommen, so dass sie nicht als
reine Repartitionssteuer erscheint. Man
könnte sie eine kontingentierte Quotitäts-
steuer nennen. Die Katastrierung ist sehr
rasch durchgeführt worden, so dass die Ein-
hebung der Grundsteuer nach dem Ergeb-
nisse derselben schon mit 1. Januai* ' 1865
beginnen konnte. Das Kontingent betrug
für den Staat des Jahres 1861 10000000
Thaler; das der neuen Provinzen wurde mit
3200000 Thalem festgestellt. Die Grund-
steuer lieferte also unter der Herrschaft der
liier in Betracht gekommenen Gesetze zu-
letzt ca. 2,7 ®/o der Gesamteinnahmen des
Staates.
Vom Inhalte der angeführten Gesetze
sei folgendes mitgeteilt:
Der Grundsteuer unterliegen alle ertrags-
fähigen Grundstücke mit Ausnahme ganz
kleiner Hausgärten. Befreit sind: dem
Staate gehörige Grundstücke; die Domänen
der Standesherren im althergebrachten Um-
fange; den Provinzen, Kreisen, Gemeinden
und selbständigen Gutsbezirken gehörige
Grundstücke, welche zu Öffentlichen Zwecken
bestimmt sind ; andere eben solchen Zwecken
gewidmete Grundstücke, welche schon bis-
her steuerfrei waren: Brücken, Kunststras-
seu, Schienenwege der Eisenbahnen und
schiffbare Kanäle; die schon bisher steuer-
freien Grundstücke, welche schon früher
zum Yermögen von Kirchen und Schulen
gehörten; Grundstücke des Reichs; gebäude-
steuerpflichtige Grundstücke. Die Grund-
steuerpflicht eines Grundstückes hört dui-ch
den Lebergang desselben in die Gebäude-
steuerpflicht oder durch seinen Untergang
oder durch die Vernichtung seiner Ei^trags-
fähigkeit auf. Für jeden Bezirk wurde die
Anlegung eines Flurenbuches und einer
Grundsteuermutterrolle angeordnet. Das
erstere hatte alle Wirtschaften des Bezirkes
samt deren Flächeninhalt und Reinertrag
aufzunehmen, während die letztere die
einzelnen Parzellen mit den gleichen Details
nachzuweisen hatte. Beide Nachweisungen
sollten — aber unter Ausschluss der Revi-
sion der Ertragsschätzung — in Evidenz
gehalten werden ; zu den Kosten der Evidenz-
haltung hatten die Interessenten Beiträge
zu leisten. Als Reinertrag eines Grund-
stückes war anzunehmen der nach Abzug
der Bewirtschaftungskosten vom Rohertrage
verbleibende Ueberschuss, welcher von den
nutzbaren Wirtschaften nachhaltig erzielt
werden kann. Der Kulturzustand sollte
dabei als ein mittlerer angenommen werden ;
Rücksichtnahme auf den wirtschaftlichen
Zusammenhang der Gnindstücke mit ande-
ren Grundstücken oder mit gewerblichen
Anlagen war ebenso ausgeschlossen wie die
auf Servituten, Reallasten und dergleichen.
Die FeststeDung der Reinerträge sollte durch
für jeden Kreis (oder innerhalb desselben
zu bildenden Klassifikationsdistrikt) zusam-
menzustellende Veranlagungskommissionen
erfolgen, deren Mitglieder zur Hälfte von
den kreisständischen Versammlungen, zur
Hälfte von der Finanzverwallung entsendet
werden sollten. An Kulturklassen wurden
unterschieden : Aecker, Gärten, Wiesen, Wei-
den, Holzungen, Wasserstücke, Oedland
(Kalk-, Sandgruben und dergleichen; Sünipfe
etc.); endlich ertraglose Grundstücke (Un-
land). Die Zahl der für jede Kulturklasse
in jedem Kreise zu bildenden Bonitätsklas-
sen sollte nach den Verhältnissen bestimmt
werden, aber nicht mehr wie acht betragen.
Gegen die durch die Veranlagungskommis-
sionen vorgenommenen Schätzungen konnte
an die Bezirkskommissionen reklamiert wer-
den, deren je eine für jeden Regierungsbe-
zirk eingesetzt wurde ; sie sollten zur Hälfte
aus von den Provinziallandtagen gewählten,
zur Hälfte aus von der Finanzverwaltung
ernannten Mitgliedern bestehen. Die Be-
endigung des Veranla^mg^eschäftes , ins-
besondere die endgiltige Feststellung der
Klassifikationstarife und Abschätzungsresul-
tate wurde einer Centralkommission über-
tragen, welche aus vier vom Finanzminister
als seine Vertreter bei der ihm obliegenden
obersten Leitung des ganzen Veranlagungs-
geschäftes zu bestellenden »Geheralkommis-
sarien« und vier weiteren von demselben
zu ernennenden Sachverständigen und ausser-
dem aus vom Landtage gewählten Mitglie-
dern bestehen sollte; von diesen sollte für
jede Provinz je eines vom Abgeordneten-
hause und je eines vom Herrenhause ge-
wählt werden. Die Tragung der Kosten der
Einhebung der Grundsteuer wnirde — in der
Form der Einhebung von Zuschlägen zu
dieser — den Steuerträgern auferlegt. Die
Bewilligung von Grundsteuemachlässen aus
Anlass von Beschädigimgen des Bodenertra-
ges durch Elementarereignisse wurde nicht
904
Gniüdsteuer
zugestanden, dafür aber die Gewährung von
Unterstützungen anlässlich derartiger Yor-
komranisse als zulässig erklärt.
Der durch die geschilderten Einrichtun-
gen hergestellte Zustand erfuhr eine gründ-
liche Aenderung durch die umstürzende
Reform der direkten Steuern Preussens,
welche der Finanzminister v. Miquel
neuestens in Angriff genommen und durch-
gesetzt hat; bildete doch die vollständige
Aufhebung der Grundsteuer als Staatssteuer
unter gleichzeitiger Bestimmung derselben
zu einem Mittel zur Deckung der Bedürf-
nisse der Gemeinden einen der wesentlich-
sten Bestandteile jener Reform. Die Be-
deutsamkeit dieses Schrittes, welcher ein
weitgehendes Entgegenkommen gegen die
hinsichtlich der Stellung der Grundsteuer
im Systeme der Massregeln, welche die
Deckung der verschiedenen öffentlichen Be-
darf e bezwecken, in der neuesten Zeit sei-
tens der Wissenschaft aufgestellten Forde-
rungen darstellt, rechtfertigt es, wenn wir
bei den zur Begründung desselben seitens
der Regierung geltend gemachten Erwägim-
gen etwas länger verweilen.
Dieselben wurden in der »Denkschrift
zu den dem preussischen Landtage vorge-
legten Entwürfen der Steuen-eformgesetze«
(Nr. 8 der Drucksachen des preussischen
Abgeordnetenhauses: 17. Legislaturperiode,
V. Session, 1892/93) ausführlich dargelegt!
In einem eigenen Kapitel dieses Elaborates
wird die ȟnhaltbarkeit der staatlichen Er-
tragssteuern« behandelt. Dort wird darauf
hingewiesen, dass der Charakter der Er-
tragssteuern als reiner Objektsteuern,
welche die steuerliche Leistungsfähigkeit
imd insbesondere die persönlichen Verhält-
nisse der Steuerpflichtigen grundsätzlicli
unberücksichtigt lassen, sich im preussischen
Ertragssteuersysteme am scliärfsten bei der
Grundsteuer auspräge. Indem sodann alle
Mängel, welche den Ertragsstenern ihrer
Natur nach ankleben, dargelegt werden, ge-
langt die »Denkschrift« zu dem Resultate,
dass ein den Anforderungen der Gerechtig-
keit und Billigkeit entsprechendes System
der direkten Staats steuern sich nur auf
der Grundlage der persönlichen Ijoistiuigs-
fähigkeit aufbauen lasse. Da es nun un-
möglich sei, diesem Grundsatze mittelst der
Ertragssteuern zu entsprechen, so bleibe
nur die völlige Beseitigung der Ertrags-
steuorn als Staatsstouern übrig.
Insbesondere seien es auch die Rück-
sichten auf die kommunalen Steuerbedürf-
nisse, welche zum gleichen Resultate führen.
Gegenwärtig seien die Gemeinden durch
die staatlichen Ertragssteuern, vor allem
durch die Höhe der Grund- und Gebäude-
steuer gezwungen , ihrerseits von der
Deckung ihrer Bedürfnisse auf diesem Wege
Abstand zu nehmen und zu anderen weniger
angezeigten Mitteln zu greifen. Die Gre-
meinde sei wesentlich ein wirtschaftlicher
Verband. Ihre Aufwendungen bezögen sich
zum grossen Teile auf die Erfüllimg solcher
Vorbedingungen, auf denen das nachbarliche
wirtschaftliche Zusammenleben und die
Erwerbsthätigkeit ihrer Einwohner beruhen ;
insbesondere komme ein grosser Teil ihrer
Ausgaben den mit der Gemeinde untrennbar
verbundenen Objekten — Grund- und Haus-
besitz und Gewerbsbetrieb — zu gute und
erhöhe deren Wert oder werde durch sie
veranlasst, so dass es als ein Mangel der
bestehenden Einrichtungen erscheine, dass
die Wertsteigerungen namentlich des städti-
schen Gnmdbesitzes, welche lediglich durch
die die Steigerung der Ausgaben wiedenim
bedingende fortschreitende Entwickelung der
Gemeinden hervorgerufen werden , in der
Besteuerung fast unberücksichtigt bleiben
und damit den Gemeinden eine bedeutende,
gerade mit dem Wachstume der Ausgaben
naturgemäss steigende Steuerkraft zum
grossen Teile entzogen werde.
Andererseits ständen den Realsteuem
jene Mängel, vermöge welcher sie als Staats-
steuern nicht geeignet seien, bei ihrer Ver-
wendung als Aommunalsteuern nicht ent-
gegen. Insbesondere trete die ungleiche
Veranlagung der Gnmdsteuer innerhalb der
Gemeinde nicht hervor. W^ährend dieselbe
als Staatssteuer nicht geeignet sei, sich den
veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen
anzuschlicsson, sei es leicht ausführbar, bei
ihrer Verwendung als Gemeindeabgabe den
Veränderungen in den Wert- und Ertrags-
verhältnissen zu folgen und sie so zu einem
lebendigen Güede der Gemeindeorganismen
zu gestalten. Auch die — als begründet
angenommene — Fordenmg, dass innerlialb
der Kommunen die Leistungsfähigkeit nicht
den ausscjhliesslichen Massstab der Besteue-
nmg bilde, sondern derselbe auch noch durch
den Grundsatz der Leistung und Gegen-
leistung ergänzt werden müsse, dränge zur
Aufbringung eines angemessenen Teils des
Steuerbedarfs durch Realsteuern. Im eng-
begi'enzten Gemeindebezirke Hessen sich
sowohl die besonderen wirtschaftlichen Vor-
teile , welche den einzelnen Gütenjuellen
aus den Veranstaltungen der Gemeinde er-
wüchsen, als auch die derselben im Interesse
des Grundbesitzes verursachten besonderen
Kosten mit hinreichender Sicherheit über-
sehen, um auf dieser Grundlage das Aus-
mass der Besteuerung in befriedigender
Weise feststellen zu können.
Auf Gnmd aller dieser ELrwSgimgen ge-
langt die »Denkschrift« zu dem Schlüsse,
dass die Realsteuem überhaupt, also auch
die Grundsteuer, aufzugeben imd anderen
öffentlichen Verbänden zu überlassen seien.
Grundsteuer
905
Diese Massregel erscheine nicht als etwas
Zufälliges und Willkürliches, sondern als
eine innerlieh begründete, dem allgemeinen
Entwickelungsgange entsprechende Notwen-
digkeit, welcher Rechnung getragen wei'den
müsse, wenn eine befriedigende Steuerreform
durchgeführt werden solle, und gegen welche
aus anderen Gesichtspunkten keine, ernst-
liche Beachtung heischende Bedenken er-
hoben werden konnten.
In dieser Beziehung wurde erstlich
gegenüber dem Hinweise auf die Zuver-
lässigkeit der durch die Grundsteuer gebil-
deten Einnahmsquelle bemerkt, dass die
hierauf gegründete bisherige Bevorzugung
dieser Steuerart in der Hauptsache auf Ver-
hältnisse zurückzuführen sei, die in frühe-
ren Zeiten bestanden, in der Gegenwart
aber nicht niu* nicht mehr in gleichem Masse
vorhanden seien, sondern sich vielmehr so
sehr geändert hätten, dass gegenwärtig ge-
sagt werden müsse, dass gerade die Gnind-
steuer in ungünstigen Zeiten am aller-
wenigsten als ein brauchbarer Massstab zur
Verteilung von Lasten angesehen weixlen
könne; weiter wiuxle gegenüber dem Ein-
wände, dass die Beseitigung der Gnmd-
steuer im Hinblicke auf den renteoartigen
Charakter, welchen dieselbe im Laufe der
Zeit angenommen habe, eigentlich als ein
Geschenk an die Grundbesitzer anzusehen
sei, bemerkt, dass von diesem rentenartigen
Charakter nur in den älteren Provinzen des
Staates die Kede sein könne und dass es
sich bei der geplanten Reform übrigens gar
nicht um die Befreiimg des Grundbesitzes
von der Grundsteuer, sondern um die Ueber-
tragung der Einhebung deraelben an die
Gemeinden handle ; endlich könne auch die
seiner Zeit erfolgte Leistung von Entschädi-
gimgen an die bis dahin von der Grund-
steuer befreit gewesenen und derselben erst
nachträglich unterworfenen Grimdstücke
einen ernsten Einwand gegen die geplante
Reform nicht liefern, vielmehr sei liieraus
höchstens die Notwendigkeit der Rückforde-
rung der Entschädigungssiunmen zu folgern.
Diesem Gedankengange entsprechen die
Bestunnu'.nrren des gegenwärtig in Geltung
stehenden üesotzes wegen Aufliebung direk-
ter Staatssleuern v. 14. Juli 1893, G.S. Nr.
21, S. 219 und des damit zusammenhängen-
den Kommunalabgabengesetzes vom gleiclien
Datiun, a. a. 0., 8. 152.
Von diesen Gesetzen ordnet das ci'stere
im § 1 an, dass imter anderen auch die
Grundsteuer »gegenüber der Staatskasse
ausser Hebung gesetzt« werde. Dagegen
bestimmt § 3 dieses Gesetzes ausdrücklich,
dass die geltenden Bestimmungen über die
Gnmdsteuer, soweit nicht in den neuen Ge-
setzen abweichendes bestimmt ist, in Kraft
bleiben und dass die Veranlagung und Ver-
waltung dieser Steuer auch weiterhin, »so-
weit nicht im gegenwärtigen Gesetze Abwei-
chendes bestimmt ist, unter Aufrechterhal-
tung der dieserhalb bestehenden gesetzlichen
Einrichtungen vom Staate für die Zwecke
der kommunalen Besteuerung ausgeführt«
werde. Für diese Veranlagung gelten (§ 4),
>äoweit nicht in dem gegenwärtigen Gesetze
und im Kommunalabgabengesetze Abwei-
chendes bestimmt ist, die allgemeinen ge-
setzlichen Vorschriften, welche bei der
Heranziehung« zur staatlichen Grundsteuer
anzuwenden gewesen wären. Weiter sind
folgende Bestimmungen anzuführen: (§ 18)
»die auf Grund der §§ 1 — 4 des Grund-
steuerentschädigungsgesetzes vom 21. Mai
1861 und der §§ 1, 15 des G. v. 11. Fe-
bruar 1870 für die Aufhebung von Grund-
steuerbefreiungen luid Grundsteuerbevor-
zugungen geleisteten Entschädigungen sind
nach Massgabe der folgenden Bestimmungen
an die Staatskasse ziu-ückzuerstatten. Hier-
bei ist, soweit die Entschädigimg durch Er-
lass von Domänenabgaben oder Domänen-
amortisationsrenten stattgefunden hat, das
zu erstattende Entschädigungskapital nach
dem zwanzigfachen Betrage der erlassenen
Abgabe bezw. Rente zu berechnen; (§ 19)
die Rückerstattung bleibt ausgeschlossen
bezüglich derjenigen Güter imd Grundstücke,
welche nach erfolgter Entscliädigung dmxjh
lästiges (entgeltliches) Rechtsgeschäft ver-
äussert worden sind. . . . Bezüglich der-
jenigen Güter und Grundstücke, deren
Eigentum nach erfolgter Entscliädigung
durch Schenkung, Vermächtnis, infolge von
Erbteilungen oder Gutsüberlassungsverträgen
übergegangen ist, bleibt die Rückerstattung
des Entschädigungskapitals zu demjenigen
Bruchteile ausgeschlossen, zu welchem der
zeitige Eigentümer weder unmittelbar noch
mittelbar Erbe des Entschädigten geworden
ist. . . . (§ 21) Solchen Gemeinden, welche
die Grundsteuerentschädigung zu gemein-
nützigen, keine entsprechende Verzinsung
gewährenden Einrichtungen verwendet haben,
kann die Rückerstattung durch den Finanz-
minister ganz oder teilweise erlassen wer-
den . . .; (§ 23) die zmiickzuerstattenden
Kapitalien sind seitens der Pflichtigen vom
1. April 1895 ab mit 3^2 vom Hundert zu
verzinsen. Die Feststellung der ziuückzuer-
stattenden Kapitalien gebührt dem Finanz-
minister. Gegen die Feststellung steht den
Pflichtigen . . . der Rechtsweg offen . . .;
(§ 24) Kapitalbeträge, welche den Betrag
von 25 Mark nicht erreichen, sowie Kapital-
beträge, welche über einen durch 25 ohne
Rest teilbaren, in Mark ausgedrückten Geld-
betrag hinausgehen, müssen binnen einer
Frist von 6 Monaten nach erfolgter • und
giltiger Feststellung nebst den bis zum
Zahlungstage aufgelaufenen Zinsen ziu:
906
Grundsteuer
Staatskasse eingezahlt werden. Dem Yer-
pflichteten steht es frei, nach seiner Wahl
entweder
a) den noch verbleibenden Betrag des zu
erstattenden Kapitals nebst Zinsen binnen
6 Monaten nach erfolgter und giltiger Fest-
stellung ebenfalls zur Staatskasse zurück-
zuzahlen oder
b) statt dessen ffli* die Zeit vom 1. April
1895 ab auf die Dauer von 6OV2 Jahren
eine in vierteljährlichen Teilbeträgen fällige
Tügungsrente von jährlich 4 vom Hundert
des Kapitals zu entrichten, wodiuxjh das
Kapital mit 3V2 vom Hundert verzinst sowie
mit V2 vom Hundert getilgt wird. Auch
während des Zeitraumes von 60 ^/s Jahren
kann der Verpflichtete die Tilgungsrente
ganz oder teilweise ablösen.«
Hinsichtlich des zweiten der oben er-
wähnten neuen Gesetze sei hervorgehoben,
dass dasselbe einen besondei-en Abschnitt
enthält, welcher die Besteuenmg des Grund-
besitzes durch die Gemeinden beliandelt.
Daselbst wird (§ 24) die Unterwerfung der
Grundstücke unter die Gemeindesteuerpflicht
mit einer Reihe von Ausnahmen statuiert.
§ 25 stellt es den Gemeinden anheim, in
welcher Weise sie die Gnmdsteuer imilegen
wollen. § 26 ordnet an, dass, wenn keine
besonderen Steuern vom Gnmdbesitze ein-
geführt sind, die Besteuerung in Prozenten
der Staatssteuer erfolgt. § 27 endlich ver-
fügt, dass die Steuern vom Grundbesitze
nach gleiclien Normen und Sätzen zu ver-
teilen sind, dass aber »Liegenschaften, welche
durch die Festsetzimg von Baufluchtlinien
in ihrem Werte erhöht worden sind (Bau-
plätze) nach Massgabe dieses höheren
Wertes zu einer höheren Steuer als die
übrigen Liegenschaften herangezogen wer-
den« können.
Zu erwähnen wäre schliesslich noch, dass
seither ein — infolge des Widerstandes
der Regierung misslungener — Vei-such
gemacht worden ist, die Verpfhchtung zur
Rückzahlung der Entschädigungskapitalien
für die Aufhebung von Grundsteuerbegüns-
tigungen wieder zu beseitigen.
21. Bayern. Kaum geringer als in
Preussen war die Buntscheckigkeit der auf
die Gnmdsteuer bezüglichen Einrichtungen
vor der neuzeitlichen Feststellung derselben
in Bayern. Und auch hier bezeichnet der
Anfang des laufenden Jahrhunderts den Zeit-
punkt, in welchem die Bestrebungen zur
einheitlichen Regelung unserer Steuer im
ganzen Staate begannen ; do<^h führten diese
Bestrebungen hier viel frülier zum Ziele als
in Preussen. Schon in der königlichen V. v.
8. Juni 1807 wurde nämlich der Grundsatz
der Allgemeinheit der Teilnahme an den
Staatslasten ausgesprochen und mit dem
Edikte vom 18. Mai 1808 unter gleich-
zeitiger Beseitigung der einzelnen Provinzial-
steuern eine allgemeine Grundsteuer ein-
geführt, welche zunächst auf Grundlage
eines in der Veranlagung der Steuer nach
dem aus dem Werte der Grundstücke ab-
geleitetem Reinertrage bestehenden Pix)-
visoriums veranlagt werden sollte, während
gleichzeitig eine vollständige Rektifikation
dieser Veranlagung auf Grund einer vor-
zunehmenden genauen Detaü Vermessung
in Aussicht gestellt wurde. Diese Rektifikation
blieb aber zunächst, nachdem ein Anlauf
zu dereelben bald wieder aufgegeben worden
war, noch aus. Erst mit dem G. v. 15. August
1828 erfolgte die Anordnung einer definitiven
Neugestaltung der Gnmdsteuer auf Grund
eines Parzellenertragskatasters, welche in
den nächsten Jahren auch thatsächlich
durchgeführt wurde. Diese Regelung gilt
im wesentlichen noch heute: doch wurden
an dem citierten Gesetze mit dem späteren
vom 19. Mai 1881 einige nicht unerhebliche
Modifikationen vorgenommen.
Beide letztcitierten Gesetze enthielten
übrigens gleichzeitig auch die auf die Ge-
bäudesteuer bezüglichen Bestimmungen, ohne
aber diese beiden Steuerarten miteinander
zu verschmelzen.
Der wesentlichste Inhalt des auf die
Grundsteuer bezüglichen Teils dieser Ge-
setze besteht im folgenden: Den Massstab
der Besteuenmg bildet der aus dem Flächen-
inhalte und nach der Naturalertragsfähigkeit
der Gnuidstücke ermittelte Ertrag derselben :
wer Reallaslen zu tragen hat, ist, wenn er
die Steuer hiervon nach den Vorschriften
des Grundentlastungsgesetzes vom 4. Juni
1848 nicht selbst zu übernehmen hat, be-
rechtigt, ein Fünfzehntel des betreffenden
Bezugs als Steuerbeitrag in Anspruch zu
nehmen. Der Flächeninhalt der Grundstücke
wii'd durch Parzellenvermessung, die natür-
liche Ertragsfähigkeit durch Ausmittelimg
mit Hilfe von Mustergrundstücken gefunden ;
der Betrag der Renten aus Fischereirechten
wird durch Liquidierung, Fatierung und
Schätzung separat erhoben ; die Grundfläche
aller Gebäude und Hofräume wird in die
Klasse der besten Grundstücke der be-
treffenden Ortsflur eingereiht; dagegen
werden Hausgärten und* Bauplätze wie
andere Grundstücke klassifiziert. Die
Schätzung sollte durch Taxatoren geschehen,
welche Landwirte sein mussten; jede Ge-
meinde eines Schätzungsbezirkes soDte je
einen Wahlmann stellen; die auf diese Art
gewählten Wahlmänner sollten aus ihrer
Mitte Schätzleute wählen, aus welchen
dann die Centralkatasterstelle die erforder-
liche Anzahl von Taxatoren zu berufen hatte.
Für jede Gemeinde wurde ein eigenes
Kataster angefertigt. Die Bonitätsklassen
^imlen nach der Grösse des ganzen mitt-
Grundsteuer
907
leren Körnerertrags abgestuft (bei Aeckern
sollte ein mitteljähriger Ertrag von ^.s Scheffel
f= 27,8 Liter] Korn — im angenommenen
Werte von 1 Gulden rheinischer Wähnmg
— vom bayerischen Tagwerk [=: 34 Ar] oder
der gleiche Wert an anderen Getreide-
sorten nach Abzug der Aussaat je eine ßo-
nitätsklasse abgeben; bei Wiesen wurden
l^.'s Centner Heu einem Achtel Scheffel
Korn gleich gesetzt; bei Waldungen sollte
erhoben werclen, welche Holzmenge einem
Achtel Scheffel Korn gleichzusetzen sei) ; die
»Steuen^erhältniszahl« sollte bei den Gnmd-
stiicken dargestellt werden diuxih das Pro-
dukt aus ihrer Fläche und der Ziffer ihrer
BoDitätsklasse ; die angeführte Zahl sollte
demnach den jährlichen mittleren Ertrag jedes
Gnmdstückes in Achteln Scheffeln Korn (oder
Gulden) ausdrücken; der jährliche mittlere
Ertrag von je euiem Achtel Scheffel Korn
/oder Gulden) wurde als die »Einheit« der
öteuerverhältniszalü bezeichnet ; dadiu-ch,
dass erklärt wird, wieviel Pfennige für jede
solche Eiaheit als Grundsteuer zu entrichten
seien, sollte die Höhe der Grundsteuer be-
stimmt werden ; diese wird alljährlich durch
das Finanzgesetz bestimmt. Gegen die
Schätzungen konnten Reklamationen einge-
bracht werden.
Der Ertrag der Gnmdsteuer in Bayern
belief sich in den letzten Jahren bei einem
Steuerfasse von 8 Pfennigen auf die Steuer-
einheit auf ca. IIV2 Millionen Mai'k oder
3®/o der gesamten Staatseinnahmen.
22. Königreich Sachsen. Das König-
reich Sachsen ist — nebst einigen deutschen
Kleinstaaten — dem preussischen Staate
mit der modernen Ausbildimg der Ein-
kommensteuer vorausgeschritten, hat daraus
aber nicht die Konsequenz gezogen, welche
hier aus dieser Reform hergeleitet wurde,
sondern hat die Grundsteuer neben der Ein-
kommensteuer als staatliche Einnahmsquelle
beibelialten, ohne aber hieraus die Folgerung
zu ziehen, dass den Steuerträgem auch alle
übrigen trtragssteuern neben der Ein-
kommensteuer aufzuerlegen seien. Dem-
zufolge bildet die Grundsteuer in Sachsen
nicht einen Teil eines mehr oder minder
entwickelten Ertragssteuersystems, sondern
erscheint im Vereine mit der Gebäudesteuer
als derjenige Teil eines solchen, welcher
daselbst allein noch neben einer allgemeinen
Einkommensteuer besteht, stellt afio — da
diese Einkommensteuer auch das Einkommen
aus Grundstücken und Gebäuden mit um-
fasst — eine nur auf die von ihr getroffenen
Einkommensquellen gelegte, somit eine be-
sondere Belastung derselben bildende direkte
Steuer dar (die dritte in Sachsen noch be-
stehende Steuer, welche gesetzlich ebenfalls
als >direkte« bezeichnet ist, die vom Ge-
werbebetriebe im Umherziehen nämlich, hat
wohl mehr den Charakter einer Lizenz-
gebühr). Das die Grundsteuer (vereint mit
der dort als Teil derselben behandelten Ge-
bäudesteuer) regelnde Gesetz trägt das Datum
vom 9. September 1843 ; einige Modifikationen
an demselben wurden durch das G. v. 3.
Juli 1878 vorgenommen.
Der wesentliche Inhalt des modifizierten
sächsischen Grundsteuergesetzes* besteht in
folgendem : Als Gegenstand der Gnmdsteuer
sind anzusehen die Erträgnisse des land-
wirtschaftlich benutzten Bodens sowie an-
derer ertragsfähiger Boden flächen (auch
Steinbrüche u. dergL), Teiche und für Ge-
werbe bestimmten (Jewässer, endlich der
Gebäude. Die Grundsteuer wird vom Rein-
ertrage nach Steuereinheiten erhoben; auf
je 10 Groschen des Reinertrags wird eine
Steuereinheit gelegt; sie beträgt 4 Pfennige
jährlich von jeder Steuereinheit. Befreit
sind (soweit es sich um Grundstücke handelt)
die dem Staate gehörigen Güter; zu öffent-
lichen Zwecken bestimmte Oberfläche;
steriler Boden; die nicht ausdrücklich füi*
steuerpflichtig erklärten Gewässer. Die Zahl
der für ein Grundstück im Kataster in An-
satz stehenden Steuereinheiten bleibt unver-
ändert. Ausgenommen hiervon sind: der
Fall des Nachweises wesentlicher Irrtümer;
wenn infolge der Zusammenlegung von
(hnindstücken eine neue Feststellung der
Steuereinheiten für das aus der Zusammen-
legung entstandene erforderlich wird; Sub-
stanzverlust durch ein Elementarereignis;
Erlangung der Steuerfreiheit ; Trockenlegung
von Flussbetten. In das Kataster wurden
die einzelnen Steuerobjekte nebst ihren
Steuereinheiten aufgenommen; zu diesem
Zwecke mussten Verzeichnisse (dort Flur-
bücher genannt) angelegt werden, in wel-
chen Lage und Figur einer jeden Parzelle,
dann ihre Grösse, Kulturart, Bonität, gene-
reller und definitiver Reinertrag ersichtlich
zu machen waren; der Flächeninhalt war
auf Gnmd der bereits vorhandenen Ver-
messung aufzunehmen. Erlässe an der
Gnmdsteuer können wegen besonderer un-
verschuldeter Unglücksfälle, welche ein
Grimdstück oder die Person des Besitzers
betreffen und durch welche der letztere
zahlungsunfähig wird, zugestanden werden.
Ein solcher Erlass darf in der Regel den
einjährigen Betrag der . zu entrichtenden
Gnmdsteuer nicht übersteigen.
Der Ertrag der Gnmdsteuer in Sachsen
ist übrigens seit einer Reihe von Jahren
zur Hälfte den Schulgemeiuden überwiesen
worden.
23. Württemberg. In Württemberg ist
die Grundsteuer geregelt worden durch das
G. V. 28. April 1873. Nach demsfiben
unterliegen der Gnmdsteuer alle ertrags-
fähigen Grundstücke und die Realrechte.
908
Grundsteuer
Befreit sind die Güter der Krondotation,
Staatsgüter, zum öffentlichen Gebrauche
dienende Grundflächen und die als Besol-
dung von Beamten dienenden Grundstücke
(die Erträge der letzteren Grundstücke imter-
liegen der Besoldungssteuer). Die Besteuerung
erfolgt nach dem jälirlichen Reinertrage.
Für dessen Einschätzung bestehen besondere
Vorschriften in betreff der Wälder und
anderen Güter.
1. In betreff der nicht als Wälder anzu-
sehenden Grundstücke wurde folgendes an-
geordnet : Die für die Einschätzung nötigen
Vorarbeiten sollten die Gemeindebehörden
liefern; hierbei sollten sie, wo nicht schon
von früher her eine entsprechende Klassenein-
teilung der Grundstücke bestand, eine solche
sofort herstellen. Die Steuereinschätzung
selbst sollte in der Art erfolgen, dass die
Grundstücke jeder Kulturart in Klassen ge-
teilt, für alle Kulturarten und Klassen die
der Veranlagung zu Grunde zu legenden
Reinerträge (Steueranschläge) pro Heklai'
festgesetzt, durch Anwendung dieser Steuer-
anschläge auf die einzelnen Parzellen deren
Steuerkapitale berechnet und hiervon die
abzuschätzenden Grundlasten abgezogen wer-
den. Folgende Kultiuarten wurden unter-
schieden: Aecker, Wiesen, Weinberge,
Gärten, Baumgüter, Hopfengärten, Wechsel-
felder und Weiden. Der Berechnung des
Steueranschlags sollte die des Rohertrags
imd der Kulturkosten — teilweise auf Grund
langjähriger Durchschnitte — vorausgehen.
Bauplätze sollten wie Hausgärten, Arbeits-
und andere Lagerplätze sowie Torffelder
als Gnmdstücke jener Kiüturart und -klasse
behandelt werden, der sie ohne diese Be-
nutzung angehören würden; Steinbrüche,
Fischwässer u. dergl. sollten nach ihrer
Pachtrente eingeschätzt werden. Organe
der Einschätzimg waren: eine aus Beamten
durch den Finanzminister gebildete Kataster-
kommission; vom Finanzminister auf Vor-
schlag der Katasterkommission aus der
Mitte der Landwirte genommene Landes-
schätzer; endlich aus je 4 Mitgliedern —
wovon zwei durch die Katasterkommission
berufen werden sollten, eines auf Gnmd
von Vorschlägen der Amtsversanmilung durch
den Steuerkommissär und eines jeweils vom
Gemeinderate der beteiligten Gemeinde zu
bestimmen war — und einem (von der
Katasterkommission zu ernennenden) »Steuer-
kommissär« bestehende Bezirksschätzungs-
kommissionen. Der Katasterkommission war
die oberste Leitung und vor allem die Sorge
für die Gleichmässigkeit der Einschätzung
libertnigen; die Laudesschätzer hatten in
ihren Distrikten die Schätzungsarbeiten zu
übef wachen und im Falle von Beschwerden
den Nach Schätzungen beizuwohnen. Die
Schätzungsbezirke sollten in der Regel mit
den Gemeindegebieten identisch sein; je
mehrere solcher Bezirke büdeten je einen
Hauptschätzungsbezirk. In jedem Bezirke
der letzteren Kategorie sollten unter un-
mittelbarer Aufsicht der Katasterkommission
»Musterschätzungen« vorgenommen werden;
an der Hand derselben hatte dann die
Schätzung der einzelnen Grundstücke zu
erfolgen. Gegen die Schätzungen konnten
Beschwerden an die Katasterkonmiission
und schliesslich noch an das Finanzminis-
terium eingebracht werden.
2. Auf Waldungen hatten im allgemeinen
auch die vorstehenden Anordnungen ^n-
Wendung zu finden. Die Besonderheiten
bestanden hierbei darin, dass die für die
Wälder bestimmten Schätzungskommissionen
nur drei Mitglieder haben soUten, welche
wie die für diesen Teil des Veranlagungs-
geschäftes besonders zu ernennenden Lan-
desschätzer Forstleute von Fach sein mussten.
Bei der Evidenzhaltung des Katasters
soUen nicht niu* Veränderungen in der Sub-
stanz der Grundstücke, sondern auch dauernde
Kulturändenmgen berücksichigt werden. Für
Elementarschäden werden Nachlässe be-
willigt. Ausserdem wurde eine Bewilligimg
eines solchen anlässlich der Notlage, in wel-
che (hauptsächlich infolge des Auftretens
der Reblaus) in neuerer Zeit der Weinbau
geraten ist, auch noch für einen anderen
Fall zugestanden; im Artikel 1 des G. v.
29. Mäi^ 1893 lieisst es nämlich: »Wenn
auf einem im Grundsteuerkataster veraeich-
neten Grundstücke die Rebenlage auf einer
Fläehe von mindestens einem Ar erneuert
wird, so bleibt diese Fläche auf Anti-ag des
Eigentümers oder Nutzniessers von dem auf
die Erneuerung folgenden Steuerjalu-e an
5 Jahre lang von der Staats-, Amtskorper-
scliafts- und Gemeindesteuer frei« ; die Giitig-
keitsdauer dieses Gesetzes wmxie im Artikel 2
desselben auf die Zeit bis zum Jalu-e 1921
inklusive beschränkt.
Die Höhe der Gnmdsteuer wui-de fi-üher
durch die Repartierung des im Wege der-
selben laut Bestimmung im Finanzgesetze
jeweils aufzubringenden Kontingentes be-
stimmt ; seit dem Gesetze vom 14. Juni 1887
ist sie mit einer Quote des »Steueranschlags«^
(3,9 ^/o) festgestellt. Sie liefert nach diesem
Steuerfusse ein Jahreserträgnis von ca.
3 700 000 Mark (5 % aller Staat«emnalimen).
24. Baden. Das badische Grund-
steuersvstem unterscheidet sich von den
bisher dargestellten dadiu-ch, dass dori die
Veranlagung auf Grund eines Wertkatasters
durchgeführt worden ist, sowie dadiux-h,
dass die Gnmdbesitzer dort neben der
Grundsteuer noch eine besondere Erwerbs-
steuer vom Betriebe der Landwirtschaft zu
bezalüen haben, die Grundsteuer also den
Charakter einer Besteuenmg der Gnmdrenle
Grundsteuer
909
ganz rein erkennen lässt. Eigentümlich ist
ferner, dass die auch in Baden angenommene
Trennung der Grundsteuer in zwei Bestand-
teile, deren einer sich auf die Waldungen
und deren anderer sich auf die übrigen
Orundstücke bezieht, so weit getrieben
wunle, dass jeder dieser beiden Bestandteile
in einem besonderen Gesetze geregelt ist
(Gesetz, betreffend die »Steuer vom land-
wirtschaftlichen Gelände«, v. 7. Mai 1858
imd Gesetz, betreffend die »Steuer von
Waldungen«, v. 23. März 1854).
A. Der Steuer vom landwirtschaftlichen
■Gelände imterliegt alles Land, welches nicht
ausdrücklich als Waldung erklärt ist; be-
freit sind: sterile Stücke, öffentliche Ge-
wässer, Strassen und Plätze, Mühlteiche und
■dergleichen, Bergwerke, verbaute Plätze.
Die Einschätzung hatte in der Art zu
erfolgen, dass die Ländereien jeder Kultiu*-
art in Klassen geteilt wiu'den \md für jedes
Gnmd stück nach der Einreihung desselben
und auf Grund seiner Grösse dessen eigenes
»Steuerkapital« sow^ie das durch die darauf
haftenden Grundlasten repräsentierte ermit-
telt wurde* nach diesen »Steuerkapitalien«
wiude die Gnmdsteuer einerseits den Grund-
besitzern und andererseits den durch die
Grundlasten Berechtigten auferlegt. Der
dieser Ennittelung und Auferlegung zu
Grunde zu legende Steueranschlag beruhte
auf dem Kapitale des Reinertrages, »wie
sicli dasselbe als mittlerer Kaufwert im
Durchschnitte der Güterpreise aus der
Periode von 1828—1847 zu erkennen« gab.
Aus diesen Güterpreisen soDte der Durch-
schnittspreis für je einen Morgen Land jeder
Kulturart und -klasse ermittelt werden ; die
aus den eruierten Käufen ermittelten Preise
durften aber, wenn sie nicht angemessen
erschienen, durch Schätzungen richtig ge-
stellt werden, welche auch dann einzutreten
hatten, wenn Kaufpreise nicht in genügen-
der Zalil vorlagen j doch mussten den
Schätzungen womöghch die Kaufpreise ähn-
licher Kulturarten und -klassen zu Grunde
gelegt werden; war dies Mittel nicht an-
wendbar, so sollte als Steuerkapital das
Fünfimdzwanzigfache des durchschnittlichen
Pachtertrags dienen und erst, wenn auch
-dies Mittel nicht anw^endbar war, sollte eine
Reinertragsschätzung stattfinden; in diesem
Ealle war das Fünfundzwanzigfache des
Reinertrags als Steuerkapital anzunehmen;
bei den . Grundlasten sollte zum Teil der
achtzehnfache, zum Teil der fünfundzwanzig-
fache Jahresbetrag als Steuerkapital dienen.
Die Schätzungen waren durch Steuerkom-
missäre und von der Finanzverwaltung aus
der Mitte der Steuerträger zu ernennende
Schätzleute vorzunehmen ; das Resultat die-
ser Schätzimgen war durch eine eigene
Ministerialkommission zu prüfen und end-
giltig festzustellen.
Im Wege der Evidenzhaltung sind ausser
Aenderungen in den Besitzverhältnissen der
Grundstücke und an der Substanz deraelben
auch Kulturänderungen zu berücksichtigen.
Für Verluste durch ausserordentliche
Vorkommnisse können Nachlässe bewühgt
werden. Die diesbezüglichen Bestimmungen
enthält ein besonderes Gesetz (v. 12. Mai
1892, Nachlass der Grundsteuer wegen
ausserordentlicher Unglücksfälle betreffend
— Ges. und Ver.-Bl. Nr. 11). Dasselbe
ordnet im Art. 1 an: »Ein Nachlass an der
Grundsteuer findet statt, wenn landwirt-
schaftlich benutztes Gelände durch Hagel-
schlag , Wolkenbruch , üeberschwen>mung
oder, jedoch nur insoweit es sich um Reb-
gelände handelt, durch Frost derart beschä-
digt wird, dass mindestens der dritte Teil
der Ernte der betroffenen Grundstücke als
zerstört anzusehen ist.« Und im Art. 3
heisst es: »Der Nachlass beträgt bei einer
Beschädigung von einem Drittel und da-
rüber, aber unter zwei Dritteln ^/lo, bei
einer solchen von zwei Dritteln und darüber
aber ®/io der Grundsteuer. Soweit es sicli
um Rebgelände handelt, wird die Steuer
bei einer Beschädigung von einem Drittel
und darüber, aber unter zwei Dritteln zu
®/io, bei einer solchen von zwei Dritteln
und darüber ganz nachgelassen«.
Ausserdem hat noch die infolge der
Verwüstungen durch die Reblaus einge-
tretene Notlage des Weinbaues zu einem
SpeciaJgesetze (v. 18. Juni 1892, die Ka-
tastrierung neu angelegten Rebgeländes be-
treffend; Ges. und Ver.-Bl., Nr. 16) Anlass
geboten, in dessen Art. 1 verfügt wird:
»Als Riebgelände (Weinberge) katastrierte
Grundstücke, auf denen die Rebanlagen voll-
ständig erneuert werden, bleiben von dem
Jahre an, in dem die Neuanpflanzung soweit
vorgeschritten ist, dass das Gelände wieder
als Rebanlage erscheint, 5 Jahre lang von
der Grundsteuer frei«.
B. Als Waldungen wurden nicht nur
die Wälder selbst, sondern auch die in den-
selben befindlichen Weiden, Holzlagerplätze,
Köhlereiplätze, Steinbrüche und Teiche be-
handelt. Der Steueranschlag soUte bei den
Waldungen im fünfzehnfachen Betrage des
Wertes bestehen, welchen der jährliche
»Haubarkeitsertrag« auf dem Stocke hatte;
andere Nutzungen sollten mit dem Fünf-
undzw^anzigfachen des Jahresertrags veran-
schlagt werden, aber niur soweit sie als
Hauptnutzungen erschienen (Nebennutzungen
waren ausser Betracht zu lassen); hierbei
waren die Durchschnittspreise aus den
Jahren 1845—1847 und 1850—1852 zu
Grunde zu legen; wo solche fehlten, sollte
eine billige Schätzung Platz greifen. Die
910
Grundsteuer
Schätzleute mussten aus der Mitte der Forst-
wirte genommen werden.
WsQdksteii waren, soweit sie in Holz
bestanden, zu Lasten des Bezugsberechtigten
mit dem fiinfundzwanzigfachen jährlichen
Geldwerte zu veranschlagen ; andere Lasten
sollten niu: dann veranschlagt werden, wenn
sie den Holzertrag oder sonstige Haupt-
nutzungen schmälerten; in diesem Fädle
waren sie mit dem fünfundzwanzigfachen
Geldwerte dieser durch sie jährlich verur-
sachten Schmälerung zu berechnen.
Im übrigen galten für die Grundsteuer
von den Waldungen die allgemeinen Grund-
steuemormen^
Die Feststellung beider Teile der Grund-
steuer erfolgt alljährlich auf Grund des
Verhältnisses zwischen dem für den ganzen
Grundbesitz des Landes ermittelten Steuer-
kapitale und dem durch das Finanzgesetz
bewilligten Steuerertrage.
25. Hessen. Auch in Hessen besteht
die in den meisten der übrigen grösseren
deutschen Staaten gewählte Form der Ver-
anlagung der Grundsteuer, indem dieselbe
dort auf Grund eines Parzellenertragskatas-
ters umgelegt wird, dessen Herstellung und
Einrichtung durch das G. v. 13. Mai 1824
geregelt worden ist. Die Ertragsschätzung
erfolgte im Wege der Vergleichung der ein-
zelnen Parzellen mit Mustergrundstücken.
Da sich im Laufe der Zeit herausgestellt
hatte, dass die auf Grund dieser Katastrie-
rung stattgefundene Besteuerung der Wal-
dungen infolge der seither durch die Er-
höhung der Erträge der Bewirtschaftung
derselben eingetretenen Aenderung des Ver-
hältnis.ses zwischen diesen Erträgen und
denen der übrigen Kulturarten mit der Be-
steuerung der letzteren nicht mehr im rich-
tigen Verhältnisse stand, erfolgte im Jahre
1864 eine Erhöhung der Gnmdsteuer von
den Waldungen durch das einfache Mittel
einer pauschalmässigen Erhöhimg des im
Wege der alten Katastriernng festgestellten
Reinertrags derselben.
B. Ausserdeutsche Staaten.
26. Oesterreich-Ungarn. a) Oester-
reich. Es ist wohl in erster Linie der
historischen Finanznot, an welcher Oester-
reich bis vor kurzem litt, zuzuschreiben,
dass hier frfiher als anderswo die Be-
strebungen nach einer rationellen, zweck-
entsprechenden Veranlagung der Grund-
steuer begannen, wie es andererseits mit
den in diesem Staate stets so bedeutend
gewesenen Schwierigkeiten der inneren
Politik resp. mit den Ursachen derselben
zusammenhängen dürfte, dass diese Be-
strebungen hier später als sonst irgendwo
zum gewünschten Resultate geführt haben.
Die Geschichte der Gnmdsteuerregu-
lierung beginnt nämlich in Oesterreich schon
mit dem durch das kaiserliche Patent vom
7. September 1718 eingeführten Censimento
Milanese, mit welchem bereits — allerdings
nur für die Lombardei — die Anlegimg
eines förmlichen, bereits alle noch heute
für wesentlich erachteten Erfordernisse ent-
haltenden Parzellenertragskatasters ange-
ordnet worden ist. Anläufe zur Durch-
führung einer ähnlichen allgemeinen Gnind-
steuerregiüierung im ganzen Staatsgebiete
wurden imter Maria Theresia und Joseph H.
unternommen. An der theresianischen
»Steuerrektifikation« ist wichtig, dass schpn
durch sie der Steuerimmunität des heiT-
schaftlicheu Grundbesitzes ein Ende gemacht
worden ist; die durch sie bewirkte Um-
legung der Steuerlast erwies sich aber bald
als höchst mangelhaft. Dieselbe sollte —
ehe sie noch vollendet war — durch die
von Joseph IL auch auf diesem Gebiete
unternommene Reform verbessert werden.
Die Durchführung dieser Reform soUte schon
auf der Basis einer allgemeinen Parzellen-
vermessung erfolgen (die theresianische
Regulierung hatte nämlich noch eine Güter-
schätzung und Repartierung ziir Grundlage) ;
doch wurde im Interesse der rascheren
Diux5hführung von der Uebertragung der
Vermessung an Fachmänner viel^h abge-
sehen, dieselbe vielmehr grossenteüs den
Gi-undbesitzern selbst überlassen. Auch die
Eitragsschätzung w^urde in wenig genauer
Weise diu-chgefOhrt. Die Folge dieser
üeberstürzung der Reform war, dass die-
selbe das Schicksal der meisten anderen
Reformen Josephs II. teilte : sie wurde durch
seinen Nachfolger Leopold 11. wieder be-
seitigt. Zunächst tmten wieder die alther-
gebrachten Methoden der Verteilung der
Steuerlast auf die einzelnen Provinzen und
innerhalb derselben in Geltung. Doch waren
die Reformbestrebungen hieniurch keines-
wegs für immer beseitigt. Die Mängel des
geltenden Systems brachten es vielmehr
mit sich, dass in der an Reformen so reichen
ersten Hälfte der Regierungszeit des Kaisers
Fi-anz auch die Reform der Grundsteuer
neuerlich in Angriff genommen wurde. Am
23. Dezember 1817 erschien ein die Ein-
führung eines neuen Systems derselben an-
ordnendes kaiserliches Patent. Dasselbe be-
zweckte die allgemeine Herstellung eines
auf genauen Vermessungen und fi-mitte-
lungen beruhenden Parzellenertragskatasters,
welches allmählich in den einzelnen Pro-
vinzen hergestellt werden sollte ; nach dessen
Fertigstelhmg in einer derselben sollte je-
weils daselbst die Veranlagung der Grund-
steuer muih dem Residtate der Katastiienmg
erfolgen; in den anderen Provinzen sollte
bis dahin die Veranlagimg der Steuer nach
Grundsteuer
911
dem daselbst althergebrachten Systeme bei-
behalten werden.
Auch diese Massregel hat ihi*en Zweck
niemals vollständig erreicht. DieKataßtrierung
wurde von Anfang an in so langsamem Tempo
diurchgeführt, dass zu Ende des Jahi'es 1847
die Veranlagung der Grundsteuer nach dem
Patente vom 23. Dezember 1817 bloss in
den Alpenprovinzen (mit Ausnahme Tirols
und Yoralbergs) durchgeführt war. Im
Laufe der 50 er Jahre erfolgte ihre Diirch-
fühning in den Ländern der böhmischen
Krone und in Dalmatien. In Tirol mit
Vorarlberg und in Galizien und der Buko-
wina kam es überhaupt niemals zu dieser
Durchführung, weil noch vor Bewerk-
stelligung derselben eine neue Kat^trierung
des ganzen Staates eingeleitet wiu-de.
Dde Resultate der auf Grund des Patentes
vom Jahre 1817 durchgeführten Katastrierung
wurden nämlich noch vor der Vollendung
derselben schon wieder allgemein als imbe-
friedigend bezeichnet. Schon die lange
Dauer der Eiitastrierungsarbeiten allein
hatte zur Folge, dass die Schätzungen,
welche in sehr weit auseinander liegendem
Zeitraum stattgefunden hatten, auf sehr un-
gleichen Grundlagen beruhten. Dazu kam
nocli, dass dieses Patent schon von Hause
aus an einem schweren Fehler litt, indem
es das Erbübel der östen-eichischen Gesetz-
gebung über die direkten Steuern — die
übermässige Höhe des Steuerfusses — ein-
führte: es normierte die Höhe der Gnmd-
ßtouer mit 16 Prozent des Reinertrages und
schuf damit einen unwiderstehlichen Anreiz
zur Täuschung der Behörden über die wahre
Höhe des letzteren und dadurch eine neue
Quelle von üngleichmässigkeiten. Diese
wurden späterhin noch empfindlicher da-
durch, dass der Steuerfuss allmählich bis
auf 26^,3 Prozent erhöht wiurde.
So wurde denn als das einzige Mittel,
welches geeignet war, den immer drängen-
der gewordenen Beschwerden abzuhelfen,
eine allgemeine neue Katastrierung erkannt.
Dieselbe sollte nicht nur die üngleichmässig-
keiten zwischen den einzelnen Kronländern
beseitigen, sondern auch die nicht unbe-
deutenden Flächen, welche bisher als er-
tragslose katastriert und demzufolge unbe-
steuert geblieben, aber nach dieser ihrer
alten Katastrierung urbar gemacht worden
waren, zur Besteuerung hei-anziehen ; das
betreffende Gesetz trägt das Datum vom
24. Mai 1869.
Auch die durch dieses Gesetz angebahnte
Reform der Gnmdsteuer schien zunächst
demselben Schicksale verfallen zu sollen,
welches der im Patente vom 23. Dezember
1817 angeordneten zu teü geworden war.
Die Katastrierungsarbeiten kamen diu'ch fast
10 Jahre hindurch nicht vom Flecke. Erst
gegen Ende der 70 er Jahre kamen sie in
ein rascheres Tempo und wurden von da
an derartig gefördert, dass mit dem Gesetze
vom 17. Juni 1881 vom Jahre 1881 an die
Ausschreibung der Gmndsteuer nach der
neuen Katastrierung angeordnet werden
konnte. Da aber das Resultat dieser Ka-
tastrierung von Seite derjenigen Kronländer,
welche von derselben eme Erhöhung ihrer
bisherigen Gnmdsteuerleistung zu gewäi*tigen
hatten — denn da keine Erhöhung der seit-
herigen Gnmdsteuerleistung (abgesehen von
derjenigen, welche sich aus der Heranziehung
bisher unbesteuerter Ländereien zur Ver-
steuerung von selbst ergab), aber doch auch
keine Verminderung derselben geplant war,
so musste das Resultat der Beseitigung der
bisherigen Ungleiclunässigkeiten in der Be-
steuerung der einzelnen Länder in der Er-
höhung dei' Last der durch diese üngleich-
mässigkeiten begünstigten bestehen — in
der heftigsten Weise angefochten wurde,
so wurde im citierten Gesetze für das Gros
der durch die neue Regulierung der Grund-
steuer Benachteiligten die Begünstigung ^-
schaffen, ihre SteuerRchuldigkeit nicht gleich
nach dem ganzen neuen Ausmasse, sondern
zunächst nur unter Zuschlag eines Teils der
auf sie entfallenden Erhöhung leisten zu
dikfen ; dieser Zuschlag sollte allmählich bis
zur voUen Realisierung dieser Erhöhimg ge-
steigert werden. Erst mit dem Beginne des
Jahres 1892 war diese üebergangsperiode
zu Ende, so dass erst von diesem Jahre an
die Ausschreibung der Grundsteuer auf
Grund des vollen im Gesetze vom 7. Juni
1881 ausgeschriebenen Kontingents von
37 500000 fl. (vor dem Jahre 1881 betrug
die aus ihr stammende Einnahme 36 800 000 fl.)
erfolgen konnte. Uebrigens war die neue
Veranlagung der Grundsteuer auch hiermit
noch nicht vollständig beendigt. Die Aus-
schreibimg derselben im Gesetze vom 7. Juni
1881 war nämlich bewirkt worden, bevor
noch die Verhandlungen über die Rekla-
mationen vollständig abgeschlossen worden
waren. Mit Rücksicht hierauf war schon
früher angeordnet wonlen, dass die zum
Zwecke der Realisierung jener Abschreibung
auf Grund der damals vorgelegenen Ka-
tastrierungsei'gebnisse vorgenommene Re-
partition des Kontingents nach Beendigung
des Reklamationsverfahrens einer ent^
sprechenden Ausgleichung unterzogen wer-
den solle. Zu dieser Ausgleichung ist es
aber niemals gekommen, weü diejenigen
Grundbesitzer, welche von der Durchführung
derselben eine Erhöhung ihrer Steuerlast
zu erwarten hatten, sich dagegen sträubten
und hierdurch den Erfolg erzielten, dass
diese Durchführung so lange unterblieb, bis
sie diurch eine neuerliche, wenn auch nicht
diurchgreifende, so doch immerhin ziemlich
912
Grundsteuer
weitgehende allgemeine Korrektur der Grund-
lagen der Steuerumlegung entbehrlich ge-
macht wurde.
Der Anstoss hierzu wurde durch den
Umstand geboten, dass das G. v. 24. 3Iai
1869 unter anderem auch die Bestimmimg
enthielt, dass nach Ablauf von 15 Jahren
nacli dem Beginne der durch dasselbe an-
geordneten neuen Grundsteuerveranlagmig
und auch weiterhin alle 15 Jahre eine neue
allgemeine Revision des Katasters stattfin-
den solle. Die Erfahrungen, welche bei der
Durchfilhrung der auf Grund dieses Gesetzes
stattgefundenen Katasterrevision gemacht
worden waren, hatten aber eine solche Scheu
vor der vollständigen Wiederholung einer
derartigen Operation wachgerufen, dass
weder die Regierung noch das Parlament
und die Bevölkerung dieselbe herbeiwünsch-
ten; hieran hatte der durch jene Revision
verursachte riesige Zeit-, Arbeits- und
Kostenaufwand einen eben so grossen An-
teil wie der Umstand, dass der Erfolg der-
selben doch nur in der HersteUung eines
Operates bestand, welches weder die Steuer-
träger noch den Fiskus befrieden konnte.
Denn die ersteren klagten nach dieser Re-
vision noch mehr über die Ungleich mässig-
keit der Steuerverteilung als früher; ins-
besondere waren es die Vertreter der
Alpenländer, welche — wie zuletzt allge-
mein anerkannt worden ist, mit Recht —
tiber ihre un verhältnismässige Ueberbürdung
Beschwerde führten. Vom Standpunkte des
letzteren aus musste es dagegen ernste Be-
denken erregen, dass die Reinertragsschät-
zungen — ohne Zweifel hauptsächlich in-
folge der Furcht vor einer etwaigen Um-
legung der Steuer nach dem neu ermittel-
ten Ertrage auf Grund des alten exorbitan-
ten Steuerfusses — so niedrig ausgefallen
wai'en, dass sie gei-ade so wie die alten
als weit hinter der Wirklichkeit zurück-
bleibend angesehen werden müssen und in-
folge dessen das ausgeschriebene Steuer-
kontingent auch auf Gnmd dieser Schätzun-
gen nur mit Hilfe eines gegen früher zwar
etwas erniedrigten, aber noch immer exor-
bitant hohen Steuerfusses (22,7 ^/o des Rein-
ertrages) erreicht werden konnte.
Wenn aber auch alle massgebenden Fak-
toren in dem Widerwillen gegen eine neue
allgemeine Katasterrevision einig waren, so
wunle es doch teils infolge des Ablaufes
der ersten der oben erwähnten 15 jährigen
Perioden, teils infolge des schliesslich un-
widerstehlich gewordenen Andi*ängeus der
sich für überlastet ei achtenden Grundbesitzer
wegen Berücksichtigung ihrer Beschwenlen
ganz unvermeidlich, wenigstens eine teil-
weise Korrektm* des in Wirksamkeit stehen-
den Katastoi-operates durchzuführen. Bei
der Beschlussfassung über die diesfälligen
Massregeln wurde von der Erkenntnis aus-
gegangen, dass die schliesslich zum Durch-
bruche gelangte Anerkennung der Ueber-
bürdung gewisser grosser ^nippen von
Grundsteuerträgern, ja des gesamten Grund-
besitzes ganzer Kronländer keineswegs zur
Folge hatte, dass die un verhältnismässig
niedriger belasteten Grundbesitzer geneigt
geworden wären, eine höhere Steuerlast, sds
sie auf Grund der in Geltung stehenden
Veranlagung zu tragen hatten, auf sich zu
nehmen, dass vielmehr jeder in dieser Rich-
timg sich bewegende Vei-such auf einen
unüberwindlichen Widerstand der von einer
Mehrbelastung Bedrohten stossen würde und
dass demgemäss eine Beseitigung der be-
klagten Ueberbürdung nur dann realisiert
werden könnte, wenn der Staat sich ent-
sclüiessen würde, den überbürdeten Steuer-
trägern den verlangten Steuernachlass zu
gewähren, ohne den anderen eine Mehrbe-
lastung aufzuerlegen, d. h. also auf einen
entsprechenden Teil des ihm auf Gnmd der
geltenden Veranlagimgsbasis zukommenden
Steuei-ertrages zu veraichten. Die entspre-
chende Verteilung des hiemach in Aussicht
genommenen Steuernachlasses auf diejenigen
Grundstücke, welche sich thatsächlich als
übermässig besteuert herausstellen wüitlen,
wurde solün als die Aufgabe der einzulei-
tenden Revisionsaktion angesehen. Diese
sollte demgemäss nicht den gesamten im
Staate vorhandenen Grundbesitz, sondern
nur denjenigen, liinsichtlich dessen die
Ueberbürdungsbeschwerden sich als begrün-
det herausstellen würden, umfassen und niu:
die Beseitigung der Ursachen dieser Be-
schwerden bezwecken, im übrigen aber
das vorliandene Kataster unberührt lassen.
Alle diese Erwägungen sind schliesslich
in dem die Revision des Grundsteuerkatas-
tei^s anordnenden GG. v. 12. Juli 1896
(R.G.B1. Nr. 121) zum Ausdrucke gekommen.
Dasselbe ordnete ausdrücklich an, dass eine
individuelle Neueinschätzung aller Parzellen
nicht stattfinden solle. Vielmehr wiu\ie
angeordnet, dass die als der einzige Zweck
der Revision in Aussicht genommene Be-
hebung der zu Tage gekonunenen Ungleich-
mässigkeiten in der Gnmdsteuen'eranlagung
teils im Wege der Berücksichtigimg der
seit der letzten Katastrierimg stattgefimde-
nen Kultui-änderungen, teils im Wege einer
bloss mit Hilfe allgemeiner Ei'hebimgen
über alle einschlägigen Verhältnisse vorzu-
nehmenden Neufeststellung der Katastral-
reinerträge, welche je nach den Umständen
generell für grössere oder kleinere Gebiets-
teile und innerhalb dieser für alle oderniur
für einzelne Kiütui-arten oder Bonitätsklassen
oder auch für einzelne Parzellen vorzu-
nehmen war, bewerkstelligt werden sollte;
liierbei wurde aber ausdrücklich angeordnet,
Grundsteuer
913
dass die auf die einzelnen Länder oder
Schätzun^srayons entfallenden Steuertangen-
ten nicht erhöht werden dürfen; dagegen
wurde zum Zwecke der Gewinnung eines
Spielraiuns für die neue Eegelung der Ver-
anlagung die bestehende Grundsteuerhaupt-
summe um 2500000 fl. herabgesetzt; diese
Herabsetzung sollte durch entsprechende
Erniedrigimg der Katastralreinerträge der
zu begünstigenden Gnmdstücke bei unver-
änderter Beibehaltung des in Geltung stehen-
den Steuerfusses realisiert werden; die
Grundsteuerhauptsumme sollte demnach vom
Jahre 1897 an — in welchem die Neuver-
anlagiuig der Grundsteuer schon in Kraft
treten sollte — nur noch 35000000 fl. be-
tragen.
Wie durch die Kontingentierung des Ge-
samtertrages mid die im Wege einer Quoti-
sienmg erfolgte Ausschreibung der indivi-
duellen Anteile an der Grundsteuer, so er-
scheint das G. v. 24. Mai 1869 auch sonst
hinsichtlich der Details im wesentlichen als
eine Nachbildung des preussischen Gesetzes
vom Jahre 1861. Von den Abweichimgen
sei hervorgehoben, dass die Befreiungen
sich auf die nicht landwirtschaftlich benutz-
baren Flächen sowie die öffentlichen Wege
und Friedhöfe beschränken. Auch die
Unterscheidung der Kulturgattungen ist eine
andere : Aecker, Wiesen, Gärten, Weingärten,
Hutweiden, Alpen, Waldungen, stehende
Gewässer, Pariflkationsland (d. h. die nach
dem Ertrage benachbarter Flächen abzu-
schätzenden — diesen gleichzustellenden
oder zu parifizierenden — Temtorien der
Steinbrüche, Torfstiche, Lagerplätze, Eisen-
bahnanlagen und dergleichen), unproduktives
Land. •
Die Evidenzhaltung wmtle in der Haupt-
sache durch ein besonderes Gesetz (v. 23.
Mai 1883) geregelt und sollte sich hiemach
auf die Aendenmgen in den Besitz- und
sonstigen äusserlich leicht wahrnehmbaren
Verhältnissen beschränken; durch das Re-
visionsgesetz vom 12. Juli 1896 wurden auch
noch die Kidturänderungen als Gegenstand
der Evidenzhaltung erklärt; diesbezüglich
wurde aber bestimmt, dass Steuererhöhun-
gen, die sich etwa als Folge der Feststel-
lung von Kulturänderungen ergeben sollten,
erst nach Ablauf von 10 Jahren nach der
Bewerkstelligung der letzteren in Kraft zu
treten hätten. Durch weitere Gesetze (v.
6. Juni 1888 und v. 12. Jiüi 1896) sind
Nachlässe aus Anlass von Erti-agsboschädi-
gungen diuxih Elementarereignisse in be-
deutendem Umfange als zulässig erklärt
worden. Auch anlässlich der in der neueren
Zeit eingetretenen Notlage des Weinbaues
überhaupt und speciell der durch die Reb-
laus angerichteten Verheerungen wurde die
Bewilligung von Begünstigungen in bedeu-
tendem Umfange zugestanden (GG. v. 15.
Juni 1890, R.G.B1. Nr. 143 und v. 26. Juni
1894, R.G.B1. Nr. 138), deren eine in der
Bewilligung einer zehnjährigen Gnmdsteuer-
befreiung fiir infolge des Auftretens des ge-
nannten Schädlings zerstörte und >^'ieder
hergestellte Weingärten bestand, während
die andere die Förderung der Neuanlegung
von Weingärten auf bisher anderen Kulturen
gewidmeten Flächen dadurch bezweckte,
dass auch hierfür unter gewissen Bedin-
gungen eine zeitliche Steuerfreiheit — in
der Dauer von 6 — 10 Jahren — in Aussicht
gestellt wiurde.
Das oben erwähnte reduzierte Ausmass
des durch die Grundsteuer zu erzielenden
Eiirages hat seither noch eine weitere
Reduktion durch die im Personalsteuerge-
setze vom 25. Oktober 1896 enthaltene
Bewilligung eines Nachlasses von lO^/o an
dem bestehenden Stcuerausmasse erfahren;
infolge dieses Nachlasses sowie der Aus-
fälle, die sich infolge der Abschreibungen
wegen Elementarschäden ergeben, beläuft
sich der reelle Ertrag der Grundsteuer in
Oesterreich nur noch auf 28700000 fl.
(3^/4 ^0 der gesamten Staatseinnahmen).
b) Ungarn. Die Einführung euier all-
gemeinen staatlichen Besteuerung des Bodens
erfolgte in Ungarn zur Zeit der Herrschaft
des centi-alistisch- absolutistischen Regimes,
welches die Länder der Stefanskrone den
übrigen Teilen des Reiches gleichstellte,
^üt dem G. v. 4. März 1850- wiu-de eine
provisorische Grundsteuerveranlagung nach
dem Muster der damals für Oesterreich an-
gestrebten angeordnet Dieses Provisorium
steht mit einigen durch die Gesetzartikel
XXV vom Jalu-e 1868, L vom Jahre 1870,
Vn. vom Jahre 1875 uncL XV vom Jahre
1876 herbeigeführten M.odifikationen —
deren wichtigste in der durch das vorletzte
der citierten Gesetze angeordneten Vornahme
einer Korrektur der Veranlagung nach dem
faktischen Zustande und auf Grund einer
neuen Feststellung des Reinerträgnisses be-
stand — noch in Kraft. Zu erwähnen wäre
von diesen Modifikationen noch die Anord-
nung, dass Grundstücke, welche durch
ausserordentliche Kosten landwirtschaftlich
brauchbar gemacht wurden. 15 Jahre lang,
Aufforstungen durch 20 — 40 Jahre und nach
Feuersbrünsten neu angelegte Wälder 8 — 40
Jahre lang steuerfrei zu lassen seien. Be-
sondere Steuerbegünstigungen w^urden auch
(mit Gesetzartikel I vom Jahre 1891) den
Weingartengebieten gewährt. Das Ausmass
der Grundsteuer wurde auf Grund der
Gesetzartikel XL vom Jalire 1881 und
XLVI vom Jalire 1883 mit 25,5^/0 des
Katastralreinertrages festgestellt und lieferte
dem Staate im Jahre 1897 eine Einnahme
Hand Wörterbach der Staats Wissenschaften. Zweite Auflage. IV.
58
9U
Grundsleuer
in der Höhe von 34,3 Millionen fl. (6 ^o der
gesaroten Staatseinnahmen).
27. Frankreich. Die einheitliche Re-
gelung der Grundsteuer erfolgte iu Frank-
reich während der Revolution dm*ch ein
G. V. 1. Dezember 1790. An seine Stelle
trat später das — zugleich auch Be-
ßtimmungen über die Besteuerung der Ge-
bäude enthaltende — G. v. 3. Frimaire,
an VII (23. November 1798), durch welches
die vordem auch in Frankreich bestandenen
grossen provinziellen Verschiedenheiten in
der Besteuerung des Bodens beseitigt wurden
und das — wenigstens in dem ims hier
allein interessierenden Teile (die Gebäude-
besteuenmg wiu'de später selbständig ge-
regelt) — im wesentlichen noch heute gilt.
Durch dieses Gesetz ist die Grundsteuer
— wie fast alle anderen direkten Steuern
Frankreichs — zu einer Repartitionssteuer
erklärt worden, deren Kontingent alljährlich
vom gesetzgebenden Körper auszuschreiben
ist; diese Ausschreibung normiert auch die
Anteile der einzelnen Departements, während
die Repartierung jedes dieser Anteile inner-
halb der letzteren im Wege eines besonderen
Verfahrens durch die General- und Arron-
dissementsräte zu erfolgen hat; die Repar-
tition innerhalb der Gemeinden wird durch
einen besonderen conseü de re^jartiteurs
bewerkstelligt. Die Grundlage dieser Re-
partition soU durch das Kataster geliefert
werden, dessen Herstellung mit dem G. v.
15. September 1807 angeordnet und durch
mehrere spätere Gesetze modifiziert wor- !
den ist. !
Das durch dieses Gesetz eiugefiihrte ;
Kataster beruhte ebenfalls auf der parzellen- ,
weisen Ermittelung des Reinerti-ags. Es i
finden sich demgemäss auch hier aUe ,
wesentlichen Elemente einer Ertragsermitte-
lung wieder : Vermessung der Parzellen, '
Aufstellung von Kulturgattungen imd Boni- 1
tätsklassen (der letzteren durften nicht mehr i
als fünf aufgestellt werden) und Einreibung I
der Parzellen in den auf diese Art ge- '
bildeten Schätzungstarif.
Das Resultat der Schätzung gilt als un-
veränderlich bis zur Vornahme der nächsten,
welche nach Ablauf von 30 Jahren seit der
Durchführung der früheren erfolgen soll.
(Letztere Bestimmung ist ein toter Bucli-
stabe gebliel)en.) Nachlässe wegen Ertrags-
beschädigungen werden nicht gewährt. Da-
gegen ist aber für die Bildung eines Fonds
zum Zwecke der Gewährmig von Ent-
schädigungen für die geleistete Steuer in
derartigen Fällen Sorge getragen.
Die Katastrierung zog sich sehr in die
Jjänge , da sie auf dem Festlande erst im i
Jahre 1850, in Corsica sogai* erst im Jahn* '
185S beendigt wurde. Bis dahin erfolgte i
die Repartition auf die De])artements nach ■
althergebrachten, auf anderen Beurteilungs-
mitteln beruhenden Schätzungen. Innerhalb
der einzelnen Departements griff die Re-
partition auf Gnmd des Katasters nach
Massgabe der Vollendung desselben Platz.
Uebngens wurde auch nach der Vollen-
dung des Katasters die Repartierung des
Kontingents auf die Departements nicht an
der Hand desselben vorgenommen. Bald
nach Vollendung der Katastrierung einzelner
Departements begannen auch schon die
Klagen über die bei den Einschätzungen
vorgefallenen Ungleichmässigkeiten — Kla-
gen, welche natürlich durch die Vergrösse-
rung der zwischen der Katastrierung der
einzelnen Departements abgelaufenen Zeit-
räume an Berechtigung und Intensität ge-
wannen. So ist denn die Geschichte der
Gnmdsteuer in Frankreich gebildet durch
einen bald nach dem Beginne der Durch-
fühnmg des G. v. 15. September 1807 aus-
gebrochenen und bis heute fortdauernden
Kampf zwischen den einzelnen Departements
um Herabsetzung ihrer Anteile am Grund-
steuerkontingente. Es würde viel zu weit
führen, wollten w^ir hier die einzelnen
Stadien desselben schildern. So sei denn
nur allgemein erwähnt, dass das Resultat
dieses Kampfes darin bestand, dass das
Kataster schliesslich seiner ursprünglichen
Bestimmung, einen Massstab für die Ver-
teilung der Grundsteuerlast auf den ganzen
Staat zu bilden, ganz entfremdet und zu
einem blossen Hilfsmittel für die Repartition
der Kontingente der Departements innerhalb
der letzteren geworden ist. Die Feststellung
der auf die Departements entfallenden
Kontingente erfolgt dagegen nach wie vor
mit Hilfe von ganz aUgenieinen Schätzungen
der Leistungsfähigkeit derselben. Zeitweilig
werden hierbei diese, da in wieder jene
Departements begünstigt. Die letzte der-
artige Regiüierimg der Departement skou-
tingente erfolgte mit dem G. v. 8. August 1890.
Der Ertrag der Grundsteuer beziffert
sich derzeit auf 92,83 Millionen Francs
(2,7 ^V'o der gesamten Staatseinnahmen).
28. Italien. Die Geschichte der italie-
nischen Grundsteuer umfasst natiu^emäss
nur den verhältnismässig kurzen Zeitraum,
der seit der Gründung des Köui^ichs ver-
gangen ist. Vordem bestanden m den ver-
schiedenen Teilen der Halbinsel auch ver-
schiedene Grundsteuersysteme. Ja es gab
deitMi sogar mehr, als Staaten bestanden
hatten, weil in manchen derselben mehi-ei^e
Systeme in Geltung waren. Als die Grün-
dung des Königi'eichs erfolgt war, konnte
dieses selbstverständlich zunächst nichts
thun, als die Grundsteuer in den einzelnen
Teilen des Staates nach den daselbst von
den früheren Souveränitäten überkommenen
Nomien einzuheben. Die Gnmdsteuer wurde
Grundsteuer
915
mit einem der Simime ihrer bisherigen Er-
träge in den Einzelstaaten entsprechenden
Betrage kontingentiert und das Kontingent
sohin auf die nunmehrigen Provinzen nach
Massgabe der bisher daselbst erzielten Er-
träge repartiert.
Es ist begreiflich, dass bei einem der-
artigen Vorgehen die Belastung des Grund-
besitzes zu einer sehr ungleichmässigen
wurde; ebenso begi*eiflich ist es, dass die-
jenigen Landesteile, welche sich hierbei im
Vergleiche mit den anderen für benach-
teiligt hielten, danach strebten, eine gleich-
massigere Verteilung der Steuerlast herbei-
zuführen. So begannen denn bald nach der
Gründung des Staates die Bestrebungen
nach einer zur Herbeiführung der ange-
strebten Gleichmässigkeit geeigneten Neu-
regelung der Gnmdsteuer. Dieselben stiessen
aber alsbald auf den Widerstand der im
Falle der Realisierung dieser Bestrebungen
von einer Vergrösserung ihrer Steuerlast
bedrohten Provinzen; dieser Wiederstand
hat sich bisher als genügend stark erwiesen,
mm die Neuregelung der Gnmdsteuer zu
verhindern. Wohl wurden seitens der Re-
gierung wiederholt Versuche gemacht, um
ilieselbe durchzusetzen, indem sie (in den
Jahren 1874, 1877 und 1882) Gesetzentwürfe
einbrachte, welche die Herstelluug eines
Parzellenertragskatasters zum Behufe der
Gewinnung der Basis für eine gleichmässige
Veranlagung der Grundsteuer im ganzen
Staate bezweckten. Diese Versuche haben
aber bisher nicht zum Ziele geführt.
Der Ertrag der Gnmdsteuer beläuft sich
auf 107 000000 Lire (6,30/0 der gesamten
Staatseinnahmen).
29. Grossbritannien. England hat ge-
genwärtig keine eigentliche Gnmdsteuer
mehr. Die Besteuerung des Bodenertrages
erfolgt derzeit daselbst ausschliesslich im
W^ege der Einkommensteuer; Schedula A
und B der income-tax bilden diejenigen Be-
standteile dieser Steuer, welche zur Be-
lastung des Bodenertrages bestimmt sind.
Allerdings findet sich im englischen Budget
noch ein geringfügiger Einnalimeposten, wel-
cher seinem Titel nach (land-tax) als ein aus
einer Grundsteuer herrührender erscheint.
Diese land-tax ist aber nur noch der
Rest einer solchen Steuer, welche im
Jahre 1892 eingeführt worden war. Die-
selbe war im Laufe der Zeit durch lang-
dauernde ünveränderlichkeit ihrer Veran-
lagimgsbasis so ganz aus aller Relation zum
wirklichen Ertrage der Grundstücke getre-
ten, dass man schliesslich nicht nur ihre
Ungleichmässigkeit erkannte, sondern ge-
radezu einsah, dass sie überhaupt aufge-
hört habe, eine Steuer zu sein. Da zugleich
auch ihre befriedigende Reformierung als
Steuer für unmöglich erachtet wiu'de, so
wurde sie im Jahre 1798 als eine ablösbare
Reallast erklärt und verlor hierdurch auch den
Schein ihres urspranglichen Steuercharak-
ters. Die Ablösungssumme wurde auf den
vierzigfachen Jaliresbetrag in dreiprozentigen
Staatspapieren, auf den dreissigfachen in
Bargeld festgesetzt. Die Ablösung ist übri-
gens seither nicht besonders rasch von
statten gegangen, da bis jetzt nicht viel
mehr als die Hälfte der land-tax abgelöst
worden ist. Die Besitzer der noch der land-
tax unterliegenden Gnmdstücke haben übri-
gens trotz dieser Sachlage im Jahre 1896
eine nicht unbeträchtliche Herabsetzung die-
ser Abgabe und auch Erleichterungen der
Ablösungsbedingungen durchgesetzt
30. Russland. In Russland wurde die
Grundsteuer schon in früherer Zeit auf die
einzelnen Gouvernements nach Massgabe
eines für einzelne Gruppen von solchen be-
sonders bestimmten, auf jede Flächeneinheit
(Dossätine, beinahe gleich einem Hektar)
»Nutzland und Wald« durchschnittlich ent-
fallenden Steuersatzes vorgeschrieben; die
Repartition der sich aus dieser Vorsclirei-
bung ergebenden Grundsteuersummen inner-
halb dieser Gouvernements lag besonderen
hierfür bestehenden Behörden ob und war
von denselben in der Weise durchzuführen,
dass die Ländereien in denselben in
Klassen geteilt und der auf jede Des-
sätine der in die einzelnen Klassen ge-
hörigen Grundstücke entfeilende Steuer-
satz in solcher Weise ober- und imterhalb
des Gouvernementsdurchschnitts normiert
wiu'de, dass hierdurch das für das Gouver-
nement bestimmte Kontingent aufgebracht
werden konnte. Alle diese Normierungen
von Steuersätzen erfolgten auf Grund all-
gemeiner Schätzungen der Bodenerträge in
den Gouvernements und Bezirken, was das-
selbe Resultat zur Folge hatte wie das
anderwärts sich aus einem derartigen Vor-
gehen ergebende : Klagen über die Ungleich-
mässigkeit der Schätzungen.
Eine neue Regelung der ümlegung der
Gnmdsteuer erfolgte durch das G. v. 17.
(29.) Januar 1884. Dasselbe brachte in den
bisherigen Modus der Vorsclireibung der auf
die einzelnen Gouvernements entfallenden
Steuersummen nur insofern eine Aenderung,
als eine grössere Differenzierung zwischen
denselben hinsichtlich der für sie bestimm-
ten durchschnittlichen Steuersätze sowie
eine Erhöhung der letzteren Platz griff ; im
übrigen wiuxlo der alte Modus beibehalten.
Dagegen wurde den Landschaftsversamm-
lungen der Gouvernements die Repartierung
der Steuer auf die Kreise und den Kreis-
landämtern die weitere Repartierung auf die
Grundbesitzer nach den für die Rej)artierung
der lokalen Landschaftssteuern festgestellten
Grundsätzen überlassen. Die neue Fest-
58*
916
Grundsteuer
Setzung der gouveniemenlsmässigen Durch-
schnittssätze hatte ausser der Erhöhung der-
selben auch die Beseitigung der in dieser
Beziehung bestehenden üngleichraässigkeiten
zum Zwecke.
Diese beiden Zwecke wurden auch durch
die mit dem G. v. 14. (26.) Dezember 1887
für eine Anzahl von Gouvernements angeord-
nete neue Normierung der durchschnitt-
lichen Steuersätze angestrebt. Durch diese
wurde der Ertrag der Grundsteuer auf die,
relativ allerdings noch immer recht gering-
fügige Summe von 12000000 Rubel (0,9%
der gesamten Staatseinnahmen) gesteigert.
81. Vereinigte Staa.ten von Nord-
amerika. In der nordamerikanischen Union
giebt es keine gesamtstaatliche Grundsteuer
(wie überhaupt keine diesen Charakter tra-
gende direkte Steuer). Dagegen wurden in
den Einzelstaaten wiederholt mehr oder
weniger gelungene Versuche zur Einführung
einer Grundsteuer unternommen und ausge-
führt. Es würde hier zu weit führen, näher
auf dieselben einzugehen.
32. ßritisch-Indien. Die Gnmdsteuer-
verfassung Indiens steht in engem Zusam-
menhange mit den dort von alters her be-
stehenden Besitz- und Wirtschaftssystemen.
Deren giebt es mehrere. Am verbreitetsten
ist das village-system, welches auf räumlich
zusammenhängenden Ansiedelungen beruht.
Dieselben bestehen entweder aus völlig ge-
trenntem fi-eien Eigentum der einzelnen
Bebauer (occupants) des Bodens (rajatwari-
village) oder aus grösseren Besitzungen je
eines einzelnen oder einer Familie, auf wel-
chen die Bebauer mit mehr oder weniger
eingeschränkten Besitzrechten wohnen (laud-
lord-village). Einen dritten Typus von Gü-
tern bilden die landlord-estates, die eigent-
lichen Latifundien, welche sich durch den
besondere grossen Umfang des Besitzes,
das Vorherrschen der Unteilbarkeit und den
höheren sozialen Rang der Eigentümer cha-
rakterisieren.
Als steuerpflichtig erscheint nun in den
rajatwari-villages der occupant, in den land-
lord-villages die Gesamtheit aller am Besitze
Beteiligten, vertreten durch einen sogenann-
ten lambardar, in den landlord-estates der
Grundherr selbst.
Bei der Veranlagimg der Steuer wurde
nicht überall gleich vorgegangen. In Ben-
galen wurde einfach die althergebrachte, in
einem meist sehr betnlchtlicjhen — selbst
bis zu einem Drittel steigenden — Anteile
am Rohprodukte des Bodens bestehende
Steuei-sciiuldigkeit beibehalten (permanent
settlement) — ein Verfahren, durch welches
den landlord-estates, die von alters her mehr
oder weniger weit gehende Begthistigungen
genossen hatten, diese auch weiterhin ge-
sichert wurden. In den übrigen Provinzen
hat die Grundsteuer den Charakter einer
veränderlichen Abgabe (temporary settlement)
erhalten, indem ihre Grundlagen und Sätze
der zeitweiligen Revision unterliegen. Diese
geht von einer genauen Abgrenzung, Kar-
tierung, Bonitätsbestimmung und Feststel-
lung der Besitzrechte aus, an welche Schritte
sich die Einschätzung anschloss: diese er-
folgte bei den landJord-villages auf Grund
ermittelter durchschnittlicher Pachtwerte ;
bei den rajatwari-villages dagegen wurde in
dieser Beziehung in den verschiedenen Pro-
vinzen verscliieden vorgegangen : In Madras
legte man den Bodenertrag, in Bombay und
Biuar den Boden wert zu Grunde; überall
aber verzichtete man auf Einzeleinschätzun-
gen und begnügte . sich mit Durchschnitts-
zalilen, welche die massgebenden Faktoren
berücksichtigten.
Die Grundsteuer ist im allgemeinen sehr
hoch und erreicht selbst 50 "/o des Pacht-
wertes und mehr. Ihre Einhebung erfolgt
grossenteils auch jetzt noch, wie in alten
Zeiten, durch Pächter, als welche einfluss-
reiche Gutsbesitzer (die Zenindars) zu fun-
gieren pflegen. (Aus solchen sind die
meisten gegenwärtigen landlords hervorge-
gangen.)
Die Grundsteuer liefert ungefähr die
Hälfte des gesamten, sich auf jälirlich
50 000 000 £ belaufenden Ertrags der Staats-
steuern Britisch-Indiens.
Litteratur: Das Alter \md die allgemeine Ver-
breitung der Grundsteuer bringen es mit sieh,
duss die Litteratur ilber dieselbe eine sehr reich-
haltige ist. i^ie bildet insbesondere einen stäji-
digen Abschnitt in allen die Steuerlehre im
ganzen behandelnden Werken. Aber auch an
besonderen, nur ihr — insbesondere den avf sie
bezüglichen Verhältnissen einzelner Länder —
gewidmeten Schriften ist kein Mangel. Aas der
Fülle des Vorhandenen sei folgendes angeführt:
Sntith, Weallh of of tiations, Bd. V, eh. i.
— Ricardo, Principles, eh. 12. — Craig,
Grundzüge der Prditik, III, S. S^ff. — Jacobe
Sta atsßnanz wissen schaß j 1, S. 4^7 ff,, 11, S.
86S ff. — Lotz, Handbuch der Staatsicirtschafts-
lehre, III, S. ^üiff. — \\ Kremery Darstellung
des Steuencesens, S. 1:^1 ff» — Murhard, Theo-
rie und Politik der Besteuerung, S, 26^ ff. —
V. Prittwitz, Theorie der Steuern und ZiUle,
S. lS'2ff. — Busch, Abhandlung vom Geldum-
läufe, I, S. 406 ff. — V, Malchu», Finanz-
irissvnschaft, I, S. ISO ff. — Monthionf Quelle
influencc out les diverses especes d'impots etc.,
S. SS ff. — Hoffntann^ Lehre von den Ste^iem,
S. 94 ff. — J. St MUlf Principles, Bd. V, eh.
S, ^ 2. — Bau, Finanzwissenschaß, II, ^ SOI ff.
— BergiuSf Finanzunssenschaß, S. 501 ff. —
rarieiif Tratte des impots, I, S. 167 ff, — v.
Stein, Finanzunssenschaß, II, S. 27 ff. — Hock,
OeffenÜiche Abgaben und Schulden, ^ 20, .^7. —
Vinpfenbachf Finanzwissenschaß, § 117 ff. —
Schaffte, Steuerj)olitik, S. J94ff. — Böttcher,
Finanzwissenschaß, ^ 79 ff. — Leroy-BeauHeu,
Traite de la science des ßnances, I, eh. 6. —
Grundsteuer — Griuidsteuer in älterer Zeit
917
Vockef Abgaben, Anflogen und die Steuer, S.
S24ff, — Cohn, Finamunssenschaß, § 399 ff,
— Schaffte, Die Steuern, bes. Teil, S. 170 ff.
— Sch&nheTgsches Handbuch der pol. Oeko^
nomie, III. Bd. 1. Ilalbb. Kapitel nGrund-
8 te ueru (von Wagner beurbeitH). — JJen-
zenherg , Ueber das Kaiaster, Bonn 1824. —
Spüth, Ueber die Grundsteuer, München 1818.
— Ovävellf Die Grundsteuer und deren Ka-
taster, Leipzig 1821. — Gebhard, Das Grund-
Steuerkataster, München 1824. — v. Gross, Die
Beinertragsschätzung des Grundbesitzes, Neustadt
a. d. O., 1828. — Selss, Grundsätze zur Auf-
nahme und Erhaltung von Grundkatast^rn, Wesel
und Leipzig I84O. — Hoffniann, Die ZiUässig-
keit einer landwirtschaftlichen Gewerbesteuer
neben der Grundsteuer, Zeitschr. f. d. ges.
Staats^v. I854. — Kleinwächterf Zwei steuer-
theoretische Fragen, Fin.-Arch. 1886, S. 517 f.
— Mascher, Grundsteuerregelung in Preussen,
Potsdam 1862. — von Jtönne, StaaUtrecht
Preussens, II, 2. Abt., § 527 ff. — Wissntann,
Das preussi^che Steuencesen, Berlin 1886. —
St4)h:€ir von Neuforn, Handbuch der gesamten
Finanzverwaltung im Königreiche Bayern (zu-
letzt hera-usgegeben von Hock), III, S. 12 ff. —
Maler, Das neue Grund-, Gebäude- und Ge-
werbesteuergesetz in Württemberg. — Hegenauer,
Staatshausludt Badens, ^ 262 ff. — Hecht, Ba-
disches tSteuersystem. Die köfiiglich sächsischen
Steuergesetze, Leipzig 1879. — Scfianz, Die
direkten Steuern Hessens und deren Beform,
Fin.-Arch. 1885, S. 2S5ff. — Linden, Grund-
steuer^erfassung der österreichischen Monarchie,
Wien I84O. — Chlupp, Handbuch der direkten
Steuern. — Freibet*ger , Handbuch der öster-
reichischen direkten Steuern, S. 80 ff. — von
Leidgang, Versuche zur Beform der direkten
Steuern in Oesterreich, Fin.-Arch. 1889, S. 5S8ff.
— v. Hock, Die Finanzvcncaltung Frank-
reichs, S. 188 ff. — V. Kaufmann, Die Fi-
nanzen Frankreichs, S. 165 ff. — Vignes,
Traite des finances, I, S. SS ff. — Morpurgo,
La finanza, Florenz, 1877, II, S. /fß ff. —
liicca-Salemo, Die neue Begelung der Grund-
steuer und die Steuerreform in Italien, Fin.-
Arch. 1883, S. 747 ff. — Arno, La perequazione
deWimposta sui terreni. — VocUe, Geschichte
der Steuern des britischen Beichs, S. 499 ff". —
V, Keusuler, Die neuesten russischen Gesetze
über die Grundsteuer etc., Fin.-Arch. 1885, S.
217 ff. — Derselbe, Erhöhung der russischen
Grundsteuer etc., ebenda 1889, S. SSI. — So-
doff shy , Die Staatsliegenschaftssteuer Buss-
lands, Jahrb. f. Not. u. Stat., III. Folge, 1894,
S. 244 ff. — Derselbe, Die Besteuerung der
städtischen Liegenschaften Busslands, Zeitschr.
für Volks^wirtsch. u. s. 10. VIII. S. 602 ff".
— V. Hock, Finanzen der Vereinigten
Staaten, S. SlO ff. — Huhland, Aus dem Ver-
fassungs- und Verivaltungsrechte des britisch-
indischen Kaiserreichs, Zeitschr. f. d. ges. Staatsw.
189S, pag. 22S—252 und 4O8 — 456. — Ballen-
Powell, B. H. A Short account of the Land-
Bevenue and its administration in British-India,
Oxford 1894.
17. Lesigang,
Grundsteuer in älterer Zeit.
1. Die alt« Bede. 2. Die landständische
Steuer. 3. Die städtische G. 4. Die Grund-
steuerbefreiungen. 5. Das Steuerobjekt. 6. Das
Steuersubjekt. 7. Die Veranlagung. 8. Steuer-
register und ähnliche Aufzeichnungen. 9. Die
Kataster des 18. Jahrh. 10. Die Erhebung der
G. 11. Schlussbemerkung.
Eine Würdigung der Grundsteuer vom
systematischen Standpunkte aus nebst einem
geschichtlichen üeberblick über sie im 19.
Jahrhundert enthielt der vorangegangene Art
Grundsteuer. Die Grund züge der allge-
meinen Steuergeschichte stellt der Art.
Finanzen dar; einiges dazu bringt
auch der Art. Steuer (s. unten). Der
Zweck der folgenden Ausführung ist die
Schilderung der Entwickelung der Grund-
steuer auf deutschem Boden bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts.
1. Die alte Bede. In einigen der zum
späteren Deutschen Reiche gehörigen Land-
strichen ist zur Zeit der Römerherrschaft
die römische Grundsteuer erhoben worden.
Sie hat auch noch den Sturz der Römer-
herrschaft überdauert. Indessen etw^a mit
dem 7. Jahrhundert hat sie den Steuer-
charakter verloren, ist zum Zins oder zur
Rente geworden^). Die Geschichte der
deutschen Gnindsteuer knüpft nicht an sie
an, sondern an eine in Deutschland seit
etwa dem 12. Jahi-hundert (im westfränki-
schen Reiche früher) nachweisbare, im 13.
bestimmt erkennbare, von den Landesherren
erhobene Steuer : die meistens Bede (petitio,
precaria), daneben Schoss, Schatz, exactio
u. s. w. genannte Abgabe. Das Nähere über
sie ist oben Bd. II, S. 535 ff. bemerkt w^orden
(Art. Bede). Hier sei nur zweierlei her-
vorgehoben*^). Ilirer Art nach ist die Bede
überwiegend Grundsteuer; wenigstens nimmt
in dem System der Bede die Grundsteuer
regelmässig die Haupts teile ein; daneben
kommen allerdings auch noch andere Steuer-
arten, am häufigsten die Gebäudesteuer, vor.
Die Bede ist ferner, wenigstens seit dem
13. Jahrhundert, eine ordentliche, von Be-
willigung unabhängige, jährliche, feste Ab-
g-abe. Erhalten hat sich die Bede in den
meisten deutschen Temtorien bis in den
Anfang (teilweise bis zur Mitte) des 19.
Jalu-hunderts. In einigen ostdeutschen Land-
schaften, z. B. in Brandenburg, ist sie da-
gegen schon im Mittelalter erloschen, indem
^) Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte
II, 2^ (3. Aufl.), S. 271 Anm. 3.
-) Gegen die irrige Ansicht, dass die Bede
keine Steuer gewesen sei, vergl. die treffenden
Bemerkungen von F. J. Neumann, Die persön-
lichen Steuern vom Einkommen (Tübingen 1896),
S. 232 f.
918
Grundsteuer iu älterer Zeit
sie von den Landesherren entweder scUecht-
hin den Pflichtigen erlassen oder an Private
veräussert und zur einfachen Reallast wurde
und so, ähnlich wie die erwähnte romische
Grundsteuer, den Steuercharakter verlor.
|l ^ 2. Die landständische Steuer. Ver-
einzelt schon im 13., häufiger aber erst seit
dem 14. und 15. Jahrhundert erheben die
Landesherren neben der ordentlichen Ab-
gabe der Bede eine ausserordentliche Steuer,
die von der besondei-en Bewilügimg der all-
mälüich sich bildenden Landstände abhängig
ist. Sie unterscheidet sich von der Bede
aucli dadurch, dass ihi- ein weiterer Kreis
von Pflichtigen unterworfen wird. Den
Namen teilt sie anfangs noch ^^elfach mit
der alten Bede (specieU in Niederdeutsch-
land); nach und nach wird der Ausdruck
Steuer herrschend. Während die alte Bede
im Laufe der Jahrhunderte keine erhebliche
Erhöhung erfährt, wii-d die landständische
Steuer fortschreitend in wachsender Höhe
erhoben, so dass ihr gegenüber jene schliess-
lich ganz an Bedeutung zurücktritt. Seit
der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
(vereinzelt früher) wird die landständische
Steuer mehr imd mehr eine ordentliche,
regelmässige Abgabe. Das Bewilligungsrecht
der Stände tritt jetzt in den Hintergrund;
nur in wenigen Territorien behauptet es
sich. Wird so die landständische Steuer
meistens zu einer landesherrlichen, so bleibt
sie doch von der alten Bede unterschieden.
Die Massnahmen der landesherrlichen Steuer-
verwaltung des 18. Jahrhunderts lassen sich
unschwer in einer Schilderung der land-
ständischen Steuer mit dai-stellen, da die
landeshen-liche aus dieser hervorwächst.
Was nun die Art der landständischen und
der sich aus ihr entwickelnden landesheiT-
lichen Steuer betrifft, so nimmt hier die
Grundsteuer nicht mehr die beherrschende
Stellung wie bei der alten Bede ein. Denn
abgesehen davon, dass, namentlich seit dem
16. Jahrhundert, in steigendem Masse in-
direkte Steuern erhoben werden, so ist die
Form, unter der die landständische Steuer
bewilligt wird, meistens die einer Kombi-
nation von Vermögens- uad verschiedenen
Personalsteuem , seltener die einer reinen
Grundsteuer. Indessen führten die Verhält-
nisse dahin, dass innerhalb des Systems der
direkten landständischen Steuern die Grund-
steuer doch noch immer den Hauptplatz be-
hielt. »Die Landsteuer verlor den bisheri-
gen Cliarakter einer personalen Vermögens-
steuer mehr und mehr und nahm dafür den
einer Realsteuer, die auf dem steuerpflich-
tigen Objekt haftete, an« (Wenmsky S. 143).
»Die Schätzung öntfernte sich immer mehr
von ihrem eigentlichen Charakter als der
Deklaration der Vermögensverhältnisse der
einzelnen Steuersubjekte und nahm den
eines auf ein bestimmtes Gut gelegten mul
eingeschriebenen Steuerkapitals, einer ständi-
gen Reallast, an« (Rachfalü S. 300). »Statt
der alten Vermögenssteuern hören wir in
Brandenburg von einem Hufen- und Giebel-
schoss, in Ostpreussen von einem Hufengeld,
von Kopf schössen , von Hörn- und Klauen-
schössen« (Schmoller, Epochen S. 49). »So
war man nach und nach (in Hessen) von
einer allgemeinen Vennögens- und Einkom-
mensteuer zu einer Grund-, Gefälle-, Ge-
werbe- und Viehsteuer übergegangen*
(Hildebrand S. 304). Diejenigen Grund-
stücke, die die alte Bede zahlten, trugen
nun seit Eiufühnmg der landständischen
Steuei" zwei Grundsteuern. Mitunter aber
wurden von demselben Grundstücke auch
zwei landständische Gnmdsteuem erhoben.
In Brandenburg z. B. ti-at zu dem »Hufen-
schoss« , der ersten landständischen Gnmd-
steuer, im 17. Jahrhundert eine zweite: die
»Kontributionen.
3. Die stadtische G. Im städtischen
Steuerwesen sind die Steuern für den Lan-
desherrn imd die für die Bedürfnisse der
Stadtgemeinde zu unterscheiden, a) Obwohl
die Bürger im allgemeinen zu den der alten
Bede unterworfenen Pei-sonenkreisen gehör-
ten, haben die Landesheri-en diese Abgabe
doch zu Gunsten der Städte vielfach heral»-
gesetzt, oft sie ihnen auch vollkommen er-
lassen. Im letzteren Falle fiel dann iu den
betreffenden Gemeinden die Grimdsteuer
entweder ganz weg, oder sie wurde fortan
zu Gunsten der Stadt erhoben. Soweit die
Städte zur Zahlung der alten Bede ver-
pflichtet blieben, ist sie im Laufe der Zeit
mitunter in eine andei^e Steuer (Accise) ver-
wandelt worden. Als dann die landständi-
schen Steuern aufkamen, wurde in manchen
Territorien von vornherein ein Steuersystem
füi' die Städte aufgestellt, das von dem für
das platte Land bestimmten abwich. In
anderen wollte man für die Besteuerung
von Stadt und Land im wesentlichen die
gleichen Grundsätze gelten lassen. Allein
die Gewalt der abweichenden Verhältnisse
brachte auch hier im Erfolg Verschieden-
heiten hervor. Namentlich wurde iu den
Städten der Ertrag aus der Grundsteuer
von dem aus der Gebäudesteuer übertroffen,
üeber die interessante Stellung der branden-
burgischen Städte innerhalb des Systems
der landständischen Steuer s. Näheres in
den Artikeln Hufenschoss und Kontri-
but i o n. b) Abgesehen davon, dass gelten t-
lich die (von Haus aus landesherrliche) alte
Bede in eine Steuer für die Stadtgemeinde
verwandelt wiixi, befiiedigen die Städte in
den ersten Jahrhunderten ihre eigenen Be-
dürfnisse regelmässig diux^h eine indirekte
Steuer, die Accise. Anfangs sind ilir nur
wenige Gegenstände unterworfen ; allmählich
Grundsteuer üi älterer Zeit
919
erweitert sie sich fortschreitend ; sie gelangt
zu einer grossartigen Entwickelimg und hat
in mehrfacher Hinsicht das Muster für die
später in den Territorien eingeführten in-
direkten Steuern abgegeben. Sie ist die
specifisch städtische Steuer des Mittelaltei's
und in weitem Umfange auch der folgenden
Zeit. Daneben aber, etwa seit dem 14.
Jahrhundert, werden für den StadtsäckeL
am häufigsten, wie es scheint, in den Reichs-
städten, Yermögens- und Pei-sonalsteuem
(regelmässig kombiniert) erhoben. Anfangs
sind sie ausserordentliche Abgaben; bald
aber — und zwar früher als die landstän-
dischen Vermögenssteuern — werden sie
ordentliche. Innerhalb dieser Yermögens-
steuern spielt nun auch die Grundsteuer
eine Rolle, aber eine geringere als inner-
halb der gleichzeitigen landständischen
Steuern.
4. Die Gmndstenerbefreiangen. Cha-
rakteristisch nicht bloss für das Mittelalter,
sondern auch noch für die drei folgenden Jalir-
himderte ist die Durclüöcherung aller Steuer-
systeme durch ausgedehnte Befreiungen.
Man klassifizierte die Bevölkerung geradezu
nai^h der Steuerpflicht resp. der Freiheit
davon. Wie in Frankreich die Ausdrücke
taillable , rotiu-e, roturier die Bedeutung von
Standesbezeichnungen hatten, wie in Spanien
die arbeitenden Klassen (pechei*os) ihren
Namen vom Steuerzahlen führten, so gab
es auch in Deutschland entsprechende Be-
nennungen (vergl. einerseits die technisch
sogenannten »Freien«, andererseits die Pfleg-
haften, Biergelden, Schatzleute).
Hauptsächlich sind es zwei grosse
Klassen, die mehr oder weniger umfassende
Steuerfreiheit geniessen: Geistlichkeit und
Adel; dazu gesellen sich aber noch weitere
Ki-eise von zahlreichen Personen, die etwa
durch besonderes Privileg für steuerfrei
erklärt worden sind. In erster Linie be-
ziehen sich die Freiheiten immer auf die
Gnmdsteuer. Sie sind teils persönlicher,
teils dinglicher Natur. Es werden z. B.
das eine Mal alle diejenigen Grundstücke als
steuerfrei angesehen, die sich zeitweilig im
Besitz von Ritterbürtigen befinden, das
andere Mal ohne Rücksicht auf den Be-
sitzer diejenigen, denen saclilich die Eigen-
schaft von Rittergütern beigelegt wird. Im
allgemeinen lässt sich hinsichtlich der Steuer-
freiheiten eine doppelte Entwickelungsreilie
konstatieren, wiewohl die Bewegung keinen
vöUig konsequenten Verlauf nimmt, Rück-
schläge nicht ausbleiben. Erstens wird die
Steuerfreiheit fortschreitend eingeschränkt.
Bei der alten Bede hat sie die gi-össte Aus-
dehnung. Bei der landständischen Steuer
dagegen kontribuieren Personen resp. Gnmd-
stücke (wenn auch nicht zu dem vollen
Satze wie die zur alten Bede verpflichteten).
die von jener fi'ei gewesen waren. In den
Städten ist (h'e Steuerfreiheit am stärksten
eingeschränkt. Als Mittel dazu hatten
ausser einem bewussten Fernhalten der
Adligen namentlich die gegen den kirch-
lichen Besitz gerichteten Amortisations-
gesetze gedient, die in den Städten eine
grossere Wirksamkeit entfaltet haben als
auf dem platten Lande. Zweitens tritt im
Laufe der Zeit immer stärker das Bestreben
hervor, die Steuerfreilieit nur noch als eine
dingliche gelten zu lassen. Im übrigen
zeigen die Verhältnisse in den verschiedenen
Territorien eine sehr gix)sse Mannigfaltigkeit.
Um eine östliche und eine westliche Land-
schaft gegenüberzustellen, so war in Branden-
burg die Hofländerei aller Rittergüter frei,
während die Gnmdstücke der hörigen
Bauern der Ritterschaft die Gnmdsteuer
trugen. In Jülich-Berg dagegen w^ar (we-
nigstens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts)
nicht die Hofländerei aller Rittergüter frei,
sondern nur die je eines der von einem
Ritterbürtigen besessenen Schlösser ; die der
alten Bede unterworfenen bäuerliclien Be-
sitzungen der Ritterschaft ti'ugen die volle
Grundsteuer, ihre bedefreien bäuerlichen
Besitzungen die sogenannte Gewinn- und
Gewerbsteuer (s. nachher). Hinzuzunehmen
ist hierbei, dass die Hofländerei der Ritter-
güter in Brandenburg bei w^eitem aus-
gedehnter als in Jülich-Berg war. — Der
landesherrliche Grundbesitz erfuhr im grossen
und ganzen dieselbe Behandlung wie der
ritterschaftliche; wenigstens insofern, als
hinsichtlich des zugehörigen Bauemlandes
im allgemeinen dieselben Grundsätze be-
standen.
6. Das Steuerobjekt. Soweit die Frage
nach dem Steuerebjekt mit den Steuerbe-
freiungen zusammenhängt, haben wir sie
soeben erörtert. Wenn die Theorie heute
das Problem auf wirft, ob nicht die land-
wirtschaftliche Thätigkeit als besondere,
neben der Rentabilität des Bodens an sich
noch bestehende Erwerbsquelle für sich zu
besteuern sei, so hat die Yergangenheit
diesen Gedanken schon verwirklicht. Es
kommt hier die »Gewinn- und Gew^erbsteuer«
des Niederrheins ^) in Betracht. Diese ist
dem Begriffe nach Gewerbesteuer; sie wird
ausdrficklich in Gegensatz zur Grundsteuer
gestellt. Die Pächter und Zinsleute der
bedefreien Güter des Klerus, der Ritter-
schaft und des Landesherrn zahlen sie. Der
bedefreie Grundbesitz kann dem Begriffe
nach auch der in der landständischen Steuer
enthaltenen Gnmdsteuer nicht unterworfen
werden; seine Inhaber zahlen eine (land-
wirtschaftliche) Gewerbesteuer. Indessen
») S. meine Idstd. Verf. IH, 2. S. 29 ff.;
Walter S. 182 ff. und 421.
920
Griiüdsteuer in älterer Zeit
ist diese doch nur teilweise aiif eine selb-
ständige Art, nämlich nach der Höhe des
Pachtzinses, berechnet worden. Anderswo
erfolgte die Berechnung (wenigstens seit der
Zeit, für die wir nähere Nachrichten be-
sitzen) in der Form einer, nur ermässigten,
Gnmdsteuer: die »Gewinn- und Gewerbe-
steuer« wurde als Grundsteuer von nur
einem Teile, dem zweiten, dritten bis achten
Morgen (lokal verschieden), des gepachteten
Gnmdbesitzes erhoben. In diesem Zu-
sammenhange verdient es weiter Erwähnung,
dass gelegentlich die Gebäudesteuer als
Ghnindsteuer konstruiert worden ist, indem
sie in der Form erhoben wurde, dass man
die Hausplätze doppelt rechnete. Bemerkens-
wert ist es endlich, dass man in den ersten
Jahrhunderten die Allmende meistens steuer-
frei Hess. Jm 18. Jahrhundert wendet man
der Frage ihrer Besteuerung erhöhte Auf-
merksamkeit zu^).
6. DbtS Steuersubjekt Es ist ein
durchgreifender Grundsatz der älteren Ver-
fassung, dass die Grundsteuer regelmässig
von dem Inhaber, nicht von dem Eigen-
tümer des Gnmdstücks verlangt wird. Die
Beobachtung dieses Princips wird sich teils
aus dem technischen Gesichtspunkte er-
klären, dass die Regierung den Inhaber
leichter haftbar machen könne, teils durch
die Vorrechte der gi-össten Gnmdbesitzer
(des Klerus und des Adels), die ihnen
Steuerfreiheit gewährten, veranlasst worden
sein. Es hat nun zwar keineswegs an Ver-
suchen der Inhaber gefelilt, die Steuer auf
den Eigentümer abzuwälzen — die seit dem
12. Jalu-hundert darüber vorliegenden Nach-
richten zeugen für die Lebhaftigkeit der
Erörterungen. Im einzelnen Fall ist die
Abwälzung auch zweifellos nicht selten ge-
lungen (in Westdeutschland wohl mehr als
in Ostdeutsclüand). Allein im Princip
wunlen doch immer die Inhaber als die
Steuersubjekte angesehen. Die Regierungen
haben sich wiederholt ausdi-ücklich dahin
ausgesprochen 2). Nicht ganz konseijuent
stellte man sich hinsichtlich der Frage, ob
wegen der auf dem Grundstücke lastenden
Schulden ein Abzug an der Steuer gemacht
werden düi-fe. Die eine Regierung erkläi-t
einen Abzug ausdrücklich für zulässig^).
Eine andere lehnt ein Eingehen auf diese
Frage ab^). Dagegen scheint man, ab-
gesehen von einem in den ersten Anfängen
zu beobachtenden Schwanken, regelmässig
eine Doppelbesteuerung in dem Smne ver-
mieden zu haben, dass man da, wo ein
Steuersystem neben der Grundsteuer eine
Rentensteuer enthielt, bei dem betreffenden
Grundstück nur die eine Steuer erhob*).
Hier nimmt also die Besteuenmg auf die
vorhandene Teilung der Grundrente Rück-
sicht. Als eine Besonderheit der älteren
Steuerverfassung mag schliesslich noch die
relativ stärkere Heranziehung der Ausländer,
die im Lande Grundbesitz haben, erwähnt
werden.
7. Die Yeranla^ng. Die Steuereinheit
ist sehr verschiedener Art. Die Abweichungen
erklären sich zum grossen Teil aus den be-
sonderen wirtschaftlichen und nationalen
Verhältnissen der verschiedenen Land-
schaften. Am Rhein, wo die Zersplitterung
des Bodens ziemlich stark ist, wird die
Grundsteuer nach Morgen umgelegt. Im
' sächsischen Stammesgebiet imd im kolonialen
Deutschland ist die Hufe sehr häufig Steuer-
einheit. Daneben findet sich hier (z. B. im
Hannoverschen und in Holstein) der Pflug.
Auf altem Slawenland (z. B. in Livland)
steht an dessen Stelle der Haken 3). Die
Hufe kommt aber auch in Süddeutschland
vor. Dieses kennt femer den Hof*M, der
wiederum auch NoixldeutscMand bekannt
ist. Mitunter (z. B. in manchen Gegenden
von Brandenburg) ist ein bestimmtes Mass
der Aussaat Steuereinheit. In Böhmen
finden wir die »Ansässigkeit« , d. h. eine
Ackerfläche, die einer bestimmten Aussaat
(80 Strich im Flachlande, 55 im Mittel-
gebu-ge, 40 im Hochgebirge) entsprach. Die
einzelnen Masse, wie die Hufe, waren
übrigens örtlich verschieden gross. Wenn,
wie wir sehen, die Steuerverfassung einer-
seits Ausdruck der allgemeinen Verhältnisse
ist, so hat sie andererseits wieder die stän-
dische Gliedenmg mit bestimmt. »Die Ein-
führung dieser Steuer (der Kontribution)«
— sagt z. B. Wittich (S. 98) — »liatte in
Lünebiu-g, Hoya und Diepholz, wo sie nach
den Höfeklassen der Voll-, Halbhöfe, Köter
und Brinksitzer ausgeschlagen wiuxie, die
Abschliessung und Konstituierung dieser
Bauernklassen vollendet, imd auch in den
^) Ueber die Besteuerung der Allmende
vergl. Bielfeld, S. 156; Metzen S. 54; G. v.
Below, Ldstd. Verf. III, 2, S. 27 f.
*) Zur Litteratur über diese interessante
Frage vergl. Werunskj', S. 139; G. v. Below,
Ldstd. Verf. III, 1, S. 34; 2, S. 18 f. und S. 40f. ;
Knipping, Westdeutsche Zeitschr. 13, S. 376;
Droysen, Gesch. der preuss. Politik II, 2, S. 201.
Vergl. übrigens auch Bücher S. 126, Anm. 2.
3} Kries, S. 45; Walter, S, 197.
») G. V. Below, a. a. 0. III, 2, S. 19 f.
«) Hoffmann, S. 193 f. (vergl. auch S. 68);
G. V. Below a. a. 0. III, 2, S. 20 f. Anders,
wie es scheint, bei v. Sparre, S. 122.
^) Sehr interessant ist Meyer, Winsener
Schatzregister, S. löOf.: hier, wo Deutsche
und Slawen sich mischen, kommen auch neben,
einander Pflug und Haken als Steuereinheit vor.
*) Vergl. z. B, Werunsky, S. 139: „Hof,
Hube, Lehen, Hofstatt, Joch bei Weinbergen".
Grundsteuer in älterer Zeit
921
übrigen Landesteilen, wo die Höfeklassen
nur zum Teil die Steuereinheiten bildeten,
war die Einbeziehung der Köter in die
Kontribution für die Stellung dieser Bauern-
klasse in der Gemeinde von grosser Wich-
tigkeit gewoMen«. Was den Steuerfuss
betrifft, so war er in den verschiedenen
Territorien und bei den verschiedenen Steuern
(hier übrigens ziemlich konstant steigend)
verschieden hoch; das lag in der Natur
der Sache. ADein er war auch innerhalb
desselben Territoriums sehr ungleich. Die
Klagen darüber sind allgemein. Im Jahre
1555 schreibt z. B. ein schlesischer Beamter,
»dass die Ungleichheit erschrecklich sei«.
Im Jahre 1541 beschweren sich die Ein-
gesessenen eines Jülicher Amtsbezirkes, dass,
während die ünterthanen in benachbarten
Aemtern auf B, 4, höchstens 5 oder 6 Gold-
gulden gesetzt seien, die in ihrem Amte
6, 8, 10, 12 oder gar noch mehr geben'
müssten. Die Ursachen der Ungleichheit'
lagen hauptsächlich in folgendem. Die land- !
ständischen Steuern waren sehr häufig,
vielleicht sogar meistens Repartitionssteuern :
man verteilte die für das Territorium be-
willigte Summe auf die einzelnen Amts-
bezirke, innerhalb derselben auf die ein-
zelnen Gemeinden, beides nach einer unvoll-
kommenen, im Laufe der Jahrhunderte nur
wenig geänderten Matrikel. Der Ursprung
der letzteren ist dunkel. Manches spricht
dafür, dass man sie hier und da nach Mass-
gabe der Summen, die die einzelnen Ge-
meinden zu der alten Bede lieferten, auf-
gestellt hat. Dann würde die Frage nach
dem Ui-spning der landständischen Steuer-
matrikel identisch sein mit der nach dem
Urspnmg der alten Bedematrikel. Ueber
diesen befinden wir uns vollends im Un-
klaren. Es ist die Vermutung ausgesprochen
worden, dass die Bede im Verhältnis zu
dem Hufenzins, den die abhängigen Bauern
zahlen, erhoben worden sei. Allein auf
diesem Wege könnte man zu einer für das
ganze Territorium genügenden Bedematrikcl
doch nur da gelangt sein, wo aussclüiesslich
abhängige Bauern bedepflichtig waren. Jeden-
falls wui'de auch die Berechnung nach dem
Hufenzins den Anfordenmgen der Gerech-
tigkeit nicht entsprechen. Und das ist es
im letzten Gininde überhaupt, was die uu-
gleichmässige Belastimg der Grundstücke
erklärt: das Fehlen einer sachgeraässen
Schätzung der Leistungsfähigkeit des Bodens.
Ganz liberw'iegend sind es äussere Umstände,
nach denen die Steuern veranlagt werden.
Es lassen sich zwar vereinzelte Anfänge
einer Bonitierung schon für das Mittelalter,
schon für die alte Bede*) nachweisen. In-
^) Ueber Bonitierungen bei der alten Bede
dessen scheint sie noch keineswegs überall
üblich gewesen zu sein ; und wo sie vorkam,
war sie noch sehr roher Natur. Für die
städtische und *die landständische Steuer,
etwa seit dem 16. Jahrhundert, mehren sich
die Nachrichten 1). Die Bonitienmg macht
nun allmählich Fortschritte. Freilich wird
sie noch nicht allgemein. Die immer noch
imvoUkommene Art, wie der Grundbesitz
für die Zwecke der Besteuerung jetzt ge-
schätzt wiu^e, erhält seine Charakterisierung
durch die beiden Momente, dass man sich
an den Bruttoertrag hielt und dass von
einer durchgreifenden Vermessung des
Bodens noch keineswegs die Rede war. Die
Organe für die Schätzung des Grundbesitzes
waren teils technisch nicht geschulte staat-
liche, teils Gemeinde-, teils grundherrliche
Orgaue; teilweise aber begnügte man sich
auch mit einfachen Angaben der Pflichtigen
Personen. In allen diesen Beziehungen trat
eine wesentliche Besserung erst mit der
Wende des 17. und 18. Jahrhunderts ein,
d. h. mit der Einführung von Katastern.
8. Steuerre^ster und ähnliche Auf-
zeichnungen. Aufzeichnungen mannig-
facher Art besass man allerdings auch schon
vor der Einführung der Kataster. Zunächst
gab es Bederegister. Teils waren das Auf-
zeichnungen, die nur der Bede gewidmet
waren. Teils bezogen sie sich auf die Bede
und andere öffentliche sowie die grundherr-
lichen Einnahmen des Landesherrn zugleich.
Teilweise waren darin nur Personennamen
mit Angabe der von ihnen zu zahlenden
Beträge vorzeichnet, teilweise auch Mit-
teilungen über die Grösse der Pflichtigen
Grundstücke gemacht. Im allgemeinen
wird man sagen dürfen, dass die Aufzeich-
nungen über die grundherrlichen Rechte
des Landesherrn eingehender als die über
die Bedepflicht sind, was offenbar daran
liegt, dass an jenen die Regiening wegen
ihres Eigentiunsrechtes ein gi'össeres Inte-
resse hatte.
In ihrer ausführlichsten Form werden
jene Aufzeichnungen Lager-, Amt-, Erd-
bücher genannt Dass die Lagerbücher zu-
gleich der Grundstücksübertragung (dem
Fortschreiben betreffs des Eigentums) dienen,
kommt wolü erst in späterer Zeit vor.^j
Uebrigens liegen Anzeichen dafür vor, dass
vergl. Hetzen, S. 59 und 83; Weis, S. 64 f.;
G. V. Below a. a. 0. III, 1, S. 31 f.
^) Ueber das 16. Jahrh. s. G. v. Below III,
2, S. 25 f.; Schäfer, S. 127. Ueber eine etwas
spätere Zeit s. Schmoller, Epochen S. 57 f.;
Burkhard, S. 21 ; A. v. Transehe, S. 241 ; anderer-
seits Metterhausen, S. 11. Vergl. auch das vor-
hin über die „Ansässigkeit" in Böhmen Gesagte
und Röscher, S. 322.
*) Vgl. von Sparre S. 124.
922
Grundsteuer iii älterer Zeit
während des Mittelalters in manchen Dis-
trikten die Bede ohne die Stütze eines Ver-
zeichnisses erhoben worden, ist.
Die landständischen Steuern konnten
anfangs nicht Aufnahme in die Lagerbücher
finden, da sie nur bei ausserordentlichen
Anlässen bewilligt wurden, nicht zu den
feststehenden Abgaben gehörten. Wir be-
merken sogar, dass man es mit Bewusstsein
vermeidet, Aufzeichnungen über eine ausser-
ordentliche landständische Steuer dauernde
Geltung zu geben. Es wird öfters bestimmt,
dass die Steuerzettel nach der Erhebung
vernichtet werden sollen ; offenbar, weil die
Steuerzahler fürchten, die ausserordentliche
Steuer könnte, weil über sie nun einmal,
wie über die alte Bede, Aufzeichnungen
beständen, fortan wie jene als ordentliche
Abgabe erhoben werden. Jedenfalls ist es
in der ersten Zeit der land ständischen
Steuer mit den Aufzeichnungen über diese
schlechter bestellt als mit denen über die
alte Bede. Bezeichnenderweise werden bei
der Erhebung landständischer Steuern alte
Bederegister mit zu Grunde gelegt. Seitdem
aber die Steuerbewilligungen sich häufiger
wiederholten, entstanden auch mehr und
mehr Aufzeichnungen von grösserem Wert
für die landständische Steuer; vollends ge-
schah das, als diese zur jährlichen Abgabe
geworden war. In die anfangs überaus
dürftigen Verzeichnisse dringen allmählich
Mitteilungen über den Flächeninhalt und
den Ertrag der Immobilien ein. Die Steuer-
register des 17. Jahrhunderts sind schon
reichhaltig und können als Vorstufe der
späteren Kataster gelten. Man beschäftigt
sich bereits eifrig mit ihrer Revision. Von
den Katastern aber unterscheiden sie sich,
abgesehen von der Art der Anlage, nament-
lich auch durch den anderen Zweck. Das
alte Steuerregister ist treffend »das Resultat
einer rein kamenüen Bestrebung«, das
Kataster »das Fundament wirtschaftlichen
Wesens« genannt worden. Eben der fis-
kalische Gesichtspunkt, die Immobilien
schärfer und korrekter zur Steuer heran-
zuziehen, war das Entscheidende bei der
Aufstellung der Register. Eine ganz klare
Grenze zwischen den »Registern« und den
Katastern lässt sich freilich nicht ziehen,
um so weniger, als diese sich vielfach auf
jene stützen. Es sind z. B. gelegentlich die
Bonitätsklassen, die sich im 17. Jahrhundert
allmählich herausgebildet hatten, bei der
Katastrierung im 18. Jahrhundert genau bei-
behalten worden (vergl. Burkhardt S. 37
Anm. 1).
9. Die Kataster des 18. Jahrhunderts.
Das 18. Jahrhundert ist das Zeitalter der
Einfiihnmg der Kataster. Das beriihmteste
aus diesem Säkulum ist der censimento
milanese, der unter Kaiser Karl VI. im
Jahre 1719 im Mailändischen begonnen und
im Jahre 1760 vollendet wurde. Er beruht
auf den beiden Gedanken, dass die zu
schätzenden Gnindstücke zu vermessen, mid
zwar durch technisch gebildete Geometor
zu vermessen und dass der Reinertrag zu
gewinnen sei. Er ist ein, fi-eüich nicht er-
reichtes, Vorbild für Reformen in den deutsch-
österreichischen Pronnzen geworden. Hier
sind, nach weniger bedeutenden Katastrie-
rungsarbeiten in der ersten Hälfte des 18.
Jahrhunderts, die Steuerrektifikadon. unter
Maria Theresia und die Steuerregulierung
unter Joseph II. zu nennen (beide werden
anderen Orts genauer besprochen). Aus Preus-
sen verdient die ruhmvollste Erwähnung das in
den Jahren 1715 — 1719 unter Friedrich
Wilhelm I. hergestellte ostpreussische Katas-
terwerk. Ihm folgten Katastrienmgsarbeiten
in Pommern, Schlesien, Westpreussen. In
Magdeburg wurden Arbeiten, die zur Zeit
des grossen Kurfürsten begonnen worden
waren, unter Friedrich Wühelm I. beendigt.
In Brandenburg unterzog man die im Jahre
1680 re\'idierten Steuerregister nicht gerade
einer erheblichen Fortbildung.^) Wenn wir
eine Würdigung der Katasterarbeiten des
18. Jahrhimderts unternehmen wollen, so
wird zu betonen sein, dass bei ilirer Her-
stellung allgemeine wirtschaftliche Motive
nicht fehlen. Allein ein sehr starkes, ja
wohl zweifellos noch das stärkste Motiv ist
das Bestreben der Regierungen, dabei die
Steuerfreiheit der privilegierten Klassen zu
beseitigen oder wenigstens einzuschränken.
Der Kiimpf um das Kataster kann in weitem
Umfange als ein Kampf gegen die Steuer-
freiheit des Adels bezeichnet werden. Klas-
sische Beispiele liefern dafür die Geschichte
der ostpreussischen und die der öster-
reichischen Reformen. Wenn sich die Be-
deutung der theresianischen und der jo-
sephinischen Reform dahin bestimmen lässt,
dass Maria Theresia für das Princip der
Allgemeinheit der Grundsteuerpflicht, Joseph
für das ihrer Gleichheit eintrat, so richten
sich beide eben gegen jene Privilegien. Die
grossartig gedachte Reform Josephs ist denn
auch ganz wesentlich durch die Gegen-
wirkungen der Gutsherren wieder rückgängig
gemacht worden. Vielfach haben die Re-
gierungen in diesen Kämpfen grosse Erfolge
emmgen (z. B. in Ostpreussen), mitunter
gar keine, mitunter halbe. Es kommt vor.
*) Es sei femer verwiesen auf die Katastrie-
ningsarbeiten in Württemberg (Tröltsch, die
Calwer Zeughandlungskompagnie und ihre Ar-
beiter (Jena 1897), S. 348 ff.), Hessen (s. Hilde-
brand) und Weimar (s. Burkhardt; besonders
lehrreich) und die (älteren) Deskriptionen in
Kurköln (s. Walter).
Grundsteuer in älterer Zeit
923
dass man sich daliin einigt, den ritterechaft-
lichen Besitz bei der Katastrieruiig ganz
auszulassen.^) Uebrigens ist zu berücksich-
tigen, dass auch die bäuerliche Bevölkerung
gelegentlich den Reformen Widerstand ent-
gegenzusetzen suchte. Mit den KatasSter-
arbeiten und der dabei bezweckten Ein-
schränkung der Steuei-freiheiten verband sich
mehrfach zugleich das Bestreben, eine Yer-
bessenuig der Besteuerungsform an sich
herbeizufülireu. Das klassische Beispiel
dafür ist die Ersetzung eines selu* kompli-
zierten und unzweckmässigen Steuersystems
in Ostpreussen durch den GeneraUiufen-
schoss. Neben der Einschränkung der
Steuerfreiheiten und der Yerbesseruug der
Steuerform haben die Arbeiten des 18. Jahr-
hunderts nocli Erfolge anderer Art aufzu-
weisen. Die neuen Aufnahmen stellten fest,
dass eine bedeutende Zahl steuerpflichtiger
Hufen bisher einfach verschwiegen, dass in
grosser Menge diu-ch allmähliche Kulturen
Wald- und Weideland in (steuerpflichtiges)
Ackerland verwandelt worden war.*) Einige
Nachrichten aus dem Ende des 18. Jahr-
hunderts mögen als Beispiele einerseits
dafür dienen, wieviel durch die Keformen
erreicht worden ist, andei-erseits aber doch
auch dafi\r, in wie unvollkommenen Ver-
hältnissen man sich vielfach noch während
dieses Jahrhunderts befunden hat. Die eine
Nachricht (vom NiedeiTheiu, aus dem Jahre
1800) lautet: >>Den Anlass zui* Anlage des
neuen Katasters gab ein schwerer Ilagel-
schJag, der gewisse zu Düsseldorf gehörige
Felder im Jahre 1774 traf. Bei der Besich-
tigung des Feldschadens ergab sich, dass
merklich mehr Morgen beschädigt als in
den Steuerkatastern veraeichnet waren. Yor
ca. IT) Jahren ist dann das neue Kataster
zu Stande gekommen. Durch dasselbe ist
beinahe ein alterum tantum der bisherigen
steuerbaren Gründe aufgeklärt worden.«^)
Das andei-e Beisjuel entnehmen wir Oester-
reich: anlässlich der josephinischen Regu-
lienuigs- und Yennessungsarbeiten stellte
sich heraus, dass in Böhmen nicht weniger
als 36 und in Mähren gar 38®/o aller pro-
duktiven Gründe bisher verschwiegen und
der Besteuerung entzogen worden waren.*)
In technischer Beziehung werden die deut-
schen Kataster des 18. Jahrhunderts den
Mailändischen im allgemeinen wohl nicht
erreichen. Denn wenn jetzt auch die Yer-
messungen weit umfassender waren als
^) Ygl. Burkhardt S. 36 Anm. 1; Hilde-
brand S. 303.
*) Vgl. z. B. Burkhardt S. 24 ; Grünberg I,
S. 149.
•'•) G. v. Below a. a. 0. IH, 2, S. 94.
*) Grünberg I, S. 316.
früher und durch geschulte Geometer vor-
genommen wurden, so ist die Grösse des zu
schätzenden Landes doch nicht durchweg
durch Yorraessung festgestellt woixlen.^)
Ferner hat man wohl meistens, aber nicht
immer, den Reinertrag ermittelt. Unter
Joseph II. wollte man ursprihiglich nur den
Reinertrag besteuern. Man begnügte sich
dann jedoch mit der Erhebung des Brutto-
ertrages, u. a. weil man fürchtete, dass eine
Abrechnung des Bi*ot- und Saatkorns zur
Steuerfreiheit eines gi-ossen Teiles des Gnm-
des und Bfxlens von schlechter Qualität und
zur Ueberwälzung der Grundsteuer auf die
guten und mittleren Grundstücke allein
führen würde. Teilweise lassen die In-
stniktionen jener Zeit Zweifel darüber be-
stehen, ob nach ihnen der Roh- oder der
Reinertrag der Besteuerung unterliege
(Hildobrand S. 30o). Endlich sind auch
noch nicht einmal alle Territorien im 18.
Jahrhundert zu wirklichen Katastern gelangt.
10. Die Erhebung der G. Obwohl die
Frage der Erhebimg der Grundsteuer in die
Erörtenmg über die allgemeine Steuerver-
waltung gehört, so bietet sie doch manches,
was zur Charakterisierung des AVosens der
uns hier beschäftigenden Abgabe dient. Zu-
nächst ist zu erwähnen, dass man die Er-
hebungstermine nach Möglichkeit auf die
Erate oder die Yollendung der Drescharbeiteu
folgen liess. Auch in den Städten kommt das
vor (Bücher S. 139). Dagegen trügt man
dem landwirtschaftlichen Betrieb nicht soweit
Rechnung, däss man die Grundsteuer etwa
regelmässig in Naturalien erhebt. Dies ist
vielmehr im wesentlichen Ausnahme ge-
wesen. Wohl sind mancherlei Öffentliche
Abgaben von geringerer Bedeutung in natura
erhoben worden. Wohl hat man die Natural-
liefenmg vereinzelt auch bei der eigentlichen
Grundsteuer, namentlich in den ersten Jahr-
hunderten ihrer Existenz, zugelassen. Allein
man wird sagen dürfen, dass die Landes-
herren von Haus aus die Gnmdsteuer aus-
drücklich mit zu dem Zweck eingeführt
haben, um bares Geld zu erhalten. Jeden-
faUs überwiegt nachweislich bereits seit der
Mitte des 13. Jahrhunderts, und zwar sclion
für die alte Bede, weitaus die Geldzahlung.
— Hinsichtlich der Organe, die die Steuer
erheben, bestehen Unterschiede, die mit den
sozialen Yerhältnissen zusammenhängen. Im
östlichen Deutschland, wo die Macht der
Gutsherren so gross ist, besitzen diese das
Recht, die Grundsteuer von ihren Bauern
zu erheben. Und da sich hier so ziemlich
der gesamte Bauernstand in Abhängigkeit
befindet, so besteht liier auch kaum eine
andere Art der Erhebung als die durch die
*) Yergl. z. B. Hanssen S. 194; Wagner
S. 115; d'Elvert S. 583; Grttnberg a. a. 0.
924
Grundsteuer in älterer Zeit
(seien es private, seien es landesherrliche)
Patrimonialherrschaften. In Westdeutsch-
land, wo die Grundherrschaften nicht so
weit reichen, bleibt von vornherein nicht so
viel Raum für eine Steuererhebung durch
Grundherren. In den Territorien, in denen
sie vorkommt, stehen daneben staatliche und
Gemeindeorgane. In einigen Landschaften
drängen diese im Laufe der Zeit die Gnmd-
herren von der Steuererhebung zurück. In
einigen aber haben die staatlichen und Ge-
meindeorgane die Erhebung auch von An-
fang an besorgt (auch betreffs der gnmd-
herrlichen Bauern). Hier fehlen die Miss-
bräuche, die jenem ins collectandi der Guts-
resp. Grundherren anhaften und über die
viel Klagen laut geworden sind.
11. Schlussbemerkung. AVir haben ge-
sehen, wie im Laufe der Zeit das Grund-
steuerwesen eine fortschreitende Verbesse-
rung erfahren hat. Andererseits hat sich
uns gezeigt, dass die Grundsteuer nach und
nach aus der beherrschenden Stellung, die
sie anfangs im öffentlichen Haushalt ein-
nahm, verdrängt worden ist. Im 18. Jahr-
hundert, das der Grundsteuer durch die
Schaffung der Kataster erhöhte Aufmerk-
samkeit zuwandte, eröffneten sich die Landes-
herren daneben weitere neue Einnahme-
quellen. Vor allem aber ist ein Umschlag
im 19. Jahrhundert eingetreten: jetzt ver-
ändert sich ihre Stellimg vollständig; nur
noch in einigen Staaten bleibt sie die wich-
tigste direkte Steuer. Wenn trotzdem ge-
rade das 19. Jahrhundert das Zeitalter der
höchsten Ausbildung der Kataster ist so ist
diese Ei-scheinung nur ein Ausdruck der
Thatsache, dass die neueste Zeit allen ein-
zelnen Zweigen der Staatsverwaltung eine
vollendete Gestalt zu geben sucht.
Litteratnr : I: Die alte Bede. S. die Litte • ^
ratur bei dem Art. Bede, oben Bd. II, S. SS8. —
Brenneckef Die ordentl. StaaUsteucr in Mecklen-
bfirg bis zum 14- Jahrhundert. Marbtrrger Diaser-
tation von 1900. — EggerSf Das ütetterwesen der
Grafsch/i/t Iloya. Marburger Disserta t i'On von 1899.
— Zum Teil kommen auch die im folgenden ge- \
nannten Srhriften für die alte Bede in Betracht.
JI. Die lands t und Ische un d d i e
8 1 ä d tische Grundsteuer. Ign, Beidtel,
Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung
1740 — IS48, herausg. ro7i A. lluber , Bd. I,
Innsbrucie 1896. — (?. v. Below, Die land-
ständische VerfasS7tng in Jülich u, Berg, Teil III,
und 2. Heß, Düsseldorf 1890191. — Derselbe,
Beiträge zur Verfassungs-, VencaUungs- und
Wirtschaftsgeschichte des Niederrheins vom 16.
bis zum 18. Jahrh., Beiträge zur Geschichte des
yiederrheins, Bd. VII, Düsseldorf 189S. —
Derselbe, Art. Rittergut (s. unten). — Der-
selbe, Territorium und Stadt, München 1900.
— H, Bielfeld, Geschichte des Magdeburgischen
Steueriresens, Ijeipzig 1888. — Barnhak, Ge-
schichte des preussischen Verwaltungsrechts, S
Bde., Berlin 1884186. — K, BCieher, Zwei
mittelalterliche ^Verordnungen, in: Kleinere
Beiträge zur Geschichte (Festschrift zum Uisto-
rikertage in Leipzig), Leipzig 1894» — Ä*rlc-
liardt, Das weimarische Gru7idbuch, Jahrb. /.
Not. 65. — Chr, d'Elvert, Zur österreichischen
FtTianzgeschichle, mit besonderer Rücksicht curf
die böhmischen Länder, Brunn 1881. — Franke,
Das rote Buch von Weimar, Gotha 1891. —
Grossmann, Ueber die gutsherrlich-bäuerUchen
Rechtsverhältnisse in der Mark Brandenburg
vom 16. bis 18. Jahrhundert, Leipzig 1890. —
Orünberg, Die Bauernbefreiung in Böhmen,
Mähren und Schlesien, 2 Bde., Leipzig 1894' —
G, Hanssen, Deut Amt Bordesholm im Herzog'
lAim Holstein, Kiel I84S. — J. Härtung, Die
Augsburgische Vermögenssteuer und die Enttcicke-
lung der Besitzverhältnisse im 16. Jahrh., Jahrb.
f. Ges. und Vena. 19—22, S. 867Jf. — B,
Hildebrand, Die Vermögenssteuer und die
Steuerverfassung in Althessen während des 16.
und 17. Jahrh., und die aus der' Vermögens'
Steuer Hessens hervorgegangene Grundsteuer,
Jahrb. f. Not. u. Stat.25 (vergl. hierzu auch Schanz,
Finanzarchiv 2, S. 2S6). — L,, Hoffmann,
Geschichte der direkten Steuern in Bayern vorn
Ende des 18. bis zum Beginn de^ 19. Jahrh,,
Leipzig 1883. — X. A. Kiefer, Steuern, Ab-
gaben und Gefälle in der ehemaligen Grafschaft
Hanau- Lichtenberg , Strassburg i. E. 1891. —
Th. Knapp, Die vormalige Verfassung der
Landorte des jetzigen Oberamts Heilbronn.
Württembergische Jahrbücher für Statistik und
Landeskunde, Jahrgang 1899, Heß 1. —
K, G, KHes, Historische Entwickelung der
Steuerverfassung in Schlesien unter Teilnahme
der aUgemeinen Landtagsversammlungen, Breslau
18 42. — A, Meli, Die Lage des steirischen
Vnterthanenstandes seit Beginn der neueren
Zeit bis in die Mitte des 17. Jahrh., Weimar
1896. — JP. Vrhr, v, MLensi, Die Finanzen
Oesterrdchs von 1701 bis 1740, Wi^m 1890. —
W. Metterhausen, Die direkten Landcsstetiem
im Gross her zogtum Mecklenburg- Schwerin seit
dem landesgrundgesetzlichen Erbvergleich vom
18. IV. 1755, Marburger Dissertation von 1894'
— Meyer, Das Winsener Schatzregister, Lüne-
burg 1891. — Just/iis Moser, Sind die Gemein-
heiten nach geschehener Teilung mit Steuern zu
zu belegen oder nicht f Patriotische Phantaj^ien
II, Berlin 1778, S. 192 ff. — Fetsker, Zur
Sozialgeschichte Böhmens, Zeitschr. f. Sozial- u.
Wirtschaftsgeschichte, Bd. 5, Weimar 1897. — G. v.
Petersdorff, Steuerwe^en der Mark im 30 jähr.
Kriege, Forschungen zur brandenburgischen und
preussischen Geschichte II, S. 2,iff., Leipzig 1S89.
— F. Bachfahl, Die Organisation der Ge-
samtstaatsvenvaltung Schlemens vor dem SOfähr.
Kriege, Leipzig I894. — Riezler, Geschichte
Bayerns, Bd. III, Gotha 18S9. — Röscher,
SysUm IV, ^ 79 ff.-- F. Schäfer, WirtschafU-
und Mnanzgeschichte der Reichsstadt Ueherlingcn
in den Jahren 1550—1628, Breslau 189^. —
G, H, Schmidt, Zur Agrargeschichte Litbecks
und Ostholsteins, Zürich 1887. — G. Schmoller,
Die Epochen der preussischen Fi^ianzpolitik,
Jahrb. f. Ges. und Vene. 1. — Derselbe, Die
Verwaltung Ostpreussens unter Friedrich Wil-
helm I., ITistor. Zeitschr., Bd. SO. — Wieder
abgedruckt in: Umrisse und Untersuchungen,
Leipzig 1899. — Cr. Schönberg, Finanz Ver-
hältnisse der Stadt Basel im 14- und 15. Jahrh.,
Grundsteuer in älterer Zeit — Guicciardini
925
Tübingen 1879. — E. O. Schulze, Die Koloni-
»ierung und Gemianiaierwig der Gebiete ncischen
Saale und Elbe, Leipzig 1896. — v, Sparre,
Geschichtliche Darstellung der Grundeigentums'
und der Grtmdsteuerverfassvjig des Kreises
Wetzlar, Jahrbücher f. d. preuss. Gesetzgebung
(herausg. von v. Kampiz), Bd. 49, S. 111 jf. —
Stieda, SUidtische Finanzen im Mittelalter,
Jahrb. f. Nat. u. Stat. 72. — jF. Thudtchuntt
Rechtsgeschichte der Wetterau, Tübingen 1867 ff.
— A, Tille t Die bäuerliche Wirtschaftsver-
fassu7ig des Vintschgaues vornehmlich in der
zuteilen Hälfte des Mittelalters, Innsbruck 1895
(vergl. dazu lii. Cbl. 1896, Sp. 45). — A, x\
Transehe-Hoseneckf Gutsherr und Bauer in
Livland im 17. und 18. Jahrh., Strassburg 1890.
— Ad. Wagner, Finanzwissenschaft, S. Teil,
1. Heft (Steuergeschichte) , Leipzig 1886. — F.
Walter, Das alte Erzstift und die Reichsstadt
Köln (S. 195 ff.), Bonn 1866. — E. Werunsky,
Oesterr eichische Reichs- und Rechtsgeschichte,
Wien 1896. — W, Wittich, Die Grundherr-
Schaft in Nordicestdeutschland, Leipzig 1896. —
Zalerzewski, Die wichtigeren preussischen Re-
formen der direkten ländlichen Steuern im 18.
Jahrh., Leipzig 1887. — Im Vorstehenden ist
nur eine Auswahl der hier in Betracht kommen-
den Liiteratur gegeben. Wollte man rollständige
Angaben mxichen, so würde der grösste Teil der
gesamten ortsgeschichtlichen Litteratur zu nennen
sein. Zu verweisen ist hier aber noch auf die
Artikel Finanzen, JTufenschoss, Kon-
tribution, Steuer.
Q. V, Below.
Grnndstücke, ZusammenlegiiDg
derselben
s. Zusammenlegung der
Grundstücke.
Gründung
s. Aktiengesellschaften oben Bd. I
S. 143ff. und Emissionsgeschäft
Bd. ni S. 602 ff.
Gruppenakkord
8. Arbeitslohn oben Bd. I S. 863ff.
Guerry, Andr6 Michel,
geboren 1802 in Tours, war Advokat am Cour
royale in Paris und starb 1867 in Paris, als
korrespondierendes Mitglied der französischen
Akademie sowie Ehrenmitglied der Statistical
Society in London.
Guerry abstrahiert bei seinen moralstatisti-
schen Untersuchungen von dem a priori in
jedem gesellschaftlichen Verbände wurzelnden
Hange zum Verbrechen und entwickelt nur aus
den gesammelten kriminalstatistischen Daten
die antisittlichen Gravitation.spunkte der staat-
lichen Gemeinschaften. In der Moralstatistik
sieht er eine Unterabteilung der Kulturge-
schichte zur Bestimmung der kulturhistorischen
Konstanten, und unter analytischer Statistik
begreift er diejenigen sozialstatistischen Be-
gnflfsgesetze, mit denen die spekulative Ethik'
experimentiert. Guerry bediente sich noch vor
Quetelet der Bezeichnung „statistique m orale"
für diesen Zweig der statistischen Wissenschaft.
Guerry veröffentlichte von Staats wissen-
schaftlichen Schriften in Buchform:
Essai sur la statistique morale de la France.
Preced6 d*un rapport a l'Academie des sciences,
par MM. Lacroix, Silvestre et Girard, Paris 1833
(mit dem Preis Montyon ausgezeichnete Arbeit).
— Statistique morale de l'Anffleterre compar^e
avec la statidtique morale de la France, d'apres
les comptes de Tad minist rat ion de la justice
criminelle en Angleterre et en France; les
comptes de la police de Londres, de Liverpool,
de Manchester etc., les proc^s-verbaux de la
cour criminelle centrale et divers autres docu-
ments administratifs et judiciaires. Atlas (17
cartes et constructions graphiques) representant
les resultats generaux des tableaux num6riques,
Paris (gr. Folio) 1860 (dieser Arbeit wurde
ebenfalls der Preis Montyon zuerkannt); das-
selbe 2. Aufl. ebenda 1864.
Gemeinsam mit dem Italiener Balbi ver-
öffentlichte er : Statistique compar6 de Tetat de
'rinstruction et du nombre des crimes dans les
divers arrondissements des cours royales et des
academies universitaires de France, Paris 1829.
Vgl. über Guerry: Quetelet, Sur
l'homme etc., Bd. II, Brüssel ia%, S. 261. —
Messedaglia, Kelazione critica suir opera
di Guerry, negli atti dell' Istituto veneto, Ve-
nedig 1865. — H. Diard, Statistique morale
de 1 'Angleterre etc. par Guerry. Etudes sur
cet ouvrage, Tours 1866. — Guerry, Notice of
his death, etc. (in Journal of the Statistical
Society, Bd. XXXI, London 1868, S. 123. — G.
F. Knapp, Quetelet als Theoretiker (in „Jahrb.
für Nat. u. Stat.«, Bd. XVIII), Jena 1872, S.
91 ff. — John, Geschichte der Statistik, Bd. I,
Stuttgart 1884, S. 367ff. — Gabaglio, Teoria
generale della statistica, Bd. I, Mailand 1888,
S. 180 ff.
Lippert,
Guicciardini^ Francesco^
geboren am 6. III. 1482 in Florenz. Nach be-
endig[tem Studium der Rechte wurde er 1505
in seiner Vaterstadt Professor der Rechte, dann
1509 Advokat des florentinischen Kapitels und
1512 Gesandter am Hofe König Ferdinands von
Aragonien. Papst Leo X. ernannte ihn 1516
zum Statthalter von Modena und Papst Cle-
mens VII., 1523, zum Gouverneur der Romagna.
Von 1526 ab gehörte seine staatsmännische
Thätigkeit fast ausschliesslich dem wechsel-
vollen Schicksal der Republik Florenz. Seiner
Politik, welche die Erhaltung der aristokratisch-
konservativen Partei der Optimaten mit der
Befestigung der nominellen Herrschaft der Me-
dici über Florenz zu vereinigen suchte, ver-
dankte Guicciardini die Ungnade des Medicäers
Cosimo, nach dessen Erhebung zum Herzog von
Florenz, wegen der von Guicciardini bewirkten
Beschränkungen der Souveränität Cosimos durch
die Regierungsgewalt der Optimaten. Guicci-
ardini starb am 17. V. 1540, angeblich an einem
926
Giücciardini — Gut
Fieber, thatsächlich durch Selbstmord auf seiner
'Villa zu Arcetri bei Florenz.
Guicciardinis Schriften traten erst nach
seinem Tode an die Oeffentlichkeit und zwar 1.
das mit den Staatswissenschaften nur in losem
Zusammenhange stehende grosse Geschichts-
werk: La historia d'ltalia, editio princeps,
Florenz, L. Torrentino, 1561, wovon in den
Jahren 1565—1844 von den verschiedensten
Herausgebern 16 Ausgaben und 11 lateinische,
spanische, französische, englische, holländische
und deutsche Uebersetzungen erschienen. Fort-
setzungen des Guicciardinischen Geschichts-
werkes , das die Jahre 1494 — 1532 umfasst,
lieferten J. B. Adriani (Florenz 1583) und Carlo
Botta in Storia d'ltalia, continuata da quella
del Guicciardini, sine al 1789, 15 Bde., Paris
1832. (Die manni^achen Schwächen der historia
d'ltalia Guicciardinis sind hauptsächlich durch
Eanke [s. unten] aufgedeckt, seine Vorzüge be-
stehen im wesentlichen in den geistvollen, an
wichtige Daten zu deren Erläuterung an-
knüpfenden Diskursen). Die vollständige Ver-
öffentlichung seines ferneren handschriftlichen
Nachlasses ist erst in neuerer Zeit erfolgt in
2. dem Werke: Opere inedite di Francesco
Guicciardini, illustrati da G. Canestrini e pub--
blicate per cura dei conti P. e L. Guicciardini,
10 Bde., Florenz 1857—1867. Abhandlungen
Staats wissenschaftlichen Charakters wären da-
raus anzuführen: a) Eelazione di Spagna (in
Form eines Gesandtschaftsberichts geographisch-
demographisch-kulturgeschichtliche Schilderung
des damaligen Spaniens, insbesondere Aragons
und Kastiliens, mit Bemerkungen über Bevölke-
rung, Auswanderung, Pauperismus etc.). — b)
La presidenza della Romagna ossia carteggio
tenuto dal Guicciardini deputato al govemo di
quelle provincia da demente VlI., 1524—25. —
c) Del reggimeuto di Firenze, c. 1526. (Guicci-
ardini tritt in dieser Schrift für die gerechte
Verteilung der Steuerlasten ein und entscheidet
sich, davon ausgehend, dass die Immobiliensteuer
wohl für Ortschaften mit grossem Grundbesitz,
nicht aber für das florentinische Gemeinwesen,
des geringen Ertrages wegen, §:enüge, für das
Ausgleichsverfahren, den Immobiliars teuerer trag
durch indirekte Abgaben von den Hauptkonsum-
artikeln (Mehl und Salz) der Florentiner zu er-
höhen. Die Bemessungsgrundlage der dortigeji Im-
mobiliarsteuer wechselte übrigens jß nach der ße-
^erungsform, und sobald die Demokraten am
Kuder waren, erhoben sie Progressivsteuern von
den grossen Immobilien vermögen.) Guicciardini
fiebt in den zwei Reden: d) Delle imposte (di
irenze) c. 1537 und La decima scalata, c. 1538),
nach eingehender Untersuchung der Vorzüge
und Nachteile der Progressivsteuer, nicht dieser,
sondern der Proportionalstener den Vorzug.
Schliesslich ist in Bezug auf sein freiwilliges
Ende auf die Abhandlung in Bd. X des Nach-
lasses hinzuweisen: Del suicidio par ragione di
libertä o di servitu. —
Vgl. über Guicciardini: seine Autobio-
graphie in Bd. X der Opere inedite unter dem
Titel: Ricordi autobiografici e di famiglia (bis
1531 reichend. — L. v. Porcacchi, Vita di
Guicciardini, Venedig 1573. — Remigius
(Florentiner Mönch), Vita di Guicciardini, Ve-
nedig 1592. — Manni, Vita del Guicciardini,
Venedig 1738. — K. L. v. Woltmann, Ge-
schichte und Politik, Bd. II, Beriin 1802, S.
346 ff. — Rosini, Saggio sul Guicciardini,
Pisa 1819. — P. Pozzetti, Opuscoli letterati
di Bologna, Bd. III, Bologna 1820. — Segni,
Vita da Capponi, Mailand 1834, S. 208 ff. —
Derselbe, Storie fiorentine, ebenda 1834,
Buch 8. — V. Reumont, Italienische Diplo-
maten bis 1850 (Raumers histor. Taschenbuch,
Jahry. 1841), Leipzig 1841. — Montaigne,
Essais, Paris 1843, Such II, Kapitel 10. — E.
Benoist, Etüde sur Guichardin, historien et
homme d*Etat Italien, Marseille 1862. — v.
Reumont, Geschichte Toskanas, Bd. I, Leipzig
1876. — Capponi, Geschichte der floreutim-
schen Republik, deutsch von Dütschke, Bd. II,
Leipzig 1876. — Er seh und Gruber, Ency-
klopädie, I. Sektion, Teil 96 (Verfasser R. Pall-
mann), Leipzig 1877, S. Ö49ff. — Gioda,
Guicciardini e le sue opere inedite, Mailand
1880. — L. V. Ranke, Geschichte der romani-
schen und germanischen Völker von 1494—1533,
Bd. I, 3. Aufl., Leipzig 1885. — Derselbe,
Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, 3. Aufl.,
Leipzig 1885.
Llppevt
6at.
1. Begriff. 2. Die wichtigsten Erschei-
nungen.
1. ßegriff. Der Nationalökonom spricht
vom Gute in einem anderen Sinne als der
Philosoph, der das »höchste Gute sucht,
oder der Dichter, der die ^> Güter des Lebens«
besingt. Diese meinen die Zustände be-
friedigten Daseins, die Zwecke oder Ziele
des Lebens, jener die Mittel, die dahin
führen, die »Mittel der Bedürfnisbefriedi-
gung«. Die Verbindung beider Begriffe wird
dadurch hergestellt, dass die »Mittel der
Bedürfnisbefriedigung«, insoweit sie der
Wirtschaft zugehören, ihrerseits Zwecke oder
Ziele der Wirtschaft sind.
Es gehört zu den notwendigsten, müh-
samsten* und undankbarsten Aufgaben der
Volkswirtschaftslehre, die dem allgemeinen
Sprachgebrauche entnommenen Grundbe-
griffe der Wirtschaft und namentlich auch
den des Gutes für den wissenschaftlichen
Gebrauch auszubilden. Ohne ilass mau auf-
hören darf, und zwar im Sinne des feinsten
Sprachgefühles gemeinverständlich zu bleiben,
muss man doch gerade die wissenschaftlich
belangreichen Merkmale hers'orkehreo, und
dies schon zu einer Zeit, wo die AVissen-
schaft noch nicht genügend gereift ist. um
zu erkennen, was immer erst zum Sclilusse
erkannt werden kann, welches die belang-
reichen Grundbeziehungon sind. Es ist fast
unmöglich, nicht scholastisch noch dialektisch
zu werden.
Der Begriff des Gutes (welcher der
Gut
927
deutschen Nationalökonomie vorzugsweise
eigen ist) ist auch heute wissenschaftlich
noch nicht vollends fest geworden. Im
ranzen stimmt man jedoch, indem man die
Güter als Mittel der Bediirfnisbefriedigimg
erklärt, dahin überein, ihn auf den Begiiff
des Bedürfnisses aufzubauen . Bedürfnis
wird dabei ausserordentlich weit gefasst, es
mnfasst jede Lust, die befriedigt, jede Un-
lust, die abgewehrt werden soll. Nicht bloss
die leibliehen, sondern auch die geistigen
und gemütlichen, nicht bloss die diinglichen,
sondern auch die entbehrlichen und launen-
liaften, nicht bloss die erlaubten, sondern
auch die unerlaubten Kegungen sind gemeint.
Ganz entsprechend geht der Begriff der
Nützlichkeit und des Nutzens. Alles,
wodurch ein Bedürfnis befriedigt weitlen
kann, ist nützlich und giebt Nutzen, auch
das Notwendige, das Schöne, das Erliabene
oder das Spielzeug des übersättigten Luxus.
Ferner stimmt man wohl darin überein,
nur solche Mittel der Bedürfnisbefriedigung
als Güter zu erklären, deren Nützlichkeit er-
kannt ist Es schlägt hierbei die Anschauung
durch, dass die Guter Zwecke oder Ziele der
Wirtschaft seien, die sich doch nur auf die
uns bekannten Mittel der Wohlfahrt richten
kann. Die in der Natiu* vorbereiteten, aber
von den Menschen noch nicht aufgefundenen
Wohlfcihrtsmittel kann man latente Güter
nennen. Endlich stimmt man wohl noch so
ziemlich darin überein, dass man Gut nicht
nennen kann, was ganz ausserlialb des Macht-
bereiches der Wirtschaft ist, wie etwa die
Sonne u. s. f. Auch hier schlägt dieselbe
Anschauung durch, die die Güter als Ziele
der Wirtschaft nimmt. In allen übrigen
Punkten bestehen entweder grundsätzliche
Meinungsverschiedenheiten, oder ist doch
über die genauen Abgi-enzungen keine IJeber-
einstimmung. Es handelt sich hauptsächlich
um folgendes:
1. Es giebt mancherlei nützliche Dinge,
die wir wahrnehmen, ergreifen und ver-
wenden, auf die sich aber unsere Wirtschaft
dennoch nicht richtet; nämlich alle diejenigen,
die die Natur uns in einem freien Ueber-
fluss zu teil werden lässt, so dass jedermann
sie nach seinem Belieben haben kann, wie
etwa Wasser an manchen Orten u. s. f. Der-
artige Güter nennt man in der deutschen
Nationalökonomie freie Güter. Sie werden
genossen, soweit man ihrer bedarf, und auch
sonst wirtschaftlich verwendet, namentlich
auch bei der Erzeugung anderer Güter (die
Luft als Triebkraft), aber .sie werden nicht
im strengen Sinne bewirtschaftet, man er-
greift an ihnen nicht Eigentum, sie werden
nicht aufbewahrt, nicht gespart, nicht er-
zeugt, nicht gekauft, so wie die anderen
Güter, die man deshalb als wirtschaftliche
bezeichnet und ihnen gegenüberstellt. Die
meisten Sdiriftsteller definieren das Gut
so, dass freie und wir'tseliaftliche Güter ein-
geschlossen sind. Es wird jedodi auch die
gegenteilige Ansicht vertreten, dass nur wirt-
scliaftliche Güter Güter zu nennen seien.
2. Neben den Gütern, die unmittelbar
dem Bedürfnisse dienen, wie die Nahrungs-
mittel u. s. f., giebt es eine überaus grosse
Anzahl von anderen, die demselben nm*
mittelbar dienen, dadiu*ch, dass sie den Er-
werb jener ersten ermöglichen. Auch der
Acker, die Maschine, der Rohstoff, das Geld
sind Güter. In diesem Sinne unterscheidet
man Gebrauchsgüter, Genussgüter von den
Produktivgütern, Erwerbsgütern. Die Aus-
dehnung des Gutsbegriffes auf die letzteren
ist theoretisch von grösstem Belange. Sind
schon die gemeinen Begriffe von v ermögen
und Reichtum so weit gefasst, dass sie auch
die Erwerbsgüter umschliessen, bezeugt also
schon das gemeine Urteil, dass Gebrauchs-
und Erwerbsgüter für die grundsätzliche
Betrachtung zusammengehören, so hätten
sich die theoretischen Aufgaben, zumal der
Erklärung des Wertes der Güter, niemals
ohne diese Weite der Auffassung erledigen
lassen.
Neben dem Begriffe der Produktivgüler
wird in zahlreichen volkswirtschaftlichen
Werken der der »Produktivfaktoren« fest-
gehalten, ohne dass die Beziehung beider
hinlänglich ins Klare gestellt worden wäre.
3Ian bezeichnet Land, Kapital und Arbeit
als die drei Produktivfaktoren, man nennt
aber ausser ihnen noch manche andere,
namentlich auch moralische und gesellschaft-
liche. Zum Teil im gleichen Sinne, zum
Teil allerdings abweichend spricht man von
den natürlichen, geistigen, gesellschaftlichen
»Bedingungen« der Produktion wie der
Wirtschaft überhaupt. Eine strengere Be-
griffsbildung thut hier dringend not. Der
Begriff der Produktivgüter dürfte etwas
mehr eingeschränkt werden müssen, als es-
z. B. von solchen Schriftstellern geschieht,
die die »Natur«, den »Staat« unter sie
i*echnen. Im Sprachgebrauche schlägt die
Anschauung, die die Güter als Zwecke und
Ziele der Wirtschaft nimmt, wie schon oben
gezeigt wurde, so sehr durch, dass doch niu*
das als Gut bezeichnet werden kann, was
mit wirtschaftlichen Mitteln be-
herrschbar ist. Was dagegen so mächtig
ist, dass es seinerseits die Wirtschaft be-
herrscht, kann nicht mehr Gut genannt
werden, so fördernd es auch in die Wirt-
schaft eingreifen mag. Um auch von sol-
chen Mächten sprechen zu können, mag der
(lehnbarere Begriff der Produktivfaktoren —
oder auch der Wirtschaftsfaktoren — wie
der noch weitere der Bedingungen von
Produktion und Wirtschaft dienen.
3. Eine der weitläufigsten und uuerriuick-
928 Gut
lichßten Streitsachen in unserer Wissenschaft j denen jede Betrachtung der Wirtschaft be-
gilt der Frage, ob man nur materielle, i ginnt und denen zuwider keine zur Geltung
äussere, Sachgüter oder auch immaterielle] kommen könnte.
Güter anzuerkennen habe ; zumal ob die | 4. Im Verkehre kauft und verkauft man
menschliche Arbeit ein Gut sei,' Ein grosser i nicht nur körperliche Sachen, sondern auch
Teil der hierbei früher gebrauchten Beweis- 1 »Rechte«, z. B. Servituten, Geldforderungen,
gründe ist heute wohl beweisunkräftig ge- 1 und man zählt diese mit den körperliclien
worden und braucht nicht weiter berührt j Sachen zusammen ins Vermögen ; ähnlich
zu werden. Man hatte noch zu wenig wirt- I werden auch manche sogenannte Verhält-
schaftliche Begriffe gewonnen und wollte i nisse, wie z. B. die Kundschaft eines Qe-
tmter diese den ganzen Reichtum der wirt- schäftsmannes, behandelt. Es ist daher ge-
scliaftlichen Thatsachen unterbringen, was | sagt worden, »Rechte« und »Verhält-
ohne Zwang nicht gehen konnte. nisse« seien gleichfalls Güter, allerdings
Dafür, die Arbeit als Gut zu bezeichnen, , nur im Sinne des Individuums, der Privat-
spricht, dass sie einer der wichtigsten Fak- i Wirtschaft, während sie für die Volkswirt-
toi*en der Produktion und der Wirtschaft ; schaft und vollends für die Weltwirtschaft
ist und dass sie bis zu einem weiten Masse i nicht in Betracht kämen, indem für diese
»bewirtschaftet« wird. Man muss die Ver- 1 der Kreis der Güter mit den nützlichen
Wendung der Arbeit, und nicht bloss die , Sachen ersch()pft sei. Richtiger dürfte der
der fremden, sondern auch die der eigenen, | Gegensatz etwas anders zu fassen sein,
wirtschaftlich überlegen, wie die Ver- 1 Man hat in der praktischen Wirtschaft nicht
Wendung eines Sachgutes, z. B. einer Ma- i immer die »ganze« Sache im Auge, z. B.
schine. Man mus§ den Wert der Arbeit, i nicht das ganze Grundstück, sondern niu:
und wiederum nicht bloss den der fremden, , einen gewissen Dienst derselben, z. B. als
sondern ebenso den der eigenen, so sti-enge Wegeverbindung. Man operiert dann mit
abschätzen wie den irgend eines Sachgutes. , »Gutsteilen« oder »Teilgütern«. Güter
Man kauft sogar Arbeit wie eine Ware, und , können entweder körperlich geteilt werden,
nicht bloss die des Sklaven, sondern auch , in Stücke, oder sie können ideell zwischen
die des freien, geachteten Mannes. , Miteigentümer zu gleichem Rechte geteilt
Dagegen ist zu bedenken, dass ein Gut , werden ; oder aber, und das interessiert uns
uns ein llittel unserer Zwecke ist, genauer hier, auch so, dass ihr Nutzgehalt geteilt
ein blosses Mittel, das will sagen: eine Sache. I wird, indem z. B. einer, der Servitutbe-
Die Arbeit wird von uns, mit Recht, bis zu | rechtigte, die Wegebenutzung, die Weide
einem weiten blasse in der Wirtschaft vsach- . u. s. f. erhält, ein anderer, der Eigentümer,
lieh angesehen, als Mittel unserer Zwecke, | alles Uebrige. Bei Geldfordenmgen ist die
das wir mit nüchterner Klugheit zu ver- i Teilung zeitlich gemacht : einer, der Schuld-
wenden liaben; aber sie darf doch nicht
durchaus sachlich angesehen werden, sie ist
und bleibt ein persimliches Ereignis, dem
gegenüber auch das (lefühl seine Rechte
ner, darf mit dem Gelde bis ziun Fälligkeits-
termine operieren, nachher fällt es wieder
für alle Zukimft der Verfügimg des Gläu-
bigers zu. Während der Servitutsberechtigte
und Pflichten hat. jVIan kann sprachrichtig : aber sich sein »Teilrecht« als Vermögens-
doch nur sagen, die Arbeit gelte in vielen I gegenständ anrechnet, rechnet sich der
Beziehungen wie ein Gut, aber nicht sie | Eigentümer der servitutpflichtigen Sache
sei schlechthin ein Gut. Das beste Zeugnis zunächst die ganze Sache an, bringt aber
für das Sprachgefühl, das in diesem Punkte , davon die Servitut als Last in Abzug,
geradezu von sittlicher Feinfühligkeit ist. Ebenso rechnet sich der Gläubiger das
geben diejenigen Schriftsteller, die — wie Fordemngsrecht an, der Schuldner dagegen
es der Verfasser dieses Aufsatzes bisher
die Sache (die Geldsumme oder was an ihre
selbst gethan hat — die Arbeit als Gut er- Stelle getreten ist das Aktivum), bringt
klären. Keiner von ihnen vermag in Wahr- > aber den Forderungsbetrag als Schuld,
heit diesen seinen Begriff folgerichtig fest-! als Pas sivum- in Abzug. So entstehen die
zuhalten, jeder fällt immer wieder in den I verwickeltsten Vermögensberechnungen aus
Sprachsinn des Wortes zuriick. Von den ! dem Umstände, dass die Wirtscliaft die Güter
meisten Schriftstellern z. B. wird der Inhalt ' so mannigfach geteilt erfasst.
der Volkswirtschaft in seinen grossen Zügen ' Man muss daher zwischen »Gut« und
beschrieben mit den Worten : Erzeugung der ' »Vermögensgegenstand« unterscheiden und
»Crüter«, Verteilung der »Güter«, Verzehrung I sagen, dass die Vermögen teils aus Gütern
der »Güter«. Welche Aufgabe ist hierbei ' (ganzen Sachen), teils aus Güterteilen (Rech-
der Arbeit zugedacht? Die Arbeit ist hierlten, Forderungen u. s. f.) bestehen. Auch
offenbar gedacht als die Macht, mit der der für die volks- und weltwirtschaftliche Be-
Mensch von aussen in die Welt der Güter • trachtung ist die Thatsache entscheidend,
eingreift. Mensch und Natur, Arbeit und • dass die Vermögen infolge der mannigfachen
Güter, das sind die Grundvorstellungon, mit ' Formen der Güterteilung mit Rechten und
Gut
929
Lasten, mit Forderungen und Schulden in-
einander greifen.
Wer seine »Kundschaft« verkauft, erhält
die Bezahlung auf die Wahrscheinlichkeit
des Erwerbes künftiger Qeschäftsgewinne,
das ist künftiger Güter hin.
Wie mit Güterteilen, so operiert man
anderei-seits auch mit Gütergesamtheiten.
2. Die wichtigsten Erscheiniuigen.
Nur für wenige Bedürfnisse lässt die Natur
dem Menschen die Befriedigungsmittel in
freiem üeberfluss zu teU werden; für die
meisten Bedürfnisse findet der Mensch ent-
weder gar kein Befriedigungsmittel fertig
vorbereitet oder die fertig vorbereiteten sind
nicht im üeberfluss da, sondern verstreut
und selten. Wohl aber bietet sich überaus
häufig die Möglichkeit, was felüt, durch
Arbeit zu beschaffen, indem die Natur die
Keime und Rohstoffe, die Werkzeugmittel
und Kräfte darbietet. So ist durch die Art
und Weise des Gütervorkommens der
Mensch auf den Weg der Produktion ge-
wiesen. Ausserdem aber sind durch die
Art und Weise des Gütervorkommens auch
noch die gi'ossen ' Züge der Produktion ge-
wiesen, die dieselbe annehmen muss, wenn
sie gedeihen soll. Um Befriedigimgsmittel
zu gewinnen, muss man die natürlichen
Keime gewisse Verwandlungen durchmachen
lassen. Um zahkeiche, gesicherte und ver-
feinerte Befricdigungsmittel zu gewinnen,
sind überaus mannigfache Yerwandlimgs-
prozesse erfordert, z. B. auch solche, die
den Genuss bloss in entferntester Weise
vorbereiten, indem sie ei'st Strassen, Fahr-
zeuge, Werkzeuge schaffen. Güter, die auf
einer und derselben Verwandlungsstufe
stehen, kann man nun in eine »Ordnung«
zusammenfassen und die sämtlichen Güter
somit in so viele Ordnungen zerlegt denken
— die sich übereinander aufbauen — , als
es Verwandlungsstufen giebt. Die unmittel-
baren Befriedigungsmittel der Bedürfnisse
bilden die dem Bediü-fnisse nächste, die
erste Ordnung; je weiter zurück im Pro-
duktionsprozesse man auf die letzten zur
Wirksamkeit gebrachten Mittel geht, in so
entferntere Ordnungen der Güter gelangt
man. Es lässt sich aber das Gesetz be-
haupten, dass die Produktion um so er-
giebiger ist, je mehr Verwandlungsprozesse
sie die Güterkeime diu:chmachen lässt oder
in je entferntere Ordnungen sie zurückgreift.
Dieses Gesetz beruht wieder auf einem Ge-
setze des Gütervorkommens, nämlich auf
dem, dass die Güterkeime in der Natur
zahlreicher vorhanden sind als die zum Ge-
nüsse fertigen Güter und dass die ent-
fernteren Güterkeime zahlreicher sind als
die näheren. Die Natur ist in ihren offenen
Gaben, in den nächsten Ordmmgen der
Güter am kärgsten, in ihren verdecktesten
Schätzen, in den entferntesten Ordnungen
am freigebigsten.
Derart ist der Fortschritt der Produktion
von den extensiven Formen zu den intensiven
natürlich begründet. Es ist aber noch ein
weiteres Verhältnis des Giltervorkommens
hervorzuheben, durch welches die Eutwicke-
lung der produktiven Technik ebenso mäch-
tig beeinflusst wird. Die Güter bedingen
sich in ihrer Wirksamkeit wechselseitig, sie
sind »komplementär«. "Ein Gut für sich
bewirkt kerne produktive Veränderung, es
müssen ihrer mehrere zusammengebracht
werden, abgesehen davon, dass die mensch-
liche Arbeit mit verbunden werden muss.
Die wirksamsten Produktionsprozesse sind
jedoch diejenigen, bei denen die zahlreichsten
Güter zusammengebracht werden. Die Pro-
duktion im grossen erhält hierdiwch ihre
technische üeberlegenheit über die Produk-
tion im kleinen. Von hier aus ist der Zug
der Produktion zur Koncentrierung zu er-
klären, infolgedessen auch die Produzenten
zu immer innigeren Vereinigungen in den
wechselndsten Formen sich angetrieben
fühlen. Die Solidarität der A^Trtsclmftlichen
Intei-essen ist die Folge der Komplementarität
der Güter.
Die natürlichen Befriedigungsmittel sind
zumeist roh. Die Menschen haben sie zu-
meist selir verfeinert und sie haben für noch
zahlrei(jhere Bedürfnisse, für die die Natur
überhaupt unmittelbar gar nicht vorgesorgt
hatte, erst die Güterformen ersonnen. So
entstanden neben den Naturgütern die Kul-
turgüter. Auch die meisten Produktiv-
güter sind Kulturgüter, durch Menschengeist
ersonnen und von Menschenhand geformt.
Der menschliche Güterbesitz verdankt
seine Vemielirung nicht bloss der formenden
Produktion, er nimmt auch zu diu^ch Ent-
deckungen und Erfindungen, durch welche
latente Güter zu wahrhaften Gütern werden
mid die formende Produktion neue Aufgaben
erhält. Vermöge der Komplementarität der
Güter w^irkt jede neue Entdeckung und
ebenso jede neue Erw^erbung auch auf die
bessere Ausnützung der altbesessenen Güter
hin. Manche Güter haben vorzugsweise die
Eigenschaft, dadurch, dass sie neu in den
Besitz hinzutreten, die bra(*hliegenden kom-
plementären Kräfte anderer zu entbinden,
z. B. Strassen imd Wege, um nur das ein-
fachste Beispiel zu nennen. Die Arbeit hat
insbesondere die Kraft, den komplementären
natürlichen Reichtum zu wecken, und unter
den Ai'beiten ist es wieder die leitende
Arbeit — von der des Entdeckers abgesehen
— die diese Fähigkeit am stärksten hat,
wie sie ja auch erst den ganzen Reichtum
der wirtschaftlichen Volksbegabung belebt
und durch Ordnung und Schulung ver-
wertet. Es ist daher in der Art und Weise
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Aaflage. IV.
59
930
Gut — Gutsherrschaft
des Gütervorkommeus tief begründet, wenn
neben den regelmässigen Früchten der über-
^ kommenen Produktionen von Zeit zu Zeit,
und oft geiudezu im Sprunge, ungeheuere
Güterzuwächse durch Fortscluitte der wirt-
schaftlichen Erkenntnis und Unternehmungs-
kraft gemacht werden. Die wirtschaftliche
Politik des grossen Staatsmannes ist vor-
zugsweise darauf gerichtet, unbenutzte Güter
und Güterkräfte zu entbinden und dem
Machtbereiche dör Volkswirtschaft einzu-
verleiben.
Litteratnr : (Mit Hinipeglastung des bloss dogmen-
geschichtlich Interessanten,) Erörterungen finden
sich in jedem deutschen Lehrbuch und System.
S. unter diesen insbesondere die Werke von
Roseher, Schäffle, Wagner, Philippo-
Vieh und das Schönbergsche Handbuch.
Ausserdem sind zu nennen: Menger, Grund-
sätze der Volkswirtschaftslehre, 1871, S. 1—S2.
— Böhm ~ JßawerU ^ Rechte und Verhält-
nisse vom Standpunkte der volksw. Gilterlehre
1881. — Wieeev, Ueber den Urspriing und
die Hauptgesetze des wirtsch. Wertes, 1884, S.
42 — 69. — Sax, Grundlegung der theor. Staats-
vnrtsehafi, 1887, S. 199 — ^49. — Meyer, Wesen
des Einkommens, 1887, S. 168 — 185. — Neu-
mann, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre,
1889, S. S4 — 122. — Die fremdländische Litte-
nUur behandelt den Gutsbegriff nur wenig,
erörtert aber manche der oben besprochenen
Fragen bei den verwandten Begriffen wealih,
richesses, produit u. s. f. Siehe u. a. Turgeon,
Des prete7idues richesses immathneües, Revue
d' Economic politique III, 3. — Maazola, I
daii scientifici deüa finanza puhblica 1890 (im
Anhang) mit weiteren Litteraturangahen , und
Irving Fisher, Senses of Capital, Economic
Journal 1897.
V. Wieser.
Gntsherrschaft
(Grundherrschaft, Leibeigenschaft,
Eigenbehörigkeit und Erbunter-
thänigkeit).
Grundherrschaft und Gutsherrechaft
waren bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts
die beiden wichtigsten und chai*akteristisch-
sten Institutionen der ländlichen Verfassung
in den meisten deutschen Staaten.
Die grosvse Melirzahl der deutschen
Bauern besass ihi*e Bauerngüter nicht als
freies Eigentum, sondern musste für die
Nutzung derselben Abgaben und Dienste an
einen Grund- oder Gutsherrn leisten.
Die beiden wichtigsten bei der guts-
wie bei der gi-undherrlichen Verfassung in
Betracht kommenden Personen sind also i
einerseits Grund- oder GutsheiT, anderer- !
seits der Nutzniesser des betroff enden Gutes, j
der Bauer, welcher in seiner Beziehung |
zum Guts- oder Grundherrn Gutsunterthan
oder Hintersasse genannt wurde. Guts- und
Grundherrschaft waren ursprünglich be-
stimmte Formen der wirtschaftlichen Aus-
nutzung des Grossgrundbesitzes, d. h. Guts-
oder Grundherren hatten das ihnen eigen-
tümlich zustehende Gut dem Bauer gegen
bestimmte oder unbestimmte Leistungen zur
Nutzniessung überlassen. Jedoch war dies
nicht die einzige Entstehungsweise der Guts-
oder Grundherrschaft.
Nicht selten wurden grundherrliche Be-
rechtigungen und Bezüge durch die im
Mittelalter so häufigen bald privat-, bald
öffentlichrechtlichen Abhängigkeitsverhält-
nisse begründet, ohne dass der später als
Grund- oder Gutsherr erscheinende Berech-
tigte jemals wirklicher Eigentümer des be-
treffenden Bauerngutes gewesen wäre.
Die Gesamtheit der dem Bauer und
seiner Familie am Gut zustehenden Ver-
fügungs- und Nutzungsberechtigungen be-
zeichnete man als das bäuerliche Besitzrecht,
welches je nach Umfang imd Zahl dieser
Berechtigungen ein gutes bezw. schlechtes
Besitzrecht genannt wrmie.
Die Verschiedenheit unter den unzähli-
gen Besitzrechten Deutschlands war sehr
bedeutend. Während der Bauer Neu Vor-
pommerns am Ende des 18. Jahrhunderts
nur Zeitpächter seines Hofes war, hatten
die Grundherren vieler süd- und mittel-
deutscher Bauerngüter nur ein wesenloses
Obereigentum über dieselben bewahrt, das
ihnen einige geringe, seit alter Zeit festge-
setzte Zinsgefälle einbrachte. Für die be-
griffliche Scheidung der bisher synonym ge-
brauchten Bezeichnungen Gutsherrschaft und
Grundherrschaft sind folgende wirtschaft-
liche Gesichtspimkte massgebend.
Die Grundherrschaft liefert in der Haupt-
sache ein dii'ekt konsumierbares Einkommen.
Der Grundherr benutzt die ihm kraft der
Grundherrschaft zustehenden Leistungen der
Bauern und seine Berechtigungen am
Bauerngut entweder gar nicht oder doch
nur nebenbei zur Schaffung einer landwirt-
schaftlichen Produktionsunternehmung.
Zwar besitzt auch der Grundherr in der
Regel eigenen Ackerbau, der vermittelst
bäuerlicher Frondienste betrieben wird.
Aber dieser Landwirtschaftsbetrieb dient
meistens dazu, die ausgedehnten Natural-
bedürfnisse des grundheiTlichen Haushalts
zu befriedigen. Nur der Ueberfluss geht
auf den Markt.
Selbst wenn bei der grundherrlichen
Verfassung in AusnaJimefällen eine regel-
mässige Produktion für den Markt statt-
findet, so spielt doch der Ertrag des Eigen-
betriebes im Gesamtbudget des Grundhenn
keine irgendwie hervorragende Rolle. Der
überwiegende Teil seiner Einkünfte besteht
Gutsherrschaft
931
in Geld- oder Naturalzinsea der abhängigen
Bauernhöfe.
Im Gegensatz zur grundherrlichen Ver-
fassung entsteht die Gutsherrschaft dann,
wenn die eigene Wirtschaft des Grund-
herrn sich im Sinne eines kapitalistischen,
d. h. ausschliesslich oder gi*üsstenteils für
den Markt arbeitenden Grossbetriebes zu
entwickeln beginnt. Der ehemals im bedeu-
tende Eigenbetrieb rückt immer mehr in
den Mittelpunkt aller Interessen, und bald
beruht ausschliesslich auf ihm die wirt-
schaftliche Machtstellung des Gutsherrn.
Der Bauer, jetzt meistens Erbunterthan ge-
nannt, zahlt seltener Natural- oder Geld-
zinsen, dagegen leistet er um so mehr Fron-
dienste. Da der Gutsherr zum Zwecke der
Grossproduktion mehr Ackerland braucht, so
sucht er durch das Areal abhängiger Bauern-
höfe seine Gutsländerei zu vergrössem und
beschränkt zu diesem Zwecke das bäuerliche
ßesitzrecht
Die Gutsherrschaft, die als eine durch
wirtschaftliche Gründe hervorgerufene und
in ihrer Entwickelimg beeinflusste Fortbil-
dung der Grundherrschaft erscheint, ist in
ungleich höherem Masse als diese ein Bauer
und Gut ergreifendes Herrschaftsrecht. Nicht
nur die Natur der Leistungen des Bauein
wird verändert und sein Besitzrecht ver-
schlechtert, sondern auch seine persönliche
Freiheit ist im Interesse des entstehenden
gutsherrlichen Grossbetriebes durch Bin-
dung an die Scholle (glebae adscriptio) ge-
mindert.
Schon aus dem Gesäßen ergiebt sich,
dass die Gutsherrschaft eme jüngere Wirt-
schaftsinstitution ist als die Grundherrschaft,
ja, vom produktionstechnischen Standpunkte
aus gesehen, einen Fortschritt gegenüber
dieser bedeutet.
Auch die Wirtschaftsgeschichte zeigt,
dass der landwirtschaftliche Grossbetrieb,
der die Gutsherrschaft hervorgebracht hat,
erst dann in einem Lande entstehen konnte,
wenn infolge günstiger Transport- und Aus-
fuhrverhältnisse oder infolge eigener, meist
städtischer gewerblicher Entwickelung die
Naturalwirtschaft der Geldwirtschaft zu
weichen begann.
Aber so sehr auch die Entwickelung der
Gutsherrschaft aus der Grundherrschaft in
ihrem innersten Wesen eine rein wirtschaft-
liche gewesen ist, ebenso sehr haben die
verschiedensten natürüchen, politischen und
sozialen Verhältnisse auf diese Entwickelung
bald hemmend und hindernd, bald beför-
dernd gewirkt. Hier wie überall im wirt-
schaftlichen Leben vollzog sich die rein
wirtschaftliche Entwickelung unter der Ein-
wirkung fremder, d. h. nicht wirtschaftlicher
Einflüsse. Im Gebiete des heutigen Deut-
schen Reiches finden wir im Mittelalter mit
verschwindenden Ausnahmen fast überall
die grundherrliche Verfassung. Im Laufe
des 16. und 17. Jahrhunderts vollzog sich
im Nordosten Deutschlands, durch wirt-
schaftliche Verhtütnisse bedingt und durch
politische und sonstige Einflüsse begünstigt,
die Ausbildung des landwirtschaftlichen
GiKösbetriebes, und mit ihm entstand die
Gutsherrschaft.
Obwohl der Westen und Süden Deutsch-
lands in seiner allgemeinen wirtschaftlichen
Entwickelung dem Nordosten voraus war^
blieb hier die Grundherrschaft bestehen.
Eine erechöpfende Klarstellung der Ursachen
dieser Erscheinung ist heute noch nicht
möglich. Sie liegen auf politischem, so-
zialem und wirtschaftlichem Gebiete. Da-
gegen soll im folgenden eine eingehende
Schilderung der guts- wie der grundherr-
lichen Verfassung Deutschlands im 18. Jahr-
hundert gegeben werden.
Wir wählen diese Epoche, weil sie als
die unserer Zeit zunächst liegende am besteu
bekannt ist und deshalb für die klare Er-
kenntnis des Wesens beider Institutionen
am geeignetsten erscheint.
In dieser Zeit zerfiel Deutschland he-
züglich der guts- und grundherrlichen Ver-
fassung in verschiedene grosse Gebiete.
Im Osten und Nordosten, in den soge-
nannten alten Provinzen Preussens (Pom-
mern, Mark Brandenburg mit Ausnahme
der Altmark, Preussen, Schlesien und pol-
nische Gebietsteile), herrschte ebenso wie
in Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Neu-
vorpommern und in der Oberlausitz die
gutsherrliche Verfassung. In dem kleinen
damals zu Hannover gehörigen Herzogtum
Lauenbiu'g, in der liukselbischen Altmark
und im Nordosten der heutigen Provinz
Sachsen bestanden der gutsherrlichen Ver-
fassung nahestehende üebergangszustände,
während das Kurfürstentum Sachsen zwar
nicht ganz klare, aber doch entschieden
näher mit der grundherrlichen Verfassung
verwandte Verhältnisse zeigte. Nieder-
sachsen und Westfalen, Hessen-Cassel und
die übrigen kleinen Staaten Nordwestdeutsch-
lands, der Niederrhein von Dusseldorf an,
ferner Altbayern und die schwäbisch-baye-
rische Hochebene hatten eine rein grund-
herrliche Verfassung. In Thüringen, im
Mainthal, am Ober- und Mittelrhein und
überhaupt in den meisten Gegenden Süd-
westdeutschlands war die Grundherrschaft
einem völligen Versteigerungsprozess an-
heimgefallen, der sie in ein Konglomerat
von Rentenberechtigungen verwandelt und
dem Gnmdherrn jede direkte Einwirkung
auf das abhängige Bauerngut entzogen hatte.
Von jedem grundherrlichen Verhältnis
freie Bauerngüter fanden sich vereinzelt in
allen diesen Gebieten, jedoch niu: die Dith-
59*
932
Gutsherrschaft
marschen, die bremischen Marschbauern und
die Bewohner Ostfrieslands waren grössten-
teils freie Eigentümer ihrer Hufe.
Yon dem Wesen und der wirtschaft-
lichen Bedeutung der Grundherrschaft , die
wir als die ältere Bildung zunächst ins
Auge fassen wollen, giebt uns die ländliche
Verfassung Niedersachsens zu Ausgang
des 18. Jalirhunderts eine völlig klare Vor-
stellung.
Die Rechte und Pflichten von Grundherr
und Bauer waren durch das im ganzen
nordwestlichen Deutsclüand geltende Meier-
recht geregelt. Der Bauer hatte ein erb-
liches Nutzungsrecht am Gute und durfte
dieses ohne Zustimmung des Grundherrn
nicht veräussern oder belasten. Die Erb-
folge war durch das provinziell ver-
schiedene Anerbenrecht in der Weise ge-
regelt, dass das nach Landesgesetz unteil-
bare Bauerngut an eines der Kinder des
Meiers überging, welches seine Geschwister
mit sehr geringen Beträgen abfand. Die
Fälle, in denen der Bauer des Gutes ver-
lustig ging, waren gesetzlich bestimmt, und
die »Abmeienuig« durfte erst nach voraus-
gegangener gerichtlicher Untersuchung er-
folgen. Auch war der Grundherr zur so-
fortigen Wiederbesetzung dos erledigten
Hofes mit einem neuen Meier unter den
alten Bedingungen verbunden. Die Leistung
des Meiers für die Nutzung des Gutes be-
stand in Zins und Frondiensten. Femer
musste er häufig dem vom Grundherrn ver-
schiedenen Gerichtsherrn Frondienste leisten
und war zur Ti^agung der auf dem Gute
ruhenden Staats- und Gemeindelasten ver-
pflichtet.
Der sogenannte Meierzins bestand häufig
in Naturalien und wai- ziemlich bedeutend.
Der Frondienst war nicht selten zu Geld
gesetzt, doch wurde er im Süden Nieder-
sachsens und in Hessen - Cassel vielfach
noch in natura geleistet, währcnd im Nor-
den Hannovers und im grössten Teil West-
falens von den Pflichtigen überwiegend
Dienstgeld statt des Naturaldienstes ent-
richtet wurde.
Eine völlige Zugeidsetzung des Natural-
frondienstes scheint im Verbreitungsgebiete
der gnmdherrlichen Verfassung nm- da statt-
gefunden zu haben, wo eine Verwertung
desselben in der Eigenwirtschaft des Grund-
herrn wegen der entfernten Lage des Hofes
unmöglich war oder der Grundherr über-
haupt keine solche Eigenwirtschaft besass.
Im allgemeinen ist es cliarakteristisch, dass
überall da, wo die grundheiTliche Verfcis-
sung sich lebensfähig gezeigt hatte, auch
der aus dem grund- oder gerichtsherrlichen
Verhältnis entspringende Naturalfrondienst
nicht völlig verschwunden war. Der Grund-
herr besass in der Regel einen eigenen,
mehr oder minder bedeutenden Landwirt-
schaftsbetrieb, das Rittergut. Die Wirt-
schaft wurde hier in altherkömmlipher
Weise mit den Frondiensten der nächst-
wohnenden Meier betrieben. Eine völlige
Abwesenheit gnmdherrlicher Eigenbetriebe
würde schon mit dem altertümlichen, vor-
wiegend naturalwirtschaftlichen Charakter
der grundherrlichen Verfassung im Wider-
spruch gestanden haben. Der mittelalter-
liche Grundherr lebte ebenso wie sein
Hintersasse mit Gesinde und Familie von
selbsterzeugtem Brot und Fleisch und trank
das auf dem Gutshofe gebraute Bier. Noch
im Jahre 1686 liess sich die hannoversch-
kalenbergische Ritterschaft bei Einführung
des Konsumtionslizentes mit der Lizentfrei-
heit aller auf dem Rittergute erzeugter und
daselbst verzehrter Nahrungsmittel privile-
gieren.
Mit Beginn des 18. Jahrhunderts zogen
die niedei^öächsischen Gutsherren von den
Rittergütern in die Städte und verpachteten
vielfach ihre Eigenbetriebe. Nirgends im
Verbreitungsgebiete der grundherrlichen
Verfassung besass der Eigenbetrieb des
Grundherrn eine die anderen eigentlich
gnmdherrlichen Institutionen und Bezüge
(Geld- und Naturalzins, Dienstgelder und
Zehnten) in den Hintei:grund drängende Be-
deutung, höchst selten stand er sds gleich-
berechtigter Faktor des ganzen grimdherr-
lichon Wirtschaftßorganismus neben ihnen.
Die persönliche Stellung des nieder-
sächsischen Bauernstandes erlitt durch das
gi'undherrliche Verhältnis nicht die geringste
Einbusse oder Beeinflussung.
Der nicdersächsisclie Bauer war persön-
lich frei, die Reste alter Hörigkeit, die sich
in der luldesheimischen Halseigenschaft oder
in einigen zu Reallastcn des Bauerngutes
gewordenen Abgaben wie Kurmede und
ßaulebung erhalten liatten, waren ohne jede
wirtschaftliche und soziale Bedeutung.
In Westfalen bestand bei dem grösseren
Teil der bäuerlichen Bevölkerung seit alter
Zeit die sogenannte Eigenbehörigkeit. Grös-
sere Verbreitung und wirkliche Bedeutung
scheint sie nur in den Bistümern Osnabrück
und Münster, in den preussischen Provinzen
Minden und Ravensberg und in einigen
kleineren reichsunmittelbaren Herrschaften
gehabt zu liaben. In dem Bistum Pader-
born imd in der Reichsabtei Korvey war sie
ebenso wie in den hannoverschen Provinzen
Hoya und Diepholz zum bedeutungslosen
Rechtsaltertum geworden. Auch in den
obengenannten Territorien war nur ein
Bruchteil der bäuerlichen Bevölkerung eigen-
behörig. In den preussischen Provinzen
Minden und Ravensberg wurde nahezii die
Hälfte sämtb'cher Bauernhöfe von Freien
bewohnt, die ilire Höfe teils zu Meierrecht,
GutsheiTSchaft
933
teils als zinspflichtiges Eigentum inne hatten.
Hier wie in Münster und Osnabrück waren
im 17. und 18. Jahrhundert Rechte und
Pflichten der Eigenbehörigen durch soge-
nannte Eigentumsordnungen genau festge-
setzt worden. Diese Gesetze wichen nur
in unbedeutenden Einzelheiten von ein-
ander ab. Der Eigenbehörige hatte ein
gutes Besitzrecht am Bauerngut. In seinen
Snmdzügen stimmte es völlig mit dem
niedersächsischen Meierrecht überein, nur
war der Jüngste Sohn in der Regel Anerbe.
Die Eigenbehörigkeit kam in folgenden
FäUen zum Vorschein : beim Tod des Eigen-
behörigen oder seiner Frau fiel die Hälfte
des Mobiliarvermögens an den Leibherm,
und der Anerbe musste, wenn er nicht in
natura leisten wollte, das Recht des Herrn
diux*.h eine frei zu vereinbarende Summe
ablösen (den Sterbfall dingen). Die Kinder
des Eigenbehörigen waren häufig zu einem
geringfügigen, m der Regel halbjährigen
Zwangsgesindedienst verpflichtet und muss-
ten, wenn sie den Hof verliessen, einen
Freikauf zahlen. Die Freilassung dui-fte in
der Regel nicht verweigert werden. Die
Geschwister erhielten vom Anerben eine
Abfindung (Brautschatz oder Auslobung) und
verloren mit der Freilassung Dir Erbrecht
am Bauerngut. Gingen si* ohne Freikauf
vom Gute weg, so konnte der Gutsherr
sein Recht diu-ch quasivindicatio geltend
machen, d. h. sie wurden, wo sie sich auch
immer befanden, beim Todesfall geerbteüt.
In Rücksicht auf den SterbfaU war dem
Eigenbehörigen verboten, Testamente zu
machen oder mortis causa zu verschenken.
Dagegen konnte er zu Lebzeiten über seine
Fahrhabe bis zur Hälfte durch Schenkung
verfügen. Die auf den Hof heiratende Frau
musste für das Recht am Gute, das sie
nach dem in Westfalen geltenden System
der ehelichen Gütergemeinschaft erhielt,
einen Weinkauf an den Gutsherrn entrich-
ten. Wohl hauptsächlich infolge dieses
diu*ch Heirat entstehenden Rechtes der
Frau auf das Gut bediuite der Eigenbe-
hörige des gutsherrlichen Ehekonsenses.
Veräussenmg der Güter mit den Eigen-
behörigen war selbstverständlich gestattet.
Jedoch durften die Lasten des Eigenbeliörigen,
besonders die Dienste und Abgaben durch die
Yeräusserung nicht erschwert werden. Eine
Veräusserung der Eigenbehörigen ohne Gut
war teüs ausdrücklich verboten, teils dwich
das überall bestehende feste Besitzrecht des
Eigenbehörigen an einem individuellen Gut
vöUig ausgeschlossen. In Minden - Ravens-
berg wurde 1741 ausdrücklich bestimmt,
dass im Fall der durch gerichtliches Er-
kenntnis erfolgten Entsetzung des Eigenbe-
hörigen dieser mit seinen Kindern frei
werde, weil er nur wegen des Hofes sich
eigen begeben habe. Dienst imd Zinsen
diuiten nicht erhöht werden. Der Dienst
war, wie es seheint, zum Teil zu Geld ge-
setzt und im allgemeinen geringer als im
südlichen Niedersachsen.
Der Eigenbehörige unterstand der öffent-
lichen Gerichtsbarkeit, die Hauszucht der
Iieib(Guts)-Herren war auf 24 stündiges Ein-
sperren oder geringe Züchtigung beschränkt.
Die Hauptlast waren die sogenannten un-
gewissen Gefälle (Freikauf, Weinkauf und
besonders Sterbfall). Sie büdeten eine
ausserordentlich drückende materielle Ver-
pflichtung des Eigenbehörigen. Dagegen
war das Besitzrecht gut, Dienst und Zinsen
nicht sehr bedeutend und die persönliche
Abhängigkeit verschwindend, wenn auch die
Beschränkung der persönlichen Handlungs-
fähigkeit in ihrer rechtlichen Festsetzimg
drückend erscheint. Wie. sich aus dem Ge-
sagten ergiebt, war die westfälische Eigen-
behörigkeit trotz ihres Namens ein vor-
wiegend grundherrliches Abhängigkeitsver-
hältnis, das die Person nur insoweit ergriff,
als es besondere, nicht direkt aus der Guts-
nutzung entspringende Leistungen des Eigen-
behörigen betraf.
Diese imgewissen Gefälle gaben der
westfälischen Eigenbehörigkeit ihren eigen-
artigen Charakter, sie bildeten den Haupt-
unterschied zwischen Eigenbehörigen und
Fi-eimeiem, aus ihnen erklärten sich die
verschiedenen unleugbar vorhandenen Frei-
heitsbeschränkungen. Abgesehen von eini-
gen altertümlichen und praktisch nicht sehr
ins Gewicht fallenden leibherrlichen Rech-
ten, wie geringem Gesindezwangsdienst und
Züchtigimgsrecht , hatte das ganze Verhält-
nis mit wirklicher Leibeigenschaft, d. h. ndt
einem unbedingten Herrscliaftsrechte über
Bauer und Gut nichts gemein.
In Niedersachsen und Westfalen waren
häufig Grundhen-schaft über Meierhöfe und
Patiimonialgerichtsbarkeit über ganze Dörfer
in einer Hand vereinigt. Auf die persön-
liche Stellung der ländlichen Bevölkerung
hatte die Vereinigung beider Gerechtsame
keinen Einfluss gehabt. Dagegen hatte die
Gerichtsherrschaft über eines oder mehrere
Dörfer im Süden Hannovers insofern eine
wirtschaftliche Bedeutung, als hier der
Frondienst der Gerichtsunterthanen dem
Gerichtsherrn als fructus iurisdictionis zu-
stand. Im allgemeinen gab hier die Grund-
hen^chaft über Meierhöfe keine Dienst-
berechtigung, sondern nur Anspruch auf
Meierzins.
In ganz Niedersachsen und ziun Teil
auch in Westfalen war die Grundherrschaft
über Meierhöfe mehr oder minder Streu-
besitz; ein Grundherr vemnigte selten das
Obereigentum über alle Höfe eines Dorfes
in seiner Hand, sondern er besass in ver-
934
Grutsherrscliatt
schiedenen, oft weit von einander gelegenen
Ortschaften einzelne Meiergüter. Dagegen
bildete das Patrimonialgericht des südlichen
Niedersachsens ein lokal abgeschlossenes
HeiTSchaftsgebiet, nnd der innerhalb dem
öerichtsherm von allen Bauer zu leistende
Frondienst besass eine hohe wirtschaftliche
"Verwertbarkeit für den etwa vorhandenen
gerichtsherrlichen Eigenbetrieb. Wahr-
scheinlich ist hierauf die grosse Zahl statt-
licher Rittergutswirtschaften zurückzuführen,
der wir im 18. Jahrhundert im südlichen
Niedersachsen begegnen.
Dies ist in ihren Hauptzügen die grund-
heiTÜche Verfassung, wie sie im 18. Jahrh.
in Nordwestdeutschland bestanden hat. Ver-
gleichen wir mit ihr die gutsherrliche Ver-
fassung in den alten Provinzen Preussens
zu derselben Zeit.
Das ganze Gebiet, innerhalb dessen dem
Gutsherrn die Gutsherrschaft zustand, führte
den Namen Rittergut.
Es umschloss nicht nur den vom Guts-
herrn landwirtschaftlich benutzten Grund
und Boden, sondern auch eine oder mehrere
Dorfgemarkungen.
Wirtschaftlich und rechtlich war der
eigene Landwirtschaftsbetrieb des Gutsherrn
die Hauptsache, die gutsherrlich abhängigen
Bauern bildeten mit ihren Höfen ein Zu-
behör des Rittergutes. Daher war das
preussische Rittergut meistens ein Herr-
schaftsgebiet im Gegensatz zum nieder-
sächsischen adligen Gute, das sehr häufig
ohne zugehörige Meier oder Gerichtsunter-
thanen begrifflich nur als privilegierter
Ghrundbesitz angesehen werden konnte.
Der Inhalt des dem Rittergutsbesitzer
tmd Gutsherrn über seine erbunterthänigen
Bauern zustehenden Herrschaftsrechts war
folgender: sämtliche bäuerliche Bewohner
der zum Rittergute gehörigen Dörfer er-
kannten hinsichtlich ihrer unter den ver-
schiedenartigsten Bedingungen besessenen
Höfe den Rittergutsbesitzer als ihi'en Grund-
herrn an. An ihn entrichteten sie Abgaben
und leisteten Frondienste. AUe Bauern und
in der Regel die übrigen der ländlichen
Bevölkerung angehörigen Bewohner des Guts-
bezirks wai'en dem Rittergutsbesitzer erb-
unterthänig, d. h. sie durften ohne Erlaub-
nis des Gutsherrn den Gutsbezirk nicht
verlassen, und ihre Kinder mussten dem
Gutsherrn einige Jahre lang Gesindedienste
leisten.
Femer bedurfte der Erbunterthan zu
seiner Verheiratung des gutsherrlichen Kon-
senses und musste auf Verlangen des Guts-
herrn eine bäuerliche Stelle annehmen.
Endlich hatte der Gutsherr niedere Gerichts-
barkeit innerhalb seines Gutsbezirks und
besass sonstige weniger wichtige private und
öffentliche Gerechtsame und Befiignisse.
Die drei für den Begriff der Gutsherr-
schaft wichtigsten Momente waren: Ober-
eigentum über sämtliche Bauernhöfe des
Gutsbezirks, Erbunterthänigkeit der Be-
wohner und niedere Gerichtsbarkeit über
dieselben.
Die Leistung der erbunterthänigen Bauern
für die Nutzimg des Bauerngutes bestand
in überwiegendem Masse in Frondiensten,
die alle für den landwirtschaftlichen Betrieb
des Rittergutes in natura verbmucht wurden.
In den östlichen Provinzen Preussens waren
diese Dienste ungemessen, im Westen zwar
gemessen, aber doch noch sehr bedeutend,
mindestens 3 bis 4 Tage in der Woche.
Das Besitzrecht des Bauern am Gute
war sehr verschiedenartig. Es schwankte
von einem dem Eigentume nahestehenden
Erbzins- oder Erbpachtrecht bis zur reinen
römischrechtlichen Zeitpacht.
Am häufigsten war der bald erbliche,
bald unerbliche Lassbesitz, ursprünglich
begründete er ein dem niedersächsischen
Meierrechte durchaus ähnliches erbliches
Nutzungsrecht am Bauerngute, Das Bedürf-
nis der Gutsherren nach Bauernland zur
Vergrösserung ihrer eigenen Wirtschaft
hatte dem Lassbauern (Lassiten) sehr häufig
das Erbrecht geraubt, und vielfach war
man bestrebt, den Lassiten auf halbjährliche
Kündigung zu setzen oder in einen Zeit-
pächter auf beschränkte Zahl von Jahren zu
verwandeln. Erst in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts gelang es Friedrich dem
Grossen, durch das Verbot des Einziehens
von Bauernland zum Rittergute die be-
stehenden Bauernhöfe zu erhalten imd auf
diese Weise der zunehmenden Verschlechte-
rung des bäuerlichen Besitzrechts wenigstens
indirekt ein Ziel zu setzen.
Eine noch intensivere Ausbildung guts-
herrlicher Herrschaftsrechte finden wir um
dieselbe Zeit in Schleswig-Holstein, Mecklen-
burg und Neuvorpommem.
In diesen Staaten, wo die Stände, be-
sonders die Ritterschaft ungestört von dem
teils zu entfernt wohnenden, teüs ohnmäch-
tigen Landesherm ilire gutsherrlichen G^
rechtsame ausbildeten, näherte sich der
persönliche Zustand der Bauern der Leib-
eigenschaft im Sinne römischrechtlidier
Sklaverei. Der Bauer, der in Preussen an
die Scholle gebunden w^ar und nur in Ver-
bindung mit dem Gute veräussert werden
durfte, wurde hier mitunter einzeln ohne
Hof verkauft. Der Verkauf der Bauern
ohne Gut war in Neuvorpommem und
Mecklenburg während des ganzen 18. Jahr-
himderts, wenn auch nicht gesetzlich aner-
kannt, so doch durchaus üblich und ge-
wohnheitsrechtlich gestattet. Nur die recht-
lich anerkannte Vermögensfähigkeit der
Bauern unterschied ihren Zustand von dem
GiitvSherrschaft
935
Tölliger Sklaverei. Ihr Besitzrecht am Gute
war das denkbar schlechteste; sie konnten
jederzeit von der Giitsherrschaft abgesetzt
lind mit imgemessenen Frondiensten belastet
werden, üeberhanpt wurden sie als leiden-
des Inventar des Rittergutes angesehen,
dessen bestmögliche Ausnutzung in keiner
"Weise verhindert werden durfte. Im üb-
rigen war die gutsherrliche Verfassung
organisch von der preussischen nicht ver-
schieden.
Einen völligen Gegensatz zu dieser ost-
deutschen Gutsherrschaft bildete die in
Südwestdeutschland allgemein herrschende
fnindherrliche Yerfassmig. Wenn auch die
enntnis der bäuerlichen Verhältnisse Süd-
und Mitteldeutschlands zu Ende des 18.
Jahrhunderts noch unvollständig ist, so lässt
sich der altertümlich gnmdherrliche Cha-
rakter der ländlichen Verfassung in den
meisten Gegenden mit Sicherheit annehmen.
Unter altertümlich grundherrlicher Ver-
fassung sind im Gegensatz zur neueren nord-
westdeutschen Grundherrscliaft solche gnmd-
herrliche Verhältnisse zu verstehen, welche
die Vei*fiigungsfreiheit des Bauern über
sein Gut weniger als die niedersächsischen
und westfälischen Besitzrechte beschränkten.
So konnte er — freilich meistens von
lokalem Herkommen geleitet — Dispositionen
über die Erbfolge treffen. Nicht selten w^ar
ihm Veräusserung oder Belastung des Gutes
gestattet; ja so^ der Teilung oder Ver-
äusserung von Teilen wurden häufig nur
geringe Hindernisse in den Weg gelegt.
Der Begriff des unteilbaren Bauerngutes, an
dem der Bauer und seine Familie ein erb-
liches Nutzungsrecht hatten, verschwindet,
sobald wir die Territorien mit vorwiegend
sächsischen Stammeseigentümlichkeiten ver-
lassen. Erst in Südostdeutschland, im Süd-
osten Württembergs und in Altbayem finden
sich wieder ähnliche Institutionen. War
auch das thatsächliche Verfügungsrecht des
nordwestdeutschen Grundherrn über das
Meiergut durch landespolizeiliche Verord-
nungen fast ebenso seiir beschränkt wie
das des süd- und mitteldeutschen Obereigen-
tümers, so hatte er doch rechtlich sein
ursprüngliches Eigentum afn Gute besser
bewahrt.
Der Meier Niedersachsens erhielt bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts von der herrschen-
den Rechtsanschauung nur ein erbliches
Pachtrecht ohne dingliche Wirkung zuge-
billigt.
Im Zusammenhang damit stand, dass das
Aequivalent für die Gutsnutzung, mochte es
nun in Meierzins und Diensten wie in
Niedersachsen oder in ungewissen Gefällen
wie in Westfalen bestehen, trotz der (erst
im 18. Jahrhundert erfolgten) Steigerungs-
verbote in weitaus angemessenerem Verhält-
nis zum thatsächlich vorhandenen Gutswerte
stand als in Süd- und Mitteldeutschland,
wo Zins und Gilt vielfach nur den Charakter
der Rekognitionsgebühr trugen.
Jedoch soU damit nicht gesagt sein, dass
der süd- und mitteldeutsche Bauer weniger
schwer belastet gewesen sei als der nieder-
sächsische Meier. Ausser den eigentlich
grundherrlichen Lasten ruhten eine Reihe
der verschiedenartigsten Verpflichtungen als
Reallasten auf dem Bauerngute. Soge-
nannte Gi-undzinsen , vogteiliche Abgaben,
Zehnten, alte Leibeigenschaftsgefälle und
gerichts- und grundherrliche Dienste Hessen
auch ihn selten seines Lebens froh werden.
Nur das alte, in Nordwestdeutschland ziem-
lich klare Verhältnis zwischen Grundherr
und Meier hatte sich hier %delfach verdunkelt,
und die eigentlich grundherrlichen Abgaben
waren vor den übrigen als Reallasten des
Gutes bestehenden Leistungsverpflichtungen
in den Hintergrund getreten.
Aus der verwirrenden Fülle süd- und
mitteldeutscher Besitzrechte sind als die
wichtigsten Arten ausser dem in Masse vor-
handenen zinspflichtigen Eigentum der
bäuerliche Lehnsbesitz, das oft nach Analogie
der Emphyteuse konstruierte Erbzinsrecht
und endlich die mannigfaltigen hofrecht-
lichen, nach alten Weistümern geregelten
Besitzrechte hervorzuheben.
Bei den drei letztgenannten Besitzarten .
hatte der Bauer nach der Theorie vom ge-
teilten Eigentum das dominium utile und
weitgehende Nutzungs- und Belastungs-
befugnisse. Die Erbfolge fand entweder
nach lokalen Rechtssätzen, Gewohnheit oder
nach Disposition des Besitzers statt.
Die Veräusserung des ganzen Gutes war
einer Anzeigepflicht unterworfen, zur Tei-
lung oder Veräusserung von Stücken war
in der Regel gutsherrlicher Konsens er-
forderlich. In Thüringen und Oberhesseu
Immen unter dem Namen Lassbesitz und
Landsiedelleihe zwei dem Meierrechte nicht
un^nliche Besitzformen vor. Im Süden
gab es einige unerbliche Besitzrechte, wie
das schwäbische Schupf- und Falllehn und
die bayerischen Freistifte, Neustifte und
Leibgedinge. Doch scheint auch bei diesen
Besitzverhäitnissen die Vererbimg faktisch
die Regel gewesen zu sein. In den Ländern
fränkischen Rechts hatte die beim Erbgang
übliche Naturalteilung des ganzes Besitzes
viel zur Zersetzung der Gnmdherrschaft
beigetragen. Die Grundherren mussten
diesem Charakterzug des Stammes gerecht
werden* sie Hessen die Teilbarkeit zu und
legten den Zins auf die einzelnen Morgen.
Auch die freie Veräusserlichkeit von Stücken
des Gutes wurde auf diese Weise ermög-
licht; die Grundherren behielten sich m
diesem Falle Umsatzgebühren vor. Das
936
Gutßherrschaft
Hintersaßsenverhältnis der Besitzer solcher
Gutstrümraer kam allmählich in Vergessen-
heit, die einzelnen Stücke wurden zins-
pflichliges Eigentum.
Im Gegensatz zu dieser hauptsächlich in
Mittel- und Südwestdeutschland, ferner in
den Rheinlanden herrschenden Güterzer-
splittenmg stand der grösste Teil der alt-
bayerischen Provinzen, besonders Ober- und
Niederbayern, die Oberpfalz, Schwaben-
Neuburg," femer der südöstlichste Teil von
Württemberg und der Schwarzwald. Hier
auf der grossen schwäbisch -bayerischen
Hochebene und in den Thälem der süd-
deutschen Mittelgebirge wurden die Bauern-
güter zusammengehalten, blieben oft Jahr-
hunderte lang in derselben Familie, und
häufig entwickelte sich wie in Niedersachsen
ein Anerbenrecht des ältesten oder jüngsten
Sohnes.
In der That war hier die grundherrliche
Verfassung der Zersplitterung zumeist wenig
günstig. Schwaben-Neuburg und der er-
wähnte Teil von Württemberg waren die
Heimat der Schupf- und Falllehen, im Süden
Bayerns waren Freistift und Leibgeding üb-
lich. Auch das in Niederbayem und der
Oberpfalz weitaus häufigere sogenannte Erb-
recht, ein emphyteutisches Besitz Verhältnis,
wirkte der Teüung entgegen. Aber im
Schwarzwalde sowohl wie in der Mehrzalil
der genannten Provinzen Bayerns und
Württembergs mochten vor allem die natür-
lichen Bedingungen der Landwii'tschaft, die
vielfach nur gr()ssere, auf ausgedelmte Vieh-
zucht begründete Betriebe zuliessen, die Er-
haltung grösserer Bauerngüter begünstigt
haben. .
In den meisten süd- und mitteldeutschen
Staaten bestand bei einem Teil der bäuer-
lichen Bevölkenmg die Leibeigen scliaft. Sie
hatte hier ül)ei'all jede tliatsächliclie, ihrem
Namen angemessene Bedcnitung verloren '
und verpflichtete den Leibeigenen lediglich ,
zu kleinen Abgaben, Mortuarien und zu ge-
ringen festgesetzten Abzugs- und I/)skaufs-
geldern.
Auf die persönliche und wirtschaftliche
Stellung der Bauern hatte die Leibeigen-
schaft keinen Einfluss mehr, sie war in dieser
Hinsicht völlig bedeutungslos geworden.
Die aus der Grundherrschaft über Bauern-
höfe entspringenden Frondienste waren selu-
unbedeutend, meist eine oder melirere Fuhren
im Jahre. Sehr häufig hatte man sie in
ein Dienstgeld verwandelt.
Der eigene Landwirtschaftsbetrieb des
Grundherrn war daher im allgemeinen
wenig entwickelt und gründete sich da, wo
er bestand, nicht auf die grundheirliche,
sondern, wie wir es schon im südlichen Han-
nover bemerkt haben, auf die gerichtsherr-
lichen Frondienste.
Da diese gerichtsherrlichen Fronen neben
Grundzinsen und Zehnten zur Zeit der Ab-
lösung die Hauptlast des süddeutschenBauem-
standes bildeten, so muss ihre Entstehung
imd Verbreitimg mit kurzen Worten geschil-
dert werden. Auch das Wesen des süd- und
mitteldeutschen Patrimonialgerichts und der
kleinen Territorialherrschaft, Welche beiden
Institutionen in einigen Zügen gewisse
Aehnlichkeit mit dem preussischen Ritter-
gute aufweisen, wird hierdurch am besten
charakterisiert werden können.
So wenig die Grundherrschaft in Süd-
imd Mitteldeutschland sich zu einem zm*
landwirtschaftlichen Eigenpro-
duktion nutzbaren Herrscliaftsrechte über
Land und Leute hatte entwickeln können,
so sehr hatte sie bei Abwesenheit jeder
kräftigen Staatsgewalt zur Bildung kleinster
staatsähnlicher Herrscliaftsbezirke AnJass ge-
geben.
Dies geschah in doppelter Weise : einer-
seits hatten der Kaiser oder grössere Landen
herren schon früh die Gerichtsbarkeit zu
Lehn gegeben oder auf andere Weise ver-
äussei-t.
Besonders die Geldnot der grossen Terri-
torialherren liatte dem Adel die Gelegenheit
geboten, an Orten, wo seine grundherrlichea
Jierechtigungen am zahlreichsten waren,
diesen wichtigsten Bestandteil der Staats-
gewalt zu erlangen. Aber auch ohne eigene
grundherrliche Berechtigimgen gelang es
dem Adel, sich solche Gerichtsbezirke zu
schaffen. Das Mittel bildete die Vogtei,
d. h. die GerichtsheiTSchaft über geistliche
Bositzimgen, welche nach Zerfall der geist-
lichen Grundherrschaft in der Regel als
Patrimonialgericht in dem Besitze des be-
treffenden Vogtes zuiückblieb. Auch hier
gab die Grundherrsehaft, freilich die eines
Dritten, Anlass ziu* Bildung des Patrimonial-
gerichts.
Viele dieser Gerichtsherrschaften wunlen
die Grundlage kleinster selbständiger Staats-
gebilde, die meisten jedoch blieben den mäch-
tigen Territorialherren unterworfen oder
wiirden von den am Ende des Mittelalters
kräftiger werdenden Ijandesstaatsgewalten
>landsässig« gemacht. So entstanden einer-
seits die vielen Reichsritter und Reichs-
gi*afen, die bis zum Beginn des 19. Jahr-
hunderts ilu*e Selbständigkeit bewahrten,
andererseits aber behielten auch die land-
sässigen Dynasten in ihren Gerichtsbezirken
eine Fülle öffentlichrechtlicher Befugnisse.
Diese HeiTschaftsrechte benutzten, reiclis-
unmittelbare wie landsässige Dynasten nicht
wie die preussischen Rittergutsbesitzer zur
Unterjochung des einzeüien Bauern, sondern
zur Beherrsc^iung der im ganzen nichtkoloni-
sierten Deutschland so wichtigen Landge-
meinde. Vor allem erlangten sie das Eigen-
Gutsherrschaft — Güterschlächterei
937
tum am Gemeindebesitz an Wald und Weide.
Ursprünglich niu: bevorzugte Nutzniesser
oder höchstens sogenannte Obereigentümer
der Allmend, wurden sie bald zu wirklichen
Eigentümern, und die Rechte der Gemeinde
wurden von dienstwilligen Juristen als Ser-
vituten konstruiert. Für die Gestattung
dieser Servitut und im Zusammenhang mit
dem alten ßechtssatze, dass der Genchts-
herr (Vogt) den Dienst der Gerichtsunter-
thanen zu beanspruchen habe, verlangten sie
den Frondienst aller Gerichtseingesessenen,
einerlei, in welchem grundherrlichen Verhält-
nis diese standen. Eine besonders drückende
Last war dieser Dienst nicht, da nirgends
hervorragende Landwirtschaftsbetriebe ent-
standen. Man brauchte den Bauer zu allen
Fuhren, Kommissionen und geringfügigem
Ackerwerk, wie man seiner bedurfte, und
allmälilich. bildeten Bedürfnis und Gewohn-
heit ein gewisses 3tlaßs heraus, das selten
überschritten wurde.
Zu einem der Gutsherrschaft ähnlichen
Herrschaftsrecht konnte die süddeutsche Ge-
richtsherrschaft, von allen anderen Momenten
abgesehen, schon deshalb sich nicht ent-
wickeln, weil dem Gerichtsherrn in der
Regel nur der kleinere Teil der unzähl-
baren im Gerichtsbezirk vorhandenen gnmd-
herrlichen Berechtigungen zustand. Der
Umstand, dass eine Reihe fremder Grund-
herren sich zwischen Bauer und Geiichts-
herrn schob, hat diesem die Möglichkeit ge-
nommen, Gutsherr seiner gerichtsunter-
thänigen Bauern zu werden.
Diese Verhältnisse scheinen in Süd-
deutschland allgemein verbreitet gewesen
zu sein, und die Anfänge der Allmendusur-
pation finden sich schon in den 12 Artikeln
der Odenwälder Bauern gekennzeichnet.
Wie man leicht sieht, konnte von einer
grösseren wirtschaftlichen Bedeutung der
Gnmdherrschaft nur in einzelnen Gegenden
Süd- und Mitteldeutschlands die Rede sein.
Meistens war sie zu einem Komplex unver-
änderlicher Rentberechtigungen geworden.
Für die Schaffung ländlicher Abhängigkeits-
verhältnisse hatten hier hauptsächlich die
kleinste Territorialstaatsgewalt und die Ge-
richtsherrschaft, gewirkt, ohne däss beide je-
mals eine gleiche wirtschaftliche Bedeutung
wie die Griuidherrschaft im Nordwesten imd
die Gutsherrschaft im Nordosten Deutsch-
lands gewonnen hätten.
Vgl. den Art. Bauernbefreiung,
oben Bd. II S. 343 ff.
Litteratnr: Allgemeines. Die Vererbung des
lündlichen Grundbesitzes im Königreich Preussen.
Im Aujtrage des Kgl. Ministeriums für Land-
wirtschaft, Domänen und Forsten, herausgegeben
von Prof. Dr. M, Sering, Berlin 1897, soweit
erschienen. — C. «/. Fu<;h8f Die Epochen der
deutschen Agrargeschichte und Agrarpolitik,
Jena 1898. — CJf. v. Below, Territorium und
Stadt, München und Leipzig 1900, Historische
Bibliothek Bd. XL
Gutsherrschaft. G, F, Knapp, Die
Bauernbefreiung und der Ursprung der Land-
arbeiter in den älteren Teilen Preussens, Leipzig
1887, 2 Bde. — Derselbe , Die Landarbeiter
in Knechtschaft und Freiheit, Leipzig 1891. —
Derselbe, Grundherrschaft und Rittergut, Leip-
zig 1897. — Orosaniann, Die gutsherrlich-
bäuerlichen Rechtsverhältnisse vom 16. bis zum
18. Jahrh., Leipzig 1890 (Schmollers Forschungen
IX, 4)' — C, «7". Fuchs, Der Untergang des
BauerTispandes etc. in Neuvorpommern, Strassburg
1888. — Q. Haussen, Die Aufhebung der
Leibeigenschaft in Schleswig und Holstein, St.
Petersbtirg 1861. — Ha/un, Bauer und GutS"
herr in Kursachsen, Strassburg 1892. — A,
KraatZf Bauerngut und Frondienste in Anhalt
vom 16. bis zum 19. Jahrh., Jena 1898. — JK.
Orünberg, Die Bauernbefreiung in Böhmen,
Mähren und Schlesien, Leipzig 1893 — 94, 2 Bde.
Grundherrschaft. Stüve, Lasten des
Grundeigentums ete., 1830. — Wittich, Die
Grundherrscfiaft in Nordwestdeutschland, Leipzig
1896. — JB. Allmers, Die Unfreiheit der
Friesen, Stuttgart 1896.
Süd- und westdeutsche Grund- und
Gerichtsherrschaft. Rheinland: E,
Gothein, Agrarpolitische Wanderungen im
Rheinland (Festgabe für Knies ed. 0. v. Bocnigk).
— Wittich, Beitrag zum Verständnis der länd-
lichen Verfassung Hessens im 18. Jahrhundert,
Quartalblätter des historischen Vereins für das
Grossherzogtum Hessen, Heft V von 189^. —
Liantprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im
Mittelalter, 3 Bde., Leipzig 1886.
Bayern: Fick' Brentano, Die bäuerliche
Erbfolge im rechtsrheinischen Bayern, Stuttgart
1895. — G. Hausstnann, Die Grundcnüastung
in Bayern, Leipzig 1892.
Württemberg: Th, Knapp, Das ritter-
schaftliche Dorf Hauerheim in Schwaben (Wilrttem-
bergische Vi^teljahrshefte 1896. Heft 1 und 2).
Baden: Theodor Ludwig, Der badische
Bauer im 18. Jahrhundert, Strassburg 1896.
Lothringen: JP. Darmsta^edter, Die
Befreiung der Leibeigenen in Savoyen, der
Schweiz und Lothringen, Strassburg 1897.
Elsas s: Schmidt , Les seigneurs , les
paysans et la propriet^ rurale en Alsace 1897.
W. Wittich,
Gflterschlächterei.
Das gewerbsmässige Aufkaufen von Land-
gütern, um sie in Parzellen zu teilen und
mit Gewinn zu verkaufen, bezeichnet mau
als »Güterschlächterei« oder »Hofmetzgerei«.
Wo durch gesetzliche Beschränkungen
der freien Teilbarkeit oder durch Sitte und
Gewohnheit im Erbgange ein vorhandenes
Bedürfnis nach kleinen Besitzesstücken bis-
her nicht befriedigt werden konnte imd wo
die Gnmdbesitzer weder die nötige Sach-
kenntnis noch die Lust dazu haben, die
Parzellierung ihi*er Hufen selbst vorzunehmen.
^38
Gütersclüächterei
oder wo es ihnen an dem nötigen Kapital
fehlt, um die zu veräussernden Teilstücke
hj^otheken- und lastenfrei zu machen, da
kann die Thätigkeit des Güterschlächters
eine volkswirtschaftlich vollauf berechtigte
und nützliche sein. Der hohe Gewinn, den
sie abzuwerfen pflegt, würde bei sonst ge-
sunden volkswirtschaftlichen Verhältnissen
nur beweisen, wie gross das Bedürfnis nach
einer Aufteilung gewesen ist, und könnte
nicht als Beleg dafür dienen, dass eine
wucherische Ausbeutung vorliegt. Denn im
allgemeinen kann eine Parzelle höher be-
zahlt werden als ein grösserer Landkomplex,
und wo diese Teilstücke in den Händen
einer ländlichen oder städtischen Arbeiter-
bevölkerung zu Obst-, Gemüse-, und Handels-
gewächsbau benutzt werden können, wird
durch die Zerschlagimg grösserer, geschlos-
sener Güter in wirtschaftlicher, sozialer und
pohtischer Beziehung viel Gutes geschaffen
werden können. (S. d. Art. Bodenzer-
splitterung oben Bd. II S. 965ff.)
Yiel häufiger aber vnrd die Güter-
schlächterei zu einer ungesunden, nicht
wünschenswerten Bodenzersplitterung, zu
einer schädlichen Vernichtung des Mittel-
standes, zur Schaffung von Zwergwirtschaften
und zu wucherischer Ausbeutung der Land-
bevölkerung führen, die es erklärlich macht,
dass die gewerbsmässigen Güterschlächter
unter ihren Mitbürgern wenig in Achtung
stehen und die Gesetzgebung einzelner
Staaten ihrem Treiben mit Zwangsmass-
regeln entgegengetreten ist. Denn sie finden
gerade da ihr besonderes Feld der Thätig-
keit, wo Zwergwirtschaft und Kleinbetrieb
vorherrschen, wo bei einer dichtgedrängten
Bevölkerung das an sich berechtigte Streben,
Grundbesitz zu erwerben oder den vor-
handenen zu vergrössern, zu einem unge-
sunden Landhunger ausgeartet ist und die
Käufer der kleinen Besitzesstücke sich ver-
leiten lassen, Preise zu zahlen, die in gar
keinem Verhältnis zu dem wirtschaftlichen
Werte des erworbenen Bodens stehen.
Hier drängt sich der Güterschlächter an
den Bauern heran, sucht ihn durch Angebot
eines relativ hohen, den Ertragswert über-
steigenden Preises ziun Verkaiä der väter-
lichen Scholle zu verlocken, und weiss zu-
meist die Zeit richtig zu wählen, in welcher
der Besitzer durch ungünstige Konjimkturen,
diu*ch persönliches Unglüä oder durch
Familienverhältnisse zum Verkauf geneigt
oder genötigt ist. In vielen Distrikten wi«i
der Plan zur Ausschlachtung geeigneter
Bauernhöfe auch von langer Hand vorbe-
reitet. Der Besitzer wird durch Gelddar-
lehen, durch Vieh- und Warenwucher in die
Netze des Wucherers gelockt und immer
tiefer hineingezogen, bis dieser bei Gelegen-
heit die Schlinge zuzieht und den Hot zu
billigem Preise ersteht. Durch alle mög-
lichen Manipulationen werden dann die
Käufer der Parzellen zu völlig unwirtschaft-
lichen Geboten verleitet und nicht selten bei
ihnen, wenn sie die eingegangenen Ver-
pflichtungen nicht erfüllen können, das
wucherische Gebaren fortgesetzt.
In den westlichen Teüen Deutschlands
mit weitgehender Bodenzersplitterung, na-
mentlich in einzelnen Distrikten der Rhein-
provinz, Bayerns, Hessens und Elsass-Loth-
ringens waren diese Versteigerungen geradezu
zu einer Kalamität und zum öffentlichen
Skandal geworden.
In den Wirtshäusern wurde der Verkauf
vorgenommen, durch unentgeltliche Verab-
folgung von Speisen und geistigen Ge-
tränken die Lust zum Bieten gesteigert, be-
zahlte Helfershelfer oder schon in den Händen
der Wucherer befindliche Ijeute mussten
mitbieten und die bereits trunkenen Be-
werber zu immer höheren Geboten auf-
stacheln. Scheinbar günstige Zahlungsbe-
dingungen mit kleinen Anzahlungen und
langen Abzahlungsfristen verlockten zu un-
verhältnismässigen Geboten, und wenn dann
die Erwerber nicht im stände waren, eine
der bedungenen Teilzahlungen zu entrichten,
so nahm der Wucherer, wie das in den
Versteigerungsprotokollen vorgesehen war,
das Grundstück wieder an sich und alle
bisherigen Leistungen waren verfallen^).
So wurde die Güterschlächterei mit all
ihren Auswüchsen zum Unheil für ganze
Distrikte und lieferte ganze Landstriche den
Händen der Wucherer aus.
Die Vereine zur Bekämpfung des Wuchers
haben in letzter Zeit, nachdem auch die
öffentliche Meinung aufmerksam geworden,
diesem schändlichen Gebaren vielfach nait
Erfolg entgegentreten können. Aber es ist
mit einer Verfolgung der Wucherer und
des Wuchers ^ein nicht gethan, vor allem
wird die ausgewucherle Landbevölkerung
selbst zum Widerstände erzogen werden
müssen, indem sie über das Treiben derer,
die sich an sie herandrängen, sowie über
den wahren Wert der Grundstücke aufge-
klärt wird. Gute Hypothekenverhältnisse
und zweckmässige Kreditorganisationen kön-
nen den Kampf gegen den Grundstücks-
wucher wesenüich unterstützen.
Die Gesetzgebung ist bisher nur aus-
nahmsweise gegen die Güterschlächterei
vorgegangen. Am bekanntesten ist das
württembergische G. v. 1. Juli 1853, welches
*) In einem oberbayeriachen Dorfe sollen
„innerhalb 15 Jahren sämtliche Anwesen durch
einen und denselben israeUtischen Handelsmann
zweimal gekauft, zertrümmert und verkauft
worden sem". Vergl. Sehr. d. V. f. Sorialpolitik
35, S. 97.
Güterschlächterei
939
zunächst bestimmt, dass alle Kauf- und
Pachtverträge über (jnmdstücke schriftlich
zu machen sind, dass bei Versteigerungen
von Grund und Boden ein Notar oder Ge-
meindebeamter zugegen sein muss, dass nur
im I^athaus oder ähnlichen Lokalen die Ver-
steigerung stattfinden darf und dass jede
Verabreichung von Speisen und Getränken
in oder in der Nähe des Lokales sowie
Zahlung für Mitbieten etc. bei Strafe ver-
boten sein soll. Wer Grundstücke von
wenigstens 10 Morgen Fläche erwirbt, darf
dieselben innerhalb dreier Jahre nur im ganzen
oder nicht mehr als den vierten Teil davon
verkaufen, es sei denn, dass die Kreisre-
gierung die besondere Erlaubnis zur Par-
zellierung erteilt. Der § 13 bestimmt so-
gar: »Wer die verbotene stückweise Ver-
äusserung von Gutskomplexen gewerbs-
mässig betreibt oder derselben Vorschub
leistet, soll zu 3 Monaten Gefängnis und
500 fl. bestraft werden.« Professor Heitz
betonte zwar bei den Verhandlungen des Ver-
eins für Sozialpolitik 1888, dass auch diese Be-
stimmungen umgangen würden, dass die
Kreisregierungeu ausnahmslos die Parzel-
lierungen gestattet hätten; aber trotzdem
werden die dort erlassenen gesetzlichen Be-
stimmungen, namentlich das Verbot der
Versteigerung im Wirtshaus, des Wein-
kaufs etc. sowie der Zwang, durch öffent-
liche Beamte die Versteigerung vornehmen
zu lassen, endlich das Verbot der Parzel-
lierung vor mehrjährigem Besitz die ersten
Mittel sein, die von der Gesetzgebung zu
ergreifen sind, um einer ungesunden Güter-
schlächterei entgegenzutreten.
Auf die Nachteile eines Verbotes der
Parzellierung zur Vermeid\mg der Güter-
schlächterei brauchen wir hier nicht einzu-
gehen und verweisen auf den Artikel Bo-
do nzersplitterung a. a. 0.; ein solches
Verbot könnte gar leicht an die Stelle des
ungesunden Zwergbesitzes den noch
viel ungesunderen Zustand der Zwerg-
pacht setzen.
Litteratnr: Bäuerliche Ztutände in DeuUchland,
Schriften des Vereins für Sozicdpolüik, Bd. Si,
SS u. 24. — Der Wucher auf dem Lande, Sehr,
d. Ver. f. Sotialpolitik, Bd, S5, — Verhandlungen
des Vereins f. Sonalpolüik über Wucher, 1888,
Schriften Bd. SS. — Koecher, NaiionaiÖkono'
mik des Ackerbaues §§ 146f. — Weitere LiUe-
raiur siehe beim Art. Bodenzersplitterung,
oben Bd. IT S. 975 und Bauerngut und
Bauernstand, oben Bd. II S. 4^7 j68.
H, PcMBche.
H.
Häfen
(VersvaltuDg, Polizei und Abgaben).
1. Vorbemerkung. 2. Die rechtliche Stellung
der H. 3. Bau und Verwaltung der H. 4. Hafen-
gesetze. 5. Hafenpolizei. 6. Hafenabgaben.
1. Yorbemerkang. Einen Hafen kann
man überhaupt jeden für Schiffe zugäng-
lichen Platz nennen, welcher, einen guten
Ankergrund darbietend, durch seine Um-
gebung Schutz gegen Wind und Sturm
gewährt, mit anderen Worten, wo unter
Verhältnissen, die das Vornehmen oder
die Fortsetzung der Reise eines Schiffes
verhindern, eine gesicherte Lage erhalten
werden kann. Im eigentlichen Sinne des
W^ortes versteht man jedoch unter Hafen
ein solches von der Natur geschaffenes und
durch Menschenhand verbessertes oder ganz
künstlich hergestelltes Wasserbecken, wo
durch vorgenommene Anstalten verschiedener
Art der sichere Ein- und Ausgang der
Schiffe ermöglicht und ihre Vertauimg an
Land und Bewegung innerhalb des Platzes
erleichtert wird, wo ferner für eine leichte
und bequeme Personenverbindung zwischen
Schiff und Land und bequeme und schnelle
Behandlung der Ladungen der Schiffe bei
Ein- und Ausfuhi' gesorgt ist und endlich
auch Gelegenheit zu Bau, Reparatiir und
Ausriistung der Schiffe sowie zu Auflegen
und Aufbewahrung der zu löschenden und
zu ladenden Güter vorhanden ist. — Unter
den öffentlichen Verkehrsanstalten nehmen !
die Häfen einen besonders hervorragenden
Platz ein. Als Stationen für die Schiffahrt
imd Endpunkte der grossen Verkehrswege
im Lande vermitteln dieselben einen erheb-
lichen Teil des Warenaustausches und Ver-
kehrs mit In- und Ausland. Denjenigen
Ländern, welche für ihre Verbindungen mit
dem Auslande allein oder hauptsäclilich auf
die Schiffalirt angewiesen sind, werden sie
gewissermassen Pforten der ganzen oder
wesentlichsten Ein- und Ausfuhi-. — Je nach
dem Gebrauche und den besonderen Ein-
richtungen unterscheidet man Handelshäfen,
Kriegshäfen, Winter- imd Nothäfen sowie
Quarantänehäfen. — Für den Transit- oder
Zwischenhandel besonders geeignet ist der
Freihafen, d. h. ein Hafenplatz, welcher er-
klärt ist, ausserlialb der Zollgrenze zu liegen
und infolgedessen von der Zollbehörde in aUen
Hinsichten als Ausland betrachtet wird. (Vgl.
d. Art. Freihäfen oben Bd. III S. 1244ff.)
2. Die rechtliche SteUung der H. Die
Buchten und Einschnitte des Meeres in den
Küsten eines Staates bilden gleich ^^^e die
grösseren Ströme in ihrem unteren Wasser-
laufe einen Teü des Territoriums dieses
Staates, dessen Eigengewässer. Dieselben
sind nach übereinstimmenden Landesgesetz-
gebungen Staatseigentum, stehen aber als
öffentliche Gewässer zu freier allgemeiner
Benutzung der Staatsangehörigen.
Der Teil des offenen Meeres, welcher
dem Festlande zunächst und ausserhalb der
genannten Eigengewässer liegt, gehört dem
Küstenstaate nicht, sondern ist ein freies
Bewegungsgebiet. Dieses Küstengewässer
wird aber nach allgemein erkannter Staaten-
praxis dem angrenzenden Staate auf eine
gewisse Strecke hinaus zugerechnet. Die
Grenze, bis an welche der Küstenstaat seine
Autorität also geltend machen kann, (die
Seegrenze) ist doch hier nicht ein- für alle-
mal zu fixieren. Nach früheren völkerrecht-
lichen Nonnen sollte diese Grenze so weit
liinaus liegen, als das Meer durch Kriegs-
mittel von der Küste aus beheiTScht werden
konnte. Die gegenwärtige juristische Auf-
fassung macht die Grenze abhängig von der
Pflicht des betreffenden Staates, die wirt-
schaftlichen Literessen seiner Angehörigen
und seine eigenen Verwaltungsinteresseu zu
wahren. Dieses Gewässer erstreckt sich
also so weit hinaus, als der Staat es für not-
wendig erachtet, durch Rechts- und Ver-
waltungsvorschriften die wirtschaftliche
Thätigkeit zur See seiner Angehörigen zu
Häfen
941
ordnen und zu schützen (Fischerei, Küsten-
schiffahrt) oder seine eigenen über den mari-
timen Verkehr sich erstreckenden Yer-
waJtungseinrichtungen zu regeln (Zoll-, Lot-
sen-, Quarantänewesen u. s. w.). (Vgl. d. Art.
Gewässer oben Bd. IV S. 348 ff.) —Der
Strand dieses Gewässers d. h. derjenige Strich
des Landes, den das Meer je nach Flut und
Ebbe abwechselnd bespült imd trocken lässt,
ist nach nationaler Gesetzgebung Staatseigen-
tum.
Dasselbe gilt für die in den obenerwälmten
Gewässern sowie in den öffentlichen, für die
freie allgemeine Schiffahrt eröffneten Strömen
hergestellten Hafenanlagen und dazu ge-
hörenden Reeden, und hierbei macht es prin-
cipiell keinen unterschied aus, ob die Hafen-
amage mit Staats- oder Privatmitteln —
letzteres ist übrigens nur ausnahmsweise
der Fall — ausgeführt worden ist (L. c).
Was das Eigentumsrecht und die Kom-
petenz des Staates über die Häfen betrifft,
ist folgendes aus den einzelnen Gesetz-
gebungen zu entnehmen.
Das preussische allgemeine Landrecht
(II, Tit. 15, § 80) enthält nur den Satz, dass
die Häfen und Meeresufer Eigentum des
Staates sind. Pläne zu Nenanlagen und zu
Aenderungen der Häfen unterliegen höherer
Bestätigung. — Das französische Gesetz er-
klärt den bei Ebbe und Flut vom Meere ab-
und zugedeckten Teil des Meeresufers, die See-
und Flusshäfen, Reeden samt segel- und flöss-
baren Ströme als Staatseigentum (dependances
du domaine public) (Code Nap. Art. 538). —
In Italien gehören nach dem Civilgesetze zu
den Domänengütem des Staates das Meeresufer,
Häfen, Buchten, Seeküste, alle Bauten in den
Häfen, d. h. Molen, Dämme, Wellenbrecher,
Kanäle, Feuertürme n. s. w. und femer segel-
bare und für Transport geeignete Flüsse.
Nicht allein die immer bedeckte Wasserlage,
sondern auch das Feld zwischen dem höchsten
und niedrigsten Wasserstand ist Staatseigen-
tum. — In Spanien ist Staatseigentum zum
öffentlichen Gebrauch (dominio nacional y uso
publico) das Gebiet der Meeresküste, welches
bei Ebbe und Flut blossgelegt und bedeckt
oder bei Sturm von den Wellen berührt wird,
die Flussufer, soweit die Flüsse schiffbar sind
oder die Einwirkung der Hebung oder Senkung
des Meerwassers erfahren (zona maritime
terreatre), femer das Wasser in der ganzen,
nach dem Völkerrecht geltenden Ausdehnung
nebst den innerhalb dieses Gebietes befindlichen
Beeden, Häfen und anderen Schutzplätzen, wo-
von die Schiffahrt Vorteil ziehen kann (zona
maritimo). Als Häfen werden alle durch ihre
natürliche Lage und durch zweckmässige An-
lagen mehr oder weniger g^chUtzten Plätze an
der Küste angesehen, wo ein geordneter Schiffs-
verkehr stattfindet, und ebenso haben die Flnss-
mündungen den Charakter der Häfen, so weit
als der Strom vom Steigen und Fallen des
Meeres beeinflusst wird, oder, wenn dies nicht
der Fall ist, so weit als das Meerwasser bei
gewöhnlichen Stürmen das Wasser des Flusses
zu beunruhigen vermag (G. v. 7. Mai 1880). —
In England darf keine Hafen-, Dock- oder
Pieranlage oder irgend ein Teil davon, auch
keine in Verbindung damit stehende Anlage
auf einem Teil der Meeresküste oder in einem
Meerbusen, Bucht oder Arm des Meeres oder
in einem darin ausmündenden segelbaren
Flusse so weit hinauf, als das Hochwasser
merkbar ist, ohne staatliche Genehmigung her-
gestellt werden. Baupläne sowie etwaige Aen-
derangen darin müssen in derselben Weise ge-
nehmigt werden (10 Vict. c. 27). — In
Dänemark (G. v. 26. Mai 1868) und in Nor-
wegen (G. V. 10. Juli 1894) können Häfen
auch nicht hergestellt oder verändert werden
ohne staatliche Erlaubnis. — Dasselbe gilt auch
in Schweden, wo keine Hafenanlage und
keine die Veränderung eines Hafens bewirkende
Massregeln irgend welcher Art vorgenommen
werden dürfen ohne Einwilligung der königlichen
Lotsenbehörde, welcher die Oberaufsicht über
die Fahrwasser und Häfen — Kriegjshäfen aus-
genommen — übertragen worden ist (König-
licher Eriass vom 18. Mai 1878).
Nach vöIkeiTechtlichen Grundsätzen ste-
hen die Häfen auch fremden Staatsangehörigen
offen. Durch Staatsverträge werden öfters
die fremden Schiffe hinsichtlich der Ent-
richtung der Abgaben den nationalen gleich-
gestellt.
3. Ban und Yerwaltnng der H. In
den meisten Ländern ist der Staat un-
mittelbar thätig riicksichtlich des Baues
und der Verwaltung der Häfen. Alles, was
zu deren Anlage, Erhaltung und Betriebe
gehört, wird dann ausschliesslich durch seine
eigenen Organe ausgeführt (Staatshäfen). In
anderen Ländern überlässt der Staat die
Herstellung und Verwaltimg der Häfen ganz
oder teilweise den Gemeinden in Selbstver-
waltung oder durch zu diesem Zwecke
besonders eingesetzte Kommissionen, deren
Verwaltung vom Staate kontrolliert wird.
Die zum Bau und zur Erhaltung der
Häfen und zu der Herstellung und Erhaltung
der besonderen Anstalten und Bequemlich-
keiten für den Hafenverkehr erforaerlichen
Mittel werden auf verschiedenen Wegen
aufgebracht. Sie bestehen teils in Zu-
wendungen (in verschiedener Weise geregelt)
seitens des Staates und der Kommunalver-
bände, teils im Ertrage der Abgaben, welche
von den in den Hafen einlaufenden Schiffen
und — was seltener der Fall ist — von den
im Hafen gelöschten und geladenen Waren
erhoben werden (Hafenabgaben in eigent-
lichem Sinne), teils in Gebühren für die
Benutzung der Einrichtungen, die für ge-
wisse Waren oder unter besonderen Ver-
hältnissen erforderlich sind oder bei Inan-
spruchnahme besonderer Hilfsleistungen vor-
kommen (z. B. bei Vertauung, Verholung,
Ballastarbeiten, Benutzimg der Hebevor-
richtungen, Dm'chfahren von Brücken etc.),
ferner Mieten für Lagerplätze im Freien
942
Häfen
oder Lagerungen in Speichern und Schuppen,
für Transporte auf dem Quai- und Hafen-
geleise u. 8. w.
Nach der deutschen Reichsverfassnng
SArt. ö4) bilden die Kauffahrteischiffe aller
Bundesstaaten eine einheitliche Handelsmarinei
hinsichtlich welcher gewisse allgemeine seerecht-
liche und reglementarische Vorschriften erlassen
sind, und gleichfalls hat sich die Reichsregie-
rung die Aufsicht über und die Gesetzgebung
betreffend die Schiffahrt auf den für mehrere
Staaten gemeinsamen Wasserstrassen Torhehai-
ten. Das Hafenwesen aber hildet keine für das
Reich gemeinsame Angelegenheit. Infolge-
dessen sind die einzelnen deutschen Staaten in
ihrer Gesetzgebung auf diesem Gebiete völlig
unabhängig. Die Häfen der Hansestädte
werden als Staatseigentum verwaltet und die
Arbeitskosten von der Staatskasse bestritten.
In Hamburg liegt die Aufsicht Über Hafen-
bau und Baggerwesen einer Abteilung der Bau-
deputation ob) während die Aufsicht über den
Hafen im übrigen und die Bewegung innerhalb
desselben der Deputation für Iiandel und
Schiffahrt zukommt. Hierher gehörende Ge-
schäfte werden in Bremen mit etwa derselben
Zuständigkeit von der Baudeputation und der
Deputation für Handel und Eisenbahnen ge-
handhabt. Für Bremerhaven ist ein besonderes
der letztgenannten Deputation untergeordnetes
Hafenamt thätig. In Lübeck ist die Aufsicht
über das Hafenwesen zwischen der Baudepu-
tation und der Polizeibehörde geteilt. Was die
preussischen Häfen angeht, so werden
gewöhnlich dort die Arbeiten besorgt und die
Verwaltung geleitet von besonderen, unter Auf-
sicht der Magistrate stehenden Kommissionen,
die verschiedene Benennungen führen, oder von
den Baukommissionen der §tä4te (Stettin : Bau-
deputation ; Kiel : Hafenkommission ; Flensburg :
Hafen- und Brückenkommission etc.). In Swine-
münde (Staatshafen) fungiert eine königliche
Schiffahrtskommission als Lokalbehörde, in
Königsberg eine königliche Hafenpolizeibehörde.
Die Arbeitskosten werden aus den Hafenein-
nahmen resp. aus städtischen Mittelu bestritten.
— In Mecklenburg beschäftigt sich die
Landesregierung nur ausnahmsweise mit den
Hafenangelegenheiten, welche von Lokalbe-
hörden geführt werden (Rostock: Bauamt;
Wismar: Hafendepartement). — Die Häfen in
Dänemark teilen sich in Staat«häfen (4), den
Hafen von Kopenhagen, der vom Staate ver-
waltet wird, während die Stadt mitunter beim
Ausführen grosserer Arbeitsuntemehmungen
mitwirkt, und die Provinzhäfen, deren Bau und
Verwaltung von Gemeindeausschüssen (Havneud-
valg) besorgt werden, stets unter Kontrolle des
Ministeriums des Innern. Die nächste Leitung
des Hafenwesens in Schweden ist bald be-
sonderen Kommissionen (hamnstyr eiser, hamn-
direktioner), bald dem allgemeinen vollziehenden
Organe der Gemeinden (in den Städten : drätsel-
kammaren) überlassen, deren Verwaltung jedoch
keiner näheren Kontrolle seitens des Staates
unterliegt. — Norwegen. Die Oberaufsicht
über das Hafenwesen und was damit in Ver-
bindung steht, ist einem zum Departement der
öffentlichen Arbeiten gehörenden Beamten
(Havnedirektor) übertragen. Die Verwaltung
der kleineren Hafenplätze kommt dem Staate
allein zu, aber den Städten ist ein gewisses
Verfügungsrecht bezüglich der Verwaltung
der Häfen eingeräumt. In jeder Kaufstadt,
zu welcher eine oder mehrere Ladestellen ge-
hören können, soll eine Hafenkommission
(Havnestyre) vorhanden sein, deren Zusam-
mensetzung überall dieselbe und die in ihrer
fesamten Thätigkeit kontrolliert ist (G. v. 10.
Uli 1894). — In Grossbritannien tritt
der Staat nicht aktiv auf bei Anlagen und
Erweiterungen der Häfen, beschliesst aber, was
ausgeführt werden soU, und wacht darüber,
dass Abweichungen von ergangenen Bestim-
mungen in dieser Hinsicht nicht geschehen.
Die Berechtigung zum Ausführen der Arbeiten
wird durch besonderes Gesetz (special act) ge-
geben und die Leitung der Arbeiten einer be-
sonderen Kommission (Harbour Commissioners,
H. trnstees) überlassen (10 Vict. cap. 27). —
Die Niederlande. Die Oberaufsicht über die
Wasserstrassen kommt dem „Waterstaate" zu.
Daran beteiligen sich aber die Provinzräte (pro-
vinziale Staaten) und unter ihrer Kontrolle die
Gemeinde, je nachdem es sich handelt um Kom-
munikationen von allgemeinem oder nur von
lokalem Interesse. Mit Ausnahme der Staats-
häfen (3) werden die Kosten der Häfen von den
Gemeinden getragen, ohne dass dies jedoch die
Mitwirkung des Staates zu Unternehmungen,
die ein aUgemeines oder Staatsinteresse haben,
ausschliesst. Da die Häfen indessen grössten-
teils an Flüssen oder Kanälen, über welche der
Staat Hoheitsrechte hat, liefen, umfasst das den
Gemeinden zukommende Verwaltungsrecht im
aUgemeinen nicht das ganze Wassergebiet der
Häfen. — Belgien. AUe Arbeiten, die Ver^
änderung der Meeresküste oder Flussufer be-
wirken, also Anlagen von Aussenhäfen, Qnai-
strecknngen die Flüsse entlang, werden durch
den Staat ausgeführt entweder auf eigene Kosten
oder nach Vereinbarung mit den betreffenden
Gemeinden über Verteilung der Kosten. Den
letzteren kommt dagegen Anlage und Unter-
haltung der Bassins innerhalb der äusseren Hafen-
werke, Docks, aUe Einrichtungen und Anstalten
für Löschen und Laden etc. zu, ebenso mehr
oder weniger die Verwaltungsobliegenheiten.
Pläne und Kostenanschläge werden von Staats-
ingenieuren (Ingenieurs des ponts et chaussees)
ausgearbeitet und durch das Ministerium der
öffentlichen Arbeiten weiter behandelt. —
Frankreich. Die Ausführung aller Hafen-
bauarbeiten wird ebenfalls bewirkt durch Staats-
ingenieure (Ingenieurs des ponts et chaussees),
deren Dienst auch Vertiefung und Unterhaltung
der Häfen, Aufführung von Bauten zum Be-
darfe des Verkehrs etc. nebst Ueberwachung
der Bewegung in den Häfen umfasst. Nicht
selten nehmen die Städte oder Handelskammern
oder beide in solidarischer Gemeinschaft an den
Ausgaben für die Hafenanlagen etc. teil mittelst
Geldbeiträgen oder Vorschüssen, welche letztere
teilweise in bestimmten Annuitäten, teilweise
mit dem Ertrage einer besonderen Abgabe zu-
rückerstattet werden, die so lange dem Hafen-
verkehre auferlegt werden darf, als für diesen
Zweck nötig ist. Die zur Erleichterung der Aus-
und Einladung und Aufbewahrung der Waren und
dergl. erforderlichen Vorrichtungen und Bauten
gehören gewöhnlich nicht zu den auf Staats-
Häfen
943
kosten ausgeführten Arbeiten, sondern werden,
erhaltener Konzession gemäss, von den Handels-
kammern unter Aufsicht der Staatsingenieure
ausgeführt. Nach Ablauf der Konzession, fallen
1'ene Anstalten und Bauten dem Staate zu. —
Portugal, Sowohl in niaterieller als tech-
nischer Hinsicht sorgt der Staat für die Häfen,
indem er allein alle Ausgaben für Neuanlagen
und Unterhaltung bestreitet, welche entweder
vom Staate selbst oder unter Aufsicht von
Staatsingenieuren bewerkstelligt werden. — Die
Häfen Spaniens teilen sich in zwei Haupt-
klassen, von denen die eine, die in zwei Unter-
abteilungen zerfällt, Häfen von allgemeinem In-
teresse (wozu diejenigen, welche mehreren Pro-
vinzen nützen und in unmittelbarer Verbindung
mit den bedeutendsten Froduktionscentren des
Landes stehen, gerechnet werden) samt Not-
häfen in sich fasst; die andere Häfen, welche
hauptsächlich dem Lokalverkehre dienen. Ar-
beiten in den Häfen 1. Klasse werden vom
Staate ausgeführt, mitunter mit Provinzial- oder
Gemeindezuschüssen. Die Leitung dieser Ar-
beiten kommt Staatsingenieuren (mgenieros de
caminos, canales y puertos), unter Aufsicht einer
Baudirektion (Junta de obras de puerto) zu.
In Häfen 2. Klasse werden dieselben den Um-
ständen nach auch vom Staate ausgeführt, die
Kosten aber aus den Provinzial- und Gemeinde-
kassen, zuweilen unter Beihilfe des Staates, be-
stritten (G. V. 7. Mai 1880). — Die italieni-
schen Häfen sind gleichfalls in zwei Haupt-
gruppen geteilt Zu der ersten gehören die,
welche lediglich oder hauptsächlich zu Militär-
zwecken gebraucht werden, nebst wichtigeren
Schutz- und Nothäfen. Zu der anderen gehören
diejenigen, welche hauptsächlich dem Handel
zu dienen bestimmt sind. Die letzteren sind
in vier Klassen geteilt je nach ihrem Platze in
den grösseren Kommunikationslinien und ihrer
sonstigen Bedeutung für das Land im ganzen
oder für grössere oder kleinere Landesteile, je
nach der Grösse des durch sie vermittelten
Warenumsatzes. Unkosten aller Art für die
Häfen der 1. Abteilung werden der Kegel nach
vom Staate bestritten, werden aber, was die der
2. Abteilung betrifft, verteilt zwischen dem
Staate einerseits und den Provinzen und Ge-
meinden andererseits, wobei die Staatszuschüsse
für die verschiedenen Klassen sich auf 80, 70
und 60, 40 und 30 % belaufen. Die Gemeinden
können das Becht erhalten, als Beitrag zu den
ausserordentlichen Arbeiten eine gewisse Ab-
fabe vom Schiffsverkehre zu erheben (G. v. 16.
Uli 1884). — Oesterreich-Ungarn. Der
Staat trägt die Kosten für alle zum Schutz und
Befördern der maritimen Schiffahrt dienenden
Anlagen und Einrichtungen nebst den Ausgaben
für das Hafen- und Seesanitätspersonal. Die
Fürsorge und die gesamte Aufsicht über die
Handelsflotte, darunter alles, was zum Hafen-
wesen gehört, liegen zweien, dem Handels-
ministerium untergeordneten, Seebehörden ob,
die eine in Triest für das österreichisch-illyrische
Küstengebiet (k. k. Seebehörde), die andere in
Fiume für das ungarisch-kroatische Gebiet
(J. R Govemo marittimo). Die Ausführung
der Hafenarbeiten geschieht durch Staatsin-
genieure unter Aufsicht der besagten Ver-
waltungsbehörden (G. v. 19. April 1871 und
26. August 1872).
4. Hafengesetze. la mehreren Ländern
sind die für die Häfeii gemeinschaftlich an-
wendbaren Bestimmungen über die Zustän-
digkeit der Hafenbehörden, Erhaltung der
Sicherheit und Ruhe, Benutzung des Hafens
durch Schiffe, Löschen und Laden, Lagenmg
und Wegschaffen der Güter, erlaubte Arbeits-
zeit, Schadenersatz, Erlegung von Straf-
geldern etc., in einem allgemeinen Hafen-
gesetz erlassen. — Dies ist der Fall in Nor-
wegen (G. v. 10. Jidi 1894), Grossbritannien
(10 Vict. cap. 27), Frankreich (G. v. 28.
Februar 1867), Italien (G. v. 20. November
1879), Rumänien (G. v. 24. März 1879),
Oesterreich-üngarn (G. v. 14. März 1884)^
teilweise auch in Dänemark (G. v. 26. Mai
1868). Sie finden ihre Ergänzung in be-
sonderen Yeix)rdnungen (Hafenordnung,
(special act, byelaw), welche Bestimmungen
enthalten, die von lokalen Verhältnissen ab-
hängig sind, so Vorschriften über den Ge-
brauch gewisser Anstalten, Aufrechterhaltung
der Ordnung im Hafen und dergl. — In
den übrigen Ländern hat man nur Lokal-
verordnungen, die jedoch mitimter nach
einem einheitlichen System aufgestellt sind
(Dänemark). In Preussen hat der Minister
für Handel und Gewerbe Hafenordnungen
zu erlassen, welche sich über das Gebiet
einer einzelnen Provinz hinaus erstrecken,
der Oberpräsident solche, welche auf die
ganze Provinz oder auf mehr als einen Re-
gierungsbezirk sich erstrecken. Im übrigen
ist der Regierungspräsident zuständig. Auch
die mit der Hafenverwaltung beauftragten,
dem Minister unmittelbar unterstellten Be-
hörden können Hafenordnungen erlassen
(G. über die allg. Landesverwaltung v. 30.
Juli 1883, § 136, 138, 145).
5. Haf enpoUzei. Die Hafenpolizei, welche
nur ausnahmsweise den Gemeindebehörden
untergeordnet ist, hat die Erhaltung der
Hafenwerke zu überwachen, die Ordnung,
Sicherheit und Bequemlichkeit des Verkehrs
innerhalb des Landes- und Wassergebietes
des Hafens zu wahren imd diesen Verkehr
in verschiedenen Richtungen hin zu bedienen.
Oft ist die Aufsicht über das Befolgen der
Gesetze und Vorschriften hinsichtlich der
Schiffalirt damit verbimden. In einigen
Ländern umfasst die Hafenpolizei auch die
Handliabung eines besonderen Zweiges der
Gesundheitspolizei (Seesanitäts- und Quaran-
täneanstalten). Die Grenzen des Hafen-
reviers bezeichnen das Wassergebiet, über
welches die Hafeupolizei ihre Tliätigkeit aus-
zuüben hat.
Die Ausübung der Hafeupolizei kommt in
mehreren Ländern denselben Behörden zu,
welche die Vorschriften über Beaufsichtigung
des staatlichen See- und Küstengebiets und
über die Handelsmarine aufrecht zu erhalten
haben. In Itali en ist hierfür ein Beamt.enkorps
eingerichtet mit demMarineminister als höchstem
944
Häfen
Chef. Die Kttstenstrecke ist in 23 Bezirke
(compartimenti marittimi), eingeteilt mit je
einem Hauptorte, wo ein Hafenkapitän (ca^itano
di porto) angestellt ist. Die Bezirke zerfallen
in 62 Kreise (circondari marittimi), jeder mit
einem Hauptplatze, Sitz eines dem Hafenkapitän
subordinierten Hafenbeamten (uffiziale di porto).
In anderen wichtigen Häfen sind Unterbeamte
(uffiziali di porti locali) den Kreisbeamten unter-
stellt. An jedem kleineren Hafenplatze wird
derselbe von einem Bevollmächtigten (deligato
di porto) vertreten. Das gesamte Bezirksper-
sonal bildet eine Korpsabteilun^ (capitaneria
di porto). Ein Viertel der Stellen, die für
jeden Grad in Klassen geteilt sind, ist Offizieren
der Kriegsflotte vorbehalten j die Inhaber der
übrigen werden aus der Handelsmarine ge-
wählt. Die seerechtlichen Geschäfte, welche
diese Beamten und deren Hilfsbeamten (nocchieri
u. a.) auszuführen haben, umfassen: Matriku-
lierung. Auf- und Abmusterung, Prüfungen etc.
von Seeleuten, die Ausfertigung oder Empfeh-
lung zu Befähigungszeugnissen für Schiffskapi-
täne, Schiffsbaumeister oder Schiffsmesser, Re-
gistrierung der Schiffe und Führimg der amt-
lichen Verzeichnisse über Eigentums- und andere
Rechte auf dieselben, die Besorgung von Be-
sichtigungen der Passagierschiffe und der für
längere Fahrten ausgerüsteten Schiffe, die Prü-
fung von Schiffsjournalen und Ausführung der
dadurch veranlassten Untersuchungen, die Kon-
trolle über Schiffsbau und Schiffsraessungen, die
Aufsicht über das Lotsen-, Feuer- und Signal-
wesen, Rettungswesen, Verwaltung der Stran-
dungsangelegenheiteu und Untersuchungen der
Seeunfälie, die Verwaltung des Invalidenfonds
der Handelsflotte, Aufsicht auf Grund der Vor-
schriften über die Seefischerei, die Entscheidung
von Fragen über Berechnung der Hafenabgaben
und von gewissen Streitsachen über Objekte
von geringerem Werte nebst vielerlei anderen
Gegenständen. Hierzu kommt die Ausführung
des eigentlichen Hafendienstes und die Hand-
habung der Seesanitätsdienste unter Aufsicht
des Ministeriums des Innern (G. v. 24. Oktober
1877 und 20. November 1879). — Eine ähnliche
Organisation hat Spanien aufzuweisen. Die
Küste ist hier in 3 Marinedepartements mit je
einem Chef eingeteilt. In jeder zum Departe-
ment gehörenden Provinz ist ein Marinekom-
mandant (commandante di marina) angestellt,
und ein solcher findet sich in allen grösseren
Häfen. Die Provinz ist in Kreise geteilt mit
einem Unterbeamten (ayudante) in jeder. Diese
Marinebehörden, deren Beamte der Kriegsmarine
zngehören mit Anstellung nur für 2 Jahre (die
höchsten Chargen ausgenommen), haben, ausser
den allgemeinen Schiffahrtsgeschäften, als Hafen-
kapitäne (capitan del puerto) die Ordnung in
den Häfen, was deren Wassergebiete betrifft,
zu überwachen. Die Ordnung innerhalb des
Landgebietes und die Benutzung der dortigen
Schiffahrtseinrichtungen beaufsichtigen die
Staatsingenieure mit Hilfe von Hafenaufsehern
(guarda-muellos) und den Zollbeamten. Bezüg-
lich des letztßfenannten Teiles der Häfen haben
auch die Provinzgouverneure Aufsichts- und in
besonderen Fällen Entscheidungsrecht (G. v. 7.
Mai 188()j. — Das Küstenland Portugals
ist in gleicher Weise in 3 Bezirke geteilt und
diese in 18 Kreise, jeder unter Vorsitz eines
Hafenkapitäns (capitao do porto). Drei von
ihnen sind zugleich Bezirksvorsteher, dem
Generaldirektor der Marine untergeordnet. Die
Hafenkapitäne und ihre Hilfsbeamten (patroes
mores) haben einen umfassenden Dienst. Auch
diese Beamten werden nur für eine Zeit von
3 Jahren unter den Offizieren und Unteroffizieren
der Kriegsflotte ausersehen. Auf den kleineren
Plätzen fungieren Bevollmächtigte (delegados)
(G. V. 27. Juli 1882). — Die Hafenkapitäne in
den rumänischen Häfen (capitaniu de port)
nehmen eine gleichartige Stellung ein, stehen
unter dem Minister der öffentlichen Angelegen-
heiten. — Die österr.-dalmat.-illyr. Küste
bildet 8 Hafen- und Seesanitätsbezirke (Hafen-
und Seekapitanate) mit 18 Kreisen (Hafen- u.
Seedeputationen) mit Unterabteilungen auf
weniger wichtigen Plätzen (Hafen- und See-
exposituren). Die un^ar.-kroat. Küste nm-
fasst 7 Kapitanate mit Unterabteilungen für
einige. Die Kapitanate, deren höhere, den Offi-
zieren der Kriegsflotte und Schiffskapitänen
entnommenen Beamten die Hafenkapitäne (capi-
tani di porto), Vice-Hafenkapitäne und Hafen-
leutnants (tenenti di porto) sind, stehen in
ihren gesamten ausgedehnten Dienstgeschäften
unter den k. k. Seeverwaltungen (G. v. 19. April
1871). — In den übrigen Ländern ist der Hafen-
dienst mit der staatlichen Aufsicht über das
Seewesen nicht verbunden. In Frankreich,
wo die Aufsicht über die Häfen von den dort
stationierten Staatsingenieuren geführt wird,
bilden die zur Hafenpolizei gehörenden Beamten
ein Korps von verschiedenen Graden und
Klassen. Diese Beamten, Hafeukapitäne (capi-
taines de port), Hafenleutnants (lieutenants de
port) und Hafenmeist-ern (maStres de port),
werden teils aus den Offizieren und Unter-
offizieren der Kriegsmarine, teils aus der Han-
delsflotte genommen. Sie sind dem Minister
der öffentlichen Arbeiten unterstellt, aber
zugleich verpflichtet, den Behörden, welche die
allgemeinen Schiffahrtsangelegenheiten ver-
walten, hierin behilflich zu sein (G. v. 15. Juli
ISiVl und 27. Januar 1876). — In Preussen
gehört die Hafenpolizei nicht zur Ortspolizei
(Kreisord. v. 1872 § 59), sondern zur Landes-
polizei. Sie wird gehandhabt von dem Be-
gierungspräsidenten und den ihm unterstellten
Uafenpolizeikommissionen. Ausführungsorgane
der letzteren sind die Hafenmeister. — Während
j diese in Norwegen (Hafnefoged) vom Staate an-
gestellt sind und in Grossbritannien (Harbour
master, dockmaster) den Gemeinden gegenüber
völlig selbständig stehen, sind sie, ausgenommen
bei Staatshäfen, in den Niederlanden (haven-
meester), Belgien (capitaine de port), Däne-
mark (havnefoged) und besonders in Schweden
(hamnkapten, hamnästare) in ihrer Amtsthätig-
keit von der Gemeindeverwaltung abhängig.
6. Haienab^ben. Diese Abgaben treffen
meist nur die im Hafen verkehi-enden Schiffe,
selten deren Ladungen. Sie sind Gebühren,
welche erhoben werden teils für den Schutz,
den der Hafen gewälut, teils für die Be-
nutzung der Quaianlagen. Die Abgabetarife
werden entweder dureh die Gesetzgebung
oder durch die Verw^altung festgesetzt.
Dass diese die Schiffahrt, Handel und In-
dustrie belastenden Abgaben Grenzen gehalten
Häfen
945
werden müssen, welche ihr oben angegebener
Zweck bedingt, ist natürlich und hat auch
in der Gesetzgebung Ausdruck gefunden.
So schreibt die deutsche Reichsverfassung
(Art. 54) vor, dass die Abgaben, welche in
den Seehäfen von den Seescliiffen oder deren
Ladungen für die Benutzung der Schiffahrts-
anstalten erhoben werden, die zur Unter-
haltung und gewöhnlichen Herstellung dieser
Anstalten erforderlichen Kosten nicht über-
steigen dürfen.
A. Hafenab^aben für Schiffe werden
nach sehr verschiedenen Systemen auferlegt.
Um die Forderungen der Bil%keit zu erfüllen,
müssen diese Abgaben, wie jede andere Be-
steuerung, 80 angeordnet sein, dass die Schiffe
davon möglichst gleichmässig und im Verhält-
nis zu ihrer Steuerfähigkeit getroffen werden.
Dies scheint am besten dadurch erreicht zu
werden, dass der Abgabesatz abgestuft wird
nach dem Gewinne der Handelsjj^eschäfte, wel-
che das Schiff während der Heise ausgeführt
hat, und die Schiffe gleichzeitig nach ihrer pro-
portionsden Grösse und der davon abhängigen
Konkurrenzfähigkeit in Klassen eingeteilt wer-
den. Auf verschiedenen Wegen sucht man auch
diesen Grundsatz in Anwendung zu bringen.
Einerseits glaubt man den Erwerb der Handels-
feschäfte am zuverlässigsten nach der Aus-
ehnuD^ der Beise ermitteln zu können, die
Taxe wird eine Art ZoDentarif, und die danach
klassifizierte Abgabe wird nach dem Raumgehalt
resp. der Tragfähigkeit des Schiffes festgestellt
(Liverpool: Dock tonnage rates, Harbour rates,
Wharmites; Hartlepool: Dock- and harbour dues,
und viele andere grossbritannische Häfen; die
französischen Häfen: Droit de quai*. Anderer-
seits wird die Abgabe nach dem Verhältnisse
des ein- und ausgeschifften Gütergewichts zum
Baumgehalt des Schiffes berechnet, wobei in
einem besonderen (Bestauungs-)Reglement die
der Erhebungseinheit (Eeg. ton oder cbm) ent-
sprechenden Quantität jeder Warenart ange-
geben wird. (Kopenhagen: Bolverksnen^e in
gewöhnlichen Fällen, Paelepenge ; alle dänischen
Häfen: Skibsafgift* ; die norwegischen: Laste-
og Fyraf^t*, Tonnageafgift für gewisse
Schiffe; die französischen: Droit de quai* für
besondere Schiffe; Kiel: Hafengeld). Von den
übrigen Systemen sind die folgenden zu nennen :
1. Zonentarif und Zahlung der dadurch klassi-
fizierten Abgabe nach Lasttons (die spanischen
Häfen: Impnesto de descarga*, Impnesto de
navegacion*). 2. Berechnung lediglich nach der
Menge von den geladenen oder gelöschten
Gütern (Bremerhaven : Lastgeld ; Emden : Hafen
und Kajegeld). 3. Besteuerung nach dem Kaum-
f ehalte mit Berücksichtigung, ob das Schiff
eine oder nur geringere Ladung führt (Lübeck,
Stralsund. Swinemünde, Flensburg: Hafengeld;
die schwedischen Häfen: Lastpanningar* ; die
italienischen Häfen : Tassa di ancoracfgio* u. a.) ;
oder ob die Ladung weniger wertvoller Art ist
(Hamburg: Tonnengeld*; Amsterdam: Haven-
geld). 4. Die Abgabe wird lediglich nach der
Kaumfähigkeit bestimmt (die deutschen Häfen
*) Die reinen Staatsabgaben werden durch
dieses Zeichen hervorgehoben.
Hand Wörterbach der Staats Wissenschaften. Zweite Auflage.
an der Unterweser : Feuer und Bakengeld*, und
an der Ems: Lastengeld*; Stettin: Hafengeld;
Flensburg: Tonnen- und Bakengeld; die dä-
nischen Häfen (ausser Kopenhagen): Hafneaf-
gift; die schwedischen: Fyr- och Bäkafgift*,
Hamnafgift; die norwegischen Bingepen&fe:
Tonuageaf^ft für gewisse Schiffe ; die belgischen
Häfen an der Scheide: Droit de feux*; Rotter-
dam : Havengeld, Kaaigeld* ; Ostende : Droit de
quai*. Droit de bassin ; verschiedene französische
Häfen; Droit de tonnage; die portugiesischen:
Direitos de tonelagem*; die sijanischen und
italienischen: Lokalabgaben; die österreichi-
schen etc.: Tassa portuale*). 5. Die Abgabe
wird zwar nach dem Raumgehalte, aber mit
Rücksicht auf die Länge des Aufenthaltes des
Schiffes im Hafen normiert (Bremerhaven:
Hafengeld; viele grossbritannische Häfen); oder
es ist ausser der gewöhnlichen eine besondere Ab«
ffabe zu entrichten nach der Zeit, während welcher
das Schiff Platz am Quai oder der Brücke ein-
nimmt (die meisten grossbritannischen Häfen
— nebst Zonentarif — ; Kopenhagen : Bolvaerks-
penge; die norwegischen Häfen: Bryggepenge).
6. Die Entrichtung der Abgrabe giebt das Recht
während einer bestimmten Zeitdauer zur freien
Fahrt (die schwedischen Häfen: Tonafgift; die
italienischen und Österreich-ungarischen Häfen).
7. W^rend einer Reise mit successiver Be-
rührung mehrerer Häfen wird die Abgabe nur
auf dem ersten Bestimmungshafen gefordert
[die französischen, portugiesischen, italienischen
und österreichischen Häfen). 8. Die Normalab-
gabensätze werden nur für eine gewisse An-
zahl Reisen während der Jahresfahrt berichtigt
und für die folgenden Befreiung oder bedeutenae
Ermässigung gewährt (Lübeck, Rostock, Wame-
münde: Hafengeld; die schwedischen Häfen:
Fyr- och Bäkafgift*, Lastpenningar* in be-
sonderen Fällen ; Christiania: Havnepolitiaf gift ;
Aberdeen, Leith: Rates on vessel; Antwerpen:
Droit de quai, Droit de bassin; die rumänischen
Häfen). 9. Die Abgabe schliesst auch Ver-
gütung der Aus- und Einbringung der Ladung
ein (Hamburg : Quaigebühr, Quaigeld*). 10. Ent-
richtung der Abgabe für Personendampfer nach
der Anzahl der an Bord befindlichen Fassagiere
(kleinere grossbritannische Häfen: ToUs on
passenger, Harbour rate, Transit duty; B0U7
logne, Calais, Dieppe und andere französische
Häfen: Droit de quai*; die spanischen Häfen:
Impnesto de descarga*, Impuesto de navega-
cion*) ; oder nach der Zahl der Passagierplätze
(Stettin: Hafengeld in gewöhnlichen Fällen).
11. Die Abgabe kann für einen bestimmten
Zeitraum (als Abonnement) entrichtet werden
ohne Rücksicht der Anzahl der Reisen, welche
stattfinden (Warnemünde: Armengeld; Stettin,
Kiel, Flensburg, Brake: Hafengeld; Kopen-
hagen : Bolvaerkspenge* ; die italienischen Häfen :
Tassa di ancorag^io*). — Ausserdem muss die
Schiffahrt oft beitragen zu den Kosten der
staatlichen Yorsichtsmassregeln, gegen Ein-
schleppen von ansteckenden Krankheiten. Die Ab-
gaben hierfür (Sanitätsab^ben) werden stets
nach dem Raumgehalte erhoben (die belachen
Häfen : Droit de quarantaine* ; die französischen:
Droit de reconnaissance* und Droit de Station;
die portugiesischen: Direitos sanitarios*). —
Die Abgabe für die Stationierung der Schiffe
wird gewöhnlich nach Raumgehalt und Zeit
60
IV.
946
Häfen —Haftpflicht
berechnet Tdie deutschen Häfen: Winterlao^er-
geld, Liegegeld, Hafengeld : Kopenhagen : Win-
ter- og Sommerlejeafgift : andere dänische Häfen :
Overliggelsepenge ; die schwedischen: särskild
hamnsSgift; Antwerpen: Droit supplementaire.
-^ £rsatz für Herstellnng nnd Offenhaltnng
einer Segelrinne dnrch das £is zwischen Hafen
und Meer ist entweder während einer bestimmten
Zeit des Jahres zu erlegen (einige schwedische
Häfen : Isafgift ; Amsterdam : Ijsgeld) , oder nur
ao lange die Rinne benutzt wird (Lübeck und
Stettin: £isgebühr: die norwegischen Häfen:
leafgift, Raakpenge). — Im übrigen gestalten
sich die Hafenabgaben, welche meistens dnrch
die Zollbehörde erhoben werden, verschieden
für Auslands- und Küstenfahrer, für Dampf-
und Segelschiffe, für Tourenschiffe und für
Schiffe, welche den Hafen regelmässig oder in
Beihefahrt besuchen. Dieselben werden gefor-
dert beim Ein- oder Ausgange des Sdiiffes
resp. in beiden Fällen und ist auf den meisten
Plätzen für kleinere Schiffe ermässigt (die
Grenze ist in den deutschen Häfen der Regel
nach 170 cbmj. Gleichwie nach der deutschen
Reichsverfassung (Art. 54) die Kauffahrteischiffe
sämtlicher Bundesstaaten in den Seehäfen und
auf aUen natürlichen und ktlnstlichen Wasser-
atrassen der einzelnen Bundesstaaten gleich-
massig zugelassen und behandelt werden sollen,
80 steht es auch nur dem Reiche, nicht den
einzelnen Bundesstaaten zu, auf fremde Schiffe
oder deren Ladungen andere oder höhere Ab-
gaben zu legen, als von den Schiffen der Bundes-
staaten oder deren Ladungen zu entrichten sind.
B. Hafenabgaben für Waren kommen
in den Häfen der Niederlande, Belgien, Frank-
reich, Portugal, Spanien, Italien und Oester-
reich-Ungam nicht vor. Innerhalb Deutschlands
werden solche erhoben in Stettin, Elbiug (Bohl-
werksgeld) und Altona (Kaj- und Treppengeld)
und auf etlichen anderen, weniger bedeutenden
Plätzen. In Dänemark werden sie in allen
Häfen erhoben (Vareafgift und Bropenge), in
Schweden in allen Häfen (Hamnafgift), in Nor-
wegen in den Häfen der Handelsstädte, doch nicht
als eine besondere Gebühr (ausnahmsweise auf
Fischereiprodukte in den nördlichen Bezirken),
sondern als Zuschlag zu den Zollabgaben
(Mudder- og Havnepenge, Told- oder Havne-
procentj, ferner in vielen grossbritannischen
Häfen (Rates on goods, Wharfage rates, Port
dnes on goods, Dock rates and Town dues)
und in den rumänischen. Im allgemeinen sind
die Warenabgaben auferlegt nach Art und
Gewicht, jedoch immer mit Rücksicht auf
den Wert. In Dänemark werden die Tarife
nach einem bestimmten Schema aufgestellt und
jedes 5. Jahr revidiert. Auch in Schweden sind
sie derselben Revision unterworfen, die für be-
sondere Landesteile in einer gewissen Reihen-
folge geschieht. Der der Warenabgabe in Nor-
wegen entsprechende Zuschlag zu der Zollab-
gabe wird von den Gemeinden beschlossen imd
darf 1 % nicht überschreiten. In einigen
schwedischen und in den rumänischen Häfen
wird die Abgabe nach gewissen Prozenten des
Zollsatzes erhoben. — Im; übrigen giebt es in
mehreren Häfen verschiedene andere obliga-
torische, mehr oder weniger direkt zu Handels-
und Schiffahrtszwecken bestimmte Abgaben.
Litteratar: Ausser den schon angeßihrten Ge-
setzen ist auf die Masse der Reglements und
Tarife der verschiedenen Häfen zu verweisen.
Eine die hier berührten Gegenstände näher be-
handelnde Schrift ist: A. Megn^U, Om hamn-
forraltning och afgifter i hamname (Ueber Hafen-
rertraltuvg und Hafenabgaben J, Mcdmö 1S87.
A, Regn^lL
Haftpflicht
nach dem Reichsgesetz vom 7. Juni 1871.
1. Vorbemerkung. 2. Der Rechtszustand in
Deutschland vor Erlass des Reichshaftpflicht-
gesetzes. 3. Das Reichshiüftpflichtgesetz v. 7.
VI. 1871. 4. Mängel des Reichshaftpflichtge-
setzes. 5. Das Haftpflichtgesetz nach Erlass des
Unfall Versicherungsgesetzes.
1. Vorbemerkung. Unter Haftpflicht
im allgemeinen versteht man die gesetzlich
festgestellte Yerpflichtung, für gewisse Schär
den oder Nachteile, die andere erlitten haben,
aufzukommen. Das Bürgerliche Gesetzbuch
hat die allgemeinen Normen für die Haftung,
insbesondere auch die Schadenersatzpflicht
bei vorsätzlich oder fahrlässig begangenen
unerlaubten Handlungen (§§ 823—853) auf-
gestellt und dieser Gegenstand wird in dem
Art. Schuldverhältnisse eingehend be-
handelt werden. Dabei bestehen aber noch
immer, so weit sie nicht durch die Unfall-
versicherungsgesetze ausser Wirksamkeit ge-
setzt sind, die besonderen Bestimmungen
über die Verpflichtung zum Schadenersatz
für die beim Betriebe der Eisenbahnen,
Bergwerke etc. herbeigeführten Körper-
verletzungen und Tötungen auf Grund des
Reichsgesetzes vom 7, Juni 1871 in der ihm
durch das Eänfuhnmgsgesetz zum Bürger-
lichen Gesetzbuch gegebenen Fassung. N u r
von dieser Haftpflicht ist im fol-
genden die Rede.
2. Der Rechtszustand in Dentsclüand
vor Erlass des Reichshaftpflichtgesetzes.
Die Entwickelung des Verkehrswesens imd
des grossindustriellen Betriebes in neuerer
Zeit hatte bekanntlich mannigfache Gefelu'en
für Leben und Gesundheit der Arbeiter,
Geliiifen, aber auch anderer Personen im
Gefolge gehabt. Diesen Gefahren gegenüber
erwiesen sich das gemeine Recht und die
meisten deutschen Partikularrechte hinsicht-
lich des Schadenersatzes als durchaus un-
zureichend.
Man war in ihnen von dem Grund siitz
ausgegangen, dass »für den durch Vorsatz
oder Naclilässigkeit venu-sachten Schaden
nur der unmittelbare Urheber verantwortlich
zu machen sei« (Mot. z. Ilaftpflichtg.). Dem-
nach konnte der Unternehmer zur Haftpflicht
meist nur wegen Nachlässigkeit bei Errich-
tung der Anlage, wegen Unterlassimg oder
mangelhafter Ausführung nötiger Verbesse-
HaftpfHcht
947
Hingen, wegen ungenügender Untersuchung
der- beim Betriebe zur Verwendung ge-
langenden Werkzeuge, Gerätschaften, wegen
Nachlässigkeit bei Auswahl oder Beauf-
sichtigung der Arbeiter, Gehilfen etc. etc.
herangezogen werden. Der Arbeitgeber haf-
tete somit nur bei eigenem Ver-
schulden. War der Schadenstift^sr Ver-
treter einer dritten Person, Vertreter des
Unternehmers, so kam fiir den Auftraggeber
nur die culpa in eligendo in Betracht.
Weiter ging allerdings das auch in einigen
deutschen Landesteilen geltende französische
Recht, welches in Art. 1384 des Code civil
bestimmt, dass Eltern, Erzieher und Hand-
werksmeister für die ihrer Aufsicht unter-
stellten Personen zu haften hätten, dass
Hausherren und Auftraggeber für die Ver-
richtungen ihrer Bediensteten und An-
gestellten verantwortlich zu machen seien;
es stellt den Grundsatz auf: on est respon-
sable non-seulement du dommage que Ton
cause par son propre fait, mais encore de
celui, qui est caus6 par le fait des personnes
dont on doit reponclre . . .
Sehen wir indes von diesen Vorschriften
in den Gebieten des fi'anzösischen Rechts
ab, so leuchtet ein, dass die Haftpflicht bei
gi'össeren Unternehmungen thatsäclilich niu*
äusserst selten bis an den eigentlichen
Leiter des Betriebes heranreichen konnte,
dass daher die Ei*satzpflicht in den weitaiis
meisten Fällen sich als illusorisch erweisen
musste. —
Der preussischen Gesetzgebung gebührt
der Ruhm, zunächst für den Eisenbahn-
betrieb durch das Gesetz tiber die Eisen-
bahnunternehmungen vom 3. November 1838
anderweitige Bestimmungen über die Haft-
pflicht getroffen und damit eine Reform des
Haftpflichtrechtes überhaupt angebahnt zu
haben. Der § 25 des eben genannten Ge-
setzes lautet:
„Die Gesellschaft ist zam Ersatz verpflichtet
für allen Schaden, welcher bei der Beförderung
auf der Bahn an den auf derselben beförderten
Personen oder Gütern oder auch anderen Per-
sonen und deren Sachen entsteht, nnd sie kann
sich von dieser Verpflichtung nur durch den
Beweis befreien, dass der Schaden entweder
durch die eigene Schuld des Beschädi&ften oder
durch einen unabwendbaren äusseren Zufall be-
wirkt worden ist. Die gefährliche Natur der
Unternehmung selbst ist als ein solcher, von
dem Schadenersatz befreiender Zufall nicht zu
betrachten."
•
Das Wesentliche dieser Bestimmung liegt
darin, dass die civilreclitliche Verantwoit-
lichkeit für Körper- und Sachbeschädigung
boi der Beförderung auf der Bahn auf den
Unternelmier gelegt, dass zunächst einVer-
schidden des Betriebs angenommen wird,
dass demnach die Eisenbahnvenvaltung als
ersatzpflichtig gilt, es sei denn, dass sie
den Nachweis führt, dass der Schaden durch
>die eigene Schuld des Beschädigten oder
durch einen unabwendbaren äusseren Zufall
bewirkt wonleu ist.« Auch einige andere
deutsche Staaten (Holstein, Mecklenburg, die
sächsischen Herzogtümer) folgten in ihrer
Eisenbahngesetzgebung diesem preussischen
Vorbilde.
Das deutsche Handelsgesetzbuch hatte
für den Transport zur See gleichfalls um-
fassendere Vorschriften über die Haftpflicht
des Reedei-s und des Schiffsführers (Art.
451, 452, 478, 479) getreffen, auf die jedoch
hier näher einzugehen nicht erforderlich ist.
Dass eine Erweiterung der völlig unzu-
reichenden Haftpflichtbestimmungen drin-
gend geboten sei, wiuxle allmählich allseitig
anerkannt. Infolge einer Petition des Aus-
schusses der nationalliberalen Partei in
Leipzig befasste sich im Jahre 1868 der
Reichstag des Norddeutschen Bundes mit
dieser Angelegenheit, und unterm 28. März
1871 wurde »in ErfüUimg des von dem
Reichstage in der Sitzung vom 24. April
1808 gefassten Beschlusses« der Entwurf
eines Gesetzes, betreffend die Verbindlich-
keit zum Schadenersatz für die bei dem
Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken etc.
herbeigeführten Tötungen und Körperver-
letzungen, seitens des Bundesrates dem
Reichstage ziu* verfassungsmässigen Be-
schlussfassung vorgelegt.
Die Mängel des bestehenden Haftpflicht-
zustandes wurden in den Motiven zu diesem
Gesetzentwurf anerkannt. Im weiteren aber
hiess es: »Wenn es im Hinblick auf die in
gleicher Proportion mit der Entwickelung
der industriellen Anlagen sich mehi-endea
Unglücksfälle die Aufgabe der Reichsgesetz-
gebung sei, der körperlichen Integiität einen
erhöhten Rechtsschutz zu verleihen, so müsse
davon abgesehen werden, eine generelle
Reform der Grundsätze über die Verpflich-
tung zum Scliadenersatz herbeizuführen.
Ein so weit gestecktes Ziel würde nur im
Zusammenhange mit dem ganzen System
des Obligationenrechts sich erreichen lassen.
Zur Zeit werde es sich allein darum handeln
können, im Wege eines Specialgesetzes
Bestimmungen zu treffen, um denjenigen,
welche bei mit ungewöhnlicher Gefahr
verbundenen Unternehmungen an Leib und
Leben beschädigt werden, bezw. ihren Hinter-
bliebenen, einen Ersatz des erlittenen Schadens
zu sichern. Hierbei seien vorzugsweise die
Eisenbahnen, Bergwerke und Fabriken in
Betracht zu ziehen.«
Dieser Gesetzentwurf wurde alsdann,
nachdem er nielirfache Abänderungen im
Reichstage erfahren hatte, mit gix)sser Majori-
tät angenommen und unterm 7. Juni 1871
(R.G.B1. :^r. 25, S. 207) als Gesetz publiziert.
3. Das Haftpflicht^esetz v. 7. Juni
60*
948
Haftpflicht
1871. Dieses neue Gresetz, welches durch
ein besonderes G. v. 1. November 1872 auch
in Elsass-Lothringen eingeführt wurde und
seit 1. Januar 1873 nunmehr im ganzen
Reiche galt, bezeichnet zunächst in den §§ 1
und 2 die Unternehmungen, auf welche es
sich allein bezieht. Es sind dies 1. die
Eisenbahnunternehmungen und 2. die Berg-
werks-, Steinbruchs-, Gräberei- und Fabrik-
unternehmungen .
Die Haftpflicht der Eisenbahnen wurde
in wesentlich gleichem Umfange, wie sie
seit langer Zeit (s. oben) in Preussen und
einigen anderen deutschen Staaten bestand,
jetzt auch auf die übrigen Staaten (Jes
Reichsgebietes ausgedehnt. Die Betiiebs-
unternehmer von Eisenbahnen haften für
jeden bei dem Beti'iebe vorgefallenen Lebens-
und Leibesschaden unbedingt. Der Unter-
nehmer kann sich nur von dieser Haftpflicht
befreien, wenn er den Nachweis liefert, dass
der schadenbringende Unfall durch höhere
Gewalt oder diu-ch eigenes Verschulden des
Beschädigten verursacht worden ist.
(Janz anders ist die Haftpflicht der sub 2
genannten Unternehmungen geregelt. Das
Gesetz bestimmt : » Wer ein Bergwerk, einen
Steinbruch, eine Gräberei (Grube) oder eine
Fabrik betreibt, haftet, wenn ein Bevoll-
mächtigter oder ein Repräsentant oder eine
zur Leitung oder Beaufsichtigung des Be-
triebes oder der Arbeiter angenommene
Person diu-ch ein Verschulden in Aus-
führim^ der Dienstverrichtungen den Tod
oder die Körperverletzung eines Menschen
herbeigefülirt hat, für den dadurch ent-
standenen Schaden.« Während, wie wir
sahen, der Betriebsuntemehraer frülier von
der BEaftpflicht sich durch die Einrede be-
freien konnte: ihn treffe keine culpa in
eligendo, haftet er nunmehr unbedingt für
alle Verschulden seiner Vertreter. Wenn
indes bei den Eisenbahnen bereits die That-
sache der Beschädigung den Haftpflicht-
anspnich begründete, so muss in den hier
zuletzt genannten Fällen auch noch das Ver-
schulden eines der im GcvSetz bezeichneten
Angestellten nachgewiesen werden.
Wenngleich das Gesetz in erster Linie
den Schutz der Arbeiter, der in betreffen-
den Betrieben angestellten Personen, im
Auge hatte, so beschränkt es doch nicht
auf diese den Haftpflichtanspruch. Sowohl
bei der Eisenbahn wie in Bergwerks-, Stein-
bruchs- etc. Unternehmungen genügt es,
dass der Tod oder die Körperverletzung
irgend eines »Menschen« erfolgt ist, gleich-
viel, ob derselbe dem Betriebe als Ai-beiter,
Angestellter etc. angehörte oder nicht.
Als Schadenersatz ist (nach § 3) zu
leisten :
1. Im Falle der Tötung durch Ersatz der
Kosten einer versuchten Heilung und der Be-
erdigung sowie des Vermögensnachteils, wel-
chen der Getötete während der Krankheit durch
Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der
Erwerbsfähij^keit erlitten hat. War der Getötete
zur Zeit semes Todes vermöge Gesetzes ver-
pflichtet, einem anderen Unterhalt zu gewähren,
so kann dieser insoweit Ersatz fordern, als ihm
infolge des Todesfalles der Unterhalt entzogen
worden ist;
2. im Falle einer Körperverletzung durch
Ersatz der Heilungskosten und des Vermögens-
nachteils, welchen der Verletzte durch eine in-
folge der Verletzung eingetretene zeitweise oder
dauernde Erwerbsnnföhigkeit oder Verminderung
der Erwerbsfähigkeit erleidet.
Die diurch das Gesetz begründete Haft-
pflicht darf nicht durch Verträge (mittelst
Reglements oder durch besondere Ueberein-
kunft) im voraus ausgeschlossen oder be-
schränkt werden (§ 5). — Die Forderungen
auf Schadenersatz verjähren in zwei Jahren
vom Tage des Unfalls an. Gegen denjenigen,
welchem der Getötete Unterhalt zu ge-
währen hatte, beginnt die Verjährung mit
dem Todestage (§ 8). —
Die übrigen Paragi-aphen , welche vor-
wiegend prozessualische Bestimmungen ent-
halten, bedürfen an dieser Stelle keiner be-
sonderen Hervorhebung.
4. Mangel des Keichshaftpflichtse-
setzes. Wenngleich das Haftpflichtgesetz
gegenüber den früher bestehenden Zuständen
wesentliche Verbesserungen brachte, so er-
kannte man doch bald die Unzulänglich-
keiten der neuen Vorschriften, welche in
mehr wie einer Beziehung hervortraten.
So machte man u. a. darauf aufmerksam,
dass zum Teil sehr gefährliche Betriebe
nicht unter das Haftpflichtgesetz fielen, so
das Baugewerbe, das Schornsteinfegerge-
werbe, auch die in immer verstärktem Um-
fange Maschinen anwendende Landwirt-
schaft etc. etc. Vor allem aber machte die
mit Ausnahme bei EisenbahnimfäUen dem
Verletzten obliegende Beweislast den Ent-
schädigungsanspruchvielfach unmöglich. Die
Motive des dem Reichstage im Jahre 1881
vorgelegten Unfallversicherungsgesetzent-
wurfs saffen darüber mit Recht: »Die Be-
lastimg des Verletzten mit dem Beweise
eines Verschuldens des Unternehmers oder
seiner Beauftragten macht die Wohlthat des
Gesetzes für die Arbeiter in den meisten
Fällen illusorisch. Dieser schon an sich
schwierige Beweis wird nicht selten und
gerade bei den durch elementare Kräfte
herbeigeführten folgenschwersten Unfällen,
wie sie in Bergwerken, in Anlagen mit
Dampfkesseln und in Fabriken zur Her-
stellung von Explosivstoffen vorkommen,
dadurch unmöglich gemacht, dass der Zu-
stand der Betriebsstätte und der Betriebs-
einrichtungen, auf dessen Feststellung es
für den Schuldbeweis meistens ankommt,
Haftpflicht
949
durch den Unfall selbst bis zur Unkenntlich-
keit verändert ist und dass diejenigen Per-
sonen, diux5h deren Zeugnis häufig aUein ein
Verschulden nachgewiesen werden könnte,
durch den Unfall selbst getötet oder ver-
letzt und iin letzteren Falle, auch wenn sie
nicht, was die Regel ist, selbst Partei sind,
durch die Katasixophe in einen Zustand
versetzt sind, der sie zur Ablegung eines
Zeugnisses unfähig macht. Die Erfahrung
hat bis auf die neueste Zeit gezeigt, dass
das Gesetz in denjenigen Fällen, welche
durch ihre Wirkung auf die öffentliche
Meinung vorzugsweise seinen Erlass be-
fördert haben, und auf welclie es nach den
Motiven in erster Linie berechnet war, regel-
mässig seinen Zweck nicht erreicht.« Auch
die zweijährige Verjälirungsfrist wurde mehr-
fach als unzureichend deshalb bezeichnet,
weil sie ermögliche, dass gesetzesunkundige
Arbeiter von ihren Herren zunächst hinge-
halten, endlich um den Schadensersatz be-
trogen werden könnten.
Gewiss ist, dass das Haftpflichtgesetz zu
zahlreichen verbitternden Prozessen zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern führte,
dass somit die erhoffte Verbesserung in dem
Verhältnis zwischen beiden nicht geschaffen
wiu-de, ja vielfach gerade das Gegenteil
eintrat.
Dass eine Aenderung der Gesetzgebung
erfolgen müsste, wiu-de fast allgemein an-
erkannt. Um die Arbeiter gegen die wirt-
schaftlichen Folgen der bei der Arbeit ein-
tretenden Unfälle in befriedigender Weise
zu schützen, boten sich nun zwei Wege.
Entweder musste man eine Verschärfung
des Haftpflichtgesetzes in der Art vornehmen,
dass die für die Eisenbahnuntemehmimgen
geltenden Bestimmungen auch für die ander-
weitigen Betriebe Anwendung fanden oder
man musste sich zur Einfülirung einer öffent-
lichrechtlich geregelten allgemeinen Unfall-
versichening der Arbeiter entschliessen,
welche an die Stelle der auf dem Haft-
pflichtgesetze beruhenden Entschädigungs-
pflicht dor Arbeitgeber zu treten hatte.
Bekanntlich ist man durch Erlass des
Unfallversicherungsgesetzes v. 6. Juli 1884
diesen zweiten Weg gegangen.
5. Das Haftpflichtgesetz nach Erlass
des Unfallversicherangsgesetzes. Durch
das Unfallversicherungsgesetz, über welches
an anderer Stelle (s. d. Art. Unfallver-
sicherung) eingehend gehandelt werden
wiKl, ebenso durch die jenes Gesetz er-
gänzenden Gesetze hat das Haftpflichtgesetz
erheblich an Bedeutung verloren. Auch das
Krankenversicherungsgesetz v. 15. Juni 1883
(s.d. Art. Krankenversicherung) hat au f
die Bestimmungen des Haftj)flichtgesetzes
einigen Einfluss ausgeübt. Indes ist durch
diese neuen Arbeiterversicherungsgesetze
das Haftpflichtgesetz keineswegs als aufge-
hoben zu betrachten. Dasselbe findet auch
fernerhin Anwendung:
1. auf Betriebsimfälle derjenigen Per-
sonen, welche nicht in dem Betriebe als
Arbeiter oder Betriebsbeamte thätig sind.
So ist insonderheit bei dem Eisenbahnbetrieb
das Haftpfiichtgesetz für die Reisenden nach
wie vor massgebend;
2. auf Betriebsunfälle von Betriebsbe-
amten, deren Jahresarbeitsverdienst an Lohn
oder Gehalt 2000 Mark nicht übersteigt und
auf welche nicht durch besondere statuta-
rische Bestimmung die Unfallvei'sicherungs-
pflicht erstreckt worden ist (U.V.G. § 2);
3. auf Betriebsunfälle derjenigen Per-
sonen, welche in Betrieben angesteUt sind,
für die durch Beschluss des Bundesrats die
Versicherungspflicht ausgeschlossen ist (ü.
V.G. § 1, 7);
4. auf Betriebsunfälle derjenigen Landes-
und Kommunalbeamten, welche mit festem
Gehalt und Pensionsberechtigxmg angestellt
sind und für die eine der Unfallversicherung
analoge Unfallfürsorge noch nicht getroffen
ist (U.V.G. §§ 4)1);
5. auf Betriebsunfälle aller nach Mass-
gabe des Unfallversicherungsgesetzes ver-
sicherten Personen, deren Verletzung durch
Betriebsunternehmer, Bevollmächtigte oder
Repräsentanten, Betriebs- oder Arbeitsauf-
seher — nach strafgerichtlichem Urteil —
vorsätzlich herbeigeführt worden ist (U.V.G.
§ 95);
6. auf Scliadensansprüche , welche die-
jenigen erheben, welche nicht zu den
»Hinterbliebenen« im Sinne des Unfallver-
sicherungsgesetzes gehören und denen der
durch Unfall Getötete Unterhalt zu ge-
währen gesetzlich verpflichtet war 2).
^) Der § 4 des Unfallversicbernngsgesetzes
lautet: „Auf Beamte, welche in Betriebsver-
waltungeu des Eeiches, eines Bundesstaates
oder eines Kommimalverbandes mit festem Ge-
halt und Pensionsberechtigung angestellt sind,
findet dieses Gesetz keine Anwendung." Für
Betriebsbeamte des Reiches und für die mehrerer
Bundesstaaten hat dieser Paragraph keine Be-
deutung mehr, weil inzwischen für diese Per-
sonen besondere Unfallftirsorgegesetze erlassen
sind. (Vgl. d. Art. Unfall Versicherung.) I^CS"
halb ^ilt hinsichtlich dieser Personenkategorien
das Haftpflichtgesetz nur in der oben ange-
gebenen Beschränkung.
*) Hinterbliebene im Sinne der Unfallver-
sicherungsgesetzes sind nur (s. § 6 des U.V.G.
Abs. 2 a und b) Witwen, Kinder und Ascen-
deuten. Der bez. § 3 des Haftpflichtgesetzes
aber verlangt die Entschädigung eines jeden
Dritten, zu dessen Unterhalt der Getötete
kraft Gesetzes verpflichtet war, so weit
dieser während der mutmasslichen Dauer seines
Lebens diese Verpflichtung zu erfüllen gehabt
hätte. Da Geschwister nach dem B.G.B. nicht
950
Haftpflicht — Haftpflichtversicherung
Durch den Ari 42 des Einführnngsge-
ßetzes zum B.G.B. haben mehrere Para-
graphen des Gesetzes von 1871 Abänderun-
gen erfahren, die hauptsächlich den Zweck
haben, das letztere mit den allgemeinen
Voi-scluiften des B.G.B. in Debereinstim-
mung zu bringen. So erhält § 3 den dem
§ 84i des B.G.B. entsprechenden Zusatz,
dass der Ersatzpflichtige auch die Kosten
der Beerdigung demjenigen zu ersetzen hat,
dem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten
zu tragen. Die Verpflichtung zur Schadlos-
haltung solcher Personen, zu deren Unter-
haltung der Getötete gesetzlich verpflich-
tet war, w^ird genauer präcisiert und hinzu-
gefügt, dass die Ersatzpflicht auch dann
eintrete, wenn der zu entschädigende Dritte
zur Zeit der Verletzung des Getöteten er-
zeugt, aber noch nicht geboren war. An die
Stelle' des § 3 Nr. 2 tritt ein neuer § 3a
über den Schadenersatz bei Körperverletzun-
gen mit dem Zusatz, dass auch für die et-
waige Vermehining der Bedürfnisse des
VeiYetzten Entschädigung zu gewähren ist.
Nacli § 7 in der neuen Fassung ist der
Schadenersatz für den Verletzten und den
entschädigungsberechtigten Dritten in Zu-
kunft durch Entrichtung einer Geldrente zu
leisten. Dabei finden die Vorschriften des
§ 843 Abs. 2 bis 4 des B.G.B. und der
§§ 648 Nr. 6 und 749 Abs. 1 Nr. 2 und
Abs. 3 entsprechende Anwendung. Ferner
wird die Berechtigung zur Forderung einer
Sicherheitsleistung für die Rentenzalilimg
genauer formuliert ; dagegen fehlt die früher
im § 7 enthaltene Stelle, nach welcher der
Verpflichtete bei wesenthcher Veränderung
der Verhältnisse die Aufhebung oder Min-
denmg der Kente und andererseits der Ver-
letzte unter Umständen die Erhölumg oder
Wiedergewährung der Rente fordern konnte.
Nach § 8 bleibt die Verjähnmgsfrist auf
zwei Jahre angesetzt. Im übrigen finden
die Vorschriften des B.G.B. über die Ver-
jährung Anwendung. Nach § 9. der früher
auf die Landesgesetze Bezug nahm, bleiben
die gesetzlichen Vorschriften, nach welchen
ausser den in diesem Gesetze vorgesehenen
Fällen die betreffenden Unternehmer oder
andere Personen, insbesondere wegen eines
eigenen Vei*schiddens für den durch Be-
triebsunfälle entstehenden Schaden haften,
unbeiührt.
Das Haftpflichtgesetz bleibt also auch in
seiner jetzigen Fassung noch in dem be-
zeichneten Umfang in kraft. Da auch die
mehr alimentationsberechtigt sind, so hat dieser
Unterschied jetzt nur noch für die Enkel des
Getöteten Bedeutung. Diese Vorschrift des
Haftpflichtgesetzes geht also doch immer noch
weiter als die betr. Bestimmungen des Ünfall-
versicherunsgesetzes.
allgemeinen civilrechtlichen Bestimmungen
"über die Haftpflicht noch vielfach Anwen-
dung finden können, so sind seit dem Erlass
des ünfallversicherungsgesetzes vom 6. Juni
1884 industi'ielle Unternehmer in beträcht-
licher Zahl wegen Unfällen, die durch dieses
Gesetz nicht gedeckt waren, zu Entschädi-
gungsleistungen verurteilt worden. Infolge
davon wurde am 28. Juni 1892 der Haft-
pflichtschutzverband deutscher IndustrieDer
mit dem Sitze in Köln gegründet. Er liat
den Zweck, durch fachwissenschaftliche
Untersuchungen und durch Verwertung der
Erfahrungen des praktischen Lebens dahin
zu wirken, dass die nach dem Unfall ver-
sicherungsgesetz noch verbliebene Haftpflicht
derart beschränkt werde, dass sie nicht über
die Grenze der Billigkeit hinausgehe, bezw.
in den Kreis der berufsgenossenschaftlichen
Unfallversicherung einbezogen werde, ferner
den Verbandsmitgliedern durch sachverstän-
digen Rat und Auskunft möglichst wirksame
Unterstützung in den aus der Civil- und
Strafreehtsgesetzgebung herrülirenden Haft-
streitfäUen zu gewähren oder zu vermitteln
und endlich eme den Interessen der In-
dustriellen möglichst vollkommen ent-
si)rechende, alle möglichen FäUe der Haft-
pflicht deckende Versicherung einzuführen,
insbesondere diurch Aufstellung von Norma-
ti vbedingungen. Auf Gnmd dieser und der
im Jahre 1898 neu redigierten Normativbe-
stimmungen liat der Verband mit einer An-
zahl Vei*sicherungsgesellschaften Veiiräge
abgeschlossen. Vgl. im übrigen den fol-
genden Art. Haftpflichtversicherung.
Ueber die Haftpflicht der Unternehmer in
den ausserdeutschen Staaten s. den Art. U n -
fall Versicherung.
Litteratur : Die Haftpflicht/rage. Gutachten und
Berichte veröffentlicht vom V. /. JSozialp., 19. Bd.
der Schriften des Verein, Leipzig 1880. — Veher
das deutsehe Haftpßichigesetz : cf. die Kommen-
tare von Endemanfiy S. Avfl., Berlin u. Leipzig
1885; von Eger, 8. Aufl., Breslau 1886. —
Stobbe, Deutsches Privatrecht, 2. Aufl., IIL Bd.,
Berlin 1885, ^ 200 ff. — WesterUamp in Ende-
manns Handbuch des deutschen llandeU-, See-
und Wechselrechts, III. Bd., Leipzig 1885, ^ 376 ff.
— Riesenfeld, Das besondere Haftpflichtrecht
der deutschen Arbeiterv^ersi^herungsgesetze, Berlin
1884' — Mitteilungen des deutschen Haftpflicht-
Schutzverbandes, redigiert zuerst von Schwanck,
dann von B. ran der Borght, 12 Hefte, Xoln
und Berlin 189S — 1900. Daraus: van der
Borght, Die Haftpflicht der gciverhlichen Unter-
nehmer in Deutschland, Berlin 1897.
Elster» Lexis.
Haftpflichtversicherniig.
1. BegriflF. 2. Wesen und Eigentümlich-
keiten. 3. Wirtschaftliche Bedeutung. 4. Ge-
Haftpflichtversicherung
951
schichtliche Entwickelung. 5. Unternehmungs-
formen. 6. Organisation. 7. Versicherurig s-
bedingttngen.
1. Begriff. Unter Haftpflichtversicherang
ist zu verstehen dieGesamtheit derjenigen
Einrichtungen, welche den Schutz
des Menschen gegen künftige und zu-
fällige wirtschaftliche Gefahren
durchBereitstellun^einerGeldsumme
bezwecken, sofern diese Gefahren ent-
stehen ans der rechtlichen Nötigung,
einem anderen einen Schaden zu er-
setzen.
Diese rechtliche Nötigung zum Schaden-
ersatz kann zwei verschiäenen Quellen ent-
springen, einmal einem Rechtsgeschäft,
einem Vertrag, und dann einer Rechtsvor-
schrift, dem Gesetze unmittelbar. Nur
in letzterem Falle spricht man gewöhnlich
von Haftpflichtversicherung. Allein auch die
Versicherung gegen vertragsmässi^e Schaden-
ersatzpflicht, d. i. die Rückversicherung,
fällt unter die Haftpflichtversicherung
im weitesten Sinn, während die Ver-
sicherung gegen Schäden aus gesetzlicher
Haftpflicht als eigentliche oder als Haft-
pflichtversicherung im engeren Sinne
zu bezeichnen ist. Nur von dieser Haft-
pflichtversicherung im engeren Sinne ist in
diesem Artikel die Rede. Ueber die Rück-
versicherung vergleiche den Specialartikel.
Die eigentliche Haftpflichtversicherung zer-
fällt wieder in zahlreiche Unterarten, je nach
dem Berufe, dem Stand, der Beschäftigung des
Haftpflichtigen. Man unterscheidet Gruppen
bei der Haftpflichtversicherung, z. B. die Haft-
pflichtversicherung der Hausbesitzer, Wirte,
Aerzte, Beamten und dergleichen mehr. Eine
Art der Haftpflichtversicherung, die gegen
Schäden auf Grund des Reichsgesetzes vom 7.
Juni 1871 (betreffend die Verbindlichkeit zum
Schadenersatz für die bei dem Betriebe von
Eisenbahnen, Bergwerken, Fabriken etc. herbei-
geführten Tötung-en und Körperverletzungen)
wird oft allein ins Auge gefasst, wenn von
Haftpflichtversicherung geredet wird. Diese
überaus begrenzte Auffassung ist gänzlich un-
angebracht; denn die gewerbliche Haftpflicht
der Betriebsuntemehmer ist nur eine der zahl-
reichen Sonderarten der Haftpflicht überhaupt
und bemisst sich durchaus nicht allein nach
dem erwähnten Gesetz.
Der Schaden, der einem anderen zu ersetzen
ist, kann sich an einer Person in der Form der
Tötung oder Körperverletzung bethätigen oder
aber an einer Sache in der Form der Sachbe-
schädigung. Danach unterscheidet man Ver-
sicherung gegen Haftpflicht aus
Körperverletzung und (jesundheits-
schädignng und Versicherung gegen
Haftnflicht aus Sachbeschädigung.
Eine besondere Art der letzteren liegt vor,
wenn das beschädigte Objekt ein fremdes Ver-
mögen in seiner Gesamtheit und durch fahr-
lässige Amtsführung oder ähnliches Verhalten
beschädigt worden ist; dies ist bei der Haft-
pflichtversicherung der Beamten,
Rechtsanwälte etc. der Fall.
Von abstrakter oder selbständiger
Haftpflichtversicherung spricht man in
allen bisher angeführten Fällen, indem man als
die in Betracht kommende Gefahr nur die Haft-
pflicht als solche auffasst. In Gegensatz hierzu
stellt man die Versicherung des Reeders gegen
Haftpflicht aus Schiffskollisionen, die in der
Praxis nicht als selbständige Haftpflichtver-
sicherung vorkommt, sondern in die allgemeine,
gegen zahlreiche Gefahren schützende Seever-
sicherung eingeschlossen ist, und die Ver-
sicherung der in den französischen Rechtsge-
bieten äusserst wichtigen risque locatif, risque
des recours des locataires und risque des recours
des voisins, die in die Feuerversicherung ein-
bezogen werden. Theoretisch unterscheiden sich
aber diese beiden unvollständigen Haftpflicht-
arten als solche nicht von den übrigen selb-
ständigen Arten.
2, Wesen und Eigentttmllchkeiten. Zu-*
nächst ist die Streitfrage zu beantworten, ob
es überhaupt gerechtfertigt ist, von der Haft-
pflichtversicherung als einer besonderen Ver^
sicherungsgattnng zu reden. Ist nicht vielmehr
jede Haftpflichtversicherung Unterart einer
anderen Versicherungsgruppe ?
Diese Frage aufwei-fen heisst sie verneinen.
Denn indem man sie stellt, vergegenwärtigt
man sich die juristischen und technischen
Eigentümlichkeiten jeder Haftpflichtver-
sicherung, die sie gegenüber anderen Ver-
sicherungsarten hat, die ihr Wesen ausmachen.
a) Während bei allen anderen VersicheruDgen
es sich stets nur um eine Ursache handelt, die
den Schaden und damit den Ersatzanspruch
herbeiführt, müssen bei der Haftpflichtver-
sicherung stets zwei Ursachen vorhanden
sein, damit mau von einem Haftschadeu reden
kann. Ein dritter muss einen Schaden erleiden
— causa remota, thatsächliche Ursache — , und
ein anderer muss durch eine positive Gesetzes-
vorschrift, eventuell durch Richterspruch —
causa proxima, rechtliche Ursache — verpflichtet
sein, den Schaden zu vergüten. Je nachdem
man nun die erste oder die zweite Ursache ins
Auge fasst, kann man sagen: die Haftpflicht-
versicherung ist eine besondere Versicherungs-
art, oder sie ist nur eine Erscheinungsform
anderer Versicherungsarten, der Feuer-, der
Unfallversicherung etc., sofern nämlich die causa
remota ein Brandschaden oder ein körperlicher
Unfall ist, für den nach dem Gesetz eine Er-
satzpflicht besteht. Allein in Hinblick auf diese
causa remota die SelbstHndigkeit, die Daseins-
berechtigung einer Haftpflichtversicherimg
leugnen zu wollen, ^eht nicht an ; denn schon die
Existenz von Versicherungsgesellschaften, die
gegen die Haftpflicht schlechthin versichern,
ohne Rücksicht auf die causa remota, beweist
die Unrichtigkeit jener in der Theorie als über-
wunden anzusehenden Konstruktion. Wenn in
der Praxis demungeachtet noch heute dieser
Auffassung zuwider gehandelt wird, namentlich
wenn da^ wo die causa remota eine Körperver-
letzung ist, die Haftpflichtversicherung als eine
Unterart der Unfallversicherung auf^efasst wird,
z. B. von einer Kollektiv- Unfdl Versicherung die
Rede ist, so legt dieser Umstand nur die un-
genügende wissenschaftliche Kenntnis de»
Wesens der Haftpflichtversicherung bloss.
b) Die Haftpflichtversicherung Kanneines
Objektes entbehren. Auch wer gänzlich
mittellos ist, kann im Betrag ungeheuerer
952
Haftpflichtversicherung
Summen haftpflichtig werden. Er kann sich
geg-en diese etwa entstehende Haftpflicht yer-
sichem, obwohl er in einem Haftpflichtfalle
nichts zu zahlen hätte, da er nichts zahlen
könnte. Das Vermögen, wie es häufig ange-
nommen wird, kann also nicht, — wenigstens
nicht in allen Fällen — als Objekt der Haft-
pflichtversicherung angesehen werden. Die
Haftpflichtversicherung entbehrt vielmehr regel-
mässige eines Objektes. Ein Objekt ist — was
allerdings bestritten wird — nur vorhanden,
wenn ausdrücklich ein Haftpflichtgut bestimmt
ist, das allein zwecks Deckung des erwachsenen
Schadens angegrifien werden darf, wie bei der
Haftpflichtversicherung des Reeders bei Schiffs-
koUisionen nur das kollidierende Schiff.
c) Ein Interessenachweis ist zum
Abschluss der Versicherung nicht erforder-
lich. Auch ohne dass der Versicherte Be-
ziehungen zu einem Objekt hat, kraft deren er
durch Thatsachen, die dieses Objekt betreffen,
einen Schaden erleiden kann, ist es ihm mög-
lich, eine Haftpflichtversicherung abzuschliessen.
Das folgt schon aus dem Umstand, dass ein
Objekt fehlen kann. In der Regel wird aller-
dings das wirtschaftliche Interesse des Ver-
sicherten ausschlaggebend sein für den Ab-
schluss einer Haftpflichtversicherung, aber
juristisch ist ein Interessenachweis im Gegen-
satz zu allen Sachversicherungsarten nicht
nötig. Die Gründe hierfür liegen in der Art
der Leistung der Ersatzsumme, in der Un-
wahrscheinlichkeit eines Betrugsfalles hierbei
von Seiten des Versicherten.
d) Das Risiko, der Versicherungs-
wert kann gänzlich unmessbar sein und
ist es that^ächlich in den meisten Fällen. Bei
den Sachversicherungen ist ein Objekt vor-
handen ; mehr als dessen Wert hat der Assekura-
deur nie zu ersetzen. Bei den Personen Ver-
sicherungen ist stets eine feste Summe fixiert,
mag es sich um Erleben , Tod . oder Unfall
handeln. Anders bei der Haftpflichtversicherung,
wo regelmässig kein Objekt vorhanden ist.
Ob der gegen Haftpflicht Versicherte Millionär
oder Bettler ist, er kann gleichmässig auf un-
begrenzte Summen haftpflichtig werden. Das
Vermögen des Versicherten bietet daher keinen
Massstab für die Risikobemessung, wenn der
Assekuradeur die Haftpflicht unbegrenzt über-
nimmt. Auch in dem meist unbekannten Er-
satzberechtigten findet der Assekuradeur keine
Hilfe für die Risikoberaessung.
e) Die Unmessbarkeit des Risikos veran-
lasst häufig die Beschränkung der Ver-
sicherungssumme. Mit dieser Besch ränkung
sinkt aber die Bedeutung der Haftpflichtver-
sicherung naturgemäss. — Ist die Versicherungs-
summe unbegrenzt, so kann weder eine U e b e r -
Versicherung noch eine Unterversiche-
rung vorhanden sein. Ist die Versicherungs-
summe beschränkt, so kann von einer Ueber-
versicherung ebenfalls nicht die Rede sein;
denn eine Bereicherung des Versicherten ist
der Natur der Sache nach ausgeschlossen. Eine
Unterversichenmg ist bei beschränkter Ver-
sicherungssumme nur möglich, falls aus-
drücklich eine Quoten Versicherung vereinbart
w^orden ist.
i) Die richtige Prämienbemessung ist
äusserst schwierig; sofern keine Maximalver-
sicherungssumme vorhanden ist, ist sie geradezu
unmöglich. Hierans erklärt sich die übliche
Beschränkung auf eine Maximalsumme, aber
auch in diesem Falle fehlt es an jeder mathe-
matischen Berechnungsmöglichkeit. Die Wahr-
scheinlichkeitsrechnung ist nicht anwendbar.
Auch eine langjährige Erfahrungsstatistik er-
scheint nicht durchaus zuverlässig.
g) Die Gefahr bei der Haftpflichtver-
sicherung ist eine rein juristische. Sie ist
schon in der Definition oben näher präcisiert.
h) Der Schaden ist meist ein rein privat-
wirtschaftlicher. Der Versicherte braucht Keinen
Schaden zu haben, z. B. ein Mittelloser wird
haftpflichtig. Der Bedachte hingegen hat stets
zunächst einen Schaden, der ihm durch die
Leistung der Ersatzsumme vergütet wird.
Diese Aufzählung der hervor-
ragendsten Eigentümlichkeiten der
Haftpflichtversicherung zeigt, dass
sie weder den Personen- noch denSach-
versicherungen zuzuzählen, beiden
vielmehr als dritte selbständige
Versicherungsgruppe zur Seite zu
stellen ist.
3. Wirtschaftliche Bedentnng. Die w 1 r t -
schaftlicheBedeutung der Haft Pflicht-
versicherung ist überaus gross. Wenn die
Motive, die zum Abschluss eines Haftpflicht Ver-
sicherungsvertrages führen, auch im Einzelfall
durchaus verwerflich sein können, — man will
jede Verantwortlichkeit von sich abschieben,
ungeschädigt gedankenlos handeln können —
so sind die Wirkungen doch in jedem Fall
überaus gute, sozial wertvolle: die Versorgung
der Mitmenschen, denen ein Schaden erwachsen
ist, ohne dass sie ein Verschulden trifft. Keine
andere Versicherung hat einen derartigen al-
truistischen Charakterzug.
Je nach der jofesetzlichen Normierung der
Haftpflicht kann die wirtschaftliche Bedeutung
eine grössere oder geringere sein. Der Geist
der neueren deutschen Gesetze ist getragen
von dem Princip der sozialen Verantwortlichkeit,
und dementsprechend ist die Haftpflicht äusserst
scharf ausgeprägt worden , so dass die Haft-
pflichtversicherung geradezu eine Notwendigkeit
für viele Bevölkerungsklassen geworden ist.
Hieraus folgt, dass die Haftpflichtversicherung
zur Zeit in Deutschland von besonders hoher
Bedeutung für weite Kreise ist.
Die Aufgabe des Schadenersatzes ist
eine doppelte. Einmal ist es die Aus-
gleichung der in der Rechtssphäre des Ver-
letzten eingetreteneu Störung. Diese wird
durch die Haftpflichtversicherung in verstärktem
Masse und in sicherer Weise erreicht. Aber der
zweite Teil der Aufgabe des Schadenersatzes
wird in sehr vielen Fällen nicht erreicht, son-
dern durch die Haftpflichtversicherung völlig
verhindert, nämlich die Bekäiqpfung des Un-
rechts. Zweifelsohne wird durch die Haftpflicht-
versicherung die Fahrlässigkeit häufig erhöht.
Wer sich durch eine Haftpflichtversicherung
gedeckt weiss, namentlich bei unbeschränkter
Versicherungssumme, wird leicht weniger sorg-
sam zu Werke gehen, wird eher einen riskanten
Versuch wagen als der NichtVersicherte. Diesem
psychologischen Moment hat u. a. die preussische
jkegierung Rechnung getragen, indem sie die
Haftpflichtversicherung
953
Haftpflichtversicherung ihrer Beamten mir bis
zu 75% des eintretenden Schadens gestattete.
4. Geschiehtliohe Entwtckeinng. Die
Geschichte der Haftpflichtversicherung ist in
jeder Beziehung analog der Geschichte der Haft-
pflicht. Daraus ergiebt sich, dass die Haft-
pflichtversicherung erst mit der neuerdings
fortschreitend verschärften Haftpflichtgesetzge-
bung sich ausgebreitet hat und dass die Haft-
pflichtversicherung namentlich in Deutschland
zu grosser Blüte gelangt ist.
Die erste Haftplichtversicherunffsgesell-
schaft entstand in Deutschland mit dem In-
krafttreten des Reichshaftpflichtgesetzes im
Sommer 1871. Es war die Allgemeine Unfall-
versicherungsbank zu Leipzig. Ihre Organisa-
tion war grundlegend für alle späteren Gesell-
schaften. Sie war auf Gegenseitigkeit gegründet
und versicherte lediglich gegen die Folgen der
fewerblictten Haftpflicht. Eine Zweiganstalt,
873 gegründet, die deutsche Unfall versicherungs-'
genossenschaft , versicherte die sogenannten
nichthaftpflichtigen Unfälle. Bis zur Liquida-
tion beider Anstalten zufolge der Sozialgesetz-
gebung vom 6. Juli 1884 waren zu verzeichnen :
angemeldete Unfälle 113 166, davon wurden als
haftpflichtig entschädigt 80205 d. i. 26fid%
mit 15685174 Mark, als nichthaftpflichtig ent-
schädigt 66 054, d. i. 68,36 <>/ mit 5 294 780 Mark,
so dass unentschädigt nur blieben 16 916 Fälle,
d. i. 14,95%.
Neben diesen Leipziger Gesellschaften, die
die erste Stelle einnahmen, waren in den 70er
Jahren mehrere andere Anstalten vorhanden,
die gegen die gewerbliche Haftpflicht ver-
sicherten. Zum Teil bestehen diese noch heute.
Aus den Lücken der Sozialgesetzgebung und
den Haftpflichtbestimmnngen der Landesgesetze
entnahmen die Gesellschaften den Boden für
die jetzige Haftpflichtversicherung, so die
Magdeburger Allgemeine Versicherungsgesell-
schaft, jetzt Wilhelma, die Schlesische öesell-
schaft, jetzt Nordstern u. a. m. Erst seit 1893
wird die Haftpflichtvei-sicherung in Deutschland
in grösserem Massstabe betrieben. Im Anschluss
an die Unfallversichernngsbranche nahmen viele
Gesellschaften die meist gut rentierende Haft-
pflichtversicherung auf. Bahnbrechend wirkte
der Allgemeine Deutsche Versicherungsverein in
Stuttgart, der u. a. zuerst und bisher allein die
Beamtenhaftpflichtversicherung eingeführt und
die abstrakte Haftpflichtversicherung zuerst
folgerichtig durchgeführt hat.
Ende 1899 sind an deutschen Gesellschaften,
die gegen Haftpflicht versichern, zu zählen 17
Aktiengesellschaften und eine Gegenseitigkeits-
gesellschaft. Daneben bestehen eine Anzahl
Haftpflichtgenossenschaften, die ohne grosse
Bedeutung sind. Ausser den deutschen Ge-
sellschaften betreiben 4 ausländische Gesell-
schaften die Haftpflichtversicherung in Deutsch-
land.
Die Geschichte der Haftpflichtversicherung
in anderen Ländern ist ohne Interesse, da hier
die Entwicklung des Haftpflichtrechta zumeist
noch sehr hinter dem deutschen zurücksteht.
5« Ünternehmnngsformeii* Schon aus
dem vorigen Abschnitt erhellt, dass die Haft-
pflichtversicherung von Aktien- und Gegen-
seitigkeitsgesellschaften sowie von Ge-
nossenschaften betrieben wird. Nach den
Bezahlte
Schäden
Erfahrungen in Deutschland sind die beiden
ersten Untemehmungsformen durchaus gleich-
wertig, während die Form der Genossenschaft
durchaus ungeeignet ist. Der Grund dafür ist
zu finden in dem kleinen Kreis der hier Ver-
sicherten, in den unverhältnismässig hohen
Kosten, den zu grossen Hisiken bei unbe-
schränkter Haftung, dem ungenügenden Kück-
halt bei beschränkter Haftung der Genossen.
Zu erwähnen sind an dieser Stelle die
Haftpflichtverbände, deren g^rösster der
Deutsche Haftpflichtschutzverband ist. Diesem
Vereine gehören sowohl Einzelpersonen wie in-
dustrielle und landwirtschaftliche Vereinigungen
als Mitglieder an. Er bezweckt die Wahrung
der Interessen der haftpflichtigen Betriebsunter-
nehmer und sucht dieses u. a. dadurch zu er-
reichen, dass er mit Haftpflicht-Versicherun^-
gesellschaften in Verbindung tritt. Seine Mit-
glieder werden bei einer Anzahl Gesellschaften
auf Grund eines vom Verband aufgestellten
Normativstatuts bei diesen Versicherungsanstal-
ten gegen die Gefahren der Haftpflicht zu Vor-
zugsprämien bezw. unter Gewinnbeteiligung ver-
sichert. Diese Einrichtung hat sich vortrefflich
bewährt.
Zahl der
Jahr Verbands- Prämien
mitglieder
1894 425 6o8«;5,25 8421,97
1895 459 77388,45 15501,03
1896 512 86626,48 27925,15
1897 538 98759,16 28902,77
Gewinnanteil durchschnittlich 17 Prozent der
Prämie.
6. Organisation. Schon bei der Begriffsbe-
stimmung wurde darauf hingewiesen, dass die
Versicherungsgesellschaften die Haftpflicht in
Gruppen einteilen. So unterscheidet der Deut-
sche Versicherungsverein, der in der Differenzie-
rung und Specialisierung der Risiken am wei-
testen geht, 25 Arten der Haftpflicht und der
Haftpflichtversicherung, nämlich die folgenden:
für Landwirte, Arbei^eber, Spediteure, Fracht-
führer, Pferde- und Fuhrwerksbesitzer, Haus-
und Grundbesitzer, Unternehmer von Kuust-
und Industrieausstellungen oder Theater, Gast-
wirte, Hoteliers, Bauherrn, Vereine, Aerzte,
Apotheker , Chemiker , Genossenschaftsverwal-
tungen, Strassenbahnen , Gemeinden, Beamte
und Rechtsanwälte u. dgl. m. Bei den Aktien-
gesellschaften ist die Differenzierung erstaun-
ücherweise weitaus geringer, während bei den
anderen Versicherungsgattungen gerade die
Aktiengesellschaften sich durch die Zerlegung
der Risiken auszeichnen. Bei der Mehrzahl der
Haftpflichtgruppen wird wieder unterschieden
zwischen der Haftpflicht aus Körperverletzung
und solcher aus Sachbeschädigung. Von Wichtig-
keit ist, ob die Betriebe einer berufsgenossen-
schaftlichen Versicherung unterliegen oder nicht ;
je nachdem bestimmen sich die Untereinteilungen.
Näheres über die Organisation wird noch
aus der Besprechung der Versicherungsbedin-
gungen erhellen.
7« Tersieherangsbedingnngen. Die Ver-
sicherungsbedingungen der meisten Gesellschaf-
ten stimmen in fast allen Punkten im wesent-
lichen überein. Bei ihrer Betrachtung finden
nur die besonders wichtigen Sätze Erwähnung,
Ü54
Haftpüichtversichening
in denen die Haftpflichtversichening von den
anderen Versicherungsarten abweicht.
a) Umfang der Versichernngsbe-
dingungen. Der oberste Grundsatz der
Haftpflichtversicherung ist, dass vorsätzlich
herbeigeführte Schäden nicht ersetzt werden.
Hingegen werden alle durch Fahrlässigkeit ver-
ursachten Haftpflichtschäden ersetzt. Im ein-
zelnen bestimmt sich der Umfang der Ver-
sicherung nach der Haftpflichtgruppe, der der
Versicherte angehört. Allgemein gilt folgendes.
1. Bei Körperverletzung und Ge-
sundheitsschädigung werden dem Ver-
sicherten diejenigen Summen je nach dem Ver-
trage ganz oder teilweise ersetzt, für welche
er infolge Anerkenntnis, Vergleich oder Richter-
spruch dritten Personen oder deren Erben
nach den bestehenden Gesetzen aufzukommen hat.
2. Bei Sachbeschädigungen wird dem
Versicherten regelmässig ein Prozentsatz des
nachgewiesenen wirklichen Schadens ersetzt.
Ausser diesen Leistungen vergütet dieGesellschaft
etwaige Kosten der Prozessf ührung. Der Deutsche
Versicherungsverein zahlt bei Körperverletzung
90^/0, so jedoch, dass der Anteil an der Entschädi-
gung, welche der Versicherte zu tragen hat, in kei-
nem Falle mehr als 1000 Mark beträgt. Ueberstei-
gen die 10% der Selbstversicherung diese Summe,
so trägt der Verein den Mehrbetrag. Bei Eisen-
bahn- und Schiflsnnglticken beträgt die Maximal-
leistung des Vereins 300000 Mark. Bei Sach-
beschädigung zahlt dieselbe Gesellschaft 75%,
höchstens aber 10000 Mark. Eine höhere Leis-
tung kann jedoch besonders vereinbart werden.
Von der Sachschadenversicherung sind gewisse
Schäden ausgeschlossen.
3. Bei der Haftpflichtversiche-
rung ^egen Fahrlässigkeit im
Amte bilden den Gegenstand der Versiche-
rung alle Schadenersatzansprüche, welche
dritt« Personen oder deren Kechtsnachfolger
oder sonstige Berechtigte, insbesondere Staat
und Gemeinde, gegen den Versicherten aus dem
Grunde zu erhebenoerechtigt sind, weil sie infolge
fahrlässiger Verletzung der dem Versicherten
obliegenden Amts- oder Berufspflichten, insbe-
sondere infolge ordnungswidriger Ausführung
der von ihm. übernommenen Aufträge, durch
ihn oder durch eine Person, für deren Hand-
lungen er verantwortlich ist, eine Vermögens-
einbusse erlitten haben ; auf Antrag wird femer
Versicherung gewährt gegen Schadenersatz-
ansprüche, die aus der vor dem Vertragsab-
schluss verflossenen Zeit der Thätigkeit des
Versicherten an ihn gestellt werden, sofern dem
Versicherten die Ursachen dieser Ansprüche zur
Zeit des Vertragfsschlusses unbekannt waren,
sogenannte Rückwärtsversicherung. Die Ver-
sicherung wird auf einen Höchstoetrag abge-
schlossen. Der Versicherte kann aus der Ver-
sicherung während der Dauer des Vertrags ins-
gesamt nur diesen Höchst betrag beanspruchen,
•er Verein leistet in jedem Schadenfalle 75%
bis zum Gesamtbetrag der vereinbarten Ver-
sicherungssumme. Auch hier sind gewisse
Schäden ausgeschlossen.
b) Prämien. Bei den Versicherten, welche
einer Berufsgenossenschaft angehören, kann der
an diese zu zahlende Beitrag, wenigstens für
die Versicherung gegen Haftpflicht ans Körper-
verletzung, als Massstab gelten, wie dies bei
dem Stuttgarter Verein auch thatsächlich der
Fall ist. Dieser verlangt z. B. bei der Haft-
pflichtversicherung der Landwirte 12 — 30% des
Beitrags zur Berufsgenossenschaft und erhebt
Zuschlagsprämieu, falls der Betrieb etwa mit
Explosionsgefahr verbunden ist. — Für die Be-
schädigung fremden Eigentums richtet sich die
Prämie nach der Zahl der beschäftigten Personen,
der Lohnsumme und ähnlichem ; pro Person oder
pro 1000 Mark Lohnsumme ist bis zu 10 Personen
2 Mark pro Person und Jahr Prämie zu zahlen,
bei 750 — 1000 Personen 50 Pfennig pro Person.
— Für Schaden durch Tiere ist pro Pferd
4 Mark, pro Zugtier 40 Pfennig zu entrichten.
— Radfahrer zahlen pro Rad 4 Mark für Körper-
verletzung, 4 Mark für Sachbeschädigung. —
Für einen Hund sind 3 Mark zu zahlen. — Bei
der Haftpflichtversicherung der Gastwirte richtet
sich die rrämienhöhe nach der Zahl der Zimmer.
— Für Aerzte ist der einheitliche Satz von
30 Mark aufgestellt. — Für die Gemeinden
richtet sich die Prämie nach der Einwohner-
zahl; für Körperverletzung und Sachbeschä-
digung sind je 4,50 Mark pro 1000 Einwohner
zu entrichten. — Anwälte zahlen bei einer
Maximalsumme von 50000 Mark 50 Mark, bei
100000 Mark 116 Mark. Bei der Haftpflicht-
versicherung der Richter ist die Anzahl der
Amtseingesessenen massgebend. Diese Beispiele
sind den Tabellen des Versicherunffsvereins ent-
nommen, da dessen Risikospecialisierung am
weitgehendsten ist. Andere Gesellschaften ver-
folgen ähnliche Principien bei der Prämienbe-
rechnung.
Die übrigen Versicherungsbedingungen ent-
sprechen den auch bei anderen Versicherungs-
arten üblichen.
Da die meisten deutschen Gesellschaften
noch der Unsitte huldigen, die Geschäfts-
ergebnisse ihrer einzelnen Versicherungs-
zweige nur zusammengefasst in den Jahresbe-
richten mitzuteilen, und nur von wenigen Ge-
sellschaften die Jahresergebnisse der Halt Pflicht-
versicherung besonders vorliegen, so muss hier
von einer Mitteilung der Ergebnisse abgesehen
werden.
Littorutur: Eine Darstellung der Haflpfilchtver-
»icherung steht noch aus. Die wenigen über die
Haftpflichtversicherung vorhandenen Milteüungen
sind von äusserster Dürftigkeit. Ueber die ju-
ristische Natur der Haftpflichtversicherung hat
Leibl in JEhremweigs Assekuranzbuch XIX.
Jahrg. einen grundlegenden Aufsalz veröffentlicht^
der sich an Ehrenbergs Rückversicherung
anschliesst. Statistische Angaben finden sich in
den 3Iittcilungen des deutschen Haftpflichtschuts-
Verbandes, jetzt von Prof. van der Borght,
herausgegeben. Die geschichtliche Entwickelung
behandelt Lehr in einer Leipziger Dissertation :
uius der Praxis der früheren Haftpflichtgesets-
gebung in Deutschland 1888. Eine kritische
Betrachtung über den Wert der Haftpflichtver-
sicherung giebt Elhertahagen in der Zeitschr.
f. Versicherungsr.- u. -icissensch. II. Bd. 1897.
Alfred Manes.
Hagelschädenversichening
955
Haftung
s. Schiildverhältnisse.
HagelschädenTersicheriuig.
1. Einleitung:. 2. Geschiebte. 3. Das Risiko.
4. Die Prämie. 5. Versicherer; üntemehmung^s-
formen. 6. Schadenabschätzang: und Entschä-
digung. 7. Prämien-, Schäden- und Kapital-
reserve. 8. Allgemeine Versicberungsbedingun-
gen. 9. Staats- und Privatbetrieb. 10. Sta-
tistik.
1. Einleitung. Von den Yermögensver-
liisten, die durch sogenannte Elementar-
schäden entstehen, ist an sich und abge-
sehen Ton den sich ergebenden technischen
Sch^vierigkeilen keine Gfattiing so sehr ge-
eignet zur Ausgleichung auf dem Wege der
Versicherung als die der durch Hagel-
schlag verursachten. Verluste durch Feuer
können leicht und in einer Weise, die den
Ursprung verschleiert, willkürlich herbeige-
führt werden; dasselbe ist der FaU bei
Seeschäden; diese entziehen sich überdies
meist einer rechtzeitigen Schätzung, üeber-
schwommungsschäden pflegen, wo sie nicht
periodisch in geographisch begrenzten Ge-
bieten wiederkehren und dann in einem
Umfange eintreten, dem gegenüber die Ver-
sicherungstechnik ohnmächtig ist, zu selten
und vereinzelt zu sein, um das Versicherungs-
bedttrfnis zu wecken. Ebenso verhält es
sich nut den Beschädigungen durch Erd-
beben, Stürme und Vulkanausbrüche. Bei
den Hagelschäden trifft nahezu alles zu-
sammen, was auf Hilfe durch Versichenmg
hinweisen kann. Zu geschweigen, dass hier
jede willkürliche Herbeifülming ausge-
schlossen ist, dass es sich hier also stets
nur um wahrhafte sogenannte Elementar-
schäden handeln kann, ist auch das geo-
grapliische Gebiet, in welchem Nieder-
schläge in Gestalt des Hagels vorkommen,
keineswegs ein abgegrenztes, wenn auch
das Zusammentreffen mancher diese Art
von Niederschlägen vorzugsweise begüns-
tigenden Bedingungen manche Landstriche
mehr als andere gefährdet erscheinen lässt ;
kein Teil der kultivierten Erdoberfläche ist
wenigstens in den mittlei^n und höheren
Breiten vor Hagelschlag sicher. Endlich
wie ausgedehnt und verheerend zuweilen
auch Hagelschäden eintreten — so gross
sind doch die dadurch verursachten Ver-
mogensverluste in dem gleichen Landstriche
selten, dass nicht eine grössere Anzahl
kapitalkräftiger Versicherungsanstalten den
dadurch an sie herantretenden Anfordenmgen
sich gewachsen zeigen könnte. Eine grosse
Schwierigkeit ei-wächst hier der Versiche-
nmgstechnik nur aus der zur Zeit noch be-
stehenden Unmöglichkeit einigermassen zu-
treffender Vorausberechnung. Kaum eine
andere kapitalvernichtende oder beschä-
digende im übrigen der Versicherung zu-
gängliche, Naturerscheinung widerstrebt so
sehr der Vorausscliätzung nach Zeit, Um-
fang und Stärke des Auftretens. Und der
Umstand, dass bisweilen weite Länderstrecken
■viele Jalire hindurch von dieser verheeren-
den Naturerscheinung ganz verschont bleiben,
schränkt zimi Schaden der Unternehmimgs-
lust der Versicherer sowie der Billigkeit
der Versicherungsgewälirung die Zahl derer
beträchtlich ein, welche allezeit darauf be-
dacht sind, sich gegen Vermögensverluste
durch Hagelschlag zu decken. Eben des-
halb scheinen hier — wie gleich an dieser
Stelle angedeutet werden mag — einige
Momente für Zwangs- und für öffent-
liche, namentlich Staatsversicherung zu
sprechen. —
2. Geschichte. ^} Die Hagelversicherung
ist erst in den letzten zwanzig Jahren des
letzten Jahrhunderts, tmd zwar, soviel be-
kannt, zuerst in Schottland, zur Anwendung
gekommen. In Deutschland scheint ein
Mecklenburger Gutsbesitzer — von Müller-
Detershagen — in den neunziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts den ersten umfassen-
deren praktischen Versuch — Neubrandeu-
burger Hagel Versicherungsgesellschaft, 1797
— gemacht zu haben ; dann folgte eine ganze
Reihe kleiner, d. h. auf enges Gebiet be-
schränkter und daher meist missglückter
Versuche in Sachsen, Anhalt, Schleswig etc.
bis in den zwanziger Jahren die ei-sten
grösseren deutschen — Gegenseitigkeits
Anstalten ins Leben traten, welche zum Teil
noch heute bestehen. —
Der Begriff der Hagel versichenmg be-
darf der Erläuterung nicht. Es handelt «ich
hier um die Gewähr eines Ersatzes der
Vermögensverluste, welche durch Hagel-
schlag entstehen.
3. Das Risiko. Das Risiko bildet
hier das Einti'eten von Hagelschlag, welcher
Versicherungsnehmer an ihrem Vermögen,
insoweit dasselbe versichert ist, schädigt.
Deckung kann in der Hagelversicherung
genommen werden gegen Verluste oder
Beschädigungen, die an anstehenden Feld-
und Gartenfrtichten aller Art sowie gegen
solche, die an Gebäuden und Gebäudeteilen
— Fenstern, Glasdächern etc. — durch
>) Die „Denkschrift", welche die Königl.
bayerische Versichernngskammer anlässlich des
hundertjährigen Bestehens der Brandversiche-
mngsanstalt über „die bayerischen öffentlichen
Landesanstalten für Brand-, Hagel- und Vieh-
versicherung" herausgegeben hat (München 1899)
enthält — S. 83 ff. — eine Skizze der Geschichte
der Hagelversicherung, eine Uebersicht der
sämtlichen seit 1891 errichteten deutschen
Hagel versichernngs- Anstalten nnd manche in-
struktive Betrachtangen über den Gegenstand.
956
Hagelschädenversicherung
Hagelschlag entstehen. Der unvergleichlich
wichtigere Zweig der Hagelversicherung ist
der landwirtschaftliche. Die Beurteilung
der Gefahr der üebernahme von Ver-
sicherungen ist für den Yersicherer eine
ebenso wichtige imd schwierige Aufgabe
wie die Verteilung seiner Verpflich-
tungen hingesehen auf die Gegend und
den Umfang. Ziu- Lösung dieser Aufgaben
fehlt es teils an genügenden exakten Hilfs-
mitteln; denn, wie schon gesagt, die räum-
liche Verteilung der Hagelschläge über die
verschiedenen Teile eines grösseren Länder-
gebietes und ihre Intensität wechselt von
Jahr zu Jahr nach zur Zeit noch nicht be-
kannten Gesetzen ; teils erfordert die Lösung
jener Aufgabe, da es sich bei der Hagelver-
sicherung doch vorzugsweise um Ersatz von
Scliäden am landwirtschaftlichen Kapital
handelt, eine sehr genaue Kenntnis des
landwirtschaftlichen Betriebes und seiner
besonderen Eigentümlichkeiten in allen den
Gegenden, wo Versicherungen geschlossen
werden sollen.
4. Die Prämie. Denselben Schwierig-
keiten begegnet die Bemessung der Prämie,
d. h. der Gegenleistung, welche der Ver-
sicherungsnehmer dem Versicherer für die
Gewälir der Entschädigimg zu entrichten hat.
Es leuchtet ein, dass das nämüche Hagelwetter
bei übei'all in den Grenzen seines Auf-
tretens gleicher Intensität die eine Frucht-
gattung wesentlich mehr beschädigt als die
andere, die eine vielleicht gänzlich vernichtet,
während es die andere nm- in der Ent-
wickelung henmit. Die grosse Mannigfaltig-
keit der Einwirkung je nach der Art des
Versieherungsobjekts , je nach der Periode
des Eintrittes der Beschädigimg, je nach
dem Standorte der Kulturgewächse, je nach
der Kultur des Bodens, den klimatischen
Verhältnissen des Ortes etc. erfordert einen
sehr beweglichen und reichhaltigen Prämien-
tarif, dessen einzelne Sätze doch nur auf
schwankender empirischer Grundlage an-
nähernd richtig bemessen werden können
und deren Bemessung noch dadurch wesent-
lich ei-schwert wird, dass sie wenigstens
da, wo Deckung gegen Bescliädigimgen an
Kulturge wachsen gesucht wird, sich ver-
ändern muss je nach dem Zeitpunkte des
Versicherungsabschlusses. Unmittelbar vor
der Zeit der Ernte eines Kulturgewächses
ist die Gefahr, welche der Versicherer zu
tragen hat, zwar eine kürzere, aber eine
intensiv grössere, als wenn der Abscliluss
zur Zeit der Saat erfolgt. Wird Versicherung
gegen Beschädigung vei-schiedener Kultur-
gewächso gesucht, so liat der Versicherer,
abges(^hen von den allgemeinen, den Eintritt
der Gefalu* überhaupt bestimmenden Mo-
menten, bei der Prämienbemessimg auch
noch die verschiedenen Entwickelungsstufeu
der verschiedenen Gewächse zu berücksich-
tigen. Man sieht: er kann eifrig bestrebt
sein, in jedem Einzelfalle die Prämienhöhe
jedem Individualrisiko anzupassen und da-
bei allen den vielfachen in Betracht kommen-
den allgemeinen und besonderen Gefahrs-
momenten Rechnung zu tragen; er kann
scharfsinnig und sachkundig alle einfluss-
reichen thatsächlichen Verhältnisse in Rück-
sicht ziehen, und eine reiche und vielseitige
Erfahrung kann ihm eine Fülle von wert-
vollen Anlialtspunkten für jene Arbeit bieten ;
aber zu einer vollen Sicherheit darüber, dass
hier und jetzt 1,5 ^/o und dort und zu einer
anderen Zeit l®/o der der Gefalir ange-
messene Prämiensatz sei, wird er niemals
gelangen. (Vgl. übrigens hierzu den Auf-
satz von C. Schranmi : »Altes und Neues bei
der Tarifierung zu der Hagelversicherung«
in Elu^nzweigs Assekuranz-Jahrb. 20. Jahr-
gang, Wien 1899.) Und der Umstand, dass
liier neben dem Mitwerben mehrerer Ver-
sicherer das subjektive ürteü eine so ge-
wichtige Rolle spielt und daher häufig
scheinbar gleiche Gefahren ganz verschieden-
artig bemessen werden, büdet einen der
Gründe, warum es der Hagelversicherung
übei-all, namentlich in bäuerlichen Kreisen,
noch an der wünschenswerten Verbreitimg
fehlt. Dass eine solche dazu beitragen
würde, das an sich vollkommen nie zu
lösende Problem der in jedem Falle der
Gefahr angemessenen Prämienbestimmung
wenigstens der Lösung wesentlich zu nähern,
ist für die Mehrzahl der Intei'essenten oder
derer, die es werden sollten, kein Motiv,
ihr zögerndes Misstrauen aufzugeben.
Die Prämie ist hier, wie bei anderen
Vereicherungszweigen, entweder eigentUche
Prämie, feste Zahlung ein für allemal, ohne
Anspnuth auf Rückgewähr und ohne Ver-
pflichtung zu Nachschüssen, oder sie heisst
nur fälsclüich Prämie und ist thatsächlich
eine einstweilige Beitragszahlung, die sich
je nach dem Ergebnisse des Vei*sicherungs-
geschäftes in der Rechnungsiieriode , für
welche die Zahlung validiert, un^ einen
rückgewährten Beti-ag vermindern oder um
eine gefonlerte Nachzahlung vermehren kann.
Auch GegenseitigkeitsgeseUscliaften, welche
von ihren Teilhabern Beiträge der letzteren
Art, fälsclüich* Prämien genannt, fonlern,
pflegen förmliche Prämientainfe aufzustellen,
die in der Regel in den einzelnen Ansätzen
für das gleiche Risiko etwas höher sind
als die eigentlichen Prämien der Aktien-
gesellschaften.
5. Versicherer; rnternehmongsfor-
men. Als Versicherer oder Vei-siche-
rungsunternehmer treten hier wie bei den
meisten anderen Versicherungszweigen nie-
mals Einzelpersonen, sondern entweder der
Staat (Bayern) oder Erwerbs- (und zwar
L
Hagelschädenversicherung
957
ausschliesslich Aktien-) oder Gegenseitig-
keitsgesellschaften auf. Das Gregenseitig-
keitsprincip eignet sich für diesen Yer-
sicherungszweig namentlich in den ersten
Stadien der Entwickelung — und diese
dauern hier wegen der mannigfaltigen
Schwierigkeit der zu bewältigenden Auf-
gaben sehr lange — vorzugsweise, weil
Gewinnverheissungen hier nur sehr un-
sicheren Grund haben. Gelingt es freilich,
ein namhaftes Aktienkapital aufzubringen,
so bieten vor- und umsichtig verwaltete
Aktiengesellschaften für Hagelversichenmg
den Versicherten auch wieder die beson-
deren Vorteüe der festen Prämien und der
prompten und ungeschmälerten Schaden-
zahlung. Grosse weit ausgebreitete und
rationell geleitete Gegenseitigkeitsanstalten
brauchen es freilich in letzterem Stücke
ebenfalls nicht fehlen zu lassen und bieten
ausserdem ihrerseits wieder den Versicherten
den Vorteil, dass sie von ihnen, wenn auch
nicht feste, so doch nur die Risikoprämien
einschliesslich der Verwaltungskosten zu
fordern brauchen, nicht noch Anteile für
die Verzinsung eines Aktienkapitals. Frei-
lich können auch gegenseitige Gesellschaften
heutzutage einen einigermassen umfang-
reichen Betrieb nicht ohne ein namhaftes
Garantie- und Betriebskapital beginnen;
allein einmal erhalten die Zeichner für die
Anteile an solchem Kapital nur massige
Zinsen und dann pflegt dasselbe so bald
als möglich, d. h, bei einigermassen ge-
sichertem Bestände, aus den laufenden Ein-
nahmen oder eigens dazu augesammelten
Rücklagen getilgt zu werden. Bei den 18
deutschen Gegenseitigkeitsgesellschaften für
Hagelversicherung waren Ende 1897 im
Sinzen 4 110 687 Mark Reserven vorhanden,
as gezeichnete Aktienkapital der 5 deut-
schen Aktiengesellschaften betrug 28,5
Millionen Mark. Im Deutschen Reiche und
in Frankreich überwiegen der Zahl nach
imd nach der gezeichneten Versicherungs-
summe die Gegenseitigkeitsanstalten, in
Oesterreich-Üngam die Aktiengesellschaften.
Hingesehen auf die gezeichneten Versiche-
rungssummen ist das üebergewicht der
deutschen gegenseitigen Gesellschaften in
den letzten JaJiren allmählich gestiegen.
Ueber die Hagelversicherung als öffent-
liche, staatliche Institution sollen weiter
unten einige Betrachtungen folgen. —
6. Schadenabschätzimg und Ent-
Bchädi^ng. Die Abschätzung des
Schadens und die gerechte Bemessung
und Gewährung der Entschädigung
stösst bei keinem anderen Zweige der
Sachen- und Elementarv^ersicherung auf so
grosse Schwierigkeiten vde bei der Hagel-
versicherung, wenigstens bei demjenigen
Zweige derselben, welcher lediglich Deckung
für Hagelbeschädigung an landwirtscliaft-
lichen Erzeugnissen zu scliaffen bestimmt
ist. Selten, nicht einmal wenn er ernte-
reife Früchte betraf, ist der eingetretene
Schaden alsbald richtig abzuscliätzen. Bei
Getreide z. B. kann, was alsbald nach dem
Hagelschlag als Totalschaden erschien, sich
doch noch als Partialschaden herausstellen,
wenn nachmals mit dem nicht ganz zer-
störten Stroh auch ein Teil der Körner sich
noch als verwertbar erwies. Viel schwie-
riger aber ist, imd im Augenblick nach dem
Niedergehen eines massigen Hagelwetters
oft gar nicht möglich, die zutreffende Ab-
schätzung der Beschädigimg an Kulturge-
wächsen, welche noch in früheren Stadien
ihrer Entwickelung stehen. Ob und wieweit
sich die augenbUcUich bemerkbaren Scliäden
etwa wieder ausgleichen, hängt von der
Gattung der Kulturpflanze, von ihrem Stand-
orte, von der landwirtschaftlichen Behand-
lung in den weiteren Entwickelungsstadien,
von den klimatischen Verhältnissen der
Gegend, von der nachfolgenden Witterung
und mancherlei anderen Umständen ab.
Wohl kann es vorkommen, dass wegen er-
heblicher Preisverändening ein Schaden, der
heute zu Vi gewürdigt wird, selbst bei
mangelhafter Ernte sich nachmals noch voll-
kommen ausgleicht. Bedenkt man nun,
dass auch die Frage im einzelnen Schaden-
falle oft sehr schwierig zu entscheiden ist,
ob der Schaden in der That lediglich durch
Hagelschlag, nicht vielleicht durch Sturm,
Platzregen, üeberschwemmung entstanden,
sowie die andere, ob nicht mangelliafter
Bestand vor Eintritt des Unwetters diu*ch
dieses unkenntlich gemacht ist, so wird man
ermessen, dass hier nur ausserordentlich
feine und scharfsinnige Beobachtimg und
reiche Erfahrung einigermassen das Rechte
treffen kann und dass auch diese Eigen-
schaften durch viel gegenseitiges Vertrauen
unterstützt werden müssen, wenn sie zu
einer befriedigenden Lösung der Aufgabe
führen sollen. In der Regel behält sich
der Versicherer vor, die Zeit der Schaden-
abschätzung selbst zu bestimmen. Meistens
erfolgt diese nicht einseitig durch Organe
des Versicherers, sondern durch ortskimdige
Sachverständige, welche von beiden Teilen
ernannt werden.
7. Prämien-, Schäden- und Kapital-
reserve. Wenn Hagelversicherungsgesell-
schaften das Kalenderiahr als Rechnungs-
jahr wählen, was, da die Zeit, in der Schä-
den entstehen können, in die mittleren
Monate fällt, wohl angezeigt ist, so entfällt
hier meist das Bedürfnis der Prämien-
und der Schädenreserve. Die Prämien-
einnahmen werden innerhalb des Rechnungs-
jahres konsumiert imd die entstehenden
Schäden, insofern sie nicht etwa länger
958
Hagelschädenversicherung
dauernde Prozesse veranlassen, im Rech-
nungsjahre geregelt. Für aus letzterem
Grunde etwa noch schwebende Schäden
würde allerdings stets eine sogenannte
Schädenresei've erforderlich sein. Dringend
geboten aber ist es hier, in günstigen Jahren
namhafte Teile des üeberschusses zur Bil-
dung einer reichlichen Kapitalreserve
zu verwenden, da die Unmöglichkeit an-
nähernd zuverlässiger Vorausschätzung des
Gesamtrisikos der nächsten Gescliäftsperiode
für die schlimmsten Fälle vorzusorgen em-
pfiehlt Aktiengesellschaften sind, was die
Bemessung und Ergänzung der Kapitalreserve
anbelangt, a priori ungebunden. Die dies-
bezüglichen statutarischen Regelungen wer-
den bestimmt durch die strengere oder
weniger strenge Rücksicht auf die Erhaltung
des Aktienkapitals. Meistens enthalten die
Statuten die Bestimmung, dass aus sich er-
gebenden Ueberschüssen in erster Linie die
Kapitalreserve bis zu einem Höchstbetrage
dotiert oder wieder ergänzt werden muss.
Bei Gegenseitigkeitsgesellschaften pflegt die
weitere Bestimmung hinzuzutreten, dass sich
ergebende Ueberschüsse ei*st zur VerteiluDg
an die Versicherten gelangen, wenn der sta-
tutarische Höchstbetrag, der hier gewöhn-
lich in einer festen Summe ausgedrückt
wird, zweckmässig aber in einem bestimm-
ten Verhältnisse zum Gesamtrisiko (also der
Versicherungssumme) stehen sollte, erreicht
oder ergänzt ist, und die Vorsicht würde
gebieten, dass Nachschiisse schon dann er-
hoben werden müssen, wenn die Kapital-
resen'e durch die Anfordenmgen eines Ge-
schäftsjahres bis zu einem gewissen Betrage
erschöpft werden musste.
8. Allgemeine Versicherangsbediii-
^ngen. Von den sogenannten allgemei-
nen Versicherungsbedingungen,
also den im Versicherungsvertrage festzu-
stellenden Rechten und Pflichten beider
vertragschliessenden Teile, mcigen noch fol-
gende hier in Kürze besprochen weitlen:
1. Der Versicherun^nehmer hat bei den
Angaben über den Versicherungsgegenstand
und allen sonstigen Erklärungen, welche zur
Einleitung des Versicherungsvertrages dienen,
bei Strafe der Hinfälligkeit aller Ansprüche
aus dem Versicherungsvertrage sich der
strengsten Wahrhaftigkeit zu befleissigen.
2. Er ist verpflichtet, die vertragsraässigen
Leistungen pünktlich abzuführen, als Ver-
sicherungsnehmer auf Gegenseitigkeit auch die
etwa erforderlichen Nachschüsse rechtzeitig
zu entrichten.
8. Binnen küraester Frist — gewöhnlich
innerhalb vierundzwanzig Stunden — nach
Eintritt eines Schadens, für welchen er Er-
Siitz begehrt, hat er hiervon Anzeige bei der
von dem Vereicherer zu dem Eiule bezeich-
neten Stelle zu erstatten.
4. Alle Auskünfte, die von ihm zur rich-
tigen Bemessung des Schadens verlangt wer-
den, bat er, soweit er dazu imstande ist, zu
beschaffen.
: 5. Bis zur abgeschlossenen und aner-
kannten Feststellung des Schadens hat sich
der Versichenmgsnehmer jeder Verfügung
über die beschädigten Gegenstände bei Mei-
dung des Verlustes jeder Vergütung ge-
wissenhaft zu enthalten.
6. Aenderungen, welche während der
Dauer der Versicherung an den Gegenstän-
den, auf welche sich die letztere bezieht, in
anderer als normaler und regelmägsiger
Weise eintreten ^also z. B. nachträgliche
anderweite Bestellung eines Feldes; Ver-
nichtung der versicherten Früchte durch
andere Ereignisse als Hagelschlag), hat er
dem Versicherer alsbald anzuzeigen. Ebenso
sind, wenn die Versichenmg trotzdem fort-
dauern soll, auch Aenderungen in der Per-
son des Versicherimgsnehmers, in den Eigen-
tums- oder Nutzungsverhältnissen an den
versicherten Gegenständen ziu» Anzeige zu
bringen.
7. Der Versicherer haftet bis zimi Be-
laufe der Versicherungssumme für den in
vertragsmässiger Weise festgestellten Scha-
den, welcher durch und in unmittelbarer Folge
von Hagelschlag dem Vei*sicherungsnehmer
erwachsen ist. (Zu einem Gewinne soll die.
Versichenmg niemals führen. Ob die Ver-
sicherungsanstalten einen vernünftigen Grund
haben, um deswillen auch die gleich-
zeitige Versichenmg der nämlichen Gegen-
stände bei anderen Anstalten zu verbieten
— siehe jedoch die unten sub 9 besprochene
Bedingung — mag dahingestellt sein. Am
nächsten liegt es , anzunehmen , dass jeder
Versicherer nur Anlass habe, zu verlangen^
dass aus der von ihm gewährten Versiche-
rung ein Gewinn nicht erwachse.)
8. Den vertragsmässig festgestellten
Schaden hat der Versicherer so schnell als
möglich zu vergüten. (Die Versicherungs-
verträge pflegen bestimmte kiu-ze Fristen
für die Schadenzahlung festzustellen.)
9. Bei vollem Ersatz der versicherten
Summe hat der Versicherer Anspruch a\if
den ganzen Rückstand der vei'sichert ge-
wesenen Gegenstände.
10. Bei Gegenseitigkeitsgesellschafteu hat
der Versicherer dem Versicherungsnehmer
im Ueberschussfalle den vertragsmässig be-
stimmten Anteil auf seine Prämienzalilung
zurückzugewähren. —
Anlangend die Gesetzgebung, so er-
wachsen dem civil rechtlichen Teile dersel-
ben in betreff der Hagelversicherung kaum
b(\sondere Aufgaben. Die allgemeinen Be-
stimmungen über den Vei^sicherungsverti-ag
und insbesondere über die Schadenversiehe-
rung genügen auch hier. Auch die öffent-
Hagelschädenversichening
959
lichrechtliche Gesetzgebung hat keinen An-
lass, die Hagelversicherung anders zu be-
handeln als die anderen Zweige der Seha-
denversicherung. Wo sie die Konzessions-
pflicht, eine Staatsbeaufsichtigung des Be-
triebes der Yei-sicherungsunternehmungen,
eine bestimmte Art der Rechenschaftslegimg
einzuführen für nötig hält, bedarf es in allen
diesen Stücken der Hagelversicherung gegen-
über besonderer, nur für diese geltender Be-
stimmungen kaum.
9. Staats- und Privatbetrieb. Hervor-
ragende und aktuelle Bedeutung hat ge-
rade in neuerer Zeit die Frage gewonnen,
ob und inwieweit es geraten sei, dass die
Staatsgewalt selbst den Betrieb
der Hagelschädenversicherung in
die Hand nehme. Es kann dies ge-
schehen so, dass die Staatsregienmg die
Hagelversicherung betreibt in Konkurrenz
mit Privatinstituten oder dass sie sich den
Betrieb dieses Versicherungszw^eiges aus-
schliesslich vorbehält. Es kann so gesche-
hen, dass sie ge^Äisse Kategorieeu von Staats-
angehörigen zwingt zur Versicherung, oder
unter voller Freigabe der Versicherungs-
nahme. Wenn man die Gründe näher be-
trachtet, welche den Gedanken der un-
mittelbaren Beteiligung der Staatsgewalt an
der Deckung der aus Hagelsehlägen entste-
henden Vermögensverluste nahe gelegt haben,
so wird man bei Bejahung der Beteüigungs-
frage überhaupt nur der Monopol- und
Zwangsversicherung das Wort reden können.
I)enn jene Gründe laufen darauf hinaus,
das^ bei Staatsmitwirkung das Bedürfnis
der Hagelversicherung billiger und besser
befriedigt werde als ohne dieselbe. Eine
Staatshagelversicherungsanstalt aber, welche
mit Privatinstituten zu konkurrieren hat,
kann, namentlich wenn kein gesetzlicher
Zwang zur Hagelversicherung besteht, jeden-
falls schon um deswillen nicht billiger wirt-
schaften als Privatinstitute, weil sie nicht
die gesanite Hagelversicherung des Landes
in ihrer Hand zu koncentrieren vermag, und,
was die bessere Qualität der Leistung an-
belangt, so wird sie, vorausgesetzt, nicht
zugegeben, dass die natürlichen Voraus-
setzungen hierzu schon in der Staatsthätig-
keit als solcher liegen, diuxjh ihre — es soll
angenommen werden — musterhaften Leis-
tungen ihre Konkurrenten nur zur Xach-
eiferung anspornen und hätte sie immerhin
mit der Möglichkeit, zuletzt auch in diesem
Stücke übertroffen zu werden, zu rechnen.
Wer die Aufgabe des Staates soweit aus-
dehnt, dass er der Staatsgewalt die Befrie-
digung aller der Bedürfnisse der Bürger,
welche sie präsumtiv billiger und besser be-
friedigen kann als die decentralisierte imd
ungehemmte Privatthätigkeit , zuweist —
augenscheinlich die soziaÜstische Auffassung
vom Staate — , und wer überzeugt ist, dass
der Staat das Bedürfnis der Hagelversiche-
nmg billiger und besser zu befriedigen ver-
möge als eine Anzahl von innerhalb des
Staatsgebietes wirkenden Privatinstituteu,
der muss sich für das Hagelversicherungs-
monopol und für gesetzlichen Zwang zur
Versicherung entscheiden. Es ist hier nicht
der Ort, auf jene Frage der philosophischen
Politik von den Grenzen der Staatsaufgaben
näher einzugehen. Dagegen mag imd kann
an der Hand der vorausgegangenen Dar-
stellung des Wesens der Hagelversicherung
die Präsumtion der billigeren und besseren
Leistung einer Monopol- .und Zwangsver-
sicherungs - Staatsanstalt für diesen Ver-
sicherungszweig in aller Küi-ze beleuchtet
werden. Bevorwortet muss aber werden,
dass schon der Zwang hier auf die aller-
grössten Schwierigkeiten stösst. Gesetzt
auch, dass er beschränkt w^ürde auf rein
landwirtschaftliche Betriebe — wo ist die
Grenze zwischen Landwirtschaft und Gärt-
nerei, zwischen Landwirtschaft als Gewerbe
und Landwirtschaft als Vergnügen oder für
den Hausbedarf, zwischen Landwirtschaft
und Obstkultur und Winzerei, zwisclien
Landwirtschaft und Forstwirtschaft? Will
man alle Personen, welche an Gewächsen^
die zu ihrem Vermögensbestande gehören,
durch Hagelschlag Schaden leiden können,
in den Zwang eiubegreifen , so zwingt mau
Unzählige, die nicht das mindeste Interesse
an der Hagelversicherung haben; will man
Kategorieen ausschliessen , so versetzt man
viele, die es bitter nötig hätten, in die Lage,
gar nicht versichern zu können. Es ist
möglich, nicht wahrscheinlich, dass der cen-
tralisierte Staatsmonopolbetrieb der Hagel-
versicherung einzelnen Klassen von Ver-
sicherten geringere Opfer auferlegen \vürde
als der centrahsierte Privatbetrieb. Aber
jedenfalls würden die Opfer anderer Klassen
dann um so grösser sein müssen. An und
für sich ist erfahrungsmässig ausgängig aller
Staatsbetrieb teuerer als der konkurrierende
Privatbetrieb. Sollte die Konkun*enzlosigkeit
an diesem Verhältnisse etwas zu Gunsten
des Staatsbetriebes ändern? Jener Unter-
schied liegt schon in der Art, wie die Mehr-
zahl der selbst gewissenhaftesten Staatsbe-
amten die Arbeitspflicht aufzufassen pflegt.
Hier aber, in der Hagelversicherung, handelt
es sich um Arbeit so skrupulöser Art, um
Arbeit, die so wenig sich in bestimmte Zeit-
masse einscliränken und die so wenig auf
bestimmt vorgezeichnetem Wege sich aner-
ziehen lässt, so sehr in ihrem Gedeihen von
natürlicher Begabung des Arbeiters abhängt,
dass an ein Uebergewicht der Staatsarbeit
auch nur hingesehen auf die Billigkeit
schwer zu glauben ist. Alle Staatsarbeit
muss, schon der Kontrolle wegen, bis zu
960
Hagelschädenversicherung
einem gewissen Masse schabionisiert werden.
Da die Arbeit der Eisikoabschätzung in der
Hagelversichening und noch mehr die der
Schadenabschätzung jeder Schablone so sehr
widerstrebt, dass es bekanntlich auch den
bestgeleiteten Hagelversicherungsgesellschaf-
ten als eine besondere schwierige Aufgabe
erscheint, für die mit solchen Arbeiten be-
trauten Beamten annähernd genügende In-
struktionen auszuarbeiten, so fällt es aber
auch ferner schwer, an die bessere Qualität
der Staatsbeamtenarbeit auf diesem Gebiete
zu glauben. Von Jahr zu Jahr verfeinert
und verbessert sich heutzutage in der Hagel-
versicherung die Privatarbeit unter dem An-
sporn der Konkurrenz. Auch dieses Förde-
rungsmittels würde die monopolisierte Staats-
leistung entbehren.
Im Königreich Bayern ist diu-ch Ge-
setz vom Jahre 1884 eine staatliche Hagel-
versichenmgsanstalt begründet, w^elche kein
Monopol besitzt und keinen Zwang ausübt,
welche einen Garantiefonds von 1 Million
Mark sowie einen jährlichen Beitrag von
40000 Mark zu den Kosten aus Staatsmit-
teln zugesichert erhalten hat. Die Anstalt
ist keineswegs verpflichtet, alle ihr ange-
botenen Versicherungen anzunehmen; sie
stellt Flurmaxima auf gleich den Privat-
instituten, berücksichtigt innerhalb dieser
Grenzen die Anmeldungen nach der Zeit-
folge, kann aber jeden Antrag zurückweisen,
erhebt feste Beiträge und behält sich je
nach dem Verhältnisse der Gesamtbeiträge
zu den Gesamtschäden vor, die einzelnen
Schadenzahlungen zu reduzieren. Sie hat
in den 16 Jahren von 1884 — 1899 nur vier-
mal den vollen Schaden, in einem Jalire
nur 85, in drei Jahren nur 80 ^/o desselben
ersetzen können. Ihre Vei-sicherungsbedin-
gungen sind in vielen Stücken w^eit weniger
günstig als die bei den Privatanstalten üb-
lichen. Das Experiment wird nach ver-
schiedenen Richtungen hin mit der Zeit
sehr lehrreich werden. Es überhaupt zu
unternehmen, ist von sachkundigen Volks-
vertretern mit den schlagendsten Gründen
widerraten worden, und unbefangene Be-
urteiler erklären es schon jetzt nundestens
hingesehen auf die Beschaffenheit und auf
die Billigkeit der Leistungen für misslungen
(vgl. hierzu Ehrenzweigs Assekuranz-Jalir-
buch III., S. 171 ff. Günstig beurteüt da-
gegen erklärlicher Weise die oben citierte
baverische Denkschrift diese Anstalt, beson-
ders S. 99).
10. Statistik. Die Statistik der Hagel-
versicherung ist, wie alle Versicherungs-
statistik, recht unvollkommen. In Deutsch-
land sind im Jahre 1899, von kleineren
Anstalten und Verbänden abgesehen , 18
Gegenseitigkeits- und 5 Aktiengesellschaften
wirksam gewesen. Zu den ersteren ist die
bayerische staatlich geleitete Anstalt ge-
rechnet. Mit wenigen Ausnahmen arbeiten
diese 23 Anstalten nur auf deutschem Ge-
biete. Bei den grösseren deutschen Hagel-
versicherungsanstalten, deren es im Jahre
1861 nm- 12 gab, ist seitdem bis 1899 die
Versicherungssumme von 280 auf 2653 Mil-
lionen Mark gestiegen, bei den Aktiengesell-
schaften, deren es 1861 4, von 1861—66
5, von 1867—84 6, von 1885—99 5 gab.
ist die Versicherungssumme von 303 auf
1027,4 Millionen Mark gestiegen. Die Bei-
träge bezw. Prämien und Gebühren be-
tnigen bei den Gegenseitigkeitsanstalten im
Jahre 1862 1865000 Mark, im Jahre 1899
17 246703 Mark einschliesslich der Nach-
schüsse; bei den Aktiengesellschaften im
Jahre 1861 3498000 Mark, im Jahre 1899
9238818 Mark; Schadenzahlungen (ein-
schliesslich Schadenerhebungskosten) wurden
geleistet :
M.
M.
bei den Gegenseitigkeitsanstalten i 505000 (1864) 13 133300 (1884^
„ „ Aktiengesellschaften . . 1 880 000 (1864) 13002000(1880)
Die Schadenzahlung-en betrugen in Promille der Versicherungssumme:
bei den Gegenseitigkeitsanstalten 4.3 (1888) 20,0 (1867)
„ „ Aktiengesellschaften . . 3,0 (1888) 17,6 (1880)
M.
1899
12 914 133
7 985 322
7,8
8,0
Diese Art üebersicht ist hier gewählt,
weil die grossen sich hier ergebenden Ver-
schiedenheiten besonders charakteristisch
sind.
Die Jahre 1882 — 85 hatten bei den Gegen-
seitigkeitsgesellscliaften überhaupt keine
Ueberschüsse ergeben. Die Akliengesell- 1
Schäften arbeiteten in den letzten 20 Jahren |
auch wiederholt mit Verlust, welcher z. B.
im Jahre 1898, Gewinn und Verlust aller
Gesellschaften zusammen gegenüber gestellt,
noch 318914 Mark betrug. Die walu'e Na-
tur der Hagelvereicherung als echter ßle-
mentarversicherung kann man am besten an
den Schicksalen, welche eine grosse, ratio-
nell geleitete Hagelversichenmgsgeseilschaft
in 45jährigem Bestände erfahren hat, er-
kennen. Die Magdeburger Hagelver-
sicherungsgesellschaft schloss in 16
von jenen 45 Jahren (1854—99) mit Verlust,
zweimal mit sehr beträchtlichem Verlust,
ab, und konnte ihren Aktionären 22 mal
keine Dividende gewähren. 10 ^/o über-
steigende Di>idende gewährte sie nur 11
Hagelschädenversicherung — Haller
961
mal. 1899 hatte die Gesellschaft 93003
Versicherungen über 314912923 Mark ge-
schlossen. Die Prämieneinnahme des Jahres
betrug 3 174023 Mark, die Schäden betrugen
2293923 Mark, der Resen-efonds 539282,
der Sparfonds 771890 Mark, die Dividende
8V2 0/0. .
Oesterreich-Üngarn hatte 1897 9
Aktien- und 8 Gegenseiti^keitsgesellschaften
für Hagelversichenmg, die ersteren damals
mit einem Yersicherungsbestand von 623,6,
die anderen mit einem solchen von mu:
106,4 Millionen Kronen. In den 21 Jahren
von 1876 — 97 erhöhten sich die Prämien-
einnahmen von 13,67 auf 15,47 Millionen
Kronen, üebersdiüsse ergaben nur 8 der
21 Jahre, zusammen 6,33 Millionen Kronen ;
die Verluste in diesem Zeitraum betrugen
aber 26,16 Millionen Kronen.
Für Grossbritannien macht Boumes
Handy Assurance Manual für 1890 ohne
jede "nähere Angabe 3 Ha?elversicherungs-
gesellschaften (»Hailstorm Offices«) namhaft,
von denen die älteste 1843, die jüngste 1851
gegründet worden ist.
In Frankreich überwiegen in der
Hagelversicherung die Gegen seitigkeitsge-
sel£chaften. Ehrenzweig rührt in seinem
Jahrbuche für 1897 neben 13 Gegenseitig-
keitsgesellschaften niu: 3 Aktiengesellschaf-
ten auf. unter den ersteren befinden sich
freilich einige ganz kleine Gesellschaften.
Ueberhaupt aber ist das Hagelversicherungs-
geschäft m Frankreich auch nicht annähernd
so beträchtlich entwickelt wie in Deutsch-
land. InItalien arbeiteten im Jahre 1897
13 Hagelversicherungsgesellschaften, meist
gegenseitige, mit Prämieneinnahmen von
nicht eanz 7000 bis gegen 3 MiDionen Lire.
Die Janresergebnisse waren sehr günstige.
In Russland besteht nur eine grosse
gegenseitige Hagelversicherungsgesellschaft
(in Moskau). In der Schweiz arbeitet nur
eine konzessionierte Hagelversichenmgsge-
seUschaft, die Schweizerische in Zürich, da-
neben eine mehr lokale, nicht konzessionierte,
»Le Para^le« in Neuenburg. Diese beiden,
gegenseitigen, Gesellschaften hatten 1896
einen Versichenmgsbestand von 33725790
und 602087,50 Francs. Die schweizerische
Anstalt, gesetzlich vom Bund und den Kan-
tonen unteretützt, arbeitete in dem schäden-
feichen Jahre 1896 mit einem Ueberschusse
von 2480 Francs und hatte ein Vermögen
von 518268 Francs. Die Verwaltungskosten
betrugen nur 11,37 % der Prämieneinnahme.
Aus aen übrigen Ländern Europas und aus
den Vereinigten Staaten sind einigermassen
genaue Daten aus der neuesten Zeit nicht
zu erlangen gewesen.
Litteraturs Abgesehen von dem, was die Fach-
presse an te-Us pragmatischen Darstellungen,
teils polemischen und kritischen Erörterungen
Handwörterbach der Staatswissenschaften. Zweite
enthält, ist die LiUeratur der Hagelversicherung
ziemlieh dürßig. Propagandistisch aus der Zeit
des Aufkommens der ersten grösseren deutschen
Hagelversicherungsanslalten : J, Opeltf Ueber
Ha^elableiter und IfagelschädenversicherungS'
anstaUen, Leipzig 18S7, — Helm/uth, Ueber.
den Zweck und die Notwendigkeit, Hagel'
sehädenversieherungsanstalten für jedes Land tu
errichten, Braunschweig 182S, — Oberflächlich
orientierend: E. A. Masitis, Systematische
Darstellung des gesamten Versicherungswesens,
Leipzig 1857. — MassvoUe und umsichtige Be*
leuchtung der Verstaaüichung^frage : H. Such»''
lavid, Ueber die Verstaatlichung der Hagelver'
Sicherung, inEhrenzweigs Assekurenzjahrbuch,
Wien 1891. — Daselbst Jahrg. 1899, II, S. 161 ff.
auch der oben schon ang^hrte Aufsatz von
E. Schvafnm. — Statistik über die deutsche
Hagelversichenmg findet sieh in der Zeitseh r.
d. k. preuss, stat. Bureaus (die neueste
im Jahrg. 1890, IIL). — Beleuchtung des oben
erwähnten bayerischen Staatsversuchs in Eisners
Zeitsehr. f. Versicherungswesen, Jahrg. 188S und
1884 ^^<^ ^^ Barths Zeilschr. nNationn, Jahr-
gang 188SJ84, S. 410 u. Jahrg. 1884185, Ä 798.
— Vergl. auch M. und K, Brämer, »Das
Versicherungswesen». (Leipzig C. 0. HirscJ^feld
1894), S, 301 ff. — Interessante und lehrreiche,
auch theoretische Betrachtungen in den bisher
erschienenen Jahresberichten des Eidgen. Ver"
sicheningsamtes zu Bern.
A. Emmingliaus,
Halbpacht
s. Pacht.
Haller, Karl Ludwig von,
geb. am 1. VIII. 1768 in Bern, 1792 Le^ations-
sekretär der Repnblik Bern, 1798 Redakteur
des antirevolutionären Blattes „Helvetische
Annalen", 1806—17 ^ofessor des allgemeinen
Staatsrechts und der vaterländischen Geschichte
an der 1S06 gegründeten Bemer Akademie,
1814 nach Rekonstitnienrng der ehemaligen
Bemischen Patricierherrschaft Mitglied des
Grossen Rates zu Bern, 1820 Uebertntt von der
protestantischen znr katholischen Religion, 1822
infolge dieses Gkabenswechsels Verlast seines
Amtes, 1825 Auswanderung nach Frankreich,
1829 Professor an der Ecde des chartres ztt
Paris, Ende 1830 Rückkehr nach der Schweiz
und 1834—37 Mitglied des Grossen Rates zu
Solothum. Haller starb am 20. Mai 1854 auf
seinem Landgute zu Solothum.
Als eigenartige Erscheinung in der Ge-
schichte der Staatswissenschaften und unter den
Vertretern der romantischen Schule der National-
ökonomik steht Haller da. Er war ein Feind
jedes Strebertums, er buhlte nicht um Würden
und Auszeichnung. Was er aus tiefinnerster
Ueberzeugung für notwendig erkannt hatte zur
Förderung seiner vermeinthchen g^ten Sache,
den Kampf gegen die revolutionäre Strömung
seines Zeitalters, das machte er zur vornehmsten
Aufgabe seines Lebens. Und für was kämpfte
er? für die Neubefestigung des monarchiscnen
Princips, für die Omnipotenz des absoluten
Auflage. IV. 61
962
HaUer— HaUev
Herrschertums. Seine sechsbändige „Restau-
ration der Staatswissenschaften" (s. u.) ist die
monumentalste Apologie der Reaktion, die ie-
mals die Presse verlassen und welche alles das
umstürzen möchte, was der von der französischen
Revolution eingesetzte Gesellschaftsvertrag an
destruktiven Elementen, welche die patrimonial-
herrliche Souveränität der Fürsten hinweggefegt,
in die verschiedenen europäischen Verfassungen
hineingetragen. Die älteren und die neuzeit-
lichen Verfassungen werden einer strengen
Kritik von Haller unterzogen und seine staats-
rechtlichen Grundsätze den von den neufränki-
Bchen Tendenzen infizierten Eonstitutionspara-
graphen entgegengesetzt; seine ganze Staats-
Shilosophie läuu im Grunde genommen jedoch
arauf hinaus, dass es ein von Gott sanktio-
niertes Naturgesetz giebt, wonach der Mächtige
herrscht, der Schwache aber dient, und dass
eine Wiedereinsetzung der Fürsten in ihre alten
angestammten Privatrechte nur durch Annullie-
rung sämtlicher Konstitntionen zu erreichen sei.
Je betagter Haller wurde, je bissiger, aber auch
sophistischer wurde der Ton, den er in seiner
Polemik gegen die Verfassungsverleihungen be-
gehrenden Wünsche anschlägt, welche die Unter-
thanen von absoluten Herrschern verlautbarten ;
als Beispiel sei verwiesen auf seine „Staats-
' rechtliche Prüfung des vereinigten pi eussischen
Landtages nebst redlichem Rat an den König
zur Behauptung seines guten Rechts" (1847).
Schwer ruhte sein Zorn auch auf den Frei-
maurern, deren Logen er als Brutstätten der
Staatsumstürzler ansah, und auf denProtestanten ;
am schwersten aber auf den Häuptern der
reformatorischen Bewegung gegen das Papst-
tum: Luther, Zwingli und Calvin. Das
Smithsche Industriesystem musste Haller schon
deshalb verwerfen, weil dasselbe auf einer so
ungebundenen wirtschaftlichen Bewegungsfrei-
heit beruhte, dass es den restaurierten Feudal-
fürsten, der nur innerhalb mittelalterlicher Wirt-
schaftsformen zur souveränen Machtentfaltung
gelangen konnte, in seinen Finanzoperationen
ttberafi gehemmt hätte. Haller vertrat nämlich
den Grundsatz, dass dem Fürsten der Staats-
schatz und die Staatsdomänen einschliesslich der
Forsten, Seeen etc. privateigentümlich gehören
und dieser zur Veränsserung der Domänen auf
eigene Rechnung in dem Falle ermächtigt sei,
dass keine bestimmten dynastischen Hausver-
träge es untersagten (vgl. seinen Artikel „lieber
die Domänen und Regalien" in Jahrg. I des
Litterarischen Archivs der Akademie zu Bern
ri807J). Zuweilen trifft seine aus wirtschaft-
lichen Vorgängen deduzierte Logik aber auch
das Richtiß:e, z. B.: das Branntweintrinken ist
nicht die Ursache, sondern die Folge der Ver-
armung ; den Ueberfluss an Schankstätten schuf
die Gewerbefreiheit ; die Erleichterung der Ver- 1
kehrsfreiheit durch die Eisenbahnen hat die
Hälfte der ehemaligen sesshaften landwirtschaft-
lichen Arbeiter zu Vagabunden gemacht etc.
(vgl. sein Schriftchen, womit er seine publi-
zistische Thätigkeit abschloss: „Die wahren
Ursachen und die einzig wirksamen Abhilfs-
mittel der allgeiueinen Verarmung und Ver- '
dienstlosigkeit (185()Ji. '
Von seinen sonstigen hierher gehörigen '
Schriften seien noch genannt:
Projekt einer Konstitution für die schweize*
rische Republik Bern, Bern 1798. — Ueber die
Notwendigkeit einer anderen obersten Begrün-
dung des allgemeinen Staatsrechts, Bern 1807
(Antrittsrede zur Bemer Professur). — Restau-
ration der Staatswissenschaft oder Theorie des
natürlich-geselligen Zustandes der Chimäre des
künstlich-bürgerlichen entgegengestellt, 6 Bde.,
Bern 1816—34; dasselbe, 2. Aufl. ebd. 1820—34;
dasselbe in französ. Uebersetzung, Bd. 1 — 3,
Paris 1830; auch je eine italienische, englische
und spanische Uebersetzung liegt von dem
Werke vor, aber nur die erstere wurde voll-
endet. Nach Ausscheidung der nicht hierher
gehörigen, gelegentlich seines üebertrittes zur
katholischen Kirche entstandenen Konvertitäts-
litteratur sowie seiner in das Gebiet der Reli-
gionsgeschichte gehörigen Publikationen bieten
seine übrigen Schriften weder für die Wissen-
schaft noch zur Kennzeichnung der isolierten,
Stellung Hallers in derselben etwas Neues.
Vgl. über Haller: W. T. Krug, Die Staats--
Wissenschaft im Restaurationsprozesse der Herren
von Haller. Adam Müller und Konsorten, Leipzig
1817. — G. Escher, lieber die Philosophie des
Staatsrechts mit besonderer Beziehung auf die
Hallersche Restauration, Zürich 1821, — J. G.
Ratze, Die Konstitutionsscheu des Herrn von
Haller, Leipzig 1821. — Krug, Dihäapolik etc.,
Leipzig 1824. — K. Riedel, v. HaJlers staats-
rechtliche Grundsätze, Darmstadt 1842. — (H.
de Raemy de Bertigny), Notice sur la vie et
les Berits de Ch. L. de Haller, Freiburg 1854.
— R. V. Mohl, Geschichte und Litteratur der
Staats^vissenschafteu , Bd. 11, Erlangen 1858.
S. 530—60. - St.W.B. von Bluntschli und
Brater, Bd. IV, Stuttgart 1859, S. 622 flF. — H.
Wagener, Staats- und Gesellschaftslexikon, Bd,
IX, Berlin 1862, S. 38 ff. — Bluntschli, Ge-
schichte des allgemeinen Staatsrechts und der
Politik, München 1864, S. 495 ff. — Röscher,
Die romantische Schule der Nationalökonomik
in Deutschland, VIII. K. L. v. Haller (in
Zeitschr. f. Staatsw., Bd. XXVI, Tübingen 1870,
S. 93 ff.). — V. Orelli, Rechtsschule und Rechts-
litteratur, Zürich 1879. — Allgemeine deutsche
Biographie, Bd. X, Leipzig 1879, S. 431 ft*. —
H. d. St., 1. Aufl., Bd. IV, 1892, S. 255 fl'.
Lippert
Halley, Edmund,
geb. am 29. X. 1656 zu London, war 1678
magister artium in Oxford, 1579 erfolgte die
Veröffentlichung seines Stemkatalogs des süd-
lichen Himmels (catalogus stellarum australium),
1681 seine Berechnung des nach ihm benannten
Kometen, wurde 1703 Professor der Mathematik
in Oxford und 1719 kgl. Astronom in Green wich.
Halley starb als Mitglied der Royal Society in
London und als korrespondierendes Mitglied der
Akademie der Wissenschaften zu Paris am 14. 1.
1746 zu London.
Durch mutmassliche Vermittclung von
Leibniz war der Royal Society in London ein
Manuskript des Breslauer Propste« Kaspar
Neumann von Auszügen aus sämtlichen Bres-
lauer Kirchenbüchern zugegangen, ans denen
Hallev — Haltekincler
963
Neumann für die Jahre 1687—91 5869 Todes-
fälle ausgezogen und aus der Vergleichung der
Geburts- mit den Sterbejahren der Gestorbenen
eine sechsreihige Tafel konstruiert hatte, welche
auf der 1., 8. und 5. Horizontale mit 7 be-
ginnende und mit 100 auslaufende bestimmte
Altersjahre und daninter die, innerhalb der
angegebenen Beobachtungsmethode , jährlich
wiederkehrende Anzahl der Gestorbenen zeigt.
Die nicht auf einzelne Altersiahre fallende
numerische Eegelmässigkeit der Todesfälle, son-
dern auf das Uebergangsalter von einem der
an den bezeichneten Stellen angegebeneu Alters-
jahre zum anderen, zeig:t auf der Tafel auf der 2.. 4.
und 6. Horizontale die bezügliche Sterbedurch-
schnittsziffer und darüber (auf der nächstoberen
Horizontale)^ einen Punkt. Hallev wurde von der
Koyal Society mit der Berichterstattung über diese
Neumannsche Arbeit betraut und in seinen in
den Transactions der Society abgedruckten zwei
Gutachten (s. u.) kam er dem Auftrage der
Royal Society in der Weise nach, dass er zu-
nächst durch Umrechnung des Neumannschen
Materials eine nach den einzelnen Altersjahren
von 1 zu 84 (ages currents) abgestufte Ab-
sterbeordnung gewann und dann aus der auf
Altersklassen (von je 7 zu 7 Jahren) verteilten
Bevölkerung des damaligen Breslau seine be-
rühmte Sterbetafel (ifeberlebenstafel) kon-
struierte, deren Verwendung er auch auf Er-
mittelung von Leibrenten und Lebensver-
sicherungsprämien ausdehnt. Die Summierung
der auf die einzelnen Altersjahre fallenden
Personen der ersten Tabelle ergiebt eine Be-
völkerung des damaligen Breslau von 33893
Personen, welche Halley für seine Sterbetafel
auf 34 000 Personen abrundete. Letztere Tafel
schliesst mit der Personenziffer 107, d. h. mit
107 Ueberlebenden im Alter von 84 bis 100
Jahren. Welche. Ausgleichsmethode Halley bei
seinen Berechnungen anw^andte, ist nicht be-
kannt geworden, jedenfalls hat er aber die Ab-
rundung ungleichartiger zu Normalwerten mit
dem guten Rechte des Mathematikers vorge-
nommen, der die Erfahrung für sich hat, dass
die erkennbare Korrektur kleiner arithmetischer
Unebenheiten bei einer fünfjährigen Beobach-
tungsskala, sich vollständig verwischt bei einer
zwanzig- oder dreissigj ährigen. Eine seiner
wesentlichsten Umgestaltungen der Neumann-
schen Sterblichkeitszahlen für das 13. bis 17.
Altersjahr, die offenbar zu niedrig waren, be-
stand in deren Ersatz durch diejenigen, welche
auf Beobachtungen im Londoner Christ-Church-
Hospital sich stützten.
Aus diesen Halleyschen Arbeiten ging die
erste wissenschaftlich berechnete Sterbetafel
hervor, deren mittlere Lebensdauerresultate von
zahlreichen Lebensversicherungsgesellschaften,
zuerst von dem „Equitable" in London benutzt
wurden.
Halleys zwei Gutachten (s. o.) abgedruckt
in „Philosophical transactions (of the Royal
Society)'' vol. XVI, Nr. 196 und 198, London
1693 betiteln sich: An estimate of the degress
of the mortality of menkind drawn from cnrious
tables of the births and funerals at the city ot
Breslaw, with an attempt to ascertain the price
of aunuities upon lives. — Some fürt her con-
siderations on the Breslaw hüls of mortalitv.
Vergl. über HaUey: Gottfr. Zenner, Monat-
liche Novellen aus der gelehrten und kuriosen
Welt, Zerbst 1694, Aj)rilheft. — D^parcieux,
Essai sur la probabilite etc., Paris 1746. —
Simpson, Doctrine of annuities and reverions,
London, 1752. — Wargentin, Der kgl. schwe-
dischen Akademie Abhandlungen aus der Natur-
lehre, übersetzt von Kästner, Bd. XVII Nr. 84,
Leipzig 1755. — Montucla, Historia mathe-
maticae, Bd. 2, Teil IV, Paris 1758, S. 531 ff.
— J. H. Lambert, Beiträge zum Gebrauche der
Mathematik und deren Anwendung, Teil III,
Berlin 1772, S. 501 ff. — Süssmilch, Göttliche
Ordnung, 4. Aufl. Berlin 1775-76, Bd. II, S.
226 ff., Bd. III, S. 32 u. ö. — Casper, Beiträge-
zur medizinischen Statistik etc., Bd. II, Berlin
1836, S. 612 ff. — Moser, Gesetze der Lebens-
dauer, Berlin 1839. — Bernoulli, Populationistik,
Ulm 1841, S. 399 ff. — Ph. Fischer, Grundzüge
des auf die menschliche Sterblichkeit gegrün-
deten Versicherungswesens, Oppenheim 1860,.
S. 29 ff. — Wappäus, Bevölkerungsstatistik.
Bd. II, Leipzig 1861, S. 23 u. 109. — A. Wüd,.
Probleme der Statistik etc.. München 1862,
§ 13-16. — Quet«let, Tables de mortalitv
Brüssel 1872. — Knapp, Theorie des Be-
völkerungswechsels, Leipzig 1874, S. 61 und
122 ff. -— Lexis, Einleitung in die Theorie der
Bevölkerungsstatistik, Strassburg 1875, S. 39.
— Liagre, Calcul des probabilites, 2. ed. Brüssel
1879. — Westergaard, Lehre von der Mortalität
u. Morbidität, Jena 1881, S. 19 ff. — Graetzer,
Edmund Halley und Kaspar Neumann, Breslau
1883. — John, Geschichte der Statistik. Bd. I,
Stuttgart 1884, S. 192 ff. — R. Böckh, Zur
Feier des 200 jährigen Bestehens von Halleys
Sterblichkeitstafel in Bulletin de Plnstit. intern,
de statistique, tome VII. Rom 1893.
Lippert
Halfekinder.
(Kost-, Ziehkinder.)
1. Einleitung. 2. Deutschland. 3. Frank-
reich. 4. Grossbritannien. 5. Dänemark.
1. Einleitung. Unter Haltekinder
(Kost- oder Ziehkinder) vei-steht man klei-
nere Kinder, die gegen Entgelt von den
Eltern oder Vormündern in fremde Pflege
gegeben wei-den. Bekanntlich ist es m
Frankreich eine weitverbreitete, in man-
chen geseUscliaftlichen Schichten fast all-
gemeine Sitte, dass die Kinder bald nach
ihrer Geburt bis zu ihrem 3. oder 4. Jahre
bei fremden Personen zur Aufziehung und
Pflege untergebracht werden (nourrisage
mercenaire). Namentlich in den grösseren
Städten und in erster Linie in Paris ent-
ziehen die Mtitter, die den wohlhabenden
Ständen angehören, aus gesellschaftlichen
Rücksichten sich der ersten ihrer Pflichten
und geben die Kinder auf das Land, um
der Beschwerlichkeit der Nahrung und der
Kinderpflege enthoben zu sein. Der Vor-
wand, dass die Kinder in der reinen Luft
des Landes besser gedeihen als in der un-
61*
964
HalteMnder
gesunden Luft der Grossstadt, ist in der
Regel nur eine Beschönigung der wahren
Gründe. Aber auch in anderen Ländern —
und so auch in Deutschland — ist die Zahl
der Haltekinder keine geringe. Nicht selten
nötigen die Familienverhältnisse dazu, die
Kinder in fremde Pflege unterzubringen.
Die unehelichen Mütter sehen sich hierzu
meist gezwungen, um durch Arbeit ihren
Lebensunterhalt verdienen zu können. Die
armen Kinder aber, die im zartesten Alter
gegen einen möglichst geringen Ijohn frem-
den Personen übergeben werden, verfallen
in grosser Zahl durch mangelhafte Nahi'ung,
unverständige Behandlung, ungesunde Woh-
nung, Mangel an rechtzeitiger ärztlicher
Hilfe einem körperlichen oder geistigen
Elend, aus dem sie nur ein frühzeitiger Tod
befreit. Und die Fälle sind leider nicht
selten, in denen die Pflegepersonen, oft in
stillschweigendem Einverständnis mit der
unnatürlichen Mutter, durch strafbare Unter-
lassungen und Handlungen, meist durch
mangelhafte Naiirung die Pfleglinge in
kurzer Zeit dem Tode entgegenführen,
wenn es auch vielfach schwer hält, die
Missethat nachzuweisen. Ist die Sterblich-
keit der Kinder in dem ersten Lebensjahre
schon an sich eine grosse (vgl. d. Art.
Sterblichkeit), so ist sie bei den Halte-
kinderu, sofern nicht eine strenge poli-
zeiliche üeberwachung stattfindet, eine er-
schreckende. In dem von Dr. Roussel der
Nationalversammlung erstatteten Bericht vom
9. Juni 1874 ward die Zahl der Todesfälle
unter den Haltekindem in Frankreich auf
70 bis 80 ®/o angegeben. Diese Verhältnisse
haben in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit
auf sich gelenkt und die Notwendigkeit,
Personen, welche gegen Entgelt Weine
Kinder in Pflege nehmen, einer Aufsicht zu
unterwerfen, dargethan.
2. Deutschland. Obgleich die Auf-
ziehung von Kindern gegen Entgelt schon
begrifflich nicht zu den Gewerbebetrieben
genört, so hat doch, um entstandene Zweifel
zu beseitigen, das R.G. v. 20. Juli 1879
ausdrücklich erklärt, dass die Gewerbeord-
nung hierauf keine Anwendung findet (Ge-
werbeordnung § 6). In Bayern hat das
Polizeistrafgesetzbuch Art. 41, 81 bestimmt,
dass die Annahme fremder Kinder unter 8
Jahren gegen Bezahlung in Pflege oder Er-
ziehung nur mit Genehmigung der Behörde
stattfinden darf, die jederzeit zurückge-
nommen werden kann. Auch sind Per-
sonen, welche die ihnen anvertrauten Kinder
in Bezug auf Schutz, Aufsicht, Verpflegung
oder ärztlichen Beistand verwahrlosen, straf-
bar, und in dem Urteil kann die Polizeibe-
hörde ermächtig weixlen, in anderer Weise
für die Unterbringung der Kinder auf Kosten
der Pflichtigen Sorge zu tragen. In H e s s e n
(G. V. 10. Oktober 1878) bedürfen dagegen
Eltern und Vormünder, die ein Kind unter
6 Jahren in Pflege gegen Entgelt ^ e b e n , der
ortspolizeilichen Genehmigung, die zurückge-
nommen werden muss, wenn demKinde die ge-
bührende Pflege und Fürsorge nicht zu teil
wird. Die Pflegepersonen haben bei
Annahme eines ortsfremden Kindes nur
der Ortspolizeibehörde Anzeige zu machen.
In Württemberg (Polizeistrafgesetz Art.
12) können nur Personen, welche die ihrer
Pflege übergebenen Kinder der sittlichen
Verwahrlosung preisgeben, angehalten wer-
den, die Kinder zur Zwangserziehung abzu-
geben. (S. d. Art. Zwangserziehung.)
Doch sind durch Ministerialerlass vom 11.
Juni 1880 die Ortsvorsteher angewiesen,
Verzeichnisse der in ihrer Gemeinde unter-
gebrachten Haltekinder zu führen, und die
Oberamtsärzte haben letztere periodisch zu
untersuchen und über ihren Gesundheits-
stand zu berichten. In Baden kann nach
dem G. v. 14. April 1882 durch Polizeiver-
ordnimg die Üeberwachung der entgeltlichen
Verpflegung von Kindern unter 7 Jahren
angeordnet werden. Durch den Bezirksrat
kann Personen, welche ihnen angehörige
oder anvertraute Kinder in Bezug auf Schutz,
Aufsicht, Verpflegung oder ärztlichen Bei-
stand verwaMosen , die entgeltliche Ver-
pflegung von Kindern unter 7 Jahren unter-
sagt werden. — In Preussen sind die
Polizeibehörden auf Grund ihrer allgemeinen
Zuständigkdt (Allg. Landrecht H, Tit 17
§ 10) ermächtigt, Polizeiverordnungen zum
Schutze und zur Beaufsichtigung der in
fremde Pflege gegebenen Kinder zu erlassen.
(S. Erlasse der Minister des Innern und der
Medizinal - Angelegenheiten vom 18. Juli
1874 und vom 25. August 1880.) In den
meisten Landesteilen sind hiernach Polizei-
verordnungen erlassen worden, nach welchen
für entgeltliche Verpflegung von Kindern,
die das 6. Jahr noch nicht vollendet haben
oder wegen geistiger oder körperlicher
Schwäche die Schule nicht besuchen können,
eine polizeiliche Genehmigung, die nur auf
Widerruf erteilt wird, erforderlich ist. (S. die
Verordnung des Polizeipräsidenten von Ber-
lin vom 2. Dezember 1879, des Oberpräsi-
denten von Brandenburg vom 29. Mai
1881.) — Auch in den anderen deutschen
Staaten bestehen meist ähnliche Bestim-
mungen.
So notwendig dei^artige Voradirifteu,
durch welche die Uebernahme von Kindern
in Pflege gegen Entgelt an eine jederzeit
widerrufliche Genehmigung gebunden wird,
sind, so reichen sie doch nicht aus. Die
Polizeibehörde ist nicht in der Lage, vor
Erteilung der Genehmigung aUe Verhältnisse
so eingehend zu untersuchen, wie es er-
forderlich wäre, um eine genügende Sicher-
Haltekinder
965
heit zu erlangen, dass der Antragsteller eine
völlig vertrauenswürdige Person ist. Aber
sie l)esitzt auch keine ausreichenden Mittel,
um die Personen, welche Kinder in Pflege
genommen haben, ununterbrochen zu über-
wachen. Es haben sich allerdings an ein-
zelnen Orten Privatvereine gebildet, welche
die üeberwachung der Pflegekinder zu ihrer
Aufgabe gemacht haben. (So namentlich in
Berlin, Dresden etc.) Aber sie besitzen
nicht das Recht, gegen den Willen der
Pflegepersonen deren Wohnung zu besuchen
und sich über die Verpflegimg und Erzie-
hung der Pflegekinder Auskunft zu verscliaf-
fen. Sie hängen von dem guten Willen der
Pflegepersonen ab. Die stetige, eindringende
üeberwachung ist aber die Hauptsache, und
imsere Gesetze bedürfen einer Ergänzung,
damit den von den Behörden genehmigten
Privatvereinen die rechtliche Möglichkeit
hierzu gegeben werden kann. In vortreff-
licher, vielfach nachahmenswerter Weise ist
in Leipzig die Aufsicht über die unehe-
lichen Haltekinder organisiert. Die Leitung
steht einer Deputation des Armenamtes zu, imd
die Üeberwachung der gegen Entgelt unter-
gebrachten Kinder erfolgt durch einen be-
sonders hierfür angestellten Ai*zt und durch
besoldete Pflegeiinnen, zu denen nur gebil-
dete Frauen genommen werden. Die Armen-
ärzte sind zur unentgeltlichen Behandlung
der Kinder verpflichtet, auch wenn die
Mutter nicht öffentliche Armeuunterstützung
erhält. Zur entgeltlichen Verpflegimg
unehelicher Kinder" ist zwar nicht Greneh-
migung erforderlich, aber die Zieheltern,
die ein Kind aufnehmen, müssen dies der
Polizeibehörde melden und die entgeltliche
Aufnahme von Haltekindem kann ihnen
imtersagt werden, wenn sie die über die
Pflege der Kinder bestehenden Vorschriften
nicht beachten. — Der Vorsitzende der De-
putation wird zugleich zum Vormund aller
gegen Entgelt untergebrachten imehelichen
Kinder ernannt. Dadurch ist der Behörde
die Möglichkeit gegeben, über die Pflege
und Erziehung der Kinder die erforderlichen
Anordnungen zu treffen. Diese Generalvor-
mundschaft hat sich als sehr wirksam und
fönlerlich erwiesen.
3. Frankreich. Die Sitte oder Unsitte,
Kinder in fremde Pflege zu geben, wai-
schon im vorigen Jahrhundert in Paris all-
gemein und hatte zahlreiche Vereixlnungen
veranlasst, um dies Pflegewe^en zu regeln
und zu überwachen. (Die hierher gehörigen
Verordnungen sind in einem 1781 erschie-
nenen Code des nom-rices gesammelt.)
Schon unter Ludwig XIV. wurden 1715
Behörden en-ichtet zurVermittelung zwischen
den Eltern und den Personen, die Kinder
in Pflege zu nehmen bereit wa^-en, und zur
üeberwachung der Pflegepersonen, Behörden,
die später zu einem einheitlichen bureau
des nourrices vereinigt wurden, das der
Armenverwaltung zu Paris unterstellt *war.
Doch verbanden sich damit zahlreiche Miss-
stände, die im Jahre 1874 zu seiner Auf-
lösmig führten. Das G. v. 23. Dezember
1874 bezweckt, die gewerbsmässige Verpfle-
gung kleiner Kinder einer strengen üeber-
wachung zu unterwerfen. Jedoch bezieht
sich das Gesetz nur auf Kinder bis zu 2
Jahren und nur auf solche, die ausserhalb
des Wohnortes der Eltern in Pflege gegeben
w^erden. Jede Person, die ein Kind in
Pflege nehmen wiU, muss eine ärztliche
Bescheinigung sowie ein von dem Bürger-
meister auszustellendes Pflegebuch besitzen,
in welches Angaben über die Personen, den
Lohn etc. eingetragen werden müssen und
in welches die mit der üeberwachung be-
auftragten Behörden ihre periodischen Be-
suche einzuzeidinen haben. Für jeden
Pflegling muss ein besonderes Büchlein
ausgesteUt werden. In jeder Gemeinde ist
eine Aufsichtsbehörde zu bilden, der zwei
Familienmütter angehören müssen. In dem
Departement wird die Aufsicht von dem
Präfekten geführt, dem ein Ausschuss zur
Seite steht. Endlich ist im Ministerium des
Innern ein besonderer Centralausschuss ge-
bildet worden, der über die Durchfühnuig
des Gesetzes zu wachen hat. Besondere
Aerzte sind anzustellen, welche mindestens
einmal jeden Monat die Pflegekinder zu be-
suchen und über deren Befinden zu berich-
ten haben. Allen Aufsichtsbeamten steht
das Recht zu, jederzeit die Wohnung der
Pflegepersonen zu besuchen. Die Stellen-
vermittler bedürfen zum Beti'ieb ihres Ge-
werbes einer jederzeit wideiTuflichen Ge-
nehmigung, die von dem Präfekten zu er-
teilen ist.
Hat das Gesetz auch vielfach günstige
Erfolge erzielt, so doch keineswegs überall.
In manchen Departements steht es mehr
auf dem Papier als es in Wirksamkeit ge-
setzt ist. Die Kosten der Ausführimg des
Gesetzes sind zur Hälfte vom Staate, ziu*
Hälfte von den Depai'tements zu tragen.
Da es aber strittig ist, ob die Departements
zur Bewilligung der erforderlichen Mittel
verpflichtet sind, so ist das Gesetz ^'ielfach
ein toter Buchstabe geblieben. Doch stim-
men sämtliche Berichte über die Wirksam-
keit des Gesetzes darin überein, dass über-
all da, wo es ziu: Ausfühinmg gelangt ist,
die Zustände sich bedeutend gebessert haben
und die Sterblichkeit der Haltekinder in be-
trächtlichem Masse gesunken ist.
4. Grossbritannien. In England sind
es. wie in Deutschland, meist niu* unehe-
liche Kinder, welche bei fremden Personen
gegen Entgelt untergebracht werden. Ein
polizeilicher Schutz wird ihnen nur in ge-
966
Haltekinder — ^Hamilton
• •••
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•" •
• •• •
lingem Umfange zu teil. Das im Jalire 1872
für England, Schottland imd Irland erlassene
Gesetz (Act for the better protection of in-
fant life) bezieht sich nur auf Kinder bis
zu einem Jahre. Wer solche in Pflege
nehmen will, bedarf für seine Pereon imd
für die Wohnung einer Genehmigung, die
nur nach vorhergehender Untersuchung der
Wohnung erteilt werden darf. Doch wiitl
darüber geklagt, dass das Gesetz vielfach
nicht beachtet werde. In einzelnen grossen
Städten sind besondere Inspektoren ange-
stellt, die über die Ausfühnmg des Gesetzes
zu wachen haben. Eine Ergänzung findet
das Gesetz in dem von 1889 (Prevention
of cruelty to and protection of childern Act),
durch welches IVIisshandlung und Verwahr-
losung der Kinder mit besonderen Strafen
bedroht sind.
5. Dänemark. Nach dem G. v. 20.
April 1888 ist zur entgeltlichen Aufnahme
von Kindern bis zum voDendeten 14. Jahre
Erlaubnis erfoi-derlich. Mit der Beaufsichti-
gung von HalteMndern werden vertrauens-
würdige Männer und Frauen beauftragt,
welche berechtigt sind, jeder Zeit die Woh-
nungen der Leute, die Kinder aufgenommen
haben, zu besichtigen.
Litteratur: Loening, Lehrb. des Verwcdtungs-
rechts f S. Sil. — Vffelniann in Vierteljahrs-
schrift für Ges^itrndheitspflege XV, 1 ff. — Ba~
ginsky, ebenda XVIII, S37ff. (über Berlin). —
Nath in der Vierteljahrsschrift für gerichü,
Medizin XL, 318 ff. — Raiidnitz, tindelpflege,
1886 (mit Statist. Angaben). — Taitfte, Schutz
der unehelichen Kinder in Leipzig 189S. — H.
Neumann, Oeffentl. Kinderschutz in Weyl,
' Handbuch der Hygieine, Bd. VII (1895), S.
486 — 508. — Plstor, Gesundheitswesen in
Preussen, Bd. II (1898), S. SUff- — Ucber
Frankreich vgl, die nach dem G. v. 2S. Dezem-
ber 1874, ■^T'l' 4 jahrlich zu erstattenden Berichte
über die Kindersterblichkeit und die Ausführung
des Gesetzes. — Lenoir, De la protection du
Premier (ige. Loi du iiS Dcc. 1874 (1898).
E. Loening,
Hamilton, Alexander,
feb. am 11. I. 1757 auf der Antilleninsel Nevis,
esuchte das Columbia College in New- York,
trat bei Ausbruch des amerikanischen Unab-
hängigkeitskrieges als Freiwilliger in die Armee
ein und wurde Sekretär Washingtons, der ihn
1777 zum Oberstleutnant ernannte. 1781 er-
hielt er das Generalspatent und entsagte dem
MHitärdienst. 1786 wurde er Mitglied der ge-
setzgebenden und 1787 der konstituierenden
Versammlung in Philadelphia, in welcher letz-
teren er die Führung der föderalistischen Partei
übernahm, deren Propaganda für Annahme des
Staats^rundgesetzes er durch seine publizisti-
sche Thätigkeit im „ Federalis t" wesentlich
förderte. 1789, nach erfolgter Konstituierung
der neuen Regierung, trat Hamilton als Schatz-
sekretär in das Kabinett ein. Hier sah sich
sein finanzpolitisches Genie vor die Aufgabe
gestellt, der Rehabilitierung des durch die An-
forderungen des Krieges äusserst geschwächten
öffentlichen Kredits der Union seme ganze Kraft
zu widmen.
Er begann die Lösung dieser Aufgabe mit
Gründung einer Nationalbank sowie Abwälzung
der Schulden der Einzelstaaten auf die Union
zwecks Konsolidierung und Fundierung der
Staatsschuld. Die Staatseinnahmen durch He-
bung der industriellen und landwirtschaftlichen
Leistungsföhigkeit der Union zu steigern, legte
er der gesetzgebenden Versammlung am 5. XII.
1791 seinen berühmten Industriebericht (s. u.)
Tor, und das darin enthaltene protektionistische
Reformprogramm fand den Beifall sowohl der
Föderalisten als der Republikaner.
1795, nach endgiltiger Regelung des Tu-
gungsverfahrens der Staatsschulden, legte
Hamilton sein Amt als Schatzsekretär nieder.
Nach Washingtons Tode fiel ihm auf kurze
Zeit der Oberbefehl über die Armee zu. 1800
kehrte er nach New- York zurück und beteiligte
sich, als Führer der Föderalisten, wieder lebhaft
an dem politischen Parteigetriebe. Von den
sich 1804 gegenseitig bekämpfenden zwei Präsi-
dentschaftskandidaten Burr und Jefferson war
letzterer als Republikaner Hamiltons politischer
Gegner; trotzdem agitierte Hamilton, da er
Oberst Burr nur als eorgeizigen Streber kannte,
für Jeffersons Wahl. Nachdem es ihm auch
gelungen, aus zwei Wahl^ngen Burr jedes-
mal nur als Vicepräsident hervorgehen zu sehen,
kam es zwischen diesem und General Hamilton
zum Duell, und letzterer starb an einer darin
erhaltenen Wunde am 11. VII. 1804.
Hamilton yerö£fentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften in Buchform:
Report on the establishment of a mint in
the House of Representatives of the United
States, May 5, 1791, New- York. — Report of
the Secretary of the United States on the sub-
iect of manufactures, presented to the House of
Representatives, on the öth December 1791,
London 1793. (In diesem, in seiner amtlichen
Eigenschaft als Staatssekretär des Schatzamts
geüeferten Bericht über Schutz der heimischen
Industrie und ihrer Erzengnisse bekämpft
Hamilton die Freihandelsdoktrin zu Gunsten
eines den amerikanischen Verhältnissen ange-
Sassten gemässigten Schutzzolls. Er wurde
adurch auf diesem Gebiete ein Vorkämpfer
Lists, dessen Propaganda für Schutzzoll die
Hamiltonschen Ausführungen bekanntlich stark
beeinflussten, dessen Doktrin sich aber durch
ein tieferes Eindringen in die handelspolitische
Materie auch nach der historischen Seite hin
auszeichnet. In Hamiltons Berichte werden In-
dustrie und Ackerbau in reciproker Beziehung'
in eine Interessensphäre gebracht, darin wird
ferner die irrtümliche physiokratische Vorstel-
lung^ von der zweifachen Ackerbaurente — ver-
schiedene Jahre bevor Ricardo mit seiner un-
sterblichen Theorie hervortrat — durch Nach-
weis des Kapitalbildun&fsprozesses dahin wieder-
legt, dass der Kapitedgewinn zur Hälfte auf
den Eigentümer, zur anderen Hälfte auf
den Pächter einer landwirtschaftlichen Unter-
nehmung entfalle und diese doppelte Rente
sich daher für jeden Teilnehmer vereinfache.
Hamilton
967
Der Schutzzöllner Carey preist Hamilton wegen
dieses Berichts als Colbert der Vereinigten
Staaten.) — Letter concerning the public con-
duct and character of (President) John Adams,
1. und 2. Aufl., New- York 1800. —
Hamilton war der Hauptbeteiligte an
dem Sammelwerke : The Federalist: a collec-
tion of essays, written in favor of the new
Constitution, as agreed upon by the federal
Convention, öeptember 17, 1787, by Alex. Hamil-
ton, James Madison, and John Jay, 2 Bde.,
New-York 1788; dasselbe, 2. Aufl., u. d. T.:
The Federalist. a coUection of essays, etc., with
Pacificus on the proclamation of neutrality,
written in 1793, 2 Bde., 1802 ; dasselbe, 3. Aufl.,
Washington 1818; dasselbe, 4. Aufl., Hallowell
(Maine) 1826; dasselbe, 5. Aufl., Washington
1831; dasselbe, 6. Aufl., Hallowell 1837; das-
selbe, 7. Aufl., ebd. 1857; dasselbe, 8. Aufl. u.
d. T, : The Federalist: a commentary of the
Constitution of the United States. A coilection
of essays, also the Continentalist and other
papers by Alex. Hamilton. Edited by John C.
Hamilton, Philadelphia 1871 ; dasselbe ; 9. Aufl.,
veranstaltet von H. C. Lodge, London 1888.
Hamiltons Gesamtwerke: Hamilton, Ale-
xander, Works, comprising bis most impor-
tant oMcial reports ; an improved edition of the
Federalist, written in 1788: and Pacificus on
the proclamatiouä of neutrality, written in 1793,
3 Bde., New York 1810. — Hamilton, Works,
comprising bis correspondence, and bis political
and official writings, exclusive of the Federalist,
civil and military. Edited by John C. Hamil-
ton, 7 Bde.. New York ia50— 51. — Hamilton,
Official and other papers. Compiled by Francis
L. Hawks, Bd. I (einziger), ebd. 1842.
Ver^l. über Hamilton: Few remarks on
Mr. Hamiltons letter, concerning the public con-
duct and character of the President (J. Adams),
by Caius (ps.), Baltimore 1800. — TomCallen-
d e r , Letters to A. H., King of the Feds, New-
York 1802. — „Hamilton*^ to the Federalis ts
of the United States on the choice of a Presi-
dent, ebd. 1812. — J. C. Hamilton, Life of
Alexander Hamilton, 2 Bde., New-York 1840.
— J. C. Hamilton, History of the Eepublic,
of the United States of America, as traced in
the writings of Alexander Hamilton and bis
contemporaries, 7 Bde., New-York 1857. —
Bluntschli und Brater. Staatswörterbuch,
Bd. IV, Stuttgart 1859, S. 629. — Neu mann,
Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika,
Bd. I. Berlin 1863, S. 416ff. — E. Laboulaye,
Histoire des Etats-Unis, 2. Aufl., Bd. III, Paris
1867, S. 210 ff. — Greeley, Essays designed
to elucidate the science of political economy,
Boston 1870, S. 109 und 305. — v. Holst,
Verfassung und Demokratie der Vereinigten
Staaten von Amerika, Bd. I, Düsseldorf 1873,
S. 70 ff. — Thompson, Social science and na-
tional economy, Philadelphia 1875, S. 27, 263/64,
356,8. — J. HPatton, Concise history of the
American people, New-York 1876, S. 531 ff. —
Morse, Life of Alexander Hamilton, 2 Bde.,
Boston 1877. — H. C. Lodge, Alexander Ha-
milton, 2 Bde., Boston 1882. — F. A. Walker,
Political economy, London 1883, S. 403. —
Gilman, A histo^' of the American people,
Glasgow 1883, S. 338ff. u. ö. — Harrower,
Alexander Hamilton als Nationalökonom, Halle
1887. — Bastable, Commerce of nations,
London 1892, S. 120 ff. - E. G. Bourne,
Alexander Hamilton and Adam Smith, in Quart.
Jonrn. of Economics, 1894, April, Boston. —
E. C. Lunt, Hamilton as a political economist,
in Joum. of Pol. Econ., vol. III, New-York 1895.
Lippert.
Uamiltim, Robert,
geb. 1743 in Edinburg und gest. daselbst am
14. VII. 1829, trat nach Absolvierung der
Edinburger Hochschule, in ein Bankgeschäft
ein, worin er den Grund zu den umfassenden
Studien im Handels-, Geld- und Staatsschulden-
wesen Englands legte, die ihn später zu einer
schriftstellerischen Kapazität auf dem Gebiete
des englischen Staatsschuldenwesens machten.
1766 entsagte er dem Kaufmannsstand und
widmete sich ausschliesslich den Wissenschaften.
Nachdem er von 1769 bis 1778 als Bektor der
Akademie zu Perth gewirkt hatte, bekleidete
er 1779 bis gegen 1798 die Professur der
Mathematik an der Universität zu Aberdeen.
Mit seinem finanzpolitischen Hauptwerke (s. u.)
trat er erst 1813 an die Oeffentlicnkeit.
Hamilton veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften in Buchform:
Indroduction to merchandise, containing a
complete System of arithmetic, with an account
of the trade of Great-Britain, Edinburgh 1777.
— An inquiry concerning the rise and progress,
the redemption and present State, and the ma-
nagement of the national debt of Great Britain
ana Ireland, ebd. 1813; dasselbe, 2. Aufl., ebd.
1814; dasselbe, 3. und vollständigste Aufl.,
ebd. 1818; dasselbe, Neudruck, London 1857;
dasselbe in französischer Uebersetzung von
Henri Lasalle, Paris 1817. ^er Verfasser
führt in diesem bereits oben gedachten Werke
und zwar zuerst von den englischen Finanz-
politikern den Beweis, dass der Schulden-
tilgungsfonds, wenn er in keinem reciproken
Verhältnis zum Ueberschuss der Staatseinnahmen
über die Ausgaben steht, eher tlas Anwachsen
der Staatsschuld zu fördern als deren Sinken
herbeizuführen geeignet sei, ein finanzarith-
metisches Postulat, das auch eine gesetzmässige
Beschränkung des Tilj^ngsfonds für England
unter Georg IV. herbeuührte.) — The progress
of Society, Edinburgh 1830 (Inhalt: Wealth and
industry; distribution of wealth; equalization
of wealth, etc.) — Essays, Aberdeen 1831, Neu-
druck, Edinburg 1831. (Inhalt: Peace and war;
on the management of the poor, etc.)
Vgl. über Robert Hamilton: Mac
Culloch, Literature of political economy,
London 1845, S. 139 und 337. — Röscher,
Zur Geschichte der englischen Volkswirtschaft,
Leipzig 1851, S. 117. — Dictionnaire de F^co-
nomie politique, 2. Auflage von Coquelin und
Guillaumin, Bd. I, Paris 1854, S. 847/48.
— Biographie universelle, nouvelle Edition, Bd.
XVIII, ebd. 1857, S.410.—Dictionaryof national
biography, Bd. XXFV, London 1890, S. 207.
Lippert,
968
Handel
Hand- und Spanndienste
B. Naturalleistungen und Bauern-
befreiung (letzteres oben Bd. 11 S. 343 ff.).
Handel.
1. Begriff. 2. Hauptzweige. 3. Geschicht-
liche Ausgangspunkte der Handelsthätigkeit.
4. Die Yolkswirtschaftliche Bedeutung des H.
5. Statistik der Handelsbetriebe. 6. Die
neuzeitliche Gestaltung des H. A. Gross-
handel. B. Detailhandel. C. Specialisiemng
und Erweiterung der Handelsbetriebe. D. Markt-
handel. E. Sonstige Handelszweige. F. Schluss-
betrachtung. 7. Die soziale Frage beim Han-
delsstande.
1. Begriff. Handel ist gewerbsmässig
betrieben der Einkauf und Eintausch von
Gütern und die Wiederveräussening der-
selben. Die leitende Absicht ist also bei
Beschaffung der Güter nicht, sie zu ver-
arbeiten oder dem eigenen Gebrauche zuzu-
führen, sondern sie wieder abzusetzen und
zwar mit einem Gewinne. An den Gütern
selbst können einzelne Verändenmgen vor-
genommen werden (Ortsveränderungen, Um-
packung, Zerteilung oder Zerlegung etc.),
aber keine wesentliche Umgestaltung; sonst
liegt kein Handel, zum mindesten kein
blosser Handel mehr vor, sondern eine Er-
zeugung, eine Produktion. Der Sprachge-
brauch weicht öfter von dieser genauen Auf-
fassung des Handels ab und bezieht in
diesen Ausdruck auch andere Formen des
Verkehrs ein, beispielsweise wenn vom aus-
wärtigen Handel eines Staates gesprochen
wird, wobei man an den gesamten Güter-
verkehr desselben mit dem Auslande denkt,
ohne Unterschied, ob dieser durch eigene
Mittelspei-sonen (Händler) bewerkstelligt wird
oder nicht.
2. Hauptzweige. Beim Handel lässt
sich eine Fülle von Arten und Zweigen
unterscheiden, w^obei die Einteilung bald
nur den Handel im eigentlichen Sinne, bald
in einer weiteren Bedeutung des Wortes
(s. o.) berührt. Die wichtigsten sich hier-
nach ergebenden Unterscheidungen sind die
folgenden.
a) Je nach der Beschaffenheit der Güter,
um deren Umsatz es sich handelt, spricht
man vom Waren-, vom Immobilien-
handel, vom Handel mit Münzen, AVert-
papieren oder Effekten. £rstei*er be-
trifft den Umsatz beweglicher Sachgüter, und
man denkt häufig au ihn allein, wenn man
von Handel schlechtweg spricht, da er den
grössten Teil der Handelsthätigkeit in sich
begreift. Der Handel mit Immobilien (Häusern,
Grundstücken) unterscheidet sich wesentlich
von ersterem, da es sich bei ihm weniger
um dauernd zu wie<l erholende gleichartige
Geschäfte ziu* Befriedigung normaler volks-
wirtschaftlicher Bedürfnisse handelt als um
eine Summe von Spekulationsakten ohne
regelmässige Wiederkehr. Nur vereinzelt
gelangt er zu einer grösseren Ausdehnung
und wird zu einer ständigen Erwerbsbe-
schäftigung. Der Handel mit Wertpapieren
oder Effekten (Staatsschuldverschreibungen,
Aktien, Wechseln etc.), auch Münzen und
Edelmetallen verbindet sich h&ufig mit der
eigentlichen Bankierthätigkeit, d. i. der
Kreditvermittelung und Organisation des
Zahlungswesens (s. d.Art. Banken oben Bd.
n S. 132 ff.).
b) Der Gross h an del oder Handel
en gros setzt die Waren an Wiederver-
käufer oder an Industrietreibende zur Ver-
arbeitung im Unternehmen derselben ab;
der Detailhandel wendet sich an die
wirklichen Verbraucher. Daran knüpfen
sich wichtige Unterschiede, sowohl was die
Art und Weise des Ablaufes der Handels-
geschäfte als was den Umfang derselben
betrifft. Der Grosshändler hat es nämlich
mit Geschäftsleuten zu thun, welche mit
den Marktverhältnissen, Eigenschaften der
Ware etc. gewöhnlich ganz anders bekannt
und auf die Wahrung ihres Vorteils viel
melir bedacht sind als das grosse Publikum,
mit dem der Detailliündler verkehrt. Dann
sind zumeist die einzelnen Geschäfte be-
deutender und der Umsatz im ganzen ein
gi'össerer. Wir sagen zumeist, denn dies
|kann, muss aber nicht zutreffen. Denn
I einerseits giebt es Detailkunden mit grossem
Bedarf und umgekehrt Artikel, von denen
auch die Wiederverkäufer nur ganz geringe
Mengen beziehen; andererseits kann auch
der Detailhandel in selu- vei*schiedenem Um-
fange, in kleinem oder grossem Stile be-
trieben werden. So haben sich für Artikel
der verecliiedensten Art Handelsgeschäfte
mit grossem Umfang herausgebildet, und
man spricht da wolü von Warenhäusern
und Magazinen oder in ihrer ol^rsten
Stufe von Grossmagazinen (s. unten
sub 6 B). Im allgemeinen ist aber der Detail-
handel auch Kleinhandel, d. h. Gesamt-
umsatz sowie die einzelnen Geschäfte er-
reichen eine nur massige Höhe ; häufig wii-d
daher auch der Ausdinick Kleinhandel für
Detailhandel gebraucht. Die Kramerei
stellt den Detailhandel mit geringfügigen
Mengen von Handelsartikeln dai-, die zum
gewöhuHchen Lebensbedaii gehören. Der
Detailliandel kann übrigens ^ähnlich wie das
Handwerk) einen örtlichen Cnarakter an sich
tragen, d. h. auf den Verkehr mit im Stand-
orte oder in dessen Umgebung woluihaften
Kunden berechnet sein oder aber den Ab-
! satz ganz oder teilweise in der Ferne suchen,
i Namentlich gilt das von gewissen Unter-
I nehmungen, die in gi*ossen Städten befind-
Handel
969
lieh vornehmlich oder gar ausschliesslich iu
den kleineren Orten Kuudschaften zu ge-
winnen suchen oder von bestimmten Handels-
centren oder Produktionsorten aus syste-
matisch die Versendung von Waren nach
auswärts im kleinen vornehmen (Versand-
g e s c h ä f t e). Durch Eigentümlichkeiten bei
Entrichtung des Kaufpreises auf Seiten der
Kunden unterscheiden sich die sogenannten
Abzahlungsgeschäfte (s. darüber oben
Bd, I S. 14 ff.).
Aehnliche Abstufungen nach dem Ge-
sichtspunkte des Handels im grossen und
kleinen giebt es auch beim Effektenhandel,
nur dass die Trennung gewöhnlich nicht so
scliarf hervortritt, lür den Umsatz im
kleinen und namentlich zum Yerkehre mit
Personen ausserhalb der Geschäftskreise be-
stimmt sind die sogenannten Wechsel-
stuben.
c) Je nachdem Ware gegen Ware oder
Ware gegen Geld hingegeben wird, unter-
scheidet man Tausch-(Baratto-)Handel
und Kaufhandel. Nur letzterer lässt
beiderseitig eine genaue Berechnung zu und
entspricht den Verhältnissen höherer Kultur-
stufen.
d) Der Handel kann ferner als sess-
hafter betrieben w^erden, nämlich wenn
dies mit Hilfe einer festen Handelsnieder-
lassung geschieht, oder alsW anderhandel,
wenn der Handeltreibende seine Geschäfte
im Umherziehen unter Mitführung von Waren
abwickelt. Der Wanderhandel tritt in ver-
scliiedenen Formen auf und entspricht im
allgemeinen minder entwickelten wirtschaft-
lichen Verhältnissen, nämlich insbesondere
dann, wenn der Handelsverkehr noch kein
regelmässiger, ständiger oder die Bevölke-
rimg zu dünn ist, als dass für eine feste
Handelsniederlassung, die mehr oder weniger
auf die Umgebung angewiesen ist, hinläng-
lich Beschäftigimg vorlianden wäre. Em
Wanderhandel wurde namentlich schon frühe
durch die seefahi'enden Nationen betrieben;
auf dem festen Lande findet sich der Kara-
wanenhandel vor. Ebenso bringt der Besuch
von Märkten oder Messen einen eigenen
Wanderhandel zur Ausbildung. Der Hau-
sierhandel ist ein Detailhandel im kleinen
und betrieben im Umherziehen von Haus zu
Haus, von Ort zu Ort. Gewissermassen in
der Mitte steht der Hökerhandel, welcher
von einem offenen und daher leicht verleg-
baren, oft nicht dauernd erlialtenen Stande
aus gewölinUche liCbensmittel zum Verkauf
briugt.
e) Nach den Gegenständen des Waren-
handels wird unterschieden Kolonial-
waren-, Materialwaren-, Buch-
handel etc. Der Handel mit bereits ge-
brauchten Gegenständen des Hausbedarfs,
zur Bekleidung u. a. fällt den Trödlern zu.
f) Der Handel auf eigene Rechnung bildet
den Eigen- oder Properhandel, der
Handel im eigenen Namen, aber für fremde
Rechnimg den Kommissionshandel.
g) Die folgenden Einteilungen betreffen
nicht mehr Arten der Handelsbetriebe, son-
dern beziehen sich auf den durch den Handel
— aber nicht allein durch den gewerbs-
mässigen Handel (s. o.) — bewirkten Güter-
umsatz.
Der Binnenhandel begreift den in-
ländischen Verkehr in sich; den Gegensatz
hiezu bildet der auswärtige oder
Aussenhandel. Hinsichtlich des letzteren
unterscheidet man wieder Einfuhr- und
Ausfuhrhandel, je nachdem Ware aus
dem Auslande bezogen oder in dasselbe ab-
gesetzt wird. Der Zi w ischenhandel ver-
kauft im Ausland gekaufte Ware wieder ans
Ausland. Aus- und Einfuhr können somit
direkt oder indirekt (über einen Zwischen-
platz) vor sich gehen. Ein Land treibt mit
einem anderen Aktivhandel, wenn der
Handelsverkehr durchgeführt wird dm^ch
die ihm angehörigen Kaufleute; für das
andere Land wird der Handel dann zum
Passivhandel. (Im allgemeinen ist der
Verkehr der reicheren und höher kulti-
vierten Nationen mit den anderen auf der
Seite der ersteren ein Aktiv- und auf Seiten
der letzteren ein Passivhandel.) Etwas
anderes bedeutet die Einteilung vom Ge-
sichtspunkte der Handelsbilanz (s. d.) aus;
diese ist aktiv oder passiv, je nachdem der
Wert der Ausfuhr oder der Einfuhr über-
wiegt.
h) Einzelne Funktionen des Handelsbe-
triebes haben sich im Laufe der Zeiten zu
selbständigen Gewerben oder Unterneh-
mungen und damit zu Hilfsgewerben
des eigentlichen Handels, des gewerbs-
mässigen Güterumsatzes ent^nckelt. In ge-
wissem Sinne gilt dies vom Transportwesen
überhaupt, indem anfangs der Händler selbst
den Transport besorgte. Heute vermitteln
selbst nur den Verkehr mit den bestehenden
Transportanstalten eigene Unternehmungen
(Speditionsgewerbe); es bestehen ferner
Kreditauskunftsanstalten (s. d. Art. Aus-
kunftswesen oben Bd. 11 S. 46 ff.), Agenten,
die in fremdem Namen und für fremde
Rechnung Geschäfte abschliessen (s. d. Art.
Agenturwesen oben Bd.IS. 54 ff.), Makler,
welche Geschäfte vermitteln; Banken und
Incassogeschäfte besorgen die Einziehung
von Forderungen, Lagerhäuser übernehmen
die Aufbewahrung der Waren etc. etc. —
Die im vorstehenden erwähnten Unter-
scheidungen bezogen sich auf Art und Gegen-
stand der Handelsbetriebe und Handels-
thätigkeit; daneben ergeben sich aber auch
Kategorieen ingewerberechtl i ch erHin-
sicht, die freilich, bei der Verschiedenheit
970
Handel
des Gewerbereclits in den einzelnen Staaten,
nicht allgemein giltig aufgestellt werden
können. Im wesentlichen trifft jedoch zu,
dass gewisse Handelszweige (z. B. Gift-
handel, Trödelhandel u. s. w.) häufig, was
Eröffnung des Betriebes und Ausübung des
Gewerbes anbelangt, einer behördlichen Ein-
flussnahme oder Aufsicht unterliegen, wäh-
rend für andere nur die allgemeinen ge-
werbepolizeilichen Bestimmungen in Betracht
kommen. S. darüber d. Art. Gewerbege-
setzgebung oben Bd. IV S. 410 ff.
3. Geschichtliche Ausgangspunkte
der Handelsthätigkeit. Im Anfang der
wirtschaftlichen Entwickelung ist von einem
Handel nur wenig wahrzunehmen. Sofern
es selbst einen Verkehr, einen Güteraus-
tausch giebt, ist nur wenig oder gar kein
eigentlicher Handel, d. i. Einkauf zum Zwecke
des Verkaufes wahrzunehmen, wie denn
auch ein wirklicher Handelsstand, der be-
nifsmässig Handel betreibt, fehlt
Die Entstehung des eigentlichen Handels
knüpft auch nicht an die Verkehrsbeziehungen
zwischen den Angehörigen eines Stammes
oder Volkes an, sondern an die zwischen
den Angehörigen verschiedener Stämme oder
Völker, wobei, wie es scheint, ursprünglich
der Austausch von Geschenken eine grosse
Bolle spielt und sich die Erscheinung des
sogenannten stummen Handels zeigt (Hinter-
legung der zum Austausche bestimmten
Güter bezw. der dafür angebotenen Gegen-
stände an gewissen Oertlichkeiten, Abschluss
des Tausches diu-ch Wegnahme des von der
Gegenpartei Hinterlegten ohne persönlichen
Verkehr). Der Grund davon, dass der Handel
als Verkehr zwischen verschiedenen Stämmen
oder Völkerschaften auftritt, ist darin ge-
legen, dass hier die Verschiedenheit der
Erzeugnisse viel grösser ist und auch viel
bedeutendere Schwierigkeiten für die wechsel-
seitige Ergänzung zu besiegen waren, so dass
eben eine eigene auf Bewerkstelligung des
Austausches gerichtete Thätigkeit zunächst
hier Anlass und Spielraum zur Entfaltung
fand. Im Zusammenhang mit dem Mangel
festen internationalen Rechtsschutzes prägt
dies dem ältesten Handel seinen Charakter auf.
So findet es sich bei den untersten
Kulturstufen häufig, dass die Fürsten oder
Häuptlinge den Handel ausüben ; der Handel
verbmdet sich ferner leicht mit Beutezügen
und Seeräuberei und schliesst sich gerne
an friedenverbürgende religiöse Veranstal-
tungen an. Andererseits ist der älteste ge-
werbsmässig betriebene Handel ein Verkehr
von Ort zu Ort, von Land zu Land. Na-
mentlich sind es die seefahrenden Nationen
imd die Nomadenvölker, welche in der Aus-
übung dieses Berufes zusammenstehen. Es
hängt ferner mit den Wagnissen und Ge-
fahren des alten Handels sowie der UnvoU-
kommenheit der Transportmittel zusammen,
dass es namentlich nach den Verhältnissen
jener Zeiten hochwertige Waren sind, welche
die Gegenstände der Handelsthätigkeit ab-
geben (Stoffe, Gewürze, Edelmetalle,Schmuck-
sachen, Waffen etc.).
Die Unsicherheit, der mangelhafte Rechts-
schutz für Fremde, die Notwendigkeit, zum
Zwecke des Durchzuges, der Grründung von
Handelsniederlassungen (Faktoreien) beson-
dere Vorkehiningen zu treffen etc., bewirken,
dass im Handel auf lange Zeit hinaus ein
enger Zusammenschluss der Kaufleute eines
Stammes stattfindet. Ihre Schiffe vereinigen
sich zu sogenannten Admiralschaften , zu
Lande treten sie zu Karawanen zusammen.
Gegenüber minder kultivierten oder weniger
widerstandsfähigen Völkerschaften kann es
zu einer förmlichen Herrschaft der fremden
Kaufleute kommen.
Im Anschlüsse an den Verkehr mit den
fremden Kaufleuten und die Zunahme der
arbeitsteiligen Produktion entwickelt sich
dann auch der Handel im Innern. Natur-
gemäss sind es die Städte, in denen sich
der Handel festsetzt und ausbildet. Die
alten Kaufinannsgilden, die sich hier zeigen,
tragen einen patricischen Cliarakter an sich ;
von den Kaufleuten zweigen sich die Krämer,
Höker u. s. w. ab, welche einer anderen
sozialen Schicht angehören und wohl auch
und zwai* zum Teile schon sehr frühe be-
sondere Gilden bilden. Die ältere Handels-
veiiassung weist in mannigfechen Be-
ziehungen eine grosse Gebundenheit des
Verkelu-s auf (durch die Einrichtung der
Kaufhäuser, den Bestand obrigkeitlich be-
stellter Hilfs- und Mittelspersonen, wie
Messer, Wäger etc.).
Einen Stützpunkt für den älteren Handel
geben die Märkte und Messen ab. Ihr all-
gemeines Vorkommen erklärt sich aus der
Notwendigkeit, zur Zeit geringer Verkehrs-
entwickelung Angebot und Nachfrage an im
voraus bestimmten Orten zusammenzubrin-
gen; je nach den mit ihnen verbundenen
geschäftlichen Zwecken scheiden sie sich in
Wochenmärkte, Jahrmärkte, Messen. Ihnen
wird durch die öffentlichen Gewalten mannig-
fache Unterstützung zu teil, so im Interesse
der Rechtssicherheit, durch Verbote des
Verkaufes marktpflichtiger Waren ausser-
halb des Marktes, durch Befreiung von den
Bann- und Zunft Privilegien etc.
Von besonderer Wichtigkeit für die Ent-
wickelung des Handels war die Seeschiffahrt
wegen der unendlichen Begünstigung, die
sie dem Waren transnorte bot und die um
so schwerer in die Wagschale fallen musste,
als die Laudbeförderungsmittel so viel zu
wünschen übrig Hessen. Der eigentliche
Welthandel entwickelt sich stufenweise mit
dem Voi'dringen der Schiffe in immer ent-
Handel
971
ferntere Gebiete; er erhält den eigentlichen
Impuls im Zeitalter der Entdeckungen. Im
Unterschiede von der froheren Zeit erobern
die wohlfeilen Massenartikel eine wachsende
Bedeutung für Handel und Verkehr, der
Handel wird immer freier und beweglicher
und übt auch einen zunehmenden Emfluss
auf das gesamte Wirtschaftsleben aus.
4. Die volkswirtschaftliche Bedeutung
des H. Bedeutung imd Aufgabe des Waren-
h an d e 1 s sind gegeben durch die Notwendig-
keit von Güteriibergängen, welche durch die
mannigfachsten Umstände bewirkt wird. Die
Hauptvoi-anlassung zu diesen Güterüber-
gängen — nnd damit zum Vorhandensein
eines sich mit Vermittelung desselben ge-
werbsmässig befassenden Handelsstandes —
ist keineswegs in zufälligen oder neben-
sächlichen Umständen gelegen, sondern hängt
mit der Organisation der Volkswirtschaft
selbst zusammen. Diese Organisation beniht
auf der unternehmungsweisen und arbeits-
teiligen Produktion sowie der rechtlichen
Selbständigkeit der Einzelwirtschaft Der
einzelne erzeugt danach als Unternehmer
nur bestimmte Güterarten oder wirkt, wenn
nicht selbst Unternehmer, mit seinen sach-
lichen Produktionsmitteln oder seiner Person
im Dienste der Unternehmung eines Dritten,
so zwar also, dass er selbständig im Wege
des Tausches auf die Erzielung eines bei
den gegenwärtigen Verhältnissen zumeist
in Geld bestehenden Einkommens und Be-
schaffung der ihm notwendigen Güter be-
dacht erscheint, Dass die hierdurch erforder-
lichen Güterübergänge überhaupt stattfinden
und zwar möglichst in jener Weise, welche
den beteiligten Wirtschaften zum thunlichst
grossen Vorteil gereicht, macht eine Reihe
von Verrichtungen Jiotwendig, welche mög-
liclierweise von den Betreffenden selbst
besorgt werden können, aber auch durch
Veranstaltungen eines Dritten, des Händlers.
Die Dienste, welche letzterer in dieser Be-
ziehung leistet und die um so wichtiger
und unentbehrlicher werden, je mehr
Schwierigkeiten sich (durch Grossbetrieb bei
der Erzeugung, örtliche Arbeitsteilung) dem
unmittelbaren Verkehr zwischen Produzenten
und Verbraucher entgegenstellen, bilden die
volkswirtschaftliche Produktivität des Han-
dels. Dieselbe ist nicht gleichzustellen dem
Unterschiede des Wertes der Güter in der
Hand des einen und der Hand des anderen,
man darf dem Handel nicht schlechtweg
zu gute schreiben, was dem Tausche gebührt.
Die nützliche Wirksamkeit des Handels ist
vielmehr darin gelegen, dass er den unter
allen Umständen notwendigen Austausch der
Erzeugnisse und den schon durch die Or-
ganisation der Volkswirtschaft erforderlichen
Tauschverkehr imter den einzelnen Privat-
wirtschaften besorgt und zwar vollkommener
und wohlfeiler, als es die Beteiligten selbst
zu thim imstande wären, in ähnlicher
Weise, wie die Bedeutung der Eisenbahnen
sich nicht einfach deckt mit der Bedeutung
des durch sie vermittelten Verkehrs, der ja
zum Teile auch ohne sie stattfinden würde,
sondern mit der Erleichterung und Aus-
dehnung, welche sie dem Verkehr verschaffen.
Der Handel stellt sich uns als ein Geschöpf
der Arbeitsteilung dar, welches die Ver-
richtung bestimmter, wirtschaftlich not-
wendiger Leistungen an sich zieht und zu
seinem Berufe macht. Die früher mehrfach
aufgestellte Lehre, der Handel sei wirt-
schaftlich unproduktiv, weil er keine neuen
Güter erzeuge, sondern bloss die schon vor-
handenen umsetze, ist schon längst der
besseren Einsicht gewichen, dass zur Be-
friedigimg des menschlichen Bedarfs nicht
bloss die physische Herstellung von brauch-
baren Gegenständen, sondern auch die Zu-
gänglichkeit der letzteren erheischt wird;
diese ist aber wiederum nicht bloss örtlich,
sondern auch rechtlich und wirtschaftlicli
aufzufassen, die Güter müssen thatsäclilich
in den Verfügungsbereich des Verbrauchei'S
gelangen. Ehe nicht alle Voraussetzungen
auch für das letztere erfüllt sind, kann die
produktive Thätigkeit nicht als endgiltig
abgeschlossen gedacht werden.
Gestützt auf diese Ausführungen über
die Bedeutung des Warenhandels im all-
gemeinen können wir insbesondere folgende
Leistungen desselben in der heutigen \ olks-
wirtschaft hervorheben:
1. Den Erzeugern nimmt der Handel die
Waren ab, um sie jenen Orten und Personen
zuzuführen, in welchen und bei welchen
Bedarf dafür vorhanden ist. Den Produzenten
wdrd es dadurch ermöglicht, sich mit Hilfe
des einfacheren Verkehi^s mit den Händlern
im wesentlichen auf die ausführende Arbeit
zu beschränken, was namentlich für die
Erzeugimg im grossen wichtig ist.
2. Der Verbraucher wiederum erhält
durch den Handel das, was er benötigt, und
zwar durch das assortierte Lager des Kauf-
mannes, durch die von demselben vorge-
nommenen ßienste des Zerteilens, Zerlegens
etc. Alles gerade in der gewünschten Art
und Menge; das Dazwischentreten des
Händlers gestattet dabei die koncentrierte
und deshalb wohlfeilere Besorgimg des
Transportes und des Lagerhaltens.
3. Der Handel wirkt auf die Ausgleichimg
örtlicher und zeitlicher Preisunterschiede hin,
indem der Händler dort und dann einkauft,
wo und wann Ueberfluss herrscht, und ver-
kauft, woselbst sich Mangel fühlbar macht.
Da er insbesondere nicht ei-st einkauft,
wenn der Verbraucher der Ware thatsächlich
schon bedarf, sondern auch auf Vorrat, so
ermöglicht er dem Erzeuger einen frülieren
972
Handel
Absatz, als dies anderenfalls eintreten würde.
Der ausgedehnte Handelsverkehr erzeugt
auch .so weit wie möglich sozusagen un-
persönliche Preise, das ist eine Preisbildung,
die Üiunlichst frei ist von den zufälligen
Einflüssen aus der Persönlichkeit der Tausch-
parteien; damit gewinnt der Verkehr über-
haupt an Leichtigkeit und Solidität, indem
jedermann für seme Schätzungen bestimmte
feste Anhaltspunkte erhält. Wie anders
geht der Yerkehr beispielsweise in Gegen-
ständen vor sich, hinsichtlich welcher ein
regelmässiger börsenmässig geordneter Han-
del stattfindet, im Vergleiche mit den Ab-
satzverhältnissen von solchen, die in den
Handelsverkehr nicht einbezogen sind!
4. Der Handel beeinflusst die Erzeugung,
indem er ihr teils unmittelbar durch Be-
stellungen etc., teils mittelbar im Wege der
Preisbildung die nach der Marktl^^e und
den Bedürfnissen der Verbraucher richtigen
Bahnen weist; er sorgt also, kurz gesagt,
in den verschiedensten Richtungen für die
Uebereinstimmung zwischen Bedarf und
Vorrat und unterstützt oft in ausgiebiger
Weise die Verbreitung neuer Erfindungen etc.
Neben dieser Wirksamkeit von unmittel-
bar wirtschaftlicher Bedeutung übt der
Handel aber noch Einflüsse anderer Art.
namentlich in kultureller Beziehung aus.
Der Händler ist es oft — um an den letzten
obiger Punkte anzuknüpfen — , welcher
durch sein Streben, Absatzgelegenheiten zu
finden, die Kenntnis von Gebrauchsgegen-
ständen vermittelt und damit auf Bedüi-fnis-
kreis und Civilisation günstig einwirkt. Ins-
liesondere zurückgebliebenen Völkerschaften
gegenüber erscheint der Händler als Pionier
der Kultur ; er schafft Beziehungen zwischen
den einzelnen Gegenden und Völkern und
befördert dadurch eine wechselseitige An-
näherung und einen friedlichen Verkehr.
Der Umstand, dass das Handelsunternehmen
ständig mit anderen Wiitschaften in Ver-
bindung tritt, das Erfordernis genauer Be-
rechnung, die Notwendigkeit steter Be-
obachtung des Marktes und i*ascher An-
passung an die wechselnden Konjunkturen
— dies alles macht den Hftndler zum
eigentlichen Träger des Geschäftslebens,
zimi Vorbild in demselben, wie denn auch
ein bedeutender Einfluss von ihm auf die
Kechtsbildung im Sinne der Gewinnung
klarer unzweideutiger Rechtsverhältnisse und
i'ascher verlässlicher Rechtspflege, alles aber
unter entsprechender Berücksichtigung der
Verkchi'sgewohnheiten ausgeht.
Freilich bietet die Handelsthätigkeit auch
gewisse Schattenseiten dar. Der Handel
liat nicht immer den friedlichen Verkehr
der Völker gefördert, sondern die Handels-
eifereucht hat auch zu Kriegen und Unter-
dnickungen gefülu-t. Erzeuger und Ver-
braucher haben durch den Zwischenhandel
nicht bloss Vorteile erlangt, sondern sind von
dem gewandteren, in der Bestimmung der
Mittel nicht immer wählerischen Kauäiann
auch schon ausgebeutet worden. Der Handel
hat nicht immer für die Stetigkeit der
Preise gewirkt, sondern eine ungezügelte
Spekulation hat oft absichtlich oder un-
absichtlich das gerade Gegenteil davon er-
zeugt. Nicht bloss Kulturbedürfnisse hat
der Kaufmann verbreitet, sondern auch
Branntwein und Sklaverei, nicht niu* neue
Absatzgelegenheiten ersonnen, sondern auch
Warenfälscnungen , nicht bloss irertvoUe
Dienste geleistet, sondern sich dieselben
auch oft übermässig bezahlen lassen. Ins-
besondere beim Detailhandel, bei dem nicht
gleich geschäftskundige und geschäits-
gewandte Personen einander gegenüberstehen,
nimmt die Preisbildung leicht eine dem
Publikum nachteilige Richtung, indem sich
die durch die Marktlage gebotenen Preis-
ermässigungen nur mit Hindernissen durch-
setzen und häufig die Konkurrenz auf selten
der Händler mehr zu einer Vermehinmg der
Geschäfte und damit zm* Teilung des Gewinnes
drängt als zu Preisherabsetzungen, gleichwie
dem Publikum überhaupt oft eme genügende
Kenntnis der Waren und des Marktes fehlt,
was vom Händler dann missbraucht werden
kann. Angesichts solcher Auswüchse ist
dieser Stand im Laufe der Zeiten vielerlei
Anfeindungen begegnet, die freilich auch
häufig Vorurteilen oder Abneigimg wider
das Gescliäftsleben überhaupt entsprungen
sind, das im Händler seinen ausgepiilgtesten
Ausdruck findet.
Der Handel mit AVertpapieren,
Münzen etc. ist teils nur Gehilfe des
Warenhandels, dem er die geeigneten Zah-
lungsmittel darbietet, teils entsprielit er
selbständigen Bedürfnissen und Zwecken.
Die grosse Bedeutung der Wertpapiere in
der Gegenwart, ihre Zahl und Mannigfaltig-
keit machen einen berufsmässig organisierten
Verkehr in ihnen zur Notwendigkeit. We-
niger tritt dies beim Immobilienhandel
zu Tage. Hier kommt nicht so sehr ein
Beruf in Frage, welcher eine bestimmte
volkswirtschaftliche Aufgabe zur Erfüllung
übernimmt, als eine besondere Erecheinungs-
form der Spekulation.
5. Statistik der Handelsbetriebe. Be-
triebsstatistische Angaben stehen hinsichtlich
des Handels noch weniger zu Gel)ote als
rücksichtlich der industriellen Unterneh-
mungen. Im Deutschen Reiche bestanden
nach der Betriebszählung vom 14. Juni 1895
bei der Gruppe der Handelsgewerbe 777 495
Betriebe, darunter 635209 Hauptbetriebe.
Gegen 1882 ergiebt dies eine Zunahme um
160659 Betriebe, das ist imi nicht weniger
als 26^/0 und zwar zählte man 1895 um
Handel
973
182484 Hauptbetriebe mehr und um 21825
Nebenbetriebe weniger. Auf 100000 Ein-.
wohner kamen 1895 1502, 1882 1364 Be-
triebe.
Ton den Betrieben entfielen 1895 auf:
Hauptbetriebe
Warenhandel 528885
Geld- und Kredithandel % 6829
Spedition und Kommisaion 4 35i
Buch- und Kunsthandel, Leihbibliotheken, Zeitungsveriag . . . 10372
Hausierhandel 34 4^9
Handelsvermittelung 37 ^75
Hilfsgewerbe des Handels i 790
Versteigening etc 11 388
Nebenbetriebe
118253
1 741
677
2 204
4638
9 559
929
4285
Von den Hauptbetrieben waren 55,2 ®/o
Allein- und 44,8 <>/o Gehilfenbetriebe. 990
Betriebe befanden sich im Besitzt von Aktien-
gesellschaften.
Von je 100 Betrieben kamen nach Be-
triebsgrössenklassen auf die Klasse mit
1895 1882
bis 5 Personen 94,9 9^)0
6—50 Personen 5,0 3,9
51 und mehr Personen ... 0,1 0,1
Füi- Oesterreich liegen nicht Ergeb-
nisse einer Betriebsaufnahme, wohl aber
solche einer von den Handels- und Q«werbe-
kanmiern auf Grund ihrer Gewerbekataster
durchgeführten Gewerbezählung vor, die sich
also auf die bei den Gewerbebehörden ge-
machten Anmeldungen bezw. auf die Fest-
stellungen bei dei* Steuerveranlagung stützt
(veröffentlicht in »Ergebnisse der in Oester-
reich vorgenommenen Gewerbezählung nach
dem Stande vom 1. Juni 1897, verfasst vom
Arbeitsstatistischen Amte«). Die Zahl der
ermittelten Gewerbe deckt sich nicht voll-
kommen mit der Zahl der wirklich vor-
handenen Betriebe, es ist aber nicht mög-
lich, hier die Quellen der Abweichungen zu
besprechen. Es wiurden nun gezählt Ge-
werbe bei den Klassen:
Warenhandel mit fester Betriebsstätte 261 628
„ im Umherziehen ... 22 367
Hilfsgewerbe des Warenhandels ... 7 374
Geld- und Kreditwesen 2259
Die Ergebnisse der in Frankreich
vorgenommenen Gewerbezählung vom 29.
März 1896 sind erst zum Teil veröffentlicht.
Weitere statistische Angaben über Han-
delsberuf und Handelsbetrieb siehe in den
Veröffentlichungen über die deutsche Berufs-
und Gewerbezählung, namentlich in »Gewerbe
und Handel im Deutschen Reich« (Stat, des
Deutschen Reiches, Bd. 119, Berhn 1899);
vgl. femer d. Artt. Beruf und Be-
ruf sstatistik (oben Bd. U S. 592ff.).
Gewerbestatistik (oben Bd. IV S.510ff.);
6. Die neuzeitliche Gestaltung des H.
Gegenüber der älteren Gestaltung des Waren-
handels weist die Gegenwart tiefgehende
Verschiedenheiten auf. Der Güterumsatz
selbst ist gewaltig gestiegen; es hängt dies
zusammen mit der Ausdehnung der Pro-
duktion überhaupt, dem Vordringen des
unternehmungsweisen Betriebes und manchen
anderen Erscheinungen der modernen wirt-
schaftlichen Entwickelung. Am deutlichsten
fast tritt dies bei der in den Kulturländern
wachsende Ziffern aufweisenden Statistik des
Aussenhandels zu Tage, während die aber
gleichwohl zweifeDos vorhandene Erweite-
rung des Verkehrs im Innern sich einer ge-
naueren und durchgreifenden zahlenmässigen
Feststellung entzieht.
Die Ausdehnung des Güterverkehrs ist
jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Er-
weiterung der Thätigkeit des Handelsstandes,
geschweige, dass die La§e des letzteren
sich parallel mit jener entwickele. Vielmehi-
ist eine Fülle von neuzeitlichen Erscheinungen
füi- den Handelsstand und seine Stellung
bedeutsam geworden.
Zunächst ist hierüber zu bemerken, dass
sich auch des Handels in wachsendem Masse
die Arbeitsteilung bemächtigt hat, so dass
heute eine Reihe von Aufgaben als selb-
ständige Berufe oder Erwerbszweige ausge-
übt wird, welche früher vom Kaufmann
selbst besorgt werden mussten (s. oben sub
2, h). Selbst unsere fortgeschrittene Ver-
sicherung spielt hier eine Rolle, auch sie
vereinfacht gleich den erwähnten Hilfsge-
werben den Güterumsatz, indem sie den-
selben von manchem Risiko entkleidet, das
ihm früher anhaftete und notwendigerweise
von jenem zu tragen war, welcher jenen
Umsatz auf eigene Rechnung besorgte.
Diese Entwickelung der Hüfsgewerbe,
welche den Güterumsatz wesentlich er-
leichtert, hat verbunden mit der Vervoll-
kommnung des Transport- und Nachrichten-
wesens in mannigfacher Hinsicht eine ZurQck-
drängung des Handels als selbständiger Be-
rufsausübung zur Folge gehabt.
A. Grosshandel. Vor allem wurde
davon der Grosshandel (Zwischenhandel)
betroffen. Während früher, beispielsweise
im überseeischen Verkehre, Monate vergehen
konnten, bis dass auch nur eine Antwort
auf einen Brief, ein Angebot oder dergleichen
974
Handel
eintraf, das Einlangen der Ware nicht mit
Sicherheit zu einem bestimmten Zeitpunkte
zu erwai-ten war, jedenfalls aber eine lange
Frist in Anspruch nahm, dem Reisen und
damit der Anknüpfung persönlicher Bekannt-
schaften bedeutende JSindernisse gegenüber-
standen, liegen heute diesbezüglich ganz
andere Yerhältnisse vor. Die Uebersicht
über den jeweiligen Stand des Marktes ist
wegen der Fortschritte im Nachrichtendienst
dm-ch die Zeitungen etc. eine ganz andere,
man kann davon absehen, was immer mit
Risiko verbunden, Warenvon*äte auf Lager
zu nehmen, man braucht erst im letzten
Augenblick auf telegraphischem Wege über
die Ware zu verfügen, damit sie mit
raschester Beschleunigimg jenem Orte zu-
eilt, wo sie wirklich benötigt wird, imd
nicht irgendwo sich aufstapelt, wo man nur
glaubte, ihrer eiustens zu bedürfen. Der
Transport ist durch die Versicherung der
Gefahr entkleidet, die Yeranschlagung der
Kosten kann im voraus genau geschehen
und wIkI durch die direkten, zwischen
mehreren Transportanstalten vereinbarten
Tarife inmier mehr erleichtert, für die
Deckung gegen Kursschwankungen des
Kaufpreises ist durch die Bankierthätigkeit
reichlich Gelegenheit geboten, die Kenntnis
der auswärtigen Plätze und !klärkte ist un-
gemein verallgemeinert. Alle diese Um-
stände lassen es begreiflich erscheinen, dass
im Grossverkehr, sei es nun zwischen ent-
fernteren oder näheren Gegenden, häufig
der Anlass entfällt, sich Mittelspersonen zu
bedienen, deren Mitwirkrmg früher not-
wendig war: Fabriken beziehen ihre Roh-
stoffe direkt aus den Erzeugungsgebieten
und nicht mehr im Wege des Zwischen-
handels, man mngeht den Importeur im
fremden Lande und knüpft unmittelbai*e
Beziehungen mit den dortigen Kunden an,
und ganz besondei-s zeigt sich auch beim
Binnenhandel die Tendenz, dass die Er-
zeuger (Fabrikanten, Landwirte) dii-ekt mit
dem Detailhändler oder jenem Gewerbe-
treibenden in Verbindung treten, welcher
ihre Waren weiter verarbeitet. Diese Er-
scheinungen sind die notwendige Folge der
Verbessenmg des Transportwesens, der
Rechtspflege, der den Verkelu* erleichtern-
den Institute, wie der Börsen etc. ; in Län-
dern, welche in dieser Beziehung zurück-
geblieben sind, wo also der Verkehr mit
allerlei Schwierigkeiten zu käm{)fen hat,
zeigt sich regelmässig zur Bewerkstelligimg
desselben die Thätigkeit eigener sachkundiger
^littelspersonen in unvermindertem Masse
als erspriesslich und notwendig. Zugegeben
mus's freilich werden, dass an dem Umgehen
des Kaufmannes oftmals nur eine unbe-
dachte Sucht, den Gewinn desselben zu er- i
sparen, mitwirkt die dann vielleicht teuer
bezahlt werden muss. Xamentlich wuitle
schon deutschen und österreichischen In-
dustrieUen vorgeworfen, dass sie beim Ex-
porte zu wenig die Unterstützung des Kauf-
mannes zu wHirdigen wissen und die Ab-
wickelung des Absatzes zu sehr in der Hand
bÄaJten wollen, wälu'end es für sie vorteil-
hafter wäre, sich auf ihr Gebiet — das der
Erzeugung — zu beschränken und dem
Kaufmanne die Sorge des Absatzes zu über-
lassen. Diese Klage mag im einzelnen be-
rechtigt oder, wie man vielleicht richtiger
sagen muss, noch berechtigt sein. Als all-
gemeiner Grundsatz aber verstösst sie gegen
die Tendenz der modernen Entwickelung,
welche eben wegen der vervollkommneten
Verkehrsmittel und Verkehrseinrichtungen
aller Art zu einer einfacheren Abwickelung
der Geschäfte und Ersparnis überflüssig ge-
wordener Mittelspersonen drängt, bestärkt
darin noch durch die rege Konkun-enz,
welche ziu" thunlichsten Herabsetzung aUer
Kosten nötigt.
In dem gleichen Sinne wirken die Fort-
schritte im Associationswesen , welche zu
genossenschaftlichen Organisationen für den
Ein- oder Verkauf führen, wodurch eben-
falls die Thätigkeit des Grosshändlerstandes
eine Einengung erfahren kann. Hier zu
nennen sind namentlich die bedeutsamen
britischen Grosseinkaufsgenossenschaften (s.
oben Bd. III S. 738) , dan» aber noch andere
Vereinigimgen für gemeinsamen Warenabsatz
oder Wai-enbezug (Einkaufsvereine von Händ-
lern oder Handwerkern etc.).
Auch die sogleich zu erwähnenden Neue-
rungen beim Detaühandel äussern endlich
eine Rückwirkung auf den Grosshandel.
B. DetailhandeL Aehnliche Erschei-
nungen wie beim Grosshandel zeigen sich
auch beim Detailhandel. Schon seit langem
thun demselben die Konsumvereine (s. d.)
und ähnliche Schöpfungen Abbruch, d. i.
die Vereinigungen von Konsumenten, um
diuxsh gemeinsamen Bezug von Waren in
grösseren Posten und Austeilung derselben
an die einzelnen Mitglieder den Detailhandel
zu umgehen. Diese Einrichtungen sind ein
notwendiges Erzeugnis der erleichterten Ver-
kehrsbeziehungen und der wachsenden wirt-
schaftlichen Einsicht, welche darnach strel>en
lässt, sich gegen die im Handelsverkehr oft
vorkommenden gressen Preisaufschläge und
die Warenverfälschungen zu schützen. Das
Konsumvereinsprincip >^ird nicht nur im
wachsenden blasse angewendet, sondern
greift sogar schon, wie bereits fnlher ange-
deutet, auf den Gresshandel hinüber.
Auch von einer anderen Seite her ergiebt
sich eine Verschiebung zu Ungunsten des
Detailhandels, insofern nändich auch viele
Preduzenten den unmittelbaren Verkauf ihrer
Erzeugnisse an die Verbraucher organi-
Handel
975
siei*en, wie Fabriksimlernelimungen durch
die Errichtung von Fabriksniederlageii für
den Detailabsatz oder die Pflege des Ver-
sandgescliäfts. Diese Bewegimg zeigt sich
nicht bloss bei der Industrie, sondern auch
l)ei der Landwirtscliaft.
Endlich bricht sich auch im Detailhandel
der Grossbetrieb Bahn und wirkt im Sinne
einer Beschränkung der selbständigen Han-
dels- und Gewerbebetriebe, welche an Ab-
satzgelegenheit zu Gunsten der grossen Ver-
kaufsniederlagen einbüssen. Selbst die im
Grosshandel thätigen Personen werden hier-
von betroffen, da die ganz grossen Detail-
geschäfte eben aus erster Hand, d. i. thun-
lichst beim Erzeuger, selbst bei jenem im
fremden Lande, unmittelbar einkaufen.
Derartige grosse Detailgeschäfte treten
insbesondere als Waisenhäuser, Magazine,
Grossbazare oder dergleichen auf, d. i. als
kaufmännische Unternehmungen mit grossem
Lager, die auch Artikel führen, che man
früher nach Mass und Bestellung zu kaufen
gewohnt war, so namentlich Kleider, Wäsche,
Schuhe, Möbel u. s. w. — Unternehmungen,
deren Geschäft«umfang zum Teil eine früher
ungeahnte Ausdehnung en*eicht. Der eigent-
liche Warenhaus- oder Grossmagazinstypus
begreift di'3 Vei*einigung zahlreicher Ge-
schäftszweige in einem Unternehmen in
sich, obgleich es aber auch umgekehrt an
Detailgeschäften grossen und gix)ssten Um-
fanges mit Beschränkung auf einzelne
Branchen nicht fehlt. In erster Linie kommen
als Sitz der erwähnten Unternehmungen die
grossen Städte in Betracht ; aber auch kleinere
Orte bleiben von der Einwirkung der Detail-
handels^ssbetriebe nicht unberührt, und
zwar teils durch die Emchtung von Filialen,
die einen Zusammenhang mit dem Stamm-
unternehmen aufrechterhalten, teils durch
die Entwickelung des Versandgeschäfts,
welches einen Verkehr mit Kunden ohne
Unterschied des Wohnortes gestattet.
Die entwickeltsten Detailhandelsbetriebe
im grossen finden sich in Frankreich, Eng-
land, Nordamerika, Deutschland vor; aber
auch in anderen Ländern zeigt sich die
Tendenz zur Bildung grosser und grösster
Detailhandelsgeschäfte sehr deutlich. Eine
ähnliche Stelltmg wie die von Erwerbsunter-
nehmungen gehaltenen ^lagazine nehmen
auch oft die ganz grossen Konsumvereine
ein, vrie sie sich namentlich in England für
Beamte und Offiziere, dann aber auch in
anderen Ländern, wenngleich noch in ge-
ringerem Umfang, herausgebildet haben.
Diese grossen Anstalten verlieren eben leicht
den eigentlichen Konsumvereinscharakter,
das ist den einer Association der Mitglieder,
sondern füliren ein selbständiges wirtschaft-
liches Dasein, das sich insbesondere diux*h
den Verkauf an Nichtmitglieder, in der
Scheidung der zur Teilnahme an der Leitung
und Verwaltung Berufenen von der gi^ossen
Mgisse der Abnehmer, in der Ei-zielung be-
deutender Gewinne für das Geschäftskapital,
in der Vemaclilässigung der von den kleineren
Konsumvei-einen als Hauptartikel gefühi-ten
Waren für den gewöhnlichen Haushaltungs-
bedai'f zu Gunsten von Gegenständen clor
Konfektion, des Luxusbedarfs und dergleichen,
die eine strammere, mehr kaufmännische
Geschäftsleitung erfoixiern, und anderes
äussert. In den für den Absatz im grossen
eingerichteten Anstalten findet eben ein
Keichtum an Formen statt, so dass sich in
der Praxis die Uebergänge leicht verwischen.
Möge aber die Organisation der gix)ssen
Verkaufsstellen im einzelnen Verschieden-
heiten aufweisen, geraeinsam ist allen die
Begünstigung durch den Einkauf im gix)ssen
und bei verschiedenen Posten der Geneitd-
kosten des Betriebes, gleichwie ihnen
mancherlei Vorteile aus der Vereinigung
zahlreicher Artikel, aus der herrschenden
Stellung im Geschäftsleben etc. erwachsen.
Werden auch diese Begünstigungen häufig
wieder gesclimälert durch hohe Kosten füi-
die Geschäftsleitung, die Reklame und der-
gleichen, so kommt dem Publikum doch
ohne Zweifel zu gute die Notorietät der
Leistungen der einzelnen Magazine, der
Zwang zur Gleichbehandluhg der Käufer,
das System der festen Preise und, wie man
wohl auch sagen kann, der Barzahlung,
welche die Grossbetriebe im eigenen Inte-
resse fordern, die aber auch der Gesamtheit
der Kunden nützt.
C. Speoialisienmg \md Erweite-
rung der Handelsbetriebe. Auch bei
der äusseren Form des Handelsbetriebes
sind Wandlungen zu verzeichnen, die in
einer veränderten Gruppierung der von einem
Handelsgeschäft geführten Waren zu Tage
treten. Hierbei ist sowohl eine Tendenz
zur Specialisierung wie zur Erweiterung
des Geschäftskreises der Handelsbetriebe
wahrzunehmen.
Der Tendenz zur Specialisienmg ent-
sprang schon die bereits öfter erwähnte
Bildung von eigenen Hilfsgewerben des
Handels und Güterverkehrs, wodurch eben
gewisse früher vereint mit anderen ausgeübte
Verrichtungen zu selbständigen Berufs- und
Erwerbszweigen umgewandelt wurden. Sie
greift aber auch auf dem dem eigentiichen
Handel übrig gebliebenen Gebiete deutlich
um sich und führt — namentlich in den
grossen Städten — zur Bildung von Special-
geschäften, die sich auf einen ganz engen
Kreis von zusammengehörigen Waren bezw.
auf bestimmten örtlichen und individuellen
Bedürfnissen angepasste Kombinationen von
Handelsgegenständen begrenzten Umfauges
beschränken. Eine beiläufige Vorstellung
976
Handel
der Vielseitigkeit, welche sieh namentlich
wegen dieser Tendenz für die Handels-
iintemelimungen ergiebt, mag die Thatsache
gewähren, dass die Zahl der Gewerbe-
benennungen bei den »Handelsgewerben«
bei der deutschen Betriebszählung von 1882
1310, bei der Aufnahme von 1895 1497 be-
tnig. Nur eine besondere Seite der Spe-
cialisierung ist das Entstehen von Handels-
betrieben für Kunden bestimmter Art (Luxus-
geschftfte etc.).
Umgekehrt finden aber auch Neugnip-
pierungen statt, die eine Erweiterung des
Oeschäftsbereiches , eine Zusammenfassung
früher getrennt geführter Artikel darstellen,
wobei Rücksichten auf die Bequemlichkeit
der Käufer u. s. w. ins Spiel kommen.
Namentlich ist dies bei den als Warenhäuser,
Bazare , Magazine und dergleichen bezeich-
neten Unternehmungen der FjJl.
Die Specialisierung der Handelsbetriebe
hat natürlich ihre Vorteile wie jeder Fort-
schritt in der Arbeitsteilung. Sie ermöglicht,
dass der einzelne Handeltreibende sein ganzes
Wissen und Können auf einen beschränkten
Kreis von Artikeln richte und eben damit
seine Leistungsfähigkeit, was Kenntnis des
Marktes, passende Wahl der Verkaufsstätte,
Lager etc. anbetrifft, aufs höchste steigere.
Namentlich kann hierin auch für den klei-
neren Handeltreibenden ein Mittel gelegen
sein, seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber
dem Magazinsystem zu stützen. Dieses
letztere ist freilich, trotz der Vereinigung
vieler Geschäftszweige in einem Etablisse-
ment, eben wegen der Grösse desselben
nicht als ein Verstoss gegen das Gebot der
Arbeitsteilung aufzufassen, sondern vielmehr
als ein Produkt der Vereinigung der Mittel,
als gemeinsamer Betrieb, indem jede ein-
zelne Branche gross genug ist, um sich die
Vorteile des Grossbetriebes anzueignen, an-
dererseits die gemeinsame Bewältigung so
vieler Handelszweige durch einen Organis-
mus jeden einzelnen stützt und zu mannig-
fachen Vorteilen für die Käufer sowohl wie
für das Unternehmen Anlass giebt.
D. Markthandel. Der Markthandel
tritt in neuerer Zeit wesentlich an Be-
deutung zurück; Käufer und Verkäufer
können — Dank sei es den verbesserten
Transportmitteln etc. — auch ohne solche
periodischen Zusammenkünfte hinlänglich be-
quem mit einander verkehren und würden
die Nötigung zum Abwarten bestimmter
Termine nur mehr als ein Hindernis fühlen.
Niu: vereinzelt gelingt es namentlich Special-
märkten, sich eine höhere Bedeutung zu er-
halten, aber auch da liegt der Grund vor-
nehmlich in der durch sie gebotenen Ge-
legenheit, gewisse Stände — insbesondere
kleinere ürproduzenten, wie Landwirte, Vieh-
züchter — , die sich die modernen Verkehrs-
einrichtungen weniger zu nutze machen
können, in geeigneter Weise zur Abwicke-
lung der Transaktionen heranzuziehen (Woll-
märkte, Viehmärkte und anderes). Wochen-
und Jahrmärkte dienen überhaupt nur einem
ganz örtlichen Bedürfnis und verlieren sicht-
lich an Bedeutung. — Soweit persönlicher
Verkehr notwendig ist, dienen dem modernen
Bedürfnis viel höher entwickelte Einrich-
tungen, die Börsen (s. d. Art. Börsen-
wesen oben Bd. n S. 1023 ff.).
E. Sonstige Handelszweige. Hin-
sichtlich jener Zweige der Handelsthätigkeit,
welche nicht zum Warenhandel gehören,
mag hier auf die einschlägigen Fachartikel
verwiesen werden. Es wäre nur im An-
schlüsse an das über den Warenhandel Ge-
sagte zu bemerken, dass sich auch da viel-
fach, so bei den Hilfsgewerben des Handels
und dem sich an das Bankwesen anlehnen-
den Handel mit Wertpapieren u. s. w., die
Tendenz zur Zusammenfassung der Greschäfte
in grossen Betrieben zeigt.
F. Sohlussbetrachtung. Ueberblickt
man adl das Gesagte, so wird man die öfter
aufgestellte Behauptung, dass im Waren-
handel (soweit er regelmässige und nicht
Spekulationsgeschäfte betreibt) die Gewinne
einer Ermässigung zugehen, begreiflich fin-
den. Je glatter im allgemeinen der Verkehr
vor sich geht \md je ausgebildeter und über-
sichtlicher die Verkehrseinrichtungen sind,
je geschulter und aufgeklärter das Publikum
wird, mit desto geringerem Gewinn muss
sich die Mittelsperson begnügen, will sie
nicht Gefahr laufen, dass man auf ihre
Dienste gänzlich verzichtet. Nur in unent-
wickelten Zuständen kann grosser Gewinn
auf einmal gemacht werden, für fortge-
schrittene Verhältnisse gilt das Wort, dass
es besser ist für die Million, als für die
Millionäre zu arbeiten, das heisst mehr auf
die Grösse des Umsatzes als des Gewinn-
satzes zu achten. Zweifellos liegt diese
Tendenz im allgemeinen Interesse, gleich-
wie demselben auch die Entfernung von un-
nötig gewordenen Mittelsgliedern dient Diese
rückläufige Bewegung in der Bedeutung des
Handels wird jedoch in absehbarer Zeit ge-
wissen Schranken, ja Gegentendenzen be-
gegnen. Letztere liegen vor allem in dem
raschen Wachstum der umzusetzendenWaren-
menge, in den erhöhten und vielseitigeren
Ansprüchen des Publikums, in dem starken
Einfluss, welchen Mode und ähnliche Kon-
junkturen auf viele Handelszweige ausüben,
wodim^h die Initiative und der Unterneh-
mungsgeist des selbständigen, auf eigene
Wagnis arbeitenden Kaufmannes ein reiches
Feld zur Bethätigimg finden. Insbesondere
der Grossbetrieb des Detailhandels beg^net
gleichfalls mancherlei Schwierigkeiten, so
namentlich in betreff jener Kundschaft, die
Handel
977
eine melu* individualisierende Behandlung
erfordert, dann in betreff kleiner Orte sowie
solcher Artikel, bei welchen zur Bequem-
lichkeit des Publikums eine Menge bei der
Hand befindHcher und darum kleinerer Ver-
kaufsstätten nötig ist. Es ist zwar auch
denkbar und kommt auch thatsächlich viel-
fach vor, dass letztere in Form von Depen-
denzen eines grossen Unternehmens betrieben
werden, doch bliebe auch dann noch immer
Raum für selbständige kleinere und mittlere
Geschäfte. Auch Specialisierung und Ar-
beitsteilung (s. oben sub 6. C) können den
Bestand von solchen erleichtern. (Vgl. die
statistischen Angaben über die Zunahme
der Handelsbetriebe in Deutschland oben
sub 5.)
Daneben ist noch einer anderen Erschei-
nung zu gedenken, die sich freilich nicht
bloss beim Handel im eigentlichen Sinne,
sondern mehr oder weniger allgemein beim
heutigen Geschäftsleben zeigt. Sie besteht
darin, dass ein gewisser ruhiger, sich in
alten und gewohnten Formen und Pfaden
fortbewegender Geschäftsbetrieb immer we-
niger genügt, sondern es immer mehr auf
Initiative, Ersinnung von Neuheiten, Ge-
winnung neuer, den gesteigerten Produktiv-
kräften Spielraum gewährender Absatzver-
hältnisse u. s. w. ankommt. Dies gilt so-
wohl für den Gross- wie für den Klein-
handel, in beiden Zweigen reisst immer
mehr jene Art des Geschäftsbetriebes die
Herrschaft an sich, welche Leroy-BeauUeu
in Gegensatz zu dem an der Routine kleben-
den commerce passif gestellt liat. Mit der
bezeichneten Erscheinung hängen die bereits
erwähnten Thatsachen, wie das Aufkommen
der Warenhäuser mit ihrem rührigen Ge-
schäftsbetrieb und den mannigfachen Neue-
rungen gegenüber dem überlieferten Detail-
handel oder die Vereinfachung von Ver-
kehrsbeziehungen durch Ausstossung ent-
behrlicher Mittelsglieder, aufs innigste zu-
sammen ; zum TeÜ erstrecken sich aber die
Wirkungen noch auf andere Gebiete. Ins-
besondere wird es — von einzelnen bevor-
zugten Unternehmungen etwa abgesehen —
immer weniger mögüch, das Kommen der
Kundschaft bloss abzuwarten, sondern heisst
es umgekehrt immer mehr an die Käufer
heranzutreten imd dieselben zum Bezüge zu
veranlassen; damit steht wieder die grosse
Entwickelung des Bekanntmachungs- und
Reklamewesens in Zusammenhang, dann
aber auch z. B. die wachsende Bedeutung
der Reisenden und Verkäufer für das Ge-
schäftsleben und innerhalb des Handlungs-
personales, gleichwie das Aufsuchen von
Bestellungen bei der Privatkundschaft (durch
sogenannte Detailreisende) sich bereits einen
weiten Platz erobert hat.
Nicht zu verkennen ist, dass, je reger
Handwörterbuch der StaatswisseiLschaften. Zweite
der Unternehmungsgeist sich bethätigt, um
so umfassender auch die Aufgaben erfüllt
werden, die dem Handelsstand obliegen, um
so mehr Nutzen also auch dieser der Volks-
wirtschaft erweisen kann. JVeilich fehlt es
dabei aber auch nicht an einer Kehrseite:
der scharfe Mitbewerb wird bisweilen zu
einem unlauteren und der Aufwand für
Reklame, für sonstige Mittel den Absatz an
sich zu ziehen u. s. w. ist nur zum Teile
ein produktiver, insoweit nämlich dadurch
das Geschäftsleben eine wirklich im Vorteil
der Allgemeinheit gelegene Förderung er-
fährt und das Publikiun daraus Nutzen zieht.
— Auf diesen Gegenstand wird übrigens
später (s. sub 7) noch zm^ückzukommen sein.
7. Die soziale Fra^e beim Handels-
stande. Auch der Handelsstand hat seine
soziale Frage; sie weist eine doppelte Be-
ziehung auf. Die eine davon betrifft die
Lage des Handlungspersonales, wobei jedoch
hier auf den Art. Bfandelsgehilfe unten
S. 984 ff. zu verweisen ist, die andere die Be-
drängnisse der durch die neuzeitliche Ent-
wickelung Zurückgesetzten oder Bedrohten
unter den selbständigen Handeltreibenden.
Namentlich gilt letzteres für den ausge-
dehnten Stand der kleineren Detailhändler,
deren Mittel häufig beschränkt sind und die
daher eine etwaige Ungunst der Zeiten oder
Verhältnisse schwer empfinden.
Ihi*e Stellung erscheint vor allem be-
drängt infolge der (oben sub 6) geschilderten
Umwälzung der warenausteilung durch das
Entstehen unmittelbarer Verkehrsbeziehu ngen
zwischen Verbrauchern und Erzeugern mit
Umgehung des Detailhändlerstandes durch
Konsumvereine u. s. w., dann durch das
Vordringen des Grossbetriebes im Detail-
handel. Daneben machen sich auch noch
die anderen früher angefülirten Erschei-
nungen geltend, um die Lage der Klein-
händler zu erscnweren. Die enemsche, oft
rücksichtslose Konkurrenz der Gegenwart
auf dem Gebiete des Handels erfolgt dabei
in mannigfachen und zahlreichen Formen;
begreiflicherweise leiden darunter aber die
aus irgend einem Grunde schwächeren Ele-
mente, welche entweder von vornherein zu-
rückstehen oder den Wettkampf mit unge-
nügenden Mitteln aufnehmen müssen. Sie
empfinden schwer die wachsenden An-
sprüche des Publikums hinsichtlich der Aus-
stattung der Läden, der ziu- Auswahl ge-
stellten Waren u. s. w. Eine oft vordring-
liche, in ihren Mitteln nicht immer wähle-
rische Spekulation entzieht durch Veran-
staltung von oft fiktiven sogenannten Aus-
verkäufen und Auktionen, durch Wander-
lager in kleineren Orten (temporal« Handels-
betriebe, die eben wegen des Weclisels des
Standortes einen verhältnismässig gi-ossen
Rayon ausnützen), diu-ch aufdringliche Re-
AuHage. IV. 62
978
Handel
klame, durch Pflege des Ratengeschäftes,
durch besonders energisch organisierten Ver-
trieb vermittelst Reisender und Agenten etc.
den kleineren, auf ruhigen Geschäftsbetrieb
angewiesenen Händlern die gewohnte Kund-
schaft. Auch der Vertrieb nachgeahmter,
verfälschter, nicht vollständig masshaltiger
Ware (z. B. Webwaren mit geringerer als
der usuellen Breite, Schreibfedern, Näh-
nadeln etc. in geringerer Zahl, als der
Käufer einer Schachtel, Päckchens etc. den
bestehenden Gewohnheiten nach voraussetzt
ü. dgl. mehr) ei-schwert die Lage aller der-
jenigen, welche von solchen Mitteln keinen
Gebrauch machen, zu Gunsten von
solchen, die den Konkurrenzkampf n\ck-
sichtslos ausfechten w^ollen. Dem sesshaften
Händler erwächst endlich in manchen Orten
ein gefährlicher Mitbewerb aus dem Hausier-
betrieb. Letztere Erscheinung ist lun so
bedenklicher, als die Konkiurenzfähigkeit
des letzteren oft nicht auf der wirtscnaft-
lichen Üeberlegenheit dieser Betriebsform
beruht (wie etwa in sehr wenig entwickelten
Gegenden mit dünner Bevölkerung, wo eine
feste Handelsniederlassung mit grossen
Schwierigkeiten zu kämpfen hätte), sondern
auf der Anwendung einer tiefer stehenden
kaufmännischen Moral und minderen Lebens-
haltung. Den sesshaften Händler trifft eben
eine viel schärfere und praktischere Veraut-
w^ortung für die von ihm geHeferte Ware
als den herumwandernden Hausierer, der so
häufig mit Personen verkehrt, die ihn nie-
mals wieder nach dem Abschlüsse des Ge-
schäftes zu Gesicht bekommen; jener kann
solche Zudringlichkeit und Kunstgriffe nicht
anwenden, er kann seinen Bedürfniskreis nicht
so verengem wie der bei jeder Thüre an-
klopfende, mit einem Pack beladen e Hau-
sierer. Die bedürfnislosere, auf die nach
dem jew^eiligen Kiütui-zustande normalen
Lebensbedingimgen verzichtende Arbeit ist
immer ein gefährlicher Konkurrent der mit
höheren Anspriichen ausgestatteten, der volks-
wirtschaftliche Gewinn aus der Verdrängung
der letzteren durch die erstere immer ein
sehr fraglicher.
Ein Hauptgrund oder vielleicht der
Hauptgnmd für die erschwerte Lage des
Kleinhandels ist endlich die vielfach be-
merkte, volkswirtschaftlich genommen un-
ökonomische Üeberfüllung des Standes, die
zusammenhängt mit der Anziehung, Avelche
derselbe ausübt durch die Abwesenheit
schwerer körperlicher Arbeit, durch die
Möglichkeit der Verwertung eines kleinen
Kapitals oder einer gewissen Scliulbikhing
und Geschäftsgewandtheit, durch die Zu-
gänglichkeit auch ohne längere streng be-
rufsmässige Ausbildung und die in der
(regen wart erleichterte Gelegenheit Kredit
zu finden.
Alle diese Umstände machen die Lage
der kleineren Kaufmannschaft vielfach zu
einer recht schwierigen, was sich auch aus
dem an zahli'eichen Orten beobachteten
raschen Wechsel in der Person der Handel-
treibenden äussert.
Anlass und Gelegenheit zu einem wirk-
samen staatlichen Eingi^ifen sind jedoch
ziemlich gering vorhanden. Die vei'schie-
denen Mittel einer wirklich unlauteren Kon-
kurrenz sollen freilich durch den Staat
möglichst unterbunden werden, und es wäre in
dieser Hinsicht auf eine Reihe von im
Deutschen Reiche und in Oesterreich in
neuerer Zeit getroffenen Massnahmen hinzu-
weisen, w^elche Auswüchse im G^eschäft8-
leben bekämpfen und mehr oder weniger
auch für Beschwerden des Kleinliändler-
standes Abhilfe bieten sollten. Inhalt und
Erfolg dieser Vorkehnmgen im einzelnen zu
schildern, geht hier jedoch nicht an. Andere
Wünsche und Versuche zielen darauf ab,
im Wege der Besteuerung dem Umsich-
greifen des Grossbetriebes auf dem Gebiete
des Detailhandels entgegenzuwirken. Dieser
Weg wurde schon vor Jahren in Frankreich
betreten ; gegenwärtig wird ferner im Deut-
schen Reiche die Fi-age der • Besteuerung
der Warenhäuser u. s. w. viel verhandelt
(Grewerbesteuergesetz in Bayern v. 9. Juni
1899, Entwurf eines Gresetzes, betreffend die
Warenhaussteuer, im Februar 1900 dem
preussischenAbgeordnetenhause zugegangen).
Gegen Besteuerungsmassnahmen nun, die
niu" den Zweck haben, eine etwa vorhan-
dene Zmiicksetzung der kleinei-en und
mittleren Kaufmannschaft wieder gut zu
machen und eine der Leistimgsfähigkeit etc.
entsprechende Verteilung der Steuerlasten
zu bewirken, ist natürlich nichts einzu-
wenden, sie wälzen vielmehr nur zu unter-
stützen. Sofern aber Steiierprojekte über
diesen Rahmen hinausgehen und eine Waffe
gegen eine bestimmte Art von Betriol)en
liefern sollen, begegnen sie schon gewich-
tigen grundsätzlichen Einwendungen, die
sich auf Bedenken hinsichtlich der Ver-
wendung des Steuerwesens zu derartigen wirt-
schaftspolitischen Zwecken stützen, gleich-
wie gefährliche Folgerungen für ein ana-
loges Vorgehen in anderen Fällen miss-
liebiger Konkurrenz daraus gezogen werden
könnten. Auch steht solchen Projekten die Er-
wägung entgegen, dass eine massige Mehr-
besteuerung ohne nennenswerten Einfluss
auf die wirtscliaftliche Ent Wickelung bliebe,
eine zu schroffe Belastung hingegen einem
wachsenden Widerstand begegnen würde,
der sich keineswegs bloss auf die Ki-eise
der unmittelbar Beteiligten beschränken
dürfte; auch würden daim noch die olme-
hin vorhandenen Schwierigkeiten einer steuer-
tochnisch befiiedigenflen Veranlagmig zu-
Handel
979
nehmeD, sowohl was die Auswahl der der
Sonderbesteuening zu unteraiehenden Be-
triebe als was die Bestimmung der Be-
messungsgrundlage anbetrifft. — Sehr be-
denklich wiii*de bei der wirtschafts- und
sozialpolitischen Bedeutung des Konsum-
vereinswesens eine Einengung desselben
sein.
üeberhaupt muss gesagt werden, dass
die Quellen des gefühlten Druckes, wie
die Zurückdtäugimg des Kleinhandels durch
die Konsumvereine und den Grossbetrieb,
die scliarfe KonkiUTcnz, ausgehend von
einzelnen, mit regem Unternehmungsgeist
geleiteten Betrieben, die sich die mo-
dernen Verkehrseinrichtungen und Reklame-
mittel besonders zu nutze machen etc.,
sich nicht anders, möge man nun steuer-
politische oder andere Vorkehrungen im
Auge haben, als durch allerlei Gew^altmass-
regeln verstopfen Hessen, die, selbst wenn
ihre Diu*chfuhrbarkeit auf die Dauer fest-
stünde, was äusserst fraglich, jedenfalls be-
1 echtigte andere Interessen verletzen würden.
Der Stand der Dinge müsste sich aber ganz
besonders bedenklich gestalten, wenn es in
der That gelänge, die Ent Wickelung ziuück-
zidialten, und dieser Epoche dann ein um
so mehr unvermittelter und jäher Ueber-
gang zur neuen Gestaltung des Geschäfls-
lebens folgte.
Richtiger erscheint es, die wii-tschaft^
liehe Entwickelung anzuerliennen und sich
ihr zu fügen. Das Entstehen neuer Ver-
kehrs- und Geschäftsformen mag hiernach
in der That eine Einengung des früheren
Thätigkeitsbereiches des kleinen und mittleren
Handels mit sich bringen; sich als wirk-
lich lebensfähig erweisen können diese Formen
aber doch nur, wenn sie gleichzeitig eine
bessere und wohlfeilere Besorgung des
Prozesses der Zuführung der Waren an die
Konsumenten hervorrufen, w^as dem allge-
ineinen Interesse entspricht.
Was die Lage des Handlungsper-
sonals anbelangt, so verweisen wir, wie
schon früher gesagt, auf den Art. Handels-
gehilfe.
Litteratnr: Die nationalökonomUtche Litteratur
über den Handel hier aufzmählen ist ganz un-
thunlich, da sich seit allem Anfange an die
volksicirtschaßlichen Werke allgemeinen Charak-
ters sowie SpeciaUchriften aller Art mit diesem
Gegenstände befasst haben. Aus der neuesten
Litteratur wären etwa folgende eingehende Dar-
stellungen hervorzuheben: R, van der Borghtf
Mandel u. HandeUpolitik (mit einer Biblio-
graphie), Leipzig 1900. — Gtistav Cohn, Nat.
Oek. des Handels- und Verkehrswesens, Stuttgart
1S98. — W, LexiSf Abtlg. nHandeh in Schön-
bergs Handbuch der pol. Oek. ü. Aufl. —
Wilhelm MoHCher , yationalökonomik des
Handels «. Gewerbfleisses. 7. Aufl. bearbeitet
von W. Stieda, Stuttgart 1899. — Vgl. ferner
Mich, Ehrenherg , Der Handel, seine tcirt-
schaftliche Bedeutung, seine nationalen Pflichten
u, sein Verhältnis zum Staate. — K. Rathgen,
Art. nHandeln im Wört^rb. der V. W. L —
Paul Leroy'-BeaulleUf Tratte thSoriqnc et
pratique d'Sconomie politique. 2^ edit., Fari^
1896. — No uveau dictionnaire d'Econo-
mie politique. Art. Commerce, Granu s Ma-
gasins u. a, — Dictionnaire du comme rce
de l* industrie et de la banque (unter der
Leitung von Yves Guyot und A. Ba^'alorich im
Erscheinen begriffen). — Ch. LetoumeaUf
L*evolution du commerce datis Ics diverses races
humaines, Paris 1897.
Di€ moderne HandelsetUwUkelung sowie
sonstige der oben berührten Fragen betreffen noch
insbesondere folgende Schriften (zum Teile aber
nur Gelegenheitsbroschilren über die Frage der
Warenhäuser u. deren Besteuerung ohne grösseren
oder gar dauernden Wert): Georg Adler,
Der Kampf wider den Zwischenhandel, Berlin
1896. — O, dWvenel, Le mecani-sme de la
vie moderne, Paris 1896. — Th, Barth,
Wandlungen im Welthandel, Berlin 189ä. —
JP. Bleichen, Der Handel auf altruistischer
Grundlage, Leipzig 1898. — W. Borgius,
Wandlungen im modernen Detailhandel. Archiv
für soz, Gesetzgebung u. Statistik, XIII, Berlin
1899. — Paul Dehn, Die Grossbazarc und
Massenzweiggeschäfte, Berlin 1899. — Edniond
DemolinSf La question des grands magasins,
Paris 1890. — Max Erhardt, Die Waren-
hausumsatzstmter, Berlin 1900. — P. Erfurth,
Warenhaus und Kleinhandel, Berlin. — A,
GrävMl, Zum Kampf gegen die Warenhäuser,
Dresden 1899. — F, GugenJieim, Warenhaus-
steuer, Berlin. — •/. W. Hauschildt, Der
Kampf gegen die Warenhäuser, I^riedebei'g. —
F, C. Huber, Warenhaus und Kleinhandel,
Berlin 1899. — Eugen J'äger, Die bayerische
Steuerreform von 1899, Speyer 1900. — Walter
C tfdh, Die Grossbazare und Warenhäuser,
ihre Berechtigung, ihre Besteuerung. Jahrbuch
f. Gesetzgebung^ Verw. «. Volksto. im Deutschen
Reich, Leipzig 1900. — 1*. du Maroussem,
La question mtvriere, Paris 1892, 1894; Tiers
etat commercial et grands magasins. Revue
intern, de sociologie, Paris 1898. — Victor
Mataja, Gross^magcuine u. Kleinhandel, Leipzig
1891. (Französische Bearbeitung in der Revue
d' economic politique, Paris 1891.) — Paul
Messaw, Die Schäden im Detailhandel w. die
Warenhäuser, Dresden. — Georges Micliel,
Vne evolution economique, Revue des deuxmondes,
Paris 1898. — Robert Prager, Kleinhandel,
Warenhäuser, Rabatl, Börsenblatt für den
deutschen Buchhandel, auch Sonderabdruckt
Berlin. 1900. — Hentiann Rehni, Warenhaus-
Umsatzsteuer u. Gewerbefreiheit. Ein Rechtsgut-
achten über das bayerische Gewerbesteuergesetz,
Barth i. B. u. Miniberg 1900. — Schneider,
Die grossen Warenbazare und ihre Auswüchse,
Köln 1898. — W, Troeltsch, Ueber die
neuesten Veränderungen im deuiscfien Wirt-
schaftMeben, Stuttgart 1899. — Max Weigert,
Die Krisis dfs Zwischenhandels, Berlin 18Sö. —
Alexamlre Weill, Les grands magasins de
Paris et les moyens de les combaUre, Paris 1888.
— c/d/t. Wemiche, Kleinhandel, Konsumüereine
und Warenhäuser. Jahrb. für Nat.-Oek, und
Statistik, Jena 1897. — R, Wilhelms, Die
62*
980
Handel — Handelsbilanz
Warenhätiser und ihre Bekämpfung, Strassburg
1898. — J. M, Wolf bauer, Die Ursachen des
Niederganges des Zwischenhandels , Wien I884.
— Ignaz Zucker, Die Grands Magasins in
Paris und die Handelsttatände in Wien, Wien
1895.
S. femer: Schriften des Vereins für
Sozialpolitik, Bd. 37, 38, dann Bd. 88
(Verhandlungen zu Breslau 1899 über die Ent-
wickelungstendenzen im modernen Detailhandel).
— Bericht über die zu Osnabrück gepflogenen
Verhandlungen deutscher Handels-
körperschaften betr. die Bedrängnisse
des Kleinhandels, zusammengestellt von
Stumpf, Osnabrück 1896. — Die Waren-
hausums atz Steuer. Denkschrift des Bundes
der Handel' u. Gewerbetreibenden zu
Berlin, Berlin 1899. — Die Lage des
Kleinhandels in Deutschland. Herausg.
von der Handelskammer zu Hannover.
I. II, Berlin 1899, 1900. — Das Waren-
haus. Centralorgan für die Interessen der
Kaufhäuser, Warenhäuser, Bazare etc. (Wochen-
schrift, seit Dezember 1899 in Berlin erscheinend.)
— La Revendication, (Halbmonatschrift,
seit 1888 in Paris erscheinend, Organ für die
Agitation gegen die Chrossmagazine). — Einige
weitere Litteraturangaben über Verhandlungsbe-
richte u. Broschüren zur Warenhausfrage s. bei
W. SHeda, Jahrb. f. Nat.-Oek. und Statistik,
19. Bd., Jena 1900, S. 390 ff.
Victor Mataja,
Handelsbilanz.
1. Begriff der H. 2. Die Theorie der H.
3. Die Berechnung der H. 4. Die Bedeutung
der H. 5. Die H. des deutschen Zollgebietes im
besonderen.
1. Begriff der H. Sie ist das i-echnungs-
mässige Ergebnis des Austausches von
Warenwerten eines Landes — einer Volks-
wirtschaft — mit dem Auslande überhaupt
oder mit einem bestimmten anderen Lande,
fdls man diesen Vergleich mit Bezug auf
ein einzelnes fremdes Land anstellen will.
Es ist hierbei natürlich ein bestimmter Zeit-
abschnitt ins Auge zu fassen, z. B. ein Jaiir,
für den man eine solche Wertbilanz ziehen
will. Man pflegt hierbei zu sagen, dass
sich die Handelsbilanz für ein Land »günstig«
stelle, wenn die Summe seines Ausfulir-
wertes die des Einfuhi^'ertes überragt,
»ungünstig«, wenn es dem Werte nach mehr
Waren von auswärts empfangen als hinaus-
gesendet hat.
Die Unterlagen für eine solche Berech-
nung können selbstverständlich nur aus den
Ergebnissen der Handelsstatistik (s. d.) ge-
wonnen werden, welche die Einfuhr und
Ausfuhr von Waren über die Landesgrenze
nach Art, Menge und Wert feststellt; die
Vollständigkeit und Richtigkeit der Bei*ecli-
nung der Handelsbilanz hängt also davon
ab, wie genau die Statistik den Wert der
Waren erfasst, die durch den Handel dem
Inlande zugeführt und an das Ausland ab-
gegeben werden ; also den Wert der Waren,
die in den inländischen Elandel übei^hen
und aus dem inländischen Handel stammen.
Der Nachdruck liegt hier auf dem Werte
und Begriff »Handel«, und es ist hierbei nicht
nur zu denken an die Warenmengen, welche
in die Konsumtion des Inlandes übergehen
und aus der Produktion des Inlandes stammen,
sondern auch an diejenigen, welche zwar
aus dem Auslande stammen, aber sei es
durch Verarbeitung, Mischung oder un-
verarbeitet durch den einheimischen Handel
hindurchgehen, und es ist nur abzusehen
von den reinen Durchfuhrwaren, die nicht
als Werte, sondern nur als Frachtgüter das
Inland passieren.
Für das fragliche Verhältnis der Ein-
und Ausfulirwerte würde die Bezeichnung
»Waren Verkehrsbilanz« noch genauer sein
als Handelsbilanz ; die letztere hat indessen
nicht nur den Vorzug der Kürze, sondern
ist auch in den anderen Kultiusprachen —
balance de commerce, balance of trade, bilancio
commerciale — eingebürgert. Es isl aber
klar, dass nicht die gesamten innerhalb eines
Zeitraumes zwischen zwei Ländern oder
zwischen einem Lande und dem Ausland
eingegangenen und abgewickelten Wertüber-
ti'agungen allein durch Warenaustausch ge-
schehen und dass noch viel weniger die
Bilanz, die sich aus Einfuhr und Ausfuhr
an Waren zu einem bestimmten Zeitpunkte
ergiebt, ein Ausdruck der gesamten ZaUimgs-
verpflichtungen oder Zahlungsguthaben eines
Landes, also die vollständige Zahlungs-
bilanz darstellt. Erstens ist der Warenverkehr
nicht die einzige Form der Wertübertragung
von einem Lande ins andere; es wird
bares Geld gesendet oder von Reisenden
mitgebracht; es ynrd in Wechseln bezahlt,
die nicht in Wai-ensendungen ihren Ursprung
haben : es kann in Zinsscheinen von Anfeilien
oder in Anleihepapieren selbst gezahlt wer-
den; es können Arbeitsleistungen gethan.
z. B. die Waren des anderen Landes auf
Schiffen oder Eisenbahnen gefahren werden.
Zweitens besagt der momentane Stand der
Handelsbilanz z. B. am Abschluss eines
Jahres nichts darüber, wie gross die auf
dauernden Grundlag^eu beruhenden For-
derungen oder Verpflichtungen eines Landes
dem andei-en gegenüber sind. Diese Grund-
lagen sind hauptsächlich gegeben durch die
öffentlichen Schiüden (Staats-, Kommunal-
Anleihen), soweit deren Titel im Auslande
sind, \md in Anlagen dei* verschiedensten
Art — Grundbesitz, Fabriken, Eisenbahnen
etc. — , welche die Angehörigen des einen
Landes im anderen gemacht liaben und
deren Nettoerträge sie an sich ziehen.
Somit ist also die Handelsbilanz nicht
Handelsbilanz
981
zu verwechseln mit der Zahlungsbilanz und
der Bilanz der bestehenden Schuldverbind-
lichkeiten. Die Handelsbilanz selbst ist auch
nicht einmal ein ganz untrüglicher Ausdruck
der si)eciellauf dem Warenumsatz beruhenden
Verschuldung zweier Länder, weil es vor-
kommen kann, dass vom Lande A Waren
an das Land B für Eechnimg des Landes C
gesendet werden, in solchem Falle also
zwischen A und B keine Schuld Verbindlich-
keit bekundet wird.
2. Die Theorie der H. datiert ge-
schichtlich aus derjenigen Zeit, -vvo die
Auflösung der mittelalterlichen Naturalwirt-
schaft begann, herbeigeführt zum Teil
durdi die Entwickeln ng der Volkswirtschaft
aus sieh heraus, zum Teil infolge der Ent-
deckung Amerikas und der damit einge-
führten neuen Pi-odukte, hisbesondere Edel-
metallschätze. Es trat damals ein starkes
Bedürfnis nach Umlaufsmitteln ein, imd man
suchte deshalb Gold und Silber ins Land
zu ziehen, überschätzte auch deren Bedeu-
tung als Repräsentanten des beweglichen
Kapitals und glaubte, dass es den Reichtum
des Landes schnell fördern müsse, wenn die
ausgeführten Waren zu einem recht grossen
Teile nicht wieder durch Ware, sondern mit
Edelmetallen (barem Gelde) bezahlt würden.
Wie weit diese und andere Ideeen des »Mer-
kantilsystems«, das bis gegen Ende des
vorigen Jahrhundei-ts die Volkswirtschafts-
politik der europäischen Kulturstaaten be-
heiTSchte, bei'echtigt wai'en, ist hier nicht
zu untersuchen. Ein Ausüuss desselben
w^ar die hohe Wertschätzung einer »güns-
tigen Handelsbilanz« in dem Sinne, dass
mehr Geld für ausgeführte Waren nach dem
Inlande hineinkam als für eingeführte aus
demselben abfloss, und es kam dazu, dass
man der Bedeutung des auswärtigten Han-
dels überhaupt für die Volkswirtschaft mehr
Reichtum schaffende Wirkung zuschrieb, als
ihm in Wirklichkeit zukommt. Nachdem
dann die :>merkantilistische« Volks Wirtschafts-
politik ihre Aufgabe erfüllt hatte und die
Horbeifühnmg der freien wirtschaftlichen
Bewegung des Individuums zur hauptsäch-
lichen Aufgabe der wirtschaftlichen Politik
wm'de, trat auch das Bestreben nach Herbei-
führung einer günstigen Handelsbilanz im
obigen Sinne zurück. Die »Freihandels-
theorie« wandte die Idee, dass es sich beim
Verkehr regelmässig um den Austausch
gleichwertiger Leistungen handle, auch auf
die Handelsbilanz an und meinte, dass der
Verkehr zwischen den Völkern (Volkswirt-
schaften) sich immer so gestalte, wie es für
das beiderseitige Interesse am besten ist,
dass eine Uebervorteilung des einen Volks
durch das andere gar nicht vorkommen
könne. Es sei also vollständig unnütz, auf
die Herbeiführung einer bestimmten Gestal-
tung der Handelsbilanz zu sinnen; wobei
&\)ev übersehen wurde, dass es auch im
Völkerverkehre wirtschaftlich schwächere
und stärkere Parteien giebt und auch da
eine fortdauernd ungleiche Gewinnverteilung
stattfinden kann. Mit Recht liess man aber
von dem nun keinesfalls mehr zutreffenden
Bestreben ab, bares Geld durch künstliche
Massregeln ins Land zu ziehen, um eine
»günstige« Bilanz zwischen Geld- und
Warenverkehr zu erzielen, und es ver-
schwand die merkantilistische Anschauung
von der Handelsbilanz. Man redete und
redet von dieser heute nur noch in dem
Sinne, dass man den Wert der eingeführten
Waren mit dem der ausgeführten vergleicht.
In dem Kampf gegen die ältere Theorie
kam man natui^emäss auch zu üebertrei-
bungen nach der entgegengesetzten Seite
hin, und einzelne Theoretiker behaupteten,
dass eine bisher sogenannte günstige Han-
delsbilanz ein ungünstiges Zeichen für den
Volkswohlstand des betreffenden Landes
sei, weil das üeberwiegen der Warenaus-
fuhr über die Einfuhr seinen Grund im
Mangel an baren Umlaufsmitteln habe, der
von einer Erschütterung des Kredits her-
rühren müsse. Andere Freihandelstheore-
tiker vergleichen den Glauben an den Stand
der Handelsbilanz als Zeichen der wirt-
schaftlichen Entwickelung mit dem ebenso
unhaltbaren Glauben an den Einfluss der
Mondphasen auf den Gang der Wittei-ung.
Immerhin ist von der merkantilistischen
Lehre bis heute der Eindruck zurückge-
blieben, eine günstige Handelsbilanz, d. h.
ein üeberwiegen der Warenausfuhr dem
Werte nach, sei etwas Erstrebenswertes.
Der Tendenz nach gleichwertig ist die neuer-
dings so vielfach scharf hervortretende
Meinung, die Zurückdrängung des Verbrauchs
ausländischer Artikel zu Gunsten der ein-
heimischen Produktion sei besonders ver-
dienstlich. Richtig ist hiemn, dass es näher
liegt und auch in der Regel volks wii-tschaftlich
vorteilhafter ist, Arbeiter mit der Produktion
eines bestimmten Artikels im Inlande zu
beschäftigen, statt diesen von aussen zu be-
ziehen und infolge dessen entweder für
weniger Arbeiter oder gegen geringeren
Lohn Arbeitsgelegenheit zu haben oder auch
sie anderweit für den Export beschäftigen
zu müssen. Wenn man aber gleichzeitig
verlangt, dass die Ausfuhr gesteigert werden
müsse, um der anwachsenden Bevölkerung
mehr Nahnmgsspielraum zu vei-schaffen, so
darf man doch nicht übersehen, dass die
Ausfuhr nicht ohne den Gegenwert der Ein-
fuhr denkbar ist und dass insbesondere ein
Land, das grosse Kapitalanlagen auswärts
hat, seinen Gewinn zum grossen Teil durch
Bezug von auswärtigen Waren und zwar
nicht nur von Rohstoffen, sondern auch
982
Haiiclelsbilauz
hochwertigen Fabrikaten hereinbekommen
miiss.
3. Die Berechnung der H. ist, wie
bei*eits bemerkt, Sache der Handelsstatistik,
und es hängt von deren Organisation ab, wie
weit vollständige und richtige Grundlagen
dafür in dem einzelnen Handelsgebiete be-
scliafft werden und die Berechnungen für
die verschiedenen Länder vergleichbar sind. ,
Es darf daher liier auf diesen besonderen
Artikel verwiesen und nur im allgemeinen
folgendes gesagt werden. Wenn man da-
rauf ausgellt,' zu ermitteln, welchen Geld-
wert das eine Land dem anderen für ge-
lieferte Waren schuldet, so kann man sich
nicht damit begnügen, den Einkaufspreis
am Produktionsorte zu berechnen: z. B. als
Schuld der Vereinigen Staaten von Amerika
für einen nach Chicago gelieferten Centner
Nürnberger Zinnsoldaten an Deutschland
den Gestehungspreis dieser Waren in Nürn-
bei'g anzusetzen, denn unzweifelhaft gehören
die Ti-ansportkosten mit zum Wert der Ware
und müssen bei der fraglichen Berechnung
dem Nürnberger Preise zu Gunsten Deutsch- 1
lands soweit hinzugerechnet werden, als der '
Transport von deutschen Anstalten geleistet
wurde, da dessen Preis an Deutschland mit
bezahlt werden muss. In jedem Falle kommt
also hinzu die Eisenbahnfracht bis zur
deutschen Grenze z. B. Hamburg. Hier
wird die Ware vielleicht durch ein deutsches
Schiff übernommen und nach New-York
geführt; in diesem Falle wäre der Fracht-
gewinn bis New-York der deutschen Bilanz
zu gute zu rechnen; falls aber ein Schiff
der Vereinigten Staaten die Fracht besorgt,
so würde diesem Lande der Prachtgewinn
von Hamburg ab zu gute kommen und die
Schuld an Deutschland entsprechend ver-
kürzt. Es kann aber sehr wohl sein, dass
ein englisches Schiff die Fracht übernimmt,
und dann tritt ein dritter Staat in die Be-
rechnung der Handelsbilanz ein. Es liegt
aber selbstverständlich ausserhalb des Be-
reichs der Handelsstatistik, die Transporte
der inländischen Waren nach der Nationali-
tät der Frachtführer zu verfolgen und ent-
sprechende Quoten in die Handelsbilanz ein-
zustellen ; sie kann sich als Ziel nur setzen,
diejenigen Werte zu ermitteln, welche die
inländischen Waren bei der Ausfuhi*
über die Landesgrenze, also zuzüglich der
Transportkosten vom Produktionsorte bis
dahin, und diejenigen, welche die aus-
ländischen Waren beim Eintritt in das
Land haben. In dem angeführten Beispiel
wird also die Nürnberger Ware für Deutsch-
land nach ihrem Werte loco Hamburg, für
die Vereinigten Staaten nach ihrem Werte
loco New-York zu berechnon sein.
Falls die Handelsstatistlken zweier Länder
nach dem angegebenen Grundsatz aufgestellt
werden, so müssen aus dieser gleichen —
und einzig rationellen — Beliandlung ver-
scliiedene Wertungen htlben und drüben
entstehen. Nur soweit zwei Länder un-
mittelbar benachbart sind, können die Werte
stimmen. Jedenfalls ist für die Praxis der
Berechnung der Handelsbilanz der Wert der
Ware an der Landesgrenze das einzig Em-
pfehlenswerte.
Als Beispiele wirklich aufgestellter Han-
delsbilanzen dienen die folgenden Zahlen.
In der Reihenfolge der hier gewählten
Länder ist das mit der »günstigsten« Han-
delsbilanz vorangestellt.
Specialhandel ^) in Millionen Mark, einschl. Edelmetall -Verkehr
Länder
' Jahr«)
Einfuhr , Ausfuhr
Mehr-
|DieEinfuhr
1=1,00 gesetzt
Einfuhr Ausfuhr ;betr. d. Ausf.
Vereinigte Staaten von Amerika
Oesterreich- Ungarn
Rnssland . . . •
Frankreich
Belgien
Niederlande
Deutschland
Schweiz
Grossbritannien
1899
3604,8
5 677,3
2072,5
1899
I 375,7
I 638,8
263,1
1897
1517,6
I 595,8
77,6
1899
3 825,9
3467,1
358.8
1898
I 717,0
I 514,8
202,2
1898
3 052,8
2 576,9
475.9
1899
5 783,6
4 368,4
1415,2
1899
994,2
701,4
292,8
1899
9 506,4
6 132,1
3 374,3
1,75
1,19
1,05
0.91
0,88
0,84
0,76
0,71
0,65
^) Specialhandel für Deutschland, und für die anderen Länder die dem Begriff des deut-
schen Specialhandels am nächsten liegende Zahlenkombination.
^) Letztes Jahr, für das bei Abfassung des Aufsatzes Zahlen vorlagen.
Wegen der Verschiedenartigkeit der Or-
ganisation der Handelsstatistik und des un-
gleichen Grades der Annähening der Ergeb-
nisse an die Wirklichkeit sind obige Zahlen
keineswegs vergleichbar, zum Teil geradezu
irreführend. Die ausserordentlich »günstige^
Handelsbilanz der Vereinigten Staaten u. a.
z. B. erklärt sich zum grossen Teil daraus,
Handelsbilanz
983
dass als Einfuhrwerte die am Einkaufsort
der Waren deklarierten Preise eingestellt
werden, zum Teil aus der mangelhaften
Feststellung der Einfuhr durch die ameri-
kanische Handelsstatistik ; es würde jedoch
hier zu weit führen, in eine Untersuchung
der Entstehungsart der einzelnen Ergeb-
nisse einzutreten.
4. Die Bedeutung der H. muss hier-
nach zunächst daliin erläutert wei*den, dass
die aus den handelsstatistischen Zahlen der
einzelnen Länder sich ergebenden Handels-
bilanzen nicht ohne weiteres als die wirk-
lichen Bilanzen der mit dem Auslande aus-
getauschten Warenwerte anzusehen sind,
sondern recht weit davon entfernt sein
können. Was dann die wirkliche, durch
die Handelsstatistik zum Teil nur unvoll-
kommen^ ausgedrückte Handelsbilanz be-
trifft, so ist aus dem vorher Gesagten schon
klar, dass sie weder identisch ist mit der
Bilanz der Verbindlichkeiten und Forde-
rungen eines Landes dem Ausland oder
einem bestimmten anderen Lande gegen-
über, noch ihre Gestaltung mit der Ge-
staltung dieser Zahlungsbilanz gleichartig
zu sein braucht d. h. günstig zu sein, wenn
diese aktiv ist und umgekehrt. Wenn man
diese Xichtübereinstimmung von Handels-
bilanz und Zahlungsbilanz feststellt, so ist
aber damit keineswegs gesagt, dass die
Handelsbilanz ganz ohne Bedeutung sei.
Die Thatsache, dass von einem Lande ver-
hältnismässig mehr Waren ausgeführt — ver-
kauft — als eingeführt — gekauft — wer-
den, also die Handelsbilanz »gtlnstig« ist,
oder dass das umgekehrte Verhältnis ob-
waltet, also die Handelsbilanz »ungünstig«
ist kann volkswirtschaftlich keineswegs ganz
gleichgiltig sein. Die Warenumsätze ziehen
den Verkehr in Wechseln nach sich, und
die Summe der auf ein Land auslaufenden
Wechsel ist von Einfluss auf den Kiu^ der-
selben ; für Länder mit schwankender Valuta
macht dieser Umstand auch seinen Einfluss
auf die Valuta selbst — den Km^ des ge-
setzlichen Zahlmittels — geltend. Volks-
wirtschaftlich noch bedeutungsvoller ist die
Fi'age nach den Ursachen der günstigen oder
ungünstigen Gestaltung der HandelsbLlanz.
Hier ist zu scheiden zwischen der voniber-
gehenden und der dauernden d. i. für einen
längeren Zeitraum dieselbe Tendenz zeigen-
den Handelsbilanz. Vorübergehend fcmn
durch einzelne grosse Kreditoperationen, die
das Inland dem Ausland verpflichten, die
Handelsbilanz in ihrer Richtung beeinflusst
werden; z. B. kann durch die Abtragung
einer grossen Kriegsschuld das Land ver-
anlasst werden, seine Ausfuhr zu forcieren
und so sich eine günstige Handelsbilanz zu
verschaffen ; umgekelirt kann eine grosse im
Ausland gemachte Anleihe die Mittel geben,
viel Warenwerte ins Land zu ziehen und
somit die Handelsbilanz vorübergehend un-
günstig erscheinen zu lassen. Wenn man
aber nach den dauernden Ursachen der
Gestaltung der Handelsbilanz fragt, so kann
eine günstige Handelsbilanz entweder
darin ihre Ursache haben, dass ein Land
seinen Produktionsüberschuss dauernd im
Auslande anlegt, sei es diurch Erwerbung
fremder Schuldverschreibungen, sei es durch
Ei'richtung auswäi*tiger Unternehmungen,
oder darin, dass die Mehrausfuhr einen
Gegenwert zur Deckung von Ansprüchen
des Auslandes bildet, die ihren Gnmd nicht
in der Lieferung von entsprechenden Waiden -
werten (in der Einfulu' von dort) haben, son-
dern auf anderweiter dauernder Verschuldimg
des Inlandes beruhen ; und zwar wird diese
letztere hauptsächlich ihren Grund haben in
öffentlichen Anlehen, die in Händen von
Ausländern sind, und in Leistungen der
Ausländer für das Inland, z. B. Warentrans-
porte auf ausländischen Schiffen. Die güns-
tige Handelsbilanz kann also eine sozusagen
aktive und eine passive Ursache haben ; die
letztere ist jedenfalls die häufiger vor-
kommende und eine sehr einfache Erkläining
der Mehrausfuhr stark verschuldeter Staaten.
Als Ursache einer dauernd ungünstigen
Handelsbilanz, also einer lange Zeit nin-
durch fortgesetzten Mehreinfuhr, lässt sich
wohl niu' die hervorragende Kaufkraft des
betreffenden Landes anführen, die auf
starken Aktivis im Auslande beruht. Ein
Land, dessen Einwohnerschaft vom Aus-
lande Zinsen aus Anlehen, Gewinne aus
dort belegenen Betrieben, Bezahlung für ge-
leistete Warentransporte zu fordern hat, ist
in der Lage, über seinen Ausfuhrwert hinaus
Waren zu kaufen und so eine ungünstige
Handelsbilanz dauernd zu tragen. Die Be>
deutimg einer solchen Gestaltung der Han-
delsbilanz wird somit regelmässig die sein,
dass das betreffende Land sich in einer
günstigen wirtschaftlichen Lage befindet.
Wie man sieht, ist die Bedeutung der
Handelsbilanz gross genug, um das Bestreben
nach einer richtigen statistischen Erfassung
derselben zu rechtfertigen.
5. Die H. des deutschen ZoUgebietes
im besonderen. Da es bisher noch nicht
gelungen ist die Handelsstatistik des für den
deutschen Warenverkehr so hervorragend
wichtigen Platzes, des Hamburger Freihafens
in der deutschen Handelsstatistik ein zube-
ziehen, so bleibt diese eine solche des
deutschen Zollgebietes und hinter der eigent-
lichen Handelsbilanz Deutschlands zurück.
Die Handelsbilanzen der fünf Jahre 1895^99
stellen sich wie folgt:
984
Handelsbilanz — Handelsgehilfe
Jahr
Die Einfuhr
Ein- Aus- Mehr- =1,00 ge-
fuhr fuhr Einfuhr setzt, macht
die Ausfuhr
Millionen Mark im Specialhandel einschl.
Edelmetallverkehr
S22.0
1895 4246,1
1896 4558,0
1897 4864,6
1898 5 439,7
1899 5783,6
3424,1
3 753,8
3 786,2
4010,6.
4 368,4
804,2
I 078,4
1429,1
1 415,2
0,81
0,82
0,78
0,74
0,76
Die sorgfältige Aufstellung luiserer
Handelsstatistik, welche durch sachver-
ständige Schätzungen die Werte der ein- und
ausgeführten Waren an der Landesgrenze
zu fassen sucht, bürgt dafür, dass unsere
Zahlen der Wirklichkeit ziemlich nahe
kommen. Das regelmässige Auftreten einer
imgünstigen Handelsbilanz wird gerecht-
feilipt dadurch, dass unser Besitz an aus-
ländischen Anleihen etc. jedenfalls grösser
ist als der Besitz des Auslandes an unseren
Schuldtiteln, und durch die bedeutenden
Leistungen aJs Warenführer für das Ausland.
Erstens nämlich bedingt unsere centrale Lage
eine bedeutende Durclifuhr ausländischer
Waren zu Land und Wasser (die Handels-
statistik w^eist für 1899 eine Durchfulir von
24 Millionen dz nach), zweitens kommen
die Leistungen unserer Handelsflotte in Be-
tracht, die nicht nur zwischen In- mid
ausländischen Häfen, sondern auch von
ausländischen zu ausländischen Häfen fremde
Güter transportiert. Ob der Gewinn aus
anderen deutschen Unternehmungen im Aus-
lande schon die aus solchen des Auslandes
bei uns übertreffen, mag daliingestellt
bleiben.
Wenn man die Bilanz nicht dem Aus-
lande überhaupt, sondern einzelnen Ländern
gegenüber zieht, so ergiebt sich für die schon
oben gewählten Länder und das Jahr 1899
folgendes Bild ; jene Länder nach der Grösse
des Verkehrs mit uns geordnet.
Des deutschen Zollgebiets
von i nach
Ein-
Aus-
dort
dort
fuhr
fuhr
Mehr-
Mehi*-
aus
nach
Ein-
fuhr
Aus-
fuhr
MiU. M.
i. Specialband.
Grossbritannien .
.777,1
851,6
_
74,5
Verein. Staaten v.
Amerika . . .
907,2
377,6
529,6
Rnssland . . .
701,7
396.6
305,1
Oesterr. - Ungarn ,
730,4
466,0
264,4
Frankreich . .
303,1
216,7
86,4
Niederlande . . .
203,3
327,7
124,4
Schweiz ....
176,3
284,7
—
108,4
Belgien ....
246,1
207,1
39,0
Niederlande und Schweiz mehr Waren ab als
wir empfingen, hatten eine »günstige«
Handelsbilanz diesen Ländern gegenüber ; im
Verkehr mit Belgien ist die Differenz nicht
sehr erheblich. Die Lage dieser kleinen
Länder als Durchgangs- und Speditionsländer
beeinflusst die statistischen Nachweise in-
sofern ungünstig, als sie oft als Einkaufs-
(Herkunfts-) und Verkaufs-(Bestimmungs-)
Land angegeben werden mögen, wo sie es
thatsächlich nicht sind. Die günstige
Handelsbilanz zur Schweiz kann wohl mit
daher kommen, dass wir ihr für Rechnung
Dritter (s. 0. sub 1) Waren liefern.
Schliesslich sei noch darauf aufmerksam
gemacht, dass bei einer Zerlegung der
Waren nach den Gattungen sich unsere
Handelsbilanz auch verschieden herausstellt,
wie folgende Zalilen zeigen. Es betnig im
deutschen Zollgebiet 1899 die
Einfuhr Ausfuhr
I 591,0
— I 564,5
also Mehr-
Einfuhr Ausfuhr
in Millionen Mark
Rohstoffe f. d.
Industrie . 2607,1 1016,1
Fabrikate. . 1147,6 2712,1
Nahrungs- u.
Genussmittel
(einschl. Vieh) 1 728,4 478,8 i 249,6
Edelmetalle . 300,5 161,4 139,1
Litterator : Felltneth, Zur Lehre von der inter-
nationalen Zahlungahilanz, Heidelberg 1S77. —
V, Hey hing f Zur Geachichte der Handehhilaiiz-
theorte, I. ältere englische isysteme und Theorieen,
Berlin ISSO. — Grunzelf Der internationale
Wirtschaftsverkehr und seine Bilanz, Leipzig
1895. — Rulundj Die Handelsbilanz , Berlin
1897. — HelfferUh, Studien über Geld- U7id
Bankwesen (Abh. V: AussenJiandel und Valuta-
schwankungen), Berlin 1900. — In Hildebrand-
Conrads Jahrb. f. Nat.-Oek. u. ütat.: Heiligen^
stadtf Beiträge zur Lehre von den auswärtigen
Wechselkursen, in IIL Folge, Bd. VI, 1893. —
LexiSf Di^ internationcde Beivegung der Edel-
metalle, in III. Folge, Bd. XV, 1898. — In
Schmollcrs Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung
und Volkswirtschaft: r. Scheel , Die Berechnung
der Handelsbilanzen, im 13. Jahrg., 1SS9. —
Im Journal of the Royal Statistical Sorieig
(London): Giffen, The Use of Impoi-t- and
Export- Stalistics, im Jahrg. 1882; I^evselbe,
The cxcess of imports, im Jahrg. 1899.
H, x\ ScheeU
Danach geben wir an GiT)Ssbritannien, die
Handelsgehilfe.
I. Historische Entwickelung. U.
Der Handelsgehilfe der Gegenwart.
1. Allgemeines. 2. Zwei Klassen von Gehilfen.
Die soziale Frage im Handelsstande. 3. Sozial-
reformatorische Bestrebungen und Gesetze.
Handelsgehilfe
985
I. Historische Entwickelnng.
Unter den Hilfskräften, welche der ent-
wickeltere Handel ebenso wie die vollkom-
menere Produktion erfonlert, sind zwei
Kategorieen zu untei*scheiden : erstens die-
jenige der unqualifizierten Arbeiter, welche
ausschliesslich gröbere Arbeiten wie das
Packen und Austragen der Waren, also kurz
nur niedere Handlangerdienste zu leisten
haben, imd zweitens diejenige der kauf-
männischen Arbeiter , welche den Chef
bei der specifischen Handel st hätigkeit unter-
stützen und Handelsgehilfen (Kommis) ge-
nannt werden. Diesen letztei*en allein gilt
unsere Betrachtung.
Vertreter dieses Berufes finden sich schon
im klassischen Altertum, wo zunächst
der Grosshandel vornehmlich wegen seines um-
fangreichen Betriebes, seiner verwickelten Buch-
führung und Geldgeschäfte im Verkehr mit dem
In- und Auslande ihrer bedurfte: im Kleinhan-
del dagegen lassen sie sich in Rom erst nach
dem zweiten punischen Kriege nachweisen, wo
manche Geschäftsleute den Einzelverkauf be-
reits in geräumigen und glänzenden Magazinen
und zudem noch durch Ausrufer und Hausierer
(circitores und institores) besorgen liessen. Die Ge-
hilfen rekrutierten sich meist aus dem Sklaven-
stande, daneben noch in Griechenland aus den
Schutz verwandten (Metöken), in Rom aus den Frei-
gelassenen und späterhin selbst denFreigeborenen.
Die Angestellten des Grosshandels befanden
sich in bevorzugter Position; nicht selten er-
rangen selbst die Sklaven unter ihnen grössere
Selbständigkeit und besorgten dann als Bevoll-
mächtigte den Ein- und Verkauf, hatten Dispo-
sition über ganze Schiffsladnngen und wurden
Vorstände der Filialen, ja sogar der Hauptge-
schäfte. Dass diese Praxis der Uebertragung
weitgehendster Vollmachten an abhängige Per-
sonen allgemeiner geübt wurde, war die Konse-
quenz des Vorurteils vornehmer Hellenen
und Römer gegen berufsmässige Geschäftsthä-
tigkeit. Bewährten Gehilfen winkte als sohliess-
licher Lohn die Ausstattung mit Kapital zur
Begründung eines Geschäftes, an dem der ehe-
malige Herr nur Gewinnanteil sich vorbehielt. —
In Deutschland hat sich ei*st spät,
nach Ende des ersten Jahrtausends unserer
Zeitrechnung, ein einheimischer Kaufmanns-
stand entwickelt, dem zunäclist, ausser den
Familienangehörigen, keine Gehilfen zur
Seite standen, da der Geschäftsbetrieb klein
und primitiv wai\ Sogar noch im 16. Jahr-
hundert sind in Basel, wie Geering kon-
statiert, die meisten Geschäfte ganz ohne
Handlungsdiener, und 14 grosse Firmen
l)eschäftigen zusammen — 19 Kommis.
Andei-s freilich lag die Sache bei den Welt-
firmen der grossen Handelsplätze. —
Das Dienstverhältnis des Handelsgehilfen
(copgeselle, knape, — famulus, socius, factor)
war durch freien Vertrag geregelt. Sein
Princip war: stramme Subordination und Ver-
pflichtung des Gehilfen zu höchster Arbeit.«?am-
keit, unverbrüchlicher Treue und sittlichem und
gottesfürchtigem Lebenswandel. Die Jugend —
heisst es in einem Statut des hansischen ,, Stahl-
hofes" zu London — soll in den Kontoren
„nicht allein zeitliche Nahrung suchen, sondern
auch zur Tugend, Frömmigkeit und aller Ehr-
barkeit daselbst erzogen werden". — Neben dem
patriarchalischen Pnncip kam der Geschäfts-
profit nicht zu kurz; denn offenkundig suchte
der Vertrag überall den Vorteil des Herrn ent-
schieden zu wahren. Gesetzliche Normativbe-
stimmungen waren dabei folgende. Als Lehr-
ling durfte nur angenommen werden, wer Zeug-
nisse über eheliche Geburt, seinen und seiner
Eltern guten Leumund, Zugehörigkeit zu einer
„guten" Nation etc. beibrachte. Manche vor-
nehme Kanfmannszunft fordert (im Unterschiede
zu allen anderen Zünften der Stadt) noch aus-
drücklich, dass der Aufzunehmende „der Brue-
dirschafft gut genugk sey", wie dies z. B. Ad.
Warschauer aus Posen berichtet. Zur Auf-
nahme in ein Kontor des Hansabundes speciell
ist noch der Besitz des Bürgerrechts in einer
Hansastadt obligatorisch. — Die zünftige Auf-
fassung prägte sich schon charakteristisch in
der Art der Aufnahme der Lehrlinge ans,
die sich zu einer feierlichen Immatrikulation
durch den Zunftvorstand gestaltete: „dar schal
ohnen (sc. den Lehrlingen) gesecht werden, wor
se sick by obren Heren holden scholen, unnd
schall ohre Nähme alssdenne vertecknet werden"
(Lübecker Urkunde). Natürlich entsprach die-
sem Akt eine Gebühr an die Zunftkasse, die
der Meister oder der Lehrling zu entrichten
hatte. Die Dauer der Lehrzeit war verschie-
den, z. B. auf dem Stahlhof zu London zwei
Jahre, auf dem Kontor in Bergen vier. Blieb
der Lehrling nach dieser Zeit in derselben Stadt,
so musste er auch bei demselben Herrn
weiterdienen „alse deme, de ohne (ihn) mit
Schaden thogesettet unnd gelehret, deme he ock
darvor billich Danckbarheit unnd wedderumme
Gudes tho doende plichtich is" (Lübecker Ur-
kunde). Schutzbestimmungen für den Lehrling
finden sich nirgends ; wohl aber wird dem Chef
die „Ausbildung" des Lehrlings durch ausdri\ck-
liche Gewährung des Züchtigungsrechtes er-
leichtert. Entlief der Lehrling, weil er Schläge
erhalten, so musste er an die Zunft Busse zah-
len imd zum alten Meister zurückkehren, falls
er überhaupt beim Gewerbe bleiben wollte. --
Umfang und Art der Thätigkeit des
Lehrlings waren natürlich je nach der Branche
verschieden. Allgemein lässt sich nur sagen,
dass im Kleinhandel der Lehrling die niederen
Keinigungsarbeiten zu verrichten, die geführten
Artikel kennen zu lernen und die Kunden zu be-
dienen hatte. In der Grosshandlung suchte der
Lehrling sich zunächst eine gewisse Waren-
kenntnis anzueignen; dann wurde er in kauf-
männisches Rechnen, Buchführung, Korrespon-
denz und Speditionswesen eingeführt und schliess-
lich auf Messen und Märkte mitgenommen, um
dort die Quintessenz der höheren Handelstech-
nik zu lernen. Gegen Ausgang des Mittelalters
wurde es unter den Grosskaufleuten üblich, die
Söhne zur Lehre auf die deutschen Kontore im
Auslande zu geben, welche recht eigentlich als
die hohen Schulen des Kaufmannsstandes gal-
ten, da dort die beste Gelegenheit zur Erlernung
der fremden Sprachen und zum Studium des
Weltmarktes tich bot. In anderen Fällen gaben
986
Handelsgehilfe
die Grosshändler ihre Söhne direkt zu welschen
Kaafleaten in die Lehre und nahmen dafür
dann deren Kinder „im Tausch" in die eigenen
Geschäfte So grab die Entwickelung des Han-
dels, wie Sebastian Franck in merkwürdiger
Auffassung dieses Berufes klagt, Anlass, „auf
den Handel zu studieren, wie es sonst nur auf
die freien Künste geschehen^'.
Die Gehilfen des Kleinhandels uad alle
jene des Grosshandels, die keinen selbstän-
digeren Posten inne hatten, waren ihren Chefs
nicht viel minder unterthan als die Lehrlinge.
Dies wird klar ersichtlich durch einen Blick
auf die folgende Sammlung aller wesentlichen
Statuten der Krämerzünfte, soweit sie die Ge-
hilfen angehen. Diese entnielt^n: Einheitliche
Mietzeit (so durften in Lüneburg z. B. die Ge-
hilfen ausschliesslich 14 Tage vor Ostern und
Michaeli gemietet werden); lange Dauer der
vereinbarten Kontrakte; Bestrafung des Kon-
traktbruchs oder der Untreue des Kommis durch
Exklusion aus dem Berufe („wo den ock ein
jeder redlicker 31an sulcker Dener nicht begerth",
Lübecker Urkunde) ; dagegen Erlaubnis für den
Herrn, im Einverständnis mit dem Zunftvor-
stande nicht genehme Kommis vor dem kon-
traktmässigen Termin zu entlassen: obligatori-
scher Sühneversuch durch die Zunft bei Strei-
tigkeiten zwischen Herrn und Gehilfen ; Verbot
der Koalition der Kommis; Gestattung sonsti-
ger Versammlungen derselben nur unter Assis-
tenz von Ratsdeputierten; Festsetzung von
Beginn und Ende der Arbeitszeit durch Be-
schluss der Innungskaufleute; Verbot der Sonn-
tags- und Festtagsarbeit („Gade [Gott] to Love
und to Eren", Lüueburger Urkunde); Verbot
von Geschäften für eigene Rechnung oder für
die eines anderen wie des Prinzipals; Verbot
des Schlafens ausserhalb des Hauses, des Her-
umtreibens in Kneipen oder berüchtigten Häu-
sern, des Würfeins, ja selbst der Ausstattung
mit Kleidern ohne Wissen und Willen des
Herrn, und endlich Verbot aller anderen
Dinge, „de neenem ehrlicken framen Dener an-
staen" (Lübecker Urkunde) bei Strafe der Ex-
klusion. Das alles genügte aber den Prinzipalen
noch nicht, sondern, um das Hilfspersonal vol-
lends in der Gewalt zu haben, bestimmte
schliesslich noch das Statut, dass ein Krämer
einen Kommis niemals einem anderen aus-
mieten und ihn gegen den Willen des bisheri-
gen Chefs sogar nach Ablauf der kontrakt-
lichen Dienstzeit nicht übernehmen dürfe! —
Diese Principien werden auch in dem nachste-
henden Musterkontrakte aus Nürnberg vom
Jahre 1579 wiedergespiegelt. Danach verpflich-
tet sich der Kommis seinem Herrn, einem Tuch-
händler, wie folgt: 1. 10 Jahre zu dienen; 2.
nie um Geld zu spielen, nie Geld bei sich zu
trafi^en, sondern es im Bedarfsfalle vom Chef zu
entleihen; 3. gehorsam zu sein, ohne Willen des
Chefs nicht aus dem Dienste zu bleiben, ohne
Erlaubnis das Haus niemals zu verlassen, end-
lich keine „böse Gesellschaft" ins Haus zu brin-
gen ; 4. gegen den Willen der Herrschaft nicht
zu heiraten, dagegen jederzeit den Abschied
ruhig anzunehmen, wenn die Herrschaft ,,an
seinen Diensten ein Uugefallen hätte" ; 5 für
Schaden, den er hätte verhüten können, einzu-
stehen ; 6. ohne ' den Willen' -der Herrschaft
nichts zu verleihen, für nichts Bürge zu wer-
den, über ihren Handel strengste Diskretion zu
wahren; 7. die Kosten für seine Kleidung aus
eigener Tasche zu bestreiten, während er sonst
freie Station hat und 150 Gulden Lohn für die
gesamte Dienstzeit erhält: 8. weder am Orte
noch anderswo in eine Tuchhand Inng einzu-
treten, wenn ihn der Chef vor Ablauf der 10
Jahre entlässt; 9. Bürgen für 100 Gulden zu
stellen, zahlbar an die Herrschaft bei Kontrakt-
bruch ; 10. Bürgen für den Ersatz etwaiger Ver-
untreuung zu stellen.
Die Gehilfenordnung in den zahlreichen
deutschen Niederlassungen im Aus lande lehnt
sich an die Statuten des heimatlichen Handels-
rechtes an, soweit sie nicht den obwaltenden
besonderen Lokal Verhältnissen Rechnung tragen
muss. So geht die für alle hansischen Kontore
typische Verfassnngsurkunde des Londoner
Stahlhofes von dem leitenden Grundsatze aus:
es seien die Gesellen „sich selbst zu regieren
ungeschickt, und derhalben nicht allein gefähr-
lich, sondern auch ihnen selbst nachteilig^ und
schädlich , so ihnen eigen Regiment zu haben
vergönnet würde, weshalb den jungen Gesellen
zu unordentlichen Weisen alle Occasion und
Ursach entzogen werden solle". — Die Arbeits-
zeit dauerte von 5 Uhr früh bis 9 Uhr abends
im Sommer und von 6—8 im Winter. Das Mit-
tagsmahl wurde von allen Gehilfen gemeinr-
schaftlich eingenommen, — wobei ihnen aber,
neben allem sonstigen Unziemlichen, vorsorglich
alles Räsonnieren über das Essen verboten war.
Stand dann der Kommis auf, nachdem „die
Mahlzeit vollendet und Gott gewöhnlicher Weise
Danksagung geschehen*', so musste er „dem
Kaufmann an der Meistertafel willig zur Tafel
dienen'' (Statut des Stahlhofes). Es findet sich
natürlich auch das Verbot der Koalition (jeg-
lichen „Auftlaufifs, Versammlung oder heim-
lichen Couspiration, wodurch der Kaufmann in
Last und Mühe möchte kommen"). Die üeber-
wachung der Ordnung lag in allen hansi-
schen Kontoren in den Händen eines Ausschus-
ses von Prinzipalen ; nur im Deutschen Hofe zu
Nowgorod war durch eine Skraa (Verordnung)
von 1346 auch den Gehilfen Teilnahme an der
Verwaltung zugebilligt. — Strenge Zucht
scheint übrigens nicht unnötig gewesen zu sein,
wenn z. B. bei den Gesellen in Bergen, trotz
strengen Verbotes, das „Spiel"' galt: jeden neuen
Ankömmling entkleidet in die noch winterlich
kalten Fluten zu werfen und ihn dann, wenn
er fast erstarrt wieder herauskam, bis zur Be-
wusstlosigkeit blutig zu peitschen; und wenn
in Kowno, seitdem die Prinzipale dorthin nur
selten kamen, die Kommis sich fortwährend
gegen die Administration des Kontors renitent
zeigten, in den Schenken herumlungerten und
unausgesetzt mit der einheimischen Bevölkerung
in Kollision gerieten!
So wenig sich mithin im allgemeinen die
soziale Stellung der Mehrzahl der Handels-
gehilfen von derjenigen der Handwerksgesellen
unterschied, so protestierten ^ene doch energisch
dagegen, diesem Stande gleichgestellt zu wer-
den, indem sie z. B. sich weigerten, am Schwör-
tag mit den Handwerksgesellen zugleich den
Zunfteid zu leisten.
Neben diesem Hilfspersonal, welches nur
nach der Direktive des Prinzipals zu handeln
hatte, gab es im Grosshandel noch eine Klasse
Hanclelsgeliilfe
987
von selbständigen Gehilfen, die soo^enannten
».Lieger". Diese werden auch in den Rezes-
sen der Hansatage ansdrücklich in Gegensatz
zu den gewöhnlichen ^copgesellen" gestellt. Sie
erhielten von ihrem Herrn ein Kapital zum
selbständigen Betriebe eines Handelsgeschäftes,
an dessen Gewinn und Verlust jener einen
durch Vertrag (sendeve, wedderleghinge) fixier-
ten Anteil hatte. Der „herre" blieb Eigentümer
des Kapitals; der „knape'* hatt« nach Ablauf
der kontraktlichen Zeit die Verpflichtung,
„ordentliche beständige Kechenschafft von allen
Entpfangk und Ausgaben zu halten" (Lübecker
Statut), und zwar auf Verlangen des Herrn an
dessen Wohnort und vor Gericht. Solcher
„Lieger" nun gab es verhältnismässig viele, da
die Art des Vertrages dem Kaufherrn einen be-
deutenden Gewinn aus dem hergegebenen Kapi-
tal sicherte und so eine Umgehung des kanoni-
schen Zinsverbotes ermöglichte. — Neben diesen
„Liegern** kamen dann endlich noch Prokuristen
und Bevollmächtigte jeder Art, Vorsteher von
Filialen etc. vor, die aber vom Herrn „Rad und
Helpe" annehmen mnssten und im Falle unbe-
friedigender Leistungen ihre Entlassung zu see-
wärtigen hatten, wenn sie auch mit mehr oder
weniger grossen Vollmachten ausgestattet waren
und oft Anteil am Gewinn hatten. Eine solche
Gewinnbeteiligung und vor allem jene des
„Liegers" gab dem kapitallosen Gehilfen des
Grosshandels, wie schon Amira bemerkt hat,
die einzige Möglichkeit, im Laufe der Zeit sich
gänzlich selbständig zu machen. Für den Ge-
hilfen des Kleinhandels lag die Schwierigkeit
eigener Etablierung nicht sowohl im Besitze
des erforderlichen Kapitals, da keine bedeuten-
den Summen hierfür in Frage kamen (das Lü-
becker Statut hält z. B. 20 M. für genügend),
als vielmehr in der Gewinnung der Zunft.
War er nicht durch nahe Verwandtschaft mit
Zunftmitgliedem verbunden, so wurde, beson-
ders seit Entartung der Zünfte, aus niedriger
Gewinnsucht seine Etablierung häufig hinter-
trieben.
Der Handelsgehilfe in den romani-
schen Ländern stand in gleichem Verhält-
nis zu seinem Prinzipal, d. h. in gleicher
Abhängigkeit wie bei den germanischen
Völkern. Dies lässt sich in allen Stücken
an den von Gold Schmidt und Pöhl-
man n mitgeteilten Statuten nachweisen.
Nur tdie Etablienuig als Kleinhändler war
leich er, in Florenz sogar nur an die einzige
Bedingung geknüpft, dass die Zunft von der
ehrlichen Praxis (»fai*e bene per ogni modo«)
des Kandidaten sich für überzeugt halten
konnte. Dagegen durfte sich freilich der
Gehilfe nicht in der Nähe seines früheren
DienstheiTU niederlassen: die einzige Be-
stimmung, welche in keinem deutsehen
Statut enthalten ist. —
Die gescliüderten Zustände, soweit sie
inländische Verhältnisse betreffen, blieben
bestehen, bis die Zunftverfassung nebst den
entsprechenden Reglements dem modernen
Wirtschaftsprincip der Gewerbefreiheit wich.
II. Der Handelsgehilfe der Gegenwart.
1. Allgemeines. Entspi'echend dem
grossen Umfange des modernen Handels
und seinen vielseitigen Erfordernisseu ist
auch das Bethätigungsfeld des Handelsge-
hilfen weit ausgedehnt. Im rationellen Be-
triebe grösserer Geschäfte wird natürlich
nach dem Princip der Arbeitsteilung ver-
fahren, und so übt hier der Gehilfe die
genau umgrenzten Funktionen eines Buch-
haltera, Korrespondenten, Kassierers, Lager-
gehilfen (Magaziniers), Reisenden oder Ver-
käufers aus; in kleineren Geschäften da-
gegen sind mehrere dieser Aemter oder
alle zugleich ein und deraelben Person
übertragen.
Der Buchhalter hat ein systematisches
Protokoll über sämtliche Geschäftsvorgänge zu
führen, welches diese einzeln und in ihrer Ge*
samtheit deutlich wiederspiegelt und so den
Vermögensstand des Betriebes jederzeit erken-
nen lässt. Der Korrespondent hat den ge-
samten schriftlichen Verkehr eines Handels-
hauses mit der Aussenwelt zu besorgen. Dem
Kassierer ist der Empfang und die Ausgabe
aller Gelder anvertraut sowie der Ausweis da-
rüber durch specielle Buchung. Dem Maga-
zinier untersteht die Verwaltung des Waren-
lagers, die Führung des Lagerbuchs und die
Besorgung der mit dem Ein- und Ausgange der
Waren verbundenen Geschäfte. Der Reisende
(commis voyageur) hat durch mündlichen Ver-
kehr mit den Abnehmern oder Lieferanten die
Interessen des Betriebes ausserhalb desselben
zu vertreten, also für Erhaltung und Gewinnung
von Geschäftsfreunden persönlich zu wirken,
Gelder einzuziehen etc. Der Ladengehilfe
endlich hat im offenen Verkaufsgewölbe die
Waren in grösseren* oder kleineren Partieen an
das Publikum zu verkaufen. Diese Thätigkeit
ist oft so einfach, dass sie Mädchen mit gerin-
ger allgemeiner und merkantiler Bildung oder
sogar ganz jungen Lehrlingen anvertraut wird.
Welcher Art die Thätigkeit des Handels-
gehilfen aber auch sein mag, so ist sein
Verhältnis zum Gescliäftsinhaber von dem
des Arbeiters zum Fabrikanten immerlün in
gewissen Stücken verschieden. Zunächst ist
schon die Verbindung zwischen Prinzipal
und Gehilfe nach der Absicht beider Teile
eine stabilere. Der Dienstvertrag wird auf
längere Zeit geschlossen und ebenso winl
das Gehalt für längere Fristen vereinbart
und in grösseren Intervallen, meisten monat-
lich, ausgezahlt. Ferner hat jeder Handels-
gehüfe die Absicht, selbständig zu werden,
d. h. selbst einmal in den Kreis der Prin-
zipale einzutreten; und für sehr viele ist
auch in der That die Gehilfenstellung nur
das Durchgangsstadium zur Selbständigkeit,
welche im Gegen satze dazu der Fabrik-
arbeiter nur höchst selten erlaugt. Damit
ist die gleichmässigere soziale Stellung bei-
der Parteien im Kaufmann sstande gekenn-
zeichnet, und das persönliche Verhältnis
988
Handelsgehilfe
zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
wird liier noch oft dadurch ein näheres,
dass letztere eigene Angehörige oder Ange-
hörige von Geschäftsfreunden des Prinzipals
sind. Dieser Unterscliied zwischen Han-
delsgehilfen und anderen Gewerbegehilfen
prägt sich auch in der Gesetzgebimg aus,
welche für jede von beiden Klassen geson-
derte Normen aufstellt.
Nach dem neuen deutschen Handelsgesetz-
bach ist als Handelsgehilfe anzusehen, „T9er in
einem Handelsgewerbe zur Leistung kaufmänni-
scher Dienste gegen Entgelt angestellt ist".
Die Art und der Umfang dieser Dienstleistungen
einerseits und die Ansprüche des Gehilfen an
den Prinzipal andererseits richten sich nach
der speciellen Uehereinkunft zwischen beiden.
Wo eine solche nicht vorliegt, ist der Ortsge-
brauch massgebend. „In Ermangelung eines
Ortsgebrauchs gelten die den Umständen nach
Hngeraessenen Leistungen als vereinbart'' (H.G.B.
g 59). Der Gehilfe hat dem Prinzipal seine
ganze kaufmännische Thätigkeit ausschliess-
lich zu widmen, da § 60 ihm verbietet, ohne
Einwilligung des Prinzipals „ein Handelsge-
werbe zu betreiben oder m dem Handelszweige
des Prinzipals für eigene oder fremde Rechnung
Geschäfte zu machen". Der Prinzipal ist —
durch die seit dem 1. Januar 1898 gütigen
Bestimmungen des neuen Handelsgesetzbuches,
die mit einem Tropfen sozialpolitischen Gels
getränkt sind — bei der Gestaltung seines Be-
triebes zur Rücksicht auf das Wohl des Han-
delsgehilfen verpflichtet. Danach ist dieser vor
allem gegen eine Gefährdung seiner Gesund-
heit, soweit die Natur des Betriebes es ge-
stattet, zu schützen. Ferner aber sind im Falle
der Aufnahme des Gehilfen in die häusliche
Gemeinschaft, „in Ansehung des Wohn- und
Schlaf raums, der Verpflegung sowie der Arbeits-
und Erholungszeit diejenigen Einrichtungen
und Anordnungen zu treffen, die mit Rücksicht
auf die Gesundheit, die Sittlichkeit und die
Reliffion des Handelsffehilfen erforderlich sind"
(§ 6'2). Bei unverschuldeter Dienstuntähigkeit
des Gehilfen ist der Prinzipal verpflichtet, dem-
selben (i ehalt und Unterhalt unverkürzt weiter
zu gewähren, jedoch nicht für länger als sechs
Wochen (§ 63). Die Zahlung des Gehalts muss
am Schlüsse jeden Monats erfolgen (g 64). Wenn
das Dienstverhältnis für unbestimmte Zeit ein-
gegangen ist, so kann es von jedem Teile erst
für den Schluss eines Kalendervierteljahrs nach
vorgängiger sechs wöchentlicher Kündigung ge-
kündigt werden (§ 66). Wird durch Vertrag
eine kürzere oder längere Kündigungsfrist be-
dungen, so muss sie für beide Teile gleich sein
und darf jedenfalls nicht wenis^er als einen
Monat betragen ; auch kann die Kündigung nur
für den Schluss eines Kalendennonats zugelassen
werden (g 67). Sonst kann die Aufhebung des
Dienstverhältnisses vor der bestimmten Zeit
von jedem Teile nur aus einem „wichtigen"
(trunde verlangt werden (ij 70). ißegen den
Prinzipal kann insbesondere auf Aufhebung
des Dienstverhältnisses erkannt werden, wenn
er das Gehalt oder den gebührenden Unterhalt
nicht ^^ewährt oder den ihm nach S 62 obliegen-
den Verpflichtungen nachzukommen verweigert
oder sich am Kommis vergreift (?? 71 j. Gegen
den Gehilfen kann insbesondere auf Aufhe-
bung des Dienstverhältnisses erkannt werden,
wenn er im Dienste untreu ist oder das Ver-
trauen missbraucht, wenn er den Dienst zu
leisten verweigert, sich am Prinzipal ver-
greift und dergleichen mehr (§ 72). Nach der
Beendigung: des Dienstverhältnisses darf der
Gehilfe nicht durch eine in seinen letzten Dienst-
vertrag eingefü^ Konkurrenzklausel in seinem
Fortkommen unbillig gehindert werden. Darum
verordnet § 74, dass „eine Vereinbarung, durch
welche der Gehilfe für die Zeit nach der Be-
endigung des Dienstverhältnisses in seiner ge-
werblichen Thätig[keit beschränkt wird, fürinn
nur insoweit verbindlich ist, als die Beschrän-
kung nach Zeit, Ort und Gegenstand nicht die
Grenzen überschreitet, durch welche eine un-
billige Erschwerung des Fortkommens des Han-
delsgehilfen ausgeschlossen wird." Deshalb
kann auch die Beschränkung aaf keinen Fall
auf einen Zeitraum von mehr als drei Jahren
nach der Beendigung des Dienstverhältnisses
erstreckt werden. —
Nach der deutschen Berufsstatistik von 1882
gab es an höherem Verwaltungs- und Aufsichts-
sowie Bechnungs- und Bnreaupersonale
ig
I. im Waren- U.Produktenhandel 56256 1 5 1 4.
II. im Geld- u. Kredithandel 11 602 87
III. in Spedition u. Kommission 2983 28
IV. in d. Handelsvermittelung i 478 24
V. im Buchhandel etc. 3328 76
VI. in der Versteigerung etc. 727 19
VII. in der Versicherung 6 181 34
VIII. im Hausierhandel 72 42
Zusammen 82 627 1824
Femer gab es in diesen Branchen an sons-
tigen Gehilfen und Arbeitern
Personal überli. weibl. Pers.
I. 238 370 52 637
IL 6 004 48
III. 4 8;i 64
IV. I 686 73
V. 9422 1519
VI. 1 041 123
VII. 1 038 10
VIII. 4 955 2 161 _
Zusammen: 267377 56635
Bei dieser Kategorie ist aber ausser den
eigentlichen H a n d e 1 s gehilfen auch alles nie-
dere Personal mitgerechnet, das ausschliesslich
oder überwiegend blosse Handlangerdienste ver-
richtet. Während hier somit die effektive Zahl
der Handelsgehilfen beträchtlich unter den
mitgeteilten Ziffern bleibt, darf man anderer-
seits nicht vergessen, dass auch die übrigen
Gewerbegruppen, besonders Fabriken und sons-
tige industrielle Etablissements vielen kauf-
männisch gebildeton Personen (also el)enfallB
„Handelsgehilfen") als Komptoiristen, Reisenden
etc. eine specifisch merkantile Beschäftigung
gewähren.
Die Gewerbestatistik von 1895 ist aus^führ-
licher. Danach gab es im
Handelsgehilfe
989
Verwaltungs-
Technisches
Andere Gehilfen u.
Mitarbeitende
Personal
Personal
Arbeiter
Familienangehörige
männliche' weibl.
männl.
weibl.
männliche weibliche
männliche weibliche
1
Warenhandel
89938
5024
1744
298
•
270 530
126 158
1
9085 IIÖOII
Geld- nnd Kredit-
handel
24908
325
30
3783
168
25
32
Spedition und Kom-
mission
8444
154
197
15 620
366
58 50
Buchhandel n. s. w.
7520
634
109
7
10834
5281
97 723
Hausierhandel
3
—
806
547
265 1 593
Handelsvermittelg.
8735
374
241
3 735
280
76 112
Hilfsgewerbe
346
8
68
4
6078
726
4 3
Versteigerung u .s. w.
2718
279
258
I
14995
I 104
137 1 354
Lebens- u. Renten-
1
versicherung
2 124
31
2
I
87
9
2 1 9
Unfallversicherung
218
5
2
—
7
2
— —
Feuerversicherung
2831
22
34
—
152
4
I 3
Haffelversichemng
Viehversicherung
313
177
1
2
16
10
""•
Sonst. Versicherung
7903
270
19
550
41
7
16
2. Zwei Klassen von Gehilfen. Die
soziale Frage im Handelsstande. Es
sind — nach Lexis — zwei Klassen von
Handelsgehilfen zu unterscheiden: die Ge-
hilfen des Grosshandels, die als Komptoi-
risten, Magaziniers, Reisende etc. beschäftigt
sind, und dann die im Detailhandel un-
mittelbar mit dem Publikum verkehrenden
Ladengehilfen. Scharfe Grenzen sind fi-ei-
lich zwischen diesen beiden Klassen ebenso-
wenig zu ziehen wie zwischen den ent-
sprechenden Geschäftsbetrieben. Die ersteren
entstammen meist besser bemittelten Fami-
lien. Sie haben eine höhere Schulbildung
und büden sich wälirend ihrer Lehrzeit in
ihrer Stellung und gewöhnlich auch noch
durch privaten Unterricht in den kaufmän-
nischen Fächern und vor allem in den
Sprachen aus. Die Ladengehüfen dagegen
rekrutieren sich gewöhnlich aus den Söhnen
des imbemittelten Subalternbeamten-, Ge-
werbe-, Handwerker- und zum Teil auch
des kleinen ländlichen Besitzerstandes. Diese
haben Volksschulbildung oder wenig mehr
als solche und besitzen Kenntnisse in den
Handelswissenschaften und kaufmännische
Erfahrungen nur in geringem Masse; denn
die eigentlichen Komptoirgeschäfte sind
eben im Kleinhandel ziemlich unbedeutend,
da dem geringen Umfange der Betriebe
natürlich Korrespondenz, JBuchfülirung und
Geldverkehr entsprechen und diese höheren
merkantilen Leistungen zudem noch meist
vom Prinzipal selber ohne Assistenz des
Kommis erledigt werden. Indessen giebt es
auch im Grosshandel infolge der weit
entwickelten Arbeitsteilung \dele ganz unter-
geordnete, oft nur mechanische Thätigkeit
erfordernde Stellen, deren Inhaber aus die-
sem Grunde und wegen ihi*es mageren Ge-
haltes der unteren Klasse der Gehilfen zu-
zui-echnen sind. Umgekehrt findet man in
vielen offenen Läden, selbst schon mittlerer
Grösse, elegante Kommis, die das Verkaufen
ganz besonders schwunghaft zu betreiben
verstehen und ihren wirksamen Diensten
entsprechend ein hohes Salair beziehen:
solche Leute wird man natürlich zu der
höheren Klasse zu zählen liaben, wenigstens
Avenn man als deren Hauptmerkmal die be-
vorzugte soziale Lage aufstellt.
Die Gehilfen der höheren Klasse bilden
nach Arbeits-, Gehalts- nnd sonstigen Lebens-
verhältnissen einen belustigten Stand, da bei
ihnen die Arbeitszeit m der Regel 10 Stunden
nicht übersteigt, die Sonntagsarbeit auf ein
Minimum reduziert ist, ihr Gehalt schliesslich
auf 2000—3000 M., für die vielen besonders
qualifizierten oder vom Glücke beg&nstigten
Elemente auf höhere, mitunter sogar enorme
Summen steigt. Bei dieser Aristokratie der
kaufmännischen Gehilfenschaft hat sich that-
sächlich das Princip des Laisser-aUer im grossen
und ganzen bewährt : die Befähigung kaim sich
bis zu einem gewissen Grade geltend machen,
und der ganze Stand behauptet sich in einer
nicht üblen Position. Er ist hierzu durch seine
thatsächliclie Monopolstellung befähigt, welche
ihm seine Bildung verschafft, die meist nur
durch erheblichen Kostenaufwand zu erlangen
gewesen, oder aber seine ungewöhnliche Befä-
higung für den Beruf. — Viel ungünstiger stellt
sich dagegen der Standard of life der zweiten
Schicht von Gehilfen, die ihrer geringen
allgemeinen wie kaufmännischen Bildung halber
ohne jede monopolistisch geschützte Position
sind. Ja noch mehr, sie sind im Kampfe um
die Arbeitsbedingungen zum Teil noch schlim-
mer daran als die Lohnarbeiter. Wie diesen
steht auch jenen die üebermacht des Unter-
nehmers als des Kapitalinhabers gegenüber ; da-
gegen drückt der Umfang des überschüssi-
I g e n Angebotes, die Grösse der „Reservearmee"
I den Kommis in seinem Lohnkampfe weit mehr.
Denn nicht bloss wirken dieselben Mächte, um
! im Handel ähnlich wie in der Produktion eine
990
Haiidelsgeliilfe
Masse Hände zur Unthätigkeit zu verdammen
— Krisen, Eindringen weiblicher Hilfskräfte
etc. — , sondern es trägt auch das im Mittel-
stande weitverbreitete Vorurteil, dass der Kauf-
mann etwas Besonderes, jedenfalls mehr als der
Handwerker, sei und vermeintlich die grössten
Chancen auf Reichtum habe, dazu bei, dem
Kommis immer neue Mitbewerber zuzuführen.
Und dieser Tendenz wird nun noch durch das
eigensüchtige Gebaren vieler Chefs Vorschub
geleistet, welche Lehrlinge und Mädchen mas-
senhaft verwenden, weil sie sparen wollen und
weil thatsächlich , wie erwähnt, viele Stellen
durch diese Elemente leidlich ausgefüllt werden
können. Das hat nun für den Gehilfenstand
den doppelt verhängnisvollen Effekt, dass auf
der einen Seite die Zahl der Konkurrenten ins
Enorme gesteigert, auf der anderen Seite aber
noch dazu die Zahl der zu besetzenden SteQen
verringert und der Abfluss gestaut wird. Dazu
kommt noch, dass von dem wirksamtten Mittel
zur Erreichung besserer Arbeitsbedingungen,
der Koalition, von den Handelsgehilfen bis*
her kein Gebrauch gemacht wurde. Weil näm-
lich viele Kommis — im Gegendatae zu den Ar-
beitern — begründete Aussicht auf Selbständig-
keit, mithin die Hoffnung haben, einst aas dem
Amboa ein Hammer werden zu können, so be-
zeigen sie wenig Lust, an dem Schmieden einer
Waffe mitzuwirken, die später leicht wider sie
selber gebraucht werden kann. Dieses Moment
hat eine um so grössere Tragweite, als gerade
die fähigsten Leute — bei den handarbei-
tenden Klassen die Agitatoren par excellence!
— im Kaufmannsstande am allerwenigsten
daran denken, sich in den Dienst der Emanci-
pation ihrer Kollegen zu stellen, weil gerade
sie in diesem Staude am allerersten Aussicht
auf priTfttwirtschaftiichen Erfolg haben. — So
kann es nicht wunder nehmen, dass bei der
zweiten Klasse kaufmännischer Angestell-
ten, von der allein hier die Bede ist, die Uebel
der kapitalistischen Entwickelung besonders
grell zu Tage treten und dass noch recht wenig
Ansätze zum Besseren bemerkbar sind. Am
schwersten lastet auf den Ladeng'ehilfen der
kleineren Geschäfte die überaus lange Ar-
beitszeit. So hat in England eine parla-
mentarische Kommission 1886 konstatiert, dass
in den von den unteren Klassen frequentierten
Geschäften alle Ausgestellten (einschliesslich der
iungen Personen beiderlei Geschlechts) gewöhn-
lich 14 Stunden täglich auf den Beinen wären,
was ihre und vornehmlich der Mädchen Ge-
sundheit angreifen, ja oft ruinieren müsste.
Hier ist wegen der strengen englischen Sonn-
tagsheiligung nun wenigstens der Sonntag frei.
In Deutschland aber, wo sonst die gleichen
schweren Uebelstände konstatiert sind, muss
der amtliche Bericht über die Sonntagsar-
beit der Kauflente zugestehen, dass von allen
Industriezweigen gerade „im Handel die regel-
mässige und dauernde Sonntiigsarbeit ihre
gross te Ausdehnung hat und dass im Klein-
handel überwiegend sogar die gesamte Ar-
beiterschaft dazu herangezogen wird". Mit
voller Berechtigung that daher damals, m'O sich
die öttentlichen Gewalten noch nicht zur Besei-
tif?ung der Missbräuche entschlossen hatten, auf
einem Kougress der rheinischen Handelskam-
mern der Geh. Kommerzienrat Heimendahl.
einer der angesehensten Grosskaufleute der
Provinz, den Ausspruch: „Die Handelsgehilfen
sind die geplagteste Arbeiterklasse von der
Welt; sie haben 360 Arbeitetage im Jahre!"
In der That: in der Welt! Denn woher auch
immer Berichte kamen, aus der alten oder der
neuen Welt, stets entrollten sie gleich trostlose
Bilder. — Entsprechend dem erwähnten starken
Ueberan^ebote von Kräften sind die Gehalts-
verhältnisse dieser Gehilfenklasse. Das Ge-
halt beträs^t in Deutschland im Durchschnitt,
soweit sich allgemein schätzen lässt, 1000 bis
1500 M., je nach der Branche und noch mehr
je nach der Stadt. Bedenkt man nun aber noch,
dass der Kommis jederzeit leidlich gute Klei-
dung und Wäsche tragen muss (die natürlich
durch die Arbeit schnell abgenutzt werden),
so ist die Summe, über die er wirklich frei dis-
ponieren kann, noch geringer anzusetzen. —
Die Stellenlosigkeit so vieler Gehilfen hat es
ferner möglich gemacht, dass sich in manchen
GroflSBtädten der Missbrauch, die gesetzliche
Kündigungsfrist von 6 Wochen durch pri-
vaten Vertrag zu kürzen, hatte einnisten
können. Der Prinzipal hatte es dadurch in der
Hand^ seine Kommis, wann es ihm passte, fort-
zuschicken, und erzwang so nicht bloss ihre
vollständige Unterwürfigkeit unter seine Be-
fehle, sondern er konnte sich auch der Fürsorge
für etwa erkrankte Angestellte durch sofortige
Kündigung des Dienstvertrages entziehen.
Diese Ausfüiinmgen ergeben, dass für
die niedere Klasse der Handelsgehilfeii
eine »soziale Frage« in ähnlichem Grade
wie für den Ai*beiterstand existiert. Und
wenn schon hier sich die richtige Erkennt-
nis Bahn gebrochen hat, dass durch Selbst-
hilfe allein wesentliche Fortschritte nicht
zu erzielen sind, so kann man für eine Bes-
serung der Übeln Lage der Kommis im
Augenblicke erst recht wenig von der
Selbsthilfe erwarten; denn aus den ange-
gebenen Giilnden felüt es bisher an jeder
umfassenden gewerkschaftlichen Koalition
der Handelsgehilfen. Ebensowenig ver-
möchte ein freiwilliges Entgegenkommen
humaner Chefs ausreichenden Nutzen zu
stiften, da ihre ^lassnahmen schon durch
die illo^'ale Konkurrenz einer kleinen Mino-
rität durchkreuzt werden können. So sind
Fälle bekannt, in denen thatsächlich ein
einziger Detaillist seine nach Hmidei'ten
zählenden Konkurrenten zur späteren Schlies-
sung ihrer Geschäfte genötigt hat! — Wie
aber ist durchgi-eifende und dauernde Hilfe
möglich? Solange keine genügende gewerk-
schaftliche Organisation der Gehilfen zu
Stande gekommen ist, wohl überliaupt nicht !
Denn was der Staat ausricliton kann, be-
schränkt sich nur auf die Beseitigung der
allgemeinen und schlimmsten Auswüchse.
Und schon hierzu wäre, analog der Arbeiter-
gesetzgebung, ein ganzes System staat-
licher Massnahmen erforderlich.
Um vor allem das Grundübel, die Arbeits-
losigkeit so vieler Gehilfen, zu mildem, hätte
der Staat der übermässigen Verwendung
Handelsgeliilfe
991
von Lehrlingen Schranken zu setzen, indem
er ein festes Verhältnis zwischen der Maxi-
mal zahl der Lehrlinge und der Zahl der Ge-
hilfen normierte. So könnten wenigstens die
vielen sogenannten „Lehrlingsfabriken" unmög-
lich bestehen bleiben. Freilich erfordert die
herrschende Gewerbefreiheit eine so vorsichtige
Anwendung dieser Massregel, dass damit nur
der böswillige Missbrauch aus der Welt geschafft
werden kann, — eine völlige Beseitigung der
unverschuldeten Arbeitslosigkeit wäre jedoch
nur möglich, wenn mächtige Gehilfenorganisa-
tionen in jeder Branche und in jeder Stadt eine
vollkommen genügende Beschränkung der Zahl
der Lehrlinge durchgesetzt hätten. — Mehr
schon kann der Staat zur Beschränkung der
langen Arbeltszeit thun; denn für einen
Maximalarbeitstag im Handelsgewerbe sprechen
alle die vielen gewichtigen Gründe, welche man
für das analoge Postulat in der Industrie gel-
tend gemacht hat, während das Hauptargument
fegen dieses: die Rücksicht auf die Konkurrenz
es Auslandes, im Handel wegfällt. Es wäre
also durch Gesetz anzuordnen, dass die Läden
nur innerhalb einer bestimmten Zeit geöffnet
sein dürfen, etwa von 6 oder 7 Uhr morgens
bis 8 Uhr abends. Das Publikum wird seine
Einkäufe danach einzurichten wissen ; und wenn
die Arbeit der Verkäufer dadurch, dass die
Kunden innerhalb kürzerer Zeit abgefertigt
werden müssen, intensiver wird, so ist dies
fegen den jetzigen Zustand in den meisten
allen kein Kückschritt: denn in vielen Läden
giebt es heute lange Pausen, die durch die
notwendigen Nebenarbeiten nicht ausgefüllt
werden. — Ebenso muss ferner die Sonntags-
ruhe den Kaufleuten wiedergegeben werden;
und solange das Ideal eines vollkommenen
Sabbats nicht erreichbar ist, muss wenigstens
eine möglichst weitgehende gesetzliche Be-
schränkung der Verkaufszeit durchgeführt wer-
den. — Ein anderer sehr grosser Uebelstand,
der durch eine gesetzliche Massnahme ohne
weiteres beseitigt werden könnte, ist die Kür-
zung der vom Handelsgesetz als Norm vorge-
sehenen sechswöchentlichen Kündigungsfrist
durch Sondervertrag. Eine solche Bestimmung
müsste vor dem Gesetz null und nichtig sein,
und, um eine Umgehung durch sogenannte
Probeengagements zu verhüten, müsste bestimmt
werden, dass dieses Verhältnis höchstens ein
Vierteljahr dauern darf und jede Wiederholung
ausgeschlossen ist. — Ferner : wie die Z w a n g s -
Versicherung die Notlage des industriellen
Proletariats sichtlich gemildert hat, so kann man
gleiche Wohlthaten auch dein Gehilfenstande zu
teil werden lassen; auch er mag gegen die
wirtschaftlichen Folgen von Krankheit, Alter,
Invalidität und selbst Arbeitslosigkeit gesichert
werden. Es könnte dies einfach durch An-
schluss an das System der allgemeinen Arbei-
terversicherung geschehen, wozu der Anfang ja
bereits gemacht ist ; doch dürften die betreffen-
den Institutionen nicht schablonenhaft verallge-
meinert werden, sondern es müsste der Eigen-
art des Standes nach Möglichkeit Rechnung ge-
tragen werden. — Analog ist weiterhin zu
fordern, dass die neue Gesetzgebung über die
Gewerbegerichte auch die Kommis in ihren
Kreis zieht und dass zur Entscheidung von
Streitigkeiten zwischen diesen und ihren Prin-
zipalen Sachverständige aus beiden Ständen als
Beisitzer herangezogen werden. — Den Schluss-
stein dieses Systems endlich könnte die Berufung
einer gesetzmässigen Vertretung des
Gehilfenstandes — analog der bestehenden Ver-
tretung ihrer Prinzipale durch die Handels-
kammern — bilden. Die Aufgabe einer solchen
Gehilfenkammer bestände darin, über alles, was
die wirtschaftliche Position speciell der Kom-
mis angeht, statistische Berichte, Gutachten
und Vorschläge auszuarbeiten. —
8. Sozialreformatorische Bestrebun-
gen nnd Gesetze. Nachdem so der luhalt
und die Lösung der Handelsgehilfeafi'age
in den theoretischen Principien dargelegt
ist, werden die Ei'scheinungen der kauf-
männischen Reformbewegung und die daran
anschliessenden Gesetze verstanden werden
können.
Zum ersten Male beschäftigte man sich mit
der Notlage der Handelsgehilfen in England.
Dort wurde nämlich schon 1842 eine „Early
Closing Association" geschaffen, um der offen-
kundigen LJ eberarbeit dieser Klasse zu steuern.
Diese Bewegung, noch ganz befan^^en im Glau-
ben au die Allmacht der Selbsthilfe, glaubte
durch Appell an die öffentliche Moral und durch
deren Druck auf die Prinzipale eine frühzeiti-
gere Schliessung der Geschäfte durchsetzen zu
können. Und für diese „Revolution mit Rosen-
wasser" hat sie beinahe ein halbes Jahrhundert
lang geduldig gearbeitet, bis die unerbittliche
Wirklichkeit sie zwang, schliesslich (1887) offen
zu bekennen, dass nur durch gesetzlichen
Zwang Abhilfe geschaffen werden könne. Eine
Einsicht freilich, die für andere etwas spät kam ;
denn diese hatten sich bereits 1881 zur „Shop-
Assistants' Labour League" (unter Sutherst)
zusammengeschlossen, um eine Verkürzung der
Arbeitszeit von Staatswegen anzustreben. Die
neue Liga besteht, wie die andere Gesellschaft
auch, zum guten Teile aus Prinzipalen und
neutralen Elementen und hat eine lebhafte
agitatorische Wirksamkeit entfaltet. Der Er-
folg derselben war, dass der Antrag ihres
Protektors, Sir John Lubbocks (jetzt Lord
Avebury), auf gesetzliche Fixierung einer
wöchentlichen Maximal arbeitszeit von r4 Stun-
den für Ladengehilfen unter 18 Jahren die
legale Sanktion erhielt (sogenannte Shop Hours
Regulation Act, 1886, 49 & 50 Vict., cap. 55).
Der Erfolg blieb indes nur ein principieller : da
nämlich die Kontrolle über die Befolgung des
Gesetzes dem guten Willen der Lokal behörden
überlassen und von diesen fast nirgendwo aus-
geübt wurde, so fehlte der reelle Effekt. Erst
ganz neuerdings hat sich der von den Radikalen
beherrschte Londoner Graf seh aftsrat dazu ent-
schlossen , Specialbeamte für den gedachten
Zweck zu ernennen. Wie nun der Mitte 1899
erschienene Jahresbericht des Public Control
Department des Londoner Grafschaftsrates mit-
teilt, sind in 28000 inspizierten Läden nicht
weniger als 4500 üebertretungen jener Bill
konstatiert worden. Vorläufig begnügten sich
die Inspektoren mit einer „ Warnung "• der
Ladeninhaber, aber sie kündififten gleichzeitig
an, dass von nun an bei jeder Uebertretung die
strafrechtliche Verfolgung eingeleitet werden
solle. — Ein weiterer Fortschritt ist durch das
992
Handelsgehilfe
jüngst an^renommene Gesetz üler die Sitze für
Ladengehilfen (sogenannte „Seats for Shop assis-
tents Act", 1899, 62 & 63, Vict, cap. 21) er-
zielt worden. Danach sollen in allen Läden, in
denen weibliche Angestellte den Verkauf be-
sorgen, Sitze aufgestellt werden, nnd zwar
mindestens im Verhältnis von einem Sitz für
je drei Verkäuferinnen. — In Frankreich
hat die Gehilfeufrage durch die Uebermacht der
Grossmagazine eine Physiognomie, die noch
mehr als in anderen Ländern die Züge der
eigentlichen sozialen Arbeiterfrage aufweist, da
viele Tausende von Gehilfen ohne jede Aussicht
auf Selbständigkeit dem Kapitale gegenüber-
stehen. Daher ist auch dort in neuester Zeit
von der amtlichen „Oommission superieure du
travail" beantragt werden, die Handelsgehilfen
einfach der sozialen Beformgesetzgebung zu
unterstellen. Dort auch ist zuerst — schon in
den 60er Jahren, nach Lexis — eine specifisch
fewerkschaftliche Organisation der Kommis ins
reben getreten, die in Paris sogar einen
grossen Strike zu inscenieren wagen konnte
(1869). Und konsequent haben sich seitdem die
in verschiedenen Städten bestehenden Syndikal-
kammem (Fachvereine) der Gehilfen (unter
Andre-Gely) offen der possibilistischen Ar-
beiterpartei angeschlORsen. -— In Deutschland
existiert eine gewerkvereinliche Organisation
der Handels^ehillen erst seit 1873 im Anschluss
an die Hirsch-Dunckersche Bewegung.
Sie hat sich besonders um die Regelung der
Sonnta>gsruhe verdient gemacht, im übrigen
aber sich mit den bescheidenen freiwilligen Zu-
feständnissen der Prinzipale begnügt. — Die
anfmännische „soziale Frage" dagegen wurde
aUgemein erst diskutiert, als die von Karl
Rosen thal in Berlin begründete, sozialistische
„Freie Organisation junger Kaufleute" (1882)
mit einem weitgehenden Reformprogramm auf
dem Plane erschien. Seitdem hat die Bewegung
zu Gunsten einer Sozialreform im Kaufmanns-
stande immer weitere Kreise ergriffen; denn
auch die älteren kaufmännischen Organisationen,
der „Verband deutscher Handelsgehilfen" (unter
Hill er) sowie der „Deutsche Verband kauf-
männischer Vereine" (unter Lotz), haben neuer-
dings in ihr Programm dahinzielende Forde-
rungen aufgenommen. Etwas abseits innerhalb
des letzteren hält sich noch der „Verein für
Handlungskommis von 1858", welcher im wesent-
lichen auf Unterstntzungs- und Bildungswesen
sowie Stellenvermittelung sich beschränkt.
Einige aus diesem Verein ausgeschlossene Mit-
glieder begründeten 1893 den „Deutsch - natio-
nalen Handlun^sgehilfenverband", der sehr ent-
schieden für die Durchführung sozialreformato-
rischer Principien im Handelsgewerbe (im Sinne
der oben festgestellten positiven Principien)
eintritt, daneben freilich auch zünftlerisch-rück-
schrittliche Velleitäten zeigt, wie sein Kampf
fegen die Warenhäuser und gegen jegliche
rauenarbeit, seine Forderung einer üehilfen-
prüfung und die Ausschliessung der Juden von
der 3Iitgliedscbaft beweisen. Im Jahre 1898 ist
Übrigens die sozialistische „Freie Organisation
junger Kaufleute" in dem kurz zuvor begrün-
deten, einen verwandten Standpunkt vertreten-
den „(^entralverband der Handelsü:ehilfen und
-gehilfinnen Deutschlands" aufgegangen. Doch
hat dieser Verband, der nur lOUO Mitglieder
zählt, es bisher zu keiner Bedeutung für
die junge kaufmännische Welt bringen
können. —
Die deutsche Regierung hat schon seit
längerer Zeit an^^efangen, bei den von ihr unter-
nommenen sozialen umformen die Gehilf enfra^
zu berücksichtigen. So beschränkt die Novefie
zur Gewerbeoronung vom Jahre 1891 die Sonn-
tagsarbeit aller Handelsangestellten auf 5 Stun-
den und stattet die Kommunalverwaltungen mit
dem Rechte auf weitergehende Kürzung aus (s.
d. Art. Sonntagsruhe). Femer erklärt die
Novelle zur Krankenversicherung vom Jahre
1892 die Handelsgehilfen, deren Arbeitsverdienst
6 ^8 Mark pro Tag nicht überschreitet, für ver-
sicherungspflichtig, wenn laut Engagementsver-
trag die sechswöchentliche Salärzahlung im
Krankheitsfalle nicht zugesichert ist. Weiter
ist eine ganze Reihe von Bestimmungen zum
Wohle der Handelsgehilfen in dem neuen Han-
delsgesetzbuch enthalten, wie wir bereits oben
gesehen haben. Endlich hat, gelegentlich der
Beratung der Novelle zur Gewerbeordnung vom
Jahre 1^9, der Reichstag eine Anzahl wichti-
ger Bestimmungen über Mittagspause und
Ruhezeit im Handelsgewerbe und über den
Ladenschluss angenommen, die vermutlich
die Billigung der Regierung finden werden.
Danach ist in offenen Verkaufsstellen und den
dazu gehörenden Komptoiren nnd Lagerräumen
den Gehilfen, Lehrlingen und Arbeitern nach
Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine un-
unterbrochene Ruhezeit von mindestens 10 Stun-
den zu gewähren. In Gemeinden mit mehr als
20 (XX) Einwohnern muss die Ruhezeit in offenen
Verkaufsstellen, in denen zwei oder mehr Ge-
hilfen und Lehrlinge beschäftigt werden, für
diese mindestens 11 Stunden betrafen. Inner-
halb der Arbeitszeit muss den Gehilfen, Lehr-
lingen und Arbeitern eine angemessene Mittags-
pause gewährt werden, die bei ausser dem
Hause eingenommener Hauptmahlzeit 1 ^ '<> Stun-
den betragen soll. Von 9 Uhr abends bis ö
Uhr morgens müssen offene Verkaufsstellen für
den geschäftlichen Verkehr geschlossen sein.
Auf Antrag von mindestens zwei Dritteln der
beteiligten Geschäftsinhaber kann für eine Ge-
meinde angeordnet werden, dass die offenen
Verkaufsstellen auch zwischen 8 und 9 Uhr
abends und zwischen 6 und 7 Uhr morgens für
den geschäftlichen Verkehr geschlossen sein
müssen. — Schiesslich ist noch vom Staats-
sekretär Grafen Posadowsky eine Bundesrat«-
verordnung angekündigt worden, die die Prin-
zipale anhalten soll, für Sitzgelegenheit für ihre
Augestellten zu sorgen. Man ersieht hieraus,
dass sich die deutsche Gesetzgebung zum Schutze
der Handelsgehilfen thatsächlich im Sinne der
oben festgestellten positiven reformatorischen
Principien, die zuerst in dem Buche „die Sozial-
reform und der Kaufmannsstand" von Georg
Adler (1891) aufgestellt und wissenschaftlich
begründet worden sind, entwickelt hat. —
In Oesterreich kam seit Begründung
des (von Axmann geleiteten) „Vereins öster-
reichischer Handlungsgehilfen" il88ö) eine selb-
ständige Gehilfenbewegung auf Grundlage einei»
sozial reformatorischen Programms schärfster
Tonart zu stände. Eigenartig darin ist die
Forderung des Befähigun^nachweises für Kauf-
leute. Der Verein hat m dem Wiener „Ge-
Handelßgehilfe
993
hilfenansschuss", welcher eine Art amt-
licher Interessenvertretung (auf Grund der
Novelle zur Gewerbeordnung vom 16. März
1883) repräsentiert, die Majorität und daher
auch entscheidenden Einfluss auf die gesetzlich
vorgesehenen und teilweise ausgeübten Funk-
tionen des Ausschusses: Arbeitsvermittelung,
Unterstützung von Arbeitslosen, yei*sicherung
für Aen Krankheitsfall, Errichtung von Aus-
schüssen zur Schlichtung von Streitigkeiten
zwischen Prinzipal und Gehilfe, Erstattung von
Berichten an Behörden und Handelskammern
und anderes mehr. — Weiteren Schutz gewährt
im Princip die 1895er Gewerbenovelle, indem
sie den Kommis die Sonntagsruhe, tägliche Ar-
beitspausen von 1^/2 Stunden und einwandfreie
Arbeitsräumlichkeiten und Wohnungen (soweit
die Kommis freie Station haben) zusichert.
Aber leider hat sich die Praxis diesem Principe
bisher noch immer nicht anbequemt ; denn zwei
Ministerialverfügungen gestatten die Sonntags-
arbeit bis Mittag und — in gewissen Fällen —
sogar auch noch länger; die ausdrückliche Er-
laubnis ferner, die Geschäfte den ganzen
Sonutaf offen zu halten, macht jede wirksame
Kontrolle unmöglich; die anderen Bestimmun-
gen sind, nach dem Zeugnis der Gewerbeinspek-
toren, erst recht toter Buchstabe geblieben. —
Auch' die Krankenversicherung der Kommis,
welche ebenfalls durch G^etz geregelt ist, ist
in der Praxis noch nicht vollständig zur Durch-
führung gekommen. -
Den grössten Erfolg hat die Bewegung
zum Schutze der Ladengehilfen bisher in
Australien zu verzeichnen. Westaustra-
lien geht hier am weitesten: da müssen näm-
lich (laut G. V. Jahre 1898^ in allen Städten
und grösseren Orten die Läden von 6 Uhr
nachmittags bis 8 Uhr früh geschlossen bleiben,
nur am Mittwoch oder Sonnabend dürfen sie
bis 10 Uhr abends offen sein: ferner haben
alle Angestellten täglich eine Stunde frei für
das Mittagessen, am Sonnabend eine Stunde für
den Thee und wöchentlich einen halben Feier-
tag (ausser dem Sonntag); endlich dürfen
jugendliche Personen und weibliche Angestellte
nicht länger als wöchentlich 48 Stunden be-
schäftigt werden. In Neusüdwales müssen
seit dem 1. Januar 1900 alle Läden an vier
Wochentagen um 6 Uhr Nachmittags, am fünften
um 10 Uhr und am sechsten Mitt^s um 1 Uhr
geschlossen werden (am Sonntag darf ohnehin
kein Laden geöffnet werden); femer darf kein
Handelsangestellter zu wöchentlich mehr als
60 Stunden effektiver Arbeit angehalten werden ;
endlich soll jeder Ladengehilfe einen halben
Feiertag in der Woche (von 1 Uhr Mittags an)
zugebilJi^t erhalten. Die Durchführung dieses
Gesetzes ist — neben der Polizei — den Gewerbe-
inspektoren übertragen. In Viktoria darf die
Arbeitszeit von jungen Personen unter 16 Jahren
und von weiblichen Angestellten 52 Stunden
wöchentlich oder 9 Stunden täglich nicht über-
steigen. Am Sonnabend müssen alle Läden um
7 Uhr geschlossen werden; und femer muss
jeder Ladeuangestellte (ausser Sonntag) noch
einen halben Wochentag von der Arbeit befreit
sein. — Aehnliche Bestimmungen sind in Neu-'
Seeland in Geltung. —
Alles in allem liegen also in der Gesetz-
Handwörterbnch der StaatBwiBsexiBchafCen. Zweite
gebung beider Welten verheissungsvolle An-
sätze zur allmählichen Realisierung des oben
entiÄäckelteu Reformprogramms vor; diese
erfolgreich weiter und zu Ende zu führen,
bleibt eine Pflicht der Gesellschaft und der
Gesetzgebung !
Littoratar: /. (Zum historischen Teil, soweit be^
nutzt). — von Amira, Nordgermanisches
Obligationenrechtf Leipzig 1882. — SlUmneTf
Griech. PrivataUertümer , Freiburg 1882. —
BUcftsenaehiUz, Besitz und Erwerb im griech.
Altertum, Halle 1869. — Codex dipiomatieus
Branderiburgensis, herausgegeben von Riedel,
25 Bde., besonders Bd. 15 u. 20, Berlin 1888 ß.
— Codex dipiomatieus Silesiae, Bd. VIII,
herausgegeben von Korn, Breslau 1867. —
Falke, Geschichte des deutschen Handels, Leip"
zig 1858. — AUe Freiburger Zunftordnun-
gen, herausgegeben von Hartfelder, Freiburg
1879. — Geering, Handel und Industrie der
Stadt Basel, Basel 1886. — Ooldschntidt,
Handbuch des Handelsrechts, Stuttgart 1891. —
Ha mburgische ZunftroUen, herausgegeben von
Rüdiger, Hamburg 1874. — Hirsch, Danzigs
Handels- und Geicerbsgeschichte, Leipzig 1858,
— von Inama ' Stemegg , Deutsche Wirt-
schaftsgeschichte, Leipzig 1878 und 1891. —
JLiesegang, Die Kaufmannsgilde von Stendal,
Forschungen z. Brandenb. Gesch., Bd. III,
Leipzig 1890. — Lübeckische ZunftroUen,
herausgegeben von Wehrmann, Lübeck 1872.
— Lüneburgische ZunftroUen, herausgegeben
von Bodemann, Hannover 1888. — Mar»
quardt, De jure merccUorum, Francof. 1662. —
Marquardt, Privatleben der Römer, Leipzig 1882.
— Pauli, Lübrckische Zustände zu Anfang des
14. Jahrhunderts, S Bde., Lübeck 1847 ff. —
Philippi, Osnahrückische Gilde Urkunden, Os-
nabrück 1890. — PÖhlmann, Wirtschaftspoli-
tik der Florentiner Renaissance, Leipzig 1878.
— Jtoth, Geschiehte des Nümbergischen Han-
dels, 4 Bde., Leipzig 1801. — Sartorius, C/>-
kundliche Geschichte des Ursprungs der deutschen
Hanse, Hamburg 1830. — Derselbe, Urkund-
liche Geschichte des hansischen Stahlhofes zu
London, Hamburg 1851. — Schtnidt, Die Han-
delsgesellschaften in den deutschen Stadtrechts-
quellen, Breslau 1888. — Simonsfeld, Der
Fondaco dei Tedeschi in Venedig, Stuttgart 1887.
— Adolf Warschauer (-Posen), Mittelalter-
liche Innungen zu Posen (Zeitschrift der histor.
Gesellschaft der Provinz Posen, Jahrgang I),
Posen 1885.
IL Der sozialpolitische Inhalt des Artikels
ist G. Adler, Die Sozialrefonn und der Kauf-
mannsstand ' (München 1891) entlehit. Die
deutsche Gesetzgebung ist thatsächlich, wie die
im vorliegenden Artikel gegebene Darstellung lehrt,
in der dort vorgezeichneten Art vorgegangen.
— Von sonst. Schriften und Abhandlungen sind
wichtig: Bernstein, Die Lage der Ladenge-
hilfen in England, im Archiv für soziale Gesetz-
gebung, Bd. XV, Berlin 1900. — Gewerbe-
statistik in der n Statistik des Deutsclien
Reiches, Neue Folgen, Bd. llSff., Berlin 1898.
— Kulentann, Die Gewerkschaftsbetcegung,
Jena 1899. — Lexis, Abh. nHandelu in Schön-
bergs Handbuch der Pditischen Oekanomie^ 4-
Aufl., Tübingen, 1898. — Derselbe, Gewerk-^
Auflage. IV. 63
994
Hcandelsgehilfe — Handelsgeschäfte
vereine in Franh^eich, Leipzig lfi79. — Ma-
tajay Grossmagazine und Kleinhandel, Leipzig
1891. — Oldenbergf Die heutige Lage der
Kommis, in Sehmollers Jahrbuch, Bd. XVI,
Leipzig 1892. — Protokolle, Berichte und
Erhebungen über Arbeitszeit, Kündigungsfristen
und Lehrlingsverhältnisse im Jlandelsgetcerbe,
5 Bde. (Drucksachen der Kommission für Ar-
beiterstatistikj, Berlin 1892 ff. — Sutherst, Death
and disease behind the counter, London 1884' —
Staub, Kommentar zum Handelsgesetzbuch,
SuppUmenthand , Berlin 1897. — Wehh and
CoXf The eight hours day , London 1891. —
Schliesslich sind noch verschiedene Artikel und
Mitteilungen in der ^Sozialen Praxisu und
in der nVolksw irtschaftlichen Chronik^i
(Beilage zu Conrads Jahrbüchern) zu vergleichen.
Georg Adler,
Handelsgeschäfte.
1. Bej?riff. 2. Materielle Grundhandelsge-
schäfte, o. Formelle Grundhandelsgeschäfte. 4.
Hilfs- oder Nebengeschäfte. 5. Ein- und zwei-
seitige H. 6. Präsumtion der Handelsgeschäfts-
natur. 7. Kaufmann. 8. Ausländische Gesetz-
gebung.
1. Begriff. Der wirtschaftliche und der
juristische Begriff der Handelsgeschäfte
decken sich nicht. Während wirtschaftlich
jedes auf Yermittelung des Güterumlaufs
gerichtete Erwerbsgoschäft als Handels-
geschäft erscheint, sind juristisch nur die-
jenigen Rechtsgeschäfte Handelsgeschäfte,
welche vom Handelsgesetzbuche ausdrücklich
als solche anerkannt sind. Der Begriff der
Handelsgeschäfte ist wichtig für das An-
wendungsgebiet des Handelsrechts; er war
auch grundlegend für die Feststelhuig des
Kaufmannsbegriffes.
Ihrem gescliichtlichen Ursprünge nach
sind Handelsgeschäfte alle Geschäfte der
Angehörigen des Handelsstandes, der An-
gehörigen der Kaufmannsgilde , also die-
jenigen Geschäfte, auf welche das Standes-
recht der Kaufleute Anwendung fand luid
die der Jurisdiktion der Innungsgerichte
unterstellt waren. Die neue Zeit hat an
die Stelle dieses subjektiven Systems das
objektive gesetzt, den Begriff des Handels-
geschäftes nach seinem Wesen, nach sach-
ßchen, wirtschaftlichen Merkmalen bestimmt
und dementsprechend die gerichtliche Zu-
ständigkeit goregelt, doch wunle dabei auch
wieder das subjektive Moment; die Kauf-
mannseigenschaft, berücksichtigt und ein
gemischtes System angenommen, welchem
auch das alte deutsclie Handelsgesetzbuch
im Anschlüsse an den Code de commerce
folgte.
Nachdem das B.G.B. für das Deutsche
Reich eine Reihe von Specialrechtsiiormen
des Handelsverkehi-s zu Normen des all-
gemeinen Rechtsverkehrs erhoben liatte,
konnte das neue H.G.B. wieder zum ge-
schichtlichen Ausgangspunkte des Handels-
rechts zurückkehren und dieses zu einem
Sonden-echte des Handelsgewerbes, der
Kaufleute machen. So ist das neue H.G.B.
im wesentlichen zum subjektiven System
zurilckgekehrt. Während das alte H.G.B.
den Begriff des Kaufmanns auf dem der
Handelsgeschäfte aufbaute, setzt umgekehrt
der Begriff der Handelsgeschäfte nach dem
neuen H.G.B. den des Kaufmanns voraus,
denn nach § 343 sind Handelsgeschäfte
»alle Geschäfte eines Kaufmanns, die zum
Betrieb seines Handelsgewerbes gehören«.
Jedes Geschäft ohne Rücksicht auf seine
Natur wird also zum Handelsgeschäft, so-
fern es im Betriebe eines Handelsgewerbes
abgeschlossen ^^ird.
2. Materielle Grandhandelsgeschäfte.
Nach dieser Rückkehr zum subjektiven
System musste das neue H.G.B. auch auf-
geben die Scheidung des alten H.G.B. in
objektive oder absolute Handelsge-
schäfte, solche die unter allen Umständen,
ganz unabhängig von der Person des Be-
treibenden, mögen sie vereinzelt oder ge-
werbsmässig, mögen sie von einem Kauf-
mann oder Nichtkaufmann vorgenommen
werden, und subjektive oder relative
Handelsgeschäfte, diejenigen Rechtsgeschäfte,
die nur dann als Handelsgeschäfte betrachtet
werden, wenn sie gewerbsmässig oder von
einem Kaufmann betrieben werden. Das
neue H.G.B. fasst mit germgfügigen Aen-
derungen in § 1 Abs. 2 diese beiden im
alten H.G.B. Art. 271 und 272 getrennt an-
geführten Handelsgeschäfte zusammen als
iTnmdhandelsgeschäfte, als solche, die, wenn
sie den Gegenstand eines Gewerbebetriebs
bilden, diesen ziun Handelsgewerbe machen.
Das neue H.G.B. hat die Gescliäfte der
Schleppschiffahi-ts- und der Lagerhausunter-
nehmer neu hinzugefügt, dagegen gestrichen
das Darlehen auf Verbodmung (altes H.G.B.
Art. 271 Z. 4), da es als Gegenstand eines
selbständigen Handelsgewerbes nicht vor-
kommt.
§ 1 Abs. 2 führt folgende Arten von
Gnmdhandelsgeschäften auf :
1. Anschaffung und Weiter veräusserung
von Waren und Wertpapieren, also jedes
auf Erwerb bezw. auf Uebertragimg des
Eigentums einer Sache gerichtete entgelt-
liche Rechtsgeschäft. Ausgeschlossen ist
daher jeder nicht durch Rechtsgeschäft er-
folgende Erwerb, wie der durch Occupation
(Jagd, Fischerei), Produktion und Erbgang.
Die Weiterveräussenmg setzt Anscliaffung
voraus, gleichviel ob die angeschafften Waren
unverändert oder be- oder verarbeitet ver-
Uussort werden. 2. Fabrikmässige, entgelt-
liche Ueberiiahme der Be- oder Verarbeitung
Handelsgeschäfte
995
von Waren füi* andere. Künstlerische und
litterarische Arbeiten fallen nicht hierunter.
Der Rohstoff muss vom Besteller geliefert;
oder füi' dessen Rechnung durch den Feber-
nehmer angeschafft wertlen. Ob Fabrik-
oder Handwerksbetrieb vorliegt, ist den
konkreten Umständen zu entnehmen. Es
sind besonders die Geschäfte der grossen
Färbereien, Gerbereien, Spinnereien, Wasch-
anstalten, die hierher zählen. 3. Die Ueber-
nahme von Versicheiimgen gegen Prämie.
Die Versicherung auf Gegenseitigkeit ist
kein Handelsgeschäft. 4. Bankier- und Geld-
wechslergeschäfte (s. d. Art. Bankge-
schäfte oben Bd. H S. 132 ff.). 5. Die
Uebernahme der Beförderung von Gütern
oder Reisenden zur See (H.G.B. Buch IV
§§ 556—678), Geschäfte der Frachtführer
(H.G.B. §§ 425 ff.), Geschäfte der Personen-
transportanstalten zu Lande oder auf Binnen-
gewässern, also grossere kaufmännisch be-
triebene wie Dampfscliiffe, Pfenle-, Dampf-,
elektrische Eisenbahnen, Omnibusunterneh-
mimgen im Gegensatze zum handwerks-
mässigen Betriebe eines Lohnkutschere und
endlich die Geschäfte der Schleppschiffahrts-
unternehmer. 6. Die Geschäfte der Kom-
missionäre (H.G.B. §§ 383 ff.), der Spediteure
(§§ 407 ff.) oder der Lagerhalter (g§ 415 ff.).
7. Die Geschäfte der Handlungsagenten
(H.G.B. §§ 84 ff.) oder der Handelsraäkler
(§§ 93 ff.). Nach Beseitigimg der amtlichen
Handelsmäkler können das nur Privathandels-
mäkier sein. 8. Die Verlagsgeschäfte sowie
die sonstigen Geschäfte des Buch- oder
Kuosthandels. Hierher sind zu rechnen
alle Verträge des Verlegers, die Verviel-
fältigung und Verbreitung von litterarischen
mid künstlerischen Werken zum Gegenstand
haben, sowohl die mit dem Autor, Redakteur
etc. als die mit dem Drucker und Zeichner
abgeschlossenen sowie die Geschäfte des
Sortiments-, Kommissions-, Antiquariatsbuch-
handels und die des Kunsthandels. 9. Die
Geschäfte der kaufmännisch eingeiichteten,
nicht handwerksmässig betriebenen Drucke-
reien, der verschiedensten die Vervielfältigung
litterarischer oder künstlerischer Erzeugnisse
bezweckenden Dnickereien sowie der photo-
graphischen Anstalten.
8. Formelle Grnndhandelsgeschälte.
Unter der Herrschaft des früheren Handels-
rechts konnten eine Reihe von Rechts-
geschäften, die nach allgemeiner Verkehrs-
anschauung als Handelsgeschäfte betitichtet
wurden, jiuistisch nicht als solche gelten.
Bei der Vielgestaltigkeit und der raschen
Entwickelung des Verkehrsi st es unmöglich,
aDe Handelsgeschäfte bei noch so weit-
gehender Specialisierung unter die gesetzlich
aufgezählten Arten von Gnmdhandelsge-
schäften einzureihen. § 2 des neuen H.G.B.
hat deshalb eine GeneraLklausel aufgestellt.
Nach dieser gelten alle Geschäfte eines ge-
werblichen Unternehmers als Grundhandels-
gescliäfte, sofern die Firma des Unternehmers
in das Handelsregister eingeti-agen ist. Dieses
formelle Erfordernis der Eintragung ist aber
zu erfüllen, auch wenn die Voraussetzungen
des § 1 Abs. 2 H.G.B. nicht vorliegen, wenn
das Unternehmen nach Art und Umfang
einen in kaufmännischer Weise eingerich-
teten Geschäftsbetrieb (Laden, Kontor, Buch-
führung, Korrespondenz, Kontokorrent- und
Wechsel verkehr , kaufmännisches Hilfsi>er-
personal) erfordert. Nicht die faktische
kaufmännische Einrichtung, sondern das
durch Art und Umfang bedingte Erfordernis
einer solclien ist entscheidend. Zu diesen
gehören die Geschäfte der Unternehmer in
Ziegeleien, Porzellanfabriken, Schneidesägen,
die das auf eigenem Gnmd und Boden ge-
wonnene Material verarbeiten, von Berg-
werken, mit Ausschluss der Bergwerks-
gesellschaften, die landesrechtlich nicht die
Rechte einer juristischen Person beziehen.
Bücher-, Pferde-, Kostümleihanstalten, Aus-
kunftbureaus von Bauunternehmern, Privat-
pensionen.
Namentlich gehört aber hierher der ge-
werbsmässige Handel in Grundstücken und
die gewerbsmässige Vermittelung des Im-
mobiüenverkehrs , nachdem der Grundsatz
des alten H.G.B. (Art. 275), dass Verträge
über Immobilien keine Handelsgeschäfte
sind, in das neue H.G.B. nicht aufge-
nommen worden ist.
4. Hiifs- oder Nebengeschälte. Die
Grundhandelsgeschäfte können auch gelegent-
lich, neben einem Hauptgeschäft vereinzelt
betrieben werden. Sie sind in diesem Falle,
wenn sie vereinzelt, jedoch von einem Kauf-
mann im Betrieb seines gewöhnlich auf
andere Geschäfte gerichteten Handelsge-
werbes gemacht werden, auch Handelsge-
schäfte (H.G.B. § 343 Abs. 2). Diese ge-
legentlichen ausserhalb des Kreises der ge-
wöhnlichen Geschäfte gelegenen Rechtsge-
schäfte nulssen aber Ausfluss der kaufmän-
nischen, nicht der privaten Thätigkeit des
sie Beti*eil)enden sein.
Die Zahl der Hilfsgeschäfte, die fi\r sich
allein nicht die Gnmdlage eines Handels-
gewerbes bilden, wohl aber Abschluss und
Durchführung der Grundgescliäfte ermög-
lichen, fördern oder sichern können, ist eine
unbestimmt grosse. Zu ihnen gehören neben
Grundhandelsgeschäften auch andere Ver-
träge.
Als Beispiele solcher Hilfs- oder Neben-
geschäfte seien angeführt: Grundstücksge-
schäfte (Werte eines Bodens, Kauf eines
Geschäftshauses) , Gesellschaftsverträge ,
Dienstvörträge mit dem Dienstpersonal, Ver-
sicherungs- , Bürgschaftsvertr%e , Verträge
über AnschaffiHig von Material, Gerät und
63*
996
Handelsgeschäfte
Mobilien, die beim Betriebe des Handelsge-
weibes unmittelbar benutzt oder gebraucht
werden sollen, z. B. Maschinen, Handwerks-
zeug, Heizungs-, Beleuchtungs-, Schreibma-
teriai, Möbel, Transportmittel). Die Yer-
wendungsabsicht muss zur Zeit der An-
schaffung, die hier auch die Miete umfasst,
vorhanden sein.
Aufgehoben ist die Vorschrift (altes
H.G.B. Art. 273 Abs. 3), dass die Weiter-
veräusserungen der Handwerker nicht als
Handelsgeschäfte betrachtet werden sollen.
5. Ein- und zweiseitige H. In der
Regel sind Rechtsgeschäfte zwischen zwei
Kaufleuten zweiseitige, solche zwischen
einem Kaufmann und einem Nichtkaufmann
einseitige Handelsgeschäfte. Nach positiver
Yorschnft (§ 345) finden aber, um nicht
bei ein und demselben Rechtsgeschäfte den
einen Kontrahenten nach Civil-, den andern
nach Handelsrecht beurteilen zu müssen,
in der Regel auch bei einseitigen Handels-
geschäften die Bestimmungen des H.G.B.
über Handelsgeschäfte Anwendung auf beide
Kontrahenten, so dass nicht ein Thatbestand
teils nach Handelsrecht, teils nach Civilrecht
beurteilt wird.
6. Präsumtion der Handelsgeschäfts-
natur. Um den oft schwierigen Beweis,
dass ein von einem Kaufmann abgeschlosse-
nes Rechtsgeschäft in Beziehung zu seinem
Handelsgewerbe steht oder mcht, abzu-
schneiden, wurde die Rechtsvermutung auf-
gestellt, dass alle von einem Kaufmann —
die Kaufmannseigenschaft muss fest stehen —
abgeschlossenen Rechtsgeschäfte , welche
ihrer Natur nach zum Handelsgewerbe ge-
hören können, im Zweifel als zum Betriebe
desselben gehörig betrachtet werden. Diese
Yermutung greift nur dann nicht Platz,
wenn die Nichtzugehörigkeit zum Handels-
betrieb ganz zweifellos ist In diesem Falle
ist ein Gegenbeweis nicht notwendig, durch
den sonst diese Rechtsvermutung entkräftet
werden kann. Ein solcher Gegenbeweis
muss darauf gerichtet sein, dass das Ge-
schäft überhaupt nicht handelsgewerblicher
Natur sei, z. B. Darlehen z\u: Bestellung
einer Mitgift, Kauf für den Haushalt. Be-
schränkt ist der Gegenbeweis gegenüber
den von einem Kaufmann gezeichneten
Schuldscheinen, für welche im Interesse
der Yerkehrssicherheit eine verstärkte Ver-
mutung spricht, denn diese gelten als im
Betriebe des Handelsgewerbes gezeichnet,
sofern sich nicht aus denselben das Gegen-
teil ergiebt (§ 344). Also nur auf den In-
halt der Urkunde, nicht aber auf andere
Thatsachen darf man sich berufen, um den
Schuldgrund als nicht zum Handelsverkehr
gehörig darzuthun. Unter Schuldscheinen
werden alle ein Yerpflichtungsbekenntnis
des Aussteuere enthaltende Urkunden (Na-
men- , Order- , Inhaberpapier) verstanden.
Eine Unterzeichnung mit der Firma ist
nicht notwendig.
7. Kaufmann. Der Kaufmannsbegriff
ist, wie oben (sub 2) hervorgehoben wurde,
Yoraussetzung des Begriffs der Handelsge-
schäfte, denn nach der Legaldefinition
(H.G.B. § 1) ist »Kaufmann« im Sinne dieses
Gesetzbuches, wer ein Handelsgewerbe be-
treibt und als Haudelsgewerbe wird jeder
Gewerbebetrieb, der Grundhandelsgeschäfte
zum Gegen Stande hat, betrachtet; der ge-
werbsmässige Betrieb der als Handelsge-
schäfte charakterisierten Rechtsgeschäfte be-
gründet also die Kaufmannseigenschaft Ge-
werbsmässig ist der Betrieb, welcher eine
dauernde, regelmässige, nicht gelegentliche
Einkommensquelle bildet und nach der Ab-
sicht des Betreibenden auf eine unbestimmte
Reihe zusammengehöriger Geschäfte sich
erstreckt. Die Gewinnabsicht wird voraus-
gesetzt, doch können noch andere Zwecke
nebenher verfolgt werden. Der den Betrieb
beherrschende einheitliche WiUensentschluss
muss äusserlich erkennbar entweder in be-
sonderen Erklärungen (Cirkularen, Anzeigen)
oder in bestimmten Einrichtimgen (Eröff-
nung eines Ladens, Kontors, Aushängen
eines Firmenschildes, Anmeldung der Firma
zur Eintragung ins Handelsregister) hervor-
treten. Der Handelsgeschäftsbetreibende
muss also dem Publikum gegenüber als Ge-
schäftsmann auftreten.
Ausser diesen Personen, die die Kauf-
mannseigenschaft infolge des Gewerbebe-
triebs besitzen, wird die Kaufmannseigen-
schaft noch zuerkannt den Aktiengesell-
schaften und den Kommanditgesellschaften
auf Aktien sowie den Genossenschaften und
Gesellscliaften mit besclu:änkter Haftung,
auch wenn sie sich nicht dem gewerbs-
mässigen Betrieb von Handelsgeschäften
widmen, so dass hier nicht der Gegenstand,
sondern die Form des Unternehmens die
Kaufmannseigenscliaft im Gefolge hat. (Auch
der Staat wird, sofern er ein Handelsgewerbe
betreibt als Kaufmann betrachtet, d. h. die
betreffende Staatsanstalt — statio fisci. —
Dagegen gelten die Postverwaltungen des
Reichs, Baj^erns und Württembergs kraft
ausdrücklicher Bestimmung (H.G.B. § 452)
nicht als Kaufleute.
Eine neue Kategorie von Kaufleuten hat
das neue H.G.B. gescliaffen, indem es die-
jenigen Pei*sonen, die formelle Grundhandels-
geschäfte betreiben (vgl. oben sub 3) kraft.
Eintragung in das Handelsregister zu Kauf-
leuten stempelt. Diese Eintragung hän^
nicht von ilu-em Belieben ab, sondern sie
sind verpflichtet, dieselbe zu bewirken, und
können hierzu durch Ordnungsstrafen ange-
halten werden.
Endlich schuf das neue H.G.B. (§ 3) noch
Handelsgeschäfte
997
eine weitere Gattung von Kaufleuten, die
diese Eigenschaft kraft freiwilliger Ein-
tragung in das Handelsregister erlangen.
Land- und Forstwirte, die ein Nebengewerbe,
das materielle Grnindhandelsgeschäfte (vgl.
oben sub 2) zum Gegenstande hat oder nach Axt
und umfang einen in kaufmännischer Weise
eingerichteten Betrieb erfordert (vgl. oben sub
3), betreiben, sind berechtigt, die Eintragung
dieses Nebengewerbes in das Handelsregister
herbeizuführen. Es hängt also lediglich von
ihrem Ermessen ab, ob sie dem Rechte der
Kaufleute unterstellt werden wollen oder nicht
(»Kannkaufleute« im Gegensatze zu »Muss-
kaufleuten« [vgl. oben sub 2] oder »Sollkauf-
leuten« [vgl. oben sub 3]). Hat ein Land- oder
Forstwirt aber so durch Eintragung seines
Nebengewerbes die Kaufmannseigenscliaft er-
worben, so ist die Fortdauer derselben seiner
Willkür entzogen. Einen Antrag auf Löschung
der Eintragung kann er nur stellen, wenn
er das Nebengewerbe aufgiebt oder so ver-
kleinert, dass die Voraussetzungen der Ein-
tragung in Wegfall geraten.
Bei diesen Nebengewerben dachte der
Gesetzgeber an solche, die sich als ein Aus-
fluss des land- oder forstwirtschaftlichen
Hauptbetriebs darstellen, die namentlich der
Verarbeitung der Erzeugnisse der Land-
uud Forstwirtschaft dienen, besonders an
solche, in denen Bodenbestandteile gewonnen
oder verarbeitet werden, wie Kunstgärtne-
reien, Schiefer-, Sandbnlche, Thongräbereien,
Holzzurichtuug, Mülüenbetrieb, Molkereien,
Branntweinbrennereien, Yiehmästung u. s. w.
Als Kaufmann gilt jede physische (männ-
liche und weibliche) und juristische Pei-son,
bei welcher die ang-eführten Kriterien vor-
handen sind. Ferner ist die Kaufmanns-
eigenschaft zuerkannt den Handwerkern, so-
weit der Kaufmannsbegriff auf sie An-
wendung findet und »Personen, deren Ge-
werbebetrieb nicht über den Umfang des
Kleingewerbes hinausgeht^. (H.G.B.) § 4).
Zu dieser Klasse gehören die im alten H.G.B.
Art. 10 aufgeführten Trödler, Hökor, Hau-
sierer, gewöhnliche Fuhrleute und Schiffer
sowie die Inhaber kleinerer Wirtschaften
(die Hoteliers etc. sind jetzt Yollkaufleute)
und kleiner Läden. Die Bundesregierungen
sind befugt, eine Abgrenzung des Kleinge-
werbes auf Grundlage der nach dem Ge-
schäft sumfange bemessenen SteuerpÜicht
oder in Ermangelung einer solchen nach
anderen Merkmalen vorzunehmen (§ 4
Abs. 3).
Auf diese Minderkaufleute finden keine
Anwendungen die Bestinmiungen über Fir-
men, Handelsbücher, Prokura, offene Handels-
und Kommanditgesellschaft, ferner (erst
nach §§ 348—351 des neuen H.G.B.) die
Voi-schriften, dass eine von einem Kaufmann
vereprochene Vertragsstrafe nicht herabge-
setzt werden darf, femer die über den Aus-
schluss der Einrede der Vorausklage und
die über die Gültigkeit einer formlos ge-
leisteten Bürgschaft, eines Schuldver-
sprechens oder Schuldanerkenntnisses.
Die Kaufmannseigenschaft steht zu dem-
jenigen, in dessen Namen das Gescliäft ge-
führt wird, auch wenn er das Geschäft für
fremde Rechnung fühi-t und selbst wenn er
im Geschäft nicht thätig ist. Nichtkauf-
mann ist dalier der Prokurist und der Vor-
stand einer Aktiengesellschaft. Der gesetz-
liche Kaufmannsbegriff deckt sich nicht mit
den Anschauungen des Verkehrslebens, in-
dem er ausser den Fabrikanten imd Apo-
thekern auch eine grosse Zahl von Hand-
werkern umfasst. Als Kaufleute werden die
Handwerker angesehen, welche gewerbs-
mässig Waren anschaffen, um sie m Natur
oder bearbeitet weiter zu veräussern. Dies
pflegt der Fall zu sein bei Schustern,
Schneidern. Drechslern, Tischlern, Fleischern,
Bäckern, Wirten, Schlossern etc., während
diejenigen, welche fremde Stoffe be- oder
verarbeiten, auch wenn sie Zuthaten liefern,
sofern der Betrieb den Umfang des Hand-
werks nicht übersteigt, Kaufmannseigen-
schaft nicht besitzen. Dahin zählen Färber,
Lackierer, Gärtner, Flickschneider etc.
Alle bei Beratung des H.G.B. auftauchen-
den Versuche, nur die Grosshändler, nicht aber
die Kleinhändler und Handwerker dem Han-
delsrechte zu imterwerfen, scheiterten. Um
nun bei dieser Ausdehnung des Kaufmanns-
begriffes den Kleinbetrieb gegen die Ge-
fahren zu schützen, welche die Anwendung
einzelner für diesen nicht geeigneter Handels-
rechtsinstitute mit sich bringen würde, hat
man die Klasse der Minderkaufleute im
Gegensatze zu den Vollkaufleuten geschaffen.
8. Anslandisehe Gesetzgebung. 0 es-
terreich, wo das deutsche H.G.B. in Gel-
tung ist, hat diu-ch Börsengesetz v. 1. April
1875 die an einer Börse abgeschlossenen
Geschäfte den Handelsgeschäften beigezählt.
Ungarns H.G.B. hat sich dem deut-
schen Systeme angeschlossen, doch auch die
Geschäfte der öffentlichen Lagerhäuser und
der Selbstproduzenten, besonders die des
Bergbaues, als Handelsgeschäfte qualifiziert.
Frankreich. Der Code de Commerce,
das Vorbild der Art. 271 und 272 des alten
deutschen H.G.B. stimmt im wesentlichen
mit diesem überein, er zählt zum Zwecke
der Abgrenzung der handelsgerichtlichen
Zuständigkeit im Art. 631 sieben und im
Ai-t. 632 sechs (seerechtliche) Gattungen
von Handelsgeschäften (actes de commerce)
auf, unterscheidet aber nicht zwischen ob-
jektiven und subjektiven Handelsgeschäften.
Diese Aufzählung ist lückenhaft und wiixl
an Präcision vom H.G.B. übertroffen. Sehr
fühlbar macht sich in der Praxis das Fehlen
998
Handelsgeschäfte — Handelsgesellscliaften (Formen)
einer dem § 343 Abs. 1 H.G.B. entsprechen-
den Bestimmung über Hilfsgeschäfte. Daher
rülirt ein gi-osses Schwanken der französi-
schen Reclitspi*echung, die durch analoge
Ausdehnung der aufgezählten Handelsge-
schäfte den Mangel zu heben sucht. Zu
den Handelsgeschäften werden ausser den
im H.G.B. angeführten vom Code noch ge-
zählt die ünternelimungen von öffentlichen
Schauspielen, bureaux d 'affaires z. B. für
Heiratsvermittelung, für Uebersetzungen und
von Versteigerungsanstalten neben den
"Wechsel- und Geldrimessengeschäften und
allen Verbindliclikeiten zwischen Bankiers
und Kaufleuten. Viel reichhaltiger als im
H.G.B. ist im Code der Katalog der see-
rechtlichen Handelsgeschäfte, zu welchen
Art. 633 noch rechnet Unternehraimg des
Baues, An- und Verkauf von Schüfen, Takel-
werk, Schiffsgerät und Proviant, Schiffsmiete,
alle Seeexpeditionen, alle den Seehandel,
Lohn und Heuer der Schiffsmannschaften
betreffenden Verträge, alle Verpflichtungen
von Seeleuten zum Dienste eines Kauffahrtei-
schiffes. Kaufleute (commercants) sind nach
Art. 1 des Code de commerce ceux (^ui exercent
des actes de commerce et en fönt leur pro-
fession habituelle.
Dieses System ist mit mehr oder weniger
Abweichungen auch das der grossen Zahl der
dem Code folgenden europäischen und ausser-
europäischen H.G.B.
In Italien liat das neue H.G.B. fßon
1883 im Art. 3 achtzehn atti di commercio
aufgezälilt, danmter den An- und Verkauf
von Immobilien zum Zwecke der Handels-
ßpekuiation (Belgien erklärt auch die
entreprise de travaux publics et prives,
also auch von Bauten hierher, nach fran-
zösischer Praxis ist dies bestritten) und die
kaufmännischen Dei)ositalverträge sowie die
Versichenmgsvertr%e auf Gegenseitigkeit.
Art. 4 erklärt sodann für Handelsgeschäfte
alle anderen Verträge und Verbindlichkeiten
der Kaufleute, wenn dieselben nicht wesent-
lich civiler Natur sind, oder wenn nicht
das Gegenteil aus dem Geschäft selbst sich
ergiebt. Durch diese Generalklausel ist die
Bedeutung der Auf zälüung des Art. 3 wesent-
lich eingeschränkt.
In Spanien hat das neue H.G.B. von
1886 für Handelsgeschäfte erklärt die in
ilim enthaltenen »sowie alle anderen ana-
loger Natur«, eine Bestimmung, deren Elasti-
cität eine grosse Unsicherheit der Recht-
sprechung im Gefolge haben dürfte. Für
die Kaufmannseigenscliaft wird Besitz der
gesetzlichen Fähigkeit zum Handelsbetriebe
(Volljährigkeit, Dispositionsfälligkeit) gefor-
dert.
In England werden als Handelsge-
schäfte erachtet die Geschäfte, welche unter
Handelsleuten zum Betriebe des Handels
abgeschlossen zu werden pflegen. Der Kauf-
mannsbegriff deckt sich mit dem des deut-
schen H.G.B.
Das Gesetz über das Obligationenrecht
der Schweiz von 1883 begnügt sich, den
Begriff des Kaufmanns zu umschreiben (-»wer
ein Handels-, Fabrikations- oder anderes
nach biufinännischer Art gefülirtes Gewerbe
beti-eibt^, Art. 865 Abs. 4) imd diesen ge-
wisse Rechte und Pflichten aufzuerlegen.
Litteratnr : Goldschntidt, Handbuch des Hau-
deUrechtSf 2. Aufl., ^^ 42 — 59. — Endetnann^
Handbuch des deutschen HajidA^ls-, See- und
Wechselrechts I, ^ 14 f., ^ Soff. (v. Völderndorff) ;
jyie Lehrbilcher des Handelsrechts von Behrend
(berücksichtigt ebenso wie Goldsehmidt auch die
ausländische Gesetzgebung), § 22ff.; Thöl f,
§ Slff.; Endemann, § 5, U. Diese WerW
beziehen sich auf das alte H.G.B. Dagegen be-
rücksichtigen das neue H.G.B. : Cosack, Lehr-
buch des Handelsrechts, 4. Aufl. 1889, ^^ 7—9;
Oareis, Das deutsche Handelsrecht, 6. Aufl.
1899, ^^ 8—12; Schirmieister , Der Kauf-
mannsbegriff nach geltendem und künftigem
deutschen Handelsrecht (Goldschmidts Zeit-
schrift, f. Handelsr., Bd. 48/.. S. 418ff.j. Femer
die Kommentare zum H.G.B. van JHkvinger
und Hachenburg, 1899, Bd. I und H. Staub,
6. Aufl. 1809 zu Ü'^ Iff. und S4Sff. — Beslay.
Des actes de commerce, Paris 1865. — L/yon-
Caen et Renault, Traite de droit comtnercial
2. ed., Paris 1889, I, n. 89 ff. — E. Thailer,
Traite elementaire de droit commercixU, Pari»
1898, n. 5 ff., n. 49 f. — Vidarl, Corsa di
diritto commereiale, 8. ed., MHano 1888, I, n. 25 ff.
— Manara, GH atti di commercio, Torinn
1887. — Spüing, FmnzCtsisches und englisches
Handelsrecht im Anschluss an das deutsche H.G.B.
— Miesser, Zur Revision des H.G.B., im Bei-
lageheft zu Goldschmidts Zeitschr. J. H.R.
zu Bd. XXXIII, S. 12 f.
Eduard Boaenthain
Handelsgesellschaften.
I. Die Formen der H. (S. 998). IL Volks-
wirtachaftliche Bedeutung der H. (S. 1019).
I.
Die Formen der Handels-
gesellschaften.
1. Begriif. 2. Errichtung. 3. Das Gesell-
schaftsvermögen. 4. Die Einlage, ö. Der Anteil
an Gewinn und Verlust. 6. Der Kapitalanteil.
7. Geschäftsführung. 8. Das Konkurrenz verbot.
9. Die Aufnahme neuer Mitglieder und die
Beteiligung eines Fremden am Geschäftsanteil.
10. Das Verhältnis der Gesellschafter zu dritten
Personen, a) Vertretung der Gesellschaft, b)
Haftung der offenen Handelsgesellschafter, c)
Haftung der Kommanditisten. 11. Auflösung
der Gesellschaft, a) Die Auflösungsgründe, b)
Das Austreten einzelner Gesellschafter, c) Die
Wirkungen der Auflösung, d) Eintragung in
das Handelsregister. 12. Liquidation. 13. Die
Handelsgesellschaften (Formen)
999
Beendigung der H. 14. Verjährung der Klagen
gegen die Gesellschafter. 15. Das Verhältnis
des neuen H.G.B. zum früheren Recht.
1. Begriff. I. Handelsgesellschaften sind
diejenigen auf Handelsuiiternehmungen ge-
richteten Vereinigungen, welche zum Gegen-
stande einer besonderen handelsgesetz-
lichen Regelung gemacht worden sind.
Diese Gesellschaften zerfallen entsprechend
den beiden Hauptarten von Handelsunter-
nehmungen in zwei Klassen ; sie haben ent-
weder einzelne Handelsgeschäfte oder
den Betrieb eines Handelsgewerbes zum
Gegenstande. Für die ersten dieser beiden
Klassen kommen die Regeln des CiNilrechts
zur Anwendimg. Das alte H.G.B. hatte
ihnen zwar einen besonderen Titel (HI, 2)
gewidmet, die in demselben aufgenommenen
Rechtssätze stimmten aber mit dem bürg-er-
lichen Recht überein, und ilire Aufnahme in
das H.G.B. hatte nur die Bedeutung, die-
selben formell zu Handelsrechtssätzen zu
erheben und partikidarrechtliche Besonder-
heiten zu beseitigen. Dagegen für die auf
den Betrieb eines Handelsgewerbes ge-
richteten Gesellschaften hat sich ein von
dem bürgerlichen Recht in vielen Beziehun-
gen abweichendes Sonderrecht ent-
wickelt; nur sie erscheinen daher als
Rechtsgestaltungen, die in einem gemein-
samen Gegensatz zur Societät des Civilrechts
stehen und die daher im wissenschaftlichen
Rechtssystem als eine einheitliche Kategorie
zUvsammengefaäst werden müssen. Die Haupt-
form und gleichsam der Grundtypus dieser
Vereinigungen ist die offene Handelsgesell-
schaft; dieselbe wird daher öfters schlecht-
hin olmc weiteren Zusatz als »die Handels-
gesellschaft« bezeichnet, wälirend man jede
andere Art von Vereinigungen zum Betriebe
eines Handelsgewerbes durch die Hinzu-
fügung des ihr cliarakteristischen Merkmals
kennzeichnen muss.
Durch die einheitliche Regelung des Ge-
sellschaftsrechts im B.G.B. konnte das neue
H.G.B. auch hinsiclitlich der Handelsgesell-
schaft von denjenigen Bestimmungen ent-
lastet werden, welche mit den in das B.G.B.
aufgenommenen Rechtssätzen übereinstim-
men; denn nach Art. 2 des Einfühi-ungsge-
setzes zum H.G.B. kommen auch in Han-
delssachen die Vorsclu^iften des B.G.B. inso-
weit ziu* Anwendmig, als nicht im H.G.B.
oder in diesem Einführungsgesetz ein
anderes bestimmt ist, und füi* die offene
Handelsgesellschaft ist dieser Gnmdsatz im
§ 105 Abs. 2 des H.G.B. noch besonders
wiederholt.
Aber nicht alle Vereinigungen zum Be-
triebe eines Handelsgewerbes sind im Sinne
des H.G.B. »Handelsgesellschaften«. Das
zweite Buch hat die Ueberscluift »Handels-
gesellschaften und stille Gesellschaft«,
schliesst also dadurch die letztere Gesell-
schaftsform sowie die Reederei aus dem
Begriff der Handelsgesellschaft aus. Als
Handelsgesellschaften bleiben daher nur die
vier, in besonderen Abschnitten des zweiten
Buchs geregelten Gesellschaftsarten übrig,
nämlich die offene Handelsgesellschaft, die
Kommanditgevsellschaft , die Aktiengesell-
schaft und die KommanditgeseDschaft auf
Aktien.
Es fragt sich nun, welches Kiiterium
diesen vier Rechtsformen geraeinsam und
eigentümlich ist und sonach das wesent-
liche Moment des Begi'iffes bildet. Dieses
Merkmal ist der Betrieb eines Handelsge-
werbes unter einer eigenen (d. h. der Ver-
einigung als solcher zustehenden) Firma,
einer sogenannten Gesellschaftsfinna. Das-
selbe Merkmal findet sich ausserdem nur
noch bei den in besonderen Gesetzen be-
handelten Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen-
scliaften und den Gesellschaften mit be-
schränkter Haftung, die sich hiernach eben-
falls dem vom H.G.B. hingestellten Begriff
»Handelsgesellscliaft« unterordnen lassen.
Massgebend ist also die »Gesellschaftsfirmac
Dieselbe ist mehr als ein blosser Name,
unter welchem ein Gewerbe betrieben wird ;
sie bedeutet zugleich eine Gesamtverpflich-
tung aller durch diesen Namen bezeiclmeten
und einheitlich zusammengefassten Personen
für alle Verbindliclikeiten, die aus dem un-
ter der Firma betriebenen Handelsgewerbe
hervorgehen. Hierin liegt die rechtliche Be-
deutung der Gesellschaftsfirma im Gegensatz
zur Fiima des Einzelkaufmanns und das
charakteristische Merkmal der Handelsgesell-
schaften. Im Sinne des H.G.B. sind sonach
Handelsgesellscliaf ten Vereinigungen
zum Betriebe eines Handelsge-
werbes unter gemeinschaftlicher
Haftung (R.O.H.G. II, S. 423 ff., V, S.
386 ff.).
Durch die Novelle vom 11. Juni 1870
ist dieser m^sprüngliche Begriff in einer
Richtiuig modifiziert worden. Das alte
H.G.B. bezog sich nur auf solche Aktienge-
sellschaften und Kommanditgesellschaften,
welche ein Handelsgewerbe betreiben; seit
der Novelle vom 11. Juni 1870 finden die
Bestimmungen des H.G.B. auf diese beiden
Gesellschaftsarten allgemein Anwendung,
gleichviel ob der Gegenstand des Unterneh-
mens in Handelsgeschäften besteht oder
nicht. Hiernach giebt es auch Handelsge-
sellscliaf ten, welche kein Handelsgewerbe
betreiben, z. B. Aktiengesellschaften, deren
Unternehmen im Betriebe von Bergwerken,
in der HereteUung von Wohnhäusern, im
Bau von Eisenbahnen etc. besteht. Anderer-
seits sind Vereinigimgen zum Betriebe eines
kaufmännischen Kleingewerbes oder Hand-
werks keine Handelsgesellschaften, weil auf
1000
HandelßgesellBchaften (Formen)
dieselben die Regeln von der Firma keine
Anwendung finden (H.G.B. § 4).
Aber auch ein Gesellschaftsverhältnis
im Sinne des bürgerlichen Rechts bildet
keine wesentliche Voraussetzung für den
Begriff der HandelsgeseUschaft im Sinne
des H.G.B. In der deutschen Rechtswissen-
schaft und Praxis besteht eine fast voll-
kommene üebereinstimraung darüber, dass
Aktiengesellschaften keine Societäten, son-
dern juristische Personen sind. Dass dies
auch von Kommanditgesellschaften auf
Aktien gelten muss, kann keinem Zweifel
mehr unterliegen, nachdem das neue H G.B.
§ 320 Abs. 3 sie als eine blosse Modifika-
tion der Aktiengesellschaft behandelt hat.
Trotzdem sind diese Associationsformen
zweifellos Handelsgesellschaften im Sinne
des H.G.B. Eine Bergwerksaktiengesellschaft
ist hiernach eine »Handelsgesellschaft«,
obgleich sie weder ein Handelsgewerbe be-
treibt, noch eine Gesellschaft ist. Aber
auch für die offene Handelsgesellschaft und
die Kommanditgesellschaft stellt das H.G.B.
nicht das Erfordernis auf, dass das Gewerbe
auf gemeinsame Rechnung betrieben
wird, sondern es überlässt die Regelung
des Yerhältnisses unter den Teilnehmern
vollkommen ihrem Belieben. Das H.G.B.
erfordert zum Thatbestand der Handelsge-
sellschaften nur den Gewerbebetrieb unter
gemeinsamer Haftung, d. h. unter ge-
meinsamer Firma,
Dieses Merkmal ist das einzige, welches
für alle Arten von Handelsgesellschaften
das wesentliche und gemeinsame ist. Wenn
ein Gewerbe unter einer gemeinschaftlichen
im Handelsregister eingetragenen Firma be-
trieben wird, so gilt die Vereinigung zu
diesem Betriebe selbst dann als Handelsge-
sellschaft, wenn das Gewerbe kein Handels-
gewerbe ist oder wenn es nicht über den
Umfang des Kleingewerbes hinausgeht oder
ein Handwerksbetrieb ist. H.G.B. § 5.
Aus dieser Bedeutung der Finnenliaftung
für den Begriff der Handelsgesellschaft er-
giebt sich auch der Einteilungsgrund für die
verschiedenen Arten derselben.
Bei jeder Art von Handelsgesellschaften
ist die Haftung der Mitglieder fest be-
stimmt, ihr eigentümlich, in allen konkreten
Fällen die gleiche, unabänderliche, mit dem
Begriff der Gesellschaftsart gegeben. Das
Verhältnis unter den Mitgliedern da-
gegen kann von den Parteien beliebig nor-
miert wenlen; die vom Gesetz aufgestellte
Regelung hat nur die Bedeutung eines
Nor mal Statuts von subsidiärer Geltung.
Hiernach bestimmen sich die rechtlich ver-
schiedenen Arten der Handelsgesellschaften
nach der Verschiedenheit der Haftung
der Mitglieder; dagegen sind die gesetzlichen
Normalbestimmungen über das Verhältnis
unter den Mitgliedern für die Begriffsbe-
stimmung der einzelnen Arten von Handels-
gesellschaften als essentiale Elemente nicht
zu verwerten.
Die im H.G.B. unterschiedenen Arten
von Handelsgesellschaften ergeben sich nach
diesem Princip von selbst. Bei der offenen
Handelsgesellschaft haften sämtliche Mit-
glieder mit ihrem ganzen Vermögen; bei
der Aktiengesellschaft mit einer bestimmten
Siunme ; bei der Kommanditgesellscliaft und
der Kommanditgesellschaft auf Aktien haf-
tet ein Teil der Gesellschafter mit dem
ganzen Vermögen, der andere Teil mit einer
bestimmten Summe. Das Recht der Aktien-
gesellschaft und Kommanditgesellschaft auf
Aktien ist in grossem Masse durch rechts-
polizeiliche Vorschriften, deren Befolgimg
durch Strafgesetze gesichert ist, diu-chsetzt
und beeinflusst und dadurch in einen
scharfen Gegensatz zu den beiden anderen
Formen gebracht worden. Diese beiden For-
men der »Handelsgesellschaften« bleiben im
folgenden ausser acht. S. den Art. Aktien-
gesellschaften (oben Bd. 1 S. 143 ff.).
Bei der Kommanditgesellschaft gelten für
die persönlich haftenden Mitglieder die-
selben Regeln wie für die Mitglieder der
offenen Handelsgesellschaft, und nur für
die Kommanditisten gelten einige Besonder-
heiten. In der folgenden Darstellung wird
demgemäss das Recht der offenen Han-
delsgesellschaft zu Grunde gelegt und durch
die für die Kommanditisten geltenden be-
sonderen Rechtsgrundsätze ergänzt wenlen.
II. Eine offene Handelsgesellschaft ist
nach der Definition des H.G.B. § 105 eine
Gesellschaft, deren Zweck auf den Be-
trieb eines Handelsgewerbes \mter gemein-
schaftlicher Firma gerichtet ist, wenn bei
keinem der Gesellschafter die Haftung
gegenüber den GeseUschaftsgläubigern be-
schränkt ist. Erforderlich ist also, dass das
Verhältnis unter den Teilnehmern eine > Ge-
sellschaft« ist. Der Begriff der Gesellschaft
ist im H.G.B. nicht definiert; er bestimmt
sich daher nach dem B.G.B. Nach dem letz-
teren § 705 verpflichten sich die Gesell-
scliafter durch den Gesellschaftsvertrag
gegenseitig, »die Erreichung eines gemein-
samen Zweckes in der durch den Veitrag
bestimmten AVeise zu fördern, insbesondere
die vereinbarten Beiträge zu leisten *.. Hier-
nach ist der Begriff der Gesellschaft nach
dem B.G.B. wesentlich verscliieden von dem
Begriff der Societät des römischen Rechts.
Nach dem letzteren ist der Zweck der Ge-
sellschaft die Herstellung einer Vermögens-
gemeinschaft ; die Gesellschafter verpflichten
sich zu einem communicare, commune facere ;
das B.G.B. verlangt nur die Förderung
irgend eines erlaubten Zwecks; es kann
auch ein sogenannter idealer sein. Auch
HandelsgesellschafteQ (Formen)
1001
brauchen die Beiträge nicht in Yennögens-
leistungen zu bestehen ; es genügen Dienste
liegend welcher Ait. § 706 Abs. 3. Es ist
nicht mehr zulässig, anstatt des Gesell-
schaftsbegriffs des B.G.B. den römischrecht-
lichen Societätsbegriff in das H.G.B. hinein-
zutragen. Der Zweck der offenen Handels-
gesellschaft ist gemäss § 105 cit. der Be-
trieb eines Handelsgew^erbes unter gemein-
schaftlicher Firma, also unter unbeschränkter
Gesamthaftung. Jede Vereinigung zur För-
derimg dieses Zwecks verwirklicht den
Thatbestand einer Gesellschaft, auch ohne
dass unter den Teilnehmern eine societas
im Sinne des römischen Rechts besteht, ins-
besondere dass das Gewerbe auf gemein-
same Rechnung betrieben wird. Da dies
aber regelmässig der Fall ist, so nimmt das
H.G.B. das Bestehen eines solchen Rechts-
verhältnisses zur Voraussetzung.
Die unbeschränkte Haftimg sämtlicher
Gesellschafter bedarf, wie sich aus der ne-
gativen Fassung des § 105 ergiebt, keiner
ausdrücklichen Festsetzung ; sie tritt als die
gesetzliehe Regel ein, wenn sie nicht in
rechtswirksamer Weise ausgeschlossen ist.
Demgemäss ist im H.G.B. § 161 für die
Kommanditgesellschaft das Erforder-
nis aufgestellt, dass hinsichtlich der Kom-
manditisten ausdrilcklich die Haftung auf
den Betrag einer bestimmten Vermögensein-
lage beschränkt ist.
2. Errichtung. Sowohl was die Vor-
aussetzungen als was den Zeitpunkt der
Entstehung anlangt, muss man scharf unter-
scheiden zwischen dem Rechtsverhältnis
unter den Mitgliedern und der Haftung.
Das H.G.B. hält diese beiden Verhältnisse
nicht mit der erforderlichen • Klarheit aus-
einander. Das H.G.B. steht auf dem Stand-
punkte, dass es sich um die innere und
äussere Seite eines und desselben Rechts-
verhältnisses handele, dass die Haftung nur
Ausdruck und Rechtsfolge des unter den
Mitgliedern bestehenden GeseUschaftsver-
hältnisses sei. Die notwendige und logische
Folge hiervon müsste die sein, dass die
societätsmässigen Rechte und Pflichten unter
den Mitgliedern imd ihi'e Haftung gegenüber
den Gläubigern immer gleichzeitig und
durch einen und denselben Thatbestand ein-
treten. Dies ist aber durchaus nicht der
Fall. Das Societätsverhältnis kann ohne
Firmenhaftung und die Firmenhaftung kann
ohne Gesellschaftsverhältnis entstehen oder
fortbestehen; die Societät hat keine äussere
und die Haftung keine innere Seite. Rich-
tig ist nur, dass regelmässig beide nach
der Absicht der Beteiligten zusammenfallen
sollen und deshalb gewöhnlich gleich-
zeitig iliren Anfang und ihr Ende nehmen.
1. Das Verhältnis unter den Mit-
gliedern (Gesellschaft) bendit auf einem
obligatorischen Vertrage der Parteien und
ist ohne einen solchen imdenkbar. Der Kon-
sens muss darauf gerichtet sein, dass der
finanzielle Erfolg des Gewerbebetriebes ein
den Kontrahenten ^meinsamer sein soll,
dass sie in irgend emer Weise an den Kos-
ten mid Erträgnissen einen aliquoten Anteil
nehmen.
Zur Gütigkeit des Gesellschaftsvertrages
bedarf es weder nach dem H.G.B. noch nach
dem B.G.B. der schriftlichen Abfassung oder
anderer Förmlichkeiten. Er kann dalier
auch »stillschweigend «-abgeschlossen werden ;
es kommt aber wohl kaum jemals vor, dass
sich Personen zu einem gemeinsamen Ge-
werbebetrieb vereinigen, ohne sich wenigstens
mündlich zu verständigen. Wenn sich je-
doch ein Gesellschafter verpflichtet, das
Eigentum an einem Gnmdstücke in die Ge-
sellschaft einzubringen, so bedarf der Ver-
trag der gerichtlichen oder notariellen Be-
urkundung zur Giltigkeit; er erlangt die
letztere aber auch ohne Beobachtung dieser
Form, wenn die Auflassung und die Ein-
tragung in das Grundbuch erfolgen. (B.G.B.
§ 313.) Auch falls sich ein Gesellschafter
verpflichtet, sein gegenwärtiges Vermögen
oder einen Bruchteil desselben oder den
Niessbrauch daran als Einlage zu machen,
bedarf der Vertrag der gerichtlichen oder
notariellen Beiu'kundung. (B.G.B. § 311.)
Ueber die Voraussetzungen eines gütigen
Gesellscliaftsvertrages, über die rechtliehe
Fähigkeit zum Abschluss eines solchen und
die rechtlichen Wirkungen desselben gelten
die allgemeinen Voi'schriften des bürger-
lichen Rechts. Nur eine specifische Wir-
kung tritt hinzu. Da der Zweck der Ge-
sellschaft »der Betrieb eines Handelsge-
werbes unter gemeinschaftlicher Firma mit
unbescliränkter Haftung« ist, so liegt, wenn
nicht ein besonderer Vorbehalt gemacht ist,
in dem Abschluss des Verti^ages zugleich
der Konsens zur Annahme und zum Ge-
brauch der vereinbarten Firma sowie die
gegenseitigeVerpflichtung, diejenigen Schritte
zu thun, welche das Gesetz zur Verwirk-
lichung dieses Vorhabens erfordert.
Zur Verwirklichung dieses Anspruchs
hat jeder GeseUschafter gegen die anderen
eine Klage; ist auf Grund derselben eine
rechtskräftige oder vollstreckbare Entschei-
dung ergangen, durch welche die Ver-
pflichtung des Gesellschafters festgestellt
wird, so ersetzt dieselbe seine Mitwirkung
bei der Anmeldung der Gesellscliaft zur
Eintragung in das Handelsregister. (H.G.B.
§ 16.)
Der Zeitpunkt, mit welchem die Wir-
kungen des Gesellschaft sverfi'ages eintreten
sollen, ist völlig in das Belieben der Par-
teien gestellt. Es ist den Gesellschaftern
unbenommen, die Rechtswirkungen ihres
1002
HandelsgeseUschaften (Formen)
Vertrages auf eine Zeit zurückzuverlegen,
in welcher sie noch keine gemeinschaftliche
Firma geführt haben, U. h. festzusetzen, dass
diejenigen Geschäfte, welche jeder von ihnen
auf seinen eigenen Namen von einem ge-
wissen Zeitpunkte an abgeschlossen liat,
als auf gemeinsame Rechnung geschlossen
gelten sollen; die solidarische Haftung aus
diesen Geschäften w^ird durch eine solche
Abrede nicht hervorgerufen. Ebenso steht
es ihnen frei, zu vereinbaren, dass ihr Ge-
sellschaftsverhältnis erst von einem bestimm-
ten zukünftigen Termin anheben soll ; dessen
ungeachtet tritt die solidarische Firmenliaf-
timg auch schon vorher ein, wenn die für
dieselbe gesetzlich aufgestellten Erforder-
nisse gegeben sind (H.(j.B. § 123 Abs. 3).
In Ermangehmg einer besonderen Verein-
barung fällt der Beginn der Gesellschaft
mit dem Beginn des Gewerbebetriebes zu-
sammen.
2. Die Firmenhaftung setzt die
Annahme einer gemeinschaftlichen Firma
für den Betrieb eines kaufmännischen Ge-
werbes voraus. Die Annahme kann er-
folgen entweder durch die Eintragung der
Firma im Handelsregister oder durch den
that sächlichen Gebrauch der Gesellscliafts-
firma.
Die Eintragung ist die ausdrückliche
und authentische Beurkundung des Kon-
senses zum Gebrauch der gemeinschaft-
lichen Firma, welche jede weitere Erörtenmg
mid Beweiserhebung über das Vorhanden-
sein dieses Konsenses überflüssig macht.
Daher tritt nach H.G.B. § 123 Abs. 1 die
solidarische Firmenliaftung spätestens mit
diesem Zeitpunkte ein. Damit aber die
Eintragimg diese rechtliche Bedeutung haben
könne, müssen die Anmeldungen zum Ilandels-
register von allen Gesellschaftern bewirkt
werden (H.G.B. § 108 Abs. 1). Die Anmeldung
ist eine gesetzliche Pflicht sämtlicher Fir-
meiiteilnehmer, zu deren Erfüllung sie vom
Gericht von amtswegen durch Ordnungs-
strafen anzuhalten sind (H.G.B. § 14). Die
Gesellschafter können also nicht durch Ver-
einbarung dieselbe einem von ilmen mit der
Wirkung auferlegen, dass die übrigen von
ihrer Erfüllung befreit W'erden. Zugleich
besteht aber, wie bereits erwähnt, eine
vertragsmässige Pflicht jedes Gesell-
schafters gegen die anderen, die Anmeldung
ordnungsmässig vorzunehmen. Die Anmel-
dung muss nach § 106 des H.G.B. enthalten
den Namen, Vornamen, Stand und Wohnort
jedes Gesellschaftei's, die Firma der Gesell-
schaft und den Ort, wo sie iliren Sitz hat;
ferner den Zeitpunkt, mit welchem die Ge-
sollschaft (d. h. die Firmenhaftung, nicht
die Gewinn- und Verlustbeteiligung) begon-
nen hat ; endlich der Ausschhiss von Gesell-
schaftern von der Vertretung, falls dies ver-
einbart ist, H.G.B. § 125 Abs. 4. (Siehe
unten sub 10.) Anzumelden ist ferner jede
Aenderung der Firma, des Sitzes der
Gesellscliaft und der VertretungsbefugnLs
sowie das Eintreten eines neuen Gesell-
schafters mid das Ausscheiden oder die Aus-
schliessung eines Gesellschafters (H.G.B. § 107
u. § 143 Abs. 2). Der thatsächliche Ge-
brauch der Firma begründet die Firmen-
haftung auch dann, wenn die Eintragung
nicht erfolgt ist, sofern er mit dem Kon-
sens der Beteiligten geschieht. Der Kon-
sens kann in der verschiedensten Weise er-
klärt werden (Cirkulare, Geschäftsanzeigen,
Briefe, Anzeige bei der Steuerbehörde,
Börsenkommission oder Handelskammer,
Anbringung der Firma am Geschäftslokal
etc.); aber auch bei dem Abschluss eines
einzelnen bestimmten Geschäfts unter der
gemeinschaftlichen Firma kann sich dieser
Konsens erkennbar machen, sei es durch
Mitwirken der Beteiligten, sei es diuxjh
wissentliches Geschehenlassen. Der that-
sächliche Gebrauch der Firma ist schon dann
vorhanden, wenn Geschäfte abgeschlossen
werden, welche den eigentlichen Gewerbe-
betrieb vorbereiten sollen. So lange die
Gesellschaft nicht eingetragen ist, muss der-
jenige, welcher die solidarische Firmeuhaf-
tung geltend macht, den Beweis dafür er-
bringen, dass die von ihm in Anspruch ge-
nommenen Personen in den Gebi-auch der
Finna eingewilligt haben. Wenn der ge-
sellschaftliche Gewerbebetrieb aber nicht
zu den im § 1 des H.G.B. aufgeführten
Handelsgewerben gehört, sondern ein Unter-
nehmen ist, welches nach § 2 als Handels-
gewerbe gilt, so wird die Gesellschaft nicht
durch den thatsächlichen Gebrauch, sondern
nur durch die Eintragung der Firma in das
Handelsregister eine Handelsgesellschaft.
Bei der Kommanditgesellschaft
gelten dieselben Grundsätze, jedoch mit
einer Abweichung. Die Firmenhaftung ist
im Zweifel eine »persönliche«, d. h. eine
Haftung mit dem ganzen Vermögen; die
EinwiUigimg in den Gebrauch einer ge-
meinsamen Firma hat daher die Ueber-
nahme einer solchen vollen Haftung, d. h.
eine offene Handelsgesellschaft, ziu* Folge.
Die Beschränkung der Haftung auf eine be-
stimmte Summe (Haftsumme) setzt eine
ausdrückliciie Erklärung voraus und zwar
nicht unter den Gesellschaftern, sondern
gegenüber den Gläubigern. Gegen einen
bestimmten Gläubiger kann daher die be-
schränkte Haftung durch eine i h m g e g e n -
über abgegebene Erkiärimg begründet
werden, und diese Erklärung braucht nicht
in jedem einzelnen Falle wiederholt zu
werden, sondern es genügt nach § 17() dos
H.G.B., wenn der Kommanditist beweist,
dass dem Gläubiger seine beschränkte Haf-
Haiidelsgesellseliafteu (Formen)
1003
tung (das Gesetz sagt »seine beschränkte
Beteiligung«) bekannt war. Im allgemeinen
aber tritt die Beschränkung der Haftung auf
eine bestimmte Summe nur ein, wenn die-
selbe im Handelsregister eingetragen ist
(H.G.B. § 172 Abs. 1), und da die be-
schränkte Haftimg das speoifische Unter-
scheidungsmerkmal des Kommanditisten
gegen den offenen Handelsgesellscliafter ist,
so kann man mit Recht sagen, dass die
rechtliche Wirksamkeit einer Konmiandit-
gesellschaft mit der Eintragung in das
Handelsregister beginnt.
3. Das Gesellschaftsvennögen. Das
Oesellscliaftsvermfigen ist der Handlungs-
fonds des von den Oesellschafteni betrie-
benen Gewerbes; durch die Einheit des
Gewerbebetriebes werden alle für denselben
bestimmten oder ' durch denselben hervor-
gebrachten Vermögensrechte und Schulden
zu einer Gesamtheit verbunden. Diese Zu-
sammenfassung des Handlungsfonds sowie
die dadurch gebotene Trenmmg desselben
von dem übrigen Vermögen wird erreicht
diu'ch die Buchfühnmg, d. h. Inventar,
Handlungsbücher und Bilanz, und nach
aussen gekennzeichnet durcli die Fiima.
Dieselbe Absonderung des Handlungsfonds
tritt in gleicher Weise auch beim Einzel-
kaufmann ein. Da der Einzelkaufmann aber
unbeschränkter Herr beider Massen ist, er
mithin die Abgrenzung beider beliebig ver-
ändern, den Handlungsfonds willkürlich
schmälern oder aus seinem übrigen Ver-
mögen erhöhen kann, so ist die in einem
gegebenen Moment bestehende Abgrenzung
ohne rechtliche Bedeutung. Der Handlungs-
fonds des Einzelkaufmanns kann wie das
Warenlager als eine sogenannte universitas
facti in Betracht kommen, eine universitas
juris ist er niemals. Bei einer Handels-
gesellscliaft dtigegen ist jedes ^litglied den
übrigen gegenüber verpflichtet, den Hand-
lungsfonds ausschliesslich für die Zwecke
der Gesellschaft zu verwenden und sich
jeder Verfügung zu anderen Zwecken zu
enthalten. Dadm^ch wird die Trennung des
Gesellschafts Vermögens vom Privatvermögen
rechtlich erheblich; jeder einzelne Gesell-
schafter muss dieselbe als für ihn verbind-
lich anerkennen; das (obligatorische) Recht
der übrigen Gesellschafter verleiht dieser
Trennung eine feste Grundlage, einen dauern-
den Bestand und eine rechtliche Bedeutung.
Die Absonderung des Gesellschaftsvermögens
beruht daher auf dem unter den Gesell-
schaftern bestehenden Rechtsverhältnis ;
sie ist die Verwirklichung der von ihnen
gewollten communio. Dagegen hat sie gar
nichts zu thun mit der Haftung der Gesell-
schafter für die Firmenschulden oder mit
dem Kredit der Gesellschaft. Denn da den
Gesellschaftsgläubigern das gesamte Ver-
mögen sämtlicher Teilnehmer solidarisch
haftet (hinsichtlich der Kommanditisten bis
zm* Höhe der Haftsumme), so wird der
Kredit der Firma durch das Privatvermögen
der Teilnehmer ganz in dei-selben Weise
wie durch das Gesellschaftsvermögen ge-
tragen und es ist nicht zu begreifen, wie
der Kredit dadurch begründet oder ge-
steigert werden könnte, dass aus der den
Gläubigern haftenden Gesamtmasse ein Teil
ausgesondert wird. Die Gläubiger sind auch
in keiner Art berechtigt, die Gesellschafter
zu verhindern, die Grenze zwischen ihrem
Privat vermögen und ihrem Gesellschafts ver-
mögen beliebig zu verändern. Dem über-
einstimmenden Willen der Gesellschafter
gegenüber hat die Absondenmg des Gesell-
schaftsvermögens vom Privatvermögen der
Gesellschafter keine andere rechtliche Be-
deutung wie die Trennung des Handlungs-
fonds vom Privatvermcigen des Einzelkauf-
manns.
Da die Handelsgesellscliaft keine juris-
tische Person ist, also nicht Trägerin von
Rechten sein kann, so kann sie auch kein
eigenes Vermögen haben, insbesondere nicht
Eigentümer und Gläubiger sein. Das Ge-
sellschaftsvermögen ißt daher kein Ver-
mögen der Gesellschaft, sondern ein gemein-
schaftliches Vermögen der Gesellschafter.
Die letzteren sind daher Miteigentümer des
Gesellschaftsvermögens: das Miteigentum ist
aber ein durch das Gesellschaftsverhältnis
behen'schtes imd gebundenes. Da das
H.G.B. besondere Bestimmungen über dieses
Rechtsverhältnis nicht enthält, so kommen
die Vorschriften des B.G.B. zur Anwendung.
Das B.G.B. § 718 bezeichnet das GeseU-
schafts vermögen als »gemeinschaftliches
Vermögen der Gesellschafter« und giebt da-
mit eine präcise Charakterisierung desselben.
In der neueren Litteratur wird das
bundene Miteigentum sehr häufig als
samteigentum oder Vermögen zur gesamten
Hand bezeichnet. Dem B.G.B. sind diese
Ausdrücke fremd, und es kann nicht als dem
Gesetz entsprechend erachtet werden, aus
einer doktrinären Begriffsentwickelung dieser
Bezeichnungen willkürlich Folgenmgen her-
zuleiten, die im B.G.B. selbst keine Stütze
finden. Die Gebundenheit des gesellschaft-
lichen Miteigentums besteht nach dem B.G.B.
lediglich darin, dass ein Gesellschafter nicht
über seinen Anteil an dem Gesellschafts-
vermögen und an den einzelnen dazu ge-
hörenden Gegenständen verfügen kann;
ferner dass er — so lange das Gesellschafts-
verhältnis dauert — nicht berechtigt ist,
Teilung zu verlangen ; endlich dass eine
zum Gesellschaftsvermögen gehörende For-
derung nicht gegen eine Privatschuld des
einzelnen Gesellschaf tei-s aufgerechnet werden
kann. B.G.B. § 719. Diese Rechtssätze
1004
Handelsgesellschaften (Formen)
finden auch auf das gemeinschaftliche Ver-
mögen der offenen Handelsgesellschafter
Anwendung. Jedoch besteht zwischen der
Gresellschaft des bürg-erlichen Rechts und
der Handelsgesellschaft der wichtige Unter-
schied, dass bei jener der Regel nach die
Geschäftsführung und Vertretmig den Ge-
sellschaftern gemeinschaftlich zusteht (B.G.B.
§ 709; 714), bei dieser jedem einzelnen.
Die vom Recht gestattete Absonderung
des Gesellschaftsfonds vom Privatvennögen
w^äre aber illusorisch, wenn sie nicht auch
den Gläubigern und Rechtsnaclifolgern der
Gesellschafter gegenüber zur Geltimg käme.
Dritte werden daher von dieser Trennung
in demselben Masse und unter denselben
Voraussetzungen getroffen, in welchem der-
jenige Gesellschafter, an dessen Vermögen
sie Rechte haben, selbst davon betroffen
wird. Da nun der Gesellschafter nicht be-
fugt ist, ohne Genehmigung der anderen
Gesellschafter die zum Gesellschaftsver-
mögen gehörigen Sachen, Forderungen oder
Rechte für Privatzwecke zu verwenden, so
ist er auch nicht befugt, mit ihnen seine
Privat gläubiger zu befriedigen. Die not-
wendige Folge hiervon ist, dass die Privat-
gläubiger eines Gesellschafters die zum Ge-
sellschaftsfonds gehörigen Wertobjekte zum
Behuf ihrer Befriedigung oder Sicherstellung
nicht in Anspnich nehmen können, sondern
dass sie sich nur an dasjenige halten können,
was der Gesellschafter selbst an Zinsen und
Gewinnanteilen zu fordern berechtigt ist
und was ihm bei der Auseinandersetzung
zukommt.
Demgemäss genügt ein gegen einen
Gesellschafter gerichteter vollstreckbarer
Schiildtitel nicht zur Zwangsvollstreckung in
das Gesellschaftsvermögen; es ist vielmehr
hierzu ein gegen die Gesellschaft selbst ge-
richteter vollstreckbarer Titel erforderlich
(H.G.B. § 124 Abs. 2): sowie andererseits
aus einem gegen die Gesellschaft gerichteten
vollstreckbaren Scthnldtitel die Zwangsvoll-
streckung gegen die Gesellscliafter nicht
stattfindet (§ 129 Abs. 4). Endlich folgt
aus der Absonderung des Gesellschaftsver-
mögens von dem Privatvermögen der Gesell-
schafter, dass über das Gesellschaftsver-
mögen ein selbständiges Konkursverfahren
im Falle der Zahlungsunfähigkeit der Ge-
sellschaft stattfindet. Konkiu'sordnung § 209.
4. Die Einlage. Einlage bedeutet die
dauernde Dotierung des Gesellscliaftsfonds
mit Vermögensweiten seitens eines Gesell-
schafters. Den Gegensatz zur Einlage bilden
die Auslagen, welche ein Gesellscliafter in
Gesellschaftsangelegenheiten macht (H.G.B.
§ 110) oder die Verbindlichkeiten, welche
er wegen derselben übernimmt, sowie die
Beträge, welche er der Gesellschaft als Dar-
lehn giebt. Die Einlage erzeugt kein
Passivum der Firma, hinsichtlich derselben
besteht kein Anspruch auf Verzinsung und
auf Rückgewähr wie für Auslagen imd Vor-
schüsse eines Gesellschafters. Die Gewäh-
rung von Einlagen ist für die Handelsge-
seU Schaft nicht wesentlich, sondern nur
einer der verschiedenen Wege zur Be-
schaffung des für den Gewerbebetrieb er-
forderlichen Kapitals und zwar derjenige,
welcher den einzelnen Gesellschaftern das
grösste Mass von Leistungen auferlegt, ihr
Privatvermögen zu Gunsten des Gesell-
schaftsfonds am nachdrücklichsten belastet.
Hierin liegt der Gnmd für den Rechtssatz,
dass die Veipflichtung zur Hingabe einer
Einlage stets die besondere Zustimmung des
Gesellschafters voraussetzt. Hieraus folgt
weiter, dass auch über die Grösse mid Art
der zu machenden Einlage niemals das Be-
dürfnis der Gesellscliaft, sondern einzig und
allein der Vertragswille entscheidet.
Die Einlagen der Gesellschafter können
verschieden nach Art und Grösse sein; in
Ermangelung einer Vereinbarung haben aber
die Gesellschafter gleiche Beiträge zu leisten.
(B.G.B. § 706 Abs. 1).
Der aus dem Einlageversprechen er-
wachsende Anspruch der Mitgesellschafter
geht darauf, dass der Promittent das ver-
sprochene Kapital aus dem seiner Privatver-
fügung unterworfenen Vermögen aussondere
und in das der gesellschaftlichen Verfügung
imterworfene Vermögen überleite. Ist er
mit der Erfüllung im Verzuge, so ist er
zur Entrichtung von Zinsen und zum Er-
sätze des etwa entstandenen grössei-en
Schadens an die Gesellschaft verpflichtet.
B.G.B. § 111. Die Einlage braucht nicht
bei Eingehmig des Gesellschaf tsveitrages
versprochen oder geleistet zu werden; die
Verpflichtung zur Gewährung einer Einlage
kann zu jeder Zeit während des Bestehens
der Gesellschaft und selbst noch im Stadium
der Liquidation begnindet werden. Dieselben
Gnmdsätze gelten von einer Erhöhung der
Einlage, sei es zur Verstärkung oder sei es zur
Ergänzung des durch Verluste vermindeiten
Handlimgsfonds ; kein Gesellschafter ist hier-
zu verpflichtet, wenn er diese Verpflichtimg
nicht besonders übeniommen hat. B.G.B.
§ 707.
Anderei*seits ist die Einlage in keiner
Weise massgebend für den Gesamtbetrag,
mit welchem ein Gesellschafter den Verlust
zu tragen hat. Dieser Betrag ist in der
Regel überhaupt nicht begrenzt; die Gesell-
schafter können aber unter einander verein-
baren, dass einer oder einige von ihnen am
Verlust nur bis zu einer l:)estimmten Maxi-
malsumme teilnehmen, und diese Summe
kann gi'össer oder kleiner als die Einlage
sein oder mit ihr zusammentreffen.
Die Zuwendung aus dem Privatver-
Handelsgesellschaften (Formen)
1005
mögen in das Gesellschaftsvennögen kann
entweder darin bestehen, dass ein Ver-
mogensstück seiner Substanz nach über-
tragen wird oder dass nur das Gebrauchs-
oder Nutzungsrecht für die Zwecke der Ge-
sellschaft eingeräumt wird ; im ersteren Falle
geht das volle Dispositionsrecht sowie peri-
culum und commodum auf die Gesellschaft
über, im letzteren Falle treffen Erhöhungen,
Verminderungen oder Zerstörungen des
"Wertes das Privatvermögen des Gesell-
schafters. Ob die Einlage quoad substan-
tiam oder quoad usum erfolgt, hängt von
der Vereinbarung der Gesellschafter ab.
Das B.G.B. § 706 Abs. 2- hat aber in 2
FäUen eine Vermutung dafür aufgestellt,
dass das Einbringen zu gemeinschaft-
lichem Eigentum der GeseDschafter er-
folgt, nämlich wenn verbrauchbare oder ver-
tretbare Sachen eingebracht werden; und
wenn nicht verbrauchbare oder nicht ver-
tretbare Sachen nach einer Schätzung ein-
gebracht werden und die Schätzung nicht
bloss zum Zweck der Gewinnverteilung ge-
schieht!) Während das alte H.G.B. § 91
imgenau sagte, dass diese Gegenstände
Eigentum der Gesellschaft werden, und
dadurch eine irrtümliche Auslegung in der
Theorie und Praxis verschuldete, sagt jetzt
das B.G.B., dass sie gemeinschaftliches Eigen-
tum der Gesellschafter werden sollen.
Zum Uebergang des Eigentums ist je nach
der Art des Objekts Eintragung im Grund-
buch, üebei-gabe der Sache, Indossament des
Orderpapiers etc. erfonlerlich und das Ein-
bringen bildet nur die iusta causa des
Uebertragungsaktes. Die dinglichen Rechts-
beziehungen der einzelnen zum Gesellschafts-
vermögen gehörigen Gegenstände werden
von den im Societätsvertrage getroffenen
Festsetzungen nicht unmittelbar berührt.
Die Gesellschafter können aber verlangen,
dass die zur Einlage bestimmten Ver-
mögensobjekte in erkennbarer W^eise aus
dem Privatvermögen ausgeschieden und dem
Firmenvermögen einverleibt werden, d. h.
dass die zur Einlage bestinunten Gnmd-
stücke der Firnia aufgelassen, die Order-
papiere und Namensaktien ihr indossiert,
die gewöhnlichen Forderungen und Hypo-
theken ihr cediert, die beweglichen Sachen
und Inhaberpapiere ihr tradiert werden.
>) Das alte H.G.B. Art. 91 Abs. 2 bestimmte
ausserdem, dass im Zweifel angenommen wird,
dass die in das Inventar der Gesellschaft mit
der Unterschrift sämtlicher Gesellschafter ein-
getragenen, bis dahin einem Gesellschafter ge-
hörigen beweglichen oder unbeweglichen Sachen
Eigentum der Gesellschaft geworden sind. Diese
Bestimmnng ist in das nene HG.B. nicht auf-
genommen worden, weil sie eine Beweisregel
und deshalb nach § 286 der C.P.O. entbehr-
lich ist.
Völlig gleichartige Grundsätze gelten von
der Kommanditgesellschaft. Aller-
dings erweckt das H.G.B. (§ 161, 162) den
Anschein, als sei die Vermögenseinlage des
Kommanditisten wesentlich; dies beruht
aber nur darauf, dass das H.G.B. die Ver-
mögenseinlage und die Haftsumme des
Kommanditisten durchweg zusammenwirft.
Es ergiebt sich daraus aber höchstens der
dispositive Rechtssatz, dass der Komman-
ditist in der Regel verpflichtet ist, eine
Mnlage in Höhe der Haftsumme zu machen.
Im übrigen erkennt der § 163 an, dass das
Rechtsverhältnis unter den Gesell-
schaftern — und ein solches steht hin-
sichtlich der Einlage einzig und allein in
Frage — sich nach dem GeseDschaftsver-
trage, und soweit keine Vereinbarung ge-
troffen ist, nach den gesetzlichen Bestim-
mungen über das Rechtsverhältnis der
offenen Gesellschafter unter einander richtet.
Die Abweichungen, welche die §§ 164 — 169
ergeben, beziehen sich nicht auf die
Leistung einer Einlage: der § 165 be-
trifft lediglich das Vernältnis zu Dritten,
also die Haftung, wenngleich er das Wort
»Einl^« statt »Haftsiunme« verwendet.
Die Einlage des Kommanditisten kann
grösser oder kleiner als die Haftsumme sein,
sie kann dem Konunanditisten erlassen oder
zunickgegeben, sie kann erhöht oder ver-
mindert werden. Dies alles hat unter den
Gesellschaftern volle Rechtswirksamkeit, für
die Haftung des Kommanditisten dagegen
ist es ohne Belang. H.G.B. § 172, 174.
5. Der Anteil an Gewinn und Ver-
lust Jeder Gesellschafter ist an dem finan-
ziellen Ergebnis des Gewerbebetriebes an-
teümässig beteiligt.. Die Anteile sind in
Ermangelung einer anderen Vereinbarung
gleich (H.G.B. § 121 Abs. 3 B.G.B. § 722).
Die Gesellschafter können aber nicht nur
ihre Anteile verschieden festsetzen, sondern
sie können auch vereinbai^en, dass ein ein-
zelner Gesellschafter einen anderen Anteil
am Gewinn wie am Verlust zu tragen habe
oder dass der Gewinn- oder Verlustanteil
eines einzelnen Gesellschafters einen be-
stimmten Betrag nicht übersteigen dürfe.
Die Auslegungsregel des B.G.B. § 722 Abs. 2,
dass wenn nur der Anteil am Gewinn oder
am Verlust bestimmt ist, die Bestimmung
im Zweifel für Gewinn und Verlust gilt,
findet auch auf die offenen Handelsgesell-
schaften Anwendung.
Für die Berechnung des Gewinn- und
Verlustanteils stellt H.G.B. § 121 die Regel
auf, dass jedem Gesellschafter zunächst ein
Anteil von 4 ®/o seines Kapitalanteils gebührt ;
reicht der Gewinn hierzu nicht aus, so wii'd
ein entsprechend niedrigerer Prozentsatz ge-
wätu-t. Ist kein Gewinn oder ist Verbist
vorhanden, so >\4rd für den Kapitalanteil
1006
Handelsgesellschaften (Formen )
eine Yergütmig nicht gegeben. Die Ver-
gütung wird nach Art cler Kontokorrent-
zinsen berechnet; wenn also der Gesell-
schafter im Laufe des Geschäftsjahres Ein-
lagen gemacht hat oder Geld auf seinen
Kapitalanteil entnommen liat so werden die
4^/0 pro luta temporis berechnet und ihm
zu- oder abgeschrieben. (§ 121 Abs. 2.)
Wirkliche Zinsen sind diese Vergütungen
nicht, sondern ein Voraus bei der Gewinn-
verteilung. Aus diesem Grunde ist es den
Gesellschaftern unbenommen, sowohl diese
Zinsenberechnung ganz auszusclüiessen, d. h.
das Princip der Verteilung von Gewinn und
Verlust nach Köpfen voll und ganz zur An-
wendung zu bringen als auch den Prozent-
satz nach Belieben zu erhöhen. Die Er-
mittelung des Gewinnes oder Verlustes er-
folgt am Ende eines jeden Geschäftsjahres
auf Gnmd der Bilanz (§ 120). Das Ge-
schäftsjahr braucht nicht mit dem Kalender-
jahr übereinzustimmen, sondern kann
auch mit einem anderen Tage als dem 1.
Januar beginnen. Auch dieser Satz ist nur
ein dispositiver; durch übereinstimmenden
Willen der Gesellschafter kann nicht nur
eine andere regelmässige Periode festgesetzt,
sondern auch zu jedem beliebigen Zeitpunkt
ein ausserordentlicher Bechnungsabschluss
vorgenommen werden. Für die Aufstellung
der Bilanz sind besondere Regeln nicht ge-
geben ; abgesehen davon, dass sämtliche Ge-
sellschafter das Inventar imd die Büanz zu
unterzeichnen halxjn (§ 41 Abs. 1). Wäh-
rend aber die Vorschrift des § 40, dass
sämtliche Vermögensstücke und Forderungen
nach dem Weihte anzusetzen sind, welchen
sie zur Zeit der Aufnahme des Inventars
und der Bilanz haben, für den Einzelkauf-
mann bloss eine Ordnungsvorschrift ist, deren
Verletzung civilrechtliche Wirkungen
in keinem Falle hat, ist jeder Gesellschafter
dem andern gegenüber berechtigt, die Be-
folgung dieser Vorsclirift zu verlangen, und
nur, wenn sämtliche Gesellschafter einver-
standen sind, können andere Grundsätze füi'
die Aufstellung der Bilanz ziu: Anwendung
gebracht werden.
Für die Kommanditgesellschaft
erleiden die vorstehenden Regeln eine Modi-
fikation, da der Grundsjitz der gleichen Ver-
teilung des Gewinnes unil Verlustes auf die
Kommanditisten nicht anwendbar ist, Felilt
es an einer Vereinbarung darüber, so wird
der den einzelnen Kommanditisten treffende
Anteil am Gewiim, soweit er den Betrag
von 4^.0 der Kapitalanteile übersteigt, so-
wie der Auteil des Kommanditisten am
Verlust nach Massi;'abe der Umstände nach
richterlichem Ermessen, nötigenfalls unter
Zuziehung von Sachverständigen, festgestellt
(H.G.B. S 1^)8).
6. Der Kapitalanteil. Bor Anteil eines
Gesellschafters am Gesellschaftsverwiögen,
welchen das neue H.G.B. als Kapitalanteil
bezeichnet, besteht regelmässig aus zwei
Elementen, nämlich aus seiner Einlage und
den etwa von ihm geleisteten Einlageer-
höhungen (Nachschüssen) nach Abzug aller
von ihm aus dem Gesellschaftsfonds ent-
nommenen Summen und aus seinem Anteil
am Gewinn oder Verlust. H.G.B. § 120
Abs. 2. Indem man ftir jeden Gesellscliafter
die Summe seiner Einlagen und Gewinn-
anteile und andererseits die Summe der
von üim aus dem Handlungsfonds entnom-
menen Beträge und seiner Verlustanteile
feststellt, gewinnt man durch die Differenz
beider seinen Kapitalanteil.
Der einzelne Gesellschafter kann seinen
Kapitalanteil ohne Zustimmung der übrigen
im allgemeinen wieder vermindern noch er-
höhen. Doch erleidet dieses Princip eine
wichtige Modifikation. Der Gesellschafter
darf nämlich einen Betrag bis zu 4 ^/o seines
für das letzte Geschäftsjahr festgestellten
Kapitalanteils unbedingt und seinen Anteil
an dem diesen Betrag übersteigenden Ge-
winn des letztverflossenen Jahres, soweit es
nicht zum offenbaren Nachteil der Gesell-
schaft gereicht, aus dem Fonds der Gesell-
schaft entnehmen (H.G.B. § 122). Gewinn-
anteile eines Geschäftsjahi^es aber, die bis
zum Ablauf des nächstfolgenden Geschäfts-
jahi'es nicht erhoben sind, wachsen dem
Kapitalanteil zu; es ist dies ebensowolil
eine Pflicht als ein Recht jedes Gesell-
schafters gegen die übrigen.
Für den Kapitalanteil ist es keine not-
wendige Voraussetzung, dass eine Einlage
gemacht worden ist ; er kann auch aus dem
Gewinn- und Verlustanteil allein sich bilden.
Ferner kann der Anteil in einer passiven
Summe bestehen, wenn die Anteile eines
Gesellschafters am Verluste und die von
ihm aus dem Handlungsfonds entnommenen
Beträge die Summe seiner Einlagen imd
Gewinnanteile übersteigen.
Eigentümlich ist aber dem Kapitalanteil,
dass er nicht in einer bestimmten Quote,
sondern in einer stets veränderlichen Summe
besteht. Der Kapitalanteil erscheint stets
in der Gestalt eines Saldos eines Konto-
korrents zwischen der Firma und dem (le-
sellschafter, und seine kontinuierlicht? Ver-
änderung vollzieht sich durch Eintragungen
von Summen in das Habet und Debet dieser
laufenden Rechnung; er nimmt dadurch die
äussere Gestalt eines Forderungsrechts
zwischen dem Gesellschaftsfonds (Firma)
und dem Privat vermöcren der einzelnen (tc-
sellschafter an. Deshalb niuss jede bei Ein-
gehung des Vertrages oder später gemachte
Einlage in (reld veranschlagt wenlen (H.G.B.
§ 39): haben sich die Gesellscliafter zu
Leistiuigi-n verpflichtet, deren Wert in einer
Hanclelsgese]lscliaften (Formen)
1007
Geldsumme nicht aiisgednlckt werden kann,
so haben diese Leistungen nicht den Cha-
rakter der Einlage und können auf dem
Conto über den Kapitalanteil nicht gebucht
wenlen.
Der in einer Geldsumme ausgedrückte
Kapitalanteil der Gesellschafter kann von
dem wahren Wert desselben sehr erheblich
abweichen, da sowohl die Schätzung der
Einlagen als die Gnmdsätze für die Auf-
stellung der Bilanz und der hiervon ab-
hängigen Berechnung des Gewinnes oder
Verlustes dem Belieben der Gesellschafter
überlassen sind. Während die Gesellschaft
besteht, kommt diese Differenz nicht zum
Austrag, so lange nicht ein Gesellschafter
am Schlüsse eines Geschäftsjahres die
Richtigstellung des Inventars und der Bilanz
verlangt, Eret bei der Liquidation des Ge-
sellschaftsvermögens '^'ird der Unterschied
zwischen dem ziffermässigen Buchwert des
Gesellschaftsvermögens und seinem durch
die Liquidation ermittelten Effektivwert da-
durch fortgeschafft, dass das Ergebnis der
Liquidation ebenso wie das Ergebnis eines
Geschäftsjahres, d. h. als Gewinn oder Ver-
lust, angesehen und den einzelnen Gesell-
schaftern anteilmässig auf ihren Contis zu
Gunsten oder zu Lasten geschrieben wird.
Dagegen müssen die Abschlüsse (Saldi)
dieser Rechnungen über die Geschäftsanteile
der einzelnen Gesellschafter zusammenge-
rechnet stets dem Bestände des Gesell-
ßchaftsvermögens gleich sein, wie er sich
ziffermässig aus den Ilandlungsbüchern er-
giebt. Eine Abweichung von diesem Grund-
satze kann nur auf einem Irrtum oder einem
technischen Fehler der Buchfülirung be-
ruhen imd würde ohne rechtliche Bedeutung
sein.
Bei der Kommanditgesellschaft
greifen dieselben Gnmdsätze Platz; für die
Kommanditisten ergiebt sich aber dadurch
eine Abweichung, dass das H.G.B, von der
Annahme ausgeht, dass die Beteiligung
(der Geschäftsanteil) des Kommanditisten der
Haftsimame desselben gleich sei. Hieraus
ergiebt sich der (d i s p o s i t i v e) Rechtssatz,
dass der Kommanditist nur bis zum Betrage
seines Kapitalanteils und seiner noch rück-
ständigen Einlage an dem Verlust teilnimmt,
sein Conto daher keinen Passivsaldo haben
kann und dass andererseits, so lange seine
l:)edungene Einlage diu*ch Verlust vermm-
dert ist, der jährliche Gewinn zur Deckung
des Verlustes zu verwenden ist, § 167 Abs 3 ;
§ 169 Abs. 1.
Jedoch braucht der Kommanditist den
bezogenen Gewinn wegtn spätei^er Verluste
der Gesellschaft nicht zurückzuzalilen, § 169
Abs. 2. Auch kann der Kommanditist sei-
nen Kapitalanteil nicht ohne Zustimmung
der übrigen Gesellschafter über flen Betrag
der bedungenen Einlage anwachsen lassen
§ 167. Ist dieser Beti'ag erreicht, so werden
die dem Kommanditisten zukommenden Ge-
winnanteile nicht dem Kapitalanteil zuge-
schrieben, sondern sie bilden ein davon ver-
schiedenes Guthaben, eine wirkliche Forde-
rung an die Gesellschaft.
7. Geschäftsführung. Die Geschäfts-
führung ist ebensowohl ein Recht als
eine Pflicht der Gesellschafter (H.G.B.
§ 114). Der Regel nach decken sich diese
beiden Seiten des Verhältnisses; dies ist
aber keineswegs notwendig ; hinsichtlich des
Rechts imd der Pflicht können ganz ver-
schiedene Normen massgebend sein; es ist
daher erforderlich, beide getrennt zu er-
örtern.
1. Das Recht zur Geschäftsfüh-
rung. Das juristische Wesen desselben l)e-
steht in dem Anspruch eines Gesellschafters
gegen die anderen, dass sie den pekuniären
Erfolg seiner im Gewerbebetriebe entfalte-
ten Thätigkeit mit übernehmen, die Geschäfte
als für gemeinsame Rechnung geschlossen
gelten lassen müssen. Dieses Recht er-
streckt sich auf alle Handlungen, welche der
gewöhnliche Betrieb des Handelsgewerbes
der Gesellschaft mit sich bringt (H.G.B.
§116 Abs. 1). Dieser umfang wird auch
dadiu-ch nicht eingeschränkt, dass die Ge-
sellschafter imter sich eine Verteilimg der
Geschäfte verabreden oder zur Besorgung
gewisser Geschäfte Hilfspersonen anstellen.
Hierdurch wird das Recht des Gesellschaf-
ters zur Vornahme jedes beliebigen, zum
Gewerbebetrieb gehörigen Geschäfts an und
für sich nicht aufgehoben ; seine Verantwort-
lichkeit erstreckt sich aber auch auf den
Schaden, den er etwa durch sein Eingreifen
in den einem anderen überwiesenen Ge-
schäft skreis angerichtet hat. Durch Verein-
barung der Gesellschafter kann aber auch
das Recht zur Geschäftsfühnuig beschränkt
soA\ieüber seinen gesetzlichen Umfang hinaus
erweitert werden. Ueberschreitet ein Gesell-
schafter bei der Führung von GeseUschafts-
geschäften seine Befugnisse, so kommen
nicht die Grundsätze von der Societät, son-
dern die von der negotiorum gestio zur An-
wendimg. Innerhalb der Grenzen seiner
Befugnisse kann jeder Gesellschafter ohne
Mitwirkung der übrigen Handlungen für die
Gesellschaft vornehmen, mit Ausnahme der
Erteilung einer Prokura, welche nur unter
Einwilligung aller an der Geschäftsführung
beteiligten Gesellschafter erfolgen soll (§ 116
Abs. 3)1). Das Recht des Gesellschafters,
die Geschäfte allein vorzunehmen, kann
demnach in doppelter Weise ausgesciilossen
^) Die Giltigkeit der erteilten Prokura wird
aber durch die Verletzung dieser Vorschrift
nicht berührt (§ 126 Abs. 1 am Ende).
1008
Handelsgesellschaften (Formen)
werden; entweder in der Art, dass er an
der Geschäftsfühnmg gar nicht teilnehmen
soll (§ 114 Abs. 2) oder dass er nur in Ge-
meinschaft mit anderen handeln soll (§115
Abs. 2). In beiden Fällen liegt ein Verzicht
des Gesellschafters auf sein societätsmässiges
Recht vor; wider seinen Willen kann ihm
das letztere in der Regel nicht entzogen
werden. Jedoch kann einem Gesellschafter
auf Antrag der übrigen Gesellschafter das
Recht zur GesohaftsJöhrung durch gericht-
liche Entscheidung entzogen werden, wenn
ein wichtiger Gnind vorliegt, insbesondere
grobe Pflichtverletzung oder Unfähigkeit zur
ordnungsmässigen Geschäftsführung (§ 117.
Anders B.G.B. § 712).
Aus dem konkiurierenden Recht aller
Gesellschafter zur alleinigen Vornahme der
Geschäfte ergiebt sich zugleich ein Veto
jedes einzelnen (§ 115 Abs. 1. B.G.B.
§ 711). Nur der Widerruf einer Prokura
ist ausgenommen (§ 116 Abs. 3). Die Nicht-
befolgung des Veto seitens eines Gesell-
schafters schliesst die Haftung der Gesell-
schafter für das abgeschlossene Geschäft
nicht aus, begründet aber die Verpflichtung
des Gesellschafters zimi Ersatz des Scha-
dens, welcher der Gesellschaft aus der von
ihm vorgenommenen Handhmg erwächst.
Andererseits kann das Recht des Veto nicht
willkürlich und mit Verletzung der bona
fides ausgeübt werden.
2. Die Pflicht zur Geschäftsfüh-
rung. Da ein Gewerbebetrieb ohne Ge-
schäftsführung nicht möglich ist, so liegt in
dem Eintritt in eine Handelsgesellschaft zu-
gleich die vertragsmässige Pflicht zur Ar-
beitsleistimg. Diese Pflicht umfasst grund-
sätzlich alle im Gewerbebetriebe erforder-
lichen Arbeiten ; in einem engeren Sinne
aber versteht man unter Geschäftsfühning
die Geschäftsleitung. In welchem um-
fange die Gesellschafter zur Geschäftsfüh-
rung verpflichtet sind, hängt von ihrer
Vereinbarung ab; im Zweifel ist anzuneh-
men, dass sie von solchen Diensten befreit
sein soUen, welche ihrer Lebensstellung
oder Bildung nicht entsprechen oder nach
dem Gtebrauch von Hilfspersonen verrichtet
werden. Durdi Vertrag kann ein Gesell-
schafter von der Pflicht zur Geschäftsfüh-
rung ganz befreit werden, und dies kann
selbst auf alle Gesellsehafter ausgedehnt
werden, da das Gewerbe auch durch Be-
vollmächtigte und Gehilfen betrieben werden
kann.
Die Pflicht zur Geschäftsführung ist un-
entjjeltlich zu erfüllen, weil sie eine gegen-
seitige ist und in dem Anteil am Gewinne
ihren Lohn findet; dem Gesellschafter sind
aber die ihm aus der Geschäftsführung er-
wachsenen Kosten und Auslagen sowie die-
jenigen Verluste, welche er ohne sein Ver-
schulden durch dieselbe erlitten hat, aus
dem Gesellschaftsfonds zu erstatten (§ 110).
Bei Führung der Geschäfte haftet jeder Ge-
sellschafter für diejenige Sorgfalt, welche
er in seinen eigenen Angelegenheiten anzu-
wenden pflegt (B.G.B. § 708). Der Schaden,
der durch eine Pflichtverletzung verursacht
wird, ist dem Handlungsfonds, nicht den
einzelnen Gesellschaftern anteilmässig, zu
ersetzen. Die Geschäftsführung begründet
die Pfhcht zur Rechnungslegung; derselben
wird aber regelmässig durch die Fühnmg
der Handlungsbücher genügt. Soweit sich
nicht aus dem Gesellschaftsverhältnis ein
anderes ergiebt, gelten für die aus der Ge-
schäftsführung hervorgehenden Ansprüche
imd Verpflichtungen die Vorschriften des
B.G.B. §§ 664 bis 670 über den Auftrag.
ß.G.B. § 713.
3. Die Kontrolle der Geschäfts-
führung. Jeder Gesellscliafter ist befugt,
sich persönlich von dem Gange der Gesell-
schaftsangeiegenheiten zu unterrichten, zu
diesem Zweck zu jeder Zeit in das Ge-
schäftslokal zu kommen, die Handelsbücher
und Papiere der Gesellschaft einzusehen imd
auf ihi^r Grundlage eine Bilanz zu seiner
Uebersicht anzufertigen (§ 118; ß.G.B. § 716
Abs. 1). Für jeden an der Geschäftsführung
beteiligten Gesellschafter versteht sich diese
Befugnis von selbst und sie schliesst zu-
gleich die Pflicht in sich, von dem Stande
der GesellschaftsgeschaFte sich fortwährend
in vollkommener Kenntnis zu erhalten.
Aber auch der von der Geschäftsfühning
ausgeschlossene oder befreite Gesellschafter
liat das Recht, sich über die Lage der Ge-
sellschaftsgeschäfte zu unterrichten und die
Geschäftsführung der übrigen Gesellschafter,
Prokuristen, Handlungsgehilfen zu kontrol-
lieren. Er kann zwar auch auf dieses Recht
wirksam verzichten ; dieser Verzicht ist aber
nicht in dem Verzicht auf die Geschäfts-
führung enthalten, sondern muss besonders
erklärt werden. Der Verzicht verliert seine
Wirkung, wenn Grund zu der Annahme
unredlicher Geschäftsführung besteht (§ 118
Abs. 2; B.G.B. § 716 Abs. 2). Das Recht
zur Kontrolle ist unübertragbar imd muss
in der Art ausgeübt werden, dass dadurch
der ordnungsmässige Beüieb der Geschäfte
keine Störung erleidet.
4. Bei der Kommanditgesellschaft
haben die Kommanditisten, sofern nicht et-
was anderes vereinbart ist, weder das Recht
noch die Pflicht zur Geschäftsführung, mit-
hin auch den persönlich haftenden Gesell-
schaftern gegenüber kein Veto, es sei denn,
dass die Handlung €ber den gewöhnlichen
Betrieb des Handel^gewerbes der Gesell-
schaft hinausgeht (§ 164 Abs. 1). Auch bei
der Erteilung oder dem Widerruf einer Pro-
kura haben die Kommanditisten kein Recht
Handelsgesellschaften (Formen)
1009
der Mitwirkung oder des "Widerspruchs.
Desgleichen ist ihnen das Recht der Kon-
trolle der Geschäftsführung entzogen, jedoch
sind sie berechtigt, die abschriftliche Mit-
teilung der jähi'lichen Bilanz zu verlangen
und die Richtigkeit derselben unter Einsicht
der Bücher und Papiere zu prüfen (§ 166
Abs. 1).
8. Das Konknrrenzverbot Zu den
durch den ÖeseUschaftsvertrag begründeten
gegenseitigen Pflichten gehört endlich die
ünterlassungspflicht, weder in dem Handels-
zweige der Gesellschaft für eigene ' Rech-
nung oder für Rechnung eines Dritten Ge-
sellte zu machen noch an einer anderen
gleichartigen Handelsgesellschaft als offener
Gesellschafter teilzunehmen (§ 112 Abs. 1).
Der Grund dieser Beschrftnkung liegt darin,
dass der Gesellschafter die ihm zustehende
Kenntnis der Geschäftsverbindungen, der
Handelsnachrichten und Geschäftsgelegen-
heiten nicht im eigenen Interesse oder im
Interesse Dritter zum Schaden der Gesell-
schaft verwerten und dadmxjh der Ent-
wickelung des Gewerbes der Gesellschaft
hinderlich sein soll. Darum trifft das Kon-
kurrenzverbot nicht bloss die gescliäfts-
führenden, sondern aUe Gesellschafter; es
ist aber beschränkt auf den Handelszweig
der Gesellschaft. Die Frage, welche Ge-
schäfte von dem Konkiurenzverbot getix)ffen
werden, ist immer nur nach den Umständen
des einzelnen Falles zu entscheiden; allge-
meine Grundsätze lassen sich dafür nicht
aufstellen. In erster Linie entscheidet auch
über die Grenzen des Konkurrenzverbots
der Yertragswille.
Der Beti'ieb von Konkurrenzgeschäften
ist nur dann eine Pflichtverletzung, wenn
er ohne Genehmigung der anderen Gesell-
schafter erfolgt. Erforderlich ist aber die
Zustimmung aller Gesellschafter, auch der
nichtgeschäftsführenden , denn der schä-
digende Einfluss der Konkurrenz trifft auch
sie. Wenn auch nur ein Gesellschafter die
Zustimmung verweigert hat, liegt der Fall
ebenso, als wenn sie sämtliche Gesellschafter
verweigert hätten; das ganze Geschäft ist
pflichtwidrig. Die Genehmigung kann teils
im allgemeinen, teils für einzelne Geschäfte
erteilt werden, und in beiden Fällen bedarf
es nicht einer ausdrücklichen Erklänmg,
sondern es genügt ein wissentliches Dulden.
§ 112 Abs. 2 stellt für einen besonderen
Fall eine Interpretationsi-egel auf.
Verletzt ein Gesellschafter das Kon-
kuiTcnzverbot , so hat dies dieselben Wir-
kungen wie andere Verletzungen der ver-
tragsmässigen Verpflichtimgen, nämlich den
Anspruch auf Auflösung der Gesellschaft
und den Anspnich auf Schadenersatz; an-
statt des letzteren lässt § 113 aber auch
das Eintreten der Gesellschaft in das vom
Gesellschafter für eigene Rechnung ge-
schlossene Geschäft zu. Hat der Gesell-
schafter das Geschäft für fremde Rechnung
geschlossen, so kann die Gesellschaft ver-
langen, dass der Gesellschafter die dafür
bezogene Yergütimg herausgebe oder den
Anspruch auf die Vei^tung ihr abtrete.
Gegen die Geltendmachung dieser Ansprüche
hat der pflichtwidrig handelnde Gesell-
sellschafter kein Recht des Widerspruchs.
§ 113 Abs. 2. Das Recht zum Eintreten in
das Geschäft wie das Recht auf Schaden-
ersatz erlischt nach drei Monaten nach er-
langter Kenntnis von dem Geschäft und sie
verjähren ohne Rücksicht auf diese Kenntnis
in fünf Jahren von ihrer Entstehung an.
§ 113 Abs. 3.
Kommanditisten unterliegen dem
Konkurrenzverbot (§ 165).
9. Die Aufnahme nener Mitglieder
nnd die Beteiligung eines Fremden am
Geschäftsanteil 1. Ein Gesellschafter kann
ohne die Einwilligung der übrigen Gesell-
schafter keinen Dritten in die Gesellschaft
aufnehmen. Der Satz ist keine Besonder-
heit der offenen Handelsgesellschaften, son-
derri die allgemeine, für alle Societäten
geltende Regel des Civilrechts. Art. 98 des
alten H,G.B., der diesen Satz aiisdrticklich
aussprach, ist als selbstverständlich im neuen
H.G.B. gestrichen worden.
Wenn ein Gesellschafter ohne Zustimmung
aller übrigen mit einem Fremden einen
Vertrag über den Eintritt desselben in die
Gesellschaft abschliesst, so ist dies nicht wie
der Abschluss von Konkurrenzgeschäften
eine Pflichtverletzung, sondern es ist wir-
kungslos und hat im Verhältnis zwischen
ihm und den übrigen Gesellschaftern keiner-
lei Rechtsfolgen.
Erfolgt die Aufnahme eines neuen Ge-
sellschafters mit Zustimmung aller Betei-
ligten, so bewirkt dies zwar eine Verände-
ning des Societätsverhältnisses, aber nicht
des Gewerbebetriebes. Derselbe wird kon-
tinuierlich fortgesetzt, und deshalb bleibt
auch der für diesen Gewerbebetrieb be-
stimmte Gesellschaftsfonds als imiversitas
juris bestehen. Auch die Geschäftsanteile
der bisherigen Mitglieder erleiden keine Ver-
änderung, sondern verbleiben so, wie sie
sich aus den darüber geführten Contis er-
geben; es tritt nur, falls der neu aufge-
nommene Gesellscliafter eine Einlage ge-
macht hat, der Geschäftsanteil desselben in
Höhe seiner Einlage hinzu.
2. Wesentlich verschieden hiervon ist der
Fall, dass ein Gesell seliaft er einen Dritten
an seinem Anteil beteiligt. Ein solches Ver-
hältnis kann sowohl bei Errichtung als
während des Bestehens der Gesellschaft
begründet werden. Die Handelsgesellschaft
wird davon in keiner Weise berührt: die
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Auflaj?e. IV.
64
1010
Handelsgesellschaften (Formen)
Genehmigung der übrigen Gesellschafter ist
dazu nicht erforderlich; ja es besteht niclit
einmal die Pflicht, sie davon in Kenntnis
zu setzen. Der Rechtsinhalt eines solchen
Verhältnisses besteht allein darin, dass der
Gesellschafter den pekuniären Ei'folg, welchen
seine Teilnahme an der Handelsgeseilschaft
für ihn hervorbringt, mit dem Fremden
nach dem unter ihnen vereinbarten Ver-
hältnis zu teilen verpflichtet is't. Der Dritte
kann daher nicht mehr Rechte haben, als
dem Gesellschafter (qui eum admisit) selbst
zustehen, und auch diese Rechte kann er
nur insoweit ausüben, als sie übertrag-
bar sind. Zu den übertragbaren Rechten
gehören nicht die Befugnisse zur Ge-
schäftsführung, das Veto und das Recht zur
Einsicht der Handelsbücher und Papiere
der Gesellschaft, üebertragbar sind dagegen
die Ansprüche, welche einem Gesellschafter
aus seiner Geschäftsführung zustehen, soweit
deren Befriedigung vor der Auseinander-
setzung verlangt werden kann; ferner die
Ansprüche auf den Gewinnanteil, soweit der
Gesellschafter selbst die Auszahlung ver-
langen kann ; endlich der Anspruch auf das-
jenige, was dem Gesellschafter bei der Aus-
einandersetzung zukommt. B.G.B. § 717.
3. Dieselben Grundsätze finden Anwen-
dung bei allen anderen Verfügungen eines
Gesellschafters über seinen Anteil, z. B.
einer Cessibn, Verpfändung, Bestellung als
Mitgift, Vermächtnis etc.
10. Das Verhältnis der GeseUschofter
zu dritten Personen, a) Vertretung
der G-esellsohaft. 1. Man versteht da-
runter die Befugnis der Gesellschafter,
Handlungen mit der Wirkung vorzuneh-
men, dass alle Gesellschafter dadurch
solidarisch verpflichtet und berechtigt wer-
den. Dies ist wesentlich verschieden von
der Befugnis zur »Vertretung«, welche man
den Organen der juristischen Personen zu-
schreibt; die Handelsgesellschaft ist keine
juristische Person und hat keine »Organe«.
Ebenso wenig ist die Vertretungsbefugnis
auf eine Handlungsvollmacht (praepositio
institoria), welche sich die Gesellschafter
gegenseitig erteilen, zurückzuführen. Diese
Theorie, mit welcher sich die ältere scho-
lastische Jurisprudenz das Verhältnis zurecht
zu legen suchte, ist nicht nur unrichtig, da
jeder Gesellschafter ein eigenes und un-
entziehbares Recht auf die Vertretung hat
und nicht bloss für die anderen, sondern
immer zugleich für sich selbst handelt,
sondern sie ist auch sinnlos, da ihr zufolge
jeder Gesellschafter zugleich der Prinzii)al
und Handlungsbevollmächtigte der übrigen
Gesellschafter sein w^ürde. Der Kernpunkt
des Verhältnisses ist vielmehr die Mit-
verantwortlichkeit aller Gesellschafter
ür die Handlungen jedes einzelnen und die
Vertretungsbefugnis ist das Recht, in Ge-
sellschaftsangelegenheiten zu handeln (Dis-
positionen zu treffen), mit rechtlicher Wirk-
samkeit alles dasjenige zu thun, wozu der ge-
sellschaftliche Gewerbebetrieb Veranlassung
bietet. Diese Wirkungen treten bei allen
Handlungen ein, welche der Gesellschafter
in erkennbarer Weise in dieser Eigenscliaft
vorgenommen hat, sei es durch den for-
mellen Gebrauch der Firma, sei es, dass es
sich aus den Umständen entnehmeu lässt,
dass das Geschäft für die Gesellschaft ge-
schlossen werden sollte (B.G.B. § 164 Abs. 1).
2. Der Umfang der Dispositionsbefugnis
reicht nicht bloss soweit, als es der kon-
krete Gewerbebetrieb der Gesellschaft mit
sich bringt, sondern soweit, als der Gebrauch
der Firma rechtlich möglich ist, mag auch
in concreto das unter der Firma gesclilossene
Geschäft ohne Zusammenhang mit dem
Gewerbebetrieb der Gesellschaft sein (H.G.B.
§ 126 Abs. 1). Der gesetzliche Umfang der
Befugnis kann nicht durch Vereinbarung
der Gesellschafter beschränkt werden,
namentlich nicht auf gewisse Geschäfte oder
Arten von Geschäften, auf eine bestimmte
Zeit oder bestimmte Orte, auch nicht in
der Art, dass die Vertretung nur unter ge-
wissen Umständen stattfinden soU. § 126
Abs. 2. Jedoch kann die Vertretun^macht
auf den Betrieb einer Zweigniederlassimg
beschränkt werden, wenn für dieselbe nach
§ 50 Abs. 3 eine besondere Firma geführt
wird. § 126 Abs. 3.
3. Dagegen kann die Vertretungsbe-
fugnis eines Gesellschafters ausgesclüossen
werden und zwar entweder gänzlich oder
in der Art, dass sie nur in Gemeinschaft
mit anderen Gesellschaftern oder mit einem
Prokuristen ausgeübt weitlen soll (sogen.
Kollektivvertretung). In beiden Fällen ist
die Einw^illigung des von der Alleinvertre-
tung auszuschliessenden Gesellschafters in
der Regel erforderlich. Wenn der Gesell-
schafter sich eines ^lissbrauches seines Dis-
positionsrechts schuldig gemacht liat oder
zur ordnungsmässigen Vertretung der Ge-
sellschaft unfällig wird, können die übrigen
Gesellschafter nicht nur auf Ausschliessung
desselben aus der Gesellschaft oder auf Auf-
lösung klagen, sondern es kann ilim auf
Antrag der übrigen Gesellschafter die Ver-
tretungsmacht durch gerichtliche Entschei-
dung entzogen werden. § 127.
Der Ausschluss des Gesellschafters in
beiden Formen ist im Handelsregister ein-
zutragen, widrigenfalls er einem Dritten nur
insofern entgegengesetzt werden kann, als
ihm nachgewiesen w-ird, dass er diese that-
sache trotzdem gekannt habe^). § 125
Abs. 4 und § 15 Abs. 1.
^J Ueber die Wiederaufhebung der einge-
Handolsgesellschaften (Formen)
1011
4. Da ilie zur Yertrotiing: ermächtigten
Gesellschafter YoUrnachten erteilen können,
so sind die zur Cresamtvertretrmg berech-
tigten (lesellscliafter befugl, einzelne von
ihnen zur Vornahme bestimmter (reschäfte
oder bestimmter Arten von Geschäften zu
ermächtigen. § 125 Abs. 2. Dadurch kann
dem äusseren Anscheine nach die (lesamt-
vertretung aufgelöst werden in Einzelver-
tretuugen für bestimmte Gescliäftszweige.
Jedoch steht eine solche Ermächtigung nicht
unter den Regeln von dem Verti-etungsrecht
<ler Gesellschafter, sondern unter denen von
der Handelsvollmacht, ist also widerruflich
und beschränkbai'.
5. Es ergiebt sich aus diesen Sätzen,
dass zwischen dem Recht zur Geschäfts-
fühnmg und dem Recht zur Vertretung
keine Konginienz zu bestehen braucht, ob-
gleich dies aus thatsächlichen Grimdeu
regelmässig der Fall ist. B.G.B. § 714. Ein
vertretungsberechtigter Gesellschafter kann
von dem Recht zur Geschäftsführmig aus-
geschlossen oder von der Pflicht befreit
sein, und ein von der Vertretung ausge-
schlossener Gesellschafter kann zu solchen
Handlungen befugt und verpflichtet sein,
welche ohne Vertretung der Firma vorge-
nommen werden können, z. B. technische
Arbeiten, Buchföhrmig etc.
6. Kommanditisten haben kein Recht zur
Vertretung der Gesellschaft (H.G.B. § 170) ;
sie können nur durch eine Vollmacht die
Befugnis zur Vertretung der Fii*ma erlialten ;
schliessen sie ohne Vollmacht ein Geschäft
im Namen der GeseLlscliaft ab, so greifen
die in den §§ 177—181 des B.G.B.'s aufge-
stellten Gnmdsätze Platz.
b) Haftung der offenen Handels-
geBellBohafter i). Jeder Gesellschafter haftet
für alle Schulden der Gesellschaft in
ihrem vollen Betrage mit seinem ganzen
Vermögen, H.G.B. § 128.
1) Die Gesellschafter haften für alle
Verbindlichkeiten der Gesellschaft. Es macht
keinen Unterschied, ob sie aus Verti-ägen
hervorgehen oder auf anderen Thatbeständen
beruhen; insbesondere erstreckt sich die
Haftung auch auf Deliktsschulden, Abgaben,
(Tcbühi-en, Prozesskosten, Verzugszinsen etc.
Voraussetzung ist lediglich, dass die Schuld
eine Verbindlichkeit der Gesellscliaft ist.
Hierunter fallen aber zwei Kategorieen von
Schulden, die durch zwei verschiedene
Merkmale bestimmt werden. Die eine
Kategorie umfasst alle unter der Firma
tragenen Kollektivvertretung durch thatsäch-
liches Geltenlassen der Alleinvertretung s. R.G.
Bd. 5, S. Ißflf.
M Unger, Passive Korrealität und Soli-
darität (in den Jahrb. f. Dogm. des heutigen
Privatrechts, Bd. XXll, 1884j.
der Gesellschaft kontrahierten Schulden,
sofern sie von einer zur Vertretung der Ge-
sellschaft befugten Pei'son eingegangen
worden sind und zwar auch dann, wenn
der Gesellschafter oder ProKurist einen
Missbrauch der Firma venibt hat, d. h. die
Schuldübernahme nicht zum Gewerbebetriebe
gehört. Die zweite Kategorie umfasst alle
im Gewerbebetriebe der Gesellschaft
entstandenen Schulden und zwar auch dann,
wenn sie nicht unter der Fii^ma entstanden
sind ; (ladiu*ch, dass das Gewerbe als Ganzes
unter der Firma betrieben wird, sind alle
einzelnen im Gewerbebetriebe entstandenen
Schulden Fii'maschulden.
2) Sämtliche Gesellschafter liaften für
die Gesellschaftsschulden zum vollen Be-
trage derselben. Dies beruht nicht auf
dem Gesellschaftsverhältnis, denn zwischen
Societät und Korrealhaftung besteht kein
logischer Zusammenhang, sondern auf der
Einheitlichkeit des Gewerbebetriebes unter
gemeinsamer Firma, auf der jedem Dritten
bemerkbaren , offenkundigen , notorischen
communio negotiationis. Diese Haftung in-
volviert nicht nur eine Mitverpflichtung,
sondern eine wechselweise Mitverantwort-
lichkeit ; culpa imd mora, Versäumnisse von
Fristen, von Kechtssolennitäten, Nichtleistung
von Parteieiden etc., welche einer verschul-
det, erzeugen Rechtsfolgen zum Schaden
aller, sowie anderei'seits die von einem vor-
genommenen Rechtshandlungen zur Erhal-
tung oder zum Schutz von Rechten, Klagen,
Einreden etc. allen zu gute kommen. Das
Verhältnis der offenen Handelsgesellschafter
ist nach Ungers Ausdruck eine »potenzierte
Korrealität.« Jeder Gesellschafter ist Dritten
gegentlber für den ganzen Gewerbebetrieb
haftbar, und dai'um muss er für alle und
müssen alle für ihn einstehen.
Aus diesem Grunde haftet derjenige,
welcher in eine bestehende Handelsgesell-
schaft eintritt, gleich den anderen Gesell-
schaftern für alle schon vor seinem Eintritt
begründeten Gesellschaftsschulden, es mag
die Firma eine Aenderung erleiden oder
nicht (H.G.B. § 130).
3. Sämtliche Gesellschafter haften für
die Gesellschaftsschulden mit ihrem
ganzen Vermögen. Dies ist keine Be-
sonderheit der offenen Handelsgesellschaften,
sondern der allgemeine Rechtssatz, dass der
Gläubiger zu seiner Befriedigung das ganze
Vermögen seines Schuldners in Anspruch
nehmen kann; es ist nur der positive Aus-
druck dafür, dass die Haftung nicht auf eine
bestimmte Summe beschränkt ist. Mit dieser
Haftung des ganzen Veimögens würde es
aber vollkommen vereinbar sein, dass der
Gläubiger zunächst sich an das Gesellschafts-
vermögen halten müsse und nur, soweit er
daraus keine Befriedigiuig erlangt, das üb-
64*
1012
Handelsgesellschaften CFormen)
rige Vermögen der Gesellschafter in An-
spruch nehmen dürfe. Als Rechtsgrundsatz
kann dies allei*dings nicht gelten, weil ein
aktiver GeseUschaftsfonds überhaupt nicht
vorhanden zu sein braucht. Hierdurch wird
aber in keiner Weise ausgeschlossen, dass
zur Tilgung vonGesellschaftsschidden, welche
passive J^standteile des Handlungsfonds
sind, in erster Reihe die aktiven Bestände
desselben zu verwenden sind und das
Sondervermögen der Gesellschafter erst sub-
sidiär dazu verwendet wird. Die Reali-
sierung dieses Grundsatzes ist aber den
offenen Handelsgesellschaftern selbst über-
lassen; es bedarf hierzu keiner Rechtsvor-
schriften, welche den Gläubigern eine Be-
schränkung auferlegen. So lange disponibles
Gesellschaftsvermö^en vorhanden ist, voll-
zieht sich die Preihaltung des Sonderver-
mögens von der Belastung mit Gesellschafts-
schulden ganz von selbst durch Voi^gänge
innerhalb des Kreises der Gesellschafter
auf Gnmd des § 110 des H.G.B. Nur wenn
der Konkurs über das Vermögen der Ge-
sellschaft sowie über das Vermögen eines
Gesellschafters eröffnet wii-d, kommt die
subsidiäre Haftung des Sondervermögens für
Gesellschaftsschulden auch Dritten gegen-
über zur Geltung, indem nach Konk.-O.
§ 212 die Gesellschaftsgläubiger in dem
Konkurse über das Privatvermögen der Ge-
sellschafter nur wegen des Ausfalls
ihre Befriedigung suchen können.
4. Wenn ein Gesellschafter wegen einer
Verbindlichkeit der Gesellschaft in Anspruch
genommen wird, so kann er ausser den
in seiner Person gegründeten Einreden auch
die der Gesellschaft zustehenden Einreden
erheben und die Befriedigung des Gläubigers
verweigern, so lange der Gesellschaft das
Recht zusteht, das der Verbindlichkeit zu
Grunde liegende Rechtsgeschäft anzufechten.
Auch kann der Gesellschafter die Zahlung
verweigern, wenn sich der Gläubiger durch
Aufrechnung gegen eine fällige Fordenmg
der Gesellschaft befriedigen kmn. H.G.B.
§ 129.
o) Haftung der Kommanditisten.
Während die »persönlich liaftenden« Mit-
glieder einer Kommanditgesellschaft unter
denselben Regeln stehen, welche für offene
Handelsgesellschafter gelten, ist die Haftung
der Kommanditisten in einer eigenartigen
Weise geregelt; diese besondere Art der
Haftung ist das charakteristische Merkmal
der Kommanditgesellschaft, durch welches
sie sich einerseits von der offenen Handels-
gesellschaft, andererseits von der stillen Ge-
sellschaft untei-scheidet.
1. Nach der Ausdrucksweise des H.G.B.
§ 161 ist ein Kommanditist dasjenige Mit-
glied einer Handelsgesellschaft, welches sich
an dem Haudelsgewerbe »nur mit einer
Vermögenseinla^e beteiligt«. Der Betrag
der Vermögensemlage jedes Kommanditisten
muss zumHandelsregister angemeldet werden
(§ 162, Ziff. 4). Für die vor der Eintragimg
entstandenen Verbindlichkeiten der Gesell-
schaft haftet jeder Kommanditist gleich einem
persönlich haftenden Gesellschafter; erst
durch die Eintragung wird die ßeschi'änkimg
der Haftimg recntswirksam (§ 176 Abs. 1).
Da- hiernach vor der Eintitigung der be-
schränkten Haftimg die Gesellschaft ent-
weder eine offene Handelsgesellschaft oder
gar keine Handelsgesellschaft ist, so kann
man mit Recht sagen, dass die Kommandit-
gesellschaft erst mit der Eintragung und
nur durch die Eintragung entsteht (vgl oben
§ 2 a. E.). Da nun aber das Rechtsver-
hältnis unter den Mitgliedern sich nach
dem Gesellschaftsvertrage richtet (§ 163),
sie auch im Verhältnis zu einander den An-
fang der Gesellschaft auf einen beliebigen
Zeitpunkt festsetzen können, sie ferner die
von dem Kommanditisten zu machenden
Einlagen (mit Wirkung unter sich) beliebig
erhöhen, herabsetzen, verändern können, da-
gegen mit Wirkung gegen Dritte die Ein-
lage weder ganz noch teilweise zurOckbe-
zahlt oder erlassen werden darf (§ 172
Abs. 3), und andererseits eine zum Handels-
register nicht angemeldete Erhöhung der Be-
teiligung als ein rein innerer Vorgang Rechte
für Dritte nicht begründen kann (§ 17*2 Abs. 2).
so ergiebt sich, dass zwischen der Beteiligung
im Verhältnis zu den Gesellschaftern und
der Haftung gegen Dritte keine Kongruenz
zu bestehen braucht. Einlage, Beteiligung,
Kax^italanteil, kommen nur im Verliältnis zu
den Gesellschaftern, die Haftsumme nur im
Verhältnis zu den Gläubigern in Betracht.
Regelmässig werden alleraings Einlage imd
Haftsumme gleich sein ; denn der Kommandi-
tist muss, faUs es erforderlich wird, die
ganze Haftsumme, auch wenn sie grosser
als die versprochene Einlage ist, den Ge-
sellschaftern zur Befriedigung der Gläubiger
zur Verfügung stellen, und andererseits
können sich die Gläubiger an den ganzen
Kapitalanteil des Kommanditisten, auch
wenn er ^össer als die Haftsumme ist
halten, weil er einen Bestandteil des Ge-
sellschaftsvermögens bildet (sogen, unper-
sönliche Haftung). Hieraus erklärt es
sich, dass das Handelsgesetzbuch zwischen
Haftsumme und Einlage nicht unterscheidet,
sondern die Haftung des Kommanditisten
auf seine Einlage beschränkt Für die
wissenschaftliche Analyse aber ist die Unter-
scheidung beider Begriffe wesentlich. Das
neue H.Or.B. nennt die Einlage ^die be-
dungene Einlage« (§ 167 Abs. 2 ; 169 Abs. 1),
die Haftsumme dagegen »die eingetragene
Einlage« (§ 172 ff.).
2. Die Haftsumme ist die zum Handels-
Handelsgesellschaften (Formen)
1013
register angemeldete Summe, welche zwar
eingetragen, aber sonderbarer Weise nicht
öffentlich bekannt gemacht wird (§ 162
Abs. 2). Zu einer Veränderung derselben
genügt eine Yereinbarung unter den Gesell-
schaftern nicht, sondern es muss die Er-
höhung oder Herabsetzung der Siunme im
Handelsregister eingetragen werden;
eine Herabsetzung ist hinsichtlich der be-
reits begründeten^ erbindlichkeiten wirkungs-
los; Die Zuiückzahlung oder der Erlass der
Einlage bewirkt daher keine Verminderung
der Haftsumme (§ 172 Abs. 3 und 4; § 174),
der Kommanditist haftet vielmehr mit der
im Handelsregister eingetragenen Summe,
soweit er dieselbe nicht zum Gesellschafts-
fonds eingezahlt hat (§ 171 Abs. 1). Auch
eine verschleierte Zurückgabe der einge-
zahlten Haftsumme durch Auszahlung von
Zinsen und angeblichen Gewinnen, bewirkt
keine Verminderung der Haftpflicht des
Kommanditisten, es sei denn, dass er diese
Beträge auf Grund einer in gutem Glauben
errichteten Bilanz in gutem Glauben be-
zogen hat. § 172 Abs. 5.
3. Die Haftung des Kommanditisten be-
steht gegenüber dem Gläubiger. .Wenn ein
Gläubiger die Haftpflicht geltend maclit, so
übt er nicht ein Recht der Gesellschafter,
sondern ein eigenes Recht aus; Einreden
aus dem Rechtsverhältnisse zwischen dem
Kommanditisten und den Gesellschaftern
können ihm daher nicht entgegengesetzt
werden. Im Gegensatz zum stillen Gesell-
schafter haftet der Kommanditist den Gläu-
bigern der Gesellschaft bis zur Höhe seiner
Einlage unmittelbar. Diese im früheren
Recht bestrittene Frage ist durch das neue
H.G.B. § 171 Abs. 1 in diesem Sinne ent-
schieden worden. Der Gläubiger kann vom
Kommanditisten Befriedigimg verlangen. Der
Kommanditist wird aber von seiner Haftung
frei, soweit er die Haftsumme an die Ge-
seDschaft gezahlt hat. Er kann daher noch
während des Prozesses bis zum Urteil seine
Venurteilung dadurch abwenden, dass er die
noch rückständige Haftsumme in die Kasse
der Gesellschaft einzahlt. Der Gläubiger,
der gegen ihn klagt, kann ihn hieran nicht
hindern. Auch kann der Kommanditist einen
anderen Gläubiger der Gesellschaft als
den Kläger befriedigen und dadurch sich
von der Haftung befreien. Diese unmittel-
bare Befriedigimg der Gesellschaftsgläubiger
durch den Kommanditisten verträgt sich
schlecht mit dem Gnindsatz, dass der Kom-
manditist von der Geschäftsführung ausge-
sclüossen ist; denn die Zahlung einer Ge-
sellschaftsschuld ist ein Akt der Geschäfts-
führung. Für den Fall, dass über das Ver-
mögen der Gesellschaft der Konkurs eröffnet
worden ist, ist auch der Grundsatz, dass
der Kommanditist von dem einzelnen Gesell-
schaftsgläubiger in Anspruch genommen
werden kann, beseitigt. Während der Dauer
des Konkurses kann der Kommanditist nur
von dem Konkursverwalter auf Einzahlung
der noch rückständigen Haftsumme in die
Konkursmasse in Anspruch genommen
werden (§ 171 Abs. 2).
4. Ausser durch die Eintragung einer Er-
höhung der Haftsiunme in das Handels-
register wird die Haftung des Kommandi-
tisten auf die erhöhte Summe dadurch er-
streckt, dass die Erhöhung in handelsüb-
licher Weise kundgemacht oder den Gläu-
bigern in anderer Weise von der Gesell-
schaft mitgeteilt worden ist (§ 172 Abs. 2).
Ob die Erhöhung der Haftsumme zugleich
mit einer Erhöhung der Einlage verbunden
ist oder nicht, ist im Verhältnis zu den
Gläubigern unerheblich.
Die Vorschrift des alten H.G.B.'s (Art.
168), dass ein Kommanditist, dessen Name
in der Firma der Gesellschaft enthalten
ist, den Gesellschaftsgläubigern gleich einem
offenen Gesellschafter haftet, ist in das neue
H.G.B. nicht aufgenommen worden.
11. Anflösnng der GeseUschaft. a)
Die AuflÖBungsgründe. 1. Kraft Ge-
setzes wird die Gesellschaft aufgelöst
durch die Eröffnung des Konkurses über
die Gesellschaft, durch die Eröffnung des
Konkurses über das Vermögen eines der
Gesellschafter und durch den Tod eines der
Gesellschafter, wenn nicht der Vertrag be-
stimmt, dass die Gesellschaft mit den Erben
des Verstorbenen fortbestehen soll (H.G.B.
§ 131 Ziff. 3—5). 2. Durch üeberein-
kunft der Gesellschafter. Dieselbe
kann während des Bestehens der Gesell-
schaft zu jeilem beliebigen Zeitpunkt ge-
troffen werden ; es kann aber auch gleich
bei der Errichtung der Gesellschaft ein End-
termin vereinbart werden (H.G.B. § 131,
Ziff. 1 und 2). Jede Uebereinkunft dieser
Art kann aber von den Gesellschaftern, so
lange die Gesellschaft noch fortdauert, ab-
geändert oder wieder aufgehoben werden,
und dieser Wille kann auch dadiu-ch (er-
kennbar werden, dass die Gesellschafter trotz
des Eintritts des vereinbarten Endtermins
das Gewerbe unter gemeinsamer Firma fort-
betreiben ^ die Handelsgesellschaft »still-
schweigend fortsetzen« (§ 134). 3. Auf
einseitiges Verlangen tritt die Auf-
lösung ein, wenn ein Gesellschafter kündigt ;
die Kündigung kann, wenn die Gesellschaft
für unbestimmte Zeit eingegangen ist, nur
für den Sehluss eines Geschäftsjahres er-
folgen und muss, wenn nicht anderes ver-
einbart ist, mindestens 6 Monate vor Ablauf
des Geschäftsjahres stattfinden. Auch ein
Privatgläubiger eines Gesellschafters kann
die Auflösung der Gesellschaft behufs seiner
Befriedigimg verlangen, wenn er, nachdem
1014
Handelsgesellscliafteü (Fonnen)
innerhalb der letzten 6 Monate eine Zwangs-
vollstreckung in das bewegliche Yermögen
des Gesellschaftei^ ohne Erfolg versucht
ißt, auf Grund eines nicht bloss vorläufig
vollstreckbaren Schuldtitels die Pfändung
und Ceberweisung in das seinem Schuldner
bei der dereinstigen Auflösung der Gesell-
schaft zukommende Guthaben erwirkt. Die
Aufkündigung muss mindestens 6 Monate
vor Ablauf des Geschäftsjahres geschehen
(H.G.B. § 135). Das Recht des Privat-
gläubigers geht aber streng genommen nicht
auf Auflösung, sondern auf Ausantwortung
des Geschäftsanteiles seines Schuldners;
das Recht fällt also fort, wenn der Gläu-
biger bezahlt wird oder wenn die Gesell-
schafter ihm den Geschäftsanteil seines
Schuldners auszahlen, trotzdem aber die Ge-
sellschaft fortsetzen. 4. Durch gericht-
liches Urteil kann die Gesellschaft auf-
gelöst werden, wenn es ein Gesellschafter
aus wichtigen Gründen verlangt (§ 133
Abs. 1). Die Beurteilung, ob solche Gründe
anzunehmen sind, ist dem Ermessen des
Richters ül)erlassen ; das H.G.B. führt § 133
Abs. 2 als solche Gründe insbesondere an,
wenn ein anderer Gesellschafter eine ihm
obliegende wesentliche Verpflichtung vor-
sätzlich oder aus grober Fahrlässigkeit ver-
letzt oder wenn die ErftÜlung einer solchen
Verpflichtung unmöglich wii^d. Das Recht
des Gesellschaftei*s, die Auflösung zu ver-
langen, kann nicht durch Vereinbai-ung aus-
geschlossen oder beschränkt werden. § 133
Abs. 3.
Für die Kommanditgesellschaft
gelten dieselben Regeln, mit der Ausnaiime,
dass der Tod eines Kommanditisten die
Auflösimg der Gesellschaft nicht zur Folge
hat (H.G.B. § 177).
b) Das Austreten einzelner Ge-
sellschafter. Die Auflösung der Gesell-
schaft kann eine teilweise sein, d. h. sich
auf ein oder mehrei^e Mitglieder besclu-änken,
während die übrigen den Gewerbel)e trieb
unter gemeinsamer Firma fortsetzen. Als-
dann muss sich der austretende Gesellschafter
damit begnügen, dass er seinen Anteil am
Gesellscliaftsvermögen in einer den AVert
desselben dai-stellenden Geldsumme erhält;
auch nimmt er an der Abwickelung der
noch schwebenden Geschäfte keinen Teil
B.G.B. § 738—740. Dies kann eintreten:
1. Wenn die Gesellschafter vor der Auf-
lösung der Gesellschaft übereingekommen
sind, dass ungeachtet des Todes oder des
Konkurses oder des Ausscheidens eines oder
mehrerer Geseliscliafter die Gesellschaft
unter den übrigen fortgesetzt werden soll
(§ 138). 2. Wenn ein Privatgläubiger eines
Gesells<-hafteis von seinem Aufkündigungs-
rechte Gebrauch macht und die übrigen
Gesellschafter auf Grund eines einstimmigen
Beschlusses die Gesellschaft fortsetzen und
dem Gläubiger den Vermögensteil des
Schuldners auszahlen. Der letztere ist als-
dann mit dem Ende des Geschäftsjahi-es als
aus der (jeseUschaft ausgeschieden zu be-
trachten (§ 141). 3. Wenn die Gesellschafter
aus Gründen, welche in der Person eines
Gesellschaftei-s liegen, nach § 133 ein Recht
auf Auflösung haben, so kann anstatt der-
selben auf Ausschüessimg dieses Gesell-
schafters erkannt werden, sofern die sämt-
lichen übrigen G^seUscliafter hierauf an-
tragen (§ 140). Auch wenn die Gesellschaft
nur aus zwei Pei'sonen besteht und in der
Person eines der beiden Gesellschafter die
Voraussetzungen bestehen, aus welchen die
Ausscliliessung eines Gesellschafters zu-
lässig ist, kann der andere Gesellschafter
auf seinen Antrag vom Gericht für berech-
tigt erkläil werden, das Geschäft ohne
Liquidation mit Aktiven und Passiven zu
übernehmen. § 142. Eine Gesellschaft
kann zwar in diesem Falle selbstverständ-
lich nicht fortbestehen, aber die Auseinander-
setzung unter den Gesellschaftern kann in
derselben Weise wie im Falle der Aus-
schliessung eines Gesellschafters erfolgen^).
Besondere Verhältnisse ti^ten ein, wenn
im G(»sellschaftsvertrage bestimmt ist, dass
im Falle des Todes eines Gesellscliaftei-s
die GeseHscliaft mit dessen Erben fortge-
setzt werden soll. Eine solche Vertragsbe-
stimmung geht über das Gebiet des Ver-
mögensrechts hinaus; der offene Handels-
gesellschafter ist Kaufmann und zur Ge-
scliäftsführung verpflichtet ; die Bestimmung
schi'eibt daher dem Erben einen Beruf vor.
Dies kann mit anderen Beruf spfUchten und
den Lcbensverliältnissen des Erben üi un-
vereinbarem Widerspruch stehen ; man kann
seinen Erben nicht in dieser Art in seiner
persönlichen Freiheit beschränken. Anderer-
seits kann die Beteiligung an dem Gewerbe
sowohl für den Erben als auch für die Ge-
sellschaft von gi'ossem Wert sein ; es würde
daher zu weit gehen, wenn man eine solche
Vertragsfestsetzung für unwirksam erklären
wollte. Das neue H.G.B. § 139 hat die
Schwierigkeit in der Weise gelöst, dass der
Erbe sein Verbleiben in der GeseUscliaft
davon abhängig machen kann, dass er die
Stellung eines Kommanditisten erhält. Der
auf ilm fallende Teil des Kapitalanteils
seines Erblassers wird seine Kommanditeiu-
lage, imd der Anteil des Ei-blassers an Ge-
wiim und Verlust geht nach Massgabe
seines Erbanteils auf ihn über. Diesen
») Tu den Eutsch. des R.O.H.G. XI S. 160 ff.
und des R.Ct. VII Ö. 121 ff. ist dieser Gesichts-
pimkt nicht gewürdigt worden ; das neue H.G.B.
; hat die Frage im oben angegebenen Sinne aus-
drücklich entschieden.
Handelsgesellscliaften (Formen)
1015
Vorschlag muBS der Erbe den Gesellschaftern
innerhalb ehier Frist von drei Monaten nach
erlangter Kenntnis von dem Anfall der Erb-
schaft machen. Nehmen die (jesellschafter
den Vorsclilag nicht an, so ist der Erbe be-
fugt, ohne Einhaltung einer Kündigungs-
frist aus der Gesellscliaft auszuscheiden.
Lässt der Erbe die dreimonatliche Frist
verstreichen, ohne den Antrag zu stellen, so
tritt er als offener Handelsgesellschafter in
die Gesellschaft ein. Durch den Gesell-
ßchaftsvertrag können diese Rechte dem
Erben nicht entzogen werden; jedoch kann
fttr den Fall, dass er die Stellung eines
Kommanditisten beansprucht, sein Gewinn-
anteil anders als der des Erblasser bestimmt
werden.
c) Die Wirkungen der Auflösung.
Die Auflösung ist keine Beendigung
des Gesellßchafts Verhältnisses, sondern des
Geisel Ischaftszwecks, des gemeinschaft-
lichen Gewerbebetriebes. Die Auflösung
ist ein Wendepunkt in der Gesamt-
dauer der Gesellschaft, die Wirkung des
Gesellschaftsvertrages nimmt von jetzt ab
eine andere Richtimg. Bis zum Moment
der Auflösung geht sie auf die Ent Wicke-
lung des Gewerbes, von da ab auf die Ab-
wickelung desselben. Die wirkliche Be-
endigung ei-folgt erst durch die Erfüllung
der societätsmässigen Pflichten und durch
Aufteilung des gemeinschaftlichen Ver-
mögens, cl. h. durch Zurückführung der im
Gesellschaftsfonds gebundenen Vermögens-
anteile der Gesellschafter oder ihrer Rechts-
nachfolger in freies Privatvermögen. Auch
im Zustand der Auflösung ist die GeseU-
schaft keine communio incidens, sondern eine
vertragsmässige Gemeinschaft, \md die
Pflichten der Gesellschafter zur Leistung
von Einlagen, zur Geschäftsfühnmg, das
Konkurrenzverbot etc. können ebenso fort-
dauern wie die Ansprüche auf Gewinnan-
teile, die Vertretuugsbefugnis etc. Das
Rechtsverhältnis unter den Gesellschaftern
richtet sich nach ihren Vereinbarungen, und
dieselben können im ursprünglichen Gesell-
schaftsvertrage auch für die Zeit nach Ein-
tritt eines Auflösungsgnindes getroffen wer-
den; im allgemeinen aber gilt der Grund-
satz, dass diese Vereinbarungen mit Rück-
sicht auf den Gewerbebetrieb getroffen sind
und daher im Zweifel mit der Beendigung
des letzteren zu gelten aufhören.
Die Verwandlung des Gesellschaftsver-
mögens in ein zur Verteilung geeignetes
Kapital kann in sehr mannigfacher Art er-
folgen; von praktischer Bedeutimg sind
namentlich folgende 3 Wege : 1. Vermittelst
des Konkursverfahrens, wenn die Auf-
lösimg der Gesellschaft infolge der Konkurs-
eröffnung erfolgt ist oder wenn nach Auf-
lösung der Gesellscliaft die Zahlungsunfähig-
keit oder Ueberschuldung des Gesellschafts-
vermögens eintritt (H.G.B. § 145, Konk.-O.
§ 209 ff.). In diesem Falle ist die Handels-
gesellschaft nicht nur aufgelöst, sondern
auch sogleich beendigt. 2. Ohne Auf-
lösung des Handlungsfonds, indem
entweder ein Mitglied oder ein Fremder das
Gesellschaftsvermögen im g-anzen über-
nimmt und die Gesellschafter oder deinen
Rechtsnachfolger abfindet ; regelmässig setzt
der Uebernehmer des Fonds den Gewerbe-
betrieb fort. 3. Durch Liquidation,
d. h. durch Abwickelung der im gesell-
schaftlichen Gewerbebetriebe entstandenen
Rechtsverhältnisse und durch Auflösimg des
Handlungsfonds. Dieser FaU ist der regel-
mässige; er wird daher im H.G.B. als die
Rechtsfolge der Auflösung behandelt; den
Gesellschaftern steht es aber frei, einen
anderen Weg der Auseinandersetzung zu
vereinbaren. § 145 Abs. 1.
d) Eintragung in das Handels-
register. Die Auflösung der Gesellschaft
und das Austreten eines Gesellschafters
sind in das Handelsregister einzutragen; es
sind jedoch folgende Unterscheidungen zu
machen: 1. Tritt die Auflösung infolge der
Konkurseröffnung ein, so hat der Gerichts-
schreiber den Eröffnungsbeschluss unter
Bezeichnung des Konkursverwaltern der mit
Führung des Handelsregisters betrauten Be-
hörde einzureichen (Konk.-0. § 112). Eine
Anmeldepflicht der Gesellschafter besteht
nicht. Die Eintragung beschränkt sich auf den
Vermerk der Konkurseröffnung. 2. Wenn
die Auflösung erfolgt ohne Beendigimg des
Gewerbebetriebes, so ist ausser der Auf-
lösung auch die Art und Weise, in welcher
das Gewerbe fortgeführt wird, im Handels-
register ersichtlich zu machen, insbesondere
im Firmenregister der Kaufmann, der das
Geschäft übernimmt, einzutragen. Wenn
ein Gesellschafter austritt oder ausgeschlossen
wird und noch wenigstens 2 Mitglieder
übrig bleiben, so ist lediglich das Austreten
des Gesellschafters einzuti-agen (H.G.B. § 143
Abs. 2). 3. Erfolgt die Auseinandersetzung
durch Liquidation, so müssen ausser der
Auflösung auch die Liquidatoren, d. h. die
fortan zur Vertretung der Gesellschaft be-
fugten Personen, eingetragen werden (§ 148).
Hinsichtlich der Eintragung wird der üeber-
gang der GeseDschaft in das Stadium der
Liquidation ebenso behandelt wie die Er-
richtung einer neuen (Liquidations-) Gesell-
schaft. 4. Die Anmeldepflicht haben alle,
aucli die von der Geschäftsführung oder
Vertretung ausgeschlossenen und auch die
aus der Gesellschaft ausscheidenden Gesell-
schafter. Im Falle des Todes eines Gesell-
schaftei-s kann die Eintragung erfolgen, aucli
ohne dass die Erben bei der Anmeldung
mitwirken, soweit einer solchen Mitwirkung
1016
Handelsgesellschaften (Formen)
besondere Hindernisse entgegenstehen. § 143
Abs. 3 § 148 Abs. 1. 5. Für den Zeitpunkt,
mit welchem das Gesellschaftsverhältnis
unter den Gesellschaftern aufhört, ist die
Eintragung in das Handelsregister gänzlich
unerheblich. Dieser Zeitpunkt bestimmt
sich, abgesehen von dem FaUe des Kon-
kurses, in erster Reihe nach ihrer üeberein-
kunft; in Ermangelung einer solchen be-
stimmt er sich nach der die Auflösung
herbeiführenden Thatsache. Im FaUe der
Ausschliessung eines Gesellschafters ist für
die Auseinandersetzung zwischen ihm und
der Gesellschaft die Vermögenslage der
Gesellschaft in dem Zeitpimkte massgebend,
in welchem die Klage auf Ausschliessung
erhoben ist. § 140 Abs. 2. Einem Dritten
kann dagegen die Auflösung der Gesell-
schaft, wenn sie im Handelsregister nicht
eingetragen ist, nur dann entgeg*en gesetzt
weKlen, wenn der Beweis geführt wird, dass
er diese Thatsache gekannt hat (H.G.B. § 15
Abs. 3).
12. Liquidation^). Während des
Stadiums der Liquidation besteht die Han-
delsgeseDschaft noch fort, aber nicht mehr
zum Zwecke des Gewerbebetriebes 2). H.G.B.
§ 156. Vgl. B.G.B. § 730 Abs. 2. Daraus
ergeben sich zwei weitreichende Gnmdsätze.
Es bleiben diejenigen Rechtssätze in Geltung,
welche durch das Bestehen eines abge-
sonderten, gemeinschaftlich verwalteten, ein-
heitlichen Gesellschaftsvermögens gegeben
sind; dagegen verändern sich diejenigen
Rechtssätze, welche darauf beruhen, dass
ein gemeinschaftlicher Gewerbebetrieb statt-
findet.
I. Der erste dieser beiden Grundsätze
ist im § 156 des H.G.B. anerkannt; die
Vorschriften des 2. und 3. Titels finden An-
wendung, soweit sie nicht ausddicklich ab-
geändert sind oder aus dem Wesen der
Ijiquidation sich eine Abweichung ergiebt.
Daraus folgt: 1. Auch während der Li(jui-
dation können Einlagen, sowohl quoad
substantiam als quoad usum zum Gesell-
schaftsfonds gemacht werden. Die oben
(sub 4) entwickelten Grundsätze finden da-
rauf volle Anwendung. 2. Die Gesellschaft
behält ihre Firma, jedoch mit dem Zusatz
»in Liquidation« (i. L.) (§ 153), ihre Nieder-
lassimg, ihren Gerichtsstand ; es können für
*) A. Nöldeke, Die Fortdauer der offenen
Handelsgesellschaft während der Liquidation,
Strassb. 1887. 0. Franken, Die Liquidation
der offenen Handelsgesellschaften, Stuttgart 1890.
*) Insoweit man die Abwickelung eines Ge-
werbes noch als einen Bestandteil des Gewerbe-
betriebes ansehen darf, ist auch bei der Handels-
gesellschaft in Liquidation da« Erfordernis des
Gewerbebetriebes vorhanden, nur nicht in seiner
wirtschaftlichen produktiven Funktion. (Vgl.
R.O.H.G. Bd. 3 S. 361 ft",).
dieselben Prokuren und Handlungsvoll-
machten erteilt werden; die Vorschriften
über Buchführung und Inventar bleiben in
Geltung. Hinsichtlich der Bilanz tritt je-
doch die Aendenmgein, dass sie nicht jälirlich^
sondern bei dem Beginne sowie bei der Be-
endigung der Liquidation aufzulialten ist
§ 154. 3. Die Regeln über die Kapital-
anteile der Gesellschafter und über die
Fortschreibung derselben durch Anteile am
Gewinn und Verlust, Einlagen und Ent-
nahmen kommen unverändert zur Anwen-
dung, indem die Ergebnisse der Liquidation
wie die eines Geschäftsjahres beliandelt
werden. Dagegen hört die Befugnis der
Gesellschafter, den Gewinnanteil des letzten
Jahres zu entnehmen, auf; Gelder, welche
zur Deckung der Gesellschaftsschulden und
zur Ausgleichuing der Ansprüche unter den
Gesellscliaftern erforderüch sind, werden
zurückbehalten und entbehrliche Gelder vor-
läufig verteilt (§ 155 Abs. 2). 4 Die R e g e 1 n
über den Ausschluss der Beschlagnahme,
Pfändung, Kompensation und über die ab-
gesonderte Befriedigung der Gesellschafts-
gläubiger gelten auch während der Liqui-
dation. 5. Dasselbe gilt von den Regeln
über die Aufnahme eines neuen Gesell-
schafters, über die Beteiligung eines
Fremden an dem Geschäftsanteil eines Ge-
sellschafters und über das Ausscheiden
eines Gesellschafters. 6. Die Haftung der
Gesellschafter für die Gesellschaftsschulden
wird durch die Auflösung der Gesellschaft
nicht berührt.
II. Eine Abänderung erfahren da-
gegen folgende Regeln : 1. Das Konkun-enz-
verbot tritt ausser Kraft i). Dies folgt aus
dem Zweck der Liquidation. 2. Das Recht
und die Pfhcht jedes einzelnen Gesellseliaf-
ters zur Gescliäftsführung und Alleinver-
tretung hört auf; an seine Stelle tritt der
Satz, dass alle Gesellschafter zusammen die
Liquidationsgeschäfte führen und Kollektiv-
vertretimg haben. Ist einer der Gesell-
schafter gestorben, so haben dessen Rechts-
nachfolger einen gemeinschaftlichen Vertre-
ter zu^ bestellen (§ 146 Abs. 1). Ist über
das Vermögen eines Gesell schaftei-s der
Konkurs eröffnet, so tritt der Konkui-sver-
walter an die Stelle des Gesellschafters (§ 146
Abs. 3). Da infolge der Kollektiv Vertretung bei
jedem Geschäfte stets sämtliche Gesellschaf-
ter zusammenwirken, giebt es keine von den
Gesellschaftern verechiedene »Liquidatoren«,
welche die Gesellschaft vertreten, luid eben-
sowenig eine i-echtlich wirksame Besclirän-
kung des Geschäftskreises der Liquidatoren.
3. Durch übereinstimmenden Beschluss der
Gesellschafter kann dies abgeändert werden
entweder in der Art, dass jeder einzelne
') R.O.H.G. Entsch. XXI S. 144.
Handelsgesellschaften (Formen)
1017
Gesellschafter zur GescMftsführung nnd
Verti-etung befugt ist, oder in der Art, dass
einem oder einigen Gesellschaftern oder
fremden Personen die Liquidation übertra-
gen wird (§ 146 Abs. 1). Mehrere Liqui-
datoren haben die Geschäfte gemeinschaft-
lich zu führen imd Kollektivvertretung
(§ 1 50). Auch die Abberufung eines Liqui-
dators setzt einen einstimmigen Beschluss
aller Gesellschafter voraus (§ 147). 4. Auf
den Antrag eines Gesellschafters oder des
Gläubigers, durch welchen die Kündigung
erfolgt ist, kann aus wichtigen Gründen die
Ernennung von Liquidatoren diu*ch das Ge-
richt erfolgen und das Gericht kann auch
solche Personen zu Liquidatoren ernennen,
welche nicht zu den Gesellscliaftem gehören ;
ebenso kann das Gerictit auf den Antrag
eines Gesellschafters aus wichtigen Gründen
Liquidatoren abberufen (§ 146 Abs. 2, § 147).
0. Die Liquidatoren haben die laufenden
Geschäfte zu beendigen, die Verpflichtungen
der aufgelösten Gesellschaft zu erfüllen, die
Forderungen derselben einzuziehen und das
Vermögen der Gesellschaft zu versilbern.
Ziu' Beendigung schwebender Geschäfte
können die Liquidatoren auch neue Geschäfte
eingehen. Im Verhältnis zu den Gesell-
schaftern haben diese Sätze nur dispositive
Bedeutung; einstimmigen Anordnungen der
Gesellschafter müssen die Liquidatoren,
auch wenn sie vom Gericht bestellt sind^
Folge leisten (§ 152). Die Liquidatoren sind
Beauftragte der Gesellschafter und haften
den letzteren für die Ausführung des Auf-
trages nach Massgabe des bürgerlichen
Rechts. 6. Dritten Personen gegenüber sind
die Liquidatoren befugt, in dem angegebenen
Umfange die Gesellschaft gerichtlich und
aussergerichtlich zu vertreten. Der Umfang
dieser Verti-etungsbefugnis kann nicht wirk-
sam Ijeschränkt werden (§ 151). Im übrigen
gelten von den Liquidatoren dieselben Ee-
gehl wie von den Prokuristen (§§ 148, 153).
13. Die Beendigung der H. Die Be-
endigung der Gesellschaft erfolgt diuxih die
Auseinandersetzung unter den Gesell-
schaftern, welche die Liquidatoren vorzube-
reiten und herbeizuführen haben. Es kom-
men dabei folgende Rechtssätze in Betracht:
1. Die Gesellschafter liaben an den einzelnen
zimi Gesellschaftsfonds gehörenden Wert-
objekten keinen Anteil und ebensowenig
einen Anspruch auf Zurückgabe der von
ihnen zu Eigentum eingebrachten Sachen.
Gegenstände, die ein Gesellschafter der
Gesellschaft zur Benutzung überlassen hat,
sind ihm zm-ückzugeben. Er trägt an die-
sen Gegenständen die Gefahr des Unter-
ganges und der Verschlechterung (B.G.B.
§ 732). Die Ansprüche der (resellschafter
bestehen vielmehr in den Geldsummen,
welche sich aus den über ihie Geschäfts-
anteile geführten Reclmungen ergeben.
Wenn sämtliche Schulden der Gesellschaft
bezahlt oder durch zurückbehaltene Geldbe-
träge gedeckt und alle Aktiva auf Geld re-
duziert sind, so muss der Gesellschaftsfonds
in einer Summe bestehen, welche gleich ist
der Summe der Saldi, mit welchen die
Kapitalconti der Gesellschafter abschliessen.
Wenn jedes Conto einen Aktivsaldo auf-
weist, so vollzieht sich die Auseinander-
setzung dadiu-ch, dass jedem Gesellschafter
dieser Betrag ausgezahlt wird (H.G.B. § 155
Abs. 1). Entsteht über die Verteilung des
Vermögens Streit unter den Gesellschaftern,
so haben die Liquidatoren die Verteilung
bis zur Entscheidung des Streits auszusetzen
(§ 155 Abs. 3). 2. Wenn einige oder alle
Gesellschafter einen Passivsaldo haben, so
können sie die völlige Auseinandersetzung
dadurch herbeiführen, dass jeder den Betrag
seines Saldos zum Gesellschaftsfonds ein-
zahlt. Nach § 735 des B.G.B. sind die Ge-
sellschafter verpflichtet, wenn das Gesell-
schaftsvermögeu zur Berichtigung der ge-
meinschaftlichen Schulden und ziu* Rücker-
stattimg der Einlagen nicht aiisreicht, für
den Fehlbetrag nach dem Verliältnis aufzu-
kommen, nach welchem sie den Verlust zu
tragen haben. Die Pflicht, für diesen Be-
trag »aufzukommen«, ist aber nicht gleich-
bedeutend mit der Verpflichtung, ihn ziun
Gesellschaftsfonds einzuzahlen. Was die
Rechte der Gläubiger anlangt, so können
die einzelnen Gesellschafter abwarten, ob
und inwieweit ein Gläubiger sie in Ansprach
nehmen wird; unter den Gesellschaftern
aber ist die Auseinandersetzung beendigt
durch die Feststellung des auf jeden
einzelnen Gesellschafter entfallenden Aktiv-
oder Passivsaldos. Die Regressforderung
eines Gesellscliafters gegen den anderen
gehört zu dem freien Privatvermögen und
wird durch das ehemalige Gesellschafts Ver-
hältnis, aus dem sie hervorgegangen ist,
nicht mehr beherrscht. Geltendmachung,
Tilgung, Sicherung, Einreden etc. bestim-
men sich lediglich nach den besonderen
Vereinbarungen und Verhältnissen, die zwi-
schen dem Berechtigten und dem von ihm
in Anspruch genommenen einzelneu Gesell-
schafter bestehen, nicht nach dem die Ge-
samtheit der Gesellschafter umfassenden
Societäts Verhältnis, welches für die Fest-
stellung, aber nicht darüber hinaus, mass-
gebend ist. 3. Die Schlussabrechnung
unter den Gesellschaftern ist der Rechtsakt,
durch welchen die Beendigung der Gesell-
schaft erfolgt. Dieselbe ist ein Akt der
Gesellschafter oder ihrer Vertreter und
Rechtsnachfolger, nicht der Liquidatoren.
Dieselben haben zwar, da ihnen die gesamte
Buchführung obliegt, die Schlussabrechnung
thatsächlich (kalkiüatorisch) herzustellen und
1018
Handelsgesellseliaften (Formen)
den Rechtsakt unter den Gesellschaftern
herbeizuführen; der Rechtsakt selbst aber
besteht in der Anerkennung der Abrech-
nung seitens sämtlicher Gesellschafter. Diese
Erklärung des Konsenses über die definitive
Auseinandersetzung ist der dem Abschluss
des Gesellschaftsvertrages entsprechende Fi-
nalakt. Zu unterscheiden hiervon ist die
Rechnung, welche die Liquidatoren über
ihre Verwaltung den Gesellschaftern legen,
und die Entlastung, welche sie zu bean-
spruchen liaben. 4. Die Abrechnung hat die
dargelegten Wirkungen nur dann, wenn sie
in Wahrheit eine Schlussabrechnung ist.
Wenn die Liquidation nicht alle aus der
(jesellschaft hervorgegangeneu Rechtsver-
hältnisse erledigt hat, so kann noch eine
»XacliHquidation<: und eine Nachtragsab-
rechnung erforderlich werden. 5. Nach der
Beendigung der Liquidation ist die Finna
der (resellschaft im Handelsregister zu
löschen. Die Li(püdatoren sind verpflichtet
zur Anmeldung (§ 157 Abs. 1). 6. Die
Bücher und Papiere der Gesellschaft bleiben
gemeinschaftliches Eigentum der Gesell-
schafter und deren Rechtsnachfolger, und
jeder derselben behält das Recht auf Ein-
sicht und Benutzung. W^em die Bücher
imd Schriften in Verwahrung gegeben wer-
den sollen, ist durch übereinstimmenden
Beschluss der Gesellschafter, in Ermange-
lung einer solchen durch das Gericht, in
dessen Bezirke die Gesellschaft ihren Sitz
hat, festzustellen (§ 157 Abs. 2, 8).
14. Verjährnng der Kla^^en liegen
die Gesellschafter. Die Solidarhaft der
Gesellschafter wird weder durch die Auf-
lösung der Gesellschaft oder das Ausscheiden
eines Gesellschafters noch durch die Aus-
einandersetzung der Gesellschafter berührt;
sie erlangt aber eine veränderte that-
säch liehe Bedeutung durch das Aufhören
des persönlichen Zusammenarbeitens der
Gesellschafter im Gewerbebetrieb und durch
die Auflösung des Gesells(jhafts Vermögens.
Dazu kommt, dass die 30 jährige Verjäh-
rungsfrist für die aus dem Betriebe emes
Haudelsgewerbes hervorgehenden Verbind-
lichkeiten überhaupt unangemessen ist. Das
H.G.B. hat daher zum Schutz der Gesell-
schafter und deren Erben eine fünfjährige
Verjährung eingeführt, über welche folgende
Regeln gelten: 1. Sie betrifft die Klagen
gegen einen Gesellschafter aus Verbindlich-
keiten der Gesellschaft, d. h. alle Kla-
gen, welche gegen die Firma der Gesell-
schaft gerichtet werden konnten, ohne
Unterschied, ob der Anspruch vor der Auf-
lösung oder während der Liquidation ent-
standen ist. Diese fün^'ährige Verjährung
betrifft dagegen nicht: a) Ansprüche, |
w^elche nur aus dem Gesellschaf tsver mögen
befriedigt werden sollen, so lange solches '
noch ungeteilt vorhanden ist, denn ^die
fünfjährige Verjährung bezieht sich über-
haupt niu' auf die Befriedigung aus dem
Privat vermögen der Gesellschafter«:. (Denk-
schrift z. Entw. des neuen H.G.B. S. 110.)
b) Klagen eines Gesellschafters gegen einen
anderen auf Grund der Auseinandersetzung,
Abfindung, Regresspflicht etc. 2. Die fünf-
jälirige Verjährung tritt nicht an die Stelle
derjenigen Verjähnmg, welcher die Fonle-
ning nach ihrer Beschaffenheit imterliegt,
sondern neben dieselbe. Der Gesellschafter
kann sich auf diejenige der beiden Verjäli-
rungen beinifen. welche für ihn die günsti-
gere ist, sei es rücksichtlich des Zeitab-
laufs, sei es hinsichtlich der Voraus-
setzungen (§ 159 Abs. 1). 3. Die Verjähnmg
beginnt mit dem Tage, an welchem die
Auflösung der Gesellschaft oder das Aus-
scheiden des Gesellschafters aus derselben
in das Handelsregister eingetragen ist
(§ 159 Abs. 2). In diesem Falle hat daher
die Eintragimg eine Bedeutung, die ihr
sonst nicht zukommt. Die unterlassene
Einti'agung kann nicht ersetzt werden durch
den Nachweis, dass der Gläubiger trotzdem
die Auflösung gekannt habe, und die er-
folgte Eintragung muss sich der Gläubiger
entgegenhalten lassen, wenngleich er Vm-
stände nachweist, aus denen sich ergiebt,
dass er sie weder gekannt hat noch habe
kennen müssen. W^ird die Forderung erst
nach der Einti-agung des Ausscheidens oder
der Auflösung fällig, so beginnt die Frist
mit dem Zeitpunkt der Fälligkeit (§ 159
Abs. 3). 4. Die Verjährung zu Gunsten
eines Gesellscliaftei-s wird nicht unterbrochen
durch Rechtshandlungen gegen einen ande-
ren Gesellschafter (B.G.B. § 425 Abs. 2).
Dagegen wirkt die Unterbrechung der Ver-
jährung gegenüber der aufgelösten Gesell-
schaft (durch Rec'htsakte gG^en die Li«iui-
datoi-en) auch gegenüber den Gesellschaftern,
welche der Gesellschaft zur Zeit der Auf-
lösung angehört haben (g 160). 5. Ueber
die Voraussetzungen, die Unterbrechung und
die Wirkungen der fünfjährigen Verjähnmg
hat das H.G.B. im übrigen keine Bestim-
mungen getroffen ; in allen diesen Beziehun-
gen kommt daher das bürgerliche Redit
zur Anwendung.
15. Das Verhältnis des neuen H.G.B.
zum früheren Recht.^) 1. Für die unter
der Herrschaft des alten H.G.B. entstandenen
Handelsgesellschaften bleiben die Vei-ein-
bariHi gen der Parteien und die bisherigen
Gesetze in Kraft, insoweit sie ein »Schuld-
verhältnis« lyeti-effen (Art. 170 des Einf.-Ges.
zum B.G.B.). Dies ist der Fall hinsichtlich
') Vgl. K. Lehmann in der Zeitschr. f.
H.R. Bd. 48 S. 1 ff. und P a p p e n h e i m in
Gruchots Beiträgen Bd. 42 S. 309 flf.
Handelsgesellschafton (Foniien — ^Yolkswirtschaftliche Bedeutung)
1019
des Verhältnisses der Oesellschafter zu ein-
ander. H.Ü.B. § 109 erklärt die Anord-
nungen des zweiten Titels ausdriicklich für
dispositives Recht. Denigeniäss bleiben hin-
sichtlich der älteren Gesellschaften in Kraft
die dispositiven und ergänzenden An-
ordnungen des früheren Rechts über Ersatz
von Aufwendungen, über Eiulaften, das
Konkurrenzverbot, das Recht zur Geschäfts-
führung und Vertretung, über die Befugnis
zur Konti'olle, über Gewinn- und Verlust-
verteilung, über das Recht zur Entnahme
von Geld aus der Geschäft^kasse, über die
Auflusungsgründe , die Kündigungsfristen
und die Liquidation, soweit dabei das Ver-
hältnis unter den Gesellschaftern in Frage
kommt. Wenn nach dem 1. Januar 190(J
der Vertrag abgeändert oder durch eine
neue Vemnbanuig ersetzt wird, so kommen
die disjwsitiven Vorachriften des neuen H.G.B.
und ß.G.B. zur Anwendung.
2. Dagegen kommt das neue Recht auch
bei den vor dem 1. Januar 1900 errichteten
GovSellschaften zur Anwendung auf die
Rechtsverhältnisse der Gesellschaft zu dritten
Personen, soweit sie unter der Herrscliaft
des neuen Gesetzes begründet werden, ins-
besondei'e hinsichtlich der Wirkungen der
Vertretung, der Haftung, des Kündigimgs-
rechts eines Privatgläubigers. Hinsiclitlich
der Verjährung sind die Gnmdsätze, welclie
Art. 169 des Einf.-Ges. zum B.G.B. enthält,
zur Anwendung zu l)ringen. Ferner treten
für alle Gesellschaften in Kraft diejenigen
Vorsdiriften , welche auf Gründen der
öffentlichen Ordnung. Wohlfahrt und guten
Sitte beruhen. Dahin gehören die Vor-
schriften über die Buchführung, Bilanzauf-
stellung, über die Pflicht zur Anmeldung
zum Handelsregister, ilber die Eintragungen
und Löschungen in dem Handelsregister
und über die Firma. Jedoch ist nach Art.
22 des Einf.-Ges. zum H.G.B. die Fortfüh-
rung der eingetragenen Firma gestattet, so-
weit sie nach den bisherigen Vorsclmften
geführt werden durfte. Auch § 139 über
das Recht des Erben, der Gesellschaft als
Kommanditist anzugehören, ist zu diesen
Vorsclmften zu rechnen. Endlicli kommen
aDgemein zur Anwendimg die Vorschriften,
Anschütz, die systematiarhen Darstellungen von
Tfiöl f JlandeUr, /, ^ SS ff. — Behrend,
HaudeUr. ^ 6Sff. — Lästig in Endemaniut
Ifandb. I, ^ 74 ff besonders ^ SO ff. — Oierke,
Die (Je.nossenschaftstheorie und die deutsche
Rechtssprechung, 1SS7, S. 435 ff. — reh*>r die
dogmatischen Grundbegriffe rergJ. iMbaftd^
Zeitschr. f. Ifandelsr., Bd. SO, S. 469 ff., Bd. Sl,
tS. Iff. und Adler, Zur Entwlckelungsgeschichte
und Dogma tik des Geseüschaftsrechls , Berlin
ISÜö. — Aus der Litteratur über die Kom-
ma n d it g e s e 1 1 s c h aft sind hervorzuheben die
Monographie von Henaud, ISSl. — Wendt
in Endemanns ITandb. I, S. 428 ff. — Ehren-
berg, Beschrfinkte Haftung des Schuldners, S.
'i22ff. — Sehivalh^ Zeitschr. f. Handelsr., Bd.
S4f S. SJS ff. — lieber die geschichtliche
Entirickelung der Handelsgesellschaft giebt
es eine besondere sehr umfangreiche Special'
litteratur, aus irehher hen'orragen EndemanUf
Studien 2, S. d41ff^ (dogmenge^chichtlich)., —
E. A, O. Schmidt f Handelsgesellschaften in
den Deutschen StadtrechtsqucUen des Mittel-
alters, ISSS. — M. Weber, Zur Geschichte der
Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach süd-
europäischen Quellen, 1SS9. — Pappen -
heim in der Zeitschr. f. Handelsr., Bd. 36, S.
Soff, (altnordisch). — Gold^chmidt* Hand-
buch des Handelsr., 3. Anß., IS 91, I, 1, S. 2ö4 f.
(romanische Rechtsbildu ngj. Auf die a us-
ländische, namentlich die französische und ita-
lienische Litteratur kann hier nicht eingegangen
werden. Auch das neue H.G.B. hat bereits
zahlreiche Erörterungen gefunden. Aus ihnen
sind besonders hervorzuheben die vorzüglichen
Erläuterungen in den Kommentaren von Stuub
(6. w. 7. Aufl.) und von Däringer u. Hachen~
bürg und die Darstellung von Cosackf Lehrb.
des Handelsr., 4. Aufl. 1S9S, S. o2Sff.
P. Laband,
IL
Yolkswirtsehaftliche Bedeutung der
Handelsgesellschaften.
1. Begriif und Arten. Juristische und na-
tionalökonomische Begriffsbestimmungen. 2. Ge-
schichtliches. 3. Wirtschaftliche Bedeutung
der H.
1. Begriff und Arten. Juristische
und nationalökonomische Begriffsbe-
stimmungen. Eine Handelsgesellschaft ist
eine Verbindung mehrerer Personen zum
welche den Konkui-s der (Gesellschaften und , Betriebe von Handelsgeschäften, und zwar
das \ erfahren der Gerichte sowohl m f,^^^^ ^,^ goi^i^^^ Betrieb regelmässig unter
streitigen Sachen als in Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit betreffen.
Litteratur: Die Litteratur ist so umfangreich,
dass sie hier nicht zusammengestellt tr erden kann ;
sämtliche Kommentare zum H.G.B., sämtliche
Lehrbücher und Handbücher des Handels-
rechts, die meisten Lehrbücher des deutschen
Priratrechts und eine grosse Menge von Ab-
handlungen und Monogi^tphifcn müssten aufge-
zählt werden. Von hervorragender Bedeutung
gemeinsamer Firma sowie auf gemeinsame
Rechnung statt, ; indes wiuxlen fi'üher manche
Unternehmungen zu den Handelsgesellschaf-
ten gerechnet, bei denen diese letzten zwei
Merkmale nicht immer zutrafen.
Die Einteilung der Handelsgesellschaften
in die Hauptformen der offenen, der
Kommandit- und der Aktiengesell-
schaft ist zwar durch die kommerzielle
zwar
für das frühere Recht sind die Erörterungen in \ Praxis gescliaffcn, aber ei^St durch Rechts-
den Kommentaren von v. Hahn und von' wisscuschaft und Kodifikation des Handels-
1020
HandelsgeseUschaften (Volkswirtschaftliche Bedeutung)
rechts scharf ausgebildet worden. Demge-
mäss sind die Merkmale der einzelnen (je-
sellschaftsarten bisher meist nach juristi-
schen Gesichtspunkten festgestellt worden.
Man imterscheidet in der Regel : die o f f e n e
Handelsgesellschaft, bei der jeder
Gesellschafter mit seinem ganzen Vermögen
fiu- die Gesellschaftsschulden haftet; die
Kommanditgesellschaft, bei der ein
Teil der Gesellschafter (die Kommanditisten)
nur mit einer bestimmten Vermögensein-
lage, ein anderer Teil dagegen (die persön-
lich haftenden Gesellschafter oder Kom-
plementare) mit dem ganzen Vermögen
haftet; endlich die Aktiengesellschaft,
bei der jeder Gesellschafter nur mit seiner
Einlage für die Gesellschaftsschulden haftet
Diese Begriffsbestimmungen sind in
wirtschaftlicher Hinsicht nicht brauch-
bai-, w^eil sie eine nicht notwendige Folge
zum charakteristischen Merkmale erheben
woUen. Die Haftung der Gesellschafter ist
je nach Zeit und Land bei der gleichen
Art von Handelsgesellscliaften ganz ver-
schieden geregelt woixlen, w^ie denn z. B.
in England bei der Aktiengesellschaft die
beschränkte Haftung erst im Laufe der Zeit
das vorhen^chende Princip geworden ist.
Wirtschaftlich entscheidencf sind ^'ielmehr:
Art der Beteiligimg von Kapital und Arbeit,
sowie die dadurch hervorgerufene Vertei-
lung von Gewinn und Verlust. Nur wird
man freilich, wie überhaupt bei solchen
wirtschaftlichen Begriffsbildungen , darauf
verzichten müssen, alle Einzelfälle mit zu
umspannen, da für irrationelle Erscheinungen
des Lebens Begriffsbestimmungen nicht mög-
lich sind.
Bei der offenen Handelsgesell-
schaft sind sämtliche Gesellscliaf ter sow^ohl
mit Kapital wie auch — dem Wesen der
Unternehmungsform nach — mit Arbeit be-
teiligt. Demgemäss participieren sie nach
Verhältnis ihrer Einlagen an dem gesamten
Unternehmergewinn uud haben den ganzen
Verlust nach Verhältnis ihrer Einlagen zu
tragen, wobei auch ihr gesamtes nicht in
die Gesellschaft eingebrachtes Vermögen für
<lie Deckung etwaiger Verluste aufkommen
uiuss. Die uubescliränkte Haftung für die
Gesellschaftsschulden ist lediglich eine Folge
dieser Verpflichtung.
Bei der Aktiengesellschaft dagegen
sind principiell — von Ausnahmefällen ab-
gesehen — sämtliche Gesellschafter nur mit
Kapital, nicht mit Arbeit beteiligt. Sie
können demgemäss auch nicht den ganzen
Unternehmergewinn unter sich verteilen, >
sondern müssen einen Teil desselben und zwai* i
den Entgelt für die Leitung des Unter- ,
nehmens, an die Dii-ektoren überlassen, so
dass sie auss<T dem Kapitalzins nur die |
Prämie für das Kaiütalrisiko behalten, j
Den etwaigen Verlust tragen sie nur bis
zur Höhe ihrer Einlagen. Kommen indes
hierbei Rechte Dritter (der Gläubiger) in
Frage, so kann sehr wohl unbeschränkte
Haftimg aller Gesellschafter zulässig sein.
Bei der Kommanditgesellschaft
endlich sind die persönlich haftenden Ge-
sellschafter in derselben Lage wie die Teil-
haber einer offenen Handelsgesellschaft, die
Kommanditisten dagegen in derselben Lage
wie die Teilhaber einer Aktiengesellschaft.
Die Kommanditgesellscliaft ist demnach nur
eine Mischform aus den beiden anderen Ge-
sellschaftsarten.
2. Geschichtliches. Die Komman-
ditgesellschaft reicht mit ihren Wur-
zeln ins Altertum zurück, da bereits bei den
Römern ein »societätsmässig modifiziertes«
depositum irregiüare (die ^»Bankcommenda«
Goldschmidts) vorkommt. Aehniiche Unter-
nehmungen begegnen wir auch bei Byzan-
tinern und Arabern. Im Mittelalter ist
sodann die Commenda (von commendare =
anempfehlen, anvertrauen) sowohl in roma-
nischen wie auch später in germanischen
Ländern die wichtigste Gesellschaftsform.
(Deutsche Synonyma: Sendeve, Wedderle-
ging, Furlegung.) Bei der Commenda gab
ein in der Heimat ziu^ückbleibender Kapi-
talist, der wohl ein Kaufmann, sehr häufig
aber auch ein Nichtkaufmann, z. B. ein
Edelmann oder Geistlicher sein konnte,
Waren oder Geld an einen selbständigen
oder unselbständigen Gescliäftsmann — im
letzteren Falle war es ein »Faktor«, (s. d.
Ai-t. Faktoren, Faktoreien oben Bd. HI
S. 789 ff.) — , damit derselbe mit dem anver-
trauten Gute überseeische, später auch
binnenländische Geschäfte machen solle
(l)ortat laboratum trans mare oder in terra;
ai laborandum et ex causa laborandi et
negociandi in aile et mereantiae lanae
u. s. f.). Die Commenda kam ebensowolü
als Gelegenheitsgesellschaft für eine einzelne
Reise vor, wie auch, namentlich später als
ein Verhältnis von längerer Dauer, dann
aber in der Regel eng verknüpft mit der
offenen Gesollschaft, derart, dass die Teil-
haber der letzteren ihre auswärtigen Fak-
toren diu-ch Commenda an Gewinn und Ver-
lust beteiligten.
Die offene Gesellschaft ist wahr-
scheinlich aus der Familie herausge-
wachsen. Der Familiencharakter ist bis ins
16. Jahrhundeil: und darüber hinaus deut-
lich erkennbiu". Zuerst sclieint sie im (xe-
werbe Anwendung gefunden zu liaben: in-
des begegnet sie auch im Handel der Mittel-
meerstaaten mindestens schon im 18. Jahr-
hundert. Die offenen (reseUschaften dieser
älteren Zeit hatten oft zahlrei(*he Teilhaber,
die meist miteinander verwandt oder ver-
schwägert waren. Die Gesellschaftsverträge
Handelsgesellschaften (Yolkswirtscliaftliche Bedeutung)
1021
wurden in der Regel (nicht immer) unter
gemeinsamer Firma mit solidarischer, meist
auch unbescliränkter Haftung aller Gesell-
schafter auf bestimmte Zeit abgeschlossen
und nach deren Ablauf, oft unter Ausschei-
dung einzelner imd Hinzuziehung anderer
Teilhaber, erneuert. Der erfahrenste, tüch-
tigste Gesellschafter übernahm die Haupt-
leitung des Geschäfts mit mehr oder weni-
ger ausgedehnten, wohl gar mit ganz unbe-
schränkten Befugnissen. Abrechnung erfolgte
in der Regel nach einigen Jahren oder nach
Ablauf der Yertragszeit, worauf der etwaige
Gewinn, soweit er nicht schon vorher von den
Teilhabern behoben worden wai* oder weiter
stehen bleiben sollte, ausgeschüttet wurde.
Auch die Aktiengesellschaft reicht
mit ihren Wurzeln weit zurück. Aus Ge-
nossenschaften mit Beteiligung der Genossen
an Arbeit und Kapital, wie ursprünglich bei
der Bergbaugesellschaft und bei der
Schiffsreederei, entstanden allmählich reine
Kapitalgesellschaften. Völlig hatten diesen
letzteren Charakter schon die mittelalter-
lich-italienischen Monti, Steuerpacht-Gesell-
schaften von Staatsgläubigern, und die ähn-
lichen Genueser Maonae, welche ganze
Kolonieen verwalteten. Wieder aus anderen
Elementen entstanden im Anfange des 17.
Jahrhunderts die ersten modernen Aktien-
gesellschaften, die oatindischen Handels-
kompagnieen der Engländer und Nieder-
länder. Ihre Wiurzeln lassen sich in Eng-
land bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts
zurückverfolgen, wobei eine Mischung der
Kapitalgesellschaft mit demokratischen gil-
denartigen Einrichtungen noch geraume Zeit
erkennbar bleibt, während in den Nieder-
landen anfangs die an die Commenda er-
innernde Einteilung der Gesellschafter in
Haupt- und Unterbeteiligte hervortritt, welche
erstere die Leitung allein in Händen hatten.
In beiden Ländern ist eine Anlehnung an
die alte Reedereigesellschaft unverkennbar
und ebenso an die auch schon früher vor-
kommenden Handelsgesellschaften für ein-
zelne Unternehmungen (die »Spekulations-
vei*eine« des heutigen Rechts), welche in
Frankreich als »societ^s anonymes« noch im
17. Jahrhundert die Hauptart der Kapital-
gesellschaft bildeten. Indem die Aktienge-
sellschaft alle diese ihr ursprünglich anhaf-
tenden fremden Elemente absti-eifte, ent-
wickelte sie sich seit dem Ende des 17.
Jahrhunderts zu einer Gesellschaftsart von
ausserordentlicher Brauchbarkeit für zahl-
reiche gewerbliche und kommerzielle Zwecke.
Vgl. den Art. Aktiengesellschaften
oben Bd. I S. 143 ff.
3. Wirtschaftliche Bedeutung der H.
Die ungemein grrosse Bedeutung aller
Handelsgesellschaften besteht darin, dass sie
Unternehmungen ermöglichen, welche ein
einzelner nicht diu-chführen kann, sei es,
dass sein Kapital, sei es, dass seine Ar-
beitskraft, oder sei es, dass beides hierfür
nicht ausi'eicht. Dies ist der einzige grosse,
aber auch völlig durchschlagende Vorzug
aller Arten von Handelsgesellschaften, dem
indes mancherlei schwerwiegende Nachteile
gegenüberstehen.
Die offene Handelsgesellschaft steht der
Einzelunternehmimg am nächsten, die Aktien-
gesellscliaft steht ihr am fernsten. Die Kom-
manditgesellschaft nimmt eine Mittelstellung
ein.
Die offene Handelsgesellschaft
kommt am zweckmässigsten dann zur An-
wendung, wenn die Arbeitskraft (Intelligenz,
Gewandtheit etc.) eines einzelnen für den
Zweck der Unternehmung nicht genügt.
England ist hier unerreichtes Vorbild. Zwei
ganz besonders häufige und typische Fälle
solcher Art sind : 1. die Aufnahme tüchtiger
»Juniorpartner« in ein altes Geschäft und
2. die Leitung entfernter Filialen oder be-
sonderer grosser Geschäftszweige durch
selbständige Gesellschafter. Auch wenn ein
Gesellschafter von vornherein nur Kapital,
der andere nur Arbeit einbringt — was
eigentlich dem Wesen der offenen Handels-
gesellschaft widerspricht — können doch
beide Teile eine Zeit lang ihre Rechnung
finden: sobald indes der arbeitende Gesell-
schafter selbst genug Kapital und Kredit
erworben liat, vi-ird er wohl in der Regel
bestrebt sein, die Gesellschaft zu sprengen,
was auch sonst leicht durch Uneinigkeit ge-
schehen kann. Gegenüber der Einzelunter-
nehmung bildet das einen wesentlichen
Nachteil, ebenso die Schwächung der ein-
heitlichen Leitung, der Verantwortlichkeit
und demgemäss auch der Wirtschaftlichkeit,
die grossere Schwerfälligkeit u. w. d. g.
Bei der Kommanditgesellschaft
ist in der Regel von vornherein auf der
einen Seite Kapitalmangel, auf der anderen
der Wunsch nach höherer Verzinsung eines
Kapitals das Motiv der Gesellschaftsbildung.
Besonders mittelgrosse Unternehmungen,
ferner solche, bei denen es darauf ankommt
hohe Leistungen ungewöhnlich begabter Ge-
schäftsleiter entsprechend zu belohnen, aber
auch das Risiko grösstenteils auf deren
Schultern zu legen, also z. B. Unterneh-
mungen, die starken Konjunktm^en unter-
worfen sind, eignen sich für die Komman-
ditgesellschaft. Doch ist dieselbe nur dann
mit Nutzen anwendbar, wenn die persönlich
haftenden Gesellschafter ein ungewöhnlich
hohes Mass von Vertrauen bei den Kom-
manditisten geniessen, da die Versuchung
zur Uebervorteilung derselben gross ist und
auch die Selbsthaftung der Komplementare
nicht dieselbe Garantie guter, vorsichtiger
1022 Handelsgesellschaften (Yolkswirtschaftlidie Bedeutung) — Handelskammern
Geschäftsfühnmg giebt wie bei der offenen i ganisation ; c) Aufgaben und Befugnisse. 4. Die
Handelsgesellschaft. ' H. und G. in den Mederlanden. ö. Die H. und
Bei der Bildung von Akliengesell- i ?• jP.^er Schwdz. 6. Die H in Grossbri^^^
Schäften ist das wichtigste und jedenfaUs '• ^'^^- m Frankreich, a) Gegchicbte : bjOr-
das am meisten be^chtige Moti^J das Be- 1 r^ ^^l V^^^!" ^^fTTs^lfel
streben, für grosse Unternehmungen rasch a) Geschichte; b) die dermaligen H. 10. Die
entsprechende Kapitalien zu beschaffen. I h. und G. in Portugal. 11. Die H. in Belgien.
zu
Die Aktiengesellschaft hat noch andere gute
Eigenschaften, denen sich aber hier beson-
ders viele unerwünschte Nebenwirkungen
beigesellen, die oftmals selbst schon hei der
Entstehung der Gesellschaft das Hauptmotiv
bilden. Hierüber vgl. den Art. Volks-
wirt sc haftliche Bedeutung der Ak-
tiengesellschaft oben Bd. I S. 174ff.
Litteratnr: Die juristische Litteratur ist sehr
gross, die natio7ialökonomische winzig klein, ab-
gesehen von dem, was neuerdings über die
Akt.-G. geschrieben worden ist. Ich nenne nur:
Kuntze, Frincip und System der Handelsge-
sellschaften (Zeitschr. f. Handelsrecht, Bd. VI,
S. 177 ff.). — Auerbach f Das OeseüschafUi-
wesen in juristischer und volkswirtschafü. Hin-
sicht, Frankfurt a. M. 1861. — Schäfße, Die
Anwendbarkeit der verschiedenen Unternehmungs-
Jornien (Zeitschr. /. d. ges. StacUsw., 1869, S.
261 ff.). — Endenianttj Die Eniwickelung der
Handelsgesellsckafteu, Berlin 1867. — Derselbe,
Studien in der romanisch-kanoni^t. Wirtschafts-
und Rechtslehrc, Berlin 1874, Bd. I, S. S41ff.
— Lastig in d. Handb. d. deutschen Handels-,
.SVf- und Wechsclrechts, herausgegeben von Ende-
mann, Leipzig 1881, Bd. I, S. 810 ff. — Roschet^'
StiecLa, Oek. des Handels- und Gewerbeßeisses,
S. 187 ff. — G, Cohn, System IJI, 101 ff. —
12. Die H. und G. in Rumänien. 13. Die H.
in der Türkei. 14. Die kaufmännische Inte-
ressenvertretung im übrigen Europa. 15. Die
H. in aussereuropäischen Ländern. 16. Die
Auslandshandelskammem .
1. Allgemeines. Als das Innungs- und
Zunftwesen dem Verfalle und der Entailung
sich zuneigte, immer breitere Scliichten der
Bevölkerung an Handel und Gewerbe tliätigen
Anteil nahmen und bei der fortschreitenden
Entwickelung des Staates das Staatsbürger-
tum der ständischen Gliederung gegenüber-
gestellt wurde, fiel den Regierungen immer
mehr die Aufgabe zu, auf die Förderung des
materiellen Wolües der Bürger selbst un-
mittelbaren Einfluss zu üben. Sollte der-
selbe zu einem gedeilüichen Ergebnis führen,
war es unerlasslich , aus den Kreisen der
zunächst durch die Massnahmen der Re-
gierung Betroffenen fachkundigen Beirat zu
holen, und so stellte sich auch das Bedürf-
nis heraus nach offiziellen begutachtenden
Vertretungskörpern von Handel und Gre-
werbe, denen mehr oder minder gi'osser
Einfluss auf Gesetzgebung und Verwaltung
des Staates eingeräumt wurde. Aber auch
commerciales en France et d FStranger. —
Deloison, Tratte des societcs commerci/zles.
Paris 1882. — ^yegen der Aktiengesellschaften
vgl. d. ArL oben Bd. I S. 161, 168, 178, 189,
200 u. s.f. — Für die Geschichte d. H.-G.:
Renaud, Das Hecht der Kommanditgesellschaft, Handel Und Gewerbe selbst empfanden es,
1881. — Lescoeur, Legislation des «oW<'V^ j ^ass den Anfoi-deruiigeu einer richtigen Ver-
tretung ihrer gemeinsamen Interessen bei
der Staatsverwaltung nicht mehr die ein-
zelnen Gremien und Innungen genügen
könnten, sondern zu einer wirksamen Dui*ch-
t, 1.^1^* IT 1 , it i .'s ■ j 7.1.. Setzung ihrer Anliegen nur auf breiterer
ScnmiaU Handelsqesellschajten in den deutschen ' d • r u * t/-- u xa ■ ^
stadtrechuqueilen d. MUtelalters (Gierkes Unters, 1 ^^^ aufgebaute Körperschaften geeignet
z. deutschen Staats- und Rechisge^chichu, XV), \ «^len. So entwickelten sich mit dem Eni-
Breslmi 1888. — Silberschmidt, Die Commenda 1 dringen freiheitlicher Auscliauungeu bei
in ihrer frühesten Entwickelung bis zum IS. ! Regelung des Gewerbewesens in den ver-
Jahrhundert, I884. — Weber, Zur Geschicfue ' scliiedeuen Staaten die heutigen Handels-
der Handelsgesellschaften im Mittelalter, Stuttgart kammern auS ähnlichen, bereits im 17. JalU'-
1889. — Lehmann, Geschicluliche Entwickelung hundert in Frankreich (s. unten S. lOm ent-
./.. Aktienrechts, J^^ö^- R. Ehrenberg staudenen Kori)omtionen.
Zeualter der J^ugger, 1896, I, 88 ff., 880 ff.; II, \ ^ alk^emeinen haben die Handekkam-
listor. Haujjiwerk: Gold- > ^'" aii^eraeintn nanen uie namiei^Kam-
das Interesse von Handel und In-
292 ff., 82off. — Histor. iiaujj
Schmidt, Handbuch des Handelsrechts, 1. Bd.,
1.
1.
Abt. :
Lirf,
l w irprsalgesrh ich te des Ha n delsrech ts,
S. 2.'>4ff.
Richard Ehrenberg.
Handelskammern
(Handels- und Gewerbekammern).
1. Allgemeines. 2. Die H. im Deutschen
Eeiche. a) (Teschichte; b Organi.sation; cj Auf-
gaben und Befugnisiie. d. Vie H. und (t. in
Oesterreich und Ungarn, aj Geschichte j bj Or-
, inern aas inieresse von
I dustrie , zumeist aueli des kleineren Ge-
I werbes in einem bestimmten Bezirke oder
eiiKH* Stadt wahrzunehmen, darauf bezüg-
; liehe Wihische und Anträge aus eigener
' Initiative oder über behördliche Auffonlerung
; der Verwaltung zur Kenntnis zu bringen,
sie fortlaufend über den Zustand von Handel
und Gewerbe zu informieren und die darauf
bezügliche Statistik zu fühlten. Danel»en
I sind ihnen in den verschiedenen Staaten
noch andere Aufgaben und Befugnisse zu-
geuK^ssen, und danach ist ihre Stellung und
ihr Einfluss ein verschiedener.
Handelskani meni
1023
Während sie in Grossbiitannien und den
Vereinigten Staaten lediglich freie Vereine
von Kanfleiiten und Lidustriellen bilden,
tragen sie in den Hansestädten fast den
Charakter staatlicher Behörden. Zwischen
diesen beiden Extremen liegt die Organi-
sation in den meisten übrigen Staaten, wo
ihre Eigenschaft als beratende Körperschaften
in den Vordergrund tritt, ihnen jedoch da-
neben unmittelbare Verwaltungsaufgaben zu-
gewiesen sind, wie die Besetzung von Han-
delsrichter- oderSachvei-ständigenstellen oder
die Ei'stattung von Vorschlägen hierzu, die
Ausstellung von Zeugnissen ül)er Preise,
Handelsgebräuche und zu zollamtlichen
Zwecken, die Fühning von Firmenregistern,
dann der Marken- und Musterschutzregister
(OesteiTcich und Ungarn), die Verwaltung
von Börsen (Preussen, Biayem, Hamburg,
Bremen, Triest), kaufmännischen und ge-
werblichen Anstalten und Schulen (Frank-
reich, Italien, Bayern, Sachsen, Braun-
schweig) und ein Schiedsrichteramt in Han-
delsstreitigkeiten. In manchen Staaten
(OesteiTcich , Frankreich, Spanien, Bayern,
Sachsen, Württemberg, Lübeck) sollen oder
miissen die Handelskammern auch über Ge-
setze und Verordnungen, welche Handel
und Industrie betreffen, ausdrücklich vor
deren Erlassung oder parlamentarischen Be-
handlung einvernommen w^erden, in Oester-
reich bilden sie sogar politische Wahlkörper
für Landtag und Reichsrat. Je grösser der
Kreis der durch die Handelskammern Ver-
tretenen, desto einflussreicher ist ihr Votum
luid desto leichter wird es, bereits in ihrem
Schosse einen Ausgleich widerstreitender
Interessen einzelner Gruppen vorzunehmen
und denselben nicht erst der Regierung zu
überlassen. Sollen sie ihre Aufgabe voU
erfüllen, so ist es vorerst notwendig, dass
alle Handels- und Gewerbetreibenden in
ihnen eine angemessene Vertretung finden
können, sie dürfen daher nicht bloss lokale
Vereinigungen sein, sondern sollen mit ilu^n
der wirtschaftlichen und politischen Gliede-
nmg angepassten Bezirken das ganze Staats-
gebiet umfassen (Sachsen, Bayeni, Württem-
berg, Oesterreich, Ungarn). Der Kreis der
Wahlberechtigten ist daher nicht auf die
im Handelsregister eingetragenen Firmen zu
beschränken, sondern das Wahlrecht auch
dem Krämer mid Kleingewerbetreibenden
einzuräumen, damit dieselben nicht einer
Vertretung entbehren oder sie in besonderen
Gewerbekammern oder Handwerkerkammern
(s. oben Bd. IV S. 499 ff.) suchen müssen. Die
einzelnen, im Bezirke vertretenen Interessen-
tengrup[)en sollen besondere Wahlkörper
bilden und ihnen eine ihrer wirtschaft-
lichen Bedeutung im gesamten Bezirke ent-
spn^chende Zalil von Mandaten zugewiesen
werden. Diese Gruppeneinteilung wird sich
je nach den besonderen Verhältnissen nach
dem Umfange (Gresshandel, Kaufmannschaft^
Krämer, Fabrikindustrie, Mittelgewerbe,
Handwerk) oder nach den vorheiTSchenden
Erwerbszweigen eingeben.
Ob eine Erweiterung dieser Institutionen,
welche ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung
(Handelskammern o^ler Handels- und Ge-
werbckammern) dermalen zumeist sowohl
die Interessen aller Zweige des Handels
als auch der gewerblichen Produktion im
weiteren Sinne (auch Bergbau) wahrzunehmen
liaben, durch Angliederung einer Vertretung
der landwirtschaftlichen Interessen und Aus-
bildung zu Wirtschaftskammern zweckmässig
wäi'e, steht noch offen, desgleichen, ob in
den Handelskammern auch den Arbeit-
nehmern eine Vertretung zu sichern oder be-
sondere Arbeiterkammern vorzuziehen seien.
In der jüngsten Entwickeluug der Handels-
kammern im Deutschen Reiche zeigt sich
eher das Bestreben nach Einschränkung
durch die Errichtung einer Sondervertretung
für das Handwerk.
Die Handelskammern besitzen fast überall
die Rechte juristischer Personen und sind
zumeist den Centralstellen für Handel und
Gewerbe direkt untergeordnet, welche mit
Rücksicht auf die Deckung der Verwaltungs-
auslagen der Kammern aus Öffentlichen
Mittein eine Eiuflussnahme auf deren Bud-
get besitzen. Ihr autonomer Charakter prägt
sich auch darin aus, dass sie unter einander
und mit den verscliiedenen Behörden in
direkten Verkehr treten können.
*2« Die U. iin Deutschen Reiche« a) Qe-
schiohte. Auf deutscher Erde kann die 1665
in Hamburg ins Leben getretene „Commerz-
Deputation'^ ids Vorläuferin der Handelskammern
angesehen werden; es entstanden sohin zu An-
fanfi^ des Jahrhunderts Handelskammern zuerst
in den Ländern französischen Rechts und zwar
auf Grund des Dekrets v. 24. Dezember 1802
(s. unten S. 1030). so in Köln, Krefeld, Aachen,
Eupen, Malmedy und Stx)lberg, später unter
deutscher Herrschaft 1812 in Koblenz, dann in
Wesel und Gladbach; 1830: Elberfeld, Barmen^
Düsseldorf; Mitte der 40er Jahre zu Erfurt,
Hagen und Halle. Nach der kgl. V. v. 11.
Februar 1848 sollte in Preussen für jeden
Bezirk oder Ort, wo ein Bedürfnis besteht, mit
königlicher Genehmigung und unter Berück-
sichtigung und eventuell Aufrechterhaltung be-
stehender kaufmännischer Korporationen oder
Innungen (wie in Berlin) eine Handelskammer
errichtet werden. Nach Erwerbung der neuen
Staatsgebiete wurde 1868 dem preussischen Land-
tage ein Gesetzentwurf über Handelskammern
unterbreitet, der zu dem G. v. 24. Februar 1870
führte, welches mit G. v. 19. August 181)7
novelliert wurde, nachdem der vom Handels-
minister Freiherrn v. Herlepsch am 25. März
1896 dem Abgeordnetenhause vorgelegte Ge-
setzentwurf, welcher eine gründliche Reform
und die Einführung obligatorischer Handels-
1024
Handelskammern
i
kammern beabsichtigte, trotz der BefUrwortmig
seitens der Kammern im Abgeorduetenhanse
lebhaften Widerstand fand. Nach der Novelle
bestehen dermalen 82 Handelskammern, ausser-
dem noch 7 gesetzlich anerkannte kaufmännische
Korporationen. In den: einverleibten Provinzen
waren Handelskammern entstanden in Frank-
furt a. M. (V. v. 20. Mai 1817), in Hannover
(V. V. 7. April 1866), in Nassau (V. v. 17. Oktober
1863), welche dem preussischen Gesetz von 1870
unterworfen wurden. In Sachsen bestehen
4- Handels- und Geweibekammem und. je eine
Handelskammer und Gewerbekammer zufolge
des G. V. 15. Oktober 1861 (abgeändert durch
G. V. 23. Juni 1868 und V. v. 16. Juli 1868;
ein neuer Gesetzentwurf wurde am 25. Januar
1900 den Ständen unterbreitet). Im Grossherzo^-
tum Hessen entstanden Handelskammern m
Mainz schon zu Anfang des Jahrhunderts auf
Grund französischen Rechts, dann in Offenbach
(1821), Worms (1842), Darmstadt und Bingen
(1862), Friedberg und Giessen; zuletzt geregelt
durch G. v. 27. November 1871 (Reorganisation
im Zug:e). — In Braunschweig besteht seit
11. April 1864 eine Handelskammer (umgestaltet
durch G. v. 19. März 1890 nach preussischem
Vorbilde). — Im Herzogtum Anhalt schuf das
G. V. 15. März 1889 (bezw. 5. April 1898) eine
Handelskammer. Sachseu-Meiningen hat
4 Handels- und Gewerbekammem ; Sachsen-
Coburg und Gotha hat 2 Handelskammern
G. V. 30. November 1895 und 13. Juli 1896),
chwarzburg-Sondershausen 1 Handels-
kammer (G. V. 30. Juli 1899), in beiden Reu ss
(G. V. 18. Februar 1874 und 7. August 1899),
Oldenburg (G.v. 19. Febniar 1900),Mecklen -
bürg- Schwerin und Schaumbnrg -Lippe
1e 1 Handelskammer, in Sachsen- Weimar-
Cisenach steht ein Handelskammergesetz
in Beratung. '
In Hamburg besteht die 1866 aus der
Commerz-Deputation hervorgegangene Handels-
kammer nach dem G. v. 23. Januar 1880, in
Bremen eine Handelskammer seit G. v. 21.
Februar 1854 bezw. von 1875 und 1, Januar
1894, ebenso in Lübeck seit G. v. 18. Juni
1853 bezw. 4. Februar 1867 und 21. Juni 1898 ;
Elsass-Lothringen hat 4 Handelskammern
auf Grund des G. v. 29. März 1897 und V. v.
14. April 1897 nach Aufhebung des französischen
G. v. 3. September 1851. In Bayern wurden
Handels- und Gewerbekammern durch V. v. 19.
September 1847 eingeführt und durch V. v. 2.
August 1848, dann 27. Januar 1856 und 20.
Oktober 1868 sowie 25. Oktober 1889 umge-
staltet; ihre Zahl beträgt 8. — Württemberg
besass Handels- und Gewerbekammern seit der
V. V. 19. September 1854, umgestaltet durch V.
V. 17. Februar 1858 und G. v. 4. Juli 1874 in
der Zahl von 8; durch G. v. 30. Juli 1899
wurden diese in Handelskammern umgewandelt.
In Baden führt die Handelskammer von Mann-
heim ihr erstes Privilegium auf 1728 zurück,
es bestehen seit 20. September 1862 (abgeändert
durch G. v. 11. Dezember 1878, V. v. 8. April
1879 und 28. Dezember 1886, dann G. v. 26.
April 1886 und 12. September 1898) dermalen
9 Handelskammern. Im ganzen Deutschen
Reiche bestehen 148 Handelskammern. Die im
Zuge befindliche Errichtung von Handwerker-
kammern (nach dem Reichsges. v. 26. Juli 1897)
dürfte in Bayern und Sachsen eine Aenderung
der Gesetze, betreffend die Handels- und Ge-
werbekammem, zur Folge haben. — Bezüglich
der Gewerbekammern s. d. Art. Gewerbe-
kammern a. a. 0.
b) Organisation. In Sachsen und
Bayern, wo vereinigte Handels- und Ge-
werbekammem bestehen (mit Ausnahme von
Leipzig), und in Württemberg ist das
ganze Land in Kammerbezirke eingeteilt,
die entweder schon durch das Gesetz oder
durch Verordnung bestimmt werden. In
Baden erfolgt die Errichtung von Han-
delskammern nach Erhebung der bestehen-
den Wünsche durch Anordnung des ein-
schlägigen Ministeriums; in Preussen
unterliegt die Errichtung der Genehmigung
des Handelsministers, welcher auch die
Zahl der Mitglieder und den Bezirk be-
stimmt, der sich bald nur auf eine Stadt
oder auch auf deren Umgebung oder auf
einen grösseren Umkreis erstreckt.
Wahlberechtigt sind in Preussen
die zur Gewerbesteuer veranlagten und im
Handels- oder Genossenschaftsregister ein-
getragenen Kaufleute bezw. handeltreiben-
den Gesellschaften und Genossenschaften
sowie überhaupt die Bergbaubetriebe, dann
die kaufmännisch betriebenen Zweignieder-
lassungen. Ausgeschlossen sind Reichs- und
Staatsbetriebe ; land- und foi'stwirtschaftliche
Nebengewerbe und Handw^erksgenossen-
schaften können ihre Zulassung beantragen.
(Aehnüch auch in Württemberg und
Elsass-Lothringen.) In Bayern
wählen in die Handelskammern alle im
Handelsregister eingetragenen Gewerbe-
steuerpflichtigen am Sitze der Handels-
kammer, ferner Aktiengesellschaften und
eingetragene Genossenschaften (s. a. d. Art.
Gewerbekammern, über das Wahlrecht
in diese), in Baden die Inhaber einge-
tragener Firmen, welche im Bezirke wohnen
und einen bestimmten Steuersatz zahlen,
wobei die Mindestbesteuerten auf das Wahl-
recht verzichten können (auswärtige Firmen-
inhaber wählen durch den eingetragenen
Vertreter). In Sachsen sind Wähler der
Handelskammer alle Kaufleute und Fabri-
kanten, welche mindestens 10 Thaler ordent-
liche Gewerbesteuer zahlen, 25 Jahre alt
und nicht vom Gemeindewahlrecht ausge-
schlossen sind, ferner unter gleichen Be-
dingungen die Vertreter von kommunalen
und staatlichen Gewerbsanstalten, Verkehrs-
und Montanunternehmungen. In Hessen
ist das Wahlrecht durch Eintragung im
Handelsregister und Steuerleistimg in den
ersten drei Gewerbeklassen bedingt, ebenso
in Braunschweig durch eine Gewerbe-
steuer von mindestens 86 Mark und in An-
halt durch einen Einkommensteuercensus.
Die Wahlfähigkeit hängt von dem
Handelskammern
1025
Besitze der Wahlberechtigung, einem be-
stimmten Alter (25 Jalire in Preussen, Sach-
sen, Wiirttemberg , Baden, 30 Jahre in
Bayern und Elsass-Lothringen), mehrjährigem
(drei Jahre in Bayern) selbständigem Ge-
werbebetriebe, Besitz der (deutschen) Staats-
bürgerschaft (Preussen), der bürgerlichen
Ehrenrechte und Wohnsitz im Bezirke (in
Bayern am Sitze der Handelskammer) ab.
In Preussen, Württemberg, Bayern, Baden und
Elsass-Lothringen können auch solche ge-
willt werden, welche überhaupt oder durch
eine Keihe von Jahren (Bayern) aktiv wahl-
berechtigt waren, es aber nicht mehr sind;
die Zahl dieser darf in Preussen den zehnten
Teü der Kammermitglieder, unter welche
sie nicht gezählt werden, nicht übersteigen.
Die Wahl erfolgt regelmässig durch ge-
heime Abstimmung, wobei dort, wo Handels-
und Gewerbekammern bestehen, jede Ab-
teilung für sich wählt ; die Leitung besorgen
in Bayern und Württemberg Begierungs-
kommissare, sonst von der Handelskammer
Bestellte. In Preussen entscheidet im ersten
Wahlgange al^solute, in den anderen Län-
dern relative Majorität. Sachsen kennt eine
indirekte Wahl dittch Wahlmänner, wobei
deren Zahl für die Handelskammer min-
destens doppelt so gross als die Zahl der
Mitglieder ist und erstere in räumlich ge-
trennten Abteilungen gewählt werden. In
Preussen, Bayern, Sachsen, Baden und
Württemberg giebt es ausser den regel-
mässigen Ergänzungswahlen auch ausser-
ordentliche bei Erledigung von IVIandaten,
wobei sich in Sachsen und in Württemberg
die Handelskammer (in letzterem bis zu
einem Viertel der gewälilten Mitglieder) selbst
ergänzen darf.
Die Mitgliedschaft dauert in Preus-
sen, Bayern, Württemberg, Baden, Elsass-
Lothringen, Braunschweig und Sachsen sechs
Jahre mit Neuwalü der Hälfte (bezw. des
Drittels) alle drei Jahre (bezw. zwei Jahre).
Wiederwahl ist überall zulässig.
Die Gewählten sind in Bayern, abgesehen
vom Falle der Wiederwahl, nur in besonders
erwähnten Fällen berechtigt, die Wahl abzu-
lehnen, wobei die Entscheidung über das
Ablehnungsgesuch der Kammer zusteht,
sonst besteht keine Pflicht zur Annahme.
Vielfach findet sich ein Disciplinarrecht der
Handelskammer über säumige oder un-
würdige Mitglieder (Bayern, Sachsen, Preus-
sen). Das Amt ist ein Ehrenamt. In Preussen
können die Kammern den Mitgliedern für
die Teilnahme an den Sitzungen eine den
baren Auslagen entsprechende Entschädigimg
bewilligen und weisen die Barauslagen für
Dienstreisen erstattet. (Auch in Württem-
berg.)
Die Kammern wählen den Vorsitzen-
den und seinen Stellvei-treter entweder all-
Handwörterbnch der Staatswissenschaften. Zweite
jährlich (Preussen) oder auf drei Jahre
(Bayern, Württemberg, Baden, Sachsen); in
Bayern müssen beide am Sitze der Kammer
wohnhaft sein und wird der Vorsitzende
von der Handels-, der Stellvertreter von der
Gewerbeabteihmg gewählt. Jede Kammer
bestellt einen besoldeten Sekretär (Syndi-
kus, Geschäftsführer), in der Regel ausser-
halb des Kreises ihrer Mitglieder (in Bayern
ist dies ausdrücklich vorgeschrieben "und
wird fachwissenschaftliche Bildung verlangt),
welchem die Geschäftsfühning obliegt und
das Hilfspersonal untersteht. Die Ver-
handlungen sind in der Regel öffentlich
und werden auch die Berichte über dieselben
publiziert.
Die Verwaltungskosten werden in
der Regel mangels eigener Einnahmen von
den Wahlberechtigten gedeckt und als Um-
lage eingehoben, für die in Braunschweig,
Württemberg und Baden ein Höchstaus-
mass festgesetzt ist, welches ohne ministe-
rielle Genehmigung nicht überschritten wer-
den darf; in Baj-em erhalten die Kammern
überdies Zuschüsse aus den Kreis- und
Centralfonds, in Sachsen aus Staatsmitteln,
ähnlich in Hessen und Anhalt. Die ver-
schiedenen Staatsregierungen haben sich ein
Aufsichtsrecht über die Aufstellung
des Voranschlags und die Rechnungslegung
vorbehalten. In der Anstellung und Be-
soldung von Beamten sind die Kammern
innerhib ihres Budgets nicht beschränkt.
In Preussen, Bayern ist die Regierung aus-
drücklich zur Auflösung der Kammern
berechtigt und wird auch ein Kammer-
kommissar zur Teünahme an den Sitzungen
bestellt.
In Bayern bestehen neben den Handels-
und Gewerbekammern noch Bezirks-
gremien für Handel imd Gewerbe, welche,
ähnlich wie erstere organisiert, ihnen teil-
weise unterstehen und dieselben Funktionen
für den Bezirk üben, welche den Kammern
rücksichtlich des Regienmgsbezirks obliegen.
Mehrfach abweichend sind die Handels-
kammern der Hansestädte organisiert.
Jene in Hamburg zählt 24 IVIitglieder, die
von der * Versammlung Eines Ehrbaren
Kaufmannes« auf sechs Jahre gewählt wer-
den und von denen alljährlich vier aus-
scheiden. Mitglieder dieser Versammlung
können alle im Handelsregister eingetragenen
Staatsangehörigen Geschäftsleute sein, welche
vorzugsweise Geschäfte im grossen betreiben,
und die Voretände von Aktiengesellschaften ;
sie müssen jedoch in das von der Handels-
kammer zu führende besondere Register ein-
getn^en werden. Die Wahl erfolgt geheim,
auf Grund eines Ternavorschlags der Han-
delskammer. Jedes Jahr wählt die Handels-
kammer einen Vorsitzenden und einen Stell-
vertreter, welch ersterer nach vierjähriger
AuflaRe. IV. 65
1026
Handelskammern
Bekleidimg dieser Stelle ein Jahr nicht
wieder wählbar ist. Die Handelskammer
wählt ihre Angestellten und bezieht ihi'e
Einnahmen aus verschiedenen Böi'senge-
bühren, den Gebühren für die alljährlich zu
erneuernde Eintragung in das Register der
Yersammlung eines Ehrbaren Kaufmannes
und einem Staatszuschusse (1899 65000 M.)
und hat dem Senate Rechnung zu legen.
In Bremen ist die Handelskammer
ebenfalls ein 24 Mitglieder zählender Aus-
schuss des Kaufmannskonvents; dieser be-
steht aus jenen Mitgliedern der Börse,
welche dem Senate angehören oder in die
Bürgerschaft wählbar und in eigenen Ge-
schäften als Kaufleute oder Fabrikanten
etabliert sind oder waren. Alljährlich
scheiden zwei Mitglieder, eventuell nach
dem Dienstalter, aus; wer 18 Jahre in der
Handelskammer sass, muss austreten, und
es ist Wiederwahl eines Ausgetretenen für das
nächste Mal nicht zulässig. Austritt aus
dem Konvent hat auch Austritt aus der
Handelskammer zur Folge. Zwischen Han-
delskammer und Senat vermittelt eine aus
Mitgliedern beider zusammengesetzte Be-
hörde. Zur Deckung ihrer Kosten erhält
die Handelskammer einen Staatszuschuss
von 3500 Mark; das Honorar der Syndiker
wird im Gesetzgebungsw^ege festgestellt.
Die Handelskammer in Lübeck ist in
ähnlicher Weise als Ausschuss der Kauf-
mannskorporation bestellt imd zählt einen
Präses und 20 Mitglieder mit sechsjähriger
Aratsdauer; alljährlich scheiden die drei
Aeltesten aus und sind ein Jahr nicht nieder
wählbar, mit Ausnahme des als Präses aus-
scheidenden; der Präses wird von der
Korporation auf zwei Jahre gewählt und
ist nicht sofort wieder wählbar. Alle Wahlen
vollzieht die Kaufmannschaft auf Grund
eines Ternavorschlags der Handelskammer.
Der Präsident bedarf der Bestätigimg durch
den Senat, wird beeidet und erhält einen
Ehrensold von der Kaufmannschaft, welche
auch die Kosten der Handelskammer ans
dem eigenen bedeutenden Yermögen deckt.
Die Handelskammer bestellt zwei Sekretäre.
Die zur Vertretung von Industrie und
Handel gesetzlich berufenen Körperschaften
(Handelskammern, Handels- und Gewerbe-
kammern und kaufmännische Körperschaften)
sind zusammen mit einigen freien indus-
triellen und kaufmännischen Vereinen in
dem 1861 gegründeten deutschen Han-
delstage vereinigt (das geltende Statut
stammt von 1886, eine neue Satzung ist
in Verhandlung). Die Gewerbekammern
bilden seit 1886 einen Geworbekamniertag.
c) Aufgaben und Befugnisse. Sämt-
liche Handelskammern haben die
Gesamtinteresscni des Handels und der
Industrie ihres Bezirkes walu'zunehmen, zu
veiti'eten und den Behörden auf deren An-
suchen oder aus eigener Initiative Gut-
achten zu erstatten; sie haben alljährlich
dem betreffenden Ministerium einen Bericht
vorzulegen, nach reichsgesetzlicher Voi*schrift
die Handelsrichter in Vorschlag zu bringen,
ebenso bei der Bestellung von Handels-
mäklern mitzuwirken (Preussen, Bayern),
technische und kaufmännische Sachvei'stän-
dige vorzuschlagen (Anhalt), können mit der
Verwaltung von Börsen (Reichsgesetz v. 22.
JuU 1896) und allgemeinen Handelsinstituten
betraut werden (Bayern, Sachsen, Preussen.
Hamburg, Bremen), haben an der Leitung
und Beaufsichtigung von öffentlichen An-
stalten und Einrichtimgen zur Beförderung
von Industrie imd Handel mitzuwirken
(Baden) oder sie zu unterstützen (Württem-
berg), auch Anstalten zur Ausbildung, Er-
ziehung und sittlichem Schutz der darin
beschäftigten Gehilfen imd Lehrlinge zu be-
gründen und zu erhalten (Preussen), Gutachten
über kommerzielle oder industrielle That-
sachen an Geridite zu erstatten und lokale
Handelsgebräuche festzusteUen, die Begister-
gerichte bei der Führung der Handels-
register zu unterstützen (Keichsges. v. 17.
Mai 1898), ürspningszeugnisse auszufertigen
(Preussen), statistische !N achweise zu sam-
meln unter Mitwirkung der Handel- und
Gewerbetreibenden und Gemeindebehörden
(Württemberg), endlich mit den Bezirks-
gremien Verkehr zu unterhalten (Bayern).
Einen besonderen Wirkungskreis haben
die hanseatischen Kammern. Die
Hamburger Handelskammer entsendet
Mitglieder in die Deputationen für Handel
und Schiffahrt, für indirekte Steuern, in
die Auswandererdeputation und in andei-e
Kommissionen (Verwaltung der Seomanns-
kasse etc.), schlägt Handelsrichter vor und
ernennt Sachverständige auf Antrag von Ge-
richten sowie die Besichtiger der Aus-
wandererschiffe, Schiffs-, Segel-, Tauwerk-
und Maschinentaxatoren, verwaltet die Börse
(nach der Börsenordnung v. 23. Dezember
1896), veranlasst die Kiu^notierungen und
veröffentlicht wöchentlich einen Warenpi-eis-
courant, endlich kann sie Schiedsgerichte
für Civilrechtsstreite auf Verlangen der
Parteien ernennen. Die Bremer Kammer
hat ihr besonderes Augenmerk auf alles zu
richten, was dem Handel und der Schiff-
I fahrt sowie deren Hilfsgeschäften dienlich
sein kann, wirkt mit bei der Aufstellung
von Regulativen für den Handel und Sclüff-
fahrtsbetrieb, beaufsichtigt die Börse, ver-
I üffentlicht wichtige eingehende Xachriehten,
verwaltet das Tonnen- und Bakenw^esen und
! entsendet Mitglieder in die Behönlen für
Handelshilfsgeschäfte, den Wasserschout, die
' Navigationsschule, das Lotsenwesen und das
; Auswandorerwesen : sie kann bei ilu-en Ar-
Handelskammern
•1027
beiten <lie Mitwirkung des brenoisolien
Bui-eaiis für Statistik beanspruchen. Die
Handelskammer in Lübeck fungiei-t als
Voretand der Kaufmannschaft, verwaltet
dei-en Vermögen, beaufsif.htigt die Börse,
besorgt die Verwaltung der Hafeneinrich-
timgen, bestellt die Beamten, vertritt die
Interessen von Handel, Schiffahrt und In-
dustrie des Staates, vemnstaltet kommerzielle
Missionen, erhält die Berichte der Consuln
und diplomatischen Agenten zur Einsicht etc.
Diesen drei Handelskammern ist ferner ge-
meinsam, dass sie bei allen an die Bürger-
schaft zu stellenden Anträgen (Hamburg)
oder Gesetzen (Bremen) in Handels- und
Schiffahrtsangelegenheiten um ihr Gutachten
befragt werden sollen, ja sogai* (Lübeck) bei
diesbetreffenden Staatsverträgen befragt wer-
den müßseu. Aehnliche Bestimmungen finden
sich in Sachsen, Bayern und in Baden, wo
die Handelftkammer ebenfalls vor gesetzlicher
oder behördlicher Regelung von wichtigei*en
Handel und Industrie unmittelbar betreffen-
den AngelegenheitiCn (in Elsass-Lothringen,
Bayern und Sachsen soweit thunlich) gehört
werden sollen und in Baden auch über
ministerielle Anforderung zu Beratungen
zusammentreten oder zu solchen Delegierte
entsenden können.
3« Die H« und G* in Oesterreieh und
Ungftrn. a) Qeaohichte : Seit dem Dekret
der italienischen Kegierung v. 27. Juni 1811
bestanden in den lombardisch - venezianischen
Provinzen des Kaisertums Oesterreich Handels-
kammern (Camere di commercio, arti e mani-
fatture) mit 4 — 12 Mitgliedern aus dem Stande
der Handelsleute und Fabrikanten und einem
Präsidenten. Sie hatten eine kontrollierende
Wirksamkeit als Regierungsorgane, führten die
unmittelbare Aufsicht über Handel und Manu-
fakturen, fertigten Fracbtmanifeste und Ab-
fahrtsscheine über Land- und Schiffsladungen
ans, verfassten alljährlich statistische Handels-
berichte, nahmen die Handels- und Gewerbe-
anmeldungen entgegen, wirkten bei der Stener-
bemessung mit und hatten in Mailand und
Venedig auch die Polizeiaufsicht über die Börse,
deren Beamte sie ernannten. Durch das rego-
lamento v. 21. Juli 1849 wurde ihre Organi-
sation reformiert. Das provisorische G. v. 3.
Oktober 1848 (welches ohne kaiserliche Sanktion
als Minis terial Verordnung verlautbart wurde)
bestimmte die Errichtung von Handelskammern
in den übrigen Provinzen des Kaiserstaates,
welche als beratende Institute dem Ministerium
für Ackerbau und Handel untergeordnet wurden.
Diese Handelskammern sollten insbesondere über
neue Gesetze und Verordnungen, bevor dieselben
erlassen oder die bestehenden wesentlich abge-
ändert werden, einvernommen werden, hatten
im übrigen das Vorschlagsrecht von Consuln,
Handelsagenten und Sensalen, der Errichtung
von Oonsnlaten, Börsen und öffentlichen, auf
Handel und Gewerbe beznghabenden Anstal-
ten etc. Zum Mitglied konnte jeder gross- '
jährige, im Bezirke wohnhafte, in den indus- 1
triellen und kommerziellen Wissenschaften Be- 1
wanderte gewählt werden. Zwei Drittel* der
Mitglieder mussten Gewerbe oder Handelsge-
schäfte für eigene Rechnung betreiben. Wahl-
berechtigt w^aren in Wien (wo allein eine
Kammer nach diesem Gesetze zu stände kam)
alle protokollierten Gewerbs- und Handelsleute
Niederösterreichs. Die Kosten sollten zu je Vs
von Staat, Land und Gemeinde des Standortes
gedeckt werden, welch letztere auch Lokalitäten
und Einrichtung beizustellen hat.
Das provisorische G. v. 18. März 1850 führte
unter Aufhebung des provisorischen Gesetzes
von 1848 und des regolamento von 1849 für das
ganze Staatsgebiet Handels- und Gewerbekam-
mem ein, und zwar sollten deren 26 in den Erb-
landen. 17 in den ungarischen Ländern und 17
in den lombardisch-venezianischen Provinzen
errichtet bezw. die bestehenden Handelskammern
umgestaltet werden. Dieses Gesetz entzog den
Kammern die obligatorische Einvernahme über
Gesetzentwürfe, das Vorschlagsrecht der Con-
suln, beschränkte das passive Wahlrecht auf
selbständiffen 5jährigen Betrieb oder Leitung
einer Handels- oder Gewerbsuntemehmung, wies
ihnen aber ein Schiedsrichteramt in Handels-
streitigkeiten, ausgedehntere statistische Auf-
gaben und das Vorschlagsrecht für Handels-
gerichtsbeisitzer zu, dehnte das aktive Wahl-
recht auch auf nicht protokollierte Handels-
und Gewerbetreibende aus. fixierte die Mit-
gliederzahl auf 10 — 30 (gegen 9—21), bestimmte
sowohl den gemeinsamen Wirkungskreis als
auch jenen der Handels- und Gewerbesektion
und verfügte die Deckung der Verwaltungs-
kosten durch Zuschläge zur direkten Steuer der
Wahlberechtigten. Der Ausscheidung der Lom-
bardei und dann auch Veneziens aus dem
Kaiserstaate sowie dessen Teilung in zwei
Reichshälften folgte eine Reorganisierung der
Handels- und Gewerbekammern in Oester-
reich durch das G. v. 29. Juni 1868 und in
Ungarn durch den Gesetzesartikel VI vom
Jahre 1868. Die seither in Oesterreich mannig-
fach aufgetretenen Bestrebungen nach Teilung
der Kammem bezw. Errichtung von Gewerbe-
kammern führten zu einer Auflösung sämtlicher
Kammern im Jahre 1884 und Neukonstituierung
derselben auf Grund reformierter Wahlordnungen
(s. d. Art. Gewerbekammern a. a. 0.).
Das im Jahre 1898 ins Leben getretene
neue Personalsteuerg^esetz machte eine Abände-
rung des Handelskammer^esetzes und der Wahl-
ordnungen nötig, welche im Zuge ist.
b) Organisation. Die Zahl der Han-
delskammern in Oesterreich (29) und deren
Standort ist im Gesetze vom Jahre 1868 be-
stimmt unter Berücksichtigung der nach dem
früheren Gesetz entstandenen Kammern. 11
Kammern erstrecken ihren Bezirk über ein
ganzes Kronland, die übrigen nur über Teile
eines solchen. Jede Kammer zerfällt in der
Regel in eine Handels- und eine Gewerbesektion
(einschliesslich des Bergbaues); der Handels-
minister kann jedoch auf Antrag der Kammer
auch die Bildung von anderen Sektionen für
besondere Gewerbszweige bewilligen. Die Zahl
der wirklichen Mite:lieder beträgt 16 — 48. Die
vom Handelsminister zu genehmigende Wahl-
ordnung setzt die Sektionen fest sowie die
Anzahl der selbständige Wahlkörper bildenden,
nach dem Erwerbssteuercensus eingeteilten
1028
Handelskammern
Wahlkategorieen und die von jeder derselben
zu wählende Mitgliederzahl. Die Mitglieder
werden auf sechs Jahre mit relativer Stimmen-
mehrheit gewählt, und alle drei Jahre wird die
Hälfte der Mitglieder durch Neuwahl ersetzt;
Wiederwahl ist zulässig.
Wahlberechtigt sind jene Mitglieder
des Handels- und Gewerbestandes, welche im
VoUgenuss der bürgerlichen Rechte befindlich,
im Kammerbezirke eine Handlung, ein Gewerbe
oder einen Bergbau selbständig oder als öffent-
liche Gesellschafter betreiben und jene, welche
als Vorstände oder Direktoren kommerzielle
oder industrielle Aktiengesellschaften leiten, so-
bald von diesen Betrieben der für die Wahl-
berechtigung erforderliche Erwerbssteuerbetrag,
welcher nicht geringer sein darf als der Steuer-
census für die Landtags wählen, entrichtet wird.
Die wirklichen Mitglieder müssen öster-
reichische Staatsbürger, 30 Jahre alt und im
Bezirke wohnhaft sein, dann seit mindestens
drei Jahren die Erfordernisse für das aktive
Wahlrecht besitzen.
Die Wahlen werden durch eine von der
Landesbehörde bestellte Wahlkommission unter
Vorsitz eines vom Handelsminister ernannten
Kommissärs durchgeführt, welcher Vertreter der
Kammer und des Gemeinderates am Standorte
derselben angehören und deren Entscheidungen
unanfechtbar sind. Die Kammern können
auch korrespondierende Mitglieder ausserhalb
ihres Kreises in beliebiger Anzahl wählen, die
beratende Stimme haben ; femer wählen sie all-
jährlich einen Präsidenten und einen Vicepräsi-
denten, welche der Bestätigung des Handels-
ministers bedürfen, sowie einen provisorischen
Vorsitzenden und ernennen einen fachwissen-
schaftlich gebildeten, mit dem Hechte der
Gegenzeichnung ausgestatteten Sekretär ausser-
halb des Kreises ihrer Mitglieder sowie das
Hilfspersonal ; diese Beamten sind pensionsfähig.
Der Präsident ist der gesetzliche Vertreter, für
die Geschäftsführung verantwortlich und kann
Kammerbeschlüsse sistieren unter Vorlage des
Gegenstandes an den Handelsminister.
Die Kammer hat eine Geschäftsord-
nung zu erlassen, und ihre Plenarsitzungen
sind Öffentlich; denselben ist ein vom Handels-
minister ernannter Kommissär beizuwohnen be-
rechtigt, und jeder Abstimmende kann verlangen,
dass seine Sondermeinung protokolliert werde.
Der Kosten Voranschlag wie der Bechnungsab-
schluss werden vom Handelsminist^r genehmigt
und der durch eigene Einnahmen nicht gedeckte
Betrag auf alle Wahlberechtigten nach Mass-
gabe mrer Erwerbssteuerleistung umgelegt. Die
Gemeinde des Standortes hat die Amtsräume
und die Einrichtung derselben beizustellen. Die
Handelskammern haben Portofreiheit für ihre
Korrespondenz und werden rücksichtlich der
Stempelpflicht in mancher Richtung als Be-
hörden betrachtet. Dem Handelsminister steht
die Oberaufsicht, ferner das Recht der Auf-
lösung der Kammern zu, doch sind binnen drei
Monaten Neuwahlen vorzunehmen. Einige
Kammern haben ein umfangreiches Bureau und
trotz geringer Umlage ein grosses Budget (in
Wien 60 Angestellte und 477 000 Kronen Jahres-
erfordemis).
In Ungarn bestimmt der Handelsminister
Anzahl, Sitz und Bezirk der Kammern, deren
lö bestehen. Ihre Organisation weicht darin
von der österreichischen ab, dass unter den
wirklichen Mitgliedern zwischen inneren und
auswärtigen unterschieden wird, deren Zahl in
derselben Kammer gleich sein soll. Die inneren
Mitglieder bilden in gleicher Anzahl die Handels-
und Gewerbeabteilung. Die Amtsdauer beider
Arten von Mitglieder beträgt fünf Jahre, nach
deren Ablauf eine vollständige Neuwahl der
Kammer stattfindet. Wiederwahl ist zulässig.
Für die Wahlberechtigung ist mindestens ein-
jähriger, selbständiger Betrieb von Handel oder
Gewerbe (ohne Vorschrift eines Steuercensusj
notwendig, doch haben auch Öffentliche Ge-
sellschafter, kommerzielle und technische
Direktoren das Wahlrecht. Innere Mitglieder
müssen am Sitze der Kammer wohnen. Für
fünf Jahre wird von der Kammer ein Präsident,
von jeder Abteilung ein Vicepräsident gewählt,
welch letzterer in derselben den Vorsitz führt
und erforderlichenfalls dem Turnus nach den
Präsidenten vertritt. Im übrigen stimmt die
Organisation mit jener der Österreichischen
Kammern überein.
c) Aufgaben und Befugnisse. Die
Handels- und Gewerbekammem Oestjerreichs
haben als beratende Körperschaften im allge-
meinen Wünsche und Vorschläge über sille
Handels- und Gewerbeangelegen^eiten in Be-
ratung zu nehmen und hierüber sowie über den
Zustand der Verkehrsmittel, auf Aufforderung
der Ministerien oder Landesbehörden oder aus
eigener Initiative, an die Behörden zu berichten,
über Gesetzentwürfe, welche die kommerziellen
oder gewerblichen Interessen berühren, bevor
dieselben von der Regierung zur verfassungs-
mässigen Behandlung vorgelegt werden, dann
bei Errichtung oder Reorganisation öffentlicher
Anstalten zur Förderung von Handel oder Ge-
werbe ihre Gutachten abzugeben und auf Auf-
forderimg der Regierung unter einander gemein-
same Beratungen zu pflegen. Im besonderen
liegt ihnen die Führung der Wählerverzeich-
nisse ob, dann von Nachweisungen über die
protokollierten Firmen und Handels- und Ge-
werbebetriebe des Bezirkes, der neu ange-
legten Gewerbekataster sowie der zur Handels-
und Gewerbestatistik erforderlichen Daten. Sie
bilden die Marken- und Musterregistrierungs-
ämter, nehmen Einflnss auf die Ernennung der
Handelsgerichtsbeisitzer und Schätzmeister und
die Verleihung von Hoftiteln an Handels- und
Gewerbetreibende, erteilen Certifikate über die
Leistungsfähigkeit der Offerenten für Staats-
liefenmgen, über Handelsgebräuche, in manchen
Zoll- und Steuerfragen etc., entscheiden auf
Grund besonders zu genehmigender Reglement^}
als Schiedsgerichte in Streitigkeiten über Han-
dels- und Gewerbeangele^enheiten und haben
alljährlich dem Handelsminister über den Zu-
stand von Gewerbe, Handel und Verkehr ihres
Bezirkes zu berichten sowie alle fünf Jahre
einen statistischen Bericht über die gesamten
volkswirtschaftlichen Zustände zu erstatten.
Alle Behörden, Genossenschaften, Gesellschaften,
Anstalten sowie die einzelnen Handels- und
Gewerbetreibenden sind verpflichtet, den Han-
delskammern auf deren Verlangen die erforder-
lichen Auskünfte zu erteilen, Nachweise zu
liefern und sie überhaupt zu unterstützen. Die
Handelskammer in Triest besorgt auch die Ver-
Handelskammern
1029
waJtung der dortigen Börse; die Wiener Kammer
verwaltet Stiftunjfen mit mehr als l^/g Millionen
Kronen an Kapital. Den Handels- and Ge-
werbekammem steht das Recht zu, unter ein-
ander in Korrespondenz zu treten und Dele-
gierten Versammlungen abzuhalten (solcher Han-
delskammertage wurden bisher 6 abgehalten).
Endlich wirken sie als Central- oder Filial-
komitees bei internationalen Ausstellungen und
entsenden Delegierte in den Staatseisenbahnrat,
Industrierat, Zollbeirat und andere Kollegien.
Die Sekretäre werden von Fall zu Fall vom
Handelsminister (zunächst behufs Erörterung
gewerbestatistischer Fragen) zu Sekretärskon-
ferenzeu einberufen. Die Bildung einer Central-
handelskammer für die ganze Monarchie wurde
1864 vergeblich angeregt. Die Handels- und Ge-
werbekammem bilden endlich politische
Wahlkörper und wählen nach dem G. v.
21. Dezember 1867 bezw. 2. April 1873 teils
selbständig, teils gemeinsam mit deii städtischen
Wählern Abgeordnete in den Reichsrat und
ebenso nach den Patenten v. 26. Februar 1861
in die Provinziallandtage.
Die Handelskammern in Ungarn haben
mit Ausnahme des politischen Wahlrechts ähn-
liche Befugnisse wie die Oesterreichs. Beide
Abteilungen beraten hier jedoch getrennt unter
ihren Vicepräsidenten und erstatten ihre Wohl-
meinung dem Präsidium. Beschlüsse können
nur in gemeinsamen Sitzungen gefasst werden.
Die Sekretäre halten periodisch wiederkehrende
gemeinsame Konferenzen unter Vorsitz des be-
treifenden Sektionschefs des Handelsministe-
riums ab.
4. Die H. and G« in den Niederlanden.
Hier bestanden Handels- und Gewerbekammern
seit den Zeiten der französischen Herrschaft,
welche, 182Ö und 1841 reorganisiert, durch G.
V. 9. November 18dl (mit Nachträgen v. 16.
Februar 1854, 11. August 18ö9 und 12. Juli 1873)
ihre jetzige Grundlage erhielten. Sie sollen in
allen Gemeinden, in welchen die Ausdehnung
des Handels und der Industrie nach Ansicht
der Gemeindeverwaltung es wünschenswert
macht, mit königlicher Genehmigung errichtet
werden. Wahlberechtigt sind: Volljährige,
in der Gemeinde ansässige niederländische Kauf-
leute und Gewerbetreibende, welche die bürger-
lichen Ehrenrechte geniessen, in das Patent-
register eingetragen sind und die durch die
Regierung bestimmte Steuer bezahlt haben;
wählbar ist, wer mindestens 30 Jahre alt, am
Kammersitze wohnt und mindestens fünf Jahre
Handel oder Gewerbe betrieben hat oder mit
Handelsangelegenheiten beschäftigt war. Die
Zahl der Mitglieder wird von der Regierung
bestimmt, die Amtsdauer beträgt vier Jahre,
und alle zwei Jahre wird die Hälfte der Mit-
glieder neu gewählt, während die Kammer all-
jährlich einen Vorsitzenden und seinen Stell-
vertreter bestellt, femer für drei Jahre ausser-
halb des Mitgliederkreises einen Sekretär er-
nennt, welcher beratende Stimme hat. Die
1\ Osten der Kammer werden durch die Ge-
meinde gedeckt, welcher auch Rechnung gelegt
wird. Diese Handelskammern haben emerseits
der Staats-, Provinzial- und Gemeindeverwaltung
Gutachten und Vorschläge zu erstatten durch
Vermittelung der königlichen Kommissare,
andererseits ihren Wählern jene Mitteilungen
zu machen, welche von den Verwaltungen ge-
wünscht werden oder ihnen selbst nützlich er-
scheinen. Sie können unter einander sowie mit
anderen Personen und Kollegien behufs fach-
männischer Mitteilungen und Aufklärungen in
Verkehr treten. Es T)estehen 91 Handels- und
Gewerbekammern mit 6-21 Mitgliedern. Seit
1891 ist eine Reorganisation beabsichtig, aber
nicht abgeschlossen. Es sollen 11 — 22 Distrikts-
kammern, das ganze Reich umfassend, errichtet
werden mit einem Centralbureau aus deren
Vorsitzenden; die dermaligen Kammern sollen
daneben unter Erweiterung ihrer Befugnisse
bestehen bleiben.
5« Die H. und 6. in der Schweiz« Durch
Dekret v. 19. November 1897 wurde als vor-
beratende und begutachtende Behörde der Di-
rektion des Innern, Abteilung Volkswirtschaft,
eine kantonale Kommission, genannt „Bernische
H. und G.", mit einem ständigen Sekretariate
in Bern eingesetzt. Ihre Mitglieder werden von
der Behörde (Regierungsrat, nach unverbind-
lichen Vorschlägen der wichtigeren Vereine er-
nannt); sie hat die Interessen von Industrie,
Handwerk und Handel wahrzunehmen und sich
jährlich mindest<ens zweimal zu versammeln.
Vorgänger dieser Kommission waren der „Kom-
merzienrat" und die „helvetische Handels- und
Gewerbekommission*, die ihre Geschichte bis
Mitte des 17. Jahrhunderts zurückleiten. An
anderen Orten sind freie Vereinigungen, die
sich oft auch Handelskammern nennen; neuer-
dings ist die Frage einer gesetzlichen Regelung
dieser Institutionen in Erwägung gezogen wor-
den, so von der Baseler Handelskammer 1896.
6« Die H. in Grossbritannien. Die Han-
delskammern in den vereinigten Königreichen
und den britischen Kolonieen sind freie Ver-
einigungen, welche gemäss Abschnitt 23 der
Associationsakte von 1867 als privilegierte
Korporationen ohne den Beisatz „limited" nach
Prüfung ihrer Statuten vom Handelsamte re-
gistriert werden, wodurch sie den Charakter
einer juristischen Person erhalten. Einzelne der
86 HandelskammeiTi des Mutterlandes existieren
schon seit Jahrhunderten, die Mehrzahl ist in
den letzten 40 Jahren entstanden. Die Mit-
gliedschaft wird durch hohe Jahresbeiträge* er-
worben, und es treten nicht nur die hervor-
ragendsten Kaufleute des Platzes der Handels-
kammern, sondern oft auch dem Handel Fem-
stehende statutengemäss als Ehrenmitglieder
dem Vorstände bei. Dieser wird von der
Generalversammlung, die alljährlich zusammen-
tritt und neben welcher Specialversammlungen
bestehen, gewählt, bestellt den Präsidenten und
seine Stellvertreter aus seiner Mitte, hält monat-
lich Sitzungen, führt die Geschäfte, ernennt
Beamte uud übt die nicht ausdrücklich der
Generalversammlung vorbehaltenen Funktionen
aus. Die Handelskammern sind von der Re-
gierung ganz unabhängig, haben ausnahmslos
Aufgaben allgemeiner Natur (Förderung von
Handel, Schiffahrt, Industrie etc.), befassen sich
mit Statistik imd schiedsrichterlicher Thätig-
keit in Handelsstreitigkeiten, mit der Kritik
und erforderlichenfalls Bekämpfung von Mass-
nahmen der Regierung, bringen Gesetze in
Vorschlag und vermitteln zwischen Handels-
stand und Regierung, Parlament uud öffent-
lichen Institutionen. Die meisten Handels-
1030
Handelskammera
kammern gehören der „Vereinigung der Han-
delskammern des Königreiches" an, welche all-
jährlich zweimal (in London und dann an einem
anderen Orte) die Vertreter der angeschlossenen
Handelskammern versammelt, in London ein
Bureau und einen Sekretär besitzt und deren
mehrtägige, gut vorbereitete Beratungen grosse
Bedeutung erlangt haben.
7. Die H. bi Frankreich, a) Qeschichte.
Der Rat von Marseille beschloss 1599, jälirlich
eine Kommission von vier Kaufleuten zu er-
nennen, um die Handelsangelegenheiten beson-
ders wahrzunehmen; diese Kommission wurde
später durch acht Assistenten vermehrt und
erhielt 1650 einen ständigen Sekretär. Nach
Aufhebung der Munizipalverfassung (1660) ge-
wann diese „Handelskammer" mehr und mehr
staatlichen Charakter, so dass 1753 sogar der
Intendant der Provence Vorsitzender wurde.
Die Regierung unterstützte diese Institution
und schuf nach ihrem Vorbilde durch königliche
Ordonnanz vom Februar 1700 eine Handels-
kammer zu Dünkirchen, welcher zufolge Ed. v.
30. August 1701 Handelskammern zu Lyon,
Ronen, Bordeaux, Toulouse etc. folgten. Die
Organisation dieser Handelskammern war der
Autonomie des Handelsstandes freigegeben und
nur ihre Aufgabe, als beratende Organe der
Regierung zu dienen, ausdrücklich bestimmt.
Durch Dekret v. 27. September 1791 wurden
die damals bestehenden (13) Handelskammern
aufgelöst, jedoch durch Consulardekret v. 24.
Dezember 1802 solche in deji grösseren Handels-
plätzen wieder errichtet, wobei sie mehr be-
hördlichen Charakter erhielten, ihr Wahlkörper
aus den Notübeln der Kaufmannschaft durch
die Verwaltungsbehörden gebildet und an ihre
Spitze der Präfekt oder Bürgermeister gestellt
wurde. 1832 fand eine Erweiterung des Wahl-
rechts statt, das durch Dekret v. 19. Juni 1848
allen seit einem Jahre in der Patentrolle einge-
tragenen (d. h. den gewerbesteuerpflichtigen)
Kaufleuten eingeräumt wurde. Die Dekrete v.
3. September ifel und 30. August 1852 brachten
wieder Einschränkungen des Wählerkreises, wäh-
rend die neue Republik (Dekret v, 22. Januar
1872) das Gesetz über die Wahl der Handels-
richter (21. Dezember 1871) auch für die Han-
delskammern anwendbar erklärte. Am 9. April
1898 wurde nach laugjährigen Verhandlungen
ein neues Handelskammergesetz erlassen, und
ein Specialgesetz über die Wahlen in die Han-
delskammern steht in Aussicht. (Für Algier gel-
ten noch die alten Gesetze.)
b) Organisation. Die Handelskammern
werden durch Dekret des Präsidenten der Re-
publik nach Einvernahme der lokalen und De-
partementsbehörden über Antrag des Handels-
ministers errichtet, wobei der Bezirk, welcher
ein Arrondissement oder Departement umfassen
kann, und die Zahl der Mitglieder (ohne den
Präfekten, der eine Virilstimme hat, 9 — 21; in
Paris 36) bestimmt wird. Wahlberechtigt
sind die in die ziflfermässis: beschränkte Wähler-
liste eingetragenen Kaufleute, Handelsrichter
u. s. w., wählbar: Kaufleute, Agenten, Direk-
toren (auch Kapitäne langer Fahrt), nach fünf-
jähriger Patent^teuerzahlung, wenn sie 30 Jahre
alt und im Bezirk wohnhaft sind. Die Mandats-
dauer beträijft sechs Jahre mit Drittelerneueiiing
alle zwei Jahre. Präsident und Vicepräsi-
denten werden auf zwei Jahre gewählt und sind
wieder wählbar. Korrespondierende Mit-
glieder mit beratender Stimme können bis zur
Zahl der wirklichen Mitglieder von der Kammer
gewählt werden. Dem Range nach kommen
die Handelskammern unmittelbar nach den
Handelsgerichten. Die Kosten der Handels-
kammern werden durch eine vom Handels-
minister, dem sie direkt unterstehen, zu ge-
nehmigende Umlage von den der Gewerbesteuer
Unterworfenen aufgebracht; dermalen zählt
Frankreich 117 Hanaelskammem in Europa und
6 in Algier, ausserdem Handelskammern in den
überseeischen Kolonieen. Besteht in einem De-
partement nur eine Kammer, so umfasst ihr
Bezirk dasselbe.
c) Aufgaben und Befugnisse. Die
Handelskammern haben als beratende Organe
und offizielle Vertretung des Handels und der
Industrie das Recht, aus eigener Initiative die
Wünsche ihrer Interessenten zu vertreten und
Gutachten und Berichte abzugeben, insbesondere
über die Aenderung der Handels-, Zoll- und
volkswirtschaftlichen Gesetzgebung, über Ver-
kehrstarife etc. Sie sollen befragt werden über
Errichtung neuer Handelskammern, von Börsen,
Banken, Handelsgerichten und lokalen Einrich-
tungen zur Förderung des Handels, über' Han-
delsgebräuche und über Tarife für Strafhaus-
arbeiten. Ihnen kann die Verwaltung der
Börsen und Anstalten für Handelszwecke an
ihrem Standorte (Entrepots, Handelsschulen,
Handelsmuseen oder andere öffentliche Anstalten),
welche durch specielle Abgaben der Handelsleute
erhalten oder vom Staate oder Gemeinden er-
richtet werden, übertragen werden. Sie korre-
spondieren direkt mit den Ministerien, Behörden
und unter einander, können durch ihre Präsi-
denten gemeinsame Beratungen pflegen und
haben die Verpflichtung zu jährlicher Bericht-
erstattung an den Minister. 1883 wurden nach
einem Organisationsstatut des Handelsministers
von den Handelskammern 21 Handelsmuseen
errichtet.
8, Die U. und 0. in Italien« In den
meisten Provinzen entstanden unter der fran-
zösischen Herrschaft Handelskammern. Nach
Aufrichtung des Königreichs wurden im da-
maligen Gebiete und später auch in den neu
einverleibten Teilen mit G. v. 6. Juli 1862
Handels- und Gewerbekammern (camere di
comraercio ed arti) errichtet, um die kommer-
ziellen und industriellen Interessen bei der Re-
gierung zu vertreten und zu befördern. Sie
bestehen aus 9—21 durch relative Mehrheit ge-
wählten Mitgliedfern, von denen zwei Drittel
Einheimische sein müssen und alljährlich die
Hälfte ausscheidet. Wahlberechtigt und wähl-
bar sind alle Einheimischen, welche im Bezirke
Handel, Gewerbe oder Industrie betreiben,
ausserdem Seekapitäne, Direktoren von in-
dustriellen Etablissements sowie Vorstände
von Aktiengesellschaften, endlich Fremde, welche
mindestens fünf Jahre im Bezirke Handel oder
Gewerbe betreiben. Die Handels- und Gewerbe-
kammern sollen der Regierung Vorschläge zur
Hebung des Handels und der Gewerbe machen,
alljährlich einen statistischen Bericht über deren
Zustand vorlegen, Listen der Sachverständigen
für Handelssachen und der Handelsgerichtsbei-
sitzer abfassen, die Aufsicht und die ^'erwaltung
Handelskammern
1031
der Handelsbörsen haben, die besonderen Be-
fugnisse betreflfeud Sensale, Makler nnd Sach-
verständige ausüben, die Angelegenheiten des
Seidenhandels regeln, die Aufträge des Handels-
ministeriums besorgen und demselben auf Ver-
langen Berichte und Gutachten erstatten. Sie
können Handels- und Gewerbeschulen errichten
nnd erhalten sowie Ausstellungen für ihren
Bezirk veranstalten, endlich freiwillige öffent-
liche Verkäufe übernehmen gegen eine Taxe
von ^ä®/o des Verkaufserlöses. Die Handels-
und Gewerbekammern wählen ihre Beamten und
haben das Recht, zur Bestreitung ihrer Kosten
Taxen über alle von ihnen ausgestellten Cer-
tifikate und Abgaben von allen Seeversiche-
rungen und dergleichen zu erheben sowie Zu-
schläge auf die Erwerbssteuer umzulegen und
überhaupt mit Genehmigung der Regierung die
Handels- und Gewerbetreibenden verhältnis-
mässig zu besteuern. Ihre Voranschläge und
Schlussrechnungen werden zur Genehmigung
vorgelegt. Die Zahl der Handels- und Gewerbe-
kammem beträgt 71.
9. Die H. in Spanien« a) Qeschichte.
Die durch Dekret v. 19. Januar 1679 eingesetzte
Oberhandelskammer, bestehend aus den
Ministem für Caslilien, Indien, der Finanzen,
des Krieges und dem Gouverneur von Madrid,
hatte unter persönlicher Leitung des Königs
die Wohlfahrt von Handel, Fabriken und Manu-
fakturen zu überwachen, erhielt durch Dekret
V. 9. Dezember 1730 auch die Verwaltung der
Münze, dann später der Bergwerke und der
Eingangszölle und wurde in einen Generalrat
für Münze, Handel und Bergwerk verwandelt,
dessen zweite Sektion eine Art Oberhandels-
fericht bildete. Durch Dekret v. 18. August
824 trat an Stelle der ersten Sektion abermals
eine Oberhandelskammer. Am 28. Oktober 1836
wurden die gesamten Handelsangelegenheiten
unter Aufhebung dieser Organisation dem Staats-
rat des Königs, 1845 dem obersten Bat des
Königs überwiesen, dessen Befugnisse zuletzt
das G. V. 25. Januar 1875 normierte. Neben
diesen Behörden bestanden in den Provinzen
und Städten zur Förderung von Handel und
Gewerbe Consulate (Gonsulados) mit ver-
waltender und richterlicher Kompetenz. (Das
erste 1283 in Valencia errichtet, dessen Vor-
sitzender und Mitglieder aus der Kaufmann-
schaft gewählt wurden.) Bis zum Dekret v. 6.
Oktober 1868 bildeten sie die erste Instanz für
Handelsstreitigkeiten; daneben lag ihnen die
Obsorge für See- und Landhandel, die Inspek-
tion der Innungen, Errichtung von Handels-
und Gewerbeschulen, Berichterstattung über die
allgemeinen Interessen des Handels und der
Industrie etc. ob. Zur Ergänzung der Gonsu-
lados wurden von der Regierung Handels-
kammern organisiert (die erste 1758 in
Barcelona, die aus drei Mitgliedern des consu-
lados, aus Grundeigentümern und Kaufleuten
unter dem Präsidium des Intendanten von
Catalonien bestand). Das Dekret v. 7. Oktober
1847 vermehrte ihre Zahl von 20 auf 24, setzte
die Mitgliederzahl auf 7 bis 11 fest, welche von
30 bis 80 Kaufleuten gewählt werden mussten,
und verpflichtete den Provinziallandtag zur Be-
streitung der Kosten.
b) Die dermaligen H. Durch ein Dekret
v. 14. Dezember 1859 wurden in den Provinzial-
hauptstädten Provinzialkammern für Acker-
bau, Handel und Gewerbe gebildet, aus drei
Sektionen bestehend, denen von Amts wegen
die Vorsteher der kommerziellen und industriefien
Behörden und 15 auf vier Jahre von den Meist-
besteuerten gewählte Mitglieder angehörten.
Für ihre Beschlüsse musste die Genehmigung
des Regierungspräsidenten eingeholt werden.
Die Dekrete v. 3. Anrü 1869, dann 7. Juni 1871
und 13. November 1874 brachten Veränderungen
dieser Organisationen. Danach teilen sich gegen-
wärtig die Provinzialkammern in sechs getrennt
verhandelnde Sektionen (Ackerbau, Viehzucht,
Forstwesen, Industrie, Handel, allgemeine An-
geleo^enheiten), bestehen aus 18 gewählten Mit-
gliedern (acht Grundbesitzer, drei Industrielle,
drei Kaufleute, vier um Industrie und Handel
verdiente Personen) und einer Reihe von öffent-
lich eu Funktionären. Sie haben alljährlich an
das Wirtschaftsministerium, den Regierungs-
präsidenten, den Provinziallandtag und die
städtischen Behörden über die wirtechaftlichen
Verhältnisse zu berichten, ihnen stets Auskünfte
zu erteilen, ferner das Recht, Verbesserungs-
vorschläjD;e zu den Gesetzen vorzubringen und
gegen eine ihre Interessen schädigende Hand-
habung der Gesetze Reklamationen vorzutragen
sowie gegen neue Massregeln Einsprache zu
erheben.
Der Wirkungskreis der neben den Provinzial-
kammern bestehenden Lokalhandelskam-
mern wurde durch Dekret v. 7. Oktober 1874
befestigt und erweitert. Das Dekret v. 9. April
1886 brachte neue Bestimmungen für die Han-
delskammern in den wichtigeren Hafen- und
Handelsplätzen des Landes, deren Thätigkeit
auf Handels- und Schiffahrtsangelegenheiten be-
schränkt wurde. Diese (61) Handelskammern
sollen aus Kaufleuten, Industriellen, Schiffs-
reedem und Kapitänen der Handelsflotte bestehen,
und wo ge weibliche Innungen sind, auch aus
deren Vertretern. Bei Abschluss von Handels- und
Schiffahrtsverträgen, Zollreformprojekten, Grün-
dung von Handelsbqrsen etc. müssen sie zu Rate
gezogen werden; sie unterstehen auch einer
staatlichen Aufsicht. Mit Dekret v. 19. November
1886 wurde die Errichtung von Handelskammern
in den spanischen überseeischen Provinzen
(Havana etc.) angeordnet. Eine Reform der
Handelskammern wurde auf einem Kongresse
im Jahre 1899 beschlossen.
10. Die U, und G. in Portugal, Aus
einigen kaufmännischen Korporationen in Lissa-
bon wurde auf Grund eines allgemeinen Dekrets
V. 10. Februar 1894, betreffend die Errichtung
von Handels- und Gewerbekammem, eine solche
dort gebildet (Dekret v. 9. März 1894). Ihr
gehören alle Kaufleute, Industriellen, Schiffer,
•irektoren von Aktiengesellschaften etc. an, die
zwei Jahre hindurch Gewerbesteuer gezahlt haben,
vom Direktorium (conselho director) aufge-
nommen wurden und den Jahresbeitrag von
12 Millreis zahlen. Die Kammer teilt sich in
drei Sektionen (Grosshandel und Schiffahrt,
Detailhandel, Industrie), tritt alljährlich zu einer
Generalversammlung zusammen, wählt auf drei
Jahre (mit jährlich Va Erneuerung) das Direk-
torium von 10 Mitgliedern, aus welchem die
Regierung aus verschiedenen Sektionen den
Präsidenten und Vicepräsidenten jährlich er-
nennt. Die Funktionen der Kammern sind
1032
HaDdelskammeru
ähnliche wie in Frankreich, werden aber vor-
wiegend durch das Direktorium ausgeübt.
11. Die H, in Belgien. Unter der franzö-
sischen Herrschaft entstanden auch hier Han-
delskammern und Gewerbekamraern, die durch
königliches Dekret v. 8. Oktober 1815 vereinigt,
mit dem G. v. 10. September 1841 als Handels-
kammern reorganisiert wurden. Sie bestanden
aus ernannten Mitgliedern, und die Einführung
eines Wahlmodus war wiederholt Gegen-
stand parlamentarischer Behandlung, welche
schliesslich zur gänzlichen Aufhebung der
Kammern (G. v. 11. Juni 1875) führte. An ihre
Stelle traten freie Vereine von Kaufleuten,
deren Ausschuss sich auch Handelskammer
nennt. Diese Handelskammern werden durch
Mitgliedsbeiträge und Subventionen erhalten.
Die hervorragendsten dieser Korporationen bilden
nach englischem Muster eine Vereinigung mit
dem Sitze in Brüssel.
12. Die U. and 0. in Rumänien. Nach
dem G. v. 12. Oktober 1864 bezw. 10. Mai
1886 wurden in 10 Städten Handelskammern
mit 6—7 auf sechs Jahre gewählten Mit-
gliedern, von denen alle zwei Jahre zwei
ausscheiden, gebildet. Wahlberechtigt sind
alle Handel- und Gewerbetreibenden, welche
50 Piaster Gewerbesteuer zahlen und im
Besitze der bürgerlichen und Gemeinderechte
stehen, wählbar alle Rumänen, die, mindestens
30 Jahre alt, ein Geschäft betreiben; die
Mitglieder werden vom Fürsten bestätigt,
wählen sich einen Präsidenten, Vicepräsidenten,
Sekretär und Schatzmeister, doch kann der
Präfekt des Distrikts jederzeit den Vorsitz
übernehmen. Die Beratungen der Handels-
kammern dürfen ohne Genehmigung der Re-
gierung nicht veröffentlicht werden, die
Kosten deckt ein von der Staatskasse einge-
hobener ein Zehntel Zuschlag zur Patenttaxe
der ersten und zweiten Klasse. Die Handels-
kammern sind offizielle Organe des Handels und
natürliche Mandatare für die Verwaltung aller
dem allgemeinen Handelsinteresse dienenden An-
stalten, sie können der Regierung aus eigenem
Antriebe ihre Ansichten und Vorschläge über
die gewerblichen und kommerziellen Interessen
ihres Bezirks mitteilen und sind verpflichtet,
auf Aufforderung der Regierung ihr Gutachten
abzugeben.
13. Die H. in der Türkei. Hier wurden
mit Dekret vom Juni 1876 Handelskammern
ins Leben gerufen und 1882 durch eine Irade
jene von Konstantinopel bestätigt, welche 24
von den am Platze wohnenden Kaufleuten aller
Nationalitäten auf drei Jahre gewählte Mit-
flieder zählt. Diese Handelskammer steht mit
er RejB^ierung in lebhaftem Kontakte und ent-
faltet eine rege Thätigkeit in derselben Richtung
wie die Handelskammern in anderen Ländern.
Ausserdem sind für die Provinzen, die selb-
ständigen Kreise und die Regierung.sbezirke
(lül) Handelskammern entstanden mit 4—12
Mitgliedern, die sich wöchentlich versammeln
und den Kammeni bei der höheren Instanz Be-
richte über die Handelsentwickelung einsenden
sollen.
Auch in Bulgarien sind 5 Handels-
uiid Industriekammem entstanden.
14. Die kanfmännisclie Interessenver-
tretung im übrigen Europa. In einigen
Staaten Europas giebt es keine eigentlichen
Handelskammern, wohl aber von alters her be-
stehende kaufmännische Korporationen, welche
ähnliche Aufgaben erfüllen und staatliche An-
erkennung gemessen, so in Dänemark die
Kaufmannsgesellschaft zu Kopenhagen, die sich
auch an der Begutachtung von Gesetzentwürfen
beteiligt, dann in Schweden freie Vereini-
gungen an den Hafenplätzen, endlich in R u s s -
land die Börsenkomitees, welche ans der
Börsenkaufmannschaft gewählt werden.
15. Die H. in aussereuropäisclien Ländern.
Gleichwie in Grossbritannien entstanden auch in
dessen Kolonieen in allen Weltteilen schon sehr
früh Handelskammern als freie Vereinigungen
von Kaufleuten. In Nordamerika besteht
die Handelskammer von New-York seit 1768
und erhielt Korporationsrechte durch König
Georg III. (3. März 1770), welche durch den
Staat New-York (13. April 1784) bestätigt
wurden. Sie beschäftigt sich mit allen belang-
reichen Fragen des Handels, bringt auch Ge-
setze in Vorschlag, welche das Interesse der
industriellen und kommerziellen Wohlfahrt des
Staates berühren, ohne jedoch von Amts wegen
über solche einvernommen zu werden, und er-
teilt authentische Preiscertifikate. Mitglieder
können nur Handeltreibende des Staates oder
Nachbarstaates werden, und deren Aufnahme
geschieht nach Anmeldung beim Exekutiv-
komitee und Befürwortung desselben durch
Ballotage in der Jahresversammlung der Han-
delskammer. Ehrenmitglieder mit beratender
Stimme können in jeder Versammlung auf
Vorschlag des Exekutivkomitees gewählt werden.
Ordentliche Mitglieder zahlen nach dem neuen
Reglement (Mai 1887) eine Eintritts^ebtihr von
25 Dollars und einen gleichen jährlichen Bei-
trag. Die Jahresversammlung findet im Mai
statt und wählt die Funktionäre (Präsident,
zwei Vicepräsidenten, Schatzmeister und Sekre-
tär) alljährlich, welche auch eine Angelobung
leisten müssen und deren Wiederwahl nur unter
besonderen Bedingungen zulässig ist. Die Jahres-
versammlung wählt verschiedene ständige Komi-
tees von je fünf Mitgliedern, von denen das
Exekutivkomitee, welchem auch die Fimktionäre
angehören, die Verwaltung besorgt. Ausser-
dem entsendet die Handelskammer in einige
I staatliche Aufsichtsbehörden (für die nautische
I Schule , die Pilotenkommission etc.) Vertreter.
' Solche Handelskammern bestehen auch in den
I anderen grösseren Städten der Union (über 3()).
1 In Canada, Mexico, Brasilien und
I E c u a d 0 r giebt es ebenfalls Handelskammern,
j in Guantänamo auf Cuba wurde Ende 1898 eine
solche errichtet. — In Japan bestehen Handels-
I kammem zu Tokio und Yokohama. — Auch in
I den Boerenstaaten in Südafrika entstanden
I Handelskammern (so in Johann isburg). — Neben
diesen einheimischen Handelskammern bestehen
in Yokohama (seit 1866), Shanghai (seit 1865),
i Kanton (1888), Manila (1899) Kammem, welche
I die Gesamtinteressen der ausländischen Kanf-
I leute an diesen Orten gegenüber den einheimi-
schen Behörden vertreten.
16. Die Anslandshandelskammem« Im
Jahre 1870 entstand in Konstantinopel eine öster-
reichisch-ungarische Handelskammer als
Handelskammern
1033
selbständige Sektion der Gemeinderepräsentanz
der dortigen Österreichisch-ungarischen Kolonie.
1874 erfolgte die Sanktion der Handelskammer
durch die österreichisch-ungarischeRegierung und
1897 erhielt sie ein neues vom k. und k. Ministe-
rium des Aeussem genehmigtes Statut. Diese
Handelskammer zählt 12 Kammerräte und 3 Er-
satzmänner, die von den im Handelsregister ein-
getragenen österreichisch-ungarischen Handels-
nnd Gewerbetreibenden in Konstantinopel und
Umgebung aus den ordentlichen Mitgliedern der
Kammer auf drei Jahre gewählt werden. Jeder
Oesterreicher oder Ungar oder Schutzgenosse,
der dort eine Handels- oder Gewerbeunterneh-
mung geschäftsmässig im eigenen Namen oder
als Prokurist betreibt, muss seine Firma in das
von der Handelskammer geführte Register ein-
tragen lassen, zahlt er den Mitgliedsbeitrag, so
wird er ordentliches Mitglied. Ausserordent-
liche Mitglieder werden vom Kammerausschusse
gewählt. Die Handelskammer wählt einen
Präsidenten und einen Vicepräsidenten, welche
von der k. und k. Botschaft die Approbation
erhalten, ^^ie Handelskammer vertritt die In-
teressen der Kolonie auf dem Gebiete von
Handel und Gewerbe bei den k. und k. Be-
hörden in Konstantinopel, erteilt Auskünfte und
Gutachten an das Consulat. verkehrt mit den
österreichischen und unffariachen Handelskam-
mern, Instituten und Geschäftsleuten direkt,
sie bestellt Sachverständige und Schiedsrichter
und macht Beisitzer bei den ottomanischen und
Seegerichten namhaft; seit 1871 veröffentlicht
sie Jahresberichte mit statistischen Ausweisen
über die Hafenbewegung. 1885 wurden in
Alexandrien, 1887 in Paris, 1888 in London
und 1889 in Salonichi österreichisch-ungarische
Handelskammern gegründet, die auf freiem Bei-
tritte der dort ansässigen oder vertretenen
heimischen Firmen beruhen und mit den Be-
hörden des Mutterstaates durch das k. und k.
Ministerium des Aeusseren, mit den Handels-
kammern desselben jedoch unmittelbar verkehren.
1872 entstand in Paris eine britische
Handelskammer durch freiwilligen Beitritt
der dort ansässigen englischen Kaufleute und
Agenten englischer Firmen, mit dem Zwecke,
alle Massregeln zu Gunsten der Handelsinte-
ressen der in Frankreich ansässigen Engländer
zu fördern, Firmenauskünfte au die Mitglieder
zu erteilen und als Schiedsgericht zu fungieren.
Alle zwei Jahre werden acht Direktoren ge-
wählt, welche aus ihrer Mitte einen Vorsitzen-
den, dessen Stellvertreter, je einen Schatzmeister
und Schriftführer nominieren und einen Sekre-
tär bestellen; die Handelskammer nahm regen
Anteil an den französisch-englischen Handels-
vertragsverhandlungen durch Berichte an die
Unterhändler ihrer Regierung und an den Welt-
ausstellnngsarbeiten 1878; weitere britische
Kammern entstanden in Konstantinopel, Ale-
xandrien, Nizza und Smyma; in Hamburg ist
eine geplant. Die Franzosen riefen 1876 in
New-Örleans, 1877 in Lima, 1882 in Montevideo
französische Handelskammern durch private
Initiative ins Leben; letztere war die erste
offizielle, dem französischen Geschäftsträ§;er
unterstellte Korporation. 1883 wurde eine
französische Handelskammer in London ins
Werk gesetzt als offizielle Vertretung nach
Muster der Handelskammern des Heimatslandes.
Im Mai 1883 setzte der Handelsminister eine
Kommission zum Studium der Frage der Er-
richtung von Auslandskammern ein, die sich
dafür aussprach und ein Musterstatut entwarf,
das von den Consulaten und Handelskammern
Frankreichs begutachtet und am 6. April 1884
publiziert wurde. Nach demselben entstanden
in rascher Folge Handelskammern im Auslande,
deren Zahl dermalen 26 beträgt und welche die
Aufgabe haben, Informationen zu sammeln, Aus-
künfte zu erteilen, die Interessen der Nationalen
zu wahren, als Schiedsrichter zu fungieren und
mit den Inlandskammem direkte Beziehungen
zu unterhalten; sie sollen auch monatliche Ge-
schäftsberichte erstatten und erhalten Subven-
tionen vom Heimatsstaate (1899 85000 Francs);
die Mitglieder leisten Beiträge. Auch Italien
hat an 12 auswärtigen Plätzen Handelskammern
als freie Vereinigungen italienischer Kaufleute,
welche ihre Thätigkeit unter dem Schutze der
Consularbehörden entfalten, seit jüngster Zeit
aber auch staatliche Subvention erhalten (1894
165000 Lire); Belgien besitzt eine Handels-
kammer in Paris, die Niederlande in Ham-
burg, Ru s s 1 an d in Paris und die Vereinigten
Staaten in London. Spanien, Griechen-
land und die Türkei haben die Gründung
von Handelskammern im Auslande in Angriff
fenommen. Schon seit Jahren wird in der
eutschen Fachlitteratur, von den Inlands-
kammern (so Mannheim 1888, Magdeburg,
Leipzig etc.) und vom Handelstage (19. Februar
1889) die Errichtung deutscher Auslandskainmem
verlangt, bisher ist nur am 12. Januar 1894
eine solche in Brüssel aus privater Initiative
zu Stande gekommen. In jüngster Zeit (März
1900) beschäftigte sich auch der Reichstag mit
dieser Frage, wobei Staatssekretär Graf Bülow
erklärte, dass die Reichsregierung noch nicht
zur Ueberzeugung gelangt sei, dass ein Be-
dürfnis zur Gründung von Auslandskammem
vorliege.
Eine Eigentümlichkeit bildet die eng-
lisch-belgische Handelskammer in Lon-
don, die in gleicher Weise dem Handel beider
Reiche förderlich sein soll und aus einer eng-
lischen und einer belgischen Vertretung besteht.
Litteratur: lt. Ehrenberg, Das königliche
CoinmerzieUe Oülegium in Altona 1S92. —
G. OuiUautnotf Lea chamhret de commerce
avant et depuis la loi du 9. IV. 1898, Pmis
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Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts ro7i
K. Frhr. v. Stengel, Freiburg i. B. 1900, I, S.
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1034
Handelskammern — Handelspolitik
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KammervL, Wien 1888, iVr. 15 u. 20. — Ber-
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find Vlbrich, Wien 1896 II, S. 5. — Rathifen,
Wörterb. der Volksic. I, S. 1015 ff. — Reitz,
Gesetz über die Handelskammern ?'. 7.9. VIII.
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der Handelskammern in Preussen, Jahrb. f. Ges.
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die Handelskammern v. 2^. IL 1870, mit Kom-
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Die Beform des Consulatwesens, Berlin I884. —
O. Teissier, La chambre de commerce de
Marseille 1892. — A magyar kereskedelmi es
iparkamarak törtenete. 1850 — 1896 ^ Budapest
(Geschichte der ungarischen Handels- und Ge-
trerbekammemj, — A. Vchatzy , Das öster-
reichische Gesetz zur Errichtung von Handels-
und Gewerbekammem von 1850, Kommentar,
Beichenberg 1851. — Völckerf Die Gutachten,
betretend die Beorganisation der Handelskammern
in PreiLSsen, Berlin 1895. — Vosberg^Rekow,
Die wirtschaftliche Interesserirertretung uml die
Beform der preus»ischen Handelskammern, Berlin
1896. — Ißei*selbe, Beform des deutschen Con-
sulatwesens und Errichtung der Handelskammehi
im Auslange, Berlin 1876. — Handel und Ge-
werbe, Zeitschrijt für die zur Vertretung von
Handel und Gewerbe gesetzlich berufenen Körjyer-
schaften, Berlin 1888 ff. — The Chamber of
Commerce Journal, London 1881 ff. — Journal
des Chambres de Commerce, Paris 1883 ff. —
Jubiläumsschriften der Handelskammern, Hildes-
heim 1891, Mainz 1898, München 1894, Wien
1899. Siehe ferner die im Artikel nGe^cerbe-
kammertm oben Bd. IV S. 510 citierten Schriften
von M, Block, Grätzet*, R, v. Kaufmann
und Steinntann-Bucher und die vom Handels-
tage veröffentlichte Zusammenstellung der deutschen
Handelskammern (zuletzt im Deutschen Handels-
archiv, Januarheft 1900). Rudolf Maresch.
Handelsmu^een
s.Ausf ulirm US te rlagerobenBd.il S.29ff.
Handelspolitik.
1. Einleitung. 2. Innere Handelspolitik.
3. Aeussere Handelspolitik in aktiv-offensiver
und in defensiver Form. 4. Die Zwecke des
Schutzsystems. 5. Kritik des Schutzsystems
imd der Freihandelstheorie.
1. Einleitung. Wollte man das Wort
Handelspolitik in seiner engsten Bedeutung
auffassen, so würde es nur das Verhalten
des Staates gegenüber dem Handel im
eigentlichen wirtschaftlichen Sinne bezeich-
nen, also gegenüber dem gewerbsmässigen
Betriebe der Yermittelung des Güter-
austausches durch Kaufen von Waren zum
Zwecke des Wiederverkaufs derselben in
materiell unverändertem Zustande. Der
Begriff der inneren Handelspolitik wirtl
in der That im wesentlichen dem Gebiete
des eigentlichen Handels entsprechend ab-
zugrenzen und jedenfalls nicht, wie man
etwa vorschlagen konnte, so weit auszu-
dehnen sein, dass er sich auf die Gesamtheit
der Handelsgescliäfte im handelsrechtlichen
Sinne bezöge. Denn das Versicherungs-
wesen und das Bankwesen, soweit dieses
tiber die blosse Vermittelimg des Kaufs und
Verkaufs von Wertpapieren hinausgeht, sind
anerkannte selbständige Zweige der Wirt-
schaftspolitik, die gewerbsmässige Verarbei-
tung beweglicher Sachen in grösserem Mass-
stabe, d. h. die Industrie, ferner das Ver-
lagsgeschäft und die Buchdruckerei fallen
in den Bereich der Gewerbepolitik, und das
Transportgewerbe bildet den Gegenstand
einer besonderen Verkehrspolitik. Üebrigens
kann man die innere Handelspolitik auch
einfach als ein Kapitel der allgemeinen Ge-
werbepolitik betrachten, und daher versteht
man häufig unter Handelspolitik ausschliess-
lich einen Zweig der auswärtigen Politik,
nämlich die planmässige Fürsorge und Thätig-
keit des Süiates zur Förderung seiner volks-
wirtschaftlichen Interessen im Verkehr mit
dem A u s 1 a n d e. Dabei kommt keineswegs
vorzugsweise das Interesse des eigentlichen
Handels in Betracht, sondern vor allem das
der Produzenten undL Konsumenten, die auch
vielfach die Verkäufe und Einkäufe im Aus-
lande unmittelbar selbst betreiben. Die
auswärtige Handelspolitik tritt sogar, je
mehr sie zu positiven Schutzmjissrogeln zu
Gunsten der einheimischen Produktion ül^r-
geht, um so mehr in einen gewissen Gegen-
satz zu den Wünschen und Interessen des
Handelsgewerbes, dessen private Wirtschafts-
taktik sich naturgemäss in den Satz zu-
sammenfasst: Kaufen auf dem billigsten
Markte und Verkaufen auf dem teuersten.
Da aber der gew^öhnliche Sprachgebrauch
überhaupt jede Art von Güteraiustausch als
Handel bezeichnet und im internationalen
Verkehr gewissermassen jedes Volk als eine
einheitliche Individu^tät den anderen gegen-
überstellt, so erscheint die Bezeichnung
Handelspolitik für die gesamte auf das Aus-
land gerichtete Wirtschaftspolitik eines
Staates immerhin nicht unangemessen. Die
moderne Handelspolitik hat sich erst seit
der Entstehung der koncentrierten , über-
wiegend auf nationaler Grundlage beruhen-
den modernen Staaten entwickelt. Im
Mittelalter finden wir an iUrer Stelle eine
von den Städten getragene lokalwirtschaft-
Handelspolitik
1035
liehe Politik, die sowohl nach aussen wie
nach innen einen engen Interessenkreis
riicksiehtlos mit Abwehr- und Zwangs-
mitteln zu schützen suchte. Auch die
deutschen Territorialfürstentümer fanden
noch bis in die neuere Zeit in der Pflege
dieser städtischen Interessen eine Haupt-
aufgaViO ihrer speciellen Wirtschaftspolitik
und hielten daher z. B. die Stapel- und
Umschlagsrechte privilegierter Städte auf-
recht, indem sie darin ein Mittel sahen, den
Kapitalreichtmn des Pai^tikularstaates zu
heben. Erst durch den Zollverein x^iirde
die Idee einer deutschnationalen Handels-
politik zur Reife gebmcht, deren Programm
die wiitscliaftliche Frciheit im Inneren, die
wirtschaftliche Einheit nach aussen und die
Unterordnung der handelspolitischen Inte-
i*essen der Einzelstaaten unter die des ge-
samten Verbandes einschloss.
2. Innere Handelspolitik. Auf die Ein-
zelheiten der inneren Handelspolitik hier einzu-
gehen, ist nicht erforderlich, da diese fast sämt-
lich in besonderen Artikeln behandelt werden,
auf die wir an dieser Stelle nur zu verweisen
haben. Dass der Staat ein aus dem Bedürfnisse
des Verkehrslebens hervor^j^egangenes eigentüm-
liches Handelsrecht (s. d. Art. unten S. 1047if.) aner-
kannt und mehr oder weniger vollständig kodifi-
ziert hat, ist ohne Zweifel von wesentlichem Ein- \
üuss auf die thatsächliche Gestaltung des Handels j
und ist daher auch schon, sofern es sich um
eine rein privatrechtliche Ordnung handelt, eine
Thatsache von handelspolitischer Bedeutung.
Noch unmittelbarer aber zeigt sich diese Be-
deutung in den von den Handelsgesetzbüchern
auf ßfestellten Vorschriften von verwaltungs-
rechtlichem Charakter. Hierher gehören
namentlich die Bestimmungen über die Ver-
pflichtungen eines Kaufmanns, die Führung der
Handelsbücher, die Eintragungen in das Han-
delsre£>:ister, die Verhältnisse der Handelsgehilfen
(s. d.^Art. oben Bd. IV S. 984 ff.) und der
Handelsmakler (s. d. Art. Maklerwesen). In
der deutschen Gesetzgebung beruht die ver-
waltungsrechtliche Ordnung des Handels neben
dem Handelsgesetzbuche auf der Gewerbeord-
nung und einer Reihe von Specialgesetzen über
einzelne Punkte. Im allgemeinen ist der Be-
trieb des Handelsgewerbes frei und es sind nur
im Interesse der öffentlichen Ordnung, der Sitt-
lichkeir, der Sicherheit des Eigentums und der
Öffentlichen Gesundheitspfleffe , in einzelnen
Pällen auch aus weniger unbestrittenen sozial-
politischen Gründen gewisse Beschränkungen,
sei es hinsichtlich der persönlichen Berechtigung
zum Gewerbebetriebe, sei es hinsichtlich der in
den Verkehr zu bringenden Waren oder hin-
sichtlich der Form und Organisation des Be-
triebes eingeführt oder beibehalten worden.
Das Innungswesen, das im Mittelalter im Handel
durch die Kaufmannsgilden (s. d. Art. G i 1 d e n oben
Bd. IV S. 725) und die Krämerinnungen vertreten
war, hat gegenwärtig in diesem Gewerbe —
anders als in manchen Zweigen des Handwerks
— allen Boden verloren, obwohl noch die
preussische Gewerbeordnung v. 17. Januar 1845
bestimmt (Art. 94), dass, soweit der Erwerb der
kaufmännischen Rechte (der aber für den Ge-
werbebetrieb an sich nicht erforderlich war)
nach den bestehenden Vorschriften durch den
Beitritt zu einer kaufmännischen Korporation
bedingt sei, es dabei sein Bewenden haben solle.
Erst das preussische Einfühmngsgesetz von
1861 zum Handelsgesetzbuch hat diejenigen
Vorschriften der Statuten der kaufmännischen
Korporationen in Berlin, Stettin. Magdeburg,
Tilsit, Königsberi?, Danzi^, Memel und Elbing,
welche jene Bedingung in betreff der kauf-
männischen Rechte auf8tellten,aufgehoben und zu-
gleich alle privatrechtlichen Vorschriften der Sta-
tuten dieser Körperschaf ten ausser Kraft gesetzt.
Im allgemeinen i.st nach der Gewerbe-
ordnung zwischen dem stehenden Handel und
dem Handel im Umherziehen zu unterscheiden.
Der letztere bildet einen Zweig des Wander-
gewerbes (s. d. Art.) und ist teils aus berech-
tigten polizeilichen Gründen, teils aber auch
aus anfechtbaren lokalprotektionistischen Rück-
sichten auf die ansässigen Gewerbetreibenden
weitgehenden gewerberechtlichen Beschränkun-
gen unterworfen (s. den Art. Gewerbegesetz-
fe b u n g oben Bd. IV S. 431 ff.), während überdies
en Wanderlagem und Wanderauktionen in den
Einzelstaaten durch besondere prohibitive Steuern
die Existenz fast völlig unmöglich gemacht ist.
Was den stehenden Handelsbetrieb betrifft, so
erfährt derselbe durch die Gewerbeordnung
hauptsächlich in denjenigen Zweigen und Ge-
schäftsthätigkeiten Beschränkungen, die sich
dem Wandergewerbe nähern. Es ist dies einer-
seits der Gewerbebetrieb ausserhalb des Ortes
der Niederlassung, sei es durch den Geschäfts-
inhaber selbst oder durch dazu bestellte Hand-
lungsreisende, und andererseits der namentlich
in grösseren Städten bestehende ambulante
Handel oder lokale Hausierhandel, der von orts-
angesessenen Personen betrieben wird (s. den Art.
Gewerbeffesetzgebung oben Bd. IV S.427).
Schon durcn die Gewerbeordnungsnovelle vom
1. Juli 1883 ist nicht nur dieser letztere Ge-
werbebetrieb, sondern auch das Reisegeschäft
von stehenden Gewerbebetrieben aus in wesent-
lichen Punkten auf gleiche Linie mit dem ge-
wöhnlichen Hausierhandel gestellt worden. Die
lokalprotektionistischen Forderungen der klei-
neren ansässigen Gewerbetreibenden waren aber
damit freilich noch bei weitem nicht erfüllt.
Besonders dringend w^urde der Wunsch laut, dass
es den Handelsreisenden verboten werden möge,
unmittelbar bei Privatkunden, also bei solchen
Personen, die die angebotenen Waren nicht ge-
werblich verwenden, Bestellungen aufzusuchen,
oder dass wenigstens von solchen Reisenden in
jeder Gemeinde eine besondere Steuer, also ein
lokaler Schutzzoll erhoben werde. Ein Antrag
auf jenes Verbot für Inhaber stehender Gewerbe-
betnebe wurde indes bei der Beratung der No-
velle von 1883 abgelehnt. Zugestanden wurde
es nur in betreff der Bestellungen auf Brannt-
wein und Spiritus im Wandergewerbebetrieb,
imd von einer besonderen Erlaubnis kann dieses
Aufsuchen von Privatbestellungen abhängig ge-
macht werden in dem ambulanten Lokalge-
werbebetriebe Das Gesetz vom 6. August 1896
aber brachte den Lokalschutzbestrebungen einen
weitgehenden Erfolg, indem denHandelsreisenden
als solchen, soweit nicht der Bundesrat Aus-
nahmen zuiässt, das Aufsuchen von Privatbe-
1036
Handelspolitik
Stellungen ohne vorgängige ausdrückliche Auf-
forderung verboten wurde. Das „Detailreisen"
ist also jetzt nur auf Grund eines Wanderge-
werbescheines zulässig. Eine Ausnahme wird
im Gesetz selbst betreff der Druckschriften und
Bildwerke gemacht, für die im übrigen die
Bestimmungen über den Hausierhandel mit
solchen Gegenständen gelten. Den Wünschen
der Handwerker, wenn auch nicht dem volks-
wirtschaftlichen Interesse, würde es auch ent-
sprechen, wenn wieder eine ähnliche Beschrän-
kung des Handels mit Handwerkerwaren (zu
denen in erster Reihe Kleider und Schuhe zu
rechnen sind) eingeführt würde, wie sie in
Preussen auf Grund der V. v. 9. Februar 1849
bis zum Erlass der norddeutschen Gewerbeord-
nung bestanden hat. Nach § 34 jener Verord-
nung konnte nämlich, wo „das Halten von
Magazinen zum Detailverkauf von Handwerker-
waren erhebliche Nachteile für die gewerblichen
Verhältnisse des Ortes zur Folge habe, durch
Ortsstatuten für gewisse Gattungen von Hand-
werkerwaren festgesetzt werden, dass die An-
legung solcher Magazine denjenigen, die nicht
zum selbständigen Betrieb der betreffenden
Handwerke befugt seien, nur mit Genehmigung
der Kommunalbehörde gestattet sei, welche dann
nur nach vorgängiger Vernehmung der be-
teiligten Innungen und des Gewerberats zu er-
teilen sei'*. In der neuesten Zeit haben die
Kleinhändler, die ihrerseits zur Zurückdränguug
des Handwerks wesentlich mit beigetragen
haben, einen lebhaften Kampf gegen den Gross -
betrieb des Detailhandels begonnen, wie er sich
in den grossen Specialgeschäften, und in den
mehrere Geschäftszweige vereinigenden Waren-
häusern entwickelt hat. Sie verlangen eine
wo möglich prohibitive Besteuerung des Um-
satzes dieser Betriebe und haben in Bavem und
Sachsen schon erhebliche Erfolge erreicht. In
Preussen ist das Schicksal der projektierten
Warenhaussteuer (Mai 19()0) noch nicht ent-
schieden. Vom Standpunkt der Kleinhändler
besteht übrigens kein wesentlicher Unterschied
zwischen den Warenhäusern und den grossen
Specialdetailgeschäften. S. den Art. Waren-
häuser. Den erwarteten Erfolg zu Gunsten der
weniger leistungsfähigen Kleinbetriebe werden
solche Steuermassregeln nicht haben, möglicher-
weise aber volkswirtschaftlichen Schaden stiften,
weil sie mit der Entwickelung im Widerspruch
stehen, die unsere Kultur mit Hilfe der modernen
Produktions- und Verkehrsmittel nun einmal
genommen hat. Jede civilisierte Nation wird
sich mit den Folgen dieser Entwickelung, die
ja keineswegs ausschliesslich erfreulich sind, so
gut es geht, abfinden müssen, und zu diesen
Konsequenzen gehört es auch, dass der Handel
mit Fabrikwaren einen Teil des selbständigen
Hand Werkbetriebs verdrängt und dass auch im
Detailhandel der Kleinbetrieb unter gewissen
Bedingungen durch den Grossbetrieb ersetzt
wird. Es ist durchaus zu billigen, wenn man
den Üebergang möglichst schonend für die ge- j
fährdeten Interessen zu gestalten sucht, aber es j
ist volkswirtschaftlich schädlich, wenn man die
weitere Fortpflanzung der unhaltbaren Wirt- '
Schaftsformen begünstigt und dadurch die I
Schwierigkeiten des Uebergangszustandes auch |
auf die Zukunft überträgt. Eine Keihe anderer i
teils in der Gewerbeordnung, teils in besonderen -
Gesetzen enthaltenen Bestimmungen über den
Handel mit gewissen Waren haben einen wesent-
lich polizeilichen Charakter, doch treten in der
neuesten Zeit auch hier stellenweise protektio-
nistische Tendenzen auf. Der Kleinhandel mit
Branntwein steht unter den Bestimmungen über
das Schankgewerbe (s. den Art.). Der Handel
mit Giften Kann durch Landesgesetz von einer
besonderen Genehmigung abhängig gemacht
werden. Ueber den Handel mit Arzneien (s. d. Art.
oben Bd. II S. 7) bestehen besondere Vorschriften,
insbesondere nach der neuen kaiserlichen V. v.
27. Januar 1890. Der Betrieb des Trödelhandela
kann nach § 35 der Gew.-O. unzuverlässigen Per-
sonen untersagt und nach § 37 besonderen poli-
zeilichen Kontrollen unterstellt werden. Das
Gewerbe der Rückkaufshändler wird wie das der
Pfandleiher (s. d. Art.^ behandelt. Der Handel
mit Dynamit und anderen Sprengstoffen (zu
denen Schiesspulver nicht gehört) kann ebenfalls
nach § 35 unzuverlässigen Personen untersagt
werden und unterliegt ausserdem den Bestim-
mungen des G. V. 9. Juni 1884. Femer ist nach
§ 35 der Gew.-O. unter den gesetzlichen Voraus-
setzungen zu untersagen der Handel mit Losen
oder mit Bezugs- und Anteilscheinen auf solche
Lose, der gewerbsmässige Betrieb des Vieh-
handels und des Handels mit ländlichen Grund-
stücken, der Handel mit Droguen und chemischen
Präparaten, wenn die Handhabung des Gewerbe-
betriebes Leben und Gesundheit von Menschen
gefährdet. Der Kleinhandel mit Bier kann unter-
sagt werden, wenn der Gewerbetreibende wieder-
holt wegen Zuwiderhandlungen gegen die Vor-
schriften der Gew.-O. bestraft ist. — Der Handel
mit Geheimmitteln (s. d. Art. G e h e i m m i 1 1 e 1 -
wesen oben Bd. IV S. 54 ff.) ist, sofern sie
Arzneien sind, nach der Reichsgesetzgebung nur
den Apothekern gestattet, in Baden, Hessen, El-
sass-Lothringen und den ehemals französischen
Landesteilen Preussens aber auch diesen verboten.
Leicht entzündliches Petroleum darf nach der V. v.
24. Februar 1882 nur mit gewissen Vorsichtsraass-
regeln feilgehalten werden. — Die sogen. Kunst-
buttor musste schon nach'dem G. v. 12. Juli 1887
nicht nur ausdrücklich als „Margarine" bezeichnet
werden, sondern sie darf überhaupt nicht ver-
kauft werden, wenn sie durch einen merklichen Zu-
satz von Naturbutter verbessert ist; eine nicht
mehr polizeiliche, sondern agrarprotektionistische
Bestimmung. Das Gesetz v. 15. Juni 181)7 ent-
hält noch weitergehende Vorschriften zur Er-
schwerung des Absatzes von Margarine, Mar-
^arinekäse und Kunstspeisefett. Der Verkehr
m Gold- und Silberwaren erfährt durch das G.
V. 16. Juli 1884 nur wenig erheblirhe Be-
schränkungen, während in neu Ländern mit
obligatorischer Regelung des Feingehalts (s. d.Art.
oben Bd. III S.824) der verarbeiteten Edelmetalle
solche Waren ohne den gesetzlichen Stempel
nicht in den Verkehr gebracht werden dürfen.
— Nach dem Reichsgesetz vom 19. Mai 1891
dürfen Handfeuerwaffen jeder Art nur dann feil-
gehalten und verkauft werden, wenn sie nach
den Vorschriften dieses Gesetzes amtlich geprüft
und gezeichnet worden sind. — Ausländische
Inhaberpapiere mit Prämien dürfen nach dem
G. V. 8. Juni 1871 nicht weiter gegeben und
nicht zum Gegenstände des Börsenverkehrs ge-
macht werden, wenn sie nicht vor dem 30. April
1871 ausgegeben sind und nicht den gesetjs-
Haodelspolitik
1037
liehen Stempel tragen. — Nach dem preussischen
G. V. 29. Juli 1885 wird der Verkairf von Losen
auswärtiger Lotterieen mit Geldstrafe bis zu
1500 Mark bestraft. — Das Papier, aus welchem
die Beichskassenscheine hergestellt werden, ist
nach dem G. v. 26. Mai 1885 ebenfalls vom
freien Verkehr ausgeschlossen. Auch die Ge-
setze über die Rinderpest, die Viehseuchen, die
Reblaus, die Schonzeit des Wildes und der
Fische, über das Patentwesen (s. die betr. Art.)
enthalten für gewisse Gegenstände — abgesehen
von den verbotenen gemischten oder gesund-
heitsschädlichen Waren — Verkehrs- und so-
mit auch im eigentlichen Sinne Handelsbe-
schränkungen. Endlich kommen solche Be-
schränkungen auch aus steuerpolizeilichen
Gründen vor. So bestimmt das Börsensteuer-
gesetz, dass die den Reichsstempelabgaben unter-
worfenen Wertpapiere ungestempelt nicht ver-
änssert oder zu irgend einem anderen Geschäft
unter Lebenden verwendet werden dürfen. Eine
vollständige Aufhebung des privaten Handels
besteht bei denjenigen Gegenständen, die, wie
in so vielen Ländern der Tabak, einem staat-
lichen Monopol unterworfen sind.
Zu einer gewissen systematischen Vollstän-
dififkeit, die übrigens die Anwendung durchaus
falscher Mittel nicht ausschloss, finden wir in
der früheren Zeit und teilweise auch noch im
gegenwärtigen Jahrhundert die innere Getreide-
handelspolitik ausgebildet (s. d. Art. Getreide-
handel oben Bd. IV S. 276 ff.)- Einige Reste die-
ses Systems haben sich noch erhalten, so das Ver-
bot der Koalition der Warenbesitzer in der fran-
zösischen und anderen Gesetzgebungen. Auch
das deutsche Börsengesetz vom 22. Juni 1896
enthält eine wichtige Beschränkung des Ge-
treidehandels in dem Verbot des Terminhaudels
in Getreide und Mühlenfabrikaten. Ueberhaupt
stellt dieses Gesetz den am tiefsten gehenden
Eingriff dar, der in der inneren Handelspolitik
in der neueren Zeit vorgekommen ist. S. den Art.
Börsenrecht oben Bd. II S. 979 ff. Die Börse
ist ohne Zweifel die äusserlich am meisten her-
vortretende Orsfanisation des Handels, und da
sie in den Ländern des europäischen Kontinents
einen öffentlichrechtlichen Charakter hat, so
scheint sie auf den ersten Blick dem Staate die
wirksamste Handhabe zu einem Eingreifen in
den inneren grossen Waren- und Geldverkehr
zu bieten. Die selbständige Wirkungsfähigkeit
der Börse wird indes von ihren Gegnern weit
überschätzt. Sie ist ja nicht eine einheitlich
handelnde Körperschaft, sondern nichts weiter
als eine freie Zusammenkunft von Käufern und
Verkäufern mit den verschiedensten entgegen-
gesetzten Interessen. Die wirkliche Bedeutung
einer Börse liegt nur in dem wirklichen Geld-,
Waren- und Effektenbesitz der an ihr ver-
kehrenden Personen, nicht in dem Geschrei der
mitlaufenden besitzlosen Spekulanten. Im grossen
und ganzen bringt sie die wirklichen, im Grossver-
kehr oder auf dem Weltmarkt bestehenden Ver-
hältnisse von Angebot und Nachfrage zum Aus-
druck, und eine Beschränkung ihrer Bewegungs-
freiheit, die selbstverständlich betrügerische
Manipulationen nicht mit einschliesst, läuft
schliesslich immer auf Erschwerung des Absatzes
der Handelsobjekte hinaus. — Die Märkte
und Messen (s. d. Art.) hatten früher als
öffentliche Einrichtungen zur Förderung des
Handels und Verkehrs eine grosse Bedeutung,
sind aber in der neueren Zeit neben den Börsen
immer mehr zurückgetreten.
B. Aeussere Handelspolitik in aktiv-
offensiver und inadefensiver Form. Die
Einzelheiten der äusseren Handelspolitik
werden in einer Reihe von besonderen Ar«
tikeln besproclien, auf die wir hier verweisen.
(S.d. Artt. Ausfuhr- und Einfuhrzölle
und -V e r b 0 1 e oben Bd. II S. 39 ff., III S. 320 ff.
und329ff., Ausfuhr- und Einfuhrprä-
mien Bd.' n S. 34, Differentialzölle,
Durchfuhrzölle Bd. III S. I66ff. und S.
255ff., Handelsverträge untenS. 1067 ff.,
Schutzsystem und die zollgeschichtlichen
Notizen in den Artikeln überBaum wo lleBd.
II S. 509ff., Eisen Bd. IH S. 462ff. Ge-
treide etc. Bd. IV S. 276 ff.) An dieser Stelle
haben wir nur die allgemeinen Grundsätze imd
Ziele zu erörtern, die für die auswärtige Han-
delspolitik der Kulturstaaten bestimmend ge-
wesen oder als volkswirtschaftlich berechtigt
anzuerkennen sind. Wie schon oben be-
merkt, geht diese Politik über das Gebiet
des Handels im engeren Siime hinaus und
hat als Zweck überhaupt die Förderung und
Geltendmachung der wirtschaftlichen Inte-
ressen der Staatsangehöri^n im Verkehr
mit dem Auslande. Die Mittel, die seit den
ältesten geschichtlichen Zeiten bis zur
Gegenwart von den Staaten zu diesem
Zwecke angewandt worden sind, kann man
in herrschaftspolitische und in eigentliche
verkehrspolitische einteilen. Streben nach
wirtschaftlichen Vorteilen, sei es von Seiten
einer herrschenden Minderheit oder der
ganzen Volksmasse, ist von jeher für die
ganze auswärtige Politik der Staaten eine
der wirksamsten Triebki'äfte gewesen. Die
energischste Bethätigung der auswärtigen
Politik, der Krieg, der ursprünglich von dem
Angreifer meistens nur zum Zweck der Er-
langung von Grundbesitz oder sonstiger
Beute unternommen wurde, gehört als solcher
allerdings nicht in die Handelspolitik, aber
gerade in der höheren Kulturentwickelung
sind viele Kriege hauptsächlich durch handels-
politische Rücksichten veranlasst worden,
namentlich lun einen unbeiiuemen Mit-
bewerber zu Gnmde zu richten oder durch
den Friedensschluss von dem Besiegten be-
sondere Handelsvorteile zu erlangen. Ein
wichtiges Machtmittel der Handelspolitik
bildete femer die Anlegung von Kolonieen
(s. den Art.), die häufig auch durch kriege-
rische Unternehmungen unterstützt werden
musste, daher auch nicht selten zur Er-
oberung ganzer neuerschlossener Länder
fülirte, während es in anderen FäUen ge-
nügte, einzelne Niederlassungen als Mittel-
punkt eines friedlichen Verkehrs mit^ den
Völkerstämmen der Umgebung anzulegen.
Die phönicischen und griechischen Kolonieen
1038
Handelspolitik
des Altertums waren von Stadtstaaten aus-
gegangen und standen zu diesen nur in
einem lockeren Verhältnis, was jedocli nicht
hinderte, dass die gemeinschaftliche Ab-
stammung dem Verkelu' zwischen Mutter-
und Tochterstadt in hoTiem Grade zu gute
J^am. Die seit dem Zeitalter der Ent-
deckungen gegründeten neueren Kolonieen
wurden drei Jalirhunderte lang diu-ch ein
strenges Absperrungssystera möglichst aus-
schliesslich im Interesse des Mntterlandes
ausgebeutet. Ausschliessliche Handelsbe-
rechtigungen oder wenigstens Bevorzugungen
und Begünstigungen waren auch die Ziele,
welche die ältere Handelspolitik in erster
Reihe durch ihre Handelsverträge zu er-
reichen suchte. Solche Zugeständnisse
konnten bei schwachen oder wirtschaftlich
passiven Völkern auch ohne Kriegführung
durch den moralischen Druck einer über-
legenen Handelsmacht durchgesetzt ^yerden,
und selbst Staaten ohne grosse Kriegs- oder
Seemacht waren oft imstande, durch diplo-
matische Geschicklichkeit oder auch wohl
durch Geld grossen Einfluss in weniger ent-
wickelten Landern zu gewinnen und diesen
für ihre Handelsinteressen zu verwerten.
Im Vergleich mit dieser auf Macht, Herr-
schaft und Einfluss gestützten Handelspolitik,
die ihren Gewinn durch aktives, ja offensives
Vorgehen gegen das Ausland erstrebt, er-
scheint die Anwendung der verkehrs-
politischen Hilfsmittel zur Füixlerung der
Volkswirtschaft als ein friedliches, defensives,
im Lande selbst ausgebautes Schutzsystem.
Man erschw^ert oder verbietet die Einfuhr
gewisser Waren und die Ausfuhr gewisser
anderer. Die Uebelstände, die diu-ch diese
Verkehrsliindernisse auch wieder für die zu
schützenden Interessen selbst erzeugt werden,
sucht man dann durch andere Einrichtungen
und Massregeln, wie zollfreie Niederlagen,
Ausfuhrprämien etc. zu mildern oder aus-
zugleichen. Auch die nationale Handels-
marine (s. den Art. Schiffahrt) sucht man
durch mehr oder weniger durchgreifende
Abwehr des ausländischen Mitbewerbs zu
begünstigen. In der neuesten Zeit ist auch
dieEi sen bahn tarifpolitik(s. oben Bd.l II
S. 556 ff.) namentlich im Staatsbahn svstem
zu einem wichtigen Faktor des Schutzsystems
geworden, indem sie z. B. die Möglichkeit
gCAvährt, idie Wirkung der Einfuhrzölle des
Nachbarlandes zu neutralisiei'en, freilich auf
Kosten des Staates, aber zu Gunsten der
Produzenten der Ausfuhrwaren, deren Inte-
ressen man als allgemein volkswiii:schaftliche
auffasst. Am energischsten hat wohl Ungarn
von diesem Mittel Gebrauch gemacht, wo
nach Nemenyi das Staatsbahnsystem mit
einor die Ausfuhr begünstigenden Tarif-
politik sich als eine Notwendigkeit ei'wieson
hat, \m\ >im Angesicht des europäischen
Protektionismus noch das Princip der Kon-
kurrenz aufrecht zu erhaltene
Im Altertum war das auf Zöllen und
Verboten beruhende Schutzsystem noch nicht
ausgebildet. Die Handelspolitik der Phöni-
cier, der Karthager, der Athener beruhte
auf einem aktiven, mit Kolonisation oder
Machtentfaltung verbundenen Auftreten im
Auslande. Im römischen Weltreiche wiuxle
fast der gesamte Verkehr zwischen den
Kulturländern zu einem Binnenhandel und
die auswärtige Handelspolitik trat daher in
den Hintergrund. Das Verbot der Ausfuhr
gewisser Waren zu den deutschen Völker-
schaften hatte keine eigentlich wirtscliafts-
politische Bedeutung, Avohl aber kann eine
solche dem mehrfach wiederholten Verbote
der Ausfuhr von Edelmetall zugeschrieben
werden. Im Mittelalter stützte sich die
Handelspolitik Pisas, Genuas, Venedigs im
Mittelmeer und namentlich im Orient auf
kriegerische Macht und diplomatische Ge-
schicklichkeit, und dasselbe kann man von
der deutschen Hanse zur Zeit ihrer Blüte
sagen. Schutzzölle und Einfuhrverbote
waren zwar auch den mittelalterlichen
Stadtrepubliken nicht fremd, aber solche
Massregeln können auf einem kleinen Ge-
biete zu keiner bedeutenden Wirkung ge-
langen. Erst in den Grossstaaten, die seit
dem 16. Jahrhundert allmälüich ihre moderne
Gestaltung mit zunehmender Koncentrierung
und innerer Einheitlichkeit erhielten, konnte
das Schutzsvstem zu einem Faktor von
grösserer Avii'tschaftlicher Tragweite wei-den,
indem es zugleich melir und mehr an die
Stelle des älteren, hauptsächlich auf der
Zunft Verfassung beruhenden lokalen Gewerbe-
schutzes trat. Die offensive und die defen-
sive Handelspolitik schlössen sich aber
keineswegs aus, sie steigerten vielmelu^ im
17. bis 18. Jahrhundert gewissermassen
gegenseitig ihre Intensität, wie namentlich
die Geschichte der wirtschaftlich bedeutend-
sten Grossstaaten, Englands und Frankreichs,
zeigt, wähi^end allerdings das in Europa
nm- auf ein kleines Gebiet beschränkte und
besonders auf den ^OekonomiehandeU, d. h.
den Zwischenhandel angewiesene Holland
neben seiner monopolistischen Kolonialpolitik
und seiner handelspolitischen Kriegführung
auf die Ausbildung eines strengen Schutz-
systems verzichtete.
Im allgemeinen entspricht jene aktive,
offensive, nach Monopolen, Privilegien \md
Hen-schaft im Auslande strebende Handels-
politik vorzugswei>e dem Standpunkte und
den Interessen des Kaufmannes, die den
fremden Mitbewerb im eigenen Lande ab-
wehrende Schutzzollpolitik aber mehi* dem
Standjnmkte imd den Interessen des in-
ländischen Produzeuten. Der erstere will
vor allem ungeliindert auf der ganzen Erde
Handelspolitik
10H9
seine Geschäfte machen können; dabei sind
ilini aber Monopole und Privilegien überall
erwünscht, wo er sie erlangen kann. Im
Inlande verlangt er wenigstens, dass ihm
die Einfuhr fremder Waren zur Konkuirenz
mit einheimischen Erzeugnissen nicht er-
schwert werde. Der inländische Produzent
aber wünscht sich vor allen Dingen den
inneren Markt vorzubehalten, d. h. den Preis
seiner Erzeugnisse durch Verbot oder hohe
Belastung der fremden Konkurrenzwaren
möglichst gesteigert zu sehen. Auf die
Ausfuhr seiner Waren legt er zunächst
w^eniger Wert; wenn es ihm zweckmässig
erscheint, kann er sich Absatz im Auslande
gewissermassen erzwingen, indem er unter
dem auf dem geschützten inneren Markte
geltenden Preise verkauft. Erst wenn der
betreffende Industriezweig eine weit über
den einheimischen Bedgfff hinausgehende
Produktionskraft gewonnen hat, erhält die
Ausfuhr für ihn eine hervorragende Bedeu-
tung. Dann aber weinlen seine Vertreter
vielleicht zu der Einsicht gelangen, dass sie
die fremde Konkurrenz im Inlande nicht
mehr zu fürchten haben und dass sie von
den ausländischen Schutzzöllen mehr Nach-
teil als von den inländischen Vorteil haben.
Sie werden daher jetzt geneigt sein, auf
das Schutzsystem zu verzichten, wenn sie
dadurch für ihre Ausfuhr in andere Länder
Zollerleichterungen erlangen können. Eben-
so gern übrigens wie die Kaufleute sehen
es auch die exportierenden Gewerbetreiben-
den, wenn ihnen solche Zugeständnisse ohne
Gegenleistungen durch den Machteinfluss
ihres Landes bei schwächeren Staaten ver-
schafft werden. England liefert das typische
Beispiel für diese Entwickelung der Handels-
politik. Von der zweiten Hälfte des 17. bis
zu den zwanziger Jaliren dieses Jahrhunderts
herrschte dort eine wesentlich durch die
Handelsinteressen geleitete kriegerische Ko-
lonial- imd Machtpolitik in V^erbindung mit
einem rücksichtslosen Schutzsystem, das
neben den Interessen der Industrie und
Schiffahrt auch die der Grundbesitzer mit
umfasste. Dann folgte Bekehrung der In-
dustrie zum Freihandel, der im Interesse
der Verbilligung der industriellen Produktion
schliesslich auch dem Gnmdbesitze für die
landwirtschaftlichen Ei-zeugnisse aufgenötigt
wui'de.
Aber auch nach der vollständig fi-eihänd-
lerischen Umgestaltung des ZoUtarifes be-
hielt die englische Handelsix)litik nach aussen
iliren aktiven Charakter noch bei. Zur
Sicherung seiner Stellung in Indien, deren
Wert wesentlich in Handelsvorteilen besteht,
scheute England auch in der Zeit seiner
ausgeprägtesten Friedenstendenz kriegerische
Unternelmiungen nicht, wie es vom Krim-
kriege bis zur Besetzimg Aegyptens wieder-
holt bewiesen hat. China und Japan haben
ebenfalls noch nach dem Siege der Man-
chesterpartei die offensive englische Handels-
politik empfinden müssen. In der neuesten
Zeit vollends hat England teils infolge des
Dm-chdringens der imperialistischen Politik,
teils unter dem Einfluss bestimmter materiellei^
Interessen wieder offen die Bahn der Er-
oberungen eingeschlagen und zwar in Süd-
afrika gegen eine Bevölkerung von eiux)-
päischer Abkunft. Da die Vereinigten
Staaten ebenfalls von ihren früheren Prin-
cipien abgewichen und zu einer Expansions-
politik übergegangen sind, so wird der
Wettbewerb der pt)ssen Kulturvölker um
Platz und Einfluss im Welthandel in dem be-
ginnenden Jahrhundert sich vielleicht weniger
Niedlich abspielen, als man in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahi'hundei'ts er-
warten durfte. Der Sieger mag dabei seinen
Vorteil finden; für die wirtschaftliche Ent-
wickelung der Kulturwelt im ganzen aber
kann diese verstärkte Wiederbelebung der
Machtpolitik im Weltverkehr nur schädlich
wirken. Beseitigung von Einfuhrverboten und
sonstigen Handeishindeniissen in schwäche-
ren Ländern kann allenfalls erzwungen
werden, nicht aber wirklich lohnender Waren-
absatz. Zu fruchtbarem Gedeihen kommt
der internationale Handel nur in friedlichem
Verkehr. Der Stützpunkt der sich, wie es
scheint, bei den Grossstaaten anbahnenden
neuen handelspolitischen Phase ist die See-
macht, und die neu in Sicht gekommene
mögliche, wenn auch nicht wahi^scheinliche
Gefahr ist die, dass die gi^össte Seemacht
den Versuch machen könnte, sich durch
Vernichtung des Seehandels anderer Staaten
von einem lästigen Mitbewerb zu befreien.
Wenn also jetzt von Schutz des überseeischen
Handels die Rede ist, so ist dabei nicht
bloss an die Abwelir von Uebergiiffen süd-
amerikanischer oder anderer sekundärer
Staaten zu denken, für die einige Kreuzer
ausreichen würden. Uebrigens verlieren die
friedlichen Mittel der Handelspolitik, ins-
besondere die Handelsverträge durch die
grössere Machtentfaltung des sich ihrer be-
dienenden Staates keineswegs an Wirksam-
keit, vielmelir können sich ihre Aussichten
auf Erfolg dadurch nur verbessern.
4. Die Zwecke des Schutzsystem».
Gegen eine aktive auswärtige Handelspolitik,
die durch kräftiges Auftreten und günstige
Handelsverträge die ausländischen Märkte
ei*sehliesst, haben auch die principiellen Ver-
treter des absoluten Freihandels (s. den Art,
Freihandelsschule oben Bd.mS. 1248 ff.)
nichts einzuwenden, nur verwerfen sie die
Privilegierung monopolistischer Gesellscliaf-
ten für bestimmte Gebiete des auswärtigen
Handels. Auch das Consulatswesen lassen
die Freiliändler gelten, wo es unzweifelhaft
1040
Handelspolitik
den Interessen der Staatsangehörigen im
Auslände Schutz und Förderung gewährt,
aber sie sind häufig sehr skeptisch in Bezug
auf die Anerkennung dieser xhatsache. Die
Spitze ihres Princips richtet sich wesentlich
nur gegen das Grenzschutzsystem, gegen
alle Erschwerung, aber auch gegen alle
Erleichterung der Einfuhr und der Ausfuhr
diu-ch künstliche Mittel. Die Beurteilung
dieses Standpunktes wird erleichtert, wenn
wir zuerst in Betracht ziehen, welche Zwecke
denn thatsächlich für jene Schutzmassregeln
in den verschiedenen Perioden der Wirt-
schaftsgeschichte leitend gewesen sind. Der
Wunsch, »das Geld im Lande zu halten«,
hat schon lange vor der Ausbildung der
Lehre des Merkantilsystems (s. den Art.)
zu protektionistischen Verkehrsbeschränkun-
gen geführt. Zuerst versuchte man es mit
einer symptomatischen Behandlung des an-
geblichen üebels, indem man die Ausfuhr
von Geld und Edelmetall einfach verbot.
Wie bereits oben erwähnt , kamen solche
Verbote schon bei den Römern vor. Im
Mittelalter hingen dieselben teilweise aller-
dings mit der Münzpolitik zusammen, indem
man den durch die Münzverschlechterungen
veranlassten Abfluss des Edelmetalls und
des guten Geldes verhindern wollte. Da-
gegen wurde die Ausfuhr der neuen
schlechten Münzen häufig ausdrücklich ge-
stattet. So verbietet z. B. eine Ordonnanz
Philipps des Schönen vom 1. Februar 1304
die Ausfuhr von Gold und Silber in Ge-
fässen, in Barreu imd in- und ausländischen
Münzen ohne besondere königliche Erlaub-
nis ; jedoch dürfen auswärtige Kaufleute für
den Betrag der verkauften Waren (sofern
diese nicht verboten waren) »pecunias nostras
modemas aureas argenteas et ni^^<c aus-
führen. In einer Ordonnanz Philipps VI.
vom 25. März 1332 wird vorgeschrieben,
dass die fremden Kaufleute ohne besondere
königliche Erlaubnis den Gegenwert für
ihre Waren nicht in Gold, Silber oder Mün-
zen ausführen dürfen, es sei denn, dass sie
Tücher, Pferde oder Pelzwerk eingeführt
hätten; für diese Waren durften sie den
Preis in Goldmünzen des Königs, aber nicht
in anderen ausführen. Auch in England
suchte die Gesetzgebung anfangs, wie Schanz
zeigt, unmittelbar auf die Edelmetallbewegung
einzuwirken, um den Geldvorrat des Landes
zu vermehren. So wurde 1339 bestimmt,
dass für jeden ausgeführten Sack WoUe
zwei Mark Silber zurückgebracht weiden
müssten, für die das Wechselamt geprägtes
Geld gab, und diese Einrichtung wurde in
der Folgezeit mehrfach erweitert und durch
das Verbot der Geldausfuhr ergänzt. Solche
Verbote bestanden überhaupt in fast allen
Staaten bis in das gegenwärtige Jahrhundert
hinein, sogar in Spanien zui* Zeit des stärk-
sten Zuflusses des amerikanischen Goldes
und Silbers. In Deutschland verbot die
Münzordnung von 1524 die Ausfuhr vou
ungemünztem Gold und Silber, der Frank-
furter Reichsabschied von 1571 die vou
rohem Silber und von goldenen und silbernen
Reichsmünzen. Friedrich der Grosse verbot
in dem Bankreglement von 1766 die Aus-
fuhr von guten Friedrichsdor, fremden
Goldmünzen, von Silbermünzen, die nicht
nach dem Leipziger oder Konventionsfuss
gepi-ägt seien, von Gold und Silber in Barren,
alten Tressen, Binichgold und -silber etc.
Kaufleute und Reisende durften nur eine
beschränkte Summe in Friedrichsdor für
ihren Gebrauch mit sich führen, hinsichtlich
der Dukaten jedoch bestand keine solche
Beschränkung.
Seitdem die merkantilistische Handels-
politik — deren wesentliche Grundsätze in
Frankreich schon 1583 von der Notablen-
versammlung zu St. Germain aufgestellt
wurden — mehr und mehr zur Herrschaft
gelangt war, bildeten indes die Verbote der
Edelmetallausfuhr nur ein mehr untergeord-
netes Glied in der Reihe der Massregelo,
durch die man das eigentlich erstrebte Ziel,
nämlich eine »günstige Handelsbilanz«
(s. den Art. Handelsbilanz oben S. 980ff,)
zu eri-eichen suchte. Mehr als zw^ei Jahr-
hunderte lang hat man in fast allen Kidtm-
ländern in der günstigen Handelsbilanz die
Quelle des Reichtums zu erkennen geglaubt,
und es wäre jedenfalls sehr auffallend, wenn
sich die Beteiligten so lange in betreff ihres
eigenen Vorteils vollständig geirrt hätten.
Es ist nun aber auch unzweifelhaft wirklich
ein Gewinn für ein Land, wenn es im Ver-
kehr mit einem anderen für eine gewisse
Wertsumme in seinen eigenen Erzeugnissen
eine grössere Wertsumme in anderen Gütern
eintauscht. Und zwar kommt dabei nicht
in Betracht, dass diese eingetauschten Güter
im Auslande selbst geringeren Wert haben,
sondern für ihre Schätzung als Reichtums-
elemente des Inlandes sind nur die Bedürf-
nisse und Marktverhältnisse des letzteren
selbst massgebend. Selbst wenn der hohe
Wert der vom Auslande bezogenen Waren
nur dimih einen ungewöhnlichen Mangel
oder Produktionsausfall im Inlande, z. B.
durch eine schlechte Ernte entstanden ist
oder >venn die Preise der inländischen
Waren durch ungewöhnliche Ereignisse, ^ie
z. B. eine Krisis, unter den normalen Stand
herabgedrückt sind, so bleibt doch auch
unter solchen Umständen eine günstige
Handelsbilanz im obigen Sinne ein relativer
Vorteil für das Land. Es wird eben dabei
doch nach dem inländischen Massstabe ein
grösserer Gesamtwert gegen einen kleineren
eingetauscht. Der Aktivsaldo der Handels-
bilanz bildet also wirklich einen Zuwachs
Handelspolitik
1041
des Nationalreichtums. Aber er bildet
erstens bei weitem nicht die einzige Quelle
desselben, und zweitens braucht dieser Wert-
tXberschuss keineswegs, wie die merkanti-
üstische Theorie annahm, in der Fonn von
Edelmetall eingeführt zu werden, imi eine
wirkliche Bereicherung zu gewähren, wie
auch drittens eine Mehrabgabe von Edel-
metall an das Ausland keineswegs notwendig
mit einem Veriust verbunden ist, sondern
in dem Oesamtresultat des Verkehrs noch
einen Gewinn übrig lassen kann. Diese
Ueberschätzung der Bedeutung der Edel-
metalle beruhte darauf, dass man in ihnen
die dauerhaftesten und sichersten Verkörpe-
rungen des wirtschaftlichen "Wertes erblickte.
Eine Einfuhr von Edelmetall betrachtete
man daher als eine Vermehrung des ge-
sicherten Örundstockvermögens des Landes.
Eingeführte Konsumtionswaren galten von
diesem Standpunkte keineswegs als volles
Aequivalent für eine ihrem Marktwert ent-
sprechende bare Geldsumme. Sie waren ja
rasch vergänglich und schienen daher keinen
bleibenden Bestandteil des Volksreichtimis
auszumachen. Man erkannte eben noch
nicht, dass die Konsumtionswaren als solche
nur den Konsumenten gegenüber erscheinen,
dagegen in den Händen der Produzenten
und Kaufleute einen Teil des Kapitals der-
selben büden, der nicht nur seinem "Werte
nach, mit der öeldform abwechselnd, nor-
malerweise immer erhalten bleibt, sondern
auch, wenn die Versorgung der Bevölkerung
sich nicht verschlechtern soll, in seinem
Naturalbestande immer erneut werden muss.
Vermehrung dieser ständigen Handelsvor-
räte bei entsprechend fortschreitender Kon-
sumtionsföhigkeit der Bevölkerung ist daher
unzweifelhaft eine Vergrösserung des Ge-
samtkapitals des Landes, während eine ein-
geführte Summe in Gold oder Silber mög-
licherweise von vornherein in das Ein-
kommen von Personen fällt, die dieses Geld
nicht als Kapital, sondern zu konsumtiven
Zwecken verwenden. Dass überhaupt die
Verbrauchs- und Gebrauchsgegenstände ver-
zehrt oder abgenutzt werden, ist die beste
Sicherung des Wertes der zu ihrem Ersatz
eingeführten Waren. Das Edelmetallgeld
dagegen büsst, gerade weil es sich nicht
merklich abnutzt und immer mehr im Ver-
kehr ansammelt, bei fortgesetzter grösserer
Einfuhr allmählich mehr und mehr von
seinem relativen "Werte gegenüber den
Waren ein, eine Thatsache, die schon bald
nach der Preisrevolution des 16. Jahrhunderts
von mehreren Schriftstellern erkannt worden
ist. Wenn die merkantUistische Handels-
IK>litik jeden Abfluss von EdelmetaD für
eine Schädigung des National wohlstau des
lüelt, so hing dies wieder mit der still-
schweigenden Annahme zusammen, dass
diese Ausfuhr auf Kosten des nationalen
Kapitals, nämlich des zu Produktionszwecken
verfügbaren Vermögens erfolge, unter Um-
ständen kann dies ja in der That der Fall
sein; z. B. wenn die verschwenderischen
Grossen eines wirtschaftlich wenig leistenden
Volkes für grosse Summen kostbare Luxus-
waren aus dem Auslande beziehen, deren
Gegenwert durch einheimische Ausfuhrwaren
nicht voll aufgebracht werden kann, wodurch
dann schliesslich eine Ausgleichungszahlung
in Geld notwendig wird. Ein solches Land
wird natürlich in kurzer Zeit der Ver-
armung verfallen, aber nicht wegen der
Ausfuhr seines Edelmetalls, sondern wegen
der ünwirtschaftlichkeit und ünproduktivität
seiner Bewohner. Ein sparsam wirtschaf-
tendes Volk dagegen kann selbst eine Geld-
ausfuhr von vielen Millionen Mark, die etwa
zur Deckung eines Ernteaus&Jls nötig ge-
worden sein mag, ertragen, ohne dass das
Nationalkapital angegriffen wird, indem die
Nation nämlich diese Zahlung aus ihrem
Einkommen bestreitet und die Einbusse
durch Beschränkung ihrer sonstigen Kon-
sumtion ausgleicht. Vor allem aber ist das
bare Geld ein bequemes Mittel, um die
Kapitalmacht eines Landes nach aussen zu
übertragen und dort an den vorteilhaftesten
Stellen auszunutzen, so dass die Ausfuhr
von Edelmetall geradezu zur Quelle eines
besondere reichen Gewinnes werden kann,
gleichviel in welcher Wertform dieser dem
Inlande schliesslich zufüesst. Diese Bedeu-
tung der Geldausfuhr haben geschäftskundige
englische Merkantilisten wie Thoraas Mun
und Josias Child mit Bezug auf den in-
dischen Handel schon klai' erkannt. Auch
hat England mehr als irgend ein anderes
Land nach dieser Erkenntnis gehandelt imd
es durch seine kolossalen Kapitalanlagen in
allen Weltteüen dahin gebracht, dass seine
Handelsbilanz im merkantilistischen Sinne
immer ungünstig, im volkswirtschaftlichen
Sinne aber immer günstig ist, nämlich, ab-
gesehen von den sonstigen Elementen der
Zahlungsbilanz, einen bedeutenden üeber-
schuss des eingeführten Warenwertes (der
zum grossen Teil zur Deckung von Zins-
imd Gewinnzahlungen dient) über den aus-
geführten enthält. Dabei wird der Vorrat
des Landes an Edelmetall dureh die höchste
Ausbildung des auf Kredit beruhenden üm-
laufsmechanismus absichtiich so niedrig wie
irgend möglich geliälten.
Die merkantilistischen Ansichten über
die Bedeutung der günstigen Handelsbilanz
und des bai'en Geldes können also zur Recht-
fertigimg des Schutzsystems nicht geltend
gemacht werden. Nach ihrer thatsächlichen
Tendenz konnten aber diese Schutzraass-
regeln auch von einem anderen Gesichts-
punkte aufgefasst wei-den, nämhch als Hilfs-
Handwörterbnch der Staatswisseiucbaften. Zweite Auflage. lY.
66
1042
Handelspolitik
mittel zur industriellen Erziehung
eines Volkes. Diese Anschauung war auch
den älteren Merkantilisten nicht fremd, aber
eret List machte sie zum Hauptargument
für das Industriesehutzsystem, indem er die
Rücksicht auf die Handeisbilanz ganz zu-
rücktreten liess, während Carey, der im
übrigen Last nahesteht, auf die Vermehrung
des Edelmetallvorrats des Landes wieder
mehr Gewicht legt. Nach der Erziehungs-
theorie sollen ebenso wie nach der mer-
kantilistischen Lehre die staatlichen Schutz-
massregeln, namentlich aber die Schutzzölle,
unmittelbar nur zur Hebung der Industrie
dienen (deren Blüte alsbald auch der Land-
wirtschaft zu gute kommen würde), aber
nicht deshalb, weil die Ausfuhr von In-
dustrieerzeugnissen das meiste Geld ins
Land bringe und die Einfuhr von solchen
die Geldausfuhr besonders vergrössere, son-
dern weil die Produktivkräfte eines Landes,
namentlich auch die Arbeitskraft einer zu-
nehmenden Bevölkenmg, nur durch Aus-
bildung einer ausgedehnten Industrie ge-
nügend verwertet werden könnten, anderen-
falls aber zu einem ^ssen Teil brach
liegen würden, was hinsichtlich der Arbeits-
kraft einen unwiederbringlichen Verlust für
die Volkswirtschaft bedeute. Selbst eine
zeitweilige Einbusse an Tauschwerten darf
nach dieser Ansicht nicht gescheut werden,
um den dauernden Gewinn der sonst ver-
loren gehenden Produktivkräfte zu sichern.
Carey fügt diesen Erwägungen noch hinzu,
dass" ein Land nicht imstande sei , einen
grossen Teil seines Bedarfs an Industrie-
erzeugnissen dauernd von aussen im Aus-
tausch gegen Bodenprodukte zu beziehen,
weil in diesen wertvolle Mineralbestandteile
enthalten seien, durch deren Verlust der
Boden schliesslich der Erschöpfung verfalle.
In erheblichem Masse trifft dies indes nur
bei der Getreideausfuhr zu, und auch in
diesem Falle kann durch Einfuhr von künst-
lichen Düngemitteln — wie denn z. B. die
östlichen Staaten Nordamerikas schon grosse
Mengen Kalisalze aus Eiu^pa beziehen —
Ersatz geschaffen werden. — Eine gewisse
gnmdsätzliche Berechtigung ist dieser Er-
ziehungsmethode nicht abzusprechen, aber
es bleibt einfach eine Sache des Experiments,
zu entscheiden, ob sie bei einem gegebenen
Volke unter gegebenen Umständen für be-
stimmte Industriezweige mit Erfolg an-
wendbai* ist. Es wäre thöricht, in einem
Lande eine Industrie künstlich züchten zu
wollen, deren naturgemässe Vorbedingungen
dort völlig fehlen. In der neuesten Zeit
macht Italien, dessen Industrie im allge-
meinen durch den Mangel an Kohlen und
verhältnismässig auch an Eisenerzen benach-
teiligt wird, solche Erziehungsversuche durch
Schutzzölle, die indes bisher wenig Resultate
gehabt haben. Jedenfalls aber sind Länder
von so bedeutender Industrieentwickelung
wie Deutschland entschieden über diese Er-
ziehungsperiode hinaus, und daher sind
Schutzzölle zum Zweck der Einbür^rung
eines neuen oder noch wenig vorgeschrittenen
Industriezweiges, z. B. der Baumwollfein-
Spinnerei, nicht gerechtfertigt. Wenn solche
einzelnen Zw^eige trotz der sonstigen grossen
Leistungsfähigkeit der Industrie nicht auf-
kommen können, so ist dies ein Beweis da-
filr, dass für sie der natürliche Boden nicht
gegeben ist. Sie werden daher auch durch
den Schutzzoll nicht emporgebracht, wie
dies wieder die Erfahrungen mit der Fein-
spinnerei in Deutschland bestätigt liabeo.
Dagegen ist die Verteuerung der feinen
Game durch den Schutzzoll von der solche
Garne verarbeitenden Weberei als eine Be-
lastung empfunden worden.
In der neueren Zeit ist neben der Rück-
sicht auf die wirtschaftliche Verwertung
der nationalen Produktivkräfte auch die
soziale Bedeutung des Gedeihens und
Fortschreitens der Industrie geltend gemacht
worden. Die erste Bedingung einer Besser
rung der Lage der Arbeiter ist reichliche
Nachfrage nach Arbeitskräften, und diese
kann, sobald die Bevölkerung eine gewisse
Dichtigkeit erreicht hat, nur durch (ße Aus-
breitung und Vermehrung der industriellen
Produktion gesichert werden. Aber auch
dieser Anschauung gegenüber bleibt die ent-
scheidende Frage, ob und wie weit unter
den gegebenen Umständen die künstliche
Unterstützung eines Industriezweiges mit
wirklichem Vorteil für die Gesamtheit mög-
lich sei und ob nicht die mit den Schutz-
massregeln verbundenen Nachteile für andere
Produktionszweige oder für die Konsumenten
jenen Vorteil wieder aufheben.
Die Interessen der Landwirtschaft finden
bei den Erwägungen der vorgedachten Art
keine Berücksichtigung, sie wurden unter
der Herrschaft des Merkantilsystems sogar
vielfach durch die Erschwerung der Aus-
fuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln ge-
radezu geschädigt. Daher hat denn auch
die Landwirtschaft dem reinen Industrie-
schutzsystem gegenüber sich stets frei-
händlerisch verhalten. Es gelang ihr aber
in England schon in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts, auch ihrerseits Teil an
dem Zollschutz zu erlangen, und in Frank-
reich wurden ihr in den nächsten Jahren
nach der napoleonischen Kriegsperiode ähn-
liche Zugeständnisse gemacht. So entstand
ein allgemeines, alle Produktionszweige um-
fassendes Schutzsystem, das man im Ge-
gensatz zu dem industriellen als Solidaritäts-
system bezeichnen kann, weil nach der An-
sicht seiner Verteidiger in ihm die Solidari-
tät der gesamten nationalen Ai-beit den
Handelspolitik
1043
leitenden Gesichtspunkt bildet. Dieses
System ist seit 1879 auch in Deutschland
zur Geltung gelaugt. Auch hat es oline
Zweifel dem Industrieschutzsystem gegen-
über eine genügende theoretische Berech-
tigung. Denn die Landwirtschaft macht
doch ebenfaUs nationale Produktivkräfte
nutzbar und sie beschäftigt in den meisten
LÄndem mehr Arbeiter als die Industrie.
Andererseits aber wiitl sie durch die in-
dustriellen Schutzzölle in mancher Be-
ziehung geschädigt und sie empfindet es
besonders sehr imangenehm, wenn durch
die künstlich geförderte Ausdehnung der
Industrie immer mehi* Arbeiter vom Lande
in die Städte und industriellen Bezirke ge-
zogen werden. Die Vertreter der geschützten
Industrie können daher ihrerseits nichts
Stichhaltiges einwenden, wenn die landNvii-t-
schaftlichen Pi-oduzenten ebenfalls Zollschutz
verlangen. Diese beiden Interessentenkreise
haben sich denn auch auf dem europäischen
Kontinent in der neueren Zeit ohne grosse
Schwierigkeit über ein allgemeines Schutz-
system verständigt. Allerdings musste jeder
Beteiligte erwarten, dass er als Konsument
wieder einen Teil des Nutzens einbüsse,
den er als Produzent durch den Schutz ge-
wonnen hatte. Jedoch könnte er möglicher-
weise einen üeberschuss an Gewinn da-
durch behalten, dass der aus Arbeitern und
Dienstleistenden bestehende Hauptteil der
Konsumenten sich nicht in gleicher Weise
für die Verteuerung der geschützten Er-
zeugnisse schadlos zu halten imstande wäre.
Die Verteidiger des Schutzsystems stellen
dies aber in Abrede imd versichern, dass
die Löhne und Gehälter bei der allgemeinen,
durch das Schutzsystem erzeugten Blüte
der Volkswirtschaft ebenfalls entsprechend
in die Höhe gehen würden, eine Behaup-
tung, die jedenfalls für die Perioden des
Niedergangs und der Stagnation nicht zu-
trifft, die nachweislich bei protektionistischer
Handelspolitik ebenso oft vorgekommen sind
wie bei freihändlerischer. Auch wird be-
hauptet, dass die Schutzzölle überhaupt
keine oder nur eine geringe Verteuerung
der betreffenden Waren nach sich ziehen,
weil sie ganz oder teilweise vom Auslande
getragen würden. Richtig ist in diesem
Satze nur, dass die Verteuerung nicht
immer die volle Höhe des ZoUes erreicht;
Näheres über diesen Punkt findet man in dem
Art. Einfuhrzölle (oben Bd. HI S. 334).
5. Kritik des Schutzsystems und der
Freihandelstheorie. Die Vertreter des
allgemeinen Schutzsystems sehen die wich-
tigst« Wirkung desselben darin, dass es die
Intensität des inneren würtschaflüchen
Lebens, gleichsam die molekulare Bewegung
im Gesellschaftskörper steigere, dass die
unnötigen Ti-ansporte in die Ferne und die
dadurch bedingten Abgaben an die nicht
selbst pi-oduzierende Klasse der Händler
wegfellen, dass soweit wie möglich die
ganze Güterproduktion der nationalen Arbeit
übertragen werde, wobei der Pi-oduzent den
Konsumenten stets unmittelbar an seiner
Seite finde. Bei dieser Argumentation wird
übersehen, dass die ausländischen Produkte,
wie schon oben bemerkt, keineswegs auf
Kosten dos Kapitals oder des Grundstock-
vemiögens des Landes bezogen, sondern im
gi*ossen und ganzen gegen inländische Pro-
dukte ausgetauscht werden. Selbst wenn
das Inland die Transport- und Handelskosten
tragen muss, wird es sich jene Waren durch
solchen Austausch in der Regel mit einem
geringeren Aufwand an Arbeit und Kapital
verschaffen können, als wenn es sie selbst
herstellen wollte. Die Gefalir, dass das In-
land seine Ausfuhrwaren bei diesem Ver-
kelu' nicht ausreichend verwerten könne,
sie also mehr oder woniger verschleudern
müsse, ist jedenfalls bei freiem Handel in
geringerem Masse vorhanden als unter dem
Schutzsystem; denn es ist eine notorische
Thatsache, dass viele geschützte Produzenten
unter Umständen es vorteilhaft finden, um
den ihnen gesicherten inneren Markt zu
entlasten, einen Teil ihrer Erzeugnisse zu
herabgesetzten Preisen, ja sogar unter den
Selbstkosten an das Ausland abzugeben.
In einigen Fällen findet diese Besehen kung
des Auslandes nicht auf Kosten der Produ-
zenten selbst statt, sondern mittelst Ausfuhr-
prämien von Seiten des Staates.
Die Gesamtwirkimg des Schutzsystems
besteht nun in der That darin, dass es
unter gewissen Umständen in dem geschütz-
ten Lande eine verhältnismässig grössere
Summe von Arbeitskräften und Kapital kon-
centriert, als sich ohne künstliche Hilfsmittel
dort vereinigt haben würde. Aber die Aus-
nutzung der künstlich in Thätigkeit gesetzten
Kapital- und Arbeitskräfte findet unter
ungünstigen Bedingungen statt, gewährt also,
wenn auch vielleicht privatwirtschaftüch
den Kapitalisten, so doch nicht volkswirt-
schaftlich den normalen Nutzeffekt. Denn
diejenigen Produktionszweige, die sich'
günstiger natürlicher Bedingungen erfreuen,
bedürfen des künstlichen Schutzes nicht,
sie können häufig überhaupt nicht geschützt
werden, weil sie von vornherein allen Mit-
bewerbern überlegen sind, ja sie werden
vielfach durch das Schutzsystem geradezu
geschädigt, weil ihnen zu Gunsten der
schutzbedürftigen Produktion Kapital und
Arbeitskräfte entzogen und Maschinen, Halb-
fabrikate und andere Bedarfsgegenstände
verteuert werden. Immerhin aber kann es
vom nationalwirtschaftlichen Gesichtspunkte
wünschenswert erscheinen, dass die Zahl
der beschäftigten Arbeiter sich vermehre,
66*
1044
Haadelspolitik
wenn auch die Produktionsleistung auf den
Kopf dadurch geringer wird, als wenn eine
kleinere Arbeiterbevölkerung ausschliesslich
in denjenigen Zweigen thätig wäre, für
welche die w^u^tschaftlichen Bedingungen
besonders günstig sind. Wenn freilich auf
diesem letzteren, gewissermassen von der
Natur angewiesenen Gebiete auch die ver-
mehrte Zahl der Arbeitskräfte Yen^^endung
finden könnte, so w^äre es natürlich thöricht,
eine künstliche Ablenkung derselben auf
weniger naturgemässe Produktionszweige zu
unternehmen. Aber thatsächlich sind viele
Länder so massig oder so knapp ausge-
stattet, dass sie nach ihren besonderen na-
türlichen Produktionsbedingungen im Mitbe-
werb mit anderen nur eine schwache Be-
völkerung imterhalten können. Durch das
Schutzsystem kann dann möglicherweise
auch die Produktion unter ungünstigen Be-
dingungen ausgedelmt und dadurch zugleich
die Vottszahl vergrössert werden; aber die
Hauptsache bleibt doch, dass die Bevölkerung
unter solchen Umständen diutjh ihre eigene
Tüchtigkeit, durch Fleiss, Geschicklichkeit
und Sparsamkeit die Ungiuist der Natiu-be-
dingungen soweit wie möglich ausgleicht.
Wenn eine Nation diese Eigenschaften nicht
besitzt, so wird ilir auch das Schutzsystem
nicht helfen können.
Nehmen wir aber an, dass die Bedingun-
gen, unter denen das Schutzsystem die na-
tionale Produktionsthätigkeit steigern kann,
in einem Lande gegeben seien, so bleibt die
Möglichkeit zu bedenken, dass alle oder
wenigstens viele Staaten dasselbe System
annehmen und den gegenseitigen Austausch
derjenigen Waren, die jeder nach seiner
natürlichen Ausstattimg besonders leicht
herstellen kann, erschweren oder verhindern,
um möglichst viele Güterarten, wenn auch
mit grösserem wirtscliaftlichen Aufwände,
selbst zu produzieren. Es ist klar, dass
dann in dem ganzen StaatenJcomplexe die
Gesamtheit der Produktivkräfte mit ge-
ringerem Effekt ausgenutzt würde, als es
bei freiem Güteraustausch möglich wäre.
Gleichwohl könnte dieser Zustand den von
der Natur weniger freigebig ausgestatteten
Staaten von ihrem nationalen Standpunkte
erwünschter scheinen, weil sie in demselben
eine grössere Bevölkenmg festzuhalten im-
stande wären als bei dem Freihandels-
systeme. Aber andererseits ist es auch
leicht möglich, dass der Schaden, den die
Schutzsysteme des Auslandes der inlän-
dischen Volkswirtschaft zufügen, den Ge-
winn aus den eigenen Schutzzöllen wieder
völlig ausgleicht. Gerade wenn das Schutz-
system wirklich etwa auf die Industrie einen
anspornenden und fördernden Einfluss aus-
geübt hat, wird sich bald die Notwendigkeit
ergeben, für einen Teil der Mehrpi-oduktion
Absatz im Auslande zu suchen, und wenn
diese Bestrebungen an den fremden Zoll-
schranken scheitern, so droht dem Inlande
Ceberproduktion mit deren schlimmen Folgen,
gegen die das Schutzsystem machtlos ist.
Im ganzen ergiebt sich aus den vor-
stehenden Erwägungen, dass die für das
Schutzsystem geltend gemachten Gründe
keineswegs genügen, um ihm einen prin-
cipiellen Vorzug vor dem Freihandelssysteme
zu verschaffen oder um die Einführung
desselben in einem Lande, wo es noch nicht
besteht, grundsätzlich empfehlenswert er-
scheinen zu lassen. Allerdings reichen auch
die abstrakten Argumente zu Gunsten der
Freihandelstiieorie nicht aus, um die aus-
schliessliche Berechtigung derselben als
Norm für die Handelspohtik zu beweisen.
Jene Theorie ist am schärfsten von Ricardo
formuliert worden. Sie läuft auf den Nach-
weis hinaus, dass ein Land A, das einem
anderen B gegenüber in allen Produktions-
zweigen ungünstiger gestellt wäre, dennoch
bei freiem Verkehre mit diesem volkswirt-
schaftlich besser stehe als bei der Anwen-
dung des Schutzsystems. Denn das Land
A würde im ersteren Falle sich auf die Er-
zeugung derjenigen Waren beschränken, die
es nach seinen eigenen Produktionsbe-
dingungen verhältnismässig am besten
und billigsten liefern könnte, während die-
jenigen Waren, die es selbst nur mit ver-
hältnismässig grossen Schwierigkeiten und
Kosten herstellen könnte, mit geringerem
Arbeitsaufwande im Austausche gegen Er-
zeugnisse der ersteren Art vom Auslande
beziehen würde. Ein solcher Austausch ist
allerdings nur möglich, wenn der Wert
des Geldes in den beiden Ländern ge-
nügend verschieden ist, insbesondere die
Arbeitseinheit in A auf einem niedrigeren
Preise in Edelmetall steht als in B. Nach
Ricai^do kommt eine solche Versehiebimg
des Geldwertes automatisch zustande, indem
beim Anfange des Verkehres das Land A
die aus B bezogenen Waren nur mit barem
Gelde bezahlen kann; dadurch erhält dann
aber bald das Geld in A einen so hohen
Wert, dass die Waren, die es unter den
relativ günstigsten Bedingungen herstellen
kann, bei den nunmehr bestehenden Frei-
handelspreisen ausfuhrfähi^ werden. Aber
bei dieser Betrachtung wird keine Rück-
sicht genommen auf die schwere Erschütte-
rung, welche die ganze Volkswirtschaft und
die ganze Vermögensverteilung des Landes
A dmxjh die vorausgesetzte Erhöhung des
Geldwertes, d. h. die Herabdrückimg aller
Warenpreise und die Erschwerung aller
Schuldenlasten, erleiden muss. Für ein
neues, erst in der Besiedelung befindliches
Land mag jene Anpassung an den Verkehr
mit wirtschaftlich überlegenen Nationen sich
Handelspolitik
1045
leicht vollziehen, in den alten Kulturländern
aber ist ein gewisses Preisniveau historisch
gegeben und es handelt sich praktisch in
der Regel um die Frage, ob vorhandene
iSchutzzöUe aufzuheben seien oder auch ob
neue einzuführen seien, wenn ein anderes
Land eine grosse üeberlegenheit in der Pro-
duktionsfähigkeit durch besondere Umstände
neu erworben hat, wie dies z. B. der
Fall war bei England in der Periode der
Einfühi-ung der Maschinenindustrie und in
der neuesten Zeit für die nordamerikanische
Getreideproduktion infolge des Ausbaues des
westlichen Eisenbahnnetzes.
Der praktische Politiker wird unter sol-
chen Umständen die Frage, ob Freihandel
oder Schutzzoll, sicherlich nicht nach dem
obigen doktrinären Schema ohne Rücksicht
auf die schweren Uebel des Ueberganges
entscheiden. Ueberhaupt wird er genötigt
sein, auch auf ausserwirtscliaftliche, insbe-
sondere nationalpolitische Rücksichten mehr
Wert zu legen, als es von seiten der ab-
strakten Freihandel&theorie geschieht. Die
natüi'liche Konsequenz des vollen Freihandels
ist eine von allen nationalen Unterscheidungen
unabhängige Verteilung der Bevölkerung
innerhalb des gesamten Kulturgebietes nach
Massgabe der durch Bodenbeschaffenheit,
Klima, Mineralreichtum, Yerkehrslage etc.
bestimmten natürlichen Pi-oduktionsbedin-
giingen. Wie sich innerhalb des Deutschen
eiches infolge der freien Verkehrsbewegung
die Bevölkerung — und zugleich auch das
Kapital — immer mehr in den Provinzen
mit den besten Wirtschaftsgrundlagen zu-
sammendrängt, während sie in anderen
Landesteilen relativ oder sogar absolut ab-
nimmt, so würde in einem ganz Europa
umfassenden Freihandelsgebiete die Tendenz
zu einer ähnlichen Verschiebung der Arbeits-
kräfte hei-vortreten. Allerdings würde die
Vaterlandsliebe, der lleimatsinn, auch die
natürliche Trägheit der Menschen, sowie die
aus der Verschiedenheit der Sprachen ent-
stehenden Schwierigkeiten jener Tendenz
entgegenwirken, aber gerade dadurch würde
in den weniger begünstigten Gebieten, die
also eigentlich einen Teil ihrer Arbeitskräfte
abgeben müssten, der schwere Druck der
freihändlerischen Konkurrenz und das Uebel
der relativen Ueben-ölkenuig fühlbar werden.
Um so eher könnte es daher berechtigt
erscheinen, wenn ein Staat zur Wahrung
seiner nationalen Interessen, falls diese bei
der dem Freihandelssysteme entsprechenden
Neuverteilung der Bevölkerung bedroht
würden, die natt\rliche Reaktion gegen die
letztere durch protektionistische Massregeln
unterstützte. Die Fi'age würde wieder nur
die sein, wie weit der erstrebte Zweck auf
diesem Wege wirklich und nachhaltig er-
reicht Avenlen könnte.
So zeigt sich immer wieder, dass die
Entscheidung über Freihandel oder Schutz-
system nicht nach abstrakten Theorieen, son-
dern nur nach den besonderen, für jedes
Land vorliegenden Bedingungen gefällt
werden kann. Der Freihandel erscheint
allerdings immer als das naturgemässe
System, und die gewaltige Macht der mo-
dernen Verkehrsmittel wirkt offenbar in sei-
nem Sinne und wird ihm bei ungestörter
Entwickelung der menschlichen Kultur
schliesslich den Sieg verschaffen. Die Frei-
handelspolitik gestattet dem Staate, sich
gegen die wirtschaftlichen Interessengruppen
neutral zu verhalten, während eine der miss-
lichsten Seiten der Schutzpolitik darin be-
steht, dass die materiellen Interessen im
Staatsleben und Parteiwesen eine über-
mächtige Rolle spielen, wobei dann immer
die einen auf Kosten der anderen Vorteile
en'ingen, da eine gleichmässige Befriedigung
aller nicht möglich ist. Praktisch dürfte ftlr
noch im jugendlichen Wachstum befindliche
Länder, die noch freie Walil haben, der Frei-
handel die empfehlenswerteste Politik sein,
ti*otz des von den Vereinigten Staaten ge-
gebenen Beispiels des Gegenteils. Sie ver-
zichten damit allerdings auf die vorzeitige
Züchtung einer grossen Industrie, vermeiden
aber auch die Enstehuug eines Fabrikprole-
tariats und können ihre ganze wirtschaft-
liche Kraft auf die volle Ausnutzung des
Bodens und der Natiu^cliätze verwenden,
indem sie die Maschinen und sonstigen Hilfs-
mittel dazu unter den günstigsten Bedin-
gimgen aus den weiter fortgeschrittenen In-
dustrieländern beziehen. — Wo aber von
alters her Schutzzölle bestehen, haben sich
alle Verhältnisse ihnen angepasst und ihre
Aufliebung darf jedenfalls nur mit Vorsicht
erfolgen, auch nicht aus bloss doktrinären
Gründen, sondern nur wegen bestimmt nach-
gewiesener, überwiegend schädlicher Wir-
kungen einzelner Zölle oder als Gegen-
leistung für handelspolitische Zugeständ-
nisse anderer Staaten. Die Einfühi'ung
neuer Schutzzölle dagegen lässt sich nur
unter besonderen Umständen rechtfertigen,
nämlich einesteils als Notstandsmass-
regel, wenn ein wichtiger Produktions-
zweig durch eine neu auftretende über-
mächtige Konkurrenz in dem Masse bedroht
würde, dass eine grosse Anzahl der im
Lande bestehenden Unternehmungen der be-
treffenden Art sich ohne Schutz voraussicht-
lich nicht mehr würde halten können und
daher eine Vermögen szemittung weiter
Kreise in Aussicht stände. Anderenteils er-
scheint ein Schutzzoll auch als Ausgleichung
für eine sozialpolitische Belastung zu-
lässig, die den einheimischen Produzenten
auferlegt ist, für die ausländischen Kon-
kurrenten aber nicht besteht. In diesem
1046
Handelspolitik
Falle entspricht der Zoll durchaus dem
Finanzzoll, der als Aequivalent für eine
ein inländisches Erzeugnis belastende Ver-
brauchssteuer von den gleichartigen aus-
ländischen Waren erhoben wii'd, vorausge-
setzt, dass dieser sozialpolitische Zoll über
die wirkliche Belastung der inländischen
Produktion nicht hinausgeht Als vorüber-
gehende Massregeln können endlich auch
Kampf Zölle zweckmässig sein, wenn es
nämlich mit deren Hilfe wirklich gelingt,
andere Staaten zur Aufhebung von Ver-
kehrserschwerungen zu bestimmen.
Im allgemeinen darf man übrigens die
Wirkung der Schutzzölle auf die Gesamt-
lage der Volks\\'irtschaft weder in dem
einen noch in dem anderen Sinne über-
schätzen. Sie können einzelnen Klassen
von Produzenten einen ungewöhnlich hohen
Gewinn verschaffen, der schliesslich aber in-
folge der zunehmenden inneren Konkurrenz
wieder herabgedrückt wird. Manche können
sich zeitweise der Masse der Konsumenten
empfindlich fühlbar machen, wie namentlich
die GetreidezöUe bei schlechter Ernte im
Inlande. Im ganzen aber findet auf die
Dauer eine gewisse Ausgleichung der In-
teressen (und auch der Löhne) statt, wobei
sich für die geschützten Waren eine be-
sondere, dem Lande eigentiimliche Preis-
stellung ergiebt. Dann aber zeigt sich, dass
das allgemeine Preisniveau des geschützten
Landes sich im wesentlichen stets parallel
mit dem der freihändlerischen Länder
auf und nieder bewegt, also durchaus
in Abhängigkeit von den allgemeinen welt-
wirtschaftlichen Konjunkturen bleibt. So
trat der wirtschaftliche Niedergang in den
Jahren 1873 bis 1879 unabhängig von Schutz-
zoll und Freihandel in allen Ländern hervor.
Die Besserung in der Lage der deutschen
Industrie, die 1879 bemerkbai' wurde, ist
nicht durch den Wechsel der Handelspolitik
zu erklären, da in dem freihändlerischen
England wie auch in dem schutzzöllnerischen
Amerika eine ähnliche günstige Wendung
schon vor dem Erlass des deutschen Tarifg.
V. 15. Juli 1879 eingetreten war. In den
achtziger Jahren finden wir wiederum in
allen Ländern, welches auch die Richtrmg
ihrer Haudelspohtik sein mochte, eine riick-
gängige Bewegung der Volkswirtschaft, auf
die in den Jaliren 1888 und 1889 ein ebenso
allgemein verbreiteter Aufschwung und dann
wieder ein allgemeiner Rückschlag folgte.
Eine neue Besserung trat 1896 ein, die am
Ausgange des Jahrhunderts die Industrie,
namentbch auch die deutsche, in eine imge-
wöhnlich glänzende Lage versetzte. Es ist
einleuchtend, dass die Solidarität des Wirt-
schaftslebens der Kulturwolt eine notwendige
Folge der moderaen Ent Wickelung des Ver-
kehrswesens bildet und mit den weiteren
Fortschritten des letzteren einen noch höheren
Grad erreichen wird. Theoretisch ist ohne
Zweifel diejenige . Handelspolitik am em-
pfehlenswertesten, die auf vertragsraässigem
Wege allmählich zwischen den im ganzen
auf einer gleichen wirtschaftlichen Stufe
stehenden Völkern die Zollschranken er-
niedrigt und sie schliesslich vielleicht ganz
beseitigen kann. Ob freilich eine die mittel-
europäischen Staaten oder sogar ein noch
grösseres Gebiet umfassende Zolleinigung,
wie sie melirfach vorgeschlagen worden ist
(s. d. Art. Zollverein) schon in absehbarer
Zeit der Verwirklichung fähig wäre, ist
höchst fraglich. Jedenfalls aber werden sich
gewisse Massregeln als nötig erweisen, die
es den mittelemx)päischen Staaten ermög-
lichen, ihre weltwirtschaftliche Stellung
neben den drei Riesenreichen zu behaupten,
von den jedes ein sich fast selbstgenügendes
wirtschaftliches Svstem bildet und von denen
zwei die ausgepi-ägte Tendenz bekunden, sich
gegen die übrige Welt möglichst abzusperren.
— Ceber die Beschränkungen des auswär-
tigen Handels aus polizeilichen Gründen s. die
Artt. Ausfuhrverbote (oben Bd.nS.39ff.)
und Einfuhrverbote (oben Bd.III S.329ff .).
Littoratnr; Aiuaser den bei den Artt, Einfuhr-
verböte vnd Ei nfu hrzöUe angeßlhrten Wer-
ken vgl. Lexis f Abschn. Handel in Sehönbergs
Handh. — List, Das nationale System der politi-
schen Oekonomie, I84I; neueA^isgabe mit geschieht'
licher und kritischer Einleitung von Eheberg,
Stuttgart 188S. — If. Chevalier*, Examen du
Systeme commerciaJ connu sous le nom de systhne
protccteur, 2 hL, Paris 1852, — LehVf Schutz-
zoll und Freihandel, Berlin 1877. — Faicceti,
Freihandel und Zollschutz. Deutseh von Passow,
Berlin 1878. — K, Wal^ker , Schutzzölle,
laisser faire und Freihandel, Leipzig 1880. —
Taussig, Protection to young Industrie* as
applied in the United States, Cambridge Mass,
1883. — Henry George, Schutz oder Frei-
Jiandel. Deutlich von Stöpel, Berlin 1887. —
Beer, Allgemeine Geschickte des Welthandels,
S. Abt. in 4 Bänden, Wieri 1860—1884. — Die
Handelspolitik Nordamerikas, Italiens, Oester-
reichs etc. Berichte und Gutachten (von Mayo-
Smith, Seligmann, Sombart, Peez, Makaim, de
RSus, Erdt, Scharling, Fahlbeck, WiUsekewsky,
Frey, von Scheel) veröffentlicht vom V. f. Sozialp.
(Schriften, XLIX), Leipzig 189g. Dazu Bd. i:
LtOtZf Die Ideen der deutschen Handelspolitik
von 1860—1891; Bd. 3: Die H. der Balkan-
staaten, Spaniens und Frankreichs (von Stroll,
(hrinner, Devers). — Grunzet , Der inter-
nationale Wirtschaftsverkehr und seine Bilanz,
Leipzig 1895. — Derselbe , Handbuch der
internationalen Handelspolitik, Wien 1898. —
Wemichef System der nationalen Scltulz-
politik nach aussen , Jena 1896. — Colin,
System, Bd. III yationalökonomie de* Han-
dels- und Verkehrswesens, Stuttgart 1898. —
Röscher, System, Bd. III Xationalokonomik
des Handels- U7id Geirerbeßeisscs, 7. Aufi., be-
arbeitet von Stieda, Stuttgart 1899. — Schrißen
drr Centralstelle für Vorbereitung von Handels'
Handelspolitik — Handelsrecht
1047
vertrügen, Heft 1^7, Berlin 1898199. — Ä
Ehvefiberg, Handelspolitik, 5 Vorträge, Jewi
1900. — Handels- und Machtpolitik, Reden und
Au/itatze im Auftrage der n Freien Vereinigung
ßlr Flottenvorträge u, herausgeg. von Schmoll er ,
JSeri n g , Wa gner, Bd. 1 u. II, Stuttgart 1900. —
SchmolleVf Die Wandlungen der europäi^schen
Handelspolitik im 19. Jahrhundert, Jahrb. für
Oesrtzg. u. Vene., XXIV. Jahrg., 1900, S. 873 ff.
Lejcls,
Handelsreclit.
(Geschichtliche Ent Wickelung.)
I. *) 1. Einleitung. 2. Das H. der alten
Welt. B. Das H. im Mittelalter. 4. Das H.
der neueren Zeit. II. Geschichtliche Entwicke-
Inng der neuesten Zeit.
I. 1. Einleitung. Versteht man unter
»Handel <' den Güterumsatz schlechthin, so
fällt die Geschichte des »Handelsrechts^^ mit
der Geschichte des Yerkehrsrechts zusam-
men, umschliesst somit auch den grössten
Teil des gemeinen Obligationenrechts und
einen grossen Teil des Sachenrechts. Nimmt
man dagegen den Begriff »Handel« in dem
engeren, allein technischen Sinne einer den
Gütenimsatz vermittelnden Erwerbsthäti^-
keit, so umfasst das »Handelsrecht« nur die
diesem besonderen Zweige wirtschaftlicher
Thätigkeit eigentümlichen Kechtsnomien und
hat die Geschichte des Handelsrechts nur
die Entwickelung dieses besonderen Rechts-
zweiges darzulegen.
Ein derartiges Sonderrecht hat sich seit
alter Zeit aus iimeren wie aus geschicht-
lichen Ursachen gebildet. Seine charakte-
ristischen Eigenschaften sind im Gegensatz
zum gemeinen bürgerlichen Recht die grös-
sere Freiheit, Beweglichkeit, endlich das
höhere Mass universaler (kosmopolitischer)
Geltung. Es ist um so dürftiger, je weni-
ger entwickelt einerseits die besondere
Thätigkeit des Handels ist, je mehr anderer-
seits das gemeine bürgerliche Recht den
besonderen Bedürfnissen des Handels ent-
spricht: letzteres ist auch bei reicher Ent-
faltung der Handelsthätigkeit möglich, üeber-
all aber nimmt es dem gememen bürger-
lichen Recht gegenüber eine liahnbrechende
Reformstellung ein. Wie dem Handel die
Rolle des Organisators und damit auch des
Herrschers in der gesamten Volkswirtschaft
zufällt (SchmoDer), so ist auch das Handels-
recht unter dem vorherrschenden EinÜuss
wde überwiegend nach den Interessen der
wirtschaftlich am höchsten geschulten und
weitsichtigsten Bevölkenmgsklassen ausge-
bildet. Indem seine Tendenzen das gesamte
^) Aus der ersten Auflage (1892) ohne sach-
liche Aenderangen im Texte wiederholt.
bürgerliche Recht zu durchdringen pflegen
verengt es, in diesem allmählich zu erheb-
lichem Teile aufgehend, auf der einen Seite
seinen Sonderkreis, während gleichzeitig auf
der anderen Seite durch neu hinzutretende
Rechtssätze, welche mindestens zunächst
oder gar schlechtlün nur den besonderen
Bedürfnissen des Handels entsprechen, sein
Umfang in stetem Waclisen begiiffen ist.
Sein jedesmaliges Verhältnis zum gemeinen
bürgerlichen Recht ist so stets ein rela-
tives: ein beträchtlicher Teil des heutigen
gemeinen bürgerlichen Rechts ist ursprüng-
lich blosses SondeiTCcht des Handeis ge-
wesen, ein erheblicher Teil des heutigen
Handelsrechts strebt danach, ziun gemeinen
bürgerlichen Recht zu werden.
Findet in dem Handel und diu-ch den-
selben wie der wirtscliafthche Zusammen-
schluss, so die kapitalistische Organisation
der Gesellschaft ihre volle Ausbildung, so
mag man das Handelsrecht als das Recht
der zur Interessengemeinschaft
verbundenen kapitalistischorgani -
sierten Gesellschaft bezeichnen. Es
bedarf nur des Hinweises auf die grossen
sozialethischen Strömungen und Gegenströ-
mungen in den verschiedenen Epochen der
Geschichte, um die wechselnde Bedeutung
zu ermessen, welche dem Handelsrecht im
Wechsel der Zeiten zugekommen ist und
zukommt. Weiter hängt dies damit zusam-
men, dass. um neuere Schlagworte zu ge-
brauchen, der Handel imd dessen Recht im
wesentlichen »individualistisch« angelegt
sind und damit in scharfen Gegensatz zu
der »sozialen« oder »kollektivistischen«
Strömung treten, welche das Wirtschafts-
leben in verechiedenen Epochen beherrscht.
Immerhin sind schon in den Uranfängen der
Geschichte der Handel und sein Recht zu-
gleich sozial einigend.
Denn von Urzeit her ist derGütenmi-
tausch vornehmlich durch die vermittelnde
Thätigkeit des Händlers, insbesondere des
stammfremden, bewirkt worden. Den Mittel-
punkt des Handels bildet von jeher der
Markt, ursprünglich ein »befriedeter« Platz
unter religiösem Schutz; an den friedlichen
Markttausch knüpfen sich die Anfänge inter-
nationaler Rechtssitte und universalen Han-
delsrechts, imd noch lange nach der Grün-
dung der einen ständigen Markt bildenden
Städte erhalten sich die vorübergehenden
^Märkte und Messen als wichtige Stätten des
Austausches mid Geldverkehi^ für engere
und weitere Kreise.
Mit der Ausbildung der Seeschiffahrt,
hinter welcher der Binnentransport bis in
unser Jahrhundert weit zurücktritt, wird der
Handel der Mittelmeerstaaten, sjÄter auch
des nördlichen Europa, überw^iegend See-
handel, daher die Rechtssätze des Gross-
1048
Handelsrecht
handels vorwiegend im Seeverkehr entstan-
den und, wenn überhaupt, nur allmählich
auf den Binnenhandel übertragen worden
sind. So ist das griechisch-römische foenus
nauticum (pecunia trajectitia, Seedarlehn) die
Grundlage wie der Prämienversicherung so
des Wechsels geworden, bildet die Seever-
sicherung den Ausgang der Assekuranz
überhaupt, sind die überseeische Commenda
imd der Kolonialaktienverein die ürtjpen
der modernen Handelsgesellschaften mit be-
schränkter Haftung.
Alier Handel ist ursprünglich Tausch-
handel, Handel im Umherziehen, Kleinhan-
del, Eigenhandel ; nur allmählich haben sich
die höheren Formen des Kauf-(Geld-)Han-
dels, des stehenden Handels, des Grosshan-
dels, am spätesten der Kommissionshandel
entwickelt. Die That bestände des Han-
dels gehören zum erheblichen Teil bereits
der altorientaüschen (ägyptischen, insbeson-
dere bab3"lonischen, auch wohl phönicischen),
dann der hellenischen und römischen Kul-
tiunvelt an, in minderem Umfonge lassen
sich dieselben auch in dem mittelalterlichen
nördlichen (germanischen, slawischen) Europa
nachweisen; überall hat auch mehr oder
minder festentwickelter Handelsgebrauch be-
standen. Aber die typische Rechts-
form haben diese Thatbestände vorwiegend
erst von den Römern im Altertum, von den
italienischen und anderen romanischen Mit-
telmeerstaaten im Mittelalter empfangen.
Die Rechtsbildung ist im Altertum bis auf
die justinianische Kodifikation, desgleichen
im Mittelalter vorwiegend eine gewohnheits-
rechtliche gewesen, obwohl im Mittelalter
das Statutan-echt der Städte wie der ge-
werblichen Innungen wachsende Bedeutung
gewinnt. Auf der Mischung antiker, mittel-
alterlicher und moderner Elemente beruht
unser heutiges Handelsrecht; an der Fort-
bildung des von allen europäischen Nationen
recipierten romanischen Handelsrechts haben
seit Ausgang des Mittelalters alle Kultur-
völker Anteil genommen; durch geschickte
Kodifikation hat, namentlich im 19. Jahr-
hundert, Frankreich hier, wie auf allen
Rechtsgebieten, vorwiegenden Eiufluss ge-
wonnen.
Die Hauptphasen der Ent\Wckelung soll
die folgende üebersicht ergeben, welche im
wesentlichen der bisher einzigen Darstellung
der Geschichte des Handelsrechts (Gold-
schmidt, Universalgeschichte des Handels-
rechts [auch Handbuch dos Handelsrechts,
3. Aufl. I] 1. Lieferung, 1891, dazu einst-
weilen noch auch Goldschmidt, Handbuch
des Handelsrechts I, 2. Aufl., 1875) ent-
nommen ist.
2. Das H. der alten Welt Das Wirt-
schaftsleben der alten Welt wird wesent-
lich durch den allgemeinen Bestand der
Sklaverei bedingt, sein Gnmdzug ist der
hauswirtschaftliche Typus, obwohl solcher
den Handel weniger sAs andere Wirtschafts-
zweige beherrscht. Der Grossbetrieb ist
vorwiegend kapitalistischer Waren- und
Geldhandel, das Transportgewerbe und die
mannigfachen , allmälüich vervielfältigten
Hilfsgewerbe liaben sich selten zu selbstän-
digen Unternehmungen ausgebildet. Zwischen
dem Herrn und dessen als Geschäftsführer
oder auch auf eigenen Namen Handel trei-
benden Sklaven (Haussöhnen) bestehen in
der Hauptsache nicht Rechts-, sondern
blosse Rechnungsverhältnisse.
1) Eigentümliches Handelsrecht der gros-
sen orientalischen Reiche ist nicht be-
kannt, obwohl namentlich bei dem gi-ossen
Handelsvolke der Babyloniei* im neubaby-
lonischen Reiche ein beträchtlicher Teil der
heutigen Handelsgeschäfte begegnet imd der
Kreditverkehr entwickelt ist. (jränzlich ver-
schollen ist das Recht der Phönicier und
Kai'thager; die abenteuerliche Hypothese
Revülouts (Les obligations en droit Egyptien,
compare aux autres droits de l'antiquit^,
Paris 1886), dass von den Phöniciern, in-
direkt durch deren Yermittelung von den
Aegyptem und Babyloniern, der eigentlich
brauchbare Teil des römischen Rechts
stamme, entbehrt jeden Anhalts. Nicht
Handelsvolk war in seiner Heimat das
jüdische Volk.
2) Was von besonderem Handelsi-eclite
der hellenischen Staaten, auch der Han-
delsstaaten, einschliesslich der hellenistischen
Weltemporien , wie Alexandria, Seleucia u.
a., bekannt ist, geht nicht über vereinzelte
Notizen liinaus. Die gescliriebenen Gesetze
sind uns nur zum geringen Teü erhalten,
das Verkehrsrecht unterlag überwiegend der
flüssigen Handelssitte und der freien Ueber-
eiukunft. Voll entwickelt ist das wichtige
Seedarlehnsgeschäft, die grosse Haverei je-
denfalls in Rhodus (lex Rhodia de jactu)
geregelt, das Bankwesen ausgebildet, zumal
in Attika, wo gesetzliche Zinsfreiheit
herrschte. Zu Assekuranzen und Wechseln
begegnen Ansätze, Inhaber- und Order-
papiere finden sich in hellenistischer Zeit.
Bei überwiegender tJnproduktivität des
hen^schenden Bürgerstandes püegten nur
Grosshandel und Reederei höhere Achtung
zu geniessen, während sogar die gegen den
Materialismus reagierende spätere philoso-
phische Spekulation (Plato, Aristoteles)
jede Arbeit um Gelderwerb, insbesondere
den Handel und die Zinsleihe brandmarkte.
3) Der griechischen Pliilosophie schliesst
sich die entlehnte Philosophie der Römer,
i insbesondere Ciceros an, wie denn auch die
Sitte dem ersten (Senatoren-) Stand den
Handel auf eigenen Namen untersagte und
das Gesetz (Lex Claudia 218 a. Chr.) den-
Handelsrecht
1049
selben von der Grossreederei ausschloss.
Der höhere römische Kapitalistenstand, die
e(j[nite8 der späteren Republik, betrieb da-
gegen in erheblichem Umfange die handeis -
massige Grossspeknlation. Immerhin ist seit
den letzten Jahrhunderten des Freistaates
der äusserst umfassende Handel des römi-
schen Weltreiches in römischen Händen, die
Hauptstadt Rom ein Verkehrs- und Bank-
platz ei-sten Ranges, auch Mittelpunkt der
abendländischen Industrie, insbesondere des
Kunsthandwerks. In der blilhendsten Wirt-
schaftsepoche der alten Welt, der römischen
Kaiserzeit, bildete das Weltreich ein unge-
heiu*es Wirtschafts-, ja Freihandelsgebiet, in
welchem Gewerbefreiheit wie Freizügigkeit
bestand und zu Lande wie zur See ein ver-
hältnismässig wenig gestörter Friede (pax
Romana) herrschte. Erbe der Gesamtkultur
der alten Welt hat dieses Weltreich auch
kommerziell und nautisch die auf allen
Lebensgebielen bewährte selbständig ord-
nende und assimilierende Kraft entwickelt.
Sein ursprüngliches Stadtrecht (ius civile),
welches bei aller Schneidigkeit und Schärfe
dem grossen Verkehr äusserst föi'derlieh
war, hat diu^ch Aufnahme aüer brauchbaren
Elemente aus dem Recht der verbündeten
imd unterworfenen Völker sich zum Welt-
recht (ius gentium) ausgebildet und damit
auch füi' den damaligen Welthandel eine
universale Rechtsordnung von unvergleich-
lichem Werte gescliaffen. Weniger diuxih
besondere Satzungen für den Handel, ob-
wohl es auch an solchen und sehr w^ichtigen
keineswegs fehlt (Sonderrecht der Bankiers,
der Sklavenhändler, der publicani, actio
tributoria, exercitoria, Seedarlehn und gi-osse
Haverei); vielmehr dadurch, dass das ge-
meine bürgerliche Recht in einer auch den
Anforderungen des grossen Handelsverkehrs
entsprechenden Weise aus- und durchge-
bildet wurde, dazu der wechselnden Ver-
kehrssitte und dem erkennbar erklärten
Willen der Interessenten freiester Spielraum
gelassen wurde, Treue und Glauben (bona
fidss) in der Rechtsprechung die sorgsamste
Beiiicksichtigung fanden.
Freilich begegnen bereits in klassischer
Zeit Vei^gröberungen und werden bedenk-
liche Abwege (z. B. Ausartung der Hypo-
thek, Erweiterung der Konkursprivilegien)
eingeschlagen, aber doch erst in der späteren
Kaiserzeit und unter dem Einfluss christ-
licher Weltanschauung findet sich ein gegen
die Auswüchse des Kapitalismus (Ausbeutung,
Wucher, Härte) gerichteter systematischer
Schutz, welcher vielfach auch den redlichen
Handel unangemessen einengte, und be-
gegnen mancherlei Innungen, insbesondere
meclianische Abgrenzungen des Erlaubten
und Unerlaubten, welche dem stetig sinken-
den Niveau des Verkehrs wie der juristischen
Kraft entsprechen. Lebensfähige Genossen-
schaften hat das alternde Bleich nicht mehr
erzeugt, wohl aber pri\ilegierte, aber auch
besonders besteuerte Zwangskorporationen
(insbesondere der navicularii) mit ausge-
dehnter Specialjurisdiktion und damit ein
eigentümliches, in der Hauptsache freilich
fiskalisches, kaufmännisches bezw. gewerb-
liches Handelsrecht. Daher auch che cha-
rakteristischen Versuche einer gesetzlichen
Tarifierung der Warenpreise und der Ar-
beitslöhne (Diocletian) oder die Herabsetzung
der gesetzlichen Zinstaxe, während der that-
sächiiche Zinsf uss in stetem Steigen begriffen
war (Justinian).
Als das römische Weltreich zerfiel, stand
der Handel der ganzen damaligen Kultur-
welt, von dem fernen Osten abgesehen,
unt-er dem vorhin charakterisierten römischen
Weltrecht. Aber ein nicht unbeträchtlicher
Teil dieses Rechts ist in die Justinianische
Kodifikation nicht übergegangen, ein anderer
durch abstrakte Behandlung verdeckt und
schwer erkennbar ^z. B. hinsichtlich der
Commenda, desWecnsels, der Orderklausel
etc.). Für dieses versteckte, insbesondei'e
aber für das in der örtlichen und provin-
ziellen Praxis fortlebende römische bezw,
hellenische Recht mag man den Namen
»Vulgarrecht« brauchen. (Vgl. meine Uni-
versalgesch., S. 90 — 94 und das bedeutende
Werk von L. Mitteis, Reichsrecht und
Volksrecht in den östlichen Provinzen des
römischen Kaiserreichs, Leipzig 189L)
3. Das H. im Mittelalter. Mit dem
Untergang des weströmischen Kaiserreichs,
der immer schärferen Scheidung von Abend-
imd Morgenland (Islam, arabische Herrscliaft),
der neuen germanischen Staatenbildung, der
germanischen Kolonisation des Ostens ver-
liert der Welthandel seinen einheitlichen
Charakter. Wenngleich in gewissen Rich-
tungen sich sein Oebiet erweitert (insbe-
sondere nach Nordosten), so verengt sich
doch sein Umfang, gehen die Leistimgen
von Handel und Schiffahrt zurück, ver-
gröbert sich das Verkehrsrecht und zer-
splittert sich in enge, zum Teil sehr be-
scliränkte Herrschaftsgebiete. Nur allmählich
gelangt es mittelst gesteigerter Wiederauf-
nahme antiker Elemente und durch Aus-
bildung universalen Handelsgebrauchs zur
grösseren Einheit, im Widerstreit mit kirch-
licher Weltanschauimg zu freier Vollent-
faltung.
1. Bis in das 12. Jahrhundert bleibt das
byzantinische Reich Träger des orien-
talisch-europäischen Welthandels, jedoch unter
wachsender, siegreicher Konkurrenz der
Araber, welche eine neue, auf Eroberung,
Glauben und Handel gebaute Weltherrschaft
über nahezu den ganzen Orient aufrichten,
ja Jahrhunderte hindurch einen erhebliciien
1050
Handelsrecht
Teil der westlichen Mittelmeerländer unter-
lÄTcrfen. Ihre Münze ist zeitweise Welt-
milnze, zahlreiche arabische Bezeichnungen
von Handelsinstitiiteu und Waren (Arsenal,
Magazin, Karawane, Sensal, zecca — Safran,
Kaffee, Juwel, Kattun, Atlas etc.) sind in die
europäischen Sprachen übergegangen. Eine
Welterrungenschaft bildet das indisch-ara-
bische Zahlensystem, welches zu Anfang des
13. Jahrhunderts (Lionardo Fibonacci) im
Abendlande bekannt wird. Auch das reich
ausgebildete Yerkehrsi-echt des Islam mag
die abendländische Rechtsbildung beeinflusst
haben ; doch liegt die Annahme näher, dass
die Araber die im Verkehr noch fortleben-
den Rechtsinstitute des römischen Welt-
reichs recipiert, \ielleicht auch weiter ver-
breitet haben.
Das byzantinische Reich ist, nach von'iber-
gahenden Versuchen selbständiger Fortent-
wickelung des Rechts, in der Hauptsache
bei dem justinianischen Recht (Basiliken
886 — 911) verblieben. Der sogenannte v6/tos
*PoöUop vaiTiKoSj das pseudorhodische See-
recht (Pardosöus, CoUection de lois rnaii-
times I, p. 231—251, Basilika lib. 60 [ed.
Heimbach] t. V, p. 119 — 127) ist aus justi-
nianischen Quellen und lokalen oder provin-
ziellen Satzungen bezw. Gebräuchen des
Östlichen Mittelmeeres zusammengestellt,
nach Annahme Zachariaes im 8. Jahrhimdert
als Kaisergesetz erlassen, nach Fonn und
Inhalt ein mittelalterliche^ Seerecht, welches
dem gesunkenen Stande von Seeschiffalirt
und Rechtskunst entspricht.
2. Die germanischen Stämme treiben
<lürftigen Binnenhandel, noch überwiegend
Tauschhandel ; nur von einzelnen Seevölkem,
insbesondere den Nordgermanen (Skandi-
naviern) und den Friesen, ist Anteil an dem
Welthandel bezeugt. Nur in hartem Kampfe,
mittelst straffen genossenschaftlichen Zu-
sammenschliessens gelangen, neben den ge-
meinfreien und ritterlichen Grundbesitzern,
Handel und Handwerk in den neu auf-
blühenden Städten zur selbständigen Stellung.
In wachsendem Masse erringen Grosshändler
und Grossindustrielle, vornehmlich in mono-
polistischen Kaufgilden oder Hansen, dann
auch die kleineren Handelsleute und Hand-
werker in ihren Zünften und Innungen die
Verkehrspolizei, Gerichtsbarkeit, Selbstver-
waltung. Wenn in älterer Zeit überwiegend
römische Provinzialen, Syrer, eingewanderte
und umherziehende Italiener (»Lombarden«),
Stifter, Klöster, kirchliche Orden und Welt-
geistliche, endlich die trotz ihrer gesteigerten
Schutz- und Rechtlosigkeit in wachsendem
Masse sich ausbreitenden Juden die Träger
von Handel und Industrie sind, so bildet
sich allmählich ein selbständiger, aus Freien
bestehender germanischer Handelsstand und
seit dem 12. Jahrhundert eine neue geld-
wirtschaftüche Organisation der freien ge-
werblichen Arbeit. So in der städtischen
Marktgenossenschaft , deren »Kaufmanns-
recht«' auch auf Nichtgewerbetreibende er-
streckt wird ; in den Innungen und Zünften
der Handwerker j in den Gilden oder Hansen,
welche namentlich im überseeischen Aus-
lande als wagende Handelsgenossenschaften
auftreten, ein wachsendes Kolonial- oder
doch Faktoreisystem begründen und mit
Erfolg den» zahllosen Hinderungen und Be-
di'ückungen des Handels, namentlich der
Fremden, entgegentreten. War der fest
geordnete Grosshandel der Römerzeit zer-
fallen, der Kredit-, ja nahezu der geldwirt-
schaftliche Verkehr verkümmert, waren die
sicheren Handelswege der alten Zeit zu er-
heblichem Teile abgeschnitten, Wirtscliaft
und Recht territorial und lokal zersplittert,
so bilden sich doch die schöpferischen Keime
einer grossen, in Wirtscliaft und Recht das
Altertum schliesslich überflügelnden Zukunft.
Der rohere, aber kräftig vorstrebende Klein-
betrieb in Handel und Handwerk, die Ar-
beit der in mannigfaltigen genossenschaft-
lichen Bildungen gegliederten Freien und
der durch freien Dienstverti-ag wie durch
die Korporationsverfassung ihnen verbun-
denen Hilfspersonen ist an die Stelle des
kapitalistischen Grossbetriebs der alten Welt
getreten; es bilden sich zahh*eiche Hilfs-
geschäfte des Handels zu selbständigen Ver-
kehrs- und Rechtsinstituten aus ; der früher
verdeckte Gegensatz des Platz- und Distanz-
liandels, des Eigen- und des Kommissions-
handels gewinnt an Bedeutung.
Das Recht dieses neuen Verkehre ist
über\viegend Gewohnheitsrecht, die verkelu:s-
polizeiliche Gesetzgebung der karolingischen
Könige (Capitularia) verkümmert bald. Trägt
schon das neue städtische Recht der 5> Bürger«,
das ins fori = ius mercatorum, Kauffleut-
recht, welches von Stadt zu Stadt ül>er-
tragen wird, die merkantile Signatur, so er-
zeugen gleiche Bedürfnisse, das waclisende
Netz der »gefreiten und befriedeten« Märkte
und Messen, der Handelsverti'äge und Hau-
delsniederlassmigen ein nahezu gemeinsames
Recht, zuvörderst der Mittelmeerländer. Der
juristisch geschultere romanische Geist das
früh ausgebildete Institut der Notai'iatsur-
kunden mitiliren typischen, formularmässigen
Festsetzungen, die ausgedehnte Jurisdiktion
der Innungsgerichte füliren liier zu genauer
und vielfach gleichmässiger, fast gesetzlicher
Fixierung. Allein auch hier, vornehmlich
in Frankreich, erhalten sich germanische
Rechtsanschauungen lebendig imd gelangen
in den unter römischer Zucht ausgebildeten
Rechtsinstituten zur Entfaltung. (Die Nach-
weise in meiner Universalgeschichte S.
181—137.)
3. Gegen den aufblühenden Handel und
Handelsrecht
1051
Kreditverkelir verhält sich das Recht der
römischen Kirche wesentlich negativ.
Das leitende Princip der kirchlichen, immer
schärfer zugespitzten » Wuchertheorie <. be-
steht wesentlich darin, dass das Geld kapital
unproduktiv ist und sein soll, daher das
Zinsennehmen in Darlehen und sonstigen
Kreditgeschäften principiell unstattliaft, adler
Gelderwerb »ohne rechte Arbeit« sündhaft
doch mindestens verdächtig, »Preisgerechtig-
keit < überall zu erzielen.
Weit über sein berechtigtes Ziel hinaus-
scliiessend, scheiterte dieses kühne und kon-
sef^uente System kirchlicher Verkehrsbevor-
mundun^ an dem Schwergewicht der wirk-
lichen wirtschaftlichen Interessen. Die prak-
tische Folge des Zinsverbotes bestand nur
darin, dass der ohnehin natiu-gemäss hohe
Zinsfuss sich erheblich steigerte tmd eine
in periodischer Plünderung der »Wucherer«
(insbesondere der »Lombanlen« und der
Juden) gipfelnde Verwirrung aller wirt-
schaftlichen und Rechtsbegriffe sich über
das Mittelalter hinaus behauptet hat. Auf
die Ausbildung des Handelsrechts hat die
kirclüiche Doktrin und Praxis keinen wesent-
lichen Einfluss geübt. Die gegenteilige, ins-
besondere von Endemann verfochtene An-
sicht wird dadurch widerlegt, dass sich im
Gesamtgebiet des neueren Handelsrechts
kein praktischer Rechtssatz nachweisen lässt,
welcher jener Kirchenlehre seine Entstehung
venlankt oder auch nur in seiner Entwicke-
lung durch die Kirche beeinfiusst wäre.
Und wenngleich einzelne Rechtsinstitute
unter der Üngimst der Kirchenlehre ver-
künstelte Gestalt annahmen, wie das Han-
delsdai'lehn und das verzinsliche Deposit,
so ist doch sogar hier die endliche, wenn-
gleich nur widerwiUige Anerkennung nicht
ausgeblieben. Nur darf nicht übersehen
wenlen, dass auch das weltliche Verkehis-
recht desMittelaltei's auf Zwang und Kontrolle
beruht, freilich nicht nach kirchlichen Ge-
sichtspunkten kirchlicher Oberen, sondern
nach Auffassung der Berufs- und Standes-
genossen. Aus eigensten Bedürfnissen imd
Anschauungen heraus hat der mittelalter-
liche Kaufmannsstand sein Recht gebildet.
4. Das zunächst lokale Handelsgewohn-
heitsrecht der romanischen Städte
wunle durch die in typischer Form von
Notaren geschlossenen Rechtsgeschäfte (No-
tariatsurkunden) entwickelt und befestigt;
-durch Statuten der Stadtgemeinden — unter
■denen das constitutum usus von Pisa, um
11(>1 redigiert, den vornehmsten Platz be-
hauptet — und der gewerblichen Innungen
Zinn erheblichen Teil kodifiziert; durch
^\ luftige und staatliche Rechtspflege, im
internationalen Verkehr durch Handels- und
Schiffalirts vertrage foilgebildet. Nur dies
«ind die sicheren und unmittelbaren Er-
kenntnis<iuellen des neuen Gewohnheits-
rechts; die meist jüngere Litteralur, insbe-
sondere die theologisch-kanonistische, giebt
nur ein eigentümlicii gefärbtes Spiegelbild.
Unter den gewerblichen Innungen pflegt
die Kaufmannsinnung die ei-ste Stelle ein-
zunehmen ; mitunter, z. B. in Pisa, bilden
die Gresshändler zur See und die Reeder
einen besonderen Verband, desgleichen fin-
den sich häufig besondere Innungen der
Bankiers (bancherii, campsores), der Tuch-
händler und Tuchfabrikanten (ars lanae) u.
a. m. In einzelnen Städten begegnen Ge-
samtverbände vieler Innungen (in Pisa,
später in Florenz die universitas mercato-
rum oder mercanzia u. s. f.). Die Statuten
der Kauf mannsinnung oder Innungen (statuta
mercatorum), welche überwiegend ei*st seit
dem Ende des 13. Jahrhunderts redigiert
sind, enthalten ursprünglich in der Haupt-
sache gewerbepolizeiliche und prozessuale
Satzungen, haben aber allmählich in wach-
sendem Umfange aucii Privatrechtssätze auf-
genommen imd werden so nahezu Kodifi-
kationen des partikulären Handels- und Ge-
werberechts, z. B. in Florenz, Bologna, Siena
(Meine Universalgeschichte S. 166 — 169),
Polizei und Rechtspflege pflegt bei den
Innungsvorstehern (consules u. dergl.) zu
stehen, unter Ausselüuss oder unter elek-
tiver Konkurrenz mit dem ordentlichen
(städtischen) Gericht. Bei überwiegender
disciplinärer und gewerbepolizeilicher Ge-
richtsbarkeit werden doch auch die privat-
i'echtlichen Streitigkeiten mindestens unter
den Innungsgenossen, vielfach darüber hinaus,
der Kognition des Innungsgerichts unter-
stellt (Innungssache, Handelssache, causa
mercantilis) ; die Jurisdiktionsgi-euzen schwan-
ken, sogar innerhalb der einzelnen Stadt-
gemeinden, nach politischen und anderwei-
tigen Wandelungen (mein Handbuch P,
SS. 42 und 43). Das Verfahren dieser keines-
wegs als »Handelsgerichte« eingesetzten,
wenngleich auch als solche fungierenden
Innungsgerichte ist summarisch und zeigt
zalüreiche, einerseits auf Schleunigkeit der
Entscheidung, andererseits auf freie Wahr-
heitsermittelung berechnete Eigentümlich-
keiten.
Zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten
auf der Fahrt der in Convoy segelnden Han-
delsschiffe und während des vorübergehen-
den Aufenthaltes in der Fremde dienen die
»Reiseconsuln« ; für auswärtige Faktoreien
die von den Mitgliedern der Faktorei ge-
wählten oder von der Obrigkeit der Heimat
bestellten ständigen Consuln, mitunter be-
steht auch ein Generalconsulat (z. B. das
Venetianer und das Pisaner in Syrien).
Besondere Seegerichte (consulatus maris)
begegnen teils als Administrativbehörde und
Gericht einer Seehandelsgilde (so in Pisa,
1052
Handelsrecht
Valencia, lu'sprünglich wohl auch in Genua
und Barcelona), teils als Staatsbehörde (z. B.
1347 in Barcelona).
Teilweise aus der Rechtsprechung der
Seegerichte sind besondere Seerechte her-
vorgegangen: Venedig 1255, Amalfi (tabula
Amaliitana — vermutlich dem 13. und 14.
Jahrhundert angehörig), Trani (1363?, es
wird behauptet 1063, 1183, 1453), Barcelona
(costums de la mar, 13. Jahrhundert, später
genannt libro de consolat del mar, in letzter
Redaktion um 1370), Ancona (spätestens 1397),
Oleron bei La Rochelle (vielleicht schon aus
dem 12. Jahrhundert). Anderswo bildet das
Seerecht einen Teil des Statuts der See-
handelsgilde (Pisa : breve curiae raaris 1305,
breve deir ordine di mare 1332) oder des
Stadtrechts (z. B. in Genua 13. und 14. Jahr-
hundert, Marseille ' 1255).
In den Kolonialstaaten gilt durchgehends
das besonders kodifizierte Recht der Mutter-
stadt, z. B. genuesisches Recht in Pera (Ga-
lata) : magnum volumen Peyre 1316, und in
der Krim (Gazaria): imposicio officii Gazaiiae
1313 — 1441 ; pisanisches Recht in Sardinien :
breve portus Kallaretani 1318.
Daneben finden sich endlich zahlreiche
Einzelgesetze, wie Mäklerordnungen (z. B.
Barcelona 1271), Handelsprozessgeselze (z. B.
Valencia zwischen 1336 43), Versieherungs-
gesetze (z. B. Barcelona 1435 — 1484) u. a. m.
5. Eine Rechtsgemeinschaft der italieni-
schen oder sonstigen romanisclien Kaufleute
verschiedener Handelsplätze im Auslande
findet sich nur ausnahmsweise. A'ornehm-
lich in Frankreich auf den Messen der
Champagne besteht seit dem Ausgange des
13. und im Ijaufe des 14. Jahrhunderts eine
Verbindung der provencalischen Handels-
städte und eine noch bedeutsamere univer-
sitas mercatonuB Lombardorum et Tuscano-
rum unter einem Gcneralkapitän, welcher
den Specialconsuln der einzelneu zum Ver-
bände gehörigen Städte und Innungen über-
geordnet ist. (Meine Universalgeschichte
S. 193 — 200.) Die Champagnemessen aber
sind seit dem 12. Jahrhundert die Mittel-
j)unkte des Waren- und Geldverkehrs für
das ganze westliche Eui-opa ; auf sie werden
Geldverpflichtungen aller Art abgestellt, die
Cliamiiagner Mes&plätze sind europäische
Wechseldomizile. Und da die 6 Jahi-es-
meSvSen der 4 Messj)lätze (l^aguy sur Marne
11, Bar sur Aube [1], Provins |2J, Troyes
2J). eine jede über 6 Wochen während und
n etwa zweimonatlichen Zwischenräumen
aufeinanderfolgend, nahezu das ganze Jahr
ausfüllten, so wai* die Champagne ein gleich-
sam ständiger Mess- und Zahlungsplatz. Die
hier kontrahierten Schulden unterlagen der
ausscliliesslichen Jurisdiktion des Messge-
richts, genossen stillschweigende Hypothek
und iml>edingten Vorzug vor sonstigen Schul-
den, wurden im schleunigen Verfahren ab-
geurteilt und mit äusserster Strenge durch
Personalhaft exequiert Polizei und Gerichts-
barkeit der Messen wurden von der landes-
herrlich bestellten Messbehörde gehandhabt,,
den mattres oder gardes des foires (custo-
des nundinarum) ; Berufung geschah an da&
Obergericht der Champagne oder an das
Pariser Parlament Gegen Schuldner, welche
sich dem Gerichtszwang entzogen, erging
Exekutionsmandat der Messbehörde mittelst
Befehls bezw. Requisition an das Heimats-
gericht unter Androhung des Messbannes,,
dessen Vollstreckung für alle Angehörigen
der betreffenden Stadt oder des betreffen-
den Staates den Ausschluss von der Messe
nach sich zog. Die Messbehörde bildete sa
eine Centralbehörde, von welcher Kaufleute
aller Nationen Schutz gegen Vertragsbruch
und sonstige Rechtsverletzungen erlangten»
Mit dem Verfall der Champagnemessen
seit der Mitte des 14. Jahrhunderts wiu^e
das strenge Messrecht auf neu errichtete
Messen übertragen, insbesondere auf die
zuerst 1419 erricnteten, 1494 definitiv geord-
neten Messen von Lvon, dei^n Blüte dem
16. und 17. Jahrhundert angehört Nunmehr
ist Lyon der Hauptbank- und Zahlplatz des
westlichen Europa, doch wird das m^prüng-
liche Messgericht später zum allgemeinen,
hochpriviligierten Handelsgericht (»tribunal
de conservation«), (Meine ünivei'salge-
schichte S. 224—287 und meine Abhand-
lung, Zeitschr. f. Handelsr., Bd. 40, S. Iff.)
6. Das so entwickelte romanische
Handelsrecht lehnt sich zum erheblichen
Teil an römische Satzungen und römisch-
griechisches »Vidgarrecht«. an, insbesondere
findet, mit der aUmähUchen Wiederannähe-
rung des mittelalterlichen Handelsbetriebes
an den kapitalistischen Grossbetiieb der
römischen Kaiserzeit, das klassische römische
Re(iht umfassende Anwendung, aber ergänzt
und modifiziert durch neue fnichtbare Rechts-
bildungi^n, während die dem Grosshandel
ungeeigneten Satzungen der späteren i-ömi-
schen Kaiserzeit zum erheblichen Teile aus-
gestossen werden. Die neuen Rechts-
schöpfungen der romanischen, insbesondem
der italienischen Kaufmannswelt zeugen von
hoher wirtschaftlicher Einsicht, genialer
Rochtsbegabung und sicilierer praktischer
Schuhmg, sie stehen ebenbürtig neben den
ewigen 8chöi)fungen der klassischen römi-
schen Jurisprudenz. Es genügt der Hinweis
auf die difterentiierten Gesellschaftsformen:
der Commenda aus welchei* wie die heutige
Kommandit- und stille Gesellscliaft , so
wesentlich das heutige Kommissionsj^vschäft
hervorgegangen ist — der offenen Handels-
gesellschaft — des Aktienvemns: auf die
sich mehr dem hellenischen Recht anschlies-
sende, iHiter der Einwirkung formalen ger-
Handelsrecht
1053
manisehen ürkundenrechts entwickelte Aus-
bildung der Wertpapiere, insbesondere der
Order- und Inhaberpapiere; auf das Kredit-
UDd Zahlungsgeschäft insbesondere des Bank-
verkehrs, welches nahezu in seiner heutigen
Gestalt vollentwickelt ist. Für den Seever-
kehr ist, neben dem aUmählich durchdringen-
den reifen römischen Recht auch mancher
wichtige neue Rechtssatz, z. B. hinsichtlich
der Haftung des Reeders, hinsichtlich der
Reederei, des Frachtgeschäfts, vornehmlich
diurch die Ausbildung des Konnossements,
zur Geltimg gelangt. Aus dem antiken
Seedarlehn hat sich auf der einen Seite die
Prämienassekuranz, auf der anderen Seite
die schriftliche Geldrimesse herausgebildet,
welche zunächst in Form des domizilierten
Eigenwechsels, seit dem Ausgange des 14.
Jahrhunderts, insbesondere in Form der
Tratte (namentlich Messtratte) zum wich-
tigsten Werkzeug des interlokalen wde inter-
nationalen geldwirtschaftlichen Kreditver-
kehrs wird und bereits in den Kaufmanns-
«tatuten von Bologna 1509 eine unnrfassende
statutarische Regelung findet, (üeber aU
dies im einzelnen meine Universalge-
schichte S. 237 — 465, wo auch die Special-
litteratur angeführt ist.)
7. Das romanische Handelsrecht wird in
der Hauptsache auch im östlichen und nörd-
lichen Europa recipiert. Diese Reception
hat allmähhch seit Ausgang des Mittelalters
stattgefimden, teils direkt im internationalen
Handelsgebrauch, teils unter dem Einfluss
der überall verbreiteten italienischen Kauf-
leute und der romanischen Litteratur. Aus
den Entscheidungen der italienischen Ge-
richte, insbesondere der rota Genuae, aus
den italienischen Schriftstellern des 16., 17.,
18. Jahrhimderts : Stracca, Scaccia, Rafael
de Turn, Gardinalis de Luca, Roccus, An-
^dus, Casaregis schöpfte überall die ge-
lehrte Doktrin und Praxis. Man sehe z. B.
den tractatus de iure commerciorum des
Lübecker Bürgermeisters Job. Marquard
1662. Denn der neue geldwirtschaftliche
Kreditverkehr findet in diesem romanischen
Rechte seine entsprechendste Regelung, und
das dürftigere, wie überall partikular zer-
-splitterte einheimische, insbesondei-e das
deutsche Recht unterliegt, wie dem reicheren
und universalen römischen Civilrecht, so
auch dem durch die gleichen Eigenschaften
-ausgezeichneten Handelsrecht der Mittel-
meerstaaten. Namentlich lässt sich in
F'landern und Brabant, wo Brügge, später
Antwerpen Mittelpunkte eines umfassenden
•europäischen Verkehrs bilden, bereits im
15. Jahrhundert das wachsende Eindringen
des italienischen Rechts verfolgen, wie auf
der anderen Seite insbesondere die seit dem
13. Jahrhundert festgeordnete, vorwiegend
oberdeutsche Faktorei in Venedig, das Kauf-
und Lagerhaus der Deutsehen (fondaco dei
Tedeschi), die Kenntnis des italienischen
Handelsgebrauchs vermittelt. (Thomas,
Das Kapitular des Deutschen Hauses in
Venedig, 1874. Simonsfeld, Der fondaco
dei Tedeschi in Venedig, 2 Bde., 1887.)
Das überreiche Material des niederländisch-
belgischen, deutschen, englischen, skandina-
vischen Statutar-, Gesetzes- und ürkunden-
rechts, die Masse der Zunftrollen und Gilde-
statuten zeigt zwar bedeutsame Ansätze zu
selbständiger Ausbüduug des Handelsrechts,
doch findet sich nur weniges darin, was die
Reception des romanischen Ebndelsrechts
überdauert und so zur universalen Geltung
gelangt ist. Ueberall w^ar die Innungsge-
richtsbarkeit dürftiger entwickelt als in
Italien, der Umfang autonomer Rechtsbildung
ein weitaus geringerer. (Man vgl. z. B.
Pauli, Lübeckische Zustände im Mittel-
alter, L— 111., 1846/78. Th. Hirsch, Danzigs
Handels- und Gewerbsgeschichte, 1858.
Neumaun, Beilageheft zur Zeitschi-. f.
das ges. Handelsrecht, Bd. VH. Gengier,
Deutsche Stadtrechtsaltertümer, 1882. lir e u -
mann, Geschichte des Wuchers in Deutsch-
land, 1865. Ferner die Specialwerke, z. B. über
Basel [Geering], Strassburg [Seh moller]
u. V. a. J.Falke, Geschichte des deutschen
Handels I, H, 1859/60). Sogar der mäc^htige
Bund der deutschen Hanse, wie hoch auch
seine politische und wirtschaftliche Bedeutung
vornehmlich für das nördliche Europa Jahr-
hunderte hindurch gewesen ist, hat doch in
seinen Rechtssatzungen, insbesondere den
Recessen der Hansetage, den Statuten der
hansischen Kontore u. a. m. nur wenige
dauernde Schöpfungen hervorgebracht. (Vgl.
Sa rtorius -Lappenberg, urkundliche
Geschichte des Ursprungs der deutschen
Hanse, 1830, 2 Bde., insbesondere die Pub-
likationen seit 1872: Hanserecesse, in
3 AbteUungen [1256—1430; 1431—1476;
1477—1530] bisher 16 Bde. i). H ö h 1 b a u m ,
Hansisches ürkundenbuch , bisher 3 Bde.,
1876/86.2) Hansische Geschichts-
blätter seit 1872. D. Schäfer, Die
Hansestädte u. König Waldemar von Däne-
mark, 1879 u. V. a.) Niu: das Seerecht
zeigt wichtige Eigentümlichkeiten, welche
sich über das Mittelalter hinaus behauptet
haben : eine kodifizierende Zusammenfassung
enthält der Recess von 1591, revidiert als:
Der Ehrsamen Hansestädte Schiffsordnung
und Seerecht 1614. Das »Waterrecht«, d. h,
die den Namen des Wisby 'sehen Seerechts
tragende, zuerst 1505 in dem ^genwärti-
gen Umfange publizierte Kompilation (am
besten Schlyter, Corpus iuris Sueo-Gotomm
antiqui vol. VTEI : Wisby stadslag och sjörätt.
*) Jetzt 21 Bde.
*) Jetzt 6 Bde.
1054
Handelsrecht
Lund 1853) ist in ihrem ersten Hauptteile
dem Seerecht von 016ron entlehnt, in ihrem
zweiten Hanptteile auf der Grundlage des
ersten, wahrscheinlich 1407 zu Amsterdam
für das hansische Kontor zu Brügge festge-
stellt, endlich durch mancherlei Zusätze,
insbesondere aus dem lübisch-hambiu^ischen
Rechte erweitert.
4. Das H. der neueren Zeit. 1. In-
folge der Entdeckung des Seeweges nach
Indien und der neuen Weltteile, des Vor-
dringens der osmanischen (türkischen) Macht,
der spanischen Herrschaft über einen Teil
Italiens und der südlichen Niederlande, der
politischen und wirtschaftlichen Centralisa-
tion der mittel- und nordeuropäischen
Staaten mit Ausnahme Deutschlands geht
die Seeherrschaft von Italien und Deutsch-
land zeitweise auf die Staaten am atlanti-
schen Ocean über. Die neuen Weltteile,
später Indien und beträchtliche Gebiete
Nord- und Ostasiens werden europäische
Kolonialstaaten, an denen Italien und Deutsch-
land, trotz anfänglichen Mitbewerbes im in-
dischen Handel, keinen Anteil haben. Die
Besitzer der neu entdeckten oder zugäng-
licher gewordenen Kontinente, Portugal und
Spanien, demnäclist die nach glorreichem
Befreiungskampfe zu hoher wirtschaftlicher
und Kulturbh'Ue aufsteigenden nördlichen
Niederlande monopolisieren den Kolonial-
handel; insbesondere wird Amsterdam der
Hauptmarkt wie der ostindischen so der
nordischen Waren, im 17. Jahrhundert der
europäische Geldmarkt, seine Börse nimmt,,
wie heute die Londoner, eine weltbeherr-
schende Stellung ein. Mit Cromwell, dau-
ernd seit dem 18. Jahrhundert beginnt die
industrielle und maritime VorheiTSchaft
Englands, welchem im 19. Jahrhundert
rivalisierend der grosse noixlamerikanische
Freir*taat zur Seite tritt. Frankreich gelangt
seit Heinrich IV. durch glückliche Erobe-
nmgskriege und geschickte, vielfach vorbild-
liche Verwaltung (SuUy, Richelieu, Colbert)
zu wirtschaftlicher Blüte, während seine
Kolonialpolitik ohne dauernde Erfolge bleibt.
Deutschland strebt nach dem tiefen wirt-
schaftlichen Niedergang, welcher sich vor-
nehmlich an den fm-chtbaren di*eissigjährigen
Krieg knüpfte, zunächst in seinen Einzel-
staaten, vor allen in Brandenburg-Preussen,
wieder empor, aber erst in dem Zollverein
(1833) ward es zum grösseren Teile wirt-
schaftlich, in dem Deutschen Reiche (1870. 71)
wirtscliaftlich wie j)olitisch voU geeinigt.
Endlich hat auch Italien die im Mittel-
alter stets vergeblich angestrebte staat-
liche Einheit in dem letzten Menschenalter
tm-eicht.
2. Wenn die EntdtX'kung und leichtere
Zugänglic'hkoit der entfernteren Weltteile
eine uuennessliche Zunahme der Waren- 1
menge (Kolonialwai*en , wie Kaffee, Thee,
Zucker, Baumwolle u. dgl.), die gesteigerte
industrielle Thätigkeit das gewaltige An-
wachsen der Industrieerzeugnisse hervorruft
so entspricht die gleichfalls erheblich ge-
wachsene Gold- und Silberproduktion doch
nicht annähernd dem Bedürfnis an Zahlungs-
mitteln. So gelangt der Metallgeld spai*ende
Kreditverkehr zu seiner vollen Ausbildung;
seine Werkzeuge sind der sich, insbesondere
durch das Giro vervollkommnende Wechsel
nebst den anderweitigen Geldpapieren (Bank-
noten, Checks, Anlehenspapieren) und der
sinnreiche Mechanismus der Abrechnungs-
operationen. Bank-, Assekiu^anzgeschäft,
Kolonialhandel, in wachsendem Umfang be-
trieben, erfordern die volle Durchbildung
des Systems der beschränkten Haftung, wie
es in den Aktienvereinen, den Kommandit-
und Aktienkommanditgesellschaften zu Tage
tritt. Das immer mehr verknöchernde und
zur Lösung wirtschaftlicher Aufgaben un-
fähige Zunftwesen wiitl zuerst in England
gebrochen, später in Frankreich und dem
übrigen Europa, aber die den Selbständig-
keitstrieb erstickende, wenngleich energisch
reformierende Staatspolizei (SchmoUer, Jahrb.
für Volkswirtschaft, VIII) vermag auf die
Dauer die Wiederbelebung genossenschaft-
licher Organisation (insbesondere englisch-
deutsche Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen-
schaften) nicht zu hindern.
Wachsende finanzielle Bedtlrfnisse der
Staaten, Gemeinden, Aktienvereine führen
zur Vervollkommnung der Anlehenssysteme ;
Aktienbriefe und Anlehenspapiere werden
Objekt der Kapitalanlage wie des handels-
mässigen Umsatzes, und es bildet sieh der
neue Geschäftszweig des sog. Papier- oder
Effektenhandels mit originellen, später auch
auf den Warenhandel übertragenen Ge-
schäftsformen, schon früh ziu* Agiotage
(Börsenspiel) ausartend. Der Gegensatz des
Platz- und (ies Distanzgescliäfts in Abschluss
und Erfüllung bildet sich zufolge der ge-
steigerten Kommunikationsmittel scliärfer
heraus. Neben und zum Teil an Stelle der
vorübergehenden Märkte und Messen treten
die Börsen als ständige Mittelpunkte des
Grosshandels und Regulatoren der möglichst
nivellierten Marktpreise. Endlich tritt neben
die sich vervollkommnende Schiffahrt (Dampf-
schiff, Eisenbau etc.) ebenbürtig der Gross-
betrieb des Landtransports (Eisenbahnver-
kehr) und des Nachrichten Verkehrs (Post,
Telegi^phie, Telephonie).
3. 3Iit den Fort.^ch ritten des Wirtschafts-
lebens hält die Entwickelung des Handels-
rechts nicht immer gleichen Schritt. Denn
die gewohnheitliche Rechtsbildung war viel-
fach eingeengt durch verkehrte Anschauungen
über das Gewohnheitsrecht, durch die Un-
kenntnis der gelehrten Geri(^hte, welche nun
in steigendem Masse mit der Rechtsprechimg
auch in Handelssachen betraut sind, diux^h
Handelsrecht
1055
reglementierende und immer mehr sich
territorial abschliessende Gesetzgebung,
welche zur Abschwächung der universalen
Rechtsbildung führt. Immerhin haben selbst
die Kodifikationen, welche das bisherige
gemeine Recht und Gewohnheitsrecht völlig
ausschlössen, auf die Dauer die naturgemäss
kosmopolitische Entwickelung des Handels-
i-echts nicht verliindert, indem das fremde
Gesetz vielfach vorbildlich benutzt oder gar
kopiert und so mittelst gegenseitiger Ent-
lehnung ein Stamm gemeinsamen Rechts
geschaffen wurde.
Am wenigsten hat England nebst seinen
Kolonialstaaten, insbesondere auch den Ver-
einigten Staaten von Amerika, die handels-
i-echtliche Kodifikation begtlnstigt ; den
Grundstock des Handelsrechts bildet hier
noch immer das als Teil des common law^
geltende, in der Praxis der Obergerichte
anerkannte Handelsgewohnheitsrecht (law^
merchant, lex mercatoria), wenngleich die
Zahl wie der Umfang der Handelsgesetze
(Statutes) in stetem Wachsen begriffen ist,
in den amerikanischen Einzelstaaten vielfach
eine höchst umfassende Handelsgesetzgebung
besteht.
Wenn aber bereits die revidierten Kauf-
mannsstatuten der italienischen und spani-
schen Handelsstädte eine nahezu erschöpfende
Fixierung des Handelsrechts anstreben, so
wurde das gleiche Ziel für ein grosses
Staatsgebiet insbesondere in Frankreich seit
dem 17. Jahrh. verfolgt. Mit den beiden
berühmten Handelsgesetzen, der Ordonnance
du commerce 1673 und der Ordonnance de
la marine 1681 tritt dasselbe an die Spitze
zwar nicht der Entwickelung des Handels,
aber doch des Handelsrechts; wesentlich
auf ihnen beruht der noch jetzt geltende
Code de commerce von 1807 , welcher für
einen grossen Teil der civilisierten Welt
direkt oder indirekt zur Herrschaft gelangt
ist. An die beiden ersterwähnten Gesetze
schliesst sich auch die revidierte Handels-
ordnung von Bilbao von 1737, die Grund-
lage des späteren spanischen Handelsrechts.
In den deutschen Territorien bestanden
die zahlreichsten Stadt- und Landrechte wie
Eiuzelgesetze verschiedenster Benennung
und Inhalts: Markt-, Mess-, Börsen-, Mer-
kantil-, Prokuren-, Firmen-, Wechselord-
nungen, Seegesetze etc. Der preussische
Staat erhielt gemeinsames Recht in der
AVechselordnung von 1751, der Assekuranz-
und Havereiordnimg 1766; ein erstes, unter
überwiegendem Einfluss hamburgischer Kauf-
lente und Jiu'isten verfasstes, vollständiges
kodifiziertes Handelsrecht als Teil des All-
gemeinen Jjandreehts von 1794: IL §§ 475
bis 2464, welchem dann als ei'stes selb-
sständijres Handelsgesetzbuch der französi-
selie Code de commerce folgte und alsbald
auch in zahlreichen Teilen Deutschlands ge-
setzliche Aufnahme fand,
4. Der unleidlichen, immer tiefer em-
pfundenen Rechtszersplitterung haben für
Deutschland abgeholfen: die vortreffliche
Allgemeine Deutsche Wechselordnung, ver-
faSvSt 1847, nebst den ergänzenden und modi-
fizierenden sogen. Nürnberger Novellen, ver-
fasst 1861; das Allgemeine Deutsche Han-
delsgesetzbuch, verfasst 1857 — 1861; die
Bundes- bezw. Reichsgesetze, welche diese
ursprünglich partikulär eingeführten Gesetz-
büclier zum Bundes- bezw. Reichsrecht er-
hoben imd dessen einheitliche Anwendung
garantiert haben (G. v. 5. Juni und 12. Juni
1869); endlich zahlreiche ergänzende, teil-
weise abändernde Reichsgesetze (zusammen-
gestellt mit den beiden Gesetzbüchern z.B.
in der Ausgabe von Schröder, 7. Aufl. 1891 ;
Friedberg 1890 1).
5. Neben diesem so kodifizierten Deut-
schen Handelsrecht, welches, mit Aus-
schluss des Seerechts, wenig modifiziert
auch in den cisleithanischen Teilen der
österreichischen Monarchie gilt, be-
stehen zur Zeit folgende Rechtsgebiete:
Das Gebiet des englischen (bezw.
nordamerikanischen) Rechts — von welchem
das schottische Recht wesentlich abweicht;
Gresetzbücher bestehen in einzelnen Kolo-
nieen, z. B. in Malta (1857) und Nieder-
canada (1866).
Das Gebiet des französischen Han-
delsrechts, zu welchem, nach französischer
Auffassung, auch das Konkursrecht gehört.
Der jetzt in der Hauptsache veraltete Code
de commerce ist durch zahlreiche neue Ge-
setze sehr erheblich ergänzt und modi-
fiziert — eine Revision des ganzen Societäts-
rechts ist im Gange. Er gilt noch gegen-
wärtig im Königreich Polen und in Luxem-
burg; ist wenig verändert übergegangen in
die Handelsgesetzbücher von Griechenland,
der ionischen Inseln, des Fürstentums Mo-
naco, der Türkei und Aegyptens, San Do-
mingos und Haitis, früher auch Rumäniens
(1841 bezw. 1863); er bildet endlich die
Hauptgrundlage des Holländischen Han-
delsgesetzbuches (1838), obwohl dasselbe im
See- und Versicherungsrecht mehr dem
älteren einheimischen Recht folgt (für Han-
delspapiere, insbesondere Wechsel, ist ein
Gesetzentwurf auf deutscher Grundlage aus-
gearbeitet, 1886), sowie der zahlreichen
älteren Handelsgesetzbücher der italienischen
Einzelstaaten und noch des gemeinsamen
italienischen Handelsgesetzbuchs von 1865.
Das Gebiet des spanisch-portugie-
sischen Handelsrechts. Mutterrechte sind
das spanische Gesetzbuch von 1829 und das
*) 5. Auflage mit dem neuen Handelscresetz-
buch 1899.
1056
Handelsrecht
sehr originelle portugiesische von 1833, beide
stark beeinflusst vom älteren einheimischen
wie französischen Recht; Tochterrechte
sind die Gesetzbücher der spanischen und
portugiesischen Kolonialstaaten Amerikas,
nämlich von Brasilien (1850), La Platar
Staaten und Argentinien (1869, 1862, jetzt
neu 1889), Peru (1853), Chile (1865), u. a. m.,
zuletzt Mexiko (1857, jetzt neu 1889). In
allen diesen Staaten ist die frühere Geltung
der Ordenanzas von Bilbao beseitigt; ein-
zelne haben wieder von einander ihr Gesetz-
buch entlehnt, z. B. Uruguay (Montevideo)
und Paraguay von Argentinien, Hondiu-as
von Chile.
Das Gebiet des französisch-deut-
schen Handelsrechts, d. h. Gesetzbücher
auf wesentlich französischer Gnmdlage, aber
mehr und minder stark beeinflusst von dem
neuen deutschen Recht. So das Gesetzbuch
von Serbien (1860), das in den Jahren 1867 ff.
allmählich revidierte belgische Handels-
gesetzbuch und das neue italienische
Handelsgesetzbuch (1882). Das letztere
wiederum ist stark benutzt in dem neuen
spanischen Handelsgesetzbuch (1885) und
ist in der Hauptsache übergegangen in das neue
rumänische Handelsgesetzbuch (1887)
wie das neue portugiesische Handels-
gesetzbuch (1888).
Das Gebiet des modifizierten deut-
schen Handelsrechts, d. h. selbständige
"Gesetzbücher, aber wesentlich auf der Grund-
lage des deutschen Handelsgesetzbuchs und
der deutsehen Wechselordnung. Dahin ge-
hören das Handelsgesetz für das Königi*eich
Ungarn (1875), desgleichen Wechselgesetz
<1876); eine nicht immer glückliche Modi-
fikation der deutschen Gesetzbücher; das
schweizerische Bimdesgesetz über das
Obligationenrecht (1881), welches auch Han-
<lel8recht und Wechselrecht in origineller,
Aber nicht immer klarer Verbindung mit
•dem gemeinen Civilrecht enthält; für das
Wechselrecht auch die drei skandinavischen
Reiche (1880) und Finland (1859); für das
Seerecht einstweilen Schweden (1864, ins-
besondere 1891), Finland (1873) — Nor-
wegen und Dänemark werden sich an-
scmiessen, indem ein in Schweden bereits
publizierter gemeinsamer skandinavischer
Entwurf vorliegt^). Wesentlich das un-
garische Handelsgesetz ist adoptiert in dem
Handelsgesetzbuch für Bosnien und die Her-
zegowina (1883).
Das Gebiet des skandinavischen
Rechts — sehr verschieden für Schweden
einerseits, für Dänemark und Norwegen
andererseits, in der Hauptsache nicht kodi-
fiziert. Der Einfluss des deutschen Handels-
*) Die See^esetze fiir Dänemark und Nor-
wegen 8ind 1892 und 1893 erlassen worden.
rechts ist im Steigen, in den Materien des
Wechselrechts und Seerechts bereits durch-
gedrungen.
Das Gebiet des russischen Rechts.
Das russische Handelsgesetzbuch bildet einen
Teil des eine systematische Zusammen-
stellung älterer Gesetze (Inkorporation, nicht
Kodifikation) darstellenaen russischen Ge-
setzkodex (Swod sakönow), welcher in revi-
dierten Ausgaben publiziert wird (zuletzt
1887. Eine deutsche üebersetzung des
grössten Teils von V. v. Zwingmann, Riga
1889). Für das Wechselrecht liegt ein 1882
veröffentlichter, 1883 revidierter Entwurf auf
deutscher Grundlage vor. Finland hat,
ausser den bereits erwähnten neuen Gesetzen,
zum Teil schwedisches Recht: in den Ost-
seeprovinzen gilt in erster Linie das kodi-
fizierte Provinziakecht (Liv-, esth- und kur-
ländisches Privatrecht 1864): überwiegend
deutsches Handelsrecht.
Endlich hat auch Japan ein wesentlich
auf deutscher Grundlage verfasstes und
pubüziertes, aber noch nicht in Kraft ge-
tretenes Handelsgesetzbuch erhalten (1890)^).
Die vorstehende üebersicht zeigt dass
das gesetzlich fixierte oder gar kodifizierte
Handelsrecht gegenüber dem Handelsgewohn-
heitsrecht überall im Vordringen ist. Der
Umfcing des gesetzlichen Handelsrechts ist
freilich verschieden. So sind das Verlags-
recht, das Binnenschiffahrtsrecht, das Binnen-
versichemngsrecht, zahlreiche Bankgeschäfte
noch im deutschen Handelsgesetzbuch und
dessen reichsgesetzlichen Ergänzimgen nicht
geregelt, während sie in einzelnen neueren
Gesetzbüchern eine mehr oder minder um-
fassende Normierung gefiuiden haben und
bei der bevorstehenden Revision des deut-
schen Handelsgesetzbuches gesetzlich fixiert
werden sollen. Während ferner in den Q^
setzbüchern auf französischer Grundlage
das Konkursrecht, zum Teil auch das Han-
delsprozessrecht ausführlich geregelt sind,
gehört das erstere nach deutscher An-
schauung gar nicht dem Handelsrecht an,
und ist das letztere in der deutschen Ge-
richtsverfassung imd der deutschen Prozess-
ordnung enthalten, während in einzelnen
Staaten (z. B. Holland, neuerdings in Italien
und Spanien) die besondere Handelsgerichts-
barkeit völlig beseitigt ist. —
Nicht mehr vollständig ist die Zusam-
menstellung der Handelsgesetze, welche in
nicht immer zuverlässigen Cebersetzungen
geben :
S, Borchardt, Vollständige Sammlung
der deutschen Wechselgesetze und der aus-
ländischen Wechselgesetze in deutscher
üebersetzung, 2 Bde. 1871. 0. Borchardt,
Sammlung der seit 1871 publizierten Wechsel-
«) In Kraft getreten am 16. Juni 1899.
Handelsrecht
1057
gesetze mit Uebersetzung und Anmerkungen,
1883, und IN'achtrj^ (das italienische Wech-
selgesetz), 1883. 0. Borchardt, Die gel-
tenden Handelsgesetze des Erdballs, gesam-
melt und ins Deutsche übertragen. Erste
Abteilung: Die kodifizierten Handelsgesetze,
Bd. I, 2. Aufl. 1884, Bd. II— Y und Re-
gister. 1884/87 1). Fortlaufende Mitteilungen
enthalten die Zeitschrift für das ge-
samte Handelsrecht von Qoldschmidt,
Laband u. a. (seit 1858) und das A n n u a i r e
de l^gislation ötrang^re, Paris (seit
1872), dazu Annuaire de l^slation fran<?aise,
Paris (seit 1882), endlich die Annales de
droit commercial et industriel francais,
^tranger et international, publikes par E.
ThaDer, Paris (seit 1886).
Mit seiner Gesetzgebung, seiner hervor-
ragenden Doktrin und Praxis (0. A. G-. Lü-
beck, Reichsoberhandelsgericht, Reichsge-
richt) ist Deutschland seit dem letzten Men-
schenalter an die Spitze der europäischen
Handelsrechtsent^ickelung getreten und hat
den bis dahin vorherrschenden Einfluss des
französischen Rechts erheblich zurückge-
drängt. Aber ein einträchtiges Zusammen-
arbeiten der grossen Kidturnationen ist ins-
besondere auf diesem Gebiete notwendig und
trägt reiche Früchte. Sogar eine auf ver-
tragsmässiger Regelung beruhende Aus-
gleichung der noch zahlreichen Rechtsver-
schiedenheiten wird nicht ohne Erfolg er-
strebt, auf diesem Grebiete der alte Traum
der Rechtsuniversalität (non erit alia lex
Romae, alia Athenis) annähernd zu ver-
wirklichen gesucht. Dahin gehören die
internationalen Post- und Telegraphenver-
träge (zuletzt vereinbart 1891/92); die inter-
nationale Meterkonvention (1875); das inter-
nationale Uebereinkommen über den Eisen-
bahnfrachtverkehr (1891) ; die von der asso-
ciation for the codification of the law of
nations*) und dem institut de droit inter-
national, sowie zahlreichen anderen Yer-
einigungen aufgestellten Entwürfe eines ge-
meinsamen europäischen Wechselrechts,
Havereirechts, Seefrachtrechts, welche in
den von der belgischen Regierung berufenen
internationalen Handelsrechtskongressen zu
Antwerpen und Brüssel (1885, 1888) weitere
Förderung erfahren haben (Uebersicht: mein
Handbuch I^ § 38, Georg Cohn, Drei
rechtswissenschaftliche Vorträge (1888), III.
Meili, Die internationalen Unionen [1889]).
Weniger als je erscheint endlich aie von
einigen Jiiristen (in Deutschland namentlich
von Endemann [früher] und von Demburg,
in Italien von Vivante und Bolaffio, in Hol-
land von Molengraaff) verfochtene Ansicht
sachentsprechend, es müsse die schmerzlich
*) Dazu drei Nachträge 1893/96.
*) Jetzt International Law Association.
Handwörterbuch der Staats Wissenschaften. Zweite
vermisste Einheit des gesamten bürgerlichen
Hechts dadurch hergestellt werden, dass das
Handelsrecht als besonderer Hechtszweig in
dem allgemeinen bürgerlichen Recht aufgehe.
Eine solche Unifikation entspricht weder
der geschichtlich begründeten relativen Selb-
ständigkeit des Handelsrechts noch dem
besonderen Bedürfnis des grossen, zumal
internationalen Verkehrs, welcher gebieterisch
ein seinen eigentümlichen Zwecken geeignetes
Recht erheischt. Auch die immerlün nur
in zweiter Linie wichtige Sonderung des
Handelsrechts in einem eigenen Gesetzbuch
empfieliit sich aus praktischen Gründen imd
ist von den legislativen Faktoren Deutsch-
lands einmütig als unumgänglich anerkannt
(s. den Bericht der Vorkommission für das
bürgerliche Gesetzbuch und den Beschluss
des Bundesrates 1874 in der Zeitschrift für
Handelsrecht XX, S. 134 ff. und meine
Universalgeschichte S. 10 ff.). Nur versteht
sich, dass mit der Kodifikation des bürger-
lichen Rechts manche, nur wegen des
Mangels eines gemeinsamen bürgerlichen
Rechts in das Handelsgesetzbuch aufge-
nommenen Rechtssätze, als nunmehr ent-
behrlich, aus diesem ausgemerzt werden
müssen. (S. auch Riesser, Zur Revision
des Handelsgesetzbuchs Abt. 1, 2, 1887/89,
insbesondere Abt. 2 S. 387 ff.) Im übrigen
ist es nicht Aufgabe der Gesetzgebung, auf
Kosten des obersten Reehtszweckes, welcher
eine angemessene Ordnung der Lebens-
verhältnisse erheischt, eine nur formale
Rechtsgleichheit zu schaffen, welche
sich als völlig unzureichend erweist, die
vielfach auseinandergehenden oder gar
widerstreitenden Interessen der mensch-
lichen Gesellschaft gleichmässig zu befrie-
digen. —
Ooldschtnidt,
IL Geschichtliche Entwickelung der
neuesten Zeit.
Der Zeitraum, welcher seit dem Er-
scheinen der ersten Auflage dieses Werkes
verstrichen ist, ist trotz seiner Kürze für
die Fortentwickelung zumal des deutschen
Handelsrechts von ausserordentlicher Be-
deutung gewesen. Unter dem Einflüsse
vornehmlich dreier Momente hat dasselbe
die ihm zur Zeit eignende Gestalt ange-
nommen: der Herstellung eines in der
Hauptsache einheitlichen bürgerlichen Rechts,
der Verdrängimg einer wesentlich individua-
listischen durch eine mehr sozialistische
Gesellschaftsanschauung und der fortschrei-
tenden Schaffung eines den Welthandel be-
herrschenden, gemeinsamen Verkehrsrechts
der an ihm vorzüglich beteiligten Nationen.
1. So lange Deutschland ein einheitliches
Privatrecht nicht besass, hatte das die Haupt*
Auflage. IV. 67
1058
Handelsrecht
masse des Handelsrechts regelnde Gesetz-
buch eine wesentlich weiter reichende Be-
dentung als die einer Kodifikation des für
den Ifandel geltenden Sonderrechts. Es
enthielt bereits zu einer Zeit, wo die poli-
tische Einigung Deutschlands nur eine lose
war, filr einen hochbedeutsamen Teil des
bürgerlichen Verkehrs eine thatsächlich ein-
heitliche Regelung, die dann mit der Auf-
richtung des Deutschen Eeichs bald zu einer
auch gesetzlich einheitlichen wurde. Nirgends
früher und zugleich kräftiger hatte sich der
Gedanke der deutschen Einheit Ausdruck
verschafft als in der Handelsgesetzgebung.
Ueber dem mosaikartig zusammengesetzten
Boden des in Deutschland geltenden bürger-
lichen Rechts wölbte sich die eine Kuppel
des besonderen Handelsrechts. Gesetz-
gebung, Reditsprechung und Wissenschaft
konnten für seine Fortbildung in nationalem
Sinne ihre beste Kraft verwenden, während
das partikuläre Civilrecht schon infolge
seiner Zersplittenmg einer gleich frucht-
bringenden Entwickelung ermangeln musste.
Die bevorzugte Stellung, die das Handels-
recht in dieser Beziehung dem bürgerlichen
Rechte gegenüber einnahm, hat es durch
das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetz-
buchs eingebüsst. Es wird sogar wahr-
scheinlich aus Gründen verschiedener Art
fürs erste Mühe haben, neben dem all-
gemeinen bürgerlichen Recht einen eben-
bürtigen Platz zu behaupten.
Die Notwendigkeit einer anlässlich der
Kodifikation des bürgerlichen Rechts vor-
zunehmenden Revision des Handelsgesetz-
buchs war von An&mg an erkannt worden
(s. Zeitschrift für Handelsrecht XX S. 147 f.,
151ff., 1541, 165f., 170). Das Handels-
gesetzbuch musste nach Form und Inhalt
, mit dem zu schaffenden Bürgerlichen Ge-
setzbuch in Einklang gesetzt werden. Mit
der Revision zugleich sollte die Vervoll-
ständigung des Gesetzbuchs durch Regelung
einiger der in ihm bis dahin nicht ent-
lialtenen Materien (oben S. 1056 Sp. 2) statt-
finden. Auch abgesehen hiervon konnten
bei der Veröffentlichung eines neuen Han-
delsgesetzbuchs die mit dem bisher geltenden
gemachten Erfahrun^n nicht unberück-
sichtigt bleiben. Die unerwartet lange
Dauer der Herstellung des Bürgerlichen
Gesetzbuchs hat zur Folge gehabt, dass die-
jenige des Handelsgesetzbuchs schneller,
als erwünscht gewesen wäi^e, erledigt werden
musste. Dem Rechte der Binnenschiffahrt
war inzwischen in dem G. v. 15. Juni 1895
(neue Fassung vom 20. Mai 1898) eine selb-
ständige reichsrechtliche Regelung zu teil
gewoi^ea. Im übrigen ist bei der Revision
des imter dem 10. Mai 1897 in seiner neuen
Gestalt veröffentlichten (am 1. Januar 1900
in Kraft getreteneu) Handelsgesetzbuchs
nicht nur die Vervollständigung auf einige
kleinere Materien (Handlungsagenten , Han-
delsmäkler, Lagei^schäft) beschränkt ge-
blieben, sondern es haben auch die bereits
gesetzlich geregelt gewesenen eine den Be-
dürfnissen der Gegenwart entsprechende
Neuordnung nur teilweise und in sehr ver-
schiedenem Umfange erfahren. (Für das
einzelne siehe namentlich die dem Reichstage
vorgelegte Denkschrift zu dem Entwürfe
eines Handelsgesetzbuchs und eines Ein-
führungsgesetzes.)
Zwei Abweicnungen principieller Natiu-
weist das neue Handelsgesetzbuch dem alten
gegenüber unter der Einwirkung der Kodi-
fikation des bürgerlichen Rechts auL Auf
die eine von ihnen ist von Goldschmidt
im voraus oben (S. 1057 Sp. 2) hingewiesen
worden : Zahlreiche, zum Teil sehr wichtige
Vorschriften, zumal in dem Rechte der
Handelsgeschäfte, sind in dem neuen Gesetz-
buche nicht mehr enthalten, weil sie durch
das Bürgerliche Gesetzbuch zu Bestandteilen
des bürgerlichen Rechts überhaupt geworden
sind. Die andere wichtige Neuerung besteht
in der vom bisherigen Rechte wesentlich
abweichenden Abgrenzung des Geltungsbe-
reichs des Handelsrechts. Auf der einen
Seite unterwirft das geltende Handelsgesetz-
buch den Nichtkaufmann, der mit einem
Kaufmann in rechtliche Beziehungen tritt,
um deswillen den besonderen Vorschriften
des Handelsrechts nicht mehr in demselben
Masse, wie dies das frühere Recht that:
Das Handelsrecht ist insofern wieder mehr
zu einem Sonderrecht des Handelsstandes
aus einem Sonderrecht des Handelsverkehrs
geworden. Auf der anderen Seite aber wird
gegenwärtig in weiterem Umfange als bis-
her die Kaufmannseifenschaft, also die
Zugehörigkeit zum Handelsstande, durch den
Bctiieb auch eines solchen Unternehmens
begründet, das nicht seinem Gegenstande
nach ein handelsmässiges ist, sondern nur
»nach Art und Umfang einen in kaufmänni-
scher Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb
erfordert« (H.G.B. § 2, vgl. auch § 3). Eine
solche Untei'stellung unter das Handelsrecht
lediglich um der Form des Betriebes willen
fand vor dem Inkrafttreten des geltenden
Handelsgesetzbuchs nur statt bei eingetra-
genen Genossenschaften, bei Aktienkomman-
dit- und Aktiengesellschaften und nament-
lich bei den durch das Reichsgesetz vom
20. April 1892 geschaffenen, in schnell und
stetig steigendem Masse vom Verkehr ver-
wendeten Gesellschaften mit beschränkter
Haftung. Sie können »zu jedem gesetzlich
zulässigen Zweck«, keineswegs also nur be-
hufs Betriebes eines gewerblichen oder gar
nur eines handelsgewerblichen Unternehmens
errichtet werden, gelten aber stets als Han-
delsgesellschaften im Sinne des Handelsge-
Handelsrecht
-1059
setzbuchs und unterstehen als solche seinen
in betreff der Kaufleute gegebenen Vor-
schriften. So weit geht nun freilich das
neue Handelsgesetzbuch mit Bezug auf
Einzelkaufleute, offene Handelsgesellschaften
und Kommanditgesellschaften nicht. Ihr
Betrieb muss stets ein gewerbliches unter-
nehmen zum Gegenstande liaben, wenn auch
nicht mehr notwendig ein sachlich handels-
gewerbliches. Aber auch mit dieser Be-
scliränkung greift das geltende Handelsrecht
doch über die Regelung nur der den Güter-
umsatz vermittelnden Erwerbsthätigkeit
(s. oben S. 1047 Sp. 1) sehr erheblich hinaus. —
2. Mit grösserem Rechte und in weiterem
Umfange als auf anderen Rechtsgebieten hat
auf dem des Handelsrechts der Gedanke der
freien Konkurrenz eine massgebende Rolle
gespielt Als das Allgemeine Deutsche Han-
delsgesetzbuch hergestellt wurde, fanden
selbst noch die zum Schutze des Publikums
gegenüber der monopolartigen Stellung der
Eisenbahnen vorgeschlagenen Beschrän-
kungen der Vertragsfreiheit nur schwer
Eingang. Inzwischen hat sich aber
in der Gesetzgebung mehr und mehr die
Auffassung Bahn gebrochen, dass der Staat
sich auch auf dem Gebiete des den Verkehr
regelnden Privatreclits nicht schlechthin auf
das blosse Gewährenlassen beschränken darf.
Zahlreiche neuere Einzelgesetze des Reichs
machen es sich zur Aufgabe, den wirtschaft-
lich Schwächeren, namentlich den Minder-
vermögenden und den Geschäftsunkundigen,
vor Ausbeutung im Handelsverkehr durch
teilweise minutiöse Vorschriften zu schützen.
Ausser dem schon früher wiederholt ge-
regelten Aktienwesen büden besonders die
Abzahlungsgeschäfte (G. v. 16. Mai 1894),
die mannigfiichen Formen des »unlauteren
Wettbewerbes« (G. v. 27. Mai 1896), die
Borsengeschäfte (G. v. 22. Juni 1896) und
die Aufbewahrung von Wertpapieren für
andere (G. v. 5. Juli 1896) den Gegenstand
derartiger Bestimmimgen. Dabei konnte
denn nicht übersehen werden, dass diese
zum grossen Teile wirkungslos bleiben
mussten, wenn ihre Abänderung im Wege
der Vereinbarung den Beteiligten gestattet
wiu-de. Der wirtschaftlich schwächere Teil
ist regelmässig eben als solcher auch nicht
in der Lage, die Zustimmung zu einer die
gesetzlichen Schutzvorschriften für den ein-
zelnen Fall ausser Kraft setzenden Verein-
barung zu verweigern. Er bedarf des Rechts-
schutzes nicht nur gegen andere, sondern
auch gegen sein eigenes, bei formaler Ver-
tragsfreiheit in Wahrheit unfreies Handeln.
Demzufolge haben die in Rede stehenden
Gesetze, unter verschiedenartiger Ausgestal-
tung des einzelnen, zahli-eiche Vorscliriften
der bezeichneten Art der vertragsmässigen
Abändenmg zum Nachteile des zu Schützen-
den entzogen. Auch von den Novellen zur
Gewerbeordnung, die im Rahmen der grund-
sätzlich erhaltenen Gewerbefreiheit ähnliche
Zwecke verfolgen, sind nicht wenige auch
für den Handelsgewerbebetrieb von ein-
schneidender Bedeutung. Dai'über hinaus-
gehend lassen zahlreiche Strafbestimmungen
aller dieser Gesetze auf das deutlichste er-
kennen, wie weit der Staat der Gegenwart
davon entfernt ist, auch gegenüber den
Operationen des Handelsverkehrs sich auf
die RoUe des schweigenden Beobachters zu-
beschränken. Im Anschluss an das Be-
streben des BürgerUchen Gesetzbuchs, bei
der Regelung des allgemeinen Vermögens-
rechts der imgleichen, wirtschaftlichen Stel-
lung der Beteiligten Rechnung zu tragen,
hat nunmehr auch das neue l£tndelsgesetz-
buch eine Anzahl weiterer sozialer Schutz-
vorschriften getroffen und durch Einschrän-
kung der Vertragsfreiheit sicher gestellt.
So namentlich in Ansehung des Rechtsver-
hältnisses zwischen dem Prinzipal und seinen
Haudlungsangestellten, wo sogar die Nicht-
erft'ültmg der jenem obliegenden Verpflich-
tungen ziun Teil mit öffentlicher Strafe be-
droht ist. Für das Vertragsverhältnis des
Reeders ziu* Schiffsmannschaft sieht der zur
Zeit den gesetzgebenden Faktoren vorliegende
Entwurf einer neuen Seemannsordnung eben-
falls eine weitgehende Beschränkung der
Vertragsfreiheit besonders (aber nicht aus-
schliesslich) im Interesse des Schiffsmanns
vor. —
3. Von verschiedenen Seiten und auf
verschiedene Art in Angriff genommen (s.
oben S. 1057 Sp. 1), schreitet die Herstellung
eines einheithchen Weltverkehrsrechts lang-
sam, aber sicher vorwärts. Auch für das
Handelsrecht ist von Wichtigkeit das »zwecks
gemeinsamer Regelung mehrerer auf den
Civilprozess bezüglicher Fragen des inter-
nationalen Privati'echts« getroffeneHaager Ab-
kommen vom 14. November 1896. Eine Vor-
stufe für umfassendere Vereinbarungen büden
die handelsrechtlichen Bestimmungen der in
grosser Zahl zwischen einzelnen Staaten ge-
schlossenen Freundschafts-, Handels- und
Schiffahitsverträge, die im Wege tiiatsäch-
licher Nachfolge, zum Teil aber — so na-
mentUch auf Ginind der Meistbegünstigungs-
klausel — kraft Rechtstitels auch über die
jeweilig kontrahierenden Staaten hinaus Gel-
tung erlangen. Der eines einheitlichen Rechts
besonders bedürftige Seehandel schafft sich
ein solches für die wichtigsten in Betracht
kommenden Verhältnisse (Frachtvertrag,
grosse Haverei, Seeversicherung) vorläufig
noch im Wege der Privatautonomie. Das
thatsächliche Uebergewicht Englands macht
sich dabei schon äusserHch in der Verwen-
dung seiner Sprache in den Chartepartieen
und Konnossementen auch nichtenglischer,
67*
1060-
Handelsi-echt — Handelsstatistik
insonderheit deutscher Reeder geltend. Auch
das durch Yei-einbarung an die Stelle des
Gesetzbuches tretende Recht des Seehandels
folgt überwiegend englischem Vorbilde und
zwar selbst in Fällen, wo dadurch, sei es
mit Rücksicht auf das im Hintergrunde
stehende allgemeine bürgerliche Recht, oder
auc^h ohnedies das heimische Recht der Be-
teiligten eine angemessenere Regelung der
thatsächlichen Verhältnisse darbietet. Die
Vorteile eines einheitlichen Rechts erscheinen
den am Verkehr unmittelbar Teilnehmenden
auch um den Preis einseitigen Verzichts auf
das eigene Recht als nicht zu teuer erkauft.
Unleugbar ist auch diese Thatsache geeignet,
den Wert erkennen zu lassen, der auf diesem
und verwandten Gebieten den auf die üni-
formierung des Verkehrsrechts gerichteten
Bestrebungen beigemessen werden muss.
Die Beteiligung am internationalen Handel
fordert auch die Beteiligung an der Gestal-
tung des ihn beherrschenden Rechts, durch
welches, w^ie beispielsweise die imter dem
Einflüsse des Berner üebereinkommens ent-
standenen Vorschriften des neuen Handels-
gesetzbuchs über das Frachtgeschäft der
Eisenbahnen deutlich zeigen, eine Rück-
wirkung auch auf das innerstaatliche Recht
notwendig ausgeübt wird. Gleichgiltig bei-
seite stehen heisst hier in Wahrheit sich
anderen unterwerfen. Der Besitz eines
trefflichen, wenn auch in manchen Be-
ziehungen etwas veralteten Seehandelsrechts
muss uns zui* Veranlassung dienen, ihm
eine der Bedeutung des mächtig erblühten
deutschen Handels entsprechende Berück-
sichtigung auch bei der Schaffung des inter-
nationalen Verkehrsrechts zu sichern.
Pappenhetvn.
Handelsschulen
8. Gewerblicher Unterricht
oben Bd. IV S. 581 ff.
Handelsstatistik.
1. Begriff und Zweck der H.; ihre Grund-
lagen. 2. Ergebnisse für einige wichtige Länder.
1. Begriff und Zweck der H.; ihre
Grundlagen. Wie es Binnenhandel und
Aussenhandel giebt, so sollte man den Begiiff
Handelsstatistik auch auf beide beziehen,
indes ist es hergebracht, bei uns wie ander-
wärts hierbei nur an die Statistik des aus-
wärtigen Handels zu denken d. h. die
der Einfulir, Ausfuhr und Durchfuhr der
Waren über die Grenze eines volkswirt-
schaftlichen Gebiets, die in der Regel mit
der politischen Gi-enze eines Staats oder
Stallten Verbandes zusammenfallen vdrd —
abgesehen von gewissen Abweichimgen der
Zollgrenze von dieser: Zollausschlüsse und
Zolleinschlüsse — oder ein besonderes Ge-
bilde ist, wie unser deutsches Zollgebiet,
das aus zwei politisch von einander ganz
unabhängigen Tenitorien, nämüch dem
Deutschen Reiche und dem Grossherzogtum
Luxemburg besteht.
Der Zweck der Handelsstatistik ist die
Feststellung des Waren- Ein- und Ausgangs
über eine solche Grenze und die zahlen-
mässige Darstellung desselben. Hierbei
wird gegenwärtig in allen Kulturländern die
Veröffentlichung der gewonnenen Zahlen, und
zwar die thunlichst rasche Veröffentlichung
als selbstverständlich mit im Zweck der
Handelsstatistik liegend angenommen, und
es wird damit bekundet, dass die Handels-
statistik die Kenntnis der Warenbewegung
nicht niu* der Verwaltung vermitteln soU,
was ja auch ohne Veröffentlichung geschehen
könnte und früher geschah, sondern auch
den privaten Interessenten und der Wissen-
schaft.
Die Feststellungen haben sich zunächst
auf die Menge der Waren — Gewicht und
zum Teil Stückzahl — nach ihren Arten zu
richten. Die Kenntnis der eingeführten und
ausgefühi'ten Mengen einer bestimmten
Warengattung ist in erster Linie wichtig,
insbesondere für den Produzenten oder
Händler der betreffenden Warenbranche;
dieser, z. B. der Hutfabrikant will wissen,
wie viel Doppelcentner Filzhüte emer be-
stimmten Sorte und woher eingeführt sind,
den Nachweis der Preise (Werte) braucht
ihm die Statistik nicht zu liefern, da er
darüber aus eigener Kenntnis informiert
ist. Füi' gewisse Zwecke sind aber auch
die Feststellungen der Werte diux5h die
Handelsstatistik unentbehrlich; nämlich zur
Beurteilung des Standes und der Entwicke-
lung des Warenverkehrs nach allgemeinen.
Gesichtspunkten, vde sie der Handelspolitik
und der Wissenschaft eigentümlich sind.
Die Benennung nach dem Werte lässt
auch eret den Anteil würdigen, den die
einzelne Warengattimg an der Gesamtheit
hat ; gerade die feineren, viel Arbeitsleistung
enthaltenden Waren liaben der Menge (dem
Gewicht) nach geringen, dem Wert nach
bedeutenden Anteil.
Die Ermittelung der in das HandeL^-
tenitorium einlaufenden oder aus ihm aus-
gehenden Waren muss also durch die
Handelsstatistik nach Gattung, Menge und
Wert geschehen. Von diesen drei ist am
wenigsten sch\Werig die Menge zu er-
fassen (Gewicht oder Stückzahl), weil hier
äusserliche Merkmaie vorhanden sind und
sie schon wegen der Frachtkosten richtig
notiert wird. Mehr Schwierigkeiten bietet
die Feststellung der Gattung, die in deji
Frachtpai)iei'en nicht immer mit der für die
Handelsstatistik
1061
statistische Feststellung nötigen Genauigkeit
enthalten ist. Bei der Einfuhr verlangt das
fiskalische Interesse der Verzollung eine
gewisse Kontrolle, und je mehr detailliert
der Zolltarif ist, desto schärfer muss die
Zollkontrolle und desto genauer ^ird schon
aus diesem Grrunde die Anschreibung nach
Warengattungen sein. Bei einem Zolltarif,
der, wie z. B. der englische, nur eine kleine
Anzahl zollpflichtiger Waren hat, fällt schon
aus diesem Grunde der stärkste, nämlich
der fiskalische Antrieb ziu- sorgfältigen
Ausscheidung der Warengattungen fort.
Bei der Ausfuhr, die ja bei ims und in
vielen anderen Ländern durchweg zollfrei
ist, fehlt dieser Anteil gänzlich. Der
Zolltarif wird aber überhaupt die Waren
nie so eingehend nach den Gattungen imter-
scheiden, wie es für eine Statistik, welche
die Bedürfnisse der Praxis erfüllt, not-
wendig ist; es ist also ein besonderes sta-
tistisches Warenverzeichnis aufzu-
stellen, dessen Einteilung sich nach den
aus der handelspolitischen Praxis der ein-
heimischen Volkswirtschaft bekaimten Be-
dürfnissen richtet und das den Behörden
der Verkehrskontrolle zur Grundlage der
Anschreibungen dient.
Wieder andere Schwierigkeiten bietet die
Ermittelung des Wertes der Waren. Für
diese giebt es zwei Methoden, die man kiurz
als Deklaration und als Schätzung bezeichnen
kann. Die Wertdeklaration geschieht
bei Anmeldung der Waren zum Eingang oder
Ausgang, also durch den Waren führer auf
Gnmd der von ihm mitgebrachten Fracht-
papiere; das Geschäft der Wertermittelung
wird also hier in einem mit der Mengen-
ermittelung abgemacht und die Statistik er-
fasst beide zugleich. Dies hat vor der
anderen, sogleich zu besprechenden Methode
den Vorzug der Einfachheit und Schnellig-
keit für die Statistik; mutet aber in jedem
einzelnen Falle den Personen, welche die
Anmeldung beim Eingang oder Ausgang zu
besorgen haben, die Angabe des Wertes
neben derjenigen der Menge zu. Die andere
Methode, die der Schätzung, besteht
darin, dass, unabhängig von der Mengen-
ermittelung, die Einheitswerte der AVai'en
bestimmter Gattung, z. B. eines Centnei's des
im Jahre 1900 aus Russland stammenden
Rohflachses, von Sachverständigen periodisch
festgestellt werden und dann durch Multipli-
kation der Menge mit diesem Einheitswerte
der Gesamtwert gefunden wird. Es ist
klar, dass man für dasselbe Gebiet beide
Methoden neben einander anwenden kann,
insofern als man z. B. die erste für die Aus-
fuhr, die zweite für die Einfuhr oder auch
füi* beide Verkehrsrichtungen nach Waren-
gattungen getrennt anwendet, z. B. für be-
stimmte, schwer zu schätzende Waren-
gattungen die Deklaration, für die übrigen
die Schätzung eintreten lässt. Die zweite
Methode weist die Arbeit, welche die erste
durch die Warenführer in Stellvertretung
der Empfänger und Versender verrichten
lässt, der handelsstatistischen Stelle und
deren Hilfsorganen — den kaufmännischen
Sachverständigen — zu. Das Entscheidende
für die Wahl der einen oder anderen ist
ihr Ei'gebnis bezüglich der Genauigkeit und
wenn diese bei beiden annähernd gleich
wäre, so raüsste man sich für die zweite
entscheiden, weil sie dem Publikum weniger
Arbeit zumutet.
Bezüglich der Richtigkeit der Wertan-
gaben durch die Methode der Deklaration
oder Schätzung kommt nun zunächst in
Frage : welche Werte man verlaugt. Selbst-
verständlich sind es die Preise im Gross-
handel zur Zeit der Einfuhr oder Ausfuhr
der Waren — aber, soll die Handelsstatistik
die Preise am Einkaufsort oder am Ver-
kauf sort oder wo sonst nachweisen? Wie
soll z. B. die deutsche Handelsstatistik den
Verkehr mit den Vereinigten Staaten von
Amerika veranschaulichen? Soll sie den
nach Chicago ausgeführten Centner Nürn-
berger Zinnsoldaten mit dem Pi-eise loco
Nürnberg und den in Chicago ausgeführten
(^entner Weizen mit dem Preise loco
Chicago ansetzen? Das wüixie in beiden
Fällen zur Vernachlässigimg bedeutender
Beträge führen, da der Zweck der Wertbe-
rechnung für die Handelsstatistik offenbar
der ist, zu ermittehi, was Amerika an
Deutschland und dieses an jenes für Waren
bezahlt hat, mithin im Preise derselben
ebenso wie die Produktionskosten imd der
Handelsgewinn auch die Transportkosten
inbegriffen sein müssen. Nun ist, abgesehen
von der Frage, welche von beiden Nationen
oder welche dritte die TransiK)rtkosten
zwischen den Grenzen beider Staaten — die
Seefracht — verdient hat, sicher, dass im an-
genommenen Falle Amerika an Deutschland
den Transport der Zinnsoldaten bis zur
deutschen Grenze zu bezahlen liat und
Deutschland für den Weizen mindestens den
Preis an Amerika entrichten muss, der zum
Chicagopreise durch den Transport mit
amerikanischen Fahrzeugen hinzukommt»
Da aber die Handelsstatistik als solche sich
nicht in Untersuchungen darüber einlassen
kann, wie weit die einzelne Ware mit ein-
heimischen oder fremden Transportmitteln
befördert worden sei, so muss sie von der
Frage des Transports ausserhalb der Landes-
grenze ganz absehen und bei der Ausfuhr
sich damit begnügen, die Kosten bis zur
Landesgrenze dem Auslande anzurechnen,
mitliin für die Einfuhr und Ausfuhr den
Wert an der Grenze festzustellen.
Wenn wir nun die beiden beschriebenen
1062
Handelsstatistik
Methoden der Wertermittelung auf ihre
Fähigkeit zur Erfüllung dieser Aufgaben
ansehn, so wäre an und für sich die Dekla-
ration — wenn sie sorgfältig wäre — dazu
sehr wohl geeignet. Der Importeur kennt
den Einkaufspreis der Waren und die Spesen,
welche bis zur Grenze erwachsen — wenigs-
tens soweit es sich nicht um Consignations-
waren handelt, für die ja ein Verkaufspreis
zur Zeit der Einfulir noch nicht besteht;
der Exporteur kennt gleichfalls den Yer^
kaufspreis der Waren und kann die Kosten
bis zur Landesgrenze sehr wohl beurteilen.
Wenn man also beide Teile dazu bringen
könnte, diese Grenzwerte sorgfältig zu be-
rechnen und anzugeben, wäre der ideale Zu-
stand eiTeicht; die Erfahrung lehrt aber,
dass in Wirklichkeit der einzelne, der solche
Wertangaben machen soU, es damit sehr
wenig genau nimmt Bei der Einfuhr, da
der Versender im Ausland ist und vom
Waren führe r eine Beurteilung des Werts
aus eigener Kenntnis nicht erwartet werden
kann, fehlt überhaupt jede Garantie für die
Genauigkeit; bei der Ausfuhr kann auf den
inländischen Versender eingewirkt, auch
wohl eher von ihm erwartet werden, dass
er richtige Angaben mache und es ist in
auffallenden Fällen eine Nachforschung d\u*ch
die kontrollierende Behörde möglich. Aus
diesen Gründen könnte man ein gemischtes
System, wie es z. B. die Schweiz eingeführt
hat : Deklaration für die Ausfuhr, Schätzung
iür die Einfuhr, empfehlen. Die Methode
der Schätzung hat den Vorzug, dass man
hierbei nicht von der Willkür und Ver-
stand nislosigkeit der »jungen Leute«, welchen
die statistische Deklaration überlassen zu
werden pflegt, abhängig ist, sondern die
Festsetzung der Einheitswerte durch eine
Kommission berufenster Sachverständiger er-
folgen lassen kann, welche den Einkaufs-
preis der Waren und die Wertvermehrung
bis zur Landesgrenze genau zu kontrollieren
imstande sind, wenn auch nur nach Diurch-
schnittssätzen und nach Ablauf eines ge-
wissen Zeitraumes z. B. des Kalenderjahres.
Die Schätzung kann aber nicht individuell
verfahren ; während die Deklaration z. B. für
eine bestinunte Sendung Bücher gilt, kann
die Schätzung nur den Wert eines Centners
Bücher, unter Berücksichtigung des Her-
kunfts- bezw. Bestimmungslandes, als
Nachweisgnmdlage liefern. Die Schwäche
der Schätzung liegt in der Notwendigkeit,
Diux)hschnitte zu berechnen, ihre Stäi*ke in
der Gewissenhaftigkeit und Sachkenntnis,
die bei zweckmässiger Organisation ver-
bürgt sind.
An die Begriffe Einfuhi« und Ausfulir,
mit denen wir bereits operiei-t haben, knüpfen
sich zunächst die der Herkimft und Be-
stimmung, auf welche die Handelsstatistik
gleichfalls ihr Augenmerk zu richten hat,
da man nicht niu: den Verkehr mit dem
Auslande im allgemeinen^ sondern den mit
den einzelnen Ländern verfolgen wilL Als
Herkunftsland einer Ware kann ange-
geben werden: 1. das Produktions-(ürsprungs)-
land, 2. das Land, aus dessen Eigenhandel
die Ware stammt 3. das Land, aus dem
die Ware zunächst kommt; z. B. brasilia-
nischer Kaffee durch englische Händler über
Belgien eingeführt. Da hier eine Statistik
der Handelsbeziehungen in Frage steht,
so ist klar, dass sie das zu 2 bezeichnete
Land (England) nachweisen muss. Als Be-
stimmungsland der aus dem ein-
heimischen Handel stammenden (im Inland
oder auswärts erzeugten) Waren kaim gelten :
1. das Land, nach dem die Ware zunächst
gebracht wird (Speditionsland), 2. in dessen
Handel sie zunächst übergeht (Verkaufsland),
3. in welchem sie schliesslich dem Verbrauch
zugeführt wird; z. B. deutsche Spitzen via
Schweiz für italienische Rechnung nach
Tunis. Auch hier ist es klar, dass für die
Handelsstatistik nur das zu 2 bezeichnete
Land (Italien) in Betracht kommt ; das eigent-
liche Konsumland wird bei der Ausfuhr
ohnehin meist gar nicht bekannt sein.
In der Einfuhr eines Landes ist ein mehr
oder weniger grosser Teil von Waren ent-
halten, der auch wieder in der Ausfuhr er-
scheint Begrifflich und, wenn die nötigen
Vorkehrangen getroffen sind, auch faktisch
ist auf beiden Seiten der Teil auszuscheiden,
den man unmittelbare Diuxjhfuhi» oder auch
schlechtweg Durchfuhr (transshipment)
nennt, also die Waren, welche ohne Lagenmg
im Inlande als Prachtgut durchgeführt wer-
den und für die einheimische Volkswirt-
schaft auch nur als solches Bedeutung haben.
Das Inland verdient an ihnen die Transport-
spesen, als Werte treten sie nicht in die
Volkswirtschaft des Inlandes ein, und es ist
demnach auch vöUig zwecklos, ihren Wert
zu ermitteln. Die Ausscheidung dieser Durch-
fuhrgüter ist für zollpflichtige Waren
deshalb möglich, weil sie mit entsprechenden
Begleitpapieren ein- und auspassieren, um
dem Zoll zu entgehen; bei den zollfreien
Waren lässt sich eine reinliche Ausscheidung
nur dadurch erwirken, dass diese Waren —
bei der Ausfuhr — im allgemeinen einer
besonderen Abgabe (»statistische Gebühr«)
unterliegen und dass in der Befreiung von ihr
für die Durchfuhrwaren ein Anreiz zur
Unterscheidung gegeben ist Diese Durch-
fuhr gehört zwar dem Verkehr, aber nicht
dem Handel des Inlands an und sollte in
der Handelsstatistik gar nicht erscheinen.
Wohl aber sind in der Handelsstatistik
diejenigen ausländischenWaren nachzuweisen,
die man als der mittelbaren Durch-
fuhr angehörig bezeichnen kann, nftralich 1.
Hanclelsstatistik
1063
solche, die zwar in den inländischen Handel
übergegangen sind, aber unter Yeränderung
der Bestimmung ins Ausland weiter verkauft
werden, 2. solche, die mit inländischen Waren
vermischt wieder ausgehen, 3. solche, die
nach Bearbeitung oder Verarbeitung im In-
lande als Waren anderer Art ausgeführt
werden. Sofern diese unter 1 bis 3 bezeich-
neten ausländischen Waren zollfrei sind
treten sie ohne Unterscheidung von denen,
die im Inlande bleiben, in den freien Ver-
kehr: sofern sie an sich zoüpflichtig sind
und ihre Wiederausfuhr in demselben oder
verarbeiteten Zustande von vornherein in
Aussicht genommen ist, hat die Zolltechnik
für sie besondere Kategorieen geschaffen,
um sie für den Fall zollfrei zu halten, dass
sie nicht in den inländischen Absatz über-
gehen; nämlich den Nie der lagen verkehr
und den Veredlungs verkehr (Vormerk-
Yerkelir, admission temporaire). Solange
sie auf bestimmten Niederlagen oder in
sogenannten Freibezirken lagern, wo sie
nach Massgabe der Zollvorschriften auch mit
anderen Waren vermischt, be- und verarbeitet
werden dürfen, bleibt die Möglichkeit, sie
entweder zollfrei wieder auszuführen oder
unter nachträglicher Verzollung in das In-
land einzuführen. Ebenso sind zolltechnische
Vorkehrungen getroffen, dass ausländische
Güter, deren Wiederausfuhr in »veredeltem
Zustande« (z. B. Roheisen nach Verarbeitung
zu Rohren) beabsichtigt ist, unverzollt das
Inland wieder verlassen können. Anderer-
seits ist auch inländischen Waren, deren
Wiedereinfuhr in veredeltem Zustande be-
absichtigt wird, in dieser Weise die Mög-
lichkeit gewährt, sich in solchem »gebundenen
Verkehr« vor der Zollzahlung zu schützen.
Durch die Thatsache der Zollpflichtigkeit
der Waren und die Zolltechnik entstehen
also gewisse Verkehrskombinationen,
die nicht vorhanden sein würden, wenn alle
Waren zollfrei oder auch dann, wenn Ein-
richtimgen, welche die zollfreie Wiederaus-
fuhr erleichtern, nicht vorhanden wären.
Sie entstehen dadurch, dass es neben der un-
mittelbaren Einfuhr von Waren — mögen sie
zollfrei sein oder sogleich verzollt werden —
eine solche auf Niederlagen und von
Niederlagen und im Veredlungsverkehr
giebt. Dadurch entstehen die allgemein
üblichen Unterscheidungen von Specialhandel
und Generalhandel; den letzteren nennt die
deutsche Handelsstatistik Gesamteigenhandel
und bezeichnet — überflüssiger Weise —
als Generalhandel eine Kombination, die aus
Gesamteigenhandel und Durchfuhr besteht
Als Specialhandel in der Einfuhr
soll alles erfasst werden, was wirklich zum
Absatz im Inlande bestimmt ist: 1. die im
Laufe eines bestimmten Zeitraums (Jahres)
unmittelbar eingeführte Menge, 2. die inner-
halb desselben Zeitraums von Niederlagen
oder im Veredlungsverkehr zum Verbleib
im Inlande eingeführte Menge. Diese letztere
kann in dem inländischen Handel schon
in einem früheren Zeitraum eingetreten
sein, z. B. die Menge Wein, die der Importeur
1899 in den Verkehr bringt, kann von ihm
schon 1898 oder früher auf eine Niederlage
gebracht sein; oder die seidenen Tücher,
die er 1899 bedruckt nach Veredlung im
Auslande in den freien Verkehr setzt, können
unbedruckt schon 1898 von ihm ins Inland
gebracht sein. Bei der Ausfulir, weil sie
zollfi^i geschieht, kommt eine solche Kombi-
nation nicht in Betracht, indes wird zweck-
mässig die Ausfuhr im Veredlungsverkehr,
sofern sie auf inländische Rechnung erfolgt,
dem Specialhandel zugewiesen.
Als Generalhandel — oder Gesamt-
eigenhandel ; s. 0. — bezeichnet man dagegen
in der Einfuhr 1. die im Laufe des Jahres
unmittelbar eingeführte Menge — wie beim
Specialhandel — , 2. die Einfuhr auf Nieder-
lagen und im Veredlungsverkehr im Laufe
desselben Jahres. Im Generalhandel ist
also alles enthalten, was im Laufe eines be-
stimmten Zeitraums über die Zollgrenze
kommt, ohne Rücksicht darauf, ob es nach
Verbleib in Niederlagen oder sonst im ge-
bundenen Verkehr in den inländischen freien
Verkehr gelangt oder dem Auslande wieder
zugeführt wird. Der Generalhandel wird
darum regelmässig grösser sein als der Special-
handel, jedoch ist bei einzelnen lagerfähigen
Waren die Möglichkeit gegeben, dass die
Einfuhr von schon längere Zeit in Niederlagen
befindlichen Waren m den freien Verkehr
in einem gegebenen Zeitraum den General-
handel übertrifft Die Ausfuhr im General-
liandel besteht demgemäss aus dem direkt
ausgeführten und den von Niederlagen und
im Veredlungsverkehr wieder ins Ausland
abgesetzten Waren.
Aus dem Vorgetragenen ergiebt sich die
Abhängigkeit der handelsstatistischen Nach-
weise von den Zolltarifen und der Zolltech-
nik. Diese Abhängigkeit zeigt sich nun auch
darin, dass die Einteilung der Waren, wie
sie die Handelsstatistik darstellt, in erster
Linie von der des Zolltarifs bedingt ist. Sie
muss sich dem Schema des Zolltarifs schon
deshalb anschliessen,weil die Anschreibungen
— das Urmaterial der Handelsstatistik —
selbstverständlich durch die Zollbehörden,
welche den Ein- und Ausgang kontrollieren,
erfolgen muss und weil die Handelsstatistik
in erster Linie den Zwecken der Zoll-
politik dient, die ein Teil der Handelspolitik
ist; erst in zweiter Linie kommen die Be-
dürfnisse der privaten Interessenten. Soweit
die Einteilung der Waren im Zolltarif nicht
genügt, um ein brauchbares Bild der Waren-
bewegung zu geben, müssen die Positionen
1064
Handelsstatistik
"weiter zerlegt wercleu und es entsteht als
Grundlage der statistischen Darstellung das
statistische Warenverzeichnis. Die
Bedürfnisse der Handelswelt gehen auf einen
sehr detaillierten Nachweis der einzelnen
Warengattungen und -Sorten, während anderer-
seits für eine schnelle und übersichtliche Ver-
arbeitung des Materials zum statistischen
Zahlenbilde eine gewisse Beschränkung des
Verzeichnisses geboten ist. Merkwürdiger-
weise hat der grosste Handelsstaat der
Welt, (xrossbritannien , das am wenigsten
gegliederte Warenverzeichnis; die gross-
britannische Handelsstatistik begnügt sich
mit weniger als 300 Warengattungen, während
die Handelsstatistik der meisten hauptsäch-
lichen Handelsländer (Deutschlands über 1150)
weit mehr Waren unterscheidet. Die eng-
lische Handelsstatistik genügt auch hinsicht-
lich der richtigen Unterscheidung der Her-
kunfts- und Bestimmungsländer nicht den
bescheidensten Anforderungen ; Länder ohne
Seegrenze fehlen in ihr, sie ist also mehr
8chiffahrtsstatistik, und da von den eigenen
Autoritäten die Genauigkeit auch ihrer Wert-
deklarationen stai'k angezweifelt wird, so
bleibt an ihr riihmenswert fast nur die
Schnelligkeit ihrer monatlichen Publikationen.
Diese wird dadurch ermöglicht, dass eine
verhältnismässig nur geringe Zahl von
Stellen (Häfen), aus denen die Verkehrs-
nachw^eisungen einzuziehen sind (etwa 130,
gegen 2200 Anmeldestellen in Deutschland),
zu berücksichtigen ist, und wird dadiurch
erzwungen, dass die Zusammenstellungen
für den Monat schon mehrere Tage vor Ab-
lauf desselben schliessen, also z. B. der
Nachweis für den August die Zahlen nicht
für diesen ganzen Monat, sondern für die
Zeit vom 27. Juli bis 26. August enthält.
Es ist selbstverständlich, dass die Schwie-
rigkeit der Gestaltung der Handelsstatistik
mit der Grösse der dabei zu überwindenden
Widerstände, zu denen vor allem die von
Länge und Gestaltimg der Grenzen abhängige
Menge der Anschreibungsämter gehört, und
mit der Zahl der im statistischen Waren-
verzeichnis unterschiedenenNummem wächst.
Die A^'eröffentlichungen der Han-
delsstatistik pflegen jetzt in monatlichen und
jährlichen zu bestehen, von denen die letz-
teren nicht nur eine das Jahresergebnis zu-
sammenfassende und soweit nötig die provi-
sorischen Zahlen berichtigende, sondern auch
ausführlichere und vielfach mit Erläuterungen
versehene DarsteUnng bezwecken. Die Han-
delsstatistik des deutschen Zoll-
gebiets, in welchem Luxemburg einge-
schlossen ist, die Zollausschlüsse, insbe-
sondei-e der Freihäfen Hamburg und Bremer-
haven aber fehlen, die also noch keine
eigentlich deutsche Handelsstatistik ist,
giebt > Monatliche Nachweise« über die
Mengen des Specialhandels, zu denen die
Werte von Vierteljahr zu Vierteljahr (mit
Einschluss des vorhergehenden Zeitraums)
wesentlich nach den Feststellungen für
das Vorjahr eingesetzt werden ; und zweitens
Jahresnachweise in besonderen Bänden der
»Statistik des Deutschen Reichs«, in denen
die Werte nach Feststellungen einer Kom-
mission von Sachverständigen gegeben wer-
den, die bald nach Schluss des betreffenden
Jahres zu diesem Zweck vom Kaiserlichen
Statistischen Amt einbenifen wird, und in
denen ausserdem neben dem Specialhandel
die Darstellung des Gesamteigenhandels und
der Durchfuhr sowie eine Menge von be-
sonderen Uebersichten nebst Erläutenmgen
ihre Stelle finden.
Bezüglich des Gebrauchs der statistischen
Nachweise besteht unter den Fachleuten
noch eine Meinungsverscliiedenheit darüber,
wie weit zur Beurteilung der Gesamtgrosse
des Warenverkehrs eines Landes die Ein-
imd Ausfuhr von Edelmetallen mit zu
berücksichtigen sei; ob man also die Ge-
samtsumme des auswärtigen Handels nach
Menge und Wert — und dieser letztere
kommt hierbei natfirlich fast nur in Frage —
mit oder ohne Edelmetalle als eigentlich
massgebend zu betrachten liabe. Für das
deutsche Zollgebiet ist z. B. für 1899 unter
einem Einfulirwert von 5783,6 Millionen Mark
ein Betrag für Edelmetalle von 300,5; bei
der Ausfuhr unter 4368,4 : 161,4. In der
Regel w4rd das Gesamtbild der Ein- und
Ausfuhr durch Einbeziehung oder Abzug des
Edelmetallverkehrs nicht -wesentlich beein-
fliisst; in einzelnen Zeiträumen, in denen
aus besonderen Gründen der Bank- und
Währungspolitik die Edelmetallbewegung
stark ist, kann die Verschiebung des Ge-
samtergebnisses bei diesem und jenem A"er-
fahren bemerkenswert sein. Als Gründe für
die Aussonderung des Edelmetallverkehrs
werden geltend gemacht: erstens, dass der
Transport von Goldgeld in kleinen, aber in
der Summe doch sehr ansehnlichen Mengen
durch die Reisenden von Land zu Land
nicht erfassbar sei, und zweitens, dassCJold
und Silber zum Teil aus anderen Gründen
als sonstige Waren ein- und ausgefülirt
werden, insbesondere um den Barvorrat der
Banken des einen oder anderen der mit
einander verkehrenden Länder oder dessen
Umlaufsmittel zu verstärken. Diese Gründe
sind aber nicht genügend, um den aus-
wärtigen Handel mit Edelmetall aus den
Summen der Handelsstatistik auszulassen«
Da diese durch ihre Ziffern der Zahlungs-
bilanz möglichst nahe kc»mmen will, so be-
steht kein Grund, von einem Teil des Aus-
tausches von Werten, über den man An-
gaben erlangen kann, deshalb ganz abzu-
sehen, weil er unvollständig erfasst wird.
Handelsstatistik
1065
Ein beträchtlicher, aber seiner Grosse nach
unbestimmbarer Teil der Edelmetalle wird
auch zur Yerarbeitimg. also ganz eigentlich
als Ware bezogen und versendet; und
schliesslich werden doch mit Gold- und
Silbersendungen, sei es in Münzen oder
anderer Form, ebenso gut Zahlungsver-
pflichtungen von Land zu Land eingegangen
und gelöst wie mit der Sendung von Caviar
oder Baumwolle.
2. Ergebnisse ffir einige wichtige
Lander. Ueber die Technik der Handelssta-
tistik der einzelnen Länder, die Gewinnung,
Gruppierung, Darstellung ihrer Zahlen, welche
deren Wert und Vergleichbarkeit erheblich
beeinflussen, sich hier zu verbreiten, ist un-
thunlich; es können nur noch Haupt-
ergebnisse in Jahresreihen f(ir eine An-
zahl der wichtigsten Handelsländer geboten
werden; die Reihen sind durchweg für
dieses Jahrzehnt (seit 1891) gegeben, soweit
sie schon vorlagen.
Was zunächst Deutschland anlangt,
so ist schon erwähnt, dass eine eigentliche
deutsche Handelsstatistik leider noch nicht
vorlianden ist; wobei nicht so sehr störend
der Einschluss Luxemburgs in unser Zoll-
gebiet ist als der Umstand, dass der Handel,
welcher sich für deutsche Rechnung im
Hamburger Freihafen vollzieht, ohne das
Zollgebiet zu berühren, statistisch nicht mit
erfasst wird. Es giebt allerdings eine Sta-
tistik des Hamburgischen Handels, die,
obgleich sie ihn nicht vollständig darstellt^
sehr grosse Werte nachweist, aber eine
Kombination der Zalüen jener mit der Zoll-
gebietsstatistik ist bis jetzt nicht möglich;
es können aus der Hamburgischen Statistik
die Mengen und Werte, welche der Zoll-
gebietsstatistik zuzuschlagen wären, um eine
vollständige deutsche Handelsstatistik zu
geben, nicht ermittelt wei*den. Dieser Mangel
ist aber liauptsächlich für den Gesamteigen-
handel, nur wenig für den Specialhandel
störend.
Nach dem bisher Dargelegten ist der
Sgecialhandel, d. h. die in den ein-
heimischen Handel übergegangene und die
aus diesem stammende Warenmenge die für
den Nachweis wichtigste Zusammensetzung
der Ein- und Ausfuhr, und dessen Ziffern
in Summa sowie für unsere fünf wichtig-
sten Handelsländer werden im folgenden
gegeben.
Ein- und Ausfuhr des Deutschen Zollgebiets (einschl. Edelmetall- Verkehr).
A. Einfuhr im Specialhandel in Millionen Mark
Im
ganzen
davon kamen aus
* Jahr
Gross-
hritannien
Oester-
reich-
Ungarn
Rassland
(einschl.
Finland)
Frank-
reich
(einschl.
Alg:ier und
Tunis)
d. Verein.
Staaten
von
Amerika
anderen
Ländern
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
4 403,4
4 227,0
4134,1
4 285,5
4246,1
4558,0
4 864,6
5 439,7
5 783,6
677,1
621,1
656,6
608,9
578,7
647,8
661,5
825,7
777,1
598,9
575,4
580,2
581,7
525,4
578,0
600,3
661,2
730,4
580,4
383,4
353,4
543,9
568,8
634,7
708,3
736,5
715,9
261,8
262,3
241,4
214,0
229,9
233,6
248,8
269,3
308,2
456,5
612,0
458,1
532,9
511,7
584.4
658,0
877,2
907,2
I 828,7
I 772,8
I 844,4
I 804,1
1 831,6
I 879,5
1 987,7
2 069,8
2 344,8
B. Ansfnhr im Specialhandel in Millionen Mark
Im
ganzen
davon gingen nach
Jahr
Gross-
britannien
Oester-
reich-
üngam
Rassland
(einschl.
Finland)
Frank-
reich
(einschl.
Algier und
Tunis)
d. Verein.
Staaten
von
Amerika
anderen
Ländern
1891
1892
1893
18J)4
1895
189n
1897
1898
1899
3 339,8
3 150,1
3244,6
3051,5
3424,1
3 753,8
3 786,2
4010,6
4 368,4
696,8
640,6
674,0
635,1
678,9
715,9
701,7
803,8
851,6
347,8
376,6
420,5
401,7
435,8
477,3
435,1
453,7
466,0
262,6
239,5
184,6
194,8
220,9
364,1
372,1
440,5
437,3
238,0
202,9
203,1
188,1
202,8
20 1,6
210,4
205,9
217.4
357,8
346,7
354,3
271,1
368,7
383,7
397,5
334,6
377,6
I 436,8
I 343,8
1 408,1
1 360,7
1 1517,0
I 611,2
I 669,4
1 772,*i
2018,5
1066
Handelsstatistik
Diese deutschen Zahlen zeigen eine be-
deutende Steigening der Einfuhr im ganzen
und aus den fünf angeführten Staaten; bei
der Ausfuhr gleichfalls eine beträchtliche
Hebung, ausgenommen jedoch diejenige nach
Hussland.
Wir schüessen hieran die Hauptzahlen
des Handels jener fünf fremden Staaten mit
besonderer Hervorhebung der Ein- und Aus-
fuhrwerte (in Millionen Mark umgerechnet),
die sie in ihren Nachweisen bezüglich Deutsch-
lands geben. Auch sind noch die Zahlen
für Italien und Japan angefügt; die Mit-
teilung solcher für gleichfalls wichtige
kleinere Handelsstaaten, wie Holland, Bel-
gien, die Schweiz, würde hier zu weit ge-
führt haben.
Eine Vergleichung der Zahlen, welche
nach der deutschen ZoDgebietsstatistik für
die Einfuhr aus und die Ausfuhr nach
Grossbritannien, Oesterreich-Ungarn , Russ-
land, Frankreich und den Vereinigten Staaten
von Amerika oben gegeben sind, mit den Zahlen ,
die aus der Statistik dieser Länder für den
Verkehr mit Deutschland entnommen wiu*-
den, zeigt sehr grosse ünterechiede, na-
mentlich bezüglich Grossbritanniens, der
Vereinigten Staaten, Russlands und Frank-
reichs. So z. B. für das Jahr 1898 weist
die deutsche Handelsstatistik eine Einfuhr
aus Grossbritannien von 825,7, die englische
Statistik eine Ausfuhr nach Deutschland von
725,5 Millionen Mark nach, also 100,2 Mil-
lionen Mark Unterschied. Eigentlich sollten
die englischen Zahlen höher sein, weil sie
auch diejenige Ausfuhr nach deutschen Frei-
häfen (Hambiu-g, Bremerhaven, Cuxhaven,
Geestemünde) umfasst, die nicht in das Zoll-
gebiet gelangt. Bei der umgekehrten Rich-
tung ist die Differenz noch grösser: Aus-
fuhr nach Grossbritannien in der Zollgebiets-
statistik 803,8, in der englischen nur 670,9,
also erstere mehr 132,9 Millionen Mark. Die
Missstimmung erklärt sich aber ganz ein-
fach aus dem schon oben gelegentlich er-
wähnten Mangel der englischen Statistik,
gar nicht die Herkunfts- und Bestimmungs-
länder, sondern nur die Häfen zu berück-
sichtigen. Eine deutsche Ware, die über
Antwerpen nach England kommt, wird
Belgien, eine englische, die über Rotterdam
nach Deutschland geht, HoUand zugerechnet,
während die deutsche Statistik sich Mülie
giebt, das Land, aus dessen Handel die
Ware stammt und in dessen Handel die
Ware übergeht, zu ermitteln. Ein Vergleich
von Zahlen zweier auf so verschiedene Art
bearbeiteter Statistiken ist ausgeschlossen,
und jedenfalls ist in diesem Falle die deutsche
richtiger. Denn bei den Vereinigten Staaten
zeigt für 1898 die deutsche Statistik eine
Einfuhr dorther von 877,2, die amerikanische
eine Ausfuhr dorthin von 648,6, Differenz
Wert der Ein- und Ausfnhr im iranzen
und im Verkehr mit Dents
m fifan
chlam
Jahr
Einfnhr
._ insbes. aus
^™^ Deutsch-
8^^^^"^ , land
Ausfnhr
•^ jinab. nach
^JJ1„ ! Deutsch-
ganzen , ^^^
Millionen Mark
1. Gl
rossbritannien.')
1891
9 704,9
579,7
5811,8
519.7
1892
.9318,6
544,1
5 232,7
495:5
1893
9018,5
549,1
5 135,1
483,5
1894
9 130,6
559,2
4981,2
475.1
1895
9 466,6
564,4
5 268,0
463,1
1896
9818,8
575,7
5 829,0
581,8
1897
10212,3
545,1
5 798.2
700,9
1898
10803,1
670,9
5 834,3
725,5
1899
10 834,8
675,8
6 132,1
628,1
2. V(
ereinigte Staaten von Amerika.^)
Fiscal-
Jahr
endend
30. 6.
1891
3700,9
423,9
4121,1
454.5
1892
3 767,6
365,1
4614,7
519,1
1893
3 825,2
406,1
4117,9
503,6
1894
3111,1
352,1
4185,9
499,7
1895
3312,0
346,1
3810,1
443,3
1896
3 536,5
396,3
4351,8
526,7
1897
3 697,2
482,1
4764,1
597r6
1898
3 223,0
328,1
5 379,4
648,6
1899
3 430,3
5 451,5
3
. Russland.')
1891
853,5
232,4
1 591,6
434,1
1892
828,0
208,4
974,9
283,4
1893
987,4
215,5
1 276,3
282,4
1894
1231,1
314,5
1 471,3
325.3
1895
1 184,7
386,4
1516,0
394.4
1896
I 279,9
412,7
1494,2
399,3
1897
1215,2
390,3
I 576,8
380,3
1898
1 540,7
389,0
I 219,6
438,6
4. Oesi
terreich-
Ungarn.^
')
1891
I 110,6
393,9
1 356,7
640,5
1892
I 201,2
482,2
1259,1
616,6
1893
I 395,9
529,;
1 403,9
653.0
1894
1 254,0
485,4
I 398,8
669,3
189Ö
1319,7
520,4
1 303,9
612,5
1896
1316,8
510,3
1 388,1
665,8
^) 1 £ = M. 20,43. Als „Specialhandel-
ist gerechnet; Einfuhr total import. Ausfnhr
export of British prodnce. Einfuhr ohne Dia-
manten. Ein- und Ausfuhr zuzüglich coin and
bullion. Quelle: Statistical abstract for the
United KiDfirdom from 1884 to 1898.
«) 1 Dollar = 4,20 M. Einfuhr: total import,
Ausfuhr domestic export, beide zuzüglich coin
an bullion. Quelle: Statistical abstract of the
United States 1898.
8) Ohne Finland. - 1 Rubel 1891 = 2,25
1892 = 2,06, 1893 = 2,13, 1894^ = 2,20.
1896 98 = 2,17 M. (Notenkurse). Ein- und Aus
fuhr : Gesamthandel ohne Edelmetalle (der Edel
metallverkehr mit Deutschland ist nicht ersieht
lieh). Quelle: Obzor Torgovli 1897. States
maus Yearbook 1900.
*) 1 Gulden = 1,70 M. Ein- und Ausfuhr
Handelsstatistik— Handelsverträge
1067
Jahr
im
ganzen
Einfuhr
insbes.aus
I Deutsch-
land
im
ganzen
A.usfuhr
insb. nach
Deutsch-
land
Millionen Mark
1897
1898
1899
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1891 !
1892 '
1893 I
1894 I
1895 ;
1896
1897 '
1898 '
1899 I
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
1899
I 453,7
I 433,6
I 375,7
5.
4 298,5
3 803,8
3 497,3
3 565,9
3 333,1
3 464,9
3 578,6
3 939,4
3 826,0
956,5
986,1
999,7
974,3
967,6
964,3
972,2
I 147,6
I 224,8
514,3
1390,4
505^1
1 476,6
•
1 638,8
Frankrei
302,4
286,6
269,7
267,1
260,7
255,7
252,8
273,5
279,2
6. Italien
110,1
116,7
120,8
115,0
119,1
118,8
123,0
128,2
■
7. Japan
ch.^)
3200,3
2 976,5
2818,3
2 669,0
2 996,0
3 170,3
3 179,3
3 250,4
3467,1
761,0
819,8
857,3
857,0
857,8
868,3
903,0
990,8
I 172,3
250,4
16,7
264,0
287,3
19,4
307,5
265,5
19,5
272,3
305,8
16,8
313,0
287,8
26,1
348,1
463,8
37,8
282,0^)
610,6
36,8
366,8*)
668,9
53,5
522,3*)
501,7
•
466,9
702,5
703,2
338,3
301,6
281,6
271,3
326,0
335,1
356,5
373,7
347,0
108,3
119,8
121,5
121,9
142,5
134,6
145,3
156,3
4,7
2,9
3,7
3,4
5,2*)
5,2-^)
Specialhandel einschl. Edelmetalle. Die Zahlen
für Deutschland umfassen nicht den Handel
mit den Freihezirken Hamburg und Bremen.
Quelle: Statistik des auswärtigen Handels des
österreichisch-ungarischen Zollgebiets (1896 bis
1898), statistische üebersichten 1899 Heft XIV.
M Ohne Algier und Tunis. — 1 Franc =
0,81 M. Ein- und Ausfuhr : commerce special -|-
numeraire. Quelle: tableau gen^ral du com-
merce etc. (1891—1898), 1899 l'Economiste
xtaucais
'") 1 Lire = 0,81 M. Ein- und Ausfuhr:
commercio speciale compresi i metalli preziosi.
Quelle : MoYimento commerciale del regrno dltalia
(1891-1898).
») 1 Yen 1891 = 3,26, 1892 = 3,05, 1893
= 2,67, 1894 = 2,12, 1895 = 2,13, 1896 = 2,20,
1897 = 2,03, 1898/99 = 2,09 M. (Statistical ab-
Btract.) Einfuhr: imports of foreign and Japa-
nese produce.
*) Ausfuhr: 1891—1895 exports of Japanese
and foreign produce.
*) Ausfuhr: 1896—1898 exports of Japanese
produce. Quellen : Annual return of the foreign
trade of the Empire of Japan 1896-1898. Re-
sume statistique de 1' Empire du Japon 1897,
1899 nach den Nachrichten fttr Handel und In-
dustrie.
228,6 Millionen Mark. Diese ist aber inso-
weit berechtigt, als Deutschland zu seinen
Einfuhrwerten die Frachtkosten von Amerika
bis zur Landesgrenze hinzurechnen, also in
der That einen höheren Wert anschreiben
muss. Bei der Ausfiihr nach den Vereinigten
Staaten hat die deutsche Handelsstatistik
334,6, die amerikanische 328,1, also weniger
6,5 Millionen l^Iark. Richtig, d. h. die Werte
an der Grenze der Vereinigten Staaten be-
rechnet, müssten diese einen bedeutend
höheren Betrag nachweisen ; die Amerikaner
nehmen aber als ihre Einfuhrwerte die an
den deutschen Produktionsorten deklarierten
an, und so muss die deutsche Handels-
statistik höhere Werte haben, weil sie die
Fi-achtkosten von jenen Orten bis zur Grenze
mit berücksichtigt. Entsprechende Diffe-
renzen, die sich aus Vergleichen der franzö-
sischen und deutschen sowie der nissischen
und deutschen Nachweise ergeben, sind ohne
Eingehen auf die einzelnen Warengattungen
nicht zu erklären. Ausser durch Verschieden-
heiten in der Bewertung mögen die Ab-
weichungen für Frankreich aus dem teil-
weisen Umsatz der Waren über die Zwischen-
länder Belgien und die Schweiz, füi* Russ-
land über die Niederlande und dadurch
entstehende Verschiebungen der beider-
seitigen Nachweise zu erklären sein; für
Russland aber au(*h generell durch die noch
recht geringe Zuverlässigkeit seiner Handels-
statistik.
Litteratur: S. die beim Art, Handelsbilanz
oben Bd. IV S. 984 angeföhrte Litteratur.
Ausserdem : St, Bourney The ofßcial trade anp
navigati<m Statistia iw Journal of the Statistical
Society, London 1872. — JF. X, Neumann-
Spallart, Handelsstatistik und Handelswerte in
Conrads Jahrb. f. NaLu.Stat. 26, 1876. — Viertel-
Jahrshefte zur Statistik des DeiUschen Reichs,
1900 L — Die Grundlagen der Handelsstatistik
einiger ß'emder Länder, I. Oesterreich-Ungarn.
H, V, SchseU
Handelsverträge.
I. Die H. im Staats- und Völker-
recht. 1. Allgemeine Gruppierung der Staats-
verträge. 2. Die H. im äusseren Staatsrecht.
3. Die H. im inneren Staatsrecht. 4. Dauer
und Ablauf der H. H. Autonome und ver-
tragsmässige Handelspolitik. III. In-
halt d e r H. 1. Die Klausel der Handelsfreiheit.
2. Die Klausel der meistbefi^ünstigten Nation.
3. Die Klausel der Gleichstellung mit den In-
ländern. 4. Die Steuerklauseln. 5. Konventional-
tarif und Generaltarif. 6. Sonstige Klauseln.
IV.Das Princip des Gegenrechts (Reci-
procität). V. Historisches. 1. Altertum.
2. Mittelalter. 3. Neue Zeit. 4. Neunzehntes
Jahrhundert.
1068
Handelsverti'äge
I. Die Handelsvertrage im Staats- und
Völkerrecht
1. Allgemeine Gmppiemng der Staats-
vertrage. Unter den verschiedenen Ein-
teihmgsweisen der Staatsverträge scheint
die zuerst von Friedrich von Siartens in
Vorschlag gebrachte Gruppienmg dem Wesen
der Sache am meisten zu entsprechen. Da-
nach zerfallen die Staatsverträge in a) po-
litische imd in b) sozial-kommer-
zielle.
Die politischen Staatsverträge haben
die wechselseitigen Interessen und Be-
ziehungen der Staaten als völkerrechtliche
Gesamtindividueu zur Unterlage; dahin ge-
hören die Friedenstraklate, die Staatenbund-
nisse und Bundesstaatenverträge, die Neu-
tralitäts- und Garantieabkommen etc.
Die sozial-kommerziellen Staats-
verträge regeln die Beziehungen der beider-
seitigen Staatsangehörigen im Gebiete des
anderen Teiles und dei-en Verhältnis zu den
Einzelbehörden. Handels-, Niederlassungs-
und Consularverträge, Vereinbarungen über
Verkehrsanstalten und Schiffahrtsverhält-
nisse, über gemeinsame Vorkelirungen, be-
treffend Schutz von Loben und Gesundheit
u. dgl. reihen sich in diese Gruppe.
Behauptete früher die erstere Abteilung
ein alles verschlingendes Uebergewicht, so
ist darin im Laufe des 19. Jahrhunderts ein
Wandel eingetreten. Noch v. Ompteda
(Litteratur des Völkerrechts 1785) konnte die
Bemerkung madien: >Die Verträge der
Viilker bestehen gewönlich in Friedens-
schlüssen und solchen Verträgen, die sich
auf Krieg und Frieden beziehen.« Dem-
gegenüber betont Fr. von Marlens (Völker-
rcvht 1883 86) : »Heutzutage bilden formelle
politische Verträge eine exceptionelle Er-
scheinung. Die Zeit, in der wir leben, kann
man mit Recht als die Epoche der sozial-
kommerziellen Traktate, deren Zahl mit
jedem Tage wächst, bezeichnen. <v In diesem
Sinne hatte schon Chateaubriand den be-
kannten Ausspruch gethan, die Periode der
Diplomaten sei vorüber, es beginne das Zeit-
alter der Consuln.
2. Die H. im äusseren Staatsrecht
Der alte Satz des Völken*echts, dass nur
den politisch voll souveränen Staaten das
äussere Vertragsi^echt zukomme, lässt sich
für unsere Tage nicht mehr festhalten, ^[ehr
und mehr hat sich als Ausfluss der wesent-
lichen Unterscheidung von i>olitischen und
von sozial-kommerziellen Materien eine
doppelte äussere Handlungsfähigkeit der
Staaten herausgebildet, wobei es vorkommen
kann, dass einem völkerrechtlichen Indivi-
duum die eine eignet, wähi^end ihm die
andere abgeht. Im Jahre 1873 erwarb sich
das halbsouveräne Aegypten von der Pforte
einen Firman, der es ermächtigte, innerhalb
der vom souzeränen Staate selbst einge-
gangenen Verpflichtungen eigene Traktate
mit auswärtigen Staaten über Handel, Acker-
bau, Zollwesen, Fi*emdenpolizei etc. d. h.
über solche Gegenstände zu vereinbaren,
worauf sich seine innere Autonomie im
wesentlichen bezieht, also mit Ausschluss
der politiscjhen Angelegenheiten. Das gleiche
Recht wurde laut Kollektivnote v. 20. Ok-
tober 1874 seitens der Mächte Russland,
Oesterreich und Deutschland für die damals
noch halbsouveränen Donaufürstentümer in
Anspruch genommen, wobei man ausdrück-
lich erklärte, dass sich dieses Recht nicht
auf die politische Sphäre ausdehnen soUe.
Und durch Cirkularnote an die Mächte von
1884 bezw. Gesetz von 1887 hat sich das
nachgeborene Bidgarien in dieselbe Stellung
zu schwingen gewusst. Auch die halbsouve-
räne Südafrikanische Republik hat im Ver-
trage von 1884 mit Grossbritannien das
äussere Vertragsrecht über alle den politi-
schen Interessen des Oberstaates nicht zu-
widerlaufenden Gegenstände zugestanden
erhalten, und in neuester Zeit wächst eine
ganze Reihe von anderweitigen überseeischen
Besitzungen Grossbritanniens in ein älm-
liches Verhältnis hinein. War schon Ll,ngstden
mit Repräsentatiwerfassung ausgestatteten
englischen Kolonieen die Autonomie im Zoll-
wesen und zugleich das Recht eingeräumt
worden, mit unmittelbar angrenzenden Ge-
meinwesen Handelsverträge zu schliessen,
so hat sich dieses Recht neuerdings auch
auf die Beziehungen zu europäischen und
sonstigen Ländern auszudehnen begonnen.
Die in den Handels- und Niederlassungsver-
trägen des Mutterlandes früher übliche Be-
stimmung, dass die allgemeinen Festsetzungen
auch auf die Kolonieen Anwendimg finden
sollten, hat seit dem Handelsvertrag mit
Rimiänien von 1880 einer Klausel Platz ge-
macht, wonach einer Reihe von Kolonieen
ein Optionsrecht darüber vorbehalten bleibt,
ob sie sich dem Vertrage des Mutterlandes
ansclüiessen wollen oder nicht. Gewöhnlich
werden in dieser Beziehung ausdrücklich
genannt: Kanada, Neufundland, Neusüd-
wales, Victoria, Südaustralien, Westaustralien,
Queensland, Tasmanien, Neuseeland, Cap-
land, Natal und (^Wewohl nicht immer) In-
dien. Der Haiidelsvertrag Grossbritiinniens
mit Paraguay wurde z. B. von den meisten
genannten Kolonieen abgelehnt und von
einigen anderen kraft selbständigen Zusatz-
abkommens nur seinem teilweisen Inhalte
nach angenommen. Neueixlings hat Cauada
sich von den Handelsverträgen des Mutter-
landes völlig losgelöst und erhebt (seit 1.
Juli 1898) autonom von den aus nichtgross-
bri tannischen Territorien stammenden NV'aren
einen Zollaufschlag von 38 ^ 3 Prozent. In-
Handelsverträge
1069
folgedessen wird diese Kolooie auch
seitens der betroffenen Länder nicht mehr
auf dem Fusse der Meistbegünstigung be-
handelt.
Nehmen wir hier also tiberall eine ge-
wisse internationale Handlungsfähigkeit in
sozial-kommerziellen Dingen wahr, während
die politische Souveränität fehlt, so zeigt
sich auch wohl das umgekehrte Verhältnis.
Das Grossherzogtinn Luxemburg geniesst
der vollen politischen Souveränität. Han-
delspolitisch gehört es dem Zollgebiete des
deutschen Reiches an. Seine desfällige Hand-
lungsfähigkeit hat es laut Vertrag von 1865
gänzlich auf das Königreich Preussen über-
tragen. In einem ähnlichen Verhältnisse
befindet sich das Fürstentum Liechtenstein
seit 1852 zu Oesterreich-Ungarn. Anderen-
teils haben z. B. das Köni^eich üngai'n
und Westösterreich ihre politische vöÜer-
rechtliclie Handlungsfäliigkeit auf den Ge-
samtstaat übertragen, dagegen sich die inter-
nationale Souveränität in sozial-kommerziellen
Dingen vorbehalten. Die zwischen beiden
Staaten bestehende Zollunion beruht auf
einem von zehn zu zehn Jahren kündbaren
und jeweils neu zu vereinbarenden Handels-
und Zollvertrage, wälirend das politische
Bündnis für immer abgeschlossen ist. Bei
den auswärtigen Handelsverträgen treten
daher die beiden Staaten nicht wie bei den
politischen Verträgen als ein einziges Ge-
samtindividuum, sondern als zw^ei getrennte
Persönlichkeiten mit selbständiger Beschlies-
sungskraft auf. Noch schärfer tritt dieser
Gegensatz bei Schweden-Norwegen hervor,
wo die politisch realuniierten Staaten sich
die Zollautonomie vorbehalten haben und
eine von einander abweichende Handelspoli-
tik (Norwegen eine freihändlerische und
Schweden eine schutzzöUnerische) verfolgen,
was denn auch in ihren unabhängig von
einander geschlossenen Handelsverträgen
zimi Ausdruck gelangt.
8. Die H. im inneren Staatsrecht Noch
deutlicher wie im äusseren Staatsrecht tritt
hier der wesentliclie Unterschied beider Ab-
teilungen hervor. Nach Vorbüd der belgi-
schen Verfassung von 1831 sagt z. B. das
preussische Staatsgrundgesetz von 1850 Art.
58: »Der König hat das Eecht, Krieg zu
erklären und Frieden zu schliessen, auch
andere Verträge mit fremden Regierungen
zu errichten. Letztere bedürfen zu ihrer
Giltigkeit der Zustimmung der Kammern,
sofern es Handelsverträge sind, oder
wenn dadurch dem Staate Verpflichtungen
auferlegt werden.« Das heisst mit anderen
Worten, für Verträge politischen Inhalts be-
sitzt der König das Gesetzgebungsrecht
allein, für Verträge in Handels- imd ver-
wandten Sachen teilt er es mit der Volks-
vertretung. Der gleiche Gedanke durchzieht
die Verfassungen der übrigen deutschen
Einzelstaaten und kehrt auch in der Reichs-
verfassung von 1871 wieder, wo es im Art.
11 heisst: »Der Kaiser hat das Reich völker-
rechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs
Krieg zu erklären und Frieden zu schliessen,
Bündnisse mid andere Verträge mit fremden
Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen
und zu empfingen. Insoweit die Verträge
mit fremden Staaten sich auf solche Gegen-
stände beziehen, welche nach Art. 4 in den
Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, ist
zu ihrem Abschlüsse die Zustimmung des
Bundesrates und zu ihi-er Giltigkeit die Ge-
nehmigung des Reichstages erforderlich.«
Der Art. 4 nennt nun als hierher gehörig
die Zoll- und Handelsgesetzgebung, den
Schutz des deutschen Handels und der
deutschen Flagge, das Heimats- und Nieder-
lassimgswesen , die Fremdenpolizei, den
Schutz des geistigen Eigentums, gemeinsame
Bestimmungen über das Obligationenrecht,
das Handels-, Wechsel-, Straf- und Prozess-
recht und dergleichen, aUes Materien, die
in die sozial-kommerzielle Handlungsspliäi-e
des Staates fallen.
Im Staatsrecht Grossbritanniens findet
sieh eine derartige ausdrückliche ünter-
scheidimg zwar nicht vor. Nach altem ver-
fassungsmässigem Herkommen kommt dort
der Krone allein das Recht zu, Verträge
jeder Art mit dem AiLslande abzuschliessen
und zu ratifizieren. Daneben steht aber die
Bestimmung, dass, sobald durch einen der-
artigen Vertrag innere Gesetze abgeändert
oder dem Staate finanzielle Verpflichtungen
auferlegt werden, dem Parlamente ein be-
züglicher Gesetzesvorschlag gemacht werden
rauss, ohne dessen Annahme die vertrag-
liche Bestimmung nicht in "Wirksamkeit
treten kann. Da dies nun bei den sozial-
kommerzieUen Verträgen, einfache MeLst-
bcgünstigimgsdeklarationen ausgenommen ,
gewöhnlich der Fall ist, so kommt die Sache
liier ziemlich auf dasselbe wie in den kon-
stitutionellen Staaten des europäischen Kon-
tinents hinaus.
Der verfessungsmässige Instanzenzug, den
das völkeiTechtliche Abkommen in den ver-
tragschliessenden Staaten zu durclüaufeu
hat, findet sich in manchen Verträgen genau
angegeben. So enthält z. B. der Freund-
schafts-, Handels- und Schiffehrtsvertrag
zwischen Peru und den Vereinigten Staaten
von Amerika, 1887, die Bestimmung: »Der
gegenwärtige Vertrag soll durch den Präsi-
denten der Vereinigten Staaten von Amerika
unter Beirat und Zustimmung des Senates
derselben, imd durch den Präsidenten der
Republik Peni, unter Gutheissung des Kon-
gresses dereelben bestätigt und ratifiziert
werden, und die Ratifikationen sollen darauf
in "Washington oder Lima sobald als möglich
1070
Handelsverträge
ausgewechselt werden.« Hier ist nur von
der Zustimmung des Senates der Vereinigten
Staaten, nicht auch von derjenigen des Ee-
präsentantenhauses die Rede, weil nach dem
Staatsrechte der Union der Präsident befugt
ist, schon mit Zustimmung von zwei Drittein
der Mitglieder des Senates Verträge jeder
Art mit anderen Staaten rechtsverbindlich
einzugehen und zu ratifizieren. Dem Ee-
präsentantenhause brauchen sie bloss nach-
träglich ziu* Kenntnisnahme mitgeteilt zu
werden. Fast jedes Land hat hierüber
seine besonderen verfassungsmässigen Be-
stimmungen, die sich auch auf den (jang der
Qeschäftsbehandlung erstrecken, vrelche bei
den internationalen Verträgen eine andere
ist als bei der inneren Gesetzgebung.
Im allgemeinen steht die Initiative zu
einem vötterrechtlichen Vertrage auch in
sozial-kommerziellen Dingen ausschh'esslich
dem Oberhaupte der Vollziehungsgewalt zu ;
also dem Monarchen in Monarchieen, dem
Staatspräsidenten in Republiken oder wie in
der Schweiz dem Bundesrate, welcher letztere
in den schweizerischen Handelsverträgen als
vertragschliessende Partei genannt wird.
Kein parlamentarischer Antrag kann hier
irgend welchen Einfluss beanspruchen. Wahl
des Zeitpunktes, Ernennung der Unterhändler,
die den letzteren zu erteilenden Instruktionen
gehen desgleichen bloss von der obersten
Behörde aus. Doch ist im Deutschen Reiche
der Kaiser gehalten, bei Handels- und Schiff-
fahrtsvertr%en mit der Schweiz und mit
Oesterreich die an diese Länder angrenzen-
den Bundesstaaten zur Mit\\Trkuug bei den
Unterhandlungen einzuladen.
Als Ergebnis einer sorgfältigen wechsel-
seitigen Interessenabwägiing kann der Ver-
trag in keinem der beiden Parlamentskörper
amendiert, sondern muss hier wie dort im
ganzen angenommen oder verworfen werden.
Wird eine Aenderung im einzelnen gewünscht,
so kann diese nur auf dem Wege bewirkt
werden, dass der Vertrag nach gewalteter
Erörterung und etwaigen unverbindlichen
Abstimmung über die einzelnen Paragraphen,
um das Meinungsverhältnis des Hauses fest-
zustellen, in seiner Vollständigkeit abgelehnt
wird. Es steht dann bei der Regierung,
die Unterhandlungen mit dem anderen Kon-
trahenten wieder aufzunehmen und unter
Berücksichtigung der Ablehnungsgründe
einen neuen Vertrag zu vereinbai-en. Hai
die Vorlage die beiden Kammern unter Zu-
stimmung diu-chlaufen , so gelangt sie
vor das Staatsoberhaupt, das sie im Wege
der Ratifikation formell zum Gesetze erhebt.
Damit tritt der Vertrag jedoch noch nicht
sogleich in Kraft. Letzteres ist an die Be-
dingung geknüpft, dass die Vereinbarung
auc-ii innerhalb des anderen Staates Gesetzes-
kraft erlangt habe, was formell erst durch
den Austausch der Ratifikationen dem ande-
ren Teile verbürgt wird. Gewöhnlich ent-
halten daher die Handelsverträge da, wo es
sich nicht um Erneuerung oder Fortsetzung
alter Vertragsbeziehungen handelt, die Be-
stimmung, dass die Wirksamkeit am Tage
des Austausches der Ratifikationsiu-kimdea
eintreten solle. " v — «if
Ausnahmsweise lässt sich eine Regienmg
auch wohl vorher von der Volksvertretung
durch ein Ermächtigimgsgesetz das Recht
erteüen, innerhalb bestimmter Grenzen einen
Handelsvertrag mit einer anderen Regierung
einzugehen. In solchem Falle bedai'f es
einer nachträglichen pai'lamentarischen Ge-
nehmigung nicht mehr; es sei denn, dass
die Grenzen der Ermächtigung überecliritten
worden wären.
Nicht der parlamentaiischen Zustimmimg
unterworfen sind administrative Ausftihnuigs-
bestimmungen, die als solche in den Ver-
ordnungskreis der Einzelbehörden fallen.
Dieselben finden sich w^ohl in der Form von
Zusatzartikeln oder Annexverträgen dem
Hauptvertrage angehängt und gelten immer-
hin als ebenbürtige Bestandteile des A^'ertra-
ges. Das gleiche gilt von den Erläuterun-
gen einzelner Artikel, welche in mehr oder
minder ausführlichen SclüussprotokoUen, bei
der Unterzeichnung und auch wohl ei'st im
Augenblicke des Ratifikationsaustausches l)ei-
gefögt zu werden pflegen.
Eine allgemein angenommene ürkimden-
sprache, wie sie in der politischen Sphäre
noch bis zu einem gewissen Grade das
Französische bildet, giebt es in betreff der
sozialkoramerzieUen Materien nicht und
kann es nicht wohl geben, da die einschla-
genden Uebereinkommen in der Landes-
sprache von den parlamentarischen Köri)er-
schaften beraten und ztun Gesetz erhoben
werden müssen, was für die pohtischen
Verträge in der Regel nicht erforderlich ist.
Die beiderseitigen nationalen Texte haben
dann gleiche Giltigkeit. Im Verkehre mit
halbcivilisierten Völkern, wo wegen be-
schränkter Sprachkenntnis die w^echselseitige
Kontrolle der Textformulierungen erschwert
ist, wird zur Entscheidung in Streitfällen
wohl noch ein beiden Teilen verständliches
drittes Idiom gewählt. Im schweizerisch-
japanischen Handelsvertrage 1864 z. B. ent-
scnied man sich in diesem Sinne für die
holländische Sprache. Gewöhnlich tritt die
englische Sprache dafür ein. Im brasi-
lisch-chinesischen Handels vertrage 1881 fin-
det sich die nähere Bestimmung : »Der ]X)rtu-
giesische Text soll in Brasilien, der chine-
sische in China massgebend sein. Im Falle
von Meinungsverschiedenheiten soll der
französische Text entscheiden.«
4. Dauer nnd Ablauf der H. Wcilu^nd
die Friedensschlüsse und die damit zusara-
Handelsverträge
1071
menhängenden politisch-konstitutiven Staats-
verträge »auf ewige Zeiten«, d. h. bis zum
Eintritt des nächsten Kriegsfalles abge-
schlossen werden, hat sich für die sozial-
kommerziellen Yölkerrechtsabkommen schon
längst der Brauch herausgebildet, die Bin-
dungen nur für bestimmt abgegrenzte Zeit-
fristen, als z. B. für fünf, zehn, zwölf oder
mehr Jahre in Geltung zu setzen. Nach
Ablauf dieser Frist fällt der Vertrag ent-
weder dahin, oder er besteht, was die Regel
ist, auf einjährige Kündigung, welche beiden
Teilen jederzeit auf den gleichen Tag des
folgenden Jahres, also ohne Einhaltung be-
stimmter Termine, freisteht, vorläufig weiter
fort. Wo ausnahmsweise haiadelsvertragliche
Bestimmungen in Fiiedenstraktaten vor-
kommen, da werden sie entweder bloss als
provisorische, bloss bis zum Abschlüsse
selbständiger Verträge über diese Materien
§ eltende bezeichnet, oder es wird aus-
rücklich ein Unterschied in betreff der
Dauer der beiderseitigen Rechtsabteilungen
gemacht.
So heisst es z. B. in dem »Allgemeinen
Vertrag* zwischen Honduras und Salvador,
1878: »Der vorliegende Vertrag soll, inso-
weit derselbe sich auf den Frieden und
die Freundschaft bezieht, auf ewige
Zeiten bindend sein. Hinsichtlich des
Handels und der übrigen Bestinunungen
soll derselbe zehn Jahre, vom Tage der
Auswechselung der Ratifikationsurkunden an
gerechnet, in Kraft bleiben.« (Folgt die
fibliche Klausel der einjährigen Kündigung
für den Weiterbestand der letzteren Mate-
rien.) Eine ähnliche Bestimmung findet
sich, wie schon erwähnt, auch in dem
österreichisch-ungarischen Ausgleichsgesetz
von 1867.
Nur gegenüber halbcivilisierten Völkern,
bei denen das unter civilisierten Nationen
als völkerrechtliches Grundrecht anerkannte
»Recht auf Verkehr« erst mit Waffengewalt
oder durch Kriegsdrohung erzwungen wer-
den muss, pflegen Friedens- und Handels-
verträge auch heutzutage noch inein-
ander gezogen zu werden. Hier sind die
Handelsvereinbainingen dann weder ablauf-
bar noch kündbar, immerhin aber in oft
besonders bestimmter Zeitfolge revidier-
bar.
Eine Sonderstellung nimmt in dieser Be-
ziehung der Frankfurter Frieden von 1871
ein, dessen Art. 11 einen Meistbegünstigungs-
vertrag zwischen Frankreich und dem deut-
schen Reiche darstellt, wobei aber sowohl
die Kündigungs- wie die Revisionsklausel
fehJea, so dass dieser Handelsvertrag wie
der übrige Inhalt des Friedenstraktates als
auf ewige Zeiten abgeschlossen anzu-
sehen ist.
Ueber die Frage, ob durch einen Krieg
nicht bloss die politischen, sondern auch die
sozial-kommerziellen Verträge aufgehoben
werden, besteht in der neueren völkerrecht-
lichen Liitteratur eine Meinungsverschieden-
heit. Heffter, Bluntschli u. a. neigen sich
zu der Annahme, dass bloss die Ausführung
dieser Veiiräge während der Dauer der
Feindsehgkeiten unterbrochen werde, wo-
gegen deren Rechtskraft bestehen bleibe.
Gessner sagt geradezu: »Der Grundsatz,
dass der Krieg die Staatsverträge nicht auf-
hebt, sondern nur die Ausführung unter-
bricht, ist nach den heutigen völkerrecht-
üchen Grundsätzen nicht mehr bestreitbar.«
Indessen wird diesem Grundsatze zur Zeit
noch durch die völkerrechtliche Praxis
widersprochen, wie z. B. der vorgenannte
Art. 11 des Frankfurter Friedens mit den
Worten beginnt: »Da die Handelsverträge
mit den verschiedenen Staaten Deutschlands
durch den Krieg aufgehoben sind, so« etc.
Immerhin trifft die von den genannten
Völkerrechtslehrern vertretene Auffassung
thatsächhch in solchen Fällen zu, wo es sich
um Kollektivverträge ganzer Staatengruppen
handelt, wie z. B. bei der Kongo- Akte, beim
Weltpostverein, bei den verschiedenen Uni-
onenbetreffend das htterarische, künstlerische
und industrielle Eigentum etc. Hier bleibt
das Vertragsverhältnis der entzweiten Mächte
gegenüber den nicht am Kriege beteiligten
Staaten immer aufrecht, und das alte Ver-
hältnis tritt auch durch die einfache Tliat-
sache des Friedensschlusses zwischen den
kriegführenden Staaten wieder ein, ohne dass
es einer ausdrücklichen Vereinbarung dafür
bedürfte. •
II. Autonome und vertra^mässige
Handelspolitik.
»Die Hauptabsicht eines jeden Kommer-
zientraktates muss sein, die Bilanz in der
Handlung zu gewinnen, gleichwie dieses
gleichfalls der Endzweck desjenigen Volkes
ist, so mit uns schliesst, wenn es anders
nicht einfältig ist. So kommt es darauf an,
wer den anderen überlisten kann.«
Dieser im achtzehnten Jahrhundert gefallene
Ausspruch des deutschen Kameral£ten von
Justi kennzeichnet den Standpunkt des Mer-
kantilsystems. Einig sind alle älteren
Schriftsteller darin, dass es besser sei,
keinen Handelsvertrag einzugehen als einen
solchen, bei dem man nicht in der Lage
sei, auf Kosten des anderen Teilhabers wich-
tige Vorteile davon zu tragen. In diesem
Sinne sagt z. B. der Franzose IVIably: »Je
ne dirai donc point comment il faut negocier
et dresser des traites de commerce ; je dirai
seulement qu'il n'en faut point concliu*e,
a moins qu on ne se trouve dans quelque
circonstance heureuse qui autorise ädemander
u un peuple quelque pr6rogative chez lui,
1072
Handelsverträge
Sans (^tre Obligo de Tacheter par une com-
plaisance Univalente.«
Also nicht Reciprocität oder wenigstens
nicht volle Reciprocität, es sei denn etwa
scheinhare, wird danach den Handelsverträ-
gen vorgesetzt.
Aber auch die freihändlerischen Theo-
rieen treten im allgemeinen keineswegs ftlr
die Handelsverträge ein. Weder Quesnay
noch A. SmitJi waren für dieselben einge-
nommen, und das Rentzsche Handwörterbuch
der Volkswirtschaftslehre (1866), dieser
theoretische Niederschlag der deutschen
Freihandelspartei, sagt in dem Art. Han-
delsverträge geradezu: »Die freihänd-
lerischen Tendenzen der Volkswirtschafts-
lehre lassen sich mit dem Abschlüsse sepa-
rater Handelsverträge kaum noch vereinigen.
Das Bestreben der Neuzeit geht vielmehr
dahin, die Eingangszölle immer mehr herab-
zusetzen, und sie vorläufig, bis ein völli-
ges Aufgeben derselben gestattet sein wird,
nur für eine kleine Anzahl von ausländischen
Verbrauchsartikeln beizubehalten ; wenn jetzt
noch Handelsverträge abgeschlossen w^er-
•den, so ist dies ein Beweis, dass we-
nigstens bei einer der kontrahierenden Na-
tionen lichtige Ansichten über Handel und
Verkehr nodi nicht zur vollen Geltung ge-
kommen sind.« Also autonome nicht ver-
tragsmässige Herabsetzung bezw. Beseitigung
der Zölle überhaupt wird hier zum Ziel ge-
steckt.
Eine wohlwollendere Haltung nimmt
Lists Nationales System zu den Handels-
verträgen ein, wo diese *als das wirksamste
Mittel erscheinen, die wechselseitigen Han-
delsbeschränkungen nach und nach zu mil-
dem und die Nationen dem freien Weltver-
kehre allmählich entgegenzuführen«.
In Wirklichkeit haben die Handelsver-
träge an sich weder eine freihändlerische
noch eine protektionistische Tendenz, sie
sind ein Mittel, das sowohl nach der einen
wie nach der anderen Richtung hin ge-
braucht und missbraucht werden kann. In
den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts
waren sie vermöge des Anstosses, der von
dem englisch-französischen Handelsvertrage
von 1860 ausging, ein Instniment des
Freihandels. Der Ablauf der meisten
europäischen Handelsverträge am 1. Februar
1892 gab umgekehrt in manchen Staaten, wie
z. B. in der Schweiz, Frankreich, Sjianien
u. s. w. zu einem förmlichen Wettlaufe in der
Richtung einer allgemeinen Zollerhöhung
Anlass, um möglichst »gerüstet« in die
neuen Vortragsunterhandlungen eintreten zu
können.
Man kann von einem vertragsmässigen
Freihandel wie von einem vertragsmässigen
Protektionismus spi-echen, ebenso wie von
einem autonomen Freihandel mid einem au-
tonomen Protektionismus. Die Frage, ob es
angemessen sei, im einen oder im anderen
Sinne sich freie Hand zu behalten oder in
ein auf Stabilität abzielendes periodisches
Bindun^verhältnis mit anderen Staaten zu
treten, ist Sache der praktischen Ausfühning
eines Systems, nicht ein handelspolitisches
System selbst.
III. Inhalt der Handelsverträge.
1. Die Klausel der Handelsfreiheit.
Die viel verbreitete Annahme, dass die Han-
delsverträge an und für sich ein Beförderungs-
mittel der Freihandelspolitik seien, mag
wesentlich gestützt worden sein durch eine
Klausel, mit welcher viele Handelsverträge
beginnen und vermöge deren sich die beiden
Kontrahenten »volle und gänzliche Handels-
freiheit (pleine et entiöre liberte de com-
merce)« zusichern. Allein diese Bezeichnung
bedeutet im Völkerrecht keineswegs das
gleiche wie in der Nationalökonomie. Die
extreme Freihandelsschule (Manchestertum)
identifiziert bekanntlich den Freihandel mit
ZoUlosigkeit und mit möglichster Abwesen-
heit der indirekten Besteuenmg überhaupt.
Das ist nicht die Meinung in den Handels-
verträgen. A^ielmehr setzt hier der Aus-
druck Handelsfreiheit immer einen Zolltarif
voraus und hat seinem Ursprünge nach die
Bedeutung, dass an Stelle der Verkehrs-
verbote ein Zolltarif und freier Zutritt
(libre acces) zu den Märkten des Inlandes
treten solle. Weiteres ist in dem Begriffe
nicht enthalten. Die Frage über das Aiis-
mass der Zölle und selbst darüber, ob es
sich dabei um Schutzzölle oder bloss um
Finanzzölle handeln dürfe, bleibt gänzlich
ausserhalb stehen, was bekanntlich iin Wort-
begriffe der nationalökonomischen Theorie
nicht der Fall ist, wo nach Vorangang der
Physiokraten gewöhnlich die immunite mit
der libertö in Handelssachen als zusammen-
fallend angesehen wird.
Auch hochschutzzöUnerische Staaten, wie
z. B. Russland, Spanien etc., sichern sich in
ihren Handelsverträgen wechselseitig die
»vollständige Handelsfreiheit« zu, immerhin
unter Vorbehalt ihrer protektionistisclien
Tarife.
Indessen hat es nicht an Versuchen ge-
fehlt, den Begriff der absoluten Handels-
freiheit auch in das Völken'echt überzu-
führen. Dies ist z. B. im Berliner Kongo-
vei-trag 1885 geschehen, wenn zwar niu- in
der beschränkten Form eines »Systems der
Beseitigimg von Ein- und Durchfuhrzöllen
in Verbindung mit der Einsetzung von Aus-
fuhrzöllen <^, wie das Protokoll der Konferenz
sich ausdiückt. Der Versuch ist bekannt-
lich nicht glücklich ausgefallen. ()hne die
anfangs bestimmte Probezeit von zwanzig
Jaliren abzuwälzen, sahen sieh die Signatar-
Handelsverträge
1073
mächte schon nach fünf Jahren (auf der
Brüsseler Antisklavenhandelskonferenz 1891)
f?nötigt, das Verbot der Einfuhrzölle im
ongobecken lÄieder aufzuheben. Als cha-
i-akteristisch mag nebenbei bemerkt weisen,
dass im Texte der Handelsverträge die
typischen Schlagwörter der Manchester-
schule, »Freihandel«, »freetrade«, »libre
^hange«, nicht gebraucht zu werden pflegen ;
regelmässig kommen dafür die Ausdrücke
^Handelsfreiheit«, »freedom of commerce«,
5>liberte commerciale« oder »libert^ de com-
merce« zur Anwendung.
Ungeachtet der Beiwörter »vollständig«
oder »voll und gänzlich« (pleine et entiere)
ist die in den Handelsverträgen stipiüierte
Handelsfreiheit in der Form, »den gegen-
seitigen Verkehr durch keinerlei Einfuhr-,
Ausfuhr- und Durclifuhrv erböte zu hem-
men«, keineswegs als uneingeschränkt auf-
zufassen.
Ausnahmen werden stets ausdrücklich
aufgeführt, die sich allerdings gewöhnlich
nicht auf handelspolitische als viebnehr auf
Materien des Besteuerungswesens, der G^
sundheitspolizei und des politischen Selbst-
schutzes beziehen. In dem neuesten Handels-
verträge von 1891 zwischen Oesterreich-
XJngarn und der Schweiz sind diese Ver-
botsvorbehalte in folgender Weise formu-
liert: »Ausnahmen düi*fen niu* stattfinden:
a) bei den gegenwärtig bestehenden oder
künftig etwa einzuführenden Staatsmono-
polen; b) aus gesundheits- und veterinär-
polizeilichen Rücksichten, insbesondere im
Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege
und in üebereinstimmung mit den dies-
bezüglich geltenden internationalen Gnmd-
ßätzen; c) unter ausserordentlichen Um-
ständen in Beziehiuie* auf Kriegsbedürfnisse.
— Der im vorsteUenüen Alinea b) ausge-
sprochene Vorbehalt erstreckt sich auch
auf jene Vorsichtsmassregeln, welche zum
Schutze der Landwirtschaft gegen die Ver-
breitung schädlicher Insekten und Organis-
men ergriffen werden.«
2. Die Klausel der meistbegünsti^eii
Nation. Der Gedanke der Niehtzurück-
Betzung gegen andere fremde Nationen in
Bezug auf Zölle und sonstige Vorteile lehnt
sich an den völkerrechtlichen Begriff der
Handelsfreiheit an; doch ist es unscharf,
beide Begriffe kurzerhand mit einander zu
Termengen. Dies geschieht z. B. in einer
von Colbert auf Mazarins Veranlassung aus-
gearbeiteten Denkschrift, 1651, über einen
mit England zu vereinbarenden Handels-
•ver-lrag, wo sich folgende Definition findet:
»Li» libert§ du commerce, c'est-ä-dii^
decharge des impositions et daces que les
Anglais levent sur les marchands frangais
et oü les Espagnols ne sont sujets en vertu
de leurs traites. Nous avons la raison de
demander pour le moins des conditions
Egales.« (Original bei Neymarck.) Die
gleiche Zusammen werf ung dieser zwei zu
scheidenden Begriffe findet sich ungemein
häufig und drückt sich z. B. noch in einem
der neuesten Handelsverträge, demjenigen
zwischen Marokko und Deutschland, 1^0,
aus, der mit den Worten beginnt : »Zwischen
beiden Reichen soll gegenseitige Handels-
fi'eiheit bestehen. Zu diesem Zwecke ver-
pflichtet sich ein jeder der hohen vertrag-
schliessenden Teüe, den Unterthanen des
anderen Teiles alle Rechte, Vorteile \md
Privilegien zuzusichern und zu gewähren,
welche seitens des einen wie des anderen
Teiles den Angehörigen der meistbegünstigten
Nation zugestanden sind oder künitig zuge-
standen werden.« Demgegenüber sehen wir
aber auch wieder Vertilge, welche mit der
Zusicherung der »vollständigen Handels-
freiheit« beginnen, ohne dass dadurch in
Bezug auf den Zolltarif die Meistbegünstigimg
zugestanden wird. Dies geschieht z. B. im
russisch-spanischen Handelsvertrag 1888, wo
die Vorteile der Konventionaltarife bloss für
den Verkehr zwischen Finland und Spanien
eingeräumt werden, während die eigentlich
russischen Waren in Spanien und die spa-
nischen Waren in Russland ausdrückhch
den wechselseitigen autonomen Zolltarifen
unterstellt werden. Der Zutritt an und für
sich ist von dem Zutritt unter den gleichen
Bedingungen mit gewissen anderen Nationen
begrifflich zu trennen. Thatsächlich hat
sich denn auch für die letztere Bedeutung
eine besondere Klausel herausgebildet, die
ihre eigene Geschichte hat.
Die Zusichening, sich wechselseitig auf
dem Fusse der Meistbegünstigimg behandeln
zu wollen (traitement sur le pied de la
nation la plus favorisee; most favoured
nation clause), tritt in den Handelsverträgen
sowohl in positiver als auch in negativer
Formulierung auf. Nach der ersteren ver-
pflichten sich die beiden Kontrahenten, »jede
Begünstigung, jedes Vorrecht und jede Zoll-
ermässigung, welche einer dritten Macht
bereits zugestanden ist oder in der Folge
zugestanden werden sollte, auch gegenüber
dem anderen Teile in Kraft zu setzen« ;
nach der anderen , dass »von keinem der
vertragschliessenden Teile dritte Staaten
günstiger als der andere vertragschliessende
Teil behandelt werden dürfen«. Im Be-
griffe des Gleichbegünstigungszwanges ist
zugleich der Gleichbenachteiligungszwang
mit Rücksicht auf andere enthalten, was
sich freilich niu* auf nicht ausdrücklich ge-
bundene oder auf vorbehaltene Dinge be-
ziehen kann. Dies wird gewöhnlich dahin
formuliert, »gegen einander keinerlei Zölle
oder Einfuhr- und Ausfuhrverbote aufzu-
Handwörterbuch der StaatswissenBchaften. Zweite Auflage. IV.
68
1074
Handelsveilräge
Btellen, welche nicht gleichzeitig auf jede
andere Nation Anwendimg finden«.
Die Gleichbenachteiligiingspflicht pflegt
neuerdings durch den Vorbehalt eingescliänkt
zu werden, dass Verkehrsverbote nur in
dem Falle auch auf die übrigen Staaten
ausgedehnt werden müssen, wenn und so-
weit dort die »gleichen Voraussetzungen«
zutreffen ; also bei Einfuhrverboten von Rind-
vieh, wenn in den anderen Ländern die
Viehseuche ebenfalls herrscht. Ausgenommen
von jedweder Bindung und daher auch vom
Meistbegünstigungszwange sind die Kriegs-
bedürfnisse ziunal unter ausserordentlichen
Umständen.
Auch in anderer Beziehung werden wohl
gewisse Einschränkungen des Meistbegünsti-
giingszwanges vertragsmässig festgesetzt
Eine solche weist z. B. der schon erwähnte
Art. 11 des Frankfurter Friedens vom 9. Mai
187 1 auf, welcher in seinen hierhergehörigen
Bestimmungen folgenden Wortlaut hat:
»Da die Handelsverträge mit den ver-
schiedenen Staaten Deutschlands durch den
Krieg aufgehoben sind, so werden die
deutsche und die französische Regierung den
Grundsatz der gegenseitigen Behandlung auf
dem Fusse der meistbegünstigten Nation
ihren Handelsbeziehungen zu Grunde legen.
Die Regel umfasst: die Ein- und Ausgangs-
abgaben, den Diuxihgangsverkehr, die Zoll-
förmücbkeiten, die Zulassung und Behand-
lung der Angehörigen beider Nationen und
der Vertreter derselben. Jedoch sind aus-
genommen von der vorgedachten Regel die
Begünstigimgen, welche einer der vertrag-
sdüiessenden Teile durch Handelsverträge
anderen Ländern gewälirt hat oder ge-
währen wird, als den folgenden: England,
Belgien, Niederlande, Schweiz, Oesterreich,
Russland.«
Die Einschränkung des Geltungsbereiches
der Meistbegünstigungsklausel auf das ZoU-
wesen mit Ausschluss der anderweitigen
sozial-kommerziellen Materien kommt auch
in selbständigen Handelsverträgen vor. Da-
gegen ist einzig in ihrer Art die Bestim-
mung, dass nicht jedwede dritten Staaten
gewälirten Begünstigungen dem Klausel-
zwange unterworfen sein sollen, sondern
bloss die an eine beschränkte Anzahl von
Staaten gemachten Zugeständnisse. Dadurch
wird eine Differenziening in den Begriff
und infolgedessen in die Handelspolitik
hineingetragen, welche kaum als glücklich
bezeichnet werden kann. Der Art. 11 mit
seiner unauflöslichen Bindung hat die Frage
zu besonderer Wichtigkeit erhoben, was
alles innerhalb des Zollwesens dem Meist-
l>egünstigungszwange unterliegt und was
als ausserhalb stehend zu betrachten ist.
Nach dem internationalen Brauche, der;
namentlich zwischen Frankreich und Deutsch-
land in Geltung steht, faUen nicht in den
Meistbegünstigungszwang herein die Be-
günstigungen im Gebiete des Ideinen Grenz-
verkehrs; ferner nicht die Vereinbarungea
bezüglich des Veredelungsverkehrs. Des-
gleichen bleiben gewöhnlich die wechsel-
seitigen Begünstigungen im Handelsverkehr
der Mutterländer mit ihren Kolonieen ausser-
halb des normalen Meistbegünstigungs^
Zwanges. Ausdrücklich ausgenommen pfle-
gen noch in den neueren Handelsverträgen
zu werden: »Die von einem der vertrag-
scliliessenden Teüe durch eine schon ab-
geschlossene oder etwa künftighin abzu-
schhessende ZoUeinigimg mit einem anderen
Staate oder Staatsteile zugestandenen Be-
günstigungen.« Was die nicht speciell zoU-
mässigen Materien anbelangt, so pflegt auch
die Zulassung zur Küstenschiffahrt (cabotage)
und zur Küstenfischerei keineswegs ohne
weiteres der Meistbegünstigung unterstellt
zu sein. Vielmehr gilt hier als Regel, dass
der Mitgenuss der etwa einer anderen Nation
eingeräumten Zulassung davon abhängig ge-
macht wird, dass die den Anspruch erhebende
Vertragsnation in der gleichen Sphäre Gegen-
recht halte.
3. Die Klausel der GleichBtellung mit
den Inländern. Wo Meistbegünstigung ist,
da ist auch Weniger- oder Nichtbegünstigung,
zumal wenn die erstere als eine vertrags-
mässige Bevorzugung in Tausch gegeten
wird. Bedeutet also die vertragsmässige
Meistbegünstigung keineswegs, wie das oft
so angenommen wird, eine absolute Gleicii-
stellung aller fremden Nationen, sondern im
Gegenteil oft gerade die Einsetzung einer
differentiellen Behandlung, so ist darin ebenso
wenig an und für sich eine Gleichstellung
mit den Landesangehörigen enthalten. Die
Meistbegünstigung kann zusammenfaUen
mit der Gleichstellung von Fremden und
Einheimischen, sie kann aber auch mit
einer mehr oder weniger weitgehenden Be-
vorzugung der Inländer vor den Ausländem
verbunden sein. Endlich ist auch eine Be-
vorzugung der Ausländer vor den eigenen
Volksgenossen möglich. Letzteres kommt
nicht bloss im Verhältnis zu halbcivilisierten
Völkern vor, sondern, wiewohl ausnahms-
weise, selbst in Europa. Darauf bezieht
sich z. B. die Klausel im englisch-schweize-
rischen Handelsvertrag 1895, welche fest-
setzt, dass im allgemeinen zwar die weclisel-
seitige Gleichstellung mit den Landesange-
höiigen, daneben aber auch die Meistbe-
günstigimg gelten solle, welche letztere
überall da einzutreten habe, wo irgend eine
dritte Nation »einen ausnahms weisen Vor-
teil geniesst, der den eigenen Angehörigen
nicht gewälu't ist«.
In der Hauptsache bezieht sich die Gleich-
stellungsklausel auf Niederlassungsverhältn
Handelsverträge
1075
nisse und Gewerbebefiignisse und ist in die
Form gekleidet, dass die Mitglieder der
anderen Nation »auf dem Fusse einer voll-
ständigen Grleichheit (parfaite ^galit^) mit
den Inländern behandelt werden sollen«.
Doch giebt es auch hier wichtige Aus-
nahmen; 80 befindet sich in den neuesten
europäischen Handelsverträgen fast überall
der Vorbehalt: »auf das Apothekergewerbe,
das Handelsmäkler-(Sensalen-)Ge8chäft und
den Gewerbebetrieb im Umherziehen, ein-
schliesslich des Hausierhandels findet diese
Bestimmung keine Anwendung.« Hierfür
soll bloss die Gleichstellung mit der meist-
begünstigten Nation gelten.
Je nach der Verfassung der betreffenden
Länder kann die ünterfrs^ entstehen, mit
welcher der verschiedenen Bevölkerungs-
klassen die Gleichbehandlung stattfinden
soU. Im türkisch -französischen Handels-
vertrage 1861 werden die Franzosen in
Bezug auf aUe inneren Gewerbeberechti-
gungen »den meistbegünstigten unter den
ottomanischen Unterthanen« gleichgestellt,
also den Muselmanen. Die Schweiz pflegt
die »Gleichstellung mit den Augehörigen
der anderen Kantone« einzuräumen. Der
neue deutsch-italienische Handelsvertrag 1891
gesteht alle Bechte (mit Ausnahme der
politischen) zu, »welche den Landesange-
hörigen ohne Beschränkung und ohne Unter-
scheidung gewährt werden.« Bei gewissen
Staaten fällt die Gleichstellung mit den Ein-
heimischen für Europäer üt^rhaupt ausser
Betracht, so z. B. beim Kongostaat, dessen
Inländer Neger sind. Hier tritt die Meist-
begünstigung dafür ein, was auch bezüglich
der asiatischen Staaten China, Korea, Per-
sien etc. zutrifft, wo die Europäer kraft des
Vorrechts der Exterritorialität ihrer natio-
nalen consularischen Gerichtsbarkeit unter-
stehen, ein Verhältnis, das seit Beginn 1900
für Japan dahin gefallen ist.
Einzelne Verträge enthalten eine genaue
Gliederung der Materien, für welche eines-
teils die Meistbegünstigung, anderenteils die
GleichsteUung mit den Inländern vereinbart
ist So der Handelsvertrag zwischen Mexico
und Ecuador, 1888, dessen bezügliche Ar-
tikel beispielsweise hier folgen mögen.
»Art. L Die mexicanischen Staatsange-
hörigen in Ecuador und die ecuadoriani sehen
Staatsangehörigen in Mexico geniessen die
Rechte der Inländer unter den diesen
auferlegten Bedingungen bezüglich folgender
Punkte: 1. In Bezug auf freien Zutritt so-
wie ungehindertes Reisen und Wohnen in
jedem Teile der Gebiete und Besitzungen
des anderen Landes. 2. Hinsichtlich der
auf ihre Person und ihr Eigentum bezüg-
lichen bürgerlichen Rechte, sowohl in Bezug
auf freies Kaufen und Verkaufen, Ausüben
des Gewerbes oder Berufs als auch hin-
sichtlich der Vererbung von Eigentum und'
der Ftlhrung gerichtlicher Angelegenheiten
für sich allein oder als BevoUmächtiffte,
3. In Bezug auf die Erlangung von Er-
findungspatenten, des Schutzes von Handels-;
und Fabrikmarken und Muster. 4. In Bezug
auf die Entrichtung von Abgaben, Steuern
und jeder Art von Auflagen.«
»Art. II. Den mexicanischen Staats-
angehörigen in Ecuador und den ecuadoria-
nischen Staatsangehörigen in Mexico werden
die Rechte und Vei^nstigungen , welche
die Staatsangehörigen oder Unterthanen der
meistbegünstigten Nation geniessen,
unter denselben Bedingungen bezüglich fol-
f ender Punkte gewährt: 1. Erwerbung von*
jiegenschaften und litterarischem Eigentum.
2. Befreiung vom persönlichen Dienst im
Heer, in der Marine oder anderer Art. 3.
Entrichtung von Einfuhr-, Ausfuhr- und
DurchfuhrzöUen sowie von Hafenabgaben,
als Leuchtfeuerabgaben, Tomiengeld, Anker-
geld, Lotsengebühren etc. 4. Freier Handel
und freier verkehr mit ihren Schiffen in
den Städten, Häfen, auf Flüssen oder in
irgend welchen anderen Orten des betreffen-
den Landes.«
Je nach der Kulturhöhe und den inneren
Zuständen der vertragschliessenden Länder
wird sich diese Glieclerung selbstverständ-»
lieh anders zu gestalten haben.
4. Die Stenerklanseln. Dass die Frei-
heit des Handels und der Gewerbe die
Steuerpflicht nicht aufhebe, ist in der Ge-'
setzgebung ein allgemein anerkannter Grund-
satz. Handelspolitisch ist zu unterscheiden*
zwischen äusserer und innerer Besteuerung.
Die im Inlande hergestellten und im In-
lande verbrauchten Waren können, da sie*
in jedem Stadium ihres Daseins in den Be- *
reich der Steuerhoheit des Staates fallen,:
sowohl bei der Erzeugung wie im Verkehr
als auch beim Verbrauche, zu Abgaben an
den Staat angehalten weixien. Anders steht
es bei den Waren, welche im Auslande er-
zeugt, behufs Verkaufs und Verbrauchs in
das Inland hereinbefördert werden. In Bezug •
auf diese ist seitens des Einfuhrstaates eine
direkte ünternehmungsbesteuerung am ür-
sprungsorte ausgeschlossen. Die Besteuening
kann erst beim Eintritt in den nationalen
Verkehr des Bestimmungslandes geschehen,
was sich in der indirekten Besteuenmgs-
form der Zölle vollzieht, welche letzteren
als Finanzzölle aufgefasst und veranlagt, ein
Aequivalent bilden sollen für die der inneren
Produktion direkt und etwa auch indirekt
aufgelegten Steuern. In diesem Sinne sind
die Finanzzölle auch von hervorragenden
Vertretern des Freihandels, so namentlich
von Adam Smith und ebenso von J. B. Say,
für zulässig erklärt worden.
In seinem Kapitel über die Handelsver-
68*
1076
Handelsverträge
träge (Cours complet Part lY) stellt J. B.
Say, der übrigens kein Freund der Verträge
ißt, das obwaltende Verhältnis in folgender
Weise dar: »Ich nehme an, dass eine Re-
^erung zu allen fremden Nationen sagt:
ihr sollt alle Waren, welche ihr wollt, zu-
führen, indem ihr die Eingaugszölle bezahlt,
welche allen unseren anderen öffentlichen
Abgaben entsprechen. Das Getreide (ver-
möge der Grundsteuer), sodann die Fabri-
kationsgegenstände , bezahlen ihre Steuer;
die Waren des auswärtigen Handels müssen
die ihrige ebenso gut entiichten ; aber diese
Steuern, das Resultat einer allgemeinen
Massregel, sind keineswegs dazu angethan,
den inneren Produkten ein Vorrecht zu ver-
schaffen; sie gehen niu* so weit, den aus-
wärtigen Erzeugnissen nicht eine Befreiung
einzuräumen, welche die ersteren nicht ge-
messen, unterzieht euch diesem Gesetze,
dem alle Waren, die in imserem Lande ver-
braucht werden, gleichermassen unterworfen
sind.«
Nach dieser Auffassung würde also die
absolute ZolUosigkeit, wie sie das Manchester-
tum anstrebt, eine Prämiierung der aus-
wärtigen Produktion in ähnlicher Weise be-
deuten, wie die Schutzzölle sie für die
innere Produktion darstellen, was der Idee
des wahren Freihandels gewiss ebenso wenig
entspricht.
Mit dieser Bedeutung als äussei-er Ab-
gaben hängt es zusammen, dass in den Han-
delsverträgen in betreff der Zölle niemals
die Gleichstellung mit den Inländern, son-
dern immer nur die Gleichstellung mit der
meistbegilnstigten fremden Nation vereinbart
wird. Die auswäi-tige Ware bleibt auch
dann eine auswärtige, wemi der Importeur
ein Inländer ist. Sie verliert diesen Cha-
rakter erst durch die Zollzahlung, veraiöge
deren sie nationalisiert und dadurch dem
inneren freien Verkehr übergeben wird.
Der Finanzzoll will nicht immer ein
Aequivalent für alle inneren Abgaben sein.
In der Regel ist er es nur für die direkten
Steuern allein, da es bei den indirekten ge-
wöhnlich keine Schwierigkeiten bereitet,
innere und auswärtige Wai-en nach gleichem
Modus zu behandeln. In solchem Falle
werden die indirekten Abgaben selbständig
neben den Zöllen erhoben. Dies pflegt zu-
mal dann zuzutreffen, wenn die letzteren
nicht für den Gesamtstaat, sondern zu Gunsten
etwaiger Gliedstaaten, Provinzen oder Ge-
meinden, eingezogen werden. Darauf be-
zügliche Vorbehalte müssen in den Handels-
vertrag ausdrücklich niedergelegt werden,
wie sonst als Regel gilt, dass durch die
Zollentrichtung Befreiung von jedweder
inneren Steuer erkauft wird.
Neuerdings beginnt sich der Brauch ein-
zubürgern, dovss sich die Staaten bezüglich
der indirekten Besteuerung überhaupt die
voUe Autonomie vorbehalten. Dies geschieht
einesteils dadiuxih, dass von der im allge-
meinen zugesicherten Verkehrsfreiheit aus-
drücklich ausgenommen werden alle dieje-
nigen Objekte, welche in dem Gebiete eines
der vertragschliessenden Teile den >G^egen-
stand eines Staatsmonopols bilden oder bilden
werden.« Anderenteils durch die weitere
Bestimmung, dass, wenn einer der vertrag-
schliessenden Teile es nötig findet, eine neue
Accise oder dergleichen auf eine Ware zu
legen, derselbe Gegenstand mit der gleichen
Abgabe oder einem entsprechenden Zuschlage
bei der Einfuhr belegt werden darf. Natür-
lich wird dadurch auch der Mitgenuss
etwaiger Steuerermässigungen bedingt.
Manchmal knüpft sich die Bestinmiung an,
dass Steuerrückvergütungen bei der Ausfuhr
genau den inneren Verbrauchssteuern ent-
sprechen müssen und nicht den Charakter
von Ausfuhrprämien tragen dürfen.
Bei den inneren Abgaben überhaupt, so-
weit die vom Ausland importierten Waren
davon betroffen werden, gilt im allgemeinen
der Grundsatz der Gleichstellung mit den
Eigenprodukten. Doch giebt es auch Aus-
nahmen ; so schreibt die schweizerische Bun-
desverfassung von 1874 den Kantonen vor,
bei den von ihnen erhobenen Ohmgeldem
die auswärtigen Getränke höher zu besteuern
als die Landeserzeugnisse. Der betreffende
Vorbehalt spielte bis zum thatsächlichen
Dahinfall dieser Bestimmung durch Einfüh-
rung des Alkoholmonopols (1887) eine wich-
tige Bestimmung in den Handelsverträgen
der Schweiz. Es konnte hier also nur die
Meistbegünstigung, nicht die Gleichstellung
zugestanden werden.
Die Gleichstellung mit den Inländern
findet unbestritten Anwendung in Bezug
auf die direkten Steuern, welchen die im
Lande dauernd niedergelassenen Ausländer
wie die Einheimischen unterworfen sind.
Darauf bezügüche Bestimmungen finden sich
zumal in den oft selbständig abgeschlossenen,
gewöhnlich aber mit den Handelsverträgen
vereinigten Niederlassungsverträgen. Die
Formulierung der Zusicherung ist in der
Regel die, dass »unter keinen Umständen,
w^eder in Friedens- noch in Kriegszeiten auf
das Eigentum eines Angehörigen des anderen
Teiles eine höhere oder lästigere Taxe, Ge-
bühr, Auflage oder Abgabe gelegt werden
darf als auf das gleiche Eigentum eines
Angehörigen des Landes selbst oder eines
Angeliörigen der meistbegünstigten Nation «^.
Die liier beigefügte Meistbegünstigung
bedeutet in diesem Falle eher eine Bevor-
zugung als eine Ziunickstellung. Sie bezieht
sich nämüch in der Hauptsache auf die Be-
freiimg von etwaigen Militärpflichtersatz-
steuern (Schweiz) sowie von personlichen
Handelsverträge
1077
Zwangsämtern gerichtlicher, administrativer
und munizipaler Art bezw. von etwa
dafilr eingeführten Ersatzsteuern. Die
früher nie fehlende Bestimmung betreffend
den Wegfall des droit d'aubaine kommt
heutzutage nur noch ausnahmsweise vor.
Sie ist gewöhnlich durch die Bestimmung
ersetzt, aass auch in Bezug auf Erbschafts-
steuern Gleichbehandlung mit den Inländern
statthaben solle.
5. Konventionaltarif nnd Generaltarif.
Nicht alle Handelsverträge enthalten be-
sondere Zollbeslinmiungen. Häufig be-
schränken sich dieselben auf rein textliche
Vereinbanmgen betreffend Handelsgesetz-
gebung und Handelsgebrauch und setzen in
Bezug auf das Tarifwesen die Meistbegünsti-
gung fest. Daher die übliche Einteilung
der Handelsverträge in Meistbegünsti-
gungsverträge und in Tarifverträge.
Diese Einteilung ist aber nur eine formale.
Materiell gestalten sich die Meistbegünsti-
gungsverträge indirekt dadurch gewöhnlich
auch zu Tarifverträgen, dass durch die be-
treffende Klausel alle fi-üher mit anderen
Staaten ausgetauschten Zollvergünstigungen
auf die neueVertragspartei ausgedehnt werden.
Die merkantilistische Handelspolitik hielt
es für selbstverständlich, dass gegenüber
jedem fi-emden Lande eine besondere Hal-
timg beobachtet werde. Zollmässig drückte
sich dies durch einen Aufbau von Differen-
tialzöllen aus. Die dualistische Zusammen-
ziehung dieses Verliältnisses in einen ein-
zigen Begünstigungstarif für alle Yertrags-
staaten ohne Unterscheidung und eines ein-
zigen Generaltarifes für alle Nichtvertrags-
staaten führt sich auf den englisch-franzö-
sischen Handelsvertrag vom Jahre 1860 zu-
rück, wobei jedoch niu* Prankreich diese
Einrichtung annalun. Der tiefere Gedanke,
der hier zu Gnmde liegt, mag der gewesen
sein, dass die sich auf dem Boden der Meist-
begünstigung zusammenfindenden Staaten
sich wechselseitig ihren Finanzzolltarif ein-
räumen wollten, während gegenüber anderen
die alten Schutztarife bestehen bleiben sollten.
Nach der Bewegung, welche dieses soge-
nannte »System der westeuropäischen Han-
delsverträge« anfangs nahm, schien es in
der That zu einem dauernden, die wich-
tigeren Staaten des eiu-opäischen Kontinents
umfassenden Handelsbündnis, unter Vorbe-
halt einfacher Finanzzöüe nach innen, kom-
men zu wollen. Später, zumal seit 1879,
änderte sich das Verhältnis jedoch. Alle
Konventionaltarife stellen jetzt eine Mischung
von finanzpolitischen und protektionistischen
Elementen dar, während die daneben stehen-
den Generaltarife geradezu in das prohibiti-
vistische Fahrwasser eingelenkt sind.
Der Vertragstaiif ist nach der bisherigen
Praxis nicht von vornherein fixiert. Er
setzt sich aus einer Pteihe von zeitlich auf-
einanderfolgenden und auf vei-schiedene End-
punkte laufenden Sonderabmachungen mit
vei-schiedenen Nationen zusammen, wobei
kraft Meistbegünstigimgsklausel die späteren
Zugeständnisse auch den älteren Vertrags-
parteien zu gute kommen. Die Tarifab-
machungen, w^elche sich auf das ganze Ge-
biet der Durchfuhr-, Ausfuhr- imd Einfuhr-
abgaben beziehen können, zerfallen in zwei
Formen, einesteils in einfache ZoUbindungen
und anderenteils in Zollermässigungen, wobei
im letzteren Falle die Bindimg daneben
stattfindet Dabei gilt als feststehender Satz,
dass die Bindung nur eine Verändenmg
nach oben, nicht nach unten verbietet
Häufig umfassen die Zollabmachungen bloss
wenige Warenartikel, so dass der Konven-
tionaltarif nur aus wenigen Positionen be-
steht. Manciunal ist jedoch auch der ganze
Tarif gebunden.
Während früher die Zollermässigungen
den Hauptinhalt der wechselseitigen Kon-
zessionen ausmachten, sind neuei'dings unter
Voranganff der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika die Zollbindungen in den Vorder-
ginmd getreten. In den auf Grundlage der
Mac-Kinleybill abgeschlossenen sogenannten
Heciprocitätsverträgen tauscht die Union den
Veraicht auf die Zollerhöhung in Bezug auf
gewisse Waren, also die einfache Bindung
gegen Zollermässigungen und sonstige Be-
willigungen anderer Staaten aus.
Um der differentiellen Begünstigung
durch den Konventionaltarif teilhaftig zu
werden, bedarf es des Nachweises, dass die
Ware aus einem Vertragslande stamme. Das
sind die sogenannten Ursprungszeug-
nisse. Die vertragsmässigen Vorschriften
über deren Ausfertigung sind, je nachdem
die betreffenden Länder eine freihändlerische
oder eine Schutzzoll nerische Handelspolitik
verfolgen, verschieden. Freihändlerische
Länder pflegen wohl ganz auf solche Zeug-
nisse zu verzichten oder begnügen sich mit
einer Bestätigung des Ausfuhrzollamts des
Herkunftslandes. Andere dagegen verlangen
eine Bescheinigung seitens der Ortsbehörde
des Herstellungsplatzes oder auch wohl eine
durch den Eid des Produzenten bekräftigte
Ausfertigung seitens ihrer im Ursprungs-
lande residierenden Consuln (Nordamerika).
Es kommt noch die Unterfi-age in Betracht,
ob die Vergünstigung allen aus einem Ver-
tragsstaate herkommenden Waiden oder bloss
den dort eigen produzierten einziu^umen
sei. Einige Länder nehmen die Ausdrücke
Herkunft (provenance) und Ursprung
(origine) als gleichwertig, so dass Waren,
wenn sie zwar in einem Nichtverti'agsstaate
hervorgebracht, aber durch Zollzahlung in
einem Vertragslande nationalisiert worden
sind, mit den Eigen jirodukten dieses Landes
1078
Handelsverträge
gleiehgehalten werdeu. Andere dagegen
knüpfen das Vorrecht strenge an die »Ori-
ginalprovenienz«, an die eigene Erzeugung.
Indessen ist im letzteren Falle keineswegs
Bedingung, dass ein Fabrikat auch seinem
•Rohstoffe nach aus dem betreffenden Lande
stamme. Einem allgemein angenommenen
Brauche gemäss gilt eine Ware als eigen-
erzeugt, wenn sie in dem Herkimftslande
eine derartige Verarbeitung erfahren hat,
dass sie in eine nächsthöhere Zollklasse des
Einfuhrtarifes im Bestimmungslande gehoben
wird.
Vermöge der Meistbegünstigung hat der
Importeur das Recht, zwischen der Ver-
.zollungsart nach dem Q-eneraltarife oder
nach dem Vertragstarife zu wählen. Dies
kann da von Wichtigkeit werden, wo etwa
der Generaltarif Wertzölle, der Vei-tragstarif
specifische Zölle ansetzt. Bei gesunienen
Warenpreisen wird der WertzoU, bei ge-
stiegenen Preisen der specifische Zoll unter
Umständen vorzuziehen sein etc. In der
Türkei und einigen anderen Ländern des
Orients ist auch die Wahl zwischen Natural-
verzoUung und Geldverzollung freigestellt.
6. Sonstige Klauseln. Als w^ichtige,
wiewohl nicht überall vorkommende Klauseln
sind in erster Linie anzuführen dieSchieds-
gerichtsklauseln und die Bedingimgpn
betreffend wechselseitige Zulassung von
Consuln.
Die Schiedsgerichtsklauseln
kommen in dreifacher Form vor, einmal in
Bezug auf Streitigkeiten bei Zollabfertigung,
sodann behufs Erledigung von auftauchenden
Meinungsverschiedenheiten über die Aus-
legung der Verträge selbst, endlich zum
Zwecke friedlichen Austrags von Differenzen
irgend welcher (auch politischer) Art. Am
seltensten tritt die erste Form auf, da die
Erleiligung von Zollanständen mit Privaten
dem administrativen Behördenzuge des zoll-
berechtigten Staates vorbehalten zu sein
pflegt. Für die Einsetzung von Schiedsge-
richten zur Auslegung der Vertragsbestim-
mungen in Zweifelfällen bemüht sich neuer-
dings namentlich Italien, während Deutsch-
land bisher eine principiell ablehnende Hal-
tung beobachtet hat. Die letzte Form, die
einen vorherrschend politischen Charakter
trägt, ist namentlich in Handelsverträgen
amerikanischer und teilweise auch afrika-
nischer Staaten unter sich und mit euro-
päischen Ländern eingebürgert. In letzterer
Hinsicht kommt die Klausel, unseres Wissens,
am frühesten in dem durch Vermittelung
des bekannten Friedens- und Freihandels-
agitators John Bowring zwischen der Schweiz
und den Hawaiischen Inseln 18G4 zu stände
gekommenen Handelsveilrage vor. Seit-
dem kehrt sie in den meisten Handelsver-
trägen der Schweiz, aber auch einiger an-
derer europäischer Staaten mit überseeischen
Ländern nieder. Dabei hat man nachher
das Verfahren zum Vorbild genommen,
welches bei der AlabamarSchiedsgerichts-
konferenz 1872 (in Genf) angewendet wimle.
In den Handelsverträgen der europäischen
Staaten untereinander hat sie bis jetzt, un-
geachtet einer starken populären Agitation
dafür, noch keine Anwendung gerunden.
Sie würde hier auch der mehr und mehr
zum Durchbruch kommenden Scheidung
von politischen und sozial-kommerziellen
Materien zuwiderlaufen.
Was das Cousularwesen anbelangt,
so pflegen sich auf diesem Gebiete die Par-
teien in bald weiterer, bald knapperer Aus-
führung unter der Bedingung des G^en-
rechtes die Meistbe^nstigung aiif Grund-
lage der völkerrechthchen Gewohnheiten zu-
zusichern. In Europa macht hier gewöhn-
lich ein mit irgend einer anderen Nation
abgeschlossener selbständiger Consularver-
trag Regel. Ausführhcher sind die Bestim-
mungen im Verkehr mit halbcivilisierten
Staaten, wo den Consuln in je verschiedenem
umfange die Jurisdiktion über ihre Volksan-
gehörigen und Schutzgenossen zugewiesen ist
Weitere Klauseln beziehen sich auf sons-
tige häufig in Handelsverträge einbezogene,
neuerdings aber gewöhnlich durch selbstän-
dige internationale Abkommen geregelte
Materien, dahin gehöi*en die Schiffahrtsver-
hältnisse, der Marken- und Musterschutz,
das geistige Eigentum etc., deren Sonder-
beliandlung ausserhalb des Rahmens dieses
Artikels fällt.
IV» Das Princip des Gregenrechts (Reci-
procitat).
Der Umstand, dass es sich bei den
meisten Handelsverträgen um eine gegen-
seitige Einräumung von Freiheiten und Vor-
teilen handelt, hat zu der öfters auftreten-
den Meinung Anlass gegeben, dass Recipro-
citätspolitik und Vertragspolitik ein und
dasselbe seien. Diese Annahme ist nicht
begründet. Es giebt auch eine autonome
Reciprocitätspolitik, wie z. B. die Schweiz
bis zur Wendung des Jahres 1892 nicht
bloss ihren Konventionaltarif, sondern auch
sonstige in ihren Handelsveilrägen ander-
wärts zugesicherten Rechte imd Vergünsti-
gungen auf alle jene Länder anwendete,
welche, ohne mit uir im Vertragsverhältnis
zu stehen, die Schweizer nicht imgünstiger
behandelten wie andere Völker. Die Ab-
sicht einer autonomen Reciprocitätspolitik
liegt femer dem neuerdings von Frankreich
aufgesteUten Systeme des Maximal- und
Minimaltarifes zu Grimde, dessen verschiedene
Seiten je nach dem autonomen Verhalten
der anderen Staaten diesen zugewendet wer-
den sollen.
Handelsverträge
1079
Anderenteils giebt es auch Handelsver-
träge ohne Recipi-ocität, wie z. B. die früheren
Kapitulationen der Pforte, wo die Gewäh-
rungen in der Hauptsache einseitiger Natur
waren. Und noch heute findet bei den Ver-
trägen nüt den halbcivilisierten asiatischen
Staaten nur ein sehr beschränktes Gegen-
recht statt. Gipfelte doch früher auch in
Europa die Yertragspolitik des Merkantil-
systems in dem Gedanken, die Handelsbilanz
dadurch zu gewinnen, dass mau das Gegen-
Techt möglichst umgehe oder doch zu einem
bloss scheinbaren gestalte.
In unseren Tagen gilt dieser letztere
Standpunkt für veraltet, der Grundsatz der
Gegenseitigkeit ist bei den Vertragsverhand-
lungen als allgemeiner Leitstern anerkannt.
Immerhin gehört auch auf dieser Basis die
Abwägimg der wechselseitigen Zugeständ-
nisse zu den grössten Schwierigkeiten bei
der Vertragsschliessung. Von einem Aus-
tausche völlig gleicher Bechte. also von
einer absoluten Keciprocität, kann mit Rück-
sicht auf die verschiedenen volkswirtschaft-
lichen Interessen, Zustände und Zollsysteme
imd angesichts der Mannigfaltigkeit m den
nationalen Gesetzen und Steuenorschriften
nicht die Rede sein. Man wird hier also
-stets statt einer absoluten sich mit einer
relativen Reciprocität begnügen müssen, wo-
bei die Ermässigung emes Agrarzolles bei
der einen Nation etwa durch eine ent-
sprechende Zollherabsetzung im Gebiete der
Industriezölle wett gemacht wird.
Schon die gegenseitige Zusicherung der
einfachen Meistbegünstigung ohne Tarifbe-
stimmungen kann ein Tausch von sehr un-
gleichen Grössen sein. Bei der einen
Partei bedeutet sie vieUeicht die Einräumung
eines freihändlerischen, bei der anderen eines
schutzzöllnerischen Tarifes. In Europa wird
vermöge der Klausel der freie Zutritt zu
jedem Punkte des Landes und der gleich-
berechtigte Mitgenuss aller öffentlichen An-
stalten gewährleistet, in Ostasien bloss die
Zulassung zu gewissen, dem auswärtigen
Handel geöffneten Vertragshäfen. Nament-
lich wird durch die hereinspielende Meist-
begünstigung auch die wechselseitige Ab-
wägung der Einzelzugeständnisse erschwert.
Dies dadurch, dass sich dieselbe nach all-
gemein anerkanntem Brauche nicht bloss
auf den Stand der Vergünstigungen im
Augenblicke des Vertragsabschlusses bezieht,
sondern auch auf die in Zukunft an dritte
Nationen zu gewährenden, in die Vertrags-
periode fallenden Zugeständnisse. Zu der
Verschiedenartigkeit des Inhaltes im gege-
benen Momente gesellen sich also später
vom Willen der Kontrahenten nur einseitig
abhängende Abänderungen, welche sich vom
anderen Teil nicht vorhersehen und auch in
ihren möglichen Wirkungen nicht berechnen
lassen. Dadurch erhalten die Festsetzungen
eine schwankende Unterlage. Der Umstand,
dass jede spätere Vergünstigung auch allen
älteren Vertragsparteien eingeräumt werden
muss, raubt im übrigen dem Zugeständnisse
einen Teil seines Wertes als Austauschob-
jekt; und so ist es gekommen, dass die
Meistbegünstigungsklausel sich oft mehr als
ein Hindernis denn als ein Beförderungs-
mittel der Zollermässigung gezeigt hat. Da-
durch ist sie vielerorts in Misskredit ge-
raten.
Nicht immer werden die zukünftigen
Meistbegünstiguugsvorteile »sofort« und »be-
dingungslos«, also ohne weitere Vergütung
zugestanden. Bis in unsere Tage herein
fülu-eu einzelne Verträge die Bestimmung
mit sich, dass der Mitgenuss der späteren
Ver^nstigimgen nur dann ohne besondere
Gegenleistung gewährt werden soll, »wenn
das Zugeständnis zu Gunsten des diitten
Staates unentgeltlich erfolgte, und gegen
den nämUchen Entgelt oder gegen ein
mit beiderseitiger Zustimmung bestimmtes
Aequivalent, wenn jenes Zugeständnis
an Bedin^mgen geknüpft war« (nissisch-
schweizenscher Handelsvertrag 1873).
Dieser Modus empfiehlt sich zumal bei
Verträgen von langer Geltungsdauer. Sind
die Perioden kurz, so können grossere
Verändenmgen im ZoUwesen bis zum Ver-
tragsablaufe verschoben und kleinere in die
verflossene Periode gefallene Beeinträchti-
gungen leicht bei den Verhandlungen zum
Neuabschluss ausgeglichen wei*den.
Manchmal zerfällt eine Abmachung in
eine Anzahl Sonderverträge, die immerhin
insofern ein Ganzes bilden^ als die Gegen-
leistung für ein Zugeständnis im einen Ver-
trage durch ein solches in einem anderen
erkauft wird. Der Handelsvertrag der
Schweiz mit Franlo^ich von 1864 zerfiel
z. B. in fünf Sonderabkoumien. Ein Haupt-
preis für die Gewälirung des französischen
Vertragstarifes bestand darin, dass die
Schweiz sich in dem nebenfolgenden Nieder-
lassungsvertrage verpflichtete, die französi-
schen Juden auf dem gleichen Fusse zu be-
handeln wie die Christen; ein Recht, das
damals den Schweizer Juden noch versagt
w^ar, bald darauf aber (1866) vermöge einer
Revision der Bundesverfassung auch diesen
eingeräumt wiurde.
V. Historisches.
1. Altertum. Die vielgenannten durch
Polybius überlieferten Verträge zwischen
Rom und Karthago aus den Jahren 509,
347 und 306 v. Chr. können kaiun als Han-
delsverträge im neuzeitlichen Sinne an^
sehen werden. Weniger die wechselseitige
Einräiunung von Handelsbef ugnissen im Herr-
schaftsbereiche des anderen Teiles als viel-
1080
Handelsverü-äge
mehr den Ausschluss daraus und die räum-
liche Begrenzung der Handelsgebiete haben
dieselben zum Gegenstande. Sie gleichen
daher mehr den neuerdings wieder aufge-
kommenen Abkommen europäischer Staaten
über die Abgrenzung ihrer Macht- oder
Interessensphäi-en in anderen Weltteilen,
deren Bedeutung vornehmlich auf politischem
Boden ruht.
2. JUittelalter. Auch die Handelsprivile-
gien, welche sich im Mttelalter gewisse Kor-
porationen, wie z. B. die Hansa, in auswär-
tigen Ländern auszuwirken wussten, waren
doch nicht Handelsverträge von Staat zu
Staat Am ehesten können aus jenem Zeit-
alter die Kapitulationen, welche die
muselmanischen Herrscher des Orients mit
den oberitalienischen Städterepubliken wie
Venedig, Genua u. a. eingingen, als hierher-
gehörig bezeichnet werden, wobei es sich
immerhin in der Hauptsache bloss um ein-
seitige Yergünstigungen handelte, welche
des Grundsatzes der Reciprocität entbehrten.
3. Nene Zeit Erst mit der Herausbil-
dimg der Territorialstaaten und der territorial
abgeschlossenen Wirtschafts- und Zollge-
biete beim üebergange zum Zeitalter der
Neuen Zeit war der Boden für eine ver-
tragsmässige Regelung der kaufmännischen
Geschäftsinteressen in auswärtigen HeiT-
scliaftsgebieten gegeben.
Diese Regelung suchen zunächst beide
Teile im Sinne der wechselseitigen Bevor-
rechtung gegenüber Dritten herzustellen. In
diesem Geiste ist zumal einer der ältesten
und wichtigsten Handelsverträge aus jenem
Zeitalter gehalten, der durch Vermittelung
des französischenGesandten La Foret zwischen
Franz I. und dem Sultan Suleyman II.
eingegangene französisch-türkische
Handelsvertrag von 1535. Einem poli-
tischen Allianzvertrage gegen Karl V. neben-
herlaufend, bestimmte derselbe, dass der
gesamte europäisch-türkische Handel der
französischen rlagge imtersteUt sein solle.
Die Abgaben hätten für die beiderseitigen
Angehörigen im Gebiete des andei*en Teiles
nicht höher zu sein als für die eigenen
Unterthanen »ä savoir: le Türe au pays du
roi, comme payent les Fran(;*ais et les dits
Fi-anvais au pays du grand seigneur, comme
payent les Turcs.«
Stehen wir liier vielleicht an der Gebuils-
stätte der Klausel von der Gleichstellung
der Ausländer mit den Inländern, welche
hier allerdings nur in sehr beschränktem
Sinne aufzufassen ist, so schliesst sich daran
auch der Ursprung der Meistbegünstigungs-
klausel, wenn es anders zutiifft, was v. Steck
in seinem 1782 erschienenen »Versuch über
Handels- und Scluffalu1:svei-träge<v sag-t:
»Diese Formel ist aus den Handelsverträgen
mit der Osmanischeii Pforte entlehnet. Die
fi'anzösische Nation war die erste, w^elcher
dieselbe die Handlung imd Schiffalui unter
ihrer Flagge, und ausnehmende Begünsti-
gungen bewilligte. Als hernach auch Ver-
träge wegen der Handlung im Osmanischen
Reiche mit anderen europäischen Nationen
eingegangen wurden, so b^ungen sich diese,
dass ihnen so wie der begünstigsten Nation
begegnet werden sollte, das ist, dass sie
aller der Yorteile gemessen sollten, deren
die französische genösse.«
Sei dem wie ihm woUe; jedenfalls be-
gegnen wir der Meistbegünstigungsklausel
mit bald engerem bald weiterem Geltungs-
bereiche schon in der ersten Hälfte des 17.
Jahrhunderts auch in Westeuropa, z. B. im
Handelsvertrage zwischen England und Por-
tugal von 1642. Als einen Vorläufer des
Frankfurter Friedens kann man im übrigen
den Vertrag der Pyrenäen 1659 an-
sehen, wenn da bestimmt wird : »Les sujets
du ix)i de France dans tous les Etats de
la couronne d'Espagne, et ceux de cette
puissance chez les Fran9ais seront traites
comme la nation la plus favo-
r i s 6 e , ne payant que les memes droits
auxquels les Anglais et les Hollandais sont
soumis.«
Der berühmteste Handelsverti-ag der pro-
tektionistischen Periode ist der 1703 zwi-
schen England und Portugal vereinbarte,
nach dem englischen Unterhändler Methuen
genannte Methuen vertrag. Derselbe
hat eine grossartige Litteratur her\'orgerufen,
imd der Streit darüber, welchem Teile er
grössere Vorteile gebracht, ist selbst jetzt
noch nicht verstummt. Zur Zeit des Ab-
schlusses glaubte offenbar Portugal, dass
seinen Interessen dadiux)h am meisten ge-
dient werde; denn der Handelsvertrag war
der Preis, der ihm dafür bezahlt wurde, dass
es sich dem von Wilhelm LEI. von England
gestifteten europäischen Allianzverband gegen
Ludwig XIV. anschloss.
Der Methuenvertrag besteht der Form
nach aus drei Artikeln, welche inlialtlich
besagen: Portugal hebt sein (seit 1684) be-
stehendes Einfuhrverbot aller auswäi'tigou
WoJlenwaren wieder auf ; dagegen verpflichtet
sich England, die portugiesischen Weine stets
zu einem um ein Dritteil niedrigeren Zolle bei
sich zuzulassen, als für ein gleiches Mass
französischer Weine gefordert wird. Der Ver-
trag sollte ein immerwährender sein und so-
wohl für Kriegs- wie Friedenszeiten gelten.
Für den Fall jedoch, dass England sieh in
irgend einer Weise seiner übernommenen
Pflichten entziehe, solle auch Portugal das
Recht haben, die Einfuhr der britischen
Wollenwaren wieder zu verbieten.
Man sieht es war in die Hand Englands
gelegt, den Vertrag verfallen zu lassen, so-
bald es dies als in seinem Vorteile liegend
[
Handelsverträge
1U81
erachtete. Nicht das gleiche Recht stand
Portugal zu.
Sem definitives Ende en-eichte der Me-
thiien vertrag, über dessen Wert undCnwert
für den einen oder anderen Teil ein mäch-
tiger, noch heute nicht ganz erledigter
litterarischer Streit erwachsen ist, erst ums
Jahr 1830, wo ihn, nachdem die Umstände
sich gänzlich verändert hatten, Grossbri-
tannien auf Antrieb Huskissons dahinfalien
liess.
Ein anderer berühmter Handelsvertrag
jenes Zeitalters ist der im Anschlüsse an
den Utrechter Frieden 1713 zwischen Eng-
land imd Spanien zu stände gekommene so-
genannte Assientotraktat (assiento =
Vertrag). (Vgl. auch den Art. Assiento-
Vertrag, oben Bd. II S. 20 ff .) Derselbe bezog
sich zwar unmittelbar bloss auf die Liefe-
rung von Negersklaven von der afrikanischen
Küste nach den spanisch -amerikanischen
Kolonieen und war in die Form eines von
der spanischen Regierung erteilten Privi-
legiums an die englische Südseegesellschaft
gekleidet. In Wahrheit bedeutete der
Assiento jedoch einen wirklichen Handels-
vertrag in betreff des spanischen Kolonial-
handels, der dadurch den Engländern ge-
öffnet wurde. Verpflichtete sich einerseits
die Südseegesellschaft, auf 30 Jahre hinaus
(bis 1743) jährlich 4800 Neger nach den
verschiedenen Teilen des spanischen Ameri-
kas ziun Verkauf zu transportieren, so war
ihr, abgesehen davon, dass sie fiu* den Er-
lös Kolonialprodukte jeder Art in Rück-
fracht nach Europa nelmien durfte, anderer-
seits gestattet, jährlich ein Scliiff von oOO
Tonnen Traglast mit Manufaktm*en eng-
lischer Erzeugung auf die Messe von
Portobello zu senden. Dieses sogenannte
Permissionsschiff wurde zum Keil, der
das ganze auf Abschliessung berechnete
Kolonialsystem Spaniens auseinandertrieb.
Aus den fünfhundert Tonnen, welche das
Schiff vertragsmässig bloss halten durfte,
wurden bald tausend. Ausserdem führte
man noch \ier oder fünf Sonderfahrzeuge
mit, die angeblich mit Lebensmitteln filr die
Schiffsleute, der Tliat nach aber mit Manu-
faktiu^^aren befrachtet waren vmd aus wel-
chen das Permissionssclüff auf der Reede
von Portobello stets wieder von neuem ge-
füllt wurde. Daneben wurde mit einer
Brutalität ohne gleiclien der Schmuggel von
Jamaika aus nach den übrigen spanischen
kolonialen Territorien betrieben. Bald hatten
sich die Engländer fast des ganzen spani-
schen Kolonialhandels bemächtigt, während
das Mutterland sich vergeblich bemühte,
von dem gefährlichen Vertrage wieder los-
zukommen. Durch den Ausbnich des Krie-
ges 1739 wurde der Assi^^nto endlich zwar
ausser Kraft gesetzt. Im Frieden von
Aachen 1748, der den österreichischen Erb-
folgekrieg abschloss, wurden der Südseege-
sellschaft jedoch die fehlenden vier Jahre
nachträglich noch zugestanden. Lidessen
kam es 1750 zu Buen-Retiro zu einem Ver-
gleich, nach welcliem die spanische Regie-
rung gegen eine Entschädigung von
100000 £• alle Rechte von der Südseege-
sellschaft zurückkaufte. Das spanische Ko-
lonialsystem blieb aber durchbrochen.
Als von handelspolitischer Bedeutung im
18. Jahrhundert ist sodann der durch den
Minister Ludwigs XV. Choiseul zwischen
den Staaten des boiu'bonischen Regenten-
hauses zu Stande gebrachte Pacte de Fa-
milie aufzuführen. In diesem dem Haupt-
inhalte nach politischen Vertrage treten die
Klausel der Gleichstellung mit den eigenen
Angehörigen und die Klausel der Meistbe-
günstigung verschwistert auf. Für die
Ünterthanen der französischen, spanischen
und sicihschen Krone solle die wechsel-
seitige Behandlung auf dem Fusse vollstän-
diger Gleichlieit mit den eigenen Landes-
angehörigen gelten. Daneben wird bestimmt,
dass, wenn einer oder der andere der Ver-
bündeten in Handelsverträgen mit dritten
Staaten das traitement de la nation la
plus favorisi« zugestehen werde, davon
immer die durch den pacte de famille fest-
gesetzten engeren Vorrechte ausgeschlossen
bleiben sollten.
In der That finden war in spätei*en Han-
delsverträgen den Vorbehalt ausdnicklich
gemacht, so z. B. in dem ältesten von frei-
händlerischem Geiste getragenen Handels-
vertrage von 1786 zwischen Frankreich und
England. Dieser gewöhnlich nach dem eng-
lischen Unterhändler Eden benannte Ver-
trag würde vielleicht besser den Namen des
physiokratischen SchriftsteUei-s Dupont de
Nemours tragen, der im Auftrage des Mi-
nisters Vergennes französischerseits die
Unterhandlungen führte. Neben der für die
damalige Zeit unerhörten Herabsetzung der
Zölle auf 10 — 15 ^/o vom Wert schiebt dieser
Handelsvertrag mit besonderem Nachdruck
die Meistbegünstigungsklausel in den Vorder-
grund. Ausgenommen von dieser Regel
sollen jedoch sein, französischerseits die Be-
stimmungen des pacte de famille, und eng-
lischerseits der Methuentraktat. Was den
letzteren anlangt, so ereignete sich hier der
charakteristische Umstand, dass England die
Zölle für die französischen Weine auf die
gleiche Stufe herabsetzte, wie sie bis dahin
von den portugiesischen bezahlt woitlen
waren. Dadurch wurden sie diesen aber nicht
etwa gleichgestellt; vielmehr mussten nun
die Zölle für die portugiesischen Weine um
ein weiteres Drittel herabgesetzt werden.
Der Eden vertrag liatte keine lange Dauer
er fiel dem Kriege von 17 Ü3 zum Opfer.
1082
Handelsverträge
4. Nennzehntes Jahriinndert Das
neunzehnte Jahrhundert ist das Zeitalter der
internationalen Kollektivverträge. Schon die
napoleonische Kontinentalsperre, ob-
"wohl politischen Antrieben entsprungen, kann
in ihren praktischen Wirkungen als ein
handelspolitisches Kollektivbündnis der eu-
ropäischen Kontinentalstaaten angesehen
werden. In die gleiche Kategorie ist so-
dann zu rechnen der deutsche Zollver-
ein svertrag von 1833 mit seinen späte-
ren Ansclilüssen und Wiederholungen.
Ein wiewohl beschränktes Kollektivbünd-
nis, das sich successive erweiterte, ging
nachher aus dem zwischen NaTX)leon III.
lind dem Freihandelsagitator Cobaen verein-
barten englisch-französischen Han-
delsvertrage von 1860 hervor. Das so-
genannte System der westeuropä-
ischen Handelsverträge, welches da-
von seinen Ausgangspunkt nahm, ward zwar
nicht von beiden Staaten in gleicher Weise
bethätigt. Wähi-end Grossbritannien die
allmähliche Abschaffung sämtlicher Manu-
fakturzölle in Aussicht nahm, seine Finanz-
zölle von da an auf wenige Genussartikel
einschränkte und dabei das Princip aufstellte,
dass die Meistbegünstigung allen fremden
Nationen ohne ünterechied und ohne be-
sondere Gegenleistung einzuräumen sei (Frei-
handel ohne Reciprocität), verstand sich
Frankreich bloss zur Aufhebung seiner Prohi-
bitionen und zu einer Herabsetzung seiner
Manufakturzölle auf eine Maximalhöhe von
30 und ab 1863 von 25% vom Wert, wobei
es überdies den alten prohibitiven Zolltarif
als Generaltarif für alle jene Völker bestehen
liess, welche sich nicht ilirerseits vertrags-
niässig zu Tarifermässigimgen herbeilassen
wüi-den. (Gemässigter Freihandel mit Reci-
procität.) Durch allmählichen Abschluss von
Tarifverträgen mit den meisten europäischen
Staaten, welche sich dann ihrerseits wieder
durch Sonderverträge auf dem Fusse der
Meistbegünstigung verbanden, gestaltete sich
im Laufe der sechziger Jahre ein handels-
politischer Gesamtverband heraus, der nach
innen diu-ch eine Anzahl ermässigter Kon-
ventionaltarife gegliedert sich nach aussen
durch eine Kette erhöhter und kampfdrohen-
der Generaltarife abschloss.
Dieses auf dem Dualismus von autono-
mem Generaltarif gegenüber Nichtvertrags-
staaten imd einem auf niedrigere Zollsätze
gebundenen Konventionaltarif gegenüber
Vertragsstaaten beruhende System hat die
Handelspolitik Europas bis in unsere Tage
herein beherrscht, wenn es seit Anfang der
achtziger Jahre auch insofern eine Wand-
lung erfuhr, als bei jotler Erneuerung eines
abgelaufenen Vertrages statt der früher vor-
aiwgiesetzten weiteren ZoUherabsetzung viel-
mehr die Kontrahenten sich bemühten, ihren
Konventionaltarif auf höheren Fuss zu setzen.
Diese Tendenz setzte sich fort, als, veran-
lasst durch die seitens Frankreich vollzogene
Kündigung aller seiner Tarifanträge auf den
1. Februar 1892 sich die meisten übrigen
europäischen Staaten genötigt sahen, auf
diesen Zeitpunkt ihre handelspolitischen
Beziehungen auch imter einander neu zu re-
geln.
Verletzt durch den Umstand, dass die
Bismarcksche Handelspolitik aus dem Art.
11 des Frankfurter Friedens in der Weise
einseitigen Vorteil zu ziehen gesucht hatte,
dass Deutschland zwar die von Frankreich
mit anderen Mächten im Reciprocitätswege
gewährten Zollermäßsigungen einstrich, selbst
aber sich jedweder Tarifverträge enthielt,
welche Frankreich hätten zu gute kommeu
können, beschloss die französische Regierung,
wieder ganz zur autonomen Handeispolitik
überzugehen. Nach längeren Vorbereitungen
wurde durch G. v. 11. Januar 1892 das Re-
gime des autonomen Doppeltarifs (Maximal-
und Minimaltarif) begründet, wobei je nach
der handelspolitischen Haltung der anderen
Staaten zu Frankreich bald die eine bald
die andere Abteilung zur Anwendung ge-
langt. Nur Deutschland geniesst dabei den
Vorteil, dass ihm der Genuss des jeweiligen
Minimaltarifes durch den Frankfurter Frieden
für immer garantiert ist.
Im Gegensatz hierzu machte nun Deutsch-
land, dessen handelspolitische Leitimg mitt-
lerweile in die Hände Caprivis übergegangen
war, eine Schwenkung ziu* Vertragspolitik
hinüber. Von dem Gedanken geleitet, dass
dem zwischen dem Deutschen Reich, Oester-
reich-üngam und Italien schon länger be-
stehenden politischen Dreibund auch ein
Nähertreten auf volkswirtschaftlichem Ge-
biete entspi'echen solle, haben im Dezember
1891 Deutschland, Oesterreich - Ungarn und
Italien Tarifverträge unter einander abge-
schlossen, denen gemäss der an die Spitze
gestellten Erklärung die Aufgabe zugeteilt
ist, »auf längere Zeit eine feste Grundlage
für die Förderung des gegenseitigen Aus-
tausches von Boden- und Industrieerzeug-
nissen zu schaffen und zugleich geeignete
Anknüpfungspunkte für eine entsprechende
vertragsmäßsige Regelung der beiderseitigen
Handelsbeziehimgen zu anderen Staaten zu
gewähren«.
Durch den gleichzeitigen Anschluss der
Schweiz und Belgiens, denen dann Serbien
und Rumänien folgten, liaben sich die An-
knüpfungspunkte als wirksam erwiesen, so
dass dieses »System der mitteleuro-
päischen Handelsverträge«, ^-ie
man es wohl genannt hat, am 1. Februar
1892 auf zwölf Jahre hinaus zunächst zwi-
schen Deutschland , Oesterreich - Ungarn,
Italien, der Schweiz und Belgien und dann
Handelsverträge
1083
■Serbiens und Rumäniens in Kraft getreten
•ist. Dasselbe beniht auf der gleichen Un-
terscheidung von Generaltarif und Konven-
tionaltarif wie das »System der westeuro-
päischen Handelsverträge«, von dem es sich
nur dadurch, und zwar zu seinem Vorteile,
unterscheidet, dass an Stelle der früheren
willkürlich gewählten Termine ein Kollek-
tivübereinkommen »mit gleichem Anfangs-
und gleichem Endtermine« tritt. DieGesamt-
erneuening erfolgt dann jeweils beim Ablauf
der 12 jährigen Periode (handelspolitisches
Kometenjahr) wieder gemeinsam, bis wohin
die Stabilität der Handelsgrundlagen für alle
Teilnehmer gesichert ist.
Die handelspolitische Tendenz dieser Ver-
einbarungen kann als eine gemässigt schutz-
zöllnerische bezeichnet werden, oder wie
die deutsche Denkschrift zum östen-eichisch-
ungarischen Vei-trag es ausdrückt, als ein
»System einer auf vertragsmässiger Grund-
lage berulienden gemässigten Handels-
politik«, wobei man »von dem üebergange
zum extremen Protektionismus Abstand ge-
nommen«.
Auch ausserhalb Europas hat sich die
Tendenz zum Abschlüsse von handelspoli-
tischen Kollektivbündnissen bemerkbar ge-
macht. Das auf der panamerikanischen
Konferenz von Washington 1888 beratene
Projekt eines ganz Nord-, Mittel- und Süd-
amerika umfassenden Zollbundes dürfte
zwar ein vorläufig noch fern gestecktes Ziel
bleiben. Immerhin strebt demselben die
nordamerikanische Union unter Zugrunde-
legimg gewisser Bestimmungen der Mac-
Kinleybill im Wege sogenannter Re Ci-
pro citätsverträge nicht ohne Er-
folg zu.
Aehnlich hat die nach London im Jahre
18R9 berufene Konferenz von Vertretern
aller grossbritannischen Kolonieen zwar den
gewünschten engeren Zusammen schluss in
handelspolitischer Beziehung mit dem Mut-
terlande nicht zum Ergebnis gehabt. Dafür
sind sich gewisse Kolonieen unter einander
näher getreten. Das seit 1891 im Entstehen
begriffene »Gemeinwesen von Australien«
hat u, a. eine Zolleinigimg der dortigen
Einzelkolonieen in das Programm aufge-
nommen, und in Südafrika ist eine solche
bereits ins Leben getreten.
Die Kongo-Akte von 1885 stellt sich
als ein umfassender handelspolitischer Kol-
lektivvertrag unter 14 Staaten dar. Aehn-
liches gilt von der 1889 zwischen Grossbri-
tannien, Deutschland und den Vereinigten
Staaten von Nordamerika vereinbarten Sa-
moa-Akte. Als eine Fortsetzung des
Kongovertrages kann die von 17 Staaten ge-
schlossene Brüsseler Konferenzakte
gegen den Sklavenhandel von 1890 ange-
sehen werden, indem dadiuxjh das dort be-
schlossene Einfuhrzollverbot im Freihandels-
becken des Kongo aufgehoben und der
Spirituosen- und Waffenhandel in den dorti-
gen Gegenden in angemessene Schranken
gezw^ungen wurde. Auch einzelne Abkom-
men über die Abgrenzung der euroi)äischen
Interessensphären m fremden Welt-
teilen, so z. B. dasjenige betreffend Ostafrika
von 1890, tragen einen kollektiven Charakter.
Diesem zur Bildung kollektiver Verbände
geht zur Seite eine nicht minder stark her-
vortretende Bewegung zur selbständigen
Heraushebung und Regelung gewisser frülier
in den Handelsverträgen gemeinsam behan-
delten Einzelmaterien. Auch diese Ordnun-
gen haben vielfach die Form internationaler
Gesamtbündnisse angenommen. Dahin ge-
hören die Unionen betreffend Schutz
des litterarischen, künstlerischen
und gewerblichen Eigentums, über
die Weltpost, den Welttelegraphen,
über das internationale Eisenbahntrans-
portrecht etc. mit ihren Centralstellen
in Bern. Dahin dürften femer zu rechnen
sein die noch im Schosse der Zukunft
ruhenden internationalen Organisationen zum
Schutze der Arbeit und zur Regelung des
Arbeitsangebotes, kurz die internationale
soziale Gesetzgebung überhaupt
In dem Masse, wie diese Gemeinschaften
zunehmen, werden sich durchziehende Ge-
sichtspunkte und Formen herauskehren,
welche eine Kodifikation auch dieser Mate-
rien des Völkerrechtes im Gefolge haben
werden. Bis jetzt ist die Zeit dazu noch
kaum reif. Es mag hier genügen, darauf
hingewiesen zu haben.
Litteratur : Mably, Le droit pitblic de l'Eurape,
fonde 9ur let traites, 1764. — Batichauü,
Theorie des traites de commerce entre les ncUions,
Paris 1777. — v. Siech, Versuch über Handels-
und Schiffahrtsverträge, Halle 1782. — Haute^
riv€f Jiecueil des traith de commerce et de
navigation de la France avec les puissances
etrangeres depuis I64S, suivi du Recueil des
principaux traitSs de meme nature conclus par
des puissances etrangeres entre elUs depuis la
meme epoque, I8S4 — 1844. — v, KaUenöom,
Artikel nHandehverträgevL in Bluntschlis Staats-
vört^buch, Bd. IV, 1859. — Boiieau, Le*
traites de commerce, 186S. — Sirauchf Das
Fremdenrecht, besanders mit Rücksicht auf Hau-
dels- und Gewerbebetrieb der Ausländer in den
Grossstaaten der Gegenwart nach deii neuesten
internationalen Vertragen, in Goldschmidt, Zeil-
Schrift f. d. ges. Handelsrecht, Bd. XIII, 1860. —
JE. Meier, Ueber den Abschltiss von Stcuilsver-
trägen, Leipzig 1874. — Friedrich von
Marlene, Völkerrecht. Das internationale
Recht der cirilUierten Nationen, 2 Bde., deutsche
Ausgabe von C. Bergbohm, Berlin 188S u. 1886.
— Schraut, System der Handelsverträge und der
Meistbegünstigung t Leipzig 1886. — v. Melle,
Handels- und Schiffahrtsverträge, in v. Holtzen-
dorffs Handbuch des Völkerrechts, 3. Bd., Harn-
1084
Handelsverträge — Handfertigkeitsuntemcht
biirg 1881, — J". H» Kem/pfy Die Ilandel^polüik
Frankreichs seit 1860, Freihttrg L B. 1882, —
O, Fr, de MartenSf Eecueü de traüis et
atttres actes relaiivs aux rapports de droit inter-
national, continue par Charles de Martens, Saat-
feld, Murhard, Pinhas, Samwer, Hopf, GöUingtie
1791—1886. — P. Lahandf Das Staatsrecht
des dentschen JRei^hes, ä Bde., Freiburg i. B.,
2. Aufl., 1888 und 1891. — Deutsches Ha n -
delsarchiv, Monatsschrift, herausgegeben vom
Reichsanit des Innern (nahezu vollständige
Sammlung aller neueren Handelsverträge und
auf den Handel bezüglichen Verordnungen und
Gesetze. — P» Lentner, Der afrikanische
Sklavenhandel und die Brüsseler Generalakte
vom 2. VII. 1890, Innsbruck 1891. — A. Onchen,
L^Article onze du traite de Paix de Francfort
et l'expiration des traiies de commerce le 2*r
fevrier 1892; Revue d' Economic Politique,
1891. — Vereint für Sozialpolitik, Die
Handelspolitik der wichtigeren Kulturstaaten in
den letzten Jahrzehnten, 4 Bde., 1892. — A,
Ziinmemtanny Die Geschichte der preussisch-
deiiischen Handelspolitik, Oldenburg u. Leipzig
1892. — J, Gr^inzel, Handbuch der inter-
nationalen Handelspolitik, WieJi 1898.
A, Oncken,
Handfertigkeitsanterricht.
1. Vorbemerkung. 2. Das Wesen des Hand-
arbeitsunterrichts. 3. Die Leistungen des Ar-
beitsunterrichts; (Entwickelung der körper-
lichen Kraft und Gewandtheit; der Hand-
geschicklichkeit; Erziehung der Sinne, vor-
nehmlich des Auges; anschauen, beobachten,
erfahren; Bildung des Forniensinnes und Ge-
schmackes; Geistesbildung; Leitung des
Schaffens triebes und Erziehung des Willens.)
4. Geschichtliches zum Arbeitsunterricht. 5. Die
praktische Ausgestaltung der Idee des Arbeits-
unterrichts; a) die Zögflinge; b) die Lehrer des
Arbeitsunterrichts; c) die Arbeitsfächer; d)
Uebung oder Anwendung? ej die Form des
Arbeitsunterrichts. 6. Der Arbeitsunterricht an
Internaten. 7. Ausbreitung und Unterstützung
des Arbeitsunterrichts in Deutschland. 8. Der
Arbeitsunterricht im Auslande.
1. Yorbemerknng. Bei der gegenwär-
tig durch fast alle Kulturländer gehenden
Bewegung für den Handfertigkeitsuntemcht
(Arbeitsuntenicht, Knabenhandarbeit, Slöjd,
travail manuel, manual training, lavoro ma-
nuale) sind übei-all zwei versciiiedene trei-
bende Kräfte zu beobachten: volkswirt-
scliaftlieh-soziale Gründe und pädagogische
Ziele und Absichten.
Wie in Schweden und Dänemark, so
überwog auch in Deutsclüand anfänglich
die volkswirtschaftliche, auf die Bildung
von Hausindustrieen, Erweckung des Haus-
fleisses und damit auch auf die nützliche
Beschäftigung der Jugend sich hinbewegende
Strömung. Es gescliali dies in Deutschland
insbesondei-e unter dem Einflüsse des däni-
schen Kittmeisters a. D. Clauson-Kaas, dessen
Bestrebungen durch die gleichzeitige Thätig-
keit für Hausindustrie, Hausfleiss und Ar-
beitserziehung der Jugend charakterisiert
wurden. Je länger je mehr trat aber ia
Deutschland die rein erziehliche Seite der
Sache in den Vordergrund deswegen, weil
bei unserer hochgesteigerten Industrie die
Rückkehr zu der Form hausindustriellea
Erwerbes auf unüberwindbare Konkurrenz-
schwierigkeiten stossen musste und weil
auch der unter ganz anderen klimatischen
und sozialen Verhältnissen erwachsene nor-
dische Hausfleiss nicht ohne weiteres zu
uns herübergepflanzt werden konnte, wäh-
rend dagegen die deutsche Erziehung einen
einseitig theoretischen, doktrinären Charakter
angenommen hatte und der Ergänzung durch
einen das praktische Können betonenden,
vornelimlich die Willensbildung fördernden
ünterrichtszweig dringend bedürftig war.
Ein grosser Teil der deutschen Lehi-er-
Schaft, die Einseitigkeit unseres Unterrichts-
wesens erkennend, nahm lebhaftes Interesse
an der Erziehung der Knaben zur praktischen
Arbeit, und so erklärt sich der vorwiegend
pädagogische, alle erwerblichen Rücksichten
beiseite lassende Charakter der deutschen
Handfeiligkeitsbewegung. So ist es auch
gekommen, dass aus dem die Sache anfäng-
lich tragenden »Centralkomitee f(u' Hand-
fertigkeitsunterricht und Hausfleiss«, das im
Juni 1881 in Berlin zusammengetreten war,
im Jahre 1886 ein »deutscher Verein für
Knabenhandarbeit« geworden ist, welcher
allein pädagogische Ziele verfolgt, von allen
auf einen direkten Erwerb, auf unmittelbare
Vorbereitung der Knaben für bestimmte Be-
rufszweige gerichteten Bestrebungen absieht,
ohne doch die volkswirtschaftHche und soziale
Bedeutung zu verkennen, welche der er-
ziehlichen Knabenharidarbeit unzweifelhaft
innewohnt und durch die sie mittelbar
auch unser wirtschaftliches Leben lieein-
flussen wird. Wenn daher die Einfülming
des Arbeitsunterrichts in erster Linie im
Interesse der tüchtigen, allseitigen Erziehung
des heranwachsenden Geschlecntes gefonlert
wiixl, so kommt daneben doch das soziale
Interesse mit in Frage, welches verlangt,
dass auch die körperliche Arbeit richtig
geschätzt werde und tiass die verschiedenen
Gesellschaftsklassen in Frieden und gegen-
seitiger Achtung ihres Wirkens zusammen
leben, ebenso wie das wirtschaftliche Inte-
resse Berücksichtigung verdient, welches
fordert, dass die Erwerbsfähigkeit unseres
Volkes für die Zukunft gesichert werde.
2. Das Wesen des Uandarbeitsonter-
richts. Der Ai-beitsunterricht erweitert die
Reihe der bisherigen Mittel zur Erziehmig
des heranwachsenden Geschlechts dadmxjli,
dass erden Thätigkeitstrieb des Kindes
benutzt, um die körperlichen un<l geistigen
Handfertigkeitsunterricht
1085
Kräfte desselben durch fortgesetzte Uebung,
durch systematische Bethätigung zu ent-
wickehi.
3. Die Leistangen des Arbeitsanter-
richts. a) Die Handarbeit entwickelt neben
dem Turnen die körperliche Kraft, Gewandt-
heit und Anstelligkeit des Knaben und
macht ihn durch heilsamen Wechsel der
Thätigkeit widerstandsfähiger gegen die rein
geistigen Anstrengungen. Sie beeJnflusst
die physische Entwickelung der Zöglinge
insofern, als sie mannigfaltige körperliche
Bewegung fordert und im Gegensatz zu der
Gehimarbeit eine vielseitige Muskelthätigkeit
hei*vomift.
b) Der Arbeitsunterricht entwickelt durch
vielseitige Schulung in der geschickten Füh-
nmg der gebräuchlichsten Werkzeuge die
allgemeine Handgeschicklichkeit.
c) Er erzieht, indem er ihren häufigen
Gebrauch fordert, die Sinne des Kindes, vor-
nehmlich entwickelt er zusammen mit dem
Zeichenunterrichte die Fähigkeit des Auges,
scharf und richtig zu sehen. Er bildet die
Anschauung, lehrt das Kind beobachten und
giebt ihm Gelegenheit, eigene Erfahnuigen
zu machen.
Hiemach ist der Arbeitsunterricht am
nächsten mit dem Turnen, Zeichnen und mit
dem eigentlichen Anschaunngsunterricht ver-
wandt. Durch ihn wird aber die von Pesta-
lozzi geforderte Anschauung intensiver gestaltet,
sie wurd bis zu der mit jeder praktischen Arbeit
untrennbar verbundenen Erfahrung weiterge-
führt. Der Arbeitsunterricht ist gleichsam ein
festeigerter Anschauungsunterricnt ; bei ihm
ommt das Kind vom Beobachten nicht los,
denn die praktische Arbeit ist ohne Sehen, ohne
stetes Beobachten ganz unmöglich; er erzieht
also nicht durch das Wort, sondern durch die
That.
d) Der Arbeitsunterricht entwickelt den
Formensinn und das Wohlgefallen am Schönen,
er legt den Grund ziu* Bildung des Ge-
schmackes.
e) Er dient aber auch unmittelbar' der
geistigen Ausbildung. Da er nämlich Ein-
sicht und klares \ erstand nis für die zu
lösenden . Aufgaben unerlässlich macht , so
schärft er die Aufmerksamkeit und übt im
folgerichtigen Denken. Er erweitert durch
mannigfache Erfahrungen namentlich die
mathematischen und naturwissenschaftlichen
Kenntnisse des Schillers und entwickelt die
Fähigkeit, praktische Dinge zu beurteilen.
Auch insofern steht die erziehliche Hand-
arbeit im Dienste der Geistesbildung, als sie
manche unklaren Vorstellungen, welche vom
theoretischen Unterricht her geblieben sind, auf-
hellt. Dies geschieht namentlich dann, wenn
solche praktische Arbeiten hergestellt werden,
welche mit dem Schulunterrichte in Beziehung
stehen, indem sie die im Unterrichte entwickelten
Begriffe praktisch darzustellen nötigen. (Be-
ziehungen zur Planimetrie, Stereometrie, zum
Rechnen, Zeichnen, Anschauungsunterricht, zur
Kulturgeschichte . Naturbeschreibung , Geo-
graphie, Physik und Chemie.)
f) Die Handarbeit leitet den Scliaffens-
trieb in richtige Bahnen, fühi-t zur Freude
am Arbeiten und über das Gearbeitete, ge-
wöhnt zu sorgfältigem Ausführen der Ar-
beitsaufgaben und erzieht dadurch zum Fleiss
und anderen wirtschaftlichen Tugenden. So
schult sie die Willenskraft für ein zielbe-
wusstes Handeln und dient der Entwicke-
lung fester, starkwilliger Charaktere. Indem
der Arbeitsunterricht den Knaben nötigt,
physische Schwierigkeiten zu überwinden,
fordert er seine Willenskraft heraus und
entwickelt sie durch die stufenmässige Be-
wältigung aller nacheinander auftretenden
Hindemisse, bis die Anspannung der Ener-
gie diuxih die schliessliche Erreichung des
Zieles, der fertigen Arbeit, ihre glückliche
Lösung findet.
In der Leitung des kindlichen Thätigkeits-
triebes und in der Erziehung des Willens ist
die wesentlichste Eigenschaft und die vomehm-
lichste Bedeutung des Arbeitsunterrichts ge-
geben. Höchstens könnte ihm hierin das Turnen
an die Seite gesetzt werden. Während aber
das letztere die Willensenergie auf kurzdauernde
Leistungen zusammenrafft, sie gleichsam zur
explosiven Wirkung bringt, verlangt der Ar-
beitsunterricht die Anspannung des Willens auf
längere Dauer ; bei ihm schliesst sich ein Willens-
akt an den anderen, und dadurch wird die
Stetigkeit, die nicht zu erschlaffende Zähigkeit
des Willens hervorgerufen. Jede gelingende
Arbeit ist aber dann ein Sporn zu neuem kräf-
tigen Streben. Mit dem Können wächst die
Freude am Schaffen, damit aber entwickelt sich
die Thatkraft, die charakterfeste Selbständig-
keit. Niemals kann ein fester Wille durch
Worte aufgeredet werden, er vermag sich nur
durch das Handeln zu entwickeln. Lernt der
Knabe im Arbeitsunterrichte seine Kraft zur
Erreichung eines bestimmten, ihm vor Augen
stehenden Zieles einsetzen, so übt er sich im
Handeln, und das allein bildet seinen Willen.
Deswegen muss der Arbeitsunterricht allein
schon we^en der Dienste, die er der Willens-
bildung leistet, gefordert und gefördert werden.
4. Geschichtliches zum Arbeitsnnter-
richt Zuerst hat der Idealismus des 17.
Jahrhunderts, und hier vor allem Arnos
Comenius, dem allein herrschenden Hu-
manismus gegenüber die Idee nachdrücklich
vertreten, dass die Handarbeit ein Erziehungs-
mittel sei, ohne jedoch damit Einfluss auf
die Schulpraxis zu gewinnen. Ihm schloss
sich am Ende des 17. Jahrhunderts der
Pietismus in A. H. Francke zu Halle
an. In der Franckeschen Stiftung wurde
der erste Schritt gethan, die von Comenius
aufgestellte Theorie in die Praxis umzu-
setzen. Von hier ging der Arbeitsunterricht
vielfach auch in andere nach dem Francke-
schen Muster errichtete Schulen, z. B. in
die von Hecker 1747 in Berlin begründete
1086
Handfertigkeitsunterricht
Realschule über. Danach haben die unter
dem Einfluss John Loekes stehenden
Philanthropen der Handai-beit eine
SteJle in ihrem i)ädagogischen System ge-
geben. Basedow empfahl sie in seinem
»Methodenbuche« und mhrte sie im Philan-
tropin zu Dessau praktisch ein. Noch wir-
kungsvoller vertritt Salzmann im
»Ameisenbüchlein« den Arbeitsunterricht, in
seiner Erziehungsanstalt zu Schnepfen-
thal lässt er ihn ausgiebig betreiben. Wei-
ter vertieft erscheint danac-h die Idee der
Arbeitserziehung bei dem wohl von Rous-
seau beeinflussten J. H. G. Heusinger,
der die Thätigkeit geradezu zum Grund-
princip seiner Erziehungstheorie macht. Für
die praktische Ausgestaltung des Arbeits-
unterrichts waren neben ihm besonders
Bernh. Heinr. Blasche {Werkstätte der
Kinder) imd GutsMuths (Mechanische
Nebenbeschäftigimgen) Ihätig.
Während die genannten Pädagogen die
erziehliche Seite der Arbeit hervortreten
Hessen, kamen neben ihnen Bestrebungen
zur Geltung, welche mehr auf sozialem und
volkswirtschaftlichem Grunde beruhten und
in den sogenannten Industrieschulen ihre
Verwirklichung fanden. Als Vertreter die-
ser Richtung sind besonders der böhmische
Pfarrer Ferdin. Kindermann und der
Pastor Ludw. Gerh. Wagemann in
Göttingen zu nennen. Ihre Industrieschulen
wollten dm*ch Bekämpfung des Müssig-
ganges der Verarmung steuern, in ihnen
sollten die Kinder der ärmeren Klassen zur
Arbeitsamkeit gewöhnt werden. In ähn-
lichem Sinne wirkten Pestalozzi, Fel-
lenberg und Wehrli in der Schweiz.
Dem Erziehungsplane der Wehrlischulen,
die als Musteranstalten für die Armen-
erziehimg galten, liegt der Landbau zu
Grunde, bei dem Lernen und Arbeiten ver-
einigt ist.
Später nahm Friedr. Fröbel die rein
erziehliche Seite der Sache wieder auf und
gestaltete den Arbeitsunterricht in eigenar-
tiger Weise aus. Nach ihm muss alle echte
Menscheneraiehung von der That, dem Thun
ihren Ausgang nehmen, als das Fundament
aller Erkenntnis gilt ihm das selbstthätige"
Hervorbringen, das Schaffen.
Einen weiteren Anstoss erhielt die Frage
der Arbeitserziehimg zu Anfang der 50 er
Jahre durch eine vom Landammann
Schindler in Zürich gestellte Preisfrage:
>Wie kann der Unterricht in der Volksschule
von der abstrakten Methode emancipiert und
für die Ent Wickelung der Gemütskräfte
fruchtbar gemacht werden?« Unter den
liierdiu'ch hervorgerufenen Roformschriften
sind als besonders einflussreich hervorzu-
heben die von Dr. Conr. Mich eisen (Die
Arbeitsschulen der Ijandgemeinden , Eutin
1851), sowie die von Prof. Biedermann
(Karl Friedrich, Die Erziehung zur Arbeit,
Leipzig 1852).
Wesentlich im Sinne Fröbels war dann
seit der Mitte der 50er Jahre Dr. Daniel
Georgens bemüht, die Frage der Be-
thätigimg der Jugend praktisch lösen zu
helfen. — Eine ganz bestimmte imd wesent-
liche Stelle wurde endlich der körperlichen
Arbeit des Kindes im Erziehungsplaue der
Herbart-Zillerschen Pädagogüc einge-
räumt
Die gegenwärtige Bewegung zu Gunsten
des Arbeitsuntenichts erhielt ihren Anstoss
in Oesterreich durch eine 1873 erschienene
Schrift von Dr. Erasmus Schwab: Die
Arbeitsschule als organischer Bestandteil
der Volksschule. Die im Jahre 1873 statt-
findende Wiener Weltausstellung trug zur.
weiten Verbreitung der Ideeen E. Schwabs
wesentlich bei, da hier zugleich eine Schul-
werkstatt für Knaben mit ausgestellt war.
Durch dieselbe Wiener Weltausstellung ward,
auch der dänische Rittmeister a. D. Clau-
son-Kaas in Deutschland bekannt Durch
ihn wurden in der Mitte der 70 er Jahre
die dänischen Hausfleissbestrebungen in
Norddeutschland verbreitet, und so gewann
die Idee der Arbeitserziehung durch einen
von A. Lammers aus Bremen in der Ge-
meinnützigen Gesellschaft zu Leipzig gehal-
tenen Vorti-ag über »Selbstbeschäftigung und
Hausfleiss« auch Boden in dieser letzteren
Stadt Infolgedessen wurde zu Ostern 1880
die Leipziger Schülerwerkstatt begründet,
welche, unter Dr. Gölzes Leitujg stehend,
von vornherein den Hauptwert auf die er-
zieherische Seite der Sache legte und in
diesem Sinne Einfluss auf die Eutwickelung
des deutschen Arbeitsunterrichts geübt hat.
Zu gleicher Zeit waren für die Propaganda
der Clauson-Kaasschen Ideeen in Deutsch-
land Superintendent Raydt in Lingen
und Stadtrat von Schenckendorff in
Görlitz erfolgreich tliätig. Am 13. Juni
1881 fand in Berlin die Konstituierung des
deutschen Centralkomitees für Handfertig-
keitsunterricht und Hausfleiss statt,, und am
3. Juni 1882 veranstaltete dieses Central-
komitee in Leipzig einen Kongress für Hand-
fertigkeitsunterricht der mit einer liedeut-
samen Ausstellung von Schulwerkstatts-
arbeiten verbunden wai*. Am 7. (])ktober
1883 tagte das deutsche Cenü^alkomitee
wieder in Leipzig, 1884 fand ein Handfertig-
keitskongress zu Osnabriick, 1885 zu Gör-
litz, 1886 zu Stuttgart. 1887 zu Magdeburg,
1888 zu Miuichen, 1889 zu Hamburg, 1S90
zu Strassljurg, 1892 zu Frankfurt a. M.,
1894 zu Danzig, 1896 zu Kiel und 189S zu
Dresden statt. In den letzten Jahi*en, in
denen die Idee des Handarbeitsunterrichts
schon tiefere Wurzeln gesclüagen liatte,.
Handfertigkeitsuntemcht
1087
hielt man eine zweijährige Wiederhohmg
der Kongresse für genügend, in den da-
zwischen liegenden Jahren fanden nur
Hauptversammlungen statt, und zwar 1891
in Eisenach, 1893 in Leipzig, 1895 in Wei-
mar, 1897 in Leipzig, die letztere in Ver-
bindung mit der mitteldeutschen Handfertig-
keitsausstellung, welche ihrerseits durch das
übersichtliche Bild, das sie über die Er-
zeugnisse des Arbeitsunterrichts bot, und
besonders auch diu*ch die Werkstatt im
Gange viel dazu beitnig, die Ideeen über
die Knabenhandarbeit zu verbreiten und zu
klären.
Der Stuttgarter Kongress von 1886 be-
zeichnete insofern einen wichtigen Fort-
schritt in der Entwickelung der deutschen
Bestrebungen, als sich hier nach 5 jähriger
erfolgreicher Vorarbeit des deutschen Cen-
tralkomitees der Deutsche Verein für
Knabenhandarbeit bildete. Der ei*ste
Beschluss, den der junge Verein fasste, galt
der Begründung einer Lehrerbüdunffsanstalt
für Knabenhandarbeit in Leipzig, die seit-
dem eine fruchtbare Thätigkeit entfaltet hat.
Zeugnis von der äusseren Verbreitung und
der inneren Vertiefung der Sache legen
neben den Berichten dieser Lehrerbildungs-
anstalt und den Normallehrgängen des deut-
schen Vereins, von denen bis jetzt die für
Vorstufe, Papparbeit und Kerbschnitzen er-
schienen sind, auch die Blätter für Knaben-
handarbeit, das Organ des deutschen Ver-
eins, ab, welche eine lebendige Verbindung
unter den Mitgliedern desselben herstellen.
Zahlreiche Städte, Vereine und einzelne
Personen haben sich dem .deutschen Ver-
ein als Mitglieder angeschlossen, und ganz
erheblich ist die Zahl der Stellen gewach-
sen, die den Handfertigkeitsunterricht in
besonderen Einrichtungen neben der Schule
oder in Lehrerseminaren, Waisenhäusern,
Blinden-, Taubstummen-, Zwangserziehungs-
anstalten und anderen Internaten aufge-
nommen haben. So ist denn der Boden
geschaffen, auf welchem sich die jetzige
Bewegung gedeihlich weiter zu entwickeln
vermag.
5. Die praktische Ansgestaltimg der
Idee des Arbeitsimterrichts. a) Die
Zöglinge. Da in der Mädchenerziehung
der Unterricht in Handarbeiten bereits seit
lange Geltung gewonnen hat, so hat die
gegenwärtige Bewegung die Knaben hand-
arbeit zum Ziele. Bezüglich der Alters-
grenze, mit welcher der Arbeitsunterricht
beginnt, gilt jetzt als allgemein anerkannt,
dass man mit den praktischen Arbeiten der
Knaben nicht bis zu ihi*em 12. Lebensjahre
warten solle, sondern dass gemäss seiner
psychologischen Entwickelungsstufe gerade
das jüngere Kindesalter der Erziehung der
Sinne, der Uebung der Hände, der Zufüh-
rung konkreter Anschauungen und Erfah-
rungen bedarf. Die praktische Beschäftigung
der Kinder in den ersten Schuljahren (Pa-
pier- und Kartonarbeit, einfache Holzarbeit
mit Messer, Hammer, Nägeln und Laubsäge,
Formen etc.) füllt eine Lücke zwischen den
Arbeiten des Kindergartens und denen der
eigentlichen Schülen\'erkstatt, und sie ist
umsomehr an ihrem Platze, als in den un-
teren Klassen der heutigen Schule weder
dem Turnen noch dem Zeidmen eine Stelle
eiugeräimit ist. Eine obere Altersgrenze
für den Betrieb des Arbeitsunterrichts bil-
det für die Zöglinge der Volksschule das
vollendete 14. Lebensjalir, bei den Schülern
der höheren Lehranstalten jene Zeit, wo sie
der Leitung entbehren und selbständig ar-
beiten können. — Ausgehend von der Er-
kenntnis, dass die methodisch geordnete
Körperarbeit ein Erziehungsmittel für die
Jugend überhaupt ist, erstrebt der deutsche
Verein für Knabenhandarbeit die üebertra-
gung des Handfertigkeitsunterrichts auch
auf das Land und hat zu diesem Zwecke
besondere Lehrgänge ausgearbeitet. Jeden-
falls ist kein Grund vorhanden, die Kinder
der ländlichen Bevölkerung von der Er-
ziehung durch die Arbeit auszuschliessen.
b) Die Iiehrer des Arbeitsunter-
riohts. Die Frage: wer soll unterrichten,
der Lehrer oder der Handwerker? wird
jetzt von den meisten Arbeitsschulen zu
Gunsten des Pädagogen entschieden, als des
zur Erziehimg des heranwachsenden Ge-
schlechts berufenen, geschulten Fachm^nes.
Wenn der Arbeitsunterricht ein Stück Er-
ziehung ist, so muss er auch unbedingt den
Händen der Erzieher anvertraut werden.
Erfahrungsmässig ist es leichter erreichbar,
dass sich der Lehrer die für diesen Unter-
richt nötige technische Fertigkeit erwirbt,
als dass der Handwerker zum Pädagogen
wird. Darum: die Werkstatt dem Meister,
die Schide dem Lehrer.
o) Die Arbeitsfäoher. Die am meisten
betriebenen Arbeitsfächer sind die Hobel-
bank- und die Papparbeit j darauf folgt die
Holzschnitzerei (Kerbschnitt), die Metallar-
beit und das Formen.
Zu diesen älteren Fächern sind später
die sogenannte Vorstufe für jüngere Kinder
sowie die ländliche Holz- und Metallarbeit
und die Gartenarbeit getreten.
Die Vorstufe schliesst sich an die Ar-
beiten des Kindergartens an und lehrt das Kind
den Gebrauch der einfachsten Werkzeuge, Messer,
Schere u. s. w. kennen. Aus Papier, Karton,
dünnem Naturholz und Thon oder Plastilina
entstehen die einfachen Gebilde, die es in die
Welt der Formen einführen. In der Papp-
arbeit lernt der Knabe alle die einfachen
feometrischen Gesetze, die gerade und die
mmme Linie mit ihren Eigenschaften, die
Winkel und Flächen diirch die Erfahrung
1088
Handfertigkeitsuntemcht
kennen und geht von der Fläche durch das
!Netz zum Körper über. Der Papparbeitsunter-
richt wird so zu einer praktischen Geometrie.
Ausserdem bildet die Papparbeit neben dem
Sinn für richtige und einfache schöne Formen
den Geschmack an guten, harmonierenden Farben-
zusammenstellungen. Die Hobelbankarbeit
wird von 11 — 14 jährigen Knaben mit grosser
Lust und mit dem besten Nutzen für ihre körper-
liche Entwickelung getrieben. Es ist unver-
kennbar, dass diese Arbeiten wegen der Kraft,
die sie beanspruchen, wegen der tüchtigen
körperlichen Bewegung, die sie verursachen,
das beste Gegengewicht gegen das Stillsitzen
in der Schule bilden, und es wäre nur zu
wünschen, dass auch die Schüler höherer An-
stalten Zeit und Lust fänden, den Segen körper-
licher Arbeit an der Hobelbank zu erfahren.
Bei der Kerb Schnitzerei handelt es sich
nur um Flächenverzierungen durch Einschnitte
{Kerben) mit dem Messer, wie sie früher von den
Bauern der nordischen Länder zur Schmückuns^
ihres Hausrates vielfach hergestellt worden sind.
Der Kerbschnitt giebt Gelegenheit^ die praktisch
nützlichen Produkte der Hobelbankarbeit durch
das freie Spiel regelmässiger, mit Lineal und
Zirkel entworfener Formen künstlerisch zu ver-
klären. Die Metall arbeiten gelten /s^ewöhn-
lich für schwer, sind es aber bei einer richtigen
methodischen Anordnung für grössere Knaben
nicht. Gerade die Eigenartigkeit des Materials
und seiner Behandlung:, die Mannigfaltigkeit
der Konstruktionen zieht den Knaben an. Ins-
hesondere werden die Schüler höherer Schulen
durch die Metallarbeit in den Stand gesetzt,
sich einfache physikalische Apparate zu bauen.
Die Schüler lernen hier jedenfalls die Eigen-
schaften eines Materials kennen, das für unsere
heutige Technik die aller^össte Bedeutung hat.
Das sogenannte Modellieren ist keineswegs
vergleichbar mit dem freien Schaffen des bilden-
den Künstlers, sondern am nächsten mit dem
Zeichenunterricht der Schule verwandt, nur dass
es statt in der Ebene im Baume vor sich ^eht ;
es ist ein Zeichnen im Baume. Die ländliche
Holzarbeit beschränkt sich in der Haupt-
sache auf Arbeiten an der Schnitzebank und
passt ihre Modelle den Bedürfnissen des Land-
manns an. In gleicher Weise verfährt die
ländliche Metallarbeit bezüglich der Mo-
delle, und auch sie beschränkt sich auf ein-
fachere Werkzeuge und gröberes Material. Mit
dem Obst- und Gartenbau bezweckt man
hauptsächlich, in der heranwachsenden Gene-
ration die Liebe zur Natur wieder zu wecken
Und durch die für Körper und Gemüt gleich
wohlthätige Beschäftigung den mancherlei
schädigenden Einflüssen der Jetztzeit entgegen-
zuarbeiten, ganz abgesehen von den wirtschaft-
lichen Vorteilen, die durch rationelle Betreibung
des Obst- und Gartenbaues dem deutschen Land-
bewohner erwachsen würden. —
d) Uebung oder Anwendung? Die
Frage, ob einzig blosse Arbeitsübnngen,
gleichsam Paradigmen der einzuübenden
Technik hergestellt werden sollen, wie dies
zumeist in Frankivich geschieht, oder soge-
nannte Anwendungsarbeiten, durch die dem
Knaben für seine Anstrengungen bestimmte.
ihm selbst als erstrebenswert geltende Ziele
Besetzt werden, wiixi in den meisten Län-
em zu Gunsten der Anwendung ent-
schieden, sei es, dass diese Arbeitsziele Spiel-
geräte oder Wirtschaftsgegenstände für den
täglichen, häuslichen Gebrauch oder Lehr-
und Anschauungsmittel für den Schulunter-
richt sind.
e) Die Form des Arbeitsunterriohts.
Die Frage, ob der Einzel- oder der Klassen-
unterricht die bessere ünterrichtsform für
die praktische Unterweisung der Knaben sei,
wird in dem Masse, in dem die Methode
des Handarbeitsunterrichts sich venroU-
kommnet, immer mehr zu Gunsten des letz-
teren entschieden. Ihrem Wesen nach hat
zwar alle körperliche Arbeit schon wegen
der Verschiedenartigkeit des Materials und
der Werkzeuge einen individuellen Cliarakter,
gleichwohl aber ist es nötig, dass der Hand-
fertigkeitslehrer zugleich eine grössere An-
zahl Schüler zu fördern vermag. In der
privaten Schülerwerkstatt freilich, wo die
Schüler an Alter und Begabung sehr ver-
schieden sind, wird man sich durch Grup-
penunterricht helfen müssen. Hat aber
ein Lehrer eine gleichmässige Klasse, so
wird er nach einer guten Methode sehr
wohl Klassenunterriclit erteilen können, er
wird sich ausserdem dadurch helfen, dass
er nach der allgemein erteüten theoretischen
Unterweisung die rascher arbeitenden Knaben
die gleiche Aufgabe etwas reicher gestalten
lässt oder sogenannte Nebenarbeiten ein-
schiebt.
6. Der Arbeitsnnterricht an Inter-
naten. Mit Recht ist von jeher der prak-
tischen Arbeit an geschlossenen Anstalten
eine besondere Wichtigkeit beigelegt worden.
So verschiedenen Charakters diese Internate,
wie Waisenhäuser, Zwangserziehungsan-
stalten, Taubstummen- und Blindeninstitute
auch sonst sein mögen, dies eine haben sie
miteinander gemein, dass sie ilireu Zöglingen
die Familie, das Elternhaus zu ei-setzen
haben. Aus diesem Grunde haben sie die
grösste Aufforderung, den Arbeitsunterricht
zu pflegen. Sie verfügen über die ganze
Mussezeit ihrer Zöglinge, die sie sich be-
streben müssen, nützlich und den Kindern
zur Freude auszufüllen ; sie halten ihre Zög-
linge meist vom Leben fern und müssen
daher die Gelegenheit zur Annäherung an
dasselbe, wie sie in den praktischen Be-
schäftigungen sich darbietet, eifrig benutzen.
Vielfach werden freilich an solchen An-
stalten um des Erwerbes willen Besc^häfti-
gungsarten gepflegt, welche wegen ihres
bald völlig mechanisch 'werdenden Be-
triebes von der Erziehung auszuschliessen
sind. Mag das auch als Notbehelf aus
finanziellen Rücksichten Entschuldigung fin-
den, so sollte d(x*h keinesfalls an Internaten
Handfertigkeitsiinterricht
1089
die erziehliche Handarbeit, deren dieselben
zur Erreichung ihrer eigentlichsten Zwecke
notwendig bedürfen, völlig zurücktreten
hinter schablonenhaften Erwerbsarbeiten ohne
Freude und ohne sittlichen Gewinn. Der
zu erziehlichen Zwecken betriebene Arbeits-
unterricht muss daher wieder zu Ehren ge-
bracht werden auch an solchen geschlossenen
Anstalten, wo er über einer systemlosen,
mechanisch erteilten Unterweisung vergessen
war.
7. Ansbreitang und Unterstützung
des Arbeitsnnterrichts in Deutschland.
Von Zeit zu Zeit veranstaltet der deutsche
Verein Umfragen, bei denen jedoch zu be-
rücksichtigen ist, dass die Beantwortung
durchaus freiwillig ist und deshalb die Er-
gebnisse nicht genau den Thatsachen ent-
sprechen können. Danach bestanden im
Jahre 1898 etwa 735 Stätten der erziehlichen
Handarbeit in Deutschland. Vor 1880 avu: -
den 113 Knaben in Schülerwerkstätten unter-
richtet, Ende 1888 5678. Von 1888 bis
1891 stieg dann die Zahl der Arbeitsstätten
von 164 auf 328, und 1898 waren es 735.
Von ihnen entfallen 477 auf Preussen und
zwar der Keihe nach auf folgende Provinzen :
Rheinland (95), Schlesien (88), Sachsen (49),
Schleswig-Holstein (39), Hessen-Nassau und
Posen (je 35), Hannover (33), Ost- und West-
preussen (je 22), Westfalen (21), Branden-
burg (17), Berlin (12), Pommern (9). In
den übrigen deutschen Ländern bestehen
Arbeitsstätten nach folgender Reihe : König-
reich Sachsen (85), Bayern (28), Baden (23),
Hessen (17), Württemberg (15), Sachsen-
Weimar und Coburg-Gotha (je 13), Elsass-
Lothringen (11), Hamburg (10), Lippe-Det-
mold und Bremen Q*e 7), Sachsen-Meiningen,
Anhalt und Lübeck (je 5), Schwarzbiu^g-
Rudolstadt (4), Braunschweig und Reuss j. L.
fje 3), Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-
Sonderhausen, Reuss ä. L. und Mecklenburg-
Schwerin (je 1). — Von den 735 Arbeits-
stätten sind 303 selbständige Schülerwerk-
stätten, die übrigen stehen in Verbindung
mit anderen Erziehungsanstalten. Die meisten
der letzteren sind Volksschulen (146), dann
folgen Schülerwerkstätten,welche mit Knaben-
horten verbunden sind (80), nachher solche
an Lehrerseminaren (37), Waisenanstalten
(35), Taubstummenanstalten (32) u. s. w. —
Was die Unterstützung der Sache anlangt;
so wird die ganze Angelegenheit im wesent-
lichen vom deutschen Verein für Knaben-
handarbeit getragen, während Stadtgemein-
den, Vereine und Private die Schülerwerk-
stätten errichten und unterhalten und dabei
auch von den Regieningen unterstützt wer-
den. Preussen hat jetzt 36000 Mark dafür
in seinen Etat eingestellt, dem königlich
sächsischen Ministerium des Kultus und
öffentlichen Unterrichts stehen 15000 Mark
zur Verfügung, und ausgiebig unterstützt
wird der Arbeitsunterricht besonders auch
von der badischen und anhaltischen Regie-
rung.
8. Der Arbeitsnnterricht im Auslände.
Das erste Land, in welchem die erziehliche
Handarbeit Pflege gefimden hat ist Fin-
land gewesen. Uno Cygnäus, der
Schöpfer seines Volksschulwesens, hat sie
seit 1866 als obligatorisches Unterrichts&ch
in den Lehrplan der Seminare und der
Volksschulen eingeführt. Ausgesprochener-
massen geht aber Cygnäus auf Pesta-
lozzis Anschauungsimterricht und auf
Fröbels Arbeitsübungen zurück, so dass
die Quelle des nordischen Arbeitsunterrichts
in Deutschland zu suchen ist.
Ausser in Mnland wird die Handarbeit
auch in den Ostseepro vi uzen von den
Deutschen nachdrücklich gepflegt, aber auch
die russische Regierung leistet den Be-
strebungen für die Arbeitserziehung ent-
schieden Vorschub und bringt grosse peku-
niäre Opfer für sie. 1886 wiurden am St.
Petersburger Lehrerinstitute die ersten Lehrer
dafür ausgebildet, jetzt ist der Arbeitsunter-
richt an mehr als 400 der verschiedensten
russischen Schulen wahlfrei eingeführt, da-
runter an 39 Seminaren und 23 Kadetten-
anstalten . — Die Handarbeit Schwedens,
der Slöjd, ist von volkswirtschaftlichen Vor-
aussetzungen ausgegangen und hat erst
später, unter Einfluss von Finland, seinen
erziehlichen Charakter gewonnen. Die Re^
peruug hat den Slöjd als wahlfreies Fach
m das Unterrichtsgesetz aufgenommen und
unterstützt ihn nach bestimmten Normen
bereits seit 1877. Im Jahre 1890 trug der
schwedische Staat z^u den Kosten der Slöjd-
schulen eine Summe von 138451 Mark bei.
1894 war der Slöjd bereits in der Hälfte
aller schwedischen Schulen eingefülirt, und
jedes Jahr folgten weitere Schulen. — In
Korwegen ist seit 1891 laut ünterrichts-
gesetz der Slöjd obligatorisch in allen städti-
schen Schulen und Lehrerseminaren, aber
wahlfrei in allen Landschulen.
Die dänische Regierung und Volks-
vertretung unterstützt die Bestrebungen für
den Arbeitsunterricht ebenfalls durch Be-
reitstellung erheblicher Mittel im Landes-
etat, der Staat giebt dafür jetzt 18 000 ]^Iark.
— In Frankreich ist die Handarbeit seit
1882 durch das Gesetz für alle Arten der
Volks- und Bürgerschulen obligatorisch ge-
macht. 1890 war sie in etwa 20000 fran-
zösischen Schulen eingeführt. Die Lehrer-
seminare, welche sämtlich mit Werkstätten
und Werkzeugen versehen sind, bilden durch-
schnittlich jährlich 1800 Lehrer aus, welche
den Handarbeiten während ihrer drei Schul-
jahi'e 480 Stunden zu widmen haben. Am
besten hat sich der französische Arbeitsunter-
Handwörterbnch der StaatswisseBschaften. Zweite Auflage. IV.
69
1090
Handfertigkeitsuntenidit — Haoidfeuerwaffen
rieht in Paris entwickelt, wo 1897 sich 120
Schulen gut eingerichteter Werkstätten er-
freuten. — Die Schweiz trat 1882 in die
Bewegung ein und jetzt haben von ihren
22 Kantonen bereits 19 den Arbeitsunter-
richt ein^fiihrt und bringen grosse Opfer
dafür. Die Lehrerausbildung wird gänzlich
von der Regieriuig bestritten. — In Bel-
gien unterstützen Staat, Provinz und Ge-
meinde den fakultativen Arbeitsunterricht
zu gleichen Teilen; für die Ausbildung der
Lehrer, der jetzigen wie der künftigen,
kommt im wesentlichen der Staat auf. Von
den bestehenden 17 Seminaren hatten im
Jahre 1896 bereits 15 den Arbeitsunterricht
eingeführt — In England wurde ziem-
lich spät, 1886, der erste Versuch in Lon-
doner Schiden gemacht; aber bereits 1890
erkannte das Unterrichtsministerium den
Handfertigkeitsunterricht als Unterrichts-
gegenstand an, und seitdem hat er sich atif
gesunder Grundlage ausserordentlich schnell
entwickelt, in der reichsten Weise von den
Städten und dem Staate unterstützt, der
den Zuschuss nach der Schülerzahl und der
Güte der Leistungen bemisst In London
allein genossen im Jahre 1896 45000, in
Birmingham 30000 Kinder Handfertigkeits-
unterricht. Auch in Schottland macht er
giite Fortschritte, und in Irland ist soeben
eine von der Regierung im grossen Umfange
ins Werk gesetzte Untersuchung und Bera-
tung abgeschlossen worden, die jedenfalls
auch die planvolle Einführung des Arbeits-
unterrichts in die irischen Schulen zur Folge
haben wird. — In verständnisvoller und
nachdrücklicher Weise wird die Erziehung
der Jugend zur Arbeit ferner in Holland,
Oesterreich-Ungam, Italien, den östlichen
Donauländern, den Vereinigten Staaten von
Nordameiika, wo sie sehr rasche Fortschritte
macht, in den meisten südamerikanischen
Staaten sowie in Japan und Neuseeland von
den Unterrichtsverwaltunffen gefördert. So
kann man wohl sagen, dass es fast kein
Kulturland giebt, in welchem kein Arbeits-
unterrieht existiert.
Litteratur: E. Barth und W. Niederley,
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1882, — N» C. Rom, Praktisches Hausbuch für
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1890, — Otto Salomon, Karl Nordendahi^
Alfred Johansson, Handbok i pedagogisk
SnickerisWjd, Stockholm, — Otto Saiomon,
HandfertigkeitsschuU und Volksschule, übersetzt
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Schenckendorff , Der praktische Unterricht,
Breslau 1880, — Derselbe, Der Arbeits-
unterrieht auf dem Lande, GSrlüz 1891. —
Derselbe, Die Ausgestaltung der Volksschule,
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May, Bauhofer und Kreibich, Der Hand-
arbeitsunterricht jür die männliche Jugend und
der Slijjdunterri4!ht in der Schule, Wien 1885.
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Hamburg 1890. — Jl'ichetm, Z>ber Erziehung
zur Arbeit, insbesondere in Anstalten, Hamburg
1867. Götze.
Handfeuerwaffen.
Unter Handfeuerwaffen sind zu
verstehen: Waffen (Gewehre, Pistolen ete.),
welche von einer Person getragen und be-
dient werden und mittelst deren aus einem
oder mehi-eren Läufen unter Anwendung
Handfeuerwaffen
109r
e-
ie
eines Sprengstoffes Geschosse geschleudert
werden.
Geschichtliches über die gesetzlichen
Bestimmungen zur Prüfung derselben.
Die amtliche Pnlfung der Läufe und Ver-
schlüsse der Handfeuerwaffen wurde von allen
Staaten zuerst von England und zwar im
Jahre 1637 durch die „Glharter of 14 March
1637" eingeführt, dann weiter geregelt durch
die Verordnung „The Gun Barrel ?roof Act"
vom Jahre 1855 und endlich durch das jetzt
gilti^ G. V. 13. Juli 1868, mit den von der
Aufsichtsbehörde unter dem 28. Dezember 1887
genehmigten neuesten Ausführungsbestimmun-
gen, veröfifentlicht in der London Gazette
vom 3. Januar 1888, zu dem nur noch einige
Vorschriften betreffs der Prüfung mit Nitro-
pulver getreten sind. £s hestehen in England
2 Prüfimgsanstalten , welche unter Staatsauf-
sicht von der Büchsenmacherinnun^ geführt
werden, nämlich in Birmingham und in London.
Auch in Belgien, von jeher dem Hauptsitze
der Waffenfabrikation, datieren die gesetzlichen
Vorschriften zur Prüfung der Handfeuerwaffen
schon aus sehr früher Zeit. Das erste dahin
Sehende Gesetz wurde von dem Fürstbischof
[aximilian Heinrich unter dem 10. Mai 1672
erlassen, während die jetzige gesetzliehe Grund-
lage des Prüfungsverfahrens das G. v. 24. Mai
lw8 nebst Königlicher Verordnung v. 6. März
1889 bildet Nach dem Inkrafttreten der
deutschen Prüfun^svorschriften war Belgien ge
zwungen, die seinigen zu verschärfen, um di
Zulassung der dort geprüften Waffen in deut-
sches Geoiet zu erreichen. Es geschah dies
durch Königl. V. v. 11. Juli 1893 (Moniteur
beige No. 203-204).
Für Belgien besteht nur eine Prüfungs-
anstalt in Lüttich. Sie wird von einem staat-
lich angestellten Direktor fi;eleitet, dem ein aus
Interessenten gebildeter verwaltung^sausschuss
unter dem Vorsitze des Bürs^rmeisters von
Lüttich beigegeben ist. In dem Erlass von
Prüfungsvorschriften folgte Frankreich mit
dem G. v. 14. Dezember 1810. Dasselbe wurde
durch das gegenwärtig noch in Kraft befind-
liche d^cret imperial portant Eöglement d'ad-
ministration publique sur l'^preuve des armes
ä feu portatives v. 22. April 1868 abgeändert
und die technische Ausführung der Prüfung
durch die Vorschrift der Chambre de commerce
de St. Etienne v. 26. Mai 1870 geregelt. Hin-
sichtlich der Strafbestimmungen sind noch die
Artikel 8 und 15 des Kaiserlichen Dekrets v.
14. Dezember 1810 massgebend. Die einzige
bestehende Prüfungsanstalt befindet sich m
St. Etienne.
In Oesterreich bestand zur fakulta-
tiven Prüfung der Handfeuerwaffen schon seit
längerer Zeit ein Probierhaus inFerlach, welchem
jedoch erst im Jahre 1882 ein amtlicher Cha-
rakter beigelegt wurde. Die obligatorische
Prüfung wurde durch das schon 1888 von beiden
Häusern des Keichsrats angenommene G. v. 23.
Juni 1891 (Ausführungsbest. v. 9. November
1891 und 18. Februar 1892), welches am 1.
Januar 1892 in Kraft getreten ist, festgesetzt.
In Deutschland finden wir schon vom
Jahre 1520 an die Spuren einer Prüfung der
Waffen. In den Haupterzeugungsorten solcher
waren die Büchsenschmiede verpflichtet, ihr6
Bohre der Zunft oder der Behörde zur Beschau
vorzulegen, die die Prüfung durch Einschlagen
eines Stempels am Laufe bestätigte. Dies ge-
schah z. B. in Nürnberg, wo zuerst ein N,
später das bekannte geteilte Nürnberger Wappen,
in Augsburg, wo der „Stadtpyr", und in Suhl,*
wo das Wort „SVL" auf die Läufe geschlagen,
wurde. Diese sehr unzuverlässige Art der
Prüfung verschwand später immer mehr und
mehr. Dagegen richteten die soliden und be-.
deutenderen Gewehrfabriken in ihrem eigenen
und dem Interesse ihrer Kundschaft eigene
Prüfungsanstalten ein, wo die Läufe der Waffen
durch einen Beschluss mit verstärkter Ladung
auf ihre Haltbarkeit erprobt wurden.
Wenn diese private Prüfung nun auch
für die Zwecke des Inlandverkaiues genügte,*
so machte sich doch der Mangel einer stiaat-
liehen, obligatorischen Prüfung durch^Beschrän-
kung der Exportfähigkeit der deutschen Waffen-
industrie sehr fühlbar geltend, da sowohl die
Staaten; die bereits eine solche Prüfung einge-
führt hatten, den nicht staatlich geprüf^n
Waffen den Eingang versagten resp. sie einer
Nachprüfuncf unterwarfen als auch das kaufende
Publikum der anderen überseeischen Export-
länder den staatlich geprüften Waffen vor den
ungeprüften den Vorzug einräumt«. Es be-
stand daher in den deutschen Interessenten-
kreisen schon längst der Wunsch nach einer
obligatorischen Prüfung. Nachdem dann
durch eine vom Reichskanzleramt im Jahre 1886
angestellte Enquete ermittelt worden war, dass
das Bedürfnis nach einer solchen Prüfung von'
dem weitaus grössten Teile der deutschen
Waffenfabrikanten anerkannt wurde, wurde dem
Reichstage unter dem 30. November 1890 der
Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Prüfung,
der Läufe und Verschlüsse der Handfeuerwaffen^
vorgelegt, unter dem 14. Februar 1891 einer
Kommission von 14 Mitgliedern überwiesen und
schliesslich in der Sitzung vom 30. April 1891
nach dem Kommissionsan trage in der Fassung
des ursprünglichen Entwurf^, der nur in § 9
eine geringfügige Abänderung erfahren hatte,:
angenommen. Das Gesetz wurde unter dem
19. Mai 1891 fR.G.Bl. 1891 Nr. 15 S. 109-111).
verkündet, jedoch trat nur § 8, welcher die
Errichtung der Prüfungsanstalten deii Landes-
regierungen überlässt, sofort in Kraft, während*
es für die übrigen §§ des Gesetzes Kaiserlicher'
Verordnung vorbehalten blieb, den Tag des In-
krafttretens zu bestimmen. Dieser wurae durch
Kaiseriiche V. v. 20. Dezember 1892 (R.G.Bl.:
1892 S. 1055) auf den 1. April 1893 featffe-.
setzt-, vorher waren bereits in der Sitzung des
Bundesrates vom 17. Juni 1892 die Ausf ührungs- ,
bestimmungen erlassen und in Nr. 33 des
R.G.Bl. unter dem 22. Juni 1892 veröffentlicht
worden.
Deutsches Gesetz, betreffend-
die Prüfung der Läufe und Ver-
schlüsse der Handfeuerwaffen, vom
19. Mai 1891. Im allgemeinen hat sich die'
deutsche Gesetzgebung hinsichtlich der Prü-
fung der Handfeuerwaffen den Vorschriften
der anderen Staaten, in denen ein Prüfungs-
zwang bereits bestand, in den massgeben-.
69*
1092
Handfeuerwaffen
den Grundsätzen angeschlossen. Es trifft
dies speciell bei allen vier in Frage kommen-
den Staaten in der grundlegenden Bestim-
mung zu, dass der Prüfungszwang fiir Hand-
feuerwaffen jeglicher Art besteht. Hin-
sichtlich des Prüfungsverfahrens haben,
gegenüber den leichteren Bedingungen Bel-
giens, denen die Oesterreichs nachgebildet
sind, und Frankreichs, mehr die schärferen
englischen Bestimmungen zum Vorbilde ge-
dient
§ 1 setzt fest, dass Handfeuerwaffen
jeder Art niu* dann feilgehalten oder in den
Verkelir gebracht werden dürfen, wenn ihre
LÄufe und Verschlüsse nach den Vorschriften
dieses Gesetzes in amtlichen Prüfungsan-
stalten ^prüft und mit Prüfungszeichen ver-
sehen smt.
Der Prüfungszwang bezieht sich nur auf
"Waffen, nicht auch auf Waffen teile. Dem
Vertriebe solcher, also z. B. einzelner Läufe,
Baskülen etc. in ungeprüftem und daher
ungestempeltem Zustande legt das Gesetz
keine Beschränkungen auf. Vgl. Bericht
der XIV. Kommission, Reichstag, 8. Legis-
laturperiode, 1. Session 1890/91, Druckschrift
Nr. 312.
Der Begriff »Handfeuerwaffen« ist be-
seits im Eingange präcisiert. Unter solchen
rind im Sinne des Gesetzes jedoch nicht
diejenigen Waffen zu verstehen, welche,
olme zum praktischen Gebrauche zu dienen,
lediglich ihres Kunstwertes haitier oder zu
wissenschaftlichen Zwecken aufbewahrt wer-
den. Diese Art von Waffen erfordert keine
Prüfung, und ilu- Verkauf unterliegt daher
keiner Beschränkung. Bei aDen übrigen
Waffen aber wird das Feilhalten oder
lu-den-Verk ehr -bringen unter das Ge-
setz gestellt, nicht der Besitz unge-
stempelter Waffen. Nur den Gewerbe-
treibenden, die sich mit der HersteUung
oder dem Verkaufe von Handfeuerwaffen
befassen, legt hierin das Gesetz insofern
eine Beschränkung auf, als bei ihnen schon
der Besitz von nicht mit den vorgeschriebenen
Prüfungszeichen versehenen Waffen straf-
bar ist, wenn sie dieselben in ihren Ge-
schäftslokalen, Läden, Magazinräumen etc.
aufbewahren, welche dem kaufenden Publi-
kum zugänglich sind, ohne dass es zur Voll-
endung der strafbaren Handlang eines wirk-
lich geschehenen Verkaufs bedarf.
£s liegen für diese Hechtsfrage bis jetzt
zwei Erkenntnisse des Reichsgerichts vor. In
dem einen vom 9. April 1894, Strafsenat III,
Bd. 25 S. 241 werden die Gründe für ein ver-
urteilendes Erkenntnis folgendermassen ent-
wickelt :
„Unter „Feilhalten" einer Ware wird das
Bereithalten derselben zum Verkauf an einer
dem Publikum zugänglichen, zum Verkauf be-
stimmten Stelle verstanden. Wenn sich z. B.
feststellen lässt, dass ein von der eigentlichen
Verkaufsstätte verschiedener Lagerraum, wenn
auch nicht im Detail verkehr, so doch jedem
EngTosbesteller ohne weiteres offen stand oder
für ihn zugänglich war, und die dort la^mden
Waren solchergestalt von jedem Kauflustigen
besichtigt und ausgewählt werden konnten, so
lässt sich dieses Moment für die Herstellung-
des Be^iffes „Feilhalten" verwerten. Denu
auch Feilhalten an einen begrenzten Personen-
kreis, z. B. Grossisten, kann den Begriff er-
füllen.
In den §§ 1 und 9 des R.G. v. 19. Mai 1891
ist übrigens ganz all^mein sowohl vorsätzliches
wie fahnässiges Zuwiderhandeln gegen das frag-
liche Verbot ausgesprochen.**
Ein zweites unter dem 16. April 1894 er-
gangenes Erkenntnis desselben Strafsenats
(1007/94) Bd. 25 S. 251 schwächt den Begriff
der Fahrlässigkeit beim Feilhalten etwas ab,
indem es ausführt, dass der betreffende (resetzes-
paragrapb hinsichtlich der Fahrlässigkeit nur
das gewöhnliche Mass der einem gewissenhaften
Manne für normale Verkehrsverhältnisse zn
imputierenden Diligenz voraussetze, zu einer
darüber hinausgehenden Diligenz sei der Händler
strafrechtlich nicht verpflichtet.
Den gleichen Gnmdsatz verfolgen die
Gesetzgebungen von England, Frankreich,
Belgien und Oesterreich. In Belgien ist so-
gar der Direktor der staatliclien Probier-
anstalt berechtigt, jederzeit die Fabrikräiime,
Werkstätten, Magazine und Läden nach un-
gestempelten Waffen zu revidieren. In
Berlin nat das Polizeipräsidium bis jetzt die
Praxis befolgt, die Waffenläden einer gleichen
Revision zu unterwerfen. Auch Oesterreich
hat in § 5 seiner Durchführungsverordnung
V. 9. November 1891 dahin Vorsorge ge-
troffen, dass die Verkaufslokale und Waren-
lager der Erzeuger und Händler in ange-
messenen Zeitabschnitten von geeigneten
Organen, welche vom Handelsministeriuni
mit Legitimationsiu'kunden zu versehen sind,
revidiert werden.
Da ebenso wie das Feilhalten auch
das In-den-Verkehr-bringen von un-
gestempelten Waffen unter Strafe gestellt
ist, so bedarf es zum Verschenken oder Ver-
tauschen solcher Waffen selbstredend einer
Nachprüfung derselben. Auch die Behörden
sind ^'ielfach in der Lage, eine solche vor-
nehmen lassen zu müssen, wenn sie konfis-
zierte oder zum Zwaugsverkauf gestellte
Gewehre entweder zum öffentlichen Verkauf
stellen oder an Beamte vergeben wollen.
Diese Auffassung wird durch ein Erkennt-
nis des Reichsgerichts, H. Strafsenat vom 21.
April 1896 bestätigt. Abgedruckt in Bd. 28
S. 316. Hiernach ist ein Gerichtsvollzieher, dem
eine ungestempelte Waffe zur Versteigerung
übergeben wird, verpflichtet, dieselbe von der
Versteigerung auszuschliessen und den Auftrag-
geber von der obwaltenden Behinderung m
Kenntnis zu setzen.
Eine fernere Entscheidung des Reichsge-
richts, Strafsenat IV, vom 4. Juli 1894, Bd. 26
S. 51, spricht sich dahin aus, dass auch darin
Handfeuerwaffen
1093
ein Inverkehrbringen einer ungestempelten Waffe
zu erblicken sei, wenn ein Gewerbetreibender
eine Veränderung an einer Waffe im Sinne des
§ 4 des G. V. 19. Mai 1891 vornimmt und diese,
ohne sie zur Nachprüfung zu stellen, dem Be-
sitzer zurückgiebt. Denn unter „Inver-
kehrbringen" ist nicht die üeberlieferung einer
Sache in den Handelsverkehr, sondern jeder Akt
zu verstehen, durch den sie aus den Händen
des Herstellers in die luhabung eines anderen
zur Benutzung übergeht. Es macht sich
daher der Hersteller der Veränderung auch
durch die Rückgabe der nicht nachgeprüften
Waffe an den Eigentümer strafbar.
Um für die Zeit von der Publikation bis
ziun Inkrafttreten des Laufprüfungsgesetzes
ein Uebergangsstadium zu schaffen und den
Waffenfabrikanten die Möglichkeit zu ge-
währen, die früher unter anderen Bedin-
gungen fabrizierten W^affen, von denen man
nicht ohne weiteres annehmen konnte, dass
sie in ihrer Gesamtlieit die vorgeschriebenen
Prüfiuigen bestehen w^ürden, noch verkaufen
zu können, bestimmte das Gesetz in § 5,
dass bis zum Zeitpunkte des Inkrafttretens
desselben auf Antrag der Einsender die vor-
handenen Waffen von Seiten der Ortspolizei-
behöi*de mit dem V o r r a t s z e i c h e n zu ver-
sehen seien. Das Vorratszeichen bestand in
dem Buchstaben V. mit darüber befindlicher
Krone. Die mit diesem zu stempelnden
Waffen waren keiner Prüfung zu unter-
werfen, denn durch das Schlagen des Yor-
ratszeichens sollten lediglich die Waffen ge-
kennzeichnet werden, welche bereits vor
Erlass des Gesetzes vorhanden waren und
die nach Inkrafttreten desselben unbean-
standet feilgehalten oder in den Verkehr
gebracht werden dui^en. Da das Lauf-
prüfungsgesetz mit dem 1. April 1893 in
Kraft trat, so dmite die Stempelung mit
dem Vorratszeichen niu* bis zu diesem Zeit-
punkte erfolgen, am 1. April waren die
vorhandenen Stempel zur Verhütung eines
etwaigen Missbrauchs zu vernichten. Uober
die Art und Weise der Ausführung der Vor-
ratsstempelung in Preussen wurde unter
dem 4. Januai* 1893 eine im Königl. Preuss.
Staatsanzeiger Xr. 10 1893 veröffentlichte
Bekanntmachung von den ^Ministem des
Innern und für Handel und Gewerbe er-
lassen. Es wm-de von der Vorratsstempe-
lung ein umfassender Gebrauch gemacht,
auch von Privaten, die sich die Möglichkeit
eines späteren Verkaufs ihrer Waffen nicht
vei-schliessen wollten. Die soliden Waffen-
fabriken haben später meistens die Praxis
befolgt, ihre mit dem V^oiratszeichen ver-
sehenen Waffen noch der Nachprüfung
unterwerfen und mit den vorschriftsmässigen
Prüfungszeichen versehen zu lassen, da sich
das kaufende Publikum bald nach Inkraft-
treten des Priifungszw^anges ablehnend gegen
die mit dem Vorratszeichen versehenen
Waffen verhielt.
Oesterreich hat in § 8 des G. v. 23. Juni
1893 Uebereangsbestimmungen anderer Art se-
schaffen. Nach diesen sind die bei Erlass aes
Gesetzes bei Erzeugern und Händlern vorhan-
denen Waffen binnen Jahresfrist einer Be-
schau und Vorratsstempelung zu unterwerfen.
Nur wenn sich hierbei Anstände ergeben, ist
eine Beschussprobe auszuführen. Finden sich
nach Ablauf der Frist ungestempelte Waffen,
so tritt Bestrafung ein. Es wird hiemach also
nicht nur das Vorbandensein festgestellt, son-
dern auch die Beschaffenheit der betreffenden
Waffen wenigstens oberflächlich geprüft.
In § 2 des Gesetzes wird die Ai-t und
Weise der Prüfung festgesetzt. Die Probe
findet bei Pistolen und Revolvern nur ein-
mal, dagegen bei allen übrigen Waffen
grundsatzlich zweimal statt, und zw^ar be-
trifft die erste Prüfung die vorgearbeiteten
Läufe allein, die zweite die mit den Systemen
(Verschlüssen) vereinigten Läufe." Beide
Pnifungen werden mit verstärkter Ladung
ausgeführt. Bei der ereten beträgt die
Pulvermenge ca. das Di*eifache, bei der
zweiten das Doppelte der gewöhnlichen Ge-
brauchsladung, das Bleigewicht bei der
ersten das Doppelte, bei der zweiten das
IV3 fache. Ueber die einzelnen mit der
Grösse des Kalibers wachsenden Ladungs-
stärken geben die den Ausführuugsbestim-
mungen beigefügten Beschusstafeln Aus-
kunft. Dieselben enthalten das Gewicht an
Pulver und Blei der vorschriftsmässigen
Gebrauchsladung und das der bei der ersten
und zweiten Prüfung anzuwendenden Pro-
bierladungen. Die Läufe und Waffen, welc-he
die vorgeschriebenen Prüfungen bestehen,
werden mit bestimmten Stempeln, mit letz-
tei-en auch die Verschlüsse versehen. Die
Vorscliriften über die betreffenden Stempe-
lungen sind in den Ausführungsbestimmungen
enüialten. Auf Anti-ag der betreffenden
Einsender lässt das Gesetz auch für die
übrigen Waffen, sofern sie nicht mit Würge-
bohrung (einer Verengung im vordei-en Teile
des Laufes) versehen sind, eine imr ein-
malige Prüfung zu, welche in diesem Falle
mit der stärkeren Ladung der ersten Probe
ausgeführt wird. Der erheblich stärkere
Gasdruck, dem bei dieser Art der Prüfung
die Vei-schlüsse der Waffen ausgesetzt sind,
geht dann selbsti-edend auf das Risiko des
^Einsenders. Es wird daher von dieser Be-
fugnis wohl nm- für die kleinkalibrigen
Salon Waffen (Teschins etc.), die infolge ihres
kleinen Kalibers und ihrer beschränkten
Verwendungsart überhaupt nur mit einer
verhältnismässig geringen Ladung beschossen
werden und daher auch keinen erheblich
hohen Gasdruck auszuhalteii haben, nicht
aber für die gewöhnlichen Gebrauchswaffen
Gebrauch gemacht. Für alle die Kaliber,
die in den Beschusstafeln nicht angegeben
sind oder für welche die dort aufgeführten
.1094
Handfeuerwaffen
Vorschriftsmässigen (Öebrauchs-) Ladungen
•unanwendbar oder ungeeignet erscheinen,
hat der Einsender die betreffende Gebrauchs-
laduug anzugeben. Die Prüfungen finden
dann nach Massgabe dieser Ladung statt
lind wird dann der Waffe das Gewicht an
Pulver und Blei der Gebrauchsladung, für
welche sie geprüft ist, aufgeschlagen. Die
Ausführungsbestimmungen geben ferner Aus-
kunft über den Zustand der Fabrikation,
in dem sich die zur Prüfung gestellten
Läufe resp. Waffen befinden müssen, ferner
über die Art des zur Verwendung kommen-
den Pulvers etc. Es ist darin das neue
Gewehrpulver M. 71, welches bis zur Ein-
lührung des rauchlosen Pulvers für die
Armee verwendet wurde, als dasjenige Treib-
mittel festgesetzt, auf welches die Prüfiuigen
basieren. Ausserdem ist es aber dem Ein-
sender von Waffen etc. gestattet, eine fernere
Prüfimg mit jedem anderen Treibmittel zu
verlangen. Er hat in diesem Falle dasselbe
einzusenden und die geforderte Gebrauchs-
ladung anzugeben. Die Waffe wird dann
den Vorschriften gemäss mit der doppelten
Pulver- und der IV2 fachen Bleiladung ge-
prüft und nach bestandener Prüfung dann
die Gebrauchsladimg in Buchstaben und
Zalilen auf den Lauf aufgeschlagen. Hierzu
hat der Bundesmt unter dem 23. Juli 1893
R.G.B1. Nr. 28 S. 227 eine erweiternde Be-
stimmung hinsichtlich der Prüfung mit
rauchlosem Militär- (Blättchen) Pulver er-
lassen. Es wird darin festgesetzt, dass
Waffen, welche nach Art des Militärgewehrs
M. 88 konstruiert sind, auf Antrag einer
einzigen Beschussprobe mit zwei nach ein-
ander abzufeuernden Beschusspatronen zu
imter^^erfen sind. Diese Beschusspatronen,
welche in einer staatlichen Munitionsfabrik
hergestellt werden, enthalten ein kräftiger
als das gewöhn Uche Nitroblättchenpulver
wirkendes Pulver. Dasselbe entwickelt einen
Gasdruck von 4000 At., während die ge-
wöhnliche Militärpatrone M. 88 einen solchen
von ca. 3000—3200 erzeugt.
Hinsichtlich der Stärke der Prüfungs-
ladungen schliessen sich die deutschen Vor-
schriften in der Hauptsache den englischen
an. Sie sind viel stärker bemessen als in
Belgien, Frankreich und Oesterreich. Auch
hinsichtlich der Zahl und Art der Prüfungen
sind die deutschen Vorschriften strenger
als die der drei letztgenannten Staaten.
Je nach Art der Waffen werden in
Belgien und Oesterreich 1 — 3, in Frankreich
1 — 2 Prüfungen angeordnet, die aber in der
Hauptsache die Erprobung der Läufe be-
treffen, eine Gewaltprobe der systemierten
(mit dem Verschlusse versehenen) Waffe,
wie sie Deutsehland vorschreibt, findet z. B.
in Oesterreich nur dann statt, wenn sie dem
Revisor bei der > Beschaue nötig erscheint.
Ebenso gehen die deutschen Bestim-
mungen hinsichtlich der Prfifungsergebnisse,
•welche ein ünbrauchbarmachen der be-
treffenden Läufe erfordern, über die An-
forderungen sämtlicher anderer Staaten
hinaus. Sie setzen in § 3 fest, dass Läufe
oder Verschlussteüe, welche nach einer Be-
schussprobe unganz oder aufgebaucht er-
scheinen, durch Einsägen oder Zerschlagen
unbrauchbar zu machen sind; nur bei et-
waigen anderen Mängeln ist nach deren
Beseitigimg eine Wiederholung der Beschuss-
probe gestattet. Das belgische, französische
und österreichische Gesetz erwähnt Auf-
bauchungen (ringförmige Kalibererweite-
rungen, welche von einer Ungleichmässig-
keit des Materials herrühren) überhaupt
nicht und überlässt die Beurteilung der
Schäden, welche ein ünbrauchbarmachen
der betreffenden Teile erfordern, den Revi-
soren. Oesterreich gestattet sogar, dass
Läufe mit etwa sich zeigenden unganzen
Schweissstellen oder Brüchen auf der Rohr-
probierpumpe einem Druck von 10 Atmo-
sphären ausgesetzt und erst dann unbrauch-
bar gemacht werden, wenn aus den bean-
standeten Stellen Wasser austritt. In Eng-
land werden Aufbauchungen toleriert, wenn
die Kalibererweiterung 0,01" engl. = 0,2 mni
nicht übersteigt.
§ 4 .verordnet, dass bereits geprüfte
Waffen, an welchen später eine Verände-
rung des Kalibers oder des Verschlusses
vorgenommmen wird, einer Nachprüfung
bedürfen. Es bezieht sich dies nicht nur
auf neue, sondern auch auf bereits im Ge-
brauche befindliche Waffen, gleichgiltig, ob
solche bereits auch vor In&afttreten des
Laufprüfungsgesetzes im Gebrauche waren.
Diese Prüfung richtet sich bei den Waffen,
die einer zweimaligen Prüfung unterliegen,
nach dem Stande der Herstellung, in welchem
die Waffe sich befindet. Es ist hierunter
zu verstehen, dass fertige Waffen, die durch
irgend eine Reparatur eine Kalioerenx'eile-
rung erleiden, nicht etwa mit der stärkeren
Probierladung der ersten Prüfung, sondern
mit der der zweiten für das betreffende
Kaliber festgesetzten beschossen werden.
Bei Veränderungen an dem Verschlusse ist
letzteres selbstverständlich. Der erneute
Beschuss hat auch dann einzutreten, wenn
nur das Patronenlager verändert^ d. h. für
ein weiteres Kaliber ausgebohrt wird, selbst
wenn das Kaliber des übrigen Laufes un-
verändert bleibt. Das bei der Beschuss-
probe ermittelte Kaliber der Läufe und die
Nummer des Patronenlagers wird auf die
I^ufe gestempelt; wenn sich daher bei
einer etwaigen späteren Revision Waffen
vorfinden, bei denen das Blaliber der Läufe
nicht mit den aufgeschlagenen Kaliberzahleii
übereinstimmt, so wird ohne weiteres ein
Handfeuerwaffen
1095
Yei*stoss gegen das Gesetz anzunehmen sein
und Bestrafung eintreten. Auch das öster-
reichische Gesetz schreibt für bereits im
Gebrauche befindliche Waffen eine Nach-
priifimg vor, wenn an ihnen durch eine
Reparatur eine Kalibererweiterung vorge-
nommen wird oder sie vom Yorderlader
zum Hinterlader umgeändert werden, und
BteUt in § 5 unter Strafe, wenn Handfeuer-
waffen mit einem anderen als dem auf der
Waffe angegelpenen Kaliber veräussert, ver-
sendet oder feilgehalten werden. Dieselbe
letztere Bestimmung enthält das belgische
Gesetz in Art. 15, während das englische
Gesetz liienn eine Toleranz von 0,01" engl.
= 0,2 mm gestattet.
§ 5 enthält die bereits erwähnten Be-
stimmungen über das Schlagen des Vorrats-
zeichens.
Weiter setzt das Laufprüfungsgesetz in
§ 6 fest, dass die gesetzlichen Bestimmungen
80 lange auf nachstehend aufgefülu-te Waffen
keine Anwendung finden, als an ihnen keine
"Veränderung im öinne des § 4 vorgenommen
wird. Diese Waffen sind 1. solche, die mit
dem Yorratszeichen versehen sind, 2. Waffeu,
welche aus dem Auslande eingeführt und
mit den vollständigen, den inländischen
gleichwertigen Prüfimgszeichen versehen
sind, und 3. Waffen, welche durch eine
Militär\'erwaltung oder im Auftrage einer
solchen hergestellt oder geprüft worden sind.
Welche ausländischen Prüfimgszeichen
als gleichwertig mit den inländischen anzu-
erkennen sind, bestimmt der Bundesrat.
Diese Bestimmung liat den Zweck, für die
deutschen, scharfen Prüfungen unterworfenen
Waffen eine unreelle Konkurrenz minder-
wertiger, unter leichteren Bedingungen ge-
prüfter Erzeugnisse der ausländischenWaffen-
mdustrie auszuschliessen.
Die gleichen Grundsätze verfolgen die
Gesetzgebungen Englands und Oesterreichs.
Das englische Gesetz schreibt in Art. 129 —
137 der Gun-Barrel Proof Act vor, dass nur
die vom Auslande eingeführten Waffen vom
Prüfungszwange befreit sind, welche die
Stempel einer staatlichen Probieranstalt
tragen, die als gleichwertig anerkannt und
als solche in die Register einer der beiden
Büchsenmacherinnungen von London oder
Birmingham eingetragen sind. Diese Be-
stimmimg hat in Art. 132 noch die Be-
schränkung erfahren, dass derartige Waffen
oder Läufe nicht die Firma eines englischen
Fabrikanten oder Händlers tragen dürfen.
Oesterreich macht in § 1 Abs. 2 seines
Laufprüfungsgesetzes die Zulassung fremder
Prüfungszeichen von dem im Verordnungs-
wege zu erfolgenden Anerkenntnis der Gleich-
wertigkeit mit den inländischen abliängig,
während Belgien in Art. 11 und Frankreich
in § 1 Abs. 2 die mit den Stempeln irgend
einer staatlichen Probieranstalt versehenen
Waffen bedingungslos von der Prüfung be-
freien. Im belgischen Gesetze ist noch vor-
gesehen, dass die Prüfimg der Gesetzmässig-
keit der betreffenden Stempel dem die be-
treffenden Waffen Bmfühi'enden obliegt, so
dass er einen Verstoss gegen das Gesetz
begeht, wenn er etwa im guten Glauben
Waffen, ohne sie zur Prüfung zu stellen,
einführt, die nicht die richtigen Stempel
ihres Erzeugungslandes tragen. Der Bundes-
rat des Deutschen Reiches erkannte zuerst
durch Erlass v. 13. Juli 1893 die Gleich-
wertigkeit der englischen Stempel an und
bewirkte die Eintragung der deutschen in
die Register der Londoner und Birminghamer
Büchsenmacherinnungen, Belgien erlangte
durch Erlass v. 1. Februar 1894 die gleiche
Vergünstigung, nachdem es, wie bereits im
Eingange erwähnt, durch königliche V. v.
11. Juli 1893 (Moniteur beige, Nr. 203—204)
für die nach Deutschland einzuführenden
Waffen die Probierladungen dem deutschen
Gesetze entsprechend verstärkt hatte. Die
mit diesen verstärkten Ladungen ^prüften
Waffen müssen über den endgiltigen bel-
gischen Stempeln mit einer Krone versehen
sein, ausserdem müssen die Flobertbüchsen
und Teschins ausser dem Hahne noch eine
besondere Vei-schlusseinrichtung besitzen, da
ohne eine solche derartige Waffen bei den
deutschen Prüfungsanstalten überhaupt nicht
zur Prüfung zugelassen werden. Mit Oester-
reich, welches auch seinerseits den in
Deutschland geprüften Waffen den freien
Eintritt versagt, obwohl, wie erwähnt, die
deutschenPtüfungsbedingungen viel strengere
sind, während es die Stempel von Belgien
und Frankreich anerkannt hat, waren Ver-
handlungen zur gegenseitigen Zulassung der
Stempel angebahnt worden, ebenso dem Ver-
nehmen nach mit Frankreich. In beiden
Fällen ist jedoch bis jetzt ein Resultat nicht
erzielt wonien.
Abs. 3 des § 6 befreit die durch eine
Militärverwaltung oder im Auftrage einer
solchen hergestellten Waffen von der Prüfung,
in der Erwägung, dass die Militärverwal-
tungen durch ihre eigenen Organe für eine
sachgemässe Prüfung sorgen. Fällt diese
Kontrolle aber hinweg und stellt ein Fabri-
kant auf eigene Rechnung im Vorrat Militär-
waffen her, so unterliegen diese selbsti*edend
den Prüfungsvorschriften. Die Freilassung
solcher Waffen bezieht sich selbstverständ-
lich nur auf im Inlande hergestellte. Vom
Auslande eingeftlhrte Militärwaffen sind mu*
in dem Falle von der Nachprüfung befreit,
wenn die betreffenden Stempel als gleich-
wertig anerkannt sind.
Auch die im Sinne des § 4 ausgeführten
Verändenmgen bedingen an Militärwaffen
niu* dann eine Nachprüfung, wenn sie nicht
1096
Haudfeuerwaffen
im Auftrage oder unter Kontrolle einer
Militärverwaltung stattgefunden haben.
England setzt beziiglicb der Militärwaffen
keine Ausnahmebestimmungen fest. In Frank-
reich sind nur die für Eechnun^ des eigenen
Staates in den Staatsfabriken herge-
stellten Waffen von der Prüfung befreit (Art. 26).
Erheblich tolerantere Bestimmungen sind für
Belgien giltig. Hier sind nach Art. 12 nicht
nur die im Auftrage und unter Kontrolle einer
Militärverwaltung hergestellten, sondern alle,
auch die überhaupt nicht geprüiten und daher
nicht gestempelten Militärwaften von der Prüfung
befreit, wenn sie zum Zwecke des Exportes in
Belgien eingeführt werden. Auch eine Ver-
änderung an den Läufen und Verschlüssen be-
dingt ke: le Nachprüfung, wenn sie nicht die
Haltbark c-it derselben gefährdet. Nach Art. 13
können selbst in Belgien angefertigte Militär-
waffen ungeprüft ausgeführt werden, wenn sie
direkt an die Prüfungsanstalt eines anderen
Staates versandt werden.
Das österreichische Gesetz erlässt in § 7
hinsichtlich der Militärwaffen die gleichen Vor-
schriften wie das deutsche.
In § 7 des deutschen Gesetzes werden
die näheren Bestimmungen über das Prü-
fungsverfahren, das Gewicht und die Be-
schaffenheit des zu den Prfifungen zu ver-
wendenden Pulvers und Bleies sowie über
die Form \md das Schlagen der Prüfun^-
zeichen dem Bundesrate überlassen. Die-
selben sind enthalten in den mehrfach er-
wähnten Ausfülirungsbestimmungen v. 22.
Juni 1892 (ß.G.Bl. 1892 Nr. 33 S. 674 ff.).
England unterscheidet zwei Arten von
Stempeln, die des Londoner und des Birming-
hamer Probierhauses.
In Belgien, bei der einzigen Prüfungsanstalt
Lüttich, existieren drei Stempel. Die zur Aus-
fuhr nach Deutschland bestimmten Waffen
müssen, wie bereits erwähnt, über dem Stempel
für die definitive Abnahme die Krone tragen.
In Frankreich, welches auch nur ein Probier-
haus in St. Etienne besitzt, wird ein Stempel
auf die Läufe und ein zweiter auf die Basküle
geschlagen. Gestenreich hat für seine vier
Prüfungsaustalten auch vier verschiedene Stem-
pelungen.
Die Errichtung der Prüfungsanstalten ist
in § 8, gemäss dem im Reiche befolgten
Grundsatze, dass gewerbepolizeiliche Be-
stimmungen durch die Landesregierungen
ausgeführt werden, den letzteren übertragen.
Gleichzeitig ist die Befugnis ausgesprochen,
Gebühren, welche die Kosten der Prüfung
nicht übersteigen düi'fen, zu erheben. Es
sind danach folgende Prüfungsanstalten er-
richtet worden. Für Preussen in Suhl und
Frankfurt a. 0., eine dritte ist für Sömmei'da
in Aussicht genommen ; für Sachsen-Coburg-
Gotlia in Zella St Blasii, welche unter der
Oberleitung des Direktors der Preussischen
Hauptprüfungsanstalt Suhl steht, und für
Mecklenburg in Schwerin.
Während bei diesen Anstalten die Ijeitung
nicht mit den militärteehnischen Instituten
verbunden ist, sondern zum Ressort des
Ministeriums des Innern resp. der betreffen-
den R^erungen gehört, werden im König-
reich Sachsen, Bayern und Württemberg
die betreffenden, in Dresden, München, Ger-
mersheim, Würzburg, Araberg und Obern-
dorf a. N. errichteten Anstalten von den
technischen Offizieren der Militärverwal-
tungen (ArtiUeriedepots, Gewehrfabriken)
geleitet
§ 9 des Laufprüfungsgesetees enthält die
Strsäbestimmungen. Hiernach ^drd mit Geld-
strafe bis zu 1000 Mark oder mit Gefäng-
nis bis zu sechs Monaten bestraft, wer Hand-
feuerwaffen feil hält oder in den Verkehr
bringt, deren Läufe oder Yersclüüsse nicht
mit den vorgeschriebenen oder zugelassenen
Prüfungszeichen versehen sind. Neben der
verwirkten Strafe ist auf Einziehung der be-
treffenden Waffen zu erkennen, gleichgiltig,
ob sie dem Veriurteilten gehören oder nicht.
Auch in dem FaUe, dass der betreffende
Angeklagte nicht habhaft zu machen ist^
kann selbständig auf Einziehung der Waffen,
welche den Gegenstand des Vergehens bilden,
erkannt werden.
Diese vorgeschriebene Einziehung hat nach
einem UrteU des Keichsgerichts, III. Strafsenat
vom 19. September 1893 Bd. 27 S. 352 nicht
den Charakter einer Nebenstrafe, sondern wesent-
lich den einer polizeilichen Präventivmassregel,
wenn auch zugegeben werden kann, dass die
obligatorisch vorgeschriebene Einziehung als
Nebenstraf übel wirken kann.
Eine Strafbestimmung über den Ver-
kauf etc. von Waffen, welche ein andei-es
Kaliber als das von der Prüfungsl)ehörde
auf den Lauf gestempelte zeigen, wie sie in
den bezüglichen Gesetzen von England,
Belgien und Oesterreich vorhanden ist hat
demnach im deutschen Gesetze keine Auf-
nahme gefunden. Trotzdem wiixl es nicht
ausgeschlossen sein, dass bei derartigen
Waffen ein Verstoss gegen § 4 des Gesetzes
angenommen wird und Konfiskation der-
selben und Bestrafung des Inhabers eintritt.
Der Schluss, § 10, setzt den Zeitpunkt
des Inkrafttretens des § 8, welcher die Er-
richtung von Prüfimgsanstalten voi'schreibt,
auf den Tag der Verkündigung fest und
behält dies für die übrigen rai-agraphen
kaiserlicher Verordnung vor. Dieselbe ist
wie erwähnt, unter dem 20. Dezember 1892
ergangen und hat das Laufpinifungsgesetz
V. 1. April 1893 an im vollen Umfange in
Kraft gesetzt.
Litteratur: Gesetz, betreffend die Prüjung der
Ixinfe etc. r. 19. V. 1891. Textaufgabe mit his-
torischer Einleitung und Anmerkungen von
Georg Koch, ßeriin. — Die amth'rhe Probe
der Gewehr- und Pistolenlänfe in Oeste^rrrirh,
ron Friedrich Brandeis, Prag. — Loi
portant R^glemenUUion de la Situation du JBant
d'eprextves des armes ä feti etabli fi Liege,
Handfeuerwaffen — Handwerk
1097
L'lgc. — Die Probe der Feuenoaffen in der
Lütt icher Landschaft, von Alphons Potain,
Direktor des Prttbierhauses Lilttich. Aus dem
Französischen übersetzt von M, F. Föttinger,
Leipzifj.
G. Koch,
Handwerk.
I. Die deutsche Handwerkerbewe-
gun^. 1. Die Bewegung im Jahre 1848.
2. Die Handwerkertage seit 1860. II. Das
Programm der Handwerker und seine
Erfüllung.
Ueber das Wesen des Handwerks s. den
Art. Gewerbe (oben Bd. III S. 360 ff.; über
die Geschichte des Handwerks s. den Art.
Zunftwesen; bezüglich der Statistik s.
den Art. Gewerbestatistik (oben Bd. IV
S. 510ff.) und Grossbetrieb und Klein-
betrieb (ebd. S. 786 ff.). Yergl. auch die
Artt. Gewerbegesetzgebung (obeü Bd.
IV S. 412ff.) und Innungsstatistik.
I. Die deutsche Handwerkerbewegnng.
1. Die Bewegung im .lahre 1848. Ob-
wohl in der ei'sten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts die Gewerbefreüieit in Deutsch-
land nur unvollkommen eingeführt worden
war inid man sich eigentlich melir damit
begnügt hatte, am Zunftwesen zu rütteln,
als seine Grundlagen zu beseitigen, waren
immerhin bemerkenswerte Schritte zur An-
näherung an das vorschwebende Ideal ge-
schehen. Diese freiheitlicheren Regungen
wollten den Handwerkern selbst, wenn auch
für sie nur Nutzen dabei zu er\varten stand,
nicht recht einleuchten und mittellos, wie
sie waren, von unzweifelhafter wirtschaft-
licher Not gedrückt, eröffneten sie einen
energischen Feldzug gegen die Uebermaclit
des Kapitals und die (}ewerbefreiheit. So
vollzog sich im Jahi-e 1848 neben der
politischen eine von ganz anderen Mo-
tiven hervorgerufene, höchst eigenartige
wirtschaftliche Bewegimg. Die Handwerker
klagten über unzureichenden Erwerb. Der
Absatz stockte ; jeder scliränkte sich ein, und
einzelne Geschäfte, die längst niu: notdürftig
sich erhalten hatten, brachen zusammen.
Andere hatten nicht genug zu thun und
entliessen eine Menge Gesellen. Diese, be-
schäftigungslos gewoi-den, wollten wenigstens
ihr Glück versuchen, eröffneten einen Be-
trieb, vergrösserten dadiuxjh die Konkurrenz
natürlich und verschlimmerten die Lage des
ganzen Standes noch mehr. Gegen den
Kaufmann insbesondere war der Handwerker
eingenommen, durch dessen Veraiittelung
mit dem Publikum der Handwerksmeister
zum Tagelöhner herabgedrückt worden sein
sollte. In der That scheint der Notstand
damals aussergewöhnliche Ausdehnung ge-
wonnen zu haben. Die Denkschrift des-
Heidelberger Gewerbevereins an den deut-
schen Reichstag in Frankfurt a. M. sagt
kurz imd bündig: »der Mittelstand ist
grösstenteils verarmt, der Kredit vernichtet«,
mid die zahlreichen den Regienmgen unter-
breiteten Petitionen sowie die zur Abhilfe
der Not verfassten, mit zum Teil wunder-
lichen Vorschlägen angefüllten Flugscliriftea
sprechen immer »von der gi'ossen Arbeits-
losigkeit«, »von der Not der Gewerbe-
I treibenden«. .Diese selbst, statt die Ursachen
der Notlage dort zu suchen, wo sie waren,
und sich darüber klar zu werden, dass vor-
übergehende Geschäftsstockung sie hervor-
gerufen hatte, wandten ihre Aufmerksamkeit
(ler aufkeimenden Gewerbefreüieit zu, be-
schuldigten sie, alles Uebel veranlasst zu
haben, und erwai'teten eine Aufbesserung
ihrer Verhältnisse nur von der Wieder-
herstellung der mittelalterlichen Zimftein-
richtungen.
Eine Petition von 391 Handwerksmeistern
der Stadt Bonn, unter dem Titel »An unsere
Brüder im Handwerk« am 19. Aprü 1848
dem Minister Camphauseu überreicht, wird
j wohl als der Anfang der ganzen Bewegung
anzusehen sein. »Wii* sind die ersten Hand-
werker in Deutschland, welche im Lichte
der lungen Freiheit die Wünsche unseres
Stanaes und die Bedingungen aussprechen^
von deren Erfüllung uns ein kiäftiges neues
Aufblühen dieses Standes abzuhängen scheint,
Ihr nun, Brüder im Handwerk, prüfet, was
wir begehren, bessert, schärft oder müdert
es« — so heisst es im Vorworte. Cnd was
waren nun diese Wünsche? Allgemein ge-
fasst, wollte man zunächst »der Aibeit end-
lich den Schutz und die Stellung im grossen
Ganzen des Staates sichern, die ihr als der
Hauptgrundlage aller gewerblichen Verhält-
nisse und der menschlichen Bildung gebührt«.
Im einzelnen aber kam es auf eine beträcht-
liche Einschränkung der geringen Freiheit
heraus, deren sich das Gewerbe erfreute.
Es sollte nur ein Lehrling gehalten werden
und keiner, vor dem 25. Lebensjahre Meister
werden dürfen. Meisterprüfungen, Be-
schränkung der Erlangung des MeisteiTechts
auf ein Gewerbe, Erschwerung der Nieder-
lassung, Beschränkimg des Gebrauchs von
Dampfmaschinen — das waren etwa die
hauptsäclilichsten Forderungen. Ganz woll-
ten die Handwerker freüich dabei nicht in
das Mittelalter zurücksinken. Vielmelir
wünschten sie eine Gewerbeordnung, die
sich ebensoweit von der Ausschliesslichkeit
des Privilegiums wie von der zügellosen
Anarchie des Gehenlassens entfernt halte.
Sie betonten, dass sie alle ihre Vor-
sclüäge nicht aus Eigennutz, sondern nur
1098
Handwerk
im Interesse der Sache machten. »Wir
wollen keine Aufhebung der Konkurrenz,
aber wir wollen tüchtige Konkuirenten
haben.« Durch die geplanten Einschrän-
kungen glaubten sie das Handwerk auf eine
höhere Stufe heben zu können. Dass der
Kern ihrer Beschränkungen darauf abzielte,
ist sicher. Nur kann man nicht sagen, dass
sie gerade einen sehr glücklichen an-
sprechenden Ausdruck dafür fanden. Zum
Schlüsse kamen übrigens ganz verständige
Vorschläge zum Vorsdiein, indem der Staat
um eine Unterstützung zum Aufbau einer
Industriehalle als beständigem Markte ein-
heimischer Handwerksproaukte und um
Eröffnung einer Vorschusskasse angegangen
wurde. Man wies darauf hin, wie schwie-
rig es sei, Vorschüsse zu erlangen, und
dass der Staat das Glück unzähliger Fa-
milien neu begründen würde, wenn er dem
als redlich erprobten Handwerker nicht als
Schenkgeber, sondern als Darleiher gegen-
überstehen woUe. Leider reichten die Staats-
mittel nicht hin, diesen Wünschen zu ent-
sprechen.
Bonn hatte das Beispiel gegeben, Leipzig,
Gotha, Magdeburg, Karlsruhe, Offenbach,
andere Orte folgten. Am 22. April erliessen
22 Leipziger Innungen ein offenes Send-
schreiben an ihre Handwerksgenossen, in
dem sie Protest einlegten gegen das ganze
:> Wesen, wie es sich jetzt in Frankreich
breit macht, den letzten Rest von Tüchtigkeit
und Wohlstand untergräbt und gleichsam
mit fliegenden Fahnen und Idingendem
Spiele über Preussen seinen Einzug in
Deutschland hält«. Gemeint war die Ge-
werbefreiheit. Mehr System kam in die
Bewegung, als sich in den Tagen vom
2. — 6. Juni in Hamburg der Vorkongress
norddeutscher Handwerker aufthat, . von
etwa 200 Gewerbetreibenden besucht. Zum
grössten Teile von den Hansestädten und
Schleswig-Holstein beschickt, wies die Ver-
sammlung doch auch einzelne Teilnehmer
aus Mecklenburg, Hannover, Braunschweig,
Oldenburg und Preussen auf, die meistens
als Vertreter von Innungen und Innungs-
vereinen erschienen, ürspriinglich sollten
auf ihr nur Handwerker zugelassen werden,
»weil die praktischen Kenntnisse der Ar-
beiter hinreichend zu eigener Beratung ihrer
Interessen seien«, aber ein Gelehrter, Pro-
fessor Winkelblech aus Cassel, später
als Verfasser eines leider unvollendet ge-
bliebenen Systems der Weltökonomie unter
dem Pseudonym Karl Mario bekannt ge-
worden, hatte sich doch Zutritt zu ver-
scliaffen gewusst und dieser wurde bald
die Seele des Ganzen. Wenn die Hand-
werker sich in tausend Einzelheiten ver-
loren und in der*Debatte nicht mekr aus
und ein wussten, dann erhob sich Professor
Winkelblech, stellte Anträge, liielt seine
Reden, wies auf die Aufgaben hin, die der
Kongress habe, immer von stürmischem
Beifall begleitet.
Der Gedanke, der hier erörtert wiutie,
war der einer zu erlassenden Gewerbeord-
nung. An die Stelle der alten künstlichen
sollte eine neue natürliche Zunftverfassung
treten. Professor Winkelblech stellte den
Antrag, die Versammlung möge erklären,
dass allein eine durchgreifende, alle Industrie-
zweige umfassende Zunftverfassung Deutsch-
land vor dem Schicksale Frankreichs und
Englands und vor den Gefahren des Kom-
munismus schützen könne. Daher also er-
klärte sich der Kongress mit der grössten
Entschiedenheit gegen Gewerbefreiheit imd
verlangte, soweit dieselbe in Deutschland
bestehe, sie durch einen besonderen Para-
graphen des Reichsgrundgesetzes aufgehoben
zu sehen. Mehrfach legte der Vorsitzende
der Versammlung die Frage vor, ob sie
ihrer innersten üeberzeugung nach der An-
sicht sei, dass Gewerbefreiheit ein Unglück
wäre. Immer fiel die Antwort allgemein
bejahend aus. Behufs Verwirklichung der
vorgeschlagenen Gewerbeordnung wurde nun
beschlossen, eine Versammlung von Ab-
geordneten des Handwerker- imd Gewerbe-
standes aus dem ganzen deutschen Vater-
lande einzuberufen, der man den Auftrag
geben wollte, einen Entwurf auszuarbeiten
und dem Parlamente vorzulegen. In einem
Schreiben vom 7. Juni an das Frankfurter
Parlament wurde von den Vertrauensmän-
nern des norddeutschen Kongresses der Zu-
sammentritt dieser Versammlung auf Grund
des allgemeinen Versammlungsrechtes an-
gekündigt. Jeder selbständige deutsche
Staat sollte ohne Rücksicht auf seine Grösse
mindestens einen Deputierten abordnen, die
Gesamtzahl aber so festgestellt werden, dass
sie dem sechsten Teu der Abgeordneten
zur deutschen Reichsversamralung entspräche.
Dieser Beschluss war etwas gegen den
Willen des Professors Winkelblech zu stände
gekommen. Sein Vorschlag hatte anders
gelautet: er war auf die firichtung einer
sozialen Kammer (sozialen Parlaments) ge-
gangen, welche die gesamte soziale Gesetz-
gebung zu beraten gehabt und ihre Be-
schlüsse der politischen Kammer (politischen
Parlament) vorzulegen gehabt hätte. Von
dieser sozialen Kammer sollte mit Ausschluss
aller Partikularrechte eine gemeinschaftliche
soziale Gesetzgebung geschaffen werden, die
einem jeden Mitgliede der bür^rlichen Ge-
sellschaft die seiner Arbeitskraft ent-
sprechende Erwerbssphäre sichern würde.
Ursprünglich war dieser Antrag in der
Sitzung vom 2. Juni einstimmig angenommen
worden, aber Professor Winkelblech selbst
hatte ihn später zurückgezogen, indem er
Handwerk
1099
erklärte, dass ein wirklich soziales Parlament
doch erst nach Beendigung der Beratungen
und Annahme der Verfassung berufen werden
könnte — es handelte sich ja um einen Artikel
in dem Staatsgrundgesetze — , die Lösung der
sozialen Frage indes ein so schwieriges und
umfassendes Werk sei, dass man nicht früh
genug mit ihr beginnen könne. Er befür-
•wortete nunmelir sogar den anderen Antrag
auf Einberuhmg emes Kongresses, weü
■dieser als das geeignetste Organ erscheine,
das schwierige Material zu sichten und eine
öffentliche Meinung darüber heivAistellen,
-während dem konstituierenden Parlamente
zunächst die Ordnung der höchst verworrenen
politischen Verhältnisse zufalle und es sich
auf die Erörterung sozialer Fragen nur in-
soweit würde einlassen können, als diese
das Staatsgrundgesetz berührten.
In dieser Weise vorbereitet, wurde am
•15. Juli 1848 in Frankfurt a. M. der »deutsche
Handwerker- und Qewerbekongress« eröffnet,
beschickt von 116 Handwerksmeistern aus
24 deutschen Einzelstaaten. Der eigentliche
Fabrikantenstand war dabei so gut wie gar
nicht vertreten, weil mit diesen Meistern
nicht einverstanäen. In meist »stürmischen«
Sitzungen tagte das Handwerkerparlament
bis zum 18. August und unterbreitete als
das Endergebnis seiner Bestrebungen der
verfassunggebenden Nationalversammlung
den Entwurf einer allgemeinen Handwerks-
und Gewerbeordnung, der sich auf einen
»feierlichen , von Millionen Unglücklichen
besiegelten Protest gegen die Gewerbe-
freiheit« stützte. »Die Abgeoi-dneten des
Handwerks- und Gewerbestandes« — heisst
es in dem Schreiben an das Frankfiu'ter
Parlament — »aus allen Gauen Deutschlands
durch die gleichen Leiden zusammengeführt,
beschwören die Männer, welche des Volkes
Wohl beraten, dass sie, um grösserem Un-
heile vorzubeugen, den aus der Erfahrung
allgemach hervorgehenden Rat der Fach-
männer hören und in einem besonderen
Artikel des Reichsgrundgesetzes die gänz-
liche Aufhebung der Gewerbefreiheit, so-
weit sie noch in Deutschland besteht, ge-
währleisten.«
Die Gnmdsätze der neuen Ordnung, die
hier beschlossen wurde, waren folgende: 1.
Zimächst sollten übersul in gleichmässiger
Weise für ganz Deutschland Innungen ge-
bildet und die noch bestehenden Zünfte,
deren Zweck teils im Laufe der Zeit ver-
eitelt worden war, teils der neuen staat-
lichen Gestaltung nicht entsprach, umge-
schaffen werden. Diesen Innungen, als
deren Zweck die Walirung der gewerblichen
Interessen im weitesten Sinne hingestellt
werde, beizutreten, sollte Pflicht sein für
alle, die an einem Orte das gleiche Hand-
werk oder technische Gewerbe selbständig
betrieben. Jedoch wm'de als Miniraalzahl
der Mitglieder 12 angesetzt. Wenn sie diese
Höhe nicht erreichte, sollte die betreffende
Zunft mit verwandten vereinigt werden, indes
in der Weise, dass jeder ihr Arbeitsgebiet ab-
gegrenzt vorbehalten blieb. 2. In den so
ins Leben gerufenen Innungen sollte die
Ordnung der inneren Angelegenheiten aus-
schliesslich den Handwerkern eingeräumt
werden. Dies sollte geschehen, indem diese
aus ihrer Mitte Organe schufen, die von
jedem fremden Einflüsse frei, den Gewerbe-
stand bis zu den höchsten Staatsgewalten
vertreten konnten. Solche Organe sollten
sein die In nungs vorstände, die nach
Massgabe des Specialstatuts gewählt wurden
und denen die Regelung der inneren Ange-
legenheiten zustana. Hier gab es z. B. ein
Vermittelungsamt . das die Streitigkeiten
gewerblicher Natur zwischen Meistern, Ghe-
hilfen und Lehrlingen entscheiden sollte.
Ein zweites Organ war der Gewerberat.
Er wurde zusammengesetzt aus Vertretern
aller- Innungen einer Stadt. Seine Aufgabe
war, die Grenzen und Arbeitsbefugnisse der
einzelnen Gewerbe gegeneinander zu ziehen
und die weitere Instanz zu sein für die auf
güthchem Wege nicht beigelegten Streitig-
keiten, wofür er ein besonderes Gewerbe-
gericht zu eröffnen liatte. Ueber diesen
beiden thronten die Gewerbekammern,
sowohl Specialgewerbekammern als
eine allgemeine deutsche Gewerbe-
kammer. Die letztere war geplant jedes-
mal gleichzeitig neben dem deutschen Par-
lament mit der Aufgabe, die den gewerb-
lichen Interessen entsprechenden allgemeinen
Massregeln und Gesetze zu beantragen. Die
Specialgewerbekammern standen den gesetz-
gebenden Ständekammern beratend zur Seite
und sollten die laufenden gewerblichen An-
gelegenheiten regeln helfen. 3. Innerhalb
der Innung wiirde die alte Stufenfol^
Lehrling, Geselle, Meister festgehalten. Em
Lehr- und Wanderzwang war vorgesehen;
diese Vorbereitungszeit fand in einer theo-
retischen und praktischen Prüfung ihren
Abschluss, wenn der junge Mann sich als
Meister niederlassen wollte. Füi' die Ge-
sellen wurden Gesellschaften mit Beitritts-
pflicht ins Leben gerufen ; ausserdem waren
sie im Innungsvoi-stande durch einen Ver-
trauensmann aus ihrer Mitte mit Sitz und
Stimme vertreten. Die Meister selbst unter-
lagen in der Ausübung ihres Gewerbes
manchen Beschränkungen. Keiner durfte
mehrere Handwerke gleichzeitig betreiben.
Sein Gewerbe mit einem anderen zu ver-
tauschen, sollte man berechtigt sein, wenn
es im Laufe der Zeit keinen genügenden
Unterhalt mehr ab'^'arf. Man musste aber
dabei den Nachweis der Befähigung führen.
4. In diesem Sinne wurden nun noch andere
1100
Handwerk
Beschränkungen gewünscht: eventuelle Be-
schräükung der MeisterzaM an einem Orte;
Ueberweisung aller Handwerksarbeiten in
einer Fabrik, die nicht die unmittelbare Her-
stellung der Fabrikate bezweckten, an die
zünftigen Meister des Ortes; Verbot des
Hausierhandels mit Handwerksarbeiten, Ver-
l)Ot, mehr als zwei Lehrlinge zu halten,
Einschränkung des Landliandwerks , Unzu-
lässigkeit von Staats- und Kommunalwerk-
stätten, Verbot der Association mit Nicht-
innungsgenossen , Verbot öffentlicher Ver-
steigerung noch neuer Waren, Besteuerung
der Fabriken zu Gunsten des Handwerker-
standes, Verpflichtung des Staates, Arbeit
zu geben und eine Geschäftsgrenze für die
Fabriken und den Handel mit Fabrikaten
aufzustellen. In einem Anhange zu dieser
Ordnung war noch von einigen Mitteln zur
Hebung des Handwerks die Rede. Man
wninsclite Schutzzölle, Handelsverträge, Ein-
führung einer allgemeinen progi-essiven Ein-
kommens- und Vermögenssteuer, Hand-
werkerschulen, Einführung eines gleichen
Münz-, Mass-, Gewichtssystems etc., kurz
lauter Massregeln, die, wenn damals ausge-
führt, gewiss zur Hebung der deutschen
Volkswirtschaft beigetragen hätten. Nach
Formulierung aller dieser Forderungen
schloss der Vorsitzende die Versammlung
mit den Worten: »Wohl werden uns Spe-
kulation und Schacher mit allen Kräften
entgegenarbeiten; denn es gilt ja der Ver-
nichtung ihrer Herrschaft über den Fleiss.
Der deutsche Handwerker ist mündig; er
wird nie mehr das Sklaveujoch der Geld-
raacht dulden.«
Gleichzeitig hielt der gedrückte Hand-
werkerstand auch an anderen Orten zahl-
reiche Versammlungen und entwai'f Peti-
tionen mit Vorschlägen zur Verbesserung
seiner Lage. Eine solche Vereinigung fand,
von 612 Meistern besucht, in Frankfurt a.O.
statt und klagte in einer Denkschrift unter
dem 17. Juli über »die zur Zügellosigkeit
ausgeartete Gewerbefreiheit, forderte eine
Beschränkung der Meisterzahl, verlangte ein
ki-äftiges Einsclu-eiten gegen das Pfuschen
der Gesellen« u. dgl. ni. Viel radikaler war
der vom 20. — 25. Juli in Frankfurt a/M.
tagende Schueiderkongi-ess, dessen Besclüüs-
sen hernach sehr viele Schneiderinuimgen
durch Einsendung schriftlicher, mit tausen-
den von Unterschriften versehener Erklä-
rungen beitraten. Die hier geäusserten
Wünsche gipfelten darin, die öffentlichen
Magazine von f eiligen Kleidern, sowolil die
der Kleidermacher als die der Kleiderhänd-
ler zum Wohle sämtlicher Schneidermeister
aufzuheben: die Einfuhr fertiger llen^en-
und Damenkleider aus dem Auslande zu
verbieten und den Rechnungen der Schnei-
der ein Vorzugsrecht einzuräumen, »da ihre
Waren so gut als die des Apothekers zu
den unentbehrlichen gehören«. Dass man
sich auch gegen die Gewerbefreiheit aus-
sprach, versteht sich von selbst.
Uebrigens fand der Frankfurter Entwurf
nicht überall BUligung, sondern erfuhr zum
Teü gerade in Handwerkerkreisen heftigen
Widerspruch. Schon die Idee einer einheit-
lichen Gesetzgebung' stiess auf Protest.
Bayerische Gewerbetreibende schickten zahl-
reiche Bittschriften ein, die gewerbliche Ge-
setzgebung dem Partikularstaat vorzubehal-
ten. In einer Erklärung vom 17. August
sagte ferner der Gewerbeverein in Mann-
heim sich von den Beschlüssen des Frank-
furter Handw^erkerparlaments und des sog.
süddeutschen Handwerkerkongresses , der
unterdessen in Heidelberg getagt liatte,
feierlidi los, weil diese nichts anderes als
eine »neue Auflage der alten Zunftbeschrän-
kimgen in verstärktem Masse enthielten«.
Die Erklärung endete mit dem Wunsche,
dass der Gewerbestand sich ermannen und
die vielfach in seiner Mitte auftauchenden
Forderungen neuer Korporationsprivilegien
in sich selbst überwinden möge. Von
anderer Seite, so von den Handwerkern des
Grossherzogtums Weimai\ w^urde bestritten^
dass der Frankfiuler Kongress alle zünftigen
Handwerker Deutschlands vertrete. Sie, die
Landhandwerker im Weimarischen, seien
weder mündlich noch schriftlich noch durch
die Presse zur Teilnahme eingeladen wor-
den. Daraus sei der eigentümliche Besclüuss
des fast ausschliesslichen Vorbehaltes des
Gewerbebetriebes für die Städte zu erklären.
Den gleichen Standpunkt nahmen Petenten
aus Hildesheim ein, die ebenfalls gerade vor
Berücksichtigung dieses Beschlusses des
Kongresses warnten.
Gildemeister aus dem Braunschweigischen
u. a. schlössen sich diesen Pi-otesten an.
Auf dem Kongi-ess in Nenstadt a. d. Hardt
am 14. Januar 1849, der von 78 Vertretern
pfälzischer Städte besucht war, trug eben-
falls die Gewerbefreiheit den Sieg davon.
Die Partei, die sich für Beschränkung des
Gewerbebetriebes aussprach, unterlag, imd
ein Antrag auf Verwerfung der pi^ojektierten
Fi*ei zügigkeit drang ebensowenig durch.
Vorzugsweise waren aber doch unter den
mehr als 400 Petitionen, die an die deutsche
Nationalversammlung gelangten , Beitritts-
erklärungen zu den Beschlüssen des Fi-ank-
fiu'ter Kongresses enthalten, oder sofern sie
vor Bekanntweixlen jener Forderungen ein-
gegangen waren, wenigstens vielfache Pro-
test(5 gegen Gewerbefreiheit im Sinne der
Frankfurter Gewerbeordnung. Für Gewerbe-
freiheit traten nur wenige Petitionen ein,
z. B. die bayerischer Gewerbetreil)ender aus
der Rheinpfalz ; ans Breslau die eines Kauf-
mannes C. G. Kopisch.
Handwerk
1101
Aber nicht mir die Arbeitgeber machten
von dem freien Versammlungs-, Vereini-
gungs- und Petitionsrechte Gebrauch, nicht
weniger ergriff die Bewegimg auch die Ar-
beiter. Sowohl lokale Gesellenversaramlun-
gen als mehrere allgemeine Arbeiterver-
sammlungen kamen zu stände, Ende Mäi'z in
Berlin, 4 Wochen später in Leipzig. Speciell
im Gegensatz zu dem in Franäurt a. M.
tagenden Meisterkongress wurde zum 23.
August 1848 ein Arbeiterkongress nach
Berlin einberufen, der vom 23. August bis
3. September wirklich tagte und noch
gleichzeitig mit diesem, wenn auch zeitiger,
nämlich am 20. Juli beginnend, hielt in
Frankfurt a. M. ein Gesellen kongress, der
sich später ebenfalls Arbeiterkongress
nannte, seine Sitzungen, die sich bis zum
20. September erstreckten. In Frankfurt
a. M. hatte man ursprünglich, gemäss einem
auf dem Hamburger Yorkongress geäusser-
ten Wunsche, den Gesellen den Zutritt zu
den Beratungen versag, später jedoch sich
dazu entschlossen, einige zuzulassen. Diese
Behandlung hatte die Gesellen beleidigt;
daher trennten sie sich vollständig von den
Meistern und veranstalteten einen eigenen
Kongress. Hatten die Meister die Gesellen
von ihren Beratungen ausschliessen wollen,
weil niu* »ein selbständiger Gewerbebetrieb
auf eigene Rechnung und Gefahr die nöti-
gen Ei'fahrungen zur Beantwortung der ein-
schlägigen Frage gewähre«, so begannen die
Gesellen ihre Thätigkeit damit, gegen solche
Bevormundung der Meister zu protestieren,
und Hessen in der Folge einen eigenen Ent-
wurf an die Nationalversammlung gelangen,
dem sie später eine Kritik des Entwurfes
der Meister anschlössen. »Der Meister Eigen-
nutz«, heisst es in ihrer Eingabe, »lässt sie
80 alle Klugheit vergessen, dass sie es wa-
gen, uns für unmündig zu erklären, uns,
die wir die Jugend, also auch die Kraft für
uns haben, uns, die wir Arbeitende, also die
eigentlichen Produzenten, deshalb der Kern
Deutschlands sind, ims, die wir die grosse
üeberzahl büden und wissen, dass wir sie
bilden.« Im ganzen aber wichen sie von
den Yorschlägen der Meister teilweise nicht
zu weit ab, obgleich sie die Wahrnehmung
der Interessen ihres Standes nicht ver-
gassen. Sie wünschten nur, um nicht in
die gleichen Fehler, w^ie die zünftigen
Meister sie sich hatten zu schulden kommen
lassen, zu verfallen, dass die Frage nicht
von dem beschränkten Standpunkte des Ein-
zelinteresses erledigt wei-de, sondern durch
Yemehmung von Sachverständigen alle In-
teressen berücksichtigt, somit die in Fa-
briken und bei Meistern beschäftigten Ge-
sellen ebenfalls gehört würden. Ihr Pro-
gramm forderte im ersten Artikel die Wahl
einer nicht permanenten Gewerbekommissiou,
die aus den Innungsvorständen der Städte
und Kreise eines jeden Regierungsbezirkes
hervorgehen und ihre Sitzungen mit den die
inneren Angelegenheiten verwaltenden Be-
amten als Gewerbekammer abhalten sollte.
Aus diesen Gewerbekammern aller deutschen
Staaten wurde dann eine oberste Central-
behörde, das sogenannte verantwortliche
Arbeiterministerium für ganz Deutschland
gebildet, das »die Freiheit aller Gewerbe-
treibenden schützt, die Gewerbeordnung
handhabt, den Schutz und die Sicherheit
der Arbeit beaufsichtigt und die Bildung
des Gewerbestandes zu befördern hat«. Im
weiteren stellten die Gesellen allerdings
Forderungen auf, die ihren Interessen ent-
sprachen: freie Entwickelung der Arbeit,
freies Niederlassungsrecht in ^nz Deutsch-
land, Beseitigung des Zunftzwanges, eine
feste tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden
mit Einschluss der Essenszeiten, ein Lohn-
minimum, Hessen aber daneben auch Wünsche
allgemeinerer Natur verlauten, wie Auf-
hebung der Binnenzölle, Schutz gegen aus-
ländische Fabrikate, Beseitigung der Licita-
tion und Submission öffentlicher Bauten,
Errichtung von Gewerbehallen und der-
gleichen mehr. Yon einem Wanderzwange
wollen sie nichts mehr wissen und ebenso-
wenig von einem Yerbot für die Fabrikan-
ten, Gesellen zu beschäftigen, denn gerade
die Beschäftigung in Fabriken bot höheren
Lohn und damit die Möglichkeit zur Ehe-
schliessung.
Alle diese Petitionen und Kongresse ver-
fehlten nicht, auf die deutsche Nationalver-
sammlung Eindruck zu machen. In ihrer
44. Sitzung beschloss sie den Erlass eines
Heimatsgesetzes und einer Gewerbeordnung
und beauftragte einen Ausschuss mit der
Ausarbeitung eines Entvnirfes. Dieser wurde,
begleitet von zwei Minoritätsvoten, am 26.
Februar 1849 der Nationalversammlung vor-
gelegt. Er enthielt im wesentlichen fol-
gende Grundsätze : 1. Alle bestehenden Ge-
werbebeschränkungen wurden aufgehoben.
Nach § 3 der Grundrechte des deutschen
Yolkes hatte ja jeder Deutsche das R^cht,
an jedem Orte des Reichsgebietes jeden
Nahrungszweig zu treiben. 2. Die Möglich-
keit, ein Gewerbe auszuüben, war an da«*
25. Lebensjahr und den Nachweis der Be-
fähigung zum Betriebe des Gewerbes ge-
knüpft. 3. Innungen oder Zünfte konnten
nach wie vor von den Personen, die an
einem Orte verwandte oder gleiche Gewerbe
betreiben, geschlossen werden. Nur durfte
ihnen keine ausschliessliche Gewerbebe-
rechtigung beigelegt und keinem Gewerbe-
treibenden der Beitritt zur Innung ziu*
Pflicht gemacht werden. 4. Endlich sollten
zur besseren Wahrung der gewerblichen
Interessen Gewerberäte und Gewerbokam-
1102
Handwerk
mern ins Leben gerufen werden. Ganz
Deutschland sollte in Gewerbebezirke geteilt
und in einem jeden von den Gewerbetrei-
benden ein Gewerberat gewählt werden.
5. Den Beschluss der Gewerbeordnung bil-
dete die Aufzeichnung der Fälle, in denen
Beschränkungen des Grundsatzes des freien
Gewerbebetriebes zulässig sein sollten, haupt-
sächlich in Anlehnung an die preussische
Gewerbeordnung von 1845.
An diesem Entwürfe hat die wissen-
schaftliche Kritik nur einen Punkt auszu-
setzen, der freilich das Wesen des Gesetzes
triÖt, nämlich die Feststellung der Bedin-
gungen, unter denen ein Gewerbebetrieb
sollte eröffnet werden können. Der Ent-
wurf knüpfte das Recht zur Ausübung an
den Fähigkeitsnachweis, an Prüfungen an.
Aber die Motive wussten zur Begründung
des letzteren nichts Besseres anzuführen,
als dass man auf diese Weise die Bedenk-
lichkeiten derer zu beseitigen hoffte, die in
einer freien Gewerbethätigkeit eine Benach-
teiligung der Konsumenten erblickten. Dem
gegenüber konnte man mit Recht hervor-
heben, dass diese Auffassung nicht über-
zeugend genug war, lun eine Einrichtung
beizubehalten, die seit wenigstens 200 Jahren
so vielen Anlass zu Verdriesslichkeiten gab
und so wenig Nutzen bot. Denn die tech-
nische Geschicklichkeit des Handwerkers
war seit den Tagen des 30 jährigen Krieges
eher zurück- als vorwärts gegangen. Es
kann daher nicht wunder nehmen, dass das
eine Minoritätsvotiun — der Abgeordneten
Mohl, Schirmeister und Merck — die Prü-
fungen beseitigt wissen wollte. Dieses sah
in ihnen niu* ein verstecktes Zunftwesen,
ein Mittel zur Beschränkung der Konkurrenz,
ein Attentat auf das natürliche Recht eines
jeden, sich durch Arbeit zu ernäliren, wie
er es verstehe. Es machte geltend, dass die
Prüfung nicht die mindeste Gewähr für die
Geschicklichkeit der Gewerbetreibenden
biete, und wies auf die Erfalu'ung hin, dass
in den Ländern, wo man von Prüfungen
nichts wisse, in England, Frankreich, Belgien,
Nordamerika, es deshalb nicht weniger ge-
schickte Handwerker gebe. ^Prüfungen für
gewerbliche Fähigkeit und gewerbliches
Fortkommen sind in der That eine wahre
Lächerlichkeit, so lächerlich, w-ie wenn man
von Obrigkeitswegen den Mädchen Prü-
fungen über ihre Befähigung, gute Haus-
frauen zu werden, als Vorbedingimg des
Heiratens stellen wollte.«
Vertrat dieses Minoritätserachten einen
freiheitlichen Standpunkt, so griff das andere
— der Abgeordneten Veit, Degenkolb, Becker,
Lette — wieder in die alte Zunftverfassimg
zurück, wenn es auch den Wünschen des
Handwerkerkongresses nicht ganz folgte.
Mit dem Haui)tent würfe stimmte es darin
überein, dass die Aufhebung von ausschliess-
lichen Gewerbeberechtigimgen, Realgewerbe-
rechten, Zwangs- und Bannrechten ausge-
sprochen werden sollte. Aber es verkündete
den Zunftzwang: es ordnete die Bildung
von Innungen an und dass der Betrieb des
Handwerkes niemandem gestattet sei, der
einer solchen nicht beigetreten wäre. Damit
verbunden war das Verlangen nach Meister-,
Gesellen-, ja auch nach Fabrikantenprüfun-
gen. Die Urheber dieses Entwurfes stützten
sich auf die nach dieser Richtung kundge-
gebenen Meinungen. Wenn die Beitritts-,
pflicht niu* in einer vom Gesetzgeber theo-
retisch anerkannten Notwendigkeit begrün-
det wäre, so möchten die vielen Gründe
gegen sie nicht ohne Berechtigung sein.
Nun aber habe sich jenes Verlangen ja im
deutschen Gewerbestande mit der grossten
Bestimmtheit und Uebereinstimmung gezeigt,
und hänge überdies mit den schönsten Vor-
zügen des deutschen Charakters, mit den.
besten und volkstümlichsten Erinnerungen
der Nation zusammen.
Bei solcher Sachlage hatte die National-
versammlung einen schweren Stand. Dass
die Abfassung des Entwurfes mit den
grossten Schwierigkeiten zu känipfen ge-
habt hatte, lag auf der Hand. Nicht nur
wichen die bestehenden Gewerbeverfassungen
deutscher Staaten von einander ab, auch die
eingelaufenen Petitionen mit ihren Vor-
schlägen und Wünschen näherten sich ein-
ander so wenig, dass man fast verzichten
rausste, sie alle berücksichtigen zu können
und an einer reichsgesetzlichen Regelung
schier verzweifeln mochte. Gerade diese
aber wurde von den massenhaft eingehenden
Petitionen verlangt. Aber obwohl die Mehr-
heit der laut gewordenen Stimmen sich in
der Forderung einer allg-emeinen Gewerbe-
ordnung einigte, gingen die Ansprüche nick-
sichtlich des Grades einer Beschränkung
des Gewerbebetriebes als auch der Art und
der Verhältnisse, ffir die sie gewünscht
wurde, so weit aus einander, dass eine all-
gemeine genügende gewerbliche Gesetzge-
bung für das gesamte deutsche Vaterland
nicht rätlich ei-schien. Es lag also keine
freie Fläche vor, auf der man hätte ein be-
liebiges Gerüst auftiauen können, sondern es
mussten die alten Bestimmungen, die zwar
nach den geläuterten Begriffen der Gegen-
w^art verwerflich waren, aber Jahrhunderte
hindm^ch bestanden und dadurch grossen
Halt hatten, beseitigt werden. Cnter solchen
Umständen beschloss die Nationalversamm-
lung, auf die Beratung einer Gewerbeordnung
gar nicht einzugehen, und überwiCv^ alles
angesammelte Material, die Petitionen, Be-
richte, Verhandlungspix)tokolle etc. '>der
künf tigenReichsgesetzgebung zurBenutzimg« .
Allein eine solche kam nie zu stände.
Handwerk
1103
Ging auf diese Weise die Nationalver-
sammlung aus einander, ohne die wichtige
Frage der Regulierung -der Arbeit zum Ab-
schluss gebracht zu haben, so konnten doch
wenigstens die einzelnen Staaten jeder in
seinem Bereiche etwas thun. Hierzu war
um so mehr Veranlassung, als die Not der
Handwerker in manchen Gegenden gewaltiger
als je sprach und dazu malmte, über Mittel
zu ihrer sofortigen Abhilfe nachzudenken.
In Hannover schritt man, imter dem Ein-
drucke der mächtigen Volkserhebung, diux;h
G. V. 15. Juni 1848 dazu, in die eben, am
1. August des vorigen Jahres verkündete
freiheitlichere Gewerbeordnung, die am 1.
Juli 1848 in Kraft treten sollte, Bresche zu
schlagen. Zwar liess man die neue Ord-
nung der eigentlichen Masse nach bestehen,
aber man verfügte an nicht wenigen Stellen,
dass die »dermalen bestehenden Verhält-
nisse einstweilen in Kraft bleiben« sollten.
So wurde die neue Gewerbeordnung zu
einem Gemisch, in dem Gewerbefreiheit,
Zunftprivüegien und Konzessionswesen neben
einander zu finden waren. Für einige Ge-
werbe, wie Maurer, Zimmerleute, Dach-
decker verlangte man den Fähigkeitsnach-
weis, für andere bestand die Konzessions-
pflicht, für dritte der Zunftzwang. Was
hiernach übrig blieb, waren Gewerbe, die
frei betrieben werden konnten. Die vorge-
sehenen Beschränkungen der Zunftverfassung
waren unbedeutende. So w^ar z. B. die
Z^ung der Gebühren für die Aufnahme
von Lehrlingen, Gesellen und Meistern ein
für alle Male bestimmt, aber gestattet über
die gesetzlich festgestellte Höhe hinauszu-
gehen, wenn auch nicht weiter als bis zur
Hälfte der bisherigen Beträge. Dagegen
trieb das Zunftwesen selbst üppige Schöss-
linge. Die zünftige Erlernung cies Gewerbes,
eine 5jährige Gesellenzeit, eine 2jährige
Wanderschaft mussten der Niederlassung
vorausgehen. Diese Niederlassung selbst
wurde sehr beschränkt. Manche Zünfte
waren noch geschlossen. In Vorstädten oder
in der Nähe von Städten, die bisher das
Recht der Bannmeile hatten, diurfte kein
Handwerker, dessen Hantienmg in der be-
treffenden Stadt eine zünftige war, sich
niederlassen, ohne das Meisterrecht erworben
zu haben. Selbst für die Handwerker, die
das MeisteiTCcht gewonnen hatten, sollte
die Niederlassung in der nächsten Um-
gebung der Städte nur insoweit zulässig
sein, äs nicht örtliche Bestimmungen ent-
gegenstanden.
In Preussen berief der damalige Minister
für Handel, Gewerbe und öffentliche Ar-
beiten, von der Heydt, in Gemeinschaft mit
dem Justizminister eine Versammlung von
Abgeordneten der Handwerker und Gesellen
aus allen Teilen der Monarchie nach Berlin.
In den Tagen vom 17. — 30. Januar 1849
tagte diese Kommission und prüfte die Be-
schwerden des Handwerks. Sie kamen
darauf heraus, dass die Niederlassung zu
leicht gemacht sei. Die Folge davon wäre,
dass viel mehr Personen als früher Arbeit
und Geld verschleuderten, um es durch die
Konkurrenz zu einem gewissen Wohlstande
zu bringen, sich aber doch nicht lange
halten könnten, sehr bald zu Grunde gingen
und mit ihren Familien den Gemeindearmen-
kassen zur Last fielen. Daher wiuxle vor-
zugsweise der Wunsch laut, den Nachweis
einer genügenden Vorbereitung und Be-
fähigung zum Betriebe aufzustellen. Man
glaubte auf diesem Wege dem Handwerker-
stande das alte Ansehen wieder verschaffen
zu können. Zugleich wurden Mittel in Vor-
schlag gebracht, die frühere stramme Zucht
und Sitte unter Meistern, Gesellen und
Lehrlingen von neuem ins Leben zu rufen.
Endlich sollte die Stellung der verschiedenen
Gewerbe zu einander xmd zu den Fabriken,
namentlich zu den Mag^inen geordnet, die
Zulassung der Versteigerung von Hand-
werkerwaren sowie der gleichzeitige Be-
trieb mehrerer Gewerbe geregelt werden.
Bei der Regierung fanden diese Ideeen
Anklang. Friedrich Wilhelm IV. hatte es
ausgesprochen, dass dem unterdrückten
Handwerkerstande geholfen und er wieder
zu seiner fdten Ehre, Sitte, Zucht, Ordnung
und Wohlstand gefühi-t werden müsse.
Da nun die Klagen seit 1845 sich mit be-
sonders ^'osser Dringlichkeit und Ein-
stimmigkeit erhoben, so glaubte man die
neuerlich geführten Verhandlungen auch
niu* dahin auale^n zu können, dass eine
schleunige Einmischung der Gesetzgebung
erforderhch sei. Wenn auch keine um-
fassende völlig neue Ordnung des Gewerbe-
wesens erfolgen könne, so hielt man w- enig-
stens den Erlass einer provisorischen Ver-
ordnung zur Ergänzung und Verbesserung
der bestehenden Verfassung für geboten.
Daher wurden zwei neue Gesetzentwürfe
ausgearbeitet, der eine mit Bezug auf ver-
schiedene Abänderungen der allgemeinen
Gewerbeordnung, der andere im Hinblick
auf zu errichtende Gewerbegerichte. Nach
eingeholter königlicher Genehmigung und
verfassungsmässiger Billigung durch die
Kammern wurden sie am 9. Februar 1849
veröffentlicht.
Die in ihnen getroffenen Aenderungen
brachten mm alles, was die Handwerker
wollten. Sie erschwerten die Befugnisse
zum Gewerbebetriebe bei einer grossen Keihe
von Gewerken. Bei etwa 70 Gewerben
w^urde die Befugnis vom Eintritt in eine
Innung oder dem vorgängigen Nachweise
der Befähigung zum Beti-iebe vor einer
Prüfungskommission abhängig. Die Re-
1104
Handwerk
gierung behielt sich dabei vor, diese Liste
zu vergrössem oder auch zu vermindern.
Ferner sollte die gleichzeitige Ausübung
mehrerer Handwerke durch eine Person
eingeschränkt werden können, je nach den
örtlichen Verhältnissen. Den Fabrikinhabern
wurde die Beschäftigung von Handwerks-
gesellen nur in bedingtem Masse gestattet,
nämlich soweit sie ihrer zur unmittelbaren
Erzeugung und Fertigmachung der Fabrikate
bedurften. Inhaber von Magazinen aber
diu^ften sich nur dann mit dem Detailver-
kauf von Handwerkerwaren befassen, wenn
sie in dem betreöenden Gewerbe die Meister-
prüfung bestanden hatten. Dazu kam eine
Keihe von Bestimmungen über die Meister-
Srüfimgen und die rechtlichen Verhältnisse
er Gesellen, Gehilfen^ Lehrlinge. Neue
Innungen konnten gebildet werden; wer
sich ihnen anschliessen wollte, musste sich
einer Kosten verursachenden Prüfung unter-
ziehen. Als Lehrlinge wurden nur die-
jenigen angesehen, die in der im Lehrver-
trage ausgesprochenen Absicht bei einem
Meister eintraten, um gegen Lehrgeld oder
unentgeltliche Hilfeleistung ein Gewerbe bis
zu der Fertigkeit zu erlernen, die sie zum
Gesellenstande befähige. Die Lehr- und
Gesellenzeit schlössen mit Prüfungen ab.
Endlich wurde vorgesehen, dass für alle,
die im Gemeindebezirke ein Gewerbe be-
trieben, die Verpflichtung zur Teilnahme an
den Verbindungen und Kassen zur gegen-
seitigen Unterstützung ausgesprochen werden
konnte. Auch dem wiederholt kundgethanen
Verlangen nach Gewerberäten war gewill-
fahrt worden. In jedem Ort oder Bezirk,
in dem wegen des regen gewerblichen Ver-
kehrs ein Bedtirfnis nach einem solchen
Rate sich zu zeigen schien, sollte er mit
Genehmigung des Ministers ins Leben ge-
rufen werden. Sein Zweck war dann die
Wahrnehmung der aUgemeinen Interessen
des Handwerker- und Fabrikantenstandes
und die Beratung der zu ihrer Förderung
geeigneten Massregeln. Ihm lag dabei ob,
die Einhaltung der Vorschriften über das
Innungswesen zu bewachen. Kiu:z, abge-
sehen von den Gewerberäten, nähert sich
die Veroidnung im ganzen mehr den Ver-
hältnissen des 18. Jahrhimderts und ist mehr
zünftlerisch als freiheitlich gehalten.
2. Die Handwerkertage seit 1860.
Waren die preussischen Handwerker mit
dieser neuen Verordnung zunächst voll-
kommen befriedigt, so dauerte es doch nicht
lange, bis ihre Klagen abermals be-
gannen. Schon am 16. April 1853 hatte
<ler Ausschuss für Handel und Gewerbe
beim Ministerium des Innern über eine
ganze Reihe von Petitionen zur Reform der
bestehenden Gewerbegesetzgebun^ zu be-
richten. Die zweite Kammer gmg indes
über alle zur Tagesordnung über. Drei
Jahre später lagen dem preussischen Abge-
ordnetenhause nicht weniger als 69 Gesuche
aus den verschiedenen Landesteilen vor, die
zum Teil sehr weit gingen. Man wünschte
die Einfühnmg des Zunftzwanges, Beschrän-
kung des Magazinwesens, Festsetzung der
Arbeitsgrenzen zwischen einzelnen Hand-
werken, Erschwerung der Niederlassimg^
junger Meister. Auf Grund eines gehar-
nischten Berichtes über diese reaktionären
Fordenmgen seitens des Ausschusses für
Handel und Gewerbe vom 25. Febniar 1856
liess man sich auch diesmal auf eine Dis-
kussion nicht ein. Nichtsdestoweniger hörten
die Handwerker nicht auf, in ihren Ver-
sanmilungen und Tagen für ihre Lieblings-
ideeen einzutreten. Besonders bemerkens-
wert ist unter diesen der preussische Landes-
handwerkertag vom 27. bis 31. August 1860
in Berlin, der dadurch hervorgerufen war,
dass im Abgeordnetenhause der Antrag auf
Beseitigung der Gewerbenovelle eingebracht
worden war. Die Handwerker glaubten
nun rechtzeitig über die Mittel zur Ver-
hütung der aus der Annahme dieses An-
trages für sie drohenden Gefahr sich einigen
zu sollen. Sie hielten natürlich an der be-
stehenden Gesetzgebung fest, waren mit der
Ordnung des Lehrlingswesens einverstanden,
lobten die Gesellenprüfungen, behaupteten,
dass die Meisterprüfungen sich bewährt
hätten, und beschlossen, an die Staatsregie-
rung eine Petition um Beibehaltung der
Novelle zu richten. G^nz vereinzelt erhob
sich eine Stimme, die die Zweckmässigkeit
der Meisterprüfungen bestritt. Sie drang
nicht durch, und in der beschlossenen Peti-
tion wurde gerade mit Nachdruck bei dem
Befähigungsnachweis verweilt. Im Gegen-
satz zu diesem Tage hatte im Jahre voriier
sich ein vorzugsweise von Handwerkern
besuchter Kongress hannoverscher Gewerk-
vereine in Celle für möglichst rasche und
vollständigste Einführung einer freien Ge-
staltung des Gewerbewesens ausgesprochen.
Am 5. September 1862 wurde in Weimar
der Deutsche Handwerkerbund gestiftet,
dessen Mitglieder sich auf Norddeutschland
beschränkten, vorzugsweise den Hanse-
städten entstammten. Er hielt seine zweite
Versammlung vom 25. — 28. September 1863
in Frankfurt a. M., die dritte vom 26. — 28,
September 1864 in Köln ab, vermochte sicli
aber auf die Dauer nicht zu halten. Schon
auf dem ersten Tage war beschlossen worden,
dass »diese Pest imd der Schwindel frei-
gewerblicher und gewerbefreiheitlicher Zu-
stände auf Leben und Tod bekämpft werden
müssten « , allein entgegengesetzte Strömungen
thaten sich kund, eine gewisse üeberhebung
der Vertreter der östlichen Provinzen über
die der westlichen und südlichen Gegenden
Handwerk
1105
machte sich geltend, und so war der Bund
bald gesprengt. Sein letztes Lebenszeichen
war eine im Jahre 1864 sämtlichen deut-
schen Regierungen unterbreitete Deukschrift,
in der er für sein Ziel, »die obligatorische
Innung«, eintrat und bat, die Grundzüge zu
einer von ihm aufgesetzten »Allgemeinen
deutschen Handwerkerordnung« einer ein-
gehenden Prüfung unterziehen sowie Kom-
missäre abordnen zu wollen, die mit Ver-
tretern des Landes zusammen die Grund-
züge w^eiter ausbilden sollten. Diese Vor-
schläge fanden so wenig Berücksichtigung,
wie die im Jahre 1863 von hessischen Hand-
werkern dem Ministerium in Darmstadt ein-
gereichte Denkschrift, die vor den Folgen
üer unbedingten Gewerbefreiheit warnte.
Vielmehr vollzog sich mittlerweile in Theorie
und Praxis, in den Regierungskreiseu und
bei den Männern der Wissenschaft, getragen
von den Ideeen des Liberalismus, der Um-
schwung in der herrschenden Auffassung.
Man glaubte nunmehr die endgiltige Ein-
fühnmg völliger Gewerbefi-eiheit nicht länger
hinausschieben zu können und war 20 Jahre
nach der Novelle von 1849 zu der Erkennt-
nis gelangt, dass die preussische Regierung
sich damals hatte zu Zugeständnissen ver-
leiten lassen, die dem Ifandwerker weder
Vorteile noch Schutz gewährten. So machte
man denn nach imd nach in den Einzel-
staaten den Beschränl^ungen ein Ende und
verhalf schliesslich in der Gew.-O. v. 21.
Juni 1869 für den Norddeutschen Bund,
seit 1871 für das ganze Reich, der Ge-
werbefreiheit zum vollständigen Siege.
Noch während der Beratungen des An-
trages, die bekanntlich zuerst zum soge-
nannten Notgewerbegesetz führten, traten
vom 16. — 18. April 1868 in Dresden und
vom 14. — 16. September desselben Jahres
in Hannover norddeutsche Handwerker zu-
sammen, um gegen die beabsichtigte Ein-
führung der Gewerbefreiheit zu protestieren.
Nach dem Erlass der Gew.-O. versammelte
man sich noch einmal, vom 20. — 22. No-
vember 1869 in Halle und schien sich dann
in das Unvermeidliche fügen zu wollen.
Indes hatte man sich nur für kurze Zeit
beruhigt, denn schon in der zweiten Session
der ersten Legislaturperiode des Deutschen
Reichstages, 1871, liefen viele Petitionen
reaktionären Charakters ein. Man bat um
die Wiedereinfühnmg von Passvorschriften
für die Gewerbsgeliilfen, die Einführung
von Arbeitsbüchern, die Aufhebung der
vierzehntägigen Kündigungsfrist um Erlass
von Strafbestimmungen für ungehorsames
und widerspenstiges Hilfspersonal und der-
gleichen mehr. Und nun kam, nachdem
der Reichstag die Beratung dieser Gesuche
abgelehnt hatte, bald mehr System in die
Bewegung. Vom 25. — 28. September 1872
waren in Dresden Handwerker aus 145
deutschen Städten versammelt, um über die
Bildung eines Verbandes zu beraten, der
ihre Interessen der Regienmg gegenüber
vertreten und für Reformen wirken sollte.
Schon im nächsten Jahre, am 23. Oktober
1873, kam es in Leipzig zur Konstituierung
dieses Verbandes unter dem Namen »Verein
selbständiger Handwerker und Fabrikanten«,
der aber den Grundsatz der Gewerbefreiheit
nicht preisgab, sondern niu* eine gewisse
innere Organisation, wie sie durch Ein-
führung der Gewerbefreiheit verloren ge-
gangen war, wieder anstrebte. Wie sein
Statut besagt, war es darauf abgesehen,
Verbessenmgen der Gtewerbegesetzgebung
herbeizuführen, die hervortretenden ünzu-
träglichkeiten im gewerblichen Leben in
ihren Ursachen zu bekämpfen und wohlge-
gliederte Verbände zu schaffen, die für
Ordnung und Recht innerhalb der Gewerbe
wirken könnten.
Die Innungen, Genossenschaften, Korpo-
rationen einer Stadt, die Gewerbekammer,
der Gewerbeverein und überhaupt jede be-
stehende Vereinigung selbständiger Hand-
werker vereinigen sich zu einem »Orts-
verein*, die ihrerseits zu Kreis- und Pro-
vinzialverbänden sich gliedern und an einen
Centralverband Anschluss finden. Erkämpfte
für Einführung von Gewerbe- oder Hand-
werkerkammern , gewerblichen Schiedsge-
richten, obligatorischen Fortbildungsschulen,
für Reformen auf dem Gebiete der Gefäng-
nisarbeit, der Wanderlager, Warenauktionen,
des Hausierliandels etc. Fachgewerbliche
Korporationen, mit der nötigen gesetzlichen
Autorität ausgerüstet, wurden hauptsädüich
befürwortet, weil sie die einzige Möglich-
keit, das Kleingewerbe vor immer tieferem
Verfalle zu schützen, boten, und das nächste
Ziel, das diese »deutsche Handwerker- und
Gewerbepartei« ins Auge fasste, wurde in
dem auf dem Tage zu Bremen 1879 aufge-
stellten Programm wie folgt formuliert.
Man wünschte Trennung des Fabrikgesetzes
von der eigentlichen Gewerbeordnung, Be-
freiung der Gewerbeordnung von allen Be-
stimmungen, welche polizeilicher oder civil-
rechtlicher Natur smd oder in sonstige
Specialgesetze gehören; Entwicklung des
Innungsrechtes imd der den Innimgen zu-
stehenden gewerbegerichtlichen Befugnisse
zum Ausgangs- und Angelpunkte der Klein-
gewerbeordnung; grundsätzliche Uebergabe
der gewerblichen Erziehung, sowohl der-
jenigen mittelst der Lehre als derjenigen
mittelst der Fachschule, an die fachgewerb-
liche Korporation ; Ausarbeitung einer eigenen,
sowohl den besonderen Vediältnissen der
Grossindustrie bezw. ihrer verscliiedenen
Zweige als den sozialen Zeitbedürfnissen
und dem Stande des Öffentlichen Rechts-
Handwörterbach der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. IV.
70
1106
Handwerk
bewusstseins entsprechenden Fabrikgesetz-
febung. Der Verband hielt im ganzen mit
ünschiuss der Dresdner Versammlung von
1872 10 Tage ab: 1873 in Leipzig, 1874
in Quedlinburg, 1875 in Cassel, 1876 in
Köln, 1877 in Darmstadt, 1878 in Magde-
burg, 1879 in Bremen, 1880 und 1881 in
Berlin, aber er verlor allmählich den Boden
unter den Füssen. Während auf dem ersten
Tage in Dresden 145 Städte vertreten waren,
hatten sich auf dem 10. Tage in Berlin die
Repräsentanten von nur 14 Städten zu-
sammengefunden. Das Organ des Ver-
bandes war die in Berlin einmal wöchent-
lich erscheinende »Gewerbezeitung«.
Während die Handwerker auf diese WeLse
ihre Interessen, so gut sie vermochten, wahr-
zunehmen suchten, war man in politischen
Kreisen bereit, sie zu unterstützen. Freiherr
Karl von Fechenbach schilderte in seiner
Flu^hrift »An die deutschen Handwerker«
die Wirkungen der Gewerbefreiheit, gab die
Skizze einer Innungsordnung und forderte
zur Bildung von Vereinen zum Schutze des
Handwerkers auf. Im Reichstage aber war
es namentlich die deutsch-konservative Partei,
die sich für die Bildung von Innungen inte-
ressierte, und da auch Fürst Bismarck dem
Gedanken nicht abgeneigt war, kam es,
nachdem der preussische Volkswirtschafts-
rat zuerst den Entwurf begutachtet hatte,
zur Abänderung der Gewerbeordnung durch
das G. V. 18. Juli 1881. Dieses wie die 1 884 und
1887 erlassenen Gesetze (vgl. d. Art. G e w e r -
begesetzgebung oben Bd. IV S. 418)
begünstigten die Entstehung neuer Innungen,
erklärten sie zu öffentlich-rechtlichen Kor-
jwrationen und statteten sie mit Vorrechten
aus, die in den Gewerbetreibenden die Lust
zum Anschluss an bestehende oder ziu:
Begründung neuer Innungen rege machen
sollten.
Aber die Handwerker waren mit diesen,
wie sie sie nennen, lialben Massregeln nicht
zufrieden. Am 31. Mai 1882 trat in Magde-
burg eine allgemeine deutsche Handwerker-
versammlung zusammen, sehr stark, von
323 Abgeordneten, die etwa 100000 Hand-
werker vertraten, besucht, und auf ilir ge-
langte eine deutlich ausgesprochene zünft-
lerische Richtung zum Durchbruche. Mit
254 gegen 54 Stimmen wiu-de die obligato-
rische Innung sowie obligatorische Rechte
für sie gefordert; ein massvoller Gegenan-
trag, die durch das Gesetz von 1881 gege-
bene Gunst der Verhältnisse auszunutzen
und von weiteren Anträgen auf Abänderung
der Gewerbeordnung einstweilen abzusehen,
wunle aus der Vei-saramlung mit den Rufen
Nein I Niemals ! beantwortet. Die Re\ision
der Gewerbeordnung, wie sie diese Vor- '
Sammlung wünschte, sollte sich nach 4 Rich-
tungen hin erstrecken. 1. Jeder selbständige j
Handwerker ist verpflichtet, der am Orte
oder im Bezirk bestehenden Facliinnung bei-
zutreten, die mit Beitritts- und Beitrags-
pflichten auszustatten ist. 2. Die Berechti-
gung zum Betriebe eines Handwerks ist ab-
hängig zu machen von dem Beitritt zu einer
für das gleiche oder verwandte Gewerbe
bestehenden Innung und der vorher be-
standenen, duich Gesetz eingeführten obli-
gatorischen Meisterprüfung. 3. Die Pflicht
zur Führung eines Arbeitsbuches wird auf
alle Gesellen, Gehilfen etc. ausgedehnt, oline
eine Altersgrenze festzusetzen. Die Ertei-
lung ist abhängig zu machen von der vor-
her bestandenen obligatorischen Gesellen-
prüfung und einer ordnungsmässig zurück-
gelegten Lehrzeit 4. Dem Handwerk ist
durch Einfülirung von Handwerkerkammem
eine legitime Vertretung und obere Auf-
sichtsbehörde zu geben. Das ProCTamm
setzte sich also zusammen aus den Foi-de-
rungen der Zwangsinnung, des Befähigungs-
nachweises, der Legitimationspflicht für die
Gehilfen imd den Handwerkerkammem. Da-
zu kamen die weiteren: die bestehenden
Einrichtungen in Bezug auf Gefängnisarbeit,
die Militän\'erkstätten, das Submissionswesen
und das Hausierwesen geändert zu sehen.
Auf diesem Magdeburger Tage wurde
auch die Anregung zur Begründung eines
»Allgemeinen deutschen Handwerkerbundes«
laut, mit einem Centralkomitee aus 5 Mit-
gliedern an der Spitze, dessen Sitz Berlin
ist, zu bilden. Die Verdienste des Frei-
herrn von Fechenbach um das Handwerk
wurden anerkannt, aber seine Fühnmg ab-
gelehnt. Ausdrücklich wurde gewünscht,
dass ein Handwerker an die Spitze der Be-
wegung trete. Im März des folgenden Jahres
kam dieser Bund zu stände und ein provi-
sorischer Vorstand begann die Thätigkeit
durch Versendung eines Aufrufs am 9. April,
der zur Beschickung eines allgemeinen deut-
schen Handwerkertages nach Hannover für
den Mai des laufenden Jahres einlud. Als
Zweck des neuen Bundes wurde die Wah-
rung und Förderung derHandwerksinteressen
bezeichnet. Besonders die Herbeifühnmg
obligatorischer genossenschaftlicher Einricli-
tungen im Reiclie oder in deu Einzelstaaten
sollte angestrebt werden. Der neue Ver-
band schien notwendig, weil der ältere Ver-
band selbständiger Handwerker und Ge-
werbetreibender sehr stark zurückgegangen
war und überhaupt eine gemässigtere Auf-
fassung vertrat, die bei den energischeren
Zünftlern keine Anerkennung mehr fand.
Der ältere Verliand ging jetzt in die neue
Organisation auf. Vom 20. — 23. Mai wurtle
der s(»hr zahlreich, von 348 Delegierten be-
suchte allgemeine deutsche Handwerkeiiag
in Hannover abgehalten imd der Sitz des
Vororts nunmehr von Berlin nach Köln ver-
Handwerk
1107
legt. Diesen Tagen folgten weitere 1884,
20.— 23. JuH in Frankfurt a. M.; 1885, 16.
bis 18. August in Köln; 1886, 5.-8. Sep-
tember in Kosen; 1887, 13. — 17. August in
Dortmund ; 1888, 13. — 15. August in München ;
1889, 5. — 6. August in Hamburg. Als Sitz
des Vororts wiu'de seit 1884 München aus-
ersehen und als Organ des Verbandes das
»Allgemeine Grewerbeblatt« (seit 1883) be-
stimmt, das sich seit 1886 in die ^»Allge-
meine Handwerkerzeitung« verwandelte. Alle
diese Versammlungen bewegten sich in dem
Rahmen der Magdeburger Beschlüsse.
Mittlerweile liess ein leü der Hand-
werker es sich angelegen sein, das Innungs-
gesetz von 1881 in Wirklichkeit umzusetzen,
und infolge dieser Bestrebungen begründeten
am 15. Dezember 1884 die Vorstände von
14 Fachverbänden den Centralausschuss ver-
einigter Innungsverbände Deutschlands in
Berlin für die einheitliche Vertretung ihrer
gemeinsamen Verbandszwecke. Dieser for-
derte mit einem im Juni 1885 versandten
Aufrufe zur Beschickung eines »Deutschen
Innungstages« auf, der dreimal, im Juni 1885,
im September 1888 und im Juni 1890 sich
versammelt hat. Hier stützt man sich auf
den Innungsgedanken. Das Interesse am
Innungswesen soll warme Förderung er-
fahren; man sucht die Bildung neuer In-
nungen zu ermöglichen und den bestehenden
Innungen neue Mitglieder zuzuführen. Die
Forderung, die Innimgen obligatorisch zu
machen, ist gelegentlich unumwunden aus-
gesprochen, aber nicht ins Programm auf-
genommen worden. An den Aufgaben der
Inmmg sollen Meister und Gesellen gemein-
sam auf Gnmd gesetzlicher Normen mit-
wirken. Das Recht zur Ausbildung von
Lehrlingen soU den Innungsmeistem vorbe-
halten bleiben, denen auch auf Grund des
ordnungsmässig von der Innung erlangten
Meisterbriefes die Führung des Meistertitels
gestattet werden soll. Zu fast aUen gewerb-
lichen Einrichtungen der Innung sollen Nicht-
innungsmeister ebenfalls Beiträge zahlen. Zur
Einführung des Befähigungsnachweises stellt
man sich durchaus sympathisch. Mit 247
gegen 4 Stimmen wurde auf dem ersten
Innungstage eine darauf bezügliche Resolu-
tion angenommen. Im weiteren wünscht
man Reformen der Krauken- und Unfall-
versicherung und hat auch die schon auf
den Handwerkertagen berührten Punkte,
als Gefängnisarbeit, Militärwerkstälten, Sub-
missionen etc. in den Kreis der Beratung
gezogen. Der Sitz des Centralausschusses
ist Berlin; sein Org-an die wöchentlich er-
scheinende »Deutsche Handwerkerzeitung«.
Von dem >deutschen Handwerkerbunde«
weicht der > Centralausschuss '< ab, indes ist
es schwierig, den Unterschied in der Auf-
fassung beider klar anzugeben. Sowolil auf
dem zweiten Innungstage, 1888 in Berlin,
als auf dem sechsten deutschen Handwerker-
tage, 1888 in München, kam das Verhältnis
zwischen beiden (Jrganisationen zur Sprache,
ohne dass völlige Klarheit erzielt wurde.
Zunächst scheint der Unterschied politischer
Natur zu sein. Der Centralausschuss steht
auf dem Boden des Gewerbegesetzes, der
Handwerkerbimd auf dem des Vereinsge-
setzes. Dem ersteren ist die Innung Selbst-
zweck, der letztere scheint durch sie dem
Handwerke wohlwollend gesinnte Männer
in die gesetzgebenden Körper bringen zu
wollen. Ferner geht man in den Haupt-
programmpunkten auseinander. Der Hand-
werkerbund will die obhgatorische Innung,
der Centralausschuss die fakultative, aber
doch mit solchen Vorrechten ausgestattet,
dass es für jeden Handwerksmeister das
g'össte Interesse hat, sich ihr anzusclüiessen.
er Befähigungsnachweis, den der Hand-
werkerbund so sehr betont, wird vom Cen-
tralausschuss lau verfochten. aUlerdings hat
auch er sich für diesen »Eckstein der ganzen
Bestrebungen« ausgesprochen, aber unver-
kennbar zieht sich durch die Verhandlungen
über ihn der Gedanke, dass die günstigen
Wirkungen der Einführung des Befähigungs-
nachweises nicht ein wandsfrei sind. Für
den Centralausschuss ist der Befähigungs-
nachweis erst der Schlussstein des aufzu-
richtenden Gebäudes. Der Handwerkerstand
soll korporativ geeinigt werden, die Innungen
sollen wirkliche Vertretungskörper des Hand-
werks sein, und in ihre Hände soll die Durch-
fühi-ung des Befähigungsnachweises gelegt
werden. Hat man die korporative Organi-
sation vollständig durchgeführt, so wäi-e es
nicht unmöglich, dass man den Befähigungs-
nachweis fallen liess. Jedenfalls hält der
Centi'alausschuss nicht dafür, dass man ihn
schon jetzt obligatorisch machen könne. In
allen übrigen Nebenpimkten sind beide Or-
ganisationen einig.
Die berührten Differenzen haben beide
Parteien nicht gehindert, mit einander Be-
rührung zu suchen, da sie sich in dem
Punkte, die Interessen des deutschen Hand-
werkerstandes fördern zu wollen, ja eins
wissen. Auf dem zweiten Innungstage wurde
der Vorstand ausdrücklich beauftragt, sich mit
dem Vorstande des Allgemeinen deutschen
Handwerkerbuudes über Wege und Ziele
eines gedeihlichen Zusammenwirkens ins
Einvernehmen zu setzen. Diese Verständi-
gung führte in der Folge dazu, dass beide
Vereinigungen sich an den Kaiser wandten
(1890) mit der Bitte, eine sogenannte Im-
mediatkommission zur Untersuchung der
Lage des Handwerkes und zur Prüfung der
Wege, die man etwa behufs Ablülfe der im
Handwerkei-stande laut gewordenen Klagen
einschlagen könnte, einzusetzen. In der
70*
1108
Handwerk
That hat diese Handwerkerkonferenz, zum
15. Juni desselben Jahres einberufen, getagt.
Auch späterhin hat man gerne die Hand-
werker aufgefordert, ihre Meinungen und
Wünsche direkt zur Kenntnis der Regie-
rung gelangen zu lassen. Am 25. und 26.
November 1892 wurden im Reichsamte des
Innern Konferenzen unter dem Vorsitze des
Staatssekretärs über die von der Gesetz-
gebung geplanten Reformen veranstaltet und
vom 8. — 10. September 1896 erneut eine all-
gemeine Handwerkerkonferenz in Berlin ein-
benifen, um zu dem preussischen Antrag
an den Bundesrat vom Anfang des Jahres
1896, der eine Organisation auf der Grund-
lage der Zwangsinnung befürwortete, Stellung
zu nehmen. Der sehr zahlreich, von etwa
2000 Delegierten besuchte, vom 14.— 17. Fe-
bruar 1892 in Berlin stattgehabte »Deutsche
Innungs- und allgemeine Handwerkertag«
hat sich zwar sehr lebhaft der Erörterung
des Befähigungsnachweises hingegeben, da-
gegen die obligatorische Innung nicht mit
der gleichen Stärke betont. Im übrigen ist
auch er für Regulierung der Fragen der
Gefängnisarbeit, des Hausierhandels, der Ab-
zahlungsgeschäfte, Konsumvereine etc. ein-
getreten. Zum Genossenschaftsgedanken hat
er eine ablehnende Stellung eingenommen.
Auf ihn sind am 9. und 10. April 1894 und
am 27. April 1897 ebenfaUs in Berlin abge-
haltene Deutsche Innungs- un d
allgemeine Handwerkertage ge-
folgt. Die Verhandlungen bezweckten die
Stellungnahme zu dem Entwurf eines Ge-
setzes betreffend die Abänderung der Ge-
werbeordnung. Auf dem 1894er Tage, auf
dem sehr viele Delegierte anwesend waren,
wurde einstimmig die Zwangsinnung als Fun-
dament der Organisation gefordert. Mit den
freiwilligen Innungen sei nichts Bedeuten-
des zu schaffen, weil sie so wenig Greif-
bares böten. Selbst wenn den freien In-
nungen noch weitere Rechte verliehen wür-
den, kämen sie doch nicht zur Blüte. Denn
sie seien nur für ideale Menschen berechnet,
für Menschen, wie sie sein sollten, nicht
wie sie sind.
Auch der 1897er Innungstag liat sich
einstimmig auf den Boden der Zwangsinnung
gestellt und grundsätzlich die Beschlüsse
der früheren Innungs- und Handwerkertage
gebilligt sowie in einer Petition an den
Deutschen Reichstag vom 29. Aprü 1897
diesen Standpunkt zum Ausdruck gebracht.
In dieser wurden auch bestimmte Grund-
sätze zur Festlegung des Innungswesens
empfohlen, namentlich die Bestimmimg,
dass selbst diejenigen Mitglieder des Hand-
werks, die es fabrikmässig betreiben, der
Innung beizutreten verpflichtet sein sollen.
Sonst meinte man, würden die Kernti'ui)pen
des Handwerks den korix)i*ativen Organisa-
tionen entzogen und diesen nur die wirt-
scliaftlich schwachen Elemente verbleiben.
Auch bat man, dafür Sorge tragen zu wollen,
dass, wo bestehende und neu sich bildende
Innungen aus irgend einem Grunde den
Cliarakter einer Zwangsinnimg nicht erhalten
wollen noch können, diesen freiwilligen In-
nungen auf befürwortende Begutachtung
seitens der Handwerkskammer und des zu-
ständigen Innungsverbandes gemäss § 104 g
der R.G.O. die Rechte aus den §§ 100 e bis
100 m in verbesserter Fonn verliehen würden.
Es wurde dabei als selbstverständlich vor-
ausgesetzt, dass die bereits privilegierten
Innungen im Rahmen des neuen Gesetzes
ihre Rechte behalten würden.
Der inHalle vom 21.— 24. April 1895 vorsieh
gegangene achte allgemeine deutsche
Handwerkertag hat keinen Nachfolger
gehabt. Eine Fortsetzung der seit 1883
von dem damals eben begründeten allge-
meinen deutschen Handwerkerbund bis 1889
regelmässig jährlich abgehaltenen Versamm-
lungen war veranlasst nicht nur durch
den Wunsch, zu den neuesten Regierungs-
plänen Stellung zu nehmen, sondern über-
haupt wieder einmal die Bedürfnisse des
Handwerks, insbesondere nach einer gesetz-
lichen Intei'essenvertretung, öffentlich zu be-
tonen und die Notwendigkeit einer Revision
der Gesetzgebung zu beleuchten.
Ein mittelrheinisch - südwest-
deutscher Handwerkertag fand auf An-
regung der hessischen Innungen im Mai
1897 in Mainz zur Besprechung der Gesetzes-
vorlage statt. Er verteidigte den Stand-
punkt, der in einer Resolution zum Aus-
dnick kam, dass das gesamte deutsche
Handwerk einscliliesslich dem handwerks-
mässigen Fabrikbetriebe auf gesetzlichem
Wege zusammengefasst werden müsse und
zwar mit der Gliederung als Meister, Ge-
sellen und Lehrlinge. Den bestehenden In-
nimgen und Handwerkervereinigungen sollten
ihre Rechte unverkürzt bleiben ; zu den Hand-
werkerkammern nur Handwerksmeister wahl-
berechtigt sein ; Meister sich nur diejenigen
nennen dürfen, die ihr Handwerk ordnungs-
mässig erlernt haben.
Ein Versuch, die beiden immerhin noch
auseinanderlaufenden erwälinten Richtimgeu
im deutschen Handwerk zu verschmelzen,
ist in dem Vorschlag zur Gründung einer
sogenannten Mittelstandspartei zu er-
blicken. Bereits auf dem im Februar 1892
in Berlin abgehaltenen Innungs- imd Allge-
meinen Handwerkertage wurde der Gedanke,
eine Handwerkerpartei zu gründen,
verhandelt, die insbesondere für Vertretiui^
des Handwerks im Reichstage und über-
haupt im politischen Leben soi'gen sollte.
Man sah aber davon ab, weil einmal die
gi-össten und aussclilaggebenden Fraktionen
Handwerk
1109
des Reichstages bereits die Interessen des
Handwerks zu ihi'er eigenen Sache zu machen
jjüegten und überdies eigentlich in dem
allgemeinen deutschen Handwerkerbunde,
der in jeder Pro\inz ein Bundesamt besitzt
und dessen Kreise nach den Reichstags-
wahlbezirken abgegrenzt sind, die gewünschte
Organisation schon vorhanden wai\ Im
nächsten Jahre tauchte dieselbe Idee in
etwas anderer Gestalt auf, indem auf der
am 10. März 1893 abgehaltenen Versamm-
lung Berliner Handwerker gerade in der
Gründung einer selbständigen Mittelstands-
partei das ereehnte Heil für den Hand-
werkerstand gefunden wiuxie. Man hielt
das fernere Zusammengehen der Handwerker
mit anderen politischen Parteien nicht fCir
ei-spriesslich und beauftragte die ständige
Deputation des Innungsausschusses und den
Centralvorstand der vereinigten Innungsver-
bände Deutsclilands, daliin zu wirken, dass
eine deutsche Mittelstand s])artei gegründet
werde, damit Handwerker in den Reichstag
imd Landtag gewählt würden. Die (i Wochen
sjiäter, am 21. April tagende zweite allge-
meine Versammlung der selbständigen Hand-
Averker Berlins, deren Tagesordnung in der
Aveiteren Besju-echung der gegenwärtigen
Lage des Handwerks bestand, lioss diesen
Gedanken nicht fahren, sondern legte eben-
falls Gewicht darauf, dass das Handwerk
mehr politischen Einfluss erlange und diesen
vor allen Dingen bei den Reichstagswahlen
zu bethätigen strebe. Demgemäss wurde
mit überwiegender Majorität beschlossen,
>zur Erreichung der Forderungen und zur
besseren Vertretung der Interessen eine
eigene Partei zu ginindcn, welclie auf den
gesamten städtischen Mittelstand auszu-
ilehnen ist«. Indes, wenn auch der Central-
ausschuss der vereinigten Innungsverbände
Deutsclilands beaufti^agt wurde, schleunigst
die geeigneten Schritte zur Verwirklichung
der Resolution zu thun, so wai* diese doch
viel zu vorsichtig, um sich in dieser Be-
ziehung zu engagiei-en, oder haben die mög-
licherweise stattgehabten Verhandlungen
wenigstens kein greifbares Resultat erzielt.
Der Hallischo Handwerkertag von 1895
aber hat ausdrücklich die (iründiuig einer
Mittelstandspartei für überfliissig, ja schäd-
lich erklärt, weil bereits Parteien mehr wie
genug beständen und für die Forderungen
des deutschen HandAverks im Reichstag
schon eine grosse Mehrheit vorhanden sei.
Immerhin hat sich doch im Mai 1895 in
Halle eine Mittelstandspartei gebildet,
die es als ihre hauptsächlichste Aufgabe
ansieht, Handwerk und Handel, die bisher
ohne nahe i.»olitische Fühlung waren, einan-
der nälier zu bringen. Man weist auf die
Interessengemeinschaft zwischen beiden Stän-
den hin und betont als gemeinsames Ziel:
die Erlialtung eines leistungsfähigen breiten
Mittelstandes, eines selbständigen deutschen
Büigertums. Mau wiU die Auswüchse des
Kapitalismus und die wüste, schrankenlose
Konkurrenz bekämpfen, weil man in ihnen
die Hauptursachen der nickgängigen Bewe-
gung in unseren wirtschaftlichen Verhält>-
nissen erblickt. Für den Kaufmann fordert
die Partei Beseitigung der übermächtigen,
durch die Konsumvereine ihm erwachsenden
Konkiu'renz, Zurückdrängen des Unwesens
der sogenannten Warenhäuser und hohe Be-
steuening der Filialen. Für das Handwerk
aber will sie eine geeignete Organisation
und sichernde Schranken herbeifüliren, die
seinen Angehörigen die Früchte ihres Fleisses
und erlernten Könnens zu gute kommen
lassen. Es hat aber diese Partei den Massen-
beitritt, auf den das Programm rechnete,
nicht gefunden und liat sich in der ganzen
Bewegung weiter nicht in hervorragender
Weise bethätigt. Hindemd für ihre Wirk-
samkeit ist gewiss der Umstand, dass der
sogenannte Mittelstand sich aus den alier-
verschiedensten Bevölkerungsklassen und
Interessengrupi>en zusammensetzt und nicht
recht abgegrenzt werden kann. Nur so viel
Hesse sich sagen, dass zum Mittelstande ge-
hört, w^as zwischen Grosskapital und Prole-
tariat in der Mitte liegt. Wie nun aber die
Schranken nach oben und nach unten hin
zu errichten wären, will nicht einleuchten,
und es muss in Frage gezogen werden, ob
es möglich sein wird, verschiedene Klassen
— den Landmann vom Kleinbauern bis zum
Rittergutsbesitzer , den Gewerbetreibenden
von! Handwerker bis zum Fabrikanten, den
mittleren und kleinen Kaufmann, auch die
sonstige städtische Bevölkerung oder Beamte
und Gelehrte zu gemeinsamem Kampfe zu-
sammen scliliessen.
Auf diese Weise sind in der heutigen
Handwerkerbewegung immer noch drei ver-
schiedene Hauptströmuugen ganz deutlich
aus einander zu halten. 1. Der allgemeine
deutsche Handwerkerbund. Er hält
die Anwendung des Zwangsprincips bei der
Organisation des Gewerbes füi* notwendig
uncl erspriesslich, erwartet vom Befähi-
gungsnachweis wolilthätige Wirkungen, aber
schreckt doch vor einer biu-eaukratisch-cen-
ti-alisierenden Zusammenfassung des gesamten
Handwerks ziu'ück. 2. Der Centralaus-
schuss der vereinigten Innungs-
verbände, dem sich die hansestädtischen
Gewerbekammern angeschlossen haben. Von
dieser Richtimg winl, genau genommen,
einem vollständigen Rückfall in die ältere
Zunftverfassung das Wort geredet, und wenn
auch selbstverständlich die gröbsten Miss-
bräuche wie insljcsondere die hohen Kosten
bei dem Eintritt in die Zunft und die chika-
nösen Erschwerungen der Erlangung des
1110
HaadweA
Meisterrechts fortfallen, so ist man doch
nicht sicher, inwieweit die Yerwirklichung
der geplanten Organisation für viele Ge-
werbetreibende neue Härten in sich schliessen
wird. 3. Der am 8. September 1891 ge-
gründete Verband deutscher G- e -
werbe vereine. Er nimmt einen freien
Standpimkt ein und hält sich fern von dem
Gedaulfen, auf dem Wege des Zwanges den
deutschen Gewerbestand fördern zu können.
Ohne im einzelnen ein bestimmtes Pro-
gramm entwickelt zu haben, wie dies über-
haupt geschehen könne, strebt er ein Zu-
sammenwirken der Gewerbevereine zur Ver-
tretung ihrer gemeuisamen Interessen und
zur gegenseitigen Förderung ihrerAuf gaben an.
Neben diesen hauptsäclüichsten Organi-
sationen bestehen noch mehrere territorial
begi'enzte Verbände, über deren Haltimg es
schwer wird, ein Urteil zu fällen, da die
Protokolle der von ihnen veranstalteten Ver-
sammlungen buchhändlerisch gar nicht und
auf privatem "Wege meist nur unvoll-
ständig zu beschaffen sind.
Der »westdeutsche Bund« selbständiger
Handwerker ist, soweit ich sehe, am 25.
September 1882 in Köln geginindet. Der
Proviuzial verein westfälischer Hand-
werksmeister besteht seit 1881. Aus den
schlesischen Handwerkertagen von 1881 und
1882 hat sich der ostdeutsche Hand-
-werkerbund entwickelt, der zuei-st 1883 in
Neustadt O.-S. getagt liat. Für Bayern ist,
mit dem Sitz in München, seit 1883 der
bayerische Handwerkerbund erstan-
den. Er teilt die Anschauungen des allge-
meinen deutschen Handwerkerbundes und
wie es scheint, weicht auch das Programm
der anderen erwähnten Verbände von dem
des letzteren nicht ab. Ein Verein selbstän-
diger Handwerksmeister des Siegkreises
zählt in 17 Geschäftsstellen 800 Mitglieder
und ist eine Abteilung des Rheinischen
P r 0 V i n z i a 1 h a n d w e r k e r b u n d e s , d er
zum Juli 1900 seine 16. Versammlung aus-
geschrieben hat. Ein badischer Hand-
werkerverband besteht wohl seit vielen
Jahren, ist aber seit Erlass des Gesetzes von
1897 mit einem grösseren Programm stärker
hervorgetreten. Er sucht die Zusammen-
fassung der einzelnen Handwerke in fest
gefügte Lokal-, Bezirks- und Landesverbände
lierbeizuführen, zunächst im Hinblick auf
die Wahlen für die Handwerkskammer, dann
aber auch zur Erreichung allgemeiner Ziele.
Sein Progi-amm ist abgedruckt im Hand-
werkerkalender füi- Baden 1899 S. 138—139.
II. Das Prograium der Handwerker und
seine ErfüUnng.
Die Wünsche, welche die Handwerker
behufs Besserung ihrer Lage geäussert haben,
sind mannigfaltiger Ai-t. Sie sind sieh darin
einig, dass neben der Vertretung durch die
Innungsverbände eine kräftige pohtische
Vertretung anzustreben sei. Von den ein-
zelnen Punkten des ganzen Programms
muss gesagt werden, dass sie teilweise ganz
vernünftige und zweckmässige Reformen ver-
langen, teilweise mit den heutigen volks-
wirtscliaftlichen Anschauungen unvereinbai'e
Forderungen aussprechen. Manche der ver-
lauteten Wünsche betreffen allgemeine volks-
\virt6chaftliche Verhältnisse, und wenn auch
Aenderungen auf diesen Gebieten durchaus
heilsam wären, so ist es doch fraglich, ob
gerade' das Handwerk so grossen Vorteil
daraus ziehen würde, wie jetzt angenommen
^sdrd. Natürlich würde eine zweckmässige
Verbesserung wirtschaftlicher Missstände
schliesslich dem Handwerke ebenfalls zu
gute kommen, aber es ist sehr zu fürchten,
dass die Handwerker übertrieben grosse Er-
wartungen von der Diuxjhführung ihrer Vor-
schläge hegen.
Einen Teil ihrer Wünsche finden die Hand-
werker jetzt durch das Reichsgesetz vom 26.
Juli 1897 erfüllt. lieber dessen Vorbereitung
siehe die Artikel Handwerk im ersten
Supplementband zum Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften S. 467 und Gewerbegesetz-
g e b a n g im zweiten Supplementband S. 364. Dem
Gesetz ist die kaiserliche Verordnung vom
14. März 1898 gefolgt, durch die die Inkraft-
setzung eines Teiles der Bestimmungen des
einen Gesetzes, so die über die Innungen,
Innungsausschüsse und das Lehrlingswesen
verfügt wurde, und die Bekanntmachung des
Bundesrats vom 19. März 1898 über die Muster-
statuten für Innungen u. s. w. Die Besonder-
heiten des neuen Gesetzes gipfeln in 1. der
fakultativen Zwangsinnung, 2. der Handwerks-
kammer, 3. einer anderen Regelung des Lehr-
lin^swesens. 4. Vorschriften zur Führung des
Meistertitels. Das neue Recht in Bezug auf die
Innungen unterscheidet sich insofern nicht
wesentlich von dem bisherigen, als die Auf-
gaben der Innungen, der obligatorischen wie der
fakultativen, die gleichen haben bleiben müssen.
Die Grundpfeiler, auf denen das genossenscht^-
liche Zusammenwirken sich bethätigen soll,
können nicht andere werden. Aber schwer wiegt
die Anordnung, dass auf Antrag der Beteiligten
die höhere Verwaltungsbehörde die Errichtung
einer Innung verfügen darf, der alsdann alle
Gewerbetreibenden innerhalb des betreffenden
Bezirks, die das gleiche Handwerk oder ver-
wandte Gewerbe betreiben, sich anschliessen
müssen. Näheres siehe im Artikel Innung.
Wirklich haben die Handwerker von dieser Er-
mächtigung verhältnismässig wenig Gebrauch
Seemacht, und selbst in einem Lande, wo der
Innungsgedauke seither sehr hoch gehalten
wurde, wie im Königreich Sachsen, überwiegen
die freien Innungen. Sehr bald ist in den
Handwerkerkreisen die Ueberzeugnn^ entstan-
den, dass auf den gegenwärtigen Bestimmungen
sich lebensfähige Innungen schlechterdings nicht
aufbauen Hessen. An vielen Orten haben nach
kurzem Bestände die Zwangsinnungen schon
wieder ihre Auflösimg beschlossen, und manche
Handwerk
1111
Handwerker, denen die Novelle sonst durchaus
zusagt, meinen doch, dass man von einer Neu-
organisation so lange hätte absehen müssen, als
die obligatorische Innung unerreichbar war.
Man will gefunden haben, dass die bedingten
Zwangsinnungen, d.h. solche, denen nur Meister,
die Gesellen und Lehrlinge beschäftigen, ange-
hören müssen, während die allein arbeitenden
Handwerker nur beitrittsberechtigt sind, besser
funktionieren als die unbedingten Zwangsin-
nungen, die alle umfassen und daher auch mit den
Innungsge^nern rechnen müssen. Trotz aller
Vorteile, die die Zwangsinnungen bieten sollen,
die, wie ihre Anhänger meinen, nicht zum Ruin,
sondern zur wahren Freiheit führen, wird auch
das Bild sich demnächst kaum ändern. Es mag
ja sein, dass eine sämtliche Handwerker einer
Art vereinigende Innung stärker ist als eine
freie Innung, der nur ein Teil der Fachgenossen
angehört, dass die Zwangsinnung freier operieren
kann, weil sie nicht den Austritt oppositions-
lustiger Mitglieder zu fürchten hat, dass sie die
Befolgung der Vorschriften über das Lehrlings-
wesen nachdrücklicher kontrollieren kann u. drgl.
m. Aber that«ächlich erscheint ehen doch den
meisten der Zwang hindernd, lästig, drückend.
Das Zusammenwirken vieler widerwillig ver-
einigter Elemente verspricht keine Erspriesslich-
keit. Vielleicht, wenn die Zwangsinnung auch
materielle Vorteile ihren Mitgliedern böte,
würde sie mehr Anklang finden. In der That
hat die „Deutsche Tischlerzeitung" jüngst den
Vorschlag gemacht, dass die in der Zwangs-
innung vereinigten, weil Vorschriften über
Preisfestsetzungen von Waren und Lieferungen
unzulässig sind, sich freiwillig in dieser Kichtung
verständigen möchten. Aber bis die Klein-
gewerbetreibenden in dieser Weise ihre Inte-
ressen wahrzunehmen gelernt haben werden,
wird noch lange hingehen. Jedenfalls bedurfte
es für Verabredungen über Preise, die noch
dazu den Konsumenten leicht unbequem werden
könnten, nicht eines solchen Apparates, wie er
in den fakultativen Zwangsinnungen sich zeigt.
VerheissnngsvoUer sind die Handwerks-
kammern, die nach § 103 bis 103 q der Reichs-
gewerbeordnung geschaffen werden sollen.
Schon im Frankfurter Handwerkerparlament
von 1848 angeregt, hörte die Eröffnung von
solchen nicht auf, während der siebziger Jahre
auf den verschiedenen Handwerkertagen die
Köpfe zu beschäftigen, und bildete einen Punkt
in dem neuen grundlegenden Programm des
Magdeburger Tages von 1882. Im folgenden
Jahre Hessen preussische Handwerker eine
hierauf bezügliche Petition dem Herrdnhause
zugehen, und auf den späteren Handwerkertagen
in Köln, Frankfurt a. M., Berlin, Kosen wurde
das Thema immer wieder gestreift, in letzterer
Versammlung eingehend erörtert. Die Hand-
werker wünschten diese Einrichtung, weil in den
Gewerbekammern, wie sie in Sachsen, Bayern,
den Hansestädten bestehen, ausschliesslich die
Grossindustrie Berücksichtigung fand, die neuen
preussischen , hierher gehörigen Institute als
völlig missglückt angesehen wurden. Der Ge-
danke selbst hat im Laufe der Zeit mehrfache
Klärung erfahren. Ursprünglich 1848 (§ 16 des
Entwurfes des Handwejrkerkongresses) wollte
man Specialgewerbekammern, die den gesetz-
gebenden Ständekammern beratend zur Seite
stehen sollten und sich sowohl mit den Gewerbe-
räten als mit den Arbeitsministerien über alle
gewerblichen Angelegenheiten zu benehmen ge-
habt haben würden. Die damals ausserdem ge-
wünschte allgemeine deutsche Gewerbekammer,
die sich jedesmal gleichzeitig mit dem deutschen
Parlament an dessen Sitz versammeln sollte,
würde ungefähr die Aufgabe des heute von den
Handwerkern geplanten „Reichsinnungsamtes"
gehabt haben, und die damais projektierten Ge-
werberäte (§9, 10 de« Entwurfes) wären etwa
den heute verlangten Handwerkerkammem
gleichzustellen. Auf den Handwerkertagen aus
den siebziger Jahren wurden „Gewerbehand-
werkerkammem, analog den Handelskammern"
verlangt, also eine offizielle Vertretung des Ge-
werbes überhaupt, des Handwerks insbesondere.
Eine 1878 in Magdeburg gefasste Resolution
besagt: „Das Handwerk ist berechtigt, die Ein-
setzung solcher Kammern zu verlangen, welche
in beständiger Fühlung mit der Gesetzgebung
es möglich machen, dass die das Handwerk be-
rührenden Gesetze und Verordnungen nur nach
Anhörung von Sachverständigen des Handw^erks
zu Stande kommen. Die Gesetzgebung von 1869
beweist zur Genüge, dass Gewerbe- und Hand-
werkerkammem zum Wohle des Handwerks
sowie des gesamten National Wohlstandes unbe-
dingt notwendig sind."
Der Versuch, den Fürst Bismarck im Jahre
1884 in Preussen machte, Kammern zu erlassen,
in denen Klein- und Grossindustrie, Handel und
Landwirtschaft vereinigt waren, befriedigte
nicht und glückte schlechterdings nicht. Ob-
wohl damals bereits sehr energisch eine klein-
gewerblichen Interessen gerecht werdende Ver-
tretung gefordert war, hielt man es doch in
Preussen für angemessener, eine einheitliche
Organisation der wirtschartlichen Interessen-
vertretung für sämtliche Zweige der gewerb-
lichen Thätigkeit anzubahnen. Die Aufgabe
der Kammern war, über die wirtschaft-
lichen Verhältnisse ihres Bezirks Erhebungen
zu veranlassen, Gutachten abzugeben, Anträge
an die Behörden zu richten u. s. w. Indes zu
einer erheblichen Thätigkeit sind sie nirgends
gelangt. Sie schliefen wieder ein, ehe sie noch
recht erwacht waren, und von einem frucht-
bringenden Erfolge konnte keine Rede sein.
Nun soll die Sache anders in die Wege ge-
leitet werden. Von jetzt an werden durch Ver-
fügung der Landescentralbehörde Kammern zur
Vertretung der Interessen des Handwerks ge-
schaffen. Ihre Aufgabe ist als eine doppelte zu
denken. Einmal haben sie die Vertretung der
Gesamtinteressen des Kleingewerbes schlechthin
sowie die Vertretung der Interessen der in
ihrem Bezirke vorhandenen Handwerker gegen-
über der Verwaltung und Gesetzgebung des
Staates. In dieser Beziehung werden sie die
Staats- und Gemeindebehörden durch Mitteilung
von Thatsachen und Gutachten über Hand-
werksangelegenheiten unterstützen, Wünsche
und Anträge, die in ihrer Mitte hervorwachsen,
beraten und zur Kenntnis der Behörden gelangen
lassen. Zweitens aber werden sie Selbstverwal-
tungskörper sein. Sie werden die nähere
Regelung des Lehrlings wesens haben und die
Durchführung der für dasselbe geltenden Vor-
schriften überwachen. Sie werden Ausschüsse
bilden, um Gesellenprüfungen abzunehmen und
1112
Handwerk
weitere EommisBionen^ nm Beschwerden über die
Bescheide der Prfifangsansschüsse zu behandeln.
Ueber ihre Organisation im einzelnen vgl. den Ar-
tikel Gewer bekammern obenBd.lV S. 499ff.
Mit dem 1. April 1900 sollten die nenen
Kammern in Kraft treten, und überall sind daher
die Wahlordnungen sowie die Bezirke der
Kammern bestimmt. Preussen wird deren 38,
Bayern 8, in denen 196 Mitglieder sind, Württem-
berg und Baden 4, mit je 24 Mitgliedern, Mecklen-
burg-Schwerin 1 mit mindestens 24 Mitgliedern
haben.
Sehr einschneidend versprechen die Be-
stimmungen über das Lehrlingswesen zu
werden. Von allen Abschnitten der modernen
Gewerbeordnung hat derjenige, der sich auf die
Regelung der Lehrlingsverhältnisse bezieht,
stets am wenigsten befriedigt. Der Wille des
Gesetzes hat mit der Wirklichkeit immer in
grellem Miss Verhältnis gestanden. So erwartet
man denn viel von den neuen Anordnungen,
die einerseits Garantieen bieten wollen, dass
der Lehrvertra^ zum Segen beider Teile aus-
schhige und die Lehrzeit auch fruchtbringend
wirke, andererseits der Lehrlingszüchterei, d. h.
einer missbräuchlichen Anwendung jugendlicher
Arbeitskräfte einen Rieoel vorschieben wollen.
Näheres im Artikel Lehrlingswesen. Die
darauf bezüglichen Abschnitte des Organisations-
gesetzes sind übrigens noch nicht in Kraft ge-
setzt.
Minder wichtig scheint die Regelung der
Berechtigung, den Meistertitel führen zu
dürfen, zu sein. Schon jetzt steht die miss-
bräuchliche Anwendung des Ausdrucks „Innungs-
meister*' von Seiten derer, die nicht Mitglieder
einer Innung sind, unter Strafe. Aber die
Handwerker nennen sich gewöhnlich nicht so,
sondern schlechthin Meister und legen, nament-
lich in den Kreisen der Baugewerbe Gewicht
auf diesen Titel. In vieler Beziehung erscheint
das ganze als eine leere Etikettenfrage, da man
sich schwer vorzustellen vermag, dass die
Konsumenten zu einem „Meister" grösseres
Vertrauen haben werden als zu einem anderen
Gewerbetreibenden. In weitaus der Mehrzahl
der Fälle weiss das Publikum überhaupt nicht,
ob es mit einem Meister oder mit einem Manne
zu thun hat, der auf diesen Titel keinen An-
spruch hat. Die Hauptsache ist, dass der Be-
treffende sein Gewerbe kann. Das merkt der
Konsument aber bald. Dem, der etwas versteht,
ist man alsdann gerne bereit, den Ehrentitel
„Meister" zuzugestehen. In Handwerkerkreiseu
denkt man indes anders. Man hofft eine Kräf-
tigung des Standesbewusstseins und eine Förde-
rung des soliden Geschäftsbetriebs zu erzielen,
indem man die Führung einer Minorität vorbe-
hält, eben derjenigen, die nach Absolvierung
der vorschriftsmässigen Lehr- und Gesellenzeit
eine förmliche Meisterprüfung bestanden hat.
In diesem Sinne ist jetzt die gesetzliche Regelung
erfolgt. Doch ist auch dieser Abschnitt in Kraft
getreten. Für die zu diesem Zwecke einzu-
führende Meisterprüfung werden von der höheren
Verwaltungsbehörde Prüfungskommissionen er-
nannt, bestehend aus einem Vorsitzenden und
4 Beisitzern. Wie nun aber die Prüfung abge-
halten werden soll, wird eine Prüfungsordnung
bestimmen, die die Handwerkskammer mit Ge-
nehmigung des Ministeriums erlässt. Zugelassen
wird zur Prüfung nur derjenige, der 3 Jahre
als Geselle in dem betreffenden Gewerbe thätig*
gewesen ist.
Wie man aus dieser Charakterisierung des
neuen Rechts entnimmt, sind demnach die
Wünsche der Handwerker keineswegs vollständig'
erfüllt worden. In Preussen oder wenigstens
speciell in Berlin klagen die Innungä verbände,
dass die Aufsichtsbehörden ihnen bei der Durch-
führung der Organisation nicht genügend ent-
gegen kämen. Das hat sogar am 25. April 1899
zu einer zahlreich besuchten Handwerksarbeiter-
versammlung in Berlin geführt, die Protest
gegen das Zwangsinnungsgesetz erhoben hat,
das die Hofhungen des Handwerks nicht erfüllt
hätte, und sich über die bisherige Handhabung*
beschwerte. Der Handwerkerstand habe das
Gesetz in dieser Form nicht gewollt. Eine der-
artige Haltung erscheint, so lange man noch
keine rechte Gelegenheit jp^ehabt hat, die Wirk-
samkeit des kaum in Kraft getretenen Gesetzes
zu erproben, verfrüht. Denn wenn auch in dem.
Hauptpunkt — der fakultativen Zwan^innnng —
die Organisadon zu versagen scheint, so ist
damit gar nicht gesagt, dass die übrigen Ab-
schnitte des Gesetzes ebenfalls erfolglos sein
werden.
Unter solchen Umständen aber hören die
Handwerker natürlich nicht auf, die Wünsche
in dem Geleise, wie es seit Jahren bekannt ist,
aufrecht zu erhalten.
Sie verlangen eine Beseitigung der Militär-
werkstätten, äusserste Einschränkung der Ge-
fangnisaibeit, Verbot des flausierens durch Aus-
länder und möglichste Beschränkung des Hausier-
handels, Beseitigung der Konsumvereine, ins-
besondere der Beamten- und Offiziervereine und
Warenhäuser, ein Verbot der Wanderlager und
aller Arten von Versteigerungen neuer Hand-
werkserzeugnisse, Beseitigung der Filialge-
schäfte oder Erschwerung derselben durch pro-
gressive Besteuerung, Beseitigung oder Regelung
des Submissions Wesens in der Richtung, dass
die sogenannten Unternehmer vollständig aus-
geschlossen werden, der Grundsatz, das nied-
rigste Angebot zu berücksichtigen, aufgegeben
und die Arbeit dem tibertragen werde, der mit
seinem Anschlage dem Mittelpreise zunächst
kommt, Vorzugsrechte für die Forderungen der
Bauhandwerker, Beseitigung des Firmen- und
Reklameschwindels und eine Aenderung der
Konkursordnung.
Gegenüber allen diesen Wünschen ist zu
bemerken, dass sowohl in den Kreisen des Hand-
werks als auch in denen der Re-gierungen die
Bedeutung der Organisation des Handwerks als
eines Rettungsmittels weit tiberschätzt wird.
Die Untersuchungen der letzten Jahre über
verschiedene Handwerkszweige bringen jetzt im
einzelnen die lange vermissten Nachweise, worin
die hauptsächlichsten Gri\nde für den Rückgang
des Kleingewerbes zu suchen sind. Diese
Forschungen, die sich auf die verschiedensten
deutschen Gebiete und auf die verschiedensten
Zweige, als Tischlerei, Tapeziererei, Schlächterei,
Klempnerei, Weissgerberei u. dgl. m. erstrecken,
lassen zur Evidenz erkennen, dass nicht die
Gewerbefreiheit, sondern die veränderte Technik,
der wechselnde Geschmack, der sich verschiebende
Absatz, das Kapitalbedürfuis , die Vernach-
lässigung der Erziehung und Ausbildung n. a. m.
Handwerk
1113
die üble Lage des Handwerks verschuldet haben, '
Es ist verkehrt zu glauben, dass die Tage des
Kleinbetriebes gegenüber der immer mehr sich
entwickelnden Grossindustrie gezählt seien.
Kann mau auch seine Domäne nicht genau ab-
grenzen^ wird auch durch keinerlei Massregeln,
welche immer man wühlen mag, die glänzende
Vergangenheit des Handwerks zurückkehren,
so steht doch seine Lebensfähigkeit für alle
Zukunft ausser Zweifel, und es lassen sich An-
ordnungen treffen zu seiner Förderung, ohne
den technischen und wirtschaftlichen Fort-
schritten entgegenzuarbeiten. Mau muss nur
darauf verzichten, einheitliche, überall in gleicher
Ausdehnung zur Anwendung kommen sollende
Vorschriften zu eruieren.
Die viel bewegte Organisation der Vertretung
der Berufsinteressen ist eine mehr interne An-
gelegenheit des Handwerks, die man nicht
nötig hat, durch Gesetz zu fördern. Die Wich-
tigkeit einer zusammenfassenden Vereinigung
soll nicht ausser acht gelassen werden, aber
wenn den versammelten Handwerkern nicht
Mittel an die Hand gegeben werden, wie sie
sich helfen soUen, wenn die Anregung ausbleibt
und die Kosten irgend welcher beabsichtigter
Veranstaltungen nicht aufgebracht werden
können, dann erscheint eine jede derartige
Organisation gänzlich verfehlt. Dafür ist das
beste Beispiel das Österreichische Genossen-
schaftswesen. Deswegen kann man es getrost
den Handwerkern überlassen, ob sie Innungen,
Gewerbevereine oder Genossenschaften gründen
wollen. Wohl aber thut es not, für das ganze
Land oder bestimmte grössere territoriale Ein-
heiten Mittelpunkte für das Gewerbe-
wesen zu scnaffen, die befruchtende An-
regung und Belehrung in die lokalen Korpo-
rationen hineinstrahlen können. Aehnliche Ver-
anstaltungen, wie die (Zentralstelle für Gewerbe
in Stuttgart, die Landesgewerbehalle in Karls-
ruhe, der Landesgewerbeverein in Darmstadt,
müssten auch in anderen Staaten und deren
Provinzen geschaffen werden. An solchen Stätten
könnte lehrreicher wirtschaftlicher und tech-
nischer Beirat erteilt werden und unter An-
lehnung an die von Innungen oder Gewerbe-
vereinen gegebenen Gutachten lokal bald die
eine Massregel bald die andere ergriffen werden,
um ein verfallendes Handwerk zu erhalten. Zur
Zeit umfassen alle Vereinigungen den kleineren
Teil der Handwerker. W^enn sich aber heraus-
stellen sollte, dass die Centralstellen sich ihrer
zur Hebung des Gewerbes zu bedienen wüssten,
dass< sie wirklichen Einfluss gewännen auf ge-
setzliche Massnahmen im Interesse des Hand-
werks, auf Zuwendung von Unterstützungen,
Begünstigungen bei Ausgeboten öffentlicher
Arbeiten u. dgl. m., so würden alle Kleingewerbe-
treibenden, ganz ohne jeden Zwang, durch ihr
eigenes Interesse darauf geführt, sich ihnen
anzuschliessen.
Am meisten kommt wohl die staatliche
Förderung und Unterstützung bis jetzt in
Baden dem Handwerk zu gute. Nicht nur,
dass hier ein Landesgewerberat (G. v. 15. Februar
1893) und eine Landesgewerbehalle zur Ver-
tretung des Gewerbestandes und als ein
Mittelpunkt für gewerbliche Anliegen der Staats-
angehörigen vorhanden sind, so wird auch mit
öffentlichen Mitteln nicht gekargt. Der staat-
liche Aufwand z. B. für Lehrlingswerkstätten
beträgt jährlich 12000 Mark, für die Prämi-
ierung von Lehrlingsarbeiten 6000 Mark, für
den öffentlichen Arbeitsnachweis 20000 Mark,
für die Handwerkerkammern 40000 Mark u. s. w.
Für Bayern betragen die direkt oder indirekt
dem Handwerk zu gute kommenden Aufwen-
dungen nach dem Budgetvoranschlage für 1900
und 1901 jährlich 1 132 403 Mark, einschliesslich
der Zuwendungen an die Handwerkskammeni.
Da in Bayern ähnlich wie in Baden neuerdings
dahin gestrebt wird, durch Errichtung von
Fachschulen, Lehrwerkstätten, Meister- und
Wanderkurse, Ausbildung von Lehrlingen u. s. w.
das Kleingewerbe zu unterstützen, so würden
grössere Beiträge am Platze sein. In Preussen
scheint man über Pläne zur wirksamen weiteren
Ausgestaltung des Kleingewerbes noch nicht
herausgekommen zu sein. Dagegen hat man
in Oesterreich, auf dessen Organisation
des Handwerks viele deutsche Kleingewerbe-
treibende sehnsüchtig zu blicken pflegen, sich
davon überzeugt, dass eine materielle Unter-
stützung nicht zu entbehren ist, falls man dem
Handweik seine Lebensfähigkeit erhalten und
ihm neuen Odem einhauchen will. Dort hat
im Jahre 1892 eine Gewerbeförderungsaktion
in grösserem Stile begonnen, die sich auf fol-
gender Bahn bewegt: Technische Förderung
durch Einführung bewährter Arbeitsbehelfe
und Arbeitsmethoden, Ausstellungen, Kursen
und Ueberlassung von Arbeitsbehelfen einerseits
und wirtschaftliche Organisation durch Förderung
der Errichtung von Genossenschaften, Einfluss-
nahme auf die Kreditgewährung und Lehrlings-
ausbildung andererseits. Für diesen Zweck
haben dem Handelsministerium seit Beginn der
Aktion im ganzen 865500 Gulden zur Ver-
fügung gestanden. Für 1898 waren 175000
Gulden im Budget des Handelsministeriums an-
gesetzt.
Litteratur: Für die Handwcrkerhewegung im
Jahre 1^4^149 kommen in Betracht die Proto-
kolle der deutschen NationaU'ersammlung und der
verschiedenen Ilandwerkertage, die Verhand-
lungen betr. die Beratung des Entwurfs einer
Verordnung zur Ergänzung der allgemeinen
iJeic.-Ordn. r. 17.— SO. VII. 1849, die zahl-
reichen Denkschriften und Petitionen. Eine ein-
gehende zusammenhängende Darstellung der
ganzen Bewegung ist noch nicht veröffentlicht.
Kurze Charakteristiken und einzelne Mitteilungen
finden sich hei Böhtnert, Freiheit der Arbeit,
Bremen 1858. — Ad, Braun ^ Die Arbeiter-
schutzgesetze, I, S. 10 ff., Tübingen 1890. —
Karl Braun, Für Gewerbefreiheil und Frei-
zügigkeit, Freiburg 1860. — Ha^emann, Art.
Ge^rerbe in Ersch und Grubers Encyklopädie 6,'J,
S. 888 ff. — Kaizl, Der Kampf um Gewerbe-
reform und Gewerbefreiheit in Bayern, S. SO ff.,
Leipzig 1879. — Mascher, Das deutsche Ge-
werbewesen, PoUdam 1866, S. SlSjff. — Meissner,
Eine Geirerbeordnung für Deutschland, Leipzig
1848. — Schäfße, Vorschläge zu einer gemein-
samen Ordnung der Gewerbsbefugnisse und
Heimatsrechtsverhältnisse in Deutsche Viei'ttl-
jahrsschr. 1859. — Schnioller, Zur Geschichte
der deutschen Kleingewerbe, S. 84 ff., Halle 1870.
— Für die Bewegung der letzten Jahr-
zehnte: Protokolle über die Verhandlungen
1114
Handwerk
der Delegiertentage des Vereins selbständiger
Handwerker und Fabrikanten Deutschlands, 1872
— 1881. — Verhandlungen des allgemeinen
deutschen Handwerkertages tu Magdeburg 1882.
— Protokolle über die Verhandlungen der
idlgenieinen deutschen Handwerkertage und der
Delegiertentage des all-gemeinen deutschen Hand-
werkerlnmdes 188S — 1895. (Von mehreren Tagen
sind keine Protokolle, sondern nur die Reso-
lutionen in den betreffenden Jahrgg. des Allgem.
Gewerbeblattes und der Allgem. Handwerker-
Zeitung veröffentlicht.) — I^otokolle über die
Verhandlungen der allgemeinen bayerischen
Handwerkertage und der Delegiertentage de»
bayerischen Handwerkerbundes 1883 — 1891.
— Die Protokolle des 5. und des 9. Tages sind,
soviel bekannt, nur in den betr. Jahrgg. 1887
und 1891 der Allgem. Handwerkerzeitung abge-
druckt. — Verhandlungen der deutschen
Innungstage zu Berlin 1885, 1888 und
1890. — Protokoll über die Verhandlungen des
Deutschen Innungs- und Allgemeinen Hand-
werkertages vom 14' — 17. IL 189£ und am 27. IV.
1897. — Bericht über die Verhandlungen der
Verbandstage des sächsischen Innungsver-
bandes 1888 — 1899. — Di-e im Texte genannten
Zeitschriften und Zeitungen. — Darstellungen
der Bewegung ßndcn sich in Bobertag, Die
Handwerkerfrage im Jahre 1886, Bernstadt i. Schi.
1880. — Eng. Jag er f Die Handwerkerfrage,
1. Abt., Berlin 1887 (auch für das Jahr 1848
bemerkens^veri und überhaupt sehr ^lehrreich).
— Ueber das Handwerk der Xeuzeit im
allgemeinen, vgl. insbesondere: Hugo BöttgeVy
Das Programm der Handwerker, Braun-
schweig 189S, — Derselbe f Für das Hand-
werk, Braunschweig 1894. — Derselbe, Ge-
schichte und Kritik des neuen Handwerkerge-
setzes vom 26. VJI. 1897, Leipzig 1898. —
Dannenberg, Das deutsche Handwerk, 1872.
— Drösle, Die Handwerkerfrage, IS84. —
Jlfajr; Haushofer, Das deutsche Kleingewerbe,
1885. — Thilo Hatnpke, Untersuchung über
die Wirksamkeit der schleswig-holsteinischen
Innungen, Altona 1894. — Derselbe, Der Be-
fähigungsnachweis im Handwerk, Jena 1892. —
Derselbe, Handwerker- oder Gewerbekammem,
Jena 1898. — Derselbe, Der VerUmd deutscher
Gewerbevereine, seine Entstehung etc., in Jahrb.
f. Ges. u. Verw., 17, >S, 1141—1198. — Der-
selbe, Das neue badische Gewerbekummergesetz
in Jahrb. J. Ges. u. Verw., 18, S. 161 — 194. —
Derselbe, Die Organisation des Handwerks
und die Regelung des Lehrlingswesens, in Jahrb.
f. Nat. u. St<iL, S. F. 7. S. 78-118, 505—601.
— Derselbe, Der hessische Landesgewerbei^erein
in Jahrb. f. Nat. u. Stat., S. F. 6, S. 851—869.
— Derselbe, Die neuere österreichische Aktion
zur Hebung des Kleingewerbes 1899. — Karl
Harms, Ist das deutsche Handwerk konkurrenz-
fähig f 1900. — F, Hoffmann, Die Organi-
sation des Handwerks, 1897. -r- F, C. Huber,
Zur Handwerkerfrage, 1896. — Hitze, Schutts
dem Handwerk, 1883. — Kolb, Der Hand-
rverker nach den Forderungen der Gegenwart,
1878. — Juliiis Keller, Das deutsche Hand-
werk, 1878. — Kleinwächter, Zur Reform der
Handwerksverfassung, 1875. — W. Kulemann,
Das Kleingewerbe, 1895. — Neubtirg , Der
deutsche Gesetzentwurf über die Regelung des
Lehrt ingswt'sens und die Organisation des Hand-
werks, in Handelsmuseum, 1898, Xr. 86, 37. —
Det*S€lbe, Zur Handwerkerfrage in Deutsch-
land, in Handelsmuseum, 1895, Sir .£6. — Dev~
selbe, Die Lage des Handwerks in Deutschland,
in Handelsmuseum, 1895, JVV. 37, 38. — Der"
selbe. Der Entwurf zur Abänderung der (ie-
werbeordnung in Archiv f. soz. Ges. S. 519jf. —
F, Perrot, Das Handwerk, seine Reorganisation ,
1876. — RUcklin, Das einheitliche Handwerk,
1880. — JPaul Scheren, Die Lehrwerkstätte,
THhingen 189 4. — Ang, Schwiedland, Klein-
gewerbe und Hausindustrie in Oesterreich,
Leipzig 1894. — Sehr. d. Ver. f. Sozialp.,
ed. Bücher, 62—70. — Richard Stege-
ntann, Die Organisation des Handwerks nach
den Vorschlägen des preuss. Handelsministers in
Jahrb. f. Ges. u. Vene, 18, S. 12J. — Wilh,
Stieda, Neuere gewerbepolitische Litteratur in
Jahrb. f. Sai. u. Stat., y. F. 2, S. 260 ff.; S,
S. 214 ff.; 20, S. 607 ff. —Derselbe, Stipendien
zum Besuche von Fachschulen in Mecklenburg.
GewerbebUitt, 1892198, JVr. 12. — Derselbe ^
Handwerkerorganisation in Mecklenburg, Ge-
werbeblatt, 189SI94, Xr. 16. — Derselbe, Hand-
werker- oder Gewerbekammern, in Deutsches
Wochenbl., 1898, Xr. 84. — Derselbe, Das
Handwerk und die Genossenschaften, in Deut-
sches Wochenblatt, 1895, Xr. 9. — Derselbe,
Der Befähigungsnachweis, Leipzig 1895. — Der--
selbe. Die Lebensfähigkeit des deutschen Hand-
werks, Rostock 1897. — Stöcker, Zur Hand-
werkerfrage, 1880. — A, Voigt, Die Organi-
sation des Kleingewerbes, in Zeitschr. f Staatsw.,
51, S. 267 ff. — Waentig, Gewerbl. Mittel-
standspolitik, 1898. — Denkschrift zn dem Ent-
würfe des Vei'bandes deutscher Gewerbevererfn
betr. Organisation des Gewerbes und Regelung
des Lehrlingswcsens. — Verhandlungen der
Versammlung des Verbandes detUscher Gewerbe-
vereine 1892—1899. -Berichte über die I>i"-
handlungen des deutschen Gewerbekammertagrs.
— München er rolkstr-irtschaftliche Studien,
ed. Brentano und Lotz, 1898 — 1895 (die Ar-
beiten V071 Francice, Sinzheimer, Herzberg,
Arnold). — Der Handwerker, Organ des
Centralausschusses der vereinigt. Innungsverbande
Deutschlan ds, 1898. — Deutsche Hand-
werkerzeitung (früher: Der Handwerker j,
seit 1895 volkstüirtschaflliches Centraiorgan für
den deutschen Handwerkerstand. Mit dem
Jahre 1900 eingegangen. — Allgemeine
Handwerkerzeitung (früher Allgemeine*
Gewerbeblatt), offizielles Organ des allgr-
meinen deutschen Handwerkerbundes, Mün-
chen, Jahrgang 189S — 1900. — Sozialpoli-
tisches Central b tat t (später Soziale I^xisi,
1898 — 1900, — Protokolle der Landes- Ausschuss-
Sitzung des Verbandes badischer Getterhcrerein^.
— Berichte des K. K. Handelsmiiiisteriums vh^r
die Verwendung des zur Förderung des Kit in-
gejcerbes bewilligten Kredits, 1895, 1896. —
Die Gew erbescha u , sächsische Gewerlt^ -
Zeitung. WUh. Siieda.
Handwerk^organisation
s. Gewerbegesetzgebung oben Bd, IV
S. 410 ff.
Hanse
1115
Hanse.
Als Ilanse bezeichnet der übliche Sprach-
gebrauch eine vom 13. bis ins 17. Jahr-
hundert bestehende Vereinigung niederdeut-
scher Kilsten- und Binnenstädte, zusammen-
geti^teu zum gemeinsamen Schutze ihres
Handels. Lübeck, Bremen, Hamburg (so die
alte hansische Rangordnung) führen noch
heute offiziell den Titel: freie Reichs- und
Hansestädte und bewahrten über den Be-
stand des alten hansischen Bundes hinaus
(hanseatisch ist eine durchaus moderne, der
Latinisienmg entspringende Bezeichnung)
einen gewissen gemeinsamen Besitz, der
erst mit der Yeräusserung des »Stalilhofes«'
in London (1853) und des »Hauses der
Osterlinge« in Antwerpen (1863) verschwand.
Was sie in neuei'er Zeit an gemeinsamen
»hanseatischen« Institutionen besessen liaben
(Gericht, diplomatische Vertretung) verdankt
nachhansischer Zeit seine Entstehimg.
Die Zugehörigkeit zur Hanse lässt sich
nicht mit einer kurzen Wendung klarstellen ;
sie deckt sich weder mit der Zugehörigkeit
zum deutschen Reich noch zur niederdeut-
schen Zunge noch mit der Lage an oder
nahe den deutschen Küsten. Ihr einziges
diu-chgi-eifendes Merkmal besteht in der
Teilnahme an den Rechten des deutsclien
Kaufmanns im Auslande. Niemals hat sich
hansische Zugehörigkeit wesentlich über die
Südersee hinaus erstreckt. Die Städte der
Grafschaften Holland, Seeland, Flandern,
durch Volksart und Nalunmgszweige dem
hansischen Gebiete nahestehend, haben ge-
legentlich wohl in Bündnissen mit der Hanse
gestanden, sind aber nie ihre Genossen ge-
wesen. In Geldern, Utrecht, Friesland zählte
sie zalilreiche Glieder; an der Maas ist das
französisch sprechende Dinant im Lütticher
Lande die südlichste Hansestadt, am Rhein
wahi^uheinlich Andernach. Nach Nordosten
ist der äusserste Posten Reval, nach Süd-
osten Krakau, Breslau, Halle. Den Harz
hat die Hanse binnenwärts nie überschritten ;
an der Leine reicht sie bis Göttingen, an
der Weser bis Höxter. Die gegen Ende des
Mittelalters behufs einer einzuführenden
Taxe zusammengestellten Listen von Hanse-
städten sind insofern irreführend, als sie die
Vorstellung bestärken, dass allein Städtebe-
wohner hanseberechtigt gewesen seien. Auf
den Tagfahrten ei-scheinen allerdings fast
nur Städte vertreten, und nur die auf den
Listen verzeichneten sind zu den Tagen ge-
laden worden, aber andererseits haben doch
auch Bewohner des flachen Landes Anteil
gehabt an den hansischen Rechten, beson-
dere in der früheren Zeit. Sicher nach-
weisbar für verschiedene Perioden ist das
für Westfalen, für einzelne Jahrhunderte für j
die Gebiete des deutschen Ordens, den !
Niederrhein, Pommern etc. Aus der of-
fiziellen Liste lassen sich gut 90 Hanse-
städte zusammenstellen. Das Jahr angeben
zu wollen, wann eine einzelne Stadt in die
Hanse ein- resp. aus ihr ausgetreten ist
(Bädekers Reisebücher machen häufig solche
Angaben), ist — bis auf ganz vereinzelte
Fälle — ein Unding.
Ebensowenig wie die Zusammensetzung
des hansischen Bundes sich für jede be-
liebige Zeit mit voller Sicherheit ermitteln
lässt, ebensowenig kann man seine Ent-
stehung zeitlich genau fixieren. Das Wort
Hanse, ursprünglich eine Vereinigung, eine
Genossenschaft bedeutend, besonders zu
kaufmännischen Zwecken, wird für die Ge-
samtheit der Städte erst um die Mitte des
14. Jahrhundei-ts gebraucht. Frülier er-
scheinen die gemeinsamen Intei'essen kon-
centriert im »gemeinen Kaufmann (communis
mercator)« mit oder ohne den Zusatz »deut-
scher Nation«, und diese Bezeichnung ist
auch neben dem Namen »Hanse« in voUer
Kraft geblieben, so lange der Bund gedauert
hat. Im Zusammenschliessen deutscher
Kaufleute im Auslande hat man auch den
Keim der Hanse zu erblicken. Ein solches
Zusammenschliessen fand statt, längst be-
vor die Städte daheim sich einander näherten :
es reicht ins 12., ja 11. Jahrhundert zurück,
in eine Zeit, wo der Kaufmann seine Stütze
gegen das Ausland noch nicht in städtischen,
sondern in Landes- und Territorialgewalten
zu suchen hatte. Von besonderer Bedeutung
ist die Genossenschaft der deutschen Kauf-
leute auf Gotland gewoi*den, indem sie zu-
erst Angehörige der verschiedensten nieder-
deutschen Gebiete in sich vereinigte. Mit
der wachsenden Bedeutung der Städte, wie
sie in Niederdeutschland besonders nach
der Zertrümmerung der Macht Heinrichs
des Löwen hervortrat, mussten diese auch
einen stärkei^n Einfluss auf ihre Ange-
hörigen im Auslapde gewinnen ; doch liaben
selbst Lübeck und 'Ilamburg noch in der
2. Hälfte des 13. Jahrhunderts sich in ihren
Beziehungen zu aussertleutschen Mächten
mit Vorliebe der Vermittelung und Unter-
stützung benachbarter imd befreundeter
Territorialherren bedient. Von besondei-er
Bedeutung ist das überaus rasche Empor-
steigen des so günstig gelegenen Lübeck
geworden. Noch im Laufe des 13. Jahr-
hunderts tritt es in eine gewisse Leitung
der gemeinstädtischen Handelsinteressen ein
und erscheint als die Fülirerin aller der-
jenigen niedei'deutschen Städte, für welche
die Stellung des deutschen Kaufmanns im
Auslande, überliaupt der gesicherte Handels-
verkehr, von Bedeutung war. Gefönlert
wurde der Zusammensclüuss durch die
mancherlei Verträge, Einungen, Bündnisse,
die seit der Regierung Friedrichs 11. unter
1116
Hanse
deutschen Städten geschlossen wurden, unter
denen man von dters her dem 1241 ge-
schlossenen ersten Bündnis zwischen Lübeck
und Hambiu-g eine besondere Bedeutung
zugeschrieben, es häufig als die Gründung
der Hanse bezeichnet hat. Wichtiger ist
doch die Verbindung geworden, die seit den
letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts
unter den 6 sogen, wendischen Städten
(auch slaT\dsche,Seestädte, civitates maritimae :
Lübeck, Rostock, Stralsund, Wismar, Ham-
burg, Lünebiu'g) erkennbar wird; sie ist
fast während des ganzen Bestehens der
Hanse ihr Kern gebfieben.
Niemals hat sich die Hanse zu einem
festen auf Statuten begründeten Bund ent-
wickelt, niemals eine gemeinsame Welu-ver-
fassung gehabt, ja nie einen Krieg geführt,
an dem alle Alitglieder aktiv beteiligt ge-
wesen wären. Zu kriegerischem Vorgehen
entschlossen sich fast stets nur die an den
gefährdeten Interessen zunächst beteiligten
Genossen imd trafen dann besondere Ver-
einbarungen. Die Angelegenheiten des
Bmides wurden auf Tagfahrten beraten, die
aber niu* selten allgemeine Hansetage waren.
Es sind Jalu'zehnte hingegangen ohne letztere,
während andererseits nur ganz wenige Jahre
einen wiederholten Hansetag aufzuweisen
haben. Versammlungen landschaftlichen
oder territorialen Charakters waren dagegen
häufig, vor allen Dingen solche der wendi-
schen Städte, üeberhaupt hat die land-
schaftliche Zusammengehörigkeit, die vielfach
einen rein territorialen Charakter «annimmt
(overijsselsche, geldcrnsche, klevesche, mär-
kische Städte etc.), wäln-end des ganzen Be-
stehens der Hanse für die Organisation der-
selben eine tiefgi'eifende Bedeutimg bewahrt.
Neben ihr besteht in der älteren Zeit die
Drittehmg, deren ürspnmg wahrscheinlich
in der Organisation des Kaufmanns ausser-
halb Deutsclilauds zu suchen ist, seit dem
16. Jahrhundert die ziemlich äusserliche
yuartiereinteilung. Die grösste Bedeutung
hatte filr die Organisation der Hanse die
Kölner Konföderation von 1367, die füi' die
nächstfolgenden Jahre einen festeren Zu-
sammenhalt schuf, als er je vorher oder
nachher wieder bestanden hat Gegen Ende
des 15. Jahrhunderts versuchte man durch
eine Matrikel eine gewisse Beiti-s^spflicht
für alle Mitglieder verbindlich zu machen;
zur voUen Durchführung ist diese Massregel
doch nie gelangt, und vor allem hat sie
nicht, was ilu- Hauptzweck war, regelrecht
verteilte kriegerische Leistungen zu gegen-
seitiger Untei-stützung erzwingen können.
Stets ist Lübeck als Haupt- und Vorort der
Hanse betrachtet worden, wenn auch diese
Stellung nicht allezeit unangefochten blieb.
Lübeck führte den Vorsitz auf den Tag-
fahrten, die am häufigsten in seinen Mauern
gehalten wurden, bewahrte die hansischen
Privilegien und führte die Korrespondenz des
Bundes.
Der Hansebund ist niemals formell auf-
gelöst worden. Die letzte von mehr als den
heutigen drei Hansestädten besandte Tag-
fahrt fand 1669 statt, nachdem allerdings in
ziemlich 40 Jahren keine Versammlung zu-
sammengetreten war. Man könnte den
Niedergang des Bundes zumeist als ein
Zerbröckeln bezeichnen. Die wachsende
Macht der Landeshen-en schnitt ihm zahl-
reiche Glieder ab, die angewiesen wurden,
die Vertretung ihrer Interessen beim Terri-
torialherrn zu suchen. Die Hansestädte
waren mit wenigen Ausnahmen Landstädte
und von diesen niu* wenige (Hamburg,
Bremen, Braunschweig, Magdeburg, Danzigj
mächtig genug, sich ihren Landesherren
längere Zeit mit Erfolg zu widersetzen.
Die Abbröckelung begann mit der I^slösung
der märkischen Städte durch Kurfürst Fried-
rich n. 1442. Das Sinken der Ordensmacht
im Osten im 15., mehr noch das Empor-
wachsen der niederländischen Selbständig-
keit im Westen im 16. Jahrhundert, das die
gesamten friesisch-süderseeisch-geldernschen
Glieder in einen neuen Kreis zog, lockerte
den Bund. Entscheidend wurde aber die
Thatsache, dass die Bedeutung des nonl-
deutschen Aussenhandels mit dem 16. Jahr-
hundert rasch und rascher zu sinken begann,
die deutsche Flagge auf den nördlichen
Meeren, der deutsche Kaufmann in den
nordeuropäischen Handelsplätzen melu' und
melir in eine untergeordnete Stellung ge-
drängt wuixle.
Die Hanse war im Verkelu*sleben Nord-
eiu'opas gross gewoi-den. Die Bedeutung
Lübecks, Hambm-gs, der wendischen Städte
für das Emporkommen der Hanse, ihre
Stellung in dieser beruhen auf der Thatsache,
dass ihi^ geographische Lage den Austausch
der Handelsprodukte West- und Nordot^t-
europas in ihre Hand legte. Zu einer Zeit,
wo man eine Fahrt übers offene Meer niu:
ungern unternalim, zumal die Falut durch
die schwierigen Gewäs.ser zwisclien Ost-
und »Westsee« aus melu' als einem Grunde
scheute, musste der südwestliche Winkel der
Ostsee, der der unteren Elbe und damit
dem Ausgangspunkte der üblichen Noixlsee-
Wattenfahrt so nalie lag, füi* alle Waren,
die aus den Küstengebieten des baltischen
Meeres kamen, der natürliche Sammelpunkt
sein, andererseits auch der natürliche Ein-
schiffungspunkt für den Verkehr imd Ik^
sonders für die Kolonisation, die aus den
niederländischen vmd rheinisch- westfälischen
Gebieten die Richtung auf die östlichen
Gestade dieses Meeres nalimen. Brügge im
Westen, Nowgorod im Osten wai-en die
Haupt centi'en dieses Austausches imd daher
Hanse
1117
früh Sitz hansischer Niederlassungen (Kon-
tore). Salz und "Weine Westfrankreichs, die
flandrischen Tuche, alle die mannigfaltigen
Erzeugnisse der höheren Kultur und des
günstigeren Klimas des Westens und Südens
bildeten einerseits, Wachs, Pelzwerk, schwe-
dische Erze, überhaupt die Rohprodukte des
Nordostens andererseits die Hauptgegen-
stände dieses Verkehrs. Gemehrt wurde
derselbe durch die Ausbeute der Lüneburger
Salzlager. Die Entwickelung der Nautik
und der friesische Wagemut zur See führten
mit dem abgelaufenen 13. Jahrhundert zur
direkten Nordostseefahrt, die zunächst in
der Mitte des Weges, an der südwestlichen
hakenförmigen Spitze von Schonen, auf dem
Inselkem von Skauör und Falsterbo, einen
Umschlagsplatz suchte. Die voi^liegenden
Gewässer w^aren ohnehin wegen ihres Reich-
tums an Heringen im Sj^ätsommer ein
Sammelpunkt zahlloser skandinavischer und
deutscher Fischer, und als nun jener Um-
tausch sich dort hinzog und den ohnehin
stattfindenden starken Ilandel mit den Pro-
dukten des Fischfangs und den Zufuhren
der Bauern noch steigerte, wurde diese öde,
kleine Halbinsel durch Jahrhunderte für die
genannte Jahreszeit einer der belebtesten
Verkehrsplätze Europas. Obgleich die di-
rekte Fahrt, besonders seitdem sich wesent-
lich die Holländer in ihr festgesetzt hatten,
mehr und mehr in Aufnahme kam, be-
hauptete der Handelsweg Trave-Niederelbe
doch neben ihr seine Bedeutimg bis tief
ins 16. Jahrhundert und hat auch in den
ungünstigsten Zeiten nicht völlig öde gelegt
werden können (noch heute nehmen gewisse
Waren den Weg von Petersburg nach London
über Lübeck!). Der Nordostvseekanal hat
dieser Gunst der geographischen Verhält-
nisse ihre alte Bedeutung schon -zum Teil
zurückgegeben und wird das fernerhin in
steigendem Masse thun. In der Ausnutzung
dieses Weges und in der damit verbundenen
Beherrschung des Ostseehandels liat während
des ganzen Bestehens der Hanse der Haupt-
faktor ihrer Maclit und Grösse gelegen.
Auf dieser Basis emporgewachsen, hat
sie auf allen nordeuropäischen Verkehrs-
gebieten eine achtbare, ja gebietende Stellung
zu erringen vermocht. Sie bemächtigt sich
im Laufe des 14 Jahrhunderts nicht nur
der schonenschen, sondern auch der nor-
wegischen Fischerei und versorgt mit den
Erträgen derselben den Westen wie den
Osten. Um die Ausbeutung der Meere um
Island ringt sie mit den Engländern. Ihi-e
Flotten erecheinen, hunderte von Segeln
stark, an den französischen Westküsten und
versorgen nicht nur die Heimat, die Skandi-
navier und nördlichen Slaweu mit den Er-
zeugnissen jener Gebiete, sondern vermitteln
auch deren Wai-enaustausch mit England.
Die rhemischen Kaufleute bringen diesem
Lande ihre Weine, Eisen- und Seidenfabri-
kate und führen englische Wolle und Tuche
hinüber nach Flandern und Deutschland.
Ein grosser Teil des Handels mit englischen
und fremden Waren nach imd aus englischen
Häfen wurde durch Hansen vermittelt,
während andererseits die Engländer, abge-
sehen vom Danziger Getreide- und Holz-
handel, in den hansischen Häfen wenig in
Betracht kamen. Eine ähnliche, wenn auch
nicht ganz so überlegene Stellung gewann
die Hanse gegenüber dem flandrisch-bra-
bantischen Handel. Getreide, die Produkte
des Wald- und Bergbaues, gingen aus den
Elbe- und Wesergebieten in Menge nach
den stark bevölkerten und gewerbreichen
Scheidegegenden, doch ganz überwiegend
durch hansische Kaufleute und Schiffer.
Das skandinavische Handelseebiet be-
herrschten sie seit den w^demarischen
Kriegen durch anderthalb Jahrhunderte so
gut wie unumschränkt. Die nordischen
Völker, die einst auf ihren Wikingerfahrten
Europa in Schrecken gesetzt hatten, die
heute in der europäischen Reederei nach den
Engländern eine der ei-sten Rollen spielen, ver-
schwinden durch mehr als zwei Jahrhunderte
fast völlig von der See und können sich
kaum in der dürftigen Binnen- und Küsten-
schiffahrt behaupten. Wenn schwedische
Städte, wie Wisby, Stockholm, Kalmar, noch
eine gewisse Bedeutung bewahren, so sind es
die in ihnen ansässigen deutschen Elemente,
auf denen dieselbe beniht. Was Russland,
Polen, Littauen über die Ostsee empfangen
oder ausführen, geht durch hansische Hände.
Ein Netz von grösseren oder kleineren Ge-
samt- oder Sonderniederlassungen breitet
sich aus über den ganzen Norden Europas,
und, gestützt auf vier gemeinhansische Haupt-
kontore (Brügge, London, Bergen, Nowgorod)
ist die Thätigkeit des deutschen Kaufmanns
und Schiffers überall bedeutungsvoll, viel-
fach ausschlaggebend. Wie man füi' das
17. Jahrhundert von einer holländischen, für
das 18. imd 19. von einer englischen Han-
delsherrschaft spricht, so übte eine solche
vom 14. bis zum 16. Jahrhundert in den
nordeuropäischen Gewässern zweifellos die
Hanse.
Sucht man nach den Ursachen dieses
Uebergewichts, so sind dieselben keineswegs
in erster Linie wirtschaftliche. Gerade die
Geschichte der Hanse ist wie kaum eine
geeignet, zu warnen vor der Ueberschätzung
wirtschaftlicher Momente, zu der unsere Zeit
in ihren historischen Betrachtungen neigt.
Es kann gar keinem Zweifel unterworfen
sein, dass die vorzugsweise, ja ausschliess-
lich in Frage kommenden germanischen
Völker: Engländer, Niederdeutsche, Skandi-
navier, in ihrer wirtschaftlichen Veranlagung,
1118
Hanse
geistig wie körperlieh, in allem wesentlichen
die völlig gleiche Stellung einnehmen. Die
Hanse hatte vor den Skandinaviern die
frühere Städteentwickelung voraus und die
damit verbundene grössere Koncentration
der wirtschaftlichen Kräfte, vor allem des
Kapitals. Es wird von den skandinavischen
Historikern nicht ohne Grund als Haupt-
nachteil der mittelalterlichen hansischen Han-
delsherrschaft hervorgehobeUj dass sie das
nordische Städtewesen in seiner Entwicke-
lung gehemmt habe. Aber so weit die Hanse
auf diesem Gebiete den nordischen Nachbarn
voraus war, so weit und wohl noch weiter
stand sie in dieser Entwickelung hinter den
westlichen Konkurrenten zurück. Auch die
bedeutendsten Hansestädte haben sich an
Grösse und Wohlstand nie messen können
mit den grossen flandrisch-brabantischen,
englischen und französischen Kommunen.
Was ihnen aber einen Yorsprung gab vor
allen diesen, und zumal vor Engländern und
Franzosen, das war ihre politische Selbstän-
digkeit, die Möglichkeit, ihi*e Politik aus-
schliesslich nach den Interessen des eigenen
Gemeinwesens zu richten. Italien und
Deutschland haben ja als die Sitze der
nominellen europäischen Centralgewalten im
Mittelalter das Schicksal völliger staatlicher
Zersplitterung erfahren, aber in eben dieser
Zersplitterung haben allein jene Handels-
republiken in beiden Ländern emporwachsen
können, die den abendländischen Handel
des Mittelalters beherrschten. Es lässt sich
an hundert und aber hundert Beispielen er-
härten — so weit die Hanse m Frage
kommt, an allen monarchischen Gewalten,
mit denen sie in Berührung gekommen ist — ,
wie sehr die ausschliesslich auf die eigenen
Yerkehrsinteressen gerichtete Politik dieser
Stadtstaaten jener der fürstlichen Territorien
überlegen war, in denen in erster Linie die
Dynastie, erst in zweiter Land und Volk
massgebend waren. Nie hätte die Hanse
ihre Stellung zu erringen oder auch nur
auf Jahrzehnte zu behaupten vermocht ohne
den fast ununterbrochenen gegenseitigen
Hader der skandinavischen Staaten, die eng-
lisch-französischen Kriege, die Kämpfe der
Rosen und hundert andere innere und äussere
Wirren, die nicht nur die Aufmerksamkeit
der Fürsten von den wirtschaftlichen In-
teressen ihrer Länder ablenkten, sondern sie
auch nötigten oder geneigt machten, Unter-
stützung oder günstige Haltung der Hanse-
städte durch liandelsj)olitische Zugeständ-
nisse zu erkaufen. Der geschickten Be-
nutzung derartiger Situationen verdankt die
Hanse wesentlicii die zahlreichen Privilegien,
die die Lübecker Truhe l)e wahrt und deren
H(\<itz ihre Angehörigen mit Zuversicht und
Selbst veilmuen erfüllte». Die Stellung der
Hanse sank in dorn Masse, wie die nordischen
und westeuropäischen Reiche sich innerlich
festigten, äusserlich einen bestimmten Be-
stand gewannen. Die definitive Vertreibung
der Engländer aus Frankreich, der Sieg der
Tudors in England selbst, die endgiltige
Lösung der skandinavischen Union und die
Erhebung der Wasas in Schweden waren
ebenso viele Nägel zum Sarge der Hanse,
wemi auch die überall befestigten politischen
Gewalten nicht immer so plump Zugriffen
wie Iwan III. Wassiljewitsch , der Einiger
des russischen Reiches, bei der Schliessung
des Hofes von Nowgorod. In dem neuen
Emx)pa war für die Hanse kein Platz mehi*
Sie war stark gewesen unter Schwachen;
gegenüber einem von Königen verti^teneu
nationalen Willen, wie er sich in merkan-
tilen Fragen am schärfsten in England
äusserte, vermochte sie nichts. Denn sie
hatte keine Stütze in ihrem Volke, das
staatlicher Einigung entbehrte. Die Selb-
ständigkeit ihrer Glieder wurde vielmehr
angefochten von den eigenen heimischen
Territorialgewalten, und die Kehrseite der
bisherigen selbständigen wirtschaftlichen
Ent^dckelung war, dass eine tiefe Kluft sich
aufgethan hatte zwischen den Interessen
von Stadt und Land, die nicht überbrückt
werden konnte ohne eine höhere, über
beiden stehende Macht. Eine solche aber
fehlte. Es ist der Hanse zum Voniviu'f ge-
macht worden, dass sie zu starr am alten
gehangen, zu sehr sich gesteift habe auf
ihre verbrieften Rechte. Hätte sie diese
williger preisgegeben, sie würde ihren Unter-
gang nur noch mehr beschleunigt haben,
denn unter den Gegnern war keiner, der
nicht unter allen Umständen genau mit der-
selben, ja mit grösserer Rücksichtslosigkeit
sich an die Stelle der Hanse gesetzt hätte
in dem Augenblicke, wo er die Macht dazu
fühlte. Die einzigen Mittel, mit denen man
die alte Stellung hätte aufrecht erlmlten
können, waren Pulver imd Blei; von ihrer
Anwendung aber konnte, nachdem der
Donner des nordischen siebenjährigen Krieges
erfolglos verhallt war, nicht mehr die Reile
sein. Man tadelt die Hanse, dass sie nicht
gleich Holländern und Engländern einge-
treten sei in die neuen überseeischen Unter-
nehmungen nach Ameiika und Ostindien.
Man vergisst, dass Holländer und Engländer
in diese Unternehmungen erst eintraten
veranlasst durch ilire Kriege mit Sjiauien,
zu einer Zeit, wo die Hanse schon zu den
Toten zählte, dass nach Amerika ein g»^
winnbringender Handel im 16. Jaluliundert
überhaupt nicht getrieben weixleu konnte,
der Verlegung des ostindischen Marktes von
Venedig nach Lissabon die Hansen al>tT
ebenso schnell, ja schneller Rechnung ge-
tragen haV)en als die Holländer. Die Los-
reissung dii\^er 8ee- und handelsgewohnten
Hause — Hanssen
1119
Stammesverwandten von der spanischen
Monarclüe, die ihre Handelspolitik unab-
hängig machte von den Wünschen imd In-
teressen ferner Könige, besiegelte den Unter-
gang der Hanse. Auch mit schwächerer
Kapitalkraft erhoben sich Kopenhagen, Stock-
holm und Bergen neben und über Lübeck,
von Amsterdam und London gar nicht zu
reden; die alte Tüchtigkeit der nieder-
deutschen Bevölkei-ung aber, die den hanse-
schen Geist geboren hatte, lebte auch ohne
namhaftere Bethätigimg fort, um in unserem
Jahrhundert unter günstigeren Verhältnissen
sich neue Bahnen zu eröffnen. Es ist
zweifellos, dass auch ihre Erfolge stehen
und fallen mit der Kraft und Emheit des
Reiches.
Oft hat man darauf hingewiesen, dass
mangelnde Einigkeit den Untergang der
Hanse beschleunigt habe. Gewiss hat z. B.
Hamburgs Sonderpolitik im 16. Jahrhundert
nicht wenig dazu beigetragen, diese Stadt auf
Kosten des Bundes zu heben. Aber man
muss doch sagen, dass von einer wirklichen
Einigkeit auch in den besten Zeiten der
Hanse nicht die Eede sein kann, dass sich
die einzelnen Städte sehr selten gescheut
haben, Sonderinteressen den allgemeiaen
voranzusetzen. In dieser Beziehung trägt
die Hanse den Stempel ihrer Zeit; war es
doch mit der Eidgenossenschaft, ja mit dem
deutschen Reiche nicht anders. Die Haupt-
sache ist, dass diese lose Verbindung den
Anfordeningen zweier Jahrhunderte genügte.
Sie brachte den deutschen Namen zur Gel-
tung im gesamten Norden Eiut)pas und ge-
wann unserem Volke eine Stellung auf dem
Meere, wie es dieselbe seitdem nicht wieder
errungen hat. Mögen die materiellen Leis-
tungen, verglichen mit denen unserer Tage,
gering gewesen sein, sie reichten aus, ein
Deutschland auf dem Meere zu schaffen und
deutscher Arbeit, deutscher Sprache, deut-
scher Sitte Einfluss zu sichern weit über
die Grenzen des Reiches hinaus. Darin
wird der Deutsche stets ein Verdienst der
Hanse sehen; dass es ein vorübergehendes
war, hat seinen Grund in erster Linie in
den allgemeinen Geschicken unseres Volkes.
Lltteratur: Die Recesse und andere Akten der
Hantetage, herausgegeben von K, Koppmantif
G. V, d. Rap^p, D. Schäfer,, Leipzig 1870 —
1899, bis jeUt 21 Bde. in 8 Abt, (1256—1516).
— Ilansitches Urhindenbuch , herausgegeben
von K. Höhlbatini, K. Kunze, W, Stei^n,
6 Bde., Halle 1876—1899 (—UU, 1451— I46S).
— Inrentare hansischer Archive I (Köln), Leipzig
1896. — Hansische Geschichtsquellen, 8 Bde., Halle
1875 — 1899. — Hansische GeschichtsbUitler^heraus-
gegeben von K. Kopptnann in 27 Jahrgängen,
Leipzig 1871—1899. — V. Schuf er, Die Hanse-
stüflte und König Waldemar von Dänemark.
Hansische Geschichte bis 1876, Jena 1879. —
Lappenberg, Urkundliche Geschichte des han-
sischen Stahlhofes zu London, Hamburg 1851. —
H. Handelmann, Die letzten Zeiten hansischer
Uebermacht im skandinavischen Norden, Kiel
18.58. — C H, Allen, De tre nordiske Rigers
Historie under Hans, Christiern den Anden,
Frederik den forste, Gustav Vasa, Grevefeiden
1497—1586, 5 Bde., Kopenhagen 1864—187i. —
Q, Waitz, Lübeck unter Jürgen Wullenweicer
und die europäische Politik, 8 Bde., Berlin
1855156. — D. Schäfer, Die Hanse und ihre
Handelspolitik, Jena 1885. — Derselbe, Das
Zeitalter der Entdeckungen und die Hanse,
Hansische Geschichtsblätter, Jahrgang 1897. —
Derselbe, Deutschland und England im Welt-
handel des 16. Jahrhunderts, Preuss. Jahrb.
Bd. 83. — Derselbe, Deutschland zur See,
Jena 1897.
D. Schäfer,
Haussen, Georg,
wurde am 31. V. 1809 zu Hamburg geboren.
Da seine Eltern aus dem Herzogtum Schles-
wig stammten, so hat auch er stets Schleswig
als seine eigentliche Heimat betrachtet. Hansseu
erhielt seine Schulbildung auf der Gelehrten-
schule des Johanneums zu Hamburcf und bezog
Ostern 1827 die Universität Heidelberg, um
Eechts- und Staatswissenschaften zu studieren.
Hier übte Rau den gross ten Einflass auf die
Richtung seiner Studien aus, die er später unter
Niemann in Kiel fortsetzte. 1831 promovierte
und Ostern 1833 habilitierte sich Hanssen an
der Universität Kiel. Im Herbst des Jahres
1834 ging er als Kammersekretär für die
deutsche Abteilung des Generalzoll-, Kammer-
und Kommerzkollegiums nach Kopenhagen, wo
er 1835 zum Kammerrate ernannt wurde. 1837
kehrte er als ordentlicher Professor der National-
ökonomie und Statistik nach Kiel zurück, folgte
Ostern 1842 einem Rufe an die Universität
Leipzig, vertauschte im Jahre 1848 den Leip-
ziger nationalökonomischen Lehrstuhl mit dem
gleichen an der Universität Göttingen, von wo
er im Herbst 1860 nach Berlin als Professor an
der Universität und als Mitglied des königl.
preussischen statistischen Bureaus übersiedelte.
Im Jahre 1869 ging er in seine frühere Stellung
nach Göttingen zurtlck, woselbst er als Ehren-
mitglied der kgl. Akademie der Wissenschaften
in Berlin, der er seit 3. VII. 1862 als Mitglied
angehörte, am 19. XII. 1894 starb.
Hanssen veröffentlichte von staatswisseu-
schaftlichen Schriften a) in Buchform:
Agriculturae doctrina Cathedris Universi-
tatum vindicatÄ. Dissert. inaugur., Altonae 1832.
— Historisch-statist. Darstellung der Insel
Fehmarn, Altona 1832. -- Statistische For-
schungen über das Herzogtum Schleswig, Heft
1, Heidelberg 1832, Heft 2, Altona 1833. —
üeber die Anlage von Komdampfmühlen in den
Herzogtümern Schleswig und Holsteiu, Kiel
1838. — Holsteinische Eisenbahn, 2 Hefte
(anonym, von den beiden Eisenbahnausschüssen zu
Altona und Kiel herausgegeben;, Kiel 1840. —
Das Amt Bordesholm im Herzogtum Holstein,
Kiel 1842. — Ueber die Errichtung von Spar-
kassen mit besonderer Rücksicht auf Land-
1120
Haussen
distrikte (als Manuskript zum Druck befördert
von der ökonomischen Societät zu Leipzig),
Leipzig 1845. — Gutachten über die Ver-
besserung des Volkszählnn^wesens im König-
reich Hannover. (Als ißnuskript gedruckt
1850.) — Die Agitation wider den September*
vertrag von ISöl. (Betrifft den Zollanschluss
Hannovers an den Zollverein.) In 21 Artikeln
der Weserzeitung 1851/52, besonders abgedruckt
auf Veranstaltung der oldenburgischen Re-
gierung für die landständischen Verhandlungen
über Oldenburgs Anschluss an den Zollverein.
— Ein Beitrag zu den Debatten über die
oldenburgische Zollanschlussfrage, Oldenburg
1852. — Entwurf zu einer Enquete über die
volkswirtschaftlichen Zustände des hannover-
schen Eichsfeldes mit besonderer Beziehung
auf die dortige freie Teilbarkeit des Bodens.
In den gedruckten Protokollen des Centralaus-
schusses der k. hannoverschen Landeswirt-
schaftsgesellschaft von 1858. — Die Aufhebung
der Leibeigenschaft und die Umgestaltung der
^utsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse überhauj[)t
m den Herzogtümern Schleswig und Holstein,
St. Petersburg 1861. (Eine von der kaiserl. russ.
Akademie der Wissenschaften 1860 gekrönte
Preisschrift.) — Antrittsrede in der königl.
Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 3.
VII. 1862. (Die Stellung des Redners zu seiner
von ihm vertretenen Disciplin.) In dem Monats-
bericht der Akademie über diese Sitzung. —
Die Gehöferschaften im Regierun^bezirk Trier.
(In den Abhandlungen der königl. Akademie
der Wissenschaften zu Berlin, Jahrg. 1863.) —
Hannovers finanzielle Zukunft unter preussischer
Herrschaft (anonym), Hannover 1867. — Die
Bremer Grundsteuerfrage. Ein der Kammer
für Landwirtschaft zu Bremen 1876 erstattetes
Gutachten. (Als Manuskript {gedruckt), Göttingen
1877. Agrarhistorische Abhandlungen, I. Bd.,
Leipzig 1880, II. Bd., ebd. 1884.
Hanssen veröffentlichte b) in Zeitschrif-
ten und Sammelwerken:
In den Möglinschen Jahrbüchern der
Landwirtschaft, Bd. I: Württembergs Sibirien.
(Eine Skizze des ehem. Fürstbistums Ellwangen,
besonders in landwirtschaftlicher Hinsicht.) —
Im neuen staatsbürgerlic he nMa gazin:
Ansichten über das Agrarwesen der Vorzeit,
Bd. III und VI. — Statistische Mitteilungen
über nordfriesische Distrikte, Bd. III. — Die
Handelsflotte der Herzogtümer Schleswig und
Holstein, Bd. VI, unter den Miszelien (anonym).
— Das norwegische Storthing von 1836, Bd.
VIII. — Statistische Skizze der Insel Aeröe,
Bd. IX. — In den neuen Jahrbüchern
der Geschichte und Politik, Jahr^. 1843:
Die Herzogtümer Schleswig und Holstein nach
den nationalen Elementen der Bevölkerung. —
Im schleswig-holsteinischen „Gnomon" von
Harms, Kiel 1843 : a) Zur Geschichte der Land-
wirtschaft der Herzogtümer, b) Wie die meh-
reren Landesteile zusammengekommen sind. —
Im Volksbuch für 1845, herausgeg. von
Biernatzki, 2. Jahrg., Kiel, mit besonderer
Rücksicht auf die Herzogtümer Schleswig, Hol-
stein und Lauenburg: Das Landgemeindewesen
der Herzogtümer Schleswig und Holstein. —
Im Archiv der politischen Oekonomie
und Polizeiwissenschaft: Das Zollwesen
der Herzogtümer Schleswig und Holstein in
Vorzeit und Gegenwart, Bd. V und N. F. Bd. I.
— Der Flurzwang und dessen Aufhebung',
N. F. Bd. II. — Die ältere französische Littera-
tur der politischen Oekonomie. — Die Fra^e
der Wiesenbewässerungskultur in Frankreich.
— lieber den Mangel an landwirtschaftlichem
Arbeiterpersonal im Königreich Sachsen. — Zur
Bevölkerungskunde des Königreichs Sardinien,
N. F. Bd. III. — Ueber die Zweckmässigkeit
von Regierungsmassres^eln zur Befördenine der
Schweinezucht in Sacnsen, N. F. Bd. I\. —
Ueber Öffentliche Arbeitsnachweisungsanstalten.
— Das statistische Bureau der preussischen
Monarchie unter Hoffmann und Dieterici. —
Die Sachsen-Meiningensche Gesetzgebung auf
dem Gebiete der politischen Oekonomie und
Polizei, N. F. Bd. VI, in 2 Abteilungen. —
Die dlinisch-westindischen Kolonieen. Mit einem
Nachtrag. — Ueber die beabsichtigte allgemeine
deutsche Volkszählung, N. F. Bd. VIII. — Die
Häusersteuer im Königreich Hannover, N. F.
Bd. IX. — Die Schiffahrtsabgaben nach der
schleswig-holsteinischen Gesetzgebung. — Die
nationalökonomischen Zustände der Herzog-
tümer Coburg und Gotha, N. F. Bd. X. — Die
hannoversche Gesetzgebung über die persön-
lichen direkten Steuern. — Die gesetzliche Re-
gulierung der Kinderarbeit in Fabriken, mit
besonderer Beziehung auf Sachsen. — In der
Zeitschrift für die gesamte Staats-
wissenschaft: Die volkswirtschaftlichen Zn-
stände des Königreichs Hannover im Hinblick
auf den Anschluss desselben an den Zollverein,
Bd. IX. — Die Normierung der Eingangszölle
aus dem rein finanziellen Gesichtspunkt, Bd.
XI. — - Hamburgs Handel in gegenwärtiger
Zeit. — Die oldenbur^sche Deichordnung von
1855, Bd. XII. — Die neuesten Agrargesetze
des Königreichs Hannover, in 2 Artikeln, Bd.
XIII. — Einige Data zur Beurteilung der
österreichischen Finanzen. — Die Landwirt-
schaftspfl^e im Königreich Sachsen. — Die
amtliche Statistik im Grossherzogtum Olden-
burg. — Die landwirtschaftlichen Vereine und
die Landwirtschaftspflege im Gros8herzo£;'tum
Hessen, Bd. XIV. — Zur Geschichte der Feld-
systeme in Deutschland, Bd. XXI, XXH, XXIV,
XXVI, XXXn. — Die Nationalitäts- und Sprach-
verhältnisse des Herzogtums Schleswig, Bd.
XXXIV. — Agrarhistorische Fragmente I:
Wechsel der Wohnsitze und Feldmarken in
germanischer Urzeit. — Agrarhistorische Frag-
mente II : Die Gehöferschaften, Bd. XXXVI. —
Das Herzogtum Oldenburg in seiner wirtschaft-
lichen Entwickelung während der letzten 2d
Jahre (nach Kollmann), Bd. XXXV. — Im
Journal für Landwirtschaft (Göttiugen):
Ueber die Produktion und Besteuerung des
Rübenzuckers im Zollverein, Jahrgang VI. —
Die Landwirtschaft und das Forstwesen im
Herzogtum Braunschweig, Festschrift für die
XX. Versammlung der deutschen Land- und
Forstwirte, Jahrg. VII. — Das Klostergut
Weende und 6 andere Klostergüter im Fürsten-
tum Göttingen, Jahrg. VI und VIII und in be-
sonderem Abdruck veröffentlicht, Göttiugen 1858
und 1860 (anonym). — Ueber die Fleischkon-
sumtion in Deutschland, Jahrg. XX. — Zur
Geschichte norddeutscher Gutswirtschaft seit
Ende des 16. Jahrb., Jahrg. XXII. — Zur
Grundsteuerfrage, Jahrg. XaTII. — Landwirt-
Hanssen — Harriagton
1121
schaftliche Zustände früherer Zeiten in nord-
friesischen Gegenden, Jahrg. XXVI. — Ausser-
dem zahlreiche Aufsätze und statistische Mit-
teilungen üher die volkswirtschaftlichen Zu-
stände und die finanziellen und sonstigen öffent-
lichen Angelegenheiten Dänemarks und der
Herzogtümer im „Kieler Korrespoudenzblatt''
vom Oktober 1830-1842 und im „Altonaer
Merkur" 1835—1842. — Viele ausführliche Be-
sprechungen aus Hanssens Feder finden sich im
„Archiv der politischen Oekonomie'', in den
„Göttingischen gelehrten Anzeigen'', in der
„Zeitschrift des königlich preuss. stat. Bureaus''
und a. a. 0.
Vgl. über Hanssen: Boscher, Geschichte
der Nat., S. 1037. — August Meitzen, Georg
Hanssen als Agrarhistoriker, in Zeitschr. f£
Staatsw., Bd. 37, S, 371 ff., Tübingen 1881. —
T. Inama-Stemegg, Georg Hanssen, in Jahrb.
f. Nat., N. F. Bd. II, S. 504 ff., Jena 1881. --
A. V. Miaskowski. Georg Hanssen. Ein national-
ökonomisches JuDÜäum, in Jahrb. f. Ges. und
Verw., N. F. Jahrg. V, S. 399 ff., Leipzig 1881.
— Gustav Cohn, Georg Hanssen (zum 80.
Geburtstage 31. V. 1889) in der „Deutschen
Rundschau" 1889. — Festgabe für Georg
Hanssen zum 31. V. 1889 von Aug. Meitzen,
K. Lamprecht, E. Th. v. Inama-Stemegg, L.
Weiland, Joh. v. Eeussler, W. Lexis, G.
Drechsler, Joh. Conrad, F. Frensdorff, Tübingen
1889. — G. H. Schmidt, La vie et les travaux
de Georges Hanssen in Revue d*^onom. polit.,
3© ann^e, Nr. 6, Paris 1889. — Ein genaues
Verzeichnis aller Veröffentlichungen Hanssens,
auch der oben nicht angeführten Besprechungen
von statistischen, nationalökonomischen und
finanzwissenschaftlichen Werken, findet sich in
den Jahrb. f. Nat. u. Stat., N. F. I. Bd., S. 362 ff.
Red,
Harrington, James,
geb. 1611 zu üpton in der englischen Graf-
schaft Northampton, studierte in Oxford, wurde
Kammerjnnker Karls I., schrieb, unzufrieden mit
Cromwells Diktatur, seinen demokratischen
Staatsroman „Oceana" (s. u.) sowie eine Reihe
anderer Staats- und agrarreformatorischer Schrif-
ten, die, nach der Bistauration, unter der Re-
eierung Karls IL, 1661 seine Verhaftung herbei-
rahrten. Nach dreizehi^ähriger Einkerkerung
im Tower erfolgte 1674 seine Freilassung, und
er starb bald darauf am 11. IX. 1677 in Ply-
mouth.
Harrington veröffentlichte von staats-
wissenschaftlichen Schriften in Buchform:
Common- wealth of Oceana, London 1666.
gn diesem Staatsroman ist die fingierte Insel
ceana der Organisationsboden für die neue
Staats- und Gesellschaftsordnung des Verfassers,
bezw. seine demokratische Agrarverfassung.
Als Bollwerk gegen die Bildung von Lati-
fundien soll die Verteilung von Grund und
Boden in diesem Zukunftsstaate streng nach
Gerechtigkeitsprincipien durchgeführt und eine
Verkleinerung der Majorate durch eine von
Erstgeburtsrecht und Geschlecht abstrahierende
HandwÖrterbach der StaatswiaseiLBchaften. Zweite Auflage.
neue Erbschaftsordnung, welche die Erbschafts-
substanz zu gleichen Teilen dem hinterbliebenen
Nachwuchs überweist, geschaffen werden. Der^
Wert des Grundeigentums soll im Einzelbesitz
in keinem Falle ü^r 2000 £ Bodenrente hinaus-
gehen. Höher als das Geld, dessen Anhäufung
in einer Hand nur von ihm bekämpft wird,
schätzt Harrington das Grundeigentum, seiner
Konsistenz we^en, und deshalb stellt er auch
dem Grundbesitz oder der Verkörperung der
wirtschaftlichen Potenz die politische Macnt als
Gleichgewicht (.,balance of dominion or pro-
perty", wie er sich ausdrückt) entgegen. Die
Bilanztheorie wird so zum ersten Male auf die
Regierungs^walt angewandt, und von ihm an-
geführte Beispiele aus der englischen Geschichte
legen dar, dass in Fällen, wo der Gemeinde-
agrarbesitz grösser war als der Grundbesitz des
Adels und das Kronland, der Ausbruch poli-
tischer Unruhen erfolgte. Der bedeutendste
Gegner der Harringtonschen gesellschaftlichen
Nivellienmgsideeen war Hobbes, als staats-
?hilosophiscner Vertreter des Absolutismus. »
'he prerogative of populär government. A
political discourse containing the first praeli-
minary of Oceana, interpreted and vindicated,
the second concerning Ordination against H.
Hamond, L. Seaman, etc., 2 Bde., ebd. 1658.
Harriufftons gesammelte Werke: The
Oceana. and his other works; the whole col-
lected, methodiz'd, and review'd, witii an account
of his life by J. Toland, London 1700. (Diese
anderen Schriften bestehen in 1) Art of law-
giving, [worin u. a. entwickelt wird, wie eine
auf Agrargesetze gestützte Staatsverfassung
eine Schutzwehr gegen Revolutionen bildet]J.
— 2) Grounds and reasons of monarchy consi-
dered. — 8) Plato redivivus; or, dialogue con-
cerning government. — 4) Politic«J tracts. —
ö) Prerogative of populär government. — ) ; das-
selbe, 2. Aufl., Dubhu 1737; dasselbe, 3. Aufl.,
hrsg. von J. Towland, ebd. 1747; dasselbe,
4. Aufl., besorgt von HoUis, London 1771 (gilt
als vollständigste Ausgabe der Oceana); das-
selbe in französischer Uebersetzung, „pr6cM6
de l'histoire de sa vie*', par J. Towland, 3 Bde.,
Paris, an III (1795).
Vgl. über Harrington: John Toland,
Life of Harrington (s. o. unter gesammelte
Schriften). — D. Hume, Essays, etc., Bd. I,
London 1784, essay 16. — Buhle, Lehrbuch
der Geschichte d. Philosophie, Bd. VII, Göttingen
1803, S. 715ff. — R. von Mohl, Die Staats-
romane in ,,Zeitschr. für Staatsw." Bd. II,
Tübingen 1845, S. 24 ff. — Röscher, Zur Ge-
schichte der englischen Volkswirtschaftslehre,
Leipzig 1851, S. 53 ff. — J. J. Thonissen,
Du role de Tutopie dans Phistoire de la Philo-
sophie politique. James Harrington, o. 0. u. J.
(c. 1852). — W. L. Sargart, Social innovations,
London 1858, S. 16 ff. — v. Raum er, üeber
die geschichtliche Entwickelung der Befi^riffe
von Recht, Staat und Politik, 3. Aufl., Leipzig
1861, S. 46. — Ha 11 am, Introduction to the
literature of Europe. etc., Bd. IV, London 1864,
S. 366. — Ahrens, Naturrecht, 6. Aufl., Bd.I,
Braunschweig 1870, S. 202. — Röscher, Ge-
schichte der Nat., S. 243. — Stern, Milton
und seine Zeit, IL Teil, 3. Buch, Leipzig 1879,
S. 243 ff. — H. P. G. Quack, De socialisten.
IV. 71
1122
Harrington — HaiTison
Personen en stelses, 2. Aufl.. Amsterdam 1887,
Bd. I. — F. Kleinwächter, Die Staats-
romane, Wien 1891. — G. Adler, Geschichte
des Sozialismus und Kommunismus, I. Bd.,
Leipzig 1899.
Lippert.
Harris, Joseph,
geb. um 1723 zu London, als Münzwardein der
Münze zu London gestorben daselbst 1764.
Harris veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften in Buchform:
An essay upon money and coins, 2 Teile,
London 1757—58. (Teil 1 führt den Special-
titel: The theories of commerce, monney and
exchange; Teil II betitelt sich: Wherein is
showed that the established Standard of money
should not be violated or altered under any
fretence whatsoever); dasselbe in einer vom
^olitical Economical Club in London in „Select
tracts'^ veranstalteten neuen Ausgabe, ebenda
1856. (Dieses anonym erschienene Werk ent-
hält im ersten allgemeinen Teile eine Begrün-
dung des vom Verfasser aufgestellten national-
ökonomischen Gesetzes, wonach innerhalb des-
selben volkswirtschaftlichen Gebietes die ver-
schiedencütigen Kapitalanlagen einem gleichen
Zinsfnsse zustreben; zeigt z. B. der zinsfuss
des Geschäftsgewinnes eines kaufmännischen
Unternehmens sinkende Tendenz, so werden die
Interessenten die darin angelegten Kapitalien
nach Möglichkeit herausziehen, prosperiert ein
kommerzieller oder industrieller Betrieb dagegen
mehr als andere Produktionszweige, wird aus
letzteren das Betriebskapital flüssig gemacht
und in die lohnendere Erwerbsbranche gesteckt
werden. Im ersten Teile wird neben dem
Handel auch der Arbeitsteilung ein mächtiger
Einfluss auf die Hebung des Nationalwohlstandes
eingeräumt und, zum ersten Male nach Petty,
das Arbeitsquantum als Wertmass anerkannt.
Vgl. über Harris: Lauderdale, Inquiry
into the nature and origin of public wealth,
Edinburgh 1804, S. 23. — Mac Culloch, The
literatnre of political economy, London 1854,
S. 163. — Röscher, System der Volkswirt-
schaft, Bd. I, Stuttgart 1854, S. 326. —
S c h ä f f 1 e , Gesellschaftliches System der mensch-
lichen Wirtschaft, 3. Aufl., Bd. I, Tübingen 1873,
S. 176. — Röscher, Geschichte der Sational-
ökonomik, München 1874, S. 481.
lAffperU
Harrison, Frederiok,
geb. 18. X. 1831 zu Ijondon, studierte in Ox-
ford, wurde 1858 Advokat, war 1867-69 Mit-
glied der Enquetekoramission zur Erforschung
der Organisation und Wirksamkeit der Trades '
Unioiis und 1869—70 Schriftführer der Kodifika-
tionskommission der englischen Gesetze. 1877
wurde er Professor der Kechte zu London und
vertrat 1878 das dortige Working Mens' College .
auf dem französischen Arbeit^rkongresse zu
Lyon. Gegenwärtig lebt er in London. Harrison
ei^eut sich eines wohlbegründeten Rufes als
glänzender Essayist. Als Anhänger der posi-
tiven Philosophie August Comtes, von dessen
„Systeme de politique positive" er auch den
IL Bd. (s. u.) übersetzt hat, wird Harrison
neben Richard Congreve als Mitbegründer der
positivistischen Schule genannt.
Er veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen bezw. positivistischen Schriften: a) in
Buchform:
International policy. Essays on the foreign
relations of England, London 1866; dasselbe,
neue billige Ausgabe, ebd. 1884. (Die erste
Auflage erschien anonym.) — Order and pro-
gress, 2 Teile (I. Thou^ht on govemment; IL
Studies of pohtical crises), London 1875. —
Martial law in Kabul, London 1880. — Present
and the future: a positivist address, London
1880. — Tennyson, Ruskin, Mill, and other
literary estimates, London 1899. — : Harrison ist
ferner mit Th. Brassey, A. J. Balfour und A.
Wallace beteiligt an dem Werk: Industrial
Remuneration Conference. Report of the pro-
ceedings and papers read, London 1885. — Er
übersetzte femer Bd. II vom Comtes System
der positiven Politik unter dem Titel: System
of positive polity, vol. II : Social statics, or the
abstract theory of human order.
b) in Zeitschriften:
1) in Contemporary Review (London): A
rejoinder to the Duke of Argyll, 1889, Febrnar.
— Ideal London, 1898, Juli. — 2) In Fortnightly
Review, London (nur die ältesten und nenere
Artikel sind berücksichtigt): The limits of
political economy, 1865, Januar. — The iron-
masters' trade union, ,1865, Mai. — The good
and evil of trades unionism, 1865, November. —
Industrial co-operation, 1866, Januar. — Home
Rule in the XVIIIth Century, 1886, Juli. —
The future of agnosticism, 1889, Januar. —
What the Revolution of 1789 did, 1889, Juni.
— The reaction and its lessons, 1895, Oktober.
— 3) In Jahrb. f. Ges. und. Verw. II: Der
französische Arbeiterkongress in Lvon 1878,
übersetzt von L. Brentano, 1878, S. 667 ff. — 4)
In Journal of the Statistical Society, Bd. 47:
A new industrial inquiry, London 1884, S. 516
(bezieht sich auf die „Industrial Remuneration
Conference, London 1885 **). — 5) In Nineteenth
Century (London), Bd. IX: The creed of a
lavman, 1881, S. 455—77. — Pantheism and
cosmic emotion, Bd. X, 1881, S. 284 ff. — The
deadlock in the House of Commons, Bd. X
1881. S. 317 ff. — The crisis of parliamentarv
govemment, Bd. XI, 1882, S. 9 ff. — The ghost
of religion, Bd. XV, 1884, S. 495 ff. (richtet sich
gegen den H. Spencerschen Artikel : Religion:
a retrospect and prospect, Nineteenth Century
Bd. XV. — Agnostic metaphysics, Bd. XVI,
1884, S. 353—78 (bezieht sich auf H. Spencers
soziologische Schriften). — Mr. Bryces ,. Ameri-
can Commonwealth", Nr. 143, 1889, Januar. —
Are we making way? (in Bezug auf irländische
Zustände), Nr. 147, 1889, Mai. — The new
trades-unionism, Nr. 153, 1889, November. -^
Lord Rosebery and the London Connty Council,
Nr. 160, 1890, Juni. — Ruskin as master of
prose, Nr. 224, 1890, Oktober. — John Stnart
Mill, Nr. 235, 1896, September. — The modern
Harrison — Haubergswirtscliaft
1123
Macchiavelli, Nr. 247, 1897, September. — The
historical method of J. A. Fronde, Nr. 259, 1898,
September. — The historical method of Prof.
Freeman, Nr. 261, 1898, November. — 6) In
New Review (London): Sir John Lubbock and
the London Oounty Conncil. 1891, November.
— London improvements, 1892, Oktober.
Vgl. über Harrison: Mr. Spencers'
replies, in Nineteenth Century, Bd. XVI, London
1884, S. 3—26 und 826—39. (Diese Replik be-
zieht sich auf Harrisons polemisierenden Artikel :
The ghost of religion, in Nineteenth Century,
Bd. XV [s. 0.].) — Bischof von Carlisle,
Comte's atheism, in Nineteenth Century, Bd. XXI,
ebenda 1887, S. 873 ff. (bezieht sich auf Harri-
sons Besprechung der Schrift: „Comte's three
States"). — V. Schulze-Gaevernitz, Zum
sozialen Frieden, Bd. II, Leipzig 1890, S. 57,
68 ff. — H. Gruber, Der Fositivismus vom
Tode August Comtes bis auf unsere Tage, Frei-
burg i. B. 1891. — J. G. Godard, Poverty,
its genesis and exodus, liOndon 1892, S. 2.
Lippert,
Haabergswirtschaft.
1. Begriff, Geschichtliches und Statistisches.
2. Art und Formen der Handhabung.
1. Begriff, Geschichtliches und Sta-
tistisches. Unter Haubergswirtschaf t
im weiteren Sinne versteht man die-
jenige Art der Bodennutzung, bei welcher ein
mehr oder minder regelmässiger Wechsel
zw^ischen Waldbau und Feldbau auf ein
imd derselben Fläche stattfindet ; im enge-
ren Sinne dagegen nur diejenige besondere
Form jener Betriebsweise, vde sie im
Siegen er Lande und in benachbarten
Distrikten seit Jahrhunderten geübt wird.
Der Ausdruck Haubergswirtschaft schreibt
sich daher, dass man im Siegenschen die
Flächen, welche abwechselnd als Ackerland
und als Holzland behandelt werden, mit
dem Neunen »Hauberge« belegt hat. In der
wissenschaftlichen Litteratur liat sich seit
einigen Jalirzehnten für das genannte Be-
triebssystem in seinen verschiedenen Aus-
gestaltungen der allgemeine Name »Wald-
feldbau« mehr und mehr eingebürgert,
welcher auch das Wesen der Sache am rich-
tigsten bezeichnet (s. auch d. Art. Ackerbau-
Systeme oben Bd. 1 S. 45). Wenn statt dessen
häufig noch der Ausdruck »Haubergswirt-
schaft« in seinem weiteren Sinne gebraucht
wird, so findet dies seine Begründung in
dorn Umstände, dass die Haubergswirtschaft
des Siegener I^andcs die am meisten be-
kannte und öffentlich besprochene Form
der Waldfeldwirtschaft dai-stellt. Im nach-
folgenden ist unter Haubergswirtschaft d^"e
Waldfeldwirtschaft im allgemeinen ver-
standen, sofern nicht auf die Siegener Hau-
bergswirtschaft besonders Bezug genommen
wird.
Das Charakteristische der Haubergswirt-
schaft besteht darin, dass das Land eine
längere Reihe von Jahren (mindestens 16 —
20, zuweilen auch 30—40 Jahre und noch
länger) liinter einander zur Holzerzeugung,
also zum Waldbau verwendet, dass dann
der Wald abgetrieben und das Land ge-
wöhnlich 1 oder 2, zuweilen 3 oder 4 Jalire,
selten länger, als Ackerland und darauf
wieder zur Jlolzproduktion benutzt wii'd.
Diese Betriebsweise wurde in Deutschland
imd in anderen mitteleuropäischen Ländern
schon von alters her geübt und war fi'üher
wahrscheinlich viel verbreiteter als in
der Gegenwart Namentlich hat sie eine
grosse Kolle gespielt in Ländern, welche
erst seit verhältnismässig kurzer Zeit be-
siedelt worden waren, in denen daher der
Ackerbau noch wenig umfangreich und we-
nig entwickelt war. Hier pflegt der Wald
den grössten Teil des Areds einzunehmen.
Zur Erzeugimg der notwendigen Ackerbau-
produkte wird ein Teil des Waldes urbar
gemacht und fortgesetzt mit Geti'eide be-
stellt; an eine Düngung denkt man nicht,
weil man die damit verbundenen Mühen
und Kosten scheut, weil auch noch genug
zum Getreidebau geeignetes Holzland zur
Verfügung steht. Man verwendet daher das
zueret gerodete Land so lange zum Körner-
bau, als derselbe noch lohnend erscheint;
dann lässt man es liegen, und es siedeln
sich auf ihm in der Regel von selbst wieder
Holzgewächse an. An seiner Stelle wird
ein anderes, bis daliin mit Holz bestandenes
Stück Land gerodet und in Ackerland ver-
wandelt. Man könnte diese Form der Hau-
bergswirtschaft als wilde oder ungere-
gelte Waldfeldwirtschaft bezeichnen,
ähnlich wie man den ungeregelten Wechsel
zwischen Ackerbau und We i d e n u t z u n g
auf den nämlichen Flächen mit dem Aus-
druck »wilde oder ungeregelte Feld gras wiii;-
schaft<f (s. d. Art. Ackerbau Systeme oben
Bd. I S. 41) zutreffend belegt hat.
Mit dem Wachstum der Bevölkerung
und mit der liierdurch bedingten Notwen-
digkeit, den Ackerbau sowohl mehr auszu-
dehnen als auch ertragreicher zu gestalten,
inuss zunächst die wilde Waldfeldwirtschaft
ganz aufhören und einer geregelten Platz
machen. Die Folge einer weiteren Kiiltur-
entwickelung ist die, dass auch die geregelte
AValdfeldwirtschaft oder Haubergswirtschaft
sich auf solche Flächen beschränkt, welche
ihrer Natur nach zum dauernden Feldbau
sich nicht eignen, für welche vielmehr die
Holzproduktion die angemessenste Nutzungs-
weise dai-stellt, die aber doch nach längeren
Zwischenräumen den Anbau von Ackerge-
wächsen für ein Jahr oder höchstens einige
71*
1124
Haubergswirtscliaft
wenige Jahre als möglich und lohnend er-
scheinen lassen. "Wo in den europäischen
Kulturländern heutzutage die Haubergswirt-
schaft vorkommt, wird sie in der That fast
ausschliesslich nur auf solchen Grundstücken
geübt, die wegen ihrer steilen Lage oder
wegen ihres steinigen oder flachgründigen
Bodens oder der ungünstigen klimatischen
Verhältnisse nicht mehr als Ackerland an-
gesprochen, sondern als Waldland betrach-
tet werden müssen, welche man sogar
grösstenteils zum absoluten Waldland zu rech-
nen hat. Hiernach könnte es befremdlich
erscheinen, weshalb in dichtbevölkerten Län-
dern überhaupt die Hauber^swirtschaft noch
vorkommt. Dennoch ist dieselbe aus land-
wie volkswirtschaftlichen Rücksichten für
gewisse Gegenden auch bei hoher allgemei-
ner Kulturentwickelung durchaus berechtigt.
Es sind dies solche JDistrikte, in welchen
das zum dauernden Ackerbau geeignete
Land im Verhältnis zur Gesamtfläche eine
geringe Ausdehnung besitzt, wähi*end das
"Wald-, Wiesen- und Weideland bedeutend
überwiegt. Hier liegt mit Rücksicht auf
den örtlichen Bedarf an Feldprodukten die
Notwendigkeit vor, alles zum Ackerbau,
wenn auch niu: vorübergehend geeignete
Land liierzu heranzuziehen. Dies trifft vor
allem auch für den gewissermassen klassi-
schen Boden der Haubergswirtschaft, für
das Siegener Land zu. Dasselbe ist sehr
gebirgig, hat enge Thäler, deren Sohlen-
terrain meist zur Anlage von Kunstwiesen
benutzt wird, während die starke Neigimg
der Bergabhänge den dauernden Ackerbau
uiunöglich macht; das Land beherbergt
ausserdem eine zahlreiche industrielle Be-
völkerung, welche vielfach nebenbei noch
einen kleinen ländlichen Besitz und nament-
lich eine kleine Viehhaltimg hat. Unter sol-
chen Umständen erscheint die im Siegen-
schen schon seit Jahrhunderten geübte Hau-
bergewirtschaft als wirtschaftlich durchaus
gerechtfertigt. Wenn die Bergabhänge 16
bis 20 Jahre lang Holz erzeugt haben, so hat
sich in der obersten Bodenschicht so viel
Pflanzennahrung angesammelt, dass dieselbe
sehr w^ohl einige den Aufwand lohnende
Getreideernten hen'orbringen kann, während
gleichzeitig die für die Ackemutzung nötige
Bearbeitung des Bodens denselben für die
wieder folgende Holznutzung um so geeig-
neter macht. Aehnüche Verhältnisse walten
in den sonstigen Gegenden des Deutschen
Reiches oder anderer Kulturländer ob, in
welchen die Haubergswirtschaft heutzutage
noch vorkommt. Sie findet sich im Deut-
schen Reiche besonders in dem aus Thon-
schiefer bestehenden Gebirgslande der
Kreise Siegen, Olpe ui\d Wittgen-
stein, auf dem Buntsandstein des hes-
sischen und badischen Odenwaldes,
in dem teils aus Buntsandstein, teils aus
ürgebirge bestehenden badischen Schwarz-
wald; auch in den mittelrheinischen Ge-
birgsdistrikten, auf dem Hundsrücken,
dem Westerwald und in der Eifel
kommt sie vor. In allen diesen Bezirken
ist die Menge des zu dauerndem Feldbau
geeigneten Landes sehr gering. Nach der
Bodenstatistik des Jahres 1878 betrug im
ganzen Deutschen Reiche 'das Acker- und
Gartenland 48,51^/0 der Gesamtfläche; da-
gegen machte das Acker- und Gartenland
ui den BjBzirken, in welchen die Haubergs-
wirtschaft getrieben wird, damals nur fol-
gende Prozentzahlen von der Gesamtfläche
aus: in den Kreisen Siegen, Olpe und
Wittgenstein 13,6<>/o, 20,6^/0 imd 13,7%.
im hessischen Kreis Erb ach 29,7%, in den
badischen Kreisen Oberkirch, Wolfach
und Eber bach 20,9 <>/o, 23,2% und 20,2%.
Seitdem ist keine wesentliche Veränderung
bezüglich der Bodennutzung in den genann-
ten Bezirken eingetreten. Man nimmt an.
dass die Haubergswirtschaft sich erstreckt
im Siegenschen auf etwa 50000 ha, iii
Hessen auf etwa 25000 ha und in Baden
auf ungefähr 60000 ha. Ausserdem steht
aber auch ein, wenngleich geringer Teil
des jetzt vorhandenen Hochwaldes auf
Flächen, welche nach vorangegangenem
vorübergehenden Feldbau ziu* Holzkultur
herangezogen sind; dieselben werden ini
Deutschen Reiche auf mindestens 30000 ha
geschätzt.
Auch in einzelnen Teilen der Schweiz,
Belgiens und des nördlichen Frank-
reich kommt die Haubergswirtschaft vor.
Die nach den Gnindsätzen der Haubei^gs-
wirtschaft behandelten Flächen führen in
den einzelnen Gegenden sehr verschiedene
Bezeichnungen. Sie heissen Reuteland,
Reutfeld, Reutberg (in der Schweiz und
im Schwarzwald), ferner Rottland, Ru-
der land, Wildfei d, Hack wald, Hack-
feld (diese Bezeichnungen kommen beson-
ders im westlichen Deutschland vor): ini
Siegenschen nennt man sie, wie schon lie-
merkt, Hauberg, und in der Eäfel werden
sie als S c h i f f e 1 1 a n d bezeichnet. Demge-
mäss finden sich auch für die betreffende
Wirtschaftsweise sowohl im Volksmundt-
wie in der Litteratur abweichende Bezeich-
nungen: Reutfeld Wirtschaft, Hack-
w a 1 d Wirtschaft , Röderwald Wirtschaft
etc. Die am meisten bekannten und ge-
brauchten Bezeichnungen sind aber: Hau-
bergswirtschaft und neuerdings, in der
wissenschaftlichen Litteratur , W a 1 d f e 1 d -
Wirtschaft.
2. Art mid Können der Handhabung.
Die Art der Handhabung der Hau-
bergswirtschaft ist im einzelnen selu* mannig-
faltig und wird bedingt teils durch alt».*
Haubergs wirtscliaft
1125
ortliche Gewolinheiten, teils durch die Ver-
schiedenheit der Verhältnisse, unter denen
sie geübt ^vird. Im allgemeinen aber ge-
schieht sie in nachstehender "Weise.
Auf der zum vorübergehenden Feldbau
bestimmten Waldfläche \\mX der Holzbe-
stand abgehauen und, soweit er nutzbar er-
scheint, entfernt. Ist es Niederwald
gewiesen, was meistenteils der Fall (im
Siegeuschen imd im Odenwalde ist es meist
16 — 18 jähriger Eichen schäl wald), so bleiben
die Wurzelstöcke im Boden stehen, um neu
auszuschlagen und das Veijüngungsmaterial
ftlr die nächstfolgende HoJznutzung zu lie-
fern. Das zurückgebliebene Reisig imd
sonst minderwertige Holz wird auf kleine
Haufen gebracht, verbrannt und die Asche
durch Ausstreuen auf der ganzen Fläche
gleichmässig verteilt, um als Dünger zu
wirken. Dann wird der Boden zwischen
den Wurzelstöcken hindurch mit der Hand-
hacke oder mit eyiera dazu goeignetefn Pflug
flach umgebrochen. Ist der Boden sehr
humusreich, so hackt oder pflügt man ihn
auch wohl vor dem Verbrennen des Reisigs
flach um und bringt die so abgeschälte
Narbe zusammen mit dem Reisig auf kleine
Haufen, die man einem Brennprozess unter-
wirft. Man erreicht dadurch, dass die in
der oberen Bodenschicht vorhanden gewese-
nen Unkräuter und schädlichen Tiere gründ-
lich vernichtet werden, auch vennehi-t man
dadiu-ch die Menge der Asche und infolge-
dessen die Menge der den Pflanzen dem-
nächst zur Verfügung stehenden minerali-
schen Nährstoffe. Allerdings vermindert
man dabei gleichzeitig den Humusgehalt des
Bodens, welcher aber in ehemaligem Wald-
lande gewöhnlich ein grosser ist Bei der
Haubergswirtschaft im Siegenschen bildet
es die Regel, dass man die oberste Boden-
narbe erst abschält und dann verbrennt.
Bei derselben bleiben auch gewöhnlich die
alten Wm-zelstöcke nicht im Boden stehen,
sondern werden ausgerodet und als Brenn-
material verwendet. Dies Verfahren macht
es nötig, dass man im Hinblick auf die
künftige Waldnutzung Baumsamen (meist
Eicheln und Birkensamen) neu aussät oder
durch Einsetzen von Pflänzlingen die Ver-
jüngimg bewirkt.
Findet die Haubergswirtschaft in Ver-
bindung mit Mittel wald- oder gar
Hochwaldbetrieb statt, was übrigens
nicht die Regel bildet, so werden stets die
Wurzelst()cke ausgegraben imd die Verjün-
gLing des Waldes geschieht lediglich durch
esamung oder, wie jetzt gewöhnlich, durch
Pflanzung. Im übrigen sind die vorzu-
nehmenden Massi-egeln dieselben, wie sie
bereits für den Niederwald betrieb angegeben
wurden.
Insofern als bei der Haubergswirtschaft
ein Brennen des Bodens stattfindet, stellt
sie eine besondere Art der Brandwirt-
schaft dar (s. d. Art. Ackerbausvsteme
oben Bd. I S. 45).
Nachdem in vorbeschriel)ener Weise der
Boden gebrannt und bearbeitet worden, be-
stellt man denselben mit einer Körnerfrucht,
meist mit Roggen. Im folgenden Jahre wird
dann in manchen Gegenden noch einmal
Roggen gesät. Mehr ^\*ie zwei Feldfrüchte
pflegt man selten von den Haubergen zu
nehmen ; wenigstens dort nicht, wo die Ver-
jüngung des Waldes durch Stockausschlag
oder durch Einsäen von Baumsamen in die
erste Getreidefrucht erfolgt und diese beiden
Verjüngungsmethoden bilden die Regel bei
der Verbindung der Haubergswirtschaft mit
dem Niederwald- (Eichenschälwald-) Be-
triebe. Die neuen Stockausschläge oder die
aus dem Samen erwachsenen Pflänzlinge
sind nach 2 Jahren so gross, dass sie das
Wachstum der Getreidopflanzen hindern
würden. Es kommen in diesem Falle also
auf je 16 — 20 Jahre der Holzproduktion je
1 — 2 Jahre der Getreideproduktion.
Bei der Haubergswirtschaft in Verbin-
dung mit Hochwaldbetrieb nutzt man die
abgeholzte Fläche allerdings auch wohl 3
oder 4 Jahre und noch länger als Ackerland
und baut dann ausser Roggen auch Hafer,
Kartoffeln etc.
Die grosse wirtschaftliche Bedeutung der
Haubergswirtschaft ist darin zu suchen, dass
dieselbe in Gegenden, welche wenig zum
dauernden Ackerbau geeignetes Land be-
sitzen, die Möglichkeit gewährt, von dem in
übergix)sser Menge vorliandenen Waldlande
jährlich etwa den zehnten Teil für den Feld-
bau verwenden zu können und zwar ohne
dass die Holzproduktion danmter wesentlich
leidet. Denn die neuen Stockausschläge
wachsen auch während der Zeit, dass die
Hauberge mit Getreide bestellt sind, ebenso
der etwa eingesäte Baumsamen. Die Be-
einträchtigiuig, welche die jungen Stöcke
und Pflanzen durch das Geti-eide erleiden,
werden aufgewogen dadurch, dass die vor-
angegangene Bearbeitung und das Brennen
des Bodens seine Produktionskraft nicht nur
für den Getreidebau, sondern auch für die
folgende Holznutzung erhöhen.
Einige Aehnlichkeit mit der Waldfeld-
wirtscliaft besitzt die sogenannte Baum-
feldwirtschaft. Man vei-steht danmter
die gleichzeitige Benutzung von Acker- oder
Wiesen- oder Weideland sowohl zum Feld-
oder Grasbau wie auch ziu* Holzerzeugimg.
Bei der Baumfeldwirtschaft bepflanzt man die
betreffende Fläche mit in Reihen gestellten
Bäumen in einer solchen Entfernung, welche
dieselben für die späteren Peiioden ihres
Wachstums haben müssen. Diese grosse
Entfernung lässt die ^löglichkeit zu, die
1126 Haubergswirtschaft — Haushaltung (Vom wirtschaftlichen Standpunkte)
Zwischenräume zwischen den Reihen zu-
nächst als Ackerland und, wenn die Bäume
grösser werden, als Wiese oder Weide be-
nutzen zu können. Diese Baumfeldwirtschaft
kann natiirlich niu' auf solchen Flächen be-
trieben werden, welche sich auch zu aus-
schliesslichem und dauerndem Feld- oder
Grasbau eignen. Dadurch ist sie wirtschaft-
lich ganz anders zu beurteilen als die Hau-
bergswirtschaft. Ihre Zweckmässigkeit oder
ünzweckmässigkeit richtet sich danach, ob
die besteffenden Flächen durch die gleich-
zeitige Produktion von Holz und Feldfrüch-
ten bezw. Gräsern einen grösseren Ertrag
gewähren, als wenn sie lediglich zur Er-
zeugung der beiden letztgenannten Gruppen
von Gewächsen verwendet werden. In
Gegenden, welche sehr holzarm sind und in
welchen das Holz daher sehr teuer ist, mag
dies wohl öfters der Fall sein, in anderen
aber vvolü schwerlich. Vor etwa 70 Jahren
wurde die Baumfeldwirtscliaft von dem
sächsischen Oberforstrat Cotta sehr em-
pfohlen und ist auch infolgedessen mehrfach
vei-sucht worden, eine ausgedelmte Verbrei-
tung hat sie aber nicht gewonnen.
Für die Handliabung der Haubergswirt-
schaft im Siegenschen bestehen schon
von alters her gesetzliche Vorschrif-
ten, welche allerdings im Laufe der Jahre
und Jahrhunderte Abänderungen erfahren
haben. Eine neue »Haubergsordnung
für den Kreis Siegen« wurde imter
dem 17. März 1879 erlassen (G.S. f. d.
kgl. preuss. Staaten pro 1879, S. 228 ff.).
Für das ehemalige Herzogtum Nassau
erging am 5. September 1805 eine Ver-
ordnung für die Bewirtschaftung
der Hauberge, deren fortbestehende
Giltigkeit durch die Gemeinheitsteil ungsoi-d-
nung für den Regienmgsbezirk Wiesbaden
vom 5. April 1869 ausdrücklich anerkannt
wm-de (G.S. f. d. kgl. preuss. Staaten pro
1869, S. 526 ff., bes. S. 536). Eine beson-
dere Haubergsordnung für den ehemals
nassauischen Dillkreis und den Ober-
west er waldkreis erschien am 4. Juni
1887; eine solche für den schon früher zu
der preussischen Monarchie gehörenden, auf
dem Westerwald liegenden Kreis Alten-
kirchen am 9. April 1890.
Das Eigentümliche der Haubergswirtschaft
in Siegen und in Nassau besteht darin, dass
dieselbe gemeinsam und nach gemeinsamen
Vorschriften von allen Mitbesitzern eines
Haubergdisti'iktes geübt wird und geübt wer-
den muss. Die Hauberge haben dort manche
Aehnlichkeit mit den Gehöf er Schäften
im Trierer Lande; sie sind ein Rest der
alten deutschen Markgenossenschaft
und gewähren, wie H. Achenbach richtig
bemerkt, >ein Bild unserer ältesten Flur-
und Agrarverfassung<:. Die Hauberge eines
Distriktes stehen im Gesamteigentum
aller Mitbesitzer, von denen jeder einen,
übrigens verschieden grossen, ideellen An-
teil an den Haubergen hat ; dieselben bilden
zusammen eine naubergsgenossen-
Schaft. Die gewählten Vorsteher der
letzteren haben nach Massgabe der gesetz-
lichen Vorschriften zu bestimmen, wie die
Hauberge zu behandeln und w^elches Stück
derselben während jeder Betriebsperiode
den einzelnen Genossen zur Bewirtschaftung
und Benutzung zu überweisen ist.
Litteratur: H, Achenbach, Die Hanhergs-
genossenschaften des Siegerlandes, Bonn 1S6S. —
Bet*nhardt , Hauhergstcirtschaft im Krei-se
Siegen, 1867. — A, Beil, Die Feldholzzucht iti
Belgien, England und d^m nördlicften Frank-
reich, Frankfurt a, M. 184S. — H. Cotta, Die
Verbindung des Feldbaues mit dem Waldbau
oder die Baumfeldivirtscha/t, Dresden 1819 — lS:i2.
— G. Haussen, Agrar historische Abhandlungen,
2, Bd., Leipzig 1884, S. 1—19. — JT. C Hundes-
hangen, Prüfung der Cottaf^chen Baumfeld Wirt-
schaft nach Theorie und Erfahrung, Tübingen
1820. — T. Lorey, Handbuch der Forstwissen-
schaft, Tübingen 1887, L Bd., S. 25Sff. — ü.
Schönherg, II, 1. Hiilfie, 4. Aufl., 1896, S. S^i,
196 u. '279.
Th. Frhr, v. d. Goltz.
Häusersteuer
s. Gebäudesteuer oben Bd.IVS.6ff.
Hausfleiss
s. Gewerbe oben Bd. IV S. 360 ff.
Hausgenossen
s. Münzweseu.
Haashaltang.
I. Die H. vom wirtschaftlichen und sozialen
Standpunkte (S. 1126). II. Haushaltimgsstatistik
(S. 1130).
L
Die Uauslialtung vom Wirtschaft-
liehen und sozialen Standpunkte.
Haushiiltung ist nach der allgemeinsten
Bedeutung des Wortes die selbständige
AVirtschaft nach der Seite der Konsum-
tion betrachtet, und unter Haushalt ver-
steht man demgemäss die Ordnung der
Güter Verwendung innerhalb einer öffent-
lichen oder privaten Wirtschaft, An dieser
Stelle beschäftigen wii* uns nur mit den
p r i va t wir t s cliaf tli c he n Hauslialtungen.
die der Hauptsache nach durch die Einzel-
wirtschaften der Familien dargestellt
werden, wenn es auch neben diesen einer-
seits manche nicht aus Familiengliedern l)e-
Haushaltung (Yom wirtschaftlichen Standpunkte)
1127
stehende Gemeinschaften und andererseits
ganz alleinstehende Personen giebt, die
ebenfalls einen privaten selbständigen Haus-
halt führen. In der Familienhaushaltung
aber sind häufig zwei Kreise zu imter-
scheiden, von denen der engere seinen Unter-
halt aus dem Einkommen des Familien-
hauptes — was die Eegel ist — oder auch
anderer Angehöriger bezieht, wälirend der
weitere Kreis auch solche Mitglieder um-
fasst, deren Unterhalt aus dem Kapital
des Inhabers der Haushaltung bestritten
wird, weil sie nicht niu* als Konsumenten
an der Haushaltung, sondern auch als nicht
zur Familie gehörende Arbeiter zu pro-
duktiven Zwecken an der Wirtschaft be-
teiligt sind oder derselben als Kunden
Erwerb verschaffen. In der alten Natural-
wirtschaft und auch in den alten Lebens-
formen der städtischen Gewerbe war es
vorherrschende Sitte, dass Arbeiter und Ge-
hilfen, soweit sie in dem eigenen Produk-
tionsbetriebe des Arbeitgebers beschäftigt
waren, auch der weiteren Haushaltung des-
selben angehörten und aus dieser ihren
Konsumtionsbedarf als Naturallieferung er-
hielten. In der Landwirtschaft hat sich
diese Einrichtung auch gegenwärtig noch
in nicht imbedeutendem Umfange erhalten,
da das eigentliche landwirtschaftliche Ge-
sinde, die vKnechte« und »Mägde«, auf dem
Gute beköstigt und beherbergt wird. Von
diesen für die produktiven Zwecke der
Wirtschaft arbeitenden Haushaltimgsmit-
gliedern sind aber diejenigen Dienstboten zu
imterscheiden, die für die Haushaltungsge-
schäfte selbst und die Bequemlichkeit der
Hen-schaft verwendet werden. Diese stehen
im unmittelbaren Dienste der Konsumtion
und gehören zu dem engeren Kreise der
eigentlichen Familienhaushaltung. — Die
Erweitenmg der Haushaltimg durch Kun-
den, d. h. durch z^lende Hausgenossen,
finden wir in den gewerbsmässig betriebenen
Logierhäusem und ähnlichen Unterneh-
mungen, aber auch in Privatfamilien, die in
der Aufnahme sogenannter Pensionäre einen
Nebenerwerb suchen.
Charakteristisch für die Haushaltung im
engeren Sinne ist ihr inniger Zusammen-
hang mit dem Familienleben, mit dem sie
in dem- »häuslichen Herde« nach dem ge-
wöhnlichen Sprachgebrauche einen gemein-
schaftlichen Mittelpunkt besitzt. Auch in
den Worten »Hausvater« und »Hausfrau«
ist die Verschmelzung der Aufgaben ange-
deutet, die dem Manne und der Frau in
der Leitung sowohl der Familie wie der
Haushaltung erwachsen. Der Mann hat für
die materielle Grundlage der Haushaltung
imd im grossen und ganzen für die zweck-
mässige, den Verhältnissen entsprechende
Verwendung des Einkommens zu sorgen;
die Frau aber findet in der unmittelbaren
Fühnmg der Haushaltungsgeschäfte die in
der Regel ihr am meisten zusagende und
zugleich die wirtschaftlich fruchtbarste und
nützlichste Wirksamkeit Dass das Wort
»haushalten« auch die Bedeutung hat »spar-
sam mit einer Sache umgehen« ist als
volkstümliche Anschauung über die Aufgabe
der Haushaltung ebenfalls bedeutsam. Wie
gross der rein wirtschaftliche Vorteil, also
gewissermassen der Unternehmergewinn bei
der eigenen Haushaltsführung ist, kann man
diu-ch Vergleichimg der Kosten derselben
mit denjenigen der auf Gast- und Speise-
häusern angewiesenen Lebensweise ermitteln.
Die Differenz wächst natürlich mit der ab-
soluten Grösse der Gesamtausgaben in beiden
FäUen, aber der Nachteil ist doch wohl im
allgemeinen am empfindlichsten für die
Inhaber der kleinsten Einkommen. Wenn
Arbeiter, etwa Bauhandwerker, genötigt sind,
in der Nähe ihres Beschäftigungsortes ihre
Mahlzeiten in Wirtshäusern einzunehmen, so
müssen sie erheblich mehr aufwenden, als
wenn ihnen dieselben Speisen zu Hause von
einer tüchtigen Hausfrau bereitet würden,
ganz abgesehen davon, dass sie im ersteren
Falle häufig auch noch gewissermassen ge-
nötigt sind, etwas zu trinken, was bei dem
Essen zu Hause erspart würde. Allerdings
ist in \4elen Fällen die grosse Entfernung
der Arbeitsstelle von der Wohnung die
Ursache dieser Lebensweise, und in spar-
samen Arbeiterfamilien wird sie noch soweit
wie möglich dadurch vermieden, dass das
Essen dem Vater von der Frau oder den
Kindern überbracht wird. Diese Möglich-
keit aber besteht nicht, wenn auch die Frau
in einer Fabrik oder sonstwo ausser dem
Hause beschäftigt ist, und der wirtschaft-
liche Nachteil des Mangels einer eigenen
Haushaltungsuuternehmung zeigt sich dann
in vergrössertem Masstabe. In den wohl-
habenderen Klassen ist der Verzicht auf
eine eigene Haushaltung besonders in Ame-
rika häufig zu finden, indem manche Ehe-
paare, und zwar nicht nur kinderlose, es
vorziehen, in einem Hotel oder Boarding-
haus als Pensionäre zu leben. Auch für
diese kommt die Beköstigung jedenfalls
teuerer zu stehen als bei einer sachkundigen
und fleissigen selbständigen Haushaltsführung
von Seiten der Frau, und überdies ist der
ständige Aufenthalt in einem Gasthause
schon wegen der Beschränkung des Raumes
mit mancnerlei Unbequemlichkeiten und mit
dem Verluste der von den Engländern be-
sonders geschätzten »Privacy« der Lebens-
weise verbunden. Aber wenn auch der
Untemehmergewinn bei der eigenen Haus-
lialtsführung weit geringer wäre, als er
thatsächlich bei genügendem Fleiss, Geschick
und Sparsinn der Hausfrau sein kann, so
1128
Haushaltung (Vom wirtschaftlichen Standpunkte)
würden doch immer noch die ethischen
Vorzüge dieser Lebensweise zu Gunsten
derselben schwer ins Gewicht fallen. Die
Hausfrau hat die Aufgabe, mit liebevoller
Sorglichkeit die Bedürfnisse aller Familien-
glieder zu erkennen und, so gut es mit den
vorhandenen Mitteln möglidi ist, zu be-
friedigen. Nicht egoistisches Interesse, son-
dern Liebe und Wohlwollen, nicht selten
opferwillige Selbstverleugnung der Mutter
leitet die häusliche Wirtschaft, wenn sie
wirklich ist, was sie sein kann und soll.
Die Kinder sollen von frühester Jugend an
in der Mutter ein lebendes Beispiel der
stetigen Pflichttreue in der Alltäglichkeit
des Lebens, der Ordnungsliebe, Pünktlich-
keit, Keinlichkeit , kurz all der wirtschaft-
lichen Tugenden vor Augen haben, für die
es keine andere ebenso geeignete Schule
giebt wie das Haus und die Familie. Die
Bedingungen für die Verwirklichung eines
solchen Familienhaushaltes sind allerdings
nicht in allen Schichten der Gesellschaät
gegeben, und imglückücherweise fehlen sie
am meisten in derjenigen Klasse, für welche
ein fester Halt des Familienlebens besonders
zu wünschen ist, nämlich im Arbeiterstande,
soweit in diesem auch die Frauen genötigt
sind, sei es in Fabriken oder in anderer
Art ausser dem Hause mitzuarbeiten. Auch
übermässig lange Arbeitszeit des Mannes
und vorzeitige erwerbsthätige Beschäftigung
der Kinder wirkt schädigend auf das Gefühl
für Häuslichkeit und zerstört sowohl die
wirtschaftlichen wie die ethischen Vorteile
des Familienhaushalts. In der Klasse der
Reichen trennt sich Haushaltung ebenfalls
fast vollständig vom Familienleben und dieses
verliert dadurch meistens viel an Herzlich-
keit und Innigkeit. Die unmittelbare Leitung
der Haushaltung fällt höheren Bediensteten
zu, die Dame des Hauses beschränkt sich
besten Falls auf die Angabe der Sx>eisekarte
und sonstige allgemeine Anordnungen. Ihi'en
besten Boden aber hat die Familienhaus-
haltimg in dem Mittelstande, dem kleinen
wie dem wohlhabenden, dem einfachen ge-
werbetreibenden oder landwirtschaftlichen
wie dem höher gebildeten. Und zwar darf
man hier die Verhältnisse, wie sie sich in
Deutschland unter dem Einfluss der
nach der deutschen Sitte erzogenen Haus-
frauen gestaltet haben, hinsichtlich der Ver-
einigiuig der wirtschaftlichen und ethischen
Vorteile der Familienhaushaltung als die
befriedigendsten bezeichnen. Die deutsche
Hausfrau aus diesen Kreisen betrachtet ihre
hausmütterliche Thätigkeit als ihre Haupt-
fiufgabe ; an der Erwerbsthätigkeit des Mannes
nimmt sie nur soweit Teil, als es durch'
die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie
unumgänglich geboten ist, und zwar nur
innerhalb des Hauses; wo es möglich ist,
hält sie sich von solcher Thätigkeit ganz
fern. In dieser Beziehung unterscheidet sie
sich von den Frauen des kleinen und mitt-
leren Gewerbe- und Handelsstandes in Frank-
reich, die sich häufig vollständig der Ge-
schäftsthatigkeit widmen und darin den
Mann nicht selten an Tüchtigkeit übertreffen.
In der Erwerbsthätigkeit leisten die fran-
zosischen Frauen dieser Klasse durchschnitt-
lich mehr als die deutschen und auch in
Bezug auf sparsame Regelung des Haus-
halts — mit Einschluss der Ausgaben des
Mannes — sind sie durchweg mustergütig;
aber das eigentliche Famihenleben wird
durch diese Ablenkung der Wirksamkeit
der Frau gescliädigt, die Kinder, meistens
auf zwei bis drei beschränkt, werden viel-
fach als eine Last betrachtet und sobald
wie möglich, wenn es die Mittel der Familie
erlauben, in einem Pensionat untergebracht.
— In England sind die Mittelklassen wohl-
habender als in Deutschland und in den
höheren Schichten derselben ist daher das
Dienstpersonal, verhältnismässig zahlreich.
Für die Frau gut eine unmittelbare Betei-
ligung an häuslichen Geschäften als nicht
ladvlike, und sie hält sich daher schon aus
Scheu vor den Dienstboten von solchen
sorgfältig zurück, auch schon bei einer Ver-
mögenslage, bei der die deutsche Hausfrau
eine eingreifende eigene Haushaltungsthätig-
keit noch keineswegs scheut. Wenn die
englische Dame auch die Oberleitung des
Haushalts in der Hand behält, so führt sie
doch nur ein konstitutionelles, durch einen
höheren Diener oder eine Haushälterin ver-
mitteltes Regiment — In Amerika ist bei
den Flauen der einigermassen wohlhabenden
Stände noch weniger Neigimg ziu: Haus-
haltungsthätigkeit zu finden. Besondere
Schwierigkeiten entstehen hier auch durch
die von den euro}>äischen Anseliauungen
sehr abweichende Stellung der Dienstboten,
die sich mehr und mehr als selbständige,
für eine bestimmte Arbeitsleistung gedungene
Lohnarbeiter und nicht nach der alten pa-
triarchalischen Art als dienende Mitglieder
der Familie betrachten. In den Famiüen
mit knappem Einkommen muss daher der
Mann manche hauswirtschaftliche Thätig-
keiten, z. B. das Besorgen von Einkäufen,
übernehmen, die in Deutschland zu den
Aufgaben der Frauen gehören. Auch sucht
man sich durch arbeitsparende Vorrichtungen
und Maschinen zu helfen, die dalier in
Amerika in grosser Zahl erfunden worden
sind und auch in den europäischen Haus-
haltimgen mehr und mehr Verwendimg
finden. Man kann nun allerdings zu Gunsten
der englischen und amerikanischen Sitten
geltend machen, dass die Frauen melir Zeit
und Gelegenheit finden, sich eine höhere
geistige Ausbildung zu verschaffen und sich
Haushaltung (Yom wirtschaftlichen Standpunkte)
1129
sogar zu selbständigen künstlerischen, litte-
rarischen oder "^wissenschaftlichen Leistungen
zu erheben. Wenn indes statistisch festge-
stellt werden könnte, wie \'iele Frauen die
erübrigte Zeit auf eine weuiger löbliche
Weise verwerten, sie "vielmehr mit Mode-
thorheiten, Flanieren, »Shopping« und Roman-
lesen vergeuden, so wäre zu fürchten, dass
der Prozentsatz der letzteren sehr stai-k
überwöge.. Uebrigens ist unter normalen
Umständen auch der deutschen Hausfrau
der gebildeten Stände bei treuester Er-
fiülung ihrer häuslichen Pflichten noch in
ausreichendem Masse die Möglichkeit ge-
boten, ihre geistigen Interessen zu fördern
und ihr Wissen zu bereichern. Sie befindet
sich in dieser Hinsicht meistens in einer
besseren Lage als der Mann, der von einer ein-
seitig-praktischen Berufsarbeit den grössten
Teil des Tages in Anspruch genommen,
sich auf einer seinem Stande entsprechenden
Höhe der allgemeinen Bildung zu unter-
halten sucht.
Dass eine eigene Haushaltung bei tüch-
tiger Führung derselben wirtschaftlich vor-
teilhafter ist als ein Wirtshaus- oder Board-
ing-Hausleben wird wolü nicht bestritten;
aber es wird doch vielfach geltend gemacht,
dass durch gemeinschaftliche Ein-
richtungen und genossenschaftliche Or-
ganisation viele Bedürfnisse der Haushaltung
billiger als bisher befriedigt werden könnten.
Solche Prejekte hat bekanntlich Fourier mit
einem Uebermass von Phantastik ausgemalt,
und es kann ihnen ein richtiger Kern nicht
ganz abgesprochen werden. Der Betrieb
einer gemeinschaftlichen Kochanstalt für eine
grössere Anzahl von Familien kann sich
wesentlich billiger stellen als die Summe
der Ausgaben, die für die gleiche Bekösti-
gung derselben Familien aus Einzelküchen
erforderlich ist. Dasselbe gilt von gemein-
schaftlichen Wäschereien, Badeeinrichtungen,
von der gemeinschaftlichen Anschaffung imd
Aufspeicherung von Brennmaterial etc. Viele
von diesen Yorteilen lassen sich aber erlan-
fon, ohne dass deswegen der Charakter der
amilienhaushaltung irgendwie berührt wird,
wie sich dies insbesondere in den Erfolgen
gut organisierter Konsumvereine zeigt. Durch
Verzicht auf die eigene Küche und An-
schluss an eine gemeinschaftliche Anstalt
wiixl allerdings der Haushaltung ein wich-
tiges Element entzogen. Der materielle Ge-
winn bei dieser Methode ist jedoch keines-
wegs so sicher, wie man es theoretisch
vermuten könnte. Im Jahre 1875 machten
in Dorpat etwa 40 Familien, grösstenteils
dem Kreise der Universität angehörend, den
Vei-such des Betriebes einer gemeinschaft-
lichen Küchenanstalt, gaben ihn aber nach
zwei Jahren infolge wenig erfreulicher Er-
fahnmgen wieder auf. Die letzteren ent-
standen hauptsächlich durch die Schwierig-
keit der Kontrolle und die Un Zuverlässigkeit
des unteren Dienstpersonals. Aber auch
angenommen, es gelänge auf diesem Wege
wirklich die Speisen billiger zu beschaffen
als in der Einzelküche, so behält diese Art
der Verpflegung doch immer etwas Schab-
lonenhaftes, es fehlt die genaue Anpassung
an die individuellen Wünsche und Geschmacks-
richtungen, und der vorausgesetzte Billig-
keitsvorteil wird also thatsächlich durch das
Ertragen dieses Mangels erkauft und aus-
geglichen. Dass Volksküchen, die nicht des
Gewinnes wegen, sondern in gemeinnütziger
Absicht betrieben werden, unter den obwal-
tenden Umständen für viele unbemittelte
Familien sehr nützlich sind, soll natürlich
nicht bestritten werden. Vollständige Auf-
lösung der Einzelhaushaltuugen nach dem
Plane einiger Kommunisten, mit Kasernie-
rung, gemeinschaftlichen Mahlzeiten, gemein-
schaftlicher Kindererziehung etc. aber wiiixle
bald an dem entschiedenen Widerstand der
individualistischen Bedürfnisse und Neigim-
gen des Menschen scheitern. Die Freiheit
der Bedarfsbestimmung ist, wie Scliäffle be-
merkt, die unterete Grundlage der Freiheit
überhaupt, und diese kann sich nur in dem
eigenen Haushalte voll entfalten. Die neue-
ren Kommunisten suchen daher auch in
ihren Projekten diese Freiheit den Indivi-
duen nach Möglichkeit zu wahren.
Aller wirtschaftlicher und ethischer Ge-
winn aus der privaten Haushaltung ist aber
an die Bedingung geknüpft, dass diese gut
geführt werde. Die Erfüllung dieser Be-
dingung aber hängt hauptsächlich wieder
von der wirtschaftlichen Tüchtigkeit der
Hausfrau ab, und 'diese beniht nicht allein
auf natürlichen Anlagen, wie Arbeits- imd
Willenskraft, Geschmack, Takt, sondern auch
auf gründlicher und zweckmässiger Aus-
bildung. Die Haushaltsführung erfordert
eine Menge positiver Kenntnisse und Fertig-
keiten, die allerdings nicht sowohl aus
Büchern zu erlernen als unter sachverstän-
diger Anleitung, am besten unter der Lei-
tung der Mutter, von den jungen Mädchen
zu erwerben sind. Die Produktionsfähigkeit
für den häuslichen Bedarf (Spinnen, Weben,
Brotbacken etc.) ist allerdings in der neueren
Zeit mehr und mehr eingeschränkt worden,
tretzdem aber bleibt die Haushaltungsarl»eit
einer bürgerlichen Familie mit mehreren
Kindern noch sehr umfangreich und mannig-
faltig. Auch wenn die Imiu nach den Ein-
kommensverhältnissen des Mannes nicht
genötigt ist, selbst am Kochherde zu stehen,
muss sie doch das Kochen verstehen und
überhaupt ein sachverständiges Urteil auch
über die groben Handarbeiten besitzen, die
sie den Dienstboten überlassen kann. Die
feineren Arbeiten muss sie selbst zu ver-
1130
Haushaltung (Vom wirtscliaftlichen Standpunkte — Statistik)
rioliten imstande und bereit sein. Sie muss
AVai-enkenntnisse mannigfaltiger Art besitzen,
nicht nur in Bezug auf Nalirungsmittel,
sondern auch auf Kleidei-stoffe, Geräte, Mö-
bel etc. Sie muss die besten Bezugsquellen
kennen und nötigenfalls auch feilsclien kön-
nen. Vor allem aber muss sie imstande
sein, wirtschaftlich zu rechnen, die Ausgaben
mit den Einnahmen in üebereinstimmung
zu iialten und sie auf die einzelnen Zweige
der Bedürfnisse so zu verteilen, dr.ss der
grösste Nutzeffekt für die ganze Familie er-
reielit wird. Empfehlenswert ist zu diesem
Zwecke die Aufstellung eines förmlichen
Voranschlags, in dem den einzelnen Haus-
hai tsrnbriken bestimmte Kredite eröffnet
werden, die nur im Notfalle und dann nur
durch Uebertragungen von anderen, die we-
nigst dringlichen Bedürfnisse betreffenden
Titeln überschritten werden sollten. Min-
destens aber wäre eine genaue Buchung
aller Ausgaben zu verlangen, aus der sich
auch bald eine ungefähre praktische Norm
für die jährlich zulässige Höhe der einzelnen
Posten ergeben würde. Freilich wird auch
diese Fordenmg in vielen Familien, nament-
lich des Arbeiterstandes, noch nicht erfüllt.
Einige praktische Kenntnis der Haushaltung
besitzen in den unbemittelten Klassen we-
nigstens diejenigen Frauen, die in bürger-
lidien Hänsem einige Jahre als Dienstmäd-
chen gearbeitet haben. Desto unzureichender
aber ist die wirtschaftliche Ausbildung der-
i'enigen, die bis zii ihrer Verheiratung in
Tabriken beschäftigt gewesen sind, und wenn
sie auch als Ehefrauen diese En^^erbs-
thätigkeit fortsetzen müssen, so ist eine ge-
ordnete, behagliche, die Familie vereinigende
und den Mann aus dem ' Wirtshaus zurück-
haltende Häuslichkeit nur in den seltensten
Fällen anzutreffen, selbst wenn das Ein-
kommen der Familie die Unterhaltung einer
solchen gestattet. Durch Haushaltungs-
schulen und sonstigen praktischen Unterricht
lässt sich im einzelnen wohl manche Bes-
serung erzielen, aber im allgemeinen bringt
es die Lage der ausser dem Hause beschäf-
tigten Arbeiterrinnen mit sich, dass sich der
Sinn für Häuslichkeit in ihnen nicht ent-
wickeln kann. Aber auch in den wohlhaben-
deren Klassen lässt selbst in Deutschland
die Ausbildung vieler junger Mädchen für
die Aufgaben einer Hausfrau noch viel zu
wünschen übrig, namentlich infolge des weit-
verbreiteten gesellschaftlichen Vorurteils,
dass dilettantische Beschäftigimg mit aller-
lei Künsten und mit Litteratur in Gestalt
französischer und englischer Romane die
allein angemessenen Bildungselemente für
eine aus der höheren Töchterschule entlas-
sene junge Dame darbiete. Selbst wenn die
Mädchen unverehelicht bleiben, wird ihnen
eine tüchtige Schulung in der Haushaltung
von grösserem Nutzen sein als der Einfluss
eines verweichlichenden Bildungsdilettan-
tismns. Die Erwerbsfrage für die Un-
verheirateten bildet natürlich ein Problem
füi* sich.
Mögen nun aber auch die Haushaltungen
teils gut, teils mittelmässig, teils sc*hlecht
geführt werden, es ergiebt sich thatsächlich
für jede Gesellschafts- und Einkorn mensklasse
ein gewisser mittlerer Typus derseU)en, der
als solcher sich über das Niveau der Privat-
wirtschaft erhebt und zu einem wichtigeu
volkswirtschaftlichen Element wird.
Diese typischen Haushaltimgen stellen uns
die thatsächliehen Verhältnisse der Kon-
sumtion in der vielgegliederten Gesellschaft
dai', sie lassen erkennen, in welchem Masse
und mit welchem Erfolge die Proiluktion
ihren eigentlichen Zweck, die Bedürfnis-
befriedigung der Mitglieder der Gesellschaft,
wii'klich erfüllt. Sie werden festerestellt
durch die sogenannten Haushaltungs-
budgets, die seit Ducpetiaux und T^eplay
zu einem der wichtigsten Hilfsmittel der
sozialen Forschung geworden sind und in
einem besonderen Abschnitt des Artikels
Konsumtion ihi*e genauere Behandlung
finden werden.
Litteratur: L, v. Stein , Die Frau auf dem
sozialen Gebiete, Stuttgart 1880. — Engeln Das
Ücchnungsbuch der Hausfrau und deren Be-
deutung im Wirtschaftsleben der Nation, Bertin
1882. — E». Hermtann, />i> Familie vom
Standpunkt der Gesamtwirtschaft, Berlin 1888.
Kalle tind Kamp, Die hauswirtschaftliche
Vnterwcisting armer Mädchen, Wieslniden 1880,
N. F., Wi^baden 1891. — Die hausitirtschaft-
liehe Ausbildung der Mädchen aus den ärmeren
Volksklassen, Sehr. d. V. f. Armenpflege und
Wohlihäiigkeit, 6., 7., IS. Heft, Leipzig 188S—
1890. — Kalle, Ueber Volksemährung und
Haushaltungsschulen als Mittel zw Verbesserung
derselben, Wiesbaden 1891. — Kamp, Encerb
und Wirtschaftsführung im Arbeiterhaushalt,
Leipzig 1892. — Sehmoller, Grundriss der allg.
Volk^wiHschaftslehre, Leipzig 1900, S. 229 jf. (Die
Familienwirtschaft J. — .S'. auch die Litteratur-
angaben zu dem Abschnitt nHaushaltungsbndgrtu
in dem Art. Ko nsumti o n.
Lexis,
II.
Haushaltungsstatistik.
1. H. im allgemeinen. 2. Zahl der Haas-
haltungeii, Art, Stärke und Entwickelang der-
selben. 3. Kleine, mittlere, grosse Haashai-
tnngen. 4. Familienangehörige and fremde
Elemente in der Haushaltang. 5. Die Haas-
haltungen nach Besitz. 6. Wohnnngsverhält-
nisse der Haushaltangeu.
1. H. im allgemeinen. Das unterste
soziale Gebilde der mensclüichen Gesellschaft,
in dem sich das persönliche Dasein des ein-
Hauslialtung (Statistik)
1131
zelnen abspielt, ist die H a \i s h a 1 1 ii n g. Die
deutsche Beiehsstatistik versteht darunter
»die zu einer wohn- und hauswirtschaftlichen
Gemeinschaft vereinigten Personen«. Einer
Haushaltiuig gleich behandelt werden »ein-
zeln lebende Personen, die eine besondere
Wohniuig inne haben und eine eigene Haus-
wirtschaft führen«, wogegen andere allein-
stehende Personen (z. B. Zimmerabmieter
ohne eigene Hauswirtschaft, Schlafgänger)
derjenigen Hauslialtung zugerechnet wei-den,
bei der sie wohnen und die für sie Haus-
wirtschaft führt, auch wenn sie in dieser
Haushaltung keine Beköstigung em2)fangen.
Als besondere Haushaltungen werden die
Anstalten (Gasthöfe, Pensionato, Kranken-,
Straf-, Annenanstalten, Erziehungs-, Ver-
sorgungsanstalten. Klöster, Kasernen) ange-
sehen; hier handelt es sich um (Gesamt-
heiten solcher Pereonen, die freiwillig (z. B.
Gasthofsfremde, Pensionäre, Klosterinsassen)
oder gezwungen (kasernierte Soldaten, Kranke,
Gefangene) unter besonderer Oberleitung in
Wohnung und Kost sind. Familien, die zwar
in der Anstalt wohnen, aber eine getrennte
Wirtschaft führen (z. B. der Gasthofsbesitzer
mit seinen Anhörigen und pereönlichen
Dienstboten, der Gefangenenaufseher), zählen
zu den gewöhnlichen Haushaltungen. Hier-
nach unterscheidet man: 1. Familien-,
2. Einzel-, 3. Anstaltshaushal-
tungen.
Erhoben werden die Haushaltungen
regelmässig in Verbindung mit der Volks-
zäldung, und zwar, was die äussere Ab-
grenzimg der zu einer Haushaltung ge-
hörigen Personen betrifft, ndttelst besonderer
Haushaltungslisten , Haushaltungsverzeich-
nisse zu Individualkarten, Abscheidungen in
Hauslisten oder ZählbOchern, in Bezug auf
auf
Haushaltungen
insgesamt
Preussen .... 6815946
Bayern i 199 576
Sachsen 862 777
Württemberg . . 453 748
Baden 363028
Familieu-
6 323 374
I 118061
794 239
412754
337 282
ilir inneres Gefüge durch Stellung der Frage
nach dem Verhältnis zum Haushaltungsvor-
stand bezw. Wohnungsinhaber.
Die Bearbeitung dieser Nachweise
hält sich, soweit die Reichs- und Landes-
statistik in Frage kommt, bisher in engen
Grenzen ; doch wird dem Gegenstande neuer-
dings grossere Beachtung zu teil. Ein-
gehender hefasst sich mit den Haushaltungen,
schon wegen des Zusammenhangs mit den
Wohnungsverliältnissen, die Statistik der
Grossstädte.
Im Auslande wird bei Erfassung der
Haushaltungen ähnlich wie in Deutschland
verfahren; zumeist ist auch da für den
Haushaltungsbegriff die P e r s 0 n e n gemein-
schaft, nur vereinzelt, z. B. in Oesterreich,
die Wohn gemeinschaft massgebend. Ueber
die Behandlung der einzeln lebenden Per-
sonen sind freilich nicht überall die gleichen,
in manchen Staaten überhaupt keine ge-
nügenden Bestimmungen getretfen, so dass
die internationale Vergleichbarkeit der Ge-
samtzahl der Haushaltungen etwas beein-
trächtigt ist.
2. Zahl der Haushaltungen, Art
Stärke, Entwickelung derselben. Für
das Deutsche Reich ergab die Volks-
zählung vom 2. Dezember 1895 1125615(»
Haushaltungen, und zwar
IG 41 7 805 Familien-) „„^
788751 Einzel- ) 1,1.
49 594 Anstalts- I Haltungen
1 1 256 150 Haushaltungen.
Durchschnittlich treffen auf eine Haus-
haltimg 4,64 Personen ; 1 ,51 ^/o der Bevölke-
ining sind Einzelhaushaltungen. Von den
gezählten Haushaltimgen entfallen
Einzel- Anstalts- ^^^ ^ ^*"«-
Haushaltnogen
463 370 29 202
75 779 5 736
65 660- 2 878
38514 2480
23 940 I 806
haltung . . .
Personen
4,67
4,85
4:39
4r59
4,75.
Um den näheren Charakter der Anstalten zu veranscliaulicheu, mögen folgende
Nachweise für Preussen genügen:
Anstalten für g" f-
Beherbergung 15472
Landesverteidigung 3 112
Anstaltsinsassen
Erziehung und Unterricht . . i 41 1
Keligiüse Zwecke 215
Heilung und Krankenpflege . . i 394
Invaliden- u. Altersversorgung *) i 034
Oeffentliche Armenpflege . . . 2038
Strafe und Besserung .... i 256
Verschiedene der vorgenannten
Zwecke i 1 7 1
Alle sonstigen Zwecke .... 2 099
überhaupt
103 592
298 519
49 146
3678
77 161
25068
25864
72 112
72468
53 962
Summa 29 202
*) Ausserhalb der Armenpflege.
781 570
männliche
87 725
298519
32661
I 319
43601
6380
II 876
62493
28 795 •
46^2i3_
619 582
weibliche
15867
16485
2359
33 560.
18688
13988
9619
43673
7 749
1 6 1 988.
1132
Haushaltung (Statistik)
Auch wenn man nachstehende Auslands-
statistik betrachtet, findet man Haushaltungen
mit 4 bis 5 Personen als die durchschnitt-
liche Haushaltungsstärke. Die geringe Be-
setzung der Haushaltungen in Frankreich
beruht auf der grossen Zahl der Einzelhaus-
haltungen rvon den 10 Millionen Haushal-
tungen sina 1,7 Millionen Einzel-, 9,1 Mil-
lionen Familien-, 15113 Anstaltshaushal-
tungen) und der kleinen Familien, die in-
folge der starken Verbreitung Malthusiani-
scher Anschauungen und des fast ziu* Sitte
gewordenen Zweikindersystems wie in keinem
anderen Kulturlande vorwiegen. In Schweden
beruht die geringe Hauslialtungsstärke auf
einem hohen Prozentsatz der Einzelhaus-
haltungen, und dieser deutet darauf hin,
dass viele oder alle sogenannten Chambre-
garnisten den Haushaltungen gleichgeachtet
sind.
Staat
Deutsches Reich
Oesterreich . .
Ungarn . . .
Schweiz . . .
Italien ....
Frankreich . .
Belgien . . .
Niederlande . .
Dänemark . .
Schweden . . .
Norwegen . . .
England u. Wales
Schottland . .
Irland . . . .
Ver. Staaten von
Nordamerika .
Toi,- Haus-
"^^^^ haltungen
1895 II 256 150
189() 5029919
1891 3790741
1888 630213
1881 6 25 1 268
1896 10812151
1890 I 332 796
1889 977915
1890 475 675
1890 1 265 665
1891 443317
1881 5 633 192
1891 876 089
1891 932 113
Durch-
schnittl.
Kopfzahl
4,64
4,75
4,58
4,66
4,55
3,56
4,56
4,61
4,59
3,76
4,50
4,61
4,59
5,05
1890 12690152 4,93.
Bezüglich der zeitlichen Ent Wicke-
lung der Haushaltimgen macht sich in
neuerer Zeit eine fortschreitende Verkleine-
nuig der Haushaltungen bemerkbar. Sind
die hierüber vorhandenen historischen Daten
auch nicht exakt vergleichbar — " angesichts
der bei den einzelnen Zählungen in ver-
schiedenem Masse bewältigten Schwierig-
keit, die Haushaltung statistisch überhaupt
richtig zu erfassen — , so tritt die genannte
Erscheinung doch bei fast allen Ländern,
die über dergleicheu Nachweise verfügen,
hervor; sie entspricht überdies unserer wirt-
schaftlichen und sozialen Entwickelung. Die
Notwendigkeit des intensiveren und früh-
zeitigeren Erwerbs, die Ausbildung der
modernen Verkehrs- und Botriebsverhält-
nisse bewirken eine Zunahme der Einzel-
haltungen, eine immer grössere Absplittenmg
der Familiengemeinschaft; am Segen eines
gemeinsamen Familienlebens nehmen fort-
gesetzt weniger teil. Dies besagen folgende
Daten über die mittlere Haushaitun gsstäi'ke :
deutsche
s Eeich
Ungarn
Schweiz
1871
4,Vo
1850 4,28
1850 4,90
1875
4.64
1857 4,66
1860 4,75
1880
4,69
1869 4,85
1870 4.77
1885
4,69
1880 4,53
1880 4,66
1890
4,66
1890 4,58
1888 4,57
1895
4,64
Italien
Frankreich
Belgien
1871
4-68
1856 4,11
1846 4,87
1881
4,55
1866 3,63
1856 4,84
1876 3,54
1866 4,65
1886 3,62
1880 4,59
1891 3,57
1890 4,56
1896 3,56
Dänemark
Schweden
Norwegen
1840
5,03
1860 4,28
1865 4,92
1860
4,85
1870 4.07
1876 4,66
1870
4,82
1880 3,94
1891 4,50
1880
4,75
1890 3,76
1890
4,59
En^and nnd
Wales
Schottland ""'%' S^*«t«°
von Nordamerika
laol
4,83
1861 4,52
1850 5,55
1861
4,47
1871 4,53
1860 5,28
1871
4,50
1881 4,60
1870 s,o9
1881
4,61
1891 4,59
1880 i,04
1891
4,73
1890 4,93-
8. Kleine, mittlere, grosse Haus-
haltungen. Ueber die näheren Gi-össen-
verhältnisse der Haushaltungen sowie über
die Zusammensetzung der Haushaltimgen im
einzelnen giebt die Reichsstatistik bisher
keine Specialnachweise. Dies wird erstmals
bei der Volkszählung vom 1. Dezember 1900
geschehen ; die Familienhaushaltungen soUen
nämlich bei Bearbeitimg der Ergebnisse ge«
gliedert werden in Haushaltungen mit 2, 3,
4, 5, 6, 7 und 8, 9 und 10, 11 und mehr
Personen und für jede einzelne Gruppe neben
der Zahl der Personen die Familienange-
hörigen im engeren Sinne (Ehefi-auen. Söhne,
Töchter, andere Verwandte), die Dienstboten
ftir häusliche Dienste und sonstige Pen^^onen
zum Nachweis gelangen.
Dagegen liegen für eine Reihe deutscher
und fi-emder Staaten und Grossstädte Daten
über die Abstufung der Haushaltimgen nach
ihrer Mitgliederzahl vor. Folgende ßeisj.uele
auf S. 1133 mögen hier Platz finden.
Bei Würdigung dieser Zahlen muss man
sich daran erinnern, dass die Einzelhaus-
haltungen in den vei-schiedenen Ländern
nicht gleichmässig behandelt wei-den (in
Schweden sind, wie erwähnt, die meisten
Chambregarnisten bei den Einzelliaushal-
tungen) und dass dies natürlicli auch bei
den Relativzahlen der höheren Hau&haltimgs-
stufen sich geltend macht. Insonderheit
trifft dies auf die Zahlen von Paris zu;
hier begreift man unter einer Haushaltung
»un groupe d'individus vivant sous la memo
clef « und betrachtet sj)eciell von den Mietern
Hanshaltung (Statistik)
1133
Von 100 Haushaltung
en bestanden
i
ans
S
P
Herzogtum
Braunschweig
Hamburg
(Staat)
1
Einige Teile der
Schweiz *)
0
1
g
0
§
•53
0
Ver. Staaten von
Amerika
PQ
Paris
München
1
PQ
1895 1890
1890
1890 1896
1888
1880
1891
1891
1890
1896 1886 1895
189Ö
I
7,1
6,9
6,3
6,9 1
15,6
8,2
20,0
13,0
9,5
3,6
7,9 30,5 7,5
9,3
2 ^
13,0
13,8
15,4 21,8
13,5
15,1 ]
i5,7
13,2
17,2 25,6 17,9
17,3
3
15,5 1
18,4 20,2
15,2
14,7
15,3
16,7
20,5 18,5 20,0
19,1
4
1 »1 T «4
51,0
17,6
16,4
15,7
13,6
14,3
16,8
19,3 i«,9\,o^
17,6
5
;3i,3 ]
14,8
11,3
13,6
11,5
12,8
15,1
14,8
6,6 / •'-»'
14,1
6
10,8
7,0
11,3
9,1
10,7
n,5
9,6 ]
}i5,2
10,0
7
92,9
7,2
8,7
6,6
87,0
8,2
8,5
5'5
6,0
8
31,1
27,3
4,3
6,0
4,2
5,9
^^'2
2,8
3,3
9
2,2
7,7
3,3
2,5
3,6
3,8
1,3
6,9
• 5,7
1,7
lO
h^
' • I f
2,0
1,3
2,0
2,8
0,6
.
0,8
über
'
lO .
2,1
Ir6
1,3
2,5
1,4 J
2.0
2,1
0,5 -
1,0
0,8
*) Die Städte Winterthur und Chaux- de -Fonds und die Bezirke Burgdorf, Yverdon,
Glenner, Goms, Entremont und Echallens.
möblierter Wohnungen solche, die ein be-
sonderes Zimmer inne haben, als eigene
Haushaltungen. Immerhin dürften auch
thatsächlich in Paris die Einzelhaushaltungen
und die kleinen Haushaltungen auffallend
hoch sein, wie dies in gleicher Weise im
übrigen Frankreich, wo die Zählim^ ähnlich
der deutschen erfolgte, der Fall ist. Der
Grund dieser Erscheinung wurde schon oben
sub. 2 angedeutet und wird weiter belegt
durch die Statistik, welche die Familien
nach der Zahl der lebenden Kinder (que
ces enfants aient continu6 ä vivre avec
leurs parents ou se soient constitu^s des
domiciles particuliers) unterscheidet:
Familien mit
. . . lebenden
Kindern
ünbek. Zahl
o
I
2
3
4
5
6
7 und
mehr
Frankreich
1896
absolut
234 855
1 808 839
2 638 752
2 379 259
I 593 387
984 162
584 582
331640
%
2,1
16,7
24,3
21,9
14,7
9,1
5,4
3,1
1891
%
1,8
17,2
24,6
22,0
14,7
9,1
5,3
3,0
289771 2,7 2,3
Paris
1891
9,8
23,8
27,7
19,8
10,1
4,8
2,2
1,0
0,8
Haushaltungen
mit . . Personen
I
2
3
4
5
6 und mehr
Prozentanteile der einzelnen
Haushaltungsgmppen
1856 1891 1896
10,40
18,51
19,94
18,19
13,26
19,70
15,20
21,50
20,03
16,43
11,59
15,25
15,63
21,83
20,24
16,39
11,24
14,67
Summa 100
100
100
Vergleicht man die einzelnen Haus-
haltungsgruppen, genauer die ihnen zuge-
hörigen Personen mit der Bevölkerung,
so findet man an der Hand des hierüber zu
Gebote stehenden Materials,
Zusammen 10845247 100 100 100
1,8 Millionen Familien haben also keine
lebenden Kinder, das sind nicht weniger als
17®/o aller Familien; in Paris erreicht der
Prozentsatz die Höhe von 24.
Wie sehr im Laufe der letzten Decennien
die Struktur der Haushaltungen Frankreichs
sich geändert hat, beweisen folgende Zahlen :
bfio
00
p •
I
2
3
4
5
6
7
8
9
10
über 10
0
o
>
•
Ui
(3)
>
1890 1890
Prozent der
0,74
bß
O OQ
WOB
Ö m8
PE4
}
1,58
6,52
44,34
1890 1890
Bevölkerung
^07
5,60
58,45
40,36
7,20
I
34,15
6,66
2,0
8,6
14,9
16,3
16,7
23,9
17,6
II, II
15,14
16,08
»4,72
11,72
8,54
5,83
3,51
6,68
dass über neun Zehntel der Bevölkerung in
! Haushaltmigen von drei und mehr Personen,
1 etwa die Hälfte der Bevölkerung in Haus-
llialtungen von mehr ^s 5 Personen, ein
1134
HanshalUing (Statistik)
Zehntel in Haushaltungen von 10 und mehr
Personen leben. In Einzelhaushaltungen
leben 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung.
4. Familienangehörige und fremde
Elemente in der Haushaitang. Diese
Unterscheidung berührt nur die Familien-
haushaltuugen. Die Hälfte bis zwei Drittel
der Faniilienhaushaltun^n setzen sich aus-
schliesslich aus Familienmitgliedern zu-
sammen, in den anderen Haushaitungen
finden sich auch andere Elemente wie
Pfleglinge , Dienstboten , Grewerbsgehilfen,
Aftermieter, Schlafgänger, voriibergehender
Besuch. In dieser Beziehung sind folgende
Daten zu erwähnen:
Familienhanshaltnngen
bestehend
««• ««« T?« ausFamilien-
nur aus ja- ^i;«j«««„„j
miliengliedem «'ÄST'
absolut ^/o absolut %
43071 64,8 23378 35,2
225590 59,8 151 867 40,2
Oldenburg 1880 .
Berlin 1895 . .
60,0
Hamburg 1895 . . 79808
Breslau 1895 . . 49466 61,7
Charlottenburg 1895 15989 54,1
Dresden 1895 . .41 554 56,1
Frankfurt a. M. 1895 22 045 47,7
53101
40,0
30699 38,3
13 587 45,9
32 549 43,9
24 160 52,3
Die Familienelemente bilden den
Kern der Haushaltungen. Dem entspricht
es, dass die meisten Haushaltungen ein
Ehepaar zum ^Vorstand haben, sogenannte
eheliche Haushaltungen. Eigene Nachweise
darüber sind nur wenig vorhanden:
Zahl der Haushaltungen mit
einem Ehepaar
als Vorstand
absolut in % aller Fam.-
Haushaltungen
Grossh. Oldenburg
(188(j) 51 746
Stadt Berlin (1895) 285 166
Hamb. Staat (1890) 90 811
78
70
77
Im übrigen muss man sich der Zahl der
stehenden Ehen bedienen, um die Fa-
milien im engsten Sinne kennen zu lernen.
Deren waren es im Deutschen Reich nach der
1890 er Volkszählung, wenn man die lialbe
Summe der verheirateten Männer und Frauen
zu Grunde legt, 8 385 547 (1895 auf Grund
der Benifszählung 8 816 849), das sind Sü^.'o
der damals ermittelten (9 836 560) Familien-
haushaltungeu.
Zur länderweisen Feststellung der Häufig-
keit der FamDien mit Ehepaaren mag füs
Massstab das Verhältnis der verheirateten
zur erwachsenen (über 15 Jahre alten) Be-
völkerung genügen:
Staat
Deutsches Reich .... 1890
Oesterreich 1890
Ungarn 1891
Schweiz 1888
Italien 1881
Frankreich 1896
Belgien 1890
Niederlande 1889
Dänemark 1890
Schweden 1890
Norwegen 1891
England und Wales . . 1891
Schottland 1891
Irland 1891
Ver. Staaten von Amerika 18iK)
Männer
8372486
4003916
3528486
466 761
5 149417
7 690 997
967 448
738 242
375 611
795 463
315419
4 8>i ^48
589 820
613411
1 1 20c 228
Verheiratete Bevölkerung
Frauen
8 398 607
4 034 452
3576012
471 546
5210993
7 728 854
964 9 1 1
739009
376 252
804613
326 083
4916 649
603 573
625 798
II 126 196
im ganzen
16 771 093
8 038 368
7 104498
938 307
10 360 410
15 419 851
1 932 359
1477 251
751863
I 600076
641 502
9768 197
I 193 393
I 239 209
22331 424
Prozent der
Erwachsenen
52,32
51,08
47,10
53,69
54,43
47,36
50>55
52,82
50,13
50,26
51,87
46,02
39,04
55,30
Abgesehen von den Haushaltungen mit
Ehopaai^en sind auch jene Fälle nicht selten,
in denen die Haushaltung durch eine Frau
allein geleitet wird, wie folgende Daten (1895)
für Berlin besagen:
Familienhaupt
(ein Ehepaar . . . 2 1 3 85 1
ein Mann .... 7 459
Kindern ) eine Frau .... 47 545
Zur Charakteristik der anderen
Haushaltungsmitglieder ist zu be-
merken, dass in Berlin zu nicht weniger als
2()®/o der Haushaltungen Einmieter oder
Schlafleute gehören ; von den Haushaltungen
ohne solche bestehen
Haus-
haltuiuren
Familien ohne
Kinder
Zusammen 268 855
ein Ehepaar ... 71 315
ein ^fann 22 965
. . . . 46 123
—Iq-q— nur aus Familiengliedern 257 842
eine Frau
Zusammen 140403
aus Farn. -Gliedern u. bes. Hausgen.
Gewerbegehilfen
Diensfl)ot«n und
deren Kindern .
., Gewerbsgeh. und
sonst. Hausgen.
«
n
n
936S
^ 3:>j
44 626
222
Haushaltung (Statistik)
1135
aus Fam.-Gliedern u. Dienstboten und
sonst. Hansgen.
„ „ „ Gewerbsgehiifen
und Dienstboten
n n n Gcwerbsgehüfen,
Dienstboten und
sonst. Hausgen.
Haus- ; Die preussische Haushaltungsstatistik
haltungen i unterscheidet zwar nicht die Haushaltungen
I nach der Art ihrer Elemente, wohl aber
; giebt sie die Bestandziffern dieser Elemente
' selbst; bei der 1895er Volkszählung wuixlen
: in dieser Beziehung folgende Details festge-
' stellt :
5066
4838
337
1. Einzelne Lebende . . .'
2. InFamilienhaushaltungen undzwar:
Familienmitglieder
Pfleglinge, Pensionäre
Im Dienste des Haushaltungsvorstandes
stehendes Erziehungspersonal ....
Dienstboten
Ländliches Gesinde
Kinder dieser Dienstboten bezw. des Gesindes
Gewerbs- und Arbeitsgehilfen
Zimmerabmieter , Aftermieter , Chambre-
eumisten und dergleichen
Schlafgänger
Auf Besuch anwesend
Einquartierte Soldaten
3. In Anstalten
Gesamtbevolkerung
Zusammen (2)
männlich
Personen
weiblich
zusammen
147 701
315669
463 370
13207736
95301
14153495
loi 876
27361231
197 177
1279
79295
409866
7850
518996
7466
605 709
531 570
8808
96952
8745
685004
941 436
16658
615 948
425 953
104 198
24545
3137
131 155
35787
59209
557 108
139985
83754
3137
14878 156
619582
15732027
161 988
30610183
781 570
15645439
16209684
31 855 123
Ein Vergleich vorstehender Daten mit
analogen anderen Staaten oder Städten ist
wenig ratsam, da den betreffenden Aus-
zählungen nicht gleichmässige Klassifika-
tionen zu Grunde liegen.
Auch gelegentlich der Berufs- und
Gewerbe zäh hing vom 14. Juni 1895
wurden Nachweise über die Familien- und
im Hauptberuf
Selbständige Betriebsleiter etc
Angestellte
Mithelfende Familienangehörige in
Betrieben der Landwirtschaft, Industrie und
des Handels • • •«
Sonstige Arbeiter
Fremdelemente der Haushaltungen erbracht.
Allerdings erstreckt sich die Unterscheidung
nur auf Familienangehörige — im Betrieb
des Haushaltungsvorstandes mithelfend oder
nicht — und auf häusliche Dienstboten.
Die Reichsbevolkerung gliederte sich unter
diesem Gesichtspunkte wie folgt:
männlich
weiblich
zusammen
4 762 675
I 171 445
5 934 120
763 848
54042
817890
910 641
I 158944
2 069 585
9069318
2 879 962
1 1 949 280
15506482
5 264 393
20770875
I 027 2S9
I 115549
2 142808
25359
1313957
1339316
8159817
8219442
16379259
690 244
10447782
II 138026
Zusammen Erwerbsthätige
Berufslose Selbständige
Häusliche Dienstboten
Familienangehörige ohne Hauptberuf
unter 14 Jahr
14 Jahr und darüber
Bevölkerung 25409161
26361 123
51 770284
27 517 285 Angehörige d. s. 53 »o der
Bevölkerung oder 2,4 auf eine Haushaltung
leben also in der Familie, ohne nach aussen
hin mit Erwerbsthätigkeit hervorzutreten.
Zwei Drittel dieser Angehörigen sind weib-
lichen Geschlechts, was damit zusammen-
hängt, dass zu den Angehörigen meist die
Ehefrauen gezählt sind, nämlich alle, deren
Haui)tbeschäftigimg in der Besorgung des
Hauswesens besteht ; andererseits kommt die
Art und AVeise der Erziehung mit in Be-
ti'acht, die Tochter bleibt so lange in der
Familie, bis sie sich vei*ehelicht oder eine
eigene Erwerbsthätigkeit aufzunehmen ge-
zwungen ist, der Sohn dagegen muss viel-
fach schon bald nach zurückgelegter Volks-
schule auf eigenen Erwerb bedacht sein,
sich in Stellung begeben und das Eltcrn-
liaus verlassen.
An Familienangehörigen, welche im Wirt-
schaftsbetrieb ihres Haushaltungs Vorstandes
haupt- oder nebenberuflich mithelfen, ergab
1136
HaushaltuDg (Statistik)
die BerufszähluDg 2 069 585 + 1311790
^ 3 381 375 (2,3 MiUioQen weibUche , 1,1
Millionen männliche), sie verteilen sich auf
die drei grossen Wirtschaftszweige folgender-
massen :
Mithelfende Familienange-
Bernfsabteüung .^ g^^p^. Keben- zu-
beruf
Landwirtschaft . 1898867
Gärtnerei, Tier-
zuchtjFischerei 4 7^2
Industrie . . . 56003
Handel und Ver-
kehr .... 109933
beruf sammen
I 061 419 2960286
4217 8999
72560 128563
173 594 283 527
Zusammen 2 069 585 1311 790 3 381 375
Die Mitarbeit von Familienangehörigen
findet sich am ausgedehntesten in der Land-
wirtschaft, wo ihre Zahl sogar die der
Knechte und Mägde übersteigt, und zwar
zumeist auf Betrieben mittlerer Grösse, auf
Bauerngütern. Schon weniger häufig ist sie
bei Handel und Verkehr, am eingeschränk-
testen in der Industrie, es hängt da die
Häufigkeit von mithelfenden Familienange-
hörigen von der Grösse der Betriebe ab,
je kleiner der Betrieb, um so mehr hat er
familienhaften Charakter. Xlebrigens treffen
von allen mithelfenden Familienangehörigen
der Industrie und des Handels nicht weniger
als 84 ®/o auf die fünf Berufsarten Gast- und
Schankwirtschaft, Waren- und Produkten-
handel, Bäckerei, Fleischerei, Weberei, viel-
fach besteht die besagte Mithilfe in der
Besorgimg des Verkaufsgeschäfts und wird
zumeist von Ehefrauen geleistet.
Häusliche Dienstboten wurden 1,3 Mil-
lionen gezählt, demnach kommt durchschnitt-
lich auf die achte bis neimte Haushaltung
ein Dienstbote.
Natürlich stellt sich die Besetzung der
Haushaltungen mit nicht erwerbsthätigen
Familienangehörigen und Dienstboten ver-
schieden nach Alter, sozialer, beruflicher
und pekuniärer Stellung des Haushaltungs-
vorstandes. Näheres hierüber in meinen
Ausführungen in Bd. 111 der Statistik des
Deutschen ßeichs, »Die bemfliche mid
soziade Gliederung des Deutschen Volkes«,
S. 82, 175 und 201 ff.; über die im Haus-
halte ihres Lehrherrn wohnenden Lehrlinge
vgl. meine Darstellung in Bd. 119, »Gewerbe
und Handel im Deutschen Reich«, S. 71 ff.
5. Die Haashaltungen nach Besitas.
Bei der Bearbeitung der 1895 er Berufs-
^ Statistik (Bd. 111 der Statistik d. D. R.
S. 189 ff.) wurde der Versuch gemacht, die
viel umfassende Klasse der s e 1 b s t ä n d i g e n
Landwirte sowie der selbständigen Ge-
werbe- und Handeltreibenden auf Grund
ihrer Angaben über Umfang der Wirtschafts-
fläche und Zahl der von ihnen beschäftigten
Personen nach ihrem Besitz zu differenzieren.
Freilich sollte auch die Grösse des Anlage-
und Betriebskapitals sowie Umfang des Roh-
und Reinertrags dabei Berücksichtigung
finden, indessen fehlen hierzu die ent-
sprechenden Unterlagen. Des besseren
üeberblicks halber wurden die auf die ge-
nannte Art gewonnenen Besitzklassen in
drei Wohlhabenheitsschichten zusammcnge-
fasst: 1. eine unbemittelte, umfassend
die Inhaber von Betrieben mit unter 2 ha
oder mit einer Person, 2. eine Mittel-
klasse, umfassend die Betriebsinhaber mit
2 bis 100 ha oder 2 bis 20 Personen, 3. eine
vermögende Klasse, umfassend die Be-
triebsinhaber mit 100 ha imd mehr oder
mit über 20 Personen. Auf diese drei Klassen
verteilen sich die Selbständigen mit ihren
I (mitthätigen und anderen) Angehörigen wie
I folgt:
unbemittelte Klasse
Landwirtschaft^) .... i 712872 15,87
Industrie 3197313 51,00
Handel und Verkehr*) . . i 245 177 48,23
Mittelklasse
8 959 869
2 906 1 36
I 312423
83,02
46,36
50,84
Zusammen 6155362 31,34
*) Ohne Forstwirtschaft.
-) Ohne Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbetrieb.
13 178428 67,09
vermögende Klasse
119344 i,u
165 772 2,64
24 104 0,93
309220 1,57
Im Wege der Schätzung hat man den
drei Wohlhabenheitsschichten auch die
in anderen Berufen noch vorkommenden
Selbständigen eingegliedert und diesen Selb-
ständigenschichten die der Abliängigen an-
gefügt und ist dabei zu folgendem Gesamt-
bilde hinsichtlich der Gliedenmg der Haus-
haltungen nach dem Besitz gelangt:
Erwerbsthätige
nebst Familien-
angehörigen
Schicht der Selbstän-
digen
a. vermögende Klasse . .
b. Mittelklasse
c. unbemittelte Klasse . .
Schicht der Abhängigen
23013226
646 242
15 874600
6 492 384
28 757 058
44,45
1,25
30,66
12,54
55,55
Summa 51770284 100,00
HaushaltuDg (Statistik)
1137
Zu ähnlichem Ergebnis gelangte Schmol-
ler, der (vgl. meinen Art. Beruf und
Berufsstatistik Bd. II S. 607) zur so-
zialen Abgrenzung der Haushaltungen neben
der Berufs- und Betriebsstatistik auch die
preussische Einkommensteuerstatistik heran-
zog. —
Lediglich unter dem Gesichtspunkte der
Einkommensverhältnisse betrachtet, erschei-
nen in Preussen nach der Einkommensteuer-
statistik 1899 die Haushaltungen folgender-
massen abgestuft:
Einkommensgruppe
absolut
Personen einschliesslich Haushaltnngsangehörige
der besteuert
Bevölkerung
7o der Gesamtbevölkerung ^j^ der besteuerten
unter 900 M.
21 153323
steuerfrei als
Exterritoriale u. dergl.
7 353
über 900 M., aber steuerfrei
I 406094
900—3000 M.
9022010
.3000—6000 „
858294
6000--9500 ,.
227 548
über 9500 ^
234217
1899
64,3
0,0
4,3
27,4
2.6
0,7
0,7
1895/96
68,7
0.0
2,1
25,6
2,4
0,6
0.6
87,2
8,3
2,2
2,3
Summa
32 908 839
100
100
100
Dai'nach lebt nahezu ein Drittel (1895
31 ^/o) der Bevölkenmg, 87 ®/o der besteuerten
Bevölkerung in Haushaltungen mit über
900 Mark Einkommen, aber nur 4®/o in
solchen mit über 3000 Mark Einkommen.
Durchschnittlich treffen auf eine steuer-
zahlende Haushaltung, deren im ganzen
3,3 Millionen mit insgesamt 11,7 Mimonen
Personen gezählt sind, 3,3 Personen (natür-
lich weniger, als wenn man die Gesamtzahl
der Haushaltungen in Ansatz bringt) und
ein Einkommen von 2347 Mark.
6. Bezüglich der Wohnungsverhalt-
nisse der Haushaltungeii wird im all-
gemeinen auf den Art. Wohnungsfrage
sowie auf das Statistische Jahrbuch deutscher
Städte 7. Jalirg. (1898) S. 57 ff. verwiesen.
Nur einige Daten aus der Aufnahme, die in
Baden 1890 stattfand, mögen hier Platz
finden. Damals wurden gezählt Haushal-
tungen
Haushaltungen
23
94
51235
116 256
78619
68864
27558
1945
Wohnräume (ausschl.
Fremdenzimmer der
Gasthäuser)
2
3
4 u. 5
6 — 10
II u. mehr
Im gesamten Deutschen Reich wurden
bei der 90 er Volkszählung für 10,6 Milli-
onen Haushaltungen 5,8 Millionen bewohnte
Gebäude festgestellt, so dass im Reichs-
durchschnilt 1,82 Haushaltungen auf ein
AVohnhaus treffen. International gestaltet
sich dies Verhältnis in nachstehender Weise;
Staat
Jahr
mit eigener Wohnung . . .
„ gemieteter Wohnung . .
„ Dienstwohnung ....
„ Wohnung in Nutzniessung
Haushal-
tungen
Bewohnte ii'o^
Gebäude IJ*
204 278
116 342
11354
12620
Durchschnittlich wohnen in einem Ge-
bäude 1,57 Haushaltungen, das »Einfamilien-
haus« wiegt bei weitem vor. Es gab nämlich
mit . . Haus-
haltungen
I
2
4 mid 5
6 und mehr
Gebäude
149 416
45 457
12858
7 696
3992
ja
§•3
5848562 1,82
3 i8i 302 1,58
2973409 1,27
400 121 1,59
7541926 1,43
I 198 058*) 1,11
821 141 1,19
7139643 1,12
Llttoratur : Ausser den im Text erwähnten Arbeiten
noch die statistischen Quellenirerke dei' ein-
zelnen Stauten beztc. Städte, insbesoridere Bd.
68 der Statistik des Deutschen Beichs, ferner O.
V, MayVf Statistik und Gesellschaftslehre, Bd. 3,
Freiburg i. B. 1897, S. U2 ff. und A. FrUr,
w Fircks, Bevölkeiningslehre und Bevölkerungs-
'Politik, Leipzig 1898, S. 124 ff.
HHedrich S^hn.
Deutsches Reich
Oesterreich
Ungarn
Schweiz
Frankreich
Belgien
Niederlande
Grossbrit, u. Irl.
1890
1890
1890
1888
1896
1890
1889
1891
10617 923
5030919
3 790 741
673 835
10812 151
I 332 796
977915
8 020 546
An Wohnräumen trafen durchschnittlich
3,01 auf eine Haushaltung; im einzelnen
hatten
Bewohnte und unbewohnte Wohnhäuser.
Handwörterbach der Staatswlasenschaften. Zweite Auflage. IV.
72
1138
HaMshofer — Hausindustrie
Hanshaltmigsbiidget
s. Konsumtion.
Haushofer, Max,
geb. ?u München am 23. IV. 1840, promovierte
daselbst 1864, seit 1868 Professor der königlich
technischen Hochschule München (für National-
ökonomie, Finanzwissenschaft, Statistik, bayer.
Staatsrecht); von 1875—81 Abgeordneter für
München im bayerischen Abgeordnetenhans.
Von seinen volkswirtschaftlichen Schriften
seien die nachfolgenden genannt:
Der landwirtschaftliche Kredit, München
1864. — Die Zukunft der Arbeit, ebd. 1866. —
Lehr- und Handbuch der Statistik, Wien 1872,
2. Aufl. 1882. — Grundzüge des Eisenbahn-
wesens, Stuttgart 1873. — Industriebetrieb,
Stuttgart 1874. — Eisenbahngeographie, Stutt-
gart 1875. — Handelsgeographie von Europa.
Fortsetzung von Andrees Handelsgeographie),
Stuttgart 1877. — Maier Rothschild, Handbuch
der Handelswissenschaft, I. Bd., Stuttgart 1878,
4. Aufl. Berlin 1889. Aus diesem Werke sind
Separatausztige erschienen, z. T. in mehreren
Auflagen, nämlich : Abriss der Handelsgeschichte,
1878, 2. Aufl. 1888; Abriss der Handelsgeo-
ffraphie, 1878, 2. Aufl. 1888; Grundzüge der
Nationalökonomie, 1878; die 3. Aufl. dieser
früheren Separatabzüge betitelt sich: Maier
Rothschild-Bibliothek Bd. I, Abriss der Handels-
geographie, 3, Aufl. 1894 ; Bd. II, Abriss der
Handelsgeschichte, 3. Aufl. 1894; Bd. III, Grund-
züge der politischen Oekonomie ; I. Abt. Grund-
züge der Nationalökonomie, 3. Aufl. 1894; II.
Abt. Wirtschaftslehre der Haupterwerbszweige,
3. Aufl. 1894 ; III. Abt. Finanz Wissenschaft,
1894. — Grundzüge der allgemeinen Handels-
lehre, 1878. — Der kleine Staatsbürger, Stutt-
gart 1883. — Der Existenzkampf des Klein-
gewerbes, Berlin 1885. — Die Ludwig-Maxi-
milians-Universität, München 1889. — Arbeiter-
gestalt€n aus den bayerischen Alpen, Bamberg
1890. — Ein Beitrag zur Handelsgehilfenfrage,
Berlin 1891. — Wie gewinnt und sichert sich
der Kaufmann dauernde Stellung? Eine Be-
leuchtung der Handelsflrehilfenfrage, Berlin 1892.
— Die fihefrage im Deutschen Reich, Berlin
1895 (a. u. d. T. : Der Existenzkampf der Frau
im modernen Leben, Heft 3). — Der moderne
Sozialismus, Leipzig 1896. — Lebenskunst und
Lebensfragen. Ein Buch fürs Volk, Ravensburg
1897.
Ausserdem finden sich aus Haushofers Feder
volkswirtschaftliche und sozialwissenschaftliche
Artikel in der Deutschen Revue, 1880—89; in
der Zeitschr. des bayerischen Kunstgewerbever-
eins, des Münchner polytechn. Vereins, Wester-
manns Monatsheften u. a. a. 0.
Hausierhandel
s. Wanderire werbe.
Hänsihdastrie.
I. Allgemeines. 1. Begriff und Wesen
der H. 2. Nuancen in der Entstehung der H.
3. Die typischen Formen hausindustrieller Or-
ganisation. IL Die Hausindustrie in den
einzelnen Ländern. 4. Deutschland. 5.
Oesterreich-Üngam. 6. Schweiz. 7. Frankreich.
8. Italien. 9. Belgien. 10. Russland. 11. Eng-
land. 12. Vereiniffte Staaten von Amerika. In.
Beurteilung der H. Ziele hausindus-
trieller Politik. Quellen und Litteratur.
L Allgemeines.
1. Begriff und Wesen der H. Haus-
industrie (Verlagssystem) ist diejenige Be-
triebsform der kapitalistischen Unternehmung,
bei welcher die Arbeiter in ihren eigenen
Wohnungen oder Werkstätten bescliäftigt
werden. Leiter der Produktion ist der
kapitalistische Unternehmer, Verleger ge-
nannt: er bestimmt Richtung und Aus-
mass der Produktion und versieht die in
ihren Wohnungen oder Werkstätten be-
schäftigten Arbeiter mit Aufträgen. Seine
Machtvollkommenheit zu dieser Stellung
leitet er nicht sowohl aus dem Besitze der
zur technischen Herstellung der Produkte
erforderlichen Produktionsmittel ab (die viel-
mehr häufig sicli in den Händen der in seinem
Dienst stehenden Arbeiter befinden) als viel-
mehr von der Kenntnis und Beherrschung
desWai^enmarktes (also seinen kaufmännischen
Qualitäten) sowie dem Besitze des zur Be-
schaffung der Rohstoffe und zum Vertriebe
der Fabrikate notwendigen Kapitals,
Die hausindustrielle Betriebsform unter-
scheidet sich von Manufaktur und Fabrik
durch die mangelnde Centralisation der Be-
triebsstätten ; sie ist aber gleichwohl eine Form
der kapitalistischen Produktions Unterneh-
mung, sofern die Produktionsleitung in
den Händen eines kapitalistischen Unter-
nehmens ruht: Unterschied gegenüber der
reinen Handelsunternehmung. Centralisation
der Produktionsleitung ; Decentralisation der
Produktionsausftlhrung. Einheit der (Pro-
duktions-) Unternehmung; Vielheit der (Pro-
duktions-) Betriebe.
Als eine Erscheinungsform der kapi-
talistischen L'nternehmung trägt die Haus-
industrie deren Merkmal überbauj)t. In
eine Erörterung der Wesenheiten des Kapi-
taiismus einzutreten, ist hier nicht am
Platze. Es muss genügen, die der Hausin-
dustrie eigentümlichen Eigenarten in Kürze
darzulegen.
Diese ergeben sicli — zimi Unterschiede
von Fabrik und Manufaktur — aus den sie
von diesen beiden Betriebsformen imter-
scheidenden Merkmalen, die wir pracisien^n
können als
1. Decentralisation der Arbeit; samt
2. Decentralisation der Arbeiter.
Hausiuclustrie
1139
Diese doppelte Decentralisation hat für
den Uaternehmer Nachteile und Vor-
teile im Gefolge — immer im Vei'gleich
mit den Formen des gesellschaftlichen Gi-oss-
betriebs.
Die Nachteile liegen vor allem darin,
dass die Entfaltung der produktiven Kräfte
an die Grenzen gebunden ist, wie sie die
Kleinheit der Betriebe mit sich bringen.
Uebercdl dort, wo die Produktionstechnik
Koncentration in gnisserem Stile erheischt:
sei es zwecks besserer Organisation der Ar-
beit, sei es zw^ecks Einführung mechanischer
oder chemischer Yerfahrungsweisen, vei-sagt
naturgemäss die in die Sehranken des iso-
lierten Arbeitsprozesses oder massiger ge-
sellschaftlicher Arbeitsorganisation gebundene
hausindustrielle Betriebsform. Einen Nach-
teil kann auch die Schwierigkeit der Kon-
trolle der Arbeiter bedeuten, ebenso die
Notwendigkeit, als Form der Entlohnung
stets nur den Stücklohn anwenden zu
können; endlich auch die nicht sofortige
Verfügbarkeit des Arbeiters, wo es sich um
rasche Ausfflhrung plötzlicher Aufträge
handelt.
Diesen Nachteilen stehen nun aber fol-
gende entschiedenen Vorteile gegenüber:
1. Die grössere Billigkeit der haus-
indiLstriellen Betriebsform für den Unter-
nehmer; er spart — ceteris paribus — so-
wohl an sachlichen Ausgaben (für Produk-
tionsmittel) als an persönlichen Ausgal>en
(für die Arbeitski-aft), gelangt also zu nied-
rigeren Produktionskosten. Seine saclilichen
Ausgaben sind geringer als die des Fabrik-
\mternehmers, weil die sämtlichen Genei'al-
nnkosten (für Beleuchtung, Heizung, Ver-
zinsung und Amortisation der Gebäude),
meist aber auch die Kosten der Verzinsung
imd Amortisation des Gerätschaftcontos gar
nicht oder nur zum geringen Teile in der
Vergütung der Leistung des Jlausindustriellen
ziu' Berechnung gelangen, d. h. also der
Regel nach von diesem getragen werden.
Der Personalaufwand stellt sich aber
deshalb niedriger, weil die Ausbeutungs-
grenze der Arbeitskraft gegenüber hinaus-
geschoben ist. In imsei-er Zeit fortschreiten-
der Reaktion gegen die Ausbeutung der
Arbeitskraft durch die Gesetzgebung ist es
ein wichtiger Vorteil der Hausindustrie,
dass sie erst zum geringen Teil unter die
sogenannten sozialpolitischen Gesetze fällt:
<lie Lasten der Arbeiterversiclierung sind
ilur noch keineswegs in vollem Umfange
auferlegt, und der Äbeiterschutz hat in den
meisten Ländern noch vor ihr Halt gemacht.
Sie hat also unter einer Verteuerung der
Arlx^itskraft, wie sie Beschränkung der
Frauen- und Kinderarbeit, Sonntagsruhe,
Maximalarbeitstag, hygienische Vorschrif-
ten etc. im Gefolge haben, einstweilen noch
nicht zu leiden. Dazu kommt, dass die
Tendenzen zur Lohnsteigerung infolge der
Isolienmg der Arbeiter schwächer sind als
bei der Fabrikindustrie, die den Kontakt der
Arbeiter selbst schafft. Niedrige Löhne,
langeArbeitszeit, starke Heranziehung minder-
wertiger Arbeitskräfte sind Kennzeichen fast
jeder Hausindustrie und erkläi'en die grössere
Billigkeit hausindustrieller Arbeit.
2. ist es die grössere Beweglich-
keit der hausindustriellen Betriebsform, die
sie dem Unternehmer sympathisch macht.
Da fast alles Kapital umlaufendes Kapital
ist, also fast gar keine Festlegung be-
deutender Kapitalteile erfolgt, so gewährt
diese Betriebsform dem Unternehmer die
Möglichkeit, den Umfang seines Unter-
nehmens in kurzer Zeit nach Belieben aus-
zudehnen oder einzuschränken. Der haus-
industrielle Unternehmer erleidet keinerlei
positiven Verlust, wenn er plötzlich seinen
Ai'beitern keine Aufträge mehr giebt; es
entsteht ihm kein damnum emergens wie
dem Fabrikanten, dessen fixe Kapitalteile,
wenn nicht produktiv verwandt, ihm doch
Verzinsungs- imd Amortisations-Kosten ver-
ursachen. Das hausindustrielle Kapital be-
sitzt annähernd die Versatilität des Handels-
kapitals, und das ist in sehr vielen Industrie-
zweigen vielleicht derjenige Vorteil, der
mehr noch als die gi^ssei-e Billigkeit zu
Gunsten der hausind uslriellen Betriebsform
den Ausschlag giebt. Naturgemäss ist für
den Arbeiter die Situation die umge-
kehrte : w^o dort die Nachteile liegen, liegen
hier die Vorteile und umgekehrt.
Vorteilhaft ist die hausindustrielle
Betriebsform für den Arbeiter, sofern sie
ihm ein grösseres Mass individueller Frei-
heit gewährt: kein Zwang, in die Fabrik
zu gehen, kein Zwang, sich einer heteronomen
Arbeitsoixinung zu fügen. Selbstverständlich
ist diese Freiheit in sehr vielen Fällen —
überall dort, wo die Hausindustrie alleinige
Nahinmgs<iuelle und die Entlohnung die
norraalniedrige ist — illusorisch. Wer 14
oder 16 Stunden am Tage arbeiten muss,
\un sich den notdürftigen Lebensunterhalt
zu schaffen, profitiert wenig von der Frei-
heit, zu beliebiger Zeit die Arbeit an-
fangen, unterbrechen und endigen zu können.
Macht er zwei Stunden Mittagspause statt
einer, so muss er eine Stunde länger in die
Nacht liineiu sitzen, ebenso -wenn er eine
Stimde später als der Fabrikarbeiter auf-
steht. Der Kern der Ai'beitsfreiheit des
Hausindustriellen liegt somit in der Ermög-
lichung der Na(;htarbeit Was allerdings
seinen Reiz liaben kann, wie wir von der
Schi-eiberaunft bestätigen werden. Dass der
oder die Hausindustriellen ihi-em Haushalt
pers()nlich vorstehen, sich selb.st kochen,
die Kinder beaufsichtigen können, darf eben-
72*
1140
Hausindustrie
falls auf das Gewin nconto des Heimarbeiters
gesetzt werden. Damit dürften jedoch die
Vorteile dieser Betriebsform für den Ar-
beiter erschöpft sein. Alles übrige mündet
in Nachteile aus: die niedrigen Löhne,
die schon an sich karg bemessen, durch den
Zeitverlust, den das Abholen der Rohstoffe
und das Zurückbringen der Ware meist un-
vermeidUch mit sich bringen, noch weiter
verringert werden; die lange Arbeitszeit;
vor aDem aber: die schwankende Arbeits-
zeit, dieser häufige Wechsel zwischen ünter-
und üeberarbeit und last not least die ver-
mehrte Existenzimsicherheit infolge der ge-
schilderten Yersatilität der hausindustriellen
Betriebsform: das sind die Geissein, deren
Schläge auf den Rücken des hausindustrieUen
Arbeiters niedersausen.
Was aber vor allem vom Standpunkt
der Arbeiterklasse als solcher aus als ein
furchtbarer Nachteil der hausindustriellen
Betriebsform erscheinen muss, ist der Um-
stand, dass sie ein Hindernis für die Fabrik-
arbeiter ist, auf dem Wege solidarischen
Vorgehens Verbesserungen in ihren Arbeits-
bedingungen zu erzielen. Die Heimarbeiter
sind nur schwer zu organisieren und werden
vom Unternehmer zu jeder Zeit begreiflicher-
weise gegen die unzufriedenen organisierten
Arbeiter ausgespielt. Wie unter dem Druck
fortschreitendengesetzlichenArbeiterschutzes,
so vermag der Unternehmer auch unter
dem Drucke fordernder Arbeiterorganisationen
in die Sphäre der Hausindustrie zu ent-
weichen, wo noch nichts den Frieden seiner
Seele stört und er auf jederzeit willige,
fügsame und ergebene Arbeitermassen
stösst.
Ueber die Existenz einer sozialen In-
stitution entscheidet in unserer Volkswirt-
schaft nun aber nicht zum mindesten das
Interesse des Arbeiters, sondern allein das
Interesse des kapitalistischen Unternehmers.
Wollen wir daher die Existenzbedin-
gungen der hausindustriellen Be-
triebs form feststellen, so dürfen wir uns
nur die Vorteile und Nachteile vergegen-
wärtigen, die sie für den Unternehmer auf-
weist, um folgende allgemeine Bedingungen
für ihre Existenz formulieren zu können:
l.Ein verhältnismässig niedriger
Stand der Produktionstechnik. Ist
letztere an einem gewissen Punkte der
Entwickelung angelangt, so vermag alle
Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft
in der Hausindustrie nicht mehr den Vor-
sprimg einzuholen, den eine teurer, aber pro-
duktiver im gesellschaftlichen Betriebe be-
schäftigte Arbeitskraft, gegenüber dem Heim-
arbeiter, der auf der individuellen Technik
verhan't, besitzt: ein hausindustrieller
Spinner ist heute ein Unding; ein haus-
industrieller Weber hält sich gerade noch
durch die äusserste Anspruchslosigkeit über
Wasser; ein hausinduslrieller Schneider
ist nur wenig benachteiligt gegenüber einem
Fabrikschneider. Es ist augensichtlich. dass,
ceteris paribus wiederum, die Lage der Ar-
beiter in der Hausindustrie um so elender
zu sein tendiert, je höher in einem Industrie-
zweig die Produktionstechnik entwickelt ist.
Offenbar ist nun die verhältnismässige In-
differenz, der Produktionstechnik notwendige
Bedingung, um überhaupt die Existenz der
hausindustriellen Betriebsform zu ermög-
lichen. Ist diese Bedingung erfüllt, so
sind es folgende Momente, die zu ihrer Be-
vorzugung den Anreiz geben:
2. Das Vorhandensein zu decen-
tralisierter Arbeit geeigneter und
geneigter Arbeitskräfte. Diese Vor-
aussetzung wird vor allem dort erfüllt sein,
wo zalilreiche Personen sich finden, die
durch Standesvorurteil oder äusseren öko-
nomischen Zwang oder sonst welche Um-
stände^) an die Schwelle ihres Hauses ge-
bunden sind. Ersteres trifft zu für de-
klassierte Handwerksmeister, für Frauen
und Mädchen besserer Stände in den
Städten; der zweite Grund ist bestimmend
für Hausfrauen imd Mütter, für bäuerliche
Stellenbesitzer u. dergl.
Kommt nun noch
3. der Saisoncharakter eines Ge-
werbes zu allem übrigen hinzu, so ist eine
für die Existenz der hausindustriellen Be-
triebsfoiTO ideale Situation geschaffen.
2. Naancen in der Entstehung der H.
Hier ist keine Wirtschaftsgeschichte zu
schreiben, sondern nur ein Hinweis zu lie-
fern auf die besonders charakteristischen
Umstände, unter denen die Hausinduötrie
jeweils in das geschichtliche Leben einzu-
treten pflegt. Dass dabei als causa movens
stets (oder doch praktisch so gut wie immer)
das Verwertungsstreben des Kapitals anzu-
sehen ist, versteht sich von selbst.
Scliaut man sich die verschiedenen Haus-
^) Es können gelegentlich auch noch andere
Momente die Existenz der hausindustriellen Or-
ganisation begünstigen als die beiden im Text
genannten. So war es beispielsweise die Verschitr-
denheit von Sprache und Kultur, die in den
Grossstädten der Vereinigten Staaten die ein-
gewanderten Böhmen, Juden etc. besonders ge-
eigfnet zu Futter für die Hausindustrie machte.
Die neuen Ankömmlinge, die erst, wie unten zu
zeigen sein wird (vgl. unten S. 1157), Veranlassung
zur Einführung der Hausindustrie in die bis dahin
fabrikmässig organisierte Konfektion waren,
hatten einen Horror vor der Fabrik und wollten
nur unter Vorleuten arbeiten, die ihre Sprache
verstanden, ihre religiösen Feiertage respek-
tierten, den Sabbat heilig hielten, kurz sich
ihren rückständigen Sitten und Gebräuchen an-
passten.
Hausindustrie
1141
indiistrieen an, so könnte man versucht sein,
sie danach zu unterscheiden, ob sie
1. entstanden sind in Anknüpfung
an ein Handwerk annähernd gleichen
Inhalts oder nicht dann entweder uüter Ver-
wertung hausgewerblicher Eigenproduktion
oder in Neuschaffung. Letzteres ist fast
durchgängig der Fall gewesen in Ost- und
Nordeuropa (Russland, Balkanländer, Ungarn,
Skandinavien), während in Westeiux)pa beide
Entwickelungsmodalitäten vorkommen. Im
Grunde genommen ist jedoch diese Ver-
schiedenheit der Entstehungsweise verhält-
nismässig irrelevant. Bedeutsamer für den
gesamten Verlauf der volkswii-tschaftlichen
Entwickelung ist der Umstand, ob
2. die Hausindustrie im ganzen
auf eine Periode handwerksmässi-
ger Gewerbeorganisation folgt oder
nicht. Ersteres ist für Westeuropa, letzteres
für Osteiu'opa charakteristisch. Die Ge-
schichte der Hausindustrie ist die Geschichte
des Kapitalismus. Es darf nun als aner-
kannt gelten, dass dieser in der Form der
Hausindustrie verkleidet am liebsten sich
in ein Wirtschaftsgebiet einschleicht. Es
ergiebt sich dann zunächst eine Art von
vorwiegend hausindustrieUer Periode der
Wirtscliaftsgeschichte. So in Westeuropa
in der Zeit vom Ausgange des Mittelaltei-s
an bis zum Eintritt der Manufakturen und
Fabriken in das Wirtschaftsleben; in Ost-
europa noch während der vergangenen Jalir-
zehnte. Dort war ein halbes Jahiiausend
handwerksmässige Organisation voraufge-
gangen und wirkte ein weiteres halbes Jahr-
tausend nach; hier wurde der Kapitalismus
in der Form der Hausindustrie zunächst
noch fast rein eigenwirtschaftlichen Ländern
aufgepfropft,^)
3. In Westeuropa möchte ich aber
<len entscheidenden Nachdruck legen auf
das Alter der bestehenden Hausindustrie
und diese in zwei grosse Kategorieen teilen :
^) Diese Auffassung wird für Enssland in
etwas modifiziert durch die neueren gründlichen
Untersuchungen Tugan Baranowskis, Ge-
schieht« der russischen Fabrik. Berlin 1900, S.
252 ff. Danach sind wichtige Zweige der kapi-
talistischen Industrie Eusslauds , namentlich
auf dem Gebiete der Textilindustrie (Baumwoll-,
Seidenweberei u. ajzunächstin geschlossenen
Etablissements ins Leben getreten, denen erst
im Anfang des 19. Jahrhunderts in den Kustari
eine Konkurrenz erwachsen ist. Es folgt dann
für Rnssland erst als zweite Etappe seiner
industriellen Entwickelung die Periode vor-
wiegend hausindustrieller Organisation, die erst
in den letzten Jahren zu verschwinden die Ten-
denz hat. Ich glaube aber, dass trotz dieser
Sondererscheinung sich die Darstellung im Text
als allgemeine Regel wird aufrecht erhalten
lassen.
ältere, vorwiegend ländliche und moderne,
vorwiegend städtische Hausindustrie.
a) Die älteren Hausindustrieen
entstehen in den Anfängen der kapitalisti-
schen Volkswirtschaft, in einer Zeit, in der
der Auflösungsprozess der alten Wirtschafts-
verfassung noch eben erst beginnt, in einer
grossstadüosen Zeit, häufig in Anknüpfung
an bäuerliche Eigenproduktion. Ihr Arbeiter-
material rekrutierte sich aus der im lang-
samen Verlauf organischen Wachstums sidi
ergebenden üeberschussbevölkerung. Wich-
tigste Typen dieser älteren Hausindustrieen :
sämtliche Zweige der Textilindustrie, früher
Spinnerei, heute noch (im Aussterben) We-
berei; die sogenannte Kleineisenindustrie,
die Fabrikation sogenannter »Nürnberger
Wai"en«, die sich später zu Kurzwaren aus-
wachsen, Spielwarenindustrie, Instrumenten-
macherei, ühi'enmacherei u. a.
b)Die modernen Hausindustrieen
entstehen zu einer Zeit schon hochent-
wickelter kapitalistischer Wirtschaftsweise,
In einer Zeit, die in zunehmendem Masse
von der Grossstadt beherrscht wird, viel-
fach und besonders gern in Grossstädten,
von denen sie sich dann erst über Klein-
städte und plattes Land verbreiten. Was sie
besonders cliarakierisiert, ist die ganz andere
Beschaffenheit ihres Arbeiterraaterials : sie
basieren auf der infolge des immer rapider
sich abwickelnden Auflösungsprozesses aller
früheren sozialen Verfassimg (Bauernwirt-
schaft, Gutswirtschaft, Handwerk, Familie)
in grossen Mengen freigesetzten und auf
den Markt geworfenen Bevölkerungsmassen :
deklassierter Handwerksmeister, bäuerliche
Uebei-schussbevölkerung, vor allem aber
Weiber in den Grossstädten: Weiber in
Gestalt berufsmässiger Gewerbetreibender,
Weiber in Form von Witwen und Ehe-
gattinnen, die ihre früher in der Kon-
sumtionswirtschaft verwandte Arbeitskraft
jetzt durch gewerbliche Lohnarbeit als FüU-
arbeit zu verwerten suchen, Weiber in Ge-
stalt von Zuschussverdienst suchenden Haus-
töchtern u. dgl. Die bedeutendsten dieser
moderneu Hausindustrieen sind die Toten-
gräber der letzten grossen Handwerke:
Tischlerei, Schuhmacherei, Schneiderei.
B. Die typischen Formen hausin-
dnstrieller Organisation. In der Be-
ziehung des Verlegers zu der Gesamtheit
der in seinem Dienste thätigen Arbeiter so-
wie in der Betriebsgestaltimg der hausin-
dustriellen Arbeit selbst können sich Vari-
ationen ergeben, die zur Entstehung ver-
schiedener Organisationstypen Anlass geben.
Wir wollen vor allem auf den wichtigen
Unterschied hinweisen, der zwischen der
Heimarbeit im engeren Sinne und der
Werkstattarbeit obwaltet.
1. Heimarbeit findet überall dort
1142
Hausindustrie
statt, wo die Hausindustriellen vereinzelt in
ihren Wohnungen thätig sind. Ihre Masse
ist hier sozial homogen. Dem kapitalisti-
schen Unternehmer steht die ungegliederte
Schar der Heimarbeiter gegentlber. Die
Form des Betriebes ist der Einzelbetrieb
oder der Familienbetrieb, d. h. diejenige Be-
triebsorganisation, deren persönliches Sub-
strat die organisch differenzierten Arbeits-
kräfte der (Klein-)Familie sind. In dieser
Familienhaftigkeit liegt die Begrenztheit
dieser Betriebsform. Typische Erschei-
nungen dieser Einzel- oder Familienheim-
arbeit sind unter der älteren Heimindustrie
die Spinnerei und Seidenweberei, die Spiel-
waren Verfertigung und teilweise die Instru-
mentenmacherei ; unter der neueren Haus-
industrie vielfach, die Schuhmacherei \md
meist die Wäschekonfektion (»Typus der
eirmen Nähterin«), An dieser Form der
Heimarbeit braucht zunächst im Principe
noch nichts sich zu ändern, wenn der haus-
industriellen Organisation eine neue Reform
eingegliedert i^ii'd, wenn nämlich zwischen
Unternehmer und Heimarbeiter eine Mittels-
person, der sogenannte Faktor (Ferger,
Fercher, Ausgeber, facteur, commis de ronde,
fattorino, factor, contractor) tritt, dessen
Funktion zunächst mu* darin bestellt, die
Aufträge des Verlegere, das zu ilirer Aus-
führung notwendige Material unter die
einzelnen Heimarbeiter zu verteilen und von
ihnen die Produkte einzutreiben, zu sam-
meln etc., um sie dem Verleger abzuliefern.
Derartige Mittelspersonen sind meist unver-
meidlich, sobald die Anzahl der von einem
Verleger beschäftigten Heimai'beiter eine
bestimmte Grenze überschreitet oder die
von einem Unternehmer beschäftiglen Heim-
arbeiter über ein grösseres Gebiet verteilt
sind.
Es ist schon ein späteres Stadium der
Entwickelung, wenn diese Mittelsperson aus
einem einfachen Beauftragten des Verlegers
zu einem selbständigen Kontrahenten ^vird,
der die direkten Beziehungen zerschneidet
und auf eigenes Risiko Aufträge von jenem
übernimmt und an diese erteilt. Dieses
Zwischen- oder Stück meistersystem bildet
häufig den Uebergang zu der zweiten Form
hausindustrieUer Organisation: der
2. Werkstattarbeit. Die Arbeit ist
aus der Privat Wohnung in eine Werkstatt ver-
legt. Das Wesen dieser Organisationsform
bestellt darin, dass die Schar der im Dienste
des Verlegers arbeitenden Hausindustriellen
sozial differenziert ist: der die Aufträge
empfangende Arbeiter — der Hausindustriello
im engeren Sinne — führt diese nicht melir
allein oder nm- mit Hilfe seiner Familien-
angehörigen aus. sondern dingt fremde
Personen, die ihm gegen Lohn ihre Arbeits-
kraft zur Verfügung stellen. Wie er also
selbst Lohnarbeiter seinem Verleger gegen-
über ist, wird er Unternehmer oder wenig-
stens Arbeitgeber seinen Hilfskräften gegen-
über. Dadurch erhält er eine Doppelstellung
und ^^elfach zwiespaltige Interessenrichtung.
Betriebstechnisch ist diese Organisations-
form derai-tig charakterisieii, dass sie die
Schranken der Einzel- oder Familienhaftig-
keit principieU überschritten hat Im übrigen
lassen sich in der Werkstattarbeit deutlich
zwei verechiedene Tj-pen unterscheiden;
wir wollen sie nicht ganz korrekt der
Einfachheit halber die ältere und die neuere
nennen. Die ältere Werkstattarbeit
ist gar nichts anderes als eine unmittelbare
Fortsetzung der alten handwerksmässigen
Organisation mit ihren Gehilfen- oder er-
weiterten Gehilfenbetrieben : der Meister ist
nur verlegt worden.
Typen dieser hausindustriellen Werk-
stattorganisation sind verschiedene weiland
handwerksmässig betriebene i Zweige der
Weberei: ehemals die Wollweberei, heute
noch in einigen Resten die Seidenweberei
um Lvon und Krefeld, auch die ältere
Kustarhütte gehört hierher ; ferner die Klein-
eisenindustrie Rheinland - Westfalens , der
Birminghamschen Distrikte u. a., endlieh
diverse neuerdings erst in weiterem Um-
fange zersetzte Handwerke, namentlich die
Tapeziererei, die Tischlerei, zum Teil auch
die bessere Massschneiderei. Als ein be-
sonders berühmtes Beispiel dieser übrigens
bald der Vergangenheit angehörigen Werk-
stattorganisation älteren Stils mag die frülier
allgemeine Organisation der Lyoneser
Seiden Industrie noch kurz besonders
beschrieben werden. Ihr Wesen ist folgen-
des : Ein Verleger (fabriquant, entrepreneur,
nögociant) leitet die Preduktion. Seine Ob-
liegenheiten bestehen darin,
a) die Seide zu kaufen,
b) die Fabrikation zu überwachen,
c) die Stoffe zu verkaufen.
Er unterhält niu' ein Kontor mit kauf-
männischem Personal, ein Probenzimmer etc.,
seine Funktionen sind im wesentlichen kauf-
männische. Er giebt seine Aufträge einem
hausindustriellen Meister (maitre,
chef datelier), der seinereeits in seiner
Werkstatt mehrere Webstühle aufstellt und
an diesen ouvriers, sogenannte Compagnons,
arbeiten lässt. Das Charakteristische dieses
Typus liegt in der Doppelstellung dieses
mattre, welcher einerseits Hausindustrieller,
andererseits Arbeitgeber, Meister ist Sozial
ist die Stellung des maitre in der Lyoner
Seidenindustrie eine Zwischenstellung zwi-
schen padron und ou\Tier. Entsprechend
seiner Zwischenstellung ist auch sein Ein-
kommen ein dopi)eltes. Es besteht
1. in seinem Arbeitslohn,
2. in der Miete, welche der Coini>agnon
Hausindustrie
1143
für den ihm abgeti-etenen Webstuhl
bezahlt.
Der Compagnon steht zu dem maiti-e ent-
weder in dem Verhältnis des Arbeiters zum
Unternehmer oder aber nur des Mieters
zum Vermieter. Sein Verdienst besteht
lediglich in seinem Arbeitslohn. Der Com-
pagnon ist kein Heimarbeiter im engeren
Sinne, denn er arbeitet nicht bei sich im
Hanse. Der Lyoner Typus scheint mit
einem relativen Wohlstand für den maitre,
einer sehr gedrückten Lage für den ouvrier,
Compagnon, verbunden zu sein.
Gänzlich anderen W^esens ist diejenige
hausindustrielle Werkstattarbeit, die
wir als neuere bezeichnen. Sie ist eine
Neuschöpfung rein kapitalistischen Geistes.
Ihre Entstehung knüpft meist an die Existenz
eines Mittlers zwischen Verleger und Heim-
arbeiter, eines sogenannten Zwischenmeisters
an. Sie tritt in die Erscheinung, wenn
dieser die früher nur mit Aufträgen in ihrer
Wohnung versehenen Arbeiter in einer von
ihm eigens dazu hergerichteten Werkstatt
vereinigt und nun als »Zwischenimternehraer«
die Aufträge des Verlegers mit eigenen
Gewinn- und Verlustchancen ausführt. Die
Organisation dieser Werkstattarbeit ist also
erst zu vollbringen. Sie erfolgt imter einem
ganz bestimmten Zweckgedanken: sie ist
also in ihrem Wesen rationalistisch. Die
Betriebsgestaltung lässt das erkennen. An
Stelle des erweiterten Geliilfenbetriebes, wie
ihn die ältere Werkstattarbeit allein kannte,
tritt hier der gesellschaftliche Betrieb im
kleinen. 1) Haben wir in der Werkstattar-
beit alten Stils Reste einer vergangenen
Gewerbeverfassung zu erblicken, so sehen
wir in dieser modernen Werkstattorgani-
sation Ansätze zu höheren Formen des
Gewerbebetriebes.
Ihre klassische Ausbildung hat die mo-
derne Werkstattorganisation in der Kon-
fektionsindustrie gefunden. Zuerst in
England, das naturgemäss jjuf die älteste
Entwickelung auch auf diesem Gebiete des
Wirtschaftslebens ziu*ückblickt. Wie in Eng-
land hat sich dann in allen Kulturstaaten
eine vollständig konforme Organisation
herausgebildet. Wenn wir im folgenden
eine eingehendere Beschreibung des soge-
nannten >Sweating Systems« geben, so wird
damit also das moderne Werkstattsystem,
wenigstens in der Konfektionsbranche über-
haupt charakterisiert. Es entsprach unserer
Kenntnis von den Dingen, wenn ich im
Jahre 1891 schrieb: »Das Sweating system
beschränkt sich nicht auf England allein,
überall in den grossen Städten Westeim)pas
^) Wegen der Terminologie vgl. meine Auf-
sätze über die gewerbliche Arbeit und ihre
Organisation in Brauns Archiv Bd. XIV.
finden sich einige Formen dieser Hausin-
dustrie, und es scheint, als ob der Typus
des Sweating system bestimmt sei, die bis
ziu* Gegenwart liandwerkraässig betriebenen
Bekleidungsindustrieen zum fabrik- oder
manufakturmässigen System überzuführen.«
Heute wissen wir, wie gesagt, dass die Or-
ganisationsformen der Konfektionsindustrie
thatsächlich überall konform sind. Uebrigens
mag zur Erläuterung voraufgeschickt wer-
den, dass die Bezeichnung »Sweating Sys-
tem«, also »Schwitzsystem«, eine unkorrekte
ist. Die Ausbeutung der Arbeitskraft ist
keineswegs nur in dieser Form »System«,
sondern vermag proteushaft ihre Gestalt zu
wechseln. Richtiger wäre es vom hausin-
dustriellen Werkstätten System zu sprechen.
Aber der sozialpolitische Dilettantismus
wül auch zu seinem Rechte kommen, und
ihm zu liebe bleibt die Bezeichnung »Swea-
ting System« einstweilen noch im Kurs. Die
beim sogenannten »Sweating system«
in Frage kommenden Personen sind folgende :
a) der Exporteur (Grosshändler, Unternehmer,
Kapitalist), welcher als der oberste Leiter
der Prodiiktion angesehen werden darf. Er
befindet sich im Besitze der für die Be-
herrschung des Warenmarktes notwendigen
Kenntnisse, kraft deren er den Organen der
Produktion die Wege weist, unmittelbar
von ihm empfängt die Weisung und Auf-
träge b) der sogenannte Kontraktor, eine Art
Faktor, welcher entweder an einen anderen
Mittelsmann oder aber an die Arbeiterschaft
selbst die Aufträge weiter giebt und von
dieser die fertigen Produkte einholt. Die
Ausführung der Aufträge nimmt dann c) der
sogenannte Sweater in die Hand. »Sweater
ist derjenige, der unmittelbar Männer, Weiber
und Kinder in Lohn hat, um die Arbeit aus-
zuführen und der hofft, aus deren Schweisse
(by sweating) Gewinn herauszuschlagen.« Die
eigentliche Arbeiterschaft (d) bilden die von
dem Sweater meist in seiner Wohnung be-
schäftigten Männer, Weiber und Kinder. Die
Gewerbe, in denen das Sweating system
hauptsächlich zu Hause ist, sind vornehm-
lich die Bekleidungsgewerbe Schneiderei,
Schuhmacherei etc. Die neueren englischen
Untersuchungen über die Lage der* in dem
Sweating system beschäftigten Arbeiter haben
die elendesten Zustände zu Tage gefördert.
Die auf die Spitze getriebene Ausbeutung
der menschlichen Arbeitskraft, die bis zur
Grenze des Menschenmöglichen vorge-
schrittene Aermlichkeit und Erbärmlichkeit
in der Lage dieser Arbeiterschaft darf als
das eigentliche Charakteristikum des Swea-
ting System gelten. Der Grund für die be-
sonders gedrückte Lage der in dem Swea-
ting System thätigen Personen darf in der
Leichtigkeit erblickt werden, mit welcher
die Sweaters ihr Geschäft zu betreiben ver-
1144
Hausindustrie
mögen, in dem übermässigen Angebot von
Arbeitskräften, welche namentlich in den
englischen Städten ein eingewandertes
Hungerproletariat darbietet, in der Hilflosig-
keit, in welcher sich diese unterste Schicht
der Bevölkerung, die oft der Landessprache
unkundig ist, befindet, sowie in der gänz-
lichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Ausbeutungsfreiheit, welche in diesem Sys-
tem solchen Arbeitselementen gegenüber
heute noch besteht. In welcher Weise die
so überaus zahlreichen Schwitzhöllen, von
denen einige Strassen in Whitechapel und
im Bezirke S. George on the East fast in
jedem Hause eine besitzen, zu stände kommen,
davon giebt der Bericht J. Bumetts ein an-
schauliches Bild. »Den ganzen Vorgang«
sagt er, »kann man am besten veranschau-
lichen, wenn man die Näherei eines kleinen
Sweaters betrachtet, der eben beginnt, für
seine eigene Rechnung zu arbeiten und der
aUer Wahrscheinlichkeit nach früher selbst
Arbeiter in einem ähnlichen Geschäft war.
Zuerst handelt es sich um einen Arbeits-
raima. Dazu dient das Zimmer, in dem er
mit seiner Familie wohnt. Er schafft sich
eine Nähmaschine an, was 2 Schilling 6
Pence pro Woche ausmacht, und damit ist
er in der Lage, Arbeit entweder unmittelbar
vom Kleiderhändler oder von einem Sub-
unternehmer zu übernehmen. Als Sicher-
heitsleistung genügt in der Regel die Bürg-
schaft eines Namens, der dem Hauptunter-
nehmer bekannt ist. Der Sweater erhält
die Stücke bereits zugeschnitten; kann er
sie selbst zusammenheften, so thut er es,
wo nicht, bedarf er eines Hefters, männ-
lichen oder weiblichen. Weiter braucht er
einen Maschinennäher, einen Bügler, zwei
oder drei Frauen, imi Knopflöcher zu nähen,
Geschäftsgänge zu machen etc. Der kleine
Sweater, der alle notwendigen Verrichtungen
seiner Näherei nur mit einem Arbeiter be-
setzt hat, arbeitet eben so hart, vielleicht
härter, als irgend eine von ihm bezahlte
Hand, — manchmal ist er auch sein eigener
Bügler. In den kleinereu Geschäften sitzt
der Sweater mitten unter seinen Leuten,
und die Beziehungen zu diesen sind dann
in der Regel freundliche. Die Prinzen des
Sweating system aber, die 40 — 50 Personen
beschäftigen, sind nicht mehr genötigt mit-
zuarbeiten und nehmen es leicht. Sie haben
in der Regel unausgesetzt Beschäftigung für
ihre Leute, erhalten gute Preise, wissen sich
bilhge Arbeitskräfte zu verschaffen und
machen grosse Gewinne.« Wie im Lyoner
Typus der maitre ist im Sweating system
der Sweater der Hausindustrielle im engeren
Sinne. Wie der maitre nimmt auch er eine
ZwittersteUung zwischen hausindustrieUem
Arbeiter und Unternehmer ein. Der kleine
Sweater ist mehr Arbeiter, der grosse mehr
Unternehmer.
n. Die Hansindnstrie in den einzelnen
Landern.
4. Deutschland. Bei der Beantwortung
der Frage nach der räumlichen Verbreitung
und zeitlichen Entwickelung der hausindu-
striellen Beti'iebsform gebührt Deutschland
die erste Stelle nicht nur deshalb, weil seine
Zustände den Leser dieses Handwörterbuchs
zunächst und vor allem interessieren, son-
dern eben so sehr darum, weil Deutschland
zur Zeit noch das einzige Land ist, welches
die Hausindustrie in grossem Massstabe
statistisch zu erfassen unternommen
hat. Die Berufs- und Gewerbezählung vom
5. Juni 1882 hat das hervorragende Ver-
dienst, die Hausindustrie zwar nicht erst-
malig überhaupt, aber doch erstmalig in
systematisch erschöpfender Weise gesondert
von Handwerk und Fabrikbetrieben in den
Bereich ihrer Ermittelungen gezogen zu
haben und zwar auf doppeltem Wege. Ein-
mal wurde in der Berufszählung bei der
Frage nach dem von der befragten Pei'son
ausgeübten Berufe eine besondere Beschäf-
tigungskategorie »Arbeit zu Hause für fremde
Rechnung« in dem Antwortschema vorge-
sehen. Sodann verlangte die mit der Be-
rufszählung verbundene Gewerbezälilung
von dem Unternehmer Angabe darüber, ob
bezw. wie viele HausindustrieUe er beschäf-
tigte, sowie vom Arbeiter Auskunft, ob er
für ein fremdes Geschäft, einen Verleger etc.
arbeite. Dadurch mm, dass die Berufs- und
Gewerbezählung vom 15. Juni 1895 die
gleiche Fragestellung wie die von 1882 bei-
behielt, gewährt zudem der Vergleich der
Ziffern von 1882 und 1895 wenigstens in
grossen Zügen ein zuverlässiges Bild von
dem Entwickelimgsgange, den die Hausin-
dustrie in diesem Zeiträume genommen hat,
ein Bild, wie eis ebenfalls kein anderes Land
als Deutscliland in gleicher Klarheit zu
bieten vermag.
Fassen wir die Gesamtzalü der hausin-
dustriellen Betriebe oder der hausiudustriell
beschäftigten Personen ins Auge, so ergiebt
sich übereinstimmend nach allen drei Zähl-
methoden eine Abnahme während des
Zeitraums von 1882 — 1895. Es wurden
nämlich gezählt hausindustrielle Be-
triebe nach der Gewerl)ezählung und nach
den Angaben der Arbeiter
1882
1895
386416
342 835
Die Zahl der Imusindustriell orwerbs-
thätigen Personen betrug
Hausindustrie
1145
nach den
Angaben der
Berufs-
zUhlung
nach den An-
gaben der
Arbeiter bei
der Gewerbe-
zählnng
nach den An-
gaben d. Un-
ternehmer bei
der Gewerbe-
zählnng
1882
Nicht
ermittelt.
damnter
Selbständige
339644
476 080
544 980
i 342 622
I895I darunter
, Selbständige
I 287 389
freilich zunächst gänzlich nichtssagend, so-
lange wir nicht festgestellt haben, ob sie
sich etwa auf alle Gewerbezweige gleich-
massig erstreckt, oder nur einzelne betrifft,
während andere vielleicht sogar eine Ver-
mehrung aufweisen. In der That ist letzteres
der Fall.
Schon wenn wir die grossen Gewerbe-
gruppen gesondert betrachten, ergiebt sich
eine ganz verschiedene Ent Wickelung in den
verschiedenen Gruppen. Es wurden näm-
lich in den hausindustrielleii Hauptbetrieben
beschäftigte Personen gezählt in
460 08:
490711
Nur die Zahl der Unternehmungen,
welche Hausindustrielle beschäftigen, weist
nach Angabe derünternehmer bei derGewerbe-
zählung eine Vermehnmg auf, sofern solche
Unternehmungen gezählt wurden:
1882
1895
19209
22307
Selbstverständlich sind alle diese Ziffern
gleich falsch, wahrscheinlich auch die höchste
noch zu niedrig. Aber sie sind infolge der
gleichgebliebenen Erhebungsmethode dafür
beweiskräftig, 1. dass ungefähr ^.2 Million
3Ienschen in Deutschland der Hausindus-
trie im engeren Sinne aufhören (die
Zahl der von kapitalistischen l nternehmern
abhängigen, bei sich zu Hause arbeitenden
Personen ist sicher um ein ganz Beträcht-
liches grösser) imd 2. dass sich diese Ziffer
in dem Zeitraum von 1882 — 1895 vermin-
dert hat.
Was diese Verminderung anbetiifft, so
ist sie, in dieser Allgemein ziff er betrachtet.
Gewerbegruppe :
1882
189Ö
IV. Steine und Erden. . .
3 170
4612
V. Metallverarbeitung . .
16930
20 1 56
VI. Maschinen, Instrumente .
4489
9085
VII. Chemische Industrie . .
171
305
VIII. Leuchtstoffe, Seifen etc.
56
88
IX. Textilindustrie ....
285 102
197095
X. Papierindustrie. . . .
XI. Leder-Industrie . . .
3 473
5909
1820
5036
Xn. Holz- und Scbnitzstoffe
19 III
37 443
XIII. Nahrungs- etc. Mittel .
8346
15833
XIV. Bekleidung, Beinigung .
131 861
159645
XV. Baugewerbe
19
765
XVI. Polygraphische Gewerbe
739
2144
XVII. Künstlerische Gewerbe
785
1736
Also Zunahme in allen Giiippen ausser
in Gruppe IX (Textilindustrie). Was unter
Berechnung des Verhältnisses der in haus-
industriellen Betrieben beschäftigten Per-
sonen zu der in den betreffenden Gewerbe-
grupi)en überhaupt thätigeii Persouen und
unter Berücksichtigung der Wichtigkeit, den
die hausindustrielle Betriebsform für die
einzelnen Gewerbegrupi^en hat, folgendes
Bild erzielt. Es waren hausindustriell
unter je 100
in Gewerbegmppe
Betrieben
1882 ; 1895
Personen
1882 1895
1. Textilindustrie
2. Bekleidung und Reinigung . . . .
3. Papierindustrie
4. Verarbeitimg von Metall, exkl. Eisen
Holz- und SchnitzstofTe
o.
6. Eisen Verarbeitung
7. Künstlerische Gewerbe
8. Industrie der Steine und Erden. . .
9. Polygraphische Gewerbe
10. Mascninen, Instrumente, Apparate . .
11. Leder, Wachstuch und Gummiindustrie
12. Nahrungs- und Genussmittel ....
57,9
11,6
10,5
10,5
5,4
5,1
4,5
4,2
3.6
2,7
2,3
2,2
65,4
13,1
14,5
10,7
8,9
8,0
4,3
4,2
5,6
5,3
3,2
31.3
iOi5
3,5
3,8
4,1
3,7
5,1
0,9
1,1
1,3
«,2
1,1
19,8
",5
3,9
3,0
6.3
3,1
8,7
0,8
1,7
1,6
3,1
1,5
Textilindustrie und Bekleidungs- und
Reinigungsgewerbe bewahren nach dieser
Tabelle — wenigstens was die Zahl der
hausindustriellen Personen angeht — aller-
dings ihre Präponderanz gegenüber den
anderen Gewerbegruppen, ihre Entwickelung
114t)
Hausindustrie
aber verläuft auch in den Yerhältniszahlen
in entgegengesetzter Richtung, während
auch in dieser Zusammenstellung fast alle
Oewerbegruppen ausser der Textilindustrie
zunehmende hausindustrielle Betriebsforra
aufweisen.
Jedoch ist auch diese Specialisierung der
Gewerbe nach Gruppen noch nicht genü-
gend, um ein wirklich deutliches Bild, sowohl
von der heute noch vorhandenen Bedeutung
der Hausindustrie für die einzelnen Ge-
w^erbe, als auch vor allem von dem Ent-
wickeiungsgange dieser Betriebsfonn in den
verschiedenen Sphären des gewerblichen
Lebens sich zu machen. Dazu wird es
nötig, die Specialisienmg mindestens bis
zu den einzelnen Gewerbearten zu tnn-
ben. Alsdann ergiebt sich folgende Tabelle.
Gewerbearteu mit mehr als 1000 hausindustriellen Betrieben im Jahre 1895.
Gewerbearten
7^1 , I Zahl der in
der '*^- Hauütbetr.
Betriebe ^"'^ZlT
Seit 1882 haben ZU (+1
oder abgenommen ( — i
Betriebe I Personen
Grobschmiede
Schlosser
Zeugschmiede, Scheerenschleifer, Feilenhauer
Stellmacher
Musikinstrumente
Seiden- und Shoddy-Spiuuerei
Baumwollen-Spinnerei
Seidenweberei
Wollenweberei
Leinenweberei
Baum wollen Weberei
Weberei von gemischten Waren
Gummi- und Haariiecht^rei
Strickerei und Wirkerei
Häkelei und Stickerei
Spitzen verfertiffung und Weisszeugs tickerei .
Posamenten-Fabrikation
Sattlerei, einschl. Spielwaren aus Leder . .
Verfertigung von ffroben Holzwaren . . .
Tischlerei und Parkettfabrikation ....
Korbmacherei
Strohhut-F. und Flechterei von Stroh . . .
Dreh- und Schnitzwaren
Tabak-Fabrikation
Näherinnen (auch in der Puppenausstattung)
Schneiderei
Konfektion
Putzm acherei, künstliche Blumen ....
Handschuhmacher, Kravatten-F
Verfertigung von Korsets
Schuhmacherei
Wäscherei
I 402
I 162
4496
1 005
2 727
1 242
1432
15428
19767
24572
27564
12667
2 £63
23957
5894
9382
13734
2017
2013
5589
5586
2233
3531
9730
35731
42583
5732
2964
5 154
1403
21 693
3648
2655
3060
7 774
1541
3686
1858
1 298
18905
27 871
26378
33206
17317
1341
27 760
5901
14372
12560
3148
2 i!;9
13583
8379
2 141
6744
15343
38456
70034
6937
3178
5429
I 226
26539
4930
+
+
+
1394
1 126
2006
986
83
13
2037 —
+
+
+
+
4067
20000
645
10660
18859
5811
I 712
7 026
1251
2091
73
I 041
530
3 934
3903
4185
I 805
+ 3400
i— 12 391
+ 17268
1+ 382
!+ 376
— 4087
122
7099
-h 1353
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
2638
2903
4044
1519
1955
2922
3645
343S1
4072
14667
19089
4 8q^
889
12768
549
5560
2098
1673
634
9338
6007
2836
3526
6949
u 502
30106
88;
96
3655
214
776;;
2388
Gesamtziffer für die Hausindustrie überhaupt . | 342 767 459 852 [ — 43 744 | — 16 223
Stellen wir aus dieser Tabelle je dieje-
nigen Gewerbearten zusammen, die eine Zu-
nahme bezw. Abnahme aufweisen, so ergeben
sich folgende beiden Reihen der Tabelle auf
S. 1147.
Was lehren uns diese Ziffernreihen?
Zunächst — was freilich hier nur im
Vorbeigehen erwähnt werden mag, weil es
nicht eigentlich etwas mit den Gestaltungs-
tendenzen der Hausindustrie zu thun hat —
welche ungeheuere Revolution sich noch
immer in unserer Wirtschaftsverfassung voll-
zieht; dass die Repulsion und Attraktion
wenigstens der einzelnen Organisationsformen
noch ganz riesige Pendelschwingungen auf-
weisen: man ermesse, welche Masse von
Friktionen, von menschlichem Bangen und
Hoffen diese einzigen beiden Ziffern in sieh
bergen : 117 049 entlassene und 88 883 neu an-
genommene HausindustrieUe im Verlaufe von
13 Jahren: d. h. jedes Jalir die erneute
Existenzrevolutionierung von etwa 15 (XX^
Erwerbsthätigen, also vielleicht 50 000 Men-
schen im Deutsclien Reich — allein in der
Sphäi-e der Hausindustrie. Aber wie gesagt
— das gehört nicht eigentlich hierher.
Für die engeren Zwecke dieser Darstel-
lung ergiebt sich aus einer eingehenden
Betrachtung unserer Ziffern folgendes:
dass auf der Verlustseite fast ausscJiliesi?-
Ilausiiulustrie
1147
Gewerbearten mit Venninderungstendenz
Seit 1882 haben
abgenommen
Gewerbearten
Betriebe 1 Personen-
um \ zahl um
Gewerbearten mit Yermehrungstendenz
Seit 1882 haben
zugenommen
Gewerbearten
Betriebe
um
Personen-
zahl um
Zeugschmiede , Scheeren-
sohleifer, Feilenhauer . 2006
Seiden- u. Shoddyspinnerei 2 037
Baumwollspinnerei . . . , 4 067
Seidenweberei ,20 000
Leinen Weberei 10660
Baumwollenweberei . . .! 18859
Weberei von gemischten I
Waren ! 5 811
Stickerei und Wirkerei . ' 7 026
Häkelei und Stickerei . . i i 251
Posamentenfabrikation . . I 73
Strohhutfabrikation und 1
Flechterei von Stroh . j 4 185
Näherinnen (auch in der
Puppenausstattung) . .' 12 391
Handschuhmacherei, £ra-
vatten-F ' 4 087
4044
2 922
3645
34381
14667
19089
4895
12768
549
2098
2836
II 502
3653
92453 I 117 049
lieh die von uns als ältere bezeichneten
Hausinclustrieen , auf der Gewinnseite da-
gegen fast dm-chgängig moderne Haus-
inclustrieen verzeichnet stehen. Die Statis-
tik kommt also der auf anderem Wege ge-
wonnenen Erkenntnis zu Hilfe: dass sich
in unsei'er Zeit in der Sphäre der Haus-
industrie eine Art von Emeuerungsprozess
vollzieht, an die Stolle absterbender Haus-
industrieen fast gleich stark besetzte neu
aufkommende Hausindustrieen treten. Unter
den rasch verschwindenden Hausindustrieen
finden wir nun aber präponderant die T e x -
tilindustie, also, da die Spinnerei schon
längst als Hausindustrie ausgestorben war
(schon 1882 hat es keinen Handspinner mehr
gegeben, trotz Statistik, in der die hausindus-
triellen Spuler etc. irrtümlich als Spinner im
engeren Sinne aufgefasst worden sind), in
erster Reihe die Weberei, deren Arbeiterzahl
in der Sphäre der Hausindustiie sich um
nicht weniger als 83 032 Personen vermindert
hat, ferner die Strickerei und Wirkerei. Die
Sozialphantasten, die sich besondei-s gern
um diese Ueberreste einer romantisch ver-
schönten Wirtschaftsperiode in Theorie und
Praxis gleich bemüht haben, sollten nun an-
gesichts dieser Ziffern der Statistik endlich
wenigstens sich zur Wahl eines etwas weni-
ger im Verfall begriffenen Pflegeobjektes in
der Sphäre lilckständiger Organisationsformen
entscliliessen. Von besonderem Interesse
Grobschmiede
Schlosser
Stellmacher
Musikinstrumente . . .
Wollen Weberei
Gummi- u. Haarflechterei
Spitzen Verfertigung und
Weisszeugstickerei . .
Sattlerei, einschl. Spiel-
waren aus Loden . . .
Verfertigung grober Holz-
waren
Tischlerei- u. Parkettfabr.
Korbmacherei
Dreh- und Schnitzwaren .
Tabakfabrikation ....
Schneiderei
Konfektion
Putzmacherei
Schuhmacherei . . . .
Wäscherei
I 394
I 126
986
1383
645
I 712
2091
I 041
2638
2903
I 519
1955
4072
889
5560
1673
530
634
3 934
9338
3903
6007
1805
3526
3400
6949
17268
30 106
382
88«;
376
96
7099
7765
1353
2388
50 228 I 88 883
ist die Ziffer der Seidenweberei. Wäh-
rend nämlich in den anderen Zweigen der
Weberei der Üebergang zum geschlossenen
Fabrikbetrieb sich schon lange zu vollziehen
begonnen hatte, schien es, als ob die Seiden-
weberei dem Ansturm der Fabrikorgauisation
trotzen würde. Der Hinweis auf die Schweiz,
Italien u. a. ()., wo die fabrikmässige Seiden-
weberei bereits in weitem Umfange existierte,
wurde stets mit dem Bemerken erledigt,
dass die Verhältnisse in den deutschen
(ebenso übrigens auch Lyoneser) Distrikten
viel zu eigenartige seien , um den gleichen
Entwickeln ngsgang wie etwa die Schweizer
zu nehmen. Nun hat sich der ürawand-
lungsproze^s der Seidenweberei auch in
Deutschland vollzogen, rascher und radikaler,
als man anzunehmen berechtigt war. Merk-
würdig, wie schnell die Toten reiten.
Die auffallende Verminderung der haus-
iudustriellen »Näherei (auch in der Puppen-
ausstattung)«, also eines doch vorwiegend
modenien Hausindustriezweiges, des einzigen
auf dieser Seite, lässt sich auf verschiedene
Weise erklären. Dass sie in einer tliatsäch-
lich vollzogenen Koncentration der weiland
Heimarbeiterinnen in geschlossenen Puppen-
und Wäschefabriken ihren Grund hätte,
glaube ich nicht. Weder die Erfahrung
noch die Statistik lassen diesen Sclüuss zu.
Nach letzterer sind die grösseren Betriebe,
von denen man annehmen darf, dass sie
1148
Hausindusüie
der Sphäre der Hausindustrie entrückt sind
— sagen wir auch nur über 10 Personen —
niu- unbeträchtlich von 1882 — 1895 gewach-
sen. Sie umfassten:
1882 I 916 Personen
1895 2 763
In ihnen sind also offensichtlich die 11000
hausindustriellen Nälierinnen nur zum ganz
geringen Teil verach wunden. Möglich nun,
dass die Verminderung der Ziffer nur eine
scheinbare ist, sofern etwa die hier verloren
gegangenen Mädchen an einer anderen Stelle
der Statistik als gerettet eracheinen (etwa
in der Schneiderei). Wahrscheinlich aber
ist, dass, da die hausindustrielle Näherei in
unserem Zeitraum offenbar eine starke
Hinneigung zum Werkstättenbetrieb gezeigt
hat, 1895 die mittlerweile zu Werkstatt-
liausindustriellen umgewandelten weiland
Alleinnäherinnen überhaupt nicht. mehr als
Hausindustrielle von der Statistik erfasst
sind. Dafür sprechen folgende Ziffern. Es
wurden Näherinnen gezählt in Betrieben
mit . . . Personen :
1882
1895
6551
II 514
2312
9247
793
2456
9656
23247
Das sind also wohl durchgängig hausindustri-
elle Werkstattbetriebe, in denen insgesamt
eine Yermehnmg um annäliernd 14 000 Per-
sonen erfolgt ist.
Wir können angesichts dieser Ziffern ge-
trost unsere Bemerkung aufrecht erhalten,
dass eine Abnahme nur die älteren Haus-
industrieen erfahren haben. Ebenso aber
lässt sich auch im Hinblick auf die Gewinn-
seite imserer Statistik die Behauptung recht-
fertigen, dass es vorwiegend, ja wohl aus-
schliesslich moderne, d. h. erst neu aufkom-
mende oder unlängst entstandene Hausindus-
triezweige sind, die sich hier vorfinden. Ael-
teren Stiles sind etwa nur die Musikinstni-
mentenmacherei, die jedoch nur ganz unbe-
deutende Veränderungen in ihrem Bestände
aufweist, und die Wollweberei, in der
die Vermehrung nicht unbeträchtlich ist.
Die Vermehnuig der in dieser beschäftigten
Personenzahl ist jedoch einer besonderen
Erklänmg bedürftig. Sie beruht nämlich
offenbar* auf dem Uebei'gang von Ijcine-
webern und BaumwoUwebern zu der Woll-
weberei. Letztei*e winl von den ertrinkenden
ha visindustriellen Webern vielfach als ein
Strohhalm angesehen , nach dem sie greifen,
weil ihre Verhältnisse thatsächlich nicht
ganz so ungünstige sind als die der beiden
genannten Schwesterindustrieen. Die +40(M)
hausindustriellen Wolhveber sind also um
Himmelswillen nicht als ein Symptom für
die Widerstandsfähigkeit der hausindustri-
ellen Weberei, sondern gerade umgekehrt
als ein Wahrzeichen für den Verzweiflungs-
kampf anzusehen, den diese gegen die un-
aufhaltsam vordringende Fabrik kämpft. Von
besonderem Interesse imter den im engeren
Sinne modernen Hausindustrieen sind nun,
wie schon hervorgehoben wurde, diejenigen
Zweige, die eben den Uebergang aus dem
Handwerk in die kapitalistische Organisation
vollziehen. Sie interessieren aus doppeltem
Grunde : wegen der quantitativen Bedeutung,
die sie für das gesamte gewerbliche Leben
haben, und wegen der Möglichkeit, die sie
den Studienbeflissenen gewähren, die Mannig-
faltigkeiten und Nuancen kennen zu lernen,
in denen sich die Zersetzung der alten be-
rühmten Handwerke bezw. die Neubildung sie
ablösenderGewerbezweige vollzieht. Vor allem
kommen aber hier in Betracht die Bekleidungs-
gewerbe: Schuhmacherei und Schnei-
de r e i (nebst Weisszeugstickerei und Kürsch-
nerei) sowie sodann die Tischlerei (nebst
Sattlerei und Tapezierei-ei sowie die Dreh- und
Schnittwarenfabrikation und Korbmacherei,
die für die moderne (Polster-) Möbeltischlerei
gleichsam als Hilfsgewerbe funktioniei*en).
Diesen drei Gruppen von Gewerben sind
von den 88 883 Personen, die in die Sphäre
der Hausindustrie 1895 neu eingetreten sind,
64 956, also ^/4, zuzurechnen.
Es würde der Bedeutung der genannten
drei Hausindustrieginippen nur entspi-echend
erscheinen, wenn wir im folgenden über die
in ihnen herrschenden Entwickelungs- und
Gestaltungstendenzen noch einige eingehen-
dere Bemerkungen machten, mit deren Hilfe
die nackten Zahlen der Statistik ei^st zu
voUem Verständnis gelangen. Leider ver-
bietet es ims der Kaum.
5. Oesterreich-Ungarn. Eine Statistik
der Hausindustrie feiilt. Um zu ai>proxima-
tiven Ziffern zu gelangen, hat der statistische
Referent der Brünner Handelskammer eine
Berechnung angestellt, die im wesentlichen
auf einer Kombination der Daten der Un-
fallversicherungsstatistik imd der Genossen-
schaftsstatistik beruht. Demzufolge entfallen
von den nach der Volkszäldung des Jahi'es
1890 in der eigentlichen gewerblidien In-
dustrie beschäftigten 2 243 734 Arbeitern und
Tagelöhnern auf die Grossindustrie 10SM712
Arbeiter, auf das Handwerk 402436 Arbeiter,
auf die Hausindustrie 760522 Arbeiter, oder
in Prozenten ausgedrückt auf die Gniss-
industrie 4S^/o. auf das Handwerk IS^o,
auf die Hausindustrie 34 ^/o.
Wollen wir ims ein Bild von der lilum-
lichen Ausbreitung der hausindustriellen
Betriebsform in Oesterreich-Ungam machon,
so sind wir auf die alleitlings zahlreichen
luid zum Teil guten Einzeldarstellungen an-
Hausindustrie
1149
gewiesen. In letzter Zeit sind einige brauch-
bare zusammenfassende üebersiehten über
Stand und Verbreitung der Hausindustrie
erschienen (s. u. Litteratur). Einige der fei-
enden Ziffern für die neuere Zeit verdanke
ich der freundlichen Mitteilung des Herrn
Prof. Mischler in Graz. Danach ergeben
sich folgende Thatsachen: Die meisten der
hausindustriellen Betriebsform zugänglichen
Gewerbszweige finden sich auch als Haus-
industrie in Oesterreich-Ungarn vor; ebenso
ist kein Gebietsteil der Monarchie ohne
Hausindustiie. Die innerösterreichi-
schen Länder (Steiermark, Kärnten,
Krain) zeichnen sich durch ein Vorwiegen
der liausindustriellen Flechtei-ei (Stroh-,
Holz-, Korbflechterei) aus; 10000 Stroh-
flechter, welche sicher nachweisbar sind,
stellen nur einen Teil der hausindustriellen
Fle<jhter dar. Von den Textilgewerben er-
freut sich die Lodenweberei im Gebirge einer
besonderen Blüte ; in Krain ist die Rosshaar-
siebweberei verbreitet. Die hausindustrieUe
Stickerei hat an Bedeutung verloren; die
Spitzen klöppele! beschäftigt noch zahlreiche
Hände (mindestens 6000); in Krain ist die
Holzhaiisindustine sehr bedeutend. Die Klein-
eisenindustrie in Steiermark ist im Absterben
begriffen. — In den Alpenländern (Salz-
kammergut, Tirol) dominiert unter den
Hausindustrieen die Holzwarenanfertigung.
In der Viechtau (Salzkammergut) sind 600
bis 700 Holzwarenarbeiter hausindustriell
thätig: sie verfertigen land- und hauswirt-
schaftliche Geräte, Löffel, Spelt waren,
Drechslerarbeiten und Spielwaren. Von der
Bevölkerung des Grödenerthals (Sttdtirol)
befassen sich 75 'Vo mit der Holzschnitzerei ;
2500 — 3000 Personen sind in dieser Haus-
industrie in Tii*ol beschäftigt. Wii' finden
ausserdem in den genannten Ländern die
Spitzenklöppelei, die besonders in Vorarlberg
verbreitet ist, die Strohflechterei, die Woll-
weberei, die Kleineisenindustrie u. a. als
Hausindustrie.
Mit den mannigfachsten Hausindustrieen
reich gesegnet ist B ö h m e n : wie für Deutsch-
land auf ilirer einen Seite, so bilden die drei
Höhenzüge, welche das Czechenland vom
Deutsehen Reiche trennen — Böhmerwald,
Erzgebirge, Sudeten — wichtige hausin-
dustrielle Mittelpunkte für Böhmen auf den
entgegengesetzten Abhängen. Die jwlitische
Grenzseheide vermag nicht die natürliche
Gleichheit der Erwerbs- und Verkehrs-
bedingungen dieser Gebiete aufzuheben: es
sind meist diesell>en Gewerbszweige, welche
unter kaum sehr verschiedenen Bedingungen
auf der böhmischen wie auf der reichs-
deutschen Seile der genannten drei Gebirgs-
züge betrieben werden. So drängt sieh dem
Beobachter jener Gebietsteile auch auf der
böhmischen Lehne zunächst der Typus des
Hauswebers in seinen verechiedenen Schat-
tierungen auf : WoU-, namentlich aber Baum-
woll-, Leinen- und gemischte Weberei wird
im böhmischen Erz- und Riesengebirge
grösstenteils noch hausindustriell betrieben;
giebt doch eine einzige Firma an, dass sie
im böhmischen Erzgebirge 24000 Leinen-
weber hausindustriell beschäftigt, und im
Reichenberger Kammerbezirk wurden 1878
noch 41704 gewöhnliche Handwebstühle für
Baumwolle gezälüt.
In den deutschen Bezirken des Iser-
und Riesengebirges wurden Anfang des
Jahres 1895 3547 hausindustrielle Betriebe
mit 10013 Arbeitern gezälüt
In den Ortschaften Ober- und Nieder-
Einsiedel, Lobendau und Hilgersdorf im
politischen Bezirke Schluckenau nahe der
sächsischen Grenze und fast anschliessend
an das sächsische Städtchen Sebnitz, wird
die Erzeugung von Kunstblumen hausindus-
triell mit weitestgehender Ai'beitsteilung
betrieben. Es finden in dieser Industrie
cirea 800 Arbeiter Beschäftigung. Wo Was-
serkräfte zur Verfügung stehen, wird auch
vielfach Stahlschleiferei bei der fabrikmässi-
gen Messererzeugung betrieben. Im Sudeten-
gebirge hat die Flachsspinnerei als Haus-
industrie fast ganz aufgehört. In den an
Königinhof nördlich angrenzenden Ortschaften
hat in den letzten Jahren die hausindustriell
betriebene Holzschnitzerei die früher dort
übliche Hausweberei vollständig zurückge-
drängt. In Güntersdorf wurden bei einer
Gesamtzahl von 320 Häusern in 100 Häu-
sern geschnitzte Verzierungen und Aufsätze
für Möbel, Thüren und Fenster u. s. w. an-
gefertigt.
Die Spitzenindustrie des böhmischen Erz-
gebirges hat viel von ihrem früheren Glänze
eingebüsst; Anfang dieses Jahrhunderts be-
schäftigte sie 20—30 ( K)0 Fi-auen, jetzt erheb-
lich weniger. Auf den Abhängen des
Böhmerwaldes begegnen wir zwei ausge-
breiteten Hausindustrieen, der Sti-ohflechterei
und der Holz waren Verfertigung. Eine im Nor-
den des böhmischen Gebirgskessels heimische,
sehr wichtigelndustrie mit vielfach häuslichem
Betriebe ist die Glasindustrie, insbesondere
Sclüeiferei, deren bedeutendste Mittelpunkte
Haida und Gablonz. In derBesatzsteinindustrie
sind in den tschechischen Ortschaften Nortl-
böhmens über 3000 kleingewerbliche Arbei-
ter bescliäftigt. Ueber das Land zei'streut
begegnen wir zahlreichen Hausindustrieen:
Weigert verfertigt Büchsen, Nixdorf Kunst-
Vjlumen, Karlstein Uhren.
El>enfalls noch tief in der Phase der haus-
indusitriellen Betriebsfonn stecken Mähren
und Galizien; hier finden sich sehr wich-
tige Zweige gewerblicher Thätigkeit noch
als Hausindustrie, so in Galizien die Weberei.
! namentlich Wollweberei, die Kleineisenin-
IloO
Hausindustrie
clnsti'ie (7000 Personen). Beide Kronländer
besitzen ausgebreitete holzverarbeitende Haus-
industrieen (Mähren 7500 Personen),, ebenso
ist die Strohflechterei bedeutend, öalizien
fertigt ferner hausindustriell Spitzen, Hand-
schuhe, Kleider und Schuhe. Das Sclineider-
und Schuhmacherhandwerk in Galizien ist
während der letzten Jahrzehnte in weitem
Umfange dem hausindustriellen Betriebe an-
heimgefallen, wie neuere Litteratiu'erschei-
nungen in sehr anschaulicher Weise dargelegt
haben. Nach privaten Mitteilungen (Paygert)
sind in 46 Ortschaften Galiziens 4528 Schuh-
macher hausindustriell thätig, welche jähr-
lich 720000 Paar Schuhe anfertigen. Haupt-
sitze der Schuhwarenhausindustrie sind Alt-
Sandec, Lyscec, Rozdol, Dobczyce, eine haus-
industrielle Seilerei wird in ßadymno be-
trieben, eine hausindustrielle Spiel- und
Holzwarenerzeugung in Jaworow. Ein neuer
Hausindustriezweig, die Korbflechterei, ist in
Rudnilc im Bezirk Nisko durch den Grafen
Hömpesch ins Leben gerufen worden. Im
Jalire 1896 waren in Kudnik und 9 Nach-
bargemeinden 426 Familien, darunter 31
Judenfamilien, in diesem Industriezweig
thätig.
Eine Erhebung, welche die Handelskam-
mer Brunn spedell für das flache Land
ihres Bezirks im Jahre 1892 veranstaltet hat,
ergab folgendes Resultat: Es waren im
Kammerbezirk insgesamt 46000 Hausindus-
trielle beschäftigt. Am stärksten ist die
Hausindustrie im politischen Bezirk Mähr.-
Trttbau vertreten, wo 34®/o der gesaraten
Hausindustrie des Kammerbezirks ihren Sitz
haben. Diesem folgt Neustadt mit 14 ^/o,
Boskowitz mit 13 ^/o , Wischau mit 10 ®/o.
Ein bedeutendes Kontingent, namentlich was
die Bekleidungshausindustrieen betrifft, stel-
len ausserdem die Städte Brunn, Iglau und
Znaim. Die Brünner Handelskammer schätzt
die darin beschäftigten Personen auf mehrere
Tausend. Mit Ausschluss der genannten
Städte ergiebt sich die folgende Verteilung
der Hausindustrie auf die einzelnen Gewerbs-
zweige : Weberei 60^/o ; Schuhmacherei 5,6''/o,
Peitschenerzeugung 0,8 ^/o, Schneiderei 5,4 %,
Weissnäherei 4,3 ^/o, Haarnetzerzeugung 6 ^ o,
Knöpfeerzeugung 2,1 ^/o, Besenerzeugung
2,30/0, Korbflechterei 0,8 «/o, Strohflechterei
4,8^/0, Schindelerzeugung 1,5^/0, Holzgeräte-
erzeugung 1,4 ^Vo, Strickerei und Wirkerei
2"o u. s. w. Es werden noch betrieben
ausser den genannten Hausindustrieen
Spinnerei, Seiden zupf erei und -knüpferei,
Drahtbinderei, Glasperlenerzeugung, Holz-
spielwarenerzeugiing , Si)innraderzeugung,
Handschuherzeugung.
Eine hervorragende Bedeutung als Mittel-
punkt zahlreicher und wichtiger Ilausiiidus-
trieeii darf Wien in Anspruch nehmen. \
In Wien waren im Jahre 1890 209lsi
mit einer Erwerbsteuer von 21 fl. aufwärts
besteuerte Heimarbeiter. Es entfallen von
dea beschäftigten Arbeitern auf Heimarbeiter
in der Kravattenerzeugimg 95,5 ^'/o, in der
Erzeugung von Männer- und Knabenkleidern
83,80/0, Baumwollweberei 83,5 «>/o, Wäsche-
erzeugung 76,1 ®/o , Erzeugimg von Sonnen-
und Regenschirmen 72,3 ®/o, Schuliwareu
65,3%, W^irkwaren 64,1 «/o.
Inder Perlmutterindustrie, deren Centruin
Wien ist, wai-en 800 — 900 Sitzgesellen be-
schäftigt In der zweiten Hälfte dieses Jahr-
hunderts verbreitete sich die Industrie nach.
Niederösterreich, Bölimen und Mähren. Der
Vertrieb geht jedoch von Wien aus.
6. Schweiz. Die Gesamtzahl aller Haus-
industrieen in der Schweiz berechnete Ad.
Braun in den 1880 er Jahren auf 100000,
d. h. ca. 19^/0 der in der ganzen Industrie
erwerbsthätigen Bevölkerung der Schweiz.
Diese 100000 Hausindustriellen entfallen
zum grossen Teile auf die drei für die
Hausindustrie wichtigsten Zweige der
schweizerischen Industrie : die ührmachei-ei,
die Seidenweberei und die Stickerei (broderie)
nebst Spitzenverfertigung. Von ■ anderen
Branchen werden auch zum Teil noch haus-
industriell betrieben die BaimiwoU- und
Wollweberei, die Strohflechterei, die Spiel-
dosenfabrikation, die Holzschnitzerei, die
Parkett- und Zündhölzchenfabrikation und
selbstverständlich die in Auflösung be-
griffenen alten Handwerke. Eine zusammen-
fassende Statistik der schweizerischen Haus-
industiieen besteht leider nicht; um die
ungefähre Zahl der Heimarbeiter in den
einzelnen Erwerbszweigen zu ermitteln,
müssen wir, soweit uns nicht lokale Unter-
suchungen unterrichten, die verschiedenen
über Industrie- imd Arbeiterverhältnisse
existierenden Veröffentlichimgen miteinander
vergleichen; es ergiebt sich nämlich mit
einiger Zuverlässigkeit diux'h Abzug der in
der »Schweizerischen Fabrikstatistik« gezälil-
ten Fabrikarbeiter von der in der Allge-
meinen Volkszählung ermittelten Gesamtzalil
der Erwerbsthätigen für einige Gewerbe-
zweige die Zahl der Hausindustriellen.
Die Uhrmacherei, von alters her
eine Hochburg des hausindustriellen Be-
triebes, hat iliren Sitz vor allem in Bern,
Neuchatel und Genf; einschliesslich der
Bijouteriearbeiter waren in der Uhrmachei^ei
beschäftigt (nach Schlatter) in der Schweiz
41 342 Personen, nach dem Census von lsS8
44147, davon in Etablissements, welche
dem Fabrikgesetz unterstellt sind, lss<>
10873; 1888 11961; der Rest also sind
meist Hausindustrielle; auf die oben ange-
gebenen Gebiete entfallen (1880) folgende
Anteile von diesen Zahlen, die sich bis isS^S
nur unwesentlich verändert haben.
HausiiKliisti'ie
1151
Bern 1 7468 dav. d. Fabrikges. unterst. 5556
NeucMtel 14525 « « « » »234
Genf 2950 „ „ „ „1132
Neuerdings soll die Centralisatiou der
Betriebsstätten stärker eingesetzt liaben.
Die Seidenweberei beschäftigt (nach
dem Census von 1888) insgesamt 9982 männ-
liche und 37 090 weibliche »erwerbende
Pei^sonen« ; davon über die Hälfte im Kanton
Zürich. Die Hausindustrie hat ihren Sitz
in fast aUen Kantonen. Nach der amtlichen
Statistik waren Fabrikarbeiter in der Seiden-
webei-ei von den sämtlichen Ai'beitern männ-
lichen Gesclüechts 3018, weiblichen Ge-
schlechts 11025, zusammen 14043, gegen
7930 im Jahi-e 1880. Heute ist der Centra-
lisienmgsprozess noch weiter fortgeschritten.
Die Stickerei (liroderie), ein wichtiger
Industriezweig der Scliweiz, wurde früher
fast ausschliesslich hausindustriell betrieben ;
in neuei-er Zeit hat die Einführung maschi-
nelleu Betriebes dem Fabriksystem mehr
Boden verschafft. Eine Arbeiterstatistik des
Centralverbandes der Stickereiindustrie der
Ostschweiz etc. pro 1891 giebt folgende
zahlenmässigen Ausweise: In der Schweiz
und Vorarlberg wai*en beschäftigt:
in der Stickerei 19 182 Personen, davon 11 851
hausindustriell (nur Männer) , in der Fädlerei :
in Fabriken hausindustriell
Knaben unt. 16 Jahren 292 1386'
Mädchen unt. 16 Jahren 863 2767
Knaben v. 16 — 18 Jahr. 131 —
Mädch. V. 16—18 Jahr. 995 —
ledige über 18 Jahre 3653 7038
Frauen 18 12 4243
Insgesamt: 7746
15435
Die Hauptsitze der Stickei-eiindustrie
sind die Kantone St. Gallen, Thurgau und
Appenzell. In St. Gallen waren thätig als
Sticker: in Fabriken 4176, hausindustriell
5224 Personen ; in der Fädlerei : in Fabriken
5615, hausindustriell 6450 Personen. Die
l)ezüglichen Zahlen für den Kanton Thurgau
sind: Stickerei 1311 bezw. 1922, Fädlerei
1398 bezw. 2225; für den Kanton Appen-
zell: Stickerei 1147 bezw. 1325; Fädlerei
1176 bezw. 1879 Personen. Ganz abweichen-
de Ziffern w^eist die Volkszählung von 1888
auf, die ich ebenfalls mitteile. Danach
wurden in der Stickerei gezählt insgesamt
45120 Personen, und zwar 19735 männ-
lich, 25385 weiblich; die Zalil der Fabrik-
arbeiter nach der Fabrikstatistik betrug
17 920, davon 8270 männlich, 9650 weiblich.
7. Frankreich. Die Hausindustrie (travail
a domicile, travail isole, fabrique collective ^))
ist in Franki^eich zu gi-osser Bedeutung ge-
langt, welche sie noch heute für eine An-
zahl wichtiger Gewerbszweige bewahrt hat.
Leider fehlt aber auch hier eine zusammen-
fassende amtliche Statistik, ebenso wie eine
eigentliche monographische Litteratiu\ Die
Hausindustrie ist meines Wissens in Frank-
reich überhaupt niemals zu einem besonde-
ren Studiiun gemacht worden, nur hie und
da schüdert eine Monograpliie der Ouvriem
des deux mondes in bekannter mikrolo-
gischer Weise einen hausindustriellen Be-
trieb. Neuerdings haben die Arbeiten
Pierre du Maroussems sowie einige Special-
enqueten des Office du Travail und des
Musee social etwas mehr Licht über
einzelne Hausindustrieen verbreitet Was
die folgenden Zeilen an thatsächlichen
Angaben enthalten, musste daher au»
den im Litteraturverzeichnisse angeführten
Schriften, unter Zuhilfenahme der aUge-
meinen Statistik, zusammengestellt wer-
den. Wenn es gelungen ist, wenigstens,
in grossen Umrissen ein Bild von der räum-
lichen Ausbreitung der Hausindustrie in*
Frankreich zu entwerfen, so half dazu ein-
mal der Umstand, dass eine Reihe sehr be-
fähigter Forscher, den Wesensunterschied
zwischen manufakturmässigem und hausin-
dustriellem Betriebe wohl würdigend, in
ihren allgemeinen Werken über Indusirie-
verhältnisse der sehr bedeutsamen Hausin-
dustrie stets ihre besondere Aufmerksamkeit
geschenkt haben (so Reybaud, Le Plaj\
Audiganne), sodann dem Zufall, dass gerade
die Frauenarbeit, welche ein grosses Kon-
tingent zur Hausindustrie stellt, in Frank-
reich sehr qualifizierte Bearbeiter gefunden
hat ^roy-Beaulieu, Jules Simon), endlich
der Thatsache, dass eine Reihe wichtiger
Industriezweige Frankreichs bis in die
Gegenwart hinein vorwiegend hausindustriell
organisiert geblieben sind, wie die Seiden-
weberei, die Spitzenindustrie, die Verferti-
gung der sogenannten Articles de Paris, das&
also deren Schilderung mehr oder minder
eine DarsteUung haiisindustrieller Zustände
*) Diese Bezeichnung hat Le Play einge-
führt. Sie erklärt sich aus der Bedeutung,
welche das Wort „fabrique*' im Gegensatz zu
dem Sinne, den wir ihm geben, in der franzö-
sischen Sprache hat ; es entspricht etwa dem
deutschen „Industrie". La fabrique de Lyon ist
die Lyoneser Industrie. Der Ort, wo eine Anzahl
Arbeiter gemeinsam gewerblicher Arbeit ob-
liegen, unser „Fabrik", ist „mauufacture",
„atelier". Le Play hat das Wesen der Haus-
industrie sehr richtig erfasst. Vgl. die Begriffs-
bestimmung in Bd. V. der Ouvriers des deux
Mondes ; fahr. coli. = Systeme d'organisation de
la grande Industrie manufacturi^re oü le patron
centralise le commerce des produits que fabrique
pour son compte une population ouvriere: la
fabrication a lieu soit dans les foyers domesti-
ques des ouvriers; soit dans de petits ateliers
multiples et speciaux. Der zweite Teil der
Alternative deutet auf den Lyoneser Typus hin.
1152
Hausindustrie
enthält. Im Gegensatz z. B. zu England
liegt für das Studium der französischen
Hausindustrie der Schwerpunkt nicht in
amtlichen Untersuchungen, sondern in >^issen-
schaftlichen Arbeiten privater Gelehrter.
Ein Uebelstand jedoch, der sich sehr em-
pfindlich bei diesem Studium fühlbar macht,
besteht darin, dass die wichtigsten und
reichhaltigsten einsclüägigen Werke nicht
der allerjüngsten Zeit angehören. Die zahlen-
mässigen Angaben über den Umfang der
Hausindustrie in Frankreich reichen häufig
nur bis in die Mitte der 1870 er Jahre her-
auf; dass in den letzten 20 — 25 Jahren
aber wesentliche Veränderungen in dem Be-
stände der Hausindustrieen vorgefallen sind,
unterliegt keinem Zweifel. Immerhin dürften
diese Veränderungen in der Mehrzahl der
Fälle nicht solcherart gewesen sein, um das
Gesamtbild im Grunde umzugestalten, wenig-
stens nicht in den hauptsächlich für die
französische Hausindustrie in Betracht
kommenden Gewerbszweigen. Und dann
ist es auch nicht sowohl unsere Aufgabe
•an dieser Stelle, die Anzahl Hausindustrieller
statistisch genau zu ermitteln, als vielmehr
den Leser auf die Herde hinzuweisen, in
denen die Hausindustrie noch Bedeutung
hat, die Branchen anzugeben, welche sie
heute noch als ihr Arbeitsfeld besitzt.
Frankreichs glänzendste Industrie ist zu-
gleich die für die Hausindustrie von jeher
bis in die neueste Zeit wuchtigste: die
Seidenindustrie. Ihren Sitz hat sie,
wie bekannt, vorwiegend in und um Lyon.
Die Anzahl der in der Seidenindustrie be-
schäftigten Personen beträgt nach Jules
Simon in der Stadt 80 000, ausserhalb dieser
90 000. Den Prozentsatz, welcher von diesen
Ziffern auf die Hausindustrie entfällt, genau
anzugeben, ist nicht möglich; doch lässt
sich soviel aus dem zu Gebote stehenden
Material entnehmen, dass die Seiden Industrie
Lyons noch heutzutage im w^esentlichen auf
dem Handbetriebe, somit auch zum grössten
Teile auf der alten Hausindustrieorganisation
beruht. Die amtliche Statistik zählte im
Jahre 1888 im Departement RhOne in der
Seidenindustrie nur 43 Etablissements mit
2162 Arbeitern und 400 Pferdekräften;
mechanische Webstühle in Thätigkeit 1900,
ausser Thätigkeit 260; dahingegen 28975
Handwebstühle. Neben Lvon haben die
übrigen Gebietsteile, in welchen die Seiden-
industrie betrieben wird, eine geringe Be-
deutung ; sie findet sich — ebenfgJls grossen-
teils noch als Hausindustrie — in und um
Nimes; in und um St. Quentin (1876 noch
20000 Handwebstühle für gemischte Ge-
webe aus Seide, Baumwolle und Wolle).
Die Seidenbandweberei als Hausindustrie
hat einst in den Tliälern der Montagnes du
Forez eine gi'osse Bedeutung gehabt; ihre
Organisationsform war und ist noch heute
diejenige Lyons.
Nächst der Seideniiidustrie besitzt von
den grossen Textilindustrieen die Ver-
arbeitung der Wolle für Frankreich
eine grössere Bedeutung; auch diese voll-
zieht sich noch heutigentags vielfach in
hausindustriellen Formen. Zahlenmässige
Angaben über den Umfang der Hausindustrie
in der Wollbranche fehlen so gut wie ganz ;
wir kennen nur die Gentren, in denen die
hausindustriell betriebene Wollweberei (die
Wollspinnerei ist zum überwiegenden Teil
jetzt m das Fabriksystem übergeführt^ ihren
Sitz hat. Da ist vor aUem Lille una seine
Umgebung: Roubaix, Tourooing u. a. 0.
Dann Pas de Calais und La Somme im
Norden ; St. Quentin und Umgebung (L'Aisne) ;
Reims und Umgebung; endlich in der
Monte^ne Noire hauptsächlich die Orte
Bedarieux imd Mazamet. Die hausindustrielle
Baumwollweberei hat neuerdings an
Ausdehnung eingebüsst; immerhin zeigen
sich heute noch in einigen Gegenden die
deutlichen Spuren einer einst blühenden
Hausindustrie; die Normandie vor allem,
die Audiganne noch »la terre . classique du
travail ä domicile« nennt, beschäftigte Ende
der 1860 er Jahre in der Baum Wollindustrie
noch ca. 160000 Hausweber, in Flers und
Umgebung allein 30000, in Tarare 50000,
andere in Roanne, Thizy etc. ; in St. Quentin
und Umgebung arbeiteten 1876 noch 20000,
in Sedan 4000 u. s. f. Die Teppich-
weberei wird in Nimes imd Umgebung
halb fabrikmässig, halb hausindustriell be-
trieben. Die Leinen Weberei beschäftigt
in der Bretagne, im Departement de la
Mayenne und Ijaval noch zahlreiche Haus-
industrielle, die Fabrique de Cholet insbe-
sondere mehrere Tausend Handwebstühle
für Taschentücher.
Die französische Spitzenindustrie
geniesst noch immer ihres bedeutenden
Rufes; sie ist gleichzeitig niunerisch viel-
leicht die wichtigste Hausindustrie Frank-
reichs. Die Zahl der Spitzenarbeiterinnen,
die fast alle Hausindustrielle sind, wird von
Aubry auf 200000, von M^ Burrv PaUiser
auf 200—240000 geschätzt. In Valenciennes,
der berühmten Heimat der kostbarsten
Spitzengattungen, ist heute diese Industrie
fast gänzlich ausgestorben. Die Hauptherde
der Spitzenarbeit sind vielmehr jetzt folgende
sechs : 1. Alen^ons, für feinere Luxusspitzen ;
2. Lille und Arras (Nord), in welch letz-
terem Ort 2 — 3000 Arbeiterinnen mit der
Anfertigung gröberer Spitzen beschäftigt
sind; 3. Bailleue; 4. Chantilly, Caen und
Baveux, mit ca. 70000 Arbeiterinnen: '>.
Mirecourt, für gi*öbere Spitzen; 6. Puy, der
heutige Hauptsitz der fi'anzösischen Spitzen-
industrie mit 100 CHX) (nach anderen 130 —
Hausindustrie
1153
140000) Arbeiterinnen, welche in den Bergen
der Lozdre, Cantal etc. zerstreut sind.
Ein geradezu klassischer Boden für die
Bausindiistrie ist die Industrie der so-
fenannten articles de Paris; im
ahre 1860 konnte Audiganne von ihr sagen :
»Le travail ä domicile s^ presente c*omme
la forme la plus ordinaire dans Findustrie
essentiellement parisienne, dans la groupe
des articles de raris«; und noch heute hat
sich der Charakter dieses Industriezweiges
kaum verändert. Die Leitimg der Produk-
tion hat nach wie vor überwiegend iliren
Sitz in Paris, von wo aus kaufmännische
Verleger, sei es in Paris selbst, sei es in
der Provinz, zahlreiche, vorzüglich weib-
liche Arbeiter beschäftigen, unter »articles
de Paris« versteht man u. a.: Musikinstru-
mente, künstliche Blumen, Modebilder, Hand-
schuhe, Parfümerien, Uhrmacherei, Regen-
und Sonnenschirme, Tabletterie, Portefeuille,
Börsen, Fächer, Augengläser. Die Fabrika-
tion künstlicher Blumen beschäftigt in Paris
allein mehr als 6000 Arbeiterinnen; die
Fächerindustrie im Departement de l'Oise
3000 ; die Ledergalanteriewarenanfertigung
in Nii-ot (deux Sövres Gironde) 1000 —
1200; die Handschuhnäherei in Paris,
Chaiunont, L'Aigle mit Yerneuil, Greuoble,
Nancy, Rennes, Lunevüle 55 — 57 000 Ar-
beiterinnen u. s. f. Die hausindustrielle
Putzmacherei blüht in Nimes; die Stroh-
hutfabiikation in Nanc}' und Umgebung. —
Besonders in neuerer Zeit vollzieht sich
auch in Frankreich der Uebergang der
Bekleidungshandwerke, namentlich
der Schneiderei und Schuhmaclierci (be-
schäftigt in Paris allein 15000 Frauen, die
grossenteüs Hausindustrielle sind), in haus-
ind ustrielle Betriebsformen immer mehr;
die Konfektion, Näherei, Stickörei (broderie)
u. a. specifisch weibliche Arbeiten werden
schon lange, in grossem Umfange, vorwiegend
hausindustriell betriel)en. In den letztge-
nannten Branchen, die mit Vorliebe als
»petite Industrie« bezeichnet werden, lassen
sich die beiden* T\7)en, der reinen Hausin-
dustrie imd der Werkstattarbeit, nicht scliarf
sondern ; fast überall wird auf beiderlei Art
gearbeitet. Die vEntrcpreneuse« hat ein
kleines »atelier« für die schwierigeren Ar-
beiten, die sie selbst überwachen will, den
Rest giebt sie nach Hause. Oft sind es nur
»fliegende Werkstätten« , die für eine drin-
gende und wichtige Arbeit organisiert und
wieder aufgelöst werden, sobald die ge-
wöhnliche Geschäftslage wieder hergestellt
ist. — Schliesslicli sei von französischen
Hausindustrieen nocli auf die K 1 e i n e i s en -
Industrie hingewiesen, die namentlich im
Distrikt von Nogent in vielen Gemeindon
sowie im Kanton de Breteuil betrieben wird.
8. Italien. Dass die Appeninhalbinscl
Uandwörterbnch der Staatswissenschaften. Zweite
eine weitverzweigte Hausindustrie (Industria
domestica, a domicUio; industria casalinga
bedeutet meist häusliche Eigenproduktion)
besitzt, miterliegt keinem Zweifel; gleich-
wohl ist es schwer, sieh genauer über Arten
nnd Umfang zu unterrichten. Eigentliche
Monographieen , die speciell die Hausin-
dustrieen oder eine einzelne Hausindustrie
zum Gegenstaude haben, sind mir nicht be-
kannt geworden. Wer sich über die Ver-
breitimg der Hausindustrie in Italien unter-
richten will, ist daher auf die allgemeine
Litteratnr über industrieDe Verhältnisse, die,
soweit einschlägig, unten verzeichnet, ange-
wiesen ; bei vorsichtiger Benutzung gestattet
sie immerhin leidlich be|riedigende Einblicke
in die italienische Hausindustrie namentlich
deshalb, weil wiederum eine ganze Reihe
von Gewerbszweigen auch in Italien noto-
risch fast ausschliesslich hausindustriell be-
trieben werden; hier gewähren uns die
Ziffern der in der gesamten Branche thäti-
gen Personen ein ungefähres Bild von
Umfang und Verbreitung der Hausindustrie.
Ausserdem enthält die jetzt vollständige
Industrieenquete insbesondere genaue An-
gaben über die Haus Weberei, mit der
imsere Darstellung begonnen werden mag.
Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die
häusliche Weberei in Italien noch zum
grossen Teil für den Eigenbedarf der Fa-
milie betrieben ^^ird; die Zahl der in der
»tessitura casalinga« (Hausweberci) thätigen
Webstühle umfasst daher Hausindustrie und
Familienproduktion gleichzeitig ; welcher
Prozentsatz auf die eine oder andere Kate-
gorie entfällt, ist nicht festzustellen.
Ein grosser Teil der italienischen Seidenin-
dustrie wird noch hausindustriell betrieben,
und zwar sowohl die Seidenweberei, die
durch die obenangegebene Zahl der Web-
stühle auf gemisclite Stoffe mit vertreten
wird, als namentlich auch die Seiden-
spinnerei. Die (bis 1900 nicht wieder-
holte) Berufszählung von 1881 giebt folgende
Gesamtzahlen für die in der Seidenbranche
thätigen Pei-sonen:
Seidenspinnerei i45033Pers.,dav. 136 788 Frauen
Seidenweberei 18034 „ „ 11 610 „
Wieviel hiervon hausindustriell arbeiten,
lässt sich, wie gesagt, nicht leicht feststellen.
Doch liat in den letzten Jahren der Prozess
der Betriebscentralisation auch in Italien
bedeutende Fortschritte gemacht. Für die
übrigen Hausindustrieen habe ich trotz der
liebenswürdigen Unterstützung meines hoch-
verehrten Fretmdes Bodio keine Ziffern
für die Gegenwart ennitteln können. Ich
lasse daher die natürlich in vielen Fällen
veralteten Angaben der 1881 er Berufs-
statistik stehen. Ein für Italien wich-
tiger Zweig der Textilindustrie ist die
I Spitzen fabrikation. die feist aus-
AuflaRe. IV. 73
1154
Hausindustrie
Es beträgt die Zahl der Webstühle auf
m:
Baumwolle
Leinen,
Hanf etc.
gemischte
Stoffe
Piemont
Lignrien
Lombardei ....
Venetien . . . .
Emilia
Toscana
Marken
Umbrien
£om
Abmzzen und Molise
Campanien ....
Apunen
Basilicata ....
Calabrien ....
Sicilien
Sardinien ....
1304
15
348
266
968
688
980
702
3601
610
434
610
887
I 216
4388
2577
446
5 474
1317
2 152
10157
2966
902
228
3845
4429
8977
517
I 921
10552
924
7635
695
10395
7716
14 331
5541
8572
5950
1451
5988
6357
1559
184
5137
II 852
5 110
484
»5
3626
4578
16896
5358
19677
4468
441
18111
I ';78
3 575
I 610
8455
12744
8719
Königreich
I 910
17088
57384
98473
1 10 335
Dazu kommen noch 3 013 Stühle für Wirkerei, Posamenten etc., sodass sich eine Gesamt-
summe von 288203 ergiebt.
schliesslich von Frauen betrieben wird
und zum weit überwiegenden Teile als
Hausindustrie. Insgesamt waren in Italien
(1881) 10913 b-Personen (entsprechend den
c-Personen der deutschen Statistik), 10880
Frauen und 33 Männer mit der Spitzen-
klöppelei bezw. -näherei beschäftigt. Der
Hauptsitz der Spitzenindustrie befindet sich
in der Umgegend von Chiavari, namentlich
in den Orten ßassallo, Portofino und St.
Margherita ; hier wurden 1881 5465 Spitzen-
arbeiterinnen gezählt; nach anderen An-
gaben soll sich ihre Zahl auf mehr als 7000
belaufen. Nächst dem Distrikt von Chiavari
sind bedeutende Centren der Spitzenklöppe-
lei Como mit 2378 und neuerdings Venedig
mit der Laguneninsel Burano (nach der En-
quete 2702). Der Rest ist über ganz Italien
zerstreut; eine grössere Anzahl weist nur
noch die Stadt Mailand (654) auf. — Ausser
in der Textilbranche ist die Hausindustrie
in Italien namentlich in der Strohflech-
te rei (für Strohhüte) verbreitet. Der Be-
trieb spielt sich hier in der Weise ab, dass
ein Faktor (fattoritto) im Auftrage eines
Strohhutfabrikanten bezw. Händlers sich das
Rohmaterial (Stroh) beschafft, das er dann
den Strohflechtern (vorwiegend Frauen) nach
Hause zur Verarbeitung giebt ; hier werden
die Strähnen geflochten, so dass der Fabri-
kant in seinem Etablissement nur die Fertig-
stellung des Hutes zu besorgen hat. In be-
deutendem Umfange exi)ortiert Italien aber
auch das Halbfabrikat und die Strohgefleclite :
1888 104G4 Centnor für 8371200 Lire,
während der Wert der ausgeführten fertigen
Strohhüte sich auf nur 7 312040 Lire belief.
Insgesamt beschäftigt Italien (1881) in der
Strohhutfabrikation 65473 b-Personen, 4747
Männer, 60726 Frauen. Davon entfällt der
grösste Teil auf Florenz und Umgegend, wo
vorwiegend niu: Strohflechterei getrieben
wird ; hier wurden (1881) 1314 Männer und
31351 Frauen in der Strohhutfabrikation
gezählt; für ganz Toscana bezifferten sich
die entsprechenden Zahlen auf bezw. 1932
und 43763; ferner für die Emilia auf bezw.
1345 und 10363; von letzterer Summe ent-
fallen auf Bologna und Umgebung bezw.
447 und 3274, auf Modena und Umgebung
bezw. 594 und 3960, auf Mirandola und
Umgebung bezw. 98 und 1364: die übrigen
zereplittem sich. Ausser in Toscana und
Emilia findet sich eine ausgedehnte Stroh-
hutfabrikation noch im Venetianischen mit
525 männlichen und 4385 weiblichen Ar-
beitern. — Bei den meisten übrigen In-
dustriezweigen lassen uns bei dem Versuch,
die Anteile der Hausindustrie zu ermitteln,
die amtlichen Zalüen fast .ganz im Stich,
sei es, dass die betreffenden hausindustriell
betriebenen Gewerbe nicht als besondere
Branchen gezählt sind, sei es, dass die Per-
sonenzahl einer Erwerbskategorie, wie sie
die Statistik angiebt, einen zu kleinen Pix)-
zentsatz Hausindustrieller enthält, als dass
sie für luiseren Zweck irgend eine Beileu-
tuug beanspruchen dürfte. Einen leidlich
klaren Einblick gestattet uns noch die Sta-
tistik der Handschuhfabrikation. An
dieser nimmt die Hausindustrie in Gestalt
der Näherinnen teil, welchen die zug»^
schnittenen Handschuhe in die Wohnung
zum Zusammennähen gegeben werden ; hier
bezeichnet also die Zahl der weiblichon
b-Personen im wesentlichen den Umfanij,
Hausindustrie
1155
welchen die Hausindustrie in dieser Branche
besitzt; immerliin wird auch hier noch ein
kleiner Abzug für Manufakturarbeiterinuen
zu machen sein. In Italien nähen 3445
Frauenspersonen Handschuhe; Haupt sitz
dieser Hausindustrie ist Neapel mit 1626
Arbeiterinnen, danach folgt Mailand mit 622
Köpfen; kleinere Herde finden sich über
ganz Italien zerstreut — Die übrigen Ge-
werbszweige, die meines Wissens hausin-
dustriell in Italien betrieben w^erden, seien
zum Schlüsse nur aufgezählt; es sind:
Kleineisenindustrie, namentlich
Messer fabrikation (coltellinaj) ; die S p i e 1 -
waren Verfertigung (Spuren in Mailand und
Neapel); gewisse Zweige der Holzver-
arbeitungsindustrie wie Einlagear-
beiten etc. (z. B. in Siena, am Golf von
Neapel, an der ßiviera etc.); Anfertigung
von Streichhölzern etc. (in Venedig);
desgleichen die Glasindustrie (Verferti-
gung kleiner Glaswaren, Glasspinnerei etcj.
Eine Besonderheit Italiens, über die icn
jedoch mich genauer nicht imterrichten
konnte, scheint die Hausindustrie im Dienste
des Segelschiffsbaues zu sein; liier
werden von den Küstenbewohnern Teile der
Takelage wie des Schiffskörpers liausin-
dustriell für die Werften angefertigt. —
9. Bellen. Es sind wertvolle Er-
hebungen tiber die Hausindustrie vom Of-
fice du Travail im Jahre 1896 angestellt,
deren wichti^te Ergebnisse mir durch die
gütige Vermittelung des Herrn Professor
Mahaim in Liege schon jetzt zugänglidi
gemacht worden sind. Ich teile einige davon
im folgenden mit :
Die Zahl der Berufszweige, in denen
Hausindustrie vorkommt, beträgt 56. Die
wichtigsten hausindustriellen Gewerbe sind,
unter Berücksichtigung ihrer geographischen
Verbreitung folgende:
Die Wollweberei imd Weberei ge-
mischter Stoffe hat ihi'e Hauptsitze in
und um Verviers (1000), in und um Eeclos,
in und um Renaix (2600), St. Nicolas und
Lokeren, Braine TAllend, Turnhout.
Die Leinen Weberei bescliäftigt eine
zahlreiche Bevölkenmg in Ost^ und West-
Flandern.
Die Baum Wollweberei ist ausser
in der Umgegend von Gent in der Gegend
der Wollweberei vertreten.
Wenig Jute- und Seidenhausweberei. Im
ganzen wird die Zahl der in der liausin-
dustriellen Textilindustrie beschäftigten Per-
sonen auf 40000 geschätzt.
Die Spitzenindustrie ist hauptsäch-
lich verbreitet in den Arrondissements
Yypres, Contrai, Thielt, Dixmude, Roulei*s,
Brügge, Audenarde, Alost, Termonde, in dem
Teil des Arrondissements Brüssel, der an
Alost angrenzt und in der Stadt Turnhout.
Die Tüllstickerei wird in der Stadt Lien-e
und einigen Gemeinden des Anx)ndissement8
St. Nicolas betrieben. Die Gesamtzahl der
Spitzenarbeiterinnen beträgt zwischen 30000
und 40000.
In der Lütticher Waffenindustrie
wurden in Werkstätten 686, in ihrer Häus-
lichkeit 4856 hausindustrielle Arbeiter ge-
zählt; letztere beschäftigten 1110 Familien-
mitglieder und 953 'fremde Arbeiter. Der
Wert der Waffenausfuhr betrug im Jahre
1895 14 396 743 Francs, 1898 16 548 404
Francs. Diese offiziellen Angaben über die
Zahl der hausindustriellen Arbeiter in der
Waffenindustrie sind auffallend niedrig.
Man nahm sie im allgemeinen erheblich
grösser an und schätzte sie auf 40000. Ich
zähle noch die wichtigsten der bisher nicht
genannten belgischen Hausindustrieen auf ; es
sind : Wirkerei, Strohhutflechterei (1600)^
Pantoffeln- und Schuhmacherei, Seilerei
(550), Marmorschleiferei, Gerbei-ei, Tischlerei,
Posamentenverfertigung, Nägel-, Ketten- und
Bolzenfabrikation, Korsettinacherei (1100),
Handschuhmacherei, Cigarren- und Ciga-
retten-Industrie.
Die Gesamtzahl der Hausindustriellen
beiderlei Geschlechts wird für ganz Belgien
auf 100000 bis 120000 geschätzt.
10. Russland. Es giebt zahlreiche Ziffem-
angaben über die Verbreitung der Hausin-
dustiie in Russland, doch sind die meisten
unzuverlässig. Insbesondere sind dieSchätzun-
gen Andrajews, von denen ich in der ersten
Auflage dieses Handwörterbuchs mehrere
mitteilte, wie man heute weiss, sicher
übertrieben.
Im Sommer des Jahres 1899 sind neuer-
dings Erhebungen veranstaltet w^oixlen,
denen mehi* Vertrauen scheint entgegenge-
bracht werden zu müssen. Die Ergebnisse
sind einstweilen noch nicht veröffentlicht.
Der Güte des Herrn Professor Issaiew in
St. Petersburg verdanke ich jedoch folgende
Mitteilungen daraus: die Gesamtzahl der
Kustari wird auf 1^/2 Millionen, der Wert
ihrer Produkte auf 300 Millionen Rubel
jälu'lich geschätzt. Für die einzelnen Gou-
vernements liegen folgende Zahlen ver:
Moskau: 190000 Hausindustrielle, 75
Millionen Rubel Wert der Jahi^esproduk-
tion, Hauptzweige sind Seiden- und teil-
weise Baurawollweberei mit 20 Millionen
Rubel Produktionswert, ferner Tisclilerei,
Töpfer\\'aren, Lederwaren, Hornwaren.
Twer: gegen 150000 Hausindustrielle
mit 25 Millionen Rubel Jahi^sproduktion
(Schuhmacherei, Holzbearbeitung).
Nishni-Nowgorod: 60000 Hausin-
dustrielle mit 15 Millionen Rubel Jahres-
produktion (grobe Waren aus Metall, ver-
schiedene Kurzwaren).
Tula: 40000 Hausindustrielle mit 20
73*
1156
Hausindustrie
Millionen Rubel Pi-oduktionswert (Kurzwaren,
GeschiiT, Waffen, Ackergeräte).
Perm: über 100000 mit 18 Millionen
Rubel Jahresproduktion (Eisenbereituug,
Töpferei, Füzschuhwerk).
Wjatna: gegen 80000 mit 12 Millionen
Rubel Produktionswert (Holz- und Leder-
verarbeitung, Füzschuhwerk).
üeber das Wesen und den Entwicke-
lungsgang der russischen Hausindustrie ist
eret jetzt durch die wertvollen Untersuch-
ungen Tugan-Baranowskis volles Licht
verbreitet.
Es sind in Russland zwei Typen von
Hausindustrieen verbreitet: diejenigen, die
langsam, organisch aus den bäuerlichen
Hausgewerben bezw. Hausierhandwerken
hervorgewachsen, und diejenigen, die in An-
lehnung an oder in Konkurrenz gegen die
kapitalistische Fabrikindustrie entstanden
sind. Zu ersterer gehören u. a. das Flechten
von Bastschuhen, das Filzwalken, das Weben
von dicker Leinwand und Tuch, die Bött-
cherei, die Herstellimg von Holzprodukten,
die Kürschnerei, die Pelzmacherei u. a.
Ihre Entstehung reicht in das 17. und 18.
Jahrhundert zurück. Diejenigen Zweige der
Hausindustrie,^ die erst mit dem Auftreten
des Kapitalismus entstanden sind, sind vor-
nehmlich die Baumwoll- und Seidenweberei,
die »Patronen«industrie, die Handschuh-
macherei, Posamentiererei u. a. Die Zeit
ihrer Entstehung fällt meist erst in das
19. Jahrhundert, und wie oben S. 1141 schon
erwähnt wurde, geht ihnen vielfach eine
Periode des gescldosseuen Manufakturbe-
triebes vorauf. Wie beispielsweise die gross-
betriebliche Organisation in der BaumwoU-
industrie in den 1830 er und 1840 er Jahren
der hausindustriellen Organisation weicihen
muss, lehren folgende interessante Ziffern:
Einfuhr von Bamn-
Zahl
der Fabrik-
wolle und Baum-
arbeiter in Baum-
wollgarn nach
woll Webereien
Russland
in Tausend Pud
1836
94 75 1
865
1852
81454
j 960
1857
75517
2765
Nach Meinung unsercs Gewährsmanns
sind die Hausindustrieen kapitalistischen Ur-
sprungs nach Zahl und Produktions wert viel
bedeutender als die alten Kustarge werbe
volkstümlicher Herkunft aus dem Hausge-
werbe. Er schätzt z. B. die Zahl der in
diesen alten Hausindustrieen im Gouverne-
ment Moskau beschäftigten Personen auf
80 000, d. h. nur etwa 25^/0 aller Kustaris
daselbst.
In den letzten Jalu'en beginnt nun aber
die russische Hausindustrie beider Linien
stark vor der Konkun-enz der Fabrikiii-
dustrie zurückzuweichen, ja manchenorts iii
einen raschen Prozess der Auflösung einzu-
treten. Insbesondere gilt dies für den wich-
tigen Zweig der Baumwollindustrie. In
dieser betrug die Zahl der Arbeiter in den
50 Gouvernements des europäischen Russ-
lands :
im
Jahre
1866
1879
1894—95
in geschlossenen
Grossbetrieben
(Fabrikindustrie)
94566
162691
242051
in Kustarwerk-
stätten
(Hausindustrie)
66178
50152
20475
Andere Gewerbe, wie namentlich einige
Zweige der Metall- und Holzverarbeitung,
wo die Technik gleich schnelle Fortschritte
gemacht hat, halten sich noch etwas länger
in der Sphäre der Hausindustrie. Aber das
sind doch nur Unterschiede im Tempo: die
Richtung der Gesamtentwickelung ist Ueber-
führung der hausindustriell-bodenständigen
in die grossbetrieblich-lokalisierte Industrie-
organisalion.
11. England. Die Geschichte der eng-
lischen Hausindustrie (domestic System; der
englische Name für Verleger ist Manufac-
turer) ist eine ebenso grosse und rühmliche,
wie ihre heutige Bedeutung, wenigstens für
aUe schon im Banne des fabrikmässigeu
Betriebes stehenden Gewerbserzeugnisse,
gering ist. England hat den notwendigen
Uebergang zu dem Manufaktur- und Fabiik-
systeme eben in einer Reihe wichtiger In-
dustriezweige (Textilindustrie!) heute schon
vollzogen, die in den übrigen europäischen
Staaten die hausindustrielle Betriebsfonn
wie eine ewige Ki-ankheit von Gesclilechtt»
zu Geschlechte noch immer weiterschlepi)en.
Was an bedeutenden Hausindustrieen heu-
tigentags noch in Engkind existiert, sind im
wesentlichen solche öewerbszweige, welche
in neuester Zeit ei-st den \Vandlungspit)zess
vom Handwerk zum Kapitalismus vollziehen,
also namentlich die gi^ossen Bekleidungs-
gewerbe, die Schneiderei, Schuhmac*he-
rei etc., in denen das sogenannte Sweating-
system eine Rolle spielt. Leider fehlen
auch für England zalüeiunässige Angaben
über den Umfang der Hausindustrie ; einiges
Material haben neuei'dings die Enqueten
über das Sweatingsystem geliefert; danach
arbeiteten 1883 von 20000 Schneidern in
East London 15000 unter dem Sweating-
system, 1888 18000—20000 Schneider, da-
runter eine grosse Anzahl jüdischer Kon-
fession ; in Leeds, wo ebenfalls das Sweating-
system vorherrscht, waren allein in der
Kleiderfabrikation 3000 von Sweatern b<^-
schäftigt. Ganz analog wie in Deutschland
liegen die Verhältnisse in England für di<*
Möbeltischlerei. Sie befindet sich in
Hausindustrie
1157
einem Uebergangsstadium, das ausserordent-
lich viel Nuancen der Abhängigkeit des
weiland Handwerksmeisters vom Kapital
aufweist. So ist beispielsweise die Lon-
doner Tischlerei im wesentlichen wie die
Berliner organisiert. Nach einer Schätzung
von Ch. Booth arbeiten von 7000 Tisch-
lern in London 5700, also 80 ^/o in Kleinbe-
trieben mit je 4 — 8 Personen. Die Textil-
industrie weist nur noch Spuren einer
einst blühenden Hausindustrie auf. Höch-
stens die Seidenindustrie hat als Hausin-
dustrie in und um Macclesfield noch einige
Bedeutimg. Die Baumwollindustrie beschÖ-
tigt (nach privaten Mitteilungen) noch ca. 100
Hausweber in Lancashire (Bolton und Colnes),
die Wollindustrie ca. 400—500 in York-
shire. Die Baumwollhausweber befinden
sich in leidlicher, die für Wolle in nicht
allzusehlechter, die für Seide in sehr elender
Lage. Von anderen noch heute in England
bestehenden Hausindustrieen sind die K 1 e i n -
eisenindustrie, die Strohflechterei
u. a. von geringer Bedeutung namhaft zu
machen. Im ganzen ist unsere Kenntnis
über den heutigen Stand der englischen
Hausindustrie ganz besonders lückenhaft;
eine gründliche Bearbeitung der Entwicke-
lung der dortigen Hausindustrie bis in die
Neuzeit w^äre mit grosser Freude zu be-
grüsseu.
12. Vereinigte Staaten von Amerika.
In den U. S. A. ist von irgend welcher Be-
deutung nur jene Species von Hausin-
dustrieen, die wir als »moderne« bezeichnet
haben. Mag auch eine Reihe von Industrieen,
in denen wir heute die hausindustrielle Be-
triebsfoi-m noch immer mitschleppen, auch in
den Vereinigten Staaten in ihrer Kindheits-
periode veriagsmässig organisiert gewesen
sein: sobald die Technik eine produktivere
Verwendung der Ai'beitskraft ermöglichte,
müsste drüben imweigerlich die rückständige
Form ihr weichen. Dafür sorgte der infolge
immer vorhandenen Unterangebots von Ar-
beitskräften stets hohe Preis der Arbeits-
kraft. Erst als in neuerer Zeit der Strom
der Einwanderer niedrigster Qualität immer
mehr anschwoll, ward die Zeit für haus-
industneUe Betriebsweise auch in den ü. S. A.
erfüllt und wir vernehmen von zahlreichen
modernen Hausindustrieen zum Teil neuesten
Datums. Sie fassen Boden naturgemäss
zunächst in den grösseren Städten des Lan-
des. Die wichtigsten Zweige dieser Haus-
industrie sind die Anfertigung von Cigarren,
Börsen, Federn, künstlichen Blumen, vor allem
aber Kleidern. Die hausindustrielle Kon-
fektion, ebenfalls unter dem Namen » S weating-
system« populär geworden, hat in den Städ-
ten der Vereinigten Staaten, namentlich seit
den 1880 er Jaliren einen ganz enormen
Aufschwung genommen. Es ist von be-
sonderem Interesse, w^ie oben schon hervorr
gehoben wurde, dass die hausindustrielle
Organisationsform die schon in der Entwdcke-
liuig begriffene Fabrikorganisation vielerorts
(z. B. in Clücago) verdrängt liat, dank eben
vor allem dem Zuströmen jener ausbeutungs-
fähigen Arbeitermassen.
Die Ausdehnung der hausindustriellen
Betriebsweise in den U. S. A. lässt sich
nicht mit Bestimmtheit angeben, da der Cen-
sus der Vereinigten Staaten bisher noch
nicht die HausindustrieUen gesondert ge-
zählt hat. Ebenso enthalten die Veröffent-
lichungen des Arbeitsamtes der Vereinigten
Staaten bisher noch keinerlei statistische
Angaben über diesen Gegenstand. Der in
einer der letzten Nummern des Bidletins
des Arbeitsamts erschienene Aufsatz über
das Sweatingsystem beruhte auf unvoll-
ständigem Material und hat keinen statisti-
schen Wert. Genauere Angaben über die
hausindustrielle Konfektion im Staate Illinois
(Chicago) enthält der Bericht des Fabrik-
inspektors für Illinois vom Jahre 1896, aller-
dings beschränkt auf die Werkstattarbeit —
also ohne Berücksichtigung der Heimarbeit.
Danach gab es im Staate Illinois:
Werkstätten
Männer
Frauen
Kinder
Insges. besch. Pers
1893
704
2611
3617
595
6823
1894
1413
4469
5912
721
II 102
1895
1715
5817
7 780
1307
14904
1896
2378
6383
7 181
I 188
14752
Chicago hat sich zum Hauptsitz der
amerikanischen Konfektion entwickelt, die
sich in 24 riesigen Engros- imd einer Menge
anderer Häuser koncentriert. Nach einer
Schätzimg der Florence Kelley liefert Chi-
cago mindestens für 18 von den 44 Staaten
der Union die fertigen Kleider.
Ueber die Entstehung der hausindustri-
ellen Konfektion in Clücago erfaliren wir
insbesondere folgendes (vgl. Florence
K e 1 1 e y , a. a. 0. S. 211 ff.). Die verhältnis-
mässig geringe Menge fertiger Kleider, die
in Chicago vor dem Jahre 1885 hergestellt
wurde (die Hauptmasse der Bekleidung
wurde entweder noch von Kundenmass-
schneidern angefertigt oder importiert), war
das Produkt einzelner Fabriken, die haupt-
sächlich Mädchen als Maschinenarbeiterinnen
beschäftigten und die wenige Arbeiterinnen
hatten, die nicht englisch sprachen. Die
Mädchen verdienten wöchentlich 4 — 16 $,
im Durchschnitt während der Saison 10 $.
1158
Hausindustrie
Eine Aendening trat ein, als die russischen
Juden und Böhmen sieh ansiedelten. Diese
kannten den Dampfbetrieb nicht, waren aber
anderereeits bereit, ihre eigene Arbeitskraft
in weitestgehenderweise ausnützen zu lassen.
Den Fabrikarbeiterinnen erwuchs in diesen
elenden, verlotterten Massen eine vernichtende
Konkurrenz. Die Arbeitszeit wiu-de aus-
gedehnt, die Löhne fielen, eine Verständi-
gung mit dem fremdsprachigen Gesindel
war nicht möglich. So blieb den IViMchen
nichts anderes übrig, als selbst in die ver-
schlechterten Arbeitsbedingungen zu willigen
oder das Gewerbe aufzugeben. Letzteres
war die Regel. Die Fabrik verschwand.
Die Schwitzwerkstatt hatte sie verdrängt
und beliauptete in Zukunft allein das Feld.
Ganz analog hat sich die Konfektion in
l^ew-York entwickelt.
IIL Beurteilung der Hausindustrie. Ziele
hausindustrieUer Politik.
Die Anschauung über den Wert der Haus-
industrie und die Nützlichkeit ihres Fort-
bestandes haben in den letzten Jahren eine
w^esentUche Wandlung erfahren. Die noch
vor kiu-zem herrschende Auffassung, die sich
im Avesentlichen auf Grund der Kenntnis
der älteren Hausindustrie in früherer Zeit
gebildet hatte, legte den dem hausindus-
triellen Betiiebssystem wirklich oder ver-
meintlich anhaftenden Vorzügen, welche ihm
im Gegensatze zum Manufaktur- und Fabrik-
system eigentümlich seien, als: grössere
Freiheit der Arbeiter in der Regelung ihi*er
Arbeitszeit, Arbeit in der Familie, geringere
Gefahr moralischer Yerderbnis etc. eine so
ausschlaggebende Bedeutung bei, dass sie
die Erhaltung der Hausindustrie nach Kräften
anstrebte.
Eine Minderheit von Beurteilern, die das
Elend der niedergehenden alten Hausindus-
trie in jün^ter Zeit und auch die neuere
Hausindustrie aus eigener Anschauung kannte,
sah die Hausindustrie nicht in dem gleich
rosigen Lichte, erachtete die theoretisch
vorliandenen Vorzüge in Wirklichkeit meist als
durch die elende Lage der Hausindustriellen
iUusorisch gemuht, wollte anderei-seits viele
ihrer Vorzüge als nicht notwendig mit dem
Fabrikbetrieb unvereinbar gelten lassen und
betonte die wesentlichen Nachteile der
hausindustriellen Betriebsform für den Ar-
beiter, auf die oben bereits hingewiesen
wurde. Ihr Wunsch war auf möglichst
sclunerzlose, aber rasche Beseitigiuig der
Hausindustrie gerichtet. Diese Auffassimg
nun ist im Begriff die heute immer mehr
hen'schende zu wei-den ; dank vor allem der
Ent Wickelung der letzten Jahre, die ebenso-
sehr dfis unaufhaltsame Dahinschwinden der
alten, mit romantiscliem Zauber umwobenen
ländlichen Hausindustrie wie das Ueber-
wiegen der Schädliclikeiten in der heute immer
mehr den Ton angebenden, modernen städ-
tischen Hausindustrie dargethan hat. So
ist denn heute auch das Augenmerk der
Sozialpolitik viel weniger auf Erhaltung als
auf Abstellung der Uebelstände in der Haus-
industrie und in der Mehrzahl der Fälle
deren thunlichst allgemeine Beseitigiuig
gerichtet.
Man weiss heutzutage, dass die Haus-
industrie im wesentlichen dazu dient, die
Vorschriften des Arbeiterschutzes und teil-
weise auch noch der Arbeiterversicherung
zu umgehen und die Organisation der Ar-
beiter in Berufs vereinen zu erschweren,
damit aber die beiden wichtigsten Hand-
haben der sozialen Reform zur ünbrauch-
barkeit zu verdammen. Die Hausindustrie
ist in den meisten Fällen heutzutage nicht
nur eine Quelle des Elends für diejenigen,
die in ihr arbeiten, sondern, was noch viel
schlimmer ist, ein Hemmschuh für die fort-
sclireitende Entwickelung auf dem Gebiete
der gesamten Industrie eben dadurch, dass
sie die Bestrebungen vereitelt, die dem Ar-
beiterschutz und der Gewerkschaftsliewegung
zu Grunde liegen und deren segensvolle
Wirkung nicht nur die Hebung der augen-
blicklich thätigen Arbeiter, sondern vor aflem
auch die Besclileunigung des wirtschaftlichen
Fortschritts ist. Die Postiüate einer mo-
dernen hausindustriellen Politik müssen
deshalb heute mehr denn je, so wenig man
die technischen Schwierigkeiten zu ver-
kennen braucht, die ihrer Verwirklichung
entgegen stehen, immer noch diese sein:
Ausdehnung des Arbeiterschutzes
auf die Hausindustrie und Organisation
der hausindustriellen Arbeiter.
Quellen und Litteratur: A, Allgemeines
und Verschiedenes. Aiu der älteren
Liüeratur »ind die Schriften der deut-
schen Kameralisten des 17. und 18. Jahr-
hunderts fnEntdeckte Goldgrube«, Frhr. ron
Schröder, J. H. G, von Justi u. a.) namhafi zu
machen als solche, in denen von der neuen ge-
werblichen Organisationsform, detn Verlagssystem,
öfters im Gegensalz zum Handwerk und zum
Manufakturbetriebe die Rede ist. — Schaffte f
Art. Hau4tinduHrie im St.W.B. v. Bluntschli
und Brater, 1860. — W, Röscher , Ueber In-
dustrie im Grossen und Kleinen. (»Ansichten der
Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Stand-
punkte«, 1861). — Korssakf Von den Formen
des Gewerbebetriebs überhaupt und von der Be*
deutung der häuslichen Produktion im westlichen
Europa und in Russland, 1861 (in russischer
Spra^che). — K, Marx, Das Kapital, 1. Auß.,
1867. — H. Rentschf Artikel n Hausindustrien
in seinem Handwörterbuch der V.W.Lehre, 1866,
2. Aufl.,. 1870. — O. Schwarz, Die Betn'fbs-
fortnen dei' modernen Grossindfistrie (Zeüschr. f.
Staatsw., 1869). — 9. Internationaler
Statistischer Kongress, Budafpest 1876
(Referate von M. Wirt, K. Kerkapoly, K. Herich
Hausindustrie
1159
nebst den Verhandlungen in der fV.J Sektion
und im Plenum), — Ad, Held, Handwerk und
Grossindtistrie, Vortrag, gehalten in der Sing-
akademie tu Berlin am gl. IL 1881, — Qust.
Sehönberg, Gewerbe, I. Teil, in seinem Hand-
buch der politischen Oekonomie, 2, Bd,, 4. Aufl.,
1896. — Herrn. Grothe, Der Einfltiss des
Manchestertum» auf Handwerk und Hausindus-
trie etc., I884, — Alex. Stellmacher^ Ein
Beitrag zur Darstellung der Hausindustrie in
Bussland, I. theoretischer Teil, 1886. — - Gust.
SchtnolleTf Die Hausindustrie und ihre älteren
Ordnungen und Reglements (Jahrb. f. Ges. und
Vcrw., XI, 1887). — G. Merckel, Die Hygiene
in Handwerk und Hausindustrie. (nGewerbe-
sekitun 1888, Nr. 16—17.) — Ad. Braun, Zur
StatUtik dei' HansindustHe, 1888. — W. Stleda,
Litteraiur, heutige Zustände und Entstehung der
deutschen Hau*industHe (Sehr. d. V. f. Sozialp.,
Bd. S9, 1889, 1. Abschnitt). — lAidw. Fuld,
Hausindustrie und Arbeiterschutz (i> Deutschlands
1889, yr. 23). — X/h/o BrenlanOf Ueber die
Ursachen der heutigen sozialen Not. Ein Bei-
trag zur Morphologie der VolkswirUchaft, 1889.
— Gu9t Schmoller, Die geschichtliche Ent-
"wickelung der Unternehmung. V. Die Haus-
industrie. VI. Das Beeilt und die Verbände der
Hausindustrie (Jahrb. f. Ges. und Vene. XIV,
XV, 1890191). — Karl Bücher, Hausfleiss u.
Hausindustrie (nHandelsm^iseumn Bd, V, 1890,
Nr. 31, 3>i, 88). — Derselbe, Artikel »Gncerben
in diesem Handwörterbuch. — Derselbe, Die
gewerblichen Betriebsformen in ihrer historischen
EntWickelung (S.A. aus der Festschrift der Tech-
nischen Hochschule zu Karlsruhe etc.), 1894. —
Derselbe, Die Entstehung der Volkswirtschaft,
£. Aufl.^ 1898. — Hausindustrie und
Landwirtschaft (Zeitschr. f. Agrarpolitik,
1890). — Ausdehnung des Arbeiter-
schutzes auf Werkstätten und Haus-
industrie (nArbeü^rwohln, red. von F.Hitze,
1890, Heß 7 und 8). — Pranz Ziegler, Die
sozialpolitischen Aufgaben auf dem (rebiete der
Hausindustrie, 1890. — Werner Sombart,
Die Ha^isindustrie in Deutschland (Arch. f. soz.
Gesetzg. u. StcU., Bd. IV, 1891). — Derselbe,
Zur neueren LiUenUur über Hausindustrie, 1891
—1898 (Jahrb. f. Nat.-Oek., III. F., Bd. VI).
— Derselbe, Die gewerbliche Arbeit und ihre
Organisation (Arch. f. soz. Gesetzg. und Stat.,
Bd. XIV). — Sinxheimer, Ueber die Grenzen
der Weiterbildung rfe« fabrikmässigen Gross-
betriebs, 1893. — «/. de la VaU4e Potissin,
Le travail autonome au XIX. sc. (Bev. gener.
BruxeUes 1893). — P. du Maraussem, Les
grands magasins tels qu'ils sont (Bev. d*ieon.
pol, Nm\ 1893). — B, Potter, Comment en
ßnir arec le sirea4ing System (ibid.). — DtC"
selbe, Jl salario del sudore (sweating System),
(Biforma sociale Anno I., 1894). — Henry W.
Wolff, A defence against nsweating« (Econom.
Beviev, April 1894). — P« BinehetU, L*in-
dustria deUa seta sfd ßnir del secolo XIX,
I894. — E, Schttiedland , Essai sur la
fabrique coüecHve (Bevue d*econ. politique, Nov.
1893). — Derselbe, Kleingewerbe und H.I.
in Oesterreieh, 1894, S^- I' — Derselbe, Haus-
industrie und Siceatingsystem. Ihre Form und
ihre sozialen Schäden, 1896. — Derselbe, 1.,
i., 3. Vorbericht über eine gesetzliche Begelung
der Heimarbeit, 1896 f. — Derselbe, La re-
pression du tiarail en chambre (Congres inter-
national de Legislation du travail, BruxeUes
1897), aus»i puMie dans la Bev. d'econ. pol.
1897, Nr. 6—9. — Derselbe, Die Heimarbeit
und ihre staatl. Begelung. (nlkis Lebenu, 1897).
— Derselbe, Formen und Begriff der Haus-
industrie (Jahrb. f. Nat.-Oek., III. F., Bd. XVI,
1898). — Derselbe, Soziale Kampfmittel icider
die Heimarbeit (Soz. Prax. VIII, 43). — Der-
selbe. Die Begistrierung der Heimarbeiter (Soz.
Praxis VII, 1897198). — P, du M., La fabrique
collective d'apres l*Sc<de allemande (La Beforme
sociale, 1894). — J, Choral, Vn mot sur la
decentralisation de V Industrie dans les cam-
pagnes (ib.). — E, de Levasseur, Le siceating
System (Bev. d'Scon. pol. 1896). — Ueber
Kategorieen der Heimarbeit (Deutsche
Worte XVI, 1896, 12. Heft). ~ Maurice
Ansiaux, TVai^ail de nuit des ouvrieres de
l'industrie dans les pays etrangers (France,
Suisse, Grande-Bretagne, Autriche, AUemagnej.
Bapport presentS ä M. le ministre de l'industrie
et du Travail, BruxeUes 1898. — A, Weber,
Hausindustrielle Gesetzgebung und Sweating-
System in der Konfektionsindustrie (Schmollers
Jahrbuch, Bd. XXI, 1897). — Derselbe, Neuere
Schriften über die Konfektionsindustrie (Arch. f.
soz. Gesetzg., Bd. XV). — H. Lanibrechts,
Le travail des couturi^res en chambre et sa
reglementation , 1897. — Congres inter-
national de Legislation du Travail.
Tenu d BruxeUes du 27 au SO septembre
1897. Bapports et campte rendu analytique
des seances publies par le bureau de la com-
mission d* Organisation 1898. Die IV* qu^tion, die
dieser Kongress erörtert hat, lautete: nConvient
il de reglementer les condiUons du travail dans
la petite industrie et dans l'industrie ä domicile 1
Dans Vaffermative, quelles seraient les mesures
prati^ues d rSeommander f a Mit diesen Fragen
beschäftigte sich der Kongress in seiner ßlnft^i
Sitzung, und ausserdem lagen zu dem Gegen-
stande eine Beihe von Beferaten vor, die a. a. O.
abgedruckt sind. — H, Orätzer, Hausindustrie
und ArbeiterschfUz (Soz. Praxis VII, 1897(98).
— O. Fauquel, Essai sur le travail en
chambre considire au point de true sanitaire,
1898. — JB. lÄefmann, Ueber Wesen und
Formen des Verlags (der Hausindustrie). Ein
Beitrag zur Kenntnis der volkswirtschaftlichen
Grganisationsformen, 1899. — E, Branche,
Die Hausindustrie und ihre Begelung (Neue
Deutsche Bundschau, Dezember 1899). — A,
Skvaine, Einige Bemerkungen über das Wesen
der Hausindustrie (SchmoUers Jahrb., Bd. XXIV,
1900).
B. Einzelne Länder. I. Deutschland.
1. Im allgemeinen, a) Litteratur: John
Bowring, Berieht über den deutschen Zollver-
band an Lord Paimerston. Aus dem englischen
übersetzt von F. G. Buek, I84O. — D. Born,
Die deutsche Exportindustrie (Jahrb. f. Nat. u.
Stat. /, 1864). — -^w Geschichte der
deutschen Wollenindustrie (ebenda Bd.
VI und VII, 1866167). — GvsU SchmoUer,
Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im
19. Jahrhundert, 1870. — Derselbe, Die Ent-
itickelung und die Krisis in der deutschen
Weberei im 19. Jahrhundert, 1876. — A. Fleisch'
mann. Die selbständige deutsehe Hausindustrie
und ihr Grosshandel. Eine volkswirtschaftliche
\
1160
HausiDdustrie
Mahnung, 1879. — W. SHeda, DeitUclie Fa-
brikzustände (Preuss, Jahrb. Bd. 51, 188S), —
l}er8elbef Die Jfausindiistrie im Deutschen
Reiche (Hirths Ann. 1884 wd in Jhreuss. Jahrb.
Bd. 57, 1886). — Derselbe in dem oben unter
A angeführten Buche. — Jüudw, Elster, Die
Fabrikinspektixmsberichte und die Arbeiterschutz-
gcMtzgebung in Deutschland (Jahrb. f. Not. u.
Stat. y. F. 11, 1885). — Der Umfang der
Hausindustrie im Deutsch en Reiche
(ZeiUchr. f. Volksw., herausg, v. F. Hom, 1887,
i). — Die Frauen- und Kinderarbeit
in der Fabrik- und Hausindustrie
(Deutsche Gemeindezeitung, 1887, JVr. 27). —
Die Zukunft der Hausindustrie (Deut-
sche illustrierte Gewerbezeitung, 1887, Nr. 9;
desgleichen im nNordwestu, 1887, jSt. S8; des-
gleichen in der Deutschen Industriezeitung,
1887, Nr. U). — Karl Stratiss, Die Hatts-
industrie im Deutschen Reiche (Jahrb. f. Not.
u. SUU. N. F. 14, 1887). — Jlf. Schoene, Die
moderne Entxcickelung des Schuhmacher geioerbes,
1886. — Bruno Schoenlanh, 2kir Lage der
in der Wäscfiefabn'kation und der Konfektuyns-
branche Deutschlands beschäftigten Arbeilerinnen
(»Neue Zeitu VI, 1888, S, 116—188). — P.
KoUtnann, Die Verbreitung und Lage der
deutschen Hausindustrie (Deutsches Wochenbl.,
1888, Nr. 82, SS). — K. Franekenstetn, Die
Lage der Arbeiterinnen in den deutschen GrosS'
Städten (Jahrb. f. Ges. und Veru\, XII, 1888).
— Dietrichj Die Gewerbthätigkeit des weibl.
Geschlechts in den deutschen Chrossstädlen (y^Di^
Frau im gemeinnützigen Lebenn, III, 1888). —
P. KampffmeyeTf Die Hausindustrie in
Deutschland, ihre Entio^ickelung , ihre Zustände
und ihre Reform, 1889. — W. Sonibart a. a. O.
(s. unter A). — Herrn. Gebhard, Die In-
valid itäts- und Altersversicherung der Hausge-
werbetreibenden der Tabakfabrihation, 189h —
M. Quarckf Zur Fntwickelung der Haus-
industrie in Deutschland (Sozialpolitisches Cen-
tralblaU, Bd. I, 189g). — Untersuchungen
über die Lage des Handwerks inDeutsch-
land mit besonderer Rücksicht auf seine Kon-
kurrenzfähigkeit gegenüber der Gross Industrie
(Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 62
— 70, 1895 ff.; soll citiert werden mit U. I., II
etc.). — Joh, Ttmnif Bestrebungen der deut-
schen Schilder zur Herstellung von Betriebs-
werkstätten (Soziale Praxis, Bd. V, 1895J96). —
Derselbe f Das »Swea^lingsystem,» in der deut-
schen Konfektionsindustrie, 1895. — Derselbe,
Die Konfektionsindustrie und ihre Arbeiter, 1897.
— Derselbe, Neuere Untersuchungen über die
Lage der deutschen Konfektionsarbeiter (nNeue
Zeitii XVII, 1, 1898199). — Helene Lange,
Die Lage der Arbeiterinnen in der Wcische- und
Konfektionsindustrie (vtDie Fraun, III. Jahrg.,
1895196). — Dieselbe, Die Frau in der
Konfektion (ebenda IL Jahrg). — (J, t,) Gegen das
Sweatingsystem in der deutschen Konfektions-
industrie {Sozialdemokrat vom 6. VI. 1895). —
J8. Heymann, Dis Lohnbewegung in der Kon-
fektionsindustrie (nNeue ZeüvL XIV, 1, 1895 96). —
£, Hirschberg, Die Verbesserung der Lage
der Konfektionsarbeit^r auf genossenschaftlichem
Wege (Soziale Praxis, Bd. V, 1895\96). — Oda
Olberg, Das Elend in der Hausindustrie der
Konfektion, 1896. — Das Arbeiter elend in
der Konfektionsindustrie vor dem Deutschen
Reichstage (Sien. Ber. über die Verhandl. vom
12. II. 1896), 1896. — F, Mehring, Der Lokn-
kampf in der Konfektionsindnslrie (nNeue Zeita
XIV, 1). — Ad, Braun, Die nächsten Auf-
gahen der Reichskommission für Arbeiterstatistik
(Soziale Praxis 1896, Nr. 28). — O, Weigert,
Die Krankenversicherung in der Hausindustrie
(Soziale Praxis, Bd. VI, 1896197). — Derselbe,
Die obligatorische Krankenversicherung der Haus-
industriellen (Schmollers Jahrbuch, Bd. XXIII,
1899). — JP, Blankenstein, Die Ausdehnung
der Krankenversieherung auf die Ha^uindustrie
(Anh. f. soz. Gesetzg., Bd. X, 1897). — Jf. von
Schulz, Die Stellung der Heimarbeiter im deut-
schen dewerberecht (ebenda), — A, Weber, Das
Sweatingsystem in der Konfektion und die Vor-
schläge der Kommission für ArbeiterstatisUk
(ebenda). — Derselbe, Der Arbeüerschutz in der
Konfektion und verwandten Gewerben (Soziale
Praxis VIII, 189899. Nr. 26). — Det-selbe. Be-
schränkung der Heimarbeit in der Konfektions-
industrie (ebenda Nr. 27). — JB. Seh\riedland, Die
Regelung der Heimarbeit und Graf von Posii-
dowski (Soziale Praxis, Bd. VII, 'l897j98). —
Dodd, Die Wirkung der Schutzbestiwtmungea
für die jugendlichen U7id weibliehen Fabrik-
arbeiter und die Verhältnisse im Konfektions-
betriebe in Deutschland, 1898, — G. Dyhren»
furth. Die gesetzliche Behandlung der Konfek-
tionsindustrie (nDie Zukunfiiif 22. IV. 1899). —
JP. Zahn, Die deutsche Spielwarenindustrie
(Jahrbücher f Nat-Oek., III. F., Bd. XVII,
1899). — E, Jaff^, Die gesetzliche Regelung
der Cigarrenhatts Industrie (Soziale Praxis VIII,
S6, 8. VI. 1899). — Derselbe, Hausindustrie und
Fabrikbetrieb in der deutschen Cigarrenfahrikation
(Sehr, des Ver. f. Soziale Praxis, Bd. 86, 1899).
— P. Voigt, Die deutsche Mobelfabt-iJxUion
(Sehr, des Ver. f. Sozialep., Bd. 87, 1899). — R
Fra/ncke, Die deutsche Schuhmacherei, (ebenda).
— Viel Material ßndet sich auch in den zahl-
losen Fachzeitschriften, unter tlenen der
üKonfektionära sich durch Reichhaltigkeit
auszeichnet,
b) Amtliche Publikationen. Ergeb-
nisse der Berufs- und Gewerbestatis-
tik vom 5. VI. 1882 in der Statistik des Deut-
schen Reichs, N. F., Bd. ^, 6, 7. — Ergeb-
nisse der von den Bundesregierungen ange-
stellten Ermittelungen über die Ijohnverhdltnisse
der Arbeiterinnen in der Wäschefabrikation und
der Konfektionsbranche sowie über den Verkauf
oder die Lieferung von Arbeitsmaterial seitens
der Arbeitgeber an die Arbeiterinnen und iiber
die Höhe der dabei berechneten Preise. Ikm
Reichstage am 29. IV, 1887 vorgelegL — Er-
gebnisse der Berufs- und Gewerbe-
Zählung vom I4. VI. 1896 in folgenden Bän-
den der Reichsstatistik publiziert: Haupter-
gebnisse der Bervfszählung vom I4. VI. 1895.
Ergänzungsheft zu (Vierteljahrs-) Heft III, 1896. —
Hauptergebnisse der gewerblichen Betnebs-
zählung vom I4. VI. 1895: Ergänzungsheß zu
(Vierteljahrs-) Heß I, 1898. — Die Ergeb-
nisse der Statistik selbst ßUien Statistik des
Deutschen Reichs, N. F., Bd. 102 ß. -— Für die
Hwcsindustrie in Betracht kommen: Bd. lOi,
108 (Berujsstatistik für das Reich im ganzen);
Bd. 113 (Gewerbestatistik für das Reich im.
ganzen) ; Bd. 115 (Cfew.-Stat, der Bundesstaaten) ;
Bd. 116 (desgl. der Grossstädte) ; Bd. 119 (Zu
Hausindnstrie *
llGl
sammenf aasende Darstellung der Geiv.- Statistik).
— Amtliche Mitteilungen aus den
Ja hreshe richten der mit Beaufsich-
tigung der Fabriken betrauten Be-
amten, 1879 ff. — Drucksachen der Kom-
mission für Arbeiterstatistik, A. Ver-
handlungen: Nr, 9: Protokoll über die
Verhandlungen vom 13. und 14- Hl" 1S96. —
-Vr. 10: Protokoll über die Verbandlungen
vom 14. — 17, und 20, — 21. IV, 1896 und die
Vemehtnung von Atiskunftspersonen über die
Verhältnisse in der Kleiderkonfektion. — Nr, 11 :
Protokoll über die Verhandlungen vom 28. —
SO. IV. 1896 und die Vernehmung von Aus-
kunftspcrsonen über die Verhältnisse in der
Wäschekonfektion. — Nr, 11 (Nachtrag): Proto-
koll über die Verhandlungen vom 2. Juli 1896
und die Vernehmung von Auskunftspersonen
über die Verhältnisse in der Kleider- und Wäsche-
konfektum. — Nr. 12: Protokoll über die
Verhandlungen vom 9. und 11. I. 1897. — Nr. 13:
Bericht über die Erhebung betreffend die Ar-
beitsverhältnisse in der Kleider- und Wäsche-
konfektion. — B. Erhebungen: Nr. 10: Zu-
sammenstellung der Ergebnisse der Er-
mitteUmgen über die Arbeitsverhältnisse in der
Kleider- und Wäschekonjektion, 1896.
2. Königreich Preussen. a) Im all-
g e meinen. G. A. H. Baron van Laniotte,
Abhandlung von den Spinnschulen (in J. Beck-
inanns Beiträgen zur Oekononiie etc., XII. Teil.
1791). — Acta borussica etc., herausge-
geben von der k. Akademie der Wissenschaften,
Die einzelnen Gebiete der Verwaltujfig : Die
preussische Ücidenindustrie im 18. Jh. und ihre
Begiründung durch Friedrich IL, S Bde., 1892.
— O, Sehtnoller, Die preussische JSeiden-
industrie im 18. Jh. und ihre Begründung durch
Friedrich II, S,-A. aus der Beilage zur n All-
gemeinen Zeitung fi Nr. 117 und 120 vom 19. und
23. V. 1892, 1892. — O. Hlntze, Die preus-
sische Seidenindu^trie im 18. Jh. (Jahrbuch für
Gesetzg. etc., herausgegeben von G. Schmollcr,
Bd. XVIII, 1893).
b) Einzelne Gebietsteile Preussens.
Berlin. Die 20jähHgc Arbe i ter innen -
beicegung Berlins und ihr Ergebnis; beleuch-
tet von einer Arbeiterin (A. Berger), 1889. —
V, Stülpwigel, Ueber Hausindustrie in Berlin
und den nächstgelegenen Kreisen (Sehr. d. V.
f. Sozialp., Bd. 42, 1890). — B, Hey mann,
Die Berliner Damenmäntelkonfektion (Neue Zeil
XII, 2, 1893194). — Joh, Timm, Soziale Bilder
aus der Berliner Konfektion (Soziale Praxis,
Bd. IV, 1894195). — nerselbe. Die Arbeiter-
forderungen in der Berliner Konfektionsindustrie
'(ib. Bd. V, 1896196). — O. Weigert, Die Er-
hebungen des Berliner Einigungsamts in der
Herren- und Knabenkonfektion (Ausserordentliche
Beilage zur Sozialen I^raxis, V. Jahrg., 1895196,
Nr. 29). — H. Orandke, Die Entstehung der
Berliner Wäscheindustrie im 19. Jh. (Schmollers
Jahrb. XX, 1896). — Une greve dans
VinduMtHe de la confection, Berlin 1896 (Musee
social. Serie A. Circ. 10, 1896). — von
Schulz, Schiedsspruch des Gewerbegerichts Ber-
lin im allgemeinen Ausstand der Berliner
Herren- und Knabenkonfektionsindustrie („Ge-
werbegerichtn. Ausserordentliche Beilage zu Nr. 6
1896). — Die Arbeiterbewegung in der
Konfektionsindustrie und die öffentliche Meinung
()) Ethische Ktdturn, IV. Jahrg. Nr. 7), — «J.
Feig, Hausgetcerbe und Fabrikbetrieb in der
Berliner Wä^cheindustrie (Staats- und sozial-
u^issenschaßliche Forschungen, herausgegeben
von G. Schmoller, XIV, 2, 1896). — Gertr»
jyyhrenfurth, Die hausindustrieUen Arbeit^"
rinnen in der Berliner Blusen-, Unteri'ock- ,
Schürzen- und Trikotfabrikation (ebenda XV, 4,
1898). — P. Voigt, Das TiscUergewerbe in
Berlin (U IV). — Derselbe, Die hausindus-
triellen Arbeiterinnen t?i der Berliner Blusen-
etc. Konfektion (Soziale Praxis, Bd. VII, 1897l98j.
— L, Brentano, Ein klassisches Gebiet der
Arbeitswilligen (Berliner Konfektion), Beilage
zur Münchener Aligem. Zeitung 1899. — P.
Hirsehfeld, Berliner Crrossindustrie, Bd. II,
1899. Enthält die Bekleidungsindustrie. —
Georg Neuhaus, Das Zwischenmeistersystem
in der Berliner HolzbearbeUungsindustrie (Soziale
Praxis VIII, 45), — Die Hausindustrie
der Frauen in Berlin (verschiedene Ver-
fasser), Bd. 85 der Sehr, des Ver. f. Soziale
Praxis, 1899. — O. Wiedfeldt, Statistische
Studien zur Entwickelungsgeschichte der Berliner
Industrie von 1720 — 1890 (Schmollers Forschungen
XVI, 2, 1898).
Provinz Brandenburg: Q, ^tLaier^
Konfektion und Schneidergewerbe in Prenzlau
(C. IV).
Pr ovinz Schleswig- Ho Is tein : S.
Heckscher, Das Schuhmachergewerbe in Altana,
Barmstädt, Elmshorn und Preetz (U. 1).
Pr 0 V inz Pommern: P. Steinberg, Das
Schneidergewerbe in Dramburg (U. IV.) — B,
Aebert, Die Schuhmacherei in Loilz (V. L).
Prov i n z We stpreussen: A, Oot-
tscliewski, Die Schneiderei in Löbau (V, IV).
Provinz Posen: K* Hanypke, Das
Tischlergewerbe in Posen (U. I).
Provinz Schlesien: O.A. H. Barmt von
Lamotte, Abhandlung von den Spinnsohulen (in
J. Beckmanns Bey trägen zur Oekonomie etc.,
T. XII, 1791, S. 190—294). — Staatsrat K^inth,
Bericht über Schlesien vom 8. XII. 1818. Im Au^-
zug abgedruckt in F. u. P. GoldschnUdt, Das
Leben des StaatsraU Kunth, 1881, S. 246—270.
— Ueber den schlesischen Leinwand-
handel und die gegenwärtige Not der Weber,
1827. — Treumund WeVp, Ueber den Ein-
fluss der Fabriken und Manufakturen in Schle-
sien. I. Brief: Die Gebirgsdistrikte, 1843. —
H, Jahn, Beleuchtung der Schrift n Ueber den
Einfluss der Fabriken und Manufakturen in
Schle^iems, I844. — H, l>ürrwald. Der Baum-
wollweber am Eulenberge, 1844' — -^^^ Schneer^
Ueber die Not der Leinenarbeiter in Schlesien
und die Mittel, ihr abzuhelfen, 1844' — ^' ^*
Kries, Ueber die Verhältnisse der Spinner und
Weber in Schlesien und die Thätigkeit der Ver-
eine zu ihrer Unterstützung, I840. — Bericht
des Breslauer Vereins zur Abhilfe der Not unter
den Spinnern und Webern in Schlesien, 1847.
— AI, von Minutoii, Die Lage der Weber und
Spinner im schles^ischen Gebirge und die Mass-
regeln der preussischen Staatsregierung zur
Besserung ihrer Lage, 18 öl. — Ueber die
Lage der Weberbevölkerung in Schles-i^n (Zeit-
schrift des preuss. stal. Bureaus, 1864)- —
tfacobi, Die Arbeitslöhne in Xiederschlesien
(Zeitschr. des preuss. atatisi. Bureaus, 1868). —
A, Zinimermann, Blüte und VerfaU des
1162
Hausindustrie
Leinengewerbes in Schlesien, 1885. — GmmI,
Lange, Die Glasindustrie im Hirsckberger Thal,
1889. — Derselbe, Die Hausindustrie Schlesiens
(Sehr, des Vereins für Sozialp., Bd. 42, 1890).
— Das Weber elend in Schlesien (Preus-
eische Jahrb., Bd. 67, 1891). — Georg Gothein,
Die Lage der Handweber im Eulengebirge
(nArbeiierfreundtt, 29. Jahrg., 1891). — K.
Stegemann, Untersuchungen über die Lage der
Kutscher Weberei und Gutachten betreffend die
Errichtung einer Lehncerkstätte ßir dieselbe,
1891. — Derselbe, Die Kleinindustrie der
Stadt Kieferstädt^l. Eine Monographie etc.,
1892. — Derselbe, Untersuchungen über die
Lage der hausindustriellen Korbmacherei in
Oberschlesien, 1892. — Gerh. Hauptmann,
De Waver, Schauspiel aus den vierziger Jahren,
1892. — H, Pechner, Die schlesische Glas-
industrie unter Friedrich d. Gr. und seinen
Nachfolgern bis 1806 (Zeitschr. d. Vcr. f. Gesch.
u. Altert. Schiebens, Bd. XXVI, 1892, S. 74—
ISO). — W, Sombartf Zur Lage der schle-
sischen Hausweber {Sozialp. Centralbl., L Jahrg.,
1892, Nr. 14). — Derselbe, Statistik der Haus-
weberei im schUsischen Eulengebirge (ebenda). —
Derselbe, Hausweberproblem und nUeber den
grund herrlichen Charakter des hausindustriellen
Leinengeicerbes in Schlesiena (Jahrb. f. Not,
u. Stat., ULF., Bd. VI, 189S). — Zusammen-
stellung (Statistische) der im Bezirk der
n.K, Schweidniiz vorhandenen Handweber.
Periodische Veröffentlichung der H.K. Schweidniiz.
— dir, Meyer, Die schlesische Leinenindustrie
und ihr Notstand (Vierteljahrsschrifl für Volks-
icirtschaft etc., Jahrg. XXIX, 1893, Bd. III).
— C. Ctrünhagen, Der Anlass des Landes-
huter Webertumults am 2S. III. 1793 (Zeitschr.
des Ver. f. Geschichte und Altertum Schlesiens,
XXVII. Bd., 1893). — Derselbe, Ueber den
angeblich grundherrlichen Charakter des haus-
industriellen Leinengewerbes in Schlesien (Zeit-
schrift ßir Sozial^ und Wirtschaftsgeschichte,
Bd. II, 1894). — -I" Brentano, Ueber den
grundherrlichen Charakter des hausindustriellen
Leinengewerbes in Schlesien (Zeitschr. f. Sozial^
und Wirtschaftsgeschichte, Bd. I, 1893). — Der-
selbe, Ueber den Einfluss der Grundherrlieh-
keit und Friedrichs d. Chr. auf das schlesische
Leinengewerbe. Eine Antwort an meine Kollegen
Grünhagen und Sombart in Breslau (ebenda
Bd. II, 1894). — M, Kriele, Statistik der Hand-
weber in Schlesien (Soz. Praxis, Bd. V, 1895J96).
— -4. Winter, Das Schneidergeiverbe in Berlin
(U. VII). — A, OlUcksmann, Die Haus-
weberei im schlesischen Eulengebirge (Sehr, des
Ver. für Sozialp., Bd. 84, 1899). — A,
Irmer, Das MagcLzinsystem in der Bresletuer
Möbeltischlerei, ebenda.
Provinzen Rheinland- Westfalen und
Hannover. J, Beckmann, Berechnung des
wöchentlichen Verdienstes der Kaufleinenweber
in der Gegend um Göttingen nach den Preisen
des Garns und Leinens im Herbst 1778 (in seinen
Bey trägen zur Oekonamie etc., Teil /, 1779).
— Atl, von Daniels, Vollständige Beschreibung
der Schwert-, Messer- und übrigen Stahlfabri-
kation zu Solingen im Herzogt. Berg, 1808. —
Staatsrat Kunth, Bericht über die Regierwngs-
Departem. von Trier, Koblenz, Köln, Aachen
und Düsseldorf r. 1£. X. 1816. Abgedruckt in
F, und P, Goi€Uchniidt, Das Leben des
Staatsrats Kunth, 1881, S. 181-— £46. — Georg
Frhr, von Hauer, Statistische Darstellung
des Kreises Solingen, 183S. — G. L», W. Funke,
Ueber die gegenwärtige Lage der Heuerlettte im
Fstt. Osnabrück, I847. — T. C. Banfteld,
Industry of the Rhine. Series I AgrieuÜurc.
Ser. II Manufacture, 184^148. — Das geseg-
nete Wupperthal im Gesellschaftsspiegel,
Bd. I, 1846. Dort auch noch mancher anderr
Hinweis auf hausindustrielle Zustände. — Z«.
W. H, JacoM, Das Berg-, Hütten- und Gt-
werbewesen des Reg.-Bez. Arensberg in statis-
tischer Darstellung, 1856 (Preuss. Geicerbestat.
Bd. 7). — Otto von Mülmann, Statistik des
Reg.-Bez. Düsseldorf, Bd. II, 2, 1865 (Prevsa.
Gewerbestat., Bd, III). — Der Verfall der
Industrie der Seiden- und Halbseidenstoffe im
Wupperthal und deren mögliche Wiederbelebfntg
durch Einführung den Kommissionssystems, 1867.
G, V, Hirschfeld (nKonkcrdian 1874, 1875).
— Alt9h€m8 Thun, Die Industrie am Sieder-
rhein und ihre Arbeiter, 2 Bde., 1879. — de
Vries und Focken, Ostfri4.slnnd, Land und
Volk in Wort und Bild, 1881. — Die Hans-
industrie des Bezirks der Handelskanwier
Osnabrück in 'der Erzeugung ton Cigarren-
fabrikaten (Sehr, d, Ver. f. Sozialp., Bd. 4^*
1890). — Die Hausindustrie des Bezirks
der Handelskammer Osnabrück in der Er-
zeugung von Leinen-, Woü- und BaumvoU-
waren (ebenda). — Ä. Stegemann, Studien
auf dem Gebiete der bergischen Klein- und
Ha-usindustrie [Zeitschr^ für Handel und
Oewerbf, Jahrg. IV, 1891, Nr. 5 ff). — F, von
Schönebeck^ Die Schreinerei in Köln (C I),
— H, Reese, Die historische Entwickelung der
Leinenindustrie Bielefelds (Hansische Geschichts-
blätter, XXIII, 1896). — Antrag auf reichs-
gesetzliche Regelung der Hausarbeit in der Ci-
garrenindustrie (H. K. Minden 1899), — Helene
Simon, Die Bandwirkerei in und um Schwelm
(Soziale Praxis, VIIL Jahrg., Nr. 82, SS). — W.
Hohn, Hausindustrie und Heimarbeü in den
Begierungsbezirken Koblenz und Trier (Sehr, d.
Ver, f. Sozialp,, Bd. 86, 1899), — F.
tfaff^. Die westdeutsche Konfektionsindustrie
(ebenda), — E, Kieseritzky, Die Formen der
Hausindustrie in Köln (ebenda).
Fürstentum Birkenfeld: J'ac* Nögge-
rath. Die Achatindustrie im Ii\irstentum Birken-
feld {ü Auslands, Bd, 40, 1868), — Derselbe^
Geschichte und Rechtsverhältnisse der Achat-
industrie (Brasserts Zeitschrift für Bergrecht,
Bd, XV, Heft g), — G. A. Nöggerath, Die
AchaUndustris im oldenburgischen Fürstentum
Birkenfeld, 1877, — Die Achatindustrif
in Oberstein (in Gartenlauben, 1889, Ar. IS).
— X». Th, Hisserich, Hausindustrie im Ge-*
biete der Schmuck- und Ziersteinverarbeiiung,
die Idar-Obersteiner Industrie, 1894-
S. Hessische Lande. L. Wilketui, Die
Erweiterung und Vervollkommnung des deulsehen
Gewerbebetriebs, ein Mittel zur Herstellung des
richtigen Verhältnisses zwischen Bevölkerung und
deren Bedürfnissen mit besonderer RüeksicJU auf
das Chrossherzogtum Hessen, 1847, — Jjouise
Büchner, Ueber Verkaufs- und Vermittelungs-
stellen ßir weibliche Handarbeit, insbes. den
Darmstädter Alice-Basar, 187S, — Schnapper^
Arndt, 'Fiinf Dorfgemeinden auf dem Hohen
Taunus, 188S, — L, W, Moser, MiUeiluwien
Haiisiadustrie
1163
über Hausindustrie im HandeUkammerbezirke
Diirynst4xdt (Sehr, d, Ver. f. JSoziitlp., Bd. 4I,
1889). — SchlosaniacheTf Die Hausindustrie
im HandeUkammerbezirke Offenbach a.M. (ebenda).
— Zur Lage der Arbeiter im Sehneider- und
Schuhmachergewerbe in J^Vankfurt a. M. (Sehr,
des Freien deutschen Hochstifts VIII). — W,
FuchSy Die Hausindustrie und verwandte Unter-
nehinungs/ormen auf dem Taunus (Sehr. d. Ver.
f. Sozialp., Bd. 84, 1899).
4. Thüringen. J, l^ecIcnuMinj Von Ver-
fertigung der Feilen, der Riedte, der Orthe und
Ahlen in Schmalkaldcn (in seinen Beitränen zur
Oekonomie etc., Teil X, 1786). — «7. C QiianZf
Besehreibung einiger Schmalkaldener Stahl- und
Eisenwaren (ebenda Teil XII, 1791). — Ver^
selbe. Technologische Bemerkungen auf einer
Reine nach Mehlis, St. Blasii Zelle, Suhl und
Heinrichs ebenda). — JBr, Hildehrandf Die
Wolle nindustrie Apoldas (Jahrb. f. Nat. u. Stat.,
Bd. II, 1864). — Kronfeld, Geschichte und
Beschreibung der Fabrik- und Handelsstadt
Apolda und deren nächster Umgebung, 1868. —
G e werbe, Industrie und Handel des Meininger
Oberlandes in ihrer historischen Entw^ickelung,
1876 ff. — Ad, Fleischtnantif Die Entstehung
der Spieltcarenindustri^ in Sonneberg nach dem
SO jährigen Kriege, 1877. — AI. Ziegler, Ge-
schichte des Meerschaums, mit besonderer Berück-
sichtigung der betreffenden Industrie zu Ruhla
in Thür., 1878, S. Aufl. 188S, — Eman, Soae,
Die Hausindustrie in Thüringen, 8 Bde., 1882
— 1888. — Ad, Fleisehnnanfif Die Sonneberger
Spiel irarenhausindustrie und ihr Handel, 1888.
— Derselbe, Die Arbeiteragitatoren des Katheder-
sotialismus und die Sonneherger Spielwaren-
industrie und ihr Handel, 1884' — Freiwdld
Thüringer f Komm.-Rai Ad. Fleit^chmann als
yationalökonom und die Thüringer Haiis-
industrie, 1888. — Bnino Schönlank, Die
Hausindustrie im Kreise Sonneberg, 1884- —
M, Quarck, Die Thüringer Hausindustrie
(»yeue Zeitn, III, 1885, S. 351). — Kuno
Frankenstein, Bevölkerung und Hausindustrie
im Kreise Schmalkalden seit Anfang dieses Jahr-
hunderts, 1887. — Karl Bücher, Von den
Produktionsstätten des Weihnachtsmarktes, Vor-
trag, 1887. — Herrn. Lehmann, Die Woll-
phautasiewarenind^istrie im nordöstl. Thüringen
(Sehr. d. V. f. Sozialp., Bd. 40, 1889). — M,
Gau, Die Hausindustrie im Eisenacher Ober-
land des Gross her zogtums Sachsen (ebenda). —
M. Netibert, Die Hausindustrie in den Reg.-
Bezirken Erfurt und Merseburg (ebenda). — Schil-
derung der Glasindustrie und Spiel-
jca renindustrie im nDaheim « 189S. — = C,
F, Schöptz, Spielwarenindustrie im Gewerk-
verein vom 5. VIII. 1898. — «7. Pierstarff,
Das Schneidergewerbe in Jena. — Derselbe,
Die Schuhmacherei in Jena (U. IX), — O.
Stillich, Die Spieltparenhausindttstrie des Mei-
ninger Oberlandes, 1899. — P, Ehrenberg,
Die Spielwarenindustrie des Kreises Sonnenberg
(Sehr. d. Ver. f. Sozialp., Bd. 86, 1899).
5. Kfi nigreich Sachsen. Die zur Linde-
runff der Gebürgischen Armut getroffenen Ver-
anstaltungen, 1772. — Chr, L, Ziegler,
Nachricht von Verfertig^ing der Spitzen im Erz-
geb^irge (in Beckmanns Beiträgen zur Oeko-
nomie etc., Teil I, 1779). — Fr,' Chr, G,
Hnsper, Oeffentliche Anzeigen, die Xot des
oberen Erzgebirges in den Jahren I8O4 — 1806 etc.
betreffend, o. J. — Darstellung der alldem.
Hilfsanstalten im erzgebirgischen Kreise des
Königreichs Sachsen während des Notstandes in
den Jahren 1816 — 1817, o. J. — Kretschmar,
Chemnitz, wie es war und wie es ist, 1822. —
F, E, Wieck, Industrielle Zustände Sachsens,
I84O. — Ein Bild f'dr das Niederland von
dem ösüiehen Obererzgebirge, seinen jetzigen Zu-
ständen, die Ursachen seines Verfalles etc., 1850.
— Heinrich Bodeiner, Die Abhilfe des Not-
standes im Erzgebirge, 1855. — Derselbe, Die
indttstrielle Revolution, mit besonderer Berück-
sichtigung der erzgebirgischen Erwerbsverhält-
nisse, 1866. — E, V, Wietersheini, Ueber
Quellen und Weseii des Notstandes im Obererz-
gebirge und Voigtlande, 1857. — Berth, Siegis^
ntund., Lebensbilder vom sächsischen Erzgebirge,
1859. — Friedr. Aug, Schneider, Di^ Spitzen-
fabrikation im sächsischen Erzgebirge, 1860. —
Elfried von Taura, Wanderung durchs Erz-
gebirge, 1860. — Ph, P. Mischler, Zur Abhilfe
des Notstandes im Erz- und Riesengebirge, 1862. —
Mehnert und Gen., Fragebogen etc. zur Samm-
lung von Material bez. des Notstandes im snch-
sichen Obererzgebirge, 1868. — Michaelis,
Ueber den Einüuss einiger Getcerbeziceige auf
den Gesundheitszustand, 1866. — Jul. Schmidt,
Geschichte der Serpeniitiindustrie zu Zöblittz im
sächsischen Erzgebirge, 1868. — Ed, ToMsch,
Industrielle Watiderungen im Erzgebirge, I874.
— Ad, Held, Reisebriefe (nKonko^rdma, 1874).
— Barthold und Fürstenau, Die Fabrikation
musikalischer Instrumente und einzelner Bestand-
teile derselben im königl. sächs, Voigtlunde, 1876.
— Ang, Bebet, Wie unsere Weber leben, 2.
Aufl., 1880. — Kommission sbericht, die
Verhältnisse in der Handweberei betreffend, 1880,
— Der Notstand der sächsischen Weber-
bevölkerung vor dem sächsischen Landtage, 1880.
— Bericht der zur Untersuchung der Lage
der Glauchau-Meeraner Webwarenindustrie unterm
Monat Mai 1881 zusammengetretenen Enquete-
kommission (abgedruckt im JahresbericfU der
Handels- und Gewerbekammer Chemnitz, 1882).
— Ueber die Muschelindustrie im
Voigtlande (Berl. AUg. Gewerbeztg., 1888).
— iv, SHeda, Aus dem Gebiete der Ha%is-
industrie (Jahrb. f. Ges. u. Verw., VII, 1888).
— Eman, Sax, Zur Litteratur der Haus-
industrie (Jahrb. f. Nat. u. Stat., N. F. IX,
1884). — Louis Bein, Die Industrie des
sächsischen Voigtlandes, ^. Bde., I884. — Jlf.
Quarclc, Die Musikinstrumentenindustrie des
sächsischen Voigtlandes (nNeue Zeitn II, I884,
S. 866). — Schlleben, Untersuchungen iibei'
das Einkommen und die Lebenshaltuna der
Handweber im Bezirk der Amts hauptmannschaft
Zittau am 1. I. 1880 und im Jahre 1886 (Zeit-
schrift des Sachs, stat. Bureaus, 1885). — Ue ber
die Hausindustrieschulen der sächsischen
Schweiz (Säcfu. Wochenbl. f. Verw. und Polizei,
1887). — H, Goldstetn, Die Musikinstrumenten -
industrie in Sachsen und Böhmen )^Sozialdemo-
kratu, es. V. 1895). — H, Gebauer, Di€ Spiel-
warenindustrie des Erzgebirges in der Samm-
lung gemeinverständlicher, wissenschaftlicher
Aufsätze über das Erzgebirge, 1889. — AcL
Lehr, Die Hausindustrie in der Stadt Leipzig
und Umgebung (Sehr. d. V. f. Sozialp., Bd. 4^»
1891). — Karl von Beehenberg, Die Er-
1164
Hausindustrie
nähning der Handiceher in der AmUhaupt-
mannschaß Zittattj 1891. — Joh, Corvey, Aiu
dem sächsischen Erzgebirge (^iArbeiter/reundtt,
XXIX, Jahrg., 1891, 8. S6S). — E. Siegel,
Zur Geschichte des Posamentiergewerbes mit be-
sonderer Rücksichtnahme axtj die erzgebirgische
Posamentenindustrie, 1892. — X. Th, Hisserich,
Die Zöblitzer Serpentinindustrie, eine frühere
Ifautindnstne (Schmollers Jahrbuch Bd. XVIII,
1894). — -E» Rosenow, Die Ilolzspielwaren-
hausindustrie im oberen Erzgebirge (Neue Zeit
XVII, 1, 1898199, S. 548 ff.). — N. Geissen-
berger, Die Schuhmacherei in Leipzig (U. II).
6. Baden (Schwartwald): Jä<sh, Try-
berg, Versuch einer Geschichte der Industrie
und des Handels auf dem Schwarzwald, 1826.
— Ackermann, Ueber Bärstenindustrie (Fah-
nenbergs Magazin für Handel etc. VI). — Atig»
Meitzen, Ueber die Chrenindustrie des Schwarz-
waldes (Diss. »De artißcibus iisdemque agri^olisu,
1848), — Momhach, Todtnau. (Bürstenbinderei),
1855. — J, B, Trenkle, Geschichte der Schwarz-
wälder Industrie von ihrer frühesten Zeit bis
auf unsere Tage, 1874- — Einführung von
Jdusteruhren in der Schwarzwälder Industrie.
Im Auftrage des Ministeriums des Innern, 1879.
— F, Ant, Huhbuch, Vorschlag zur Hebung
der Hausindustrie des Schwarzwaldes, 1888. —
]}erselhe, Die Uhrenindustrie des Schwarz-
waldes (Sehr. d. V. f. Sozialp., Bd. 41, 1889).
— Muth, Die häusliche Bürstenfabrikation im
badischen Schwarzwald (ebenda). — Schott, Die
Hidzschnitzerei im Schwarzwalde (ebenda). —
F. Böhtnert, Die Uhrenindustrie des Schwarz-
waldes (nArbeUerfreundn, 1889). — Eberh,
Qotheln, Iforzheims Vergangenheit. Ein Bei-
trag zur deutschen Städte- und Gfwerbegeschichte,
1889. — Wi rtsch aft sgeschichte des Schwarz-
waldes und der angrenzenden Landschaften. Im
Auftrage der badischen historischen Kommission
bearbeitet von demselben^ Bd. I, 189£. — JF.
Jllckert, Das Schreinergewerbe in Freiburg
(U. VIII). — E, Lehmann^ Weberei, Färberei
und Hutmacherei im Gebiet der Gutacher Tracht
(U. VIII). — A. Buer, Die Kartonageindus-
trie zu Lahr i. B. mit bes. Berücksichtigung der
Heimarbeit (Schrift d. Ver. f. Sozialp., Bd.
84, 1899). — H, Soth, Die Uhrenindustrie im
badischen Schwarzwald (ebenda). — H. Bem-~
heim, Die Hausindustrie des südlichen Schwarz-
walds (ebenda).
7. Bayern: Beeg , Das MetallschUlger-
grwerbe mit Bezug auf die Londoner Weltaus-
stellung 1851 (Fürther Gewerbeztg. 1856). —
Bavaria, Landes- und Volkskunde des König-
reichs Bayern, rf Bde., 1864 — 1865. — J,
Kerschettsteiner, Die Fürther Indtistrie in
ihrem Einfluss auf die Arbeiter, 1874' — ^«
Schanz, Zur Geschichte der Kolonisation und
Industrie in Franken, I884. — M. Segitz, Lohn-
und Arbeitsverhältnisse der Metallarbeiter Fürths
(Deutsche Metallarbeiterztg. 1885). — Max v.
Amiansperg, Das Berchtesgadener Holzhand-
werk als Ilattsindustrie (Sehr. d. V. f. Sozialp.,
Bd. 41, 1889). — C. Neuhurg, Die Hausindus-
trie des Bezirksamts Gar misch {Oberbayem),
ebenda. — C Schlumberger, Die Hausweberei
im Fichtelgebirge (Bez. Wunsiedel-Weissenstadi),
a. a. O. Bd. 42, 1890. — FiHedr, Morgen^
Stern, Die Fürther Jfetall Schlägerei. Eine \
mitte! fränkische Hausindustrif und ihre Arbeiter, i
1890. — E, I^ancke, Die Schuhmacherei in
Bayern, 1893. — Br. Schoenlank, Soziale
Kämpfe vor SOO Jahren, 1894 (betrifft Nürnberg).
— Herxherg, Das Schneidergewerbe Münchens,
1894. — tJ. E,, Die ZiUer und ihre Herstellung
(Mittenwald), (»GartetUauben 1895, xYr. 7). —
H, Cohen, Das Schreinergewerbe in Augsburg
(U. III). — C. Neuburg, Das Schneider- und
Hutnuichergewerbe in Erlangen (ebenda). — F.
Thurneyssen, Das Münchener Schreinergewerbe,
1897. — - W, Vhlfelder, Die Zinnmalerinnen
in Nürnberg und Fürth (Sehr. d. V. f. Sozialp.,
Bd. 84, 1899).
8. Wü rttcmberg: Mor. MLohl, l 'eber die
würtiemhergische Gewerbsindustrie, 1828. —
Volz, Beiträge zur Geschichte der Leinwand-
fabrikation und des Leinwandhandels in Württem-
berg von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten
(Würitemb. Jahrb., 1854). — Dörtenbach, Mit-
teilungen über Gewerbe und Handel in Kalw,
1862. — Offizieller Katalog der württem-
bergischen Landes- und Geicerbeausstellung, 1881.
— P. JF. Stalin, Geschichte der Stadt Kalw,
1888. — W. Stieda, Die Kalwer Zetighaml-
lungskompagnie (Jahrb. f. Gesetzg., XIII, 188U).
— Eng, Nübling, Ulms BaumwoUiceberei im
Mittelalter. Urkunden und Darstellung. Ein
Beitrag zur deutschen Städte- und Wirtschaßs-
geschichte, 1890. — O. Reinhard, Die würUem-
bergische Trikotindustrie mit spezieller Berück-
sichtigung der Heimarbeit in den Bezirken Stutt-
gart und Balingen (Sehr. d. V. f. Stnialp.,
Bd. 84, 1899). — Derselbe, Die Feinmechanik
im O.A. Balingen (ebenda).
9. Elsass-Lothringen: Karl Kaerger,
Die Lage der Hausweber im Weilerthal, 188^).
— W, Schröder, Das Schreinergewerbe in
Neudorf bei Strassburg (U. III). — Ä Uef-
nuinn. Die Hausweberei im Elsass (Sehr. d. V.
f. Sozialp., Bd. 84, S. 899). — £. von
Richthofen, Die Perlenstickerei im Kreise
Saarburg in Lothritigen (Sehr. d. V. f. SozieUp.,
Bd. 86, 1899).
II. Oesterreich-Ungarn: Wandert'.
Gf*ünwald, Phisikalische Beschreibung des
Bunzlauer Kreises, 1786. — Schreyer, Ueber
kommerzielle Fobrike^i und Manufakturen des
Königreichs Böhmen, 1792. — St. von Keesz,
Darstellung des Fabriks- und Gewerbewesens in
seinem gegenwärtigen Zustande, 2. Auß., 2 Teile
und Anhang, 1824. — Keesz^BtumenbacK
Systematische Darstellung der nettesten Fort-
schritte in den Gewerben und Manufakturen,
a Bde., 1829 jSO. — - Cxömig, Topogr.-hist^-staL
Beschreibung von Beichenberg, 1829. — K. J.
Kreuzberg, Skizz. Vebersicht des gegenwärtigen
Standes und der Leistungen von Böhmens (k-
icerbs- und Fabrikindustrie, 18S6. — Schnabeif
Betraehtungcn über die Manufakturindustrie
Böhmens (Encyklop. Zeitschr. des Gewerbe-
Wesens, 1845ff.). — Bericht über die materielie
Lage der Arbeiter des böhmisch LeijMxer und
Gitschiner Kreises. Herausgegeben von der
Reichenberger Handelskammer, 18ö^. — Sian.
Neiimann, Veber die Wirksamkeit des Central-
kommitees zur Unterstützung der notleidenden
Erz- und Biesengebirgsbewohner (Jahrb, des Erz-
und Biesengebirges, ' 1857). — Th. naing,
XationalökoTwmische Briefe aus dem nordöst-
lichen Böhmen, 1856. — Derseibe, Volkswirt-
schaft und Arbeitspflege im böhmischen Erz-
Hausindustrie
1165
gebirge, 1861. — WemeVf Urkundliche Ge-
schichte dtr Iglauer Tuchmacherzunft, 1861. —
Dortnizer und Schebek, Die Erwerbsverhält-
nisse im böhmischen Erzgebirge, 1862. — P.
Misehlet'f Zur Abhilfe des Notstandes im Erz-
und Biesev gebirge, 186S. — Alex, Dom, Die
ührentnacher voti Karlstein, 1867. — HUsh,
Dotzauer und Edtn, Scheheh, Die Miuter-
werkstäiten für Spitzenfabrikation im böhmischen
Erzgebirge, 1871. — Hallwich f Rcichenberg
und Umgebung. Eine Ortsgeschichte mit spez.
Rücksicht auf gewerbl. Entwickelung, 1872. —
W. Eoener, Hatisindustrie im Böhmerwalde.
Vortrag, 1872. — Offizieller Ausstellungs-
bericht, herausgegeben durch die General-
direktion der Weltausstellung, 187 4^ — Proto-
kolle der aUgemeinen öffentlichen Enquete über
die Lage des Kleingewerben in Nieder Österreich,
1874. — Lobmeyer, Die Glasindustrie, 1874.
— tJo». J". Luke, Bericht über die Glasindus-
trie und ihre Notlage im Gablonzer Bezirke,
1876. — Edni, Scfiebekf Böhmens Glashandel
und Glasindustrie. Quellen zu ihrer Geschichte,
1878. — Hübner, Geschichte der Reichenberger
Tuchmacherzunft, 1879. — Joh, Angerer, Die
Hausindustrie im deutschen Südtirol, 1881. —
Albin Brdf, Studien über nordböhmische Ar-
beiierverhiUtnisse, 1881. — Offizieller Kata-
log der österreichisch-ungarischen Industrie und
landwirtschaftlichen Ausstellung in Triest, 1882. —
H* Nehola, Die Holz- und Spielwarenindustrie
in der Viechtau, 1882. — Ein. Scix, Zur Litte-
ratur der Hausindustrie (Jahrb. f. Nat. u, Stat.,
N. F. Bd. 9, 1884). — W, Stleda, Aus dem
Gebiete der Hausindustrie (Jahrb. f. Ges. und
Verw., Bd. VIT, 188S). — Wilh. Wiener,
Staatsarbeiter und Hausindustrie im Salzkammer-
gute (New Zeit, III, 1885, S. 22 und 74}.).
— Ungarns Hausindustrie Anfang des Jahres
1884, zusammengestellt ro7i Dr. Jos. Jekel-
falussy (Puhl. des k. ungar. Statist. Bureaus
in ungarischer Sprache). — Ad, Braun und
E. R, «/■. Kr^esi, Der Hausfteiss in Ungarn
im Jahre 1884, 1886. — Entwickelung von
Industrie und Gewerbe in Oesterreich in den
Jahren 1848 — 1888; herausgegeben von der
Kommission der Jubiläumsgewerbeausstellung,
1888. — W. Exner, Die Hausindustrie
Oesterreichs, 1890. — Derselbe, Oesterreichs
Hausindffistrie und demi Pflege. Vortrag (nHan-
delsmuseumH, Bd. V, 1890, S. 96). — E,
Schwiedland, Die Wiener PerlmutterindustiHe
und ihre Krisis, 1891. — Derselbe, Die
Entstehung der Hausindustrie mit Rücksicht auf
Oesterreich (Zeitschr. f. Volksic, Sozialp. U7id
Verwaltung, herausgegeben von Böhm, Inama
und Plener, I. Jahrg., 1892, 1. Heft). — Ber^
selbe. Eine alle Wiener Hausindustrie (ebenda
Heß 3). — Derselbe, Kleingewerbe und Haus-
industHe in Oesterreich, 2 Bde., 1894. — -Der-
selbe, Aufhebung des Sitzgesellemcesens durch
die Arbeiter (Zeitschr. f. Volksir. etc., III. Jahrg.,
1894). — Cirrn, r. Paygert, Die wirtschaft-
liche Lage des galizischen Schuhmachcrgctcerbes.
Eine Studie über Hausindustrie und Handwerk,
1891. — Derselbe, Die österreichische Ge-
werbeverfassung in Gnlizien (Jahrb. f. Ges. und
Verw., XV, 1891, S. 181—159). — E, Magner,
Di^ Hausindustrie in den österreichischen Alpen-
ländern (Zeitschr. des Alpenvereins, 1891). —
Ste nographisches Protokoll der im Ge-
werbeausschuss des Abgeordnetenhauses am 12.,
14., 15. XII. 1891 stattgehabten Expertise iU>er
die La{fe des Schuhmachergewerbes, 1892. —
H, Herlener, Die Lage des Wienei' Schuh-
ma^hergeicerbes (Deutsche Worte, herausgegeben
von E. Pernerslorfer, XII. Jahrg., 1892).
— Dr, Sophie Deiszynska, Fabrik- und
Hausarbeiterin (ebenda). — Ä Riedl, Haus-
industrie und Sitzgesellenwesen im österreichischen
Gewerberecht (ebenda Jahrg. XIII, 1898). —
Stenographisches Protokoll dei' Ge-
werbeenquete im österreichischen Abgeordneten-
hatise samt geschichtlicher Entwickelung und
Anhang (zusammengestellt von den Referenten
A. Ebenholz und E. Pernerstorf er), 1893.
— F. Bujatti, Die Geschichte der Seidenindustrie
Oesterreichs, 1898. — Stenographisches
Protokoll der durch die Geicerkschaften Wiens
einberufenen gewerblichen Enquete, 1805. —
Jos, Redlich, Das Arbeitsverhältnis im Wiener
Gewerbe (n Deutsche Worten 1895). — Bericht
über die Reform der Hausindustrie (1., 2. und
5. Referat der Gewerbesektion in den Verband -
lungen der Handels- und Gewerbekammer in
Brunn., 1896, S. 116 ff). — K. Schüller, Die
Schuhmacherei in Wien (Sehr. d. V. f. Sozial-
politik, Bd. 71, 1895). — J". Herrdegen, Das
Pfeidlergewerbe in Wien (Weisswarenindustrie)
(ebenda). — E. Adler, Die Schneiderei in Pross-
nitz (ebenda). — E, Leiter, Die Münnerklei4er-
erzeugung in Wien (ebenda). — Die Arbc itS'
und Lebensverhältnisse der Wiener Lohn-
arbeiterinnen. Ergebnisse und stenographisches
Protokoll der Enquete über Frauenarbeit, abge-
halten in Wien V07n 1. III. bis 21. IV. 1896,
1897. — 3f. von Tayenthal, Die Regelung
der Heimarbeit in Oesterreich. Bericht, erstattet
an das I. Komitee der Handels- und Gewerbe-
kammer in Reichenberg, 1897. — Derselbe,
Eine Arbeiterproduktivgenossenschaft in der
Glasindustrie Böhmens (Soziale Praxis, VIII.
Jahrg., 1898199). — St. Bauer, Die Heimarbeit
und ihre geplante Regelung in Oesterreich (Arch.
f. soz. Gesetzg., Bd. X, 1899). — Jac, Reu-
mannf Die Heimarbeit in Oesterreich. — H,
Adler, Erhebungen über die Heimarbeit in
Oesterreich (Soziale Praxis, Bd. VII, 1897\98).
— «7. Deutsch, Die Wiener Männerschneiderci
(nZukunftu, 1898, Nr. 17). — Bre^^ssler, Der
Notstand in der Glas- Kurzwarenindustrie Nord-
böhmens (Soziale Praxis, VII. Jahrg., 1897^98).
— Derselbe, Die Lage in der Besatzstein-
industrie des Isergebirges (Soziale Praxis, VIIL
Jahrg., 1898\99). — S, Schilder, Die Regelung
der Heimarbeit (nGegenwartu 21. V. 1898). —
Berichte d. k. k. Gewerbeinspektoren, nament-
lich für die Jahre 1898—1897. — G, Scheu,
Die Heimarbeit im Wiener Handschuhmacher-
gewerbe (Sehr. d. V. f. Sozialp., Bd. 86, 1899).
— A» Wilfling, Die Hausindustrie und Heim-
arbeit auf dem Gebiete der Kamm- und Fächer-
macherei in Wien (ebenda). — E, Seidler ^
Heimarbeit und Hausindustrie in Obersteter mark
(Handelskammerbezirk Leoben), (ebenda). — Ä.
Pollatschek, Das Schuhmachergewerbe in
TrebiUch (ebenda). — O. Engländer, Veber
die HausindustHe in einigen Bezirken des sud-
iistlichen Böhmen (ebenda). — B. Zuckerkandl,
Hausindustrie in der Handschuhmacherei in
Dobrisch und Umgebung (Böhmen) (ebenda). —
1166
Hausindustrie
K, Kosta, Die Heimarbeit in der Hohlglas-
industrie yordböhmens (ebenda),
III. Schweiz: Sammlung der bilrger-
liehen und Polizeigesetze und Ordnungen löbl.
Stadt und Landschaft Zürich, 1757—1759, Bd. II,
IV. — John Bowringf Bericht an das eivgl.
Parlament über den Handel, die Fabriken und
Gewerbe der Schweiz, 18S7. — M, ViUertn^f
Des ouvriers en soie et en cotan du canton
suisse de Zürich (in Tableau de VEtil physique
etc.. Vol. I, p. 41s sq.). — H, Dolder, Die
Fabrikation ron Seidenstoffen im Kanton Zürich,
1851. — J, J. Treiehler, Mitteilungen aus
den Akten der Züricher Fabrikkommission, I
und II, 1858. — Bericht des Kantojialkomitees
2kig über die dritte schweizerische Industrie- und
landwirtschaftliche Ausstellung in Bern, 1858. —
A, Eberle, Referat über die Stellung und Be-
ruf der Vrkanlone zur Industrie. Der Ver-
samndung der schweizerischen gemeinnützigen
Gesellschaft den 2S. IX. 1858 vorgelegt. — W.
Baer, Die Industrie der Schweiz, 1859. —
EmnUnghaus, Die schweizerische Volkswirt-
schaft, I. Bd., 1860. — Bachofeti' Merlan f
Kurze ■ Geschichte der Bandweberei in Basel,
1862. — Statistik der Handwebstühle im
Kanton St. Gallen (Zeitschr. f. Schweiz. Statist.,
1868). — Zur Statistik der schweizerischen
Vhrenindustrie (ebenda 1874). — Statistik
der ostschweizerischen Sliekereiindustrie im Jahre
1880, z. T. verglichen mit 1872 und 1876 (ebenda
1880). — H. Schlatter und Aug, Sttirzen^
egger, Industriestatistik der S Kantone St.
Gallon, Appenzell und Thurgau, 1881. — F.
Schuler f Schweizerische Stickereien und ihre
sanitärischen Folgen (Vierteljahrsschr. f. öffcnti.
Gesundheitspflege, Bd. XIV, 1882). — H,
Schlatter, Industriekarte der Schweiz für das
Jahr 1882, 1888. — Kinkelin, Die Bevölkerung
des Kantons Bascl-SUidt am 1. XII. 1880, I884.
— Bürkli'MeyeTf Die Züricherische Fabrik-
gesetzgebung vom Beginne des 14' Jahrhunderts
bis zur schweizerischen Umwälzung von 1708
(Beilage zum Jahresbericht der Kaufm. Gesell-
schaft Zürich für 1888). — Derselbe, Geschichte
der Züricheriscfien Seidenindustrie, I884. —
Sirasbtirger , Die Chreyiindustrie im Jura-
gebirge (Jahrb. f. Xat. u. Stat., Bd. 18). —
Oust, Cohn, Fabrikgesetzgebung und Haus-
industrie in der Schweiz (Jahrb. f. Nat. u. Stat.,
JV. F. S). — Jules G feller, Uhorlogerie suisse
en 1886 (Zeitschr. für Schweiz. Stat., XXIJ. Jahrg.,
1886). — Geering, Handel und Industrie der
Stadt Basel, 1886. — Jahresberichte des
Centralverbandes der Stickerei Industrie der Ost-
schweiz und des Vorarlberg, 1886 ff. — Das ost-
schweizerische Stickereigewerbe und sein
Kampf gegen den ungezügelten Wettbewerb (nDie
Industrien 1887, Xr. 17 — 19). — Wartm^inn,
Industrie und Handel des Kantons St. Gallen
1867—1880, 1887. — Karl Bücher, Artikel
»Arbeiterschutzgesetzgebung in der Schweiz^, in
diesem n Handwörterbuch h, Bd. I, 1898. — G.
Batimberger, Geschichte des Centralverbandes
der Stickereimdustric der Ostschweiz und des
Vorarlbergs und ihre wirtschaftlichen und sozial-
politischen Ergebnisse; 1891. — Derselbe, Aus
der Geschichte einer modernen Industriebenifs-
genossenschaft (Arbetterwohl 189S, 7.-9. Heft).
— A. Gust. Laurent, Die Stickereiindustrir
der Ostschweiz und des Vorarlbergs mit bes.
Berücksichtigung der Hausindustrie, 1891. —
Zur Krisis des schweizerischen- Stickfre ir er-
bandes (i^Xeue Zeitu, X, ;?, 1891—1892, S, 746 ff).
— Raoul Jay , Une corporation moderne,
1892. — Der Central verband der Kranken-
unterstützungsvereine der Sticker. Sein Wachsen
und Wirken, 1870 — 1889. Bearbeitet vom schweize-
rischen Arbeitersekrelariat, 1892. — 11'. Som^
bart. Die Stickerei der Ostschweiz und ihr
Verband (Jahrb, /. Not. und Stat., III. F.,
Bd. VI, 1898). — R, Sanudn-Wamery, Die
Entwickelung der Seidenindustrie (Zeitschr. für
Schweiz. Statistik, Bd. XXIX, 1898). — O.
Hintze, Die Schweizer Slickereiindustrir «»d
ihre Organisation (Schmoüers Jahrb. Bd. XVIII,
1894)* — Der Centralverband der Sticke-
reiindustrie der Ostschweiz und des Vorarl-
bergs (Zeitschr. der Centralstelle für Arbeiter-
Wohlfahrtseinrichtungen, I. Jahrg., 1894, Nr. 4j.
— A, Swaine, Di^ Arbeits- und Wirtschafts-
verhäUnisse der Einzelsticker in der Xordost-
schweiz und Vorarlberg, 1895. — JP. Schuler,
Die sozialen Zustände in der Seidenindustrie
der Ostschweiz (Arch. f. soz. Gesettg. u. Stat.,
Bd. XIII, 1899). — Viel Material enthalten die
Berich te der Fabrikinspektoren. — Vgl.
auch noch F. Schuler, Die Entwickelung der
Arbeiterschutzgesetzgebung in der Schweiz (Arch,
/. soz. Gesetzg. u. Stat., Bd. VI, 189Sj. — O.
Lang, Das schweizerische Fabrikgesetz und sein
Einfluss auf die industriellen Verhältnis.*^ der
Schweiz (Arch. f. soz. Gesetzg. u. Stat., Bd. XI,
1897).
IV. Frankreich: Rapport a In Omr
des Pairs sur Ics Svenements arrives « Lyon en
1881 ei I884. — Jules Favre, De la c^alition
des chefs d'ateliers de Lyon, 1888. — H. T'l-
lerm^, Tableau de VEtat physique et tnural
des ouvriers employes dans les manufactures de
Colons, de laines et de soie, 18 40. — yior,
Mohlf Aus dem gewerbswissenscha/tlichen Er-
gebnisse einer Reise nach Frankreich, I84T. —
Analyse de la Situation industrielle du dt-
partement public par le Jury du Xord, 18^9. —
Ije Play, Les ouvriers europeens, zuer*t 1850.
— lAtnann, De Vindustrie des vetementf c»*n-
fectionnes en France, 1857. — E, F, Hebert Jt
E, Delhet, Tisseur en chdles de la fabrigne
urbaine collect, de Paris. (»Les ourrieys des
deux Mondesn etc., Tome I, Paris 1857. j — E.
Levasseurf Histoire des classes oih-ri^/vj» en
France, 4 tomes 1859 ff. — A, Audiganne^
Les populations ourrieres et les industries de la
France. Eiudes comparatives etc., Ü ed., J Vtd.
1860. — Derselbe, Les ouvriers d'a presmt et In
nourelle economic du travail, 2 Vol., 186.',, —
Jules Simon, L'ouvriere, 1860; seitdem oft
aufgelegt. — l,, Reybaudf Rapport sur h
condition etc. des ouvriers, qut vivent du travail
de la soie. Extr, 1860. — Derselbe j idem des
ouvriers, qui vivent de l* Industrie du mtou,
186£. — Derselbe f idem des ouvnerfi, qui
vivent de Vindustrie de la laine, l,sf..r,. —
Mnie. «7. V, Daubi4, Im femme ptiurre ttu
XIX. siede, 1866. — Exposition u ti t rer-
seile de 1867. Rapports du Jury inter-
national publ. sous la direction de M. Chemher,
14 Vol., 1868. — Adrien Ihtrand, Xotie*' svr
les couteliers de Langres au moyen (ige, 1S7'K —
Enquete sur les conditions du trarail dons le
departement de la ikine , 167 J. — Leroy"
Hausindustrie
1167
BeaulieUf Le travaü de« femmes au XIX» sc,
1S7S. — H. JLenevetiXf Le travaü manucl en
France, 1874, — Mnie. Caroline de Barr au j
Etüde rur le salaire du travail j^iinin d Paris
(ca, 1877). — Henry de Beaumant, La grhc
des taiUeurs et de Vinduatrie du rctement sur
mesure d Baris (Joum. des Econom. Juillet 1885).
— M, Duvelleray, L'ouvrier eventailliste de
tSainie-Genevieve (CHse-France), d* apres les ren-
seignements reeueülis sur les lieux en Xovembrc
1863. (»Les ouvr, des dcux Mondesa T. 5* 1885,
No. 40h — H, et A, Bauclrillart , Les popu-
lalions agricoles de la France, 3 Vol„ 1885 —
1893. — J, Barberet, Le travail en Frayice.
Monographies professionelles, 7 Vol., 1886 — 1890.
— Vrh, Qu^rin, Ouvrier Cordonnier de Mala-
hoff (Üeine-France), 1878, ib. Xo. 4I. — Emest
de Toytot, Gantier de Urenoble (Isere), 1885 —
1887 (ib. II* Serie, tome 1, 1887). — A, Cofjfignon,
Les coulisses de la mode, ca. 1888. — La Fa-
brique Lyonnaise de Soieries et l'indus-
trie de la soie en France 1789 — 1889. Imprime
par ordre de la chambre de commerce de Lyon,
1889. — F^l, Pingenetf Piec^s diverses con-
cemant la Corporation des couteliers de Langres,
1891. — Pierre du Maraussetn, Ebeniste du
Faubourg St. Antoine ; Grands Magasins,
niyiceating systemv., 1892. (La question ouvriere,
Vol. IL) — Derselbe f Le Systeme parisien de l'in-
dustrie du ineuble et le vsweating systemu (Rev.
d'econ. pol., Mai 1892). — Derselbe, L'industrie
des jouets ä Paris : la Situation des otivriers et
le nsiPeating systemu. (La re/orme sociale, 1892).
— Derselbe, Le Jouet parisien. Grands magasins,
nSweaiing systemu, 1894» (La question ouvriere.
Vol. III.) — Derselbe, Ouvriere Moulineuse en
Cartonnaye d'une fabrique colUctive de jouets
parisiens. (Les ouvriers des Deux mondes,
2* sene 31 jasc.) — O. WoriK, La couture
et la confection des vetements de femme, 1892. —
lAo Char4tie, Les Jouets. Histoire. Fahri-
cation. — Ch, Bennoist, Les ouvrih-es de
Vaiguilled Paris, 1895, — L'industrie textile
dans la basse Xormandie. (L'association catho-
lique, 15. IL 1895.) — L, Bannevay , Les
ouvrieres lyonnaisesd domicile, 1896. — Derselbe
und «/. Qodart, Le travail d domicile d Lyon
(Congres intern, de Legislat. du Travail d
Bruxeiles 1897), 1898. — Le Vetement d Paris
(La petite industrie. Salaires ei duree du
Travail, Tome II) 1896. — G, Levasnier,
Syndicat de VaiyuiUe, n Papiers de famille pro-
JessionneUe « , 1896. — L' Industrie de la
couture et de la confection d Paris. (Musee
sociale, JSerie A, Circ. 14, 1897.) — IHetrich,
Die gegenwärtige wirtschajiliche Lage der tSpitzen-
industrie (industrie des tulles et denteUes) in
Frankreich (Jahrb. f. Gesetzg. etc., 1899).
V. Italien: leserunt, Cenni storici e
statisiici suil* industrie dei merletti, 1873. —
Brignardello, I merletti nel circojtdario di
Chiavari. — Alb, Errera, Manuale teorico-
pratico per le piccole industrie, 1880. — In-
dus t r i e fo r e s t a l i , Le piccole . in Italia, 1883.
— Statistica industriale (Annali di
statistica, 1885 seg.j. — Alb. Errera, Istitu-
zione indusiriali popolari, 1888. — Gregorio
Gregorit Le Piccole industrie fra i contadini,
1891. — ir. Sonibart, Studien zur Entwicke-
Inngsgeschichte des iudivnischen Proletariats
(Arch. J. soz, Gesetzg., Bd. VI, 1893). —
Ä Graf Broglio tVAJano, Die Venetianische
Seidenindustrie und ihre Organisation, 1893. —
Derselbe, Veber die Slrohflechterei in Toscana
(Jahrb. f. Xat. u. Stat.JIL F., Bd. XVJII, 1899).
— H, Sieveklng, Die Geuuesei- Seidenindiistrie
im 15. und 16. sc. Ein Beitrag zur Geschichte des
Verlagssystems (Schmollers Jahrb., Bd. XXI,
1897). — J, Ghersi, Piccole industrie ec, 1898. —
VI. Bussland: A, von Meyendorff,
Veber die Manu fakturbetriebsam keil Busslands
in Bezug auf die allgemeine Produktivität und
das häusliche Leben der niederen Volkskl<usen
(Arch. f. wissensch. Kunde Busslands, Bd. IV,
S. 548). — Arsenjew, Das Fabrikdorf Iwanowa,
ebenda, S. 589, — %\ Outnuinnsthal, Buss-
lands Industriezustände, 1850. — Korssak a.
a. O. sub A. — Lh Maikow, Materialien zur
Kenntnis der Hausindustrie und Handarbeit in
Bussland (3. Bd, der Statist. Wremennik, 1872,
in russischer Sprache). — Chr. Viyn Sarauw,
Das russische Reich in seiner finanziellen und
ökonomischen Entwickelung seit dem Krimkriege,
N. ofßg. Quellen, 1873, 6'. f07ff. — W. Weschnia-
Icoff, Xotice sur Vetat actuel de Vindustrie
domestique en Bussie, 1873. — A. A, Mesch^
tschersky und K, N. Modsalewslcy, /Samm-
hing rofi Material über die Hausindustrie in
Bussland, herausgegeben im Auftrage der Statist.
Abteilung der kaiserl. nus. geographischen Ge-
sellschaft, 1874 ("* russischer Sprache). — C
Grü/nwaldt, Das Artellwesen und die Haus-
industrie Russlands, 1877. — Alf, Thun, Veber
die russische Hausindustrie tm Gouvernement
Moskau (Russ. Revue, Bd. 12, 1878). — Ver-
selbe, Landwirtschaft und Gewerbe in Mittel-
russland seit Aufhebung der LeibeigenscJiaft,
1880. — Sam,mlung statistischer Mitteilungen
über das Gouvernement Moskau, Bd, VI und
VII, 1879-188:8 (in mssücher Sprache). —
Prugawin und Charisontenow, Schilderung
der Gewerbe im Gouvernement Wladimir, 1882
(in russischer Sprache). — Pr%igawin, Die
Hausindustrie auf der Ausstellung im Jahre
1882, 1882 (in russischer Sprache). — A, W,
Prileshajew, Was ist Hausindustrie f 1882
(in russischer Sprache). — A, A, Issajew, Zur
Frage der Hausindtistric in Bussland. (»Russi-
sches Lebenu, Bd. XI, in russischer Sprache.)
— Derselbe, Le travaü en famiüe en Russie
(Revue d'economie politique, Mai 1893). —
Arbeiten der Ko mviission tu r Er -
forschung der Hausindustrie in Russ-
land, amtlich, 8 Bde., 1879 — 1882 (in russischer
Sprache). — W, Stieda, Die neuesten For-
schungen über den Stand der Hausindustrie in
Russland. (Russ. Revue, Bd. 22, 1883.) — F,
Matthaei, Die wirtschaftlichen Hilfsquellen
Russlands und deren Bedeutung für Gegenwart
und Zukunft, Bd. I, 1883. — Af. Gorbtinoff,
Veber russische Spitzenindustrie. Ein Beitrag
zur Geschichte der Hausindustrie, 1886. — A,
Stellniacherf Ein Beitrag zur Darstellung der
Haueindustrie in Russland, 1886. — --1. Peretz,
Pricis d'une monographie de Varmurier des
manufactures imperiales de Toula (GtandeRussie).
(»Les ouvriers des deux mondesv, 2^ Serie;
tome I, 1886.) — Fr. von HellwaUl, Slavische
Hausindustrie. (Die Welt der Slaven, 2. Auß.,
1890.) — Korolenko, Skizzen aus Pawlotat.
(Aufsätze in russischer Sprache in der nRusskaja
Misslu.j — G, Plechanovc, Die sozialpolitischen
1168
Hausindustrie
Zustünde Rusdands im Jahre 1890. (nNeue
Zeitu, 1890\91, S. Bd., S. 691 ff., S. 731 ff.) —
Abriss der Thätigkeit des Domänenminüteriums,
betreffend Entwickelung und Verbesserung der
Hausindustrie in den Jakren 1888 — 1890, 1890
(in russischer Sprache). — tleserskl, nKustamaja
Promyschlennostn, Moskau 1896. — Plotnikow,
Kiisiamaja Promisehlennost im Gouverne-
ment Nischni- Nowgorod, 1895. — JPeter von
StuvBj Die historische und die systematische
Stellung der russischen Kustamaja Promyschlen'
nost. (Mir Boschy , April 1898, in russischer
Sprache.) — M. Tugan-Baranowshi, Ge-
schichte der russischen Fabrik, deutsch 1900. —
O, von Schulze^Gdvemitz, Volkswirtschaftliche
Studien aus Russland, 1899. In den beiden
letztgenannten Schriften auch untere Angaben
nissischer LiUercUur.
VII. England: Daniel De Foe, A Tour
through the island of Great Britain. Zuerst
1724, 8. ed., 4 Vol., 1778. — A, Young, A
si^ weeks tour through the southern counties
ofEngiand and Wales, 1767. — Derselbe, A six
month tour through the North of England, 2. ed.,
1776. — Report on the Wo ollen Manufacture
of England, 1806. — First Report on Silk
Ribbon Weavers, 1818. — Second Rep. on
Ribbon Weavers, 1818. — Rep. on Silk
Ribbon Weavers, 1818. — Rep. on Ribbon
Weavers Petition, 1818. — P. Qaskelly The
manufacturing population of England, its moral
social and physical condilions and the changes
which have arisen from the usc of steam
machinery etc., 1838. (1836 u. d. T. Artisans
and Machinery neu aufgelegt.) — Report from
select Comm. on Hand-loom Weavers peti^
tions. Wilh the min. of evid., 2 Vol., 1834, 35
t Bitte bookj. — Analysis of the evidence taken
before the select Comm. on Hand-loom
Weavers petition (1834 — 1834), 1835 (Parlia-
mentary paper). — Baine8, History of the
Cotton Manufacture in Gr. Britain, 1835. —
Vre, History of the Cotton manufacture, 1836.
— E, Th. Kletnschrodf Grossbritanniens Ge-
setzgebung über Gewerbe etc., 1836. — -4««?-
stant Hand-loom Weavers Comm. Rep.
5 Vol., 1839—1840. (Pap. by comm. ; bitte book.)
— Copy of report by Mr. Hickson on the
C&ndition of the Hand-loom Weavers,
1840. (Pap. by command.) — Hand-loom
Weavers Report of the Commissioners, I84I.
(Paper by command. ; blue book.) — i. Faucher ^
Etudes sur l*Angleterre, 2 Vol., 1845. — Friede
rieh Eng eis f Hie Lage der arbeitenden Klassen
in England, 1845. — t/". Jfcf. L/udloWy Labour
and the Poor. (Fräsers Magazine, Jan. 1850.) —
Parson Lot (Ch. Kingsley)^ Cheap Clothes
and Nasty, 1850. — Th, Hughes j Histoiy of
the Working Taüors Association, 1850. —
Titnmtn, Ressources, Products etc. ofBiirmingham,
1866. — FelktUf History of the Hosiery and
Lace Mamifactures , 1867. — W, O. Crory,
East London Industries, 1876. — J» O, Eccarlus,
Der Kampf des grossen und des kleinen Kapitals
oder die Schneiderei in London, 1876. — von
Bojanowskif Das englische Fabrik- und Werk-
stättengesetz von 1878, 1881. — Ad. Held,
Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands,
1881. — L, Brentano, Die christlichsoziale
Bewegung in England, 1888. — A, Toynbee,
Lectures on the industrial revolution of the 18 th \
Century in England, 1884, 5. ed., 1896. --
Ashtey, The early history of the woollen indus-
trie, 1887. — Report to the Board of TV. on
the sweating system cU the East End vf
London by the Labour correspondenl of thf
Board {John Bumett). — Derselbe, Ön the
sweating System in Leeds, 1888. — First
Report from the select Committee of the Hmise
of Lords on the sweating System together
with the proceedings of the Comm,, Minules of
evidence and Append., 1888. — & Moore, Das
sweating system in England (Areh. f. soz. Gesetzg.,
Bd. I, 1888). — Botemreither, Zur Statistik
der Arbeitslosen in England, ebenda. — Charles
Booth, Labour and life of the People, To/. /,
East London 1889. — Die ländkche Haus-
industrie in England (nExportu 1890, Xr. 4^).
— Paul Fischer, Das Ostende in London.
Ein soziales Nachtbild, 1891. — Whately Cook-
Taylor, The modern factory system, 1891 f be-
handelt das siveating system). — Verbatim
Report of the Trades Union Conference f'^r
the abolilion of the Middleman Sweater. Held
in London 1891, 1891. — Some Industries
of East London working girls : their lives and
homes, 189^. — Royal Commission on
Labour. Digest of the evidence taken before
Graupe t. of the R. Comm. on Labour, Vol. II.
Iron, engineering and hardware. Presented to
both Houses of Parliament by Command of Her
Majesty, June 189S. — Beatriee JPotter (Mr.
Sidney Webb), Pages from a Work-girl's Diary
(Nineteenth Century 1888). — JHeselbe, The Lords
and the Sweating system (ebenda 1890). — How
best to do away the Sweating system, 1894. —
IHeaelbe, Une nouvell-e loi anglaise sur le* fahrt-
ques (Rev. d'econ. pol. 1895). — JHeselbe in d^r
Fortnightly Review, Dezember 1887 ; April
1890; Januar 1898 und in der Economic
Review , Oktober 189S. — S weat i n g : its Caus^
and remedy. Fabian Trart Nr. 50, I894. —
Sw eate d in du s tries (n Sozialdemokrat*
1894). — tfames M€icdonaUi, Gotemment
Sweating in the Clothing Contracts (The Sev
Review, November 1894). — ^^^ industriol
and ethical Situation of the sicing womqh
(Hull-House Maps and Papers). — 1*. Sinz^
heimer. Zur Bekämpfung der Hausindustrie
durch die Gewerkvereine (betjrifft Londantr
Schuhmacherei; Sozialp. Centraihl., IV. Jahrg.,
1894 — 1895). — P. du Rousiers, La guesti^/n
ouvriere en Anglcterre, 1895. — A, Smith,
Das Stveatingsystem in England (Arch. f. soz.
Gesetzg. u. Stat., Bd. IX, 1896), — Margar,
H, Irwin, Home Work amongst Women, 1897.
— Sidney and Beatrice Webb, Industrial
Democracy, 1897. Deutsch u. d. T.: Theorie
und Praxis der englischen Getecrkvereine, 189S.
— Woman' s industrial Council, L^
reglementatio7i de Vindustrie ä domiciie (Congr.
intern, de Bruxelles, 1897). — Les droits et
les devoirs d'inspectettrs d'u^nes en Angfeient
(ebenda). — F, Lohntann, IMe staatliche Rege-
lung der englischen Wollindustrie vom lü. hi*
zum 18. sc, 1900.
VIII. Belgien: H. de Holsbeek, Viu-
dustrie dentelliere en Belgique. Etüde sur h
condition phys. et mor. des ouvri^res en den-
telles, 186S. — Commission du Trarail im-
stitue par Arrete royal du 15. IV. 1886, S Vol„
1887. — H, Herkner, Die belgische Arbeiter-
Hausindustrie — Haxthausen
1169
enquete und ihre soziaipolifischen Resultate
(Arch, /. 802. Gesetzg,, Bd. I, 1888), — Di^
Lütticher Waffe nfa brikation (»Handels-
museumüf Bd. VI, 1891, Nr. 19). — van den
Steen de ffehay, Tisserand de la fabrique
collective de Gand (Flandre Orientale). (nOiivriers
des deux mondesu, 11^ serie, 22* fasc, 1891).
— Ch, Q^nartf Coütelier de la fabriqtie
collective de Gembloux (Prov. de Namur, Bel-
gique, l. c. SSfasc, 1892). — Derselbe, L^indiis-
trie coüteliere de Gemblcmx, 1899. — H. Swainef
Die Heimarbeit in der Gewehrind^istrie von
Lattich und dessen Umgebung (Jahrb. f. iVat.
n. St., III. F., Bd. XII, 1896). — Dietrich,
Die gegenwärtige wirtschaftliche Lage der Spitzen-
indusirie (industrie des tulles et dentelles) in
Belgien (Jahrb. f. Gesetzg., XXIII. Jahrg., 1899).
— JB. Tardim, L'indvstrie du vetement pmir
hommes ä Bruxelles, 1899. — Les indusirie s
a domicile en Belgique, Vol. I, X'md«*-
trie armuriere lihgeoise par M. Ansiaux, 1899.
— Chistav May et* f Eine EnqtiHe über die
Hausindustrie in Belgien (Soz. Praxis, IX,S21 f.).
— E. Vandervelde, L'influence des villes sur
les campagnes in den Annales de l'Institut des
Sciences, 1898 — 1899.
IX. Holland : Enquete betreffende wer-
king en uitbreiding der wet van 19. IX. 1874
(Staatsblad ^o. ISO) en naar den toestand van
fabrieken en werkplaatsen, 1887. — C T. Stork,
De Ihcenthsche katoennijverheid, hare vestiging
en uitbreiding. Herinneringen en wenken, 2, A.,
1888. — Handelingen Staten - Generaal,
1889\90.
X. Vereinigte Staaten von Amerika.
Ueber die älteren Hausindustrieen fehlt die
Liiteratur fast gänzlich, VgL die wenigen An-
gaben bei Carrol D. Wright, The industrial
evolution of the United States, 1895. — Die Ge-
schichte der neuer enHausindustrieen in IT. S.A.
ist die Geschichte der Einwanderung nach dort.
Die Wandern ngslitteralur beschäftigt sich daher
meist mit unserem Problem. Vgl. z. B. R, M,
Stnith, Emigration and Immigration, 1890. —
An SpeciallittercUur ist folgendes zu nennen:
Xta H, DankSf White slaves or the oppression
of the worthy poor, 1892, — The Sweating-
sy Stern in Europe and America. (Journal oj
Social Science, Oktober 1892). — H, White,
The sweating System (Bulletin of the Department
of Labour, Mai 1896, Washington). — E. de
Lev€i88eur, Le sweating System aux Etats-Uni^
(Rivue d* economic politique; oct.-nov. 1896). —
«7. M, Mayers, The sweating sy stein in New-
York city (Guntons Magazine, Agost 1896). —
H. Lh W., Die Gesetzgebung gegen das Sweating
System in den Vereinigten SlcuUen Nordamerikas
(Jahrb. /. Not. u. St., III, F., Bd. XIII, 1897).
— Florence Kelley, Das Sweatingsystem in
den Vereinigten Staaten (Arch. f. soz. Gesetzg.,
Bd. XII, 1898). — Material enthalten auch
die Berichte der arbeitsstatistischen
Bureaus der verschiedenen StcMten; so z, B.
New -York 1884; lUinais 1892; Ohio 1896;
Missouri 1897. Ebenso haben die Berichte der
Fabrikiuspektoren von New- York von
1886 aji stets die Werkstättenarbeit, insbesondere
die Hausindustrie befiandelt.
XI. Britisch-Ostindien: W, W, Hun~
ter, The Imperial Gazetteer of India ; insbes.
Vol. VI (India), 2. ed., 1886.
XII. Persien: J, Daazlnaka, Die Haus-
industfi-e in Persien (nNetie Zeitn, X, 2, 1891 —
1892, S. 2tSf.), nach einem Aufsatz von Miklo-
schewski im Oekonomitschesky Jumal, 1891,
Heft 6—7.
Werner SambarL
Hanskommunion
s. Ansiedelung oben Bd. I insbesondere
S. 368 f.
Haxthausen, August, Freiherr ron,
geb. am 2. UI. 1792 zu Bökendorf in Westfalen,
gest. am 31. XII. 1866 in Hannover. Nach Ab-
solvierung seiner juristischen Stadien inGöttingen
veröffentlichte er 1829 die Schrift „lieber die
Agrarverfassung in den Fürstentümern Pader-
born und Corvey" (s. u,), welche die Aufmerk-
samkeit der preussischen Regierung auf ihn
lenkte, die ihn beauftragte, unter gleichzeitiger
Ernennung Haxthausens zum Geheimen Ke-
gierungsrat, die Agrarverfassnngen der einzelnen
preussischen Provinzen an Ort und Stelle zu
studieren. Zur Drucklegung ist von diesen
agrarhistorischen Untersuchungen, deren Ma-
terial Haxthausen auf einer neunjährigen amt-
lichen Bereisung der Monarchie sammelte, nur
der die Provinzen Ost- und Westpreussen be-
handelnde Band gelangt.
1847 und 1848 war Haxthausen Mitglied
des preussischen vereinigten Landtages und
später auf kurze Zeit audi der ersten preussi-
schen Kammer.
Haxthausen veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schäften in Buchform:
Ueber die Agrarverfassung in den Fürsten-
tümern Paderborn und Corvey und deren Kon-
flikte in der gegenwärtigen Zeit nebst Vor-
schlägen, die den Grund und Boden belastenden
Rechte und Verbindlichkeiten daselbst auszu-
lösen, Berlin 1829 (führt auch den Nebentitel:
Ueber die Agrar Verfassung in Norddeutschland
und deren Konflikte in gegenwärtiger Zeit,
Teil I, Bd. 1; der Verf. vertritt darin das
Programm: Fortentwickelun^ der Argrarver-
fassung auf historischer Basis, Befreiung des
Grund und Bodens von der Macht des Kapitals
und zu deren Durchführung Reform der ständi-
schen Verfassung). — Die ländliche Verfassung
in den einzelnen Provinzen der preussischen
Monarchie, Bd. I, auch unter dem Titel: Die
ländliche Verfassung in den Provinzen Ost- und
Westpreussen, Königsberg 1839. (Dies ist der
einzige von Haxthausen veröffentlichte Band
des projektierten grossen Enquetewerkes [s. o.],
der 22 Jahre später erschienene Fortsetzungs-
band führt den Titel: Die ländliche Verfassung
in den einzelneb Provinzen der preussischen
Monarchie. Fortgesetzt im amtlichen Auftrage
von Alex. Padberg, Bd. II: Die ländliche Ver-
fassung in der Provinz Pommern, Stettin 1861).
— Ueber den Ursprung und die Grundlagen
der Verfassung in den ehemals slavischen Län-
dern Deutschlands im allgemeinen Und des
Herzogtums Pommern im besonderen , Berlin
1842. — Studien über die inneren Zustände,
das Volksleben und insbesondere die ländlichen
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. IV.
74
i
J
1170
Haxthausen — Hebammen
Einrichtnngen Rnsslands. 3 Bände, Hannover
und Berlin 1847 — 52; dasselbe in französischer
Uebersetzung, ebd. 1848 — 53. (Haxthansen sieht
in der russischen Gemeinde die erweiterte Fa-
milie, deren Gemeindebesitz das altnissische
Familienrecht zn Grunde lieg^., die Spuren der
altrussischen Feldgemeinschaft verwischen sich
nach seiueu Untersuchungen schon im frühen
Mittelalter, und die nenrussische Feldgemein-
schaft ist nach ihm erst infolge der Kopfsteuer
im 18. Jahrhundert entstanden. Seine Studien
über die russischen Agrarverhältnisse bezw. den
Agrarkommunismus Itus-slands beruhen auf per-
sönlichen, im Auftrage des Kaisers Nikolaus an-
gestellten Untersuchungen und erstrecken sich
hauptsächlich auf die Gouvernements Olonez,
Wologda, Wjatka, Perm und das Gebiet der
nördlichen Düna.) -- Die Kriegsmacht Kuss-
lands in ihrer historischen, statistischen, ethno-
graphischen und politischen Beziehung, Berlin
1852 (Sonderabdruck aus Bd. III der Studien
über Bussland); dasselbe französisch, ebd. 1853.
— Transkaukasia. Andeutungen über das Fa-
milien- und Gemeindeleben und die sozialen
Verhältnisse einiger "Völker zwischen dem
Schwarzen und Kaspischen Meere. Reiseerinne-
rungen und gesammelte Notizen^ 2 Bde., Leipzig
1856. — De Tabolition par voie legislative du
partAge ^gal et temporaire des terres dans les
communes russes. Paris 1858. — Die ländliche
Verfassung Russlands, ihre Entwickelung und
Feststellung in der Gesetzgebung von 1861,
Leipzig 1866.
Haxthausen war der Herausgeber des Wer-
kes : Das konstitutionelle Princip, seine geschicht-
liche Entwickelung und seine Wechselwirkungen
mit den politischen und sozialen Verhältnissen
der Staaten und Völker, 2 Teile, Leipzig 1864
(Inhalt: Teil I: Die Repräsentativvertassungen
mit Volkswahlen, von K. Biedermann; Teil II:
Vier Abhandlungen über das konstitutionelle
Princip von J. Held, R. Gneist, G. Waitz und
W. Kosegarten); dasselbe, Teil II in französi-
scher Uebersetzung, ebd. 1865.
Vgl. über Haxthausen: A. Jourdier,
Voyage agronoroique en Russie faite en 1860 —
61, ebd. 1863, S. 16. (Jourdier nennt darin den
Verfasser der „Studien über Russland ^ einen
„hon agronome", verweigert ihm aber das Prädi-
kat eines „agriculteur praticien".) — Franz
Ludwig August Maria, Freiherr von Haxthausen,
Ein Versuch von Freundeshand, Hannover 1868.
(Als Manuskript gedruckt.) — K. Walcker,
Die gegenwärtige Lage Russlands, Leipzig 1873,
S. 6. — Röscher, Geschichte der National-
Ökonoraik, S. 1027. — J. v. Ken ss 1er, Ge-
schichte und Kritik des bäueriichen Gemeinde-
besitzes Russlands, Bd. I, Riga 1876, S. 73/74
und 89/90. — Allgemeine deutsche Biographie,
Bd. XI, Leipzig 1880, S. 119. — A. Menger,
Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, 2. Aufl.,
Stuttgart 1891, S. 49 und 158.
Lippert.
Hebammen.
1. Deutschland. 2. Andere Länder.
1. Deutschland. Das Gewerbe der
Hebammen ward seit Ende des 17. Jalir-
himderts Gegenstand landesgesetzlicher Re-
gelung. Die Hebammen wurden zur Aus-
übung ihres Berufes nur zugelassen, nach-
dem sie durch eine Prüfimg ihre Befähigimg
dargethan hatten. Ausserdem mussten sie
sich auch über die sonstigen dafür erforder-
lichen Eigenschaften ausweisen. Durch die
Errichtung von Hebammenschiüen wurde für
eine entsprechende Vorbildung Sorge ge-
tragen.
In die landesgesetzlichen Vorschriften
griff die Reichsgewerbeordmmg insofern ein,
als sie bestimmte, dass Hebammen eines
Prüfungszeugoisses der nach den Landes-
g?setzen zuständigen Behörde bedürfen,
iese Vorschrift, welche sich in dem Ent-
würfe des Bundesrates fand, wurde vom
Reichstage unverändert angenommen, w^äh-
rend letzterer in Bezug auf Aerzte von der
Regierungsvorlage insofern abwich, als er
nicht die Ausübung der ärztlichen Praxis,
sondern nur die Bezeichnung als Arzt von
der Approbation abhängig machte. (Vergl.
den Art. Arzt oben Bd. II S. 11 ff.) Das
Hebammengewerbe ist demnach nicht frei
gegeben. Nicht nur die Bezeichnung als
Hebamme, sondern die Ausübung des Be-
rufes als Hebamme ist abhängig von dem
Besitze eines Prüfungszeugnisses oder
einer auf Grund einer Prüfung erteilten
Approbation (Grew.-O. § 30). Der Betrieb
des Gewerbes ohne diese Voraussetzung
'wird mit Geldstrafe bis zu 300 Mark, im
Unvermögensfalle mit Haft bestraft. (G.O.
§ 147.) Im übrigen sind die Vorschiiften der
Landesgesetze in Kraft geblieben. Dieselben
enthalten nähere Vorschriften über die Aus-
bildung der Hebammen, die Art der Prüfung,
die Voraussetzungen der Zulassung zur Prü-
fung und zur Praxis. Als Erfordernis für
die Zulassung wird regelmässig körperliche
und geistige Fähigkeit sowie sittliche Un-
bescholtenheit verlangt. Damit die erforder-
liche Anzahl von Hebammen vorhanden ist,
werden vielfach besondere Hebammen bezirke
gebildet, innerhalb deren die Gemeinden für
die Beschaffung geeigneter Persönlichkeiten
zu sorgen haben.
Die Zulassung der Hebammen ist dem-
nach nicht ^ne die der Aerzte und Aj^theker
eine reichsrechtliche, sondern eine landes-
rechtliche. Daraus folgt, dass die Hebammen
ihr Gewerbe grundsätzlich nm* in demjenigen
Staate ausüben dürfen, von welchem sie zu-
gelassen sind oder von dessen Behönle das
Prüfirngszeugnis ausgestellt ist Doch bleibt
OS den einzelnen Staaten unbenommen, auch
solche Hebammen bei sich zuzulassen, welche
in anderen Staaten approbiert worden sind.
Nach einem Bimdesratsbeschluss vom o. Mai
1887 sollen die Hebammen, die in der Nähe
der Grenze eines Staates wohnen, berech-
tigt sein, ihren Beiiif auch in den nahe
Hebara me n — Heilan stalten
1171
gelegenen Orten des Nachbarstaates auszu-
üben.
Eine Zurücknahme der Approbation kann
wegen Unrichtigkeit der Nachweise, auf
Grund deren die Erteilung stattgefunden
hat, oder wegen Entziehung der bürger-
lichen Ehi'enreehte für die Dauer des Ehren-
verlustes stattfinden. Dagegen ist es strei-
tig, ob die Zurücknahme auch wegen Mangels
derjenigen Eigenschaften erfolgen kann,
welche nach den landesrechtlichen Vor-
schriften, .bei Erteilung der Approbation,
vorausgesetzt werden mussten. Die I^raxis
hält dies für zulässig, auch in der Litte-
ratur wird die Frage überwiegend bejaht.
Doch ist die herrschende Auffassung nicht
unbedenklich. Denn die Gewerbeordnung
§ 53 gestattet die Entziehtmg nur wegen
Mangels solcher Eigenschaften, welche nach
ihren eigenen Vorschriften vorausgesetzt
werden mussten, enthält aber für Hebammen
keine Bestimmungen über persönliche Eigen-
schaften. Wenn in einem Staate besondere
Approbationen für Hebammen nicht erteilt
werden, vielmehr jede Hebamme auf Grund
des Prüfimgszeugnisses :^*ir befugt gilt, den
Gewerbebetrieb auszuüben, so finden die
Voi-schriften über die Entziehung der Ap-
probationen auf die diu-ch die Prüfungszeug-
nisse begründete Berechtigung analoge An-
wendung.
2. Andere Länder. In Oesterreich imd
Frankreich ist der Benif der Hebammen
wesentlich gleichartig mit Deutschland ge-
staltet. In Oesterreich bedürfen die Heb-
ammen einer Approbation, welche auf Grimd
eines von einer öffentlichen Hebammen-
schule ausgestellten Zeugnisses über den
genossenen Hebammenunterricht und über
die in einer Prüfung nachgewiesene Be-
fähigimg eii^ilt wird. Sie müssen sodann
den Ort, in welchem sie ihre Praxis aus-
üben woUen, der politischen Behörde erster
Instanz (Bezirkshauptmannschaft oder Stadt-
magistrat) anzeigen und sich bei dem Vor-
stande der Ortsgemeinde ihres Domizils bezw.
bei der Ortspolizeibehörde anmelden. Ihre
Rechte und Pflichten sind durch eine Minis-
terialinstruktion vom 4. Juni 1881 geregelt
worden. Die Regelung des Hebammen-
benifes in Frankreich beruht auf dem G.
v. 19. Ventose des Jahres XI, Art. 30 bis
34. Die Hebammen müssen einen Kursus
der Ausbildimg durchmachen, nach dessen
Beendigung sie zur Prüfung zugelassen wer-
den. Beim Bestehen der Prüfung erhalten
sie ein Befähigimgszeugnis, welches sie zur
Ausübung der Praxis ermächtigt. Bevor sie
ihre Berufsthätigkeit beginnen, müssen sie
sich aber beim Tribunal erster Instanz und
bei der Unter-Präfektur desjenigen Arron-
dissements, wo sie dieselbe ausüben wollen,
einregistrieren lassen. In England dagegen
hat die Thätigkeit der Hobammen den Cha-
rakter eines i-ein privaten Gewerbebetriebes,
der eine öffentliche Ordnung bisher nicht
erhalten hat.
Litter at II r: G, Meyer, Lehrbuch des deutsdieii
Vencaltungirechtes, Bd. I, S. 223. — E. Lioeningf
Lehrbuch des deutschen Venealt ungsrcchtes, H.
S27 ff. — Jolly in von Stengels Wörterbuch
des deutschen Verwaltungsrcchtes, Bd. I, S. 6S8.
— Seydel in den Annaleyi 1881, S. 683 ff. und
Bayerisches Staatsrecht, Bd. V, Abt. 1, S. 165 ff.
— V. Haberler im Oesterr. Staatsieörterbnch,
Bd. II, S. 21ff\ — i. V, Stein, Verwaltungs-
lehre, Bd. III, S. S78ff. — Handbuch der Ver-
waUungslehre, Bd. II, S. 105.
O, Meyer,
Heilanstalten.
1. Deutschland. 2. Oesterreich. 3. Frank-
reich. 4. England.
1. Deutschland. Die Heilanstalten zer-
fallen in öffentliche, d. h. in solche, welche
vom Staate oder von einem Kommunal verbände
(Provinz, Landarmenverband, Gemeinde) er-
richtet sind imd verwaltet werden, und pri-
vate, d. h. solche, welche Privatunternehmern
gehören. Die Anstalten der ersteren Art
dienen namentlich zur Unterbringung von
armen Kranken und solchen Personen, deren
Krankheit eine Isolierung oder strenge Be-
aufsichtigung notwendig erscheinen lässt,
also der mit ansteckenden Krankheiten Be-
liaftelen und der Geisteskranken ; sie können
ausserdem auch für Unterrichtszwecke be-
nutzt werden. Ihre Verhältnisse sind durch
besondere Statuten oder Reglements ge-
ordnet. Die Anstalten, welche von Privat-
unternehmern errichtet werden, unterliegen
einer Konzessionspflicht. Dieser schon von
der früheren Landesgesetz^ebung aufgestellte
Grundsatz ist auch in die Reichsgewerbe-
ordnung übergegangen. -Letztere bestimmt
in § 30, dass Unternehmer von Privatkranken-,
Privatentbindungs- und Privatirrenanstalten
einer Konzession der höheren Verwaltungs-
behörden bedürfen. Nach der ursprünglichen
Fassung der Gewerbeordnung diu'fte die
Konzession nur dann versagt werden, wenn
Thatsachen vorlagen, welche die Unzuver-
lässigkeit des Nachsuchenden in Bezug auf
den beabsichtigten Gewerbebetrieb darthaten.
Diese Fassung erwies sich jedoch nach
einer zweifachen Richtung hin als zu eng.
Einerseits entstanden Zweifel darüber, ob
unter der Zuverlässigkeit, welche das Ge-*
setz forderte, lediglich persönliche Unbeschol-
tenheit oder auch solche Eigenschaften zu
verstehen seien, welche eine sachgemässe
Leitung und Verwaltung der Anstalt ge-
währleisteten, und die Folge davon war, dass
die Praxis in den einzelnen Bundesstaaten
74*
1172
Heilanstal teri
auseinanderging. Andererseits hob die ur-
sprüngliche Fassung der Gewerbeordnung
ausschliesslich das subjektive Moment hervor
und liess den Zustand der Anstalten, um
deren Errichtung es sich handelte, gänzlich
unberücksichtigt. Das ö. v. 23. Juli 1879
änderte daher den beti-effenden Artikel dahin,
dass die Konzession zu versagen ist : a) wenn
Thatsachen vorliegen, w^elche die Unzuver-
lässigkeit des Unternehmers in Beziehung
auf die Leitung oder Verwaltung der An-
stalt darthun ; b) wenn nach den vom Unter-
nehmer einzureichenden Plänen die baulichen
und die sonstigen technischen Einrichtungen
der Anstalt den gesundheitspolizeilichen
Anforderungen nicht entsprechen. Die Kon-
zession darf nur verweigert werden, wenn
einer der angegebenen Gi'ünde vorliegt; sie
muss aber auch versagt werden, falls ein
solcher vorlianden ist. Die persönlichen Er-
fordernisse brauchen jedoch nicht beim
Unternehmer selbst vorhanden zu sein, es
genügt, wenn derselbe einen vertrauens-
würdigen Stellvertreter bestellt, der die ge-
nügenden Garantieen darbietet. Der Betrieb
einer Heilanstalt ohne Konzession wird mit
•Geldstrafe bis zu 300 Mark, im Unvermögens-
falle mit Haft bestmft. Die Konzession darf
nicht auf Zeit erteilt werden (Gew.-O. § 40).
Eine Entziehung der Konzession kann er-
folgen : 1. wenn die Unrichtigkeit der Nach-
weise dargethan wird, auf Grimd deren die
Konzessionserteilung erfolgt ist, 2. wenn
dem Unternehmer die bürgerlichen Ehren-
rechte aberkannt werden, für die Dauer des
Ehrenverlustes, 3. wenn aus Handlungen
oder Unterlassungen des Unternehmen der
Mangel derjenigen Eigenschaften, welche
bei der Erteilung der Genehmigung voraus-
gesetzt werden mussten, klar erhellt (Gew.-O.
§ 53). Die Konzession ist eine pei'sönliehe,
nicht die Konzession einer Gewerbsanlage.
Bei einem Wechsel in der Person des
Unternehmers ist- dalier eine neue Kon-
zession erfonlerlich; bei dieser Gelegenheit
tritt auch eine neue Prüfung der baulichen
und sonstigen Einrichtungen ein. Anderer-
seits wird aber die Konzession auch nur
für ein bestimmtes Gebäude erieilt; bei
einem Wechsel oder wesenthchem Umbau
des Gebäudes macht sich daher ebenfalls
eine Kon Zession serneuenmg notwendig. Das
. Verfahren bei der Konzessionserteilung und
Konzessionsentziehung ist das für die Kon-
.zessionierung gewerblicher Anlagen vor-
geschriebene.
Sämtliche Heilanstalten unterliegen einer
•staatlichen Aufsicht. Eine eingeliendere ge-
setzliche Regelung dieser Aufsicht hat aber
nicht stattgefunden. Das badische Pol.-Sti\-
G.B. § 92 bedroht denjenigen Unternehmer
einer Heil- oder Entbindungsanstalt, welcher
den in Bezug auf den Betrieb von der Po-
lizeibehörde im Interesse der Gesundheits-
pflege, Sittlichkeit oder persönlichen Sicher-
heit gemachten Auflagen zuvriderhandelt, mit
Geldstrafe bis zu 150 Mark.
2. Oesterreich. Auch in Oesterreich
scheiden sich die Heilanstalten in öffentliche
und private. Von den ersteren sind die
Krankenhäuser teils Staats-, teils Kommunal-
anstalten, die Irren- und Entbindungsanstal-
ten durchweg Landesanstalten. Die Privat-
anstalten bedürfen einer Konzession, welche
von der politischen Behörde erteilt wiixi.
Sie imterliegen femer einer staatlichen Auf-
sicht, deren Ausübung denselben Organen
zusteht, welche die Konzession zu erteilen
haben. Die politischen Behörden müssen
jedoch vor ihren Entscheidungen das Gut-
achten der amtlich bestellten Sachverständigen
vernehmen. Alle Heilanstalten müssen unter
Leitung und verantwortlicher Ueberwachung
eines Arztes stehen. (G. v. 30. April 1870
betreffend die Organisation des öffentlichen
Sanitätsdienstes § 2, 6.) üeber die Kon-
zessionierung, den Betrieb und die Beauf-
sichtigimg der Privatirrenanstalten sind ein-
gehende Vorschriften durch eine Ministerial-
instruktion vom 14. Mai 1874 erlassen worden.
3. Frankreich. Frankreich hat ein aus-
gebildetes System öffentlicher Anstalten,
welche entweder auf Stiftungen benihen
oder von den Gemeinden errichtet worden
sind. Sie zerfallen in höpitaux, d. h. Kran-
kenhäuser für die Heilung und Pflege von
Kranken, und hospiees, d. h. Versorgungs-
anstalten für Alte und Schwache. Beide
gehören zu den Wohlthätigkeitsanstalteü
(etablissements de bienfaisance) und werden
nach den jetzt massgebenden GG. v. 21. Mai
1873 und v. 5. August 1879 von Kom-
missionen verwaltet, welche aus dem Maire
der betreffenden Gemeinde und sechs Mit-
gliedern bestehen, von denen zwei von dem
öemeinderat aus seiner Mitte auf die Dauer
ihres Hauptamtes gewälüt, ^ier von dem
Präfekten auf vier Jalure ernannt werden.
Wenn ein Mittelloser im Gebiete einer Ge-
meinde erkrankt, so muss er in das Ge-
meindekrankenhaus aufgenommen werden.
(G. V. 7. August 1851.) Die De]xirtements
sind nach dem G. v. 30. Juni 1838 ver-
pflichtet. Geisteskranken, welche der Untor-
bringimg bedürftig sind, die Aufnahme in
eine Irrenanstalt zu gewähren, eine Ver-
pflichtung, der sie entweder dvarch Er-
richtung einer eigenen Anstalt oder durch
Verträge mit anderweiten Anstalten genügen
können. Neben den öffentlichen Instituten
dieser Art bestehen auch solche, welche
den Gegenstand von Privatunteniehmimgen
bilden. Eine eingehendere Regelung ihrer
Rechtsverhältnisse hat aber nicht stattge-
funden.
4. England. In England fehlt es durch-
Heilanstalten — Heimatrecht
1173
aus an einer einheitlichen Gesetzgebung über
Heilanstalten. Neben Krankenhäusern, wel-
che den Charakter von privaten Geschäfts-
betrieben haben und weder einer staatlichen
Konzessionierung noch einer obrigkeitlichen
Aufsicht unterliegen, bestehen solche, welche
auf Stiftungen beruhen und von den tnistees
verwaltet werden. Oeffentliche Anstalten
für die Pflege von armen Kranken sind von
den Armenverbänden errichtet worden. Zu-
nächst wurden die armen Kranken im
workhouse untergebracht; da dies aber
manche Unzuträglichkeiten ziu* Folge hatte,
so sind vielfach, namentlich in den Städten,
eigene Anstalten für die Unterbringung
armer Kranker geschaffen worden. In ein-
gehender Weise hat die englische Gesetz-
gebung die Verhältnisse der Irrenanstalten
geregelt. Das jetzt massgebende Gesetz ist
die Lunacvv act 1890 (53 & 54 Vict. c. 5).
Die Irrenanstalten sind teils öffentliche,
welche von den Verwaltungsgrafschaften
und Stadtgrafschaften errichtet und unter-
halten werden müssen, teils privat^, welche
einer Konzession bedürfen und einer staat-
lichen Aufsicht unterworfen sind.
Litteratur: G. Meyer, Jahrbuch des deutschen
Verwaltungsrechtes, Bd. I, S. 227, — JB. Loening,
Lehrbuch des deutschen Venraliunffsrechtes, S.
.ISS ff. — ffolly in v. Stengels Wörterbuch des
deutschen Vencaltungsrechtes, Bd. I, S. 844' —
Seydel in den Annalen 1881, S. 645 ff. —
Ul brich, Lehrbuch des österreichischen Staats-
rechtes, S. 505 ff. — V. Haberler, Oeslerr.
Staatswörterbuch, Bd. IT, S. 60. — Maurice
Block , Dictionnaire de Vadniinistration
fran^ise v. Hopitaux et hospi^es. — O. Mayer,
Theorie des französischen Vcr^raltungsr echtes,
S. 821 ff., 490 ff. — Agchrott, Das englische
Amienwesen, S. 199, 347 ff. — I*. v. Stein,
Verwaltungslehre, Bd. III, S. 885 ff. — Hand-
buch der Verwaltungslehre, Bd. II, S. 106 ff.
O, Meyer,
Heilquellen
s. Mineral quellen.
Heimatrecht.
1. Begriff. 2. Aelteres H. 3. Neueres H.
4. Vernichtung des Heimatbegriffes. 5. Das
geltende Recht in Oesterreich und Bayern.
1. Begriff. Heimat ist armenrechtliche
Zugehörigkeit zu einer Gemeinde. Was sie
vor anderer armenrechtlicher Kommunal-
angehürigkeit auszeichnet, ist nicht die Art
ihres Erwerbs und Verlustes, sondern ihr
Inhalt. Ihr wesentlicher Unterschied gegen-
über dem Unteretützungswohnsitz liegt weder
darin, dass sie durch Aufnahme und nicht
diu-ch Wohnsitz oder Ei*sitzung erworben,
noch darin, dass sie niu: durch Erwerb einer
anderen verloren wird. Frilher und noch in
diesem Jahrhundert waren einfacher (Meck-
lenburg-Ratzebiu-g) und qualifizierter, näm-
lich obrigkeitlich verwilligter, Wohnsitz
(das übrige Mecklenburg und Hannover) und
Ersitzung (Oesterreich) Heimatserwerbstitel,
und nach manchen Gesetzgebungen geht
auch der ünterstützungswohnsitz nur durch
Erwerb eines anderen verloren (Belgien und
Norwegen, vgh den Art. Armen wesen
oben Bd. I, S. 1111 u. 1162), wie auch
das frühere Recht gleichzeitigen Besitz
mehrerer Heimatrechte (domicilia) zuliess.
Wesentliches Merkmal des Heimatbe-
griffes ist die Verbindung armenrecht-
licher Unterstützungsanwartschaft gegen-
über einer Ortsgemeinde mit mehr oder
minder unentziehbarem Wohnrechte in
derselben. Dass der Unterstützungsanwärter
in die Gemeinde, zu welcher er im Unter-
stützungsverhältnis steht, jederzeit zurück-
kehren darf (vergl. § 10 der hannöv. Domi-
zUsordnung vom 6. Juli 1827), das macht
ihm diese Gemeinde zur Heimat. Je nach-
dem die im Heimatrechte entlialtene AVohn-
befugnis nur gegen armen- und damit
zusammenhängende sicherheitspolizeiliche
(Bettler und Landstreicher) oder gegen jede
Ausweisung gesichert ist, haben wh* die
Heimat des älteren oder des neueren Hech-
tes vor uns.
2. Aelteres H. Die Heimat verdankt
ihre Entstehung der im 16. Jalirhundert
allenthalben erfolgenden Einführung einer
Verpflichtung der politischen oder Kirchen-
gemeinde zur Unterstützung »ihrer« Annen
und dem damit verbundenen Gebot, fremde
Bettler des Ortes zu verweisen ^s. oben Bd. III,
S. 1260). Den Kreis der Unterstützungs-
an Wärter näher zu bestimmen, unterliess die
Gesetzgebung zimächst. »Ihre« Armen waren
aber für jede Gemeinde oder jedes Kirch-
spiel doch nicht alle daselbst sich Aufhal-
tenden, sondern nur die dem Orte Zugehören-
den, die in einem dauernden Verhältnis zu
ihm Stehenden, für die Gemeinde also die
Bürger und Beisassen, welch letztere
diu-ch einfaches, später (jualifiziertes Domizil
die Gemeindemitglied Schaft erwarben. In
England im 17. (1601), in Deutscldand und
Oesten'eich im 18. Jahrhundert büdete sich
der Satz aus, dass nur der Ort, wo jemand
gebürtig oder längere Zeit seines Lebens
sich aufgehalten, Heimatort sei, m. a. W.
der Ortsinkolat, das Beisassenrecht, wurde
ausschliesslich armenrechtliche Ge-
meindeangehörigkeit. Die erheblichen recht-
lichen Vorteile, welche das Heimatrecht bot,
führten zur Erschwenmg seines Erwerbs
und folgeweise seines Verlustes (s. oben Bd.
III, S. 292), es wurde zu einer Beziehung
dauernden, unter Umständen lebenswierigeii
Charakters von Person und Gemeinde.
1174
Heimatrecht
3. Neueres H. Die erste Hälfte des
19. Jahi'huaderts brachte teils eine Besei-
tigung, teils eine Erweiterung des Heimat-
begriffs. Das erstere warin denjenigen Staaten
der Fall, welche glaubten, die durch Aufhe-
bung der Abzugsbeschränkungen erleichterte
örtliche Bewegung des Individuums (s. oben
Bd. III, S. 1260) noch dadurch steigern zu
müssen, dass jeder Domizilsveränderung mög-
lichst rasch auch ein Wechsel der Unter-
stützungsgemeinde folgte (England, Preussen,
Belgien, Dänemai'k). Indem dieselben von
der armenrechtlichen Gemeindeangehörigkeit
das Element der armen- und bettelpoüzei-
lich unentziehbai*en Wohnberechtigung ab-
lösten, also die Wirkung dieses Verhältnisses
auf die Entstehung enier Ünterstützimgs-
anwartschaft beschi'änkten, waren sie in der
Lage, Erwerb wie Verlust der armenrecht-
lichen Gremeindezugehörigkeit von erschwe-
renden Bedingungen zu befreien. Sie hatten
damit den angesti*ebten Zweck erreicht, zu-
gleich aber das Princip der Heimat ge-
opfert.
Eine andere Staatengruppe (Süd- und
Mitteldeutscliland imd Oesterreich) hielt es
für angemessen, dem gCvSteigerten Zuzug
Gremeindefremder im gemeindlichen Interesse
zu begegnen. Das Mittel hierzu war eine
reichere Ausstattung des Inhalts der Hei-
mat nach ihrer berechtigenden Seite. Er-
höhte man die mit der Heimat verbundenen
rechtlichen Vorteile, dann war es möglich,
ihren Erwerb zu erschweren. Die neuen
Vorteile, welche man mit dem Heimatrechte
verband, waren teils solche, welche bisher
nur im Bürgerrecht« entlialten gewesen.
Recht zum Grundstückerwerb, zum Gewerbe-
betrieb in der Gemeinde, Mitgenuss örtlicher
Stiftungen und Anstalten, teüs besonderer
Art, Recht zur Verehelichung in der Ge-
meinde, erleichterte Möglichkeit des Bürger-
rechtserwerbes, Ausgestaltung des in der
Heimat beschlossenen Wohn rechts aus einem
nur in gewissen Richtungen unbeschränkten
zu einem überhaupt unentziehbaren.
Andererseits verlor das Heimatrecht von
seinem Inhalt. Indem für Dienstboten und
Gewerbegehilfen, also füi* diejenigen Be-
völkerungsklasvsen , deren Verhältnisse am
meisten zu Aufenthaltsverändeningen Anlass
gaben, in der Gemeinde des Dienstortes
eine bewegliche Unterstützungsgemeiude
gescliaffen wiunie (Baden und Bayern),
ward die Heimat der Eigenschaft aus-
schliesslicher annenrechtl icher Kom-
munalangehörigkeit entkleidet.
4. Yernichtung des Heiniatbegrilfes.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
verlor das Heimatrecht nicht bloss den
gr()ssten Teil seiner unwesentlichen Bei-
gaben, sondern im Deutschen Reiche mit
Ausnahme von Bayern sogai' seine Existenz.
Indem das Reichsgesetz über den Unter-
stützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 in § Gl
bestimmte, dass durch die Vorschriften dieses
Gesetzes, und das heisst doch, nachdem das-
selbe die armenrechtliche Zugehörigkeit ziu*
Gemeinde ordnet, durch armenrechtliche
Zugehörigkeit zur Gemeinde »Rechte und
Verbindlichkeiten nur zwischen den zur Ge-
währung öffentlicher Unterstützung ver-
pflichteten Verbänden begründet«, werden,
hat es die Rechtsansprüche, welche bisher
für den Unterstützmigsanwärter neben der
Unterstützungsanwartschaft aus dem Heimat-
verhältnis flössen, also insbesondere das feste
WoAnrecht aus der Verbindimg mit der
armenrechtlichen Zugehörigkeit zur Gemeinde
gelöst, erstere sind nunmehr Ausflüsse einer
einfacnen, mit einem Unterstützunfireverhält-
nis zwischen IndiWduum imd Gemeinde
nicht mehr verbundenen Gemeindeangehö-
rigkeit, letztere bildet ein auf diese einzige
Rechtswirkung des Unterstützungsanrechtes
beschränktes, besonderes selbständiges Ver-
hältnis zwischen Individuum und Gemeinde.
Wurden diese erstgenannten Rechts Wirkungen
der Heimat von Landes wegen nicht aus-
drücklich beseitigt, so bestehen sie als Toi'so
ehemaligen Heimatrechtes fort Es sind dies
die erleichterte Möglichkeit des Bürger-
rechtserwerbes, der Mitgenuss der öffent-
lichen Gemeindeanstaltcn und örtlichen Stif-
tungen, wo solcher gewährt gewesen, und
endlich das unentziehbare Wohnrecht, denn
letzteres hat das Reichsrecht nicht aufgeho-
ben, sondern niu* auf FäDe landesrechtlicher
Ausweisung beschränkt. § 3 des Freizüg.-G.
(vgl. oben Bd. III, S. 1262) hat die landesgesetz-
lichen Vorschriften über Aufenthaltsbeschrän-
kungen bestrafter Personen, also auch die
Unzulässigkeit der Ausweisung solcher aus
ihrer Heimatgemeinde aufrecht erhalten, und
ebenso hat § 4 daselbst dem Landesrechte
überlassen, die Befugnis der Gemeinde zu
armenpolizeilicher Abweisung Neiianziehen-
der weiter zu besclu^nken, als es das Reichs-
gesetz thut (s. oben Bd. HI, S. 1262); die Be-
stimmung des Landesrcchts, dass der in die
Heimat ziu-ückkelu-ende Heimatberechtigte aus
armenpolizeilichen Gründen nicht abgewiesen
werden darf, ist demnach unberührt geblie-
ben. Den Fortbestand des Wohnrechts in
diesen Grenzen bestätigt das württemb. G.
über die Gemeindeangehörigkeit vom 16. Juni
1885, indem es in § 57 vorschreibt, dass
Gemeindeangehörige in den Fällen, in wel-
chen nach landesgesetzlicher Bestimmung
gegen bestrafte Personen Ortverweisung zu-
lässig ist, aus der Gemeinde, deren Angehö-
rige sie sind, nicht ausgewiesen werden
dürfen.
5. Das gleitende Recht in Oesterreich
nndBayern. Dasselbe ist oben Bd. LS. 1094 ff..
S. 1U87 ff. und Bd. HI, S. 287 ausführlich
Heimatrecht — ^Heimstätteni'echt
1175
dargestellt. Es erübrigt nur in Anschluss
an Bd. III, S. 1263 eine kurze Untersuchung,
inwieweit das feste Wohnrecht des Heimat-
berechtigten in Bayern auch gegenüber
reichsrechtlichen Aufenthaltsbeschi'änkungen
zu Recht besteht. Es gilt gegenüber Oils-
ver>\'eisungen (a. M. H. Seuffert, Art.
Polizeiaufsicht in v. Stengels AV.B: Bd. II,
S. 253), nicht aber gegenüber Verweisungen
aus gi'össeren Gebieten (Bezirk, Land). Ein
Jesuit kann somit z. B. mittelbar von seiner
Heimatgemeinde durch Bezirksverweisun'g
(vgl. oben Bd. III, S.1262) fern gehalten wer-
den. »Heimat- und Niederlassuugsverhält-
nisse«, worauf sich das bayerische Reservat-
recht aUein erstreckt betreffen nur die Be-
ziehung zur Ortschaft, nicht zu grösseren
Gebietsteilen; diese urafasst dagegen auch
die »Freizügigkeit«; also schliesst der Be-
sitz des Heimatrechtes die Zidäßsigkeit von
reichsrechtHcher Bezirks- und Landesver-
weisung nicht aus (a. M. Seydel, Bayeri-
sches Staatsrecht 2. Aufl. Bd. 11, S. 57 Nr. 4).
Wäre dies nicht der Fall, so müsste folge-
richtig auch behauptet w^erden, das Reich
könne für Bayern Keine Bestimmung über
den Verlust der Staatsangehörigkeit treffen,
weil der Verlust dieser immer auch den
Verlust des Heimatrechts zur Folge hat,
w^ährend doch auch die Staatsangehörigkeit
(> Staatsbürgerrecht«) in Art. 4 Ziff. 1 der
Reichsverf. als besondere Materie neben
»Heimat- und Niederlassungs Verhältnisse«
genannt ist.
Litteratur: (Herke, Art. GemeindebürgerrerM
in V. Jfoltzendoi'ffs Rechislexikon, 3. Auß., Bd.
II, Leipzig 1881 und Deutsches Pi'ivatrecht, Bd.
/, S. 451 f., ebenda 1895. — Hänel, DeuUches
Staatsrecht, Bd. I, Leipzig 1892, ^ lOS. — G,
Meyer y Lehrbuch des devtschen Staatsrechts,
iJ. Aufl., Leipzig 1899, .§ 11'^. — nehm, Der
Erwerb von Staats- und Gemeindeangehörigkeit
in seiner geschichtlichen Entwickelung, in Ilirths
Ann. 1892. — Ausgaben des bayer. Heiin.-Ges.,
V€ni Probst (4. Aufl., München 1900) und
Reger (5. Aufl., Ansbach 1900). — Femer
die Angaben zu den Artt. Eheschliessung
und Freizügigkeit oben Bd. III S. ä94
und 1266,
Hermann Rehm.
Heimstättenrecht.
1. Begriff. 2. Die nordamerikanische Heim-
stättengesetzgebung. Anhang : Entsprechende
Gesetze in anderen Ländern. 3. Die euro-
päische Heims tättenbewegnng. A. Schutz eines
Grundbesitz- oder Vermögens-Minimum vor der
Zwangsvollstreckung B. Begründung von Fami-
lien-„Erbgütern". 4. Aussichten praktischer Ver-
wirklichung.
1. Begriff. Der Rechtsbegriff »Heim-
stätte« (homestead) stammt aus Nordamerika
und hat dort eine doppelte Bedeutung. Er
umfasst 1) diejenigen Grundstücke, welche
den Ansiedlern aus dem noch imbesetzten
öffentlichen Landgebiete der Union in be-
schränktem Umfamge (160 acres) unentgelt-
lich (gegen blosse Schreibgebühren) unter
der Bedingung überwiesen werden, dass
der Anwärter diese sogenannte »Heimstätte«
wenigstens 5 aufeinanderfolgende Jahre hin-
durch bewohnt und bewirtschaftet. Das im
Jahre 1862 nach Ausbinich des Bürger-
krieges erlassene Bundes- »Heimstättenge-
setz«, welches in der angedeuteten Weise
über die öffentliche Domäne zu Gunsten der
grossen Menge der wenig bemittelten West-
wanderer verfügte, ging aus einer jahi'zehnte-
langen Agitation der getreidebauenden Klein-
farmer des Nordens gegen die bis dahin in
der Landgesetzgebung der Union über-
wiegenden Interessen grosskapitalistischer
Landspekulanten und der sklavenhaltenden
Grossgnmdbesitzer in den »Baumwollstaaten«
hervor. Mit dem Programm der damaligen
Bodenreformer verknüpfte sich die Forderung,
den Grundbesitz vor dem Zugriff der Gläu-
biger zu schützen. Dieser Gedanke fand in
der Bestimmung des Bundesheimstätten-
gesetzes Ausdruck, wonach das auf Grund
desselben erworbene Land »in keiner Weise
für Schulden haftet, welche vor der Aus-
stellung des Eigentumstitels kontrahiert
worden sind«.
Auf breiterer Grundlage hat man den
Schutz der verschuldeten Bodenbesitzer in
den »Heimstätten«- oder »Exemtionsgesetzen«
zu verwirklichen gesucht, welche die meisten
Einzelstaaten der Union und einzelne cana-
dische Provinzen nach dem Vorgange des
Staates Texas (1839) erlassen haben. Im
Sinne dieser Gesetze versteht man 2) unter
»Heimstätten« solche Grundbesitzungen —
einerlei ob neu besiedelt oder nicht — ,
welche in gewissen Grenzen der Zwangs-
vollstreckung entzogen sind. Das ist die
Bedeutung, mit welcher man den Ausdruck
nach Europa übertragen- und zum Losungs-
wort einer Bewegung gemacht hat, welcne
eine Reform des geltenden Agrarrechtes im
antikapitalistischen Sinne anstrebt. Im fol-
genden ist ausschliesslich von Heimstätten
der letzterwähnten Art die Äede.
2. Die nordamerikanische Heim-
stätteng^eset^^ebnnjp^. Sie unterscheidet
sich von den anderweit übhchen, die Zwangs-
vollstreckung einschränkenden Bestimmungen
dadurch, dass sie sich nicht begnügt, einen
zur Fristung der physischen Existenz und
zur Fortsetzung der Berufsarbeit des Schuld-
ners erforderlichen Betrag an Mobiharver-
mögen der Zwangsvollstreckung zu entziehen,
sondern solchen Schutz auf den unbeweglichen
Besitz ausdehnt. Die Heimstättengesetze
gehen also von einer liberaleren Auffassung
des »Notbedarfs« aus ; es ist die Anschauung,
1176
Heimstättenreclit
(lass, wenn der Schuldner vor der Yer-
armung bewahrt werden soll, neben ge-
wissen Konsnmtibilien , Werkzeugen und
Gregenständen des täglichen Gebrauchs die
Wohn- und Arbeitsstätte dem Zwangsverkauf
entrückt sein muss, dass insbesondere dem
selbständigen Landwirte die Unpfändbarkeit
seiner Geräte und Älaschinen wenig Nutzen
bringen kann, wenn ihm das Ackerland
genommen wird. Als zu schützende Heim-
stätte gilt demnach das vom Eigentümer
bewohnle, vielfach auch das als Geschäfts-
lokal oder Werkstatt benutzte Haus mit
Nebengebäuden und zugehörigem Lande. In
den meisten Staaten wird dasselbe indessen
so reich bemessen, dass das geschützte
»Existenzminimum« zu einem Minimum der
selbständigen wirtschaftlichen
Existenz erweitert erscheint. Aiif die
Ausbildung einer derartigen Gesetzgebung
war in Nordamerika einerseits der geringe
Weii: des Bodens und der meisten land-
wirtschaftlichen Baulichkeiten, die Leichtig-
keit, Grundbesitz zu erwerben, und die
w^eite Verbreitung solchen Besitzes — auch
in den Städten — , andererseits die hohe
ökonomische und ethische Wertschätzung
von Einfluss, welche der Arbeit in dem
dünnbevölkerten und in rascher Erschliessung
begriffenen Lande zu teil wird. Der Gnmd-
gedanke der so erweiterten Heimstätten-
institution erscheint als ein Ausfluss des
trotzigen Selbst- und ünabhängigkeit^gefühls
der dortigen Farmer und Grundeigentümer.
Mit der hervorgehobenen Tendenz ver-
knüpft sich aber eine andere : Die Heimstätte
wird in den meisten amerikanischen Staaten
nur dann überhaupt oder doch in vollem
Umfange geschützt, wenn sie einer Familie
zur Wohmmg und zum Unterhalt dient:
Das Familienhaupt ist als solches privilegiert,
und darunter wird jede Person verstanden,
welche für die Gattin oder für nahe Ver-
wandte zu sorgen hat. Weib und Kind
werden mit anderen Worten als die ei'sten
Gläubiger des Gatten und Vaters betrachtet ;
Forderungen sollen solange als nicht erzwing-
bar gelten, als ihre Beitreibung die Familie
des Schuldners, obdach- und subsistenzlos
machen würde. So dient die Heimstätten -
Institution namentlich auch dazu, die im
common law sehr ungünstige vermögens-
rechtliche Stelhmg der Ehefiun zu verbessern.
Voranssetzimg des Exemtionsprivilegs
bildet in manchen Staaten die Eintragung
des Gnmdstücks in ein öffentliches Register
auf Grund einer declaration of homestead.
Nach vei-scliiedenen Gesetzgebungen kann
diese Erklärung im Falle einer Säumnis des
Familien voi*standes von der Ehefrau allein
mit voller Wirkung abgegeben werden. Meist
aber wird jede thatsächliche Heimstätte von
Rechts wegen des Schutzes teilhaftig.
Die Grösse derselben wird regelmässig
durch Bezeichnung eines Maximalwertes be-
stimmt, wobei zwischen ländlichem und
städtischem Grundbesitz nicht untersclüeden
wird. Diese Summe beträgt meist 1000
Dollars — oder soviel für das Familienhaupt,
eine kleinere Summe dann ausserdem für
die Ehefrau und jedes Kind — , in den vier
in Betracht kommenden Neu-Englandstaaten
sind es nm- 500 bezw. 800 Dollars, in Vir-
ginia 2000, in Missouri 3000, in Californien
und Idaho 5000 Dollars (für ein Familien-
haupt, für andere Personen 1000 Dollars).
Anderswo ist für ländliche Heimstätten
von vom herein eine bestimmte Fläche Nutz-
landes eximiert, so in Jowa, Michigan und
Wisconsin eine solche von 40 acres, in
Minnesota 80, in Kansas, Nebraska, Nord-
und Süd-Dakota, Alabama, Arkansas, Florida,
Louisiana, Mississippi, Missouri, Montana,
Oregon imd in der canadischen Provinz
Manitoba 160, in Texas sog^r 200 acres
(1 acre := 0,405 ha). Ist die Heimstätte
von geringerem Umfang oder erreiclit der
Taxwert des ganzen Besitztums bezw. das
höchste Gebot bei der öffentlichen Ver-
steigenmg nicht den gesetzlich eximierten
Wert, so findet ein Zwangsverkauf des ge-
schützten Anwesens nicht statt.
Sofern der Umfang der Farmen über
das bezeichnete Mass hinausgeht, tritt eine
reale Abgrenzung der eigentlichen Heim-
stätte durch den Schuldner bezw. durch
gerichtliche Sachverständige ein, und dann
unterliegt der Ueberschuss der Zwangs-
versteigerung. Ist solche Realteilung ohne
wesentlichen Schaden nicht thunlicli, so
wdrd das Ganze, also auch die Heimstätte
vei'steigert, mid es verwandelt sich in diesem
Falle der Anspruch des Schuldners auf einen
unantastbaren Grundbesit-z in einen solchen
auf eine entsprechende Geldsimime. Viel-
fach — so in Ulinois — kaim der Schidd-
ner den gerichtlichen Verkauf dadurc^h hin-
dern, dass er den Uebei^chuss der Taxe
über den eximierten Wert innerhalb einer
gewissen Frist auszahlt. Nach diesen Be-
stininimigen ist die amerikanische Heim-
stättengesetzgebung weit von dem ilir oft
zugeschiiobenen Bestreben entfernt, die
grmidbesitzenden Familien nach Ai't von
Familienfideikommissen mit dem Boden
innigst zu verknüpfen, noch weiter aber von
jeilem Versuch, etwa den Arbeiter »an die
Scholle zu fesseln <'. Die ausserordentliche
Beweglichkeit des wirtschaftlichen Lebens
in dem jungen Kulturlande und die durch-
aus individualistischen Anschauungen, welclie
die Bevölkerung einschliesslich der Farmer
in Nonlamerika erfüllen, mussten die Bil-
dung eigentlicher Familienerbgüter dort
durchaus hintanhalten. Die Gesetzgebung
bezweckt lediglich die Sichenmg eines
Heimstätten reclit
1177
Existenzminimum, dem das Obdach hin-
zugerechnet wird, und der Möglichkeit,
dass der Familienvater seine Berufsarbeit
als selbständiger Wirt fortsetzen könne. Eine
Summe von 1000 DoDars genügt oder ge-
nügte doch bis vor nicht langer Zeit, um
im »fernen Westen« eine Farm zu erwerben
und auszurüsten. Wo aber Summen von
3—5000 Dollars oder Flächen von 160
bis 200 acres in Frage kommen, liegt eine
Liberalität vor, welche die erfreulichen Wohl-
stand sverhältnisse jung besiedelter Gebiete
in ein scharfes Licht rückt. Wenn anderer-
seits die Heimstätte in Neu-England durch
eine "Wertsumme von nur 500 — 800 Dollars
begrenzt wird, umschliesst sie kaum mehr
als eine einfache Wohn- und Werkstätte.
Die Exemtion der Heimstätte dauert nach
dem Tode des Familienhanptes regelmässig
nicht länger als bis zum Ableben der Witwe
bezw. bis zur Erlangung der Örossjährigkeit
des jüngsten der hinterbliebenen Kinder.
Bei anderweitiger Sicherung dieser Personen
fällt der Anspnich in verschiedenen Staaten
fort.
Insoweit erscheint die hier behandelte
Rechtsinstitution als ganz konsequent ge-
dacht. Aber bezeichnenderweise lässt sie
gerade bei dem entscheidenden und schwie-
rigsten Punkte ihre eigenen Grundgedanken
ganz und gai* fallen, nämlich da, wo an den
Grundbesitzer die Yei-suchung oder Not-
wendigkeit herantritt, sich durch Verpfän-
dung seines Besitzes den relativ billigen
Hypothekenkredit zu erschliessen. Die Ver-
pfändung der Heimstätte ist uneingeschränkt
zugelassen dei'art, dass hypothekarisch ge-
sicherte Fordenmgen auch m die Heimstätte
voDstreckt werden können. Regelmässig ist
sogar ein gänzlicher Verziciit auf das Heim-
stättenprivileg gestattet. Verpfändung und
Verzicht sind — ebenso wie die Veräusserung
der Heimstätte — nur insofern erschwert,
als der verheiratete Besitzer dazu der aus-
driicklichen Zustimmung der Ehefrau bedarf.
Allein in Texas ist die wirksame Verpfän-
dung der Heimstätte selbst mit Zustimmung
der Ehefrau principiell ausgeschlossen. Auch
in Louisiana hat das oberste Gericht Hypo-
thekenfordcnmgen gegenüber der Heimstätte
für un erzwingbar erklärt.
Es liegt nun aber von vom herein auf
der Hand, dass, sobald die Zeiten der aller-
ersten Occupation des öffentlichen Landes
vorüber sind, sobald die grossen Ursachen
der Grundverschuldimg, namentlich häufige
Besitz Wechsel Platz greifen, das Mitbestim-
mungsrecht der Frau nicht im mindesten
genügen kann, um gerade der unproduktiven
Verschuldung im Wege des Besitzkredites
vorzubeugen. Die Bedeutung der Heim-
stättengesetzgebung reduziert sich dann
darauf, dass kluge und energische Frauen
in ihr eine Handhabe besitzen, um sich und
die Ihrigen vor den Folgen der Un-
Wirtschaftlichkeit und des Ijeichtsinns
ihrer Männer zu bewahren. Auch diese
Wirkung wird durch die Bestimmung ab-
geschwächt — 'die sich ziemlich gleich-
lautend in allen Heimstättengesetzen, ein-
schliesslich desjenigen von Texas, findet — ,
dass ohne weiteres in die Heimstätte voll-
streckt werden können ausser Steuern und
Forderungen, welche vor der Begnlndnng
der Heimstätteneigenscliaft entstanden sind,
auch die Forderungen aus dem An-
kauf der Heimstätte. In diesem Falle ist
auch in Texas die Verpfändung der Heim-
stätte, und zwar ohne Zustimmung der
Gattin zugelassen. Nicht minder sind regel-
mässig Forderungen für Verbessenmgen der
Heimstätte allgemein exequierbar; in Texas
wie anderwärts jedoch nur dann, wenn der
betreffende Kontrakt mit Zustimmung der
Frau geschlossen worden ist. Die in Amerika
sehr ausgedehnten gesetzlichen Pfandrechte
von Handwerkern für gelieferte Arbeiten
greifen auch gegenüber der Heimstätte Platz.
Die Grundverschuldung ist in Nordame-
rika infolge der gr^3sseren Jugendlichkeit der
Kultur, der geringeren Dichtigkeit der Be-
völkenmg, der bestehenden Erbgewohnheiten
(volle Testierfreiheit) etc. niedriger — auch
im Verhältnis zum Bodenwerte wohl nie-
driger als in den europäischen Ländern ; sie
ist aber durch die Exemtion sgesetze in
irgendwie bemerkbarer Weise nicht gehemmt
worden und in vielen Gegenden Nordameri-
kas thatsächlich äusserst drückend. All-
jährlich kommen seit dem Rückgange der
Getreidepreise in den 80 er Jahren wie in
Europa Tausende von Farmen zur zwangs-
weisen Vorsteigerung ; wenn sich die Pacht-
wirtschaft in Nordamerika in auffallender
Weise innerhalb \md ausserhalb der Getreide-
region ausgebreitet hat, so ist dies nicht
nur durch Fehler der Besiedelungspoiitik,
sondern auch auf dem Wege der Verschul-
dung und Subhastation bewirkt woixlen.
Die Heimstättengesetze verhüten nicht den
häufigsten freihändigen Besitzwechsel der
Farmen, sie bilden nicht einmal ein Hemm-
nis wucherischer Ausbeutung, die in Nord-
amerika keineswegs eine seltene Erscheinung
ist. Der Umstand, dass der Schutz gegen
Zwangsvollstreckung von vom herein auf die
Personalschulden beschränkt ist, hingegen
gegenüber der Verpfändiuig gänzlich ver-
sagt, hat zu einer übermässigen Ausdehnung
des Real- auf Kosten des Personalkredits
geführt. Der Fanner erhält regelmässig
kein Darlehen, keinerlei sonstigen Kredit
ohne reale Sicherheit, d. h. namentlich
Hypothek. Selbst Maschinen werden häufig
nur gegen Hypothek verkauft, in Indiana
sollen 30 ^/o aller Hypotheken diesen Ent-
1178
Heiinstättenreeüt
stehuDgsgrund haben. (S. 421 Ann. Rep.
Comm. Agi\ 1886, Wa&lungton 1887.) Dar
neben haben so bedenkliche Kreditformen,
wie die Verpfändung der wachsenden Ernte,
in vielen Teilen, so namentlich in den Stid-
staaten, die weiteste Verbreitung erlangt.
Die berufsmässigen Kreditvermittler (Banken,
Sparkassen etc.) fühlen sich denn auch durch
die Heimstättengesetze nicht im mindesten
beengt ; wohl aber beklagen sich die kleinen
Händler aUer Art und besonders die Kram-
ladenbesitzer — die nicht immer in der Lage
sind, ihre Fordenmgen durch Pfand sicher
zu stellen — lebhaft über häufige Verluste
infolge der geltenden Exemtionen , sie hal-
ten sich scliadlos durch den allgemein üb-
lichen bedeutenden Preisaufschlag für kre-
ditierte Waren.
Das einzige der amerikanischen Heim-
stättengesetze, das texanische, welches in
einigermassen wirksamer Weise der Grund-
verschuldung vorbeugt, indem es die Ver-
pfändbarkeit der recht gross bemessenen
Heimstätten einengt, mochte wirtschaftlich
günstig wirken, solange in Texas eine ganz
extensive Landwirtschaft, namentlich Weide-
wirtschaft vorherrschte ; der Farmer brauchte
wenig Betriebskapital, und die grossen Her-
den boten eine ausreichende Kreditgrund-
lage. Heute klagen die Landwirte in Texas
über Kapitalmangel, und nach dem Jahres-
berichte des Ackerbauamts der Union für
1886 (S. 426) ist es dort »eine gewöhnliche
Praxis, dass der Farmer sich mit dem Krämer
arrangiert wegen eines Vorschusses von
2 — 5 Dollar, im allgemeinen 3 Dollars per
acre kultivierten Bodens gegen Verpfändung
der wachsenden Ernte«. »Der jährliche
Zinsf uss beträgt 12 %, aber der thatsächliche
Unterschied zwischen dem baren und dem
kreditierten Preise ist 25 — 50 ®/o.« »Der
westliche Teil des Staates, der sich aus-
schliesslich mit Viehzüchten abgiebt, ist in
besserer Lage als der östliche.« —
Anhang: Entsprechende Gesetze in
anderen Ländern. Nach Claudio Jannet
ist die homestead - exemption auch
allen australischen Kolonieen
geführt.
In Serbien und Rumänien bestehen
Gesetze, welche die Verschuldung und Ver-
äusserung von bäuerlichem Gnmdbesitz teils
verbieten, teils beschränken. Auch in Bri-
tisch-Ostindien ist die Zwangsvoll-
streckung in bäuerliches Grundeigentum
durch neuere Gesetze wesentlich erschwert
wonlen. Die hierauf bezügliche Litteratur
ist unten angeführt. Jene Gesetze sind aus
so abweichenden politischen, sozialen und
wirtschaftlichen Bedingimgen erwachsen,
dass sie einer vorbildlichen Bedeutung für
die Verhältnisse der älteren europäischen
Kulturländer durchaus entbehren.
in
ein-
8. Die europäische Heimstattenbe-
wegung. Die landwirtschaftliche Krisis,
welche die Konkun^enz Nordamerikas und an-
derer neu ersclüossener Getreidegebiete in
Europa seit dem Ende der 70 er Jahre lier-
aufführte, deckte ziun ersten Mal in einer
den weitesten Kreisen sichtbaren Weise ein
soziales Uebel auf, welches längst von tiefer
Blickenden als solches beklagt worden war:
die starke Verschuldung der ländlichen
Grundbesitzer. Die Senkung der Getreide-
preise würde nur eine empfindliche Ein-
schränkung des Einkommens der Landwirte,
nicht aber, wie es thatsächlich der Fall war,
den wirtschaftlichen Ruin zahlreicher grund-
besitzender Familien zur Folge gehabt haben,
wäre nicht die Landwirtschaft mit einer
enormen Zinspflicht belastet, die trotz Bück-
ganges des Zinsfusses unaufhörlich anwach-
send, durch die Minderung der pekuniären
Reinerträge vielfach unerechwingUch gewor-
den ist. Nun erhob sich vielerorts eine
lebhafte Reaktion gegen das bestehende
Grundbesitzrecht In einer breiten Littera-
tur, in Versammlungen und Resolutionen
wurde eine Modifikation der Principien ge-
foixlert, welche seit Ablösung der vom Mit-
telalter überkommenen Agrarverfassung fast
übei'all zur konsequenten Durchfühnmg ge-
kommen ivaren : der freien Vei*schuld barkeit
und Veräusserlichkeit des Grundbesitzes und
seiner Unterstellung luiter das städtische,
vorwiegend auf Mobiliarvermögen l>erech-
nete Erbrecht.
Anfang der 80 er Jahre lenkten Rudolf
Meyer, L. v. Stein u. a. die allgemeine Auf-
merksamkeit auf das nordamerikanisohe
Heimstättenrecht, und wenn auch die rosi-
gen Schilderungen, welche der ersterwähnte
Schriftsteller von den Wirkungen dieser Ge-
setzgebung entwarf, von dem Unterzeichneten
als ül>ertrieben und falsch nac*.hgewiesen
wurden, so wirkte doch die gegebene An-
regung fort und zeitigte Bestrebungen,
welche eine Nachbildung der amerikanischen
Institution unter Anpassung an die europä-
ischen Wirtscliafts- und Rechtsverhältnij-se
versuchten.
Wie aus der unten angegebenen Litte-
ratur hervorgeht, hat die Bewegung, von
Oesten-eicli , Deutschland und der Schweiz
ausgehend, auch die remanischen Länder
ergriffen. Zu formiüierten Gesetzesvor-
schlägen, denen die gesetzgebenden Fak-
toren und öffentlichen Körperschaften näher
getreten sind, ist es bisher nui* in den drei
erstgenannten Ländern gekommen. Die in
Oesterreich und Deutschland erörterten
Entwürfe sollen hier kurz besprochen wer-
den.
Man kann dieselben nach den ver-
schiedenen Gesichtspunkten, unter denen
sie aufgestellt sind, und den Zielen, welche
Heimstättenrecht
1179
sie (lomentsj)rechend verfolgen, in drei Kate-
gorieen einteilen.
A. Schutz eines BesitE- oder
Vermögens - Minimum vor der Zwangs-
vollstreckung.
Die eine Gruppe von Vorschlägen will das
dem Zugiiff der Gläubiger im Zwangsvoll-
streckungsverfahren entzogene »Existenz-
miuimum<^ nach dem Vorbilde der amerika-
nischen Heimstättengesetzgebung für den
Grundbesitz, insbesondere für landwirtscliaft-
liche Anwesen dadurch allgemein erweitern,
dass sie je für eine gewisse Fläche Landes
mitAVohn- undWii'tschaftsgel>äuden denselben
Schutz zubilligt, welcher schon bisher dem zum
"VVirtschaftsbetrieb unentbehrlichen Vieh- und
Feldinventar etc. zu teil wird. Die ge-
setzliche Gewährung eines unangreifbaren
Gruudbesitzminimum wurde im Jahre 1882
von Seiten des deutschen Reichskanzlers in
einem Erlass an das Reichsjustizamt angeregt ;
über die gleiche Frage wurde im Jahre 1883
aus Anlass der Agrai^nquete im Qrossher-
zogtura Baden von einer Kommisijion der
dortigen II. Kammer beraten — hier wie
dort mit negativem Ergebnis. Im Jahre 1891
liat der Deutsche Landwirtschaftsrat die
Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung
in das mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch
für das Deutsche Reich zu erlassende Ge-
setz über die Zwangsvollstreckimg in Lie-
genschaften befürwortet Die betreffende
Resolution lautete:
^ Von der ZwangsvoUstrecktin^ in landwirt-
schaftliche Anwesen soll (allgemem oder doch
wenigstens gegenüber der Zwangs- und Siche-
rungshypothek) — infolge richtiger Ausbildung
des dem g 715 (jetzt 811) d. C.P.O. zu Grunde
liegenden Gedankens — unter' Wahrung der
Rechte der Gläubiger, die zur Zeit der Erlassung
eines solchen Specialgesetzes bereits bestanden
haben, ein Besitzniinimum, ttber dessen Grösse
die Landesgesetzgebung Bestimmung zu treffen
hat, und das neben den nötigen Wohn- und
AVirtschaftsräumen eine im Verhältnis zum Ge-
samtbesitz zu bemessende Fläche Land zu um-
fassen hätte, ausgenommen sein.^
Der Referent (Ad. Buchen berger) begrün-
dete die hierin geforderte Neuenmg damit, dass
es wünschenswert wäre, neben einem wei-
tergehenden , fakultativen Heimstättenrecht
baldigst einen Zustand herbeizufühi'en, der
für alle Beteiligten Platz griffe. Man
wertle mit der Fixierung eines unantastbaren
Besitzminimum vor allem dem Wucher
steuern, der gerade die Zähigkeit der
kleinen Leute im Festhalten ihres mühsam
erworbenen Besitzes und ihre Fure.ht vor
dem Verluste desselben zu Erpressimgen
der schlimmsten Art zu benutzen wisse.
Ohne den legitimen Kredit der kleinen Leute
wesentlich zu schädigen, der vorwiegend
ein Pei*sonalkredit sei , wtirde man ferner j
die Hauptursache der Pfandeintragungen
auf Anwesen kleiner Besitzer beseitigen,
wenn man durch die Begrenzung der Exe-
quierbai'keit der (Kaufgeld-) Forderungen
den übertrieben starken Begehr nach Grund-
stückserwerb einigermassen auf die zahlungs-
fähigen Bewerber einscliränke.
Die Ti'agweite der hier in Anregung ge-
bi'achten Massnahme würde ei-st durch eine
nähere Ausgestaltung des Grundgedankens
übereehbar werden. Selbst die Frage, ob
der Schutz des Besitzminimum auch gegen-
über Hypothekenforderungen Platz greifen
solle, ist offen gelassen. Der Antragsteller
hat offenbar in erster Linie die Verhältnisse
des west- und süddeutschen Kleingrund-
besitzes im Auge gehabt, für den mittleren
imd grösseren Besitz würde die reale Aus-
scheidung eines Besitzminimum meist durch-
aus unthunlich sein und in einzelnen Staaten
mit dem dort anerkannten Gnmdsatz der
Unteilbarkeit landwirtschaftlicher Besitzun-
gen in Widerspnich treten. Fiir derartige
Fälle müsste das Besitzminimum in einem
Geldäquivalent Ersatz finden können. Eine
entsprechende Erweiterung des »Notbedarfs«
für andere oder aUe Klassen der Bevölke-
rung würde aber dann um so weniger von
der Hand zu weisen sein.
Diese Absicht lag dem Antrage Grünberg
zu Grmide, der auf dem 24. Juristentage
(1898) zm- Verhandlung kam, dass nämlich
allgemein »durch zwingende Rechtsvor-
schriften ein ge'W'isses dem Weil; nach
fixiertes Vermögensminimum für exe-
kutionsfrei erklärt und zugleich der Kreis
der unpfändbaren Mobilien — als Grenze des
exekutionsfreien Vermögensbetrages nach
imten zu — erweitert« werden sollte.
»Innerhalb der exempten Vermögenswert-
grenze« sollte '>der Schuldner auch Grund
und Boden als unpfändbar reklamieren
können; sobald derselbe landwirtschaftlich
genutzt wird aber nur dann, wenn die
Exemption nicht zur Zersplittening eines
Komplexes führen würde, der bis zur Zwangs-
vollstreckung eine wirtschaftliche Einheit ge-
bildet hat« . Als Wertgrenze wurden Summen
von 600—1000—2000 Mark genannt. jVIan
wandte dagegen vornehmlich ein, der Land-
bauer, der sich mit dem Besitzminimum zufrie-
den geben müsste, wäre lediglich ein ländlicher
Arbeiter, der seine Erw'erbsthätigkeit auch
ohne eigenes Obdach und Grundvermögen
fortsetzen könnte. Es wäre bedenklich, die
Minimaigrenze der pfandfreien Sachen er-
heblich über den jetzigen Stand zu einÄ'eitem,
solange noch ein fleissiger Arbeiter oder
kleiner Handwerker ein Jadirzehnt und länger
brauche, um einen Betrag von lOOl) Mk. zu-
sammenzusi)ai*en ; ein solcYies Vollstreckungs-
privileg würde eine unbillige Bevorzugung vor
allen übrigen Staatsbürgern gleicher Bildung
1180
Heimstättenrecht
und Lebensstellung gewähren. Diese Ein-
wände entstammen einer sozialen Sphäre, in
der eine Ersparung von 600 — 2000 Mk. in
der That nicht jedem fleissigen Manne ge-
lingt und der Besitz eines eigenen Obdachs
nicnt zur normalen oder auch nm* zweck-
mässigen Ausstattung des Landarbeiters ge-
hört, wie letzteres besonders für die ost-
deutschen Gutsbezirke zutrifft. Aber bei
steigenden Löhnen, fortschreitender innerer
Kolonisation und rascher Ausbreitung des
Kleingnmdbesitzes nähern wir uns doch
bereits stark einem Zustande, der es in der
That gestatten würde, für jedermann ausser
dem Arbeitslohn, dem Handwerkszeug etc.
doch auch ein gewisses Mass von Erspar-
nissen und auf dem Ijande ein eigenes be-
scheidenes Obdach als wesentlichen Bestand-
teil der wirtschaftlichen Existenz anzusehen.
Die Ai^umentation, der Schutz eines ge-
wissen geringen Ausmasses an Gnmdbesitz
sei die Konsequenz des schon geltenden
Satzes von der Unpfändbarkeit der zur Fort-
fühnmg der AVirtschaft erforderlichen In-
ventarien und landwirtschaftlichen Erzeug-
nisse, trifft nicht zu, weil jener Satz den
ungefährdeten Besitz eines eigenen Gutes
eben voraussetzt und lediglich unter dieser
Voraussetzung die Fortführung des Betriebes
ermöglichen will. Der selbständige l )äuer-
liche Gnmdbesitz als solcher würde von der
Rechtswohlthat des »Besitzminimum« in dem
geplanten Umfange keinen Vorteil haben und
kann auch gar nicht ohne gi'osse Unzuträg-
liohkeiteu durch allgemeine Exekutions-
beschränkungen geschützt werden. Eine
Voi*schrift, die z. B. 80 Morgen mittleren
Bodens — d. h. das Mindestmass einer
selbständigen Wii-tschaft in den meisten Ge-
treide bauenden Bezirken Deutschlands —
vor der Zwangsvollstreckung schützen wollte,
wüixle Werte von 6 — 10000 Mk. eximieren.
Die in solcher Summe enthaltene kapitali-
sierte Grundrente kann ohne soziale Be-
denken veri)fändet werden, und es muss dem
Besitzer die Möglichkeit offen bleiben, sie
als Unterlage seines Realkredits zu benutzen.
Andernfalls wtirtlen die gleichen und noch
grössere Schädigungen eintreten, wie sie
oben für die Ackerbaudistrikte von Texas
hervorgehoben w urd en .
Die deutschen Verhandlungen über das
zu schützende Besitzminimum bestätigen
ebenso wie die amerikanischen Erfahrungen,
dass ein Schutz der selbständigen Güter
nicht durch allgemeine und deshalb ixih
schematische Bestimmungen über Exekutions-
beschränkungen zu erzielen ist.
B. Begründung von Familien-
„Erbgütem".
Die zweite Grui)j)e der Vorsehläge geht
von dem Gedanken aus, der Gnmdfehler des
geltenden Besitzrechtes sei dessen kapita-
listische und extrem individualistische Auf-
fassung des Grundeigentums. Es sei falsch
gewesen, zugleich mit der Befreiung von der
Grund- und Gutsherrschaft den Bauern-
gütern — diese hat man zunächst im Auge
— den Charakter des dereinst nicht nur im
gnindherrlichen und staatlichen, sondern zu-
gleich im Interesse der bäuerlichen Familien
selbst gebundenen Besitzes zu nehmen. Der
Grundbesitz werde seiner ethischen und
volkswirtschaftlichen Aufgabe allein gerecht,
wenn er von Generation zu Generation einen
gesicherten Wohlstand und damit die Tra-
ditionen wahrer Unabhängigkeit und gesitte-
ten Familienlebens übertrage. Nur durch
eine Wiederbelebung der älteren Rechts-
gedanken könne der Bauernstand einei-seits
vor der Vernichtung durch Latifundien-
bildun^ und Parzellierung, andererseits vor
kapitalistischer Enteignung und wucherischer
Ausbeutung gesichert, in seiner alten Tüchtig-
keit erhalten werden. »Dem Heimstätten-
recht«, sagt einer seiner hervorragendsten
Vorkämpfer, Otto Gierke, »liegt der in
unserem Rechtsbewusstsein durch alle Vor-
herrschaft des römischen Rechtes nicht aus-
getilgte nationale Gedanke zu Grunde, dass
die Hofstätte mit ihrem Zubehör nicht bloss
ein Vermögensstück oder gar eine Wai-e,
sondern eine »Heimat«, die Basis eines Fa-
milienlebens und seiner wirtschaftlichen und
ethischen Betliätigung ist. Indem das Heim-
stättenrecht eine solche Hofstätte der Ver-
schlingung durch das beutelustige bewegliche
Kapital, der Zertrümmerung durch die
Wechselfälle des Verkelirs und des Erb-
ganges, sowie der Aufsaugung durch den
Grossgrund besitz entzie'iit, sorgt es für die
Verwirklichung des bewusst oder unbewusst
in unserer Landbevölkerung bis heute leiden-
den Rechtsideals.« Aufgabe der Heim stätten-
institution ist es daher, die Bauernhöfe oder
überhaupt Wohnstätten mit mehr oder weniger
Land in dem Besitze und der Erbfolge der
Familien auf längere Dauer zu erhalten.
Ueber die Rätlichkeit der Einfülirung
eines diesen Ideeen entsprechenden Heim-
stättenrechts (» Erbgüten'echts «) hat die
österreichische Regienmg Anfang der
achtziger Jahre eingehende Erhebungen ge-
pflogen. Auf Grund derselben arbeitete der
Ministerialrat Karl Pevrer Ritter von Heim-
statt die miten citierte »Denkschrift^ aus,
unter Mitteilung eines Gesetzentwurfes,
welcher in seinem ersten Abschnitt ein neues
Intestaterbrecht für Bauerngüter überhaupt
im 2. den Plan des »Erbgüterrechts ^ ent-
hält. Die Gnuidzüge des letzteren sind die
folgenden :
1) Erbgüter sind diejenigen landwiit-
I schaftlichen und mit einem Wohnhaus ver-
i scheuen Anwesen, welche auf Antrag des
Heimstättenrecht
1181
Eigentümers in ein beim zuständigen Be-
zirksgericht zu führendes Erbgüterbuch ein-
)trdgen sind. Niu' solche Landgüter, deren
[atasti*alreinertrag sich zwischen 50 und
irXK) fl. bewegt, können eingetragen werden
— eine Abänderung dieser Beträge bleibt
der Landesgesetzgebung vorbehalten. Aus-
geschlossen ist demnach nur der Parzellen-
und der (rrossgamdbesitz. Für den Oross-
ginmdbesitz werden die Erbgüter durch
Fideikommisse ersetzt. Jedoch können nach
dem Entwurf auch Besitzer grösserer Güter
einen Teil ihrer Liegenschaften innerhalb
des oben gedachten Ausmasses zum Erbgut
erklären und den übrigen Teil als walzende
Grundstücke und beliebig belastbar be-
sitzen.
2) Die Eintragung in das Erbgüterbuch
ist für jeden nachfolgenden Eigentümer ohne
Ausnahme wirksam. Eine Löschung kann
niu- auf Antrag des Eigentümers und nur
dann stattfinden, wenn sie nachweislich mit
anderweitig nicht erreichbaren Voi*teilen für
die Bewirtschaftung des Gutes verbimden
ist. Dasselbe gilt von der Abtrennung
von Gnmdstücken des Erbgutes mit der
Einschränkung, dass der verbleibende Wert
nicht unter das zulässige Mindestmass eines
Erbgutes herabgesetzt werden darf. Ohne
weiteres ist die Abtrennung gestattet im
Fall eines Auseinandersetzun^verfahrens,
eines Austausches gleichwertiger Grund-
stücke und da, wo eine Zwangsabtretimg
gesetzlich bewirkt werden könnte. Der
Veräusserung im ganzen steht nichts
im Wege.
3) Das Erbgut kann nur mit ablösbaren
Grundrentenschulden (ohne besondere Ge-
nehmigung) be lastet werden, deren Jahres-
betrag die Hälfte des Katastralreinertrags
.nicht überateigt (bezw. mit Hypotheken,
(leren Kapitalbetrag unter dem zehnfachen
des Katastralreinertrags bleibt). Es entspricht
dieses Mass der Grenze, welche »in der
Regel solide Kreditinstitute bei . Gewähning
von Darlehen einzuhalten pflegen«. Aus-
nahmsweise kann die Realbehörde eine höhere
Belastung auf Ansuchen des Besitzers eines
Erbgutes und zwar mit Jahresrenten bis
zum ganzen Katastralreinertrag (bezw. mit
Hypotheken bis zum zwanzigfachen des-
selben) unter der gleichen Voraussetzung
bewilligen, welche eine Parzellierung des
Erbgutes statthaft macht Die Bewilligung
ist jedoch an die Bedingung zu knüpfen, dass
die höhere Belastung ratenweise längstens
binnen zwanzig Jahren zu tilgen ist Oeber-
dies ist eine Belastung des Erbgutes zuge-
lassen mit den Erträgnissen des Gutes an-
gemessenen Ausgedingen oder Leibrenten zu
Gunsten des Vorbesitzers oder seines über-
lebenden Ehegatten, sowie mit der Ver-
pflichtung, die minderjährigen oder erwerbs-
unfähigen Kinder des Vorbesitzers zu erziehen
und standesgemäss zu unterhalten.
4) Dem Zwangsverkauf unterliegt
das Erbgut nur wegen Rückständen aus den
vorerwähnten Belastungen, ferner wegen
Rückständen an öffentlichen Abgaben und
solchen Leistungen, denen gesetzlich der
Vorrang vor anderen Reallasten oder ein
sonstiges gesetzliches Pfandrecht eingeräumt
ist (z. B. Beiträge von Wassergenossen-
schaften). Auch wegen anderer (Personal-)
Schulden hat der Gläubiger das Recht, die
exekutive Feilbietung des Erbgutes zu er-
wirken, wenn der Eigentümer nicht seinen
ordentlichen Wohnsitz auf dem Erbgute hat.
Dem Zwangsverkauf eines Erbgutes soll in
der Regel die Sequestration voraus-
gehen. Für mehr als zweijährige Rückstände
an Jahresleistungen oder für fällige Kapi-
talien soD jedoch der Zwangsverkauf sofort
bewilligt werden. Während der Dauer der
Sequestration gebührt dem Besitzer und
seiner Familie Wohnung und Unterhalt auf
dem Gute.
5) Die einschränkenden Bestimmungen
über die Zerstückelung und Belastung von
Erbgütern finden auch auf letzt will ige
Anordnungen und auf die Intestat-
erbfolge Anwendung. Im übrigen gilt
für die letztere das allgemeine bäuerliche
Anerbenrecht. Durch Testament oder Legat
kann der Erblasser dem gutsübernehmenden
Erben zwar vorbehaltlich seines Pflichtteii-
rechts auftragen, anderen Personen höhere
Legate oder Erbteile zu bezahlen; soweit
dieselben aber ihre gesetzlich zulässige
Deckung nicht im Erbgute finden, haftet der
Erbe für sie nur als Personalschuldner. Die
möglichen Härten dieser Vorscliriften werden
durch die Bestimmimg gemildert, dass Ge-
schwister des Anerben, solange sie minder-
jährig oder wegen körperlicher oder geistiger
Gebrechen erwerbsunfähig sind, vom Guts-
übernehmer standesgemässen Unterhalt auf
dem Gute gegen standesgemässe , ihren
Kräften entsprechende Mitarbeit bean-
spruchen können.
6) Solche Güter, welche bereits höher
als bis zur Normalgrenze belastet sind,
können zwar als Erbgüter eingetragen wer-
den, jedoch wird dadurch den bereits ein-
getragenen Hypothekarforderungen das Recht
der Exekution nicht entzogen oder be-
schränkt Auch beginnt für nicht einge-
tragene Forderungen die Wirkimg der ein-
schränkenden Belastungs- und Ikekiitions-
bestimmungen erst 6 Monate nach erfolgter
Kimdmachung der Eintragung in das Erb-
güterbuch. Andererseits können allerdings
dem Zwangsverkauf unterzogene Erbgüter
nur mit Beibehaltimg der Eigenschaft als Erb-
güter versteigert und dann dem Ersteher nur
solche Forderungen zur üebernahme über-
1182
lleimslättenreclit
wiesen werden, mit welchen ein Erbgut
nach Ziffer 3 belastet werden darf. Die
übrigen Forderungen sind zu löschen, und
soweit sie im Meistgebot ihre Deckung fin-
den, auf dieses zur Barzahlung anzuweisen.
Das österreichische G. v. 1. April 1888
betreffend die Einführung besonderer Erb-
teilungsvorschriften für land^virtschaftliche
Besitzungen mittlerer Grösse hat den ersten
Teil des in der Peyrerschen Denkschrift be-
handelten Entwurfs mittlerweile vorbehalt-
lich ergänzender und ausführender Landes-
gesetze in Kraft gesetzt Yon einer weite-
ren Verfolgung der Erbgüterfrage hat man
hingegen vorläufig abgesehen, weil von einer
vernünftigen Erbschaftsgesetzgebung schon
allein viel für die »Sanierung der wirt-
schaftlichen Zustände erhofft werden dflrfe«
und »eine Erbrechtsordnung wie die nun
geschaffene den herrschenden Rechtsanschau-
UDgen eines grossen Teils der Bevölkerung
zwar entgegenkomme, die Einführung von
Erbgütern mit beschränkter Yerschuldbar-
keit aber bei den amtlichen Erhebungen
keineswegs allgemeine Zustimmung gefun-
den habe«.
In Deutschland brachte zunächst der
landwirtschaftliche Lokalverein Giessen den
Erlass eines Heimstätten- und Pfändimgsge-
setzes durch einen Antrag beim Deutschen
Landwirtschaftsrat im Jahre 1882 und zwar
ohne Erfolg in Anregung. Eine lebhafte
Agitation zur Einführung eines Heimstätten-
rechts wurde dann im Jahre 1890 durch
den Kammerherrn von Riepenhausen einge-
leitet. Der Entwurf eines entsprechenden Ge-
setzes wurde zuerst 1890 und seitdem wieder-
holt (zuletzt 1899) dem Reichstage vorgelegt,
er fand die Unterstützung seitens der kon-
servativen Parteien, der Centnimspartei und
einiger Nationalliberalen; einer Resolution des
Reichstags (1894), welche die Regierung auf-
forderte, in der Richtung des Antrages einen
Gesetzentwurf auszuarbeiten, gab der Bun-
desrat keine Folge. Wir teilen den Inhalt
des erwähnten Entwurfes in der von der
Reichstagskommission beschlossenen Gestalt
und in derselben Anordnung wie oben den
österreichischen Entwurf mit.
1. Als »Heimstätten« können in das
Ileimstätteubuch Grundstücke eingetragen
werden, welche »die Erzeugung landwirt-
schaftlicher Produkte ermöglichen«, »wenig-
stens einer Familie Wohnung gewähi-en«
(also auch blosse Häuslerstellen mit etwas
Garten- oder Ackerland), aber die »Grösse
eines Bauernhofs nicht übersteigen«. Die
nähere Bestimmung der Minimal- und Maxi-
malgrösse bleibt der landesrechtlichen Ord-
nung überlassen. Zubehör jeder Heimstätte
sind die Wohnung, die notwendigen Wirt-
schaftsgebäude , das unentbehrliche Wirt-
schaftsinventar etc. Ziu: »Errichtung einer
Heimstätte« sind nur Angehörige des Deut-
schen Reichs nach vollendetem 24. Lebens-
jahre befugt. Niemand darf mehr als eine
Heimstätte besitzen.
2. »Die Aufhebung der Heimstätteneigen-
schaft erfolgt durch Löschung im Heim-
stättenbuch« auf »hinreichend begrihideten
Antrag« des Eigentümers und nur unter Zu-
stimmung seines Ehegatten sowie der Renteu-
oder Annuitätenberechtigten.
3. Die Heimstätte ist absolut unteilbar,
also auch dann, wenn der ursprüngliche
Reinertrag sich vervielfachen sollte imd die
dringendsten wirtschaftlichen Bedürfnisse die
Teilung erfordern würden. Niu* ein Um-
tausch von Grundstücken ist gestattet, und
zwar nur mit Genehmigung der von der
Landesgesetzgebung zu bezeichnenden Heim-
stättenbehörde. Die Veräusserung im ganzen
ist mit Genehmigung des Ehegatten und an
Deutsche zulässig.
4. Die Heimstätte kann nur aus »begi'ün-
detem Anlass« mit Bewilligung der Behörde
bis zur Hälfte des Wertes belastet werden,
und zwar nur mit Rentenschulden oder
»Annuitäten«, für welche eine »dem Zweck
entsprechende Amortisationsperiode« festge-
setzt sein muss. Bestehende Hypotheken
und Grundschulden müssen vor der Ein-
tragung der Heimstätte in amortisierbare
Renfen oder in Amiuitäten verwandelt wer-
den. Die Bewilligung der Neubelastung
innerhalb der gesetzlichen Grenze muss er-
folgen »im Falle einer Missernte oder bei
sonstigen Unglücksfällen, zu notwendigen
Meliorationen und zur Abfindung von Mit-
erben«. Die Eintragung eines Altenteils
sowie von Unterhalt sverpflichtungen zu
Gunsten minderjähriger oder erwerbsim-
fähiger Geschwister (auch über die normale
Schuldgrenze hinaus) ist nicht voi^esehen.
5. Die Heimstätte unterliegt mit einer
unten zu nennenden Ausnalime dem Zwangs-
verkauf überhaupt nicht. Als Yollstreekungs-
massregel ist lediglich die von der Heim-
stättenbehörde zu vollziehende Zwangsver-
waltung zugelassen. Die Zwangsverwaltung
findet niu: statt »wegen Ansprüchen aus
Lieferungen und Leistungen, die zm* Er-
richtung und zum Ausbau der Heimstätte
verbraucht sind, wegen rückständiger Renten
oder Annuitäten, wegen gesetzlicher Ver-
pflichtungen und Yerpflichtungen aus uner-
laubten Handlungen«. Eine Kompetenz, die
dem Heimstätteneigentümer während der
Zwangs Verwaltung ausgezahlt wertlen müsste,
ist nicht festgesetzt
6. Die Heimstätte kann »vorbehaltlich
des Niessbrauchsrechts des überlebenden
Ehegatten«' nur an einen von der Landes-
gesetzgebung näher zu bezeichnenden An-
erben übergehen. Die nähere Regelung
des Niessbrauchsrechts des überlebenden
Heimstättenrecht
1183
Ehegalten iiud die Ordnung des Ileimstätten-
erbrechts bleibt der Landesgesetzgebung
ilborlassen.
7. Solche Besitzungen, >\'elche tiereits
stärker als bis zur Hälfte des Ertrags werls
belastet sind, können zur Eintragung in das
Heimstättenbuch zugelassen wenlen, >venn
der Eigentümer die Verpflichtung übernimmt,
die über jene Grenze hinausgehenden Hypo-
theken- und Grundschulden mit l^/o für
das Jahr zu tilgen, und die Tilgung genügend
gesichert erscheint. »Verstärkte Amortisa-
tion ist gestattet«.
Andererseits soll die Heimstätte der
Zwangsvollstreckung und zwar in diesem
Falle auch dem Zwangsverkauf unterliegen
wegen Forderungen aller Art, welche aus
der Zeit vor Errichtung der Heimstätte
stammen — aber hur innerhalb einer Frist
von drei Jahren nach Veröffentlichung der
Heimstätteneigenschaft Diese Bestimmung
würde die grosse Menge derjenigen Besitzer,
welche höher als bis zur Hälfte des Er-
tragswertes verschuldet sind, von der Mög-
lichkeit der Umwandlung ihi*er Besitzungen
in Heimstätten ausschliessen, da dann sofort
die sämtlichen, jene Gi*enze übersclireiten-
den Schulden gekündigt werden wthxien.
Der Heimstättengesetzentwurf hat eine
besonders eingehende Prüfung im Deutschen
Landwirtschaftsrat (1891 und 1893) gefun-
den. Derselbe kam bei aller Sympathie für
den sozialpolitischen Grundgedanken in
Uebereinstimmung mit der Melu*zahl der
von ihm befragten landwirtschaftlichen Cen-
tralvereine auf Grund eines Referats von
A. Buchenberger zu dem einstimmigen Be-
schluss, »die bisher gemachten Versuche der
Ausgestaltung eines Heimstättenrechts für
praktisch unzureichend und wirkimgslos« zu
erklären. Die Einwände gegen den Heim-
stättengesetzentwurf, der auch in der Kom-
missionsfassung nur als das Gerippe für ein
zu erlassendes Gesetz angesehen werden
kann, betrafen, abgesehen von dem aller-
nächst liegenden (absolute Unteilbarkeit,
mangelnde Sicherung der Miterben, unbe-
grenzte Dauer der für den Kleinbesitz über-
haupt nur ausnalimsweise passenden Zwangs-
verwaltung etc.), vor allem den Umstand,
dass der Heimstättenbesitzer ganz unter
Vormundschaft der Behörden bei Wegfall
aller Selbstverantwortlichkeit und gleich-
zeitig durch die schematische Festlegung
der Verschuldungsgrenze in vielen Fällen
unnötiger Weise vor eine gänzliche Kredit-
sperre gestellt werden würde. Solle der Ent-
wurf überhaupt Gesetz werden können, so
müsste auch eme Organisation des Kreditwe-
sens vorangehen, welche auf Öffentlich-recht-
licher GnuuUage emehtet, die Befriedigung
des vorhandenen Kreditbedürfnisses pflicht-
mässig zu erfüllen hätte, und damit mt\sste
Hand in Hand gehen die obligatorische Ver-
sicherung gegen Wirtschaftsunfälle aller Art.
4. Aussichten praktischer Ver\iirk-
lichung. Es lässt sich mit Sicherheit voraus-
sehen, dass ein wie immer gestaltetes
fakultatives Heimstättenrecht zunächst im
ganzen Rhein- und Maingebiet ein toter
Buchstabe bleiben wünle, da es den herr-
schenden und seit Jalirhunderten festge-
wurzelten Rechtsanschaiuuigen, namentlich
den Vererbungsgewohnheiten, aufs äusserste
widersti*ebt. Aber auch für Länder, in
denen der bäuerliche Besitz regelmässig
geschlossen bleibt, wäre keine günstige
Prognose zu stellen. Der bäuerliche Besitzer
will in seinen Verftlgungen über den Gnmd-
besitz möglichst unbeschränkt sein. Der
weniger verschuldete Besitzer würde also die
Eintragung seiner Stelle in das Heimstätten-
buch sicherlich unterlassen, während der
hoch verschuldete dazu ausser stände wäre.
Aussicht auf eine wirksame Reform des
agrarischen Schuldi-echts ist nur vorlianden,
wo der Staat es im grossen unternimmt,
sei es in die überkommene Grundbesitzver-
teilung einzugreifen — also bei der inneren
Kolonisation — , sei es das zum allgemeinen
Bewusstsein gekommene Uebel weit ver-
breiteter üeberschuldung zu heilen. Denn
im einen wie im anderen Falle würde er
es in der Hand haben, die Bedingimgen der
Landverleihung und der Schuldcntlastung
festzusetzen.
Für Arbeiterstellen ist jedes »Erbgüter«-
oder »Heimstättenrecht« in dem hier behan-
delten Sinne des Wortes von vorn herein
verfehlt, weil diese Stellen nicht geeignet
sind, einer Familie die dauernde Grundlage
ihrer wirtschaftlichen Existenz zu gewähren.
Man hat sie mit Recht in Deutschland wie
in Oesterreich vom Anerbenrecht ausge-
schlossen, und mit Recht beschränkt auch
der Peyrersche Entwurf seine Erbgüter von
vorn herein auf selbständige Güter. Füi'
Arbeiterstellen würde in der Erschwerung
der Veräusserung, die das Erbgüterrecht
beabsichtigt und herbeiführen würde, überall
ausserhalb dichter besiedelter Bezirke mit
reichlicher Auswahl der Arbeitsgelegenheiten,
also namentlich in den Grossgüterdistrikteu
eine Verschlechterung der sozialen Position
des Eigentümers liegen, weil dadurch die
Abhängigkeit von dem einzelnen oder von
einzelnen wenigen Arbeitgebern verschärft
werden wtirde.
üeber die ergebnislos verlaufenen Bera-
tungen eines Heimstättengesetzentwurfs im
Grossrate des Kantons Luzern und den
im ungarischen Reich&tage a limine
abgewiesenen Entwurf des Deputierten
Istöczy vgl. den unten citicrten Aufsatz von
Grünberg (Arch. f. soz. Gesetzgebg. Bd. IV
S. 377 und 380).
1184
Heimstättenrecht — Heiratsstatistik
Litteratur: Xordamerika: Das Bundesheim-
«UiUengeaeiz der nordamerikanUchen Union und
die Heimstäüengesetze dtn- amerikanischen Bundes-
staaten. Supplementheft zum Archiv des deut-
schen Landwirtschaftsrats f Berlin 1882. — JKud.
Meyer, Heimstätten- und andere Wirtschajts-
gesetze der Vereinigten Staaten, von Ckinada,
Russland etc., Berlin 188S. — Af. Sering, Die
landwirtschaftliche Konkurrenz Xordamerikas in
Gegenwart und Zukunft, Leipzig ls87, S. 155 —
168 (SS9, S77, 752). — Reports from H. M.
Minister at Washington on the homestead and
exemption laws in the U. S. Parliam. Püp. So. 2
(Commercial), 1887, London. — Rumänien:
K, Grihiberg, Arch. f. soz. Gesetzg. u. Stat.,
11, 74 ff' — Serbien und Ostindien: Ru4i,
Meyer L c. und Lar, v. Stein f Die drei
Fragen des Grundbesitzes und seine Zukunft,
Stuttgart 1881, Anhang. — Oesterreich: L.
V, Stein, Bauerngut und Hufenrecht in Oester-
reich. Gutachten, Stuttgart 1882. — K. Peyrer
R, von Heimstatt, Denkschrift betreffend die
Erbfolge in landwirtschaftliche Güter und dm
Erbgüterrecht flleimstättenrecht) nebst einem
hinauf bezüglichen Gesetzentwurf, Wien I884. —
Pospischil, Die Heimstätte mit besonderer
Rücksicht auf di€ Verhältnisse den bäuerlichen
Grundbesitzes in Oesterreich, Wien I884. —
Deutschland: Die Heimstättenfrage,
Separatabdr. aus dem Verhandlungsberichte des
deutschen Landwirtschaftsrats (XIX. Plenarver-
sammlung, 1891) über den Eni^ourf eines Reichs-
heimstättengesetzes, Berlin 1891. — Reichs-
tagsverhandlungen, 8. Legislaturperiode,
1. Session, 168. SiUung, 3. 11. 1892. Bericht
der XXIV. Kommission über den Entwurf eines
HeimstäUengesetzes für das Deutsche Reich,
aVr. 711 der Drucksachen des Reichstags 1892. —
K, V, Riepenhmisen-Crangen , Gesicherte
Familienheimstätten für alle Stände im Deutschen
Reiche, 3. Aufl., Leipz. 1891. — K, Grünberg, Der
Entwurf eines Heimstätiejigesetzes f. d. Deutsche
Reich, Arch. f. soz. Gesetzg. u. Stat., IV, S. S69.
— K, Schneider, Ueber die demnächstige Ge-
staltung des GrundbesitzrechUs in Deutschland,
insbesondere die Verwirklichung eines Heim-
stättenrechtes, Jahrb. f. Ges. u. Verw. XIV,
4^1 ff. — Derselbe, Das sogenannte Heim-
stättenrecht, ebenda Bd. XVI, 4S ff. — Ver-
selbe, Die Bewegung für Errichtung von Heim-
stätten, Deutsche Zeii- und Streitfragen, N. F.
VI, Heft 83, Hamburg 1891. — Verhandlungen
des 94. deutschen Jurlstentages, Berlin 1897.
Darin auch Gutachten von K. Grünberg und
M. Weber. — Frankreich: Claudio J^annet,
Le socialisme d'itat, Paris 1889, S, 429 ff. —
Italien : IppolUo Santangelo Spoto,
nL' homestead exemption lawu in rapporto ai
bisogni economici d*ltalia, Firenze 1891. —
Sonstige Litteraturangaben bei Schneider in
Jahrb. f. Ges. u. Verw. XVI, S. 57 f.
Ueber die heimstättenartigen Verschuldungs-
beschränkungen bei einem Teil der mecklenbur-
gischen ErbpäcJiter vgl. H. Paasche, Die
recht!. Wirtschaft!. Lage des Bauernstandes in
Mecklenburg-Schwerin. Sehr. d. V. f. Sozialp.,
Bd. XXIV, S. S5S und 861 ff.
Af. Sering,
UeiiDwerk
s. Gewerbe oben Bd. IV S. 360ff.
Heiratsstatistik.
1. Heiratsstatistik im allgemeinen. 2. Hei-
ratshäufifi^keit nach Ländern, Jahren und Jahres-
zeiten. 3. Bisheriger Familienstand. 4. Alter.
5. Beruf und soziale Stellung der Eheschliessen-
den. 6. Heiraten unter Blutsverwandten.
1. Heiratsstatistik im allgemeinen.
Die Heiratsstatistik hat es nicht mit
den vorhandenen Ehen überhaupt zu thun —
ygL darüber die auf die stehenden £heQ be-
züglichen Ausführungen im Artikel Haus-
haltungsstatistik oben S. 130 ff. — . Sie
hat die Eheschliessungen zmu G^en-
stande und bildet einen Bestandteil der Statin
tik über die Bewegung der Bevölkerung, wird
ja doch durch die alljährlich eingegangenen
Ehen die Zahl der Geburten und damit die
Entfaltung der Gesamtbevölkenmg wesent-
lich beeinflusst. Und zwar erstreckt sich
die Heiratsstatistik auf die objektiven Vor-
gänge der Eheschliessungen einerseits, auf
die subjektiven Vorgänge des Heii-atens für
die Ehepersonen andererseits. Das Material
liierzu liefern im Deutschen Reich die
Standesamtsregister und die Aiifgebotsver-
handlungen. Allerdings wird es nur ver-
einzelt (in einzelnen Staaten und Gross-
städten) erschöpfend bearbeitet. Die Reichs-
statistik selbst begnügte sich seither nnit der
Feststellung der Zalü der Eheschliessungen
unter Beriicksichtigung der einzelnen Mo-
nate; vom Jahre 1901 an wird auch Alter,
bisheriger Familienstand und Religion der
Eheschliessenden zur Darstellung gelangen.
Ausserdem ist von Belang — aber nur aus
der Partikularstatistik zu entnehmen — Be-
ruf und soziale Stellung, Gebm-tsort, Wohn-
ort und Blutsver^'andtschaft der Heiratenden
sowie die 'v^ievielte Ehe die betreffende
Eheschliessung für den Mann bezw. die
Frau darstellt.
2. Heiratshäufigkeit nach Landern.
Jahren nnd Jahreszeiten. Die Zahl
der Eheschliessungen ist für liie
wichtigsten Kulturstaaten und für die Jahre
1871 bis 1898 aus nachstehender Tabelle
ersichtlich. Beigefügt sind die sogenannten
allgemeinen Heiratsziffern, d. h.
Relativzahlen, die das Verhältnis der ehe-
schliessenden Personen zur mittleren Bevöl-
kerung der einzelnen Jahre angeben, sie
lassen erkennen, welchen Schwankungen die
Häufigkeit der Heiraten während des be-
obachteten Zeitraums in jedem der aufge-
führten Länder unterliegt. Für den Ver-
^eich von Land zu Land eignen sich diese
allgemeinen Heiratsziffern weniger, dazu
I
Heiratsstatistik
1185
mussman sich der besonderenHeirats-
ziffer, welche das Verhältnis der Heira-
tenden zur heiratsfähigen Bevölkerung
angiebt, bedienen.
a3
a) Eheschliessungen, b] Eheschliessende auf 1000 der mittleren Bevölkerung des betr. Jahres
'S
Deutsches
Oesterreich
Ungarn
Schweiz
Italien
Frankreich
Gross-
A
Reich
britannien
a
b
a b
a ' b
a b
a >
a
b
a
b
1871
336 745
16,4 194 591
18,8
159507
20,4
19514 14,6
192839114,9
262 476
14,4
214 131
16,4
1872
423900
20,6
193 836
18,6
166634
21,4
21 212 i5,8i 202361
15,1
352 754
19,5
226 908
17,1
1873
416049
20,0
186 209
17,8
172479
22,4
20649
15,3 214906
15,9
321238
17,7
232 363
17,3
1874
400282
19,1
189440
18,0
162 807
21,4
22655
16,7 207 997
15,3 303113
16,6
228400
16,7
1875
386 746
18,2
181 023
17,1
169094
22,2
24629
i8,o 230486
16,9 300427
l6,4
227 186
16,5
1876
366 930
17,0
176 674
16,5
154305
20,1
22376
16,2 225 453
16,4 291393 15,8
228 453
16,4
1877
347 792
16,0
161 712
15,0
143379
18,5
21871 15,7
214972
15,5 278094 15,0
220 169
15,6
1878
340016
15,4
164588,15,2
147017
18,9
20590 14,7
199885 14,31279580
15,0
214 412
15,0
1879
335 113
15,0
169532 15,5
162 186
20,8
19450 13,8
213096
15,2
282 776
15,2
205 601
14,2
1880
337 342
15,0
167 618 JI5,2
1
144 126
18,3
19413 13,7 196738
14,0
279 046
14,9
216470
H,7
1881
338 909
14,9
1
177323116,0
157 838
20,0
19425 I3,6j230i43
16,2
282079 15,0
223 294
15,0
1882
350457
15,3
183 735
16,4
163 944
20,6
19414 13,6 224041 15,7
281 060
14,9
231 001
15,3
1883
352 999
15,3
176349
15,6
167 656
20,9
19696113,7 231945 16,1
284519
15,1
23325315,2
1884
362 596
15,7 179568
15,8
167 528
20,7
19898 13,8 239513116,5
289 555
15,3
230407114,9
1885
368619
15,8 175542
15,3
165 299
20,2
20105 13,9 233931 15,9
283 170
14,9
223001114,2
1886
372 326
15,8! 180523
15,6
160793
19,4
20080 13,8 233310
15,7
283 193
14,9
220 540; 13,9
1887
370 659
15,5
182 427
15,7
151624
18,0
20646 ;i4,2 235629
15,9
277060
14,5
225369,14,0
1888
376 654
15,6
186273115,9
158975
18,7
20706:14,11236883 15,9
276848 14,5
229 126,14,0
1889
389339 16,0
178130,15,1
140 524
16,3
20691 14.11 230451 15,4
272 934
14,3
240 183 14,6
1890
395356 16,1
179223115,0
142 588
16,4
20836 14,1 1 221 972
14,8
269 332
M,i
250 129 14,9
1891
i
399398 16,1
186758115,5
1 50 720
17,2
21 264 14,4 227 656
15,0
285 458
14,8
25449515,4
1892
398775 15,9
187985 15,5
162 649
18,3
21 884 14,7 228572
15,0
290319
15,2
255805
15,2
1893
401 234 15,8
193558115,8
166483
18,6
21 884 14,6 228 103
14,8
287 294
15,0
245 834
14,6
1894
408066
15,9 194476,15,8
i66 033
18.4
22 188 14,8 231 581
15,0
286 662
15,0
254010
14,8
1895
414218
15,9 199 761 ,16,1
153900
17,0
22682 ji5,o 228 152
14,7
282915 14,8
256 245
14,7
1896
432 107
16,4 i 198 461; 15,8
147 477
16,0
23784 15,5 222603
H,3
290171 15,1
272 701
15,6
1897
447770
16,7 202936,16,0
151 176
16,3
24954 16, il 229041
14,6
291 462 15,2
279809
15,8
1898
458 877
16,9
•
•
1 56 208
16,5
25507
16,4
•
•
287 179
15,0
286915
16,0
03
a] Eheschliessungen, b) Eheschliessende auf 1000 der mittleren Bevölkerung des betr. Ja
hres
nd
>-5
Irland
Belgien
Niederlande
Dänemark
Schweden
Norwegen
Finla
a
b
a
b
a
b
a
b
a
b
a b
a b
1871 28960
io,7 , 37 538
14,9
28991
16,0
13207
14,6
27187
13,0
II 610
13,3
17318
19,4
1872
26943
10,0 40084
15,9
30 189
16,5
13627
15,0
29470
13,9
12302
14,0
15796
17,4
1873
25730
9,7 40598
15,9
31671
17,2
14903
16,2
31257
14,6
12822
14,5
15634
16,9
1874
24481
9,2 ' 40 328
15«6
31353
16,8
15260
16,5
31 422
14,5
13713
15,4
16852
18,0
1875
24037
9,1
39050
14,9
31553
16,7
15915
17,0
30762
14,1
14177
»5,7
15940
16,8
1876
26388
10,0
38228
14,4
31699
16,6
16 180
17,1
31 184
14,2
14049
15,4
15807
16,4
1877
24722
9,4
36964
13,8
31470
16,2
15428
16,1
30674
13,8
14022
15,2
16 116
16,5
1878
25284
9,6
36669
13,6
30710
15,6
14295
14,8
29x51
12,9
13681
14,6
15 261
15,4
1879
23254
8.8
37421
13,7
30655
15,4
14287
14,6
28635
12,6
12850
13,5
14993
14,9
1880
20363
7,8
38926
14,2
30349
15,0
14959
»5,1
28919
12,6
12 751
13,3
15846
15,5
1881
21826
8,5
39487
14,3
29849
14,6
15529
15,6
28301
12,4
12316
12,7
14283
13,8
1882
22029
8,6
39214
14,0
29571
14,3
15496
15,4
28967
12,7
12874
13,4
15928
15,2
1883
21368
8,5
38666
13,7
29815
14,2
15 642
»5,3
29449
12,8
12 710
13,2
16 546
15,6
1884
22585
9,1
39205
13,8
30528
14,4
15970
15,5
30200
13,1
13247
13,7
16585
15,4
1885
21 177
8,6
39910
13,9
29894
13,9
15645
15,1
30911
13,3
13024
13,4
15978
14,6
1886
20 594
y
39642
13,7
30298
13,9
14834
14,2
30133
12,8
12 819
13,1
16248
14,7
1887
20945
8,7
42491
14,6
30924
14,0
14726
13,9 29517
12,5
12 491
12,7
17179
15,0
1888
20060
8,4
42427
14,4
30862
13,8
1 15091
14,2 28075
11,8
12154
12,3
16748
14,4
1889
21 521
y
43 759
14,8
31494
14,0
15233
. ' 28 478
12,0
12 416
12,4
16099
•
1890
20990
8,9
44596
14,6
32304
14,0
14975
■
28611
1
12,0
12 922
12,7
16885
•
Hand Wörterbach der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. lY.
75
1186
Heiratsstatistik
a) Ehescbliessungen, b) Eheschlieesende auf 1000 der mittleren Bevölkerung des betr. Jahres
Jahre
Irland
Belgien
Niederlande
Dänemark
Schweden
Norwegen
Finland
l
a
b
a
b
a 1 b
a
b
a
b
a b
a b
1891
21475
9,2
45 449
14,8
32707
14,2 14941
27940
11,7
13179
13,1
1
16572 .
1892
21 530
9,3
47209
15,4
33330
14,3 1 15039
27338
11,4
12 742
12,8
14825
1893
21 714
9,4
47065
15,2
34311
14,5 15739
27219
11,3
12974
12,7
14095
1894
21 6q2
9,4
47 735
15,2
34470
14,41 15687
27851
11,5
12966
12,8
16 113
1895
23 120
10,0
49712
15,6
35598
14,81 16147
28728
11,7
13339
13,0
18256, .
1896
23955
10,1
52585
16,2
36490
15,0 16823
29376
11,9
13962
13,3
19 i89| .
1897
22891
10,1
54198
16,6
36796
14,7 17464
30221
12,1
14220
13,4
•
1898
22580
10,0
•
•
36813
14,6
17872
•
»
•
•
* 1 *
Dass die absolute Zahl der Eheschlies-
sungen steigt, erklärt sich ohne weiteres
aus dem Anwachsen der Bevölkerung.
Relativ, d. h. in Beziehung auf die Gesamt-
bevölkerung, sind die Ehescliliessungen in
Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs häufiger
als bei ungünstigen Konjunkturen. So zeigen
die allgemeinen Heiratsziffem im Deutschen
Reich einen ganz ausserordentlichen Hoch-
stand wälu^nd der Milliardenäi-a zu Beginn
der 1870 er Jahre, bei dem darauffolgenden
wirtschaftlichen Rückschlag sinken sie rasch
bis zum Jahre 1882, wo sie wieder eine
steigende Tendenz bekunden ; auch die wirt-
schaftliche Depression zu Beginn der 90 er
Prov. Ostpreussen 7,3
„ Westpreussen 7,8
Stadt Berlin 10,8
Prov. Brandenburg 8,3
„ Pommern 7,8
„ Posen 7,7
„ Schlesien 8,2
„ Sachsen 8,3
„ Schleswig-Holstein 8,4
„ Hannover 8,i
„ Westfalen 8,3
„ Hessen-Nassau 8,2
„ Eheinland 7,9
Hohenzollem 6,2
Königreich Preussen ... 8,2
Bayern r. d. Rh 7,4
Bayern 1. d. Rh. (Pfalz) 8,1
Königreich Bayern .... 7,5
Sachsen 9,1
Württemberg 7,1
Baden 7,6
Hessen 8,2
Jahi^, ebenso der neueste wirtschaftüche
Aufschwung fallen mit entsprechenden Aen-
derungen der Heiratsziffern zusammen.
Im grossen Ganzen gehen die Aende-
Hingen der Heiratsziffern in den einzelnen
Jahren nicht über das Mass gewöhnlicher
Schwankungen hinaus und lässt sich auch
bei Ländern wie Oesterreich-Üngarn, Frank-
reich, Niederlande, Grossbritannien von einer
fortsclireitenden Abnahme der Eheschlies-
sungen nicht sprechen.
Hinsichtlich der Heiratshäufigkeit, inner-
halb des Deutschen Reichs wurde für den
Durchschnitt der Jahre 1889/98 als allge-
meine Heiratsziffer festgestellt:
Mecklenburg-Schwerin 7,9
Sachsen-Weimar 8,0
Mecklenburg-Strelitz 7,5
Oldenburg 8,0
Braunschwei^ 8,5
Sachsen-Meiningen 8,2
Sachsen-Altenburg 8,9
Sachsen-Coburg-Gotha 8,3
Anhalt 8,4
Schwarzburg-Sondershausen 7,7
Schwarzburg-Rudolstadt 8,0
Waldeck 6,6
Reuss älterer Linie 8,3
Reuss jüngerer Linie 9,0
Schaumburg-Lippe 7,9
Lippe 8,1
Lübeck 7,9
Bremen . . ' 8,9
Hamburg 9.3
Elsas8-lx)thringen 7,0
Deutsches Reich ... 8.1
Im allgemeinen erweist sich demnach
die Heiratshäufigkeit im mittleren und nörd-
lichen Deutschland grösser als in Süd-
deutschland. Besonders auffallend ist die
hohe Heiratsziffer Berlins (10,8), auch unter
den kleineren Verwaltungsbezirken fast die
höchste im ganzen Deutschen Reiche. Im
Durchschnitt der Jahre 1894; 96 hatten nur
zwei Verwaltungsbezirke, das Bezirksamt
Nürnberg (16,3) und das Amt Delmenhorst
in Oldenburg (10,8) eine höhere Heirats-
ziffer. Demgegenüber sinkt dieselbe in
manchen Bezirken bis auf 5 pro Mille herab.
Als Gebiete mit der höchsten und der ge-
ringsten Relativzahl der Heiraten sind näm-
lich folgende hervorzuheben:
Hoiratsstatistik
1187
Gebiete mit grosser Heiratshäufigkeit.
Eheschliesäimgen
Namen der Verwaltungs- auf luoo der Be-
hA^irlfP volkerunK im
oezirKC Durchschnitt
lHtM,»6
Bez.-Amt Nürnberg , Reg.-Bez.
Mittelfiranken 16,34
Amt Delmenhorst, Herzogt. Olden-
burg 10,79
Stadt Berlin 10,47
Kr. Süderdithmarschen, R^g.-Bez.
Schleswig io,43
Bez.-Amt Ludwigshafen, Reg.-Bez.
Pfalz 10,35
Amts-Bez. Mannheim,Landesk.-Bez.
Mannheim 10,22
Stkr. Frankfurt a. M., Reg.-Bez.
Wiesbaden 10,21
Stkr. Altona, Reg.-Bez. Schleswig 10,21
Lkr. Frankfurt a. M., Reg.-Bez.
"Wiesbaden 10,19
Kr. Offenbach, Prov. Starkenburg 10,19
Kr. Höchst, Reg.-Bez. Wiesbaden io,i6
Amts-Bez. Heidelberg, Landesk.-
Bez. Mannheim 10,16
Unm St. München, Reg.-Bez. Ober-
bayem 10,15
Bez.-Amt München I, Reg.-Bez.
Oberbayem 10,03
Stkr. u. Lkr. Harburg, Reg.-Bez.
Lüneburg 9,97
Stkr. u. Lkr. Gelsenkirchen, Reg.-
Bez. Arnsberg 9,96
Stadt Dresden, Krshptm. Dresden 9,95
Kr. Blumenthal, Reg.-Bez. Stade 9,78
Amtshauptmannschaft Chemnitz,
Kreishauptmannschaft Zwickau 9,60
Stkr. Dortmund, Reg.-Bez. Arnsberg 9,59
Kr. Ziegenrück. Reg.-Bez. Erfurt 9,56
Unm. St. u. Bez.-Amt Fürth, Reg.-
Bez. Mittelfranken 9,52
Stkr. u. Lkr. Linden, Reg.-Bez.
Hannover 9,50
Stkr. Düsseldorf, Reg.-Bez. Düsseid. 9,49
Landr.-Amtsbez. Gera, Reuss j. L. 9,47
Die Bezirke mit grosser Heiratshäufigkeit 1
zeichnen sich vielfach durch industrielle Be- '
völkerung sowie durch Mehning der Be- '
völkerung infolge Zuwanderung aus, so z. B. '
die Bezirke Berlin, Hamburg, Bremen, Dussel- !
dorf, Wiesbatlen, Ai^nsberg, München, Nürn- '
berg, Dresden, Chemnitz, Reuss j. L. Um- 1
gekehrt haben die Gebiete mit geringer |
Heiratshäufigkeit fast durchweg landwirt-
scliafüiches Gepräge und gehören gleich-
zeitig zu denen, die einen Kückgang ihrer
Bevölkerung durch Abwanderung erfahren
haben ; dies gilt beispielsweise filr die baye-
rischen Regierungsl^ezirke Oberbayern (mit
Ausnahme der Stadt Mönchen und des Be-
zirksamts München I), Niederbayern, Ober-
pfalz, TJuterfrankeD, Schwaben, für den würt-
tembergischen Jagst- und Donauki*eis, die
badischen Landeskommissariatsbezirke Kon-
stanz und Freibui^, ferner für Hohenzollern,
Unterelsass und Lothringen.
Ausser den vorerwähnten wirtschaftlichen
Gebiete mit geringer Helratshäufip^keit.
£heschhessun&;en
Namen der Verwaltungs- auf 1000 der Bc-
hp^irkp völkerung im
^^^^^*^^ Durchschnitt
Unm. St. u. Bez.-Amt Xeu-Ulm,
Reg.-Bez. Schwaben ..... 5,90
Bez.-Amt Griesbach, Reg.-Bez.
Niederbayem 5,89
Bez.-Amt Hilpoltstein, Reg.-Bez.
Mittelfranken 5,89
Kr. Euskirchen, Reg.-Bez. Köln . 5,88
Kr. Rheinbach, Reg.-Bez. Köln . 5,88
Amts-Bez. Waldshut, Laudesk.-Bez.
Konstanz 5,88
Bez.-Amt AltÖtting, Reg.-Bez. Ober-
bayem 5,86
Bez.-Amt Krumbach , Reg.-Bez.
Schwaben 5,85
Kr. Montjoie, Reg.-Bez. Aachen . 5,84
Kr. Heilsberg, Reg.-Bez. Königsberg 5,83
Kr. Dann, Reg.-Bez. Trier . . . 5,83
Kr. Heiligenstadt, Reg.-Bez. Erfurt $,77
Kr. Saar bürg, Reg.-Bez. Trier . 5,77
Kr. Malmedy, Reg.-Bez. Aachen . 5,77
Bez.-Amt Mellrichstadt, Reg.-Bez.
Ünterf ranken 5,74
Bez.-Amt Erding, Reg.-Bez. Ober-
bayern 5,70
Oberamt Künzelsau, Jagstkreis . 5,70
Amts-Bez. Buchen, Landesk.-Bez.
Mannheim 5,69
Bez.-Amt Wertingen , Reg.-Bez.
Schwaben 5,66
Kr. Heinsberg, Reg.-Bez. Aachen . 5,50
Kr. Hünfeld, Reg.-Bez. Cassel . . 5,40
Amts-Bezirk Tauberbischofsheim,
Landesk.-Bez. Mannheim . . . 5,39
Bez.-Amt Mindelheim, Reg.-Bez.
Schwaben 5,38
Amts-Bez. Bonndorf, Landesk.-Bez.
Konstanz 5,18
Kr. Schieiden, Reg.-Bez. Aachen . 5,11
und sozialen Momenten wird die Heiratsr
häufigkeit noch von einer Reihe anderer
Umstände beeinflusst. Dahin gehören die
günstigeren oder ungünstigeren Lebens- und
EnÄ'erbsverhältnisse in den verschiedenen
Gegenden , Stammesgewohnheiten, Volks-
sitten, insbesondere cüe Sitte, im jüngeren
oder späteren Alter zu heiraten, die Art der
bäuerlichen Erbrechtsfolge. All diese und
ähnliche Faktoren wirken mitbestimmend
ein auf Neigung und Befähigung zur Be-
gründung eines eigenen Hausstandes und
erklären so die Verschiedenheit der Heirats-
häufigkeit in den einzelnen Teüen des Reichs.
Um die einzelnen Länder bezüglich der
Heiratshäufigkeit gegenseitig zu vergleichen,
folgt nun eine Zusammenstellung, bei welcher
die den Wert der vorausgehenden Zahlen
beeinträchtigende Verschiedenheit in der
Alters- und Familienstandesgliederung der
Bevölkerung der einzelnen Länder beseitigt
ist und die Eheschliessenden in Beziehung
75»
1188
Heiratsstatistik
Ersetzt sind zu den Personen, welche das 15.
ebensji^r vollendet haben und nicht ver-
heiratet sind, sohin als heiratsfähig betrachtet
werden können. Von 1000 über 15 Jahre alten
nicht Verheirateten schlössen eine Ehe:
Staat
Per-
Jahre nern m^,^_
Deutschland . .
1872/80
59,3
52,6
55,7
Oe8terreich . .
1871/80
57,o
50,4
53,5
Ungarn . . .
1876,80
83,3
79,7
81,4
Schweiz . . .
187180
45,1
40,4
42,6
Italien . . . ,
. 1872/80
48,6
48,6
48,6
Frankreich . .
. 1872 80
51.7
49,2
50,4
Grossbritannien
. 1871/80
58,2
48,8
53,1
Irland . . .
n
27,7
24,0
25,8
Belgien . .
Niederlande .
n
41,7
41,3
41,5
n
52,6
48,2
50,3
Dänemark
n
52,6
46,6
49,4
Schweden . .
n
44,7
36,7
40.3
Norweffen . .
Finland . .
T)
47,1
39,9
43,2
n
57,0
48,9
52,7
Die auffälligsten Verhältnisse zeigen wie
in der froheren Uebersicht Ungarn mit der
höchsten Heiratsziffer (81,4) und Irland, wo
diese bis auf 25,8 zurückgeht. Etwa 50
pro Mille sind als das mittlere Verhältnis
anzusehen. Die niedrige Ziffer Irlands steht
in engem Zusammenhang mit der prekären
Lage des irischen Volkes überhaupt und ist
zum grossen Teil auf die massenhafte Ab-
wanderung der kräftigsten und heiratsfähig-
sten Elemente des Volkes zurückzu-
führen.
Nur mit Vorsicht ist aus der verschie-
denen Höhe der Heiratsziffer auf Unter-
schiede in der ökonomischen Lage der be-
treffenden Länder zu schliessen ; Berührungs-
prnikte zur Wirtschaftslage, wie sie beim
zeitlichen Vergleiche hervortreten, zeigen
sich hier weniger. Während im grossen
und ganzen (d. h. abgesehen von besonderen
Umständen, die, wie Kriegs-, Epidemie-
zeiten etc., ebenfalls von Einfluss sind) das
Ansteigen der Heiratsfrequenz in einem
Lande als die Folge einer Bessening der
wirtschaftlichen Verhältnisse, das Absteigen
als die Folge einer Verschlechterung der-
selben zu betrachten ist, kann die Höhe der
Ziffer des einen Landes gegenüber der
des anderen keineswegs als ein Zeichen
der günstigeren oder imgünstigeren ökono-
mischen Lage der Bevölkerungen gelten.
Treffend hebt Bemoulli (Handbuch der Po-
pulationistik 1841) die Verschiedenheit der
Ursachen einer grossen Heiratsfreq^uenz her-
vor, die »erfreuliche wie unerfreuliche« sein
können: ;«>Man heiratet jünger und häufigei,
wo der Er^^erb leichter und sicherer ist,
wo die Bedürfnisse geringer und wohlfeiler,
wo die Sitten einfacher sind, — wo also
weniger Luxus herrscht, — wo man sich
mehr vor Erzeugung unehelicher Kinder
scheut, und ebenso aber wo man sorgloser
und um die Zukunft unbekümmerter lebt
wo das Volk keinerlei höhere Bedürfnisse
kennt«. Wo das eine, wo das andere zu-
trifft, ist natürlich nicht immer ohne weiteres
zu erkennen; um sichere Schlüsse aus den
Zahlen zu ziehen, wären vielmehr ein-
gehendere Untersuchimgen nötig.
Was die Heiratshäufigkeit nach Jahres-
zeiten anlangt, so werden die meisten
Ehen in den Monaten Oktober und November
geschlossen, was wohl hauptsäclilich daher
rührt, dass in dem grössten Teil des Deut-
schen Reiches in einen dieser Monate einer
der halbjährlichen Termine für den Woh-
nungs- und Dienstboten Wechsel fällt ; ebenso
erklären sich die hohen Heiratsziffem im
April und Mai. Religiöse Erwägungen
ftmi-en endlich (besonders in katholischen
Gegenden) zu einer grossen Zahl von Hei-
raten im Februar und zu dem Minimum
der Heiratshäufigkeit im März imd Dezember,
zur Fasten- und Adventszeit. Allgemein
sind auch im Sommer die Heiraten seltener
als im Winter. Die Eheschliessungen des
Jahi'es 1898 verteilten sich wie folgt auf
die verschiedenen Monate:
Eheschliessungen
.c « e c c: «
o *; 4» «; s tl
d B-o o gl
C
£i OB
Januar
Februar
März
April
Mai .
Juni.
Juli .
August
September
Oktober
November
Dezember
absolut
34 359
40776
22817
45659
54482
30013
33 399
26588
32143
55685
52787
30169
/O
7,5
8,9
5,0
9,9
11,9
6,5
7,3
5,8
7,0
12,1
11,5
6,6
^ B S
O g a
Isi^--^
88
116
58
121
140
79
85
68
85
143
140
77
Zusammen 45 8 8 7 7 1 00
1200
Die Erschwerung der Eheschliessungen
infolge kirchlicher Einschränkungen tritt, wie
nachstehende Zalüen besagen, vorzüglich in
katholischen Bezirken hervor, b^nders
deutlich vor Einführung der bürgerlichen
Eheschliessung (1874 bezw. 1876).
Wenn durchschnittlich an jedem Tage
im Jahre 100 Ehen geschlossen werden, so
kommen durchschnitüich auf jeden Tag das
betreffenden Monats im Durchschnitt der
Jahre:
Heiratsstatistik
1189
1872:80
in rein pro-
187275 t««^»»»^*-
Januar
Februar
März
April
Mai .
Juni
Juli
August
September
Oktober ,
November
Dezember
102
ii6
45
125
124
91
84
69
105
121
155
68
Bellen Be
zirken
79
93
69
136
119
90
83
63
91
136
148
95
in rein
katholi-
schen Be-
zirken
JunggeseUen und
den ist von erheblichem Einfluss auf deren
Verheiratbarkeit. Das Normale ist, dass
Junggesellen mit ledigen, vorher nicht ver-
heiratet gewesenen Mädchen die Ehe ein-
gehen, diese sogenannten Erstheiraten
bilden den Hauptbestand der Eheschlies-
suiigen. Nur bei 15% aller Eheschlies-
sungen sind verwitwete oder geschiedene
Personen beteiligt; hierbei ist die häufigste
Kombination die Ehe zwischen Witwern und
Jungfrauen. Zwei- oder mehrfache Heiraten
sind bei Männern häufiger als bei Frauen,
nämlich bei etwa Ib^lo des männlichen
gegenüber 10 ^/o des weiblichen Geschlechts.
In welcher Weise die einzelnen Kombi-
nationen vorkommen, verdeutlicht für die
Hauptstaaten des Deutschen Reichs nach-
stehende Uebersicht:
Es fanden 1898 Ehe8chliessuiigen statt zwischen:
Bayern Sachsen
41 254 31 450
III
151
35
98
129
105
98
75
100
124
148
34
über-
haupt
97
118
55
116
123
92
84
68
95
127
155
73
3. Bisheriger Familienstand. Der
Familienstand der Eheschliessen-
in Preussen
[Jungfrauen 242097
l Witwen und geschiedeneu
i Frauen 10 118
20089
Witwern und ge- j Jungfrauen
schiedenen Männern! Witwen und geschiedenen
und l Frauen 8090
Demnach verheirateten sich von je 100
Junggesellen mit
96,0
1937
4194
1079
95,5
I 173
2774
I 604
96,4
Jungfrauen
Witwen und geschiedenen
[ Frauen
Witwern und ge- | Jungfrauen
schiedenen Männem| Witwen und geschiedenen
mit ( Frauen
I Junggesellen
Jungfrauen mit ! Witwern und geschiedeneu
( Männern
Witwen und ge- f Junggesellen
schiedenen Frauen l Witwern und geschiedenen
mit l Männern
Jungfrauen verheiraten sich also weit
häufiger als Jilnglinge mit bereits verwit-
weten oder geschiedenen Personen. Ande-
rerseits verheiraten sich Witwen viel seltener
mit Junggesellen als Witwer mit Jungfrauen.
Von 100 Eheschliessungen waren solche zwischen
Junggesellen und Witwern und Geschiedenen
gesch. Jung- ^-■•' Männern und
Frauen frauen
4,0
71,3
28,7
92,3
7,7
55,6
44,4
4,5
79,5
20,5
90,8
9,2
64,2
35,8
3,6
63,4
36,6
91,9
8,1
42,2
57,8
Ein Vergleich dieser Verhältnisse mit
ausserdeutschen Ländern wiixi durch die
folgende uebersicht ermöglicht.
im Durch-
schnitt der Jimg- Wit-
Preussen . .
Bayern . . .
Sachsen . .
Württemberg
Oesterreich .
Ungarn . .
Schweiz . .
Frankreich .
Belgien . .
Niederlande .
Italien . . .
Dänemark . .
Schweden . .
Norwegen . .
England n. Wales
Schottland
Irland . . .
Europ. Russland
Jahre
1887;91
frauen wen
Wit-
wen
firesch.
FrftnPTi -^""K- Wit-
frauen franen wen
83,28
81, n
82,45
1885 89 79,99
1887 91 77,40
75,34
1885 89 80,36
188690 8«;,76
188ÖU1890 86,00
1887/91
I880 89
1887 91
1886 30
1887 91
84,00
84,69
85,41
87,12
85,11
84,55
86,12
86,31
80,14
4,00
4,68
2,90
4,08
5,17
3,88
3,71
3,55
4,44
3,29
3,16
3,12
2,43
2,95
3JO
2,70
2,83
3,28
0,49
0,15
0,84
0,30
•
0,36
1,01
0,19
0,13
0,23
•
0,46
0,12
0,03
0,03
1882,86
Die mutmasslichen Ursachen dieser inter-
nationalen Verschiedenheiten sind teils na-
türlicher, mit der Gestaltung der Sterb-
8,23
11,02
7,74
12,32
12,18
10,31
9,39
6,70
6,16
7,93
8,56
8,09
8,42
9,72
7,18
8,22
8,61
9,05
3,05
2,68
3,91
2.70
5,25
9,25
3,01
3,31
2,97
3,91
3,59
2,00
1,80
2,1^
4,49
2,96
2,25
7,53
0,22
0,06
o;64
0,17
•
0,21
0,61
0,08
0,04
0,14
•
0,19
0,05
0,02
O.Ol
0,49
0,22
0.96
0,33
0,45
1,29
0,26
0,19
0,33
0,58
0,05
0.04
0,03
0,17
0,06
0,38
0,09
0,18
0,38
0,10
0,06
0,14
o,u
0,01
0,01
geseh.
Frauen
0,07
0,02
0,18
0,02
•
0,02
0,24
0,05
0,01
0,03
•
0,04
0,01 —
lichkeit zusammenhängender, teils sozialer
Art, wobei die Sitte des Früh- oder Spät-
heiratens und die Möglichkeit, eine wirt-
1190
Heiratsstatistik
schaftliche Selbständigkeit sich zu begrün-
den, ins Gewicht fällt. Wie innerhalb der
verschiedenen Familienstandsgruppen die
Heiratshäufigkeit beschaffen, macht nach-
stehende Zusammenstellung ersichtlich.
Es heirateten von 1000 über 15 Jahre alten
m
Deutschland ^)
Oesterreich
Ungarn
Schweiz .
Italien . .
Frankreich
Belgien
Niederlande
Dänemark
Schweden .
Norwegen .
Finland .
Grossbritannien
Irland . . .
Jahr
0
I—«
'S
0
0
187680 52,7
1871,80 51,6
1876;80 74,9
1871 80 41,9
1872 80 48,8
1872 80 55,2
1871 80 42,2
« 50,8
r 52,7
» 44,7
„ 47,2
n 55,3
« 57,4
« 27,5
a ^
•^ 03
«TS
64,8
106,4
138,3
54,4
47,3
34,7
38,1
65,4
52,5
44,6
46,3
69,8
63,8
29,9
0
0
GS
bD
a
0
59,6
58,7
112,7
46,6
63,5
67,3
47,8
56,6
57,4
44,9
47,9
59,5
58,1
30,1
'0 0
0 2
^§
0 <£>
^O
15,5
24,2
32,1
15,2
12,0
12,3
16,9
19,6
13,6
9,2
10,5
17,7
19,4
5,7
^) Mit Ausnahme von Mecklenburg-Strelitz,
Sachsen-Meiningen , S.-Coburg-Gotha , Waldeck,
beide Lippe, Hamburg.
Die höchste Heiratsziffer weisen danach
überall die verwitweten und geschiedenen
Männer auf, denen die bisherige Lebensweise
und häufig wirtschaftliche Yerliältnisse eine
Wiederverheiratung besonders nahelegen. •
4. Alter. Das durchschnittliche Heirats-
alter aller in die Ehe getretenen männlichen
und weiblichen Personen liat in Preussen
ziu- Zeit der Eheschliessung betragen:
bei allen bei allen
männlichen weiblichen
Personen
29,6
29,6
29,5
29,6
29,3
29,5
im Jahrfünft
1871;7o
187680
1881,80
188690
1891/95
Mittel 1871,95
Personen
26,9
27,1
26,3
26,5
26,9
27,0.
Bei den männlichen Personen stellte sich
sohin das durchschnittliche Heiratsalter um
21/2 Jahre höher als beim weiblichen. Hin-
sichtlich der Beteiligung der einzelnen
Altersklassen an den Eheschliessungeu lehrt
filr die Periode 1887/911) ^ie nachstehende
TabeUe,
') Bei der Schweiz 1885,89, Frankreich
1886 90, Belgien 1884, 1885 und 1890, Italien
1886 und 1888/91, Dänemark 1885 89, Rnssland
1882:86.
Preussen . .
Bayern . .
Sachsen . .
Württemberg
Oesterreich
Schweiz .
Frankreich
Belgien .
Niederlande
Italien . .
Dänemark
Schweden .
Norwegen
England .
Schottland
Irland . .
Es standen im Alter von . . .
heiratenden Männern
unter ^^^ oe «e O/^ o« ^^ m^.^ ^Lr. nr. ÜbCI
20
2,06
20-25 25-30 30-40 40-50 50-60
60
69,53 21,81 5,47 2,22 0,91
0,51 28,92 35,54 24,72 9,27 0,20
0,02 38,78 36,87 16,20 5,00 2,23 0,90
17,62 44,50 26,72 7,21 2,88 1,07
17,19 47,29»)22,o2 7,98 3,79
1,01 26,29 34,49 24,62 8,33 3,62
1,90 24,5^ 42,36 22,36 5,35 2.39
37,36 24,51 7,31 2.67
1,73
1,64
1,06
27,04
2,97^)27,98*'') 35,22 22,75 6,83 2,89
1,11
1,36
2,63 31,55 34,27 20,83 6,74 2,63 1,35
39,01 26,14 6,32 2,39 0,92
4,28
25,22
0,15 26,68 36,08 26,00 6,81
1,79 26,48 34,07 25,85 6,89
4,92
2,14 43,41 29,99 15,81 5,02 2,38 1,25
2,54 35,62 32,62 20,57 5,79 2,04 0,82
2,46 31,17 30,44 26,00 7,05 2,08 0,80
Enr. Russland 32,01 34,11 17,74 9,8o 4,31 2,03
^) lieber 24 bis einschl. 30 Jahre alt.
*) Unter 21 bezw. 21—25 Jahre alt.
Jahren von je 100
heiratenden
unter
80
20-25 25-30 30-40
Frauen
40-50 50-60
ober
6ü
8,13 73,59 13,55
io,73 41,93 26,62 15,40
7,65 51,95 24,43 11,13
4,01 41,41 33,09 15,82
17,33 30,28 30,24^)14,94
7,21 40,61 28,07 16,62
20,52 42,20 20,59 11,97
47,12 27,99 17,59
12,43*) 36,56^)28,58 15,67
23,35 41,90 18,64 10,71
7,37 39,13 30,84 17,58
6,36 36,07 31,37 20,11
7,94 39,20 28,48 18,31
11,06 49,68 22,50 11,24
11,64 45,11 25,67 13,11
11,83 48,03 25,74 11,17
56,35 29,48 6,94 4,95
3,67 0,90 0,16
5,12 0,20
3,72 0,94 0,18
4,37
5,35
5,64
3,20
5,32
4,67
3,78
3,97
4,78
4,67
3,79
3,53
2,41
;,86
1,49 0.49
1,63 0.46
1,62
0,92 0.19
1,31
1,40
1,34 0,29
0,78 0.16
0,62 0,20
0,42
dass das normalste Heiratsalter für die
Männer das von 25 bis 30, 'für die Weiber
das von 20 bis 25 Jahren ist Weiter in
das Detail der Tabelle einzutreten, miiss
aus Rauinrilcksichten hier unterbleiben.
Ebenso muss von weiteren Kombinationen
des Heiratsalters von Bräutigam und Braut,
des Alters mit dem Familienstand der Braut-
leute etc. Abstand genommen werden. Nur
darauf sei noch hingewiesen, dass sich in
Deutschland neuerdings eine Yermehnmg
der Jungheirateo, bei männlichen Personen
Heiratsstatistik
1191
mehr noch als bei weiblichen, bemerk-
bar macht. Von Einfluss liieraiif ist die
immer melir sich aiisbUdende Freiheit der
Erwerbsthätigkeit, namentlich die neuzeit-
liche industrielle Entwickelung, welche Früh-
heiraten begünstigt.
5. Beruf und soziale Stellung der
Eheschliessenden. Beruf und soziale
Stellu ng ist sowolü für die Heiratsliäufig-
keit überhaupt wie für das diu-chschnittliche
Heiratsalter von Belang. Eingehende Nach-
weise darüber wurden für die Eheschlies-
sungen 1881 bis 1886 in Preussen zusammen-
gestellt (abgednickt in der Zeitschrift des
preuss. Statist. Bureaus 1889 und bei
V. Fircks, Bevölkerungslehre und Bevölke-
rungspolitik 1898 S. 211 u. 227). Hier sei
wenigstens für die einzelnen Berufe das
durchsclmittliche Heiratsalter mitgeteilt:
Beruf
C« Q Im
es <u ü
Landwirtschaft., Gärtnerei, Viehzucht und
Forstwirtschaft 29,61
Fischerei 28,73
Bergbau, Hütten- und Salinen wesen . . 27,57
Industrie der Steine und Erden. . . .28,17
Metallverarbeitung 28,04
Fabrikation von Maschinen, Werkzeugen
und Instrumenten 28,98
Chemische Industrie 31,58
Industrie der Heiz- und Leuchtstoffe. . 31,58
Textilindustrie 30,02
Papier- und Lederindustrie 29,05
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe . 28,74
Industrie der Nahrungs- und Genussmittel 28,90
Gewerbe für Bekleidung und Reinigung 29,14
Baugewerbe 28,64
Polygraphische Gewerbe 27,62
Künstlerische Betriebe für gewerbl.Zwecke 28,2 1
Handel und Versicherungswesen . . . 30,94
Verkehrsffewerbe 3o>o2
Gewerbe für Beherbergung: u. Erquickung 32,08
Dienstboten (ohne ländliches Gesinde) . 27,75
Fabrikarbeiter ohne nähere Bezeichnung 27,67
Tagelöhner, Arbeiter (ohne die ländlichen) 29,40
Gesundheitspflege und Krankendienst . 31,76
Erziehung und Unterricht 29,11
Künste, Litteratur und Presse .... 30,62
Kirche und Gottesdienst, Totenbestattung 32,48
Hof-, Reichs-, Staats-, Gemeinde- und
sonstige Öffentliche Beamte .... 33,41
Armee und Marine, Gendarmerie . . . 29,30
Sonstige Berufsarten 30,63
Personen ohne bestimmten oder bekannten
Beruf, Berufslose 41,47
"'S 2 S
Beruf %^^
«3 Ü 5
u a
O V* «
Ohne Beruf und Erwerb, Haustöchter . 25,35
Rentnerinnen, Altsitzerinnen 42,76
Lehrerinnen 29,02
Kindergärtnerinnen 26,75
Wirtschafterinnen 30^94
Köchinnen 27,60
Dienst- oder Hausmädchen 25,36
Nähterinnen, Putzmacherinnen . . . .25,98
Wäscherinnen, Plätterinnen 28,56
Ladenmädchen 25,76
Fabrikarbeiterinnen ohne nähere Bezeich-
nung 24,62
Tagelöhnerinnen, Arbeiterinnen .... 29,85
KeUnerinnen 26,40
Landwirtinnen 35,86
Gastwirtinnen 36,94
Händlerinnen 34,31
Weberinnen 26,83
Hebammen 32,51
C-igarrenarbeiterinnen 24,99
Grubenarbeiterinnen 23,52
Strickerinnen 25,84
Sonstige Berufsarten 28,66
Im übrigen ist aus den genannten Unter-
suchungen über die Berufs Verhältnisse der
Brautleute, die durch v. Inama-Sternegg, Das
soziale Connubium in den österreichischen
Städten (Wien 1898), bestätigt worden, das
starke Vorherrschen der Berufsgleichheit
hervorzuheben: Frauen, welche vor ihrer
Eheschliessung erwerbsthätig gewesen sind,
heiraten grösstenteils Männer, die den ihrer
bisherigen Erwerbsthätigkeit nahestehenden
Berufsgmppen angehören (so Lehrerinnen,
Näherinnen, Ladenmädchen, Fabrikarbeite-
rinnen, Gastwirtinnen, Händlerinnen etc.).
Dagegen werden von Männern aller Berufs-
gruppen vorzugsweise Frauen, deren bis-
henge ErwerbsQiätigkeit die Befähigung zur
Führung einer Hauswirtschaft ziemlich ver-
bürgt, zur Ehe begehrt, also Wirtschafte-
rinnen, Ködünnen, Wäscherinnen, Plätte-
rinnen, Dienstmädchen (in Berlin waren über
ein Viertel von allen Mädchen, die 1892 bis
1895 heirateten, Dienstmädchen).
6. Heiraten unter Blutsverwandten.
Darüber liegen Nachweise für Preussen,
Bayern, Frankreich und Italien vor. Es
kamen zu stände
1192
Heiratsstatistik — Held
Eheschliessungen unter Blutsverwandten
auf lüOO Eheschliessungen
zwischen
zwischen
m
im Jahres- üher-
dnrchschnitt haupt
Preussen .
Bayern
Frankreich
Italien . .
1886/95
1886/^5
1884/93
1873/82
1445
239
2 935
I 562
Ge-
schwis-
t^r-
kindem
1314
216
2708
1414
Onkel
Neffe
•11
Ge-
und
Nichte
und
Tante
über-
haupt
Bchwis-
ter-
kindem
112
• 19
5,96
5,42
17
6
5,93
5,36
168
59
io,43
9,62
I
48
7,24
6,55
Onkel
Neffe
und
und
Nicht«
Tante
0,46
0,08
0,42
0,15
0.60
0,21
Ob die Blutsverwandtschaft der Ehe-
schliessendeu einen Einfluss auf die geistige
und körperliche Beschaffenheit der Nach-
kommen äussert, ist noch nicht hinreichend
geklärt. Eingehenden Aufschluss über den
derzeitigen Stand der Frage giebt Maj^et,
die statistische Erfassung der Folgen der
Verwandtenehen, Vortrag, abgedruckt in^den
Verhandlungen des 10. internationalen hygie-
nisch-demographischen Kongresses zu Madrid
1898.
Litterat nr: Ausser der bereits vorstehend er-
wähnten Lüteratur noch Vierteljahrs heße zur
Statistik des Deutschen Reichs 1900, Jlcft I,
S. 121 ff. ; Bd. 44, xV. F. der Stat. d. D. B. —
Bodio , Confronti intemazionali, Bulletin de
VInst. Int. de St., VII, 2, Borne I894. — Q,
von Mayr, Bevölkerungsstatistik, 1897, S. S74 ff.
und die dort citierten Schritten. — «7. Con~
radf Grundriss zum Studium der polnischen
Oekonomie; 4- Teil: Statistik, Geschichte und
Theorie der SUUistik, Bevölkerungsstatistik, 1900,
S. 89 ff. — G, Schnioller, Grundriss der all-
gemeinen Volkswirtschaftslehre, Teil I, Leipzig
1900, S, 163 ff.
Ff^iedrich Zahn.
0,69
rungsjubiläum des Königs Karl von Württem-
berg), 1889. — Die sozialpolitische Bewegung
in Deutschland 1863—90, Stuttgart 1891. —
Neue Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Stutt-
gart, 1897. — Das Interesse der Landwirtschaft
an den Handelsverträgen (Schriften der Central-
stelle für die Vorbereitung von Handelsver-
trägen), Berlin 1900. —
Ausserdem veröffentlichte Heitz mehrere
Aufsätze und Abhandlungen in der schweize-
rischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, der
Zeitschrift des bayer. Statist. Bureaus, den Jahr-
büchern für Nationalökonomie und Statistik,
dem Jahrbuch für Gesetzgebung, Verw-altung
und Volkswirtschaft, der Landwirtschaftlichen
Presse, der Zeitschrift für die ges. Staats Wissen-
schaft, den Jahrbüchern für Württ^mb. Sta-
tistik etc.
Bed.
Ueitz, Ernst Ludwig,
§eb. am 8. VII. 1839 in Basel, studierte in
asel, Berlin und Gottingen Rechtswissenschaft,
widmete sich, durch Krankheit dem ursprüng-
lich gewählten Berufe entzogen, einige Jahre
dem öffentlichen Leben und der Fresse, wandte
sich 1874 der Nationalökonomie zu, studierte in
München, zuletzt in Jena, wo er sich auch
1876 habilitierte. Seit 1877 ist er als Professor
der Nationalökonomie an der landwirtschaft-
lichen Akademie Hohenheim thätig.
Von seinen Schriften seien die nachfolgen-
den genannt: i
Die öffentlichen Bibliotheken der Schweiz, j
1872. — Die Statistik der Schweizer Zeitungen,
1874. — Das wohlthätige und gemeinnützige
Basel, 1872. — lieber die Methoden bei Erhe-
bung von Preisen (Jahrb. f. Nat. u. Stat. 26. Bd., S.
65—87; 129—220; 27. Bd. S. 316—368). - Forst-
regal und Waldrente (Programm der Akademie
Hohenheim), 1877. — Ursachen der Tragweite
der nordamerikanischen Konkurrenz (Zeit- und
Streitfragen), 1881. — Die bäuerlichen Zustände
in den Oberämtem Stuttgart, Böblingen und
Herrenberg (Sehr. d. V. f. Sozialp. 24. Bd.
[Leipzig 1883J, S. 207 ff.). — Die Innungsfrage
m alter und neuer Zeit, Stuttgart 1887. —
Studien zur Handwerkerfrage (Festschrift der
Akademie Hohenheim zum 25 jährigen Regie-
Held, Adolf,
geb. am 10. V. 1844 in Würzburg, als Sohn des
bedeutenden Staatsrechtslehrers Jos. v. Held,
promovierte in Würzburg, besuchte 1866 das
mit dem königlich preussischen statistischen
Bureau verbundene statistische Seminar, ha-
bilitierte sich 1867 an der Bonner Universität
als Lehrer der Nationalökonomie, wurde 1868
daselbst ausserordentlicher und 1872 ordentlicber
Professor der Staatswissenschaften, folgte 1880
einem Rufe als ordentlicher Professor der Staats-
wissenschaften nach Berlin und ertrank am 25.
VIII. 1880 auf einer Schweizer Erhohmgsreise
im Thuner See.
Als „Kathedersozialist" gehörte Held zum
rechten Flügel dieser sozialpolitischen Schule,
welcher die soziale Reform auf dem bestehenden
Rechtsboden anstrebt.
Held veröffentlichte von staatsi^dssenschaft-
lichen Schriften a) in Buchform:
Careys Sozialwissenschaft und das ]iTerkan-
tilsystem. Eine litteraturgeschichtliche Paral-
lele, Würzburg 1866 (Promotionsschrift). — Die
Einkommensteuer. Finanz wissenschaftliche Stu-
dien zur Reform der direkten Steuern in Deutsch-
land, Bonn 1872. (Held will u. a. darin das
Einzeleinkommen aus dem Volkseinkommen
konstruieren, da jedes produktionsfähige Indi-
viduum sein Eigentum im Rahmen der produ-
zierenden Volkswirtschaft erwerbe, ein Satz, der
wohl nur in einem kommunistischen Arbeiter-
staate mit einstufiger Stundenlöhnung als durch-
führbar gedacht werden könnte.) — Die deutsche
Arbeiterpresse der Gegenwart, Leipzig 1873. -—
Grundriss f ürVorlesungen über Nationalökonomie,
Bonn 1876; dasselbe, 2. Aufl., 1878. — Sozia-
lismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik. Leip-
zig 1878. (Hierin findet sich u. a. eine gründ-
Held—Helferich
1193
liehe Darlegung des Zusammenhanges der Marx-
schen Werttheorie mit der Lehre Ricardos.) —
Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands
(aus seinem Nachlasse), herausgeg. Ton F. Knapp,
Leipzig 1881 (mit Helds Bildnis). — Er war
ferner beteiligt an der Festschrift der landwirt-
schaftlichen Akademie zu Poppeisdorf zur fünf-
zigjährigen Jubelfeier der Universität Bonn,
Bonn 1868, durch den Artikel: Die Mahl- und
Schlachtsteuer und die Landwirtschaft, S. 99 ff.
b) in Zeitschriften und periodi-
schen Werken:
1. Im Arbeiterfreund: Die Darlehnskassen-
vereine der Rheinprovinz. Eine Antwort auf
die Abhandlung des Regierun^rats NöU im
2. Hefte des IX. Jahrg. dieser Zeitschrift, Jahrg.
XI, Berlin 1873, S. 295 ff. — Die zweite Jah-
resversammlung des Vereins für Sozialpolitik
am 11. und 12. X. 1874 zu Eisenach, Jahrg. XII,
1874, S. 457 ff. — Die Verhandlungen des
Vereins für Sozialpolitik am 10., 11. und 12. X.
1875 zu Eisenach, Jahrg. aIU, 1875, S.
491 ff. — Verhandlungen des Vereins für Sozial-
politik, 1879, Jahrg. XVII, 1879, S. 413 ff.
— 2. In Konkordia, Zeitschrift für die Arbeiter-
frage, Mainz: Steuerreform und soziale Frage,
Jahrg. I, Mainz 1871, Nr. 2, 4 und 6. — Der
Sozialismus und die Wissenschaft, Jahrg. U,
1872, Nr. 8, 11/12, 16 und 18. — Arbeitsein-
stellungen und Geldentwertung, Jahrg. II, Nr.
24-25. — Staat und Gesellschaft, Jahrg. II, Nr.
40 42. — Ueber Volksbildung und Volkssittlich-
keit, Jahrg. IV, 1874, Nr. 4, 6 und 7. — Zur
Beurteilung der Sozialdemokratie in Sachsen,
Jahrg. IV, Nr. 15,16, 19/20, 23,24, 26/27. —
Sozialdemokratie und Ultramontanismus, Jahrg.
IV, Nr. 48 50. — Der englische Chartismus und
die deutsche Sozialdemokratie, Jahr^. V, 1875,
Nr. 12; 16. — Die christlichen Sozialisten in
England, Jahrg. V, Nr. 31,37. — Robert Owen,
der Vater des englischen Sozialismus, Jahrg. VI,
1876, Nr. 5 10. — Der Liberalismus und die
soziale Frage, Jahrg. VI, Nr. 18/20. — Eine
englische Arbeiterbiographie, Jahrg. VI, Nr.
23.26 etc. — 3. Im Jahrb. f. Ges. u. Verw.,
hrsg. von Holtzendorff und Brentano : Der volks-
wirtschaftliche Kongress und der Verein für
Sozialpolitik, N. F. Jahrg. I, 1877, S. 159/77.
— Die 5. Generalversammlung des Vereins für
Sozialpolitik vom 8., 9. und 10. X. 1877 zu
Berlin, N. F. Jahrg. I, S. 791/825. — Die
„Quintessenz des Kathedersozialismus" von M.
Block; Besprechung, N. F. Jahrg. III, 1879,
S. 229 if. — Schutzzoll und Freihandel, N. F.
Jahrg. III, 1879, S. 437/86. — 4. In den Jahrb.
f. Nat. u. Stat. : Adam Smith und Quetelet, Bd. IX,
1867, S. 249:79. — Die ländlichen Darlehns-
kassenvereine in der Rheinprovinz und ihre
Beziehungen zur Arbeiterfrage, Bd. XIII, 1869,
S. 1—84. — Noch einmal über den Preis des
Geldes. Bd. XVI, 1871, S. 315/40. — Die neuen
preussischeu Steuergesetze, Bd. XX, 1873, S.
369/404. — Der Entwurf der Novelle zur Ge-
werbeordnung des Deutschen Reichs, Bd. XXII,
1874. S. 97,114. — lieber einige neuere Versuche
zur Revision der Grundbegriffe der National-
ökonomie, Bd. XXVII, S. 145/91 etc. — 5. In
den landwirtschaftlichen Jahrbüchern, Berlin:
Landwirtschaft und Industrie, Bd. III, 1874,
S. 367,420. — Der Uebergang der deutschen
Bahnen an das Reich, Bd. V, 1876, S. 1065/1128.
— 6. In den Preussischen Jahrbüchern, Berlin:
Ueber den gegenwärtigen Principienstreit in
der Nationalökonomie, Bd. XXX, 1872, S. 185/212.
— Richard Cobden, der Vater des Freihandels,
Bd. XXXVIII, 1876, S. 115. — 7. In den Sehr,
d. V. f. Sozialp., Leipzig: Gutachten über die
Steuerfrage, Bd. III, 1873, S. 23/38. — Referat
über die Bestrafung des Arbeiterkontraktbruchs,
Bd. IX, 1875, S. 0/25. — Korreferat über die
Einkommensteuer, Bd. XI, 1875, S. 27/36. —
Bericht verschiedener Ansichten über die Haft-
pflichtfrage, Bd. XIX, 1880, S. 139/54. — 8. In
der Zeitschr. f. Staatsw., Tübingen : Zur Lehre
von der Ueberwälzung der Steuern, Bd. XXIV,
S. 421/495 (Habilitationsschrift). — Schliesslich
hat Held noch verschiedene Artikel im St. W. B.
von Bluntschli und Brater, Auszug von Loening,
Zürich 1869/72 be- bezw. umgearbeitet, u. a.:
„Nationalökonomie**, Bd. II, S. 657/98, und hat
femer für die Jenaer Litter aturzeitung 1874/78
und das Litterarische Centralblatt 1871 — 75 eine
Anzahl von Besprechungen geliefert.
Vergl. über Held: Ad. Wagner im Art.
„Ueber die schwebenden deutschen Finanz-
fragen", in Zeitschr. f. Staatsw., Bd. XXXV,
Tübingen 1879, S. 100/101. — Ad. Wagner,
Zur Erinnerung an Ad. Held, in Beilage
zur Augsburger Allg. Zeitung vom 11. und
12. IX. 1880. — Ad. Wagner, Adolf Held, in
Allg. deutsche Biographie, Bd. XIII, Leipzig
1881, S. 494 498. — Nasse, Nekrolog Ad. Helds
in Bd. XIX der Sehr. d. V. f. Sozialp., Leipzig
1880. — Adolfo Held, in „La Kassegna
nazionale", Juli 1881. — Walcker, Geschichte
der Nationalökonomie, Leipzig 1884, S. 207. —
J. Bonar, Malthus and bis work, London 1885,
S. 41, 326, 331 und 382. — E. Blenck, Ad.
Held, Nekrolog, in der Zeitschr. des königl.
preuss. stat. Bureaus, Jahrg. 1887, S. 261. —
Ingram, History of political economy. Edin-
burg 1888, S. 135, 207, 214. — Gabaglio,
Teoria generale della statistica, 2. Aufl., Bd. I,
Mailand 1888, S. 439/40 u. ö.
Helferich, Johann Alfons Benatus von,
feb. am 5. XI. 1817 zu Neuchatel in der
chweiz, gest. am 8. VI. 1892 in München, studierte
in Erlangen und München Nationalökonomie,
ward auf Grund seiner Schrift „Von den
periodischen Schwankungen im Werte der edlen
Metalle von der Entdeckung Amerikas bis zum
Jahre 1830" (Nürnberg 1843), in welcher er an
der Hand statistischen Materials das übliche
Verfahren bekämpft, lediglich die Preise des
Getreides und der Arbeit zu untersuchen und
aus ihnen auf die Verändenmgen des Geldwertes
zu schliessen, 1843 Priv&tdocent, 1844 ausser-
ordentlicher, 1847 ordentlicher Professor au
der Universität zu Freiburg, 1849 nach Tübingen,
1860 nach Göttingen und 1869 nach München
berufen, woselbst er zunächst einer Pflicht der
Pietät genügte, indem er in Gemeinschaft mit
G. V. Mayr 1870 die 2. Aufl. der „Staatswirt-
schaftlichen Untersuchungen** Hermanns aus
dem Nachlasse seines Lehrers und Amtsvor-
g:ängers herausgab. Ende 1890 trat Helferich
in den Ruhestand.
1194
Helferich — Herdsteuer
Er veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Abhandlungen in Zeitschriften und
Sammelwerken a^ in der Zeitschr. für die ges.
Staatsw. :
1. üeber Steuern: üeber die Einführung
einer Kapitalsteuer in Bayern (1846). — Der Kolo-
nial zucker und die Eübensteuer im Zollverein
(1852). — Zusätze zu dem Artikel „Die Besteue-
ning der Gewerbe in England" von Vocke (1862).
Die Reform der direkten Steuern in Bayern
(1878). — 2. üeber Mass- und Münzwesen:
Die Einheit im deutschen Münzwesen (1850). —
Die österreichische Valuta seit dem Jahre 1848
(18Ö5 u. 1856). — üeber einheitliehe Masssysteme
(1861). — 3. lieber Preis, Zins und Gewinn:
Joh. Heinrich von Thünen und sein Gesetz über
die Teilung des Produktes unter die Arbeiter
und Kapitalisten (18Ö2). — Württembergische
Wein- und Getreidepreise von 1456 — 1628, ein
Beitrag zur Geschichte der Geldentwertung nach
der Entdeckung Amerikas (1858). — 4. Üeber
Land- und Forstwirtschaft: Die Do-
mänenverwaltung in Baden nach den Bestim-
mungen der Verfassungsurkunde (1847). — Die
Versichening der Feldfrüchte gegen Hagel-
schaden, vorzüglich in Norddeutschland (1Ö7).
— Studien über württem herrsche Agrarverhält-
nisse (zu Gunsten einer Keaktivierung des
bäuerlichen Anerbenrechtes), 1863 und 1854. —
Die Waldrente (1867, 1871, 1872). — 6. Ad.
Smith und sein Werk über die Natur und Ur-
sachen des Reichtums derVölker (1878, Rektorats-
rede). —
b) In den Annalen des Deutschen Reichs:
Die bäueriiche Erbfolge, Vortrat (1883). — c)
In den Forstlichen Blättern: Leber den bei
Einrichtung von Forsten zu wählenden Zinsfuss
und über den Bodenwert als Kosten wert bei der
Holzerzeugung (1872). — d) In Schönbergs
Handbuch der politischen Oekonomie die Ab-
schnitte über Forstwirtschaft und über allge-
meine Steuerlehre.
Helferich erstattete femer dem landwirt-
schaftlichen Vereine in Bayern Berichte u. a.
über „Errichtung einer Hagdversicherungs-
anstalt unter staatlicher Leitung" (1882), „üeber
die bäuerliche Erbfolge" (1883), über „das
baverische Arrondierungsgesetz" (1884), über
.,die Güterzertrümmerung" (1892) etc. —
Vergl. über Helferich : J. Lehr, v. Helferich
in Handwörterbuch I. Aufl., Bd. IV, S. 465 f.
— Annais of the American Academ^ of pol.
and soc. science, Vol. III, S. 121 f., Philadelphia
1893.
' Ltppert,
Herberge zur Heimat
s. Soziale Refonnbestrebungen.
Herdstener.
Die Herdstener ist, wie die verwandten
Auf lagen (Viehsteuer, Hufenschoss, Giebel-
schoss etc.) ein tastender Vei*such der un-
entwickelten Veranlagungstechnikim Lehens-
und Territorialstaate, um das Veraiögen der
Einzelwirtschaften und ihrer Rechtssubjekte
zur Leistung direkter Steuern heranzuziehen.
Denn alle Bestrebungen zur Einfühnmg einer
primitiven Vermögenssteuer stiessen auf
grosse Schwierigkeiten, weil das Vermögen
als Ganzes, als einheitlicher Begriff steuer-
technisch nicht zu erreichen war. Daher
erblicken wir überall die Tendenz, alle
direkten Abgaben an einzelne Gegenstände
zu heften, um schliesslich durch den Um-
weg über seine einzelnen Bestandteile zum
Ganzen vorzudringen. So erscheinen hier
der Viehbesitz, die Hufe, der Giebel, der
Schornstein, die FeuersteÜe etc. als die
äusseren Merkmale, an welche die Be-
steuerung anknüpft imd durch welche sie
einigermassen die Beitragsfähigkeit der ein-
zelnen Steuerpflichtigen zu wtoligen sucht.
Die Feuei'stelle , der heimische Heixl
schien ganz besonders als Ausdruck der
Heimstätte und demgemäss als Gnmdlage
für die Besteuerung geeignet. Denn eine
Hütte oder wenigstens ein Anteil an einer
solchen gehörte unbedingt zum Lebensl>e-
darf eines jeden und bot somit für die All-
gemeinheit der Steuer die beste Bürgschaft.
Dieser Anknüpfung an ein unbedingt not-
wendiges Bedürfnis des Lebens entsprach
auch Form und Inhalt der Leistimg. Da
nun der Besitz einer Heimstätte nicht auch
zugleich einen solchen von Grundstücken
einschloss, so konnte die Steuer auch nicht
in Feld fruchten, Getreide etc., wie häufig
beim Hufenschoss, bestehen. Die Natural-
abgabe aber war die iurs2>röDgliche Form
aller jener Steuerleistungen teils infolge der
ganzen historischen Entwickelung, teils
wegen der vorherrsdienden Naturalwirt-
schaft überhaupt. Hühner konnte sich aber
und pflegte sich auch der Gnmdbesitzloso
zu halten, weshalb die ursprünglichste Ge-
stalt der Herdsteuer eine Abgabe in Hüh-
nern, den sogenannten »Rauchhühnern« war.
Wer keine Hühner zog, entrichtete eine
Geldsteuer, den »Rauchpfennig«. Mit zu-
nehmender Geldwirtschaft ei-setzte die letz-
tere Zahlungsform die natural wu-tschaftliche.
Als solche hiess die Herdsteuer in gewissen
Gegenden »Heimstättgeld« imd war eine
Auflage der Leute ohne Grundbesitz, welche
♦sonderbaren Rauch«, d. h. einen eigenen
Herd, besassen.
Im übrigen w^aren die Grundsätze der
Veranlagung und Erhebung der Herdsteuer
höchst schwankend. Es werden sowohl Fälle
überliefert, in welchen jedermaim beizu-
steueni hatte; der reiche wie der arme
Mann, der Ritter und Bürger wie der Bauer,
das grosse und das kleine Haus, die Ritter-
burg wue die elendeste Hütte zalüte dabei
gleich viel, oder wenn noch Abstufungen ge-
macht wurden, waren sie tliatsächlich be-
j deutungslos. Andererseits aber werden oft
Herdsteuer — H erkner
1195
Arme ganz freigelassen oder umgekehrt ge-
rade solche Pei^sonen der Herdsteuer unter-
worfen, die wegen der Geringfügigkeit ihres
A'^erraügens von anderen Abgaben frei wai-en.
So hatte nach 13/14 Charles II. c. 10 jeder-
mann eine Herdsteuer von 2 sh. zu ent-
richten mit Ausnahme derjenigen Pcreonen,
welche von der Armen- und Kirchensteuer
befreit waren.
Die Herdsteuer war schon dem angel-
sächsischen Lehensstaate unter dem Namen
foagium, fumagium, fouage, smook fartlüng,
hearth-money, chunney-money etc. bekannt.
1662 wanl aus diesen Anfängen eine staat-
liche Häusersteuer, welche das Parlament
bewilligte, die als erste dauernde Herd-
stättesteuer wahrscheinlich von den Hinter-
sassen des liOrd of the' Manor getragen
wurde. Die Taille der älteren Zeit, die
hauptsächlichste direkte Steuer in Frank-
reich, und ähnliche Abgaben werden früh-
zeitig gern nach »feux« als Rauch- oder
Feuerstellensteuern (fouages, focagia) aufge-
legt. Auch in den deutschen Territorien
war die Herdsteuer eine häufige Auflage;
sie hat sich hier oft lange Zeit erhalten,
wie z. B. in Bayern, wo das Herdstätlegeld
von jeder Familie in Städten und auf dem
Lande bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts
vorkommt. Wegen der Sicherheit und Be-
tiuemlichkeit des Ertrages war die Herd-
steuer lange bei den Finanzmännern sehr
beliebt als Sicherheitsbestellung für Staats-
anleihen (Grossbritannien).
Die Herdsteuer als Mittel zur Vermö-
gen sschätzimg, namentlich zur Steueranlage
des Hausbesitzes, bezw. eines Anteils an
demselben, erinnert selu* an eine rohe Kopf-
steuer, deren Schattenseiten sie in ihren
Wirkungen teilt. Wegen der Einfachheit
ihrer Aeranlagung und Erhebung ist sie
sicher und bequem für den Staat, aber
höchst un verhältnismässig für den Steuer-
zahler und daher ohne harten Dnick nie-
mals sehr ergiebig zu machen. Thatsäch-
lich vermag sie nur primitiven Anfordenm-
gen in technischer und finanzieller Be-
ziehung zu genügen. Seit Beginn des 18.
Jahrhunderts wurde sie allerwärts durch
zeitgemässere Steuerformen abgelöst und
teils von der Vermögenssteuer aufgenommen,
teils in eine allgemeine Familiensteuer er-
weitert. In der einen wie in der anderen
Richtiuig hat die Heixlsteuer als Vorläuferin
der modernen Ertragsbesteuerung — Ge-
bäude- und (specielle) Einkommensteuer —
ihre geschichtliche Bedeutung gehabt, ins-
beson(lere dadurch, dass sie vorbildlich als
eine Steuer »nach äusseren Merkmalen« den
Boden für die Objektbesteuerung vorbereitet
liat.
Max van Hechel,
Herkner, Heinrich«
§eb. am 27. VI. 1863 in Keichenberg (Böhmen),
ach Absolvierung des Gymnasiums dieser
Stadt 1882 studierte er Philosophie und Kunst-
wissenschaft in Wien, 1883 — 1887 Staatsmssen-
schaften in Leipzig, Berlin, Freiburg i. B. und
Strassbur^; 1889 als Docent mit Lehraaftrag
nach Freiburg i. B. berufen, wurde er 1890
daselbst etatmässiffer ausserordentlicher Pro-
fessor, 1892 ordentlicher Professor der Volks-
wirtschaftslehre an der Technischen Hochschule
Karlsruhe, 1898 ordentlicher Professor der
Nationalökonomie und Statistik an der Uni-
versität Zürich.
Er veröflf entlichte an Staats wissenschaft-
lichen Schriften a) in Buchform:
Die oberelsässische Baumwollindustrie und
ihre Arbeiter, Strassburg 1887; Die ober-
elsässische Baumwollindustrie und die deutsche
Gewerbeordnung, Strassburg 1887; Die soziale
Reform als Gebot des wirtschaftlichen Fort-
schrittes, Leipzij^ 1891 ; Die Zukunft der Deutsch-
Österreicher, Wien 1893; Die Arbeiterfrage, 1.
Aufl., Berlin 1894, 2. Aufl. ebd. 1897 (unter
dem Titel: Die Arbeit in Westeuropa, ins
Russische übersetzt, St. Petersburg 1899; Ueber-
setzunff ins Finische unter der Presse) ; Die Zu-
kunft des Deutschtums in Böhmen, 1894; Alko-
holismns und Arbeiterfrage, Hildesheim 1896;
Das Frauenstudium der Nationalökonomie, Berlin
1899. — In den Schrifteu des Vereins für
Sozialpolitik (Bd. LXXVI) bearbeitete er: Die
Handhabung des Vereins- und Koalitionsrechtes
der Arbeiter im Deutschen Reiche.
b) in Zeitschriften: Brauns Archiv für
soziale Gesetzgebung und Statistik: Bd. I: Die
belgische Arbeitereuquete und ihre sozialpoli-
tischen Besultate; Bd. UI: Zur Kritik und
Beform der deutschen Arbeiterschutzgesetz-
gebung; Bd. IV: Studien zur Fortbildung des
Arbeitsverhältnisses; Bd. V: Die Reform der
deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung ; Bd. XIII:
Das Frauenstudium der Nationalökonomie.
Conrads Jahrbücher N. F. Bd. XXI: Die
irische Agrarfrage. — Die Sachsengängerei. —
Schmollers Jahrbuch Bd. XX: Ueber Sparsam-
keit und Luxus vom Standpunkte der nationalen
Kultur- und Sozialpolitik. — Zeitschrift für ges.
Staatswissenschaft Bd. LI: Sozialreform und
Politik. — Zeitschrift für Volkswirtschaft,
Sozialpolitik und Verwaltung, Wien Bd. II:
Ueber Erhaltung und Verstärkung: der Mittel-
klasse. —- Revue d'6conomie politique, Paris
1892 : La vie des onvriers de fabriques dans le
Grand-Duche de Bade. — Wahrheit (Schrempf),
Stuttgart, Nr. 37, 38: Die soziale Reform eine
Kulturfrage. — Zukunft (M. Harden), Berlin,
1892: Die Statistik der Einkommensbesteuerung ;
1894: Die sozialdemokratische Krisis; 1895:
Sozialreform und Deutschtum ; Der Parteitag
der Sozialdemokratie. — Ausserdem div. Artikel
in Deutsche Worte (E. Pernerstorfer) , Wien;
Deutsches Wochenblatt, Berlin ; Deutsche Litte-
raturzeitung, Berlin ; Litt. Centralblatt, Leipzig ;
Neue Deutsche Rundschau, Berlin; Handels -
museum, Wien; Sozialpolitisches Centralblatt,
Soziale Praxis, Berlin ; . Zeit, Wien und Tages-
blätter. — In diesem Handwörterbuche der
Staatswissenschaften rühren von ihm her die
1196
Herkiier — Hermann
Art. Gewerkvereine in Oesterreich, Gewerk-
vereine in der Schweiz, Krisen, Owen.
Red,
Hermann, Friedrich Benedikt Wil-
Iielm y.,
geb. am 5. XII. 1795 in Dinkelsbühl in Bayern,
gest. als Mitglied der Münchener Akademie der
Wissenschaften (seit 1835) und als Staatsrat
(seit 1855) am 23. XI. 1868 in München. Her-
mann habilitierte sich 1821 als Docent der
Kameralwissenschaften in Erlangen, dann wurde
er 1827 ausserordentlicher und 1833 ordentlicher
Professor der Kameralwissenschaften in München.
1848 deputierte ihn München in die konsti-
tuierende Nationalversammlung zu Frankfurt
a. M., wo er zuerst dem linken Centrum ange-
hörte und u. a. für Abschaffung des Adels und
Anerkennung der Volkssouveränität in der
Reichs Verfassung stimmte. Im Februar 1849
ward er Mitbegründer der sogenannten gross-
deutschen Partei. 1850 wurde Hermann Vor-
stand des königlich bayerischen statistischen
Bureaus, das er bis 1867 leitete, 1852 vertrat
er Bayern auf der Wiener Zollkonferenz.
Hermann veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften a) in Buchform:
Dissertatio exhibens sententias Romanorum
ad ueconomiam politicam pertinentes, Erlangen
1823 (Promotionsschrift). — Staatswirtschaft-
liche Untersuchungen, München 1832; dasselbe,
2. vermehrte und umgearbeitete, nach des Ver-
fassers Tode von dessen Schwiegersohn und
Nachfolger im Direktoriat des statistischen
Bureaus, Unterstaatssekretär J. v. Mair, und
Professor von Helferich herausgegebene Auflage,
ebd. 1870. (üeber Kapital, Preisbildung, Ein-
kommen, Bodenrente, Konsumtion hat Hermann
in vorstehender Schrift teils neue Theorieen
aufgestellt, teils die älteren bezüglichen Funda-
men talbegriffe vertieft und erweitert. In seinen
„Untersuchungen" werden u. a. die Ricardosche
Lohntheorie, wonach die Steigerung der Löhne
ein Sinken des Unternehmergewinnes und vice
versa bedinge und die wirtschaftlich ungünstigen
Folgen, die Ricardo daran knüpft, als viel zu
allgemein gehalten bemängelt; seine eigenen
Ausfühningen über den Lohn sind leider auch
in der zweiten Auflage der „Untersuchungen"
unvollendet geblieben, indem die Erörterungen
über den Einfluss, welchen das Arbeitsangebot
seitens der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer auf
die Lohnskala ausübt, vermisst werden.) Die
Industrieausstellung zu Paris im Jahre 1839.
Nachrichten über den Zustand der verschiedenen
Zweige der Fabrikation, über Ein- und Ausfuhr
an Rohstoffen und Manufakturen in Frankreich
seit 1815, Nürnberg 1840. — Die Reichsver-
fassung und die Grundrechte. Zur Orientierung
bei der Eröffnung des bayerischen Landtags im
September 1849, München 1849. — Beiträge zur
Statistik des Königreichs Bayern. Nach amt-
lichen Quellen herausgegeben nach F. B. W. v.
Hermann, Heft 1 bis Heft 17, München IShO—
1867. (Daraus sind folgende Arbeiten Her-
manns besonders aufzuführen: Heft 3 (1854),
S. V und VI des V^orwortes zu seiner auf S.
216 — 223 enthaltenen, bis zum 34. Lebensjahre
berechneten Mortalitätstafel. Die noch gegen-
wärtig als praktisch anerkannte Methode Her-
manns, die gegenwärtige Sterblichkeit für die
verschiedenen Lebensalter zu beurteilen, beruht
auf der Voraussetzung, dass die an einem Tage
des Kalenderjahres ermittelten Lebenden auf
gleiche Altersstufe mit den während eines
Jahres Gestorbenen gebracht und mit letzteren
verglichen worden sind. — Heft 13 (1865) : Die
Volkszählung im Königreich Bayern vom De-
zember 1864. Mit einer Abhandlung über die
Ergebnisse der 11 Volkszählungen 1834—1864,
verglichen mit den Resultaten der Bewegung
der Bevölkerung während derselben 30 Jahre.
— Heft 15 (1866): Die Ernten im Königreich
Bayern und in einigen anderen Ländern. —
Die Bewegung der Bevölkerung im Königreich
Bayern. Festrede, München 1853 (darin die
Definition Hermanns: „Was sich in den Ergeb-
nissen der Staatsthätigkeit und in den Lebens-
verhältnissen des Volkes auf Grösse und Zahl
reduzieren und quantitativ vergleichen lässt,
das wird Objekt der Statistik.") — Ueber die
Gliederung der Bevölkerung des Königreichs
Bayern. Festrede am 28. XI. 1855, ebd. 1855.
— Ueber den Anbau und Ertrag des Bodens
im Königreich Bayern. Festschrift, ebd. 1857.
— Hermann war beteiligt an den Werken:
Bericht der BeurteilungsKommission bei der
allgemeinen deutscheu Industrieausstellung zu
München im Jahre 1854, bearbeitet von dem
Ausschussreferenten und herausgegeben von
dem Vorstande dieser Kommission F. B. W. v.
Hermann, ebd. 1855. — Rechenschaftsbericht
über die Verhandlungen des internationalen
statistischen Kongresses zu Wien 1857. Wien
1858.
b) in Zeitschriften: 1. Im Archiv der
politischen Oekonomie und Polizeiwissenschaft:
Abhandlung über den gegenwärtigen Znstand
des Münzweseus in Deutschland und die
neueren Vorschläge zur Abstellung seiner
Gebrechen, Bd. I, Heidelberg 18:^, S. 58100
und 141/206. — Ueber Einführung der Ar-
mentaxe in Irland; über Eisenbahnen in Eng-
land (Auszüge aus der Edinburgh Review),
Bd. I, S. 400 ff., Bd. IE (183^5), S. 391 ff. — 2.
In der Augsburger Allgemeinen Zeitung : L>ber
den Handels- und Schiffahrtsvertrag der Zoll-
vereinsstaaten mit England; Jahrg. 1841. Bei-
lage Nr. 155/56 und 159. — Der deutsch-Öster-
reichische Handelsbund, Jahrg. 1850, Beilage
Nr. 183/84, 224. — 3. In den Berliner Jahr-
büchern für wissenschaftliche Kritik, Jahr&rang
1835—37: Besprechungen Staat swissenscliaf t-
lieber Werke von Baumstark, Nebenius, Say,
Villeneuve-Bargemont. (Eine Kritik der Eco-
nomic politique chretienne letztgenannten Autors
findet sich im Augustheft des Jahrg. 1835. es
wird von Hermann darin der Vorwurf der L'n-
christlichkeit , den Villeneuve-Bargemont der
neuzeitlichen Nationalökonomie gemacht hat,
widerlegt.) — 4. In den Jahrb. f. Nat. u. Stat. :
ResultAte der bayerischen Viehzählung vom
April 1863 im Vergleich mit der Zählung vom
April 1840, Bd. III, Jena 1864, S. 74. — Vieh-
stand in Bayern, Preussen, Sachsen, Hannover,
Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg,
Oesterreich, Frankreich, Belgien etc., Bd. HI,
1864, S. 202. — 5. In Münchener gelehrte An-
zeigen der bayerischen Akademie der Wissen-
Hermaan — Herrenschwand
1197
Schäften: Ueber Sparanstalten im allgemeinen,
insbesondere über Sparkassen mit Kücksicht
auf die in Bayern bestehenden Anstalten dieser
Art, Bd. I, München 1836. — Besprechungen
staatswissenschaftlicher Werke von K. Arnd,
K. S. Zachariä , Senior , v. Malchus, Th. Tooke,
L. Moser, A. Soetbeer, W. Dönniges etc. etc.,
Bde. II— XXV, oder Jahrgänge 1836—47. (Die
Arbeit des letztgenannten Autors betitelt sich:
„Das System des freien Handels und der Schutz-
zölle mit vorzüglicher Hücksicht auf den deut-
schen ZoUverein, Berlin 1847", und die Bespre-
chung dieses Buches gab Hermann Gelegenheit,
in den Nrn. 191—199 des XXV. Bandes der
Anzeigen seine sympathische Stellung zur ge-
mässigten Schutzzollpolitik eingehend zu er-
örtern und dabei seine Ansichten über die Be-
rechtigung der Arbeiter zu entwickeln, an dem
durch den Protektionismus geschaffenen allge-
meinen National wohl Stande zu participieren.)
Vergl. über Hermann: K. Arnd, Die
naturgemässe Volkswirtschaft gegenüber dem
Monopoliengeiste und Kommunismus, Hanau
1845, S. 486/88. — Haym, Die deutsche National-
versammlung, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1848 50,
Bd. III, besonders S. 147/151. — H. Laube,
Das erste deutsche Parlament, 3 Bde., Leipzig
1849, Bd. II, S. 216, Bd. III, S. 359. — Diction-
naire de l'^conomie politique, 2. Aufl., Bd. I,
Paris 1854, S. 861/62. — Kautz, Theorie und
Geschichte der Nationalökonomik, Teil II, Wien
1860, S. 633/37. — Adam Smith des Jüngeren
Prüfung der heutigen volkswirtschaftlichen
Systeme, Frankfurt a. M. 1867, S. 197/200. —
M. Block, Analyse de travaux de M. de Her-
mann, conseiller d'Etat, etc. et biographie
(Journal des Economistes, 3« sörie, Bd. VII,
Paris 1867, S. 399 ff., Bd. XII, 1868, S. 426 ff.
und 490 ff.) — Freund, Titanen und Pigmäen,
München 1871. — Schaf fle, Gesellschaftliches
System, 3. Aufl., Teil I, Tübingen 1873, S. 1 ff.
— Röscher, Gesch. der Nat., München 1874,
S. 860 ff. — W. Lexis, Einleitung in die
Theorie der Bevölkerungsstatistik, Strassburg
1875, S. 39ff. — V. Helferich, Fr. B. W. v.
Hermann als nationalökonomischer Schriftsteller
(Zeitschr. f. Staatsw., XXXIV), Tübingen 1878,
S. 638 ff. — Knies, Politische Oekonomie vom
geschichtlichen Standpunkte, Braunschweig 1883,
§. 233 ff. — John, Geschichte der Statistik,
Bd. I, Stuttgart 1884, S. 302. - Walcker,
Geschichte der Nationalökonomie, Leipzig 1884,
S. 121/22. — A. Meitzen, Geschichte, Theorie
und Technik der Statistik, Berlin 1886, S. 37,
50. 67, 201, 209. — K. Wasserrab, Preise
und Krisen, Stuttgart 1889, S. 13, 16/17, 26,
124. — Nouveau dictionnaire d'^conomie polit.,
Bd. I, Paris 1891, S. 1128. — Geschichte und
Einrichtung der amtlichen Statistik im König-
reich Bayern. Herausgegeben vom kgl. bayer.
Statist. Bureau. München 1895. S. 19ff.
Lippert,
Herrenschwand,
Vorname unbekannt, geboren als jüngerer
Bruder des Mediziners Job. Friedrich Herren-
schwand, 1730 zu Murten in der Schweiz, lebte
in reiferen Jahren in London und Paris und
starb um das Jahr 1807. Herrenschwand stand
als Eklektiker zwischen dem physiokratischen
und dem Industriesystem Smiths, doch war er
als Philanthrop, der sich zu den Grundsätzen
des älteren Mirabeau (vergl. dessen ,,rami des
hommes'') bekannte, und Sls Agrarpolitiker der
Quesnayschen Schule am verwandtesten. Er
bekämpfte die Irrtümer des Merkantilismus,
verwarf das Princip der unbeschränkten Ver-
kehrsfreiheit und sympathisierte nur mit der
selbstlosen Harmonie der Interessen.
Herrenschwand veröffentlichte von staats-
wissenschaftlichen Schriften in Buchform:
De r^conomie politique moderne. Discours
fondamental sur la population, London 1776;
dasselbe, 2. Aufl., Paris 1795; dasselbe in deut-
scher Uebersetzung, Halle 1794. (Diese, Lud-
wig XVI. dedizierte Schrift stempelt den Ver-
fasser zu einem Vorläufer von Malthus. Er
verlangt darin, dass die Zunahme des Umsatzes
mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der
Produktion in reciprokem Verhältnisse stehen
soll und erklärt sich, ganz im physiokratischen
Sinne, gegen die künstlich vom Staate geförderte
Volksvermehrung.) ~ Discoars sur le credit
public des nations europeennes, London 1787.
— Discours sur le commerce exterieur des
nations europeennes, ebd. 1787; dasselbe, 2. Aufl.,
ebd. 1790; dasselbe in deutscher Uebersetzung
u. d. T. : Abhandlung über den Handel euro-
päischer Nationen, Berlin 1796. — Discours sur
la division des terres dans Fagriculture, London
1788; dasselbe, 2. Aufl., ebd. 1790. —De Teco-
nomie politique et morale de Tesp^ce humaine,
2 Bde., ebd. 1796. — Du vrai principe actif de
l'economie politique ou du vrai credit public,
ebd. 1797 (Auszug aus dem vorherc^ehenden
zweibändigen Werke); dasselbe in deutscher
Uebersetzung u. d. T.; Ueder die Mittel, den
öffentlichen Kredit in einem Staate wieder her-
zustellen, dessen politische Oekonomie zerstört
ist. Deutsch von A. L. von Massenbach, Amster-
dam (recte Leipzig^ 1810. — Du vrai gouveme-
ment des peuples ae la terre ou adresse k ceux
qui gouvement comme a ceux qui sont gouver-
n^s, Paris 1802; dasselbe, 2. Aufl., u. d. T.:
Du vrai gouvemement du l'esp^ce humaine,
ebd. 1803.
Vgl. über Herrenschwand: Blanqui,
Histoire de T^conomie polit. en Europe, 3. Aufl.,
Bd. II, Paris 1845, S. 379/80. — Dictionnaire
de Teconomie politique, 2. Aufl., Bd. I, Paris
1854, S. 860/61. — R. v. Mo hl, Geschichte und
Litteratur der Staatswissenschaften, Bd. III,
Erlangen 1858, S. 477. — Nouvelle biographie
fen6rale, Bd. XIX, Paris 1858. — Kautz,
heorie und Geschichte der Nationalökonomik.
Bd. II, Wien 1860, S. 362. — Röscher, Ge-
schichte der Nat., München 1874, S. 592, 911.
— Inama-Sternegfl:, Herrenschwand, in
Jahrb. für Nat. u. Stat., Bd. 33, Jena 1879, S. 416 ff.
— Allgemeine deutsche Biographie, Bd. XII, Leip-
zig 1^, S. 208. — J. Garnier, Du principe
de population, 2. Aufl. von Molinari, Paris 1885,
S. 244.
Lippert
1198
H eirmann — ^Hertzka
Herrmann, Emanuel^
wurde am 24 VI. 1839 zu Xlagenfurt in Kärnten
geboren, absolvierte von 1848 bis 18ö6 das
Gymnasium seiner Vaterstadt, studierte alsdann
an den Universitäten Wien, Prag und Graz
Kechtswissenschaften, Geschichte und Natur-
wissenschaften und wurde 1862 in Graz zum
Doktor der Rechte promoviert. Nachdem er
von 1861 an im Staatsdienste thätig gewesen
war, habilitierte er sich 1864 an der Grazer
Universität, wurde 1865 Dozent für National-
ökonomie und Statistik an der technischen Hoch-
schule und Professor für die gleichen Fächer
an der Handelsakademie zu Graz. Im Jahre
1868 folgte er einem Rufe als Professor für
Nationalökonomie, y[>sterreichisches Staats- und
Verwaltungs- sowie Civilrecht an die k. k.
Militärakademie der Wiener Neustadt und 1871
als Professor für Nationalökonomie und Finanz-
wissenschaft an die Handelsakademie in Wien.
Im Frühjahr 1872 wurde Hen*mann als Sektions-
rat und Chef des neugeschaffenen Departements
für Förderung der Gewerbe und Industrie in
das Handelsministerium gezogen, setzte aber
seine Lehrthätigkeit an der Wiener Handels-
akademie noch einige Jahre hindurch fort. Im
Handelsministerium organisierte er unter der
Aegide des damaligen Ministers Dr. Anton
Banhaus eine grosse Zahl gewerblicher Fach-
schulen, welche die Blüte vieler Industrieen in
Oesterreich herbeiführten und zu Muster-
schöpfungen herangediehen, die auch im Aus-
lande vielfach Nachahmung fanden. Im Jahre
1881 zog er sich mit längerem Urlaub in die
Stille eines galizischen Ortes an der russischen
Grenze zurück, um sich dort chemisch-technischen
Studien zu widmen; 1882 wurde er mit Bei-
behaltunc; des 1874 erlangten Rang und Titels
eines k. k. Ministerialrates zum o. ö. Professor
der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft,
wie des österreichischen Handels-, See- und
Wechselrechtes an der technischen Hochschule
in Wien ernannt, und übernahm ausserdem die
Docentur für österreichische Finanzgesetzes-
kunde an der Wiener Universität, welche
Stellungen er auch noch gegenwärtig einnimmt.
Herrmann veröffentlichte an staatswissen-
schaftlichen Schriften a) in Buchform: All-
gemeine Wirtschaftslehre, Graz 1868. (Von
diesem Werke erschienen nur zwei Lieferungen
und zwar über das Gesetz der Arbeitsteilung
als Grundlage der Technik und Oekonomik.) —
Theorie der Versicherung vom wirtschaftlichen
Standpunkte, Graz 1868, 2. Aufl. 1869, 3. Aufl.
Wien 1897. — Leitfaden der Wirtschaftslehre,
Graz 1870. — Miniatur bild er aus dem Gebiete
der Wirtschaft, Halle a. S. 1872. — Principien
der Wirtschaft, Wien 187H. — Kultur und Natur,
Studien im Gebiete der Wirtschaft, Berlin 1887.
— Volkswirtschaft und Unterricht, Berlin 1888.
— Die Familie vom Standpunkte der Gesamt-
wirtschaft, Berlin 1889. — Sein und Werden
in Raum und Zeit, Berlm 1889. — Technische
Fragen und l*robleme in der modernen Volks-
wirtschaft, Leipzig 1891. — Wirtschaftliche
Fragen und Probleme, Leipzig 1893. — Das
Geheimnis der Macht, Berlin 1896.
b) in Zeitschriften und zwar: in der
„Deutschen Vierteljahresschrift":
Ueber die Entstehung der Arten im Gebiete der
' ■lT"'i
Wirtschaft. — In der „Viert, f. Volksw.":
Die Hausindustrie (1873).
Bei der Ausarbeitung des oben erwähnten
„Leitfadens der Wirtschaftslehre'' kam Herrmann
bei Durchforschung der Anwendung des Gesetzes
der Specialisiening auf den Gedanken der Post-
karte (Korrespondenzkarte), und zwar ganz un-
abhängig von einer ähnlichen Idee, welche
Staatssekretär von Stephan einige Jahre vorher
auf der Karlsruher Posütonferenz den Mitgliedern
derselben kurz mitgeteilt hatte. Herrmann ver-
öffentlichte seine Idee in einem Aufsatze der
neuen Presse vom 26. I. 1869 und hatte den
Erfolg, dadurch diese Einrichtung in Oesterreich
anzur^en. (Vgl. darüber Herrmanns Miniatnr-
bilder etc. S. 73 ff. , Karl Hugelmann , Die
Korrespondenzkarte und ihre Nachfolger, in der
Zeitschrift „Das Handelsmuseum'' [Wien] 18S9,
Nr. 52, S. 892. — Gfr. auch Art. „Post" in
diesem „Handwörterbuch".)
Als Werke kulturhistorischen Inhalts er-
schienen: Volkslieder aus Kärnten, 1867 und
spätere Auflagen und Ausgaben; Naturgeschichte
der Kleidung, Wien 1879; Hexameron, Ge-
schicht^en aus der Geschichte, Wien 1879.
Herrmann berücksichtigt in seinen Arbeiten
besonders die technische Entwickelung im Zu-
sammenhange mit der wirtschaftlichen und sucht
ein System der Oekonomie ins Leben zu rufen,
in welchem die reine allgemeine Oekonomik die
Grundlage, die Volks- und Staats wirtschafts-
lehre jedoch nur weitere Ausführungen bilden.
Red.
Hertzka^ Theodor,
ist am 13. VII. 1845 in Budapest geboren. Er
studierte in Wien und Budapest, wurde 1872
Redakteur des wissenschaftlichen und volks-
wirtschaftlichen Teils der „Neuen freien Presse"
und übernahm 1880 die Oberleitung der von
ihm begründeten „Wiener Allgemeinen Zeitung" ;
er verkaufte dieses Blatt im Jahre 1886 und
begründete 1889 die „Zeitschrift für Staats-
und Volkswirtschaft".
Hertzka, der 1874 die „Gesellschaft öster-
reichischer Volkswirte" ins Leben rief, vertritt
auf sozialem Gebiete das Princip der absoluten
„Gerechtigkeit" in Verbindung mit ab.soluter
individueller Freiheit, mit anderen Worten: er
ist der Ansicht, dass dem arbeitenden Individuum
das ungeschmälerte Eigentum und Dispositions-
recht über den vollen Ertrag seiner eigenen
Arbeit, also ohne Abstattung irgend welchen
Tributes an den Unternehmer. Kapitalisten und
Grundbesitzer gesichert werden müsse und
könne und dass es trotzdem nicht notwendig
sei, dem Staate oder der Gesellschaft irgenu
welches Kontrollrecht über die wirtschaftliche
Thätigkeit des Individuums einzuräumen. Auf
monetarischem Gebiete ist er Vertreter der
reinen Goldwährung, im übrigen Freihändler
und ein Anhänger der sogenannten klassischen
Schule der Nationalökonomie.
Hertzka veröffentlichte folgende Schriften:
Die Mängel des österreichischen Aktien-
gesetzentwurfs, Wien 1875. — Währung und
Handel, Wien 1876. — Die Goldrechnung in
Oesterreich^ Wien 1880. — Die Gesetze der
Handelspolitik, Leipzig 1880. — Das Personen-
Hertzka — Heuschling
1199
porto, Wien 1885. — Die Gesetze der sozialen
Entwickelung, Leipzig 1886. — Das Wesen des
Geldes, Leipzig 1887. — Freiland. Ein sozial-
politisches Zukunftsbild, Dresden 1890. (Letzt-
genanntes Werk erfuhr seither mehrere deutsche,
insgesamt (bis 1896) 10 und einige fremdsprach-
liche Ausgaben.) — Sozialdemokratie und öozial-
liberalismus, Dresden 1891. — Das internationale
Währungsproblem und dessen Lösung, Leipzig
1892. — Wechselkurs und Agio. Eine währungs-
politische Studie, Wien 1894. — Freilands Wirt-
schaftsordnung. Nach den am 29. XI. bis 1. XII.
1893 zu Berlin gehaltenen Vorträgen, 1. und
2. Aufl., Berlin 1894. — Die Probleme der
menschlichen Wirtschaft, I. Band: Das Problem
der Gütererzeugung, Berlin 1897.
Red.
Heuschling, Philipp Franz Xayier
Theodor,
geboren am 21. III. 1802 in Luxemberg, trat
§egen 1830 in den Staatsdienst, war 1838
[inisterialsekretär im Finanzministerium zu
Brüssel, wurde 1841 Direktor des statistischen
Bureaus im Ministerium des Innern und Sekretär
der statistischen Centralkommission zu Brüssel,
trat 1872 unter dem Titel eines „directeur
honoraire de la statistique beige** in den Ruhe-
stand und starb am 23. V. 1883 in Brüssel.
In seinem rom 2. VII. 1881 datierten Testa-
mente stiftete Heuschling ein unter fiskalische
Verwaltung gestalltes Kapital von 25000 Frcs.,
dessen fünQährige Zinsen zur Prämiiemng des
besten, innerhalb eines Quinquenniums er-
schienenen Originalwerkes eines belgischen
Statistikers verwandt werden sollen. Die ersten
fün^ährigen Zinsen erhielt Jules Sauveur für
das Werk: „Statistique g^n^rale de Tinstruction
publique en Belgique de 1830 a 1885".
Heuschling veröffentlichte von staats-
wissenschaftlichen Schriften a) in Buchform:
Essai sur la statistique generale de la
Belgique, Brüssel 1838; dasselbe, 2. Aufl. mit
Supplement, ebd. 1841/44. {Die erste Auflage
wurde von Ph. van der Maelen herausgegeben.)
— Des naissances dans la ville de Bruxelles,
considerees dans leur rapport avec la population,
ebd. 1841.* — Sur l'accroissement de la popu-
lation de la Belgique pendant la p^riode d^cen-
nale de 1831 a 1840, ebd. 1844. — Apergu des
principales publications statistiques raites sur
la Belgique depuis l'iucorporation de ce pays k
la France en 1794 jusqu'ä ce jour, ebd. 1844*.
— De la reforme des impots en Belgique comme
nioyen de soulager le pauperisme et d'en arr^ter
les progr^s, ebd. 1844. — Bibliographie histori-
que de la statistique, en AUemagne, avec une
introduction generale, ebd. 1845. — Sur le
mouvement de Tetat civil en Belgique, 1841 k
1844, ebd. 1848*. — Manuel de statistique ethno-
graphique universelle, prec6de d'une introduction
theorique d'apr^s l'^tat actuel de la science,
ebd. 1849. (In der Einleitung umfassende Er-
örterungen über Con rings deutsche Schule der
StatistiE.) — Bibliographie historique de la
statistique en France, ebd. 1851*. — Nouvelle
table de mortalite de la Belgique. Presentee a
TAcad^mie des sciences morales et polit. dans
la seance du 20 septembre 1851, Paris 1851.
(Dieser für die Jahre 1841 bis 1850 be-
rechneten Sterbetafel liegen zunächst die Todes-
falle im Königreich Belgien, ermittelt für das
1. bis 10. Lebensjahr und die darauf folgenden
Jahrfünfte bis zum 100. Lebensjahre zu Grunde,
in Vergleich gebracht zu dem Ueberschuss der
Geborenen über die Gestorbenen in den gleichen
Altersstufen. Die Berechnungen stützen sich
auf die Halleysche Methode (s. d.), und den ge-
wonnenen Resultaten sind die der Eersseboora-
schen Annuitätentafel für Holland gegenüber-
gestellt. Das Referat des Akademikers Villerme
über die Brauchbarkeit der Tafel war ein güns-
tiges, führte aber zu einer unerquicklichen, im
„Journal des Economistes'' (s. u.) zum Austrag
gebrachten Polemik zwischen Heuschling und
Quetelet, in die auch Guillard, Liagre und J.
E. Hom, die ebenfalls belgische Sterbetafeln
berechnet, durch gutachtliche Aeusserungen über
die Heuschlingscne verwickelt wurden.) — Re-
sum6 du recensement general de la population,
de Taghculture et de rindustrie de la Belgique,
ebd. 1851*. — Resume de la statistique generale
de la Belgique pour la periode decennale de
1841 ä 1^, avec une notice biograph. sur
Wagemann, prof. de statistique, ebd. 1852*. —
Historique et compte rendu du Congrfes inter-
national de statistique, tenu k Vienne en 1857,
ebd. 1857. — Notice sur la vie et les ouvrages
de Guillaumin Kersseboom, statisticien hollandais
du XVIIIiöme siöcle, ebd. 1857. - L'Empire de
Turquie. Territoire, population, gouvemement
etc., ebd. 1860. — L'impot sur le revenn. Recueil
d'opuscules pnbli^s k diverses ^poques, Paris
und Brüssel 1873. — Heuschling war beteiligt
mit Quetelet an 1) Projet de Solutions des
questions posees au programme pour le Congr^s
de statistique en Bruxelles, le 20 mai 1853,
Brüssel 1853; 2) Statistique internationale (po-
pulation), public avec la coUaboration des statis-
ticiens officiels des dififerents Etats de TEurope
et des Etats Unis d'Amerique, ebd. 1865; mit
Jourdain an Dictionnaire encyclop6dique de
g6ographie historique du royaume de Belgique
etc., ebd. 1868—69.
b) in Zeitschriften und zwar im
Journal des Economistes (Paris) I. Serie:
Nouvelle table de mortalite (mit Reproduktion
der Tafel und der Villerm6schen Begutach-
tung), Teil XXX, 1851, S. 245 ff. — Ex-
p^rience favorable faite dans le grand-duch6
de Luxembourg pour l'impot du revenu, Teil
XXXII, 1852, S. 316 ff. — Coup d'oe.il sur la
nouvelle Organisation de la statistique en France
et les organisations antörieures, Teil XXXV,
1853, S. 358 ff. — Compte rendu du Congres
de statistique, r6uni k Bruxelles, Teil XXXVII,
1853, S. 70 ff. — II. Serie: Note sur les tables
de mortalit6, Teil III, 1854, S. 370 ff. — Lettre
an sujet d'iin article de M. Quetelet sur les
tables de mortalite, Teil IV, 1854, S. 424 ff. —
Lettre sur le nom donne ä la science econo-
mique, Teil VI, 1855, S. 277 ff. — Resume des
travaux du Congres de statistique, tenu a Paris
en 1855, Teil VIII, 1855, S. 87, 268, 382 ff. —
Recherches sur la population, d'apr^s M. Hom.
Teil X, 1856, S. 84 0". — IIL Serie: Etüde sur
1200
Heuschling — Hildebrand
le mode d'^valution du revenu national, parti-
culiörement en Belgique, Teil XXVI, 1872, S. 6.
Vgl. über Heuschling: Quetelet, Sur
les tables de mortalite et specialement sur les
tables de mortalite de la Belgique, extrait du
Journal des Economistes, No. du 15 novembre
1854, Paris 1854. — Sur les tables de mortalite
et de Population, in „Bulletin de la Commission
centrale de statistique de Belgique", Bd. V,
Brüssel 1853, S. 3ff. — Rundschau der, Ver-
sicherungen, Jahrg. 1853: Varrentrapscher po-
lemischer, die bei den Heuschlingschen und
Queteletschen Sterbetafeln zur Anwendung ge-
kommene Methode bekämpfender Artikel, Leip-
zig 1853. -- Wappäus, Allgemeine Bevölke-
rungsstatistik, Bd. II, Leipzig 1861, S. 24, 111,
114, 372, 556. — Wild, Probleme der Statistik,
München 1862, S. 31. — Oh. Faider, Etüde
de statistique nationale, Brüssel 1865, S. 57 und
65. •— John. Geschichte der Statistik, Bd. I,
Stuttgart 1884, S. 37/39, 41/43, 233/35. — J.
Garnier, Du principe de population, 2. Aufl.
von Molinari, Paris 1885, S. 357. — Block,
Traite de statistique, 2. Aufl., ebd. 1886, S.
211 ff. u. ö. — Gabaglio, Teoria generale
della statistica, 2. Aufl , Mailand 1888, Teil I,
S. 234/35 u. ö.; Teil II, S. 7/8. — Bulletin de
la Commission centrale de statistique, Teil XVI,
Brüssel 1890, S. 127—141. — Nouveau diction-
naire d'economie politique, Teil I, Paris 1891,
S. 1128.
*) Die vorstehend mit * bezeichneten Ver-
öffentlichungen sind Sonderabdrücke aus dem
Bulletin de la Commission centrale de statistique.
Ldppert
Hildebrand^ Bruno,
geboren am 6. III. 1812 in Naumburg a. d. S.,
gestorben am 29. I. 1878 in Jena, habilitierte
sich 1836 als Privatdozent für Geschichte in
Breslau, wurde 1839 ausserordentlicher Professor
in Breslau und 1841 ordentlicher Professor der
Staatswissenschaften in Marburg. 1848 vertrat
er Marburg in der Paulskirche zu Frankfurt,
1849—1850 die Stadt Bockenheim im kur-
hessischen Landtage. September 1850, nach
Auflösung des Landtages, in welchem der An-
trag, der Keg^ierung den verlangten verfassungs-
widriffen Pmanzzuschuss zu verweigern, von
Hildebrand gestellt war, wurde dieser im Dis-
ciplinarwege seiner Stellung entsetzt, ging
darauf nach der Schweiz und bekleidete dort
die Professur der Staatswissenschaften erst in
Zürich, dann in Bern, wo er auch das erste
kantonale statistische Bureau gründete. 1861
verpflanzte er den Sitz seiner Lehrthätigkeit
von Bern nach Jena, gründete dort 1862 die
„Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik",
welche er anfänglich allein, von 1873 ab unter
Assistenz seines Schülers, Professor J. Conrad,
redigierte und trat schliesslich am 1. VII. 1864
das Direktoriat des auf seinen Antrieb errichteten
statistischen Bureaus der Vereinigten Thürin-
gischen Staaten an.
Hildebrand veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften a) in Buchform:
Xenophontis et Aristotelis de oeconomia
publica doctrinae illustratae, 2 Teüe, Marburg
1845. — Die Nationalökonomie der Gegenwart
und Zukunft, I. (einz.) Bd., Frankfurt a. M. 1848.
(Den Kreis der historischen Schule, welcher der
Verfasser angehört, erweitert er in vorstehendem
Werke insoweit, als er, neben eingehender
kritischer Würdi&fung der verschiedenen nationid-
ökonomischen Stmulen, die wirtschaftlichen £nt-
wickelungsgesetze der Kulturvölker von der
ethisch-politischen Seite aus betrachtet. Die
Parallele, welche er, S. 17 ff., zwischen Lockes
B«chtsphilosophie und den Physiokraten, z-wi-
sehen Kants Rechtslehre und dem Industrie-
System zieht, beweisen, wie tief er in seine
Materie eingedrungen. Von Bedeutung sind
seine antisozialistisch - kritischen Ausführungen
über die Engelssche Kritik der Nationalökonomie,
nicht um ihrer selbst willen, da sie von späteren
Kritikern Engels' überholt sind, sondern weil
seine Kritik des Engelsschen Sozialismus die
erste aus einer deutschen Feder war. Bei
,. Friedrich List und das nationale System der
politischen Oekonomie'' ist nur zu bedauern,
dass in der scharfen Kritik der Lehre Lists
dessen grosse Verdienste um den Aufschwung
von Handelspolitik, Zolleinigung und Verkehrs-
wesen, welche er durch seine Agitation vorbe-
reitet, von Hildebrand nicht genug gewür-
digt worden sind, obgleich dieser selbst
ein gemässi^er Schutzzöllner war.) — Statis-
tische Mitteilungen über die volkswirtschaft-
lichen Zustände Kurhessens, Berlin 1853. —
Beiträjp:e zur Statistik des Kantons Bern, Bd. I,
1. Hälfte, Bern 1860. — Die kurhessische Finanz-
verwaltung, Cassel 1860. — De antiquissimae
agri romani distributionis fide, Jena 1862. —
Statistik Thüringens. Mitteilungen des statis-
tischen Bureaus Vereinigter Thüringischer
Staaten, 2 Bde., Jena 1867—1878. — Femer
erschien in Bd. XII des Bulletin de la Commission
centrale de statistique eine von Heuschling (s. d. i
veranstaltete französische üebersetÄung eines
Kollegienhef tes der Hildebrandschen Vorlesungen
über Statistik im Dienste der Verwaltung unter
dem Titel: Principes de statistique administra-
tive, enseignes ä l'üniversite de J4na, 1872.
b) in Zeitschriften und zwar 1) in
den Jahrb. f. Nat. u. Stat.: Die gegenwärtige
Aufgabe der Wissenschaft der Statistik, Bd. I,
Jena 1863, S. 5 ff. und 137 ff. — Die statistische
Aufgabe der landwirtschaftlichen Vereine, Bd. I,
1863. S. 478 ff. — Natural-, Geld- und Kredit-
wirtschaft, Bd.. II, S. 1/24. — Die wissenschaft-
liche Aufgabe der Statistik, Bd. VI, 1866, S. 1 ff.
— Die amtliche Bevölkerungsstatistik im alten
Rom, Bd. VI, 1866, S. 81 ff. — Zur Geschieht«
der deutschen Wollindustrie, Bd. VI— VII.
1866/67, S. 186—254 und 81 ff. — Die soziale
Frage der Verteilung des Grundeigentums im
klassischen Altertum, Bd. XII, 1869, S. 1 ff. u.
139 ff. — Vergangenheit und Gegenwart der
deutschen Leinenindustrie, Bd. XUI, 1869, S.
215—51. — Die Verdienste der Universität Jena
um die Fortbildung und das Studium der
Staatswissenschaften, Bd. XVIII, 1872, S. 1 ff.
— Beiträge zur Geschichte der Preise und des
Tagelohns in Hessen, Bd. XIX, 1872, S. 145 ff.
— Die Vermögenssteuer und die Steuerverfas-
sung in Alt^essen während des 16. u. 17. Jahr-
hunderts und die aus der Vermögenssteuer
Hildebrand— Hilfskassen
1201
Hessens hervorgegangene Grandsteuer, Bd. XXV,
1875, S. 297 ff. — Die Entwickelungsstufen der
Geldwirtschaft, Bd. XXVI, 1876, S. 15 if. (Fort-
setzung des Artikels: Natural-, Geld- und Kredit-
wirtschaft in Bd. IIj — 2) Im Neuen Schwei-
zerischen Museum, Jahrg. 1861, Bern: Unter-
suchungen über die Bevölkerung des alten
Italiens.
Vergl. über Hildebrand: Knies, Die
politische Oekonomie vom Standpunkte der ge-
schichtlichen Methode, Braunschweig 1853, S. 3,
8, 27, 159, 194. — Kaut z, Theorie und Ge-
schichte der Nationalökonomik, 2 Teile, Wien
1858-60, Teü I, S. 415/17 u. ö.; Teil II, S.
694/95, 772/73 u. ö. — R. v. Mohl, Geschichte
und Litteratur der Staats Wissenschaften, Bd. I,
Erlangen 1855, S. 68, Bd. III, 1858, S. 324. —
Röscher, Geschichte der Nat, 1874, S. 1010/11,
1037/38 u. ö. — J. Conrad, Bruno Hildebrand,
Nekrolog und Biographie, in Jahrb. f. Nat. u. Stat.,
Bd. XXX, Jena 1878, S. I— XV. — A. v. S c h e el ,
B. Hildebrand, in Augsburger AUgem. Zeitung,
Jahrg. 1878, Beilage Nr. 64. — Neu man n-
Spallart, B. Hildebrand, Nekrolog, in Statis-
tische Monatschr., Jahrg. IV, Wien 1878, S. 189/90.
— ■ Allgemeine deutsche Biographie, Bd. XU,
Leipzig 1880, S. 399. - Ashley, Introduction
to English economic history and theory, London
1888, S. 43. — Nouveau dictionnaire d'^conomie
politique, Bd. I, Paris 1891, S. 1129/30.
lAppert,
Hildebrand, Richard,
Sohn des vorigen, geb. am 17. V. 1840, promo-
vierte 1863 in Jena, hielt sich dann mehrere
Jahre lang in England auf und habilitierte sich
1867 in Leipzig. 1869 wurde er als Professor
der Nationalökonomie nach Graz berufen.
Er veröffentlichte folgendes:
Franklin als Nationalökonom (Jahrb. f. Nat. u.
Stat., I. Bd.). — Die britische Post (ebenda IV. Bd.).
— Chequesystem und Clearinghouse in London
(ebenda VIII. Bd.). — Die Theorie des Geldes,
Jena 1883. — üeber das Problem einer allge-
meinen Entwickelungsgeschichte des Rechts und
der Sitte, Graz 1894 (Rektoratsrede). — Recht
und Sitte auf den verschiedenen wirtschaftlichen
Kulturstufen I, Jena 1896.
Red,
HiUskassen.
1. Begriff und Arten: „Eingeschriebene"
und „landesrechtliche" Hilfskassen. Verhältnis
zu den Zwangskassen. 2. Entwickelung von
1884—1892. 3. Die Novelle zum Krankenver-
sicherungsgesetz V. 10. April 1892 und die seit-
herige Entwickelung. Statistisches.
1. Be^^iff und Arten. „Eingeschrie-
bene^^iind,.landesrechtliche'^Hilfskassen.
Verhältnis zu den Zwangskassen. Der
Name »Hilfskassen«, unter welchem man
früher wohl alle zur gegenseitigen Unter-
stützung ihrer Älitglieder begründeten Ver-
einigungen und Anstalten zu begreifen
Handwörterbnch der StaatewlBBenschaften. Zweite
pflegte, gleichviel ob sie auf freier üeber-
einkunft oder auf Beitrittszwang beruhten,
ist seit dem Inkrafttreten des Reichsgesetzes
vom 15. Juni 1883 betreffend die Kranken-
versicherung der Arbeiter {Krankenver-
sicherungsgesetz) nur noch den sogenannten
freien Kassen verblieben, während die ver-
schiedenen der Durchführung des gesetz-
lichen Versicherungszwanges dienenden Or-
ganisationen jetzt besondere technische Be-
zeichnungen (Orts-, Betriebs-, Bau-Kranken-
kassen, Gemeindekrankenversicherung etc.)
führen, für welche ein zusammenfassender
Ausdruck bisher nicht in Gebrauch ge-
kommen ist. Niu* von diesen »freien Hilfs-
kassen« soll im folgenden gehandelt werden.
Im übrigen ist auf den Art. Arbeiter-
versicherung in Deutschland oben
Bd. I, S. 618 ff.), welcher die Entwickelung des
Hilfskassenwesens bis zum Krankenver-
sicheningsgesetz in den Grundzügen skizziert,
feruer auf die Darstellung der belgischen,
französischen, englischen, niederländischen
und schweizerischen Hilfskassen (ebenda
S. 633 ff., 638 ff., 656 ff., 686 ff. und 696 ff.),
endlich auf den Art. Krankenversiche-
rung zu verweisen.
Die Freiheit der »freien Kassen« ist
keine absolute. Sie besteht hauptsächlich
darin, dass die Mitgliedschaft bei ihnen
diu'ch freiwilligen Beitritt erworben wird
und auch freiwillig wieder aufgegeben
werden darf, ferner dass sie zur Aiönahme
von Mitgliedern nicht gezwungen werden
können, diese vielmehr von beliebigen Be-
dingungen abhängig machen dürfen, endlich
dass sie von ihren Mitgliedern allein ohne
Mitwirkung der Arbeitgeber verwaltet wer-
den. Im übrigen unterliegen auch die freien
Kassen einer gewissen gesetzlichen Einwir-
kung, und zwar in verschiedenem Grade,
je nachdem sie zu den »eingeschriebenen
Hilfskassen« zählen oder nicht.
Die Verhältnisse der ersteren regelt das
Eeichsgesetz vom 7. April 1876 (vgl. oben
Bd. I, S. 624), welches mit Rücksicht auf das
Krankenversicherungsgesetz durch eine No-
velle vom 1. Juni 1884 in wesentlichen
Punkten abgeändert w^orden ist. Jenes Ge-
setz hatte nämlich in der »eingeschriebenen
Hilfskasse« den gemeinsamen Normaltypus
für freie Kassen und Zwangskassen schaffen
wollen: einerseits sollte die Zugehörigkeit
zu einer solchen von dem — damals nur
erst lokal, ortsstatutarisch, zulässigen —
Kassenzwang befreien, andererseits sollten
aber auch sowohl die bereits vorhandenen
als auch die künftig zu errichtenden Zwangs-
kassen die Form der »eingeschriebenen
Hilfskasse« annehmen. Infolgedessen wurden
auch in dem Zeitraum von 1874 bis 1883
zahlreiche Zwangskassen in »eingeschriebene
Hilfskassen« umgewandelt und neue Zwangs-
Auflage. IV. 76
1202
Hilfskassen
kassen als »eingeschriebene Hilfskassen« ins
Leben genifen. Diese Zwangskassen haben
jedoch seit dem Jahre 1884 wieder auf-
gehört, »eingeschriebene Hilfskassen« zu
sein; sie verwandelten sich auf Grund der
§§ 85 und 86 des Krankenversicherungs-
gesetzes je nach ihrem Charakter in Orts-,
Betriebs- oder Innungskranken kassen. Somit
verblieb die Form der »eingeschriebenen
Hilfskasse« nirr noch für die freien Kassen,
und es giebt also heute nur noch solche
»eingeschriebene Hüfskassen«, die auf freier
Uebereinkunft beruhen (G. v. 1. April 1884 § 1).
Aber nicht alle freien Hilfskassen sind
»eingeschriebene« : es existieren auch zahl-
reiche Kassen, w^elche sich den Normativ-
bestimmungen des Hüfskassengesetzes nicht
angepasst, sondern auf die Rechte einer
»eingeschriebenen Hilfskasse« verzichtet
haben. Auch diese Kassen sind freilich in
ihrer inneren Einrichtung nicht völlig un-
beschränkt, sondern unterliegen den —
generellen oder si>eciellen, geschriebenen
oder gewohnheitsrechtlichen — Normen des
Landesrechts, welche das Vereinswesen, das
Versicherungswesen und insbesondere das
Krauken- und Sterbekassenwesen betreffen.
Das Krankenversichenmgsgesetz nennt sie
daher »auf Gnind landesrechtlicher Vor-
schriften« errichtete Hüfskassen (§ 75 a).
Es ist indes nicht gerade erforderlich, dass
sie ihre Existenz imd ihre Einrichtung aus
einer ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift
ableiten; es genügt, dass sie mit den er-
wähnten Normen nicht in Widerspnich
stehen und insofern ein legales Dasein führen.
Zwischen den »eingeschriebenen« und
den übrigen freien Hilfskassen waltet nun
ein tiefgreifender Unterschied ob: jene
dürfen, ebenso wie die Zwangskassen, nur
Rrankenfürsorge \md Sterbegeld gewähi-en
und keinen anderen Zwecken dienstbar sein.
Den übrigen freien Kassen dagegen ist es
unverwehrt, auch Invahden- und Alters-,
Witwen- und "Waisen-, Reise- und Arbeits-
losigkeitsversicherung etc. in den Bereich
ihrer Wirksamkeit zu ziehen. Dement-
sprechend sind auch der Verbindung »ein-
geschriebener« Kassen mit anderen Gesell-
schaften und Vereinen (Gewerkvereinen,
Gewerkschaften, Fachvereinen elc.) gewisse
enge Schranken gezogen, welche für die
übrigen freien Kassen nicht gelten (G. v.
1. Juni 1884 § 6 Abs. 2 und § 15). End-
lich sind die Befugnisse der Aufsichtsbehörde
gegenüber den eingeschriebenen Kassen weit
ei n seh ueidendere.
Beide Arten der freien Hilfskassen end-
lich, die eingeschriebenen und die nicht ein-
geschriebenen, zerfallen aber wiederum in
zwei Klassen: solche, deren Mitgliedschaft
von der Verpflichtung, einer Zwangskasse
anzugehören, befreit, und solche, bei denen
dies nicht der Fall ist. Diese Befreiung ist
nämlich nach § 75 des Krankenversicherungs-
gesetzes an die Vomussetzung geknüpft,
dass die Hüfskasse gewisse Mindestleistungen
gewährt, welche denen der »Gemeinde-
krankenversicherung«, also der niedrigsten
Zwangsversicherimgsform, gleich oder doch
gleichwertig sind. Ob sie diese A^oraus-
setzung erfüllen wollen oder nicht, steht im
Belieben der freien Kassen. An sich ist
den von ihnen zu gewährenden Unter-
stützungen jetzt keine Minimalgi^enze mehr
gesetzt, wie sie früher in § 11 des Hüfs-
kassengesetzes vom 7. April 1878 vor-
geschrieben war. Es giebt also auch freie
Kassen,deren Krankenfürsorge jenes Mindest-
mass des § 75 des Kranken versicherungs-
gesetzes nicht erreicht, wenngleich sie mög-
li(;herweise in anderer Richtung ihren Mit-
gliedern Vorteile bieten, welche der Zwangs-
kasse fremd sind. Die Mitglieder solcher
fi-eier Kassen sind aber jener Befreiung
nicht teilhaftig, gehören vielmehr, sobald sie
in eine nach dem Krankenversicherungs-
gesetz versicherungspflichtige Bescliäftiguog
treten^ der zuständigen Zwangskasse bezw.
Gememdekrankenversicherung kraft Gesetzes
an, wobei ihnen unbenommen ist, daneben
auch in der freien Kasse zu verbleiben.
Ueberhaupt ist die gleichzeitige Mitglied-
schaft in einer Zwangskasse und einer
freien Kasse nicht unzulässig, vielmehr ist
eine solche »Doppelversichening« durch das
Gesetz ausdrücklich vorgesehen, welches
eben des>vegen Massregeln zur Verhütung
einer Ueberversichenmg getroffen hat (§ 26
Abs. 3 K.V.G., § 26a Abs. 1 der Novelle
vom 10. April 1892).
Die fixiien Hüfskassen stehen sonach zu
den Zwangskassen in einem zwiefachen Ver-
hältnis: einerseits treten sie ergänzend
neben die Zw^angskassen, und zwar insofern
sie 1. auch anderen Zwecken als bloss der
Kranken- mid Begräbnisversicherung dienen,
2. den Personen, welche dem Ki-anken-
versicherungszwang nicht unterliegen. Ge-
legenlieit bieten, sich gegen Krankheit zu
vei-sichern, imd 3. den Mtgliederu der
Zwangskassen die Möglichkeit eroffnen, sich
durch gleichzeitige Mitgliedschaft' bei einer
freien Kasse höhere und anderweitige Unter-
stützungen zu sichern. Andererseits treten
sie aber auch den Zwangskassen als Kon-
kurrenten gegenüber, insofern sie —
vorausgesetzt, dass sie dem § 75 des Kran-
kenversicherungsgesetzes genügen — ihre
Mitglieder der Notwendigkeit entheben, in
eine Zwangskasse einti'eten oder in einer
solchen verbleiben zu müssen.
2. Entwickelang von 1884—1892. In
welchem Umfange die Ergänzung der Zwangs-
versicherung diu^ch die freien Kassen statt-
findet ist man bisher in keiner Weise fest-
Hilfskassen
1203
zustellen bemüht gewesen. Hingegen hat
der Konkun^nzkampf der beiden Kassen-
arten in hohem Grade die öffentliche Auf-
merksamkeit auf sich gelenkt \md auch die
Gesetzgebung beeinflusst. Man hätte glauben
sollen, dass die Vorteile, welche die Zwangs-
kassen, namentlich die beiden Hauptformen
dei"selben, die Orts- und Betriebskranken-
kassen, ihren Mitgliedern zu bieten vermögen,
die Leistungen der freien Kassen bei weitem
übertreffen müssten, da bei jenen die Bei-
träge von den Arbeitgebern vorgeschossen,
zu einem Drittel aus eigenen Mitteln ent-
richtet und im Fall der Säumnis gleich
öffentlichen Abgaben beigetrieben werden,
während die freien Kassen lediglich auf die
Beiträge der Mitglieder selbst angewiesen
sind und Rückstände nur im Wege gericht-
licherKlage und privater Zwangsvollstreckung
einziehen können. GleichwoliI war es gerade
der Ausschluss der Arbeitgeber von der
Beteiligung an den Beiträgen und folgeweise
auch an der Verwaltung, dem die freien
Kassen einen Zufluss von Älitgliedern haupt-
sächlich zu danken hatten. Zum Teil be-
förderten ihn manche Arbeitgeber selbst,
indem sie nur solchen Personen Beschäftigung
gaben, die einer freien Kasse angehörten.
Namentlich aber erschien die unabhängige
Selbstverwaltung und das Bewusstsein, alles
der eigenen Kraft zu verdanken, vielen Ar-
beitern, und gerade der Elite derselben,
wertvoll genug, um für diesen Preis auf
die Zuschüsse der Arbeitgeber Verzicht zu
leisten. Hierzu trat, dass die Zwangskassen
ärztliche Behandlung und Arznei etc. in
natura zu gewähren hatten und zu diesem
Zwecke meist Kassenärzte anstellten, deren
Behandlung sich alle Mitglieder unterwerfen
müssen, wenn sie auf die Unterstützung der
Kasse Anspruch erheben. Die freien Kassen
hingegen machten in der Regel von der
gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch, an
Stelle ärztlicher Behandlung etc. einen Geld-
betrag (um § 75 des Krankenversioherungs-
gesetzes zu genügen, mindestens ^.4 des
ortsüblichen Tagelohnes) zalilen zu dürfen,
und überliessen es ihren Mitgliedern, den-
jenigen Arzt zuzuziehen, der ihr Vertrauen
besitzt; auch in dieser »freien Arztwahl ^<
erblickten N-iele einen Vorzug , der sie be-
stimmte, den freien Kassen beizutreten.
Ferner machten sich auch parteipolitische
Gesichtspimkte geltend ; die Sozialdemokratie
entfaltete eine erfolgreiche Propaganda für
ihre »Centralkassen«, und ebenso erfuhren
die Hirsch - Dunckei-schen Gewerkvereins-
kassen eine bedeutende Verstärkung. Beide
Arten der freien Kassen sind endlich im
Gegensatz zu den auf einen bestimmten
Bezirk beschränkten Zwangskassen durchweg
» national <^ organisiert, d. h. sie besitzen
neben einer Hauptstelle allenthalben Örtliche
j Verwaltungsstellen , sie garantieren ihren
! Mitgliedern dadurch das Verbleiben in einer
und derselben Kasse auch bei häufigem Orfs-
wechsel und erleichtern so die Freizügig-
keit in höhei-em Masse, als sie bei den
Zwangskassen (durch § 27 und 28 des Kran-
kenversicherungsgesetzes) gewahrt ist. Alle
diese imd vereinzelt auch wohl noch andere
Motive (für die Handlungsgehilfen z. B.,
soweit sie ortsstatutarisch demVersichenmgs-
zwang unterworfen wurden, die Abneigung,
mit gewöhnlichen Handarbeitern, Kutscliern,
Haushältern etc. in eine Kasse zusammen-
gewürfelt zu werden) kamen der Entwicke-
luug der freien Kassen zu gute. Auch er-
wiesen sich dieselben hinreichend leistungs-
fähig, um den Wettbewerb mit den Zwangs-
kassen durchzuführen. Verfügten diese in-
folge der Zuschüsse der Arbeitgeber über
reichere Mittel, so waren jene im allgemeinen
mit niedrigeren Kraukheitsrisiken belastet,
da sie die Aufnahme der Mitglieder von
einem Gesundheitsattest \uid einer Alters-
grenze abliängig macheu dürfen, während
die Zwangskassen auch alten, schwächlichen
und selbst kranken Personen, ja sogar Halb-
invaliden, bei denen die Voraussetzungen
der Versicherungspflicht vorliegen, die Mit-
gliedschaft nicht versagen dürfen.
So ergab sich denn das eigentümliche
Resultat, dass gerade die freien Kassen,
deren Vorkämpfer die Einführung des all-
gemeinen Kassenzwangs so sehr perliorres-
ciert hatten, von dieser zunächst nm* Vor-
teil zogen und ilir einen ganz unerwarteten
Aufschwung verdankten. Ja sie breiteten
sich namentlich an einzelnen Industrieplätzen
(z. B. im Regierungsbezirk Düsseldorf) an-
fangs derart aus, dass die Ortskrankenkassen
in ihrem Bestände gefährdet erschienen.
Doch bald entdeckten diese eine Waffe, die
den Hilfskassen verhängnisvoll werden sollte.
Wie erwähnt, ist den HÜfskassen das Pri-
vileg, ihre Mitglieder von der Zugehörigkeit
zu der Zwangskasse zu befreien, nur unter
der Voraussetzung verliehen, dass ihre
Leistungen denen der Gemeindekranken-
versicherung gleichkommen. Um allen Be-
teiligten hierüber stets Ge\v'issheit zu ver-
schaffen, war auf Veranlassung des Abge-
oitlneten IVIax Hirsch in § 4 der Hilfskassen-
novelle vom 1. Jimi 1884 bestimmt worden,
die höhere Verwaltungsbehörde müsse bei
Zulassung einer freien Kasse auf deren An-
trag bescheinigen, dass das Kassenstatut dem
§75 des Krankenversichenmgsgesetzes ge-
nüge. Derartige Bescheinigungen besassen
denn auch die meisten Hilfskassen und
glaubten sich damit gegen alle Reklamationen
seitens der Zwangskassen geschützt. In
einem Prozess einer Dresdener Ortskranken-
kasse gegen eine Hamburger freie Kasse
entschied jedoch das Reichsgericht am 27.
76*
1204
Hilfskassen
September 1886, dass solche Bescheinigungen
einer Nachprüfung der Statuten durch den
Civilrichter (und sogar auch durch den
Strafrichter aus § 81 K.V.G.) nicht im Wege
ständen. Auf dieser Grundlage eröffneten
nun die Ortskrankenkassen an \aelen Orten
einen systematischen Feldzug gegen die
freien Kassen. Die Leipziger allgemeine
Ortskrankenkasse z. B., welche im Januai-
1887 durch den Zusammenschluss der bis
dahin dort bestehenden 18 Ortsb^ankenkassen
sich gebildet hatte, erklärte alsbald die
Statuten von 16 freien Kassen, die in Leipzig
domizilierten oder Filialen besassen, als dem
§ 75 des Kranken versichern ngsgesetzes nicht
entsprechend \md zog die Mitglieder dersel-
ben zur Zwangsversicherung heran. Aehn-
lich ging man in Dresden, Stettin, Schöne-
beck, Breslau und anderwärts vor. Infol^-
dessen lösten sich eine ganze Anzahl freier
Kassen vollständig auf, andere entsag-ten der
Konkurrenz mit der Zwangskasse und or-
ganisierten sich als blosse Zuschusskassen,
andere wieder beschritten den Rechtsweg
oder entschlossen sich, ihre Statuten dem
§ 75 des Krankenversicherungsgesetzes ge-
nauer anzupassen. Immerhin erlitten auch
diese, selbst soweit sie die Prozesse ge-
wannen, in der Zwischenzeit bis zur Ent-
scheidung und bezw. bis zur Genehmigimg
der abgeänderten Statuten erhebliche Ein-
busse an Mitgliedern, und, einmal der Zwangs-
kasse einverleibt, verschmähten oder ver-
säumten wohl auch viele, behufs Uebertintts
in die freie Kasse gemäss § 19 Abs. 4
des Krankenversichenmgsgesetzes rechtzeitig
üire Entlassung zu beanti-agen. Zudem ver-
langten jetzt auch die Arbeitgeber vielfach,
dass ilir Pei-sonal sämtlich den Ortskranken-
kassen beitrete, weil sie sonst Gefahr liefen,
wegen Vei*säumung der Meldepflicht bestraft
und auf Nachzahlung von Beiträgen sowie
Ersatz von Aufwendimgen gemäss § 50 K.V.G.
seitens der Ortskrankenkassen in Anspruch
genommen zu wei*den. Ueberhaupt war,
seitdem die Prüfung und Bescheinigung der
Behörden bezüglich des § 75 des Kranken-
versichenmgsgesetzes sich als unmassgeblich
herausgestellt, allgemein ein begreifliches
Gefühl der Rechtsunsicherheit eingetreten.
Nicht selten wurden die nämlichen Statuten
weitverzweigter Hilfskassen von verschiede-
nen Gerichten vei-schieden beiu^teüt, so dass
derselben Kasse an dem einen Orte die
Gleichberechtigung versagt blieb, die ihr an
einem anderen zuerkannt worden war.
8. Die Novelle zum Krankenver-
sichemngsgesetz vom 10. April 1892
und die seitherige Entwickelung. Sta-
tistisches. Nicht ohne Spannung sah man
der Lösung entgegen, w^elche die Novelle
zum Kranken versicheningsgesetz für das
Problem der Stellung der Hjlfskassen gegen-
über den Zwangskassen finden würde. Die
ünfallversichenmgsgesetze und das Invalidi-
täts- und Altersversicherungsgesetz hatten
die freien Kassen fast vollständig ignoriert
und sie weder an den Befugnissen noch an
den Pflichten beteiligt, mit denen sie die
Zwangskassen ausstatteten. (Vgl. § 42 Ü.Y.G.
u. § 135 I.- u. A.V.G. ; nur § 45 und § 80
Abs. 2 Ü.V.G. gelten auch für die freien
Hilfskassen.) Unter den zahlreichen Kund-
gebungen zur Kritik und Revision des
Krankenversicherungsgesetzes , welche der
Novelle vorausgingen, wurde sogar 'wieder-
holt der Vorschlag laut, die Gleichberech-
tigung der freien Kassen mit den Zwangs-
kassen vollständig zu beseitigen und ersteren
lediglich die Aufgabe zuzuweisen, die Kran-
ken- und überhaupt die gesamte Zwangs-
versicherung durch Ausfüllung ihrer Lücken
und Vervollständigung ihrer Leistungen zu
ergänzen. Die freien Kassen selbst hin-
wiederum verlangten stärkere Garautieen
ihrer zwar im Gesetz als Grundsatz auf-
gestellten, in der Praxis aber nur zu häufig
illusorisch gemachten Gleichberechtigung und
zwar durch Erlass einheitlicher Vollzugs-
vorschriften und durch Errichtung einer
einheitlichen Centralstelle für das ganze
Deutsche Reich, welche endgiltig und bin-
dend über die Auslegung der Gesetze, ins-
besondere über den Einklang der Hilfskassen-
statuten mit § 75 des Krankeuversichenings-
gesetzes entscheiden solle.
Den in dieser letzteren Bezielumg ob-
w^altenden, oben gesciiüderten Missständen
hat die Novelle v. 10. April 1892 in der
That durch § 75a abgeholfen: die fragliche
Bescheinigung wird von jetzt ab durch die
Centralbehörden der Bundesstaaten, in ge-
^vissen Fdllen diu-ch den Reichskanzler er-
teilt und ist bei Streitigkeiten unbedingt
massgebend. Im übrigen liat die Novelle
das Befreiungsprivileg der Hilfskassen zwar
aufr'ccht erhalten, aber an erschwerte Be-
dingimgen geknüpft : Vor allem müssen auch
die freien Kassen jetzt ärztliche Behandlung,
Arznei etc. in natura gewälu^n, und nur
solche Mitglieder, welche zugleich einer
Zwangskasse angehören, dürfen dafür mit
einer Erhöhung des Krankengeldes um ^ i
des ortsüblichen Tagelohnes abgefimden
werden. Ferner ist für die Bemessung der
Miudestleistimgen nicht mehr der ortsübiiclie
Tagelohn am Sitze der freien Kasse, sondern
der des Gemeindebezirks massgebend, in
welchem der Versicherte beschäftigt ist.
Eine dritte, in dem Entwiuie vorgesehene
Bestimmung, deren vexatorischer Missbrauch
nahe gelegen hätte, nämlich dass die Be-
freiung der Hilfskassenmitglieder nur auf
ihi'en ausdrücklichen Antrag erfolgen solle,
vnu'de von den Freunden der freien Kassen
zu Falle gebracht. Weitere Neuerungen der
Hilfskassen
1205
Novelle sind: die verallgemeinerte, gesetz-
liche Pflicht der Hilfskassen, das Ausschei-
den versicherungspflichtiger Mitglieder und
den Uebertritt solcher Mitglieder in eine
niedrigere Mitgliederklasse bei der gemein-
samen Meldestelle oder bei der Aufsichts-
behörde anzumelden, femer die gesetzliche
Regelung der Ei-satzansprüche der Armen-
verbände etc. gegen die. Hilfskassen und
der Hilfskassen gegen entschädigimgspflich-
tige Dritte, endlich die Verweisung von
gewissen Streitigkeiten vor bestimmte Be-
hörden (§§ 49 b, 57, 58, 76 des neuen Kran-
kenversichenmgsgesetzes).
Wie schon in der ersten Auflage dieses
Werkes (1892) ausgesprochen und durch
die weitere Entwit^elung bestätigt worden,
dürfte der Reichstag mit seinen Beschlüssen
das Richtige getroffen haben. Die Konkur-
renz der freien Kfissen — direkt oder auf
Umwegen — überhaupt zu beseitigen, wäre
ein sozialpolitischer Missgriff gewesen, wel-
cher sich wahrscheinlich schwer gerächt
hätte. Gerade der Wettbewerb ist erfahnings-
mässig für beide ein wirksamer Stimulus
zu beständigem Fortschritt gewesen imd
geblieben. Andererseits entsprachen aber
auch die veränderten Bedingiu}gen , unter
denen ihre Konkurrenz durch die Novelle
zugelassen wurde, der Billigkeit und dem
praktischen Bedürfnis, ohne die Konkurrenz-
fähigkeit der freien Kassen erheblich zu
beeinträchtigen. Gewährten doch auch schon
damals zahlreiche Hilfskassen durch Ver-
bindung mit Medizinalkassen und -verbänden
ihren Mitgliedern freien Arzt und freie
Arznei, sodass sie ohne weiteres den Anfor-
denmgen des neuen Gesetzes Genüge zu
leisten vennochten.
Auch die Hilfskassen selbst verschlossen
sich dieser Erkenntnis nicht und gaben
weder den Pessimisten Gehör, die jetzt an
der Zukimft des freien Kassenwesens über-
haupt verzweifeln wollten, noch den In-
differenten, die — besonders seit der Auf-
hebung des Sozialistengesetzes — an dem
Fortbestehen der freien Kassen das partei-
politische Interesse verloren hatten. Und
wenn auch zunächst viele, namentlich lan-
desrechtliche Hilfskassen, imd zwar auch
gerade solche, die bisher das meiste geleistet
hatten, sich auflösten oder in blosse Zu-
Sfhusskassen verwandelten, so hat doch das
Gros nicht nur der Hirech-Dunckerschen
Kassen, unter der umsichtigen Fühnmg ihres
Verbandsanwalts Dr. Max Hirsch, sondern
auch der sozialdemokratischen Gewerkschafts-
kassen den Kampf ums Dasein mit den
Zwangskassen auch auf dem neuen Rechts-
bodeii energisch aufgenommen und ihre Po-
sition im grossen Ganzen auch nicht un-
rühmlich behauptet.
Allenlings hat ihr relativer Anteil an
der gesamten Krankenversicherung sich in
demselben Masse vemngert, in welchem
die 2iahl der gegen Krankheit Versicherten
angewachsen ist. Denn während diese sich
von ca. 4 Millionen im Jahre 1885 auf mehr
als 8 Millionen im Jahre 1897 erhöht, also
verdoppelt hat, ist der Mtgliederbestand
der dem § 75 K.V.G. genügenden Hilfs-
kassen in derselben Periode nicht einmal
sich gleich geblieben, sondern von 874507
auf 789593, ihr prozentualei' Anteil also
von mehr als 20®/o auf weniger als 10 ^/o
gesunken. Immerhin ist die absolute Mit-
gliederzahl gross genug, um ihnen auch heut
noch die Bedeutung eines wesentlichen
Faktors der Krankenversicherung zu wahi-en.
Wie sich die Bewegung derHilf skassen und
ihrer Mitglieder in den einzelnen Jahren seit
dem Inkrafttreten desK.V.G. v.l5. Juni 1883 bis
zur Gegenwart gestaltete , zeigen die beiden
nachstehenden TabeDen. Die erste bezieht sich
auf die Kassen, die zweite auf die Mitglieder.
Beide unterscheiden drei Kategorieen, näm-
lich die eingeschriebenen Hilfskassen, welche
dem § 75 K.V.G. entsprechen (E.H. §, Spalte 1),
die übrigen eingeschriebenen Hiliskassen
E.H., Spalte 2) und die landesrechtlichen
Hilfskassen, welche dem § 75 K.V.G. genü-
gen (L.H.§, Spalte 3); Spalte 4 fasst alle
drei Kategorieen (Spalte 1—3), Spalte 5 alle
dem § 75 K.V.G. genügenden Hilfskassen
(Spalte 1+3) und Spalte 6 alle eingeschrie-
benen Hilfskassen (Spalte 1 + 2) zusammen.
Für diejenigen Hilfskassen, welche nicht auf
Grund des Hilf skassengesetzes errichtet sind
und dem § 75 K.V.H. nicht genügen, exis-
tiert leider keine Statistik, und so muss
diese Kategorie, welche keineswegs gering-
fügig, vielmehr in beständiger Zunahme
begiiffen sein und sicher Zehntausende von
Mitgliedern umfassen dürfte, hier ausser
Betracht und das Gesamtbild der Hilfskassen
insoweit ein lückenhaftes bleiben.
Tabelle I.
Alle
E.H.§
E.H.
L.H.§
AlleKK.
Alle§
E.H.
1885
iSiS
96
474
2388
2292
1814
1886
1876
103
496
2469
2366
1979
1887
1878
107
471
2456
2349
1985
1888
1853
117
466
2436
2289
1970
1889
1866
102
467
2435
2333
1968
1890
1869
"3
468
2450
2337
1982
1891
1841
123
450
2414
2290
1964
1892
1739
133
443
2315
2182
1872
1893
1361
269
271
1901
1632
1630
1894
1375
232
261
1868
1636
1667
1895
1388
224
263
1875
1051
1612
1896
1410
215
262
i8fc7
1672
1625
1897
1422
218
261
1901
1683
1640
In beiden Tabellen tritt 1893 der Einfluss
der Novelle zum K.V.G v. 10. April 1892
in der plötzlichen Verminderung der dem
75 K.V.G. genügenden Hilfskassen und
1206
Hilfskassen
Tabelle II.
E.H.§
E.H.
L.H.§
Alle H.K
AUe§
Alle E.H.
1885
730 722
16 716
143 785
901 223
874 507
747 438
188«
732 335
16 103
148644
896082
880979
748 438
1887
727 137
21055
143374
891 462
860 5 1 1
748 192
1888
745 171
23 136
142895
9 1 1 202
888066
768 307
1889
786 272
24050
144872
955 227
931 144
810322
1890
810455
42321
144668
997 444
951 123
852 776
1891
838481
49843
138883
I 027 207
977 364
888 224
1892
796340
56803
131 494
994 637
927 834
853 143
1893
662 360
124 909
63007
850 336
725 367
• 787329
1894
662 697
122447
60 144
845 288
722 841
785 144
1895
67 1 668
121 060
60543
853 261
732211
792 728
1896
697 546
124397
59415
881 358
746961
821 943
1897
730 985
134 580
58608
924 1 73
789 593
865 565
ihrer Mitglieder auf der einen und dem
kon'espondierenden Anwachsen der übrigen
Hüfskassen und ihrer Mitglieder auf der
anderen Seite augenfällig hervor; doch ist
nach dem Eintritt dieser einschneidenden
Veränderung weiterhin ein ruhiges Beharren
imd sogar ein allmähliches, bescheidenes
Wachstum unverkennbar.
Im übrigen ist nicht sowohl die Zahl
der Kassen und ihrer Mitglieder füi' ihre
Bedeutung ausschlaggebend, vielmehr müssen
in erster Linie ihre Lei s tu n gen ins Auge
gefasst werden. Vergleicht man diese aber
mit denen der Hauptrepräsentanten der
Zwangsversicherung, nämlich der Ortskran-
kenkassen, so erweisen sich die Hilfskassen
nicht nur . ebenbiu'tig , sondern sogar über-
legen : während von 4548 Ortskrankenkassen
3698, also mehr als V'5, lediglich die gesetz-
liche Minimalfrist von 13 Wochen , dagegen
nur 735 = 16,2 ^/o über 13 bis 26 Wochen
und nur 115 ^ 2,5 »/o über 26 bis 52 Wochen
hindurch Krankenunterstützung gewähren,
beschränkt sich die Unterstützungs-
dauer der eingeschriebenen Hilfskassen
nm* bei 635 -- 44,17 ®/o auf 13 Wochen, da-
gegen erstreckt sie sich bei 526 — 37 %
auf 13 bis 26 Wochen, bei 253 ^ 18 »/o auf
26 bis 52 Wochen , und bei 8 = 0,6 % so-
gar auf mehr als ein Jahr; diejenige der
landesrechtlichen Hilfskassen sogar bei nur
74 =. 28 0/0 auf 13 Wochen , bei 92 .= 35 ^/o
auf 13 bis 26 Wochen, bei 80 r:= 30,7 ^!o auf
26 bis 52 Wochen und bei 15 = 5,8 «;o auf
mehr als ein Jahr. Aehnlich verhält es sich
mit der Karenzzeit; die volle zwei-
tägige beobachten 3563 — 78,4 ®/o von
den Ortskrankenkassen , aber nur 727 -=
51 ®/o von den eingeschriebenen und nur
165 — 63,2 ^/o von den landesrechtlichen
Hilfskassen ; eine eintägige unbedingte 59 =
1,3^/0 von den Oiiski-ankenkassen , 37 —
2,6^/0 von den eingeschiiebenen und 3 —
1,1 ^/o von den landesrechtlichen Hilfskassen ;
eine eintägige unter Bedingungen 5 -- 0,1 ^/o
der Ortskrankenkassen, 2 = 0,1 ^/o der ein-
geschriebenen und keine der landesrecht-
lichen Hilfskassen; gar keine unbedingt
nur 460 = 10,1 ^/o der Ortskrankenkassen,
aber 506 = 40% der eingeschriebenen und
88 = 33,7 <>/o der landesi-echtlichen Hüfs-
kassen, gar keine unter Bedingungen 461
= 10,1 % der Ortskrankenkassen, 90 = 6,3<>/o
der eingeschriebenen imd b = 2^lo der lan-
desrechtlichen Hilfskassen. Auch die Ge-
wälirung des Krankengeldes für Sonn-
und Feiertage findet sich nur bei 623
= 13,7% der Ortskrankenkassen, aber lx)i
308 = 21,7% der eingeschriebenen und bei
48 = 18,4% der landesrechtUchen Hilfe-
kassen. Dementsprechend verausgabten
an Krankheitskosten auf den Kopf
des Mitgliedes die Ortskrankenkassen nur
13,77 Mk., die eingeschriebenen Hilfskassen
dagegen 15,95 Mk. und die landesrechtlichen
14,76 Mk. Dabei sind jedoch die V er wal-
tung skosten mit 1,75 Mk. pro Kopf bei
den eingeschriebenen Hilfskassen nur um
27 Pf. und mit 1,50 Mk. bei den landes-
rechtlichen nur um 2 Pf. höher als bei den
Ortskrankenkassen mit 1,48 Mk., ^^4ewohl
doch die Geschäftsführung der weitverzweig-
ten Hilfskassen offenbar grösseren Schwie-
rigkeiten begegnen muss als die der auf
kleinere Bezirke beschränkten Ortskranken-
kassen. So ist denn auch die Finanzlage
der Hilfskassen mit verechwindenden Aus-
nahmen als eine solide und günstige zu
bezeichnen. Von allen eingeschriebenen
haben nur 7 eine ünterbilanz, alle übrigen
1415 und sämtliche landesrechtliche Hilfs-
kassen dagegen einen üeberschuss der Ak-
tiva über die Passiva; die gesamten Aktiva
betragen bei den eingeschriebenen Hilfs-
kassen 14746867 Mk., bei den landesrecht-
lichen 2203388 Mk., die gesamten Passiva
nur 34070 Mk. und bezw. 1788 Mk. Alle
diese Zahlen beziehen sich auf das Jahr
1897 und zwar lediglich auf die dem § 75
K.V.G. genügenden Hilfskassen. Rechnet
man ihnen noch diejenigen eingeschrieljenen
Hilfskassen, welche dem § 75 K.V.G. nicht
entsprechen, hinzu, so hatten sämtliche Hüfs-
kassen zusammen im Jahre 1897 eine Ein-
nalune von 20,3 Millionen Mk., eine Ausgabe
von 19 Millionen Mk., also einen üebei-scnuss
Hilfskassen — Hinterlegung von Wertpapieren
1207
von 1,3 Millionen Mk. ; ihi-e gesamten Ak-
tiva betnigen 19,1 Mk., ilire gesamten Pas-
siva nur 51 000 Mk.
Erwägt man, unter wie schwierigen Yer-
hältnissen die freien Kassen arbeiten, dass
sie insbesondere ihre Beiträge nicht gleich
den Zwangskassen durch die Gemeinde-
behörden kostenlos einziehen lassen können,
sondern — da Klage und private Zwangs-
vollstreckung unverhältnismässig teuer zu
stehen käme — lediglich auf die Pflicht-
treue ihrer Mitglieder angewiesen sind und
jährlich viele Tausende wegen Zahlungs-
verzugs aus ihren Listen streichen müssen;
dass sie ferner infolge ihrer nationalen Or-
ganisation und des bei ihnen herrschenden
Systems der freien Arztwahl in weit höhe-
rem Grade als die Zwangskassen der Aus-
beutung durch Simulation preisgegeben sind,
so darf man den aus eigener Kraft, ohne
Mitwirkung der Arbeitgeber errungenen Er-
folgen volle Anerkennung nicht versagen.
Vielleicht ist eine solche auch in den Be-
stimmungen des neuen Invalidenveraiche-
rung-sgesetzes vom 13. Juli 1899 zu erblicken,
welche die Hilfskassen nicht nur in betreff
des von den Versicherungsanstalten einzu-
leitenden Heilverfahrens (§§ 18—23) den
anderen Krankenkassen gleichgestellt hat,
sondern auch bei den Walilen der bei der
Durch fühnmg der Invalidenversicherung
mitwirkenden Vertreter der Versicherten
wenigstens diejenigen Hilfskassen berück-
sichtigt, welche dem § 75 K.V.G. genügen
und deren Bezirk sich über den Bezirk einer
unteren Ver^'altung-sbehörde nicht hinaus
erstreckt. (§§ 62 u. 82; vgl. im übrigen
freilich § 166 I.V.G.)
Jedenfalls liat hiernach die in den Krei-
sen der (Di-tskrankenkassen noch immer nicht
ganz verstummte Fordenuig, die Gleich-
berechtigung der freien Kassen aufzuheben
und sie zu blossen Ergänzungskassen herab-
zudrücken , u. E. ebensowenig Aussicht auf
legislative Verwirklichung als innere Be-
rechtigung. Sie entspringt auch nicht so-
wohl einer besonderen Animosität gerade
gegen die Hilfskassen, deren Wirken auch
von den Ortskrankenkassen jetzt vielfach
vorurteilsfreier gewürdigt wird, vielmehr
dem Wunsche, überhaupt alle anderen Kassen-
formen, also auch die Betriebs-, Bau- imd
Innungskrankenkassen verschwinden zu las-
sen und die Ortskrankenkassen zum alleini-
gen Träger der Krankenversicherung zu
machen. (Vgl. die Verhandlungen des Cen-
tralverbands der Ortskrankenkassen im
Deutschen Reiche vom 21. September 1896
und 12. September 1898, Arbeiterversorgung,
Jahrg. 13 S. 605 u. 16 S. 10 ff.)
Litteratnr: Balck, DU eingeschriebenen (freien)
Nil/skassen, Schwerin 1880. — Huber , Ausbau
und Rejorm des K,V,G., Miiiden 1888. —
Oechelhätised* , Soziale Tagesfragen, Berlin
1889. — van der Borght, Ueber den Entwurf
der Novelle zum K.V.G., in Jahrb. f. Not. und
Staf., 3. Fol^e, I. Bd., S. 80, 1891. — Dntck-
Sachen und stenographische Berichte des Reichs-
tages, betr. die Novelle zum K. V. G, und zum H.K. G.
— Denkschr ift d. eingeschriebenen Hilfskassen
der deutschen Gewerkvereine { Hirsch- Duncker),
betreffend die Novelle, 1890, — Begründung
der Beschlüsse des vom 8. — 11. XII, in Berlin
abgehaltenen Ililfskassenkongresses, Hamburg 1891.
— Wirtninghaua in Jahrb. f. Nat. u. Stat.,
N. F. XIX, S. 4SS, 52S, XXI, S. S93, 3. F.,
III, S. 410. — Geschäftsbericht der Orts-
krankenkasse zu Leipzig für die Jahre 188 4. —
1889, Leipzig 1890, S, 36—42. — Sozial-
politisches Centralblati, Jahrg. 1892, S.
172 (QuarckJ, S. 199 (Braun), ferner S, £08,
218, 267, 364, ^88, 413, 437, 449. — MOJO
Hirschy Leitfaden mit Musterstatuten für freie
Hilfskassen, Berlin 1892. — Hdkfa, Kommentar
zum HUfskassengesetz, Berlin 1896. — Die ge-
samte Rechtsprechung bezüglich der Hilfskassen
enthält nDie Arbeiterversorgunga (Cen-
tralorgan für Arbeiterversicherung), bisher 17
Jahrgänge. — Vgl. ferner die ^Statistik der
Kr a n k e nv e r s i c h e r u n gu, in der Statistik
des Deutschen Reichs, N. F., Bd. 24 (für 1885),
31 (für 1886), 38 (für 1887), 46 (für 1888), 53
(für 1889), 59 (für 1890), 65 (für 1891), 72 (für
1892), 78 (für 1893), 84 (für 1894), 90 (für
1895), 96 (für 1896) und 121 (für 1897).
Honigmann,
Hill, Rowland
s. Porto.
Hinterlegniig von Wertpapieren.
(Das sog. Bankdepotgesetz.)
1. Einleitung. 2. Inhalt des Gesetzes. A.
Das reguläre Depot. B. Die Einkaufskommission.
C. Verpflichtungen des Lokalbankiers im Ver-
kehr mit dem Centralbankier. D. Strafbestim-
mungen. 3. Der Erfolg des Gesetzes.
1. Einleitang. Das infolge des Zusammen-
bruchs mehrerer Berliner Bankgeschäfte er-
lassene Reichsgesetz v. 5. Juli 1896 be-
treffend die Pflichten der Kaufleute bei
Aufbewahrung fremder Wertpapiere be-
zweckt die Ausfüllung wichtiger Lücken
und Mängel, welche sich auf dem Gebiete
des Bankdepotwesens und des Kommissions-
geschäfts namentlich nach folgenden Rich-
tungen gezeigt hatten:
a) Es war unter den Kaufleuten zweifel-
haft und auch in der Rechtsprechung streitig
geworden, mit welchem Momente und mit
w^elchem Rechtsakte kommissionsweise ein-
gekaufte und zunächst in das Eigentum des
Kommissionärs übergehende Wertpapiere in
das Eigentum des Kommittenten übergingen
mit der Wirkung der Ausschliessung jedes
1208
Hinterlegung von Wertpapieren
Yerfügungsrechts seitens des Kommissionärs.
Eine ftist, innerhalb deren der Kommissionär
den Eigentumsübergang zu bewirken und
die Nummern der angeschafften Papiere
dem Kommittenten anzugeben habe, bestand
nicht. Man hatte aber angenommen, dass,
so lange ein solcher Uebertragungsakt nicht
erfolgt sei, der Kommissionär zur Vei-ftigung
über die Stücke berechtigt bleibe, wenn er
nur Wertpapiere gleicher Art, Menge und
Güte zurückgeben könne.
b) Es war seitens der Lokalbankiers
üblich geworden, dem Centralbankier zur
Sicherstellung aller diesem gegen jenen
erwachsenden Forderungen ein Pfandrecht
auch an den übersandten oder kommissions-
weise anzuschaffenden Kunden papieren zu
bestellen, welches unanfechtbai* war, wenn
dem Centi^bankier bei Empfang der Papiere
nicht bekannt geworden war, dass die
Papiere fremde seien. Ein solcher Zustand
konnte insbesondere bei Aufträgen zum
kommissions weisen Ankauf oder zum Um-
tausch oder Bezug von Wertpapieren ein-
treten, weil hier der Lokalbankier dem
Centralbankier gegenüber kraft Gesetzes in
eigenem Namen auftreten durfte, also
sich für befugt hielt, letzterem gegenüber
die Thatsache nicht anzugeben, dass die
Anschaffung für fremde Rechnung er-
folgen solle. Infolgedessen hatte sich die
Nichtanzeige des ümstandes, dass die
Papiere fixjmde seien, auch bei den mu* zur
Yerwahnmg übersandten Papieren einge-
bürgert, zumal diu*eh generelle Vorbehalte
in den Geschäftsbedingungen eine gesonderte
Aufbewahrung selbst solcher Papiere \'iel-
fach ausgeschlossen war.
Hiernach war bei einem etwaigen Kon-
kiu^e des Kommissionärs einerseits dessen
Bestrafung wegen Untreue oder L'nter-
schlagung, andererseits jedes Aussonderungs-
itcht des Kommittenten in Frage gestellt,
und es war ferner dem Kommissionär die
Möglichkeit gegeben, sich durch die Wert-
papiere seiner Kunden die Mittel zu eigenen
Spekulationen zu verschaffen. Es musste
also die Abstellung obiger Mängel zugleich
als ein Mittel erstrebt und angesehen wenleu,
die Spekidation in Wertpapieren einiger-
massen einzudämmen.
2. Inhalt des Gesetzes. Das Gesetz
enthält, soweit ich sehen kann, den ersten
Versuch einer Gesamtkodifikation
des Bankdepotwesens, welches in
anderen Ländern entweder gar nicht oder
nur in einzelnen, meist sogar untergeordneten
Kichtungen geregelt ist. Sein Inhalt ist im
einzelnen der folgende:
A. Das reguläre Depot (die reine
Aufbewahrung), a. Nach § 1 hat jeder
Kaufmann, welchem im Betriebe
seines Handelsorowerbes vertretbare
Wertpapiere (mit Ausnahme von Banknoten
und Papiergeld) unverschlossen zur
Verwahrung oder als Pfand übergebeo sind,
1. die Papiere unter äusserlich erkenn-
barer Bezeichnung jedes Hinterlegers
oder Verpfänders gesondert von
seinen eigenen Beständen und von
denen Dritter aufzubewahren;
2. ein Handelsbuch zu führen, in
welches — sofern nicht die Rückgabe
der Papiere vor der in ordnungs-
mässigem Geschäftsgang alsbald zu
bewirkenden Eintragung erfolgt —
die Papiere jedes Hinterlegers oder
Verpfänders nach ihren Unterschei-
dungsmerkmalen einzutragen sind.
Der Eintragimg steht die Bezugnahme
auf etwaige neben dem Handelsbuch
geführte Verzeichnisse gleich.
Also niu- gesonderte Aufbewahrung mid
Eintragung, nicht aber auch Ueber-
sendung eines Numm.ern-(Stücke-)
Verzeichnisses wird dem kaufmänni-
schen VenÄ^ahrer zm* Pflicht gemacht, ins-
besondere wohl deshalb nicht, weil die Ein-
tragung der Nummern in das Handelsbuch
(Depotnummernbuch) das Eügenturasrecht
des Kommittenten, also jiuch sein Aus-
sonderungsrecht im Konkurse des Kom-
missionärs auch ohne Uebersendung eines
Nummernverzeichnisses ausser Zweifel stellt.
Die vorsätzliche Zuwiderhandlung gegen
§ 1 Ziff. 1 oder 2 wird bei einem Kaufmann,
der seine Zahlungen eingestellt hat oder in
Konkurs geraten ist, mit Gefängnis bis zu
zwei Jaliren bestraft, wenn infolge dieser Zu-
widerhandlung der Berechtigte in seinem Aus-
sonderungsanspruch benachteiligt wiixl(§ 10).
Ein Recht oder gar eine Pflicht des
Verwahrei^s, ohne besonderen Auftrag irgend
w^elche Verfügungen oder Verwaltungshand-
lungen hinsichtlich der aufbewahi-teu Papiere
vorzunehmen, existiert gesetzlich nicht, ist
vielmehr nur vorhanden, wenn ein beson-
derer Rechtsgrund hierzu vorliegt.
Die Bestimmungen dieses § 1 finden
keine Anwendung, wenn der Verwahrer
oder Verpfänder in einer den A'^orschrifteo
des § 2 entsprechenden Form ermächtigt
ist, an Stelle der hinterlegten oder ver-
pfändeten Wertpapiere gleicliartige zurück-
zugeben (§ 2 Abs. 2).
Im § 2 Abs. 1 des Gesetzes ist sodaim
bestimmt, dass eine Elrklänmg des Hinter-
legers (oder Verpfänders), diu^ welche der
Verwahrer (oder Pfandgläubiger) ermächtigt
wird, an Stelle der hinterlegten oder ver-
pfändeten Wertpapiere og leichartige
Wertpapiere zurückzugeben*) oder
') In dieser Vereinbarung sieht das Beichs-
gericht (Entsch. 42 8. 9 ff.), wenn es sich um
Hinterlegung von Wertpapieren
1209
über die Papiere zu seinem Nutzen
zu verfügen«, im allgemeinen nur giltig
ist, »soweit sie für das einzelne
Geschäft ausdrücklich und schrift-
lich abgegeben wird.*
Ist jedoch der Hinterleger oder Yer-
pfänder ein Bankier, so kann er diese
Ermächtigung auch generell, also für
alle seinei*seits dem Centralbankier zu über-
sendenden oder zu verpfändenden Papiere,
und auch mündlich abgeben, muss sich
jedoch bei Meidung imter Umständen ein-
tretender krimineller Bestrafung ^§ 9) von
seinem Kunden, wenn dieser Nicntbankier
ist, die Ermächtigung ausdrücklich, schrift-
lich und für jeden einzelnen Fall geben
lassen. Es ist also gefährlich für den Lokal-
bankier, solche generelle Erklärungen hin-
sichtlich nicht eigener Effekten dem Cential-
bankier gegenüber formularmässig abzugeben,
wenn er sich nicht stets vor Augen hält,
dass er seinerseits von dem Kunden in
jedem einzelnen Falle durch eine
ausdrückliche und schriftliche Er-
klärung gedeckt werden muss. Das Wort
»ausdrücklich« bedeutet, dass der Wille
des Kunden, eine dem § 2 Abs. 1 ent-
sprechende Ermächtigung zu erteilen, aus
dem Wortlaute dieser Ermächtigimg klar
hervorgehen muss, dass es also nicht wie
in sonstigen Fällen genügen kann, wenn ein
solcher Wille etwa aus den begleitenden
Umständen gefolgert werden könnte. Ins-
besondere würde eine unter der einzelnen
Ordre abgedruckte Erklärung: »ich erteile
die in dem mir bekannten § 2 des Ge-
setzes näher bezeichneten Ermächtigungen«
nicht ausreichend sein. Das Wort »schrift-
lich« schliesst die Unterzeichnung ge-
druckter Erklärungen nicht aus. In
Bezug auf die Auslegung des Inhalts der
Ermächtigungen des § 2 Abs. 1 ist zu be-
merken, dass nach der Rechtsprechung,
auch wenn dem Kommissionär in gehöriger
Form die Ermächtigung erteilt ist, über die
hinterlegten oder verpfändeten Papiere zu
seinem Nutzen verfügen oder gleichartige
Papiere zurückgeben zu können, der Kom-
mittent als Eigentümer der qu. Papiere in-
zur Aufbewahrung oder als Pfand übergebene
Wertpapiere handelt, ein stempelpflichti-
ges Anschaffungsgeschäft. Es ist ferner
— allerdings anscheinend nur im Hinblick auf
die besonderen Bestimmungen der §S 82 ff.
A.L.R. 1, 14 — der Ansicht, dass ungeachtet
einer solchen Vereinbarung der Hinterleger
Eigentümer der hinterlegten Papiere so lange
bleibe, bis der Verwahrer durch einen änsser-
lich erkennbaren Akt von der ihm erteilten Er-
mäcbtignng Gebranch gemacht habe. So auch
Stenglein: „Die strafr. Nebengesetze" etc.
S. 63 u. Schweyer: „Die Bankdepotgeschäfte"
etc. S. 124.
solange anzusehen sein soll, als nicht der
Kommissionär von der ihm erteilten Er-
mächtigimg in irgend einer erkennt-
lichen (rechtlich wirksamen) Weise Ge-
brauch gemacht hat. So lange er dies
nicht gethan, würde er danach die Pflichten
des § 1 (gesonderte Aufbewalirung und Ein-
tragung \n das Depotnummernbuch) auch
im Falle der Erteilung dieser Ermächtigung
zu erfüllen haben.
Ob die Worte »zu seinem Nutzen zu
verfügen« im Zweifel dem Wortlaut ent-
sprechend im weitesten Sinne auszulegen
sind, also daliin, dass dem Verwahrer die
völlig freie Verfügung zustehen solle,
oder enger, also nur dahin, dass er ledig-
lich zu bestimmten Zwecken, z. B.
zur Weiterverpfändung oder zur Hinter-
legung beim Kassenverein oder bei einer
sonstigen Aufbewahrungsstelle, solle ver-
fügen dürfen, ist streitig. Ich entscheide
mich dafür, dass im Zweifel, da das Ge-
setz nicht unterscheidet, das Recht der
völlig freien Verfügung als eingeräumt zu
gelten hat, dass es also Sache des eine
engere Auslegung behauptenden Hinterlegers
oder Verpfänders wäre, besondere Umstände
nachzuweisen, aus welchen ein begi^enzterer
Sinn der ilirem Wortlaut nach unbegrenzten
Ermächtigung mit Sicherheit zu schüessen ist.
B. Die Einkaufakommission. a) Nach
den §§ 8 und 7 des Gesetzes hat der
Kommissionär, welcher einen Aufti^ zum
Einkauf von verti-etbaren Wertpapieren aus-
führt, dem Kommittenten binnen drei Tagen
ein Verzeichnis der Stücke mit An-
gabe der Unterscheidungsmerkmale zu über-
senden. Diese dreitägige Frist beginnt, wenn
der Kommissionär bei der Anzeige über die
Ausführung des Auftrags einen Dritten als
Verkäufer genannt hat, mit dem Erwerb
der Stücke, andernfalls mit dem Ablauf des
Zeitraums, innerhalb dessen der Kommissio-
när nach Abgang der Ausführungsanzeige
bei ordmmgsmässigem Geschäftsgang die
Stücke beziehen konnte (§ 3 Abs. 1).
Spätestens mit der Absendung des
Stückeverzeichnisses (oder auch zu
einem etwa nach sonstigem büi^erlichen
Recht fixierten früheren Zeitpunkt) geht,
die Vei-fügungsberechtigung des Kommissio-
närs vorausgesetzt, das Eigentum an den
im Stückeverzeichnis erwähnten Wertpa-
pieren auf den Kommittenten mit der Wir-
kung ilber, dass von da ab der Kommissionär
hinsichtlich dieser Wertpapiere die im § 1
erwähnten Pflichten eines Ver^^ahrers hat
(§ 7 Abs. 1 und 2).
b) Die Uebei-sendung des Stückeverzeich-
nisses kann nur dann und nur insoweit
unterbleiben, w^enn und soweit die
Auslieferung der Stücke an den Kom-
mittenten erfolgt oder ein Auftrag dos
1210
Hinterlegung von Wertpapieren
letzteren zur Wiederveräusserung aus-
geführt ist (§ 3 Abs. 3).
c) Ein Verzicht des Kommittenten auf
die Uebersendnng des Stücke Verzeichnisses
ist auch hier, wenn der Kommittent nicht
Bankier ist, lediglich dann wirksam, »wenn
er bezüglich des einzelnen Auf-
trages ausdrücklich und schrift-
lich erklärt wird« (§ 3 Abs. 2).
Das Gesetz hat also hier den vorher
vorhandenen Rechtszustand dadurch ver-
bessert, dass es im § 3 eine Form und
zugleich eine Frist vorschreibt, durch die
und innerhalb deren der Kommissionär die
Besitzübertragimg imd damit die Eigentums-
übertragung der angeschafften Papiere
spätestens bewirken muss, und zwar,
wenn nicht einer der unter b. und c. ver-
zeichneten Ausnahmefälle vorliegt, bei
Meidung krimineller Strafen (§ 10 Satz 2),
falls bei vorsätzlicher Nichtabsendung des
Stückeverzeichnisses der Berechtigte bei
Konkurs oder Zahlungseinstellung des Kom-
missionärs bezüglich seines Aussondenmgs-
anspruchs benachteiligt wird (Gefängnis bis
zu zwei Jahren).
Der Verzicht auf üebersendung des
Stückeverzeichnisses ist im Zweifel da-
hin auszulegen, dass damit der Kommissionär,
welcher infolge der Anschaffung zunächst
selbst Eigentümer der angeschafften Papiere
wird, den Besitzübertragungsakt überhaupt,
also den Eigentumsübergang der an-
geschafften Papiere auf den Kom-
mittenten, solle aufschieben dürfen,
so dass, insolange der Kommissionär nicht
durch üebersendung des Stückeverzeich-
nisses oder in anderer Weise die Besitz-
übertragung vorgenommen hat, der letztere
lediglich Stückeschuldner werden, dem
Kommittenten also kein Aussonde-
rungsrecht im Konkurse des Kommissio-
närs, sondern nur ein persönlicher An-
sprach auf Ausfolgung von Papieren gleicher
Art, Güte und Menge im Falle der Zalilung
des Kaufpreises zustehen soll.
Die etwaige ausdrückliche Darlegung
dieser Rechtsfolgen in den gedruckten Ge-
schäftsbedingimgen bezweckt nur, diesen
— auch ohnedies anzunehmenden — Willen
der Parteien völlig ausser Zweifel zu setzen ^).
>) Wenn Schweyer (a. a. 0. S. 132)
hiergegen Bedenken äussert, weü die hierin ent-
haltene Festlegung einseitig sei und der „äusse-
ren Autorität" entbehre, so verkennt er sowohl
den thatsächlicheu als den rechtlichen Vorgang.
Denn diese Festlegung der Rechtsfolgen ist
nicht eine einseitige, da der Kunde die Ge-
schäf tsbedin gungen bestätigt, sie bedarf des-
halb auch keiner besonderen äusseren Autorität.
Ueberdies wird in unzweideutiger Weise ge-
sagt: „Diese Befreiung hat zur Folge, dass die
angeschafften Effekten von uns nicht für den
Eine — an sich wohl mögliche —
engere Bedeutung des Verzichte auf die
üebersendung des Stückeverzeichnisses ist
daher in letzterem Falle ausgeschlossen, im
übrigen aber keinen falls zu präsu-
mieren, sondern von demjenigen nachzu-
weisen, der daraus Rechte ableiten wiD.
An dieser bereits in meinem Kommentar
S. 35 — 38 geäusserten Ansicht halte ich
gegenüber den dagegen von Neukamp
^n Holdheims Wochenschrift Jahi^^. VI
S. 139) geltend gemachten Einwendungen
auch jetzt noch fest, zumal ich, wie Neu-
kamp zugiebt, auch frülier nicht verkannt
habe, dass der Eigentumsübergang nach
bürgerlichem . Recht eintretendenfalls nicht
erst mit der üebersendung des Stückever-
zeichnisses, sondern schon in einem früheren
Zeitpunkte erfolgen könnte. Immerhin stellt
sich nach der ausdrücklichen Absicht des
Gesetzes »die dem Kommissionär gemachte
Auflage, dem Kommittenten binnen drei
Tagen ... ein Stückeverzeichnis zu sen-
den . . ., als die Verpflichtung dar, inner-
halb dieser Frist das constitutiun possesso-
rium zu vollziehen und dadurch den
Kommittenten zum Eigentümer
der bezogenen Wertpapiere zu
machen« (Begründung S. 78). Der Ver-
zicht auf das Stückeverzeichnis ist also im
Zweifel als ein Verzicht auf die gesetz-
liche Verpflichtung des Kommissionärs an-
zusehen, den Kommittenten zum Eigentümer
der bezogenen Wertpapiere zu machen, also
als eine Erklärung, mit der »Kreditierung
auf Stückeconto« 1) des Kommissionärs bis
zur Vollzahlung des Kaufpreises zufrieden
zu sein.
d) Ist der Kommissionär mit der üeber-
sendung des Stücke Verzeichnisses im Ver-
zuge und holt er sie auch nicht binnen
drei Tagen nach erhaltener Aufforderung
des Kommittenten nach, so kann letzterer
nur, wenn er dies binnen drei Tagen nach
Auftraggeber in Besitz und Verwahrung ge-
nommen werden, sondern ihm auf unserem
Stückekonto ohne Nummemangabe gut geschrie-
ben werden".
^) Bei Besprechung dieser Ausführungen,
welche ebensowohl den Lokal- als den Central-
bankier angehen, und weiterer Darlegungen des
Verfassers zu § 8, hat Neukamp (a. a. 0.
S. 138) geglaubt, dieselben dahin „charak-
terisieren" zu dürfen, dass „der Verfasser
der für ihn vermöge seiner Stellung (!) aller-
dings sehr naheliegenden Gefahr leider nicht
entgangen ist, zu einseitig sich von dem Stand-
punkt des „Centralbankiers" leiten zu lassen".
Es wird genügen, dem gegenüber festzustellen,
dass in beiden Fragen der Kommentar des
vortr. fiats im Handelsministerium Geh. Rats
Lusensky zum Bankdepotgesetjs (auf S. 63, (>4 ;
75 76 u. 70) zu genau den nämlichen Resultaten
wie der Verfasser gelangt ist.
Hinterlegung von Wertpapiei-ea
1211
Ablauf der Nachholungsfrist erklärt, das
Geschäft als nicht für seine Rechnung ge-
schlossen zurückweisen und Schadensei'satz
wegen Nichterfüllung verlangen (§ 4 Abs. 1
und 2).
e) Der Kommissionär, welcher einen Auf-
trag zum Umtausch von vertretbaren Wert-
papieren oder zur Geltendmachung eines
Bezugs rechts auf solche Papiere aus-
führt, hat gleichfalls, bei Meidung des
Verlustes seines Provisionsan-
spruchs (§ 6), binnen zwei Wochen nach
dem Empfange dieser Stücke dem Kom-
mittenten das Stückeverzeichnis zu über-
senden, sofern er letzterem nicht die Stücke
innerhalb dieser Frist ausgehändigt hat (§ 5).
Die oben erwähnte Strafbestimmung des
§ 1() Satz 2 findet auch im Falle vorsätz-
licher Zuwiderhandlung gegen die Bestim-
mungen des § 5 Anwendung.
Die Möglichkeit eines Verzichts auf die
Uebei*sendung des Stückeverzeichnissos ist
für diesen Fall gesetzlich nicht vorgesehen,
aber wolil kaum zu bestreiten. Zweifelhaft
ist jedoch, ob ein solcher Verzicht, für
de^sen Zulässigkeit nicht die besonderen
Vorschriften des Depotgesetzes, sondern nur
allgemeine Rechtsgrund sätze. angerufen
werden können, der besonderen (Ausnahme-)
Formen des § 3 Abs. 2 bedarf, was ich,
ungeachtet der Einwendungen Neukamps
(in Holdlieims Monatsschr. Jahrg. VII S.
139). nicht annehme.
C. Verpfliohtiingen des Lokal-
bankiera im Verkelir mit dem Central-
bankier. Eine der wichtigsten Vorschriften
des ganzen Gesetzes, mit welcher den
in der Einleitung (oben sub I, b) bezeich-
neten unleidlichen Missständen gesteuert
weixlen sollte, enthält der § 8, welcher
lautet :
»Ein Kaufmann, welcher im Be-
ti'iebe seines Ilandelsgewerbes fremde
Wertpapiere der im § 1 bezeichneten
Art einem Dritten zum Zwecke
der Aufbewahrung, der Veräusse-
rung, des Umtausches oder des
Bezuges von anderen Wertpapieren,
Zins- oder Gewinnanteilscheinen aus-
antwortet, hat hierbei dem
Dritten mitzuteilen, dass die
Papiere fremde seien. Ebenso
hat er in dem Falle, dass er einen
ihm erteilten Auftrag zur An-
schaffung solcher Wertpapiere an
einen Dritten weitergiebt, die-
sem hierbei mitzuteilen, dass
die Anschaffung für fremde
Rechnung erfolge.
Der Diitte, welcher eine solche
Mitteilung empfangen hat, kann an
den übergebenen oder an den neu
beschafften Papieren ein Pfandrecht
oder ein Zurückbehaltungsrecht nur
wegen solcher Forderungen an
seinen Auftraggeber geltend
machen, welche mitßezugauf
diese Papiere entstanden
sind.«
Infolge der letzteren Vorechrift und
der gar nicht zu bestreitenden Schwie-
rigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit im
K 0 n 1 0 k or r e n t V er k e h r , nachzuweisen,
dass gerade die mit Bezug auf diese
Papiere entstandenen Fordenmgen noch nicht
bezaldt sind, ist es nun aber in der Praxis
seitens der Centralbankiers allgemein ab-
gelehnt worden , Papiere , hinsichtlich
deren der Lokalbankier mitgeteilt hat, dass
sie fi-emde seien oder dass ihre Anschaffiuig
für fi-emde Rechnung erfolge, in irgend
einer Weise — also auch in dem be-
schränkten Umfange des § 8 Abs. 2 — als
Kreditunterlage dienen zu lassen.
Infolge dieser Ablehnung der Central-
bankiere waren dann wieder die Lokal-
bankiers genötigt, sich von iliren Kunden
die Ermächtigungen des § 2 ausstellen zu
lassen (andere Nummern zurückzugewähren
oder zu ihrem Nutzen über die Papiere
verfügen zu dürfen) oder im Falle der
Weitergabe einer Verk aufs kommission als
Selbstkontrahenten, also als Käufer einzu-
treten, und zwar letzteres entw^eder auf
Grund dahingehender Erklärung in allge-
meinen Geschäftsbedingungen oder einer
Specialerklärung, welche vor Weitergabe
des Auftrages abzugeben ist.
In beiden Fällen aber würden die Pa-
piere — und zwar im ersteren Falle nach
der neueren Judikatur mindestens dann,
wenn von jenen Ermächtigungen vorher
seitens des Kommissionärs in ii'gend einer
Weise Gebrauch gemacht ist — nicht
melir als fremde zu betrachten sein, also
die Mitteilungspflicht gemäss § 8 in Weg-
fall kommen.
Das Anwendungsgebiet des § 8 ist da-
durch, was sehr wenig wünschenswert ist,
in sehi' erheblichem Umfange eingeschränkt
worden.
B. Straf bestimmimgen. Die §§ 9
bis 12 des Gesetzes enthalten Strafbestim-
mungen, von welchen diejenigen des § 10
Abs, 1 oben zu den §§ 1, 3 und 5 bereits
erwähnt sind.
Der § 9 dreht demjenigen Kauf mann,
welcher über ihm zur Aufbewahrung oder
als Pfand übergebene oder von ihm als
Kommissionär für den Kommittenten in Be-
sitz genommene vertretbare Wertpapiere
ausserhalb der Fälle des § 246 des Straf-
gesetzbuchs zu eigenem Nutzen oder
zum Nutzen eines Dritten rechts-
widrig verfügt, Gefängnis bis zu einem
1212
Hinterlegung von Wertpapieren — Hof
Jahr und Geldstrafe bis zu dreitausend Mark
oder eine dieser Strafen an.
Den gleichen Strafen unterliegt, wer der
Yorsehrift des § 8 zum eigenen Nutzen
oder zum Nutzen eines Dritten vorsätz-
lich zuwiderhandelt.
Der § 11 bestimmt, dass ein Kauf-
mann, welcher seine Zahlungen eingestellt
liat oder in Konkurs geraten ist, mit
Zuchthaus (also bis zu 15 Jahren) zu
bestrafen ist, wenn er im Bewusstsein seiner
Zahlungsunfähigkeit oder üeberschiüdung
fremde Weiipapiere, welche er als Ver-
wahrer, Pfandgläubiger oder Kommissionär
in Gewahrsam genommen, sich rechtswidrig
zugeeignet hat. Bei mildernden Umständen
tritt Gefängnisstrafe nicht unter drei Mo-
naten ein.
Der § 12 endlich dehnt die Straf vor-
schiiften der §§ 9, 10 und 11 unter ge-
wissen Voraussetzungen auch auf Vorstands-
mitglieder einer Aktiengesellschaft oder ein-
getragenen Genossenschaft, Geschäftsführer
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung
sowie die Liquidatoren einer Handelsgesell-
schaft oder eingetragenen Genossenschaft aus.
^
3. Der Erfolg de» GeHetzes. Die
praktischen Folgen des Gesetzes scheinen
mir, abgesehen von den Strafbestimmungen,
um deswillen nicht sehr erhebliche zu sein,
weil
a) den Lokalbankiers auch in den Fällen
der reinen Aufbewahrung und Ver-
pfändung seitens des Publikums die
Ermächtigungen des § 2, welche der
Rankier vor dem Gesetze in diesem
weiten Umfange kaum in Anspruch
nehmen konnte, in der Regel aus-
gestellt zu wenlen pflegen, ferner
weil
b) auch der Verzicht auf die Absen-
dung des Stückeverzeichnisses in
den allermeisten Fällen ausge-
sprochen wird, insbesondere in den-
jenigen die Regel bildenden Fällen,
in welchen die Kommittenten nicht
sofort bei Erteilung des Auftrags den
vollen Kauf j)reis berichtigen ; und weil
endlich
c) infolge der sub a und b angedeuteten
Umstände das reguläre Bank-
depot, also auch die Fälle des Aus-
sonderungsrechts der Kom-
mittenten, welche das Gesetz zu
erweitern und ausser Fragt» zu stellen
beabsichtigte , zu Gunsten des
depositum irreguläre einer-
seits und zu Gunsten des
Stückecontos des Kommissio-
närs andererseits seit Eidass des
Bankdepotgesetzes ganz ersichtlich
zurückgegangen ist.
Ein völlig abschliessendes Urteil lässt
sich aber noch nicht abgeben.
Litteratur: Max Apt, Depotgetetz etc., Text-
ausgabe mit Einleitung, Anmerkungen und Sach'
regisier, Berlin 1896. — F, lAtsensky , Text-
ausgäbe mit Einleitung, Erläuterungen und
Sachregister, Berlin 1897. — W. Frhr, von
Pech'inann, Da« Reichsgesetz über die Pflichten
der Kaufleute bei Aufbewahrung fremder Wert-
papiere (das sogenannte Depotgesetz) vom o, Juli
1896. Gesetzestert mit Erläuterftngen, Erlangen.
— RiesgCTf Das Bankdepotgesetz vom 5. Juli
1896. Aus der Praxis und für die Praxis ins-
besondere des Handelsstandes erläutei't, Berlin
1897. — M, Stenglein, Die strafrechtlichen
Nebengesetze des deutschen Reiche«, Snppl. zur
2. Aufl., Berlin 1898, S. 58—74. — Franz
Schxceyer, Die Bankdepotgeschäfte in geschicht-
licher, wirtschaftlicher und rechtlicher Beziehung,
München 1899.
Bies8er,
Hoards
s.
Banken, insbesondere Bankgeschäfte
sub 9 oben Bd. U S. 143 ff.
Hof.
(Wandeläcker, walzende Grundstücke.)
1. Begriff des Hofes. 2. Heutige Verbrei-
tung der Hof Verfassung in Deutschland. 3. Ge-
schichte der deutschen Hofverfassung. 4. Schluss.
1. Begriff des Hofes. Hof im ökono-
mischen Sinne ist der zur Führung eines selb-
ständigen Landwirtschaftsbetriebes erforderliche
Bestand an Grundstücken mit Gebäuden und
sonstigem Zubehör. Einen Hof, der einem
bäuerlichen Landwirtschaftsbetriebe dient, nennt
man Bauernhof. Von Bauernhöfen im Gebiet
des heutigen Deutschen Kelches soll im folgen-
den die Kede sein.
Da der Hof mit allen seinen Bestandteilen
die Grundlage des Landwirtschaftsbetriebes
bildet, SU ist er in dieser Beziehung ein or-
Sanisches Ganzes, eine Einheit, die, solange ein
land Wirtschaftsbetrieb von bestimmter Be-
schaffenheit durch sie ausgeübt werden boll,
keiner irgendwie erheblichen Aenderung, weder
in seiner agronomischen Zusammensetzung noch
in seiner absoluten Grösse, unterworfen werden
darf.
Jedoch ist die Eigenschaft als Grundlage
eines selbständigen Landwirtschaftsbetriebes
bestimmter Art nicht das einzige den Begriff
Bauernhof bestimmende Merkmal.
Es ist hergebracht, nur solche Bauemgi\ter
als Höfe zu bezeichnen, die ihren Bestand an
Grundstücken und sonstigem Zubehör dauernd
bewahrt haben, und die eine Reihe von Genera-
tionen hindurch unverändert in der Hand ihrer
Besitzer geblieben sind.
Diese Unveränderlichkeit der Güt^r besteht
entweder kraft eines privaten bezw. öffentlichen
Hof
1213
Kechtssatzes, oder sie ist in eiuer Gegend dnrch
die Sitte seit alter Zeit allgemein eingeführt.
Die wichtigsten Elemente des Begriffes
Hof sind also einerseits das wirtschaftliche,
Grundlage eines selbständigen Landwirtschafts-
betriebes, andererseits das rechtlich-soziale, Uu-
Veränderlichkeit dieser Grundlage kraft der
Sitte oder kraft Rechtes.
Im Gegensatz zu den geschlossenen Höfen
stehen diejenigen Bauerngüter, deren Bestand
weder dnrch Sitte noch durch Eechtssatz dauernd
erhalten wird. Sie können geteilt, durch Ab-
trennung einzelner Stücke verkleinert, schliess-
lich auch völlig zersplittert werden. Die
Grundstücke, aus denen sie bestehen, nennt man
im Gegensatz zu den im Hofverband befind-
lichen Ländereien frei beweglichen Grundbesitz.
In vielen Gegenden bilden solche ungeschlossene
Güter die Grundlage aller oder der meisten
bäuerlichen Landwirtschaftsbetriebe. Da, wo
der bäuerliche Grundbesitz vorwiegend zu Bau-
ernhöfen vereinig ist, nennt man die nicht im
Hofverband befindlichen bäuerlichen Grund-
stücke Wandeläcker, walzende Grundstücke
oder auch Erbland.
Häufig werden sie hier von einem Hofin-
haber besessen und in Verbindung mit den
Hofländereien bewirtschaftet, jedoch bleiben
sie von den Hofländereien, den integrierenden
Bestandteilen des Hofes, wenigstens begrifflich
immer unterschieden.
2. Heutige Yerbreitang der Hofver-
fasBung in Deatschland. Nach dieser Fest-
stellung dessen, was wir unter der Bezeichnung
Hof, insbesondere unter Bauernhof verstehen,
wollen wir die heutige Verbreitung der Hof-
verfassung in Deutschland in einem Ueberblick
betrachten. Im Gegensatz zur Hof Verfassung
stehen die ungeschlossenen Bauerngüter, die
aber nicht notwendig bei jedem Erbgang oder
auf sonstige Weise geteilt werden müssen. Sie
können auch thatsächlich in ihrem Bestand er-
halten bleiben. Die Kegel ist allerdings die,
dass, wo keine Sitte oder Eechtssatz die Ge-
schlossenheit erhält, auch keine dauernde
faktische Ungeteiltheit besteht. Wir teilen
Deutschland in drei Arten von Gebieten, je
nachdem die Hof Verfassung vorherrscht oder
den ungeschlossenen Bauerngütern gegenüber
zurücktritt oder endlich sämtliche Bauerngüter
ungeschlossen sind.
a) Vorherrschende Hofverfassung besteht
in den sechs östlichen Provinzen Preussens, in
Brandenburg, Pommern, West- und Ostpreussen,
Posen und Schlesien. Nur im Süden von Posen
und in Oberschlesien findet bei der polnischen
Bevölkerung Naturalteilung statt. Ferner be-
steht die Hofverfassung in Mecklenburg,
Schleswig-Holstein, Lauenburg und im Nora-
und Ostteil der Provinz Sachsen. Ebenso
herrscht sie in Anhalt und einzelnen thüringi-
schen Staaten wie Sachsen-Altenburg und Reuss.
In der Provinz Hannover besteht die Geschlossen-
heit ausser in einigen Marschdistrikten und in
Grubenhagen. Gebiete der vorherrschenden
Hofverfassung sind femer die Provinz West-
falen und die Mittel- und Kleinstaaten Nord-
westdeutschlands wie Oldenburg, Lippe, Wal-
deck, das ehemalige Kurhessen und Braunschweig
und endlich der Niederrhein d. h. die preussische
Bheinprovinz von Düsseldorf bis zur holländi-
schen Grenze. In Süddeutschland beherrscht
die Hofverfassung ganz Altbayem mit Aus-
nahme der Provinz Unterfranken, ferner in
Württemberg den Donau-, Jagst- und südlichen
Schwarzwaldkreis. In Baden endlich ist die
Mehrheit der Bauerngüter geschlossen im
Schwarzwald und im nördlichen und südlichen
Hügelland des Grossherzogtums. Auch im
hessischen und badischen Odenwald überwiegt
die Hofverfassung.
b) Die Hofverfassung tritt den unge-
schlossenen Bauerngütern gegenüber zurück, es
findet also vorwiegend lUalteilung statt, im
Fürstentum Grubenhagen der Provinz Hannover,
im Südwesten der Provinz Sachsen, im grössteu
Teil der thüringischen Staaten, in der baye-
rischen Provinz Unterfranken, in der hessischen
Provinz Oberhessen, im württembergischen
Schwarzwaldkreis und zwar im nördlichen Teil
desselben.
c) Ungeschlossenheit und Eealteilnng
herrschen ausschliesslich: im südlichen Posen
und in Teilen des Regierungsbezirks Oppeln
(Oberschlesien), in dem hannoverschen Marsch-
land Wursten, in der Eheinprovinz (mit Aus-
nahme des Niederrheins), im vormaligen Herzog-
tum Nassau, im Gebiet der ehemaligen freien
Stadt Frankfurt, in den hessischen Provinzen
Starkenburg und Eheinhessen (mit Ausnahme
des Odenwalds), im württembergischen Neckar-
kreis, in der bayerischen Ehempfalz, in den
ebenen Teilen Badens, in Elsass-Lothringen.
Es erhebt sich nun die Frage, wie ist die
auch heutigen Tages soweit verbreitete Hof-
verfassung zu erklären, welchen Ursachen ver-
dankt sie ihre Entstehung und ihre Erhaltung
bis zur Gegenwart. Ueber den Ursprung und
die Lebensbedingungen der Hofverfassung
giebt es in der Hauptsache zwei Ansichten.
Die eine führt die Hofverfassung ausschliess-
lich auf bestimmte Betriebsbedingungen der
Landwirtschaft zurück. Sie sagt, für die in
Deutschland vorherrschende landwirtschaftliche
Produktion (Getreidebau und Viehzucht) ist es
zweckmässig, dass die Betriebsgrundlage dauernd
in dem gleichen Umfang erhalten bleibt. Diese
Erhaltung der gleichen Betriebsgrundlage wird
durch die Hofverfassung am besten gewähr-
leistet. Daher verdankt sie ihre Entstehung
und ihr Bestehen ausschliesslich Erwägungen
der betriebstechnischen Zweckmässigkeit. Die
Ungeschlossenheit und ihre regelmässige Kon-
sequenz, die Naturalteilung der Bauerngüter,
sind nur in verhältnismässig beschränkten Ge-
bieten möglich, wo das Klima und der Boden
Specialkulturen oder die Nähe der Städte Ge-
müsezucht gestatten. Denn nur unter diesen
Voraussetzungen vermag die wachsende Inten-
sität der Landwirtschaft auf den stets kleiner
werdenden Besitz- und Betriebsgrössen die
bäuerlichen Familien auskömmlich zu ernähren.
Also die Naturalteilung stellt nur den durch
besondere Umstände bedingten Ausnahmefall
dar, in der Eegel verlangt die Natur der Sache
die Geschlossenheit, Sitte und Eecht sind nur
aus der Natur der Sache herzuleiten. Die
andere Ansicht geht von der entgegengesetzten
Annahme aus Sie hält die freie Natural-
teilung und Ungeschlossenheit für die in der
Eegel angemessene Verfassung der Bauern-
güter. Nur für beschränkte Gebiete giebt sie
1214
Hof
/
die Notwendigkeit der ungeteilten Erhaltung
der Bauem§;titer aus betriebstechnischen Grün-
den zu. Die alljß^emein noch heute bestehende
Hofverfassung leitet sie nicht aus der be-
triebstechnischen Notwendigkeit oder Zweck-
mässigkeit her, sondern aus rechtlich-sozialen
Thatsachen, die als solche mit der Betriebs-
technik nichts zu thun haben. So erklärt sie
die Geschlossenheit der Bauerngüter für die
Folge einer ehemaligen grundherrlichen Ab-
hängigkeit oder einer staatlichen Anordnung
oder eines besonderen Erbrechts, das den Grund-
besitz in einer Familie immer nur an einen
Erben gelangen Hess. Die Einwirkung des
Grundherm, des Staates oder des herrschenden
Erbrechts auf die Geschlossenheit der Bauern-
güter kann ihrerseits wieder aus Erwägungen
betriebstechnischer Natur hervorgegangen sein.
So kann der Grundherr die Geschlossenheit auf-
recht erhalten haben, weil das Gut gerade in
diesem Umfang betrieben den höchsten Ertrag
und deshalb auch die höchste Grundrente ab-
warf, und ans ähnlichen Anlässen können auch
der Staat und die Familie auf Erhaltung der
Hofverfassung hingewirkt haben. Aber es
sind auch andere Anlässe denkbar, die mit der
Betriebstechnik nichts zu thun haben. So steht
es erfahrungsgemäss fest, dass das grundherr-
liche Eigentum an ganzen Bauerngütern sich
dauernd erhält, während dasselbe Recht an ein-
zelnen Ackerstücken sich bald zu einer blossen
Rentberechtigung verflüchtigt. In Zeiten un-
vollkommener Steuertechnik bildet der ge-
schlossene Bauernhof die bequemste Bemessuugs-
ffTundlage für die Steuer und andere Staats-
leistungen. Das Primogeniturerbrecht dient
von allen betriebstechnischen Verhältnissen ab-
fesehen als solches zur Erhaltung des Gnind-
esitzes in der Familie, wie man aus dem
Erbrecht des Adels, das ohne Rücksicht auf die
Bewirtschaftungsart des Grundeigentums be-
steht, leicht ersehen kann. So ist die Bindung
des Grundbesitzes durch Grundherrschaft, Staats-
gewalt und Erbrecht denkbar und möglich, ohne
dass eine betriebstechnische Notwendigkeit oder
Zweckmässigkeit der Geschlossenheit besteht,
und diese unabhängig von der betriebstech-
nischen Notwendigkeit bestehenden Bedingungen
für die Hof Verfassung nennen wir rechtlich-
soziale Momente, deren übrigens noch andere
als die ei'wähnten (z. B. Abfluss der ländlichen
Bevölkerung in Kolonisationsgebiete oder in die
StÄdte) möglich sind. Die Frage kann wohl
aufgeworfen werden, ob die heute in Deutsch-
land bestehende Geschlossenheit der Bauern-
güter auf solchen rechtlich-sozialen oder auf wirt-
schaftstechnischen Gründen beruht. Die Lösung
dieser Frage hat auch eine unverkennbar prak-
tische Bedeutung. Ist die Hofverfassung in
der Hauptsache nur der Rest einer heute ver-
schwundenen rechtlich-sozialen Ordnung, so
wird sie allmählich von selbst verschwinden,
d. h. alle Höfe werden sich in frei teilbare
Bauerngüter verwandeln. Es lohnt sich daher
nicht, durch Gesetzgebung und auf sonstige
Weise auf die Erhaltung der Höfe hinzuwirken.
Ist sie dagegen, wenn auch nicht immer unbe-
dingt notwendig, so doch betriebstechnisch
äusserst zweckmässig, und lässt sich auch ihre
Entstehung und Erhaltung bis heute auf heute
noch wirksame betriebstechnische Ursachen
zurückführen, so empfiehlt es sich, die ihr als
Stütze dienenden Institutionen soweit als mög-
lich beizubehalten oder gar neu zu schaffen.
Eine befriedigende Antwort auf diese Frage
kann nur die Geschichte der deutpcheu Hof-
verfassung geben. Wir wollen daher im
folgenden in einem kurzen Ueberblick diese
Geschichte betrachten.
3. Geschichte der deutschen Hofver-
fassnng. Nach der allgemein herrschenden
Ansicht gab es eine Zeit, in der überall in
Deutschland eine Hof Verfassung bestand,
sämtliche Bauerngüter Höfe in unserem Sinne
waren. Diese Epoche umfasst die Zeit von der
Völkerwanderung bis zum Jahre lOOi) nach
Christi Geburt. Der überall bestehende Bauern-
hof war die Hufe. Wie der geschlossene Hof
von heute, so war auch die Hufe überall eine
kraft des Herkommens unveränderliche Betriebs-
grundlage einer bäuerlichen Wirtschaft. Aller-
dings bestand diese Geschlossenheit nicht kraft
ir^^end eines Rechtssatzes, sondern gerade so
wie heute wieder beruhte sie auf der Sitte, der
Gewohnheit. Aus welcher Ursache entsprang
nun damals die Unveräuderlichkeit dieser Be-
triebsgrundlage? — Alle Nachrichten stimmen
darin überein, dass die Hufe nur betriebstech-
nisch zu definieren ist. Sie war derjenige
Ländereibestand, der unter den herrschenden
Betriebsverhältnissen von einem Bebauer und
dessen engerer Familie mit einem Pflug be-
stellt werden konnte. Daher heisst die Hufe
auch aratrnm und zerfiel in Morgen, Tage-
werke oder Joche. Sie wurde also mit Zeit-
und Arbeitseinheiten gemessen, musste also
ihrem eigentlichen Wesen und Ursprung nach
eine Betnebsgrösse sein. Sie umfasste gewöhn-
lich 30, seltener 60 Morgen Ackerland. Der
diese Hufe bewirtschaftende Bauer war nun in
der Regel nicht der freie Eigentümer derselben.
Er war meistens Höriger, in der Minderzahl
der Fälle ein freier Kolon, dem der Herr die
Hufe gegen Leistungen von Abgaben imd
Diensten zur Bebauung überlassen hatte. Dex
Bebauer der Hufe hatte also kein Verfügungs-
recht über dieselbe, der einzig Verfügungsbe-
rechtigte war der Herr, der Eigentümer der
Hufe und der Grundherr des Bauers. Aber
vermöge langdauernder Gewohnheit und per-
sönlicher Abhängigkeit vom Herrn hatten die
Bebauer meistens ein vererbliches Nutzungs-
recht an der Hufe erlangt, das ihnen zwar
nicht die willkürliche Verfügung über die Hufe
erlaubte, wohl aber dem Herrn die Möglichkeit
benahm, über sein Eigentum frei zu schalten.
So erhielt sich die Hufe als Betriebsgrösse un-
verändert, weil die Betriebsverhältnisse dauernd
dieselben blieben, als Besitzgrösse aber deshalb,
weil Rechte von ungefähr gleicher Stärke das
Recht des Eigentümers und das des Bebauers)
an ihr bestanden. Die Hofverfassunjr der
Urzeit, die Hufen Verfassung, beruhte als»» auf
betriebstechnischen und rechtlich-sozialen Be-
dingungen, wobei allerdings die betriebstech-
nischen Momente als die wirksamsten erscheinen.
Diese annäherd gleichen wirtschaft^technischen
Voraussetzungen bestanden überall in Deutsch-
land bis zum Ende des ersten Jahrtausends
nach Christi Geburt. Die ersten gnwsen
Aenderungen ergaben sich unstreitig im Rhein-
land, d. h. im ganzen Thal des Rheins von
Hof
1215
Basel etwa Vis Düsseldorf, ferner im Moselland
und sonst be^lnstigten Flussthälem des Süd-
westens. Hier war wohl schon zur Röraerzeit
eine intensivere Landwirtschaft heimisch ge-
wesen, die Pflege des Weinstocks und mancher-
lei feinere Gartenkultur hatte sich auf den
geistlichen und weltlichen Herrensitzen wohl
erhalten, aber in der einfachen auf Getreide-
bau und Viehzucht gerichteten deutschen
Bauernwirtschaft war kein Platz für sie ge-
wesen. Nun übten die beginnende Blüte der
rheinischen Städte, der lebhafte Verkehr zu
Wasser und zu Land und das milde Klima
einen unverkennbaren Einfluss auf die Land-
wirtschaft aus. Auch in der Bauemwirtschaft
fanden zahlreiche Specialkulturen und vor allem
der Weinbau Eingang. Hand in Hand damit
ging eine Besserung der persönlichen und ding-
lichen Stellung des abhängigen Bauers. Be-
sonders verbesserte sich wohl im Zusammenhang
mit der intensiveren Kultur des Landes sein
Besitzrecht am Grund und Boden, aber auch
seine persönliche Stellung hob sich, so dass die
Beschränkung seiner persönlichen Freiheit
formell zwar fortbestand, aber der Sache nach
ziemlich bedeutungslos wurde. Auch die zahl-
reichen geistlichen Grundherrschaften mögen zu
dieser Besserung der Rechtslage der bäuerlichen
Bevölkerung beigetragen haben. Alle diese
Umstände, am meisten aber entschieden die be-
triebstechnischen, führten nun in dieser Zeit zu
einer freieren Vei-ftigung des Bauers über die
Hufe und besonders zu einer häufigen Natural-
teilung derselben im Erbgang. Nicht der Herr,
sondern der Bauer teilt im Westen Deutsch-
lands seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts die
Hufe in kleinere Betriebseinheiten. Hauptsäch-
lich wohl entsprang diese Teilung der inten-
siveren Landwirtschaft, aber unverkennbar
wirkte dabei auch mit eine besonders günstige
Stellung der bäuerlichen Bevölkerung in diesen
Gegenden. Ans welchen Ursachen gerade diese
günstige Rechtslage des rheinischen Hörigen
zu erklären ist, bleibt einstweilen unsicher.
Schon in dieser Periode beginnt also hier die
Naturalteilung der Bauerngüter, und der ge-
schlossene Hof der Urzeit, die Hufe, ver-
schwindet. Die Voraussetzung dieser Aenderung
ist in erster Linie betriebstechnisch, nämlich die
intensivere Kultur, ausserdem aber auch sozial-
rechtlich, nämlich die freiere Rechtslage der
hiutersässigen Bevölkerung.
In den übrigen Gebieten Deutschlands aber
bleiben einstweilen die alten Betriebsbedingungen
und damit auch die Hufe als geschlossene Be-
triebseinheit erhalten. Die erste Aenderung
der Betriebsgrösse macht sich bei Neurodungen
injden Waldgebirgen des Westens und der Eifel,
den Ardennen, dem Odenwald und anderen be-
merkbar. Hier wird die Hufe im doppelten,
dreifachen bis zu sechsfachen Umfang der alten
Volks- und Landhufe ausgemessen. Diese so-
fi^enannte Königshufe umfasst 60 bis zu 180
Morgen. Ob diese Vergrösserung der Betriebs-
fi^nndlage in betriebstechnischen oder sozialen
Ursachen ihre Veranlassung fand, ist schwer zu
entscheiden. Wollte man den Bebauer durch
diese reichliche Landzuweisung anlocken, oder
war dieser Umfang das Normalmass für eine
extensiv betriebene Bauemwirtschaft geworden?
denn bäuerlich blieb auch der Landwirtschafts-
betrieb auf der Königshufe, auch zu ihrer Be-
stellung musste die Arbeitskraft der bäuerlichen
Familie und ihres Gesindes ausreichen. Immer-
hin konnte dieses Ausmass der Hufe nicht
ausser allem Verhältnis zur Wirtschaftskraft
der bäuerlichen Familie stehen, und daraus er-
giebt sich ein wesentliches Anwachsen der
Leistungsiähigkeit seit der Einrichtung der
alten Volkshufeu von 30 Morgen. Sehr wesent-
lich kommt hier wohl auch in Betracht, dass
die auf solchen Rodhufen angesiedelten Bauern
wenige oder gar keine Frondienste für einen
Herrenhof zu leisten hatten, der bei den
Hörigen in früherer Zeit gewöhnlich auf drei
Tage in der Woche festgesetzt war, also so
ziemlich die Hälfte der Arbeitskraft eines
Mannes absorbiert hatte. Das 11., 12. und der
Beginn des 13. Jahrhunderts stellen die Ent-
wickelungsepoche des deutschen Städtewesens
dar. Für die Erzeugnisse der Landwirtschaft
entstehen überall in Deutschland Märkte, und
damit ist die Möglichkeit der Produktion auf
Absatz gegeben. An diese Ausbildung des
Verkehrs mit landwirtschaftlichen Erzengnissen
schliesst sich nnn eine sehr bedeutsame Ver-
änderung der bäuerlichen Betriebsgrössen. die
besonders in den von einer intensiveren Land-
wirtschaft noch nicht berührten Gegenden statt-
fand. Diese Umgestaltung beginnt mit dem
Anfang des 13. Jahrhunderts und erstreckt sich
.auf den Nordwesten Deutschlands, besonders
Niedersachsen, Teile der heutigen Provinz
Sachsen, Hessen, besonders das ehemalige Kur-
hessen, femer auch auf den Südosten Deutsch-
lands, besonders die schwäbisch- bayerische Hoch-
ebene. In allen diesen Gebieten bestand
bis zu dieser Zeit die Hufenverfassung. Die In-
haber der Hufen waren meist Hörige und
standen mit ihrem Besitz in einem Abhängig-
keitsverhältnis zu einem Herrenhof, an den sie
Zinsen und dienen mussten. Ihre Leistnngs-
ver pflichtungen und ihre Rechte, besonders das
erbliche Nutzungsrecht an der Hufe, waren im
sogenannten Hofrecht fixiert. Der Herr konnte
sie nicht einseitig verändern. Die Herren
lösten nun diese Verbände damals auf und
Hessen die Hörigen frei. Dafür aber zogen sie
dife hörigen Huren ein. Nach dem Muster der
Haupthöfe legten sie nun mehrere Hufen zu
grösseren Wirtschaftseinheiten zusammen und
thaten diese neuen Höfe ebenso wie die alten
Haupthöfe gegen Quoten des Ertrages zu Zeit-
pacht aus. Pächter waren meistens die früheren
Hörigen, jetzt freie landlose Leute. So ent-
standen überall in diesen Gegenden grössere
Wirtschaftseinheiten, daneben blieben freilich
auch viele alte Hufen bestehen, und schliesslich
bildeten sich auch kleine Stellen, sogenannte
Kotstellen oder Sölden, die ohne zugehöriges
Ackerland nur aus Gartenland und Hausplätzen
bestanden. Ihre Inhaber fanden einen Teil
ihres Unterhalts im Dienst der grösseren Hof-
besitzer. Von einer Teilung der grösseren Höfe
im Erbs:ang durch die bäuerlichen Inhaber
konnte Keine Rede sein. Sie waren ja nur
Pächter, höchstens wurde thatsächlich der Sohn
als Nachfolger seines Vaters mit der Bewirt-
schaftung des Hofes betraut. Dieses neue
grandherrliche Abhängigkeitsverhältnis übte
auch auf das in diesen Gegenden noch bestehende
Hörigkeitsrecht einen bestimmenden Einfluss aus.
1216
Hof
Die Hörigkeit als solche kam allmählich ausser
üebung, dafür aber lockerte sich das feste Recht
der Hörigen an der Hufe, ihre Abgaben wurden viel-
fach erhöht und das ganze Verhältnis dem freien
Pachtrecht angenähert. So entstand in einem
grossen Teil Deutschlands seit dem Beginn des
13. Jahrhunderts eine neue Betriebsgrundlage,
der mehrhufige Pachthof. über dessen Bestand-
teile der Be Wirtschafter keine Verfügung hatte.
Da der Herr seinen Bestand ebenfalls unver-
ändert Hess, so bildete sich diese neue Betriebs-
einheit bald zum geschlossenen Bauerngut, zum
Hof aus. Auch diese neue Hofverfassung ver-
dankt ihre Entstehung in der Hauptsache wirt-
schaftstechnischen Momenten, nämlich dem durch
den allgemeinen Stand der Volkswirtschaft her-
vorgerufenen Bedürfnis nach grösseren Land-
wirtschaftsbetrieben. Aber eine Bedingung,
ohne die dieser Landwirtschaftsbetrieb niemals
hätte entstehen können, war die immerhin
stärkere Abhängigkeit der hörigen Bevölkerung
in diesen Gebieten gegenüber der freieren Rechts-
lage der rheinischen Bauernbevölkerung. Denn
bei dieser wäre eine solche Absetzung meist
unmöglich gewesen. Allerdings lässt sich diese
freiere Stellung im 13. Jahrhundert hauptsäch-
lich auf den durch intensivere Kultur bedingten
engeren Zusammenhang des Bauers mit seinem
(inind und Boden zurückführen. Aber in dieser
Zeit, wo man auch im Rheinland Versuche zur
Einführung freier Zeitpachtverhältnisse machte,
scheiterten sie hauptsächlich an der rechtlich-'
sozialen Stellung der bäuerlichen Bevölkerung.
Ein Beweis für diese Annahme bietet die Eut-
wickelung der Bauerngüter am Niederrhein.
Hier blieben wegen vorherrschender Weidewirt-
schaft und Einzelhof besiedelung die alten hörij^en
Hufen bis ins 13. Jahrhundert ungeteilt. Eine
Einziehung der Hufen durch die Grundherreii
und Verwandlung der Hörigen in freie Zeit-
pächter hat aber wegen deren günstiger Rechts-
lage auch damals nicht stattgefunden. Die alten
Lathufen des Niederrheins haben sich in der
Hauptsache damals im erblichen Besitz der
Hörigen erhalten, obwohl die Grundherren es
auch dort an Versuchen, die freie Zeitpacht
einzuführen, nicht fehlen liessen. Es bestehen
also ausser den technisch-wirtschaftlichen auch
rechtlich-soziale Gründe, die in Nordwest- und
Südostdeutschlaud die Entstehung^ des mehr-
hufigen Pachthofes bedingt, im Kheinthal da-
gegen seine Entstehung verhindert und die
Entwickelung in ganz andere Bahnen g^eleitet
haben. Wir haben also in Deutschland etwa
am Ende des 13. Jahrhunderts folgende Ver-
fassung des bäuerlichen Grundbesitzes. Im
ganzen Rhein thal, abgesehen vom Niederrhein,
intensive Kultur mit beginnender Naturalteilung
der Bauerngüter, im Nordwesten und Südosten
starker Getreidebau auf grossen mehrhufigen
Pachthöfen, daneben allerdings auch noch die
alten einhufigenHöfe der hof rechtlich abhängigen
Bauern. Diese einhufi^en Höfe herrschen noch
ausschliesslich am Niederrhein, in den weniger
fruchtbaren Teilen Westfalens, Thüringens, Ost-
frankens und Schwabens.
Auch in den ausgedehnten slawischen Ge-
bieten östlich der Elbe und der Saale, im
heutigen Königreich Sachsen, der preussischen
Provinz Sachsen und den sogenannten alten
Provinzen Preussens fand zugleich mit der
deutschen Kolonisation die deutsche Hofver-
fassung allgemeine Verbreitung. Das erobert«
Land wurde an die deutschen Ansiedler meis-
tens in Hufen zu dreissig Morgen, seltener in
frösseren Königshufen ausgewiesen. Alle Bauern
eutschen Stammes waren persönlich frei und
erhielten bei geringen Leistungs Verpflichtungen
ein gutes erbliches Besitzrecht an ihren Hufen,
jedoch blieben sie einer, wenn auch milden
Grundherrschaft unterworfen. Der hier sehr
zahlreiche Ritteradel erhielt grössere Ritterhöfe
mit steuerfreien Ritterhufen zu Lehen, die er
in eigener Wirtschaft hielt und vielleicht ver-
mittelst der Frondienste nicht vertriebener
Slawen bestellte. Daneben bezog er auch
mancherlei grundherrliche Gefölle von den
deutschen Bauern. Extensive Wirtschaft und
dauernde Möglichkeit der Auswanderung nach dem
Osten beugten der Huf enteilung vor und bedingten
die Ausbüdung einer der urzeitlichen sehr ähn-
lichen Hofesvenassung der ein- oder mehrhuflgen
Bauerngüter. So haben wir im Kolonisations-
febiet ein- oder mehrhufige Bauernhöfe und
aneben mehrhufige Ritterhöfe. Die Geschlossen-
heit der Bauerngüter beruht hier sowohl auf
technisch-wirtschaftlichen wie auf rechtlich-
sozialen Voraussetzungen.
Diese Verhältnisse erhielten sich in ganz
Deutschland unverändert etwa bis zum Ende
des 15. Jahrhunderts. Seit dem 16. Jahrhundert
aber sehen wir Umgestaltungen in der be-
stehenden Verfassung der Bauerngüter eintreten.
Allerdings fanden oiese Umgestaltungen ihre
Bedingung in der Entwickelung der vorher-
gegangenen Jahrhunderte. Zunächst hatte sich
die intensivere Landwirtschaft von ihren alten
Sitzen in dem Rheinthal nach Osten zu aus-
gebreitet. Thüringen, Württemberg, das Main-
thal und andere von der Natur bevorzugte
Gegenden Mittel- und Süddeutschlands waren
ebenso wie das Rheinthal die Heimat von
Special kul turen , besonders des Weinbaues ge-
worden. Dabei war die Bevölkerung nach Ab-
schluss der Kolonisation des Ostens und der
Rodungen im Innern stark angewachsen, alle
Erzeugnisse des Bodens hatten bei der Aus-
dehnung des Verkehrs und dem Wachstum der
Städte einen stets steigenden Preis erlangt.
Die Verhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung
hatten sich auch in rechtb'ch-sozialer Hinsicht
bedeutend gebessert. Die Hörigkeit bestand
zwar noch in weiter Verbreitung, war aber
vielfach gemildert, so dass sie wenigstens in
wirtschaftlicher Hinsicht keine allzu drückende
Last mehr darstellte und besonders die Ver-
fügungen des Hörigen über seinen Grundbesitz
nur noch wenig behinderte. Gerade das Besitz-
recht des Hörigen am Bauerngut war dem
Eigentum immer ähnlicher geworden. Auch
das Recht der freien Zeitpächt^r im Nordwesten
und Südosten hatte sich sicherer gestaltet. Zwar
waren sie dem strengen Recht nach noch immer
absetzbar und zu Verfügungen nicht befugt,
aber thatsächlich bestand häiäg die Erblichkeit
und vielfach traten dingliche Beziehungen des
Pächters zum Gut hervor.
Aus diesen im Laufe des 14. und 15. Jahr-
hunderts erwachsenen Verhältnissen gingen nun
die Aenderungen hervor, die wir am deuuichsten
seit Beginn des 16. Jahrhunderts auftreten sehen.
Zunächst zeigte sich überall im nichtkoloni-
Hof
1217
gierten Deutschland das Bestreben der bäuer-
lichen Bevölkerung, die Besitzgrössen zu ändern,
entweder durch Verfügung unter Lebenden oder
aber durch NaturalteSung bei Erbfällen. Dieses
Bestreben tritt nicht minder auf bei den Pächtern
des Nordwestens oder Südostens als bei den
hörigen Hufenbesitzern des Niederrheins, Thü-
ringens oder Süddeutschlands. Soweit die Teil-
barkeit der Bauerngüter nicht besteht, wird sie
damals von der bäuerlichen Bevölkerung ange-
strebt. Dagegen erhoben sich nun zunächst
die Grundherren, die durch eigenmächtige Ver-
fügungen der Bauern über die Güter und durch
die Naturalteilung derselben ihre Interessen ge-
schädigt glaubten. Sie erlangten fast überall
staatliche Anordnungen, die den Bauern die
Verfügung über die Güter oder die Natural-
teilung derselben im Erbgang ohne ausdrück-
lichen ^rundherrlichen Konsens verboten. Ausser-
dem ging aber auch der Staat selbst gegen die
Veränderung des Bestandes der Bauerngüter
vor. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden
in den meisten deutschen Territorien Steuern
und sonstige Leistungsverpflichtungen für die
Staatsgewalt eingeführt, und als Bemessungs-
grundlage und wichtigster Steuerträger diente
der Bauernhof in seiner damals bestehenden
Gestalt. Alle öffentlichen Lasten wurden nach
dem „Höfefuss" veranlagt. Daher suchte der
Staat das wichtigste Objekt der ganzen Steuer-
verfassung unverändert zu erhalten und führte
die Geschlossenheit der vorhandenen Bauern-
güter kraft Öffentlichen Rechts ein. Nicht nur
die grundherrlich abhängigen, sondern auch die
freien Bauerngüter waren von jetzt an unteil-
bar. Aber diese Bestrebungen von Staat und
Grundherren hatten in den verschiedenen Ge-
genden je nach den dort herrschenden ver-
schiedenartigen wirtschaftlich-technischen und
rechtlich-sozialen Voraussetzungen einen ganz
verschiedenen Erfolg. Zunächst gelang es in
den Gegenden strenger Grundherrschaft und
extensiverer Landwirtschaft ohne grosse Mühe,
die Geschlossenheit durchzusetzen. So vor allem
im Nordwesten Deutschlands, wo das Zeitpacht-
verhältnis der freien Meier oder ein demselben
ähnliches höriges Kolonatsverhältnis (West-
falen) bei extensiverem Landwirtschaftsbetrieb
herrschte. Dasselbe war der Fall im Südosten
auf der schwäbisch-bayerischen Hochebene, wo
ganz ähnliche Verhältnisse bestanden. Auch
am Niederrhein blieben die alten einhuflgen
Höfe der Hörigen durch die Bemühungen des
Staates oder der Grundherren deshalb erhalten,
weil die vorherrschende Weidewirtschaft grössere
Landwirtschaftsbetriebe erforderte. Ganz anders
aber gestaltete sich das Schicksal der Höfe in
Gegenden, die keine ausgesprochen agronomische
Beschaffenheit aufwiesen oder aber eine inten-
sive Kultur erlaubten bezw. begünstigten. Zu
den Gebieten ersterer Art zählten Thüringen,
die hannoverschen Provinzen Göttingen-Gruben-
hagen und andere, zu denen letzterer Art da-
gegen das Mainthal, Neckarthal und andere
günstig gelegenen Gegenden Frankens und
Schwabens. Hier stiess das Teilungsbedürfnis
der bäuerlichen Bevölkerung nur auf das Hinder-
nis der Grundherrschaft oder staatlicher Un-
teilbarkeitsgesetze. Wir sehen nun ganz deut-
lich, dass nur eine ganz strenge grundherrliche
Gebundenheit (unerbliches Besitzrecht oder aber
Zeitpacht) die Höfe erhielt, während bei milderer
Grundherrschaft die Hofverfassung nicht auf-
recht erhalten werden konnte und trotz staat-
licher Teilungs verböte der Freiteilbarkeit weichen
musste. Da nun in den meisten dieser Gebiete
nur milde, altertümliche Hörigkeitsgrundherr-
schaft bestand, fand hier die Naturalteilung
allgemeinen Eingang und nur die in strenger
grundherrlicher Abhängigkeit befindliche Minder-
zahl der Bauerngüter blieben als Höfe erhalten.
Damals traten zu dem uralten Naturalteilungs-
§ebiet am Rhein die mittel- und süddeutschen
aturalteilun^gebiete hinzu. Damals grenzten
sich die Gebiete der Geschlossenheit und Teil-
barkeit in dem noch heute bestehenden Ümfane
gegen einander ab. Es entstand der Begriff
des kraft privaten und öffentlichen Rechts ge-
schlossenen Bauernhofes in den Gebieten der
Geschlossenheit. Hier traten dazu in einen
Gegensatz die Wandeläcker oder walzenden
Grundstücke, die nicht untrennbar mit irgend
einem Hofländereibestand vereinigt, sondern
frei abtrennbar waren. In den Geoieten der
vorherrschenden Naturalteilung dagegen traten
als Ausnahmen die kraft einer strengeren Grund-
herrschaft geschlossenen Höfe aus der Masse der
frei teilbaren Bauerngüter hervor. Die Auf-
hebung der Gebundenheit und der Grundherr-
schaft im 19. Jahrhundert hat wesentliche Ver-
änderungen nicht mehr gebracht. Nur die
Naturalteilungsgebiete dehnten sich etwas aus,
und innerhalb derselben verschwanden all-
mählich die durch die Grundherrschaft zu-
sammengehaltenen Höfe. Aber in den Gebieten
der Geschlossenheit blieb die Ung«teiltheit auch
nach Wegfall der Unteilbarkeit in der Haupt-
sache erhalten. Sie bestand fortan nicht mehr
kraft des Rechts, sondern kraft des Herkommens
und der Sitte. Wir haben bisher von den
slawischen Eroberun^sgebieten im Osten der
Elbe abgesehen. Hier, in Kursachsen nicht
minder als in den altpreussischen Gebietsteilen,
blieb die Geschlossenheit der Bauerngüter er-
halten. Denn die verhältnismässig milde grund-
herrliche Abhängigkeit des Bauernstandes ver-
schärfte sich hier gerade in der Zeit, wo sonst
die Teilungsbestrebungen hervortraten, so sehr,
dass ihm z. B. .in Preussen alle Verfügungs-
freiheit über sein Bauerngut entzogen wurde.
Es war daher für Staat und Grundherren leicht,
die Geschlossenheit unbedingt aufrecht zu er-
halten. An diesem Zustand hat auch die Auf-
hebung der Grundherrschaft nichts geändert.
Ja das Königreich Sachsen ist der einzige
grössere deutsche Staat, wo noch heute eine
Geschlossenheit der Bauerngüter kraft öffent-
lichen Rechts besteht Der Snfluss wirtschafts-
technischer Verhältnisse tritt hier völlig zurück
gegenüber den rechtlich-sozialen, die sich in
der Hauptsache aus der Struktur dieser Staaten
als Kolonisationsgebiete ergeben.
4. Sehluss. Dieser* kurze Ueberblick über
die Geschichte der deutschen Hofverfassung
zeigt deutlich, wie vielgestaltig die Ursachen
gewesen sind, die auf die Ausbildung der Ge-
schlossenheit oder Freiteilbarkeit der Bauern-
güter gewirkt haben. Die jeweils in einer
Gegend herrschende Verfassung der Bauerngüter
ist das Produkt der ganzen ländlichen Ver-
fassungsentwickelung, bei der rechtlich-soziale
Momente eine nicht geringere Bedeutung haben
Handwörterbnch der StaatswissenBchaften. Zweite Auflage. lY.
77
1218
Hof — Hofacker
als die betriebstechnischen Voraussetznngen der
Landwirtschaft. Der unbestreitbare Einfluss
rechtlich-sozialer Verhältnisse ergiebt sich deut-
lich aus folgender Ueberlegung. Die Haupt-
ursache aller Naturalteilung ist der Erhäng,
die Verteilung des Nachlasses eines Besitzers
unter die Kinder. Sehen wir von dem bald
ausser Uebung gekommenen Zustand der Haus-
gemeinschaft, des gemeinsamen Besitzes und der
gemeinsamen Wirtschaft ab, so ruft ein Erb-
gang regelmässig eine Teilung der Erbschafts-
masse hervor. Es besteht darüber auch kein
Zweifel, dass nicht etwa die Veräusserung von
einzelnen Bestandteilen des Hofes unter Lebenden,
sondern die Erbteilung die Hofverfassung zer-
stört. Das gleiche Erbrecht, mindestens der
Söhne, besteht nun in Deutschland seit den
ältesten Zeiten bei allen Stämmen und allen
Ständen, von den ganz rechtlosen Leibeigenen
abgesehen, die überhaupt nichts zu vererben
haben. Für die Frage der Naturalteilung des
Grundbesitzes muss es daher von der höchsten
Wichtigkeit sein, ob dieser ein Bestandteil des
frei zu vererbenden Nachlasses, des AUodial-
erbes ist oder nicht. Denn die Erben eines
Hofbesitzers können den Hof doch nur dann
teilen, wenn sie ein Eigentum oder ein eigen-
tumsgleiches Recht am Hofe haben. Von sQlen
betriebstechnischen Voraussetzungen abgesehen,
kann ein Pachthof von den Erben des rächters
einfach deshalb nicht geteilt werden, weil er
ihnen nicht gehört. Nun beruht aber das Recht
des Bauers an dem von ihm besessenen Gut
keineswegs auf betriebstechnischen, sondern auf
rechtlich-sozialen Voraussetzungen. Aus diesem
Umstand ergiebt sich als unabweisbar die An-
nahme, dass rechtlich-soziale Einflüsse für die
Gestaltung der Hofverfassung oder Teilbar-
keit mindestens dieselbe Bedeutung gehabt
haben wie die betriebstechnischen Voraus-
setzungen. Auch die Geschichte der Hofver-
fassung zeigt diesen doppelten Einfluss. Die
Naturalteilung ist nur möglich, wenn Hand in
Hand mit der intensiveren Kultur ein eigen-
tumsähuliches oder eigentumsgleiches Recht der
Bauemfamilie am Gut geht. Daher bleiben in
Gebieten vorrherrschender Naturalteilung die
durch strenge Grundherrschaft gebundenen Höfe
erhalten, und der ganze kolonisierte Osten hat
trotz stellenweiser sehr intensiver Kultur fast
durchgehends Geschlossenheit. Andererseits
dringt im Westen die Naturalteilung in Ge-
biete ein, wo eine Geschlossenheit zweckmässiger
wäre (Eifel, Eichsfeld, Rhön und Thüringer
Wald, Spessart, Westerwald). Im allgemeinen
aber gelingt es der Grundherrschaft und der
Staatsgewalt, die Geschlossenheit da zu erhalten,
wo die betriebstechnischen Voraussetzungen für
die Naturalteilung fehlen. Aber dies geschieht
nicht ohne dass ein Widerstand der bäuerlichen
Bevölkerung zu überwinden wäre ; an die Stelle
der faktischen üngeteiltheit tritt die Unteilbar-
keit kraft privaten oder öffentlichen Rechts-
satzes. Nachdem diese Geschlossenheit kraft
Rechtssatzes Jahrhunderte lang bestanden hat,
wird sie im 19. Jahrhundert als solche be-
seitigt. Aber sie erhält sich als Sitte überall
da, wo ihr Bestehen wirtschaftlich-technisch
notwendig oder auch nur zweckmässig ist.
Allerdings scheint sie in Gegenden, wo kleinere
Betriebseinheiten zwar weniger zweckmässig
als grössere doch immerhin möglich sind, vor
der Naturalteilung langsam zurückzuweichen.
Aber in ihren Hauptgebieten erhält sie sich,
weil sie, wenn auch durch Zwang entstanden,
den betriebstechnischen Interessen der bäuer-
lichen Bevölkerung auch heute noch am besten
entspricht.
Die Frage, ob die Hof Verfassung auf
rechtlich-sozialen oder wirtschaftlich-technischen
Voraussetzungen beruht, muss dahin beant-
wortet werden, dass die heute noch bestehende
Geschlossenheit der Bauerngüter aus dem Zu-
sammenwirken beider Momente hervorgegangen
ist, und dass zu ihrer Erhaltung ebenso sehr
die durch ehemaligen Zwang geschaffene Sitte
wie die betriebstechnische Zweckmässigkeit noch
heute beitragen. Wenn man heute wieder be-
strebt ist, die Hofverfassung da, wo man sie
für zweckmässig hält, durch rechtliche Anord-
nungen, besonders durch ein bäuerliches Erb-
recht zu erhalten und zu befestigen, giebt man
zu, dass sie durch solche rechtlich-soziale Ein-
wirkungen modifiziert werden kann, dass das
bestehende Erbrecht ihr schlimmster Feind ist
und dass nicht die Natur der Sache allein die
Hofverfassung geschaffen haben kann. Dass
sie da, wo sie noch heute besteht, durch solche
Institutionen gestützt und erhalten werden kann,
scheint mir zweifellos. Dagegen erscheint es
völlig aussichtslos, sie mit den solchen Ver-
hältnissen gegenüber geringen Machtmitteln des
heutigen Staates in Gegenden freier Teilbarkeit
wieder einführen zu wollen. Denn die ver-
einten Kräfte von Staat und Grundherren haben
sich in vergangenen Zeiten an dieser Aufgabe
vergebens versucht.
Lltteratur: Stüve, Wesen und Verfassung der
Landgeraeinden und des ländlicken GrundbesUzei
in Xiedersachsen und Westfalen, 1851. — 1», i%
Maurer f Geschichte der Fronhöfe, der Bauern-
höfe und der Hofverfassung in Deutschland,
4. Bde., 1862— 186S. — Die Vererbung des länd-
lichen Grundbesitzes im Königreich Preusseii.
Im Auftrage des Kgl. Ministeriums für Land-
wirtschaft, Domänen und Forsten, herausgegeben
von Prof Dr, Af. Sering, Berlin lS97ff.,
soweit erschienen. — Meitzen, Siedelung und
Agranvesen der Westgermanen und Ostgermanen
etc. , Berlin 1895, 3 Bde u. Attas. — Im übrigen
vgl. die Litteraturangaben unter den Artikeln An-
siedelung oben Bd. I S. S75, Bauer Bd. II S. Ü4^j
Bauerngui und Bauernstand (statistisch) ebd. S.
457158 und Grundbesitz oben Bd. IV !S. 822,23,
849 u. 859 ff.
W. Wittich.
Hofacker, Johann Daniel»
geb. zu Worms am 30. IX. 1788, wurde 1810
m Tübingen Doktor der Medizin, begab sich
später nach Wien und wurde 1813 Professor
der Tierheilkunde in Tübingen. Er starb da-
selbst am 30. IV. 1828.
Von seinen Schriften sind hier nur die
folgenden zu erwähnen:
Dissertatio de qualitatibus parentum in
sobolem transeuntibus , praesertim ratione rei
equariae. 1826. Diese Arbeit erschien deutsch
unter dem Titel : Ueber die Eigenschaften, welche
sich bei Menschen und Tieren von den Eltern
Hofacker— Höferecht
1219
auf die Nachkommen vererhen, mit besonderer
Köcksicht auf die Pferdezucht. Mit Beiträgen
von Fr. Notter. Tübingen 1828. — Schreiben
an den Herausgeber über die Bestimmung des
Geschlechts durch verschiedene Momente (in der
Salzburger med.-chirurg. Zeitung).
In diesen Publikationen vertrat Hofacker
die Hypothese, nach welcher die Altersver-
schiedenneiten der Eltern das Geschlechtsver-
hältnis der Geborenen beeinflussen, und zwar
derart, dass, wenn der Mann älter ist als die
Frau, mehr Knaben als Mädchen geboren wür-
den — und umgekehrt, dass dagegen bei gleich-
alterigen Gatten die Mädchen- die Xnaben-
geburten etwas überwögen. Diese Hypothese
oder vielmehr das Hofacker-Sadlersche Gesetz
ist insbesondere von Bemer (s. u.) aus der Ge-
burtenstatistik Norwegens iWr die Jahre
1871 bis 187Ö widerlegt worden, während die
gynäkologischen Beobachtungen, welche Schlech-
ter (s. u.) in ungarischen Gestüten angestellt,
mit den Behauptungen Hofackers betreffs der
Stutengeburten übereinstimmen.
Vgl. über Hofacker: Sadler, The law of
Population, London 1830. — H. BÄiier, üeber
die Ursachen der Geschlechtsbildung, Christiania
1883. — J. Schlechter, Die Trächtigkeit und
das Geschlechtsverhältnis bei Pferden, in Rev.
f. Tierheilkunde, Nr. 6-9, Wien 1882. — Lexis,
Geschlechtsverhältnis der Geborenen und Ge-
storbenen, in H. d. St. oben Bd. IV S. 177 ff. —
Artikel Hofacker in H. d. St. I. Aufl. Bd. IV
S. 4&3.
TAppert
Höfereclit.
1. Das H. von Hannover, Oldenburg, Bremen
und Herzogtum Lauenbnrg. 2. Das H. in den
übrigen Gebietsteilen, a. Die Landgüterord-
nungen für Schleswig-Holstein, Westfalen und
den Regierungbezirk Cassel. b. Die Bestrebun-
gen zur Reform des ländlichen Erbrechts in den
östlichen Provinzen. 3. Ergebnis.
Das >Höferecht«, »Landgiiterrecht« oder
»indirekte Anerbeurecht« (vgl. d. Art. An-
erbenre(»ht oben Bd. I S. 328 ff.) gehört zu-
nächst der Agrarverfassungdes noni westdeut-
schen Bauerngebietes an. In Oldenburg und
Hannover zu Anfang der 70er Jahre des 19.
Jahrhunderts entstanden, hat es rasch in den
meisten anderen Provinzen dieser Länder-
gruppe Platz gegriffen. Ausserdem hat man
ihm im östlichen Deutschland Eingang zu
verschaffen gesucht.
1. Das H. von Hannover, Oldenburg,
Bremen nnd Herzogtum Laaenbm*g. Im
grössten Teile der Provinz Hannover galt
bis zur Agrarreform von 1874 gesetzliches
Anerbenrecht sowohl für die einst zu grund-
herrlichen Abgaben verpflichteten Meier- und
eigenbehörigen Güter als auch für die von
J'eder Gnmdherrschaft seit alters freien
3auemliöfe. Die Ablösungsgesetze von 1831
und 1883 hatten im Gegensatz zu den ent-
sprechenden preussischen Cyesetzen das her-
gebrachte Erbrecht wie die privatrechtliche
Cxebundenheit der Bauernhöfe unverändert
gelassen und nur überall die für die sog.
Höfekontrakte erforderliche (Tenehmigiuig
der Grundherren durch die der Verwaltungs-
behörden ersetzt. Als die preüssische Re-
gierung im Jahre 1808 die längst vergeblich
erstrebte Reform dieses vielfach verwon'enen
und konti'oversenreichen Rechtszustandes in
Angriff nahm, wurde rasch ein allgemeines
Einverständnis darüber erzielt, dass die Ver-
waltmigskontrolle über die privatrechtlichen
Dispositionen der bäuerlichen Eigentümer zu
beseitigen, ihre volle Verfügimgsfreiheit an-
zuerkennen sei. Hingegen erhob sich ein
heftiger Widerstreit der Meinungen hinsicht-
lich der Regelung des Erbrechts.
Der hannoversche Provinziallandtag und
die landwirtschaftlichen Yei'tretungskörper
forderten die Beibehaltung des bäuerlichen
Intestatanerbenrechts in seinem bisherigen
Geltungsgebiet.
In einer fast einhellig imd unter Zu-
stimmung aller bäuerlichen Ab^ordneten
gefassten Resolution des Provinziallandtags
vom 6. Juli 1871 heisst es: »Stände be-
trachten es als ein notwendiges Korrelat zu
der von ihnen gewünschten völhgen Ver-
fügimgsfreiheit, dass für den Fall, dass der
bäuerliche Grundbesitzer nicht selbst aus-
drtlcklich anderweitig verfügt habe, alsdann
das Anerbenrecht, also die Vererbung des
ungeteilten Hofes auf einen diurch Gesetz
oder Herkommen berechtigten Anerben unter
Abfindung der übrigen Miterben beibehalten
imd, soweit notwendig, gesetzlich geregelt
werde. Es entspricht dies nicht bloss den
allgemeinen Wünschen des beteiligten Stan-
des und dem unverkennbaren Interesse der
Erhaltung eines tüchtigen Bauernstandes,
sondern auch denjenigen Priucipien, welche
bei dem Intestaterbrecht auf Geltung An-
sprach erheben dürfen. Hiemach soll das-
jenige als gesetzliche Regel festgestellt
werden, w^as um so mehr als der mutmass-
liche Wille des verstorbenen Hofbesitzers
bezeichnet werden darf, als diese Regel nicht
bloss dem bis dahin geltenden Recht, son-
dern auch der Sitte und Gewohnheit des
gesamten Grundbesitzerstandes entspricht,
also nur derjenige zu einer speciellen Ver-
fügung unter Lebenden oder von Todes wegen
einen besonderen Anlass findet, der etwas
von dem bisherigen Recht Abweichendes
bestimmen will.«
Diese Forderungen fanden die lebhafteste
Unterstützung der provinziellen Verwaltungs-
behönlen und vieler Hannoverschen Juristen.
Der Oberpi-äsident berichtete, die Beseiti-
gung das Anerbenrechts werde die unpopu-
ifärste Massregel sein, die sich denken lasse.
77*
1220
Höferecht
Trotzdem legte das preussische Justiz-
ministerium einen Gesetzentwurf vor, welcher
das gesamte bäuerliche Recht einschliesslich
des Erbrechts kurzerhand durch das gemeine
Recht ersetzte.
Die »Wissenschaft« spreche sich meist
gegen die Vererbung der Bauernhöfe auf
einen Erben und für die gleiche Berechti-
gung mehrerer Erben aus. In den älteren
preussischen Provinzen hätte sich die Zahl
der in gehörigem Zustand befindlichen Höfe
trotz der Geltung des gemeinen preussischen
Erbrechts nicht vermindert, imd der Bauern-
stand erfreue sich dort »mindestens« der
gleichen Kraft und Wohlhabenheit wie die
Bauern der Provinz Hannover. Die Sitte sei
mächtiger als jedes Gesetz und werde schon
für Erhaltung der Höfe in ordentlichem
Stande sorgen etc. Waren diese Einwände
leicht zu widerlegen, so liess sich die Triftig-
keit des für das gemeine Erbrecht geltend
gemacliten formalen Grundes nicht bestreiten,
dass nämlich die Feststellung des Geltungs-
bereiches eines besonderen bäuerlichen
Intestaterbrechts in unanfechtbarer Weise
nicht möglich sei, nachdem der Bauernstand
im Rechtssinne zu existieren aufgehört habe.
Hier schien in der That ein schwer lösbarer
Widerspruch des Anerbenrechts gegen die
Grundsätze der modernen Agrargesetzgebung
vorzuliegen ; auch der Landwirtschaftsminister
von Selchow, obwohl mit den Besti-ebungen
des Provinziallandtags an sich einverstanden,
erklärte, die Beibehaltung einer eigentlichen
bäuerlichen Intestaterbfolge sei »fast immög-
lich«. Die Kraft jenes Einwandes lag darin,
dass man in Hannover zu wenig anstrebte,
dass man sich auf die Erhaltung eines bäuer-
lichen Erbrechts beschränkte, statt die
Regelung des Intestaterbrechts für alle selb-
ständigen Landgüter zu fordern.
Zur Erhaltung einer singulär-bäuerlichen
Erbfolge gab es keinen anderen Ausweg als
die Katastrierung der beteiligten Landgüter.
Die Einrichtimg einer diesem Zwecke die-
nenden »Höferolle« war schon vor längerer
Zeit, z. B. in einem auf Veranlassung des
landwii'tschaftlichen Hauptvereins für den
Landdrosteibezirk Osnabrück i. J. 1853 aus-
gearbeiteten Gesetzentwurf empfohlen w^or-
den. Der Verein wiederholte seinen Vor-
schlag im September 1872. Die Rolle konnte
in einem doppelten Sinne eingerichtet
w^erden. Nach dem erwähnten Entwurf von
185.S sollten alle bisher nach bäuerlichem
Recht beurteilten oder künftig neu ent-
stehenden Besitzungen von Amts wegen zur
Eintragung kommen, die Eigentümer der
letzteren aber befliß sein, durch eine Er-
klänmg vor dem Amtsgericht das Anerben-
recht auszuscliliessen. Man konnte aber
auch umgekelu-t die Bauerngüter dem ge-
meinen Erblicht imterwerfen und es den
einzelnen bäuerlichen - Grundeigentümern
überlassen, ihre Höfe durch Eintragung der
Anwendung dieses Rechts zu entziehen und
dem neu formulierten Anerbenrecht zu unter-
stellen.
Die letztere Form bot der älteren Ver-
erbungssitte den denkbar schwächsten Halt
Aber gerade deshalb konnte man hoffen, mit
einem entsprechenden Vorschlage den Wider-
stand der J ustizverwaltung und der zu jener
Zeit herrschenden, jedem agrarischen Sonder-
recht feindlichen Anschauungen zu über-
winden. So kam der im Auftrag des Pro-
vinziallandtags ausgearbeitete imd i. J. 1873
mit allen gegen 2 Stimmen von ihm an-
genommene Gesetzentwurf betr. das Höfe-
recht in Hannover zu stände. Seinen be-
scheidenen Anfordenmgen setzte die Staats-
regierung angesichts der wachsenden Er-
regung der hannoverschen Bevölkerung keinen
principiellen Widei-stand entgegen. Der Ent-
wurf erlangte unterm 2. Juni 1874 Gesetzes-
kraft, nidKt ohne vorher noch einige weitere
Einschränkimgen seines ursprünglichen In-
halts durch Regierung und Abgeordneten-
haus erlitten zu haben.
Das genannte Gesetz unterwirft die
Bauernhöfe dem allgemeinen Erbrecht. Aber
jeder Eigentümer eines Hofes, für welchen
nach dem bisherigen bäuerlichen Recht das
Anerbenrecht galt, ist befugt, denselben in
die vom Amtsgerichte geführte Höferolle
eintragen zu lassen und ebenso wieder ziu*
Löschung zu bringen. Das eingetragene
Gut vererbt ex intestato nach Anerbenrecht,
d. h. geht ungeteilt nach einer bestimmten
Erbfolgeordnung auf einen bestimmten Erben
(m erster Linie den ältesten Sohn) über.
Die aus dem geltenden allgemeinen Erbrecht
hervorgehenden Ansprüche der Miterben
werden dadurch nicht ausgeschlossen. Aber
zur Vermeidung einer Schuldüberlastimg
greift folgender Erbteilungsmodus Platz:
Das Gut wu*d nicht nach Verkehrswert,
sondern nach dem zu 5^/o kapitalisierten,
bei ordnungsmässiger Wii-tschaft zu erzie-
lenden jährlichen Reinerti^ag unter Zurech-
nimg des Inventarverkaufswertes abgeschätzt.
Die Erbschaftsschulden werden zimäehst
vom Mobiliar- und weiterhin vom Immo-
biliarvermögen abgezogen, der Rest wird vom
Anerben übernommen. Von dem nunmehr
verbleibenden Hofwert erhält der Anerbe
ein Voraus von Vs, d. h. er hat -/» des Hof-
wertes nach Abzug der von ihm übernom-
menen Schulden in die Erbschaftsmasse
einzuschiessen, imd diese wird unter die
Miterben, einschliesslich des Anerben, zu
gleichen Quoten geteilt. Sind mehrere I^and-
güter in der Ei'bschaft, so finden diese Regeln
mit der Massgabe Anwendung, dass jeder Be-
rechtigte in der Reihenfolge seiner Berufung
nach Wahl ein Landgut übernehmen kann.
Höferecht
1221
Die Testierfreiheit des Erblassers wird
durch die Bestimmung erweitert, dass der
genannte Schätzimgsmodus auch bei Be-
rechnung der Pflichtteile der abgefundenen
Erben zur Anwendung kommt. Auch kann
der Erblasser durch Testament oder sonstige
Urkunde die Person des Anerben in einer
von der gesetzlichen Erbfolge abweichenden
Weise ebenso bestimmen wie den Wert, zu
welchem das Landgut bei der Erbteilung
angerechnet werden soll.
Das geltende eheliche Güterrecht wird
durch das Höfegesetz nicht berührt. Die
zum gütergemeinschaftlicben Vermögen der
Eheleute gehörigen Landgüter gelten zur
Vermeidung der KoDision zwischen den
Ansprüchen des überlebenden Ehegatten mit
denen des Anerben als vom Anerbenrecht
eximiert. Im übrigen ist bestimmt worden,
dass wegen Verletzung des Pflichtteils Ver-
fügimgen nicht angegriffen worden können,
durch welche dem leiblichen Vater des An-
erben lebenslänglich oder der leiblichen
Mutter bis ziu' Grossjährigkeit des Anerben
das Recht beigelegt wird, den Hof nach
dem Tode des &blassers zu benutzen und zu
verwalten unter der Verpflichtung, den An-
erben und dessen Miterben bis zur Auszah-
lung ihres Erbteils angemessen zu erziehen
und für den Notfall auf dem Hofe zu er-
halten.
Das hannoversche Höfegesetz bedeutete
einen Sieg des gemeinen über das bäuer-
hche Recht, des Juristen- über das Volks-
i-echt. Zwar erkennt es sowohl die gemein-
rechtliche als die ehemals landrechtliche
Intestaterbfolge nebeneinander an. Aber
niu* die erstere entspricht der Natur eines
wahren Litestaterbrechts, welches überall
Platz greift, wo eine besondere Verfügung
des Erblassers fehlt. Das Intestatanerben-
recht hingegen tritt nur kraft ausdrücklicher
Willenserklärung ein. Es ist gleichsam ein
Erbrecht zweiter Klasse, es erscheint als
ein nur vorläufig noch vom Gesetzgeber zu-
gelassenes Ausnahmerecht Seine Wirksam-
keit ist an eine lästige, den Gewohnheiten
der Bevölkerung fremde Voraussetzung ge-
bunden. Dabei wird der Nutzen der Ein-
ti-agimg im allgemeinen nur besonders vor-
sichtigen Wirten einleuchten. Denn die
Eintragung gewinnt wiederum nur für den
Fall praktische Bedeutung, dass andere
specielle Verfügungen über die Rechtsnach-
folge unterbleiben, während doch solche
specielle Verfügung in Form des Ueber-
gabevertrags oder Testaments von den aller-
meisten beabsichtigt wird.
Viele Kenner des Landes und seiner Be-
völkerung hielten daher das Höfegesetz für
eine sehr imvollkommene Lösung der Auf-
gabe, eine Rechtsgewohnheit zu erhalten,
die nach ihrer Meinung eine wesentliche
Gnmdlage des Wohlstandes und der glück-
lichen sozialen Verfassung in den betreffen-
den Gegenden bildete.
Es wai* nur einer lebhaften Agitation
und der besonders hohen Intelligenz der
hannoverschen Bauernschaft zu danken, dass
eine verhältnismässig grosse Zahl von Höfen
zur Eintragung gelangte. Die hannoverschen
Höfei-oUen verzeichneten jeweils am 31. De-
zember
1883 62 559 Höfe
1893 66 050 „
1899 71 346 „
Am 1. Juli 1875 waren 100109 Höfe
eintragungsfähig. Man kann also anneh-
men, dass etwa ^s aller fi'üher dem An-
erbenrecht unterworfenen Bauerngüter dem
schützenden Einflüsse jenes Intestaterbrechts
durch die Reform von 1874 entzogen wor-
den sind.
Der antiindi^^dualistische Umschwung,
der sich Ende der 70 er Jahre anbahnte,
führte zu einer wichtigen Abändenmg des
hannoverschen Höfegesetzes. Durch G. v. 24.
Februar 1880 und 20. Febniar 1884 wui-de
die Fälligkeit zur Eintragung in die Höfe-
roUe auf alle landwirtschaftlichen, mit einem
Wohnhause versehenen Besitzungen, ein-
schliesslich der Rittergüter, ausgedehnt.
Damit verliess man den streng historischen
Standpunkt, nahm dem Anerbenrecht den
Charakter eines singulären Bauernrechts und
erkannte es als einen lebendigen und wei-t-
vollen Bestandteil der Rechtsordnung an.
Gerade damit verlor aber auch die fakultative
HöferoDe ihren wichtigsten Existenzgnmd.
Seitdem es sich nicht mehr danim handelt,
das Anerbenrecht auf die einst dem Bauern-
recht unterworfenen Höfe zu beschränken,
entspricht dem legislatorischen Gedanken
des Höfegesetzes allein das direkte Intestat-
anerbenrecht für die selbständigen Stellen
derjenigen Landesteile, in denen die An-
erbensitte noch die herrschende ist und
eben damit ihre wirtschaftliche Notwendig-
keit bewiesen hat. Es würde das selbstver-
ständlich eine am t liehe Katastrienmg der
beteiligten Stellen nicht überflüssig machen.
Nach wie vor kommt übrigens auch bei
den eingetragenen Stellen die Intestaterb-
folge selten vor. Die Uebergabe des Hofes
an den Nachfolger findet regelmässig bei
Lebzeiten des Besitzers unter Vorbehalt des
Altenteils statt. Die Eintragung in die
Höferolle hat also agrarpolitisch ebenso wie
das direkte Intestatanerbenrecht lediglich
die Bedeutung, die zersetzenden Einflüsse
des gemeinen Erbrechts fernzuhalten, die
namentlich darin bestehen, dass allmählich
die VorsteUung um sich greift, als hätten
die 3kliterben einen gesetzlichen Anspruch auf
eine Quote am Verkaufs wert des Hofes,
XfcJaJkJ
Höferecht
die Eltern diesen Anfordenmgen nachgeben
und so die Höfe mit unerschwingüchen
Schulden belasten. —
Aus ähnlichen Motiven wie in Hannover
sind die dem dortigen Gesetz in den Grund-
zOgen entsprechenden Höfegesetze für das
Herzogtum Oldenburg (24. April 1873) ein-
schliesslich des Fürstentums Lübeck (10. Ja-
nuar 1879), das Landgebiet der Stadt Bremen
(14. Januar 1876 und 14. Mai 1890) und den
preussischen Kreis Herzogtum Lauenburg
(21. Februar 1881) zu stände gekommen.
In Oldenburg kann jede behauste Besitzung
ziu* »Gnmd erbstelle« gemacht werden, und
zwar dm'ch Erklärung zu Protokoll des Yer-
waltungsamtes. Das Voraus des Grunderben
beträgt 15 oder (in den Geestgemeinden)
40^/0 des schuldenfreien Wertes der Stelle.
Thatsächlich ist in den beteiligten Gegenden
die Mehrzahl der bisher dem Anerbenrecht
unterworfenen mittleren und grösseren
Stellen zm* Eintragung gelangt. Bis zum
Jahre 1874 waren 8781, bis 1880 8681 und
1890 9027 Höfe (das sind 26,7 «/o aller be-
hausten Stellen und 43,6 »/o ihrer Fläche,
in den Distrikten mit ehemals strengem
Grunderbrecht 42,4 ^/o der Stellen und
60,2 "/o der Fläche) als Grunderbstellen ein-
getragen worden, während es im ganzen
Herzogtum (1895) rund 12000 Betriebe von
mehr als 5 na und nnid 7000 Betriebe von
mehr als 10 ha landwirtschaftlich benutzter
Fläche giebt. Im Bremischen waren am 31.
Dezember 1892 von 670 eintragungsfähigen
Stellen (über 5 ha) 483, in Lauenbiu'g bis
Ende 1894 518 Höfe von (nach Miaskowski)
2743 eintragungsfälligen zur Eintragung ge-
kommen.
Die verhältnismässig günstigen Erfolge
der oldenburgischen Gesetzgebung sind zum
grossen Teil der Rührigkeit der dortigen
Verwaltimgsbehörden zu verdanken. Die
Grundbesitzer wurden im Verwaltungswege
auf das Inkraftti'eten des Gesetzes besonders
hingewiesen und ihnen zur Abgabe ihrer
Willenserklärung Veranlassung gegeben. In
Preussen hat erst im Jahre 1887 der Justiz-
minister die Amtsrichter angewiesen, bei
sich darbietender Gelegenheit (Grundbuchs-
regulierungen, Auflassungen etc.) auf die
Höfe- und Landgüterordnimgen aufmerksam
zu machen, wobei sie jedoch auf die freie
EntSchliessung der Beteihgten keine be-
stimmende Einwirkung üben sollten. Ebenso
wurde 1887 den Generalkommissionen und
ihren Beamten anempfohlen, die Landwirte
auf die Vorteile der Eintragung in die Höfe-
rollen hinzuweisen. Endlich ist diurch G. v.
11. Juli 1891 bestimmt worden, dass der
Antrag auf Eintragung in die Höferolle be-
züglich der einem Auseinandersetzungsver-
fahi-en unterliegenden Grundstücke und Be-
sitzungen auch bei der Generalkommission
oder deren Kommissar gestellt werden kann.
Es geschah dies mit Bücksicht darauf, dass
es kaum einen günstigeren Moment für die
Einti-agung giebt als den Abschluss eines
Verfahrens, welches die beteiligten Land-
güter erst zu wirtschaftlichen Einheiten
macht
2. Das H. in den übrigen Gebiets-
teilen, a) Die Landgru-terordnungen
für Schleswig-Holstein, Westfalen und
den Regierungsbezirk Cassel. In allen
bisher behandelten Grebieten haben die
Höfegesetze ein vorher giltiges bäuer-
liches Anerbenrecht in Zusammenbang mit
einer allgemeinen Reform des Agrarrechts
verdrängt, die Bauernhöfe dem allgemeinen
Erbrecht unterworfen, und gleichzeitig den
Eigentümern anheimgestellt, durch besondere
Verfügung ein neu formuliertes Intestatan-
erbenrecht für ihre Stellen aufrecht zu er-
halten.
Eine gunz andere Bedeutung besitzt die
Höfegesetzgebung für alle anderen Provin-
zen, in denen sie zur Geltung gekommen
ist. unter ihnen nimmt Schleswig-
Holstein eine Sondei^stellung ein. Im
grösseren Teile dieser Provinz gilt gesetz-
liches direktes Anerbenrecht. Die vom
Provinziallandtage gewünschte, unterm 2.
April 1886 erlassene »Landgüterordnungc
ist zwar ebenso wie das lauenburgische und
bremische Höfegesetz eine Nachbildung des
hannoverschen Gesetzes, hat aber das ältere
Erbrecht unberührt gelassen. Die Absicht
des Provinziallandtages war zunächst, jenes
vielfach unbestimmte und in seiner Anwen-
dung unsichere Anerbenrecht gleichmässig
zu ordnen. Dabei gab man der indirekten
Form des Anerbenrechts den Vorzug in der
weiteren Absicht, denjenigen Teilen der
Provinz, welche bisher kein Anerbenrecht
besassen, Gelegenheit zu dessen Anwendung
zu verschaffen. Nun hat aber der einzelne
unter dem Anerbeurecht lebende Besitzer
ein sehr geringes Interesse an dessen gleich-
massiger Ordnung, also auch keine Veran-
lassung ziU" Eintragung. Andererseits hatten
die Erfahrungen in den landrechtlichen Ge-
bieten von Hannover sowie in den Marsch-
distrikten Oldenburgs (die ein gesetzliches
Anerbenrecht von alters her nicht besitzen)
langst klargestellt, dass man ein neues, in
den Sitten nicht begründetes Erbrecht
keineswegs durch die Einrichtung eines ent-
sprechenden Aktenstückes beim Amtsgericht
zur Einbürgerung bringen kami. In der
einen wie in der anderen Richtung bewies
der Erfolg, wie wenig das gewählte Mittel
dem Zwecke entsprach. Bis Ende 1^^9
sind 31 Landgüter in den schleswig-hol-
steinischen LandgüteiTollen zur Aufnahme
gelangt I Es ist wesentlich dem Gutachten
des Kieler Oberlandesgeriehts zu verdanken
Höferecht
1223
gewesen, dass man nicht, wie in Hannover,
das bestehende Anerbenrecht — ganz gegen
die Absicht des Provinziallandtages — über-
haupt beseitigt hat. So ist nach wie vor
in Schleswig-Holstein die schon in dänischer
Zeit in Angriff genommene Aufgabe einer
Reform des geltenden direkten Anerbenrechts
unter Beschränkung auf sein bisheriges An-
wendungsgebiet zu lösen.
In den übrigen Provinzen, in die man
ein Höferecht neuerdings einzuführen ver-
sucht hat, ist die Vererbung seit längerer
Zeit ftir Stadt und Land gleichmässig im
römischrechtlichen Sinne geordnet. Aber
die Landbevölkenmg hat ihre alten Erb-
gewohnheiten im Widerspruch zu dem ge-
schriebenen Recht mit gi-össerer oder ge-
ringerer Kraft zu bewahren gewusst. Die
Landgüterordnuugen wollen dieser Sitte eine
gesetzliche Stütze geben. Wie indessen alle
Sachkenner vorausgesagt haben, hat die In-
stitution der fakultativen Landgüterrolle dieser
ihrer Aufgabe nicht zu genügen vermocht.
Da sich der Erlass der betreffenden Gesetze
nicht wie in den oben sub 1 besprochenen
Gebieten mit einer allgemeinen Neuregelung
des bäuerlichen Rechtszustandes verknüpfte,
sind sie sehr vielen Besitzern einfach un-
bekannt geblieben, imd die Güterrollen haben
eine um so geringere Bedeutung gewonnen,
als die romanistisch geschulten Richter der
obenerwähnten Anweisung des Justizministers
vielfach nicht nur nicht nachgekommen sind,
sondern den Bemühungen der Bauernvereine
etc. um die EintiBgung der Besitzungen
ihrer Mitglieder manchmal direkt entgegen-
geai'beitet haben.
In den zunächst zu behandelnden Ge-
bieten der westfälischen und hessischen
Landgüterordnungen waren zu Ende 1899
nicht mehr als 2529 bezw. 169 Höfe in der
Landgüterrolle verzeichnet. Noch geringer
sind die im Osten mit der gleichen Ein-
richtung erzielten Resultate. Es kann des-
halb auf eine nähere Darlegung des Inhalts
der betreffenden Gesetze verzichtet werden.
Wichtiger ist, die politische Bewegung zu
kennzeichnen, welche zu ihrem Erlass ge-
führt hat, weil sie nach wie vor mit unge-
schwäehter Kraft fortwirkt, wo sie nicht
das angestrebte Ziel, das direkte Anerben-
recht, wie in Westfalen inzwischen er-
reicht hat.
In We s t f a 1 e n machte sich am frühesten
die Opposition gegen das landrechtliche Erb-
recht geltend. Sie führte zum Erlass des
G. V. 13. Juli 1836 über die bäuerliche Erb-
folge in Westfalen. Darin wurde das In-
lestatanerbenrecht für die grosse Menge der
Bauerngüter sanktioniert. Aber viele Einzel-
bestimmnngen des Gesetzes (namentlich sein
Eingriff in das eheliche Güterrecht und die
den lokalen Yerechiedenheiten nicht ange-
passte Regelung der Erbfolgeordnung) wider-
sprachen so sehr den herrschenden Rechts-
anschauungen, dass das Gesetz gix)sse Un-
zufriedenheit hervorrief. Im Jahre 1848
wurde es ersatzlos aufgehoben. Es bedurfte
der Erfahrungen einer weiteren Generation,
um die Erbrechtsreform von neuem in Fluss
zu bringen. Man hatte beobachtet, dass sich
die alte Vererbungssitte langsam unter dem
Einflüsse des geschriebenen Rechtes lockerte,
dass die Verschuldung aus Erbgang in be-
denklicher Weise wuchs und die über-
schuldeten Güter parzelliert, namentlich
aber auch vom Grossgrundbesitz aufgekauft
wurden, um von diesem dann ebenfalls in
Parzellen zerschlagen und verpachtet zu
weixien. Im Jalire 1878 setzte der west-
fälische Bauernverein unter Führung des
Freiherrn von Schorlemer-Alst eine Kom-
mission zur Ausarbeitung eines Gesetzes
über die Vererbung von Landgütern ein.
Der später vom Provinziallandtage mit 43
gegen 15 Stimmen angenommene Schor-
lemei-sche Entwurf forderte bei Wahrung
der Dispositionsfreiheit des Eigentümers
direktes intestatanerbenrecht für alle selb-
ständigen Landgüter (d. h. für die Güter
von mindestens 75 Mark Grundsteuerrein-
erirag) nach einer den örtlichen Gewohn-
heiten angepassten Successionsordnung. Der
Entwurf fand eine auffallend günstige Auf-
nahme nicht nur in den nächstbeteiligten
Bevölkerungskreisen, sondern auch in der
Litteratur und Presse. So sehr hatten die
Verhandlungen über das hannoversche Höfe-
recht klärend gewirkt. Die Kritik richtete
sich hauptsächlich gegen einige keineswegs
integrierende Bestimmungen. Im Abgeord-
netenhause fand der Schorlemersche Ent-
wurf die Unterstützung von 176 namhaften
Vertretern aller Parteien mit Ausnahme der
Fortschrittspartei. Am 3. Dezember 1879
beschloss das Haus mit grosser Majorität:
» 1. Den Antrag Schorlemer-Alst der Staats-
regierung mit der Aufforderung zu über-
weisen, dem nächsten Landtage einen Ge-
setzentwurf nach Anhörung des Provinzial-
landtages vorzule^n, welcher die Vererbung
der Landgüter m der Provinz Westfalen
behufs deren Erhaltung im Sinne des
erw^ähnten Antrages regelt. 2. Die
königliche Staatsregierung zu ersuchen, auch
bezüglich der übrigen Provinzen, soweit für
sie das Bedürfnis nach Regelung der Erb-:
folge in den Bauernhöfen hervortritt, nach
Anhömng der Provinziallandtage Gesetzent-
würfe im gleichen Sinne wie der vorliegende
Antrag (Schorlemer-Alst) den beiden Häusern
des Landtages demnächst zur Beschluss-
fassung vorzulegen.«
Die Regierung erklärte, sie sei mit den
Tendenzen des Schorlemerschen Entwurfs
einverstanden, lehnte ihn aber trotzdem ab,
1224
Höfei-echt
weil sie glaubte, denselben in ausreichender
Weise durch die Einrichtung einer fakul-
tativen »LandgüterroUe« nach hannoverschem
Muster gerecht werden zu können. Den
Landtagen der Provinz wie der Monarchie
blieb keine andere Wahl, als, wenn sie über-
haupt etwas erreichen wollten, sich den
Wünschen der Regierung zu fügen. Die so
zu Stande gekommene westfälische Land-
güterordnung V. 30. April 1882, zugleich für
die Kreise Rees, Essen Stadt und Land,
Duisburg imd Mülheim a. d. Ruhr giltig,
sollte indessen nicht lange in Kraft bleiben.
Mit dem 1. Januar 1900 ist an ihre Stelle
das Gresetz betreffend das Anerbenrecht bei
Landgütern in der ProWnz Westfalen etc.
vom 2. Juli 1898 getreten. Dieses Gesetz
beseitigt das System der fakultativen Höfe-
rolle, unterwirft vielmehr alle diejenigen
ihrem Hauptzweck nach zum Betriebe der
Land- und Forstwirtschaft bestimmten, zu
selbständigen Nahrungsstellen geeigneten Be-
sitzungen direkt dem Intestatanerbenrecht,
welche mit einem Wohnhaus versehen sind
und deren Grundsteuerreinertrag wenigstens
60 Mark beträgt. Sie werden von Amts
wegen auf Antrag der landwirtschaftlichen
Verwaltung (Specialkommissar) im Grund-
buch als Anerbengüter vermerkt. Für die selb-
ständigen Güter von geringerem Reineitrag
erfolgt die Eintragung nur auf Antrag. Das-
selbe gut allgemein von denjenigen be-
schränkten Bezirken, für welche die vorher-
gegangene amtliche Erhebung eine Anerben-
sitte nicht oder nicht zweifelsfrei festgestellt
hatte. Die Anerbengutseigenschaft wird ge-
löscht, wenn die Besitzung die bezeichneten
Merkmale des selbständigen Landgutes ein-
gebüsst hat.
Das westfälische Anerbengesetz bildet,
den ersten grossen Erfolg der deutschen
Erbrechtsreformbeweguug , sein Zustande-
kommen ist hauptsächlich den Bemühungen
des westfälischen Bauernvereins und Pro-
vinziallandtages zu verdanken. —
Innerhalb des ehemaligen Kurhessen
hat man für die etwa 3000 Meiergüter der
Grafschaft Schaumburg (Kreis Rinteln) bei
Aufhebung des Güterschlusses (G. v. 21.
Februar 1870) ausdrücklich das alte An-
erbeurecht aufi'e(;ht erhalten. Dieser Kreis
scheidet daher bei den Fragen der neuer-
liehen Erbschaftsreform aus. In den ale-
mannischen Kreisen Hanau und Gelnhausen
tritt regelmässig ebenso Realteilung im Erb-
gange ein wie m den thüringischen Grenz-
l)ezirken am Meissner und im ehemaligen
hessisch-sächsischen Gau, dem Flussgebiet
der Diemel. Hingegen gliedert sich das rein
hessisclie (chattische) Gebiet nach seiner
sozialen Geschichte und Verfassung und
nach der Erbsitte seiner Landbevölkerung
den niedersächsisch-westfälischen Bezirken
an. Die ungeteilte Uebertragung der Bauern-
höfe durch Anschlagsverträge zum »ge-
schwisterlichen Wert« ist in allgemeiner
üebung geblieben. Aber auch hier trat mit
der bäuerlichen Ablösung und Aufhebung
des Güterschlusses das geltende (römische)
Recht in Gegensatz zur Erbsitte, eine im
anerbenrechtlichen Sinne gehaltene Bestim-
mung des Vormundschaftsrechts für Alt^
hessen von 1786 wiuxie nach der herrschen-
den Annahme durch die preussische Vor-
mundschaftsordnung von 1875 hinfällig.
Als nun die Staatsregierung aus Anlass
der oben mitgeteilten Resolution des Ab-
geordnetenhauses dem hessischen Kommunal -
landtage die Frage nach dem Bedürfnis einer
Reform des ländlichen Erbrechts stellte, be-
jahte er sie fast einstimmig — unter Zu-
stimmung sämtlicher Vertreter des bäuer-
lichen Grundbesitzes — für Althessea imd
das Gebiet des Fuldaischen Rechts und ent-
warf die Grundzüge für ein den dortigen
Gewohnheiten angepasstes direktes Anerben-
recht.
Auch die Staatsregierung erkannte in
üebereinstimmung mit dem Oberlandesge-
richt und dem Oberpi'äsidenten die Lücken-
haftigkeit und Reformbedürftigkeit des gel-
tenden Erbrechts an, hielt aber wie in allen
früheren Fällen an der Einrichtung der
fakultativen Landgüterrolle fest. Der Pro-
vinziallandtag acceptierte sie schliesslich
mit grosser Majorität. In dem Berieht
seines Ausschusses zur Begutachtung des
Regierungsentwiu'fes heisst es: Die Regie-
rungsvorlage liat den Entwurf des hessischen
Kommunallandtags abgeschwächt Viele sach-
verständige Mitglieder sind der Ansicht, dass
das Gesetz, wenn man dasselbe in seiner
Anwendbarkeit in jedem einzelnen Fall von
der Eintragung in die Höferolle abhängig
machen wolle, ein totgeborenes Kind bleibien
werde. Zur Eintragung würden sich voraus-
sichtlich nur verhältnismässig wenige intelli-
gente und sorgsame Besitzer entschliessen.
Daher sprach sich zunächst die Mehrheit
des Ausschusses gegen die Vorlage aus und
erachtete eine vollständige Gmarbeitung des
Entwurfs unter Ausmerzung der Höferolle
für nötig. Bei weiterer Beratung wurde
jedoch darauf hingewiesen, dass sämtliche
neue Landgüterordnungen bisher nach dem
Svstem der Höferolle erlassen worden wären
und bei der bestimmten und klaren
Stellung, welche die Königliche
Staatsregierung nach den Motiven der
Vorlage auch für den diesseitigen Regienmgs-
bezii'k zu der Frage genommen habe, die
Aussicht auf das Zustandekommen
des Gesetzes bei Abhandeosein
der Höferolle niu* eine sehr geringe sein
werde.
So wurde der Entwurf angenommen mid
Höferecht
1225
gleichzeitig empfohlen, seine Wirksamkeit
indirekt durch Kostenfreiheit der Anträge
binnen bestimmter Frist und durch die Vor-
schrift zu fördern, dass die Amtsrichter von
Amts wegen mit den Eigentümern wegen
Eintragung verhandeln sollten. Der Erfolg
dieser Anregung war die oben erwähnte
Anweisung des Justizministers.
Als eine Eigentümlichkeit des imterm
1. Juli 1887 sanktionierten hessischen Ge-
setzes ist hervorzuheben, dass es keine feste
bfuccessionsordnung aufstellt. Die freie Be-
stimmung des Anerben entspricht der
hessischen Sitte. In engem Anschluss an
den älteren Rechtszustand schreibt die
hessische Landgüterordnimg vor, dass, wenn
die Person, welche zur üebemahme des
Landgutes berechtigt sein soll, nicht durch
den Eigentümer letztwillig bestimmt ist,
und mangels einer Vereinbarung der Be-
teiligten, ein Familienrat unter Vorsitz des
Amtsrichlei-s die Person des Gutsübemeh-
mers wie auch die Bedingiingen der Ueber-
nahme festsetzen soll. Dabei soU die dauernde
Erhaltung des Gutes in der Hand eines
Familiengliedes den ausschlaggebenden Ge-
sichtspunkt bilden und soweit, als es dies
Interesse fordert, der Gutsübernehmer vor
seinen Miterben bevorzugt werden. Der
Wert des Landgutes ist jedoch nicht unter
dem 25 fachen und nicht über dem 45 fachen
Grundsteuen-eineiirag festzusetzen. Der
innerhalb dieser Grenzen auf Antrag er-
mittelte Wert ist auch für die Berechnung
der Pf lichtteile entscheidend. Unter mehreren
geeigneten Intestaterben hat der Familien-
rat dem männlichen Geschlecht vor dem
w^eiblichen und eventuell dem älteren vor
dem jüngeren Erben den Vorzug zu geben.
Die Bestimmung des Gutsübernehmers durch
den Familienrat unterbleibt, wenn das Land-
gut wegen hoher Verschiddung oder sonstiger
Gründe in der Familie nicht erhalten werden
kann oder wenn kein Nachkomme des Eigen-
tümers unter den vom Familienrat festge-
setzten Bedingimgen das Ijandgut über-
nehmen wilL
b) Die Bestrebungen zur Reform
des ländliohen Erbrechts in den öst-
lichen ProviQzen. Die von Hannover
und Westfalen ausgegangene Keformbewe-
gung hat in den östGchen Provinzen, ent-
sprechend ihren sozialen und kulturellen Be-
sonderheiten, im ganzen einen anderen Ver-
lauf genommen als in den bisher behandelten
Gebieten und, soweit sie zu einer legis-
latorisdien Aktion führte, wesentlich anclere
Wirkungen gezeitigt.
Von allen östlichen Provinzen, zu denen
wir wegen seiner Besitzveileilung auch
Sachsen rechnen, haben nur drei zu der
vom Abgeordnetenhause gegebenen Anregung
eine mehr oder weniger günstige Stellung
genommen , bezeichnenderweise diejenigen,
in denen der Bauernstand sich historisch
ijach Besitzrecht und persönlicher Rechts-
stellung am meisten dem aristokratischen
Typus der nordwestdeutschen Bauern an-
nähert und verhältnismässig am stärksten
(mit ca. ^/s bezw. ^.a der landwirtschaftlich
benutzten Fläche) vertreten ist, nämlich
Brandenburg, Schlesien und Sachsen. Aber
nur in Brandenburg hat jene Bewegung
eine Stärke gewonnen, welche an die
hannoverschen, w^estfälischen und hessischen
Vorgänge erinnert.
Längst hatte man in Brandenburg die
Abänderung des geltenden Erbrechts von
fielen Seiten gefordert. Als daher auf Ver-
anlassung des Abgeordnetenhauses die Au-
frage wegen Reformbedürftigkeit des Erb-
rechts gestellt wurde, bejahte sie der branden-
burgische Provinziallatidtag (16. März 1880)
mit grosser Majorität unter Zustimmung
seiner bäuerlichen Mitglieder, erklärte sich
gegen das Princip der Höferolle und erteilte
März 1881 einem vom Landesdirektor von
Levetzow ausgearbeiteten Entwurf mit 58
gegen 6 Stimmen seine Zustimmung. Der-
selbe enthielt die Grundsätze eines der vor-
herrschenden Vererbungssitte entsprechen-
den Intestatanerbeni*echts und erweiterte die
Testierfreiheit.
Obwohl auch der Oberpräsident und die
beiden Regierungspräsidenten der Provinz
dem LevetzowBchen Entwurf gutachtlich bei-
traten — von Seiten der Gerichte war frei-
lich die Bedürfnisfrage überwiegend ver-
neint worden — brachte die Staatsregierung,
ohne mit dem Provinziallandtage in wieder-
holte Verhandlungen zu treten, einen Land-
güterrollen-Gesetzeatwurf für Brandenburg
vor den Landtag der Monarchie. Das Herren-
haus lehnte diesen Entwurf zunächst ab und
erklärte sich für den Levetzowschen Ent-
wurf. Ebenso in der ersten Lesung die
Kommission des Abgeordnetenhauses. Eret
als die Regierung diese Beschlüsse für un-
annehmbar erklärte, gab die Volksvertretung
nach, und so kam die brandenburgische
Landgüterordnung vom 10. Juli 1883 zu
Stande.
Ihr Erfolg entsprach genau den Vorher-
sagungen des Berichterstatters der Herren-
hauskommission von Winterfeld : Nur Gross-
grundbesitzer würden sich zur Eintragung
entschüessen. Der Kleinbesitzer scheue die
Reise zum Richter, solche Reise würde von
Monat zu Monat verschoben; er werde sich
von dem Gefühl beherrschen lassen, dass er
sich durch die Eintragimg einem Zwange
unterwerfe und in seiner VerfO^ungsfreüieit
beschränke. Diese Annahme sei zwar unbe-
gründet, es lasse sich aber schwer gegen
solche Vorurteile ankämpfen. Zu Ende 1889
waren in die brandenburgischen Landgüter-
1226
Höferecht
rollen 72 (1899 79) Güter eingetragen, da-
runter 26 Eittergüter.
Ganz denselben Erfolg hat die auf Wunsch
des Provinziallandtags unterm 24. April 1884
erlassene Landgüterordnung für Schlesien
gehabt. Ende 1893 waren dort 44 (1899 54)
Landgüter eingetragen, darunter 2' Herr-
schaften, 31 Rittergüter, 1 Vorwerk und 10
Bauernwirtschaften ! So hat das dem nieder-
sächsischen Bauernrecht entstammende Höfe-
recht im Osten wesentlich nur dazu gedient,
einer Anzahl grosser Güter einen gewissen
Ersatz für die aufgehobene Lehnserbfolge
zu verschaffen.
Man kann nicht bedauern, dass die Re-
gierung dem mit geringer Majorität vom
Provinziallandtag für Sachsen ausgespro-
chenen Wmisch nach einer Landgüterord-
nung keine Folge gegeben hat.
AUe anderen Proviuziallandtage des
Ostens haben die Frage nach dem Bedürf-
nis einer Erbrechtsform verneint. Namentlich
verhielten sich die Bauern durchaus ableh-
nend. Viele von ihnen haben ei-st durch
die Bauernbefreiimg, die hier wirklich eine
solche war, ein festes Besitzrecht an ihren
Höfen erworben, und so fehlt ihnen jene
gefestigte Tradition, welche sich in Hannover
und Westfalen zu einem agi-arischen Sonder-
recht auszugestalten vennochte. Die Er-
innerung an die alten Zustände der Guts-
imterthänigkeit machte jedes Rütteln an den
Enningenschaften der liberalen Periode als
gegen die bäuerliche Freiheit gerichtet, ver-
dächtig. Nicht selten — so auch in Sachsen
— beeinflusste unmittelbar der Gegensatz
zum Grossgrundbesitz die Abstimmung, weil
es vorxWegend Vertreter des letzteren waren,
die in den Pro\iuziaDandtagen für die Re-
form eintraten. Die Bauern stimmten mit
den städtischen Abgeordneten. Vielfach
wirkte das Miss Verständnis ein, als sollte
der den Provinziallandtagen zur Kenntnis-
nahme mitgeteilte Schorlemersche Gesetz-
entwm'f mit seiner festen Successionsordnung,
seinen das Eherecht berührenden Bestim-
mungen etc. auf die östlichen Provinzen
übertragen werden.
3. Ergebnis. Die moderne Erbrechts-
i-eformbewegiuig ist von denjenigen nord-
deutschen Gebieten ausgegangen, welche
einen altfreien besonders wohlhabenden,
kräftigen und intelligenten Bauernstand be-
sitzen . Ihre Ideeen haben rasch auch ausser-
halb ihrer engeren Heimat zahlreiche An-
hänger unter der Ijandbevölkenmg und
unter denjenigen Politikern gefunden, welche
in dem Gedeihen der ländlichen Mittelklasse
eine Grundbedingung der öffentlichen Wolü-
fahrt erblicken. Hingegen brachte die
Bauernschaft in den eigentlichen Grossgüter-
distrikten den Reformgedanken ebensowenig
Verständnis entgegen wie in den von vorn
herein ausser Betracht bleibenden Distrikten
mit vorherrschendem Parzellenbesitz. Im
übrigen verhinderten den vollständigen Sieg
jener Bestrebungen zunächst die von den
städtisch-gebildeten Kreisen getragenen Tra-
ditionen des wirtschaftlichen Liberalismus,
der die Parlamente bis Ende der 70 er Jahre
beherrschte. Seitdem konnte die öffentliche
Meinung für gewonnen gelten, und die
preussische Volksvertretung trat mit Nach-
druck für die Reform des ländlichen Erb-
rechts im Sinne der nächstbeteiligten Volks-
klassen und Landesteile ein. Nunmehr war
es die Staatsregienmg , die diesen Bestre-
bungen den Weg verlegte. Sie stand dabei
mehr unter dem Einfluss allgemeiner juris-
tischer NiveDierungstendenzen als lebendiger
sozialer und politischer Ideeen. In den Mo-
tiven zu den verschiedenen Landgüterord-
nungen sucht man vergeblich nach einer
principieUen Rechtfertigung der gemeinrecht-
lichen Vererbungsgrundsätze. Im Gegenteil
wird dort die soziale Notwendigkeit der davon
abweichenden Vererbungssitten rückhaltlos
anerkannt. Aber man unterliess es, dieser
Sitte einen ausreichenden gesetzlichen Halt
zu geben, weil das erstrebte direkte An-
erbenrecht aUerdings nicht ohne formale
Schwierigkeiten der gemeinrechtlichen Schab-
lone anzupassen, dem aus städtischen Be-
dürfnissen erwachsenen Privatrecht einzu-
fügen war. So kam eine Gesetzgebung zu
Stande, welche den Stempel eines schwäch-
lichen Kompromisses trug und dement-
sprechend dürftige Wirkungen gehabt hat.
Das Intestaterbrecht soll dem mutmasslichen
Willen des Erblassers, der herrschenden
Vererbungssitte entsprechen — vorausgesetzt
dass der Gesetzgeber sie als heilsam aner-
kennt Nach der in den hier betrachteten
Gegenden herrschenden und thatsäclilich von
den gesetzgebenden Faktoren gebilligten
Sitte, nach den wirtschaftlichen Bedürfnissen
ist als WiUe des Erblassers zu präsumieren,
dass einer der Erben das Gut, und zwar
unter Bedingungen übernehme, die mit einer
ordentlichen Fortwirtschaft vereinbar sind.
Das Gesetz aber stellt nach wie vor den
Grundsatz auf, dass, wenn der Besitzer oder
sein Vorgänger keine Verfügimg getroffen
hat, Realteilung oder Veräussenmg, eventuell
üebernahme nach dem Verkaufewert und
damit Schuldüberlastimg als seinem Willen
entsprechend anzusehen seL
Nachdem die Höfegesetzgebung sich als
durchaus ungeeignet erwiesen hat, um den
vom Gesetzgeber angestrebten Aufgaben zu
genügen und in Westfalen bereits dem
direkten Anerbenrecht gewichen ist, kann
es nicht ausbleiben, dass sie auch auder^
wärts durch eine den Wünschen der betei-
ligten Bevölkerungen und dem öffentlichen
Höferecht — Hoffmann
1227
Interesse entsprechende Gesetzgebung ereetzt
wh-d.
Quellen und Litteratnr: I>ie vorstehende Dar-
stellung beruht auf einer Durchsicht derpreussischen
M in iMe riaiahten, deren wesentlicher Inhalt übrigens
auch in den Motiven zu den verschiedenen Höfe'
gesctzen und Landgüterordnungen wiedergegeben
iiit. Für die Litteratur vgl. die Artikel über
Anrrbenrecht oben Bd. I S, SS9 und S4I ; ins-
besimdere : Die Vererbung des ländlichen Grund-
besitzes im Königreich Prenssen, ?. A. des kgl.
Min. f. Landw., herausgegeben von M. Sering :
Bd. IV, Holzapfel f Oberlandesgerichtsbezirk
Cas.itfl, S. 70 ff. — Bd. V, L. Graf v. Spee,
Oberlandesgerichtsbezirk Hamm, S. 167 ff. —
Bd. VI, Ft\ Grosstnann, Provinz Hannover,
*y. T^iff.
M. Serltig,
Höferollen
s. Anerbenrecht oben Bd. I S. 328ff.
Hoffmann, Johann Gottfried,
geb. ftm 13. VH. 1765 in Breslau, gest. am
12. XI. 1&47 in Berlin als Mitglied der Berliner
Akademie der Wissenschaften und der Acad^mie
des Sciences morales et politiques, studierte in
Halle und Leipzig, wurde 1807 ordentlicher
Professor der Philosophie und Kam eral Wissen-
schaften an der Universität Königsberg, 1808
Staatsrat und 1810 Direktor des reorganisierten
königlich preussischen statistischen Bureaus in
Berlin. 1821 nahm er seine 1811 begonnenen
und 1816 eingestellten Vorlesungen über Ka-
meralia und Statistik an der Berliner Universi-
tät wieder auf, entsagte im November 1834 der
ferneren Ausübung seiner akademischen Lehr-
thätigkeit und le^e 1844 auch das Direktoriat
des königl. statistischen Bureaus nieder.
Hoifraann war Freihändler und wirkte, als
Mitglied der unter Hardenbergs Vorsitz 1811
gebildeten Immediatfinanzkommission und Kor-
referent fUr das neue preussische Finanzgesetz,
mit seinen wirtschaftspolitischen Gesinnungs-
genossen in der Kommission, Kunth und Maassen,
unter Einsetzung seines ganzen Einflusses auf
den Staatskanzler, für das Zustandekommen des
neuen preussischen freihändlerischen Zoll- und
Steuergesetzes v. 26. Mai 1818. Hoiftnann war
fem er, ihrer münz technischen Vorzüge wegen,
einer der ersten Verfechter der Goldwährunio: in
Deutschland, agitierte, wegen ungleichmässiger
Verteilung der Steuerlast, für Aufhebung der
Grundsteuer, identifizierte die Bodenrente mit
der Kapitalrente und definierte die Grundrente
als einen praenumerando gezahlten Lohn freier
Dienste, was Röscher als einen „für die poli-
tische Praxis durchaus zweischneidigen Lehr-
satz ** erklärt. Als erster Direktor des reorgani-
sierten königl. preussischen statistischen Bureaus
ffilt Hoffmann als der eigentliche Begründer
der amtlichen preussischen Statistik.
Hoffmann veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften a) in Buchform:
Das Interesse des Menschen und Bürgers
bei den bestehenden Zunftverfassungen, Königs-
berg 1803. — Prenssen und Sachsen, November
1814, Berlin (1815). — Uebersicht der Boden-
fiäche und Bevölkerung des preussischen Staates,
Berlin 1818; dasselbe, 2. Abdruck, 1819. — Bei-
träge zur Statistik des preussischen Staates,
ebd. 1821. — Nachricht von dem Zweck und
der Anordnung der Vorträge des Dr. J. G. Hoff-
mann, ebd. 1^3. — Die Wirkungen der asia-
tischen Cholera im preussischen Staate während
des Jahres 1831, ebd. 1833. — Neueste Ueber-
sicht der Bodenfläche, der Bevölkerung und des
Viehstandes der einzelnen Kreise des preussi-
schen Staates, ebd. 1833. — Ueber die Besorg-
nisse, welche die Zunahme der Bevölkerung er-
regt, ebd. 183Ö. — Ueber die wahre Natur und
Bestimmung der Renten aus Boden- und Kapital-
eigentum, ebd. 1837. — Die Lehre vom Gel de,
als Anleitung zu gründlichen Urteilen über das
Geldwesen ; mit besonderer Bezugnahme auf den
preussischen Staat, ebd. 1838. — Die Bevölke-
rung des preussischen Staates nach den Ergeb-
nissen der zu Ende des Jahres 1837 amtlich
aufgenommenen Nachrichten, in Staats wissen-
schaftlicher, gewerblicher und sittlicher Be-
ziehung, ebd. 1839. — Die Lehre von den
Steuern, als Anleitung zu gründlichen Urteilen
über das Steuerwesen, mit besonderer Bezug-
nahme auf den preussischen Staat, ebd. 1840.
— Die Zeichen der Zeit im deutschen Münz-
wesen, als Zugabe zu der Lehre vom Gelde,
ebd. 1841. — Die Befugnisse zum Gewerbe-
betriebe, zur Berichtigung der Urteile über Ge-
werbefreiheit und Gewerbezwang, mit besonderer
Rücksicht auf den preussischen Staat, ebd. 1841.
— Das Verhältnis der Staatsgewalt zu den Vor-
stellungen ihrer Untergebenen, ebd. 1842. —
Zur Judenfrage. Statistische Erörterung über
Anzahl und Verteilimg der Juden im preussi-
schen Staate, nach einer Vergleichung der
Zählungen zu Ende der Jahre 1840 und 1822,
ebd. 1^2; dasselbe in englischer üebersetzung
in „Journal of the Statistical Society", Bd. IX,
London 1846, S. 77 ff. — Darstellung der Be-
völkerungs-, Geburts-, Ehe- und Sterblichkeits-
verhältnisse, welche in dem preussischen Staate
in den 15 Jahren 1820 bis mit 1834 bestanden
etc., Berlin 1843. — Uebersicht der Geburten^
neuen Ehen und Todesfälle in den Jahren 1816
bis mit 1841. Nach den für die Stadt Berlin
amtlich aufgenommenen Tabellen etc., ebd. 1843.
— Sammlung kleiner Schriften staatswissen-
schaftlichen Inhalts, ebd. 1843. (Inhaltsauszug :
Ueber die Versuche, die mittlere Dauer des
menschlichen Lebens sowohl von der Geburt als
vom Eintritt in besondere Altersstufen ab zu
berechnen.) — Betrachtungen über die gegen-
wärtige Lage des höheren Schulunterrichts und
die iBttel, denselben für die Wissenschaft und
das Leben fruchtbarer zu machen. — Betrach-
tungen über das Verhältnis der Univeraitäten
zu den Anforderungen an die Wissenschaft und
das Leben etc. — Betrachtungen über den Zu-
stand der Juden im preussischen Staate. • ^Hoff-
maun erklärt das grössere Verhältnis jüdischer
Knabengeburten dadurch, dass bei den Juden
weniger Kinder durch ausserehelichen Beischlaf
erzeugt werden als bei den Christen.) —
Nachlass kleiner Schriften Staats wissenschaft-
lichen Inhalts, ebd. 1847. (Inhaltsauszug: Be-
trachtungen über das Andnngen auf erhöhten
1228
Hoffraann — Holzschuher
Schutz der Gewerbsamkeit im deutschen Zoll-
verein gegen fremde Mitbewerbung. — Versuch
einer allgemeinen Uebersicht der staatswirt-
schaftlichen und sittlichen Wirkungen der Spinn-
maschinen im Bereiche des deutschen Zollvereins.
— Ueber die mittlere Dauer des menschlichen
Lebens im preussischen Staate etc. — Ceber
den Begriff von direkten und indirekten Steuern.
— Ueber staatswirtschaftliche Versuche, den
ganzen Bedarf für den Öffentlichen Aufwand
durch eine einzige einfache Steuer aufzubringen.
— Bemerkungen über den Einfluss der Salz-
steuer auf den Zustand der Arbeiterfamilien.
— Erläuterung der Frage: Was ist Geld? —
Beitrag zur Begründung von Urteilen über die
neuesten Veränderungen im preussischen Münz-
wesen)
b) in Zeitschriften: 1. Im preussischen
Archiv, Jahrgg. 1789—91 (anonym); 2. in den
Annalen des Königreichs Preussen, Jahrgg.
1792 — 93, Königsberg; 3. in der preussischen
Staatszeitung, Jahrgg. 1819 — 1843, inges-
samt lö5 von ihm gezeichnete Artikel; 4. in
der medizinischen Zeitschrift, herausgeg. vom
Verein für Heilkunde in Preussen, Jahrgg.
1835 — 43, meist bevölkerungs wissenschaftlichen
Inhalts; 5. in den Abhandlungen der philo-
sophisch-historischen Klasse der Berliner Aka-
demie der \^'i8senschaften, Jahrgg. 1835 - 43 etc.
Vgl. über Hoffmann: Anmerkungen zu
der Schrift: Preussen und Sachsen. Von einem
Sachsen, o. 0. 1815. — Akten des Wiener Kon-
gresses, herausgeg. von Kl üb er, Bd. V, Er-
langen 1833, S. 8— 12() (enthält Mitteilungen
über die diplomatische Thätigkeit Hoffmanns
während des Kongresses, welchem er als Geh.
Legationsrat beiwohnte). — Gerber, Ueber
Statistik und statistische Behörden, Marburg
1842, S. 7. — K. G. Nowack, Schlesisches
Schriftstellerlexikon, Heft 6, Breslau 1843. —
Fallati, Einleitung in die Wissenschaft der
Statistik, Tübingen 1843, S. 166, 169. — G.
Haussen, Das statistische Bureau der preussi-
schen Monarchie unter Hoffmann und Dieterici,
in „Archiv der politischen Oekonoraie" etc.,
Heidelberg 1846, S. 332 ff. — Kaut z, Theorie
und Geschichte der Xationalökouomik, Bd. II,
Wien 1860, S. 644 45. — Engel, Zur Geschichte
des königl. preussischen statistischen Bureaus,
in ,.Zeitschrift des königl. preuss. statistischen
Bureaus", Jahrg. I, Berlin 1860/61, S. 8 ff. —
H. Wagener, Staats- und Gesellschaftslexikon,
Bd. IX, Berlin 1862, S. 499 ff. — Boeckh,
Die geschichtliche Eutwickelnng der amtlichen
Statistik des preussischen Staates, ebd. 1863,
S. 28 ff. — Röscher, Ge^sch. d. Nat., München
1874, S. 732,43. — Allgemeine deutsche Bio-
graphie, Bd. Xir, Leipzig 1880, S. 598 ff. —
John, Geschichte der Statistik, Bd. I, Stutt-
gart 1884, S. 142, 148, 151. — Walcker, Ge-
schichte der Nationalökonomie, Leipzig 1884,
S. 125,26. — Bleuck, Das königl. statistische
Bureau in Berlin beim Eintritte in sein neuntes
Jahrzehnt, Berlin 1885, S. 5ff. — A. Meitzen,
Geschichte, Theorie und Technik der Statistik,
ebd. 1886, S. 29, 37. — Nouveau dictionnaire
d'economie politicjue, Bd. I, Paris 1891, S. 113031.
Lippert.
Holzschuher, Berthold,
geb. gegen 1510 in Nürnberg, entstammte einem
alten dortigen Patriciergeschlecht, dessen An-
sehen er die Nürnberger Bürgermeisterwürde
verdankte, welche er 1551 bekleidete, aber schon
1552, infolge Misshelligkeiten mit den „Rats-
mannen'^ Nürnbergs, wieder verlor. Er starb am
15. I. 1582 in seiner Vaterstadt.
Holzschuher war berufen, den Namen der
berühmten Männer, auf welche das alte Nürn-
berg so stolz ist, den seinigen hinzuzufügen,
wenn nicht der Mangel an Fassungsvermögen
bei seinen Zeitgenossen für den wirtschaftlichen
Wert der grossen Idee, welche er ihnen zur
Verwirklichung vorlegte, die Ausführung seines
sozialen Keformprojektes vereitelt hätte. Holz-
schuhers Finanzplan baute sich aus einer obli-
gatorischen Aussteuerversicherung auf. indem
er angeordnet haben wollte, dass Eltern oder
Paten bei jeder Geburt eines Kindes eine
Leistung von mindestens einem Thaler an die
Ortsobrigkeit entrichten sollten. Die am Leben
bleibenden Kinder sollten das aus diesen Ein-
zahlungen mit Zins und Zinseszins angesammelte
Kapital bei ihrer Majorennität bezw. Verhei-
ratung ausgezahlt erhalten, die Leistungen für
die Gestorbenen dagegen nebst den angesam-
melten Zinsen der Ortsobrigkeit anheim fallen.
Wie bedeutend das aus dieser Sterblichkeit zu
wohlthfttigen Zwecken, zur Verbesserung der
Schulen etc. den Gemeinden zugedachte Kanital
war, berechnet sich nach dem nohen Sterblich-
keitsüberschuss in den jüngsten Altersklassen,
den Holzschuher bis zum 25. Lebensjahre auf
57% aller Geburten — und zwar annähernd
richtig — veranschlagte. Holzschuher legte
seinen sozialen Reform plan, mit einem Schema
der über jede Neugeburt und jeden Todesfall
zu führenden Kon trolllisten, 156o zunächst den
kaiserlichen Reichs- und Hansestädten zur An-
nahme vor — im Hamburger und Lübecker Stadt-
archiv werden die bezüglichen Urkunden noch auf-
bewahrt — nachher verschiedenen anderen Vor-
ständen grössererStadtgemeinden.und die Autwort
auf seine Vorlagen bestand in deren vollständiger
Ignorierung. Demzufolge ist nicht nur der dem
(iemeinwohi zugedachte beträchtliche materielle
Nutzen, sondern auch der vom Vater des Reform-
plans beanspruchte zehnte Teil der Revenuen
des ausgeführten Planes dem deutschen Sozial-
politiker des 16. Jahrh. entgangen.
Vgl. über Holzschuher: Gatterer,
Historia gentis Holzschuherianae. Nürnberg 1755.
— Anzeiger für Kunde deutscher Vorzeit, Jahr-
fangl883, Nütuberg, S. 72 ff. — Ehrenberg,
in tinanz- und sozialpolitisches Projekt aus
dem 16. Jahrb., in Zeitschr. für die ges. Staatsw.,
Bd. 46, Tübingen 1890, S. 717 ff. — Kuno
Frankenstein, Berthold Holzschuher, ein
Sozialpolitiker des 16. Jahrhunderts, in ,,Mün-
chener Allgemeine Zeitung'', Jahrg. 1891, Bei-
lage Nr. 165.
Lippert
Holzzolle
s. Forsten sub III (Forstpolitik) ol>en
Bd. III S. lloOft
Hörn
1229
Hörigkeit
s. Unfreiheit.
Horn, Eduard,
geb. am 25. IX. 1825 zu Waag-Neustadt (Vag-
Ujhelv) in Ungarn, wurde 1849, infolge seiner
Beteifigung an dem ungarischen Insurrektions-
kampfe, flüchtig, lebte seit 1850 meist in Leipzig,
Brüssel und Paris, wurde nach seiner Amnestie-
rung bezw. Rückkehr nach Ungarn (1869) Mit-
flied des ungarischen Reichstages und im
anuar 1875 Staatssekretär im ungarischen
Handelsministerium. Er starb am 2. XI. 1875
in Budapest.
Hom war langjähriger Bearbeiter des
Bulletin financier de retranger im Journal des
Economistes und Redakteur der finanzwirtschaft-
lichen Abteilung des Journal des Debats. Durch
glückliche Kombination des Hermannschen Ver-
fahrens (s. d.) mit dem von ihm auf die einzelnen
Altersstufen berechneten proportionalen Ver-
hältnis zwischen Geburten und Sterbefällen in
Belgien hat er eine Mortalitätstafel hergestellt,
die m ihren Ergebnissen mit der Queteletschen
üeberlebenstafel ziemlich übereinstimmt (vgl.
darüber Journal des Economistes, II serie, t 4,
1854); im übrigen rubriziert ihn 3Iohl unt^r
diejenige Schule der Statistiker, welche eine
doktrinäre Erklärung der von ihnen gewonnenen
Zahlen zu geben ablehnen.
Hörn veröffentlichte von staatsü^össenschaft-
lichen Schriften a) in Buchform:
Zur Judenfrage in Ungarn, Ofen 1847. —
Zur ungarisch-Österreichischen Centralisations-
frage, Leipzig 1850. — Spinozas Staatslehre,
Dessau 1851. — Statistisches Gemälde des König-
reichs Belgien. Mit Einleitung von X. Heusch-
ling. Dessau 1858. — Bevölkerungswissenschaft-
liche Studien aus Belgien. Mit durchgehender
vergleichender Erforschung der mitsprechenden
Verhältnisse in Oesterreich, Sachsen, Preussen,
Frankreich, England, Holland etc., Band I
(einziger), Leipzig 1854. (Es ist dies sein sta-
tistiscnes Hauptwerk, worin ihm aber besonder»
von Wappäus verschiedene Widersprüche gegen
populationistische Erfahrungssätze nachgewiesen
sind, z. B. seine Bestreitung des gesetzmässigen
Uebergewichts der weiblichen Bevölkenmg in
den höheren Altersklassen, ferner die dem
höheren männlichen Alter, bei sonst unge-
schwächten Individuen, imputierte grössere
Zeugungspotenz und in seinen Ausführungen
über den Einfluss der Altersdiiferenz der Eltern
auf das Geschlechtsverhältnis der Geburten
etc.) — Brüssel nach seiner Vergangenheit
und Gegenwart, Leipzig 1855. — Das Kredit-
wesen in Frankreich. Nationalökonomische
Skizze, ebd. 1856; dasselbe, 2. Aufl., ia57. —
John Law, Ein finanzgeschichtlicher Versuch,
ebd. 1858. — La Hongrie et l'Autriche de 1848
a 1859, Paris 1859. — Annuaire international
du credit public, Jahrgg. 1859—61 (soweit als
erschienen), ebd. — Liberte et nationalit^, ebd.
1860. — La Hongrie en face de l'Autriche, ebd.
1860. — Les finances de TAutriche, ebd. 1860.
— La Hongrie et la crise europ^enne, ebd. 1860.
— La crise cotonni^re et les textiles indig^nes,
ebd. 1863. — Du progres economique en Egypte
diacours de r^ception prononc^ k l'Institut
egyptien, Alexandrieu 18o4. — La liberte des
banques, Paris 1866; dasselbe deutsch, Stutt-
gart 1867. — L'öconomie politique avant les
physiocrates, Paris 1867. (Von der Pariser Aka-
demie gekrönte Preisschrift.) — Caisses syndi-
cales. Le credit rendu plus accesaible et moins
eher pour tous par Tassociation syndicale, Tassu-
rance et la contre-assurance, Paris 1867. — Le
bilan de l'Empire, Paris 1868. — Frankreichs
Finanzlage, Wien 1868. — Salut au troisi^me
milliard, Paris 1868; dasselbe deutsch, Wien
1868. — Les finances de Thotel de ville, Paris
1869; dasselbe deutsch, Budapest 1869. —
Ungarns Finanzlage und die Mittel zu ihrer
Hebung, ebd. 1874. — La grande nation 1870—
71, avec preface de Jules Simon, Paris 1891.
(Diese posthume Schrift wurde von seinem Sohne
Emil Hom veröffentlicht.)
An Ueber8etzunp:en erschienen von ihm:
Chevalier, Zwölf nationalökonomische Vorträge,
Leipzig 1856 und Chevalier, Die Weltindustrie
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
Stuttgart 1869.
b) in Journal des Economistes
(Paris): IL Serie: Lettre relative aux tables
de mortalite. Tables de survie, Bd. IV, 1854,
S. 428. — La fi^vre banqui^re en Allemagne,
Bd. XII, 1856, S. 57. — La r6organisation du
Zollverein, Bd. XII, 1856, S. 217. - La reforme
mon6taire en Allemagne, Bd. XV, 1857, S. 384.
— Le commerce exterieur et la crise a Harn-
bourg, Bd. XVII, iaö8, S. 245. — La question
des banknotes en Allemagne, Bd. XVII, S. 411
und Bd. XVIII, S. 265, 1^ — Des institutions
de credit en France, Bd. XVIII, 1858, S. 125.
— L'§migration allemande de van t la di^te de
Francfort, Bd. XX, 1858, S. 68. — Congrfes des
Economistes, tenu k Gotha, en septembre 1858,
Bd. XX, 1858, S. 426. — Le double etalon
mouptaire, Bd. XXIX, 1861, S. 433. — Ou en
est la crise mon^taire, Bd. XXXI, 1861, S. 5.
— Les nouveanx embarras Economiques, Bd.
XXXII, 1861, S. 161. — Le senatus-consulte du
2 decembre 18(U, Bd. XXXII, 1861, S. 321. —
L'abolition des octrois communaux en Belgique,
Bd. XXXV, 1862, S. 229 - La crise budgetaire
en Prusse, Bd. XXXVI, 1862, S. 218. — L'asso-
ciation coopErative et le credit populaire, Bd.
XL, 1863, S. 177. — La monnaie, point de
depart de la liberte des banques, III. Serie.
Bd. II, 1866, S. 185. — Visite au famüist^re
de Guise, Bd. IV, 1866, S. 115. — Le faux
monnayage fiduciaire. Refutation des argu-
ments de Gemuschi, Wolowski et Modeste, Bd,
V, 1867, S. 75. — La crise financi^re de Hongrie,
Conference faite au cercle des jeunes commer-
9ants k Bude-Pesth, Bd. 40, 1875, S. 286. —
Situation economique et financi^re de la Hongrie,
Bd. 41, 1876, S. 447.
Vgl. über Hörn: Wappäus, Besprechung
der Schrift: Bevölkerungswissenschaftliche Stu-
dien aus Belgien, in ,. Göttinger gelehrte An-
zeigen'^ Jahrg. 1854, S. 2056. — Bremer Han-
delsblatt, Jahrg. 1854, S. 229. ~ R. v. Mohl,
Geschichte und Litteratur der Staatswissen-
schaften, Bd. III, 1858, S. 453 f. — X. Heu sch-
ling, Recherches sur la population, d'apres
;<M. Hom, in Journal des Economistes, annee
1230
Hörn — Huber
1856, S. 84. — Wappäus, Allgemeine Be-
völkerungsstatistik, Teil II, Leipzig 1861, S.
116/17, 129. 201, 204u. ö. - Hippol. Passy,
Besprechung der Homschen Schrift : L*6conomie
politique avant les physiocrates , in ,. Journal
des Eeonomistes", annee 1868, S. 342. — A. v.
Oetttingen, Moralstatistik, 3. Aufl., Erlangen
1882, S. 51, 67, 77, 98 u. ö.
Llppert,
Hornick, Friedrich Wilhelm von,
(auch Hörnigk und Horneck)
geb. 1638 in Mainz, studierte Jura in Ingol-
stadt, \vurde 1690 Geheimschreiber und 1695
Geheimrat des Fürstbischofs von Passau, Kardi-
nal Lamberg, und starb gegen 1713 in Wien.
Horuick veröffentlichte folgendes staats-
wissenschaftliche Werk in Buchform:
Oesterreich über alles, wann es nur will:
Das ist wohlmeynender Ftirschlag, wie mittelst
einer wohlbestellten Landesökonomie, die kaiser-
lichen Erblande in kurtzem über alle andere
Staaten von Europa zu erheben und mehr als
einiger derselben von denen anderen independent
zu machen. Von einem Liebhaber der kaiser-
lichen Erblande Wohlfahrt, Passau 1684; das-
selbe, 2. Aufl., Nürnberg 1684; 3. Aufl., Passau
1685; 4. Aufl., Leipzig 1704; 5. Aufl., Kegens-
burg 1708; 6. Aufl., o. 0. 1719; 7. Aufl., Regens-
burg 1723 ; 8. Aufl., ebd. 1727 ; 9. Aufl., Frank-
furt a. M. 1729; 10. Aufl , ebd. 1750; 11. Auflr,
ebd. 1753; 12. Aufl., Regensburg 1764; 13. Aufl.,
u. d. T.: Bemerkungen über österreichische
Staatsökonomie, Berlin 1784. — Ausserdem
hinterliess Hornick mehrere handschriftliche
Monofifraphieen zur Geschichte der Grundbesitz-
verhältnisse des Fürstbistums Passau.
Das in der Schrift „Oesterreich über alles**
aufgestellte, den Schutz und die Ertragsmehrung
der nationalen Arbeit anstrebende Programm
steht durchaus auf merkantilistischem Boden,
und der grössere Teil der Massregeln, die Hornick
als für eine „wohlbestellte Landesökonomie Oester-
reichs** obligatorisch erachtet, beschäftigt sich
mit Produktions- und Umlaufsvermehrung
von Gold und Silber, welche Edelmetalle er die
beste Substanz im Blutumlanf des staatlichen
Körpers nennt, mit Errichtung innerer und
äusserer Zollschranken, mit Massregeln zur Er-
zielung einer grossen Bevölkerung. Homicks
„Fürschlag" repräsentiert die merkaritilistisch-
protektionistische Tendenz, welche sich in der
österreichischen Wirtschaftspolitik bis zur Mitte
der Josefinischen Periode (Aufhebung der
Zwischenmauten von 1785) ausspricht.
Virl. über Hornick: H. J. Bidermann,
Die technische Bildung im Kaisertum Oester-
reich, Wien 1854, S. 23. — Kautz, Theorie
und Geschichte der Nationalökonomik, Teil II,
ebd. 1860, S. 290. — Röscher, Gesch. d. Nat.,
München 1874, S. 289 ft'. — Allgemeine deutsche
Biographie, Bd. XIII, Leipzig 1881, S. 157.
— luama-Sternegg, Ueber Philipp Wil-
helm von Hornick, in Jahrb. für Nat. u.
.Stat., ^^ F. Bd. II, Jena 1889, S. 194fr.
Llppert
Horton, Samuel Dana,
geb. am 16. 1. 1844 in Pomero}', Ohio, gest. am
23. II. 1895 in Wa.shington, besuchte ausser
dem Harvard College (Universität Cambridge,
Massachusetts) die Universität Berlin, wurde
Bechtsanwalt in Cincinnati und später in
Pomeroy. Infolge seiner bimetallistischen
Schrift über Silber und Gold wurde er
zum Delegierten der Vereinigten Staaten
auf den Pariser Münzkonferenzen von 1878
und 1881 ernannt, später auch zu der eng-
lischen Enquete über die Währungsfrage in
den Jahren 1886—88 zugezogen. Auf" dem
Münzkongress bei Gelegenheit der Pariser Aus-
stellung von 1889 war er Vizepräsident. Bei
allen Gelegenheiten ist er als eifriger und ge-
schickter Veiteidiger des internationalen Bime-
tallismus aufgetreten.
Seine Hanptschriften sind : Silver and Gold
and their relation to the problem of Resump-
tion, to wich is added „Sir Isaac Newton and
England's prohibitive tariif upon silver money,"
Cincinnati 1876 (u. revidierte Ausg.) 1877, das-
selbe, mit Hortons Nekrolog, ebd., Mareh 1895.
— Historical material for the study of mone-
tary policy and contributions to tue study of
monetary policy (Beilage zu den Berichten über
die International Monetär v Conference held in
Paris 1878, Wash. 1879).— The Silver pound
and Englands Monetary Policy since the Kesto-
ration, with the history of the guinea. etc,
London 1887. — Silver in Europe, 1890. 2. ed.
1892. — Ausserdem kleinere Abhandlungen, wie
The Position of Law in the Doctrine of Money,
1879 (französisch von E. de Laveleve, deutsch
u. d. T. : Das Geld und das Gesetz, Köln 1881) ;
The British Standard of value, 1885. —
An Zeitschriftartikeln wären zu nennen:
Silver before Con^ress in 1886 in Quarterly
Journal of Economics, Octob. 1886. — The sus-
pended rupee and the policy of contraction, in
Economic Journal, Sept. 1893.
Vergl. über Horton: S. D. Horton in
H.W.B. I. Aufl. Bd. IV, S. 1272. — H. P. Bov-
den, S. Dana Horton, bis life and work. in Sil-
ver and Gold, Cincinnati 1895. — F. A. Wal-
ker, S. D. Horton (Nekrolog) in Economic Jour-
nal June 1895. — Dunbar, S. D. Horton
(Nekrolog) in Palgrave, Diction. of political
economy, vol. H, S. 332, London 1896.
LipperL
Huber, Yiktor Aim<«,
geb. am 10. III. 1800 in Stuttgart, bekleidete
als Ordinarius die Professuren der neueren
Litteratur und Geschichte seit 1833 in Rostock,
und seit Herbst 1836 in Marburg, 1843 gfiug er,
infolge einer von Friedrich Wilhelm IV. dem
Berliner Senat abgedrungenen Berufung, als
Professor der a'bendländischen Sprachen nach
Berlin. 1845 gründete und redigierte er. als
publizistischer Stimmführer der evangfelisch-
konservativen Partei, im Auftrage des Kuni^,
der auch für die Kosten aufkam, die Zeitschrift
,.Janus, Jahrbücher deutscher Gesinnung. Bil-
dung und That" (s. u.). Nach Ceberwerfung
Hiiber
1231
mit der konservativen Partei legte Huber 1851
seine Professur nieder, quittierte 1852 auch den
preussischen Staatsdienst und siedelte nach
Wernigerode über, wo er am 19. VII. 1869 starb.
Huber war der erste zielbewusste deutsche
Theoretiker des Associationswesens, das er 1823
in England und Schottland und 1844 in Frank-
reich und Belgien gründlich studiert hatte. Als
Pionier der religiös-humanen Bestrebungen zur
friedlichen Lösung der sozialen Frage in Deutsch-
land, begann er schon 1846, also noch vor
Schulze-Delitzsch, publizistisch dafür zu wirken.
Dass er seine Kooperativgenossenschaftspläne
zur Verbesserung des Loses der arbeitenden
Klassen mit der inneren Mission in Verbindung
brachte, war kein Fehler; dieser bestand viel-
mehr in der viel zu grossartigen, auf Millionen
taxi(jrten Anlage der Pläne. Hatte Huber nun
auch Fühlung mit dem Volke und der evan-
gelischen Geistlichkeit aptirationalistischer Eich-
tung, so durfte er doch aus diesen Kreisen
keine thatkräftige Unterstützung seiner ge-
planten Errichtung von Arbeiterkolonieen er-
warten, welche nach Art des Familist^re von
Guise mit allem Komfort ausgestattet werden
sollten, um die zukünftigen Bewohner keine
Sehnsucht nach der Rückkehr in ihre kleinen
dumpfigen Arbeiterwohnungon in der Grossstadt
empfinden zu lassen. Die Fonds zu der ge-
planten Erwerbung von Ländereien und zur
Anlegung von Fabrikarbeiterkolonieen darauf
hoffte Huber von den Konservativen, von der
Gißburts- xmd Geldaristokratie, zugewiesen zu
erbalten, welchen er als Gegenleistung dafür
die Entlastung der Grossstädte von dem Ar-
beiterproletariat und die siegreiche Bekämpfung
des roten Gespenstes durch seine Kolonisten
versprach, ohne jedoch seinem Kapitalbe-
schaffungszwecke dadurch näher zu kommen.
Zu einer thatkräftigen Initiative der Ausführung
seiner gössen Ideeen konnte nur der Staat
selbst die Hand bieten, und da dies unterblieb,
kam Huber bei der Ausführung seiner Entwürfe
über das Stadium des Theoretisierens nicht
hinaus. Als Versuchsfeld der praktischen Durch-
führbarkeit seines Systems unter bescheidenen
Verhältnissen diente ihm später Wernigerode,
wo er einzelne kleine genossenschaftliche Unter-
nehmungen ins Leben rief, die sich aber bald
wieder auflösten.
Huber veröffentlichte in Buchform.
a) von staatswissenschaftlichen Schriften:
Mecklenburgische Blätter, Bd. I (einz.), Parchim
1834—35 (enthält u. a. eine längere Kritik der
Schrift: Lehsten, Aufhebung der Leibeigenschaft
in Mecklenburg). — Ueber innere Kolonisation,
Berlin 1846 (Sonderabdruck aus Heft VII und
VIII des „Janus"). — Die Selbsthilfe der ar-
beitenden Klassen durch Wirtschaftsvereine und
innere Ansiedelung, ebd. 1848 (erschien anonym).
— Ueber Association mit besonderer Beziehung
auf England, ebd. 1851. — Ueber die koopera-
tiven Arbeiterassociationen in England, ebd.
1852. — Reisebriefe aus Belgien, Frankreich
und England, 2 Bde., Hamburg 1855 (enthält
reiches Material über dortige Kooperativge-
nossenschaften). — Ueber Association und deren
Verhältnis zur inneren Mission. Ein Vortrag,
gehalten am Frankfurter Kirchentag, Halle
1855. — Die Wohnungsnot der kleinen Leute
in grossen Städten, Leipzig 1857. — Die ge-
werblichen und wirtschaftlichen Genossenschaften
der arbeitenden Klassen in England, Frankreich
und Deutschland, Tübingen IwO. — Konkordia,
Beiträge zur Lösung der sozialen Fragen in
zwanglosen Heften, 8 Hefte, Altena Imi. —
Die Arbeiter und ihre Ratgeber, Berlin 1863.
— Not und Hilfe unter den Fabrikarbeitern,
auf Anlass der Baumwollensperre in England,
Hamburg 1863. — Soziale Fragen, 7 Hefte,
Nordhausen 1863—69. (Inhalt: Heft 1: Das
Genossenschaftswesen und die ländlichen Tage-
löhner [1863], Heft 2: Die nordamerikanische
Sklaverei [1864], Heft 3: Die innere Mission
[1864], Heft 4: Die latente Association [1866],
Heft 5: Die Rochdaler Pioniers [1866], Heft 6:
Handwerkerbund und Handwerkernot [1867],
Heft 7: Die Arbeiterfrage in England [1869].)
— Ueber Arbeiter koalitionen. Ein der Koalitions-
kommission nicht vorgelegtes Gutachten, Berlin
1865. — Die genossenschaftliche Selbsthilfe der
arbeitenden Klassen, Elberfeld 1865. — Zur
Reform des Armenwesens, Schaffhausen 1867.
— Staatshilfe, Selbsthilfe und Sparen. Ein
offenes Sendschreiben an die deutschen Arbeiter,
Wien 1868.
b) von politischen Streit- und Agitations-
schriften: Ueber die Elemente, die Möglichkeit
oder Notwendigkeit einer konservativen Partei
in Deutschland, Marburg 1841. — Die Oppo-
sition, Halle 1842 (Streitschrift gegen den Radi-
kalismus, welcher die grossdeutschen und kirch-
lichen Restaurationspläne Friedrich Wilhelm IV.
bekämpfte). — Bruch mit der Revolution und
der Ritterschaft, Berlin 1852 (anonym erschienene
Lossage Hubers von der konservativen Partei).
— Die Machtfülle des altpreussischen König-
tums und die konservative Partei, Bremen
1862 - etc.
Huber veröffentlichte von grösseren staats-
wissenschaftlichen Artikeln c) inZeitschriften etc. :
1) In Arbeiterfreund: Die Wohnungsnot und
die Privatspekulation, Jahrg. V, Halle 1867.
S. 420 ff. — 2j In Arbeitgeber, herausg. von
MaxWirth: Der Kongress deutscher Volkswirte
und die kooperativen Associationen in England
und Frankreich, Jahrg. III, Frankfurt a. M.
1858, Nr. 113, S. 911. - 3) In St.W.B. von
Bluntschli und Brater, Stuttgart: Arbeitende
Klassen, Bd. I, ia')7, S. 279—310; Association,
Bd. I, 1«)7, S. 456/500. — 4) In Innung der
Zukunft, Leipzig : 6 Artikel über die englischen
und französischen Genossenschaften, m den
Jahrgg. 1857—1863, abgedruckt in dem Werke :
pDie Entwickelung des Genossenschaftswesens
m Deutschland, herausg. von Schulze-Delitzsch,
Berlin 1870". — 5) In ,,Janus, Jahrb. deutscher
Gesinnung, Bildung und Thaf, Jahrg. I— IV,
Berlin 1845—48. (Huber bekämpfte darin die
radikale und liberale Opposition, wie sie 1841
und 1842 besonders in den ,.Hallischen Jahr-
büchern" gegen die innere und äussere preus-
sische Politik zum Ausdruck gekoinmen war
und die sonstigen oppositionellen Presserzeug-
nisse des jungen Deutschland, doch blieb seine
publizistische Waffenführung und die seines
geistreichen Mitarbeiters Heinrich Leo, im Gegen-
satz zu dem zündenden Effekt der geharnischten
Dialektik Ruges und der übrigen Hegelingen,
auf die erregten Geister des vormärzlicheu
Preussen vollständig wirkungslos. — 6) In der
Deutschen Viertel jahrsschrift, Stuttgart : Oeffent-
1232
Huber — ^Hufe
liehe Arbeitsanstalten znr Strafe, BesBerang nnd
Versorgung, Jahrg. XXI 1886, Heft 1, S. 35—
124 ; Die soziale Hebung aer arbeitenden Klassen
in England, Jahr^. XXXI, 1866, Heft 4, S. 83 ff.;
Die Arbeiterfrage in Deutschland, Jahrg. XXXII,
1869, Heft 1, S. 122 ff., Heft 3, S. 173 &, Heft 4,
S. 29 ff. — Ausserdem schrieb Huber in den
Jahren 1848 und 1849 zahlreiche Artikel für
die Neue Preussische oder Ereuzzeitung und
einzelne für die Augsburger allgem. Zeitung.
Vgl. über Huber: Kautz, Theorie und
Geschichte der Nationalökonomik, Bd. II, Wien
1860, S. 668. — H. Wagen er, Staats- und
Gesellschaftslexikon, Bd. IX, Berün 1862, S. 659 ff.
— C. E. Neuhaus, Handwerkerbund und Hand-
werkertag. Offenes Sendschreiben an Herrn
Professor V. A. Huber zu Wernigerode, Nord-
hausen 1867. — R. E 1 V e r 8 , V. A. Huber.
Sein Werden und Wirken, 2 Bde., Bremen
1872—74. — E. Jäger, V. A. Huber, ein Vor-
kämpfer der sozialen Reform, Berlin 1880. —
P. V. Lilienfeld, Gedanken über die Sozial-
wissenschaft der Zukunft, Bd. IV, Mitau 1879,
S. 333 ff. — Seyfferth, Staatswissenschaft-
liche Abhandlungen, Serie I (1879/80), Leipzig
1880, S. 535. — R. Elvers, V. A. Huber. All-
gemeine deutsche Biographie, Bd. XIII, Leipzig
1881, S. 249 ff.
Lippert,
Hufe.
1. Begriff. 2. Entstehung. 3. Praktische
Gestaltung. 4. Bestandteile der H. 5. Teil-
barkeit. 6. Besitzverhältnisse. 7. Hufenrecht.
8. Benennung. 9. Erste Erwähnungen. 10.
Andere Bezeichnungen. 11. Vergebene H. 12.
Grundherrliche Landleihen. 13. Einordnung in
die Hufen Verfassung. 14. Gemessene H. 15.
Hufenmass. 16. Morgenmass. 17. Königshufen.
18. Mass der Königshufe. 19. Verwandt« Hufen-
masse. 20. Kolonisatioushufen. 21. Die slawische
Hakenhufe. 22. Uebertragungen.
1. Begriff. Die Hufe ist, wie oben im
Art. Ansiedelung (Bd. IS.363, sub 15)
im weiteren Zusammenhange gezeigt wurde,
eine charakteristische Eigentümlichkeit der
volkstümlich deutschen Siedelungsweise» Man
verstand unter ihr eine ländliche Besitzung,
welche von dem Hausvater mit seiner Fa-
milie und wenigem Gesinde bestellt werden
konnte und dabei hinreichend war, um dem-
selben den nötigen Unterhalt und die Mittel
zu gewähren, die üblichen öffentlichen Lasten
zu tragen. Sie stellte ein Bauerngut dar,
Avelches unter primitiven Umständen und
Ansprüchen imstande war, selbständig aus
seinen eigenen Kräften zu bestehen.
2. Entstehung. Ihre Entstehung ver-
knüpfte sich bei allen Germanen unmittel-
bar mit dem üebergang von der nomadischen
AVeidewirtschaft zur festen Ansiedelung. Da
die germanischen Stämme schon während
dos Hirtenlebens das gesamte ihnen zur Ver-
fügimg stehende I^and als Weidereviere in
Anspruch genommen liatten und nur durch
die Ueberfüllung dieser Reviere zum festen
Anbau gezwungen wurden, war die einzelne
Ansiedelung das Ergebnis eines Abkommens
mit den übrigen Stammes- oder Gaugenossen.
Sie musste als eine bestimmte, den Ansiedlern,
welche als die Aermeren der Gaugemeinde
zu denken sind, ausschliesslich überlassene
Gemarkung aus dem gemeinsamen Weide-
lande ausgeschieden werden. Diese An-
siedler forderten nicht nur das nötige Land
für ihren Anbau weidefrei, sondern auch
ausreichende Weiden für die geringe Anzahl
ihres Zug- imd Nutzviehes in der Kähe und
gesichert zur alleinigen Benutzung. In die-
sem Sinne musste die Gemarkimg gross ge-
nug sein, um der Zahl der Familienväter,
die sich auf ihr zur Siedelung entschlossen,
zu genügen. Andererseits hinderte das Be-
dürfnis der übrigen Gaugenossen, dass ihnen
die Weidefireiheit weit über dieses Mass
liinaus gewährt wurde. Da nun die Siedler
zunächst und in den meisten Fällen als
gleichberechtigte Volksgenossen vorausge-
setzt werden dürfen, so war die Idee der
Hufe unmittelbar durch die thatsächlichen
Verliältnisse gegeben. An der einer gewissen
Gruppe oder Sippe zugewiesenen Gemarkung
hatte jeder gleichen Teil, dieser Anteil aber
war so überschlagen, dass er dem Berech-
tigten durch den Ertrag seiner Arbeit im
wesentlichen nur den Unterhalt seiner Fa-
milie in Aussicht stellte. Diese Entstehung
wiederholte sich bei allen Ansiedelungen der
Germanen. Sie war auch dieselbe, wenn
der Boden ^it, wie wenn er gering war.
Nur konnte mi ersten Falle die Gemarkung
auf die gleiche Zahl Ansiedler kleiner, im
zweiten musste sie grösser sein. Die Hufe
war also von Anfang an der Ausdruck des
gleichartigen bäuerhchen Daseins und der
Begründung des deutschen Bauernstandes.
8. Praktische Gestaltung. Die pi-ak-
tische Gestaltung war, vde die gesamten
von jeher germanisch gebliebenen Gebiete
erweisen, bei aUen ursprünglich volksmäs-
sigen Anlagen gleich. Zunächst wurden die
einzelnen Wohnstätten abgegrenzt In der
Kegel für Haus, Hof und Urasgarten zwei
Morgen. Wahrscheinlich wählten sich die
Genossen nach der Losfolge neben einander
die Plätze beliebig, denn sie liegen in un-
regelmässigen Blöcken planlos zusammen.
Das Dorf bildet, was der Ausdruck be-
zeichnet, einen Haufen. Fi'u- das Hofeureal
hat weniger gleiche Form, Gnlsse und Bo-
dengüte Bedeutung als die NäJie zum Wasser,
trockene Lage, Zugang zu Weg und Trift
und de^leichen.
Die Verteilung des Anbaulandes war die
oben Bd.I(S.363)imArt, Ansiedelung sub
16 beschriebene nach Gewannen. Auch hier
Hufe
1233
lässt sich deutlich erkennen, dass die älteste
Einteilung nicht auf einem bestimmten Plane
beruhte, sondern un regelmässig, d. h. von
den Umständen bedingt war. Die Idee des
Gewannes blieb indes stets, dass die Ge-
nossen auf einem Landesabschnitte von
gleicher Bodenbeschaffenheit jeder eine
gleiche Fläche, meist einen Morgen, neben
einander erhalten sollten. Da der deutsche
Pflug Parallelfurchen zieht, wurden die
Morgen annähernd als Rechtecke von etwa
30 Ruten Länge und 4 Ruten Breite abge-
schritten. Aber schon darin zeigt sich Un-
gleichmässigkeit. Vor allem lagen sie zwar
neben einander im Anschluss, aber nach
verschiedenen Richtungen undAusdehnungen,
so dass das Gewann nur ausnahmsweise
eine rechtseitige Figur, meist eine des gleichen
Bodens w^egen durch Bogen und ein- und
ausspringende "Winkel abgegrenzte hatte.
Diesen Grenzen mussten sich die anstossen-
den Gewanne in ähnlich unregelmässigen
Formen anschliessen. Erst später sind auf
sehr vielen Fluren durch Kegulierungen
wegen Verpflügimg und Grenzverwii'nmg
grossere rechteckige Gewanne hergestellt
imd die Anteüe der einzelnen Hufen an
denselben in gleichmässigen, oft sehr weit
fortlaufenden parallelen Streifen abgemessen
worden. Bilder der älteren Aufteilung geben
Anlage 15 und 19, der regulierten Hufen
Anlage 5 — 13 in »Siedelung und Agrarwesen«
Bd. m.
4. Bestandteile der H. Die Kultivie-
rung solcher Gewanne musste alsbald so
weit ausgedehnt werden, als es der Unter-
halt der Familien und die Bedürfnisse der
beteiligten Wirtschaften forderten. Es be-
stand iJaer auch kein Grund, über diese Er-
fordernisse hinauszugehen. Deshalb blieben
innerhalb der Gemarkung, in oft ziemlich
grosser Fläche, Ijändereien vom Anbau un-
berührt, welche zu Holz, Gräserei und Weide
benutzt wurden. Diese Ländereien konnten
nach und nach vom Anbau und von der
Verteilung zu Privateigentum ergriffen wer-
den. Soweit dies aber nicht geschah, bildeten
sie die Allmende, das der gemeinsamen
Nutzung der Genossen unterliegende, ziu-
Gemarkung gehörige Gebiet. Dasselbe stand,
solange nicht \ eräusserungen einzelner
Stücke oder Yerändenmgen in den Rechts-
verhältnissen der Ansiedlergemeinde statt-
fanden, den Beteiligten in demselben Ver-
hältnisse wie die Hufen zu. Die Hufe war
ein bestimmter aliquoter Anteil an der ge-
samten Gemarkung, also auch an dem noch
unverteilten Reste derselben.
Den Ansiedlern konnten aber auch nach
der ursprünglichen Vereinbanmg oder durch
späteren vertragsmässigen oder rechtsver-
jährten Erwerb ausserhalb der ihnen aus-
schliesslich zugewiesenen Gemarkung noch
Handwörterbach der Staatswisfienscbaften. Zweite
Nutzungsrechte in dem bei der Ansiedelung
den übrigen Staramesgenossen gemeinsam
gebliebenen Volkslande zustehen. Denn der
grössere Teil des Volkslandcs -war zunächst
in den Händen der grossen Hei-denbesitzer
verblieben. Nachdem aber auch diese sich
angesiedelt und ausschliessliche (lemarkungen
eingerichtet hatten , entstanden aus dem
letzten Rest von Wäldern und Heiden des
Volkslandes die sogenannten Marken. Es
stellte sich fest, wer noch Berechtigungen
an diesem Lande hatte, und die Beteiligten
gaben sich eine, ^larkgenossenschaft ge-
nannte, Organisation zur Verwaltung dieser
Ländereien und zum gegenseitigen Schutz
der geordneten Nutzimg derselben. An
diesen Markennutzun^n konnten einzelne
Hufenbesitzer persönlich oder dinglich be-
teiligt sein. Das Recht konnte aber auch
allen Ansiedlern einer Flur als solchen zu-
stehen, und es galt dann ebenso wie das
Recht der Hufe an der Allmende auch als
ein Recht der Hufen an der Mark und blieb
ohne eintretende Veräusserung ein dem
Hufenbesitz verhältnismässiges.
5. Teilbarkeit. Die Hufen aller volks-
mässigen germanischen Ansiedehingen haben
femer gemeinsam, dass sie ursprünglich ge-
teilt werden konnten. Dies konnte entweder
nach Teilhufen geschehen, in halbe, Drit-
tel-, Viertel-, Achtelhufen. Dann teilten sich
auch die Rechte und Pflichten nach den-
selben Verhältnissen und die Bnichteüe der
Hufe stellten immer zusammen die ganze
Hufe dar, konnten auch stets wieder zu ihr
vereinigt werden, und in Gemeindesachen
galt die sogenannte Einmännerei, die geteilte
Hufe wurde durch einen der Teilbesitzer
vertreten. Oder es konnten auch einzelne
Gnmdstücke aus der Hufe veräussert wer-
den, um dieses Stück- oder Stufland
kümmei-te sich die Hüfenergenossenschaft
nicht, die Hufe, zu ■ der es gehört hatte,
musste für dasselbe dauernd aufkommen.
Ebenso wie die Teilung war aber auch
die Vereinigung von mehreren Hufen, und
zwar ganzen wie Bruchteilen, in derselben
Hand zulässig und sehr häufig, und es
konnten von denselben wieder Teilstücke
an Hintersassen zur Bewirtschaftung über-
lassen werden. Der Eigentilmer der Hufen
vertrat sie.
6. Besitzverhältnisse. Die Hufen bil-
deten also als Teile der Gemarkung wohl-
bekannte Landgüter, welche aus der Hof-
stelle, dem privaten Anbaulande, dem An-
recht an der Allmende und häufig auch
einem Nutzungsrecht in der Mark bestanden
und abgesehen vom Markenrecht in allem
diesem Zubehör innerhalb derselben Gemar-
kung ursprünglich unter einander gleich
waren. Schon gegen die nächstbenachbarte
Gemarkung, wie gegen jede andere, Avaren
Auflage. IV. 'tS
1234
Hufe
sie aber meist thatsächlich sehr verschieden.
Die Zahl der ursprünglichen Ansiedler, die
Grösse der Gemarkung, die Beschaffenheit
des Bodens, die Ausdehnung des Anbaues,
die Art der Allmend- und Markennutzungen
konnten zwischen verschiedenen Ansiede-
lungen von Anfang an sehr grosse Unter-
schiede der Hufen bedingen. Gleich stan-
den sie sich indes darin, dass dennoch ihre
Leistimgsfähigkeit als eine hinreichend über-
einstimmende galt. Sie war schon bei der
Tu^prünglichen Anlage vorausgesetzt worden,
bheb massgebend für alle öffentlichen An-
sprüche und wurde theoretisch bis in das
19. Jahrhundert festgehalten. Praktisch
wurde das alte Verhältnis allerdings viel-
fach durch. Eingriffe der landesherrlichen
Finanzverwaltungen geändert. Mit der Ver-
schiedenheit der Grösse verknüpfte sich im
Laufe der Zeit häufig eine so ersichtlich
imgleiche Entwicklung der Kultur- imd der
Bodenwertverhältnisse, dass die Steuerbe-
hörden den Begriff der Hufe je nach der
Oertlichkeit auf halbe Hufen oder auf ge-
wisse Grössemnasse anwendeten.
7. Hofenrecht. Auch als man an eine
weitere Ausdehnung des Anbaulandes der
Hufen in die Allmende nicht mehr dachte,
die Hüfener sich vielmehr auf ein bestimmtes
Mass an eigenem Lande beschränkten, grosse
Teüe der Allmende an neu begründete kleine
Stellen abtraten und ihrerseits nur noch
gewisse Nutzungsrechte an dazu geeigneten
gemeinsamen Allmendstücken festhielten,
änderte dies ihr Wesen nicht Sie bestan-
den als gleiche und gleichberechtigte Anteile
an der Dorfflur. Das Gemeinwesen war
mit gleichen Ansprüchen an jede derselben
gewiesen. Es stellte dieselben Anforderungen,
gleich, ob der Eigentümer sie verwaltete oder
für sich einen Verwalter einsetzte, ebenso
gleich auch, ob der Besitzer ein Freier oder
Unfreier, aus eigenem oder aus fremdem
Bechte wirtschaftete und ob er ein Inwohner
oder Auswärtiger war. Daraus ergab sich
ganz von selbst, dass der Landwirt hinter
dem Hofe zurücktrat. Die Hufe wurde zu
einer dauernden, jederzeit greifbaren und
für ihre öffentlichen Pflichten stets, nötigen-
falls durch Sequestration, leistungsfähigen
Persönlichkeit.
Dies sind die Besonderheiten der alten
volksmässigen germanischen Hufe.
8. Benennuii^. Das Wort Hufe tritt
auf als hoba, huoba, huba, auch oba, hopa,
hova oder hobo, hobonia, hobunna. Es lässt
sich nach Waitz und MüUenhoff nicht mit
Hof identifizieren. Die Wortformen gehen
in einander über, aber die Sprache selbst
unterscheidet sie. Auch die Ableitung von
uoban (bearbeiten, anlegen) ist nicht zu-
treffend, denn das h fehlt sehr selten und
erscheint als wurzelhaft. Eher giebt MüUen-
hoff eine Verbindung mit dem Stamme hab
zu, also was jemand liat, besitzt, oder eine
Ableitung von hefein, huob gihoban (haben).
Dann würde Hufe zunächst das Ackerland
bezeichnen. Später hat indes MüUenhoff
bestimmt erklärt und festgehalten, dass das
Wort aus dem in »Behuf« enthaltenen
Stamme erklärt werden müsse, dass Hufe
der Behuf, das, was jemand zukommt, der
Anteü oder das Anrecht, also auch sein
Los sei.
Geschichtliche Ueberüeferung vermag zur
Erläuterung leider sehr wenig beizutragen.
Der Gebrauch des Wortes ist zwar im Mit-
telalter ganz aUgemein. Auch lassen die
Fuldaer und Corveyer Traditionen vermuten,
dass dies stets der FaU war. Aber der Zu-
stand, in dem uns diese Urkunden über-
Hefert sind, erlaubt keinerlei beweisßQiige
Datierung.
9. Erste Erwähnungen. Der älteste
urkundüche Gebrauch des Wortes ist bis
jetzt nicht aus dem alten Volkslande, son-
dern aus dem späten Eroberungslande der
Alemannen in der Schweiz bekannt. Der
Codex Tradit. Monast. St. GaUi sagt in Nr. 1
aus dem Jahre 678: quidquid habemus in
Vahcinchova, Laidolvinchova et Bodinchova.
AUe drei Namen sind patronymische , so
dass Vahcing, Laidolving und Beding zu
lesen ist imd hova klar auftritt Die Kon-
stanzer Urkunde von 680 bei Naugart Nr. 4
sagt hoba, ebenso die St. Galler a. a. 0.
Nr. 2 um 690 : Tres hobas in viUa Athorin-
wanic et IV hobas in GundUhespurta. Weitere
Hindeutungen faUen erst in das 8. Jahr-
hundert Etwas früher erscheint der Ge-
brauch von maus US, womit in den latei-
nischen Urkunden und Gesetzen des Mittel-
alters Hufe in den meisten FäUen übersetzt
wird. Da sich aber das Testament des
Perpetuus, welches mansus in diesem Sinne
anscheinend schon im Jahre 478 gebrauchte,
als eine Fälschung aus dem 17. Jahrhundert
ergeben hat, ist der Gebrauch von maso
oder manso, mansus nach Zeumer zuerst in
merowingischen Urkunden von 656, 664 und
etwa gleichzeitig in den formulae Andeca-
venses zu suchen. Indes gerade in diesen
ältesten Anführungen ist um so schwerer
die Frage zu entscheiden, welche auch in
den Urkunden des späteren Mittelalten»
recht oft zweifelhaft bleibt, ob der Aus-
druck mansus wirküch für die gesamte Hufe
oder ob er nur für das Gehöft auf der Hufe
oder überhaupt nur für eine Wohnstätte
gelten soU.
10. Andere Bezeichnnngen. Der Ge-
brauch des Wortes Hufe verUert dadurch au
Bedeutung, dass er nicht ein, wie die Sache
selbst, aUen Germanen gemeinsamer ist lu
Schweden heisst die Hufe Mantal, gleich
Maunsteil. In Dänemark und in Schonen
Hufe
1235
wurde sie bool, boole genannt. Damit ist
wahrscheinlicher, als Brett oder Balken, eine
Grube, Höhle, ein eingegrabener Herd, der
älteste dauernd angelegte Wohnplatz be-
zeichnet. Die Angelsachsen brauchten in Eng-
land den Ausdruck hyd oder hyde, vom goti-
schen hiva, heiva, Hausherr; angelsächsisch
hiva, Hausgenosse; bind, Kerl, Bauer j hyde,
higede, Familie, welche Bedeutung sich auf
die Hufe übertragen hat. Auch in Deutsch-
land wurden neben Hufe Loos, hluz, sowie
Pflug häufig ^braucht, sie übertrugen sich
in das lateinische sors, auch pars, portio
und in aratrum, welche sämtlich in den Ur-
kunden seit der Hohenstaufenzeit sehr häufig
werden. Die Auffassung aber, dass die
Hufe dem Lande entsjjreche, welches einen
Pflug erfordere, aber mit diesem einen Pflug
auch hinreichend zu bestellen sei, ist schon
sehr alt. Denn sie erscheint schon in der
ältesten sicheren Erwähnung der Hufe, die
sich in die Zeit von 620 setzen lässt. Dies
ist die Weisimg der Lex Wisigothorum
Buch X, Tit. 1, 14, welche das Verfahren
festsetzt, durch das der Streit mit Land
Belehnter über die Ausdehnung ihres Lehn-
landes geschlichtet werden soll. Mangels
des Eides soll jeder nachgeben, doch heisst
es: Sed ad tota aratra, quantum ipsi vel
parentes eorum in sua sorte susceperant,
per singula aratra quinjuagenos aripennes
dare debent. Wenn sie das Land nach
ganzen Hufen erhalten haben, sollen sie für
die einzelne Hufe 50 aripennes (gleich 25
jugera) abgeti-eten erhalten. Im 11. und 12.
Jahrhundert tritt in Thüringen, Franken imd
dem deutschkolonisierten Obersachsen die
Bezeichnung Lehn, beneficiiun für Bauer-
hufe auf und findet beim Fortschreiten der
Kolonisation in der Lausitz und Schlesien,
in Böhmen und Polen als Lenno, Laneus,
Lamis, Lan, weite Verbreitung. Ein slawi-
scher Wortstamm ist in Lan nicht enthalten.
(Boden und landwirtschaftliche Verhältnisse
des Preuss. Staates Bd. VI S. 172
Anm.)
11. Vergebene H. Obwohl die Auf-
fassung der Hufe als eines gleichen Anteiles
an einer bestimmten besiedelten Oemarkung,
welche Justus Moeser in dem Ausdruck einer
Aktie an dem Gemeinwesen einer Bauer-
schaft zusammenfasst, als die älteste und für
die volksmässige Besiedelung der germani-
schen Volksländer ohne Zweifel aie aus-
schliesslich richtige ist, zeigt doch die Er-
wähnung in der lex Wisigothonim, dass
dieser Begriff schon in sehr früher Zeit
nicht der einzige blieb. Neben ihn trat in
notwendiger Verbindung mit der Eroberung
und Besetzung Rliätiens und Galliens durch
die Deutschen das Erscheinen verliehener
Hufen, welche eine Grundfläche von be-
stimmter, wenn nicht gemessener, doch
wenigstens nach ihren Grenzen feststehender
Fläche bedeuten.
Dieser Unterschied beruhte auf dem wich-
tigen Gegensatze, welcher während der
Völkerwandenmg in der Besitznahme der
eroberten Ländermassen entstand.
Wo das Volksheer in seinen Hundert-
schafts- und Geschlechtsverbänden sich fest-
setzte, brachte es auch seine heimischen
volkstümlichen Gesichtspunkte für die Ein-
teilung des Bodens mit.' Diese Ansiede-
lunffen geschahen in den Kämpfen gegen
die keltoromanische Herrschaft alle in Dörfern
nach Genealogieen und in der Form und
dem Verfahren der alten volksmässigen An-
lagen. Die Gruppen der Ansiedelnden nah-
men Gemarkungen in Besitz, und aus ihren
gleichen oder verhältnismässigen Anrechten
an der bestimmten Gemarkung gingen ihre
Anteile unmittelbar als Hufen im aJten her-
kömmlichen Sinne hervor. Die Fluren
konnten nicht leichter streitfrei und rasch
zugewiesen werden als diu'ch die der Sitte
entsprechende Herstellung und Verlosung
von Gewannen unter die einzelnen Hufen.
Dadurch erhielt jeder seinem Anteile ge-
mäss auf jede Hufe gleiche Flächen von
f leicher Bodenbeschaffenheit und gleicher
Intfernung und Lage vom Wirtschaftegehöft.
Der durch die Gemenglage notwendige Flur-
zwang mit gemeinsamer Weide des Dorf-
viehes über Brache, Stoppeln und Allmende
war die allen bekannte und selbstverständ-
liche Wirtschaftsweise, üeberall in Ober-
deutschland und Rheinland sind deshalb die
dem Völkerzuge am ersten zugänglichen
fruchtbaren und ebenen Gegenden mit Ge-
wanndörfern bedeckt, welche denen des
alten Volkslandes vollkommen gleichen.
Neben dieser volksmässigen Besitznahme
aber blieben weite Strecken meist ungüns-
tigeren, bewaldeten und gebirgigeren Bodens
liegen, welche die bald zur Königsgewalt
erstarkenden Führer als ihre Eroberung, als
Köuigsland betrachteten. Sie waren aber
im bedingt alsbald genötigt, es als fiskalisches
Vermögen zu verwenden, weil ihnen andere
Mittel zur Bestreitung der wachsenden finan-
ziellen Bedürfnisse nicht zu Gebote standen.
Sie bedurften dieses Staatslandes sowohl
zur Erstattung von Anleihen wie zur Aus-
stattung und Belohnung der militärischen
und politischen Beamten, Gehilfen und Rat-
geber. Einen solchen Kreis zuverlässiger
Vertrauter mussten sie ebenso zur Beherr-
schung der eigenen Volksgenossen als der
unterworfenen, höher kultivierten, einheimi-
schen Bevölkening um sich sammeln. Haupt-
stützen dabei wurden einerseits die Mitghe-
der der grösstenteils romanischen Geistlich-
keit, andererseits emporkommende kühne
Abenteurer, die im Kriegsdienste des Königs
ihre Zukunft sahen. Aus diesen Verhält-
78*
1236
Hufe
nissen folgrte die Notwendigkeit, die Staats-
ländereien mit freigebiger Hand zu verleihen.
12. Gmndherrliche Landleihen. Es
entstanden aus diesen Vergebungen zunächst
widerrufliche, bald aber dauernde Schen-
kungen und grössere und kleinere Komplexe
grundherrlichen Eigentums, welche von dem
Militär- und Beamtenadel ebensowenig als
von der Kirche unter den damaligen Ver-
hältnissen in eigene Bewirtschaftung ge-
nommen werden konnten.
Die Verwertung dieses Besitzes wai* nur
durch Aussetzung an freie, hörige oder eigene
imfreie Hintersassen möglich, welche zu Na-
tural- oder Öeldzinsen und zu wirtschaft-
lichen Diensten verpflichtet wurden soweit
sie nicht lediglich militärischen Zwecken
obzuliegen hatten.
Wirtschaftlich musste sich die Ansetzung
verscliieden gestalten, wenn Leute, die solche
Grundstücke gegen Zins übernehmen konnten,
in grösserer Zahl vorhanden waren, oder
wenn dies nicht der Fall war. Bei An-
setzung grösserer Gruppen stand nichts ent-
gegen, dass die Anlage völlig den volks-
mässigen entsprechend ausgeführt wurde.
Es war für den Grundherrn offenbar das
einfachste. In der That finden sich auch
Gewannfluren, teils in Tirol im Inn-
thale, teils in Prankreich in der Nähe von
Paris und zwischen Seine und Loire, wo
man volksmässige Ansiedelungen kaum mehr
erwarten kann.
Indes blieben dies Ausnahmen. Die
Regel war, wie die Feldeinteilung der grund-
heirüchen Güter zeigt, die Vergebung des
Landes an die zeitweise vorhandenen Diener,
eigene Leute oder Land Suchende, die des-
halb allmählich und ungleichmässig eintrat.
Die Grundstücke der einzelnen Besitzungen
finden sich in solchen Gemarkungen in der
Regel planlos, in verschiedener La^ und in
grösseren oder geringeren Flächen von meist
blockähnlicher Form verteilt. Bilder
solcher Aufteilung geben Anlage 49 — 52, 57,
60 und 110 — 113 in »Siedelung und Agrar-
wesen« Bd.ni. Es kann daraus niu» geschlossen
werden, dass sie der Grundherr beliebig, wie
es seinen oder den Wünschen des Anneh-
menden entsprach oder je nachdem sie offen
waren, überwiesen hat. Es ist anzunehmen,
dass wenigstens in früher Zeit dabei viel-
fach die Abgrenzungen der alten, ziemlich
abgenmdeten und gut abgegrenzten Kampe
und Blöcke des Kulturlandes der keltischen
Anlagen bestimmend waren. Indes finden
sich diese stückweiseh Abtretungen auch
auf Fluren in höheren Gebirgslagen, wie in
den Vogesen, auf denen man Waldrodungen
vermuten muss. Seit dem Ende des 8. Jahr-
hunderts beginnen dann die im Art. An-
siedelung oben Bd. I S. 305 näher l)e-
sprochenen, vöUig planmässigen grundheri*^
liehen Kolonieanlagen, welche sich im 12.
Jahrhundert zu der deutschen Kolonisation
der östlichen Slawenländer entwickelten.
Bilder geben Anlage 114—118, 120, 123,
124, 130, 131 in »Siedelung und Agrarwesen«
Bd. 111 und »Boden- und landwirscliaftliche
Verhältnisse Preussens« Bd. VI S. 103, 123.
13. Einordnung in die Hnfenverfas-
sung. Alle diese grundherrlichen Land Ver-
leihungen, in welcher Form sie auch erfolgten,
haben die Eigentümlichkeit von der alten
volksraässigen Ansiedelung herübei'genom-
men, dass sie in Hufen eingeteilt wuixlen.
Der Grund ist vöüig klar und wird im Art.
Hufenverfas8ung(untenS. 1243 ff.) näher
besprochen werden. Die Gutsherren selbst
machten diese Einteilung und ordneten damit
ihre Hintersassen in die allgemeine katasterar-
tige Unteracheidung alles unter Kultur befind-
lichen Grundbesitzes der alten germanischen
Volksländer, in Hufen ein, deren jede ein
einfe,ches, aber leistimgsfähiges Bauerngut
bedeutete. Sie erlangten dadurch wie her-
kömmlich und selbstverständlich die Heran-
ziehung der Hintersassen zu den öffentlichen
Lasten nach dem üblichen, den Hufen ent-
sprechenden Masse sowie den gleichbleiben-
den Bestand der gutsherrlichen Leistimgen
von diesen Hufen. Der Beweis, dass aUe
diese Ortschaften unter die Hufenverfassung
fielen, lässt sich überall führen, wo Hufen-
register oder Urkunden erhalten sind. Wie
diese Hufeneinteilung ausgeführt worden ist,
darüber geben uns die gutsherrlich ange-
legten Gewanndörfer imd die planmässigen
Wald- und flämischen Hufen durch ihre
Anlagen selbst sichere Auskunft,
Für die blockförmig gestalteten Fliu--
stücke ist nicht zu ermitteln, wie sie be-
friedigend in die beabsichtigte Gleichstel-
lung der einzelnen Hufen der Ortschaft ein-
geordnet worden sind. Sicher aber ist, dass
dies einer Beurteilung der FläehengrtVssen
und darum in vielen Fällen der Messung
derselben bediu'fte.
14. Gemessene H. Es ist deshalb er-
klärlich, dass sich in den Quellen bis zum
10. Jahrhundert hin, auf welche Waitz seine
Untersuchung »über die altdeutsche Hufe«
mit Grund beschränkte, mehrere ausdrück-
liche Erwähnimgen gemessener Hufen fin-
den: hoba legitime dimensa (Trad. Sangal.
S. 393 Nr. 9), hoba plena et legitime men-
siu^ta (ebd. S. 322 Nr. 5), hoba pleniter
emensa (ebd. S. 336 Nr. 29), hol)a plena
(ebd. S. 286 Nr. 86, S. 331 Nr. 22, S. 363
Nr. 9 und bei Lacomblet I S. 5 Nr. 36),
ebenso mansus plenus (Tradit Patav. Nr. 72,
Trad. Ratisbon. S. 49). Ferner mansus legi-
timus (Bmjuigny II S. 346) und hoba lega-
lis (Tradit. Frising. Nr, 1093 und 1112) so-
wie illa mensura in viUa (Trad. Fuld. S. 288).
Alle Oertlichkeiten, auf welche sieh diese
Hilfe
1237
Angaben beziehen, liegen in Gebieten, welche
zum Eroberungslande gehören und auf wel-
chen eine Gutshen-schaft, meist eine geist-
liche, bestand, deren Besitz auf zum Teil
schon sehr alten Verleihungen benihte und
welche seit lange Land weiter verliehen
hatte. Die wenigen Hinweise auf hoba legi-
tima oder legalis genügen auch zum Er-
weise, dass sich für die Besitzungen von
St. Gallen, Freising und Epternach bereits
ein gewisses, für die gesamte Heri-schaft
gleichmässig geltendes Huf enmass festgestellt
hatte, welches bei Landleilien als das von
Rechts wegen geltende vorausgesetzt wimle.
15. Huf enmass. Gleichwohl darf selbst
fiir die einzelne GrnndheiTSchaft eine an-
nähernd gleiche Grösse der Hufen nur mit
sehr grossen Einschränkungen angenommen
w^erden, an eine allgemeine Cebereinstim-
mung der Hufenmasse über verschiedene
Grundherrschaften, Provinzen und Länder
oder etwa über das ganze Reich ist in keiner
Weise zu denken.
Dies ergiebt wsicli schon aus den volks-
mässig angelegten Gewannfluren. Man darf
allerdings voraussetzen, dass sich im Laufe
der Zeit in allen diesen Gemarkungen eine
bestimmte gleiche Zald von Morgen, Acker,
Juchert oder Tagwerken feststellte, welche
als Mass für die Hufe gerechnet wurtle.
Ganz gleich konnte dasselbe indes schon im
einzelnen Orte nicht sein, weil in den Ge-
wannen die Hiifenanteile zwar an Wert
gleich galten, die Flächen aber aus mancherlei
Gründen ungleich waren. Teils kamen Ver-
gütungen wegen Bodenungleichheit oder
wegen Wasserschaden, wegen der gefähr-
deten Lage an der Länge nach anstossenden
Wegen oder Viehtrieben, namentlich aber
wegen der sogenannten An wände vor, d. h.
wenn an den letzten Hufenanteü im Gewann
die Ackerstreifen des benachbarten Gewannes
rechtwinklig anstiessen, so dass alle Pflüge
auf der Grenze w^enden mussten. In diesem
Falle erhielt der gedachte letzte Hufenstreifen
in der Regel eine Entschädigung von min-
destens () Fuss Breite längs der Grenze.
Schon zwischen zwei Nachbardörfern
aber konnte dem gesamten Wesen der Ge-
wanneinteilung nach nur zufällig Gleichheit
der Hufen bestehen. Waitz zeigt zwar,
dass in vielen und vei*schiedenen Teilen
Deutschlands Hufen von 30 Morgen sehr
gewöhnlich waren, aber er führt daneben
auch zahlreiche Masse von 15^ 2, 20, 36, 40,
45 und 00 Morgen an.
16. Morgenmass. Indes wenn auch eine
dieser Zahlen, z. B. 30 Morgen, als ein häu-
fig legales Mass angenommen werden dürfte,
bedingt doch die gleiche Zahl Morgen
keineswegs eine gleiche Landfläche. Viel-
mehi' werden ebenso sehr verschiedene
Morgen wie versclüedene Acker, Tagwerke
oder Juchert erwähnt. AUe diese Masse
waren ohne eine hinreichend genaue Mes-
sungsgrundlage örtlich in Uebmig gekommen.
Was man an einem Tage oder Morgen mit
einem Pfluge oder mit einem Joche be-
ackern konnte, nahm man als Mass. Dafür
wunlen die deutschen Ausdrücke und eben-
so die lateinischen jugum, jugerum, jumalis,
diurnalis, terra boum und ähnliche oluie be-
stimmte Norm angewendet. Sie waren der
Natur der Sache nach schon auf vci>>chie-
denen Bodenarten ungleich.
Eine Norm für die Messung einer be-
stimmten Morgenfläche gab es im Volks-
lande überhauj)t nicht. Gewöhnlich galt der
Schaft, Skift, der Jagdsi)iess von etwa 7^2
Fuss als halbe und die Ritterlanze von 15
Fuss als ganze Rute. Aber schon der Fuss
war 80 unbestimmt, dass bis in das 13. Jalu»-
hundert die an den Kirchen mauern einge-
hauenen oder durch ein Eisen angezeigton
Ellenlangen der nächsten Marktorte oder die
häufigen Weisungen die Grundlage bildeten,
dass 15 Fusslängen der aus der Kirche
kommenden Bauern, die Rute, otler eine
gewisse Anzalü Gerstenkörner den Zoll, und
10 oder 12 solche Zoll den Fuss bilden
sollten. Auch die Marktorte liatten ihre
Masse beliebig gewälilt, und verfolgten da-
bei zum Teil das Interesse, die Transport-
kosten thunlichst durch das Mass, nicht
durch den Preis der Waren auszugleichen.
Als mehr und melir landesherrliche Mass-
und Gewichtsordnungen eingeführt wurden,
begründeten dieselben w^ieder neue Unter-
sciiiede zwischen den Territorien und ver-
mochten gleichwohl die alten herkömmlichen
Masse, nach denen die bäuerlichen Lasten
und Dienste bestimmt waren, nicht aus dem
örtlichen Gebrauche zu verdrängen. Dalier
entstand trotz der gesetzlichen Einfühnmg
gleicher Normalmasse für ganze Staaten, die
in der Gegenwart sogar international ge-
worden sind, die Notwendigkeit für die
Auseinandersetzungs- imd die Katasterbe-
hörden, die örtlich geltenden Masse zu er-
mitteln und in langen Verzeichnissen auf
die neueren Normalmasse ziu'ückzuführen
und unter einander vergleichbar zu machen.
In diesen Feststellungen zeigen sich die
Längen- imd Ackermasse el)enso mannig-
faltig als die Hohlmasse und Gewichte.
Es ist möglich, dass in Landesteilen, in
denen die agrarischen Zustände fast aus-
schliesslich auf grimdherrlichen Landleihen
beruhten, etwas mehr Festigkeit und Gleich-
mässigkeit in den Ackermassen bestanden
hat, aber der Versuch Guerards, das Morgen-
mass für Gallien in fränkischer Zeit, vor-
zugsweise auf Grund der Angaben burgun-
discher Urkunden zu bestimmen, hat er-
geben, dass auch diese Angaben wesentlich
von einander abweichen und für dfen Morgen
1238
Hufe
ein Mass bald von 80, bald von IO6I/2, 140
und 152 Quadratruten verzeichnen. Auch
zeigt sich schon in alter Zeit der rheinische
Morgen auf der Eifel zu 25, der kölnische
zu 32 ar, und die Hufe auf der Eifel zu 160
Morgen, zu Mors zu 120 Morgen berechnet,
obwohl die Hufen danach in beiden Landes-
teilen die gleiche Grösse von 38 ha haben,
welche wieder ^egen die gewöhnliche Hufen-
grösse am Rhein von 15 ha selir abweicht.
Auch mit dem römischen Masse lässt sich
nur der rheinische Morgen vergleichen,
welcher mit 25,53 ar dem römischen juge-
riun von 25,19 ar sehr nahe kommt. Aber
weder der römische Fuss von 0,296 m noch
die römische Rute von 2,96 m haben sich
irgendwo auf den von den Deutschen er-
oberten Gebieten erhalten. In Süddeutsch-
land gehen die Fussniasse noch erheblich
unter das römische herab und damit auch
die lOfüssig gebliebenen Rutenmasse. Da-
gegen haben die Morgen oder Tagwerke
meist 400 Qiiadratruten. In Rheinland und
Frankreich ist der Fuss erheblich grösser
und die Ruten haben 12 bis 18 solcher
Fussmasse, die Morgen dagegen nur 100 bis
130 Quadratruten. Es sind also in allen
diesen Eroberungsländern wider Erwarten
die römischen Normalmasse völlig verloren
gegangen, welche unzweifelhaft in römischer
Zeit allgemein bekannt, wenn auch, wie da-
nach anzunehmen, nicht im täglichen Ge-
brauch der Pro\dnzialen waren.
17. Königshilfen. Obwohl nun Meraus
hervorgeht, dass auch das merowingische
und karolingische Reich das römische Mass
nicht als ein allgemeines oder gesetzliches
übernommen hat, lässt sich doch als That-
sache erweisen, dass mindestens seit den
Karolingern ein bestimmtes festes Landmass
als königliches im ganzen Reiche bekannt
und in Lebung gewesen ist und dass das-
selbe anscheinend an altrömische Grund-
besitzverhältnisse anknüpfte. Dies Mass er-
weisen die sogenannten Königshufen.
Die Königshufen bedeuten diejenige
Flächengrösse, nach welcher die fränkischen
Könige Lkindsclienkungen zuweisen Messen,
für welche örtliche Grenzen nicht bereits
feststanden.
Zu jeder Zeit fielen den Königen eine
nicht unbeträchtliche Zahl Güter zu, welche
in festen Grenzen lagen. Rückfällige Lehne,
Konfiskationen wegen Aufruhr, wegen Ver-
brechen, wegen Laudesflucht, ebenso heiTcn-
los und unbeerbt gewordene Besitzungen
waren stets zu erwarten. Unter diesen hatten
die grösseren Güter Namen, einzelne Hufen
aber wai-en überall durch (lie Nachbarhufen
leicht festzustellen. Bei der Zuweisung
solcher Landschenkungen bedurfte es also
keiner Massangabe, sie würde eher Zweifel
und Verwirrung erregt haben.
Aber ein gewisser Kreis königlicher
Schenkungen und Zuweisimgen konnte an
solche bekannte Grenzen nicht anknüpfen.
Wenn der König von seiner Hofhaltung aus
in entfernten Gegenden erfolgreiche und
mutige Dienstleistungen oder finanzielle
Hufen belohnen, Vorschüsse und Zusagen
begleichen oder zweifelhafte Treue festhalten
wollte, Anforderungen, die stets und aus
allen Teilen des Reiches an ihn herantraten,
so war immer das fiskalische Land das ein-
fachste und schnellste, durch eine einzige
Urkunde flüssig zu machende Zahlungs-
mitteL Dieses Land bestand oft aus vom
Bjiege verwüsteten Einöden oder weiten
kaum berührten Waldungen in wenig be-
kannten Gegenden. Die Schenkungen ge-
schahen auch vielfach in der Absicht, Zu-
gänglichkeit und Kultur erst zu schaffen.
An eine vorherige Feststellung der Oertlich-
keit oder der näheren Verhältnisse der Lage
konnte nicht gedacht werden. Darüber
wären bei der Art der Kommunikation und
den grossen Entfernungen Jahre vergangen.
Deshalb blieb nur übrig, ein Flächeamass
imd zwar ein ziemlich ausgiebiges anzugeben
und den Grafen des Bezirkes anzuweisen,
dasselbe an dem ungefähr bezeichneten Orte
zur angemessenen Zuteilung bringen zu
lassen.
Ausdrückliche Verordnungen über die
Grössenverhältnisse eines solchen Flächen-
masses sind nirgend bekannt, aber die Kö-
nigshufen kommen in allgemeiner Verbrei-
tung vor. Ihr Mass musste also für die
Reichsbeamten überall feststehen. Es liess
sich auch nicht nach Morgen bezeichnen,
denn dann musste die Grösse des im könig-
lichen Dienste zu verwendenden Morgens
an jedem Orte übereinstimmend hergesteDt
werden können, ohne zu Verwechselungen
mit den überall verschiedenen örtlichen
Morgen zu führen. Es konnte also nur ein
Längenmass zu Grunde gelegt wei-den. Da-
zu aber war der Fuss oder die Elle unan-
wendbar, weil bei diesen schon eine sehr
geringe Differenz in der Länge bei den
nahezu 5000000 Quadratfuss, welche die
Königshufe enthielt, wesentliche (irössen-
unterschiede herbeigeführt hätte.
Deshalb ist erklärlich, dass als einziges
königliches Landmass die virga regalis, die
Rute urkundlich vorkommt. Ihi- liingen-
mass wurde nach einer ungarischen Urkunde
von 1336 anscheinend in einem Bande «ler
Schenkungsurkunde beigefügt. (Siedl. und
Agrarw. Bd. II S. ooö Anm.)
18. Mass der Königshufe. Leider giebi
es nun nur eine einzige Urkunde, in welcher
der Umfang der mit diesem Masse zuzu-
teilenden Hufen bestimmt auf 720 Ruten
lang und 30 Ruten breit angegeben winl.
Es ist dies der Vertrag, diu"ch welchen 1100
Hufe
1239
der Erzbischof Friedrich von Bremen die
bis dahin unkultivierten und versumpften
Mai'schländereien zwischen Bremen und der
Wümme holländischen Kolonisten ilberlässt.
Auch dabei ist ebensowenig wie bei anderen
Zuweisungen von mansi oder virgae regales
die Länge der Rute bestimmt. Aber aus
sicheren Angaben über Gnmdstücke auf den
gedachten Marschen, welche als halbe, ganze
oder mehrfache Hufen benannt und als solche
von jeher bei Zinsungen und Deichlasten in
Ansatz gebracht sind, hat sich auf diesen
Gemarkungen zweifelfrei feststeUen lassen,
dass die hier zugeteilten Hufen mit Schwan-
kungen, die nur Bruchteile der Hektare be-
tragen, durchschnittlich 47,7 ha Flächenin-
halt hatten. (Die näheren Nachweise finden
sich in der Abhandlung: Volkshufe und
Königshufe aus der Festgabe für G. Haussen,
Tübingen 1889, S. 46 ff. u. SiecU. u. Agrarw.
Bd. III Art. 147.) Da die Königsnufe hier
720 Ruten lang und 30 Ruten breit ge-
messen werden sollte, also 21600 Quadrat-
ruten enthielt, miiss die virga regalis eine
Länge von 4,70 m gehabt haben.
Dieses Mass ist für die Bremer Marsch
völlig gesichert Als allgemeines Mass kann
es ei-st erwiesen erscheinen, wenn es sich
in anderen Gegenden bestätigt. Dafür sind
Anhaltspunkte schwer zu finden. Das
gleiche Mass darf aber als nachgewiesen er-
achtet werden, denn in den drei Fluren
Boos bei Sobernheim an der Nahe, Effeltern
bei Sonnenberg in Franken und einem Teile
des Stadtgebietes Görlitz haben die urkund-
lich genannten und in ihren Grenzen noch
erhaltenen Königshufen die Grösse von 49,9,
48,7 und 48,2 ha, in Taucha die von 48,4
oder möglicherweise 51,9 ha. Die Grösse
der auf den beiden Fliu*en von Koxhausen
bei Prüm und Hanckenbusch bei Kerpen
bestehenden Königshufen ist leider nur so-
weit berechnimgsfähig, dass sie mit obigem
Masse nicht im Widei-spniche steht. Ob
bei anderen urkimdlich genannten Königs-
hufen eine örtliche Untersuchung zum Ziele
führen kann, ist noch nicht festgestellt, ihi^e
Urkunden ergeben aber keinerlei Bedenken
in betreff des oben angegebenen Mavsses.
Dagegen erweisen sie soviel, dass die Königs-
hufe keineswegs an eine bestimmte Form
der Ansiedelung und der Flureinteilung ge-
bunden wai*, dass sie vielmehr, was ihre
Natur als gemessene Hufe bestätigt, bei jeder
Art der Ortsanlage anwendbar blieb. Die
Bremer Marschen liegen in der Form der
flämischen, Effelter und Görlitz in der der
fränkischen Hufen, Taucha in Gewannen,
Boos in Gemenglage der zur Teilung ge-
brachten ursprünglich zwei Besitzungen,
Hanckenbusch in Einzelhöfen, Koxhausen in
Weilern mit blockartiger Feldverteilung, und
dieselben Unterschiede lassen sich auch bei
den zahlreichen sonstigen Erwähnungen von
Königshufen hinreichend deutlich erkennen.
19. Verwandte Hnfenmasse. Der Ur-
spning des Älasses der vii'ga regalis ist
völlig dunkel. Auf römisches Mass lässt
sie sich nicht zurOckfüliren. Weder der
römische Fuss von 0,296 m noch die pertica
von 2,96 m noch der Actus von 35,52 m
gestatten einen Bezug auf eine virga von
4,7 m. Dagegen steht das Gesamtmass der
Königshufe mit 48,3 ha dem der römischen
Centurie von 50,36 ha ziemlich nahe. Die
Königshufe konnte sich leicht wie in Taucha
dwrch das im Mittelalter ganz gebräuchliche
geringe Uebermass, welches »Gottberath« ge-
nannt wurde, auf 50 ha erhöhen, und die
römischen Centimen finden sich in den noch
erhaltenen Beispielen kleiner, bis zu 49 ha
bemessen. Aber es ist kaum auf ein ge-
naues Mass der Centurie zunickzugehen.
Dagegen bezeichnet Siciüus Flaccus (Lach-
raann, Agrim. I, 136) ausdrücklich 2(X) ju-
gera, also 50 ha als das grösste Mass, welches
ein bäuerlicher Besitzer selbst bebauen könne,
und von den romanischen Höfen, deinen Be-
stehen im südlichen Bayern noch in der
Agilolfinger- und Karolingerzeit in der Zahl
von mehreren Hundert bekundet wird, haben
die allerdings wenigen, deren Grenzen sich
noch bestimmen lassen, annähernd dieselbe
Grösse. (Siedl. u. Agrai'w. Bd. I 451, Bd.
III Anl. 64.) Es ist daher wohl möglich,
dass sich dieses Vorbild auf die Auffassung
der Königshufe als der eines ausgiebigen
Bauerngutes übertrug.
Die flämische Hufe hat, wie die Urkunde
von 1106 zeigt, ursprünglich die Grösse der
Königshufe gehabt, welche im Bremischen
sowie unter Albrecht dem Bären in der alt-
märkischen Wische festgehalten worden ist,
indes schon in den Stader Marschen und in
Pommern kam sie um etwa ^,4 verkleinert
zur Anwendung. (Boden u. Landw. Verh.
Preiiss. Bd. YI S. 95.) Von allen anderen
Hufen hat nur die kalenbergische, welche
unter den Ottonen über Sachsen verbreitet
war, ein gleich grosses Mass wie die Königs-
hufe und ist wahrecheinlicli unmittelbar aus
dei-selben hervorgegangen. Sie erfuhr zwai'
in ihrem Masse bis auf die neueste Zeit
keine Veränderung, ist aber nur ausnahms-
weise in Geltung geblieben. Vielmehr hat
sich auf den sächsischen Gebieten schon
früh als allgemeines Landesmass die Sitte
eingeführt, den in der Regel mit zwölf
Plerden Gespann wirtschaftenden Besitzer
einer kalenbergischen Hufe von 180 Morgen
nicht einen Hüfner zu nennen, sondern sein
Gut als Vollhof zu bezeichnen. Als Hüfner
wuRle in Braunschweig-Lüneburg schon seit
dem 13. Jahrhundert der Besitzer von 30
Morgen in den Hufen registern geführt, dem
ein Gespann von zwei Pferden zugeschrieben
1240
Hufe
Avurde. Dies ist indes aiclit die Latenhufe,
welche vielmehr urkundlich um 892 mit
120 jugera oder 48 ha, gleichzeitig auch
mit 60 jugera, 1382 mit 19 ha, überhaupt
örtlich ebenso verschieden, wie die Hufen
aller alten germanischen Siedelungen vor-
kommt. (Siedl. u. Agrarw. Bd. III S. 27,
70, 13.)
20. Kolonisationshufen. Schon unter
Karl dem Grossen begann die deutsche Ko-
lonisation der von den Slawen besetzten
Landstriche, welche Tacitus zu seiner Zeit
den Germanen zuschrieb. Diese Festsetzung
der Deutschen geschah teils in den Formen
regulierter grosser Gewanne, teils in denen der
im Art. Ansiedelung (oben Bd. I S. 373) ge-
scliilderten Waldhufen und flämischen Hufen,
teils aber auch unter Verleihung einzelner,
meist kleiner Grundstücke in unregelmäs-
sigen Formen. Bei allen aber war es über-
einstimmend ein Grundhen', sei es der
Kaiser oder ein Slawenfürst, oder ein von
dem Landesherrn beschenkter oder belieheuer
geistlicher oder weltücher Grosser, der die
Anlage selbst oder durch einen Cnternehmer
ausführte. Deshalb gesciiahen alle diese
Anlagen nach gemessenen Hufen.
Die fränkisclien Hufen schwankten nach
der Güte' des zu kultivierenden Waldbodens
zwischen 30 und 36 ha auch in derselben
Gemarkung, bewahrten aber ihre cliarakte-
ristische Form und kommen nur ganz aus-
nahmsweise in anderen Grössen oder auf
die Hälfte eingeschränkt vor.
Die flämischen Hufen behielten auch die
oben erwähnte reduzierte Grösse von 35 lia
in der Mark Brandenbiu-g und in Schlesien
nicht bei, sondern wurden hier allgemein
nur mit der Hälfte von 17 bis 18 ha zuge-
messen, der deutsche Orden nahm das
schlesische Mass von 16,81 lia landesgesetz-
lich für seine Gebiete in Preussen an. Da-
bei blieb für die flämische Hufe zwar immer
vorwiegend die Form langer und schmaler
Streifen vorherrschend, in welchen ursprüng-
lich geschlossene Hufengüter als Einzelhöfe
ähnlich den fränkischen Hufen ausgelegt
worden waren. Der Gebrauch, solche flä-
mische Hufen nicht ausschliesslich in Bruch-
gegenden als ganz neue Ansiedelungen an-
zulegen, sondern sie auch nach Mögliclikeit
mit bereits bestehenden geschlossenen slawi-
schen Dorfstrassen zu verbinden, führte, wie
sub 19 gezeigt, selir bald dazu, ihnen
neben den Hauptackerstreifen, die mit dem
Gehöft zusimimenhängen, auch gewannmässig
aufgeteiltes Üeberland zu überweisen oder
sie überhau2)t völlig gewannmässig anzulegen
oder umzugestalten, so dass sie von den
weitverbreiteten Kolonieanlagen in grossen
regelmässigen Gewannen niu* mit Schwierig-
keit zu unterscheiden sind.
• Die in grossen Gewannen veileilten
Fluren büden auf den ebeneren Teilen des
Kolonisationslandes die übei'wiegende Masse.
Sie sind fast überall an alte Slawendörfer
in der Weise angeschlossen, dass entweder
die alte Dorflage desselben, sei es als Rimd-
dorf oder als Strassendorf. unverändert be-
stehen blieb , oder dass dieselbe weniger
lungestaltet als vielmehr durch Vergrösse-
rung der Zahl der Gehöfte erweitert wuixle.'
Die Feldfluren der Slawen waren meist klein
und stets unregelmässig blockartig einge-
teilt. Es wiurden deshalb in der Regel zwei
oder drei zusammengeworfen und in die
Gewanneinteüung gebracht, um eine grossere
Zahl gleich leistimg-sfähiger Hufenbesitzungen
zu erhalten, welchen, sei es, dass sie durch
Deutsche oder Slawen besetzt wurden, gleiche
Zinsungen imd Dienste auferlegt weixien
konnten.
Das Mass, nach welchem solche Gewann-
fliu^n gemessen wurden, wm'de gewöhnlich
als Landhufe bezeichnet und vom Laudes-
herrn bestimmt. Es enthielt in der Regel
30 Morgen. Da aber die Morgen der ein-
zelnen Fürstentümer sehr weit abwichen,
von 25 bis 75, sogar bis 125 ar, so waren
auch die Hufen selu' verschieden, in Schlesien
66 Morgen rlü., in Magdeburg 45, in säch-
sischen Laudesteilen 30 Morgen rhl.
21. Die slawische Hakenhufe. Das
Agrarwesen der Slawen beruhte m^sprüng-
lich, wie im Art. Ansiedelung oben Bd. I S.
303 gezeigt ist, auf der kommunistischen Be-
wirtschaftung massig grosser Fluren durch
sogenannte Hauskommunionen. Deslialb ist
iluien die Hufeneinteihmg fremd. Begriff
und Wort der Hufen fehlten ilmen. Das
slawische Land ist, wie sub 10 erwähnt,
vom deutschen Lehn, beneficium entnommen.
Ihre bürgerhchen wie kirchlichen I^asten
wurden, wie die Gnesener Synodalbeschlüsse
von 1202 zeigen, nicht uach einem Acker-
masse, sondern nach dem Kopf, dem Raueh-
fange, dem Zugvieh oder dem Besitz eine^^J
Ackerwerkzeuges gefordert. Auch die erb-
eigenen Güter, welche unter dem Namen
Dzedzine vorkommen, hatten ganz verschie-
dene, von 100 bis 600 Morgen schwankende
Grössen. (Siedl. u. Agrai-w. Bd. U S. 245ff.)
Deshalb war es für die deutschen Fürsten
und Grundherren im Beginn der Eroberungen,
solange das Land noch nicht beruhigt war
und in deutsche Verfassung und Besiedelimg
gebracht werden konnte, schwer, einen Mass-
stab für die den deutschen Sitten entspre-
chende Grundbesteuerung zu finden. Da-
raus ging die slawische Hakenhufe hervor.
Im Gegensatz zu den Deutschen, welche
übei-all ihrcn sehr Avirksamen Pflug zur
Ackerbestellung anwendeten und damit auch
die schweren und zähen Böden in Angriff
nehmen konnten, iiatten die Slawen einen
herkömmliehen hölzernen Haken im Ge-
Hufe — Hufeland
1241
braucli, besassen nur wenig und schwaches
Zugvieh und beschränkten ihren Anbau auf
die leichteren und ebenen Böden. (Helmold
Ch. S. 12.) Weil mit dem Haken kreuz
und quer geackert werden musste, konnten
sie demgemäss nur verhältnismässig kleine
Flächen von ziemlich quadratischer Form
mit ihren Wirtschaftskräften bestellen. Des-
halb folgten die deutschen Grundherren den
slawischen darin, dass sie die Belastung der
Unterworfenen an den Besitz eines be-
sinn nten Hakens knüpften. Aber sie über-
wiesen dem Zinspflichtigen auch nur die für
diese Hakenarbeit geeignete entsprechende
Landfläche. Uegenül)er einer deutschen
Hufe, die als Pflug, als aratrum, d. h. das
durch einen Pflug zu bestellende Land be-
zeichnet wurde, sprach man von einem sla-
wischen Haken, einem uncus, imd rechnete
dai'auf nur h'2 oder -/s soviel AnbaiUand und
in demselben Verliältnis nur ^ 2 oder 2/3 der
Lasten. Dies konnte anfängUch nur eine
überschlägliche Schätzung sein. Als aber
l^i der Kolonisation das Land den einzelnen
deutschen llüfenern zugemessen wurde, ge-
schah dies auch mit dem Lande der Haken.
Vielfach erhielten indes auch die Slawen in
den bestehenbleibenden oder neu angelegten
SlawendöHern Hufen nach deutscher Rech-
nung. In Schlesien wurde aber in solchen
Slawendörfern der Besitz des einzelnen
Bauei'u nicht selten im Haken mass belassen
(Codex Dipl. Siles lY, S. 58, 110). Auch
in Böhmen blieben die aratra und unci als
Landmasse nebeneinanderbestehen. In über-
wiegend slawischen Ländern, wie Mecklen-
burg, Pommern und Preussen, auch ebenso
in Livland und Estlüand blieb das kleine
Hakenmass ganz im Sinne eines Hufeu-
masses erhalten. In Pommern hat der Haken
oder die wendische Hufe 15 pommerische
Morgen — 9 ha 82,6 ar ; die Tripelhuf e das
Dreifache. In Ost- und Westpreussen wird
der Haken überall auf *^ 3 der Hufe, als 11 ha
2,0 ar neben den altkulmischen und ent-
sprechend neben den anderen etwas kleineren
Hufen berechnet.
22. Uebertragungen. Das Wort Hufe
winl neuerdings auch häufig in übertragenem
Sinne gebraucht Man spricht von Hufen
der Spartiaten, indem man darunter die
4500 gleichen Ackerlose versteht, welche
Lykurg den Bürgern von Sparta mit der
Verpflichtimg zuwies, dass sie über dieselben
weder durch Kauf oder Verkauf noch durch
Schenkung oder Testament verfügen durften.
Ebenso werden, wie im Art. Feldgemein-
schaft oben Bd. III S. 379 näher begründet
ist, die römischen fundi als Hufen bezeichnet.
Dieselben bestanden urspriinglich aus je 2 ju-
gera erbeigenes heredium, welche den aufi
HOOO patres famüias angeschlagenen urspning- I
liehen Bürgern Roms von dem in Besitz \
genommenen ager romanus als Erbeigen zu-
erkannt wuixlen. An ihnen hing offenbar
das» gleiche Recht der Nutzung des ager
romanus. Noch vor dem 12-Tafelgesetz aber
muss jedem dieser fundi das nötige Anbau-
land in geschlossenem Grundbesitze durch
Assignation zu quiiitarischem Eigentimi
überwiesen worden sein. Dadurch wurde
der Landbesitz veräusserlich und nm' einzelne
Familien blieben im Besitz ihrer Stammgüter.
(Siedl. u. Agrarw. Bd. I S. 263 ff.)
Auchdie oben im Art. Ansiedelung Bd. I
S. 301 beschriebenen, noch heute in ihren
Grenzen erhaltenen Tates, in welche in Ir-
land jedes der mehreren Tausende Towlands
zerfiel,' welche bei der festen Besiedelung
der Insel begründet wurden, lassen sich mit
Grund in übertragenem Sinne als Hufen be-
zeichnen.
Weniger zulässig ist, wenn das Wort für
die amerikanischen Heimstätten oder anderen
Besitz von w^echselnder Natur gebraucht wird.
Litteratnr: O. Waitz, AUdeuUche Hufe (Ahh,
der k. Ges. der Wissensch. zu Göttingen), Göt-
tingen 1S54. — O. Landau^ Die Territorien,
Hamburg 1854. — ^* MeUxen, Volkshufe und
KOnigskufe in ihren alten Massverhältnissen (in
Festgabe für G. Haussen zum SL Mai 18S9J,
Tübingen 1889. — Siedelung und Agrarwesen
der Westgennanen und Ostgermanen, der Kelten,
Römer, Finnen und Slatren, 1895. — Im iVA-
rigen zu rergl. die Artt. Ansiedelung oben
Bd. 1 S. S75 und Feldgemeinschaft oben
Bd. III S. 840.
August Meitzen.
Hufeland, Gottlieb,
geb. am 19. X. 1760 in Danzig, studierte in
Jena, wurde 1788 daselbst ausserordentlicher,
1790 ordentlicher Professor (superuumerarius)
und 1793 ordentlicher Professor des Lehnrechts
und Beisitzer des Schöppenstnhls. 1803 über-
nahm er die Professur des Lehnrechts und der
Pandekten in Würzburg, 1806 wirkte er als
Professor der Rechte in Landshut, 1808 wurde
er Senatspräsident und Bürgermeister von Dan-
zig, 1816 folgte er einem Rufe nach Halle, wo-
selbst er bereits am 18. II. 1817 starb.
Hufeland veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften in Buchform a) Original-
werke :
Ueber das Recht protestantischer Fürsten,
unabänderliche Lehrvorschriften festzusetzen,
Jena 1788. — Neue Grundlegung der Staats-
wirtschaftskunst, durch Prüfung und Berich-
tigung ihrer Hauptbegriffe von Gut, Wert.
Preis, Geld und Volks vermögen, mit ununter-
brochener Rücksicht auf die bisherififen Systeme,
2 Teile, Giessen und Wetzlar, Teill 1807. Teil
11 1813; dasselbe, 2. Aufl., ebd. 1819-20. —
(Die Schärfe seiner Definitionen bei Prüfung der
philosophischen Grundbegriffe der Nationalöko-
nomie in seiner „Gnmdlej^ung" verrät den
Kantianer. Durch Identifizierung der Staats .
1242
Hiifeland — Hufenschoss
Wissenschaft mit der Volkswirtschaft (vergl.
Grundleeun&f I, S. 14) steht er auf dem Boden
der Smiuischen Schule, von der er sich wieder
durch seine von der Bedürfnisfrage abhängig
gemachte Produktionswerttheorie, im Gegensatze
zu der von Smith betonten Bedeutung des
Tauschwertes, entfernt; auch in seiner Lehre
von der Entstehung der Güter, zwischen denen
er, im Stadium des Werdeprozesses, Dinge und
Güter unterscheidet, ist er Antismithianer. Als
erste Quelle der Gütererzeugung und des Ein-
kommens schätzt er die Naturkraft, er bestrei-
tet den Satz, dass alle Güter Produkte der
Arbeit seien, und attribuiert den Dingen nicht
eher das Prädikat: Güter, als bis sie in der
Vorstellung der Menschen dazu geworden. Auch
in seiner Preistheorie und in seiner Lehre von
der Arbeitsteilung, deren Uebermass bei der
geistigen Produktivität er missbilligt, emanci-
piert sich Hufeland von der Smithschen An-
schauung. Der Ünternehmergewinn wird von
ihm als Dependenz des Nationaleinkommens be-
zeichnet, und in seiner Lehre vom Wesen, Wert,
Umlauf und der Bedeutung des Geldes nähert
er sich der Theorie der Merkantüisten). — Die
Lehre vom Gelde und Geldumlaufe, Jena 1798;
dasselbe, 2. Aufl., Giessen 1819. — Neue Dar-
stellung der Lehre vom Besitz, vorzüglich durch
genauere Feststellung ihres Hauptgesichts-
punktes, Giessen 1816.
b) Üebersetzungen : Ad. Mounier, Betrach-
tungen über die Staatsverfassungen, vorzüglich
über diejenige, welche dem französischen Staate
angemessen ist. Aus dem Französischen mit
Einleitung, Anmerkungen und Zusätzen von G.
Hufeland, Jena 1791. — (Graf) Clermont Ton-
nern, Prüfung der französischen Konstitution;
aus dem Französischen mit Einleitung, Anmer-
kungen und Zusätzen von G. Hufeland, 2 Teile,
Jena 1792. —
Vergl. über Hufeland: Walch, Reliquiae
controversiae, etc., Jena 1785, S. 12fF. — Huf e-
land, Erinnerungen aus meinem Aufenthalte
in Danzig, nebst Nachtrag, Königsberg 1813
(Rechtfertigung der Niederlegung seiner Bürger-
meisterstelle in Danzig). — Allgemeine Litte-
raturzeitung, Jahrg. 1817, Nr. 72. — Ompteda,
Litteratur des Völkerrechts, Bd. III, Berlin
1817, S. 42. — Hugo, Lehrbuch der Geschichte
des römischen Rechts, Berlin 1830, Bd. III, S.
583 und 599. — Er seh und Gruber, Ency-
klopädie, IL Sektion, Teil 11, Leipzig 1834, S.
370. — Knies, Die politische Oekonomie vom
Standpunkte der geschichtlichen Methode, Braun-
schweig 1853, S. 230/31. - R. v. Mohl, Ge-
schichte und Litteratur der Staats Wissenschaften,
Bd. I, Erlangen 1855, S. 274 und 332. — K au tz ,
Theorie und Geschichte der Nationalökonomik,
Bd. II, Wien 1860, S. 623. — Röscher, Ge-
schichte der Nat., 1874, S. 654 ff. — Ad. Wag-
ner, Grundlegung. 2. Aufl., Heidelberg 1879,
S. 7. — Allgemeine deutsche Biographie, Bd.
Xm, Leipzig IhSl, S. 296. — v. Holtzeu-
dorff, Rechtslexikon, 3. Aufl., Bd. II, Leipzig
1881, S. 329/30. - R. Zuckerkandl, Zur
Theorie des Preises, Leipzig 1889, S. 178/79. —
Lippert,
Hnfendchoss.
Keineswegs in allen deutschen Land-
schaften wurde die Hufe in der älteren
Steuerverfassung als Steuereinheil benutzt
Denn erstens spielte die Hufe in manchen
Gegenden (wie in den rheinischen) infolge
der grossen Zersplitterung des Grundbe-
sitzes überhaupt kaum eine Rolle, also auch
nicht in dem Steuerwesen. Zweitens lagen
dem Steuersystem auch in vielen von den-
jenigen Territorien, in welchen die Hufe
(resp. ein grösserer Hufenteil: die halbe
oder VierteÜiufe) ihre alte Bedeutung für
den bäuerlichen Besitz behalten hatte, anden?
Steuereinheiten zu Grunde. Lnmerhin er-
scheint die Hufe in einem grossen Teile
Deutschlands als Steuereinheit, namentlich
im Osten. Die technische Bezeichnung
^Hufenschoss« aber führte hier die auf dif
Hufe gelegte Steuer wiederum vorzugsweis»3
mir in der Mark Brandenbiu-g und in dem
ehemaligen Ordenslande Preussen. In
Brandenburg war der Ertrag des Hufen-
schosses eine der Quellen, aus denen das
im 16. Jahrhundert für die Tilgung der
landesherrlichen Schulden begründete > stän-
dische Kreditwerk« gespeist wnu*de. Die
anderen Quellen waren: der Giebelschoss,
die Beiträge der Städte, das neue Biei^ld ;
und zwar lasteten Hufenschoss und Gieln^l-
schoss nur auf dem platten Ijande, da**
neue Biergeld auf Stadt und I^and zusam-
men. Der Hufenschoss hat mit dem stän-
dischen Kreditwerk bis in den Anfang
des 19. Jahrhunderts bestanden. Im ein-
zelnen in wechselnder Höhe erhoben, masr
er im 16. Jahrhundert als eine nicht geringe
Leistimg empfunden worden sein. Später
jedoch erschien er infolge des Sinkens «les
Geldwertes als eine bescheidene Belastung
des Bodens. Er w^urde bei weitem von der
durch den grossen Kurfürsten eingeführten
»Kontribution <r (s. d. Art.) in Schatten ge-
stellt, welche gleichfalls den Grundbesitz
traf, um 1800 betrug z. B. im Kreise Bees-
kow-Storkow die Kontribution jährlich &A'),
der Hufen- und Giebelschoss dagegen nur
734 Thaler. — In Preussen bestand s*»it
alters ein gemischtes Steuersystem, in dem,
soweit die Steuer vom Gnmdbesitz erhoben
wurde, die Hufe Steuereiriheit war. Eine
Steuer mit der technischen Bezeichnung
»Hufenschoss«, speciell »Generalhufenschoss
datiert jedoch erst seit der benlhmten
Steuerreform unter Friedrich Wilhelm 1.,
die an den Namen des Grafen Truchsess
geknüpft ist. Die Tendenzen derselben
gingen dahin, eine gerechtere Verteilung
der Steuer herbeizuführen (namentlich die
Bonität der Aecker zu berücksichtigen und
die Defraudationen, Yerschweigungen vt>n
Hufen zu beseitigen) und die vielen MAn-
Hufenschoss — Hufenverfassung
1243
dischen Steuern dui*ch eine einzige Grund-
steuer, eben den Generalhufenschoss zu er-
setzen. Bei der Besitzergreifung West-
preussens durch Friedrich den Grossen
wiuHie der Generalhufenschoss auch hier
eingeführt. Im Unterschiede von dem
brandenbiu'gischen System ist der General-
hufenschoss in Preussen die Gnmdsteuer
schlechthin. — Principiell identisch mit dem
Hufenschoss ist die in manchen slawischen
resp. germanisierten Liandschaften (Pommern,
Livland) vorkommende Besteuenmg des
>Hakens«, der hier für den bäuerlichen Be-
sitz eine ähnliche Bedeutung hat wie
anderswo die Hufe. Verwandt ist auch das
von den normannischen Konigeu in England
eiugeführte carucagium, resp. hydagium,
welches Gneist geradezu Hufenschoss nennt.
Litteratur: Vgl. LittenUur der Sienergesckichtc
bei Ailolph Wagner, Finamirissenachaft , S.
Teil, Heft 1. — Zakrzewski, Die wichtigeren
preusftischen Reformen der direkten ländlichen
Steuern im 18. Jahrh. (Schmollers Forachungen
yjl, i^J, Leipzig 1887. — 7>ie Behchrdenoi'guni-
»ation und die allgemeine Staatsrencaltttng
Preu^seng ivi 18. Jahrhundert (Acta Borussica),
Bd. S, 17 U— 1717, bearbeitet von G, Schmoller,
O. Kratiske und V. Löwe, Berlin 1898. —
•V. auch den Art. G rundsteuer , ältere Ze i t ,
oben Bd. JV S. 9^4:^0.
G, V, Bel4fw,
Hnfenverfassnng.
1. Begriff. 2. Allgemeine Verbreitung der
Hufen im fränkischen Reiche. 3. Die grund-
herrliche Festsetzimff von Hufen. 4. Allgemeine
Verbreitung der Hufen in England und Skandi-
navien. 5. H. der deutschen Kolonisation.
6. Fortdauer der H. 7. Bedeutung der H.
1. Beip'iff. Unter Hufenvei'fassung wird
nicht die oben im Art. Hu f e S. 1232 fh erläu-
terte wirtschaftliche und rechtliche Gestal-
tung der einzelneu Hufe, sondern der or-
ganische Zusammenhang verstanden, welcher
sich in dem Bestände der Hufen ganzer
Länder entwickelt hat und für wesentliche
Anfordenmgen der Staatsvei-waltung voraus-
gesetzt wird. Die Hufen Verfassung äussert
sich in der Thatsache einer so weiten Ver-
breitung der Hufen über die Kultiu-ländereien
eines Staati^gebietes, dass sie eine hinrei-
chende Organisation des Ginindbesitzes bil-
den, welche der Staat zur Grundlage der
Verteilung wichtiger öffentlicher Pflichten
und Rechte zu benutzen vermag.
Wenn Lykurg den spartanischen Voll-
bürgern gleiche unveräusserliche Ackerlose
zuwies oder in Rom König und Senat den
X^atres familias der alten Bürgergeschlechter
fundi von gleichem Mass der 2 jugera Erb-
oigen und gleichen Nutzungsrechten am
ager publicus zuerkannte, so ist eine solche
Organisation des Gnmdbesitzes vom Staate
selbst geschaffen. Auch wenn wir von der
Bedeutung derselben im Staatsleben nichts
Näheres wissen, ist aus der Entstehung auf
die nalie Beziehung zum öffentlichen Rechte
zu schliessen, und man darf, sofern man das
Wort in übertragenem Sinne gebrauchen
will, von Hufenverfassung sprechen.
Die Hufen der Grermanen sowohl der
Deutschen als der Skandinaven haben aber,
wie gezeigt ist, eine solche Entstehung
nicht. Gleichwohl sind deutliche Zeichen
erkennbar, dass alle Staatenbildungen der
Germanen seit dem Bekanntwerden einer
geordneten Verwaltimgsthätigkeit bis min-
destens in das 18. Jalirhundert die Hufen
als einen kaum entbehrlichen Anhalt für
die Verteilimg der öffentlichen Lasten be-
nutzt haben. In den Ursachen und Wirkun-
gen dieser Erscheinung liegt das Interesse
der Frage.
2. Allgemeine Verbreitiuig der Hufen
im fränkischen 'Reiche. Als Zeugnis, dass
auf dem gesamten deutschen Volkslande die
Hufe überall als die ül>ereinstimmende Ge-
staltung des Grundbesitzes bestand und
dass sie in gleicher Form auch auf den ge-
samten eroberten keltoromanischen Boden
übertragen worden war, sind die Ortsur-
kunden nicht hinreichend beweisfähig, ob-
wolü sie allerdings aus den verschiedensten
Oertlichkeiten zalilreiche urkundliche Erwäh-
nungen enthalten. Den ersten bestimmten
Beweis geben die Kapitulare der Karolinger.
Dahin gehören vor allem die Vorschriften
Karls des Grossen über den Heerbann
(Mon. Germ. LL. Sect. II, capit. reg. Franc.
Tom. I, S. 134, 137). Das Memoratorium
Karls von 8U7 erleichtert die diu-ch die
vielen Kriege und die Entfernungen, in
welche die Heei-e ziehen mussten, drückend
gewordene Heerbannslast durch folgende
Anordnungen; ^Alle, die Lehen haben,
sollen zum Heere kommen. Welcher Freie
5 Hufen zu Eigentum hat, soll gleichfalls
kommen, ebenso wer 4 Hufen hat und
wer 3 ilufen hat. W^o aber zwei gefun-
den werden, von denen jeder 2 Hufen
hat, soll einer den anderen ausrüsten, und
wer von beiden am besten kann, kommen.
Wo aber 8 gefunden weitlen, von denen
jeder 1 Hufe hat, sollen 2 den dritten
ausrüsten, so dass, wer am besten kann,
auszieht. Von denen aber, welche halbe
Hufen haben, sollen 5 den sechsten aus-
riisten. Wer aber so arm gefunden wird,
dass er weder einen Hintersassen noch
eigenen Grundbesitz hat, aber 5 Solidi
an Wert besitzt, von denen sollen 5 den
sechsten ausnisten, von denen aber, welche
kleine Landbesitzungen haben, 2 den
dritten. Und von den gedachten Armen,
welche keinen Landbesitz haben, sollen 5
1244
Hufenverfassung
Solidi für jeden von ihnen, der zum Heere
zieht, zusamniengebmcht werden«. Das
folgende Kapitulare von 808, welches die-
selbe Pflicht für die je vierte Hufe aus-
spricht, bestätigt, dass diese Anordnungen
sich auf alle Provinzen des Reiclies und
sowohl auf die Franken als auf die Sachsen
beziehen. Die einzige Ausnahme bilden die
Friesen, bei denen auch die Grtmdbesitzer
nur nach dem Vermögenswerte zum Dienste
herangezogen werden. Die Friesen nahmen
altbesiedelten Keltenboden in Besitz, deshalb
bestanden ursprünglich in Friesland nur
grössere und kleinere Einzelhöfe, imd die
Hufen sind erst mit den fränkischen Moor-
kolonieen eingefülirt worden. Die Vorschrift
beruht also ei-sichtlich auf durchaus bewuss-
ter Unterscheidung der in dieser Beziehung
bestehenden Verhältnisse.
In einem Kapitulare von 805 (ebenda S.
123) wird befohlen, dass jeder, der zwölf
Hufen besitzt, einen Brustliarnisch haben
und im Heere tragen solle. Auch sagt die
Capitulatio de partibus Saxoniae (ebenda S.
69, XV), dass die Insassen des Sprengeis
jeder Kirche ein Gehöft und zwei Hufen
Land, und auch je 120 Adlige, Fi-eie oder
Liten einen Knecht und eine Magd der
Kirche zu geben haben. Ganz allgemein
spricht das Capitulare ecclesiasticum Lud-
wigs des Frommen (ebenda S. 277, X) aus,
dass festgesetzt sei, jeder Kirche stehe eine
volle Hufe, frei von jeder Leistung, zu.
3. Die grandherrliche Festsetzung
von Hnfen. In dieser unbedingten Voraus-
setzung der karolingischen Staatsverwaltung,
dass, abgesehen von der einen bekannten
Ausnahme Frieslands, die Heerbannleistung
überall nach den Hufen verteilt werden
könne, liegt zugleich der Beweis, dass auch
alle die, wie oben S. 1285/36 dargestellt ist,
grösstenteils schon wälu-end der Völker-
wanderung begabten Grundhen*en, welche
nicht Lehnsleute waren, ihre freien heer-
bannspflichtigen Hintersassen, dem Inhalte
der vorhandenen Urkunden entsprechend,
wirklich auf Hufen angesetzt hatten. Zwei-
felhaft kann sein, ob dies luelu* der öffent-
lichen oder der grundherrlichen Lasten
wegen geschah. Für die Erhebung der
grundherrüchen Abgaben und. Ijeistungen
lag darin aber eher eine Becjuemlichkeit als
ein ersichtlicher Vorteil, ßestimmenderc
Gründe lassen sich wegen der öffentlichen
Pflichten erkennen. Es mag deshalb neben
der Sitte wohl auch schon in der den Karo-
lingern vorhergehenden Zeit der Einfluss
der Anforderungen des Staates wirksam ge-
worden sein. Zudem lässt die Königshufe
(oben S. 1238 ff.) die Vermutung zu, dass
aucli die von den Deutschen übernommenen
alten* romanischen Höfe nach den ungefähren
Grössen von 200 und 100 jugera unterein-
ander ausgeglichen waren, die sich für die
in Oberbayern \md Habsburg bis in die
Karolingerzeit erhaltenen nachweisen lassen.
Eine solche Einwirkung der öffentlichen
Ansprüche auf die gi-undherrliche Feststellung
von Hufen lässt sich indes keineswegs als
eine nur der fränkischen Staatsverwaltung
eigentümliche auffassen; denn die gleich-
massige Durchführung der Hufen auf dem
volksmässig wie dem von einzelnen Herren
in Besitz genommenen Lande findet sich
auch anderwärts.
4. Allgemeine Verbreitung der Hnfen
in England nnd Skandinavien. Für Eng-
land erweist sich die allgemeine Durchfüh-
rung der Hufen Verteilung und die gleiche
katastermässige Würdigung der einzelnen
Hufen dadurch, dass schon 1003 und von
da fortlaufend bis in das 12. Jahrhundert
der Tribut oder das Loskaufgeld an die
Dänen , die sogenannte Danegilte mit 1
Schilling auf jede Hufe erhoben w»u*de.
In Dänemark wurde 1231 die Landein-
schätzimg, welche dem Erdbuche Walde-
mars IL zu Grunde liegt, nach Hufen aus-
geführt und für jede Hufe gleichmässig
der Wert von 1 Mark Goldes in Ansatz
gebracht. Ebenso wnmie 1249 die bekannte
Pflugsteuer Erich Plugpennigs nach den
Hufen, in gleicher Höhe von jeder boole,
umgelegt.
Schweden zerfällt noch gegenwärtig in
67 770 Hufen, Mantal oder Hemman,
Mannsteile oder Mannsheim, welche in
früheren Zeiten den Höfen entsprachen, die
von einer Bauernfamilie bewirtschaftet wur-
den. Mit der Zeit und bei dem Fortschritte des
Anbaues sind sie zur Teilung gekommen
und bilden nur noch ideelle Einheiten, von
denen kleinere Stellen teils auf immer, teils
auf gewisse Zeit abgegeben werden kcmnen.
Von den Mantals fallen 59532 auf das alte
Volksland, der Rest auf die nördlicheren
Kolonisationsgebiete. Da Schweden im
ganzen 406721 qkm Land, ungerechnet die
36097 qkm Seeen, besitzt, würde jede Hufe
einen dm*chschnittlichen Flächeninhalt von
6 qkm besitzen können. Acker- und anderes
Kulturland beträgt aber im ganzen König-
reiche nur 3,9 Millionen ha, so dass abge-
sehen von Weideland die nutzbare Grösse
der Hufe 57 ha, wenig mehr als die Königs-
hufe beträgt.
5. H. der deutschen Kolonisation.
Für die Kolonisation der Slawenländer wurde
von Beginn an der Gebrauch der Hufe für
die Vergebung der Güter, die Ansetzung
der Kolonisten und die Erhebung der fiska-
lischen und gutsherrlichen Lasten als völlig
selbstverständlich angesehen und ohne Aus-
nahme angewendet. Die I^andzu Weisungen
der erobernden deutschen Füreten an den
Adel, die Geistlichen, Stifter und die Städte
Hufeu Verfassung
1245
erfolgten ebenso nach einer bestimmten An-
zahl Hufen wie die Schenkungen der
Slawenftlrsten, welche in dem Besitze ihrer
Herrschaft blieben und ihi-erseits ihr Ijand
durch die Heranziehung deutscher Grund-
hen^cn und deutscher Kolonisten zu heben
suchten. Ebenso teilten die Grundherren
den Unternehmern der Kolonieanlagen, und
diese Unternehmer wieder den einzelnen
Kolonisten das Land nach der Hufe zu.
Diese Hufen waren sowohl in der Form
der Feldverteilung als in der Grösse ver-
schieden, aber innerhalb jeder Kolonie
gleichwertig gedacht. Man darf sogai* an-
nehmen, dass die oben S. 1240 unterschiede-
nen Waldhufeu, flämischen Hufen und Land-
hufen untereinander ziemlich gleich leis-
tungsfähig erachtet wurden. Die Landhufe
von 15 ha stand der kleinen flämischen
Hufe von 16,81 ha sehr nahe. Wo aber die
alte flämische Hufe die doppelte Fläche
umfasste, waren Sümpfe zu kultivieren oder
Eindeichungen auszuführen, von denen die
bekannteren in der altmärkischen Wische so
schwierig und kostspielig erscheinen, dass
wir uns von deren Herstellung kaum eine
befriedigende Vorstellung zu machen ver-
mögen. Die zwischen 30 bis 36 ha oft in
derselben Gemarkung schwankenden Wald-
hufen aber konnten ihr Anbauland nur durch
schwere Rodungsarbeiten gewinnen, und die
grössere Fläche einzelner Hufen bildete eine
oft wenig zureichende Entschädigimg daftlr,
dass in den geschlossenen Landstreifen ihres
Besitzes steilere, nassere oder steinigere
Hänge mit eingeschlossen werden mussten
als in den anderer Nachbarhufen.
Die ebenfalls katastermässige Auffassung
dieses Hufenbestandes in den einzelnen
Fürstentümern ergeben einige Landbücher
oder Hufenregister, w^elche schon im 14.
Jahrhundert angelegt winden, um die fürst-
lichen Einkünfte nachzuweisen, wie das
Landbuch der Neumark von 1337 (ed. Goll-
mert 1862), das Landbuch für das Fürsten-
tum Breslau, Neumarkt 1358—1367 (ed.
Stenzel 1842 im Bericht der historischen
Sektion der Schles. Yaterl. Gesellschaft)
und das Landbuch der Mark Brandenburg
von 1375 (ed. Fidicin 1856), in Polen
Steueranlagen unter Casimir dem Grossen
(1333— 1370). Hierher lässt sich auch der
liber Census Daniae, ein nach Haken auf-
gestelltes Grundbesitzregister eines Teües von
Esthland aus der Mitte des 13. Jahi'hunderts
ziehen.
6. Fortdauer der H. Neben den Land-
büchern erscheinen schon im 15. Jahrhim-
dert vielfach Zinsregister in verschiedenen
Territorien, welche die einzelnen Ortscliaften
mit den darin vorhandenen Besitzungen und
deren Eigentümer verzeichnen uncl dabei
den Bestand jeder Besitzung nach Hufen
und die den Hufen verhältnismässig verteil-
ten landosherrlifhen Lasten, oft auch die
gutsherrlichen, aufführen. Im 16. Jahrhun-
dert werden solche Landesbeschreibungen ^
Erbbücher, Ziusi^egister, Hufenregister, ganz
allgemein. Sie gehen von den Finanz- oder
den Domänen Verwaltungen der einzelnen
Landesherren aus.
Auch von Seiten der Gutsherren ent-
wickelte sich, wie jedes Archiv zeigen kann^
seit dem Anfange dos 16. Jahrhunderts ein
besonderes Bestreben, den alten Hufenbe-
stand und die Hufenlasten der einzelnen
hörigen Ortschaften festzustellen. Es hing
dies damit zusammen, dass in der Zeit der
Begründung der modernen Monarchie und
des die neuen Justiz- und Verwaltuugs-
kollegien besetzenden Dienst- und Hofadels
zugleich die grössere Ausdehnung der
Güter seitens des Adels und der Betrieb
derselben in eigener Wirtschaft begann. Es
kam dai-auf an, im Interesse dieser Gross-
güter Besitz und Rechte der Bauernschaften
genau abzugrenzen.
Das Ansehen dieser Grosswirtschaft, der
Einfluss des Beamtentums und die immer
fühlbarer werdenden finanziellen Verlegen-
heiten der Herrscher steigerten im 16. und
noch im Anfange des 17. Jahrhunderts die
Macht der I^andstände so hoch, dass Steuer-
bewilligung und Steuerverteilung im we-
sentlichen in ihren Händen lag und die
Lasten des ländlichen Grundbesitzes in der
Hauptsache wieder nach dem alten Hufen-
massstabe zur Umlage kamen. Dass dabei
der Adel soweit als möglich auf Gnuul der
Lehnspflichten seine Steuerfreiheit durch-
setzte und die Lasten auf die Bauernhufen
abwälzte, berührte den Grundsatz der
Hufenbesteuerung nicht. Weniger entsprach
es der alten Hufenverfassung, dass sich die
herkömmlichen Hufen vielfach verwischt
hatten und an ihrer Stelle die kleineren
landesherrlich festgestellten Hufenmasse als
Grundla^ge der Hiifenbesteuenmg angenom-
men wurden.
Nach dem 30 jährigen Kriege griffen die
landesherrlichen Finanzverwaltungen mit
grösserer Kraft im Sinne gerechterer Aus-
gleichungen in die Steuerverhältnisse ein.
Indes vergingen noch lange Perioden, ehe
auf dem Gebiete der Grundbesteuerung
durchgreifende Massregeln möglich wurden.
1705 begann Wtirttemberg eine Landeska-
tastrierung auf Grund von Triangulierung
und Specmlkartierung. 1725 wurde Schlesien
trianguliert imd in den Hauptflächen der
Fürstentümer und Kreise berechnet.- Die
von Friedrich dem Grossen 1741 und 1772
zum Abschluss gebrachte Steuereinschätzung
legte indes für die ganze Provinz noch die
althergebrachten Hufenzahlen der Güter und
Bauerschaften zu Gninde. Seit 1765 wurdea
1246
Hafenverfassung — Hüllmauu
auch Kurhessen und Braunschweig in allen
Parzellen vermessen und kartiert und dabei
die Lasten im einzelnen festgestellt. Auch
ftir diese Feststellungen wiu'den, soweit mög-
lich, die alten Hufen zu Grunde gele^ und
boten in der Regel den besten unstnttigen
Anhalt.
Erst die modernen Katastrierungen haben
allgemeine, an die Bodenbeschaffenheit an-
geschlossene SchÄtzungsgnmdsätze aufgestellt
und auf den Reinertrag bezogene Grundbe-
steuerungen durchgeführt.
Für die Leistungen und Abgaben an den
Gutsherrn sind indes bis zur Ablösung der-
selben und für die Verteilung der Gemeinde-
lasten vielfach bis auf den heutigen Tag die
alten herkömmlichen Hufen massgebend ge-
blieben. Es kam dabei nur auf die Einheit
der Hufe, nicht auf deren zeitweiligen Be-
sitzer an, so dass auch bei völlig parzellier-
ten Hufen die Leistungen immer nach der
ganzen Hufe umgelegt werden konnten und
den Teilstückbesitzem die ünterverteilung
selbst überlassen blieb.
Ebenso haben die Anrechte an Gemein-
heiten und die Beteiligung an Servituten in
der Regel ihre Feststellung nach den orts-
üblichen Hufen gefunden, und waren nach
dieser Verteilung und am leichtesten ohne
Streit zur Entscliädigung und Aufhebung zu
bringen.
7. Bedeatnng der H. Die grossen
Vorteile der Hufenverfassung für ein vor-
zugsweise auf landwirtschaftlichem Dasein
beruhendes Volks- und Staatsleben sind un-
verkennbar. Sie erlaubte für ganze Landes-
teile und Staatsgebiete eine katastermässige
Uebersicht und gewährte von Anfang an den
Nachbarn das Bewusstsein, mit gleichen
Schultern zu tragen. Der Staat wie die
Mächtigen waren gehindert, die Lasten un-
gleich und nach Gunst aufzuerlegen. Dabei
war der Massstab so einfach und durch-
sichtig, dass die Verwaltung auf das ge-
ringste Mass beschränkt bleiben konnte.
Bei bekannter Hauptsumme des Bedürf-
nisses waren die Teilungsbeträge für jeden
berecheobar. Auch für das Verfahren der
Beitreibung wurde durch die Gleichmässig-
keit jedes Interesse beseitigt, die Einsamm-
lung anders als in der Gemeinde selbst vom
Vorsteher vornehmen zu lassen. Dadurch
wurde die bei unentwickelten Staats Verhält-
nissen sehr grosse Gefahr der Verschuldung
der Pflichtigen gegenüber den Steuererhe-
bern, des Entstehens gi'osser Steuerreste und
der Vereuche fern gehalten, steigende Aus-
fälle der Steuerverwaltung und wachsende
Bedürfnisse des Hofes und Staates durch
neue und verschiedenartige Steuern zu
decken. Mannigfache Steuersysteme lassen
sich in ihren Wirkungen nur bei sehr ge-
ordneter und sachkundiger Verwaltung über-
sehen. Ohne genügende Grundlage führen
sie zu grossen Ungleichmässigkeiten und
erniedrigen die Steuereingänge, statt sie zu
heben, weil sie eine kostspielige und schwer
kontrollierbare Menge von Beamten erfordern
und durch ihre Wechselwirkung die Steuer-
-kraft schwächen und erschöpfen.
Mit der einfachen unveränderlichen
Gnmdlage, welche die Hufenverfassung den
öffentlichen Lasten gewährte, verknüpfte
sich aber auch überall die Sitte und Auf-
fassung, für die grundherrlichen Leistungen
dieselbe Grundlage dauernd festzuhalten. Es
ging daraus die weite Verbreitung der Erb-
zinsgüter für die hörigen Bauern hervor,
deren fester unveränderlicher Bestand für
die Erhaltung des deutschen Bauernstandes
viel mehr Wert hatte als die Freiheit der
Person, die sich mit der Zeit mehr oder
weniger verminderte.
Litteratur: S, im ah. Hufe oben S. IS4I.
Hüllmann, Karl Dietrich,
geb. am 10. IX. 1765 zn Erdeboru bei Eisleben^
preuss. Provinz Sachsen, studierte in Halle,
leitete 1786 bis 1792 eine Privathandelsschale
in Bremen, wurde 1795 Privatdozent der Ge-
schichte, 1797 ausserordentlicher und 1807 or-
dentlicher Professor an der Universität Frank-
furt a. 0., folgte 1808 einem Rufe nach Königs-
berg als Professor der Geschichte und Statistik,
wurde 1818 für die neu errichtete Hochschule
in Bonn gewonnen, wo er als erster Rektor
und RegierungsbevoUmächtigter amtierte. Im
76. Lebensjahre trat er in den Rahestand and
starb am 4. III. 1846 in Bonn.
Hüllmann veröffentlichte von staatswissen-
schaftlichen Schriften in Buchform: Historische
und staatswirtschaftliche Untersuchungen über
die Naturaldienste der Gutsonterthaneu nach
fränkisch-deutscher Verfassung und die Ver-
wandlung derselben in Gelddienste, Berlin 180B.
— Deutsche Finanzgeschichte des Mittelalters.
Mit Nachtrag: Geschichte des Ursprungs der
Regalien in Deatschland, 2 Bde. Berlin nnd
Frankfurt a. 0. 1805—6. — Geschichte des
Ursprungs der Stände in Deutschland, 3 Bde.,
ebd. 180N5— 8; dasselbe, neuer Abdruck, 3 Bde.,
Berlin 1817; dasselbe, 2. Aufl. (vollständige
Umarbeitung des alten Werkes), eod. 1830. —
Geschichte der Domänenbenutzung in Deatsch-
land, Frankfurt a. 0. 1807 (Göttinger Preis-
schrift). — Geschichte des byzantinischen Han-
dels bis zn Ende der Ereuzzüge, ebd. 1806
(Göttinger Preisschrift). — De re argentaria
veteris et medii aevi dissertatio historica cri-
tica, Königsberg 1811. — Urgeschichte des
Staates, ebd. 1817. — Ursprünge der Besteue-
rung, Köln 1818. — Staatsrecht des Altertums,
ebd. 1820. — Städtewesen des Mittelalters, 4
Bde., Bonn 1826—29 (Hauptwerk Hüllmanns,
welches sich wegen der Reichhaltigkeit und über-
sichtlichen Gruppierung des gebotenen Materials
Hiillmaan — Hiime
1247
noch immer zum Stndium empfiehlt. Das
frösste Interesse beansprucht Bd. I, worin
[unstfleiss, Handel und Schiffahrt behandelt
sind mit besonderen Hauptstücken für Binnen-
grosshandel und Zahlungsverfassung. Bd. IV
umfasst das „Bürgerleben", dessen überaus
lebendige Schilderungen das treue Kolorit der
mittelalterlichen Ueberlieferungen aufweisen.) —
Ursprünge der Kirchenverfassung des Mittel-
alters, Bonn 1831. — Römische Grundverfas-
sung, Bonn 1832. — Staatsverfassung der Israe-
liten, Leipzig 1834. — Ursprünge der römischen
Verfassung, durch Vergleichungen erläutert,
Bonn 1835. — Jus pontificium der B^mer, Bonn
1837. — Handelsgeschichte der Griechen, Bonn
1839.— Griechische Denkwürdigkeiten des Mittel-
alters, Bonn 1840. — Geschichte des Ursprungs der
deutschen Ftirstenwürde, Bonn 1842. — Staats-
wirtschaftlich - geschichtliche Nebenstunden , 2
Teile, Bonn 1843 (enthält auf S. 86 u. ff. des
II. Teils den wichtigen Artikel: Bankzettel,
Vorgeschichte; Entst^hungsart der Banken,
Zettel- und Girobanken etc.). —
Vergl. über Hüllmann: F. Delbrück,
Nekrolog Hüllmanns, in „A. Schmidts Zeit-
schrift für Geschichtswissenschaft", Bd. VI,
Berlin 1846, S. 1 ff. — Neuer Nekrolog der Deut-
schen, Jahrg. 1846, Teil I, Weimar, S. 167. —
R. V. Mohl, Geschichte und Litteratnr der
Staatswissenschaften, Bd. II, Erlangen 18ö7, S.
302, 309, 315. — Röscher, Geschichte der
Nat., 1874, S. 914. — Allgemeine deutsche
Biog^phie, Bd. XIII, Leipzig 1881 , S. 330. -
Lippert
Hume, David,
feb. am 26. IV. 1711 zu Edinburg, studierte
ie Rechte, amtierte 1752 als Oberbibliothekar
der Advokatenbibliothek in Edinburg, wo er das
Material zu seinem grossen Geschichtswerke,
fortgesetzt von SmoUet und Hughes, sammelte.
1763 trat er als Legationssekretär in Paris in
freundschaftlichen Verkehr mit den Encyklopä-
disten, wurde 1767 Unterstaatssekretär in Lon-
don und lebte seit 1769 nur noch seinen wissen-
schaftlichen Studien in Edinburg, wo er am 25.
Vm, 1776 starb.
Hume, der einerseits durch seinen vollende-
ten Skepticismus die Grundpfeiler des damaligen
philosophischen Lehrgebäudes erschütterte, der
sich ferner als klassischer Geschichtsschreiber
Eng[lands mit Ruhm bedeckte, gehört auch als
Nationalökonom zu den Koryphäen der Wissen-
schaft. Als einer der bedeutendsten Vorläufer
des seit 1748 mit ihm befreundeten Adam Smith,
und in seiner durch Grossartigkeit der Emp-
findung imponierenden Staats- und Wirtschafts-
anschauung, war Hume, wie Röscher ihn in
seiner „Geschichte der englischen Volkswirt-
schaft" bezeichnet, „erster Chorführer des gol-
denen (zwischen 1742 bis 1823 angenommenen)
Zeitalters der volkswirtschaftlichen Litteratur
der Engländer".
a) Hume veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Schriften in Buchform : Essays moral, po-
litical and lit^rary, London 1742; dasselbe, 2.
Aufl. unter dem Titel: Essays and treatises on
several subjects, Edinburg 1752 ; Neudruck eines
Bruchstücks der 1752 er Auflage in 0 verstone
coUection of select economical tracts (reprinted
by Lord Overstone, 1674—1811), Bd. III, London
1859, enthaltend: Banks und paper money;
französische Uebersetzungen des vollständigen
Werks: Discours polit. etc., traduit par Le
Baue, 2 Bde., Dresden 1755 ; Essais sur le com- .
merce, le luxe, Tar^ent, les impots, etc., in
„Melanges d'economie politique. Publ. avec
notice nistorique, commentaires etc., par E.
Daire et G. de Molinari", Bd. I, Paris 1847;
Oeuvres de D. Hume, in „CoUection des princi-
paux economistes, enrichie de commentaires etc.
par Blanqui, Rossi, H. Say, Daire etc.", Bd. XV,
1, Paris 1847; Oeuvre economique. Traduction
nouvelle, par Formentin, edition L. Say, Paris
1888; holländische Uebersetzung u. d. T. :
Wijsgeerige en stadtkundige verhandelingen,
Rotterdam 1766; deutsche Uebersetzungen:
David Humes Geist, 1. Bändchen: Politik, von
Chr. Aug. Fischer, Leipzig 1795; 2. Aufl. des
vorstehenden u. d. T.: Politische Zweifel, ebd.
1799; Politische Versuche, übersetzt von C. J.
Kraus, König^berfi^ 1800, auch u. d. T.: Kraus,
Vermischte Schriften, Band VII; dasselbe, 2.
vermehrte Auflage, 1813; Nationalökonomische
Abhandlungen, Übersetzt von H. Niedermüller,
Leipzig 1877. (Die wirtschaltlichen Theorieen,
welche in diesem Werke erörtert werden, sind
folgende : Handel, Luxus, Geld, Zinsen, Handels-
bilanz, Handelseifersucht [on the Jalousie], Be-
völkernngszustände im Altertum. Staatsschuld,
Steuern und Abgaben. Nach seiner Lehre vom
Geld, das er das Oel nennt, womit das Rad der
Cirkulation geschmiert wird, hängt die mate-
rielle und politische Potenz eines Volkes von
dem Masse der Fähigkeit ab, seine Arbeitskraft
zur Erzeugung von menschlichen Bedürfnissen
dienenden Gütern auszunutzen; die Höhe des
Zinsfusses wird nach ihm nicht von dem Man-
fel oder Ueberfluss an Geld, sondern von dem
erhältnis abhängig gemacht, in dem das
Kapital zwischen Angebot und Nachfrage als
Bedürfnisobjekt fällt oder steigt. Seine Theorie,
dass das Angebot verglichen mit der Nachfrage
den Preis bestimme, hat seit Adam Smith dem
Lehrsatz weichen müssen, dass sich der Markt-
preis ans dem Zusammenwirken von Nachfrage
und Konkurrenz regele. Seinen Ansichten über
Handelsbilanz lie^ die Annahme zu Grunde,
dass kein Industriestaat die Edelmetallvermeh-
rung und das Sinken der Gold- und Silberpreise
zu fürchten brauche, da der kommerzielle Aus-
gleich nicht ausbleibe und der Wechsel von
-eldüberfluss und -abnähme lediglich von den
Handelskonjnnkturen abhänge, wie auch nur
Geld- und Warencirkulation die Preisbildung
reguliere. Hinsichtlich des Arbeitslohns vertritt
er den Standpunkt, dass dessen steigende Ten-
denz zwar die Zahl und Thätigkeit der Arbeiter
erhöhe, gleichzeitig aber aucn den Preis der
Konsumtionsartikel steigere, den Export redu-
ziere und dadurch den Nationalwohlstand schä-
dige. Seine Lehre vom öffentlichen Kredit, der
zur Dienstbarmachung der Kräfte anderer
Menschen dienen soll, hat die meisten Anfech-
tungen erfahren und ist zuerst von Genovesi
bekämpft worden ; in der Steuerpolitik steht er
auf dem Standpunkt der Mehrzahl der Finanz-
1248
Himie — Hundesteuer
Politiker der Gegenwart, indem er den Kon-
sumtions- und Luxnssteuem, als den am wenigsten
drückenden, den Vorzug giebt. In der berühm-
ten Kontroverse zwischen ihm und T ucker, wo-
nach, Hume zufolge, Industrie und National-
wohlstand, trotz ihrer schrankenlosen Entwicke-
lungsfähigkeit, in diesem Wachstum die Keime
des Niedergangs trügen, steht Hume den übri-
gen Nationalökonomen ziemlich isoliert gegen-
über. Schliesslich darf auch nicht unerwähnt
bleiben, dass der Philosoph Hume durch seine
Kritik des Kausalitätsbeenffes der statistischen
Methodik, soweit sie die Ursächlichkeit bestimm-
ter Erscheinungen insbesondere nach dem
induktiven Verfahren verfolgt, wesentliche
Dienste geleistet hat.) — Humes und Rousseans
Abhandlungen über den ürvertrag, nebst einem
Versuch über die Leibeigenschaft, herausg. von
G. Merkel, 2 Teile, Leipzig 1797.
b) Gesamtwerke Humes: Essays B,nd trea-
tises on several subjects, 2 Bde., neue Ausgabe
London 1772 (Inhalt Bd. I: Essays, moral,
political [on commerce , balance of trade, inter-
est, money, public credit, on the populousness
of ancient nations], and literary; Bd. II: In-
quiry conceming human understanding ; a disser-
tation on the passions, an inquiry conceming
the principles of morals and the natural history
of religion); dasselbe, neue Ausgabe, 2 Bde.,
1784; dasselbe, neue Ausgabe, 4 Bde., Basel
1792 ; dasselbe, neue Ausgabe, 2 Bde , Edinburg
1825. — Vermischte Schriften, aus dem Eng-
lischen von H. A. Pistorius, 4 Teile, Hamburg
1754 — 57. — Philosophical works, complete,
with bis controversies with RousseaU) Scoticisms,
autobiography , and illustrative notes, 4 Bde.,
Edinburg 1826—27; dasselbe, neue Ausgabe, 4
Bde., 1836; dasselbe, 4 Bde., Boston 1854; das-
selbe, neueste Ausgabe, 4 Bde., London 1856.
Vergl, über Hume: J. T ucker, Four
tracts and two sermons on political and com-
mercial subjects, London 1774, S. 20. — Life,
written by himself, London 1777; dasselbe in
französischer Uebersetzung ebd. 1777. — Apo-
logy for the life and writings of D. Hume,
London 1777. — Letter to Adam Smith, on the
life, death, and philosophy of bis friend D.
Hume, by one of the people called Christians,
Oxford 1777. — Adam Smith, Life of D.
Hume, London 1778. — F. H. Jacobi, David
Hume, über den Glauben, oder Idealismus und
Realismus; ein Gespräch, Berlin 1787. — Gu-
rions particulars and genuine anecdotes respec-
ting the late Lord Chesterfield and D. Hume,
London 1788. - Berliner Monatsschrift, Jahrg.
1791. November, S. 402 ff. — Der britische
Plutarch, Bd. VII, Jena 1792, S. 193 ff. — Du-
gald Stewart, Account of the life and wri-
tings of A. Smith, Edinburg 1793. — Stäud-
lin, Geschichte und Geist des Skepticismus,
Bd. II, Leipzig 1795. - Kahle, De Dav.
Humii philosophia, Berlin 1832. -* Er seh und
Grub er, Encvklopädie, II. Sektion, Teil XII,
Leipzig 1835, S. 27 ff.— MacCulloch,The litera-
ture on political economy, London 1845, S. 23,
141, 319. - H. Ulrici, Geschichte und Kritik
der Principien der neueren Philosophie, Leipzig
1845, S, 164/185. — Burton, Life and corre-
spondence of D. Hume, 2 Bde., Edinburg 1846.
— Dictionnaire de l'economie polit., 2. Auff. Bd. I,
Paris 1&54, S. 880/82. — Oarey, Principles of
social science, 3 Bde.. Philadelphia 1858 — 59, Bd.
II, S. 322, 326, 446, 452, Bd. III, S. 125. 425. —
Kautz, Theorie und Geschichte der National-
ökonomik, Teil II, Wien 1860, S. 60, 390 ff. —
Jodl, Leben und Philosophie David Humes,
Halle 1872. — Schaffte, System, 3. Auf!.,
Bd. II, Tübingen 1873, S. 17. — Compayr^,
La Philosophie de Dav. Hume. Paris 1873. —
Röscher, Gesch. der Nat. , München 1874, S.
414 ff. , u. ö. — Pf leider er, Empirismus und
Skepsis in Dav. Humes Philosophie, Berlin 1874.
— Thompson, Social science and national
economy, Phüadelphia 1875, S. 64, 161/62, 203.
— The Economist, London, Nr. v. 3. VI. 1876
(Erörterung der Gegensätze zwischen Hume und
Adam Smith). - Perry, Introduction to poli-
tical economy, New- York 1877, S. 208. — J. L.
Shadwell, System of political economv, Lon-
don 1877, S. 73, 75, 169. — Gizyckil Ethik
David Humes, Breslau 1878. — Ritter. Kant
und Hume, Halle 1878. — Huxley, Hume (in
„English men of letters"), London 1879. —
Ueberweg, Grundriss der Geschichte der
Philosophie, 5. Aufl., Bd. III, Berlin 1880, S.
165. — John, Geschichte der Statistik. Bd. I,
Stuttgart 1884, S. 275/76, 310 11. — J. Bonar,
Malthus and bis work, London 1885, S. 31,32,
99, 116, 135, 173 etc. — J. Beloch, Die Be-
völkerung der griechisch-römischen Welt, Leip-
zig 1886, S. 34 und 86. — G. Schelle, Du
Pont de Nemours et l'ecole physiocratique.
Paris 1888, S. 14. — Ingram, History of
political economy, Edinburg 1888, S. 83, 85,
lOOff., 123, 128.— S. Feilbogen, Smith und
Hume, in „Zeit«chr. f. Staatsw.", Jahrg. 1890,
S. 695,716. — Dictionary of national biography
ed. by Sidney Lee, vol. XXVm, London 1891'
p. 215/226. — Ettinger, Einfluss der Gold'
Währung auf das Einkommen, Wien 1892, S-
52.— P. Richter, David Humes KausalitätB-
theorie und ihre Bedeutung für die Begründung
der Theorie der Induktion, Halle 1893. — H.
Calderwood, David Hume, New- York 1898.
— Max Klemme, Die volkswirtschaftlichen
Anschauungen David Hume's, Jena 1900.
Lippert.
Hnndestener.
1. Allgemeines. 2. Gesetzgebung.
1. Allgemeines. Die Hundesteuer ist
eine direkte Aufwandsteuer vom Halten von
Hunden. Sie nimmt einerseits, wenigstens
zum Teil, den Chai-akter einer Liixus-
steuer an, indem sie einen vielfach niu*
Luxuszwecken (Vergnügen, Jagd etc.) die-
nenden Gegenstand der Besteuerung unter-
wirft, andererseits aber hat sie das Gef)r3ge
einer Gebühr, insofern sie aus sanitäts-
polizeilichen Gründen die Hunde einer steten
Kontrolle und Aufsicht unterstellt. Durch
diese Massregel wird die Gefalir der Toll-
Hundesteuer
1249
wut und anderer ansteckender Krankheiten
durch die Tötung krank befundener Tiere
von Amts wegen vermindeil;, die Zahl der
Hunde beschränkt und endlich mittelbar auf
eine Veredelung der Hunderassen hinge'^drkt.
Die Veranlagimg und Erhebung der Abgabe
pflegt im Anschluss an die tierärztliche
Untersuchung zu erfolgen. Die Steuersätze
sind entweder einheitlich, sie wei-den in
gleicher Höhe für jeden Hund eingezogen
oder sie sind abgestuft nach Art oder
Zweck des Hundes oder nach Ortsklassen.
Die Hundesteuer ist entweder Staats- oder
Gemeindesteuer, zuweilen eine Verbindung
aus beiden, indem der Staat dieselbe auf
seine Rechnung erhebt oder durch die Or-
gane der Gemeindeverwaltung erheben lässt,
lun ihren Ertrag, ganz oder teilweise, den
Kommunalkörpern und kommunalen Zwecken
zuzuweisen. Oefters besteht der Anteil der
Gemeinden an der Hundesteuer in Zuschlägen
zur Staatssteuer, zu deren Einziehung jene
berechtigt sind. Der Ertrag der Auflage
ist von den Gemeinden häufig für bestimmte
vorgesehene Zwecke zu verwenden, insbe-
sondere für die Ortsarmenpflege. Im all-
gemeinen scheint die 'Hundesteuer, wie die
direkten Aufwandsteuern überhaupt, besser
zu einer Gemeindeabgabe geeignet denn zu
einer Staatssteuer.
2« C^^esetzgebmig« a) Deutsche Staaten.
Preussen (G. v. 14. Juli 1893 und 30.
Juli 1895). Nach dem Kommunalabgaben-
gesetz ist es den Gemeinden unter Aufhebung
der bisherigen Bestimmungen gestattet, eine Ab-
spähe vom Halten der Hunde zu erheben. Eine
Beschränkung hinsichtlich eines Maximalsatzes
besteht nicht mehr, so dass die Gemeinden in
Ausgestaltung der Hundesteuer vollständig
freie Hand haben. Ebenso sind die Kreise
(durch Stenerordnunfif) befugt, eine Hundesteuer
einzuführen, deren Höhe für den Hund jedoch
5 Mark nicht überschreiten darf. — Bayern
(G. V. 31. Januar 1888). Die Steuersätze sind
hier nach einem Ortsklassentarif abgestuft und
betragen 3 Mark für Weiler, Einöden, einzel-
stehende Hefe und kleinere Gemeinden, 6 Mark
in Gemeinden mit 300—1500 Einwohnern,
9 Mark in solchen mit loOO — 15000 Einwohnern
und 15 Mark in allen Gemeinden mit mehr als
15000 Einwohnern. Die Steuer ist eine Staats-
steuer, deren Ertrag nach Abzug der Ver-
waltungs- und Erhebungskosten zur Hälfte der
Staatskasse und zur Hälfte derjenigen Gemeinde
zufällt, in welcher die Hundesteuer erhoben
wurde. Ertrag 1898: 1,700 Millionen Mark. —
Württemberg. Die Steuer beträgt für jeden
Hund 7 Mark. Ihr Ertrag fliesst zur Hälfte
dem Staate und zur Hälfte der gemeindlichen
Armenkasse zu. Der Zuschlag rar die Staats-
kasse beträgt 1 Mark. Seit G. v. 2. Juli 1889
sind die Gemeinden berechtigt, einen fakulta-
tiven Zuschlag bis zu 12 Mark zu Gunsten der
Gemeindekasse zu erheben. — In Sachsen
(G. V. 10. August 1868) stellt sich die Hunde-
steuer als eine Gemeindesteuer dar und hat
mindestens 3 Mark für den Hund zu betragen.
Der Ertrag derselben fliesst der Armenkasse
zu. — Baden (G. v. 4. Mai 1896). Die Steuer-
sätze sind auf 8 und 16 Mark festgesetzt, je
nachdem die Gemeinde bis 4000 oder mehr als
4000 Einwohner zählt. Die Hälfte des Steuer-
ertrags fliesst dem Staate und die andere Hälfte
den Gemeinden zu. Ausserdem kann durch
Gemeindebeschluss, welcher der staatlichen Ge-
nehmigung bedarf, ein Znschla£f zur Hunde-
taxe erhoben werden, welcher jedoch die Hälfte
der staatlich angeordneten Sätze nicht über-
steigen darf. — Hessen (G. v. 4. September
1874). Die Staatssteuer beträgt seit 1899 1900:
10 Mark für jeden Hund, wozu dann die Ge-
meinden noch Zuschläge bis zur gleichen Höhe
erheben können. Ertrag: 1897—1900 0,237
Millionen Mark.
b) Oesterreich. Die Erbebung von
Hundesteuern ist den Gemeinden in einzelnen
Kronländern bis zu einem Maximalsteuersatze
gestattet. Das Ausmass beträgt durchschnitt-
üch 2 — 3 Gulden (Kämthen 5 Gulden, Nieder-
österreich 2 Gulden). Einige Kronländer
(Böhmen, Galizien, Steiermark) haben den Ge-
meinden die Befu^is hierzu durch Specialge-
setze, oft mit Höchstsätzen verliehen. In Dal-
matien besteht eine besondere Abstufung der
Steuersätze: Nachtwachhunde 0,50 Gulden,
Jagdhunde 2 Gulden, sonstige Hunde 3 Gulden.
cj Frankreich. (G. v. 2. Mai 1855.) Die
französische Hundesteuer ist eine Gemeindeab-
gabe. Das Gesetz unterscheidet zwei Gruppen
von Hunden : Jagd- und Luxushunde einer- und
Wachhunde andererseits. Die Sätze bewegen
sich zwischen 1 und 10 Francs. Zahl der be-
steuerten Hunde 1898 in der I. Gruppe (Luxus-
hunde) 811568 und in der H. Gruppe (Ge-
brauchshunde) 2317 003, im ganzen 3128571
Hunde. Ertrag: 1859 über 5,000 Millionen
Francs, 1898 9,.^ Millionen Francs.
d) Grossbritannien. Die Hundesteuer
wurde hier 1796 während der französischen
Kriegszeit aus sanitären Gründen und zwar als
Staatssteuer eingeftthrt. Die Sätze waren
Diiferentialsätze nach Art und Zahl der Hunde
eines Besitzers (Koppelhunde 36 sh., Windhunde
[greyhounds] 20 sh.^ bei mehr als 1 Hund 14 sh.
per Stück, 1 Nichtjagdhund 8sh.). Armut be-
gründete einen Anspruch auf Steuerfreiheit,
ebenso waren junge Hunde ab&:abefrei. 1823
wurde die Steuerfreiheit auf Schäferhunde für
die kleinen Farmer und 1834 für alle Farmer
ausgedehnt. An die Stelle der abgestuften
Steuersätze trat im Jahre 1853 ein allgemein
gültiger Einheitssatz von 12 sh. Die Steuer-
n-eiheit wegen Armut wurde aufgehoben, da-
gegen eine solche ftlr alle Hunde gewährt,
welche zur Beaufsichtigung und zum Treiben
des Viehs notwendig sind. Mit dem Uebergang
zum „Lizenzsystem" (1866) wurde der Steuer-
satz auf 5 sh. ermässlgt und wurden alle
Steuerbefreiungen, mit Ausnahme derjenigen
für junge Hunde, aufgehoben. Dieser Satz
wurde im Jahre 1878 auf 7^/« sh. erhöht und
ausser den jungen Hunden auch wieder den
Schäferhunden im Verhältnis zur Zahl der
Schafe — jedoch in maximo nur acht — Steuer-
freiheit gewährt. Endlich wurde im Jahre 1889
die Hundesteuer aus einer Staatssteuer in eine
Gemeindesteuer umgewandelt. — In Irland
wurde 1823 die Hundesteuer als Staatssteuer
Handwörterbuch der Staatswiasexuchaften. Zweite Auflage. lY.
79
1250
Hundesteuer — ^Hypothekenbanken
aufgehoben, indes 1865 eine Lokalgebühr von
2 sh. für den Hund wieder eingeführt.
Mctx van Heekel.
Hypothekenbanken.
1. Deutschland. 2. Das Ausland.
1. Deutschland. ünterHypothekenbanken
versteht man nach neuester Terminologie, wie
sie durch das Reichshypothekenbaiikgesetz
festgestellt ist, Aktiengesellschaften und Kom-
manditgesellschaften auf Aktien, bei welchen
der Gegenstand des Unternehmens in der hypo-
thekarischen Beleihung von Grundstücken
und der Ausgabe von Schuldverschreibungen
auf Grund der ei-worbenen Hypotheken be-
steht. Aus der Begriffsbestimmung ist das
frühere unterscheidende Kriterium, dass sie
nämlich auf Grund der erworbenen Hypo-
theken Schuldverschreibimgen auf den
Inhaber ausgeben, ausgeschieden. In der
Form von Kommanditgesellschaften auf Ak-
tien bestehen in Deutschland keine Hypo-
thekenbanken.
Für die Entwickelung der Hypotheken-
banken in Deutschland ist selbstverständlich
die Entwickelung des Aktiengesellschafts-
rechts von Bedeutung gewesen, nicht minder
haben die in den einzelnen Staaten bestehen-
den Gesetzesbestimmungen in betreff der
Befugnis zur Ausstellung von Inhaberpapieren
ihren Einfluss auf die Gestaltung der Sta-
tuten gehabt. Preussen ist der einzige Staat
gewesen, in dem von vornherein Normativ-
bestimmungen auch in betreff der prak-
tischen Thätigkeit dieser Institute gegeben
worden sind. Jedoch hat die Preussische
Central - Bodenkredit - Aktiengesellschaft in
Berlin und die Frankfurter Hypothekenbank
in Frankfurt a. M. den Normativbestimmungen
niemals unterstanden.
Die ersten preussischen Normativbestim-
mungen sind vom 6. Juli 1863/22. Juni
1867. Die neuen preussischen Normativbe-
stimmungen sind unter dem 27. Juni 1893
gegeben worden. Lediglich mit der recht-
lichen SichersteUimg der Pfandbriefe be-
schäftigten sich die dem Reichstag vorge-
legten im wesentlichen identischen Gesetzes-
entwüi'fe, beti'effend das Faustpfandrecht für
Pfandbriefe und ähnliche Schuldverschrei-
bungen vom 11. Mäi-z 1879 und 27. Februar
1880. Auch einige Partikulargesetze haben
sich mit der rechtlichen Sicherstellung der
Pfandbriefe befasst.
Unter dem 13. Juli 1899 ist ein Reichs-
Hypothekenbankgesetz publiziert worden, das,
von einigen Uebergangsbestimmimgen abge-
sehen^ vom 1. Januar 1900 an in Wirksam-
keit ist. Das Hypothekenbankgesetz ent-
hält vorzugsweise -wirtschaftliche Normativ-
bestimmungen, ferner auch die Grundlagen
für die rechtliche Sicherstellung der Pfand-
briefinhaber. Diese letzteren finden durch
die Bestimmungen des Gesetzes über die
gemeinsamen Rechte der Besitzer von Schuld-
verschreibungen vom 4. Dezember 1899 ihre
Ergänzung. Die wirtschaftlichen Normativ-
bestimmungen unterscheiden sich wesentlich
von denjenigen der neuen preussischen Nor-
mativbestimmimgen nicht nur äusserlich —
weü sie Gesetzesbestimmungen sind, wäh-
rend die preussischen Normativbestimmungen
Yerwaltungsvorschriften waren und weil sie
für das Reich gelten, während die preussi-
schen Normativbestimmungen eben nur für
Preussen in Betracht kamen, — sondern
auch materiell.
Das Gesetz beruht auf dem Princip der
Konzessionspflicht, auf dem Princip der
staatlichen Beaufsichtigung, die generell als
Recht, im einzelnen a£ Pflicht gestaltet ist
Von grosser Bedeutung war die Um-
grenzung des Geschäftskreises. Dieselbe ist
in ziemüch ängstlicher Weise in § 5 des
Gesetzes erfolgt. Der Anregung den Hypo-
thekenbanken, das Gelddepositengeschäft un-
beschränkt zu gestatten, wurde nicht Folge
gegeben. Die Pflege des Korporationskredits
ist nicht im wünschenswerten Masse berück-
sichtigt. Ygl. § 5 Z. 2 in Verbindung mit
§ 40.
Diejenigen Hypothekenbanken, deren Ge-
schäftskreis dem § 5 des Hypothekenbank-
fjsetzes entspricht, sind künftighin als reine
ypothekeubanken zu bezeichnen, die andern
als gemischte. Gemischte Hypothekenbanken
können künftighin nicht mehr entstehen,
aber die bestehenden dürfen unter ge\sTssen
Einschränkungen bestehen bleiben. Dabei
ist vorausgesetzt, dass bereits am 1. !Mai
1898 die Bank satzungsgemäss die betreffen-
den Geschäfte, die über den normalen, im
§ 5 bezeichneten Geschäftskreis hinausgehen,
betrieben hat.
Indem man die Gewährung von Dar-
lehen nur an »Kleinbahnunternehmungen'
gestattete, § 5 Z. 3, hat man den Zweifel be-
stehen lassen, ob Eisenbahnunternelimungen,
die den Kleinbahnen gleichstehen, in den
zulässigen G^schäftkreis der Hypotheken-
banken gehören. »Kleinbahnen« giebt es
nur in Preussen. Aber es giebt namentlich
in süddeutschen Staaten Eisenbahnuntemeh-
mungen, welche die Funktionen der preussi-
schen Kleinbahnen haben.
Die Wertermittelung der zu beleihenden
Objekte ist den Banken überlassen. Einige
allgemeine Normen, Brudistücke eines Re-
glements, sind gesetzlich gegeben. Die An-
weisung über die Wertermittelung bedarf
der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. Ge-
währt die Bank Darlehen in dem Gebiet
eines Bundesstaates, in dem sie nicht ihren
Sitz hat, so ist die Anweisung auch der
Hypothekenbanken
1251
Aufsichtsbehörde dieses Bundesstaates ein-
zureichen. (HBG. § 12 ff.)
Die Beleihung darf bis zu 60% des
"Wertes bei städtischen und ländlichen Grund-
stücken erfolgen. Die Centralbehörde eines
Bundesstaates kann in dem Gebiet des Bun-
desstaates die Beleihuug landwirtschaftlicher
Grundstücke bis zu 66^/3% gestatten. Das
Preussisohe Landwirtschaftsministerium hat
diese Erlaubnis erteilt.
Hypotheken an Bauplätzen und an solchen
Objekten, welche noch nicht fertiggestellt
und ertragsfähig sind, dürfen zusammen den
10. Teil des Gesamtbetrags der zur Deckung
der Pfendbriefe benutzten Hypotheken so-
wie den halben Betrag des eingezahlten
Grundkapitals nicht übersteigen. § 12 Ab-
satz 3. Diese allzu ängstliche Bestimmung
ist der Entwickelung des deutschen Städte-
wesens nachteilig.
Die normale Hypothek auf städtische
Grundstücke wird künftighin die auf 10
Jahre gewährte nicht amortisable Hypothek
sein. Soweit Hypotheken an landwirtschaft-
lichen Grundstücken zur Deckung von Pfand-
briefen verwendet werden, muss die Deckung
mindestens zur Hälfte aus Amortisations-
hypotheken bestehen. In Bayern ist für
Hypotheken an landwirtschaftlichen Grimd-
stücken den Hypothekenbanken die Ver-
pflichtung auferlegt, nur amortisable Hypo-
theken zu gewähren.
Gegen die Möglichkeit einer Verschleie-
nmg der Darlehensbedingungen sind Kau-
telen hergestellt. Solche Kautelen sind auch
für die vollständige Klarstellung des Rechts-
verhältnisses zwischen der Bank und den
Schuldnern geschaffen worden. Das Gesetz
enthält auch Normen über das Rechtsver-
hältnis zwischen der Hypothekenbank und
den Pfandbriefgläubigem. Es verbietet die
Ausgabe von kündbaren und von Zuschlags-
pfandbriefen. Der Gesamtbetrag der im
Umlauf befindlichen Pfandbriefe muss in
Höhe des Neniiwerte jederzeit durch Hypo-
theken von mindestens gleicher Höhe und
mindestens gleichem Zinsertrag gedeckt sein.
HBG. § 6 Abs. 1. Dagegen ergeben sich
namentlich für notleidendeHypothekenbanken
Probleme in Bezug auf die Deckimgsfrage,
die im Gesetz nur unvollkommen gelöst
sind. § 6 Abs. 3, 4.
Ueber die Methode der Bilanzierung sind
eingehende Vorschriften gegeben. Die viel-
umstrittene Präge über .die Buchung des
Disagios und Agios ist gesetzlich geregelt.
Eine vollkommene Würdigimg der wirt-
schaftlichen Natur des Disagios und Agios
ist im Gesetz noch nicht zum Diu^chbruch
gekommen.
Der Publikationszwang ist für die Hypo-
thekenbanken dahin erweitert, dass nicht
nur jährlich die Bilanz mit Gewinn- und
Verlustconto und einem Geschäftsbericht zu
veröffentlichen ist, sondern dass zweimal im
Jahre ein Status veröffentlicht werden muss
über den Gesamtbetrag der Pfandbriefe,
welche am letzten Tag des vergangenen
Halbjahrs im Umlauf waren, sowie über
die diesen Pfandbriefen gegenüberstehende
Deckung.
Die Vorbedingung für die rechtliche
Sicherstellung der Pfandbrief Inhaber ist durch
den Zwang zur Anlegung eines Hypotheken-
und Wertpapierregisters geschaffen. Bei
jeder Hypothekenbank ist ein Treuhänder
sowie ein Stellvertreter durch die Aufsichts-
behörde nach Anhörung der Hypotheken-
bank zu bestellen. Die Rechte und Pflichten
des Treuhänders sind gesetzlich des näheren
geregelt. Die Stellung des Treuhänders ist
Singular. ^ Er wahrt die Interessen der
Pfandbriefinhaber, ist aber von ihnen nicht
gewählt. Die Pfandbriefgläubiger können
aber auch neben dem Treuhänder zur Wah-
rung ihrer gemeinsamen Rechte auf Grund
des Gesetzes betreffend die gemeinsamen
Rechte der Besitzer von Schuldverschrei-
bungen einen weitei^en Vertreter bestellen.
Die Frage, ob die Pfandbriefe der Hypo-
thekenbanken pupillarische Qualität haben
sollen, wurde im Hypothekenbankgesetz
nicht entschieden. Die fcinzelstaaten haben
durch Verordnungen auf Grund des EG.
zum BGB. Art. 212 und Art. 2 bezw. bei
Beratung der Ausführungsgesetze zum Bür-
gerlichen Gesetzbuch unt^r Berücksichtigimg
der eigenartigen. Organisation des Boden-
kredits in den betreffenden Staaten in ver-
schiedenem Sinne zu der Frage Stellung ge-
nommen.
Die Pfandbriefe der weitaus grösseren
Anzahl von Hypothekenbanken sind von der
Reichsbank für lombardfähig erklärt.
Litteratur: Die geschichüiche Entwickelung,
Statistik und Dogmatik des Hypothekenbank-
Wesens vrird ihre Darstellung finden in dem
Werk von Dr. Hecht, Die Organisation des
Dodenkredits in Deutschland; S. Abteilung: Die
Hypothekenbanken.
Es dürften aus der Litteratur in Betracht
kommen :
Otto HübneVy Die Banken, Leipzig I854.
— Ernst Engelf Der Grundkredit und das
Kapitalbedürfnis des Grundbesitzes, befriedigt
durch eine preussische Bodenkreditbank, Berlin
1862, — Brämer, Die GrundkredüinHitute in
Preussen (Zeitschr. des königl. preuss, statistischen
Bureaus 1867, S. 226 ff.), — Brocher, Die Hypo-
thekenbanken, Separatabdruck aus dem Wagener-
sehen Staatslexikon, Berlin 1867. — Enqttete
über das Hypothekenbankwesen v. IS. III. 1868
bis 19. VI. 1868: Stenographische Berichte, Berlin
1868. — Roepell, Beform des Hypotheken-
kredits (Bericht an die 10. Versammlung des
volkswirtschaftlichen Kongresses zu Breslau, 1868).
— Zinvmer^nann, Ueber Hypothekenbanken
{in Buschs Archiv ßlr Theorie und Praxis des
79*
1252
Hypothekenbanken
Die Hypotheken-Aktien -Banken im
Firma *)
Sitz
Grtin-
dungs-
jahr
Einge-
zahltes
Aktien-
kapital
Mark
Gesamt-
reserven inkl.
Gewinn-
Vortrag
für 1899
Mark
0?
na
V
0/
/o
Hypotheken
Mark
Verteilunt'
amortisable
Mark
Frankfurter Hypothekenbank
Preuss. Hypotheken-Aktien-Bank
Pommersche „ « n
Preuss. Bodenkredit- Aktien-Bank
„ Centr.-Bodenkred.-Akt.-Ges.
Schles. Bodenkredit-Aktien-Bank
Deut8cheHypoth.-Bank(Akt.-Ges.)
Westdeutsche Bodenkreditanstalt
Bhein. • Westf . Bodenkredit-Bank
Preussische Pfandbriefbank*)*) .
Hannoversche Bodenkred.-Bank .
Königreich Preussen
Bayr. Hypoth.- u. Wechselbank*)
Bayerische Vereinsbank*) . .
Bayerische Handelsbank*] . .
Süddeutsche Bodenkreditbank
Vereinsbank*)
Pfälzische Hypothekenbank .
Bayerische Bodenkredit-Anstalt
Königreich Bayern
Württembergische Hypothekenb.
Wtirttembergische Vereinsbank*)
Königreich Württemberg
AUgem. deutsche Kredit- Anstalt*)
Leipziger Hypothekenbank . .
Sächsische Bodenkreditanstalt .
Königreich Sachsen
Deutsche Hypothekenbank . .
Deutsche Gmndkreditbank .
Rheinische Hypothekenbank .
Mecklenb. Hypoth.- u. Wechselb.*
Hypothekenbank in Hamburg
Bremische Hypothekenbank*) .
Braunschw.Hannov.Hypoth.-Bank
Anhalt-Dessauische Landesbank*)
A.-Ges. f .Boden- u.Kommun.-Kred.
Norddeutsche Grundkreditbank .
Schwarzburg. Hypothekenbank .
MitteldeutscheBodenkreditanstalt
Mecklenb.-Strelitzsche Hypoth.-B.
Andere deutsche Staaten
Frankfurter Hypoth.-Kredit-Ver.
Landwirtschaft!. Kreditbank . .
Grundkreditbank ^1
Deutsche Grundscnuldbank . .
Summa
I. Mit dem Recht zur Xn<-
Frankf. a. M.
Berlin
Breslau
Berlin
Köln a. Rh.
Berlin
Hildesheim
München
Nürnberg
Ludwigshafen
Würzburg
Stuttgart
Leipzig
n
Dresden
Meiningen
Gotha
Mannheim
Schwerin
Hamburg
Bremen
Braunschweig
Dessau
Strassburg
Weimar
Sondershausen
Greiz
Neustrelitz
1862 ;
I^OOOOOO
6 920 050
8
281484 159
17 793 572
1864
21 OOOOOO
3 944 059
6V«
332 722 040
135904732**
1866
IO20OO0O
5000000
7
192591 176
167 477 720'a
1868
30000000
6 195 669
7
236 248 870
182302443"'^
1870
28 796 640
5304019
9
489 236 623
400145839
1872
10200000
2716240
7V2
166753085
166251 loS**
1872 '
6 750000
I 252054
6
87 416 593
34 730 943*^
1893
6 500000
122 174
S
52340755
48 694 755
1894 1
II OOOOOO
I 282 473
6
112864902
83 762 050
1862/1895 1
18000000
2 478 744
6
117784 lOO«)
49 887 900^^
1896 1
I OOOOOO
34 459
5
6 248 690
4 363 390''
1
i
158446640
35249941
2 075 690 993
1835/1864»)
44285714
28 736 060
12,95
785 340 925
682 532 ooo*« f
1871
37 500000
15 267 281
8V.
26S 234 328
202 733 328
1869/1871«li
20 379 800
I 120046*)
8,05
136910047
100923 619
1871
24000000
3 822 279
7
368 357 093
106680024
1871
12000000
5 547 Ol I
9V.
212014929
18794594
1886
13000000
3 867 408
8
224 684 721
35724886
1895
2675000
166 926
6V,
29918077
18488402
153840514
58 526 Ol I
2025 460 120
1867
II OOOOOO
2716342
7
131 158 126
41778497
1878
18000000
5 178 S36
7
1 1 264 795
6775010
29000000
7 894 878
142 422 921
1856/1858«)
50 400 000
20 504 766
10
30 146056
?
1863
5 OOOOOO
699 769
8
71090695
5 878 509
1895
5000000
180693
6
50 222 267
I 475 567
60400000
21 385 228
151459018
1862
24000000
2 874 699
7
334794014
38 521 836
1867
10500000
2 233 852
4
121 339 162
25 097 983
1871
14080 102
4981499
8
279 063 062
21 180243
1871
9000 oco
2012260
10
66637614
57 170743
1871
21 OOOOOO
7 108809
8
350 5<H 795
2008600
1871
1 680000
244575
6
I 164034
9
•
1872
10200000
2330097
7V4
136079435
43 »94 136
1872
9000000
1 958 054
7
6510 893
3 366 193
1872
7 200000
I 727 438
7V«
97 754 142
39187082
1894
7 500000
718070
4V.
66 804 837
3054024
1895
2 750000
51185
4V.
11 60467t
83950
1895
7 500000
207 220
5V.
41279521^
151939S,
1896
6000000
600000
7
33 859 380
132 410 102
27 047 758
I 547 395 560
Frankf. a. M.
n
Königsberg
Berlin
II. Hypotheken-Aktien-Banken, welche auf den
2 473 09^
2 171 200
1868
1872
1873/1896
1885
9000000
600000
600000
lOOOOOOO
1 902 573
213820
183 601
1 334 505
6V2
5
11
7
150942544
6077626
3020 150
105 420 211
20200000
554 297 256
3 634 499
153739315
265460531
6 207 889 143
Die Anmerkungen zu dieser Tabelle sind auf S. 1254 abgedruckt.
Hypothekenbanken
1253
Deutsclien Eeich Ende 1898.
der Hypotheken-Darlehen *)
Pfandbriefe
im
Umlauf
Verteilung der Pfandbriefe nach dem Zinsfuss ")
nicht
amortisable
; ländliche
städtische
4%
^ /2 yo
Mark
! Mark
Mark
Mark
Mark
Mark
Mark
^abe von Inhaberpfandbriefen
263 690 586
2597984 .
278886 174
264 4t I 700
t
74 735 200
189 676 500
184 839 y;»"!»)
2 901 saa^b)
317842944«!»)
320 143 550
2 237 250")
220 774 900
97 131 400
25 224 4oo"a)
3 837 SOS*»)
188864616«^)
181 964300
168 735 200
13 229 100
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1 1 55 072*«)
237 122389*»)
197767650")
4 623 700**)
114 105 200
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145 256000'a)
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355 345 700
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8 642 608*^ d e)
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67 711 800
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25 939 900
3646000
2 600 465
49 740 289
46 627 400
—
13 840 900
32 786 500
29 102 851
646200
112 218702
105 006 900
—
59 657 700
45 349 200
67 S96 200'»)
32 500* )
117 751 600*1)
109 186500*; ")
—
18 292 600
89 090 900
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876 965*«)
5 353 825-c)
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—
2 144700
I 945 997 900
8 196650
905 834 600
I 023 643 025
io6 967 ooo** e)
272 73 1 ooo*»)
554069000"»)
748 131 600
—
65071800
683 059 800
65 501 000
42 865 328
224 03 1 000
263 823 900
—
28070 100
235 753 800
35 986 428
2056060
134853987
«35 053 500
—
22405 900
112647600
261677068
75223502
293 133 591
359 363 300
—
26 126500
333 236 800
193220335
3 907 540
208 107 388
205222713
299713")
47 197900
157 725 100
189675592
2747 600
224 937 600
215 401 900
12 189000
203 212 900
1 1 429 674
2814270
27 103807
28 33 1 200
—
—
28331 200
1955328113
299713
201 061 200
1 753 967 200
89 379 629
9
•
?
118 732000
22 204 000
96 528 000
4 489 785
530416
10734379
9709694
—
867 558
8 842 136
128 441 694
23071558 .
105 370 136
9
•
9
•
?
28 234 500
IG 490 000
17744500
65 212 186
529 059
70 561 636
67 284 800
40 284 800
27 000000
48 746 700
50 222 267
47 325 500
47 325 500
142844800
50774800
92 070 000
296272 177
12771 817
322022 196
326 580 000
—
128756650")
197 823 350
96241 178
5 757 286
115 581 875
109693600
27 900000
81 793 6oo'*)
257882814
7893x95
271 169868
266 454 400
29212600
237 241 800
493400
11 898 913
45 765 236
46 236 825
I 239 225")
—
44 997 600
348496195
25 000
350 479 975
326 580 100
1 10 890 500
215 689600
9
?
?
112000
—
—
112000
92 885 299
?
?
130 129 100
26 687 800
103441 300
3144700
3 298 933
3 211 960
ö 083 700
—
4 102600
I 981 100
58 567 060
9
•
?
95019 100
12 089 500
82 929 600
63750813
575 264
66 229 573
60 247 800
—
39006000
21 241 800
II 601 600
•
9
•
9 356 300
—
6 403 500
2952 800
39760 122
252000
41 027 521
37 073 000")
—
31 982900
5090 lOO
33 859 380
33 859 380
25 525 300
—
18 251 6qo
7 273 700
I 439091 225
I 239 225
435 283 650
I 002 568 350
Namen lautende
. Pfandbriefe emit
jtieren.
9
•
?
?
146 707 400
98 188400
48 519000
3 604 528
4 322 330
I 755 296
5413200
—
5413200
—
848 950
I 326900
I 693 250
2 140700
•
I 811800
328900
?
II 506272
93913939
102 134700
1
78 830 900
23 303 800
256 396 000
(
184244300
72 151700
5 868 099 732
9 735 588
1 800270 108
4 049 770 411
1254
Hypothekenbanken
Allgemeinen deutschen Handelsrechts, Bd. 16,
1869, S. 802 ff.). — Meitzen, Der Boden und
die landwirtschaftlichen Verhältnisse des jyreiiss.
Staates, S. Bd., Berlin 1871, S. U8ff. —
Hecht, Die Mündel- und Stifiungsgelder in den
deutschen Staaten, 1875. — Herseihe, Bankwesen
und Bankpolitik in den deutschen. Staaten, 1819
—1875, Jena 1880. — Herselhe, Hie Pfälzische
Hypothekenbank in Ludwigshafen a. Rh., 1890,
— Julian Goldsehmidt, Hie deutschen Hypo-
thekenbanken, Jena 1880. — v, Poschinger,
Bankgeschichte des Königreichs Bayern, Erlangen
1874 — 1S76. — Herselbe, Hie Banken im
Deutschen Reiche, Oesterreich und der Schweiz,
2. Bd. : Das Königreich Sachsen, Jena 1877. —
Herselbe, Bankwesen und Bankpolitik in
Pre*issen, Berlin 1878, 1879. — Leser, Die
Hypot?iekenbanken und ihre Jahresahschlüsge,
Heidelberg 1879. — Appunti di statisfica e
legislazione comparata sugli istituti di credito
fondiario, Roma 1884, Parte IIa: Del credit/^
fondiano in Germania etc., S. 4^ ff- — Karl
von lAintm, Hie Entwiekelung des Bankwesens
in Elsass-Lothringen seit der Annexion, Jena
1891, S. 25 f., S. 125 ff. — Christians, Die
hypothek. Beleihungsgrundsätze der preussischen
Landschaften etc., Berlin 1892. — Hecht,
Die Rheinische Hypothekenbank in Mannheim
1871—1896, Dettksckrifi zur Feier des 25 jährigen
Bestehens der Bank. — Wegener, Hie Land-
schaften und die preussischen Hypothekenaktien-
banken (HiHhs Annalen 1898, S. 544—607). —
Em. Vliebergh, Le Credit foncier (AUemagne,
France, Italie), London, Leipzig, Paris, 1899. —
^) Die mit * bezeichneten Institute betreiben auch andere Zweite des Bankgeschäfts.
*) Gegründet 1862 als „Preussische Hypotheken- Versichernngs- Aktien-Gesellschaft." Jetzige
Firma seit 189ö. Seitdem giebt die Bank Inhaber-Obligationen aus.
^) Das erste Jahr ist das Gründungsjahr der Bank. Das zweite das der Errichtung der
Pfandbriefabteüung.
*) Früher ^Genossenschaftliche Grundkreditbank für die Provinz Preussen". Seit 1896
Aktiengesellschaft mit jetziger Firma.
^ Nur die Reserve der Bodenkreditanstalt, welche gesonderte Rechnung führt. Die Re-
serven der Bayer. Handelsbank betrugen M. 5642404.
^) Von dem Hypothekenbestande muss noch der Amortisationsfonds abgezogen werden,
welcher für Hypotheken, Kommunaldarlehen und Kleinbahndarlehen zusammen mit M. 212 919
angegeben ist. — Ausser den Hypotheken und den Kommunaldarlehen hatte die Bank noch
M. 3430232 Darlehen gegen Verpfändung von Kleinbahnen ausstehen.
') Ausserdem M. 5195 810 „Rentendarlehen" (Darlehen zu Strassenbaukosten, wodurch
Werterhöhungen der belasteten Grundstücke eintreten.)
^) Die Verteilung der Darlehen entspricht nicht immer dem in Spalte 7 angegebenen Dar-
lehns betrag. Die Zahlen beziehen sich entweder
a) soweit sie Amortisationsdarlehen sind, auf den ursprünglichen Darlehnsbetrag ;
b) auf den zur Pfandbriefbedeckung dienenden Teil der Hypotheken (gemäss den 1898
noch geltenden Preussischen Normativbestimmungen);
c) inkl. Darlehnsbeträge, welche zum Teil erst 1899 zur Auszahlung kommen;
d) nur auf die unkündbaren Darlehen; oder
e) bei der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank auf die in Bayern gewährten
Darlehen.
In der Tabelle ist die jeweils zutreffende Note mit dem betr. Buchstaben angegeben.
») Ausserdem M. 3 129 000 Kleinbahn-Obligationen.
^^) Ausserdem M. 2 643400 Grundrentenbnefe.
") 5*^/o Pfandbriefe kommen noch vor bei der Preussischen Boden-Kredit- Aktien-Bank
(M. 525 525, davon M. 373 875 mit 110 rückzahlbar) und der deutschen Hypothekenbank (Akt.-Ge8.)
(M. 2 137 700). — 3»/4% Pfandbriefe haben emittiert die Hannoversche Bodenkreditbank (M. 3 857 400)
und die Preussische Pfandbriefbank (M. 11 803 000, alte auf Namen lautende Hypotheken-Depot-
scheine).
**) Gewinn der Bodenkredit- Abteilung. Der Gewinn der Bayerischen Handelsbank betrug
M. 2 107 947.
**) Ebenso. Der Gewinn der Vereinsbank Nürnberg betrug M. 1667 790.
'^) Mit Agio.
") Davon M. 2 800 300 mit 115, 1 823 400 mit 110 rückzahlbar.
*«) Mit 125 rückzahlbar.
1') Davon M. 22 597 500 Prämienpfandbriefe.
^*) Davon M. 30572 400 Prämienpfandbriefe, 24 502000 mit 110 verlosbar.
Folgende Hypothekenbanken haben Kommnnaldarlehen gewährt resp. Kommunal-Obliga-
tionen emittiert.
Preuss. Central-Bodenkredit-Akt.-Ges
Schles. Bodenkredit- Aktien-Bank .
Preuss. Pfandbriefbank ....
Bayerische Vereinsbank ....
Pfälzische Hypothekenbank . . .
Rheinische Hypothekenbank . . .
Mecklenb. Hypoth.- u. Wechselbank
Akt.-Ges. für Boden- u. Komm .-Kredit
Mitteldeutsche Bodenkreditanstalt
Darlehen.
M. 55477555
3 152320
2 128000
I 333000
715757
3184757
83423
12695 819
358606
n
n
Obligationen.
M. 49533800
1 847 100
2 118000
n
n
n
«
w
I 763 100
12253300
103900
M. 79 129 238
M. 67619200
Hypothekenbanken
1255
FelUic Hecht, Der Europäüche Bod^n-
kredit, Bd. 1, Leipzig 1900, S. die Einleitung
des 1. Bandes auch für den vorliegenden Artikel
sub IL Im Än»chluM an den Entiourf eiiies
IlypothekenbankgeseUes vit eine nicht kleine An-
zahl von Schriften erschienen,
2. Das Ausland. 1. Belgien. Schon
im Jahre 1835 wurde in Bnlssel die
caisse hypolhecaire begründet durch könig-
liches Dekret vom 19. März 1835. Eine
neue Statutenredaktion erhielt die könig-
liche Sanktion am 16. Oktober 1839. Die
Kasse ist nach ihren damaligen Statuten
eine durchaus reguläre Hypothekenbank,
welche die Darlehen als Annuitätendarlehen
gewährte. Die auf Gnuid der Hypotheken
ausgegebenen Obligationen durften den Be-
trag der Hypotheken nicht übersteigen.
Dieses Institut ist im Jalire 188G zum Cre-
dit foncier de Bolgique umgewandelt wor-
den und der Credit foncier de Belgique ist
das einzige Institut in Belgien, das sich dem
Bodenkredit ausschliesslich widmet.
Der Credit foncier de Belgi(iue hatte
Ende 1898 ein eingezahltes Aktienkapital
von 5303900 Francs und eine Reserve von
von 2166380 Francs. Das Hypothekenkapital
betnig 36250930 Francs iind die Summe
der ausgegebenen Obligationen 31550600
Francs.
Die caisse des proprietaires zu Brüssel
ist nicht in dem Sinn wie der Credit fon-
cier de Belgique eine Hypothekenbank. Sie
hatte aber Ende Juni 1898 einen Hypo-
thekenbestand von 11666717,13 Francs, ihr
eingezahltes Aktienkapital betrug 1044100
Francs, ihre Reserven bezifferten sich auf
1203600 Francs. Ihr Obligationenumlauf
betrug aber Ende Juni 1898 31252308,71
Francs, worunter sich 24534000 Francs
Prämienobligationen befanden, während der
Rest in Obligationen mit kurzen Verfallter-
minen besteht. Sie hatte einen Immobüien-
besitz von 6560049,22 Francs.
Die caisse hypothecaire Anversoise zu
Antwerpen wmxle am 6. September 1881
errichtet mit einem Aktienkapital von
5(X»0000 Francs, worauf bei der Gründung
aber nur 250 (XK) Francs eingezahlt wurden.
Bis Ende 1S98 hat sich das Aktienkapital
auf 2 607 350 Francs erhöht. Die Bank hatte
Ende 1898 einen Darlehenbestand von
29543765,22 Francs und sie hatte die
hierzu nötigen Mittel durch Obligationen
und durch die Sparkassenabteilung mit
24343632,53 Francs sich beschafft. Einen
weiteren Betrag hat sie durch die Annahme
von Depositen erhalten. Eine Ausscheidung
lies Obligationenbetrags und der Sparkassen-
guthaben ist in der Bilanz nicht gegeben.
2. Dänemark. In Dänemark besteht
keine reine Hj-pothekenbank. Die Funk-
tionen einer Hypothekenbank hat aber schon
seit 1873 die auf Aktien gegründete Danske
Landmansbank, Hypothek- og Vekselbank in
Kopenhagen. Ihr Hypothekenbestand betrug
Ende 1898 29 532726 Kronen in 2651 Posten.
Sie giebt für die Regel nur Amortisations-
darlehen. Ihr Bestand an kündbaren Dar-
lehen betrug Ende 1898 niu- 638 000 Kronen.
Sie liatte femer Ende 1898 einen Bestand
an Korporationsdai'lehen im Betrag von
10921675 Kronen in 392 Posten. Die Ge-
samtsumme der ausgegebenen Pfandbriefe
betrug Ende 1898 27 217 600 Kronen, die-
jenige der Kommunalobligationen 7 49200<1
Kronen.
3. Der Credit foncier de France.
Das Dekret vom 28. Februar 1852 enthält die
Normativbestimmungen für die Gründung
von Bodenkreditgesellschaften in Frankreich
und zwar sowolü für solche, die auf ge-
nossenschaftücher, wie fi'lr solche, die auf
der Grundlage von AktiengeseUschaften ent-
stehen würden. Schon hierin war die
Staatsaufsicht, aber auch wohlwollende staat-
liche Unterstützung vorgesehen.
Es hatte zunächst durchaus den Anschein,
als ob auf Grundlage des Dekrets vom 28.
Februar 1852 eine Decentralisation des Bo-
denkredits in Frankreich sich vollziehen
werde. Am 30. Juli 1852 wurden durch
Dekret die Statuten der banque fonciöre de
Paris genehmigt. Mit Dekret vom 12. Sep-
tember 1852 erlüelt die societe du Credit
foncier de Marseille, am 20. Oktober 1852
die societe du Credit foncier de Nevers die
Autorisation zum Geschäftsbetrieb. Der Ge-
schäftskreis keiner dieser Gesellschaften er-
streckte sich auf ganz Frankreich. Er war
nach Departements beschränkt.
Der (jedanke der Giündung eines gi'ossen
Centralinstituts aber gewann rasch die Ober-
hand. Aus der banque fonciere de Paris
entstand auf Grund des Dekrets vom 10.
Dezember 1852 der Credit foncier de France.
Diesem Institut wurde die societe du Credit
foncier de Marseille und diejenige von
Nevers durch Dekret vom 28. Juni 1856
inkorporiert.
Der im Jalire 1879 \mternommene Ver-
such, ein lebensfähiges Konkurrenzinstitut
herzustellen, die Gründung der banciue hypo-
thecaire de France, misslang. In der ausser-
ordentlichen Generalversammlung vom 20.
Juni 1882 wurde ein mit dem Credit foncier
abgeschlossener Fusionsverfrag genehmigt.
Der Staat unterstützte die Entstehung
und Fortentwickelung des auf die Thätig-
keit in ganz Frankreich berechneten Insti-
tuts in nachdnickliclister Weise. Durch ein
Dekret vom 6. Juli 1854 hat der CnMit
foncier eine der Organisation der Banque de
France ähnliche Organisation erhalten.
Das Institut operierte zunächst mit dem
1256
Hypothekenbanken
System derBardai'lehen, erhielt aber im Jahre
1856 (lie Berechtigung zur Zalüung der
Valuta in Obligationen, machte davon ur-
sprünglich in einem beschränkten Umfang
Gebrauch, um dem System der Darlehen in
Obligationen Eingang zu verschaffen, und
nachdem dies gelungen war, ging es aus-
nahmlos schon im Jahre 1857 zu diesem
System über, das mit dem steigenden Kiu*s
der ausgegebenen Obligationen und dem
dadurch für die Schuldner sich vermindern-
den Verlust rasch sich einbürgerte. Im
Jahie 1869 ffing man für kiu^e Zeit zur
Auszahlung der Darlehen in bar über, ver-
liess aber dieses Svstem wiederum am 9.
August 1870. Am 18. Juli 1877 kehrte
man zum System der Bardarlehen zurück,
das anscheinend sodann beibehalten wor-
den ist.
Das Privileg des Instituts wurde durch
Dekret vom 11. Januar 1860 auf Algier er-
streckt. Durch das G. v. 19. Mai 1860
übernahm das Institut die Operationen des
Sous-Comptoir desEntrepreneurs (eine Unter-
stützung der städtischen Bauthätigkeit).
Durch &. V. 6. Juni 1860 wurde dem Credit
foncier gestattet, auch ohne hypothekaiischen
Versatz langfristige und kurzfristige Dar-
lehen den Departements, Kommunen und
den landwirtschaftlichen Gesellschaften zu
feben. Endlich wurde es durch G. v. 28.
uli 1860 autorisiert, mit Staatsunterstützung
und einer Zinsgarantie eine Gesellschaft ziu*
Förderung des ländlichen Personalkredits
(CnWit agricole) zu gründen.
Das Jahr 1860 ist sonach in der Ent-
wickelungsgeschichte des Credit foncier von
besonderer Bedeutung. Die Thätigkeit des
Instituts in Algier erhielt mit der Gründung
des Credit foncier et agricole d'Algorie
am 30. November/ 9. Dezember 1880 eine
eigenartige Gestaltung, da sich der Credit
foncier de France eine weitgehende Ein-
wirkung auf das neue Institiit und eine er-
hebliche Gewinnbeteiligung vertragsmässig
sicherte, auch findet sich die Gesamtsumme
der von dem Algerischen Institut gewährten
Darlehen auf dem Darlehensconto des Credit
foncier de France.
Die Gesellschaft des Credit Agricole trat
im Jahre 1876 in Liiiuidation, und diese
wurde im Jahre 1880 durch den Credit
foncier beendigt.
Ueber das Darlehens- und Pfandbrief-
wesen sind in den Statuten eingehende Be-
stimmungen gegeben. Viele dieser Bestim-
mungen sind vorbildlich für die meisten
Hypothekenbanken geworden, selbst in dem
Masse, dass sie durchaus kritiklos bis in die
neueste Zeit kopiert wurden. Präcis formu-
liert ist das Princip, dass nur ziu' ersten
Stelle Darlehen gegeben werden sollen. Aus-
geschlossen von der Beleihung sind Theater,
Bergwerke und Steinbrüche, unteilbare Im-
mobilien, sofern nicht mit Einwilligung aller
Miteigentümer die Hypothek auf das ganze
Anwesen bestellt wird, solche Immobilien,
bei denen die Nutzniessung und das nackte
Eigentum getrennt sind, wenn nicht alle
Berechtigten in die Bestellung der Hypo-
thek willigen. Die verpfändeten Objekte
müssen eine dauernde und bestimmte «ente
ergeben. Die Bdeihungshöhe ist auf die
Hälfte des Werts der verpfändeten Objekte
beschränkt. Weinberge und Wälder dürfen
nur mit Vs des Werts beliehen werden. Ge-
werbliche Gebäulichkeiten und Fabiiken
dürfen nur in ihrem von der gewerblichen
Benutzung unabhängigen Werte für die Be-
leihung berücksichtigt werden. Die Annui-
tät, zu der sich der Entleiher verpflichtet,
darf den Gesamtertrag des verpfändeten Ob-
jekts nicht überschreiten.
Die lu^prüngliche Begrenzung des Be-
leihungsmaximums mit einer Million Francs
an denselben Schuldner wurde später auf-
gehoben, ebenso die Bestimmung, dass der
niederste Betrag eines Darlehens 300 Francs
sei. Die Annuitätendarlehen soDten ur-
sprünglich in der Zeit von 20 bis 50 Jahren
getilgt werden. Dies wurde später dahin
abgeändert, dass die Tügungsdauer der An-
nuitätendarlehen auf 10 bis 75 Jahre be-
grenzt wurde. In der Annuität sollte eine
Verwaltungsgebühr bis zu 60 Cents für 100
Francs enthdten sein dürfen. Auch diese
Bestimmung ist später in den Statuten nicht
mehr enthalten.
Die ursprüngliche statutarische Begren-
zung des Zmsfusses auf 5®/o wurde später
fallen gelassen und nur statutarisch be-
stimmt, dass der Aktivzins den Passivzins
um höchstens 60 Cents für 100 Francs über-
steigen darf. Für die Berechnung ist der
Zeitpunkt massgebend, in dem der Dar-
lehenszins vereinbart wird und der in diesem
Zeitpunkt bestehende Obligationenzinsfuss.
(In dem Vei-trag, der am 18. November
1852 zwischen dem Minister des Innern, der
Landwirtschaft und des Handels und dem
Credit foncier geschlossen wurde, war vor-
gesehen, dass die Gesellschaft bis zu 20U
Millionen Francs Hypothekendarlehen zu
einer Gesamtleistung von 5®/o, Zins, Amor-
tisationsquote und Verwaltungsgebühr inbe-
griffen, geben werde.)
Dauernd beibehalten wnrde die Bestim-
mung, dass der Schuldner seine Schuld,
ganz oder teilweise, vorzeitig zurückzahlen
kann und zwar nach seiner Wahl in bar
oder in Obligationen, die im Darlehensver-
trag bezeichnet sind. Die Obligationen sind
zimi Parikiu« anzunehmen, jedoch kann die
Gesellschaft eine Entschädigung bis zu 3 '^'o
des gezahlten Kapitals verlangen.
Nach den ersten Satzungen durfte die
Hypothekenbanken
1257
Gesamtsumme der Obligationen den Oesamt-
betrag der erworbenen Hypotheken nicht
tibersteigen. Erst diirch das G. v. 6. Jiüi
1860 Art. 8 wurde bestimmt, dass die Ge-
samtsumme* der im Umlauf befindlichen
Obligationen das 20 fache des Aktienkapitals
nicht übersteigen darf. Hier findet sich also
erstmals jenes System der Relativkonzession,
das iu principiell unwesentlichen Modifika-
tionen dann allgemeine Nachahmung fand.
Der niedrigste Betrag der Obligationen
ist 100 Francs. Die Obligationen sind durch-
weg verlosbar und seitens der Inhaber un-
kiindbar. Sie zerfallen in drei Kategorieen,
Obligationen mit Losen und Prämien, Obli-
gationen mit Losen ohne Prämien imd Obli-
gationen ohne Lose und ohne Prämien. Um
die Obligationen marktfähig zu machen und
die Massenemission zu erleichtern, wiaxien
sie mit weitgehenden Privilegien ausge-
stattet.
Ausser den obligations foncieres oder
lettres de gage hat das Institut auch obli-
g:ations communales kreiert. Die Kommunal-
obligationen werden auf Grund von Dar-
lehen an Dexmrtements, Gemeinden und
andei-e Korporationen des öffentlichen Rechts
ausgegeben, und dieser Typus von Wert-
papieren wurde durch den Credit foncier
erstmals geschaffen. Obligationen von Kor-
2>orationen des öffentlichen Rechts hat es
auch früher gegeben, aber die Vereinigung
von Forderungen dieser Art bei einer Ak-
tiengesellschaft und die Emission von Obli-
g^ationen auf Grund solcher Forderungen
durch eine Aktiengesellschaft in durchaus
analoger Anwendung des Pfandbrief typus
wurde erstmals durch den Credit foncier
imternommen. Die Ausgabe von obligations
de drainage war in einer Vereinbarung mit
der Staatsregierung vom 28. April 1858
vorgesehen, kam aber nicht zum Vollzug.
Als durch das G. v. 6. Juli 1860 neben
den Pfandbriefen die weitere Kategorie von
Kommunalobligationen geschaffen win-de, er-
schien es notwendig, das Verhältnis der Be-
sitzer von Pfandbriefen einerseits, von Kom-
munalobligationen andererseits juristisch aus-
zugestalten, und man schuf ein Vorrecht der
Inhaber von Kommunalobligationen an den
Darlehen, auf deren Grund sie ausgegeben
sind, sowie gleichzeitig ein Vorrecht der
Pfandbriefinhaber an den Hypothekenforde-
rungen, die zur Deckung der Pfandbriefe
dienen.
Die Bildung eines Reservefonds w^ar von
Anfang an vorgesehen und zwar sowohl
eines obligatorischen wie eines fakultativen
Reser\efonds.
Die Bilanz- und Buchungsmethoden des
Instituts haben sich im Lauf der Zeit ge-
bessert.
Das eingezahlte Aktienkapital ist von
anfänglich 13 Mülionen Francs auf 170 500 000
Francs Ende 1898 gestiegen, mit einem Re-
servefonds von 19657 849,79 Francs. Die
Dai'lehen betrugen insgesamt Ende 1898:
3254245249,78 Francs und zwar betnigen
die Hypothekendarlehen 1 789 938 702,25
Francs und die Darlehen an Korporationen
des öffentlichen Rechts 1 351 b93 310,87
Francs. An Pfandbriefen befanden sich in
Umlauf (nominal) : 2 136 518 600 Francs. Da-
rauf waren noch einzuzahlen 1 417 350 Francs
und es ruhte auf den Pfandbriefen ein
Disagio von 472376048,32 Fi-ancs ein-
schliesslich des auf 184 417 700 Francs zurück-
gekauften Obligationen ruhenden Disagios von
61176715,43 Francs. An Kommunalobli-
gationen befanden sich in Umlauf (nominal) :
1327 579900 Francs. Hierauf ruht ein
Dieagio von 131 480 160,73 Francs einschliess-
lich des auf 131184700 zurückgekauften
Obligationen nihenden Disagios von
8358040,42 Francs.
Die Institution des Civdit foncier de
France w^ar nicht eine originäre Schöpfung
wie seiner Zeit die Gründung der Schle-
sischen Landschaft. Alle Elemente dieser
Institution waren bekannt und auch ander-
wärts in praktischer Funktion. Die Er-
richtung des Credit foncier hat aber einen
starken Impuls für die rasche Entwickelung
des europäischen Hypothekenbankwesens ge-
geben. Der Credit foncier war die erste
Hypothekenbank auf Aktien im grossen Stil.
Seine praktische Thätigkeit bewies, dass eine
allzu ängstliche territoriale Beschränkung
der Wirksamkeit nicht notwendig, nicht
einmal zweckmässig sei, dass eine reine
Hypothekenbank als solche ein auch für eye
beteiligten Kapitalisten rentables Unter-
nehmen sein könne, dass es Werte zu
schaffen vermöge, denen die nach einer
soliden Anlage suchenden Kapitalisten sieh
gern zuwenden, dass es zur wesentlichen
Verbilligimg des Bodenkredits beitragen
könne und dem steigenden Kapitalbedürinis
des städtischen Bodenkredits in wirksamerer
Weise entgegenkomme, als dies durch die
genossenschaftlichen Organisationen erreich-
bar ist. Die Methode der Mobilisierung
festgelegter Werte wurde sodann, nament-
lich in Frankreich, auch auf anderen Ge-
bieten zur analogen Anwendung herange-
zogen.
Litteratur: Roy er, Des instituthn« de Credit
foncier en Allemagne et en Belgique, Paris
(Jmprimerie Royale) 1845. — tTosseau, Traue
du Credit foncier, Paris 1853, g, Aufl. 1872. —
Derselbe, Le Credit foncier de France 1860. —
Bourga€i€f Le Credit foncier de France et
Credit Agricole et les emprunteurs, Paris 1861.
— Alph. Courtois flls, Histoire des banques
en France, 2. Aufl., 1881. — Montag non,
Traue sur les societes du Credit foncier 1886.
— Palgrave, Dictionary of political enono^my
1258
Hypothekenbanken
/, 464, 455, — Say und ChuiUey, Nouveau
dictionnaire d'economie polüiquef Art. ctedit
foiicier IX: Le crSdü foncier de France, Vol. I,
628 — 6S0. — Sayy Dictionnaire desßnances 8. v.
Credit foncier (von J. B. Josseau ISS 9). —
Maurice Bloch, Dictionnaire de Vadminia-
tratio7i frangaise, p. 625, 626. — Derselbe,
Supplement annuel au dictionnaire rf« Vadm.
franf;., p. 204, 4^^- — Derselbe, SuppUment
general au dict. de Vadm., 1885, p, I42, I4S. —
Supplement au nouveau dictionnaire de V economic
politique (par Lion Say et Joseph CluiiUey-Bert),
1897, p. ISS— 139, 8. V. Mdit Joncier (von
Joes Guyot).
4. Holland. In Holland sind seitdem
Jahre 1861, in dem die Nationalhypotheken-
bank zu Amsterdam gegründet wurde, 12
Hypothekenbanken entstanden mit einem
Pfandbrief imilauf von 170385300 Gulden
Ende 1898. Für sie alle ist die Aktienform
gewählt worden, doch haben einzelne In-
stitute bemerkenswerte Eigentümlichkeiten.
5. 1 1 a 1 i e n. In Italien wurde auf Grund
des G. V. 17. Juli 1890 und der Ausführungs-
verordnung vom 1. Februar 1891 das Isti-
tuto Italiano de Credito fondiario mit dem
Sitz in Rom als Aktiengesellschaft mit
einem statutarisch vorgesehenen Kapital von
100 Millionen Lire gegründet, worauf 40
Millionen Lire eingezahlt sind. Die statu-
tarischen und die Speciali-eserven betrugen
Ende 1898 2368393,99 Lire, der Bestand
an Hypotheken belief sich auf 72192709,62
Lire, der Pfandbriefumlauf bezifferte sich
auf 35605500 Lire. Das Listitut hat die
Pfandbriefabteilung der Bauca Nazionale
in sich aufgenommen. Nach mannigfachen
Wandlungen macht sich in Italien gegen-
über der Zersplitterung in der Organisation
des Bodenkredits eine stark centralisiereDde
Tendenz geltend.
6. Oesterreich. In Oesterreich wurde
durch Allerhöchste Entschliessung vom 12.
Oktober 1855 die Oesterreichische National-
bank ermächtigt, eine Abteilung für Hypo-
thekarkredit zu enichten. Die Statuten
\md Reglements dieser Abteilung für den
Hypothekarkredit wurden unter dem 16. März
185iS genehmigt. Eine Reihe von Privilegien
war ihr bereits durch Erlass des Finanz-
ministeriums vom 21. Oktober 1855 einge-
räumt worden. Es entstand also in Oester-
reich die erste bankmässige Oi^:anisation
des Bodenkredits auf Aktien unter Anlehnung
an die Notenbank.
Von den zahlreichen seitdem gegründeten
Bodenkreditinstituten auf Aktien in Oester-
reich bestehen derzeit ausser der Abteilung
für Hypothekarkredit der österreichisch-un-
garischen Bank in Wien nur noc^h 5 In-
stitute auf Aktien: Die Allgemeine öster-
reichische Bodenkreditanstalt in Wien (ge-
gründet 1864). die Galizische Aktien-Hj-po-
thekenbank in Lemberg (gegründet 1867),
die Oesterreichische Hypothekenbank in
Wien (gegründet 1868), die OesterreicMsche
(IJentral-Bodenkreditbank in Wien (gegrilndet
1871) und die Bukowinaer Bodenkreditan-
stalt in Czemowitz (gegründet 1882).
Reine Bodenkreditbank in der Art der
deutschen Institute ist am meisten die
Oesterreichische Hypothekenbank, alle ande-
ren sind thatsächüch gemischte Hypo-
thekenbanken.
Ende 1898 bezifferte sich der Bestand
der Darlehen und der emittierten Pfand-
briefe auf folgende Summen:
1. Oesterreichisch-iingarische Bank Kr.
2. Allgemeine österr.eichiBche Bodenkreditanstalt „
3. Galizische Aktien-Hypothekenbank „
4. Oesterreichische Hypothekenbank „
5. Oesterreichische Central-Bodenkreditanstalt „
6. Bukowinaer Bodenkreditanstalt . „
IT
Hypotheken
279 102478
240657 154
115 364 485
20055919
76 062 430
8 053 556
Pfandbriefe
Kr. 271 067600
„ 238099160
121 021 200
1 8 850 600
75 050 690
82^6800
n
n
739296022 Kr. 732346050
Die bedauerlichen Gründungsvorgänge
auf dem Gebiet des Bodenkredits haben
frühzeitig Gesetze zum Schutz der Pfand-
briefinhaber veranlasst : G. v. 24. April 1874,
betreffend die Wahrung der Rechte der
Besitzer von Pfandbriefen, und G. v. 24. April
1874, betreffend die gemeinsame Vertretung
der Rechte der Besitzer von auf Inhaber
lautenden oder durch Indossament übertrag-
bai'en Teilschuldverschreibungen imd die
bücherliche Behandlung der für solche Teil-
schuldverschreibungen eingeräumten Hy-
pothekarrechte, auch G. V. 5. Dezember 1877,
enthaltend ergänzende Bestimmungen zu den
Oa. V. 24. April 1874.
Litteratnr: Wti^ter Schiff, Zur Fraye der
Organisation des lund wirtschaftlichen Kredit*
in Deutschland und Oesterreich (in den sta<il^
U7id sozialwissenschaftlichen Beiträgen, herauf-
gegeben tfon Miaskowski), 1892, insbesonder*' S.
HS ff. — Pavlicek, Das Pfandbrief rr cht, Wirn
1895. — Jleeht, Die Mündel- und Stißnngs-
gelder in den deutschen Staaten, S. 207 ff. —
L. Sbrojavacea, Appunti di statistiea e iegi^*-
lazione comparcUa sugli istifuti di credito fon-
diario, S. 205 ff. — V. fTurasehek, Hand-
icörtcrbuch der Staatswissenschaflen , 2. Au^,,
8. V. Aktiengesellschaflen. — v. Hattingberg,
Die landwirtschafÜichcn Kredite, dargestellt für
die niederösterrcichischen Spar- und Darlehens-
kassen nach dem System Baiffeisen, Wien 1899.
— Albin Brdf, Der landicirtachaftiiche //y/K»-
Hypothekenbanken
1259
thekarkredit in Oesterreich während der letzten
50 Jahre, Wien 1899 (Moritz Perlcs).
T.Ungarn, Bosnien und Herzego-
wina. Für Ungarn konimen 14 Institute in Be-
tracht Die weitaus gi'Össore Anzahl aber sind
Pfandbriefabteilun^en von Sparkassen-Aktien-
gesellschaften. Eine Pfandoriefabteilung hat
die Pester ungarische Commerdalbank seit
1867. Die Ungarische Hypothekenbank
wurde 1869 gegründet, die Siebenbürgisch-
ungarische Hypotheken-Kreditbank in Klau-
senbiu'g 1891, die Ungarische Agrai*- und
Rentenbank 1895, in Agram besteht seit
1893 die Kroatisch-slavonische Landeshy-
pothekenbank.
Es möge in diesem Zusammenhang auch
die mit sehr erheblichen Privilegien aus-
gestattete Landesbank für Bosnien und
Herzegowina in Serajewo noch Erwähnung
finden (gegründet 1896).
Die Gesamtsumme der von den 14 un-
garischen dem Hypothekenkredit sich wid-
menden Aktienbanken gewährten Hypotheken
beträgt Ende 1898 711088287 Kronen, die
Gesamtsumme der von diesen Instituten
cirkulierenden Pfandbriefe betrug 685 766 800
Kronen. Die Landesbank für Bosnien und
Herzego\\ina hatte Ende 1898 einen Hy-
pothekenbestand von 15131764 Kronen,
eine Pfandbriefcirkiüation von 15389 600
Kronen.
Auf die rechtliche Sicherstellung der
Pfandbriefinhaber bezieht sich das ungarische
Landesgesetz vom 19. Juni 1876, kund-
gemacht am 20. Juni 1876, Ges. Art. XXXVI.
S. auch Pavlicek, das Pfandbriefrecht, Wien
1895, 8. 42.
8. Portugal. Die Compania geueral de
credito predial Portuguez wurde am 3. No-
vember 1864 gegründet. Sie hatte Ende
1898 ein eingezahltes Aktienkapital von
990 000 Milreis, einen Reservefonds von
99 000 Milreis, einen Obligationenumlauf von
12420468 Müreis.
9. Spanien. In Spanien entstand auf
Grund des G. v. 2. Dezember 1872 die
banco hypothecario de Espana. Sie ist das
einzige Bodenkreditinstitut in Spanien und
besitzt bis auf weiteres ein Monopol gemäss
dem G. v. 24. Juli 1875 und dem König-
lichen Dekret vom 12. Oktober 1875.
Ihr Aktienkapital betrug Ende 1898
20 000 (KX) Pesetas, ihr Reservefonds 3 795 520
Pesetas, derHy pothekenbestand war 92701311
Pesetas, der Obligationenumlauf 95394500
Pesetas.
10. D i e S c h w e i z. Schon im Jahre 1849
wurde in der Schweiz eine Hypothekenbank
auf Aktien gegründet : Die Basellandschaft-
liche Hy[X)thekenbank in Liestal. Es ent-
stand dann 1851 die Thurgauische Hy-
pothekenbank, 1855 die Caisse hypothecaire
du canton de Fribourg, 1859 "die Caisse
hypothecaire cantonale Yaudoise, 1863 die
Hypothekenbank in Basel und der Credit
fonder Neuchatelois, die Aktiengesellschaft
Leu & Cie. in Zürich (gegründet 1755) hat
seit 1854 dem Bodenkredit sich gewidmet.
Im ganzen bestehen in der Schweiz 13 Hy-
potheken-Aktienbanken, mit überaus ver-
schiedenartiger Organisation und Fundierung.
Einige Institute erstrecken ihren Geschäfts-
kreis n\\r auf die Kantone ihres Wohnsitzes,
andere haben ihn über die Schweiz hinaus
ausgedehnt, so insbesondere Leu & Cie. und
die banque fonciere du Jura in Basel. Ein-
zelne Institute erhalten einen erheblichen
Teil ihrer Betriebsmittel auf anderem Wege
als durch Ausgabe von Obligationen, daher
mehrfach die grosse Differenz zwischen
Hypothekenbestand und Obligationenausgabe.
Die Gesamtsumme der von diesen Hy-
pothekenbanken gewährten Darlehen betnig
Ende 1898 452615991 Francs, die Gesamt-
summe der cirkulierenden Pfandbriefe betrug
316970759 Francs, ihr Aktienkapital betnig
79000000 Francs, ihre Reservefonds mit
Einschluss von Extra - Reservefonds ca.
13500000 Francs.
11. Schweden und Norwegen. h\
Schweden und Norwegen war die Entstehung
privater Hj'pothekenbanken diu'cli die Gesetz-
gebimg verhindert, weil private Institute
keine Inhaberpapiere ausgeben konnten. Für
Norwegen ist dieses Hindernis durch das
G. V. 7. August 1896 beseitigt worden.
Private Institute aber arbeiteten und arbeiten
unter dem Deckmantel der Hypotheken-
Versichenmgsgesellschaften. So erklärt es
sich, dass diese anderwärts beseitigte Form
des Geschäftsbetriebs in beiden Ländern
sich erhalten hat.
12. Russland. Am 4. Mai 1871 wurde
in Russland die erste Aktien-Agrarbank in
Charkow gegründet. Am 8. AprU 1872
folgte die Gründung der Poltawaer und der
St. Petersburg-Tidaer Agrarbank. Auf Gnmd
von Normativbestimmungeu , die von der
Staatsregieining im Jahre 1872 für Aktien-
Agrarbanken gegeben wurden, entstanden
in demselben Jahre noch die Kiewer, Nishni-
Nowgorod-Samaraer , Moskauer, Jaroslaw-
Kostromasche , Bessarabisch - Taurische und
Donsche Agrarbank. Im Jahre 1873 ent-
stand die Saratow-Simbirskische , die aber
seit 1886 sich in Liquidation befindet.
Der Rayon der Geschäftstliätigkeit ist
für jede Agrarbank abgegrenzt. Die Be-
leihung darf 60 °/o des Werts der Objekte
nicht übersteigen. Die Darlehen werden
auf »kürzere« oder »längere« Termine ge-
geben. Die kurzterminierten Darlehen sollen
10 ^/o des Werts der Pfandpbjekte nicht
übersteigen. Die langterminierten (Annui-
täten-)Darlehen bilden anscheinend die
Regel. Die kurzterminierten Darlehen werden
1260
HypothekenbankeD — ^Hypothekenschuldea (Statistik)
in bar gegeben, die Annuitätendarlehen
in Pfandbriefen. Die Amortisationszeit für
ländliche Darlehen ist 43 Jahre 6 Monate
oder 61 Jahre 8 Monate, die Araortisations-
zeit für städtische Darlehen ist 18 Jalire
7 Monate oder 36 Jahre 4 Monate. Hy-
pothekendarlehen unter 500 Rubel werden
nicht gegeben. Anscheinend haben die
Schuldner ausser Zins und Amortisations-
quote jährlich l^/o konstante Verwaltungs-
gebühr (also eine Verwaltungsgebühr aus
der ursprünglichen Darlehenssumme bis zur
Tilgimg der Schuld) zu entrichten.
Das fast gleichzeitige Entstehen zahl-
reicher Agrarbanken (und Kreditgesellschaf-
ten) erschwerte den Absatz der Pfandbriefe
im Reich, und ein ausländischer Markt
konnte nicht gewonnen werden. Man grün-
dete daher im Jahi^ 1873 die Centralbank
des russischen Bodenkredits, die aber schon
im Jahre 1878 die Emission von Pfand-
briefen einstellen musste.
(Zur Förderung des russischen Boden-
kredits wurde dann im Jahre 1883 die
ßauern-Agrarbank und im Jahre 1885 die
Reichsadels- Agrarbank als Staatsinstitute ge-
gründet. Der letzteren wurde 1890 der
Bestand der im Jahre 1866 gegründeten,
aber nicht lebensfähigen Gesellschaft des
gegenseitigen Bodenkredits angegliedert.)
Das Gesamt- Aktienkapital der 10 Aktien-
Agi-arbanken betrug Ende 1898 54077 739
Rubel, das Gesamt- Reservekapital 27 356977
Rubel, die Specialreserven stellten sich auf
1506632 Rubel. Der Reingewinn aller
Aktien-Agrarbanken betnig ftlr das Jahr
1898 10256007 Rubel, also 18,21 «/o des
Aktienkapitals.
Der rfandbriefumlauf belief sich Ende
1898 auf 768447400 Kreditrubel und auf
485750 Metalhnibel.
Die Pfandbriefe aller Aktien- Agrarbanken
waren in den ersten 7 Jahren ihrer Thätig-
keit 6 prozentig, standen aber zum Teil weit
unter pari, una da die Darlehen in Pfand-
briefen zur Auszahlung kamen, entstanden
für die Darlehensnehmer sehr grosse Ver-
luste. Einige Banken begannen im Jahre
1878 mit der Emission von 5prozentigen
Pfandbriefen, aber erst im Jahre 1891 wuixle
die Emission von 6prozentigen Pfandbriefen
ganz eingestellt, auch die Konversion der
im Umlauf befindlichen 6prozentigen Pfand-
briefe vorgenommen. Ende 1898 cirkulierten
niu* noch 4^/'» prozentige Pfandbriefe.
S. die Berichte des Petersburger Komitees
der periodischen Versammlungen der Ver-
treter aller russischen Bodenkreditinstitu-
tionen. Diese Berichte, die früher in deut-
scher und französischer Sprache erschienen
sind, erscheinen derzeit nur noch in rus-
sischer Sprache. Felix Hecht.
Hypothekensclialdeii.
(Statistik.)
I. Vorbemerkung, n. Statistik der
H. in den einzelnen Staaten. 1. Deutsches
Reich, a) Preussen; b) die übrigen deutschen
Staaten. 2. Oesterreich. S.Frankreich. 4. Italien.
5. Niederlande. 6. Vereinigte Staaten von Ame-
rika.
L VorbemerkiiBg.
Die Reihe der Aufgaben, welche die
Statistik zum Zwecke der Feststellung der
Grrundeigentumsverhältnisse zu lösen hat,
wurde in dem Art. Grundbesitz (IIL Ab-
schnitt: Statistik des G. oben Bd. IV S. 849 ff.)
kurz berührt Zu den hervorragendsten
derselben gehört die Ermittelung der hypo-
thekarischen Verschuldung des Gnmdbe-
sitzes. Insoweit als dabei insbesondere auch
die ländlichen Eigentümer in Frage kommen,
hängt das Preblem eng zusanunen mit den
auf die ökonomische Lage der Landwirt-
schaft gerichteten Untersuchungen, welche
gegenwärtig in fast allen Kulturstaaten das
öffentliche Interesse herausfordern.
Eine vollständige Statistik der Hypo-
thekenschulden wird neben dem Stande der
Verschuldung an einem bestimmten Zeit-
punkte auch die im Laufe der Zeit sich
vollziehende Bewegung der Hypotheken
(d. h. die Eintragungen imd Löschungen)
ins Auge zu fassen haben, da die auf solche
Weise zu ermittelnde Zu- oder Abnahme
der Belastung für die Beurteilung der wirt-
schaftlichen Lage der grundbesitzenden
Klassen gleichfalls von symptomatischer
Bedeutung ist. Uebrigens bedarf es gerade
mit Rücksicht auf diesen Zweck einer
Gliedenmg des Materials nach der lüchtimg
hin, dass nicht nur, wie schon angedeutet
der städtische und ländliche Grundl)esitz
auseinandergehalten, sondern der letztere
auch nach verschiedenen Grössenklassen
i mindestens nach grossem, mittlerem, kleinem
3esitz) gruppiert wird. Ferner wäre es er-
wünscht, zu erfahren, ob der Landwirtschaft
treibende Eigentümer daneben noch ein
sonstiges Gtewerbe ausübt Wichtig ist auch
die Frage des Schuldgrundes: ob das Dar-
lehen ziun Zweck der Bodenkultur oder
infolge von Erbteilung oder durch Eintra-
gimg rückständiger Kaufgelder etc. aufge-
nommen wurde. Weitere ünterscheidimgen
können die Grösse der einzelnen Schuid-
posten, die Höhe des Zinsfusses sowie die
Frage der Amortisation und der Kündbar-
keit betreffen ; einige ergeben sich aus dem
Hypothekenrecht der verschiedenen Staaten
(z. B. Trennung der eigentlichen Hypotheken
von den Grundschulden). Einen richtigen
Einblick in die Verschuldungsverhältnisse
gewinnt man erst dann, wenn sich die Höhe
der Belastung mit dem Werte des Eigen-
Hypothekenschulden (Statistik)
1261
tiims vergleichen lässt, wobei in der Regel
der Grundsteuerreinertrag massgebend sein
wird; nur dort, wo die Ennittelung der
hypothekarischen .Verschuldung auf die
FäUe der Besitzveränderung der Objekte
sich beschränkt, werden die Kauf- bezw.
sonstigen Uebemahmspreise zum Vergleich
heranzuziehen sein.
Wie schon angedeutet, ist die Beschaffen-
heit einer solchen Verschuldimgsstatistik
durch die gesetzlichen Einrichtungen, be-
sonders der Grrund- und Hypothekenbücher
sowie der Steuerlisten der einzelnen Länder
bedingt, ein umstand, der allein schon dazu
angethan ist, einen internationalen Vergleich
der hypothekarischen Verschuldung des
Grundeigentums als schwer ausführbar er-
scheinen zu lassen. Dazu kommt, dass die
meisten der bisher vorliegenden Statistiken,
insbesondere auch die deutschen, noch recht
unvollkommen sind und nur einen geringen
Teil der oben angeführten Momente berück-
sichtigt haben, indem nicht nur die Mangel-
haftigkeit der vorhandenen Unterla^n, son-
dern auch die Schwierigkeit der Material-
beschaffung einer zulänglichen Darstelhmg
vielfach im Wege standen. Insbesondere
wird die Statistik nur selten den Fällen ge-
recht, in denen dieselbe Schuld auf mehrere
Immobilien zugleich eingetragen ist (Simul-
tanhypotheken), oder wo eine Hypotheken-
schuld bereits getilgt, aber noch nicht ord-
nungsmässig gelöscht ist.
Uebrigens können unter Umständen auch
die Geschäftsausweise der Immobiliarki'cdit-
institute einen brauchbaren Anhalt ziu* Be-
urteilung der Verschiddungsverhältnisse
eines bestimmten Bezirkes bieten.
W^ir beschränken uns im folgenden auf
eine kurze Charakteristik des Standes der
Statistik in einigen wichtigeren Ländern.
(Vgl. im übrigen noch den Art. Grund-
besitz, ni, a. a. 0.)
II. Statistik der Hypothekenschulden
in den einzelnen Staaten.
1. Deutsches Reich, a) Pteussen.
Abgesehen von denjenigen Daten, welche
Meitzen in seinem Werke »Der Boden und
die landwirtschaftlichen Verhältnisse des
preussischen Staates« über den Stand und
die Bewegung der hypothekarischen Ver-
schuldung aus der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts gesammelt hat, existieren Er-
mittelungen über den Stand der Belastung
nur in Gestalt der in den Jahren 1883 und
1896 veranstalteten probeweisen Erhebung
der Verschuldung des ländlichen Grundbe-
sitzes in 50 bezw. 60, in den verschiedensten
Teilen der Monarchie belegenen Amtsge-
richtsbezirken. Danach war in 42 für beide
Jahre vergleichbaren Bezirkea:
überhaupt
Fideikommisse und Reichs-
güter
Besitzungen von über 1500 (
M. Beinertrag . . . .\
Besitzungen von 300 bisf
1500 M. Beinertrag . .\
Besitzungen von 90 — 300 f
Mark Reinertrag . . .\
Besitzungen von unter 90 (
M. Reinertrag . . . .\
Jahr
1883
1896
1883
18%
1883
1896
1883
1896
1883
1896
1883
1896
Zahl der
Be-
sitzungen
77913
565
341
I 769
I 708
7062
6654
11 791
II 705
57505
Grund-
steuer-
Rein-
ertrag
1000 M.
17 262
16591
1684
2001
7864
7225
4 393
4132
2 lOI
1952
I 220
I 281
Grund-
buch-
schulden
1000 M.
407 276
485 166
11398
14095
221 201
241 198
79144
102 526
39324
56677
56209
70670
Auf I.Besitzung
Schulden
M.
Rein-
ertrag
M.
213
2980
5868
4446
4230
622
621
178
167
•
23
6227
20173
41335
125043
141 217
II 207
15408
3 335
4842
I 229
Auf
1 M.
Rein-
ertrag
Schul-
den
23,6
29,2
6,8
7,0
28,1
33,4
18,0
24,8
18,7
29,0
46,1
55,2
Die Erhebungen von 1896 waren übrigens
weiter angelegt als die von 1883 und haben
in Bezug auf den Grad der Verschuldung
im Vergleich mit dem Grundsteuerreinertrag
wertvolle Ergebnisse geliefert.
Handelt es sich bei diesen, sonst schätzens-
werten Ermittelungen immer nur um ein-
zelne ausgewählte Probebezirke, so werden
dagegen über die Verschuldungsbewegimg,
d. h. über die Beträge der bei den ein-
zelnen Amtsgerichten eingetragenen und
gelöschten Hypotheken einschliesslich Gnmd-
schulden vollständige Nachweise für die
ganze Monarchie geliefert, und zwar ge-
trennt für städtische und ländliche Bezirke;
sie beginnen mit dem Rechnungsjahre
1886/87. Für das Jahr 1889/90 werden
zum ersten Mal die infolge von Zwangsver-
steigerungen eingetragenen und gelöschten
Posten besonders zur Darstellung gebracht.
Es erfolgten in Millionen Mark:
1262
Hypothekeaschulden (Statistik)
Eintragungen
Löschungen
Stadt
Land
Stadt
Land
1004,81
624,16
570,52
491,00
1128,05
567,62
561,27
479,59
1348,40
583,12
624,41
462,10
1484,59
651,93
670,01
472,80
1380,36
621,64
670,59
465,27
1445,26
641,81
685,87
435,16
1486,57
670, 1 1
736,09
461,43
1456,55
688,23
771,38
459,99
1611,84
714,97
868,40
460,30
Jahre
1886/87
1887/88
1888/89
1889/90
1890/91
1891/92
1892/93
1893/94
1894/95
Danach hat in den 9 Jahren eine Ge-
samtzunahme der Verschuldung um 1576,01
Millionen Mark stattgefunden. Löschungen
infolge von Zwangsversteigenmgen sind von
1889/90 bis 1894/95 in den Städten 580,15,
auf dem Lande 265,53 Millionen Mark ge-
schehen. Von den im Jahre 1894/95 in
den städtischen Bezirken erfolgten Ein-
tragungen und Löschungen entfielen auf die
Berliner Landgerichte allein 531,27 bezw.
280,69 Millionen Mark. Es ist dies eine
Folge sowohl der regen Bauspekulation als
auch vor allem der abnormen Steigerung
der Grundrente in der Reichshauptstadt und
deren Umgegend. Nähere Daten liierüber
bieten die regelmässigen Veröffentlichungen
des statistischen Amts der Stadt Berlin.
b) Die übrigen deutschen Staaten.
Aus obigem ergiebt sich, dass die Statistik
der Hypothekenschulden in Preussen bisher
nur wenig ausgebildet ist. In noch höhe-
rem Masse gilt dies von den meisten übrigen
Bundesstaaten. Aus Bayern li^en ausser
24 Gemeinden, in denen probeweise der
Schuldbestand festgestellt ist, seit 1895 nur
die Eintragimgen und Löischungen von
Hypotheken vor. Für 1896 sind auch die
Arten der Hypotheken auseinandergehalten.
In diesem Jahre betrugen in 1000 Mark:
auf landwirt-
schaftliche
Grundstücke
Eintragungen 161 244
Löschungen 141 283
davon wegen
Zwanjfsversteigerungen .... 3 602
Mehreiutragungen 19 961
Auf 100 M. Eintragungen Löschungen 87,6
anf städtische
oder gewerbl.
Grundstücke
auf landw. u.
zugl. gewerb-
liche Gmndst.
Zusammen
331 789
193 928
25802
18 160
518835
353 371
6646
137 861
58,5
556
7642
70,4
10804
i6q 466
68.1
•
Ausserdem werden die Hypothekendar-
lehen der Banken (1896 in 1000 Mark
1815232, dann in Bayern 1324764 und
zwar tüffbar 1161890,*^ untilgbar 162874,
auf landwiiischaftliche Anwesen 366 266,
auf sonstige 958 538) nach der Höhe der
Darlehen beziffert.
In Sachsen ist nach dem Stande von
1884 eine vollständige Ermittelung der Ver-
schuldung des Grund- und Gebäudebesitzes
durchgeführt und durch eine solche der
jährlich eingetretenen Bewegung darin eine
fortlaufende üebersicht des Schuldenstandes
am Jaliresschlusse erzielt worden. Dabei
sind die Arten der Pfandbestelliuig unter-
schieden worden. Auch wird die Zahl und
der Betrag der Eintragimgen und Löschungen
ersichtlich gemacht. Die Hauptergebnisse
sind in 1000 Mark:
1884 2204560 1888 2650831
1889 2 838 733
1890 3018104
1884/90 +831 545 (36,9%)
Für Württemberg liegt aus neuerer
Zeit nur eine Ermittelung der Pfandschulden
aus 126 ländlichen Gemeinden vor, welche
gelegentlich von Untersuchungen über den
Stand der Landwirtscliaft 1895 angestellt
worden ist.
Baden veröffentlicht in seinem > Statis-
tischen Jalirbucli« regelmässig die »Pfend-
einträge und Pfandstriehe« nach Zahl und
188Ö 2287763
1886 2384039
1887 2496217
Kapitalbetrag, wobei auch der Beruf der
Belasteten Berilcksichtigung findet. Der
Gesamtumfang der Belastung wurde einmal
gelegentlich der Erhebungen über die Lage
der Landwii-tschaft im Jahre 1883 für 37
Gemeinden aus den Grund- und Unter-
pfandsbüchern in eingehender Weise fest-
gestellt. Ausserdem hat man in Baden den
bedeutsamen Versuch gemacht, nicht bla««
die Real-, sondern auch die Personalschidden
bezüglich der landwirtschaftlichen Bevölke-
rung auf Grund der Einkommensteuerlisteu
und der darin verzeichneten, weil bei der
Besteuerung in Abzug zu bringenden Schuld-
Zinsen für 1894 erfasst. Dabei wurden
j rein landw^irtschaftliche und gemischte Be-
; ti'iebe und jeder wieder nach sechs Ein-
' kommenstufen unterschieden. Gleichzeitig
I ward der Wert des gesamten Vermögens
' ermittelt und so das schliesslich wichtigste
1 Ergebnis, das Verhältnis der Schulden zu
I jenem Vermögen , gefunden. Danach hat
' sich ergeben in 1000 Mark bei :
■«^ . 4)
Steuerpflichtige
Vermögenswert
Schuldkanital
Verschuldungs-
ziflfer
.0
86489
I 109684
195489
17,7
107 985
995774
285 693
28,7
194474
2 105 427
481 1S2
22,7
Hypothekenschulden (Statistik)
1263
n
bei Einkommen
—1000 M.
1001-1500 „
1501—2000 „
2001—3000 „
3001-5000 „
über 5000 „
21,7
15,4
14,1
13,8
",3
iß
SpQ
35,8
29,2
24,8
23,6
24,3
31,0
27,2
22,6
19,3
18,8
20,4
26,9
Auf der gleichen Grundlage der Ein-
kommensteuerrollen wiuxie auch in Olden-
burg die Verschiddung der allein oder vor-
zugsweise von der Landwirtschaft lebenden
Gnindbesitzer fflr 1894/95 ermittelt und
dabei die Verschuldungsursachen, welche
für die Steuerveranlagung anzugeben sind,
in Rechnung gezogen. Nächstdem hat auch
die übrige ländliche Bevölkerung, wenn
auch weniger eingehend, Berücksichtigimg
gefunden. Für die gesamte ländliche Be-
völkenmg des Herzogtums Oldenburg,
d. h. des Hauptlandes des Gfrossherzogtums
ergaben sich Steuerpflichtige:
Anzahl
Kapital
Schulden
m 1000 M.
überhaupt
62 769
125672
108482
darunter
ohne Kapital und
Schulden
46540
nur mit Kapital
7234
96205
mit Kapital und
Schulden
2210
29467
37780
nur mit Schulden
6785
70702
Für diese Steuerpflichtigen betrug derWert
des Grundbesitzes (420662 ha) 474280810,
der des Betriebskapitals 133460266 und im
fanzen 607 741076 Mark (d. h. für einen
teuerpflichtigen 9682 und für 1 ha 1447
Mark). Danach berechnet sich das Verhält-
nis der Schulden zum Weil: des Grundbe-
sitzes und Betriebskapitals ohne Abzug des
Kapitals auf 17,9 und mit Abzug auf
+ 2,8^/0.
Im Grossherzogtum Hessen finden seit
einiger Zeit (beginnend mit dem Jahre 1885)
umfassende Erhebungen statt über die Zu-
und Abnahme des auf dem Grundbesitz
Aihenden, in den öffentlichen Büchern ein-
getragenen Schuldenstandes, unter Berück-
sichtigung der Entstehungsursache der
iSchuld und des Grundes der Löschungen
sowie des Hauptberufes der Sdiuldner
(Landwirte, Gewerbetreibende und sonstige
Personen). Endlich bleibt das Herzogtum
Braunschweig zu erwähnen^r welches
der Bestand der ingrossierten Hypotheken-
kapitalien in Stadt und Land aus mehreren
Jahren, anhebend mit 1856 und bis auf die
neuere Zeit fortgeführt, vorliegt.
2. Oesterreich. Hier ist unsere Statis-
tik bereits seit mehreren Jahrzehnten eifiig
gepflegt worden. Da eine erste 1858 ver-
anstaltete Erhebung der Grundbesitzver-
schuldung von wenig glücklichem Erfolge
war, beschränkte man sich bei einer Wieder-
holung nach dem Stande v. 31. Dezember
1881 auf eine blosse Darstellung des bücher-
lich (d. h. also von der Wirklichkeit mehr
oder weniger abweichenden), in Geldbeträgen
haftenden Lastenstandes. Die Beträge
wuixien dabei nach der Hypothekengattung
und der Höhe des Zinsfusses unterschieden.
Indessen ist auch diese Erhebung von
grossen Mängeln nicht frei, namenthch er-
scheint die Belastung aus verschiedenen
Gründen erheblich zu hoch. Femer ist es
nicht möglich, den Grad der Belastimg an
dem Werte der Liegenschaften zu er-
messen.
Einer grösseren Vollkommenheit erfreuen
sich die mit dem Jahre 1868 in Oesterreich
beginnenden (und in Ähnlicher Weise auch
in Ungarn veranstalteten) periodißchen
Nachweisungen über die Yeränderungen im
(Besitz- und) Lastenstande der Readitäten,
namentlich seitdem von 1878 an auch die
Formen der Belastung berücksichtigt werden.
Ausserdem wird die Zahl der Posten (nach
Grössenklassen gruppiert), die Art des Be-
sitzes (landtäflicher, städtischer. Montan- und
sonstiger Besitz) sowie der Zinsfnss der
Hypothekendarlehen ermittelt.
Wie Inama-Sternegg mitteilt, hatte
die Erhebung des Jahres 1858 in den jetzt im
Reichsrate vertretenen Ländern eine Ge-
samtbelastung von 1122 Millionen Gulden
ergeben. Nach den Ausweisen über die
n'iche Bewegung im Lastenstande der
itäten während der Jahre 1871—1881
ist eine Gesamtmehrbelastiuig von 988
Millionen Gulden eingetreten. Um dalier
die Schlussziffer der Erhebung von 1881 im
BetrM;e von 3061 Millionen Gulden (ohne
die Schulden der Eisenbahnen und des
Staatsgüterbesitzes) zu rechtfertigen, muss
in der Zeit von 1858—1870 eine Mehrbe-
lastung im Gesamtbetrage von 951 Millionen
Gulden eingetreten sein, so dass hiemach
die drei Perioden, die Zeit vor 1858, dann
1858—1870 und 1871—1881 mit nahezu
gleichen Beträgen an dem Schuldenstande
von 1881 beteiligt sind. Für Ende 1889
werden die gesamten Hypothekenschulden
in den Reichsratsländern auf etwa 3600
Millionen Gulden veranschlagt.
Im folgenden geben wir einen Ueber-
blick über die Zunahme der Hypotheken-
schulden in Oesterreich, wie sie in dem
Mehrbetrag der neuen Belastungen gegen-
über den Entlastungen sich darstellt. Die
Länder mit noch unvollständigem Grund-
buchwesen (Küstenland, Galizien und Buko-
wina) sind dabei nicht berücksichtigt.
12G4
Hypothekenschulden (Statistik)
Jahr
1871
1872
1873
1874
1875
1876
1877
1878
1879
1000 fl
46741
107 622
202 459
156 127
136693
99276
24695
44 160
22765
Jahr
1880
1881
1882
18&S
1884
1885
1886
1887
1888
1000 fl
18404
10035
22926
34289
57241
55871
52 708
56331
56954
Jahr
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1000 fl
52739
58328
73503
107 033
112 239
159070
150 021
162370
179 216
In der gewaltigen Zunahme des Lasten-
standes zu Beginn der siebziger Jahre
kommt die wirtschaftliche Hochflut jener
Zeit deutlich zum Ausdruck. Bezüglich der
Vermehrung in den achtziger Jahren weist
Winckler darauf hin, dass die im Jahre
1883 erfolgte Intabiüierung einer Prioritäten-
schuld von 24 Millionen Mark der Alpinen
Montangesellschaft, die Folgen der Zucker-
krisis im Jahre 1884 und die infolge des
gesunkenen Zinsfusses seit dem Jahre 1886
mit Hilfe erborgter Kapitalien forcierte
Bauthätigkeit in Wien und dessen Vororten
zum Anwachsen der Hypothekenschuld
wesentlich beigetragen haben.
In Ungarn betrug der üeberschuss der
Neubelastungen über die Löschungen in 1000
Gulden :
1889 26020
1890 48258
1891 76652
1892 57621
1893 87135
1894 68301
1895 1 1 5 540
1896 117 096
1897 129 349
3. Frankreich. Nachdem früher wieder-
holt (zuletzt im Jahre 1840) Versuche ge-
macht worden waren, die Anschreibungen
der Hypothekenämter zur Herstellung einer
Statistik der hypothekarischen Verschuldung
des Gnmdbesitzes zu benutzen, ist eine der-
artige Erhebung im Jahre 1877 wiederholt
worden. Für 1840 hatten die Auszüge aus
den Gnmdbüchern eine hypothekarische
Belastimg von 12308 Millionen Francs er-
bracht. Jene Ermittelung stellte fiir den
31. Dezember 1876 eine Grundbuchschuld
von 19278931692 Francs fest, zu denen
dann noch die dem Credit foncier gehörende
Summe von 832096402 Francs hinzutritt,
so dass sich eine Gesamtbelastung von
20 11 1 028 094 Francs ergiebt. Diese Summe
ist indessen insofern zu hoch, als manche
zurückgezahlte Schulden nicht gehörig ge-
löscht wurden. Nach den über diesen
Punkt von den einzelnen Hypothekenämtern
angestellten Ermittelungen ist deshalb ein
Betrag von 5741931768 Francs abzusetzen.
Infolgedessen reduziert sich die thatsäch-
liche Belastung auf 14369096326 Francs.
Uebrigens hat auch die jüngste Aufnahme
zu einer bloss summarischen Feststellung
der Beträge geführt, indem weder die
(trössenklassen der Besitzungen noch selbst
die städtischen imd ländlichen Distiikte
unterschieden woixlen sind. Zuverlässige
Daten über die Verschuldungsbewegung sind
nicht bekannt.
4. Italien. Dieser Staat besitzt eine
ziemlich ausführliche, alleixlings melu* die
rechtliche als die >\'irtschaftliche Seite der
Frage berülirende Statistik der Hypotheken-
schulden. Der Gesamtbetrag der letzteren
wurde erst einmal, und zwar für den 31.
Dezember 1871 direkt erhoben. Von da ab
ist der Stand der Verschuldung duix-h Fest-
stellung des jährlichen Zu- und Abganges
der Hypotheken ermittelt woixien. Schon
gelegentlich jener Hauptaufnahme wurden
die Hypothefcen nach ihrer verschieden-
artigen rechtlichen Qualität auseinanderge-
halten; dabei ist auch zwischen zinstragen-
den und nicht zinstragenden Hypotheken
(debito fi-uttifero ed infruttifero) unter-
schieden, von denen die letzteren keine
eigentliche Belastimg des Eigentums be-
deuten, indem sie nur zu Zwecken der
Kautionsstellung • etc. angeliehen wurden.
Die ei*steren zerfallen in Kapitalien und
kapitaJisierte Renten. Eine genaue Fest-
stellung des Schuldenstandes ist übrigens
nicht erzielt worden, weü sowohl die Simul-
tanhypotheken als auch die nicht gehörig
gelöschten Hypotheken mit einbegi'iffen
werden mussten. Andererseits sind die
nicht nach den Vorschriften des Civügesetz-
buches, sondern auf Grund von Si)ecialbe-
stimmungen bewirkten Schuldaufnahmen
von der Statistik unberücksichtigt geblieben.
Nach den gleichen Grundsätzen ist die
an die erste Erhebung sich anschliessende,
fortlaufende Ermittelung der H37)0thekenbe-
wegung eingerichtet. Doch wimie von 1886
an nocli unterschieden, ob die Eintragimgen
auf Häuser oder auf Grundstücke oder auf
beide zugleich erfolgten. Bei den Löschungen
findet diese Trennung nicht statt. Die
Naehweisungen werden nach der Zahl der
Posten und den Beträgen für die einzelnen
Provinzen geliefert.
Für Ende 1871 wiutle ein Betiug von
6009450696 Lire an zinstragenden und von
4582834409 Lire an nicht zinstragenden
Hypotheken ermittelt, welche beiden Summen
nacli dem Ausweis der inzwischen erfolgten
Eintragungen und Löschungen Ende lt<SO
auf 6537 784997 bezw. 4941670348 Lire
und Ende 1889 auf 8934027719 bezw.
5968133266 Lire gestiegen waren. Unter
den am Schluss des letzten Jahres vorhan-
denen zinstragenden Hypotheken befanden
sich 8106704937 Lire eigentliche Kapitalien
imd 827 322782 Lire kapitalisierte Renten.
Während des Jahres 1889 wurden neu auf-
genommen 100746 Posten in der Höhe von
705902762 Lire, und zwar allein auf Gnmd-
besitz 178068014, aUein auf Geliäude
231356354 und auf Grundbesitz und Ge-
bäude zugleich 296478394 Lire. Da gleich-
Hyiwthekenschulden (Statistik) 1265
zeitig Hypotheken im Betrage von 376 072 340] bestehender Hj-potheken vorzunehmen war,
Lire gelöscht wuiflen, so ergiebt sich ein so darf angenommen werden, dass die aus
Gesamtumsatz während des Jalires 18.S9 1 der Einreehnung der Simiütanliyix)theken
von 1081975102 Lire. Die in dem Ueber- und der getilgten, aber noch nicht gelösch-
sehuss der Eintragungen über die Löschungen | ten Forderungen anderwärts entstandenen
verzinslicher Hypotheken sich darstellende Ungenauigkeiten in den Niederlanden ver-
Zunahme der Verschuldung wälirend jedes , mieden worden sind.
einzelnen Jahres wiitl durch nachstehende ' Die Gresamtsumme der hynothekarischen
Uebersicht veranschaulicht. ! Belastimg stieg von 809 Millionen Gulden
i im Jahre 1880 auf 1192 Millionen am Ende des
Jahr 1000 Lire Jahr 1000 Lire Jahr 1000 Lire , Jahres 1894. Yon diesem letzteren Betrage
179 822 I ^' Vereinigte Staaten von Amerika.
139654 1 Ausser den Berichten der statistischen
—79 118 Bureaus der Staaten Nebraska, Michigan und
j Illinois über die Verschuldung des privaten
I Grundbesitzes, aus denen G. Ruhland (s.
I Litteratur) ausführliche Mitteilungen macht,
Für die Erklärung der gewaltigen Zu- , liegt eine neue bei Gelegenheit des allge-
nahme der Yei-schiddung während der I meinen Census von 1890 erhobene ausführ-
z weiten Hälfte der achtziger Jahre >ä4i\1 liehe Hypothekenstatistik vor, welche die
neben der allgemeinen wirtschaftlichen Kri- 1 Anzahl und Grösse der Schulden mit Unter-
sis auch die Bauspekiüation in Rom in An- : scheidung der H()he der Schuldbeträge und
Spruch zu nehmen sein. I des Zinsfusses sowie für einzelne Gegenden
5. Niederlande. Ausführlich gehalten auch die Art der Scludden beziffert. Da-
sind auch die statistischen Naclirichten, 1 nach betrugen für 1890 die Grundeigen-
weiche in den Niederlanden über die Hypo- tumshypotheken :
thekenbewegung fortlaufend veröffentlicht! im ganzen auf acres auf Parzellen
werden. Anzahl 9 517 747 4 747 o'jS 4 770 669
Abgesehen von gelegentlichen älteren | Betrag
Nachweisungen ei-scheinen seit 18S0 peiio-lDoll. 12094877793 4896771 112 7 198 106 681
dische Berichte in Gestalt einer »Statistik Die Zahl der Hypotheken, für welche
1875
8545
1884
189 181
1893
1876
75 495
1885
191 614
1894
1877
72091
1886
376416
1895
1878
78359
1887-
459461
1896
1879
1 1 1 783
1888
385 593
1880
60233
1889
329 830
des Grundkredits«. In den Uebersichten
werden die eingetragenen und gelöschten
der Schiüdbetrag nicht beigebracht werden
konnte, belief sich auf 18 590, darunter
Posten nach der Höhe der Beträge und des | auch 11190 aci-es und auf 740G Parzellen.
Zinsfusses sowie nach der Art der Ver- 1 Ausserdem wurde bei dem nämlichen
schuldung gruppiert. Diese Nachweisungen Census in Verbindung mit den Eigentums-
werden durch eine ^ für den Termin des 31.
Dezember 1880 vorgenommene Erhebung
des Verschiüdungsstandes in wünschens-
werter Weise ergänzt. Da übrigens für
diesen Zeitpunkt eine Erneuenmg sämtlicher
Verhältnissen der Farmen und Hausstellen
deren gesamte (nicht bloss hypothekarische)
Yersclnüdung ermittelt. Das führte zu
folgenden Ergebnissen : Familien mit eigenem
Lande :
ohne mit
im Besitz von ^o«?.« Schulden <>/o Schulden \
ganzen j^^^^^^ ^^^^^^^j
Farmen 3142746 2555789 71,8 886957 28,2
Hausstellen 2923671 2 113 738 72^3 809933 27,7
Zusammen 6066417 4369527 72,0 1696890 28,0
Es belief sich der Wert der verschid- 1 Art. Grundbesitz III nachgewiesenen
detenFarmenauf 3054923105, der Scludden- Quellen in Betracht (oben S. 859 ff.),
betrag auf 1 085 995 900 Dollars und für die'
verschuldeten Hausstellen der AVert auf
2632374904, der Scluddenbetrag auf
1 040 953 603 Dollai'S. Demnach erreic^ht die
Verschiüdung bei den Farmen 35,(), bei den
Hausstellen 39,8 ^/o des Wertes des Besitz-
tums.
Ausser der nachstehenden Litteratur
kommen auch mehrere der am Schluss des
Litteratur: Congrhs international de statislique
ä la llaye, septihne Session de 6 au 11 septembre
ISfii), la Haye 1809—1870. — H, von Scheel,
Bemerkungen zur landwirtschaftlichen iStatistik,
insbesondere zur Verschuldungsstatistik, in den
Jahrb. f. Xat. u. ,Stat. X. F. 9, JS. 6d—07. —
Archic des deutschen LandwirtschaftsrateSf Jahr-
gang VII, 188^, Heft 7, betreffend regelmässig
ivirdf'rkehrende Erhebungen über die Verschul-
Handwörtorbach der Staatswissenschaften. Zweite Aufläse. IV. 80
1266
Hypothekeaschulden (Statistik) — Hypothekenversicheriing
düng der ländlichen Grundbesitzer in sämtlichen
de^Uschen Bundesstaaten, LandxoirtscliaftUche
Jahrbücher, Jahrg. 1884, SupplementJieß I. —
Die Hypothekenbewegung im preussischen Staate,
in der Zeitschr. des königl, preuss, statistischen
Bureaus, Jahrgg. XXVII— XXVI, XXXIV,
XXXVI, Berlin 1887—1891, 1894, 1896. Des-
gleichen: XXXVIII, 1898: €?. JSvert, Du
Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes in
einer Anzahl von Amisgerichtsbezirken Preussens
von 1888 — 1896. — Statistisches Jahrbuch für
das Königreich Bayern, herausgegeben vom königl.
statistischen Bureau, München (zuletzt) 1898. —
Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse
in 24 Gemeinden des Königreichs Bayern, Mün-
chen 1895. — Statistisches Jahrbuch der Stadt
Berlin, herausgegeben von JR, Böchh, Berlin
1898 und früher. — K. von Langsdorffy
Die bäuerlichen Verhältnisse im Königreich
Sachsen, in den Sehr. d. V. f. Sozialp., 23. —
E. Steg lieh f Beiträge zur Statistik des Grund-
eigentums in der Zeitschr. des königl. sächsischen
statistischen Bureaus, XXXVII, Dresden 1891.
— Das Grossherzogtum Banden, Karlsruhe 1885,
insbesondere Abschnitt: Landwirtschaft von A,
Buchenberger, — Ergebnisse der Erhebungen
über die Laye der Landwirtschaft im Grossherzog-
tum Baden, 1888, Karlsruhe. — Statistisches
Jahrbuch für das Grossherzogtum Baden, Karls-
ruhe (zuletzt) 1899. — Statistische Mitteilungen
über das Grossherzogtum Baden, Bd. III — VIII,
Karleruhe 1880 — 1891. — Die Belastung der
landwirtschafttreibenden Bevölkerung durch die
Einkommensteuer und die Verschuldung der
Landwirtschaß im Grossherzogtum Baden, Karls-
ruhe 1896. — A. BuchenbergeVy Eine länd-
liche Vtrschuldungsstatisiik in Baden, in der
Zeitschriß für die gesamte Staatsuyissenschaft,
52. Jahrg., Tübingen 1896. — P. Kollmann,
Die landwirtschafüiche Verschuldung im Gross-
herzogtum Oldenburg, in den Jahrb. f. Xat.
V. Stat, III. Folge, Bd. IS, Jena 1897. —
Württemberg ische Jahrbücher für Statistik und
Landeskunde, herausgegeben vom königl. statis-
tischen Landesamt, Jahrg. 1895, Stuttgart 1896:
Ergebnisse der Erhebungen über den Stand
der Landwirtschaft in Württemberg. — Mit-
teilungen der grossherzogl. hessischen Centralstelte
für die Landesstatistik, Bd. 19—31, Darmstadt
1889 — 1891. — Bürstenhindm* , Die Land-
wirtschaft im Herzogtum Braunschweig, Braun-
schweig 1881. — Derselbe, Ucber die gegen-
wärtigen Ifäuerlichen Verhältnisse im Herzogtum
Braunschweig j in den Sehr. d. V. f. Sozialp., 28.
— Jahrbücher f. Nationalökonomie u. Statistik,
III. Folge, 11. Bd., Jena 1896: JT. Conradf
Die Verschuldung des Grundbesitzes in einigen
Staaten Deutschlands. — Karl Theodor von
Inama^Stemeggf Statistik der Hypothekar-
schulden in Oesterreich, in der Statist. Monats-
schrift, IX. Jahrg., Wien 1883. — Karl Keleti,
Zur Statistik der Hypothekarschulden in Ungarn,
Budapest 1S85 (enthält Mitteilungen über eine
probeweise Erhebung des Verschuldungsstandes
in 54 Gemeinden Ungarns). — Ungarisches
statistisches Jahrbuch, neue Folge, Budapest
(zuletzt) 1899. — La dette hypothecaire en
France, im Bulletin de statistique et de Ugis-
lation comparee. Vol. III, Paris 1878. — Debito
ipotecario iscritio suUa proprietu fondiaria del
Regno; Pubblicazione annuale del Ministero \
delle Finanze, Borna, — Annttario staUstieo
italiano, Roma (zrdetzt) 1898. — Staiisiiek van
het Grondcrediet in Nederland, uitgegeven door
hct Departement van FKnandSn, *s Gravenhage
1880, 1882, 1887, 1891. — Jaarcijfers uügegeren
door de Centrale Commissie voor de Statistiek.
Binnenland, 's Gravenhage 1896. — O. MuHtandf
Zur Verschuldungsstatistik des Grundöesitzes in
Nordamerika, in der Zeitschr. f. d, ges. Siaatsu*.,
46. — Report on real estate mortgages in the
United States at the eleventh eensus 1890,
Washington 1895. — Report on farwes and
homes: proprietorship and indebtedness in the
United States at the eleventh eensus 1890,
Washington 1896.
(Nach A. Wimtinghaus ;) Paul KoHmann.
Hypothekenversicherimg.
Die Erfahrung, dass liegendes Gut hei
der Schwierigkeit einer auf längere Dauer
zutreffenden Wertschätzung unterpfändliche
Sicherheit nur bis zu einer gewissen Grenze
seines Wertes gewährt, und dass der Eigen-
tümer dasselbe über diese Grenze hinaus
als Unterpfand nur verwerten kann, wenn
er sich zu Opfern versteht ähnlich denen,
welche auch der Schuldner bringen muss,
der gar keine reelle Sicherheit anzubieten
hat und doch ausgedehnten Kredit begehrt,
hat zu dem Gedanken geführt, das Ver-
sicherungsprincip auch auf den Hypothekar-
kreditverkehr anzuwenden. Es ist dies zu-
erst in einer Zeit geschehen, w^o dem Hy[>o-
thekenkredit noch weniger Erleichterung
und Förderung geboten war als heutzutage,
und es ist geschehen unter Berufung auf
ein angebliches Bedürfnis, namentlich des
ländlichen Grundbesitzes nach einer Er-
weiterung seiner Realkreditfähigkeit. Man
sagte sich, die Vorteile des hypothekarischen
Darlehns liegen für den Schuldner in der
Niedrigkeit des Zinsfusses, für den Gläubiger
in der Sicherheit der Anlage ; beide Vorteile
minderten sich in dem Masse, als das Dar-
lehn die Hälfte des Wertes des Pfandobiektes
überschreite; man müsse sie dem hyjx)-
thekarischen Darlehn namentlich im Interesse
der kapitalbedürftigen Landwirtschaft auf
künstlichem Wege sichern, gleichviel, bis zu
welchem Betrage der Taxe jenes Darlehn
gesucht oder gegeben werde. Dies könne
geschehen durch das Dazwischentreten eines
Dritten, der gegen von allen Beteiligten ge-
zahlte Gebühren sich verstehen müsse zur
Deckung von Verlusten, die in einzelnen
Fällen aus der Kreditüberlastung von Gnmd-
stücken erwachsen können. Nur so, so aber
könne gewiss der Gläubiger, welchem eine
nachfolgende Hypothek verschrieben werde,
ebenso sicher gestellt werden -v^de der vor-
hergehende, könne dem kreditbedürftigen
Grundstücksbesitzer eine solche weitere Dar-
Hypothekenversichenmg
1267
lehnsaufnahme ermöglicht werden, ohne daes
seine Zinslast sich übermfissig steigere.
Aehnliche Gedanken entwickelte bereits im
Jahre 1801 der preussische Kammerrat
F. L. Wildegans in einer Denkschrift, in
der er »eine gesellschaftliche Verbindung
aUer, oder doch mindestens derjenigen Gnmd-
besitzer, welche Pfandbriefe schon auf ihren
Gütern haben oder später aufnehmen«, em-
pfahl »derart, dass sie sich wechselseitig
den Ersatz des Schadens versichern, der da-
dui'ch veranlasst ist, dass bei einer not-
wendigen Subhastation nicht soviel für ihre
Besitzungen geboten werden sollte, als selbe
landschaftlich abgeschätzt sind«. In den
dreissiger Jahren entstand in Paris, aller-
dings zunächst nur für die Erhaltung der
Hypotheken bei Heimsuchung der dafür ver-
pfändeten Gebäude durch Feuer, eine »Society
d'assurance des cr6ances hypoth^caires«. Im
Jahre 1849 wurde dem königlich preussi-
schen Minister des Innern das »Statut einer
Yersicherungsbank für städtische Giimd-
stücke und Hypotheken« zur Konzessionie-
rung eingereicht. Ueber das Schicksal dieser
Untemehmimg ist öffentlich, soviel wir wissen,
nichts bekannt geworden. Im Jahre 1858
gründete der nacliraalige Geheime Regierungs-
rat Dr. E. Engel, der berühmte Statistiker,
in Dresden die »Sächsische Hypothekenver-
sicherungsgesellschaft« und erwies so die
praktische Diurchführbarkeit des von ihm
besonders klar erfassten Gedankens der
-> Hypotheken Versicherung«. Bald darauf ent-
stand die Hypotheken versicherimgsgesell-
schaft >Yindobona« in Wien und die
:>PreussischeHvpothekenversichenmgsaktien-
gesellschaft« in Berlin (1862).
Für den Hj-pothekengläubiger kann die
Gefahr eintreten, dass der Schuldner zahlungs-
unfähig wird lind der Versicheningserlös
der Hypothek zur Deckung der Schuld
nicht Innreicht. Für den Eintritt dieser
Gefahr kann er Schailloshaltimg auf dem
Wege der Versichenmg sich gewährleisten
lassen. Diese Gewährleistung begreift dann
die Erstattung des diu-ch den Mindererlös
des Pfandobjektes entstandenen Verlustes
am dargeliehenen Kapital. Gegenstand der
Versichenmg kann aber auch die pünktliche
Rückzahlimg des Kapitals und die pünkt-
liche Zinsz£düung sein, das Risiko also in
der nichtjpünktlichen Rückzahlung, in der
Säumigkeit des Schuldners im Zinszahlen
bestehen. Man hat so besonders drei Arten
der Hypothekenversicherung — die Grund-
stückswertversicherung, die Kapitalversiche-
rung und die Zinsenversicherung — unter-
schieden. Selbstverständlich kann ein und
derselbe Vertrag gleichzeitig alle drei Zweige
umfassen. Die Prämie wird in der Regel
der Schuldner zu zahlen haben, wemi nicht
unmittelbar an die Versichenmgsanstalt, so
doch mittelbar, indem er sie dem Gläubiger
im Zinsfusse ersetzen muss. Der Gläubiger
erhält dann im Zins auch Versichenmgs-
prämie, die er dem Versicherer abgewähren
Kann, weil dieser für entstehende Verluste
aufkommt. Die Prämie kann nicht wohl
auf die Dauer höher sein als so hoch, dass
sie mit dem vertragsmässigen Zins zusam-
men einen Betrag ergiebt, zu welchem der
Schuldner jederzeit auch ohne Versicherung
das erwünschte Darlehn erlangen könnte.
Als Versicherer kann auch hier aus
naheliegenden Gründen füglich nur eine
Gesellschaft auftreten, und zwar ist die Hypo-
thekenversicherung dem Gegenseitigkeits-
principe nicht zugänglich, weü hier nur
gegen feste Prämie versichert werden kann.
Nur bei solcher können Gläubiger und
Schuldner im voraus berechnen, ob die Ver-
sicherung im einzelnen Falle ratsam sei.
Mehrere umstände erklären es, dass
die Hypothekenversicherung bisher keinen
grossen Aufschwung genommen hat. Erstens
liegt hier die Gefahr absichtlicher oder fahr-
lässiger Herbeifühnmg des Risikos zu nahe
und ist der Versicherer zu sehr auf per-
sönliche Garantieen des Schuldners, die aus
der Feme schwer zu beurteilen sind, ange-
wiesen. Zweitens tritt dem Versicherer
ebenso wie dem Gläubiger hier die Unbe-
stimmtheit imd Wandelb^keit der äussersten
W^ertgrenze des Pfandobjektes hindernd ent-
gegen. Und dann pflegen es doch nur sehr
seltene Fälle zu sein, in denen wirtschaft-
lich tüchtige Grundbesitzer im gewöhnlichen
Laufe der Dinge genötigt sind, ihren Real-
kredit bis zur äussersten Grenze anzuspannen.
Fraglich ist auch die allgemeine wirtschaft-
liche Bereclitigimg zur Schaffung von An-
stalten, die dies erleichtern, vielleicht auch
um ihrer eigenen Existenz willen begün-
stigen und gebräuchlich machen müssen.
In Wirklichkeit besteht von den Ende
der fünfziger und Anfang der sechziger
Jahre begründeten Hypothekenversicherungs-
geseUschaften nur noch eine, die obenge-
nannte, von 0. Hübner begründete »Preussi-
sche Hypothekenversichenings-AktiengeseU-
schaft«, welche aber auch vorzugsweise
Hyi)othekenbank-Geschäfte betreibt. Die An-
wendbai'keit des Versicherungsprincips auf
den Hypothekenverkehr ist erwiesen; das
Bedüi-fnis hiemach aber jedenfalls zweifel-
haft.
Litteratnr* nDas Vcrsicherungsttese^HH von
Hetnnann und Karl Brämer (Leipzig C. L,
Hirschfeld 1894) ^- -^GO und die dort (S. 411)
angegebenen »Schriften.
A. Enitninghaus,
80^
1268
Hypotheken- und Gnindbuchwesen
Hypotheken- und Grandbucliweseii.
1. Grundgedanken. 2. Einrichtung der öffent-
lichen Bücher. 3. Inhalt der Einschreibungen.
4. Der Eintragungszwang, ö. Die Arten der Ein-
schreibungen. 6. Wirkungen der Eintragung.
7. Die Rangordnung der eingetragenen Rechte.
8. Die raateriellrechtlichen Voraussetzungen für
die Begründung, Aenderung oder Aufhebung
von Eigentum oder dinglichen Grundstücks-
rechten durch Eintragung. 9. Die Berichtigung
des Buches. 10. Die Buchbehörden. 11. Das Ver-
fahren der Buchbehörden, 12. Die Haftpflicht
der Buchbeamten und des Staates.
1. Grundgedanken. Während das romi-
sche Recht Mobilien und Immobilien im
wesentlichen nach gleichen Grundsätzen be-
handelt, hat in Deutschland eine Scheidung
des Rechts der beweglichen und der unbe-
weglichen Güter sich vollzogen. Denn in
Deutschland waren von jeher politische
Rechte mit dem Besitz von Grund und
Boden verknüpft ; auch hatte man die über-
wiegende Bedeutung des Gnmdbesitzes für
den Volkswohlstand und den Realkredit der
einzelnen erkannt. Ihretwegen sind schon
im Ziüttelalter für den Eigentumsübergang
an Immobilien und die Begründung ding-
licher Rechte an ihnen besondere Formen
vorgeschrieben, welche der Veröffentlichung
des Eigentums und der dinglichen Rechte
an ihnen zu dienen bestimmt wai'en. Denn
sowohl für Eigentumsübertragung als für
Bestellimg eines Pfandrechts an Immobilien
(ältere Satzung) wurde die gerichtliche Auf-
lassung, die im Volksgericlit (echten Ding)
abzugebende Erklänmg der Eigentumsüber-
tragimg oder Verpfändung unter obrigkeit-
liclier Bestätigimg verlangt. An Stelle der
Auflassung trat aber beim Pfandi'echt an
Immobilien in dem Institut der neueren
Satzung seit dem 13. Jahrhundert die Ein-
tragimg in die Gerichts-, Stadt- oder Pfand-
bücher. Diese gerichtliche Auflassung und
die Eintragung der Verpfändung in öffent-
liche Bücher bildet den Ausgangspunkt für
die Entwickelung des heutigen Hypotheken-
und Gnmdbiichwesens in Deutschland,
Oesterreich und Frankreicli, indem auch diese
Ent^icikelung von dem Gedanken der Ver-
öffentlichung der dinglichen Rechtsverliält-
nisse der Grundstücke getrieben Miirde.
Und mit Recht. Denn im Interesse des
Realkredits und der Siclierheit des Geschäfts-
verkohi-s mit Giimdstücken ist es geboten,
Einrichtungen zu treffen, welche es ermög-
lichen, dass jeder, der Rechte an einem
Grundstück als Eigentümer, Pfandgläubiger,
Reallastberechtigter u. s. w. eingehen will,
sich über den dinglichen Rc^chtszustand des
fraglichen Grundstücks informieren kann.
Doshalb hat man auch das Hypotheken-
iind (inindbiichwcsen auf öffentliche, d.h.
der Einsichtnahme olftMistelnMide Bücher ge-
gründet (formelle Publicität), in denen die
Gnmdstücke und was ihnen gleichsteht, so-
wie die an ihnen bestehenden Rechtsver-
hältnisse eingetragen werden, gleichzeitig
aber bestimmt, dass niemand sich mit Un-
kenntnis dessen, was legaler Weise in den
Büchern eingetragen ist^ entschuldigen könne.
Dabei war in den Hansestädten und Frank-
reich die breiteste Oeffentliclikeit in dem
Sinne anerkannt, dass jedermann berechtigt
sei, die Bücher einzusehen. In anderen
Staaten, z. B. Preussen, verlangte man ein
»rechtliches« Interesse an der Einsichtnahme.
Die Deutsche G.B.O. vom 24. März 1897
(§ 11) gestattet die Einsicht demjenigen, der
ein »berechtigtes« Interesse darlegt. Aus
frivolem Grunde, müssiger Neugier und
eigennützigen Motiven kann also die Ge-
stattung der Einsicht nicht verlangt werden.
Deshalb wird z. B. den kaufmännischen Aus-
kunftsbureaus, welche die gewonnene Kennt-
nis gegen Entgelt verwei-ten, die Einsi(»ht
zu vei'sagen sein. Dagegen braucht das »be-
rechtigte« Interesse nicht, wie man von dem
»rechtlichen« Interesse verlangte, darin zu
gipfeln, dass man dingliche Rechte an dem
fraglichen Gnmdstück bereits hat oder erst
erwerben wiU. Vielmehr ist berechtigtes
Interesse ein nach der Ueberzeugung des
Grundbuchbeamten vorliegendes verständi-
ges, durch die Sachlage gerechtfertigtes
Interesse. Deshalb wird beispielsweise auch
einem Gelehrten, welcher eine statistische
Arbeit über die Belastung des ländlichen
Grundbesitzes machen will, die Einsicht zu
gestatten sein.
Aber freilich ist der Publicitätsgedanke
nicht überall in gleicher Stärke wirksam
gewesen. Er ist um so stäi'ker, je grösser
der Umfang ist, in welchem die Notwendig-
keit von Einti'agungen in die öffentlichen
Bücher anerkannt winl und je einschneiden-
der die Wii'kung ist, welche das (lesetz mit
einer wirklich vollzogenen Eintrag^mg oder
mit der onlnungswidrigen Unterlassung einer
Eintragung verknüpft (sogenannte materielle
Publicität, vgl. Nr. 6).
Je nach der geringeren oder gnxsseren
Intensität des Publicitätsgedankens lassen
sich drei Svsteme unterscheiden:
A. Das Trans- und Inskriptionssystem,
welches in Frankreich gilt und sich auch
in der bayerischen Pfalz, Baden, Rheinhessen,
dem oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld.
Elsass-Lothringen Geltung verscliafft hat.
Nach dem Trans- und Inskriptionssystem
hat zwar die Einti-agung von Eigentum,
Privilegien und Hypotheken zu erfolgen.
Jedoch ist sie für die Entsteh uns: von
Eigentum, Privilegien und Hypotheken l)e-
deutungslos,
B. Das Hypothekenbiichsystem, welches
in Bayern, A\'ürttemberg, Weimar, Schwarz-
Hypotheken- und Gnmdbuchwesen
1269
bürg - Rudolstadt und in Meckleubiirg-
Schwerin und -Strelitz, mit AusschJuss
einzelner Teile von Ratzebiu^g, fiir den
rittersehaftlichen Grundbesitz und für die
Erb[>achtstellen auf den Gütern der schwe-
rinschen Landesklöster Dobberstein, Mal-
chow und Ribnitz gilt. Nach dem Hypothe-
kenbuchsystem entstehen Hypotheken nicht
ohne Eintragimg; nicht jedoch winl für
den Erwerb von Eigentum oder sonstigen
dinglichen Rechten imd ilire Entstehung die
Eintragung erfordert
C. Das Gnmdbuchsystem , welches in
Preussen mit Einschluss des Herzogtums
Nassau (Stockbuch) und der Rheinpi-o\inz,
im Königreich Sachsen, in Oldenbm^, Coburg-
Gotha, Braunschweig, Anhalt, Altenbm'g,
Meiningen, in den hessischen Provinzen
Stai'kenbuiT^ und (Jberhessen, in Lippe-
Detmold, Schaum burg-Lippe, Schwarzburg-
Sondershausen, Reuss, Hamburg und Lülieck
sowie in Mecklenbui'g-Schwerin und -Strelitz,
endlich in Oesterreich eingeführt ist. Nach
dem Grundbuchsystem soll der gesamte
dinglit^he Rechtszustand eines Grundsttickes
aus dem Buch ersichtlich sein, sowohl die
Eigentumsverhältnisse als auch die etwa
vorhandenen Hypotheken und sonst kon-
stituierten Belastimgen.
Ein Recht, welches von jeder Einti^agung
in öffentliche Bücher absieht, hat sich dem-
nach niu- noch bezüglich einzelner zum
Fürstentum Ratzebiu^ gehöriger Grundstücke
und im wesentlichen in Bremen, wo die
mittelalterliche Auflassung beibehalten und
weiter entwickelt ist, erhalten.
Obwohl nun das Bürgerliche Gesetzbuch
für das Deutsche Reich vom 18. August 1896
sich auf den Standpunkt des Gnmdbuch-
systems gestellt hat, so werden für die
nächste Zeit dennoch die in Deutschland
geltenden Trans- und Inskriptionssysteme
sowie das Hypothekenbuchsystem sich
in Geltimg erhalten. Sie werden erst all-
mählich verschwinden und zwar in dem
Masse, als die Gnindbücher angelegt oder
die bisherigen Bücher zu Grundbücheni
umgewandelt wertlen. Deshalb beschränkt
sich die folgende Darstellung nicht auf das
Grundbuchwesen, obwohl sie dasselbe aller-
dings in den Vordergnmd stellt. Anderer-
seits musste, da die Vorschriften ül)er An-
legung der Grundbücher, von einzelnen
reichsgesetzlichen Normativbestimmungen
abgesehen, in den zum Teil noch ausstehen-
den Ausführungsgesetzen der Einzelstaaten
sich finden werden, die Darstellung in dieser
Beziehung auf das Reichsrecht beschränkt
werden.
2. Einrichtang der offentUchen Bü-
cher. Die öffentlichen Bücher, welche be-
hufs Aufnahme der Rechtsverhältnisse von
Immobilien geführt werden, sind in Deutsch-
land und Oesterreich fast überall mit den
Steuerbüchern in Verbindung gesetzt, denn
natüi'lich hat jeder, welcher Eigentum oder
dingliche Rechte an einem Gnindstück er-
werben will, ein Interesse, sich über den
Wert, die Grösse, den Nutzungsweit, den
Reinertrag etc. unterrichten zu können. Den
Steuerbehörden aber ist die Kenntnis dieser
Punkte nicht nur wünschenswert, sondern
für eine einigermasseu gerechte Steuerver-
anlagung geradezu unentbehrlich. So erklärt
es sich, dass da, wo die Grundsteuerbücher
nach A^'ermessung des Landes und Ab-
schätzung der Bodenqualität angelegt sind,
die Grund- und Hykothekenbücher auf den
Steuerbüchern beruhen, indem die Angaben
der ersteren mit denen der letzteren in
Uebereinstimmung zu setzen imd darin zu
erhalten sind. Deswegen findet ein reger
Geschäftsverkehr zwisc^ien den Hypotheken-
buch- und Grundbuchbehöixlen und den
Grund Steuer buchbehörden statt, indem die
letzteren den ersteren von den stattgehabten
Bestandsverändenmgen und von den Ver-
ändenmgen der Form der Grundstücke z.
B. infolge von Neuaniagen so^de stattgehab-
ten Bauten, umgekehrt aber die Hypotheken-
oder Grundblichbehörden den Grundsteuer-
behörden von den in den Grundbüchern
notierten Eigentumsveränderungen von Amts
wegen Nachricht zu erteilen haben. Die
Grundsteuerbücher w^erden ' nach Grund-
steuererhebungsbezirken geführt, so dass ein
Grundsteuerbuch regelmässig das ganze
Areal des Grundsteuerbezirks umfasst. Die
Anlegung eines Grundsteuerbuches setzt
aber die geometrische Ermittelung und kar-
tographische Darstellung der Lage und
Grösse der einzelnen Grundstücke voraus,
und das Resultat dieser Ermittelungen wird
in den sogenannten Flurbüchern, Lager-
büchern, Fundbücliern, Messregistem, Pri-
märkatastern amtlich beurkundet.
In gleicher Weise enthält das Grund-
oder Hypotheken buch die Grundstücke eines
bestimmten Bezirks — Gemeinde, selbständi-
ger Gutsbezirk, Gemarkung etc. — , der sich
aber mit dem Steuererhebungsbezirk keines-
wegs zu decken braucht. Dabei besteht
aber ein wesentlicher Unterschied zwischen
den Hypothekenbüchern und den Gnmd-
büchern. Weil nämlich die ersteren nur den
Realkredit heben soUen, so geben sie über
die Rechtslage eines Gnmdstücks nur inso-
weit Aufsclüuss, als es für den Hypotheken-
verkehr von Interesse ist. Deswegen bedürfen
auch Eigentum und andere dingliche Rechte
an Grundstücken nur insoweit der Verlaut-
barung im Buch, als sie für den Stand und
die Sicherheit der Hypothek von Einfluss
sind. Deswegen wird ein Grundstück über-
haupt erst dann ins Buch eingetragen, wenn
es sich um seine Belastung mit einer Hypo-
1270
Hypotheken- und Grimdbuehwesen
thek handelt Nach Hypothekenbuchsystem
werden also nicht belastete Grundstücke
regelmässig gar nicht im Hypothekenbuch
stehen. Umgekehrt sind nach Grundbuch-
system grundsätzlich alle Grundstücke, ohne
Rücksicht auf das Vorhandensein von Be-
lastungen, im Grundbuch zu vermerken.
Denn nicht nur der Realkredit, sondern der
gesamte Immobüienverkehr soll ■ durch die
Eintragung gesichert werden.
Die Eintragung eines Grundstuckes er-
folgt unter Angabe des Kreises, der Ort-
schaft, denen es zugehört, ferner der Ka-
tasternummer, der Karte, des Flächenmasses,
seiner Kulturgattung, des Grundsteuer-
betrages, des Schätzungs- und Brandver-
sicherungswertes und nach § 8 der deutschen
G.B.O. auf Antrag des jeweiligen Eigen-
tümers oder eines am Grundstück dinglich
Berechtigten auch unter Miteintragung der
sogenannten subjektiv dinglichen Rechte
(Gniuddienstbarkeiten, Vorkaufsrechte, Real-
lasten (§§ 1018, 1094 Abs. 2, 1105 Abs. 2
B.G.B). Die früher geschehende Mitein-
tragimg der Pertinenzgrundstücke ist in
Wegfall gekommen, da das Bürgerliche
Gesetzbuch solche nicht mehr anerkennt.
Wohl aber können Grundstücke einem anderen
Grundstücke als Bestandteile zug-eschrieben
werden (§ 5 G.B.O.). Sowohl das Hypotheken-
buch als das Gnmdbuch können entweder
nach Realfolien oder nach Personalfolien ge-
fühlt; werden. Eine Kombinierung beider Fo-
lien kommt in Preussen vor. (Vgl. darüber den
Art. Grundbuch oben Bd. IV. S. 862 ff.).
Dabei ist jedes Hypotheken- oder Grundbuch-
blatt durch Liniierung in Felder — Abtei-
lungen, Rubriken genannt — abgeteilt, welche
zur Aufnahme der Grundstücke, der Namen
ihrer Eigentümer und der den Grundstücken
auferlegten Lasten bestimmt sind, soweit
deren Eintragung vorgeschrieben oder ge-
stattet ist. Die Zahl dieser Abteilungen
schwankt in den einzelnen Staaten zwischen
zwei und vier, wenn man den sogenannten
Titel mitrechnet. In Preussen und den-
jenigen Staaten, welche der preussischen
Grundbuchgesetzgebung gefolgt sind (Ham-
burg, Coburg-Gotha, Braunschweig, Lippe-
Detmold, Schaumburg-Lippe und Schwarz-
burg-Sondershausen) giebt es %aer Abtei-
lungen, weil dort für die Hypotheken und
Grundschulden die letzte Abteilung reserviert
bleibt und deragemäss die Belastungen des
Grundstücks in zwei Abteilungen unter-
gebracht werden, eine Einrichtung, der sich
schon jetzt vor dem Inkrafttreten des Reichs-
grundbuchrechts auch Bavern angeschlossen
hat. (Art. 14 des G. v.'l8. Juni 1898 die
■Vorbereitung der Anlegung das Gnmdbuchs
in den Landesteilen rechts des Rheins be-
ti-effend und J. M. Bekanntmachung vom
12. November 1898.) Im Königreich Sachsen,
in Mecklenburg, Anhalt und Oesterreich hat
man drei Abteilungen, die man nach dem
Vorgang des zuletzt genannten Staates
als Gutsbestandsblatt, Eigentumsblatt und
Lastenblatt bezeichnen kann. In Württem-
berg endlich, Sachsen- Weimar, in Mecklen-
burg-Strelitz für den ländlichen Grundbesitz,
in Schwarzburg-Rudolstadt hat man nur
zwei Abteilungen, die erste für Aufnahme
des Besitzers, die zweite für Aufnahme der
dinglichen Lasten bestimmt. Da die deutsche
Grundbuchordnung die Einrichtung der
Grundbücher im wesentlichen den Einzel-
staaten überlässt (vgl. den Art Grund-
buch a. a. 0.), so können diese Verschieden-
heiten auch in Zukunft sich erhalten. Einzelne
deutsche Staaten, z. B. Hessen-Darmstadt,
Sachsen- Weimar, Sachsen-Meiningen, Ham-
burg, Württemberg, Baden kennen die Füh-
rung zweier Arten von Büchern, der Grund-
bücher, auch Gewähr-, Güter-, Mutations-
bücher genannt, für die Eigentumsverände-
rungen und die Hypotheken- oder Pfand-
bücher für die pfandrechtlichen Belastungen
des Grundstücks. Auch diese Einrichtung
kann bleiben, da nach § 87 G.B.O. die
Landesherren verordnen dürfen, dass mehrere
bisher geführte Bücher zusammen als Grund-
buch gelten sollen,
Diu-chgängig sind nun die Abteilungen
oder Rubriken wieder in Haupt- und Neben-
spalten (Kolonnen) eingeteilt. So enthält
das Gutsbestandsblatt Nebenspalten für Zu-
und Abschreibungen von Grundstücken oder
Grundstücksteilen. Das Lastenblatt enthält
eine Nebenspalte für Veränderungen der in
der Hauptspalte eingetragenen Lasten, z. B.
Cessionen, Prioritätseinräumungen, &höhim-
gen oder Herabsetzungen des Zinsfusses,
Uebertragung der Ausübung eines Niess-
brauchsrechts etc. und eine Nebenspalte,
»Löschungen« für die Beendigung oder Auf-
hebimg der in der Hauptspalte eingetragenen
Lasten. —
Nur sehr entfernte Verwandtschaft mit
den Grund- und Hypothekenbüchern be-
sitzen die in den Gebieten des französischen
Rechts in Gebrauch befindlichen Trans-
und Inskriptionsregister. Das erstere Re-
gister ist zur Aufnahme der Eigentums-
veränderungsverträge bestimmt, das In-
skriptionsregister vertritt die Stelle des
Hypothekenbuchs. Diese Bücher werden
nicht in Blätter eingeteilt, welche für ein
einzelnes Grundstück oder die Grundstücke
eines einzelnen Eigentümers bestimmt wären,
sondern auf demselben Blatt, wenngleich
unter verschiedenen Nummern, stehen iacen-
tumsübertragungsvorträge, bezw.Verpföndun-
gen verschiedener Immobiüen und zwischen
verschiedenen Kontrahenten. Natürlich wer-
den auch diese Register nach bestimmten
Bezirken geführt. Jeder Trans- und In-
Hypotheken- und Grundbiichwesen
1271
skriptionsbeamte ist nur berechtigt, in die
von ihm geführten Register solche Akte
einzutragen, welche Eigeutumsübertragung
oder Verpfändung von zu seinem Bezirk
gehörigen Immobilien zum Gegenstande
haben.
3. Inhalt der Einschreibungen. Auf
den Blättern, welche den Grundstücken und
den ihnen gleichgestellten selbständigen Be-
rechtigungen (vgl. den Art. Grundbuch
a. a, 0.) gewidmet sind, können grundsätzlich
nur dingliche Rechte eingetragen werden.
Das Bürgerliche Gesetzbuch erkennt nur
eine fest bestimmte Zahl von Arten ding-
licher Rechte an ; denn es hat den preussisch-
rechtlichen Grundsatz verworfen, dass jedes
Forderungsi'echt auf eine Species durch Be-
sitzübergabe oder Eintragung im Buch sidi
in ein dingliches Recht verwandle. Yiel-^
mehr giebt es nach dem Bürgerlichen Ge-
setzbuch nur folgende Arten von dinglichen
Rechten an Grundstücken:
1. Das Eigentum, d. h. das Recht der
vollkommenen und ausschliesslichen Herr-
schaft über eine Sache, soweit nicht das
Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen
(§ 903 B.G.B.). Nur an körperlichen Dingen
wird Eigentum anerkannt, also nicht an
iramobiliaren Rechten. Auch ist das so-
genannte geteilte Eigentum (Ober- und ünter-
eigentum, vgl. §§ 9 und 10 I 8 des
preussischen A.L.R.) dem Bürgerlichen
Gesetzbuch unbekannt Dagegen kennt das-
selbe das Miteigentum sowohl als solches
zu ideellen Teilen als auch als Miteigentum
zur gesamten Hand. Der Gegensatz tritt im
Grundbuchrecht schon formell dadurch zu
Tage, dass bei Miteigentum zu ideellen
Teuen jeder Miteigentümer unter Angabe
seines Anteils im Grundbuch einzutrs^en
ist, während bei Gesamteigentum sämtliche
im Gesamteigentum Stehenden eingetragen
werden — jedoch ohne Angabe von An-
teilen, da begrifflich solche nicht vorhanden
sind (§ 48 G.B.O.).
2. Das Erbbaurecht, d. h. das veräusser-
liche und vererbliche Recht, auf oder unter
der Oberfläche eines fremden Grundstücks
ein Bauwerk zu haben (§ 1012 B.G.B.). Der
Begriff ist enger als derjenige der Superficies,
denn er beschränkt sich auf baidiche An-
lagen, während die Superficies auch das
Recht, Bäume und sonstige Pflanzungen auf
einem fremden Grundstück zu haben, um-
fasste (vffl. jedoch § 1013 B.G.B.). Dass
ein Grundstück mit einem Erbbaurecht be-
lastet sei, ist auf dem Blatt dieses Grund-
stücks zu vermerken. Im übrigen kann
das Erbbaurecht entweder ein selbständiges
Blatt im Buch erhalten (§§ 7 und 84 G.B.O.)
oder es kann auch einem (Grundstück als
Bestandteil zugeschrieben werden (§ 1017
B.G.B in Verbindung mit § 890 Abs. 2).
Solange diese Bestandteilseigenscliaft dauert,
ist es nicht mehr selbständig veräusserlich
und vererblich.
3. Die Dienstbarkeit und zwar
a) Grunddienstbarkeit, d. h. das untrennbar
zu Gunsten des jeweiligen Eigentümers eines
Grundstücks (oder zu Gunsten eines Erbbau-
rechts [§ 1017 B.G.B.l) an einem Grundstück
eingeräumte Recht auf beschränkte Benutzung
desselben oder auf üntersagung der Vor-
nahme gewisser Handlungen auf ihm oder
auf Untersagung der Ausübung gewisser,
aus dem Eigentiun am dienenden Grund-
stück fliessender Rechte gegen das herr-
schende Grundstück (§ 1018 B.G.B.). Die
Gnmddienstbarkeit wird auf dem Blatt des
belasteten imd auf Antrag auch auf dem-
jenigen des herrschenden Grundstücks ein-
getragen.
b) Der Niessbrauch d. h. das unvererbliche
und unveräusserliche Recht einer Person
auf Nutzung einer Sache. Eine Beschrän-
kung durch Ausschluss einzelner Nutzungen
ist zulässig, z. B. der Früchte eines ge^^dssen
Apfelbaums; der Ausübung nach ist der
Niessbrauch übertragbar. Dass ein Grrund-
stück mit einem Nieösbrauch belastet sei,
wird auf dem Grundbuchblatt des belasteten
Grundstücks vermerkt (§§ 1030, 1059, 1061
B.G.B).
c) Die bescliränkte persönliche Dienst-
barkeit, d, h. das unveräusserliche und un-
vererbliche Recht einer Person, ein Grund-
stück in einzelnen Beziehungen zu benutzen
oder den Inhalt einer Grunddienstbarkeit
bildende Befugnisse auszuüben (§§ 1090 und
1092 B.G.B.). Die Ausübung der beschränk-
ten persönlichen Dienstbarkeit ist niu* dann
übertragbar, wenn es besonders ausgemacht
ist. Die beschränkte persönliche Dienstbar-
keit wird auf dem Blatt des belasteten
Grundstücks eingetragen.
4. Das Vorkaufsrecht, d. h. das subjektiv
dingliche oder persönliche und objektiv
dingliche Recht auf üeberlassung eines
Grundstücks oder, falls dasselbe in Miteigen-
tum steht, eines Bruchteils desselben unter
den zwischen dem Verkäufer imd dem
Käufer desselben vereinbarten Kaufbedin-
gimgen (§§ 1094 und 1095). Es handelt
sich hier nur um das vertragsmässige Vor-
kaufsrecht, da das Bürgerliche Gesetzbuch
keine gesetzlichen Vorkaufsrechte an Grund-
stücken kennt. Deswegen ist es stets mit
einer persönlichen Forderung auf Uebergabe
und üebereignung des Grundstücks im Vor-
kaufsfedle verbunden. Auch bedarf es der
Eintragung auf dem Grundbuchblatt des
belasteten Grundstücks und auf Antrag auch
auf dem Grundbuchblatt des herrschenden
Grundstücks (§ 8 G.B.O.).
5. Die ReaUast, d. h. das Recht einer
bestimmten Person oder des jeweiligen
1272
Hypotlieken- uud Grimclbuchwesen
Eigentümers eines Grundstücks auf wieder-
kehrende Leistungen aus einem fremden
Grundstück oder, falls dasselbe im Miteigen-
timi stehen sollte, aus einem ]djteigentums-
anteil (§§ 1105 und 1106). Die ReaUast ist
sowohl in ihrer Totalität als hinsichtlich der
einzelnen Leistungen dinglich. Daneben
haftet aber der Eigentümer des belasteten
Grundstücks für die wälu'end der Dauer
seines Eigentums fällig werdenden Leistungen
auch persönlich. Die Reallast wird auf dem
Grimdbuchblatt des dienenden Grundstücks,
und wenn sie subjektiv dinglich ist, auf
Antrag auch auf dem Blatt des heiTschen-
den Grundstücks eingetragen.
6. Das Pfandrecht. Das Grundstücks-
pfandrecht ist das dingliche Recht, kraft
dessen ein oder melirere (Korrealpfandrecht)
Grundstücke für eine bestimmte Geldsumme
verhaftet sind. Bei dem Eigentümerpfand-
recht ist diese Haftung freilich nur eine
eventuelle, für den Fall nämlich, dass Pfand-
recht und Grundstückseigentum in verschie-
dene Hände gelangen oder dass bei der (von
dritter Seite ausgebrachten) ZwangsvoU-
streckimg in das belastete Grundstück auch
das Eigentümerpfandrecht zur Hebung ge-
langt. Von dem gemeinrechtlichen weicht
dieser Begriff wesentlich ab. Den Römern
war das Pfandrecht, ohne Unterscheidung
beweglicher und unbeweglicher Sachen, ein
accessorisches Recht, ein dingliches Yer-
kaufsrecht zur Sicherung einer Forderung.
Deswegen konnte es nicht ohne Beziehung
auf eine Forderung entstehen, nicht über
ihren Betrag gehen, nicht von ihr getrennt
werden. Aus demselben Grunde musste das
Pfandrecht durch Aufhebung der Forderung
erlöschen. Doch war schon im römischen
Recht nur für die Fälle der Endigung der For-
derung durch Befriedigmig des Gläubigers
diese Konsecpienz gezogen, nicht für das
Erlöschen der Forderung olme Befriedigung
des Gläubigers, z. B. durch Verjährung.
In der Einrichtung der Öffentlichen Pfand-
bücher für das Grundstückspfand lag nun,
wegen der formeUen Existenz des Gnuid-
stückspfcmdrechts im Buch, ein Moment der
Entwickelung zu grösserer Selbständigkeit,
und dieses hat dann die Gesetzgebung zum
Teil benutzt, um den accessorischen Charakter
des Gnmdstückspfandrechts abzustreifen.
So fanden sich bisher schon in Deutsch-
land das selbständige und das accessorische
Gnmdstückspfandrecht und auf flemselben
Standpunkt steht auch das Bürgerliche Ge-
setzbuch, welches folgende Arten von Grund-
stückspfandrechten kennt :
a) Die Sicherungshynothek (§ 1184—1194).
Sie ist wie das römische Pfandrecht streng
accessorisch. Sie muss als solche im
Grundbuch bezeichnet sein, und es darf auch
kein Hypothekenbrief über sie ausgestellt
werden. Doch gelten gewisse Hypotheken
auch ohne ausdrückliche Bezeichnung als
Sicherungshypotheken. Dahin gehören die
Kautionshypotheken , auch ültimat- oder
Maximalhypotheken genannt (§ 1190), die
Hypotheken für Forcleningen aus Schuld-
verschreibungen auf den Inhaber, aus Wech-
seln oder anderen indossablen Papieren
(§ 1187), endlich nach § 866 C.P.O auch
die sogenannten Zwangshvpotheken.
b) Die gewöhnliche Hypothek (§ 1186).
Auch sie hat accessorische Natur. Sie dient
also zur Sichenmg einer Forderung, und
kann ohne solche nicht entstehen und auch
nicht abgetreten werden (§§ 1113 und 1153
Abs. 2). Aber bei ihr steht, im Gegensatz
ziu" Sicherimgsypothek , die zu sichernde
Forderimg unter dem Schutz des Öffentlichen
Glaubens des Grundbuchs (vgL darüber
unten sub 6, 2). Bei ihr sind ferner, trotz ilirer
accessorischen Natur gegenüber der Hy-
pothekenklage Einreden, welche sich gegen
die zu sichernde Forderung richten, nur be-
schränkt zulässig (§ 1138). Endlich kann
bei ihr an die Stelle der Forderung, für
w^elche sie besteht, eine andere Fordeining
gesetzt werden (§ 1180). Die gewöhnliche
Hypothek kommt übrigens vor als Buch-
hypothek oder als Briefhjyothek, je nach-
dem die Ausstellung eines Hypothekenbriefes
ausgesclilossen wurde oder nicht (§ 1116).
c) Die Grundschuld (§§ 1191—98) ist im
Gegensatz zur Hypothek eine selbständige
Summenbelastimg des Grundstücks. Bei ihr
ist also das Bestehen einer zu sichernden
Forderung nicht Voraussetzung für das Ent-
stehen der Gnmdschiild. Wolil aber wird
sie regelmässig die Veranlassung dafür sein ;
nicht immer, denn die Grundschuld kann
auch schehkungshalber konstituiert wenlen.
Wird aber wegen einer bestehenden Schuld
eine Grundschuld errichtet, so ist nun ein
Doppeltes möglich: Entweder wird die
Grundschuld an Zahlungsstatt für die be-
stehende Forderung gegeben. Dann tilgt
der Grundstückseigentümer durch die Be-
stellung der Grundschuld die persönliche
Schuld. Oder die Absicht ist darauf ge-
richtet, dass der Gläubiger seine Forderung
behalten und daneben zu ihrer Sicherheit
noch das Grundschuldrecht dazu erhalten
soll. Hier bestehen dann, wie bei einer
Hypothek, die persönliche Forderung und die
Grundschuld nebeneinander fort. Jedoch
durcliaus unabhängig, sodass Veränderungen
der persönlichen Forderung weder die
Grundschuld noch umgekehrt Veränderungen
der Grundschiüd die persönliche Forderung
berühren. Immerhin soll der Grundschuld-
gläubiger nach Absicht der Parteien nicht
den doppelten Betrag, den seiner persön-
lichen Forderung und den der Grundscbuld
erlialten. Deswegen kann ihm, wenn er
Hypotheken- und Grundbiiclnvesen
1273
nach Zahlung der persönlichen Forderung
die Grundschuld oder umgekehrt nach Zah-
lung der Grundschuld die persönliche Foi^de-
rung einldagt, der Einwand der Zaliluug
entgegengesetzt werden. Ebenso seinem
Erben, nicht aber seinem Siugularsuccessor.
Die Selbständigkeit der Grundschuld tritt
schon äusserlich darin hervor^ dass bei der
Grundschuld der Eintragungsvermerk im
Buch stets nur auf eine bestimmte Summe
ohne Angabe des Schuldgrundes der Forde-
rung, welche Veranlassung zur Bestellung
der Grundschuld gab, lautet. Bei der Hypo-
thek dagegen wird der Schuldgi'und der
Forderung, für welche die Hypothek be-
stellt wurde, mit eingetragen. Auch die
Grundschuld kann Brief- oder Buchgrund-
schuld sein. Der Grundschuldbrief kann
auch auf den Inhaber ausgestellt w^erden. |
Eine Unterart der Gnmdschuld ist die ;
R e u t e n s c h u 1 d , bei welcher in regel- 1
massig wiederkehrenden Terminen eine be- i
stimmte Geldsumme aus dem Gnmdstück i
zu zahlen ist (§ 1199). Zwar wuxi bei der
Bestellung einer Rentenschuld ein Betrag,
durch dessen Zahlung die Rentenschuld ab-
gelöst werden kann (sogenannte Ablösungs-
summe), festgesetzt. Aber nicht dieses
Kapital kann der Rentenschuldgläubiger ver-
langen, sondern niu* die Rentenzahlungen.
Dadurch imterscheidet sich die Renten-
schuld von der gewöhnlichen Grundschuld.
Die Zahlung der Ablösungssumme kann erst
dann verlangt werden, w^enn der Grund-
stückseigentümer sich für Ablösung ent-
schieden oder wenn er in sicherheitsge-
fährdender Weise das Gnmdstück ver-
schlechtert hat (§§ 1201 und 1202). Die
Rentenschuld ist keine Reallast. Deswegen
haftet der Rentenschuldner für die Renten-
raten stets nvu* mit seinem Gnmdstück,
während der Reallastschuldner in gewissem
Umfang (§ 1108) auch persönlich haften
würde.
Ausser diesen unter 1 bis (3 aufgeführten
dinglichen Rechten des Bürgerlichen Gesetz-
buchs kommen für den Gnmdbuchverkehr
in einzelnen Bundesstaaten noch die in den
Art. 59 ff. E.G. ziun B.G.B. erwälmten in
Betracht (§ 84 G.B.O.).
Neben der Einti-agung dinglicherRechte im
Gnmdbuch ist nun aber auch noch die Möglich-
keit der Eintragimg persönlicher Rechte auf
Einräumung dinglicher Rechte anzuerkennen
und auch von jeher anerkannt gewesen.
Zwai* hat man eingewendet, dass die Forde-
rung nur immer eine Willensgebundenheit
des Verpflichteten erzeuge, nicht eine Ge-
bundenheit ihres Gegenstandes und dass
deswegen die Eiutragimg von Forderungen
für die Sicherung des Grundstücksverkehrs
an sich bedeutungslos sei. Die Kenntnis
davon, dass ein anderer ein i)ersönliches
Recht auf das Grundstück oder auf Ein-
räiunung eines dinglichen Rechts an dem
Grundstück habe, stehe weder dem Eigen-
tumserwerb noch dem Erwerb eines ding-
lichen Rechts am Gnmdstück entgegen, denn
das dingliche Recht sei stärker als das per-
sönliche. Aber dieser nach dem Eindringen
des römischen Rechts in Deutschland ziem-
lich allgemein anerkannte Grundsatz hatte
namentlich in Preussen eine Abschwächung
erfahren in dem sogenannten Recht zur
Sache, d. h. dem persönlichen Recht auf
Geben oder Gewäliren einer bestimmten
Sache. Denn dieses persönliche Recht auf
die Sache sollte auch gegenüber dem Eigen-
tum oder dinglichen Recht an der Sache
wirksam sein, wenn der Erwerber des
letzteren im Moment des Erwerbes von dem
älteren Recht zur Sache Kenntnis hatte.
Da aber solcher Kenntnis das Eingetragen-
sein im Hypothekenbuch gleich stand und
niemand mit der Unkenntnis einer im
Buch eingetragenen Verfügung sich ent-
schuldigen konnte, so liess man auch die
Rechte zur Sache im Hypothekenbuch ein-
tragen. Bestimmend wirkte auch noch
eine andere Erwägung. Wenn nämlich ein
dingliches Recht erst durch Eintragung im
Buch entstehen kann, die Eintragung aber
von der Bewilligung des ziu* Bestellung des
dinglichen Rechts Verpflichteten abhängt,
so ist der Anspruch auf Einräumung des
dinglichen Rechts gefährdet, da der Ver-
pfüchtete es in der Hand haben würde, an-
statt seiner Verpflichtung nachzukommen,
die Eintragung dinglicher Rechte zu Gunsten
Dritter zu bewilligen und hierdurch wenig-
stens den Rang des Rechtes, zu dessen Ein-
räumung er verpf helltet war, zu verschlechtern.
Die letztere Erwägung hat dahin geführt,
dass auch solche Staaten, denen das Recht
zur Saclie unbekannt war, die Eintragung
persönlicher Rechte auf Einräumung eines
dinglichen Rechts oder auf Aufhebung eines
eingetragenen dinglichen Rechts zuliessen.
In Ländern mit Hypothekenbuchsystem
konnte es sich dabei natürlich nur um Ein-
tragung der Ansprüche auf Hypothekbe-
stellung oder Aufliebung handeln. Man be-
zeichnete derartige Eintragimgen als Pro-
testationen, Verwahrungen, Vormerkungen,
und nur in Mecklenburg und den freien
Städten Hamburg und Lübeck besteht zur
Zeit die Hypothekenvormerkung nicht. Wohl
aber hat das Bürgerliche Gesetzbuch für
das Deutsche Reich, obwohl es das Recht
zur Sache nicht anerkennt, diese Vormerkun-
gen aufgenommen (§§ 883 ff.).
Endlich können auch sonstige auf die
eingetragenen Rechtsverhältnisse bezügliche
Thatsachen Gegenstand von Eintragungen
sein. Hierher gehört, ausser der Eintragung
von Einreden gegen die Klage aus einer
1274
Hypotheken- und Grundbuchwesen
Hypothek oder Grundschuld und der Ein-
tragung von Widersprüchen gegen die
Richtigkeit des Buchs, namentlich die Ein-
tragung von Beschränkungen des Yerf ügungs-
rechts des Berechtigten. Man muss dabei
jedoch die Verfügungsbeschränkungen, welche
auf einem besonderen, das eingetragene Recht
selbst ergreifenden Rechtsgrunde beruhen
— objektiven — , und die auf persönlichen
Eigenschaften des derzeitigen Berechtigten
beruhenden — subjektiven — Verfügungs-
beschränkungen unterscheiden. Die letzteren,
zu denen namentlich Minderjährigkeit, Ver-
schwendungssucht, Geisteskrankheit gehören,
werden weder in Deutschland noch in Oester-
reich eingetragen.
Die objektiven Verfügungsbeschränkungen
beruhen auf Gesetz, auf Privat'wallenser-
klärung oder auf richterlicher Anordnung.
Sie sind nur insoweit einzutragen, als sie
Privatinteressen zu dienen bestimmt sind,
also den Berechtigten zu Gunsten einer be-
stimmten Person in der Verfiigung be-
schränken (§ 892 Abs. 1 S. 2). Denn die
im öffentlichen Interesse verhängten Ver-
fügungsbeschränkungen, z. B. die landesge-
setzlichen Verbote der Zerstückelung und
Verwüstung von Grundstücken im Interesse
der Landeskultiu* oder der Steuererhebung
(Art. 119 E.G. zum B.G.B.), wirken, weil das
öffentliche Interesse jedem Privatinteresse
vorgehen muss, auch ohne Eintragiing gegen
jedermann.
Die hauptsächlichsten darnach in Be-
tracht kommenden Verfügimgsbeschrän-
kungen sind folgende : die mit der Einleitung
der Subhastation oder Zwangsverwaltimg
{§§ 20, 23, 146 und 148 der ZwangsvoU-
streckungs.-0. vom 24 März 97), mit der
Lohns-, Familienfideikommiss- und Staram-
gutseigenschait verknüpften, die Beschrän-
kungen des Vorerben durch das Recht des
Nacherben (§ 2113 Abs. 3 B.G.B. und § 52
G.B.O.), des Erben durch den Testaments-
vollstrecker (§§ 2211 Abs. 2 B.G.B. und
§ 3 G.B.O.), des Rechtserwerbera unter Be-
dingung oder Zeitbestimmung (§§ 158 und
163 B.G.B.), endlich die durch Arrest oder
einstweilige Verfügung oder vor der Kon-
kurseröffnung nach § 98 K.O. herbeige-
führten. Das französische Recht weicht von
den vorstehend angegebenen Grundsätzen
insofern ab, als nur die Rechtsgeschäfte,
welche eine Eigentiunsveränderung wirken
sollen, und die Hypotheken eingetragen
werden. Es kennt weder Eintragimg von
sonstigen dinglichen Rechten noch von Dis-
positionsbeschränkungen noch von Vor-
merkungen.
SoU nun der Zweck des Buches, den
Verkelir mit Grundstücken und den Real-
kredit, oder bei Hypothekenbuchsystemen
letzteren allein, zu sichern, erreicht werden.
so muss bei der Eintragung eines Grund-
stücks oder bei Belastungen desselben aus
dem Eintragungsvermerk genau ersichtlich
sein nicht nur das zu belastende Gnmdstück,
sondern auch die Höhe der Belastung selbst
(sogen. Specialitätsprincip). Nicht
nur die Grösse, die Bodenbeschafrenheit, der
Wert des Grundstücks, sondern konsequenter-
weise auch eine bestimmte Summe, in deren
Höhe das Grundstück haften soll, müssten
im Buch angegeben sein. AUein in diesem
Sinn ist der Gnmdsatz der Specialität bisher
nur für Hypotheken und Grundschidden
durchgeführt, nicht für Niessbrauchsreclite,
Reallasten, Grundgerechtigkeiten u. s. w.,
weil die Schätzung dieser Rechte nach Geld
zu viel Schwierigkeiten machen würde.
Auch das Bürgerliche Gesetzbuch hält am
Specialitätsprincip fest, obwohl es dasselbe
nicht ausdrücklich hervorhebt. Aber eine
Vorschrift, dass bei jedem das Grundstück
belastenden Recht eine Maximalsumme ein-
getragen werden müsse, damit jeder In-
teressent sich über das Mass der vor-
handenen Belastungen genau unterrichten
könne, giebt das Bürgerliche Gesetzbuch
ebenfalls nur fiir H\7)0theken und Gnmd-
schulden. Für andere Lasten ist es der
Einigung der Beteiligten überlassen, ob der
Kapitalsanschlag der Last eingetragen werden
soll (§§ 1115, 1191 und 882 B.G.B.). Aber
auch bei Hypotheken und Gnmdschulden
ist das Specialitätsprincip insofern durch-
brochen, als das Grundstück auch dann für
die gesetzlichen Zinsen, und die Kosten
der Aündigimg und Rechtsverfolgimg haftet,
wenn dieselben nicht eingetragen sind (§ 1118).
Andererseits trägt die Bestimmung des § 10
Nr.4 derZ.V.O., nach.welcher bei zinstragenden
Hypotheken etc. das Gnind stück bei der
Subhastation doch nur für zweijährige Zins-
rückstände verhaftet ist, dem Specialitäts-
princip wieder Rechnung.
4. Der Eintra^nngszwang. Wenn da-
nach der Gesetzgeber nach allen drei
S\^stemen die Vornahme der Eintragimgen
in gewissem Umfang erfordert, so fragt es
sich, welche "Mittel er zur Erzwingung dieser
Eintragungen giebt?
1. Man könnte dabei zunächst an ein
System des direkten Zwangs denken,
welches in der Tliat in Preussen eine Zeit
lang gegolten liat. Die preussische Hj'po-
thekenordnung vom 20. Dez. 1783 nämlich
hatte in Tit. IL §§ 49 — 52 ein eigenartiges
Zwangsverfahren vorgeschrieben, die soge-
nannte Zwangstitelberichtigimg, um zu er-
reichen, dass alle mit dem Eigentum eines
Grundstücks verfallenden Veränderungen
im Buch vermerkt würden. Veräusserer
und Erwerber hatten binnen Jahresfrist den
Titel für Uebergang des Eigentums der
Buchbehörde zu »bescheinigen« oder, wie
Hypotheken- und Grundbuchwesen
1275
wir heute sagen würden, glaubhaft zu
machen. Thaten sie dies nicht, so sollte
die Buchbehörde von Amts wegen dem Er-
werber unter Androhung verhältnismässiger
Geldstrafe eine Frist setzen, nach deren
fruchtlosem Verstreichen aber die Geldstrafe
eintreiben und auf Besitztitelberichtigimg
durch execuüo ad faciendiun hinwirken. Aehn-
liche Bestimmungen sind enthalten in den Art.
3 und 4 des meiningenschen G. v. 15. Juli
1862, welche aber insofern weiter gehen,
als sie sich nicht nur auf Eigentumsver-
änderungen, sondern auch auf den Erwerb
von auf Privatwillkür beruhenden Personal-
servituten und anderen Lasten (Auszug,
Wohnungsrecht, Wittum, Leibzucht u. s. w.)
beziehen. Und auch im Amtsgerichtsbezirk
Frankfurt a. M. galt noch die Vorschrift,
dass Eigentumsveränderungen innerhalb vier
Wochen nach Abschluss des Veräusserungs-
vertrages bei Vermeidung einer Geldstrafe
von Vs % des Wertes zu den Transkriptions-
registem anzumelden seien. — Es liegt auf
der Hand, dass ein derartiges Verfahren
sich mit dem Wesen des Buchrechts nicht
verträgt. Die Buchbehörde hat nur auf An-
trag thätig zu werden. Sie kann nicht von
Amts wegen kontrollieren, ob in ihrem Be-
zirk Eigentumsveränderungen vor sich ge-
gangen sind, zumal, wenn der Eigentums-
wechsel sich ausserhalb des Buchs vollzieht.
Aber selbst wenn man ihr Einschreiten von
dem Antrag eines Interessenten abhängig
machen wollte, so würde damit das unge-
nügende direkten Zwanges nicht beseitigt.
Denn es würde sehr oft zifvischen der Eigen-
tumsveränderung und der wirklichen Besitz-
titelberichtigung oder zwischen der Ent-
stehung eines dinglichen Rechts und seiner
Eintragung ein längerer Zeitraum liegen und
das Buch würde zeitweilig ein durchaus
unrichtiges Bild gewähren. Deswegen könnte
ein System direkten Zwanges für sich allein
niemals genügen, um die Zwecke der Siche-
rung des Grundstücksverkehrs und der
Hebung des Realkredits zu erreichen. Das
deutsche bürgerliche Recht versagt aber
dem Grundbuchamt jeden Gerichtszwang
imd hat also auch die in den §§ 55 imd
56 der preuss. G.B.O. noch enthaltenen
Reste desselben beseitigt.
2. An Stelle des direkten Zwanges ist
der indirekte getreten. Derselbe kann be-
stehen :
A. in der Einführung des sogenannten
Eintragungsprincips, d. h. in der Abhängig-
machung des Erwerbs, der Aenderung oder
Endigung an Eigentum oder dinglichem
Recht von der Eintragung im Buch. Ohne
die Eintragung entsteht das Recht oder voll-
zieht sich die Aenderung oder Endigimg
überhaupt nicht. Nach Hypothekenbuch-
system Kann dieser Satz natürlich nur für
die Hypotheken gelten. Dieses Eintragungs-
prindp hatte in sämtUchen Staaten, welche
sich zum Hypotheken- oder Grimdbuch-
system bekennen, Eingang gefunden, ja so-
gar in einem Gebiete des französischen
Rechts — Baden — Geltung erlangt, dort
allerdings nur für die Konventionalpfänder.
Aber in dem Masse seiner Durchführung
wichen die Einzelstaaten sehr von einander
ab, so dass der Rechtszustand in Deutschland
ein durchaus zersplitterter war und einheit-
liche Regein überhaupt fehlten. Erst das
Bürgerliche Gesetzbuch hat solche aufge-
stellt, und darnach liegt jetzt in Deutschland
die Sache wie folgt : das Eintragungsprincip
gilt, wenn Entstehung, Aenderung oder En-
digung an Eigentum oder dinglichem Recht
durch Rechtsgeschäfte der Beteiligten
hervorgerufen werden soll, es gilt nicht, wenn
die Rechtswirkung auf andere Weise, nament-
lich unmittelbar auf Grund des Gesetzes,
begründet werden soll — obwohl auch in
diesen Fällen die Eintragung gestattet ist.
Demgemäss gut also das Eintra^ngsprincip
z. B. nicht für den Eigentumserwerb durch
Zwangsversteigerung (§§ 89 u. 90 der Zwangs-
vollst.-0. V. 24. März 1897), Enteignung, Ge-
meinheitsteilung oder Zusammenlegung (E.G.
Art. 109 u. 113), durch avulsio oder alluvio,
bei der insula in flumine nata und dem
alveus derelictus (Art. 65). beim Erwerb diuxih
Erbschaft (§§ 1922, 1942, 2032 Abs. 1 und
2139 B.G.B.), beim Erwerb durch Eingehung
einer gütergemeinschaftlichen Ehe (§§ 1438
u. 1519), beim Erwerb der Güter des Lan-
desherrn und der Mitg:lieder der landesherr-
lichen Familien, weiter der fiirstiichen
Familie HohenzoUem und der Mitglieder
des vormaligen hannoverschen Königshauses,
des kiu-hessischen und herzoglich nassaui-
schen Fürstenhauses, endlich der Güter der
mediatisierten Häuser (Art. 57 u. 58) und
beim Erwerb der Lehen — Famüienfidei-
kommiss — und Stammgüter (Art. 59). —
Auch der Erwerb eines bestehenden Erb-
baurechts durch Erbfolge, Eingehung einer
gütergemeinschaftlichen Ehe oder Zwangs-
versteigerung (§ 870 C.P.O.) vollzieht sich
ohne Eintra^ng. Eb«nso entsteht der ehe-
männliche oder elterliche Niessbrauch (§§
1363 ff. u. 1649 ff.) ohne Eintragimg. Auch
vollzieht sich der gesetzliche üebergang
eines Grundstücksrechts diu-ch Vereinigung
oder Befriedigung (§§ 889, 1143, 1163, 1170)
ohne Eintragimg. — Die vorher über das
Eintragungsprincip aufgestellte Regel hat
nun aber nach beiden Richtungen Aus-
nahmen. Es können also ciach wie vor
durch Willenserklärungen auch ohne Ein-
tragung dingliche Rechtswirkungen an Grund-
stücken oder den auf ihnen ruhenden ding-
lichen Rechten hervorgerufen werden, und
andererseits bedarf es bisweilen da, wo die
1276
Hj^otlieken- und Gininclbuclnvesen
Rechtswirkung nicht auf Willenserklärungen
beruht, gleichwohl der Eintragung.
a) Wirkungen rechtsgeschäft-
licher Willeuserklärung ohne
Eintragung. Der Niessbrauch ent-
steht im Falle des § 1075 ohne Ein-
tragung. Wem nämlich der Niessbrauch
an einer (auf ein Gnindstück gerichteten)
Forderung eingeräumt ist, der darf die For-
derung einziehen und erlangt mit der Leis-
timg des Foi*derungsgegenstandes den Niess-
brauch an dem letztei^n (§§ 1074 u. 1075).
In ähnlicher Weise er\7irbt der Pfandgläu-
biger einer auf ein Grundstiick gerichteten
Forderung mit der Einziehung dereelben
eine Sicherungshypothek am Grundstück
(§ 1287). Auch können die Briefhypotheken
und Briefgrundschulden ohne Eintragung
von einem Gläubiger auf den anderen über-
tragen werden (§ 1154) und ebenso bedarf
ihre Belastung mit einem Niessbrauch und
ihi'e Afterverpfändung nicht der Eintragung
(§§ 1069, 1274, 1291). EndHch gehen Rechte
an fremden Gnmdstücken ohne Löschung
unter mit Eintritt des Termins oder der
auflösenden Bedingung, unter welcher sie
bestellt waren, wobei nur zu beachten ist,
dass Gnmdstückseigentum weder unter einem
Termin noch einer auflösenden Bedingung
übertragbar ist.
b) Kechtswirkungen auf ande-
rem Wege als durch rechtsge-
schäftliche Willenserklärung,
aber mit Eintragung. Die Aneignung
eines herrenlosen Grundstücks bedarf der
Eintr^ung des Occupanten als Eigentümer
im Grundbuch (§ 928 Abs. 2). Ebenso der
Grundstückserwerb auf Grund Aufgebots
(§ 927 ). Auch die sogenannte Tabulai'ersitzung
des Eigentums, des Erbbaurechts und der
Dienstbai'keiten gehört hierher. Demi wenn
der Ei-sitzende nicht w^ährend der Ersitzungs-
zeit ohne Widerspnichseintragung im Grund-
buch steht, so hilft ihm sein langjähriger
Besitz nicht (§§ 900 u. 1017 Abs.2). Sicherungs-
hvpotheken können auf Ersuchen einer zu-
ständigen Behörde (§§ 39 G.B.O., 130, 146,
172, 176, 180 Z.Y.O., Art. 91 E.G.), Judi-
katshypotheken auf j^trag des Gläubigers
(§ 866 C.P.O.) eingetragen werden.
Diese noch keineswegs vollständige Ueber-
sicht ergiebt, dass auch im Bürgerlichen
Gesetzbuch keineswegs das Eintragimgs-
princip durchgeführt ist Auch w^ürde das
striktest durchgeführte Eintiugungsprincip
nur dann die Uebereinstimmung des Buches
mit der W^irkliclikeit zu en^eichen imstande
sein, wenn gleichzeitig der weitere Rechts-
satz aufgestellt wüixle, dass die Eintragimg
für sich allein, losgelöst von allen Voraus-
setzimgen des materiellen Rechts, rechts-
erzeugende, ändernde und tilgende Wir-
kung liaben solle. Ein derartiger Satz aber
wäre zw^eischneidig und deshalb unbrauch-
bar (vgL darüber unten sub 6, 1).
Der indirekte Zwang kann weiter be-
stehen :
B. in der Einführung von ipso iure ein-
tretenden Rechtsnachteilen, denen der Eigen-
tümer oder der dinglich Berechtigte sieh,
aussetzen, wenn sie nicht schleunigst ihre
Rechte aus dem Buch ersichtlich machea
lassen. Diese Rechtsnachteile können aber
verschiedene sein.
a) Das nicht eingetragene Recht wirkt
dritten Personen gegenüber nicht, sondern
nur zwischen dem Erwerber oder dessen
üniversalsuccessoren, sowie dem Veräusserer
oder Besteller und dessen üniversalsucoes-
soren. Der Erwerber eines Rechts kann
sich also vor der Eintragung dritten Perso-
nen gegenüber nicht auf seinen Erwerb be-
rufen und muss auch alle Rechte gegen
sich gelten lassen, welche sein Rechtsvor-
gänger bis zu diesem Zeitpunkt anderen
Personen eiugerämnt hat. Aui diesem Stand-
punkt steht namentlich das französische
Recht, weniger in der Lehre vom Eigentums-
erwerb als bezüglich der Pri^ilegien und
Pfandrechta Denn der Eigentumserwerb
vollzieht sich diuxjh den Veräusserungs-
vertrag und wirkt auch gegen jeden Dritten,
selbst gegen denjenigen, der später einen
auf Eigentumserwerb abzielenden Yertrag
abgeschlossen und das Eigentum schon auif
sich hat transskribieren lassen. Ausnahmen
bilden nur die Schenkungen, welche zu ihrer
Wirkung gegenüber dritten Personen der
Transskription bedürfen, und femer der
Satz, dass der Erwerber eines Grundstücks
bis zu seiner Transskription die Inskription
der von dem Yeräusserer vor Abschluss des
Veräussenmgsvertrages eingeräumten Pfend-
rechte dulden muss. Anders bei den Priri-
legien und* Pfandrechten. Hier entsteht das
Privileg oder Pfandrecht zwar auch ohne
Inskription, doch kann es weder gegen die
übrigen Gläubiger des Verpfänders noch
gegen seine transkribierten Singiüarsucoesso-
ren imEigentiun des Grundstücks geltend ge-
macht werden.
Der Grundsatz, dass dingiiclie Rechte
an Grundstücken zur Wirksamkeit gegen
dritte Personen der Eintragung im Buch
bedürfen, ganz einerlei, ob diese Personen
gut- oder schlechtgläubig sind, Itatte auch
in Deutschland in ausgedehntem Masse An-
erkennung gefunden. Namentlich entstanden
nach preussischem Recht und nach dem
Recht derjenigen Staaten, welche der preu5-
sischen Grundbuchgesetzgebung gefolgt wa-
ren, ferner nach sächsischem, württembergi-
schem, weimarischem, meiningenschem Recht
die Personalservituten ausserhalb des Buchs,
bedurften aber zur Rechtswdrksamkeit gegen
Dritte der Eintragung. Kach bayerischem
Hypotheken- und Grundbuehwesen
1277
Recht iniisste wenigstens der Niessbrauch,
um nachstehenden Hypothekengläubigern
gegenüber wirken zu können, eingetragen
sein. Das gleiche galt von den Grundgerech-
tigkeiten in Mecklenburg, ferner von den
Reallasten in Pi^eussen und den Staaten,
welche seiner Gnmdbuchgesetzgebung ge-
folgt waren, weiter in Württemberg, Weimar
sowie gegenüber nachstehenden Hypotheken-
gläubigern auch in Bayem. Infolge der
Weiterfühning des Eintragimgsprincips ist
der Gnmdsatz in Deutschland für die Zu-
kunft beseitigt. Er gilt auch nicht mehr
für die Pfändungspfandrechte an Buchhj^yo-
theken oder Buchgrundschulden (§ 880 Abs.
2 C.P.O.). Zwar scheint dies mit der Fas-
sung des Gesetzes in Widei-spruch zu stehen,
nach welchem »dem Drittschuldner gegen-
über« die Pfändung mit der Zustellung des
Pfändungsbeschlusses bewirkt ist, wenn die
Zustellung vor der Eintragung der Pfändung
erfolgt. Denn man könnte daraus folgern
wollen, dass zwar der Drittschuldner hier
diu-ch die vor der Eintragung der Pfändung
an ihn erfolgte Zustellung des Pfändungs-
beschlusses die Fähigkeit, mit Wirksamkeit
an den Schuldner — seinen Gläubiger — zu
zalilen, verlöre, dass aber der Cessionar der
gepfändeten Hypothek oder Grundschuld
wegen der fehlenden Eintragimg der Pfän-
dung ein unbeschränktes Hypotheken- oder
Grundschuldrecht erlange, selbst wenn er
bei der Abtretung die bereits 'erfolgte Zu-
stellung des Pfändungsbeschlusses an den
Drittschuldner kannte. Aber unzweifelhaft
enthält doch die auch noch nicht eingetra-
gene Pfändung für den Hypotheken- oder
Grundschuldgläubiger eine Verfügungsbe-
schränkimg, auf welche also § 892 Abs. 1
S. 2 B.G.B. zur Anwendung kommt. Der
Drittschuldner kann also der dinglichen
Klage des Cessionars die Einrede entgegen-
setzen, derselbe habe bei der Cession die
stattgehabte Pfändung gekannt.
b) Nur der im Buch eingetragene Be-
rechtigte kann die Eintragung dinglicher
Rechte bewilligen. So muss nach Grund-
buchsvstom der Veräusserer eines Grund-
Stücks selbst erst im Grundbuch als Eigen-
tümer eingetragen sein. Nach Hypotheken-
buchsystem kann nur der eingetragene
Eigentümer die Eintragung von Hypotheken
bewilligen. Auch nach badischem Landrecht
kann der Käufer einer Liegenschaft erst
nach der Transskription verpfänden. Schon
die neue preussische Grundbuchgesetzgebung
hatte die gleichzeitig mit der Eintragungs-
bewilligung eines dinglichen Rechts erfol-
gende Eintragung des Eigentums des Be-
willigenden der bereits vorhandenen Ein-
tragung des Eigentums gleichgestellt (prss.
E.E.G. V. 5. Mai 1872, §§ 13 u. 19), und in
40) hat
der deutschen Grundbuchordnung
(§
dieser Grundsatz, dass nur der Buchberech-
tigte buchmässig verfügen könne, eine
weitere Abschwächung erfaliren, indem er
nur noch als Ordnungsvorschrift aufrecht
erhalten ist. und selbst als Ordnungsvor-
schrift gilt er nicht, wenn der Erbe dos im
Grundbuch eingetragenen Berechtigten die
üebertragung oder Aufhebung des ererbten
Rechts eintragen lassen will (§ 41 G.B.).
Während also bisher im allgemeinen die
Eintragung des letzten Berechtigten sich
auf die ununterbrochene Reihenfolge seiner
eingeti'agenen Vormänner stützte, so dass,
auch wenn das Recht eines Vormannes
ausserhalb des Buchs entstanden war, z. B.
sein Eigentum im Wege der Erbfolge, doch
aus dem Buch selbst diese Vormänner er-
sichtlich waren, so braucht dies in Zukunft
in Deutschland nicht mehr der Fall zu sein,
c) Das nicht eingetragene Recht wirkt
nach Grundbuchsystem demjenigen gegen-
über nicht, welcher in gutem Glauben an
die Richtigkeit des Buchs — und nach einer
Reihe früherer Gesetze »gegen Entgelt« —
ein Recht an dem Grundstück oder ein
Recht an einem solchen Recht durch Rechts-
geschäft erwirbt (§ 892 B.G.B,). Das Grund-
bucli ist aber auch dann unrichtig, wenn
Rechte, welche eintragungsfähig, nicht aber
eintragungspflichtig sind, nicht eingetragen
sind. Die Kegel bezieht sich also weder
auf solche Rechte, welche zu ihrer Ent-
stehung der Eintragung bedurften, aber nicht
eingetragen wurden, noch auf solche Rechte,
welche ausserhalb des Buchs entstehen,
aber, vne die Geldrente für das Dulden
eines Ueberbaues oder eines Notwegs
(§§ 914 u. 917 B.G.B.) nach der Bestimmung
des Gesetzes gar nicht eingetragen werden
dürfen. In beiden Fällen ist das Grundbuch
richtig. Denn ein zu seiner Entstehung der
Eintragung bedürftiges, aber nicht eingetra-
genes Recht besteht überhaupt nicht und
hat also auch keinerlei Wirlvsamkeit. Ihm
gegenüber kann von gutem Glauben gar
nicht die Rede sein. Zur Aufnahme von
gar nicht eintragungsfähigen Rechten ande-
rerseits ist das Grundbuch nicht bestimmt
und also ebenfalls nicht unrichtig. Wohl
aber unterliegen der Regel Rechte, welche
an einem im Buch eingetragenen Rechte
bestellt wurden, ohne ihrerseits der Ein-
tragung zu bedürfen und eingetragen wor-
den zu sein , wie z. B. das Pfandrecht an
einer Grund- oder Rentenschuld. Wenn
hier der Brief-, Grund- oder Rentenschuld-
gläubiger seine Grund- oder Rentenschuld
durch schriftlichen Verpfändungsvertrag und
Uebergabe des Biiefes (§§ 1154 u. 1274)
verpfändete, wenn darauf der After-Grund-
oder Reutenschuldgläubiger den Brief ver-
lor, der Verpfänder aber den gefundenen
Brief an sich nahm und nun seine Grund-
1278
Hypotheken- und Grundbuchwesen
oder Rentenschuld einem redlichen Cessionar
abtrat, so gilt dem letzteren gegenüber das
Grundbuch als richtig; das nicht eingetra-
gene. Pfandrecht an der Grund- oder Renten-
schuld wirkt ihm gegenüber also nicht.
Andere Beispiele bilden der Nicssbrauch
oder die Sicherungshypothek, welche der
Niessbraucher oder Pfandgläubiger einer
Forderung auf üebertragung des Eigentums
an einem Grundstück mit der Auflassung
des Grundstücks an den Gläubiger der belaste-
ten Forderung erwerben (§§ 1075 u. 1287).
"Weiter wird man aber auch die Regel anwen-
den müssen auf eingetragen gewesene eintrst-
gungspflichtige , aber zu Unrecht gelöschte
Rechte. So ist die zu Unrecht gelöschte
Hypothek, Grund- oder Rentenschuld durch
die unrechtmässige Löschung nicht unterge-
gangen ; aber gegen den redlichen Erwerber
des Grundstücks kann sie nicht geltend ge-
macht werden. (Vgl. auch § 47 Abs. 2 G.B.O.)
Endlich ist die besprochene Regel diu'ch
§ 892 Abs. 1 S. 2 . auch auf die zu Gunsten
einer bestimmten Person an eingetragenen
Rechten bestehenden Verfügungsbeschrän-
kungen des Berechtigten ausgedehnt (Vgl.
oben sub 3 vorletzten Absatz.) Weitei'en in-
direkten Zwang kennt das Gesetz nicht.
5. Die Arten der Einschreibungen.
Aus den bisherigen Erörterungen ergiebt
sich, dass man verschiedene Arten der Ein-
schreibungen zu unterscheiden hat, nämlich :
1. Einsclireibungen von Rechtsverhält-
nissen sowie Veränderungen ihres subjekti-
ven oder objektiven Bestandes einer- und Ein-
schreibungen rein thatsäclüichen Inhalts
andererseits. Zu den letzteren gehören z. B.
die Notiz, dass die Einschreibung an dem
und dem Tage erfolgt ist, dass ein Teil des
eingeschriebenen Grundstücks auf ein ande-
res Blatt übertragen ist, dass das einge-
schriebene Grundstück sich aus den nälier zu
bezeichnenden Bestandteilen zusammensetzt,
dass es einen Wert in der und der Höhe
hat u. s. w. Die Unterscheidung ist bedeu-
timgsvoll, weil die Einschreibung von Rechts-
verhältnisseu nur auf Antrag zu erfolgen
hat, während die rein thatsächl Lehen An-
gaben auch von Amtswegen einzutragen
sind , z. B. das Datum der Einsclu-eibung
(S 45 G.B.O.), die Uel>erschreibuug eines zu
belastenden Grundstücksteüs auf ein beson-
deres Grundbuchblatt (§ 6 G.B.O.), die Ein-
tragimg oder Löschung von Widersprüchen
(§§ 18 Abs. 2, 23, 54, 7G Abs. 2 G.B.O.).
Uebrigens können ausnahmsweise auch
Rechtsverliältnisse von Amtswegen einge-
tragen werden, z. B. die Aendeiamg oder
Aufliebung der auf dem Blatt des berech-
tigten Grundstücks gebuchten subjektiven
dinglichen Rechte (§ 8 Abs. 2 1. c), Vor-
merkungen zu Gunsten der mit ihren Ein-
tragungsanträgcn vorläufig Zurückgewiesenen
(§ 18 Abs. 2 1. c), die Mitbelastung eines
mit einem anderen Grundstück gemeinschaft-
lich belasteten Grundstücks auf dem Blatt
dieses Grundstücks (§ 49 1. c), die Eintragung
eines Nacherben oderTestamentsvoDstreckers
bei der Eintragung des Vorerben oder Erben
(§§ 52 u. 53). Auch findet nur auf die Ein-
schreibung von Rechtsverhältnissea das so-
genannte Aonsensprincip (vgl. unten sub 7) und
der Grundsatz des öffentlichen Glaubens des
Grundbuchs (vgl. unten sub 6, 2) Anwendung.
Die Grundbuchordnung nennt die auf den ding-
lichen Rechtszustand bezüglichen Einschrei-
bungen ^»Eintragungen«. Im übrigen redet
sie meistens von Vermerken.
2. Endgiltige und vorläufige Eintragungen.
Die letzteren sollen endgiltige Eintragungen
vorbereiten, indem sie ihnen eine bestimmte
Stelle im Buch sichern imd den Missbrauch
der buchmässigen Verfügungsbefugnis eines
formell zu Recht, matenell zu Unrecht Ein-
getragenen abwenden.
Nach dem Vorgang der §§ 153, 177,
289, 290, 298 und 299 Tit. 2 der preussi-
schen Hypothekenordnung vom 20. Dezem-
ber 1783 haben nämlich die meisten deut-
schen Gesetzgebungen (Preussen, Bayern,
Württemberg, Weimar, Oldenburg, Coburg,
Meiningen, Braunschweig, Anhalt, Waldeck,
Sondershausen, Lippe) zwei Arten von Vor-
merkungen unterscnieden , von denen die
eine zum Schutz bestehender dinglicher
Rechte, die- andere zur Sicherung obligato-
rischer Ansprüche auf Einräumung oder
Aufhebung dinghcher Rechte bestimmt war.
Zu der ersteren Klasse gehörten die Vormer-
kung zur Erhaltung des Rechts auf Eintra-
gung des Eigentumsübergangs, auf Beseiti-
gimg einer nichtigen Eintragung des Eigen-
tumsübergangs, die Vormerkung zur Erhal-
timg des Rechts auf Eintragung eines bereits
bestehenden dinglichen Rechts, z. B. des
Niessbrauchs , einer ReaUast, endlich die
Vormerkung auf Löschung eines bereits er-
loschenen dinglichen Rechts. Im letzter(*n
Fall soU das Eigentum am belasteten Ob-
jekt, speciell die Freiheit des Eigentums
von der Belastung gesichert werden. Zur
letzteren Klasse gehören die Vormerkungen
zur Erhaltung des Rechts auf Eigentiuns-
überti-agung , zur Erhaltung des obligatori-
schen Anfechtimgsanspruchs der Eintragung
des stattgehabten Eigentumsübergangs, die
Vormerkung zur Erhaltung des Anspnu-hs
auf Hypothek- oder Grundschuldbestellung
und, wo nach gesetzlicher Vorschrift die
Hypothek oder Grmidschuld erst durch
Löschung untergeht, die Vormerkung auf
Löschung einer Hypothek oder Gnmdschuld.
Dabei war die Terminologie eine durchaius
verschiedene, indem diese vorläufigen Ein-
tragungen bald Protestationen, bald Vei^
Wahrungen, in OesteiTcich v Pränotationen' ,
Hypotheken- und Grundbuchwesen
1279
bald Vormerkungen genannt wurden. Das
Biirgerliche Gesetzbuch führt hier eine be-
stimmte Terminologie ein. Es unterscheidet:
a) Vormerkungen, d. h. vorläufige Ein-
tragungen zum Schutz persönlicher An-
sprüche auf Einräumung, Aenderung oder
Aufhebung eines dinglichen Rechts. Ob
diese Ansprüche betagt oder bedingt, ob sie
von einer Gegenleistimg abhängig, gegen-
wäi'tige oder zukünftige sind, ist gleichgiltig.
(§ 883 B.G.B.).
b) Widersprüche gegen die Richtigkeit
des Gnmdbuchs, d. h. vorläufige Eintn^n-
gen, dass der Inhalt des Grundbuchs in
Ansehung eines Rechts am Grundstück,
eines Rechts an einem solchen Recht oder
einer Verfügungsbeschränkung der im § 892
Abs. 1 bezeichneten Art mit der wirklichen
Rechtslage nicht im Einklang stehe (§§ 894
und 899), z.B. auf Grund eines gefälschten
ErbenlegitJmationsattestes ist jemand fälsch-
lich als Erbe eingetragen, oder diu'oh Ver-
sehen des Grundbuchrichters ist ein be-
grenztes dingliches Recht auf dem verkehr-
ten Grundbuchblatt eingetragen, oder ein
dingliches Recht an einem fremden Grund-
stück ist zu Unrecht gelöscht worden u. s. w.
Demnach dient der Widerspruch zur Siche-
rung dinglicher Rechte oder des Eigentums
gegen die Folgen unrichtiger Eintragungen.
Sowohl zu a als b besteht die Gefahr
darin, dass derjenige, gegen den der obli-
gatorische Anspruch auf Eintragimg eines
dinglichen Rechts geht, oder derjenige,
zu dessen Gunsten die unrichtige Eintra-
gung lautet, durch seine buclunässigen Ver-
fügimgen die Rechte des zu einer vorläu-
figen Eintragung Berechtigten vereiteln oder
beeinträchtigen Kann. Der erstere. weil sein
Singularsuccessor im dinglichen Recht sich
den obligatorischen Anspruch auf Eintragung
eines dinglichen Rechts nicht gefallen zu
lassen braucht, da nicht er diesen Anspnich
eingeräumt hat, der letztere vermöge des
öffentlichen Glaubens des Buchs (vgl. unten sub
6, 2). Beseitigt wii-d diese Gefahr durch Ein-
tragung eines Widerspnichs , weil diese Ein-
tragung den öffentlichen Glauben des Grund-
buchs bricht. Der Erwerber eines Rechts
kann sich nun nicht mehr darauf berufen,
dass er den Inhalt des Grundbuchs als
richtig angesehen habe (§ 892 Abs. 1 S. 1),
und rauss sich deshalb die Berichtigimg
des (jrundbuchs gefallen lassen. Die Em-
ti'agimg einer Vormerkung aber schliesst
die Gefähitlung des vorgemerkten obliga-
torischen Anspnichs um deswillen aus, weil
alle hinterher getroffenen Verfügungen dem
Vorgemerkten gegenüber insoweit unwirksam
sind, als sie den Anspruch beeinträchtigen
oder vereiteln würden (§ HS'd Abs. 2 und 3).
Die Vonnerkung ist also eine dingliche Be-
lastung des Grundstücks des Inlialts, dass
jeder Erwerber desselben oder dinglicher
Rechte an ihm die zur Verwirklichung des
vorgemerkten Anspruchs erforderliche Ein-
tragung sich gefallen lassen muss; er muss
seine Zustimmung zu dieser Eintragung
geben (§ 888 Abs. 1), vorausgesetzt nur,
dass die bisher vorhandenen Anstände der
definitiven Eintragung beseitigt sind, z. B.
der Vorgemerkte zur Erbringung der ge-
schiddeten Ge^nleistung bereit und im
stände ist. Weil die Vormerkung eine ding-
liche Belastung ist, so wirkt sie auch im
Konkurse dessen, gegen den sie geht Auch
ge]iört der Vorgemerkte zu den an der
Zwangsvollstreckung in das mit der Vor-
merkung belastete Grundstück Beteiligten.
Das französische Recht kennt etwas einer
vorläufigen Eintragung Aehnliches überhaupt
nicht.
3. Die Eintragungen sind teils recht-
schaffende, teils beurkundende. Ersteies, so-
weit das Eintragungsprincip gilt, sie also
erforderlich sind zum Entstehen, zur Verände-
rung oder Endigung von Eigentum oder
dinghchem Recht. Letzteres, soweit es sich
um Eintragung von ausserhalb des Buchs
bereits eingetretenen dinglichen Rechtswir-
kungen handelt, z. B. um Eintragung des
durch Eingehung einer gütergemeinschaft-
lichen Ehe erzeugten Miteigentums oder
um Eintragung des Cessionars einer recht s-
giltig abgetretenen Briefhypotliek.
6. Wirkungen der Eintragnng. Wenn
nach dem Gesagten (oben sub 5, 3) die Eintra-
gung rechtschaffend wirken kann, so folgt da-
1 raus noch keineswegs, dass sie das einzige Er-
fordernis der Rechtsentstehung, Vei'änderung
oder Endigung ist. Vielmehr herrschen in
dieser Beziehung zwei Systeme, welche man
gewöhnlich als System der formalen Rechts-
kraft der Eintragungen und als System des
öffentlichen Glaubens des Buchs bezeichnet
1. Nach dem System der formalen
Rechtskraft wirkt die Eintragung f üi- sich
allein, unabhängig von ihren matenellrecht-
lichen Voraussetzungen, die in ihr angegebene
Rechtsentstehung, Veränderung oder Endi-
gung. Sie schafft also, wenn sie nur form-
gerecht ist, ähnlich wie ein rechtskräftiges
Urteil formales Recht Wer z. B. auf Grund
eines gefälschten Erbenlegitimationsattestes
als Eigentümer eines Grundstücks eingetra-
gen wäre, hätte dadurch Eigentum am
Grundstück erlangt, auch wenn er gar nicht
Erbe sein sollte. Hätte der Grundbuchlichter
irrtümlich eine Hypothek gelöscht, so hätte
damit der Hypothekengläubiger sein Hypo-
thekenrecht verloren.
Dieses System, welches Exner auch für
das österreichische Recht verteidigt und
welches in Hamburg, Lübeck, Mecklenburg
und dem Königreich Sachsen galt, gi-eift in
exorbitanter Weise in das materielle Recht
1280
Hypotheken- und Griinclbuchwesen
ein. Denn ein bei der Eintragung unter-
laufender Verstoss gegen dasselbe könnte
nur noch zur Begründung eines obligatori-
schen Anspnichs auf Wiedergewähr des
dwTQh die Einti-agung Verlorenen gegen den
neu Eingetragenen auf Grund ungerechtfer-
tigter Bereichening führen oder nach Lage
des Falles auch zu einer Schadensklage
wegen unerlaubter Handlung. Diese persön-
lichen Ansprüche würden aber gegenüber
Sondernachfolgern des zu Unrecht Einge-
tragenen versagen und im Konkurs des
Eingetragenen nur zur Anteilnahme an der
Konkursdividende fiihren. Auch müsste die
pei-söuliche Klage die vor der Wiederge-
währ des Verlorenen von dem neu Einge-
tragenen zu Gunsten Dritter vemnlassten
Eintragungen unbeiülurt lassen, ohne Rück-
sicht auf guten oder schlechten Glauben.
Weiter aber würde die Rechtsunsicherheit
für den Grund Stücks verkehr bei diesem
Systeme nicht gehoben, sondern nur an eine
andere Stelle verlegt. Zwar wäre nach dem
System der formalen Rechtskraft für den,
welcher bezüglich des Erwerbes eines Grund-
stücks oder dinglicher Rechte daran erst in
Verhandlungen eintreten wollte, das Grund-
buch durchaus sicher. Denn jeder Zwiespalt
zwischen Buchrecht und materiellem Recht
wäre vermieden, weil eben jeder Buchbe-
rechtigte auch materielles Recht erworben
hätte. Aber sobald die Eintragung erfolgt
wäre, so begänne nun für den Eingetragenen
die Rechtsunsicherheit wegen der Gefalir,
durch eine rechtswidrige, wenn nur form-
giltige "weitere Eintragung ahnungslos seines
Rechts verlustig zu gehen. Deshalb ist un-
bedingt vorzuziehen :
2. Das System des öffentlichen
G 1 a u b e n s d e s B u c h s. Dassel be hat bisher
schon in den meisten deutschen Staaten, einer-
lei, ob sie Gnuid- oder Hypothekenbücher
hatten (Preussen, Bayern, Württemberg, W^ei-
mai*, Oldenburg, Braunschweig, Coburg, Alten-
burg, Meiningen, Anhalt, Lippe, Schwarzbiu'g-
Sondershausen) gegolten und ist auch von
der Gesetzgebung des Deutschen Reichs
angenommen worden. Danach gilt das
Grundbuch für richtig zu Gunsten desjeni-
gen, der in Unkenntnis seiner Unrichtigkeit
durch Rechtsgeschäft ein Recht an einem
Grundstück oder ein Recht an solchem
Rechte erworben hat, es müsste denn ein
Widerspmch gegen die Richtigkeit eingetra-
gen sem (§ 892). Die Eintragung wirkt
danach also nur in Verbindvuig mit den ma-
terieilrechtlichen Voraussetzungen der Reclits-
entstehung, Aenderung oder Eudigung. Sind
diese nichtig, so ist es auch die Eintragimg,
sind sie nur anfechtbar, so ist auch die Eintra-
gung der Anfechtung mit rückwirkender Kraft
unterworfen. Aber — und dies ist die dem
System des öffentlichen Glaubens des Buchs
innewohnende Eigentümlichkeit — die Nich-
tigkeit oder Anfechtbarkeit kann nicht gel-
tend gemacht werden gegenüber demjenigen,
welcher Rechte erworben hat im Vertrauen
auf die Richtigkeit der zur Zeit des Er-
werbes bereits vorhandenen formgiltigen
Eintragungen. Der Käufer eines Grund-
stücks also, welcher in Unkenntnis davon,
dass der Verkäufer ' auf Grund eines ge-
fälschten Erbscheins im Grundbuch als
Eigentümer steht, die Auflassung des
Grundstücks und seine Einti-agimg als Eigen-
tümer erlangt hat, ist gegen aDe Anspriiche
des wahren Erben hinsichtlich des verkauf-
ten Grundstücks gesichert. Ebenso könnte
ihm das Gnmd stück nicht wieder abge-
nommen werden, wenn er dasselbe von dem
eingetragenen Erbscheinsfälscher geschenkt
und aufgelassen erhalten haben sollte. Denn
das Bürgerliche Gesetzbuch macht, um die
Zuverlässigkeit des Buchs nicht abzuschwä-
chen, im Gegensatz zu der bisherigen Ge-
setzgebung Pi-eussens, Bayerns, Wüittem-
bergs, Anlialts, keinen Unterschied, ob der
redliche Erwerber entgeltlich oder unentgelt-
lich erwarb. Immerhin ist auch nach dem
Bürgerlichen Gesetzbuch der imentgeltliche
Erwerber insofern schlechter gestellt wie
der entgeltliche, als der diu-cli den öffent-
lichen Glauben des Buchs Benachteiligte
einen Anspruch wegen ungerechtfeitigter Be-
reicherung gegen ihn hat (§ 816 Abs. l
S. 2). Dehnt so das Bürgerliche Gesetzbuch
das Princip des öffentlichen Glaubens des
Buchs aus, so beschränkt es andei-ei-seits
dasselbe auf den i-echtsgeschäftlichen Er-
werb, zu dem aber auch der Erwerb dm*ch
Urteil gemäss § 894 C.P.O. zu rechneu ist
(wenn der eingetragene Schuldner zur Ein-
willigung in eine Rechtsänderung rechts-
kräftig verurteilt wurde). Wer also z. B.
mit dem als Eigentümer eines Gnuidstücks
Eingetragenen eine gütergemeinschaftliche
Ehe eingeht, dem nützt der öffentliche
Glaube des Grundbuchs nichts. Ebensowenig
nützt das Princip beim Erwerb der eheliciieu
oder elterlichen Nutzniessung. T)i\s gleiche
gilt für den imWegederZwaugsvoUstreekuiig
sich vollziehenden Erwerb, z. B. der Ueber-
weisung einer Hypothekenfoixlerung zur
Einziehung oder an Zalilungsstatt , bei der
Judikatshypothek etc. Diese Einsclu-äukuu^
rechtfertigt sich aus der Erwägung, da^s
der öffentliche Glaube den auf Grundsfucke
bezüglichen Verkehr sichern soll, und
folglich nur bei dem durch Verkehrs-
g e s c li ä f t e vennittelten Ei'werb angewen-
det werden kann.
' Ausser der bisher bespi'ochenen Gai^aiitie
I der Richtigkeit der Voreintragungen gewälu-t
I das Princip des öffentlichen Glaul>eus auch
' die Garantie der Vollständigkeit des ßmlis
! (vgl. darüber oben sub 4, 2, B, c).
Hypotheken- und Grundbuchwesen
1281
Der Glaube des Buchs bezieht sich nur
auf die Rechtsverhältnisse, welche im Buch
eingetragen stehen, oder, soweit es sich um
die Garantie der Vollständigkeit handelt,
eintragungsföhig sind, ohne eintragungspflich-
tig zu sein. Auf thatsächliche Angaben
— z. B. Grösse des Grundstücks oder Bo-
nität der Bodenklasse bezieht sich der
öffentliche Glaube des Buchs nicht. Auch
beschränkt er sich nach Hypothekenbuch-
system auf den Erwerb von Hypotheken
und eintragimgsfähigen Rechten an ihnen
sowie der Befreiung von Hypotheken und
an ihnen eingetragenen Rechten.
Den öffentlichen Glauben geniesst nur
das Buch : es kommt also nicht zu den Grund-
akten, nicht den über die erfolgte Eintragimg
ausgefertigten Urkunden. Der Cessionar
einer Briefhypothek oder Briefgrundschuld
kann sich also nicht darauf berufen, dass
nach dem Brief die erworbene Hypothek
auf 30000 Mark laute, während nur 20000
im Grundbuche eingetragen stehen. Geht
jedoch aus dem Hypothekenbrief oder einem
auf ihm befindlichen Vermerk die Unrichtig-
jteit des Gnmdbuchs hervor oder befindet
sich auf dem Brief ein Widerspruch gegen
die Richtigkeit des Grundbuchs, so ist die
Berufung auf den öffentlichen Glauben des
Buchs ausgeschlossen (§ 1140). Wenn also
z. B. die im Grundbuch stehende Eintragimg
auf eine Darlehnsh ypothek von 50 000 Mark
lautet, während auf dem darüber ausgestell-
ten Hypothekenbrief eine Bekenntnis des
Cedenten über eine erfolgte Teilzahlung
von 10000 Mark sich findet, so kann der
Cessionar sich nicht darauf berufen, dass er
von der Teilzahlung nichts gewusst habe
und also 50000 Mark erlangen kann, weil
die Eintragung im Buch auf diese Summe
laute.
Das zu 1 bespixxihene Princip der for-
malen Rechtskraft greift danach \iel weiter
als das des öffentlichen Glaubens. Ersteres
schützt jeden Nehmer einer Eintragimg,
letzteres nur den redlichen Singularsuccessor,
einerlei allerdings, ob derselbe im Buch
eingetragen wird oder nicht. Das Princip
der Rechtskraft deckt weiter auch die ma-
terieUrechtüche Mangelhaftigkeit der eigenen
Eintragung des Rechtserwerbei-s ; derGnmd-
satz des öffentlichen Glaubens deckt nur die
materiellrechtlichen Mängel der Yoreintra-
gungen, nicht die materiellrechtliche Mangel-
haftigkeit des eigenen Erwerbsgeschäfts
dessen, der sich auf den öffentlichen Glauben
beruft.
Dem französischen Recht fehlt jede
Ausbildung der Publicität nach dieser Rich-
tung hin.
Eine weitere Wirkung der Eintragun-
gen ist
3. Die Vermutung ihrer Richtig-
Uandwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite
k e i t. Eintragungen liaben die Vermutung für
sich, dass dem als berechtigt Eingetragenen das
Recht zustehe oder dass das ^öschte Recht
nicht bestehe (§ 891). Die Vermutimg be-
zieht sich also nur auf eingetragene oder
gelöschte Rechte, nicht auf andere Angaben
des Buchs. Es handelt sich dabei nicht um
die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde
nach den Vorschriften der Prozessordnung
(§§ 415, 417 und 418 C.P.O.), sondern um
eine Rechtsvermutung für die Richtigkeit
des Inhalts der Eintragung, welche, weil
nicht auf blosse Thatsachen beschränkt, über
§ 292 CP.O. hinausgeht. Sie lässt also
den Gegenbeweis, aber nicht immer durch
Eideszuschiebung, zu. Diese Rechtsver-
mutung kann nur in denjenigen Gesetzen
aufgestellt werden, welche den Grundsatz
der formalen Rechtskraft der Eintragung
verwerfen. Denn die Annahme dieses Gnmd-
satzes macht die Rechtsvermutung über-
flüssig und ersetzt sie durch die unumstöss-
liche Gewissheit der Richtigkeit. Anderer-
seits deckt sich die Vermutung der Richtig-
keit keineswegs mit dem Grundsatz des
öffentlichen Glaubens des Buchs. Denn der
öffentliche Glaube wii'kt nur zu Gunsten
des gutgläubigen Nehmers einer Eintragung
oder sonstigen rechtsgeschäftlichen Erwerbers
eines Rechts am Grundstück, die Vermutung
der Richtigkeit aber kommt auch dem
schlechtgläubigen Nehmer einer Eintragung
zu statten. Weiter kommt die Präsumtion
der Richtigkeit der Eintragimg des Nehmers
selbst zu, während der öffentliche Glaube
nur die Voreintragimgen deckt, auf welche
der Erwerb dessen, der sich auf den öffent-
lichen Glauben benift, sich stützt. Endlich
lässt die Präsumtion der Richtigkeit den
Gegenbeweis zu, wälirend der öffentliche
Glaube des Buchs die Fiktion der Richtigkeit
der Voreintragungen zu Gunsten des auf
den öffentlichen Glauben sich Stützenden
enthält, den Gegenbeweis also ausschliesst.
In den bisherigen Landesgesetzen ist,
soviel ich weiss, nirgends eine allgemeine
Präsumtion für die Richtigkeit der Ein-
tragungen aufgestellt gewesen. Das preussi-
sche Recht (§ 7 des Eigentumserwerbsgesetzes)
z. B. kennt die Vermutung nur zu Gunsten
des eingetragenen Eigentümers, ebenso
Art. 26 des hessischen G. v. 21. März 1852.
Die Bedeutung der erst vom Bürgerlichen
Gesetzbuch aufgestellten allgemeinen Rechts-
vermutunp ist aber folgende:
Sie wirkt für und gegen den Eingetra-
genen sowde seinen Erben. Demgemäss
genügt die Eintragung, um im Prozess die
Aktiv- oder Passivlegitimation zu erbringen.
Der als Eigentümer Eingetragene kann sich
also, um die Vindikation anstellen zu können,
einfach auf seine Eintragung berufen. Sache
des Beklagten ist es, den Nachweis ilirer
Auflage. IV. 81
1282
Hypotheken- und Grundbuch wesen
Unrichtigkeit zii führen. Aber auch um
den eingetragenen Eigentümer, etwa mit
der Hypothekenklage, verklagen zu können,
genügt der Umstand, .dass der Beklagte im
Gnmdbuch als Eigentümer steht, so lange
der letztere nicht nachweist, dass er zu
Unrecht eingetragen wurde. ITebrigeDS hat
die Vermutung der Richtigkeit auch ihre
Kehrseite. A\er den eingetragenen Eigen-
tümer, lediglich auf dessen Eintragung ge-
stützt, verklagt, führt möglicherweise einen
vergeblichen rrozess. Denn wenn der Ver-
klagte venirteilt wurde, weil er den Gegen-
beweis der Unrichtigkeit der Eintragimg
nicht unternahm, so wird dieses Urteil gegen-
über dem wahren Eigentümer nicht rechts-
kräftig. Die Präsumtion gilt bei der Brief-
hypothek oder Grundschuld selbvSt dann,
w'enn die Uebergabe des Briefes an den als
Gläubiger Eingetragenen noch nicht erfolgt
sein sollte (§ 1117). Zum Gegenbeweis ge-
nügt aber der Nachweis, dass die Ueber-
gabe des Briefs nicht erfolgte. Aber nicht
nur im Prozess ist die Vermutung der
Richtigkeit wichtig. Wer die Subhastaüon
eines Grundstücks beantragen will, braucht
auch nur nachzuweisen, dass der Subhastat
im Grmidbuch als Eigentümer eingetragen
ist. Vor fidlen Dingen aber hat die Prä-
sumtion auch Bedeutung für den Verkehr
mit der Buchbehörde; denn sie legitimiert
den als berechtigt Eingetragenen zu buch-
mässigen Verfügungen. Auch für die Brief-
hypothek ist dabei die Vorlegung des Briefs
nur ordnungshalber vorgeschrieben (§ 42
G.B.O.). Auch das französische Recht kennt
etwas der Vermutung der Richtigkeit Aehu-
liches. Denn so lange die Insfaiption be-
steht, kann der Inskribierte sein Vorrecht
ausüben vorbehaltlich des von seinem Geg-
ner zu führenden Gegenbeweises, dass das
Vorrecht materiell nicht bestehe, weil z. B.
die gesicherte Forderung erloschen sei.
4. Ansprüche aus eingetragenen oder
durch Widerspnich gesicherten Rechten sind
dem Untergang durch Veijälirung entzogen
(§ 902), selbst wenn der Inhaber dieses
Rechts, z. B. der Erbe der eingetragenen
Grundschuld, nicht eingetragen sein sollte.
Auch dieser Grundsatz hat bisher in Deutsch-
land keineswegs allgemein gegolten. Seine
Aufstellung entspricht aber dem Interesse
an Erhaltung eines den wirklichen Rechts-
zustand abspiegelnden Buches. Dies um
so mehr, als in dem Eingetragensein des
Rechts im Buch eine fortwährende Bethäti-
gung desselben liegt, von einer Veijähning
d. h. einem Untergang durch fortgesetzte
Nichtbethätigung also gar keine Rede sein
kann. Auch die Einti-agung eines Wider-
spruchs bringt das ausserhalb des Buchs
bestehende dingliche Recht zur (leltung,
enthält also eine Bethätigung desselV)en.
Dagegen gilt der gleiche Grundsatz nicht
für die Vormerkungen. Sie sollen obligato-
rische Ansprüche sichern. Die Vormerkung
rügt also keineswegs einen Zwiespalt zwischen
dem im Buch verlautbarten und dem in
Wahrheit bestehenden dinglichen Rechts-
zustand. Desw^egen besteht Kein Intei-esse,
den vorgemerkten obligatorischen Anspnich
der Verjährung zu entziehen. Ist also der-
selbe veriährt, so ist die Vormerkung da-
durch erledigt und kann ihre Beseitigung
verlangt weisen.
Nach dem Gesagten sind nur die An-
sprüche aus eingetragenen Rechten und
Widersprüchen unverjährbar , keineswegs
werden diese Rechte selbst für unverjährbar
erklärt. Denn das Bürgerliche Gesetzbuch
kennt nur eine Verjährung der Ansprüche
(§ 194). Aber nicht einmal alle Ansprüche
aus eingetragenen Rechten sind unverjähr-
bar. Ausgenommen sind nämlich die An-
sprüche auf Rückstände wiederkehrender
Leistungen aus eingetragenen Rechten (Zin-
sen, Reallastraten etc.), auf Schadeaei-satz
und nach § 223 diejenigen Ansprüche, für
welche eine Hypothek bestellt ist. Das
Hypothekrecht selbst ist also, wie jedes
dingliche Recht, der Verjährung ent-
zogen, selbst wenn die Forderung, füi-
welche die Hypothek bestellt wurde, ver-
jährt sein sollte — es mü&ste sich demi
um eine Sicheningshj'pothek handeln, bei
welcher wegen ilires streng fiM3ce8sorischen
Charakters der Einwand der Forderungs-
verjährung auch gegenüber der Hypotheken-
klage zugelassen werden muss (§ 11<S4). —
Auf der anderen Seite sind also Ansprüche
aus nicht eingetragenen Rechten verjälirbar.
Aber das B.G.B. geht noch weiter, indem
es mit eingetretener Veijälirung der An-
sprüche auch das nichteingetragene Recht
selbst für erloschen erklärt, eineilei, ob es
nicht eingetragen war, w^eil es kraft (jesetzes
entstanden oder weil es zu Unrecht ^löscht
war (§ 901). Auch hierin liegt ein Moment
indirekten Zwanges, sich eintragen zu Ifiissen.
Ausnahmsweise endlich unterliegt auch ein
Anspruch aus einem eingetragenen Recht
der Verjähning (§ 1028 Abs. 1).
Nach österreichischem Recht entzieht die
Eintragung das eingetragene Recht nicht
der Verjährung. Vielmehr bildet die Ver-
jährung einen Löschungstitel. Bis zur
Löschung aber geniesst das verjälirte Recht
den Schutz des öffentlichen Glaubens des
Buchs und hindert auch das Vorrücken
nachstehender Rechte. Nach franz(>sischem
Recht verliert sogar jede Inskiiption ihn^
Wirkung, wenn sie nicht innerhalb 10 Jahren
von ihi-em Datum an erneuert w4rd.
T). Nach Grundbuchsystem schützt die
Eintragung als Eigentümer denEingeti-ageuen
gegen die Ersitzung. Denn woUte man die
Hyi:>othekeu- und CrnuKlbiiclnvesen
1283
Ersitzung zulassen, so würde durnh die
vollendete Ei'sitzung eine Differenz zwischen
dem buehmässigen Anschein und der Wirk-
lichkeit sich einstellen, indem ein anderer
im Buch als Eigentümer eingetragen ständö,
ein anderer aber Eigentümer wäre (so-
genannte Duplicität des Eigentums). Das
Bürgerliche Gesetzbuch erkennt die Er-
sitzung von Grundstücken überhaupt nicht
mehr an, während das österreichische Recht
gegen den eingetragenen Eigentümer doch
noch die ausserordentliche Ersitzung zu-
lässt.
7. Die Rangordnung der eingetrage-
nen Rechte. Weirn mehrere dingliche
Rechte an demselben Gnmdstück zusammen-
treffen, so fi-agt es sich, welches von ihnen
dem anderen vorgeht. Besonders bedeutungs-
voll wird diese Frage, wenn die konkurrieren-
den Rechte Anspruch auf Befriedigimg aus
dem Erlös des Gnmdstücks gewähren und
der Erlös zur vollen Befriedigung aller
Rechte nicht ausreicht. Soll das Buch die
dinglichen Rechtsverhältnisse veröffentlichen,
so muss es auch über deren Rangordnung
Auskunft geben. Dabei handelt es sich nach
Hypothekenbuch- und Inskriptionssystem
nur um die Rangordnung der Hypotheken
untereinander, während nach Grundbuch-
system auch das Rangverhältnis von Hy-
I)otheken und Gnmdschulden untereinander
und zu anderen dinglichen Rechten —
Reallasten , Niessbrauchsrechten , Grund-
gerechtigkeiten, Erbbaurechten etc. — in
Betracht kommt.
Sieht man zunächst von der Buchein-
richtimg ab, so ergiebt sich, dass die Rechte
an fremder Sache, weil das Eigentum be-
schränkend, stets dem letzteren vorgehen.
Andererseits kann niemand mehr Recht auf
einen anderen übertragen, als er selbst hat.
Daraus folgt, dass der Eigentümer einer
bereits mit einem dinglichen Recht be-
lasteten Sache ein weiteres dingliches Recht
an derselben nur unbeschadet des bereits
bestehenden bestellen kann. Nach materiellem
Recht gelangt man also zu dem Satz, dass
unter mehreren dinglichen Rechten an der-
selben Sache das ältere dem jüngeren vor-
geht. Der Umstand, dass das Bürgerliche
Gesetzbuch das fehlende Recht des Autors
<liirch den guten Glauben des ErvÄ^erbers
in ausgedehntem Masse ersetzen lässt, ändert
an dem Satz, dass niemand mehr Recht
übeiti'agen kann, als er selbst hat, selbst-
verständlich nichts. Denn die Grundlage
des Rechtsenverbes bei fehlendem Recht
des Autors ist lediglich der gute Glaube des
Erwerbers.
Auch in diese Grundsätze \iber die Rang-
ordnung mehrerer Rechte an derselben Saclie
greift nun die Bucheinrichtung ein. Und
zwai' liaben sich in Deutsclüand zwei
Svsteme, das der zeitlichen und das der
Örtlichen Priorität, ausgebildet.
1. Nach dem ersten System hat bei
Eintragiuigen , welche Vorbedingung der
Rechtsentstehung sind, die zeitlich frühere
Eintragung den Yoraug vor der späteren,
sollten auch die sonstigen Yorbedingungeu
der Rechtsentstehung bei einem später ein-
getrag'cnen Recht früher vorhanden gewesen
sein. Z. B. A bewilligt am 1. Februar dem
B, am 2. dem C eine Hypothek an dem-
selben Grundstück. Wird hier die später
bewilligte Hypothek früher eingetragen, so
geht sie der früher bewilligten vor. — Bei
Eintragungen, welche nicht sowohl Vor-
bedingung der Rechtsentstehung als viel-
mehr nur der Rechtswirksamkeit des ausser-
halb des Buchs entstandenen Rechts gegen-
über dritten Personen sind, bestimmt sich
das Alter des Rechts z>\'ischen Besteller
und dessen üniversalsuccessoren einereeits
sowie dem ersten Erwerber und dessen
Üniversalsuccessoren andererseits nach dem
Zeitpunkt, in welchem die Bedingungen der
Rechtsentstehung sämtlich vorhanden waren,
aber allen anderen Personen gegenüber gilt
es als erst mit dem Zeitpunkt der Ein-
ti'agung entstanden. Diejenigen Eintragimgen
endlich, welche ausserhalb des Buchs ent-
standene dingliche Rechte lediglich be-
urkunden, rangieren an sich nach dem Alter
ihrer Entstehung ausserhalb des Buchs, und
nur Personen, denen der öffentliche Glaube
des Buchs zu gute kommt, dürfen bean-
spruchen, dass sie ihnen gegenüber erst
nach dem Datum der Eintragung rangieren.
Wo immer aber das Datum der Einti*agung
den Rang bestimmt, da haben unter gleichem
Datum eingetragene Rechte gleichen Rang,
oder es entscheidet unter ihnen die örtliche
Reilienfolge der Eintragungen. Diese Art,
die Rangordnung zu regeln, trägt dem
Wesen des dinglichen Rechts am meisten
Rechnung. Sie gilt in Frankreich für die
Unterpfänder unter einander, während die
chiregrapliarischen Gläubiger den Unter-
pfandsgläubigern stets nachgehen, und war
auch in Bayern, Württemberg, Hessen,
W^eimar, Altenburg, Reuss, Rudolstadt aner-
kannt. Nach österreichischem Gnindbuch-
gesetz soll sich die Priorität schon nach
dem Zeitpunkt der Ueberreichung des An-
trags auf Eintragung bei der Behörde richten,
was gewiss dem Gnindsatz der Publicität
zuwider ist. Denn nach ihm kann, w^enn
natürlich auch die Buchbehörde verpflichtet
ist, die Eintragungen in derselben Zeitfolge
vorzunehmen, in welcher die Antrage auf
Eintragung eingegangen waren, bei Rechten,
deren Entstehung von der Eintragung ab-
hängig ist, über den schliesslichen Rang
nur das Datum der Eintragung entscheiden,
nicht dasjenige der Anmeldung ziu* Eintragung.
81*
1284
Hypotheken- und Gnmdbucliweseu
2. Das System der örtlichen Priorität,
auch Locnspriacip genannt. Nach ihm soll
sich die Rangordnung unter mehreren Rech-
ten an demselben Grundstück nach der ört-
lichen Reihenfolge der Eintragungen im
Buch richten. Prior loco, potior iure. Auf
diesem Standpunkt standen Preussen, die
Staaten, welche der preussischen Grundbuch-
gesetzgebung gefolgt sind, das Königreich
Sachsen, die beiden Mecklenburg, Hamburg
und Lübeck. Auch das Bürgerliche Gesetz-
buch nimmt diesen Standpunkt ein (§ 879).
Jedoch kann sich der Grundsatz nur be-
ziehen auf solche Rechte, die zu ihrer Ent-
stehung der Eintragung bedürfen. Werden
Rechte eingetragen, welche ausserhalb des
Buchs entstanden sind (z. B. §§ 1075 u. 1287
S. 2), so richtet sich der Rang dieser Rechte
lediglich nach der Zeit ihrer Entstehung.
Auch reicht der Grundsatz: prior loco po-
tior iure nur dann aus, wenn es sich um
Eintragungen derselben Abteilung des Grund-
buchs handelt. Wenn das Gnindbuch, wie
es auch in Bayern der Fall sein wii^d
(Justiz-Min., Bekanntmachung u. 12. Novem-
ber 1898),^ in der IH. Abteilung niu* die
Hypotheken und Gnindschulden und in der
II. Abteilung alle übrigen Rechte enthält,
so muss der Rang der Eintn^mgen ver-
schiedener Abteilimgen sich wiederum nach
dem Datum der Eintragungen richten. Da-
bei haben Rechte desselben Eintragungs-
datums gleichen Rang. Gesetzliche Rang-
privilegien erkennt das Bürgerliche Gesetz-
buch nur an für die Geldrente beim üeber-
bau und beim Notweg. Sie hat den Rang
vor allen Rechten am belasteten Grundstück
(§§ 914 Abs. 1 u. 916).
Diese gesetzliche Rangordnung unter 1 und
2 beruht auf ergänzenden Rechtssätzen. Es
ist also eine abweichende Bestimmung des
Rangverhältnisses möglich, welche aber nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch nur dann gilt,
wenn sie im Buche steht (§ 879 Abs. 3).
Diese abweichende Bestimmimg kann erfol-
gen entweder einseitig diu'ch den Gläubiger
oder durch Vertrag zweier Gläubiger, wo-
bei jedoch in beiden Fällen, wenn es sich
um das Zurücktreten einer Hypothek oder
Grundschuld handelt, auch der Grundstücks-
eigentümer wegen seiner Antwartschaft auf
die Eigentiimerhypothek oder Gnmdschuld
zustimmen muss (§ 880 Abs. 2 S. 2) , oder
endlich durch den Grundstückseigentümer.
1. Jeder Gläubiger kann jederzeit die
Rangordnung mehrerer, ihm unmittelbar
hintereinander zustehender Rechte ändern
lassen.
2. Mehrere Gläubiger können die Rang-
ändenmg der ihnen zustehenden Rechte ver-
einbai^en, indem der vorstehende Gläubiger
sein VoiTecht zu Gunsten eines gleich- oder
nachstehenden Gläubigere aufgiebt (soge-
nannte Prioritätscession § 880 Abs. 2). Durch
diese Prioritätscession erlangt der vortretende
Berechtigte kraft ihrer Eintragung im Buch
eine dinglich gesicherte Rechtsstellung, die
es ihm ermöglicht, an Stelle des Zurück-
tretenden Befriedigung zu verlangen. Da
es sich nicht um eine bloss obligatorische
Berechtigung handelt, so wirkt die Cession
auch im Konkurs des Grundstückeigentümers
und in der Zwangsversteigerung, indem das
vortretende Recht in das geringste Gebot
auf zimehmen ist , endlich • auch gegenüber
den Singularsuccessoren des zurücktretenden
Rechts. Aber diese Wirkung lässt die Rechte
der etwaigen Zwischenberechtigten durch-
aus unberührt Deren Rechte dürfen weder
verbessert noch verschlechtert werden. Darin
liegt einmal, dass der vortretende Berech-
tigte nur insoweit seine Befriedigung vor
den Zwischenberechtigten verlangen darf,
als der Zurücktretende es konnte, also nicht
in höherem Betrag, nicht, wenn das zurück-
getretene Recht aus anderen als rechts-
geschäftlichen Ursachen (z. B. Tod des
Niessbrauchers) erlischt, femer aber auch^
dass beim Wegfall des vortretenden Rechts
z. B. infolge Verzichts des Berechtigten, die
Zwischenberechtigten nicht aufrücken, son-
dern der Zurückgetretene seinen alten Rang
wieder erhält.
Die Prioritätscession ohne Eintragung
im Buch wirkt nur obligatorisch zwischen
den Kontrahenten und ihren Erben, nicht
für und gegen die beiderseitigen Singular-
successoren. Im Konkiffs des Grundstücks-
eigentümers und in der Zwangsversteigerung
liquidiert der Prioritätsceuent, gleich als ob
keine Cession stattgefunden liätte. Der Ces-
sionar kann jedoch kraft der Cession Aus-
antwortung der dem Cedenten zukommen-
den Beträge verlangen. Auch dem öster-
reichischen Recht ist die Prioritätscession
(sogenannte Prioritätsnachstehung) bekannt.
Ebenso kennt das französische Recht die
Yorrangseinräumung (sogenannte uneigent-
liche Subrogation).
3. Der Grundstückseigentümer kann,
wenn er die Eintragung eines Rechts auf
seinem Grundstück bewüligt, sich die Be-
fugnis vorbehalten, ein anderes, dem Um&nge
nach bestimmtes Recht mit dem Vorrang
vor dem bewilligten Recht später eintragen
zu lassen (§ 887). Dieser dem französischen
Recht unbekannte Rangvorbehalt ist seiner
Natur nach eine aus dem Eigentum flies-
sende Verfügungsberechtigung des Gnmd-
stückseigentümers. Daraus folgt, dass der
jeweilige Eigentümer sie ausüben kann.
Sie geht deswegen auf jeden Erwerber des
Grundstücks, auch auf den Ersteher in der
Zwangsversteigenmg über. Fällt anderer-
seits der Grundstückseigentümer vor Aus-
übung des Verfügungsrechts in Eonkurs,
Hypotheken- und Gi*Tindbuchwesen
1285
so kann nicht etwa der Konkursverwalter
den für das einzutragende Eecht vorbehal-
tenen Betrag zur Konkiu^masse ziehen,
sondern die bereits eingeti'agenen Rechte
erhalten ihre Befriedigung aus dem Erlös
des Grundstücks nach dem Gnmdsatz:
prior loco potior iure. Ebenso wenig kann
der Konkursverwalter seinerseits das Yer-
fügrmgsrecht des Grundstückseigentümers
ausüben und ein Recht mit dem vorbehal-
tenen Rang eintragen lassen. Eine Frist
fiir Ausübung des Vorbehalts wie nach
österreichischem Recht — 60 Tage seit
Eintragung des Vorbehalts — ist dem Grund-
stückseigentümer nicht gestellt. Er kann
also möglicherweise noch nach Jahren und
nach inzwischen erfolgter Einti-agung w^ei-
terer Rechte — Reallasten, Grundschulden,
Zwangshypotheken — seinen Vorbehalt aus-
üben. Damit nun durch derartige Zwischen-
eintragnngen, welche durch den Vorbehalt
gar nicht berührt werden, weil bei ihrer
Eintragung der Grundstückseigentümer den
Vorbehalt nicht wiederholt hatte imd viel-
leicht auch, wie bei Zwangshypotheken, gar
nicht wiederholen konnte, das Recht des
mit dem Vorbehalt belasteten Gläubigers
nicht beeinträchtigt werden, so wird dem
eingeräumten Vorrange die Wirkung insoweit
vei'sagt, als das mit dem Vorbehalt einge-
tragene Recht infolge der Zwischen eintragung
eine über den Umfang des Vorbehalts hin-
ausgehende Beeinti-ächtigung erleiden würde.
Hat sich also der Gnmdstückseigentümer
bei Bewilligung einer Hypothek von 5000
Mark an A den Vorrang für eine Hypothek
gleicher Höhe vorbehalten, und lässt er diese
letztere Hypothek für B erst eintragen,
nachdem eine Zwangshypothek von 2000
Mark für C eingetragen ist, sodass das
Grundstück jetzt mit im ganzen 12000 Mark
belastet ist, so wird, wenn der Subhasta-
tionserlös lOO(X) Mark beträgt, B an erster
Stelle 3000 Mark, C an zweiter Stelle
2000 Mark erhalten, an dritter Stelle kommt
A mit 5000 Mark und mit dem 2000 Mark
betragenden Rest seiner Hypothek fällt B
aus.
Der Rang vorbehält dient wirtschaftlich
dem Bedürfnis des Grundstückseigentümers,
sich eine noch zu vergebende Rangstelle zu
sichern, und dieses Bedürfnis tritt natur-
geraäss am meisten hervor, wenn es dem
Grundstückseigentfuner darum zu thun ist,
Geld auf sein Gnmdstück geliehen zu er-
halten. Dem gleichen Bedürfnis diente auch
die in Bayern und Mecklenburg anerkannt
gewesene sogenannte Offenhaltung der
Hypothekenstelle im Buch, welche aber
durch das Bürgerliche Gesetzbuch besei-
tigt ist und mit einer Aenderung der Rang-
ordnung nichts zu thun hat. Bei diesem
Institut hat der Grundstückseigentümer das
Recht, jede vakant gewoi'dene Hypotheken-
stelle vsdeder für sich zu verwerten, indem
er an Stelle der fortgefallenen Hypothek
wieder eine neue, gleich hohe eintragen
lassen darf. In Bayern stand jedoch dem
Grundstückseigentümer dieses Recht nur so
lange zu, als die erloschene Hypothek noch
nicht gelöscht war, und nur unter der Voraus-
setzung, dass die erloschene Hypothek rechts-
gütig entstanden war. Die Gesetzgebung
sieht bei dem Institut der Offenhaltung der
Stelle auf dem Standpunkt, dass der Er-
werber eines Rechts an fremdem Grund-
stück vor allem den Rang des zu erwer-
benden Rechts berücksichtigt und dem-
gemäss über eine feste Stelle im Buch als
selbständiges Wertobjekt kontrahiert. Bei
dieser Auffassung haftet die Hypothek nicht
am ganzen Grundstück, sondern an dem
durch die Stelle im Buch repräsentierten
Wertteile. Daraus folgt denn, dass der
nachstehende dinglich Berechtigte kein Recht
auf Aufrücken hat und also auch dadurch
keine Benachteiligimg erfährt, dass ihm eine
neue Berechtigung in Höhe der alten wie-
der vorgesetzt wird.
Das Institut der Offenlialtung der Stelle
ist im Bürgerlichen Gesetzbuch durch das
sogenannte Eigentümerpfandrecht ersetzt,
welches eine Errungenschaft des preussischen
Rechts ist, im Anhangsparagraph 52 zu § 484
Tit. 16 des preuss. A.L.R. und in der Dekla-
ration V. 8. April 1824 eingeführt wurde
und auch in die §§ 63—67 des Ges. v.
5. Mai 1872 überging. Das Bürgerliche
Gesetzbuch fasst dieses Eigentümerpfand-
recht als ein beschränktes dingliches Recht
an eigener Sache auf und giebt entweder
dem Grundstückseigentümer das Recht, das-
selbe von vornherein auf seinem Grundstück
eintragen zu lassen (§ 1163 Abs. 1 u. Abs. 2,
§ 1196) oder es gestattet, dass das ursprilng-
lich einem anderen zustehende Pfandrecht
auf den Grundstückseigentümer übergeht
(§§ 1143 S. 1 u. 1163 Abs. 1 S. 2, 1164
Abs. 1 S. 2 u. Abs. 2, 1168, 1170 Abs. 2,
1173 — 76). Der durch das Eigentümerpfand-
recht dem Grundstückseigentümer gewährte
Vorteü besteht darin, dass das \"orrücken
der nachstehenden Pfandrechte ausgeschlos-
sen wiifl und dass der Eigentümer sein
Pfandrecht entgeltlich oder unentgeltlich
abtreten kann, wodurch Zeit und Kosten
erspart w^erden, welche aufgewendet werden
müssten, wenn ein Pfandrecht neu begrün-
det Averden sollte. Das Eigentümerpfand-
reeht ist, wenn es sich auch in das Gewand
einer Hypothek kleiden sollte, seiner recht-
lichen Natur nach stets eine Grundschuld
an eigener Sache.
8. Die niateriellrechtlichen Voraus-
setzungen für die Begründung, Aen-
deining oder Aufhebung von Eigentum
1286
Hypotheken- und Gruudbucliwesen
oder dinglichen Gnmdstiicksrechten
durch £inti*agnng. Dieselben zu kennen
ist wichtig sowohl da, wo das System des
öffentlichen Glaubens, als da, wo das System
der formalen Eechtskraft der Eintragung
gilt. Denn nach dem erstoren System wirkt
die Ehitragung nur in Yerbindung mit diesen
Vomussetzimgen und auch nach dem letz-
teren giebt nur das Vorhandensein derselben
einen Anspruch auf Vornahme der Ein-
tragung. Für das Hypotheken- und Grund-
bucliwesen kommen nun aber in der
Hauptsache die materiellrechtlichen Voraus-
setzungen nur insoweit in Betracht, als das
Einti-agiuigsprincip durchgeführt ist, als also
der Satz gilt, dass ohne Eintrag'ung sich
weder die Entstehung noch die Aenderung
oder Endigung eines dinglichen Rechts voll-
zieht (vgl. oben sub 4, 2, A.). Nim gilt das-
selbe aber im französischen Recht gar nicht
und in Deutsclüand nm* für die Entstehung,
Endigung oder Aenderung von Eigentum oder
dinglichen Rechten durch rechtsgeschäftliche
Willenserklärung. Deshalb ist die Besclirän-
kung der Darstellung auf die in dieser Hin-
sicht ei-forderlichen Voraussetzungen gerecht-
fertigt. Dieselben haben im Bürgerlichen
Gesetzbuch eine gemeinsame Regelung er-
fahren, nach welclier folgendes gut:
1. Zur Uebertragung des Grundstücks-
eigentums, zur Begründung eines neuen,
zur Uebertragung oder Belastung eines
bereits vorhandenen Buchrechts und zur
Aenderung seines Inhalts durch Rechts-
geschäft bedarf es des sogenannten ding-
lichen Vertrags (§ 878 Abs. 1), d. h. der
abstrakten, auf Erzielung einer dinglichen
Rechtswirkung diu-ch Eintragung gerichteten
Willenseinigimg. Man kann diesen Konsens
und seine Erklärung auch materielles Kon-
sensprincip nennen. Weil der dingliche
Vertrag ein abstrakter Verti*ag ist, so tritt
der obligatorische Rechtsgrund, welcher zur
Eingehung des dinglichen Verti-ags be-
stimmte, nicht nur in diesem letzteren nicht
hervor, sondern die Nichtigkeit oder An-
fechtbarkeit des etwa zu Grunde liegenden
obligatorischen Vertrags hindert auch nicht
die Erreichung des durch dinglichen Vertrag
und Eintragung beabsichtigten Rechtseffekts,
wohl aber giebt die Nichtigkeit oder ei-folg-
reiehe Anfechtung des obligatorischen Ver-
trags dem Veräusserer und seinen Univereal-
successoren gegen den Erwerber und seine
üniversalsuccesoren eine Kondiktion des
begründeten oder übertragenen dinglichen
Rechts. Wenn also A sein Grundstück an
B verkaufen will, B erklärt aber in der
^leinung, es solle ihm geschenkt werden,
seinen Konsens zu der Offerte des A, so
kann B diese Aeceptationserkläning an-
fechten. Erfolgt vor der Anfechtung die
Eintragung des B auf Grund des weiter abge-
schlossenen dinglichen Vertrages, so wird B
Eigentümer des Giomdstücks. Wenn er jetzt
aber, von A auf Zahlimg des Kaufpreises
verklagt, den Kaufvertrag anficht so kann
nunmehr A das Grundstück von B imd
seinen üniversalsuccessoren kondicieren ( § 119
B.G.B.). Der dingliche Vertrag kann im
allgemeinen formlos geschlossen werden.
Nur der auf Grundstücksübereignung oder
auf Uebertragung eines Erbbaurechtß gerich-
tete dingliche Veiii'ag, die sogenannte Auf-
lassung, ebenso der auf Bestellung eines
Erbbaiu'echts gehende Vertrag muss vor
dem Grundbuchamt abgeschlossen werden
(§ 925 Abs. 1 u. §§ 1015 u. 1017). Immer-
hin ist der weder gerichtlich noch notariell
beurkundete etc. dingliche Vertrag nur als
gesetzlich resolutivbedingter giltig, unter
der Resolutivbedingung nänüich, dass keiner
der Kontrahenten. — nicht seine üniversal-
successoren oder gesetzlichen Vertreter —
vor der Eintragung zurücktreten sollte (§ 873
Abs. 2). Im allgemeinen ist es auch gleich-
giltig, ob der Abschluss des dinglichen Ver-
trags vor oder nach der Eintragung erfolgt,
indem z. B. der Grundstückseigentümer,
welcher dem B 50000 Mark Darlehen
schuldet und ihm HypothekenbesteUung auf
seinem Landgut X oder Y in Aussicht ge-
stellt hat, eine Hypothek für B auf seinem
Landgut X hat einüben lassen und nun
erst die Zustimmung des B zur Hypotheken-
besteUimg auf dem Landgut X erlangt. Die
Auflassung jedoch mid der auf Bestellung
eines Erbbaiu'echts gerichtete Veitrag muss
der Eintragung vorausgehen. Sie kann auch
nicht unter Bedingungen oder Zeitbestim-
mungen erfolgen, während im übrigen der
dingliche Vertrag sowohl Bedingungen als
Zeitbestimmungen verträgt (§ 925 Abs. 2).
Der dingliche Vertrag ist natürlich unwirk-
sam, wenn dem Veräusserer — und auch
die Belastung ist eine Veräussenmg — das
Eigentum des zu veräussernden Gnmdstücks
oder das zu übertragende oder zu ändernde
dingliche Recht nicht zusteht. Er wii-d je-
doch nachträglich wirksam, wenn der Ver-
äusserer etc. das Eigentum des Grundstücks
oder das den Gegenstand des dinglichen
Vertrags bildende Recht erwirbt (§ 185 Abs. 2).
Ist dieser Erwerb zur Zeit der Einti-agung
noch nicht erfolgt, so ist die Eintragiuig
unrichtig, steht aber gleichwohl unter dem
Schutz des öffentlichen Glaubens des Buclis.
Sie konvalesciert jedoch , sobald der Erwerb
erfolgt. Der dingliche Vertrag wiixl ersetzt
durch das rechtskräftige Urteil, welches den
ziu" Abgabe einer Eintragimgsbewilligung
Verpflichteten zur Abgabe dieser Willens-
erklärung verurteilt (§ 894 C.P.O.).
Das Erfoi-dernis des dinglichen Vertrags
genügt nicht bei Hypotheken, bei Pfand-
rechten an einem eingetiBgenen, besclu^änk-
Hypotheken- und Gnindbuchwesen
1287
teu dinglichen Recht und auch nicht bei
solchen Gnuidschulden , über welche ein
Grundschiüdbrief ausgestellt ist, um durch
die Einti-agung eine giltige Hypothek oder
Grundschuld zur Entstehung zu bringen.
Vielmehr ist wegen der accessorischen Natur
der Hyi)othek und des Pfandrechts an be-
schränkten dinglichen Rechten das weitere
Erfordernis emer zu sichernden Fordenipg
aufzustellen. Zwar kann die Forderung eine
zukünftige sein (§ 1113). Wenn aber die
Eoi-denmg nicht zur Entstehimg gelangt, so
steht die Hypothek dem Eigentümer zu, ist
also ihrer rechtlichen Natur nacli keine Hypo-
thek (vgl. oben sub 7 a. E.). Das Pfandrecht
an Rechten aber entsteht ohne die Fonlerung
niclit (§§ 1278 u. 1204). Bei Brief hypo-
theken und Briefgrundschulden bedarf es
zur Entstehung der Hypothek etc. noch derAus-
autwortung des Briefes an den Gläubiger,
sonst entsteht ebenfalls nur ein Eigentümer-
pfandi-echt (§§ 1117, 1163 Abs. 2 u. 1192).
In denjenigen Fällen endlich, in denen
es an der Person eines bestimmten Berech-
tigten fehlt, kann natürlich vom Abschhiss
eines dinglichen Vertrags nicht die Rede
sein. Dies trifft zu bei (ler Bestellung einer
Hypothek für die Forderung aus einer
Schuldverschreibung auf den Inhaber oder
einer Gnmdschuld für den Inhaber des
Grundschuldbriefes. Hier genügt die Er-
klänuig des Ginindstückseigentümers gegen-
über dem Grundbuchamt, dass er die Hypo-
thek oder Grundschuld bestelle (§§ il88
u. 1195).
Auch in Oesten-eich gilt der richtigen
Auffassung nach das materielle Konsens-
princip. Nur darüber bestehen Zweifel, ob
der von den Parteien vor dem Grundbuch-
richter gestellte Antrag auf Eintragimg einer
dinglichen Rechtsveränderung als dinglicher
Vertrag qualifiziert werden kann. So, wenn
z. B. auf Grund eines nichtigen Verpfän-
dungsvertrages der Gläubiger die Hypothek-
bestellung begehrt imd der Gnmdstücks-
eigentümer in Kenntnis der Sachlage zu-
stimmt. Allerdings soll nach § 16 Abs. 2 des
allgem. G.B.G. die Eintragungsbewilligung,
wenn es sich um Erwerbung oder Umände-
rung eines dinglichen Rechts handelt, auch
die Angabe eines »giltigen Rechtsgrundes«
enthalten, d. h. des obligatorischen, an sich
ziu" Vermittelung des Erwerbes geeigneten
Vertrages, welcher den Bestimmungsgrund
zum Abschluss des dinglichen Vertrages
bildet. Aber es ist nicht erforderlich, dass
dieser Vertrag in concreto reclitsbe-
ständig sei.
2. Zur Aufhebung eines Buchrechts be-
darf es des dinglichen Vertrages nicht.
Hier genügt die einseitige Erklärung des
Berechtigten (§ 875), welche entweder gegen-
über dem Gnmdbuchamt oder gegentil)er
demjenigen, zu dessen Gunsten das Recht
aufgehoben werden soll, z. B. bei Hypo-
theken gegenüber dem Gnmdeigentümer,
abgegeben weixlen kann. Jedoch ist der
Berechtigte an seine Erklärung nicht ge-
bunden, bis die Löschung im Buch erfolgt
ist, er raüsste denn diese Erklärung vor
dem Grund buchamt oder durch Aushändigung
einer rcclitsbeständigen, also in öffentlicher
oder öffentlich beglaubigter (§ 29 G.B.G.)
Urkunde enthaltenen Löschungsbewilligung
abgegeben haben (§ 875 Abs. 2). Der Er-
klärung des Berechtigten steht natürlich
seine rechtskräftige Verurteilung zur Er-
klärung gleich. Ist übrigens das zu löschende
Recht mit dem Recht eines Dritten belastet,
so bedarf es auch der gleichen Zustimmung
des Dritten und bei subjektiv dinglichen
Rechten (Grundgerechtigkeiten, Verkaufs-
recht, Reallast) sogar der Zustimmung der
Realgläubiger des herrschenden Grundstücks
(§ 87 Ü). Ueber diese Zustimmungserklänmg
gilt dasselbe wie über die Aufhebungser-
klärung des Berechtigten. Das Verhältnis
der A'ifhebungs- oder Zustimmungserklärung
zu ihrer obligatorischen Grundlage ist das-
selbe wie beim dinglichen Vertrag.
Nach den Gnmdsätzen des Österreichischen
Rechts bedarf es zur Aufhebung eines Buch-
rechts eines sogenannten Löschungstitels,
d. h. der Existenz derjenigen rechtlichen
Ereignisse, welche nach den Grundsätzen
des materiellen Rechts geeignet sind, ein
dingliches Recht zu zerstören, z. B. beim
Pfandrecht des Untergangs der versicherten
Fordenmg durch Zalüung, Erlass, Verjäh-
rung etc., und weiter der Feststellung dieser
rechtsaufhehenden Thatsachen in emer in-
tabulationsfähigen, d. h. entweder einer öffent-
lichen oder einer privaten, die Löschungs-
bewilligung des Buchberechtigten enthalten-
den, mit der gerichtlichen oder notariellen
Beglaubigung seiner Unterschrift versehenen
Löschungsurkunde.
3. Für die Fälle sowohl zu 1 als 2 gilt
der Grundsatz, dass mit Abgabe einer
bindenden Erklärung und Stellung des Ein-
tragungsantrags beim Grundbuchamt später
eintretende Verfügungsbeschränkungen des
Erklärenden, z. B. Konkurseröffnung über
sein Vermögen, einflusslos werden (§ 878).
Der Grund ist in dem Bestreben zu suchen,
das Publikum gegen aus Verzögerungen der
Grundbuchbehöroe in der Ausführung der
gestellten Anträge entspringende Nachteile
zu sichern.
9. Die Berichtigung des Baches.
Wenn nach den Ausftihnmgen oben sub 8
und 6 die Eintragung nur in Verbindung
mit den materieUrechtbchen Voraussetzungen
der Rechtsentstehung, Aenderung oder
Endigung wirkt, so kann infolge einer
trotz fehlender materiellrechtlicher Voraus-
1288
Hypotheken- und Gmndbuchwesen
Setzungen vorgenommenen Eintragung das
Grundbuch unrichtig sein und also nicht
den wahren Rechtszustand wiederspiegeln.
Zwar steht nach xinserem Grundbuchrecht
auch die xmrichtige Eintragung unter dem
Schutz des öffentlichen Glaubens des Buchs,
wird also als richtig fingiert zu Gunsten
redlicher Dritter, welche im Vertrauen auf
die Richtigkeit des Buclis Eigentum oder
dingliche Rechte an dem Grundbuchobjekt
erwarben, und auf diese Weise wird schliess-
lich die Differenz zwischen dem Recht und
dem buchmässigen Anschein bei den fol-
genden Eintragungen wieder beseitigt. Aber
diese Beseitigung geht auf Kosten dessen
vor sich, zu dessen Ungunsten die unrichtige
Eintragung gereichte, und diesem muss also
die Möglichkeit gegeben werden (§§ 894 bis
898 B.G.B.), auf Berichtigung des Buchs hin-
zuwirken, xim redlichen Dritten die Be-
rufung auf die Fiktion der Richtigkeit des
Buchs abzuschneiden. Unrichtig ist aber
das Buch auch dann, wenn es das materielle
Recht unvollständig wiedergiebt, weil ausser-
halb des Buchs entstandene, aber eintragungs-
fähige Rechte nicht eingetragen sind. Die
Berichtigung des Buchs bezweckt also ausser
der Richtigstellung oder Löschung unrichtiger
EintiTigungen auch die Vervollständigung des
Buchs. Der Berichtigungsanspruch geht gegen
den, w^elchem die unrichtigen oder unvoll-
ständigen Angaben des Buchs zum Vorteil
gereichen. Er muss, weil er ein Ausfluss
des dinglichen Rechts des Klagebereclitigten
ist, im Gerichtsstand der belegenen Sache
anhängig gemacht werden, wenn der Be-
richtigungsschuldner nicht gut'^'illig die Be-
richtigimg bewilligt. Weder der Klage noch
der Bewilligung bedarf es aber, wenn die
Unrichtigkeit durch öffentliche Urkunden
der Buchbehörde nachgewiesen wird (§§ 22
und 29 G.B.O.). Handelt es sich dabei um
die Eintragung als Eigentümer oder als Erb-
bauberechtigter, so gilt diese Vorschrift
wegen der Wichtigkeit dieser Rechte nicht.
Der Berichtigungsanspruch, welcher übrigens
unverjährbar ist, begründet ein Aussonde-
rungsrecht des Berechtigten im Konkurs
des Verpflichteten (§ 35 K.O.). Eintragungen
gesetzlich xmzulässigen Inhalts, z. B. einer
Emphyteuse oder eines vererblichen Niess-
brauchs, hat das Grundbuchamt von Amts
wegen zu löschen (§ 54 G.B.O.). Eine solche
Eintragimg ist zwar nichtig und steht auch
nicht unter dem öffentlichen Glauben des
Buchs, weil die gesetzliche Unzulässigkeit
jedermann bekannt sein muss. Doch soll
das Buch nicht mit bedeutungslosen Ein-
tragungen belastet sein.
Auch nach österreichischem Recht wirkt
die Einti*agung nur in Verbindung mit ihren
materiellrechtlichen Voraussetzungen. Fehlt
es an ihnen, so ist die Eintragimg unrichtig.
Und zwar ist sie nichtig, wenn ihr materieller
Rechtsgrund nichtig ist, also namentlich das
materielle Konsensprincip verletzt wurde;
anfechtbar aber, wenn der materielle Rechts-
grund anfechtbar ist. Nichtigkeit sowohl als
Anfechtbarkeit einer unrichtigen Eintragung
werden mit der sog. Löschungsklage geltend
gemacht. Dieselbe steht gegen den Nehmer
der unrichtigen Eintragung und seine Uni-
versaLsucoessoren so lange zu, als das Klage-
recht nach den Bestimmungen des materieDen
Rechts noch nicht verjährt ist (§ 62 a. G.B.G.).
Abgesehen hiervon erlangt die unrichtige
Eintragung auch dann Kraft, wenn jemand
im Vertrauen auf ihre Richtigkeit, also gut-
gläubig, eine weitere Eintragung nahm und
der durch die unrichtige Eintragung Be-
nachteiligte, obwohl er von ihrer gericht«-
seitigen Bewilligung amtlich benachrichtigt
wurde, es unterüess, innerhalb der gesetz-
lichen Frist (30 Tage, wenn die Zustellung
der Benachrichtigung innerhalb des (.")ber-
landesgerichtsbezirks, zu welchem das Grund-
buchamt gehört, 60 Tage, wenn sie ausser-
halb desselben erfolgte) Löschuiigsklage
wegen der unrichtigen Eintragung anzu-
stellen oder eine Anmerkung (Protestation)
gegen die unrichtige Eintiugung eintragen
zu lassen. Im letzteren Fall verlängert sich
die Frist für Anstellung der Löschungsklage
um weitere 60 Tage. Hatte dagegen die
Buchbehörde es unterlassen, den Benach-
teiligten davon zu benachrichtigen, dass die
Bewilligung der Eintragung seitens des
Grundbuchgerichts erfolgt sei, so steht dem
Benachteiligten innerhalb dreier Jalire vom
Tage des Antrags auf Vornahme der un-
richtigen Eintragung an gegen den gut-
gläubigen eingetragenen Dritten die l/>-
schungsklage zu (§§ 63 imd 64 a. G.B.G.l
Da nach französischem Recht zur Ent-
stehung eines Pfandrechts oder zum Er-
löschen desselben die Inskription gar nicht
erforderlich ist, so kann die Inscription nur
immer beurkundende Bedeutung haben und
es ist also infolge falscher Beurkundung
eine Differenz z>\'ischen dem wahren Rechts-
zustand imd der Beurkundung erst recht
möglich. Aber der Registerbeamte dai-f die
einmal vorgenommene Inskription nicht von
Amts wegen beseitigen, sondern nur mit
Be\\411igung dessen, auf dessen Namen sie
lautet, oder wenn derselbe zur Abgabe der
Bewilligung rechtskräftig verurteilt wimlo.
Gestützt ist diese Löschungsklage darauf,
dass die Inskription weder auf dem Ge.setz
noch einem Pfandrechtstitel beruht, weil
z. B. ein Chirographarier ohne rechtskräftiges
Urteil über seine Forderung die Inskription
erlialten hatte, ebenso aber auch darauf,
dass das Vorzugs- oder Unterpfandsrec^ht
aus irgend einem gesetzlichen Grunde er-
loschen ist. Von dieser Ausstit^ichung
Hypotheken- und Grundbuehwesen
1289
(radiation) der Inskriptionen ist aber wohl
zu unterscheiden die Verbesserung mangel-
hafter In- oder Transskriptionen. Die Mangel-
haftigkeit kann hier beruhen entweder auf
der Beschaffenheit des Bordereau bezw. des
zu überechreibenden Akts oder auf einem
Versehen des Registerbeamten. In dem
erstei-eu FaU erfolgt die ßerichtigimg auf
Gnmd eines eingereichten neuen Bordereau
oder einer neuen Vertragsurkunde, sobald
der In- OLlor Transskribierte es beantragt.
In dem letzteren Fall hat der Registerbeamte
entweder auf Antrag oder von Amts wegen
die Verbessenmg unter neuem Datxim und
neuer Ordnungszahl vorzunehmen. DieVer-
l»esseiiuig hat dann, soweit sie von der ur-
sprunglichen Eintragung abweicht^ nur von
dem Datum an Wirkung, unter dem sie vor-
genommen wim:le. Man denke z. B. daran,
dass eine zu niedrige Summe eingetragen
war. So behält die Summe der alten In-
skription ilu*en Rang. Der überschiessende
Betrag der neuen Inskription rangiert erst
nach dem Datum der letzteren. Das Be-
diirfnis einer Ausstreichung oder Berichtigung
ist axich nach französischem Recht vorhanden.
So erhält z. B. der Grundeigentümer, wenn
erloschene Untei'pfandsrechte noch auf seinem
Grundstück eingetragen stehen, schwerer
weiteren Kredit gewährt und er findet auch
schwerer einen Käufer für sein Grundstück.
Aber auch der Unterpfandgläubiger, dessen
Fordenmg zu niedrig eingeti-agen war, hat
ein Interesse an der Berichtigung, weil er
mit der nicht eingetragenen Summe erst
nac!h allen eingetragenen Pfandrechten ran-
gieren würde.
10. Die Buchbehörden. Ob man die
Grund- und Hypotliekenbuchgeschäf te richter-
lichen oder nichtrichterlichen Beamten über-
tragen solle, darüber haben schon seit langer
Zeit Zweifel geherrscht. Kein Geringerer
als Mittermaier hat sich dafür ausgesprochen,
das Hypothekenwesen den Gerichten abzu-
nehmen \md den Gemeindebehöi-den zu
übertragen. Denn die Gemeinde habe das
nächste Interesse an den Grundeigentums-
verhältnissen ihrer Mitglieder, weil vielfach
das Gemeindesiimmrecht mit dem Grund
und Boden verknüpft sei, die Gemeindeab-
gaben vielfach auf dem Grundeigentum
ruhten und die Gemeindebeamten am
leichtesten eine erschöpfende Kenntnis der
lokalen Verhältnisse sich verschaffen könnten.
In der That finden sich bis auf den heutigen
Tag in mehreren deutschen Staaten Ge-
meindebeamte als Buchbehörden. So in
Württemberg und Baden die Gemeinderäte,
in Baden ausserdem für die der Städteord-
nung vom 24. Juni 1874 unterstehenden
Städte die vom Stadtrate aus der Zalü der
zum Richteramt oder Notariatsdienst be-
fähigten Personen ernannten besonderen
Grund- und Pfandbuchsführer (Ges. v. 24.
Juni 1874, neue Fassung im Ges. v. 1. Febniar
1888), in Mec-klenburg die Stadtmagistrats-
oder besondei-e Kommunalhypothekenbe-
hörden. Der Gemeinderat, welcher in Würt-
temberg xmd Baden aus 6 — 24 Mitgliedern,
je nach der Grösse der Gemeinden besteht,
kann die Buchgeschäfte einer Abteilung
übertragen. Aktuar der Unter pfandsbehörde
ist der Ratsschreiber. Doch kann, wenn
derselbe zur Fühniug der Bücher nicht
befähigt ist und auch kein anderes Gemeinde-
ratsmitglied die Fähigkeit dazu besitzt, der
Gemeinderat einen eigenen Pfandhilfsbeamten
anstellen. Der Ratsschreiber oder Pfand-
hilf sbeamte ist der eigentliche Führer der
Buchgeschäfte und als solcher sogar zur
Prüfung, eventuell Berichtigung der in
seiner Abwesenheit gepflogenen Verhand-
lungen der üntei'pfandsbehörde befugt, vor-
behaltlich der Entscheidung des Amts-
gerichts.
Auch in den hessischen Provinzen
Starkenburg und Oberhessen hat der Orts-
vorsteher in Verbindung mit den Gerichts-
männern (Ortsgericht) die Bücher zu führen.
Einen gänzlich abweichenden Standpunkt
nimmt Frankreich ein. Dort ist die Führung
der Trans- und Inskriptionaregister einer
Finanzbehörde, der regie nationale de
lenr^gistrement übertragen, weil die Ge-
bühren für die Einregistrierung d. h. Ein-
tragung und Vormerkung der Urkunden in
den öffentlichen Büchern eine der Haupt-
einnalimen des französischen Staates sind.
Diese Finanzbehörde bestellt in den ein-
zeljienBezirken die Enregistrementseinnehmer
als llypothekenbe wahrer — conservateiurs
des hypothe<|ues. Gegen diese Einrichtung
spricht vor allem, dass sie die juristische
Seite der Sache zu wenig wüi'digt, was aucli
darin sich zeigt, dass die Hypothekenbe-
wahrer der obersten Finanzbehörde, nicht
einer Justizbehörde, unterstellt sind. Der
Finanzpunkt überwiegt.
Diese Einrichtung, welche auch in Elsass-
Lothringen zur Zeit noch gilt hatte in die
baverische Pfalz und Rhein hessen ihren
Einzug gehalten. Aber sie hat dort bald
Veränderungen erfaliren. So hat zwar in
Rhein hessen auch heute noch der Steuer-
kommissar die Einschreibungen im Grund-
buch zu besorgen. Doch bildet die Grund-
lage seiner Thätigkeit das von den Amtsge-
richten zu führende Mutationsverzeichnis,
welches die Eigentumswechsel angiebt. Die
Hypothekenbüeher aber sind sowohl in
Rheinhessen als der bayerischen Pfalz selb-
ständigen Hypothekenämtem anvertraut.
Solche sind auch in Hamburg und Lübeck
eingerichtet.
Ein Hypothekenamt ist nicht notwendig
eine richterliche Behörde, obwohl seine Mit-
1290
Hypotheken- und Grundbuch wesen
glieder wenigstens zum Teil rechtsgelelirte
Vorbildung haben müssen. In Hamburg
z. B. ist ein Senatsmitglied Vorstand des
Hypothekenamtes und ein zweites Senats-
mitglied Stellvertreter des Vorstandes. Da-
gegen liegt die Geschäftsführung in den
zum H\7)othekenamt gehörigen Hypotheken-
bureaiis rechtsgelehi-ten Oberbeamten mit
den ihnen zugeordneten ünterbeamten ob.
Gegen die Uebertragung der Buchge-
schäfte an Gemeindebearate spricht mancher-
lei. Vor allen Dingen geht ihnen die er-
forderliche Rechtskenntnis ab. Weiter sind
sie bei der zeitlichen Begrenzung der Dauer
ihrer Amtsführung gar nicht in der Lage,
sich die nötige Geschäftsgewandtheit zu er-
werben. Endlich erscheint es nicht ausge-
schlossen, ein Gemeindebeamter werde sich
bei Wahrnehmung der Buchgeschäfte durch
allerhand Nebenrücksichten bestimmen lassen.
Andererseits sind die Klagen, welche sich
gelegentlich der Handhabung des Buch-
wesens durch richterliche Behörden erhoben
haben, nur insoweit gerechtfertigt, als sie
gegen die Organisation dieser Behörden sich
richteten. Denn wenn man gemeint hat,
die Verwaltung des Hypotheken wesens habe
mit dem eigentlichen Beruf des Richters,
mit der Entscheidung von Rechtsstreitig-
keiten nichts zu thun und könne also dem
Richter keine innere Befriedigung gewäliren,
so darf doch nicht vergessen weitlen, dass
die Grund- und Hypothekengeschäfte Akte
der freiwilligen Gerichtsbarkeit und als
solche ebenfalls der konkreten Privatrechts-
ordnung zu dienen bestimmt sind. Dazu
kommt, dass auch die Buchbehörde sich
über Rechtsfi-agen schlüssig zu machen hat,
so bei der Prüfung der Legitimation und
Handlungsfähigkeit des Antragstellers, bei
der Prüfimg der Frage, ob der Anti-ag einen
ziu* Eintragimg geeigneten Inhalt hat etc.
Deshalb rechtfertigt sich die üebertragimg
der Buchgeschäfte an richterliche Behörden.
Andererseits dürfen aber dieselben keine
Kollegialbehörden sein, weil nach der Natur
der Sache eine kollegiaüsche Geschäftsbe-
handlung immer schwerfälliger sein wird
als die Arbeit eines einzelnen Beamten und
die von den Buchbehörden zu erledigenden
Rechtsfragen nicht so sehr bedeutungsvoll
sind, dass sie eine kollegialische Beliandlung
erforderten. Es ist deshalb gerechtfertigt,
Einzelrichter mit der Wahrnehmung der
Buchgeschäfte zu betrauen. Denn abgesehen
von der Mögliclikeit schneller bui'eaumässiger
Geschäftsbeliandluug gewährt diese Ein-
richtung die Gai'antie der Unabhängigkeit
der Richter gegenüber dem Publikum und
einer gehörigen Dienstaufsicht durch die
vorgesetzten Justizbehörden. So erklärt es
sich, dass jetzt fast durchgängig in den ein-
zelnen deutschen Staaten (Pi^ussen, Bayern
in den Landesteilen rechts des Rheins.
vSachsen, Oldenburg, Fürstentum Lübeck,
Braunschweig, Meiuingen, Altenburg, Cobm-g-
Gotha, Anhalt, Rudolstaidt, Sondersliausen,
Waldeck, Reuss, Lippe, Weimar) die Buch-
geschäfte den Amtsgerichten, denen auch
im übrigen die Geschäfte der freiwilligen
Gerichtsbarkeit anvertraut sind, obliegen.
Gleich wolü liat die Reichsgrundbuchordnung
sieh gescheut, die Grundbuchgeschäfte den
Amtsgerichten zu übertragen. Sie begnügt
sich vielmehr damit, der von der Landes-
gesetzgebung mit der Führung der Buch-
geschäfte zu betrauenden Behöitie den
Namen »Grundbuchamt« zu verleihen (§ 1
Abs. 1). Die Organisation der Grundbuch-
ämter ist also ganz der Landesgesetzgebung
anheim gegeben. Wie diese Organisation
ausfallen wird, ob namentlich diejenigen
Staaten, welche bisher die Grund buchge-
schäfte nichtrichterlichen Beamten anver-
traut haben, in Zukunft etwa ebenfalls den
Amtsgerichten diese Geschäfte übertragen
wei^den, lässt sich zur Zeit noch nicht
übersehen. Jedenfalls aber ist nicht zu er-
warten, dass umgekelirt Staaten, welche
bisher diese Gescliäfte in die Hände des
Richters gelegt hatten, dav(m zurückkommen
sollten.
Wähi'end danach also die Oi'ganisation
der für Grundbuchsachen in erster Instanz
zuständigen Behörden sich vei-^chieden ge-
stalten kann, hat die Reichsgiimdbuchorcl-
nung den Beschwerdezug gegen Verfügimgen
der Grundbuchämter im wesentlichen ein-
heitlich geregelt. In denjenigen Staaten,
welche die Führung der Gnmdbücher nicht
den Amtsgerichten anvertrauen werden,
kann allerdings durch Landesgesetz bestimmt
werden, dass zunächst die Abänderung der
Entscheidung des Grundbuchamts beim Ämts-
gericht nachzusuchen ist. Dessen Ent-
scheidung ist aber mit der Beschwerde an-
greifbar, welche an das übergeordnete
Landgericht geht. In den anderen Staaten
aber geht die Beschw^ei-de gegen die Ent-
scheidung des Grundbuchamts sofort an das
übergeordnete Landgericht. Die Entscthoi-
dungen endlich, welche ein Landgericht als
Beschw^erdegericht fällt, können mit der
weiteren Beschwerde beim übergeordneten
Oberlandesgericht angefochten werden. Dabei
ist die Landesgesetzgebung ermächtigt, eines
von mehreren Oberlandesgerichten oder dfu>
oberste Landesgericht als Gericht der weiteren
Beschwerde zu bestellen. In Preussen ist
bereits das Kammergericht zu Berhn mit
der Entscheidung der weiteren Beschwerde
gegen Entscheidimgen der Landgerichte be-
traut, in Biiuern w^ird das oberste Landes-
gericht in München mit dieser Entscheidung
beti^aut wei'den. Da aber die Einheillicli-
keit der Rechtsprechung in Gnmdbuchsachen
Hypotheken- und Grrundbuchwesen
1291
durcli diese Einrichtungen noch nicht gewähr-
leistet ist, bestimmt die Grundbuchord-
uung weiter, dass ausnahmsweise das Reichs-
gericht an Stelle des zuständigen Ober-
landesgerichts oder obersten Lanclesgerichts
über die weitere Beschwerde gegen eine
land gerichtliche Entscheidung befinden soll,
dann nämlich, wenn das zuständige Ober-
landesgericht oder oberste Landesgericht bei
Auslegung einer reiclisgesetzlichen, grund-
buchrechtlichen Vorschrift von einer auf
weitere Beschwenle in anderer Sache bereits
ergangenen Entscheidung eines Oberlandes-
gerichts oder von einer Entscheidung des
Reichsgerichts bezüglich der gleichen Rechts-
frage abweichen will (§§ 71, 72, 100 sowie
78, 79 und 102 G.B.O.).
In Oesterreich steht die Verwaltung der
Buchgeschäfte ausschliesslich den Gerichten
zu, welche mit Rücksicht auf diese ihre
Funktion Tabular- oder Grundbuchsge-
richte heissen. Doch sind diese Gerichte
bald Kollegial-, bald Einzelgerichte. Vor
Kpllegialgerichte (Gerichtshöfe ei-ster In-
stanz, Ländsgerichte) gehören die lehntäf-
lichen Güter, die land täf liehen Güter und
die eliemals vStändischen Güter je eines
Kronlandes, die Güter im Umkreis der
Städte, in denen sich ein Gerichtshof erster
Instanz befindet, die Bergwerke und die
Eisen bahngnuidstücke. Vor die Einzelge-
richte (Bezirksgerichte) gehören alle übrigen
Grundstücke. Der Rekurs geht an den dem
angegi'iffenen Gericht übergeordneten Ge-
richtshof zw^eiter Instanz und bei abweichen-
den Entscheid (uigen beider unteren Instanzen
von da an den obersten Gerichtshof.
Die Xaphtabücher sind bald von den
Kollegialgerichten, bald von den Bezirksge-
richten zu fülirea, je nachdem das Grund-
stück, von welchem Naphtafelder abgetrennt
werden, ein landtäfliches oder ein nichtland-
täfliches Grundstück ist.
Bei jeder Buchbehörde funktionieren
meist Unterbeamte, doch hängt auch dies
von den Bestimmungen der Landesgesetze
ab. AVo Gerichtsbehörden das Grundbuch-
amt bii<len, da wiixl der Gerichtsschreiber
nat\u-gemäss als ünterbeamter in Grundbuch-
sachen zu funktionieren haben. Die Thätig-
keit des Oberbeamten umfasst namentlich
die Aufnahme von Anträgen auf Eintragun-
gen sowie solche Akte der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit, aus welchen Eintragungen
hervorgehen, z. B. Aufnalime von Auflassungs-
erklänmgen, ferner aber auch die Beurkim-
dung des Zeitpunktes, in welchem ein An-
trag beim Gnmdbuchamt eingeht (sogenannte
Prä^^entation) und die Verfügimgen auf die
gestellten Anträge. In den Händen des
Unterbeamten aber liegt meist ebenfalls die
Präsentationsbefugnis sowie die Aufnahme
des Pretokolls über die Einlegung einer Be-
schwerde oder weiteren Beschwerde, weiter
die Bureau verwaltimg (Eintragung der das-
selbe Grundstück betreffenden Eingaben in
einem Verzeichnis, Zusammenfassen dei-sel-
ben zu besonderen Grimdakten über jedes
selbständige Gnmdbuchobjekt, Führung eines
Tagebuchs über die bewirkten Eintrag-ungen
und die Uebertragung der von dem Grund-
buchrichter entworfenen Eintragungsver-
merke in die Grimdbücher).
Die örtliche Zuständigkeit einer Buch-
behörde, deren Bestimmung in Deutschland
Sache der Landesgesetzgebungen bleibt,
wird meistens die in ihrem Bezirk gelege-
nen Grundstücke imd die ihnen gesetzlich
gleichgestellten Gegenstände umfassen. Doch
kann durch landesherrliche Verordnung be-
stimmt werden, dass für gewisse Gattungen
von Grimdstücken besondere, nicht für Be-
zii'ke eingerichtete Gnmdbücher gefülu't
werden (§ 85 G.B.O.). Derartige Einrichtun-
gen bestehen zum Teil schon. So sind im
Königreich Sachsen die Amtsgerichte Dres-
den und Bautzen für alle den vormaligen
Appellationsgerichteu Dresden und Bautzen
zugewiesen gewesenen Lehn- und Fidei-
kommissgrundstücke zuständig, also weit
über ihren Bezirk hinaus (§ 14 des säclis.
Ausführungsg. zum G.V.G. v. 1. März 1879).
Auch nach Ai-t. 7 des bayerischen Aus-
führungsgesetzes zur Deutschen G.B.O. kann
die Führung des Grundbuchs über Berg-
werke für melirere Amtsgerichtsbezirke
einem Amtsgericht übertragen werden. —
Liegt ein Grundstück in den Bezirken
mehrerer Buchbehörden, so ist nach franzö-
sischem Recht jede Behörde uui* für den
in ihrem Bezii-k gelegenen Teil zuständig,
während nach anderen Rechten z. B. in
Bayern das zuständige Grundbuchamt durch
das im Instanzenzug zunächst höhere Ge-
richt bestimmt vdrä. Aehnlich liegt die
Sache auch in Preussen.
Welche Folgen eine Verletzung der ört-
lichen Zuständigkeit fih* die Giltigkeil des
Buchaktes hat, ob also auch die von einer
unzuständigen Buchbehörde vorgenommenen
Akte giltig sind oder nichtig, darüber felüt
es an jeder reichsgesetzlichen Norm. Doch
bestimmt das Reichsgesetz vom 17. Mai 1898
über die Angelegenheiten der freiwillig*en
Gerichtsbarkeit (§ 7), dass eine Verletzung
der örtlichen Zuständigkeit durch das Ge-
richt keine Unwirksamkeit der gerichtlichen
Handlung nach sich ziehen soU. Da die
Gnindbuchgeschäfte ihrer Natur nach der
freiwilligen Gerichtsbarkeit angehören, so
wird man diese Vorschrift auch bei Verlet-
zung der örtlichen Zuständigkeit eines
Grundbuchgerichts anzuwenden haben. Doch
haben einzelne Ausführungsgesetze zur
Grundbuchordntmg, z. B. Bayern Art. 8, dies
noch ausdrücklich vorgeschrieben.
1292
Hypotheken- und Grundbuchwesen
Sollte danach aber auch im einzelnen
Falle die sachliche oder örtliche Zuständig-
keit einer Buchbehörde begründet sein, so
fi-agt es sich, ob nicht gleichwohl die Be-
höi-de aus Gründen, die in den Beziehimgen
ihrer Mitglieder zu den Interessenten liegen
— nahe Verwandtschaft, Schwägerschaft,
Ehe zwischen dem Buchbeamten und der
Interessentin, eigene Beteiligimg des Buch-
beamten an der Sache als Mitberechtigter
oder Mitverpflichteter etc. — , ihre Thätig-
keit im einzelnen Falle ablehnen muss.
Die Grundbuchordnung regelt auch diese
Frage nicht Nach dem Gesetz über die
freiwillige Gerichtsbarkeit (§ 6) ist sie zu
bejahen. (Vgl. auch Art. 8 des bayerischen
Ausführungsgesetzes.) Immerhin schliesst
§ 10 der G.B.O. die Anfechtung einer Ein-
tragung aus dem Grunde, weil der Grund-
buchbeamte, welcher sie vornahm, abgelehnt
oder kraft (Gesetzes ausgeschlossen war, im
Interesse der Sicherheit des Grundbuchver-
kehrs aus.
11. Das Verfahren der Buchbehörden.
Da die Geschäfte der Buchbehörden gröss-
tenteils dem Gebiet der freiwilligen Ge-
richtsbai'keit angehören und Privatreclite
zum Inhalt haben, so tritt die Thätigkeit
dieser Behörden regelmässig mir auf Antrag
ein, — ein Grundsatz, der ül)eraU anerkannt
ist und naturgemäss da die weiteste An-
wendung erfährt, wo das Eintragungsprincip
am striktesten durchgefülu^t ist. Ausnahmen,
in denen die Behörde von Amts wegen
vorzugehen hat, kommen vor. (§§ 7 Abs. 1
S. 2, 8 Abs. 2, 23, Satz 1 a. E., 52, 53, 54
und 76 Abs. 2) und oben.
Der Antrag hat entweder von einer Be-
hörde auszugehen, die nach gesetzlicher
Vorschrift befugt ist, das Grundbuchamt um
eine Eintragung zu ersuchen (§ 39 G.B.O.),
z. B. dem Prozessgericht behufs Eintragung
einer Vormerkung, der Auseinandersetzungs-
behörde behufs Herbeifühnmg der üeber-
einstimmung des Buchs mit den von ihr
bestätigten Separationsrecessen, oder, was
die Regel bildet, von einem der unmittelbar
beteiligten Privatiiiteressonten, sei es nun
demjenigen, welcher durch die Eintragung
gewinnen soll (Aktivinteressent), sei es dem-
jenigen, welchem die Eintragung zum Nach-
teil gereichen soll (Passiv Interessent). Han-
delt es sich z. B. um Eintragung einer
Hypothek, so ist Aktivinteressent der Gläu-
biger, Passivinteressent der Grundstücks-
eigontümer. Handelt es sich um Belastung
eines Erbbaiu'echts , so ist Aktivinteressent
derjenige, dem das dingliche Recht am
Erbbaurecht zustehen soll, Passivini eressent
der Erbbauberechtigte. Handelt es sich um
Löschung dieser Belastung, so ist I*assiv-
interessent der Inhaber des auf lastenden
Rechts, Aktivinteressent der Erbbaul>erecli-
tigte etc.
Ausnahmsweise sind auch niu* uiittelW
Beteiligte antragsberechtigt. So kann z. B.
die Berichtigung des (jrundbuchs durch
Eintragung des nach §§ 894 und 895 B.G.B.
zur Berichtigung Berechtigten auch von dem-
jenigen beantiTigt werden, welcher a«f
Grund eines gegen den Berechtigten voll-
streckbaren Titels eine Eintragung in das
Grundbuch verlangen könnte. Wenn also
z. B. an Stelle des Erben A axif Grund ire-
fälschten Erbenlegitimationsattestes der B
als Grundstückseigenttimer eingetragen steht,
so ist A zu dem Verlangen auf Berichti-
gung des Buchs berechtigt. Ist aber A dem
C rechtskräftig zur Bestellung einer Hyu^)-
thek auf dem fi'aglichen Grundstück verur-
teilt, so kann nach VoUstreckbarkeitserklä-
rimg dieses Urteils auch der C die B(^
richtigung verlangen (§§ 14 und 4U Abs. 1
G.B.O.).
Der Antragsteller hat sich natüi-lich zu-
nächst zu legitimieren, dann aber auch seinen
Antrag zu begründen. Was jedoch zm* Be-
gründung gehört, das ist — von dem Inhalte
der beantragten Eintragung ganz abgesehnii
— verscJiieden, je nachdem im Bezirk der
Buchbehörde Legalitätsprincip oder Konsen^-
princip gilt.
Das Legalitätsprincip bildet eine n«»t-
wendige Ergänzung des Princij)« <ler for-
malen Rechtskraft der Eintragungen (vd.
oben S. 1279/80). Denn wenn nach dem
letzteren Princip die Eintragimg diuvh
sich selbst, losgelöst von allen materiell-
rechtlichen Voraussetzungen das beiurkund^^te
Recht wirken soll, so darf sie nicht eher
vorgenommen werden, als bis ihre Legalität
ausser allem Zweifel steht. Deslmlb findet
sich mit dem Princip der formalen Rechts-
kraft das Legalitätsprincip verbunden, tl. 1l
der Grundsatz, dass der Antragsteller ein»^r
Eintragung das Vorliandensein aller nach
bürgerlichem Recht erforderten Voraus
Setzungen der Rechtsentstehung, Aendenmi:
oder Endigung der Buchbehönie nachweisen
muss, insonderheit auch die Giltigkeit d»*>
zu dem Antrage führenden obligatorischen
Geschäfts und beim Antrag auf Eintragim.'
einer Hypothek wegen deren access«>rischen
Charakters auch die Giltigkeit der Fordeninj:,
zu deren Sicherung die Hypothek diener.
soll.
Gilt andererseits materielles Kons^^n^
princip, so genügt es, wenn das Vorhanden-
sein des beiderseitigen Konsenses vt.m
Aktiv- und Passivinteressent über die Rechts-
entstehung, Aenderung oder Endigung. derec
Eintragung beantragt wird, naehgewieseti
ist, imter eventueller Supplierung des K-l-
senses des Passivinteressenten durch ein
denselben zur Abgabe der Eintraguop^l'^^
Hjrpotheken- und Grnindbuchwesen
1293
willigung venirteilendes , mit Rechtskrafts-
attest vereehenes Erkenntnis. Aber die
deutsche Grundbuchordnung thut im An-
schluss an das preussische Kecht noch einen
weiteren Schritt im Interesse der Erleichte-
rung des Grund buch Verkehrs. Denn obwohl
nach den Bestimmungen des Bürgerlichen
Gesetzbuchs ohne Einhaltung des materiellen
Konsenses der dingliche Rechtseffekt durch
die Eintragung der Rechtsentstehung oder
Aenderung nicht begi-ündet wird (§ 873),
so lässt die Grundbuchordnung dennoch
zum Teil die Eintragung zu, wenn nur der
Passivinteressent in dieselbe eingewilligt hat
(formelles Konsensprincip). Es wird näm-
lich vor dem Grundbuchamt der Nachweis
der beiderseitigen Einigung vom Aktiv- und
Passivinteressent nur verlangt hinsichtlich
der Yeräusserung des Grundstückseigentums
so'^Ä'ie der Begründung und Yeräusserung
eines Erbbaurechts (vgl. oben sub 8, 1 und § 20
G.B.O., §§ 925 und 1015 B.G.B.). Abge-
sehen hiervon erfolgt die Eintragung auf
Antrag des Aktiv- oder Passivinteressenten,
wenn letzterer sie bewilligt. Stellt er den
Antrag in gehörig beglaubigter Form,
so liegt darin seine Bewilligung. Han-
delt es sich um Löschung einer Hypo-
thek oder Grundschuld, so ist wegen seiner
Anwartschaft auf die Eigentümerhypothek
auch der Grundstückseigentümer Passiv-
interessent. Ebenso ist, wenn ein auf
einer Hypothek oder Grundschuld belasten-
des Recht gelöscht werden soll, die Ein-
willigung des Hypotheken- oder Grund-
schuldgläubigers erfordert (§ 27 G.B.O.).
Der Einteagungsantrag kann formlos ge-
stellt wei-den; die Eintragungsbewilligung
dagegen muss entweder mündlich zu Proto-
koll des Grundbucliamts erklärt oder durch
öffentliche oder öffentlich beglaubigte Ur-
kunden nachgewiesen werden.
Auch soll die beantragte Eintragimg nur
dann orfolgen, wenn der sie Bewilligende
im Grundbuch als Berechtigter eingetragen
ist (§ 40 Abs. 1). Dem Grundbuchamt wird
dadurch die Prüfung, wer der Passivinte-
ressent sei, sehr erleichtert. Erfolgt aber
die Eintragung, obwohl der Passivinteressent
nicht eingetragen war, so ist sie nicht um
deswillen unwirksam, weil der sie bewilli-
gende Passivinteressent nicht im Grundbuch
stand. (Ausnahme von dem Erfordernis
des Eingetragenseins des Passivinteressenten :
§§ 40 Abs. 2 und 41 G.B.O.) Ausnahms-
weise bedarf es der Eintragimgsbewilligung
seitens des Passivinteressenten überhaupt
nicht und ebensowenig eines sie ersetzenden
rechtskräftigen Urteils. Dies gut nament-
lich für die Eintragung sogenannter Zwangs-
hypotheken und für alle Eintragungen auf
Gnmd des gesetzmässigen Ersuchens einer
Behörde, z. B. der Eintragung des Konkurs-
eröffnungsvermerks über das Vermögen eines
Buchberechtigten auf Ersuchen des Konkurs-
gerichts (§ 113 K.O.) oder des Subhastations-
einschreibungsvermerks auf dem Grundbuch-
blatt des zu subhastierenden Grundstücks
auf Ersuchen des Subhastationsrichters (§ 19
Z.Y.O.).
Der Eintragungsanti'ag setzt das Ver-
fahren in Grang, ähnlich wie die Klage den
Rechtsstreit. Das Verfahren selbst ist aber
kein Streitverfahren. Deshalb kann auch
der Antrag keine Obligation für den Antrag-
steller oder den Gegeninteressenten begi'ün-
den, ähnlich der Prozessobligation, woraus
sich ergiebt, dass der Antragsteller trotz
Widerspruchs der Gegeninteressenten seinen
Antrag noch so lange in öffentlich beglaxi-
bigter Form (§ 32) zurücknehmen kann, als
die Eintragimg nicht thatsächlich erfolgte.
Dasselbe ^t von der Eintragungsbewilligung.
Für die Thätigkeit des Grundbuchamts ist
es dabei ganz gleichgiltig, ob in der Zurück-
nahme des Antrags oder der Bewilligung
eine materiellrechtliche Widerrechtlichkeit
liegt oder nicht. Vielleicht hatte der Passiv-
interessent sich dem Aktivinteressenten auch
zur Stellung des Antrags verpflichtet. Wenn
es hier der Aktivinteressent nicht vorzieht,
den Antrag selbst zu stellen, so kann er
nur vor dem Pi-ozessgericht den Passivinte-
ressenten auf erneute Antragstellung verkla-
gen. Ebenso liegt der Fall, wenn der Grund-
stückseigentümer, welcher sich seinem Gläu-
biger zur Hypothekenstellung verpflichtet
hatte, die abgegebene Eintragungsbewilligung
widerruft. Der Tod des AntragsteUers oder
des Passivinteressenten, welcher die Eintra-
gimgsbewilligung bereits erklärte, hindert an
sich die Eintragung nicht. War jedoch
Antrag oder Bewilligung auf ein unvererb-
liches Recht gerichtet so liat die Eintragung
zu unterbleiben, wenn der Behörde der Tod
des Berechtigten nachgewiesen wird (vgl.
auch § 23 Abs. 2 G.B.O.).
Wenn ein Antrag bei der Buchbehörde
eingeht, so ist vor allem der Zeitpunkt des
Eingangs genau zu bemerken. Denn die
Buchbehörde hat die Anträge nach der zeit-
lichen Reihenfolge, in welcher sie eingingen,
zu erledigen und macht sich regresspüichtig,
wenn sie durch ein hierbei untergelaufenes
Versehen Schaden verursacht. Bei ilu*er
Erledigmig hat die Behörde von Amts wegen
zu prüfen: ihre eigene Zuständigkeit, ob
die Anti'äge erlaubten Inhalts sind, ob die
Eintragungsbewilligung 'formgerecht erteilt
ist, Handlungsfähigkeit und Verfügungsrecht
des Antragstellers und des Einwilligenden.
Ob das materielle Konsensprincip gewahrt
sei, geht die Grundbuchbehörde regelmässig
nichts an. Ausnahmen: § 20 G.B.O. vgl.
auch Art. 143 E.G. z. B.G.B.). Dabei darf
das Grundbuchamt die Voraussetzungen
1294
Hj'potheken- und Gnmdbuchwesen
einer Eintragung nur dann für vorhanden
annehmen, wenn sie entweder bei ihm
offenkundig oder durch öffentliche Urkunden
nachgewiesen sind (§ 29 G.B.O.). Findet
die Buchbehörde Anstände, so muss je nach
ihrer Bedeutimg der Antrag entweder defi-
nitiv zun'ickgewiesen oder zur Yerbesserung
und Behebung der Zweifel innerhalb ge-
richtsseitig bestimmter Frist zuriickgegeben
werden. Mit fruchtlosem Ablauf der Frist
erfolgt dann die definitive Zurückweisung
(§ 18 G.B.O.). Finden sich keine Anstände,
so ist von dem Grrundbuchrichter der Ein-
tragimgs vermerk in den Gnmdakten zu ent-
werfen und von dem Gerichtsschreiber
wörtlich in das Grundbxich zu übertragen.
Der Eintragungsvermerk ist darauf im
Grundbuch zu datieren und von den Buch-
beamten zu unterschreiben (§ 45). Endlich
sind den Interessenten Benachrichtigungen
von der stattgehabten Eintragimg zuzusenden,
soweit nicht darauf verzichtet ist (§ 55).
So erhält der Grundstückseigentümer bezüg-
lich jedes im Buch eingetragenen Vermerks,
bei Eigentumsübertragungen auch der neue
Eigentümer, eine Benachrichtigung sowie
jeder an dem Grundstück dinglich Berech-
tigte. Jedoch kann es auch nötig sein,
ausserdem besondere Urkunden in behörd-
licher Fonu auszufertigen und gegen Em-
pfangsbescheinigung zustellen zu lassen.
Dies gilt bei Eintragung einer Hypothek
oder Grundschuld, insofern ein Hypotheken-
oder Grundschuldbrief ausgefertigt wird.
Dieselben sind von der Buchbehörde ausge-
stellte amtliche Urkunden über die dingliche
Belastung eines Grundstücks mit einer Hyi)o-
thek oder Grundschxüd. Der Brief muss
die Bezeichnung als Hypotheken-, Grund-
oder Rentenschuldbrief, den Geldbetrag,
beim Rentenschuldbrief die Ablösungssumme,
Angabe des Pfandgrundstücks, Unter-
schrift und Siegel des Grundbuchamts ent-
halten. Die Ausstellung eines Hypotheken-
briefs über eine Sicheningshypothek ist
unzulässig. Im übrigen wird der Brief stets
ausgestellt, wenn nicht seine Ausstellung
durch Vertrag zwischen Gläubiger und
Grundstückseigentümer ausgeschlossen, und
dass dies geschehen, im Grundbuch einge-
tragen wurde (§§ 1116 Abs. 2 und 1192
B.G.B.). Der Grundschuldbrief kann auch
auf den Inhaber ausgestellt werden (§ 1195).
Ist dies geschehen, so steht das Gläubiger-
recht jedem Inhaber des Briefs nach Mass-
gabe der §§ 793, 794 und 796 B.G.B. zu.
Berechtigt ist also nur der rechtmässige In-
haber, nicht der Dieb, Finder, wohl aber
deren redliche Singularsuccessoren. Denn der
Aussteller des Briefs kann Einreden aus der
Person eines Vorbesitzers dem Präsentanten
nicht entgegensetzen. — Regelmässig hän-
digt die Buchbehörde den Brief dem Gnmd-
stückseigentümer aus, welcher die UelK?r-
eignung an den Gläubiger zu be\^il•ken hat
Doch können Parteien auch vereinbaren,
dass der Brief vom Grund buchamt unmittel-
bar dem Gläubiger ausgehändigt werden soll.
Während nach den meisten fi*üheren
Rechten der Hypothekenbrief, auch Pfand-
schein genannt, nur die Natiu* eines Beweis-
mittels hatte, erhöht das Bürgerliche Gesetz-
buch im Anschluss an das preussische Recht
die Bedeutung desHypotheken- und desGrund-
schuld- oder Rentenschiüdbriefes. Man
kann seine Bedeutung km-z dahin angeben,
dass an den Besitz des Briefs sich >die
Entstehung und die Geltendmacliuug des
Gläubigerrechts« knüpft. Bis zur Ueber-
gabe des Briefes, oder, wenn der Brief sich
in dritter Hand befindet, bis zur Abti-etung
des Anspruchs auf Herausgabe des Briefs
steht nändich die Hypothek oder Grund-
schuld dem Grrundstückseigentümer zu
(§ 1117). Doch erwirbt der Pfandgläubiger
sofort mit der Einti-agung das Pfandrecht,
wenn vereinbart war, dass der Glaubiger
sich den Brief vom Grundbuchamt solle
aushändigen lassen. Weiter knüpft sieh
Abtretung (§ 1154 S. 1 imd 1195) und
^Verpfandung (§ 1275) des Pfandrechts an
die Uebergabe des Briefes. Auch braucht
niu* gegen Aushändigung des Briefes ge-
zahlt und gelöscht zu werden.
Nach österreiclüschem Grundbuchrecht
hat das Grundbuchgericht regelmässig auch
nur auf Antrag« vorzugehen oder auf Er-
suchen von Behörden (§ 76 a. G.G.). Di«
Anträge sind bei den Gerichtshöfen schrift-
lich anzubringen, bei den Bezirksgerichten
können sie auch zu Protokoll erklärt werden
(§ 83 a. G.G.). Dem Antrage müssen je-
doch die Originale der Urkxmden, auf welche
sich der Antrag stützt imd, falls diese nicht
in der Gerichtssprache abgefasst sind, nach
den Vorschriften über das gerichtliche Ver-
fahren vollen Glauben verdienende Ueber-
setzungen beigefügt werden (§ 89). Diese
Originalurkunden, sind einmal die Ein-
tragungsbewilligung des im Buch beix?its
eingetragenen (§ 21 a. G.G.) Passivinte-
ressenten, welche gerichtlich oder notariell
beglaubigt sein muss, und, soweit es sieh
um Entstehung oder Aenderung eines Rechts
handelt, auch die den materiellen Rtx^hts-
grund enthaltenden Urkunden, z. B. der
Kaufvertrag über das auf den Namen des
Erwerbers fiberzuschreibenden Gnmdstüeks.
(§ 26 a. G.G. vgl. Strohal: Eigentum an
Immobilien S. 33 ff.). Antragsberechtigt ist
sowohl der Aktiv- als der Pa'^iviate-
ressent. Auch dritte Personen können die
Eintragimg eines einem anderen zustehen-
den Rechts beantragen, wenn von dieser
Eintragung ihr eigenes Recht abhängt,
z. B. A hat das Grundstück. X geerbt, sich
Hypotheken- und Griuulbuchwesen
1295
aber noch nicht als Eigentümer eintragen
lassen und dem B eine Hypothek auf diesem
Gnmdstück versprochen. 80 kann B die
Eintragung des A als Gnuidstückseigen-
tümer beantragen (§ 78). Das Giimdbuch-
goricht hat das eingegangene Gesuch mit
einer Protokollzalü zu versehen, entspi-echend
unserer Präsentation, darauf das Gesuch
auf die vorher angegebenen Punkte hin zu
prüfen imd sich namentlich auch über die
persönliche Fähigkeit der bei der Eintragimg
Beteiligten zur Verfügung zu vergewissern.
Etwa sich herausstellende Anstände führen
regelmä.*^sig zur Zurückweisung des Gesuchs.
Besteht der Mangel jedoch in dem Fehlen
des Originals der Lrkunden, auf welche
sich das Eintragimgsbogehren stützt, oder
in dem Fehlen der Uebersetzung, so kann
das Gesuch im Grundbuch angemerkt werden
mit dem Zusatz »bis zur Einlangimg des
Originals oder der Uebersetzung«. Die
Rangordnung der definitiven Eintragung
wird dadurch für den Fall gewahrt, dass
der Antragsteller binnen der gerichtsseitig
zu bestimmenden iVist Original oder ueber-
setzung beibringt. Erfolgt die Beibringung
nicht, so wird die Anmerkung von Amts
wegen gelöscht.
Hypothekenbriefe oder Gnmdschuldbriefe
sind dem österreichischen Recht unbekannt.
Wohl aber verlangt dasselbe ebenfalls die
amtliche Benachrichtigung der Interessenten
von dem Vollzug der Eintragung. Es kennt
zu diesem Behuf die Certiorienmgsklausel,
d. h. die auf dem Original der das Rechts-
verhältnis, auf Grund dessen die Entstehimg
des konkreten Hypothekenrechts in Anspnich
genommen wird, bezeugenden Urkunde (sog.
Tabularurkunde, z. B. ein notarieller Kauf-
vertrag, in welchem auch die Bestellung
einer Hypothek für die Kaufgeldfordenmg
ausgemacht ist) durch das Grundbuchamt
zu verzeichnende Bestätigung des Vollzugs
der Eintragung, unter Angabe ihres wesent-
lichen Inhalts und ihrer Stelle im Buch.
Ausserdem hat das Grundbuchamt auf Ver-
langen eines Interessenten sogenannte Satz-
briefe oder Intabidationsscheine, d. h. amt-
liche Verzeichnisse über Vollzug und In-
halt einer Eintragung auszustellen.
Auch für das Verfahren der Hypotheken-
bewahrer in Frankreich gilt Antragsprincip.
Anti-agsberechtigt ist bei der Transskription
toute partie interessee; bei der Inskription
sind antragsberechtigt: der Gläubiger und
sein Rechtsnachfolger, die Gläubiger des
Gläubigers und bei den Legalhypotheken
der Ehefrau und der Bevormundeten sowohl
Vormimd als Gogenvomaund als die Bevor-
mundeten selbst und ihre Verwandten, ja
sogar der Staatsanwalt. Kaufgelderrück-
stände und das zum Ankauf eines Immo-
bile gegebene Darlehn sind vom Hypotheken-
bewalirer von Amts wegen in das Inskrip-
tionsregister einzuti-agen wenn sie bei der
Transskription des verkauften, beziehentlich
angekauften Grundstücks im Transskriptions-
register gewährt wurden.
Sowohl Trans- als Inskription erfolgen
regelmässig nur, wenn die Erwerbsurkunde
des Eigentums oder die Entstehungsurkunde
der Hypothek vom Antragsteller vorgelegt
werden. Doch ist die Eintragung auch
giltig, wenn die Vorlegung imterblieben ist.
Wird sie bewirkt, so hat der Hypotheken-
be wahrer den Eingang der Urkunde unter
fortlaufender Nummer in seinem Tagebuch
zu bemerken.
Der Antragsteller einer Inskription hat
ausserdem dem Hypothekenbewahrer zwei
gleichlautende bordereaux, summarische In-
haltsangaben — die anzuhebenden Punkte
sind gesetzlich vorgeschrieben — vorzu-
legen. Die ganze Thätigkeit des Hypotheken-
bewahrers aber besteht nun darin, dass er
auf Verlangen dem Antragsteller der Trans-
oder Inskription auf Stempelpapier ein Be-
kenntnis über Eingang des Antrags imd der
Erwerbs- oder Entstehungsurkunde mit An-
gabe des Datums und der Zahl, imter welcher
die Einschreibung im Tagebuch erfolgte,
ausstellt und die Trans- oder Inskription
vornimmt. Die Transskription besteht in
wörtlicher Uebertragung der eingereichten
Erwerbslirkunde über das Grundstücks-
eigentum in das Transskriptionsregister. Bei
Inskription aber hat er den Inhalt der
bordereaux in das Inskriptionsregister ein-
zutragen, auf dem einen die geschehene
Eintragimg zu vermerken und es dem An-
tragsteller zurückzugeben. Das andere bleibt
bei den Akten.
Die Priifungspflicht des Beamten er-
streckt sich dabei lediglich darauf, ob die
bordereaux den formellen Anforderungen
des Gesetzes entsprechen. Die Rechts-
giltigkeit des Titels, auf Gnind dessen die
Trans- oder Inskription verlangt wird, geht
ihn nichts an. Hypothekenbriefe kennt das
französische Recht nicht.
12. Die Haftpflicht der Buchbeamten
und des Staates. Ist jemandem von einem
Beamten durch üeberschreitung seines Amtes
oder Vernacldässigung seiner Amtspflichten
Schaden verursacht, so beschränkt sich nach
einer im gemeinen Recht weitverbreiteten
Meinung die Haftung der Beamten auf den
Fall ^ober Nachlässigkeit und tritt nur
subsidiär ein, also nur dann, wenn der Be-
schiddigte die Rechtsmittel gebraucht hat,
durch welche er die ilim Schaden bringende
Handlung oder Ueberlassung hätte abwehren
können. Weiter ging das preussische Recht.
Nach ihm haftet der Beamte für geringes
Versehen. Seine Haftpflicht wird aber nur
für den Fall anerkannt, dass der Beschädigte
1296
Hypotheken- xind Grrundbuchweseii
durch Gebraiicli der Rechtsmittel oder von
anderer Seite — wegen Fahrlässigkeit, Vor-
satz, ungerechtfertigter Bereicherung einer
dritten Person — Ersatz nicht erlangen
kann. Konkurriert jedoch mit dem geringen
oder massigen Versehen des Beamten eigenes
grobes Versehen des Beschädigten, so giebt
es keine Schadensersatzpflicht der Behörde.
Auch nach dem Bilrgerlichen Gesetzbuch haftet
der Beamte für jede schuldhafte Verletzung
seiner Amtspflicht (§ 839). Aber seine
Haftpflicht ist, abgesehen vom Fall des dolus,
auch nur subsidiär. Denn sie tritt nur
dann ein, wenn der Verletzte auf andere
Weise Ersatz nicht zu erlangen vermag, und
sie fällt ganz fort, wenn der Verletzte es
fahrlässig unterlassen hat, den Schaden diu-ch
Gebrauch seines Rechtsmittels abzuwehren.
Die besondere Regulierung der Haftpflicht
des Spruchrichters — er haftet nur, wenn
seine rflichtverletzung kriminell strafbar ist
oder in der Verweigerung oder Verzögenmg
der Amtsausübung besteht — kommt für
die Buchbehörden nicht in Frage.
Nach dem B.G.B kommen nun aber diese
eben dargestellten Grundsätze der Beamten-
haftpflicht bei den Gnindbuchbeamten —
mögen dieselben Staats- oder Gemeindebe-
amte sein — dem Publikum gegenüber
überhaupt nicht zur Anwendung, sondern
nur gegenüber dem Staat oder der Gemeinde,
in deren Dienste die Bxichbeamten sich be-
finden. Denn § 12 der G.B.O erklärt den
Staat oder die Gemeinde gegenüber dem
Publikum unter den gleichen Voraussetzungen
für die von ihren Buchbeamten begangenen
Amtspflichtverletzungen für haftbar, unter
denen ein Beamter anderer Kategorie selbst
haftet. Und zwar nicht etwa so, dass Staat
oder Gemeinde solidarisch mit ihren Be-
amten oder, wie früher, gar nur subsidiär
nach den Beamten haften, sondern so, dass
dasPublikimi Schadensei-satzansprüche gegen
die Grundbuchbeamten überhaupt gar nicht
mehr hat, sondern nur gegen den Staat oder
die Gemeinde. Selbstverständlich haben
dann aber die letzteren ihi-en Regress
gegen die schuldigen Grundbuchbeamten,
jedoch nur unter denselben Voraussetzungen,
unter denen diese Beamten, wenn sie mcht
Grund buchbeamte wären, selbst haften
würden. Die Haftpflicht des Staates oder
der Gemeinde gestaltet sich danach also in
folgender Weise:
a) Hat der Buchbeamte vorsätzlich
Schaden zugefügt, so haften Staat oder Ge-
meinde in erster Linie;
b) Beruht die Schadenzufügung auf Fahr-
lässigkeit, so haften Staat oder Gemeinde
in zweiter Linie, nämlich nur dann, wenn
der Verletzte nicht von dritter d. h. anderer
Seite als dem Buehbeamten Ersatz ver-
langen kann:
c) Die Schadensersatzpflicht fällt fort,
wenn der Beschädigte es schuldhaft unter-
lassen hat, den Schaden durch den Gebrauch
eines Rechtsmittels abzuwenden.
Mit dieser Regelung entscheidet die
Grundbuchordnung einen alten Streit, der
auch in den verschiedenen Partikulargesetz-
gebungen Ausdruck gefunden hatte. Denn
wälu-end bisher schon Sachsen, Mecklenbui-g,
Weimar, Altenburg, Meiningen principale
Haftung des Staates anerkannten, hatte
Preussen und die ihm in der Grundbuch-
gesetzgebung folgenden Staaten, ferner
Bayern. Coburg, Hamburg sich auf den
Standpunkt subsidiärer Haftung gestellt. Die
Regelung der Grundbuchordnung entstanunt
dem G. v. 22. Juni 1891 für Elsass-Loth-
ringen. Bedenkt man, dass der Staat im
allgemeinen Interesse das Hypotheken- und
Grundbuchwesen geordnet xind dabei die
Mitwirkung der staatlichen bezw. Gemeinde-
behörden vorgeschrieben hat, den einzelnen
also zwingt, sich bei Vornahme voa Privat-
rechtsgeschäften der Hilfe der Behörden zu
bedienen, so ist die Garantie, es werde dem
einzelnen ein Schaden aus dieser Ein-
mischung nicht erwachsen, eine Forderung
der Gerechtigkeit Die Regelung dieser
Frage in der in § 12 G.B.O. festgesetzten
Weise bietet aber dem Beschädigten den
Vorteil, dass er nicht erst gegen den Be-
amten, der doch am Ende zahlungsunfähig
sein kann, zu prozessieren hat, um dann
den Staat oder die Gemeinde in Anspnicli
zu nehmen, und dass er weiter sich nicht
mit der schwierigen Feststellung, ob seine
Beschädigung auf einem Versehen des
Grundbuchrichters oder des Grundbuch-
führers beruht, zu plagen hat. Andererseits
tritt wegen der dem Staat oder der Ge-
meinde gegen den Beschädiger zustehenden
Regressfordenmg die endgiltige Haftung
von Staat oder Gemeinde auch nach dieser
Regelung nur dann ein, wenn der Beamte
den von ihm venu'sachten Schaden selbst
nicht decken kann.
Die Schadensersatzklage des Beschädigten
gegen den zum Ersatz des Schadens ver-
pfüchteten Staat ist bei demjenigen Amts-
oder Landgericht zu erheben, in dessen Be-
zirk die zur Vertretung des Fiskus in dem
Rechtsstreit berufene Behörde ihren Sitz
hat (§ 18 C.P.O.). Die Klage gegen die Ge-
meinde gehört vor das Gericht, in dessen
Bezirk der Ort der Gemeindeverwaltung
liegt (§ 17 C.P.O.). Die Schadenersatzklage
verjährt in drei Jahren von dem Zeitpunkt
an, in welchem der Verletzte von dem
Schaden Kenntnis erlangte, und ohne Rück-
sicht auf diese Kenntnis in dreissig Jahren
von der Begehung der schädigenden Hand-
lung an (§ 852 B.G.B.). Haften Staat oder
Gemeinde nur subsidiär (oben sub b), so be-
Hypotheken- und Grundbuchwesen
1297
ginnt die dreijährige Yerjährung erst dann
zu laufen, wenn feststeht, dass von anderer
Seite kein Ersatz zu erlangen ist. Denn
früher ist der Anspruch gegen den Staat
oder die Gemeinde nicht entstanden und
die Verjährung einer nicht gegebenen Klage
kann nicht beginnen (§ 198 B.G.B.).
Nach österreichischem. Recht haftet
der Grundbuchbeamte für jeden Schaden,
den er durch schuldhafte üebertretung
seiner Amtspflicht verursacht hat, voraus-
gesetzt, dass die ordentlichen Prozessrechts-
mittel keine Abhilfe gewähren. Neben ihm
haftet gleich einem »Bürgen und Zahler«
d. h. als Mitschulder zur ungeteilten Hand
der Staat. In Frankreich endlich haften die
Registerbeamten nur für den durch grob-
fahrlässige Pflichtverletzungen verursachten
Schaden. Es handelt sich dabei um die ge-
wöhnliche Klage auf Schadenersatz wegen
unerlaubter Handlungen, welche in 30 Jahren,
jedoch nach Niederlegung des Amtes in 10
Jahren verjährt. Da der französische Re-
gisterbeamte in dieser seiner Eigenschaft
gar nicht Staatsbeamter ist, so kann von
einer Haftpflicht des französischen Staats für
die Vei^sehen der Registerbeamten keine
Rede sein.
Quellen ond Litteratnr: A. Quellen: i.
Trans- und Inskriptionssyst^m : code civil Art.
2092—2203; Transskriptimisg, v. 2S. HL 1855,
Gesetz, betreffend die Zwangsvollstreckung in
das unbewegliche Vermögen, einschliesslich der
Vollziehung des Arrestes und einstweiligtr Ver-
fiigungen, über das Hypothekenreinigungsver-
fahren und über das Verteilungsverfahren v. SO.
IV. 1880 (Elsa>ss- Lothringen). — Badisches Land-
recht V. 8. IL bez. 12. XII. 1809, Satz 939 a,
1002 a, 1583 a, 2092—2203. — Anleitung zur
Führung der Grund- und Pfandbücher v. 13. IV.
1868, Bereinigungsg. v. 5. VI. 1860 und v. 28.
I. 1874 i Gesetz, betreffend die Führung der
Grund- und Pfandbücher in den Städten der
Städteordnung v. 24. VI. 1874, Pfandg. v. 29.
III. 1890. — Bayerisches G. v. 16. IIL 1868
über Abänderung einiger Bestimmungen des in
der Pfalz geltenden Civügesetzlmchs über Privi-
legien und Hypotheken, — Hessisches G. v. 29.
X. 1830 über Anlegung von Gi'undbüchem, v. 5.
VIII. 1878 über Einrichtung der Hypotheken-
ämter, V. 6. VI. 1879 über die Uebertragung
von Grundeigentum und die Fortführung der
Grundbücher in der Provinz Rheinhessen, sowie
die Ausführungsverordnung dazu von demselben
Tage, f§ 4 ff- — Oldenburgischs Hypothekenord-
nung V. 11. X. I8I4 für das Fürstentum Bilden-
feld, umgestaltet durch V. v. 19. III. 1879. —
8. Hypothekenbuchsystem : Bayerisches Hypo-
thekeng. V. 1. VI. 1822, Vollzugsinstruktion dazu
V. 13. III. 1823, Priorilätsordnung v. 1. VI. 1822.
— Württembergisches Pfandg. v. 15. IV. 1825,
Gesetz, die vollständige Entvnckelung des neuen
Pfandsystems betreffend, v, 21. V. 1828, Gesetz,
betreffend die Führung der Bücher durch Ge-
meindebeamte V. 13. IV. 1873, Vollzugsverfügung
des Justizministers dazu v. I4. IV. 1873, Ver-
fügung V. 3. XII. 1832, betreffend Anlegung und
Handwörterbach der StaatewisseiiBchaften. Zweite
Führung der Gemeindegüterbücher. — Ergän-
zungsverfügung dazu V. 6. XII. 1836 und Ver-
fügung v. 12. X. I849, betreffend die Erhaltung
und Fortführung der Flurkarten und Bureau-
kataster (Reg.-Bl. S. 677). — Weimarische Pfand-
und Prioritätsg, v. 1, und 7. V. 1839 und die
Ausführungsverordnung dazu v. 12. IIL I84I. —
RudöUtädtisches Gesetz v. 6, VI. 1856 über Ver-
besserung des Hypothekenwesens und Ausfiihrungs-
verordung dazu. — Preussischer Kreis Lauenburg :
V. zur Verbesserung des Hypothekenwesens v.
15. IIL 1836 und Schuld- und Pfandproiokoll-
ordung v. 26. V. 1860. — Mecklenburg- Schwerin
und Strelitz: Revidierte Hypothekenordnung
für Landgüter v. 18. X. I848 und die revidierte
Hypothekenordnung für di-e Erbpachtsiellen in
den KlostergiUem v. 8. XLI. 1852. — 3, Grund-
buchsystem: Preussen: G. über den Eigentums-
erwerb und die dingliche Belastung von Grund-
stücken etc. V. 5. V. 1872, Ausführungsverfügung
V. 2. IX. 1872 (J. M. Bl. S. 178), Allgemeine
Verfügung v. 5. VI. 1877 und v. L X. 1877 (J,
M.Bl. S. 103 und S. 216) sowie GruncUmch-
ordnung von demselben Tage. — Nassauisches
Stockbuchsg. v. 15. V. 1851 und Gesetz über das
Pfandrecht und die Rangordnung der Gläubiger
von demselben Tage. — Endlich G. v. 12. IV.
1888 über das Grundbuchwesen und dis Zwangs-
vollstreckung in das unbewegliche Vermögen im
Geltungsbereiche des Rheinischen Rechtes. —
Sachsen: Bürgerliches Gesetzbuch v. 2. I. 1863
§§ 369—504 und V. v. 9. L 1865 §§ 83-— 233.
— V. v. VIII. 1868, G. v. 25. IL 1882 über
die Löschung von Reallasten im Grund- und
Hypothekenbuche. — G. v. I4. L I884 Ober die
Zuständigkeit der Grund- und Hypothekenbe-
hörden bei Grundstücks hinzuschlagungen. —
Oldenhttrg : GG. v. 3. LV. 1876 und 28. L 1879.
— Einführungsg. zur G.B.O. v. 3. LV. 1876 §§
2 ff. — Coburg-Gotha: G. v. 1. IIL 1877. —
Braunschweig: G. v. 8. IIL 1878. — Minis-
ter icdinstruktion V. 26. LV. 1878 über Zurück-
führung der Grundbücher auf die Separations-
rezesse. — Anhalt: G. v. 11. LLI. 1877. —
AUenburg: G. v. 13. X. 1852. — Meiningen:
GG. v. 15. VII. 1862 und vam 7. XL 1872, —
Grossh. hcssisclie Provinzen Starkenburg und
Oberhessen: GG. v. 29. X. 1830, 21. LL. 1852,
15. IX. 1858 und 19. I. 1859. — Detmold: G.
v. 27. VII. 1882. — Sondershausen: G. v. 2,
VIII. 1882. — Schaumburg: G. v. 26. VIIL
IS84. — Reuss : G. v. 20. XL 1852 und 27. IL
1873. — Hamburg: G. über Karten und Flur-
bücher des Landgebiets v. 30. X. 1865. — G. v,
4' XIL 1868. — Lübeck: Hypothekenordnung
v. 5. V. 1880. — Mecklenburg: Revidierte
Stadtbuchordnung v. 21. XIL 1857. — G. über
die Grund- und Hypothekenbücher für den
Privatgrundbesitz in den grossherzoglichen Do-
mänen V. 2. 1. 18 5 4 uTid transitorische Bestim-
mungen dazu, Hypothekenordnung für den länd-
lichen Grundbesitz im Territorium der Stadt
Rostock V. 8. VI. 1831 und für die Erbpachtungen
auf den Gütern der Stadt Wismar v. 6. VII.
1839, Strelitzer Hypothekenordnung für Grund-
stücke der ritterschafüichen Hintersassen v. 3.
IL 1855 und revidierte Hypothekenordnung v.
24. XIL 1872. — Oesterreich: Allgemeines
bürgerliches Gesetzbuch §§ 431 — 471 und Grund-
buchg. V. 25. VII. 1871 mit Vollzugsvorschrift v.
12. L 1872. — GG. V. 24. V. 1869 und v. 23.
Auflage. IV.
82
1298
Hypotheken- und Gnindbuchwesen
V. 188S über die Evidenzhaltung des Grund-
aieuerkaUuiera. — Femer die Ztuammenstellung
der über die Anlegung neuer Grundbücher und
deren innere Einrichtung erlassenen Gesetze in
der Manzschen Gesetzausgabe Bd. 18, S. ^50 —
S62. — Deuüches B.G.B, v. 18. VIIL 1896 nebst
dem Einführungsgesetz vom 18. VIIL 1896. —
Deutsehe Grundbuchordnung vom S4' ^H' 1897.
— Gesetz über die Zwangsversteigerung und
Zwangsverwaltung vom $4» J^^* 1897.
B, Litteratur: Deutsches Hypotheken-
recht. Nach den Landesgesetzen der grösseren
deutschen Staaten systematisch dargestellt. Unter
Mitwirkung von v. Bar, Demburg, Exner, Hin-
richs, Puchelt, Regelsberger, Romer, Siegmann
herausgegeben von Viktor v. Meibom, Leip-
zig 1871-1861, 8 Bde. — Müller , Ingrossaiion
des Grundeigentums, 1855 und desselben I^and-
recht, 187 L — Manda, Eigentumsrecht, I. Ab-
teilung, Jjcipzig 1884' — Strolialy Zur Lehre
vom Eigentum der Immobilien, Graz 1876. —
Jßurdchardty Besitz und Grundbuchrecht, Wien
1889. — Wächter^ Erörterungen, Hefl I. —
von Meihom im Archiv für civil. Praxis, Bd.
74, S. 484 ff. — MaJicheTy Das deutsche Grund-
buch' und Hypothekenwesen, Berlin 1868, 806
Seiten, — Zaehariae v, Lingenthal, Hand-
buch des französischen Civilrechts, VII. Aufl.,
Heidelberg 1886, Bd. I, S. 674—588, Bd. II,
S. 117 ff. — Reusch, Die Zurückßhrung des
Grundbuchs attf die Steuerbücher für die öst-
lichen und die neuen Provinzen des preussisehen
Staates, Berlin 1890. — Kof»pers, Die Verbin-
dung des Grundbuchs mit der Katasterkarte in
Rassows und Küntzels Beiträgen zum deutschen
Recht, Bd. 36, S. S19ff., 1892. — RochoU,
Der dingliche Vertrag, 1. Abhandlung in dessen
Besprechungen von Bechtsfällen aus der Praxis
des Reichsgerichts, Bd. II, S, 441 ff., 1890. —
Kindelf Das Rechtsgeschäft und sein Rechts-
grund, Berlin 189?. — Münchmeyerj Die
grundbesitzgleichen Gerechtigkeiten und ihre Be-
handlung zum Grundbuch, im Magazin für defä-
sches Recht der Gegenwart, Bd. 2, S. Iff. —
Haffner, Die eiviirechüiche Verantwortlichkeit
der Richter, Freiburg 1883. — Kle%piUj Die
Entschädigungansprüche aus rechtswidrigen Amts-
handlungen, Berlin 1891. — Edgar LoeninQf
Die Haßung des Staates aus recktstridrigen
Handlungen seiner Beamten, Frankfurt a, M.
1879, besonders S. 98 f. — Die Lehrbücher des
deutsehen und preussisehen Privatrechis von
Stobbe und Roth, sowie Demhurg und
EÜrster-Eceius, — Strecker, Die cMgemeinen
Vorschr^en des B.G.B. über Rechte an Grund-
stücken, Berlin 1898, — Slm^ofty Die Reichs-
grundbuchordnung. Zur Einführung in das Grund-
buchwesen des deutschen Reichs, Berlin 1897.
— «7*. Böhm, Das materielle und formelle
Reichsgrundbuchrecht, Hannover 1898. — Dem^
hurg, Ikis bürgerliche Recht de* Deutschen
Reichs und Preussens, Bd. III, Haue ajS. 1898.
— Endemannf Einführting in das Studium
des B.G,B., Bd. II, Berlin 1898. — Camick,
Lehrbuch des deutschen bürgerlichen Rechts, Bd.
II, Jena 1900.
SetuMmeyer.
I and J.
Jagd.
1. Bedentnng. 2. Geschichtliches. 3. Jagd-
recht und Jagdpolizei. 4. Wildschaden, ö. Sta-
tistik.
1. Bedeutung. Unter Jagd im Sinne von
Jagen versteht man das planmässige Ver-
folgen, Erlegen oder Fangen wild lebender
Tiere, deren Fleisch, Fett, Fell oder Grehörn
nutzlir ist oder die als Raubtiere Schaden
bringen. Die jagdbaren Tiere fallen unter
den Begriff Wüd.
Die Bedeutung der Jagd ist bedingt von
der Kulturstufe der Völker und Länder.
Den Jägervölkern war und ist die Jagd
Lebenselement und erste Erwerbsquelle.
Ausgedehnte Jagdgrüqde ermöglichen eine
rein occupatorische Ausnutzung ohne ziel-
bewusste rflege , von einer Ja^wirtschaf t
ist hier keine Rede. Im modernen Kultur-
staate müssen die natürlichen Existenzbe-
dingungen der Jagd oft mit grossen wirt-
schaftlichen Opfern erhalten oder wieder-
hergestellt werden (Jagdpflege). Je inten-
siver und rationeller die Bodenkultur ent-
wickelt ist, um so mehr tritt der produk-
tive Gewinn des Jagdbetriebes zurück und
der immaterielle Nxitzen in den Vorder-
grund.
Rein rechnerisch betrachtet, arbeitet die
Jagd Wirtschaft in Ländern mit hochent-
wickelter Bodenkultur wohl immer mit Ver-
lust. Das Nutzwild nährt sich zwar teil-
weise von solchen vegetabilischen Stoffen,
welche die Land- und Forstwirtschaft nicht
mehr ökonomisch zu verwerten vermag; in
dieser Richtung verhält sich die J^^d ähn-
lich wie die Bienenzucht und Fischerei.
Aber das ist doch nur der kleinere Teil der
Wildnahrung, der weitaus grösste Teil geht
auf Kosten des land- und forstwirtschaft^
liehen Ertrages. Die Landwirtschaft ist
gegenüber der Forstwirtschaft im Vorteil,
weil nur die Ernte eines Jahres beschädigt
oder vernichtet wird, der Schaden sofort in
die Augen springt und deshalb durch direk-
ten Schadensersatzanspruch oder eventuell
durch hohe Jagdpachterträge für den be-
troffenen Besitzer wieder wett gemacht
werden kann. In der Forstwirtschaft steht
oft der Kulturerfolg vieler Jahre auf dem
Spiele, obgleich die Beschädigung im Ein-
zelfalle und Einzeljahre auf den grossen
Waldflächen nicht so scharf hervortritt wie
in der Landwirtschaft. Würden die Forst-
wirte den durch Abäsen von Knospen und
Trieben, durch Verzehren von Früchten,
Abnagen der Rinde (Schälen), Fegen und
Schlagen mit den Geweihen entstehenden
Schaden richtig berechnen und vor allem
den indirekten Verlust zahlenmässig an-
schlagen, welcher infolge mangelhafter
Durchführung notwendiger Betriebsmass-
nahmen oder diu'ch die Unterlassung solcher
nur mit Rücksicht auf den Wildstand sich
ergiebt, so würden in den meisten Fällen
erschreckend hohe Summen zu Tage treten.
Die Kosten der Jagdausübung sind nicht
gering. Der kostbarste Aufwand ist die
Zeit, welche der Jäger zur Ausübung
seines Gewerbes bedarf. Daher eignet sich
der Jagdbetrieb nur für wirtschaftlich xm-
abhängige Leute oder solche, welche die
Jagd in ihrem Lebensberufe gelegentlich,
ausüben können (Forstleute). Der Aufwand
für Munition, Jagdschutz, Hundehaltung,
Kleider und Schuhe, Anschaffung und Ab-
nutzung der Jagdwaffen und Jagdgeräte,
für Löhne der Treiber und für Wildtransport,
Reise- und Zehrungskosten ist eine grosse
pekuniäre Belastung für den Jagdausübenden
uud kann meistens wie der Aufwand für
Wildproduktion nur durch den immate-
riellen Nutzen der Jägerei aufgewogen wer-
den.
Es wäre indessen einseitig, wollte man
82*
1300
Jagd
die Jagd nur vom Standpxinkte der Werts-
erzeugung und des Produktionsaufwandes
aus beiu1;eüen. Der Jagdbetrieb liat zwei-
fellos einen grossen nicht zu unterschätzen-
den Nutzen mit Rücksicht auf die Stählung
und Ausbildung der körperlichen und geisti-
gen Kräfte des Jägers. Zu allen Zeiten und
bei allen Völkern galt die Jagd als die beste
Vorbereitung zum Kriegsdienste, sie ist »des
ernsten Kriegsgottes lustige Braut«. Sie
entflammt den Mut, lehrt Entbehrung,
Selbstbeherrschung und zwingt zur Geistes-
gegenwart. Der Slawe nennt den Forst-
und Weidmann »Myslivec«, d. h. Denker.
Wer mit den Sorgen des Berufes und des
täglichen Lebens im liastigen Kampfe ums
Dasein belastet nach Erholung und Aus-
spannung sucht, für den giebt es keine
Thätigkeit, die die Welt besser vergessen
und die Nerven eher zur Ruhe kommen
lässt als die immer erfrischende Jagd.
Die Jagd hat auch in neuerer Zeit eine
nicht zu unterschätzende sozialpolitische Be-
deutung dadurch erlangt, dass der bäuer-
lichen Bevölkenmg in der Nähe von Städten
unverhältnismässig hohe Summen als Jagd-
pachterträge aus den Taschen der Wohl-
habenden und Reichen zufliessen. In vielen
Fällen stehen diese Pachtschillinge ausser
allem Verhältnis zum Ertrage der Jagd und
auch zu dem Schaden, der den Grundbe-
sitzern durch den Wildstand erwächst. Die
finanzielle Leistungsfähigkeit solcher Ge-
meinden wird durch die Jagd oft enorm ge-
hoben.
In den preussischen Staatsforsten ergab
sich 1892 eine Einnahme ans der Jagdnutzung
von 12,1 Pf. pro ha, nach Abzug der Jagdver-
waltungskosten verbleiben als Reineinnahme
9,3 Pf. (1880 8 Pf. , 1865 5 Pf.). Zu dem ge-
samten Rohertrage der Staatsforsten steuerte
die Jagd 1892 0,52% bei. — In den bayeri-
schen Staatsforsten beti*ug die Reineinnahme
ans den in Regie verwalteten Jagden 1898 11
Pf. pro ha, die Einnahme aus den verpachteten
Staatswaldjagden im rechtsrheinischen Bayern
22 Pf., in der wohlhabenden Pfalz dagegen 82
Pf. pro ha. Zum Rohertrag der Forsten tragen
die Jaffdeinnahmen ungefähr 0,60 ®/o bei. — In
der Näne von München werden für Gemeinde-
jagden ö Mark pro ha bezahlt.
In Frankreich wurden Ende der achtziger
Jahre im Departement Ome durchschnittlich
1,64 Francs Pacht pro Hektar bezahlt, in der
Nähe von Paris (Seine et Oise, Seine et Marne)
8,41 — 9,40 Francs. Die Pacht des Ackerbodens
in der Nähe von Paris betrug 72 Francs pro
ha, die Jagdpacht demnach 9—11% des Acker-
pachts. Im Walde von St. Gennain bei Paris
wurden 1890 für einen Jagddistrikt von 340 ha
40000 Francs Pacht bezahlt, pro ha demnach
114 Francs.
Die Produkte der Jagd sind Wild-
pret, Felle, Federn, Hörn, Fette. Das Wildpret
der Jagdtiere überbietet an Nährgehalt das
Fleisch unserer einheimischen Haustiere und
der meisten Fiscliarten. Trotzdem kann das-
selbe als eigentliches Yolksnähruugsmittel
im mittleren Europa nicht bezeichnet wer-
den, da die schmackhafte Zubereitung der-
selben kostspielig und der Kochkimst der
unteren Volksschichten nicht geläufig ist.
Die Preise für das Wildpret sind daher im
19. Jahrhundert viel weniger gestiegen als
die Preise für das Fleisch der Haustiere.
Selbst in der Nähe von grösseren Städten
ist Wildpret in grösseren Mengen oft kaum
verwertbar. — Die Felle oder Decken liefern
hauptsächlich die Raubtiere ; der Preis wird
von der herrschenden Mode wesentlich be-
einflusst. Vom volkswirtschaftlichen Stand-
punkt aus sind auch die Arbeitsver-
dienste der mit Verarbeitung dieser Wild-
rohstoffe beschäftigten Gewerbe noch be-
sonders anzuschlagen, ebenso die den nie-
deren Volksklassen erwachsenden Einnahmen
für Beihilfe bei der Jagdausübung ; in Russ-
land beschäftigt z. B. die Jagd allein über
10 Millionen Personen.
2. Geschiehtllohes. Bezüglich der Ent-
stehung und des Inhaltes des Jagd rechts bezw.
Jagdreffals wird auf Band III Seite 1127ffl
(Art. Forsten) und den unten S. 1304 folgen-
den Art. Jaffdrecht verwiesen. — Bis in das
16. Jahrhundert hinein stritten sich um das
JsLgdrecht, allerdings mit ungleichen Macht-
mitteln, drei Kategorieen von Interessenten : die
Landesherren, die Landstande und die Bauern.
Die Landesherren hatten in ihrer grosseu
Mehrzahl als Grosse des Reichs schon von den
fränkischen Königen das Recht zur Errichtung
von Wildbaubezirken erhalten. Nach der Aus-
bildung der vollen Landesherrlichkeit ging man
weiter und erklärte das Jagdrecht im ganzen
Lande als ein Zubehör der Herrscher^ewalt. In
den Lehensbriefen der Kaiser an die Landes-
herren wurde vom 14. Jahrhundert ab fast r^el-
mässig der Wildbann als gleichwertig mit
Fürstentum, Festen, Städten, Land und Leuten,
Gerichtsbarkeit, Münze u. s. w. genannt. Im
Jahre 1435 machte Herzog Ludwig von Bayern
dem Bischof von Passau gegenüber geltend,
dass „der W^ildbann eine solche Hernichkeit
war, die ihm als einem Landesfürsten billig zu-
gehört in seinem Land", und 1491 entgegnete
[erzog Albrecht von Bayern einem Beschwerde-
führer, dass „die Wildhay ein gemeiner Brauch
der Fürsten sei". Das Wildbannrecht bildete
demgemäss auch wiederholt den Gegenstand
ernster Streitigkeiten zwischen den benachbar-
ten Landesherren.
Kaiserliche Belehnung allein konnte dem
neugebackenen Territorialherrn zwar die for-
melle Ueberordnuncr und Gewalt zuerkennen,
seine höhere Stufe im Ansehen und in der so-
zialen Stellung aber musste der Landesherr den
an Besitz und Geschlechtsalter oft mindestens
gleichstehenden übrigen Grossen des Landes
erst abtrotzen. Durch den Zusammenschlnss
derselben in „Bündnisse" und dnrch die daraus
entstehenden „Landtage" hatten die Stände ein
wirksames Mittel, den Ansprüchen des Landes-
herm auf die Ja^ensgerechtigkeit im ganzen
Lande mit Entschiedenheit entgegenzutreten.
Jagd
1301
In Bayern, Brandenburg, Sachsen, Braunschweig
und Württemberg beschwerten sich die Stände
unter Drohung der Steuerverweigerung im 16.
Jahrhundert wiederholt über die Beeinträchti-
gung ihres Jagdrechts, fast überall mit dem
Erfolg, dass ihnen ihre alten, auf die Einfors-
tungsperiode zurückreichenden Wildbannbezirke
verblieben, namentlich dann, wenn sie sich nur
auf den eigenen Grundbesitz erstreckten. Im
Erzherzogtum Oesterreich, in Tirol, Bayern,
Württemberg, Ostfriesland bezogen sich die
Hegaiitätsansprüche von vom herein nur auf
das Hochwild (Hirsche, Bären, Schweine, manch-
mal auch Rehe), während das „kleine Waid-
werk" mit Ausnahme einzelner ganz ausdrück-
lich reservierter Jagdbezirke den bevorrechteten
Unterthanen überall zuerkannt wurde. Daher
der Unterschied von Hochjagd und Niederjagd.
Da die Jagd ursprünglich frei war, blieb
sie auch überall da nrei, wo nicht Mächtigere
den freien Tierfang zu ihren Gunsten verwehr-
ten. Das Netz der Wildbannbezirke schloss
sich aber schon vom 10. Jahrhundert ab so enge
zusammen, dass für die nichtbevorrechteten
Leute, die Bauern, das freie Jagdrecht auf ver-
schwindend kleine Territorien zusammenschmolz
und auch da nur auf die niederen Wildgattun-
gen beschränkt blieb. Mit der Entstehung der
Grundhörigkeit war es aber auch um diese
Reste des alten freien Jagdrechts geschehen,
und der Bauer schied im 16. Jahrhundert aus
der Reihe der Jägerklasse aus. In Bayern
wurde das Jagdrecht den Bauern auf Betreiben
der Stände schon 1508 entzogen, in Württem-
berg 1551, Elsass 1552, Jülich. Cleve, Berg 1558.
Auf dem markgenossenschaftlichen Eigentum
war es um diese Zeit schon längst an die
Obermärker und Landesherren übergegangen.
Im vierten Beschwerdeartikel der Bauern im
Jahre 1525 heisst es daher in offenbarer Anleh-
nung an den Sachsenspiegel: Es „ist bisher im
Brauch gewesen, dass kein armer Mann Gewalt
gehabt hat, das Wildpret, Gevögel oder Fisch
im fliess^nden Wasser zu fangen, welches uns
ganz unziemlich und unbrüderiich dünket, son-
dern eigennützig und dem Wort Gottes nicht
gemäss sei". — Nur im bayerischen und würt-
tembergischen Schwaben hielt sich in einzelnen
Gebieten die freie Pürsche bis 1806/7. — Die
Jägerei im grösseren St^l konnten übrigens die
Bauern zu keinen Zeiten schon aus jagdtechui-
schen Gründen ausüben, weil die kostspieligen
Hilfsmittel der Jagd nur von reichen und mäch-
tigen Leuten aufgebracht werden* konnten.
Mochte nun das Jagdrecht dem Landes-
herrn allein zustehen oder ausser ihm auch be-
sonders Privilegierten, gewiss ist, dass schon
vom Beginn der Inforestation an die Grenzen
des Wildbannbezirks nicht mit den Grenzen
des eigenen Grund und Bodens des Jagdherrn
zusammenfielen. Dass das Jagdrecht ursprüng;-
lich als ein Ausfluss des Grundeigentums galt,
wie oft behauptet wird, dafür fehlt jeder ge-
schichtliche Anhaltspunkt. Erst die französische
Revolution hob das Jagdrecht auf fremdem
Grundbesitz auf durch Art. 3 des Dekrets v. 4.
August 1789: „Le droit exclusif de la chasse
et des garennes ouvcrtes (offene Kaninchen-
gärten) est aboli et tout proprietaire a le droit
de detruire et de faire detruire, seulement sur
ses possessions, tout esp^ce de gibier, sauf ä se
conformer aux lois de police." In Deutschland
kam dieser Grundsatz infolge der politischen
Bewegung des Jahres 1848 zur praktischen
Geltung, in Preussen und Bayern ohne Ent-
schädigung der bisherigen Ja^dberechti^n, in
den übrigen Staaten mit Zubilligung einer Ab-
findung. Nur in Mecklenburg kommt heute
noch das grundherrschaftliche Jagdrecht auf
fremdem Grund und Boden in weitem Um-
fange vor.
Die Blütezjßit der Jägerei begann in
der kriegsstillen Zeit des 16. Jahrhunderts, er-
litt durch den BOiährigen Krie^ eine kurze
Unterbrechung und steigerte sich danach bis
zur Mitte des 18. Jahrhunderts zur Landplage.
Die Jagdfronden, Scharwerke, Nachtquartierver-
pllichtungen („Nachtsel^, namentlich auf den
Klöstern lastend). Hundefütterung, Verpflichtun-
gen zum Ankauie des Wildprets und die Roh-
heit der verwilderten Jagdbediensteten brachten
Land und Leute in das tiefste Elend. Die
grossen Wildstände vernichteten die gesamte
odenkultur; kein Wunder, dass alle Bauern-
unruhen mit den „Jagdbeschwerungen^ zusam-
menhingen. In der bayerischen Landtagsbe-
schreibung von 1508 heisst es: „An gar vielen
Orten und in einem kleinen Zirkel werden bis
in die 500 Stück Rotwild täglich gesehen und
neben den Wildschweinen gefunden. Wo die-
selben bei Tag und Nacht in die Felder und
Wiesmaden kommen, verderben, abäsen und um-
kehren sie diese, so dass die armen Leute den
Samen mit Hunger und Durst samt ihren
Weibern und Kindern ersparen müssen. Was
hilft nachfolgend ihre grosse Mühe und Arbeit
mit Düngen, Ackern und anderem; ... so sie
ihre Nahrung wieder davon nehmen sollen, so
finden sie wenig und mehr Stumpf und Halm
denn fruchtbares Getreide zu schneiden. Daher
sind um des Hungers Willen eine merkliche
Anzahl Bauleute bisher aus dem Fürstentum
gezogen und ziehen noch fort auf Flössen und
auf anderen Wegen gen Oesterreich und andere
Orte. ..." Und dazu waren damals diese Ver-
hältnisse in Bayern noch besser als in Hessen,
Württemberg und Sachsen! — Spitzige Zäune
um die Grundstücke zu errichten, war verboten ;
die zum Verjagen des Wildes verwendeten
Hunde m'ussten am Halse Prügel tragen. Durch
Feuer und Nachtwachen mussten die Felder
während der ganzen Vegetationszeit gegen das
Wild geschützt werden.
W i Iddiebstahl wurde barbarisch geahn-
det. Auf die widerrechtliche Erlegung eines
Hirsches war in Brandenburg unter Friedrich
III. eine Strafe von 500 Thaler gesetzt. Das
badische „Wildpretschützenmandat" von 1611
bestimmte für den Wiederholungsfall der Be-
tretung: „peinliche Leibesstrafe als verrufener
Wildpretdieb und Meineidiger, zum wenigsten
Tragung eines Hirschgeweihes auf dem Haupte,
ja nach Gestalt der Sachen noch höher mit
Rutenausstreichung und ewiger Landesverwei-
sung."
Die Jagdlitte ratur ist älter als die
forstliche und war noch bis in das 18. Jahr-
hundert hinein mit dieser verquickt. Beinahe
zahllos sind die Schriften über das viel be-
kämpfte und viel verteidigte Jagdregal und
über die Jagdordnungen. Hier seien nur ge-
nannt das in mindestens zehn Auflagen heraus-
1302
Jagd
gegebene „Jag- und Forstrecht" des rhein-
pfälzischen Juristen Noe Meurer v. 1560, der
„Tractatus de iurisdictione forestali" von J. J.
Beck 1737 und der Tractatus de jure venandi
von von Beust 1744. — Der Ja^dbetrieb wird in
Kaiser Maximilians I. „Geheimen Jagdbuch''
(^zwischen 1508 und 1519) zuerst behandelt;
terner erschien: Spangenberg, Der Jagdteufel
1560; „Neu Jag- und Weydwerckbuch** bei
Feyerabend- Frankfurt 1582 mit vielen Holz-
schnitten, eine freie Bearbeitung der Venerie
des Jacques du Fouilloux ; Täntzer, „Der Dianen
hohe und niedere Jagdgeheimniss" 1682 ; „Ade-
liche Weydwercke" 1699. Zu den bedeutendsten
Erscheinungen des 18. Jahrhunderts gehören
„Der vollkommene Teutsche Jä8:er" von H. F.
von Flemming 1719 und H. W. Doebels „Neu-
eröffnete Jägerpraktika" 1746, 4. Aufl. 1829.
Beide Schriften handeln auch über forstliche
Dinge und geben ein getreues Spiegelbild von
der Blütezeit der Jägerei im 18. Jahrhundert.
Im 19. Jahrhundert löste sich die Jagdlitteratur
von der forstlichen los.
3. Jagdrecht und Ja^dpolizei. Die
völlige Eini'äumung des Jagdrechts an die
Gnmdbesitzer hatte überall schwere Miss-
stände im Gefolge in Bezug auf die öffent-
liche Sicherheit und die Erhaltung eines
noch wünschenswerten "Wildstandes. Aus
sicherheitspoüzeilichen und weidmännischen
Gründen wurde daher überall eine Oi'dnung
des Jagdausübungsrechts in mehrfacher
Hinsicht nötig: a) Das Jagdausübungsrecht
ist vom Besitze eines auf die Person lauten-
den amtlich ausgestellten Jagdscheines
(-karte, -pass) abliangig. Derselbe muss ge-
wissen Personen verweigert w^erden (Geistes-
kranken, unter Polizeiaufsicht Stehenden,
Jagdfrevlern u. s. w.) oder kann verweigert
werden (Minderjährigen , Verschwendern,
Dienstboten etc.). Für Aufstellung des Jagd-
scheins wird eine in den einzelnen Staaten ver-
schieden hoch bemessene Gebühr erhoben
(Preussen und Bayern 15 Mark, Sachsen 12,
Württemberg 20, Baden 25, Elsass-Lothringen
20 Mark), b) Das Jagdausübungsrecht auf eige-
nem Gelände ist an ein bestimmtes Minimal-
mass an zusammenliängendem Grundbesitz ge-
bunden (Preussen 76,6 ha im Geltungsbereich
des Jagdpolizeigesetzes von 1850, Bayern:
Flachland 81,8, Hochgebirge 136,3, Seeen und
Fischteiche 17,0 ha; Sachsen 166, Württem-
berg 15,7, Baden 72,0, Hessen 75, Elsass-
Lothringen 25 ha; Oesterreich und Ungarn
115 ha). Auf ganz umfriedigten Grund-
stücken steht die Jagd dem Eigentümer
unter allen Umständen zu. c) Zeitlich ist
die Jagdausübung beschränkt durch die ge-
setzlich bestimmte Schon- und Hegezeit,
innerhalb welcher die Eriegimg bestimmter
Wildgattungen verboten ist. Leider bestehen
hierüber in Deutsclilaud und in Oesterreich
sowie in den übrigen benachbaiien Ländern
keine einheitlichen Bestimmungen, wodurch
die Kontrolle, namentlich an den Grenzen,
sehr erschwert wird. (Eine vollständige
Zusammenstellung der Schon- imd Hege-
zeiten findet sich in dem »Forst- und Jagd-
kalender« von Neumeister und Behm.) Mass-
gebende Gesichtspunkte für Feststellung der
Schonzeiten sind die Rücksichten auf die
Zeit der Vermehrung, auf die Schonung der
Feldfrüchte beim Jagdbetrieb, auf die beste
Benutzbarkeit des Wildprets und der FeDe.
d) Erlegt darf nur solches Wild werden,
welches gesetzlich oder verordnungsmässig
ausdrücklich oder indirekt als jagdbar be-
zeichnet ist
In jenen Staaten, in welchen für die
Jagdausübung auf eigenem Grundbesitz ein
gesetzliches Mindestmass bestimmt ist, wer-
den die nicht darunter fallenden Grund-
stücke zu einem oder mehreren Jagdbezir-
ken vereinigt, in welchen die Gemeinde
oder auch die alle Gnmdbesitzer umfassende
Jagdgenossenschaft die Jagd dxirch Eigen-
betrieb oder durch Verpachtung ausübt.
Ein rationeller Jagdbetrieb kann nur in
nicht zu kleinen Jagdbezirken stattfinden.
Die Bildung kleiner Bezirke hat den Vor-
teil, dass auch der mit Geld und freier
Zeit weniger gesegnete Jagdliebhaber eigene
Jagd ohne grosses Risiko erwerben kann
und dass die Wildstände nicht zu pross
werden. Dagegen ist der weidmännische
Betrieb und namentlich die Wildpflege sehr
erschwert, indem jeder von dem Wüdstande
seines Nachbarn mitzehrt und die Vertei-
lung des Wildschadens sehr ungerecht aus-
fallen kann. Je mehr Jagdgrenzen, desto
schlechterer Jagdbetrieb. Zu grosse Jagd-
bezirke sind dagegen wieder schwer zu
verpachten. Sinngemäss übertragen gilt
vorstehendes auch für kurze und lange
Pachtzeiten.
Die Jagdgesetzgebung ist im Deut-
schen Reiche Sache der Landesgesetzgebiuig ;
nur das Jagdstrafrecht ist im Reichsstrfägesetz-
buch geordnet und der Wildschadenersatz teil-
weise im Bürgerlichen Gesetzbuch. Die
speciellen Jagdgesetze »sind :
Preussen: Jagdpolizeigesetz v. 7. März
18Ö0 für die alten Provinzen, auf Nassau und
Schleswig -Holstein durch V. v. 30. März 1867
und G. V. 1. März 1873 erstreckt, Erg.-G. v.
29. Aprü 1897; G. v. 26. Februar 1870 mid
Erg.-G. V. 13. August 1897 betr. Schonzeiten;
Jagdscheingesetz v. 31. Jiüi 1895 ; für Hannover
und Hessen-Cassel teilweise noch die V. v. 11.
März 1859 und G. v. 7. September 1865; für
Hohenzollem G. v. 2. Mai 1853. — Bayern
a) rechtsrheinisch : Jagdgesetz v. 30. März 18ö0,
V. V. 5. Oktober 1863 ; b) linksrheinisch : Fran-
zösisches G. V. 26. März 1798, V. v. 21. Sep-
tember 1815, 4. Januar 1872. — Sachsen:
Jagdgesetz v. 1. Dezember 1864, Wildschon-
gesetz V. 22. Juli 1876. — Württemberg:
Jagdges. V. 27. Oktober 1855, V. betr. Hege-
zeiten V. 30. Juli 1886. — Baden: Jagdgesetz
V. 2. Dezember 1850 und Novelle v. 2^. April
1886. — Hessen: G. V. 26. Juli 1848, le.JuH
1858, 19. August 1893, V. 2. September 1893,
Jagd
1303
— Braunschweig: G. v. S.September 1848,
16. April 1852, 1. April 1879, 16. August 1896,
— Elsass-Lothringen: G. 7. Februar 1881.
7. Mai 1883, 8. Mai 1889.
Oesterreich: Patent v. 7. März 1849
(Aufhebung des Jagdrechts auf fremdem Grund-
eigentum) und V. V. 15. Dezember 1852; be-
sondere Jagdgesetze wurden erlassen für:
Böhmen 1. Juni 1866 (Gemeindejagd abge-
schafft und Genossenschaf tsjagd eingeführt).
Oberösterreich 1895, Vorarlberg 1892, Triest
1895, Mähren 1895, Görz 1896, Galizien 1897,
Steiermark 1898.
Ungarn: G. v. 1872 und 18a3 (Jagdkarte
12 fl., Gewehrsteuer 2fl. jährlich). — Schweiz:
G. V. 17. September 1875. — Russland: G. v.
25. Februar 1892.
^ In Frankreich ist das Jagd ausübungs-
recht nicht von einer gewissen Grösse des
Grundeigentums abhängig, sondem jeder Grund-
eigentümer kann gegen Lösung eines Permis
de chasse (28 Francs) auch aiu der kleinsten
Parzelle die Jagd selbst ausüben oder dieselbe
durch besonderen Vertrag verpachten. Zur
Jagdausübung auf eingefriedigten Grundstücken
ist ein Jagdpass nicht erforderlich. Beginn
und Schluss der Jagdzeit wird jährlich in jedem
Departement vom Präfekten festgesetzt. Der
Jagdpass kann oder muss gewissen Personen
(gerichtlich Verurteilten etc.) verweigert wer-
den (Jagdpolizeigesetz v. 3. Mai liä4; G. v.
7. Februar 1874, 22. Januar 1874, V. v. 26. Jiüi
1875). Die Jagd auf Staatsgrundeigentum und
Gemeindegründen wird verpachtet (V. v. 20.
Juni 1845, G. v. 18. Juli 1837).
In England wurde 1831 das Jagdrecht
als eiu Zubehör des Grundeigentums erklärt.
Jagdschein gefordert.
In Italien kann jedermann überall jagen,
wenn er im besitze eines Jagdscheines ist.
4. Wildschaden. Ncoch dem Bürger-
liclien Gesetzbuche des Deutschen Reichs
muss der Jagdberechtigte auf fremden
Grundstücken den Scliadeu ersetzen, welcher
durch Elch-, Dam- oder Rehwild oder durch
Fasanen verursacht wird. Der Landesge-
setzgebung ist nach dem Einftihrungsgesetz
vorbelialten : die Ai-t der Feststellung des
Wildschadens, die Ausdehnung der Ei'satz-
pflicht auf noch andere Wildgattungen, die
Verteilung des Schadenersatzes unter die
Gnmdeigeutümer bezw. Haftung der Ge-
meinde oder des Jagdpächters, das Rück-
griffsrecht des Ersatzpflichtigen gegenüber
fremden Jagdbezirken (Regresspflicht in
Hannover) u. s. w. — Eine besondere Ge-
setzgebung für Wildscliadenersatz bestand
vor dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Ge-
setzbuchs auf 84®/0 der Fläche des Deut-
schen Reiches (Preussen 1891, Bayern 1850,
Hessen 1895 u. s. w.), auf 4®/o der Fläche
(Elsass-Lothringen und Rheinpfalz) galten
die allgemeinen Bestimmungen über Scha-
denersatz, auf 12 "/o der Fläche (Sachsen.
Württemberg, Baden u. s. w.) war der Er-
satz gesetzlich ganz oder beinahe ganz aus-
geschlossen.
In Frankreich, Italien imd Belgien ist
Wildschadenersatz nach den allgemeinen
Bestimmungen über Schadenersatz zu leisten,
in England existiert ein solcher Anspruch
nicht.
Den Wildschaden mit Barmitteln oder
sonstigen Vergünstigungen zu vergüten, waren
einzelne Landesherren schon früher bestrebt. Die
Entstehung vieler Forstrechte ist auf diesen
Zweck zurückzuführen. In Sachsen ordneten
schon im 16. Jahrhundert die Kurfürsten
August und Moritz den Ersatz des Wildscha-
dens an, letzterer noch auf seinem Totenbette.
In Bayern wurden um 1760 aus der landes-
herrlichen Kasse ausgiebige Vergütungen ge-
leistet. Allein es zeigte sich bald, dass, wie es
auch heutzutage noch oft vorkommt, die Bauern
daraus zu viel Gewinn ziehen wollten. „Der
Ersatz kam . . . jedes Jahr immer höher, weil
in die Rechnung auch die Taxen und Sportein
für die Advokaten, Beamten, Schergen und
Sch&tzleute . . . miteingeschaltet wurden."
Auch die Beschädigungen, die das eigene
Weide vieh des Bauern verursachte, seien mit
eingerechnet worden. „Endlich machte mau es
zu arg", und es wurde daher 1778 die Ent-
schädigungspflicht wieder aufgehoben (von
Stubenrauch 1779). — Auch eine sächsische
Verordnung von 1783 und die noch geltende
österreichische Jagdordnung von 1786 erkennen
die Ersatzpflicht an.
6. Statistik. Regelmässige statistische
Erhebungen über Wildnutzung und Jagdbe-
trieb liegen nur aus Oesterreich vor. In
Preussen w;irde der Wildabschuss vom 1.
April 1885 bis 31. März 1886 simüich er-
hoben und zwar nach Gemeinde- und Guts-
bezirken mittelst Zählkarten, deren Aus-
füllung imter Leitung imd Kontrolle der
Landräte den Gemeinden bezw. Gutsvor-
ständen oblag.
Innerhalb Europas nehmen die abso-
luten Jagderträge ab von Ost nacli
West und von Nord nach Süd. In Russland
wirft die Jagd jährlich 300 Millionen Rubel
Silber ab und nimmt als Erwerbs(j[uelle die
dritte Stelle ein (Pelzhandel). In Oesterreich
wird der Wert des gegenwärtigen jährlichen
Wildanfalles (ausschliesslich Galizien) auf
3300000 fl. geschätzt; die Jagdpachtzinse
betrugen 1898 1329 694 fl., die Gebühren
für Jagdkarten und Jagdausübung 3r)8 708 fl.
Der Wildabschuss und somit auch der Wild-
stand nimmt in Oesten-eich alljährlich zu;
es wurden erlegt (Stücke):
Haarwild
grosses kleines
Feder- Raubwild
wild Haar- Feder-
wild wild
1874 42791 91 1247 946371 27895 28339
1895 104377 1 176448 1 184926 67343 90881
1898 118 919 1533547 1574677 80124 106977
Im Jahre 1898 w^irden aus Oesterreich
16 560 dz Wüdpret im Werte von 1 573 000 fl.
1304
Jagd — Jagdrecht
ausgeführt, hauptsächlich nach Fi*ankreich.
Nach einer früheren Angabe von Dimitz
entfallen auf 100 ha an Wilderträgen in:
Niederösterreich 14,90 fl. Salzburg 3,24 fl.
Böhmen 14,60 „ Küstenland 3,04 „
Mähren 14,44 ,, Tirol und
Oberösterreich 10,54 „ Vorarlberg 1,74 „
Schlesien 10,50 » Krain 1,65 „
Steiermark 6,42 „ Galizien 1,46 „
Kärnten 3,73 „ Bukowina 0,69 „
In Preussen wurde 1885/86 der Gesamt-
wert des Wildabschusses zu 11,8 Millionen
Mark ermittelt. — Frankreich deckt
seinen eigenen Bedarf an Wildpret nicht
und führt jährlich 600000 kg ein, in
Spanien und Italien sind die Jagderträge
gleich null. Im Gegensatz hierzu steht
wieder der grosse Wildreichtum Skandina-
viens. — In Bezug auf den Wert des Wild-
ertrages kommt der Niederjagd grössere Be-
deutung zu als der Ilochjagd. In Preussen
bringen von dem Gesamtwerte des jähr-
lichen Wildabschusses in der Höhe von
11,8 Millionen Mark die Hasen und Keb-
hühner allein 7,1, Rehe 1,8, Rotwüd nur
0,6 Millionen Mark ein. In Oesterreich
participiert die Niederjagd mit 64^/0, die
hohe Jagd mit 36 ®/o an dem gesamten
Wüdertrage. Erstere überwiegt in den
Küstenländern, letztere im Gebü'ge (Alpen).
Lltteratur: Jagdrecht und Jagdpolizei:
J)i€ für die einseinen Siaatcii erlassenen Jagd-
gesetze liegen meistens in mehrfachen Ausgaben
vor. — Für den geschichtlichen Teil sind die
unter Forstgeschichte angegebenen Werke mass-
gebend (oben Bd. III S. lLi4). Eine ausführliche
Geschichte des Jagdrechts existiert übrigens noch
n icht. — Ja g dp olitik : Graner , Forstgesetz-
gebung und Verwaltung, 1892. — Schwappachj
Forstpolitik, Jagd- und Fischereipolitik, 1894- —
Jjorey und tTolly in Schönbergs Handb. der
polit. Oekonomie, Bd. S. — Albert f Die deut-
sche Jagdgesetzgebung nach ihrem dermaligen
Stande, 1890. — Fürst, Illustriertes Forst- und
Jagdlexikon, 1888. — von Dmnbrowsky,
Encyklopädie der gesamten Forst- und Jagd-
wisse nscluiften , 1886 — 1894. — Orunert,
I>ie Ja^dgesetzgebung Jh'eussens in ihrer ge-
schichtlichen Entwickelung, 1885. — WeHsely,
Oeste.rreichs Jagdrecht, 1890. — I>tniitZf Die
Jagd in Oesterreich etc., Linz 1880. — AliUerf
Das Jagdwesen der alten Griechen und Römer,
München 1888.
M. Endres.
Jagdrecht.
1. Der Begriff des J. 2. Das römische
Recht. 3. Das J. des älteren deutschen Rechts.
i. Das Jagdregal. 5. Die neuere Jagdgesetz-
gebung.
1. Der Begriff des J. Der Begriff des j
Jagdrechts gestattet eine zwiefaclie Auf- ,
fassung. Man kann daiiinter das Recht ver-
stehen, Handlungen vorzunehmen, mittelst
deren man dem Wilde in seiner natürlichen
Freiheit nachstellt; sei es in der Absicht,
es in Besitz zu nehmen, sei es nur, um die
Tiere (z. B. reissende Tiere), die man ver-
folgt, zu töten und imschädlich zu machen.
Das Jagdrecht ist ferner aber auc^ denkbar
als ein Recht von objektiver Bedeutung.
Wo ihm diese beiwohnt, hat der JagdlKV
rechtigte den alleinigen und ausschliesslichen
Anspruch auf das innerhalb eines räumlich
begrenzten Bezirks befindliche Wild. So-
weit ein solches Jagdrecht sich anerkannt
findet, wird es gewöhnlich mit dem Jagd-
rechte im ersteren Sinne zusammentreffe«.
Notwendig ist dies jedoch nicht. Es ver-
mag sich Jiuch geltend zu machen, ohne
dass eine jägerische Thätigkeit vorange-
gangen ist. Wer in seinem Jagdreviere ein
Stück Fallwild findet und oecupiort, macht
vom Jagdrechte wohl in der zweiten, nicht
aber in der ersten Bedeutung Gebrauch.
2« Das römisetae fieeht« Nach römischem
Rechte ist die Befugnis zur Vornahme der
Handlungen, durch die man dem Wilde nach-
stellt, ein Ansfluss des Grundeigentums. Der
Eigentümer darf jedem, der kein entgegen-
stehendes Recht erworben hat, das Betreten
seines Areals verwehren. Er vennag so that-
sächlich andere Personen an der Ausübung der
Jagd innerhalb der Grenzen seines Besitztums
zu hindern. [§ 12 J. de rer. div. (2,1\ 1. '^
§ 1 D. de acqu. rer. dorn. (41,1), L 13 §1. D.
de injur. (47,10) ]. Aber auch das Jagen selbst,
soweit dieses unabhängig von der Befugnis,
fremdes Areal zu betreten, statt^ndet. darf er
allen verbieten, die kein dingliches oder per-
sönliches Recht erworben haben, das sie er-
mächtigt, dem Wilde auf seinem Grunde nach-
zustellen [1. 16 D. de serv. praed. rust^ (8,3 \
l. 62 pr. D. usufr. (7,1)]. Zu der Nutzung des
Grundstücks gehört nämlich auch die Möglich-
keit und Gelegenheit, die es gewährt, Jagden
darauf abzuhalten [1. 26 D. de. nsur. {22,1). 1.
22 D. de instr. vel instr. legat. (33,7^1 ]. Bei
enfsprechender Lage und Beschaffenheit des-
selben kann der Ginindeigentümer aus der Aus-
übung der Jagd sich eine mehr oder minder
regelmässifi: wiederkehrende Einnahme ver-
schaffen. Dieser Vorteil, den ihm der Besitz
des Gutes darbietet, soll ihm nicht entzogen
oder geschmälert werden. Es darf daher be-
fugter weise nur derjenige die Jagd auf fremdem
Grund und Boden ausüben, der, wie der Niess-
braucher, gleich dem Eigentümer selbst, ein
Recht hat, aus dem Gute den Nutzen zu ziehen,
welchen dasselbe gewährt, wenn man von der
dort gebotenen Gelegenheit zu jagen Gebrauch
macht (1. 62 pr. D. de usufr. 7,1, womit zu vgl.
Scholion Stephan, in Zacchariae a Lingenthal
suppl. ed. Basilicor. p. 89). Ein Jagdrecht in
der Bedeutung des Rechts, mit Ausscliliessung
anderer die Thätigkeit des Jagens auszuüben,
haben sonach schon die Römer anerkannt. Da-
bei aber sind sie stehen geblieben. Ein Recht
des Grundeigentümers bezw. des Niessbranchers
auf das in seiner natürlichen Freiheit innerhalb
Jagdrecht
1B05
der Grenzen eines Gutes herumscfa weifende
Wild nehmen sie nicht an. Sie behandeln das
Wild schlechthin nach denselben Grundsätzen
wie andere nicht jagdbare Tiere (z. B. Insekten).
Gleich diesen ist es als herrenlose Sache der
Zueignung durch jedermann freigegeben, einerlei
ob die Besitznahme auf eigenem oder auf
fremdem Grunde vollzogen wird. Es ist daher
auch gleichgiltig , ob der Occupant zu den
jägerischen Handlungen, welche der Besitz-
nahme vorhergingen, befugt war oder nicht.
Denn nur das Jagen, nicht auch die Zueignung
selbst gilt als ein ausschliessliches Hecht eines
einzelnen Berechtigten, namentlich des Grund-
eigentümers. Dieser kann wohl gegen den un-
befugten Jäger wegen Eingriffs in sein Eigen-
tumsrecht oder wegen Besitzstörung klagbar
werden. Hat doch jener ihn gehindert, von
seinem Grundstücke den ihm allein zukommen-
den Gebrauch zu machen [1. 11 C. de serv.
(3,34), 1. 11 D. de vi (43,11) 1. 5 D. si usufr.
pet. (7,6)]. Nicht aber steht dem Grundeigen-
tümer ein rechtlicher Anspruch um deshalb zu,
weil ihm vermöge des unbefugten Jagens ein
Recht auf das durch den Dritten erbeutete Wild
entzogen wird. Der Thatbestand der Ent-
wendung (furtum) liegt hier nicht vor. Dieses
Delikt setzt nach römischem Rechte voraus,
dass die entwendete Sache sich bereits im
Eigentume jemandes befindet, entweder im
Eigeutume des Bestohlenen selbst oder in dem
eines anderen, dem gfegenüber der Bestohlene
ein dingliches oder doch wenigstens ein persön-
liches Recht hat [1. 43 § 5, l. 26 § 1 de fürt.
(47,2), 1. 6 D. de expil. her. (47,19)]. DasW^ild
aber, als herrenlose Sache, steht in niemandes
Eigentum. Es ist daher nur folgerichtig, wenn
Paulus in 1. 26 pr. D. de fürt. (47,2) dem Grund-
eigentümer, auf dessen Grund und Boden ein
Dritter Bienen und Waben sich zugeeignet hat,
die actio furü gegen den Occupanten abspricht.
Den Bienen aber stellt der Jurist alle übrigen
herrenlosen Tiere vollkommen gleich, ohne etwa
das jagdbare Wild auszunehmen.
3. Das J* des älteren deutschen Rechts.
Anders wie das römische Recht verbindet das
ältere germanische und deutsche Recht mit dem
Worte Jagd (venatio) nicht bloss einen sub-
jektiven, sondern zugleich einen objektiven Be-
griff. Schon nach den Volksrechten (1. Salic.
33.1, 1. Ribuar. 42,1) wird das unbefugte Jagen
auf fremdem Grund und Boden als eine Abart
(les furtum behandelt und bestraft. Als Gegen-
stand dieses Delikts gilt die Gesamtheit der
Tiere verschiedener Art (diversae venationes),
welche den Wlldstand eines Reviers ausmachen.
Das einzelne Stück W^ild, dessen sich der un-
befugte Jäger bemächtigt, kommt als eine noch
nicht im Besitze des Jagdherrn befindliche Sache
dabei nur insoweit mit in Frage, als es dem
Komplexe des W^ildes angehörte, dem es wider-
rechtlich entzogen ward. Um deshalb klagt
denn auch der Jagdberechtigte gegen den
Wilderer nicht sowohl wegen des einzelnen
Wildes, das dieser erlegt und in Besitz ge-
nommen hat, sondern weil dieser in seinen Wild-
stand unerlaubterweise eingriff" (l. Rib. 42, 1 —
de venatione agitur. Vgl. das. 76 mit Sachsensp.
II, 3Ö). Das aber setzt die Annahme voraus,
dass dem Geschädigten in Bezug auf das Wild
in seiner Gesamtheit ein ausschliessliches Recht
zustand. Wie geartet man sich dieses Recht
dachte, erhellt aus den Volksrechten nicht, wohl
aber aus den Quellen des deutschen und ger-
manischen Rechts des späteren Mittelalters.
Einzelne derselben schreiben dem Ja^dberech-
tigten geradezu ein Eigentum an dem m seinem
Revier befindlichen Wilde zu (Schwabensp. 232
(Lassberg). Glosse zum Sachs. Weichb. 122j.
W^o das nicht geschieht, wird ihm doch das
alleinige Recht auf Zueignung desselben zuge-
billigt. Seine Bedeutung ist die, dass damit
die Möglichkeit des Eigentumserwerbs durch
dritte unbefugte Jäger ausgeschlossen wird.
In völlig unzweideutiger W^eise spricht sich
hierüber das norwegische gemeine Landrecht
des Königs Magnus Hakonarson von 1274 aus :
„W^enn jemand in den Wald eines anderen
Mannes eindringt", heisst es dort (Landsleigo-
Bölkr. c. 58), „mit Hunden auf Tiere zu jagen,
da jagt er diese dem, dem der Wald
gehört." Jedoch waren keineswegs etwa alle
Tiere, die sich in ihrer natürlichen Freiheit
innerhalb eines bestimmten Bezirks bewegen,
dem Jaedrechte vorbehalten. Dieses beschränkt«
sich vielmehr allein auf diejenigen Tiere, welche
nach Gewohnheit und Gesetz der einzelnen
Länder und Landschaften als jagdbar galten.
Die übrigen waren Gegenstand des freien Tier-
fanges (Regensburger Landfrieden Kaiser Fried-
richs I. von 1154 (Mon. Germ. L. L. II, p. 103),
Sachsensp. II, 61, § 9. Xorw^eg. Landr. 1274,
Landleigo-Bülkr. c. 58, 59).
In der umfassenderen Bedeutung, welche
neben der Befugnis zum Jagen zugleich das
Recht einschloss auf das innerhalb bestimmter
Grenzen sich aufhaltende W'ild, war das Jagd-
recht ursprünglich mit dem Immobiliareigen-
tum verbunden (1. Salic. 33,1. 1. Rib. 42,1). Wo
Sondereigentum stattfand, hatte der Grund-
eigentümer auf seinem Areal die Jagd. Nicht
alles Land aber war Sondereigentum einzelner
Besitzer. Ein grosser Teil des urbar gemachten
Bodens und der bei weitem grössere Teil des
Waldes war Eigentum der Markgenossenschaften.
Dort war die Jagd kein Individualrecht. Sie
war aber darum doch nicht etwa jedermann
freigegeben, sondern blieb ein ausschliessliches
Recht, indem ausser den beteiligten Markge-
nossen niemand in Feld und W'ald der gemeinen
Mark jagen und das Wild sich zueignen durfte
(1. Rib. 76 vgl. mit 42,1 das.). Die weitere Ent-
wicklung führt zu der Lösung del* Verbindung
von Jagd und Grundeigentum und zur Ent-
stehung eines Jagdrechts auf fremdem Grund
und Boden. Den ersten Anlass gab die Er-
richtung der Bannforsten durch die fränkischen
Könige. Indem sie in bestimmten grösseren
W^aldungen anderen die Jagd bei Strafe des
Königsbannes von 60 Solidi verboten, bedrohten
sie das unbefugte Jagen mit einer härteren
Strafe, als das Volksrecht sie statuierte. Bei
Wäldern, welche den Könijfen eigentümlich ge-
hörten, bewirkte so die Einforstung nur einen
höheren Schutz gegen Ja§;dfrevel. Nicht überall
aber beschränkte sich die Einforstung auf die
eigenen Güter des Königs oder derjenigen geist-
lichen und weltlichen Grossen, die vom Könige
mit dem Forst- und Wildbann begnadigt wurden.
Auch Wälder, welche Teile gemeiner Marken
bildeten, ja selbst, wenngleich seltener, die
Liegenschaften einzelner Eigentümer, wurden
1306
Jagdrecht
in die Bannforst en mit einbezogen. Die Mark-
genossen bezw. die Sondereigentümer, mit oder
ohne deren Willen nnd Zustimmung solche Ein-
forstung vor sich ging, unterlagen fortan gleich
anderen Personen dem für die Bannforsten er-
gangenen Jagdverbote.
Ausserhalb der Bannforste vollzog sich die
allmähliche Lösung der Verbindung des Jagd-
rechts mit dem Grundeigentum unter dem Ein-
üuss, den nach der Ausbildung des Lehnswesens
und der dadurch herbeigeführten Aenderung der
Heeresverfassung die Standesverhältnisse auf
die Rechte der Grundbesitzer äusserten. Be-
deutsam wurde da namentlich der Umstand, ob
jemand von Ritters Art war oder nicht. Nicht
mehr das Eigentum an sich, sondern das durch
den Stand des Besitzers qualifizierte Recht am
Gute sollte fernerhin für das Jagdrecht ent-
scheidend werden. Die von Geburt freien Ritter
und die Mitglieder des späteren niederen Adels,
welcher aus der Verschmelzung der Ministerialen
mit den freien Rittern hervorging, übten die
Jagd auf ihren Gütern ohne jedwede Beschrän-
kung aus. Dem Adel stand m dieser Hinsicht
während des späteren Mittelalters die höhere
Geistlichkeit gleich. Uebten die deutschen
Könige ehemals auf den Gütern der Reichs-
bischöfe und Reichsäbte die Jagd aus, so wurde
dieser Befugnis der Boden entzogen, als mit
der Beendigung des Investiturstreites durch das
Wormser Konkordat von 1122 das königliche
mundium über die Reichskirchen hinwegfiel.
(Heusler, Institut, d. deutsch. Privatr. I. S. 371.
Vgl. auch S. 114 if. 322 das.) Für die Besitzungen
der landsässigen Bischöfe und Aebte aber ergab
sich das unbeschränkte Jagdrecht aus der That-
sache, dass mit ihnen, ebenso wie mit den
Gütern des Adels grundherrliche und publi-
zistische Gerechtsame verbunden waren, so na-
mentlich nach dem Aufkommen der Landstände
das Recht der Teilnahme an deren Versamm-
lungen. Nicht ganz dieselbe Bewandtnis hatte
es mit der Jagd der Städte und ihrer Bürger
in den zum Stadtgebiete gehörigen Wäldern
und Feldmarken. Während die Reichsstädte
und manche, selbst weniger bedeutende landes-
herrliche Städte volle Jagdfreiheit genossen
(Riccius, Zuverläss. Entw. der Jagdgerechtigkeit
S. 6n, 66, Privileg, für Stavenhagen v. 1282 in
Mecklenb. U. B. ^r. 1630, für Mehlsack v. 1312,
für Sensburg v. 1338 in ('od. Warm. I, Nr. 163,
291), traf dies bei der Mehrzahl der letzteren
nicht zu. Bei einigen war die Ausübung des
Jagd rechts von der Verpflichtung abhängig ge-
macht, dass dem Landes- oder Grundherrn von
einzelnen Stücken des erbeuteten Wildes ge-
wisse Teile abgeliefert würden (vgl. Selber tz,
Westf. ü. B. I, 1, Nr. 105, III, Nr. 1037, 1063).
Anderen sollte nur die Jagd auf kleines Wild
(parvae ferae, d. s. Hasen und Feldhühner) er-
laubt sein, während die Hirsch jagd dem Landes-
oder Grundherrn vorbehalten blieb (vgl.- z. B.
Bewidmung der Stadt Frankfurt a. 0. mit 124
Hufen a. 1253 in Gercken, Cod. dipl. VII, S.
563; s. femer die Privilegien von Gutstadt v.
1329 (Cod. Warm. I, Nr. 245) und Allenstein v.
1353 (in Cod. dipl. Pruss. UI, Nr. 76)). Wo
diese Beschränkungen stattfanden, rührten sie
meistens daher, dass die Gründungen der be-
treffenden Städte auf fürstlichem oder grund-
herrlichem Areal vor sich gegangen waren, bei
dessen üeberlassung zu Eigentum oder auch
nur zu abgeleitetem Besitzrechte die Fürsten
bezw. Grundherren wegen der Jagd sich Rechte
vorbehielten. Sie grilfen darum nicht Platz,
wenn einmal eine Stadt ein ganzes, mit adeligen
Freiheiten und Rechten versehenes Gut erwarb.
Es stand ihr da, sofern bei der Veräusserung
nichts ausgenommen war, die Jagd im gleichen
Masse und Umfange zu, wie sie der adelige
Vorbesitzer besessen hatte.
Am ungünstigsten gestaltete sich das Recht
der Bauern bezüglich der Jagd. Als mit Aende-
rung der Heeresverfassung die Lehnsmiliz der
ritterlichen Vasallen und Ministerialen die Stelle
des Heerbannes der gemeinfreien Leute ersetzt
hatte, waren sie fast überall von weltlichen
und geistlichen Fürsten oder von grösseren und
kleineren Grundherren auf die eine oder andere
Weise abhängig geworden. Neben anderen
Folgen zog diese Abhängigkeit eine Mindemn?.
wenn nicht den gänzlichen Verlust ihres Jagd-
rechts nach sich, nicht allein in den gemeinen
Marken, wo sie als Markgenossen die Jagd ge-
meinschaftlich geübt hatten, sondern niät
weniger auf den im Sonderbesitz befindlichen
Liegenschaften. Teils wurden sie verpflichtet,
von der gemachten Jagdbeute den Grundherren
gewisse Stücke abzugeben, teils wurde ihre Be-
fugnis zu jagen auf kleines Wild (Hasen,
Füchse) und auf den Vogelfang eingeschränkt,
teils sollte ihnen die Jagd nur unter der Be-
dingung erlaubt sein, dass sie das erlegte Wild
zur eigenen Tisches Nahrung und Notdurft ver-
wandten, ohne etwas davon zu verkaufen. Da-
neben kamen, wenn auch seltener, Fälle vor.
wo ihnen die Zueignung jagdbarer Tiere über-
haupt versagt oder doch nur bei besonderen
Gelegenheiten, z. B. in Krankheitsfällen, s^
stattet war (Grimm, Weistüm. I, S. 387. 417;
I, S. 13, 384, 388; III, S. 281, 658, 659. S.
ferner Urk. v. 1316 in Cod. Warm. I, Nr. 178.
ürk. 1333/1381 in Senckenberg, Corp. jur. Germ.
II, praef. adj. B. p. XXIX.; Grimm. Rechts-
altert. [2. Aufl.] S. 249). Die Entst^hungsur-
sachen dieser Minderung oder Entziehung des
Jagdrechts auf seiten der Bauern waren ver-
schiedene. Nicht immer standen sie im Zn-
sammenhange mit der Thatsache, dass diese
ihre Güter als geliehene oder sonstwie zn ab-
feleiteten Rechten vom Fürsten oder Grund-
erm besassen. Sie konnten ebenso in Gründen
des öffentlichen Rechts beruhen. Das letztere
traf da zu, wo die Bauern unter die Vogtei
eines weltlichen oder geistlichen Fürsten, Grafen
oder Herrn kamen, ohne doch darum ihre per-
sönliche Freiheit und Rechtsföhigkeit noch aneh
das Eigentum an ihren Grundstücken zn ver-
lieren. Die Bedeutung des damit hergestellten
Abhängigkeitsverhältnisses war die, dass .«ie
für die Vertretung in der Kriegsdienstpflicht
welche der Inhaber der Vogtei^ewalt dem Reiche
und Lande gegenüber auf sich nahm, seiner
Gerichtsbarkeit unterworfen und ausserdem ver-
pflichtet wurden, ihm gewisse Abgaben nnd
Zinsen von ihren Gütern zu leisten. Zugleich
aber hatte das die weitere Folge, dass sie sich
mancherlei Einschränkungen der Nutzungen
ihrer Grundstücke und so namentlich auch der
Jagd zum Vorteil ihres Schutz- und Gericbts-
herm gefallen lassen mussten (Grimm, Weist. I.
S. 384, 387; III, S. 281. Eichhorn, Rechtsg«sch.
Jagdrecht
1307
§ 868. Stieglitz, Geschichtl. Darstell, der Eigen-
tumsverhältnisse an Wald und Jagd, S. 176).
Wo und soweit sie noch jagd berechtigt
gehlieben waren, wurde die Jagd den Bauern
mit wenigen Ausnahmen in der zweiten Hälfte
des 15. und im 16. Jahrhundert vollends ent-
zogen. Die darauf gerichteten Verordnungen
der Fürsten begegneten keinen Schwierigkeiten.
Die Adeligen und Prälaten, als die Vertreter
der privilegierten Stände sahen sich nicht ver-
anlasst, dagegen Widerspruch zu erheben und
sich der Bauern anzunehmen. Ging doch ihr
Interesse dabei mit dem der Fürsten Hand in
Hand. Denn fi^ieich jenen fiel auch ihnen als
Grundherren damit das Jagdrecht auf den
Gütern der von ihnen abhängigen Leute zu.
Gerechtfertigt wurde das Jagdverbot mit
Gründen, die man polizeilichen und wirtschaft-
lichen Erwägungen entnahm. Die Bauern
sollten durch unvorsichtiges umgehen mit
Schiesswaflfen nicht Unheil anstiften, noch, um
des Jagens willen, ihre Wirtschaft vernach-
lässigen (Polizei-Ordn. der Stände im Elsass v.
1552 in Krauts Grundriss [6. Aufl.] § 87, Nr.
28). Dazu kam die Sorge für eine bessere
Hegung des Wildes, namentlich der kleinen
Jagd. Sie wurde wesentlich erleichtert, wenn
nach Verminderung der Anzahl der Jäger die
Fürsten und Grundherren ausser in den eigenen
Forsten auf den anstossenden bäuerlichen Feld-
marken die Jagd fortan allein ausüben durften
(vgl. Verordn. d. Herz. Albrecht v. Bayern v.
1487 in Krauts Grundr. § 87, Nr. 16). Gleich-
zeitig mit dem Jagdverbote, und um dieses
wirksamer durchzuführen, wurde in manchen
Verordnungen den Bauern das Führen von
Schiesswafen untersagt (vgl. z. B. Constit.
terrar. Pruss. v. 1538 Fol. H. in : Jur. municipal.
terrar. Pruss. [Dantisci 1685J, Landesordn. des
Herzogt. Preuss. v. 1577 im Anh. zu dems.
Landr. v. 1721). Wenn man dem entgegen be-
hauptet hat, der Verlust des Waffen rechts sei
für die Bauern schon im Mittelalter einc^etreten
und habe das spätere Jagdverbot veranlasst, so
ist dies unrichtig. Die Aenderunff der Heeres-
verfassung nahm den Bauern wohl das Recht,
sich ritterlicher Waffen zu bedienen, nicht aber
büssten sie damit ohne weiteres etwa das
W^affenrecht überhaupt ein. (S. II F. 27, § 11.
Stieglitz a. a. 0. S. 178, s. auch Sachsensp. II,
71, Eichhorn, R.G. § 847, Note 6.)
4. Das JagdregaL Eine noch weitere Be-
schränkung erfuhr das Jagdrecht der Grund-
besitzer im 16. Jahrhundert. Sie betraf nicht
bloss die Bauern, sondern auch die Mitglieder
der privilegierten Stände. Hatten die Fürsten
ein Jagdrecht auf fremdem Grunde früher regel-
mässig nur innerhalb der Bannforsten und in
solchen Fällen gehabt, wo sie zugleich die
Grund- oder doch die Gerichtsherren waren, so
nahmen sie jetzt die Jagd als Eegal im ganzen
Umfange ihrer Territorien für sich in Anspruch.
Mit anderen Hoheitsrechten war das Forstbann-
recht von den deutschen Königen durch Ver-
leihung an die Landesherren übergegangen oder
auch von diesen usurpiert worden. Die hierüber
sprechenden Urkunden erhielten seit dem 14.
Jahrhunaert eine sehr vage Fassung. Ohne der
vorgängigen Errichtung von Bannforsten zu
gedenken, gebrauchen sie das Wort Wildbann
(wildpenue) als gleichbedeutend mit Jagdverbot
(venationum inhibitio. So z. B. die Urkunde
Kaiser Karl IV. in Mecklenburg. U. B. Nr.
6860). Mit demselben Worte verbindet die
Rechtssprache des späteren Mittelalters aber
zugleich den weiteren Sinn von Jagd, die inner-
halb eines bestimmten Bezirks jemandem aus-
schliesslich gehört (Schwabensp. | Lassberg] Art.
236). So darf es denn nicht befremden, dass
die Fürsten versucht wurden, dem von ihnen
erworbenen Forstbannrechte, entgegen seiner
ursprünglichen Bedeutung, eine Ausdehnung
über die Grenzen der Bannforste hinaus zu
geben und sich die Befugnis beizulegen, das
Jagen in ihren Ländern, wo immer es sei,
anderen zu wehren und zu verbieten. Die darauf
gerichteten Bestrebungen mussten indessen nach
der Entstehung und weiteren Entwickelung der
landständischen Verfassung auf Widerstand
stossen. Die privilegierten Stände, voraus der Adel,
der in den iandständischen Versammlungen durch
Zahl und Ansehen seiner Mitglieder den Aus-
schlag gab, waren keineswegs geneigt, eine
Kränkung oder Schmälerang ihrer Jagdrechte
ohne Widerspruch hinzunehmen. Das Recht
der Stände, die Steuern zu bewilligen, machte
es den adeligen Grundbesitzern möglich, bei
stattfindender Störung: und Hinderung in der
Ausübung der Jagd durch die landesherrlichen
Forstbeamten ihren deshalb in den Landtagen
erhobenen Beschwerden Nachdruck zu ver-
schaffen. Da kamen den Fürsten die romanis-
tisch geschulten Juristen zu Hilfe. . Sie dedu-
zierten, um von anderen ihrer Argumente hier
zu schweigen, aus den Vorschriften des römischen
Rechts über die erblosen Güter (bona vacantia)
ein allgemeines Recht des Fiskus auf herren-
lose Sachen, unter die denn auch die wilden
Tiere gerechnet wurden fs. A. Fritsch, Corp.
J'ur. venat. p. 115, Stieglitz a. a. 0. S. 270).
Praktisch wichtijpfer und bedeutsamer wai die
von ihnen gleichfalls aufgestellte Ansicht, dass
die Fürsten die Ja^d in ihren Ländern durch
unvordenkliche Verjährung erwürben, wenn sie
den Unterthanen das Jagen längere Zeit hin-
durch verbieten und wehreu möchten, ohne dass
diese im stände wären, die von ihnen trotz des
Verbotes etwa fortgesetzte Ausübung der Jagd
nachzuweisen (Stieglitz a. a. 0. S. 268). Lassen
sich nämlich Hasen und kleineres Wild, allen-
falls Rehe in Revieren von geringerem Umfange
hegen, so nehmen dagegen Hirsche und andere
wertvollere und seltener vorkommende jagdbare
Tiere, so lange sie ihrer natürlichen Freiheit
überlassen bleiben, ihren Standort regelmässig
nur in grösseren zusammenhängenden Wald-
komplexen. Bloss zeitweilig: und vorübergehend
streifen sie in kleinere Holzungen und ins offene
Feld hinüber. Bei dieser Sachlage waren viele
Grundbesitzer, die keine ausgedehnten Wälder
von grösserem Umfange hatten, nicht in der
Lage, den Beweis zu erbringen, dass sie seit
Menschengedenken auf ihren Gütern Wild ohne
Unterschied der Art gejagt hätten. Der von
den Fürsten den Beschwerden der Stände auf
den Landtagen entgegengesetzten Behauptung,
dass ihnen von altersher die Jagd des Hoch-
wildes ausserhalb ihrer Bannforsten und Gehege
allgemein zustehe, konnte daher auf den Land-
tagen selbst der Adel meistens nicht mit Erfolg^
widersprechen (Stie§:litz a. a, 0. S. 280 und 285
Note 35). In Verbindung mit der Lehre von
1308
Jagdrecht
der Itegalitat entstand so die Unterscheidung
zwischen hoher und niederer Ja&fd. Zur ersteren
rechnete man namentlich Hirsche (Rotwild) und
wilde Schweine. Die niedere Jagd umfasste
ausser Hasen und Feldhühnern meistens
auch Rehe. (Vgl. § 37, 38, II, 16 A.L.R.) Wo
man jedoch, wie in manchen Gegenden, daneben
noch eine mittlere Jagd annahm, waren Rehe
von der Niederjagd ausgenommen. Sie machten
da den hauptsächlichsten Gegenstand der Mittel-
jagd aus. (Ck)d. August, t. II, p. 611, 612 in
Krauts Grundr. § 87, Nr. 21.)
Trotz des Jagdre^ls behauptete sich der
Adel im Besitze der niederen, und wo man drei
Arten der Jagd unterschied, auch in dem der
mittleren Jagd. (Eichhorn, Rechtsgesch. § 548.)
Seltener blieb ihm die hohe Jagd erhalten. Das-
selbe ist Ton den Stiftern und Klöstern zu sagen,
welche die Reformation überdauerten, sofern sie
nicht wie in Schleswig und Holstein mit der
Entstehung des Jagdregals schlechthin jedes
Jagdrecht einbtissteu. Dahingegen behielten
die, Städte und ihre Bürger, soweit sie später
überhaupt noch jagdberechtigt waren, öfters
nur die niedere Jagd, nicht auch die mittlere
in solchen Gegenden, deren Recht die Drei-
teilung der Jagd kannte.
Eine besondere Bewandtnis hatte es mit
dem Regal in Schlesien. Dort wurde die Jagd
schon im Mittelalter den herzoglichen Rechten
(jura ducalia) zugerechnet. Niemand, Adel und
Klerus nicht ausgenommen, konnte die Jagd,
niedere so ^ut wie hohe, anders denn durch
landesherrliche Verleihung erwerben. (S. die
Urk. Nr. 25, 47, 54 v. 1247, 1253, 1258 in
Tzschoppe und Stenzel U.S. und Nr. 3 und 15
in Cod. dipl. Sil. II und dazu: Stenzel, Gesch.
Schlesiens I, S. 138, 143, 144.) Das war nicht
deutsches, sondern slawisches und zwar pol-
nisches Recht. (S. Cod. dipl. magn. Pol. Nr.
292, 1072, 1300, femer Cromer. De origine et
reb. ffest. Pol. p. 159, 204.) Dennoch blieb das
Regal in der Gestalt und in dem Umfange, den
es früher gehabt, in Schlesien auch dann be-
stehen, als deutsches Recht dort Eingang ge-
funden und die Herrschaft erlangt hatte. (S. J.
A. de Friedenberg, Tract. de gen. et part. Sil.
jur. II, S. 9.) Ja es sollte sogar nach der Ver-
einigung des Landes mit der branden burgisch-
preussischen Monarchie bestimmt sein, in der
Geschichte der Jagdgesetzgebung eine Rolle zu
spielen, deren Bedeutung weit über sein engeres
Herrschaftsgebiet hinausreichte. Als es nämlich
zur Abfassung des Allgemeinen preussischen
Landrechts kam, hatte Svarez in dem ersten
Entwürfe die Regalität der Jagd, entsprechend
dem in den übrigen Provinzen geltenden Rechte,
allein auf die hohe Jagd beschränkt. Der Gross-
kanzler T. Carmer aber setzte es durch, dass
dem Gesetzbuche die Vorschrift einverleibt
wurde: „Die Jagd gerech tigkeit gehört zu den
niederen Regalien, und kann von Privaten nur
80, wie bei Regalien überhaupt verordnet ist.
erworben und ausgeübt werden.** (§ 39, II, 16
A.L.R., s. dazu von Kamptz, Jahrb. für preuss.
Gesetzgeb. LVII, S. 59.) Als früherer Chef der
sämtliclieu Obergerichte Schlesiens, der zugleich
selbst in der Provinz grössere Güter besass,
stand y. Carmer unter der Herrschaft der dort
vom Mittelalter her historisch erwachsenen An-
schauung von der allgemeinen Regalität der
Jagd. Er hatte diese niemals als eigenes, son-
dern stets nur als ein Recht gekannt, welches
die Besitzer der Rittergüter fürstlicher Ver-
leihung verdankten.
Wurde so das Jagdregal eine Einrichtung
des gemeinen, wenn auch nur subsidiären
preussischen Rechts, eine gemeinrechtliche Be-
deutung für Deutschland bekam es darum doch
nicht. Einigen Ländern, so namentlich Mecklen-
burg, ist es überhaupt fremd geblieben. In
anderen erlangte es eine nur beschränkte Gel-
tung, indem es auf den Rittergütern allein die
hohe Jagd war, die renalen Charakter annahm.
Bei herrschender Regalität konnte die Jagd nur
durch den Landesherrn oder durch diejenigen,
welche die Jagdgerechtigkeit seiner Verleihung
verdankten, rechtmässig ausgeübt werden. Ge-
wöhnlich geschah die Verleihung der hohen
Jagd an Adelige mit Beschränkung auf deren
eigene Güter. Bisweilen aber erhielten die Be-
lienenen damit zugleich das Recht, Hochvtild
auf den angrenzenden Besitzungen ihrer Nach-
barn und Standesgenosseu zu jagen. AVo die
niedere Jagd imter das Regal fiel, wurde sie
re vier weise verpachtet oder auch wohl ohne
Gegenleistung ids sogenannte Gnadenjagd Pri-
vaten auf Widerruf überlassen.
Sowohl neben dem Jagdregal als beim
Mangel desselben fanden und finden zum Teil
heute noch Jagdrechte auf fremdem Grund und
Boden in grosser Zahl und aus verschiedenen
Rechtstiteln statt. Nicht allein, dass sie den
Rittergutsbesitzern auf den Gütern der von
ihnen abhängigen Bauern erhalten blieb, so
bildete die Jagd auch häufig den Gegenstand
einer Dienstbarkeit. (S. § 158, I, 9" A.L.R. t
Regelmässig war diese mit dem Eigentum an
dem Gute verknüpft, welches dem Jagdberech-
tififten gehörte. Sie ^ab ihm entweder die aus-
schliessliche Berechtigung zur Jagd auf dem
fremden Areal oder nur zur sogenannten Mit-
jagd, während die Jagd im übrigen dem Grund-
eigentümer oder anderen Personen gehörte,
welche dort ebenfalls Servitut berechtigt waren.
Hatten im letzteren Falle mehrere ein Recht
auf die Ja^d der gleichen Art und vom selben
Umfange im nämlichen Revier zu ideellen
Anteilen, so bezeichnete man ihr Verhältnis als
Koppel jaed.
Als Rest der alten mark^enossenschaftlicben
Jagden erhielt sich selbst nach dem Aufkommen
des Jagdregals in manchen Gegenden ein Re<'ht
der städtischen Bür&:er im Stadtgebiete und der
Dorfgenossen innerhalb der Gemeindeflur. So-
weit diese genossenschaftliche Jagd die in das
Sonderei£:entum übergegangenen Liegen schatten
mitbetrai. nahm sie den Charakter einer den
Eigentümern dort wechselseitig zustehenden
Grund gerech tigkeit an. Denn allein die Bärger
und Dorfgenossen galten als jagdbereohtigt,
welche im Stadtgebiete oder in der Dorfflur
Grundstücke besassen. Von dieser ^nossen-
schaftlichen Jagd ist die sogenannte freie Pörsch
(im engeren Sinne) zu unterscheiden, die früher
besonders in schwäbischen Kreisen vorkam und
sich in Hannover an einzelnen Orten bis zur
Gegenwart hin behauptet hat. (G. v. 11. Mira
1859, § 12, Hann. G.S. 1859, I, S. 159 ff.) .^ie
berechtigt zur Ja^d die sämtlichen Einwohner
eines bestimmten Bezirkes, ohne dass es darauf
ankommt, ob sie dort Grundstücke besitzen oder
I /:i
Jagdrecht
1309'
nicht. Die ihnen gewährte Ja^dfreiheit stellt
ein ßecht von eigentümlicher Natur nnd Be-
schaffenheit dar, das, getrennt von jeder Ver-
hindung mit dem Grundeigentume , dennoch
kein hloss persönliches Recht ist, sondern sich
eher einer Personalservitut vergleichen lässt.
Nicht unter den Begriff des Jagdrechts auf
fremdem Grund und Boden fällt dahingegen die
Wüd- und Jagdfolge. Zwar durfte, wo diese
üblich war, und darf an manchen Orten* noch
gegenwärtig der Jagdberechtigte das im eigenen
-evier von ihm verwundete oder angehetzte
Wild in den Bereich der einem anderen ge-
hörigen Jagd verfolgen. Das aber ist kerne
selbständige Jagdausübung, sondern die blosse
Fortsetzung der Handluno^ der Besitznahme an
dem einzelnen Stück Wild, die ihren Anfang
nahm, als dieses noch dem Wildstande des Jägers
zugehörte.
5. Die neuere Ja^dgesetzgebnng. Der
unzureichende Schutz gegen den W^ild-
schaden in Verbindung mit der harten Be-
strafung der Jagdfrevel sowie die Jagd-
fronden ^ welche die Bauern ihren Grund-
und Gerichtsherren zu leisten hatten, mach-
ten die Jagdrechte auf fremdem Grund und
Boden in hohem Grade verhasst. Ihre
gänzliche Abschaffimg war daher eine der
Forderungen der liberalen Partei im Jahre
1848. Sie fand ihren Ausdnick in den
Grundrechten des deutschen Volkes, welche
die Nationalversammlung zu Frankfiu't a'M.
aufstellte (§ 37). In mehreren deutschen
Staaten sah man sich veranlasst, den Grund-
eigentümern die Jagd auf ihren Gütern voll-
ständig frei zu geben. (Vgl. z. B. bayer.
G. v. 4. Juni 1848, preuss. G. v. 31. Oktober
1848, Sachs. V. v. 13. August 1849, wflrtt.
G. V. 17. August 1849.) Man ging damit
über die Grundrechte hinaus. Diese forderten
zwar die Herstellung einer untrennbaren
Verbindung zwischen Grundeigentum und
Jagdrecht. Seine Ausübung aber aus Gründen
der öffentlichen Sicherheit und des gemeinen
Wohles zu ordnen, behielten sie der Landes-
gesetzgebimg vor. Die Abschaffung des
Jagdregals und der als dingliche Rechte an
fremdem Grund und Boden bestehenden
Jagdrechte war rechtspolitisch durchaus
gerechtfertigt. Die Wiederherstellung der
im Mittelalter und in der neueren Zeit ver-
loren gegangenen Verbindung der Jagd mit
dem Gnmdeigentum bildete die notwendige
Ergänzung der übrigen Massregeln der
neueren Gesetzgebung, welche den erleich-
terten Besitz imd fi*eien Gebrauch der
Liegenschaften bezweckten. Nicht zu billigen
aber war es, dass man jedem Grundeigen-
tümer ohne Rücksicht auf umfang und Be-
schaffenheit seines Besitztumes die selb-
ständige Ausübung des damit verknüpften
Jagdrechts gestattete. Eine solche all-
gemeine Jagdfreiheit mochte sich vielleicht
empfehlen, wenn man bei der gesetzlichen
Regelung der Jagdfrage allein den Mass-
stab des Privatrecht« anlegte. Sie stand
dagegen im Widerspruche mit wichtigen
öffentlichen Interessen. Mit der Aufteilung
der Gemeinheiten hatte das Sondereigentum
eine viel grössere Ausdehnung angenommen,
als es früher gehabt hatte. Die Zahl der
einzelnen Grundeigentümer wurde noch ver-
mehrt, als die Gesetzgebung der Neuzeit
die Schranken und Hemmnisse hinweg-
räumte, welche nach der älteren Rechts-
verfassung die Parzellierung der Güter,
wenn nicht ganz ausgeschlossen, so doch
erheblich erschwert hatten. Unter diesen
waren viele so klein, dass eine Ausübung
der Jagd mittelst Schiessgewehren darauf
kaum möglich war, ohne die Besitzer der
Nachbargrundstücke zu -gefährden. Aber
auch da, wo der räiunliche Umfang dieser
Befürchtung nicht Raum gab, hatte die Frei-
gebung der Jagd bedenkliche Uebelstände
zur Folge. Soweit die Grundstücke nicht
gross genug waren , um die Besitzer der
Notwendigkeit zu überheben, dass sie in der
Landwirtschaft selbst mit Hand anlegten,
trat der gleiche Nachteil ein, den schon die
Jagdordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts
als einen der Gründe bezeichnet hatten, um
den Bauern das Jagen zu verbieten. Die
Beschäftigung mit der Jagd entzog viele
kleine Besitzer ihrem eigentlichen landwirt-
schaftlichen Berufe. Womöglich noch schlim-
mer aber war es, dass, sofern diese für
ihre Person keinen Gefallen daran fanden,
sie das Jagen auf ihrem Terrain anderen
Leuten gestatteten. Sie fragten dabei nicht
weiter danach, ob diese in Ausübung der
Jagd mit der nötigen Vorsicht verfuhren
oder etwa sog-ar die ihnen gebotene Gelegen-
heit zu Revierübei-schreitiuigen und zur ge-
werbsmässigen Wilderei benutzten. Nicht
allein, dass dem Wildstande Verderben und
Vernichtung drohte, stellte die grosse Ver-
mehrung der Zahl der Jäger die Rechts-
sicherheit in Frage. Diese aus der Jagd-
freiheit der Grundeigentümer in polizeilicher
und volkswirtschaftlicher Hinsicht entstehen-
den Nachteile machten eine anderweitige
Ordnung der Jagdausübung und deren Ein-
schränkung notwendig. Eine dahin gerich-
tete Aendenmg der Jagdgesetzgebung hat
denn auch in allen deutschen Staaten statt-
gefimden, wo man in den Jahren 1848/49
nach Beseitigung des älteren Rechtszustandes
mit dem Jagdrechte zugleich dessen Aus-
übung den Gnmdeigentümern eingeräumt
hatte. Festhaltend an dem Grundsatze, dass
das Jagdrecht mit dem Gnindeigentume
untrennbar verbunden sein müsse, machen
die seit 1850 erlassenen Jagd- und Jagd-
polizeigesetze die Ausübung, der Jagd von
gewissen persönlichen und dinglichen Er-
fordernissen abhängig. Die persönlichen Er-
fordernisse stehen mit dem Grundeigentume
•1310
Jagdrecht
und dem daran geknüpften Jagdreehte in
keinem Zusammenhange. Denn nicht bloss
der Grundeigentümer hat ihnen zu genügen,
sondern jeder, der die Jagd, sei es in eige-
nem oder in fremdem Namen ausüben will.
Es soll niemand jagen dürfen, der nicht bei
der zuständigen Verwaltun'gsbehÖrde einen
Jagderlaubnisschein (Jagdschein, Jagdkarte)
gelöst hat. Seine Erteilung verlangt wie-
derum gewisse Oarantieen in der Person
dessen, der darum nachsucht. Er muss oder
kann wenigstens allen denjenigen versagt
werden, von denen ein Missbrauch bei Aus-
übung der Jagd zu gewärtigen ist. (Preuss.
J.P.G. 7. März 1850 §§ 14—16; bayer. G.
30. März 1850 Art. 14 ff.; hannöv. G. 10. März
1859 § 18 ff.; bad. G. 2. Dezember 1850
§§ 13—16; Sachs. V. 14. Mai 1851 § 20 ff.;
württ. G, 17. Oktober 1855 Art. 7 ; el8.-lothr.
J.P.G. 7. Mai 1883 § 9). Anders die ding-
lichen Erfordernisse. Sie betreffen allem
die .Grundeigentümer. Soll diesen ausser
dem Jagdrechte zugleich die Befugnis
zustehen, es selbständig auf ihren Gü-
tern auszuüben, so müssen die letzteren
einen bestimmten Flächeninhalt aufweisen,
der in sich zusammenhängt, d. h. durch
fremde Gnindstücke nicht durchbrochen
wird. So werden in Preussen 300, in Ba-
den 200, in Württemberg melir als 50 Mor-
gen, im Königreich Sachsen 300 Acker, in
Bayern 240 Tagewerke im Flachlande, 400
im Hochgebirge, in Elsass-Lothringen 25
Hektar erfoi*dert. (Preuss. G. § 2; bayer.
G. Art. 2; hannöv. G. 10. März 1859 § 2;
bad, G. § 2 ; sächs. V. 13. Mai 1851 § 2 ;
Württemb. G. Art. 2; els.-lothr. Jagdg. 7.
Februar 1881 § 3). Eine Ausnahme machen
solche Grundstücke, die entweder diu'ch
Einfriedigungen oder vermöge ihrer natür-
lichen Beschaffenheit mehr oder weniger in
sich abgeschlossen sind. Auf ihnen soll,
ohne dass ihr Umfang in Betracht kommt,
den Eigentümern die Ausübung der Jagd
freistehen. (Preuss. G. § 2 ; bad. G. § 2, § 4 ff. ;
württ. G. Art. 2 ; baver. G. Art. 2 ; els.-lothr.
Jagdg. 7. Februar 1881 § 3). Alle übrigen
Grundstücke, welche den gedachten ding-
lichen Voraussetzungen nicht entsprechen,
werden kraft gesetzlicher Vorschrift zu ge-
meinschaftlichen Jagdbezirken vereinigt.
Innerhalb eines jeden derselben steht die
Ausübung des Jagdrechts der aus den be-
teiligten Grundeigentümern gebildeten Jagd-
genosscDschaft zu. In den meisten deutschen
Staaten vermag diese jedoch nicht selb-
ständig darüber zu verfügen. Sie wiM
vielmehr durch die politische Gemeinde
(bad. G. §§ 2—3, bayer. G. Art. 4, württ. G.
Art. 4, els.-lothr. Jagdg. § 2) oder doch durch
deren Organ, die Gemeindebehörde (preuss.
G. § 9), vertreten , welche im Namen und
für Rechnung der beteiligten Gnmdeigen-
tümer die Jagd ausübt. Nur im Königreich
Sachsen und in der jetzt preussischen Pro-
vinz Hannover ist es der Gesamtheit der
Gnmdeigentümer überlassen, durch Mehr-
heitsbeschluss über die Verwaltung der Jagd
Verfügungen zu treffen. (Sächs. V. 13. Mai
1851 § 13, sächs. G. 25. Noveml>er 185S
§ 3 a. E., hannöv. G, 11. März 1859 § 3).
Bezüglich der Art, wie die Jagd in den
gememsamen Jagdbezirken auszuüben ist
ordnen einige Gesetze deren Verpat'htung
an (bayer. G. Art. 7, württ. G. Art 4, els.-
lothr. Jagdg. § 2). Andere geben der Ge-
meinde oder der Gemeindebehörde oder der
Genossenschaft selbst die Wahl frei, ob sie
die Jagd verpachten oder durch angestellte
Jäger beschiessen oder gänzlich ruhen las^n
wolle. (Preuss. G. §§ 5, 6, 7 ; haonöv. G.
1859 § 5; sächs. V. 1851 § 16). Soweit die
Verpachtung stattfindet, ist die Zahl der
Pächter vorgeschrieben. Nach dem preussi-
schen Jagdpolizeig. vom 7. März lv^50 § 12
soll die Zahl derselben nicht mehr denn
höchstens drei betragen. Es soll so verhütet
werden, dass die Jagd in ein und demselben
Revier durch zu viele Personen ausgeübt
wird. In der gleichen Rücksicht beruht
übrigens auch die Vorschrift, dass, wenn ein
Gut, welches an sieh zur selbständigen Ails-
übung berechtigt, mehreren als Miteigen-
tümern gehört, die Jagd nur von einigen
derselben (zweien oder hr>chstens dreien)
ausgeübt werden darf. (Preuss. G. § 3 ; hann.
G. 1859 § 2). Von der Notwendigkeit des
Anschlusses an den gemeinsamen Jagdbezirk
sind isolierte, nicht im Gemenge gelegene
Grundstücke und sogenannte Enclaven aus-
genommen, wenngleich sie nicht den vor-
hin genannten dinglichen Erfordernissen
genügen. Auf den ersteren sind die Eigen-
tümer, sofern sie nicht der Jagdgenossen-
schaft beitreten, verpflichtet, die Jagd ruhen
zu lassen. Unter Enclaven aber werden
solche Liegenschaften verstanden, die, ohne
selbst den zur Jagdausübung nötigen Fläc^hen-
raum zu haben, von einem qualifizierten
Areal umgeben sind. Ihre Eigentümer
dürfen wählen, ob sie die Jagd darauf ruhen
lassen oder an die Eigentümer der ansto>-
senden grösseren Güter verpachten wollen.
(Preuss. G. §§ 5, 6, 7; sächs. V. 1851 § S:
bad. G. § 6 : bayer. G. Art. 3 ; württ. G. Art. 3l
Mit den Jagdrechten auf fremdem Grund
und Boden ist meistens zugleich auch das
Recht der Jagd- oder Wildfolge aufgehoben
worden. (Preuss. G. 31. Oktober 1848 §4;
hann. G. 1859 § 24 ;. bayer. G. 25. Juli IST-J
Art. 2; els.-lothr. Jagdoolizeig. § 1). Man
erblickte darin ebenfalls eine Anwenduiur
des vom unbeweglichen Eigentum getrennten
Jagdrechts. War dies nicht richtig, st> i>i
doch die Beseitigung der Jagdfolge selli^t
nicht zu bedauern. Es sind damit viele
Jagdrecht
1311
Streitigkeiten abgeschnitten, zu denen ihre
Ausübung früher Veranlassung gab.
Die 80 durchgeführte Unterscheidung zwi-
schen Jagdrecbt und Recht der Jagdausübung
macht eine Feststellung und Abgrenzung beider
Begriffe, ihrer Bedeutung und ihrer Wirkungen
notwendig. Das Jagdrecht wird in den neueren
Gesetzen als ein Ausfluss des Grundeigentums
bezeichnet, mit dem es hinfort untrennbar ver-
bunden sein soll, dergestalt^ dass es als ding:-
liches Recht in Zukunft nicht mehr bestellt
werden darf (vgl. z. B. bayer. Ges. Art. 1, württ.
Ges. Art. 1). Freilich die Proprietät allein ist
dabei nicht ausschlafi^gebend, sondern das dem
Eigentümer kraft des Eigentums zustehende
Recht, sein Gut zu gebrauchen und zu nützen.
Wo, wie beim Niessbrauch, vasallitischem Recht
oder Erbpacht jemand am Gute eines anderen
das volle Nutzungsrecht hat, geht damit zu-
gleich das Jagdrecht vom Eigentümer auf ihn
über (Sachs. V. 1851 ^ 1; hann. Ges. 1859 §3;
Sreuss. Ges. 1. März 1873 § 1 [G. 1873 S. 27]).
^er Begriff des Jagdrechts ist jedoch dadurch
nicht erschöpft, wenn von ihm gesagt wird, es
fliesse aus dem Inhalte des Eigentums oder sei
darin eingeschlossen. Es beschränkt sich nicht
darauf, dass es den Eigentümer in den Stand
setzt, auf seinem Gute dem Wilde nachzustellen,
um neben anderen Beschäftigungen der Thätig-
keit des Jagens obzuliegen. Wie im Mittel-
alter und in der Zeit der herrschenden Regalität
hat das Jagdrecht auch gegenwärtig keine bloss
subjektive, sondern auch objektive Bedeutung.
Es erstreckt sich zugleich auf das innerhalb der
Grenzen eines Grundstückes in der natürlichen
Freiheit sich bewegende Wild. Welche Tiere
zum Wilde gehören oder mit anderen Worten
als jagdbar gelten sollen, ist in den Landes-
nnd Provinzialgesetzen der mehreren deutschen
Staaten verschieden bestimmt. Gemeinhin werden
dazu alle vierfüssigen Tiere und Vögel ge-
rechnet, welche man zur Speise zu gebrauchen
pflegt (§ 32, II, 10 A.L.R.). Aber auch das
Pelzwerk, insofern man dasselbe zur Kleidung
verwendet, ist oft für die Jagdbarkeit ent-
scheidend. So werden namentlich Füchse in
den Rechten mancher Länder und Provinzen
für jagdbar erachtet. Gleich den nicht jagd-
baren Tieren steht das Wild in niemandes
Eigentum. Das Recht auf dasselbe oder das
Jagdrecht im objektiven Sinne kann daher nicht
Ausfluss des Eigentums an dem Grund und
Boden sein, auf welchem es herumschweift. Es
lässt sich nur als ein mit dem Grundeigentum
verbundenes Recht auffassen, das seine besondere
Natur und Beschaffenheit hat. Das Wild ist
andererseits aber nicht in dem Masse herrenlos
wie die nicht jagdbaren Tiere. Indem es ge-
hegt wird, erlangt der Jagdberechtigte die
Möglichkeit, innerhalb seines Keviers sich einen
Wildstand zu schaffen und zu erhalten. Er
Tvird dadurch in den Stand gesetzt, die JAgd-
baren Tiere nicht zwar als einzelne, wohl aber
in ihrer Verbindung mit anderen der gleichen
Art und Gattung, mit welchen sie der Gesellig-
keits- und Geschlechtsbetrieb zusammenführt,
bis zu einem gewissen Grade zu beherrschen.
Das Hegen des Wildes ist nicht seinem freien
Belieben überlassen; er wird von Staats wegen
zur Innehaltnng bestimmter Schonzeiten ange-
halten. Sie festzusetzen ist die Staatsgewalt
vermöge der sogenannten Ja^dhoheit im allge-
meinen Interesse befugt. Die Aufhebung des
Jagdreeals hat daran nichts geändert. Wie das
ältere deutsche Recht nimmt die neuere Gesetz-
febung auf diese Thatsachen Rücksicht. Weil
er Jagdberechtigte zu dem Wilde in seinem
Reviere vermittelst der Hegung in ein näheres
Verhältnis tritt als jeder andere, soll ihm allein
das in seinem Reviere in Besitz genommene
Wüd gehören (vgl. §§ lo4-lö7, I, 9 A.L.R.;
preuss. Jagdpolizeiges. 7. März 1850 § 24;
hannöv. Ges. 11. März 1859 § 24; württ. Ges.
Art. 15 vgl. mit Art. 7 das.). Es gilt dies
ebensowohl von jagdbaren lebenden Tieren, die
erlegt werden, wie von bereits verendet dort
angetroffenem Wilde (sog[. Fallwild). Das Jagd-
recht ist so anderen privilegierten Occupations-
rechten gleichgestellt. Wie diese schliesst es
die Möglichkeit aus, dass ein dritter Unbefugter
durch Besitznahme der dem Zueignimgsrechte
einzelner Berechtigter vorbehaltenen herrenlosen
Sachen Eigentum erwirbt (§ 988 B.G.B.). Für
den Wilderer ergiebt sich hieraus das negative
Resultat, dass er nicht Eigentümer des Wildes
wird, das er mit Verletzung des dem Jagd-
berechtigten darauf zustehenden Rechts erlegt,
fängt oder sonstwie in seine Gewalt bekommt.
Hat der Akt der Besitznahme des Wildes, den
er vornimmt, darum aber überhaupt keine eigen-
tnmserzeugende Wirkung ? Die jetzt herrschende
Lehre (Brimner, Dernburg, Eccius) verneint
diese Frage. Das Wild bleibt in den Händen
des unbefugten Jägers herrenlos. Es gelaugt
in das Eigentum des Jagdberechti^n erst
dann, wenn dieser es seinerseits in Besitz nimmt.
Als Nichteigentümer kann derselbe es nicht
vom Wilderer vindizieren. Er hat ge^en den
letzteren nur eine Klage, welche danin ge-
richtet ist, dass Bekla^r sein Zueignungsrecht
anerkenne und die Besitznahme des Wildes und
damit zugleich den Ei^entumserwerb durch ihn,
den Kläger, dulde und geschehen lasse. Diese
Annahme der fortdauernden Herrenlosigkeit des
Wildes nach der vorangegangenen Bemächtigung
durch den unbefugten J^er tritt in Widersprach
zu der sonst innerhalb des positiven Rechts
geltenden Regel, dass die Besitznahme herren-
loser Sachen Eigentum hervorbringt (Res nullius
cedit occnpanti). Sie wird da, wo jemand aus-
schliesslich zur Occupation berechtigt ist, dahin
modifiziert, dass kein Dritter mit dem Besitze
der jenem vorbehaltenen herrenlosen Sachen
deren Eigentum erwirbt, nicht aber leidet sie
eine Abweichung dahin, dass man der That-
sache der Besitznahme in diesem Falle über-
haupt jede eigentumerzeugende Wirkung ab-
sprechen darf. Richtiger ist daher die von
einer Minderzahl juristischer Schriftsteller ver-
tretene Meinung, dass der unbefugte Jäger an
dem Wilde, dessen er sich bemächtigt, dem
Jagdberechtigten das Eigentum erwirbt. Sie
Stent mit dem älteren germanischen und deut-
schen Rechte in Uebereinstimmung. Für sie
spricht ferner die Analogie des Jagdrechts mit
anderen privilegierten Occupationsrechten. Wer
als Soldat im Kriege dem Feinde Waffen ab-
nimmt oder anderes Ejriegsmaterial erbeutet,
erwirbt daran das Eigentum nicht sich, sondern
dem Staate. Ein anderes Beispiel ist der preussi-
schen Gesetzgebung über den Bernstein zu ent-
1312
Jagdrecht
nehmen (G. v. 22. Februar 1867, preuss. G.S.
8. 272). Wo der Bernstein regal ist, hat der,
welcher, ohne zum Sammeln befugt zu sein,
solchen zufällig auffischt, findet oder gräbt, alle
Rechte und Michten eines Finders (A.L.R. I,
Ö, §§ 19—22, §§ 43-72). An sich herrenlos,
aber dem privilegierten Occupationsrechte des
Staates vorbehalten, wird so der Bernstein in
der Hand eines Dritten, der sich in Ermangelung
eines Hechts seiner bemächtigt, als eine Sache
angesehen und behandelt, die sich im fiskalischen
Eigentume befindet. Denn nur wenn dieses als
entstanden vorausgesetzt wird, lassen sich darauf
die gesetzlichen Vorschriften über die Rechte
und Pflichten des Finders verlorener Sachen
anwenden, die schon ihren Eigentümer haben
und nur aus seinem Besitze und seiner Gewahr-
sam gekommen sind. Für die Meinung, welche
dem Jagdberechtigten das Eigentum am Wilder-
gute zuschreibt, sei hier endlich noch geltend
gemacht, dass sie allein zu praktisch brauch-
baren Ergebnissen führt.
Zwar wird nach heutigem Recht, die Herren-
losigkeit des vom Wilderer occupierten Wildes
vorausgesetzt, derjenige, dem dieser ein Stück
Wild verkauft und überj^iebt, Eigentümer wer-
den, sofern er sich beim Erwerbe in gutem
Glauben befindet (§ 932 B.G.B.). Nicht weniger
wird ein gutgläubiger Erwerber Eigentum an
Wildergut erlangen, das dem Wilderer wider
seinen Willen abhanden kommt (ihm gestohlen
oder von ihm verloren wird) und hierauf von
dem Dieb oder Finder veräussert wird (§ 935
B.G.B.). Wie ist es aber, wenn der Wilderer
oder wenn ein anderer stirbt, der unredlicher-
weise, mit oder ohne Willen des Wilderers,
Wildergnt an sich gebracht hat, und solches
— z. B. ein seltenes und wertvolles Hirsch-
feweih — sich in seinem Nachlass vorfindet,
ein Erbe, mag er nun gut- oder schlechtgläubig
sein, kann daran nicht Eigentum erwerben.
Denn bleibt das Wilderjjut herrenlos, bis es der
Jagdberechtigte beim Wilderer in Besitz nimmt,
oder bis es durch Veräussening ans dem Besitz
des Wilderers oder seines Nachfolgers in das
Eigentum eines gutgläubigen Erwerbers gelangt,
so ist bis dahin die Möglichkeit, dass jemand
daran Eigentum durch Ersitzung erwirbt, aus-
geschlossen. Die Ersitzung setzt eine beweg-
liche Sache voraus, welche schon einmal Gegen-
stand des Eigentums eines anderen als des
späteren Eigenbesitzers gewesen ist. An herren-
loser Fahrnis giebt es keine Ersitzung (§§ 939,
941 B.G.B. Vgl. 1. 1 D. de usurp. et usuc. 41,3).
Während das Jagd recht auf das Wild und
seine Occupation unmittelbar gerichtet ist, ge-
währt dahingegen die Jagdausübung, wo sie
nach der neueren Gesetzgebung einein anderen
als dem Grundeigentümer zusteht, ihrem In-
haber ein bloss persönliches Recht. Wird näm-
lich das Jagdrecht mit dem Grundeigentume
untrennbar verknüpft, so wird dadurch die
Existenz eines anderen auf die Jagd bezüglichen
Rechtes von dinglicher Art und Wirkung aus-
feschlossen. Demnach kann zwar derjenige,
er die Jagd in einem gemeinschaftlichen Be-
zirke von der Jagdgenossenschaft pachtete, von
den beteiligten Grundeigentümern verlangen,
dass sie ihm das Jagen und Occupieren des
Wildes auf ihren Liegenschaften gestatten. Er
kann femer von diesen die Auslieferung des
Wildes fordern, welches sie dort etwa nnbe-
fugterweise erlegen, indem sie sich über das
Strafgesetz und sein Verbot hinwegsetzen. Nicht
aber vermag er in diesem Falle den Eigentums-
erwerb der Grundeigentümer am Wilde zu ver-
hindern. Und dasselbe ist dann zu behaupten,
wenn dort ein unberechtigter Dritter |fejagt
hat. Zur Vindikation des Wildergutes ist da
an sich nur der Grundeigentümer berechtigt.
Der Jagdpächter kann erst vindizieren, sobald
ihm der Grundeigentümer, wozu dieser aller-
dings verpflichtet ist, seinen Anspruch gegen
den Wilderer cediert hat. Entsprechende An-
wendung findet das eben Gesagte in gemein-
schaftlichen Bezirken, deren Jagd für die Ge-
nossenschaft durch angestellte Jäger ausgeübt
wird. Bleibt aber diese gänzli(£ ruhen, so
kommt ein Anspruch auf Auslieferung des un-
befugt erlegten Wildes überhaupt nicht in Frage.
Hat doch die Jagdgenossenschaft durch den
Beschluss, die Jagd ruhen zu lassen, auf die
aktive Ausübung derselben verzichtet. Sie ist
da allein auf eine Schadensforderung gegen den
unbefugten Jäger ange^iiesen. Gerechtfertigt
ist solche durcn den Zweck, der bei dem ge-
fassten Beschluss beabsichtigt wurde. Es soll
der Wildstand im gemeinsamen Reviere zeit-
weilig völlig geschont werden, um die Jagd
später um so vorteilhafter verpachten oder dnrch
angestellte Jäger ausüben zu können. Dieser
Zweck wird vereitelt, wenn einer oder der
andere der beteiligten Eigentümer auf seinem
Grund und Boden oder wenn ein Dritter dort
jagt. Unter gewissen Umständen hat endlich
das unerlaubte Jagen durch den Grundeigen-
tümer überhaupt keine civilrechtlichen Folgen.
Werden isolierte Grundstücke vom gemein-
schaftlichen Jagdbezirke ausgenommen, so muss.
wie früher bemerkt wurde, die Jagd darauf
ruhen bleiben. Ebenso auf Enclaveh, sofiem
keine Verpachtung der Jagd an den Besitzer
des ans tossenden grösseren Gutes beliebt wird.
Uebt nun trotzdem der Eigentümer auf solchen
isolierten oder enclavierten Gütern die Jaijd
aus, so macht er sich zwar strafbar. Das Wild
aber, das er erlegt oder fängt, wird sein Eigen-
tum. Er ist auch nicht einmal zur Wieder-
auslieferung desselben verpflichtet. Denn es ist
ja kein anderer da, der befugt wäre, die Jagd
auf seinem Terrain auszuüben. Das gleiche
Sach- und Rechtsverhältnis lieget dann vor,
wenn Grundeigentümer, deren Güter die Grosse
oder Beschaffenheit haben, um sie zur Jagdaus-
übung zu ermächtigen, in Ermangelung eines
Jagdscheines oder in der Schonzeit oder an
Orten jagen, wo es aus polizeilichen Rücksichten
verboten ist, zu schiessen oder anderweitig dem
Wilde nachzustellen.
Wie in den meisten deutschen Staaten
führten die politischen Ereignisse des Jahn»s
1848 in Oesterreichs deutschen Kron-
ländern und in Galizien eine Aendenmg dtT
Jagdgesetzgebung herbei. Das kaiserliche
Patent v. 7. Man; 1849 erklärte das Jagil-
recht auf fremdem Grund und Boden für
aufgehoben (§§ 1, 4). Auch in Oesterreich
giebt jedoch das Jagdrecht an und für sich
no(;h nicht jedem Grundbesitzer die Befug-
nis zur eigenen Ausübung der Jagd. Diese
Jagdrecht — Jakob
1313
haben allein solche Besitzer, deren Gnind-
stücke einen zusammenhängenden Komplex
von wenigstens 200 Joch ausmachen (§ 5).
Auf allen übrigen innerhalb einer Gemeinde-
markung gelegenen Gnmdstücken weist das
Gesetz die Jagd der Gemeinde zu (§ G).
Sie ist verpflichtet, die ihr zugewiesene
Jagd entwecfer uugeteQt zu verpacliten oder
selbe durch eigens bestellte Sachverständige
(Jäger) ausüben zu lassen (§ 7). Der jähr-
liche Reinertrag ist am Schlüsse jedes Ver-
waitungs- oder Pachtjahres unter die Ge-
samtheit der Grundeigentümer, auf deren in
der Gemeindemark befindlichen Liegen-
schaften die Jagd von der Gemeinde aus-
geübt wird, nach Massgabe des Flächen-
umfanges zu verteilen (§ 8).
Die Refoi-m der französischen Jagd-
gesetzgebung datiert aus der Zeit der Revo-
lution von 1789. In Ausführung der Be-
vschlüsse der berülimten Nachtsitzung der
Generalstände vom 4. August 1789 hob das
G. V. 3. November 1789 das Jagdregal und
damit zugleich alle Jagdgerechtsame auf
fremdem Grund und Boden auf. Seitdem
steht in Frankreich jedem Grundeigentümer
auf seinem Terrain nicht niu* das Jagdrecht
zu, sondern auch das Recht der eigenen
Jagdausübung. Die letztere imterliegt wohl
pei-sönlichen Beschränkungen , nachdem
neuere Gesetze (Dekret v. 11. Juli 1810;
G. v. 3. Mai 1844) die Lösung eines Jagd-
erlaubnisscheines bei der zuständigen Ver-
waltungsbehörde durch jeden, der da jagen
will, vorgeschrieben und dessen Erteilung
von gewissen Bedingungen abhängig gemacht
haben. Nicht aber wird, vne in Deutsch-
land und Oesterreich, für die eigene Aus-
übung der Jagd durch den Gnmdeigentümer
eine gewisse Grösse oder Beschaffenheit des
Areals erfordert.
Litteratur: v. Wächter, Veber das Jagd recht
und die Jagdvergehen in seinen leipziger Pro-
grammen van 1868 und 1809. — Stieglitz, Oe-
schichtliche Darstellung des Eigentumsverhält-
nisses an Wald und Jayd in Deutschland, 18^;^.
— Stobbe, Jlandb, des deutschen Privatrechts,
Bd. II, § 15L — V. Bi*ünneck, Die Jagd-
genossenschaften, 1867. — derselbe, Das heutige
deutsche Jagdrecht, im Archiv für die civilist.
Praxis, Bd. 48, S. 80 ff. — Ziebavth, Forst-
und Jagdrecht, 1889. — v. Anders, Das Jagd-
nnd Fischereirecht, Innsbruck 1885. — Bloch,
Dictionnaire de Vadministration (S edit.) art.
Chasse. von Brünneck,
Jahrmärkte
s. Märkte und Messen.
Jakob, Ludwig Heinrich rou,
geh. am 26. II. 1759 in Wettin, preuss. R«^-
rungsbezirk Merseburg, pest. am 22. VII. 1827
in Bad Lauchstädt hei Halle, habilitierte sich
Handwörterbuch der StaatswUsenschaften. Zweite
1785 als Docent der Philosophie in Halle, wurde
1789 daselbst ausserordentlicher nud 1791 ordent-
licher Professor der Philosophie und seit 18C4
anch der Staats Wirtschaft. >acn der Anfhebunir
der Universität Halle durch Napoleon I. (1806)
Übernahm Jakob die Professur der Staatswissen-
schaften an der Charkower Hochschule. 1816
rief ihn die Universität Halle zu seiner frttheren
Wirksamkeit als Staatswirtschaftslehrer znrück,
und die russische Regiernng p^b ihm, unter
Erhebung in den Adelsstand, die erbetene Ent-
lassung aus dem russischen Staatsverbande.
Jakob veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Schriften in Bnchform:
Antimachiavell, oder über die Grenzen des
bürgerlichen Gehorsams, Halle 1794; dasselbe,
2. Aufl., 1796 (die erste Auflage erschien anonym,
die zweite unter seinem Autornamen]. — Annalen
der prenssischen Staatswirtschaft und Statistik,
von einer Gesellschaft praktischer und theo-
retischer Staatskundigen (L. H. Jakob und
Leop. Krug), 2 Bde., ebd. 1804-1805. — Ueber
Kursus und Studienplan für angehende Kame-
ralisten, ebd. 1805; dasselbe, umgearbeitet und
erweitert u. d. T. : Grundsätze der National-
ökonomie oder Grundsätze des Nationalreichtnms,
ebd. 1809; dasselbe, 2. Anfl.^ 1819; dasselbe,
3. Aufl., 1825.' (Jakob hat sich durch dieses,
mit engem Anschluss an Adam Smith verfasste
Handbuch für Popularisierung des Indnstrie-
systems wesentliche Verdienste erworben. Seine
Systematisierunig^ der Smithschen Theorie, die
er als selbständige Disciplin neben der Staats-
wirtschaft behandelt, nnd seine Erläuterungen
zu den Grundbegriffen der Wirtschaftslenre
zeichnen sich durch Uebersichtlichkeit und EUar-
heit aus. Jakob war nicht bloss Interpretator
Smiths, sondern hat auch in seiner Widerlegung
des physiokratischen Systems, in der Grund-
rententheorie — die bezüglichen Ausfllhrungen
stempeln ihn zu einem Vorläufer Ricardos — ,
in der Unterscheidung zwischen Marktpreis und
Gewährpreis verdienstliche eigene Forschungen
vorgenommen.) — Kurze Belehrung über aas
Papiergeld, zur Beurteilung der prenssischen
Tresorscheine, ebd. 1806 (das vor der Invasion
der Franzosen geschriebene Buch bildet einen
interessanten Beitrag zur prenssischen Finanz-
geschichte, indem die kommerzielle Krisis vom
ktober 1806 fast die vollständige Entwertung
der Tresorscheine herbeiführte). — Grundsätze
der Polizeigesetzgebung und der Polizeianstalten,
2 Bde., ebd. 1809; dasselbe, 2. Aufl., 1837. —
Ueber die Arbeit leibeigener und freier Bauern
in Beziehung auf den Nutzen der Landeigen-
tümer, St. Petersburg und Halle, 1815 (gekrönte
Preisschrift). — Ueoer Russlands Papiergeld
und die Mittel, dasselbe bei einem unveränder-
lichen Werte zu erhalten. Nebst einem Anhange
über die neuesten Massregeln in Oesterreich,
das Papiergeld daselbst wegzaschaffen. (Infolge
dieser der russischen Regierung 1816 Sls
Promemoria eingereichten Schrift wurde der
Verfasser in die Petersburger kaiserliche Finanz-
^esetzgebun^skommission oerufen.) — Einleitung
in die Studien der Finanzwissenschaften und
Leitfaden bei Vorlesungen, Halle 1819. — Theorie
und Praxis in der Staatswirtschaft, ebd. ca.
1820. — Die Staatsfinanzwissenschaft, theoretisch
und praktisch dargestellt und erläutert durch
Beispiele aus der neuen Finanzgeschichte euro.
Auflage. lY. 83
1314
Jakob — James
päischer Staaten, 2 Bde., ebd. 1820—1821 ; das-
selbe, 2. verbesserte und vermehrte Aufl., besorgt
von J. F. H, Eiselen, ebd. 1837, dasselbe m
französischer Uebersetziing : Science des finances.
Ouvrage trad. de l'allemand, par H. Jouffroy,
2 Bde., Leipzig und Paris 1841. (Dieses in
seinem theoretischen Teile ebenfalls auf der
Basis des Industriesystems bearbeitete Haupt-
werk Jakobs behandelt erstens die Mittel, den
öffentlichen Aufwand zu bestreiten, geht dann
zu den Staatsbedürfnissen oder dem öffentlichen
Aufwände selbst über und endet bei der Finanz-
verwaltung bezw. dem Staatsrechnungswesen.
Im theoretischen Teile stellt er u. a. den Satz
auf, dass eben so wenig als die ganze Summe
der zu fordernden Abgaben das Stammvermögen
der Nation antaste, die jedem einzelnen aufer-
legten Abgaben dessen Stammvermögen ver-
ringerten, es finden sich ferner darin Versuche,
den Staat in seinen Finanzoperationen als Er-
zeuger von Gütern aus dem Gesichtspunkte von
Aufwand und Gewinn zu charakterisieren und,
umgekehrt, dessen wirtschaftliches Verhalten
als Güterkonsument der Bedürfnisbefriedigung
dienend hinzustellen. Er bekämpft die Kon-
trahierung patriotischer Anleihen, weil durch
sie ein beträchtlicher Teil der bekannten grössten
Vermögen festgelegt werde, er bekämpft ferner
J'ede die Steuerüberwälzungspraxis gutheissende
l'inanzpolitik.) — Amtliche Belehrungen über
den Geist und das Wesen der Burschenschaft,
Halle 1824 (erschien anonym). — Aus seinem
Nachlasse: Grundriss der Handelswissenschaft
für Staatsgelehrte, ebd. 1828. — Jakob über-
setzte folgende staatswissenschaftliche Werke
mit Anmerkungen und Zusätzen in das Deutsche:
Jean Bapt. Say, Traite d*6conomie politique etc.,
2 Bde., Paris 1802 (2 Bde., Halle 1807). — H.
Thomton, An enquiry into the nature and
effects of the paper credit of Great Brit-ain,
London 1802, u. d. T. : Papierkredit von Gross-
britannien (Halle 1803}. — J. Lowe, The pre-
sent State of England m regard to agriculture,
trade and finance, etc., London 1822. (Von den
Zusätzen Jakobs zur Uebersetzung dieses Werkes
sind die zum IV. Kap. mit der Ueberschrift :
lieber die Suspensionsakte der Barzahlung der
Bank von England im Jahre 1797 die wich-
tigsten, indem der Üebersetzer in seiner Kritik
der staatswirtschaftsschädlichen Wirkungen der
Kestriktionsakte viel pessimistischer verfährt
als Lowe selbst.) — James Mill, Elements of
political economv, 2. Aufl., London 1824 (Halle
1824).
Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 5. Aufl., Teil 2,
Abteilung 3, ebd. 1886, S. 45. — R. Zucker-
kand 1, Zur Theorie des Preises, Leipzig 1889,
S. 177/78. — Horton, Silver and Gold, Cin-
cinnati 1895, S. 89.
Lippert.
Vgl. über Jakob: Mensel, Gelehrtes
Deutschland, Bd. 3, 10, 11, 14, 18, 23, Lemgo
1798 — 1831. — Allgemeine Litteraturzeitung,
Jahrg. 1827, Nr. 198, S. 743. — Neuer Nekrolog
der Deutschen, Jahrg. V, Dmenau 1827, Teil II,
S. 715. — Bull mann, Denkwürdige Zeit-
periode der Universität Halle, Halle 1833, S.
269 ff. — Er seh und Gruber, Encyklopädie,
II. Sektion, Teil XIV, Leipzig 1837, S. 240 ff.
— Schäffle, System, 3. Aufl., Bd. I, Tübingen
1873, S. 244. — Röscher, Geschichte der
Nat., München 1874, S. 686 ff. —A. Wagner,
Grundlegung, 2. Aufl., Heidelberg 1879, S. 177/78.
— Allgemeine deutsche Biographie, Bd. XIII,
Leipzig 1881, S. 690. — Lorenz v. Stein,
James, Edmund Janes,
ffeb. in Jacksonville, 111., am 21. V. 1855. Nach-
dem er zunächst mehrere Semester an der Harvard
Universität studiert hatte, begab er sich nach
Deutschland und setzte seine Studien in HaJle
fort, wo er 1877 promovierte. Seit 1883 ist
James Professor der politischen Oekonomie an
der Universität von Pennsylvanien in Phila-
delphia; seit 1891 President of the University
Extention Society.
Von seinen zahlreichen Schriften und Ab-
handlungen seien nur die folgenden hier genannt :
Studien über den amerikanischen Zolltarif,
seine Entwickelung und seinen Einfluss auf die
Volkswirtschaft (in „Sammlung nationalökono-
mischer und stat. Abhandlungen des staats-
wissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S.",
herausg. von J. Conrad, I. Bd., 3. Heft), Jena
1877. — Das Studium der Staatswissenschaften
in Amerika (in den Jahrb. f. Nat. n. Stat., N. F.,
VII. Bd., S. 62 ff.), Jena 1883. — Relation of
Modem Municipality to the Gas Supply, Balti-
more 1886. — Address before the Bankers
Association, New- York 1890. — Education of
Business Man : Courses of study in the Commer-
cial High Schools of Europe. Report to ün.
States Bankers Association, 2. ed., Chicago 1^^.
— The Charters of the City of Chicago, 2 parts,
Chicago 1898/99 (part 1 behandelt „the earlv
Charters, 1833,37). ~ A model City Charter in
Publications of National Municipal Leage,
Philadelphia, s. a.
James giebt in den „Publications of the
University of Pennsylvania" die Abteilunc:
„Political Economy and Public Law Series
heraus. Darunter erschien von ihm selbst:
Federal Constitution of Germany and Switzer-
land, 1889 und 1890. Er hat sich um Stiftung
und Organisation der „American Academy of
Political and Social Science", die am 14.XII.
1889 in Philadelphia begründet wurde, besonders
verdient gemacht. Er ist Vorsitzender der
Academy und redigiert in Gemeinschaft mit den
Professoren Giddings und Falkner die „Annais
of the American Academy of Political and Social
Science", welche Zeitschrift folgende Artikel
von ihm aufweist: The London School of Eco-
nomics and Political Science (gemeinsam mit
W. A. S. Hewius), in vol. IV, July— Decbr. 1895.
— An early essay on Proportional Represen-
tation. — Bryce's American Commonwealth, in
vol. VII, January-June 1896. — The first
apportionment of Federal Representation in the
United States, in vol. IX, January — June 1ÄJ7.
— The place of the Political and Social Sciences
in modern Education, in vol. X, July— Dcbr.
1897. — The Growth of great Cities in are and
Population, in vol. Xni, January — June 1899.
Red.
Identitätsnachweis
1315
Identitätmaehweis.
1. Die früheren Verhandlungen. 2. Das
G. V. 14. April 1894. 3. Die Wirkungen des
Gesetzes.
1. Die frfiliereii Verhandlangen. Die
Frage des Identitätsnachweises knüpft sich
iirspniaglich an die RTickvergütungen , die
bei der Ausfuhr von Fabrikaten ans zoll-
pflichtigen Rohstoffen oder Halbfabrikaten
gewährt werden, und zwar handelt es sich
damiD^ ob die wirkliche Verzollung dieser
Materialien nachgewiesen werden nauss oder
nichts so dass also im letzteren Falle auch
die aus inländischen Stoffen hergestellten
Waien die Ausfuhrvet^tung erhalten (s. den
Art Ausfuhrprämien und Ausfuhr-
Vergütungen oben Bd. II S. 36 ff.).
Diesdbe Frage erhebt sich auch bei dem
sogenannten Veredlungsverkehr (s. den
Art.), bei welchem der Zoll für eingeführte
Rohstoffe oder Halbfabrikate nicht w^irklich
bezahlt wird« sondern zunächst suspendiert
bleibt und ganz erlassen wird, wenn die
Ausfuhr einer entsprechenden Menge von
Fabrikaten innerhalb einer gewissen Zeit
nachgewiesen wird. DerErlass des Identitäts-
nachweises bedeutet in diesem Falle, dass
auch die Ausfuhr von Waren aus ein-
heimischem Ma^rial zur Ausgleichung der
schwebenden Zollschuld dienen kann. In
Frankreich ist die Identität des eingeführten
und nach der Verarbeitung wieder aus-
geführten Materials in der Praxis nie genau
festgehalten worden, im deutschen Zollverein
aber fand dies früher in aller Strenge statt,
und erst das G. v. 23. Juni 1882 ging von
diesem Gnmdsatze ab, indem es den In-
habern von Mühlen einfach den Eingangs-
zoll für eine der Ausfuhr von Mehl ent-
sprechende Menge des zur Mühle gebrachten
ausländischen Getreides erliess. Das fremde
Getreide kann also in der Mühle beliebig
mit inländischem vermischt werden. Eine
ähnliche Erleichterung ist auch den Oel-
müllern bewährt worden.
In allen diesen Fällen handelt es sich
aber um die Ausfuhr von verarbeiteten
Waren. Erst in der neuesten Zeit erhob
sich in Deutschland in landwirtschaftlichen
Kreisen die Forderung, dass auch für die
Ausfuhr von rohem Getreide, ohne Rück-
sicht auf die Herkunft desselben, eine Ver-
gütung gewährt werde. Nach dem einem
Vorschlag des Grafen von Mirbach ent-
sprechenden Stolbergschen Antrag( 1887) sollte
einfach für alles ausgeführte Getreide unter
dem Namen Rückvergütung eine Prämie
gleich dem Eingangszoll bezahlt werden.
Ein zweiter Vorschlag, den Herr von Putt-
kamer-Plauth im deutschen Landwirtschafts-
rat vertrat, ging dahin, dass bei der Einfuhr
von Getreide ZoDquittimgen auszusteUen
seien, die bei der Ausfuhr einer gleichen
Quantität binnen drei Monaten in ihrem
vollen Betrage von der Zollbehörde rück-
vergütet würden. Die Ausfuhrhändler müssten
sieh also, wenn sie selbst kein Getreide
eingeführt haben, solche Quittungen ver-
schaffen, der Preis derselben vrürde aber
immer nur minimal sein können, da Deutsch-
land etwa IVt Millionen Tonnen Roggen
imd Weizen für seinen eigenen Bedarf ein-
führen muss und demnach eine gi-osse
3Ienge von Zollquittungen für die Ausfuhr
gamicht verwertet werden könnte. Der
Ausfuhrhändler erhielte also nahezu den
ganzen Zoll als Prämie, die ihm freilich
nicht als Extragewinn übrig bliebe, sondern
ihn nur in stand setzte, in England mit
Weizen zu einem niedrigen Preise zu kon-
kurrieren. Die Einfuhr dagegen würde-
wegen des geringenWertes der Zollquittungen
nicht merklich erleichtert; die Tendenz
dieses Systems ist daher im wesentlichen
ebenso entschieden wie die des vorher er-
wähnten darauf gerichtet, stets einen unter-
schied vom vollen Zollbetrage zwischen dem
deutschen Weizenpreise und dem englischen
aufrecht zu erhalten, wälirend bis dahin
diese volle Preisdifferenz nur zeitweilig
bestand. Ein dritter Vorschlag kam als
Antrag Ampach im Februar und M&z 188S
im Reichstage zur Verhandlung. Danach
sollten bei der Ausfuhr von Getreide über-
tragbare Vollmachten zur zollfreien Einfuhr
einer gleichen Menge gleicliartigen Getreides
innerhalb einer vom Bundesrat zu bestim-
menden Frist erteilt werden. Bei diesem
System muss also der Ausfuhrhändler, wenn
er nicht selbst Getreide einführt, seine Voll-
macht durch Verkauf an einen Importer
verwerten. Im Unterechied von den eben
erwähnten Zollquittimgen wird aber das
Angebot dieser Vollmachten im Vergleich
zu der Nachfrage in der Regel nur klein
sein, der Preis derselben also dem Zollsatze
nahe kommen. Wird die Ausfuhr zu weit
ausgedehnt, so sinkt der Preis der Einfuhr-
vollmachten so tief, dass durch denselben
die Differenz zwischen dem inländischen
und dem ausländischen Marktpreise nicht
mehr gedeckt wird und die weitere Aus-
fuhr daher nicht mehr lohnend ist. Zu-
gleich aber wird jetzt die Einfuhr in höhe-
rem Grade erleichtert, da wenigstens ein
Teil derselben in der Art erfolgt, als wenn
der Zoll auf den Preis der EinfuhrvoU-
machten herabgesetzt wäre. Eine erhebliche
Vermindenmg des Zollschutzes ist jedoch
nie zu erwarten, weil nur ein Teil der Ein-
fuhr auf Gnmd von Vollmachten, der weit-
aus grössere Rest aber gegen volle Zoll-
zahlung eingeht. Andererseits kommt auch
in Betracht, dass die Ankäufe für die Aus-
fuhr verteuernd wirken. Bei der Behand-
lung der Angelegenheit wai* auch zu be-
83*
1316
Identitätsnachweis
rücksichtigen, dass die Lage der einzelnen
deutschen Landesteile in Bezug auf den
Getreideverkehr sehr verschieden ist. Die öst-
lichen und nördlichen Provinzen Preussens
erzeugen einen Ueberschuss an Getreide,
während in den beiden westlichen Provinzen
und in Südwest- und Mitteldeutschland so-
wie in den Provinzen Brandenburg und
Schlesien der Bedarf durch die eigene
Prpduktion nicht gedeckt wird. Die ersteren
finden in England den bequemsten Absatz
für ihren überschüssigen Weizen, da die
Landfracht nach dem Westen für die meisten
zu teuer ist und auch der Wasserweg über
Rotterdam und den Rhein, wenn auch gegen-
wärtig ziemlich stark benutzt, wegen der
Notwendigkeit einer Umladung und einer
besonderen Zollkontrolle mit Umständlich-
keiten und Schwierigkeiten verbunden ist.
Für den eines Zuschusses bedürfenden
Westen aber bilden Rotterdam und Ant-
werpen die natürlichen Einfuhrhäfen und
der Rhein die fast allein benutzte Zugangs-
strasse, von der aus die Eisenbahnen nur
die weitere Verbreitung übernehmen. Das
Königreich Sachsen, Schlesien und Branden-
burg (inkl. Berlin) können ihren Mehrbedarf
an Weizen teilweise mit Vorteil direkt aus
Oesterreich-Ungam und Russisch-Polen be-
ziehen. Der grösste Teil der durch Ausfuhr
aus den Ostseehäfen erworbenen Einfuhr-
vollmachten aber wird jedenfalls dazu dienen,
die Weizenzufuhr auf dem Rheine zu ver-
stärken, weil in den anstossenden Gebieten
die Preise stets am höchsten stehen und
der Bezug aus den grossen niederländischen
und belgischen Handelscentren auf diesem
Wege besonders becxuem und billig ist. Die
Auflhiebimg des Identitätsnachweises für Ge-
treide berührte also mannigfaltige Interessen
in sehr verschiedener Weise. Selbst die
Interessen der Ostseehäfen stimmen keines-
wegs völlig mit denen der östlichen Land-
'wirtschaft zusammen. Danzig namentlich
muss wünschen, dass auch die Einfuhr auf
der Weichsel möglichst hoch steige, und es
kann keinen Gewinn darin sehen, dass die
auf Grund seiner Ausfuhr erteilten Einfuhr-
voDmachten zur Erleichterung der Einfuhr
am Rheine dienen. Diesem Standpmikte
entsprach ein 1887 von Rickert und von
Heeremann gestellter Antrag, nach welchem
nur die Zollentlastimg der Transitlager freier
geregelt werden sollte, indem dieselbe auf
Gnmd des Nachweises erfolgen sollte, dass
der Inhaber des Lagers in einer bestimmten
Frist eine gleiche Menge von inländischem,
ausländischem oder gemischtem Getreide
ausgeführt habe. Die Eiofuhr- und Ausfuhr-
operation bleibt also in diesem Falle an
dieselbe Person geknüpft und es fällt der
Handel mit Einfuhrvollraachten weg. Sehr
verschieden von den Interessen Danzigs
sind wieder diejenigen Mannheims, des be-
deutendsten Weizenhandelsplatzes im Westen.
Die dortigen Kaufleute verlaugten ausdrück-
lich, dass die Einfuhr und die Ausfuhr
nicht an denselben Platz gebunden werde,
weil eben Mannheim nur einen verhältnis-
mäßsig kleinen Teil des dorthin gelangenden
Weizens nach der Schweiz ausführt, die
Hauptmasse aber nach Baden, Württemberg
und Elsass-Lothringen liefert. Unter solchen
Umständen war es nicht zu verwundem,
dass der Reichstag 1888 mit Rücksicht auf
die Neuheit und Schwierigkeit des G^en-
standes über den Ampach'schen Antrag zu
einer motivierten Tagesordnung überging.
2. Das G. y. 14. April 1894 Erst der
Abschluss des deutsch-russischen Handels-
vertrages gab der Reichsregierung Veran-
lassung, die noch bestehenden Bedenken
gegen die Aufhebung des Identitätsnach-
weises für Getreide fallen zu lassen, weil
man der Landwirtschaft der östlichen Pro-
vinzen durch dieses Zugeständnis* einige
Entscliädigung für die Erleichterung der
Konkurrenz des russischen Getreides ge-
währen woDte. Auch im Reichstage fand
die Massregel jetzt eine günstigere Aufnahme
als im Jahre 1888, und so kam das G. v.
14. April 1894, betreffend die Abänderung
des Zolltarif gesetzes v. 15. Juli 1879, zu
Stande, durch welches das in dem Ampach-
schen Antrage von 1888 vorgeschlagene
System ver wii'klicht wurde. Hiernach werden
bei der Ausfuhr von Weizen, Roggen, Hafer,
Hülsenfrüchten, Gerste, Raps und Rübsaat
aus dem freien Verkehr des Zollinlandes,
wenn die ausgeführte Menge mindestens
500 kg beträgt, auf Antrag des Warenfülirers
Einfuhrscheine ausgestellt welche den
Inhaber berechtigen, innerhalb einer vom
Bundesrat auf längstens 6 Monate zu be-
messenden Frist eine dem Zollwerte dieser
Scheine entsprechende Menge der nämlichen
Warengattung zollfrei einzuführen. Die Ab-
fertigung zu einer Ausfuhr dieser Art findet
nur bei den vom Bundesrate zu bestimmen-
den Zollstellen statt Aufnahme in eine
öffentliche Niederlage oder in ein Transit-
lager unter amtlichem Mitvei-schluss stehen
der Ausfuhr gleich. Die aus reinen Transit-
lagem ohne amtlichen Mitverschluss zur
Ausfuhr abgefertigten Warenmengen werden,
soweit sie den jeweiligen Lagerbestand an
ausländischer Ware nicht überschreiten, von
diesem Bestände abgeschrieben, im übrigen
aber als inländische Waren behandelt Für
die in Rede stehenden Waren können auch
gemischte Transitlager (von denen die
Waren auch in das Inland abgesetzt wenlen
können) bewilligt werden, mit der Massgabe,
dass die für das Inland abgefertigten Men^n,
soweit sie den jeweiligen Lagerbestand mcht
übersteigen, von diesem Bestände zollfrei
IdentitätsDachweis
1317
abzuschreiben, im übrigen aber als auslän-
dische Waren zu behandeln sind.
Den Inhabern von Mühlen und Mälzereien,
denen nach § 7, Z. 3 des G. v. 1879 die
Erleichterung gewährt ist, dass sie für eine
ihrer Ausfuhr von Fabrikaten entsprechende
Menge Getreide ZoUnachlass erhalten, können
statt dieses Nachlasses ebenfalls die Gewäh-
rung von Einfuhrscheinen beantragen. Das-
selbe Recht haben auch die Inhaber von
Mühlen und Mälzereien, denen die erwähnte
Erleichterung nicht gewährt ist. Die nälieren
Anordnungen über die Ausführung des Ge-
setzes liat der Bundesrat zu treffen, der auch
Voi-schriften darüber erlassen kann, wie weit
die Einfuhrscheine bei der Zalüung von
Zöllen auf andei'e als die Eingangs ange-
führten Waren verwendet werden können.
Diese Ausführungsbestimmungen hat der
Bundesrat in seiner Sitzung vom 12. April
1894 festgesetzt. Die wichtigste dieser Vor-
schriften ist die, dass jeder Inhaber eines
Einfuhrscheines berechtigt ist, entweder
innerhalb 6 Monaten, vom Tage der Aus-
stellung ab gerechnet, den Schein zur zoll-
freien Einfuhr einer gleichen Menge der be-
zeichneten Getreideart zu verwerten oder
den Schein nach Ablauf einer Frist von 4
Monaten nach dem Tage der Ausstellung
innerhalb eines darauffolgenden sechsmonat-
lichen Zeitraums bei jeder Zollstelle bei der
Zollzahlung für eine Reihe anderer, besonders
aufgeführter Waren in Anrechnung bringen
zu lassen, sofern nicht etwa die Anrechnungs-
fähigkeit dieser Art diu-ch Bekanntmachung
des Reichskanzlers zeitweilig für ausge-
schlossen erklärt wird. Diese Waren sind:
exotische Nutzhölzer, Südfrüchte, Gewürze
aller Art, gesalzene Heringe, roher Kaffee,
Kakao in Bohnen, Kakaoschalen, Kaviar und
Kaviarsurrogate, Oliven, Sclialen von Süd-
früchten etc., Muscheln oder Sclialtiere aus
der See, Austern, Hummer, Schildkröten,
Reis, Thee, Ohvenöl in Fässern, Baumwoil-
samenöl in Fässern, Fischspeck und Thran,
Petroleum, mineralische Schmieröle. Eine
bare Herauszahlung auf die Einfuhrscheine
wirtl nicht geleistet.
Die Ausbeuteverhältnisse, die den bei der
Ausfuhi' von ^lehl und Malz gewährten Ein-
fuhrscheinen zu Gnmde gelegt wurden, sind
KX) Weizen = 75 Weizenmelü; 100 Roggen
'--- 65 Roggenmehl ; 100 Gerste und Weizen
- 75 bezw^ 78 Malz.
3. Die Wirkungen des Gesetzes. Die
Wirkung des Gesetzes, das am 1. Mai 1894
in Kraft trat, machte sich sofort bemerklich,
indem die bis dahin kaum nennenswerte
Ausfuhr von Weizen, Roggen und Hafer
schon im Jahre 1894 wieder eine beträcht-
liche Höhe erreichte. Während im Jahre
1893 nur für 48 000 M. Weizen und Spelz,
für 41000 M. Roggen und für 46000 M.
Hafer ausgeführt wurde, beliefen sich die
entsprechenden Ausfuhrworte für 1894 auf
12695000 M., 7457 000 M. und 3755000 M.
Bei der Gerste ist der Untersclüed weniger
gross, da von dieser besondere Qualitäten
auch vorher schon in erheblicher Menge aus-
geführt werden konnten, so im Jahre 1893
lilr 1599000 M,, immerhin aber hob sich
diese Ausfuhr im Jahre 1894 auf 3768000 M.
Im ganzen wurden in diesem Jahre 79 191 1
Weizen ausgefülirt, daranter nicht weniger
als 78973 t gegen Einfuhrscheme. Der
grösste Teil ging nach Schweden (37 239 t),
in zweiter Linie stand Dänemark (23048 t),
in dritter Grossbritannien (11215 t). Auch
die Roggenausfuhr erfolgte- fast ausschliess-
lich gegen Einfuhrschein, nämlich in der
Höhe von 49561 t bei 49712 t Gesamtaus-
fuhr. Das Hauptabsatzgebiet war Dänemark
mit 20078 t, dann folgt Schweden mit
17 278 t. Die Menge des gegen Einfuhr-
schein ausgeführten Hafers belief sich auf
22595 t (Gesamtausfuhr 22759 t); davon
gingen 12595 t nach Grossbritannien und
5439 t nach der Schweiz. Die Ausfuhr von
Gerste gegen Einfuhrschein betrug 18 902 t
(Gesamtausfuhr 19405 t). Auch für diese
waren Grossbritannien (13116 t) und die
Schweiz (1983 t) das Hauptabsatzgebiet.
Ferner wunlen vom 1. Mai bis Ende des
Jahres 1894 gegen Einfuhrschein ausgeführt :
643 1 trockene Bohnen (Gesamtausfulu* 781 1) ;
993 t trockene Erbsen (Gesamtausfuhr
3147 t); 110 t trockene Linsen und Lupinen
(Gesamtausfuhr 402 t); 4072 t Raps und
Rübsaat (Gesamtausfuhr 4235 t). Bei der
Ausfuhr von Malz kommen ebenfeUs die
Einfuhrscheine fast allgemein zur Anwendung.
Die Gesamtmenge betrug im Jahre 1894
2926 t, davon kamen 2668 t auf die Zeit
nach dem 1. Mai, und von diesen gingen
2518 t gegen Einfuhrschein aus. Dagegen
haben die Einfuhrscheine im Mühlenlager-
verkehr neben dem älteren System des ZoU-
nachlasses eine weniger grosse Bedeutung
erlangt. So betrug im Jahre 1894 die Aus-
fuhr von Mehl im Mülüenlagerverkehr
164268 t, die gegen Einfuhrschein dagegen
niu- 23742 t, und für geschrotenes Geti*eide,
Graupen etc. belief sich die Ausfuhr der
ersteren Art auf 26675 t, die dör letzteren
aber mu* auf 161 t.
Auch in den folgenden Jahren haben sich
die Ausfuhrverhältnisse des Getreides im
ganzen ebenso gestaltet w4e unmittelbar nach
der Aufhebung des Identitätsnachweises.
So wurden im Jahre 1898 aus dem freien
Verkehr 135 168 Jt Weizen (und Spelz) aus-
geführt und von diesen 135018 t gegen
Einfuhrscheine. Die Bezugsländer waren
hauptsächlich Schweden (34 540 t), Dänemark
(17 825 t)," Frankreich (20739 t), Oesterreich-
Üngam (26 112 t). Die Roggenausfuhr belief
1318
Identitätsnachweis
sich auf 129706 t, davon 129546 t gegen
Einfuhrscheine. Oesten*eich-üngarn bezog
52 987 t, Schweden 22369 t, Norwegen
17 436 t, Dänemark 16 468 t. Von der Ge-
samtausfulir von 47 284 t Hafer gingen
47140 t gegen Einfuhrschein aus (22218 t
nach der Schweiz, 10728 t nach Grross-
britannien). Die Ausfuhr von Gerste dar
fegen fand zu einem nicht unerheblichen
'eil ohne Ausstellung von Einfuhrscheinen
statt : sie betrug im ganzen 12 656 t, davon
aber nur 10472 t gegen Einfuhrschein. Die
Mehlausfuhr findet noch immer zum grössten
Teil im Mühlenlagerverkehr statt.
Als Wirkimg der Aufhebung des Identi-
tätsnachweises ist theoretisch zu erwarten
zunächst eine relative Erhöhung der Ge-
treidepreise in den ausfuhrfähigen Provinzen
im Vergleich mit den Weltmarktpreisen.
Da für die Ausfuhr des Getreides dieser
Gebiete eine Prämie gewährt wird, die sehr
nahe gleich dem Zollbetrage ist, so wird die
Tendenz bestehen, sie so lange fortzusetzen,
bis der Preis im In lande um den vollen
Zollbetrag über den des Weltmarkts ge-
stiegen ist. Diese Voraussehung wird durch
die Erfahrung bestätigt Betrachten wir z. B.
die Preisübersichten auf den Hauptplätzen,
die seit mehreren Jahren von der Berliner
Börsenzeitung wöchentlich zusammengesteDt
werden, so zeigt sich, dass die DÖferenz
zwischen den Berliner Lieferungspreisen des
Weizens und denen der ausländischen Plätze
seit der Aufhebung des Identitätsnachweises
durchschnittlich zugenommen hat. Eine ge-
naue Vergleichbarkeit dieser Zahlenreihen
besteht freilich nicht, da die Angaben sich
nicht auf gleiche Qualitäten beziehen und
besondere lokale Einflüsse je nach dem
Stande der Spekulation bei den für spätere
Liefenmgsfristen geltenden Preisen bald po-
sitive, bald negative Differenzen erzeugen.
Immerhin aber ist man berechtigt, aus den
Veränderungen der Durchschnittsdifferenz in
verschiedenen Perioden gewisse Schlüsse zu
ziehen.
In der Zeit von Ende Mai 1894 bis An-
fang Oktober 1894, also in der ersten Zeit
der Herrschaft des neuen Gesetzes, war die
Durchschnittsdifferenz des Berliner und des
Londoner Preises für im Oktober lieferbaren
Weizen 35,4 M. für die Tonne. Dagegen
betrug sie von November 1893 bis Ende
März 1894, also vor der Aufhebung des
Identitätsnachweises, nur 29,6 M. (Liefe-
rungstermin für Berlin Mai, für London Juli),
und in derselben Periode 1892/93 stellte
sich die Differenz sogar nur auf 16,4 M.
(Termin für Berlin April Mai, für London
Juni). Gehen wir in die Zeit zurück, in der
der ZoU von 50 M. noch allgemein in Kraft
stand, so war in den Monaten August und
September 1891, als die ungünstigen Ernte-
ergebnisse bereits bekannt waren, der Ab-
stand zwischen den Berliner Lieferungs-
preisen für September/ Oktober und den Lon-
doner für Dezember durchschnittlich 45,6 M.,
also fast gleich dem vollen Zollbetrage; in
der Zeit von November 1890 bis Anfang
1891 aber, als die Marktverhältnisse nor-
maler waren, betrug die durchschnittUche
Preisdifferenz für den April/Mai-Termin in
Berlin und den Mai-Termin in London nur
32,4 M. Unter der Einwirkung der Aus-
fuhrprämie hat sich also der Berüner Preis
bei dem Zolle von 35 M. annäliernd ebenso
hoch über dem Londoner gehalten wie früher
unter der Herrschaft des 50 Mark-Zolles.
Das ergiebt sich auch aus den spä-
teren Erfahrungen. In dem Zeitraiun von
November 1894 bis Ende März 1895
z. B. stand der Preis des im Mai 1895 hefer-
baren Weizens in Berlin durchschnittlich uni
39,1 M. höher als der in London auf die-
selbe Lieferfrist verkaufte. Allerdings war
der Durchschnittspreis des Weizens für Mai-
Lieferung in Berbn vom November 1899 bis
Mai 1900 nur 151,2 M., in Liverpool dagegen
für März in der Zeit von November bis März
131,4 M., die Differenz blieb also bedeutend
unter dem Zollbetrag. Wie weit diese Er-
scheinung mit Qualitätsverschiedenheiten oder
^delleicht mit dem Verbot des eigentüchen
Terminhandels an der Berliner Börse zu-
sammenhängt, bleibe dahingestellt. Der
Jahresbericht der Vorsteher der Danziger
Kaufmannschaft für 1896 bestätigt die in
Bede stehende Wirkung der Aufhebung des
Identitätsnachweises ; die Differenz zwischen
dem Preise des inländischen und dem
Transitgetreide wurde in Danzig mit einem
Schlage auf den vollen Zollbetrag gebracht
imd betrug von Mai 1894 bis September
1896 füi- Weizen durchschnittlich 34,35 M.
für Roggen 34,55 M.
Eine weitere Folge der neuen Einrichtung
aber besteht darin, dass im deutschen Zoll-
gebiete die Getreidepreise mehr ausgeghclien
werden, d. h. dass die früheren höheren
Preise in den westlichen Landesteüen her-
abgedrückt werden. Denn je mehr die Aus-
fuhr aus den östlichen Provinzen befördert
wird, um so mehr muss sich in denjenigen
Landesteilen, die iliren Getreidebedarf nicht
vollständig selbst decken können und die
bisher eine grössere Zufuhr aus dem Osten
erhielten, die Einfulir aus dem Auslande
entwickeln, bei der die Einfuhrscheine ihre
Verwendung finden, und dadurch entsteht
eine Preiserniedrigung. So betrug nach den
reichsstatistischen \ eröffentlichungen der
Dui'chschnittspreis des Weizens in den Mo-
naten Juli bis Dezember 1894 in Berlin
132,1 M. und in Mannheim 142,4 M., die
Differenz also nur 10,3 M. Dagegen war
die entsprechende Differenz in den vier Mo-
Identitätsnachweis
1319
naten Januar bis April 1894, also vor der
Aufhebung des Identitätsnachweises, noch
164,0—141,9 oder 23,1 M. Der Berliner
Preis war um 9,8 M., der Mannheimer aber
um 21,6 M. gesunken. Ohne die neue Ein-
richtung wünle der erstere sich wahrschein-
lich mehr, der letztere aber weniger ernie-
drigt haben. Auch in den früheren Jahi-en
war die Preisdifferenz zwischen Mannheim
imd Berlin immer bedeutend höher als seit
Mai 1894; sie betrug z.B. im Durchschnitt
des Jahres 1889 23,55 M., und der Unter-
schied gegen die Durchschnittspreise des
letzten Ilalbjahres von 1894 ist wieder durch
ein stärkeres Sinken des Mannheimer Preises
entstanden, der seit 1889 von 211,30 M. um
68,9 M. zurückwich, während der frühere
Berliner Preis von 187,7 M. 1894 nur um
55,6 M. erniedrigt war. Im Jahre 1895 be-
trug die Differenz zwischen dem Mannheimer
und dem Berliner Durchschnittspreise 12,50
M., im Jahre 1895 10,2 M. In den Jahren
1897 — 1899 sind die Differenzen weit grösser,
aber es fehlen die amtlichen Börsenkurse,
und die in der Reichsstatistik angegebenen
Preise beruhen auf privaten Ermittelungen
des statistischen Amtes der Stadt Berlin.
Die Pi-eisdifferenz zwischen Mannheim und
Danzig war nach dem erwähnten Jahres-
berichte im Jahre 1893 und bis April 1894
durchschnittlich 31,49 M. für Weizen und
80,72 M. für Roggen, dagegen von Mai 1894
bis August 1896 nur 13,35 bezw. 15,41 M.
Auch die zeitliche Ausgleichung der
Preise wird durch die wieder ermöglichte
Ausfuhr begünstigt. So hebt der Jahres-
bericht der Stettiner Vorsteher der Kauf-
mannschaft her\'or, dass in Franki'eich, wo
eine der deutschen entsprechende Einrich-
tung nicht besteht (in der neuesten Zeit aber
ebenfalls beantragt worden ist) die Preis-
differenz gegenüber dem "Weltmarkt bei
schlechter Ernte höher, bei guter aber oft
bedeutend niedriger ist als der ZoU betrag.
Die Befürchtung, dass die Einfuhrscheine
eine erhebliche Verminderung des Schutzes
für das auf Grund derselben eingeführte
Getreide bewirken könnten, wäre nur dann
gerechtfertigt, wenn die Ausfuhr der Ge-
samteinfuhr annähernd gleich käme oder sie
"überstiege. In Wirklichkeit aber überwiegt
die Getreideeinfuhr Deutschlands die Aus-
fuhr so bedeutend, dass die Einfuhrscheine,
selbst wenn sie ausschliesslich für Getreide
derselben Art verwendbar wären, immer
leicht zu nahezu ihrem vollen Wert verkauft
wei"flen könnten. Da sie aber überdies auch
noch bei der Verzollung einer Reihe wich-
tiger anderer Einfuhr^-aren Verwendung
finden können, so sind sie um so mehr gegen
eine erhebliche Werteinbusse geschützt, und
ihr Preis stellt sich daher bei den beiden
Haiiptgetreidearten auf etwa 3450 M., nur
ausnahmsweise auf 34 M. für 35 M. Nomi-
nalwert. Man glaubt, dass auch die be-
stehende kleine Differenz sich noch vermin-
dern oder verschwinden werde, wenn gestattet
würde, die Scheine auch bei der Einfuhr
von anderen Getreidearten als der, auf
welche sie lauten, zu verwenden, was gegen-
wärtig nicht zulässig ist. Die Kölner Handels-
kammer hat in diesem Sinne eine Eingabe
an den Bundesrat gemac^ht,. in der die Un-
zuträglichkeiten hervorgehoben werden, die
in der Rheinpix)vinz dadurch entstehen, dass
z. B. wer Gerste ausgeführt hat, nun auf
Gnmd seines Scheines nicht Weizen oder
Roggen einführen kann. Durch die Aus-
dehnung der Verwendbarkeit der Scheine
auf alle Getreidearten würde auch bei starker
Ausfuhr einer einzelnen Gattung ein Druck
auf den Prcis der Scheine vermieden und
andererseits auch der im ganzen nicht
wünschenswerte Handel mit den Einfuhr-
scheinen eingeengt, da der erste Eigentümer
des Scheines dann um so mehr Gelegenheit
fände, ihn zu eigenen Einfuhrzwecken zu
verwerten. Der Bundesrat liat jedoch in
seiner Sitzung vom 28. Februar 1895 eine
Aenderung der bestehenden Vorschriften ab-
gelehnt. Wie es scheint, fürchtet man, dass
die Einfulu* einer einzelnen Getreideart unter
Umständen zu sehr begünstigt werden
könnte, wenn die Ausfuhr aller übrigen
Arten ihre Rückwirkimg mittelst der iän-
fuhrscheine auf sie ausüben könnte. Dalier
sind die Waren, die ausser Getreide mittelst
Einfuhrschein importiert werden können, alle
aus der Zahl derjenigen gewälilt worden,
die in Deutschland selbst nicht erzeugt
weixlen. Wie aber die Verhältnisse that-
sächlich liegen, würde auch bei der erwähn-
ten Verwendbarkeit der Scheine eine wesent-
liche Erleichtemng der Einfuhr einer
einzelnen Getreideart nicht zu erwarten sein;
denn diese könnte doch nur dadurch ent-
stehen, dass der Preis der Einfuhrscheine
beträchtlich unter ihren Nominalwert her-
absänke ; dieses ist aber im allgemeinen um
so weniger wahrscheinlich, je ausgedehntere
und mannigfaltigere Verwendung die Scheine
finden können, wie denn gegenwärtig gerade
in dem Umstände, dass die Benutzung der
Scheine nur für eine einzige Getreideart
möglich ist, eine Ursache des Disagios ge-
funden wird.
An die Aufhebung des Identitätsnach-
weises knüpft sich auch die Frage, ob die
gemischten Privattransitlager ohne amtlichen
Mitverschluss noch beizubehalten seien. Von
agrarischer Seite wird diese Einrichtimg leb-
haft bekämpft, und die Vertreter der Kauf-
mannschaft zu Stettin haben sich vor einigen
Jaliren ebenfalls dahin ausgesprochen, dass
dieselbe nach Aufhebung des Identitätsnach-
weises überflüssig sei. Die Handelskammer
1320
Identitätsnachweiß— JevoDS
von Danzig aber ist anderer Ansicht, und
namentlich die westlichen Handelsplätze, wie
Köln und Mannheim, sprechen sich ent-
schieden für die Beibehaltung dieser Lager
aus. Die Verhältnisse sind eben im Osten
und Westen verschieden, denn das Getreide
aus den Transitlagern der östlichen Häfen
wird fast ausschliesslich wirklich ausgeführt,
während im "Westen der grösste Teil ihres
Inhaltes nach längerer oder kürzerer Lage-
rung in den inneren Verkehr gebracht wird.
Sie haben also hier einfach Sie Bedeutung
zollfreier Niederlagen und sind für den
eigentlichen Transit von geringer Bedeutung.
Dem Einfuhrhandel leisten sie auf diese Art
nützliche Dienste, die durch die Einfuhr-
scheine nicht ersetzt werden können, zumal
die Frist, während der die Scheine Giltigkeit
haben, für das Bedürfnis der Händler zu
kurz bemessen ist, da sie z. B. nicht mehr
benutzt werden können, um im Frühjahr bei
steigenden Preisen Getreide einzuführen,
wenn die entsprechende Ausfuhr im Voi-jahre
etwa unmittelbar nach der Ernte stattge-
funden hat. Die Regierung liat sich denn
auch vorläufig für die Beibehaltung der ge-
mischten Privattransitlager entschieden, zu-
mal eine wirkliche Schädigung der Interessen
der Landwirtschaft durch dieselben nicht
nachgewiesen ist. — Was die Wirkung der
Aufhebung des Identitätsnachweises auf die
westliche ilülilenindustrie betrifft, so ist nach
den Berichten der Handelskammern, wie zu
erwarten war, die Konkiurenz der östlichen
preussiöchen Mühlen dadurch vermindert
worden.
Litteratar: Atisser den bei dem Art. Aus-
fu h rp r ämien U7id A u sfn hrvergütungen
oben Bd. II S. 39 angeführten Schriften vergl.
Struvef Die Aufhebung des Identitätsnachweise«
bei auszuführendem Getreide und die deutsche
Bierbrauerei, Berlin 1890. — Staub f Die Getreide-
zölle und die Aufliebung des Idenlitätsnach-
weises j Nürnberg 1887. — Kuhn, Die Auf-
hebung des Identitätsnachweises, Freiburg 1891.
— «f. Hoffntann, Was bedeutet die Aufhebung
des Identitiitsnachtoeises f Düsseldorf 1891. —
J", Ciynradj Die Beseitigung des Identitäts-
nachweises, Deutsches Wochenblatt 1887. —
Buehenherger , Grundzüge der deutschen
Agrarpolitik, Berlin 1899, S. 236 ff. — Jahres-
bericht der Kölner Ilandelskainmer, 1894, S. 91;
1895^ S. 97; 1896, S. 87. — Jahresbericht
des Vorsteheramts der Kaufmannschaft zu Danzig,
189,5, S. 41; 1896, S. I4. — Stettiner Handels-
industrie und Schiffahrt (Jahresbericht), 1898,
S. 11. — Monatliche Nachweise über den aus-
wärtigen Handel der deutschen Zollgebiete.
Lexis,
JeTons^ TVilliam Stanley,
geboren am 1. IX. 1835 in Liverpool, ging 1854
nach Australien, war 1855—58 Chemiker bei
der Münze der Kolonie Neu-Süd- Wales in Sydney,
kehrte 1859 nach Europa zurück, wirkte 1866 —
1881 als Professor der Logik und National-
ökonomie an Owens College in Manchester und
starb, durch Ertrinken im Meere, zu Bexbill.
Grafschaft Sussex, am 13. VIII. 1882.
Jevons war kein erklärter Gegner der
chrematistischen Schule, sondern er bekämpfte
Ricardo nur als den Führer dieser Schale. Im
übrigen bediente er sich, im Gegensätze zu
Ricardos deduktivem Verfahren, bei seiner in-
duktiven Erforschung kommerzieller und indus-
trieller Probleme, der mathematischen Methode^
selbst wenn inkommensurable Grössen dabei ins
Spiel kamen. Mit dieser Vorliebe für Ueber-
tragung mathematischer Formeln auf die wirt-
schaftliche Forschung verband Jevons besonders
in der ersten Periode seines litterarischen
Schaffens eine stark hervortretende Neigung,
wirtschaftliche Erscheinungen auf metaphysische
Gesetze zurückzuführen. Wenn der Ruf Jevons'
als scharfsinnigen Denkers, als genialen und
glücklichen Forschers (erinnert sei nur an seine
Wertlehre, seine Bedürfnislehre und die aus
seiner Wert-, Preis- und Produktivgutdoktrin
entwickelte Zinstheorie), sich weiten Kreisen
mitteilte, so ist dieser Erfolg mehr oder weniger
auch jenen Erzeugnissen seiner Feder zu ver-
danken, in denen er praktische wirtschaftliche
Fragen als Volkswirt und nicht als Mathe-
matiker zu lösen versucht hat.
Jevons veröffentlichte von Staats wissenschaft-
lichen Schriften a)in Buchform: Diagram
showing all the weekly accounts of the Bank
of England, since the passing of the Bank Act
of 1844 (to 1862) etc., London 1862. — Diagram
showing the price of the english funds, the
price of wheat, the number of bankruptcieSf
and the rate of the discount monthly, since
1731 to 1862, ebd. 1862. — A serious fall m
the value of gold ascertained, and its social
effects set fortn, ebd. 1863. (Darstellung des
Verlaufs der Goldentwertung, nach den Preis-
notieningen des „Economist" in den Jahren
1845—62.) — Probable exhaustion of onr coal
mines, ebd. 1865. — The coal qnestion; an
inquiry concerning the progress of the nation,
and the probable exhaustion of onr coal-mines,
ebd. 1865; dasselbe, 2. Aufl., 1866. (Das
Buch verfolgt den Zweck, die Kohle als wirt-
schaftliches Hauptagens im Zeitalter des Dampfes
darzustellen, und prognostiziert ausserdem, im
Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit des baldigen
Eintrittes einer Erschöpfung der englischen
Kohlenfundstätten, der industriellen Grossmacht
Englands eine nicht viele Generationen mehr
überdauernde Lebenskraft. Auf Unterlage des
Kohlenkonsums Englands im Jahre 1861, der
damals 83,5 Millionen tons betrug, berechnete
Jevons in der „coal question", dass 10 Jahre
später 118 Millionen tx)n8 zu industriellen etc.
Zwecken in England konsumiert werden würden,
und dieses Quantum ist annähernd schon 1870
mit 117 352 028 tons erreicht worden.) — The
match tax: a problem in finance, ebd. 1871.
— The theory of political economv, London
1871; dasselbe, 2. Aufl., 1879; dasselbe, 3. Aufl.,
1888 ; dasselbe ins Italienische übersetzt u. d. T. :
G. Boccardo, Teoria delP economia politica,
esposta da W. St. Jevons, Mailand 1875, in
„Bibliotheca dell' Economista", 3a serie, vol. 11»
Jevons
1321
S. 174/311. (Der psychologische Gmndcharakter
dieser Schrift, wonach die Schmerz- und Lust-
gefühle mit den Bedürfnissen und ihrer Be-
friedigung durch mathematisch-mechanische Mes-
sungen zu einer Physik der Elemente der Volks-
wirtschaft derartig zu verschmelzen gesucht
werden, dass z. B. die Güter bezw. die mensch-
liche Arbeit auf Grund des Arbeitsprodukts als
Quelle der Lustgefühle erscheinen, stempelt
JeTons theoiy of political economy zu einer
ausserordentlichen Leistung auch in soziologi-
scher Beziehung, die auch dadurch nicht ge-
schmälert werden kann, dass Gossen denselben
Ideeengang, nachweislich ohne V orwissen Jevons,
verfolgt hat. Dafür ist Jevons' in Kapitel 3
und 4 entwickelter Lehre von den Grenzgraden
der Nützlichkeit, wonach bei wachsendem Güter-
vorrate sich die Nützlichkeit des Zuwachses
vermindert, und, umgekehrt, bei abnehmendem
vermehrt oder die Grade des Nutzens der aus-
getauschten Güter sich umgekehrt wie die
Menge derselben verhalten und der schliessliche
Grenznutzen als Preisbestimmnngsmoment zum
Ausdrucke kommt, die unbedingte Priorität der
geistigen Urheberschaft von der gelehrten Welt
approbiert worden.) — The raiiway and the
State, London 1874. — Money and the mecha-
nism of exchange, ebd. 187.5; dasselbe, 2. Aufl.,
1875; dasselbe, 3. Auü., 1876; dasselbe, 4. Aufl.,
1878; dasselbe, 8. Aufl., 1887; dasselbe, ins
Französische übersetzt, Paris 1876; dasselbe,
ins Deutsche übersetzt u. d. T. r Geld und Geld-
verkehr, Leipzig 1876. (Jevons unterscheidet
in seiner Geldtheorie vom Standpunkte eines
Goldwährungsfreundes zwischen 4 Funktionen
des Geldes, was er erst als Tauschmittel, dann
als allgemeinen Wertmesser, darauf im Normal-
werte und zuletzt im Wertvorrate betrachtet.)
— Primer of political economy, London 1878,
aus der Serie der „Science Primers", hrsg. von
Huxley; dasselbe, ins Französische übersetzt,
von H. Gravez, Paris 1878. — The State in
relation to labour^ London 1882. (Jevons ruft
darin das Eingreifen der Gesetzgebung gegen
die Beschäftigung verheirateter Frauen in den
Fabriken an, insbesondere solcher mit Kindern
im zarten Lebensalter. Im übrigen spricht er
sich in dieser Schrift, trotz seines freihändle-
rischen Glaubensbekenntnisses, gegen das
Laissez-faire aus.) Seinem litterarischen Nach-
lasse entstammen die Schriften: Methods of
social reform, and other papers, London 1883.
— Investig^ation in currency and flnance, edited
with an mtrodnction by H. S. Foxwell, ebd.
1884. — Letters and Journals, edited by bis
wife, ebd. 1886. -
Jevons übersetzte in das Englische: L.
Cossa, Guida allo studio della economia politica,
2. Aufl., London 1880.
b) in Zeitschriften:
1) in British Association for the advance-
ment of science, London. Addresses and papers
read in section F: Economic science and sta-
tistics : Notice of a general mathematical theory
of political economy, Jahrgang 1862. — The
study of periodic commerciaT fluctuations, Jahrg.
1862. — Address on political economy, Jahrg.
1870. — The progress of the coal question,
Jahrg. 1875. - The periodicity of commercial
orises, and its physical explanation. (Seine Lehre
Ton der bestimmten physikalischen Gesetzen
unterworfenen Periodicität wirtschaftlicher Kri-
sen (Missemten etc.) beruht zwar auf einer au-
nähemden, aber niemals absoluten Eegeliuässig-
keit des Eintrittes gewisser meteorologisch-
astronomischer Erscheinungen (vgl. seine Scnrift :
„Commercial crises and sunspots", London s. a.),
ist aber nur hypothetisch für die Wissenschaft
verwertbar.) 2) in Fortnightly Review, London :
The Post Office, telegraphs and their financial
results, Jahrg. 1875, Dezember. (Untersuchung
über die Ursachen der finanziellen Unterbilanz
des englischen Staatstelegraphenwesens.) The
future of political economy, Jahrg. 1876, No-
vember. (Veröfl'entlichung zum Säkularjubiläum
des „wealth of nations".) 3) in Journal of the
Statistical Society: On the Variation of prices,
and the value of the currency since 1782, Bd.
XXVIII, London 1865, S. 294 ff". — On the
frequent autumnal pressure in the money market,
and the action of the Bank of England, Bd.
XXIX, 1866, S. 235 ff. — Brief account of a
general mathematical theory of political eco-
nomy, Bd. XXIX, 1886, S. 282 ff, - Condition
of the metallic currency of the United Kingdom
with reference to the question of international
coinage, Bd. XXXI, 1868, S. 426 ff. — Opening
address as President of section F (Economic
science and statistics) of the British Association,
at the XLth meeting at Liverpool, Sept. 1870,
Bd. XXXIII, 1870, S. 309 ff. >- The mathe-
matical theory of political economy (its pro-
gress, with an explanation of the principles of
the theory) Bd. XXXVII, 1874, S. 478 ff. —
Statistical use of the arithmometer, Bd. XLI,
1887. — 4) in Transactions of the Manchester
Statistical Society, Manchester: Analogy bet ween
the Post Office, telegrafs, and other Systems of
conveyance of the United Kingdom as regards
Government coutrol, Jahrg. 1866 67. — Inter-
national monetary Convention, and the intro-
duction of an international currency into this
Kingdom, Jahrg. 1867/68. — Inangural address
as President on the work of the Manchester
Statistical Society in connection with the questions
of the day, Jahrg. 1869 70. - The progress of
the mathematical theory of political economy
etc., Jahrg. 1874/75. — United Kingdom alliance,
and its prospects of success, Jahrg. 1875 76.
Vgl. über Jevons: Geyer, Theorie und
Praxis der Zettel banken , München 1867, An-
hang VI, S. 321 ff. — H. Fawcett, Manuel of
political economy, 3. Aufl., London 1869, S. 43"^.
— M. W. Drobisch, üeber Mittelgrössen und
die Anwendbarkeit derselben auf die Berechnung
des Steigens und Sinkens des Geldwertes, in
„Bericht der mathemat.-physikal. Klasse der k.
Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften", Leipzig,
Jahrg. 1871, S. 25ff. — Derselbe, Ueber die
Berechnung der Veränderungen der Waren-
preise und des Geldwertes, in Jahrb. f. Nat. u.
Stet, Bd. 16, Jena 1871, S. 143ff. — E. Las-
peyres, Die Berechnung einer mittleren Preis-
steigerung, in Jahrb. f. Nat. u. Stet, Bd. 16,
1871, S. 296 ff. — Carey, The unity
of law, Philadelphia 1872, S. 10. — J. E.
Cairnes, Essays in political economy, London
1873, S. 105. — A. L. Perrv, Introduction to
political economy, New- York 1877, S. 193, 295. —
S h a d w e 1 1 , System of political economy, London
1322
Jerons — ^Impfung und Impfrecht
•1877, S. 47, 55, 89, 94 u. ö. — Nationalöko-
nomische Schriften von W. Stanley Jevons, in
Jahrb. f. Nat. n. Stat., Bd. 31, Jena 1878, S.
267. — E. Hüll, The coal-fields of Great
Britain, 4. Aufl., London 1884, S. 2, 509. —
Obitnary notices of Prof. William Stanley Jevons,
with additional remarks from the „Statist" and
^Economist", in Journal of the Statistical So-
ciety, Bd. XLV, London 1882, S. 484--«8. —
R. Giffen, Notice of (Prof. W. St. Jevons')
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Lippert
Impfung und Impf recht.
1. Geschichtliches. 2. Ausführung der
Impfung. 3. Nutzen der Impfung und Impf-
gegner. 4. Impfrecht.
1. Geschichtliches. Unter Impfung
im engeren und landläufigen Sinne versteht
man die Schutzimpfung gegen die
Pocken (Blattern, echte Blattern, Variola
Vera) zum Unterschiede von den neueren
Impfungen gegen Cholera, Typhus, Diph-
therie u. s. f.
Die Schutzpockenimpfung geht in letzter
Linie auf uralte Beobachtungen und Erfah-
rungen zurück. Gewisse Krankheiten, nament-
lich die exanthematischen, d. h. die durch einen
Ausschlag gekennzeichneten, unter ihnen auch
die Pocken, befallen den Menschen in der Ke^el
nur ein einziges Mal, verleihen also dem Or-
ganismus ein hohes Mass von Seuchenfestig-
keit, von Immunität. Daneben aber be-
merkte man, da.ss die Pocken in besonders
leichter Form verlaufen, wenn sie nicht auf
dem gewöhnlichen Wege, wohl von den Atmungs-
werkzeugen oder den Schleimhäuten aus, in
den Körper eindringen, sondern der Infektions-
stoff von kleineren Verletzungen der
äusseren Haut aus Zutritt findet. Auf
diesen Wahrnehmungen baut sich die Methode
der sogenannten Inoculation oder Vario-
lation auf, bei der dem Menschen absichtlich
eine kleine Menge Pockeneit.er in eine Schnitt-
oder Stichwunde der Haut gebracht und so ein
milder Ausbruch der Blattern bewirkt wird,
der dann für die Zukunft völlige Unempfind-
lichkeit zurücklägst. Die Yariolation ist bei
den beiden alten Kulturvölkern der Chinesen
und Indier der Ueberlieferung nach schon meh-
rere Jahrhunderte vor Christi Gebart in Ge-
brauch gewesen und gelangt dann namentlich
bei den um die Schönheit ihrer Mädchen besorg-
ten cirkassischen und georgischen Stämmen des
Kaukasus zur häufigen Anwendung. Von dort
kam sie in die europäische Türkei und durch
Vermittelung der Gattin des damaligen ene-
lischen Gesandten in Konstantinopel, der Lady
Mary Wortley-Montague 1721 nach Gross-
britannien. Hier wie auf dem Festlande Mmrde
sie als eine wertvolle Massregel gegen die
furchtbare Krankheit, der man sonst völlig
machtlos gegenüberstand, freudigst begrüsst.
Seufzte doch ganz Europa damals unter einer
schweren „Pockennot" : „von der Liebe und den
Pocken bleibt Niemand verschont", lautete ein be-
kanntes Sprichwort jener Zeit, und in der That
fielen Hoch und Niedrig dem Uebel in gleicher
Weise zum Opfer. Besonders wurden die Kinder
heimgesucht: die Pocken hatten damals den
Charakter einer eigentlichen Kinderkrank-
heit, wie heute Masern und Scharlach. Immer-
hin litt die Variolation noch an grossen Mängeln.
Zuweilen nahm die künstlich erzeugte Affektion
einen unerwartet bösartigen Verlauf, dem die
inokulierten Menschen dann erlagen; ausser-
dem aber waren es eben die echten Pocken, die
übertragen wurden, und jeder Impfling konnte
deshalb zum Ausgangspunkt für neue unfrei-
willige Ansteckungen werden, beförderte also
die Verbreitung der Seuche.
Die Impfung nicht mit Menschenpocken,
sondern mit Kuhpocken, nicht mit Variola,
sondern mit Vaccine bedeutet daher einen
gewaltigen Fortschritt auf diesem Gebiete, und
mit Recht wird der Entdecker der Vaccination,
der englische Dorfarzt Eduard Jenner als
einer der grössten Wohlthäter der Menschheit
gefeiert.
Die Kuhpocken sind eine den menschlichen
Pocken in ihrer äusseren Erscheinung sehr ähn-
liche Krankheit, die besonders an den Eutern
der Tiere auftritt und von hier ans auch auf
den Menschen, z. B. die Hände und Arme der
Melker oder Viehwärter übergehen kann. Schon
längst war nun namentlich die ländliche Be-
völkerung darauf aufmerksam geworden, dass
die von einem derartigen bläschenförmigen Aus-
schlage Befallenen st«ts von den Blattern ver-
schont blieben. Ja noch mehr: in Holstein, in
England und Schottland hatte man bereits ab-
sichtliche Uebertra^nsen der Knhpocken zum
Zwecke der Schutzimpraug gegen die Menschen-
pocken ausgeführt ; zwei englische Inoculatoren,
Fewster und Sutton, hatten z. B. über er-
folgreiche Versuche und Erfahrungen an das
Kollegium der Aerzte in London berichtet —
da aber alle diese Beobachter nicht von der Gloriole
Impfung und Impfrecht
1323
der Autorität umstrahlt waren, so wurden ihre
Mitteilungen nicht gewürdigt, und auch J e n n e r
hätte gewiss das gleiche Geschick gefunden,
wenn seine Behauptungen nicht auf besonders
breiter und fester Grundlage aufgebaut gewesen
wären. Nachdem er sich durch langjährige sorg-
fältige Prüfung von der Richtigkeit der er-
wlQinten Volksmeinung überzeugt, wa^te er
den entscheidenden Schritt. Am 14. Mai 1796
impfte er einen 8 jährigen Knaben (James Phipps)
am Arm mit dem Inhalt einer Kuhpockenpustel,
die sich auf dem Handrücken einer Viehmagd
(Sarah Nelmes) entwickelt hatte. Bei dem
Kinde kam es nun ebenfalls zur Entstehung
Ton Bläschen an der Impfstelle, die indessen
bald wieder verschwanden und doch einen voll-
kommenen Schutz gegen die echten Blattern
erzeugt hatten : eine am 6. Juli, also 6 Wochen
später vorgenommene Variolation mit Pocken-
stoff überstand der Knabe ohne jede Spur einer
Reaktion, Weitere Versuche mit dem nämlichen
Ergebnis an anderen Kindern folgten, und das
Verfahren gelangt« nun zu verhältnismässig
rascher Anerkennung, nicht nur in Grossbn-
tannien, sondern auch auf dem Festlande. Bei
uns machten sich um die Einführung der neuen
Methode besonders verdient die Aerzte Stro-
meyer in Hannover, Heim und Hufeland
in Berlin, Sommer in g in Frankfurt a. M.,
Osiander in Göttingen. Ueberall bestätigte
man ihre segensreiche Wirkung; in einigen süd-
deutschen Staaten wurde alsbald die Zwangs-
i m p f u n g vorgeschrieben, so in Bayern 1807, in
Baden 1815, in Württemberg 1818, umgekehrt
die Variolation ihrer Gefährlichkeit halber viel-
fach und bei strenger Strafe verboten, so in
Preussen im Jahre 1835. Die anfängliche Be-
geisterung erlitt indessen einen leichten Rück-
schlag, als man bemerkte, dass geimpfte Per-
sonen zuweilen doch noch an den Blattern er-
krankten, die dann freilich fast stets einen sehr
milden Verlauf nahmen. Aber man lernte bald
auch diesen Fehler beseitigen. Der Impfschutz
besitzt eben keine unbeschränkte Dauer, er geht
nach einer gewissen Frist wieder ganz oder
teilweise verloren, und die Impfung muss daher
nach einigen Jahren wiederholt werden, um
volle Sicherheit zu gewähren.
Worin besteht das Wesen der Impfung?
Wir können diese lange umstrittene Frage
heute mit Bestimmtheit dahin beantworten, dass
der höchst wahrscheinlich durch einen niederen
tierischen Schmarotzer gebildete Infektions-
stoff der echten Pocken bei der absichtlichen
oder unabsichtlichen Uebertragung auf den zwar
empfänglichen, aber doch weniger geeigneten
Körper des Tieres, des Rindes, eine soge-
nannte Abschwächung erfährt, und dass das
in seiner ursprünglichen Kraft geschädigte Ma-
terial nun bei neuen Individuen doch noch eben-
so einen Impfschutz, eine Immunität er-
zeugt, wie dies Pasteur später beim Milz-
brand, beim Schweinerotlauf u. s. w. in un-
widerleglicher Weise zu zeigen vermocht hat.
2. Ausführang der Impf ang. Der Intipf-
stoff, die »Lymphe« wird in einige seichte
Schnittwunden (seltener Stiche) der äusseren
Haut, meist am Oberarm, eingerieben. Es
entstehen dann an den betreffenden Stellen
die Impfpusteln oder Impfpocken,
die nach etwa einer Woche auf dem Höhe-
punkt ihrer Entwickelung angelangt sind,
weiterhin vereitern, verschorfen, eintrocknen
und mit Hinterlassung von oberflächlichen
Nai'ben abheilen. Der Impfstoff kann ent-
weder vom Menschen oder vom Rind
(meist vom Kalb) herrühren (humanisierte
und animale Lymphe). Die erstere stammt
von geimpften Menschen, namentlich Kindern
(Abimpflinge) und wird ohne weiteres
oder nach vorheriger Mischimg mit ver-
dünntem Glycerin benutzt. Bei ihrer Ver-
wendung sind trotz aller Vorsichtsmassregeln
zuweilen vom Abimpfling auf den Impfling
ausser dem Kuhpockenstoff auch noch andere
Keime, so die der Wundrose und namentlich
der Syphilis übertragen worden. Bei der
Benutzung der ani malen Lymphe ist diese
Möglichkeit ausgeschlossen, da das Rind
für Syphilis unempfänglich ist, die Tiere
ausserdem jedesmal sofort nach Abgabe der
Lymphe und vor dem Gebrauch der letzteren
geschlachtet und von einem sachverständigen
Tierarzt auf ihren Gesundheitszustand unter-
sucht werden müssen.
Die humanisierte Lymphe ist deslialb
durch die animale mehr imd mehr verdrängt
worden; nach einem Bundesratsbeschluss
vom 28. Juni 1899 dürfen bei uns die öffent-
lichen Impfungen (siehe unten) nur noch
mit animaler Lymphe vollzogen werden und
ist die humanisierte Lymphe allein in be-
sonderen Ausnahmefällen zulässig. Die
animale Lymphe wird gewonnen in staat-
lichen oder privaten, aber unter staatlicher
Aufsichtstehenden »Lympherz eugungs-
anstalten«. Die benutzten Kälber werden
zu diesem Zwecke am Bauche und der
inneren Fläche der Schenkel mit zahlreichen
seichten Schnittwunden versehen, in die der
Impfstoff eingerieben wird. Je nach der
Herkunft des letzteren unterscheidet man:
L die eigentliche animale Lymphe
oder animale Vaccine in engerem
Sinne; die Kälber werden mit animaler
Lymphe von anderen Kälbern geimpft, die
Uebertragung geschieht vonTierzuTier;
2. die sogenannte Retrovaccine; die
Kälber werden mit Lymphe geimpft, die
vom Menschen stammt (Abimpfüngeu), die
uebertragung geschieht vom Tiere auf den
Menschen und dann vom Menschen
zurück auf das Tier. Diese Art ist die
gebräuchlichste, da sie infolge der Auf-
frischung im menschlichen Körper am
ehesten ihre Wirksamkeit bewahrt, während
die eigentliche animale bei dem fortgesetzten
Durchgang durch das weniger empfängliche
Tier leicht einer allzuerheblichen Ab-
schwächung unterliegt. Seltenere Sorten
sind: 3. die Variolo Vaccine, die bei
Impfung von Kälbern mit dem Inhalt ech-
ter Pockenpusteln entsteht und den
1324
Impfung und linpfrecht
deutlichsten Beweis für die so veranlasste
Umwandlung des Infektionsstoffes der Variola
Vera in den der Vaccine erbringt; 4. die
originäre Vaccine, die sich bei der
natürlichen Ansteckung von Kindern
(Kühen) entwickelt. Sie ist die wahi^, die
ursprüngliche »Vaccine«; zu Jenners
Zeiten ungemein häufig gemäss der gewaltigen
Verbreitung der Blattern und der Möglich-
keit ihrer natürlichen Uebertragimg, auch auf
die Tiere, ist sie jetzt eine ßarität geworden
und wohl allein durch Wiederimpflinge beim
Melken u. s. w. besonders empfänglicher
Stücke hervorgerufen. Die Bereitung der
für den schliesslichen Gebrauch in der Praxis
bestimmten Lymphe erfolgt in der Weise,
dass der ganze Inhalt der beim Tiere ent^
standenen Blasen und Pusteln abgekratzt,
fein zerrieben und endlich mit verdünntem
Glycerin zu einer durchsichtigen Flüssig-
keit angerührt wird, die mehrere (2 — 3) Monate
hindurch wirksam bleibt und in kleinen
Glasgefässen zur Abgabe und Versendung
gelangt
3. Nutzen der Impfimg und Impfgegner.
Das beredteste Zeugnis für den Erfolg der
Vaccination haben eben die Je nn ersehen
Versuche geliefert. Aber vielleicht noch schla-
gender sind die ziffernmässigen Belege, die
eine sorgfältige Statistik gesammelt hat
und bei denen nach dem Gesetz der grossen
Zahlen jeder Irrtum oder Zweifel ausge-
schlossen ist. Namentlich in Betracht kom-
men: 1. die sogenannten ürpockenlisten,
d. h. die Aufstellungen über die an Pocken
verstorbenen und erkrankten Personen mit
Angaben über ihren Impf zustand. Da die
letzteren meist von den Angehörigen her-
rühi-en, sind sie freilich oft ungenau und
das Material entbehrt daher der nötigen Zu-
verlässigkeit. 2. Vergleich der Geimpften
(Wiedergeimpften , Geblätterten) einerseits,
der üngeimpften anderei-seits gegenüber
der Ansteckungsgefahr. Oft erwähnt
werden hier die Untersuchungen von Flin-
zer in Chemnitz, die sich auf die grosse
Pockenepidemie in den Jahren 1870/71 be-
ziehen. Von 64255 Einwohnern der Stadt
Chemnitz waren 53891 (83,87 «/o) geimpft,
4652 (7,24) hatten die Pocken schon
früher überstanden, 5712 (8,89) waren
ungeimpft; es erkrankten 3596 Per-
sonen, d. h. 5,6% der Bevölkerung; auf
58543 Geimpfte oder Geblätterte entfielen
769 = 1,3^/0 Erkrankungen und 7 Todes-
fälle, auf 5712 nicht geschützte Einwohner
2603 =r 45,6 «/o Erkrankungen und 242 Todes-
fälle. Das deutsche Heer verlor 1870 71
während des Feldzugs 459 (297 bei den
mobilen, 162 bei den immobilen Truppen),
das französische, das damals noch der regel-
mässigen Impfung und Wiederimpfimg ent-
behrte, aber 23400 Mann an den Pocken
u.s.f. S.Verhalten der Bevölkerung
desselben Landes vor und nach.
Aufnahme der Schutzimpfung. Mit
grosser Deutlichkeit lassen sich die einzelnen
Abschnitte dieses Prozesses z. B. verfolgen
in Schweden. Von 1792—1801 starben
dort durchschnittlich in jedem Jahre 191,4
auf 100000 Einwohner an den Pocken; im
Oktober 1801 begannen die Kuhpocken-
impfungen und fanden vielfache Anwendung
auch ohne gesetzliche Vorschriften; von
1802 — 1811 betrug der Jahresdiu-chschnitt
62,3, von 1811 -1816 19,7 ; im Jahre 1816
Einführung der Zw^angsimpfung : 1817 — 1821
Jahresdurchschnitt 7,0! Dass wir es aber
bei diesem wie in ähnlichen Fällen nicht
etwa mit einem freiwilligen Verschwin-
den der Blattern oder mit einer verringerten
Bösartigkeit der Bjankheit zu thun haben,
lehrt uns endlich 4. der Vergleich von
Ländern mit vollständiger und mit
unvollständiger oder fehlender
Schutzimpfung. Zu den ersteren ge-
hören z. B. das Deutsche Reich, Schweden
und Dänemark, zu den letzteren Belgien
\md Frankreich, Spanien, Oesten-eich, Italien,
Russland (s. unten). Es starben nun an
den Pocken in Deutsehland wähivnd der
Jahre 1889—1893 572 r= 2,3 auf 1 Million
Lebende, in Dänemark (Städte, für die
allein genaue Angaben vorliegen) 14 = 3>,
in Schweden 32 = 1,3. Dagegen in
Belgien 7779 = 252,9, in Frankreich
(Städte, für die allein genaue Angaben vor-
liegen) 5679 == 147,6, in Spanien 35784
= 638,0, in Oesterreich 37037^=313.6,
in Ungarn (1892 und 1893) 6303== 175,1,
in Italien (1890—1893) 24 801 = 2(J4.0,
in R u s s 1 a n d (1891—1893) 288 130 = 836.4.
Hätte sich die Blattemsterblichkeit also
bei uns auf der gleichen Höhe bewegt wie
in den französischen Städten, in Belgien, in
Oesterreich oder in Russland, so würde
unser Vaterland einen jährlichen Verhist
von 7321, 12584, 15558 oder gar 41584
Menschenleben zu beklagen gehabt haben,
wälirend in Wirklichkeit nm* 115 Personen
an den Pocken verstorben sind. Etwa * s
dieser Fälle aber haben sich noch an der
Seeküste und namentlich in den (Trenzl)e-
zirken ereignet, sind auf Rechnung einer
unmittelbaren Einschleppung zu setzen.
Das Deutsche Reich ist nach alledem zwar,
wie die Impfgegner höhnisch sagen, das
»klassische Land des Impfzwanges«, aber
wie wir hinzuffigen wollen, auch »das klas-
sisclie Land der Pockenimmunität« !
Dass es bei ims angesichts dieser That«
Sachen nun überhaupt noch Impfgegner
giebt, ja dass ihre Anschaimngen una Be-
strebungen sogar eine sehr beachtenswerte
Verbreitung gefunden haben und selbst im
deutschen Reichstage eine einflussreiche
Impfung und Impfrecht
1325
Rolle spielen, erscheint nur deshalb be-
greiflich, weil unser Volk seit \delen Jalu*-
zehnten, eben dank dem »Impfzwang«, dem
Bannkreis der Pocken entrückt ist und die
(ji-össe der Gefsüir gar nicht mehr am eige-
nen Leibe kennen gelernt hat, gar nicht
mehr zu ei messen vermag. Im übrigen
sammelt sich aber um das impfgegnerische
Banner eine i-echt buntscheckige Gefolgschaft,
aus der sich namentlich drei Gnippen
herausheben lassen. Einmal die Sozialdemo-
kraten, die den Impfzwang als einen Ver-
stoss gegen die Rechte des ludividimms
bekämpfen, obwohl sie selbst für ihre zu-
künftige staatliche Ordnung den Zwang im
weitesten Umfange planen und obwohl man
ihnen gewiss mit Recht erwidern kann,
dass die Freiheit des einzelnen da ihre
Grenze finden muss, wo sie zu einer Ge-
fahr für die Allgemeinheit wird. Zweitens
die Orthodoxen katholischer und evangeli-
scher Färbung, die in der Impfung einen
Eingriff in die Bestimmungen der göttlichen
Vorsehung erblicken, obwohl es gewiss nur
im Sinne der letzteren liegen kann, wenn
wir uns die Natur dienstbar machen und
sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen
suchen. Endlich drittens die Anhänger der
Naturheilkunde, die die Einführung eines
fremden Stoffes in den Körper zu prophj^-
laktischen wie zu therapeutischen Zwecken
überhaupt für unzulässig erachten, obwohl
über Nutzen und Scliaden einer solchen
Massregel doch nicht etwa voreingenommene
Principienreiterei, sondern allein der prak-
tische Erfolg entscheiden kann. Dass dieser
mit lautester Stimme zu Gunsten der
Impfung spricht, ist genauer erörtert wor-
den. An dieser Thatsache suchen daher
die impfgegnerischen Kreise auch immer
von neuem zu rütteln. Nachdem sie ver-
geblich die Richtigkeit der Zahlen an sich
bezweifelt, haben sie sich dann hinter der
schon erwähnten Behauptung verkrochen,
die Pocken hätten ihre früliere Gefährlich-
keit eingebüsst, und als sie auch aus diesem
Versteck vertrieben, ist ihnen als letzter
Ausweg nur eine gi-enzenlose Uebertreibung
der sogenaimten »Impfschädigungen«
geblieben. Die Vaccination soll verhängnis-
volle Vei'änderungen der verschiedensten
Art im kindlichen Körper erzeugen und
jedes Leiden, das nacn Vornahme der
Impfung, oft Monate und Jahi*e später auf-
tritt, wird ihr in die Schuhe geschoben.
Eine gewissenhafte Prüfung dieser Be-
schwerden hat ihre Haltlosigkeit dargetlian.
Seit der nahezu ausschliesslichen Anwen-
dung der animalen Lymphe kommen Er-
krankungen ernsterer Natur, die durch die
Impfung hervorgerufen wären, überhaupt
kaum noch vor. Auch die Entzündun-
gen in der Umgebung der Impf-
stelle aber, die man als »stärkere Reak-
tionen« von den normalen, mit der Ent-
wickelung der Pusteln einhergehenden Er-
scheinungen zu trennen pflegt, sind immer
seltener geworden, seit man auf möglichst
saubere Gewinnung der Lymphe
und Beachtung der sonst für kleine chirur-
gische Eingiiffe üblichen Vorsichts-
raassregeln (Reinigung des Operations-
feldes, der Instrumente u. s. w.) grosseres
Gewicht legt. So sterben jetzt im ganzen
Deutschen Reiche höchstens ungefähr 10
Kinder jährlich infolge von unglücklichen
Zufällen nach, nicht wegen der Impfung,
und die Impfschädigungen sind daher ge-
wiss als ein sehr geringes üebel im Ver-
hältnis zu den durch die Pockenseuche
früher und sonst verursachten Verlusten an
Menschenleben gleichsam als eine Ver-
sicherungsprämie gegen die gewaltige Ge-
fahr anzusehen, der man so entgeht. Die
Bestrebungen der Impfgegner erscheinen
nach alledem in iliren Motiven unbegründet
und verfehlt, in ihren Zielen aber gewissen-
los und bedrohlich für die Gesundheit
unseres Volkes.
4. Impfrecht Deutsches Reich.
Wie schon erwähnt, war in einigen süd-
deutschen Staaten die Kuhpockenimpfung
bald nach ihrer Entdeckung durch gesetz-
liche Vorschriften eingefülirt und obligato-
lisch gemacht woixien. Andere Bundes-
staaten dagegen, darimter auch Preussen,
hatten hiervon abgesehen und das Ziel auf
mittelbarem Wege zu erreichen gesucht.
In Preussen wunle nach dem Regulativ vom
Jahre 1835 die Impfung auf das dringendste
angeraten, von den Behörden durch Beispiel
und Belehrung empfohlen, die Abhaltung
öffentlicher, kostenfreier Impfungen sowie
die Einrichtung von Impflisten und die Aus-
stellung von Impfscheinen angeordnet, na-
mentlich die Gewährung gewisser Benefi-
zien, wie die Aufnahme in öffentliche
Staatsanstalten an die Bedingung der voraus-
gegangenen Impfung geknüpft, endlich die
Impfung, wie auch heute noch, bei allen
in das Heer oder die Marine eingereihten
Mannschaften vorgenommen, eine eigentliche
Verpflichtung zur Impfung jedoch nur
in dem einzelnen bestimmten Fall des
Iplötzlichen Auftretens der Pocken
lür die noch nicht ergriffenen Hausbewohner
vorgesehen. Infolgedessen war der Schutz
der Bevölkerung hier ein sehr mangel-
hafter; aber auch da, wo die Impfung
bestand, fehlte die Wiederimpfung,
und so wird es begreiflich, dass sich an
die massenhafte Einschleppung und Aus-
streuung des Krankheitsstoffes durch fran-
zösische Kriegsgefangene während des Feld-
zuges 1870' 71 ein gewaltiger Ausbruch der
Seuche in Deutschland anschloss, dem z. B.
1326
Impfung und Impfrecht
in Preussen 129148, in Bayern 8062 Ein-
wohner erlagen. Unter dem nachhaltigen
Eindruck dieses Ereignisses wurde dann
das Impfgesetz vom 8. April 1874 er-
lassen, durch das die. Impfung und die
Wiederimpfung für das Gebiet des
Deutschen Reiches zur obligatori-
schen Einführung gelangte. Die
wichtigsten Bestimmungen dieses Ge-
setzes und seiner Ausführungsverordnungen
sind: 1. der Impfung mit Schutzpocken ist
jedes Kind vor Ablauf desjenigen Kalender-
jahres zu unterziehen, das auf sein Geburts-
jahr folgt. Ausgenommen von dieser Ver-
pfliclitung sind dauernd nur solche Kinder,
die vorher die echten Blattern überstanden
haben und zeitweilig, d. h. bis zum nächsten
Jahre oder zum nächsten Impftermin solche
Kinder, die nach ärztlichem Zeugnis ohne
Gefahr für Leben oder Gesundheit nicht
geimpft werden können. 2. Der Wieder-
impfung ist zu unterziehen jeder Zögling
einer öffentlichen Lehranstalt oder einer
Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags-
und Abendschulen, innerhalb des Jahres, in
welchem der Zögling das zwölfte Lebens-
iahr zurückle^, sofern er nicht nach ärzt-
ichem Zeugnis in den letzten 5 Jahren die
natürlichen Blattern überstanden hat oder
mit Erfolg geimpft worden ist. Die Impfung
geschieht auf einem Oberarm; sie gilt als
erfolgreich und das Kind erhält seinen
»Impfschein«, wenn bei der »Nach-
schau«, die 6--8 Tage später vor dem
Arzte statt hat, mindestens eine gut ent-
wickelte Pustel (bei Wiederimpflingen
Knötchen) festgestellt wird. Ist das nicht
der Fall, so hat im nächsten oder bei noch-
maligem Versagen auch im übernächsten
Jahre eine Wiederholung der Impfung statt-
zufinden.
Die Impfung wird kostenfrei in Öf-
fentlichen Impf terminen durch besondere
Impfärzte und meist in der Zeit vom
Anfang Mai bis Ende September vorgenom-
men. Daneben können jedoch auch private
Impfungen, jedoch nur durch approbierte
Aerzte, ausgeführt werden.
Eltern (Pflegeeltern und Vormünder),
die den Nachweis der erfolgten Impfung
(durch Vorweisung des Impfscheins)
auf amtliches Erfordern nicht erbringen,
können zu einer Geldstrafe bis zu 20 Mark,
solche, deren Kinder und Pflegebefohlene
ohne gesetzlichen Grund der Impfung ent-
zogen werden, mit Geldstrafe bis zu 50
Mark oder mit Haft bis zu 3 Tagen be-
straft werden. Nach dem Urteil unserer
höchstin stanzlichen Gerichte (z. B. Kam-
raergericht 10. November 1892) darf die
behördliche Aufforderung an säumige Eltern
u. s. w. solange wiederholt werden, bis der
Nachweis geführt ist, und wegen Nichtbe-
folgung einer jeden neuen Auffordenmg ist
erneute Bestrafung zulässig.
Einen unmittelbaren »I m p f z w a n g«
unter Anwendung von Gewalt bestimmt
das Gesetz also nicht; es hat sogai- für
den Fall des Ausbruches einer Pockenepide-
mie bei den gefährdeten Personen von
Zwangsimpfungen abgesehen und nur ver-
fügt, dass die etwa vorhandenen schärferen
einzelstaatlichen Vorschriften hier unberülirt
bleiben sollen. Aber im grossen mid ganzen
haben sich die Anordnungen des Impfge-
setzes doch als ausreichend erwiesen, um
eine allgemeine Durchführung der
Impfung in Deutschland zu beNwken,
und endlich sei bemerkt, dass in Preussea
nach einer Entscheidung des preussischen
Oben^erwaltungs^richts vom 1. März 1895
die Polizei an sich aus Titel 17 § 10 des
Landrechts und § 132 des preussischen
Landesverwaltungsrechts die Berechtigung
ableiten kann, ein impfpflichtiges Kind zum
Impftermin auf dem IZwangswege vorzu-
führen, »da die Polizei befugt ist, zur
Durchftihrung gesundheitspolizeilicher Mass-
nahmen auch Zwangsmittel anzuwenden, und
diese Befugnis durch das Impfgesetz nicht
gemindert oder ausgeschlossen ist.«
Ausland, a) Länder mit gesetzlichem
Impfzwang:
1. Schweden: Impfung aller Kinder
vor Ablauf des zweiten Lebensjahres,
2. Dänemark: vor Ablauf des siebenten,
3. Schottland und Irland: vor Ab-
lauf des ersten,
4. Rumänien: vor Ablauf des ersten,
5. Italien (G. v. 22. Dezember 1888
und königliche V. v. 31. März 1S92).
Impfung der Kinder im ersten und Wietler-
impfung im 10. — 11. Jahre,
6. Ungarn (G. v. 7. Mai 1897).
Impfung im ersten und Wleilerimpfung im
12. Jahre. In den beiden letztgenannten
Staaten ist die Durchführung der Bestim-
mungen aber zur Zeit noch eine mangelhafte,
und in noch höherem Grade gilt dies von
7. Russland, wo der Impfzwang an-
geblich auch besteht, aber in Wahrheit gar
nicht gehandhabt wird.
b) Ijänder ohne gesetzlichen Impfzwang.
1. Oesterreich: indirekte M4ssregeln,
wie früher in Preussen,
2. Niederlande: desgleichen,
3. Belgien;
4. Frankreich: seit 1889 darf kein
Kind, das nicht geimpft ist, in eine öffent-
liche Schule aufgenommen werden.
5. England: Impfzwang durch Gesetze
vom Jahre 1867 und 1871 eingefülirt, 18i)9
aber Abänderungen vorgenommen, nach denen
die bisherige Strafandrohimg gegen solche
Eltern oder Pfleger, die ihre Kinder nicht
impfen lassen, weü sie überzeugt sind, das>
Impfung und Impfrecht — Inama-Sternegg
1827
die Impfung der Gesimdheit des Kindes
nachträglich sein werde, und damit also
der Im])f zwang thatsächlich aufgehoben wird.
6. Schweiz: Die Regelung des Impf-
wesens ist den Kantonen überlassen, von
denen einige einen mehr oder weniger gut
durchgeführten Impfzwang besitzen, andere
imd zwar gerade die wichtigsten, wie Basel,
Bern, Luzern, Zürich früher einen solchen
gehabt, aber unter dem Einfluss der impf-
ge^nerischen Bestrebungen in der letzten
Zeit wieder abgeschafft haben.
7. Amerikanische Union: Regelung
durch die Einzelstaaten, von denen jedoch
keiner den Impfzwang angenommen hat.
Litteratnr: t/enner, Inqttiry into the cause«
and effecta of the Variokie-vaccinae other cowpox,
Landau 1798. — Schulz, Impfung, Jmpfgeschäft,
Impftechnik, S. Aufl., Berlin 1891, Enalin. —
Rapmundf Das IteichsimpfgeseU und seine
Ausföhrungsbestimmungen, Berlin 1889. — Blattern
und Schutzpockenimpfung : Denkschrift, be-
arbeitet vom kaiserlichen Gesundheitsamt, Berlin
1896, J. Springer. — Kühler, Arb. aus dem
kaiserlichen Gesundheitsamt.
C. FrdnkeL
Inama-Sternegg, Karl Theodor von,
aus einer südtirolischen Familie stammend,
wurde am 20. I. 1843 zu Augsburg geboren
und bezog 1860 die Universität München, wo
er sich hauptsächlich historischen, juristischen
und kameraHstischen Studien hingab. Im März
1866 promovierte ihn die dortige staatswirt-
schaftliche Fakultät auf Grund einer Preis-
arbeit: „Die volkswirtschaftlichen Folgen des
dreissigj ährigen Krieges für Deutschland" (s. u.)
zum Doktor der Staatswirtschaft. Nachdem er
dann eine Zeit lang in der Gerichts- und Ver-
waitungä^raxis thätig gewesen war, habilitierte
er sich im November 1867 an der Universität
München, um schon im Herbst 1868 als ausser-
ordentlicher Professor der politischen Wissen-
schatten an die Universität Innsbruck zu gehen,
wo er 1871 zum Ordinarius ernannt wurde. Im
Frühjahr 1880 folgte er einem Rufe an die
Universität Prag, l&l übernahm er die Direktion
der administrativen Statistik in Wien, gleich-
zeitig als Honorarprofessor in den Verband der
Wiener Universität eintretend.
Im Jahre 1884 zum Präsidenten der k. k.
stat. Centralkommission ernannt, reformierte er
successive fast alle Zweige der amtlichen
Statistik und organisierte 1890 zum ersten Mal
eine centrale Bearbeitung der österreichischen
Volkszählung auf der Grundlage des Betriebes
mit elektrischen Maschinen. Inama-Sternegg
wurde 1891 als lebenslängliches Mitglied in das
österreichische Herrenhaus berufen, wo er sich
der Verfassungspartei anschloss und u. a. für
die Währung^sreform , Personaleinkommen-
Bteuer und Unfallversicherung als Referent
fungierte. Er ist wirkliches Mitglied der kais.
Akademie der Wissenschaften in Wien, korre-
spondierendes Mitglied der k. preussischen Aka-
demie der Wissenschaften, Ehrendoktor der
' Rechte der Universitäten Cambridge und Krakau
und Ehrenmitglied zahlreicher gelehrter Gesell-
schaften.
Auf dem Gebiete der Nationalökonomie ist
er ein entschiedener Anhänger der historischen
Richtung. Für die Pflege der internationalen
Beziehungen der Statistik ist er bei den Ver-
sammlungen des internationalen statistischen
Instituts, zu dessen Präsident er 1899 gewählt
worden ist, seit der Gründung des Instituts
thätig gewesen. Seit 1882 leitet er das statis-
tische Seminar, dessen jährliche Berichte in
der statistischen Monatsschrift erscheinen.
Von Inamas Veröffentlichungen seien die
nachfolgenden genannt:
a) »eibständige Bücher und Schriften :
Ueber die Emancipation der Frauen. Inns-
bruck 1869. — Die Tendenz der Grossstaaten-
bildung in der Gegenwart, ebd. 1869. — Ver-
waltungslehre in Umrissen, zunächst für den
akademischen Gebranch bestimmt, ebd. 1870. —
Untersuchungen über das Hofsystem im Mittel-
alter, ebd. 1872. — Idealismns und Realismus
in der Nationalökonomie, ebd. 1873. — Die
tirolischen Weistümer, B Bde. (2., 3. und 4. Bd.
der österreichischen Weistümer) [in Verbindung
mit J. V. Zinyerie], Wien 1875-1880. — Adam
Smith und die Bedeutung seines Wealth of
nations für die moderne Nationalökonomie,
Innsbruck 1876. — Die Ausbildung der grossen
Grundherrschaften in Deutschland während der
Earolingerzeit (in den Staats- und sozialwissen-
schaftlichen Forschungen), Leipzig 1878. —
Deutsche Wirtschaftsgeschichte, 3 Bde., Leipzig
1879—1899. — Die persönlichen Verhältnisse
der Wiener Armen, Wien 1892, 2. Bearbeitung
1899.
b) in Zeitschriften etc. und zwar:
InRaumers historischem Taschen-
buch (18B4): Die volkswirtschaftlichen Folgen
des dreissi^hrigen Krieges für Deutschland;
(1874) : Die^ntwickelung der deutschen Alpen-
dörfer. — In dem Jahresbericht des bist.
Vereins von und für Oberbayern (1866):
Erinnerung an Johann Georg Mayr. — In der
Zeitschrift für Staatsw. : Der Accisestreit
deutscher Finanztheoretiker im 17. und 18. Jahrb.
(186Ö); Beiträge zur Lehre vom Staatsgebiete
(1869); Die Rechtsverhältnisse des Staatsgebietes
(1870) ; Die Gliederung des Staatsgebietes (1872).
— In Cottas deutscher Vierteljahrs-
schrift: Ueber Inhalt und Grenzen des Staats-
lebens (1867); Studien über Landwirtschafts-
politik (1867). — In dem offiziellen Wiener
Weltausstellungsbericht v. J. 1873:
Beiträge zur Geschichte der Preise. — In der
Zeitschrift f. d. Privat- und öffent-
liche Recht der Gegenwart: Das Recht
der Staatshilfe in wirtschaftlichen Krisen (1873) ;
Zur Reform des Agrarrechts, insbesondere des
Anerbenrechts (1882). — In der Zeitschrift
für deuts-che Kulturgeschichte: Haus
und Hof zur Zeit Walthers von der Vogel weide
(1875). — In den Sitzungsberichten der
philolog.-hist. Klasse der Akademie
der Wissenschaften in Wien: Ueber die
Quellen der deutschen Wirtschaftsgeschichte
(1877); Zur Verfassungsgeschichte der deutschen
Salinen im Mittelalter (1886). — In den Jahrb.
f. Nat. und Stat. : Wert und Preis in der
ältesten Periode deutscher Volks Wirtschaft (1878) ;
1328
Inama-Sternegg — ^Individualismus
lieber Herrenschwand (1880) ; üeber Philipp
Wilhelm von Homick (1880); Zur Kritik der
Moralstatistik (1887). — In der Archival.
Zeitschrift: Ueber ürbarien und Urbarial-
auf Zeichnungen (1878). — In der Deutschen
Buudschau: Das Zeitalter des Kredits (1881).
S Dieser Aufsatz erschien auch besonders unter
lemselben Titel, Prag 1881.] Vom National-
reichtum (^1883). — Inder Deutschen Revue:
Alte und neue Kolonisation (1883) ; Die Anfänge
des deutschen Bürgertums (1881). — In der
Statistischen Monatsschrift: Vom Wesen
und den Wegen der Sozialwisseuschaft (1881);
Geschichte und Statistik (1882); Die Statistik
des Grundeigentums und die soziale Frage
(1882); Die Einnahmen der europäischen Staaten
(1882); Die Alpenwirtschaft in Deutsch-Tirol
(l883); Die Statistik der Hypothekarschulden
m Oesterreich (1883) ; Die Familienfideikommisse
in Oesterreich (1883); Die österr.-ungarischen
Consularämter und ihre Geschäftsthätigkeit in
den Jahren 1881/82 (1884) ; Die definitiven Er-
gebnisse der Grundsteuerregelung in Oesterreich
(1884); Zur Charakteristik des Grossgrund-
besitzes in Oesterreich (1884); Die Quellen der
historischen Bevölkerungsstatistik (1886); die
Quellen der historischen Preisstatistik (1886); Die
Wiener Getreidepreise im 18. Jahrhundert (1887) ;
Die Aufnahmen in den österreichischen Ötaats-
verband und die Entlassungen aus demselben
im Jahre 1885 (1887) ; Die kumulativen Waisen-
kassen in Oesterreich im Jahre 1885 (1887);
Realitätenwerte in Oesterreich im Jahre 1886
in Vergleichung mit d. J. 1866 (1888); Die Er-
gebnisse der Evidenzhaltung des Gnindsteuer-
katasters (1889); Die Realitätenwerte in Tirol
und Vorarlberg (1889); Die Standesregister in
Oesterreich (1889): Neue Beiträge zur allge-
meinen Methodenlehre der Statistik (1890);
Eückgang der Warenpreise und die österr.-
unff arische Handelsbilanz (1890); Die nächste
Volkszählung (1890); Geographie und Statistik
(1891); Ueber Arbeitsstatistik (1892): Die Er-
gebnisse der Erbschaftssteuer in Oesterreich
1889 - 1891 und ihre Bedeutung für die Schätzung
des Nationalvermögens (1893) ; Die Statistik der
Healexekntionen in Oesterreich (1894) ; die land-
wirtschaftlichen Arbeiter und deren Löhne in
Oesterreich (1895) ; Das soziale Connubium in den
österreichischen Städten (1898); Zur Währungs-
statistik (1899) ; Statistik des Grundbesitzes in
Ober - Oesterreich (1899). — In den Mit-
teilungen der anthropol. Gesellschaft
in Wien: Nationalökonomische Vorstellungen
bei Naturvölkern (1885); Interessante Formen
der Flur Verfassung in Oesterreich (1896) ; Spuren
slawischer Flurverfassung im Lungan (1899);
Ueber das Studium der Ausiedelungsformen
(1889). — In den Sitzungsberichten des
IV. Kongresses für Demographie: Die
Entwickelung der Bevölkerung Europas seit
1000 Jahren (1887); VIII. Kongress für Demo-
graphie (Budapest 1896); Ueber Generations-
dauer und Generationswechsel. — In Pauls
„Grundriss der german. Philologie"
Abschnitt „Wirtschaft'* (1889, 2. Aufl. 1898). —
Sallandstudien (in der Festgabe f. Georg Haussen,
Tübingen 1889). — Das Sinken der Warenpreise
(in den Mitteilungen der Ges. österr. Volkswirte.
1890). — In der Zeitschrift für Volks-
wirtschaft, Sozialpolitik und Ver-
waltung: Die Anfönge des deutschen Städte-
weseus (1892); Referat über die Währungs-
reform (1893). — In der Zeitschrift für
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
(III. 1893): Die Goldwährung im deutscheu
Keiche während des Mittelalters. — In v. Mayrs
allgemeinem Statist. Archiv I (1890):
Der statistische Unterricht. — In diesem
„Hand Wörterbuche" Art.: Bevölkerung des
Mittelalters und der neueren Zeit bis Ende des
18. Jahrhunderts in Europa" (11. Bd. S. 433 ff.):
Art.: Stände (II. Supplementoand). — In dem
Bulletin de l'institut intern, de Sta-
tist iq^ue: Ueber historische Statistik (1887).
Seit dem Jahre 1892 giebt Inama in Ver-
bindung mit E. V. Böhm-Bawerk und E. v.
Plener die „Zeitschrift für Volkswirtschaft,
Sozialpolitik und Verwaltung" heraus.
Femer sind aus Inamas Feder zahlreiche
Biographieen von Nationalökonomen und Statis-
tikern in der „Allgemeinen deutschen Bio-
graphie" und in der „Stat. Monatsschrift" er-
schienen.
Bed.
Individualismus.
1. Begriffsbestimmungen : Indi vidual-, Sozial-
princip; individualistische und organische Sys-
teme; Methode der Klassifikation der Systeme.
2. Axiomatischer Charakter der beiden sozial-
ethischen Grundnormen. 3. Die zwei Hanpt-
richtungen des Individualismus: Rechtsdoktrin
und Machtdoktrin. 4. Skizze der Entmckelnng
des Individualismus : A. Altertum und Mittelalter.
B. Zeit der Renaissance; Beginn der individua-
listischen Opposition gegen das herrschende,
anti-individualistische System. C. Neue Zeit (der
Liberalismus als die erste, der Kommunismas
als die zweite Erscheinungsform der Rechts-
doktrin).
1. Begriff sbestimmungeii : Individnal-.
Soziolprincip ; individualistische und
organische Systeme ; Methode der Klas-
sifikation der Systeme.
Das ethische, d. h. das über das Problem
des sozialen Seinsollen s grübelnde, nach
Principien für die vollkommenste Ordnung
des sozialen Seins suchende Denken niht
nicht eher, als bis es zu einem letzten, nicht
mehr ableitbaren Satze sich durchgenmgini
hat. Wie unser Geist für die Naturphäno-
mene nach einer obersten Ursache bezüglich
einem Endziel forscht — der causa causans
bezüglich causa fiualis, aus deren Er-
kenntnis erst ein organisches und harnn.)-
nisches Bild des Gewordenseius , Seins,
SeinweKlens der Natur zu gewinnen ist — ,
so forscht er auch für die sozialen PhÄüo-
mene, welche durch menschliches Wollen und
Handeln gestaltet und gewandelt werden,
nach einer Orundnorm, welche alles Wollen
beherrschen, welche allem Handeln als Richt-
schnur dienen müsse.
Welches ist nun dieses höchste ethische
Gebot? Wie lautet der letzte Satz bezüg-
lich des sozial Seinsollenden oder des sozial
Individualismus
1329
Gerechten? Die Antwort klingt in ein ent-
weder— oder aus. Es bieten sich zwei
einander kontradiktorische Sätze dar.
Erstens das Sozialprindp, d. i. der
Satz, dass die Gattung oder die menschliche
Gesellschaft oder das soziale Ganze (die ab-
strakte Einheit aller Individuen) oberster
Zweck sei, die Individuen dienende Organe
im Leben des Sozialkörpers, wie die Glied-
massen im Leben des physischen Körpers.
Zweitens das Individual princip, d. i.
der Satz, dass das Individuum oberster
Zweck sei, dass alle höheren imd niederen sozi-
alen Gebilde — Familie, Stand, Genossen-
schaft, Staat, Staatengesamtheit — nur
Mittel seien für die Zwecke der einzelnen,
die sie in sich fassen.
Entweder auf dieses oder jenes Princip
baut sich jedes System, jede Doktrin vom
sozialen Seinsollen auf — wenigstens jedes
nicht aus einer Offenbarung, sondern aus
der Vernunft gezogene.
Demgemäss scheidet sich die Gesamtheit
der Systeme in zwei grosse Gruppen.
Erstens die Gruppe der durch das Inoivi-
dualprincip beherrschten, der individu-
alistischen Systeme (Individualisraus).
Zweitens die Gruppe, welcher die anti-
individualistische, vom Sozialprincip durch-
drungene Grundanschammg gemeinsam ist
— die man mangels eines besseren unter
dem Gesamttitel der organischen Sys-
teme rubrizieren mag, da, wie oben gesagt,
hier die Entwickelung des sozialen Orga-
nismus das souveräne Leitmotiv bildet.
Der Komplex der anti-individnalistischen
Systeme würde emfacher und, da direkt ab-
geleitet vom Sozialprincip, zweckmässiger mit
^Sozialismus" zn bezeichnen sein.
P. Leroux, der, wie er von sich sagt,
„das Wort schmiedete als Gegenstück zu dem
eben in Kurs kommenden Individualismus",
wollte darunter die Doktrin verstanden wissen,
gemäss welcher „Tindividu serait sacrifi^
äcette entit6 qu'onnomme lasoci6te".
Auch heute noch halten manche hervor-
ragende Schriftsteller an dieser Begriffsbestim-
mung fest.
^Sozialismus, d. i. Anti-Individualismns,
welcher die Naturrech tspostulate" — gemeint
ist: diePostolate des individualistischen (s. unten)
Xaturrechts — „verwirft. . . . Freiheit, Gleich-
heit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit sind
Postulate des . . . Individualismus, nicht der
Sozialistik, in welche nur die Sozialdemokratie
und der Nihilismus sie hineintragen" (Schäffle,
Tüb. Ztschr., 1883, S. 498).
„Socialism . . . any theory of social Organisa-
tion which sacrifies the legimitate liberties of
the individuals to the will or interesta of the
commimity", des sozialen Ganzen. „It is the
exaggeration of the rights and claims of society,
just as Individualism is the exaggeration of
the rights and claims of individuals (H.Fl int,
Socialism, 1895).
Im ethischen Sinne genommen, ist zn be-
stimmen „Socialism as implying a moral unity
or Order which requires the Submission of the
individual . . . In^vidualism as implying the
independence of the individual and his re^llion
against supposed ultimate Standards of
authority" (S. Alexander, Moral order and
progress, 1^2).
Da aber die Aussicht, diesen Usus all^meüi
zu machen und damit zu einer klaren Termi-
nologie für das Grundschema der Klassifikation
der ethischen Systeme zu kommen, überaus ge-
ring ist, so wird wenigstens dahin zu stre&n
sein, mit der bisher üblichen Gleichsetznng von
„Sozialismus" und „Kommunismus'* — die eine
terminologische Verschwendung bedeutet — zu
brechen und nur die eine Gruppe der kollek-
tivistischen, d. h. Privateigentum und freie
Konkurrenz ne^erenden Systeme, welche aus
dem Sozialprincip hergeleitet, dem Anti-Indivi-
dualismus entsprungen ist (z. B. die Systeme
Piatos, Campanellas, Fichtes, Rodbertus'), als
„Sozialismus^*, die andere Gruppe, welche
im Individnalprincip wurzelt, die Verwirklichung
des „bonheur commun" aller Individuen zu ihrer
centralen Idee hat, als „Kommunismus'* zu
bezeichnen (vgl. H. Dietzel, Beiträge zur Ge-
schichte des Sozialismus und Kommunismus, in
Fraukensteins Zeitschrift für Litteratur und Ge-
schichte der Staatswissenschaften. Bd. I S. 8, 11). —
Wie man sich auch zu der i?itelfra^e stelle
— die Notwendigkeit, behufs Klassifikation
der Systeme die oben angewandte „dogmatische'*
Methode zn gebrauchen, d. h. die Systeme zu
^uppieren nach dem ethischen Dogma, in
dessen Bann sie stehen, kann nicht bestritten wer-
den. Man taufe die Systeme, mit welchen Namen
man wolle; aber die Principien, die ethischen
Grundnormen, müssen Gevatter stehen. Sonst
werden diese Kinder des Denkens immer in
der bedenklichen Unklarheit üb^r ihre Familien-
beziehungen, an welcher sie heute leiden, her-
umlaufen, wird die Konfusion fortbestehen, die
heute bei uns herrscht, und welche daher rührt,
dass man sich (was K. Die hl z. B. verteidigt)
der „realistischen** Methode bedient — d. h.
ausschliesslich nach den „praktischen Zielen**,
den Weltverbesserungsprogrammen, die Grup-
pierung vollzieht.
Zunächst muss die Frage gestellt werden:
aus welchem von jenen beiden polaren Prin-
cipien ein System abgeleitet ist? Aus der
diametralen Verschiedenheit der ethischen Grund-
normen ergiebt sich die Obereinteilung der
Systeme in individualistische und anti-indivi-
dualistische. Erst behufs Unter einteilnng ist,
innerhalb dieser wie jener Gruppe, die Differenz
der „praktischen Ziele" zu berücksichtigen —
als das sekundäre, nicht als das primäre Mo-
ment.
Wenn mir jemand sagt: in dem System
dieses Autors wird dies Sozialprogramm ver-
treten, in dem System jenes ein anderes, ohne
mich verstehen zu lassen, weshalb hier die,
dort jene „praktischen Ziele" sich zusammen-
finden, mit anderen Worten auf welche nicht
mehr ableitbare ethische Pnncipien diese
Forderungen sich stützen, beruhigt mich die
„Unruhe des Warumfragens** (Sigwart) nicht
Um das Wesen eines Systems zu begreifen,
muss ich die allgemeinste, die Grundnorm kennen,
welche alle Einzelheiten aus sich hervortreibt.
Handwörterbuch der Staatswissenschaften. Zweite Auflage. IV.
84
1330
Individualismiis
Wer die Systeme — in letzter Linie —
klassifizieren will nach den praktischen Zielen,
nimmt znm ,,fandamentnm cuv^ionis^' die Wir-
kungen statt der Ursachen und speist mich
damit mit einer völlig unzulänglichen Auskunft
ah, sucht mich mit dem ,,post hoc'^ zu be-
friedigen, während ich nach dem „propter hoc"
verlangte.
Die Klassifikation muss sich griinden auf
das oberste kausale Agens — auf das ethische
Axiom oder Dogma, das in jedem der praktischen
Ziele als seinen Konsequenzen sich wiederspiegelt.
Nur mittelst dieser Methode kann die Dar-
stellung der Systeme erfolgen, ihre Geschichte
geschrieben werden. Geht man von den Pro-
grammen aus, so erhält man nichts als einen
verwirrenden, ermüdenden Katalog sozialer Re-
cepte. (Vgrl. meine Polemik gegen K, Die hl
in den „Beiträgen", S. 11—26, aus der die letzten
Sätze zum Teil wörtlich entlehnt sind.) —
Der Gegensatz von Individual- und So-
zialprincip und der aus ihm folgende Gegen-
satz der övsteme ist vielfach, audi anders
ausgedrückt worden. Besonders häufig er-
scheint er imter der Formel des Prozesses
oder der Prioritätskontroverse zwischen In-
dividuum und Staat.
Der »letzte geschichtliche Gegensatz« ist
aber nicht der zwischen Individuum und
Staat, sondern der » zwischen Individuum
und Gesellschaft« (Rodbertus), zwischen
dem Individuum, das sein kurzes Leben
lebt, und dem aus immer wechselnden
Individuen zusammengesetzten sozialen Gan-
zen , das in der Reihe der Generationen
sein unsterbliches Dasein verbringt — zwi-
schen dem konkreten Menschen, dem realen
Einzelwesen, das seinem Glücke nach-
trachtet, und dem /iaxgdvd'gconos j dem »Men-
schen als Idee« (Ahrens), der Gattung,
die in der ewigen Folge der Einzelwesen
ihrer Vervollkommnung zustrebt, deren im-
endlicher Strom in diesen flüchtigen WeUen
zu dem Ziele drängt, das ihm bestimmt.
Das Individual- und das Staat sprin dp
einander gegenüberstellen, »the man versus
the State« (Spencer) prozessieren lassen, ist
nicht nur deshalb ein Fehler, weil dabei der
Gegensatz, um den es sich in Wahrheit
handelt, verhüllt bleibt, sondern auch des-
halb, weil bei Adoption dieser Formel der
Gegensatz nur auftauchen würde, um sofort
wieder zu verschwinden: in dem Streite
zwischen Individual- und Staats princip
wäre der Anspruch des letzteren ohne wei-
teres »a limine« abzuweisen, erschiene
ersteres als das allein berechtigte.
Um das Princip zu erhärten, dass das
Wohl des Staates — oder irgeDd eines an-
deren aus Individuen bestehenden Collec-
tivum — dem Wohle des Individuum vor-
gehe, im Konfliktsfalle dieses jenem weichen
müsse, bedarf es der Prämisse, dass diesem
CoUectivum eine Pflicht im Interesse der
Gattung gesetzt sei — gesetzt durch eine
supranaturale, über Individuum wie Staat
schwebende Potenz.
Ohne solche Sanktion lässt sich ein R e c h t
des Staates, die Individuen als dienende
Organe der — irgendwie gefassten — Staats-
idee zu behandeln, nimmermehr konstruieren.
Warum sollen diejenigen Individuen, welche
die Staatsidee verwerfen bezw. sie an-
ders interpretieren als die jeweiligen Macht-
haber, sich dem Zwange fügen? Warum
die realen Individuen ihre realen Interessen
einer Abstraktion opfern — die Lebenden
ihr Recht auf das ümen erreichbare Maxi-
mum von Glück darangeben oder sich min-
destens verkürzen lassen, auf dass in Zu-
kunft die Staatsidee sich in höherem Masse
verwirkliche als bisher? Warum soll die
Generation von 1900 der von 1930 -weichen?
Nur wenn angenommen wird, dass der
Staat eine »göttliche Mission« zu erfüllen
habe, dass der »Weltgeist« in der Geschichte
die »Erziehung des Menschengeschlechts^,
der Gattung, vollbringt, nur als Gattungs-
oder Sozial-, nicht als Staatsprincip , kann
das anti-individualistische Prindp seine Be-
gründung finden. Man nenne die über der
Gattung waltende supranaturale Potenz, be-
greife ilir Wesen und ihr Thun, wie man
immer woUe — vorausgesetzt muss sie
werden, sonst schwebt das anti-individualis-
tische Prindp in der Luft; es bedarf des
Segens »von oben«, ist ohne metaphysische
Legitimation unhaltbar.
Wie die Naturwissenschaft, so steht auch
die Ethik vor der Alternative: Gott ist —
Gott ist nicht; eine supranaturale Potenz
waltet über der menschheitlichen Ent-
wickelung — sie waltet nicht. Wird sie
geleugnet oder als unbeweisbar ausser Rech-
nung gestellt imd müssen demzufolge die
sozialen Normen ihren Inhalt allein aus der
Vernunft der Subjekte und ihre verpflich-
tende Kraft allein aus deren Willen schöpfen,
so kann an ihre Spitze als oberstes Gebot
nur das Individualprincip gestellt wer-
den. Das Seinsollende, das dem praktischen
Verhalten der Einzelnen und CoUecciva als
Richtschnur Gesetzte, deckt sich dann mit
dem den Interessen der jeweilig Lebenden
Entsprechenden, dem von ihnen Begehrten.
Wird sie dag^en bejaht und müssen
demzufolge die sozialen Normen von dieser
supranatuialen Potenz hergeleitet werdeo,
so sinkt das Individualprindp zu einem
sekundären Postulat herab und wird das
Sozialprincip zum primären, "wird die
Entwickelung des sozialen Ganzen im Sinne
gewisser, auf jene Potenz bezogener objek-
tiver Ideeen — gewisser »lütimate Stan-
dards« (s. o.) — das oberste, die einzelnen
wie die Collectiva sich schlechthin unter-
werfende Gebot Hier deckt sich das Sein-
soUende keineswegs mit dem von den je-
Individualismus
1331
weilig Lebenden Begehrten — ein schroffer
Widerspruch kann zwischen den Geboten
des »Weltgeistes« und den Strebungen des
»Zeitgeistes« bestehen, zwischen den, wie
Stirn er sagt, idealen »Sparren« und den
realen Interessen.
2. Axiomatischer Charakter der beiden
sozialethischeii Gnmdnormen. Der Streit
zwischen Individual- und Sozialprincip währt,
seitdem es ein Denken über das soziale Sein-
sollen giebt Ueberall und immer hat die
ethische Grundanschauung, welche das In-
dividuum in den Dienst der Familie oder
des Standes, der Genossenschaft oder des
Staates, in die Demut gegenüber Religion,
Gesetz, Sittlichkeit und Sitte, gegenüber
objektiven Ideeen und sie vertretenden
Mächten zwingen will — immer und über-
aU hat diese Grundanschauung gerungen
mit der ihr feindlichen, welche das Indivi-
duum befreien will von allem Zwange und
es zum sozialen Souverän krönen, dessen An-
spruch auf VoUgenuss des Daseins nur so-
weit jenen Ideeen imd Mächten sich beugt,
als es seiner Subjektivität genehm ist, dessen
Vernunft alles sozial Seiende vor seinen
Richterstuhl zieht.
Und dieser Streit wird auch in alle Zu-
kiuift fortdauern. Denn die rationalistische
Kritik ist ohnmächtig gegenüber diesen Prin-
cipien: als gleichwertige Axiome, welche
nur ein Fürwahrhalten, keinen Beweis zu-
lassen, stehen sie sich in ewiger Feind-
schaft gegenüber.
Das Individualprincip leuchtet zwar dem
»gesunden Menschenverstände« sofort ein.
Es ist aber ganz ebenso axiomatischer
Natur wie das Sozialprincip. Denn ebenso-
wenig ist beweisbar, dass eine supranaturale
Potenz das Leben der Menschheit nicht
beherrscht — woraus die Berechtigung des
Individualprindps zu detluzieren wäre — als,
dass eine solche Potenz da ist — woraus die
Berechtigung des Sozialprincips zu dedu-
zieren wäre.
Beide einander polar entgegengesetzte
Principien sind gleichweiüge Axiome. Es
besteht zwischen ihnen eine logische Anti-
nomie — die Vernunft zwingt uns, ent-
weder in jenem oder in diesem den letz-
ten Schluss sozialer Weisheit zu suchen;
aber sie sagt uns zugleich, dass die Wahl
nur gestellt, nicht vollzogen werden kann,
d. h. nicht auf Grund eines der »reinen Ver-
nunft« entstammenden Aktes.
Wir sind Anti-Individuahsten oder Indi-
vidualisten, wie wir Theisten oder Atheisten
sind nicht deshalb, weil w^ir das Dasein
Gottes beweisen könnten oder beweisen
könnten, dass er nicht ist, sondern weil
wir entweder glauben oder nicht glauben
— weil unsere »praktische Vernunft« so oder
so entscheidet.
Solange um die Gottesidee gestritten
wird, solange wird das Sozialprincip, welches,
wie Rodbertus einmal von seiner auf diesem
Princip beruhenden GeseUschaftsdoktrin sagt,
»bis zu Gott hinaufreicht«, mit dem Individual-
princip kämpfen, welches auf Erden haftet.
Die Methode der Deduktion a priori ver-
sagt. Dass die »absolute Wahrheit« dieses
oder jenes Princips auch nicht durch die
Methode der Induktion a posteriori am Ver-
laufe der Geschichte sich ergeben kann,
habe ich in meiner Bjritik des Versuches
Rodbertus', das Sozialprincip durch diese
Methode zu beweisen, gezeigt. Der Versuch,
zu Gunsten des Individualprincips unter-
nommen, muss gleicherweise scheitern. Die
Geschichte, wenigstens die der abendländi-
schen Kulturwelt, zeigt uns, dass Perioden,
in denen das Sozialprincip die Geister be-
herrscht, mit Perioden wechseln, in denen
das Individualprincip regiert, Perioden der
»association« — »siecles organisateurs« —
mit denen des »individualisme« (St. Simon),
»organische« Perioden mit Perioden des
»Freihandels« (Rodbertus). Dem im Banne
des Sozialprincips befangenen Denker er-
scheinen jene als die Zeiten der Legitimität,
diese als revolutionäre Interimistika, nach
deren Ueberwindung die Gesellschaft immer
wieder in das korrekte Geleise des Sozial-
princips einlenkt — umgekehrt dem Indi-
vidualisten die Perioden, in welchen das
Subjekt zu grösserer Freiheit als bisher sich
empoiTingt, als die Sonnentage der Mensch-
heit, die Perioden dagegen, in welchen es
unter dem Drucke der objektiven Ideeen
steht, als dunkle Schatten, welche aber
immer wieder dem Morgenrot einer besseren
Zeit weichen.
Je nachdem man der Geschichte den Spie-
gel dieses.oder jenes Princips vorhält, wirft
sie dies oder jenes Büd zurück.
Die Frage : xi to dUatov, ijemäss welcher
ethischen Grundnorm soll die soziale Ord-
nung gestaltet werden, wird daher stets die
zwiefache Antwort erhalten, die ihr bisher
geworden. Zu einem zweifelsfreien urteil
darüber, ob das individualistische oder das
anti-individuaUstische Dogma das allein-
seligmachende sei, vermag menschliches
Denken nicht zu gelangen.
3. Die zwei Hauptrichtnngen des
Individualisinus : Rechtsdoktrin und
Maehtdoktrin. Wenden wir uns nun-
mehr ausschliesslich der auf dem Individual-
princip fussenden Grundanschauung zu. Nach
aussen — unter dem Gesichtswinkel des
Gegensatzes zu den »organischen« Systemen
gesehen — erscheint der Individualismus
als eine ideelle Einheit. Wird er aber für
sich betrachtet, so wandelt sich das Bild:
man erkennt, dass in ihm verschiedene, dem
ethischen Obersatz wie den praktischen Zielen
84*
1332
Individualismiis
nach verschiedene Richtungen neben einander
feeztiglich gegen einander laufen.
Zu unterscheiden ist vor allem die Rich-
tung, welche man als die Rechtsdoktrin
bezeichnen kann, von der Machtdoktrin.
Erstere, die weitaus mächtigere Richtung,
geht von der Prämisse aus, dass alle Indi-
viduen, als Kinder der einen Gattung, als
Oeschwister von einem Fleisch und Blut,
von Natur unter sich gleichberechtigt seien
— dass jedes Individuum gleichen An-
spruch auf Vollgenuss des Lebens
habe und jedes Individuum diesen Anspruch
in jedem anderen achten müsse.
Letztere verneint das Princip des einen
Menschentums imd dessen Folgerungen.
Statt der Gleichheit der Individuen als
Oattungswesen stellt sie die Ungleichheit
der Individuen als Einzelwesen an die
Spitze und spricht dem Individumn das
Recht zu, seine Genusssphäre so
weit aus zu spannen, wie seine Macht
ihm gestattet — gleichviel ob diese
Macht das Eagebnis seiner überlegenen In-
dividualität oder des Zusammenschlusses
mit anderen, freiwillig oder zwangsweise
ihm verbimdenen Individuen ist.
Während die Rechtsdoktrin, indem sie
die Gattungsidee zu Grunde legt, den Kampf
imis Dasein, welcher in der Naturwelt
herrscht, für die Menschenwelt grundsätzlich
verneint, so wird von der Machtdoktrin
nicht nur zugelassen, sondern gefordert,
dass hier wie dort die Stärkeren sich die
Schwächeren unterwerfen.
Aufs schroffste weichen, trotz der Ge-
meinsamkeit der Grundanschauung, dass die
sozialen Gebilde nur da seien um der In-
dividuen ^^^llen, die obersten Richtpunkte
dieser beiden, logisch gleich notwendigen
Hauptarten des Individualismus von ein-
ander ab.
Behufs Verwirklichung des Rechts- wie
des Machtprincips können nun aber wieder
ganz verschiedene praktische Ziele gesteckt,
ganz verschiedene Progi-amme entworfen wer-
den. Die Meinung darüber, welche soziale Or-
ganisationsform erforderlich sei, um jenem oder
diesem Princip möglichst voll zu entsprechen,
hat, oft innerlialb kurzer Zeit, ausserordent-
lich gewechselt; auch zu gleicher Zeit haben
die Vertreter des gleichen Princips dieser
Organisationsfrage halber sich aufs heftigste
befehdet.
Nicht minder kann es sein, dass die
gleiche Organisationsform von den Vertretern
der Rechts- wie der Machtdoktrin postuliert
wird — weil jene ganz andere Wirkimgen
von ihr erwarten wie diese.
So z. B, das sogenannte »Konkurrenz-
sTstem«, d. h. die Form der Oi^sranisation
des sozial-'WTrtseliaftlichen Lebens, welche
jetzt in den Kultiu'ländern besteht. Wer
dessen Wirkungen so beurteilt wie die Libe-
raden des 18. Jahrhunderts (s. il), kann ihm
vom Standpimkt der Recht sdoktrin das
Wort reden ; wer dagegen die Ueberzeugung
hegt, dass bei freiem Wettbewerbe die
Stärkeren die Schwächeren sich unterwerfen
werden, wird dies Konkiurenzsystem vom
Gesichtspunkt der Machtdoktrin aus ver-
teidigen.
Es mag hier — am an einem Beispiele zu
zeigen, zu welchen Irrtümern es führt, wenn
man nach den „praktischen Zielen^^ statt nacli
den ethischen Normen, klassifizieren will (s. oben)
— noch bemerkt werden, dass dies selbe Kon-
kurrenzsystem nicht nur von den beiden „feind-
lichen Brüdern'' der individualistischen
Ideeenf amilie , sondern auch von anti-indi-
vidualistischer Seite seine Rechtfertigung
zu finden vermag und gefunden hat.
Auch wer zu der Idee des Primats des
sozialen Ganzen, zum Sozialprincip sich bekennt
kann aus diesem ethischen Dogma die prak-
tische Folgerung des „laissez-faire" ziehen.
Denn — argumentiert er (ob mit Recht oder
nicht, ist hier nicht zu entscheiden) — die Kon-
kurrenz, der Kampf um das wirtschaftliche Da-
sein, bewirkt ja das „survival of the fittest";
nur die wirtschaftlich höherwertigen Individuen
können sich halten, die wirtschcätlich minder-
wertigen werden ausgemerzt; eine „soziale Aus-
lese" vollzieht sich und mit ihr eine Vervoll-
kommnung der Gattung.
4. Skizze der Entwickelmig des
Individualismus. Eine Geschichte des In-
dividualismus wurde eine doppelte Aufgabe
sich stellen müssen. Einmal wäre die
äussere Geschichte zu geben, d. h. eine
Darstellung der wecliselnden Bedeutmig des
Individualismus im Leben der Völker; er-
örtert müsste werden, weshalb er jetzt zur
Herrschaft gelangte und die soziale Ordnung
nach seinem Bilde formte, dann aber wieder
entthront wai-d. Zweitens die innere Ge-
schichte, d. h. eine Darstellung der ach
folgenden Erscheinungsformen des Indivi-
dualismus, der mannigfachen Varianten, in
denen er aufgetreten ist.
Hier kann nur die letztere Aufgabe in
Angriff genommen werden, und auch diese
nur in begrenzter Fassung. Nicht die
»general revolt against authorityc., sondern
nur die verschiedenen Phasen des Kampfe>
fiir wirtschaftliche Vollbefriedigimg des
Subjekts, für Gestaltung der wirtschaftlichen
Ordnung nach dem Individualprincip, 'w-ül
ich zu skizzieren versuchen. Lidern so dif
Aufgabesich sachlich einzieht, schnunpft
sei auch zeitlich zusammen. Sollte die
innere Geschichte des Individualismus nach
allen Seiten hin dai^legt werden, so wän*
ein breites Eingehen auf die Soziidethik de:^
Altertums und des Mittelalters notwendig.
So dagegen entfällt diese Notwendigkeit ^
denn erst zu Ende des Zeitalters der Renai>-
sance ergreift die indi^^dualistische Idee mit
Individualismus
133.9
Kraft und Folgerichtigkeit das ökonomische
Gebiet, welches sie bis daMn nur flüchtig
imd inkonsequent gestreift hatt«.
A. Altertum und Mittelalter.
Die Forderung des Primats des Indi-
viduums reicht, wie bereits oben gesagt, so-
weit ziuiick wie die Geschichte des sozial-
philosophischen Denkens. Die hellenische
öophistik hat Religion, Sittlichkeit und
Staat dem Menschen als dem »Mass der
Dinge« unterworfen. Die objektiven Ideeen,
zu denen die Ahnen in frommer Scheu
emporgeblickt, erscheinen den aufgeklärten
Zeitgenossen der Phidias und Perikles als
Geschöpfe des Subjekts, seiner Vernunft
und seinem Willen botmässig.
Auch an der wirtschaftlichen Ord-
nung rüttelt der Individualismus. Aber
diese Bewegung ist dem Umfange wie dem
Grade der Energie nach weniger bedeutsam
als der Kampf gegen die überkommenen reli-
giösen, moralischen, politischen Dogmen.
Während in der Litteratiu* das Wesen imd
Wirken von Monarchie und Tyrannis, Aristo-
kratie und Oligarchie, Demokratie imd Och-
lokratie nach allen Seiten und mit voUer
Spannung des Denkens, in einer Weise imd
mit einem Erfolge erörtert wird, dass auch
heute noch jedes Raisonnement über Yer-
fassungsfn^n zu den Ergebnissen der helle-
nischen Geistesarbeit Stellung nehmen muss,
so kommt die Doktrin der wirtschaftlichen
Lebensformen über unsystematische und
scMaffe Anläufe nicht hinaus.
Wo einmal ein sorgfältiger ausgeführtes
Bild der Welt des Besitzes — wie in dem
»Staat« imd besonders in den »Gesetzen«
Piatos — vorließ, da ist es aus einer Feder
geflossen, die im Geiste des Sozialprincips
schreibt. Für die Rekonstruktion des wirt-
schaftlichen Individualismus sind wir fast
ausschliesslich auf Material beschränkt, wel-
ches in den Schriften seiner Gegner, in den
platonischen Dialogen, in den aristophani-
schen Komödien sich findet. Doch genügt
das Vorhandene, um das Dasein jener beiden
oben charakterisierten Hauptrichtungen nach-
zuweisen.
Aus der Machtdoktrin wird von den
einen die Notwendigkeit einer »amorphen«
Gesellschaft gefolgert — eines Zustandes,
indem das von allem Zwange losgebundene
Subjekt seine Individualität sclminkenlos,
ohne Rücksicht auf das Wohl und Wehe der
übrigen Individuen, entfalten könne.
Solche soziale Ordnung findet ihre Vor-
kämpfer in dem attischen Junkertum, dessen
Typus wir im Kallikles des platonischen
»Gorgias« und im Thrasymachos der »Poli-
teia« vor uns haben. Der Raubtiermoral
(Dümmler) dieser adeligen Wölfe ist es ein
Dogma, dass ihnen — im modernen Jargon
gesprochen: den »üebermenschen« — frei-
stehen müsse, die bürgerlichen Schafe nach
Belieben zu scheeren oder zu zerfleischen.
Die anderen ziehen umgekehrt aus der
Machtdoktrin die Konsequenz eines zu Guns-
ten der Masse regierten und regulierten Ge-
meinwesens. Der Sophist Kritias lehrt, dass
der Gesellschaftsvertrag dem Interesse der
Mehrheit der Schwachen, sich zu verbünden
und gemeinsam die Minderheit der Starken
niederzuhalten, entspringe. In den »Eccle-
siazusen« des Aristophanes wird — in derber
Verspottung der attischen Sozialdemokratie
und ihi*er Ütopieen i) — ausgemalt, wie die
Plebejer sich zusammenrotten, um die Opti-
maten ihrer Herrschaft und ihres Reichtums
zu entkleiden und eine völlig kommunis-
tische, die Güter- wie die Weibergemein-
schaft enthaltende Ordnung zu errichten.
Der Pöbel reisst kraft seiner auf der Ueber-
zahl der Fäuste und der Wahlstimmen be-
ruhenden Macht den »Gemeinbrei« an sich,
verwaltet ihn nach seiner Willkür, teilt die
nationale Dividende, die bisher der grossen
Quote nach an eine Kleinzahl ausfloss,
zu seinen Gunsten — aber er ist weit ent-
fernt, diese Aktion, wie die modernen Kom-
munisten es thun, aus der Idee des einen
Menschentums zu rechtfertigen; er denkt
nicht daran, dass die Sklaven »gewisser-
massen auch Menschen« sind, die ein glei-
ches Recht zur Teilnahme hätten, sondern
lässt diese Schwächsten der Schwachen wei-
ter fronden, damit die attischen Bürger ein
zwischen Essen, Küssen und Schlafen har-
monisch geteiltes Dasein führen können.
Wie den aristokratischen Raubtieren geht
diesen ochlokratischen das Recht nur so
weit, wie die Macht reicht.
Von der Rechts doktrin finden sich weit
weniger Spuren. Dass aber auch diese
Richtung des Individualismus, die allem,
was Menschenantlitz trägt, ein (pvöei gleiches
Recht zuerkennt und fordert, da^s das
geschriebene, vo>^ gesetzte Recht mit die-
sem Naturrecht, dem v6/uo£ ayganzoi^ in
Einklang gebracht werde, ihre Vertreter ge-
funden hat, ist z. B. zu ersehen aus der
üeberlieferung des Wortes des Alkidamas,
dass Gott allen Individuen die Freilieit ge-
') Dass die „Ecclesiaznsen" deshalb keine
Parodie der platonischen Republik sein können,
weil letztere Jahrzehnte später geschrieben, be-
merkt Droysen, Aristophanes' Werke S. 347.
Zu dem gleichen Ergebnisse führt aber die Be-
trachtung des Inhalts. Was Aristophanes hier
verspottet, ist eine Ausgeburt individualis-
tischer Phantasie, individualistischer Genussfi^er.
Die „Republik" Piatos ist eine Ausgeburt
anti-individnalistischer Phantasie, eines über-
spannten sittlichenRigorismus. Vgl. H. Dietzel,
Beiträge u. s. w., II. (Frankensteins Zeitschrift
S. 373—400).
1334
Individualismus
geben, die Natur niemanden zum Sklaven
geschaffen habe.
Während in dieser oder jener Variante
die Sophisten das individualistische Dogma
verkünden, so wird ihnen aus dem Kreise
der sokratischen Schule das Sozialprincip
entgegengehalten — vor allem, bis zum
Extrem vorgetrieben, seitens Piatos, weniger
schroff, mit dem Versuche zwichen den kon-
tradiktorischen Axiomen zu vermitteln, seitens
Aristoteles', des »Kathedersozialisten« (Sal-
vioni).
Der Gegensatz wiederholt sich in späte-
rer Zeit. Während der Epikureismus das
souveräne Eecht des Subjekts predigt, so
der Stoizismus die absolute Pflicht des In-
dividuum, sich in den Dienst der objektiven
Ideeen zu stellen: ein ihrer ethischen
Grundnorm entsprechendes politisches oder
wirtschaftliches Programm hat aber weder
jene noch diese Schule entwickelt. Euer wie
dort — und ebenso bei ihren römischen Epi-
gonen — waltet die gleiche weltflüchtige,
ieder sozialpraktischen Keformarbeit feind-
iche Stimmung. —
Einen weit breiteren Baum als in der
antiken Litteratur nehmen Erörterungen
über das Seinsollen auf ökonomischem Ge-
biet in den Schriften der Kirchenväter, in
dem Corpus juris canonici, in den Traktaten
der Scholastik ein. Der Standpunkt ist
aber hier immer anti-individualistisch; wie
die platonische und die stoische, so legt die
christliche Ethik das Individuum mit seinen
sündigen, auf materielles Geniessen zielenden
Trieben in straffe Fesseln; will das Fleisch
knechten, um den Geist zu befreien. Wenn
das Sondereigentimi verdammt, die Güter-
gemeinschaft als »dulcissima rerum« ge-
priesen wird, geschieht dies nicht aus der
individualistischenTen denz,jedem Individuum
zum Besitze zu verhelfen, sondern aus der
anti-individualistischen: niemand soll etw^as
sein Eigen nennen, weil das Hangen am irdi-
schen Mammon das Seelenheil gefährdet.
Bis in das Zeitalter der Kreuzzüge hin-
ein bleibt diese asketische Gruhdanschauung
die herrschende. Dann aber beginnt, all-
mählich erstarkend, die Reaktion, beginnt
die Empörung gegen die Doktrin der »civi-
tas dei«, gegen das Unterfangen, die Sehn-
sucht nach den Gütern dieser Welt aus dem
Herzen der Menschen zu reissen.
B. Zeit der Renaissance; Beginn der
individualistischen Opposition gegen das
herrschende anti-individualistische
System.
Nachdem durch den Humanismus die
antike Ethik an die Seite der christlichen
gestellt worden war und die Eeformation
die Kirche des Abendlandes in zwei Kon-
fessionen, die beide der Habe des echten
Ringes sich rühmten, gespalten hatte, gnib
die seit den Tagen Friedrichs 11. heran-
rausdiende rationalistische Stromimg sich
ein weit breiteres Bett als bisher. Viel mehr
Köpfe wie früher mühen sich jetzt um das
Problem, Moral und Religion aus der Vernunft
zu finden und zu begründen. Mit gewaltiger
Energie rüttelt das Individuum an den theo-
logischen Dogmen, deren Joch seit mehr
denn einem Jahrtausend auf ihm gelastet
Dafiir aber verfällt es einer desto straf-
feren, zwingenderen Zucht seitens des welt-
lichen Regimentes. Oeht die Macht der
Kirche herab, so steigt die bis dahin von
ihr im Schach gehaltene Macht des Staates
jetzt zu voller Majestät empor. Nicht selten
sind es dieselben Denker — so z. B. Mac-
chiavell imd Bodin — , welche als Vor-
kämpfer des ethischen und religiösen Ratio-
nalismus das Subjekt vom Zwange der Kirche
lösen, während sie es zum Sklaven des
Staates herabdrücken.
Das absolutistisch-merkantilis-
tische System, welches von der Renaissance
bis zum Schluss des »siecle Voltaire« die
Geister beherrscht, ist auf das Sozialprincip
gebaut: in der — wie oben gesagt, grund-
sätzlich nicht haltbaren — Fassung, dass der
Staat Selbstzweck sei, der einzelne dienendes
Organ, Werkzeug des Ruhms und der Herr-
lichkeit der Nation. In Berufung auf Plato
und Aristoteles wie auf die »geschriebene Ver-
nunft«, das Corpus juris Justinians mit seinem
absolutistischen Staatsrecht, wird gefordert,
dass der ünterthan sicli unbedingt den Ge-
boten des von der allweisen Regierung
authentisch interpretierten Staatsinteresses
beuge. In allem und jedem : in Fragen des
Glaubens wie der Sittlichkeit, der Büdung
wie der Wirtschaft.
Insofern als sie dorchans anti-individna-
listisch ist, deckt sich die Grandanschanung
dieser Zeit mit jener, welcher das Denken des
Mittelalters gehuldigt hatte. Aber im Negativen
gleich, weicht doch im Positiven das neue
System gewaltig ab von dem alten; es lehrt
die Völker und ihre Führer, nach Zielen zu
ringen, auf welche die christliche Ethik mit
Verachtung geblickt hatte.
Es ist ein System der Weltbejahnng statt
der Weltvemeinung. Nicht mehr eilt die Er-
ziehung des Christenmenschen zu Tagend und
Gottähnlichkeit als die oberste Aufgabe der»
Staates ; seine Pflicht wird dorchaos pro&n ge-
fasst. Die eigene Macht „über alles'* za erheben
— wie es in dem Titel der bekannten Schrift
V. Hornigks heisst — und den Reichtum
an sich zu locken, ihn den Rivalen abwendig
zu machen, erscheint als die oberste Norm der
Politik. Die Hybris, die Heraklit am Indivi-
duum gescholten, ist jetzt auf die Kollektivin-
dividuen, die Staaten, übergegangen.
Salus publica suprema lex ; quod principi
placuit, legis habet vigorem; omnia sunt
principis (d. h. des Staates) — in diesen
Sätzen fasst sich kurz das System zusammen.
iDcLividualismus
1335
welches bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts mit dem Nimbus der Orthodoxie
umgeben ist.
Allerdings fehlt es nicht an Ketzern, an
einer individualistischen Opposition. Zu-
nächst erschallt der Ruf nach politischer
und Ökonomischer Freiheit von selten derer,
welche, während sie im Mittelalter die Ge-
walt mit dem Fürstentum geteilt hatten,
durch den Sieg des Absolutismus zu Boden
geworfen waren.
So vertritt die jesuitische Publizistik
(Mariana, Suarez u. s. w.) das Recht der
Revolution, selbst des Fürstenmordes K\r den
Fall, dass der weltliche Herrscher sich an-
masse, in die Sphäre des Gewissens einzu-
greifen, über die aDein die geistliche Gewalt,
höher als die irdische, ein Recht habe. Wäh-
rend das Papsttum auf unmittelbarer gött-
licher Einsetzung beruhe, leite das Fürsten-
tum seine Krone aus der üebertragung
seitens des Volkes ab, dessen Willen sie
auch zurücknehmen könne. Aehnhch argu-
mentieren die schottischen »Monarcho-
machen« des 16. und die englischen des
17. Jahrhimderts. Weit zahmer im Ton,
aber doch in gleichem Sinne sprechen Fühi-er
der protestantischen Bewegung; so fordert
Luther, dass man »die gescluiebenen Rechte
unter der Vernunft halte, aus der sie ge-
flossen sind, als dem rechten Brunnen«, be-
tont, »dass das Evangelium, wie es der
Obrigkeit Amt bestätige, auch natürliche
und gesetzte Rechte bestätige« und »öffent-
liche violatio (seitens der Obrigkeit) alle
Pflichten zwischen dem ünterthan und Ober-
herm jure natiuae aufhebe.«
Wie hier das kirchliche Interesse an
Niederhaltung der weltliehen Gewalt dem
sozialen Individualismus Bahn bricht, so
wappnet sich auch das ständische Inte-
resse mit dem Schlagwort des zu Nutzen
der Individuen abgeschlossenen Gesellschafts-
vertrags, um Eingriffen des Oberhaupts in
die Genusssphäre der Glieder zu wehren.
Steuern seien »gegen die Natur einer Staats-
gesellschaft« — erklärt Braimschweig-
Wolfenbüttel auf dem Reichstage von 1653
— »da man sich nur in der Hoffnung, das
Seine zu behalten, in bürgerliche Verbin-
dungen eingelassen habe«.
Iiidividuaüstisch ist aber hier wie dort
nur die Schale.
Im Kerne ist die Doktrin der theologi-
schen Gegner des Absolutismus das Gegen-
teil einer individualistischen. Das Indivi-
duum wird von der staatlichen Kette nur
befreit, um es desto ausschliesslicher in die
Fessel der geistlichen Gewalt zu legen. Nicht
für Autonomie des Individuums streiten sie,
wenn sie der Monarchie den Handschuh hin-
werfen, sondern für Autonomie der Kirche.
Gleiches gilt von den Anwälten der stän-
dischen »Libertät« — nur so weit als die
wirklichen oder angeblichen jura quaesita,
die man verteidigen will, sich ei-strecken,
reicht ihr Pseudo-Individualismus.
Der walire Individualismus findet seine
für Jahrzehnte bedeutsamsten Vertreter in
Grotius und Locke, Hobbes und
Spinoza.
Gemeinsam ist ihnen das Dogma, dass
die sozialen Organisationsformen bestehen
um der Individuen willen; dass der Staat
wie alle anderen Collectiva beruhen auf dem
Konsens der Individuen, ihre Legitimation
durch ein »pactum sociale« empfangen.
Aber Grotius und Locke bekleiden das
Individuum mit »ewigen Rechten, die droben
hangen unveräusserlich und unzerstörbai',
wie die Sterne selbst«, mit NatuiTechten,
deren es sich nicht rechtsgiltig entäussern
kann, und legen ihm andererseits Natur-
pflichten auf, denen es sich nicht entziehen
darf. Diese Natiurechte und Naturpflichten
— die »droits et devoirs reciproques«, von
denen bei den Physiokraten dann soviel die
Rede ist — schweben als objektive,
fvoBi gegebene, über Indi\iduum und Ge-
sellschaft. Die Verwirklichung dieser »na-
türhchen« Ordnung ist die dem historischen
Staate gesetzte Aufgabe, sein ideales Ziel.
Der historische Staat ist verderbt, weil
der Mensch entartet ist. Von Natur war
der Mensch gut, vom Gattungsgefühl, vom
Gemeinschaftstriebe durchdrungen ; und dieser
Trieb war es, welcher die isoliert lebenden
Individuen zum Absclüuss des »pactum so-
ciale« der Urzeit führte. Allmälüich aber
wucherte der dem Menschen gleichfalls von
Natur eigene Individualtrieb, der Trieb der
Selbsterhaltung und Selbstentfaltung, mehr
und mehr empor, eretickte das Einzelbe-
wusstsein das Solidaritätsbewusstein.
Mit Kummer sehen Grotius und Locke
auf die böse Zeit, in der sie leben — die
Zeit, da Staaten gegen Staaten, Fürsten gegen
Völker, einzelne gegen einzelne stehen in
unnatürlicher Eigensucht. Hier gelte es,
Wandel zu schaffen — allen müssen ihre
natürlichen Rechte gewähiieistet werden^
dafür aber auch alle zu ihren natürlichen
Pflichten sich bekennen.
Spinoza und Hobbes dagegen wissen
nichts von einem organischen Bande zwischen
den »creatures of the same rank and species«
^Locke), kennen kein ungeschriebenes, ewiges
Gesetz, sondern nur vd/uo gesetzte, wandel-
bare Normen, kein objektives Sollen, sondern
niu- ein subjektives Wollen. Und dies
Wollen der Individuen erscheint ihnen als
durchaus beherrscht durch den gegen das
Wohl und Wehe der Mitmenschen völlig
gleichgiltigen Egoismus : homo homini lupus
(Hobbes).
Während Grotius und Locke der ,specie8
1336
Individualismus
homo' das Recht, die niederen, schwächeren
Lebewesen im Kampf ums Dasein zu unter-
drücken, zugestehen, aber im Gebiete der
Menschenwelt nicht die Macht, sondern die
Gerechtigkeit zum Princip erheben, wenden
Hobbes und Spinoza das rrincip des »Rechts
des Stärkeren« auch auf die Menschenwelt an.
Der Staat und seine Ordnung müssen so
sein, wie es dem Interesse der herrschen-
den, durch ihre Zahl oder ihre geschickte
Taktik herrschenden Gruppe entspricht. Die
sozialen Organisationsformen haben keine
Ideale zu erfüllen; sie sind nicht zu beur-
teilen danach, ob und in welchem Masse in
ihnen die Postulate der Gleichberechtigung
und Gleichverpflichtung Erfüllung gefunden
haben. Jede teleologische Betrachtung liegt
Hobbes und Spinoza fern : sie schildern ein-
fach den sozialen Eausalismus unter der
Voraussetzung, dass die zur Herrschaft taug-
licheren Individuen zur Herrschaft gelangen,
und dass dies geschieht, nennen sie ge-
recht. Die Individuen — so sldzziert
Ahrens (Naturrecht, Bd. I S. 100) die Auf-
fassung Spinozas — »haben nur soviel Recht,
als sie Macht haben, da zu sein und zu
handeln«.
Nicht aus dem Gemeinschaftstriebe ent-
steht der Staat, sondern er ist — so lehrt
Hobbes noch dem Vorgang Gassendis, dessen
Theorie wieder auf die Antike zurückweist
(s. oben) — das Produkt des Interesses der
Schwächeren an Errichtung einer sozialen
Gtewalt, welche sie vor der Knechtung durch
die Stärkeren, bezw. vor der Gefahr des
»bellum omnium contra omnes«, schirmen soll.
Dass Hobbes diese Gewalt in die Hand
eines, des absoluten Fürsten, legt, Spinoza
dagegen sie den Vielen, dem absoluten Volke,
zuweist, deutet keineswegs auf einen Gegen-
satz in der Gnmdanschaunng beider. Darin
kommt vielmehr nur die Thatsache zum Aus-
druck, dass mit der Machtdoktrin — wie
auch mit der Rechtsdoktrin — die verschie-
densten Programme sich rechtfertigen lassen.
Auf politischem wie auf ökonomischem Ge-
biete: wenn z. B. Hobbes das Sondereigen-
tum und die Sklaverei aus dem Interesse
der herrschenden Klasse legitimiert, so ist
natürlich auch jede andere Ordnung der Be-
ziehungen zwischen Individuum und Sachen-
welt wie zwischen Individuum und Indi-
viduum legitim, falls nur die Individuen
sich finden, in deren Macht es steht, sie zu
erzwingen und zu sichern.
In der Folgezeit tritt diese Macht doktrin
mehr und mehr in den Hintergrund. Der
Sieg des Individualprincips über das Sozial-
princip, des liberalen Systems über das »An-
cien Regime«, wird im Zeichen der Rechts-
doktrin der Grotius und Locke erfochten.
Ix^tztere gelangt zu so unbedingter Hegemonie,
dass, wenn heute von dem »Naturrecht« die
Rede ist, dabei immer an diese, durch die Idee
des einen Menschentums charakterisierte
Spielart des Individualismus gedacht lÄ-ird,
vergessen wird, dass auch die andere Spiel-
art, die Lehre der Hobbes und Spinoza, ihre
Schlüsse aus einem, nur anders au^fasstea
Naturrecht zieht und nicht minder die Ver-
treter des absolutistisch-merkantilistischeD
Systems ihr Dogma, dass der Staat den In-
dividuen vorgehe, »jure naturae« begründen.
G. Neue Zeit.
Der Liberalismus als die erste
Erscheinungsform der Rechtsdok-
trin.
Der Eemsatz des sozialethischen Denkens
des Renaissancezeitalters hatte gelautet : alle
Individuen, ob hoch oder gering, haben die
gleiche Pflicht, Sich der »ratio statusc
zu beugen. Gegen 1700 begann ein neues,
das liberale System, sich Bahn zu brechen,
in dessen Mittelpunkt die I^orm stand, dass
die »ratio status« allein die sein dürfe, jedem
Individuum das gleiche Recht, sich ge-
mäss seiner Eigenart in der staatsbüiger-
lichen Gesellschaft zur Geltung zu bringen,
zu gewährleisten. Und wie hinsichtlich der
Grundanschauung, so war auch hinsichtlich
des praktischen Programms das liberale
System dem überkommenen diametral ent-
gegengesetzt.
Bisher hatte die staatliche Ordnung
beruht auf dem Princip des Allrechts und
Alleinrechts des Fürsten, des Rechts der
Obrigkeit auf souveräne Entscheidung aller
Fragen des nationalen Lebens.
Der Liberalismus verlangte statt der
Omnipotenz des Monarchen die Teilung
der Gewalt zwischen Fürsten und Volk,
die Anerkennung des grundsätzlich gleichen
Rechts jedes Bürgers, mit seiner Vemimft
und seinem Willen auf den Gang der öffent-
lichen Angelegenheiten einzuwirken.
Durch die zweite englische Revolution
ward dies oberste Postulat des politischen
Programms der Rechtsdoktrin zu dem Grund-
gesetz des neuen Gemeinwesens. Der erste,
für lange Zeit aber auch einzige Triumph
der liberal-konstitutionellen Idee über den
Absolutismus ; dem 19. Jahrhundert blieb es
vorbehalten, sie in allen Kulturl&idern, mit
Ausnahme Russlands, zum Siege zu führen.
Der Liberalismus forderte zweitens, dass
die ökonomische Ordnung von Grund
aus umgestaltet, mit dem Princip der Allein-
mischung der Bureaukratie gebrochen werde.
Dem Postulat der Teilung der Gewalt stellte
er das der Einengung der Gewalt der
Regierung in wirtschaftlichen Dingen an
die Seite.
In England wie in Holland imd in Frank-
reich — vereinzelt auch in Deutsehland —
hatte sich während des 17. Jahrhunderts
Individualismus
1337
die Opposition wider den Merkantilismus
geregt. G^en dessen Ende schwoll sie
überall höher und höher an* vor allem im
Staate Louis XIV., als Coiberts genialer
Geist imd stupende Energie nicht mehr die
»Staatsmaschine« antrieb und leitete.
In England hatte Locke (s. o.) das neue
politische Programm mit aller Schärfe ver-
fochten, die alte ökonomische Ordnung da-
gegen nur an einzelnen Punkten, nicht
grundsätzlich, angegriffen. Umgekehrt mach-
ten die Franzosen Vauban und Bois-
guillebert aufs scliärf ste Front gegen die
traditionelle Vielregiererei. Konsequenter
als die holländischen Gesinnungsgenossen
(Graswinckel, die Brüder Delacourt),
doktrinärer als die englischen (North,
Tetty, Barbon) fassen sie ihr Programm
so radikal wie möglich: »cju'on laisse faire
la nature«, d. h. man lasse in wirtschaftlichen
Dingen das Individuiun völlig frei sich be-
wegen ; Aufgabe des Staates sei nur, für die
Freiheit des Verkehrs und die Gerechtig-
keit in der Besteuerung Sorge zu tragen
(les chemins libres et les impöts justement
repartis).
Sie sind keineswegs Individualisten wie
Locke: die Grösse und der Glanz Frank-
reichs, nicht das Glück der Individuen ist
ihr Leitmotiv. Auch gilt ihnen die bestehende
politische Ordnung als unantastbar. Aber,
wenn auch durchdrungen vom Sozialprincip
imd begeisterte Apostel des Absolutismus,
kommen sie in der rücksichtslosen Gegner-
schaft gegen das merkantilistische Wesen
mit dem Liberalismus überein.
Jahrzehnte vergingen, ehe das von ihnen
vertretene ökonomische Programm neue, er-
folgreichere Vertreter fand : in der seit 1750
Eiafluss gewinnenden Schule der Physio-
kraten.
War Montesquieus Kritik des Ancien
Regime wesentlich im Politischen stecken
geblieben, so erschien den Jüngern dieser
Schule die ökonomische Reform als das
dringlichste Bedürfnis, nsdim ihr Denken
nahezu voll gefangen. Erst in der »neuen
Wissenschaft« dieser Economisten, wie sie
lursprünglich sich nannten, verbindet sich
der ethische Kernsatz, dass das soziale
Ganze um der Befriedigung des »d6sir de
jouir« der Individuen willen bestehe, mit
dem Postulat des »laissez &bire, laissez
passer« — erst von ihnen wird aus der in-
dividualistischen Grundanschauung die für
den Liberalismus charakteristische Folgerung
möglichst weitgehender Einengung der Ge-
wiJt des Staates auf ökonomischem Gebiete
gezogen.
Während in Frankreich die gegen Mitte
des 18. Jahrhunderts gewaltig wachsende
oppositionelle Bewegimg ihr Interesse teilt
zwischen dem Problem der Neugestaltung
der Verfassimg, das Montesquieu, und
dem der Neugestaltung der Volkswii'tschaft,
das die Quesnay, Mirabeau, Turgot
aufgeworfen, so konnte sich der Liberalismus
Englands in der Hauptsache auf die Arbeit
an letzterem koncentrieren. Die politische
Emancipation des Volkes, wenigstens seiner
leitenden Schichten, von der Krone war
vollzogen; liier handelte es sich nur noch
um die wirtschaftliche Emancipation
des Individuums vom Staate, von seiner aus
der Staatsraison diktierten, die Naturredite
der Individuen nicht achtenden Bevormun-
dung und Wülkür.
Immer grösser wird die Zahl derer, welche
dem Merkantilismus das gleiche Los berei-
ten wollen wie dem Absolutismus. Neben
den Stimmen derBerkeley undTucker,
Hume und Mortimer werden zwar von
Zeit zu Zeit einzelne, dem Beharren beim
Alten etwas günstigere laut, z. B. die H u t c h e-
sons. In James Steuart (1766) fin-
det die merkantilistische Praxis noch einmal
einen überzeugten, redseligen Herold. Dass
aber der Sieg dem neuen ökonomischen Pro-
gramm werden werde, ist schon entschieden,
als ihm Ad. Smith in seiner »Wealth of
Nations« (1776) die klassische Formulierung
und Begründung giebt.
Es ist hier nicht der Ort, auszuführen,
worin die Lehre Quesnays und die Lehre
Ad. Smiths sich unterscheiden, noch darzu-
legen, weshalb diese und nicht jene zur
»Bibel« des wirtschaftlichen Liberalismus
geworden ist. Nur was ihnen gemeinsam
ist, muss kurz betont werden.
Beiden ist das Individuum Selbstzweck,
der Staat MitteL So falsch es wäre, sie
eines vagen Kosmopolitismus zu bezichtigen
— Quesnay ist ein ebenso guter Franzose
wie Smith ein guter Brite — so kann doch
daran kein Zweifel sein, dass nicht die
Machterweiterung der Nation, sondern die
Erhöhung der Genussmöglichkeit für die
einzelnen ihnen das oberste Gebot des so-
zialen Seinsollens bedeutet.
' Beide sind Individualisten und zwar
Anhänger der Rechtsdoktrin. In bewusstem
Gegensatze zu Hobbes, in deutlichem, oft
fast wörtlichem Anschluss an Locke ent-
wirft Quesnay sein »droit naturel«. Adam
Smith stützt zwar sein Plädoyer für das
neue ökonomische Programm feist ausschliess-
lich auf Zweckmässigkeitsgründe ; soweit aber
ethische Deduktionen bei ihm sich finden,
sind sie aus dem Geiste des j»treatise of
civil govemment« empfangen.
Beide sind eneigische Gegner des »Rechts
des Stärkeren«. Beide finden ihr soziales
Ideal in einem Zustande, da die Individuen
in Freiheit neben einander leben, im ar-
beitsteiligen Tauschverkehr einander ge-
recht vergoltene Dienste leisten. Beide
1338
Individualismus
gehen davon aus, dass von Natur zwei
Seelen wohnen in des Menschen Brust:
der Individu^trieb, das Selbstinteresse, und
der Geraeinschaftstrieb, das Interesse an den
Mitmenschen. Und — befangen im gleichen
Optimismus wie die Kommunisten von heute
— geben die Jünger Quesnays oft der Hoffnung
Saum, dass im »ordre naturel«, in dem
liberalen »Zukunftsstaate«, das Solidaritäts-
bewusstsein, das Gefühl der Brüderlich-
keit einen mächtigen Impuls empfangen
werde. —
Der Sinn dieses neuen Systems der
»natural liberty« ist oft missveratanden wor-
den. Das politische Programm des Li-
beralismus hat man unter dem Gesichts-
punkt angegriffen, als ob damit nur bezweckt
gewesen sei, die Macht der herrschenden
sozialen Schicht an Stelle der Macht des
Fürsten zu setzen.
Es gab und giebt ja noch heute eine
extrem-liberale Gruppe, welche das Prindp
des Allrechts und Alleinrechts des Volks,
mit anderen Worten das Princip der Parla-
raentssouveränität, vertritt. Dieser Richtung
gehörte aber im 18. Jahrhundert nur eine
Minderheit an. Die überwiegende Zahl der
Reformer erkannte nicht nur, sondern über-
trieb sogar die Gefahr einer Verfassung,
nach der der Mehrheitswille regieren würde.
"Wird nicht, fragten sie, in diesem Falle nur
eine Verschiebung der Form des Absolu-
tismus platzgreifen, die Despotie des einen
nur vertauscht werden gegen die Despotie
sei es der unteren Masse, sei es der die
Masse wirtschaftlich und damit auch poli-
tisch beherrschenden oberen Zehntausend?
„Wer beschützet die Menge gegen die
Men^e'', heisst es, unter dem frischen Eindruck
der französischen Revolution, in Goethes Vene-
tianischen Epigrammen. Wird hier die Be-
fürchtung laut, dass die MehrheitsheiTschaft
zur Ochlokratie führe, so in den berühmten
Versen Schillers (Demetrius I, 1) die Befürch-
tung, dass sie die Ochlokratie heraufbeschwöre :
Hat denn der Arme eine Freiheit, eine
Wahl?
Er muss dem Mächtifipen, der ihn bezahlt,
Für Brot und Stiefem seine Stimm' ver-
kaufen!
Die Physiokraten lehnen die englische
Verfassimg, bei der der Monarch nur ein
Ornament des Staatsgebäudes ist, deshalb
ab, weil es den eigennützigen, »ungerechten
Strebungen der Sonderinteressen« (Quesnay)
der höheren Klasse Thür und Thor öffne.
A. Smith denkt gleichfalls und aus gleichem
Grunde ziemlich skeptisch über das parla-
mentarische Regime, kennzeichnet es, wenn
auch nicht mit deutlichen Worten , als die
Herrschaft der Besitzenden flber die Be-
sitzlosen.
So hebt er beiläuf g hervor , dass in par-
lamentarisch regierten Kolonieen — „wo der
Herr Mitglied der Kolonialvertretung oder
Wähler ist" — der Sklavenschutz wirkunfipslos
bleiben müsse. Zur Zeit der Kepublik würde in
Hom die Regierung „nicht Macht genug gehabt
haben, solche Gesetze zu erlassen noch den
Herrn (im Fall der üebertretung) zu strafen" —
erst unter den Cäsaren sei sie za Gunsten dieser
niedersten Schicht eingeschritten. „The sovereign
can never have either interest or inclination to
pervert the order of justice, or to oppress the
fifreat body of the people" — im Interesse der
Masse darf deshalb die Kechtssphäre des Fürsten
keine zu starke Schmälerung erfahren.
Das Postulat der Gleichberechtigung
aller Individuen, die liberale Grundnomi,
kann nicht verwii'klicht werden, solange die
Möglichkeit offen bleibt, dass »die Menge
der Menge Tyrann« (Goethe) werde oder
die Minderheit der Reichen den Fuss auf
den Nacken der Armen setze.
»Rien ne doit domin er que la justice;
il n'y a de dominant que le droit de chacun«,
rief Mirabeau im August 1789. Mit dem
Satze, das Gesetz — das Gerechte — sei
»auf den Thron zu stellen und wahre Frei-
heit zur Grundlage der politischen Verbin-
dung zu machen«, bestimmte Schiller das
Ideal staatlicher Ordnung, das dem Libe-
ralismus vorschwebte.
Aber wie ? Eine absolute Garantie ge^n
die Möglichkeit, dass die 101 die 100 sich
imterwerfen, indem sie das »Gesetz« zu
ihren Gunsten modeln, giebt es nicht. Aber
eine gewisse Garantie bietet eben die Tei-
lung der Gewalt zwischen Fürst und
Volksvertretung. Ein Monarch, der kraft
erblichen Rechts das Scepter führt, steht
über der »Zinne der Partei« — gilt sein
Wille soviel wie der der Mehrheit, so kann
er als Patron des Interesses Aller walten,
kann die Nation schimien vor der Gefahr,
dass die Mehrheit ihre Macht in ihrem
Sonderinteresse ausnutze. Die Teilung der
Gewalt bedeutet die Konstituierung eines
»Parallelogramms der Kräfte«, aus deren
Gegenbewegung die Mittellinie sich ergeben
soll, die zu einer harmonischen, alleii be-
rechtigten Interessen gerecht werdenden
Entscheidung der staatlichen Fragen führt.
Eine gewisse Garantie liegt in der Tei-
lung der Gewalt, aber keine absolute. Denn
trotz des verfassungsmässigen Gleichgewidits
mag zeitweise die eine Kraft die andere über-
wiegen und diese Konjunktur missbrauchen.
Daher — so schliesst der Liberalismus
weiter — muss die Gewalt des Staates über
die einzelnen grundsätzlich aufs äusserste
eingeengt werden. Der Staatswillen, gebü-
det durch Fürst imd Volksvertretung, darf
so gut wie nichts wollen, beschüessen, be-
fehlen dürfen. Vor allem nicht in wirt-
schaftlichen Dingen: denn soweit Fragen,
die den Geldbeutel berühren, anstehen, ist
die Versuchung für die Träger der Staat-
Individualismus
1339
liclien Hoheit, sie eigennützig zu beantwor-
ten, grosser als irgend sonst.
^t logischer Notwendigkeit verband sich
mit dem Princip der Teüung der Gewalt
das Princip der Einengung der Gewalt
des Staates. Das »laissez-faire et laissez-
passer« war keine blosse Zweckmässigkeits-
maxime — es sollte eine Bürgschaft mehr
für Realisation des Ideals der Gleichberech-
tigung erbringen^).
Noch weit häufiger als das politische
ist dies wirtschaftliche Pi-ogramm des
Liberalismus irrig aufgefasst, ist venm-
glimpft worden als eine Kreatur der Inter-
essenpolitik des dritten Standes, welcher
dem Merkantilismus niu* deshalb Fehde an-
gesagt habe, um die bureaukraüsche Rege-
hmg der Volkswirtschaft durch die pluto-
kratische Vergewaltigung zu verdrängen.
Mit der Proklamation der »Heiligkeit« des
Eigentimis habe die Boiu-geoisie nur den
eigenen Besitz sakrosankt machen wollen;
die Flagge des freien Wettbewerbs sei nur
aufgezogen, um den grosseren Unternehmern
und Kapitalisten die Schranken, die sie bis
dahin am Niederkonkurrieren der kleineren
lünderten, aus dem Wege zu räumen, den
Arbeitgebern die Möglichkeit schrankenloser
Ausbeutung der Arbeitnehmer zu eröffnen.
Das Gegenteil trifft zu. Das Postulat
der »Heiligkeit« des Sondereigentums
richtete seine Spitze gegen die steuerliche
Willkür des Staates, des Adels, des Patri-
ciats, unter der die untere ländliche und
städtische Bevölkerung am schwersten ge-
litten hatte; es war erhoben im Interesse
der »pauvres gents taiUeables et cors^eables
ä merci«, im Interesse der »grossen Zahl«,
nicht einer Minderheit. Und es wurde be-
gründet mit dem Motive, »dass der indivi-
duell geschaffene Mensch am Sondereigen-
tum ein individuelles und somit unabhängiges
Werkzeug für die Verwirklichung seiner
Zwecke habe. So wird seine gesellschaft-
liche Anerkennung zu einer Garantie der
freien Sittlichkeit, zu einer Konstitution der
individuellen Freiheit gegenüber dem Abso-
lutismus einer selbst liberal verfassten Staats-
gewalt« (Eisenhart).
^ Das Postulat der wirtschaftlichen Frei-
heit — Konkurrenz — floss nicht aus
der egoistischen Absicht der Besitzenden
und Gebildeten, den Kampf luns Dasein zu
Nutzen ihres Geldbeutels zu entfesseln. Die
neue Ordnung erschien vielmehr den Libe-
ralen des 18. Jahrhunderts als das einfachste
imd sicherste Mittel, jedem Individuum zu
seinem natürlichen Rechte, unter Wahrung
^) Die letzten Sätze sind wörtlich meiner
Schrift „Das neunzehnte Jahrhundert und das
Programm des Liberalismus" (1900) entnommen.
des gleichen Rechts aller entmenschen zu
verhelfen.
Im »Ancien Regime« hatte der Adlige
einen Vorsprung vor dem Bauern, der Pa-
tricier vor dem gemeinen Bürger, der Sohn
des Meisters vor dem des Zunftfremden —
es geboten und genossen die, welche »nichts
gethan hatten als geboren zu werden«
(Beaumarchais). Und wie durch Gimst oder
Ungunst der Geburt, so ward weiter auch
der Rang des Individimms in der sozial-
wirtschaftlichen Hierarchie wesentlich mit-
bestimmt durch Intervention des Staates,
der Gutsherrschaften und Dorfobrigkeiten,
Magistrate imd Gilden in das Erwerbsleben
— wurden die einen vorwärts geschoben,
die anderen zurückgehalten.
Die wiiischaftliche Freiheit, die der Li-
beralismus meinte, soüte in erster Linie zu
^te kommen dem Bauern, welchem bisher
im Interesse des adligen Obereigentümers das
Recht freier Verwertung seines Bodens und
seiner Hände beschnitten war; dem Hand-
werksgesellen, dem die glücklichen Besitzer
der Meisterstellen die Bahn zu wirtschaft-
licher Selbständigkeit erschwerten oder auch
gänzlich vei-schlossen ; dem Arbeiter, dessen
Lohn zu Gunsten des Arbeitgebers durch
Lohntaxen und diu-ch Beschränkungen der
Freizügigkeit niedergehalten ward ; derbreiten
Masse der Konsumenten, denen durch die
Monopole der Gutsherrschaften, der Zünfte
und der — damals noch spärlich gesäten, aber
vielfach mit überaus lukrativen Privilegien
ausgestatteten — Fabrikanten und Handels-
kompagnieen das Leben verteuert wurde.
Mcht im Interesse der Bourgeoisie, son-
dern in dem der unteren Millionen ist das
Postulat des »laissez-faire« gestellt gewesen
— des Hintersassen des Barons, der zum
Freiherm auf der Scholle werden soll; des
gewerblichen und agrikolen Proletariats,
damit es seine einzige Habe, seine Kraft
und sein Geschick, so gut zu verwerten ver-
möge, wie die Konjunktur es gestattet; des
armen Mannes, dem man jede Ware zu
möglichst niedrigem Preise verschaffen will.
Wenn alle VoiTCchte, deren sich bisher
eine Minderheit erfreut hat, gekappt sind,
wenn für Hoch und Gering das gleiche im-
parteiische Recht der Konkurrenz gilt —
dann, so hoffte der Liberalismus, werden
die grossen Vermögen und die grossen Un-
ternehmungen bis auf winzige Reste ein-
schrumpfen, werden die »petits possesseurs«
und die kleinen und mittleren Betriebe
weitaus das üebergewicht erlangen, d. h. eine
soziale Nivellierung eintreten.
AVenn weder der Staat noch sonstige
Zwangsgemeinschaften sich mehr einmischen
in das Erwerbsleben, diesem zum Heile,
jenem zum Schaden — wenn jedermann
gleiche, freie Bahn geöffnet ist, so wird
1340
Individualismus
wirtschaftliche Gerechtigkeit waJten.
»Chacun ainsi — prophezeit ein Physiokrat
— dans la somme totale de bonheur com-
mun, prendra la somme particuliere , qui
doit Im appartenir.« Denn dann werden ja
aUe der eigenen Arbeit, dem eigenen Kön-
nen ihr wirtschaftliches Schicksal danken.
Die ün^eichheit des Besitzes wird fort-
bestehen. Da sie aber nur die Differenz der
wirtschaftlichen Tugenden und Leistungen
wiederspiegeln, nur der Reflex der naturge-
gebenen Ungleichheit der Individuen sein
wird, so steht sie mit der Gerechtigkeits-
idee in Einklang.
Selbstverantwortlichkeit der In-
dividuen auf wirtschaftlichem Gebiet — das
war das grosse ethische Ziel, dem die Konkur-
renz zu dienen bestimmt war. Das Programm
der »non-interference« entsprang dem Princip,
dass »suae quisque faber fortunae« werden,
dass jedermann den seinen Kenntnissen und
Fähigkeiten, seinem Fleisse, seiner Sparsamkeit
geziemenden Rang erhalten solle. Suum
cuique — nur das darf das Individuum als
das Seine ansprechen, was es aus sich, durch
sich selbst erzeugt. Nur dies ist »properly
his«, wie Locke gesagt hatte, nur »tiie
labour of his body, the work of his hands«.
Die Liberalen des 18. Jahrhunderts woll-
ten keine dem Sonderinteresse der Bour-
geoisie Vorschub leistende, sondern eine dem
»interdt de tous« entsprechende Ordnung.
Sie mühten sich nachzuweisen, dass die Kon-
kurrenz jedes Individuum auf diejenige
Staffel der sozialen Leiter emportrage oder
herabzwinge, welche dem höheren oder nie-
deren Verdienste des Individuums um
die Befriedigung der Bedtirfnisse anderer
Individuen entspreche — dass bei freiem
Wettbewerb jedes Individuum zu dem Masse
von Lebensinhalt gelange, das seiner Indivi-
dualität adäquat sei, und so die Ansprüche
aller Mitglieder der staatsbürgerlichen Ge-
sellschaft gerecht ausgeglichen würden.
Aber nicht nur vom ethischen Stand-
punkt, sondern auch vom Standpunkt der
Zweckmässigkeit erschien den Aposteln des
liberalen Evangeliums die wirtschaftliche
Ordnimg, deren Grundpfeiler »liberty and
property« sein sollten, als die denkbar voll-
kommenste : denn unter ihr werde jedes In-
dividuum zum Maximum der wirtschaftlichen
Enei^e, deren es fähig sei, zwingend ge-
spornt ; unter ihr müsse daher den Völkern
das Maximum des Reichtums werden.
Da nun, wie gesagt, die Verteilung des
Volksreichtums auf die einzelnen, dank der
Konkurrenz, gemäss der Norm »jedem nach
seiner Leistung« sich vollziehe, so sei wie
den Interessen der Individuen an möglichster
Steigerung des materiellen Geniessens, so
demPostiüat der Gleichberechtigung gleidier-
weise genug gethan, sei die »inviolable union
entre l'intör^t bien entendu et la justice«
erzielt.
Nachdem diese neue Ordnung ins Leben
getreten, werde die paradiesische Welt des
sozialen Friedens, werde das goldene Zeit-
alter, dessen die ersten Geschlechter der
Menschen sich gefreut, wiederkehren und
so der Zirkel der geschichtlichen Enti^icke-
lung sich voUenden. —
Dies liberale System erobert sich, nach-
dem es zuerst in Frankreich und England
festen Fuss gefesst, ein immer weiteres
Reich. Die Doktrin der Locke und Montes-
quieu, der Quesnay und Ad. Smith, ist
schon um die Wende des 18. zum 19. Jahr-
hundert Gemeingut der führenden Geister
der Kulturwelt geworden. Mit der franzö-
sischen Revolution beginnt sie sich in That
umzusetzen; wie — mit Ausnahme Russ-
lands — überall die absolutistische Verfas-
sung der konstitutionellen weicht, so die
merkantilistische Verwaltung der der »non-
interference«. —
Der Kommunismus als die zweite
Erscheinungsform der Rechts-
doktrin.
Das liberale System triumphierte; aber
kaum hatte es seinen Siegeslauf angeti-eten,
so entstand ihm ein Gegner im eigenen
Lager des Individualismus. Kaum war
durch die physiokratisch-smithsche Schule die
Bresche in den Wall des »Ancien Regime«
gelegt, so drängten die Vertreter kommu-
nistischer Systeme nach, versuchten das er-
oberte Land für sich zu occupieren.
Wir haben zunächst das Verhältnis
zwischen Liberalismus und Kommunismus
im aligemeinen zu kennzeichnen. Während
die physiokratisch-smithsche Schule ilire
Wirtschaftsordnung alif die Grundpfeiler des
Sondereigentums und der Konkurrenz aufhaut,
so geht durch aUe die ökonomischen Ideale,
w^elche die kommunistische Bewegimg her-
vorgetrieben hat, ein Zug zu Gemeineigen-
tum an den Arbeitsmitteln und Gemeinleitung
der Arbeit (Organisation du travaü) : nur ist
der Kreis jenes und dieser bald enger, bald
weiter abgesteckt
Was das Programm betrifft, so liegt
zwischen den liberalen und den kommu-
nistischen Systemen eine mehr oder minder
tiefe Kluft. Durch die Identität des ethischen
Kernsatzes, des Individualprincips, sind sie
dagegen aufs engste verbunden: der Kom-
munismus kennzeichnet sich, mit Schäffles
prägnanter Formel, kurz als »potenzierten
Individualismus«. Heute, wo Bourgeoisie
und Proletariat — jene eingeschworen auf
die Losung »liberty and property«, dieses
auf kollektivistische Manifeste des oder jenes
Wortlauts — in schroffster Feindschaft ein-
ander befehden, wird über der Verschieden-
Individuaüsmus
1341
heit der praktischen Ziele die Gleichheit des
Dogmas oft übersehen.
Zwar sind die ersten namhaften Apostel
einer der liberalen entgegengesetzten kollek-
tivistischen Ordnung — Rousseau und Mably,
Robespierre und St. Just — Anti-Individua-
listen. Sie erstreben die Gütergemeinschaft
nicht deshalb, damit jeder etwas habe, son-
dern damit keiner etwas habe, weil das
Sondereigentum kraft seiner Folge, der
Eigensucht, den Erbfeind der Tugend bilde,
den Krebsschaden des Sozialkörpers. Ihr
Ideal ist nicht das *bonheur commun«, son-
dern das »regne de la vertu«, das Analogen
des Platonischen Staates und des Gottes-
reiches der Theologen.
Aber gleichzeitig findet, in Frankreich
wie in England, die Fordenmg der Güter-
gemeinschaft ihre Begründung auch vom
individualistischen Standpunkte. In der
sozial - revolutionären Litteratur, die gegen
Ende des Jahrhunderts die Massen jenseits
und diesseits des Kanals erregt, kommt die
Begierde des Individuiuns nach Gleichheit
des Geniessens, statt blosser Gleich-
berechtigung, zu leidenschaftlichem Aus-
di'uck.
Wenn das Verhältnis zwischen Liberalis-
mus und Kommunismus dahin bestimmt wird,
dass letzterer das Postulat der »ögalito de
droit«, bei dem elfterer Halt mache, zum
Postulat der »^galite de fait« erweitert habe,
so trifft dies — wie eben angedeutet —
wenigstens teilweise zu für die kommu-
nistische Bewegimg während des letzten
Decennium des siecle Voltaire. Aber in deren
weiterem Verlaufe wird dieser radikale, plötz-
üche Sprung ignoriert: schrittweise voll-
zieht sich die Entwickelung des Kommunis-
mus aus dem Liberalismus und die immer
schärfere Differenzierung dieses und jenes.
Diese Entwickelung und Differenziening
betrifft erstens die Gerechtigkeits-
idee: wird auch das Individualprincip
festgehalten, so wird doch der Begnff des
individualistisch Gerechten später anders ge-
fasst als früher. Sie betrifft zweitens das
behufs des Zwecks des »bonheur commun«
entworfene Programm einer neuen öko-
nomischen Ordnung.
A. Entwickelung des Kommunismus mit
Rücksicht auf die den Systemen zu Grunde
liegenden Gerechtigkeitsideeen.
1. Den zeitlich älteren kommunistischen
Systemen liegt die liberale Gereclitigkeits-
idee zu Grunde, die Lockesche Norm:
Jedem nach seiner Arbeit Von ihnen
gut das Wort eines französischen Schrift-
stellers, dass sie in »filiation continuelle« aus
dem liberalen System herauswachsen.
Mit logischer Notwendigkeit nahm das
erste kommunistische System, welches in
weiteren Kreisen Anhänger warb, das in der
liberalen Wirtschaftsordnung zugelassene
Erbrecht zum Stichpunkt seines Angriffs.
Schon der radikal Liberale Bentham
hatte auf dessen Beschränkung gedrungen;
die Schule des Grafen St. Simon forderte
die gänzliche Aufhebung. Weit entfernt,
dem Individuum den Privatbesitz und die
wirtschaftliche Freiheit schmälern zu wollen
oder gar die Gleichheit des Geniessens zu
erstreben, bezielt dieser Erbschaftskom-
munismus nur, dass jedermann sich allein,
nicht dem Fleisse der Ahnen, dem Zufall der
Geburt, sein wirtschaftliches Los danke.
Der Staat soll nur erben statt des Indivi-
duum, um die Erbschaft dem besten Wirte
zuzuführen; nur in einem Momente soll das
individuelle Eigentum zu Gemeineigentum
werden, sonst alles beim Alten bleiben.
»A chacun selon sa capacit6, a chaque
capacite selon ses oeuvres« — der Wortlaut
der Formel ist St. Simonistischen Ursprunges,
aber sachlich deckt sie sich völlig mit der
liberalen Gerechtigkeitsidee. Seitens der
St. Simonisten wird nur eine Folgerung
gezogen, welche der Liberalismus des 18.
Jahrhunderts keineswegs übersehen, deren
ethische Berechtigung er zugegeben, die er
jedoch aus Zweckmässigkeitsgründen abge-
lehnt liatte.
Es war nicht minder logisch notwendig,
dass, ungefähr gleichzeitig mit dem Erb-
recht, das private Gnmdeigentum in die
Acht erklärt wurde. War das Erbrecht die
eine, so war das Recht auf Grundrente, auf
solches »unearned increment«, die zweite
Inkonsequenz des liberalen Systems. Der
Bodenkommunismus, d. h. das kom-
munistische System, nach welchem das
Grundeigentum verstaatlicht werden soll,
dagegen Sondereigentum an Kapital und
Konkurrenz weiter bestehen, will nichts als
Ernst machen mit dem Princip der Quesnay
und Smith, dass niemand oluie Arbeit ge-
niessen dürfe, dass Arbeit und Genuss im
Verhältnis stehen müssen.
Wie die Erbrechts-, so ist auch die Gnmd-
eigentnmsfrage schon den Begründern des
Liberalismus eine „wohl aufzuwerfende Frage"
gewesen.
Nachdem Locke seine Rechtfertigung des
Sondereigentums auf den Satz gestellt hat, dass,
wenn auch die Erde den Menschen zu gemein-
samem Eigentum gegeben sei, das Individuum
doch das Produkt seiner individuellen Arbeit als
„property his" betrachten und zu seinem von
den übngen zu respektierenden Dominium er-
klären dürfe, stösst er auf das Problem, mit
dieser „great foundation of property" das Vor-
kommen i^rosser Vermögen in Einklang zu
bringen. Wird denn nicht durch solche ^enlar^ed
Eossessions", die nicht aus der Arbeit der In-
aber stammen und nicht durch ihre, sondern,
grösstenteils wenigstens, durch die Arbeit Dritter
nutzbar gemacht werden, 'dem Satze, dass nur
eigene Arbeit den Rechtsgrnnd des Eigentums
1342
Individualismus
an beweglichen wie unbeweglichen Dingen bilden
könne, ins Gesicht geschlagen?
Um die Entstehung grosser Yermögeu zu
erklären und solche zu rechtfertigen, erfindet
Locke zunächst die Erfindung des Geldes und
einen Sozialvertrag:, durch welchen die Mitglieder
der staatsbürgerlichen Gesellschaft übereinge-
kommen seien ^to put value on it"; ausserdem
aber noch, speciell zur Legitimation der grossen
Grundvermögen, zwei weitere Sozialverträge,
einen Staats- und einen völkerrechtlichen, und
schliesslich weist er auf das Freiland in Uebersee
hin, auf dem das natürliche Becht jedes Indi-
viduums, durch Arbeit Anteil an der den Menschen
zu gemeinsamem Eigentum gegebenen Erde zu
erlangen, sich geltend machen Könne.
Auch Ad. Smith entgeht die Thatsache
nicht, dass das Sondereigentum am Boden mit
seiner Konsequenz, der Kente, ein arbeitsloses,
unverdientes Geniessen ermöglicht, ein Recht,
dem keine es legitimierende Leistung entspricht.
Man kann den Satz, dass die Rente aus An-
eignung eines Teiles des Arbeitsproduktes
anderer erwächst, kaum deutlicher machen als
durch die von ihm angezogenen Fälle (I, Kap.
XI). „Die Grundherren wollen ernten, wo sie
nicht gesäet" — aber die Frage, ob und wie
dieser Verletzung der Gerechtigkeitsidee abge-
holfen werden könne, stellt er sich nicht. Er
sagt einfach, dass „der ursprüngliche Zustand,
in dem der Arbeiter das volle Produkt seiner
Arbeit bezog," — d. h. der dem Lockeschen
Princip vom Arbeitseigentum entsprechende Zu-
stand — „nicht über das erste Auftauchen des
Grundeigentums . . . andauern konnte" (I, Kap.
VIII).
Die Physiokraten dageg-en stellen sich
jene Frage. Ohne zu dem von ihnen mit Recht
verspotteten Hilfsmittel der Sozialverträge, der
„Conventions ou Etablissements arbitraires*^, zu
greifen, bemühen sie sich, das Sondereigentum
am Boden zu rechtfertigen, indem sie einer-
seits, wie zu Gunsten des Erbrechts, Zweck-
mässigkeitsgründe dafür beibringen, anderer-
seits die Ungerechtigkeit des Bezugs von wirt-
schaftlich unverdienter, durch eigene Arbeit
nicht legitimierter Bodenrente dadurch aus der
Welt zu schaffen suchen, dass sie den grossen
Grundherren die Pflicht auferlegen, den übrigen
Mitgliedern der Gesellschaft gewisse wichtige
Dienste ohne Entgelt zu leisten. „Les riches
proprietaires sont etablis . . , pour exercer
Sans retribution les fonctions publiques." Das
arbeitslose Einkommen der Landmagnaten soll
nicht in einer unwürdigen „oisivete" vergeudet,
sondern auf diesem Wege verdient werden. So
wird an dem zunächst von der Kritik (Mahl y,
Graslin) blossgelegten Punkte die „justice"
des ,, ordre naturel" gerettet.
Wenn das Grossgrundeigentum auf diese
Weise mit dem Princip vom Arbeitseigentum
in Einklang gebracht ist und ferner auch die
,,fortunes immenses", die grossen Geldvermö^en
— durch Aufhebung der Monopole und Privi-
legien der Fabrikanten und der Handelskom-
pagnieen, durch Beseitigung des Systems der
Steuerverpachtung, durch möglichst seltene und
geringe Inanspruchnahme des Staatskredits —
verschwunden sein werden, so wird^ meinen sie,
niemand mehr sich auf Kosten eines anderen
bereichern können.
Man mag die Art, wie Locke, A. Smith,
die Physiokraten sich mit dem Bedenken der
Ungerechtigkeit des Grundeigentums abfinden,
rügen. Es ist aber historisch durchaus zu be-
greifen, dass sie, obgleich sie erkennen, dass
hier „etwas faul ist", es mit der Kur wenig'
Ernst nehmen. Denn das einzige, ^rincipieU
und technisch richtige Mittel (eben die Boden-
verstaatlichung, wie der Bodenkommunisrnns sie
fordert) musste den Männern, welchen der Staat
als die fleischgewordene Willkür vor Augen
stand, als völlig indiskutabel dünken — als ein
Mittel, das ein kleineres Uebel heilt, um ein
grösseres zu erzeugen.
Nachdem er den einen Grundpfeiler der
liberalen Wirtschaftsordnung unterminiert
hat, bohrt der »potenzielle Individualismuß«
den zweiten an : die Konkurrenz. Im Mittel-
punkt der Systeme Owens und Prou-
dhons steht der Satz, dass die Konkurrenz
eine Verteilung der Güter nach der Norm
»Jedem nach seiner Arbeit« nicht bewirke;
es sei keineswegs gewährleistet, dass Ver-
käufer und Käufer von Waren oder Diensten
gleichen Wert hingeben und empfangen, dass
der wirtschaftliche Nutzen des Tauschakts
ein für beide gleich grosser, ein durchaus
wechselseitiger sei. Daher heischt der
Mutualismus (so nennen Proudhon und
seine Schule ihr System, der Name passt
aber auch auf das System Owens) eine Or-
ganisation des Tauschverkehrs, welche jedem
Produzenten den gerechten Preis, den wahren,
nach Massgabe der aufgewandten Arbeit zu
bestimmenden Wert (Constitution de la valeiir)
sichert.
Hier wird jenes, dort dieses Progi'amm
vertreten — aber als gemeinsames Band
schlingt sich um diese Gruppe der kommu-
nistischen Systeme die Gerechtigkeitsidee
des Liberalismus. Wirtschaftliche Ungleich-
heit gut als gerecht, sofern sie nur die Wir-
kung der naturgegebenen Ungleichheit der
Individuen in intellektueller, moralischer,
koiporeller Hinsicht ist; wer mehr zu pro-
duzieren vermag, soll auch melir konsumieren
dürfen, das Mass des Genusses der Grosse
des Airbeitsertrags j)roportional sein.
In seiner ersten Periode zählt auch der
Marxismus zu dieser Gruppe. Denn noch
im Eisenacher Programm von 1869 fordert
er die Garantie des »vollen Arbeitsertrags
für jeden Arbeiter«, will die Norm »jedem
nach seiner individuellen Leistungc der
Güterverteilung zu Grunde legen.
2. Die zweite Gruppe der kommunistischen
Systeme setzt an die Stelle der liberalen
Gerechtigkeitsidee die Norm : Jedemnach
seinen Bedürfnissen.
Kann denn — fragen die Vertreter dieser
Gruppe ^Cabet u. s. w.) — die naturgegebene
Ungleichneit, welche die Differenzierung des
Produkts der Individuen zur Folge hat, einen
Rechtsgrund dafür abgeben, die Individuen
Individualismus
1343
imgleich zu beteiligen am Gesamtprodukt?
Die Antwort lautet verneinend. Den einen
hat die Natur die Gaben der Klugheit, des
Fleisses, der Kraft und der Geschicklichkeit
in die Wiege gelegt, den anderen nicht;
weshalb aber sollen die Sonntagskinder ein
grösseres Recht auf Genuss haben als die
übrigen, weshalb die Gunst der Natur, die
sie nicht verdient, jenen einen Vorrang aus-
wirken vor diesen, die ihre Ungunst nicht
verschuldet?
Jedes Individuum hat die Pflicht, das
Höchstmass von Arbeit einzusetzen, und die
höchstwertige Art von Arbeit zu verrichten,
welche seine Individualität ihm gestattet.
Wenn das Individuum quantitativ Geringeres
oder qualitativ Schlechteres leistet, als es
leisten könnte, so gebührt ihm Strafe. Nicht
aber ist ihm ein Recht auf Prämie zuzu-
gestehen, wenn es leistet, was es leisten
kann — *es giebt für das Individuum nur
eine Belohnung: die Freiheit zur Bethäti-
gung seiner besonderen Anlagen« (Morris),
und diese genügt voUauf.
Wenn, bei gleicher Arbeitsart, der eine
in gleicher Stundenzahl mehr fertig bringt
als der andere, wenn jener zum Ingenieur,
dieser nur zum Grobschmied, jener zum
Kunsttischler, dieser nur zum Holzhacker
taugt — faUs sie alle ihr Bestes thun, so
haben sie Gleiches gethan. Nur die natur-
gegebene Ungleichheit der Bedürfnisse, nicht
die der Fähigkeiten darf die Richtschnur der
Güterverteihmg bilden. »De chacun selon
ses facultas, a chacun selon ses besoins«.
Als Produzent soU jedes Indi\dduum seine
Individualität voll entfalten, indem es gemäss
ihrer zur Vermehrung des materiellen Glücks
aller beiträgt ; als Konsument, indem gemäss
ihrer die Quote sich bestimmt, welche ihm
von der »somme totale de bonheur conmiun«
zukommt
Dass diese zweite Gruppe die Gerechtig-
keitsidee in dieser Weise fasst, hat seinen
Grund darin, dass sie die Idee des einen
Menschentums strikter interpretiert als die
erstere. Das Solidaritätsgefühl, das Bewusst-
sein der Blutsverwandtschaft der »creatures
of the same rank and species« ist in ihr
weit lebendiger. Dadurch wird sie zu der
Forderung geleitet, dass die von Natur
vor anderen begnadeten, die zuföllig mit
den über die Gattung verstreuten Gaben
reicher ausgerüsteten Einzelwesen diese
Differenz, diese Ueberlegenheit ihrer wirt-
schaftlichen Kapacität, nicht zu eigenem
Nutzen, sondern zu Nutzen Aller zu ge-
brauchen haben: sie geben damit nur der
Menschheit wieder, was der Menschheit ist.
Während im liberalen System imd in
jener ersteren Gruppe kommunistischer
Systeme die Doktrin der gegenseitig anzu-
erkennenden Naturrechte und Naturpflichten
(droits et devoirs röciproques, s. o.) mehr
nach der Seite der Rechte hin ent-
wickelt ist, so in dieser zweiten Gruppe
nach der Seite der Pflichten hin.
Mit dem Gothaer Programm von 1875
hat der Marxismus sich zu dieser zweiten
Gruppe gesellt: »bei gleicher Arbeitspflicht
nach gleichem Rechte, jedem nach seinen
vernunftgemässen Bedürfnissen«.
Die Brücke zwischen beiden Gruppen bilden
die Vertreter der Norm der Gleichwertigkeit
der Arbeits arten (6qaivalence des fonctions:
L. Blanc).
Mit den Erbschaftskommunisten und den
Bodenkommunisten halten sie an dem Priucip
„jedem nach seiner Arbeit" fest. Aber wie die,
welche die Güterverteilung nach dem Massstabe
des Bedürfnisses vollzo&^en wissen wollen, er-
klären sie es für Zufall^ dass der eine mehr-,
der andere minderwertige Arbeit zu leisten
vermag. Die Höhe des Anspruches des Individuum
am Gesamtprodukt sei ausschliesslich zu be-
messen nach der Länge der Arbeitsdauer, d. h.
nach dem Quantum Lebenszeit, das es der Ge-
samtheit zur Verfügung stellt ; Arbeit jeder Art
begründe, wenn gleiche Zeit kostend, gleichen
Anspruch.
B. Entwickelung des Kommunismus mit
Rücksicht auf das Programm einer neuen
ökonomischen Onlnung.
Wie der »potenzierte Individualismus«
ursprünglich die liberale Gerechtigkeitsidee
als gegeben hinnimmt und immer konse-
quenter zu verwirklichen strebt, schliesslich
aber sie durch eine neue ersetzt, so entfernt
sich die kommunistische Bewegung auch in
Bezug auf den Organisationsplan nur all-
mählich vom liberalen System, gelangt erst
durch manche Zwischenstufen zur Aufstel-
lung eines dem liberalen völlig entgegenge-
setzten Programms.
Zunächst bezielte sie (s. o.) nichts weiter,
als dass der Inhalt des Sondereigentums
durch die Verstaatlichung des Erbrechts
bezw. dessen Umfang durch die Verstaat-
lichung des Bodens verengt werde. Der
andere Grimdpfeiler der liberalen Ordnung,
die Konkurrenz, sollte bestehen bleiben. Bis
in die Mitte des Jahrhunderts hinein ward
der liberalen Maxime der Nicht-Intervention
des Staates ziemlich strenge Reverenz er-
wiesen — von Owen wie von Proudhon,
von L. Blanc, dessen Produktivassociationen
(allerdings mit einiger Unterstützung und
Direktive von Staatswegen) durch ihre
Konkurrenz die privatkapitalistischen Be-
triebe überwinden sollten, wie von dessen
Nachtreter Lassalle.
Im Geiste aller dieser Reformatoren
haftet noch das liberale Credo, dass, vom.
Zweckmässigkeitsstandpunkt aus betrachtet,
eine centralistische, aui Gemeineigentum an
allen Arbeitsmitteln imd Gemeinleitung aller
Arbeit beruhende Ordnung, starke Bedenken
gegen, sich habe — dass dem Ziele mög-
1344
Individualismus
liebster Steigerung des Yolksi^eich-
tums durch das freie Spiel der Einzelkräfte
sicherer und einfacher gedient werde. Wo
sie an Sondereigentum und Konkurrenz ab-
brechen wollen, motivieren sie diese Korrek-
turen — wenn auch nicht ausschliesslich,
aber in erster Linie — aus der Rücksicht
auf das Ziel möglichst gerechter
Yerteilung des Volksreichtiuns.
Wie die Liberalen, so misstrauen auch
sie dem Staate als Generaldirektor der Volks-
wirtschaft. Von den Erbschaftskommunisten
wird ihm nur die Funktion übertragen, den
sachverständigen, unparteiischen Vermittler
zwischen dem früheren Besitzer und dem
Nachfolger zu spielen. Die Bodenkommu-
nisten erheben zwar den Staat zum Eigen-
tümer des Landes, verwehren ihm aber die
Einmischung in die Landwirtschaft: die In-
dividuen verstehen sich besser auf den Be-
trieb.
Bei Owen und Proudhon, L. Blanc und
Lassalle — auch bei Fourier, der meint,
mitten in die ökonomische Welt, die ist, die
ideale seiner »phalansteres« hineinbauen zu
können — ist die Grenossenschaft der
»Spiritus regens« des Erwerbslebens.
Alle diese Kommunisten scheuen von
einer Wiederannäherung an das bureaukra-
tische »Ancien Regime« zurück, huldigen —
wie Proudhon es so scharf von sich be-
tont — der Maxime, dass die Staatslosigkeit,
die »Anarchie«, auf ökonomischem Gebiete
so weit gehen müsse, wie die Rücksicht
auf die Gerechtigkeitsidee irgend zulässt
Erst der Marxismus übei*windet jene
Staatsscheu — nur in seinem Jargon klingt
sie noch nach, indem er sorgfältig vermeidet
vom »Staate« zu sprechen und dafür »Ge-
sellschaft« sagt.
Im schroffsten Gegensatze zu jenen
älteren bezw. gleichzeitigen Systemen
(Proudhon), die er mit dem Stigma des
»Kleinbürgerlichen«, des noch vom liberalen
Denken Abhängigen tiifft, vertritt er eine
centralistische Wirtschaftsverfassung,
wiU alles Eigentum in die Hand der Ge-
sellschaft legen, ihr die souveräne Leitung
von Produktion, Circulation, Distribution
überantworten. Um dem Vorwiu-fe der
/> Staatssklaverei« zu entgehen, um dem riva-
lisierenden System Bakunins, dem Anar-
chismus, welcher seinen Jüngern vollste
Gerechtigkeit bei vollster Freiheit von allem
behördlichen Zwange verheisst, die Sjntze
zu bieten, suchen natürlich die Marxisten
den Nachweis zu führen, dass trotz der
»Organisation der Arbeit« in ihrem Zukunfts-
staate das Princip der Autonomie des Indi-
viduums nicht minder gewälirleistet sei wie
in der »amoi-phen« Gesellschaft Proudhon-
scher oder Bakuninscher Observanz.
Der Grund dieses Wechsels im Organi-
sationsplane, dieses Emporkommens eine^
Systems, welches eine Ordnung anstrebt
die das diametrale Gegenteil der liberalen
bildet, ist hier nur kurz anzudeuten. Er
liegt erstens darin, dass allmählich, vor allem
durch die rasch sich folgenden, schweren
Krisen der dreissi^r und vierziger Jahre,
der Glaube an die Zweckmässigkeit des
»laissez-faire« erschüttert ist; durch die Er-
fahrung scheint die These erwiesen, dass,
im Zeichen der »Desorganisation«, weder
das Ziel möglichst gerechter Verteilung
noch das Ziel möglichster Steigerung des
Volksreichtums erreicht werden könne. Der
Grund liegt zweitens darin^ dass immer
mehr der Zug zum Grossbetnebe sich Bahn
gebrochen hat. Je weiter diese Entwicke-
lung fortschreitet, mit anderen Worten je
koncentrierter und bureaukratischer im
Gegenwartsstaate das Erwerbsleben sich ge-
staltet, je mehr, infolge des Zugs zum Gn»»-
betrieb, Aktiengesellschaften und später dann
Kartelle an die Stelle der Individualbetriebe
treten, desto plausibler wird ein Zukimfts-
staat, wie der Marxismus ihn sich kon-
struiert hat.
Dieser »wissenschaftliche Sozialismusc
der Marx sehen Schule möchte eine scharfe
Grenze ziehen z-vsischen sich und den »Uto-
pisten«, d. h. den Vorgängern, die gewissen
ethischen Normen, gewissen Gerechtigkeits-
ideeen zuliebe, eine neue Ordnung mittelst
Deduktion ersonnen hätten. Stolz auf
seine »materialistische Geschichtsphilosophiet
leugnet er, dass er einem Ideal nachtrachte,
si)6ttet er über die aus dem Gehirne ge-
zogenen Bilder einer schlechthin vollkom-
menen Wirtschaftsverfassung, Der Zukunfts-
staat, den er male, sei mittelst Induktion
aus den Thatsächen geschöpft, sei gewonnen
auf Grund der Erkenntnis, dass mit Not-
wendigkeit die Evolution der privatkapita-
listischen zur societären Produktionsweise
sich vollziehen werde. Was bei St Simon.
Fourier, Owen u. s. w. als ein subjektiv
gesetztes und gewolltes Programm erscheint
giebt sich bei den Marxisten als ein objek-
tiv bestimmtes, durch die Macht der That-
sächen erzwungenes Resultat Die Marxisten
entwerfen — so behaupten sie wenigstens
— kein Programm, sondern stellen eine
Prognose. Sie sagen nicht: die künftige Ord-
nung soll so gestaltet werden, damit das
Individualpiincip sich verwirkliche : sondern :
sie wird so werden, weil die heutige Onl-
nung gewisse in dieser Richtung wirkende
Kräfte ausgelöst hat.
Die Methode, mittelst deren diese Schule
zur Erkenntnis des Zukunftsstaates gelangt,
weicht allerdings ab von jener der > Uto-
pisten«. Dass aber dem Marxismus jede
ethische Voraussetzung fehle — dass hier
rein kausal beti^achtet und gefolgert werde.
Individualismus — Indult
1345
trifft nicht zu. Im »Kapital« ist allerdings,
bis auf ganz wenige Sätze, keine Beziehung
auf ethische Normen bemerkbar; wer aber
z. B. einen Blick wirft in den Abschnitt
»SozialisieruQg der Gesellschaft« von Bebeis
»Die Frau und der Sozialismus«, erkennt,
dass auch der Marxismus, gleich seinen Vor-
gängern, der individualistischen Grundan-
Bchauung huldigt — dass auch er im Banne
eines Dq^as steht, das, dem Wesen nach
identisch ißt mit dem, zu welchem Grotius
und Locke, Quesnay und Ad. Smith und
die »kleinbürgerlichen« Kommunisten sich
bekennen.
Ist der Liberalismus der ältere,
80 der Kommunismus der jüngere
Bruder aus dem Schosse der individualis-
tischen Rechtsdoktrin. Die herrschende
Natimrechtslehre des 17. und 18. Jahrhun-
derts, Physiokratismus und Smithianismus,
die kommunistischen Systeme in ihren zahl-
losen Varianten sind alle empfangen aus
dem gleichen Axiome, dem Individualprincip ;
aüe verbunden durch das gleiche Ideal : die
Herstellung eines Zustandes, in dem das
Postulat der Gleichberechtigung und Gleich-
verpflichtimg aller Individuen in Wahrheit
erfüllt und »das grösste Glück der grössten
Zahl« gesichert werde.
Heinrich JHetzel»
Indult
(Moratorium).
1. Einleitung. 2. Aelieres Recht. 3. Neueres
Recht. 4. Generalindulte.
1. Einleitung. Unter Indult oder
Moratorium versteht man einen dem
Schuldner durch Akt der Staatsgewalt ge-
gebenen Ausstand zur ErfüDung fälliger
Verbindlichkeiten. Beide Ausdrücke sind
erst im spätei-en Mittelalter entstanden, der
erstei-e im Anschluss an den Sprachgebrauch
des kanonischen Rechts, der letztere in An-
knüpfung an die moratüiia praescriptio des
römischen Rechts (C. 2, Cod. 1, 19). Im
Gegensatz hierzu bezeichnet in der Regel
Stundung einen von den Gläubigern dem
Schuldner gewährten Ausstand. Doch ist
der Sprachgebrauch kein fester und nicht
selten werden die Ausdrücke wechselweise
gebraucht. Hier ist nur von dem diuxih
(ien Staat gewährten Zahlungsausstand die
Rede. In der Zeit, für welche ein Indult
gewährt wird, ist der Gläubiger die fällige
Leistimg zu fordern und einzuklagen nicht
berechtigt. Man imterscheidet Special- und
Generalindult. Specialindult wird einem
einzelnen Schuldner für Ei-füUung seiner
Verbindlichkeiten gewährt, ein Generalindult
Handwörterbuch der Stastswissenschaften. Zweite
erstreckt sich atif alle oder bestimmte Klassen
von Schuldnern (s. jedoch unten S. 1346/47).
2. Aelteres Hecht Special- und Gene-
ralindult kommen schon im späteren römi-
schen Rechte vor. Nach einer Konstitution
Kaiser (^onstantins von 325 konnte durch
kaiserliches Reskript ein Specialindult ge-
währt wertlen, nach einem späteren Gesetze
allerdings nur unter der Bedingung, dass
genügende Sicherheit für die Bezahlung der
Schuld geleistet werde (C. 2, 4, Cod. 1, 19).
Auch von einem Generalindult haben i^ir
aus einem allerdings nur im Auszuge er-
haltenen Gesetz Justinians Kenntnis. Nach
Erobenmg Italiens und Zurückweisung des
Einfalls der Franken gewährte der Kaiser
den Schiddnern in It9,Uen imd Sicilien ein
Moratorium von 5 Jahren und Erlass von
50 Prozent des Kapitals. Nach Ablauf der
5 Jahre hatte der Schuldner die Walü, ent-
weder die Hälfte des Kapitals zu zahlen
oder dem Gläubiger die Hälfte seines Ver-
mögens abzutreten (Anhang zu den Novellen
im Corpus Juris ed. Kriegel 111, 740). — In
einzelnen Fällen haben schon im 13. Jahr-
hundert italienische Städte den Schuldnern
Ausstand gewährt. In grösserem Umfange
haben jedoch erst im 14. Jahrhundert die
französischen Könige, gestützt auf die im
justinianeischen Codex enthaltenen Stellen,
Indulte unter dem Namen »lettres de repit«
erteilt. Nach der Ordonnanz von Orl6an8
von 1560 sollten künftig niu* die Gerichte
Zahlungsaufschub gewäliren, doch zog Lud-
wig XIV. das Recht hierzu wieder an sich.
Auch im Deutschen Reiche wurden seit
dem 15. Jalu'hundert von dem Kaiser Indulte
erteilt (literae respirationis, rescripta mora-
toria, AnStands- otler eiserne Briefe, Quin-
quennellen) und zwar meist auf 5 Jahre.
Aus Missverst'lndnis ward die Vorschrift des
römischen Rechts, wonach die Gläubiger,
welche von dem Gesamtbetrage der Schul-
den eines Schuldners den grösseren Teil zu
fordern hatten, dem Schuldner eine Stundung
für alle seine Schulden auf 5 Jahre be-
willigen konnten, auf die Erteilung von
Moratorien bezogen (C. 8, Cod. 7, 71). Da-
gegen wurde an dem Erfordernis einer
Sicherheitsleistimg nicht strenge festgehalten.
Die Reichspolizeiordnungen von 1548 Tit.
22 § 2 und 1577 Tit. 23 § 4 bestimmten,
dass niur bei A\irklichen Unglücksfällen unci
nur nach vorhergehendem Berichte der
Obrigkeit :>verdorbenen oder ausgestandenen
Kaufleuten« Moratorien erteilt werden dür-
fen. Wenn dem Kaiser auch bis zur Auf-
lösung des Reichs das Recht verblieb, Mora-
torien für Reichsimmittelbare wie Reichs-
mittelbtire zu gewähren, so nahmen doch
auch die Landesherren das Recht in An-
spruch, ihren üntertlianen solche zu erteilen,
die freilich nur gegen die bei den Gerichten
Auflage. IV. 85
1346
Indult
des betreffenden Landesherrn angestellten
Klagen einen Schutz verliehen. Doch fehlte
es schon im 18. Jahrhundert nicht an Stim-
men, welche die Nachteile und Ungerechtig-
keit der Specialindulte hervorhoben und
deren Bescliänkung verlangten. Der Miss-
brauch, welcher von manchen LandesheiTen
mit der Erteilung von Indulten getrieben
wurde, führte in einzelnen Fällen sogar zu
einem Einschreiten der höchsten Eeichsge-
richte (so im Jahre 1722 gegen den Herzog
von Mecklenbm^g-Schwerin).
Die Erteilung von Generalindulten
nach einem längeren Kriege war allgemein
üblich. So wurde auf Grund des westfäli-
schen Friedens (I.P.O. Art. YIII, § 5) in
dem Reichsabschiede von 1654 § 170 ff.
allen Schuldnern, »welche diu-ch den Krieg
ins Verderben gekommen«, für Bezahlung
des Kapitals eine Indultfrist von 3 Jahren
gewährt und ihnen der Rückstand aller
während des Krieges aufgelaufenen Zinsen
bis auf ein Viertel erlassen. Nach Beendi-
gung des spanischen Erbfolgekrieges (1713),
wie nach der des siebenjährigen Krieges
verliehen die Landesherren der durch den
Krieg am meisten betroffenen Länder Gene-
ralindulte (Preussen 1763 für Schlesien,
Pommern und die Neumark, Mecklen-
burg 1768). Durch das preussische Edikt
vom 19. Mai 1807 wurde den Gnmdbe-
sitzern ein Genei'almoratorium gegeben, das
später für die Marken, Schlesien und Pom-
mern bis Ende 1818, für Ost- und West-
preussen bis Ende 1821 verlängert ward.
3. Neneres Recht Die neuere Gesetz-
gebung, die zuerst zu einer Beschränkung,
sodann zur Beseitigung der Specialindulte
führte, beginnt mit der preussischen
Prozessordnung von 1748 (Cod. Friederic.
March.), deren Bestimmungen die Grundlage
für die preussische aUgemeine Gerichtsord-
nung von 1794 (T. I Tit. 47 § 1 ff.) bUde-
ten. Danach können Moratorien (Special-
moratorium, wenn nur gegen einen, Gene-
ralmoratorium, wenn gegen mehrere Gläubi-
ger erteilt) nur noch in gerichtüchem Ver-
fahren durch das Gericht gewährt werden,
sofern der Schuldner nachweist, dass er an
und für sich hinlängliches Vermögen besitze,
um den Anforderungen seiner Gläubiger
Genüge zu leisten, dass aber umstände vor-
liegen, die es ihm unmöglich machen, ohne
seinen Ruin sogleich proinpte und bare
Zahlung zu leisten (§ 3). Die preussische
Konkursordnung vom 8. Mai 1855 (§§ 421
bis 433) hat sodann unter Aufhebung der
Generalmoratorien (in dem angegenenen
Sinne der allgemeinen Gerichtsordnimg) be-
stimmt, dass das Gericht ein Specialmora-
torium höchstens auf ein Jahr und nur gegen
Leistung einer genügenden Sicherheit für
Kapital und Zinsen gewähren darf. Auch
war das Verfahren wegen Wechselfoi-denin-
gen, Fordenmgen an Kaufleute aus dem
(Geschäftsbetriebe etc. ausgeschlossen. — In
anderen deutschen Staaten wurde die Ertei-
lung von Moratorien durch die Verfassung
ganz ausgeschlossen (Kurhessen § 129,
Sachsen § 54, Coburg-Gotha § 57;
ebenso Bayern, G. v. 25. Juli 1850) oder
nur für ausserordentliche Fälle vorbehalten
(Hannover 1840 § 9) oder den Gerichten
überwiesen (Oldenburg Art. 49; Braun-
schweig § 209). In den Ländern des
französischen Rechts hatte der Code
civil Art. 1244 ebenfalls nur den Gerichten
das Recht gegeben, dem Schuldner einen
massigen Ausstand und bei der Venirteilung
Zahlungsfristen zu gewähren. Doch soll
hiervon nur »mit grosser Vorsicht« Gebrauch
gemacht werden. In Oesterreich waren
die Moratorien schon diu'ch die Gerichtsord-
nung von 1781 § 353 beseitigt worden. Das
englische Recht kennt sie überhaupt nicht
und 5iie Verfassung der Vereinigten Staaten
von Nordamerika (Art. 1, Sect 10 § 1)
verbietet ausdrücklich, Moratoriengesetze zu
erlassen.
Im Laufe unseres Jalirhunderts ist die
üeberzeugung eine allgemeine geworden,
dass in der Erteilung von Specialmoratorien
eine ^dUktirliche und ungerechtfeiügte Be-
gttnstigimg des Schuldners liegt, aus welcher
dem Gläubiger grösserer Schaden als dem
Schuldner Nutzen zu entspringen pflegt und
welche dm-ch Schwächung der Sicherheit
des Kredits die Rechtsordnung wie das wirt-
schaftliche Leben stört. So erfolgte denn
auch unter aUgemelner Zustimmung die
Aufhebung aller noch geltenden Vorschriften
über Bewilligung von Moratorien und Zali-
lungsfristen bei der Verurteilimg durch die
Gesetzgebung des Deutschen Reichs
(Einführungsgesetz zur C.P.O. § 14 ZifL 4,
Einführungsgesetz zur Konk.-O. § 4). Die
gänzliche Beseitigung der Moratorien konnte
aber um so mehr erfolgen, als nach Auf-
hebimg der Schuldhaft (s. diesen Art,) auch
der zahlungsunfähige Schuldner nicht ver-
hindert ist, durch Verwertung seiner Arbeits-
kraft sich eine neue wirtschaftliche Existenz
zu gründen.
4. Generalindulte. Etwas anders verhält
es sich mit Generalindulten. Zwar ist über-
all durch die oben erwähnten Gesetze das
Recht des LandesheiTn, durch Verordjixmg
ein Generalmoratorium zu erlassen, aufge-
hoben worden. Im Deutschen Reiche kann
nur durch ein Reichsgesetz, in anderen
Staaten nur durch Landesgesetz ein solches
gegeben werden. Aber in Zeiten einer all-
gemeinen wirtschaftlichen Not, insbesondere
während eines verheerenden Krieges oder
unmittelbar nach einem solchen kann es im
allgemeinen Interesse des Volkswohlstandes
Indult — Ingram
1347
erforderlich werden, durch Gewähning eines
Moratoriums für alle Schulden oder einige
Kategorieen derselben (Hypotheken- oder
Wechselschulden) dem wirtschaftlichen Un-
tergänge ganzer feevölkerungsklassen vorzu-
beugen. Obgleich es nicht vermieden wer-
den kann, dass durch eine solche Massregel
einzelnen Gläubigern ein Schaden zugefiigt
wird, so ist ein Eingriff in die piivatrecht-
lichen Verhältnisse doch dann und insoweit
gerechtfertigt, als dadurch wähi'end einer
kurzen Uebergangszeit den Schuldnern, die
sich zu erhalten noch die Kraft haben, die
Möglichkeit gegeben wird, ihren durch den
Krieg erschütterten Yermögensstand wieder
herzustellen. Ein öeneraämoratorium ist
dann durch die ausgleichende Gerechtigkeit
gerechtfeiügt. Doch dai'f sich dasselbe nur
auf Eückzahlung des Kapitals, nicht auf die
Zahlung der laufenden Zinsen erstrecken.
Erhielte der Schuldner auch für die Zins-
zahlung Ausstand, so würde dadurch die
wirtschaftliche Existenz der Gläubiger, die
ai|f den Zinsbezug angewiesen sind, ver-
nichtet, während ein auf Zahlung des Kapi-
tals beschränktes Moratorium auch dem
Gläubiger, sofern er auch seinerseits Schuld-
ner ist, zu gute kommt. Auch wird durch
ein Generalmoratorium der wucherischen
Ausbeutung der durch den Krieg in eine
Notlage versetztenSchuldner entgegengewirkt.
Aus diesen Gründen wurde auch in
Frankreich während und nach dem Kriege
von 1870/71 für Schulden aus Wechseln und
anderen Wertpapieren ein Generalmorato-
rium erlassen, ebenso wie in dem General-
gouvernement Elsass-Lothringen durch
VV. V. 13. und 20. März 1871 die VerfaU-
zeit der Wechsel erstreckt wurde. Auch in
Portugal hielt es die ßegienmg in der
\^'irtschaftlichen und finanziellen Not, die im
Jahre 1891 über das Ijand hereinbrach, für
ratsam, ein Generalmoratorium von 60 Tagen
für Schulden aus Wechseln und andei-en
Wertpapieren zu gewähren (königl. Dekret
V. 10. Mai 1891).
Litteratnr: Ueber dcu römische und gemeine
Recht 9, die Handbücher des römischen Rechts
und des gemeinen Civüprotesses , ausßlhrli^^h
namentlich Schmid, Handbuch des gemeinen
deulBchen Civilprozesses III, 259 — 26S, —
MUtermaieVf Archiv fUr civil, Praxis, XVI,
450 f. — PüUer, Beyträge tum TetUschen
Staats- und Färstenr echte, 1777, I, SS^ff, —
Mandry, Civilrechtlicher Inhalt der deutschen
Reichsgesetze § Sl, 4, Aufl, — P, Ascoli, La
moratoria ed ü concordato preventivo, 1896. —
Rau II, ^ IIL — Roseher 1, § 94, II § 1S8,
— Knies, Geld und Kredit II, S28ff, — IHe
französischen Gesetze und Verordnungen aus
den Jahren 1870 und 1871 in der Zeilschr. für
Handelsrecht XVI, 41Sff., 666 ff,, XVII, 5Säf.
— Eine Uebersicht und Besprechung der zahl-
reichen Schriften und Abhandlungen, die über
die hierdurch entstandenen Streit/ragen erschienen
sind, giebt Goldschmidt in der Zeitschrift /.
Handelsrecht XVII, 294 ff., XVIII, 625 ff.
E, Loening.
Indastrial-Partnership
s. Gewinnbeteiligimg oben Bd. lY S. 716 ff.
Indastriesystem
ist eine bei älteren Schriftstellern, z. B. Lotz,
gebräuchliche, gegenwärtig aber ziemlich
aufgegebene Bezeichnung für die von Adam
Smith begründete oder wenigstens zur Herr-
schaft gebrachte Volkswirtschaftslehre im
Gegensatz zu dem Merkantilsystem und dem
physiokratischen oder AgrikultiuBystem. Das
wesentliche Merkmal desselben bildet der
Satz, dass die QueUe des National Wohlstandes
in der menschlichen Arbeit liege. Das
Wort »Industrie c. ist also in dem obigen
Ausdruck als gleichbedeutend mit dem eng-
lischen »industry« und nicht in dem im
Deutschen geltenden engeren Sinne von
Gewerbefleiss oder Grossgewerbe zu nehmen.
Der Ausdruck ist somit missverständlich
und deswegen ungeeignet. Er würde besser
für das die Industrie schützende und die
Landwirtschaft nicht berücksichtigende Mer-
kantilsystem passen, und List hat in der
That diesem jenen Namen gegeben, während
er die »von der Schule fälschlich Industrie-
system genannte« Lehre Adam Smiths als
das »Tauschwertsystem« und als »das
strengste und konsequenteste Merkantil-
system« bezeichnet. Den meisten Anspruch
auf den Namen Industriesystem hätte
übrigens Lists eigene Lehre, da diese, un-
abhängig von den merkantilistischen Vor-
urteilen in Betreff der Edelmetalle, die
wesentliche Bedingimg des Kulturfortschrittes
einer Nation in der Entwickelung ihrer
»Manufakturkraft«, d. h. ihrer Industrie, er-
blickt. Das von Smith vertretene System
wird am besten nach ihm selbst genannt,
wenn er auch keineswegs als der alleinige
Schöpfer desselben anzusehen ist. Wegen
des Inhaltes desselben verweisen wir daner
auf den Artikel über Adam Smith. — Vgl.
die Kritik der Bezeichnung Industriesystem
bei List, Nat. System der politischen Oeko-
nomie, in. Bd^ Kap. 29 und 31; auch bei
K. Walcker, Handb. der Nationalökonomie,
5. Bd. S. 49.
Lexis,
Ingram, J. Keils,
wurde in der Grafschaft Donegal, Irland, am
7. Vll. 1823 geboren. Er studierte am Trinity
85*
1348
Ingram — Innungen
OoUege in Dublin, wurde hier 1846 Fellow , 1852
Professor der Beredsamkeit und der englischen
Litteratur, 1866 Professor für griechische Sprache,
1879 BibUothekar und 1898 Viceprovost. Er ist
M. A., LL. D. und Litt. D. der Universität
Dublin und Hon. LL. D. der Universität Glasgow.
Als Präsident der statistischen und volks-
wirtschaftlichen Sektion der „British Association
for the Advancemeut of Science" machte er im
Jahre 1878 durch seinen Vortrag über „die
gegenwärtige Lage und die Aussichten der
Nationalökonomie" (s. u.) Aufsehen. Ingram
ging von der Thatsache aus, dass die Yolks-
wirtschaftswissenschaft in England zur Zeit
eine bedeutsame Krisis durchmache. Er wies
dabei insonderheit auch auf die deutsche Wissen-
schaft hin, wo die hervorragendsten ökono-
mischen Schriftsteller sich schon längst in Oppo-
sition gegen die Lehre und Methode der Ricardo-
schen Schule befänden. Aber auch in den
anderen Ländern, insonderheit in Italien, mache
sich eine neue llichtung geltend, und ebenso
trete in England eine entsprechende, keineswegs
auf Nachamnung beruhende, sondern durchaus
orififinale Bewegung unter Führung Cliffe Leslies
auf Gegen die alte Schule erhob Ingram vier
Punkte des Tadels : Sein einer Vorwurf richtete
sich gegen eine zu weitgehende und so auch
dem ^arakter der Wissenschaft Eintrag thuende
Abstraktion; als einen ferneren Fehler bezeich-
nete er das missbräuchliche Vorwalten der De-
duktion und im Zusammenhange damit den zu
absoluten Charakter der theoretischen und prak-
tischen Schlussfolgerungen; endlich bemängelte
er die Isolierung der ökonomischen Erscheinungen
von den anderen sozialen Phänomenen. So wurde
Ingram einer der hervorragendsten Vorkämpfer
der neuen Schule in England und suchte auch
in seinem grösseren Geschichtswerke dieser
„historischen Richtung" in besonderer Weise
Anerkennung zu verschafifen.
Von semen auf Staats Wissenschaften bez.
Schriften etc. (seine zahlreichen Arbeiten über
englische Litteratur und griechische und latei-
nische Etymologie können hier natürlich nicht
berücksichtigt werden) seien nur die nach-
folgenden genannt :
The Present Position and Prospects of
Political Economy, London, Dublin 1878. (Ins
Deutsche übersetzt von H. von Scheel u. d. T. :
Die notwendige Reform der Volkswirtschafts-
lehre, Jena 1879. Eine dänische üebersetzung
veranstaltete A. Petersen.) — Work and the
Workman, eine im Jahre 1886 dem Trades
Union Congress überreichte Adresse. (Von diesem
Aufsatz erschien 1887 eine französ. Üeber-
setzung.) — In der Encyclopaedia Britannica
(9. Aufl.) [19. Bd. S. 346 ff. ISa^J verfasste Ingram
den Artikel: „Political Economy". Dieser Auf-
satz erschien später als besonderes Buch, in
Einzelheiten erglänzt und erweitert, u. d. T. :
History of Political Economy. Dieses Werk
wurde ins Deutsche, Russische, Polnische,
Französische, Italienische, Spanische, Schwe-
dische, Böhmische und Japanische übertragen.
Die deutsche Üebersetzung erschien in Tübingen
1890 u. d. T. : Geschichte der Volkswirtschafts-
lehre. Autorisierte Üebersetzung von E. Roschlau.
— In der Encyclopaedia Britannica veröfiFent-
lichte er ferner den Aufsatz „Slavery" (22. Bd.
S. 129 ff. 1887, deutsche Üebersetzung von
Leopold Katscher, 1895) und viele sehr beachtens-
werte biographische Beiträge, unter denen vor
allem die Artikel: Quesnay, Turgot, Petty,
Adam Smith, Ricardo, Arthur Young, Cliffe
Leslie zu nennen sind. Auch hat er viele Ar-
tikel zu Palgraves Dictionary of Political
Economy beigetragen.
V^l. über Ingram: Men and Women of
the Time, London 1891. Cohn, Die heutig
Nationalökonomie in England und Amerika (m
Jahrb. f. Ges. und Verw., 13. Jahrg., 1889, S. 31).
V. Böhm-Bawerk, Aus der neuesten national-
ökonomischen Litteratur Englands und Nord-
amerikas (in den Jahrb. f. Nat. u. Stat., N. F.,
18. Bd., 1889, S. 6'?3).
Re€L
Inhaberpapiere
s. Wertpapiere.
Innniigeii.
1. Die sogenannten gemeinschaftlichen Ver-
bände. 2. Aufgabe und bisherige Wirksamkeit
der I. 3. Das neue Recht der I. 4. Fach- oder
gemischte I. ö. Innungsausschüsse. 6. In-
nungsverbände. 7. Ausbau des Innungswesens.
8. Statistik der I.
1. Die sogenannten gemeinschaftlichen
Verbände. Die in der Gewerbeordnung
von 1869 voi-gesehenen Innungen um-
fassten zunächst niu' die selbständigen
Meister. Indes schien mit ihnen den
modernen wirtschaftlichen und gewerb-
lichen Verhältnissen niclit vollkommen Ge-
nüge zu geschehen, und so wurde der Vor-
schlag zur Errichtimg sogenannter gemein-
scliaWicher Verbände, d. h. solcher, in
denen auch die unselbständigen Grewerbe-
treibenden, die Gesellen und Gehilfen, soll-
ten aufgenommen werden können, laut. Der
Herd dieser Pläne war Hamburg. In einer
Schrift, die in Form eines besonderen Ge-
setzentwurfes zur Bildung und Anerkennung
derartiger Innungen aufforderte, wurde im
Jahre 1874 von Hamburg aus auf sie hin-
gewiesen. Neben der Verwaltung ihrer
Kassen imd ihres Vermögens sollte diesen
Innungen die Errichtung von Einigimgs-
ämtern zustehen, die Schlichtung der ge-
werblichen Rechtsstreitigkeit-en, die Regelung
und Beaufsichtigimg des Lehrlingswesens,
die Regelung des Arbeitsnachweises u. dgl. m.
So sehr schien der Vorschlag zu ihrer Er-
öffnung einem allseitig empfundenen Be-
dürfnisse abzuhelfen, dass der Bundesrat bei
der bald darauf beginnenden Entjuete über
die Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen und
Fabrikarbeiter die Frage nach solchen Ver-
bindungen und ihrer Zulässigkeit in das
Innungen
1349
A
Programm aufnahm. »Griebt es Innungen,
welchen beizutreten auch Gesellen das Recht
haben, und erecheinen derartige Einrichtun-
gen erfahrungsmässig geeignet, die Beziehun-
gen zwischen den Gesellen und ihren Ar-
beitgebern zu fördern?« imd »Ist es angäng-
lich, den Arbeitgebern und ihren Gesellen
in derartigen Verbänden völlig gleiche
Rechte zu gewäliren?« — Das waren die
beiden Punkte, über die die Regierung Aus-
kunft einzuziehen beschloss. In Hamburg
selbst hatte die Idee teilweise Verwirk-
lichung gefunden. Eine Färberinnung war
begründet worden, die nach ihrem Statut
ausdrücklich eine »Vereinigung der Meister
und Gesellen des Färbergewerbes behufs
Förderung der gemeinsamen Interessen« sein
wollte. In ihr bestand der Vorstand zu
gleichen Teilen aus Mitgliedern, die einer-
seits von Meistern und Werkführem, ande-
rerseits von den Gesellen gewählt wurden.
Die Gleichberechtigimg beider Teile war so
weit getrieben, dass, wenn in den Sitzungen
des gemeinsamen Voi-standes die Mitglieder
beider Sektionen in ungleicher Zahl anwe-
send waren, diurch das Los bestimmt wurde,
welche Mitglieder der stärker vertretenen
Partei sich der Abstimmung zu enthalten
hätten. Auch in anderen Gewerben waren
in dieser Richtung in Hambui-g Versuche
gemacht worden, die indes nicht alle als
gelungen bezeichnet werden konnten. Im
allgemeinen wiu^le doch über eine gewisse
Lauheit im Zutritt zu den Verbänden seitens
der dasselbe Gewerbe ausübenden Personen
geklagt.
An und für sich ist der Gedanke, dass
Arbeitgeber und -nehmer, selbständige
Meister und Gehilfen sich zusammenthun
soUen, durchaus sympathisch. Die Gesellen
lassen sich heute in der früheren unterge-
ordneten Stellung, in der sie sich alle Vor-
schriften des einzelnen Meistars oder der
ganzen Innung gefallen lassen mussten,
flicht mehr festhalten. Vielmehr ist es
nötig, ihnen einen gewissen Mnfluss auf die
Gestaltung des Arbeitsverhältnisses einzu-
räumen, überhaupt manche Punkte der Ar-
beitsordnung mit ihnen zu beraten und ge-
meinsam an die Ausführung von Beschlüssen
zu gehen. Aber es fragt sich, ob das gerade
in Innungen, die grundsätzlich beiden Par-
teien gleiche Rechte gewähren, vor sich
gehen muss. Man übersehe nicht, dass
Meister und Gesellen sehr ungleichmässig
vertreten sind. Mit Recht befürchten die
Meister, dass es den Gesellen möglich sein
werde, ihre numerische üebermacht zu Un-
gunsten der Arbeitgeber auszunutzen und
diesen unbequeme oder gar nachteilige Be-
schlüsse durchzusetzen. Um die auf die
Dauer vielleicht unangenehmen Wirkungen
später nicht an sich selbst zu verspüren.
werden sie in einer anderen Stadt selbstän-
dig. Die Gesellen wiederum lassen das
Bedenken laut werden, dass ihre Interessen
nicht in gehöriger Weise zur Geltung
kommen könnten, da die kleinere Körper-
schaft der Meister ein engeres Zusammen-
stehen erleichtere. Bei dem Einflüsse, den
der Arbeitgeber immerhin noch auf die Ge-
sellen ausübt, würde 6s leicht sein, deren Ab-
stimmung in einem ihm günstigen Sinne zu
gestalten.
Bei solcher Sachlage fielen die Antwor-
ten, die in der Bimdesratsenquete erteilt
wurden, nicht sehr ermutigend für die ge-
plante Neuerung aus. Fast nirgends, wo
Innungen bestanden, war den Gesellen der
Zutritt gestattet, und kaum erhob sich der
Wunsch, sie zuzulassen. Nur ganz aus-
nahmsweise wurde das Hamburger Projekt
befürwortet und als das einzige Mittel »zur
Herstellung des gewerblichen Friedens imd
zur Hebung der geschwundenen gewerb-
lichen Leistungsfähigkeit« enipfohlen. So
hat man denn die Idee einer Heranziehung
der Gesellen als gleichberechtigter Teilneh-
mer an der Innung ganz fallen gelassen, und
wenn auch noch immer die Wiederherstel-
lung der Zunft, das allgemeine Losungswort
geblieben ist, so wird doch nur wie frfiher
an die Vereinigimg selbständiger Gewerbe-
treibender gedacht.
2. Aufgabe und bisherige Wirksam-
keit der I. Die Aufgabe, die den Innimgen
zugedacht wird, ist, den Ausgangs- und
Angelpunkt für alle diejenigen gewerblichen
Angelegenheiten zu bilden, die nicht direkt
in das Gebiet staatlicher Regelung und
üeberwachung fallen. Sie sind öffentlidi-
rechtliche Korporationen, denen im einzelnen
folgende Aufgaben zugewiesen sind: Pflege
des Gemeingeistes sowie die Aufrechter-
haltung und Stärkung der Standesehre unter
den Mitgliedern; Förderung eines gedeih-
lichen Verhältnisses zwischen Meistern und
Geseüen, des Herbergswesens und des Ge-
sellenarbeitsnachweises ; Regelung des Lehr-
lin^wesens ; Entscheidung von Streitigkeiten
zwischen den Innungsmitgliedern und ihren
Lehrlingen. Dazu kamen die Innungsprivi-
legien, die eine Art indirekten Zwangs zum
Beitritt zu den Innungen ausübten. Durch
die höhere Verwaltungsbehörde konnte für
den Beitritt einer Innung, die sich auf dem
Gebiete des Lehrlingswesens ausgezeichnet
hat, erklärt werden: 1. dass Streitigkeiten
über Lehrverhältnisse auch dann von der
zuständigen Innimgsbehörde entschieden
werden, wenn der Arbeitgeber, obwohl er
ein in der Innung vertretenes Gewerbe be-
treibt, der Innung nicht angehört, 2. dass
die von der Innung vorgenommene Regelung
des Lehrlingswesens auch für die Lehrherren
bindend sind, die nicht zur Innung gehören ;
1350
Innungen
3. dass Arbeitgeber, die der Innung nicht
angehören, überhaupt keine Lehrlinge mehr
annehoQen dürfen. Weiter konnte für den
Betrieb einer Innung auf Antrag derselben
durch die höhere Verwaltungsbehörde er-
klärt werden, dass Arbeitgeber und deren
Gesellen, die nicht zur Innung gehören,
doch zu den Kosten der von dieser ge-
troffenen Einrichtungen beitragen müssen,
wie die Innungsraitglieder und deren Ge-
sellen, nämlich 1. zu den fiir das Herbergs-
wesen und den Nachweis der Gesellenarbeit
verursachten Kosten, 2. zu denjenigen Kosten,
die die zur Förderung der gewerblichen
und technischen Ausbildung von Arbeitsge-
sellen und Lehrlingen getroffenen Einrich-
tungen verursachen, 3. zu den Kosten des
von der Innung errichteten oder zu errich-
tenden Schiedsgerichts.
Diese Anordnungen sollten dazu beitra-
gen, unter den Gewerbetreibenden die Lust
zu erwecken, sich den Innungen anzuschlies-
seu. Ihren Zweck haben sie nicht erreicht
und waren wohl auch zu weit gegangen.
Insbesondere die Zumutung an nicht der
Innung Angehörige, sich den Entscheidungen
eines Gerichts zu fügen, das aus der Wahl
eines Verbandes hervorgegangen ist, zu dem
man nicht zählt, war hart. Niemand wird
leugnen wollen, dass Innungen zum Wohl
des Handwerkes und Gewerbestandes wir-
ken können. Nur muss es als von fraglichem
Werte gezeichnet werden, wenn auf dem
Wege des Zwangs, sei es dem direkten oder
indirekten, eine Yereinigung angestrebt
werde. Thatsächlich ist denn auch trotz
des weitreichenden Aufgabenkreises die
Wirksamkeit der Innungen eine bescheidene
gewesen. Was über die Thätigkeit, die sie
in einzelnen deutschen Ijändern, Gebiets-
teilen und Städten, wie Schleswig-Holstein,
Oberschlesien, Berlin, Breslau, Dresden u. a.
m. entfaltet haben, bekannt geworden ist,
zeigt sie nicht in günstiger Beleuchtung. Es
soll davon abgesehen werden, aus der ge-
ringen nachgewiesenen Zahl von Innungs-
mitgliedern — im Jahre 1890 321 219 d. h.
vielleicht der vierte Teil aller Handwerks-
meister — Schlüsse auf die Neigimg, sich
in Innungen zu organisieren, zu ziehen.
Denn es ist gewiss richtig, dass die auf derii
Lande oder in kleinen Städten wohnenden
Arbeiter nicht immer in der Lage waren,
bei ihrer geringen Vertretung des Fachs
eine Innung zu bilden. Wohl aber hat man
einen besseren Massstab zur Beurteilung der
Bereitwilligkeit, sich den Innungen anzu-
schliessen, wenn man sich vergegenwärtigt,
wie in grösseren Städten die Zahl der
Inmmgsmitglieder und der ausserhalb der
Innung bleibenden Kleingewerbetreibenden
desselben Fachs sich stellt. Leider stehen
in dieser Richtung niclit viele Daten zur
Verfügung. Nach dem Adressbuch der
Stadt Rostock gab es 1897 dort im
Schneidergewerbe 71 Amtsmeister, 100
ausserhalb des Amts; im Malergewerbe 63
Meister in der Innung, 40 ausserhalb der-
selben ; in der Tischlerei 59 in der Innung,
88 ausserhalb; in der Schuhmacherei 127
im Amte, 171 ausserhalb desselben; in der
Tapeziererei 18 in der Innung, 28 ausser-
halb; im SchlÄchtereigewerbe 63 Amts-
meister, 64 ausserhalb des Amts. In Leipzig
aber weist das Adressbuch für 1900 nach
in der Schuhmacherei 234 in der Innung,
611 ausserhalb derselben; in der Fleißch-
hauerei 311 in der Innung, 134 ausserhalb
derselben; in der Kürschnerei 33 in der
Innung, 45 ausserhalb derselben. Gegen-
über solchen Zahlen kann nicht mehr ein-
gewandt werden, dass die Handwerker keine
Möglichkeit hatten, eine Innung zu bilden.
Wenn auch jetzt noch in Leipzig, nachdem
eine ganze Reihe von Zwangsinnungen auf
Gnind des neuen Gesetzes entstanden itt,
in einzelnen Gewerben ein derartiges Miss-
verhältnis zwischen Mitgliedern der Innung
und Nichtmitgliedern erscheint, kann die
Lust ziu" Vereinigimg keine grosse sein.
Indes vielleicht noch sclilimmer als
diese Teilnahmlosigkeit ist, dass in den In-
nungen selbst ein sein* geringer Eifer für
Bethätigung innerhalb des Rahmens der
ihnen gestellten Aufgaben hervortrat. In
der Reichshauptstadt, wo um 1895 etwa 68
Innungen mit 17 — 18000 Mitgliedern be-
standen, unter denen allerdings verschiedene
waren, die nicht eigentlich handwerksmässi-
gen Charakter aufwiesen, unterhielten nur
30 Innungen Fachschulen, mit Zuschüssen
überdies von selten des Magisti*ats. Die
Ausgaben dafür machten pro Kopf der In-
nungsmeister etwa eine Mark im Jalu- aus.
Krankenkassen, die dem § 73 des Gesetzes
entsprechen, waren bei 11 Innungen anzu-
troffo'\ Die Thätigkeit des Inniingsschieds-
gci.L-.ts war eine verhältnismässig imbedeu-
tende. In Breslau, wo 61 Inmmgen aber
mit nur 4279 Mitgliedern nachgewiesen sind,
haben 24 Innungen sich vom Innun^us-
schuss ferngehalten. Die Aufwendungen für
Sonntag- und Abendschulen zusammen mit
denen für Fachschiden — 9 an Zalil — l>e-
tragen ebenfalls nur eine Mark pix> Kopf
und Jahr. Die Ausgaben filr Herbergsweseu
beliefen sich auf 555 Mark, die für Arbeits-
nachweis auf 304 Mark. Dagegen war die
zur Löhnung der Innungsboten ausgeworfene
Summe 5136 Mark, die für Abordnungen
zu Innungs- und Verbandstagen 1(I02 Mark,
die für Jubiläen und derdeichen 2709 Mark.
Die Kürschnerinnung zahlte jährlich 12 Mark
für Schulwesen, aber 900 Mark an ihren
Vorstand. Eine der dortigen Fleischerinnnn-
gen liatte 50 Mark für Sonntags- und Abend-
Innungen
1351
Bchulen, aber 3600 Mark als Gehalt an ihre
Vorstandsmitglieder bewilligt.
Man kann nun freilieh die Wirksamkeit
der Innungen nicht lediglich nach ihren
Ausgaben messen, da ja manches in der
Ordnung des I^hrlings- und Öesellenwesens
ihnen keine Unkosten verursacht. Immerhin
wird man berechtigt sein, aus der Art, wie
die Innungen die ihnen ziu: Verftlgung ste-
henden Gelder verwenden, einen Schluss
darauf zu ziehen, ob sie für die ihnen ge-
stellten Aufgaben Interesse und Verständnis
zeigen oder nicht. Und wenn man hört,
dass von 314 Innmigen in Sclüeswig-Holstein
14 selbst erklären, filr Innungszwecke ^r
keine Ausgaben gemacht zu haben, so wird
man gezwungen, das letztei-e anzunehmen.
Die Innungen in Schleswig -Holstein ver-
dienen übrigens im allgemeinen gar nicht
einmal ein abfälliges Urteil. Denn unter
den 314, auf die sich die vom Kommerz-
koHegium in Altena veranstaltete Enquete
l)ezog — 39 hielten es für besser, gar keine
Auskunft zu geben — waren doch 71, die
für Innungszwecke 200—500 Mark, und 22,
die sogar melir als 500 Mai*k ausgaben. Da
^ Imben wir Innungen wie die der Tischler
zu Altena, die bei einem Etat von 525 Mark
für Sclud- und Lehrlingswesen 105 Mark,
oder eine andere, wie die der Maler ebenda,
die von einem Etat im Betrage von 1240
Mark für den Zeielienimterricht an den
Sonntagsschulen 6G4 Mark verausgabt haben.
Das sind immerhin ganz achtbare Leistungen.
Aber wir haben in jener Provinz andere
Innungen, bei denen beispielsweise die
Jahresgesamtausgabe von 530 Mark sich
wie folgt verteilt: für eine Ehrengabe 00
Miwk, für eine Innungsfahne 350 ]yiark,
diverse Ausgaben 80 Mai'k. Und wenn ge-
rühmt wird, dass die Innungsverbände sich
besonders um die Einführung gemeinsamer
Verbandspapiere verdient gemacht und da-
durch auf das Legitimationswesen einen
wohlthätigen Einfluss ausgeübt hätten, so
fällt doch ins Gewicht, dass von 353 Innun-
gen nur 226 sich diesen Verbänden ange-
schlossen hatten. Auch war es gewiss kein
vielversprechendes Zeichen, dass nur 92
Innungen die im § 97 a der Gew.-O. sub p. 4,
5, 6, vorgeselienen Massnahmen zur Föitle-
nmg der gemeinsamen gewerblichen Inte-
ressen in Wirklichkeit lungesetzt hatten, d. h.
also Sterbe- und Krankenkassen, Schieds-
gerichte , Arbeitsnachweise , Magazinkassen
u. s. w. ins Leben riefen.
Sehr lehrreich ist die Statistik, die Dr.
Pabst im statistischen Jahrbuch deutscher
Städte (VI. Jahrg. S. 244) über die Ein-
nahmen und Ausgaben deutscher Innungen
im Jahre 1895 in 48 Städten veröffentlicht
hat. Bei einer Gesamtausgabe von 1 028 543
Mark in 787 Innungen (1S94 820707 Mark,
1891 633753 Mark) kamen auf daß Schul-
wesen 94572 Mark, (1894 95544 Mark,
1891 41513 Mark) und auf das Herbergs-
wesen 82732 Mark (1894 88831 Mark,
1891 40206 Mark). Es hat sich demnach
das Interesse für diese Seite des Innungs-
lebens sehr gesteigert. Denn 1891 bezifferte
sich die Ausgabe für Schulwesen pro Kopf
des Innungsmitgliedes 50 Pfennig, 1894
(die Innung zu 81 Mitgliedern gerechnet) auf
1,60 Mark, 1895 (die Innung zu 80,1 Mit-
gliedern gerechnet) auf 1,80 Mark. Fiirs
Herbergswesen aber wmxlen pro Kopf ver-
wandt 1891 1,20 Mark, 1894 1,51 Mark
und 1895 1,31 Mark. Immer aber bleiben
die Mittel, die die Innungen für die Pflege
ihrer hauptsächlichen Zwecke haben auf-
bringen können, nicht erheblich.
Es scheint, dass dei-artige an die Oeffent-
lichkeit tretende Mitteilungen doch erkennen
lassen wie wenig die Innungsgesetzgebung
von 1881 und den folgenden Jahi-en am
Platze gewesen ist. Man konnte anfangs
hoffen, dass die Handwerker in die ihnen
winkenden lohnenden Aufgaben sich ver-
tiefen und hineinfinden würden, und musste
sich, wenn es zu langsam zu gehen schien,
damit trösten, dass eine gewisse Schwer-
fälligkeit rascherer Entwickelung hindernd
im Wege stände. Aber schliesslich sind die
Gedanken, die die Innungsgesetzgebimg von
1881 ausgesprochen hat, nicht neu und
müssen gerade jenen Handwerkerkreisen, die
nicht müde werden, sich die Vergangenheit
zurückzuwünschen, besonders vertraut sein.
Wenn aber nach mehr als einem Jahrzehnt
die neuerliche Anregung nicht gefruchtet
hat, dann muss der Fehler im System liegen,
dann drängt sich eben die Ueberzeugung
auf, dass die gewaltsame Beförderung der
Vereinigung der Handwerker nicht das
richtige Heilmittel zur Hebung des ganzen
Standes sein kann. Einer der preussischen
höheren Beamten hat das auch anerkannt
und unumwunden auf dem elften deutscheu
Gewerbekammertage zu Eisenach im Jahre
1893 zugestanden, dass die Erwartungen,
die man an die Tliätigkeit der Innungen
knüpfen konnte, von diesen \-ielfach nur in
geringem Umfange gerechtfertigt worden
seien.
Auch die Untersuchungen, die der Verein
für Sozialpolitik über die Lage des Hand-
werlLS veröffentlicht hat, können diese Auf-
fassung von der Bedeutimgslosigkeit der
Innungen im allgemeinen nur bestätigen.
Zwar liat an einigen Orten die Innung ent-
schieden Sinn für gemeinschaftliche Inte-
ressenvertretung, wie z. B. die Schlosser-
innung in Leipzig sich von Anfang an sehr
eifrig für die Fachschule in Boss wein inte-
ressiert hat. Aber wenn in verschiedenen
Städten die Innung sich das Verdienst erwor-
1352
Innungen
ben hat, die Meister in freundnachbarliche Be-
ziehungen gebracht und von ihrem Konkur-
renzkampf die Gehässigkeit verbannt zu
haben, so sind dafür an nicht wenigen Orten
die Innungsverhältnisse geradezu kläglich.
Vielfach ist es die Mittellosigkeit, die die
Innungen nicht zu rechter Wirksamkeit
kommen lässt. Aber auch wo die Mittel
den Innungen nicht fehlen, ist der Eifer, für
die Hebung des Gewerbes etwas zu thun,
sehr gering. Man begreift es, wenn man in
diesen Schildenmgen blättert, dass die
Handwerker selbst in manchen Gegenden
den Wert der Innungen gering anschlugen.
Ihr grösster Nutzen soll, wie gelegentlich
bemerkt wird, darin bestehen, dass der In-
nungsmeister leichter Lehrlinge erhält. Die
Eltern legen nämlich meistens grossen Wert
darauf, dass ihr Sohn dereinst regelrecht
»freigesprochen« wird, obwohl dies praktisch
für ihn ohne jeden Nutzen ist, da die In-
nungsmeister bei der Annahme von Ge-
sellen gewöhnlich gar nicht nach dem
Lehrbrief fragen.
Es ist nur natürlich, bei solcher Saclüage
die Berichterstatter des Vereins für Sozial-
politik gelegentlich von selbst die Frage
nach der Bedeutung der Zwangsinnung auf-
werfen und ablehnend beantworten zu sehen.
Es ist nicht abzusehen, meinte einer der
HeiTen, was eine Innung in der Lohgerber-
branche z. B. leisten solle. »Denn von einer
Regelung der Produktion durch diese kann
nicht die Rede sein, und eine Absatzkon-
kurrenz, die zu regeln wäre, besteht über-
haupt nicht, da dem Handwerk der lokale
MarKt so wie so verloren ist.« So sehnlich,
sagt ein anderer, als die Handwerker die
Zwangsinnung jetzt wünschen, so flehentlich
werden sie später bitten, von ihr loszukom-
men. »Die begeisterten Anhänger dieser
Forderung scheinen nicht zu bedenken, dass
durch solchen Zwang Genossen wider ihren
WiUen herangezogen würden, mit denen ein
erspriessliches Zusammenarbeiten schlechter-
dings ausgeschlossen ist.«
B. Das neue Recht der I. (Novelle
vom 26. Juli 1897). Die geringen Erfolge,
die die Innungen seither aufwiesen, haben
die Handwerker keineswegs entmutigt,
sondern sie nur dazu bewogen, um so
energischer für den Zwang einzutreten. Mit
den freiwilligen Innungen, sagen die An-
hänger des Zwangsgrundsatzes, lässt sich
nichts Bedeutendes schaffen, weil sie so
wenig Greifbares bieten. Selbst wenn ihnen
noch weitere Rechte verliehen würden, kämen
sie doch nicht zur Blüte. Denn sie seien
niu' für ideale Menschen bei-echnet, für
Menschen, wie sie sein sollen, und nicht
wie sie sind. Und nicht nur der Eintritt
in die Innung muss erzwungen werden,
auch der Innungsausschuss und der Innungs-
verband müssen obligatorisch werden. Anders
lässt sich eine Bessenmg der heutigen Zu-
stände nicht erwarten. Diesem Lieblings-
gedanken ist die Erhebung über die Ver-
hältnisse im Handwerk, die nur bis 1895
ausgeführt wurde, entgegengekommen. >»Es
besteht«, so hiess es im Rundschreiben des
Reichskanzlers vom 27. Mai 1895, »in
Kreisen des organisierten Handwerks das
lebhafte Verlangen, dass dem Handwerker-
stande eine festere und namentlich auf dem
Gebiete der Lehrlingsausbildung leistungs-
fähigere Organisation gegeben werde, als
sie die bisherigen fakultativen Innungen zu
bieten vermögen.« Mit Hilfe der Eaquete
sollte man ein urteil über die thatsäcmiche
Durchfühlbarkeit einer allgemeinen lokalen
Organisation des Handwerks sich ver-
schaffen. Man woUte in Erhebung bringen,
wie weit die örtliche Gruppienmg des Hand-
werks noch reiche, um den Zwang nicht an
Äscher Stelle auszusprechen, ^ie es mit
dem Betriebe von Specialitäten aussah, wie
die Ausbildung und die Vorbereitung der
heutigen Arbeiter für ihren Beruf gewesen
ist u. dgl. ra. Die Erhebung wurde nicht
im ^nzen Reiche veranstaltet, sondern niu*
in emer grösseren Anzahl von Bezirken, die
in Preussen, Bayern, Sachsen, Württemberg,
Baden, Hessen und Lübeck gewählt worden
waren, im ganzen in 37 Distrikten. Von
den gegenwärtig vorliandenen Kreisen imd
entsprechenden Verwaltimgsbezirken im
Reiche wnrde auf diese Weise der 27. Teil
in die Erhebung einbezogen. Dem Flächen-
inhalte nach handelte es sich um den
80. Teil der Reichsfläche, und die unter-
suchte Einwohnerzahl belief sich auf un-
gefähr den 22. Teil der Reichsbevölkerung.
Man dachte die in diesem engeren Raum
gefundenen Verhältnisse als typische an-
sehen zu dürfen.
Die Ergebnisse der Enquete haben ge-
zeigt, dass, wenn überhaupt ein Zwang zum
Anschluss an Innungen ausgesprochen werden
soll, er auf alle Handwerker, einsclüiessüch
der ohne Personal thätigen Arbeiter aus-
gedehnt werden muss. Anders liefe man
Gefahr, wegen der imgenügenden Zahl von
Meistei*n die Innung überhaupt nicht be-
gründen zu können. Sollten nur die per-
sonalbeschäftigenden Meister zum Eintritt
in die Innungen verpflichtet werden, so ist
die Möglichkeit zur Bildung dieser Ver-
einigungen ganz gewaltig eingeschränkt.
Da 98 Handwerker und Specialitäten in
156 Zählbezirken nachgewiesen sind, w
müssten für 15288 Innungen die Mitglieder
gegeben sein. Statt dessen sind Zählbezirks-
innungen möglich, wenn zur Bildung einer
Innung genügen
5 personalbeschäftigende Meister: 1391 in
62 Handwerken
InnuDgen
135B
10 personalbeschäftigende Meister: 761 in
43 Handwerken
15 „ Meister: 453 in
37 Handwerken
20 „ Meister: 295 in
28 Handwerken
30 . Meister: 137 in
19 Handwerken.
r
Mit anderen Worten: die örtliche Ver-
teilung der Handwerker ist derart, dass in
Orten von der Grösse der Zählbezirke nicht
durchweg Innungen ins Leben gerufen
wei-den können, die so zalüreich besetzt
sind, dass man von ihi-er Wirksamkeit etwas
erwarten darf. Innungen, die jedesmal nur
5 Handwerker vereinigen, würden ganz ge-
wiss nur einen selir geringen Einfluss auf
die Geschicke des betreffenden Berufs und
des Handwerks im allgemeinen ausüben
können. Für eine ganze Anzahl von Hand-
werken aber werden selbst diese kleinen
Innungen nicht einmal gebildet werden
können.
Bei dieser Sachlag-e hat die Novelle vom
26. Juli 1897 davon abgesehen, einen Zwang
schlechthin zum Eintritt in die Innungen
auszusprechen, sondern es dem Ermessen,
der Kleingew^erbetreibendeu selbst über-
lassen, einen solchen anzuregen. In dem
neuen Innungsrecht sind zunächst die Auf-
gaben der Innung, die obligatorischen wie
die fakultativen, unverändert geblieben. Die
ersteren, wie sie oben gekennzeichnet wurden,
sind und bleiben die Gnmdpfeiler des ge-
nossenschaftlichen Zusammenwirkens. Und
ebenso ist nach wie vor die Möglichkeit vorge-
sehen , dass Veranstaltungen zur Förderung der
gewerblichen, technischen und sittlichen Aus-
bildung von Meistern, Gesellen und Lehrlingen
getroffen, Meister- und Gesellenprüfungen ins
Ii('ben gerufen, Unterstützungs- und Hilfs-
kassen errichtet, Schiedsgerichte zur Ent-
scheidung der Differenzen mit den Gesellen
begründet , gemeinschaftliche Geschäftsbe-
triebe zur Fördening des Erwerbs der In-
nungsmitglieder eingerichtet werden können.
Schwer dagegen wiegt die Neuerung der
fakultativen Zwangsinnung. Von
nun an kann auf Antrag der Beteiligten die
höhere Verwaltungsbehörde anordnen, dass
innerhalb eines bestimmten Bezirks sämt-
liche Gewerbetreibende, die das gleiche
Handw^erk oder verwandte Gewerbe be-
treiben, einer neu zu errichtenden Innung
anzugehören haben. Der Antrag braucht
nicht gerade darauf auszugehen, alle Hand-
werker einer Art zu umfassen. Er kann
sich auch nur auf diejenigen Gewerbe-
treibenden beschränken, die in der Regel
Gesellen und Lelu'linge halten. Nicht jeder
Antrag auf Bildung einer Zwangsinnung hat
Aussicht auf Annahme. Auch ohne eine
Abstimmung zu veranlassen, kann der An-
trag von vorn herein abgelehnt werden, wenn
er nämlich 1. von einem verhältnismässig
kleinen Teil der beteiligten Handwerker
ausgeht. Z. B. falls in einem Ort, wo 100
Schlächter angesessen sind, nur 5 den An-
trag stellen sollten, 2. w^enn der Antrag
innerhalb der letzten drei Jahre bei einer
Abstimmung schon abgelehnt worden ist.
Man nehme an, dass die Schlosser und
Schmiede irgend einer Stadt im Mai 1898 den
Antrag zur BUdung einer Zwangsinmmg ge-
stellt hatten, jedoch damit nicht durchdrangen.
Dann würden sie, falls sie im Mai 1900 aufs neue
mit dem Anti-ag kämen, abgewiesen werden.
3. Wenn für die Wahrung der gemeinsamen
gewerblichen Interessen am Orte in anderer
Weise ausreichende Fürsorge getroffen
scheint, also etwa ein grosser Gewerbe-
verein am Orte bereits besteht. Endlich
erfolgt auch Ablehnung des Antrages, wenn
die Zahl der vorhandenen Handwerker zur
Bildung einer leistungsfähigen Innung nicht
ausreicht. Eine Mindestzahl ist nicht vor-
gesehen. Hier entspricht einzig das Er-
messen der oberen Verwaltungsbehörde.
Notwendig ist ferner, den Bezirk der Innung
so abgegrenzt zu sehen, dass kein Mitglied
durch die Entfernung seines Wohnsitzes
vom Sitze der Innung gehindert wird, am
Genossenschaftsleben teilzunehmen imd die
Innungseinrichtungen zu benutzen. Die
Grösse des Bezirks ist nicht bestimmt. Man
wird sich ganz nach den thatsächlichen Ver-
hältnissen, vor allen Dingen nach den Ver-
kehrsbedingungen richten müssen. Ist der
Antrag auf Bildung einer Zwangsinnung
angenommen, so fragt sich, wer bei tritt s-
p flichtig ist. Natürlich alle diejenigen,
die das Gewerbe, für welches die Innung
errichtet ist, als stehendes Gewerbe selb-
ständig betreiben. Also auch diejenigen, die
bei der Abstimmung nicht anwesend waren.
Aber man kann sein Gewerbe in ver-
schiedener Art betreiben : fabrikähnlich und
handwerksmässig. Da sind denn die, die
das Gewerbe fabrikmässig betreiben, vom
Beitrittszwange frei. Was darunter ver-
standen werden soll, steht im Ermessen der
oberen Verwaltungsbehörde. Da die Be-
griffe »Handwerk« und »Handwerker« im
Gesetze nicht definiert sind, so wird die
Entscheidung immer etwas von der örtlichen
Anschauung abhängig sein. Soll die Innung
bloss für personalbeschäftigende Handwerker
erklärt werden, so wären natürlich vom
Beitritt befreit diejenigen, die in der Regel
keine Lehrlinge und Gesellen annehmen.
Handwerker, die mehrere Gewerbe betreiben,
haben sich derjenigen Innung anzuschliessen,
die ftir das hauptsächlich von ihnen be-
triebene Gewerbe errichtet ist. Ein Wagen-
bauer mithin, der zugleich Sattler und
Lackiererarbeiten in seinem Geschäfte ver-
1354
Innungen
einigt, würde nur der Innung für das
erstere Gewerbe sich anzuschliessen haben.
Streitigkeiten, die hierüber entstehen können,
hätte die Aufsichtsbehörde zu entscheiden,
von der eine Beschwerde an die höhere
Verwaltungsbehörde möghch ist.
Mit der Bildung einer Zwangsinnung
hören die anderen Innungen, die für das-
selbe Gewerbe seither vorhanden waren,
auf. Ihr Vermögen geht dann auf die
Zwangsinnung über. Waren in der bis-
herigen Innung auch solche Mitglieder, die
nicht zum Anschluss an die Zwangsinnung
verpflichtet sind, so geht nur ein ent-
sprechender Teil des Vermögens in die
neue Innung über. Mit der Begründung
von ZwangsmnuDgen fallen auch die Privi-
legien, die seither aus § 100 e und 100 b
der Gtew.-O. verliehen werden konnten, weg.
Es wild offenbar vom Gesetze angenommen,
dass Innungen, die geeignet sind, diese Vor-
rechte zu erhalten, unschwer in eine Zwangs-
innung umgewandelt werden können. Neben
einer Zw^angsinnung aber ist für eine bevor-
rechtete Innung kein Platz mehr, da ja als-
dann keine Berufsgenossen vorhanden siod,
denen gegenüber die Vorrechte geltend ge-
macht werden könnten. Die Innungen, die
Privilegien aus den genannten Paragraphen
aufwiesen, konnten ohne weiteres in Zwangs-
innungen umgewandelt werden.
Skid nun aUe glücklich in einer Zwangs-
innung untergebracht, so darf sich diese
doch nicht wie eine freie benehmen. Es
wird ihr vielmehr immer anhängen, dass sie
auf dem Wege des Zwanges das Licht der
Welt erblickte. Sie muss sich gewissen
Vorschriften bezüglich ihrer Wirksamkeit
fügen. Es liegt nämlich die Gefahr vor,
dass die neu errungene Machtstellung ent-
weder gegenüber den 3iiitgliedern oder dem
Publikum gemissbraucht weixien kann. In-
dem das Gesetz diesen Punkt im Auge be-
hält, hat es verboten 1. Eintrittsgeld zu er-
heben, 2. gemeinsame Geschäftsbetriebe zu
errichten, 3. Preisfestsetzungen für Waren
und Leistungen zu beschliessen und die Ge-
nossen in der Annahme von Kunden zu be-
schränken. Nach einer anderen Seite ver-
langt das Gesetz, dass die Zwangsinnungen
einen Haushaltsplan der Genehmigung der-
Aufsichtsbehörden unterbreiten. I)as erste
ist angeordnet, um keinen schweren Druck
auf vielleicht nicht recht gut situierte Hand-
werker auszuüben. Das zweite, weil das
Vermögen der Innung für die Verbindlich-
keiten haften müsste, wenn das Geschäft
auf ihre Rechnung gehen würde. Ist kein
solches vorhanden, so müssten eventuell er-
höhte Beiträge der Mitglieder die Deckung
verschaffen. Das ist Ix^i freien Innuncron
unbedenklich, weil jeder wieder austreten
kann, wenn ihm die Last zu gross wird.
Hier könnte er sich ihrem steigenden Dnicke
nicht entziehen. Damit im Zusammenhange
steht die Fordemng, einen Etat aufzustellen.
Es soll eben Sicherheit geboten werden, dass
die zwangsweise aufgebrachten Gelder sach-
Hch und zweckentsprechend gebraucht wer-
den. Das dritte Verbot endhch bringt den
Wimsch zum Ausdruck, die Bildung von
Ringen, Preiskoalitionen u. dergl. mehr zu
verhüten.
Von einem anderen Gesichtspunkt aus
ist die Beitragsleistung in den Zwangs-
innungen geregelt. Bisher pflegten die Bei-
träge, die an die Innung zu zaäüen waren,
für alle gleich hoch zu sein. Freie Innun-
gen können auch heute noch derart ihre
Seiträge regeln. Für die Zwangsinnung
aber ist vorgesehen, dass sie die einzelnen
Betriebe nach ihrer Leistungsfähigkeit heran-
zieht. Nach welchen Umständen sie diese
bemessen will, etwa nach der Zalü der
Hilfskräfte, der Benutzung maschineller Vor-
richtungen u. s. w., steht ihr frei. Genug, es
herrscht der Grundsatz, dass wohlhabendere
Mitglieder mehr zahlen als ärmere. Ge>Äiss
war für diese Bestimmung der Wunsch
massgebend, eine grössere finanzielle Leis-
tungsfähigkeit der Innung zu erreichen.
Neu ist in dem Gesetze ferner die Be-
günstigung der Gesellenausschüsse.
Was in der Grossindustrie erst seit kurzem
Eingang gefunden hat, nämlich eine Vertre-
tung der Arbeiter in den Arbeiterausschüssen
(s. oben Bd. I S. 961), hat das Kleingewerlje
schon lange gekannt. Man hat es nicht als
unbillig erachtet, den Gesellen das Recht
einzuräumen, in gewissen ihre Verhältnisse
betreffenden Fragen sich zu äussern und
Wünsche verlauten zu lassen. Zu dem zur
Novelle von 1881 gehörenden Musterstatut
für Innungen wurde alsdann die Bildung
von Gesellenausschüssen zur Förderung eines
gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern
und Gesellen ausdrücklich empfohlen. In
der That scheint der Gedanke Anklang ge-
funden zu haben. Wenigstens konnte im
Jahre 1890 von der preussischen Regierung
konstatiert werden, dass in dem überwiegend
grössten Teile der genehmigten Inuungssta-
tuten Gesellenausschüsse vorgesehen waren.
Aber es macht fast den Eindruck, als ob
diese noch auf dem Papiere vorhanden ge-
wesen wären. Denn das Statistische Jahr-
buch deutscher Städte, das regelmässig auch
über die gewerblichen Innungen berichtet
(vgl. Pabst), erwähnt die Gesellenaussc-hüs>e
mit keinem Wort. Nacli einer mecklen-
burgischen Statistik hatten unter 437 Innun-
1 gen nur 56 einen GesellenaiLSSchuss, Nicht
weniger als 376 Innungen beriditeten, iLiss
ein Gesellenausschuss nicht gebildet sei,
da einerseits kein Bedürfnis hervorgetreten
wäre, r.ndererseits die Anzahl der beschäf-
Innungen
1355
tigten Gesellen eine zu geringe sei. Da-
gegen lässt sich aber einwenden, dass in
Mecklenbiu-g in 427 Innungen 7592 Gesellen,
d. h. diuxjhschnittlich in jeder 13 Gesellen
nachgewiesen sind. Wenn es nun 183 In-
nungen in Mecklenburg giebt, die noch
nicht 2910 Mitglieder aufweisen, dann kann
auch die obige Gesellenzahl nicht als zu
gering angesehen werden, um einen Aus-
schuss zu bilden. So liegt daher die Ver-
mutung nahe, dass man in Mecklenbtu^
für die Ausschüsse sich nicht recht zu er-
wärmen veimocht hat und in den übrigen
deutschen Ländern die Neigimg keine grossere
gewesen sein wird.
Nunmehr sind die Gesellenausschüsse
obligatorisch und ihre Aufgaben näher
specialisiert worden. Alle volljälirigen (21
Jalire alten) GeseDen, die von Innungsmit-
gliedern beschäftigt werden und im Besitz
cler bürgerlichen Ehreiu^chte sind, wählen
unter Leitung eines Mitgliedes des Innungs-
voi'standes den Ausschuss. Die Gewählten
können zur Ausübung ihrer Funktionen an-
gehalten werden. Kommt keine Wahl zu
Stande, verzichten also die Gesellen selbst
auf ihre Rechte, so findet eben keine Be-
teiligimg derselben an der Verwaltung der
Innungseinrichtungen statt. Es ist aber
kaum glaublich, dass die Gesollen auf die
Ausübung ihrer Rechte verzichten werden.
Darf doch z. B. der GesoUenausschuss auch
die Beisitzer zu den Prüfungsausschüssen
wählen. Mit dem Ausschuss werden die
Innungen also fortan zu rechnen haben.
Seine Beteiligung ist erforderlich 1. bei der
Regelung des Lehrlingswesens, 2. bei der
ErrichtungvouHerbergen, Arbeitsnachweisen,
Innungsschiedsgerichten, Kranken- und Un-
terstützungskassen, 3. bei der Verwaltung
dieser Anstalten und etwaiger Fachschulen,
sofern sie ihrerseits ebenfalls Beiträge füi*
deren Unterhalt zu zahlen haben, 4. muss
bei der Beratung und Beschlnssfassung des
Innungsvorstandes, d. h. natürlich nur bei
Beratungen über Verhältnisse, die die Ge-
sellen angehen, ein Mitglied des Gesellen-
ausschusses anwesend sein, 5. endlich
müssen bei der Beratimg und Beschluss-
fassung der Innungsversammlung die sämt-
lichen Mitglieder des Gesellenausschusses
mit voUem Stimmrecht zugelassen werden.
Eine bemerkenswerte Neuerung erscheint
weiter in der Einführung von Innungs-
inspektoren. Die Innungen sind befugt,
aus ihi'er Mitte Beauftragte zu wählen, die
die Ausfi\hrung des Gesetzes überwachen,
insbesondere von der Einrichtung der Be-
triebsräume und der für die Unterkunft der
Lehrlinge bestimmten Räume Kenntnis
nehmen sollen. Sollte es sich hierbei so
unglücklich ti-effen, dass die Geschäftsinte-
ressen durch eine derartige Einrichtung von
selten eines Benifskollegen voraussichtlich
beeinträchtigt werden würden, so kann an
die Stelle des Beauftragten der Innung ein
anderer Sachverständiger treten. Augen-
scheinlich ist diese Anordnimg der Erwä-
gung entsprungen, dass die ^yfitglieder der
Innung es gelegentlich bei der Einhaltimg
der gesetzlichen imd statutarischen Vor-
schriften an der nötigen Aufmerksamkeit
fehlen lassen könnten. Ein Misstrauensvotum
braucht man deswegen gleichwohl nicht
darin zu erblicken. Es ist vielmehr dieser
Paragraph dem ünfaUversicherungsgesetze
analog gebildet. In diesem ist ebenfalls
(§ 82) den Genossenschaften das Recht zu-
gesprochen, durch Beauftragte die Befolgung
der zur Verhütung von Unfällen erlassenen
Vorschriften zu überwachen.
Weniger fallen die anderen Reformen
ins Gewicht. Da sind z. B. nun auch die
»Arbeiter« der Innungsmitglieder, also die
ungelernten Hilfspersonen, an den Unter-
stützungskassen beteiligt und der Zuständig-
keit der Innungsschiedsgerichte unterstellt.
Ferner sind in Bezug auf die Vermögens-
venvaltung (§ 89 a, § 89 b) Vorschriften er-
lassen, die von dem Gedanken durchzogen
sind, dass bei der Vei*waltung fremder
Gelder, in diesem Falle das Vermögen
öffentlich-rechtlicher Korporationen , Vor-
sicht am Platze ist. So werden die Innun-
gen jetzt ihre Einnahmen und Ausgaben
von allen ihren Zwecken fi'emden Verein-
nahmungen und Verausgabimgen getrennt
festzustellen und ihre Bestände gesondert
zu verwahren haben. Auch bedürfen sie
der Genehmigung, der Aufsichtsbehörde,
wenn sie Grundeigentum erwerben oder
veräussern wollen oder Gegenstände, die
einen geschichtlichen , wissenschaftlichen
oder Kunstwert haben, verkaufen wollen.
Es ist sehr zu bedauern, dass eine derartige
Bestimmung nicht schon vor 20 Jahren er-
lassen wiu'de. Dann wären alle jene Doku-
mente aus Pergament, Trinkgefässe aus Silber
oder Zinn und sonstige auf die ruhmreiche
Vergangenheit der Zünfte Bezug habende
Stücke, die man jetzt vei'geblich bei den
Inniu)gen sucht, nicht so vielfach in un-
rechte Hände gekommen. Nur in Sachsen
hatte man nach dieser Richtung Vorkehrung
getroffen, indem eine Entscheidung des
sächsischen Ministeriums von 1886 anordnete,
dass im FaUe der Auflösung einer Innung
Gegenstände von historischem oder kunst-
gewerblichem Werte nicht verschleudert
werden sollten.
Dankenswert ist, dass in Bezug auf die
Iimungsschiedsgerichte grössere Klarheit er-
zielt ist. Wenn es überhaupt einmal als
zweckmässig anerkannt ist, die Entscheidung
gewerblicher Streitigkeiten, wie sie aus dem
Arbeitsvertrag hervorgehen, Laiengerichten
1356
Innungen
anzuvertrauen, so begreift sich die Wichtig-
keit, die man in Innungskreisen der Mög-
lichkeit eigener Rechtsprechung beüe^
Wunderbarerweise ist aber doch verhältnis-
mässig selten ihre Errichtung bis jetzt üb-
lich gewesen. Nach der Statistik der In-
nungen in Mecklenbiu'g vom Jahre 1895
hatten unter 437 Innungen nur 13 Schieds-
gerichte' ins Leben gerufen. In Breslau
waren 1895—1897 von 57 Innimgen niu: 12
Schiedsgerichte veranstaltet (Verwaltungs-
bericht der Stadt Breslau für die Jahre 1895
bis 1898 S. 614). Von 838 Innungen in
42 Städten, über die das Statistische Jahrbuch
deutscher Städte Auskunft giebt, hatten 1891
nur 16 Schiedsgerichte; 1894 von 865 In-
nungen in 41 Städten 89 ; 1895 von 934 In-
nungen 102. Man wird diese geringe An-
zahl kaiun als ein Zeichen grosser Fried-
fertigkeit ansehen dürfen, sondern mehr als
eine Folge der leider so oft zu Tage getre-
tenen Gleichgiltigkeit betrachten müssen.
Daher sind die Anordnungen, die jetzt dazu
bestimmt sind, die Einrichtung populärer zu
machen, durchaus willkommen zu heissen.
Den Beisitzern wird von jetzt ab eine Ver-
gütung ihrer baren Auslagen und eine Ent-
schädigimg für Zeitversäiunnis zugestanden.
Die Anberaumung des ersten Termins hat
innerhalb 8 Tage nach Eingang der Klage
zu erfolgen. Wird diese Frist nicht einge-
halten, so kann der Kläger sich an das be-
werbegericht oder, w'o ein solches nicht be-
steht, an das ordentliche Grericht wenden.
Endlich ist bestimmt, dass die Entscheidung
schriftlich abgefasst sein muss, wie es mit
der Vollstreckbarkeit des Urteils zu halten
ist u. dgl. m. Da alle diese Bestimmungen
darauf abzielen, das Verfahren klar zu stellen
und zu beschleunigen, so lässt sich fortan
eine häufigere und eifrigere Begründung von
Innungsschiedsgerichten erwarten (s. im Art.
Gewerbegerichte oben Bd. IV S. 4(X)).
4. Fach- oder gemischte I. Fiu* ge-
wöhnlich treten die selbständigen Gewerbe-
treibenden desselben Berufs zur BUdung
einer (Fach-) Innung zusammen. Es kommt
aber auch vor, dass Vertreter verschiedener
Hantierungen sich zu einer (gemischten) In-
nung vereinigen. Welche Form .die zweck-
mässigere sei, ist auf den Handwerker- und
Innungstagen (z. B. Beriin 1885, Köln 1886)
wiederholt Gegenstand der Erörterung ge-
wesen. Ja die Vorstandschaft des Allge-
meinen deutschen Handwerkerbundes wandle
sich im Frühjahr 1886 mit einer Denkschrift
über dieses Kapitel an das Reichskanzleramt.
Die Führer der Berliner Handwerkerbewe-
gimg sehen die gemischten Innungen mit
ungünstigen Augen an, während man in
Süd- und Westdeutschland mehr geneigt ist,
sie gelten zu lassen. Den gemischten In-
nungen wird nachgesagt, dass sie den In-
nungsaufgaben nicht ganz genügen. So
soUen sie es z. B. mit den Meisterprüfungen
vielfach leicht nehmen und mit dem Meister-
machen ein förmliches Geschäft betreiben.
Da kommen dann aus kleinen Städten Leute,
die eigentlich nichts Rechtes gelernt haben,
nach den grösseren Verkehrsplätzen und
täuschen hier das Publikum durch den er-
worbenen Titel. Indes, falls dieser Vorwurf
ein berechtigter sein sollte, ist dabei nicht
zu vergessen, dass in kleineren Orten andere
als gemischte Innungen oft gar nicht zu
Stande kommen können. Daher ist es wohl
richtiger, beiden Arten von Innungen Exis-
tenzberechtigung zuzugestehen und sie als
für den Handwerkerstand gleich nützlich
anzusehen. Wenn im allgemeinen die Fach-
innung als zunächst zu erstrebende Eimich-
tung vorschwebt, so kann doch auch die
gemischte Innung die diesen Verbänden zu-
gedachten Aufgaben lösen, ja vielleicht
manches Mal nachhaltiger, als die Faehin-
nung es vermag. An einem Orte mit llM
Handwerkern, die 20 bis 30 verschiedenen
Gew^erben angehören, kann immöglich jede
Innung eine eigene Lehrlingsschule eröffnen.
Eine gemischte Innung dagegen wird eher
für den Lehrlingsuntenicht überhaupt in
seinen verschiedenen Verzweigungen die
Mittel aufbringen können. Umfasst eine
gemischte Inmmg eine grössere Anzahl
kleinerer Ortschaften, so kann sie viel Gutes
stiften mid in manclien Fällen mehr, als
wenn sie in eine Reihe von Fachinnungen
zerfiele. Sie kann eine Herberge errichten,
die Durchreisenden unterstützen, eine Kran-
kenkasse eröffnen, das Lehrlingswesen über-
wachen etc., während eine Fachinnung, die
ihre Mitglieder in 12 bis 14 Ortschaften hat,
schliesshch doch nicht über Mittel genug
verfügt, um etwas Tüchtiges zu leisten.
5. Innangsausschüsse. Unter den In-
nungen selbst kann wieder eine weitere Ver-
bindung angestrebt werden. Zunächst ist
es den Innungen verschiedener Gewerbe an
demselben Orte bezw. innerhalb desselben
Aufsichtsbezirkes erlaubt , ein gemeinschaft-
liches Organ, den Innimgsausschuss zu ei-
richten. Diesem fällt die Vertretung der
gemeinsamen Interessen der an ihm betei-
ligten Innungen zu. Auch kann ihm die Losung
gewisser, in erster Linie den einzelnen In-
nungen obliegenden Aufgaben diutjh Wahr-
nehmung der entsprechenden Rechte und
Pflichten übertragen werden. So wird er
z. B. für das Schiedsgerichtswesen sorgen,
die Errichtung und Beaufsichtigung gemein-
samer Herbergen und Arbeitsnachweise in
die Hand nehmen können. Er ist femer
geeignet, die kommunalen Interessen der
Handwerksmeister kräftig in die Hand zu
nehmen und den in Innungen vereinigten
Handwerkerstand in richtiger Weise zur
Innungen
1357
Geltung zu bringen. Er wird sein Ansehen
steigern, venn es z. B. gelingt, Innungsge-
nossen zu Mitgliedern der Stadtverordneten-
versammlungen oder Beiräten der Magistrate
gewählt zu sehen. Dabei würden die In-
nungsfaehschulen am meisten Vorteil ziehen,
indem die Gemeindebehörden alsdann ver-
anlasst werden könnten, an die Fortbildungs-
schulen zugleich die Interessen der Fachin-
nungsschulen anzuknüpfen.
In Wirklichkeit ist bis jetzt von der
segensreichen Thätigkeit der Innungsaus-
schüsse wenig genug zu spüren gewesen.
In Preussen bestanden am 1. Dezember 1887
überhaupt 63 Innungsausschüsse, und 3 Jahre
später — 1. Dezember 1890 — war ihre
Zahl auf 133 gestiegen. Am 1. Dezember
1896 bestanden iil ganz Deutschland 139
Innungsausschüsse. Von 855 Innungen in
41 deutschen Städten mit 66 666 Mitgliedern
hatten sich (1894) Innungsausschüsseu ange-
schlossen 437 mit zusammen 40963 Mit-
gliedern; 1895 von 928 Innungen mit 73792
Mitgliedern 438 mit 40 298 Mitgliedern. Es
geht mithin ihre Bildung nur sehr langsam
vor sich. Den Grund dafür sehen die Iiand-
werker selbst darin, dass der Innungsaus-
schuss keine selbständige voi^setzte* Be-
hörde über die beteiligten Innimgen ist,
sondern sein Wirkungskreis durch das Mass
der ihm übertragenen Rechte bedingt ist.
Es hängt ganz davon ab, ob in den einzelnen
Innungen Männer sind, die den Nutzen
eines Innungsausschusses begreifen und
seiner Thätigkeit die richtigen Grenzen
stecken sowie Fähigkeiten und Zeit genug
haben, um als Mitglieder des Ausschusses
die schwierige Aufgabe zum Wohle der Ge-
samtheit lösen zu können. Der Centralaus-
schuss der vereinigten Innungsverbände
unterstützt die Gründung von Innungsaus-
schüsseu, indem er Normalstatuten un-
entgeltlich ausgiebt. Die Regierungsbehör-
den könnten gleichfalls manches zu ihrer
Ausbreitung thun, wenn sie, wie das könig-
liche PoHzeipi-äsidium in Berlin dem Ber-
liner Innungsausschusso gegenüber gethan
hat, von ihnen Gutachten über gewerbliche
Angelegenheiten einholen. Die Ausschüsse
würden auf diese Weise für die beteiligten
Innungen zu Autoritäten werden, deren Rat-
schläge in den entsprechenden Innungs-
kreisen Beachtung fänden. Die Novelle von
1897 hat an der Stellung der Innungsaus-
schüsse nichts geändert. Sie sind als frei-
willige Glieder beibehalten worden, und nur
insofern erscheinen auch sie bevorzugt, als
ihnen durch die Landescenti-albehörde juris-
tische Persönlichkeit beigeleg-t werden kann.
6. Innnngsverbände. Die zweite Mög-
liclikeit zu engerem Aneinanderschlusse ist
in den Innungsverbänden gegeben. Nach
§ 1 04 der Gew.-O. können die Innungen an
verschiedenen Orten ziu* gemeinsamen Ver-
folgung ihrer Aufgaben sowie zur Pflege
der gemeinsamen gewerblichen Interessen
der beteiligten Innungen zu Innungsverbän-
den zusammentreten. Sie sollen (nach der
Novelle von 1897) die Innungen, Innuugs-
verbände und Handwerkskammern in der
Verfolgimg ihrer gesetzlichen Aufgaben so-
wie die Behörden dimsh Vorschläge und
Anregimgen unterstützen. Ferner sind sie
befugt, den Arbeitsnachweis zu regeln imd
Fachschulen zu errichten. Auch kann in
ihrem Statut bestimmt werden, dass einzelne
Gewerbetreibende dem Innungsverbande ihres
Gewerbes mit den Rechten und Pflichten
der Mitglieder der ihm angehörenden In-
nungen beizutreten berechtigt sind. Die
vorteilhafte Seite dieser Vereinigung zeigt
sich darin, dass auf diese Weise fiir gewerb-
liche Zwecke reichlichere Mittel zur Ver-
fügung stehen und eine grössere Operations-
basis geschaffen wird. Manche Einrichtung,
die die Innung nur unvollkommen schaffen
kann, vermag der Innungsverband in geeig-
neter Weise herzustellen, wie Kranken- und
Sterbekassen. Wo die Kraft der Innimg
nicht ausreicht, energisch durchzugreifen,
wie z. B. im Legitimationswesen der Ge-
sellen, kann der Innungsverbaud durch gleich-
massiges, einheithches Vorgehen mehr leisten.
So hat z. B. der Bäckerverband »Germania«,
der 860 Städte umfasst, die Lehrlingsprüfung
obligatorisch gemacht. Das Herbergswesen,
der Arbeitsnachweis, die Wandenmter-
stützung, die Regulienmg des Ijclirlings-
wesens, die Eröffnung von Schiedsgerichten
sind würdige Gegenstände der Fürsorge der
Innungsverbände. Die bis jetzt errichteten
Inn ungsverbände sind entweder territorial
abgegrenzt oder lunfassen bestimmte Ge-
werbe bezw. Gruppen derselben. Ersterer
Art ist z. B. der am 7. Oktober 1885 ge-
gründete Erzgebirgisch -Vogtländische Be-
zirksverband und der am 18. Januar 1888
genehmigte Sächsische Innungsverband, der
zur Zeit 296 Innungen mit 12000 Mitglie-
der umfasst. Die Fachinnungsverbände er-
strecken sich nach der Zeit ihrer Entste-
hung geordnet auf folgende Gewerbe in
ganz Deutschland: Im Jahre 1884 tra-
ten ins Leben Verbände für 1. Schneider,
2. Schuhmacher, 3. Sattler, Riemer und
Täschner, 4. Schmiede, 5. Schornsteinfeger,
6. Barbiere, Friseure imd Perrückenmacher,
7. Tischler, 8. Glaser, 9. Perrückenmacher
und Friseiu^ ; im Jahre 1885 für 10. Bäcker,
11. Dach-, Schiefer-, Blei- und Ziegeidecker,
12. Buchbinder, 13. Fleischer, 14. Bauge-
werksmeister, 15. Klempner, 16. Kürschner,
17. Stellmacher und Wagner; im Jahre 1886
für 18. Drechsler, 19. Tai^zierer, 20. Korb-
macher; im Jahre 1887 für 21. Böttcher,
22. Schlosser, 23. Maler; im Jalire 1889 für
1358
lunungen
24. Steinsetzer ; im Jahre 1890 für 25. Färber
und verwandte Gewerbe. 1896 bestanden
im Reiche 19 grosse und 8 kleinere In-
nungsverbände. Wieviel Innungen mit wie-
viel Mitgliedern zu dem einzelnen Verbände
gehören, entzieht sich leider unserer Kennt-
nis. Ifach einer gelegentlichen Mitteilung
auf dem ersten deutschen Innungstage in
Berlin 1885 umfassten die damals vorhan-
denen Verbände eine Mitgliederzahl von
über 80000 Personen. Wie es scheint, giebt
es ausserdem noch in einzelnen Staaten In-
nungsverbände einzelner Gewerbe, z. B. der
Schlachter, der Eisen- und Stahlgewerksin-
nungen etc., die nicht als üuterverbände
der allgemeinen Innungsverbände, sondern
selbständig für sich bestehen. Dass auch
an diesen Verbänden die Beteiligung keines-
wegs eine allgemeine ist, zeigt z. B. Breslau,
wo von 59 Innungen (1895 bis 1897) sich
24 an einen Innungsverband angeschlossen
hatten.
7. Ausbau des Innungswesens. Unter
den auf die Ausgestaltung des heutigen
Innungswesens verlauteten Wünschen ist zu
bemerken, dass der Beitritt der Innungen
zu den Innungsverbänden obligatorisch
gemacht werden soll. Sie allein soUen es
sein, die verbindliche Vorschriften über
Lehrlings- und Gesellenwesen ihrer Gewerbs-
branche erlassen dürfen. Insow^eit für einHand-
werk kein Fachinnungsverband besteht, soll
der Bundesrat die Gnmdsätze für das Lehr-
lings- und Gesellenwesen zu bestimmen
haben. Weiter werden verlangt Innungs-
kammern (vergl. den Artikel Hand-
vrerk oben Bd. IV S. 1097 ff .) und ein
Reichsinnungsamt. Nach den An-
schauungen der Berliner Handwerkerkreise
soll das letztere die Oberaufsicht über die
gesamten Einrichtungen der Innungsverbände
ausüben. Es soll der technische Beirat in
allen Innungs- und Handwerkerangelegen-
heiten werden, die Hebung des höheren
Fachschulwesens befördern und die schieds-
gerichtliche Rekursinstanz in allen bei der
Innungs- oder Handwerkerkammer anhängig
gemachten Streitigkeiten bilden. Der Sitz
des Reichsinnungsamtes soll Berlin sein;
seine Verwaltimg w- ürde einem Staatsbeamten
obliegen, aber der Schwerpunkt und die
Entscjheidung in den einzelnen Funktionen
des Amtes würde bei den praktischen Bei-
sitzern und Decernenten zu suchen sein, die
von den deutschen Innungsverbänden auf
ihren Delegiertentagen gewählt würden. Die
Kosten des Reichsinnungsamtes hätte das
Deutsche Reich zu tragen. Man kann nicht
sagen, dass alle diese Ideeen anstandslos auf
den \ ersammlungen der Handwerker gut-
geheissen sind. Der Handwerkertag von
1892 hat sich auf eine Erörterung über
obligatorische Ausschüsse und Verbände
nicht eingelassen, und das projektierte Reichs-
innungsamt wurde schon seiner Zeit (1885
auf dem Berliner Innungstage) von dem
Korreferenten abgelehnt. Wenn auch die
auf die Einrichtimg des letzteren und die
Eröffnung von Handwerkerkammem bezüg-
lichen Resolutionen die Zustimmung der
Versammlung schliesslich erfuhren, so beweist
doch die in diesen Kreisen selbst auf-
tauchende Opposition, wie wenig lebensfähig
diese Neuerung höchst wahrscheinlich sein
würde. Sicher würde das Reichsinnungs-
amt eine so schwierige als undankbare Auf-
gabe haben und es den Innungen niemals
recht machen können. Ein Zwang aber bei
den Ausschüssen und Verbänden rechtfertigt
sich so wenig als bei der Innung den Hand-
werkern gegenüber.
8. Statistik der I. Nach einer auf dem
Handwerkertage in Kosen (1886) ausge-
sprochenen Vermutung sollen etwa ^ lo
des gesamten deutschen Handwerkerstandes
Innungen angehören. Richtiger wird es
wohl sein (P. Voigt, Sehr. d. V. f. Sozialp.
70, S. 663, H. Böttger, Gesch. u. Kriük
S. 291), anzunehmen, dass einige 20 Prozent
aller Handwerksmeister seither in Innungen
organisiert waren. Dabei ist die Zahl der
Innungsmeister (nach einer dankenswerten
Mitteilung des Reichsamtes des Innern) im
Jahre 1890 auf 321219 angenommen. Fest
steht soviel, dass in Noradeutschland der
Innungsgedanke mehr Anhänger findet ab«
in Süddeutschland. Wie denn z. B. 1886
auf dem bayerischen Handwerkertage in
Augsburg von dem Reichstagsabgeordaeten
Biehl, dem man ein Urteil über die Lage
zutrauen darf, behauptet wurde, dass man
in Bayern mit der Büdung von Innungen
noch im ersten Stadium begriffen sei. Wie
weit die Neigung der selbständigen Hand-
werker reicht, sich den Innungen anzu-
schliessen, zeigt die lehrreiche von Dr. Pabst
mitgeteilte Statistik im Jahrbuch deutscher
Städte (VI. S. 24 f.). Damach waren in 3i>
Städten in jenen 70 Gewerben, die nach der
Vorlage des Bundesrates für die Bildung
von Innungen in Betracht kamen, 197 739
selbständige Handwerker ermittelt, von denen
62485 Innungsmeister waren, d. h. 31,6 ^o.
In norddeutschen Städten (ohne Rheinland)
berechnet sich die 2^1 der Selbständigen
auf 135122, der Innungsmitglieder auf
52091, d. h. 38,6®/o der ersteren; d^^egen
ergeben sich in den süddeutschen S^ten
(mit Rheinland) 62617 Selbständige imd
10394 Innungsmitglieder, d. h. 16,6 ®/o der
ersteren. Im einzelnen zeigt sich folgendes
Bild. Es betrug die Zahl der
Innungen
1359
Selb- Innungs-
ständigen. mitglieder.
1895
Norddeutsche Städte
Königsberg .
Danzig . . .
Berlin . . .
Charlottenburg
Stettin . . .
Breslau . .
Magdeburg .
Halle a. S. .
Altona . . .
Hannover . .
Dortmund
Dresden . .
Leipzij^ . .
Chemnitz . .
Braunschweig
Lübeck . . .
Bremen . .
Hamburg . .
Frankfurt a. M
Düsseldorf
Elberfeld
Barmen
Krefeld
Köln .
Aachen .
München
Nürnberg
Stuttgart
Mannheim
Strassburg i. E
3750
2765
46900
2 144
3 934
9822
5063
2 866
3725
5 220
1856
8865
9036
4124
2971
I 810
4132
16 139
1805
1 253
16808
324
2 100
4179
2516
1340
1464
2153
6io
3967
2848
2433
1484
677
1274
4846
Süddeutsche Städte
6586
4065
5039
4562
5846
8040
2834
10863
5378
4350
2923
2 131
600
648
854
534
977
1 670
461
2 108
1836
460
56
190
.0
48,1
45,3
35,9
15,1
534
42.6
49J
46,8
39,3
41,2
32,9
44,8
31,5
59,0
50,0
37,4
30,8
30,0
9.1
15,9
17,0
11,7
16,7
20,8
16,3
19,4
34,1
10,6
^9
8,9
Wie sich im Laufe der Jahre seit 1888
und 1890 bis kurz vor der Reform die Be-
wegung gestaltete, ergiebt die nebenstehende
Tabelle (nach P. Voigt, H. Böttger und den
Angaben des Reichsamtes des Innern). Sie
erweist, dass in Preussen sich während des
genannten Zeitraumes eine kleine Vermeh-
rung der Innungen und ihrer Mitgüeder
zeigte, im übrigen Deutschland die Zahl der
Innungen zurückging, die ilu^r Mitglieder
nur wenig anwuchs. Unwillkürlich di-ängt
sich die Ansicht auf, dass die ganze Re-
oi-ganisalion des Innungswesens in einer
sehr innigen Verbindung mit der Politik,
insbesondere klerikalen und konservativen
Strömungen, steht. Ob das zum Vorteil des
Kleingewerbes ausschlägt, muss bezweifelt
werden.
Wie speciell in Preussen sich die Be-
wegung gestaltet hat, zeigt die folgende Auf-
stellung: es gab in Preussen
1878
1888
1896
Innungen
6018
7424
7940
Mitglieder
c. 150000
219758
224 956
Auf 1 Innung
Mitglieder
24,2
29,7
28,3
Lehrreich wäre es auch^ sich vergegen-
wärtigen zu können, wie weit die neue Or-
ganisation, die bis zum 1. April 1899 abge-
schlossen sein sollte, die bisherigen Verhflt-
nisse geändert hat. Leider ist aber über die
Durchiührung derselben noch wenig zuver-
Regierungs-
bezirke
Zahl der
Innungen
1890 i 1896
Zahl der Mit-
glieder aller
Innungen
am
1. XII.
1890
1) Königsberg
2) Gumbinnen
H) Danzig . .
4) Marienwerder
5) Potsdam .
6) Frankfurt a.O
7) Berlin .
8) Stettin .
9) Cöslin .
10) Stralsund
11) Posen .
12) Bromberg
13) Breslau .
14) Liegnitz
15) Oppeln .
16) Magdeburg
17) Merseburg
18) Erfurt .
19) Schleswig
20) Hannover
21) HUdesheim
22) Lüneburg
23) Stade .
24) Osnabrück
25) Aurich .
26) Münster
27) Minden .
28) Arnsberg
29) Cassel .
30) Wiesbaden
31) Koblenz
32) Düsseldorf
33) Köln. .
34) Trier .
35) Aachen .
36) Sigmaringen
Preussen
Staaten:
1) Bayern . .
2) Sachsen. .
3) Württemberg
4) Baden . .
5^ Hessen . .
6) Mecklenburg-
Schwerin
7) S.-Weimar .
8) Mecklenburg-
Strelitz .
9) Oldenburg .
10^ Braunschweig
11) S.-Meiningen
12) S.-Altenburg
13) Sachs.-Coburg-
Gotha . .
14) Anhalt . .
15) Schwarzburg-
Sondershaus
16) Schwarzburg-
Budolstadt .
17) Waldeck und
Pyrmont .
521
227
136
299
719
581
70
286
227
133
488
335
S18
475
485
191
546
135
356
70
152
171
26
19
24
44
58
95
77
29
48
127
49
23
32
528
231
140
291
708
603
68
353
230
136
542
240
594
481
502
201
587
120
360
83
148
174
29
21
27
46
56
99
84
24
48
lOI
48
17
20
10422
4783
3619
7564
18265
12886
17972
8239
5 574
2005
12 071
5 335
19938
12 016
14487
6559
II 847
3560
9145
3571
3800
3280
679
599
634
2946
1928
4 737
2228
1338
1555
6615
2474
614
I 864
1896
10666
4869
4015
7485
18941
13 106
18359
8306
5677
2669
11 827
5 222
19932
12 231
14768
7521
II 837
3064
8834
4052
3809
3 146
709
679
667
2773
1771
5089
2083
1279
1085
5233
2340
531
781
7823
1888
198
1268
28
31
29
544
80
83
23
129
72
81
105
165
20
25
II
7940
1893
226
1283
29
30
33
434
89
74
33
138
65
58
98
130
23
27
II
226 049 224 956
1888
1893
II 114^)! II 009
55614 I 53865
I 112
1063
1247
8059
1650
I4I7
I 161
3164
«430
I6I3
2354
3271
321
438
259
I 121
940
I 177
8 102
1867
I 121
1275
4 533
1086
I 246
2506
3240
361
426
141
*) Einschliesslich der Mitglieder von 42 nicht
reorganisierten Innungen.
1360
Innungen — Invaliilitäts- und Altersversicherung
Zahl der Mit-
•
Zahl der
glieder aller
Staaten
Innungen
Innungen
•
am
1
1. XII.
1893
1888
1893
1888
18) Beuss alt. L.
19) Reuss jüng.L.
31
25
2506
2222
i8
23
1937
1973
20) Schaumburg-
Lippe . . .
4
6
40
311
21) Lippe . . .
9
9
179
165
22) Lübeck . . .
22
24
716
742
23) Bremen . . .
24
31
I 175
1315
24) Hamburg . .
28
29
4258
5208
Deutsches Reich .
10463
10881
325 786»)
331364*^
lässiges Material ans Tageslicht gekommen.
Nach dem HandwerkerkaJender für Baden
waren dort unter 34 Innungen (1900) mit
1338 Mitgliedern 6 Zwangsinnungon mit 125
Mitgliedern, 4 weitere in Bildung begriffen.
Im ganzen weist Baden 386 Vereinigungen
mit 20775 Mitgliedern auf. Davon gehören
zum Gewerbevereinsverband 176 mit 13297
Mitgliedern, zum Handwerkerverband (da-
runter die Zwangsinnungen) 137 mit 5173
Mitgliedern. 73 Vereine mit 2305 Mit-
gliedern stehen für sich da.
Im Königi-eich Sachsen war am 1. April
1899 das Verhältnis das folgende:^)
Bestehende l^.?_i^i^^_^
Zwangs-
Kreishaupt
mann-
Schäften
Zwickau .
Dresden .
Leipzig
Bautzen .
Königreich
Innungen
34
75
38
15
begriffene
Freie
Zwangs-
Innungen
innungen
105
321
30
148
50
142
22
96
162
207
707
Die meisten Zwangsfachinnungen finden
sich im Bäckereigewerbe (37), dann folgen
die Schneider (21), Schuhmacher (18). Tischler
(12), Schlosser (7), Klempner und öchmiede
(15). Die übrigen Gewerbe sind nur ver-
einzelt vertreten.
In Hamburg sind (1899) von 28 Innungen
23 Zwangsinnungen und 5 freie. In allen
zusammen beläuft sich die Mitgliederzahl
auf 8641 gegen 4848 am Schlüsse des Jahres
1898. Diese starke Zunahme ist darauf zu-
rückzuführen, dassin den 23 Zwangsinnungen
die Mitgliederzahl sich nahezu verdoppelte.
Dagegen sind in Bremen die Tischlei-,
Schlosser- und Drechslerinnungen mit ihren
bezüglichen Antiilgen auf Bildung von
Zwangsinmmgen abgewiesen worden, ohne
M Preussen 1888 mit 7428 Innungen und
219 758 Mitgliedern gerechnet.
-) Peussen mit dem Stande von 1896 ge-
rechnet.
*) Allgem. Handwerkerzeitung XVII, S.
302303,
dass zu einer Abstimmung geschritten wäre.
Man hat darauf hingewiesen, dass durch
andere Einrichtimgen als diejenige einer
Innung, wie Zeichenschule, Technikum,
Gewerbemuseum, Gewerbe- und Industrie-
verein für die Wahrnehmung der gemein-
samen gewerblichen Interessen der betreffen-
den Handwerker ausreichende Fürsorge ge-
troffen sei.
lieber die gewerblichen Genossenschaften
in Oesterreich vergl. den Art. Gewerbe-
gesetzgebung oben Bd. IV, S. 4o0ff.:
über das materielle Recht der Innungen im
Deutschen Reiche, ebenda S. 419 ff., 433 ft;
über die hof rechtlichen und älteren Innimgen
vergl. den Art. Zunftwesen.
Litteratnr : Ausser den im Art, Ha ndwerk oben
Bd. IV, S. IIISJI4 gegebenen Ndchtceisen, nament-
lich: Ein Wort über principielle Reform
der deutschen Gew.-O. Von der hamburgischen
Gewerbekammer, 1878. — Cirkular an samt'
liehe königl. Regierungen und Landdrosteienj
betreffend die Anregung zur Errichtung n^n
Innungen, 1879. — V, Böhmertf Das deutsche
Handwerk und die Zioangsinnungen, 1896. —
Oraetzer, Zur Statistik der Innungen, in
Bayerische Handelszeitung 1895, S. J^lff. —
Kotze, Die Neubeltbung der Innungen auf der
Grundlage der Gcw.-O., 1880. — Landgraf,
Zur Innungsfmge in Badest, 1880. — Ijöhner^
Wie das de^ctsche Kleingewerbe über die Innungs-
frage und die Reform der deutschen Gew.-O. denkt,
1879. — A. Lehren, Die Wiederherstellung der
Innungen., 1880. — Nettgeboren, Zwangs-
genossenschaften und Gewerbekammern, 1880. —
A, Quarckf Handwerk, ZünßUrtum und Sozial-
demokratie, 1896. — E. Riehter, Gegen die
Zwangsinnungen, 1896. — WUh, Stteda, Litte-
ratur, betreffend die Innungsfrage in Jahrb. f.
y^at. u. Stat., X. F. ^, S. 27S—t8£. — X»er-
selbe, Die Innungsenquete, in Jahrb. f. Xat. u.
Stat., S. F., 12, S. Iff. — Stolp, Das Innungs-
wesen und die gewerbliche Arbeiterfrage, L^SO.
— Allgemeine Handwerkerzeilung 1891, Ar. -^,
28, — Ergebnisse der Erhebftngen über die
Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen und Fabrik-
arbeiter. — Handwerkerkalender ßlr Baden,
1899, 1900. — Jahresberichte der hamburgischen
Gewerbekammer, 1896 — 1899. — Paul Voigt,
Die deutschen Innungen, in Jahrb. f. (»>*., 2*-'.
S. 341 ff. — Derselbe f Die neuere deutsche
Hayid Werkergesetzgebung, im Arch. f. soz. Ges. 11,
S. 89 — 87. — Vergl. auch die Litteratui beim
Art. Ge w erbe gesetz gebung oben Bd. IV,
S. 440. WUh. Stfeda.
Internationale
s. Sozialdemokratie.
Invalidenversicheranp (Invaliditäts*
und Altersversicherong)
in Deutschland.
1. Einleitung (Sozialpolitik). 2. Geschiebte,
3. Umfang der Versicherung. 4. Organisation.
5. Gegenstand der Versichenmg. 6. Besondere
InvaliditÄts- und Altersversicherung
1361
Voraussetzungen des Anspruchs, a) Beitras^-
leistung. b) Wartezeit. 7. Berechnung der
Renten. 8. Beiträge und Belastung. 9. Er-
hebung der Beiträge. 10. Verfahren.
1. Einleitiing (Sozialpolitik). Durch
die Allerhöchste Botschaft des in Gott
ruhenden Kaisers Wilhelm I. vom 17.
November 1881 wurde das Programm für
eine Reihe von Gesetzen veröffentlicht, durch
welche »auf dem Wege positiver Förde-
rung des Wohles der Arbeiter die
Heilung der bestehenden sozialen
Schäden gesucht« werden sollte, um
»dem Vaterlande neue imd dauernde Bürg-
schaften seines inneren Friedens und den
Hilfsbedürftigen grössere Sicherheit und
Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie
Anspruch haben«, zu gewährleisten. Dies
soDte zunädist in der Weise geschehen, dass
den auf ihre Handai-beit angewiesenen Volks-
klassen für diejenige Zeit, in welcher ihre
meist einzige liwerbsqueUe, die körper-
liche Arbeitskraft, wegen körper-
licher Mängel versagt, eine unbe-
dingt sichere finanzielle Fürsorge zugewendet
wurde, durch welche dem Eintreten der
Hüfsbedürftdgkeit und der dadurch bedingten
öffentlichen Armenpflege, die ja erst einzu-
treten hat, nachdem alle Hilfsmittel völlig
erschöpft sind, vorgebeugt werden sollte.
Konnte auch diese Fürsorge, wenn sie die
Leistungsfähigkeit nicht übersteigen und
dadurch unausführbar werden sollte, bei der
Häufigkeit ihres Eintretens zunächst nur in
massigem Umfange gewährt werden, so war
sie doch gerade wegen ihrer unbedingten
Sicherheit unendlich wertvoll und jeden-
falls eine erhebliche Verbesserung der be-
vstehenden Zustände, die um so mehr wog,
als sie von dem jiuigen Deutschland vor
allen Kultiurstaaten zuerst vei-sucht wurde.
Man durfte annehmen, dass die solcherge-
stalt begründete Zuversicht, beim Nachlassen
der Arbeitskraft nicht dem Elende oder der
öffentlichen Mildthätigkeit anheimzufallen,
der Arbeiterbevölkenang eine ihrer drückend-
sten Sorgen abnehmen und sie mit den diese
Fürsorge gewährleistenden Staatseinrichtun-
gen, der jetzigen Gesellschaftsordnimg, zu-
friedener machen wüixie. Jedenfalls erfüll-
ten der Staat und die besitzenden Klassen
eine soziale Pflicht, wenn sie durch geeignete
Massregeln der Not der zahlreichen Mitglieder
der ärmeren Klassen vorzubeugen und nach
Kräften dahin zu streben suchten, dass die
Wünsche der Arbeiter auf Fürsorge bei Er-
werbsunfähigkeit, soweit diese Wünsche als
berechtigt anerkannt werden mussten, im
Rahmen des Möglichen erfüllt wurden. Die
in dieser Richtung erlassenen Gesetze, die
>^ Arbeiter versieh er ungs geset ze « , bilden
neben den auf den Schutz der Arbeiter
wälirend ihrer Berufsai'beit erlassenen be-
sonderen Gesetzen, den sogenannten »Ar-
beiter schütz gesetzen«, die vorzugsweise in
der Gewerbeordnung und den dazu erlasse-
nen Ausführungsbestimmungen ihren Piatz
gefunden haben, einen wichtigen Teil unserer
»sozialpolitischen« Gesetze. Diejenigen Be-
strebungen, welche die bezeichneten Zwecke
verfolgen, versteht man vorzugsweise unter
dem Ausdruck Sozialpolitik.
Nach ihrem Zweck, beim Versagen der
Arbeitskraft Subsistenzmittel zu gewähren,
richteten sich die Yersicherungsgesetze zu-
nächst auf eine Fürsorge bei (vorübei'gehen-
den) Krankheiten und bei* im Berufe (im
Betriebe) erlittenen Unfällen. Aber schon
die eingangs erwähnte kaiserliche Botschaft
vom 17. November 1881 nahm eine weitere
Fürsorge in Aussicht: »auch diejenigen,
welche durch Alter und Invalidität er-
werbsunfähig werden, haben der Gesamtheit
gegenüber einen begründeten Anspruch auf
ein höheres Mass staatlicher Fürsorge, suis
ihnen bisher hat zu teil werden können.«
Alle diese Massregeln benihen auf dem
Grundsatze der Versicherung, welche
sich freilich von der privatrechtlichen,
freiwillig eingegangenen und den Regeln
des Civilrechts folgenden Versicherung
in melirfacher Beziehung, insbesondere
durch ihren öffentlichrechtlichen Charakter,
unterscheidet: sie beruhen ferner auf dem
Grundsatze des Versicherungszwanges,
weil nach den bisherigen Erfahi-ungen auf
eine dem Bedürfnis genügende freiwillige
Beteihgimg unmöglich gerechnet werden
konnte und weil das zu schützende Literesae
der Gesamtheit eine imafassende, allen Be-
teiligten zukommende Fürsorge erforderte.
Jene Massregeln beruhen endlich auf dem
G rundsatze einer VerteilungderLasten,
insbesondere einer Heranziehimg der Ver-
sicherten selbst zu Beiträgen für die
Gesamtheit der ihnen gewährten Fürsorge,
wenn auch die Beitragsleistung bei den ein-
zelnen Einrichtungen verschieden gestaltet
werden musste. Die Krankenversiche-
rung erfolgt zu 1 3 auf Kosten der Arbeit-
geber, zu ^;3 auf Kosten der vereicherten
Arbeitnehmer. Die Unfallversicherung
erfolgt auf aUeinige Kosten der Arbeitgeber,
soweit sie nicht in die Krankenversicherung,
zu welcher beide Teile beitragen, entfällt;
letzteres ist nur hinsichtlich der kleinereo,
in ihren Folgen schon nach wenigen Wochen
beseitigten Unfälle, welche zwar der Zahl
nach weit übei'>\iegen , hinsichtlich ihres
finanziellen Belastungswertes aber durchaus
zui-ücktreten, und bei schwereren Verletzun-
gen nur hinsichtlich der ersten 13 Wochen
\ der Fall. Infolge dieser Verteilung ruht die
Gesamtlast der Unfallversicherung über-
wiegend auf den Schulteni der Arbeitgeber ;
so entfallen z. B. bei industriellen Betrieben
Handwörterbnch der Staatswifisenschaften. Zweite Auflage. lY.
86
1362
Invaliditäts- und Altersversicherung
auf die Krankenkassen etwa 16 ^/o , auf die
besonderen Einrichtungen für die Unfallver-
sicherung aber nicht weniger als 84 ®/o der
gesamten ünfallbelastung. Die Invaliden-
versicherung (Invaliditäts- und Alters-
versicherung) endlich erfolgt je zur Hälfte
auf Kosten der Arbeitgeber und der ver-
sicheiten Arbeitnehmer, jedoch mit der
Massgabe, dass das Reich zu jeder Rente
einen baren Zuschuss von 50 Mark jährlich
gewährt. Eine Witwen- und Waisen-
versicherung steht im allgemeinen noch
aus, wenngleich bei Unfällen, die den Tod
herljeigeführt Tiaben, den Witwen imd Wai-
sen eine Hinterbliebenenrente zu gewähren
ist und beim Tode eines gegen Invalidität
versicherten Arbeiters seinen Hinterbliebenen
unter Umständen die Hälfte der für den
Verstorbenen entrichteten Beiti-äge zurück-
zugewähren ist. Im übrigen -würden die
Kosten einer auch nur geringfügigen Wit-
wen- und Waisenversichenmg sich so hoch
steUen (nach neuesten Berechmmgen auf
86 % der Kosten der Invalidenversicherung),
dass schon aus diesem Grunde einstweilen
von Durchführung einer solchen Versiche-
rung abgesehen werden muss.
Es Hegt auf der Hand, dass die
Kranken-, die Unfall- und die Invalidiläts-
und Altersversicherung nicht gleichzeitig
ein- und durchgeführt werden konnten;
dazu waren die Aufgaben zu verschieden-
artig, zu neu und schwer und ihre Durch-
fühnmg von zu einschneidender Wirkung
in administrativer und finanzieller Beziehung.
Man durfte vielmehr niu* schrittweise vor-
gehen, und vollständig sind die gesteckten
Ziele auch bis heute nicht en-eicht. Zunächst
wurde die Ki-ankenversicherimg , dann die
UnfaUversichenmg in der Hauptsache, zu-
letzt die Invaliditäts- und Altersvereicherung
geregelt. Es besteht aber nicht etwa eine
besondere Invaliditäts- und eine beson-
dere Altersversicherung, sondern die Ver-
sicherung ist derart eingerichtet worden,
dass sie beide, Invalidität und
Alter, gleichzeitig erfasst. Dabei
überwiegt weit die Versicherung gegen Inva-
lidität; wenn auch infolge der üebergangs-
bestimmungen in den ersten Jahren melir
Alters- wie Invalidenrenten zu bewilligen
waren, so hat sich das doch schon jetzt ge-
ändert, und in weiterem Verlauf wird die
Altersversicherung mit nur etwa 10 ^/o der
Gesamtlast an diesem Zweige der Versiche-
rung beteiligt sein. Um diese überwie-
gende Bedeutung der Invaliditäts Versicherung
besser als bisher auch äusserlich zu kenn-
zeiclmen, ist in der neuesten Novelle an die
Stelle der Bezeichnung »Invaliditäts- und
Altersversicherung« das Wort »Invalidenver-
sicherung^ gesetzt worden.
Das Ausland ist in diesen Beziehungen
weit zurück. Nur wenige Staaten (insbe-
sondere Oesterreich-Ungarn imd Norwegen)
haben neuerdings eine Unfallversichenuig
eingerichtet ; eine Invaliditäts- und Altersver-
sicherunff aber besteht nur in Deutsch-
land, iöier aber sind seither schon mehr
als Vs Milliarde an Invaliden- und Alters-
renten ausgezahlt worden.
2. Geschichte. Die auf der Grun<llage
eines allgemeinen gesetzlichen Zwanges ge-
regelte Invaliditäts- und Altersversichenmg
hat in Deutschland oder in anderen Staaten
keinen Vorgang. Nachdem die Kranken- und
die Unfallversichenmgsgesetze in der Haupt-
sache durchgeführt waren, wurden am 17,
November 1888, dem Jahrestage der denk-
würdigen Botschaft vom 17. November 1881.
zunächst »Grundzüge« verc^ffentlicht, sodann
ein Gesetzentwurf schon im Januar 1889
dem Reichstage vorgelegt imd von diesem
am 24. Mai 1889 mit manchen Aendenuigen
angenommen. A m 22. Juni 1889 ist d a >
Gesetz, betreffenddielnvaliditäts-
und Altersversicherung, Allerhöchst
vollzogen worden (R.G.Bl. S. 97) und am
1. Januar 1891 seinem vollen Umfange nach
in Kraft getreten. Drei deutsche Kaiser
haben dem Zustandekommen dieses schwie-
rigen Gesetzes ihre Kräfte gewidmet ; Kaiser
Wilhelm I. hat die »Gnmdzüge«, Kaiser
Friedrich III. die Vorlegung des Gresetz-
entwurfs an den Bundesrat genehmigt,
Kaiser Wilhelm IL endlich hat das Ge-
setz, nachdem er sein lebliaftes Interesse
an dessen Zustandekommen wiederholt nach-
drücklich dargelegt hatte, AUerhöchst voll-
zogen.
Bei der Neuheit und Schwierigkeit der
Materie konnte es nicht überraschen, dass
sich in der Praxis sehr bald das Bedürfnis?
nach einzelnen Abänderungen des Gesetzes
geltend machte. Insbesondere war es der
Umstand, dass einzelne Träger der Ver-
sicherung (Versicherungsanstalten), in dei^n
Bezirken die Wanderlust und der Trieb
den ffrossen Städten und nach dem
zu
Westen sich besonders nachteilig geltend
machten, infolge dieser, von ihrem eigenen
Verhalten unabhängigen Umstände ausser-
oi'dentlich viel mehr Renten zu gewähren
hatten als andere insbesondere grossstädtische
und industrielle Anstalten. Hieraus hätte
sich notwendig eine sehr erhebliche Ver-
schiedenheit dei Beiträge ergeben müssen:
während Berlin und Hansestädte in der
zweiten und dritten Beitragsperiode (nai,'h
dem G. v. 22. Juni 1891 sollten die Beiträge
nach bestimmten Perioden (zuerst 10. dann
je 5 Jahre) zur Deckung der in diesen
Perioden voraussichtHch entstehenden Be-
lastung im voraus berechnet und dabei jedes
Mal Ueberschüsse und Fehll)eträge der bis-
herigen Perioden angerechnet werden) fast
Invalidiläts- und Altersversicherung
1363
nichts an Beiträgen hätten zn erheben ' darf u. a. auf den in diesem Werke bereits
brauchen, würde Ostpreussen, wo obige früher veröffentlichten besonderen .Artikel
Ar beiter Versicherung (Allgemeines)
oben Bd. I S. 607 ff. verwiesen werden.
3. Umfang der Versicherung. Im
Gegensatz zu den übrigen sozialpolitischen
Gesetzen ergi*eift das Invalidenversiche-
Verhältnisse sich am schlimmsten geltend
machten, das 2^'2 fache seiner bisherigen
Beiträge haben erheben müssen. Dies hätte
nur zu einer weiteren, für die bedrängten
Bezirke noch ungünstigeren Yerschiebung
der Bevölkerungs Verhältnisse führen kön nen, ningsgesetz gleich von vornherein
musste also durchaus vermieden werden, die ganze Arbeiterschaft aller Beruf s-
Das Gesetz bot für solche zwar schon eine
Möglichkeit der Abhilfe, indem es gestattete,
durch anderweite dem Bundesrat freigestellte
Abgrenzung der einzelnen Yersicherungs-
träger, insbesondere durch eine Zusammenle-
gung der Versicherungsanstalten zu grösseren
Anstalten, eine Ausgleichung herbeizu-
führen. Dieser Weg ei-schien aber insbe-
sondere um deswillen misslich, weil die
neuen Anstalten dann vielleicht zu gross
und schwerfällig geworden wären und weil
die Auflösung bestehender, gut wirkender
, Anstalten und deren Einverleibung in andere
Anstalten notwendig Verstimmung herN'or-
genifen haben würde. Man zog deshalb
vor, durch eine Novelle den Ausgleich in
der Weise zu vei-suchen, dass zwischen den
verschiedenen Trägern der Versicherung ein
Gegenseitigkeitsverhältnis geschaffen wurde.
Der diesen Zweck verfolgende, im Jahre
1897 vorgelegte Entwurf einer Novelle ge-
langte im Reichstag nur zur ersten Lesung ;
dagegen ist die im Jahre 1S99 vorgelegte neue
zweige, soweit solche Personen thatsäch-
lich beschäftigt sind, dabei Lohn oder Ge-
halt in barem Gelde beziehen (§ 3 Abs. 2)
und 16 Jahre alt sind (§ 1). Alle diese
Personen sind unbeschadet der später zu
erwähnenden Ausnalimen für die Dauer
der Beschäftigung kraft Gesetzes der Ver-
sicherungspflicht unterworfen, ohne
dass es etwa des Abschlusses eines Ver-
sicherungsvertrages bedarf, ohne Rücksicht
auf das Lebensalter, Gesundheitsverhältnisse
und Bedürftigkeit, nach für alle gleichen
Grundsätzen. Die Versicherung ist in diesem
Sinne eine Kollektivversicherung.
Andererseits folgt das Invalidenversiche-
rungsgesetz den übrigen Versicherungs-
gesetzen daiin, dass in erster Reihe nur die
unselbständigen Arbeiter der Versiche-
rung unterworfen werden. Es bleiben ins-
besondere die Arbeitgeber (Betriebsun-
ternehmer) auch dann ausgeschlos-
sen, wenn sie nach ihrer finanziellen
Lage einer Fürsorge für ihr späteres Leben
Novelle vom Reichstag angenommen. Aller- I gleichfalls bedürftig sein sollten. Dieser
höchst vollzogen, als '>I nvali den ver- ! Grundsatz ist indessen nicht ohne ein-
siclierungsgesetz<^ veröffentlicht und am | schneidende Ausnahmen geblieben. Durch
1. Januar 1900 in Kraft getreten. Auf Grund . Bescliluss des Bundesrates können nämlich
der in § 168 Abs. 8 ihm erteilten Ermächtigung 'die Hausgewerbetreibenden sowie
hat dann der Reichskanzler durch Bekannt- solche kleine selb stand igeBetriebs-
machung vom 19. Juli 1899 (R.G.Bl. S. 463) i Unternehmer, welche nicht regelmässig
den Text des neuen Gezetzes unter fort- ' wenigstens einen Arbeiter beschäftigen, der
laufender Nummerfolge der Paragraphen Vei*sicheningspflicht unterworfen werden;
anderweit veröffentlicht; nach dieser Neu- hinsichtlich der Hausgewerbetreibenden in
redaktion wird das » Invaliden versicherungs-
gesetz'< fortab citiert. Die Novelle bringt
den notwendigen Ausgleich, enthält einen
gegenüber der Regierun gsvorlcige freilich
sehr abgeschwächten besonderen Unterbau
für die Vei-sicherung (Rentenstellen)
und ausserdem eine sehr grosse Anzahl
von Verbesserungen, Verein-
der Tabaks- und Cigarrenfabrikation sowie
in der Textilindustrie hat der Bundesrat von
dieser Befugnis Gebrauch gemacht (Bek, v.
16. Dezember 1891, R.G.Bl. S. 395 bezw. v.
1. März 1894, R.G.Bl. S. 329). Soweit der
Bundesrat die Erstreckung nicht vornimmt,
können diese Pei-sonen, wenn sie das 40.
Lebensjahr nicht überschritten haben und
fachungen und Erleichterungen, | noch nicht invalid sind, Selbstversiche-
die sich in der Praxis als möglich heraus- rung nehmen, d. h. freiwillig in die Ver-
gestellt hatten. Beibehalten ist dagegen I Sicherung eintreten (§ 4 Abs. 1). Dieselbe
insbesondere das Markensystem (s. unten). Befugnis ist diffch die Novelle weitergehend
Die nachfolgende Darstellung in der auch denjenigen selbständigen Be-
Fassung der Novelle beschränkt sich auf den
Inhalt des Gesetzes und dessen Ausgestal-
tung in der Praxis; wegen des diesem Ar-
tikel zugewiesenen nur beschränkten Raums
triebs unter nehmern eingeräumt worden,
welche regelmässig bis zu zwei Ijohn-
arbeiter beschäftigten, sowie solchen Betriebs-
beamten, Ijchrern u. s. w., welche mehr als
muss die Dai*steUung auf Gnmdzüge sich 1 2000 Mark, aber weniger als 30oo Mark
bescliränken, ohne in Einzellieiten eingehen I Jahresarbeitsverdienst (vgl. unten) haben,
zu können. Hinsichtlich der theoretischen i Ausserdem hat jeder, für welchen die Ver-
Grundlage für eine derartige Versicherung | Sicherungspflicht einmal V^egründ et gewesen
86*
1364
Invaliditäts- und Altersversicherung
ist, die Befugnis, bei etwaigem Austreten
aus der die Versicherung bedingenden Be-
schäftigung das VersicherungsverhAltnis frei-
willig fortzusetzen (Weiter Versiche-
rung; früher freiwillige Fortsetzung des
Versicherungsverhältnisses genannt, § 14
Abs. 2). Dies hat zur Folge, dass z. B.
Handwerker, welche nach Ablauf ihrer Ge-
seUenzeit sich selbständig machen, oder
Landwirte, welche die Stellung als land-
wirtschaftliche Tagelöhner aufgeben und sich
ein eigenes Grundstück kaufen oder pachten,
freiwillig in dem Versicherungsverhältnis
verbleiben und dadurch ihre Anwartschaft
auf Rente nicht nur erhalten, sondern auch
die Höhe des Rentenanspruches steigern
können. Auch eine freiwülige Erneue-
rung eines bereits erloschenen Versiche-
rungsverhältnisses ist durch das Gesetz ge-
stattet (§ 14 Abs. 1).
In weiterem Umfange gestattet aber das
Gesetz eine freiwillige Versicherung nicht.
Eine solche wüi-de ohne Schädigung der-
jenigen, für die das Gesetz in erster Linie
bestimmt ist, niu* dann zulässig sein können,
wenn sie unter Berücksichtigung des Lebens-
alters und der Gesundheit, also nach Mass-
gabe der individuellen Verhältnisse erfolgen
könnte; hierbei aber würde eine zu gi'osse
Komplikation der Verwaltung eingetreten sein.
Im einzelnen unterwirft das Gesetz der
Vei*sicherungspfHcht (§ 1) : a) alle Personen,
welche als Arbeiter, Geliilfen, Gesellen, Lehr-
linge oder Dienstboten gegen Lohn oder Ge-
halt beschäftigt werden ; b) alle Betriebs-
beamten, Werkmeister, Techniker, Hand-
lungsgehilfen und -lehi'linge, sonstige Ange-
stellte (z. B. Hausdamen), sämtlich wenn sie
nicht mehr als 2000 Mark Jahresarbeitsver-
dienst haben, jedoch mit Ausnahme der Ge-
hilfen und Lehrlinge in Apotheken; c) die
gegen Lohn oder Gehalt beschäftigten Per-
sonen der Schiffsbesatzung deutscher See-
schiffe und der Binnenschiffe. Diese Be-
stimmungen bringen den Grundsatz zum
Ausdruck, dass alle berufsmässigen
Lohnarbeiter männlichen und weiblichen
Gesclüechts, Inländer oder im Lilande be-
sciiäftigte Ausländer, sowie alle, welche
den »Arbeitern« im engeren Sinne in wirt-
schaftlicher Beziehung annähernd gleich
stehen (Arbeiter im weiteren Sinne), ein-
schliesslich der unteren Betiiebsbeamten,
der Versicherungspflicht unterworfen sind.
Durch die Novelle sind diesen Kategorieen
mit Rücksicht auf das bei ihnen bestehende
Bedürfnis die Lehrer und Erzieher
gleichgosteUt.
Nun giebt es Kategorieen von Personen,
bei denen es zweifelhaft sein kann, ob sie
versicherungspflichtige Arbeiter oder von
der Versicherung ausgenommene Betriebs-
uuternehmer sind. Im allgemeinen kann
hier nur von Fall zu Fall entschieden wer-
den. Auf Anregimg des Bundesrates ist in-
dessen, um der Praxis die Wege zu weisen,
bestimmt worden, dass selbständige Dienst-
männer, Kofferti^er etc. (weil sie aus vor-
übergehenden Dienstieistungen bei wechseln-
den Arbeitgebern ein selbständiges Gewerbe
machen) als selbständige Betriebsunternehmer
anzusehen und deshalb nicht versicherungs-
pflichtig sind; Waschfrauen, Näherinnen,
Schneiderinnen und Büglerinnen sollen,
wenn sie in den Häusern ihrer Kunden ar-
beiten, als versicherungspflichtige Arbeiter,
wenn sie dagegen in der eigenen Behausimg
thätig sind, als selbständige Betriebsunter-
nehmer behandelt werden.
Ohne Einfluss auf die Versicherungs-
pflicht ist die Dauer der Beschäftigung:
grundsätzlich ist auch eine lediglich
vorübergehende Thätigkeit versiche-
rungspflichtig. Indessen ist aus praktischen
Gründen, insbesondere um deswillen, weil
für die Versicherung Beiträge zu entiichteft
sind, dem Bundesrate die Befugnis einge-
räumt worden (§ 4 Abs. 1), zu bestimmen,
inwieweit vorübergehende Dienstleistungen
als »versicherungspflichtige Beschäftigimg
im Sinne dieses Gesetzes nicht anzusehen
sind«, also der Versicherungspflicht nicht
unterliegen. Auf dieser Bestimmung fussen
die Beschlüsse des Bundesrates, welche in
ihrer neuesten Fassung in der Bek. v. 27.
Dezember 1899 (R.G.B1. S. 725) vom Reichs-
kanzler veröffentlicht sind.
Hiernach wird unterschieden zwischen
solchen Personen, welche berufsmässig Lohn-
arbeit überhaupt nicht verrichten, einerseits
und den eigentlichen Berufsarbeiten! andeiw-
seits. Bei ersteren bleiben vorübergehende
Beschäftigungen dann frei, wenn sie a) nur
gelegentiich, insbesondere zu gelegentiicher
Aushilfe, b) zwar in regelmässiger Wiei^ler-
kehr, aber nur nebenher und gegen ein ge-
ringfügiges Entgelt verrichtet werden. Hier-
durch werden z. B. gelegentiiche Aushilfs-
arbeiten bei der Ernte oder der Feldbestel-
lung, wie sie häufig von den Ehefrauen
landwirtschaftlicher Arbeiter oder von kleinen
selbständigen Landwirten geleistet werden,
von der Versicherungs- und Beitragspflicht
befreit. Bei eigentlichen Berufsarbeitem
dagegen konnte in dieser Weise nicht ver-
falu-en werden, weü ilire beruf smässigie
Thätigkeit oft gerade auf solcher wechseln-
den Arbeit bei verschiedenen ArbeitgeUmi
beniht. Bei ihnen sollen aber diejenigen
Beschäftigungen unberücksichtigt bleitoii.
welche ohne Unterbrechung eines stäiuligeii
Arbeitsverhältnisses nebenher bei anderen
Arbeitgebern verrichtet werden, eben?^;
Dienstleistungen zur sclileunigen Hilfe hei
L'nglücksfäUen und die Tliätigkeit in Ver-
pflegungsstationen. Versicheruugsfi^i ^i^^l
Invaliditäts- und Altersversicherung
1365
ferner das Personal ausländischer Binaen-
schiffe auf inländischen Wasserstrassen, so-
fern sie nicht im Inland einen regelmäs-
sigen Yerkehr von erheblicher Dauer unter-
halten, sowie farbige Seeleute auf deutschen
Schiffen im Orient und z. T. in dem Ver-
kehr zwischen dem Orient und europäischen
Häfen, ebenso Dienstleistungen auf See-
schiffen im Ausland, soweit die betreffenden
Personen nicht zur Schiffsbesatzung gehören,
und Einzelleistungen von Bediensteten aus-
ländischer, voriibergehend in das Inland
hinttbergreifender Betriebe. Ausserdem sind
die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten
ei-mächtigt worden, in gewissenFäUen voniber-
gehende Dienstleistimgen von Ausländern aus-
zunehmen ; Preussen hat von dieser Delegation
hinsichtlich der russisch-galizischen Flösser
(Flissaken) Gebrauch gemaciit. Nach der
Novelle darf der Bundesrat ferner solche
Ausländer von der Versicherung befi'eien,
denen der Aufenthalt im Inland nur filr
bestimmte Zeit durch die zuständige Behörde
gestattet ist (insbesondere russische Arbeiter) ;
doch müssen dann die sie beschäftigenden
Arbeitgeber denjenigen Betrag an die Ver-
sicherungsanstalt bar zahlen, den sie für die
Versicherung wilrden zahlen müssen, wenn
diese auch für die betreffenden Ausländer
bestände (§ 4 Abs. 2).
Das Gesetz kennt aber noch weitere
Ausnahmen von der Versicherungspflicht.
Auf ihren Antrag sind nämlich diejeni-
gen Personen zu befreien, welche vom
Kelche, einem Bundesstaate, Kommunalver-
bande oder einem Träger der Invalidenver-
sicherungpension oder Wartegeld wenigstens
im Mindestbetrage der Invalidenrente be-
ziehen, ferner diejenigen, welche in diesem
Betrage eine Unfallrente beziehen, sowie
diejenigen, welche 70 Jahre alt und infolge
dessen zur Altersrente berechtigt sind (§ 6
Abs. 1). Dasselbe gilt nach der Novelle für
solche Personen, welche Lohnarbeit nur in
bestimmten Jahreszeiten für nicht mehr
als 12 Wochen oder für höchstens 50
Tage im Jahre verrichten, im tlbrigen
aber selbständig als Betriebsunternehmer
oder in ähnlicher Stellung ihren Lebens-
unterhalt erwerben. Denn diese Personen
haben nur geringe Aussicht, auf Grund ihrer
Lohnarbeit jemals die Wartezeit zurück-
legen zu können (§ 6 Abs. 2). Ausser-
dem aber sind einzelne Kategorieen auch
kraft Gesetzes, also unabhängig von
ihrem Willen, ausgenommen, und zwar
a) diejenigen Lohnarbeiter, welche nach
ihren Gesimdheits Verhältnissen schon als
invalid anzusehen sind oder die Invaliden-
rente beziehen (§ 5 Abs. 3, 4) ; b) Personen
des Soldatenstandes, welche dienstlich als
Arbeiter beschäftigt werden (§ f) Abs. 3);
c) jille (an sich versicherungspflichtigen)
Beamten des Reiches, der Bundesstaaten
imd der Komräunalverbände sowie Lehrer
und Erzieher an öffentlichen Schulen oder
Anstalten, wenn sie An'wgui:schaft auf Pen-
sion im Mindestbetrage der Invalidenrente
haben (§ 5 Abs. 1, 7) oder lediglich zur
Ausbildung für ihren künftigen Beruf be-
schäftigt sind; ferner Beamte der Träger
der Invalidenversicherung, wenn sie An-
wartschaft auf Pension im Mindestbetrag
der Invalidenrente haben (§ 5 Abs. 2),
sowie Personen, welche während ihrer
wissenschaftlichen Ausbildung für den künf-
tigen Lebensbenif Unterricht erteilen (§ 5
Abs. 3). Dasselbe gilt (§7) für Beamte
anderer offen tlicher Verbände oder von Körper-
schaften sowie für Lelu'er und Erzieher an
nicht öffentlichen Schtilen oder Anstalten,
wenn sie auf ihren Antrag vom Bundesrate
diesen gleichgestellt werden; letzteres hat
der Bundesrat insbesondere hinsichtlich der
landesherrlichen Hofbeamten sowie der Be-
amten einzelner preussischer Ijandschafts-
verbände und zweier grosser Eisenbahnge-
sellschaften angeordnet. Darüber, wer als
»Beamter« (im Gegensatz zum »Arbeiter«
oder »Gehilfen«) anzusehen ist, entscheiden
die für die betreffenden Kategorieen gelten-
den dienstpragmatischen Bestimmimgen (Mot.
S. 75). Die Gründe für diese besondere
Behandlung der Beamten finden die Motive
darin, dass fiir sie regelmässig schon das
Reich bezw. der Staat etc. eine ausreichende
und sichere Füi-sorge treffen, so dass eine
weitere, mit Kosten und Weitläufigkeiten
verknüpfte Fürsorge entbehrlich sei.
Darüber, ob für einzelne Fälle Beiträge
zu entrichten sind, also eine Versicherungs-
pflicht vorliegt, entsclieiden die Landesbe-
hörden, die sich hierbei in Fühlung mit dem
Reichsversicherungsamte zu halten haben.
Handelt es sich dabei um Fragen von grund-
sätzlicher Bedeutung, so ist die Entschei-
dung auf Anti'ag einer beteiligten Versiche-
rungsanstalt an das Reichsversichenmgsamt
abzugeben (§ 122).
Der Kreis der Versicherten ist, wie sich
aus dem Vorstehenden ergiebt, sehr gross;
die Schwierigkeiten der Einfüluning \md
Durchführimg der Versichermig mussten
sich gerade w^egen dieses grossen Umfanges
notwendig steigern. Die Zahl der derVer-
sichenmg auf Gnmd ihrer Beschäftigung
unterliegenden Personen wird in der der
Begründimg des Gesetzes von 1889 beige-
gebenen Denkschrift auf Grund der Angaben
der Berufsstatistik vom 5. Juli 1882 auf
rund 11 Millionen geschätzt und soll jetzt
gegen 12 Millionen betragen; wieviel Per-
sonen nach dem Ausscheiden aus der ver-
sicherungspflichtigen Beschäftigung freiwillig
die Versichenmg fortsetzen werden, entzieht
sich naturgemäss einer Vorausberechnimg,
1366
Invaliditäts- und Altersversicherung
ebenso wie die Zahl derjenigen, welche
Selbstvei-sicherung nelimen. Infolge ihres
Umfanges greift die In\-alidenversicherung
in fast alle Verhältnisse und Familien
Deutsclilands hinein; es werden nicht viel
erwachsene Pei*sonen im Deutschen Reiche
sein, welche nicht an dieser Einrichtung als
Arbeitgeber oder als Versicherte beteiligt
sind. Nicht mir die Vorteile der Versiche-
rung, sondern auch alJe Fehler und Mängel,
die dem Gresetze wie allen ohne Unterlage
praktischer Erfahrungen ins Leben ge-
rufenen erstmaligen Versuchen notwendig
anliaften, machten sich infolge dieses Um-
fanges in vergrössertera Massstabe geltend;
um so breiter war auch die Angriffsfläche,
welche die neue Einrichtung darbietet. In-
dessen durften die Gesetzgeber hierauf nicht
Rücksicht nehmen. ^Massgebend ftir die
gleichzeitige Erfassung aller Klassen der
arbeitenden Bevölkenuig und der ihnen so-
zial gleichstehenden Personen war vielmehr
insbesondere die Rücksicht darauf, dass ein-
mal die Invalidenversicherung eine das
ganze Arbeitsleben umfassende ständige Be-
teiligung erforderlich macht, andererseits
aber der Orts- und Berufswechsel unter den
deutschen Arbeitern sehr erheblich ist.
Man hatte also dafür zu sorgen, dass nicht
die in einem Berufszweige erworbene An-
wartschaft auf dereinstige Rente durch
Uebertritt in einen anderen Berufszweig
verloren gehen könnte, und dies geschah
am besten dadurch, dass man die Versiche-
ning für alle Berufszweige gleichmässig und
gleichzeitig einführte. Öazu kam die Rück-
sicht auf den Reichszuschuss, den man nicht
gut einem Teile der arbeitenden Bevölke-
rung auf Kosten der Gesamtheit zuwenden,
einem anderen ebenso bedürftigen Teile der
Arbeiterschaft aber mit der Wirkung ver-
sagen konnte, dass dieser letztere Teil zur
Bessei-stellung des ei-steren Teils, ohne
selbst Vorteü zu haben, mit beitragen
milsste. Diese Gesichtspunkte sind bei der
Novelle entgegen einer weitverbreiteten
Str()mung, welche Landwirtschaft und Hand-
werk nachträglich aus dem Gesetz ausneh-
men wollte, unter ausführlicher Begründung
ausdrücklich aufrecht erlialten woixlen, wo-
bei insbesondere die Erwägung massgebend
war, dass der Gesetzgeber unmöglich grossen
Kategoriecn eine Rechtswohlthat entziehen
könne, die er ihnen eiimial zu ihrem Vorteil
eingeräumt hatte.
4. Organisation. Träger der Versiche-
rimg sind nicht die ziu- Durchfülinmg der
Krankenvei'sichenmg errichteten Kranken-
kassen, auch nicht die zur Durchführung
der Unfallversicherung eirichteten Benifs-
genossenschaften. sondern besondere, ledig-
lich für diese Zwecke bestimmte terri-
toriale Versicherungsanstalten.
Hierfür waren ausschliesslich Zweckmässig-
keitsgründe massgebend. Die Ki-anken-
kassen waren für die Invalidenversiche-
rung, die wie kaum eine andere Ein-
richtung breite Schultern und Stetigkeit des
Bestandes erfordert, zu klein und zu sehr
dem Wechsel ausgesetzt. Bei Anlelmung
an die Berufsgenossenschaften hätte eine
neu zu begründende besondere Verwaltimg
unter Mitbeteilig^ing der die halben Beiträge
tragenden Versicherten nicht entbehrt wer-
den können; auch wurden die Berufsge-
nossenschaften aus inneren Gründen nicht
für geeignet gehalten, Träger der Inva-
lidenversicherung zu werden, zumal sie
vielfach keine Neigung zu dieser ge-
schäftlichen Mehrbelastimg bezeugten. Eine
einheitliche Reichsanstalt würde einen zu
gix)ssen Umfang angenommen haben und in
der Verwaltung zu scliwerfällig gewesen
sein. So verfiel man auf die Bildung neuer
territorialer Verbände. Auch hieran hat die
Novelle festgehalten. Das Bestreben, die
drei grossen Zweige der Arbeiterversiche-
rung auch in der Organisation mit einander
zu verschmelzen, hat ja gewiss viel Be-
stechendes, erweist sich aber bei näherer
Prüfung so schwierig und in vielen Be-
ziehungen bedenklich, dass wenigstens für
jetzt von einer Verv^ii-klichung dieses Ge-
dankens Abstand genommen werden muss.
Die Fi-age ist zum mindesten noch nicht
reif. Nur der Seeberufsgenossenschaft
konnte auf ün-en Wunsch im Hinblick auf
die vielfach besonders gelagerten Verhält-
nisse der Seeleute (für die Seeleute bestehen
Musterbehörden , Musterrollen , Seefalu-ts-
bücher u. s. w.) gestattet werden, mit Ge-
nehmigung des Bundesrats die Invalidenver-
sicherung der Seeleute selbst zu übernehmen;
wenn sie das aber durchfülirt, muss sie zu-
gleich die Witwen- und Waisenversichenin^
durchführen (§ 11).
Die Versicherungsanstalten umfassen die
Bezirke eines weiteren Kommunalverbandei>
oder Bundesstaates oder Teile dessell>en:
auch ist die Vereinigung mehrerer Kommu-
nalverbände oder Bundesstaaten zu gemein-
samen Versicherungsanstalten ziüässig (§ 65).
Es bestehen 31 Vei-sicherungsanstalten : IS
für Preussen, wovon 5 gleichzeitig andeiv
Bundesstaaten oder Teile dei-selben mit lun-
fa^^sen (sie sind nach dem Namen der
einzelnen ProWnzen, für deren Bezirke sie
bestehen, benannt; Berlin liat eine besondert*
Versicherungsanstalt) ; 8 für Bayern (je eine
für den Regierungsbezirk); je eine für
Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Gi-
denburg (exkl. der abseits gelegenen Füi-sten-
tümer Lübeck und Birkenfeld) und Braun-
scliweig : je eine für beide Mecklenbiu^g, für
die 3 Hansestädte, für 8 thüringisi^-ho
Staaten und füi' Elsass-Lothringen.
Invaliditäts- und Altersversichenmg
1367
In der Vei'sicherungsanstalt sind alle
Personen vereichert, deren Beschäfti-
gungsort im Bezirke der Vereicherungs-
anstaJt liegt ; es entscheidet also der Ort der
Beschäftigung, nicht der Wohnort. Bei Be-
trieben, die eine Beschäftigung an wechseln-
den Orten mit sich bringen, gilt als Be-
schäftigmigsort in der Regel der Betriebs-
sitz nach näherer Bestimmung des § 5a des
Krankenversicherungs^setzes ; bei Betrieben,
deren Sitz in dem Bezirk einer anderen Ver-
sichenmgsanstalt belegen ist, findet unter
(umständen die Versicherung bei der Ver-
sicherungsanstalt des Betriebssitzes statt
(§ 65 Abs. 3).
Die Versicherungsanstalten haben Selbst-
verwaltung und jiuristische Persönlichkeit.
Sie liaben ein Statut zu errichten, welches
der Genehmigung der Aufwsichtsbehörde be-
darf. Ihre Organe sind der Voi-stand, der
Ausschuss, die RentensteUen sowie etwaige
behufs Einziehung der Beiträge eirichtete
ortliche Hebestellen ; ein in dem Gesetz von
1889 fakultativ weiter zugelassenes Organ,
der A\ifsichtsrat, ist bei keiner Anstalt in
Tliätigkeit getreten und durch die Novelle
ebenso wie die Vertrauensmänner des bis-
herigen Gesetzes beteiligt. An der Spitze
des Vorstandes muss ein Beamter des
weiteren Kommunal Verbandes oder Bundes-
staates, für dessen Bezirk die Versicherungs-
anstalt enichtet ist, stehen, auch können
dem Vorstande weitere gleichai-tige Beamte
angehören (§§ 73, 74). In den Vorstand
sind ausserdem in der durch das Statut zu
bestimmenden Anzahl Vertreter der Arbeit-
geber und der Versicherten hineinzuwählen,
deren Zahl gleich sein muss. Der Aus-
schuss hat die Fimktionen der General-
versammlung; er besteht aus gleichviel Ar-
beitgebern und Arbeitnehmern.
Während nun Vorstand xmd Ausschuss die
Centralverwaltung führen, fehlte es im Gesetz
von 1889 an einem genügenden Unterbau.
Eine wichtige Veränderung in der Organisa-
tion hat nun die Novelle insofern gebracht,
als sie die Decentralisation der Ge-
schäfte zu fördern bestrebt ist und beson-
deren Wert darauf legt, dass bei Anträgen
auf Rentenbewilligimg schon in einer ersten
Lokalinstanz die Versicherten selbst gehört
werden und zu voller Aufklärung des Sachver-
halts Gelegenheit geboten wiixi. Zu diesem
Zweck ist die bereits in dem älteren Ge-
setz (§ 75) vorgesehene Mitwirkung der
unteren Verwaltungsbehörde weiter
ausgebaut und zugleich vorgeschrieben wor-
den, dass dabei in den wichtigeren und
zweifelhaften Fällen je ein Vertreter der
Arbeitgeber und der Versicherten zuzuziehen
ist. Im einzelnen ist der unteren Vei'wal-
tungsbehöi-de durch S§ 57 ff. der Novelle die
Aufgabe zugewiesen worden, Anträge auf Be-
willigimg von Renten oder Beitragserstat-
tungen (s. unten) entgegenzunehmen, vorzube-
reiten und zu begutachten, die Entziehung von
Invalidenrenten und die EinsteUimg von
Rentenzahlungen zu begutachten, in den ge-
eigneten FäUen die Einleitung eines Heil-
verfahrens anzuregen und über alle die In-
validenversicherung betreffenden Angelegen-
heiten Auskimft zu erteilen. Glaubt die
untere Verwaltungsbehörde ihr Gutachten
gegen die Gewährung einer Rente oder für
die Entziehung einer InvaMdenrente abgeben
zu müssen, so soll die Sache unter Zu-
ziehung je eines Vertreters der Arbeitgeber
und der Vei'sicherten und thunlichst unter
Beteiligung des Rentenbewerbers mündlich
erörtert werden ; auch kann ein solches Ver-
fahren in anderen Fällen von dem Vorstand
der Versicherungsanstalt verlangt werden.
An Stelle der unteren Verwaltungsbehörde
können nun aber von der Versicherungsanstalt
besondere örtliche Organe, die Renten-
stellen, mit diesen Obliegenheiten und
zugleich mit der Beitragskontrolle, unter
Genehmigimg der Landescentralbehörde
ausserdem auch noch mit weiteren Obliegen-
heiten betraut werden (§§ 79, 80). Sind Renten-
stellen errichtet, so kann ihnen durch die
Landescentralbehörde an Stelle der Begut-
achtung über .Rentenanträge sogar die Be-
schlussfassung darüber übertragen werden
(§ 86). Die Errichtung von RentensteUen
wollte die Vorlage obligatorisch machen und
diese besonderen Organe in allen Fällen mit
den bezeichneten Aufgaben der unteren Ver-
waltungsbehörde betrauen, wobei daran ge-
dacht war, dass in der Regel die untere
Verwaltungsbehörde an die Spitze der
Rentenstelle zu treten haben würde; der
Reichstag aber hat in der bezeichneten
Weise die Errichtung von Rentenstellen nur
fakultativ gestaltet und diese Emchtimg
der Regel nach der Entschliessung der Ver-
sichenmgsanstalt (mit Zustimmung des Pro-
vinzialausschusses (in Preussen) eventuell der
Landescentralbehörde) überlassen ; doch darf
»im Fall eines geschäftlichen Bedürfnisses
insbesondere in Gegenden mit dichter Bevölke-
rung« die Errichtung auch von der Ijandes-
centralbehörde angeordnet werden (§78 Abs.
2), wenn sie zuvor die Versicherungsanstalt
sowie dem Provinzialausschuss angehört hat
Solche Anordnung der Landescentralbehörde
wird also nur da zu erwarten sein, wo die
untere Verwaltungsbehörde (Landrat u. s. w.)
ihre jetzt näher ausgestalteten und dadurch
umfänglicher gewordenen Aufgaben bei der
Invalidenversicherung nicht mehr erfüllen
kann.
Die bai'en Auslagen des Verfahrens vor
der unteren Verwaltungsbehörde (§ 64)
sowie die gesamten persönlichen und sach-
lichen Kosten der Rentenstellen (§ 79 ff.)
1368
Invaliditäts- und Altersversicherung
trägt die Versicherungsanstalt. . Der Vor-
sitzende der Rentenstelle wird von dem Pro-
vinzialausschuss eventuell von der Landes-
centralbehörde ernannt (§ 81); die von der
unteren Verwaltungsbehörde zuzuziehenden
Vertreter der Arbeitgeber und der Ver-
sicherten werden in derselben Weise wie
früher die Mitglieder des Ausschusses von
den Vorständen der sogenannten Zwangs-
kassen (Ortskrahkenkasseu etc.) unter Be-
teiligung (nach der Novelle) auch solcher
eingeschriebenen Hilfskassen gewählt, deren
Kassenbezirk sich über den Bezirk der
unteren Verwaltungsbehörde oder Renten-
stelle, fflr den die Gewählten fungieren
sollen, nicht hinaus erstreckt und die ge-
mäss § 75 des Kranken versicheningsgesetzes
den Zwangskassen gleichgestellt worden
sind. Dabei fungieren als Wahlkörper für
die Wahl der Arbeitgeber die in den Kassen-
vorständen sitzenden Vertreter der Arbeit-
geber, für die Wahl der Arbeitnehmer die
in den Kassenvorständen sitzenden Vertreter
der Versicherten. Für die den bezeichneten
Kassen nicht angehörenden Versicherten
werden die Geraeindeki'ankenversicherungen
oder nach Bestimmung der Landesrerierung
weitere Kommunalverbände an der Wahl be-
teiligt. Das Nähere wird durchWahlordnungen
geregelt, die auch über das Stimmverhältnis
der einzelnen Wahlkörper Vorschriften ent-
halten. Die Vertreter der Arbeitgeber xmd
der Versicherten, die bei der unteren Ver-
waltungsbehörde oder Rentenstelle mitzu-
wirken haben, werden demgeraäss durch
indirekte W^ahl berufen, wobei die in den
Krankenkassen und den ilinen gleichgestellten
Hilfskassen befindlichen Versicherten als
Urwähler fimgieren. Die für die Lokalin-
stanz so gewählten Vertreter der Beteiligten
wählen dann ihrerseits die Laienbeisitzer
des Ausschusses der Versicherungsanstalt,
und letztere wählen die Beisitzer des
Schiedsgerichts.
Die Schiedsgerichte sind den gleich-
artigen Institutionen bei der ünfallversiche-
nmg nachgebildet ; sie sind dauernd fungie-
rende Specialgerichtshöfe für Berufungen
gegen Rentenfestsetzungs- oder -entziehungs-
bescheide der Anstaltsvorstände. Während
früher die Bezirke der Schiedsgerichte zu-
meist klein waren und in Preussen in der
Regel einen landrätlichen Kreis umfassten,
sollen die Schiedsgerichte nach den Absichten
der Novelle gr()ssei*e Bezirke, in Preussen in der
Regel einen Regierungsbezirk oder Landge-
richtsbezirk umfassen; es blieb vorbehalten,
mit diesen Schiedsgerichten für die Invaliden-
versicherung demnächst die Schiedsgerichte
für die Unfallversicherung zu vereinigen.
Diese Zusammenlegung der Schieds-
gerichte für Invalidenversicherung und
fiir die verschiedenen Zweige der Unfall-
versicherung ist durch das Gesetz vom
30. Juni 1900, betr. die Abänderung der Un-
fallversichenmgsgesetze, thatsächlich durch-
geführt; doch ist der Zeitpunkt, mit
welchem diese neue Regelung in Kraft
tritt, erst durch kaiserliche Verordnung zu be-
stimmen. Das Schiedsgericht besteht aus
einem von der Landescentralbehörde ernann-
ten öffentlichen Beamten als Vorsitzendem und
aus den nach den vorstehenden Gesichts-
punkten gewählten Arbeitgebern und Ver-
sicherten als Beisitzern ; während bisher fiir
die einzelnen Spruchsachen eine Besetzung
mit 3 Mitgliedern genügte, verlangt die No-
velle eine Besetzung mit 5 Mitgliedern (je zwei
Arbeitgeber und Arbeitnehmer).
Der nach dem G. v. 22. Mai 1889 vor-
gesehene Staatskommissar bei den Ver-
sicherungsanstalten ist durch die Novelle
beseitigt worden.
Was die Vermögensverwaltung der
Versicherungsanstalten anbetrifftso sind sie
im allgemeinen auf mündelsichere Werte be-
schränkt; nm' höchstens die Hälfte des Ver-
mögens darf mit Genehmigung der Auf-
sichtsbehörde auch anderweit sicher angelegt
werden, jedoch ist hierzu, sobald mehr als
ein Viertel in dieser Weise angelegt werden
soll, noch eine weitere Genehmigimg er-
forderlich (§ 164). Für den FaU, dass
eine Versicherungsanstalt in finanzielle
Bedrängnis geraten soUte, was nach dem
in der Novelle durchgeführten finan-
ziellen Ausgleich schwerlich vorkommen
kann, hat der weitere Kommunalverband
oder Bundesstaat, für dessen Bezirk sie er-
richtet ist, helfend einzutreten, leistet also
insofern Garantie (§ 68).
Die Aufsicht über die Schiedsgerichte
liegt der zuständigen Landesbehörde ob
(§ 52 V. V. 1. Dezember 1890); die Auf-
sicht über die Versicherungsanstalt aber
führt das Reiöhsversicherungsamt
(§ 108), in welchem füi* die Angelegen-
heiten der Invalidenversicherung eine be-
sondere Abteilung errichtet ist (§ 1 V. v.
25. Dezember 1890). Dasselbe fungiert
gleichzeitig als oberster Gerichtshof bei
Revisionen gegen die Entscheidungen
der Schiedsgerichte über Rentenansprüche
(§ 80). Bei Anstalten für einen Bundes-
staat, welcher einLand es ver sicher ungs-
amt errichtet hat, führt das letztere zwar
die Aufsicht, fungiert aber nicht als oberster
Gerichtshof (§§ 111); man wollte für
oberste Entscheidungen über Rentenan-
sprüche aus der Invalidenversicherung eine
einheitliche Instanz schaffen, und diese bildet
das Reichsversicherungsamt.
Neben den Versicherungsanstalten können
noch weitere Einrichtungen zur Durchfüli-
rung der Invalidenversicherung berufen
sein. Der Bundesrat ist nämlich befugt.
Invaliditäts- und Altersversicherung
1369
^besondere Kasseneinrichtungen«
für grössere Betriebe, wenn sie gewissen
Anfonlerungen entsprechen, dauernd leis-
tungsfähig sind und den Versicherten eine
den reichsgesetzlichen Aufgaben mindestens
gleichwertige Leistung gewährleisten, zur
selbständigen Durchführung der Invaliden-
versicherung zuzulassen (§§ 8, 10). Darüber,
dass nach der Novelle auch die Seeberufs-
genossenschaft als besondere Kasseneinrich-
tung zugelassen werden darf, vgl. oben S. 1366.
Sofern eine solche Zulassung erfolgt ist, ge-
nügen die Mitglieder der Kasseneinrichtungen
diu"ch ihre Beteiligung an den letzteren der
gesetzlichen Versicherungspflicht ; die Kassen-
einrichtungen erhalten dann zu ihren Renten
den Reichszuschuss und treten zu den Ver-
sicherungsanstalten in ein Gegenseitigkeits-
verhältnis. Zugelassen sind bisher die Ar-
beiterpensionskassen grosser fiskalischer
Eisenbahnverwaltungen (der Reichseisen-
bahnen und der Staatseisenbahnen von
Preussen, Bayern, Sachsen und Baden) so-
wie einige Knappschaftsverbäude (Knapp-
schaftsverhand im Königreich Sachsen, Nord-
deutscher Knappschafts verein in Halle,Knapp-
schaftsverband in Saarbrücken und Allge-
meiner Knappschaftsverein in Bochum). Jede
zugelassene Kasseneinrichtung muss zur Ent-
scheidung über Rentenansprüche mindestens
ein Schiedsgericht haben. Die Aufsicht über
die besonderen Kasseneinrichümgen führt
nicht das Reichsversichenmgsamt, sondern
die zuständige Landesbehörde ; das Reichs-
versicherungsamt entscheidet aber als höchste
gerichtliche Instanz auch hier über Revi-
sionen gegen die Entscheidungen der Schieds-
gerichte. Pensionskassen, welche nicht zur
selbständigen Durchführung der Invaliden-
versicherung zugelassen sind, werden nicht
etwa aufgelöst, sondern bleiben bestehen
und treten in das Verhältnis einer soge-
nannten Zuschusskasse (§ 52); die
Kassenleistung wird dann unabhängig von
der gesetzlichen Rente gewährt Um aber
übertriebenen Versichenmgen und demge-
mäss zu hohen Beitragsleistungen vorzu-
beugen, ist Vorsorge getroffen, dass diese
Zuschusskassen ihre Leistungen bis um den
Wert der gesetzlichen Renten herabsetzen
können; sie müssen dann aber gleichzeitig
die Beiträge herabsetzen, wenn letztere nicht
etwa zm* Deckung der Kassenleistimgen
auch nach deren Herabsetzung erforderlich
bleiben oder zu anderen Wohlfahrtseinrich-
tiingen verwendet werden.
5. Gegenstand der Versicherung.
Zweck der Versicherung ist die Gewährung
eines Anspruchs auf Invaliden- oder
Altersrente (§ 9). Hierzu tritt luiter
Umständen der Anspruch auf Rücker-
stattung geleisteter Beiträge (§§
42 bis 44) xmd nach Befinden der Versiche-
rungsanstalt auch eine dem Eintreten der
Invalidität vorbeugende oder der letzteren
abhelfende Kranken für sorge (§§ 18 ff.,
47 Abs. 2).
Was zunächst die vorbeugende Kranken-
fürsorge (§§ 18 ff.) anbetrifft, so leuchtet ein,
dass dem Eintritt dauernder Erwerbsunfähig-
keit vorgebeugt werden kann durch eine recht-
zeitige und sorgfältige Krankenpflege. Da
diese aber grundsätzlich nicht zu den eigent-
lichen Aufgaben der Invalidenversicherung,
sondern zu denen der Krankenversicherung
gehört, so stellt das Gesetz eine solche vor-
beugende Krankenfürsorge nur in das Belieben
der Versicherungskörper, ohne sie obliga-
torisch zu macheu. Nachdem die ei-sten Ver-
suche auf diesem Gebiet sich als segens-
reich erwiesen hatten, hat die Novelle von
1899 diese Krankenfürsorge weiter ausge-
baut. Fortan kann die Versicheningsanstalt
das Heilverfahren bei jedem Versicherten
eintreten lassen, ohne Rücksicht darauf, ob
er der reichsgesetzlichen Krankenversiche-
rung angehört oder nicht; sie kann das
Heilverfahren selbst durchführen oder
es der Krankenkasse, welcher der Ver-
sicherte angehört oder zuletzt angehört
hat, in dem ihr geboten erscheinenden
Umfang gegen Ersatz der Melu-kosteu über-
tragen. Bei Unterbringung des Erkrankten
in einem Krankenhause oder in einer An-
stalt für Genesende ist auch den Angehö-
rigen des Erkrankten nach Analogie der Be-
stimmungen des Krankenversicherungsge-
setzes eine massige Unterstützung zu ge-
wähi-en. Versicherten, welche sich diesen
Massnahmen entziehen, kann beim Eintritt
der Erwerbsunfähigkeit die Rente auf Zeit
ganz oder teilweise versagt werden, wenn
sie auf diese Folge hingewiesen sind und
die Ei-werbsunfähigkeit erweislich durch
ihr Verhalten veranlasst worden ist. In
ähnlicher Weise kann auch solchen Personen,
welche die Invalidenrente bereits beziehen,
ein Heilverfahren zu dem Zweck zugewendet
werden, um ihnen die Erwerbsfähigkeit
wieder zu verschaffen (§ 47 Abs. 2).
Auf Rückerstattung der halben
Beiträge haben Anspruch a) weibliche
Versicherte, welche nach mindestens fünf-
jähriger Beitragsleistung in den Ehestand
treten und eine Rente nicht erlangt haben
(§ 42) ; b) hinterbliebene Witwen und Waisen
solcher Versicherten, welche nach mindestens
fünfjähriger Beitragsleistung versterben, be-
vor sie eine Rente erlangt haben {§ 44);
doch fällt der Anspruch fort, wenn aus
Anlass des Todesfalles Unfallrenten gewährt
werden; c) nach der Novelle auch solche
Versicherte, welche dxuxjh einen Unfall er-
werbsimfähig geworden sind und aus diesem
Anlass zwai* Anspnich auf Unfallrente, aber
1370
lavaliditäts- und Altersversicherung
nicht auf Invalidenrente zu erheben haben
(§ 43 a).
Der Hauptanspruch richtet sieh auf In-
validen- und Altersrente (§9). Die- j
selbe ist der Regel nach in bai-em Gelde,
nur ausnahmsweise in Naturalbeziigen (§ 29)
7.U gewähren. Kapitalabfindung ist
nur bei Ausländern, wenn sie den bisherigen
Wohnsitz im Inlande verlassen, gestattet
(§ 26), im übrigen aber ausgesclilossen, weil
bei Gewährung eines der Gefahr des Ver-
lustes und unwirtschaftliclier Verwendung
ausgesetzten Kapitals der durch das Gesetz
erstrebte dauernde Genuss der Zuwendung
nicht gewährleistet werden kann.
Invalidenrente erhält ohne
RCicksicht auf das Lebensalter
jeder Versicherte, welcher nach
einer bestimmten Dauer der Bei-
tragszahlung (Wartezeit) erwerbs-
unfähig wird (§ 15 Abs. 2). Grund-
sätzlich soll die Erwerbsunfähigkeit dau-
ernd sein (§ 15 Abs. 2); doch soll
auch derjenige die Rente erhalten, welcher
zwar nicht dauernd erwerbsunfähig ist,
wohl aber thatsächlich bereits 26
Wochen hindurch ei'v^^erbsunfähig gewesen
ist (wegen Kranklieit), und zwar filr die
fernere Dauer dieses Zustandes (§ 16). Er-
werbsunfähigkeit gilt dann als vorliegend,
wenn die ^Erwerbsfähigkeit infolge von
Alter, Kranklieit oder anderer Gebrechen
auf weniger als ^/s herabgesetzt ist«, und
dieser Zustand ist dann anzunehmen, w^enn
der betreffende Versicherte »nicht mehr im
Stande ist, durch eine seinenKräften mid Fähig-
keiten entsprechende Thätigkeit, die ihm
unter billiger Berücksichtigimg seiner Aus-
bildung und seines bisherigen Berufes zuge-
mutet werden kann, ^,3 desjenigen zu erwerben,
was körperlich und geistig gesunde Per-
sonen derselben Art mit ähnlicher Ausbil-
dung in derselben Gegend diu-ch Arbeit zu
verdienen pflegen« (§ 5 Abs. 3, § 15 Abs. 2).
Diese Bestimmung verlässt die bisherige
Vorschrift, wonach ein ziemlich kompü-
ziertes Rechenexempel aufgestellt weraen
musste, und schliesst sich an die Pi-axis
des Reiehsvei-sichenrngsamtes an; sie be-
rücksichtigt mehr als bisher die individuellen
Verhältnisse, setzt aber auch jetzt noch
allgemeine Invalidität, nicht etwa nur
eine bestimmte B e r u f s Invalidität voraus.
Erstere ist um deswillen vorgeschrieben, weil
die Versicherung alle Klassen von Arbeitern
gleichmässig erfasst, bei diesen ein häufiger
Wechsel des Beruifs stattfindet und mit
Recht verlangt werden muss, dass derjenige,
welcher auf Kosten der Gesamtheit eine
Rente beansprucht, seine Ai'beitskraft zu-
nächst voU und ohne Beschickung auf eine
besondere Berufsthätigkeit zu verwerten
suchen muss. Immerhin darf aber nur eine
für den betreffenden Versicherten >• geeig-
nete« Arbeit in Betracht gezogen wenlen.
Die Berücksichtigung der konkreten Arlieit»-
gelegenheit ist absichtlich ausgeschlossen
worden (vgl. Motive bei Bosse-v.Woedtke
S. 231). Die Erwerbsunfähigkeit braucht
nicht eine völlige zu sein; sie liegt
vielmehr schon vor, wenn der Betreffende
nur noch sehr w^enig verdienen kann. Auf
Grund und Aulass der Erwerbsunfähigkeit
kommt es im allgemeinen nicht an; nurliei
vorsätzlicher Herbeiführung der Invalidität
fällt der Anspruch auf Rente fort (§ 17),
und unter Umständen kann die Rente dann
versagt werden, wenn etwaigen Anforde-
rungen der Versicherungsanstalten wegen
einer Krankenfürsor^e nicht entsprochen ist
(§ 22) oder wenn der Versicherte die Er-
werbsunfähigkeit sich bei Begehung eines
Verbrechens oder vorsätzlichen Ver^hens
zugezogen hat mid seine Thäterschaft durch
den Straf richter fest^stellt ist (§ 17). Be-
sondere Vorschriften enthält das Gesetz aber
noch hinsichtlich der durch Betriebsunfall
herbeigeführten Erwerbsunfähigkeit. Eine
solche belastet zwar die Invalidenversiche-
i-ung vorbehaltlich etwaiger Beitragserstat-
tung (s. oben) nur dann und insoweit als
nicht auf Grund reichsgesetzlicher VorscJirift
Uufallrente zu gewähren ist (§15 Abs. 2):
es bleibt aber dem Verunglückten, sofern
im übrigen die Voraussetzungen, unter denen
eine Invalidenrente bewilligt werden darf
(2, 3 Erwerbsunfähigkeit, Wartezeit), vorliegen,
freigestellt, seine Ansprüche auf Rente auch
auf Grund der Invalidenversicherung zu er-
heben und den Trägem der letzteren zu
überlassen, sich wegen der Rente an die
verpflichtete Berufsgenossenschaft zu legres-
sieren (§ 113).
Altersrente erhält ohne Rück-
sicht auf Erwerbsfähigkeit der-
jenige Versicherte, welcher nach
einer bestimmten Dauer der Bei-
tragszahlung (Wartezeit) das 70.
Lebensjahr vollendet hat (§15 Abs.3i:
sie beginnt frühestens mit dem ersten Tage
des 71. Lebensjahres und ruht, sobald dem
Empfänger (aui seinen Antrag) Invaliden-
rente gewährt wird (§ 48 Abs. 3).
Invaliden- mid Altererenten sind in der
Regel für die Dauer gewährt; erstere aber
können entzogen werden, wenn in dea
Verh^tnissen des Enipfängei-s eine Aende-
rung eintritt, die ihn nicht mehr als dauernd
erwerbsunfäliig erscheinen lässt (jj 47 J.
Ausserdem kennt das Gesetz Fälle, wo ge-
währte Renten ganz oder teilweise ruhen
(§ 48). Ein teilweises Ruhen (Kürzung)
tritt nämlich dann und insoweit ein, als der
Empfönger ünfallrenten, Staats- oder Ge-
meindejiensionen bezieht imd diese zusammen
mit der auf Grund dieses Gesetzes gewährten
Invaliditäts- und Altersversichening
1371
Keilte den 7 V2 fachen Grund beti-ag der In-
validenrente ( siehe unten) übersteigen; ein
völliges Ruhen der Rente findet statt, so-
lange der Empfänger Freiheitsstrafen von
mehr als einem Monat verbüsst oder nicht
im Inlande wohnt. Auf Grund gesetzlicher
Ermächtigung hat der Bundesrat indessen
augeordnet, dciss die Rente auch in melu-eren
an Deutsclüand angrenzenden Bezirken des
Auslandes ausgezahlt werden soll (Bek. v.
16. Mai 1891, Centralbl. S. 97). Unabhängig
hiervon sind weitere Yorscliriften des Ge-
setzes, wonach bei fortgesetzter Nichtent-
richttmg von Beiträgen dieAn wartschaft
auf Rente erlischt (§ 46); darüber
siehe unten sub 6.
6. Besondere Voranssetzungen des
Anspruchs, a) Beitragsleistung. Es wurde
schon darauf hingewiesen, dass ein An-
spruch auf Rente nur dann besteht, wenn
während einer bestimmten Zeit Beiträge
entrichtet sind. Nach Anzahl und Höhe
dieser Beiträge richtet sich aber auch die
Berechnung und die Höhe der Rente.
Das Gesetz schreibt vor, dass für jede
Woche, in welcher eine die Versicherungs-
pflicht begründende Bescliäftigimg stattge-
funden hat, ein Beitrag zu entrichten ist
<S 30); jeder Einzelbeitrag deckt eine Ar-
beitswoche. Militärdienst sowie im allge-
meinen die Zeiten bescheinigter, mit Er-
werbsunfähigkeit verbundener Krankheit ein-
schliesslich der Genesungszeit und eines
regelmässig verlaufenden Wochenbetts wer-
den gleichfalls als Arbeitszeit angerechnet,
ohne dass für dieselben Beiträge zu ent-
richten sind (§ 30j. Bei Selbstversichernng
oder freiwilliger Weitervei*sicherung (vgl.
oben sub 3 S. 1364) ist ebenfaDs für jede
W^oche ein Beitrag zu entinchten (§§ 14, 146).
Jede Woche, für welche ein Beiti'ag ent-
richtet ist oder welche sonst angerechnet
wird, gilt als Beitragswoche; für jede
Woche kommt nur ein Beitrag in Anrech-
nung (§ 30 Abs. 5). Den Begriff eines be-
sonderen Beitragsjahi*s (von 47 Beiti-ags-
wochen) hat die Novelle fallen gelassen.
Die einzelnen Beitragswochen brauchen nicht
unmittelbar aufeinanderzufolgen, können viel-
mehr durch beitragslose Zeiten unter-
brochen werden, nur dürfen die Unter-
brechungen nicht so bedeutend sein, dass
im Zeiträume von 2 Jahren weniger als ins-
gesamt 20 Beiträge, oder bei Selbstver-
sicherten weniger als 40 Beiträge heraus-
kommen. Geschieht letzteres dennoch, so
80II die bisher erworbene Anwartschaft als
erloschen angesehen werden (§ 46), und
das Versicherungsverhältnis bedarf dann
eventuell einer Erneuerung; nach Zu-
rücklegimg einer neuen Wartezeit (vgl.
unten S. 1372) von 200 Wochen lebt nämlich
die alte Anwartschaft \s4eder auf. Der Bezug
?7
7?
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?>
»
der Invalidenrente befreit von der Weiter-
entrichtung der Beiträge ; Pei*sonen, die über
70 Jahre alt sind und deshalb an sich alters-
berechtigt sein würden, sind auf Anti-ag von
der Beitragsverpflichtung zu entbinden (§ 6).
Die Wochenbeiträge sind nun aber nicht
für alle Beteiligten gleich hoch. Vielmehr
bildet das Gesetz, um Renten und Beiträge
thunHchst der Lohnhöhe anzupassen, nach
der Höhe des jährlichen Arbeitsverdienstes
fünf Lohnklassen (§ 34), nämlich
Kl. I bis zu 350 M. Jahresar beitsveixiienst,
II von mehr als 350 bis 550 M.
III ,, „ „ brA) „ 850
IV „ ,, „ 850 „ 1150
V 1 1 fS()
Die 5. Lohnklasse ist durch die Isovelle
eingefülirt. Für jeden Versicherten sind die
Wochenbeiträge in derjenigen Lohnklasse
zu entrichten, in welche er während der
betreffenden Zeit entfällt, doch darf der
Vei-sicherte gegen Ei*stattung der Mehrkosten
eine höhere Klasse wälilen. Für Krank-
heits- und Militärdienstzeit kommt die Lohn-
klasse II, für Lelu^er und Erzieher mindestens
die Lohnklasse IV in Rechnung.
Unter dem liier in Betracht kommen-
den Jahresarbeits Verdienste ist aus prak-
tischen Gründen auch jetzt im allgemeinen
nicht der konkrete Verdienst des einzelnen,
I der Individuallohn, zu verstehen, sondern
[vielmehr der Örtliche Durchschnitts-
lohn derjenigen Personenklasse, in
welche der Versicherte bei seiner jeweiligen
Beschäftigimg nach näherer Vorschrift des
Gesetzes entfällt (§ 34). Nur dann ist
nach der Novelle der Individuallohn
massgebend (§ 34 Abs. 3), wenn der
Versicherte einen festen, mindestens für
Wochen im voraus fixierten Barlohn erhält
und dieser Barlohn höher ist als der sonst
für ihn massgebende Klassenlohn. Neben-
bezüge an Naturalien etc., die die Be-
rechnung des IndividuaUohns besonders
schwierig gestalten würden, bleiben also
hierbei ausser Betracht.
Für die Klasseneinteilung ist bei
Mitgliedern einer Orts-, Betiiebs- (Fabrik-),
Bati- oder Innungs-Krankenkasse derjenige
Lohnbetrag, von w^elchem die Beiti-äge zur
Krankenversicherung entrichtet werden, mass-
gebend, bei land- und forstwirtschaftlichen
Arbeitern, soweit sie einer solchen Kasse
nicht angehören, sowie bei Mitgliedera von
Knappschaftskassen und bei Seeleuten der
besonders festzusetzende Durchschnittsver-
dienst, im übrigen der ortsübliche Tagelohn
gewöhnlicher Tagearbeiter des Beschäiti-
gungsortes, wobei jedoch für einzelne Be-
lufszweige ein anderer Durchschnittsver-
dienst behördlich festgesetzt werden kann.
(Dai'über, dass diese Einteilung in Lohn-
klassen lu^prünglich nicht beabsichtigt war,
1372
Invaüditäts- und Altersversicherung
dass man vielmehr anfänglich nur eine Ein-
heitsrente mit Einheitsbeitrag, dann eine
Abstufung nach Ortsklassen so, dass für
jeden Ort nur der in demselben geltende
ortsübliche Tagelohn gewöhnlicher Tagear-
beiter massgebend sein sollte, in Aussicht
genommen hatte, vgl. Bosse-v.Woedtke, Ein-
leitung S. 121, sowie Anm. 1 zu § 22).
b) Wartezeit. DieWaii;ezeit umfasst eine
Anzahl von Beitrags wochen (§ 29). Die Zahl
der erforderlichen Beitragswochen ist in der
Novelle im allgemeinen ermässigt worden;
sie ist verschieden bei der Invalidenrente
und bei der Altersrente. Ueber die Gründe
dieser Verschiedenheit vgl. Bosse-v, Woedtke
Anm. 1 u. 2 zu § 16. Bei der Altersrente wer-
den jetzt 1200 Beiti-agswochen verlangt (rech-
net man das Jahr = 50 Wochen, so würden
24 Jahre sich ergeben) ; bei der Invalidenrente
genügen, wenn der Anwärter während min-
destens 100 Wochen versicherungspflichtig
beschäftigt worden ist, 200 Beitrags wochen
(so dass er also 100 Wochen auch auf Grund
freiwilliger Versicherung geklebt haben darf),
während er anderenfalls üOO Beitragswochen
aufweisen muss; aber auch von diesen
letzteren mxlssen nach Ablauf der Ueber-
gangszeit wenigstens 1(X) Marken auf Gnmd
der Versicherungspfliclit oder der Selbst-
versicherung beigebracht worden sein.
Um nnn aber die Wohlthaten des Ge-
setzes bald in die Erscheinung treten zu
lassen und sie auch solchen Berufsarbeiten!
zuzuwenden, welche alsbald, nachdem die
Versicherungspflicht für ihren Berufszweig
in Kraft getreten war, invalid wurden
oder das zum Bezug der Altersrente
berechtigende Lebensjahr erreichten, ohne
Zeit zu haben, die volle Wartezeit zu
erfüllen, ist die Dauer der Wartezeit
für die Uebergangszeit erheblich
verkürzt worden, xmd hierin ist die
NoveDe noch weiter gegangen als das bis-
herige Gesetz. Um die Altersrente zu
erwerben, braucht nämlich derjenige Ver-
sicherte, der bei dem Beginn der Versiche-
rungspflicht seines Benifszweigs (in der
Regel also bei dem Inkrafttreten des
Gesetzes, 1. Januar 1891) über 40 Jahre
alt war, für jedes Jahr, um das er da-
mals älter wai- als 40 Jahre, 40 Wochen
weniger nachzuweisen, als die volle W^arte-
zeit (1200 Wochen) beträgt (§ 190). Er
muss nur während der letzten 3 Jahre, die
dem Inkrafttreten der Versicherungspflicht
seines Berufszweigs unmittelbai* vorange-
gangen sind (also in der Regel in den Jahren
1888 bis 1890), berufsmässig eine Beschäfti-
gung gehabt haben, für die die Versiche-
rungspflicht demnächst eingeführt worden ist,
oder eine Beschäftigimg mit Spinnen, Stricken
und ähnlichen leichten häuslichen Arbeiten,
wie sie landesiiblich von alternden Personen
geleistet zu werden pflegen (§ 190): aber
auch dieser Nachweis wird erlassen, wenn
er innerhalb der ersten 5 Jahre nach
dem Inkrafttreten der Versicheningspflicht
mindestens 2(Xj Wochen hindurch ver-
sicherungspflichtig bescliäftigt worden L<t.
Weiter konnte man auch bei der Novelle
nicht wohl gehen; insbesondere lag kein
ausreichender Grund vor, dem Gesetze
insoweit rückwirkende Kraft zu verleihen,
dass alle alten, bei dem Inkrafttreten des
Gesetzes schon völlig oder doch nahezu er-
werbsunfähigen Leute ohne jede Beitrags-
zahlung die Altersrente erhalten sollten.
Auf Grund jener weitgehenden Ermässigung
der Wartezeit sind im Jahre 1891 für bei-
nahe 133 000 Personen Altersrenten gewähi-t
worden.
Auch für die Invalidenrente hat die
Novelle Uebergangsbestimmungen beibehal-
ten, obwohl diese, nachdem nunmehr lU Jahn?
seit dem Inkrafttreten des Gesetzes von Ib^
verflossen sind, nur noch für solche Per-
sonen Bedeutung haben können, für deren
Benifszweig die Versicherungspflicht erst
später in Kraft getreten ist, insbesondere für
diejenigen Kategorieen, deren Versicherungs-
pflicht durch den Bundesrat auszusprechen
(§ 2) oder durch die Novelle (wie Wi
den Lehrern) neu begründet ist Es s^ili
solchen Versichei'ten, welche innerhalb drr
ersten fünf Jahre von dem Zeitpunkt ab, zu
welchem die Versicherungspflicht für ihren
Berufszweig in Kraft getreten ist, invaUd
w^erden, die Dauer einer vor dem Inkraft-
treten liegenden Beschäftigung auf die
Wartezeit angerechnet werden ; jedoch muss
der Rentenbewerber mindestens 40 Wochen
hindurch versicherungspflichtig gewesen sein,
imd die anzurechnende frühere Zeit mu>s
jedenfalls (§ 189) in die letzten fünf Jahie
vor Eintritt der ErsverbsunÄhigkeit fallen.
7. BerechnuDg der Renten. Jed»"
Rente besteht aus zwei Teilen, nämlich ans
einem festen Zuschuss des Reiches
von jährlich 50 Mark und einem von der
Versicherungsanstalt zu gewäh-
renden, in den einzelnen Lohn-
klassen verschieden hohen Betrage.
Der letztere teilt sich bei der Invaliden-
rente wiederum in zwei Teüe, nämlich den
Grundbetrag und die einzelnen, nach
jedem einzelnen Beitrag sich bemessenderi
Steigerun^sbeträge, während bei der
Altersrente die Steigenmgsbeträge fortfalltu
und nur ein Gnindbetrag gewährt wii\L
Während der Gnmdbetrag der Rente bisher
in allen Lohnklassen gleich war, ist er nach
der Novelle in den einzelnen Lohnklasser
verschieden hoch. Der Gnmdbetrag beläutt
sich in den einzelnen Lohnklassen bei der
Altersrente (§ 37)
Invaliditäts- und Altersversicherung
1373
in Lohnklasse I auf
60 M.
II „
90 „
III r
120 „
" , IV ,
150 ^
V
180 „
bei der Invalidenrente ergeben sich (§ 36)
-wöchentliche
Gnmdbetrag
Steigerung
in Uhnklasse I 60 M.
3 Pf.
II 70 „
6 „
« ni 80 „
8 ,
. " IV 90 „
10 „
V 100 „
12 „
Bei Berechnung des Grundbetrags für die In-
validenrente sind stets 500 Beitrags wochen
zu Grunde zu legen.
Die Renten sind monatlich im voraus zu
zahlen und fiir den Monat auf voUe 5 Pfen-
nig nach oben abzurunden (§ 38) ; sie dürfen
weder vei-pfändet noch übertragen, im
allgemeinen auch nicht gepfändet werden
(§ 55).
Die neuen Sätze ergeben insbesondere in
den höheren Lohnklassen eine zum Teil
nicht unerhebliche Steigenmg der Renten-
beträge. Es erhellt dies aus folgender
Gegenüberstellimg.
Mit Beichsznschnss und monatlichen Abmndnn-
gen beträgt jährlich die Altersrente
°*^^ ^ 'oeset?'"^"'' ^*^^ d^' ^'^^^^«
in Lohnklasse I 106,40 M. 110,40 M.
II 134,60 „ 140,40
III 167,80 ,. 170,40
IV 191,00 „ 200,40
V 230,40
n
die Invalidenrente:
bei
Bei-
trags-
wochen
235 ^)
2500«)
in Lohnklassen
II III
IV
V
bisher
Novelle 1 bisher Novelle 1 bisher , Novelle 1 bisher Novelle I bisher
Novelle
Mark
115,20
157,20
117,60
185,40
124,10
251,40
129,00
270,00
131,40 I 138,60
321,60 1 330,00
141.00
415^80
147,60
390,00«)
157,20
450,00
^) bisherige Wartezeit.
^) 50 Jahre mit je 50 Beitrags wochen ; einen eigentlichen Höchstbetrag kennt das Ge-
setz nicht.
') Lohnklasse IV ist nach der Novelle geteilt, indem daraus eine neue (höchste) Lohn-
klasse V herausgehoben ist.
8. Beiträge und Belastung. Die
Mittel für die Gewähnnig aller durch die
luvaliden Versicherung bedingten Leistungen
werden durch das Reich, die Arbeit-
geber und die Versicherten aufge-
bi-acht. Das Reich entriclitet jährliche Zu-
schüsse zu den einzelnen Renten und trägt
einzelne Verwaltungskosten (vgl. unten) ; die
Arbeitgeber und die Vei^icherten aber zalilen
laufende Beiträge zu gleichen Teilen
für jede Woche, in welcher der Versicherte
beschäftigt war (§ 30).
Die Beiträge sollen die Gesamtaufwen-
dungen der einzelnen Versichenuig-sanstalten
decken. Es scheiden also zunächst
aus diejenigen Leistungen, welche dai<
Reich aus allgemeinen Mitteln gewälui:,
und zwar a) der Reichszuschuss zu
jeder einzelnen Rente (50 M. jälirlich), b)
die auf die Zeiten militärischer Dienst-
leistungen entfallenden Rentenan-
teile, c) die Kosten des Reichs ver-
sicherungsamtes als Aufsichtsbehörde
und letzter vei'waltungsgerichtlicher Instanz
sowie die Kosten der R e c h n u n g s -
stelle, welche die Verteilung der Renten
auf die einzelnen Anstalten vermittelt, d)
dieKosten der Reichspost Verwaltung,
welche die Auszahlung der Renten und den
Verkauf der Marken vermittelt. Ebenso
scheiden diejenigen Kosten aus,
welche aus den Mitteln einzelner Bundes-
staaten zu gewähren sind, nämlich a) die
etwaigen Vergütungen für Schieds-
gerichts vor sitz ende, b) die Kosten
der Landes- Versicherungsämter als
Aufsichtsbehörden und c) die Kosten der
besonderen Postverwaltungen in
Bayern und Wüi'ttemberg. Hiernach bleiben
den einzelnen Vei'sicherungsanstalten zu
decken (§ 20) die Mittel
1. für die Aufbringung der Renten
(§§ 15, 16), soweit sie nicht vom
Reiche getragen werden, und füi* die
Rückzalüung von Beiträgen (§§ 42 ff.),
2. für Krankenpflege (§§ 18, 47) und
sonstige Mehrleistungen, soweit letztere
zulässig sind (§ 45),
3. füi- die eigenen Ver\v'altiuigskosten der
Anstalten.
Die hierzu erforderlichen Beiträge sind
für die einzelnen Lohnklassen ver-
schieden hoch, innerhalb jeder
Lohnklasse aber — ohne Rücksicht auf
1374
luvaliditäts- und Altersversicherung
Alter und Gesundheitszustand — gleich.
Sie sind seit der Novelle nach dem Prä-
miensystem (üiiher nach dem System
der Kapitaldeckung nach Perioden) zu be-
rechnen, sollen also die vollen Kapitalwerte
der von den Versichenmgsanstalten aufzu-
bringenden Rentenanteile so\4ie die Anwart-
schajften der Aktiven auf künftige Reuten
decken, und sie sind für sämtliche Träger
der Versicherung in den einzelnen Lohu-
klassen gleich hoch. Der bislierige
Gnmdsatz, dass jede Versicherungsanstalt
ihre Beiträge besonders festsetzen sollte imd
nur füi* das erste Jahr ein gemeinsamer
Beitrag festgelegt war, ist in der Novelle
verlassen worden, weil sich herausstellte, dass
in Folge von Verhältnissen, auf dei-en Ge-
staltung die einzelnen Vei-sicheruugsanstalten
keinen Einfluss hatten, insbesondere in Folge
der verschiedenen Altersgnippieruug in den
einzelnen Anstalten, deren pekuniäre Belas-
tung zu vei-schieden geworden sein würde
und zu einer weiteren, die ungünstiger ge-
stellten Anstalten geradezu gefährdenden
Verschiebung der Bevölkenmgs Verhältnisse
geführt haben würde. Man hat, \m\ dies zu
vermeiden, ein Gegenseitigkeitsver-
h ä 1 1 n i s unter sämtlichen Trägem der Ver-
sicherung eingeführt und dadurch einen wirk-
samen Ausgleich geschaffen (§ 33). Vom
1. Januar 1900 ab sollen sämtliche laufende
Renten, also sowolü diejenigen, die später
be'N^Tlligt werden, als auch diejenigen, die
bereits früher bewilligt worden waren, aber
noch laufen, zu einem grossen Teil von den
Versicherungsanstalten geraeinsam getragen
werden, und zwai- in folgender Weise. Diejeni-
gen Ausgaben, die von der Höhe der Beiträge
unabliängig sind und immer geleistet wer-
den müssen, sobald nur die Voraussetzungen
für die Leistung der Vemclieningsanstalt
im übrigen vorliegen — insbesondere also
die Grundbeträge der Invalidenrente im
Gegensatz zu den von den Einzelbeiträgen
abhängigen Steigerungsbeträgen sowie die
Altersrenten, die überhaupt nur einen Gnmd-
betrag, aber keine Steigerung haben (diese
aber ausnahmsweise nicTit im Gesamtbetrag
sondern nur zu ^/i) — werden auf die Gesamt-
heit aller Versicheningsträger gelegt; die
sonstigen, von der Zahl und Höhe der Bei-
träge abhängigen oder in der Hauptsache
arbiträren Leistungen, insbesondere die Steige-
nmgsbeträge der Invalidenrenten und die
Verwaltimgskosten, trägt jede Anstalt für
sich allein. Dieser Teilung in eine Ge-
meinlast und eine Sonderlast ent-
spricht die Teilung der seit 1. Januar 1900
aufkommenden Beitragseinnjahmen (von einer
entsprechenden Teilung des vorher bereits an-
gesammelten Vermögens hat man abgesehen)
in ein Gemein vermögen und ein Son-
dervermögen. Das Verhält nis, in welchem
die Gemeinlast zur Sonderlast steht, ist auf
Grund der bisherigen Erfahnmgen reeh-
nungsmässig auf etwa 45 : 55 ermitt»*h
worden; in diesem Verhältnis also müssten
eigentlich die Beiträge in jeder Versirhe-
rungsanstalt geteilt werden. Der Reichstai:
hat aber beschlossen, zur Deekimg der (K»-
meinlast nur 40 vom Hundert der Beitrüge zu
bestimmen, so dass dem Sondervermögen der
einzelnen Anstalten 60 vom Hundert ihrer Bei-
träge verbleiben. Man ging dabei von der An-
nalime aus, dass bei der RentenbelastuuL'
künftig Ersparaisse eintreten wfirden. hd^
Teilungsverhältnis (40 : GO) kann dunh dt-n
Bundesrat geändert werden ; eine Erhöhung:
des dem Gemeinvennögen zufliessemleii
Teils aber bedarf der Zustimmimg de^
Reichstags. Die Teilung in Gemein- und
Sondervermögen ist niu* eine biichmässiire :
jedeAnstalt schreibt 40 vom Hundert ihrer Ein-
nahmen auf das Conto der Gemeinlast un!
fügt demselben regelmässig die Zinsen davou
in der von dem Bundesrat einheitlieh zu U-
stimmenden Höhe hinzu. Hierin besieht <la-
viel berufene sogenannte Ausgleichs verfiahi>':i
der Novelle (§ 33).
Die Höhe der Beiträge belässt dif
Novelle auf 14, 20, 24, 30 Pf. für die I^itrair^-
woche in den verschiedenen Lohnkla>^\
und fügt für die 5. liohuklasse einen B*-:-
trag von 36 Pf. wöchentlich hinzu (?? :V2
Abs. 5). Diese Beiträge haben sich rei-h-
uungsmässig als voraussichtlich dauernd au.—
reichend erwiesen. Eine anderweitige Fe>t-
setzung der Beiträge bedarf der ZustimmuDi;
des Reichstages (§ 32 Abs. G). In d i •
Beiträge haben sich Arbeitgeber
und Versicherte zu teilen. Weuii
ersterer also die entsi)i'echenden Marke!,
katift (siehe unten), so soU der letztere dk
Hälfte des verauslagten Betrages bei «ler
Lohnzahlung sich abziehen lassen und da-
durch ei*statten; will der Versicherte Bei-
träge aus einer höheren Lohnkla&se, als er-
forderlich, entrichtet haben, so darf er ^li»"->
beanspnichen, muss aber den Mehrlielnt:
lülein tragen (§ 34 Abs. 4). Es lifs::
nicht im Sinne des Gesetzes, wen ;
die Arbeitgeber allgemein die vol-
len Beiträge selbst übernehme!.:
das Gesetz wül gi'undsätzlich auch den Ai-
beiter verpflichten, für seine dereinstict .i
Ansprüche auf Rente selbst Beiträge zu ein-
richten. Er soll die Rente dur^Mi
eigene Arbeit und eigene Zahlun-
gen erwerben. Der Arbeitgel>er, weioh»^:
allgemein den voDen Betrag aus eigenvi
Mitteln zahlt, nimmt dem Versicherten je«lr>
Bewusstsein der eigenen Verpflichtimg, ver-
stösst gegen einen wichtigen sozialj^oli::-
schen Grundsatz und handelt weder im
eigenen noch im wohlverstandenen Interes?^
der Versicherten. Dabei ist selbstnHieni
lavaliditäts- und Altersversicherung
1875
nicht ausgeschlossen, dass der Arbeitgeber
einzelnen Versicherten in besonderen Fällen,
insbesondere dann , wenn es sich um eine
auszeichnende Belohnung für besondere
Dienste oder Treue handelt, die Erstattung
seines Anteils erlassen dai'f; dies sollte
aber Ausnahme, nicht Regel sein. Es kann
auch nicht zugegeben werden, dass, wie oft
behauptet wiixi, die thatsäclilichen Verhält-
nisse dazu drängen, dass der Arbeitgeber
den vollen Betrag übernimmt: die Ver-
sicherten müssen an die Selbstleistung nur
erst gewöhnt werden, und n\ir diese Leber-
gangsperiode mag unbequem sein. In der
Krankenversicherung lässt sich die Industrie,
bei welcher diese Art der Fürsorge seit
lange heimisch ist, ausnahmslos den auf die
Arbeiter entfallenden Teil des Beitrages er-
statten, und den letzteren fällt es nicht bei,
hiergegen sich aufzulehnen. Warum sollte
Aehnliches hier und in anderen Berufs-
zweigen ausgeschlossen seinV
9. Erhebung der Beitrage. Die Hohe
der Rente soll sich, wie oben dargelegt
ist, nach der Zahl und Höhe der geleisteten
Wochenbeiträge, d. h. nach der Zalü der
Arbeitswochen in den einzelnen Lohnklassen
lichten, und jede Versicherungsanstalt soll
an dem auf das Sondervermögen entfallenden
Teil der Rente nach dem Verhältnis, in wel-
chem der Versicherte in ihrem Bezirke be-
schäftigt gewesen ist und Beiträge entrich-
tet hat, teilnehmen. Deshalb muss bei der
Erhebung der Beiträge dafür gesorgt wer-
den, dass die einzelnen Wochenbeiträge aus-
einandergehalten werden \\m\ erkennbar
bleiben. Dabei musste gleichzeitig ein
System gefimden werden, Avelches mit thun-
lichst geringer Mühe verbunden wai*; ins-
besondere waren die mit viel Schreibwerk
verbundenen einzelnen Bescheinigungen über
Arbeitszeit und Beitragsleistung zu ver-
meiden. Das Gesetz schreibt vor, dass die
Beiträge, ähnlich wie bei manchen Hilfs-
kassen und wie bei den Pfennigsparkassen,
in (restalt von Marken beigebracht werden
sollen, die in Quittungskarten des Ver-
sicherten einzukleben sind (§ 131).
Jeder Versicherte soll in den Besitz einer
Q uit tu ngs karte gesetzt werden, welche
die Bezeichnung der ersten, für den Inhaber
der Karte örtlich zuständig gewesenen Ver-
sichenmgsanstalt so>\ie Raum zur Aufnahme
von mindestens 52 Beitragsmarken enthält.
Die Karte wird durch die von der Landes-
behöi-de hierzu bestimmten Stellen — in
Preussen im allgemeinen die Ortspolizeibe-
hönlen (Bek. v. 26. Juni 1890), in Bavern
die Gemeindebehörden (Bek. v. 27. Juli 1890),
in Württemberg die Ortsbehörden für die
Arbeitervereichenuig (V. v. 24. Oktober 1890),
in Sachsen (V. v. 2. Mai 1890) und in Hessen
(Bek. V. 30. Oktober 1890) die mit der
Einziehung der Beiträge betrauten Kranken-
kassen, Gemeindebehörden oder sonstigen
Stellen — ausgefertigt. Ist die Quittungs-
karte gefüllt, so wird sie in eine neue um-
getauscht. Der Inhaber ist aber auch schon
früher jederzeit zum Umtausche berechtigt,
insbesondere dann, wenn er an der Karte
irgendwelche geheime Kennzeichen zu be-
merken glaubt, die wie alle nicht ausdrück-
lich zugelassenen Eintragungen und Ver-
merke in und an der (^>uittungskarte verboten
und straffäUig sind (§ 131 Abs. 2, § 139, 184).
Die Quittungskarte soll eben kein
Arbeitsbuch sein. Bei dem Umtausche
wird die Quittungskarte aufgerechnet; da-
bei wird festgestellt, wieviel Marken der
einzelnen Lohnklassen sie enthält; auch
wird die Dauer nachgewiesener Krankheiten
und militäiischer Dienstleistungen, die ja
auch ohne Beiti'äge als Beitragszeiten gel-
ten, auf der Karte vermerkt. Hierüber er-
hält der Inhaber der Karte eine »Bescheini-
gung« (§ 134). Er wird gut thun, sich
diese Bescheinigungen gesammelt aufzube-
waliren, weil er aus denselben jederzeit
über die Höhe seines Anspruchs auf Rente
oder Beitragsrückgewähr sich unterrichten
kann. Es empfiehlt sich deshalb, dass fin-
den Vei-^icherten zur Aufnahme der Be-
scheinigungen Sammelhefte angeschafft
werden, wie sie vielfach zu billigem Preise
zu haben sind. Die umgetauschten Kai^ten
werden dm-ch Vermittelung der für den Ort
des Umtausches zuständigen Anstalt an die-
jenige auf der Karte vermerkte Vei^siche-
nmgsanstalt abgeführt, in welcher der In-
haber seine erste versicherungspflichtige
Beschäftigung geliabt hat (§ 138). Bei die-
ser wenlen seine sämthchen Quittungs-
karten aufgesammelt, so dass sie in ihrer
Sammlung ein fortlaufendes Conto für jeden
Versicherten bilden. An Stelle der Einzel-
karten können nach näherer Bestimmung des
Bundesrates Sammelkarten (Oonten) für
jeden Versicherten angelegt werden (§ 138).
Ist eine Quittungskarte durch den Gebrauch
abgenutzt oder verloren oder vernichtet, so
wird an ihrer Statt eine neue ausgestellt,
in welche die Eintraginigen aus der älte-
ren Karte handschriftlich übernommen wer-
den. Für die Selbstversicherung hat
der Bundesrat besondere Quittungskarten
vorgeschrieben (§ 132) ; letztere haben grau-
blauen Karton, während für die Quittungs-
karten der Versicherungspflichtigen der bis-
herige gelbe Karton beibehalten ist.
Bei regelmässigem Arbeitsverhältnis wer-
den die Karten bald nach Ablauf eines
Jahres gefüllt ^ein und dann umgetauscht
weixlen müssen. Sie dürfen aber, was für
freiwillige Versicherung und für unregel-
mässige Arbeit wichtig ist, 2 Jahre hin-
dtu'ch benutzt werden und werden erst un-
1376
Invaliditäts- und Altersversicherung
giltig, wenn sie nicht vor Schluss dieses
zweiten Jahres umgetauscht sind. Ver-
sichenmgsanstalt und Bundesrat können
eine Verlängerung der Giltigkeitsdauer her-
beiführen (§ 135).
In die Quittungskarte werden nim je
nach der Dauer der Beschäftigung und nach
der Lohnklasse, in welche der Versicherte
fäUt, Marken derjenigen Versicherungsan-
stalt eingeklebt, in deren Bezirke die Be-
schäftigung stattgefunden hat. Für jede
Versicherungsanstalt und Lohnklasse ist je
eine Marke bestimmt, deren Unterschei-
dungsmerkmale jetzt durch die Bekannt-
machung des Reichsversicherungsamts vom
27. Oktober 1899 bestimmt sind. Da-
gegen hat die Novelle die bisherige Zu-
satz- oder Doppelmarke für die frei-
willige Versicherung in Fortfall gebracht;
letztere erfordert fortab keinen besonderen
höheren Beitrag mehr. Der Verkauf der
Marken erfolgt zum Nennwert durch die
Postämter; daneben dürfen die Versiche-
rungsanstalten besondere Verkaufsstellen er-
richten. Die Mai'ken hat der Arbeitgeber
zu beschaffen ; er ist befugt, von denVer-
sicherten die Hälfte des verwen-
deten Betrages sowie den ganzen auf
Verlangen des Versicherten ver-
wendeten Mehrbetrag für Höher-
versicherung wieder einzuziehen
(vgl. oben). Während der Reichstag in dem
Gesetz von 1889 in der wohl nicht begrün-
deten Besorgnis, dass aus einer zu grossen
Zahl der Markenarten Verwirrung entstehen
möchte, vorgesehen hatte, dass nur Marken
für je eine Beitragswoche, also Wochen-
marken ausgegeben wei'den sollten, ist
nimmehr die Novelle zu dem ersten Regie-
rungsentwurf zurückgekehrt, wonach durch
Beschluss des Reichsversicherungsamts ver-
schiedene Appoints von Marken einge-
führt werden können; hierdurch wird das
Klebegeschäft, über dessen Umständlichkeit
vielfach geklagt wird, vereinfacht werden.
Das Reichsversicherungsamt hat von dieser
Befugnis Gebrauch gemacht (Bek. v. 27. Ok-
tober 1899); es giebt danach jetzt Marken
für 1 Woche, für 2 Wochen und für 13
Wochen. Die Marken sind grundsätzlich bei
der Lohnzahlung einzukleben, doch kann die
Versicherungsanstalt andere Termine be-
stimmen. In allen Fällen müssen die auf
die Dauer eines Arbeitsverhältnisses ent-
fallenden Marken spätestens in der letzten
Woche des Kalenderjahres oder, wenn das
Arbeitsverhältnis fri'iher beendigt wird, bei
dessen Beendigung eingeklebt weixlen(§141).
Nachkleben ist fortab im allgemeinen nur
für höchstens 2 Jahre gestattet (§ 146).
Auch für jeden Bruchteil einer Woche mtiss
— falls nicht eine vom Bundesrate für
nicht versicherungspflichtig erklärte vortiber-
gehende Beschäftigung vorli^ — eine
Wochenmarke beigebracht werden, und zwar
von demjenigen Arbeitgeber, welcher solchen
unständigen Arbeiter in der betreffenden
Woche zuerst beschäftigt hat (§ 140 Abs. 2).
Diese Markenverwendung fto unständige
Arbeiter, welche doch aus der Versicherung
nicht ^anz herausbleiben konnten, venu--
sacht in der Praxis natürlich Schwierig-
keiten; solche dürften aber kaimn ganz zn
vermeiden sein.
Die Einklebung der Marken in die
Quittungskarten liegt nach der gesetzlichen
Regel dem Arbeitgeber ob (§ 140). Ys
bleibt aber der Centralbehörde, den Ver-
sicherungsanstalten und auch jedem einzelnen
engeren oder weiteren Kommunalverbande
freigestellt, die Markeneinklebung den Ar-
beitgebern abzunehmen und sie auf Kran-
kenkasse n, Gemeindebehörden oder
besondere Hebestellen zu übertragen
(Einziehung der Beiträge, § 148), wobei
dann Vorschriften über die Anmeldung der
Versicherten erlassen werden dürfen; auch
können die Krankenkassen diese Arbeit für
ihre Kassenmitglieder freiwiUig übernehmen
(§ 152). In Fällen der ersteren Art hat die
Versicherungsanstalt den Krankenkassen eine
Entschädigung zu gewähren, welche van
der Centralbehörde in verschiedener Höhe,
bei Ortskrankenkassen meist auf 3 oder 4
vom Hundert der eingezogenen Betr%e,
festgesteUt worden ist. Wird von dieser
Ermächtigung Gebrauch gemacht, so fällt
die mit dem Einkleben der Marken ver-
bundene, von den Arbeitgebern erfahnmgs-
gemäss oft schwer empfundene Bdä^-
gung fort, zumal besondere Anmeldungen
insoweit, als es sich um kranken ver-
sicheningspflichtige Personen handelt, ent-
behrlich erscheinen; dagegen werden durch
die zu zahlende Entschädigung die Ver-
waltungskosten der Versicherungsanstalten
erhöht. In manchen Bundesstaaten ist
die Einziehung durch Krankenkassen obli-
gatorisch gemacht, so in Sachsen, Würt-
temberg, Baden, Hessen, Hambui^ u. a.: in
anderen Bundesstaaten sind einzdne Städte
mit gleichen Anordnungen vorgegangen, Si->
in Preussen Hildesheim und Bonn. Jeden-
falls bietet sich liier ein Weg, manchen
Klagen über Belästigungen wirksam abzu-
helfen, üeber das »Markensysteme sin«!
Klagen dort, wo die Beiträge in diest-T
Weise eingezogen werden, kaum laut ge-
worden. Durch die Novelle ist auch die
Selbstentrichtung der Beiträge dunh
die Versicherungspflichtigen näher geordnet:
dem Versicherten, welcher selbst klebt steht
ein Anspruch gegen den Arbeitgeber auf
Erstattung der Beitragshälfte zur Seitt^
(§§ 144, 145), soweit er überhaupt einea
Arbeitgeber liat.
Invaliditäts- und Altersversicherung
1377
Eine Entwertung der Marken ist all-
gemein zulässig tmd zum Teil vorgeschrieben.
Nach der Novelle (§ 141 Abs. B) und den
dazu ergangenen Ausfühningsvorschriften des
Bundesrates (Bek. v. 9. November 1899) sind
Marken, die für mehr als eine Woche gelten,
immer und zwar alsbald nach der Ein-
klebung zu entwerten ; Marken für nur eine
Woche müssen beim Einzugsverfahren (s. oben)
und bei der Berichtigung der Quittungs-
karten entwertet werden, im übrigen ist
deren Entwertung fakultativ, kann aber bei
der freiwilligen Versicherung durch Anord-
nung der Landescentralbehörde ebenfalls für
obligatorisch erklärt werden. Soweit hier-
nach Marken noch nicht entwertet sind,
müssen sie beim Umtausch der Karten be-
hördlich entwertet werden. Die Entwertung
darf, abgesehen von dem letzterwähnten Fall,
nur dadurch erfolgen, dass aufdieMarken
der Entwertungstag in Ziffern an-
gegeben wird; eine früher vorgesehene
Art der Entwertung durch Anbringung eines
wagerechten Striches ist schon durch die Be-
stimmungen vom 24. Dezember 1891 aufge-
hoben worden.
Für Seeleute ist von dem Markensys-
tem abgesehen worden, weil dieses hier
schwer durchführbar sein würde ; Dauer und
Höhe der Versicherung wird vielmehr durch
Eintragimg in die Seemannsbücher festge-
stellt, aus welchen gelegentlich besondere
Bescheinigungen erteilt werden, während die
Beiträge von den Reedern, mit besonderen
Nachweisungen über die Ali; und Zahl der
beschäftigten Seeleute belegt oder auf Gnmd
des abgeschätzten Mannschaftsbedarfs jedes
Schiffs in Jahresbeiträgen an die Vei'siche-
rungsaustalt abzuführen sind (§ 167 des Ge-
setzes, Bek. V. 22. November 1890 imd 20.
Dezember 1894). Die bei der Versiche-
rung von Seeleuten beteiligten Versiche-
rungsanstalten der Küstenbezirke haben
eine mit der hanseatischen Versicherungs-
anstalt in Lübeck verbundene besondere Ge-
schäftsstelle zu dem Zwecke errichtet, um
gemäss § 99 des Gesetzes die Versicherung
der Seeleute gemehisam durchzuführen. —
Den zugelassenen besonderen Kassen-
einrichtungen ist die Art der Beiti*ags-
erhebung freigestellt.
10. Verfahren. Die Bewilligung der
Renten erfolgt auf Antrag, nicht von Amts
wegen. Der Antrag ist unter Vorlegimg
der letzten Quittungskarte und der sons-
tigen zur Begründung des Anspruchs dienen-
den Beweisstücke bei der unteren Ver-
waltungsbehörde oder Rentenstelle des
Wohn- oder Beschäftigungsortes anzubringen.
Letztere hat den Sachverhalt klarzustellen
(vgl. oben) und die Sache sodann an die
Versicherungsanstalt ihres Bezirks abzugeben
(§ 112). Diese hat über die Bewilligung der \
Uandwörterbach der StaatswisBenschaften. Zweite
Rente kraft eigenen Rechts selbständig zu
befinden ; sie fungiert bei dem ganzen Ver-
fahren gleichzeitig als Mandatarin aller
übrigen Versicherungsanstalten, zu welchen
der Ansprechende während der Dauer seiner
Versichenmg Beiti'äge entrichtet hatte, ohne
dass sie genötigt wäi'e, mit diesen Versiche-
rungsanstalten wegen Bewilligimg oder Ab-
lehnung der Rente sich in \erbindung zu
setzen (vgl, oben). Wird die Rente ab-
gelehnt oder nicht in dem beanspruchten
Umfange bewilligt, so findet gegen diesen
Bescheid Berufung an das Schiedsgericht
statt; gegen dessen Bescheid ist nur aus
Rechtsgründen Revision bei dem Reichs-
versicherungsamte gestattet. Die bewilligte
Rente wird dem Berechtigten von den Post-
ämtern vorschuss weise ausgezahlt, wogegen
die Rechnungsstelle des Reichsversicherungs-
amtes die Abrechnung sowie die Verteilung
der Renten auf das Reich, das Gemeinver-
mögen aller Versicherungsträger und auf
das Sondervermögen derjenigen Versiche-
rungsanstalten und zugelassenen beson-
deren Kasseneinrichtungen bewirkt, zu denen
der Versicherte während der Dauer seines
Versicherungsverhältnisses Beiti-äge ent-
richtet hatte (vgl. oben).
In ähnlicher Weise wie bei der Fest-
stellung der Renten wird auch bei deren
etwaiger Entziehung (§§ 47, 121) sowie bei der
Erstattung von Beiträgen (§ 128) verehren.
Quellen und Litterator: A. Quellen: IX^
Drucksachen des Reichstags von 1888189 und
1898 99, insbesondere die Vorlagen der verbün-
deten Regierungen nebst Begründungen und
Denkschriften f sowie die Kommissionsberi-chte des
Reichstags. — Amtliche Na chrichten des
Reichsversicherungsamts ; dieselben enthalten seit
1891 einen besonderen Abschnitt für die Jnval.-
Vers. — Ausserdem für Quellen und Litte rat u r :
Die Arbeiter V ersorg u 71 g, Zeitschrift, be-
gründet von J. Schmitz, fortgesetzt von P.
Ho nig mann (Berlin) sowie Die In val i •
ditäts- und Altersversicherung, Zeil-
sehr iß von Fey und Zell er (Dannstadt).
B. Litteratur: Die Litteratur des Ge-
setzes hat sich lebhaft entwickelt. Von den dem
Verfasser bekannt gewordenen Arbeiten s-ind ins-
besondere zu nennen: van der Bovght in
Jahrb. f. Nat. w. Stat., Supplementheft XVI,
S. 4^ (vgl auch Bd. XVIII, S. 1). — Bosse
(preuss. Kulturminister) und \\ Woedthe, Kom-
mentar, ^. Abdr., Leipzig 1891 nebst Nachtrag
1893. — Freund, t. Aufl., Berlin 1891. —
F\ild, Erlangen 1890. — Gebhard, I. und
A.V. der Seeleute, Berlin 1892. — Derselbe,
I. und A.V. der Hausgewerbetreibenden der
Tabakfabrikation, Berlin 1892. — Gebhard und
Getbel, Führer durch das Gesetz, betreffend die
I. und A.V., sowie Anleitung für die Anwendung
desselben, 8. Aufl., 1891. — Dieselben, Die
Arbeiterfamilie und die gesetzliche I. und A. V.,
Altenburg 1890 (behandelt besonders die Ueber-
gangsbestimmungen des Gesetzes von 1889.) —
Henning, I4. Aufl., Greiz 1891, (Diese drei
Auflage. IV. 87
1378
Iiivaliditäts- und Altersversicherung — Jonäk
sind populäre Darsteil ungen.) — tTiistf Berlin
1892. — Kulemann, 2.Aufl,, Berlin 1890. —
Landmann (jetzt bayer. KtUtuaministerJ und
Raspf unter besonderer Rücksichtnahme auf die.
bayer. Verhältnisse, München 1891. — v. Schicker
(württ, BundesreUtberollmächtigter), Kommentar.
— Eine cortrefflirhe systematische Bearbeitung der
Arbeiterversicherungsgesetzgebung des Reiches hat
Professor Hosin in Freiburg unter dem Titel:
nDas Recht der Arbeitetrersichej^tngu unter-
nommen, 1, Berlin 1890; in diesem Werke wird
auch di'e I. und A.V, atisfilkrlick erörtert. —
Femer kurz und prägnant Bornhak, Deutsche
SozicUgesetzgebung, Freiburg (Separatabdruck aus
dem preuss. Üfaatsrechtj Bd. S). — Eine kurze
populäre Darstellung desselben Stoffes ist vom
Kanzleirat Pfafferoth (Berlin 1890) bearbeitet.
— Vgl. auch Laband (2) II, 1 und Seydel,
J)as Recht der Arbeiterversicherung in seiner
Anwendung auf Bayern, Freiburg.
Für die Rechtslage nach dem Erlass der
Novelle seien von den dem Verfasser besonders
bekannt gewordenen Bearbeitungen erwähnt:
Oebhard und IPüttmann (Vors. v. V.A.j,
Kommentar 1900. — Hitze (M. d. R.), Was Jeder-
mann bezüglich der Invalidenversicherung wissen
muss, Berlin (Verl<ig der Germania) 1899. —
Hoffmann (vortr. R. im pr. N.M.), 2. Auß.
(C. Ileymann), Berlin 1900. — Isenbat*t und
Spielhagen (Mitgl. d. R. V.A.) , Kommentar,
Berlin (Carl Ileymann) 1900. ^- Las» und Zahn
(Mitgl. d. R.V.A.) , Einrichtung und Wirkung
der deutschen Arbeiterversicherung, Berlin (A.
Asher) 1900. — Weymann (Mitgl. d. R.V.A.),
Berlin (F. Vahlen) 1900. — v. Woedtke, Text-
ausgäbe mit Anmerkungen, Berlin (J. Guttentag),
7. Aufl., 1900.
V, Woedtke,
träge", herausg. vom deutsch. Verein z. Ver-
breitung gemeinnütz. Kenntnisse in Pra^ über
Schulsparkassen, Postsparkassen (Nr. 68).
Genossenschaft oder Kartelle? Ein volks-
tümlicher Vortrag fNr. 257). — In der
,,Wiener Statistischen Monatsschrift**:
Die internationale Gebändestatistik und die
Volkszählung von 1880 (1879). — In „Jahrb.
f. Nat. u. Stat.": Malthus' Bevölkerungs-
gesetz (N. F. 2. Bd. 1881). — Die iUlienischen
Arbeiterkammern und deren Bedeutung für die
nationale Produktivität (III. F. Bd. 19, 19ÜU.
März und Mai). - Im „Bericht des VI.
intern. Kongresses f. Hygiene und De-
mographie": Die jüngste Entwickelung der
Bevölkerungstheorie, Wien 1887 (auch besonder^
erschienen). — In der „Zeitschrift f. Volks-
wirtschaft, Sozialpolitik und Verwal-
tung" (Wien): Zur Methode der heutigen
Sozialwissenschaft (T. Bd. 1892). — Zur Genesis
der realistischen Wissenschaft, histor.-kritisch^
Skizze, Artikel 1 und 2 (II. Bd. 1893). — Zur
englisch-schottischen Genossenschaftsbewegum;
(III. Bd. 1894). — Der Kollektivismus in den
englischen Ge werk vereinen. — Gewerkvereine
und Produktivgenossenschaft in England (IV. B<1.
1895). — An Biographieen in der „AUgeiu.
Deutschen Biographie**: J. P. Sttssmilch.
In diesem „Handwörterbuch d. Staatsw.":
Achenwall, William Farr, Finlaison, Fletcher.
Red.
John, Yinceuz^
geb. in Schneeberg in Böhmen am 7. XI. 1838, gest.
in Innsbruck im März 1900, studierte in Prag,
Leipzig, Halle, Berlin, habilitierte sich 1880 an
der Universität Bern für Staatswissenschaften
und 1884 an der Universität Prag für politische
Oekonomie und Statistik, wurde 1885 a. o. Pro-
fessor der Statistik an der Universität Czerno-
witz, 1888 a. o. und 1890 ordentlicher Pro-
fessor für Statistik und Verwaltungslehre an
der Universität Innsbruck.
John veröffentlichte a) in Buchform:
Die Vorschuss- und Kreditvereine (Volksbanken)
in Böhmen (herausg. vom „Verein für Geschichte
der Deutschen in Böhmen"), Pra§ 1870. — Der
Name Statistik. Eine etymologisch-historische
Skizze (bes. Abdr. aus der Schweizer stat. Zeit-
schrift), Bern 1883. [Im „Journal of the Sta-
tistical Society", vol. XL VI in Uebersetzung
veröffentlicht.] — Geschichte der Statistik,
I. Teil. Von dem Ursprung der Statistik bis
auf Quetelet, 1835, Stuttgart 1884.
b) in Zeitschriften etc. In den „Mit-
teilungen des Vereins f. Gesch. der
Deutsch en in Böhmen": Zur Sozialstatistik
in Böhmen (VII. Bd.). — Ueber die Konsum-
vereine in Böhmen (VIII. Bd.). — In der
„Sammlung gemeinnütziger Vor-
Jouäk^ Eberhard,
geb. am 12. IV. 1820, gest. am 11. X. 1879 in
Pra^, war 1847 Assistent an der Wiener Uni-
versität und der Theresianischen Ritterakademir,
habilitierte sich 1847 als Privatdozent an dt-r
technischen Hochschule in Wien, folgte 1847
einem Rufe nach der Universität Krakau, wunie
1849 ausserordentlicher und 18G0 ordentlicher
Professor der Statistik und Nationalökonomie
an der Prager Universität und leitete 1865 bis
1867 das Centralkomitee für land- und foi^t-
wirtschaftliche Statistik Böhmens.
Jonak veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Schriften in Buchform: Theorie der Su-
tistik in Grnndzü^en, Wien 1856. (Die Statistik
ist Jonak nicht die Lehre von den menschlichen
Gemeinschaften, sondern Objekte dieser Wissen-
schaft sind ihm^ in zeitgemässer Umgestaltung'
früherer Definitionen vornehmlich der Conrin?-
Achenwallschen Schule, diejenigen Staatsmerk-
würdigkeiten, welche nicht als „starre, leblo^^e
Schemen", sondern als wirkende Kräfte den
lebendigen Organismus des Staates beseelen, nnd
die Statistik hat sich daher nach ihm mit dem
Gesamten geistigen und materiellen Leben der
[enschheit, soweit es im Staate pulsiert nnd
zwar nicht in seiner Fluktuation, sondern im
Zustande der ruhenden, d. h. beschreib-, mes»-
und zählbaren Aktualität zu befassen. Im all-
gemeinen scheint dies mit Schlözers Definidon :
„Statistik ist stillstehende Geschieht«", überein-
zustimmen, aber Jonaks geistvolle wissenschaft-
liche Ausführungen gehen über die Schlözeischc
Darstellungsweise weit hinaus. Joniks „Theorir
Jonäk — Jo vellanos
1379
der Statistik" enthält auch eine Geschichte der
Methodik der Statistik mit Aniehnniiff an Lorenz
T. Stein (System der Staatswissenschaft, Stutt-
fart 18Ö2, mit dem Separattitel: System der
tatistik etc.), dem er auch sein Buch gewidmet.
Diese Anlehiaung" an Stein bezw. die Öster-
reichische Schule trafen ihm Mohl, Haushofer
und teilweise auch Wappäus nach. Letzterer
erklärt übrigens die Schritt ihrer hohen Wissen-
schftftlichkeit wegen, die übrigens auch von
Mohl anerkannt wird, als zur Einführung in
das Studium der Statistik nicht geeignet). —
Tafeln zur Statistik .der Land- und Forstwirt-
schaft des Königreichs Böhmen, Bd. I (einziger)
in 12 Heften, Prag 1861—1872. — Der land-
und lehentäfliche Grundbesitz im Königreich
Böhmen. Statistische Tafeln, ebd. 1865; das-
selbe, 2. Auflage, ebd. 1879. ■— Jonak redigierte
femer ^en österreichischen „Bericht über die
allgemeine Agrikultur- und Industrieausstellung
zu Paris im Jahre 1855", 3 Bde., Wien 1856. —
Vgl. über Jonak: R. v. Mohl, Geschichte
und Litteratur der Staatswissenschaften, Bd. III,
Eriangen 1858, S. 660 und 672. — W u r z b a c h ,
Biographisches Lexikon, Bd. X, Wien 1863,
S. 256 ff. — Ad. Ficker, Der Unterricht in
der Statistik an den österreichischen Hoch-
schulen in den Jahren 1850 — 1875, in „Sta-
tistische Monatsschrift", Jahrg. II, Wien 1876,
S. 116/17, — Derselbe, Eberhard Jonak, Ne-
krolog, in Statistische Monatsschrift etc., Jahrg.
V, Wien 1879, S. 525. — Wappäus, Ein-
leitung in das Studium der Statistik, hrsg. von
O. Gandil, Leipzig 1881, S. 107. — v. Oet-
tingen, Moralstatistik, 3. Aufl., Erlangen 1882,
S. 8. — John, Geschichte der Statistik, Bd. I,
Stuttgart 1884, Vorwort S. VIII, ferner S. 5,6
u. ö. — G. Mayr und G. B. Salvioni, La
statistica e la vita sociale, 2. Aufl., Turin 1886,
S. LXII. — Gabaglio, Teoria della statistica,
2. Aufl., 2 Bde., Maüand 1888, Bd. I, S. 166/67,
262/64, 287/89, 387/91, 437/40, Bd. II S. 2.
Lippert.
Jones, Richard,
geboren 1790 in London, 1820 magister artium.
gestorben 1855 als Professor der National-
ökonomie am Haileybury College, in der eng-
lischen Grafschaft Hertford.
Jones veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Schriften in Buchform:
The distribution of wealth, and on the
sources of taxation, Teil I (einziger): Rent,
London 1831; dasselbe, 2. Aufl. 1844, (Dieses
Werk stempelt Jones zu einem Vorläufer dei*
•Schule, die gegen das Ricardosche Rentensystem
und dessen Lehre von der Verteilung der Güter
Pront macht. Es erschien zu einer Zeit, wo
die nüchterne, an die Schwächen des Ricardo-
schen Systems gelegte Kritik nur erwarten
durfte, von der zahlreichen und die öffentliche
Meinung beherrschenden Anhängerschar des
Meisters niedergekämpft oder ignoriert zu
werden, und von letzterem Schicksal ist es denn
Auch während der ersten zwanzig Jahre nach
Ricardos Tode nicht verschont geblieben. Jones
nahm im Gegensatze zu Ricardo seine Unter-
suchungen über die Grundrente nach der in-
duktiven Methode vor und bekämpfte haupt-
sächlich die folgenden Sätze des gegnerischen
Systems: Eine Erlahmung der Produktivität
der Agrarwirtschaft ist mit der Aufwärtsbe-
wegung der Pächterrenten verbunden; das
Sinken der Kapital gewinnrente steht im Kau-
salnexus zur Rentabilität der Bodenrente;
Steigerung . der Löhne bedeutet Verringerung
des Aapitalgewinnes ; die Interessen der Grund-
eigentümer kollidieren mit denen des Staates
und jeder anderen konkurrierenden Erwerbs-
gesellschaftsklasse. — Introductory lecture on
political economy, with a syllabus of a course
of lectures on the wages of labour, Londoa
1833. — Nach seinem T(äe erschienen : Literary
remains, consisting of lectures and tracts on
political economy. Edited, with a prefatory
nolice by (the Rev.) W. WheweU, London 185».
, Vergl. über Jones: Edinburgh Review,
Bd. LIV, Edinburg 1831. (Ausftihrüche, ab-
fällige, vermutlich von Mac CuUoch herrührende
kritische Würdigung des ^distribution of
wealth".) — Blanqui, Histoire de l'^conomie
polit., 3. Aufl., Paris 1845, Bd. ü, S. 382/83. —
Dictionnaire de Teconomie polit., 2. Aufl., Bd. 11,
Paris 1854, S. 8. — Kautz, Theorie und Ge-
schichte der Nationalökonomik, Bd. 11, Wien
1860, S. 515 und 520. — Berens, Kritische
Dogmengeschichte der Grundrente, Leipzig 1868,
S. 240/45. — Ingram, History of political
economy, Edinburg 1888, S. 142-45. — Pal-
grave, Dictionary, vol. II, London 1896, S, 409 f.
Lippei't,
Jovellanos, Don Gaspar Heichor de,
geb. am 5. I. 1744 zu Gijon in Asturien, gest.
daselbst am 27. XL 1811, trat 1767 in den
Justizdienst, wurde 1780 Staatsrat, im näm-
lichen Jahre Ordensrat und 1797 unter dem
Premierminister, Herzog von Godoy, Minister
der Justiz und der Gnadensachen in Madrid.
Als Ordensrat hatte er durch eine Denkschrift
für Besteuerung der geistlichen Besitzungen
und als Minister durch den Versuch einer Unter-
stellung des heiligen Offiz unter das gemeine
Recht, sich mit dem hohen Klerus veneindet,
der durch den Einfluss des Grossinquisitors 1801
seinen Sturz herbeiführte, worauf Jovellanos in
dem Kapuzinerkloster Valdemuza auf der Insel
Mallorca interniert und 1802 im Staatsgefangnis
zu Belver eingekerkert ward, aus dem ihn erst
1808 die französische Invasion befreite.
Jo?ellanos ist nicht der Schöpfer einer neuen
Schule, aber er bedeutet für sein Vaterland
den Bahnbrecher zu den wirtschaftlichen An-
schauungen, welche die neuere wissenschaftliche
Nationalökonomie Spaniens beherrschen. Aus
einem Physiokraten wandelte er sich in einen
Smithianer, noch ehe Smiths „Wealth of nations^
(1794) in der Ortezschen Uebersetzung in Spanien
eingeführt wurde. Die vom Merkantilismus um
Spanien gezogenen Zolllinien und zu Gunsten
der HandelsbUanz aufgerichteten hohen Tarife,
überhaupt alle noch vom Mittelalter her kon-
servierten Verkehrshindernisse bekämpfte er im
87*
1380
Jovellanos — Irrenwesen
Geiste des Industriesysteins, das ihm auch in
seiner Steuerpolitik als Richtschnur diente. Sein
Bestrehen, die damiederliegende Landwirtschaft
mit Aufhietung aller staatlichen und sozialen
Mittel zu heben, will als erster reformatorischer
Schritt zur Lösung der damaligen Agrar- und
Gmndherrschaftsfrage Spaniens betrachtet sein.
Jovellanos veröffentlichte von Staats wissen-
schaftlichen Schriften in Buchform: Dictamen
de la Junta formada de orden de S. M. para el
examen y aprobaciön de un bauco nacional,
Madrid 1782. — Memoria sobre el estable-
cimiento de monte pio di hidalgos de Madrid,
leida en la Real Sociedad de Madrid, en 12 de
Marzo de 1784, ebd. 1784. — Consulta de la
Junta formada para la resoluciön de un ex-
pediente sobre la necesidat de fomentar nuestra
marina mercantil, ebd. 1784. — Dictamen de
la Real Junta de comercio en el expediente
seguida sobre renovar 6 revocar la prohibicion
de la intraduccion y uso de la museleni, ebd.
1784. — Informe a la Junta general sobre la
libertad de artes, ebd. 178ö. — Informe de
la Sociedad econömica de Madrid al Real y
supremo Consejo de Castilla en expediente de
ley agraria, ebd. 1796; dasselbe, 2. AuA., Palma
1814; dasselbe, 3. Aufl., Madrid 1820; dasselbe
in deutscher Uebersetzung u. d. T.: Gutachten
der ökonomischen Gesellschaft zu Madrid ttber
die ihr vors-elegten Entwürfe zu einer land-
wirtschaftlicnen Gesetzgebung. Aus dem Spa-
nischen von H. V. Beguelin, Berlin 1816.
(In dieser bedeutendsten seiner sozialökono-
mischen Schriften fordert er eine gerechte Be-
lastung des geistlichen Grundbesitzes, Auf-
hebung des Exemptionsrechtes der unveräusser-
lichen Güter, der Fideikommisse und Majorate,
Aufhebung des Privilegiums der Mesta, Be-
seitigung jeder Beschränkuns: der freien Ent-
wickeluug des Verkehrs, radikale Reform des
bestehenden Steuersystems, Bekämpfung der
wirtschaftlichen Unwissenheit der spanischen
Landwirte durch die Regierung. Die Schrift
machte grosses Aufsehen, hatte jedoch auf die
Verbesserung der Lage der spanischen Land-
wirtschaft keinen Einnuss. Der spanische Bauer
fühlte sich überhaupt auf seinen Zwergwirt-
schaften und kleinen Erbpachtgütem ganz wohl ;
sein angeborenes Phlegma liess es zu Jovellanos'
Zeiten noch ruhig geschehen, dass die dortige
Wiesenkultur die vernachlässigtste unter den
romanischen Staaten war, obgleich dieselbe,
mit Zuhilfenahme der von den Mauren über-
kommenen vortrefflichen Rieselanlagen, bei etwas
Thätigkeit die reichsten Futtererträgnisse hätte
abwerfen können. Auch Jovellanos' Ausfälle
gegen die Mesta erwiesen sich erfolglos, und
nach wie vor wurden die racas transhuraantes
o<ler die wandernden Merinoschafherden der
Prälaten und Notabein, der Wollent Wickelung
wegen, zweimal im Jahre auf einem breiten
Triftwege durch Spanien getrieben.) — Jovella-
nos übersetzte gegen 1797 Rousseaus „contrat
social". — Gesammelte Werke, einschliesslich
seiner schön wissenschaftlichen Schriften: Caiie-
dosche Ausgabe, 7 Bde., Madrid 1830—32; das-
selbe, 2. Aufl., 8 Bde., Barcelona 1839—40. —
Biblioteca de autores espafiolas, Bd. 46 und 50,
herausgegeben von Nocedal, Madrid 18ö8— 59.
— Oracioues y disoursos, Madrid 1880.
Vgl. über Jovellanos: Jovellanos, Me-
moria a mis compatriotas, en que se rebaten
las calumnias, etc., Coruna 1811 (als eine Art
Selbstbiographie zu betrachten). — Edinburgh
Review, Bd. XIV, Edinburg 1813. — Bermu-
dez, Memoriaa para la vida del Seaor Don
Gaspar Melchor de Jovellanos, Madrid 1814. —
Er seh und Gr über, Encyklopädie, Sektion II,
Teil 23, Leipzig 1844, S. 280ff. — Coimeiro,
Storia della economia politica in Es^uia, Bd. I,
Madrid 1862. — Baum garten, Don Gaspar
Melchor de Jovellanos, in Sybels „Historische
Zeitschrift", Bd. X, München 1863. — Nouveau
dictionnaire d'economie polit., Bd. II, Paris
1892, S. 104/105. — Carracido, JoveUanos,
Madrid 1893.
LipperU
Irrenwesen
(einschliesslich Irrenstatistik und
Irrenge setz gebung).
I. Fürsorge für die Geisteskranken
1. Einleitung. 2. Begriff und Umfang. 3. Irren-
anstalten. 4. Landwirtschaftliche Kolonie und
familiale Verpflegung. 5. Kranke ausserhalb
der Irrenanstalten. 6. Irre Verbrecher. II. I r r e n -
Statistik. IIL Die Irrengesetzgebung
in den einzelnen Ländern. 1. Deutsch-
land. 2. England. 3. Schottland. 4. Frank-
reich. 5. Belgien. 6. HoUand. 7. Norwegen.
8. Schweden. 9. Andere Länder.
I. Fürsorge für die Geisteskranken.
1. Einleitnnff. Dass die Geisteskrank-
heiten (Irrsinn, Psychosen) auf körperlichen
Ursachen beruhen und Krankheiten des
Nervensystems, speciell des Gehirns sind,
ist heute unbestritten. Trotzdem werden
sie in der Gesetzgebung von anderen Krank-
heiten geschieden, weil in ihnen die Fähig-
keit, richtig zu fühlen, zu denken und dem-
entsprechend zu handeln, mehr oder weni-
ger aufgehoben ist. Dieselben Erscheinun-
gen wie die eigentlich so genannten Geistes-
kranken bieten, wenn auch in anderer
Gruppienmg und in anderem Verlaufe, frei-
lich auch viele andere Kranke, deren Ner-
vensystem diu'ch Fieber, diux^h Gifte (Chloro-
fonn, Alkohol etc.) angegriffen ist. Bei
ihnen, wie bei den eigentlichen Geistes-
kranken, muss bisweilen aus gleichen Grün-
den, sei es zum Schutze der Umgebung,
sei es zu ihrem eigenen Wohle, Zwang
ausgeübt werden, auch sie können ebenscn
wenig wie jene für die in diesem Zustande
vorgenommenen Handlungen verantwortlich
gemacht werden. Dass man trotzdem diese
Stöningen in praktischer Beziehung nicht
zu den Geisteskrankheiten rechnet, geschieht
-weniger aus inneren als aus Zweckmässif:-
keitsgriiuden. Sie gehen zu rasch vorüben
imi besondere rechtliche Massregeln not-
wendig zu machen, und sie bedürfen zu
ihrer Behandlung keiner Specialanstalten.
Irrenwesen
1381
Bis in die Neuzeit hinein beschrankte sich
die staatliche Fürsorge darauf, die Gesellschaft
vor Schädigung durch Geisteskranke mittelst
Freiheitsbeschränkung und eventuell Entmün-
digung derselben zu sichern. Ein neuer Ge-
sichtspunkt trat erst hinzu mit der Ausbildung
der heutifi^en Irrenanstalten, die nicht nur dem
Zwecke der Sicherung der Kranken und der
Gesellschaft, sondern auch der Heilung dienen
sollten. Da die Erfahrung die Anstalt als
mächtigstes Heilmittel erwies und zugleich
zeigte, dass der Heilerfolg um so grösser war,
je früher ihr die Kranken anvertraut wurden,
so musste naturpfemäss das Streben dahin gehen,
auch solche Geisteskranke, welche nicht oder
noch nicht gefährlich schienen, in die Anstalten
aufzunehmen. Andere Gründe kamen dazu, den
Irrenanstalten eine weitere Thätigkeit und eine
erhöhte Bedeutung zu schaffen. Das Anwachsen
der Bevölkerung wirkte in stärkerem Masse auf
die Menge der Anstaltsbedürftigen ein, als der
einfachen Vermehrunff entsprach, weil dichteres
Zusammenwohnen schon geringere Abweichun- 1
gen vom Normalen auffällig und unerträglich
machte. Die höheren Anforderungen, die das
moderne Leben an den einzelnen stellt, der im
Kampfe ums Dasein nicht erliegen will, die
grössere Unruhe und die unendlich zahlreicheren
Beize, die das Nervensystem des heutigen
Menschen treflFen, brachten eine leichtere Ab-
nutzung desselben zu stände. Endlich liess die
zunehmende Ausbildung der Psychiatrie Krank-
heit häufig auch dort erkennen, wo mau sonst
nur moralische Schäden sah, und nahm ein
grösseres Gebiet auch für die Anstaltspflege in
Anspruch. Alle diese Wandlungen machten die
gesetzliche Regelung des Irrenwesens wichtiger
und zugleich schwieriger, sie schufen aber auch
eine oft erhebliche Verschiedenheit des Stand-
punktes bei denen, welche berufen schienen, bei
der Lösung dieser Schwierigkeiten mitzuwirken.
Während von juristischer Seite die Sicherung
der Person und der Gesellschaft vor allem er-
strebt wurde, stellten die Aerzte im allgemeinen
den gewiss ebenso berechtigten Gesicntspunkt
der Heilung in den Vordergrund.
Besonders über die Art, wie Geisteskrank-
heit im einzelnen Falle festzustellen ist, gehen
die Ansichten auseinander. Im allgemeinen
wird wohl grundsätzlich allerseits zugegeben,
dass Geisteskrankheit, soweit sie rechtliche
Folgen haben soll, vom Arzte als Sachverstän-
digen geprüft und begutachtet, dann aber auf
gerichtlichem oder administrativem Wege staat-
lich anerkannt werden muss. Aber die Mit-
wirkung des Arztes, die nach Analogie anderer
Krankheiten ausschlaggebend sein müsste, wird
vielfach möglichst einzuengen gesucht, weil in
keinem anderen Gebiet« der Medizin der durch
keine Sachkenntnis beschwerte Verstand des
Laien so sicher zu urteilen pflegt wie in der
Psychiatrie, und weil nirgends der Zweifel am
ärztlichen Ausspruch so leicht sich regt wie hier.
Und das ist durchaus verständlich. Wie
überall in der Natur, sind die Uebergängje
zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit
fliessend, und es ist bisweilen auch für den ge-
übtesten Arzt schwer und erst nach längerer
Beobachtung möglich, zu entscheiden, ob ein
einzelner Fall noch in die Breite der Gesund-
heit fällt oder nicht. Sehr selten wird auch die
sorgfältigste Untersuchung Zweifel hierüber
bestehen lassen. Häufig aber wird der Kenner
dieser Zustände Geisteskrankheit zweifellos fest-
stellen können, wo der Laie nur berechtigfte
Eigentümlichkeiten des Vorstellens oder Stim-
mungsänderungen sieht, die ihm noch nicht
krankhaft erscheinen. Leicht befremdet es,
wenn der Arzt dieselbe Vorstellung oder die-
selbe Stimmungslage bei einem Menschen für
gesund, bei dem anderen als krank ansieht.
Aber dieselbe Vorstellung, dieselbe Stimmung
kann aus ganz verschiedenen Ursachen ent-
stehen und durch das Hinzutreten anderer Er-
scheinungen, die, für sich betrachtet, vielleicht
auch nicJt entscheidend sind, eine ganz ver-
schiedene Bedeutung erhalten. Es ist eben nie
ein einzelnes Symptom, das die Diagnose der
Geisteskrankheit rechtfertigt. Dieselbe wird
stets, wie dies bei jeder anderen Krankheit del*
Fall, auf der zusammenfassenden Beurteilung
des Ganzen beruhen. Diese jedem naturwissen-
schaftlich Gebildeten durchaus geläufige und
auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und
so auch der Psychiatrie allein mögliche Be-
trachtungsart erscheint Femerstehenden leicht
als Willkür.
2. Begriff und Umfang. Unter Irren-
wesen ist die Fürsorge für alle Geistes-
kranken zu verstehen^ sowohl für die, die in
der eigenen oder einer fremden Familie
leben, wie für die kleinere Zahl derer, die
sich mit oder gegen ihren Willen in Iri-en-
anstalten befinden. Diese Fürsorge ist im
weitesten Sinne zu nehmen, sie mag vom
Staat oder staatlichen Verbänden, von ein-
zelnen oder durch öffentliche Wohlthätigkeit
geleistet werden.
Irrengesetzgebung bedeutet für uns
die gesetzliche Regelung des Irrenwesesn,
die in umfassender Weise bisher nur von
einzelnen Staaten unternommen wurde. In
anderen helfen Verordnungen über den
Mangel hinweg oder der Staat ist sich seiner
Verpflichtimg nach dieser Richtung noch
nicht bewusst geworden.
In bestimmten Fällen muss der Staat
von dem Bestehen der Geisteskrankheit
Notiz nehmen. Dies einmal, wenn ein
Kranker Handlungen begeht, die ihn mit
dem Strafgesetz in Konflikt bringen, ferner,
wenn er Bestimmungen treffen will oder
Aussagen machen soU, die der Natur der
Sache nach einen normalen Geisteszustand
zur Voraussetzung haben, endlich, wenn er
aus Gründen der öffentlichen Sicherheit
oder zu seiner Heilung der Freiheit beraubt
wird. Diese drei Fälle bedingen notwendig
eine staatliche Regelung, auch wenn der
humane Gesichtspunkt der Fürsorge für
jeden Kranken noch nicht ziur Geltung ge-
langt ist.
Aus praktischen Gründen wird jedoch
die Irrengesetzgebung nicht alle gesetzlichen
Bestimmungen lunfassen, die sich auf Geis-
teskrankheit beziehen. Ein Teil derselben
ist des Zusammenhangs wegen besser im
1382
Irrenwesen
Strafreoht^, ein anderer Teil im Civürecht
untergebracht. Unzweifelhaft gehört zur
Irrengesetzgebung nur die Regeliuig der
Irrenpflege in und ausserhalb specieller An-
stalten und ihi'er Beaufsichtigung, und sie
ist auch der wesentliche Inhalt der beste-
henden zusammenfassenden Irrengesetze.
In einzelnen Staaten umfassen diese da-
neben auch die Sorge für das Eigentum
der Kranken und die Bevormundung der-
selben.
3. Irrenanstalten. Irrenanstalten sind
Kraukenhäuser und in ihrem Betriebe von
den übrigen niu* so weit unterschieden, als
eben die besondere Form der Erkrankung
besondei'e Heilmethoden verlangt. Aber der
trennende Punkt, der den Irrenanstalten
eine besondere rechtliche Stellung anweist,
ist der, dass in ihnen Kranke auch gegen
ihren Willen zur Aufnahme gelangen und
eventuell lange Zeit, zuweilen bis an ihr
Lebensende unter Beschränkung ihrer Wil-
lensäusserungen verbleiben müssen. Der
Staat muss deshalb die Aufnahme und den
Yerbleib solcher Kranken unter seine Auf-
sicht stellen. Andererseits aber muss diese
Aufsicht mögliehst ohne Belästigung der be-
treffenden Kranken geschehen, damit diesen,
die ja gerade vor störenden Einwirkungen
geschützt werden sollen, nicht geschadet
w^ird und damit die Angehörigen nicht ab-
geschi'eekt werden, auch in leichteren und
namentlich frischen Fällen die Wohlthat der
Anstaltsbehandlung ihren Kranken zu teil
werden zu lassen. Denn je mehr die Auf-
nahme erleichtert wird und je mehr sie
sich der in anderen Krankenhäusern anreiht,
um so früher entschliessen sich die Fami-
lien, ihre Kranken dorthin zu geben, und
ein um so geringerer Bruchteil der letzteren
wird unheilbar.
Alle civüisierten Staaten haben Irrenan-
stalten errichtet oder diurch ihre Provinzen,
Landverbände oder Städte errichten lassen.
Da aber einerseits diese bisher fast nirgends
für das vorliandene Bedürfnis ausreichen,
andererseits das öffentliche Interesse nicht
notwendig erheischt, für die wohlhabende-
ren Kranken den ihren Verhältnissen ent-
sprechenden Komfort herzustellen, so haben
sich schon früh neben den öffentlichen
Anstalten Privatanstalten erhoben und
bilden jetzt in den meivSten Staaten eine sehr
wünschenswerte Ergänzung der ersteren.
Sie sind in der Regel für die wolilhabenden
Stände bestimmt, doch haben manche auch
dmxih Vertrag mit Staat oder Provinz die
Pflöge armer, gewöhnlich unheilbarer Geis-
teskranker übernommen, soweit die öffent-
lichen Anstalten keinen Raum für dieselben
bieten. Das neuerdings in einigen Ländern
auftauchende Bestreben, sie gänzlich abzu-
scliaffen , wird nur dann zu billigen sein,
wenn der Staat in ausreichender Weise nicht
nur für die ärmeren, sondern auch für die
reicheren Geisteskranken entsprechende An-
stalten baut Berechtigter eracheint dagegen
der Wunsch, dass der Staat die Erlaubnis
zur Leitimg einer Anstalt nur psychiatrisch
gut ausgebildeten Aerzten giebt, deren Per-
sönlichkeit eine Gewähr gegen Vernach-
lässigimg von Kranken in sich schliesst
Denn diese ist es, die man bei schlechter
Leitung zu fürchten hat nicht die Aufnahme
von Gesunden, die dem grosseh Publikum
durch Bestechung von Aerzten so leicht
dem Sachverständigen unmöglich erscheint
da sie dem Pflegepersonal nicht verborgen
bleiben könnte und in kurzem den sicheren
Ruin der Anstalt herbeiführte. Mehr aber
als alle Beaufsichtigimg wird stets die
Tüchtigkeit des Leiters und das im eigen-
sten Interesse des Unternehmers liegen<le
Streben, die Anstalt als eine gute anerkannt
zu sehen, vor ernsteren Missbnluchen schüt-
zen. Dass übrigens das auch bei uns Im^-
stehende Vorurteil gegen Anstalten und
namentlich Privatanstalten in einem grösse-
ren Teil des Publikums allmählich ver-
schwindet, zeigt die beständig steigende
Zahl der Patienten, die freiwillig die An-
stalt aufsuchen. Häufig sind dies solch»\
die bei früherer Erkrankung die Wohlthat
der Anstaltspflege an sich selbst kennen
gelernt haben.
Jenes Vorurteil und das noch nicht überall
überwundene Misstraaen gegen Irrenanstalten
stammt ans früherer Zeit, als nicht Heilan^
und Pflege, sondern UnschädUchmachung der
Kranken das Ziel der Anstalten war. Aus
teilweise schrecklichen Zuständen haben sich
diese, seitdem sie in die Hände der Aerzte tiber-
gingen, allmählich in die heutigen Verhältnisse
hinübergerettet. Auch der Ueber^ng, der
liauptsächlich in das erste Drittel dieses Jahr-
hunderts fiel, war von bedenklichen Ausschrei-
tungen nicht frei, weil die damaligen Aerzte
sich erst allmählich von philosophischen Voreüi-
genommenheiten befreien mussten und der
Satz, dass Irresein eine Krankheit wie andere
sei, erst allmählich den ärztlichen Generationen
in Fleisch und Blnt übergehen konnte. Aber
seitdem dies der Fall, hat das Bestreben, den
Kranken möglichste Freiheit zu geben, in den
Anstalten stets vorgewaltet und denselben nach
nnd nach einen ganz anderen Charakter aufge-
prägt. Man lernte immer mehr mechanische
Beschränkung durch sorgfältige Aufsicht nnd
Aufwendung reichlicherer Geldmittel vermeiden,
und die vielgenannte Zwang^acke sieht man in
den meisten Anstalten jetzt fast nur dann,
wenn ein Kranker ihr darin von aussen zuge-
führt wird. Neben möglichster Ruhe und dem
Fernhalten schädlicher Einflüsse nnd Reize, der
Unterordnung aller unter einen festen nnd ziel-
bewussten Willen , dem der einzelne sich, hier
unter dem Eindnck des von vielen anderen $re-
ß-ebenen Beispiels leichter fügt, war es 9er
Segen nutzbringender Arbeit zu rechter Zeit,
dessen Bedeutung in der modernen Irrenbefaand-
Irrenwesen
1383
lung immer mehr anerkannt wurde. Dass
neben der im Torstehenden ^anz allgemein an-
fedenteten psychischen Einwirkung unsere Zeit,
ie in den öeistesstörungen nur eine besondere
Krankheitsgruppe erkennt, die Behandlung und
namentUch Kräftigimc des Körpers nicht ver-
absäumt, wo eine solche förderlich erscheint,
bedarf kaum der Erwähnung. Zeigt sich doch
nirgends so deutlich als bei den Erkrankungen
des Nervensystems die Abhängigkeit des geisti-
fen Befindens vom körperlichen und umgekehrt
as körperlichen vom geistigen !
In der statistischen Angabe der verschiede-
nen Formen jjeistiger Erkrankung findet sich
öfters auch die Rubrik „nicht geisteskrank".
Die unter dieser Bezeichnung aus den Anstal-
ten Entlassenen sind zum Teil solche, die zur
Untersuchung ihres Geisteszustandes aufgenom-
men waren , bisweilen kommt es aber auch in
den Ländern, die die strengsten Aufnahmebe-
stimmungen haben, vor, dass ein Irrtum ausser-
halb der Anstalt erst bei der genaueren An-
staltsbeobachtung auf diese Weise verbessert
wird.
Mit den Universitäten pflegen jetzt in
den meisten Landern IiTenkliniken verbun-
den zu sein, in denen neben dem Zwecke
der Heilung die Kranken auch dem Lehr-
zweck dienen. Die Befürchtung, dass dies
einen nachü^iligen Einfluss auf dieselben
ausüben konnte, hat sich als grundlos her-
ausgestellt, sofern hierbei mit dem notigen
Takte verfahren wird. Obwohl diese Klini-
ken sich im übrigen von Iri-enanstalten resp.
In*enabteilungen grösserer Krankenhäuser
nicht unterscheiden, bestehen in manchen
Erleichterungen der Aufnahme, um ihnen
für die wissenschaftliche Beobachtung und
zur Demonstration ein möglichst geeignetes
und reiches Kranken material zu sichern.
Zwei bestimmte Kategorieen von Geistes-
kranken wurden bisher meist stiefmütter-
lich beliandeit: die geistesgestörten
Epileptiker und die Idioten, d. h.
Kranke mit erheblichen angeborenen oder in
den ersten Lebensjahren erworbenen geisti-
gen Defekten. Ihre Unterbringung in liTen-
anstalten erfolgt nur ansnahmswcise , und
oigene Idioten- und Epileplikeranstalten wur-
den wenigstens in Deutschland bis jetzt
meist der Privat wolilthätigkeit überlassen,
die für Idioten nalimen zudem in der Regel
nur besserungsfähige Kinder auf. Doch wird
auch für diese Kranken allmälilich bessere
Fürsorge getroffen, in Preussen namentlich,
seitdem durch (t. v. 11. Juli 1891 die Land-
armenverbände hierzu veraflichtet sind.
Dieselben suchen zwar vorläufig vielfach
durch Verträge mit Privatanstalten, zumal
solchen geistlicher Korporationen, sich dem
Bau eigener Anstalten zu entziehen. Wie
jedoch »geistliche Irrenanstalten« zwar noch
m stattlicher Anzahl vorhanden sind und
sogar von einzelnen Provinzen noch neuer-
dings untci-stützt werden, im allgemeinen
aber immer mehr als überwundener Notbe-
helf angesehen w^erden, so wird voraussicht-
lich auch die Anstaltspflege der Epileptiker
lind Idioten aUmählich in immer weiterem
Umfange von den Landarmenverbänden un-
mittelbar übernommen werden.
4. LsLndwirtschaftliche Kolonieen and
faniiliale Verpfleg[ang. Das Suchen nach
Mitteln, den psychisch Kranken möglichste
Freiheit und Behaglichkeit zu gewähren,
hat im Verein mit der Notwendigkeit, immer
zahlreicheren Kranken Unterkunft zu ver-
schaffen, neben den Anstalten hauptsächlich
zwei Verpflegungsfonnen in Aufnahme ge-
bracht, die landwirtschaftliche Kolonie und
die familiale Verpflegung, beide von wach-
sender Bedeutung für die Irrenfürsorge.
Die landwirtschaftliche Kolonie besteht da-
rin, dass Kranke auf einem ländlichen Gute
unter der nötigen Aufsicht untergebracht sind
und die landwirtschaftliehen Arbeiten selbst
ausführen. Eine CeiitralanstaU? in welche un-
ruhige und ungeeignete Kranke jederzeit ge-
bracht werden können und welche die Auswahl
der für die Kolonie passenden Kranken besorgt,
hat sich als notwendig herausgestellt. Aber
auch die übrigen Anstalten suchen in immer
wachsender Zahl ihre Insassen durch die ge-
sunde und zugleich produktive landwirtschaft-
liche Arbeit zu beschäftigen und kleinere Guts-
höfe in der Nähe oder in einiger Entfernung
mit ihnen zu belegen, so dass zahlreiche Ueber-
gänge von der Anstalt, in der nebenbei
landwirtschaftliche Beschäftigung getrieben
wird, zur eigentlichen Kolonie existieren.
Die familiale Verpflegung, d. h. die Unter-
bringung eines oder mehrerer Kranken in einer
fremden oder auch verwandten Familie ist inso-
fern älterer Herkunft, als im belgischen Dorfe
(rheel die Bewohner seit langer Zeit fremde
Irre, die in der dortigen Kapelle der heiligen
D3^mphna genesen sollten, bei sich aufnahmen
uhd so im Laufe der Jahrhunderte allmählich
einige Uebung und grossen Ruf in der Pflege
Geisteskranker erwarben. In der Mitte dieses
Jahrhunderts überschätzt und als „Paradies der
Irren" gepriesen, ist Gheel nach Abstellung
zahlreicher Missstände und Einführung notwen-
diger Reformen noch gegenwärtig ein hervor-
ragender Beweis der Möglichkeit ausgedehnter
Familienpflege. Ferner sind in Schottland und
Deutschland erfolgreiche Versuche nach dieser
Richtung gemacht worden. So waren im Jahre
1888 in Schottland 2270 arme Geisteskranke auf
diese Weise untergebracht, und diese Zahl be-
lief sich am 1. Januar 1899 bereits auf 2702
oder 20,7^/0 aller armen, d. h. auf öffentliche
Unterstützung ganz oder teilweis angewiesenen
Geisteskranken Schottlands, davon befanden sich
mehr als */ft in fremden Familien. In Deutsch-
land sind solche Versuche namentlich von der
Privatanstalt Uten bei Lehrte und neuerdings
von der Anstalt Uchtspringe mit gutem Erfolge
ausgegangen. — Bei der familialen Verpflegung
ist aus gleichen Gründen wie bei der landwirt-
schaftlichen Kolonie als Mittelpunkt eine Cen-
tralanstalt zu erspriesslichem Gedeihen erfor-
derlich.
1384
Irreiiwesen
Die familiale Vei-pflegung wird sich nicht
ilberall durchführen lassen. Zwar sind seit
1885 sogar in Berlin erfolgreiche Versuche
damit gemacht worden, am meisten jedoch
passen ländliche Gremeinden mit sessliafter,
nicht ganz armer, ordentlicher Bevölkerung.
Aber mehr noch scheint die landwirtschaft-
liche Kolonie berufen, Kranke aufzunehmen,
welche zwar mehr oder weniger arbeits-
fällig, aber zum Leben in der Aussen weit
unbrauchbar sind. Jedenfalls wird diux^h
die beiden hier besprochenen Yerpflegungs-
formen eine Reihe von Elranken in natür-
lichere und darum häufig anheimelndere
Verhältnisse versetzt und in den Anstalten
der so notwendige Platz für frisch Erkrankte
frei gemacht.
5. Kranke ausserhalb der Irrenan-
stalten. Die familiale Verpflegung, die von
einer Centralanstalt aus geleitet wird, büdet
den Uebergang ziu* Pflege von Geisteskran-
ken in der eigenen oder in fremden Fami-
lien ohne Zusammenhang mit einer Anstalt.
Zumal in der wohlhabenden ßevölkerimg
können viele Kranke, die in günstigen
Wohnungs- und Familienverhältnissen leben,
daheim behandelt oder wenigstens frühzeitig
nach Haus entlassen werden, und ihre Zahl
wird zunehmen, je mehr psychiatrisches Wis-
sen Allgemeingut der praktischen Aerzte
wird. Viele Formen werden freilich auch
unter den günstigsten äusseren Verhältnissen
stets am besten in der Arfstalt aufgehoben
sein. So lange keine ünzuträglichkeiten
vorkommen, namentlich keine Beschränkung
der pei-sönlichen Fraheit stattfindet oder
eine solche der Handlungsfähigkeit in Be-
tracht kommt, wird der Staat bei der Pflege
ungefährlicher Irrer in der eigenen Familie
kaum Veranlassung liaben, sich einzumischen.
Dagegen wird in den meisten (Gesetzgebun-
gen die Pflege in fremden Familien, nament-
Ech wenn mehrere Kranke in derselben
verpflegt werden, miter die für die Anstalts-
pflege geltenden Bestimmungen gestellt,
zum mindesten in Bezug auf die staatliche
Ueberwachung.
Eine Reihe leichterer Krankheitsfälle
findet femer in sogenannten offenen Kur-
anstalten oder Wasserheilanstalten eine
durchaus zweckentsprechende Unterkunft, so
lange bei ihnen das Krankheitsbewusstsein
imd die Fähigkeit besteht, auch in freier
Umgebung den ärztlichen Anordnungen
nachzukommen. Häufig lässt allerdings das
Vorurteil gegen die In'enanstalten auch
solclie Kranke, die gar nicht in die soge-
nannten offenen Anstalten passen, zu ihiem
eigenen Schaden dort die beste Zeit zur
Heilung versäumen. — Verhältnismässig
wenig Geisteskranke befinden sieh in ge-
wöhnlichen Krankenhäusern und dann meist
nur kurze Zeit, bis für sie in einer Irren-
anstalt Platz wird, es sei denn, dass, wie in
einigen grösseren städtischen Krankenhäuseni,
eine besondere Irrenabteilung eingerichtet
ist. Doch muss letztere schon den Irren-
anstalten zugerechnet und ihnen gesetzlieh
gleichgestellt werden.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Für-
sorge für diejenigen, die genesen oder ge-
bessert aus Irrenanstalten entlassen werden.
Jede Entlassung ist eigentlich ein Versuch,
ob der Kranke, der sich in den beschrän-
kenden Verhältnissen der Anstalt von Krank-
heitserscheinungen frei .oder wenigstens ohne
gröbere, sozial bedenkliche Störungen be-
wegen konnte, nun auch dem Getriebe des
Aussenlebens, den Anregimgen und Sorgen,
die ihm selten fern bleiben , seelisch zu
widerstehen vermag. Diesem Versuche kann
in vielen Fällen unbedenklich ein guter
Ausgang vorhergesagt weixlen, in anderen
bestehen Zweifel darüber, und der Arzt wird
um so häufiger und um so früher zur Ent-
lassung schreiten können, je gesicherter die
Verhältnisse und je günstiger die Umstände
sind, in die der Genesene oder Gebesserte
kommt. Besonders für arme Kranke ist
deshalb weitere Fürsorge äusserst ei'wüuscht.
In manchen Staaten geschieht daher die
Entlassung zunächst gewöhnlich nur ver-
suchsweise oder in der Form der Bem'lau-
bung, und der Kranke darf somit, falls die
Massregel sich nicht bewährt, innerhalb einer
bestimmten Zeit ohne erschwerende Fönn-
lichkeiten in die Anstalt wieder aufgenom-
men werden. Die Ortsbehörden und Amts-
ärzte können in solchen Fällen eine Uel)er-
wachuDg ausüben. Eine sehr segensreiche
Aufgabe erfüllen aber gerade hier vielfach
die Hilfsvereine für Geisteskranke,
indem sie sich, mit der Aüstalt Hand in
Hand arbeitend, der Entlassenen annehmen,
sie mit Rat, Gerät und eventuell mit Geld
unterstützen, ihnen Beschäftigung schaffen
und Verständnis für das Irrenwesen über-
haupt zu verbreiten suchen. In Preussen
erstrecken solche Hilfsvereine sich gewöhn-
lich über eine Previnz, im übrigen Deutseh-
land über einen Staat, in der Schweiz über
einen Kanton, Dagegen wirkt für ganz
England the After-Care-Association for poor
jyei^ons discharged recovered from asylums
for the insane. In Italien existieren im An-
sclüuss an einzelne Anstalten Societa cli
Patrenato.
Endlich sind hier noch die Armen- und
Sieche nhäuser zu erwähnen, welche in
manchen Ländern einen Teil derjenigen
armen Geisteskranken aufnelimen, welche,
unheilbar und besondrer Anstaltspflege nicht
bedürftig, aus Mangel an Mitteln oder aus
anderen Gründen häuslicher Pflege nicht
leühaftig werden können. Diese Art billiger
Massen Versorgung , welche z. B. in Baden
Irrenweseu
1385
(Kreispflegeanstalten) \md in Grossbritannien
(Workhouses, Poorhouses) erheblichere Be-
deutung gewonnen hat, kann wesentlich zur
Entlastung der Irrenanstalten und der öffent-
lichen Ausgab<m dienen und wird daher,
wenn nur geeignete Kranke aufgenommen
werden, von mancher Seite gelobt, freilich
von anderen durchaus verworfen, die statt
ihrer eine ausgiebigere EiTichtung reiner
Irren pflegeanstallen, zumal mit landwirt-
schaftHchem Betrieb, fordern. Vielleicht
wird später auch eine weitere Ausdehnung
der Farailienpflege hier Abhilfe schaffen,
freilich nicht auf gleich billige Weise.
6. Irre Verbrecher. Eine eigene Stel-
lung nimmt eine Gruppe Geisteskranker ein,
die sowohl durch ihre wachsende Menge als
auch durch die sich aus ihrer besonderen
Natiu' ergebenden Schwierigkeiten eine zahl-
reiche Lilteratur hervorgerufen hat. Die
irren Verbrecher, d. h. diejenigen, die nach
ihrer Verurteilung imd während ihrer Straf-
haft in Geisteskrankheit verfallen, werden
vielfach noch jetzt entweder in den Gefäng-
nissen zurilckbehalten oder, wenn dies nicht
mehr angeht, den Irrenanstalten übergeben.
Die üblen Eigenschaften, die sie zum Teil
aus ihr^er Verbrecherlaufbahn mitbringen,
namentlich ihre i-affiniei^ten Versuche von
Flucht und Gowaltthat. ihr schädlicher Ein-
f luss auf andere Kr'anke durch Aufreizung -und
Mitteilung begangener Verbrechen, dazu die
Erwägung, dass man den unbescholtenen
Kranken nicht zumuten könne, mit Ver-
brechern als Gleichberechtigten zusammen-
zuwohnen, veranlassten die meisten Psychia-
ter, die gewöhnlichen Irrenanstalten für un-
geeignet zur Aufnahme dieser Gruppe von
Kranken zu erklären. Noch ungeeigneter
aber waren sicher die Gefängnisse und
Zuchthäuser sowie deren Lazarethe, da eine
richtige Pflege hier unmöglich und eine
Belästigung der anderen nicht zu verhindern
war. Eine allgemein anerkannte Lösung
der Frage ist noch nicht gelungen, weder
besondei-e Anstalten für irre Verbrecher
noch ihre Unterbringung in Adnexen, sei
es von Irrenanstalten, sei es von Gefäng-
nissen und Zuchthäusern, haben sich in der
gegenwärtigen Form als befriedigend her-
ausgestellt.
Broadmoor in England, 1863 für diejenigen
Geisteskranken errichtet, welche ein Verbrechen
gegen Personen oder ein ungeheuerliches Ver-
brechen begangen haben, nimmt bis jetzt sowohl
irre Verbrecher als auch solche auf, welche im
Gefängnis als krank erkannt werden, aber ihr
Verbrechen schon in der Krankheit begangen
haben, also nicht „irre Verbrecher", sondern
„verbrecherische Irre" sind. Aehnliche Special-
anstalten bestehen noch in Irland zn Dnndrum, ,
in Italien zu Montelupo bei Florenz (1886 ge-
gründet) und in den Vereinigten Staaten von
Amerika, das älteste hier zu Aubnm (N. Y.,
1859 gegründet). IrrenabteUnngen an Gefäng-
nissen existieren in Schottland (Perth) und
England (Woking und Parkhurst). Sachsen
hat am Zuchthans zu Waldheim und Baden am
Gefängnis zn Bruchsal derartige psychiatrisch
geleitete IrrenabteUnngen. Gegen" sie wird
hauptsächlich eingewendet, dass es in ihnen
fast unmöglich sei, die relativ kleine Zahl der
Kranken richtig zu gruppieren, sie angemessen
zu beschäftigen und zu zerstreuen, endlich den
der Heilung feindlichen Geist der Strafanstalt
zu verbannen. Weniger ist bisher die Unter-
bringung der irren Verbrecher in besonderen
Anhängseln von Irrenanstalten versucht worden
(z. B. vor der Eröffnung von Broadmoor an der
Irrenanstalt Bedlam und neuerding[s in der
rheinischen Prov. - Anstalt Düren). Die meisten
Staaten haben sich eben damit begnügt, die
Geisteskranken, welche die Gefängnisse nicht
behalten wollten oder konnten, den Irrenan-
stalten zuzuweisen, und diese mochten sehen,
wie sie sich damit behalfen. In Preussen besteht
seit 1888 eine Beobachtungsabteilung am Zellen-
gefänguis zu Moabit , welche nach Feststellung
des Geisteszustandes die erkrankten Verbrecher,
welche nicht in kurzer Zeit genesen, in die zu-
ständigen Irrenanstalten entlässt, und seit 1898
eine Irrenabteüung im neuen Gefiingnis zu
Breslau zur Aufnstnme derjenigen Gefangenen
ans schlesischen Strafanstalten und Gefän^is-
sen, welche wegen ihres Geisteszustandes emem
Heil- oder Beobachtungsverfahren zu unter-
ziehen sind. Trotz der grossen Unzutr&glich-
keiten, die die Ueberftihrung der irren Ver-
brecher in die gewöhnlichen Anstalten für diese
mit sich bringt, haben sich doch neuerdings
auch unter den Psychiatern Stimmen erhoben,
welche sich für diese Lösung der Schwierigkeit
aussprechen. Die Erfahrungen, die man zumal
in Dalldorf gemacht hat, lassen erkennen, dass
auch bei einer relativ grossen Anzahl sehr un-
bequemer und gefährlicher Elemente, wie dies
namentlich geistesgestörte Gewohnheitsver-
brecher sind, die Schwierigkeiten überwunden
werden können. Freilich werden in einer be-
sonders hierfür konstruierten Abteilung der An-
stalt Sicherheitsmassregeln notwendig, die mehr
au ein Gefängnis als an ein Krankenhaus ge-
mahnen. Aehnlich wie in Dalldorf hat man
sich in Washmgtou zur eigenen Befriedigung
eingerichtet.
Ausser den Geisteskranken, welche in den
Strafanstalten stören und deshalb ans ihnen
entfernt werden, befinden sich in denselben nach
dem Zeugnisse fast aller Gefängnisärzte eine
ganze Anzahl von harmlosen Irren, welche sich
nicht besonders bemerklich und unbequem
machen. Vielleicht würden, wenn auch diese
ausgeschieden und mit den Uebrigen einer An-
stalt für irre Verbrecher resp. einem besonderen
Adnex einer Strafanstalt unter selbständiger
Leitung eines Irrenarztes übergeben würden,
manche Schwierigkeiten wegfallen und den
gewöhnlichen Irrenanstalten die Aufgabe erspart
werden, auch die erkrankten Verbrecher zu
verpflegen.
In Italien, wo eine geminderte Zurech-
nungsfähigkeit gesetzlich anerkannt ist, werden
die auf Grund derselben Verurteilten, soweit sie
der Pflege in einer Irrenanstalt bedürfen, auch
in die Anstalt zu Montelupo aufgenommen. Bei
1386
Irreoweeea
uns ist die geminderte ZorechnungsÜlbigkeit
trotz der vielen für ihre Einftthmnis: sprechen-
den Gründe im Strafgesetzbuch nicht ausge-
sprochen. Annahme mildernder Umstände und
eine gewisse Breite in richterlicher Strafzumes-
sxmg müssen Ersatz dafür bieten.
II. Irrenstatistik.
Eine zuverlässige Statistik über
die ausserhalb der Irrenanstalten
lebenden Geisteskranken, soweit
sie nicht gerichtlich als solche erkannt
werden oder der öffentlichen Fürsorge an-
heimfallen, giebt es nicht, da die Grrenze
zwischen geistiger Gresundheit und Krank-
heit flüssig ist und ziunal bei flüch-
tiger Untersuchung nicht gezogen wer-
den kann. Verschiedenheiten in der Auf-
fassung verschiedener Beurteiler werden
sich also schon bei demselben Beobachtungs-
material zeigen. Diese Vei-schiedenheit muss
wachsen, wenn die Forschimg sich auf ver-
schiedene Länder oder verschiedene Zeiten
ei-streckt, weil die Erscheinungen geistiger
Erkrankung in ungleicher Umgebung sehr
ungleich zu Tage ti-eten können. Derselbe
Grad des Schwachsinns, der in einfachen
Verhältnissen nicht auffällt, weil er noch
eine selbständige Lebensfilhrung gestattet
kann diese unter verwickeiteren soziaiea
Bedingungen unmöglich machen. Und das-
selbe gilt für andere geistige Krankheitszn-
stände. Daher die Unsicherheit in der Be-
antwortung der Frage, ob mit steigender
Kultur geistige Erkrankimg an Häufigkeit
zunimmt.
Im ländlichen Gouvernement Moskau fanden
sich 1893 nach einer von den Aerzt«n und
Geistlichen aufgestellten und von umhergesand-
ten Irrenärzten nachgeprüften List« auf le lOuCt
Einwohner 2,3 Geisteskranke, nach der gleichen
Methode 1895 in dem ländlichen Gouvernement
Petersburg auf je lOOO Einwohner 2,4 Geist«^*-
kranke. Dagegen zählten in England und Wales
die Commissioners in Lunacy, welche noch da-
zu diejenigen Geisteskranken nicht mitrechnen,
die ohne Schaden in ihrer Familie leben und
der öffentlichen Unterstützung nicht anheim-
fallen, trotz dieser Einschränkung im Jahre
1898 105086 oder 3,3 «oo der Bevölkerung. Die
entsprechenden Zahlen hatten 1859 nur 367H2
und lj^%Q betragen.
Guttstadt giebt nach den Ergebnisseu der
Volkszählung vom 1. Dezember 1871. 1880
und 2. Dezember 1895 folgende Tabelle für die
Verhältnisse im Königreich Preussen:
Staat, Provinzen
Geisteskranke in der Be-
völkerung überhaupt
1871
1880
1895
Auf 10000 Ortsanwesende
kommen Geisteskranke
1871
1880
1895
Staat
Provinzen
Ostpreussen
Westpreussen
Stadtkreis Berlin^) . . . . .
Brandenburg
Pommern
Posen
Schlesien
Sachsen . .
Schleswig-Holstein
Hannover
Westfalen
Hessen-Nassau
Rheinland und HohenzoUem . .
') einschliesslich Dalldorf.
55 043
3674
2519
1 006
4 12S
2734
2349
6334
408g
3710
5827
4651
4039
9984
66 345 i 82 850 22,4
4044
2961
1985
5695
3418
2738
8357
4809
3800
6317
5348
4715
12 is8
4641
3 347
4824
7618
4273
3586
II 181
5524
3897
6647
6881
5428
15003
20,2
19,2
12,2
20,3
19,1
I4;8
17,1
19,4
37,3
29,7
26,2
28,8
27,4
24,3
20,9
21,1
I7J
25,1
22,1
16,1
20,9
20,8
29,8
26,2
30:3
29,4
26.0
23.1
22.4
28.7
27.0
27.1
19.6
2^fO
20.5
30^3
27,4
25.5
30,9
29.0
Hier muss zunächst fraglich bleiben, ob die
Zunahme der Geisteskranken eine wirkliche
oder durch grössere Annäherung der späteren
Zählungen an die wirklichen Verhältnisse und
durch die wachsende Fürsorge und dadurch
verlängerte Lebensdauer der Kranken vorge-
täuschte ist. Betrachtet man die Zahlenver-
änderungen in den einzelnen Provinzen, so fällt
die schnelle Zunahme der Geisteskranken in
Brandenburg, Pommern, Schlesien, vor allem
aber im Stadtkreis Berlin auf, während in
Hannover, Westfalen und namentlich Schleswig-
Holstein eine Abnahme zu Tage tritt. Wir
dürfen hier wohl zunächst an eine Wirkung •
des Wandertriebs und der Freizügigkeit Jaenktn.
da nicht Heimat oder Geburtsort, sondern Orts-
anwesenheit für die Einreihung in Betracht
kam. Die verhältnismässig kleinen Zahlen in
Posen, West- und Ostpreussen entsprechen dra
einfacheren, meist ländlichen Verhältnissen dii~
ser Provinzen im Gegensatz zu Hessen - Nassta
und der Bheinprovinz . während die Zahlen
einerseits für Sachsen, andererseits für Schles-
wig-Holstein hiermit nicht zu erklären sind.
Auf sicherer Unterlage nihen ilagegou
die statistischen Ergebnisse, die aus den
Irrenanstalten gewonnen wenlen. Lei-
LTenwesen
1387
der wird ihr Wert gerade dadurch beein-
trächtigt, dass sie nur einen und zwar sehr
Auch hier können natürlich nnr die wich-
tigsten Ergebnisse an einzelnen Beispielen ins
versdiiedeneu Teü der Geisteskranken über- ^nge gefasst werden. Folgende Tabelle von
haupt umfassen.
Guttstadt erläntert die Fürsorge der einzelnen
preussischen Provinzen für ihre Geisteskranken :
Staat, Provinzen
Geisteskranke
in Irrenanstalten
Von 100 Geisteskranken über-
haupt sind in Irrenanstalten
1871
1880
1895
1871
1880
1895
vStaat
Provinzen :
Ostpreupsen
Westpreussen
Stadtkreis Berlin ')
Brandenburg
Pommern
Posen
Schlesien
Sachsen
Schleswig-Holstein
Hannover
Westfalen
Hessen-Nassau
Kheinland und Hohenzollem . .
') einschliesslich Dalldorf.
II 760 18894
357
352
560
1257
302
176
I 209
762
943
I 461
907
967
2507
578
434
I 193
1941
765
366
2228
1333
1 181
2 119
I 285
1497
3 974
43 711
2026
I 155
3293
4369
2042
1 281
5906
2757
2 171
3331
3458
3238
8684
21,4
9,7
14,0
SSJ
30,5
11,0
7,5
19,1
18,6
25,4
25,1
19,5
23,9
25,1
28,5
H,3
14,7
60,1
34,1
22,4
13,4
26,7
27,7
31,1
33,5
24,0
31,7
32,7
52,8
43,7
34,5
68,3
57,4
47,8
35,7
52,8
49,9
55,7
50,1
50,3
59,7
57,9
Man bemerke die gewaltige Zunahme der
Anstaltspfle^e in allen Provinzen und die aus-
gedehntere Fürsorge in den westlichen Provin-
zen, in denen ältere Kultur, dichtere Bevölke-
rung und verwickeitere Lebensverhältnisse die-
selbe notwendiger machten und durch grösseren
Wohlstand erleichterten. Man beachte ferner
die Ausnahmestellung der Grossstadt Berlin, die
besonders in den früheren Jahren hervor-
tritt.
Welchem Geschlecht und Familienstand die
43711 am 2. Dezember 1895 in den preussischen
Irrenanstalten befindlichen Geisteskranken an-
gehörten und bei wie vielen die Krankheit an-
geboren, bei wie vielen später erworben war,
lehrt folgende Tabelle:
Männlich
Familien-
stand
geistes-
krank
geboren
krank ge-' ^°^^^^ überhaupt
I worden 1 -^"s**"^
Weiblich
geistes- geistes- , 1
krank krank ge- Angabe
geboren worden ^
überhaupt
ledig . .
verheiratet
verwitwet
geschieden
4564
12
12 106
5 103
789
161
125
21
5
zusammen
4578
(13 210)
18 159
151
(27 360) , (2 878)
16795
5136
794
163
3899
19
16
22888
(43 448)
3 934
(11 064)
9319
4717
2395
279
16 710
(25 524)
151
20
6
2
13369
4756
2417
281
179
(2814)
20823
(39 402)
In der untersten Reihe sind die entsprechen-
den Zahlen für die Gesamtbevölkerung in
Klammem beigefügt.
Wir finden also zunächst ein entschiedenes
Uebergewicht des männlichen Geschlechts reu Volkszählungen:
unter den Geisteskranken sowohl in den An-
stalten wie in der Gesamtbevölkerung. Und
dass dies Verhältnis auch früher in Preussen
bestanden hat, lehrt die Vergleichung mit den
Ergebnissen der Anstaltsstatistik wie der frühe-
In Preussen befanden sich
In der Gesamtbevölkerung
Unter 100000 Anwesenden:
1871 1880 , 1895
1871
1880
1895
Geisteskranke überhaupt . . .
davon
männlich . . . *.
weiblich
55 043 66 345
28 002 ' 34 309
27041 j 32036
82850
43448
39402
223
231
216
243
256
231
260
278
243
1388
Irrenwesen
In den Irrenanstalten wurden verpflegt im Jahre
1875 18267 Geisteskranke, davon 9856 Männer und 8 411 Weiber
1895 56647 „ „30521 „ „ 26126 „
1896 58534 „ r 31750 „ „ 26784 „
(Bei diesen Zahlen, die durch Verwertung
der jährlich dem statistischen Bureau einge-
sandten Zählkarten gewonnen wurden, ist der
Anstaltswechsel berücksichtigt.)
Die stärkere Beteiligung des männlichen
Geschlechts an Geisteskrankheiten gilt jedoch
nicht für alle Länder. So zeigt z. B. Schott-
land das umgekehrte Verhältnis. Die folgende
Tabelle umfasst die schottischen Anstalten, aus-
genommen die Erziehungshäiiser für schwach-
sinnige Kinder und die Irrenabteilung am Ge-
fängnis (Anstaltswechsel berücksichtigt):
Durch-
schnitt
der Jahre
1860—64
1865-69
1870—74
1875—79
1880—84
1885-89
1890—94
1898
Bestand am
1. Januar
m.
w.
ge-
samt
Aufnahmen
m.
w.
ge-
samt
2 132
2475
2896
3352
3960
4275
4 739
5830
2412
4 544
2737
5 212
3231 6127
3758
7 HO
4310
8270
4 579
8854
5135
9874
6324
12 154
667
792
895
1 115
1 178
1 194
1433
1 715
757
881
I 026
1 202
1332
1345
1530
I 802
1424
1673
1 921
2317
2 510
2 539i
2963
3517
Also nicht nur in der Zahl der Anstalts-
pfleglinge, sondern auch in der Zahl der Auf-
nahmen überwiegt in Schottland das weibliche
Geschlecht. Interessant ist , dass eine allmäh- 1
liehe Verschiebung dieses Verhältnisses beob- 1
achtet werden kann , wie es in England der 1
Fall war: I
Aufnahmen in engl.
Anstalten, auf je
10000 der Gesamt-
bevölkerung
männl.
weibl.
zus.
1881
5,25
5,12
5,18
1882
5,20
5,14
5,17
1883
5,42
5,45
5,44
1884
5;37
5,24
5,30
1885
4,86
4,95
4,91
1886
4,98
4,88
4,93
1887
5,21
5,07
5,14
1888
5,23
5,24
5,24
1889
5,21
5,37
5,29
1890
5,55 5,71
5,63
Durch- r *'*^'^®il886-90
schnitt f.\io „ 1881 90
5,22
5,24
5,18
5,26
5,20
5,25
5,23
5,22
5,22
Dort zeigte demnach die erste Hälfte der
80 er Jahre ein Ueberwiegen des männlicheit
die zweite Hälfte ein Ueberwiegen des weib-
lichen Geschlechts, beides freilich in nicht sehr
ausgesprochener Weise. Viel gleichmässi^er aU
die Beziehung des Geschlechts ist die des
Familienstandes zur Geisteskrankheit und
zwar sind, wie die oben angeführte Tabelle der
am 2. Dezember 1895 in den preussischen Irren-
anstalten befindlichen GeistesKranken zeigt, die
Ledigen bei weitem stärker betroffen als die
Verheirateten, und dies Verhältnis besteht auch
dann, wenn man die Ledigen mit den Ledigen
der Gesamtbevölkerung u. s. w. zusammen-
stellt Voreilig aber würde es sein, wollte man
hieraus schliessen, dass die Ehelosigkeit ditf
Geisteskrankheit begünstige: in senr vielen
Fällen wird umgekehrt nicht nur bei den
geisteskrank Geborenen, sondern auch bei den
Uebrigen die geistige Erkrankung oder dazu
disponierende Charaktereigentümlichkeit Ursache
der Ehelosigkeit sein. Gerade beim weiblichen
Geschlecht, bei dem man am ehesten eine
günstige Wirkung der Ehe erwarten mag, tritt
auch bei glücklichem Eheleben, das ja allein
schützenden Einfluss üben könnte, vennehne
Gefahr durch die Entbindungen ein. Von
69560 weiblichen Geisteskranken, die 1878 bi«
1887 in England und Wales den Irrenanstalten
zugeführt wurden, verdankten 1 % der Schwan-
gerschaft, 6,7 der Entbindung oder dem Puer-
perium und 2,2% der Lactation ihre Erkran-
kung. — Dass unter den Verwitweten der An-
teil der Frauen ein unverhältnismässig hoher
ist, dürfte nicht wunderbar erscheinen.
Das Lebensalter, in welchem Geines-
kraukheit am häufic^sten auftritt, ist bei uns
das zwischen 30 und 50 Jahren, und zwar lieet
im allgemeinen für Männer der Höhepunkt me^
zwischen dem 30. und 40. Jahre, während für
Frauen auch das Jahrzehnt zwischen dem 40.
und 50. Jahre ebenso gefährdet ist.
Dass auch das religiöse Bekenntnis
von Einfluss auf die Häufigkeit geistiger Stö-
rung ist, ergiebt sich aus der Uebexeinstim-
mung, dass überall die Juden am meisten, s^
dann die Evangelischen und am wenigsten die
Katholiken davon betroffen werden. Bei der
Verschiedenheit zwischen Juden und Christen
spricht gewiss der Bassenunterschied mit, wäh-
rend derselbe für den dagegen freilich recht
fireringen, aber konstanten Unterschied zwischen
Katholiken und Evangelischen nicht vorhanden
ist. Ich führe als Beispiel das Ergebnis der
Zählung vom 2. Januar 1895 für Preussen an.
Damals befanden sich unter fe 100000 Qrtsan-
wesenden desselben Bekenntnisses und desselben
Geschlechts
Geisteskranke
evang.
katho
männliche
weibliche
zusammen
278
246
261
270
231
250
jüdische
534
462
498
andere
Protestant.
248
211
228
andere
christliche
172
175
173
andrer
Religion
. 592
495
unbe-
stimmt
536
84S
639
IiTenwesen
1389
Die Ursachen der Geistesstörungen sind | mannigfaltig. Ich führe nur die Prozentsätze
statistisch . weniger fassbar , weil gewöhnlich
mehrere zusammentreffen und weil verschiedene
Beobachter daher den meisten sehr verschiedenen
Wert biegen. Die ftLr die einzelnen Anstalten
und Länder gewonnenen Zahlen sind daher sehr
für einige Ursachen an, wie sie für die 1878
bis 87 in die Anstalten von England und Wales
aufgenommenen 136478 Geisteskranken (66918
männliche, 69560 weibliche) aufgestellt sind:
Häusliche Erregungen, einschl. den Verlust von Verwandten und
Freunden
Widrige Verhältnisse, einschl. geschäftliche Sorgen und Geld-
schwierijB^keiten
Unmässigkeit im Trinken
Frühere Geistesstörung
Nachgewiesener Einflnss der Erblichkeit
Unbekannt
Die Zahlen der Tabelle für Schwangerschaft
u. 8. w. sind bereits oben mitgeteilt.
Ueber die Häufigkeit der einzelnen For-
men von Geisteskrankheit geben nur
diejenigen Aufstellungen Gewähr für Richtig-
keit, welche, wie die preussische Zählkarten-
statistik, sich auf die Heraushebung weniger,
aber gut charakterisierter Krankheitsarten be-
schränken. Will man mehr erreichen und z. B.
männl. weibl. zus.
4,2
9,7
7,o
^'5
3,7
5,9
19,8
7,2
13,4
14,3
18,9
16,6
19,0
22,1
20,5
21,3
20,1
20,7
die „einfache Seelenstörung'' der preussischen
Statistik in verschiedene Gruppen zerteilen, so
erhält man infolge der verschiedenen Gruppie-
rung verschiedener Beobachter unbrauchbare
Zamen.
Unter je 100 der 1876 bezw. 1896 in die
preussischen Irrenanstalten Aufgenommenen
litten an
1875
1896
m.
einfacher Seelenstörung .51,93
paralytischer Seelenstörun^ 15,34
Seelenstörung mit Epilepsie 6,40
Imbecillität, Idiotie, Kretinismus 8,97
Säuferwahnsinn 17,20
waren zur Beobachtung überwiesen 0,16
Unter den Abgegangenen ist die Zahl
der Todesfälle klar, weniger eindeutig ist die
Unterscheidung zwischen Geheüten, Gebesserten
und Ungebesserten , weshalb in manchen Län-
dern auch nur „Geheilte" und „Nichtgeheilte"
aufgeführt werden. Ich führe eine Tabelle über
die Bewegung in den Kreisirrenanstalten
Bayerns an:
w.
m.
w.
80,54
45,79
71,00
3,88
i8,39
7,62
5,80
9,47
8,75
8,55
10,77
10,18
1,18
12,94
1,00
0,05
2,64
1,45
Im Jahre
1887 1 1896
Durch-
schnitt d.
10 Jahre
1887 96
Anfangsbe-
stand . .
3780
4787
4240
Zugang .
1383
1525
1442
Abgegangen :
genesen
gebessert .
nngebessert
jfestorben .
im ganzen
280
303
455
359
1397
273
396
278
432
I 418*)
260
347
313
396
1 331*)
Schhissbest.
3766
4894
4351
Dass auf die Zahl der Todesfälle wie auf
die der Heilungen Alter und Krankheitsform
wesentlichen Einflnss haben, ist natürlich. Für
die Zahl der Heilungen kommt aber noch ein
anderer Umstand sehr in Betracht, das ist die
Zeit, die seit Ausbruch der Krankheit bis zur
Aufnahme des Kranken in die Anstalt verflos-
sen ist. In der rheinischen Irrenanstalt zu
Düren waren in den Jahren 1878—87 von den
Genesenen bei der Aufnahme krank gewesen
männl.
bis zu 1 Monat 41,8 Proz.
2- 3 „ 30,1
4— 6 „ 15,7
7-12 „ 4,8
im 2. Jahre 4,8
von über 2 Jahren 2,8
n
n
n
weibl.
40,9 Proz.
35,6 „
14,8 „
6,2
1,0
1,5
n
n
In der lothringischen Bezirksirrenanstalt bei
iSaargemüud ergab sich für die Jahre 1887 bis
1896 folgende Daner des Anstaltsaufenthalts
der als geheilt Entlassenen:
Dauer der
Krankheit
vor der 1.
Aufnahme
Aufenthalt in der Anstalt
1 — 3 Monate
M. ! F.
3—6 Monate
M. I F.
6—12 Monate
M. F.
Ueber
M.
1 Jahr
F.
1
16 27
3 6
1 3
I 2
11
3
6
2
16
2
4
5-
Summe
M. u. F.
1 — 3 Monate
:^6 „
6-12 „
Ueber 1 Jahr
41
5
6
4
27
6
2
2
44
8
6
4
218
36
32
24
Zusammen
56
47 ! 37
62
21
38
22
27
310
*) einschliesslich der lediglich zur Beobachtung aufgenommenen und wieder abge-
gangenen Nichtgeisteskranken.
1390
Irrenwesen
Einige Angaben über die Zahl der
Irrenanstalten in Deutschland mö-
gen hier noch folgen. Dem preussischen sta-
tistischen Bnrean gingen 1896 ans 228 Irren-
anstalten Zählkarten zn. Davon waren 4 Staats-
anstalten ; den Provinzen und Bezirksverbänden
gehörten 55 selbständige Anstalten und 3 Irren-
abteilungen von Kranken- und Armenhäusern;
städtischer Besitz waren 13 selbständige Irren-
anstalten und 16 Irrenabteilungen von Kranken-,
Siechen- und Armenhäusern; 41 Wohlthätig-
keitsanstalten waren im Besitz von Orden und
Vereinen, vorzugsweise für Idioten bestimmt;
von 96 Privatirrenanstalten hatten 38 Aerzte
zu Besitzern, 58 gehörten anderen Privatper-
sonen.
III. Die Irrengesetzgebang in den
einzelnen Landern.
Ausser Deutschland werden hier nur die-
jenigen europäischeil Länder berücksichtigt,
welche besondere Irrengesetze besitzen.
Um ein leichteres Zurechtfinden zu ermög-
lichen, ist jedesmal folgende Einteilung ge-
troffen : a) Allgemeine Aufsicht über das Irren-
wesen, b) Aufsicht über Geisteskranke ausser-
halb der Anstalten, c) Verpflichtung zu Bau
und Unterhaltung öffentlicher Anstalten, d)
Konzessiouierung von Anstalten, e) Specielle
Beaufsichtigung und Organisation der einzelnen
Anstalten, f) Aufnahme von Kranken, g) Ent-
lassung derselben, h) Staatliche Sorge für das
Vermögen derselben, i) Bestimmungen über
irre Verbrecher. Mit Ausnahme von Deutsch-
land, das ja bisher einer zusammenfassenden
Irrengesetzgebung ermangelt, sind Bestimmun-
gen, die in den Irrengesetzen nicht enthalten
sind, nur gelegentlich zum besseren Verständ-
nis herangezogen worden.
1. Deutsehland. Manche Fragen des
In-en Wesens, zumal die der Entmündigung,
sind reichsgesetzlich geregelt, andere den
Einzelstaaten überlassen.
a) Obwohl nach Art. 4 der Verfassung
Massregeln der Medizinalpolizei der Beaufsich-
tigung seitens des Reichs und der Gesetzgebung
desselben unterliegen, Übt das Reich eine Auf-
sicht über die Irrenpflege nicht aus. Im Reichs-
gesundheitsamt ist die Psychiatrie nicht ver-
ti-eten. Wohl aber ist seit 1895 in Preussen
ein Hilfsarbeiter im Medizinalministerium zur
Bearbeitung der Irrenanstaltsangelegenheiten
im Nebenamt angestellt. In Württemberg ist,
ebenfalls seit 1895, ein psvchiatrisch gebildetes
Mitglied dem Medizinalkollegium beigefügt, das
seine Thätigkeit ganz dem Irrenwesen widmet.
b) In Preussen ist durch Min.-Runderlass
vom 25. April 1898 den Regierungspräsidenten
die Beaufsichtigung der ausserhalb von Irren-
anstalten untergebrachten Geisteskranken an-
heim gegeben, falls ein Bedürfnis dazu vorliegen
sollte. In diesem Falle haben die Ortspolizei-
behörden ein Verzeichnis der in ihrem Bezirke
befindlichen Geisteskranken, Geistesschwachen
und Blödsinnigen unter ärztlicher Mitwirkung
aufzustellen, dies Verzeichnis ist vom Landrat
resp. der Polizeiverwaltung jährlich zu prüfen,
eventuell durch den Kreisphysikus zu berichti-
gen und, falls besondere Uebelstände wahrge-
nommen werden und deren Abstellung nicht za
sichern ist, die Anstaltsbehandlun^ der betreffen-
den Kranken in die Wege zu leiten.
c) Nicht jeder deutsche Staat hat seine
eigene Irrenanstalt. Schaumburg-Llppe, Waldeck
und Schwarzburg- Sondershausen scnicken ihre
Kranken in Anstalten anderer Staaten ; Sachsen-
Meiningen, Sachsen-Coburg-Gotha und Schwarz-
burg-Rudolstadt haben zusammen eine gemein-
same öffentliche Anstalt und ebenso Sachseu-
Altenbnrg und beide Reuss. Die übrigen Staa-
ten haben eigene Anstalten errichtet, in Bayern
liegt die Verpflichtung hierzu den Kreisen ob.
Der preussische Staat besitzt, abstehen von
Irrenabteilungen an 2 StrafanstjJten, nur 3
Irrenanstalten, die Irrenabteilnng der Charit^
zu Berlin und die psychiatrischen Kliniken zu
Greifswald und Halle, alle drei für Lehrzwecke :
sonst haben hier die gesetzlichen Körperschaften
der Selbstverwaltung die Pflicht, Anstalten zu
bauen, und zwar lie^^t nach dem G. v. 16. Jnli
1891 den Landarmenverbänden ob, für Bewah-
rung, Kur und Pflege der hilfsbedüiftigen
Geisteskranken, Idioten und Epileptischen, so-
weit dieselben der Anstaltspflege bedürfen, in
geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen.
d) In Preussen bedürfen die Beschlüsse der
Selbstverwaltungen über Errichtung und Aende-
run^ der Anstalten der Billigung des Ober-
präsidenten und die Anstaltsstatuten der des
Ministers. — Die Konzessionierung von Privat-
anstalten ist durch Reichsgesetz an die Zuver-
lässigkeit des Unternehmers, die Beobachtung
der gesundheitspolizeilichen Anforderungen und
die Vermeidung von erheblichen Nachteilen oder
Gefahren für Mitbewohner und Nachbarn ge-
bunden, dagegen wird ein Arzt als Leiter nicht
verlangt (Gew.-O. mit Abänderung v. 6. August
1896: § 30, 49, 53, 147, 151).
e) In Preussen ist durch Erlass v. 11. Mai
1896 für jeden Regierungsbezirk eine Besuch»*-
kommission geschaffen worden, welche aus einem
höheren Verwaltungsbeamten als Vorsitzenden,
dem zuständigen Regierungs- und Medizinalrat
und dem Direktor einer öffentlichen Irrenanstalt
besteht. Die Privatanstalten sind nach der
Anw. v. 20. September 1895 zweimal jährlich
vom zuständigen Kreisphysikus oder dessen
Stellvertreter und in der Regel einmal jährlich
von der Besuchskommission unter Zuziehun;:
des Kreisphysikus unvermutet zu besichtigen.
Die Anstalt muss von einem in der Psychiatrie
bewanderten Arzte geleitet werden, der der Ge-
nehmigung des Regierungspräsidenten durch
Vermittelung der Ortspolizeibehörde bedarf. —
Aehnliche Bestimmungen sind auch für andere
Staaten getroffen, für Bayern durch Erlass v.
3. Dezemoer 1895.
f) Die Regelung der Aufnahmen erfolgt
bis auf den einen Fall, dass das Gericht nach
§ 81 der deutschen Strafprozessordnung einen
Angeschuldigten einer öffentlichen Anstalt auf
sechs Wochen zur Beobachtung seines Geistes-
zustandes überweist, durch die Einzelstaaten.
In Preussen soll die Aufnahme in eine Anstalt
nach Reskript des Staatsrats v. 29. September
1803 erst nach der Wahn- oder Blödsinnigkeits-
erklärung stattfinden, wenn das die Unter-
suchung führende Gericht nicht die einstweilige
Unterbringung in ein Irrenhaus verfügt. Ver-
fügungen V. 16. Februar 1839, 25. April 1862 und
In-enwesen
1391
8. März 187.S milderten dies dahin, dass jetzt ge-
meingefährliche Kranke auch infolge eines An-
trags der Verwandten auf Grund eines ärztlichen
Zeugnisses, nicht gemeingefährliche nur auf
polizeiliche oder gerichtliehe Requisition in eine
öffentliche Anstalt aufsrenommen werden dürfen.
Anzeige von der Aufnahme ist der Staatsanwalt-
schaft zu machen (Erlass v. 24. September 1880).
IHe Aufnahme in Privatanstalten regelt die
preussische Anw. v. 20. September 1895 dahin,
dass hierzu ein Zeugnis des für den Wohnsitz
resp- Brkrankungsort zuständigen Kreisphysikus
nötig ist. Nur in dringenden Fällen genügt
stAtt dessen das Zeugnis eines approbierten
Arztes, doch muss dann die Untersuchung durch
den für die Anstalt zuständigen Kreisphysikus
nachfolgen. Von dieser nachträglichen amts-
ärztlichen Untersuchung kann jedoch abgesehen
werden, wenn ein wegen Geisteskrankheit Ent-
mündigfter auf Antrag seines Vormunds mit
einem privatärztlichen Zeugnis aufgenommen
worden ist oder wenn das Aufnahmezeugnis
von dem ärztlichen Leiter einer öffentlichen
Irrenanstalt oder einer psychiatrischen Universi-
tätsklinik unter Beifügung des Amtscharakters
ausgestellt worden ist. Die Aufnahme ist der
für die Heimat des Kranken wie der für die
Anstalt zuständigen Polizeibehörde und dem
Staatsanwalt des für die Heimat des Kranken
zuständigen Landgerichts anzuzeigen. Ausser-
dem können in besonders dazu ermächtigten
Privatanstalten „freiwillige Pensionäre'' aufge-
nommen werden nur auf eine ärztliche Be-
scheinigung der Zweckmässigkeit und ihre oder
ihrer gesetzlichen Vertreter schriftliche Ein-
willigung, und zwar ist in diesem Falle die
Aufnahme nur der Ortspolizeibehörde der An-
stalt anzuzeigen. — Auch sonst ist überall in
Deutschland das Zeugnis eines Arztes und die
Mitwirkung der Ortspolizeibehörde erforderlich.
Ebenso hat überall die Polizeibehörde das Recht,
bei gemeingefährlichen Kranken den Aufnahme-
antrag auch gegen den Willen der Angehörigen
zu stellen, wenn diese den Kranken nicht hin-
reichend bewachen können oder wollen. Da-
gegen beschränkt sich der Unterschied zwischen
Öffentlichen und Privatanstalten nur auf Preussen
und Bayern, wo für Privatanstalten ein amts-
ärztliches Aufnahmezeugnis vorgeschrieben ist
ausser bei Gefahr im Verzuge oder freiwilligem
Eintritt, doch hat dann die amtsärztliche Unter-
suchung nachzufolgen. Aehnlich in Württem-
berg (\ . V. 18. November 1899). — Eine eigene
SteUnng nehmen die Irrenkliniken zu Würzbnrg
und Leipzig ein, da hier allein der Direktor
über die Aufnahme der Kranken verfügt, ohne
dass das Zeugnis eines anderen Arztes verlangt
wird oder auch eine Anzeige an Staatsanwalt
oder Ortsbehörde erfolgt. Diese völlige Gleich-
stellung einer Irrenanstalt mit anderen Kranken-
häusern hat zu keinerlei Unzuträglichkeiten
geführt.
g) Die Entlassung aus öffentlichen An-
stalten erfolgt, wenn der Kranke geheilt ist
oder der Anstaltspflege nicht mehr bedarf,
femer eigentlich nur, wenn die Behörde, die
ihn eingeliefert, die Entlassung, eventuell auf
Wunsch der Angehörigen, verlangt. Bei Privat-
anstalten tritt der Fall hinzu, das^ der gesetz-
liche Vertreter des Kranken die Entlassung
fordert, doch muss bei gemeingeföhrUchen
Kranken, falls nicht die unmittelbare Ueber-
führung in eine andere Anstalt sichergestellt
ist, die Polizeibehörde des künftigen Aufent-
haltsortes zustimmen und für sichere Ueber-
führung gesorgt sein. Freiwillige Pensionäre
müssen auf il^ Verlangen jederzeit entlassen
werden, wenn nicht der Kreisphysikus die Not-
wendigkeit ihrer Aufnahme in eine Irrenanstalt
feststellt. — So in Preussen; ähnlich in den
anderen Bundesstaaten.
h) Das Entmündigungsverfahren ist nicht
öffentlich (§ 172 des G.V.G. v. 27. Januar 1877).
Es wird formell durch die deutsche C.P.O. v.
30. Januar 1877 (in der Fassung der Bekannt-
machung V. 20. Mai 1898) §§ 645-679 geregelt.
„Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder
wegen Geistesschwäche erfolgt durch Beschluss
des Amtsgerichts. Der Beschluss wird nur auf
Antrag erlassen." Der Antrag kann von dem
Ehegatten, einem Verwandten oder dem Vor-
munde gestellt werden, gegen eine Ehefrau aber
im allgemeinen nur vom Ehemanne, und gegen
eine Person, die unter elterlicher Gewalt oder
Vormundschaft steht, nur vom gesetzlichen Ver-
treter; stets aber ist der Staatsanwalt des
Landgerichts dazu befugt. Für die Einleitung
des Verfahrens ist das Amtsgericht, bei welchem
der zu Entmündigende seinen allgemeinen Ge-
richtsstand hat, ausschliesslich zuständig, kann
aber Verhandlung und Entscheidung dem Amts-
gericht des Aufenthaltsortes überweisen. Der
zu Entmündigende muss persönlich unter Zu-
ziehung eines oder mehrerer Sachverständigen
vernommen werden, falls dies nicht mit be-
sonderen Schwierigkeiten verbunden oder nicht
ohne Nachteil für den Gesundheitszustand des
zu Entmündigenden ausführbar ist. Auch kann
das Gericht den zu Entmündigenden auf die
Dauer von höchstens sechs Wochen einer Heil-
anstalt zur Beobachtung überweisen, falls dies
nach ärztlichem Gutachten zur Feststellung des
Geisteszustandes geboten erscheint und den Ge-
sundheitszustand des Betreffenden nicht |»:e-
fährdet ; doch muss der Antragsteller seine Ein-
willigung geben und steht dem zu Entmün-
digenden sofortige Beschwerde ^egen die Aii-
ordnunj^ des Gerichts frei. Kemenfalls aber
darf die Entmündigung beschlossen werden,
bevor ein oder mehrere Sachverständige gehört
sind. Der Entmündigungsbeschluss wird dem
Vormundschaftsgericht und eventuell dem ge-
setzlichen Vertreter des Entmündigten zuge-
stellt, im Falle der Entmündigung wegen
Geistesschwäche auch dem Entmündigten. Eine
etwaige Anfechtungsklage erfolgt vor dem Land-
ferichte. Sie steht auch dem wegen Geistes-
rankheit Entmündigten frei, und zwar beginnt
die Verjährungsfrist erst mit dem Zeitpunkt,
in welchem derselbe von der Entmündigung
Kenntnis erlangt.
Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch kann
entmündigt werden, wer infolge von Geistes-
krankheit oder von Geistesschwäche seine An-
gelegenheiten nicht zu besorgen vermag (ausser-
dem ist Entmündigung wegen Verschwendung
und Trunksucht vorgesehen), und zwar ist die
Entmündigung aufzuheben, wenn der Grund
derselben wegfällt (§ 6). Fol^e der Entmündi-
gung we^en Geisteskrankheit ist Geschäfts-
unfänigkeit gleich derjenigen eines Kindes unter
sieben Jahren (§ 104), womit auch die Nichtig-
1392
Irrenwesea
keit der WiUenserkläning gegeben ist (§ lOö),
während der wegen Geistesschwäche Entmün-
digte in der Beschränkung seiner Geschäfts-
fähigkeit dem Minderjährigen gleichsteht, der
das siebente Lebensjahr vollendet hat (§ 114),
so dass er im allgemeinen dann ein Rechts-
geschäft abschliessen kann, wenn es ihm ledig-
lich rechtlichen Vorteil bringt. Er kann ein
Testament zwar nicht errichten, aber ein früher
errichtetes widerrufen (§ 2229 flf.) und sogar mit
Einwilligung seines Vormunds eine Ehe ein-
gehen (§ 1304), während die Eheschliessung
eines wegen Geisteskrankheit Entmündigten
nichtig ist (§ 1325). — Ist der Entmündigungs-
antrag gestellt, so kann das Vormundschafts-
fericht, um eine erhebliche Gefährdung der
erson oder des Vermögens abzuwenden, eine
vorläufige Vormundschaft (mit der Wirkung
beschränkter Geschäftsfähigkeit — § 114) ein-
richten (§ 1906). — Ausser der Vormundschaft
ist auch die Einrichtung der Pflegschaft vor-
gesehen, und zwar kann ein Volljähriger, der
nicht unter Vormundschaft steht, aber infolge
geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne
seiner Angelegenheiten oder einen bestimmten
Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere seine
Vermögensangelegenheiten, nicht zu besorgen
vermag, für diese einen Pfleger erhalten, jedoch
ist hierzu die Einwilligung des Gebrechlichen
erforderlich, es sei denn, dass eine Verständigung
mit ihm nicht möglich ist (§ 1910).
Hiernach sind also gewissermassen drei
Stufen geschaffen: 1. Entmündigung wegen
Geisteskrankheit. Folge : volle Geschäftsunfähig-
keit. Voraussetzung: ein die freie Willens-
bestimmung ausschliessender Zustand krank-
hafter Störung der Geistesthätigkeit, der seiner
Natur nach nicht nur vorübergehend ist (vgl.
§ 104). 2. Entmündigung wegen Geistes-
schwäche. Folge: beschränkte Geschäftsfähig-
keit. Voraussetzung: Unfähigkeit, seine An-
gelegenheiten zu besorgen, infolge geringerer
krankhafter Störung der Geistesthätigkeit, so
dass der Wille nicht nur durch krankhafte Ein-
flüsse bestimmt wird. 3. Pflegschaft wegen
geistigen Gebrechens. Folge: Geschäftsunfäfig-
keit für einen bestimmten Kreis von Ange-
legenheiten. Voraussetzung : krankhafte Störung
der Geistesthätigkeit, die die Besorgung der
Angelegenheiten nach mancher Richtung nicht
hindert, und Einwilligung in die Beschränkung
der Geschäftsfähigkeit. — Hervorzuheben ist,
dass hier Geisteskrankheit, Geistesschwäche und
l^eistiges Gebrechen nicht ärztliche, sondern
juristische Begriffe sind. Es wird daher z. B.
ein im ärztlichen Sinne Schwachsinniger oder
Melancholiker je nach dem Grade seiner Krank-
heit im Sinne des Gesetzes geisteskrank, geistes-
schwach oder geistig gebrechlich sein können.
i) Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe
ist aufzuschieben, wenn der Verurteilte in
Geisteskrankheit verfällt. Ist der Verurteilte
nach Beginn der Strafvollstreckung in eine von
der Strafanstalt getrennte Krankenanstalt ge-
bracht worden, so ist die Dauer des Aufent-
haltes in der Krankenanstalt in die Strafzeit
einzurechnen (Deutsche Strafprozessordnung v.
1. Februar 1877 §§ 487 und 493). Im übrigen
gilt für Deutschland, was vorher über die Unter-
bringung irrer Verbrecher im allgemeinen ge-
sagt ist.
2. England. Die englische Irreuge-
setzgebung stammt aus verschiedenen Zei-
ten, und nur notdürftig sind oft einzelne
Bestimmungen miteinander in Verbindung
gebracht.
a) An der Spitze des gesamten Irrenwesen«!
stehen — nur dem Lordkanzler unterstellt —
,,Commis8iouers in Lunacy''. Diese waren bis-
her elf an der Zahl, darunter drei Aerzte und
drei mindestens zehn Jahre im Amte stehende
Richter oder Rechtsanwälte, doch hat seit 1889
der Kanzler, der sie ernennt, das Recht, eine
andere Zahl festzusetzen und die Art ihrer
Amtsführung zu ändern, namentlich auch ihr
Amt mit dem der später zu nennenden Masters
in Lunacy zu verschmelzen. Diese Oommissio-
ners, von denen drei, der ständige Vorsitzende,
ein Arzt und ein Jurist, das ^private committee'
bilden, welches viele Geschäfte ohne Hinzu-
ziehung der anderen abwickelt, sind befugt^
ebenso wie die Masters in Lunacy, im Verfolg
der ihnen gesetzlich zustehenden Untersuchungen
jedermann vorzuladen und unter Eid zu ver-
nehmen. Sie dürfen kein Nebenamt annehmen
und sind „during good behaviour" unabsetzlich.
b) Die „armen Geisteskranken'^ — pauper
lunatics — , d. h. solche, die ganz oder teilweise
auf öffentliche Kosten unterhalten werden, sind
vom Armenpfleger zu registrieren und erhalten
regelmässigen ärztlichen Besuch. Aber auch
die übr^en — private patients — sollen von
jedem Bezirksbeamten zur Anzeige gebracht
werden, sobald derselbe davon hört, dass sie
ungeeignet verpflegt und beaufsichtigt, grausam
behandelt oder vernachlässigt werden. Wer
einen Geisteskranken aufnimmt, bedarf zwar
keiner Anstalt^konzession — daher uniicensed
house — , untersteht aber im übrigen denselben
Regeln und derselben Beaufsichtigung wie Privat-
anstalten. Alle Einzelpatienten — paupers und
die angeriebenen private patients — müssen den
Commissioners angezeigt und jährlich wenigstens
einmal von diesen besucht werden. Ausserdem
sind Aerzte als lokale Visitors bestellt.
c) Die einzelnen Bezirke haben für ihre
Geisteskranken, sei es durch Errichtung eigener
Anstalten, sei es durch Verträge mit anderen,
zu sorgen. Die Paupers werden meist in die
sogenannten Asyle — county oder borough
asylums — aufgenommen, doch können ge-
eignete Kranke auch an Irrenabteüungen von
Workhonses, die als Pflegeanstalten gelten, ab-
gegeben werden. Private patients kamen bis-
her meist in Hospitals, die ans Stiftungen,
Schenkungen und dergleichen erhalten werden,
oder in eigentliche Privatanstalten — licensed
houses. Doch sollen von jetzt an die C-ounties
und Boroughs Abteilungen oder Anstalten für
Privatkranke eröffnen oder Privatanstalten an-
kaufen. Der Staat selbst besitzt nur eine An-
stalt, Bedlam in London.
d) Die Konzessionierung von Anstalten er-
folgt direkt oder indirekt durch die Commis-
sioners. Sie gilt für Privatanstalten höchstens
13 Monate und muss dann stets erneuert werden.
Neue Privatanstalten dürfen seit 1889 nur noch
für Idioten oder Schwachsinnige errichtet werden.
Als Privataustalten gelten alle Häuser, die
mehr als einen Kranken aufnehmen.
e) Jedes Asylum steht direkt unter einem
Irrenwesea
1393
besonderen Committee of Visitors, das Kontrakte
und Liefeningsverträge abschliesst, Statuten und
Kostsätze aufstellt, Aerzte und Beamte anstellt
und mindestens zweimonatliche Besichtigungen
mit umfassenden Befugnissen vornimmt. Die
Privatanstalten sind in einer Reihe Ton Orten,
die als unter der speciellen Gerichtsbarkeit der
Commissioners stehend im Gesetze von 1845
namhaft gemacht sind, diesen direkt unterstellt,
in den i\brigen ernennen die Friedensrichter
Visitors für sie. Dieselben müssen Aerzte sein
und gelten auch für die Einzelpatienten. In
jeder Privatanstalt mit mehr als 100 Kranken
muss ein Arzt wohnen. Die Commissioners
müssen die ihnen unmittelbar unterstehenden
Anstalten jährlich yiermal, die anderen zweimal
unvermutet in allen Einzelheiten untersuchen.
Visitors und Commissioners dürfen auch die
Diät der armen Kranken bestimmen. Besuche
bei den Kranken mit oder ohne Beisein des
Anstaltsdirektors zulassen. Die Kranken dürfen
Briefe verschlossen an die Commissioners, Visi-
tors, Eichter. den Staatssekretär und andere
bestimmte Personen absenden, und in Privat-
anstalten müssen den Kranken leicht zugäng-
liche Anschläge dies und andere Bechte kund
thun. Ueber Anwendung von Zwangsmitteln,
die nur auf Zeugnis des Direktors stattfinden
darf, um chirurgische oder innere Massnahmen
durchzusetzen und um den Kranken oder andere
vor Verletzung zu schützen, muss vierteljähr-
lich den Commissioners berichtet werden.
i) Ein Kranker darf gegen seinen Willen
in Anstalts- oder andere Pflege nur auf richter-
lichen Befehl gebracht werden. Dieser Befehl
wird bei armen Kranken auf Antrag der Armen-
behörde und das Zeugnis eines Arztes erteilt,
bei Privatkranken auf Antrag eines Verwandten
oder Freundes und Beibringung zweier ärzt-
licher Zeugnisse. Ist der Richter noch nicht
von der Krankheit des Betreffenden überzeugt,
so kann er innerhalb acht Tagen einen Termin
zu weiterer Beratung ansetzen, den Kranken
besuchen, Zeugen vernehmen etc., eventuell auch
die Sache nochmals um 14 Tage verschieben.
Kommt er auch dann nicht dazu, den Befehl
auszustellen, so muss er die Gründe der Ab-
lehnung schriftlich dem Antragsteller und den
Commissioners mitteilen. Letztere können sich
der Sache weiter annehmen. In eiligen Fällen
kann jedoch ein Kranker in eine Anstalt oder
als Einzelpatient auf den Antrag eines Ver-
wandten und das Zeugnis eines Arztes unter-
gebracht werden, doch muss dann das übrige
nachgeholt werden. Hat der Richter den Kranken
nicht persönlich geprüft, so muss dem Kranken
binnen 24 Stunden nach seiner Einlieferung
vom Anstaltsdirektor resp. Pfleger ein Brief
übergeben werden, der ihn auf sein Recht, per-
sönlich vom Richter beurteilt zu werden, auf-
merksam macht, und der Kranke darf innerhalb
acht Tagen verlangen, dem Richter vorgeführt
zu werden. Die Aufnahme muss sogleich den
Commissioners und eventuell den Visitors an-
fezeigt und nach einem Monat ein Bericht über
en körperlichen und geistigen Zustand des
Kranken den Commissioners übersandt werden.
Sobald wie möglich müssen sich Visitors und
Commissioners persönlich von der Geisteskrank-
heit des Aufgenommenen überzeugen, letztere
können sich aber auch vertreten lassen. — Nach
einem Jahre erlischt der Aufnahinebefehl, wenn
der Direktor nicht durch besonderen Bericht
das Fortbestehen der Krankheit bestätigt, das-
selbe muss dann nach zwei, hierauf nach drei
und von da an stets nach fünf Jahren geschehen.
— Freiwillige Kranke (boarders) können ohne
die vorgesclmebenen Zeugnisse, aber unter so-
fortiger Benachrichtigung der Commissioners
aufgenommen, müssen aber auf eigenen Wunsch
stets binnen 24 Stunden entlassen werden.
g) Jeder Privatkranke kann auch vor seiner
Genesung jederzeit von dem, der seine Auf-
nahme beantragt hat und der auch verpflichtet
ist, ihn mindestens einmal im Halbjahre zu
besuchen oder besuchen zu lassen, jeder arme
Kranke von der Ortsarmenbehörde ans der An-
stalt genommen werden, wenn nicht Gemein-
gefährlichkeit vorliegt, in welchem Falle die
Commissioners entscheiden. Femer können zwei
Commissioners (ein Arzt und ein Jurist, die
überhaupt bei Revisionen die Körperschaft zu
vertreten pflegen) auf einen Besuch hin stets
die Entlassung eines Kranken verfügen oder
ihn, wenn er in Einzelpflege ist, in andere
Pfl^e bringen lassen. Aber auch jeder, ob
Verwandter oder nicht, kann sich von den
Commissioners die Erlaubnis erbitten, einen
Geisteskranken durch zwei Aerzte untersuchen
zu lassen. Finden diese ihn bei zwei Besuchen,
die acht Tage auseinander liegen müssen, gesund
oder fähig, ohne Schaden für sich oder andere
entlassen zu werden, so können die Commissio-
ners seine Entlassung binnen zehn Tagen an-
ordnen.
h) Auf Antrag der Commissioners, oder
wenn ein Kranker ein Jahr in Pflege gewesen
ist, hat der Kanzler das Recht, einen cfer zwei
von ihm ernannten Masters in Lunac^ zu ent-
senden, der sich, wie es ihm hinreichend er-
scheint von der Geisteskrankheit des Betreffen-
den überzeugt. Der Kanzler kann auf solchen
Bericht durch Ernennung eines Vormundes oder
anderweitig für Schutz, Pflege und Unterhalt
des Kranken sorgen. Auch eine teilweise Ent-
mündigung kann eintreten: es kann jemandem
die freie Verfügung über sein Vermögen ge-
nommen, die über seine Person gelassen werden.
i) Wird jemand während der Untersuchung
wegen Mordes oder eines ungeheuerlichen Ver-
brechens geisteskrank, so kann das Gericht
statt einer Verurteilung anordnen, dass er
during her Majesty^s pleasure verwahrt werde.
Er kommt dann nach Broadmoor und bleibt
dort, auch wenn er gesund wird, bis eine be-
sondere Verfüg^ung inn, eventuell unter be-
stimmten Bedingungen, der Freiheit wieder-
giebt. Daneben werden — jetzt allerdings nur
noch auf der Frauenabteilung — auch irre Ver-
brecher, die während der Straf verbüssung geistes-
krank geworden sind, daselbst ver^flefirt. Für
die übrigen irren Verbrecher ist in Irrenab-
teilnngen von Gefängnissen gesorgt. Auch sie
kommen jedoch nach Broadmoor, wenn ihre
Strafhaft abgelaufen, ihre Geisteskrankheit aber
noch nicht geschwunden ist. Wie alle Geistes-
kranken imterstehen auch die irren Verbrecher
den Commissioners in Lunacy, die auch jedes
Gefängnis, Armenhaus etc. auf Geisteskranke
und deren Verpflegung untersuchen können.
Die Einrichtung der Commissioners in
Handwörterbuch der SteatswiBsenschaften. Zweite Auflage. IV. 88
1394
Irrenwesen
Lunacy hat dem englischen Irrenwesen un-
zweifelhaft grosse Förderung gebracht. Es
stehen hier Männer an der Spitze, die sich
der Sache ganz widmen und sie zu ihrer
Lebensaufgabe machen. Weniger erspriess-
lieh erscheinen die lokalen Committees of
Visitors, über deren ün>^'issenheit in den
ihnen unterstehenden Dingen manchmal ge-
klagt wird. Die häufigen Visitationen sind
vieBeicht imstande, offenbare Missstände,
unnötigen Zwang imd dergleichen unmöglich
zu machen, aber sie belasten den Direktor
auch erheblich und zwingen ihn, sein Inte-
resse mehr den äusserlichen Formen zu
widmen. So wird leicht die individuelle
Fürsorge benachteiligt, zumal in England
das Verhältnis der Aerzte zur Krankenzahl
im Vergleich mit Deutschland sehr gering
ist und grosse Anstalten mit 1000 und mehi*
Kranken häufig sind. Dazu kommen die
vielen Bestimmungen, die, um die Einsper-
rung Gesunder zu verhindern, den Kranken
die ihnen so nötige Ruhe nehmen. Die un-
zweckmässigsten derselben sind durch das
(jesetz von 1889 getroffen, glücklicherweise
in einer Fassimg, die es den Commissioners
ermöglicht, sie als Benihigungsmittel der
öffentlichen Meinung auf dem Papier zu be-
lassen.
3. Schottland.
a) Ein Board of Commissioners in Lunacy
steht an der Spitze des Irren wesens. Er wird
von drei (ärztlichen) Mitgliedern gebildet, denen
der Staatssekretär einen oder zwei Juristen,
wenn nötig, hinzufügen kann. Ausserdem können
sie selbst ärztlichen Beistand zuziehen. Sie
überwachen das gesamte Irrenwesen, stellen
die Kegeln für Leber wachung der Anstalten
auf, und zwei von ihnen haben wenigstens
zweimal im Jahre jeden Ort zu besuchen, wo
ein oder mehrere Geisteskranke sich befinden,
und über deren Befinden und Behandlung zu
berichten.
b) Jeder arme Geisteskranke muss den ;
Commissioners gemeldet werden und steht unter '
ihrem Schutze, ein Privatkranker in der eigenen
Familie nur dann, wenn es bekannt wird, dass
er vernachlässigt oder schlecht behandelt wird.
c) Die Distrikte sind verpflichtet, für die
Anstaltsversorgung der derselben bedürftigen j
armen Kranken zu sorgen. |
d) Die Commissioners erteilen die Konzession
für Anstalten.
e) Ausser den Commissioners dürfen Sheriff
und Friedensrichter jederzeit jeden Ort be-
sichtigen, wo sich Geisteskranke aufhalten.
f) Die Aufnahme eines Kranken in eine
Anstalt oder in fremde i^flege geschieht auf
die Zeugnisse zweier Aerzte hin durch Ver-
fügung des Sheriffs, in eilii,^en Fällen auf das '
Zeugnis eines Arztes, eventuell auch eines der '
Anstalt, doch müssen dann die anderen Papiere |
in drei Tagen nachgeholt werden. Kann der
Kranke nach drei Jahren noch nicht entlassen
werden, so muss der Anstaltsdirektor dem
Sheriff die Notwendigkeit weiterer Detinierung
eidlich versichern und dies von da an eventaell
jedes Jahr wiederholen.
g) Der Sheriff kann jederzeit auch g^en
die Ueberzeugung Ües Anstaltsleiters die Ent-
lassung eines Kranken verfügen, wenn zwei
Aerzte denselben für gesund erklären; die
Commissioners bedürfen dazu nur ihrer eigenen
Ueberzeugung, keiner ärztlichen Bescheinigung.
Privatkranke können von ihren Verwandten^
arme Kranke von ihrer Heimatsbehörde stets
aus der Anstalt genommen werden, ausser wenn
der Direktor sie für gefährlich erklärt nnd der
Distriktsprokurator ihre weitere Detinierong
anordnet. Freiwillige Kranke müssen jeder-
zeit auf ihren Wunsch binnen drei Tagen ent-
lassen werden.
h) Die Commissioners haben das Recht die
Ernennung eines gerichtlichen Verwalters für
das Vermögen eines Kranken zu veranlassen,
sobald sie glauben, dass dasselbe nicht richtig
verwaltet wird; auch später haben sie bei
Visitationen darauf zu achten, ob der gericht-
liche Verwalter darin das Bichtige thut.
4. Frankreich. In Frankreich gilt bis-
her die Loi sur les Ali^n^s v. 30. Juni 1838^
ergänzt durch die V. v. 19. Dezember 1839
und durch das Irrenanstaltsreglement von
1857. Verschiedene Gesetzesentwürfe sind
seit den 70 er Jahren in den Kammern be-
raten , aber bisher nicht angenommen wor-
den. So blieben die französischen Anstalten
vor manchen harten und schädigenden Mass-
regeln bewahrt, haben aber auch manches
Erwünschte, wie die Einrichtung der frei-
willigen Pensionäre, noch nicht erreicht.
a) Das Anstaltswesen untersteht dem Minis-
terium des Innern. Die Öffentlichen Anstalten
unterstehen der Leitung, die privaten der Ueber-
wachung der Staatsgewalt. Eine den Com-
missioners ähnliche Behörde fehlt.
b) Staatliche Aufsicht über Irre ausserhalb
der Anstalten besteht nicht.
c) Jedes Departement muss eine öffentliche
Anstalt haben oder mit einer anderen Anstalt
einen Vertrag zur Unterbringung seiner Kranken
schliessen.
d) Die Errichtung einer Anstalt setzt die
staatliche Genehmi^ng voraus, die Hausord-
nung muss vom Ministerium gebilligt werden.
— Die Konzession für Privatanstalten kann,
nach einer Reihe von NachM-eisen, vom Prä-
fekten erteilt werden. Der Besitzer und ev. der
dirigierende Arzt muss in der Anstalt .wohnen.
Die Stellvertretung und Schliessung der An-
stalt ist sehr genau geregelt.
e) Die öffentlichen Anstalten werden diu-ch
je eine vom Präfekten ernannte Commission
de surveillance von 5 Mitgliedern überwacht,
die über alle Verwaltungsangelegenheiten mit-
zureden hat. Alle Anstalten unterliegen einer
periodischen Revision durch eine Kommission,
die aus dem Präfekten, dem Gerichtspräsidenten,
dem Staatsanwalt, dem Friedensrichter und dem
Maire besteht und alle Klagen der Patienten
zu prüfen hat; ferner besichtigt der Staatsan-
walt die öffentlichen Anstalten mindestens alle
sechs, die privaten mindestens alle drei Monate
einmal. Klagen von Patienten an Gericht und
Behörde müssen befördert werden. — Irrenab-
Irren weson
1B95
teilnn^en gewöhnlicher Krankenhäuser müssen
für mindestens fttnfzic; Kranke eingerichtet
sein nnd unterstehen denselben Bestimmungen
wie öffentliche Anstalten, nnr dass keine Oom-
missions de snrveillance gebildet werden.
f) Die Aufnahme eines Kranken erfolgt auf
schriftlichen Antrag und auf ein ärztliches
Zeugnis, das die Notwendigkeit der Anstalts-
behandlung bekundet, in dringenden Fällen aber
fehlen kann, sowie nach Feststellung der Iden-
tität des Antragstellers und des Kranken. Die
Anfnahme wird binnen 24 Stunden dem Prä-
fekten mitgeteilt, der bei Privatanstalten inner-
halb dreier Tage durch einen oder mehrere
Aerzte, denen er auch jemand anders beiordnen
kann, den Greistesznstand des Aufgenommenen
untersuchen lässt. 14 Tage nach der Aufnahme
mnss der Anstaltsdirektor dem Präfekten einen
ausführlichen Bericht über den Kranken zu-
senden. — Besondere Bestimmungen gelten für
die Kranken, welche auf Befehl des Präfekten
der Anstalt überliefert werden, weil ihr Geistes-
zustand die öffentliche Ordnung oder die Sicher-
heit von Personen gefährdet. Hierbei kann in
dringenden Fällen der Maire auf ein ärztliches
Zeugnis vorläufig statt des Präfekten handeln.
Ueber den Zustand dieser polizeilich Internierten
hat der Anstaltsleiter zu Anfang jeden Halb-
jahres und auch zwischendurch, wenn die Ge-
meingefährlichkeit geschwunden ist, dem Prä-
fekten zu berichten, der über Verbleib oder
Entlassung entscheidet. — Aufnahme und Ent-
lassung jedes Kranken muss dem für die Heimat
desselben wie dem für die Anstalt zuständigen
Staatsanwalt angezeigt werden. Ausserdem be-
richtet der Präfekt darüber an den Minister.
g) Die Entlassung muss jederzeit auch vor
der Heilung erfolgen, wenn sie vom Kurator,
den Verwandten oder dem Antragsteller ver-
langt wird; doch kann hiergegen der Maire
Einspruch thun, wenn nach Ansicht des Arztes
Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder
Sicherheit dadurch zu befürchten steht. End-
giltig entscheidet hierüber der Präfekt. Ein
so zurückgehaltener Kranker gilt als polizeilich
interniert. — Jederzeit kann der Pröfekt die
sofortige Entlassung eines Krauken verfügen.
Ferner kann der Kranke, sein Vormund, jeder ■
Verwandte oder Freund, endlich auch der j
Staatsanwalt die Entlassung beantragen, die i
von dem für die Anstalt zuständigen Gerichte
ohne Angabe der Gründe verfügt wird, wenn
es die beigebrachten für stichhaltig hält. j
h) Für Kranke in einer Anstalt kann das
(•ivilgericht auf Antrag einen vorläufigen Ver- '
mögensverwalter ernennen, dessen Befugnis mit ,
der Entlassung des Kranken erlischt. Sonst j
wird das Vermögen der nicht entmündigten ,
Kranken durch die Commission de surveillance '
verwaltet. Ferner kann das Gericht einen I
Kurator bestellen, der dafür sorgt, dass das
Einkommen im Interesse des Kranken verwaltet
wird und dass derselbe, sobald sein Znstand
es erlaubt, die freie Ausübung seiner Rechte ,
zurückerhält. j
Die Interdiktion selbst beschränkt die Ver- '
fUguugsgewalt nur über das Vermögen und
setzt einen dauernden Zustand von Geistes-
krankheit voraus, wobei lichte Zwischenräume
nicht anerkannt werden. (Tode Napoleon Buch I. i
Tit. 11, Kap. 2, Art. 489 ff.)
5. Belgien. Das G. v. 28. Dezember
1873 regelt die belgische Irrenpflege. Es
ist in Verbindung mit den Ausfflhrungsbe-
Stimmungen vom 1. Juni 1874 ungewöhn-
lich eingehend lind klar. In vielen Dingen
lehnt es sich an das französische Gesetz an.
Besondere Bestimmungen bestehen für die
Irrenkolonieen Gheel und Lierneux.
a) Die Regierung lässt die Anstalten so-
wohl durch besondere Delegierte wie durch
ständige Inspektionskomitees der einzelnen Ar-
rondissements revidieren.
b) Niemand darf in seiner oder eines anderen
Wohnung in seiner Freiheit beschränkt werden,
wenn nicht zwei Aerzte, deren einer vom
Friedensrichter bestimmt wird, seine Geistes-
krankheit bescheinigt haben. Der Friedens-
richter muss den Kranken mindestens einmal
vierteljährlich besuchen, sich ebenso oft ein
Zeugnis des Hausarztes vorlegen lassen und
kann ausserdem den Kranken durch einen
anderen Arzt besuchen lassen, so oft es ihm
nötig scheint.
c) Ausser den Staats- und Provinziaian-
stalten sind von den Gemeinden provisorische
As^s'le, wenn möglich im Anschluss an bestehende
Krankenhäuser zu errichten, in denen Geistes-
kranke bis zur Abwickelung der zur Aufnahme
nötigen Formalitäten, aber nicht länger als
nötig, verbleiben können. Daselbst sind auch
arme Kranke unterzubringen, welche auf dem
Wege zur Anstalt des Ausruhens bedürfen.
d) Als Irrenanstalt gilt jedes Haus, in dem
auch nur ein Geisteskranker verpflegt wird,
der nicht zur Familie des Pflegers gehört oder
unter dessen Vormundschaft steht. Die Kon-
zession wird durch kgl. Ermächtigung und nur
auf verschiedene Bedingungen hin erteilt. Der
Arzt darf mit dem Inhaber nicht verwandt
sein und wird auf dessen Vorschlag vom Mi-
nister ernannt, der auch sein (rehalt bestimmt
und ihn bei grober Nachlässigkeit und Pflicht-
verletzung absetzen kann. Sogar die Zahl der
Zellen (^höchstens 1 auf 100 Kranke) wird be-
stimmt. Bei Privatanstalten muss, wie übrigens
auch in Frankreich, der Inhaber eine Kaution
stellen.
e) Die Anstalten werden wenigstens alle
Halbjahre vom Bürgermeister, alle drei Monate
vom Staatsanwalt, alle Jahre vom (xouverneur
oder einem Delegierten desselben besichtigt, die
provisorischen Asyle alle Vierteljahre vom
Bürgermeister und Friedensrichter. — Neuer-
dings ist auch eine aus Irrenärzten bestehende
Besuchskommission eingeführt.
fi Die Aufnahme in eine Anstalt erfolgt
entweder auf Antrag einer Privatperson oder
auf Verlangen verschiedener Behörden unter
Vorlegung eines ärztlichen Zeugnisses, das in
eiligen Fällen bis 24 Stunden später nachge-
liefert werden kann. Bei einem Entmündigten
genügt der Antrag des Vormundes im Verein
mit dem Beschluss des Familienrates. Tritt ein
Kranker freiwillig ein, so muss dies sofort dem
Bürgermeister angezeigt werden, der den
Kranken binnen 24 Stunden ärztlich untersuchen
lässt. — Der Anstalt.sleiter hat von der Auf-
nahme dem Gouverneur der Provinz, dem für
die Anstalt und dem für die Heimat des Kranken
zuständigen Staatsanwalt, dem Friedensrichter,
88*
1396
IrreQwesen
dem Bürgermeister und dem Comite de sur-
veillance der Anstalt Kenntnis zu ffeben. Vom
Staatsanwalt der Heimat werden dann die lo-
kalen Behörden und von diesen die Verwandten
des Kranken und seine Wirtsleute benachrich-
tigt. — Während der ersten fünf Tage muss
der Anstaltsarzt den Kranken täglich besuchen
und in ein bestimmtes Register Beobachtungen
und Urteil eintragen. Am 6. Tage hat er eine
Abschrift davon dem Staatsanwalt seines Be-
zirks einzureichen.
g) Erklärt der Anstaltsarzt den Aufgenom-
menen für nicht geisteskrank oder genesen, so
muss er dem, der den Aufhahmeantrag gestellt,
sowie dem Vormund und allen Behörden, denen
die Aufnahme angezeigt war, Mitteilung davon
machen. Fünf Tage später erfolgt dann die
Entlassung. Ist der Kranke noch nicht geheilt,
so haben die, die ihn eingeliefert haben, ev. der
Vormund stets das Recht, seine Entlassung zu
fordern. Jeder Kranke und jeder andere, der
Interesse daran hat, kann sich stets an das
Gericht wenden, das sofortige Entlassung ver-
fügen kann. Gerichtskosten werden dafür nicht
erhoben.
h) Jeder Geisteskranke in einer Anstalt,
der nicht bevormundet ist, kann auf Antrag
gerichtlich einen provisorischen Verwalter er-
halten, w^obei Familienrat und Staatsanwalt ge-
hört werden müssen. Für die Anstaltskranken,
die weder Vormund noch provisorischen Ver-
walter haben, übt die Pflichten des letzteren
ein Mitglied des comite de surveillance aus,
doch kann auch für bestimmte Zwecke statt
dessen ein Notar eintreten. Rechtsgeschäfte, die
von Kranken während ihres Anstaltsaufenthaltes
vorgenommen werden, sind anfechtbar.
i) Verurteilte, Angeklagte, Untersuchungs-
und Schuldgefangene, oei denen Geistesstörung
erkannt wird, sollen auf Antrag der zuständigen
Behörde in eine durch die Regierung be-
stimmte — öffentliche oder private — Anstalt
kommen und hier die Verurteilten von den
übrigen getrennt verwahrt werden.
6. Holland. Das holländische Irrenge-
setz datiert vom 27. April 1884.
a) Mindestens zwei ärztliche Inspektoren
üben die Staatsaufsicht aus Über Irrenanstalten
und über diejenigen Irren, welche ihrer Freiheit
beraubt sind und nicht in eigener oder elter-
licher Wohnung verpflegt werden.
b) Wer einen Irren verpflegt, der der Auf-
sicht der Inspektoren unterliegt, hat dies binnen
zwei Tagen dem Bürgermeister und durch
diesen dem Staatsanwalt und den Inspektoren
anzuzeigen. Diese beiden dürfen den Kranken
^egen den Willen des Pflegers, der aber zu
jeder Auskunft verpflichtet ist, nur unter Vor-
zeigen eines schriftlichen Auftrages und in
Gegenwart des Richters oder Beamten besuchen ;
das Protokoll des Besuches wird dem Pfleger
mitgeteilt. Findet der Inspektor den Kranken
schlecht behandelt, so berichtet er dies, falls es
nicht geändert wird, dem Staatsanwalt. An-
wendung von Zwangsmitteln muss rej^istriert
und den Inspektoren auf Verlangen mitgeteilt
werden.
c) Irre, die vom Reiche unterhalten werden
müssen, und diejenigen, deren Unterbringung
in eine Anstalt durch den Strafrichter veranlasst
wird, werden entweder in einer Reichsanstalt
verpflegt, die auch ev. arme Kranke auf Kosten
der Gemeinden aufnimmt oder es wird für sie
durch Vertrag mit anderen Anstalten oder
Privatleuten gesorgt (G. v. 15. Dezember 1896 1.
Im übrigen sorgen die Provinzialregierungen
für Anstalten für ihre Irren, falls nicht ander-
weitig das Bedürfnis gedeckt ist.
d) Als Anstalt mrd jede Wohnung ange-
sehen, in welcher mehr als zwei Geisteskranke
verpflegt werden. Bei Erteilung der Konzession
wird das Maximum der Kranken und das Mini-
mum der Aerzte durch die Behörde fest-
gesetzt.
e) Zu den Irrenanstalten haben Inspektoren
wie Staatsanwalt stets freien Zutritt. Der
Staatsanwalt hat in Begleitung eines Inspektors
oder eines anderen von den Inspektoren be-
stimmten Arztes vierteljährlich mindestens
einmal die Anstalten seines Bezirkes zu be-
suchen und sich zu überzeugen, dass niemand
sich widerrechtlich darin befindet und dass die
Kranken ordentlich behandelt werden. Ihm
wie dem Staatsanwalt des Heimatsortes ist
jede Aufnahme, Beurlaubung und Entlassung
mit Angabe der Gründe und ev. des Antrag-
stellers sowie jeder Todesfall anzuzeigen.
f) Die Aufnahme kann von verschiedenen
Verwandten oder vom Vormunde des Kranken
beantragt werden, sowie vom Staatsanwälte,
wenn die Verwandten verwirrt sind oder ein
Inspektor oder Bürgermeister danim ersucht.
Auch kann jeder Volljährige seine Aufnahme
selbst beantragen. Stets ist ein ärztliches
Zeugnis notwendig. Die Ermächtigung zur
Aufnahme erteilt der Kantonsrichter oder, wenn
der Staatsanwalt den Antrag stellt, der Arron-
dissementsgerichtspräsident ev. nach Verhör.
Verweigert er sie, so entscheidet dass Arron-
dissementsgericht. Der Kantonsrichter resp.
der Staatsanwalt zeigt die Aufnahme dem betr.
Bürgermeister, dieser den Verwandten oder dem
Vormund an. — In dringenden Fällen kann der
Bürgermeister einen Geisteski*anken ohne ärzt-
liches Zeugnis in einer Anstalt, nötigenfalls
auch in einem Gefängnis vorläufig verwahren
lassen, muss aber soiort den Staatsanwalt be-
hufs Stellung des Aufnahmeantrags benach-
richtigen. — Eine Abschrift der Krankenge-
schichte wird dem Staatsanwalt drei Tage nach
der Aufnahme, eine zweite binnen vier Wochen
eingereicht, letztere mit motivierter Erklärung
des Anstaitsarztes über die Notwendigkeit
ferneren Anstaltsaufeuthalts. Auf ein von emem
Anwalte unterzeichnetes Gesuch oder auf Re-
quisition des Staatsanwaltes entscheidet nun
das Arrondissementsgericht, ev. auch nach
Zeugenbeweis und Verhör des Kranken, das^s
der Aufgenommene eine bestimmte Zeit, nicht
über ein Jahr, in der Anstalt zu belassen sei.
Später kann die Dauer durch neues c^leiches
Gerichtsverfahren wieder auf ein Jahr venängeri
werden u. s. f.
^) Die Entlassung erfolgt nach der Heilung
des Kranken oder auf Verlangen des Staatsan-
waltes oder der Verwandten oder beim Aus-
bleiben der Zahlung. Die Rückkehr in die Ge-
sellschaft wird dann im Einverständnis mit den
Verwandten oder im Notfalle mit dem Bürger-
meister geregelt, falls der Kranke nicht aof
eigenes Ersuchen aufgenommen war. Fürchtet
Irrenweseii
1397
der Arzt eine Stönmg der öffentlichen Ordnung
oder Sicherheit durch die Entlassung, so he-
schliesst darüber das Arrondissementsgericht.
Der Staatsanwalt hat die Entlassung zu ver-
langen, wenn ihm jemand ungesetzlich aufge-
nommen resp. zurückgehalten oder wenn ihm
jemand genesen erscheint.
h) Während des Anstaltsaufenthaltes ver-
liert der Kranke die Verfügung über sein Ver-
mögen, und das Arrondissementsgericht seines
Wonnortes ernennt, wenn nötig, auf Antrag
der Verwandten ^der des Staatsanwaltes einen
vorläufigen Verwalter. Eine Entmündigung
kann nach Ablauf der ersten Ermächtigung
zum Anstaltvsaufenthalte auf Autrao; der Be-
rechtigten oder des Staatsanwaltes erfolgen, und
sie wird dem Kranken mitgeteilt falls dies ihm
nicht nach ärztlichem Urteile schädlich ist.
i) Jemand, der eine strafbare Handlung be-
gangen hat, aber wegen Geistesstörung nicht
verantwortlich gemacht werden kann, darf vom
Strafrichter für ein Jahr einer Anstalt über-
wiesen werden.
7. Norwegen. Xorwcgen besitzt sein
V Gesetz iXher (Uo Behandlung und Verpfle-
gung von Geisteski-ankeu« seit dem 17.
August 1848.
a) Das Irrenwesen untersteht, wie das
Medizinal wesen überhaupt, dem Ministerium der
Justiz und Polizei. Der König kann, so oft er
es für nötig hält, geeignete Leute mit der In-
spektion der Anstalten besonders beauftragen.
b) Kein Geisteskranker darf von Personen
oder Lokalbehörden detiniert werden ohne so-
fortige Anzeige an den Prediger oder direkt an
den Arzt, der verpflichtet ist, zu untersuchen,
ob die Massnahmen gesetzlich sind. Tobende
oder rasende Kranke müssen, wenn ihre Unter-
bringung in eine Anstalt nicht möglich ist,
wenigstens ärztlich behandelt werden, event.
auf öffentliche Kosten; arme Geisteskranke, die
keiner besonderen Bewachung und Pflege be-
dürfen, sind \^'ie andere Arme zu verpfle§:en.
Jeder Arzt ist verpflichtet, ünzuträglichkeiten
in der Pflege Geisteskranker anzuzeigen und
jährlich ein Verzeichnis der ihm gemeldeten
Geisteskranken dem Ministerium des Innern ein-
zureichen. Kein Kranker darf mit Verbrechern
zusammen detiniert werden.
e) Eine Verpflichtung zur Unterhaltung
von Anstalten wird durch das Gesetz nicht aus-
gesprochen, doch trägt nach G. v. 27. Juni
1891 der Staat *'io der Kosten für arme
Geisteskranke, während ^;,o von der Kommune
und ^',0 vom Kreise aufzubringen ist. Doch
ge.«<chieht dies nur, soweit arme Geisteskranke
besonderer Pflege und Bewax'hung bedürfen.
Ob dies der Fall, entscheidet der Amtsarzt, dem
die Aufsicht über die Geisteskranken seines
Amts anvertraut ist.
d) Jede Errichtung und Umänderung einer
Irrenanstalt sowie das Regulativ derselben be-
darf der kgl. Genehmigung. Eine Reihe von
Erfordernissen hierfür sind vorgeschrieben. Der
Arzt muss vom König speciell dazu ermächtigt
sein, er kann bei Privatanstalten zugleich der
Besitzer sein.
e) Die Aufsicht über jede Anstalt wird
durch je eine Kommission geführt, die aus drei
vom König ernannten und staatlich besoldeten
Mitgliedern, darunter einem Arzt, besteht. Diese
müssen bei jeder Visitation ein genau vorge-
schriebenes Personal- und Behandlungsprotokoll
unterschreiben und ev. Bemerkungen hinzu-
fügen. Ein Auszug aus diesen Protokollen
wird alle drei Monate, ein Generalbericht alle
Jahre vom dirigierenden Arzte durch die Kom-
mission dem Ministerium eingesandt. Isolierung
und Zwang ist in notwendigen Fällen nur auf
kurze Zeit, körperliche Bestrafung überhaupt
nicht gestattet.
f) Jeder Geisteskranke, der die öffentliche
Sicherheit stört oder zu Hause nicht angemessen
verpflegt wird oder für dessen Unt^jrhalt je-
mand zu sorgen sich verpflichtet, kann in eine
Irrenanstalt aufgenommen werden, wenn der
Arzt derselben feststellt, dass dies für den
Kranken zweckmässig oder für die Aufrecht^r-
haltung der öffentlichen Ordnung und Sicher-
heit erforderlich ist. Gegen die ärztliche Ent-
scheidung steht den Angehörigen die Berufung
an die Anstaltskommission zu, der das Aui-
nahmeprotokoll innerhalb 48 Stunden zugehen
muss und die bei Beschwerde sogleich, sonst
bei der nächsten Visitation die nötigen Unter-
suchungen darüber anstellt, ob der Kranke in
der Anstalt zu belassen ist.
g) Abgesehen von der Genesung kann ein
Kranker jederzeit von den Angehörigen aus der
Anstalt genommen werden, wenn ihn nicht die
Behörde eingeliefert hat oder der Arzt ihn für
sich oder andere gefährlich erklärt. In letzterem
Falle kann die Entscheidung der Kommission
gefordert werden.
8. Schweden. Schweden hat sein
Iri-enwesen diu'ch das G. v. 2. November
1883 geregelt.
a) Die höchste Behörde ist die Medizinal-
verwaltung, die jede irgend wichtige Massregel
der Anstaltsdirektionen genehmigen muss. —
Der Medizinalverwaltung untergeordnet, im
übrigen aber selbständig, wirkt daneben seit
1899 ein Oberinspektor des Irrenwesens, der ein
geschulter Psychiater sein muss. Ihm liegen
jährlich oder öfter Inspektionen aller öffentlichen
und privaten Irrenanstalten ob ; im besonderen hat
er die Verhältnisse der Krankenpflege zu über-
wachen und die Rechtmässigkeit der stattge-
fundenen Aufnahmen zu prüfen.
b) Wird jemand geisteskrank, so muss die
Umgebung oder die Ortsbehörde ihn ärztlich
untersuchen lassen und Fürsorge für ihn treffen.
Jeder, der einen Geisteskranken umsonst oder
fegen Bezahlung verpflegt, hat dies schriftlich
em Pfarrer und auf dem Lande dem Gemeinde-
vorsteher, in der Stadt dem betreffenden Arzte
anzuzeigen. Letzterer muss auf ordnungsmässige
Pflege sehen. Pfarrer und Gemeindevorstand
haben jährlich Verzeichnisse aller Geisteskranken
den beamteten Aerzten einzuschicken, die auf
ihren Reisen den Zustand und die Pflege der
Kranken kouti-ol Heren und eventuell auf Ab-
stellunc: von Missständen dringen sollen.
c) Neben den staatlichen Hospitälern (Irren-
heil-) und Asylen (l'flegeanstalten) soll jeder
Regierungsbezirk in einem Krankenhause Ein-
richtungen für Geisteskranke treffen, die wegfen
Ueberfüllung, Jahreszeit etc. nicht ins Hospital
gebracht werden können.
d) Für Staats- und Privatanstalten werden
1398
Inenwesen
fenaue Bauvorschriften gegeben. Letztere be-
ürfen der königlichen Genehmigunfr, die nur
unter specieUen Bedingungen erteilt werden
darf. So muss der leitende Arzt von der Medi-
ainalverwaltung hierzu besonders ermächtigt
sein. Er ist für die Pflege verantwortlich. Jeder,
der mehr als 5 Geisteskranke verpflegt, gilt als
Inhaber einer Privatanstalt.
e) Jede Anstalt steht unter einer Direktion,
deren Vorsitzender der Landeshauptmann ist
und die im übrigen aus den Anstaltsärzten und
vier vom König ernannten Mitgliedern besteht.
Die Befugnisse der Direktion und des Oberarztes
sind sehr genau geregelt, die Unterordnung des
Verwalters unter den Oberarzt ausdrücklich
ausgesprochen.
f) Das Aufnahmegesuch in ein Hospital
muss mit einem aiLsführlichen ärztlichen Be-
richte, einem Zeugnis des Geistlichen, einer
gutachtlichen Aeusserung desselben und anderer
glaubwürdiger Personen sowie einer Zahlungs-
verpflichtung an die Direktion eingereicht werden.
In dringenden Fällen kann die Polizeibehörde
den Kranken ohne weiteres einbringen, dann
müssen die verlangten Zeugnisse nachgeliefert
werden. Dieselben Nachweise werden für ein
Asyl gefordert, falls die Kranken ihm nicht vom
Hospital aus zugeführt werden. Arme Kranke
werden, wenn im ersten Monat nach Beginn
der Krankheit angemeldet, die ersten zwei
Monate hindurch umsonst verpflegt. Binnen
3 Tagen hat der Arzt einer Privatanstalt über
jede Aufnahme Bericht nebst Abschrift der
Verhandlungen der Medizinalverwaltung einzu-
senden.
g) Die Entlassung erfolgt auf Anordnung
des Oberarztes, wenn jemand nicht-geisteskrank
oder genesen befunden wird, auf Anordnung der
Direktion, wenn der Kranke soweit gebessert
ist, dass er der Anstalt nicht mehr bedarf, oder
wenn ein Unheilbarer ungefährlich und ein
anderer der Anstalt mehr bedürftig ist. Bei
Untersuchungs- und Strafgefangenen entscheidet
die Medizinal Verwaltung. Ausserdem kann der,
der die Aufnahme beantragt hat oder die Kosten
trägt, den Kranken jederzeit herausnehmen,
falls dies ohne Gefahr der öffentlichen Sicher-
heit geschehen kann und genügende ander-
Aveitige Pflege nachgewiesen wird. Von jeder
Entlassung muss unter anderen auch der Geist-
liche des heimatlichen Kirchspiels benachrichtigt
werden. Ruhige Geisteskranke können vom
Oberarzt beurlaubt werden, mittellose Genesene
von der Direktion eine Unterstützung an Geld
oder Kleidung erhalten.
9. Andere Länder. In Europa haben
mit Ausnahme von Genf, dessen G. v. 5
Februar 1S38 dem französischen ähnelt, und
N e u c h a t e ] , dessen G. v. 23. Mai resp. 3.
Juni 1S79 sich die Genfer Bestimmungen
zum Vorbilde genommen hat, andere Län-
der keine eigentliche liTengesetzgebung. In
0 esterreich haben nur einzelne Kron-
länder Vei-suche dazu gemacht. Als Gegen-
sätze z. B. in Behandlung der Aufnahme
mögen Dänemark und Portugal er-
währ.t werden: dort genügt ein ärztliches
Zeugnis, hier entscheidet der leichter, und
d(n* Arzt muss in Gegenwart desselben und
anderer Zeugen den Kranken untersuchen.
In Dänemark steht dal)ei das Irren wesen
trotz beinahe völligem Mangel an gesetz-
lichen Bestimmungen auf einer ähnlich
hohen Stufe wie in Schweden und Nor-
wegen, während von Spanien und Portu-
gal nichts in dieser Hinsicht zu rühmen
ist. Irlands Gesetze schliessen sich denen
Englands und Schottlands an, sind aber
weniger ausgebildet. In Italien ist das
von den Psychiatern Lombroso und Tambu-
rini vorbereitete Irrengesetz, das viele be-
merkenswerte Einzelheiten bietet, bisher
nicht angenommen worden.
Dort macht sowohl das Civil- wie das Straf-
recht einen Unterschied zwischen Personen,
welche des Verstandes ganz beraubt sind, und
solchen mit verminderter Verstandesthätij^keit.
Jene verlieren durch die Entmündigung^ (mter-
dizione) die Freiheit, über Person und Vermögen
zu verfügen, während für diese die Geschäits-
unfähigkeitserklärungjinabilitazione) vorgesehen
ist, welche nur die Verfügung über das Ver-
mögen beschränkt. Das Entmündigungsver-
fahren findet vor einem Kollegialgericht statt,
ein Familienrat wird hinzugezogen, und die
Staatsanwaltschaft übt auch weiterhin die Auf-
sicht über den Entmündigten und die Thätig-
keit des Familienrates aus.
In Russland endlich ist die Irrenpflege
in denjenigen Gouvernements, wo die Mbst-
verwaltung eingeführt ist, Sache der Land-
stände (Semstwo). Gewöhnlich verfügt der
Anstaltsdirektor die Aufnahme auf Grund
eines Antrags des angestellten Gemeinde-
arztes. Im übrigen waltet noch ziemliche
Willkür der Regieiningsbehörden auf diesem
Gebiete, obwolü in neuer Zeit gute Anstal-
ten gel.)aut sind und in der wissenschaft-
lichen Psychiatrie eifiiges Streben herrscht.
Einen eigenen Chai'akter tragen den
dortigen Verhältnissen entsprechend di*»
1 rren gesetzgebungen der Vereinigten
Staaten Nordamerikas, die, untereinander
sehr abweichend, zum Teil sehr ins einzelne
ausgearbeitet sind und neben ungewöhn-
lichen Auswüchsen des Misstrauens und
der Furcht vor widerrechtlicher Freiheits-
beraubung auch viele selir erfreuliche Züge
tragen. Die Aufnahme in eine Irrenanstalt
erfolgt z. B. auf höchst verschiedene Wei.se
in den einzelnen Staaten, nämlich auf An-
ordnung 1. des Friedensrichters, 2. des Rich-
ten, 8. einer ordentlichen Jury (z. B. in
Colorado, wo in öffentlicher Verhandlung
nach Anhörung des Staatsanwalts und des
Verteidigers der »Angeklagte« für »schuldig,
geisteskrank zu sein«, erklärt wiitl), 4. einer
gemischten, halb aus Aerzten bestehenden
Jury, 5. des Staatskanzlers, 6. einer vom
Richter ernannten Kommission, 7. der Irren-
inspektoren, S. des Aufsichtsrats der An-
stalten, 9. eines oder mehrerer Aerzte,
Trotz mancher uns schwer verständlichen
Irrenwesen—Iselin
1399
Einrichtung steht Iirenwesea und Iri*en.c:e-
setzgebung iu manchen Staaten der nord-
amerikanischen Union und ferner besondei*s
in den australischen Koionieen woliJ
denen Europas nicht nach. Ziemhch überall
finden wir eine ausgebildete Organisation
und Uoberwachung des Irren wesens durch
besondert» Kommissionen mit teilweise sehr
weitreichenden Befugnissen.
Litteratur: Reuss, Rechtsschutz der Gehtes-
kninken, Leipzig 18 8S. — Atisser der dort an-
gegebenen Litteratur besonders: O, A, TuckeVf
Lunacy in many Uinds, Sydney 1887. — D, H,
TukCi Histoj^ of the Insane in ihe British
Isles, London 1882. — Derselbe^ Dictionary
of Psychologicul Medicine , London 189:i. —
Heinr, Laehv und M, Lewald, Die Heil-
und Pflegeanstalten für Psychisch- Kirtnke des
deutschen Sprachgebietes am 1, Jan. 1898, Berlin
1899. — Ferner: Aufsätze in der Allg. Zeitschr.
f. Psychiatrie, Berlin; Annales intdico-j>sycho-
iogiques, Paris; Journal of mental seience, London.
Hans Laehr.
Iselitt, Isaak,
geb. 17. in. 1728 zu Basel, gest. daselbst 15.
VII. 1782, studierte Geschichte und die Rechte,
wurde 1754 Mitglied des grossen Rats und 1756
Eatsschreiber in seiner Vaterstadt und gründete
1760, gelegentlich der dreihundertjährigen Stif-
tungsfeier der Universität Basel, mit Salomon
Hirzel, Salomon (t essner und iSchinz die 1763
ins Leben getretene „helvetische Gesellschaft".
Iselin war ein Menschenfreund in des Wortes
idealster Bedeutung. Für Hebung des Schul-
wesens imd Umgestaltung der Erziehungs-
methoden, nach Basedowschen Grundsätzen, für
Pflege des Landbaues, für Besserung der Sitten,
für gemeinnützige Bestrebungen aller Art wirkte
er durch Wort, Schrift und That. Röscher be-
zeichnet ihn als sehr interessantes Mittelglied
zwischen Montesquieu und den Physiokraten.
Ueber Iselins Stellung zu Rousseau vgl. die Be-
merkung zu seiner „Geschichte der Mensch-
heit" (s. u.j. Iselin macht imter den deutschen
Physiokraten darauf Anspruch, sich zuerst zu
der Lehre Quesnays und seiner Schüler öffent-
lich bekannt zu haben. Von grossem Interesse
ist seine diplomatische Befreundnng zu Gunsten
des Physiokratismus mit einzelnen, eine doppel-
sinnige Auslegung zulassenden Umschreibungen
von Begriffen des Industriesystems, wie sie in
Smiths „wealth of nations"* sich darbieten (vgl.
Ephemeriden der Menschheit, s. u., Bd. II, 1777,
iS. 1 70/206). Ueber das Wiesen der Konkurrenz
äusserte er sich (vgl. Ephemeriden, Bd. II, Jahrg.
1777, S. 59): das erste Recht zu jeder Ware
gehört dem, der am meisten dafür bezahlt, und
aas erste Recht, eine Ware los zu werden, dem,
der sie zum niedrigsten Preise weggeben will,
welches Theorem sowohl das Vorkaufsrecht als
die gesetzlichen Beschränkungen der Schleuderet
anfechten.
Iselin veröffentlichte von staatswissenschaft-
lichen Schriften in Buchform: Der Patriot und
Antipatriot, Zürich 1758. — Ueber die Gesetz-
gebung, Basel 1758; 2. Aufl., Zürich 1760. —
Ueber die Entvölkerung unserer Vaterstadt,
Basel 1758. — Philosophische und patriotische
Träume eines Menschenfreundes, Zürich 1759;
2. Aufl., Basel 1776. — Philosophische und
politische Versuche, Zürich 1760; 2. Aufl., 1767.
— Plutus, oder von den Reichtümern, ein Ge-
spräch, Basel 1762. — Ueber den wahren Ge-
brauch der Reichtümer, ebd. 1762. — Philo-
sophische Mutmassungen über die Geschichte
der Menschheit, 2 Bde., Frankfurt und Leipzig
1764 (erschien anonym); dasselbe, 2. Aufl. mit
seinem Autornamen, u. d. T.: Ueber die Ge-
schichte der Menschheit, 2 Bde., Zürich 1768;
dasselbe, 8. Aufl., 1770; dasselbe, 4. Aufl , Basel
1779; dasselbe, 5. Aufl., 1786; dasselbe, 6 Aufl.,
1791. (Die Grundidee dieses Werkes imd der
I bereits genannten „philosophischen und patrio-
tischen Träume eines Menschenfreundes" cha-
rakterisiert sie als Versuche einer praktischen
Glückseligkeitslehre. Im Gegensatze zu Rousseau,
der die Aera der menschlichen Glückseligkeit,
mit Bestreitung der Möglichkeit einer Wieder-
kehr derselben, in die Vergangenheit verleet,
verteidigt Iselin die Ansicht von einer erst der
Zukunft vorbehaltenen Inaugurierung dieses
goldenen Zeitalters. Seine Ausführungen atmen
die lauterste Vaterlands- und Menschenliebe,
ihr philosophischer Kern ist aber der falschen
Prämisse entspnmgen, dass eine stetig fort-
schreitende intellektuelle und soziale Entwicke-
lung der Menschheit erstens gleichen Schritt
mit deren sittlicher Vervollkommnung halte,
zweitens die materiellen Vorbedingungen zur
Erreichung des erhofften GltickseliÄeitszu-
standes mittelst der Philosophie in sich trage,
welcher er die Aufgabe zuscnreibt, die Mensch-
heit zu beglücken und aus ihren sozialen Nöten
zu erlösen. Er greift Rousseau an, weil dieser
sich von der Natur entferne, zu der, als Mutter
der Glückselififkeit, zurückzukehren, er die ein-
zelnen Individuen und die bürgerliche Gesell-
schaft wiederholt auffordert. J. G. Schlosser in
seinem „Brief über Träume eines Menschen-
freundes" (s. u.) bemerkt dazu: „Rousseaus
Gang der Natur ist ein Gang im Staube,
Iselins ein Gang in den Wolken.") — Schreiben
an seinen Sohn, der sich der Handelschaft widmen
will, 0. J. (ca. 1765j. — Schreiben an die Hel-
vetische Gesellschaft über Basedows Vorschläge
zur Verbesserung des Unterrichts der Jugend,
Basel 1769. — Ueber die Notwendigkeit der
Prachtgesetze in einem Freistaate, Zürich 1769.
(Iselin erklärt sich darin gegen jeden die re-
publikanische Sitteneinfachheit gefährdenden
Luxus.) — Versuch über die gesellige Ordnung,
ebd. 1772. — Schreiben an Ulysses von Salis-
Marschlins über die Philanthropieen in Dessau
und in Graubünden, Basel 1776. — Ephemeriden
der Menschheit, 10 Bde., Bd. I— VIII, Basel
1776—79, Bd. IX— X, Leipzig 1780—82. (Diese
Zeitschrift war den „Ephemerides du citoyen",
1767 flf. nachgebildet; sie wurde nach Iselins
Tode von Becker in Dresden bis 1786 fortgesetzt.)
Vffl. über Iselin: Leu, Helvetisches Lexi-
kon, 26 Teile, einschl. Supplemente, Zürich
1747-95, Teü 19 u. 26. — J. G. Schlosser,
Brief über „Träume eines Menschenfreundes" in
„Ephemeriden Bd. IX", Leipzig 1780, S. 225 ff.
1400
Iselin — Jugendliche Arbeiter
— Salomon Hirzel, Denkmal Isaak Iselins,
gewidmet von seinem Freunde, Basel 1782. —
Tentsches Museum, Jahrg. 1783, Leipzig, No-
vemberheft. — J. G. Schlosser, Denkmal auf
Isaak Iselin in „Verhandlungen der helvetischen
Gesellschaft in Ölten im Jahre 1783", Basel
1783. — Nachrichten über Iselins Leben und
Schriften in der 5. Aufl. seiner „Geschichte der
Menschheit" von 1786. — Lutz, Nekrolog
denkwürdiger Schweizer aus dem 18. Jahr-
hundert, Aarau 1812. — Ersch und Gruber,
Encyklopädie, Sektion II, Teil 24, Leipzig 1845,
S. 336 ff — K. Goedeke, Grundriss zur Ge-
schichte der deutschen Dichtung, Bd. II, Hannover
1859, S. 619. — K. Morell, Die Helvetische
Gesellschaft, Winterthur 1864. — Röscher,
Geschichte der Nat., München 1874, S. 487, 528,
600. — A. V. Miaskowski, Isaak Iselin. Ein
Beitrag zur Geschichte der volkswirtschaft-
lichen, sozialen und politischen Bestrebungen
der Schweiz im 18. Jahrhundert, Basel 1875. —
K. Dändliker, Geschichte der Schweiz, Bd. III,
Zürich 1887, S. 71 und 136.
Lippert,
Jagendliche Arbeiter.
1. Grundsätzliche Berechtigung der Be-
schäftigung minderjähriger Personen. 2. Zu-
stände in der älteren Zeit. 3. Zustände im
19. Jahrhundert, a) England; b) Frankreich;
c) Deutschland ; d) Italien ; e) Schweiz. 4. Um-
fang der Arbeit von Kindern und jungen Leuten
in der Gegenwart seit 1880. a) Deutschland;
b) Italien; c) Belgien; d) Holland; e) Frank-
reich; f) Schweiz; g) England. 5. Neuere
deutsche Schutzgesetzgebung.
1. Grundsätzliche ßerechtignng der
Beschäftigung minderjähriger Personen.
Bei den jugendlichen Arbeitern müssen zwei
Alterskategorieen auseinandergehalten wer-
den : die Gnij)pe der eigentlichen jugendlichen
Arbeiter bis zum vollendeten 16. Lebens-
jahre und die Gruppe der 16 — 21 jährigen
halberwachsenen Arbeiter. Während nun
die regelmässige industrielle Beschäftigung
von Kindern und jugendlichen Personen Be-
denken hervorruft, lässt sich gegen eine
regelmässige Heranziehung halberwachsener
Personen zur Arbeit nichts einwenden. Indes
sollte man auch hier zweckmässigerweise
nicht ausser acht lassen, dass man es mit
noch nicht völlig erzogenen Personen zu
thun hat. Daher empfiehlt sich einerseits,
den jüngeren unter ihnen die Gelegenheit
zur Vervollständigung ihrer Ausbildung nicht
zu verkümmern und andererseits über sie
aUe eine gewisse Aufsicht zu führen, damit
sie vor jugendlichen Ausschreitungen be-
wahrt bleiben.
Bezüglich der Kinder imd jugendlichen
Personen unter 16 Jahren gilt, dass diese
in erster Linie dazu bestimmt erscheinen,
ihre körperhchen und geistigen Fähigkeiten
für die spätere Wirksamkeit auszubilden
und zu lernen. Soll nicht frühzeitige Er-
schlaffung der Leistungsfähigkeit eintreten,
so ist es durchaus geboten, die Kräfte des
in der Entwickelung begriffenen Kindes zu
schonen und sie nicht übermässig anzu-
strengen. Nur sehr schwer wird sich der
Schulunterricht mit regelmässiger gewerb-
licher Arbeit, insbesondere der Thätigkeit
in Fabriken, vereinigen lassen. Das in der
Schule geistig angestrengte Kind hat ziur
Wiederherstellung des gestörten Gleichge-
wichts zw^anglose Bewegung im Freien und
die Möglichkeit harmlosen Spiels mit Alters-
genossen nötig. Dazu aber ist bei regel-
mässiger Fabrikarbeit keine Zeit mehr vor-
handen. Diese verlangt die günstigsten
Tagesstunden und lässt keinen Raum für
die Erledigung der Schularbeiten, geschweige
denn zur Erholung in angedeutetem Sinne.
Nur zu nahe liegt die Grefahr, dass bei den
entgegenstehenden Interessen, Lernen imd
Geldverdienen, der Unterricht in den Hinter-
giiind gedrängt und als eine lästige Ein-
schränkung der Erwerbsarbeit empfunden
wird. Dazu kommt, dass die gleichzeitige
Beschäftigung von Kindern und Erwachsenen
in einem Baume für die ersteren moralische
Schädigungen birgt. Das Kind muss dabei
manches sehen und hören, was seiner
Fassungskraft nicht angemessen erscheint,
und gewinnt oft frühzeitig einen Einbhck
in Verhältnisse, die besser noch auf lange
liinaus vor seinem aufkeimenden Yerständ-
I nis verborgen gehalten werden.
Bei alledem kann nicht geleugnet werden,
dass für gewisse Klassen der Bevölkerung
die Kinderarbeit geradezu eine Notwendigkeit
geworden ist. Wo eine zalilreiche Kinder-
schar im Familien haushalte vorhanden, ist
der Vater oder sind die Eltern oft nicht
in der Lage, soviel zu erwerben, dass der
Unterhalt aller auskömmlich gesichert er-
schemt. Die Kinder solcher Familien sind
<larauf angewiesen, sobald ihre Kräfte es
erlauben, in die Reihe der Erwerbsthäligen
einzutreten und den liarten Kampf ums
Dasein aufzunehmen, sei es, um sich selbst
zu erhalten, sei es, um für jüngere Ge-
schwister oder erwerbsunfähige oder er-
krankte Eltern zu sorgen. Die Not des
; Lebens zwingt, unbekümmert um die Folgen,
sich frfili regelmässiger Arbeit zu unterziehen,
wo Wohlhabendere ihren Kindern noi-h
schonende Füreorge angedeihen lassen können.
Daneben w'ill in Betracht gezogen sein, dass
in Familien, wo beide Eltern früh am Morgen
das Haus verlassen, um auf Erwerb aus-
zugehen, und wenn nicht den ganzen Tag,
so doch viele Stunden fernbleiben, für die
zurückbleibenden Kinder schlecht gesorgt
ist. Der Besuch der Volksschule und die
Erledigung der Schularbeiten lassen viele
I freie Müsse, die, wenn die Beaufsichtigung
Jugendliche Arbeiter
1401
der Eltern fehlt, leicht missbräuchlich aus-
genutzt wird. Jugendheime und Knaben-
oder Mädchenhorte, die hier helfend ein-
zutreten in der Lage sind, werden natur-
gemäss immer nur einen beschränkten Wir-
kimgskreis haben können. Vielleicht darf
schliesslich auch in die Wagschale geworfen
werden, dass unter den Entbelirungen und
Strapazen, an die Kinder aus Arl>eiter-
familien sich leider gewöhnen müssen, der
Körper abgehärtet und frfiher widerstands-
fähiger wird, als es sonst der Fall ist, sowie
eine frühere geistige Entwickelung sich zeigt,
unter dem l>uck solcher \erhältnisse
kann es nicht darauf ankommen, die gewerb-
liche Thätigkeit untersechzehnjäliriger Per-
sooen ganz zu verbieten, sondern nur darauf,
ihr Grenzen zu ziehen, die sich mit der
natürlichen Entwickelung verti-agen. Die
Heranziehung zu leichterer Acker- und
(rartenai'beit , Botengängen , Hirtendiensten,
Handreichungen in der Hausarbeit oder auch
in der väterlichen Werkstätte wird niemand
missbilligen w^ollen, natürlich immer in der
Voraussetzung, dass sie sich in den diu^ch
die Körperkraft der Kinder und die Not-
wendigkeit dos Schulunterrichts gegebenen
Schranken hält. Dagegen gewinnt die
Arbeit der Kinder einen im höchsten Grade
besorgniserregenden Charakter, wenn sie,
wie das in Fabriken lange der Fall war,
ein Ersatz für die Leistungen erwachsener
Männer sein soll und den unglücklichen
Geschöpfen zugemutet wird, mit diesen in
Bezug auf Ausdauer und Mass zu w^ett-
eifern.
2. Zustände in der älteren Zeit. Soweit
Nachrichten darüber bekannt geworden sind,
lässt sich nicht behaupten, dass während der
Epoche der Zunftverfassung die Kinder in auf-
fallender und besorgniserregender Weise zur
gewerblichen Thätigkeit herangezogen wurden,
wenn es auch wahrscheinlich ist, dass sie in
Haus und Hof, auf Feldern und Gärten mit-
geholfen haben, so überschritt das ihnen zuge-
mutete Mass von Leistungen nicht ihre Kräfte.
Wenigstens sieht man nur selten und vereinzelt
ihre Beschäftigung obrigkeitlicherseits geregelt.
So ordnet das Statut der Glasschleifer in Venedig
vom Jahre 1284 an, dass die beiden Lehrburschen
oder Lehrmädchen, die jeder Meister zu halten
berechtigt ist, wenigstens acht Jahre alt sein
müssen (octo annos et non ad minus), und findet
man in Venedig schon seit dem Ende des 14.
Jahrhunderts Gesetze zum Schutze der Knaben
und Mädchen, die sich einem Meister zur Ar-
beit zu vermieten pflegten. Diese standen unter
dem vormundschaftlichen Schutze einer be-
sonderen Behörde, welche die mit dem Meister
abzuschliessenden Lehr- und Arbeitsverträge zu
begutachten hatte. Aber es ist doch sehr frag-
lich, inwieweit man aus dem Erlass derartiger
Bestimmungen auf besonders grelle Zustände
zu schliessen berechtigt ist. In den Bau-
gewerben derselben Stadt Hess z. B. kein Hand-
werk einen Burschen als Lehrling zu, der das
13. Lebensjahr nicht vollendet hatte, und ver-
langte für gewisse mühsame Arbeiten ein noch
höheres Alter. Bei den Pariser Handwerks-
zünften des 14. Jahrhunderts pflegten die Sta-
tuten kein bestimmtes Alter von den eintreten-
den Lehrlingen zu fordern. Man sieht die
Knaben im Alter von 8, von 9, von 10, von
14 — 17 Jahren ihre Lehrzeit anfangen, imd in
derselben Zunft konnte diese bald früher, bald
später beginnen. Die Goldschmiede z. B. nahmen
nach ihrem Statut von 1599 Lehrlinge im Alter
von 10 — 16 Jahren auf. Man richtete sich augen-
scheinlich ganz nach den individuellen Verhält-
nissen, nach der körperlichen oder geistigen
Entwickelung der Kinder. Wenn im allge-
meinen das Rind wirklich früh zur Erlernung
des Handwerks zugelassen wurde, so kann das
auch den Sinn gehabt haben, dass man meinte,
nur durch frühzeitige Schulung vollendete Ge-
werbetreibende erziehen zu können, und es ist
nicht gesagt, dass sie tiberanstrengt wurden.
Ein derartiger Gedanke scheint der Bestimmung
der Lübecker Gerberrolle aus dem 14. Jahr-
hundert zu Grunde zu liegen, in der es heisst,
dass der anzunehmende Lehrling das Alter von
12 Jahren nicht überschritten haben durfte (si
aliquis unum juvenem reciperet ad docendum
ille minus quam duodecim annorum senex esse
deberet) *j. Die Lehrzeit dauerte in diesem Ge-
werbe 6 Jahre, und vor dem vollendeten 20. Lebens-
jahre konnte ein Gerberssohn in der Regel nicht
selbständiger Meister werden (ausnahmsweise
etwa bei frühzeitigem Tode seines Vaters mit
Zustimmung des Rates . und Amtes wohl).
Uebrigens lässt sich dieser Anordnung der
Gerber keine ähnliche Verfügung eines anderen
Gewerbes in Lübeck oder den benachbarten
Städten, Hamburg und Lüneburg, an die Seite
stellen; die Gerber selbst haben sie in der
späteren Rolle von 14ö4 fallen lassen. Im
ganzen enthalten die deutschen Zunftrollen nur
wenig Bestimmungen über die Altersgrenze,
bei der Lehrlinge zuzulassen oder abzuweisen
waren. Die Buchbinder in Nürnberg verlangten
1598 mindestens 14 Jahre, die Ziegler in
Württemberg 1589 15 Jahre, die Schneider in
HoheuzoUern 1598 1.3 — 14 Jahre, die Zimmer-
leute in Nürnberg im 16. Jahrhundert 16 Jahre
für die Zulassung. Dagegen zeigt sich die
Forderung eines Altersmaximums bei den Kamm-
machern m Lübeck. Diese nahmen 1531 keinen
Lehrling mehr an, der das 18. Lebensjahr tiber-
schritten hatte. Den' Spenglern in Nürnberg
hatte die Obrigkeit vorgeschrieben, dass sie
keinen Lehrjun^en annehmen, der über 15 Jahre
alt sei. Aber diese erklärten 1564, dass sie mit
so kleinen Jungen das Handwerk nicht fördern
könnten, worauf ihnen gestattet wurde, auch
solche Lehrjungen anzunehmen, die über dieses
Alter hinaus waren. Missbräuchlich kam es
vor, dass die Kinder, namentlich Meistersöhne,
noch in der Wiege liegend, in das Handwerks-
buch eingeschrieben wurden, eine Massregel,
die wohl mit der seit dem 16. Jahrhundert ver-
') Stahls Vermutung eines Schreibfehlers
an dieser Stelle der Urkunde, nämlich der Aus-
lassung eines ,.non" vor dem „minus", so dass
das Maximum sich in ein Minimum verwandeln
würde, scheint mir nicht recht begründet.
1402
Jugendliche Arbeiter
längerten Lehr-, Wander- und Gesellenzeit sich
einbürgerte. Wann die Knaben in der That
regelmässig zu arbeiten begannen, entzieht sieh
unserer Kenntnis. Immerbin deuten die in
Württemberg 1771 und 1772 notwendig werden-
den Synodalreskripte, dass keiner vor der Kon-
firmation zum Handwerk aufgenommen werden
dürfe, auf Erscheinung von Missständen in
dieser Richtung. Auf die gleiche Spur führt
uns eine Verordnung des Züricher Rates vom
Jahre 1779, dass Eltern oder Leute, die fremde
Kinder in Kost zu nehmen pflegten, ihre eigenen
oder fremden Kinder nicht täglich mit einem
gewissen Pensum Manufakturarbeit, wie Spinnen,
Zupfen, Sortieren etc. beschäftigen durften. Die
Kinder sollten nicht früher in der angegebenen
Weise benutzt werden, als nachdem sie aus der
Schule entlassen waren. Sonst würde der so sehr
benötigte Unterricht vernachlässigt und könnten
leicht gefährliche Uebel daraus entstehen.
Häufig erscheint Kinderarbeit bereits im
17. Jahrhundert in Holland, wo ja das Fabrik-
wesen sich zeitiger als in anderen Ländern ent-
wickelte. Schon Pieter de la Court und andere
Schriftsteller dieser Zeit klagen über die Aus-
dehnung der Frauen- und Kinderarbeit. Am
Ende des vorigen Jahrhunderts fand E versmann
auf einer technologischen Reise durch Holland
Kinder von 7 und 8 Jahren in der Pfeifen-
fabrikation beschäftigt. In dem Masse, als dann
Fabriken errrichtet und mit immer vervoll-
komraneteren, durch Dampf in Bewegung ge-
setzten Maschinen betrieben wurden, nahm die
regelmässige Verwendung von Kindern in zum
Teil harter und andauernder Tagesarbeit in
besorgniserregender Weise zu. Zur Bedienung
der Maschinen reichten die kindlichen Körper-
kräfte aus, und für den Fabrikanten zeigte sich
der Vorteil ihrer vergleichsweise niedrigen Be-
zahlung. Diese an sich zunächst nicht unge-
rechtfertigte Heranziehung artete dann in der
Weise aus, dass die jugendlichen Arbeiter die
erwachsenen förmlich zu verdrängen drohten.
Die Dinge wurden völlig auf den Kopf gestellt,
indem die Kinder die Ernährer ihrer Eltern
wurden. Bei den Erwachsenen aber bürgerte
sich die Vorstellung, dass dieses Verhältnis das
normale sei, derart ein, dass frühzeitig Ehen
geschlossen wurden in Hinsieht auf den Bei-
trag, den die Kinder zu den Kosten des Haus-
haltes zuschiesjien würden.
3. Zustände inr 19. Jahrhundert.
a) England. Besondere schlimm gestaltete
sich die Beschäftigung von Kindern in dem
fabrikreichen England. Hier wurden, wie
Engels schildert, von Anfang der neuen In-
dustrie an Kinder in den Fabriken beschäftigt ;
anfangs wegen der Kleinheit der später
vergrösserten Maschinen fast anssclüiesvslich.
Man nahm die Kinder zuerst aus den Armen-
häusern, von denen sie scliarenweise an die
Fabrikanten als »Lehrlinge< vermietet wur-
den. Die Unglücklichen wohnten gemein-
sc^haftlich, wurden gleich gekleidet und
waren die vollständigen Sklaven ihrer Brot-
herren, von denen sie mit der gi-össten
Rücksichtslosigkeit und Barbarei behandelt
wurden. Obwohl dieses System schon im
Jahre 1796 den öffentlichen Unwillen her-
vomef und in einem Gesetz von 1802 die
Abstellung der grössten Missbräuche be-
wirkt wurde, so erreichte man weiter nichts,
als dass Kinder unter 8 — 9 Jahren in der
Regel nicht mehi* beschäftigt wurden. Mit
dem neunten Jahre begann ganz regelmässig
die Arbeit. Die Fabrikkommission von 1SH3
stellte fest, dass die Fabrikanten die Kinder
häufig mit 6, sehr oft mit 7, meist mit
8 — 9 Jahren zu beschäftigen anfingen dass
die Arbeitszeit oft 14 — 16 Stimden (ausser
Freistunden zu Malüzeiten) täglich dauere,
dass die Aufseher die Kinder schlugen und
raisshandelten und oft die Fabrikanten selbst
sich an ihnen vergriffen. Bis zum Jahre
1839 war die Kinderarbeit soweit verbreitet,
dass von 419560 Fabrikarbeitern des bri-
tischen Reiches 192887, d. h. beinahe die
Hälfte, unter 18 Jahren waren. Im Bezirk
Manchester allein waren zu Beginn des
Jahres 1840 in 143 Fabriken 2422 Kinder
unter 13 Jahren beschäftigt, von denen 177S
acht Stunden lang ohne Ablösung arbeiteten.
Hierbei ist nicht zu vergessen, dass schon
5 Jahre vorher dasjenige Gesetz veröffent-
licht war, das die Arbeit von Kindern unter
9 Jahren verbot. Indes dieses Gesetz s«*
wenig wie das spätere, das die Kinder unter
13 Jahren nur 6 Stunden täglich zu l>e-
schäftigen erlaubte, vermochte dem Miss-
brauche ganz zu steuern. Die Fabrikanten
beschäftigten nunmehr vorzugsweise nur
solche Jungen, die so aussahen, als ob sie
schon ISjähiig waren. Karl Marx behauptet.
I indem er sich auf die Aussagen der Fabrik-
' Inspektoren bezieht, dass die manchmal l>e-
obachtete sprungweise Abnahme in der An-
zahl der von Fabrikanten beschäftigten
Kinder unter 13 Jahren grösstenteils das
Werk der amtlich qualifizierten Aerzt«»
(certif^nng surgeons) war, die das Kindes-
alter der Exploitationslust der Kapitalisten
und dem Scliacherbedürfnis der Eltern ge-
mäss ven?choben. Wirklich lässt sich in
, der Periode von 1850 bis 1875 folgende
: Verschiebung in der Zusammensetzung <ler
englischen Textilarbeiterbevölkenmg nach-
weisen.
1. Baumwollenindustrie.
a = Kinder unter 13 Jahren,
b = Männliche Arbeiter von 13 — 18 Jahren,
c = „ y, über 18 Jahre,
d = Weibliche Arbeiter über 13 Jahre.
Arbeiter-
katego rieen
a
b
c
d
1850
1861
14 993 39188
37 059 41 207
94 960 1 19 268
183 912 251 306
1871
43 181
38209
117 046
25^ 55»
1875
66900
36 557
ii5 39i
2S8 667
Jugendliche Arbeiter
1403
Arbeiter- ^g^^^
1861
1871
1875
4. Flac
hsindustrie.
kategorieen
2. Woll<
^nindustrie.
a
b
I 581
8012
3644
8754
5562
13666
12678
^5 195
a 7094
5969
6 021
8528
c
II 998
16646
18268
31 344
b II 844
II 213
14 197
13972
d
46843
65039
97876
112 570
c 18655
35 179
47302
49169
d 26810
35622
61 426
66324
3. Kam mg
arnind
ustrie.
5. Seid
enindustrie.
a 9956
13 178
18306
29828
a
7 151
7014
6928
6871
b 7695
6614
9481
11259
b
3214
3229
2 662
I 381
c 15 185
18619
24950
31 622
c
25 III
32029
29481
27841
d 46901
47652
56280
69388
d
7668
10 162
9053
8466
Von 100 Arbeitern waren demnach in der
BaumwoUen-
WoUen-
Kammgam-
Flachs-
Seide-
Arbeiter-
I
n d u s t r i
e
kategorieen
1850
1875
1850
1875
1850 1875
1850
1875
1850
1875
a
1
6,4 14
'8,5
6
12,7
20
2,3
7,4
2,3
7
b
10,3 8
14,1
10
8,1
8
11,7
8,8
II, I
9
c
27,4
24
38,7
36
20,6
23
^Z'5
18,2
17
18
d
55,9
54
38,7
48
58,6
49
68,5
65,6
69,6
66
b) Frankreich. Kaum bessere Zustände
weist Frankreich auf, obgleich hier seit 1841
ein Gesetz zum Schutze der in Fabriken und
Hütteuwerken mit mechanischen Motoren und
fortwährender Feuerung oder in Fabriken mit
mehr als 20 Arbeitern beschäftigten Kinder er-
lassen worden war.
Wenn Sismondi darüber kla^t, dass in den
grossen Hauptstädten des Kontinents die Ar-
beiter durch die Fabriken gezwungen wären,
ihre Kinder vom zartesten Alter an mitarbeiten
zu lassen, so hat er sicher auch an Paris ge-
dacht, und in Villermes 1839-1840 veröffent-
lichten Berichten erscheint die Lage der Fabrik-
kinder, besonders in den Industriegegenden, in
sehr trauriger Beleuchtung. Die im Jahre 1867
veranstaltete Enquete über die Wirksamkeit des
Gesetzes von 1841 ergab, dass in 7959 in-
dustriellen Betrieben 99 212 Kinder im Alter
von 8^16 Jahren beschäftigt wurden. Davon
standen 5005 im Alter von 8 — 10, 17 471 im
Alter von 10—12, 76 786 im Alter von 12—16
Jahren. Neben diesen waren in 9938 dem Ge-
setze nicht unterworfenen gewerblichen An-
stalten 25 003 Kinder beschäftigt, wovon 1360
im Alter von 8—10, 5253 im Alter von 10—12,
18 390 im Alter von 12 — 16 Jahren standen.
Für das Oberelsass nimmt Herkner die Zahl
der Fabrikkiuder auf etwa 12000 im Jahre
1842 an, doch die Enquete von 1867 wies nur
8767 für den oberrheinischen Bezirk nach, und
so wird wohl die von diesem Schriftsteller ge-
machte Bemerkung, dass die angeführten Zahlen
weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben, da
es an jeder sicheren Grundlage wie jeder
Kontrolle für die Angaben fehlt, auf ganz
Frankreich ausgedehnt werden dürfen. Zur
Zeit des Erlasses des neuen Gesetzes über die
Kinderarbeit nach der Abtrennung von Elsass-
Lothringen waren in 8829 dem Gesetze von
1841 unterstehenden Fabriken und gewerblichen
Anstalten 108 889 Kinder thätig, von denen
12 357 im Alter unter 12 Jahren, 96 532 im
Alter von 12 — 16 Jahren waren. Nur 58 Kinder
sollten damals in ganz Frankreich im Alter von
unter 8 Jahren in Fabriken thätig gewesen sein
c) Deutsohland. Aehnliche Wahr-
nehmungen, wenn auch glücklicherweise
nicht in gleichem Umfange wie in England
und Frankreich, machte man in Deutsch-
land. Die Entwickelung der Industrie,
vornehmlich die Ausbreitung der Spinnerei
am NiedeiThein, hatte eine ausgedehnte Be-
scliäftigung von Kindern in den Fabriken
zur Folge. Trotz des Schiüzw^anges war in
den preussischen Industriebezirken massen-
hafte Kinderarbeit an der Tagesordnung.
Als im Jahre 1824 der Minister von Alten-
stein durch eine Cirkularverfügung an die
Regierungen zu Aachen, Trier, Köln, Koblenz,
Düsseldorf, Arnsberg, Münster, Minden,
Breslau und Liegnitz Nachrichten über die
in den Fabriken der genannten Regierungs-
bezirke etwa beschäftigten Kinder einzog,
stellte sich kein erfreuliches Bild heraus.
Je nach der industriellen Entwickelung
traten die Uebelstände mehr oder iveniger
hervor. Am imgünstigsten erschien der
Kreis Iserlohn im Regierungsbezirk Arns-
berg, in dem die Lebensweise der Fabrik-
kinder sich als ein wahres Jammerbild dar-
stellte. Teilweise schon vom 6. Jahre an
wurden die Kleinen zur Fabrikarbeit heran-
gezogen, die in der Regel von 6 Uhr früh
bis 8 Uhr abends wähi-te. In Westfalen
und in der Rheinprovinz wurden so ziemlich
in allen Arbeiten der Fabrikation und in
ausgedehntem Masse Kinder bescliäftigt.
Doch lassen sich zwei Gebiete unterscheiden,
sofern Düsseldorf und Aachen sehr un-
1404
Jugendliche Arbeiter
giinstige Zustände aufweisen, während in
Köln, Koblenz und Trier die Fabrikarbeit
der Kinder anscheinend weniger Nachteile
im Gefolge hatte. In den schfesisehen Re-
^erungsbezirken Breslau und Liegnitz war
ihre Verwendung eine geringere ; immerhin
wurden z. B. in den Liegnitzer Glasfabriken
die Kinder auch schon vom 6. Jahre an
aufgenommen. Auf eine Feststellimg der
Gesamtzalü der Fabrikkinder, sowohl absolut
als im Verhältnis zu den nicht in Fabriken
arbeitenden Kindern oder zu allen Fabrik-
arbeitern, gingen die Berichte der ver-
schiedenen Regierungen nicht ein. Die ge-
legentlich laut gewordene Auffassung, dass
die ganze Generation durch die Fabrikarbeit
»gleichsam im Keime vergiftet werde«, ist
jedenfalls übertrieben, und man wird die
Zahl aller jugendlichen Arbeiter nicht zu
hoch schätzen dürfen. Auch in der Zeit
nach Erlass des Regulativs von 1839 scheint
die Gesaratzahl der Fabrikkinder keine sehr
grosse gewesen zu sein. Die Nachforschungen
über die Ausführung des Regidativs im
Jahre 1844 stellten fest, dass in 6 Regienmgs-
bezirken (Gumbinuen, Danzig, Marienwerder,
Posen, Bromberg, Köslin) überhaupt gar
keine, in 10 anderen Regieningsbezirken in
geringer und nur in 9 Bezirken in grcisserer
Ausdehnung Kinder in Fabriken beschäftigt
wurden, nämlich in Breslau, Frankfurt,
Magdeburg, Merseburg, Minden, Arnsberg,
Düsseldorf, Köln und Aachen. Selbst in
(liesenn ahm die Kinderarbeit keinen be-
sonders grossen Umfang ein ; der Bezirk
Arnsberg z. B. wies nicht melu* als 1240
Fabrikkinder auf. Sehr nel beträchtlicher
aber imd zugleich mit den ungünstigsten
Nebenumständen verknüpft war die Be-
schäftigimg von Kindern in der Hausindustrie.
Wie gross deren Zahl gewesen sein dürfte,
lässt sich nicht annähernd schätzen. Aber
wenn es erlaubt ist, aus der Thatsache, dass
in Krefeld unter 2 — 3000 mit Spulen und
Weben beschäftigten jugendlichen Arbeitern
nur 20 Fabrikkinder waren, auf das Ver-
hältnis in anderen Bezirken einen Schluss
zu ziehen, so kann ihre Zahl nicht gering
gewesen sein. Si)äter wuchs, offenbar in
dem Masse, als die industrielle Entwickelung
zunahm, die Zahl der Fabrikkinder ausser-
ordentlich, und bei den Vorbereitim gen zu
dem G. v. 16. Mai 1853 wurde festgestellt,
dass in ganz Preussen etwa 8000 Kinder
im Alter von 9 — 12 Jahren und etwa 24000
im Alter von 12 — 14 Jahren in Fabriken
beschäftigt waren. Im Vergleich mit der
Gesamtzahl von etwa 2 Millionen Kindern
desselben Alters im ganzen Lande mochte
diese Zalil geringfügig erecheinen. Aber
man darf nicht übersehen, dass die Fabriken
sich damals in wenigen Gegenden zusammen-
gedrängt fanden imd überhaupt vielleicht
nicht mehr als eine halbe Million Menschen
beschäftigten. Wie schwer die Zahl von
32000 \sdegt, erhellt auch aus dem Ver-
gleiche mit der Gegenwart. Auf dem mitt-
lerweile sehr vergrösserten Staatsgebiete
Preussens wurden 1888 und 1890 Kinder
unter 12 Jahren überhaupt nicht mehr in
Fabriken beschäftigt, und die Zahl der
12— 14 jährigen Fabrikkinder war 1888 6225.
1890 6636. Gerade diese Zeit der oOer Jahre
hat Thun mit im Auge, wenn er von der
Krefelder Seiden industrie, der Gladbacher
Baumwollweberei, der Aachener Tuch-
macherei in Bezug auf die Kinderarbeit so
düstere Bilder entwirft. Beschäftigimg von
Kindern im Alter von 6 — 9 Jahren war all-
gemein üblich, selbst die von o jährigen
Kindern kam vor. »Kinder von o Jahren
an sitzen in der unberjuemsten Lage, mit
zusammengezogenen Beinen und gebücktem
Rücken in überfüll tem Räume am Spulrade-
(Thun I, 109), und als so selbstverständhch
waren die Arbeiter gewöhnt worden, die
Ausbeutung der kindliehen Körperkraft an-
zusehen, dass daraufhin frühe Ehen unter
den Fabrikarbeitern üblich wurden. In
Familien, die kleine Kinder hatten, die noch
nicht arbeiten konnten, herrschte ehronisi'her
Notstand, während Familien mit so weit
erwachsenen Kindern, dass diese 5 — 7 Mark
wöchentlich verdienen konnten, in ziemlich
gesicherter Lage waren.
Die Kinder arbeiteten stets in Reih und
Glied mit den Erwachsenen, die in den
TextiLfabriken eine Arbeitszeit von mindestens
12 Stunden, gewöhnlich 14 — 15 Stimden,
oft nachweisbar 16 — 17 Stunden leisten
mussten. Die Folgen für die Kinder
charakterisiert Thun in seiner drastischen
Manier mit diesen Worten: >Sehwä(hlini]:e,
übermüdet, der Kopf grindig, die Aug^u
triefend, die Brust schwindsüchtig, der
Magen leidend, zum Militärdienst taug«Mi
sie nicht, in die Schule kommen sie nicht,
und verirrte solch ein Geschöpf sich einmal
daliin , so fand es wenigstens auf einige
Augenblicke den Schlaf und die Ruhe,
welche ihm sonst die schreckliche Stimme
des Werkmeisters raubte. Von einer Schul-
bildung war keine Rede, viele wussten nicht
ihr Alter und manche nicht einmal <len
eigenen Namen« (II, 177). Im Regierungs-
bezirk Arnsberg, wo in den 40er Jaliren
1240 Fabrikkinder l)eschäftigt waren, war
1855 die Zahl der jugendlichen Arbeiter
2938, 1856 2984, 1857 2635, 1858 2724,
1859 2091. Am 1. Jiüi 1856 wurden in
Preussen jugendliche Arbeiter unter 14 Jaliren
bescliäftigt in Fabriken 6691, in Bere-,
j Hütten- und Hoch werken 1061 , zusammen
|7752; jugendliche Arbeiter über 14 Jahre
in Fabriken 12665, in Berg-, Hütten- nml
Hoch werken 3482. zusammen 16147. Die
Jugendliche Arbeiter
1405
19 Jahre später vom Bundesrate ausgeführte
Enquete (1875) über Frauen- und Kinder-
arbeit wies für Preussen 7076 jugendliche
Arbeiter im Alter von 12 — 14 Jahren in
Fabriken nach, eine Angabe, die im Ver-
gleich zu den aus früherer Zeit bekannten
Daten offenbar zu niedrig ausgefallen ist.
üeber die Entwickelung der Kinderarbeit
in anderen deutschen Staaten ist man nicht
unterrichtet. Für das ganze Reich erfährt
man von ihrer Ausdehnung aus der Enquete
von 1875. Damals wurden in den Industiie-
zweigen, auf die die Erhebung sich er-
streckte, 88000 jugendliche Arbeiter be-
schäftigt, von denen 24 ^/o im Alter von
12—14 Jahren, 76<>/o im Alter von 14—16
Jahren standen. Verglichen mit den in
denselben Fabriken angestellten erwachsenen
männlichen und weiblichen Arbeitern stellten
die jugendlichen den 10. Teil der Gesamt-
arbeitskraft dai", da 880500 Personen über-
haupt in diesen Industriegruppen beschäftigt
waren. Der Wochenlohii der 12 — 14 jährigen
Fabrikkinder schwankte von 1 Mark ini
niedrigsten Satze bis zu 9 Mark im höchsten.
Die Altersklasse der 14 — 16 jährigen zeigte
Verschiedenheiten von 1^ 2 Mark im Minimum
bis 13^2 Mark im Maximum. Durchschnitt-
lich betrug der AVochenlohn der unteren
Altersklasse etwa 3 Mark, der der höheren
etwa 5 Mark. Damals erwies es sich auch,
dass die Vorschriften der Gewerbeonlnung
über die Bedingungen, unter denen Kinder
in Fabriken zur Arbeit zuzulassen waren,
keineswegs genügend eingehalten wurden.
Wie sich seit dieser Zeit bis zum Aus-
gange der 70 er Jahre die Kinderarbeit im
ganzen Deutschen Reiche gestaltete, sind
wir nicht in der Lage anzugeben. Es
scheint, als ob im Zusammenhange mit den
gedrückten wirtschaftlichen Verhältnissen
sie ein wenig ziurückging, indes doch nur
zeitweilig. Die selir vollständige Statistik
für Baden zeigt folgendes Bild.
In badischen Fabriken waren bescliäftigt :
im
Jugendliche Arbeiter
von 14—16 Jahren
6932
4736
5511
6975
7619
9010
10436
II 569
Im Fabrikinspektionsbezii'k Berlin be-
obachtete man folgende Bewegung der Kinder-
arbeit :
i Jahre
Kinder von
12—14 Jahren
1874
2883
1877
1957
I8ÖO
1332
1883
1 664
1886
1603
1888
1589
1889
2215
1890
2360
Es waren in Berlin beschäftigt jugendliche Arbeiter von 12 — 16 Jahren:
Industriegruppen :
über-
haupt
in \
aller
Arbei-
ter
1874
über-
haupt
in»/,
aller
Arbei-
ter
1875
über-
haupt
in%
aller
Arbei-
ter
1877
in %
über- aller
haupt Arbei-
ter
1879
Bergbau
Industrie der Steine und Erden . .
Metalle
Maschinenindustrie
Chemische Industrie
Forstwirtschaftliche Nebenprodukte .
Textilindustrie
Papier und Leder
Holzindustrie
Nahrungs- und Genussmittelindustrie
Bekleidung und Reinigungsgewerbe
Baugewerbe
Polygraphische Industrie ....
Verschiedene Industrieen ....
Summa :
33
6
369
19
22
206
524
118
80
195
425
1998
hS
0,9
1,3
2,2
0,9
3,7
8,3
1,9
1,9
5,4
9fi
20
163
122
32
12
186
389
60
94
209
•
459
5
I
2,4
0,7
4,1
0,4
2,9
5,4
I
1,8
4,1
8^7
1,7
42
133
108
13
II
139
313
80
105
121
•
411
2
2,5
2
0,8
1,9
0,4
2,5
4,6
1,4
2,5
2,5
7',6
I
58
284
344
36
12
188
566
204
121
302
3
475
4
3,9
4,3
2,2
4,2
0,4
3
7,9
3,4
2,8
4,9
4
8,4
1,3
3,1 t I 733
2,6
1468 2,5 I2579 4,6
d) Italien. In Italien war man nach
Friedländer, der sich auf die in den Jahrbüchern
des Ministeriums für Ackerbau, Handel und
Gewerbe im Jahre 1877 veröffentlichten Unter-
suchungen über die Lage der Fabrikarbeiter
beruft, von Zustünden, wie sie aus England
und Frankreich berichtet wurden, weit entfernt.
Indes erlaubt jene amtliche Veröffentlichung
doch nicht mehr, als anzunehmen, dass je nach
der Art des Gewerbes und den besonderen Ge-
sundheits-, Stärke- und Fähigkeitsverhältnissen
der Kinder, das Alter für ihre Zulassung zu
den Fabriken verschieden, im Durchschnitt etwa
9—12 Jahre, war. Wenn Friedländer der That-
sache, dass in Spinnereien allerdings schon
kleine Kinder von 6—7 Jahren beschäftigt seien,
hinzufügt, „nur mit leichten Arbeiten und als
i Gehilfen ihrer Mütter", so ist damit nicht be-
wiesen, dass die Heranziehung der Kinder
keinen besorgniserregenden Umfang gewonnen
1406
Jugendliche Arbeiter
hat noch dass die Mehrzahl der Kinder nnter
normalen Verhältnissen beschäftigt werden.
Einem mir durch die Güte des Herrn Professor j
Bodio in Rom zur Verfügung gestellten hand- 1
schriftlichen Aufsatze über die Wirkung des |
Fabrikgesetzes von 1886 entnehme ich die
Thatsache, dass, abgesehen von der Bergwerks-
industrie, die Zahl der in der Industrie im Jahre
1876 arbeitenden Kinder sich auf 865^ belief,
die sich auf die einzelnen Zweige folgender-
massen verteilten:
Seidenindustrie 64 273
Baumwollenindustrie n i74
Wollenindustrie 4621
Flachs- und Hanfindustrie 2 247
Seilereien 1 775
Weberei gemischter Stoffe 760
Filzhütefabrikation 561
Zubereitung von Häuten i 122
Offenbar sind diese Angaben aber nur als
Minimalzahlen aufzufassen.
e) Schweiz. In der Schweiz waren nach
der vom Bundesrate angeordneten Erhebung
vom 18. VII. 1869 in 664 Fabriken 9540 Kinder
beschäftigt, von welchen 52 unter 10 Jahre alt,
436 im Alter von 10—12 Jahren und 9017 im
Alter von 12 — 16 Jahren standen.
4. UmfaDg der Arbeit von Kindern
und jungen Leuten in der Gegenwart
seit 1880. a) Deutschland. Ueber die
Altersgliederung nach dem Beruf befinden
sich bereits im Art. Altersgliederung der
Bevölkerung oben Bd. I S. 277 einige sta-
tistische Angaben. Auch hat der Art Be-
ruf und Berufsstatistik oben Bd. II
S. 625 die Zahl der Kinder und Greise
unter den Erwerbsthätigen mehrerer Länder
mitgeteilt, soweit es nach den Ergebnissen
der Volkszählungen möglich war. Nach
jenen Daten zeigt unter den dort aufgeführten
9 Staaten Italien die relativ stärkste Kinder-
arbeit. Yon den Erwerbsthätigen sind
7,08% Kinder. An zweiter Stelle steht
England mit Wales mit 5,21 **/o Kindern, an
dritter Stelle Schottland mit 4,89%, an
vierter Stelle die Vereinigten Staaten von
Nordamerika mit 2,65%. Das Deutsche
Reich weist nach dieser Statistik die ge-
sundesten Verliältnisse auf, insofern hier
nur 0,97 % aller Erwerbsthätigen im Kindes-
alter imter 14 Jahren sich befinden. Die
deutsche Berufsstatistik gestattet aber aucii,
festzustellen, -wie sich die arbeitenden Kinder
und jungen Leute auf die einzelnen Berufe
verteilen. Die nachstehende Zusammenstel-
lung gew^ährt diesen Ueberblick, aus dem man
ersieht, dass die Kinderarl)eit in der Landwirt-
schaf t die verliältnismässig bedeutendste und in
der Industrie eine etwas geringere Rolle spielt.
Nachweisung der einem Berufe obliegenden Kinder und jungen Leute im Deutschen Reiche
nach der Berufszählung von 1882.
Berufsabteilungen
Kinder unter
15 Jahren
Junge Leute
von 15 bis
(noch nicht)
20 Jahren
Von allen Erwerbsthätigen
sind %
I Junge Lent«
Kinder unterj von 15 bis
15 Jahren j (noch nicht)
' 20 Jahren
1. Landwirtschaft, Tierzucht, Gärtnerei .
2. Forstwirtschaft, Jagd, Fischerei . .
3. Industrie einschl. Bergbau u. Bauwesen
4. Handel und Verkehr einschl. Gast-
und Schankwirtschaft
5. Häusliche Dienstleistung und Lohn-
arbeit wechselnder Art
6. Staats-, Gemeinde-, Kirchen- etc. Dienst
291 289
834
1 43 262
16033
4948
4 108
I 497621
9279
I 114 303
167 114
30 885
54 115
3,59
0,72
2,24
1,02
1,24
0,71
18,44
8,00
17,42
10.64
7J7
2873317
2,61
16.30
Summe der Erwerbsthätigen ; 460474
Bis zum Jahre ISGo hat sich nach der | Es waren unter den Erwerbsthätigen im
zweiten Berufszälilung die Beschäftigimg von 1 Jahre 1895 :
jugendlichen Arbeitern wie folgt verschoben.
in den Berufsabteilungen der
Kinder unter
' 14 Jahren
! Von allen Erwerbsthätigfen
Junge Leute sind '^(^
von 14—20 ' TT«*.
Jahren iKinder unter. •^"°^? .KS '
14 janren j^^^^
1. Landwirtschaft, Tierzucht, Gärtnerei .
2. Bergbau, Hüttenwesen, Industrie und
Bauwesen
ä. Handel und Verkehr
4. Häusliche Dienste, Lohnarbeit wechseln-
der Art
5. Militär-, Hof-, bürgerlicher Dienst, freie
Berufsarten
Summe
135 125
8267
5296
35313
95
I 712 911
I 770316
344 402
623 490
88978
16,3
4,6
2,3
14,2
J,2
206,6
2I3,S
H7r3
352
82,1
204 254
4 540091
9,79
205,3
Jugendliche Arbeiter
1407
Obwold man wegen der verschiedenen
Gruppierung des Alters die Ergebnisse von
1882 und 1895 nicht direkt vergleichen kann,
so scheint es doch den Eindruck zu machen,
als ob die Kinderarbeit in der Landwirtschaft
zurückgegangen ist. Absolut freilich nimmt
sie noch jetzt in dieser Berufsabteilung die erste
Stelle eui. Vielleicht hängt dieser verhält-
nismässige Rückgang damit zusammen, dass
Kinder, die nur als »helfende in der Land-
wirtschaft« nachgewiesen wiurden, bei der
Verarbeitung der Zählungsergebnisse nicht
berücksichtigt sind.
Ist nach diesen Zahlen die Beteili-
gung der Kinder an der Erwerbs-
thätigkeit überhaupt eine geringe, so er-
scheint sie etwas stärker, wenn man die
arbeitenden Kinder zu allen vorhandenen
Altersgenossen in Vergleich stellt In der
Bevölkerung waren 189r> 16853931 Kinder
unter 14 Jahren, d. h. also 12,7 ®/oo dei*selben
erwerbsthätig. Indes auch diese Angabe
dürfte der Wirklichkeit kaum entsprechen.
Vielmehr sind offenbar sehr viele Kinder,
die zu verdienen pflegen, in der Beruf s-
zähhmg als erwerbsthätig gar nicht nach-
gewiesen, und es mag jene Schätzung, dass die
Zahl der erwerbsthätigen Kinder in Deutsch-
land eher zwei als eine Million sein möchte,
nicht unwahrscheinlich sein. Nach Agahd
waren in 21 Städten bis zu 41% der schulpflich-
tigenKinder erwerbsthätig. In Breslau werden
10,6 ®/o aUer Volksschiilkinder gew^erblich
beschäftigt. In Karlsruhe war jedes siebente
Volksschulkind erwerbsthätig, Knaben dop-
pelt so viel wie Mädchen. Von den Kindern
der einfachen Volksschule waren wiederum
doppelt so viele erwerbsthätig als von denen
der erweiterten Volksschule ; hier war jedes
zehnte, dort jedes fünfte Kind erwerbstliätig.
In Braunschweig sind 1898 3085 erwerbs-
thätige Schulkinder ermittelt, d. h. 4,8%
der sämtlichen imd 10,4% derjenigen Schul-
kinder, in deren Klassen überhaupt erwerbs-
thätige Schüler festgestellt worden sind.
Auf Stadt und Land verteilt sich diese Ge-
sammtsumme etwa zu vier und drei
Siebentel. Die Art der Beschäftigung ist
hier wie in anderen Reichsgebietsteilen der
Ausgehe- und Botendienst, vornehmlich das
Brot- und Zeitungsaustragen, aber docii
auch das Kegelaufsetzen, das Hausieren,
Beschäftigung am Theater, Ballauflesen auf
den Spielplätzen u. dgl. m. Schädliche
Folgen für die Gesundheit, die übrigens
statistisch auch nicht leicht nachweisbar
sind, sind allerdings nur in seltenen FäUen
ermittelt. Desto weniger erfreulich ge-
staltet sich aber der Unterricht, der selbst-
verständlich vernachlässigt wird. Es ist
doch gewiss schlimm, wenn im grössten
AVeberort im schlesischen Gebirge, in Langen-
bielau, von 2104 Kindern 53% erwerbs-
tliätig sind, als Spuler, Tücherknttpfer,
Haspler, Kammstricker beschäftigt werden.
Oder wenn in dem sächsischen Weberort
Hohen stein - Ernstthal (Glauchau - Zwickau)
von den ca. 2400 Schulkindern etwa 60®/o
mit Arbeiten am Webstuhl, mit Knüpfen,
Treiben, Spulen, Drehen von Quasten, Nähen,
Formen etc. angestrengt sind. Vollkommen
mit Fug und Recht protestieren die Lehrer
gegen diese ausgedehnte gewerbsmässige
Beschäftigung von Kindern, und es ist sehr
bedauerlich, wenn hohe Gerichte Pohzei-
verordnungen , die diesem Unwesen ent-
gegenzutreten sich bemüht, als ungültig
erklärt haben, weil nicht im Einklang
mit dem Reichsgesetze, das die Beschäftigung
von Schulkindern regle. Dieser Auffassung
gegenüber bedeutet es nicht genug, wenn
in treussen im April 1899 der Kultusminister
sämtlichen Regienmgen und Oberpräsidenten
ein Urteil des Kammergerichts übermittelt
hat, nach dem eine Polizei Verordnung, die
schulpflichtigen Kindern in der Zeit von
7 Ulu* nachmittags bis 7 Uhr vormittags
gewerbliche Arbeit untersagt, Rechtsgültig-
keit habe. Zw^eifellos wird hier eine reichs-
gesetzliche weitere Ausdehnung des Kinder-
schutzes auf die Dauer nicht zu umgehen sein.
Man mag sich gegenüber den heutigen
Zuständen damit trösten, dass die Kinder
nur mit Arbeiten bedacht sind, die ihrer
Körperkraft entsprechen — immer trifft das
nicht zu — oder mit dem Hinweis darauf, dass
die Kinder in den Betrieben des Vaters unter
dessen Aufsicht beschäftigt sind — man
kennt nur zu gut die Hartherzigkeit man-
I eher Eltern und das traurige Los , das
nicht wenigen Kindern dadurch bereitet ist.
Die Notlage allein rechtfertigt solches Vor-
gehen nicht; es hat hier auch die Gesamt-
heit ein Wort mitzusprechen, dass ihre An-
gehörigen nicht vor der Zeit erschlafft und
abgestumpft werden.
Besonders stark sind nach der Berufs-
statistik die Kinder in folgenden Berufs-
arten (1895) angetroffen worden:
Maurer
Weberei
Schneiderei
Tischlerei
Schlosserei
' Wäscherei
I Ziegelei
I Näherei
Spinnerei
zusammen
2272
2 199
2156
2 107
2075
1919
I 575
I 223
I 148
Schuhmacherei 2 026
männl.
2 152
1057
1 729
2078
2062
1803
I 453
459
I 962
weibl.
120
1 142
427
29
13
116
122
I 223
689
64
Ob das Umsetzen und Verputzen der
Rohsteine, das Mörtelrühren, Handlanger-
dienste in der Maurei*ei u. dgl. m. wirk-
lich den Kindern angemessene Thätigkeiten
sind, möchte bezweifelt werden können.
Und wenn man 135 Kinder unter 14 Jahren
1408
Jugendliche Arbeiter
bei (1er Erzgewinnung, 274 bei Stein-, Braun-
kohlen- und Koksgewinnung, 302 Kinder in
Steinbrüchen thätig findet, so werden dabei
geeignete und ungeeignete Dienste von ihnen
verlangt werden, die nicht immer ausein-
andergehalten werden können.
Sehr viel stäi'ker fäUt selbstverständlich
die Beteiligung junger Leute im
Alter von 14 — 20 Jahren am Erwerbsleben
der Nation aus. Persönlichkeiten dieser
Altei*sstufen gab es 1895 in Deutschland
6 301 800, und davon wären also mehr als 72 ^/o
erwerbsthätig gewesen. Besorgnis könnte
unter diesen indes doch nur die Beschäftigung
der 14 — 16 jährigen einflössen. Ihrer gab es
2113816, von denen 1285011 erwerbsthätig
waren, d. h. nahezu 61 ^/o. Wenn mau er-
wägt, dass die Berufszählung kaum alle
wirklich erwerbsthätigen jugendlichen Per-
sonen von 14 — 16 Jahren als solche kennt-
lich hat machen können, so erscheint der
ausgerechnete Prozentsatz doch recht hoch.
Am schlimmsten hat sich seither gerade
die Beschäftigung von Kindern in der In-
dustrie herausgestellt, und diese Missbräuche
sind es gew^esen, die in allen Kulturstaaten
den Regieningen als Pflicht es haben er-
scheinen lassen, Massregehi zum Schutze
der Kinder zu erlassen. Vgl. den Art.
Arbeiterschutzgesetzgebung oben
Bd. I S. 470 ff.
Wie sich nun seit 1882 in den
deutschen Fabriken die Kinderarbeit ge-
staltet hat, lässt sich nach den in den amt-
lichen Mitteilungen der mit Beaufsichtigung
der Fabriken betrauten Beamten jeweilig
enthaltenen Angaben feststellen. Die zum
Vergleiche wünschenswerten Daten über die
Bewegung der erwachsenen Arbeiter lassen
sich leider nur für die letzten Jahre be-
schaffen. Es waren in Fabriken und diesen
gleichstehenden Anlagen beschäftigt:
Jahre
Kinder von
12—14
Jahren
1882
1886
1890
1895
1896
1897
1898
14600
21035
27485
4327
5312
6 151
7072
Junge Leute
von 14—16
Jahren
Jugendliche
Arbeiter
von 12 16
Jahren überh:
123 543
134589
214252
2 1 7 422
239 548
259 570
276 386
138 143
155642
241 737
221 749
244860
265 721
283 458
Vorausgesetzt also, dass es sich in diesen
Jahren immer um den gleichen Erhebungs-
kreis handelt, hätte die Zahl der Fabrik-
kinder bis 1890 sich beständig vergröss^rt.
wäre dann infolge der Novelle von 1n91
zurückgegangen, um in den letzten Jahren
wieder zu steigen. Die Zahl der juncren
Leute aber hätte sich bis 1898 um 123%.
die der jugendlichen Arbeiter überhaupt um
105 ^/o vermelu^. Nun wiU freilieh in
Betracht gezogen sein, dass in den 2^bleii
für 1890 die Reichslande Elsass-Lothriiigen
zum ersten Mal mit enthalten sind. Den
rechten Massstab zur Beurteilung der Trag-
weite dieser Elrscheinung hätte man ferner
erst mit der Kenntnis des Datums über
die Veränderung der Zahl der erwachsenen
Arbeiter. Die vAmtüchen Mitteilungen^ be-
tonen mehrfac^h, dass die Heranziehung
jugendlicher Arbeiter zur Fabrikthätigkeit
ziemlich ^nau der Vermehrung der Ar-
beiterzalü im allgemeinen entspräche. Doch
lassen sich hierfür beispielsweise angeführte
Zahlen somit ohne weiteres verallgemoinern.
Vielleicht ist der Ausgangspunkt der Vor-
^leichimg nicht gut gewählt, sofern die
Zahlen des Jalires 1882 aus einem zu eng^n
Beobachtungskreise stammen. Wenigstens
bleiben die Angaben der beschäftigten
jugendlichen Arbeiter zurück hinter den
entsprechenden der Berufszählung.
Im ganzen findet miverkennbar im Zu-
sammeiüiange mit der steigenden geschäft-
lichen Bewegung und der vermehrten Nach-
frage nach Arbeitskräften eine häufigen»
Einstellung von jugendliehen Personen statt,
und es mag wolü auch zutreffen, was die
»Amtlichen Mitteilungen <- (1896 S. 77) ein-
mal hervorheben, dass die Arbeitgeber in
der Beac^htung der gesetzlichen Schutzvor-
schriften kein so wesentliches HindernLs für
die Beschäftigung jugendlicher Arl)eiter melir
zu erblicken scheinen, wie dies früher der
Fall war.
In welcher Weise die einzelneu In-
dustriegruppen an der Zunahme der Arlnnt
jugendlicher Personen beteiligt sind, ergiebt
die nachstehende Tabelle. Sie zeigt, dav-
von 1883 bis 1890 eine Abnahme der Zahl
der beschäftigten Kinder nur vereinzelt vor-
kommt. Sie lässt sich niu: beim Bergtiau,
bei der chemischen Industrie und in der
Gnippe »Verschiedene Industiieen«^ nach-
weisen. In allen anderen Gruppen hat die
Arbeit der Fabrikkinder zugenommen. Das
gleiche gilt für die Arbeit junger Leute,
die in allen Gruppen eine Vermehnmg zeigt.
In den 90 er Jahren aber zeig^ siwi dann
in allen Industriegruppen, mit Ausnahme
der Industrie der Heiz- imd Leuchtstoffe,
wieder unverkennbar die Neigung, sich mehr
der kindlichen Arbeitskraft zu bedienen.
Jugendliche Arbeiter
1409
Kachweisnng der Anzahl der im Deutsclien Beiche von 1882—1898 in Fabriken und diesen
gleichstehenden Anlagen beschäftigten jugendlichen Arbeiter.
Industriegrnppen
1895
.1898
von J"„ von
von ^2-14
12-14
14—16
Junge
Leute
von
14—16
Bergbau
Industrie der Steine
und Erden . .
MetaUe ....
Maschinen , Instru-
mente ....
Chemische Industrie
Industrie der Heiz-
und Leuchtstoffe
Textilindustrie . .
Papiere und Leder
Holz- u. Schnitzstoflfe
Nahrungs- u. Gtenuss-
mittel
Bekleidung und Bei-
nigung
Polygr. Gewerbe . .
Versch. Industrieen .
I 076
I 500
947
520
413
45
6943
714
686
4306
520
449
276
16075
843
II 713
I36I1
3173
1566
9842
1453
934
360
370
34748
7672
3901
52
9404
1314
1358
12972
6340
4 126
I 212
4133
3789
681
248
22 730
21 686
25 loi
21 48g
3515
853
58038
II 930
8771
20517
8398
7188
4066
94
976
379
311
27
30
I 309
178
228
402
187
171
35
19 194
24821
27016
21356
3366
933
56521
II 690
10 175
112
25383
1 481 ; 31 145
715
36683
591
42
33844
4 397
14
1977
348
507
I 127
62217
14928
13296
21 869
680
9460
4370
I 651
317,
244
39
27439
I26I5
II 445
1867
18395 I 124275 I 27485 214 252 I 4327 217 422 I 70721276386
Für die Jahre 1888 und 1890 lässt sich
das numerische Verhältnis der jugendlichen
Arbeiter zu allen Fabrikarbeitern bestimmen.
Nach den »Amtlichen Mitteilungen« waren
von je 100 Arbeitern überhaupt jugendliche :
In den Aufsichtsbezirken 1890 1888
Berlin-Charlottenburg 5,3 5>2
Posen 3j7 4,2
Breslau-Liegnitz 5,4 6,9
Oppeln 6,4 4,7
Magdeburg 6,2 6,0
Merseburg-Erfurt 8,5 8,2
HohenzolTem 9,7 10,2
Dresden 8,4 8,1
Chemnitz 13,5 I3t5
Zwickau 15,3 i5,7
Leipzig 8,6 9,2
Bautzen 11,6 —
Meissen 10,3 10,4
Plauen 14,3 i4,3
Neckar- und Jagstkreis . . . . 9,4 \jj.
Schwarz wald- und Donaukreis . . 10,7 / ^^
Provinz Starkenburg (Hessen) . • ii,5 l qc
Provinz Oberhessen 8,7 / ^'
Mecklenburg-Schwerin 1,9 i,7
Oldenbui^ 8,0 8,2
Sachsen-Altenburg 9,9 9,6
Schwarzburg-Sondershausen ... 8,1 7,1
Schwarzburg-Budolstadt .... 8,8 8,8
Beuss ä. L 5,1 5,5
Beuss j. L 9,9 9,1
Lübeck 5,0 4,7
Bremen 4,3 4,2
Hamburg 4,0 3,7
Für Baden und Sachsen stellt sich auf
Grund besonderer Zählungen sowie im Reich
Handwörterbach der StaatawiBBenachaften. Zweite
nach der Gewerbestatistik von 1895 das
numerische Verhältnis der jugendlichen
Arbeiter zu allen folgendermassen.
(Siehe die Tabelle auf S. 1410.)
Im ganzen Deutschen Reiche sind nach
der Gewerbezählung von 1895 in der Indus-
trie, einschliesslich Bergbau und Bauge-
werbe 5035766 erwachsene und 514439
jugendliche Arbeiter (imter 16 Jahren) nach-
gewiesen worden i), d. h. von allen Arbei-
tern waren 9,3 jugendliche, was den Pro-
zentsätzen für Baden und Sachsen nahekommt.
Dabei hat man die interessante Wahrnehmung
gemacht, dass mit der Grösse der Betriebi
im aUgemeinen die Zahl der jugendlichen
Arbeiter, wenn auch nicht absolut, so doch
im Verhältnis ziu* Zahl der dort beschäftig-
ten erwachsenen Arbeiter abnimmt. Es
sind nämlich in der Industrie einschliess-
lich Bergbau und Bauwesen von 100 Arbei-
tern jugendliche:
in Betrieben mit 1 — 5 Personen 17,4
6—20 « 10,9
21 u. mehr
6,1
Gewiss spiegelt sich hier der Einfluss
des modernen Arbeiterschutzes gerade auf
die Betriebsverhältnisse in den grösseren
Etablissements wieder.
Der Reichsdurchschnitt wird in einer
*) Ausschliesslich mitarbeitender Familien-
angehöriger.
Auflage. IV. 89
1410
Jugendliche Arbeiter
Industriegruppen
Arbeiter
Ge-
samt-
zahl
Baden 1892^)
Da-
runter
jugend-
liche
Die Ju-
gendl.
in%
aller A.
A
Ge-
samt-
zahl
r b e 1 1 e r
Da-
runter
Jugend
Ifche
Die Ju-
gendl.
ino/o
aller A.
Sachsen 1893*)
ImDentschen
Reich waren
von 100 Ar-
beitern
jugendliche
1895«)
Bergbau, Hütten- und Salinenwesen
Industrie der Steine und Erden . .
Metallverarbeitung
Maschinen, Werkzeuge, Instrumente,
Apparate
Chemische Industrie
Leuchtstoffe, Fette, Oele ....
Textilindustrie
Papier und Leder
Industrie der Holz- u. Schnitzstoffe
Nahrungs- und Genussmittel . . .
Bekleiduns:, Reinigung .....
Baugewerbe
Polygraphische Gewerbe ....
Sonstige Industriezweige ....
395
10378
15404
15297
4253
I 213
23431
10 172
7238
31673
2666
1673
2369
134
15
523
1413
744
302
52
2692
698
406
4097
209
66
239
6
3,79
5,04
9,28
4,86
7,10
4,26
11,02
6,88
5,63
12,94
7,85
3,95
10,08
4,59
5244
40227
22031
48 383
4229
3196
157967
26262
21 813
25361
19435
17057
3221
125
2256
2 320
710
143
82
820
827
666
679
862
15
I
I
I
I
2,4
5,6
10,5
7,6
3,3
2,5
10,0
6,9
7,6
6,6
'9,5
2,9
6,8
15,0
2053 12,0
225 1 6,9
7,9
4,0
3,3
8,7
12,0
12,1
9,7
16,1
6,8
13,5
126296
II 480
9,14
394 426; 33 228 8,3
9,3
^) Jahresber. d. Grossherzogl. Badischen Fabrikinspektion 1892 S. o8flf.
2) Jahresber. d. Königl. Sftchs. Gewerbeinspektion 1893 S. 227.
3) Stat. d. D. R. N. F. 119 S. 102*.
mzen ßeihe von Gewerbearten übertroffen.
kommen Gewerbe vor, in denen 26,8 ®/o
aller Arbeiter jugendliehe sind, so die
Schlosserei. Indes auch Schneider, Tisch-
ler, Schuhmacher, Bäcker, Fleischer, Grob-
schmiede, Stellmacher weisen eine zwischen
15 bis 18,8 ^lo schwankende Beteiligung
jugendlicher Arbeiter auf. In anderen, wie
der Maurerei, Ziegelei, Verfertigung von
Maschinen tritt zwar i-elativ die ßeschäfti-
gimg jugendlicher Arbeiter nicht so stark
hervor, aber sie geht doch absolut über
10000 Köpfe heraus.
Im Handel und Verkehr hat die
Kinderarbeit keine grosse Bedeutxmg. Sie
kommt da insbesondere im Waren- und
Produktenhandel und in der Berufsaii; Be-
herbergung und Eixjuickung vor. Auch die
Verwendung jugendlicher Arbeiter ist ge-
ringer als in der Industrie. Man zälüte
1895 805615 erwachsene und 65332 jugend-
liche Arbeiter, d. h. die letzteren machten
7,5% aller aus. Auch bei Handel und Ver-
kehr erscheint dieselbe Beobachtung wie in
der Industrie, dass mit der Grösse des Be-
triebs die Neigung, sich jugendlicher Ar-
beitskräfte zu bedienen, ziu-ücktritt. Es
"waren von 100 Arbeitern jugendliche
in Betrieben mit 1 — 5 Personen 9,2
n 6-20 „ 7,5
„ „ „ 21 u. mehr „ 3,5
Mehr als 10000 jugendliche Arbeiter
weisen der Handel mit Kolonialwaren und
der Handel mit Sclmittwaren auf.
Sehr erheblich scheint die Verwendung
jugendlicher Personen in der Hausin-
dustrie zu sein und geraile liier die Aus-
nutzung ihrer Körperkräfte in gemeinschäd-
licher Weise vor sich zu gehen. Nach der
Bei-ufszählung von 1882 stehen allerdings
unter 339644 Hausindustriellen nur 4449
im Alter von w^eniger als 15 Jahren, d. h.
1,3^/0, und die Berufsstatistik von 1895 hat
nur 1617 Kinder, unter ihnen 1481 im Alter
von 12 bis 14 Jahren ermittelt, d. h. etwa
0,5^/0. Etwas grosser fällt die Zahl der
14 — 16 jährigen Hausindustriellen aus, von
denen 10466 nachgewiesen sind, d. h.
etwas mehr als 3®/o. Nach der Gewerbe-
statistik, die etw^as andere 2iahlen hat, sind
457 984 Hausindustrielle ermittelt, unter
ihnen 24501 jugendliche (weniger als 16
Jahre alte Arbeiter), was immer niu* wenig
über 5 ^'0 jugendlicher Arbeitskräfte heissen
würde. Aber offenbar ist die Zahl
der hausindustriell beschäftigten Kinder zu
gering angegeben. Ueber die weitreichende
Verwendung der Kinderarbeit in der Haus-
industiie ist so oft, auch von amtlicher
Seite, geklagt worden, dass man wohl glau-
ben kann, es sei seitens vieler Familienväter
die Angabe der regelmässigen Gewerbsthä-
tigkeit der Kinder unterlassen worden. Von
der linksrheinischen Seiden- und Sanimet-
industrie ist bekannt geworden, dass die
Kinder ganz allgemein zum Spulen heran-
gezogen werden. In der thüringischen
Holzspielwarenindustrie ist es üblich, die
aus der Schule kommenden Kinder sofort
beim Bemalen der Figuren oder sonstigen
leichteren Hantierungen bis in die. sinkende
Nacht zu beschäftigen. In der Filetstrickerei
der Taunusdörfer werden Kinder schon vom
dritten Jahre an zum Einziehen der Gummi-
Jugendliehe Arbeiter
Uli
bändchen in die Netze und Handschuhe und
zum Füllen der Nadeln etwa 2 — 8 Stunden
am Tage gebraucht. Im lospektionsbezirke
Zwickau fand der Beamte 1881 in
kleinen Stickereien Kinder nach 8^ 2 Uhr
abends und Kinder imter dem für die Zu-
lassung in Fabriken vorgesehenen Alter be-
schäftigt. In der Wollwarenindustrie von
Apolda wiurden 1885 von 2886 Sc^hulkindern
1177, also 40,9 ^/o gewerbhch beschäftigt
und zwar in der Hausindustrie 1119, in der
Fabrik 58. Von den ersteren waren 5GÜ
im elterlichen Hause, 617 ausserhalb des-
selben beschäftigt. In hohem Masse wird,
so insbesondere in der Schachtelfabrikation,
im Filetnähen, in der Knopfhäkelei, in
Schlesien noch immer bei der feeschäftigtmg
von Kindern gesündigt. Kurz, viele An-
zeichen und Thatsachen lassen sich darüber
vereinigen, dass von der Hausindustrie über
das zulässige Mass der Kinderbeschäftigung
weit hinausgegriffen wird.
Dieses Verhältnis hat sich in den letzten
Jahren eher verschlimmert als verbessert.
In der Trikot- und Strickwarenindtistrie, in
der gesundheitsscliädlichen Tabaksindustrie
und rutzfederindustrie u. s. w. nimmt die
Beschäftigimg von Kindern zu. Man will
beobachtet haben, dass die Arbeitsverhält-
nisse der infolge der Schutzbostimmungen
der Hausindustrie zugetriebenen Kinder viel-
fach schlechter geworden sind, als sie es
vor Erlass des Gesetzes waren. Es ertönt
die Klage, dass Kinder bereits im Alter von
6 bis 8 Jahren von ihren Müttern ztir Hilfe-
leistung bei gewerblicher Thätigkeit heran-
gezogen werden. Soweit greift die Be-
scliäftigung um sich, dass beisjüeisweise
im Bezirke Aachen allein nach den »Amt-
lichen Mitteilungen« (1897) 4-— 5000 Kinder
thätig sein sollen. Wie aus diesen Miss-
ständen Rettung wird geschafft werden
können, ist gar nicht abzusehen, da die ge-
Scimte Hausmdustrie xmter das wachsame
Auge des Gesetzes zu nehmen unverkennbar
die grössten Schwierigkeiten hat. Immer
blielK) es freilich im höchsten Gmde wün-
schenswert, dass man den Kindern, die man
vor der aufreibenden und früh ei*schläffen-
den Thätigkeit in den Fabriken bewahren
wollte, nun nicht in der Hausindustrie und
sonstiger gewerblicher Thätigkeit den, wie
man sieht, ihnen so überaus notwendigen
Schutz entzieht.
Ausserhalb Deutschlands wird clie Kinder-
arbeit gegenwäi'tig noch übei-all, in Italien,
Belgien, Holland sowohl als in der Schweiz,
Frankreich und England in gix)ssem Um-
fange geübt. Genauere Daten und ein-
gehende Schildenmgen, die ein Urteil über
die Ausdehnung und Bedingungen der
Kinderarbeit gestatten würden, sind nicht
aus allen Ländern zu beschaffen. Im
ganzen scheinen in den 3 erstgenannten
Ländern die Kinder unter härteren Bedin-
gimgen thätig sein zu müssen als in den
drei letztgenannten. Einen Schutz, wie er
den Kindern im Deutschen Reiche zu teil
wiKl, geniessen sie jedenfalls in keinem
dieser Länder.
b) Italien. In Italien lässt die nach-
stehende Nachweisung erkennen, welche In-
dustriezweige namentlich gern sich der Kinder-
arbeit bedienen. Man findet keinen einzigen
Industriez weij?, in dem nicht die Verwendung
von Kindern (d. h. bis zum vollendeten 14. Jahre)
über den Prozentsatz aller Erwerbsthätigen
hinausgeht , der für die gesamte Indnstrie-
abteilune in ganz Deutschland 1882 sich heraus-
gestellt hat : 2,24. Wohl aber zeigen mehrere
Crrnppen, dass nahezu der 10. Teil und mehr
ihrer Arbeiter aus Kindern unter 14 Jahren be-
steht, so in der Bekleidungs-, der Metall-, der
Papierindustrie, der Anfertigung von Luxus-
gegenständen und in den polygraphischen Ge-
werben. Ja diejenigen Industrieen, in denen
die Kinderarbeit besonders stark ist, treten in
dieser Aufstellung gar nicht hervor, wie z. B.
die Seidenspinnereien, in denen 19% aller Ar-
beiter Kinder sind (146514 Erwerbsthätige,
darunter 28175 Kinder), und die Schwefelgruben,
in denen fast 12% aller Beschäftigten im kind-
lichen Alter stehen (25482 Erwerbsthätige über-
haupt, worunter 3057 im Kindesalter). Gerade
in der letzteren Industrie zeigt sich die Kinder-
arbeit in abschreckendster Gestalt.
Während ausgewachsene starke Männer tief
unten in den Stollen das Schwefelgestein mit
Hacke und Hammer ausbrechen, tragen Knaben
im Alter von 6—11 Jahren das losgelöste
Material aus den Minen hemuf zu den Meilern,
wo es geschmolzen wird. Die Kinder arbeiten
8 — 10, auch 11—12 Stunden am Tage, je nach-
dem sie unter oder über der Erde beschäftigt
sind, und verdienen, die kleinsten im Alter von
6 — 8 Jahren ^,U Lire, oft auch, wenn sie schwäch-
lich sind, nur 35 Centesimi, die grösseren und
stärkeren bis zu 15 Jahren IV... — 2 Lire täglich.
Die Wohnung, die sie sich von diesem kümmer-
lichen Lohne verschaffen können, ist eine sehr
dürftige. Das einzige, was sie essen, ist
trockenes Brot. In den weit entlegenen Minen
bringen die Kinder Montags ihr Brot mit, das
bis Donnerstag reichen mnss. Donnerstag früh
vor Sonnenaufgang machen sie einen Gang nach
Hause, um sich neues Brot zu holen, das bis
Sonnabend Abend vorhalten mnss. Den Sonn-
tag bringen sie in dem heimatlichen Dorfe zu.
Die Gesundheit der Kinder wird dabei ausser-
ordentlich angegrifTen ; die meisten tragen schon
nach wenij^en Alonaten den Stempel der Schwind-
sucht auf dem Gesiebt und sind zu frühem Tode
verurteilt. Wie es scheint, hat das neue Gesetz,
das die Beschäftigung von noch nicht 10jährigen
Kindern unter der Erde und noch nicht 9jährigen
Kindern bei der Berg wer ksarbeit überhaupt
untersagt, noch keine Besserung zu erzielen
vermocht.
89*
1412
Jugendliche Arbeiter
Nachweisung: der in Italien in der Urproduktion
und in der Industrie beschäftigten Emder nach
der Volkszählung von 1881.
Berufsarten bezw.
Gegenstände der Fabri-
kation der verschie-
denen Industriegruppen
Landwirtschaft . . .
Tierzucht, Bienenzucht
Gartenbau
Forstwirtschaft . . .
Fischerei und Jagd
Bergwerke
Mineralurg. Industrieen
Webereien
Häute
Bekleidung
Nahrungsmittel . . .
Bauwesen, auch
Strassenbau. . . .
Möbel u. Haushaltungs-
gegenstände . . .
Wagenbau, Sattlerei .
Schiffsbau
Fabrikation von Waffen
und Munition . . .
Metalle
Maschinen und Werk-
zeuge
Präcisions- und Musik-
instrumente. . . .
Papier. Spielkarten. .
Typographie , Litho-
graphie
Chemische Industrie .
Luxusgegenstände . .
Beinigungsgewerbe . .
8173389
244452
73 339
59651
48241
59512
755
I 322 806
18515
941 460
505 795
904 785
110978
24023
12014
10247
190954
617326
56973
.5-35
7,5
23,3
3 743 5,1
2974
2992
4514
, 36
110 355
664
84885
14490
58158
8259
1881
356
491 i
17811I
34065
1947
8271
406
22513
2530
18 821
2 III
14350
35864
13352
I 126
3907
5576
4,9
6,2
7,5
4,7
8,3
3,5
9,0
2,8
6,4
7,4
7,8
2,9
4,7
9,3
5,7
4,9
11,2
11,2
7,8
10,9
4,9
In dem vorerwähnten Berichte, aus dem
Professor Bodio auf der internationalen Arbeiter-
schutzkonferenz gleichfalls Mitteilungen gemacht
hat, wird für I808 die Zahl der in den Schwefel-
fruben von Sicilien, Sardinien, der Romagna und
en Marken beschäftigten Kinder unter 15 Jahren
auf 6753 angegeben, d. h. also bedeutend höher,
als nach der Bernfsstatistik von 1881 beziffert.
Unter 27 897 in den Schwefelgruben beschäftigten
Arbeitern befinden sich nach dieser Quelle mithin
24,1% im kindlichen Alter bis zum (noch nicht
vollendeten) 15. Lebensjahre. In der Seiden-
spinnerei liegen die Verhältnisse für die Kinder
insofern besser, als sie in grossen, luftigen, ge-
sunden Gebäuden, die nach der Schilderung
eines Augenzeugen den Eindruck der Sauber-
keit, Frische und Ordnung machen, mit zum
Teil untergeordneten leichten Arbeiten, wie den
Boden zu reinigen, die Körbe mit den Cocons
oder Abfällen wegzutragen etc., beschäftigt
werden. Aber man denke, dass die Kinder von
morgens früh bis gegen 6 oder 7 Uhr abends
arbeiten müssen, für einen Ta^elohn von 20—40
Centesimi, die älteren bei einem Lohne von
etwa 60 Centesimi. Von Unterricht kann dabei
schlechterdings nicht die Rede sein. Nach der
oben genannten Quelle waren 1889 in dieser
Industrie etwa 40000 Kinder unter 15 Jahren
beschäftigt, vorzugsweise Mädchen, also beinahe
12000 mehr als vor einem Jahrzehnt. Naxsh
einer Statistik, welche die Gesellschaft für
Seidenhandel und Seidenindustrie in Mailand
aufgestellt hat, waren in 86 Spinnereien der
Lombardei unter 100 Arbeitern:
11 im Alter von 9—10 Jahren
15 „ „ „ 10-12 „
19 „ „ , 12-15 „
55 „ höheren Alter.
Da scheint denn in der That eine Industrie
auf eine den natürlichen Verhältnissen wider-
sprechende Grundlage aufgebaut, und es wäre
zu wünschen, dass die Gesetzgebung in Italien
recht bald eine Aendemng solcher Zustände
herbeizuführen imstande wäre, etwa in dem
Sinne, wie Professor Bodio sie auf der inter-
nationalen Konferenz befürwortete (Protok.,
deutsche Ausgabe, S. 176).
Geplant wird schon seit geraumer Zeit eine
Ausdehnung des Kinderschutzes. Indes haben
bis letzt die Entwürfe (Lacada 1893, Barazzuoli
1893, Guicciardini 1897) es noch nicht zur An-
nahme gebracht. Nach Vorlagen aus dem Jahre
1898 war die Altersgrenze für die Beschäftigung
von Kindern bis zum vollendeten 10. Jahre
hinaufgeschoben und die zulässige Arbeitszeit
beschränkt auf 8 Stunden innerhalb 24 für
Kinder unter 12 Jahren und auf 12 Stunden
innerhalb 24 für Kinder unter 15 Jahren. Nacht-
arbeit wird für jugendliche Arbeiter unter 15
Jahren ganz verboten. (Vergl. d. Art. Ar-
beiterschutzgesetzgebung in Italien
oben Bd. I S. 061 ff.
c) Belgien. Für Bek^ien ist gleichfalls
zu fürchten, dass die neue Gesetzgebung einst-
weilen wenig Besserung auf dem Gebiete der
Kinderarbeit zu schaffen vermocht hat Die auf
Grund der amtlichen Industriestatistik berech-
nete nachstehende Uebersicht zeigt, wie erheb-
lieh in einzelnen Industriezweigen die Kinder-
arbeit Platz gegriffen hat.
Eühmliche Ausnahmen bieten die chemische
Industrie, die Leder-, Wachstuch- und Gummi-
industrie, die Baugewerbe und die Industrie der
Leuchtstoffe.
Allerdings soll nach derselben amtlichen
Quelle seit 1846 die Arbeit jugendlicher Per-
sonen in der Abnahme begriffen sein. Wenigstens
erweist die folgende Zusammenstellung, dass
von 9 in ihr genannten Gewerbearten bei vieren
dies der Fall war.
Von 100 Fabrik-
arbeitem') waren
r««,o»K^^^f^« Kinder (Knaben und
Gewerbearten Mädchen) unter
16 Janren
1846 1880
Steinkohlengewinnung . . 22 17
Flachsindustrie 26 22
Zuckerindustrie 30 22
Wollenindustrie 18 19
Keramische Industrie ... 25 28
Eisenindustrie 7 16
Baumwollenindustrie ... 27 17
Schiefer-, Stein-, Marmorbrüche 11 13
Glasindustrie 18 22
^) Statistique de la Belgique. Recensement
de 1800, I S. 70.
Jugendliche Arbeiter
1413
Kinderarbeit in Belgien 1880*).
Gewerbearten
Zahl
derKinder
unter
14 Jahren
i Zahl der
Kinder
im Alter
von
14-16
Jahren
Von 100 Arbeitern
sind Kinder
*«« 14 I Im Alter
^?^f 1^ V. 14-16
J^^^^ I Jahren
1. Bergbau^ Hütten nnd Stein wesen . .
2. Industrie der Steine nnd Erden . . .
3. Metallverarbeitung
4. Maschinen, Instrumente, Apparate . .
5. Chemische Industrie
6. Leuchtstoffe, Fette, Oele, Firnisse . .
7. Textilindustrie
8. Panierindustrie
9. Leaer-, Wachstuch-, Gummiindustrie .
10. Nahrungs- und Genussmittelindustrie .
11. Baugewerbe
12. Polygraphische Gewerbe
7691
4 933
283
1043
32
357
6493
345
106
2778
98
555
; 124607
12703
5267
50046
626
6038 .
2370
29841
165
2 721
406
6530
10 152
91795
802
6761
266
4 397
450
828
4470
49884
5 943
5318
6,2
9,9
4,6
3,5
5,6
7,7
SP
«,3
5,6
1,6
10,4
10, 1
10,5
10,3
7,9
6,1
6,1
11,8
5,9
8,8
7,5
15,5
Summa 24 709
^) Berechnet nach Statistique de la Belgique.
38336 I 384050 ,
Recensement de 1880.
6,43
9,98
Indes bleiben die Industriezweige, wie Berg-
bau und Textilindustrie, doch noch immer mit
einer sehr grossen Anzahl jugendlicher Arbeiter
belastet. Die Steinkohlenindustrie z. B. be-
schäftigt 6346 Kinder unter 14 Jahren und
10093 im Alter von 14—16 Jahren, d. h. von
ihren 94767 Arbeitern insgesamt stehen 17,3%
im jugendlichen Alter. Wenn die von dem
belgischen Delegierten auf der Berliner inter-
nationalen Arbeiterschutzkonferenz gemachten
Angaben, dass in den Kohlenbergwerken 2747
Kinder von 12- 14 Jahren und 4792 von 14—16
Jahren arbeiteten, der Wirklichkeit entsprechen
sollten (Protok. S. 176), so müssen die Verhält-
nisse sich im letzten Jahrzehnt ausserordentlich
zu Gunsten der Kinder gebessert haben.
Was die Textilindustrie betrifft, so geht
auch bei ihr die beschäftigte Kinderzahl über
den Durchschnitt hinaus, der sich für alle
belgischen Industrieen berechnen lässt. Wie
ihre einzelnen Zweige sich der Kinderarbeit be-
dienen, lässt die nachfolgende Zusammenstellung
erkennen. In zweien derselben, der Leinen-
industrie und der Wirkerei, sind nahezu der
4. Teil der Arbeiter — Kinder. In der Hanf-
industrie sogar mehr als der 4. Teil.
Nachweisung der Zahl der in der belgischen Textilindustrie beschäftigten jugendlichen Arbeiter.
1880.
Gewerbearten
Kinder
von
12—14
Jahren
Junge i '
Von 100 Arbeitern
sind
junge
Leute V.
14—16
Jahren
Leinenindustrie
Hanfindustrie
Baumwollenindustrie
Wollindustrie
Bleicherei
Weberei gemischter Stoffe . . .
Schafwoll- und Baum woU Wirkerei
2815
305
1 067
I 739
82
135
350
4 437
317
1705
2 640
75
506
472
33048
2242
16654
23359
I 002
II 940
3550
8,5
13,6
6,4
7,4
8,1
1,1
10,0
13,4
10,2
i',3
7,4
4,2
13,3
Textilindustrie überhaupt j 6493 ! 10 152 | 91725
7,7
",5
Eine Besserung erscheint darin, dass mit
Verboten der Beschäftigung von Kindern in
gewissen besonders gesundheitsschädlichen Zwei-
gen begonnen worden ist. z. B. 1898 für die
Hutfabrikation.
d) Holland. Ein grosses Mass von Ueber-
arbeitung und Verwahrlosung zeigt dje Be-
schäftigung jugendlicher Personen in Holland.
Wenn auch, wie der holländische Delegierte
auf der internationalen Arbeiterschutzkon^renz
ausführte (Protok. S. 181), weder eine Person
unter 18 Jahren noch eine einzige weibliche Per-
son „unter Ta^" arbeitet, obgleich ein gesetz-
liches Verbot in dieser Hinsicht nicht besteht,
so hat doch die 1886 eingesetzte parlamentarische
Untersuchungskommission ein schreckenerregen-
des Bild entworfen. Nach den für die Provinz
Limburg von ihr beschaiften Daten — für das
ganze Land waren die Angaben nicht zu er-
halten — waren in 1940 (Fabrik-, Handwerk-)
Betrieben 11 156 Arbeiter beschäftigt, von denen
1821 im Alter von 12—16 Jahren, 1351 im Alter
1414
Jugendliche Arbeiter
von 16 — 18 Jahren sich befanden. Erstere
machten 16,3 <*/o, letztere 12,1 ®/o aller Arbeiter
ans. Geht schon dieses Verhältnis über das der
meisten europäischen Staaten heraus, so ist
hinzuzufügen, dass die Beschäftigung jugend-
licher Personen in den meisten Branchen in
stetiger Zunahme begriffen ist und die Kinder
zu sehr schweren, ungesunden Beschäftigun^^en
herangezogen werden, wie in Eisengiessereien,
Glasbläsereien, Schriftgiessereien etc.
e) Frankreich. In Frankreich ist die
Zahl der in den Fabriken beschäftigten Kinder
beiderlei Geschlechts unter 16 Jahren keine ge-
ringe: 1889 160256, worunter 1049 10— 12jährige
und 149207 12— 16 jährige; 1890 16Ö858, wovon
1044 10 -12 jährige und 164814 12— 16jährige.
Zu diesen Zahlen kommen noch die der in den
Waisenhäusern, Zufluchtsanstalten und Arbeits-
sälen (orphelinats, maisons de refuge, onvroirs),
wie sie sowohl von Laien als von geistlichen
Brüderschaften ins Leben berufen werden, be-
schäftigten Kinder unter 16 Jahren. Nach den
in einzelnen Berichten der Fabrikinspektoren
hierüber enthaltenen Daten würde es sich im
Jahre 1890 noch um mindestens 7053 Kinder in
diesen Anstalten handeln. Von ihnen sind 3274
10— 12 jährig, 2308 12-15 jährig, 929 15-16-
jährig und o42 12— 16 jährig. Alle diese Zahlen
enthalten durchaus Mindestangaben. Denn sie
geben nur den Umfang der Kinderarbeit an,
wie sie die Inspektoren in den von ihnen im
Laufe des Berichtsjahres besichtigten gewerb-
lichen Anstalten antreffen. Die Inspektoren
können aber nicht alljährlich alle dem Gesetze
unterstehenden Fabriken besuchen. Im Verhält-
nis zu den in den besuchten Etablissements
beschäftigten Erwachsenen beiderlei Geschlechts
erscheint die Kinderarbeit recht beträchtlich.
Neben 881798 Erwachsenen und 100388 16—21-
jährigen Mädchen sind in 18 Anfsichtsbezirken
(für den 8., 15. und 17. sind die Angaben über
die erwachsenen Arbeiter teils nicht vorhanden,
teils nicht benutzbar) 129324 Kinder unter
16 Jahren thätig, d. h. von allen Arbeitern
waren 11,6 •L Kinder unt«r 16 Jahren.
Die Zahl der minderjährigen Mädchen von
16 — 21 Jahren betrug in den besichtigten ge-
werblichen Anstalten 1889 112265, im)
123798. Wieviel Kinder unter Tage und im
bergmännischen Betriebe überhaupt beschäftigt
werden, lässt der Bericht der oberen Kommission
nicht erkennen. Nach einer auf der Berliner
internationalen Konferenz von 1890 gemachten
Angabe waren 1887 imter Tage 4504, über Tage
3482 Kinder von 12—16 Jahren im Bergwerks-
betriebe beschäftigt.
Die Yermehrnng der Zahl der in Fabriken
nachgewiesenen Kinder und minderjährigen
Mädchen von 119462 im Jahre 1876 auf
289656 im Jahre 1890 hängt mit der allmäli-
liehen Ausdehnung der Fabrikinspektion zu-
sammen. 1876 wurden nur 10041, 1890 69416
gewerbliche Anstalten besucht. Nach dem Be-
richt der commission sup^rieure du travail für
das Jahr 1897 unterstanden dem Gesetze von
1892 290305 Betriebe mit 2591288 Arbeitern,
unter denen 433467 Knaben und Mädchen von
weniger als 18 Jahren waren. Es würden also
in der französischen Industrie unter 100 Arbeitern
16,7 jugendliche sein, während nach den An-
gaben der deutschen Berufsstatistiker von 100
llrwerbsthätigen in Industrie, Bergbau nnd
Hüttenwesen 13,76 weniger als 18 Jahre alt
waren. Auch in Frankreich hat man einge-
sehen, dass den Jugendlichen Arbeitern grössere
Schonung zu teil werden muss, und durch das
Gesetz vom 30. März 1900 für alle unt€r 18
Jahre alten eine allmähliche Herabminderong
der höchstzulässigen Arbeitszeit auf 10 Standen
am Tage verfügt, die nach und nach im Laufe
der nächsten 4 Jahre Platz greifen soll.
f) Schweiz. In der Schweiz machten
noch 1880 die Kinder und jugendlichen Personen
14 ^/o aller Fabrikarbeiter aus, aber die neueren
Berichte der Fabrikinspektoren betonen, dass in
den letzten 6 — 8 Jahren die Zahl der Kinder
und iungen Leute unter 18 Jahren in den
Fabriken abgenommen habe. Man führt es dort
nicht auf das Fabrikgesetz allein zurück, son-
dern auf den Umstand, dass man, durch Er-
fahrung belehrt, die Kinderarbeit nicht mehr so
hoch verwertet. Immerhin kommt gesetzwidrig
Beschäftigung von Kindern, namentlich in
Stickereien, vor.
g) England. Ueber den Umfang der Ar-
beit von Kindern und jugendlichen Personen
in ganz Grossbritannien giebt es keine Daten.
Der Bericht des Hauptinspektors der Fabriken
und Werkstätten stellt wohl die Zahl der Yer-
fehen gegen die Bestimmungen in betreff der
inderarbeit fest, aber nicht die Gesamtzahl
aller beschäftigten Kinder und jugendlichen Ar-
beiter. Nur für die Textil- und die Bergwerks-
industrie geben die Quellen Aufschluss. In
sämtlichen Textilbetrieben des vereinigten
Königreichs waren:
unter
13 Jah-
ren
Arbeiter
von
13—18
Jahren
über
18
Jahren
Arbeiterinnen
unter
13 Jah-
ren
13Jah-
re alt
u. da-
rüber
Summe
1885
1890
43308
40558
81 871
88696
279 834
298 828
48343 ; 580905
46941 i 610608
I 034 161
I 084 63 1
Hiemach machten die unter 13 jährigen
Kinder beiderlei Geschlechts von allen Fabrik-
arbeitern im Jahre 1885 8,8 Prozent und im
dustrie also hat die Zahl der Fabrikkinder
augenscheinlich die Tendenz, geringer zu
werden. In der Kohlenindustrie wuraen be-
Jahre 1890 nur 3,8 Prozent. In der Textilin- j schäftigt :
Jugendliche Arbeiter
1415
Unter Tage
10 12-; 12 16-
jährige jährige
Arbeiter
über 16-
jährige
Summe
Vonallen
Arbei-
tern wa-
ren 10 —
I6jährig-
1887
1888
1889
1890
299
127
•
•
40647
42045
47960
44090
387 594
396 730
458 852
419 510
428 540
438902
506812
463600
9,5
9,6
9,4
9,5
Ueber Tage
1887
1888
1889
1890
10— 12-
jährige
12—13-13—16- über 16-
jährige i jährige jährige
Arbeiter und Arbeiterinnen
B
B
0
Von allen
Arbeltern
warenio-
Ißjährig
lO
317
243
232
220
8877 87621
9 7101 96594
10909 1 107078
II 485 123863
96815
106552
118219
135928
9,5
9,3
9,4
8,8
In den Metallbergwerken (metalliferous
Mines) waren thätig
Unter Tage
;12— 13-
I jährige
13— 16-
jährige
Arbeiter
über 16-
jährige
B
a
B
Von allen <
I Arbeitern
waren 12— 1
IBjährig !
0' I
1887
7
1888
14
1889
12
1890
6
630
645
671
704
24476 25 113
25 445 2^ ^04
24896 25579
24 148 24 858
2.5
2,5
2,6
2,8
Ueber Tage
10-13-
18-18-
jährige jährige
Arbeiter u. Arbeiterinnen
über 18-
jährige
s
s
CO
Von allen
Arbeitern
waren 10—
iHjährig
0
.0
1887
123
3476
13037
16636
1888
93
3570
13705
17368
1889
71
3703
14067
17841
1890
84
3427
13685
17 196
21,6
21,0
21,1
20,4
Nach diesen Angaben beanspruchen die
Kohlengruben sowohl unter Tage als über Tage
noch eine erhebliche Anzahl jugendlicher Arbeits-
kräfte, wenn auch die Beschäftigung 10 bis
12 jähriger Kinder ganz geschwunden scheint.
Sehr viel weniger werden jugendliche Arbeiter
in den Metallbergwerken unter Tage gebraucht.
Die 12 — 13 jährigen Kinder sind nur in geringer
Zahl vertreten; die kleine Zunahme der 13 ois
16 jährigen wird hoffentlich nur eine vorüber-
gehende sein. Ueber die Beschäftigung der
Jugendlichen Arbeiter über Tage kann man
:ein so klares Bild gewinnen, weil die Quellen
die Klassifikation nach dem Alter in anderer
Weise vorgenommen haben. Wenn indes
mehr als der ö. Teil aller Arbeiter im Alter
von weniger als 18 Jahren steht, so ist das
ziemlich viel.
Erscheint hiemach die Verwendung jüngerer
Arbeitskräfte in Grossbritannien nicht unbe-
trächtlich, so kommt hinzu, dass ca. 65000
,,Half -Timers" ausserhalb der Fabrikgesetze
stehen und dass im übrigen die schulpflicntij^en
Kinder zu verschiedenen Erwerbsthätigkeiten
regelmässig in sehr weitem Umfange herange-
zogen w^erden. Allgemein wird jetzt zuge-
standen, das die bestehende Fabrikgesetzgebung
die Kinder recht ungenügend schützt. Denn sie
erlaubt, Knaben bereits vor vollendetem 12. Jahre
in Erzbergwerken bis zu 54 Stunden, in der
Woche und die ,, Halbzeiter" sogar schon vom
11. Jahre an zu beschäftigen. So wurde denn
für die letzteren eine sofortige Heraufsetzung
des Alters auf 12 Jahre und in 3 Jahren auf
13 Jahre erstrebt, eine Neuerung, die am
1. März 1900 im Unterhause in zweiter Lesung
mit sehr starker Mehrheit durchge^fangen ist.
Der Vicepräsident des Unterrichtsministeriums,
Sir John Gorst, hat den Antrag nachdrücklich
befürwortet und betont, dass wenn auch für
viele Familien ein Lohnausfall eintreten würde,
dennoch das Land gewinnen würde durch den
besseren Unterricht, der erteilt werden kann.
Was aber die Thätigkeit schulpflichtiger Kinder
betrifft, so arbeiten nach Angaben des Londoner
Schulamts (1899) in 112 Schulen — von ins-
gesamt 485 Schulen — 1143 Kinder wöchentlich
19-29 Stunden, 729 Kinder wöchentlich 30 bis
39 Stunden, 285 Kinder wöchentlich 40 und
mehr Stunden.
Nach einer Veröffentlichung des Handels-
amts aber über Kinderarbeit in England und
Wales waren von 2568176 Kindern, über die
die Schulleiter Zusammenstellungen machen
konnten, der allergrösste Teil ausserhalb der
Schulzeit erwerbstnätig. Die Nachweisung
unterscheidet zwischen London, den grö8.sereu
Städten und dem flachen Lande mit den kleineren
Orten. Das Ergebnis war, dass in London nicht
mehr als 6%, in den beiden anderen Gruppen
far nur 4% unbeschäftigt sind ausser-
alb der Schule. Speciell in London sind nach
Frank Hind Kinder noch immer die ausge-
bentetsten Lohnsklaven. Man bereift, wenn
unter solchen Umständen auf dem Tradesunion-
kongress in Birmingham 1897 die gesetzliche
Abschaffung aller Kinderarbeit unter 15 Jahren
gefordert wurde. (S. auch die Tabelle auf der
folgenden Seite.)
5. Neuere deutsche Schntzgesetz-
^bnng. Die im letzten Jahrzehnt zum
Schutze der Kinderarbeit erlassenen Gesetze
verschiedener Kultui-staaten haben in diesem
Handwörterbuche bereits bei dem Art. Ar-
beite rsc hu tzgesetzgebung Berück-
sichtigung ei-falu-en. (YgL oben Bd. I S. 476.)
Kann man nach dem Vorausgeschickten
sich zu der Ausdehnung des Schutzes seit
1891 nur sympathisch verhalten und nur den
Wunsch hegen, dass in anderen Kiüturstaaten
die Beschäftigung der Kinder in gleicher
Weise geregelt würde, so darf man sich
nicht verhelüen, dass infolge der neuen
Massregeln zwei Gefahren drohen, zu deren
teilweiser Abwendung wenigstens ein wei-
1416
Jugendliche Arbeiter
Im Jahre 1896 waren in Grossbritannien
und Irland thätig in
Kinder
unter
14 J.*)
Jugdl.
von
14-18
Jahren
Textilindus-
trieen . .
Nichttextilin-
dustrieen ^)
Workshops') .
53256
7241
3 116
Personen
über
18 Jahre
236 245 788 186
436 502
2221 988
Summe
163982 488467
I 077 687
2665791
655 565
63 61 3 836 729 3 498 641 14 398 983
I
In Prozenten
Textilindus-
trieen . .
5,0
22,0
73,0
Nichttextilin-
dustrieen .
0,3
16,4
83,3
Workshops .
0,5
25,0
74,5
100,0
100,0
100,0
1,4
19,0 ! 79,6
100,0
teres Gesetz fast unvermeidlich scheint.
Die eine betrifft die Möglichkeit, die leider
schon zur Wirklichkeit geworden ist, dass
die aus den Fabriken verdrängten Kinder
zahlreicher als bisher in der I^usindustrie
Unterkunft finden. Eine häufigere Beschäf-
tigung der Kinder aber in hausindustriellen
Werkstätten bedeute eine Verschlechterung
der heutigen Zustände. Es steht that-
sächlich fest, dass die hygieinische ße-
scliaffenheit dieser Betriebe auch den be-
scheidensten Anforderungen in den meisten
Fällen Hohn spricht, dass die Arbeitszeit
länger, der I^hn niedriger ist als in den
Fabriken. Indes haben gerade die unbehag-
lichen Zustände der Hausindustrie schon seit
geraumer Zeit nahe gelegt, ihr ähnliche
Schranken auf dem Wege der Gesetzgebung
zu ziehen wie den Fabriken. So wird hier
kaum etwas anderes übrig bleiben, als recht
bald die Aufsicht, der die Fabriken und
ihnen gleichstehenden Anlagen unterworfen
sind, auf die hausindustriellen Betriebsstätten
auszudehnen, obgleich ihrer wirksamen
Durchfühnuigsich besondere Schwierigkeiten
entgegenstellen.
Die zweite Gefahi* zeigt sich darin, dass
durch das Verbot der Beschäftigung von
Kindern ein Ausfall in den Einnahmen
einer Arbeiterfamilie entstehen kann. Die
gut gemeinte Schutzbestimmung wird viel-
') Dazu gehören bestimmte im Fabrikgesetz "
vorgeschriebene Gewerbebetriebe wie Zeug-
druckereien, Bleichereien, Färbereien, Streich-
holzfabriken, Hüttenwerke etc.
*) In der Hauptsache Betriebe ohne mecha-
nische Kraft, also etwa Klein Werkstätten.
^) Die so^en. Half-Timers, weil sie nur
einen halben Tag arbeiten dilrfen, die iibrige
Zeit in der Schule sein müssen.
leicht augenblicklich von den betroffenen
Kreisen sehr schmerzlich empfunden wer-
den. Auf dem Wege der Gesetzgebung
kann hier nicht geholfen werden. Wo no-
torischer Eigennutz der Eltern die Kinder
seither zu übermässiger Anstrengimg veran-
lasste, muss man das Verbot als eine heil-
same Neuerung begrüssen. Wo aber die
Not des Lebens dazu zwang, die Kinder
früh zur regelmässigen Arbeit anzuhalten,
muss man auf eine Aenderung der bisherigen
Gewolmheit hoffen, indem durch den Weg-
fall der Kinderarbeit den Erwachsenen
mehr Spielratim zum Erwerbe geboten wer-
den wird.
Eine nicht direkt auf ihren Schutz ab-
zielende anderweitige Regelung hat die Ar-
beit jugendlicher Personen in den §§ 107,
119a, 134b der Gew.-O. erfahren.
1. Nach der bestehenden Gewerbeortl-
nung sind alle minderjährigen Arbeiter zur
Führung eines Arbeitsbuches verpflichtet,
dessen erstmalige Ausstellung auf Antrag
oder mit Zustimmung des Vaters oder
Vormundes erfolgt Ziu* Eingehung und
Auflösung des Ai-beitsverhältnisses ist der
Minderjährige selbständig berechtigt, dem
also das Arbeitsbuch ausgehandigt wird.
Diese Anordnung hat nun insofern Wandel
erfahren, als in Zukunft das Arbeitsbuch
der Arbeiter imter 16 Jahren (§ 107 der
Gew.-O.), falls nicht die Gemeindebehörde
andere Verfügungen trifft, bei der Lösung
des Arbeitsverhältnisses regelmässig dem
Vater oder Vormund ausgehändigt werden
muss. Bei den über 16 Jahre alten Minder-
jährigen muss wenigstens dann die Aus-
händigung des Buches an Vater oder Vor-
mund erfolgen, wenn diese es verlangen.
2. Nach der im § 119 a Abs. 2 ge-
troffenen Bestimmung steht der Gemeinde
das Recht zu, ortsstatutarisch festzusetzen,
dass der von minderjährigen Arbeitern ver-
diente Lohn an die Eltern oder Vormünder
und niu* mit deren scliriftlicher Zustim-
mung oder nach der Bescheinigung über
den Empfang der letzten Lohnzahlung im-
mittelbar an die Minderjährigen gezahlt
\N'ird.
3. In § 134 b Abs. 3 ist die Anordnung
enthalten, dass mit Zustimmung eines stän-
digen Arbeiterausschusses in die Arbeitsonl-
nung Vorschriften über das Verhalten der
minderjährigen Arbeiter ausserhalb des Be-
triebes aufgenommen werden können.
Mit diesen drei Bestimmungen ist es
darauf abgesehen, die elterliche Autorität zu
unterstützen. Durch die erste wird es mög-
lich, die beliebige Aenderung des Arbeits-
verhältnisses seitens eines jugendlichen Ar-
beiters, zu der Leichtsinn und Unerfahren-
heit nur zu oft neigen, zu erschweren, indem
es der Zustimmung des Vaters oder Vor-
Jugendliche Arbeiter
1417
mundes bedarf, die das Arbeitsbuch in den
Händen halten. Wieweit die Arbeiter von
dieser Vergünstigung Gebrauch machen
werden, um sich der heranwachsenden Ju-
gend gegenüber, deren ünbotmässigkeit so
oft beklagt wird, ihr Ansehen zu w^ahren,
bleibe dahingestellt. Jedenfalls lässt sich
von dem gesunden Sinn, der den deutschen
Arbeiter im allgemeinen beseelt, das Beste
erwarten. In derselben Richtung bewegt
sich die dritte Anordnung, nach der die
Arbeitgeber vereint mit den Arbeitern zu-
sammen die Erziehung der Jugend in die
Hand zu nehmen aufgefoi-dert werden. Bei
Vorschriften über das Verhalten minder-
jäliriger Arbeiter ausserhalb des Betriebes
wird in erster Linie doch an solche den
Eltern gegenüber gedacht w^erden können,
wie Wohnen im elterlichen Hause, gemein-
same Mittags- und Abendkost, Verwendung
des Lohnes, Besuch von Wirtschaften
u. dgl. m. Dui-ch derartige Anordnungen
kann das Gefühl der Zusammengehörigkeit
von Eltern und Kindern wieder mehr er-
w^eckt und entwickelt werden. Was end-
lieh die Frage der Lohnzahlung anlangt, so
haben sich gerade auf diesem Gebiete
schwere Missstände gezeigt. Wenn zur Zeit
der gröösten Ausdehnung der Kinderarbeit
gewissenlose Eltern ihre Kinder gleichsam
aiLsbeuteten und sie als Geld verdienende
Maschinen ansehen, so änderte sich das auf
die Dauer, indem die Kinder ihre Stellung
im Hause zu begreifen anfingen. Sie hiel-
ten es nicht für nötig, den ganzen ihnen
atisgezahlten Lolin den Eltern auszuliefern,
sondern fälschten die Lohnzettel, behielten
einen Teil zurück und vergeudeten dieses
Geld in Gesellschaft ihrer leichtsinnigen
Kameraden. Die Eltern aber waren viel-
fach nicht in der Lage, solches Vorgehen
zu kontrollieren, weil manche Fabriken keine
Lohnzettel ausgaben, andererseits sie die
gefälschten Zettel nicht als solche zu er-
kennen vermochten. Es liegt nahe genug,
wie sehr damit der Ausbreitung der Ver-
gnügungssucht, des Luxus, des Lasters Vor-
schub geleistet wird. Somit ist es durch-
aus im Interesse der Arbeitgeber, wenn sie
einst zuverlässige, ordentliche, unverdorbene
Arbeiter liaben wollen, die Erziehung der
Ton ihnen beschäftigten jugendlichen Per-
sonen mit zu überwachen. Durch allge-
ineine Einführung der erwähnten Massregel
"wird sie erleichtert. Die wenigen Fälle,
"WO hartherzige und habsüchtige Eltern die
"von ihren Kindern verdienten Summen le-
diglich für sich verbrauchen und jene
schlecht halten Avürden, können füglich
ausser Ansatz gelassen werden. Die Haupt-
sache bleibt, dass der jugendliche Arbeiter
nicht zu früh der elterlichen Autorität ent-
zogen wird, wozu in dem Masse, als er
grössei'e Beträge verdient, um so mehr
Neigimg vorhanden zu sein pflegt. Wäh-
rend in den höheren Schichten der Gesell-
schaft der Knabe oder junge Maim, solange
er das G}Tiinasium besucht, ganz von den
Eltern abliängi^ ist, tritt bei den Arbeiter-
klassen die wirtschaftliche Selbständigkeit
der jungen Leute früh ein. Sie untergräbt
die elterliche Autorität und birgt die Gefahr,
dass jede andere Autorität gleichfalls ange-
zweifelt werde. Nach allen diesen Rich-
tungen scheinen die neuen Bestimmungen
ausersehen, Wandel schaffen zu können, und
es wäre nur zu wünschen, dass sie, obwohl
keine Zwangsverfügungen, recht oft zur An-
wendung kommen möchten.
Litterat ar : Die LUteratur ist bei dem Artikel Ar-
heiterachuizgesettgehung a. a. O. bereite
eingehend angegeben. Die historischen Angaben
för die allere Zeit stammen aus den gewerbege-
schichtlichen Arbeiten^ von Fa gniez , Fleming ,
Stahl, Stockbauer und Wehrmann; für
die neuere Zeit vntrden die im Archiv ßir soziale
Gesetzgebung enthaltenen Untersuchungen von
Herkner, Jay, Naef, Pringsheim be-
nutzt. Die Statistik lieferten die amtlichen Mit-
teilungen der FatfHkavf Sichtsbeamten, die Statistik
des DeuUchen Reichs £20, N, F, WS, S. 3, lll
S, 154g., 119 S. 77 ff., und andere amtliche Ver-
öffentlichungen, namentlich F. W, H. Zlninier~
mann in Beiträge zur Statistik des IferzogtuwM
Braimschweig, I4, S. öl, sowie Friedr. Schäfer
in Beiträge zur Statistik der Stadt Karlsralie,
No. 7, 1899. Sehr viel Materied bietet die inSozicUe
Praxis u in jedem Jahrgang. Von besonderer
Bedeutung für das vorliegende Thema sind: OtMt,
Cohn, Uebcr internationaJe Fahrikgesetzgebung,
in Jahrb. f. Nat. v. Stat., X. F. 3, S. 313 f, —
Frtedländet; II lavoro deüe donne e dei
fanciuUi, Rom 1886, deutsch von E. Fleischer,
1887. — »Jules Simon, L'ouvrier de huit aM,
Paris 1867. — Conference Internationale
ctjncemant le reglement du travail aux etablisse-
ments industriels et dans les uHnes, Leipzig
1890. — K. Agahd, Die Erwerbsthätigkeit
schulpflichtiger Kinder, in Arch. f. soz. Gesetzg.,
12, S. 373, sowie in der Sammlung pädago-
gischer Vorträge, Heß 9 u. 10, 1897. — Frank
Hind, The cry of the children, 1898. —
Miiy , Das Verhältnis des Verbrauches der
Massen etc., Jahrb. für Oesetzg., 23, S. S77. —
Arth. Dodd, Die Wirkung der Schutzbestim-
mungen für die jugendlichen und weiblichen Fabrik-
arbeiter, 1898; — Für die Geschichte der preus-
sisch-deutschen KinderschtUzgeselzgebung sind
massgebend: Thun, Beiträge zur Geschichte der
Gesetzgebung etc. der Fabrikarbeiter in Preussen,
in Zeitschr. d. königl. preuss, stat, Bureaus,
1877, und neuerdings K. Anton, Geschichte
der preußischen Fabrikgesetzgebung, Leipzig 1891.
— üeber die sächsischen Verhältnisse vgl. M*
Frhr, v. Weich, Das Fabrikschulwesen imi
Königreich Sachsen, in Jahrb. für Gesetzg., 23,
S. 87 ff.
WilK Stied4Jt,
1418
Juraschek
Jnraschek, Franz von,
wurde, zu Arad in Ungarn am 25. Februar 1849
geboren. Derselbe studierte an den Gymnasien
m Budapest, Wien, Erakau und Graz, sodann
an der philosophischen resp. juristischen Fa-
kultät der Universität in Graz (1868—72),
ferner an den Universitäten in Breslau (1872
bis 1873) und Göttingen (1873—74) und er-
warb 1872 den philosophischen, 1873 den juris-
tischen Doktorhut in Graz. Ebenda erhielt er
1875 die venia docendi für allgemeines und
österreichisches Staatsrecht, 1880 die für Sta-
tistik. 1881 wurde er als a. o. Professor für
Statistik und Staatsrecht an die Universität in
Czemowitz, 1883 in derselben Eigenschaft an
jene in Innsbruck berufen. Hier erhielt er die
ordentliche Professur im Oktober 1885. Zwei
Jahre später wurde er unter Beibehaltung von
Titel und Charakter eines Universitätsprofessors
als Re^erungsrat, seit 1895 als Hofrat der k. k.
statistischen Centralkommission in Wien ange-
stellt und nimmt als solcher sowie als Sekretär
und a. 0. Mitglied der Kommission hervorragen-
den Anteil an den Arbeiten auf dem Gebiete
der administrativen Statistik Oesterreichs. Als
Mitglied des internationalen stÄtistischen In-
stitutes seit 1888 sowie als Ehrenmitglied der
Royal Statistical Society seit 1894 und anderer
statistischer und staatswissenschaftlicher Ver-
einigungen hat er vielfach mit Erfolg an der
Ausgestaltung der Gleichmässi^keit der sta-
tistischen Erhebungen der verschiedenen Länder
mitgewirkt. Gegenwärtig tra^t derselbe auch
an der Wiener Universität Statistik und Staats-
recht, an der k. u. k. Kriegsschule in Wien
Staats- und Volksrecht vor.
Er veröffentlichte an Staats wissenschaft-
lichen Schriften
a) in Buchform: Personal- und Realunion,
Berlin 1878. — Beiträge zur Darstellung des
Rechtes der Landtage und ihrer Mitglieder.
Wien 1879. (Selbstverlag.) — Die Volkszählung
von 1880 in Oesterreich-Ungarn. Im Anhange
die Zählung von 1879 in Bosnien und der Her-
zegowina. Czemowitz 1882. — Hübners geo-
graphisch-statistische Tabellen aller Länder der
Erde, herausgegeben seit 1884 jährlich, Frank-
furt a. M. — Uebersichten der Weltwirtschaft.
Jahr^. 1885—89, herausgegeben seit 1890, Berlin.
— Die Ortsgemeinde und die Ortschaft in der
Wählerklasse der Städte, Märkte u. Industrial-
orte im österr. Wahlrechte. Wien 1895. — Die
üsterr. Städte in der Reichsratswahlordnung.
Wien 1896.
b) In Zeitschriften : In Grünhuts Zeitschrift
für privates und öffentliches Recht: Die recht-
liche Natur der Delegationen, Jahrg. 1878, S. 270
bis *283. — Im Jahrb. f. Ges. u. Verw. : Die öster-
reichischen Städteordnungen, II. Jahrg. 1878,
S. 97—139. — In Hartmanus Zeitschrift (Ber-
lin): Die Entwickelungsgeschichte der Begriffe
Personal- und Realunion, IV. Bd., 1878, S. 105—
124. — In der Österreichischen Zeitschrift für
Verwaltung : Ueber collegia publica an unseren
Universitäten Jahrg. 1877. — Oesterr. Landes-
ordnungen n. Landtagswahlordnungen, Jahrg.
1879. — Zu § B der Reichsratswahlordnung Jahrg.
1896. — In derBukowiuaer Rundschau : Ergebnisse
der Zählung in den Occupationsl ändern I. Jahrg.
1892. — Die Volkszählungen L II. IIL 1. Jahrg.
1882. — In der volkswirtschaftlichen Wochen-
schrift: Das Gewicht eines neuen Goldguldens.
Wien 1892. — In der Zeitschr. f. Staatsw. : Das
Wahlrecht der Staatsdiener, 1884, Tl. Heft. -
In Jahrb. f. Ges. u-. Verw.: Die Reichspartei,
Jahrg. 1882. — In der statistischen Monats-
schrift: Besuch der österreichischen Universi-
täten in den Jahren 1861—1875, Jahrjg. 1876.
— Die Temperatur Schwankungen und die Sterb-
lichkeit, 1882. — Die aktive Armee und die
Bevölkerung Oesterreich-Ungams, 1882. — Die
unehelichen Geburten in Oesterreich seit 1830,
1883. — Die mittlere Bevölkerungsziffer in
Oesterreich 1830—1881, 1883. — Der Einfluss
der Ernten und Fruchtpreise auf die Volksbe-
wegung in Oesterreich 1872—1881, ISaS. — Die
Ernten und die Fruchtpreise in Oesterreich
1872—1881, 1883. — Die Wirksamkeit der sU-
tistischen Centralkommission 1863—1888, 1888.
— Leopold V. Neumann (biographische Skizze),
1889. — Baumwollproduktion, -handel und -In-
dustrie, 1890. — Australischer Census von 1890,
1891. — VII. internationaler Kongress für
Hygieine und Demographie in London 1891,
1891. — Hermann Ignaz Bidermann (biograph.
Skizze), 1892. — Eine Statist. Centralkommis-
sion für die Niederlande. 1893. — Sterblichkeit
in Wien im Jahre 1891, 1893. — Zur Stetif^tik
der Sterblichkeit der arbeitenden Klassen, 1893.
— Der VIII. internationale Kongress f. Hygieine
und Demographie in London 1^4, 1894. — Die
Einwohnerzahl Wiens Ende 1894, 1895. — Erste
allgemeine Volkszählung in Russlaud, 1896. —
Das Wachstum des Territoriums, der Bevölke-
rung und des Verkehrs in Wien 1887 — 1894,
1896. — Konferenz der Sekretäre der Csterr.
Handels- und Gewerbekammem, 1898. — Der
IX. internationale Kongress für Hygieine und
Demographie in Madrid 1898, 1898. — Zur Be-
völkerungsstatistik und Politik 1899. — Dr.
Vincenz Göhlert (ein Nekrolog), 1899. — Der aus-
wärtige Warenverkehr Bosniens und derHerzesro-
wina 1898, 1899. — In Kettelers Zeitschrift für
wissenschaftliche Geographie : Zur Volkszählung
in Oesterreich-Ungarn, 1881. — In den Ver-
öffentlichungen des IV. demographischen Kon-
gresses : Der Einfluss der Berufsverhältnisse auf
Erkrankung und Sterblichkeit. Heft 23. Wien
1887. — In dem Bulletin des internationalen
Statist. Institutes: Bericht über die Verhand-
lungen des VII. internationalen Kongresses für
Hygieine und Demographie über Arbeiterfragen.
VI. Bd. S. 101 ff. — Bericht über die Fort-
schritte d. Statistik in Oesterreich seit 1891
VIII. Bd. S. 120 ff. — In Scobels geographischem
Handbuch zu Andr^es Handatlas: Die Abschnitte
Weltproduktion und Welthandel III. Auflage
S. 868—911. — In Mayrs allgem. statistischen
Archiv: Die neuzeitliche Entwickelung der
volkswirtschaftlichen Verhältnisse in Dänemark
Jahr^. 1894 S. 540—581. — Die Bevölkerung
Bosniens und der Herzegowina nach der Zählung
des Jahres 1895. Jahrg. 1895 S. 545 ff. — Der
auswärtige Handel der französischen Kolonieen
1882-1891. Jahrg. 1895 S. 551 ff. — Auswär-
tiger Handel. Internationale statist, Ueber-
sichten. Jahrg. 1896 S. 697—716. —
In den Berichten des internationalen land-
wirtschaftlichen Kongres.ses in Budapest 1896:
Der Preisniedergang der Cerealien, Hauptbericht
S. 372-404 und Compte Rendus S. 388—392.
Juraschek — Jnsti
1419
— In diesem „Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften'' die Artt. : Aktiengesellschaften in
Oesterreich, Ungarn, Grossbritannien und Irland,
Indien, Italien, Frankreich, Kussland, Belgien
und in den Niederlanden. — Banmwollindnstrie
(Geschichte und Statistik). — Bergbaustatistik.
— Statistik des Eisens. — Statistik des Ge-
treidehandels. — Seide und .Seidenindustrie. —
Wolle und Wollenindustrie, Statistik.
Ausserdem sind in mehreren Zeitschriften,
vor allem in der „Statistischen Monatsschrift-*,
viele und oft sehr ausführliche Bezensionen
Jurascheks zum Abdruck gebracht.
lled.
Justi, Johann Heinrich Gottlob Ton,
geboren gegen 1702 zu Brücken in Preussen,
j-eis Sangerhausen, studierte in Wittenberg
und Jena Jura und Cameralia, wurde relegiert,
trat in preussische Kriegsdienste, geriet während
des österreichischen £rbfolgekrieges in öster-
reichische Gefan&fenschaft, flüchtete nach Leipzig,
wo er sich auf das Studium der Metallurgik
legte, folgte 1750 einem Rufe als Professor der
Kameralistik und deutschen Beredsamkeit an
das neu errichtete Theresianum in Wien und
ging 1755 mit dem Charakter eines Bergrats
nach Göttingen, wo er Vorlesungen über Staats-
ökonomie und Naturwissenschaft hielt. 1762
berief ihn Friedrich II. mit dem Charakter
eines königl. preussischen Berghanptmanns als
Oberaufseher der fiskalischen Bergwerke Preus-
sens nach Berlin. 1768 unter der unbewiesen
gebliebenen Anschuldigung, staatliche Gelder
unterschlagen zu haben, abgesetzt, starb er am
20. VII. 1771 als Gefangener auf der Festung
Küstrin.
Justi bietet die Erscheinung eines Eklektikers
dar, der sich von den Einwirkungen der ab-
strakten GlückseUgkeitsschule Wolns frühzeitig
emancipiert und vom Merkantilismus, der eigent-
lichen Basis seiner wirtschaftspolitischen Theo-
rieen Über Handelsbilanz, Populationistik, Geld
und Geldcirkulation, Streifzüge zu den Theo-
remen der Physiokraten unternimmt, stets aber
wieder zum Merkantilismus zurückkehrt, von
dessen handelspolitischen Schlagworten er u. a.
nach Melons „le commerce est l'^change du
superflu pour le necessaire" usurpiert hat : „Die
Ausfuhr der überflüssigen Güter ist der Grund
des auswärtigen Handels." Die Geschichte der
Staatswissenschaft muss in Justi den ersten
deutschen Systematiker anerkennen, wenn auch
der Gründlichkeit und Tiefe seines Nachfolgers
auf diesem Gebiete, Sonnenfels, der Vorrang
gebührt. Während er dem Studium der Ency-
klopädisten das in seinen späteren Schriften
vorwiegende Hervortreten physiokratischer An-
schauungen verdankt, zeigt er sich als theo-
retischer Politiker dem Einflüsse Montesquieus
unterworfen.
Justi veröffentlichte von Staats wissenschaft-
lichen Schriften in Buchform: Von der Aus-
tretung des Eeichslehns im Frieden mit aus-
wärtigen Mächten, Wien 1751. ■— Gutachten
von dem vernünftigen Zusammenhange und
praktischen Vortrage aller Ökonomischen und
Kameral Wissenschaften etc., Leipzig 1754. —
Neue Wahrheiten zum Vorteil der Naturkunde
und des gesellschaftlichen Lebens der Menschen^
12 Stücke in 2 Bdn., ebd. 1754—58. (Ent-
hält u. a.: Betrachtung über die genuesischen
Lotterieen. — Vorschlag von Verbindung der
Feuerasseknranzassocietäten mit einer Leihe-
banko auf die Häuser.) — Staatswirtschaft, oder
systematische Abhandlung aller ökonomischen
und Kameralwissensch&ften, die zur Regierung
eines Landes erfordert werden^^ ebd. 1755;
dasselbe, 2. Aufl., 1758. (Das Werk ist der
Kaiserin Maria Theresia gewidmet; es ist noch
ganz im merkantilistischen Geiste geschrieben,
welcher die Bevölkerungszunahme mit dem
Wachsen des Nationalwomstandes identifiziert;
nur überbieten Justis Ausführungen, wonach
selbst übermässige Volksvennehrung ein Ein-
treten wirtschafuicher Nachteile ausschliesse,
noch die von Homeck, Seckendorf und Gasser
über Populationistik aufgestellten Theoreme. In
seiner Propaganda für lokale Decentralisation
der Industrie, des Handels und der Bevölkerung
hat er in Deutschland keinen Vorgänger, wes-
halb ihn auch L. v. Stein nicht mit Unrecht
den „Vater der Verwaltungslehre" nennt.) —
Göttingische Polizeiamtsnachrichten oder ver-
mischte Abbandlungen zum Vorteile des Nah-
rungsstandes aus allen Teilen der ökonomischen
Wissenschaften vom Monat Juni 1755 bis Juli
1757, Göttingen 1757. — Grundsätze der Polizei-
wissenschaft in einem vernünftigen, auf den
Endzweck der Polizei gegründeten Zusammen-
hang, zum Gebrauche akademischer Vorlesungen
abgefasst, ebd. 1756; 2. Aufl., 1759; 3. Aufl.,
vermehrt von J. Beckmann, 1782. (.iuch auf
diesem Gebiete ging Justi bahnbrechend in der
Systematisierung vor. Den Bang einer Wissen-
schaft hatte man dem Polizeiwesen bisher kaum
zuerkannt, sondern es nur als Appeodix der
Kameral Wissenschaft betrachtet, Justi zog aber
die Grenzen der Polizeigewalt viel zu weit,
indem er u. a. den Geldumlauf und Öffentlichen
Kredit unter Polizeiadministration stellte.) —
Der handelnde Adel, welchem der kriegensche
Adel entgegengesetzt wird, ebd. 1756. — Voll-
ständige Abhandlung von den Manufakturen
und Fabriken, 2 Bde., Kopenhagen 1758 — 61;
dasselbe, 2. Aufl., herausgegeben von J. Beck-
mann, Beriin 1780; dasselbe, 3. Aufl., 1788.
(Das Werk ist dem Grafen Bernstorff gewidmet,
und als Hauptzweck der Fabriken ist der
merkantilistische Satz in den Vordergrund ge-
stellt, dass sie die Herstellung aller sachlichen
Bedürfnisse in dem Masse zu decken hätten,
dass möglichst wenig Geld für vom Auslande
bezogene Gebrauchsgegenstände über die Grenzen
zu ^ehen habe.) — Die Chimäre des Gleich-
gewichts von Europa, aus den wichtigsten
Gründen der Staatsknnst erwiesen und aus den
neuesten Weltbegebenheiten erläutert, 2 Teile,
Altona 1758. t- Der Grundriss einer guten
Begierunc:, Frankfurt a. M. 1759. — Die Wir-
kungen der Folgen der wahren und falschen
Staatskunst in der Geschichte des Psammitichus,
Königs von Egvpten und der damaligen Zeiten,
2 Teile, ebd. 1759—60. — Die Natur und das
Wesen der Staaten als die Grund^vissenschaft
der Staatskunst, der Polizei und aller Regieruugs-
wissenschaften, desgleichen als die Quelle aller
Gesetze abgehandelt, Berlin 1760; dasselbe,
2. Aufl. mit Anmerkungen von H. G. Scheide-
1420
Justi
mantel, Mietau und Leipzig 1771. — Abhand-
lung von der Macht, Glückseligkeit und Kredit
eines Staates, Ulm 1760. — Oekonomische
Schriften über die wichtigsten Gegenstände der
Stadt- und Landwirtschaft, 2 Bde., Berlin
1760—61 ; dasselbe, neue Titelausgabe, 1766—67.
— Die Grundveste zu der Macht und Glück-
sei i&^keit der Staaten oder ausführliche Vor-
stellung der gesamten Polizeiwissenschaft, 2 Bde.,
Königsberg und Leipzig 1760—61. (Dieses Werk
ist nur eine Erweiterung seiner „Grundsätze
der Polizeiwissenschaft" (s. o.). In dem Ab-
schnitt „Manufakturen, Fabriken und Korn-
merzien" warnt Justi vor der Kontrahierung
von Schulden im Auslande, weil der Modus der
Zinsregulierung ein Abhängigkeitsyerhältnis des
zinszaMenden von dem zinsemp&ngenden Staate
begründe. Er warnt gleichfalls davor, den
Banken Depots anzuvertrauen und will Noten-
emissionen nur in beschränktem Masse zulassen.)
— Abhandlung von der Vollkommenheit der
Landwirtschaft und der höchsten Kultur der
Länder, Ulm 1761. — Gesammelte politische
und Finanzschriften über wichtige Gegenstände
der Staatskunst, Kriegswissenschaft und des
Kameral- und Finanzwesens, 3 Teile, Kopen-
hagen 1761—64. (Enthält u. a.: Von der Finanz-
verwaltun^ des Postwesens, Justi bekämpft
darin den Monopolzwang der Post.) — Abhand-
lung von den Steuern und Abgaben, Königs-
berg 1762. (Justi will die Accise durch die
Gewerbesteuer ersetzt haben. Seine Polemik
gegen die Schrift von der Liths „Politische
Betrachtungen über die verschiedenen Arten
von Steuern", worin dieser die Accise vor allen
übrigen Konsumtionssteuerformen bevorzugt,
imponiert durch die lo^sche Schärfe der Be-
weisführung. Selbst Lith wurde dadurch be-
kehrt und die neue Auflage seiner Schrift (Ulm
1766) enthält das Eingeständnis seines Irrtums.)
— Von dem Manufaktur- und Fabrikreglement,
Berlin 1762. — La chimöre de r^quilibre du
commerce et de la navigation, Kopenhagen 1763.
(Streitschrift gegen Maubert und dessen „Irr-
lehre" von der Handelsbilanz.) — System des
Finanzwesens nach vernünftigen, aus dem End-
zweck der bürgerlichen Gesellschaft und aus
der Natur aller Quellen der Einkünfte des
Staates hergeleiteten Grundsätzen und Regeln
ausführlich abgehandelt, Halle 1766. (Diese
erste wissenschaftliche Systematisiemng^ des
Finanzwesens in deutscher Sprache ist Fried-
rich dem Grossen gewidmet.) —
Justi war Herausgeber des Werkes : Deutsche
Memoires, oder Sammlung verschiedener An-
merkun^^en, die Staatsklugheit und das Krieg^s-
wesen betreffend, 3 Bde., Wien 1760. — Von
der technischen Abteilung der Diderot- und
d'AIembertschen Encyklopädie „Description des
arts et metiers" übersetzte er die 4 ersten Bde.
u. d. T.: Schauplatz der Künste und Hand-
werke etc., Berlin 1762—65.
VergL über Justi: (Madame) D. M., Precis
histofique sur la vie de Mr. Justi in „Jonmal
desSavants", Paris 1777, September. — Pütter,
Akademische Gelehrtengeschichte von der Uni-
versität Göttingen, 2 Bde., Göttingen 1765—88,
Bd. I, S. 113, Bd. n, S. 68. — Hock s Lebens-
beschreibung berühmter Kameralisten, Bd. I,
Heft 1 (einziges), Nürnberg 1794. — (Salz-
maun), Denkwürdigkeiten aus dem Leben aus-
fezeichneter Deutscoen des 18. Jahrhunderts,
chnepfenthal 1802, S. 681flf. — Beckmann,
Vorrat kleiner Anmerkungen, 3. Sammlung,
Göttingen 1806. — Er seh und Grub er, Encv-
klopädie, IL Serie, Teü 30, Leipzig 1853, S. 1516.
— k a u t z , Theorie und Geschichte der National-
ökonomik, Bd. II, Wien 1860, S. 292/93. —
Röscher, J. H. G. Justi, in Arch. für säch-
sische Geschichte, Bd. VI, Leipzig 1867, S. 76 ff.
— Derselbe MJesch. der Nat. , München 1874,
S. 444 ff. — Walcker, Schutzzölle, laissez
faire und Freihandel, Leipzig 1880, S. 568/69.
— Allgemeine deutsche Biographie, Bd. XIV.
Leipzig 1881, S. 747. — v. Böhm-Bawerk,
Kapital und Kapitalzins, Bd. I, Innsbruck 1884,
S. 47 und 67. — John, Geschichte der Statistik,
Bd. I, Stuttgart 1884^ S. 259. — G. Deutsch,
Job. Gottl. V. Justi, der erste Lehrer der
Kameralwissenschaft in Oesterreich, in Oesterr.-
ungar. Revue (Wien), Januar 1896. — Ingram.
Justi, in Palgrave, Dictionary, vol. II, S. 499,
London 1896.
lAppert,
Nachträge.
Diehl, Karl,
geboren 27. März 1864 in Frankfurt a. M., stu-
dierte in Berlin, Jena, Halle Rechts- und Staats-
wissenschaften, promovierte 1888 in Halle,
arbeitete während des Jahres 1889 in Wien und
habilitierte sich Sommer 1890 in Halle, wurde
Januar 1893 ausserordentlicher Professor der
Staatswissenschaften in Halle, folgte Ostern
1898 einem Rufe als Ordinarius nach Rostock,
Ostern 1899 einem Rufe zu gleicher Stellung
nach Königsberg i. Pr.
Er veröffentlichte a) in Buchform : P. J. Prou-
dhon. Seine Lehre und sein Leben. 3 Bände. Jena
1888 96.— Ueber dasVerhältnis von Wert und Preis
im ökonomischen System von Karl Marx. (Aus :
Festschrift zur Feier des 25 jährigen Bestehens
des staatswissenschaftl. Seminars zu Halle a. S.)
Jena 1898. b) Artikel in diesem Handwörter-
buch : Bodenbesitzreform, Fichte, Lassalle, Marx
(Litteratur), Monis, Proudhon, Rodbertus, Rous-
seau, c) La den Jahrbüchern für Nat. u. Stat. :
Wirtschaft und Recht. (1897,) — Die Grund-
rententheorie im ök. System von Karl Marx.
(1899.) — Ueber die Frage der Einführung be-
weglicher Getreidezölle beim Ablauf der be-
stehenden Handelsverträge. (1900.) d) In den
Preuss. Jahrbüchern: Sozialismus und so-
ziale Bewegung im 19. Jahrhundert. (1897.)
Red.
Friedberg, Robert,
geb. am 28, VI. 1851 zu Berlin, studierte 1871—
74 in Heidelberg, Leipzig und Berlin Rechte
und Staatswissenschaften. Er erwarb 1875 an
der Universität Leipzig die philosophische
Doktorwürde und g'm^ darauf nach Paris, wo
er die Vorlesungen Michel Chevaliers und Le-
vasseurs hörte. Nach einem mehrmonatlichen
Aufenthalte in England kehrte er nach Deutsch-
land zurück und hess sich als Privatdozent der
Nationalökonomie in Leipzig nieder. 1884 sie-
delte er nach Halle über und übernahm dort im
folfi^enden Jahre die neubegründete ausserordent-
liche Professur für Staats Wissenschaften. 1894
wurde er zum ordentlichen Professor ernannt.
Gleichzeitig war er auch parlamentarisch thätig.
Im Jahre 1886 wählte ihn der Wahlbezirk
Halle-Saalkreis zum Mitgliede des Preussischen
Abgeordnetenhauses, wo er sich der national-
liberalen Partei anschloss. Seitdem hat Fried-
berg diesen Wahlkreis ununterbrochen vertreten.
1893 — 98 war er zugleich Mitglied des Reichs-
tages für den Wahlkreis Anhalt II.
Er veröffentlichte a) in Buchform: Die
Börsensteuer. Eine finanzwissenschaftliche Stu-
die, Berlin 1875. — Die Besteuerung der Ge-
meinden. Finanz wissenschaftliche Erörterungen,
Berlin 1877, — Vorschläge zur technischen
Durchführung einer prozentualen Börsensteuer,
Jena 1882.
b) In den Jahrb. f. Nät, u. Stat.: Zur
Theorie der Stempelsteuern. (1878.) — Die
italienische Mahlsteuer. (1884.) — Das Reichs-
börsensteuergesetz, (1884.) — Zur Reform der
Gemeindebesteuerung in Preussen. (1893.) —
Im Deutschen Wochenblatt: Moderne Staatsro-
mane. (1891.) — Zahlreiche Rezensionen im
Litterarischen Centralblatt, in den Jahrb. f. Nat.
u. Stat. und in der Tübinger Zeitschrift.
Red,
Zur Litteratur des Art. Gewer k vereine
! in Frankreich (oben S. 694) ist noch nach-
zutragen: Circulairs du Mus6e Social,
1897 (Serie A) Nr. 15 und 16; 1897 (Serie B)
Nr. 15; 1898 (Serie A) Nr. 21 ff.; 1900 Nr. 3;
und zu dem Ministire du Commerce et
de r Industrie, dass seit 1899 jedes Jahr
ein Band davon erscheint.
Zur Litteratur des Art. Gewerkvereine
in Belgien (oben S. 699): L. Varlez, Les
syndicats en Belgique et la loi du 31 Mars 1898
(Questions pratiques de Legislation ouvriere.
Fevrier 1900 S. 52 ff.).